nach
Aufſteigender Linie
Dritter Theil.
Erſter Band.
bey Chriſtian Friedrich Voß und Sohn.
[[4]][[5]]
Wir ſprachen kein lebendiges Wort, als
ob’s todte gebe? nach der Weiſe von
todten und lebendigen Sprachen? Wenn man
lebendige Worte thaͤtige mit Handlungen ver-
bundene nennen wolte; wuͤrden freylich auch
todte Worte ſeyn. O dem Todten! Gott eh-
re mir Leute, die Hand und Mund zugleich
bewegen, pflegte mein Vater zu ſagen. Frey-
lich deutete er dieſen Ausſpruch auf Guͤte des
Herzens und Mildthaͤtigkeit; allein er ehrte
auch das Symbol, und hatte die Gewohnheit,
die Hand mitſprechen zu laßen —
Seufzer, halberdruͤckte Achs, nennt
nicht todte Worte, ihr Wortkraͤmer! denn
die gelten mir mehr, als eure Klagelieder und
Condolenzen. Wenn es auf Achs kommt, laͤſt
der Geiſt den verſtummten Leib ab, drengt ſich
vor, vertritt ihn, und laͤßt ſich allein hoͤren.
Es giebt unausſprechliche Achs! — Abba, mein
Vater! — die Cartheuſerparole: bedenke das
Ende! war gewoͤhnlich unſere ganze Unterhal-
A 2tung
[6] tung. Gretchen und ich hatten das meiſte ein-
gebuͤßet; war es Wunder, daß unſer Schmerz
zuweilen bis aufs memento mori die Sprache
verlohr? daß der Geiſt das Wort nehmen
mußte? In wenigen Tagen ſahen wir etwas
Gruͤnes auf Minens Grabe das Haupt empor
heben, und das war uns ſo willkommen, als
wenn Minens Leib, dieſe Gottesſaat, ſchon
aufgienge. Gretchen kuͤßte dies erſte Gruͤn
und betaute es mit ihren Thraͤnen. Sie war
neidiſch auf Thau und Regen, und wolte dieſe
Erſtlinge durchaus nur mit Thraͤnen aufer-
ziehn. — — Mich hatte die Empfindung beym
Anblick dieſes erſten Gruͤns gelaͤhmt. Es war
mir, als ſaͤh ich ein Stuͤck von Minen. Am
Kopfende ſchoß dieſes erſte Gruͤn hervor. Den
Noah konnte der Oehlzweig ſo nicht entzuͤcken,
als uns dieſer Aufſchlag aus einem Gebeinhauſe.
Entweder war der gute Prediger ſo voll von
ſeiner Abhandlung, oder er legt’ es geflißent-
lich dazu an, mich zu zerſtreuen; denn eh ichs
mich verſah, lies ſich der Schriftſteller hoͤren.
Ja wohl, er lies ſich hoͤren.
Vor dem Begraͤbnis war dem guten Pre-
diger ſelbſt Minens Andenken, eben ſo wie uns,
Ein und Alles. Nach der Beerdigung trat
er zwar auch die meiſte Zeit unſern Empfin-
dun-
[7] dungen bey; indeſſen konnt er zuweilen nicht
umhin, eine Stoͤhrung zu machen, wenn wir uns
Minens lezte Lebenstage ins Herz hineinmahl-
ten, einbildhauten. Da galt es denn den
Stuhl, auf dem Mine am liebſten geſeſſen,
jeden Ort, wo ſie an mich gedacht, wo ſie voll
Hofnung mich zu ſprechen geweſen — wo ihr
dieſe Hofnung den Dienſt aufgeſagt, wo ſie dieſe
Schwaͤche empfunden, mit dem rechten Arm ih-
ren Kopf geſtuͤtzt, und ſich Gott ergeben, wo —
Eben oͤfneten mir dieſe Erinnerungen
Thuͤr und Thor. — Nur Ein Wort, nur
ein Sterbenswort von Minen, fieng ich an,
wie gluͤcklich haͤtt es mich gemacht! und der
Prediger„ was den Druck betrift „Er that, als
ob es eine Antwort auf unſer Seelenringen
waͤre„ was den Druck betrift; er ſey nicht
koſtbar; allein rein, ſo wie jeder Anzug. Ei-
ne gute Waͤſche iſt bei mir mehr, als Gold
und Silberbeſatz. In dem Stuͤck bin ich ſehr
fuͤr die Englaͤnder und Hollaͤnder. Faſt ſcheint
es, ſaubre Waͤſche und gut Papier waͤren
nicht ſo weit aus einander. Beyde Rationen,
ſaubre Waͤſche und ſauber Papier. Iſt das
Papier gut, iſt viel gut„
Dergleichen Eingriffe waren was gewoͤhn-
liches, und damit meine Leſer den Hauptein-
A 3grif
[8] grif uͤberſtehen und einmal wißen, woran ſie
ſind: Der Eingang des Werks war ein Suͤn-
denverzeichnis von Saul und David. Dieſer
raubte dem Urias das Leben, weil er eine ſchoͤ-
ne Frau hatte; jener war gegen die Feinde
Iſraels mehr ſchonend, als er ſollte. Heut
zu Tage wuͤrde man ſagen, er war menſchli-
cher — und Saul empfand den Bind- David
den Loͤſeſchluͤſſel —
Meine Leſer werden den Uebergang zum
Thema ohne meine Handleitung finden. Die
Suͤnde in oder wider den heiligen Geiſt
ward wie gewoͤhnlich in der Art behandelt,
daß der erſte Theil die unrechten Begriffe ent-
hielt, welche man ſich gewoͤhnlich von der Suͤn-
de wider den heiligen Geiſt mache. Unter
dieſen unrechten Begriffen kamen freylich ei-
nige vor, auf die kein Menſch eher, als un-
ſer guter Schriftſteller, gekommen. Er brachte
darauf, weil er recht auf Irrwege ſtudirt hatte.
Der zweyte Theil war der rechte Weg, oder
eigentlich der, der ihm gefiel. Ueberall auf
Weg’ und Abwegen eine Beleſenheit, die ſich
nicht blos auf die ruſſigen Buͤcherſchraͤnke der
Gegend erſtreckte, wie der gute Prediger ſagte
— ſie gieng weiter — Ich wuͤrde zwar (Gott
wend es aber in Gnaden ab) nicht die Suͤn-
de
[9] de quaͤſtionis, allein doch eine wuͤrkliche Suͤn-
de begehen, wenn ich meinen Leſern von dieſem
gewiß bewanderten Werke eine weitlaͤuftige
Erzaͤhlung auslieferte. So viel iſt gewis,
daß ich den guten Prediger mit ſeiner Aus-
arbeitung ziemlich zweifelhaft machte, indem
ich ihm, in beliebter Kuͤrze und Einfalt, mei-
nes Vaters Meynung uͤber dieſen heiligen Ge-
genſtand eroͤfnete, der die Suͤnde wider den
heiligen Geiſt eine Bemuͤhung nannte, das ins
Herz geſchriebene natuͤrliche Geſetz, die Regel,
das goͤttliche Alphabet, auszuloͤſchen. Das
Kind mit dem Bade ausgießen, ſagte der Pre-
diger, und legte die drey Finger ſeiner rechten
Hand an ſeine Stirn und ſodann ans Herz,
als ob er an beyden Orten anklopfen wollte.
Endlich ward ihm aufgethan. Ich wuͤrde,
fing er an, meine citationseiſenſchwer beſchla-
gene Abhandlung gern Ihrem Herrn Vater
auf eine freundſchaftliche Bleyfeder uͤberſen-
den; allein ich fuͤrchte, daß nach dieſen Grund-
ſaͤtzen wenig von dieſem gelehrten Stuͤck zuruͤck
kommen moͤchte. Ich verſicherte den guten
Prediger, ohne, wie ich bemerkt, ihm ein Com-
pliment zu machen, daß mein Vater keine
Bleyfeder haͤtte.
A 4Sel-
[10]
Selten, pflegt er zu ſagen, iſt das beſtaͤn-
dig, was durch ihre Vermittelung an Tages-
licht kommt. Schwarze Waͤſch’ und Tafel-
gedecke verzeichnete meine liebe Mutter mit
der Bleyfeder, wie es ſich eignet und gebuͤh-
ret. Wenn ſchwarze Waͤſche (meine Mutter
nannte es ſchwarzes Zeug) und Tafelgedecke
wieder durch Waßer und Luft gereiniget wa-
ren, weg waren auch die Bleyfederworte. Das
mit Bleyfeder beſchriebene Papier reibt ſich an
allem, was ihm nahe kommt, ſagte meine Mut-
ter, und ſehnt ſich recht geflißentlich, von einer
ſolchen Unzierde befreyt zu werden, wie ein ſtol-
zes Pferd, von einem ſchwachen Reiter. Nennt
es Bleyſtift, und nicht Feder — Feder iſt zu ſcha-
de, fuhr ſie fort. — Da alſo mein Vater, ſagt
ich, keine Bleyfeder hat, und ſchwerlich eine von
meiner Mutter leihen wird: ſo bin ich feſt uͤber-
zeugt, daß er Ihre Schrift von der Suͤnde
wider den heiligen Geiſt ohne Bleyfeder leſen
werde. Vortreflich, ſagte der gute Schrift-
ſteller, wollte Gott! es waͤren keine Bleyfe-
dern in der Welt, und unſere Kritikaſter be-
daͤchten: wer die Bleyfeder nimmt, wird
durch die Bleyfeder umkommen, richtet nicht,
ſo werdet ihr nicht gerichtet. Kommt denn,
fragte der Prediger, kommt denn alles bey
Ihrem
[11] Ihrem lieben Vater ungeſchlagen davon, was
er hoͤrt und lieſ’t? Seine Art iſt, erwiedert’
ich, ohne Bleyfederſtrich, ohne Beziehung auf
es ſey gehoͤrtes oder geleſenes Wort, ein Wort
zu ſeiner Zeit nicht ſchriftlich, auch nicht einſt
muͤndlich, anzubringen, ſondern muͤndlich zu
verlieren. Zuweilen ſcheint es, fuhr ich fort,
daß das, was er ſagt, ſo paße, wie die Fauſt
aufs Auge; indeſſen war mir oft ein ſolch
verlohrnes Wort ein Wort des Lebens zum
Leben. — Dem Prediger gab das verlohrne
Wort Gelegenheit, von der verlohrnen Schild-
wache zu reden, und da lies ich ihn ſobald
nicht los. — Er war ein kleiner Politikus,
las die Zeitungen, wußte alle preußiſche Re-
gimenter namentlich und ihre Uniform; das
war aber auch alles! An mir fand er einen
andern Mann, ich ſprach vom großen und
kleinen Dienſt, und hielt den Ehrenmann
feſt. Was eine verlohrne Schildwache nicht
machen kann! Hier fand mich der Prediger
gewiegter, als bey ſeiner Abhandlung. Er
wolte heim; ich war in meinem Element.
Endlich jammerte mich ſein, ich loͤſete die
Schildwache ab. —
Anlangend den Druck, fing der Prediger,
ſobald er Luft hatte, an, und dankte dem
A 5Him-
[12] Himmel, daß er aus den Haͤnden des Kriegs-
knechts war, der ihm Werbegeld aufdringen
wollen, anlangend den Druck, wiederholt’ er,
ohne weiter eine Begierde zu aͤuſſern, die
Bleyfeder meines Vaters auszufordern, ſo ſey
er nicht koſtbar, allein rein. — Ein gutes
Wort muß eine gute Staͤte finden. — Der
gute Prediger, der ſich aus ſo manchem von
mir verlohrnen Wort uͤberzeugt hatte, daß
mein Vater mit ſeiner Abhandlung nicht zu-
frieden ſeyn wuͤrde, gieng ganz betruͤbt von
meinem Vater, wie der Juͤngling von Chriſto,
der alles gehalten hatte von ſeiner Jugend an:
denn wahrlich! der Prediger war ſo wenig
entſchloſſen, ſeine Noten zu ſtreichen, und den
gelehrten Wuſt, wie dieſer Juͤngling ſein Haab
und Gut, zu verkaufen, und es den Armen
Preis zu geben. So wirſt du einen Schatz
im Himmel haben, ſagte Chriſtus zum Juͤng-
ling. Wer opfert ihm aber eiſenſchwere Ge-
lehrſamkeit, welche doch Motten und Roſt
freſſen, darnach Diebe graben und ſie ſtehlen! —
Vom Kriegsdienſt iſt vor der Hand zwi-
ſchen uns beyden, nach dieſem Ritt, keine Syl-
be weiter vorgefallen.
Wir fingen nach einer geraumen Zeit ſehr
regelmaͤßig, weil die Suͤnde wider den heili-
gen
[13] gen Geiſt uns darauf gebracht hatte, im Ge-
ſpraͤch von der heiligen Regel an, die man
in Ehren halten muͤßte, wenn gleich ſonſt alles
uͤber und uͤber gienge.
Alles in der Natur ſucht ſich an etwas zu
halten. Der Verſtand an der Regel, die er
als Gottes Bild ehret, und wahrlich! ſie iſt
Gottes Bild. Sie iſt nicht Buchſtab, ſie iſt
Geiſt von Geiſt. Meine Mutter wuͤrde ſa-
gen: Dieſe Regel ſtreichen, heißt: wider beſſer
Wiſſen und Gewiſſen handeln und wandeln.
Wehe dem Menſchen! durch welchen Aerger-
nis wider dieſen heiligen Geiſt kommt, es waͤ-
re beſſer, daß ein Muͤhlſtein an ſeinen Hals
gehenkt, und er erſaͤufet wuͤrd im Meer, wo es
am tiefſten iſt. Dies iſt das eigentliche Ver-
brechen der beleidigten goͤttlichen Majeſtaͤt,
nicht aber das, was Stadt- Land- und Kay-
ſerrecht ſo nennt.
Wolte Gott! ſetzt ich hinzu, Ihr Werk wuͤr-
de dieſem Aergernis ſteuren und wehren! Man
kann nicht wiſſen, antwortete der Prediger.
Was wuͤrd aus uns werden ohne Regel?
Da wuͤrd all’ Augenblick einer ſeinen Zauber-
ſtock aufheben, und das Volk wuͤrd ihm die-
nen. Warum uͤberzeugen wir uns jetzt nicht
von Zaubereyen? Weil wir der Regel den
Bo-
[14] Boden ausſtoßen wuͤrden, da wuͤrde ſie denn
liegen in ihren Ruinen. Regeln ſind das Salz
der Erden, wenn aber das Salz dumm wird,
womit will man ſalzen? Erzaͤhl’ ein Wunder
von heut und geſtern oder ehegeſtern, wo
findeſt du Glauben, und warum dieſer Unglau-
be? Hat denn Treu und Glauben aufgehoͤrt
auf Erden? Nicht alſo, wohlmeinender Zeter-
rufer! Die Natur nahm ihren Anfang durch
ein Wunder. Wunder genug! Jezt iſt alles
ohne Sprung. Die Sphaͤrenmuſik iſt ein
einfaches Lied und keine Ode. Es geht na-
tuͤrlich zu, heißt: es verſteht ſich alles von ſelbſt:
die allerortodoxeſten wundervollſten Geiſtli-
chen ſelbſt, haben den Wundern Ziel und Maas
ſetzen muͤßen. Bis dahin, und weiter nicht,
ſollten die Ausnahmen von der Regel ſtatt fin-
den und die Wundergaben im Schwange ge-
hen. — Die alten Propheten ſind todt. Die
neuern haben kein Creditiv vorzeigen koͤnnen;
ob gleich meine Mutter jederzeit uͤber die we-
nige Aufmunterung fuͤr die junge Propheten
die Achſeln zog. Wenn wir keine junge Prophe-
ten leiden, werden wir auch keine alten ziehen.
Jung gewohnt, ſetzte ſie hinzu, alt gethan.
Sie verſtand indeſſen durch einen Prophe-
ten, nur einen Superintendenten, der ein
paar
[15] paar Zoll hoͤher waͤre (im Kunſtwort mehr
haͤtte) als der regierende Herr in Curland. —
Wie kommts aber, daß alles die Ohren
ſpitzt, wenn vom Wunderbaren die Red iſt?
Das kommt, weil der Verſtand ſteif und feſt
auf ſeine Regel haͤlt, und den Feind kennen
lernen will, der dieſe ſeine Veſte einzunehmen
drohet. Das kommt, weil der Verſtand ſein
Richteramt beweiſen und Urtel und Recht
eroͤfnen will, wider den, der die Grenzen zu
verletzen drohet. Das kommt auch, wuͤrde
meine Mutter ſagen, „durch Adams Fall
und Miſſethat.„ Wahrlich! der Menſch
iſt ſehr zum Fall geneigt, wer ſteht, mag wohl
zuſehen, daß er nicht falle. Wir naͤhren all
eine paradiſiſche Schlange im Buſen. Der
Menſch hat zuweilen einen ſchrecklichen Hang
zum Aufruhr. —
Alles dies, und noch mehr von der nemli-
chen Manier, brachte den Prediger nicht wei-
ter auf meines Vaters Bleyfeder, wiewohl er
noch oͤfter als zuvor an reinen Druck und an
weißes Papier dachte. Koſtbar ſey er nicht,
nur rein. —
So viel weiß ich, daß ich meine Zeit in
L * * nach den akademiſchen Wuͤnſchen gut
angewendet habe. Gott ſegnete auch meine
Stu-
[16] Studia, Theorie und Praxis! Ich habe viel!
viel! an dem Grabe meiner Mine gelernt,
wo am Kopfende Gruͤn hervorſchoß! Wir
werden wiederkommen, rief ich zuweilen aus,
und Gretchen faltete die Haͤnde, wir werden
wiederkommen gen Zion mit Jauchzen, ewige
Freude wird uͤber unſerm Haupte ſeyn, Freu-
de und Wonne wird uns ergreifen, und Seuf-
zen wird weg muͤßen! Gott wird uns wieder-
gebohren werden laßen zu einem unvergaͤngli-
chen unbefleckten und unverwelklichen Erbe,
das im Himmel iſt.
Das erſte Gruͤn war uns eine Hieroglyphe
ihrer Auferſtehung. Es kam uns vor, als
richtete Mine ſich auf, und nie iſt das erſte
Gruͤn ſo bewillkommt worden, als dieſes! —
Es kam von Minen! — Sie war handgreif-
lich — ſo kam es uns vor. Wir hatten ih-
re Grabeserde ſo gelockert und bearbeitet, daß
ſie wie ein Gartenacker ausſah. Sie lebt,
rief ich eben ſo entzuͤckt, als wie ich ſie feſt
an mein Herz druͤckte, und ein warmer leben-
diger Othem ſich aus ihren Lippen drengte.
Sie lebt! rief ich, und Gretchen rief auch:
Sie lebt! — Wahrlich lieben Leſer! dies alles
war mehr, als arcadiſche Gaͤrtnerey. — Es
lag ein Sinn in dieſer Hieroglyphe. — — —
Wenn
[17]
Wenn man ſich acht Tage ſo auf dem Dach
iſt, als ich dem guten Prediger, hat man ſich
weg. — Die Buͤcher ſind Lexica nach Be-
ſchaffenheit der Umſtaͤnde, Real oder Verbal.
Mehr kann ich ihnen nicht zuſtehen. Menſch
lerne dich! Welch ein großes Wort, ſagten wir
beyde, der Dekanus, der die vorige Nacht
Grosvater geworden war, und ich, der ich
nicht vielweniger, Student werden ſollte.
Wahrlich! ein großes Wort! — allein welch
ein ſchweres Wort zugleich! Der Vater lernt
ſich erſt in ſeinem Sohn kennen. Niemand
will in ſich hinein: auſſer ſich herumzuſchwei-
fen, hat der Menſch eine ſo eingefleiſchte Luſt,
daß er gern unſtaͤt und fluͤchtig iſt. Sein eig-
nes Haus brennt dem Menſchen uͤbern Kopf,
er fuͤrchtet, in ſich herein zu blicken, wie Kin-
der, in einem Zimmer allein zu ſchlafen. Dar-
um die Geſelligkeit. — Wenn ich an dieſe
guͤldne Regel komme: Menſch lerne dich,
bin ich in meiner Heimath. Die Theologen
nennen das Selbſtverleugnung, was wuͤrk-
lich ein großer Theil von Selbſtkenntnis
iſt. Man muß ſich abſterben, um ſich aus
den Todten hervorgehen zu ſehen, und
ſolch ein Erſtandner, das biſt du Selbſtken-
ner! —
BEs
[18]
Es kam zwar in unſern Lektionen der Herr
Graf ſehr oft und viel vor; indeſſen dachten
wir nicht anders an ihn, als exempli gratia
(zum Beyſpiel.) Freylich haͤtten wir auch auf
einen Beſuch, den wir ihm ſchuldig waren,
fallen ſollen, und des Predigers Pflicht waͤr’
es vorzuͤglich geweſen, ſich und mich daran
zu erinnern, da der Graf ein Stuͤck von ſei-
nem Kirchenpatron und ſein Wohlthaͤter war.
Auf einmal ein Brief mit Pleroͤſen vom Hoch-
gebohrnen Nachbar. Eine Einladung auf
morgen, ſagt ich, — das nicht, erwiederte der
Paſtor und bemerkte zugleich, daß der Graf
niemals Jemanden auf einen gewißen beſtimm-
ten Tag zu ſich baͤte. Er lebt in dieſem Stuͤck,
ſetzte der Prediger hinzu, wie man ſtirbt. Es
muß ihm alles unvermuthet kommen. Wer
kann, ſoll er ſagen, einen uͤber zwey, drey
Tage, auch wohl mehr, zur Mahlzeit einladen?
Dieſe Nacht kann man deinen Appetit von
dir fordern! Sehet zu, wachet, denn ihr wi-
ßet nicht, wann es Zeit iſt. Wer ſterben lernt,
muß ſo und nicht anders leben, ſey des Gra-
fen Loſung! — die er uͤbte, wo es ſich nur
irgend uͤben ließe.
Wie geſagt, der Brief war nur eine Er-
innerung an unſer Verſprechen. Wenn be-
wir-
[19] wirthen ſo viel heißt, den Gaſt zu dieſer Auf-
nahme durch eine Einladung vorbereiten; ſo
hat der Graf noch in ſeinem Leben keinen auf-
genommen und bewirthet. Es ward beſchloſ-
ſen, den folgenden Tag dem Grafen zu wid-
men, und damit mir alles deſto unerwarteter
ſeyn moͤchte, lies mich der Prediger in Abſicht
der Einrichtung des graͤflichen Gebeinhauſes
in wohlgemeynter Unwiſſenheit. — Die Pre-
digerin wollte mit, es gefiel ihr dort unaus-
ſprechlich, und gern haͤtte ſie es in ihrem Hauſe
ins Kleine gebracht, was dort im Großen war.
Der Prediger und Gretchen konnten nicht auf-
hoͤren, zu ſteuren und zu wehren, damit die-
ſes Miniaturſtuͤck unausgefuͤhrt bliebe. — Der
Prediger ſchlug ſeiner Frauen eben darum auch
ab, mitzufahren. Der Prediger und ich fuh-
ren fruͤh aus, um zeitig in — — zu ſeyn.
Gretchen blieb bey ihrer Mutter. — Wie ſehr
freu ich mich, dieſen Grafen beſucht zu haben!
— Der Prediger aus L — der ſchon im graͤf-
lichen Hauſe bekannt war, fuͤhrte mich ſogleich
in ein Zimmer, wo Saͤrger gearbeitet wur-
den. Es war das Bedientenzimmer; denn Nie-
mand als ein Sargtiſchler, wie der Graf mich
ſelbſt nachhero verſicherte, wurde in ſeinem
Dienſt auf- und angenommen. Es wurden
B 2be-
[20] beſtaͤndig Saͤrger gearbeitet. Der Graf dien-
te armen Leuten aus ſeiner Sargfabrike.
Jetzt war kein Proviſionsſarg in Arbeit. Der
Sargtiſchler hatte Thraͤnen in den Augen,
wie der in Curland, den meine Mutter des
[Todes Zimmermann] nannte, und der in ſeiner
Gewerksſtube herzlich weinte, wenn er einen
Sarg fuͤr einen Redlichen im Lande erbauete.
Gott, ſagte der Weinende, und wandte ſich
zu ſeinem Beichtvater, meinem Reiſegefehrten!
Ach Gott! lieber Herr Pfarrer, der kuͤnftige
Einwohner dieſes Hauſes hatt’ ein ſchoͤnes En-
de! Das leztemal, daß ich fuͤr Jemand einen
Sarg mache, den ich ſterben geſehen! Mag
es thun wers kann — ich nicht — ich hoble
mir das Herz ab.
Dieſer Ausdruck, der ihm, wie man deut-
lich ſahe — entfuhr, ſchlug ihn nieder. Er
verlohr Spannung und Kraft. Das Hand-
werkzeug entfiel ihm. — Das ruͤhrendſte
war immer, daß er ſein Geſicht in ein Stuͤck
ſeiner Schuͤrze verhuͤllte. Dies iſt ein wohl-
hergebrachtes Zeichen der Traurigkeit. Wir
verhuͤllen uns, als ob wir der Welt entſagen
und uns auf uns ſelbſt einſchraͤnken wollten,
als ob der Fall zu ſchwer waͤre, um ihn faſ-
ſen — ſelbſt um ihn ſehen zu koͤnnen. Wahr-
lich
[21] lich dieſer Vorgang hobelte nicht nur dem Sarg-
tiſchler das Herz ab — ich war wie er, hin!
Er ſchluchzte unter der Schuͤrze! — Freund!
ſing der Prediger an, man ſieht und hoͤrt es
ihm an, daß er beym Herrn Grafen das Sarg-
handwerk noch nicht ausgelernt. — Es wird
ſich geben — iſt er denn nicht auch ſterblich? —
Seine Mitarbeiter, die ſich bis dahin nicht ei-
nen Augenblick abhalten laßen, kamen itzt
zuſammen, als kaͤmen ſie zur Kirche. Einer
nahm ihn an die Hand, ein anderer ſtreichelt’
ihm den Arm, ein dritter legte ſeinen Kopf
auf ſeine Schulter, als ob er ihm Troſt ins
Ohr ſagen wollte, der vierte, der unempfind-
lichſte, wolt’ ihm den Vorhang wegreißen.
Unſer Betruͤbte hielte die Schuͤrze feſt vors
Geſicht. Dieſer vierte ſchien es eben ſo gut
zu meynen, wie die drey andern; allein wer
den Menſchen kennt, wird es finden, was
fuͤr eine grauſame Beſchaͤmung es fuͤr unſern
Weinenden geweſen waͤre, wenn er uns alle
ins Geſicht bekommen haͤtte. Der Menſch
ſcheint ſich in dergleichen Faͤllen zu ſchaͤmen,
daß ſo viele Leute gefaßt ſind, nur er nicht. —
Ueberhaupt ſieht man ſelten den Troͤſter an,
es waͤre denn, daß viele Troſtbeduͤrftige zu-
ſammen ſind; dann uͤbertraͤgt einer den an-
B 3dern
[22] dern in Ruͤckſicht dieſer Beſchaͤmung. — Der
vierte riß wuͤrklich endlich die Schuͤrze herab —
wie konnte der Traurige lange widerſtehen?
Schmerz macht ſchwach. — Unſer weinende
machte indeßen die Augen ganz dicht zu, und
da ſtand er jaͤmmerlich! Der erſte nahm dem
vierten die Schuͤrze aus der Hand und gab
ſie dem Weinenden wieder. — In dieſer Hand-
lung traf uns der Graf, dem des Predigers
und meine Ankunft gemeldet war! — Alles
blieb, wie es da ſtand! Niemand kam dieſes
Ueberfalls wegen aus ſeiner Stellung. Nie-
mand ſchlich ſich an ſeine Werkſtaͤte, alles
ſchien an Ort und Stelle, ſelbſt unſer Betruͤbte
nicht ausgenommen, der Mittelpunkt dieſer
Scene. Was da? fragte der Graf, nachdem
er den Prediger und mich mit einem guten
Morgen begruͤßt oder beherziget hatte. — Der
Prediger nahm das Wort — Ferdinand hat
den Einwohner des Hauſes ſterben geſehen,
das er bauet! Nun, ſagte der Graf, Faßung,
Ferdinand! Begrab’ ich denn nicht alle, die
ich ſterben ſehe? Leim’ ich nicht hier und da
ſelbſt ein Leiſtchen ans Sarg? Der junge
Menſch, der hier einziehen ſoll, hatte ein
frommes, gutes, edles, warmes Maͤdchen, das
ihm ſtarb. Sie ſtarb und er — ihr nach.
Gott!
[23] Gott! in deine Haͤnde befehl ich meinen Geiſt,
dacht’ ich tief im Herzen. Der junge Menſch
hatte eine Mine, fuhr ich fort im Herzen
zu denken, und war froh, daß Gram und
Kummer wegen verungluͤckter Liebe ſo lang’
am Herzen nagten, bis es durch und durch iſt,
bis man nachſtirbt. Mein Auge ſah gen Him-
mel ſtarr! Ha, ſagte der Graf, der mich bey
der Hand nahm, da haben wirs. Gelt! wenn
ſie einen Sarg fuͤr dieſen Juͤngling machen
ſolten? Gern, grif ich ein, ſehr gern, das
glaub’ ich, erwiederte der Graf. Sie wuͤr-
den nicht weinen und heulen. Nein, ſagt’
ich, ich wuͤrd es nicht — nicht einen einzigen
Thraͤnentropfen, nicht einen — das glaub ich,
erwiederte der Graf, der ſtirbt gern, ſehr gern,
den dieſe Welt nicht entſchaͤdigen kann, es ſey
in Wuͤrklichkeit, oder in Einbildung. So
hab’ ich einen jungen Menſchen gekannt, der
mit Freuden dem Tode entgegen gieng, weil
er die Zierde ſeines Haupts, ſeine Haare, ver-
lohr. Er hatte ſie ſo ſchoͤn, wie Abſalon! al-
lein eben ſo leicht, wenn ers bedacht haͤtte,
eben ſo leicht, wie Abſalon, haͤtt’ er an einer
Eiche haͤngen bleiben koͤnnen. — Eine Krank-
heit raubte ihm dieſe Zierde, gegen die ihm der
Tod wie gar nichts ſchien. Er erholte ſich zu-
B 4ſehens.
[24] ſehens. Kein vernuͤnftiger Arzt entdeckt dem
Patienten die erſte Erholungſpur. Dies wuͤr-
de heißen, auf dem Richtplaz Pardon erthei-
len. Alle Affekten ſind ſchon an ſich dem Men-
ſchen ſchaͤdlich, Freude ſo gut als Leid. Ein
Stuͤck von Fieber iſt immer dabey, und wer
iſt wohl zu ſolchen ploͤzlichen Uebergaͤngen
aufgelegt? Nun war unſer Abſalon ſo weit
in der Beſſerung gediehen, daß er ſich nicht
mehr auf dem Richtplatz befand, und nun kam
der Arzt mit der frohen Nachricht, daß er und
der Tod geſchiedene Leute waͤren. Leben iſt
ein frohes Wort! ich ſetze ewig dazu, wenn
ich mich freuen ſoll. Bey den meiſten Leuten
iſt das Wort leben ſchon genug. —
Froh blickt’ unſer Kranke auf, und ſein
Haupthaar war das erſte, mit dem er ſich be-
freuen wolte. Er war mit ihm am mehrſten
verwandt — allein es war dahin, und ſiehe
da, er wollte nicht leben. Man hatte ihn zu
voreilig verſichert, daß ſeine Haare entweder
nie wieder, oder wenigſtens ſehr ſpaͤt, aufgehen
wuͤrden, und wie konnt’ er leben? Er hatte, wie
Simſon, ſeine Staͤrke in den Haaren. Man
nannte ihm Voͤlker, alter und neuer Zeit, die
ſich zur Zierde, der Haare entaͤußerten; allein
nichts — er ward krank und ſtarb ſo ruhig,
als
[25] als wenn ihm im Tode die Haare wieder
wachſen wuͤrden! — Du armer Abſalon!
Biſt du denn in keinem Gebeinhaus geweſen?
Haſt du denn keinen gebleichten Schaͤdel geſe-
hen? Ich nenne ſo Etwas auf Gottes Blei-
che liegen, ſagte der Graf im vertraulichen
Lehrton, in den er oft fiel, und wahrlich! wir
werden durch den Tod ausgewaſchen. Wenn
ich einen alten Mann, ich ſage mit Fleiß alten
Mann, mit einer Glatze, mit einem Todtenkopf
ſehe, denk ich, der Mann iſt ſchon dem Himmel
naͤher, als ich. — Wie gefaͤllt Ihnen die Ge-
ſchichte von Abſalon, der wahrlich an den Haa-
ren ſtarb. — O Freunde! Nicht wahr, von vie-
len, von vielen Sterbenden kann man ſagen,
ſie bleiben an einer Eiche hangen? Nicht wahr,
Gevatter Prediger?
Bis dahin hoͤrt ich den Grafen mit Ver-
gnuͤgen; da er aber zur Nutzanwendung uͤber-
gieng, und mir ganz deutlich zu verſtehen gab,
daß Minens Verluſt von der nehmlichen Art
waͤre, ward ich uͤber dieſe Kaͤlte, uͤber dieſe
Todeskaͤlte des Grafen, wegen meines unerſez-
lichen Verluſts ungehalten. — Es ſchicken
ſich wenig Leute, dacht’ ich, zur Nuzanwen-
dung — ich wandte mich zu unſerm Wei-
nenden und Heulenden, und verlangte den
B 5Ue-
[26] Uebergang von der Geſchichte des eben Ver-
ſtorbenen zu dem Herzen des Sargtiſchlers. —
Dieſer Weg, dacht’ ich, muß ſehr gerade ge-
hen. Der junge Menſch, fiel der Graf ein,
hat ein Maͤdchen, die ihm ſeine Eltern verwei-
gern, weil ſie reich ſind. Ihre Eltern ſind
reicher, als wir alle — — ſie ſind todt. —
Er hat nicht noͤthig, in meiner Werkſtube zu
ſeyn; allein er arbeitet fuͤr Protektion, er
glaubt, mein Fuͤrwort koͤnnte hinreichend ſeyn,
ſeine Eltern zu bequemen — und wenn das
nicht, fuhr ich fort, ſo haben der Herr Graf
Mittel und Wege, das arme Maͤdchen zu be-
reichern, und hier gleich und gleich zu machen.
Ha, dacht’ ich, das iſt fuͤr deine Kaͤlte, Hoch-
gebohrner Herr. Anwendung fuͤr Anwen-
dung. Schon recht, junger Mann, erwieder-
te der Graf, allein wenn ich die Vorurtheile
der Eltern befriedigen ſolte, haͤtt ich denn fuͤr
die Einigkeit geſaͤet? Wahrlich ich haͤtt’ auf
Fleiſch und nicht auf den Geiſt geſaͤet — und
am Ende, wenn ich jedes Maͤdchen bereichern
ſolte? — Ich aͤrgerte mich, und vorzuͤglich,
weil der Mann bey ſeiner Todeskaͤlte wieder
Recht hatte. So iſt, glaub’ ich, das Recht
uͤberall. Man faßt Eis, man faßt den Tod
an, nicht das rechte Recht iſt ſo kalt, ſondern
das
[27] das Weltrecht, mit dem man ſo ſelten zufrie-
den iſt, daß man faſt lieber Unrecht wuͤnſcht,
um wenigſtens laut ſchelten zu koͤnnen. Das
Weltrecht iſt aus dem Codice genommen, der
todt an ihm ſelbſt iſt. Das rechte Recht aus
dem lebendigen Specialfall, der eben vorliegt.
— Ein haarkleiner Unterſchied aus der Ur-
ſache, nicht aus der Wuͤrkung, wie aͤndert er
die Sache! Caſus in terminis. Welch ein
dummdreiſtes Kunſtwort! Iſt euch, ihr hoch-
verordneten Rechtskauer, das Principium
indiſcernibilium denn ganz und gar unbekannt,
und, um euren Collegen ein lehrreiches Exempel
darzuſtellen, einen wuͤrklichen caſum in termi-
nis, thut der Arzt nicht wenigſtens, als ob er
dem lebendigen Specialfall, der eben vorliegt,
nach dem Leben, nach dem Puls faßt, ob gleich
auch er nach dem Corpore Juris Hypocrateſiano
ſein Urtel formt?
Der Graf ſetzte dieſe Unterredung, ohne
daß ich es ihm nahe legte, fort, ich hoffe, ſagte
er, die Eltern des Weinenden und Heulenden
weichherzig zu machen, und denn hab ich alles
aus der erſten Hand, wenn ich ſie ausſtatten
ſolte, haͤtt’ ichs aus der zweyten, wo nicht
gar dritten. Die erſte Hand iſt mir immer
die beſte und ſicherſte. Ich liebe, fuhr der Graf
fort,
[28] fort, Heyrathen zu ſtiften; denn wo wuͤrd’
ich ſonſt Gelegenheit zu Saͤrgern vorfinden?
Dieſer Sonnenſchein, den der Graf auf un-
ſern Weinenden (ein Heulender zu ſeyn, hatt’
er ohnedem ſchon aufgehoͤrt) ſchießen lies,
trocknete ſeine Thraͤnen, er hobelte weiter, oh-
ne ſeinem Herzen mit ſeiner Hobel zu nahe
zu kommen, und ihm einen Gnadenſtoß bey-
zubringen.
Der Graf bat naͤher zu treten, und ich
weiß auf Ehre nicht, ob es meinen Leſern und
Leſerinnen angenehm ſeyn werde, naͤher zu
kommen. Sie kennen den Grafen ſo gut, wie
ich, und wiſſen ſo gut, wie ich, daß ich ſie
nicht nach Arkadien begleiten werde. Der
Graf wuͤrde recht in Egypten zu der Zeit an
Stell und Ort geweſen ſeyn, da in jedem
Hauſe ein Todter war, und was noch mehr
iſt, die Kernfriſche Erſtgeburt. — Der Graf
ſchien in ſeinen Todes Hoͤr- und Sehſaͤlen
ſehr tolerant. Es ſterben Chriſten und Gott-
glaͤubige Deiſten bey mir, ſagt’ er. Wenn
gleich ich mit Gotteshuͤlfe wie ein Chriſt zu
ſterben der feſten Zuverſicht lebe; ſo will ich
doch mein Haus zum Sterbhaus und nicht
zur Moͤrdergrube machen, das heißt: ich will
nicht Chriſten werben, und ehrlichen Heiden
in
[29] in meinem Obdach zum erbaulich chriſtlichen
Ende Handgeld beybringen. Kein Jude hat
mir noch das Vergnuͤgen gemacht, in meinem
Hauſe zu ſterben. Mein Haus iſt ihm un-
rein, obgleich er ſelbſt ſo unſauber iſt, daß
ich ihn fuͤr einen Ciniker halten wuͤrde, wenn
er nicht ein Jude waͤre. Ich habe zwar nach
Anzahl der fuͤnf Buͤcher Moſis fuͤnf Juden
ſterben geſehen; allein bis auf einen nur ſter-
ben gehoͤrt, vier ſtarben hebraͤiſch, ſie hatten
den Tod auswendig gelernt, und beteten ihn
ſo her, wie die Nonne den Pſalter. Beym
Amen, weg waren ſie. Den fuͤnften hab ich
obſervirt, deßen Aeußeres zwar juͤdiſch ſchien,
ſein Inwendiges aber war Gottglaͤubig dei-
ſtiſch, und alſo gehoͤrt er eigentlich nicht in die
Judenclaße. Barba non facit Philoſophum.
Der Bart macht keinen Juden. —
Wir kamen einen Sabbatherweg von unſ-
rer eigentlichen Straße ab, und ich hatte Ge-
legenheit, von dem juͤdiſchen Volke die Mey-
nung meines Vaters anzubringen. Hat der
goͤttliche Judenbekehrer dies Volk nicht ein-
lenken koͤnnen, mußte er ſeinen Stab ſanft
zu den Heiden uͤberſetzen; warum wollen wir
bey einem ſo ſchlechten Beyſpiel, das wir den
Juden in den meiſten Chriſten darſtellen, mehr
erwar-
[30] erwarten? Des Herrn Reich wird kommen,
der Tag, den Gott allein machen kann, ein-
brechen, da trotz dem baͤrtigen und unbaͤrti-
gen Gottesdienſte, Eine Heerde und Ein Hir-
te ſeyn wird. — Der gute Prediger aus L —
hatte viel uͤberhaupt, beſonders aber wegen
der Suͤnde wider den heiligen Geiſt dagegen,
welche ſich im eigentlichſten Originalverſtande
das ſtockblinde juͤdiſche Volk, wie er verſicher-
te, zu Schulden kommen laßen; indeßen mu-
ſte er die Juden fuͤr Archivarii, fuͤr Siegelbe-
wahrer der chriſtlichen Religion, anerkennen,
und der Graf lenkte mit dem Umſtande ein,
daß er die vier hebraͤiſch geſtorbenen umge-
kehrt in das Buch der Sterbenslaͤufe einge-
tragen. Der fuͤnfte ſtand in einer Reihe mit
den Gottglaͤubigen. Ich habe, ſagte der
Graf, alles nach Orts-Umſtaͤnden und Gele-
genheit eingerichtet, und zwey Claſſen ge-
macht. Hier zu meiner Rechten Chriſten, zu
meiner Linken, Gottglaͤubige. Mahumeda-
ner gehen dieſe Straße nicht, warum alſo? —
Hier iſt noch ein Simultanſtuͤbchen, wo So-
cinianer, Pelagianer, Semipelagianer, Ber-
liner und Semiberliner (wie der Prediger —
— in — — die neuſte Ketzerey nennet) blei-
ben koͤnnen. Es ſind indeßen nur zwey So-
cini-
[31] cinianer hier unſanft entſchlafen; die meiſten
haben ſich zu einer der groͤßten Claſſen ohne
meine Mitwuͤrkung bekehret, und ſind auf
Prima oder Secunda, oder zur Rechten oder
Linken geſtorben. Ich ſelbſt bin ein Chriſt,
mache mir eine Ehre draus, und alle recht-
ſchaffene Primaner erkennen mich dafuͤr.
Ha, fieng der Graf, wie aus einer fri-
ſchen Champagner Bouteille, an. Meine
Mode iſt vielen ein Geruch des Todes zum
Tode. Sie ſpotten mein, und belegen mich
mit apocryphiſchen Schandnahmen. Es ſey
alſo, ich achte alles fuͤr Schaden gegen dieſe
uͤberſchwengliche Erkenntnis. Sterben iſt
mein Gewinn, ich ſchaͤtze mich ſelbſt noch nicht,
daß ichs ergriffen haͤtte. Eins aber ſag’ ich,
ich vergeſſe was dahinten iſt, und ſtrecke mich
zu dem, was da vornen iſt, und jage nach
dem vorgeſteckten Ziel nach dem Kleinod. —
Zwar leugne ich nicht, daß die Kranken- und
Todeswaͤrter auch Traͤger, von je her, eben
nicht in großen Anſehen geſtanden, und daß
ſchwerlich ſo lange die Welt ſteht ein des heili-
gen Roͤmiſchen Reichs-Graf und Herr ſich
damit beſchaͤftiget haben duͤrfte, aber dafuͤr
hab’ ich auch die Ehre, der Erſte in dieſer Art
zu ſeyn. Es iſt wahrlich ein Stuͤck von Adam
in
[32] in ſeiner paradiſiſchen Pracht und Herrlich-
keit, wenn man auf einem Wege der Erſte iſt!
Es liegt Etwas Goͤttliches drinn. Zwar wenn
vom Stammbaum die Rede waͤre, fing der
Graf in einem hochgebohrnen Ton an; moͤcht
ich ſehen, wer einen entferntern Erſten haͤtte,
als unſer Haus? Ich nehm aber meinen Er-
ſten im andern Sinn. Auch der Lezte iſt mir
Ehrenwerth. Der Lezte zu ſeyn, iſt zwey
Drittel weniger koͤſtlich; indeßen beßer als
alle, die vor ſind, bis auf den hohen Erſten.
— Adam und Eva wurden nicht gebohren,
und die den juͤngſten Tag erleben, werden nicht
ſterben. Ich moͤcht ihn ſchon nicht erleben,
den juͤngſten Tag, denn ich habe Luſt abzu-
ſcheiden. Ich habe die Ehre, den Tod zu ken-
nen, und kann wohl ſagen, daß ich ihn lieb
habe, ſo lieb wie mein Leben und mehr.
Der Graf ſprach dieſes nicht im Ausfor-
derungston, ſondern ſo kalt, wie der Tod.
Er hatte ſchon die Weiſe des Todes angenom-
men. Ich hatt’ ihm ſeine obige Anwendung
laͤngſt verziehen, und war froh, einen ſolchen
Sterbensmann kennen zu lernen. Ich moͤch-
te bey dem allem wißen, fieng der Graf vom
friſchen an, wie es zugehe, daß Leute, welche
alsdenn, wenn uns oft die beſten Freunde
un-
[33] untreu werden, uns zu Dienſten ſtehen, ſo
wenig geachtet worden und noch werden.
Die natuͤrlichſte Urſache, erwiedert’ ich, da
der Graf wuͤrklich inne hielt, weil der Menſch
ohne Seele nicht viel iſt. Es hinkt und ſtinkt
mit ihm, pflegte meine Mutter zu ſagen. Da
es nun endlich mit uns allzuſammen auch ein-
mahl hinken und ſtinken wird; ſo ſcheint das
Leichenbegaͤngnis, woran alles ohne Anſtoß,
ohne Capitis Diminution, Theil nimt, einge-
fuͤhrt zu ſeyn, welches bey allen geſitteten
Perſonen von je her uͤblich geweſen. — Hie-
durch wollen wir unſere Entfernung von der
Leiche, unſere Verachtung ſelbſt gegen die,
ſo ihr nahe blieben, rechtfertigen. Wir tre-
ten der Leiche naͤher. Man nennet dies die
lezte Ehre, den lezten Liebesdienſt, weil die
Seele nicht mehr gegenwaͤrtig iſt, da der Er-
denklos zum leztenmahl nach ſeinem in der
Welt behaupteten Menſchenwerth und Rang
behandelt wird. Ich will mich hier nicht an-
fuͤhren; denn waͤr es moͤglich geweſen, mit
Minen auch ohne lebendigen Othem zu leben
und zu ſeyn — gern! — Der Graf, dem die-
ſer Seufzer unangenehm ſchien, half mir wie-
der in die Rede, wie folget.
CIch
[34]
Ich laͤngne es nicht, daß wir Menſchen
vielleicht bey dieſer Gelegenheit eine Doſis
Grosmuth raͤuchern wollen. Der Erbe zei-
get, er habe, unerachtet der Erblaßer nicht
mehr da iſt, noch Liebe fuͤr ihn, und mehr, als
fuͤr den Nachlas. — Der Sohn will die
Pflicht der Erkentlichkeit erfuͤllen gegen den,
der ihm ſein Bild anhieng, das auch noch im
Tode nicht ohne uͤbereinſtimmende Aehnlichkeit
iſt. Die Tochter will beweiſen, daß ſie eine
tugendhafte Mutter gehabt, daß heißt mit
andern Worten, daß ſie ſelbſt tugendhaft ſey.
Mine weinte bey dem Grabe ihrer Mutter
meinet und ihrer Mutter wegen. Dem Gra-
fen war dieſer Eingrif wieder nicht am rechten
Orte; denn ich konnte den Namen Mine, der
mir mehr als alle Namen iſt, nicht ausſpre-
chen, ich kann es noch nicht, ohn’ aus dem
Concept zu kommen. Diesmahl half der
Graf mir ein. — Das alles leugn’ ich nicht;
indeßen bin ich der lebendigen Zuverſicht, daß
weil alle Nationen ſo ſtimmig in puncto puncti
ſind, es ſey die Nachexiſtenz der Seele die Ur-
ſache dieſes Hebens und Tragens, das man
mit ihrer Huͤlle vornimmt. Man ehrt ſie im
Koͤrper, ſo wie den Mann im Bilde, und will
das, was ein Geiſt getragen hat, in einer Eh-
ren-
[35] renruͤſtkammer aufhaͤngen, ſo wie man Har-
niſche in der Kirche aufhaͤngt, obgleich ſie
nicht alle wider die Tuͤrken gebraucht worden.
Man will das an andern thun, was man
ſelbſt an ſich zu ſeiner Zeit gethan wißen will.
Man fuͤrchtet ein ſchlechtes Compliment in
der andern Welt, wenn man gegen den Ent-
ſeelten dieſe Pflichten verſaͤumet hat. Wahr-
lich es liegt ſehr was menſchliches in dem
Begraͤbnis, und ich bin ihm ſehr gut — ſehr.
Der Graf konnte nicht umhin, mich herzlich
zu umarmen; mehr konnt er nicht.
Die Fluͤche, womit man in alten Zeiten
diejenigen bedrohete, die Hand an die Tod-
tenhaͤuſer legen wuͤrden, wie ſehr beweiſen ſie
den Werth, den man auf Staub, Erd’ und
Aſche legt! Wer dies Grabmahl ſtoͤhrt, ſoll
die Seinigen all uͤberleben. Schreklicher
Fluch! Er ruhet auf mir, ſagte der Graf!
Ich lenkte ab, und ſagt’ einen Fluch anderer
Art: den ſollen die Manes ſaur anſehen! —
Iſt das nicht ſchrecklicher, als wenn es an
den Wegen heißt: wer hier Toback raucht,
ſoll ſechs Jahr in die Feſtung! denn dies
heißt, mutatis mutandis, ſoll ihn ſechs Jahr
in der Feſtung rauchen. Dies Wort zu ſeiner
Zeit, oder zur Unzeit, munterte den Grafen
C 2auf
[36] auf, der wider Denken und Vermuthen eine
Empfindung uͤber den Umſtand merken lies,
daß er auf dem Staube aller Seinigen ſtuͤnde.
Man hatte zu aller Zeit Familienbegraͤb-
niße, Familiengewoͤlbe, Hypogaea, wo jeder
ſein Kaͤmmerlein beſaß, jeder Topf ſein Plaͤtz-
chen und ſein Apotheker-Etiket! —
Recht, ſagte der Graf, die Urnen und
Grabhaͤuſer der Alten verrathen indeßen viel
Geſchmack. Man findet in dieſen galanten
Zeiten Taſſen, fuͤgt’ er hinzu, Potspouries,
was weis ich mehr, auf dieſe weiſe, und
manches Weibsbild ſollte nur wißen, wor-
aus es trinkt, woraus es Geruch ziehet, ſie
wuͤrde —
Daß ich, fuhr der Graf fort, meine Taſ-
ſen in der Art habe, iſt kein Wunder; da ich
indeßen ein Chriſt bin, habe ich was chriſt-
liches dabey angebracht, ein Kreuz. Ich bin
kein Heide, ſehender oder blinder! Heide iſt
Heide! Nicht wahr, Gevatter Prediger?
Der Gevatter Prediger, der des Grafen
Toleranz kannte, obgleich er auch wußte, wie
aͤchtchriſtlich der Graf ſey, gab kein Wort
darauf, ſondern ließ ſich bey dieſer Gelegen-
heit mit der Anmerkung hoͤren, daß Seefah-
rer, wenn ſie in Lebensgefahr geweſen, ſich
Koſt-
[37] Koſtbarkeiten um den Leib gebunden, und ein
Geſuch, ſie, wenn das Meer die Gnade ha-
ben wuͤrde, ſie auszuſpeyen, zur Erde zu brin-
gen; denn der Menſch iſt Erde und muß zur
Erde werden, ſezt’ er hinzu. Hier ſagte der
Graf: Recht! Gevatter Prediger.
Ich fuͤhrte meinen Cornelius Nepos an,
wegen des Cimons, deßen Leib der Herr Sohn
Miltiades ausloͤſen muſte. Es macht Men-
ſchen Ehr’ und Schande, daß ſie einen menſch-
lichen Leib fuͤr ein Unterpfand anſehen koͤnnen,
ſagte der Graf, und ſetzte wieder hinzu: nicht
wahr, Gevatter Prediger?
Wir konnten von der lezten Ehr’ und lez-
ten Schande nicht abkommen, die wir den
Verſtorbenen erwieſen. Die lezte Schande,
ſagten wir einſtimmig, fienge von dem Au-
genblick an, da alles ſagt: Kalt, und daure
bis zur Collocation, bis zur Ausſtellung, hier
fienge ſich die lezte Ehr’ an, und gehe bis ſich
gleich und gleich geſellet hat, und Erde zu
Erde gekommen. Bey uns zu Lande, bemerk-
te Gevatter Prediger, heben Traͤger von eini-
ger Bedeutung die Baare nicht auf, ſondern
ſchlechte Leute. Sie ſetzen ſie auch nicht nie-
der. Da wieder Schand’ und Ehre. Wer
wird, fragte der Graf, der Albernheit das
C 3Wort
[38] Wort nehmen, die ſich beym Anputz der Lei-
che und bey dem Begraͤbniß-Luxus zu offen-
baren pflegt? Da begraben die Todten die
Todten! Wir fielen auf die Todten und Be-
graͤbnislieder der Alten, die nicht ſo erbaulich
waren, als: ich hab’ mein Sach Gott heim-
geſtellt. Ich bin ja Herr in deiner Macht,
und das neue Todtenlied vom Jahr des Orga-
niſten in L —
Wir danken Gott fuͤr ſeine Gaben ꝛc.
Die Todtenlieder der Alten waren weinerliche
Luſtgeſaͤnge, ſagte der Graf. Ernſt und
Scherz, wie iſt es zu erklaͤren (das war das
Wort, ſo der Graf ſuchte) wie iſts zu erklaͤ-
ren, daß ſo kluge Voͤlker in dieſem Stuͤck ſo
unklug ſeyn konnten? Dieſe Geſaͤnge, dieſe
Naͤnien, die Hanswuͤrſte und Gaukler, dieſe
Klagweiber, die ſo lachen konnten, daß alle
Welt es fuͤr Weinen hielt, wie iſts in rerum
natura, wie iſts erklaͤrbar? Wie Lachen und
Weinen zuſammen!
Nach bild der Welt, ſagt ich, oder mein Vater.
Doch ich will blos den Inhalt eines lan-
gen Geſpraͤchs geben; ſonſt wuͤrd’ ich zu weit-
laͤuftig werden.
Dieſes Leben, fieng ich an, iſt Lachen und
Weinen, in einem Sack, ſetzte der Graf
hinzu.
[39] hinzu. Warum der Anſtoß bey einem Uni-
verſalwort, das faſt in allen Sprachen ein
und daßelbe bedeutet? Sack, ſagt’ ich dem
Grafen nach, Dramas, weinerliche Luſtſpiele,
wuͤrden wahre natuͤrlich warme Lebensdarſtel-
lung ſeyn, wenn das Ende nicht luſtig und
der Anfang traurig waͤre. Links und rechts,
bald ſo, bald anders, muͤſte es ſeyn, das
waͤr’ ein Leben! — Luſt und Trauerſpiele waͤ-
ren dann Kunſt, jene Naturſtuͤcke, nicht wahr?
fragte der Graf den Gevatter Prediger; allein
dieſer ſchuͤttelte blos mit dem Kopf, weil von
Luſt und Trauerſpielen die Rede war, auf die
ſich der Gevatter ſo wenig, als auf die wei-
nerliche Luſtſpiele, kunſtgerecht verſtand. —
Die Alten agirten beym Begraͤbnis das Le-
ben, ſo wie ſie bey allem, was ihnen gros,
erbaulich, goͤttlich war — agirten. Es lag
vielleicht ein hoher Sinn in ihrer Begraͤbnis-
methode, wo Luſt und Unluſt zuſammen wa-
ren und wechſelten wunderlich. Sie laſen
den wahren Lebenslauf des Verſtorbenen oh-
ne Tropen und Figuren. Ihre Begraͤbniſſe
waren Leichenpredigt, Leichengeſang, fuͤr die
umher giengen. Seht da das Leben! ſeht!
ſeht! faßt euch, wenn der Tod es fordert.
Laßt Leben und Tod aus einem Stuͤck ſeyn,
C 4und
[40] und ſoll Leben und Tod als Etwas Verſchie-
denes angeſehen werden, macht, daß der De-
ckel zum Gefaͤß paße. Das beſt’ iſt, ſo ſter-
ben, als man lebt. Der wuͤrklich Traurige,
wenn ja ein Pickelhering ihn aus der Faßung
bringt und ihm ein Lachen bereitet, welch ein
bittrer Vorwurf folgt darauf! Die Freude
der Welt wirket den Tod! — Das Leben iſt
ſo Etwas niedrigcomiſches, daß es jedem klu-
gen Mann ekelt zu leben. — Alle Todte ha-
ben Ernſt in ihren Geſichtszuͤgen. In der
andern Welt wird vielleicht das Lachen kein
ſolch Hauptſtuͤck des Lebens ſeyn; da wird
das Lachen werden theur! Dies und das
koͤnnte vielleicht ein Theil von dem hohen Sinn
ſeyn, der in den Begraͤbnißen der Alten ent-
halten iſt. Wir laͤugneten, daß dieſer Sinn
eben ſo hoch laͤge, indem jeder ziemlich leicht,
und ohne auf Zehen, dazu kommen koͤnnte.
Wir ehren ſehr Leute, die ſich durch den
Tod nicht aus dem Concept bringen laßen:
freylich trift ein gewißes geſetztes Weſen,
das dem Tod entgegen kommt, mehr das
Herz, wir ſchaͤtzen auch Leute von dieſer wind-
ſtillen Art im Leben am meiſten. Genau ge-
nom-
[41] nommen iſt nur der Umſtand verehrungs-
werth, daß wir nicht ſtecken bleiben — daß
es ſo ausſieht, als lebten wir in eins weg. —
Des Thomas Morus lezte Worte ſahen wie
Tiſchreden aus, und wahrlich, er ſtarb wie
ein Mann. So bald, ſagte der Graf, ich ei-
nen leichtſinnig ſterben ſehe, der ſo lebte —
ſage man mir nichts uͤber den Leichtſinn; ich
nehme dieſes Wort im guten Sinn. Man
koͤnnte dieſen Sinn, um ihn zu verſtehen,
auch Leichtſinn nennen. — Noch hab’ ich der-
gleichen Sterbende nicht gefunden. Denn
Witz und Sinne ſind in einem beſondern ge-
heimen Einverſtaͤndnis. — Bevor die Fra-
ge: wie wir ſtarben? beantwortet wird,
ſagte Epaminondas, kann man nicht ſagen,
wer von uns die meiſte Achtung ver-
dient. — Niemand iſt vor ſeinem Tode
gluͤcklich, Niemand bey ſeinem Leben gros. —
Menſch bedenke das Ende! Aber! fieng der
Graf an, und wandte ſich an mich, warum
ſo viel Leid um unſere Todten? Sie gehen
keinen Schritt vorwaͤrts und werden vom
Schmerz angehalten, ſo bald der Name Mine
vorkommt. Ich habe viel aͤuſſere Trauer an
mir, als da ſind z. E. die Pleroͤſen an meinen
Briefen — und mich haͤlt nichts an, und was
C 5eigent-
[42] eigentlich hieher gehoͤrt, hat nichts ange-
halten. Iſt denn der Todte nicht blos vor-
ausgezogen? Er hat Extrapoſt genommen;
wir gehen mit eignen Pferden. Werden wir
denn nicht zu ihm kommen? Je ſtiller der
Durchgang, je beßer! Ich fuͤr mein Theil
liebe ſehr die Reiſen incognito, ohne Geraͤuſch.
Warum wollen wir denn nicht die lieben Un-
ſrigen incognito ſterben laſſen? Wir ſehen
uns wieder. Iſt in der Welt eine Luͤcke durch
unſern Freund, durch unſre Geliebte, worden?
Fehlt denn ein anderer? Iſt Alexander ſelbſt
in der Welt vermißt, der doch wohl unſtreitig
ein Weltmann war? Haben Sie, mein Kind,
in Curland gewußt, daß ich Frau und Kinder
verlohren? Laßt uns doch nicht vergeſſen,
daß wir in der Welt und nicht in der Familie
ſind — das war ungefaͤhr, was der Graf
und der Prediger mir ans Herz legten. Hier
iſt der Extrakt meiner Exception.
Der Zeit kann und muß nichts vorgreifen;
nicht Religion, nicht Weisheit. Sie leidet es
nicht, und nur ſie kann den Schmerz, den al-
lergerechteſten Schmerz, lindern. Zeit und
Ewigkeit liegen nicht ſo voneinander, wie Koͤ-
nigsberg von Paris, wo ich Extrapoſt und
langſam fahren kann. Die Idee, den Freund,
die
[43] die Geliebte, ſiehſt du nicht mehr, ſo ganz er-
denganz, wie ſie da waren; die Idee, der
Leib, den du geliebt haſt, dem du ſo gut gewe-
ſen biſt, iſt Aſche! iſt Staub! O liebſter Graf!
das brennt wie [Neßeln] an die Seele. Wir
betrauren nicht die Seele, ſondern den Leib,
weil er Fleiſch von unſerm Fleiſch iſt. —
Wenn noch ja eine kuͤnſtliche Stoͤhrung
im Schmerz angenehm waͤre, wuͤrd’ es die
ſeyn, wenn man hohe Achtung fuͤr Jemand
hat, und ſich gerade halten muß. Der
Schmerz geht krumm und ſehr gebuͤckt.
Durch dieſen Zwang kommt man zuweilen der
Zeit vor; allein oft ruht ſie ſich. Es kom-
men Recidive! — Sich Gott, das iſt, ſich
der Zeit uͤberlaßen, das, hoff’ ich, wird meine
Wunde heilen. — Es kann Linderung geben,
wenn man aus Schmerz die Binde wegreißt;
allein die Wunde wird gefaͤhrlicher durch die-
ſen Aufris. Man laße der Natur ihren Lauf;
ſonſt iſts Unnatur. Die Alten erzuͤrnten ſich
zuweilen mit den Goͤttern uͤber einen Todes-
fall. Sie ſchimpften, ſie warfen die Bilder
der Hausgoͤtter auf die Straße, und wollten
nicht mehr ſo unerkenntlichen Goͤttern ein
Obdach verſtatten. Es iſt Schmerzensnatur
ſo etwas auslaufen laßen! — und nichts
bringt
[44] bringt ſo ſehr zu ſich, als dergleichen Exceß.
Ein ganz ſtiller Schmerz iſt der gefaͤhrlichſte.
Wenn er poltert, ſchlaͤgt und ſtoͤßt, legt ſich
der Sturm und es wird bald ſtille. Stren-
ge Herren regieren nicht lange! —
Der gute Prediger, der oft zuruͤckgeblie-
ben, wollte bey dieſer Gelegenheit voraus und
eilte uns mit der Anzeige nach, daß Alexan-
der der Große, als ihm ſein Jonathan He-
phaͤſtion ſtarb, ſo gar die Stadtmauren kurz
und klein gemacht, um eben hiedurch Trauer
zu tragen um ſeinen Todten. —
Daß man ſich die Haar abſchnitt, um ſei-
ne Trauer an den Tag zu legen, find ich nicht
unrecht, ſagte der Graf. Man will auch was
von ſich verlieren, man will dem Verſtorbenen
Etwas mitgeben — ich dacht’ an Minens
Locke, die ich an meinem Buſen befeſtiget hat-
te, und gern haͤtt ich jetzt eine von mir Minen
ins Grab gegeben, wenn es nicht zu ſpaͤt ge-
weſen. — Wie viel Sterbensart kann man
von einem Mann, wie der Graf, lernen!
Ich komme wieder ins vorige Extrakts-
geleiſe. — Die Haare ausraufen, iſt von je
her als ein Zeichen der Traurigkeit angenom-
men worden. Wer gen Himmel betruͤbt ſe-
hen kann, fordert der nicht faſt Gott heraus,
thut
[45] thut der nicht mehr, als die Hausgoͤtter aus-
fegen, und doch halt’ ich ihn fuͤr einen beßern
Menſchen, als den, der dem lieben Gott was
vorliebaͤugelt und im Herzen gallenbitter auf
ihn iſt. Der Phariſaͤer! Ich glaube der liebe
Gott ſiehts recht gern, daß wir Menſchen ſind,
daß wir das Herz haben, es zu ſeyn! Es iſt
ein lieber guter Gott!
Dem Grafen war es eine Beſondernheit,
daß man zu alten und neuen Zeiten Menſchen
zur Gruft von andern Menſchen tragen laßen
und laͤßt, und daß auch hiebey, nach Bewand-
nis der Leiche, bald viel bald wenig Traͤger
genommen werden, obgleich dies mit zur lez-
ten Ehre gereicht, von der oben gehandelt wor-
den. Leitet man nicht den, der nicht gehen
kann? ſagt’ ich, und um auf die lezte Ehre
einzulenken: Traͤger ſind die Livrey-Bedienten
des Todten. Sollte man nicht beym Begraͤb-
nis Ewigkeit ſpielen, und dies Verwesliche
nach dem Unverweslichen ſtimmen? erwieder-
te der Graf, und der Hammer, fragt ich?
Sollte, fuhr der Graf fort, und nun waren
wir im
Saale.
Was zeither vorfiel, war gehendes Fußes,
war auf der Treppe. Man ſieht ihm die
Stufen
[46] Stufen an. — Erſchrecken, pflegte mein Va-
ter zu ſagen, iſt die Goldwaage fuͤr Maͤnner.
Wir koͤnnen erhaben und poͤbelhaft erſchrecken.
Die Weiber erſchrecken bald, und, was noch
mehr iſt, nach einer und zwar bekannten Me-
lodie. — Sie erſchrecken ſchoͤn, wenn man
will. — Um alles in der Welt wuͤnſcht’ ich
mir keine Frau, die nicht leicht erſchroͤcke.
Schaamroͤthe und Erſchrecken liegt bey ihnen
in einem Bezirk. Eins borgt vom andern;
beydes kleidet das ſchoͤne Geſchlecht. — Es
iſt extra fein Poſtpapier, wo alles durch-
ſchlaͤgt. —
Koͤnnt’ ich meine Leſer und Leſerinnen doch
in den Saal ſelbſt und weiter einfuͤhren.
Koͤnnt’ ichs doch! Todespracht uͤberall!
Wahrlich Todespracht. — Mir wars oft, als
hoͤrt’ ich einen dumpfen Ton: Menſch, du
muſt ſterben! Waͤre mir dieſe Bothſchaft we-
niger fremde in meiner damahligen Lage ge-
weſen; ich waͤre mehr zuruͤckgefallen. — Ich
weiß nicht, ob meinen Leſern die Geſchichte
des Belſazars beywohnet, der eine Hand an
der Wand ſchreiben ſahe. — Solch eine
Hand an die Wand ſchreiben zu ſehen — —
Was ich erzaͤhlen kann und werde, o! wie
gar nichts gegen das, was ich ſahe — nichts —
Den
[47]
Den Saal, fieng der Graf an, haben die
Weltliche, ſo nenn ich die Gottglaͤubige, in
Beziehung der Chriſten, die ich in dieſer ſchnur-
geraden Linie Geiſtliche heiße. Verzeihung,
Gevatter, ſagte der Graf, indem er zum Pre-
diger ſich wandte, der tief in Gedanken dar-
nieder lag, und unfehlbar mit dem Verleger
wegen der zweyten Auflage im Streit war —
Gerne, erwiederte der Prediger. Das Wort
Gern war immer ſeine Antwort, wenn Ver-
zeihung die Frage war, er mochte wachen oder
traͤumen. Chriſten, fuhr der Graf fort, ſind
allzumahl geiſtliche Prieſter! Ja wohl, er-
wiederte der Prediger. Der Geiſtliche konnte
den Verleger nicht los werden. Der Graf
fuhr weiter fort —
Ob nun gleich Chriſtus, der Erzprieſter,
kein Altarredner und Kanzelprediger war;
ſondern ſtatt auf die Kanzel auf einen Berg
ſtieg, wo er eine Predigt hielt, die er drucken
laßen; — der Prediger wie aus der Piſtole:
von der Suͤnde wider den heiligen Geiſt. Ey,
Freund! fiel’ der Graf ein: in der Bergpre-
digt keine Sylbe von der Suͤnde wider den
heiligen Geiſt. Math. verſetzte der Prediger.
Recht! endigte der Graf, der waͤhrend der
Zeit das Ob nun gleich verlohren hatte; ſo
daß
[48] daß dieſer Period ungerundet blieb. Chri-
ſten, hub er vom friſchen an, verwandelten ih-
re Hoͤhlen in Capellen, bis Tempel daraus
wurden, und warum nicht? Wohnt gleich
Gott der Herr hier nicht ausſchlusweiſe; woh-
net er doch auch hier. Chriſtus gieng in den
Tempel und nannt’ ihn ein Bethaus, das man
zur Moͤrdergrube gemacht haͤtte. — Chriſten
in die Kirche — Gottglaͤubige in den Saal.
Wir billigten alle die Gewißenhaftigkeit,
die Peinlichkeit des Grafen, der Chriſtenthum
von Heidenthum, ſelbſt bis auf die Mobilien,
trennte. Werden, fieng ich an, werden doch
unſere chriſtliche Helden in roͤmiſchen Or-
nat geſteckt, wenn man ſie aufhaͤngen, auf-
ſtellen, und alſo der Ewigkeit zubringen, und,
wenn ich ſo frey ſeyn darf, ſchon fuͤr die Ewig-
keit uͤber die Taufe halten will. Scheint es
gleich uͤberhaupt, daß der Kleiderſchnitt, den
wir angenommen haben, nur ein Schlafrock
waͤre, und daß, ſo bald wir zu Ehren gebeten
werden, es roͤmiſch ſeyn muͤſte; ſo iſt es doch
nicht recht und loͤblich!
Ich ſtelle, ſagte der Graf, alles an ſeinen
Ort. Wahrlich denn wuͤrde wenig zu lehren
und zu lernen ſeyn, wenn alles ſo geſtellt
waͤre. Jezt iſt der Haufe blos darum ſo hoch,
weil
[49] weil alles groß und klein durcheinander ge-
worfen iſt. — Wenn indeſſen, fing der Pre-
diger in einem abzurundenden Period, der ge-
wis nicht, wie des Grafen ſein: Ob es nun
gleich in Stecken gerathen wird, an, wenn
indeſſen der Chriſt allen allerley werden ſoll,
und wenn Chriſtus, der Herr ſelbſt, ſich be-
ſchneiden laſſen und das Oſterlamm gegeſſen;
die Juͤnger auch, obgleich ſie Juden waren,
am Sabbath Aehren zu leſen und Eſel aus
dem Brunnen zu ziehen von ihrem Meiſter die
Erlaubnis erhielten; ſo darf doch der Chriſt
kein ſo großer Ceremonien Meiſter ſeyn. Ce-
remonial Geſetz iſt bey allen, ſelbſt den geiſti-
ſchen Dingen: indeſſen ſind wir in der chriſt-
lichen Freyheit, wie es ſelbſt bey unſern chriſt-
lichen Ceremonien am Tag iſt, denen ich in-
deſſen von Herzen gut bin. Der Chriſt hat
den Geiſt von allen Religionen, das unſterbli-
che Weſen, ſo Chriſtus durchs Evangelium
ans Licht bracht hat. Laßt uns alſo tolerant
ſeyn, wie unſer theure Graf, der es iſt, wenn
er gleich — Saal und Kirche unterſcheidet, und
in allem, fuhr ich fort, dem Geiſt, dem We-
ſen nachſpuͤren, bis Ein Hirt und Eine Heer-
de wird. — Hoſianna, gelobet ſey dieſe Zeit,
die da kommt im Namen des Herrn! Hoſian-
Dna
[50] na ihr in der Hoͤhe! Das Chriſtenthum, ſagt
ich, iſt die einfachſte Religion auf Gottes wei-
ten Erdboden, ſo wie der Geiſt einfach iſt. Sie
kann Koͤrper annehmen, wie in der Schrift En-
gel Koͤrper angenommen haben, und wie man
von ſehr guten Menſchen, die gut wie Seelen
ſind, ſagen koͤnnte: ſie haͤtten Koͤrper angenom-
men. Freylich adoptirten Engel keinen andern,
als menſchliche, als ſolche Koͤrper, die ſie im
Griff hatten, die ihnen die naͤchſten waren. —
Die chriſtliche Religion hat keinen Tempel, kein
Haus, kein Obdach noͤthig, ſondern uͤberall,
wo Luft und Sonn iſt, wo wir ſind und we-
ben, iſt Gottes Stuhl, und die ihn anrufen,
doͤrfen nicht das Geſicht drehen und wenden.
Gott iſt uͤberall. Im Morgen und in Mitter-
nacht. Wer recht thut, iſt ihm angenehm.
Dies war (obgleich es hohe myſtiſche nur we-
nigen verſtehliche Toleranz iſt) dem blos ge-
woͤhnlichen und fuͤrs Haus toleranten Prediger
ſo gefunden, daß er mit einer Dreiſtigkeit ſchloß,
die dem Grafen ein wenig zu hart auffiel.
Ceremonien, ſagt’ er, ſind des Herzens
Haͤrtigkeit wegen, und da, nach Orts Umſtaͤn-
den, die erſten die beſten! —
Nicht alſo, lieber Gevatter, verſetzte der
Graf, etwas untolerant. Ceremonien, lieber
Ge-
[51] Gevatter, ſind Kleider der Sache. Kleiden
denn alle Farben alle Geſichter? Es iſt ein
Aufputz, das Colorit — das wahrlich ſeinen
Meiſter erfordert. — Wenn es alſo recht
waͤre, muͤßten Chriſten chriſtliche Ceremonien
haben. Wie ſtimmet Chriſtus mit Belial,
haͤtt’ [ich] bey einem Haar geſagt; allein Belial
und ein Heide iſt zweyerley. Die Folge die-
ſes Spruchs paßt beſſer. Was hat das Licht
fuͤr Gemeinſchaft mit der Finſternis?
Ich geſteh es gern, daß mein Auge dem
Ohr viel abgewonnen; indeſſen kam die Sa-
che endlich ſo zu ſtehen:
Es giebt ein blindheidniſches, und ein Gott-
verehrendes, ein ſehendes Heidenthum. Auch
dieſe Sehende ſind von Chriſten unterſchieden,
ſo wie Saal von Kirche. Findet man Anti-
ken, wo man einen unbekannten Gott drinn
ſiehet, einen Kuͤnſtler, der bey dieſer Arbeit
nicht aufs Sichtbare, ſondern aufs Unſicht-
bare ſahe; Heil dem Kuͤnſtler! Und findet
man einen Samariter mit Oel und Wein —
er ſey uns ehrenwerth — und findet man —
Genug.
Zu beyden Seiten der großen Thuͤre ſtan-
den zween Genien, deren jeder ſeine Fackel
umgekehrt hatte, und ins Kreuz auf eine Ur-
D 2ne
[52] ne hielt. Zwey Sphinxen von beyden Seiten
ſahen zu. —
In einem Felde waren zwey reißende Thie-
re, die nach einen Schmetterling haſchten, der
uͤber einer praͤchtigen Urne flog. Sie haſch-
ten; allein er entfloh.
In einem andern die Artemiſia, mit einem
Trank, koͤſtlicher als die Perle der Cleopatra!
Mannsaſche. Zu einer Seite ein Kuͤnſtler
mit dem Riß vom Mauſoleum in der Hand;
zur andern ein Dichter, der mit den Augen
ſang. Wie kann er anders auf der Wand? —
Sodann allerley Arten von Pyramiden,
Mauſoleen, Grabmaͤhlern, Urnen, Thraͤnen-
flaſchen. Ein Feld mit drey Parcen! Zu bey-
den Seiten ſolch Feld.
Endlich Himmel und Hoͤlle, der Alten
drey Furien, der Tantalus, der heidniſche
reiche Mann, der mitten im Waſſer ſteht und
doch Gefahr laͤuft zu verdurſten. Ein Rad,
mit dem ein Verdammter ewig herumgetrie-
ben wird. Das nenn’ ich raͤdern, ſagte der
Graf! Leidenſchaft heißt dies Rad.
Ferner ein Leichenbrand, von Leuten ange-
zuͤndet, die ihre Geſichter abgewandt hatten.
Eine Gebeinleſe von Verwandten — und die
Collecte: S. T. T. L. ſit tibi terra levis. Leicht
ſey
[53] ſey dir die Erde — drey, vier, fuͤnfmahl an-
geſchrieben. —
Sodann ein Feld. Elyſiſch. Fruͤhling.
Paradies. Ein Koͤrper, dieſem Clima gleich —
drey Grazien.
Endlich eine Art von Altar, oben ein Spie-
gel. Um den Spiegel die Aufſchrift: dem un-
bekannten Gott!
Dies, ſagte der Graf, iſt der Erbauungs-
Saal derer, welche nur eine Offenbahrung
durch die Vernunft kennen, nur ein Licht, das
den Tag regiert, ohn’ an das Licht, das die
Nacht regiert, und die Sternenflur, zu den-
ken. Die Vernunft wird durch den Spiegel
angedeutet, den man nur auf Zehen erreichen
kann. Es muß ein Fluͤgelmann ſeyn, der ei-
nen Blick hineinſtehlen ſoll, und was ſieht er?
Ein klein Stuͤckchen Kopf! Er ſieht ſich, wenn
er Gott ſehen will. Bey allem dem bin ich
kein Feind dieſer Gottesverehrer, ich habe Kerls
darunter ſterben geſehen, beſſer wie Sokrates,
ohne Hahn, ohne Todesangſt. — Kein Wun-
der, ſie hatten das neue Teſtament unſers
Herrn geleſen. — Sie ſollen einige ſehen un-
ter meinen Todtenkoͤpfen, wo ich Chriſt- und
Gottverehrer zuſammen, wie es in allen Ge-
D 3bein-
[54] beinhaͤuſern Sitt’ iſt, geſtellt habe. — — Da
iſt nicht mehr Tempel und Saal.
Paulus kann unmoͤglich bruͤnſtiger den
unbekannten Gottesaltar angeſehen ha-
ben, als ich den des Grafen, geweihet den
Menſchen, die Gott nicht als Vater, ſondern
als Herrn, als Alleinherrſcher, anſchauen.
Iſt denn, dacht’ ich, Gott den Chriſten bekann-
ter? Wohnet er nicht in einem Lichte, wozu
niemand kommen kann? Iſt er nicht ein We-
ſen, das Niemand geſehen hat, und ſehen kann?
Der Gottverehrer indeſſen ſieht ſich ſelbſt im
Spiegel, der Chriſt ſieht Chriſtum, wenn bey-
de Gott ſehen wollen. Ihm, dem Vater aller
Dinge, ſey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit,
Amen!
Wir giengen durch mancherley Zimmer
zur Capelle, durch viel Truͤbſal, ſagte der Graf,
zum Reiche Gottes. Es waren ihrer dreymal
ſieben. Der Graf liebte dieſe Zahl ſehr, er
nannte ſie eine Offenbahrungs Johannis Zahl,
eine bibliſche Zahl, und hatte gewiß ein Paar
Zimmer (da wolt’ ich drauf wetten) eingehen
laſſen, oder mehr angebauet, um nur die Zahl
ſieben herauszubringen! Man laß ihm doch
die ſiebente Zahl! Meine Mutter pflegte zu
ſagen, jeder habe ſeine Zahl, die ihm am Her-
zen
[55] zen liege. — Es war kein einziges unter allen
ſieben mal ſieben Zimmern (ſo viel waren im
Hauſe) in denen nicht Ende, Tod und Ver-
weſung, angeſchrieben war! Alles mit groſ-
ſen Buchſtaben. Er war ein heiliger Vater,
der die Bilder die Schrift der Einfalt nannte.
Sie ſind es; allein fuͤr den Klugen ſind ſie
Poeſie. In dem Saal und ſechs andern Zim-
mern gemeine Liebe, in den ſiebenmahl ſieben
Zimmern weniger ſieben die Chriſtliche. Saͤr-
ger in den chriſtlichen Zimmern ohn End’ und
Zahl — Wenn ich bey jedem dieſer Saͤrger ei-
ne chriſtliche Leichenpredigt halten und die To-
deszimmer all zuſammen be- und umſchreiben
ſolte, wuͤrd’ ich zu langweilig werden. Ein
guter ſchneller Tod, iſt er nicht der beſte? Ich
behalte mir vor, auf drey (auch eine heilige
Zahl; eben ſo gut wie die ſieben, vielleicht
eine, die mir nach dem Ausdruck meiner Mut-
ter am Herzen liegt, ſo wie meinem Vater
die Zahl neun) Zimmer einen Accent zu legen,
und eile zur Capelle. — Es fuͤhrte ein fin-
ſtrer Gang dahin, ſo wie oft ein ſchlechtes
Gelaͤute zu einer ſchoͤn gebauten Kirche einla-
det, ſagte der Graf. Es konnten nur zwey
gehen, ſo eng war der Gang, um den ſchma-
len Weg zu parodiren. Von beyden Seiten
D 4kamen
[56] kamen Aerme heraus, auf welchen, obgleich
es hoch Tag war, jedennoch Lichter brannten,
oder brennen mußten; denn hier war es ewig
Nacht. Die Aerme ſchienen (ſo beſonders
waren ſie) ſchnell herauszuwachſen, um den
Wanderern auf dem finſtern Wege zu leuch-
ten! — Auf einer Seite waren ſechs Lichter,
auf der andern fuͤnfe. Warum das? Dafuͤr
konnte der Graf nicht, daß die eine Abthei-
lung der Spruchſtelle:
Dein Wort iſt meiner Fuͤße Leuchte, ſechs,
und die andre: ein Licht auf meinem Wege,
ganz richtig berechnet, fuͤnf und nicht weniger
Woͤrter hatte. Ueber jedem Lichte ſtand ein
Wort, ſchoͤn wie eine Dedication. Wuͤrd’
er dem Worte und auch einen Arm verehret
haben; ſo waͤren beyde Seiten gleich geweſen.
Das arme Woͤrtlein Und, ich haͤtt’ es nicht
verſtoßen, wenn ich der Graf geweſen waͤre.
Es iſt gemeinhin ein menſchliches, liebes, gut-
herziges Wort, und iſt ſeinen Arm werth.
Der Graf aber ſprach ihm die Goͤttlichkeit
ab; wenn Gott ſpricht, iſts ohne und. In
der Capelle ſelbſt hieng ein Crucifix, und der
Schaͤcher, den Chriſtus ins Paradies mit-
nahm. Der ſterbende Simeon, mit einer
Friedensmiene im Geſicht, die entgegen rief:
Herr,
[57]Herr, nun laͤßt du deinen Diener in
Friede fahren. Einige Apoſtel als Maͤrty-
rer ſterbend. In ihren Geſichtern lagen die
Worte: leben wir, ſo leben wir dem Herrn,
ſterben wir, ſo ſterben wir dem Herrn, ob
wir leben oder ſterben, ſind wir des Herrn.
Hier ſtand auch in einem Behaͤltniß, von ei-
nem eiſernen Gegitter eingeſchloſſen, des Gra-
fen Sarg. Nuͤhrend war es mir anzuhoͤren,
daß er alle Vierteljahr einmal drinn ſchlief.
Ich habe mich mit meinem Hauſe, ſagt’ er,
ſo bekannt gemacht, daß ich alles im Grif
habe — Die erſte Zeit ſchwitzt’ ich, als haͤtt’
ich Bezoar-Pulver eingenommen; jetzt ſchlaf’
ich, ohne einen einzigen Schweistropfen, ru-
hig und ſanft. Der Tod wird mir, das hof
ich, nicht unbereitet kommen. Der Wapen-
zierrath war mir bey dieſem Sarge unaus-
ſtehlich. Es waren drey bemahlte Pfeiler in
der Capelle, Weisheit, Staͤrke, Schoͤnheit,
Glaube, Liebe, Hofnung! drey Grazien —
drey Frauenzimmer, ſagte der Graf, und
ich, „die Tugend ſelbſt iſt ein Frauenzimmer,
„das Laſter iſt eine Mannsperſon.“ Ey!
ſchrie der Graf, Ey! der Prediger. Ich hatte
Muͤhe, die guten Herren zu uͤberzeugen, daß
mein Vater wohl wuͤſte, was er ſpraͤche. Man
D 5muß
[58] muß nur alles nehmen, wie es von Gott und
Rechts wegen zu nehmen iſt. Der Buchſtab’
iſt todt; allein der Sinn iſt lebendig. Ich
blieb bey Wuͤrden und Ehren, und das Ey
war vertilgt, bis auf den letzten Buchſtab,
welches um ſo leichter geſchehen konnte, da
es nur aus zweenen beſtehet. Sonſt verſteht
jeder, was Glaube, Liebe, Hofnung ſey, oder
eigentlicher, wie ſie gemahlt werden; indeſſen
hatte der Graf ſeinen eigenen Glauben, ſeine
eigene Liebe, ſeine eigene Hofnung.
Der Glaube war ein Maͤdchen, das mit
der rechten Hand gen Himmel mit einem Cru-
cifix den Weg wies, in der linken Hand einen
Kelch hatte, woraus es trank, mit dem einen
Auge lies es die Bitterkeit des Tranks merken,
mit dem andern aber Himmel an, als ſaͤh’ es
den himmliſchen Vater — auf dem Haupt’
eine Krone mit Lorbeeren durchflochten. Es
lag auf den Knien, das gute Kind. Oben
ſtanden die Worte: ich glaube, Herr! hilf
meinem Unglauben! Glaube war groß ge-
ſchrieben, und es war auch noͤthig, denn wer
haͤtte ſonſt wohl wiſſen koͤnnen, daß dies
der Glaube ſey? Es thut mir ordentlich
leid, daß ich vergeſſen habe, mit welchem
Auge der Glaube gen Himmel, und mit wel-
chem
[59] chem er in den Kelch der Bitterkeit ſahe, als
wolt’ er die Tropfen auszaͤhlen. Kanſt du ſie
zaͤhlen, hies es zu Abraham, da ihm die
Milchſtraße am Himmel gewieſen und die
Verſicherung in forma probante behaͤndigt
ward: alſo ſoll auch dein Saame ſeyn —
Die Liebe war eine junge liebenswuͤrdige
Mutter, (das ſchoͤnſte in der Natur) ein Kind
an ihrer Bruſt, eins lag ihr auf der Schul-
ter und kuͤſte ſie mit Inbrunſt. Noch war
ein Kind, dem ſie drohend ihre rechte Hand
reichte. O wie drohete ſie! Allerliebſt. Oben
ſtand:
Staͤrker, als der Tod!
Die Liebe iſt ſehr beſchaͤftigt, ſagte der
Graf! Sie hat alle Haͤnde voll; die wird
wohl jeder kennen! —
Die Hofnung war eine Geſegnete, eine
der Entbindung nahe. Das Kind ſprang ihr
im Leibe, wie der Eliſabeth, und doch ſah
man ihr einigen Kummer an. Sie zaͤhlte
die Monden. Sie hatte ſich auf einen Anker
gelehnt. Sie lag faſt ganz darauf. — In
der einen Hand hatte ſie ein poſtfliegendes
Noataͤubchen. Den Kopf hielt ſie in die
Hoͤhe, als ob ſie wiſſen wolte, wie weit von
ihr zur Erfuͤllung waͤre, vom Ja zum Amen.
Die
[60] Die Augen, das merkte man, konnte ſie nicht
in die Hoͤhe bringen, ſie wolte —
Es ſtanden die Worte herum: Hofnung
laͤßt nicht zu Schanden werden! Hofnung
groß!
Der Prediger war ein Muſikus, und da
ihm der Graf das kleine Poſitivchen zuwies,
zog er den Tremulanten, den Hauptzug an
dieſem Werklein, und ſpielte: Was willſt
du armes Leben?
Beym Herausgehen wurde mir ein Buch
an die Hand gegeben, das die Aufſchrift
fuͤhrte:
Namen derer, die in dieſer Capelle
geweſen, die, da ſie ſchrieben, wa-
ren, und, eh ſich das Blat umkeh-
ret, nicht mehr ſind. Ihre Namen
moͤgen geſchrieben ſeyn ins Buch
des Lebens! Amen.
Herzlich freut’ ich mich, daß ich meinen Na-
men beynahe am Ende ſchrieb, ſo daß das
Blat bald umgekehrt werden muſte — bald!
Es ergrif mich ein Schauer, und es war, als
hoͤrt ich Minen ſaͤuſeln: bald!
Der Graf bewohnte ſieben Zimmer, wo
er und ſein Bruder Feuer und Heerd hatten.
Des Grafen Bette war ein foͤrmliches Ge-
woͤlbe.
[61] woͤlbe. Lazarus, unſer Freund, ſchlaͤft, ſagt’
er zu mir, da er es mir zeigte. Sein Bruder
gab ihm nichts nach, nur daß auch hier das
graͤfliche Wapen eine Scheidewand machte.
Das liebe Wapen! Der Graf, der ſehr in
die Urnenfaçons verliebt war, hatte in ſeinen
ſieben Leibzimmern chriſtliche Urnen, wo er
wuͤrklich chriſtliche Todtenknochen unter wohl-
riechende Dinge gelegt und aufbewahrete.
Bey Gelegenheit, daß uns der Graf in
ſeinen ſieben Leibzimmern herum fuͤhrte, war
er nicht etwa ſtumm, ſondern ſo beredt, als
nur irgend Jemand ſeyn kann. Wir ſetzten
unſere Geſpraͤche, des Sehens unerachtet,
ohne Zeitverluſt fort. Man ſieht noch ein-
mal ſo gut, wenn man drein ſpricht; wenn
man ſagt, was man ſieht. Das Hoͤren lei-
det Abbruch, wenn man recht von Herzen
ſieht. Wir ſprachen uͤber das, was wir ſa-
hen — und uͤber vieles, was wir nicht ſahen.
Meine Leſer werden keine Muͤhe haben zu
wißen, was jedem aus unſerm Kleeblat, aus
dieſem Spiritus — oder wie es ſonſt heißt,
eignet, zugehoͤret und gebuͤhret. Die Grie-
chen, ſagte der Graf, hatten die Gewohnheit,
einen Zweig an die Thuͤre zu ſtecken, wo ein
Todringer lag, wie ungefehr hier, wo Bier
feil
[62] feil iſt. Ich behalte dieſe Gewohnheit auch
bey. Ueber jede Thuͤr in meinem Sterbhauſe,
wo geſtorben wird, iſt ein Reis als ein Sie-
geszeichen angeſteckt; warum ich aber an Ei-
nem Sterbenden nicht genug habe, geſchiehet
nicht ſowohl meinet, als der Sterbenden we-
gen. Man hat ſich gewaltiglich uͤber den
Gebrauch der Alten gewundert, daß man bey
der Leiche anderer viele Leichen machte, um
dem Gott des Todes den Mund zu ſtopfen,
und den Charon auf einen Tag in ſolchen
Schweiß zu ſetzen, daß er faſt ſelbſt geſtorben
waͤre. Man hat, duͤnkt mich, Urſache ſich
zu wundern. So viel iſt aber gewis, daß es
weit angenehmer iſt, in Geſellſchaft zu ſter-
ben, als in Geſellſchaft zu leben. Der groͤßte
Theil der Menſchen ſtirbt eben darum ſo
ſchwer, weil er alles verlaßen muß, und weil
ihn alles verlaͤſt, weil er ſo ſehr allein bleibt.
Ein ſchweres Wort allein. Der Menſch iſt
ein geſelliges Thier. Der Sterbende hat
ſelbſt ſo oft und viel in ſeinem Leben, derer,
die ſtarben, vergeßen, als daß er auf die
Ehre eines laͤngern Andenkens rechnen ſollte.
Wenn er aber mit dem Zirkel, in dem er leibte
und lebte, in einem ſtirbt; wie troͤſtet dies?
Auch wenn ihm die andre Welt und die Wie-
derkunft
[63] derkunft der Guten und Boͤſen ein unaufloͤß-
liches Raͤthſel bleibt, giebt ihm dieſer Gedan-
ke einige Ruhe — und welch eine Seelenruhe,
wenn er mit ihnen, ſo wie er hier lebte, dort
wieder lebt. Da denkt denn der Reiche, er
werde unter ſeinen mit ihm zuſammen geſtor-
benen Schuldnern noch immer der Glaͤubiger
bleiben. Die Leute werden ſich doch ſchaͤmen,
ihn auf einem andern Fuß zu nehmen, da ſie
ihm die Zinſen ohnedem acht Tage nach der
Verfallſtunde berichtiget, welches aufs Jahr
ſchon etwas betraͤget. Da denkt der Herr,
wenn er mit ſeinen Bedienten zuſammen ſtirbt,
die Menſchen werden doch Lebensart verſte-
hen. Ich, ſagte der Graf, ich ſelbſt moͤchte
mich nicht gern von meinem Bruder trennen.
Darum, fuhr er fort, ſind uns neue Freund-
ſchaften ſo verhaßt, wenn wir in gewißen
Jahren ſind, im Fall die Freundſchaftspar-
theyen nicht jahregleich ſind. — Auf Ehre,
liebe Sterbenscandidaten und Candidatinnen!
wenn die Hohen und Reichen, die Augenlu-
ſtigen und die vom hoffaͤrtigen Leben, wuͤſten,
wie wohl es in dieſer Ruͤckſicht ſich im Ho-
ſpital ſterben ließe, ſtuͤrben viel drinn, die ſich
jezo wohlbedaͤchtig genuͤgen, Geld unter dieſe
Armen auszuwerfen. Dieſe Armen beſitzen oft
mehr,
[64] mehr, als alle Schaͤtze der Welt; denn das
Himmelreich iſt ihrer! Darum vorzuͤglich
glaub ich, ſagte der Graf, durch gute Geſell-
ſchaft meinen Sterbenden ihr Ende zu erleich-
tern, und ihnen einen Dienſt dran zu thun.
Sie koͤnnen jezt die Zeit nicht abwarten, ſie
keichen recht nach dem vorgeſteckten Ziel, und
oft hab’ ich gehoͤrt: Wilſt du mit? Ich bin
bereit, ſo komm — ich geh — gern! So
komm doch! Gern! Nun? hohl mich nach,
ſo gern ich wollte, kann ich?
Wenn die grauſame Gewohnheit der Al-
ten, Leichen bey Leichen zu machen, in dieſe
Ideen zum Theil einſchluͤge, ſagten wir alle
drey, und thaten ſo, als fruͤgen wirs? Wir
machten es, wie die Redner und Schriftſteller,
bey denen das Fragzeichen nicht ein Men-
ſchenhaar mehr bedeutet, als gehorſamer Die-
ner, unterthaͤniger Knecht, und dergleichen
ſieben mal ſieben Sachen mehr.
Selbſt der Selbſtmord wuͤrde beym ofnen
Grabe noch am erſten aus der Natur des
Menſchen zu erklaͤren ſeyn, und es gehoͤrt ein
eben ſo großer Grad Lebensliebe dazu, als
der große Menſchentoͤpfer uns mit eingebla-
ſen, um dieſen Grillen bey den ofnen Graͤbern
der lieben Unſrigen zu entkommen. Man
duͤnkt
[65] duͤnkt ſich, ohne die Seinen, verwayſet in
der weiten Welt, und iſt man es nicht an
dieſem unempfindlichen großen Ort? Was
waͤre das Leben, wenn man nicht noch den
Zirkel der Seinen haͤtte, wo man noch das
ſuͤße Echo ſeines Schmerzens ſeiner Freunde
hoͤrt, und eine Theilnehmung ſieht, Liebe und
Gegenliebe empfindet. — Wer ſich auf ei-
nem andern Wege, als am ofnen Grabe, das
Lebenslicht ausblaͤßt, bedenket nicht, von
wannen er kommt und wohin er faͤhret. So
ehrbar es Manchem laͤßt; er iſt doch mit ſei-
nem Kopf uͤber Bord. Ey, wenn es der
Menſch in einem entſetzlichen uͤbermenſchlichen
Schmerz thaͤte? Giebts uͤbermenſchlichen?
Exempel zwar, daß Menſchen ſich des Schmer-
zens halber umgebracht, obs aber uͤbermenſch-
licher Schmerz war, bleibt Frage. So viel
iſt auffallend, daß der Leib, der, wenn er todt
iſt, da liegt, wie ein Stuͤck abgehauenes Holz,
unmoͤglich dem Schmerz ausgeſetzet ſeyn koͤn-
ne, den er im Leben empfand, und wenn alſo
ein Leidender ſeine Seele Gott befiehlet und
ſeinem ihn plagenden Leibe einen Streich ſpielt,
oder dem armen Schelm eine Wohlthat erwei-
ſet; ſo ließe ſich daruͤber reden, mehr aber
auch ſchwerlich: denn ein ſolcher Selbſtmoͤr-
Eder
[66] der kommt aus dem Text der Natur. — Wie
ſelten find indeßen Exempel von Leuten, die
aus Schmerz ſich ins Leben greifen, in ein
zweyſchneidendes Schwert faßen: denn Leute,
die dem Tode recht ehrlich trotzen koͤnnen, o!
die trotzen auch dem Leben.
Ey, wenn der Menſch alles vollendet haͤt-
te? Wenn ihm die Zeit mit Recht lang wuͤr-
de? Alles vollendet, Lieber! alles! Wenn
wir gethan haben, was wir zu thun ſchuldig
waren, ſind wir denn mehr, als unnuͤtze
Knechte? Wer hat aber alles vollbracht?
Wem wird die Zeit auf eine weiſe Art zu
lange?
Jener Freygelaßene der Agrippina, der
ſich bey dem Scheiterhaufen ſeiner Goͤnnerin
(um ihr Ehrenbette nicht zu beflecken) erſtach.
Viel Erkenntlichkeit, wenn ſie ihm blos Schuz-
goͤttin war! — Doch ſolche Erkenntlichkeit
haben noch mehr bewieſen. Weiber, Freyge-
wordene, ſelbſt Hunde und andere Thiere, die
ſonſt nicht ſo treu befunden werden!
Sehen und Hoͤren, ich hab’ es, glaub ich,
ſchon ſonſt wo geſagt, vertragen ſich mit ein-
ander, wie Halbgeſchwiſter. Ich geſtehe es
ſehr gern, viel, ſehr viel von dem Gerede des
Grafen verlohren zu haben, und das iſt Scha-
de!
[67] de! Der Graf, der in andern Faͤchern eben
keine große Kenntniße bewieß, war uner-
ſchoͤpflich in den Sterbenswißenſchaften. Da
hatte er gedacht und geleſen. Da konnt’ er
mit dem Gelehrteſten ſchon eins anbinden.
Ich wundre mich noch, daß er bis auf die
Terminologien, die eben ſeine Sache nicht
waren, den Tod in allen Zeiten, in allen Zun-
gen und Sprachen, verſtand. So gar aus
fremden Sprachen, die er nicht kannte, wuſte
er gewiße Worte, den Tod betreffend. Der
Prediger konnte ihm in dieſer Kunſt auf ſechs
kaum das ſiebente antworten; indeßen exami-
nirt’ er nicht, wie es denn auch Niemand thut,
der dem andern ſehr uͤberlegen iſt. Wer
wuͤrklich weniger weiß, als der Initiandus,
iſt ein Inquiſitor im Examen. — Der Ueber-
legene lehret nur, das heißt, er legt es alles
zum Greifen nahe.
Ich erinnere mich meines Verſprechens,
meine Leſer in drey Zimmer zu fuͤhren.
Das erſte Zimmer ſoll das ſeyn, wo der
Graf ſeine verſtorbene naͤchſte Familie hatte.
Es wird meinen Leſern noch im friſchen
Andenken ſeyn, daß ich bey dem ſeeligen Ende
E 2des
[68] des zweyten Theils der Lebenslaͤufe, da ich
den beſondern Mann, den Herrn Grafen, am
dritten Ort zu praͤſentiren die Ehre hatte, zu-
gleich anbrachte, wie er ſehr traurige Schick-
ſale uͤberlebt. Sieben Kinder, alle im Lenze
des Lebens, waren ihm geſtorben. Dieſes
Zimmer hies Familiencabinet, und war dem
Schatten dieſer ſieben Seligen, dieſer ſieben
Engel, die Gottes Angeſicht ſahen, gewidmet.
Lange ſtand der Graf an, ob er dieſe heilige
Seelenzahl verruͤcken, und ihnen noch die bey-
den Braͤutigams der beyden als Braͤute ge-
ſtorbenen Toͤchter, und die Braut des als
Braͤutigam geſtorbenen Sohnes, zugeſellen
ſollte? Endlich Ja, weil ſeine Gemahlin
ſchon uͤber ſieben war. Die Zahl war alſo
ſchon verdorben. Dies Familiencabinet ent-
hielte dieſe liebe Todten, wie der Graf ſie
nannte, von denen immer eins dem andern
die Hand gab, und eins nach dem andern an
den Reihen kam. Eines fordert das andere
zum Todtentanz, zum Grabesgang, auf.
Viel Einheit der Zeit, alles ſtarb in Zeit von
drey Jahren. — Ich kann eben nicht ſagen,
daß in dieſem Trauerſpiel griechiſcher Ge-
ſchmack herrſchte; indeßen war viel Manns-
und Vaͤterwaͤrme da, viel Empfindung. Es
waren
[69] waren zwey Thuͤrſtuͤcke, das eine ſtellte Ge-
neſin, das andere Apocalypſin vor. Ge-
neſis war in Geſtalt eines Menſchen. Apo-
calypſis wie ein Engel gekleidet. In jenem
ſahe man die Worte: es ward — in dieſem
das Offenbarungs Johannis Wort: Amen! —
Die Seeligen waren alle wie Geiſter ge-
kleidet. Sie hatten weiße Kleider. Sie wa-
ren mit Koͤrperchen umſchlagen mit einem
leichten Gewande, mit dem Sterbhemde. Die
Geſichter kenntlich; allein himmliſch. Wenn
die junge Grafen und der Braͤutigam nicht
Hutkraͤnze von weißen Federn auf ihren flie-
genden Haaren gehabt, und ganz unvermerkt
das graͤfliche Wapen nebſt der Perlencron an
ihrer Seite hervorgeſchimmert haͤtte; ſo wuͤr-
den die Geiſter mehr Geiſter geweſen ſeyn.
Jezt waren es graͤfliche Geiſter. Andre Welt!
wenn du Fuͤrſten, Grafen, Freyherren, Rit-
ter, Buͤrger und Bauren haſt; ſind ſie auch
nur durch ein Wapen unterſchieden; wie we-
nig biſt du dann andre Welt! wie wenig! —
Alles handelte in dieſem Familienſtuͤck. — O
der unſeligen Wapen, und der weißen Feder-
buͤſche! und der graͤflichen Krone! —
Die Graͤfin Mutter hatte ſieben Weinreben
in der Hand, die alle ſieben weinten, ſo daß
E 3die
[70] die Thraͤnen zuſehens herabtraͤufelten; drun-
ter giengen Vergiß mein nicht auf.
Zwey Soͤhne hatten Grabſchaufeln in der
Rechten, ſtanden an einem aufgemachten Bette,
wie der Graf es nannte, an einem fertigen
Grabe, und beſahen die Erde und ſich, als
wenn man ſein Portrait und ſich collationirt,
um beyzuzeichnen: concordare cum ſuo origi-
nali teſtor. Man ſahe, daß ſie ſich ſagten:
Staub von unſerm Staub! Zwey Graͤfinnen,
unſchuldig wie Engel, bis auf die verfluchten
Wapen. Wozu doch die Wapen? Zwey
Graͤfinnen, wuͤrkliche Engel, goßen jedes eine
Schaale auf die aufgeworfene zur Saat Got-
tes vorbereitete Erde.
Meine Mutter haͤtte das Taufwaſſer nicht
feierlicher ausgieſſen koͤnnen, als dieſe Engel
die Schaalen.
Die beyden Braͤute, mit herabhaͤngenden
halbverwelkten Kraͤnzen, Hand in Hand. Der
eine Braͤutigam den rechten Arm in der linken
Hand — ſo aufgeſtuͤtzt ſieht er ſtarr auf ei-
nen Fleck im bloßen Kopf, wie der Graf ſagte,
das iſt, auf nackte Erde. Wohin der Blick
nur reichen kann, iſt die Stelle kahl, ohne
gruͤn und gelb. — Der andre neigte ſich ſanft
zur Erde, die er kuͤßt. Die Bewegung jenes
Roͤ-
[71] Roͤmers, da er ſeinem Vaterlande einen Kuß
gab, iſt nichts dagegen.
Der Sohn und ſeine Braut, oder Federn
und Wapen, hielten eine mit Blumen durch-
flochtene Schnur. Sie zogen jedes ſein Ende
mit Macht, und ſiehe da, ſie reißt und beyde
ſind im Sinken — zwo Tauben fliegen mit
Oehlzweigen uͤber der ganzen Geſellſchaft.
Und nun noch ein Engel ohne Sterbhemde,
ohn Schlafrocksmaͤßig um den Geiſt haͤngen-
des fliegendes Koͤrperchen, ein Engel in einer
noch angemeßenern Uniform, in einem ſo
Orignalengelgewande — alles engliſch an
ihm, wie ſchoͤn er in die Hoͤhe ſieht! Wie
ſchoͤn! Es war der juͤngſte, der Benjamin un-
ter ſeinen Bruͤdern. Wenn ich doch dieſe Uni-
form beſchreiben koͤnnte! — — Schade! er
hat ein Ordensbaͤndchen, worauf das luthe-
riſche Wort ſteht: Viuit. Freilich mehr, als
pro gloria et patria.
Allein ein Ordensengel! O des Ordens,
der Wapen! der Federbuͤſche!
Das zweite Zimmer
mit dem Accent: ich geſteh’ es, ich haͤtt’ es
fuͤr mein Leben gern. —
Lauter ſterbende Koͤpfe! Roch iſt Zeit zu-
ruͤckzutreten, gnaͤdige Frau — allein die letzte
E 4Zeit
[72] Zeit war dieſe heilige Schwelle betreten — ich
ſteh nicht fuͤr ihn. — Man ſieht es Ew. Gna-
den an — ſie erliegen! ohne Umſtaͤnde ein
polniſcher Abſchied, oder ein deutſcher! wie
ſie befehlen!
Ha! das war ein Odemzug! Das Be-
harren bis ans End’ iſt nicht Jedermanns
Ding — Viel Vergnuͤgen auf der Redoute. —
Da ſind freylich andere Geſichter! Narren-
kappen wie man ſie will. Als Schaͤferinn
alſo? — — — und dieſe Koͤpfe? O Freunde,
wie werth, wie werth zu ſehen! Es ſind Ge-
ſtorbene, die eben kalt geworden, eben. —
Alle gantz puͤnktlich richtig nach dem Leben —
nach dem Tode, wuͤrd’ ich ſagen, nach ihrem
Sonnenuntergang! — ſeelig, ſeelig, ſeelig,
ſagte der Graf, ſind die Todten, die im Herrn
ſterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit, ihre
Werke folgen ihnen nach — Wir falteten alle
drey die Haͤnde! Es war erwecklich anzuſe-
hen. — Sie ſind, fieng der Graf Etwas zu
geſucht an, dieſe Todten hier, ſind nach dem
Ausgang der Seele durchs rothe Meer, wie
dieſe ſchon Canaans Thurmſpitzen ſah, gemahlt.
Wenn die Seele, fuhr er fort, von ihrem
vieljaͤhrigen Freunde Abſchied nimmt, ver-
ehrt ſie ihm noch ein klein Andenken. Eine
goldne
[73] goldne Tabatiere mit ihrem Bilde! Sie wirft
noch Strahlen auf ihn, die ſo aus den Ge-
ſichtszuͤgen des Geſtorbenen herausleuchten,
wie das Antlitz des Moſes, obgleich er ſchon
vom Donner und Blitzberge war. Der
Menſch dort, ſo lange die Seele in ihm lebte,
ſchwebte und war, ſich ſo oft hinter ihr ver-
ſteckte, und vom Verſtande Feigenblaͤtter,
Vorhaͤnge borgte, kaufte, wie es die Noth
wolte, iſt da auf ein Haar zu ſehen. Als
wenn er lebt! Als wenn die Seele nur uͤber
Feld gegangen waͤre, um friſche Luft zu ſchoͤ-
pfen, um ins Freye zu gehen, als wenn die
Seele gleich wieder kommen wuͤrde. Ihr
Hauptſeſſel iſt noch nicht kalt. — Spasvo-
gel Diogenes, loͤſche deine Laterne aus! Hier
ſind Menſchen, recht wie ſie ſind. — Da iſt
das aufgegebene Raͤthſel und die Loͤſung, das
Exempel und die Probe! Jeder fuͤrchtet ſich
vor dem natuͤrlichen, vor dem Cammertode,
vor dem kalten vernuͤnftigen Tode. Der Hel-
dentodt, der Feldtodt, iſt nicht kalt, nicht ver-
nuͤnftig. Es iſt ein kuͤnſtlicher Tod, man
weiß nicht wo man bleibt, und ich, ſagte der
Graf, ich, der ich dem Tode ſeine Kuͤnſte ab-
laure, ich der ich ihm nachſchreibe, wolte in
Faͤllen dieſer Art nicht Obſervationen anſtel-
E 5len,
[74] len, um alles nicht, in Faͤllen nehmlich, wo
der Menſch ſo recht in ſeinen Suͤnden ohne
Zeit und Raum, ſich in Ordnung zu legen,
dahin ſtirbt, dahin — Zwar, fuhr der Graf
fort, zwar hab’ ich ſelbſt zwey Bruͤder, die
auf dieſem ſo genannten Bette der Ehren ge-
blieben ſind, und ich hoffe ſie gewis in der ſee-
ligen Ewigkeit zu treffen; indeſſen iſt nichts
richtiger, als daß der Baum, wie er faͤlt,
liegen bleibe. Da liegt der Grund von mei-
nem Grundſatz. Warlich, lieber Leſer, das
war das Motto zu dem Zimmer, in das ich
euch ein — und die gnaͤdige Frau v. —,
die eben jetzo ſchon ein engliſch Taͤnzchen
macht, ausgefuͤhret habe, obgleich die gute
Frau, unter uns geſagt, uͤber ein kleines auch
ein Todtenkopf werden wird, und ins Ohr
geſagt, ſchon jetzt halb einer iſt — und dieſe
Koͤpfe? So hab’ ich ſchon einmal gefragt,
und ſo werd’ ich noch oft fragen, und immer
drauf antworten, o Freunde, wie werth zu
ſehen, wie werth! Wer kann ſie aber ohne
Verluſt beſchreiben? Wer? Ein Gemaͤhlde
von andern Gemaͤhlden iſt Copie, iſt todt an
ihm ſelbſt, iſt kalt von kalt — wie — der
eine Kopf als fruͤg’ er: wo kam ich hin? ſo
beſcheiden gefragt, daß es ihm gleich war,
wohin
[75] wohin es gienge. Die Augen ſo geſchloſſen,
als ob er ſich alles willig gefallen ließe, und
gern unter Gottes Regiment blind waͤre, ohne
alle Capitulation. Wer wird auch mit dem
guten, mit dem lieben Gott, capituliren.
Tireſias toͤdtete die Frau Drachen, und
ward aus einem Manne ein Weib. Nach ſie-
ben Jahren toͤdtete ſie oder er den Herrn Dra-
chen, und ward ein Mann. Seiner Offen-
herzigkeit halber, da Jupiter und Juno uͤber
die Suͤßigkeiten des Eheſtandes ſtritten, und
er dem weiblichen Geſchlecht den Apfel reichte,
ward Juno aufgebracht; denn welche Dame,
waͤre ſie auch eine Goͤttin, thut nicht ſo, als
ſey ihr nichts um die Liebkoſung der Maͤnner
zu thun, und ſey es auch Herr Jupiter, der
ihr liebkoſe. Der Zorn der Juno machte den
Tireſias blind. Jupiter aber verlieh ihm in
hoͤchſten Gnaden das Privilegium perſonale,
wiewohl in caſu oneroſum, wahr zu ſagen, zur
Erkenntlichkeit. Die Anwendung dieſer Fa-
bel: Tireſias hatte ſo die Augen zu, wie un-
ſer Verſtorbene — Er war ſo zufrieden,
wie Tireſias. Das Schickſal wolt’ es, daß
er die Augen ſchließen ſolte, und er ſchlos ſie.
So auch unſer Kopf. Tireſias war blind und
ſah mehr, als Leute, die ihre zwey Augen
im
[76] im Kopf hatten. Unſer Geſtorbene ſchien auch
beym Verluſt ſeiner Augen eines andern Heils
gewis zu ſeyn. Das war Ausſicht. Die Ruͤck-
ſicht? Sich ſelbſt von Jugendſuͤnden zugezo-
gener Sterbensſchmerz ſchien auf der Stirn
zu runzeln: allein kein Bewuſtſeyn, ſeinen
Naͤchſten um funfzig Procent gebracht zu ha-
ben, kein Betrug, kein Bubenſtuͤck. Die Un-
terlippe biß die obere ein, doch verwundete ſie
ſolche nicht. — Paete, non dolet. Oberlippe,
es thut nicht weh, ſchien die Unterlippe der
Oberlippe aufbeißen zu wollen. Juſt dann
ſchmerzt es aber, wenn man ſagt, es ſchmerzt
nicht. Man beſpricht den Schmerz, wenn
man ſpricht, indem es weh thut, wenigſtens
glaubt man ihn zu beſprechen. —
Solten Sie denken, meine Herren, ſagte
der Graf, es iſt ein bloßer Gottverehrer —
der, wie er mir bekannt hat, den lieben Gott
blos in ſeiner lieben guͤtigen Natur geſehen, ge-
kannt und ſich drob gefreut hat. Denn Gott
iſt nicht ferne von einem Jeglichen. Den feu-
rigen Buſch der Religion hat er nicht geſehen.
Er blieb ſeinem Naturglauben und Vernunfts-
Catechismus, der nur einen Artikel hat, treu!
Ich kann nicht, ſagt’ er, wenn ich gleich wolte;
allein ich habe keinen in ſeinen drey Artikeln
geſtoͤhrt,
[77] geſtoͤhrt, keinem ſeinen Catechismus im Spiel
abgenommen, keinem geſchwindes Witz- oder
langſam wirkendes Verſtandsgift eingegeben,
keinem in ſeinem Thun und Laßen einen Stein
des Anſtoßes in Weg gelegt. Ich hielt viel
fuͤr Gotteslaͤſterung, was andere fuͤr Gottes-
verehrung hielten — ich — beſonders war
es, bemerkte der Graf, das er das ich unend-
lich oft und viel ausſprach, und mit ſeinem
ich hinten und vorn war. Er blieb auch im
ich. — Er ſties ſich das Herz daran ab. Mit
dem lieben ich! — Die Herren Naturaliſten
im guten Sinn, dabey bleib’ ich, fuhr der
Graf fort, halten ſich ſelbſt fuͤr kein Kleines.
Ihre Seele wenigſtens iſt ihnen ein Stuͤcklein
lieber Gott, wie wir Chriſten denn auch drin
nicht ganz in Abrede ſind, allein wie? —
Man koͤnnte die Deiſten Seelenverehrer nen-
nen, bald haͤtt’ ich Seelenabgoͤtter geſagt;
allein ſeht nur die Miene des Geſtorbenen!
Iſt da wohl Abgoͤtterey drinn — ich mag
keinen Stein aufheben wider ihn, weder ei-
nen großen, wie wider den Stephanus,
noch einen kleinen, wie wider Goliath —
ich nicht. Noch ein Deiſt mit mehr Stirn-
unbeladenheit, allein mehr Lebensmuͤhſee-
ligkeit uͤber den geſchloßenen Augen, die
er
[78] er eigentlich nicht geſchloßen, ſondern zu-
gedruckt hatte. Es ſchien ſo, als waͤr der
Schluͤßel abgedreht. Eine Auferſtehung ge-
hoͤrte dazu, um dieſe verſchloßenen Augenthuͤ-
ren zu oͤfnen. Alles war dicht zu, auf beyden
Wangen. Von der Mitte der Naſe an, bis
ganz herunter lag ein Strick von Runzel, der
ſich unten zuſammen gab. Er iſt ſehr verfolgt,
der arme Schelm — ſagte der Graf. Sein
Tod war ſanft, das ſah man — kein Ge-
wiſſensbiß, auch nicht einſt in einer Lippe.
Ruhe lag uͤber und uͤber und ſo viel Erge-
bung, daß er, wenn Gott geſagt haͤtte: hoͤr
auf, er erwiedert haben wuͤrde, dein Wille
geſchehe! Wahrlich das koͤnnt’ ich nicht, be-
merkte der Graf, ich wuͤrde dem lieben Gott
wenn nicht mehr antworten, ſo doch: aber
lieber Gott — Ich konnte nicht weg von
dieſem Kopfe. Herr wie du wilſt, ſo hies er.
Der Graf erzaͤhlte mir viel Verfolgungsſce-
nen von Geiſtlichen, und beſonders von ei-
nem gewiſſen Conſiſtorial-Praͤſidenten Cai-
phas — der ſelbſt weder Gott noch Teufel
glaubte, der aber von Amtswegen und aus
leidigem Praͤſidentenſiolz orthodox ſchien bis
zur Raſerey, die uͤberhaupt mit ihm ſehr nahe
verwandt war. Gott laß dich ruhig haͤngen,
ſagt’
[79] ſagt’ ich, da ich ihn ſahe — Du ruhiger
Menſch. Koͤnnte ſeine Seele wohl in der
Hoͤlle und Qual ſeyn, und ſein beſtes Leib-
ſtuͤck, ſein Kopf, ſo ausſehen? Es waͤr’ ihm,
ſolt ich denken, auf dem Hoͤlle- und Quaal-
Fall gewis etwas vom Durſt anzuſehen, den
ſeine andre Helfte dort litte. Mein Vater
pflegte zu ſagen: alles Paarweiſe, Seele
Mann, Koͤrper Weib. W. Z. E. W. Meine
Mutter wuͤrde geſagt haben, Leib Weib —
ohne W. Z. E. W. Dies fiel mir ein, und
ſchnell dacht ich, ein gutes Weib! Sollte wohl
da oben uͤbern Augen Etwas Menſchenhaß
liegen? und der Gerntodt eben daher ſein
ſchoͤnes Feyerkleid her haben? und die Ent-
ſchloſſenheit, auch ganz zur Erde zu werden,
daher kommen, um nur mit Menſchen nicht
mehr zuſammen zu ſeyn? — Seht ihn recht
an, ich finde keine Schuld an ihm, und wenn
etwas Bitterkeit wider Prieſter und Leviten,
wie Unkraut unterm Waizen, ſtuͤnde: war
nicht vielleicht Verfolgung wider dieſen Sa-
mariter Schuld daran? Es liegt auf jedem
Lebens ausgegangenen Geſicht Ruͤckſicht und
Hinſicht, ſagte der Graf. Ich fand keines von
beyden auf unſerm Ruhigen. Er neigte nicht
ſein Haupt, das that auch ſein Bruder nicht,
ſie
[80] ſie hatten den Kopf ruͤckwaͤrts gebogen, und
doch in die Hoͤhe! — Schlaf geſund, du
Verfolgter, und genieße der ſtolzen Ruhe de-
rer, die in Gottes Hand ſind, und von denen es
heißt: keine Quaal (auch nicht einſt vom Con-
ſiſtorial-Praͤſidenten Caiphas, dem Schwie-
gerſohn des Hannas,) ruͤhret ſie an — Das
waren die beyden Deiſten, denen der Graf
hier ein Raͤumlein bey ſeinen Chriſtenkoͤpfen
gegoͤnnet hatte, ſo daß dieſe Todtenkopfgal-
lerie eben hiedurch ein Simultangewoͤlbe wor-
den war.
Der Deiſt, da er wohl einſiehet, er komme
nicht aus: er habe eine Rechnung ohne Wirth
gemacht, nimmt ſich eine Handlung aus ſei-
nem Leben heraus, ſtellet ſie auf und ſieht ſie
ſo mit unverwandten ſtarren Augen an, daß
er drauf lebt und ſtirbt, daß er ſich einbildet,
der liebe Gott werde auch ſein ganzes Leben ſo
vergeſſen, als er, bis auf das Proͤbchen, das
er zur Schau aufgeſtelt. Moſes ward be-
graben, ohne daß Jemand wußte wo? Doch!
ich wolte vom Lycurgus reden. Dieſer große
ſpartaniſche Geſetzgeber eroͤfnete dem Volke
ſeine in Delphos confirmirte und goͤttlich er-
klaͤrte Geſetze, und da Sparta unter ſeinen
Geſetztafeln bluͤhete, wie ein Weidenbaum an
den
[81] den Waſſerbaͤchen, nahm er von ſeinen Buͤr-
gern einen Eid, die Geſetze ſo lange in Ehren
und Wuͤrden zu laßen, bis er heim kaͤme;
denn er muͤſte wieder nach Delphos, und nun
reiſete er nach Cirra, und beſtaͤtigte mit ſei-
nem Tode ſeine Geſetze. — Eine Parentheſe.
Iſt Lycurgus ein Selbſtmoͤrder, und jener
Patriot, der fuͤr ſein Vaterland in ein war-
mes Todesbad gieng? Nein, ſie ſind Maͤrty-
rer, und haben den nemlichen Zug im Geſicht,
als die, ſo aus Liebe zu einer Sache, damit
ſie, die Sache, nicht ſtuͤrbe, geſtorben ſind.
Ich komm’ ab. Ich wolte ſagen, Lycurgus
habe ſo ausgeſehen, wie jeder Deiſt, der ſich
ein Lebensbild aufſchlaͤgt, und dies ohne Auf-
hoͤren anſieht. — Die Seele ſelbſt gewoͤhnt
ihr Auge dran.
Ueber die Chriſtenkoͤpfe uͤberhaupt die An-
merkung: die Augen alle nicht ganz zu: Sie
wolten ſehen, wo ihre durch Chriſtum gehei-
ligte Leichnamme blieben. Sie wolten lau-
ſchen, (das thut man nur mit niedergeſchla-
genen Augen) wohin die erloͤſte Seele citiret
worden, und alſo die Augen etwas offen. Die
Augen waren von andern zugedruckt; allein
die Thuͤren wolten nicht zu halten, ſie waren
eingetrocknet. Die Chriſten hatten alle das
FHaupt
[82] Haupt geneigt. Sie hatten, das ſah man
ihnen an, ſchon das Seelenteſtament deponirt:
Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine
Haͤnde, nimm meinen Geiſt auf! und nach
dieſem Teſtament neigten ſie ihr Haupt und
verſchieden. Die Erde iſt des Herrn! Nimm,
liebe Mutter, dieſen Leib, den du neu gebaͤh-
ren ſolſt — ich fuͤrchte nicht deinen verſchloſ-
ſenen Leib — ich weis, an welchen ich glaube,
und bin gewis, daß er dieſe Beylage bewah-
ren werde, bis zu meinem Geburtstage, bis
an jenen Tag —
Der eine Mann da, ſolt’ ich mich irren,
wenn ich behaupte, daß etwas Zweifel in ihm
laͤge? Eine edle Unruhe — — bald haͤtt’ ich
ſokratiſche geſagt; allein ſie war lange noch
nicht ſokratiſch. — Es war eine chriſtliche.
Baal, erhoͤre uns, haͤtte dieſer Mann nim-
mer und in Ewigkeit gerufen! — Heute im
Paradieſe — heute noch? wo liegt es? Gott
von Angeſicht zu Angeſicht ſehen? ein Geiſt
den andern. Ewige Seeligkeit! ewige! in
einem weg, ohne daß uns die Zeit, haͤtt ich
bald
[83] bald geſagt, ohne daß uns die Einigkeit (das,
glaub’ ich, kann ich auch nicht ſagen) lang
wird. — Auferſtehung des Todten, des in
alle Welt zerſtreueten Leibes? Dergleichen
Fragzeichen ſchien der Mann auf dem Geſicht
zu haben, und auch ſein Nachbar, auch der
hier, auch jener dort, o! der an der Thuͤr am
deutlichſten: das ganze Geſicht ein Fragzei-
chen! allein bey alle dem, mit einer Art von
Vertraulichkeit gegen Gott. Nicht Dumdrei-
ſtigkeit, nicht Chriſtenſtolz, wie die Feinde der
chriſtlichen Religion es zu benennen belieben,
ſondern kindliche Zudringlichkeit, hoͤchſtens
Vorſchnelligkeit, hoͤchſtens Kinderfrage. Sind
Kinderfragen Zweifel? Sind es Knoten? die
der Deiſt heroiſch ſtatt zu loͤſen entzwey haut?
Werdet wie die Kinder! Wer kann das genug
lehren und lernen, und beym Capittel der
Ruͤckſicht, o! mein Gott, welche richtige
Rechnung! Wie ſtimmig die Balance! keine
Schuld im Ruͤckſtande, nichts zum Uebertra-
gen, alles thut wie oben. Alles rein ab-
geſchloſſen! ohne Bruch, ohne —
Der Kalte da! die wenigſten Zweifel! im
linken Auge ein halbes Aber, kaum halb, das
rechte glaubt — beyde chriſtlich neugierig, iſt
das Wunder? Aber wie ruhig wegen des
F 2voll-
[84] vollbrachten Lebens! Der Deiſt, wenn ers
recht, wenn ers genau nimmt, bankeroutirt,
und ſein Tod iſt ein Prangertodt, ein Spekta-
keltodt, als Chriſt? Alles bezahlt! Solte denn
der Chriſt ſtaͤrker in ſeinen Tugenden, feſter
in ſeinen Geſinnungen ſeyn? Solte! Halt!
gelehrter Frager, der Chriſt iſt uͤberall kindli-
cher. Er thut nichts aus Stolz, oder eitler
Ehre. Gott iſt Vater, er iſt ein kleines Kind,
das wo einmal ins Licht greift und ſich ver-
brennt, das — —
Wer, Freunde, iſt der Engelreine, der
nichts auf ſeinem Herzen und Gewißen haͤtte?
Solch ein Paar Gottes-Menſchen, als wir
beym Grafen erblickt, finden ſich, glaub ich,
nicht in vielen Jahren. Wir haben ſie aber
ruͤhmlichſt abgehandelt; indeſſen haben auch
ſie gewiß ein Proͤbchen ausgehangen. Der
Menſch, wenn er alles gethan hat, hat er al-
les gedacht? und bleibt er nicht ein unnuͤtzer
Knecht? Und wer macht das Blutrothe
ſchneeweis, und das Roſinfarbne wie Wolle?
Ich glaube nicht, daß Gott der Herr unmit-
telbar beleidiget werden koͤnne? Und die cri-
mina læſæ majeſtatis diuinæ ſind, wie ſchon be-
merkt worden, ſo was menſchlich geſagtes,
als Gottes Hand, Gottes Fuß, Gottes Auge.
Wer
[85] Wer von Gottes Mund ſpricht, thut Etwas ſehr
gewoͤnliches; wer aber nur die Helfte von Got-
tes Naſe ſpraͤche, und von ſeiner Stirn, und
von ſeinen Beinen, wuͤrde Gott danken koͤnnen,
wenn man ihn nicht fuͤr eine Art von Gottes-
laͤſterer hielte, warum das?
Gott, der nicht zu ſehen iſt, wird nur in
unſern Bruͤdern beleidigt, die zu ſehen ſind,
und in uns ſelbſt, die wir auch ſein Othem
ſind. Hier indeßen, welch ein Feld zu Ver-
brechen! — — Wir wollen annehmen, daß
Selbſtſuͤnden auch Selbſtſtrafen nach ſich zoͤ-
gen; (Suͤnde, den Tod) iſts aber darum
gut gemacht? Waͤre dies, ſo waͤre jeder Selbſt-
moͤrder ſeelig, ohne Streitſchrift, weil er das
Leben eingebuͤßt hat, nicht alſo? Wer ſich
zum Arbeiter im goͤttlichen Weinberge, zur
Weltarbeit untauglich macht, wer nicht treu
und fleißig mit den Gaben umgeht, die er
empfangen hat, verdient nicht allein keinen
Taglohn, und Armuth und Mangel; ſondern
er hat auch mit ſeinen Suͤnden noch andere
Strafen verdient. — Und wer iſt ſo unſchul-
dig, daß er ſeinen Bruder nicht mit Gedanken,
Gebehrden, Worten und Werken, beleidiget
haͤtte?
F 3Schoͤn,
[86]
Schoͤn, Freunde! wenn ihr das Seine
dem gebt, dem ihrs genommen, dem Nachbar
ſein Waizenland, und der armen Prieſterwitt-
we ihren Kohlgarten. Schoͤn, wenn ihr dem
die landuͤbliche Zinſen wegen des entbehrten
Niesbrauchs erſetzet, dem ihr den Niesbrauch
ſeines Ackers entzogen; habt ihr aber auch
die drey Lebensjahre erſtattet, welche ihr die-
ſem Armen durch eure Kraͤnkungen entzoget?
die Sonne, die auf dieſes Land ſahe? den Re-
gen, der darauf fiel? — Habt ihr dadurch
ſchon den in integrum reſtituirt, den ihr fuͤr
einen Weinſaͤufer, beißig, hartherzig ausgabt,
wenn ihr uͤber viele Zeit, da er ſchon dieſes
eures Todſchlages halber in die Verweſung
uͤbergegangen, eine Palinodie ſanget und be-
hauptetet, er ſey ein Waßermann, habe keine
Zornzaͤhne, ſey warmherzig; und wie man-
cher iſt gar nicht mehr mit euch auf dem We-
ge, den ihr beleidiget habt! Wird der Mord,
den ihr an der Mutter veruͤbtet, etwa nicht
geſtrafet, wenn ihr ihrem Saͤuglinge eine Am-
me gebt? oder wenn ihr den Altar bekleidet,
oder dem Oberpaſtor einen Anthal vom beſten
ſpendiret? Hat Chriſtus, der Mund der
Wahrheit, etwa die Unwahrheit unter die
Chriſtenleute gebracht: wenn er uͤber jedes
un-
[87] unnuͤtze Wort Rechenſchaft einfordert? Iſt
was wahrer? was richtiger? Herr! wenn du
wilſt Suͤnden zurechnen, wer kann beſtehen?
So gut ich mein Buch gemeynt, koͤnnen nicht
Stellen ſeyn, die nicht da ſeyn ſollten? und
was alsdenn? So ruhig wie die zwey Got-
tes Menſchen oben geſtorben! Wer es kann.
Wer nach Orts-Ellen geſtempelt, durch den
Land- und Stadtphiloſophen Gottes Eigen-
ſchaften abmißt, und Gerechtigkeit und Barm-
herzigkeit nach dem Ein mal eins berechnet;
was meynt ihr, kann er wohl bey ganz geſun-
den Nachdenken ſein Haupt ſo ruͤckwerfen,
wie die beyden, die wir nahe bey geſehen ha-
ben? Und ſeht ſie doch nur recht an. Recht!
Iſt denn die Ruhe der beyden guten Leute die
rechte Ruhe? Wer ſteht uns dafuͤr? Der
Phlegmatiſche iſt ruhig, weil er phlegmatiſch
iſt. Wenn aber ein Betriebſamer ſeine Ge-
ſchaͤfte richtig durchkalkuliert, Debet und Cre-
dit abzieht, und Summa Summarum Ruhe
abzieht. — Was meynt ihr? Iſt das nicht
eine andre Ruhe? Eine Ruhe, ohne vorhe-
rige Unruhe, was iſt ſie? Reue, die Niemand
gereut, wirkt Leben, und wenn denn ein Deiſt
traurig wird, was kann dieſe Traurigkeit der
Welt anders wuͤrken, als den Tod? — Seht
F 4da
[88] da den Chriſten, die Augen offen (im Leben
heißt es, Naſ’ und Mund offen) wegen der
Hinſicht; allein wie ruhig wegen der Ruͤck-
ſicht! Seelig! ſeelig wer wie Mine ſtirbt!
ſo kindlich gros! ſo ſchoͤn! So ſterben zu
ſehen, iſt das nicht Wonne? Wer ſo ſtirbt,
der ſtirbt wohl, wohl, wohl! und verdenkſt
du, unberufner Kunſtrichter, dem Grafen,
daß — —
Seht nun, wie ausdruͤcklich berechnet iſt
die Ruhe der Chriſten auf ihren Geſichtern!
Gilt es denn hier Etwa nur eine taube Nuß,
oder gilt es eine Ewigkeit? —
Nach dieſem Praͤludio, ich wuͤnſcht’ es waͤr
in der Wirklichkeit ſo ſtark im Ausdruck, als
das, des alten Herrn in der Einbildung! Seht
euch mit mir um, lieben Leſer!
Auf den Chriſten Todtenkoͤpfen eine voll-
ſtaͤndige Quittung, Brief und Siegel zum
Losſpruch. Kein Zweifel-Glaube, ohne alle
Einwendung in der Ruͤckſicht. — Die Kinder-
frag’ in der Hinſicht thut nichts zur Sache.
Seht jenes Weibsbild! wie unbefleckt, wie
froh ruhig! wie Zweifelsfrey! Nicht Hof-
nung, ſondern der Himmel ſelbſt in hoher
Perſon, haͤtt’ ich bald geſagt, liegt auf ihrem
edlen Geſichte! ich kann hier ſelbſt keine Neu-
gierde,
[89] gierde, keine Kinderfrage finden. Solch ein
Weib! wie ſchoͤn, ſelbſt im Tode! Alles iſt
neues Teſtament, alles iſt Erfuͤllung in ihrem
glaͤnzenden Angeſicht! Nichts Prophezey-
hung, nichts Vorbild, nichts Verheißung.
Jener alte Mannskopf ihr gleich! O Gott,
waͤr’ ich doch einſt auch ſo todt, wie die bey-
den! Da iſt auch nicht ein einziger Zug, der
nicht wuͤnſchenswerth waͤre! Nicht einer! So
ſchoͤne Koͤpfe wuͤrde man Muͤhe haben, im Le-
ben zu finden. — Der Graf erzaͤhlte uns
beyder Sterbenslaͤufe. Sie waͤren gern, wie
er ſagte, herzlich gern geſtorben, und haͤtten
die Kraͤfte der zukuͤnftigen Welt ſo gewaltig
gefuͤhlt, daß ſie mehr dort, als hier geweſen.
Ueberdrus der Welt iſt Vortodt, bemerkte der
Graf. Es iſt ein gut Hausmittel, die Bitter-
keit des Todes zu vertreiben. Wer aber ſo
gleich gerade zu ſtirbt, ſo einen klaren reinen
Tod ohn’ alle Ingredienzien! O ſchoͤn! rief
der Graf aus. — Ein auszehrendes Fieber
loͤſete die beyden Koͤpfe auf. Ihr Geiſt lag
nicht an der Auszehrung, feyerlich, ſagte der
Graf, ſo mit Verſtand und allen fuͤnf Sin-
nen, giengen ſie aus der Welt, ſo daß nur ein
Thor, wie der Graf ſich Etwas zu hart aus-
druckte, ſagen koͤnnte: Sie waͤren geſtorben.
F 5Freun-
[90] Freunde! auf Ehre ſie zogen nur uͤber Land.
Wer einfach, wer im Naturſtande, im Stan-
de der Unſchuld lebt, ſtirbt der? Nein, er
wird lebendig gen Himmel gehohlet, und ſol-
cher Uebergaͤnger, ſolcher Himmelsfahrer
giebts viel, obgleich das Paradies nicht mehr
iſt. Es iſt mit der Unſchuld zuſammen ver-
ſchwunden. —
Wir ſprachen bey dieſer Gelegenheit ein
hohes und tiefes uͤber den Einflus, den die
Krankheit auf die Geſtorbenen behauptet; al-
lein der Graf verſicherte, wenig oder gar
nichts. Auf den agoniſirenden zwar; allein
auf den eigentlich Sterbenden, auf den Ge-
ſtorbenen nicht. So bald der Menſch todt
iſt, fuhr der Graf belehrend fort, zieht ſich
alles, wenn ich ſo ſagen ſoll, nach der Seele,
die groͤßten eindruͤcklichſten Krankheiten ver-
lieren ihre Spuren. Das Wort: komm
oder geh, welches die Seele, die ihr voriges
Leben dem Gewiſſen vorreferirt, ſchon in den
letzten Augenblicken vor dem infalliblen un-
appellabeln Richterſtuhl des Gewißens, vor
dem Baum des Erkenntnißes Gutes und Boͤ-
ſes, als eine rechtskraͤftige Sentenz erſchallen
hoͤrt, geht in den ganzen Koͤrper uͤber, in die
ewigen Elemente deßelben, wie ein Blitz oder
Son-
[91] Sonnenſtrahl, nach dem es komm oder geh
heißt und bleibt. —
Wenn ich, ſagte der Graf, deßen Einbil-
dungskraft im Adlerfluge war, den Augen-
blick hinmahlen laßen koͤnnte, wenn ein
Menſch ſtirbt, was wuͤrd’ ich drum geben!
Dieſen Augenblick zu obſerviren, koſtet Muͤhe
und Erfahrung, und doch glaub ich am Ende,
hab ich nur fuͤnf im eigentlichſten Sinn ſter-
ben geſehen; ich hof’s zu ſieben zu bringen.
Ein heftiger Ruck — bey allen fuͤnfen; bey
einem unter den fuͤnfen war der Tod ein wuͤrk-
licher Einſchlaf. Dieſe fuͤnfe haͤngen hier,
nicht wahr, etwas zu ſehr im Dunklen? ich
liebe einen gewißen Schatten auf dieſen Ge-
ſichtern, den ich zum Theil erkuͤnſteln muß.
Die Fenſterladen auf! — — Da der, der
iſts, von dem ich ſprach! Wahr! ich fand
es, ich fand noch Seele, aber eben Abſchied-
nehmend, und ſo lieblich, als ſagte ſie: Leb-
wohl, lieber Junge Leib! Lebwohl! Ich wer-
de dich noch oft auf dem Kirchhofe beſuchen,
wo man dich hinbringt, wenn es angeht, will
ich ſehen, wo du bleibſt, auch wenn ſich
Staub von Staub losreißt. — Sey gutes
Muths! Gott vermag Alles! So lange du
in ſeiner Welt biſt, ſind wir zuſammen! Wei-
ne
[92] ne doch nicht! Armer Junge! Koͤnnt’ ich dich
doch troͤſten! Armer lieber geliebter Erden-
klos, koͤnnt’ ich doch! O koͤnnt’ ich! Beten
kann ich, will ich. Laß ihn, o du Seele al-
ler Seelen, Geiſt aller Geiſter, laß ihn nicht
verſinken in des Todes lezten Noth, erbarm
dich ſein! — Ein Theil Leben, wenn es gien-
ge, wie gern gaͤb’ ich es hin, fuͤr dich, lieber
Getreuer! — und Ihr Elemente! ihr ewigen
Stuͤcke am Koͤrpertheil des Menſchen, ihr
Vorſteher des Koͤrpers, nehmt euch der uned-
len Stuͤcke an, wenn gleich ſie nicht von Fa-
milie ſind, ſchaͤmt euch ihrer nicht — — —
O der guten Abſchiednehmenden Seele!
Gott was fuͤr Schmerz auf zwey Geſich-
tern! —
Warum verſtelleſt du deine Gebehrde?
koͤnnte man zu allen beyden ſagen. Der zur Lin-
ken ſcheint ſich zu faſſen, oder faſſen zu wollen!
Es iſt Alexander, da er krank war, und den
Arzeneybecher vom General-Feldmedico Phi-
lippus entgegen nahm. Eben ein Brief vom
Parmenio. Er nahm den Becher und trank,
und gab dem Doktor Philip den Brief, der
ihn las! Faſt ſo, ſagte der Graf, nicht voͤl-
lig, ſagt’ ich, denn ich kannte den Alexander
auf ein Haar, und beſſer als unſer Hochge-
bohr-
[93] bohrner Herr, obgleich er Graf war. Aber
da! mein Gott, welche Verzogenheit! Car-
rikatur! als waͤrs kein Menſchenkopf! Der
Graf erzaͤhlte mir zu meiner allergroͤſten Ver-
wunderung, daß dies ein Ploͤtzlichgeſtorbener
ſey. Mein Gott, rief ich aus, wie ſehnlich
hab’ ich mir, bis ich dieſe Verzerrung ſahe,
einen guten ſchnellen Tod gewuͤnſcht! Viel-
leicht, fuhr ich fort, war dies ein boͤſer ſchnel-
ler Tod, von dem es in unſrer Litaney heißt:
ich glaub es nicht, erwiederte der Graf, allein
uͤber den ſchnellen Tod, mein Freund, wie
viel zu ſagen! Ich habe Urſache zu den-
ken, fuhr der Graf fort, daß jeder Menſch
gleichviel Todesnoth ausſtehe. Todesangſt
und Noth iſt zweyerley. Die Angſt iſt zufaͤl-
lig; nachdem der Mann, nachdem die Angſt.
Die Noth iſt weſentlich. — Aber, wandt’
ich ein, ſolte Mine ſo wie dieſer geſtorben
ſeyn, mit ſo viel Noth? ihre Mutter wahrlich
iſt ſo nicht geſtorben! Recht, ſagte der Graf,
ſie hat die Todesnoth mit einigen Stof Waſſer
gemiſcht, getrunken. Dieſer auf einmahl!
Aeſop nahm den groͤßten Korb zu tragen; al-
lein es waren Lebensmittel drein, und eben
da-
[94] dadurch war der Korb ihm am Ende am leich-
ſten. Mein Gott, was giebts fuͤr ſchmerz-
hafte Krankheiten und Vorfaͤlle in dieſer boͤs-
geworden gefallenen Welt! Alles Tode, die
Schrift nennt ſie Tod, und ſie ſind es im ei-
gentlichen Sinn; wenn aber der Menſch,
der nie geſtorben, auf einmahl recht und ei-
gentlich ſtirbt, auf einmal weg ſoll, im Au-
genblick, aus dem Lande der Lebendigen. —
Seel und Leib ſo bekannt mit einander. Er
eben in der Ausfuͤhrung von vier Planen,
wovon immer einer den andern deckt. O
Freund! ſo was pflegt in einen Schrey —
auszuarten! und dieſer hier iſt eben im
Schrey! ich hab’ ihn nicht obſervirt. Es iſt
ein großes Praͤſent von einem Freunde, der
mir aber auf Treu und Glauben dies Stuͤck
gegeben hat, und mich duͤnkt, es ſey ein
Stuͤck auf Treu und Glauben. — — — Und
dieſer verhangene Kopf? (Es war einer aus
den Fuͤnfen) Freund, ſagte der Graf, der
Mahler Timanth mahlte Iphigeniens, der
Tochter Agamemnons, Aufopferung und theil-
nehmende Perſonen, die jeden ruͤhrten, der
ſie ſah. Timanth brachte alles zum Vor-
ſchein, alles, alles vom Schmerz, was auf
der Stirn, dem Trone des Schmerzens, im
Aug’
[95] Aug’ und im Geſichte, nur Raum hat, was
man nur vom Schmerze weiß. Niemand
konnt’ in die Hoͤhe ſehen, wer Iphigeniens
Aufopferung von Timanth ſah’, alles ſtand
betruͤbt, gebeugt zur Erde; nur Iphigeniens
Vater, und wie der? eine ſchwarze Trauer-
decke um ſein Angeſicht. Warum alſo? dar-
um alſo, weil es der Vater iſt. Hier, ſagte
der Graf, hier unter dieſem entſetzlichen Lei-
chentuche, iſt auch ein Schmerz groͤſſer, tie-
fer, als jeder Ausdruck. Etwas iſt davon
am Tuche zu ſehen, und nur eben ſo viel et-
was, als hinreichend iſt, uns das Herz zu
durchboren. Sehen Sie hier nicht mehr,
als uͤberall! Und doch iſt hier nur ein Strich,
ein Punct! — Dies Stuͤck iſt auch der
Vater!
Ich kann es nicht ausſprechen, was ich
empfand! Ich unterlag. —
Der Prediger machte dem Grafen bey Ge-
legenheit der Todesangſt und Todesnoth einen
Einwand. Es hat, ſagte der Prediger, Leute
gegeben, die aus Freude geſtorben ſind. Was
thuts, ſagte der Graf,
viel!
nichts?
wo da die Todesnoth?
Freund!
[96] Freund! erwiederte der Graf, die heftige
Freude kann eher, wie heftige Traurigkeit,
toͤdten. Die heftige Freude hat ſehr was wi-
derliches an ſich. Faſt wolt’ ich behaupten,
es iſt noch Niemand aus Traurigkeit geſtor-
ben, wohl aber aus Freude. Nicht, weil die
Traurigkeit dem Menſchen eigener, als die
Freude iſt, obgleich dieſer Umſtand uns eben
nicht aus dem Wege liegen wuͤrde; ſondern
weil der Menſch bey der Traurigkeit auf ſei-
ner Hut iſt, die ganze Wache ins Gewehr
ruft, alle Macht und Kraft aufbietet, und:
macht Euch fertig! ſchreyt. Bey der Freude
uͤberlaͤßt ſich der Menſch ſich ſelbſt, es geht
mit ihm rips raps, holter polter, uͤber und
uͤber, und dies Freuden-Wirrwarr, wie leicht
kann es dem Menſchen eins verſetzen! Ein
aus ſich verſetzter Menſch iſt todt. — Große
Luſtigkeit und tiefſter ſchmerzhafter Un-
wille ſind ſich ſo nah, daß ſie ſich in die Fen-
ſter ſehen koͤnnen. Faſt wollt’ ich ſagen, ein
heftig Luſtiger ſey eben ſo gefaͤhrlich unwillig
im Sinn, wie man gefaͤhrlich Kranke hat, die
ſehr geſund ausſehen. —
Diagoras freute ſich uͤber ſeine drey Soͤh-
ne, weil ſie alle drey den Preis der Academie
der Wißenſchaften erhalten, fieng ich an. —
Laßen
[97] Laßen Sie den Diagoras, ſagte der Graf, er
hat mehr ſeines Gleichen. Ein großes Gluͤck
iſt eine Poſaune der Ewigkeit, und ſollte jeden
Menſchen aufmerkſam machen. Wenn man
ſchnell dick und fett wird, iſt dies eben kein
Beweis der Geſundheit. Hat man Schmerz,
Kummer und Gram, und der Koͤrper iſt nur
aus geſunden Schrot und Korn, Freunde!
das ſind Leute, die ihr Leben bis auf den Gi-
pfel treiben, das ſind Leute aus dem vierten
Gebot! Ein lachend Sterbender fuͤhlt Noth
uͤber Noth. Er macht nur zum ſchlechten
Spiel ein gut Geſicht, und gelt! das iſt
ſchwer Ding! Stirbt er ſchnell, und lacht er
uͤberlaut, iſts aͤrger, als der Schrey dieſes
Mannes hier! Wer ſo lachen gehoͤrt haͤtte,
wuͤrde nie mehr lachen. Stirbt man lang-
ſam und laͤchelt; kann ein ſo freundlich Aus-
ſehender auch ein leichtes Ende haben; denn
er iſt ſchon lang zuvor geſtorben, eh’ er dies
Ueberwinder-Laͤcheln aufſchlug. — Ich halt’
es, beſchloß der Graf indeſſen mit Ernſt, im
Sterben mit einer gewiſſen Faſſung, und die
kennt weder Lachen noch Weinen. Eine ge-
wiſſe Grazie liegt zwar in jedem ernſten Ge-
ſicht, und ein gewiſſes Seelenlaͤcheln, wenn
Ernſt edler, unangenommener, nachdruͤckli-
Gcher
[98] cher Ernſt — Ein Ernſtſpieler, ein Ein-
fallsernſt, o das kennt man auf ein Haar! —
Noch ein Wort zu ſeiner Unzeit.
Meine Leſer werden es von ſelbſt gemerkt
haben, daß dies alles nicht in wenigen Stun-
den verhandelt ward. Wir aßen und tranken,
wenn die Zeit und ihr Zeiger, die Sonn, es
wolte; da war der Graf wie ein anderer Menſch.
Und ich kann verſichern, daß es hier nicht heiſ-
ſen konnte: der Tod in Toͤpfen; inzwiſchen
war auch bey Tafel alles wie beym Leichen-
eſſen. Eine unſichtbare Stimme rief, ſtatt
des Benedicite und Gratias, nach Art des
Philippus: Gedenke an den Tod! Bey Tafel
ward geredet; und zwar viel. Wir waren
nicht Papageien, die nur Memento mori
bey ſchicklicher und unſchicklicher Gelegenheit
anbrachten, doch war alles ſo als bey einer
Leichenwache. Mein Vater liebte eine frohe
Mahlzeit, eine mit Sonnenſchein. Beym
Eſſen wird man nicht alt, ſagt’ er. Der
Graf aß, wenn ich ſo ſagen ſoll, bey Mon-
denlicht. Er ſchien beym Eſſen alt werden zu
wollen. Die Zimmer waren all am Tage
verfinſtert; der Schatten iſt bey mir die
Probe vom Dinge, das ihn wirft, ſagte der
Graf. — Das Sonnenlicht war uͤberhaupt
nicht
[99] nicht fuͤr ihn. — Wie ehrwuͤrdig! wenn ſich
das Sonnenlicht hier und da durchſchlaͤn-
gelte! Der Graf ſagte, wer kann Gott und
die Sonn in dieſer Welt ſichtbarlich vertra-
gen! Gott wohnet in einem Lichte, wozu Nie-
mand kommen kann. Nur durch den Tod zu
ihm! durch Finſternis zum Licht! Wie ſchoͤn
die Sonne da durchſtrahlt — ich verhaͤnge
mir die Welt und was in der Welt iſt. Wer
kann mit der Welt in dulci jubilo leben, und
auf die Sterbens-Aſtronomie ausgehen. Stel-
latim, ſagte der Prediger, gehen, wie man
zu meiner Zeit auf der Akademie ſprach.
Nun mit der Erlaubnis meiner Leſer in
Das dritte Zimmer
auf welchem ein langer Accent liegt.
Ehe ich ſie hinein fuͤhre, wieder ein Wort
der Vorbereitung. —
Bey den Sterbenden war der Graf mit
Tubus und Fernglaͤſern auf dem Obſervato-
rio. Ich ſterbe taͤglich, das war ſeine Lo-
ſung. Das wiſſen wir ſchon; als etwas
neues und beſonderes muß ich bemerken, daß
der Graf faſt immer Zeit und Stunde wuſte,
wenn es mit dem Patienten aus ſeyn wuͤrde;
allein er ſagte es nie dem Sterbenden. Er?
nie? obgleich er den Tod ſo hochſchaͤtzte, und
G 2eigent-
[100] eigentlich lebte, um zu ſterben, oder eigent-
lich ſtarb, und nicht lebte. Der Graf hatte
zu dieſem Ruͤckhalt ſehr große Urſachen. Man
muß, ſagt’ er, keinem Menſchen das Ster-
ben verderben. Der Arzt, der es durch die
Signa Mortis vielleicht eben ſo gut weiß, als
ich, (ich ſage vielleicht; denn er weiß es vom
Koͤrper, ich von der Seele,) iſt mein Mann
nicht mehr, ſo bald er es ſeinem Patienten ins
Ohr raunt, oder Leuten entdeckt, die der Pa-
tient an den Arzt abgeſandt. Eine ſchreckliche
Geſandſchaft! Meine Aerzte muͤſſen ſich der-
gleichen Kunſtverraͤthereyen nicht zu Schulden
kommen laſſen. Mir koͤnnen ſie zunicken,
was ſie hoffen — was ſie fuͤrchten. — Das
erſte, fuhr der Graf fort, was die Patienten
gefragt wird, iſt: ob ſie ſchon ihren letzten
Willen entworfen? ihr Haus beſtellt? und
ihren Geiſt in die Hand Gottes einſchreiben
laßen? Dieſe peinliche Frage, dieſes Verhoͤr,
enthaͤlt den groͤßten Theil des Lebenslaufs,
den der Graf gern, herzlich gern, vorn Wil-
len nahm, indeſſen ihn, wie er auf Ehre ver-
ſicherte, nie erpreßt haͤtte. Viele Leute fuͤrch-
ten den letzten Willen, blos des Worts letzt
wegen, obgleich ſie Poſtſcripte, Codicille, und
alles, ſo lange die Zunge nur lallen kann,
auf-
[101] aufzuheben und zuzugeben, von den Geſetzen
berechtiget werden. Die Lehre von den Te-
ſtamenten, wie gefaͤlt ſie Ihnen, fragte der
Graf? Indeſſen kamen wir von dem letzten
Willen an ſich, ab. Wer wird, rief der
Graf aus, ſolch eine unverdiente Guͤte, als
die Lehre von den Teſtamenten, nicht vorn
Willen nehmen, und ſo etwas bis auf den
letzten Abdruck ausſetzen? Iſt denn ſchon Je-
mand am letzten Willen geſtorben? Hat ſich
der Patient leiblich wohl bereitet, denn auch
dies iſt eine feine aͤuſſere Zucht, ſo geht das
Geiſtliche an, und der Patient wird einge-
laͤutet, und ſodann Gott und meinen Anſtal-
ten uͤberlaßen. — Ich haͤtte gern, das
leugn’ ich nicht, dies Gloͤcklein gehoͤrt, in-
deſſen wards abgeſchlagen. Man hoͤrt’ es
nie, als wenn eins zur geiſtlichen Vorberei-
tung ſchritt’ und ins Sterbekloſter auf und
angenommen ward. Iſt aber, da dies Gloͤck-
chen nur bey Einlaͤuten eines Sterbenden zu
hoͤren, dieſer Klang nicht ſchon die letzte Oeh-
lung, iſt er nicht die Entdeckung, daß man
ins Todesthal eintrete? ins Novitiat, Freund!
verſetzte der Graf, wo man, wie bekannt,
auch heraus kann, wenn Gott will. Viele
ahnden die Sterbſtunde ſelbſt, und das iſt ein
G 3ander
[102] ander Ding, ſagte der Graf, denen hat es
Gott offenbaret. Wie viel ich fuͤr ſolche Leute
Achtung habe, iſt unausſprechlich; ich denke
immer, der liebe Gott habe mit ihnen geredet,
und ſie waͤren getrieben vom heiligen Geiſt.
Wer ſie nicht ahndet, ſterbe ohne Zeit und
Stunde zu wiſſen, welche Gott ſeiner Macht
vorbehalten hat. Daher auch alle Sterbens-
zeichendeuter, ich ſelbſt nicht ausgenommen,
oft irren und fehlen. Meine Aerzte haben
aus dieſem Grunde ihre Inſtruktion in ihrer
Cur, der lieben Natur zu folgen, ihr nicht
in den Weg zu treten, ſondern ſie blos zu be-
gleiten. Will ſie nicht mit ſolch einem elen-
den Geſchoͤpf, als ein Doktor iſt, zuſammen
gehen; ſo laße ſie der hochgelahrte Herr allein.
Auch gut. — Bey mir ſtirbt Niemand durch
den Arzt, verſicherte der Graf, ſondern na-
tuͤrlichen, nicht mediciniſchen Todes. Das
Stundenſanduhrchen muß ſanft abnehmen,
ohne daß ihm nachgeholfen wird; meine Mut-
ter wuͤrde ſagen, ohne daß es geruͤttelt und
geſchuͤttelt wird. Man hat ſo viel von der
Abſtellung der Todesſtrafen in die Kreuz und
Quere geredet und geſchrieben, daß wuͤrklich
einige Staaten die C. C. C. wo ohn End und
Ziel getoͤdtet wird, ins galante, ins ſeine ge-
bracht:
[103] bracht: ich wuͤrde, ſagte der Graf, die To-
desſtrafen darum abſtellen, weil Niemand
weis, ob er nicht durch die Hand des Arztes
ſchmerzhafter, als durch die des Henkers,
ſtirbt, und weil eine Seele, die noch Kern-
friſch iſt, ſich auf tauſenderley Art, durch An-
ſtrengung auf einen Punkt, des Todes Bitter-
keit vertreiben kann. — Das einzige, was
einen Henkerstod ſchrecklicher, als einen Cam-
mertod, macht, iſt die Gewisheit der Stunde,
wer alſo die weiß, wenn er auf ſeinem Bett-
lein dahin faͤhrt aus dieſem Elend, ſtirbt ganz
und gar, wie ein Delinquent, wie ein armer
Suͤnder — ganz und gar. —
Ich koͤnnte noch viel! viel! erzaͤhlen,
wenn ich alle Bemerkungen wiederholen woll-
te, die mir reichlich und taͤglich in Wurf
kamen.
Ein Paar, und damit genug. —
Das Haͤndefalten hielt der Graf fuͤr ein
Schmerzlinderndes Mittel — und ſprach ſehr
von der guten Wuͤrkung, die er von dieſem
Hausmittel erſichtlich erfochten. —
Die Art, wie er kranke behandelte, war
wuͤrklich Erfahrungs-Weiſe. Alles hatt’ er
aus dem Leben, nichts, rein nichts, aus
Buͤchern.
G 4Kurz,
[104]
Kurz, eh’ es zum Sterben kam, trank er
mit den Sterbenden Bruͤder und Schweſter-
ſchaft. Eine ſolche Sterbensſchweſter konnte
von ihrem Lager aufſtehen, und wenn es ihre
Natur ſo wollte, geſund werden; allein ſie
blieb was ſie einmal war — Schweſter, ob-
gleich ihr Vater Organiſt, Fabrikant, Nad-
ler war.
Der Graf nannte dieſe Ceremonien: Be-
cherreichung. Ich freue mich, ſagt’ er, ſchon
hier in dieſer Welt, im Himmel zu ſeyn, wo
wir alle, bis auf den lieben Gott, der der
Hausvater iſt, Bruͤder und Schweſtern ſind.
Solch ein Trank iſt wuͤrklicher Himmelstrank,
wuͤrklicher Nektar, von dem viele Menſchen
ſich keine Idee machen koͤnnen.
Der Prediger aus L— hatte anfaͤnglich
dieſer Becherreichung wegen viel zu erinnern
gehabt; indeßen ward alles fein ordentlich
und ehrlich beygelegt.
Es herrſchte im ganzen Hauſe des Grafen
ein Krankentritt; langſam, und auf den
Spitzen der Fuͤße, gieng alles. Kein Wun-
der, ſagte der Graf, wenn hie und da Etwas
ſteif in meinem Hauſ’ iſt, und nach dieſen
Einrichtungen ausſieht. Wenns nur der
Staat nicht iſt, fuhr er fort, der auf den Ze-
hen
[105] hen gehet. — Im Privathauſe hats wenig
oder nichts zu ſagen. Ich kenn’ einen Staat,
der ſchon lang auf den Zehen gehet. (Meine
Mutter wuͤrde geht und ſteht geſagt haben.)
Der Himmel helf ihm auf die Beine, wenn
es ihm nuͤzlich und ſeelig iſt! fuͤgte der Predi-
ger hinzu. Ich liebe den Privattod wie mein
Leben, fuhr der Graf fort, nur den publiken,
den Nationtod nicht. Da ſtirbt nichts und
alles. Der Graf konnte ſich nicht erholen,
um die Krankenſprache zu reden, ſo voll war
er uͤber den publiken Tod, und freylich iſts
eine Todesart, die mit in ſein Fach einſchlaͤgt.
So im Todtentritt kamen wir in eins der
Sterbzellen. Der Graf nannte dieſen Zehen-
gang den Todtentanz, und hatte wunderliche
ſteifbenuzte Regeln daruͤber, und eine ganz
peinliche Theorie. Ich konnt’ es in ſo kurzer
Zeit freylich nicht weit in dieſer Kunſt brin-
gen; wie ich denn uͤberhaupt kein großer Taͤn-
zer in meinem Leben geweſen. Fuͤrs Haus,
und ſo war ich auch ein Todtentaͤnzer.
Der aͤlteſte unter den Sterbenden hieß
Pater, die aͤlteſte Mater. Dieſe Aelteſten
veranſtalteten entweder eine Verſammlung in
einem Zimmer zum Gebet und Geſang und
Krankheitserzaͤhlung, oder es wurden, wenn
G 5es
[106] es die Krankheit nicht zulies, alle Zellenthuͤ-
ren geoͤfnet, und jedes ſang und betete auf
feinem Sterbebettelein. Alle Zimmer waren
in Gemeinſchaft. Jede Sterbzelle war auf
zwey Perſonen eingerichtet. In Literra O,
(alle Buchſtaben kommen nicht zu dieſer Be-
zeichnungsehre; der Graf hatte einige, denen
er dieſen Vorzug erwies) wo ich eben die Thuͤr
zu oͤfnen mir die Erlaubnis nehmen werde,
um einen Accent darauf zu legen, war kurz
zuvor ein Sterbens-Candidatin geſund wor-
den, und nun war nur
die Curlaͤnderin
in Littera O. Ich bitte, ſagte der Graf, und
kaum hatt’ ers ausgeſagt, da ich eine Stim-
me hoͤrte: der Paſtor — aus Curland,
der Paſtor — — aus Curland! Sein
Sohn, erwiederte der Graf. Bey aller Le-
benslaufs Neugierde und Verhoͤrsluſt, wo-
von der Graf ſchon in L— ein Proͤbchen zu-
tuͤcklies, war er, wie wir ſchon wißen, nichts
weniger, als zudringlich. Der Aufruf: der
Paſtor — — aus Curland, den der Graf
verbeßerte und ſtehendes Fußes ins Reine
brachte, hatte meine Neugierde eben ſo, wie
die des Grafen, in Bewegung gebracht. Die
Curlaͤnderin hatte ſo was liebevolles im Auge,
da
[107] da ſie rief, daß ſie Strahlen aus ihren Au-
gen warf. Die Augenbraunen giengen ſo
ſchnell in die Hoͤhe, als wenn man Fenſter-
vorhaͤnge durch Schnellfedern zieht. Ein
Romanheld wuͤrde die Neugierde ſeiner Leſer
und Leſerinnen noch wenigſtens ein paar Sei-
ten erhitzen, und ihnen alsdenn einen Labe-
trunk geben, ſo ungeſund es gleich iſt, in vol-
ler Hitze zu trinken. Ich ſage gerade zu:
die Krippenritterin, verſtoßen,
verworfen von ihrem Ehemann, und im
Begrif, irgendwo den Tod zu ſuchen, Gott-
lob, ſetzte ſie hinzu, da ſie dieſen Umſtand er-
zaͤhlte, daß der Tod mich ohne mein Verdienſt
und Wuͤrdigkeit bey Ew. Hochgebohrnen in
Empfang nehmen will. Ich bitte, fiel der
Graf ein, Hochgebohrnen weg. — — Hier
zu Lande ſind wir nur ſchriftlich Hochgebohr-
ne. Ich dachte bey dieſer Gelegenheit an den
Ordensengel und die Wapen und die Feder-
buͤſche. Dieſer Eingrif ſetzte die Curlaͤnde-
rin in eine kleine Unordnung. Nach einigem
Stillſtande fuhr ſie fort. So ein ſchoͤnes
rendez-vous war ich vom Tode nicht erwar-
tend. Sie dankte dem Grafen mit einem
Blick, daß ich voͤllig einſahe, wie viel ſie mit
ihrem Auge vermochte. —
Ich
[108]
Ich will ihre Geſchichte in tertia perſona
geben, ohne zu bemerken, ob ich die Umſtaͤn-
de von ihr ſelbſt, oder vom Grafen empfan-
gen. Ihre Schickſale waren hoͤchſt traurig.
Der Ritter hatte wuͤrklich Neigung zur juͤng-
ſten Tochter des Paſtors L— Die Ohrfeige
gab den Ausſchlag. Er hatte in Curland
nichts zu verlieren, als menſam ambulatoriam,
zu deutſch, Krippenritt, und da Paſtor L—
von je her ſeine Gebehrde ſo zu verſtellen wuß-
te, daß man ihn reich hielt; koſtete es dem
Krippenritter wenig Muͤhe, ſeinen Freunden
Tiſch und Krippe aufzuſagen. Ihre Anzuͤg-
lichkeiten gegen ihn, womit ſie ihm alles ver-
ſalzten, was er genoß, nachdem er geſchlagen
war, beſtimmten ihn voͤllig. Der Weinſtock
ſeiner Goͤnner war ihm des Weinſtocks zu
Sodom und von dem Acker Gomorra. Ihre
Trauben waren ihm Galle, ſie hatten bittere
Beeren. Ihr Wein war ihm Drachengift
und wuͤtige Ottern Galle. Worte, uͤber wel-
che der Caſuiſt Paſtor L— ſeinem Schwie-
gerſohn eine Abſchiedspredigt hielt, und ſich
wegen zeither genoßener Hoͤflichkeiten im Na-
men deßelben bey ſeinen Tiſchfreunden be-
dankte; obgleich in Curland Weinſtock und
Traube Etwas wildfremdes iſt. Zu leſen im
5. B.
[109] 5. B. Moſis im 13. Capitel im 32. und 33.
Vers, ſagte der Prediger aus L— und freute
ſich, daß er, ſo alt er waͤre, noch ſo gut tref-
fen koͤnne.
Der alte Herr ſpielte im figuͤrlichen Ver-
ſtande zu der Predigt des Caſuiſten. Er gab
dem neuen Ehepaar durch einige Reimlein das
Geleite. Die Curlaͤnderin brauchte den Aus-
druck: er beſtreute dieſen Weg mit einem
Pasquill, und da ſie alle Beilagen zu ihrem
Lebenslauf aufgeblaͤttert hatte, fand ſie dieſe
Beilage A. mit einem Grif, womit ich meine
Leſer aber nicht belaͤſtigen will.
Ein Reimſchmidt war gewoͤhnlich die
andre Hand des Herrmanns. Aus Hoͤflich-
keit nannte er ihn ſeine rechte Hand. Selten
war er ohne eine ſolche andre oder rechte
Hand. Ein paar Strophen:
Wie
O des Herrmanns, und ſeiner andern
Hand! Meine Mutter, wie wir alle wißen,
war
[111] war keine Freundin ihrer Nebenbuhlerin,
und alle Reimlein fein waren ihr ein ſuͤßer
Geruch. Was wuͤrde ſie indeßen zu dieſem
Auswuchs geſagt haben? „So wie Chri-
ſtus der Herr unter Moͤrder kam, ſo auch
oft die Dichtkunſt, dieſ’ edle Gabe Gottes.
Die Sonne gehet auf uͤber Fromme und Gott-
loſe, und der Regen faͤllt uͤber Gerechte und
Ungerechte.“ Sie nannte ſonſt die Poeſie
Etwas, was der liebe Gott ſeinen Lieblingen
in die Hand ſtecke, ohne, daß es andere mer-
ken. — Was kann der Geber dafuͤr, ſetzte
ſie aber hinzu, wenn der Schlingel in der
naͤchſten Schenke ſeine Gabe verſaͤuft. —
Doch von allem dem iſt ſchon ſonſt geprediget
worden. —
Herrmann — — warum vor der Hand
von ihm auch nur ein einzig Wort? —
Der Ritter erhielt vom Paſtor L— ſo
viel als das Haus vermochte. Ein Schelm
giebt mehr, als er hat. Der Paſtor L—
that ſich wehe ſeines Hochwohlgebohrnen
Schwiegerſohns halber. Seine andere Toch-
ter litte Noth dabey. Sie ſtarb im Hoſpital.
Unſer Ritter hatte nie Gelegenheit gehabt,
Debet und Credit in ſeiner eigenen Angelegen-
heit abzuſchließen; indeßen verſtand er doch
zu
[112] zu uͤberſehen, daß die Mitgabe nicht Hochad-
lich zugeſchnitten waͤre. Er entſchlos ſich al-
ſo zum Incognito, wo es, wenn nur eine
reiche Weſte hervorſticht, aufs Kleid nicht an-
kommt. Der Ritter beſchonte ſeinen adlichen
Namen, und legte ſich wohlbedaͤchtig einen
unadlichen bey. Das junge Paar lebt’ alſo
in buͤrgerlichen Ueberkleidern in — — einem
preußiſchen Staͤdtchen, und verzehrte bey ei-
ner friedlichen Ehe alles, was es hatte. Die
Ritterin fand Urſache, ihren Gemahl fuͤr ein
gut Spiel in der Hand zu halten, wobey es
zwar noch immer auf den Spieler ankommt;
da ſie indeßen des Dafuͤrhaltens war, daß
ſie ſich ſchon in die Zeit zu ſchicken im Stande
ſeyn wuͤrde; ſo lebte ſie ſorgenlos froh, das
heißt, ſeeliglich. — In dieſem gluͤcklichen
Period hatte ſie keine Kinder. Die Anzeige,
daß ihr Vorrath zum Ende gienge, bracht’
einen Nordwind zu Wege, der lange anhielt,
wie die Nordwinde gewoͤhnlich zu thun pfle-
gen. Was war zu thun? Unſer Ehepaar
entſchloß ſich zur Hauptſtadt, und nach man-
cherley Hin und Her und Ueberlegen, wollte
der Ritter Franzoͤſiſcher Sprach- oder Tanz-
oder Fechtmeiſter werden, obgleich er ſich
ſchluͤßlich als Sprach- und Tanzmeiſter bey
der
[113] der Univerſitaͤt Koͤnigsberg fuͤr Geld und gute
Wort’ eintragen lies. Es waren ihm Kleinig-
keiten, daß er ſo wenig tanzen konnte, als parli-
ren. Im Fechten war er zwar in naturalibus;
indeſſen haͤtt’ er doch eher als Fechtmeiſter, als
wie ein andrer Meiſter, die Zunft gewinnen koͤn-
nen. Er war indeſſen wegen einer natuͤrlichen
Herzloſigkeit, auf dieſe edle Kunſt gar nicht
fundirt. Der Teufel, glaubt’ er, koͤnnte ſein
Spiel haben, wie ers oft hat. — Da unſer
Krippenritter ein Mann war, der ſich in allem,
ſelbſt bey einer Ohrfeige, wie uns bekannt iſt,
zu finden wußte; ſo half er ſich aus, und
brachte es dahin, daß er in beyden ſchoͤnen
Wiſſenſchaften, denen er den Eyd der Treu
abgelegt, das Gewoͤhnliche leiſtete. Vom
Franzoͤſiſchen haben meine Leſer am Woͤrtchen
Rendez-vous eine Probe, das er ſogar auf
ſeine Frau fortgepflanzt hatte.
Unſer Meiſter zweier brodgebenden Kuͤnſte
hatte ein Gedaͤchtnis, daß er auf curſche Ma-
nier ein Pferdsgedaͤchtnis hies, und was
brauchte er mehr, als ein Lexicon, wozu er
in Kurzen Rath ſchafte. Nun war er fuͤrs
Haus ausſtaffirt. Die Kunſt verraͤth den
Meiſter nicht. Er hatte gelehrt und gelernt,
den Acker cultivirt und ſogleich Samen auf
Hden
[114] den Boden geſtreut. Doppelte Schnur reißt
nicht. Dieſe Methode erforderte Fleiß und
Haͤuslichkeit, und das iſt der Grund und Bo-
den einer gluͤcklichen Ehe, woruͤber unſere Rit-
terin, nachdem ſich der Nord gelegt hatte,
nicht klagen konnte. „Jetzt, da ich weniger
„Brod hatte, erhielt ich mehr Zaͤhne und
„mehr Magen. Ich ſchenkte meinem Manne
„einen Sohn und eine Tochter.“ Unſer Mei-
ſter muſte bey ſeinem ſauren Wein der Sprach-
und Tanzkunſt verſchiedene Kraͤnze aushaͤn-
gen. Er zog die ſtudirende Jugend mit Rath
und That an ſich. Die That beſtand in Cau-
tionen, die er fuͤr ſeine Leute, vom Profeſſor
an bis zur Waͤſcherin, einlegte. Man nahm
ihn uͤberall, ſeiner Frau und Kinds halber, als
Buͤrgen an. Der Hauptkranz, den er aus-
hieng, war ſein Incognito. Er zeigte zuwei-
len den Schimmer ſeiner Weſte, und bedeckte
ſogleich wieder dieſen Sonnenglanz durch die
Verfinſterung ſeines Buͤrgerrocks. Man wird
ſelten einen Sprach- und Tanzmeiſter finden,
der nicht Menſchenblut auf ſich ſitzen hat, und
ſo hatte auch unſer Sprach- und Tanzmeiſter
einen Gewiſſen im Duell erſtochen, um mit
Blut ſeine Frau zu loͤſen. Fuͤr einen Mann,
der Sprach- und Tanzmeiſter zuſammen in
einer
[115] einer Perſon war, iſt es ſehr beſcheiden, daß
er nur Einen, und nicht fuͤr jede Kunſt wenig-
ſtens Einen, ums Leben gebracht; obgleich die-
ſer Eine Gewiſſe ſich gottlob beſſer befand, wie
er. Leute, die den Pfif verſtanden, ſchaͤtzten
die Schonung des unſchuldigen Menſchen-
bluts und die Beſcheidenheit unſeres Tanz-
baͤren und Deutſch-Franzoſen. Die es aufs
Wort glaubten, ſahen die mit koſtbarem Men-
ſchenblute geloͤſete Krippenritterin ſo ſteif an,
daß ſie roth werden muſte. Ich bin als Gaſt
in ein Paar franzoͤſiſchen Stunden des Krip-
penritters geweſen, und muß nach einem
L. B. S. ihm ein Zeugnis mit Obgleich geben,
ob er gleich durchs Lehren wuͤrklich gelernt
hatte; ſo wolte mir doch verſchiedenes nicht
in Augen und Ohren, Vernunft und alle
Sinne. —
Unſer Ritter fieng an warm zu werden;
ich glaube das wird kein Deutſcher, wenn er
nicht franzoͤſiſch kann. Er lies es ſeinem
Weibe empfinden, daß ſie ihn bis zu Trebern
erniedriget hatte, wie er ſich, weil ſie Paſtors
Tochter war, bibliſch ausdruͤckte. Du haſt
ja gottlob ein gutes Lexicon, erwiederte ſie in
edler Unſchuld; allein der Krippenritter hatte
aufgehoͤrt, Unſchuld zu fuͤhlen. Es war nicht
H 2zu
[116] zu leugnen, daß es nicht immer Fuͤchſe gab,
die Fuͤchſe hatten; (ein Paar akademiſche
Ausdruͤcke, die ich ſo frey, wie die Curlaͤnde-
rin ſie brauchte, meinen Leſern abgebe. Fuͤchſe
heiſſen Dukaten und einjaͤhrige Studenten,)
allein dies war nicht der Hauptgrund ſeiner
Ausgelaſſenheit. Es hatte ſich ein Liebeshan-
del zwiſchen ihm und der Mutter und Tochter
eines wohlachtbaren Mannes, auf dem Tanz-
boden angeſponnen. Dies ſetzt’ ihn zuruͤck,
und war die Haupturſache von allem. Unſer
Ritter legt’ es ſeinem armen Weibe nahe, daß
ſie den Weg des Fleiſches gehen ſolte, den er
ritterlich gieng; es iſt, ſetzt’ er hinzu, der
Weg alles Fleiſches. Nicht alſo, erwiederte
die Curlaͤnderin. — Alſo, alſo, rief er. Ein
unmenſchliches Alſo! Der Tyrann entzog ſei-
nem Weibe alles, was zur Leibes Nahrung
und Nothdurft gehoͤrt. Den letzten Biſſen
Brod. Seine Kinder, die nach Speiſe jam-
merten, ſtoͤrten ihn nicht in ſeinem Luftſchlos-
bau, wo er mit ſeinen Prinzeßinnen in Ge-
danken ſich weidete — ich will heute, ſagte
der Kleine eines Abends, aufbleiben, um dem
Vater die Fuͤße zu kuͤſſen und ihn zu bitten.
Was denn? fiel die Mutter ein. — Das koͤnnt
ihr wohl rathen. (Es war alles ihr und ihr)
Die
[117] Die Mutter weinte; denn ſie wuſte wohl, daß
der arme Jacques gern noch eine Semmel
gehabt haͤtte. Jackchen ſchlug ſich mit dem
Schlaf, und hatt’ einen deſto ſchwerern
Stand; denn ihn hungerte, weil er den
Schlaf uͤberwunden hatte. Der Vater kam
um Mitternacht, und, wie es aus ſeiner Art
Gepolter den Anſchein hatte, froͤhlich und
guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge
kroch im finſtern (zu Licht war kein Dreyer
im Hauſe) zu ſeinen Fuͤßen. Was da fuͤr
ein Hund, rief der Unvater? Dein Huͤnd-
chen, lieber Vater, ſagte Jacquchen. Er,
„fort“ der Kleine: „Gleich lieber Vater“
Warum laͤßt dich die Mutter herumkriechen?
Auf dieſe Aufforderung gab das arme Weib,
das ſich ſchon laͤngſt in ihr Schlafkaͤmmerlein
zuruͤckgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe
Junge erzaͤhlte mit einer himmliſchen Leich-
tigkeit, daß er ſich des Schlafs erwehret,
und daß er ſeinen Vater etwas zu bitten haͤtte,
was ſeine Mutter nicht hoͤren duͤrfte. Viel-
leicht wacht ſie noch, fuhr der Kleine fort.
Hebt mich an Eu’r Ohr, oder neigt Euch zu
mir. Der arme Junge bat den Vater ganz
leiſe, ſeiner Mutter zwey Semmeln zuruͤckzu-
laſſen. Wir beyde, ſetzt’ er hinzu, meine
H 3Schwe-
[118] Schweſter und ich, werden, wie ich hoffe,
ſatt werden, wenn wir Mutterchen eſſen ſe-
hen. Dieſe fußfaͤllige Bitte beantwortete
der Vater mit einem Stoß und dem Aus-
ſchrey: Comoͤdie! Vortreflich! Madam hat
nicht einſt noͤthig zu ſoufliren, brumte er hin-
ter drein. Das arme Weib verlohr uͤber
dieſer Geſchichte den letzten warmen Tropfen
Faſſung, und unſerm Jacquchen (ich will ihn
lieber Jacob nennen) ſpielte der Schlaf den
Streich, daß er kein Auge ſchlieſſen konnte.
Die Mutter ſchluchzte, und der kleine Junge
weinte ſo bitterlich, ſo, daß er bis Morgens
um fuͤnfe daruͤber vergaß, daß er hungrig
war! — Die Curlaͤnderin lebte mit ihren
Kindern von ihrer Haͤnde Arbeit. Das Maͤd-
chen muſte ſpinnen und Jacobchen die Wolle
auseinander ziehen. Sie wolte ehr ihren
Iſmael und ſeine Schweſter Hungers ſterben
ſehen, als auf unrechtem Wege Nahrung und
Kleider ſuchen. Sie erfuhr in Wahrheit,
daß der Menſch nicht vom Brod allein lebe,
ſondern vom Worte aus dem Munde Gottes,
vom Bewuſtſeyn recht und richtig zu wan-
deln. Ich war nie boͤſe, ſagte ſie, allein
mein trauriges Schickſal brachte mich weiter,
ich ward fromm, gut, ſo wie es Menſchen
ſeyn
[119] ſeyn koͤnnen. Ein geweſener Sprachſchuͤler
hatte ſchon zur Zeit des genommenen Unter-
richts ein Aug’ auf ſie geworfen, ohne daß
ſie dieſes Aug auf ihren Wangen, geſchweige
an ihrem Herzen empfunden. Jetzt glaubte
der geweſene Sprachſchuͤler, beyde Augen auf
ſie werfen zu koͤnnen. Um indeſſen deſto ſiche-
rer zu gehen, (er kannte ihre Denkungsart)
muſte ſeine Baaſe, die in der Familie kup-
pelte, es mit der Ritterin freundſchaftlich an-
binden. Dieſe Baaſe war in einen Engel
des Lichts gekleidet, und wenn auch vielleicht
zuweilen ein ſchwarzes Fleckchen hervorkam,
wie haͤtte es wohl unſere Curlaͤnderin ſehen
koͤnnen? Verliebte haben mit guten Seelen
eine gewiſſe Denkungsart gemein. Jene lie-
ben alles: dieſe halten alles fuͤr ihres Glei-
chen. Die Geſchenke, womit die Baaſe der
Nothleidenden auf eine ſo gute Art zuvor-
kam, machten ſie blind, wie doch Geſchenke
ſogar die Weiſen blind machen, und die Sa-
chen der Gerechten verkehren. Der Knoten
war geſchuͤrzt, und der Buhler fand ſich eines
Tages bey Frau Baaſen ein, und von Stund
an, ſo oft die Curlaͤnderin zur Baaſe gieng.
In geraumer Zeit ſahe ſie das Netz nicht,
das zu ihrem Fang ausgebreitet war. Einſt
H 4aber
[120] aber kuͤßte dieſer Buhler die Kinder der Cur-
laͤnderin ſo verliebt, daß die Wangen der
Mutter aus Schaam gluͤheten. Vielleicht
waͤr es ihr weniger bedenklich vorgekommen,
wenn er nicht noch oben ein, die Kinder dies-
mahl, da er kuͤßte, ſo reichlich beſchenkt haͤtte,
daß die Curlaͤnderin ganz deutlich ſahe, wor-
auf es heraus gieng. Die Sache kam dem
fuͤnften Akt immer naͤher, und Frau Baaſe
dekte jetzt ſo wenig ihre ſchwarze Flecken, daß
ſie uͤber und uͤber kohlſchwarz erſchien. Sie
brachte, um recht ordentlich und bedaͤchtig zu
Werke zu ſchreiten, ein Pakt in Vorſchlag.
Die Curlaͤnderin, die ihr Herz ehemals in
ihren Haͤnden getragen, ſchloß und verrie-
gelt’ es jetzt, brach mit Frau Baaſen, ſandte
die Geſchenke zuruͤck, welche die Kinder erhal-
ten. Die mit buhleriſchen Kuͤßen befleckten
Kinder wuſch die Mutter mit friſchem Waſſer
aus dem Brunnen vor ihrem Fenſter. Die
Kleinen weinten uͤber ihren Verluſt; allein ih-
re Mutter troͤſtete ſie mit ſuͤßen Worten. Das
arme Weib wußte nicht, was man vorhatte.
Man drohte, da Bitte nicht helfen wollte.
Es entraͤthſelte ſich, daß Frau Baaſe nur die
Geſchenke ſpedirt haͤtte, die jezt zuruͤck gefor-
dert wurden. In welcher Seelennoth ſahe
ſich
[121] ſich die Curlaͤnderin. Sie rang die Haͤnde,
entdeckte ſich ihrem Manne, der zum erſten-
mal im Jahr (es war im November) lachte;
allein er lachte ſo, daß noch nie ſo ſchrecklich
gelacht iſt, ſeitdem der Teufel lachte, da
Adam und Eva ſo dummkoͤpfig fielen. Der
Satan war lichterloh in ihn gefahren. Sie
ſprach Leute an, allein vergebens. Sie hat-
te von einem reichen Manne gehoͤrt, von
dem man ſagte, daß er zuweilen einen guten
Augenblick haͤtte. Sie gieng, fand ihn be-
ſchaͤftigt; er nahm ſich Zeit ſie anzuhoͤren.
Sie mußte ihm ihre ganze Geſchichte erzaͤh-
len. Da ſie am Ende war, fragte er ſie mit
einer Gelaßenheit, die mit dem Lachen ihres
Mannes ſehr nahe verwandt war, ob ſie hy-
pothecariſche Sicherheit haͤtte? Nein, ant-
wortete ſie. Nun, jede Noth findet ihren
Troſt, fuhr der reiche Mann fort, ſo werden
Sie einen Biedermann finden, der Buͤrg-
ſchaft fuͤr Sie leiſtet. Die Curlaͤnderin bat
ihn, dieſer Biedermann ſelbſt zu werden;
allein er erklaͤrt’ ihr nach Rechtsgrundſaͤtzen,
wie er bey ſich ſelbſt nicht Buͤrge ſeyn koͤnnte.
Ich fuͤhrte die große Buͤrgſchaft an, ſagte die
Curlaͤnderin, die Gott ſich ſelbſt geleiſtet hat-
te — allein er meynte, dieſe Sache waͤre zu
H 5heilig,
[122] heilig, um ſie auf irdiſch Geld und Gut zu
deuten. — Schluͤßlich gab er ihr das Geleite
bis zur lezten Stufe und befahl ſie Gott.
Eben dacht’ ich, fuhr die Curlaͤnderin fort,
wenn Gott die Menſchen auch nach Hypothek
fragen, wenn er mit ihnen verfahren ſollte,
wie ſie unter ſich — als ich ohnmaͤchtig hin-
ſank, und noch jetzt nicht weiß, wie ich in ein
Haus in der heilgen Geiſtſtraße gebracht
worden. Sie fand ſich, da ſie erwachte, in
den Haͤnden einer alten Frau und eines jun-
gen Mannes. Dies brachte ſie zum Schrey,
denn ſie ſtellte ſich die Baaſe und ihren Vetter
vor; allein ſie erfuhr, daß es Schwiegermut-
ter und Schwiegerſohn waren. Sie war in
ihrer Erzehlung noch nicht bey der Hypothek;
als dieſe Mutter und Sohn ſich anſahen, und
den Blick ſchnell abbrachen. Ein Blick, ſag-
te die Curlaͤnderin, der mir wie ein Sonnen-
ſtrahl tief in die Seele ſchien. — Die Toch-
ter der Alten, die Guͤte ſelbſt! — Die guten
Leute ließen die Kinder der Curlaͤnderin hoh-
len, und gaben ihnen zween Tage zu eſſen und
zween Naͤchte Betten zu ſchlafen. Dieſer
Schlaf war mir ein Vorſchmack des Todes-
ſchlafs, ſo ſuͤß! ſagte die Curlaͤnderin. Nun
kam ſie in ihr haͤusliches Elend; allein ſie
fand
[123] fand ihren Mann nicht mehr. Sein Auszug
hatte keine Stunde erfordert. Ein jaͤmmer-
liches Bette, mehr war nichts nehmens werth,
und eben dies fehlende Bette zeigte ſeine Ent-
fernung an. Sie warf ſich auf die wuͤſte
Staͤte, wo ſein Bette geſtanden, nieder und
wollte beten; da ihre Thuͤr aufgieng und eine
weibliche Geſtalt erſchien. So trug der En-
gel dem Eliſa Eſſen, wie dieſe Geſtalt ein in
weißen Tuche verknuͤpftes — Wer? Wie?
Wo? Weg war die Traͤgerin. Die Beterin
loͤſete auf, fand das Geld fuͤr den Boͤſewicht,
und noch druͤber. — Da blinkerte der Blick
vor ihren Augen, der ihr in der heiligen Geiſt-
ſtraße in die Seele ſtrahlte. — Dieſen Abend
dankte ſie Gott, den folgenden wollte ſie ih-
ren Errettern in der heiligen Geiſtſtraße dan-
ken; allein ſie fand Niemanden im Hauſe.
Die Nachbaren verſicherten, daß die geweſe-
nen Einwohner uͤber Land gezogen, wohin
wuͤßten ſie nicht. Sie habens im Himmel zu
gut, liebe Freundin. (Bald haͤtte der Graf
Schweſter geſagt, das war ſie noch nicht.)
Wehe der Stadt, die ſolche Leute verlaßen!
Ich dachte an Lot und ſeine Familie, fuhr
die Curlaͤnderin fort. — — Doch warum
dieſe Weitlaͤuftigkeit in woͤrtlicher Nacherzaͤh-
lung?
[124] lung? Der Vetter und ſeine Baaſe wurden
von Heller zu Pfennig befriedigt, das uͤbrige
im Buͤndel war kein Oelkruͤglein; allein es
war Spargeld in den Tagen der Krankheit,
womit Gott unſere Curlaͤnderin heimſuchte.
Ihr Toͤchterlein ſtarb an den Blattern, Jacob
aber, ein ruͤſtiger Junge, der es ſelbſt mit
dem Schlaf anzubinden ſich getraute und den
Sieg erhielt, unterlag nicht der Krankheit,
ſondern ſtarb im eigentlichen Sinn an der
Geſundheit, die mehr als die Krankheit for-
derte. Er uͤberſtand die Blattern; allein
Mangel der Pflege war die Urſache ſeines ſee-
ligen Todes. Er kam mit dem Tode, wie
mit dem Schlaf, zurecht. Eine benachbarte
Wittwe brach in dem groͤßten Elend mit un-
ſerer Ungluͤcklichen das Brod. Sie hatte ei-
nen Sohn, den ſie den Braͤutigam der kleinen
Julie (ſo hieß die Tochter der Ritterin) nann-
te. Da aber ihr Sohn mit der Tochter zu
gleicher Zeit die Blattern bekam, und auch zu
gleicher Zeit ein kurzes Leben endete, ward
die Wittwe ſo bitter unwillig, daß ſie die Cur-
laͤnderin mit einem Tropfen Waſſer vergeben
haͤtte. Iſt das der Dank, ſchrie die Wittwe
ohne Aufhoͤren, daß ſie mein Kind wuͤrgt!
Sie begegnete der Curlaͤnderin als der Moͤr-
derin
[125] derin ihres Sohnes, und wollte nichts wei-
ter von ihr ſehen noch hoͤren. Der Schmerz
thut mehr, als dergleichen Dinge, und auch
ſeltener als der Zorn, was recht iſt.
Noch eine Anekdote muß ich einhohlen, die
mich ſehr bewegte. Zur Zeit, da ihr Unge-
treuer ſein Bette noch nicht aufgehoben und
ſie verlaßen hatte, war die Krippenritterin
wegen Quartiermiethe ſehr verlegen. Oſtern
und Michael war Zinstag und Jammertag,
wie ſie ſagte. Nie konnte ſie Zeit und Stun-
de einhalten. Habe Geduld mit mir, ich will
dir alles bezahlen, war alle Jahr zweymal
ihre Bitte. Der Vermiether hatte Geduld.
Es war ein Leinweber. Einſtmals ward ihm
die Zeit zu lange. Die Weynachten waren
vor der Thuͤr, und mit dem Michaeliszins
noch kein Anfang gemacht. Der Krippenrit-
ter hatte den Leinweber, der ihn in Zuͤchten
und Ehren mahnte, ziemlich deutſch abgefer-
tiget, obgleich er franzoͤſiſcher Sprachmeiſter
war. Mit einer Frau und einem Leinweber
getraut er’s ſich ſchon anzubinden. Der
Hausherr ward zornig. — Sie kam, und ei-
ne Spiegelblanke Thraͤne ſtund ihr im Auge.
Der zornige Hausherr ſah ſich in dieſer Thraͤ-
ne, und fand ſeine Gebehrden verſtellt; denn
er
[126] er hatt’ es auch mit ihr zum Scheltwort an-
gelegt. Ploͤzlich ward aus dem Saulus ein
Paulus. Liebe gute Madam! ich bedaure
Sie. Freylich Sie ſind unſchuldig, aber Er
— ein boͤſer Mann. Sie ſeufzte in die Hoͤhe.
Die Thraͤne blinkerte. Nach ein paar Wor-
ten fieng er an, laß gut ſeyn! So lang ich
lebe, hoͤren Sie? ſo lang ich lebe, ſollen Sie
in meinem Hauſe wohnen, und ſich Oſtern
und Michael (ein paar ſchoͤne Feſte!) nicht
mehr durch die Frage verderben, wo die Mie-
the? frank und frey! Der Leinweber konnte
die Worte frank und frey vor Bewegung nicht
laut herausbringen. Er ſprach ſie gebrochen,
das heiſt die meiſte Zeit: herzlich. Sie wuß-
te nicht, wie ihr geſchahe. Die diesjaͤhrige
Michaelismiethe, fuhr er fort, zum heiligen
Chriſt fuͤr ihr juͤngſtes, das war Jacobchen.
— Gott! mehr konnte ſie nicht, Sie wollte
den Geber anfaßen und ihm danken. Man
faßt gern an, wenn man dankt; allein noch
ehe ſie dazu kam, legte der Wohlthaͤter beyde
Haͤnde auf den Tiſch, eine auf die andre, den
Kopf langſam drauf und — wer haͤtt’ es
denken ſollen? — ſtarb! — O gluͤcklicher
Leinweber! Dein Lebensfaden wie ſchoͤn iſt
er zerrißen! Du biſt lebendig gen Himmel
geholt.
[127] gehohlt. Solch ein Tod! — Das nenn ich
ſterben, ſagte der Graf! Der Todesangſt und
Noth unerachtet, wovon ich unſern Seeligen
nicht loszaͤhlen kann! — —
O du! der du die Menſchen laͤßeſt ſterben
und ſprichſt: Kommt wieder Menſchenkinder!
Ich bin zu geringe, wie jener Maͤrtyrer, den
Himmel offen zu ſehen, las mich, las mich
nur mit einer ſolchen That, wie dieſer, dahin
ſcheiden! Konnte Gott dieſen großen Thaͤter
mehr belohnen! Nicht wahr, der ſtarb in ei-
ner ſeligen Stunde? Gott ſchenke ſie mir
und allen, die ſolch eine Thraͤne verſtehen.
Amen!
Hiemit waͤre dieſe Leinweber-Geſchichte
fuͤr den Himmel zu Ende; allein fuͤr die Er-
de bey weitem nicht. Die frohen Erben ver-
ſtanden ſich ſo auf Thraͤnen nicht, als unſer
Leinweber. Das Verſprechen: ſo lang’ ich
lebe, war mit ſeinem Tode abgelaufen, das
verſtand ſich von ſelbſt; allein der Michaelis-
zins? Auch den mußte die Curlaͤnderin ein-
buͤßen, oder ihr juͤngſtes —
Denn es iſt mit nichts beſcheiniget,
daß eine dergleichen Schenkung vorge-
fallen, vielmehr ſind alle Umſtaͤnde da-
wider. Defunktus hat zu verſchiedenen
mahlen
[128]mahlen den Zins im Guten und Boͤſen
verlangt, und iſt nicht abzuſehen, warum
er ſo ſchnell ſeine Geſinnungen aͤndern
ſollen. Es iſt unter dem vorſchrifts-
maͤßig ſchriftlich errichteten Miethscon-
trakt dieſe Schenkung mit keiner Sylbe
bemerkt; vielmehr findet ſich weder hin-
ter dem Miethscontrakt, noch ſonſt wo,
eine Quittung wegen des angeblich ver-
ſchenkten Zinſes. Niemand hat die
Schenkung entgegen genommen, und
koͤnnen die vorgeſchuͤtzten Worte: „die
„diesjaͤhrigen Michaeliszinſen
„zum heiligen Chriſt fuͤr ihr
„juͤngſtes“ wenn ſie wuͤrklich vorge-
fallen, auf verſchiedene andre Weiſe ge-
lenkt und ausgelegt werden: zu ge-
ſchweigen, daß kein deutlicher Sinn her-
auszubringen, und daß das Hauptwort
Schenkung gaͤnzlich fehlt. Der ſo ploͤtz-
lich darauf erfolgte Tod laͤßt vielmehr
vermuthen, daß wenn Defunktus ſich
ja wuͤrklich (welches doch an ſich zu be-
zweifeln) dieſer Worte bedient, er ſchon
ohne Bewuſtſeyn geweſen. Defunktus
hat, wie es zugeſtanden iſt, ſich jeder-
zeit und auch nur kurz vor ſeinem Able-
ben
[129]ben gegen den Mann bitter ausgelaßen,
und wuͤrde es wohl der Ehegattin Ehre
machen, wenn ſie ſich mit eben demſel-
ben Mann ſo gut geſtanden? Auffallend
iſts, daß ſie durch dieſe Schenkung ihre
eigene Schande veroffenbaret. Derglei-
chen Perſonen verſagen die Rechte allen
Glauben. So wohl nach den gemeinen
als den ſtatutariſchen Rechten. —
Das war ungefehr der Innhalt zu einer
Sentenz, die uns die Curlaͤnderin ſub B. in
copia authentica vorzeigte. Ich mag nicht
weiter abſchreiben: mir eckelt vor dieſer loſen
Speiſe!
O der feinen ſpinnwebfeinen nadelſpitzen
Gerechtigkeit, ſagte der Graf! Wie oft hab
ich mich in meiner Jugend der heiligen Juſtiz
angenommen und den Kopf geſchuͤttelt, wenn
Prieſter und Kuͤſter, Praͤſident und Notarius,
in oͤffentlichen Luſt- und Trauerſpielen dem
Volke zum Spektakel aufgezaͤumet wurden;
nach der Zeit ſah ich ein, und wer ſiehts nicht,
daß man ihr nicht zu viel, ſondern zu wenig
thue. Der Fehler iſt, man behandelt ſie bey
ihrer Feinheit zu handgreiflich. — Mit dem-
ſelben Maaße, damit ſie miſſet! — Doch
weh, weh ihr, wenn der Richter aller Welt
Jſie
[130] ſie meſſen wird! — Die Curlaͤnderin behielt
die Sentenz zum Sterbkuͤſſen, und wahrlich
auf ſolch ein Urtel den Kopf gelegt, muß ſich
leicht ſterben, faſt ſo leicht, wie der Leinweber
auf ſeiner eigenen Hand. Wie aber, der ſolch
eine Sentenz formte? — Richtet nicht! —
Eine von des Leinwebers Erben war ein nied-
liches Maͤdchen, das ein Rath aus dem Ober-
Collegio nicht ſauer anſahe. Ich weiß nicht,
ob und in wie weit dieſer Umſtand auf die ge-
meine und ſtatutariſche Rechte einen Einfluß
gehabt. O der waͤchſernen Naſe! rief der
Prediger, und dachte das Promemoria des
Juſtizraths. Der Graf beſchlos: wenn die
Chriſten zur heiligen Chriſtzeit ſolche Senten-
zen machen! Der Judenjunge und Benjamin
fielen mir ein. Jener in Ketten, dieſer wie er
dreymahl um den Tiſch hinkt. — —
Dieſes Sterbkopfkuͤſſen war nicht das
einzige, das unſere Curlaͤnderin ſich unterzu-
legen im Stande war. Sie konnte noch wei-
cher liegen. Ihr Ehemann war entſchloſſen,
die Tochter quaͤſtionis zu heyrathen. Die
Mutter quaͤſtionis glaubte, blos ihret, der
Mutter halber; Die Tochter bildete ſich ein,
es beſſer zu wiſſen. Der Ritter gewann zuſe-
hens bey dieſem Spiel, und lies die Mutter
glau-
[131] glauben, und die Tochter ſich einbilden, was
jedes wolte. Er muſte, eh’ aus ihm und der
Tochter ein Paar und, die Mutter zugerechnet,
ein Dreyblatt werden konnte, von ſeiner vo-
rigen Frau nach der Sitte im Lande geſchieden
werden. Es iſt ein Greuel in Preuſſen, zwey
Weiber zu gleicher Zeit haben; allein ich hab’
einen Mann gekannt, der zwey Frauen, von
denen er geſchieden war, bey ſich hatte, die
dritte ungerechnet, mit der er aber prieſter-
lich verbunden war. Es kommt alles auf die
Form an! — Gott, der du Mann und Weib,
Adam und Eva, ſchufſt! —
Der Braͤutigam ſchrieb an ſeine Frau ei-
nen ſchrecklichen Brief. Er beſchuldigte ſie
der ſchwaͤrzeſten Laſter und trug es ihr als
eine Grosmuth an, daß er ſich aller Beahn-
dung in beſter Rechtsform begeben wolte,
wenn ſie gutwillig unter dem Vorwande, daß
eine Todtfeindſchaft ſich zwiſchen ſie ins Ehe-
bette gelegt, in die Trennung willigen wuͤrde.
Das arme Weib, die ſich ihrer Unſchuld be-
wuſt war, antwortete ihm, wie ers mit ſei-
nen Suͤnden verdient hatte, und nun der Weg
Rechtens! Ein kleiner ſchielender Bube, der
Rath des Ehegerichts, (ein Verwandter von
dem Hauſe, mit dem der Ritter ehelich und
J 2unehe-
[132] unehelich verbunden war, und werden ſolte)
war Klaͤger, Richter, Henker. Er entwarf
die Eingaben, referirte, erkannte und trieb
ſein Werk, wie die feinſten Boͤſewichter, ſo
oͤffentlich, daß er mit dem Ritter vor aller
Welt Augen gieng und ſtand, aß und trank.
Unſerer Beklagtin ward ein Anwald ex officio
zugeordnet, dem ſie den Schaden Joſephs
entdeckte: indeſſen that dies Maͤnnchen nichts
weiter, als die Achſeln ziehen. Mit einem
Steurmann des Collegii, eines Armen-Parths
wegen, ein Speer brechen, verlohnte der Muͤhe
nicht. Der Klaͤger nahm aus der Beilage
ſub B. Gelegenheit, die Beklagtin eines ver-
daͤchtigen Umgangs mit dem Leinweber zu be-
ſchuldigen. Die Baaſe ward zur Zeugin lau-
dirt, daß ſie Geſchenke von ihrem Vetter an-
genommen, die ſie wieder zu erſtatten waͤre
gezwungen worden. Ihr Lebenswandel, be-
hauptete der Boͤſewicht, ſey ſchon vor der
Ehe verdaͤchtig geweſen, und eben dieſes Ver-
dachts halber haͤtte ſie mein Vater (wie un-
ſchuldig man in Akten prangern kann) recu-
ſirt. Die zwey Tage und Naͤchte, die ſie bey
den Engeln in der heiligen Geiſtgaſſe gewohnt
hatte, wurden als eine boͤsliche Verlaßung
(malitioſa deſertio) ausgegeben. Sie ward
als
[133] als eine Verſchwenderin dargeſtelt, und wenn
alle dieſe Stricke reiſſen ſolten, ward eins (ein
Galgenſtrick) angebunden, das uͤber alles
gieng. Die liebe Todtfeindſchaft! Wohlbe-
daͤchtig verſchwieg der Herr Eheklaͤger die
Ohr —, die er vor der Ehe aus guter Hand
erhalten; allein er erwehnte, wie oft er noth-
gedrungen geweſen, Hand an ſein Weib zu
legen, und ſie ſich von Leib und Seele zu hal-
ten, wenn ſie als eine Furie Feuer geſpien. —
Er hatte wuͤrklich, ohnfehlbar dem Beyrath
des Klaͤgers Richters und Henkers zur gehor-
ſamſten Folge, ihr das erſte Liebesband, die
Ohrfeige, mit vielen wucherlichen Zinſen er-
ſtattet. Die Sentenz war in den beſten Haͤn-
den. Der ſchielende Bube ſetzte ſich auf den
Richtſtuhl an der Staͤte, die da heiſſet Hoch-
pflaſter, ja wohl Hochpflaſter, auf hebraͤiſch
aber Gabbatha. Sie wurden geſchieden, und
da es keiner Auseinanderſetzung, ſo wohl we-
gen Kinder, als Vermoͤgens, bedurfte, weil
nichts von beyden da war; ſo wurden der
Beklagtin in der Sentenz ihre Bosheiten und
Herzenstuͤcken aufs nachdruͤcklichſte verwie-
ſen, und ſie zwar vor dieſesmahl, und wie es
hies, vorzuͤglich um den Namen ihres gewe-
ſenen Mannes zu beſchonen, von einer oͤffent-
J 3lichen
[134] lichen Gefaͤngnisſtrafe befreyet, indeſſen fuͤrs
kuͤnftige angewieſen, ſich eines chriſtlichen ein-
gezogenen Lebenswandels zu befleißigen. — —
O du ſanftes Kopfkuͤſſen im Sterben! —
Soll ich appelliren? Fragte der Advokat,
und eine Thraͤne fiel ihm auf die Abſchrift,
die er in Haͤnden hielt. (Er war nur im erſten
Jahr in der Praxi). Nein, ſagte ſie, Sie
nicht, ich werde appelliren, ich, und ſah gen
Himmel! Wenn der arme Schelm vom Ad-
vokaten doch ein ander Handwerk gewaͤhlt
haͤtte. Ich habe nichts, ſagte die Curlaͤnde-
rin, was ich Ihnen anbieten kann, als hier
dieſe Bibel von meinem Vater (ſie hatte ſil-
berne Clauſuren —). Waͤre ſie nicht in Sil-
ber, wie willkommen ſolte ſie mir aus Ihren
Haͤnden ſeyn, erwiderte der Advokat. Nun
hatte die Curlaͤnderin nichts, was einen Ruͤck-
blick nach Sodom veranlaßen koͤnnen, wenn
ſie auch Madam Lot geweſen waͤre. Sie war
ſicher, daß ſie keine Salzſaͤule werden wuͤrde.
Der Weg nach der heiligen Geiſtgaſſe, den ſie
dreymahl auf- und abgieng, war ihr letzter
in Koͤnigsberg. Sie weinte bey dieſem Auf-
und Abgang dankbare Thraͤnen! Die beſten,
die man weinen kann, und nun? wohin Gott
wolte! Mine gieng in ein Land, das Gott
ihr
[135] ihr zeigen wuͤrde. — Die Curlaͤnderin
hatte, wie ſie ſagte, zum Gluͤck etwas aus
dem gutthaͤtigen Woͤrterbuche gelernt, und
wolte mit ihrer Wiſſenſchaft wuchern. Nicht
auf die Saat, ſondern aufs Gedeyen, kommts
an. Ich fuͤr mein Theil, ſagte der Graf,
wuͤrde meine Kinder eher von Ihnen, als
von einer Franzoͤſin, die nur eben gerades-
weges von Paris kommt, im Franzoͤſiſchen
unterrichten laßen, wenn ich Kinder haͤtte,
fuͤgte er nach einer Weile hinzu, und das ſo
geruͤhrt, daß — Er ſelbſt weinte nicht. In-
deſſen war der Geiſt bey unſerer Curlaͤnderin
willig, das Fleiſch aber ſchwach. Sie er-
reichte mit genauer Noth ein Wirthshaus,
wo man ſich blos des Lagers wegen das letzte
bischen Sachen zueignete, das ſie mittrug.
Man nahm ſogar ein Buͤndel franzoͤſiſcher
Vocabeln, die ſie ſich als ein Viaticum aus-
geſchrieben hatte, weil ſie in Goldpapier ge-
naͤht waren, in Zahlung. Die Sentenzen
und andre Papiere ohne Goldpapier lies man
ihr. O die Ungluͤckliche! Sie verlohr mit
den Vocabeln auch die Herzhaftigkeit, in der
Sprache Unterricht zu geben. Hand an ſich
zu legen, wer kann das? Die Hungersnoth,
dacht’ ich, wird ohne dein Zuthun dich erloͤ-
J 4ſen,
[136] ſen, und aͤrgerte mich, daß mich nicht hun-
gerte. — Solch ein Hungerswunſch iſt das
ſchrecklichſte, was man ſich denken kann.
Die Todesfurcht iſt natuͤrlich, und mich duͤnkt,
man ſey immer uͤbler dran, wenn man den
Tod wuͤnſcht, als wenn man ihn fuͤrchtet.
Da traf ſie einen Menſchen, der nicht Oel,
nicht Wein, in ihre Wunden goß, ſondern ſie
zum Grafen brachte, und da der Graf auf
eine Kleinigkeit zur Erkenntlichkeit es nicht an-
ſahe, wenn die Todescandidaten, wie er ſich
auszudruͤcken pflegte, des Sterbens werth wa-
ren; ſo machte dieſer Prieſter und Levite (ein
Samariter war er nicht) keine unrichtige Spe-
culation. Nun ſind wir an Ort und Stelle. —
Das war im Kurzen der Lebenslauf der
Antagoniſtin meiner Mutter. Ich konnte
dem Grafen noch verſchiedene Auskuͤnfte zu
dieſen Erzaͤhlungen zureichen, und das war
ihm ein Fund, den er zu ſchaͤtzen wußte. Die
Curlaͤnderin bat mich, nach Curland zu ſchrei-
ben, wenn ſie geſtorben ſeyn wuͤrde.
Gott kann Ihnen helfen, fiel ich ein.
Durch Tod oder Leben, fuhr der Graf
fort, denn wenn er gleich keinem die Sterb-
ſtunde anzeigte, ſo war er doch ſehr entfernt,
bey ſeinen Patienten den Worten Tod und
Grab
[137] Grab auszuweichen. Man muß, wenn man
friſch geſund und ſtark iſt, auf Tod und Le-
ben gefaßt ſeyn, fuhr er fort, und wenn man
krank danieder liegt, allein auf den Tod. —
Wenn die alten Hochadlichen Haͤuſer die
ſchon geſtorbene, verſchiedene Hand der Cur-
laͤnderin jezt geſehen, die ſie ihr zu einer Zeit
rund abvotirten, obgleich andre mehr bewan-
derte Hochadliche Herrſchaften ſie ihr gnaͤ-
digſt ließen — wahrlich, ſie haͤtten ihr Urtel
revocirt! Mit den Urtheilen!
Die arme Ungluͤckliche konnt’ ihr Geſicht
nicht von mir wenden. Gewis, ſagte der
Graf zu mir, iſt ſie ihrem Vater, dem ſie
ſehr aͤhnlich ſeyn muͤßen, guter geweſen, als
er ihr. Auf dieſe Art ſcheinet wohl die juͤng-
ſte Tochter des Paſtor L — (der nicht Praͤpo-
ſitus ward, obgleich er ſich auf den Kopf
ſetzte) Theil am Gaſtmahl zu haben, wozu
mein Vater eingeladen ward, nachdem im
Paſtorat des verungluͤckten Praͤpoſitus L. in
Curland erſcholl: mein Vater haͤtte die Gabe
der Enthaltſamkeit nicht. Ob das Ave Maria,
der Gruß, den mein Vater dieſer Ritterin
eher als ihren aͤlteſten Schweſtern zuwandte,
oder wuͤrklich allmaͤhlige Neigung die Urſache
geweſen? und viele obs und viele oders mehr,
J 5leg’
[138] leg’ ich bey Seite. Was konnte das arme
Trinchen (dieſen Namen erſeh’ ich aus dem
Herrmannſchen Pasquill) dafuͤr, daß ihr
Vater nach der Weiſe Melchiſedech zum
Spruͤchwort aufbrachte? was? — —
Um die Obſervationen uͤber dieſen Come-
ten in der gegenwaͤrtigen Geſchichte zu
ſchluͤßen; ſey mir erlaubt zu bemerken, daß
dieſe Arme, nachdem ſie eingelaͤutet war, und
nachdem ſie geohrbeichtet, ſich erholet. Der
Graf hatte den groͤſten Theil dieſer Ohrbeich-
te bis auf meine Anweſenheit geſpart. Nach
der Zeit fiel ſie wieder ein, und ſtarb als
Schweſter des Grafen und ſeines Jonathans,
des alten Bedienten (denn wahrlich ſie hatte
den Kelch der Todesnoth allmaͤhlig ausge-
trunken) ſanft, willig und ſelig, ihres Alters
fuͤnf und vierzig Jahr.
Meine Mutter, an die ich dieſen Vorfall,
ſo bald der gute Prediger in L— mir ihn
meldete, weiter brachte, antwortete mir wie
nach folget:
Herr, der du ſprichſt, es geſchieht, der
du gebeutſt, es ſtehet da, der du Gehet und
Kommet in deiner Gewalt haſt! Gelobet ſey
dein Name! In Curland und in Preußen,
fuͤr die Wege und Stege, die du mit dieſer
Geen-
[139] Geendeten und Vollendeten eingeſchlagen!
Durch gute und boͤſe Geruͤchte, durch man-
cherley Kummer und Leiden, iſt ſie zu deinen
Freuden eingegangen. — In Unfrieden gieng
ſie aus ihrem Vaterland, in Frieden fuhr ſie
zu deiner Herrlichkeit, wo ſie ihr franzoͤſiſches
Buͤndel nicht mehr noͤthig hat, den Bettel-
ſack. Sie hat mich vielleicht nur im Traum
beleidigt, und haͤtte ſie es auch im Wachen
gethan; haͤtt’ ich den Schlag bekommen, den
ihr Ritter bekam, was nun mehr? Wir ſind
hier nicht zu ſchlagen, ſondern geſchlagen zu
werden. Verzeih mir, lieber Gott! wenn
ich im Wachen den Traum ihr uͤbel nahm.
Ihrer Seele ſey wohl, unter denen, die ge-
kommen ſind aus großem Truͤbſal, und haben
ihre Kleider gewaſchen und ſie helle gemacht.
Heil ihr, wenn ſie im Namen des ſtarb, des,
der unſchuldig lebte auf Erden und auch ein
Fremdling war, und in Gottes Hand im
Himmel ſeine Wohnung beſtellte! Nimm
auch ihren Geiſt in deine Haͤnde, du allge-
meiner Vater! Du Preußens und Curlands
Vater! Ihrem Leibe Ruhe! Er bedarf ih-
rer! — Ein weiches ungeſtaͤrktes Sterbtuch
fuͤr ihr thraͤnendes Aug! — Ein ſtilles
Grab! vollbracht — Uns alle lehre beden-
ken,
[140] ken, wohl, daß auch wir des Bleibens nicht
hahn, muͤßen alle davon, gelehrt, jung, reich,
alt oder ſchoͤn! Du aber, mein Sohn, ſchone
dich in Preußen, es ſcheinet eine Grube zu
ſeyn, wo alles faͤllt, was aus Curland iſt. —
Wenn es nicht mehr leben kann, liebe
Mutter! Aus dieſer Stelle ſollte man nicht
ſchluͤßen, daß meine Mutter ihren Caſum
ſetzt und fromm iſt — in dem Sinn, wo
fromm ſeyn Etwas geiſtliche Aufgeblaſenheit,
geiſtliche Staͤrke durch Kraftmehl iſt, die hart
und anſehnlich macht. — Vergib mir, Mut-
ter, wenn ich dir im zweyten Theil zu viel
that. Ich thats im Traum, wie Paſtors L—
Trinchen. Wenn ein einziges empfindliches
Herz eine Thraͤne bey dieſem Grabe gemein-
ſchaftlich mit mir weint, ſo hat die Arme!
ein ſchoͤnes Leichenbegaͤngnis. Meine Thraͤ-
ne hat eine ſchwere Geburt. Faſt nimmt ſie
mir das Auge mit. Die Deinige, liebe Leſe-
rin! falle ſanft auf dieſes Blatt, und diene
deiner Tochter zum Zeichen, dieſe Stelle wie-
der zu finden, wenn ſie ihr noͤthig iſt.
Alle dieſe Auftritte, welche uns andert-
halb Tage beſchaͤftigten, hatten mich ſo mit-
genommen, daß ich bey einem Haar zum
zweytenmal in dieſem Buche krank geworden
waͤre.
[141] waͤre. Doch Krankheit kann ichs nicht nen-
nen, was mich niederriß. Was es war, weiß
ich nicht; der Paſtor — — in L— meynte,
daß dieſes Uebel gerades Weges vom inwen-
digen Menſchen, von der Seele herkaͤme,
welche kein Arzt toͤdten, allein auch nicht hei-
len koͤnnte. Er rechnete dieſe Krankheit zu
den Lindenkrankheiten, die oft gefaͤhrlicher,
oft leichter, als die Leibesgebrechen ſind.
Recepte, Schlagwaſſerdoͤschens — meynt’ er,
waͤren hiebey nicht anzuwenden. ‒ Hier iſt
Gott allein der Arzt, und ſein heiliges Wort
Medicin. — Zur Bewegung waͤre am Fruͤh-
lings Morgen eine ſanfte Flur vorzuſchlagen;
der Waldgeruch ſey ſchon zu ſtark und greife
ſolche einen Kopf an. Das, ſagte der Predi-
ger, iſt die Art der Seelenkrankheiten. —
Unſere Aerzte curiren oft den Koͤrper, wenn
die Seele leidet. — Koͤrperkrankheiten pfle-
gen nicht den Kopf vorbeyzugehen, ſondern
ihm die Ehre zu thun, von ihm auszuziehen
in den ganzen Koͤrper weit und breit. — —
Der gute Paſtor! Ich ſeh’ ihn noch wie
bekuͤmmert er war! Es uͤberfiel mich mit ei-
ner Ohnmacht. Der Graf ſchien froh zu
ſeyn, daß es mich ſo uͤberfiel; natuͤrlich! um
einen Sterbcandidaten mehr zu haben: er
gab
[142] gab dem Prediger nicht undeutlich zu verſte-
hen, daß, wenn er ſich nicht laͤnger aufhal-
ten koͤnne oder wolle, er ihm keine Bitte in
den Weg legen wuͤrde. Jeder, ſetzte der
Graf hinzu, hat ſein Paͤkchen —
ich! ſagte der Prediger, und konnte nicht
mehr —
beim ich, Punctum? fragte der Graf.
Ich werde dieſen Juͤngling nicht ver-
laßen —
auch ich, ſagte der Graf, nicht verlaßen
noch verſaͤumen.
Gott, wenn er ſtuͤrbe!
Nun, wenn er ſtuͤrbe?
Er kann nicht ſterben —
wenn er unſterblich iſt.
Gott!
Gevatter! Entweder glaubt ihr Herren
nicht, was ihr lehrt, oder was iſt das Sicht-
bare gegen das Unſichtbare? Das Gegen-
waͤrtige gegen das Zukuͤnftige? Zeit gegen
Ewigkeit? Iſts denn nicht eine ſchoͤne Sa-
che um die Hofnung? und der Genuß?
Freylich, der Himmel wird anders ge-
noßen, als Dinge der Erde. Der Erdenge-
nus gebiehret den Tod, den Ekel! —
Der
[143]
Der Himmel iſt Himmel, iſt Genuß ohne
Ekel, ohne Tod. Tod und Ekel ſind gleich-
bedeutende Woͤrter. Gleich und gleich geſellt
ſich gern. Ein Juͤngling wie dieſer ſoll nicht
gluͤcklich werden?
Ach! ich habe Kinder, er? Eltern, und
die zeugten einen Sohn, der ihrem Bilde
aͤhnlich war.
Warum mehr von den frommen Anzuͤg-
lichkeiten, welche dieſe beyde Leute, der Graf
und der Prediger, aus gleich gutem Herzen
auswechſelten. Sie ſchlugen Ball. Der
Prediger wollte nicht von meinem Stuhl —
und war fuͤr mich auf eine ſo ruͤhrende Art
bekuͤmmert, daß er ſeine Abhandlung ganz
und gar daruͤber vergeſſen zu haben ſchien.
Die Bekuͤmmerniß gefaͤllt am meiſten, wenn
ſie unzeitig, wenn ſie nicht an Stell und Ort
iſt. Daher die Sorgfalt der Weiber, ſo kin-
diſch ſie ausfaͤllt, wie ſchoͤn! — Auch bey
den Maͤnnern muß ſie weiblich ausfallen, ſonſt
iſt ſie Furchtſamkeit. — Der gute Vater
Gretchens! Er erhielt auf vieles Bitten die
Verſicherung vom Grafen, daß ich noch nicht
eingelaͤutet werden ſollte. Auch (dies hab ich
alles nach der Zeit vom Prediger) war dieſe
Fuͤrbitte Schuld daran, daß ich nicht in die
Tod-
[144] Todtenliſte eingetragen ward, welche der Graf
das Himmelsbuͤrgerbuch nannte. So kam
ich wieder ums Gelaͤute, wornach ich doch
ſo luͤſtern war.
Herr, laß ihn noch dieſe Nacht! dieſen
Tag, noch drey Tage, ſagte der Prediger mit
andern Worten zum Grafen, die ſich der Graf
oft wiederhohlen lies, eh’ er dieſe Friſt be-
willigte. Herr, laß ihn noch, war der Mor-
gengruß des Predigers, denn ich hatte eine
elende, lange, lange Nacht gehabt, und der
Tag war, wie ſie. —
Der Graf declamirte fuͤr, der Prediger
wider den Tod. Jener mit erhabner Stim-
me, dieſer mit leiſer Schmerztheilnehmender.
Nie vergeß ich die graͤflichen Worte: Stirbt
man denn an der Krankheit, Freund? Vom
Leben ſtirbt man, und wenn unſer Liebling
(ich lieb’ ihn wie Sie) wenn er geſund wird,
entfloh er dem Tode? nein, nur der Krank-
heit. Allen? Nein, dieſer. — Eine große
Sache!
Der Graf hielte drey Safts bey ſeinen
Kranken, die Unterſafts, die Aderbinder und
Pulsbeſchleicher ungerechnet. Der Arzt, der
mich beſuchte, wußte, daß er dem Grafen mit
einem heimlichen Kopfſchuͤtteln einen Gefallen
erwies,
[145] erwies, und ſchuͤttelte alſo, es mochte Gefahr
ſeyn oder nicht. Bey einem Manne, wie der
Graf, und bey Krankenlaͤgern, die von la-
chenden Erben umgeben ſind, haben die Her-
ren Safts immer gewonnen Spiel, es ſtehe
oder falle.
Der Prediger aus L —, der die Linden-
krankheiten aus Erfahrungen kannte, hatte
voͤllig recht, daß dieſen Ober- und Unterſafts
meine Krankheit zu hoch waͤre. Freylich ſteckt
eine kranke Seele den geſundeſten Leib an,
alle Seelenkrankheiten ſind anſteckend; allein
es war Lebensekel, Lebenskummer — Ue-
berdruß, was mich ergriffen hatte. All die
Gebeinhaͤuſer, in die ich herumgeleitet wor-
den, hatten meine Einbildungskraft ſo erhitzt,
daß ich wuͤrklich nicht todtkrank war, nicht
gefaͤhrlich krank — aber beydes zu ſeyn herz-
inniglich wuͤnſchte. O Gott! wie ſehnte ich
mich nach einem ſelgen Ende! Wie nach Mi-
nen! Sie war der Mittelpunkt von allem.
Ich ſuchte meinen Tod uͤberall, auf allen und
jeden Geſichtern, und wo ich ein Todeswort
fand, wie ſehr druͤckt’ ichs ans Herz! Ich
war eigentlich nicht krank; allein ich wuͤnſcht’
es zu werden. Eine der gefaͤhrlichſten Ge-
muͤthskrankheiten, wenn es nicht im Apoſtel-
Kſinn
[146] ſinn heißt: ich habe Luſt abzuſcheiden. —
Gern wolt’ ich bey Minen ſeyn und ſolt’ ich
nicht wollen? Nach des Grafen Meynung
nicht. In dieſer Ausſicht ſterben heißt: ſich
den Tod verderben, ihn mit allem Fleiß ver-
unſtalten, ihm den geſunden natuͤrlichen Ge-
ſchmack nehmen, Engliſch Gewuͤrz, Galgant,
Pfeffer, Kreydnelken dran legen. Man muß
ſterben, um zu ſterben. Der Graf hatte
hieruͤber mit dem Prediger eine ſehr gelehrte
Unterredung. Ich vernahm die Worte nicht;
allein der Geiſt von allem wuͤrkte auf mich.
Mein Vater pflegte dies Wuͤrken, Wanken
zu heiſſen, wie man von Geſpenſtern ſagt: ſie
wanken. Ich wankte. Es war mir, als
hoͤrt’ ich in der Ferne laͤuten. Der Hauptin-
halt der gelehrten Unterredung war: ob man
nicht auch durch kuͤnſtliche Mittel berechtiget
waͤre, ſich den Tod zu erleichtern? Der Graf
behauptete Nein, und nannte dieſe Kunſt Be-
trug, wenn ſie wollen, frommen Betrug.
Ich will aber nicht fromm betrogen werden.
Es ſey nun aber wie ihm wolle. Mine
war mein Schutzengel bey meinem Seelen-
zufall. Sie ſtaͤrkte mich. Ich hohlte alles
nach, was ich bey ihrem Grabe durch Betaͤu-
bung uͤberſprungen hatte. O wie gern wolt’
ich
[147] ich bey ihr ſeyn! Die vier Naͤgel, wovon
meine Mutter ſechſe fuͤr einen Vierding
kaufte, glaͤnzten mir ſchrecklich in meinem
vierzehnten Jahre. Das Blad aber, wo ich
in der Capelle eben am Ende meinen Namen
verzeichnete, wie troſtreich fuͤr mich! Es war
eine ſichere Verſchreibung, bald! bald! bald!
bey Minen zu ſeyn. In meinem vierzehnten
Jahre ließ ich ſie zuruͤck; hier ſah ich das vor-
geſteckte Kleinod. Es war mir ein Licht auf-
gegangen; ich empfand den ganzen heiligen
Buſch einer Gottgefaͤlligen, Gottgeheiligten,
Himmelklaren, Engelreinen Liebe — ich
hatte Luſt abzuſcheiden. Ein Paar Schauer,
womit dieſer Leib und dies Gebein ſeine Rechte
ſich vorbehaͤlt, abgerechnet. Iſts Wunder,
dacht’ ich, eine ſo hochgeadelte Erde ſoll wie-
der zuruͤckkommen, wovon ſie genommen iſt!
Ein ſolch Gefaͤß zu Ehren zum Wurmge-
hecke! — Doch ſchnell gab ich meinem See-
lengefehrten den Segen: gehe hin in Frieden,
es ſoll dir alles wohl belohnet werden! Du
ſolſt auferſtehen in Kraft, und Minens Leib,
und ihr Gebein, und dieſer Leib, und dies
Gebein — — Halleluja blieb mein Haupt-
wort; in meinem vierzehnten Jahr war es
das Amen fein, Amen, das ich meiner Mut-
K 2ter
[148] ter nachbetete. Freunde! Wohl dem! der Eine
Mine im Himmel hat. Die fuͤhlloſen Sa-
ducaͤer muͤſſen keine Minen gehabt haben.
Mein Herz hieng an Minen, und ſolte dieſer
Sitz des Lebens an Etwas wuͤrklich Todten,
auf Ernſt Todten, hangen? Gott iſt nicht ein
Gott der Todten, ſondern der Lebendigen,
und meine Seele, ſein Aushauch, iſt hier ſein
Ebenbild! — Mine lebt, ich werd’ auch le-
ben! Junge Leute ſterben leichter, ſagte der
Graf, weil ſie keinen Anhang und Zugabe
haben, weil — eine lange Reihe weils —
ich glaube kurz und gut, weil ſie gewoͤhnlich
nach der jetzigen Weltmanier ungluͤcklich lie-
ben. Die Liebe hoffet alles, ſie duldet alles,
ſie macht ein ruhiges Leben und einen ſanf-
ten Tod.
Das erſtemal, wie ich ans zum Ende ge-
hende Blatt dachte, wars ſo, als ein aus dem
Feuer geriſſener Brand ins Herz. — Das
war ein Hauptreſervat des Leibes, eins in
optima forma. Es iſt einem ſo warm auf ei-
nem Fleck, und kommt dergleichen Brand
dem, von der Schaamroͤthe ſo nahe, wie
moͤglich. — Beyde verbreiten ihre Flamme
zum Angeſicht, die Stirne kalt. — Der-
gleichen Vorbehaͤlte, dergleichen Erdbebun-
gen
[149] gen, haͤtt’ ich bald geſagt, Erſchuͤtterungen
wolt ich ſagen, das war alles, was ich von
Todesangſt bey dieſer fuͤr den Grafen, wie
es anſchien, ſo erwuͤnſchten Gelegenheit em-
pfand. Es war indeſſen alles ſo, daß ichs
konnte ertragen. Der Tod ſelbſt, ſagte der
Graf, iſt das allerwenigſte. Da ſpringt das
Band, das man ſo lange zog und riß und
neckte, weg ſind wir. Tod als Tod hat we-
niger ſchreckliches, als das Leben. Er hat
nichts ſchreckliches. Ich fuͤrchte mich nicht
vor Geſpenſtern, wohl aber vor Dieben und
Moͤrdern. Wer wird ſich vor etwas fuͤrch-
ten, was er nicht kennt, und wer kennt den
Tod? Das Leben aber kennen wir. Wenn
auf Regen die Sonne ſcheint, auf Muͤhe
Lohn folget, wohl uns, daß wir ſterben,
wohl, wenn wir todt ſind; wenn unſer
Glaube an die Unſterblichkeit auch nur wie
ein Senfkorn iſt. Der Tod giebt Troſt uͤber
Troſt, Wonne uͤber Wonne, und ſolte der
Gang zu dieſem Aufſchlus des Menſchenge-
heimniſſes (wahrlich wir ſind ein Raͤthſel;
der Tod iſt unſere Aufloͤſung,) ſchrecklich ſeyn?
Ende gut, alles gut. Der Tod iſt das Ende
vom Klagelied, von allem Elend. Canaan
ins Kleine, in Miniatur, im Auge; was
K 3ſcha-
[150] ſchadet ein Fuß in der Wuͤſte? In einer un-
ſeligen Stunde ſterben, heißt in den Henker-
haͤnden der Krankheit ſterben, das kann
ſchrecklich ſeyn. — Dem beſten Kaͤmpfer
aber das Kleinod, dem ſtaͤrkſten Ringer der
Preis! Wie wohl ruht es ſich nach der Ar-
beit, wie wohl! — Laßt uns nur des Ster-
bens-Leidens, eh das letzte Stuͤndlein
kommt, viel haben, wenn es Gottes Wille
iſt; dann verdienen wir im Tode getroſt zu
ſeyn, und wie der ſelge Leinweber gen Him-
mel gehohlt zu werden. Wer wolte ſich aber
das Sterben, aus Furcht des letzten Augen-
blicks, ohne Noth bitter machen, wer das
Leben dadurch verleiden? Es giebt Leute, die
ſich das Leben auf dieſe Art verſterben, war-
um das? Ich kann von mir ſagen, ich ſterbe
taͤglich; allein dies will nicht viel mehr ſa-
gen, als: ich ſehe taͤglich andere ſterben,
obgleich es auch Stunden giebt, wo es mehr
ſagen will. Der heilig geplagte Apoſtel ſtarb
anders taͤglich, als ich. Paulus trank taͤg-
lich einen Tropfen aus dem Todesbecher.
Es war nicht Todesfurcht, die er trank. Solch
ein Mann wuſte ſchon, was im Kelche war.
Es war wuͤrklicher Tod; er ſtarb allmaͤhlig.
Wer es hoͤret, der merke darauf. Sich ſein
ganzes
[151] ganzes Leben vor dem Tode fuͤrchten, heißt
zwar, ein Knecht, ein egyptiſcher Sclave des
Todes ſeyn; allein noch lange nicht, ſterben
lernen, den Tod ſtudiren. Menſch, bey al-
lem was du thuſt, gedenke ans Ende! ſo wirſt
du nimmermehr uͤbel thun, das heißt: Menſch,
lebe gut, um gut zu ſterben. Ich vor mein
Theil (der Graf fiel in einen andern Ton)
habe den Tod herzlich lieb, ſehr gern ſeh ich
ſterben. Sterben allein, das iſt mein Leben.
Jeder muß wiſſen, was ihm Leben iſt; ich
habe nichts wider das Leben, wie der Herr
Gevatter meynt. Da der Prediger ſich blos
auf dies Wort buͤckte, brach der Graf ab, und
verſicherte, der feſten Hofnung zu leben, daß
er ſanft ſterben wuͤrde. Du weißt, Bruder!
ſagt’ er zum Bedienten, ich hoffe zu ſterben,
wie der Leinweber. War es nicht, lieber Gott,
fragt’ er zuverſichtlich, inbruͤnſtig, war es
nicht Todesangſt, Todesnoth, was ich aus
dem Kelche trank, den du, mein Vater, mir
gabſt? hab’ ich noch dieſen ganzen Kelch zu
leeren? oder wird meine Zunge, wenn es ans
letzte geht, nur noch die letzten wenigen Tro-
pfen aufziehen? Dein Wille! nicht wie ich
will, ſondern wie du wilſt. —
K 4Der
[152]
Der Graf haͤtte ſo ohn End und Ziel reden
koͤnnen. Es war Zephir, den er mir zu-
wehte. — Wuͤrklicher Zephir, ſanfte Em-
pfindung, womit er mich anfaͤchelte. Es giebt
Stunden, wo wir keinen Sturm ertragen
koͤnnen. Der Bruder des Grafen neigte ſich,
als ſchien er ſagen zu wollen: ich werde eher
ſterben, als du, graͤflicher Bruder; allein es
ſchien auch gleich darauf, daß er ſich bedaͤchte,
wie es ihm gebuͤhre zu folgen. Ehre, dem
Ehre gebuͤhret, und Sie (fieng der Graf zu
mir an) ausbluͤhender Juͤngling! Schnell
hielt er ſich auf, als bedaͤchte er ſich bey dem
Worte ausbluͤhender, Sie haben auch nach
ihrer Art gelitten — vielleicht ſind nur noch
wenige Tropfen Todesangſt uͤbrig. Ich, fuhr
er nach einer Weile fort, habe bey der bitter-
ſten Arzeney nichts nachgetrunken, ich auch
nicht, erwiedert’ ich: allein ich muß geſtehen,
nur blutwenig Arzeney gegeſſen und getrun-
ken zu haben, ſetzt’ ich hinzu. Bravo, ſchrie
der Graf. Er wolte bemerkt haben, daß
Leute, die ſanft einſchliefen, auch Anlage zum
ſanften Tod haͤtten, und befragte mich, zum
innerlichen Verdruß des Predigers, wie es
mit meinem Einſchlafen waͤre. Bey Leuten,
die ſchnarchen, fuhr er fort, hab ich bemerkt,
daß
[153] daß ſie zu ihrer Zeit roͤcheln, und die unru-
hig ſchlafen, ſterben gemeinhin auch unruhig,
wenn nehmlich der unruhige Schlaf keine Folge
des vorigen Abends iſt. —
Wie ich verſchlage! — Deſto beſſer; ſo ſe-
hen meine Leſer am deutlichſten, wie ich zu
dieſer Friſt geſtimmt war. —
Der Prediger muſte des Sonntags wegen,
der vor der Thuͤre war und anklopfte, von
dannen. Jeder hat ſein Paͤckchen. Das
Wort ausbluͤhender Juͤngling, ſo dem Gra-
fen ſelbſt auffiel, war dem Prediger aufs Herz
gefallen, der gute theilnehmende Mann! Sagt
ſelbſt, lieben Leſer, verdient nicht ſeine Ab-
handlung von der Suͤnde wider den heiligen
Geiſt, blos darum deutlichen Druck, gutes
Papier und ſo weiter? Meine Seelenkrank-
heit kehrte das Blad den Abend noch, und
kurz, ehe der Prediger aufbrach. Er nahm
noch den erſten Beßrungsſtrahl mit. Mein
Gruß an Gretchen, den er ſo gern in die Hand
ſich drucken lies, heiterte mich ſichtbarlich auf.
Gern haͤtte der Prediger dem Grafen wieder-
hohlt: Laß ihn noch, durft’ er aber? Man
widerraͤth den Schwermuͤthigen die Einſam-
keit, und in vielen Faͤllen mit gutem Grunde;
bey dem allen glaub’ ich, daß wenn ja ein
K 5Kraut
[154] Kraut und Pflaſter ſie heilen koͤnne, es die
Einſamkeit, die Selbſtgelaßenheit ſey, wenn
dieſe Einſiedeley nur gleich beym Anfange
gebraucht wird. Die Einſamkeit iſt dem Un-
gewohnten wie ein kaltes Bad, das anfangs
widerlich iſt; allein es ſtaͤrkt die Nerven! —
Geſellſchaft aͤngſtigt ſchwermuͤthige Perſonen,
das heißt, ſie macht ſie kraͤnker. O ihr guͤti-
gen Thraͤnen! was fuͤr ein ſichres Recept ſeyd
ihr in dieſer Krankheit, und in Geſellſchaft
weinen, welch ein Mann kann das? Der
Graf wuͤnſchte mir Gluͤck zu meiner Gene-
ſung. Jetzt ſah er ſelbſt ein, was fuͤr ein Zu-
fall es geweſen. Das Phaͤnomenon bey die-
ſer Sache war, daß ich, ſo froh ich war zu
ſterben, ich es auch zufrieden war wieder zu
leben. Nicht wahr! ein wahres Phaͤnomen.
Ich, der ich meine Haͤnde nach dem Tode
ausſtreckte, nach dem Freyswerber, den Mi-
ne zu mir geſandt, ich, der ich mit dieſem
Manne ziehen wollte, der ich nach der Zeit
tauſend und abermahl tauſendmahl bey ihr zu
ſeyn mich herzlich ſehnte. Der Graf verſi-
cherte mich, daß er kein Sterbenszeichen um
und an mir entdeckt. Saft hat alſo unzeitig
ſein Haupt geſchuͤttelt: Dem Grafen zum
Munde wuͤrde ich in Ruͤckſicht des Geſpraͤchs
mit
[155] mit dem Prediger in L — ſagen. Wie kam
es aber, daß der Graf Gluͤck wuͤnſchte? Und
wie kam es, daß ich den Gluͤckwunſch als
Gluͤckwunſch entgegen nahm? Wir Menſchen
ſind wunderbare Geſchoͤpfe! — Es war mir
ſo, als ob ich Minens wegen ſchon wuͤrklich
geſtorben geweſen, und nun, nachdem ich ihr
mein Geluͤbde bezahlet, wieder auferſtehen
koͤnnte. — Ach! dieſe Seelenkrankheit, ſo
hat ſie nicht mehr mich uͤbermannt; allein wie
oft hieß es von mir: Siehe, um Troſt war
mir bange! Wie oft bluͤheten die Linden fuͤr
mich! — Auch heute! da ich dieſes ſchreibe,
war ich in meiner Kammer, hatte die Thuͤr
nach mir zugeſchloßen und mich verborgen,
um —
Wenn ich wuͤſte, daß eins von meinen Le-
ſern uͤber das, was Sitte beym Grafen war,
ſeelenkrank werden koͤnnte, wie bey mir dieſer
Fall eintrat, obgleich ſie nicht ſehen, ſondern
nur leſen, ich wuͤrde hier ſchluͤßen, ohne ein
einziges Wort weiter zu verlieren — nicht
wahr, verlieren? Kommen meine reſpektive
Leſer und Leſerinnen aber mit einem einſamen
Stuͤndchen mit einem kalten Badeſtuͤndchen
ab — was hats zu ſagen? wir haben doch
all ein langes kaltes Bad im Grabe vor, und
wahr-
[156] wahrlich das wird eine rechte Nervenſtaͤr-
kung ſeyn! Sieht noch oben ein unter mei-
nen Leſern ein Alexander ſeine Mine, und un-
ter meinen Leſerinnen eine Mine ihren Ale-
xander in dieſer Geſchichte im Bilde, traͤgt
Er oder Sie leide um ſeinen, um ihren leibli-
chen oder geiſtlichen Todten, o dann iſts kein
boͤſes, dann iſts ein gutes Stuͤndlein, das
ich Euch beſcheret habe. Wo hatte er
denn ſo viel Zeit? fragte ein kluger
Mann, da er hoͤrte, daß ein Held im Felde
an einer Krankheit geſtorben waͤre. Dieſe
Frage wuͤrde bey unſerm Grafen, der nichts
mehr in der Welt zu verſaͤumen hatte, der im
Fegfeur ſich befand, ohne daß ihm, wie den
drey Maͤnnern im Feurofen, ein Haar ge-
kruͤmmet ward, die uͤberfluͤßigſte von allen
ſeyn.
Zum Schlus ein paar Reden, die mir der
Graf zu Ehren am Sonntage halten lies.
Das Evangelium, wie es mir vorkam, war
nicht ſo ganz nach ſeinem Sinn. Es war zu
viel Leben drinn. Der Graf war wegen ſei-
ner Sterbenden zum Hausgottesdienſt ge-
woͤhnt, und hielt ſich wegen einiger Lebendi-
gen Evangelien einige Reden, von einem
Chriſten und bloßen Gottesverehrer bearbei-
tet,
[157] tet, uͤber ſeinen Lieblingstext. Das Gelaͤute
zu dieſen Reden — Hier iſts.
Ein Geſpraͤch zwiſchen dem Grafen und
mir. Meine Leſer moͤgen es als eine capta-
tionem benevolentiæ anſehen.
Alles, was keine Sprache befitzet, was ſo
gar keinen Laut vermag, iſt todt an ihm ſelbſt.
Alles, was nicht mit vernehmlichen Toͤnen
von der Natur ausgeruͤſtet iſt, ringt faſt nach
Gelegenheit, daß ihm die Zunge geloͤſet wer-
de. Sprache, Ausdruck, iſt Leben. Die
ſchwerſte Schrift wird biegſam, gefaͤlliger, ge-
lenkiger, geſchliffener in unſerm Munde. Die
Zunge iſt ein klein Stuͤcklein Fleiſch, und faſt
koͤnnte man von ihr ſagen, ſie waͤre das Luſt-
ſchloß der Seele! — Der Menſch iſt der Gott
alles Lebloſen. Wenn er ihm gleich nicht ei-
nen lebendigen Odem einhauchen und es be-
ſeelen kann, iſts doch faſt ſo, als ob alles
ſpraͤche, wenn der Menſch ihm zuſpricht, als
wenn es antwortet, wenn der Menſch es fraͤgt.
Die Figur, daß man lebloſe Dinge anredet,
wenn nur die Kunſt nicht zu merklich iſt, waͤ-
re ſo unnatuͤrlich eben nicht, als ſie jezt auf-
faͤlt. Es ſcheint, als mache der Menſch den
Verſuch, ob es nicht angienge? Gott ſprach,
und es ward. Der Menſch ſpricht, und es
ſcheint
[158] ſcheint zu werden. Sprich, damit ich dich
ſehe. In der Sprache liegt die Gewalt, wel-
che der Menſch uͤber alles hat, was lebt,
ſchwebt und iſt, der Bind- und Loͤſeſchluͤßel.
Mein Vater pflegte zu ſagen, noch ſind jene
Toͤne nicht cultivirt, wodurch wir vielleicht
mit allem auf der Erde ſo umſpringen wuͤr-
den, als der Hauptmann von Capernaum mit
ſeinen Knechten: Komm, geh, thue das!
Vielleicht waren dieſe Toͤne ſchon und giengen
verlohren, wie viel verlohren gieng. —
Mein Redner, fieng der Graf an. —
Redner, erwiedert’ ich? Nicht anders,
ſagte der Graf. Beleben die? Sich im Leben
angreifen, ſich uͤberleben, zu viel leben, iſt
Tod, uͤberall Tod, fuhr ich fort. Es giebt
Redner, die nicht blos ſchlechthin beleben,
ſondern beſeelen, begeiſtern; allein das ſind
nicht ausgelernte Papagayen und Raben, die
auch zuweilen zu rechter Zeit oleum \& operam
perdidi kraͤchzen, ſondern Leute mit feurigen
Zungen, nach dem ihnen ihr Geiſt gab auszu-
ſprechen. Aus dem Herzen aufs Papier.
Schwarz auf weiß, vom Papier ins Gedaͤcht-
nis, aus dem Gedaͤchtnis in Hand, Mund
und Fuß. — O der ermattenden Umwege!
Und
[159] Und wie ſelten gehts gerade aus dem Her-
zen aus. —
Der Graf fuͤhlte, was ich ſagen wollte,
obgleich nur ein Funke auf meiner Zunge
blinkerte. Feur war nicht drauf. Die Lin-
denkrankheit hatte gedaͤmpft, geloͤſcht. Eine
Rede, ſie ſey auch die beſte, iſt ein Gipsabguß
der Gedanken. — Gemeinhin verſchlingen
hier die ſieben magere Kuͤhe die ſieben fetten,
wie in Joſephs Traum; indeßen iſt nicht zu
leugnen, daß eben dieſelbe Sonne, wie ein
witziger Schriftſteller ſagt, die das Wachs
ſchmilzt, die Erde verſteinert, und es giebt
Leute, die gern reden, und andre, die auch
nur durch Reden gewonnen werden. Leidet
aber jeder, daß auf ihn Jagd gemacht, daß
auf ihn angelegt wird? Und thut der Red-
ner mehr, als ſeinen Bogen ſpannen, und
auf die Herzen ſeiner Allerſeits nach Stand
und Wuͤrden Hoͤchſt und Hochzuehrenden Zu-
hoͤrer zielen? Freylich, erwiederte der Graf,
wo Feuer iſt, da raucht es auch. Meine Pre-
diger, fuhr er fort, hab ich ſo ziemlich ins
Geleiſe bey Leichenpredigten gebracht; indeßen
raucht es doch noch. Conferatur:Siehe,
ich komme bald, behalte was du haſt,
daß Niemand deine Krone nehme. Da
war
[160] war noch viel zu ſagen, und doch war es aus
dem Herzen. Wenn er aber empfaͤngt, wenn
er concipirt, o! dann beißt der Rauch in die
Augen! — Wilſt du denn was beßres ſagen,
als du kannſt? Das war eine weiſe Lehre ei-
nes weiſen Mannes, die er einem Juͤnglinge
gab, der ſich uͤber dem Eingang ſeiner Rede
den Kopf brach. Ein Redner, ſagte mein
Vater, iſt ein Mann, der mehr von einer
Sache ſagen will, als er von ihr weiß. Ein
Avantuͤrier, der ſich uͤber ſeinen Stand klei-
det, ein Petitmaitre, der zum verſchimmelten
Brod friſche Butter giebt. — Er machte ei-
nen Unterſchied zwiſchen Redner und Predi-
ger. Mit Feyerlichkeit von einer Sache ſpre-
chen, nannt’ er predigen, und in dieſem Sinn
war er Prediger uͤberall. Aber die Redner!
Sie machen einen großen Schuh auf einen
kleinen Fuß. Schuſter nicht uͤbern Leiſten,
ſagte der Mahler zum Recenſenten, der ſich
wie gewoͤhnlich mehr herausnahm und her-
auslies, als er verſtand. Dem Redner koͤnnte
man zurufen: Redner, nicht uͤbern Fuß! —
— Durch Reden ſind mehr Laͤnder er-
obert, Feſtungen eingenommen, als
durch Waffen; allein wie gewonnen, ſo zer-
ronnen, wuͤrde meine Mutter ſagen.
Der
[161]
Der Graf theilte mir ſein Syſtem uͤber
die Leichenandachten, wie er ſie nannte, mit.
Die Worte: Leichenpredigt und Leichenrede
gefielen ihm nicht. Bey den Aegyptern konn-
te man nicht alle Todten ohne Unterſchied lo-
ben. Es muſte per judicata feſtſtehen, der
Todten-Fiſcus trat auf, und ward gehoͤrt.
Man erkannte auf Beweis ſalua reprobatione,
und ehrlich Begraͤbnis und Leichenpredigt
hieng von dieſem Urtel ab. Der Koͤnig hatte
vor dem geringſten ſeiner Cammerlaquayen
keinen Vorzug: im Leben ſah man ihn durch
die Finger an, um den Staat zu ſchonen: nach
ſeinem Tode! fiat Citatio. Er ſo gut Staub,
Erd und Aſche, als ein andrer, und warum
jetzt eine andre Procedur? Wie oft wuͤrd es
jetzt von bepredigten und beredeten Leichen heiſ-
ſen: laßt die Todten die Todten begraben! —
Ich hoͤre gern Leichenpredigten, ſetzte der
Graf hinzu; allein in meinem Sinn ſind es
nicht Leichtepredigten, wenn es nemlich nicht
Luͤgenpredigten ſeyn ſollen. (O! wenn meine
Mutter doch dieſen letzten Gedanken von Luͤ-
gen- und Leichtenpredigten gehoͤrt haͤtte!)
Kupfern Geld, kupferne Seelmeſſen, fuhr
der Graf fort. Weh uͤber dieſe Aergerniſſe!
Da heißt es denn, er hatte nichts menſch-
Lliches
[162]liches an ſich, als daß er ſtarb, oder wie
von jener Madam: ſie betruͤbte ihren
Herrn nur ein einzigmahl, nemlich da
ſie ſtarb! Wer iſt da mehr todt, fragte der
Graf, die Leiche oder der Redner? Rauch
uͤber Rauch! Etwas Rauch ſchadet nicht.
Opferrauch, fiel ich ein! Blumenrauch, der
gen Himmel ſteigt, wenn es huͤbſch warm iſt!
Und das iſt eine inwendige Waͤrme, die alles
Lebendige hat. Kaͤlte iſt Tod. Waͤrme, Le-
ben! Innerliche Hitze iſt Krankheit, oder An-
fang dazu. Wer anſtecken will, muß ſelbſt
feurig ſeyn. Ein Redner will ſein Auditorium
anſtecken, mithin muß er in Feur ſeyn. Ein
Brand raucht zu ſehr; allein eine durch und
durch gluͤhende Kohle, das iſt das Bild eines
Redners! — Da war es ausgelautet. Wir
waren Feurempfaͤnglich, das heißt: warm.
Noch einen Kloͤppelanſchlag! Vom Gott-
glaͤubigen zum wahren Chriſten iſt es
kaum ein Sabbatherweg weit, hab ich
ſehr viele Leute (verſteht ſich chriſtliche,) ſa-
gen gehoͤrt.
Plato wuͤrde zuverlaͤßig Superintendent
geworden ſeyn, wenn er das Gluͤck gehabt, in
chriſtlichen Zeiten gebohren zu werden, und
Sokrates? Irgend wo Rektor an einer
Domſchule.
Der
[163]
Der Graf ſagte zu mir: Freund! von
unten auf. Ein feiner Knabe. Oehl-
zweige um ſein Haupt — freye Stellung.
Nichts, auch kein Paar Handſchuh in den
Haͤnden; allein um ihn ein weißes weites Ge-
wand, bald haͤtt ichs Chorhemde genannt,
wenn ich hier ein chriſtlich Wort fliegen laßen
koͤnnte.
Das Jahr hat Monate, der Monat Wo-
chen, die Woche Tage, der Tag Tageszeiten.
Morgen und Abend iſt uͤberall. Was An-
fang hat, muß ſich auch enden. Der Menſch
wird gebohren und ſtirbt, beydes wenn ſein
Stuͤndlein vorhanden iſt. Er waͤchſt hin und
zuruͤck. Er ſinkt, wird hinfaͤllig mit dem er-
ſten Tage, da er zu wachſen aufhoͤrte. Seht
die Tage, wie ſie ab- und zunehmen, ſo habt
ihr euer Leben. Ein Jubeljahr, ein Hun-
dertjaͤhriger, iſt auſſerhalb dem gemeinen,
und am Ende was iſt der ganze Jubel? —
Weiber, ſchwaͤchliche Mannsperſonen, brin-
gen es im Leben am laͤngſten, ſie lebten am
langſamſten in die Hoͤhe und in die Breite,
und ſterben alſo auch ſo langſam wieder ab —
Maͤßigkeit in Abſicht des Leibes, Maͤßigung
in Abſicht der Begierden, koͤnnen uns zwar
L 2zum
[164] zum ruhigen Leben, zum ungeſtoͤrten Genuß
deſſelben bringen, ob ſie aber das Leben ver-
laͤngern, iſt noch die Frage. Der Menſch
hat ſeine beſtimmte Zeit. Wenn es Ausnah-
men giebt; ſo iſt die Lebens-Oekonomie —
wenigſtens nicht immer ſchuld daran. Waͤr’
es durchaus noͤthig geweſen, daß wir nicht
mehr, nicht weniger, eſſen und trinken ſolten;
haͤtte die Natur eine Thuͤr angebracht, die
von ſelbſt zugefallen waͤre. Erreichten denn
nur gute Lebens-Oekonomen, oder erreichten
nicht gemeinhin auch Verſchwender dieſes
ausgeruͤckte Ziel? Sie ſcheinen zu Ausſchwei-
fern beſtimmt zu ſeyn, im Tod und Leben.
Sie leben, wenn man ſo ſagen ſoll: auf Tod
und Leben. Sie empfangen ihr Gutes in die-
ſem Leben! Laßt ſie doch, laßt ſie doch leben!
Ich wette drauf, es ſind wenige, die ſolch ein
Leben nehmen vor halb Geld. Die meiſten
Menſchen haben nur Jahre, nicht Leben, zu-
ruͤckgelegt. Sie reden vom Leben, als von
einer Sache, die man von Hoͤrenſagen kennt.
Wie viel gehoͤrt zum Leben! Man nehme den
Zufaͤllen des Lebens ihre Wichtigkeit, wer
kann das? Man bedenke, daß nur das Wohl-
verhalten den Werth des Menſchen und ſeines
Seyns ausmache. Wer verſtehet dieſe Kunſt?
Und
[165] Und beſtehet die Gluͤckſeligkeit in etwas an-
ders, als in der Befriedigung der Sinne?
aller Neigungen? Beym Luſtigen tritt der
Nervenſaft uͤber ſeine Ufer und dieſe Ueber-
ſchwemmung, dieſe Suͤndfluth, richtet Unheil
an. Das Leben iſt eine Laſt, und warum
ſolten wir uns den Ruͤckgrad brechen, und
drob froh ſeyn? An der Laͤnge liegts nicht,
an der Wuͤrde liegts. Unſere Bruͤder aus
zweyter Ehe haben von den Juden gelernt,
daß langes Leben als Lohn fuͤr den kindlichen
Gehorſam anzuſehen; allein auch ſie behaup-
ten, daß Gott mit den Seinen eile! Und ſo
wahr es iſt, daß Juͤnglinge, die das Alter
ehren, ſich, alt zu werden, vor Menſchen be-
rechtigen; ſo iſt doch dies Menſchenrecht nicht
auch Gottes Recht! — Dein Wille, Gott,
dein Wille geſchehe! Das maͤnnliche Alter
ſchuͤrzt den Knoten, der Tod loͤſet ihn. Wer
Gott gelebt hat, und nicht ſich ſelbſt, wird
auch Gott im Tode preiſen und den verherr-
lichen, der das Waizenkorn, wenn es gleich
dahin geſtorben, und in Faͤulnis uͤbergegangen,
zum Aufleben bringen kann, den, der Seelen
wegzuhauchen Macht hat. Alles wie er will!
Was er will, das geſchieht, was er gebeut,
das ſtehet da. Sein Blick iſt Sonne, ſein
L 3Wort
[166] Wort Erdenball. — Sein Wille, und es
iſt nicht mehr, was es war. Wer ſich auf
alle Faͤlle bereitet, iſt weiſe. Wer ſich einen
einzigen Weg erzielet, wird oft durch eine
Kleinigkeit ſo zuruͤckgeſetzt, daß er nicht aus
noch ein weiß. Richtet ſich der Lauf der
Welt nach uns, und iſt es darum ſchoͤn Wet-
ter, weil wir nach Athen fahren wollen, oder
weil es im Calender ſteht: Klarer Himmel,
oder weil wir ein Weib nehmen, oder einem
Freunde das Geleite geben, und eine Aus-
fahrt machen wollen, um dicht am Fluß ein
Gericht Fiſch zu eſſen? —
Das Denken allein hat wenig Troſt in
ſich; wer es aber verſteht, was fuͤr Kraft in der
Rede liegt, wird auch wiſſen, ſich alles aus dem
Sinn zu reden, was ihn niederſchlagen kann,
und ſich ſelbſt Muth zuzureden, wie es unſere
in Gott ruhenden Vorvaͤter gethan, die den
nemlichen ungewiſſen Weg, ohne Wegweiſer,
ohne Grenzenmal giengen, der vor uns liegt.
Der Herr, der Herrſcher des Lebens, der ihnen
an Stell und Ort geholfen, wird uns auch an
ſeinen Ort ſtellen. Der Thor klaget uͤber das,
ſo nicht zu aͤndern iſt, der Weiſe ſucht Bewe-
gungsgruͤnde, es zu tragen. Das Ende liegt
immer im Anfang, ſo wie der Anfang im
Ende
[167] Ende. Wir werden, das heißt: wir hoͤren
auf zu ſeyn. Wir ſind, das heißt: wir ſterben.
Wenn wir gegeſſen haben, ſtehen wir auf,
und wenn wir gewacht haben, gehen wir,
wie alles, was lebet und webt, zur Ruhe.
Die Sonne gehet auf und unter, und der
Menſch ihr nach. Sich graͤmen, daß wir
ſterben muͤſſen, heißt: ſich graͤmen, daß wir
ſind. Durch Philoſophie, der man durch
Ton und Gebehrde nachzuhelfen verbunden
iſt, kann man den Tod beſiegen. So kann
man des Todes Bitterkeit vertreiben, und,
wenn Noth am Mann iſt, ſelbſt fuͤr Ehre und
Vaterland ſein Haupt hingeben, wie Johan-
nes ſein Haupt zum Schaueſſen. Eine graͤs-
liche Melone auf der Tafel eines Tyrannen!
Nicht, wer uͤberwindet, ſondern wer ſo viel
thut, als er weiß und kann, iſt Held. Wohlan
denn, laßt uns alle Kraͤfte zuſammenraffen und
uns anſpannen, um dem Tode, dem Fuͤrſten
der Finſternis, ſtattlichen Widerſtand zu thun,
und das Feld zu behalten. Unſer Leben iſt
ein Quodlibet von Abwechſelungen, ein Aprill-
tag, und wenn Thoren es gleich fuͤr Mangel
der Lebensart halten, an den Tod zu denken;
ſo haben doch von je her kluge Leute Todes-
betrachtungen, als richtige Proben eines gut-
L 4gerech-
[168] gerechneten Lebens, angeſehen. Menſch,
weißt du, ob du dieſe nacht ſchlafen? ob du
je ſchlafen? ob du Luſt zum Eſſen haben,
froͤhlich und guter Dinge ſeyn, Soͤhne oder
Toͤchter zeugen wirſt? daß du aber ſterben
wirſt, daß dein Leben ein Ziel hat, und du
davon muſt, weißt du gewis, oder kannſt es
ſo wiſſen, als daß zweymahl zwey vier iſt.
Aber ſelbſt der Schnee auf dem Haupt erin-
nert den Greiß nicht an den Winter ſeines
Lebens. Es iſt Hagel und Schloſſen denkt
er, ſo was faͤllt auch mitten im Sommer.
Der Himmel laße nur das Getreyde ohne
Schaden! Die Menſchen denken vielleicht
darum nicht an den Tod, weil er das einzige
Gewiße iſt, und weil er ſich von ſelbſt ver-
ſteht, das andere alles aber mit auf ihrer
Sorgfalt beruhet. Nicht alſo Freund! Ein
hitziges Fieber, ein ploͤtzlicher Tod, kann
zwar deine Vorbereitung ſtoͤren, dein mit
Fleiß beſaͤtes Feld in Unordnung bringen; al-
lein auch beym Miswachs bleibt dir Grund
und Boden. Du kannſt heute ſterben, alſo
lern’ es heute. Ein Seefahrer, der dem
Weltmeer entgieng, findet ſeinen Tod im Brun-
nen, aus dem er ſich einen Labetrunk ſchoͤpfen
will. Den Rieſen Goliath ſchleudert der Hir-
tenknabe
[169] tenknabe David zu Gottes Erdboden. Jenen
roͤmiſchen Sieger trift auf dem Wege zum
Capitol ein Dachziegel, und er ſtirbt. He-
liogabalus wollte ſo ſterben, als er gegeßen
hatte. Es ward ihm ein gewaltſamer Tod
prophezeyt, und er lies ſich koͤſtliche Stricke
bereiten, goldne Becher zum Gift, und einen
praͤchtigen Thurm zum Herabſturz; allein
ſtehe, ſeine Anſtalten zum Kayſerlichen Ende
waren vergebens! Sein eigen Blut war ſein
Leichentuch, und die Tyber ſein Grab.
Der Tod hat eine Sanduhr in der Hand,
die er verdeckt haͤlt. Wir ſehen nur die Sen-
ſe, die er in der andern fuͤhret. Wenn wir
gefaßt ſind, warum einen Blick auf Sand in
unſerer Lebensuhr? Es fallen uns tauſend zur
rechten und zehntauſend zur linken. Laßt uns
alſo bereit ſeyn, und eine Nachtlampe anzuͤn-
den, wenn wir ſchlafen. Wir ſtehen auf
Rechnung, laßt uns alſo in unſerm Wirth-
ſchaftsbuch alles unſtraͤflich addiren, ſubtra-
hiren, multipliciren und dividiren, damit,
wenn der Herr kommt, wir Credit und Debet
fein haushaͤlteriſch vorlegen, und auf das Te-
ſtimonium von ihm Anſpruch machen koͤnnen:
Ey, du frommer und getreuer Knecht!
Wer mit Beſtaͤndigkeit und Geduld in guten
L 5Wer-
[170] Werken trachtet nach dem ewigen Leben, hat
vom Herrn ſelbſt ſterben gelernt, und beden-
ket, daß es ein Ende mit ihm habe, und er
davon muͤße, daß das Leben einem Faden
gleich ſey, der in der Hand des Webers ſo
leicht abgerißen wird. Seht euch um, Lilien
knicken, Eichen ſtuͤrzen. Ein kleiner Wurm
ſticht die ſchoͤnſte Blume, und manche wird,
wie Caͤſar, mit drey und zwanzig Wunden
erſtochen durch und durch. Ein Nebel faͤllt
uns auf die Bruſt, und unſere Staͤte iſt nicht
mehr. Wir muͤßen wirken, ehe die Nacht
kommt. Wir muͤßen, wie alle Weiſen es
thaten, ſterben, ehe wir ſterben, wir muͤßen
uns abſondern und aus der Welt gehen, um
unſere Seele zu retten, wir muͤßen uns ſelbſt
aufloͤſen, ehe wir aufgeloͤſet werden, und ſo
wenig den Koͤrper, Fleiſch und Blut, aufkom-
men laßen, daß wir je mehr und mehr gei-
ſtiſch werden. Laßt uns, Freunde, beym To-
de uns nicht verwahrloſen. Wer bemuͤhet
ſich nicht, ſein Kind geſund und unverwahr-
loſet aus Mutterleibe zu ziehen? Wißt, un-
ſere Seele wird gebohren, wenn wir ſterben.
Der Tod iſt eine Niederkunft, eine Geburt,
zum andern Leben, und es iſt gut, auch auf
dieſe Geburtsſtunde und dieſe große Sechs-
wochen
[171] wochen zum voraus zu denken. Werden wir
darum eher ſterben, weil wir den Tod in Er-
wegung nehmen? Eher begraben werden,
weil wir dieſe Gewichter, die uns zur Erde
ziehen, abſchneiden? Willſt du den Redlichen,
der nach Gott fraͤgt und nach ſich ſelbſt, von
der Welt entfernen, gib ihm den Rath, ſich
mit ihr zu verwickeln. Giebts eine groͤßere
Aufforderung zum Memento mori-Orden, als
eben dieſe? Habt nicht lieb die Welt, noch
was in der Welt iſt. Wer ſich ſelbſt ein Ver-
gnuͤgen entziehet, gewinnt. Nur wenn an-
dere es uns entziehen, verlieren wir. Der iſt
der gluͤcklichſte, der am wenigſten zu verlieren
hat. Beſitzen wir das, was wir uͤber ein
Kleines zuruͤcklaßen muͤßen? Gott giebt al-
les, und behaͤlt nichts. Seyd wie Gott —
Jedweder gehet den rechten Weg, der recht
thut. Der Chriſt glaubt an Chriſtum, der
goͤttlich auf Erden gewandelt hat; dergleichen
Erſcheinungen glaubten auch unſere Vaͤter.
Sind nicht noch der Erde die goͤttlichen Spu-
ren anzuſehen von dieſem heiligen goͤttlichen
Menſchen? Ueberall Gottes Fußſtapfen.
Wenn Gott auf Erden kommt, was kann er
anders, als Menſch ſeyn? Er begiebt ſich
ins Fleiſch, in den Menſchen. Der Menſch
iſt
[172] iſt das beſte Stuͤck Zeug, wovon der Aller-
hoͤchſte ſich ein Kleid machen laßen kann.
Diogenes ſah einen Knaben mit der Hand
Waßer ſchoͤpfen, und warf den Reſt ſeines
Mobiliarvermoͤgens, ſeiner fahrenden Haab
und Guͤther, ſeine Waſſerſchaale, dahin.
Wer die Knie auf einander legt, kann ohne
Tiſch ſchreiben. Der Chriſt glaubt an Chri-
ſtum. Wir an Gott, der da iſt, und der da
war, und der da ſeyn wird, in Zeit und in
Ewigkeit. Sollte Gott nicht verzeihen, wo-
fuͤr mein Fleiſch und Blut, das ich von mei-
nem Vater ſeligen und meiner Mutter ſeliger
geerbt habe, allein kann, und nicht ich? Wenn
ich nur rechtſchafnes Wollen habe, das Voll-
bringen, ſteht es wohl in meinen Kraͤften?
Meine Seele kommt mit einer Bittſchrift ein,
der Koͤrper, der ſich nun einmal, weil er in
die Hoͤhe geſchoßen und grosmaͤchtig iſt, auf
den Thron geſchwungen, ſchlaͤgt das Geſuch
ab. Wenn ich das Suplicat nur recht von
Herzensgrund eingerichtet, und weder am
Formale, noch am Materiale, was verſehen,
der Herr Koͤnig Leib aber, demunerachtet den
Kopf ſchuͤttelt, was kann das arme Seelchen
dafuͤr, was kann es wider Tyranney? Wenn
ich wie ein Engel von der Toleranz ſpraͤche,
und
[173] und haͤtte der Liebe nicht, meinen chriſtlichen
Bruder gehen und ſtehen zu laßen, wo und
wie er Luſt hat, und ihm ſein Troſtkaͤmmer-
lein nicht ungeſtoͤrt zu vergoͤnnen, waͤr’ ich
nicht ein Moͤrder von Anfang, und wuͤrd ich
wohl beſtanden ſeyn in der Wahrheit? Ich
bin Demokrit, der Chriſt Heraklit. Koͤnige
und Ketzermacher haben beyde lange Haͤnde;
ſelten iſt mit dem Kopfe bey beyden zu prahlen.
Uebers Grab weg, jenſeit des Grabes ins
Schwarze (dunkel iſt zu wenig) reicht keiner
mit einem Finger, auch nicht mit dem Mittel-
finger, obgleich er der laͤngſte iſt. —
Unſere Sache iſt leben und ſterben, was
druͤber iſt, iſt vom Uebel, ſo wie alles, was
uͤber Ja, Ja, Nein, Nein iſt. Die Chriſt-
liche Religion, und unſere Religion, hat
durch die heilige Schrift ein Herz und eine
Seele. Wer leugnet, daß ohne Bibel wir,
die wir all an einen Gott, Schoͤpfer Him-
mels und der Erden, glauben, lange nicht ſo
weit waͤren, als wir jezt ſind, wenn nicht
Chriſti Lehre ſo mancherley in der Vernunfts-
moral aufgeraͤumt haͤtte. Allein wer? —
Doch warum dieſer Maulaffe von verfaͤng-
licher Frage? Goͤttlich iſt, was von Gott
kommt und ewig bleibt. Menſchlich iſt, was
ſo
[174] ſo fingerlang, als das menſchliche Leben iſt.
Eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind
voruͤber faͤhrt, iſt der Menſch nicht da, und
ſeine Staͤte kennet man kaum mehr. Worte
haben dem Menſchengeſchlechte einen unerſetz-
lichen Schaden gethan; am Ende ſind Kriege,
wo Blut fließt, als waͤr’ es ſchlecht Waſſer,
ſo gut Wortgezaͤnke, als die Diſpuͤte der Ge-
lehrten, die ſich kein Comma vergeben, wie
die Monarchen keine Provinz, und wenns
auch nur der Name davon in ihrem Von Got-
tes Gnaden Titel waͤre. — O ſagt mir, Men-
ſchen! ſagt mir, damit ich einlenke, warum
ihr ſo zittert und zaget, wenns ans Sterben
geht? Wenn man nur das Wort Tod aus-
ſpricht? Warum ihr im eigentlichen Sinn
am Worte: Tode ſterbet? Iſt es das Leben
werth, daß ihr darum ſiebenzig, und, wenns
hoch kommt, achtzig Jahre Leide tragt?
Wahrlich, die meiſten Menſchen leben nicht,
ſondern betrauren das Leben. Wenn wir
todt ſind, leben wir nicht, warum ſollten wir
alſo nicht bemuͤht ſeyn, wenn wir leben, den
Tod zu entfernen? Wie braucht ihr das Le-
ben, das euch ſo koͤſtlich duͤnkt? Lebt ihr
denn wuͤrklich auch, wenn ihr das Trauerkleid
abgelegt habt? Die meiſten Menſchen wa-
chen,
[175] chen, damit andere ſchlafen moͤgen; ihr lebt
fuͤr andere, und ſo kurz und koſtbar euer Le-
ben auch iſt; ſo verkauft ihr es doch gern fuͤr
wenig Gran Gold und Silber, die Erſtgeburt
fuͤr ein ſchnoͤdes Linſengericht. Warum alſo
die Klage: kurz iſt die Zeit, kurz ſind die
Jahre? Haͤttet ihr Oekonomie ſtudirt, ihr
Lebensdurchbringer, ihr verlohrnen Soͤhne,
wahrlich ihr wuͤrdet das Leben nicht zu kurz
finden! Thiere werden aͤlter, als wir, Baͤu-
me, die wir pflanzen, uͤberleben uns, und
wir ſind im Stande, uns ein Grabmal auf-
zurichten, das ſtumm, wie es da iſt, zu ſei-
ner Zeit mehr von uns anzeigen kann, als wir
ſelbſt. Wie lange waͤhrt es nicht, bis der
Eichenbaum ſo dicht wird, daß kein Nah-
rungsſaft mehr durchkann, daß die Feuchtig-
keit keine Circulation mehr hat, die Adern zu
Knochen werden, und die Lebensſaͤfte aus-
trocknen! Beym Menſchen gehts geſchwin-
der; geſchwinder werden ſeine Haͤute Knor-
pel, ſeine Knorpel Knochen, ſeine Knochen
Steine, wahrlich Leichenſteine. — Ich leug-
ne nicht, daß aller Menſchen Leben nur ein
Tag ſey. Dieſer lebt einen Winter- jener ei-
nen Sommertag, dieſer ein Aequinoctium,
jener den laͤngſten Tag. Am Ende hat der,
ſo
[176] ſo in den Zeitungen ſteht, als habe er des
Moſes Lebensſchlagbaum aufgemacht, und
noch zehn Jahre druͤber gelebt, und das klein-
ſte Kind, einen Tag gelebt. Methuſalem, da
er ſtarb, kam nicht in die Zeitungen, darum
ſteht er auch in der Bibel. Was wimmerſt
du, Unvernuͤnftiger, lebt auch was, das nicht
Vernunft hat? Du abbrevireſt dein Leben,
wie Geſchwindſchreiber, und machſt es ſo un-
leſerlich, ſo ungeſtalt, daß du uͤber ein Klei-
nes ſelbſt nicht klug daraus werden kannſt.
Die Natur iſt nicht karg geweſen; allein du
biſt ein Praßer. Wer kann dir das Maul
ſtopfen? Wer dich bereichern? Ein ſo
großer Lebensdurchbringer, daß dich Gott
mit ſeiner milden Rechten ſelbſt nicht reich
machen kann! Du dienſt dem Publicum,
und vernachlaͤßigſt dich ſelbſt. Du ſinnſt
Tag und Nacht, um das Geld, das dein
Nachbar hat, dir zuzuwenden, es ſey durch
Handel und Wandel, oder Diebſtal, das
heißt: durch grobes und ſubtiles Stehlen,
und wenn du Meere durchgekreuzet, und gute
und falſche Wechſel unter die Leute gebracht,
und endlich alles in deine Scheuren gehaͤuft
haſt; was iſt deine Sammlung? Leben iſts
nicht. Das iſt nicht feil in der Welt; du
allein
[177] allein haſt es zu verkaufen. Bleibe im Lande.
Faße in deinen eigenen Buſen. Naͤhre dich
redlich. Sieh! deinem leiblichen Bruder wird
die Zeit lang. Der Thor, ſagſt du, ohne zu
bedenken, daß jener es in der Schlafmuͤtze
und du in Reiſekleidern biſt. — Die meiſten
Menſchen ſehen ein, daß ſie ſich ums Leben
betruͤgen; drum ſetzt ſich jeder ſein Ziel.
Wenn ich dahin komme, will ich Halt ma-
chen! Allein, du Kornjude, heute wird man
deine Seele von dir fordern, und wer wird
das Korn mahlen, das du aufgemeſſen haſt?
Er iſt in der Lehre geblieben, ſagt man von
einem Menſchen, der als Hauptmann ſtirbt,
und Feldherr werden ſollte. Sind wir nicht
alle nur Hauptleute, wenn gleich nicht von
Capernaum? Wie kannſt du mit deinem Le-
ben ſo ſchalten? Wie einen gelehnten Ring
verſchenken? Dem Staate, das heißt, dem
fuͤrſtlichen Schatz und deinem gruͤnen Netze
von Beutel die Erſtlinge geben, und Spreu
fuͤr dich behalten? Kann man denn, wenn
man alt iſt, wieder in Mutterleib gehen und
gebohren werden? Jeder Tag beym Menſchen
koͤnnte ein Ganzes ſeyn, ein Leben in Com-
pendio. Wer nie ſolche ganz ausgeſchlagne
Tage, ſolche Lebenstage, gehabt, iſt ein
Melender
[178] elender Menſch; wer wird ihn erloͤſen von
dem Leibe dieſes Todes? Wir legen uns un-
ter drey und vier Schloͤſſer. Die Perlen fuͤr
die Saͤue, die Diamanten in ein Kaͤſtchen.
Du lebſt kurz, Menſch; allein iſt ein kleiner
Menſch nicht ein ganzer Menſch? Wer an die
Weisheit kommt, hat ſeinen Lauf vollendet;
wer tugendhaft iſt, iſt alt, ohne graue Haare.
Unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahre; wenns
hoch kommt ſinds achtzig Jahre. Der Tu-
gendhafte lebt druͤber. Ein Tag iſt bey Gott
tauſend Jahr und beym klugen Menſchen we-
nigſtens ein Monat. Je kluͤger, je Zeit-
ſparſamer! Zwiſchen Pflanzen, Thier und
Menſchenleben, welch ein Unterſchied! Die-
ſer hat ſein ganzes Leben verſpielt, jener hat
zwoͤlf pro Cent in gutem gangbaren caſſen-
maͤßigen und auf keinem Abſchlage ſtehenden
Gelde gezogen; der hat den Homer geleſen,
dieſer da weiß die Cometen auf Secunden zu
berechnen, die Gottlob mit der Erde jetzt gute
Freunde ſind, und ſo freundlich zu uns kom-
men, als kaͤmen ſie zum Gevatterſtande. Nur
wenige haben zu dieſer ihrer Zeit bedacht, was
zu ihrem Frieden dienet, und ſich die Fragen
woher? und wohin? aufgeworfen. Das Le-
ben iſt eine Geſchichte, wobey man nicht nach
der
[179] der Laͤnge, ſondern nur fraͤgt: wie ſie ausge-
fallen? Wie lange wir leben, ſteht nicht in
unſern Kraͤften; wohl aber, ob wir gut le-
ben. Menſch, klage nicht uͤber Lebenskuͤrze.
Schicke dich in die Zeit. Mache Plane uͤber
deine Tage, und wenn du dein Leben zu Ende
gelebt haſt; wahrlich, ſo kannſt du ruhig ſter-
ben, und warum wuͤnſcheſt du denn laͤnger
zu leben? Sey weiſe, das heißt: halte deine
Zeit feſt. Iſt ſie indeß mehr, als eine unge-
treue Schoͤne? Sie druͤckt dir die Hand, und
laͤchelt dem Nachbar zu. Der Tod nimmt
von jeder Minute die Helfte, von jedwedem
Athemzug ziehet er ſeinen Theil; wir werden
jeden Augenblick ſchwaͤcher. Jede Minute
geht ein Theil von dir. Dieſen Augenblick
ſieh! wie das Leben in einem tiefen Seufzer
davon geht. Greifſt du nach? Was iſts?
Schatten, weiter nichts. Der groͤßte Le-
bensſchoner kommt hier nicht ungeſchlagen
davon. Der Genuß, wie ſchmeckt er? Haſt
du ihn ſchon gekoſtet? Zum wahren innerli-
chen Zeugen, daß es mit dieſem Leben nicht
aus ſeyn koͤnne, iſt noch etwas da, das auf
die Zunge beißt, das ſie kuͤtzelt, und das
wuͤrklich Geſchmack hat; die Hofnung, und
die ſolte zu Schanden werden laßen? Gluͤcks-
M 2guͤter
[180] guͤter ſind Zeitverluſt; je weniger wir beſitzen,
je mehr Zeit haben wir. Jener Weiſe lachte,
und jener Weiſe weinte. Das beſt’ iſt, we-
der lachen, noch weinen, den Richtſteig hal-
ten, und mit ernſter Heiterkeit wandeln.
Gern leben und gern ſterben, heißt, Gott ge-
fallen, denn unſer Leben und Tod iſt in ſeiner
Hand. Wer nichts mehr zu hoffen hat, ſtirbt
gern, und es kaͤm’ auf die Prob’ an, daß uns
der Arzt allen Hoffnungsfaden abſchnitte.
Vielleicht wuͤrden wir leichter ſterben, als
jetzt, wo ſich alles unſrer Lebensart oder Le-
bensgrille bequemet, und uns mit Hofnun-
gen ſchmeichelt. Wer hat Luſt, die Probe
auszuhalten? Die Aerzte machen feig. Wenn
ſie nichts thaͤten, als Todesurtel publiciren:
Du ſtirbſt, du, auch du, auch du; wir wuͤr-
den Helden haben, in jedem Flecken mehr,
als Tag’ im Jahr. Ein Blindgebohrner denkt
noch ſehend zu werden, und welch ein Un-
gluͤcklicher hoft nicht auf Gluͤck? Wir bringen
eine richtige Summe heraus, der Fehler ſteckt
nur in der Rubrik dieſes und jenes Lebens!
So was allgemeines iſt von Gottes Finger
in uns hinein geſchrieben. Wir verſtehen nur
dieſe goͤttliche Schrift nicht recht zu leſen. Iſt
es ein ſo groß Wunder uͤber Wunder, daß
ſich
[181] ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah-
men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes
Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt
ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner-
liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ-
nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! He-
geſias, du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ-
rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt!
Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le-
bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt
von der andern Welt geſchrieben hatte, das
Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die
Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer
Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was
wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei-
nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den-
ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich
mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte
Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt
er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men-
ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen,
und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge-
ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen
Hausmittel, die uns im Leben und Sterben
wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren.
Die Roͤthe, ſo ſehr ſie einnimmt, was iſt ſie,
Tod oder Leben? Wer, wenn er ſein Urtel
M 3uͤber
[182] uͤber das Leben abgeben ſoll, nicht hie und da
eine ſchoͤne Stelle auswaͤhlt, ſondern uͤber
das Ganze urtheilt, iſt weiſe. — Was iſt
aber alsdann das Leben? Wenn es koͤſtlich ge-
weſen, iſts ein Lebensanfang. Der hat am
ſchoͤnſten gelebt, der am meiſten gedacht, wie
er leben wolte. Jener Weiſe, welcher be-
hauptete, daß Tod und Leben eins und
eben daſſelbe waͤren, war nicht in der Lage,
da man ihm den Einwand machte: warum
ſtirbſt du denn nicht auf der Stelle? Darum
eben, erwiedert’ er, weil Leben und Sterben
einerley iſt! — Es ſtirbt ſich, wenn mans
nur dazu anlegt, leichter, als es ſich lebt.
Laßet uns ehrlich ſeyn, iſt die Zahl unſerer
Freuden nicht auf augenblickliche Intervalle
eingeſchraͤnkt? Der rechten Freuden, ſag
ich. Daß wir ſo herzlich gern hoffen, bewei-
ſet, daß an der groͤſten Luſt nicht viel ſeyn
koͤnne. Die Menſchen wuͤnſchen ſich ohn’
End und Ziel, weil der Wunſch ein Keim der
Hofnung iſt. Schon der Mechanismus troͤ-
pfelt Thraͤnen in den Wein unſerer Freuden.
Was iſt der Menſch? Nackt kommen wir auf
die Welt. Seht! andere Thiere kommen ein-
gekleidet, und bedoͤrfen des Schneiders nicht.
Wir Koͤnige von Gottes Gnaden aber, muͤſ-
ſen
[183] ſen die Thiere beſtehlen, unſre Unterthanen
mit Abgaben bedruͤcken, um Nothduͤrftigkei-
ten zu beſtreiten, die ſchwer auf uns liegen.
Vernunft! Wozu braucht ſie der Menſch?
Dem Thiere das Fell uͤber die Ohren zu ziehen,
und ſich zu bedecken, ſich ſelbſt und andern
das Leben abzugewinnen. Das Ziel der Ver-
nunft iſt, wenn ſie einſieht, daß ſie uns nicht
gluͤcklich mache, daß wir uͤberall damit an-
ſtoßen, wie ein junger Menſch, der in die
große Welt eintritt. Je vernuͤnftiger der
Menſch iſt, je mehr zweifelt er. Die Kinder-
jahre ſind die ſchoͤnſten, weil wir mit der Ver-
nunft in ihren Schranken bleiben. Gott!
was iſt der Menſch! —
Dieſe Welt iſt ein Gefaͤngnis, in das wir
vielleicht wegen voriger Verbrechen verbannt
ſind. Ein Exilium, ein wahres Sibirien.
Der Tod hebt dieſe lebenswierige Feſtungs-
ſtrafe auf, und laͤßt uns wieder auf freyen
Fuß. Freuden, wenn ſie nah ſind, erſchoͤ-
pfen ſie nicht mehr, als der Schmerz? Bey
der Hektik kann man alt werden; ein dicker
vollbluͤtiger Koͤrper, wie ſchnell dahin! Krank-
heit und Schmerzen kommen unverdient, ſelbſt
wenn wir ihnen recht muͤhſam auszuweichen
geſucht. Wer ſein Leben lieb hat, verliert
M 4es
[184] es. Wer das Leben genoſſen hat, ſtirbt gern,
das heißt: wer dies Leben kennt, kauft es
nicht. Iſt der Tod ein Uebel; iſt er ein noth-
wendiges Uebel? Iſt es nicht eben ſo thoͤricht,
ſich zu graͤmen, daß man nur zween Augen
und zehn Finger hat, als daß man ſterben
muß? Was nicht in unſrer Gewalt iſt, ſolte
dies uns wohl beunruhigen? Man kann es
uns nicht leichter machen, als wenn uns gleich
zu Anfang, ehe wir noch Hand ans Werk le-
gen, geſagt wird: das iſt uͤber euch!
Der Tod iſt bitter? Vielleicht den Umſte-
henden, dem Sterbenden nicht. — Biſt du
denn ſchon geſtorben, daß du die Bitterkeit
des Todes auspunktirt haſt? Ich hab’ es an
Sterbenden geſehen, ſagſt du, ich hab’ es von
Scheidenden gehoͤrt. Von fremden Leuten
deinen Tod? Und war es der Tod, von dem
ſie dich unterrichten konnten? War es nicht
das Leben, uͤber das ſie wehklagten? Man
thut dem Tode unrecht, daß man ihn bitter
beſchreibt. Wer hat die Ehre, ihn zu ken-
nen? Ein Choleriſcher will ſchnell fort, ein
Pflegmatiſcher will abſterben, und nicht ſter-
ben: allein in allen Faͤllen hat nicht der
Tod, ſondern das Leben, die Hektik, Schlag-
fluß — Kraͤmpfe, Gichte, Beklemmungen.
Der
[185] Der Tod hebt dieſe Uebel und ſchlaͤgt dieſe Le-
bensfeinde in die Flucht. Der Held! Wenn
dir keine boͤſe Handlung in der Bruſt ſticht,
ſey unbekuͤmmert, warum willſt du fuͤrchten,
was ſo und anders ſeyn kann? Die Brami-
nen ſehen auf die Naſe, und weiſſagen. Wenn
man lange auf einen Punkt ſieht, iſts einem
ſo, als ſaͤhe man nichts. Seht auf das Un-
recht, das man euch in der Welt thut, auf
den Acker, den euch der reiche Nachbar ab-
grenzte, auf eine Bathſeba, um die euch ein
Wolluͤſtling betrog, auf die zwanzig, die euch
ein Verſchwender von euren Hundert in ſei-
nem Concurs darreichte. — Braucht ihr
mehr, um gern zu ſterben? —
Suche, Freund, ein gut Gewiſſen zu be-
halten, beydes gegen Gott und den Menſchen,
und wahrlich ich ſage dir, du wirſt ſelig ſter-
ben, auch ruhig, wenn dir das Leben es zu-
laͤßt. Es wird wohl ſo gut ſeyn. — Ein gut
Gewiſſen iſt ein probates ſchlafbefoͤrderndes
Mittel. Das Gegenwaͤrtige hat ſeinen un-
leugbaren Reiz; denn es iſt Etwas gewiſſes.
Da aber das unſichere Gegenwaͤrtige kaum
der Rede werth iſt, was thut denn die Gewis-
heit dazu? Die Alten brauchten den Tod zur
Aufmunterung. Es ſollte noch auf allen
M 5Grab-
[186] Grabmaͤhlern ſtehen: ſey getroſt, Wanderer,
genies das Leben, denn es iſt kurz! Wer den
Tod zuerſt als ein heßliches Gerippe vorſtellte,
war gewis ein junger Mahler, der ſeine Ge-
liebte verlohren hatte. Die Griechen mahlten
ihn als einen Engel, und wahrlich er iſt ein
Engel, ein Bote Gottes zur Abloͤſung. Der
Tod iſt die groͤſte Gabe des Hoͤchſten. Den
Seinen ſchenkt er den Tod. Jene fromme
Mutter, die ihre beyden Soͤhne, vor einem
Wagen geſpannt, in den Tempel zogen, bat
die Goͤtter, dieſe fromme Handlung mit der
beſten Gabe zu lohnen. Den Morgen fand
man beide im Bette in den Tod eingeſchlafen.
Tod und Schlaf ſind Kinder von zween Vaͤ-
tern und einer guten Mutter. Iſt es nicht
gut, daß die Feßeln ſich abnutzen, und wir
endlich aufhoͤren Ruderſclaven zu ſeyn? Der
Tod iſt der lezte Auftrit in der Reihe von
Stuffen. Wir ſind ſchon bis auf den lezten
Tritt todt, eh wir ſterben.
Die Liebe duldet alles; allein ſie hoft auch
alles. Wie wohl wird uns ſeyn, wenn wir,
unter dem Lindenſchatten, des Tages Laſt und
Hitze vergeßen, und uns von der Arbeit er-
hohlen werden! Wie wohl, wenn wir von
den Ungerechtigkeiten der Welt, noch ans
Thal
[187] Thal Joſaphat die Appellation einlegen und
ſie geltend machen! Was der Tod dir raͤth,
iſt wohl gerathen. Der Leichenſtein iſt der
wahre Stein des Weiſen. Auch die Sehn-
ſucht nach ewig Leben wird befriediget werden.
Unſer Heißhunger nach Exiſtenz iſt Gottes
Hauch. — Seyd getroſt. Ja wenn die Ur-
ſachen keine Wuͤrkungen und die Wuͤrkungen
keine Folgen haͤtten! ja wenn! Ja, wenn
das Leben dir nicht ſo viel Vorderſaͤtze dar-
reichte, aus denen du den unlaͤugbaren Schluß
zu ziehen im Stande waͤreſt von einem un-
ſterblichen Leben, das dort dein ſeyn wird!
Ja wenn!
Wir werden leben, wir werden wieder
kommen und zum Tode ſagen: Tod, wo iſt
dein Stachel? Das Principium des Lebens,
iſt es nicht die Seele? Der Koͤrper, die Ma-
terie, iſt todt, und ſollte dies Lebens-Princi-
pium nicht ohne die Materie beßer, gemaͤch-
licher, als mit ihr ſeyn und leben koͤnnen?
Was iſt Gott, was ſeine Welt, was ſind wir,
was das Gewißen in uns, wenn die Zeit
Summa Summarum unſeres Seyns iſt?
Wer will nicht mehr, als er kann? Wer
wuͤnſcht nicht? Wer hoft nicht? Die Eſſenz
des Lebens iſt Wunſch und Hofnung. Wir
ehren
[188] ehren jeden Mann, der ſo wenig Beduͤrſniße
hat, und halten den Genuß, die ganze Sinn-
lichkeit, fuͤr Etwas, das unſchicklich iſt. Un-
ſere Talente ſelbſt, was laͤßt ſich nicht von
ihnen erwarten? Was iſt nicht ſchon erfun-
den, und das Reich der Moͤglichkeit, wer
kennt ſeine Graͤnzen? Ich erſtaune, wenn
ich die Geſchichte mir uͤber tauſend Jahre
denke. Sollte uns Gott geſchaffen haben,
um unſerer zu ſpotten? Monarchen, und
auch Salomons unter ihnen, brauchen luſtige
Raͤthe. Wie? Das hoͤchſte Weſen ſollte
Menſchen zu ſolch einer Abſicht — oder im
Zorn ſollte Gott den Menſchen gemacht ha-
ben, wie einige Gottſchaͤnder gewaͤhnt? Und
was iſt ſelbſt leichter zu denken, daß wir blei-
ben, oder daß wir aufhoͤren werden? Wer
iſt, der ſich nicht nach Unſterblichkeit ſehnet?
Und dieſe Sehnſucht ſollte wie Spreu zer-
ſtreut werden? Die meiſten unſerer Bruͤder
ſterben gemeinhin in Fragzeichen, einige in
Verwunderungszeichen, viele in Comma.
Wer ſtirbt im Punktum? Und ſollte der
Menſch ſeinem Oberherrn trotzen koͤnnen?
Sollte er, wenn es ihn gut duͤnkt, in der
Welt Brand ſtiften, alle Kinder, die jaͤhrig
und drunter ſind, in Bethlehem morden laßen,
und
[189] und ſodann fluͤchtigen Fuß ſetzen koͤnnen, ohne
daß ihm Steckbriefe nachgeſandt werden koͤn-
nen, ohne daß er einzuhohlen und zu beſtra-
fen iſt? Iſt Tugend und Laſter ein und
daßelbe Ding, und ſoll die That im ſtillen,
die Gott nachahmt, unerkannt und unbelohnt
bleiben? Wo denn die Bewegungsgruͤnde
zu dieſen goͤttlichen Thaten? Und wenn wuͤrd
ich aufhoͤren zu fragen, wenn der Tod ewiger
Tod, ewige Verdammnis zur Vernichtung
waͤre? Zwar wenn wir erwaͤgen, wie der
Menſch auf die Welt kommt? Sieht es doch
faſt ſo aus, als ob man Menſchen ſaͤen koͤnne.
Wie der Hausvater ſich Federvieh ſchaft, ſo
der Monarch Unterthanen. Jener legt Eyer
unter die Henne; dieſer ſchließt ſeine Wolken
auf, und laͤßt Freyheit und Ueberfluß in ſeinen
Staaten regnen! Und ſiehe da, es wird!
Iſt aber dieſer Gang der Natur, ſo unbedeu-
tend er anſcheinet, nicht eben darum goͤttlich?
Der Menſch kann alles, und kann nichts.
Die Natur faͤngt ins Kleine an; allein wie
weit ins Große geht ſie! Sie ſpringt nicht,
ſie geht mit bedaͤchtigem Schritte. Was ſind
wir, wenn wir auf die Welt kommen? Und
was, wenn wir herausgehen? Und zu was
ſind wir denn nicht aufgelegt? Wir ſind ge-
pruͤft,
[190] pruͤft, gelaͤutert und bewaͤhrt. Es giebt Tu-
genden, die nicht anders, als in einem niedri-
gen ſchattigen Thal’ auf duͤrrem Boden wach-
ſen koͤnnen. Darum die Welt, und darum
auch die andere! Es kann alles aus uns
werden, was Gott will. Zwar wißen wir’s
nicht, wir glauben es nur. Die Vorſicht hat
weiſe, große Abſichten in dieſen Schleyer der
Ungewisheit gehuͤllet; allein brauchen wir
mehr als Wahrſcheinlichkeit? Wir ſollen
nicht in der Welt die Haͤnde in den Schoos
legen. Welch eine andre Wendung wuͤrde
die Welt gewinnen, wenn wir auf einmal
wuͤſten, was wir hoffen? Wuͤrden wir noch
einen freyen Willen behalten, und wuͤrden
wir nicht nur blos ſo fromm und gut ſeyn,
als wir jezt uns gerade halten? Die Chri-
ſten wißen es gewis, wie ſie ſagen, daß ſie
bleiben werden; allein leben ſie wohl ſo, als
wuͤſten ſie mehr davon, als wir? So Etwas
muß das Leben ausweiſen. Wenn die Lehrer
des Volks ſelbſt Erſcheinungsgeſchichten, die
ſich nicht aus den Wochenſtuben herſchreiben,
hoͤren, wie fahren ſie in einander, wie erſchre-
cken ſie! Ich will den ehrlichen Kerls unter
ihnen keinen Vorwurf machen, wenn ſie es
aber ſo gewiß wuͤſten, als ihre ſelbſt hieſige
Exi-
[191] Exiſtenz, wuͤrden ſie nicht anders leben, we-
ben und ſeyn? Wuͤrde man aus dieſem Le-
ben wohl ſo viel auf den Kanzeln machen?
Wer unterſteht ſich, an heiliger Staͤte einem
Fuͤrſten, einem Kirchenpatron, etwas anders,
als aus dem alten Teſtament und der vierten
Bitte, zu wuͤnſchen! Arme Leute werden in
der Nutzanwendung mit dem Himmel getroͤ-
ſtet. Ueberhaupt iſt die andre Welt, auch bey
unſern herzlich geliebten chriſtlichen Bruͤdern,
blos Troſt. Dieſes Leben aber — o was iſt
es nicht alles? Zuweilen kann man ſich nicht
entbrechen, an die himmliſche Freudenkrone
zu denken; allein man ſetzt wohlbedaͤchtig hin-
zu, nach ſpaͤten urſpaͤten Jahren. —
Hoͤren wir auf, was haben wir zu fuͤrch-
ten? Zwar auch nichts zu hoffen; allein we-
nigſtens doch kein Klaglied. Wo warſt
du, ehe dir zum Menſchen die Vocation ins
Haus geſchickt ward? Ein nicht Gebohrner
und Geſtorbner ſind die weit auseinander?
Wie viel Gruͤnde aber zur Wiederkunft! Das
Laſter allein fuͤrchtet. Die Tugend ſitzt der
Hofnung im Schoos.
Das Grab, Freunde, iſt eine heilige Werk-
ſtaͤte der Natur! Ein Formzimmer; Tod und
Leben wohnen hier beyſammen, wie Mann
und
[192] und Weib. Ein Leib ſind ſie. Eins ſind ſie.
Gott hat ſie zuſammen gefuͤgt, und was Gott
zuſammenfuͤgt, ſoll der Menſch nicht ſcheiden.
Eine Handvoll Erde iſt eine Handvoll Welt.
Schaudre nicht vor der Verweſung. Das
Waizenkorn fault, und wird ein hundertfaͤlti-
ger Halm. Alles muß ſterben, was zum
Licht und Leben herausbrechen ſoll. Dies
Erdenall, dieſer Erdenball, hat alles, was
ſchoͤn und gut iſt, erzeugt und ernaͤhrt. Er
iſt das Herz, unter dem jedes gelegen, die
Bruſt, die jedes geſogen! — Die Erde iſt
des Herrn. Faſt ſollte man glauben, daß es
des lieben Gottes Luſtſchlos, ſein Sansſouci,
ſey, ſo gut iſts auf ihr, oder ſo gut koͤnnt es
auf ihr ſeyn. — Nimm doch dieſen Staub in
die Hand, vor dem du bebſt. Es iſt Bein von
deinem Bein. Aus Erde ſind unſre Windeln
und unſer Leichentuch. Wir werden, was
wir waren. Die Goldkoͤrner, die lezten Koͤr-
pertheilchen, das eigentliche Saatgetreyde, iſt
aufgeſpeichert, und wird zu ſeiner Zeit ſchon
vom lieben Gott wieder ausgeſtreuet werden,
auf einen ſchoͤnen Acker. Die Natur iſt das
perpetuum mobile, ſie ſteht nicht ſtill. Sie
wuͤrkt Leben im Tode, Tod im Leben ſchoͤn
durch einander, daß es eine Luſt iſt anzuſehen,
dem,
[193] dem, der ein Auge dazu hat. — Der Geiſt
iſt in Gott, in dem er lebt, webt und iſt. —
Das ſchlechtere vom Koͤrper, das ſich die
Wuͤrmer ſo gierig zueignen, Menſch! traure
nicht, es wird nur abgezogen, vom Felde in
den Garten verpflanzt, wo es ſo lange ver-
pflanzt und gepflanzt wird, bis —
Es iſt noch nicht erſchienen, was wir ſeyn
werden! Du, mein Geiſt, der du dein bewußt
biſt, du, der du dich ſelbſt anredeſt, du Funke
Gottes, in dieſer ſtockfinſtern Erde, du Funke,
an dem ſich jeder das Licht anzuͤndete, das in
ſeinem Hauſe brennt, was warſt du, eh dir
dieſes Kleid zugeſchnitten, eh es dir umge-
hangen ward, und was wirſt du ſeyn, wenn
du dieſes Regenkleid, dieſen Schlafrock, wenns
koͤſtlich geweſen, auszieheſt, oder wenn er,
aus Alter unbrauchbar, wie ein zerriſſenes
Gewand abgeſchuͤttelt wird? Von wannen
kommſt du? Wohin faͤhrſt du? Woher? Wo-
hin? Finſter vor und hinter dir. — O ihr
Entkleideten! Ihr nackten Geiſter! die ihr
vielleicht dies Selbſt- dies Seelengeſpraͤch an-
gehoͤret, redet drein! ſagt, wo ſeyd ihr? wißt
ihr, daß ihr ſeyd, daß ihr wart, daß ihr ſeyn
werdet und ſeyn ſo, oder anders in Ewigkeit?
Seyd ihr es, die in uns wirken, wenn uns
Nein
[194] ein heiliger Schauer durchblitzt? Nicht von
Hautſchauder, ſondern von Seelenſchauder
red’ ich. Wollet ihr etwa den Geiſt warnen,
wenn ihr der Seele, des Geiſtes Buſenfreunde,
winket, da ihr an ſeinen Koͤrper anpochet. —
Nur herein, ihr guten Geiſter! herein! Naͤ-
her! Weg ſeyd ihr. Dieſe Ebbe und Fluth
des Bluts, was will ſie? Solch ein Seelen-
ſchauer, Todesvorſchmack, wozu? Es iſt
wahr, er gehet durch aus und durchall; al-
lein ich, hoff’ ich, werds vollenden! Was iſt
der Tod? Selige Geiſter unſerer Vorfahren,
die ihr vor uns wart, und mit eben der Neu-
gierde, wie wir, euch nach Nachrichten aus
der andern Welt ſehntet, ſagt uns, gebt uns
ein Zeichen: was iſt der Tod? Hebt eur In-
cognito. Bittet Gott um dieſe Erlaubnis!
Wir haben nicht Moſen und die Propheten,
die wir hoͤren koͤnnen, wir wuͤnſchten, wenn
einer von den Todten aufſtuͤnde. O du, mein
eben entſchlafener Freund! Wache auf, der
du ſchlaͤfſt, ſtehe auf von den Todten, ent-
decke mir, wie dir war, wie dir iſt? Womit
du dich beſchaͤftigeſt? Der Chriſt iſt muſica-
liſch in der andern Welt. Der Muſelmann
wolluͤſtig luͤſtern, wir ſind druͤber ſo einfaͤl-
tig, als man nur einfaͤltig ſeyn kann. Wie?
frag
[195] frag ich, nicht ob? iſt meine Frage. Doch!
auch dieſe Frage und alle meine heiligen Frag-
ſtuͤcke ſind wilde Reben der Wißbegierde, ſind
vorſchnelle Sproͤslinge meiner Einbildungs-
kraft, welche die Vernunft, wo nicht gaͤnz-
lich wegzuſchneiden, ſo doch zu verkuͤrzen ver-
bunden iſt. Freunde, laßt uns in die Haͤnde
Gottes fallen! Warum ſorget ihr fuͤr euer
kuͤnftiges Schickſal? Gott, euer himmliſcher
Vater, weiß, was ihr beduͤrfet. Ob Leben
oder Tod, ob Tag oder Nacht. Sorget nicht!
Iſt es nicht genug, daß ein jeder Tag ſeine
eigene Plage habe? Es wird alles gut wer-
den. Leben iſt eure Sache. Sterben gleich-
fals. Was druͤber iſt, bleibt uͤber euch,
Freunde! Was euch nicht angeht, davon
laßt euren Fuͤrwitz. Trachtet am erſten nach
dem Reiche Gottes, und nach ſeiner Gerech-
tigkeit. Das iſt das Grundgeſetz in Gottes
Staat, und das andere wird euch von ſelbſt
zufallen. Laßt alles gehen, wie Gott will!
Laßt die vier Winde uͤber euren Staub ſich
in Anſpruch nehmen, laßt die vier Gegenden
drum ſtreiten! Laßt den eichnen Sarg eur
Fleiſch an Dauer uͤbertreffen! Was kuͤmmern
euch ſolche Kleinigkeiten? Wir, die wir nicht
in die Sonne ſehen koͤnnen, wollen Gott ſe-
N 2hen;
[196] hen; wir, die wir den Mond nicht beſpannen
koͤnnen, wollen Gottes Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit behuͤgeln und begrenzen; wir,
die wir die Fixſterne nicht zu zaͤhlen verſtehen,
(Menſch, kannſt du ſie zaͤhlen?) wollen die
Ewigkeit meſſen, und eine Schlaguhr fuͤr ſie
meiſtern! —
Wer kennt den morgenden Tag, und doch
will man einen Calender uͤber Ewigkeiten
ſchreiben? Der Anfang und das Ende dieſer
Welt ſind uns Geheimniſſe; und wir glauben,
einen Maasſtab fuͤr die Himmel der Himmel
zu beſitzen! Hat der Chriſt einen naͤhern Weg,
als wir? Gut fuͤr ihn! Unſere Bahn iſt die
Landſtraße; dieſe Bahn iſt plan und natuͤr-
lich. Im Glauben kommen wir mit dem
Chriſten uͤberein, als wenn wir unter einem
Mutterherzen gelegen haͤtten, nur ſein Glaube
hat ein ander Feld, als der werthe unſrige.
Wir wollen ſo leben, als koͤnnten wir eine
andre Welt ſinnlich machen, ſo fingerſinnlich,
als daß zweymahl zwey vier iſt! Als waͤren
wir, wie die Chriſten, bis in den Himmel
entzuͤckt geweſen. Denn fragt euch ſelbſt,
Freunde! wenn euer Mund auch an der an-
dern Welt zweifelt, um eure Kunſt in Zwei-
feln zu zeigen; als obs Kunſt zu zweifeln
waͤre?
[197] waͤre? Was ſagt euch euer Herz? — Will
ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt
Gottes, vom himmliſchen Jeruſalem, entwer-
fen ſolt? Es iſt mir genug, wenn ihr nur
alle menſchmoͤgliche Wahrſcheinlichkeit fuͤr die
andre Welt findet.
So gut leben, daß, wenn eine andre
Welt, ſchoͤn wie Sonne, aufgeht, unſer
Buͤrgerrecht in derſelben gewiſſer, wie Brief
und Siegel iſt, das heißt mit andern Wor-
ten: der andern Welt wuͤrdig ſeyn! — Je
beſſer der Acker, je mehr Unkraut! — Vor-
witz iſt unaͤchtes Kind des menſchlichen Ver-
ſtandes, eine Anlage zur Vorſchnelligkeit,
eine Krankheit des Scharfſinns, ein helles
Gloͤckchen in der Thorheitskappe. Wir wol-
len uns entſchlieſſen, wie einer unſerer Vor-
fahren, zu bekennen, daß wir nichts wiſ-
ſen, daß wir hie und da Wahrſcheinlichkeiten
haben; allein im Thun komm’ uns niemand
zuvor. Weder Waghaͤlſe noch Wagkoͤpfe tau-
gen viel.
Der Ansdruck: ſeine Seel in Haͤnden
tragen, heißt, wenn ihn Philoſophen brau-
chen, ſo viel, als gute Geſtus machen. Wir
wollen uns weniger um das fuͤr und wider,
dieſe oder jene Meynung, bekuͤmmern, als
N 3bereit
[198] bereit ſeyn, es komme was nur wolle, daß
Oehl in unſerer Lampe ſey. Gott wird uns
richten, nicht nach unſerm Wißen, ſondern
nach unſerm Thun. — Je nachdem wir die
Winke befolgt, die uns zum Guten aufforder-
ten, je nachdem wir die Keime gepflegt, die
er in uns gepflanzt hat, je nachdem wir nicht,
wider unſer Gewißen, die Leute mit allerley
Schwindeley der Lehre hinter das Licht ge-
fuͤhrt. — Weg mit Sophiſterey, weg aber auch
mit dem Dichterlaub, das hoͤchſtens vor dem
brennenden Sonnenſtrahl und einem Regen-
ſchauer ſichert. Ein ſtarkzweigigter Stamm
ſoll aus uns werden, der dem auswurzelnden
Orkan ſtattlichen Widerſtand leiſtet, deßen zur
Erde ſich neigende Aeſte Wurzel faßen, und
der ein Abraham, ein Stammvater eines
ganzen heiligen Hains, wird! — Wißen
macht ſchwach, thun! ſtaͤrket, feſtiget und
gruͤndet. Thaͤtige Menſchenliebe iſt eine Sil-
houette von Gott dem Herrn! Der Anblick
des Gluͤcklichen macht froh, das Bewuſtſeyn,
einen gluͤcklich gemacht zu haben, macht felig.
That iſt das Maas der Zeit. Tod und Suͤn-
de iſt Eins. Die perſonifieirte Bosheitsſuͤn-
de iſt der Tod. Das, was wir gemeinhin Tod
nennen, iſt nicht der Tod. Ich bin der feſten
Hof-
[199] Hofnung, es ſey Geburtsſchmerz, was wir
Tod nennen, und gebaͤhren nicht die ſchwaͤch-
lichſten Werkzeuge unter den Menſchen?
Gutes thun, heißt Leben. Auch der nie-
drigſte hat ſeinen Geburtsbrief (ſeinen Tauf-
ſchein wuͤrd ein Chriſt ſagen) von Gott! Laßt
uns die Mutterhand der Natur kuͤſſen, wel-
che uns einige unſerer Bruͤder und Schwe-
ſtern, ſo voll Zutrauens, zur Aufſicht und
Pflege uͤberlaͤßt, die uns die ihr zuſtehende
natuͤrliche Vormundſchaft abtritt, laßt uns
dieſer ſo guͤtigen Mutter nachahmen, Gutes
thun nicht muͤde werden, und durch ſo
unzaͤhlige mittlere Zwecke hindurch zu einem
einzigen, lezten, großen Endzweck arbeiten,
das heißt: die hoͤchſte nur moͤgliche Wohlfarth
des ganzen menſchlichen Geſchlechts befoͤr-
dern. Vorwaͤrts iſt Bahn! — Geſetzt!
wir erreichten nicht das Ziel. Ihm nahe
kommen, heißt: es erreichen. Das aͤrgſte,
was wir zu fuͤrchten haben, iſt, daß wir im
Thun bleiben! Das iſt beßer, als in der
Lehre. Man ſollte allen Subtilitaͤtenkraͤmern
das Handwerk legen. Es ſind die aͤrgſten
Zeitverderber in der Welt. Sie gewinnen
uns die Zeit ab, wie die falſchen Spieler das
Geld.
N 4Strebt
[200]
Strebt der Sonne entgegen, Freunde,
damit das Heil des menſchlichen Geſchlechts
bald reif werde! Was wollen die hindern-
den Blaͤtter? was die Aeſte? — Schlagt
euch durch zur Sonne, und ermuͤdet ihr! auch
gut! deſto beßer laͤßt ſich ſchlafen! —
Eine wohlgeſetzte Red’ iſt nie zum Behal-
ten eingerichtet. Man will ſie ganz, und hat
nichts. Es iſt ein regelmaͤßiger Garten, wo
es recht huͤbſch und fein ausſieht; allein was
kannſt du heimfuͤhren? Blumen? Blumen
in der Hand, von der Wurzel gerißen, was
ſollen die? Nimm den ganzen Garten mit,
was haſt du? Ein ganz richtig gerechnetes
Exempel zuſammt der Probe. Wildnis,
Berg und Thal, aus dem Vollen gehauene
Gaͤnge, Parke, die machen Eindruck und
laßen ihn auch. So vortreflich unordentlich
war dieſe Rede. Es war kein Kunſt- ſondern
ein Naturſtuͤck, und was iſt, pflegte mein Va-
ter zu ſagen, was iſt es denn, das die kuͤnſt-
lich gezogene Wortſchleuße und die daher rau-
ſchende Fluten des Redners, die all an ſeinen
Text ſchlagen, erzeugen? Schaum, und wenn
auch eine Venus daraus wuͤrde, nicht jedem
iſt mit dieſer Schaumgoͤttin gedient. — Was
ich meinen Leſern von der Wildnis-Rede gege-
ben,
[201] ben, ſollte eine Nachfolge des Originals ſeyn,
ich wollte nicht den Hauch der Natur von der
Pflaume wegwiſchen, ſondern ſo, wie ſie da
iſt, mit dieſem Naturathem, der mir wie ein
Heiligenſchein vorkommt, wolt ich ſie — da
iſt die rothbackigte Birne ohngeſcheelt, die
Baumwolle auf der Pfirſich, der Sammet
auf der Apricoſe. Blatt und Stengel oben
ein. — Was meynt ihr, Freunde! haͤtt’ ich
beßer gethan, alles in Ordnung zu ſtellen,
und zu nehmen und zu geben, mit Allerſeits
anzuheben, mit Dixi zu ſchluͤßen — ich mag
nicht, ſagte mein Vater, freie Gedanken in
die Feſtung bringen, obgleich er ein Koͤnig-
ſcher ein Monarchenfreund war. — Doch!
ich bin außer dieſer Rede noch eine reine Leh-
re ſchuldig. Und freylich haͤtt’ ich dieſen
Pfirſichen-Apricoſen- und rothbackigten Bir-
nen-Nachtiſch weit fuͤglicher bis ans Ende
verſparen, und da erſt zum beſten geben koͤn-
nen und ſollen. Wer kann ſich aber helfen?
Dafuͤr werd ich auch nichts nach dieſem chriſt-
lichen Exercitio exploratorio abkanzeln, noch ei-
ne Kinderlehre fuͤr die Kunſtrichter anſtellen. —
Es trat ein Maͤdchen auf. Allerliebſt!
Nicht mit fliegendem Haar, als ſtuͤnden ſie
ihr zu Berge, nicht mit einem Gewande, als
N 5waͤr’
[202] waͤr’ es vor dem Winde nicht ſicher, nicht mit
einer hin und her fahrenden vorſpiegelnden
Hand, mit Augen, als wollte ſie einfaͤdeln,
um uns nur etwas aufzuheften — ſondern
mit einem feſt an den Leib gegoßenen weißen
Kleide, einem ſchwarzen Kranze vor der Bruſt
— Ihr Haupt mit einem Schleier bedeckt,
zwar auch feſt, doch lies er zuweilen nach.
Das Auge ſchweifte nicht aus; allein es blick-
te inbruͤnſtig gen Himmel, und zufrieden auf
Gottes Erde. Die Haͤnde, die meiſte Zeit ge-
falten, oft ans Herz gelegt, das aus Empfin-
dung in die Hoͤhe kam, und ſich zu Gott woͤlbte.
[203]
Das Ende kroͤnet das Werk, und zeigt
den Unterſchied des, der Chriſtum angezogen
hat, und des, der im bloßen geblieben, und
hoͤchſtens einen Regenſchirm vor allerley
Wind und Wetter in ſeine Rechte genommen,
welcher aber zur Zeit der Truͤbſale gemeinhin
die Fluͤgel ſinken laͤßt und abe faͤllt. Nur
Chriſtus hat Leben und unſterbliches Weſen
ans Licht bracht, die Dunkelheiten der Wei-
ſen zerſtreut, und ſelbſt die finſtere Nacht des
Grabes ins helle Licht des Evangeliums ge-
ſetzt. In ihm war das Leben und das Licht
der Menſchen. Der Tod iſt, fuͤr den chriſt-
lichen David, der Rieſe Goliath; er geht ihm
nicht mit Schwert, Spies und Stange, mit
weltweiſem Panzer und blank geputzter glaͤn-
zender Ruͤſtung, mit ſpitzigen Sentenzen und
Kriegsliſtigen Fragen, ſondern mit kleinen
Steinen entgegen, und, wenn er ihn gluͤcklich
erſchleudert hat, nimmt er ſein Haupt gefan-
gen, und es heißt von ihm: wenn Sokrates
tauſend geſchlagen, der Chriſt habe zehntau-
ſend uͤberwunden und das Feld behalten.
Halleluja! Tod, wo dein Stachel? Hoͤlle,
wo dein Sieg? Gott aber ſey Dank, der uns
den Sieg gegeben hat, durch unſern Herrn
Jeſum Chriſtum! Wer vor Gott wandelt,
wer
[204] ſeine Seele und ſeinen Leib unbefleckt bewah-
ret, nach dem vorgeſtrecktem Ziele laͤuft, wer
heilig lebt, weil Gott heilig iſt, der ſtirbt ſe-
lig. Wer dem Herrn lebt, ſtirbt ihm auch.
Die erſten Chriſten verſammleten ſich, aus
Furcht vor den Verfolgern, auf Graͤbern,
zum Gottesdienſte; und wie ſchoͤn klingen
Todesglocken dem, der zu ſterben verſteht.
Kein Deiſt hoͤrt gern Lauten. Zwar hat der
liebe grundguͤtige Gott fuͤr alle Menſchen ge-
ſorgt, fuͤr Chriſten ſowohl, als fuͤr Nicht-
chriſten. Die Unchriſten und Antichriſten
ſollten, wenn ſie Gelegenheit haben, ſich dem
Chriſtenthume einzuverleiben und einzuver-
ſeelen, die Einladungen nicht verwerfen, ſon-
dern ſich den Kopf waſchen laßen, wodurch
das Herz mit rein wird. Was hilft die reine
Vernunft, wenn das Herz nicht rein iſt?
Nur die, ſo reines Herzens ſind, werden
Gott ſchauen! Menſch und Chriſt ſterben;
allein der Chriſt iſt eigentlich der Lehnstraͤ-
ger, der Gutserbe, der eigentliche Sterbliche.
Man kann nur von ihm ſagen, daß er geboh-
ren werde, und daß er ſterbe. Der Unchriſt
iſt ein Menſch, als wollt er Menſch ſeyn.
Der Chriſt iſt alles wuͤrklich, was er iſt.
Sanct
[205]
Sanct Paulus ſpricht zu den Epheſern,
im vierten Capitel, im ſiebenzehnten und acht-
zehnten Verſe: ſo ſage ich nun, und zeuge in
dem Herrn, daß ihr nicht mehr wandelt, wie
die andern Heiden wandeln, in der Eitelkeit
ihres Sinnes: welcher Verſtand verfinſtert
iſt, und ſind entfremdet von dem Leben, das
aus Gott iſt, durch die Unwißenheit, die in
ihnen iſt, und durch die Blindheit ihres Her-
zens. Der Koͤrper war da, noch ehe Chri-
ſtus kam, das heißt: es fehlte nicht an praͤch-
tigen Worten; allein der Geiſt fehlte. Da
blies uns Chriſtus an, und ſprach: Nehmet
hin, den heiligen Geiſt! Der Chriſt iſt das
Geſchoͤpf, das Gott, wenn ich ſo ſagen ſoll,
am ſechsten Tage ſchuf, um die Lehren der
Heiden und Juden und alle Schriften, ge-
ſchrieben von auserwaͤhlten Menſchen, zu be-
nutzen, und den todten Buchſtab zu beleben,
und aus einem Gebeinhaus eine Himmels-
wohnſtube zu machen. Der Chriſt hat den
Schluͤßcl zu den fuͤnf erſten Tagen, und iſt
ein Herr des unvernuͤnftigen Viehes, das auf
dem Bauche, oder auf vieren geht, oder fliegt,
oder — Der Heiden Tugenden ſind, nach dem
Ausſpruch des heiligen Auguſtinus, glaͤnzende
Suͤnden, und ihr Tod iſt ein armer Suͤnder-
ende,
[206] ende, wo immer viel geredet wird. Chriſtus
hielt keine Reden, wie Sokrates, da er ſtarb.
Ihm ſchrieb kein Plato die Predigt nach. Der
Herr der Natur ſtarb natuͤrlich. Alles zu-
ſammen, mit ſammt dem Teſtamente, be-
ſtand in ſieben Worten. Eine ſchoͤne Zahl!
Laßt uns die Sache beym rechten Ende faſſen.
Der Menſch mag es machen, wie er will, es
finden ſich Lebensſtellen, wo er offenbar zu
kurz kommt. Er kommt nicht aus, und
macht einen Concurs, wo Gott, er und ſein
Mitmenſch, claßificiret werden, wo es uͤber-
all heißt: Soll haben, hat nicht. Soll
bezahlen, kann nicht. Wir koͤnnen uns
zwar vor den Blicken der Welt verbergen;
allein der Furcht, verrathen und verkauft zu
werden, wer kann der auf Fluͤgeln der Mor-
genroͤthe entfliehen? Und wenn wir der Welt
entkommen, ſind wir uns ſelbſt entflohn?
Der Hauszeuge iſt in den Gerichtshoͤfen ver-
daͤchtig; allein das Gewiſſen iſt unbeſtechbar,
und ſo erhaben, daß man ihm auch nichts
einſt anzubieten wagt. Verſchließ dich, wie
du willſt, das Gewiſſen begleitet dich. Es
ſchlaͤft und ſchlummert nicht, es geht nicht
uͤber Feld, und was das aͤrgſte iſt — es hat
ein goͤttliches Gedaͤchtnis. Das Gewiſſen iſt
Gottes
[207] Gottes Unterrichter, es eroͤfnet dir in jeder
dir ſelbſt gelaßenen Stunde: du ſeyſt ein un-
gerechter Haushalter. Du haͤtteſt mehr thun
ſollen, weil du mehr thun koͤnnen. Du
haͤtteſt geſuͤndigt, im Himmel und vor ihm,
und waͤreſt nicht werth der goͤttlichen Natur,
nicht werth, ein Menſch zu ſeyn. Schaͤme
dich, ſagt es dann, und ſammelt feurige
Kohlen auf dein Haupt. Wohl dem, der dieſe
Kohlen zum Fegfeuer anfacht! Wohl dem, der
zu dieſer ſeiner Zeit bedenket, was zu ſeinem
Frieden dient, und daß er in eine Gegend
gehe, wo er nicht mehr mit ſeinem Bruder
auf dem Wege iſt, und wo es angeſchrieben
ſteht: Du kannſt hinfort nicht mehr
Haushalter ſeyn! Was nun? —
Die meiſten Handlungen, Freunde, ſind
darum gut, weil man ſie ſich viel boͤſer den-
ken kann. So wird das Spiel als eine er-
laubte Sache geprieſen, weil es beſſer als
Schmaͤhſucht und Zungentodſchlag iſt. Prie-
ſter und Leviten der Vernunftreligion ſtehen
mit Lebensbalſam, mit Gewiſſenskuͤhlungen,
mit Herzſtaͤrkungen aus; allein wenns zum
Sterben geht, hilft kein Seelenkraut und Pfla-
ſter, das Wort Gottes allein heilet. — Jeder
unrichtige Gedanke, jedes unnuͤtze Wort iſt
ver-
[208] verantwortlich. Wie ſchrecklich wahr iſt dies
Geſetz der ſich ſelbſt gelaßenen Vernunft!
Wo fliehet ſie hin in dieſen Seelennoͤthen?
Wohl mir, daß ich ein Chriſt bin! Wenn
ich alles gethan habe, was ich zu thun ſchul-
dig war, und was ich nur thun konnte, bin
ich zwar noch immer ein unnuͤtzer Knecht,
dem noch viel fehlt; allein welch ein Troſt fuͤr
mich, im Leben und Sterben, daß Chriſtus
lebte und ſtarb! Er hat Gott, dem Schoͤp-
fer der Menſchen, im Leben und im Sterben
den ganzen Werth der Menſchheit in hoher
Perſon gezeigt, er hat ihn uns dargeſtellt,
und wenn, nach dem aͤußerſten Beſtreben, zu
werden, wie Jeſus Chriſtus auch war, Un-
vollkommenheiten vorfallen; bitten wir Gott,
daß er nicht uns, ſondern die Eſſenz der
Menſchheit, das Ideal menſchlicher Tugen-
den, anſchaue, und in ihm, in dieſem großen
Muſter, uns ſuͤndige Geſchoͤpfe, und daß er
uns gnaͤdig ſey und barmherzig und von
großer Guͤte und Treue!
Der Menſch iſt goͤttlichen Herkommens,
goͤttlichen Geſchlechts! Aller dieſer Verwand-
ſchaft, wie unwuͤrdig ſind wir ihr, im Fleiſch
durch Suͤnde! Heil uns, daß unſere Natur
einen Repraͤſentanten hat, in welchem Gott
uns,
[209] uns, und wir Gott ſehen. Chriſtus iſt der
erſte in der Menſchenfamilie, der Chef des
menſchlichen Geſchlechts, der zweyte Adam,
der uns den Weg wies, eine verlohrne Fe-
ſtung einzunehmen, und wieder ins Paradies
zu kommen, wo keine Schildwache mehr ſteht.
Er iſt der Erſtgebohrne; denn Adam aus dem
Paradieſe war nicht gebohren, ſondern auf-
gehaucht. Außer dieſem Verdienſtlichen,
welch ein Muſter im Tod, iſt ſein Tod? Sein
Leben ſey mein Leben; ſein Tod der meinige.
Wer ſtarb ſo, als dieſer Fuͤrſt des Lebens?
Daß Muß des Weiſen iſt ſo wenig troſthal-
tig, daß er ſich vielmehr wieder fraͤgt: war-
um muß ich? Wenn ich den Schmerz ver-
beiße, leid ich nicht? Ich ſtoße zuruͤck, was
heraus will! — und da der Nichtchriſt un-
gewiß iſt, ob ſein Lebensziel nicht auch ſo-
gleich ſein ganzes Ziel ſey; wie ſehr iſt er ein
Knecht ſeines ganzen Lebens, ein Knecht von
der Stunde des Todes. All’ Pulsſchlag
ſchlaͤgt ſich der Gedanke auf: nicht etwa dieſe
Nacht, ſondern dieſe Stunde, dieſen Augen-
blick, kann man, nicht etwa blos deine Seele,
ſondern dich ganz von dir fordern, und was
wird ſeyn, das du geſammlet haſt? Elender
Nachruhm! Du Unſterblichkeitsanalogon
Odes
[210] des Nichtchriſten! Du wirſt die zitternde Ner-
ven nicht halten, und dem Herzen nicht Luft
zuwehen. — —
Zwar auch Chriſtus war von Gott ver-
laßen; allein mit Ehren und Schmuck ward
er gekroͤnet, ſelbſt da er noch am Kreuze hieng.
Sein goͤttlicher Tod loͤſete dem Hauptmann
die Zunge zu der Stunde. „Wahrlich, es iſt
„ein frommer Menſch und Gottes Sohn ge-
„weſen.“ Der Chriſt, wenn er im boͤſen
Stuͤndlein auf den Gedanken faͤllt, ſein Geiſt-
faden wird mitreißen, wenn der Lebensfaden
reißt, Gott ſey von ſeinem Geiſt gewichen,
und dieſer ſein Geiſt werde verrauchen, ſo
wie ſein Fleiſchtheil aufgeloͤſet wird; dann
erſcheinet ein Engel und ſtaͤrket ihn. Wenn
das, was gedichtet wird, keine Moͤglichkeit
in ſich enthaͤlt, iſts Hirngeſpinſt. Je mehr
Wahrſcheinlichkeit aber, je vollkommner das
Gedicht. Wenn der Nichtchriſt uns vorwirft,
wir ſtuͤrben poetiſch! — ſo laß’ er uns dieſe
heilige Poeſie, dieſen Schwung. — Trift die-
ſer Schwung nicht naͤher, als ein geſchliffe-
nes Kunſtſyſtem von Hofnung? Iſt die gan-
ze Hofnung mehr, oder weniger, als Dicht-
kunſt? —
Der Chriſt, entzuͤckt in den Himmel, hoͤrt
unaus-
[211] unausſprechliche Worte! Wenn haben wir
nicht unausſprechliche Selbſtlaute gehoͤrt,
wenn uns eine ſchoͤne Fruͤhlings Morgenroͤ-
the ins Freye einlud, und wir einſam der
Sonne entgegen giengen! Und das Gefuͤhl
der Kraͤfte der zukuͤnftigen Welt, welche Be-
geiſterung im Sterben!
Die Offenbahrung iſt eine erhoͤhete Ver-
nunft, die Vernunft in heiliger Poeſie. Ein
Vernunft-Koͤrper! Sie ſtellt dar! Sie macht
anſchaulich. Es iſt ein Hoͤchſtes der Ver-
nunft, ein vernuͤnftiges Ideal, und doch eine
ſolche lautre Milch, daß ſie ein Kind faßen
kann. Wo die Vernunft Zahlen hat, beſi-
tzet der Chriſt lebendiges Weſen. Der Weiſe
denkt, der Chriſt ſieht. Wie ſehr weg ſetzt
ihn dieſe Faßung uͤber alles, was in der Welt
iſt! Er ißt Aehren am Sonntage, wenn ihn
hungert, und wenn ſelbſt der Hoheprieſter,
auf deßen Bruſt Licht und Recht ſtrahlen ſoll-
te, dieſen goͤttlichen Orden verkennet, und
den Poͤbel zum kreuzige ihn auffordert, und
ſein Muͤthgen an ihm kuͤhlet. Wenn der
Saducaͤismus und der Phariſaͤismus es mit
ihm anbinden will. Wenn die Welt ihn aus-
pfeift, uͤberwindet er weit. — Chriſtus hat
am meiſten von Gelehrten gelitten. — Seht
O 2die
[212] die Suͤnde! wie ſie wolt und nicht konnte!
Wo iſt ihr Sieg? Und wenn der Zweifel-
kopf der Vernunft, und wenn das eigene
Herz ſchuͤttelt, und ſpricht lauter Nein!
Er weiß! — Zwar ehrt er den Namen Got-
tes unter dem Patent, das die Vernunft vor-
zeiget, er laͤßt ihr ein freyes Votum; allein
er verlangt auch eins. Was weiß die Ver-
nunft von der Zuſammennehmung dieſes und
jenes Lebens, dem erſten und zweyten Theil des
Menſchen: von unſern Schickſalen, vom er-
ſten Menſchen? Von der Sprache, dem
goͤttlichen Unterricht, bis auf die Kleider
zu? —
Nicht ſo, nicht ſo iſt die Vernunft im Le-
ben und im Tode? Der Chriſt weiß, ſein
Tod ſey nur Verwandlung, Verklaͤrung, me-
lior compoſitio ohne grammaticaliſche Fehler,
ohne Flecken, ohne Runzel oder des Etwas.
Alles ſchoͤn gegeben, vortreflich ausgedruckt.
Die zweyte Auflage, und auch die, ſo mit ihm
aus einem Geſangbuch ſangen, in einer Bi-
bel laſen, auch die, wie er. Was traurſt du,
arme Wittwe, um den einzigen Sohn, mein
Meiſter ſpricht: weine nicht! Zwar er-
weckt er nicht mehr einzeln die Todten, denn
auch die Erweckten ſind wieder geſtorben, oder
was
[213] was ſind ſie? Wahrlich, doppelter Tod waͤr’
eine Ungerechtigkeit. Wittwe! warum die
tiefen Thraͤnen? Zwar wird er nicht zu dir
kommen, aber du zu ihm. Weine nicht, ruft
dir der Herr zu, deßen Herz auf den Grund
bewegt war, und auch vor Schmerz, vor
Mitleid uͤbergieng. So koͤnnen nur trau-
ren, die keine Hofnungen haben. Iſts nicht
gut, daß ein Weltknoten nach dem andern ge-
loͤſet wird, und daß ihr Bekannte in der Stadt
Gottes habt, welches euch gut, und wahrlich
beßer, als ein Freund am Hofe iſt. Die
Zeit troͤſtet den Weiſen, beweiſe, chriſtliches
Weib, daß du auf die Zeit nicht warten
darfſt, und auf die Stunde, wenn es ihr ge-
legen iſt. Die Ewigkeit ſey dein Troſt: die
auf der Stelle lindert, verbindet, heilet! Es
giebt ein allgemeines Ziel, ſpricht Sirach,
hundert Jahr; allein dies iſt ein apocryphi-
ſches Ziel. Moſes verkuͤndiget fein cano-
niſch: unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahr,
wenns hoch kommt, ſinds achtzig, wenn es
koͤſtlich geweſen, iſts Muͤhe und Arbeit gewe-
ſen; denn es faͤhret ſchnell dahin, als floͤgen
wir davon! Der Chriſt ſucht dieſes Ziel nicht
zu verruͤcken, er welzt den Grabes Grenzſtein
nicht weiter, uͤbt ſich, indem er den Luͤſten
O 3und
[214] und Begierden abſtirbt, im Sterben, und
was kann ihn ſcheiden von der Liebe Gottes?
Was braucht aber der Chriſt von den
goͤttlichen Abſichten zu erkluͤgeln? Er weiß,
daß der Herr alles wohl mache! Und das
iſt genug.
Wenn andre leben, um nach dem Tode
einen Leichenſtein zu verdienen, auf dem Le-
ben und Thaten eingeaͤtzet ſind, welchen ein
gedungener Haufe Leichenbegleiter fuͤr Geld
und gute Worte mit feilen Thraͤnen taufte;
hat der Chriſt nicht lieb die Welt, noch was
in der Welt iſt. — Sein Name und Wapen,
wenn er ſie aushauen laͤßt, ſollen nur blos,
auch nach ſeinem Tode, ein gutes Beyſpiel
ſtiften.
(Bey dieſer Stelle ſagte mir der Graf ins
Ohr: wenn ich meine Krone im Wapen ſehe,
denk ich an die himmliſche, und an die Perlen,
deren auch in der hohen Offenbarung gedacht
wird.) Der Menſch iſt ein Hyroglyph der
ganzen Natur; wer es zu erklaͤren und auf-
zuloͤſen verſteht, hat den Schluͤßel zur Natur.
Der Leib gehoͤrt hiezu eben ſo, wie die Seele.
Glaubt mir, Freunde! Er muß was zu ver-
beißen haben, wenn die Seel’ im Flug’ iſt,
und
[215] und wenn es uns recht gut bekommen ſoll,
muß unſere Mahlzeit geiſtiſch gewuͤrzet ſeyn.
Den Menſchen ganz zu erklaͤren, dazu gehoͤrt
mehr, als wir dießeits des Grabes vermoͤ-
gen! Der Chriſt kommt bey dieſer Ausle-
gung noch am naͤheſten. — Er verſteht das
Menſchen-Hyroglyph, ſo wie die Kinder ein
Buch aus den Bildern. Das Grab hat nur
auf die Schlacken Anſpruch. Das feine des
Koͤrpers wird auferſtehen. Das iſt eine
Wahrheit zum Waͤrmen, wenn alles an uns
kalt wird. Gottes Weisheit handelt uͤberall
im Verborgenen; in Graͤbern nur wird ſie ge-
rechtfertiget. In dies Auge, das im Tode
verloͤſcht, wird wieder Licht geſchlagen wer-
den! Heilig! ſelig iſt der elektriſche Funke, der
in dieſe Finſternis geſpruͤhet werden wird.
Dies Leben, ohne den Herrn, iſt ein Fiſchzug
Petri, der die ganze Nacht arbeitete und
nichts fieng, und nur, wie er auf ſeines Mei-
ſters Befehl das Netz auswarf, mehr zog,
als das Netz halten konnte. Wenn auch beym
Chriſten zuweilen das Netz reißt, was iſts ge-
gen den Segen, der von Fiſchen gezogen
wird? Heil dem Chriſten! Sein Leib iſt im
Dienſt der Seele, die Seele im Dienſt des
Geiſtes, der Geiſt im Dienſt Gottes.
O 4Heil
[216]
Heil dem Chriſten, denn er hat uͤber ſich
einen gnaͤdigen Gott, in ſich ein ſtilles Ge-
wiſſen, unter ſich einen ihn befriedigenden
Erdboden; wenn gleich die Apfelbaͤume nicht
ſo gut, wie im Paradieſe, fortgehen. Hinter
ſich eine gluͤcklich zuruͤck gelegte Bahn, den
Troſtſpruch: Sohn, Tochter! dir ſind deine
Suͤnden vergeben, ſtehe auf und wandle!
Vor ſich, einen ſeligen Tod, und eine froͤh-
liche Auferſtehung! Einen Richter, der wohl
weiß, wie es einem Menſchen zu Muth iſt!
Der auch lebte, und ſtarb!
Das verlohnte alſo wohl, daß Engel der
Erde gratulirten: Ehre ſey Gott in der Hoͤhe,
Friede auf Erden und den Menſchen ein
Wohlgefallen!
Wolt ihr mehr? o ihr Kleinglaͤubigen.
Wohlan! Ich will euch die Furcht des Herrn
lehren, den eigentlichen Anfang der Weisheit.
Laßt uns von den lezten Dingen anheben.
Lezt und Erſt iſt nur, nachdem man es
nimmt.
Was du ſaͤeſt, Freund, wird nicht leben-
dig, es ſterbe dann. Iſt dein Leib nicht ein
bloßes Saatkorn, das ausgeſaͤet iſt? Iſt der
Menſch hier mehr, als Fayance, und ſoll er
dort nicht ſeyn ein Gefaͤß zu Ehren. —
Gott
[217] Gott weckt alle Fruͤhjahre Todte auf, und je-
der Augenblick iſt eine Auferſtehung. In je-
dem Felde ſind Schaaren Evangeliſten, die
uns die Lehre der Wiedergeburt, des Wieder-
lebens alles Fleiſches, das wie Heu iſt, ver-
kuͤndigen. Wir ziehen aus dieſem Leibe, um
in eine andre himmliſche Wohnung einzuzie-
hen, wie aus der Pacht ins Eigenthum. So
verwandeln ſich vor unſern Augen unzaͤhlige
Dinge. — Der Geiſt iſt der eigentliche
Menſch, dieſer Juͤnger Chriſti ſtirbet nicht.
Der Pfeil des Todes trift nur den Leib. So
bald es zum Sterben geht, beruhet alles auf
der Einbildung derer, ſo nicht ſterben und
ſterben ſehen. Seht ihr denn den Geiſt,
ihr Haͤnderinger? Er iſt in Gottes Hand
und keine Quaal ruͤhret ihn an, und warum
ſollte der Geiſt um dieſen Leib und dies Gebein
zittern und zagen? Warum ſolt’ er beym
Leichenbegaͤngnis im erſten Paar, wie ein
leidtragender Wittwer, gehen? Wie viel
mahl ſoll ich den Troſt des Chriſten wieder-
hohlen? Auch ſein Leib wird nicht unterge-
hen. Pflanze und Thier fordern das zuruͤck,
was ihnen zugehoͤrt, und was iſt denn, was
wir ihnen zuruͤckgeben? Iſt es nicht Etwas,
das uns oft ſo laͤſtig war? — In der Natur
O 5iſt
[218] iſt ein immerwaͤhrender Wechſel; allein eine
Allwißenheit regiert ihn! Und kommt denn
Etwas aus unſerm eigenthuͤmlichen Hauſe? —
Iſt die Erde nicht unſer Haus? Ob dieſes
oder jenes Stuͤck von unſerm beweglichen
Haab und Gut in dieſem oder jenem Zimmer
ſteht? Ob unterm Spiegel, oder am Camin?
Ob im Saal, oder im Nebenzimmer? Und
warum ſolt ich nicht Etwas abgetragenes ge-
gen Etwas neues hingeben? Eine andere
Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit
hat der Mond. Es wird geſaͤet verweslich,
und wird auferſtehen unverweslich. Es wird
geſaͤet in Unehre, und wird auferſtehen in
Herrlichkeit. Es wird geſaͤet in Schwach-
heit, und wird auferſtehen in Kraft. Es
wird geſaͤet ein natuͤrlicher Leib, und wird
auferſtehen ein geiſtlicher Leib.
Iſt es nun begreiflicher, daß auch der
Leib nicht untergehe? Alles was ſtirbt, ſteht
auf. Nennen wir nicht vielleicht oͤfters todt,
was wir in ſeiner Entwickelung nicht uͤberſe-
hen? Jene tauſend mahl tauſend Vollende-
te ſehen vielleicht unſerer Geburt, unſerm
Durchdrang durch Tod zum Leben zu, und
freuen ſich die Taufzeugen bey dem neuen
Namen zu ſeyn, der dem Ueberwinder, dem
Ge-
[219] Gepruͤften, des heiligſten wuͤrdig befundenen,
beygeleget wird!
Geſchoͤpfe, die Gott erkennen, in denen
Chriſtus wohnet, koͤnnen unmoͤglich auf der
erſten Stuffe bleiben, auf der Stuffe der
Kindheit. Dieſes Leben iſt ein Kinderſtand.
Dieſe Leiber ſind Windeln. Aus Kindern
werden Leute. Unſere Seele iſt in dieſer Welt
ein Licht unterm Scheffel. Wir ſteigen die
Stuffen, die Jacob im Traume ſah, wo die
Engel hoch und niedrig ſtanden, und wenn ich
gleich nach meinem Abſchiede aus dieſer Welt
ein Engel werde, kann es denn nicht auch
hier Claſſen der Seeligkeit geben? Der Thuͤr-
huͤterpoſten iſt hier aber ſchon eine uͤber alle
Maaßen wichtige Herrlichkeit, weil weder
Neid noch Eigenduͤnkel mehr iſt. In Gottes
Hauſe ſind viele Wohnungen. Unſer Haus
iſt die Erde. Gottes Haus iſt die Welt. Das
feſte prophetiſche Wort zeiget uns die andere
Welt in Kupferſtichen hier und da illuminirt!
Wie kann ein vernuͤnftiger Lehrer anders
mit Kindern verfahren? Gaſtmahl! Para-
dies! himmliſches Jeruſalem, eine ſchoͤne
Erbſchaft, eine Ehrenkrone, ein Siegerkranz,
ein Ruheſitz Gottes! Eine Feſtfeyr! So wird
uns die andre Welt vorgeſtellt, und wenn
wir
[220] wir annehmen, daß wir Gott in ſeinen Wer-
ken naͤher ſchauen, daß wir tugendhafter,
und alſo auch gluͤcklicher, ſeyn werden, was
wollen wir denn mehr? Der chriſtliche Him-
mel beſtehet in reiner Wahrheit und voll-
kommner Tugend. Sehen wir gleich hier
nur durch einen Spiegel in einen dunklen
Ort; ſo iſt es doch genug zu wiſſen, daß,
wenn gleich unſer aͤuſſerlicher Menſch verwe-
ſet, der innerliche jedoch von Tage zu Tage
erneuert und ſtaͤrker wird. Iſt denn das nicht
Gewehrleiſtung fuͤr die andre Welt? Ein aͤch-
ter Chriſt iſt hier ſchon im Himmel! Er ſieht
ſich ab und zunehmen, das Sichtbare, das
Zeitliche faͤllt, das Unſichtbare, das Ewige,
hebt ſich! — Er hat das andere Leben in der
Hand! — Es iſt ihm ſo nahe, als der Leib
der Seele! — Warum ſollten wir uns be-
muͤhen, zu beſtimmen, ob aus Steinen Pflan-
zen, aus Pflanzen Thiere, aus Thiere Men-
ſchen, aus Menſchen Engel werden? Ob wir
in eine Sonne, oder in einen Planeten, ob
wir in ein Winter- oder Sommerzimmer un-
ſers lieben Gottes dereinſt einziehen? Ob wir
in unſer Sonnenſyſtem, oder wo anders hin-
kommen? Beydes, Leben und Tod, iſt dem,
der alles recht bedenkt, wuͤnſchenswerth.
Gott
[221] Gott hat uns in dieſer Welt den Weg ge-
bahnt, zu werden, was wir geworden, und
in jener wird er, der Herr und Vater uͤber
alles, was Kinder heißt im Himmel und auf
Erden, uns nicht verlaßen! —
Dies iſt die Zuverſicht, die ich durch den
habe, der dem Tode die Macht genommen,
und das Leben und ein unvergaͤngliches We-
ſen ans Licht bracht, durchs Evangelium.
Wir beſitzen des Himmelreichs Schluͤſſel, zu
binden und zu loͤſen, wo der Philoſoph Luͤcken
findet, und nicht aus, nicht ein weiß. Ueber-
haupt weiß er nichts. Einer iſt unter ihnen
wider den andern. Der iſt ein Plato, der
ein Ariſtoteles, der ein Redner, der ein So-
phiſt. Sophiſten ſind Taſchenſpieler, und
Redner ſind Schmeichler. Wahre Weisheit
wohnt nicht in geſchmuͤckten Gaͤrten von
Kunſtworten, ſondern in dem friedlichen Thal
der kindlichen Aufrichtigkeit. — Darum
ſchilt ein Weiſer den andern. Sie haben un-
ter ſich Katoliken, Proteſtanten, Muſelmaͤn-
ner und Gott weiß, was mehr! Je, nachdem
jedem der Kopf ſteht, je, nachdem will er es
auch vom Auditorio. Dieſer ſpricht von der
Mutter Gottes, der Jungfrau Maria, der
grundguͤtigen Natur, und von guten Wer-
ken,
[222] ken, predigt viel Geſetz; allein kein Evange-
lium. Jener iſt der Meynung, der Menſch
koͤnne ſich nicht beſſer machen, als er iſt.
Seine Neigungen ſind nicht Vorſchriften, die
er ſich ſelbſt gegeben, ſondern ſteinerne Ge-
ſetztafeln, die man zwar zerbrechen kann:
wer aber, fragen dieſe gute Herren, wer kann
ein Gebot der Neigung ausradieren? Es iſt
ja ein Stein. Dieſer iſt ſinnlich, jener
geiſtlich. Dieſer ein Kopfhaͤnger, jener
froͤhlich und guter Dinge. Der zweifelt uͤber
alles, auch ſelbſt, daß er zweifelt, dieſer thut
ſo grundgelehrt auf ſeine Worte, daß man
wuͤrklich glauben ſollte, er wuͤßte Etwas.
Ein Einfall, ſagt er, iſt ein einziger Fall, den
auch ein bloßer Witzling haben kann. Mir
ſtehen Principien, das heißt, eine Sammlung
aller Faͤlle zu! — Gut! aber wo ſind denn
deine Principien, in ſo weit ſie wuͤrklich weiſe
und ſelig machen? Die Philoſophen ſind
Raͤthſelaufgeber; ſie lehren Raͤthſel, und leh-
ren ſie raͤthſelhaft. Eine Volksphiloſophie
muͤſte ſo kurz ausfallen, wie Luthers kleiner
Catechismus. Iſt denn die Wahrheit nicht
nackt, und wenn einige der Alten fuͤr Dunkel-
heiten waren, muſten ſie es nicht wegen der
Unvernunft des Volks ſeyn? Jezt aber, ihr
Wei-
[223] Weiſen! da ihr ſelbſt nicht leugnen koͤnnet,
Weisheit aus dem Volk und aus dem Volks-
buch, aus der Bibel, geſchoͤpft zu haben,
warum gebt ihr nicht verſtaͤndlich wieder, was
ihr verſtaͤndlich empfienget, und was iſts
denn, was euch ſelbſt zuſtehet? Der Chriſt
weiß, an wen er glaubet. Von dieſem Glau-
ben des Chriſten hat der Nichtchriſt keine
Vorſtellung. Es iſt ein lebendiger, ein wiſ-
ſender Glaube. Gott ſandte uns nicht ein
Buch herab, voll Worte und Meynungen,
fein ſauber geſchrieben. Unſere Vorfahren
waren Geiſterſeher; allein wir? wir ſahen
Chriſtum, den Anfaͤnger und Vollender un-
ſers Glaubens. Hier iſt Sache, That, Be-
gebenheit, Wahrheit. Er war zwar Menſch;
allein Gottmenſch. Man ſah’ ihn, und wir
ſehen ihn noch in Begebenheiten mancherley
Art. Sein Geiſt blieb bey uns! — Chri-
ſtus lies ſich nicht mahlen; denn da haͤtte
man nur eine Stellung von ihm gehabt; ſon-
dern er ward gebohren, lebte, lehrte, ſtarb! —
Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Leh-
ren! — Was von ſeinem Leben geſchrieben
worden, iſt auch Leben. Einfalt iſt die Art,
womit alles behandelt wird; allein Einfalt iſt
die aͤchte Tochter alles Guten, alles Wahren,
alles
[224] alles Vollkommnen! — Wo ich goͤttlichen
Finger ſehe, warum will ich denn da noch
meine Hand auch in die Naͤgelmahle legen,
um ſagen zu koͤnnen: mein Herr und mein
Gott! Empfindeſt du nicht in jedem deiner
Schickſale, (o Menſch, gieb auf dich acht!)
Gottes Wege? Fuͤhleſt du nicht, daß, ſo wie
Gott Einer iſt, er dich auch ſo leite und fuͤhre,
als ob du der Einzige waͤreſt, den er zu lei-
ten und zu fuͤhren haͤtte, und warum willſt
du denn ein Zeichen am Himmel, um zum
Dank, zum Lob! Lob ſey Gott! ohn Ende
aufgefordert zu werden? Laßt uns Hand ans
Werk legen, und wir werden finden, ob die
chriſtliche Lehre von Gott ſey, oder ob die
Bibel ſo von ihr ſelbſt rede? Von dem Welt-
weiſen heißt es, wie vom reichen Mann: er
ſtarb und ward begraben. Die Herren Re-
cenſenten hielten ihm Reden und Predigten,
die Dichter ſangen, und doch ward er begra-
ben. Vom Chriſten kann man, wie vom La-
zarus, ſagen: er ſtarb, und ward getragen
von den Engeln in Abrahams Schoos! —
Was habt ihr denn fuͤr einen Beweis, ru-
fen uns die Weiſen zu? Verzeiht, ihr Her-
ren: Gott allein iſt weiſe! Was aber unſern
Beweis betrift; ſo fuͤhren wir ihn menſchlich.
Unſer
[225] Unſer Beweis iſt vernuͤnftige, lautere Milch
und Erfahrung! —
Wie iſt der Menſch auf Gott, Geiſt, und
Ewigkeit gekommen, wenn ſie nicht waͤren?
Der Menſch iſt gros und klein. Er zaͤhmt
Loͤwen, verkauft Wallfiſche, und wird von ei-
ner Schlange getoͤdtet! —
Zweifler! ich ſoll beweiſen, daß ein
Gott ſey? Beweiſe mir erſt, daß er nicht
iſt. Wie kann man Thatſachen beweiſen?
Wie kann ein Sohn beweiſen, daß dieſer oder
jener ſein Vater iſt?
Es geht in der Welt uͤber und uͤber,
und wie koͤnnte das, wenn Gott, der
Herr derſelben, Koͤnig waͤre? Ey, lieber!
Wenn Gott ſein Bild den Menſchen anhieng;
wenn er ihm Verſtand und Willen gab: wer
hat Schuld an dieſer Unordnung? —
Jeder Menſch hat ſo Etwas bey ſich, was
Ja oder Nein bey allen Dingen ſaget, ſie
moͤgen Wiſſen, oder Thun, Rath oder That,
betreffen. Es giebt ſo gut ein Verſtands-als
ein Willens-Gewiſſen. Iſt euch das zu hoch?
Euch! zu hoch? die ihr den Gang Gottes in
der Natur, das Kommen einer jeden Pflanze
in ihrem ſanften Tritt beſchleicht? Ihr ſoltet
Eur eignes Erdreich nicht kennen?
PEs
[226]
Es giebt baare Kenntniſſe, und Kennt-
niſſe auf Verfalltage. Das Chriſtenthum hat
von beyden ſein Theil. Die wichtigſten Arti-
kel koͤnnen durchs Leben bewieſen werden! —
Ich lebe, ſagt Chriſtus, und ihr ſolt auch
leben.
Ich weiß eure Einwendungen, ihr Wei-
ſen der Welt.
Das Chriſtenthum, ſagt ihr, habe den
Muth gehemmt, froh zu leben und froh zu
ſterben. Es lehre, daß nur wenig Auser-
waͤhlte ſeyn werden! Allein was iſt beſſer,
ſeine Seligkeit ſchaffen mit Furcht und Zittern,
oder wider beſſer Wiſſen und Gewiſſen han-
deln? Es iſt ein Aufwaſchen, bringt ihr Leicht-
ſinnige bey; allein ſeyd ihr ſchon von eurem
Gewiſſen je in Anſpruch genommen? Seyd
ihr ſchon in der Tinte geweſen? Glaubt ihr
denn, daß das Auge, welches ſeinem Naͤch-
ſten nach Leib und Leben ſtand, mit einer
Thraͤne der Reue abgewaſchen werden koͤnne?
Wenn die reine Vernunft lehret, ſich ſo
zu fuͤhren, daß, wenn ein Gott und eine
Ewigkeit waͤre, wir ſeine Kinder und die Er-
ben des Himmels zu ſeyn das Recht haͤtten;
ſo lehret ſie uns etwas uͤbermenſchliches! —
So bald wir zweifeln, Freunde, ſo bricht die
Sinn-
[227] Sinnlichkeit Thuͤr und Thor, ſchlaͤgt alle
Schloͤſſer auf, und findet im Zweifel ſo viel
Unterſtuͤtzung, daß alles uͤber und uͤber geht.
Ja, wenn der Menſch funfzig Jahr’ alt, und
des Tages Laſt und Hitze der Sinnlichkeit
getragen hat, dann, Freunde, koͤnnte dieſe
Lehre weniger [gefaͤhrlich] ſeyn! —
Und doch iſt ſie gerade zuwider der lautern
Milch Chriſti, des Herrn, der ein herzliches
Zutrauen von ſeinen Nachfolgern will!
Zweifel, Freunde, iſt das ſchrecklichſte, was
man ſich denken kann! Wo Zweifel iſt, wie
kann da Zutrauen ſeyn? Man will ſich im
Schatten legen, eh noch die Baͤume ausge-
ſchlagen ſind. Man brennt ſein Haus aus
eitler Bauluſt ab. Man iſt nicht kalt, nicht
warm. Man hinket auf beyden Seiten. Ge-
lehrte Zweifler! guten Freunde! ihr dringt
aufs Thun, und wenn ich Euch ſage: ihr
koͤnnet, ohne zu wiſſen, ohne den Glauben,
ohne die Lehre Chriſti, nichts thun. Eine
Gottehrende Menſchenliebe iſt unſere Tugend.
Wir leihen dem Herrn, wenn wir den Armen
geben. Wir geben nicht mit dem Munde,
ſondern mit dem Herzen, im Geiſt und in der
Wahrheit. Wir entaͤuſſern uns unſer ſelbſt
wenn wir Gutes thun.
P 2Eur
[228]
Eur ganzes Syſtem beruht auf Furcht,
die aber nicht die Furcht des Herrn iſt. Lebt
ſo, als wenn wuͤrklich ein Gott, wenn wuͤrk-
lich eine Unſterblichkeit waͤre. Schoͤn geſagt,
aber auch gethan? — Liebe, Liebe, Liebe, iſt
die Quelle alles Guten! Der Brunn des Le-
bens! Die Liebe treibt die Furcht aus.
Niemand hat Gott je geſehen, Niemand
beſitzt eine Demonſtration von ſeiner Exiſtenz;
allein brauchts einer Demonſtration, das ihr
ſeyd!
Du glaubſt, Freund, daß ſich die Welt
ſelbſt erhalte? daß, wer erhalten koͤnne, auch
zu ſchaffen vermoͤgend ſey, daß, wer B zu
ſagen verſtuͤnde, auch A zu ſagen im Stande
ſey? Ich weiß, daß ein Haus ſich nicht ſelbſt
bauen koͤnne, weil es ein Kunſtſtuͤck iſt, daß
aber die Natur taͤglich, ſtuͤndlich, augenblick-
lich, baue und niederreiſſe, beßere und foͤr-
dere! Allein, lieber, was iſt die Natur? Laß
mich mit deinen Woͤrterchikanen; die Wahr-
heit hat, wie die Sonne, ihr eigen Licht.
Vorwitz iſt freylich Untugend; allein kind-
liches Zutrauen und Zudringlichkeit, wie ſehr
unterſchieden!
Ich weiß, was ich glaube, heißt das viel-
weniger, als ich weiß?
Guten,
[229]
Guten, lieben Freunde, wenn eure Lehre
unter den Haufen kaͤme, was wuͤrde da aus
der Welt werden? Gott ſchlaͤgt euch mit
Wortsblindheit, ſonſt muͤſten wir unſere
Kirchen brechen, und Gefaͤngniße draus ma-
chen! — und doch, lieben Leute, glaubt ihr
die Wohlfarth des ganzen menſchlichen Ge-
ſchlechts durch eure Lehre zu befoͤrdern! Ihr!
durch ſolche Lehren, die nichts denn Menſchen-
gebot ſind? Freunde, das laßt dem Chri-
ſtenthum uͤber, oder der ganze Plan iſt plato-
niſch. Uns ſolt es gleich ſeyn, wie das Reich
Gottes kaͤme, wenn es nur kaͤme! Nur eure
Fahne ſcheint es nicht dazu anzulegen, das
Verirrte zu ſammlen! — Damit eine Heer-
de und ein Hirte werde! — Doch! warum
ſollten wir mit euch rechten? Richtet nicht,
ſagt unſer Herr und Meiſter, und es wird die
Zeit kommen, da wir alle werden gerichtet
werden! Wohl uns! wenn wir beſtehen in
der Wahrheit! Als gute Streiter im Reiche
der Vorurtheile, nicht, die ſuchten das Ihre,
ſondern das, was der Wahrheit und Tugend
iſt, nicht, die uͤber die Menſchen herrſchen,
ſondern die ſie gluͤcklich machen wollten. Wie
oft kann es hier heißen: große Schulden er-
halten bey Credit. Kleine ſchwaͤchen ihn.
P 3Der
[230] Der Chriſt will keinen verfuͤhren. Er giebt
jedem die Bibel in die Hand, und da ließt
ſich jeder heraus, was ſeinem Verſtande ge-
maͤß iſt. Es finden ſich Spruͤche fuͤr Gelehr-
te und Ungelehrte, Reiche und Arme. Hier
iſt harte Koſt, hier iſt Milch, ſtarker Wein
und Labetraͤnke! Die Bibel iſt allen allerley.
Sie iſt fuͤr Leben und Tod! Sie lehrt uns
Ciſternen auszuſetzen, um himmliſches Waßer
aufzufangen. Der Geiſt der heiligen Schrift
iſt ſo kurz, als das Vater unſer. Glaubt,
liebe Nichtchriſten, im Sterben ſieht man
Gott, ſich, und die Welt aus einem andern
Geſichtspunkte, als im Leben!
Laßt mich an Ort und Stelle, laßt mich
zuruͤck, wo ich ausgieng!
Was Johannes ſagt, iſt jeden Augenblick
wahr: Kinder, es iſt die lezte Stunde! —
Wohl uns allen, wenn wir bereit ſind zu
ſtehen, vor des Menſchen Sohn! Wenn wir
ihm unter Augen treten und ſagen koͤnnen:
wie du gewandelt haſt, haben auch wir ge-
wandelt; ſo ehrlich wie du gelehrt haſt, ha-
ben auch wir gelehrt! Geſtern haben wir
uͤberwunden! Heute laß uns mit dir im
Paradieſe ſeyn!
Komm
[231]
Komm, Tod! heute! morgen! Mein
Freund iſt mein! ich bin ſein! Ich habe Luſt
abzuſcheiden und bey ihm zu ſeyn, welches
auch beßer waͤre! Amen, ich komme bald,
Amen! Ja komm, Amen! Vater, in deine
Haͤnde befehl ich meinen Geiſt! —
† † † †
† †
Lieber Graf, bis zum Wiederſehen, hier
oder dort!
Von einem Manne, wie der Graf, wer
kann Abſchied nehmen? oder beßer, den Ab-
ſchied mittheilen? Ich nicht.
Der Prediger aus L — kam, und war ſo
inniglich froh, mich wieder beßer zu finden,
daß er bey einem Haar mit dem Grafen wie-
der freundſchaftlich zerfallen waͤre. Der gu-
te Prediger! Er hatte fuͤr mich, unter dem
Namen eines Leidenden, aus einer andern
Gemeine, auf der Kanzel gebetet, und eignete
den groͤßten Theil meiner Beßerung dieſer
ernſtlichen Fuͤrbitte zu. Die ganze Gemeine,
fuͤgt’ er hinzu, wuſte beym erſten Wort, daß
Sie der Leidende aus einer andern Gemeine
waren. Der junge Ehemann, ſagten ſie un-
tereinander! deßen Frau wir juͤngſt begru-
ben! — —
P 4Ich
[232]
Ich bin ſonſt ſehr fuͤrs Abſchied nehmen,
wovon ich in dieſem Buch manches Proͤbchen
gegeben; allein hier, kann ich? —
Das ganze Leben des Grafen war eigent-
lich ein feyerliches Abſchiednehmen, nicht be-
ſtehend in: Leben Sie wohl, Dank fuͤr alle
erzeigte Guͤte! — wuͤnſche ſo gluͤcklich zu ſeyn,
vom Wohlbefinden die beſten Nachrichten ein-
zuziehen! Solch elend jaͤmmerlich Zeug hat
das Abſchiednehmen, ſo wie das Geſundheit-
trinken buͤrgerlich gemacht! — und doch liegt
in einem Leben, im andern Sterben. Ich
trinke Geſundheit, und nehme Abſchied. — —
Wahrlich, ich kann es nicht beſchreiben,
mit welcher Bewegung ich dieſen Hochgebohr-
nen Todtengraͤber verlies. Auf meinen wohl-
ehrwuͤrdigen Reiſegefehrten konnten dieſe
Dinge natuͤrlicher weiſe keinen ſo ſtarken Ein-
druck machen. Der Prediger kannte das
Erdreich auf dieſem Gottesacker, und hatte
hier zuweilen ſelbſt die Hand an den Pflug
legen muͤßen. Anfang, Mitte und Ende mei-
nes Aufenthalts auf dem graͤflichen Gute lag
auf meiner Seele; allein ſanft war mir dieſes
Joch, leicht dieſe Laſt. Hier oder dort! Ich
dachte nicht das Hier. Hier galt bey mir
wenig,
[233] wenig, das dort verſchlang es bey mir!
Nicht hier, dort! bald! dort! dort! wo Mi-
ne iſt, wo ſie ewig ſeyn wird, dort! dort!
dort! Ich komme bald, Amen! hies es beym
Schluß der chriſtlichen Rede. Ja komm!
Amen!
Der gute Prediger ſties mich mit der Frag’
an, wie mir die Reden gefallen, von denen er
gehoͤrt, daß ſie gehalten worden? — Herz-
brechend, ſagt’ ich. Dort, lieber Herr Pre-
diger! dort ſehen wir uns wieder! Der gute
Prediger faßte mich bey der Hand, und druͤk-
te ſie, und ſagte mir ſo ſanft: Gretchen laͤßt
Sie gruͤßen, daß mir ward, ich weis nicht
wie? — Jungen Leuten iſt Leben und Ster-
ben, wie Wachen und Schlafen; alles an einem
Roſenkraͤnzchen. — Auch hier iſt gut ſeyn,
ſagte der Prediger, nur nicht zum Huͤtten-
bauen, verſezt’ ich, wenn man eine Mine ver-
lohren hat. Auch die Erde iſt des Herrn,
fuhr der Prediger fort, ſo wie es der Him-
mel iſt.
Der Prediger fand viel Eigenes in Abſicht
des Styls in den Reden, es iſt, ſagt’ er, ſo
was beaͤngſtigendes, ſo was von Todesnoth
darinn! Eben das, ſagt’ ich, hat mich ent-
zuͤckt bis zur Halle des Himmels. Dies in
P 5der
[234] der Rede zu treffen, zu copieren, war unmoͤg-
lich — ich liebe, fuhr der Prediger fort, eine
genaue Bindung der Perioden, eine gewiße
Baukunſt im Vortrage, und ſo viel Fenſter
wie moͤglich in jedem Stock. Zwar halte
ich es fuͤr keine Suͤnde wider den heiligen
Geiſt. —
Da waren wir wieder, wo mich der gute
Prediger hin haben wollte. Er wiederholte
mir Plan und Ausfuͤhrung, Geiſt und Aus-
druck, verſicherte alles Eckigte in den Perio-
den, was nicht ſchon gerundet und abgeſchlif-
fen waͤre, noch runden und abſchleifen zu
wollen. Was meynen Sie, fragt’ er mich,
ob ich das Regiſter laße? und zur Nutzan-
wendung noch ein ob? noch die critiſche Fra-
ge: ob ſein Bruder, der Koͤnigliche Rath,
ſich nicht uͤber die Zuſchrift kreuzen und ſeg-
nen wuͤrde? Ohne Vorrede, ſagte der Pa-
ſtor, laß ichs nicht. Es iſt nicht gut, daß
das Buch allein ſey. — Die Vorrede, ſagte
mein Vater, iſt der erſte Eingang, wo Bitte,
Gebet, Fuͤrbitte und Dankſagung vorkommt,
damit der Autor ein geruhiges und ſtilles Le-
ben fuͤhren moͤge, in aller Gottſeligkeit und
Ehrbarkeit. —
Zur
[235]
Zur Erkenntlichkeit verſah mich der Pre-
diger mit einigen Zuͤgen vom Grafen — aus
ſeiner Vorrathskammer, womit ich meine Le-
ſer verſehen will. Die lezte Hand —
Der Graf rechnete mit ſeinen Paͤchtern
und Verwaltern jedesmahl die Woche vom
neunten bis zehnten Sonntag nach Trinita-
tis. Am neunten Sonntage nach Trinitatis
wird von dem ungerechten Haushalter gepre-
digt, am zehnten von Jeruſalems Zerſtoͤ-
rung. Der Graf iſt nie von ſeinen Haus-
haltern betrogen.
Wenn er in die Kirche kommt, wird er
mit Gelaͤute eingehohlet. So wirds klingen,
ſagt der Graf, wenn ſie mich werden heim-
fuͤhren aus dieſem Elend, Kyrie eleyſon.
Zu ſeinen Kirchenabgaben, wozu auch
das Predigtamt gehoͤrt, haͤlt er ſeine beſondre
Sonn- und Feſttage. Er berichtigte ſie dop-
pelt, nur nicht, wenn Quatember roth im
Calender ſteht, ſondern Z. E. am ſechszehnten
Sonntage nach Trinitatis, wo man der Witt-
we Sohn aus Nain traͤgt, am erſten Sonn-
tage nach Trinitatis, wo vom reichen Mann
und armen Lazarus geprediget wird. Solche
Evangelien muß man eindruͤcklich machen,
ſagte der Graf.
Am
[236]
Am ſieben und zwanzigſten Sonntage nach
Trinitatis, wo, wie er ſagt, die chriſtliche
Illumination vorkommt, (das Evangelium
handelt von den fuͤnf klugen und fuͤnf thoͤ-
richten Jungfrauen) ſchenkt der Graf zehn
Kirchenlichter, die bey der Communion (nach
der Gewohnheit in Preußen) brennen. —
An ſeinem Geburtstage legt’ er ſich zwey
Stunden in ſeinen Sarg, welches, wie mei-
nen geneigten Leſern bekannt iſt, in der Haus-
rapelle ſteht, und zwar im Sterbhemde. —
Geduld, Standhaftigkeit, ſagt’ er einſt-
mals zum Prediger, der von der Standhaf-
tigkeit und Geduld geprediget hatte, das ſind
die eintraͤglichſten Tugenden, und worinn be-
ſtehen ſie? In der Fertigkeit, ſich auf einen
Punkt einzuſchraͤnken, den man mit unver-
wandter Seele anſieht. In der Geſchicklich-
keit, immer in dieſen ſchwarzen Fleck zu tref-
fen. Mein Vater ſchlug Obſervationen vor;
allein der Graf ſchien ſich auf einen einzigen
Punkt anzuſtrengen. Wer hat recht?
Der Graf war ſehr gluͤcklich im Rathen.
Er ſetzte ſich nicht auf den Dreyfuß, wenn
er zum Voraus Dinge beſtimmte. Er ſchuͤt-
telte dies aus dem Ermel. Er hielt ſehr auf
Traͤume, und glaubte mit meiner Mutter,
daß
[237] daß andere Geiſter alsdenn die Thuͤre offen
faͤnden, um ſich mit ihres Gleichen zu un-
terhalten.
Die Welt, ſagte der Graf, iſt ein Gar-
ten in Norden, wo nur wenig reif wird. Er
aß gern Brunnenkreß und Raute. —
Nichts konnt’ ihn mehr aͤrgern, als wenn
ſich der Menſch den Schlaf aus Lebensgeiz
entzog. Es iſt gleich viel, auf dem Ball,
oder in der Studirſtube, uͤberm Leben den Tod
vergeßen.
Der Graf ſah entweder gen Himmel, oder
auf die Erde. Leute, die den Kopf von ei-
ner Seite zur andern werfen, ſind nicht ſo,
nicht ſo, ſind Zweifler, ſind aufgeſchosnes
Rohr, das der Wind hin und her treibt.
Herauf oder herab.
Pathengeſchenke gab er nicht eher, als
bis der Pathe zum erſtenmal zur Communion
gieng. Ein ſchwarzes Kleid war das geweih-
te Geſchenk.
Seine Buͤcher waren ſchwarz eingebun-
den. Silberne Griffe, ſagt’ er, das heißt:
der Titel war mit verſilberten Buchſtaben
eingeſtochen.
Wenn man faͤllt, beſieht man die Stelle,
wo man gefallen iſt. Der Geiſt wird ſich ge-
wis
[238] wis von ſeinem Lebensreiſegefehrten nicht ſo-
gleich trennen. Er wird ſehen, wo er gefal-
len iſt. Wer mit den Seinigen noch laͤnger
zuſammen zu bleiben Luſt und Liebe hat, gehe
auf die Kirchhoͤfe, wo ſie hingelegt ſind. Ich
habe den Einfluß der Meinigen lang in mei-
ner Seele empfunden, und noch empfind’ ich
ihn. —
Wenn man erzaͤhlt: die und der iſt todt,
fraͤgt der Hoͤrer: iſt ſie? iſt er todt? War-
um fraͤgt der Hoͤrer alſo?
Wenn der Graf communicirte, hatt’ er
einen rothen Mantel uͤber das ſchwarze Kleid.
In ſeinen Tiſchtuͤchern, Servietten war Name
und Wapen ſchwarz eingenaͤht.
Ich kann, ſagte der Graf, im dreyßigſten
und vierzigſten Jahre mit vieler Zuverlaͤßig-
keit wiſſen, ob man ſiebenzig oder achtzig
Jahre werden ſoll? Ein Gluͤcks- oder Un-
gluͤcksfall iſt Schuld daran, wenn man es
nicht wird.
Melancholiſche Leute (dieſe Anmerkung
machten wir beyde, der Prediger und ich,)
ſind ſehr zur Dichtkunſt aufgelegt. Vielleicht
beſteht die Melancholie im Dichten.
Am neuen Jahrstage wuͤrd’ es ſchwer an-
gemeſſen zu predigen ſeyn, wenn nicht die
Worte
[239] Worte drinn vorkaͤmen: da acht Tage um
waren. Alſo von der Zeit — O du liebe
Zeit! exclamiren einige Leute im Spruͤchwort.
In der Entfernung iſt ſonſt alles klein, nur
die Zeit nicht. —
Der Graf ſetzte einem ſeiner Pathen, der
nur ſieben Wochen gelebt hatte, ſelbſt eigen-
haͤndig die Grabſchrift: Aus einem Mutter-
ſchoos in den andern. —
Der Schlaf war ehe in der Welt, als der
Tod. Das Vorbild eher, als die Erfuͤllung.
Auch du wirſt ſterben, das war des Gra-
fen Condolenz, wenn man wuͤrklich traurte
um einen Todten.
Gehſt du aus der Welt, wenn du ſtirbſt?
Deine Seele entſchwebt nur den Duͤnſten die-
ſer Erde! Ewiger Geiſt der Liebe webt im
Athem der Natur, wo der webt, iſt Leben! —
Was mir der Prediger vom Leichenanzuge
im Namen des Grafen ſagte, gefiel mir nicht.
Ich ſtimme mit ihm nicht ein. Warum be-
kleiden wir denn einen nackten Koͤrper, ſelbſt
im Grabe? Wollen wir etwa den Wuͤrmern
etwas zu verbeiſſen geben, ehe ſie an uns
kommen? Dem Menſchen gefaͤllt nichts, was
ein Beduͤrfnis verraͤth. Wir ſind in Geſell-
ſchaft gewohnt, unſere Beduͤrfniſſe zu ver-
hehlen.
[240] hehlen. Wir verehren Leute, die ſich mit
wenigem behelfen, wenn nicht Geldgeitz die
Waage haͤlt. — Man glaubt, ſie ſind ſchon
geſtorben und auferſtanden. Sie ſind ſchon
Vollendete.
Wer in einer großen Stube ſchlaͤft, ſagte
der Graf, bedenkt nicht, wie klein der Sarg
iſt. —
Von unſerm Koͤrper heißts im Tode: La-
zarus, unſer Freund, ſchlaͤft, und es wird
beſſer mit ihm!
Wer viel Leib hat, von dem koͤnnte man
eben ſo gut entleiben ſagen, als nur von dem,
der viel Seele hat, entſeelen geſagt werden
ſolte.
Es gieng alles ſchwarz beym Grafen.
Herr v. W — wuͤrde mit ſeinen Freudenfe-
ſten eben ſo wenig, als mit ſeinem drey Vier-
tel, halb und Viertel-Trauer, bey ihm Gluͤck
gemacht haben. Der Graf kam nicht aus
der Verwunderung heraus, daß ich nur einen
ſchwarzen Flor um den Arm trug.
Seine Bettdecken waren alle ſchwarz.
Es iſt ein falſches Mitleid, was die Men-
ſchen von den Todtenbetten zuruͤckhaͤlt, ſagte
der Graf. Boͤhmiſche Steine, anſtatt Dia-
manten — Glanzgold. —
Der
[241]
Der Graf liebte viel Lichter. Er ſchlief
gerade auf dem Ruͤcken, nie lag er auf einer
Seite. Im Sarge, ſagt er, liegt alles au f
dem Ruͤcken.
Die Jugend iſt witzig wegen der Plane,
die ſie ſich macht, um die Frage zu beantwor-
ten: was werden wir eſſen? was werden wir
trinken? womit werden wir uns kleiden?
Dem Alter ſchmeckt das Leben am beſten. Je
weniger Wein im Keller, deſto beſſer ſchmeckt
er. —
Der Tod hat große Leute bey Buͤchern ge-
troffen. Man wolte vielleicht des Todes Bit-
terkeit mit papierner Unſterblichkeit verja-
gen. — Vielleicht liegt eine Faſſung drinn,
ſich nicht in ſeinen Zirkeln ſtoͤren zu laßen —
ich, ſagte der Graf, halt’ es fuͤr Furcht-
ſamkeit. —
Oft dachte der Graf an einen ſeiner beſten
Unterthanen, der beym Ungewitter unter ei-
nen Baum geflohen, und hier erſchlagen
worden. Auch der Baum war zu Boden ge-
ſchlagen! Da iſt ja Michel ſchon eingeſar-
get, ſagte der Graf, als er dieſen Fall hoͤrte,
und ordnete an, daß dieſer Baum zum Sarge
gebraucht werden ſollte.
QBis
[242]
Bis zum letzten Seufzer, ſagt man. War-
um nicht bis zum letzten Laͤcheln? Weil das
Leben ein Jammerthal iſt, und doch kommt
der letzte Augenblick, die letzte Stunde, ſehr
oft, wie der Geiſt des Herrn im ſanften
Winde. — Da ſieht vielleicht die Seele den
Engel, der ſie aus Sodom fuͤhren will.
Stehe auf, hebe dein Bett auf, und gehe
heim!
Ein boͤſer ſchneller Tod iſt ein guter
Mann, und ein boͤſes Weib. —
Der Tod iſt nicht Gottes peinliche Hals-
gerichtsordnung. Gemeinhin ſprechen wir
uns ſelbſt das Todesurtel. Die Art des To-
des gruͤndet ſich auf die Art unſeres Lebens,
wenn dieſe Todesart nicht ſchon eine Erbſuͤnde
iſt. Der ſtirbt an Zangenriſſen, an Stichen;
der wird verbrant, und ſtirbt am hitzigen Fie-
ber. Der wird gehangen, und ſtirbt am
Schlagfluß. Wir ſitzen alle auf den Tod. —
Wo die Praxis nicht der Theorie vorgeht,
da verdient ſie kaum den Namen.
Jeder Schwindſuͤchtige, der unter meiner
Aufſicht geſtorben, hat den Wunſch geaͤuſ-
ſert, ein hohes Sarg zu haben! So ſind
die Menſchen!
Der
[243]
Der Graf hielt Ahndungen fuͤr Warnun-
gen guter uns verwandter Geiſter, fuͤr Oran-
genbluͤthen, die wir noch aus dem Paradieſe
gebracht. —
Sein Troſt war der Tod! Ich, ſagt er,
bin nicht fuͤr leidige Troͤſter. Gemeinhin iſt
der Troſt ein beglaubtes Zeugnis, daß wir
mit leiden. Wir wollen uns uͤberreden, der
Troͤſter nehme einen Theil Leiden auf ſich.
Wir wollen gewis ſeyn, daß Niemand froh
und gluͤcklich in der Welt ſeyn koͤnne. —
Kunſtrichter, die ihr dieſen Hochgebohr-
nen Mann angreifen wolt, laßt ihn, wenn
ich bitten darf — und iſt es moͤglich; erlaubt
mir die Frage: ob euch vindicta Lycurgi be-
kannt ſey? Ein Studioſus, wie ihr, hatte
dem Lycurgus ein Fenſter eingeſchlagen, oder,
weil euch vielleicht die Lycurgiſche Geſchichte
nicht beywohnen doͤrfte, es war das Auge
ſelbſt, das er ihm ausſchlug. Das Crimi-
nalgericht beſchlos in dieſem beſondern Ca-
ſualvorfall, den Juͤngling dem Lycurgus zur
Strafe zu uͤbergeben. Was eroͤfnete Lycur-
gus fuͤr eine Sentenz? Schickt’ er ihn in die
Feſtung, oder ins Irrhaus? Nein, die Hand,
ſagt’ er zum Augenraͤuber! Studioſus gab
ſie, wie natuͤrlich, Sr. Magnificenz mit Zit-
Q 2tern
[244] tern und mit Beben, und Lycurgus? gab ihm
die ſeinige, und ſo giengen ſie Hand in
Hand — in Lycurgus Haus, wo er ihn un-
terrichtete, nicht, wie arme Suͤnder, ehe ſie
hingerichtet werden, den Schlachtcalekutſchen
Haͤhnen gleich, mit Catechismuslehren ge-
fuͤttert und gemaͤſtet werden, ſondern in Le-
bensregeln, und da der junge Menſch Candi-
dat worden war, ſtellte er ihn vor das Crimi-
nalgericht und fragte dienſtlichſt an: ob ſie
mit dieſem in Rechtskraft uͤbergegangenen
Urtel zufrieden waͤren? Kunſtrichter, der
Graf bietet dir auch die Hand dar, um dich
ſterben zu lehren. Bedenke das Ende, ſo
wirſt du dem Grafen kein Aug’ ausſchlagen. —
Gretchen empfieng mich ſo froh, ſo gut-
thaͤtig, daß wir uns beyde Haͤnde reichten.
Zwar weiß ich es nicht mit vollſtaͤndiger Ge-
wisheit; indeſſen kommt es mir ſo vor, daß
wir uns auch herzlich gekuͤßt haben! — Ein
unſchuldiger Kuß! Waͤr’ er wiederhohlt wor-
den, haͤtt’ ich ihn vielleicht nicht vergeſſen;
alsdenn waͤr er aber auch ſchon vom verbot-
nen Baume geweſen. —
Auf Gretchens Geſicht lag noch viel
Schmerz; indeſſen waren es bloß Narben,
welche
[245] welche nur bey Veraͤnderung des Wetters die
vorige Wunde ins Gedaͤchtnis bringen. —
Ich ſieng an, mein Haus in L — zu be-
ſtellen: ich hatte viel zu beſtellen! So gern
ich gleich noch bey Minchens Grabe geblie-
ben waͤre; ſo wollt’ und konnt’ ich doch nicht
fuͤglich laͤnger weilen. — Ein ganzes Tage-
werk war, die Abhandlung von der Suͤnde
wider den heiligen Geiſt von Anfang bis ans
ſelge Ende zu hoͤren; das Regiſter blos aus-
geſchloſſen. Der Prediger hielt Comma, Co-
lon, Semicolon, Ausrufungszeichen, (deren
viel vorkamen,) Fragzeichen, und wie ſie wei-
ter lauten, dieſe himmliſche Zeichen, wie
meine Mutter ſie benahmte. Ich werde mir
vorſtellen, fuhr der Prediger fort, als ob Sie
mein Bruder waͤren, und nun brach er mit
der Zueignungsſchrift los, und that woͤrtlich
ſo, als ob ich der Koͤnigliche Rath waͤre. Ich
wolt’ ihnen, ſagt’ er beym Anfang der Vor-
leſung, keinen unbeſeelten Odem mitgeben;
keinen todten Koͤrper, ſondern ihm vielmehr
einen lebendigen Othem einblaſen und ſie Ih-
nen emphatiſch vorleſen. Er hielte Wort.
Ausdruck, nicht Eindruck, machte dieſe Ab-
handlung. Man konnte druͤber ſprechen.
Zum weiter nachdenken war ſie nicht einge-
Q 3richtet.
[246] richtet. Ein Unterſchied, der gewis weit her
iſt. Das Schluswort-Regiſter war das Amen
dieſer Taufhandlung. Der Vater uͤbergab
mir dieſes ſein wohlbeſtaltes Kindlein ſo feyer-
lichſt, wie man einem Pathen nur die Frucht
ſeines Leibes uͤbergeben kann.
Mit der Abhandlung ſind wir alſo fertig.
— Noch mehr aber lag mir in L — ob.
Meine Schuld druͤckte mich zu Boden.
Der Prediger in L — war nicht in der beſten
Vermoͤgensverfaßung. Er hatte (dies und
jenes erfuhr ich von ungefehr) verſchiedene
Auslagen bey Minens Begraͤbnis gehabt.
Glocken, Erde, Traͤger und desgleichen.
Dem Organiſten muſt’ ich auch eine geſegnete
Mahlzeit wuͤnſchen: denn, wenn gleich eine
Kraͤhe der andern nicht die Augen aushackt;
ſo hat doch unſer Glaubensvater, D. Luther,
in der vierten Bitte das Holz ausgelaßen,
welches nicht geſchehen waͤre, fals D. Luther
Organiſt in L — geweſen, und wenn gleich
der gute Organiſt ſchon den Abend beym Pre-
diger ſichs wohl ſchmecken lies; ſo koſtet es
doch viel und mancherley, einen Sohn auf
der Univerſitaͤt zu haben, der kuͤnftige Pfing-
ſten predigen und zeigen ſoll, ob er wuͤſte, wo
er zu Hauſe gehoͤre? Oft hatt’ ich ſchon dies
alles
[247] alles uͤberdacht; allein meine Verlegenheit
war bis jetzt noch nicht herrſchend worden.
Das Ende trug die Laſt. Wie ich ſtand und
gieng trat ich meine Reiſe nach L — an, und
wenn ich auch mehr Zeit gehabt, oder mir
mehr Zeit genommen, was haͤtt’ ich mitneh-
men koͤnnen? Eben erwartet’ ich mein Aus-
geding von Hauſe. Wo Brod in der Wuͤſte?
Ohn’ einer Bedenklichkeit Red oder nur Ge-
danken zu ſtehen, gieng ich hin, brach und
las.
„Weißt du was ανέχου και απέχου ſagen
„will? Dein griechiſch haſt du nicht ver-
„geßen, das weiß ich. — Sollte der Geiſt die-
„ſer Worte von dir gewichen ſeyn? Das
„wolle Gott nicht! und die deutſche Note ne-
„ben her: In der groͤßten Noth! — Iſt ſie
„dir entfallen? Pruͤfe dich, ehe du weiter
„brichſt. Es giebt nicht blos Geldnoth, ſon-
„dern auch viele von anderer Art, z. E. Mel-
„chiſedechs-Noth! — ανέχου και απέχου in der
„groͤßten Noth! —“
Ich fand in dem Zimmer meines Amulets,
das ich erbrochen hatte, Schauſtuͤcke, ich
zaͤhlte ſie nicht, ſondern nahm ihrer drey;
zwey fuͤr den Prediger, eins fuͤr den Organi-
ſien. Dem letzten ſchickt’ ich eins hin. Herr
Q 4Predi-
[248] Prediger, ſagt’ ich dem erſten, wegen der ge-
habten Auslagen. Ich zog den beyden Gold-
ſtuͤcken kein weißes Hemd an; denn eben da-
durch wuͤrd’ es ein Geſchenk, eine Verehrung,
geworden ſeyn, und ſchenken, welch ein graͤß-
liches Wort iſt es, unter Leuten, die empfin-
den koͤnnen! Der Prediger kam mir mit ei-
nem gleich kalten: Wofuͤr? entgegen, und
nach einem kleinen Wortwechſel bliebs dabey,
daß ich ihm die baaren Auslagen erſetzen ſoll-
te; als Unterpfand, fuhr ich zwar eben ſo
kalt und ehrlich, allein lange nicht ſo treffend
und anſtaͤndig, fort; ich habe kein ander Geld.
Ich brauche kein Unterpfand, erwiederte der
Prediger, und um der Sache ein Ende zu
machen, geben ſie die Auslagen, die ſich auf
2 Rthlr. betragen, meinem Bruder; dem,
das wußte der Prediger, durft’ ich mit einem
Schauſtuͤck gewis nicht ankommen. —
Daß man doch nicht umſonſt ſterben kann,
ſagte der Prediger, wir ſollen nicht ſorgen fuͤr
den andern Morgen; unſer Arme muß wei-
ter hinaus, und fuͤr ſein Begraͤbnis ſorgen
— — wie der Mann mit dem einen Handſchu.
Der Organiſt erlies ein großes Dankſa-
gungsſchreiben an mich, und bat hoͤchlich ſichs
dagegen aus, die Stellen in ſeiner Abdan-
kung
[249] kung zu ſtreichen, worinn er mir zu nahe ge-
kommen, oder gar zu viel gethan. Ich wuͤr-
de kein Geld um alles in der Welt willen
nehmen, ſezte er muͤndlich hinzu: allein ein
ander Ding Geld, ein ander Ding ſolch
Schaueſſen. Aß doch David von den Schau-
brodten, rief er mahl uͤber mahl aus. —
Noch drang er mir eine ausgearbeitetere Ab-
dankung auf, die ich aber nicht als Beylage
C. ausſtatten werde, eben weil ſie ausgear-
beitet war. Leute, die blos Mutter Natur,
und nicht Vater Kunſt, haben, muͤßen werfen,
nicht legen, Gluͤck greifen, nicht ſortiren. — —
Freylich haͤtt ich bedaͤchtiger mit meinem
Amulet zu Werke gehen, und, wie meine
Mutter, Ja und Nein in zwey Zettelchen
ſchreiben, und eins von beyden ziehen koͤn-
nen — indeßen —
Was meynt ihr Herren Kunſtrichter, wenn
ich die uͤbrigen Goldſtuͤcke (es waren ihrer
zwanzig) unter Euch vertheilen ſollte, wie es
wohl Sitte in Deutſchland war, und noch
iſt, wenn der Verfaſſer ſich einen Titel, oder
Amt, oder des Etwas, an den Hals ſchrei-
ben will? —
Noch war ich mit meinen lezten Dingen
nicht fertig. Ich lies mir die Taxe von den
Q 5Sachen
[250] Sachen meiner Mine methodiſch extradiren,
gab Gretchen eine Abſchrift des lezten Wil-
lens meines ſeligen Weibes, weil Gretchen
mich darum bat. Grethe erhielt dies Anden-
ken auf Minens Grabe. Wir weinten beyde
bey dieſer Gelegenheit. Freunde, wenn alle
Contrakte, alle Verabredungen auf Graͤbern,
an dieſem Altar der Natur, geſchloßen wuͤr-
den, was meynt ihr? Ich liebte Gretchen
nicht; allein ich liebte ihren Schmerz um
Minen, und fand, daß es tief in unſerer Na-
tur laͤge, wenn man was liebes verlohren,
ſich ſogleich mit was Lieben zu verehelichen.
Einer Wittwe, einem Wittwer, iſt vielleicht
die zweyte Ehe, in den erſten ſechs Wochen
noch am erſten zu vergeben. Gretchens Mut-
ter wolte, das ſah man, daß Gretchen meine
Mine wuͤrde. Gretchen ſelbſt verlangte feyer-
lichſt von mir, daß ich wenigſtens (auf dies
wenigſtens der Ton) noch einmahl (auf noch
einmahl wieder) nach L — kommen moͤchte,
ehe ich von hinnen zoͤge. Des Grabes wegen,
ſetzte ſie mit einem Seufzer hinzu, der mir
durch die Seele gieng. Der Prediger dachte
an weiter nichts, als an ſeine Abhandlung
von der Suͤnde wider den heiligen Geiſt.
Lieben
[251]
Lieben Leſer! Kann ich dafuͤr, daß ich ſo
oft dran denken muß? Die Autorſchaft koͤnnte
wuͤrklich ſolch ein Punkt, ſolch ein ſchwarzer
Fleck ſeyn, auf den man im Leben und im
Sterben ſtarr hinſieht, um alles andere weit
zu uͤberwinden. — Oft iſt ſie’s wuͤrklich!
Gretchen ſagte mir gerade heraus, daß ſie
einen gefaͤhrlichen Eindruck befuͤrchtete, den
meine Abreiſe auf ihre ungluͤckliche Mutter
machen wuͤrde. Sie iſt Ihnen gut, ſetzte ſie
hinzu (und ward roth, nachdem die Worte
weg waren) als waͤren Sie Ihr Sohn.
Wenn ſie nur nicht glaubt, ſagte Gret-
chen: es ſey eine Linde ausgegangen, wenn
Sie abreiſen. —
Dieſe Befuͤrchtungen machten eine all-
maͤhlige Entfernung von ihr vor meiner Ab-
reiſe nothwendig. Vergeſſen Sie uns all
und Gretchen nicht — ſagte die Lindenkran-
ke, da ich Abſchied von ihr nahm. Gretchen
kuͤßt’ ich nicht; allein beyde Haͤnde reichten
wir uns. Ein paar Stunden vor meiner Ab-
reiſe lies ſich der Juſtizrath Nathanael an-
melden. Wenn ich nicht mehr da waͤre, lies
er ſagen, um meinen Schmerz nicht aufzu-
bringen, nicht zu erneuern. Ich bat Gret-
chen,
[252] chen, ihn zu gruͤſſen. Mich? fragte ſie.
Sagen Sie ihm, ich wendete mich zum Pre-
diger, daß Mine ihm von Herzen vergeben
habe. — Gretchen hat das Teſtament. —
Und ſo kam ich mit dem kuͤnſtlich gewin-
delten mir auf die Seel gebundenen Werk-
lein von der Suͤnde wider den heiligen Geiſt
nach Koͤnigsberg. Mein Gefehrter ſprang
mir um den Hals, da er mich ſahe, und herz-
te und kuͤßte mich. Zu Hauſe? fieng ich an.
Seit ehegeſtern, erwiederte er, hauſe ich, ich
hab es der Blonden in einem ſchwachen Stuͤnd-
lein verſprochen, weil eben heut ein Lauten-
concert, dem Vater zu Ehren, aufgefuͤhret
wird. Geſtern war die Probe. Es ward
bey der Probe alles durchs Fenſter geſpielt.
Heut bin ich in beſter Form gebeten — aber
du kommſt mit, wenn nicht, ſo ſoll auch heu-
te die wuͤrkliche Auffuͤhrung durchs Fenſter
geſchehen. Aber? fieng ich an, ohn’ aufs
Mitkommen ein Wort zu geben, und ſahe ei-
nen Stoß Buͤcher und Schriften. Beym
Scherz muß Ernſt ſeyn, beym Zeitvertreib
Arbeit, dic, cur hic! Schoͤn, dacht’ ich, und
v. G. (er hies Gotthard mit dem Vornamen)
fuhr fort, da hab’ ich mir einige Buͤcher uͤber
Jagdgerechtigkeit und Jagdungerechtigkeit,
uͤber
[253] uͤber fas und nefas in dieſer freyen Kunſt,
nicht minder die cunterbunte preußiſche Jagd-
verordnungen geben laßen, Bruder, ein Stu-
dium, um den Tod zu haben! freylich mehr,
als Jagdterminologie, wodurch man fuͤr
Fund Zeitlebens ſicher iſt, und noch dazu
Fund andern zuwenden kann. Indeßen ſag
mir, du biſt doch ein kluger Kerl, wie kom-
men die regierende Herren dazu, die Jagden
zu Herrlichkeiten und Geſtrengigkeiten zu
rechnen, und ſich druͤber ſolche Rechte anzu-
maßen, als ob ihnen das liebe Wild naͤher
waͤre, als Schaafe, Ochſen allzumal? Da
hab ich ſchon gedacht, daß ſie ihre allerunter-
thaͤnigſt treugehorſamſte Sclaven nicht zu ge-
nau mit dem Wilde bekannt machen wollen,
um ſie nicht auf Wildgroße Gedanken zu brin-
gen, aus dem Schaafſtall ins Freye. —
v. G — brachte mich durch einige Be-
trachtungen, die nicht aus dem Stall waren,
zum Aufruf. Bruder, exclamirt’ ich, du
entzuͤckſt mich, du biſt ohne die Concertprobe-
Zeit abzurechnen, die du am Fenſter verhoͤrt
haſt, noch nicht vier und zwanzig Stunden
zu Hauſe, und ſprichſt ſo wahr! Und wenn
ich immer zu Hauſe bliebe, fiel er mir jagd-
eifrig ein, gelt! dann waͤr’ ich Sclave uͤber
Sclave.
[254] Sclave. Nicht alſo, ſagt’ ich, wenn je die
Freyheit noch einſt in ihrer edlen einfaͤltigen
Geſtalt auf Erden erſcheinen ſoll, wenn je —
ſo kann ſie jezt nur aus der Studierſtube aus-
ziehen. Der Heerfuͤhrer Moſes war unter-
richtet in aller egyptiſchen Weisheit. —
Da kam eben ein Bothe, der mich mit
zum Concert einlud. Man hatte mich kom-
men ſehen und hofte gewis —
Ich war ſo wenig geſtimmt, eine ſolche
Diſſonanz anzuhoͤren, daß ich gerade zu ab-
ſchlug. Junker Gotthard, dem ein Men-
ſchenſtimmhammer ohnedem nicht eigen war,
und der keine meiner Herzensſaiten in Har-
monie ziehen konnte, nahm indeßen das Wort,
ſagte dem Bothen: ich werd ihn mitbringen.
Dieſer gieng, und ich mochte wollen, oder
nicht, ich muſte. Freylich, ſagte Junker
Gotthard, wirſt du heute nur die Hochzeit ſe-
hen, die Verlobung iſt vorbey, wie du zu ſa-
gen pflegeſt. Wer kommt indes in der Welt
immer zur Probe?
Herr v. G — hatte nicht die mindeſte
Neugierde, Geheimniſſe zu hezzen, oder zu
ſchießen. Ich reiſete, ich kam, ohne daß er
was, und wie, und wo wuſte. Mein Herz
brach mir uͤber den guten wilden Jungen.
Ich
[255] Ich wuſte wohl, daß Theilnehmung ein Wun-
der in ſeinen Augen ſey, und doch ſagt’ ich
ihm alles. Ohngeſagt verſtand er nicht, das
wuſt’ ich, einen Herzensbruch, die ſchreck-
liche Ohnmacht eines beklemmten Herzens,
den Worts-tod auf der Zunge, das Beben auf
der Lippe, wo man ſonſt mit ſichtlichen Augen
den Geiſt ſieht, der den allerfeinſten Koͤrper
von Wort (waͤr’ es auch ein bloſſes Ach!)
zu ſchwerfaͤllig fuͤr ſich findt. Ich ſagt’ ihm
alles, und muſte mich wahrlich zwingen zu re-
den; denn wer kann in ſolchen Herzensnoͤ-
then, wer kann mehr, als abgebrochen ſeyn.
Ich war diesmahl ſo gluͤcklich, ſolche Worte
zu ertappen, daß ich den Junker Gotthard in
Bewegung ſetzte. Bruder, ſagt’ er, du jam-
merſt mich! Das war viel!
Nach einer Weile — wenn ich das gewuſt
haͤtte, ich haͤtte dich zu Hauſe gelaßen, und
waͤre ſelbſt zu Hauſe geblieben. Hiebey ſtand
er auf; denn er ſaß bey ſeinen Jagdſchriften.
Haͤtte v. G — dieſen Period nicht mit Wenn
angefangen, was haͤtt’ ich mehr erwarten
koͤnnen? was meine Leſer? Was fehlte denn
zum thaͤtigſten Beweiß einer lebendigen leib-
haftigen Theilnehmung? O waͤr’ es dabey
geblieben! ſi tacuiſſes —
Schon
[256]
Schon war ich entſchloſſen, nach einem
ſo guten Anfange meinem lieben v. G — Em-
pfindung beyzubringen, die Jagdwerke ohn-
vermerkt zuzumachen, um ihn zur Abſage des
Lautenconcerts zu bequemen, da er wieder,
um ſeinen Ausdruck zu adoptiren, ins Zeug
geſetzt war. Urploͤtzlich war er wieder da,
mit Flinte und Taſche und dem Satanas.
Haͤtteſt du denn, fieng er von freyen Stuͤ-
cken an, und ſetzte ſich wieder, haͤtteſt du denn
nur eine ſchmucke Mine? Bruder, erwidert’
ich, und wollte was anders ſagen, Bruder,
wir gehen aufs Concert.
Junker Gotthard wolte zwar ſeine Frage
durch eine andere wieder gut machen, und
ſchwor mir hoch und theuer, daß ich wie
eine Waſſerſuppe ausſaͤhe, ſo verzweifelt wie
ein gejagter Hirſch; allein unſere Empfin-
dungsſtunde war vorbey. Ich ſchlos die
Suͤnde wider den heiligen Geiſt in den nehm-
lichen Kaſten, wo mein
ανεχου και απίχου
deſſen Vorhang bis zum Allerheiligſten, wie
mich duͤnkt, gezogen war, an einen Ort, doch
ſo, daß ſie nicht zuſammen kamen. Zwey-
mahl ſchloß ich den Kaſten auf, und legte ſie
jedesmahl noch mehr auseinander, recht, als
ob
[257] ob ich beſorgte, ſie koͤnnten ſich doch wohl zu
nahe kommen und Schaden thun, und nun
gieng es an eine ſtaͤtiſche Laͤuterung, die ich
nicht noͤthig gehabt haͤtte, wenn Grete die
Heldin, prima donna, dieſes Concerts ge-
weſen.
Was ein ander Kleid, ein gewiſſes ſtaͤdti-
ſches Weſen, eine gewiſſe Koͤrpertracht, aus
der der Tanzmeiſter alles ſchlichte natuͤrlich
gute Weſen heraus gegeigt und herausgebro-
chen, machen kann, wird jeder wiſſen, der in
Rom und auf dem Tuſkulan geweſen.
Ich gieng mit meinem guten v. G — zum
Concert, wo ich Lichter und Kleider von
Gold und Silberſtuͤck uͤber alle Maaß und
Gewicht fand.
Was mir ſeit einiger Zeit dergleichen
Pracht und Herrlichkeit widerlich iſt! Ein
wahres Theater! Da gieng ich leiſe hin und
her, ohne, daß ich hoͤrte. Ein paar Toͤne
kamen mir ſo vor, als haͤtten ſie was aͤhnli-
ches von den Glocken aus L — und denn ein
paar Adagiosſtellen, als waͤren ſie aus dem
Liede: Nun laßt uns den Leib begraben,
und das ruͤhrte mich ſo, daß mir alles nicht
etwa verkuͤmmert war, nein, ſondern ſo, als
waͤr’ es gar nicht. Der Herr des Feſtes ſollte
Rdurch
[258] durch dieſe Solennitaͤt uͤberraſcht werden,
mithin haͤtt’ er thun muͤſſen, als wuͤßt’ er
nicht, was Trumpf waͤre. Er wollt’ es auch,
wie mich duͤnkt; indeſſen zeigte ſeine lichter-
loh brennende goldne Weſte das Gegentheil.
All ſein Tichten und Trachten fiel zuſehens
dahin aus, daß ihm dieſe Feyerlichkeit, die
im Finſtern geſchlichen, nicht unbekannt ge-
blieben. Er ſahe leibhaftig wie das Ziel aus,
nach dem geſchoſſen ward.
Ich merkte bey aller meiner Zerſtreuung,
daß Amalia der ſchmucken Trine des guten
Junker Gotthards Abbruch gethan, und ob-
gleich er gewiß mehr, als eine, in dieſer Ge-
gend (wieder ſein Ausdruck) auf dem Korn
hatte; ſo ſchien doch Amalia das Schnupf-
tuch empfangen zu haben. Jene mit ſchwar-
zem Haar, wie Ebenholz, wobey eigentlich
Junker Gotthard titulo inſtitutionis honora-
bili zum Erben eingeſetzet war, hatt’ es we-
gen der zehn tauſend Liebesgoͤtter auf dem
Buſen, die bis auf zehn reducirt wurden, ver-
dorben. Amalia hatte ſehr wohl bedaͤchtlich die-
ſen Abend alles, was ihr nachtheilig ſeyn konn-
te, entfernet; ſie allein wollte mit ihrer blonden
Stirne ſiegen und mit ihrem wallenden herauf
bebendem Buſen, und mit ihrem dahin flieſſen-
den
[259] den Ordensbande, und mit allem, was der
Teſtator ſo puͤnktlich von ihr angegeben hatte.
Ich hoͤrte es Amalien in der Kopie an
(das Original, die Probe, war wie bekannt,
vorbey,) daß ſie von ganzem Herzen dem
Junker Gotthard zuſpielte, daß ihr Herz alle
ſeine Gedanken und Begierden der Laute an-
vertraut hatte, die alles wieder raunte, was
ſie wuſte! Nur Schade, daß es eine Laute
war! Wenns ein Waldhorn geweſen waͤre,
wuͤrde v. G — es eher verſtanden haben. Den
Lautenzug verſtand er nicht. Amaliens Auge,
das wahrlich nicht ins Ohr ſprach, ſondern
vernehmlich ſich auslies, dies redende Auge
verſtand v. G —, wies ſchien, ſtellenweiſe. —
Er war eine lebendige Seele worden. —
Vater und Mutter, obgleich beyde auch
bey dieſer Gelegenheit ſo thaten, als der Haus-
vater beym heutigen Namenstage, konnten
doch eine gewiſſe Freude von lichterloh bren-
nender goldnen Weſte nicht bergen, welche ſie
uͤber dieſe Augenvertraulichkeit (es war mehr
als Augenumgang) verſpuͤrten.
Wenn ich den Junker Gotthard nicht, als
einen ſo jagdgerechten Jaͤger und einen, der
mehr als eine ſchmucke Trine und ſchmucke
R 2Amalia
[260] Amalia zu lieben verſtuͤnde, gekannt, wuͤrd’
ich ihn ſtehendes Fußes gewarnt haben; allein
jetzt, dacht’ ich, wird ſich alles geben. —
Da fand ich ein Glas voll Roſen, zwar
auſſerhalb der Jahreszeit, wie alles am Hof’
und in der Stadt iſt, doch anziehend. Vier
Roſen waren aufgebluͤht, und eine Knoſpe.
Gott verzeih mir meine ſchwere Suͤnden, daß
mir in einem Muſikzimmer, bey ſo viel Glanz
und Lichtern, nur Mine einfiel. — Der graͤf-
liche Todtengraͤber liebt auch viele Lichter,
und man ſage, was man will, Lichter (die
Menge thut nichts dagegen) haben etwas
melancholiſches, etwas von Mondſchein bey
ſich. — Eine heilige! — meine heilige! — mein
Schutzgeiſt — wie in dieſem Saal der Eitel-
keit? — Wie ſtimmet Himmel und Erde, See-
ligkeit und Weltfreude? Doch, war es nicht
bey einer Roſenknoſpe, ihrem Ebenbild! —
Da war dies Knoſpchen unter ihren auf-
gebluͤhtern Schweſtern. Es ſchien gerungen
zu haben, ſich heraus zu helfen: allein ver-
gebens. Bleich, abgezehrt, begab es ſich in
die liebe Geduld; es ſpuͤrte wohl, daß es nie
zum Aufbruch kommen wuͤrde. Gott dacht’
ich, und ſah gen Himmel! Eine Platztraͤne
fiel
[261] fiel aus meinem zum Himmel andringenden
Auge, das ich uͤber dieſen Roſenbuſch hielt. —
Dieſe Thraͤne! entblaͤtterte die Knoſpe. —
Ob ſo, oder anders. Die Blaͤtter fielen aus
einander, und ich! — — Wer ſo ſtirbt, der
ſtirbt wohl. —
Ich gieng, oder lief, wie es kam, wie-
der in die Stunden. Meine Abweſenheit war
mir nicht nachtheilig — ich half mir ſelbſt
nach, und da ich mit den beſten meiner Bey-
gaͤnger, oder Beylaͤufer, collationirte, fand
ich hier und da eine andere Ader! Auch gut,
dacht’ ich! Man muß Gott mehr gehorchen,
als den Menſchen. Man muß das Fund,
das uns der Herr anvertraut hat, nicht ins
Schweistuch vergraben, ſondern es anlegen,
damit es Fruͤchte bringe, zu ſeiner Zeit.
Mein Vater pflegte zu ſagen: alle Philo-
ſophie will den Menſchen ſtill machen. Er-
innerſt du dich nicht an ſchoͤne Abende, wo
ſich kein Blaͤdchen am Baum bewegt, wo die
ganze Natur, wenn ich ſo ſagen ſoll, beym
lieben Gott in der Kirch’ iſt und Ihn, nur
R 3Ihn
[262] Ihn, anhoͤrt; und die Sphaͤrenorgel; wo
auch ein Lied: Freu dich ſehr, o meine
Seele, und vergiß all Angſt und Quaal
geſpielt wird; allein wahrlich von anderm
Innhalt, und wahrlich auch in andrer Melo-
die, als es deine Mutter ſingt. Wahrlich,
die Philoſophie will uns in Stille bringen!
Es ſoll ſich kein Blaͤdchen an uns bewegen,
kein Vergnuͤgen, kein Schmerz, ſoll bis zu
unſrer Seele eindringen, es ſey denn der
Schmerz, der Seligkeit wirket, der Schmerz
wegen verletzter Pflicht. Nicht jeder Schmerz
iſt Traurigkeit; nur alsdenn wird ers, wenn
er bis zum Gemuͤthe kommt. Nicht jede Ruh’
iſt Froͤhlichkeit; ſie wird es nur, wenn wir
das Vermoͤgen beſitzen, alle Vorfaͤlle unſeres
Lebens aus dem Geſichtspunkte zu betrachten,
der uns auf irgend eine Art an dem unange-
nehmen Vorfall ein Vergnuͤgen verſchaft, eine
Sonnbeſchienene Stelle zeigt. — Wir ſind
leidend bey Affekten, ſchickt ſich das fuͤr uns?
Schickt ſich, paßiv zu ſeyn, fuͤr Maͤnner?
Man verachtet jeden Menſchen, wenn er im
Affekt iſt, Weiber weniger; denn ſie ſind zum
Leiden gemacht. Woher die Verachtung?
Weil die Menſchheit herabgeſetzt iſt, und die
Thierheit auf dem Throne ſitzt und tyranni-
ſirt?
[263] firt? Wohl, recht tyranniſirt. Beym Affekt
tritt die dumme Figur ein: Pars pro toto. Der
Theil iſt ſo groß, als das Ganze. Ein Theil
der Beduͤrfniſſe uͤberwiegt Summa Summa-
rum aller Beduͤrfniſſe. Eine Neigung uͤber-
wiegt die Sammlung aller Neigungen. Es
iſt ein Monſtrum, ein Mannskopf und Kind-
fuß, oder umgekehrt. Neigung iſt ſchon
Schwachheit; indeſſen behaͤlt ſie noch immer
eine Klarheit; allein im Affekt, wo biſt du
Sonne blieben? Der Tag iſt ſchier dahin. —
Alle Thiere ſind des Vergnuͤgens und
Schmerzens, nicht aber der Freude und Trau-
rigkeit faͤhig; denn dieſe entſtehen nur als-
denn, wenn wir von dem Huͤgel unſers jetzi-
gen Zuſtandes unſern ganzen Zuſtand uͤber-
ſchauen. So weit reicht das Auge des Thiers
nicht; waͤr’s auch ein Elephant. Der Menſch
iſt Thier; wenn er ergetzt wird, wenn er
Schmerz empfindet, kann es ihm wohl ver-
dacht werden? Nur auſſerordentlich freudig,
auſſerordentlich traurig zu ſeyn, iſt ihm un-
anſtaͤndig.
Der Eifer fuͤr des Herrn Haus, der edle
Zorn fuͤr die Rechte der Weisheit, die Ent-
zuͤckung uͤber das Gluͤck der Menſchheit, klei-
den einen Menſchen; weil ſie den Menſchen
R 4dahin
[264] dahin leiten, wo kein Affekt mehr ſeyn wird.
Dies Reich Gottes (mein Vater nannte Reich
Gottes was zwar hinein gehoͤrt, allein es
eben nicht iſt, Pars pro toto) wird ſchon in
dieſer Welt kommen, kann kommen; allein
dort iſts gewiß, drum ewige Ruhe! Die
Suͤnde iſt der Menſchen Verderben, und das
Verderben iſt die Quelle aller das Gleichge-
wicht habenden Leidenſchaften, ſie moͤgen uͤbri-
gens ſeyn, welche ſie wollen, angenehm oder
unangenehm. — Am Ende ſind ſie all’ un-
angenehm, glaubt mir!
Dieſe Predigt, welche meinen Leſern kei-
nen Dreyer in den Seckel gekoſtet hat, dieſe
Wiederhohlung einer parenaͤtiſchen Stunde,
wie wandt’ ich ſie an? So wie man gemein-
hin alle Predigten ohn und mit dem Seckel
anzuwenden pflegt. Faſt koͤnnt’ ich ſagen,
daß ich dies alles angeſehen, wie die Henne
ihre Ausbrut junger Enten, womit ſie die
Hausmutter betrogen hat, wenn ſie ſchwim-
men. Es iſt noch lange nicht alles geſagt in
der Welt, was geſagt werden kann, weit we-
niger iſt alles gethan. Was that ich aber?
Was konnt’ ich thun? Da Mine lebte, ſah’
ich ſie uͤberall. Ich ſtudirt’ an ihrer Hand.
Jezt, da ſie im Himmel iſt, ruhete ihr Geiſt
auf
[265] auf dem Meinigen. Ich konnte nicht ſo
gluͤcklich ſeyn in L—, wo ihre Gebeine ruhe-
ten, koͤrperlich mit ihr zuſammen zu ſeyn, und
eben dadurch, nach der Meynung des Gra-
fen, laͤnger ſie zu haben, laͤnger ſie zu beſitzen.
Es war mithin alles im Geiſt. Wahrlich,
unſere Liebe war Geiſt zu Geiſt, war himm-
liſch, war auserwaͤhlt — ich wallfahrtete ſo
oft ich konnte auf alle Kirchhoͤfe, chriſtliche
und unchriſtliche, und las mir einen aus, wo
ich Minens Andenken ſtiften wollte. Dieſen
fand ich an einer Kirche, die man die Roß-
gaͤrtſche nennt.
Der Tod, Freunde, iſt natuͤrlich fuͤrchter-
lich! Der Denker, der ſein eigen Licht hat,
und der gemeine Geiſt, der ſein Licht von der
Sonne borgt, muͤßen gleicherweis ihre Zu-
flucht zur Kunſt nehmen, um den Tod ſich
leidlich vorzuſtellen, und da kommt es mit auf
die Oerter an, wo man uns hinbringt.
Gewoͤlbe ſind das nicht Oerter, wo einem
Angſt und bange wird. Der Moder, der
Todtengeruch, womit wir unſere Kirchen ver-
peſten, wie ſchrecklich zieht er dahin und da-
her, wenn er eingemauert wird? Bringt
den Todten in die freye Luft, er iſt leben-
R 5dig.
[266] dig. — Schließt den Geſundeſten ein, er
verweſet. —
Meine Kirchhofsidee fand ich auf dem
roßgaͤrtſchen Kirchhofe am gruͤndlichſten in
ganz Koͤnigsberg ausgefuͤhrt.
Ein vortreflicher gruͤner Platz, mit Baͤu-
men unordentlich beſetzt, zuweilen viere nicht
weit von einander, und unter ihnen ein Grab,
das ſie bedecken, zuweilen ganze Stellen, als
ein Wald, und dann ein Monument, wie ver-
lohren, nicht nach Regeln der Kunſt, ſondern
ſchlechtweg gearbeitet. — Ein lebendiger Zaun
unterſcheidet einen kleinern Kirchhofstheil vom
groͤſſern. — So vortrefliches Grasgruͤn auf
dieſem eingeſchloßnen Platz, daß man ſich
das Auge dran ſtaͤrken kann. Vielleicht wird
hier das Taufwaſſer ausgegoſſen. Die andre
Seite dieſer Kirchhofs-Parentheſe gehet nach
dem Waſſer. Dieſer Einſchluß, dieſer Kirch-
hof im Kirchhof, dieſer Status in Statu, nimmt
die Gebeine der verſtorbenen Herrnhuͤter an
Kindesſtatt an, die, nach dem ſehr preciſen
herrnhutſchen Kunſtwort, das auch dem Gra-
fen v — eigen war, nicht ſterben, ſondern
heimgehen. Da ich nach meines Vaters
Weiſe bey allen dergleichen Dingen durch die
große Pforte zu gehen gewohnt war; ſo blieb
ich
[267] ich auch mit meiner Mine auf dem unver-
zaͤunten Hauptkirchhofe. O hier iſt gut ſeyn!
Man kann ſich auf dieſem Kirchhofe kaum
des Gedankens erwehren, daß die Abgeſchie-
denen hier im Mondenſchein ſich regen und
bewegen, wie meine Mutter ſich ausdruͤcken
wuͤrde.
Der Todtengraͤber dieſes Sprengels woh-
net ohnweit dem Kirchhofe; ſein Hauptfen-
ſter gehet hinein. Da er mich unfehlbar mit
Einem Geſichte, worauf Tod und Begraͤbnis
deutlich zu leſen war, herumwanken und Stell’
und Ort ſuchen ſahe, kam er mit einer eiſer-
nen Stange zum Vorſchein, und fragte mich,
was mein Begehren ſey? Die eiſerne Stan-
ge diente ihm beym Grabmachen, um zu ver-
ſuchen, ob auch tief genug, ohne einem fri-
ſchen Sarge zu nahe zu kommen, gegraben
werden konnte. Ich kann den Kirchhof em-
pfehlen, wenn es was zu begraben giebt,
fieng er zu mir an. Wie ſehr uͤberraſchte mich
der Todtengraͤber mit ſeiner Stange und ſei-
ner Frage! Ich erwiedert’ ihm mit ſchwerem
Herzen, daß ich ein Liebhaber von Kirchhoͤfen
waͤre, und eben einen getroffen haͤtte, der mir
ſehr gefiel. Sie ſind nicht der erſte, der die-
ſen Kirchhof ſchoͤn findet. Der Graf v —
beſucht’
[268] beſucht’ ihn, ſo oft er nach Koͤnigsberg kam.
Ich bin bey ihm einige Jahre in Dienſt ge-
weſen, ſezt er hinzu. — So, dacht’ ich, biſt
du ein wuͤrklich ausgelernter zuͤnftiger Tod-
tengraͤber, bey ſolch einem Meiſter! —
Nach dieſen Umſtaͤnden fand ich es nicht
laͤnger ſchwierig, dieſen ausgelernten Todten-
graͤber in mein Herz tiefer hinein ſehen zu
laſſen. Ich habe, ſagt’ ich, eine Schweſter
verlohren, die ich ſehr liebte, und an die ich
gern hier auf dieſem Kirchhofe denken will.
Ich gehe darauf aus, mir einzubilden, daß
ſie hier begraben ſey, um mich mit dem An-
denken an ſie deſto feſter zu binden, das dau-
ren ſoll, bis daß auch ich begraben werde.
Sterb ich in Koͤnigsberg, verſteht ſich, iſt
hier mein Grab. Der Todtengraͤber, dem mit
dergleichen idealiſchen Graͤbern, bey denen er
ſeine Stange nicht brauchen konnte, nicht im
mindeſten gedient war, widerrieth mir, ob-
gleich er einige Jahre beym Grafen v— ge-
dient, dieſe Imaginationen, die keinem Men-
ſchen was einbraͤchten, wohl aber dem, der
ſich mit ihnen in Vertraulichkeit einlaͤßt, an
Leib und Seel ſchaden koͤnnten. Ich glaubte
zu merken, worauf es bey dieſem Ehrenmann
ankaͤme, und nachdem ich mich ſeiner Gebuͤh-
ren
[269] ren halber erkundiget, und ihm noch einmahl
ſo viel in die Hand geſteckt hatte, als ein
wuͤrkliches Grab galt, weil ich ein idealiſches
Grab bey ihm beſtellte; ſo fand er weniger
Bedenklichkeit bey meiner Sache, und lies es
mir ſelbſt uͤber, ein Plaͤtzchen fuͤr meine Phan-
taſie auszuſuchen. Er fragte mich zum Be-
ſchluß, wie alt ich waͤre, und ſchuͤttelte, da
ich ihm antwortete, den Kopf. Ich fragt’
ihn zur Wiedervergeltung, wie lange er beym
Grafen v— gedient haͤtte, und ſchuͤttelte, da
er mir antwortete, ſieben Jahr, auch den
Kopf.
Wir hatten, glaub’ ich, beyde gleiche Ur-
ſache zum Schuͤtteln.
Ich ſuchte hin und her eine Stelle fuͤr mich
zum Monument, und ſah endlich einen Baum,
den ein andrer nicht blos angefaßt hatte. Er
hatte ſich hinan gewunden. Der Todtengraͤ-
ber, der ſeine Amtspflicht vollbracht hatte,
und mit ſeiner Stange nach Hauſe zu gehen
im Begrif war, ſahe ſich zum Gluͤck noch ein-
mal um. Ich winkt’ ihm nicht; allein er ſa-
he die Frag im Aug’ und kam.
- ich. Dieſe Baͤume
- er. von ſelbſt zuſammen
- ich. ſelbſt?
er.
[270]
- er. ohne Menſchenhaͤnde.
- ich. und begraben?
- er. ein junges Paar.
- ich. Paar?
- er. wie ich ſage. Schade, daß ihr Verluſt
eine Schweſter iſt, ſonſt eine Stelle fuͤr
Sie, wie gewonnen. - ich. Wer zuerſt?
- er. ſie.
- ich. Gott!
- er. es war ein Maͤdchen, das Liebe hatte,
bey jung und alt. Die Eltern, wies doch
immer ſo geht, wollten ſie zwingen, und
ſie wollte ſich nicht zwingen laßen. Sie
liebt’ einen jungen Menſchen, deßen Vater
das iſt, was ihr Vater iſt. Kein Finger-
breit mehr, oder weniger. Die Eltern
wollten hoͤher mit ihr heraus; endlich ſa-
hen ſie, es gienge nicht, denn das Maͤd-
chen graͤmte ſich zuſehens. In der Gemei-
ne kenn’ ich meine Kundleute aufs Haar.
Da ſollten wohl zehn eingeſchnuͤrte ver-
heimlichte Schwangerſchaften der Hebam-
me des Creyſes eher entgehen, als mir ei-
nes, das an Grabes Bord iſt, obgleich ich
auch mich auf die geſegneten Umſtaͤnde und
Leibeserloͤſung, wiewohl nur nach Augen-
maas,
[271] maas, verſtehe. Ein Aug’ iſt bey unſer
Einem die andre Hand. — Diesmahl
glaubt’ ich ſchon, mich zu irren. Ich irrte
mich wuͤrklich; die Eltern ſagten endlich
Ja zur Heyrath, und alles ſagte Ja. Das
Maͤdchen erhohlte ſich zuſehens. Verlo-
bungen kommen unſer Einem ſelten zu Oh-
ren. Die Leute halten mich fuͤr ein Stuͤck
vom Tode, fuͤr einen Verwandten des To-
des, und wollen mit dem Tode bey der-
gleichen Gelegenheit nichts zu thun haben;
obgleich der Tod immer hinterm Stuhl
ſteht, es ſey bey einer Verlobung, oder
ſonſt. Es iſt, duͤnkt mich, zu ſehen, daß
ich ſo gut lebendig bin, wie einer, und
wenn der Tod bedenkt, daß unſer Einer
ihm gewiß iſt, und daß er ihn aus der er-
ſten Hand hat, ſo geht er lieber auf die
Jagd, als daß er nach dem Haushahn
greift. — - ich. Das Maͤdchen, Freund, das Maͤdchen
erholte ſich — - er. Ja wohl, erhohlte es ſich. Iſt die Ver-
lobung nicht vorgefallen; ſo haͤtte ſie doch
vorfallen ſollen. Es war alles: Ja und
Amen, und da ſtarb es, wie eine Knospe
Roſenroth, und nun giengs ans Heulen und
Zaͤhnklappen.
ich.
[272]
- ich. und er? er?
- er. er? weis Gott wies war, er iſt am Tode
geſtorben. Es hat ihm ſo wenig gefehlt,
wie Ihnen und mir. Sie ſtarben einan-
der ſo nach, wie Blitz und Donner. So
was hat man bey Menſchen Gedenken nicht
erfahren! Die Nachbaren und desgleichen
ſagten nun freylich wohl, daß der liebe Gott
an ihnen ein Exempel ſtatuiret, weil ſie
doch vom verbotenen Baum eſſen, und den
lieben Eltern der Braut ungehorſam wer-
den wollten. Sie meynten es gut mit ihr,
und dachten hoͤher mit ihr heraus. — - ich. Ach Freund! Sie iſt hoͤher heraus, wie
wir alle! - er. Ja, wenn Sie’s ſo nehmen, hab ich
nichts dawider. Sonſt pflegts zu heiſſen:
wer den Eltern nicht folgt, der folgt dem
Kalbfell. Hier gieng ſie einen andern Weg,
und er folgte.
(Das Spruͤchwort: wer den Eltern nicht
folgt, folgt der Trummel, fiel mir ſo auf,
daß ich aus der Weiſe kam; indeßen er-
hohlt’ ich mich nach einer kleinen Weile,
und lenkte das Geſpraͤch zuruͤck auf ihn
und ſie.) - ich. Aber dieſe Baͤume?
er.
[273]
- er. Ein lebendiger Leichenſtein, zum Zeichen
der froͤhlichen Auferſtehung geſetzt. Ihr
ſetzten ſeine Eltern dieſen lebendigen Lei-
chenſtein, ihm die Mutter der Seligen,
mit Zuziehung der Kirchhofs-Obrigkeit. - ich. Mit bebender Hand. —
- er. Kann nicht ſagen, was man ſetzt, muß
mit Herz und Hand geſetzt werden, ſonſt
gehts auch ſo fort. — — Ohne mich
kann kein Grab gegraben und kein Baum
gepflanzet werden. Auf dieſem Acker bin
ich, ohne Ruhm zu melden, Gottes Gaͤrt-
nierer, ſo wie der Herr Pfarrer ſein Diener
iſt in der Kirche. — Die Mutter der Se-
ligen hatte den Glauben, daß dies Paar-
chen dort Hochzeit machen wuͤrde; obgleich
ichs ihr ohn End’ und Ziel ſagte, ſie werden
dort weder freyen noch freyen laßen. Noch
kann ſie Niemand von den Gedanken ab-
wendig machen; ich wenigſtens gebe meine
Kunſt auf: denn ſehen Sie die Baͤume
wurden mit Herz und Hand ſo hingeſetzt,
mir nichts, dir nichts. Wahrlich ein ſtark
Stuͤck! Dieſer Baum da, auf Ehr und
Redlichkeit, ſchlung ſich um den andern ſo
herum, daß es nun freylich ſo ausſieht, als
waͤren ſie um einander gewunden.
SWie
[274]
Wie mich dieſe Zugabe des Todtengraͤ-
bers geruͤhrt, mag jeder meiner Leſer ſelbſt
empfinden, der ſich dies in einander geſchlun-
gene Paar Baͤume ſo lebhaft vorſtellen kann,
als ich! Da lag ich, und Mine im Geiſt in
meinem Arm! Die Baͤume — waren Linden.
Bis hieher hat der Herr geholfen, ſagte
Samuel, da er einen Stein zum Altar hin-
legte, und auch ich; ihr wißt es, ihr heiligen
Graͤber und ihr Baͤume, die ihr mit ihnen ſo
nahe verwandt ſeyd, ihr wißt es, wie ich bey
dieſem Altar bewegt war, den ich naͤchſt Gott
Minen ſetzte. Der Todtengraͤber war weg.
Ich allein. — Ein heiliger Schauder nach
dem andern nahm mich, als wenn dieſe oder
jene abgeſchiedene Seele auf und in mich
wuͤrkte, und nun, da ich mir ſelbſt zu ſchwer
war, fiel ich auf Gottes Gartenacker, von
wo ich beyde Haͤnde offen gen Himmel hob,
als wenn mir Gott einen ſanften ſeligen Tod
hinein legen ſollte. O wahrlich! ich bettelte
drum, ſiehe da fiel ein welkes Blatt auf meine
Rechte; dies nahm ich und gieng geſegnet in
mein Haus; noch liegt dies Blatt in der Bi-
bel, die mir mein Vater auf den Weg gab.
Wie mir dieſen Einweihungsabend war, ver-
mag ich nicht auszudruͤcken. Oft hab’ ich
ihn
[275] ihn wiederhohlt, den vortreflichen Abend!
ohne daß mich der Todtengraͤber weiter mit
ſeinem Spies ſtoͤhrete. — So oft wir
uns uͤberfielen, berichtigte ich ihm meinen
Canon. —
Einen ſchoͤnen Abend, da der Mond die
Nacht regierte, gieng ich tief andaͤchtig zu
meinem Altar, und ſiehe da, der Koͤnigliche
Rath kam, ſtellte ſich vor ein Grab, ſahe in
den Mond und aufs Grab, wies mir vorkam
ſo lange, bis die Thraͤnen ihm nicht mehr er-
laubten, in den Mond und aufs Grab zu
ſehen. Ich glaube nicht, daß er mich be-
merkt hat; allein ich habe ihn weinen geſe-
hen, weinen, und das beym Mondenſchein.
O! wie ſchoͤn die Thraͤnen da ausſehen! Er
war mir von je her ſchaͤtzbar; ſeit dieſem
Abend aber war er es mir unendlich mehr.
Es kamen und giengen viele Leute dieſes We-
ges, und dies war das Einzigſte, was mir
auf dieſem Kirchhofe misfiel, und meine An-
dacht unterbrach. Denn wahrlich die wenig-
ſten ſahen, wie der Koͤnigliche Rath, in den
Mond und auf ein Grab, bis die Thraͤnen es
nicht mehr verſtatteten. Die wenigſten wall-
fahrteten einer Mine wegen an dieſer heiligen
Staͤte. Ich hab’ ihn auch nie mehr an
S 2dieſem
[276] dieſem Grabe weiter gefunden; allein nie bin
ich ſeine Thraͤnenſtelle vorbeygegangen, ohne
dran zu denken, daß dieſer in der Welt ſo ge-
faßte Mann hier weinte.
Bey dieſer Gelegenheit freue ich mich, auf
den Koͤniglichen Rath zu kommen, der, wie
alle Obriſten im Volke, nur des Nachts, nur
beym Mondſchein, weinen konnte.
Die Abhandlung uͤberlieferte ich ſogleich
nach meiner Ankunft dem Verleger, ohne,
nach der dem guten Prediger gegebenen Ver-
heiſſung, ſeinem Bruder hievon einen Strahl
leuchten zu laßen. Ich indeſſen ſtellte auf
meine eigene Hand dies Werk und den koͤnig-
lichen Rath zuſammen, und uͤberzeugte mich
je laͤnger je mehr, daß ihm mit der Zuſchrift
nicht ſonderlich gedient ſeyn wuͤrde. Ich er-
zaͤhlte dem Koͤniglichen Rath meine Geſchichte
mit aller Treue, und hatte Gelegenheit, zu
bemerken, daß er auch ohne in den Mond zu
ſehen, empfinden und Theil nehmen konnte.
Es war hoch am Tage. — Weinen nur konnt’
er ohne den Mond nicht. So lieb, als in
meine Stunden, und waͤren ſie auch beym
Profeſſor Grosvater gehalten, gieng ich in
ſeine kleine Abendgeſellſchaften, wo ein Koͤnig-
licher Rath, ſein College, ein Officier, ein
Pre-
[277] Prediger und ich, mit Leib und Seele waren.
Selbſt, wenn er es nicht laͤnger auſſetzen
konnte, und er ein Mittagsmahl gab, wo
mehr gegeſſen und getrunken und weniger ge-
ſprochen ward, und wo der Koͤnigliche Rath,
ſein College, der Officier, der Prediger und
ich, nichts mehr thaten als vorlegen, ſelbſt
da, hielten mich manche Anmerkungen ſchad-
los, die der Koͤnigliche Rath zuweilen zum
Beſten gab. — Es iſt viel, einen Mann von
ſeinem Stande zu finden, der zu Gott, der
Natur, und zu ſich ſelbſt zu kommen verſtand,
wie ſein College Nicodemus zu Chriſto. Der
College des Koͤniglichen Raths, mein Mit-
gaſt, ein Mann von anderm Schrot und
Korn, haͤtte nicht geweint, wenn ſich der
Mond gleich ſeinetwegen alle Muͤhe gegeben.
Man nannt ihn ein juriſtiſches Genie, das
heißt, er fieng ſeine Sentenzen nicht mit All-
dieweilen, ſondern mit Alldieweil an,
ſchrieb nicht: Wie Recht iſt von Rechtswe-
gen, ſondern von Rechtswegen, lies den
Buchſtab h bey vielen Worten weg. — —
Das lezte mahl, da ich dieſen Altar be-
ſuchte, lies ich es darauf nicht ankommen, ob
ich dem ehemahligen ſiebenjaͤhrigen Bedienten
des Grafen v — und jetzigen wohlbeſtalten
S 3Tod-
[278] Todtengraͤber des Rosgaͤrtſchen Kirchhofs,
oder Gottes Gaͤrtnierer, in dem Sinn, wie
der Prediger des Orts Gottes Diener iſt, be-
gegnen wuͤrde. Ich war verbunden, ihm
Minens Grabmal zuruͤck zu treuen Haͤnden
zu liefern, und mich mit ihm, neben dem Dank
fuͤr dieſes Begraͤbnis der Einbildung, auf
eine wuͤrklich fuͤhlbare Art abzufinden, des
Canons ungerechnet, den ich ihm, ſo oft ich
ihm begegnet, abzutragen fuͤr Pflicht gehal-
ten. Ich klopfte an ſein Fenſter. Gleich,
war ſeine Antwort, und da ſtand er auch mit
ſeinem Spies in der Hand, das er laͤchelnd
anſahe, nachdem er mich gewahr ward. Er
war es nicht gewohnt, daß ich ihn auf dieſe
Art aufrief; Sich zu begegnen war einge-
fuͤhrt. Hier, fieng ich an, lieber Freund, geb
ich dies Grab frey von aller Einbildung, die
bis jezt darauf haftete, zuruͤck. Die Gebeine
des guten Paares, das in dieſer Welt, des
Ja und Amens unerachtet, nicht zuſammen
kommen konnte, das an der Liebe ſtarb —
moͤgen wohl ruhen! Ich ziehe mit meiner
Todten von dannen, die dies Grab, ſo lange
ich ſie hier beygeſetzt, nicht beunruhiget hat.
Mein Begraͤbnis war geiſtiſch gerichtet. Da
wolt’ ich wetten, ſagte der Todtengraͤber, und
ſtuͤtzte
[279] ſtuͤtzte ſich auf ſein Spies, dieſem Paar wird
es ein Vergnuͤgen geweſen ſeyn, ein ander
Paar guter Freunde bey ſich zu ſehen! Die
Geſellſchaft kann auch den Todten nicht unan-
genehm ſeyn. Von je her ſind Kirchhoͤfe ge-
weſen. Hier fiel mir die Sterbensmethode
des Grafen ein, die auch auf Geſellſchaft hin-
ausgieng. Von der Erde, womit der liebe
Gott von Anfang, da er Himmel und Erde
ſchuf, dieſe Kugel beſtreute, ſo wie meine
Hausmutter alle Sonntage unſere Prunkſtu-
be, wird wohl ſchwerlich viel mehr uͤbrig ſeyn.
In dieſer Anfangserde war freylich kein pul-
veriſirtes Gebein; allein unſere jetzige ſind
wir ſelbſt, bis auf die Seele! — — Nach
dieſen Betrachtungen, welche der Todtengraͤ-
ber in beliebter Kuͤrze und Einfalt, auf ſein
Spies gelehnt, nicht ohne Bewegung der
Haͤnde, bald zur Rechten, bald zur Linken,
hielt, und worinn ich ſeinen Hochgebohrnen
Meiſter in Lebensgroͤße fand, berichtigte ich
ihm meine Schuld, und er kam zur Nutzan-
wendung ſeiner angefangenen heiligen Rede,
die zwar ſeinem Text nicht angemeſſen war,
die indeßen aus gutem Herzen quoll. Vor
allen Dingen, fieng er an, ſchenke Ihnen der
liebe Gott Gluͤck und Segen und ein langes
S 4Leben!
[280] Leben! Bey Ihnen verliert der Todtengraͤ-
ber nichts bey lebendigem Leibe, wenn ich
aber bitten darf, begraben Sie Ihre Einbil-
dung auf dieſem ſchoͤnen Kirchhofe, wo es
Ihnen gefallen hat. Jeder Platz ſoll Ihnen
gehoͤren, den herrnhutſchen gruͤnen Einſchlus
nicht ausgeſchloſſen. Es iſt keine Schweſter,
der ſie hier im Geiſt ein Grabmahl errichtet!
Ich weiß, was Schweſter ſagen will. Die
begraͤbt man ohne Einbildung, und, wenn
ichs ſelbſt nicht wuͤßte, mein Weib weiß mehr,
als das. Da ſtirbt keins vom Koͤniglichen
Hauſe, was ihr nicht voraus gemeldet wird.
Wunderbar verkehrt ſie im Schlaf mit den
Geiſtern. Das Paar, das unter den zuſam-
mengewachſenen Baͤumen ſchlaͤft, iſt ihr mit
dem Herzen zuſammengewachſen. Sie laͤßt
auf dies Paar nichts kommen. Sie, mein
Herr, haben eine Braut verlohren. Ja,
ſagt’ ich, meine Mine! — Den Namen wußt’
ich nicht, erwiedert’ er. Geiſter haben kei-
nen. Minens Geiſt, Freund, heißt Mine,
fiel ich ein. Einbildung, und dieſe Einbil-
dung, wenn ich bitten darf, begraben Sie ſie.
Es iſt Raum in der Herberge. Das Grab
haben Sie reichlich bezahlt! Ich will es ei-
genhaͤndig machen. Sie ſind jung, und
wißen
[281] wißen nicht, was ſolch eingebildetes Weſen
fuͤr Folgen hat. Seit einiger Zeit war mein
Vorſatz, Sie aufzuſuchen und Ihnen dieſe
Lehre zu wiederhohlen, die ich Ihnen beym
Miethscontrakt nicht verhielt. Konnt’ ich
aber ſo grob ſeyn, und Sie aus der Miethe
ſetzen, ehe Sie ſie mir ſelbſt aufzukuͤndigen
genehm finden wuͤrden? Heute alles, wie
gerufen. Der Todtengraͤber belegte ſeine Er-
mahnung mit einer Geſchichte, die vor kur-
zem ihre Endſchaft erreichet hatte. Es ver-
droß mich, daß ſo etwas auf dem Rosgaͤrt-
ſchen Kirchhofe geblieben, ohne daß ich in
meinem Quartier der Stadt davon eine Tod-
tenglocke gehoͤrt.
Was liegt nicht alles auf den Kirchhoͤfen
begraben! In großen Staͤdten iſt Vergnuͤ-
gen der Inhalt. Das Wort Tod iſt hier ſo
contreband, als das unhalliſche Salz in
Preußen. Hier iſt dieſe Geſchichte, womit
ich dieſen Kirchhof ſchließe, ſo wie ich ihn mit
einer Geſchichte meinen Leſern oͤfnete. Zuvor
eine Todtengraͤber Bemerkung, die meinen
Leſern nichts Neues iſt, daß mehr Leute an
der Liebe ſterben, als an den Blattern. Die
Schuld hievon gehoͤrt auf die Rechnung des
Zwangs, den man den Menſchen auflegt.
S 5Man
[282] Man hat ſo viel uͤber die Kloͤſter geſchrieen;
allein wahrlich jeder Staat macht recht ge-
fliſſentlich ein großes Kloſter aus ſich! —
Die Geſchichte.
Ein Eigenthuͤmer von einigen Hufen Acker,
und einem kleinen artigen Haͤuschen, hatte ei-
nen Sohn und eine Tochter. Eltern und
Kinder lebten in ſo gluͤcklicher Ruhe, daß der
Paſtor loci ſelbſt zu ſagen pflegte, es waͤre ein
patriarchaliſches Leben, das ſie fuͤhrten. Der
Sohn kam ins Jahr, in dem ſein Vater ge-
heyrathet hatte. Dies fiel dem Alten an ſei-
nes Sohnes Geburtstage ein, und er fordert’
ihn ſelbſt auf, an dies heilige Werk der Na-
tur zu denken. Der Sohn hatte ſchon daran
gedacht, und entdeckte dem Vater ſeine Ab-
ſichten. Anwerbung, Verlobung und Hoch-
zeit waren ſo nahe zuſammen, daß alles wie
eins war. So ſolt’ es auch immer ſeyn.
Gretchen, ſo will ich die Tochter des Hauſes
nennen, (ohne Paſtors Gretchen in L— im
mindeſten zu nahe zu treten,) hatte das groͤſte
Recht von der Welt zu erwarten, daß ihre
Mutter ſie eben ſo auffordern wuͤrde, als es
der Vater in Ruͤckſicht ihres Bruders nicht
ermangeln laſſen. Sie war ein und zwanzig;
ihre
[283] ihre Mutter hatte im zwanzigſten geheirathet.
Dieſe Aufforderung blieb aus. Boͤſe war es
hiebey nicht gemeynt; die Muͤtter haben ge-
meinhin die Ruͤckſichten nicht in dieſem Punkt
fuͤr ihre Toͤchter, die die Vaͤter fuͤr ihre Soͤh-
ne haben. Gretchen machte dieſe verfehlte
Aufmerkſamkeit ihrer ſonſt lieben Mutter nicht
die mindeſte Sorge. Sie fiel ihr nicht einſt
ein. Wenn werden denn wir, ſagte Hans
ihr Geliebter, es ſo machen, wie dein Bruder
mit ſeinem Gretchen? Hans war nicht mit
ſeiner Liebe in der Feſtung; allein voͤllig im
Freyen war er auch nicht. Er war nicht
blos auf die Waͤlle eingeſchraͤnkt, ſondern
konnte Sonntags und Feſttags Gretchens El-
tern beſuchen, Gretchen ſehen, ihr verſtohlen
die Hand druͤcken, und beym Weggehen ihr
gerades Wegs die Hand geben; bey welcher
Gelegenheit ihm aber die Hand ſo zitterte und
bebte, daß er ſie kaum hinlangen konnte.
War niemand dabey, als Gretchen und Er,
war ſie ihm feſt in allen Gelenken. Es war
ein ſtarker Hans an Leib und Seel. Gedacht
moͤgen die Eltern uͤber Hanſens Liebe viel ha-
ben; allein geſagt hatten ſich Vater und Mut-
ter kein Wort. Unſer Paar liebte ſich ſo in-
bruͤnſtig, als man nur lieben kann, und doch
ſo
[284] ſo unſchuldig, ſo rein — Gretchen hatte
ihrem Hanſen viel von dem ſchoͤnen Meyer-
gute erzaͤhlt, das ihr Bruder mit bekaͤme,
und Hauſen, obgleich er kein andres Eigen-
thum, als eine unbefangene Seele, und ein
Paar geſunde Haͤnde, beſaß, waͤr es nicht
eingefallen, daß das Guͤtchen, worauf Gret-
chens Eltern waren, ihm mit Gretchen zufal-
len wuͤrde, wenn Gretchen ihn nicht ſelbſt
darauf gebracht haͤtte. Der Sohn, der ſonſt
das naͤchſte Recht gehabt, war jetzo wohl ver-
ſorgt. Das liebe Eigenthum; es hat mehr
Unheil, als dies, angerichtet. Hans machte
ſich den Kopf ſo warm mit allerley Entwuͤr-
fen, die er, wenn Gott will, auf dieſem Guͤt-
chen ausfuͤhren wuͤrde, daß ſein Paar ge-
ſunde Haͤnde am Werth verlohren. Gret-
chen merkte, daß Hans mit etwas umgieng;
indeſſen wußte ſie nicht, was es war. Einſt
ſagte ſie ihm, du haſt da etwas im Kopf,
und ſollſt doch nur etwas im Herzen haben.
Hans indeſſen hatte Gretchen bey ſeinen Ent-
wuͤrfen nicht vergeſſen. Alles macht’ er an
ihrer Hand. Ein Stuͤck uncultivirtes Land
wollt’ er erziehen, und es ſollte Gretchenfeld
heiſſen. Dort ſollte ein Gang angelegt wer-
den, und der ſollte Gretchenhall genannt wer-
den.
[285] den. Der arme Hans! Was ihm ſein Guͤt-
chen, das er nur in Gedanken beſaß, ſchon
fuͤr Gedanken machte. Gretchen hatte ihm
ſo viel von der Anwerbung und Verlobung
und Hochzeit ihres Bruders erzaͤhlt, daß
nichts druͤber war, nur einen Umſtand hatte
ſie verſchwiegen, daß nemlich ihre Schwaͤge-
rin einen Bruder haͤtte. Die Meyerey, wel-
che das neue Ehepaar bezogen, lag zwey Mei-
len von dem Guͤtchen, das Hans in Gedan-
ken, und ſein kuͤnftiger Schwiegervater wuͤrk-
lich beſaß. Nach einiger Zeit kamen das neue
Paar und die Seinigen, Gretchens Eltern zu
beſuchen. Der erſte Stoß, den Hans ans
Herz erhielt, war die Nachricht, daß Gret-
chens Schwaͤgerin einen Bruder haͤtte. Auf
dieſen Umſtand war Hans nicht gefaßt, und
warum? fragt’ er ſich ſelbſt, warum hat ſie
mir das gethan, und kein Wort daruͤber
verlohren? Sich ſo in Acht nehmen, wer
kann das ohne boͤſes Gewiſſen? — Hans
hatte nicht ſo ganz unrecht, ſo zu fragen;
allein Grete war unſchuldig, wie die Sonn
am Himmel. Es blieb nicht bey dieſer Un-
ruhe. Hans ward zu den unſchuldigen ein-
fachen Gaſtmaͤlern, welche in dem Hauſe ſei-
ner Schwiegereltern angeſtellet wurden, nicht
gebe-
[286] gebeten. Zwar haͤtt’ er dieſe Tage fuͤr Feſt-
tage anſehen, und von ſelbſt gehen ſollen;
allein dieſer Entſchluß, wenn er gleich zuwei-
len wollte, konnte nicht aufkommen. Gret-
chens Bruder, der voll von ſeinem Weibe
war, und der ſeinen leiblichen Bruder druͤber
in den Tod vergeſſen haͤtte, beſuchte zwar
Hanſen, ſeinen alten guten Freund; indeſſen
war es nur ſo beylaͤufig. Hans, der ein-
mahl ins Auslegen gekommen war, deutet’
alles zu ſeinem Nachtheil. Das ſchoͤne Wet-
ter ſchien ihm als von Gretchen beſtellt, um
mit ihrer Schwaͤgerin Bruder ſpazieren zu
gehen, und auch der Regen gehoͤrte auf ihre
Rechnung; damit ſie ungeſtoͤrter mit ihm lie-
ben konnte, regnet’ es. Sieh! dacht’ er:
auch ſelbſt von der Natur will ſich die Unge-
treue und ihr Liebling nicht einſt ſtoͤren laſſen.
In dieſen Vorſtellungen vergiengen einige
Tage, die Hanſen in der Hoͤll und [Quaal] nicht
haͤtten waͤrmer ſeyn koͤnnen. Nun ſehnte er
ſich nach Gretchen, nicht, um von ihr dieſe
Raͤthſel loͤſen zu laßen, ſondern ihr Vorwuͤrfe
zu machen, und ihr das Guͤtchen wieder zuruͤck-
zugeben, das er von ihr erhalten, und eben
nun begegnete ihm Gretchens Vater, der ihn
bey der Hand nahm und zum Abend einlud.
Wo
[287] Wo ſo lang geweſen, fragte der Alte? Hans
antwortete nur blos durch eine Pantomime,
indem er den Hut abzog, und wieder auf-
ſetzte. Hans gieng mit dem Alten, und alles
kam ihm veraͤndert vor. Es war ein Kaͤlber-
braten aufgetiſcht, und Gretchens Mutter
fieng an: da kommt ja Hans recht zum ver-
lohrnen Sohnbraten. Das verlohrne fiel
ihm ſehr auf. Gretchen war zwar freund-
lich gegen Hanſen; allein eben, weil ſie
freundlich war, fand er Nahrung fuͤr ſeinen
Argwohn, und was weiß ich, was er aus ih-
rer Unfreundlichkeit geſchloßen. Nach dem
Abendeſſen gieng man in die Luft, und da
Gretchen den Fremden in dem Guͤtchen her-
umfuͤhrte, und ihn alles Schoͤne deſſelben mit
Aug und Haͤnden greifen lies, kam es Han-
ſen nicht anders, als eine Schlange vor, die
in Geſtalt eines Junkers den Herrn Chriſtum
auf der Zinne herum fuͤhrte, und ihm das al-
les anbot, wenn er niederfallen und ihn an-
beten wuͤrde. Der Fremde fand alles ſo al-
lerliebſt, daß er mehr als einmahl den Wunſch
fallen lies, wie ihm dies Guͤtchen viel beſſer
als der vaͤterliche Meyerhoff gefiel, der ihm
beſtimmt war. Nun war Hans bis zur
letzten Stuffe der Verzweiflung gebracht.
Gret-
[288] Gretchen, die ſeine Unruhe merkte, wollte ſich
mit ihm eine Luſt machen, und ſchien den
Fremden aufzumuntern. Sie war froh und
laͤchelte, weil ſie ſahe, daß Hans ſie ſo liebte,
und Hans that froh und lachte auf eine recht
ſchreckliche Art. Dies war der letzte Abend,
den die Gaͤſte bey Gretchens Eltern zubrach-
ten. Hans hoͤrte unaufhoͤrlich bitten, wenn
es ihnen Allerſeits gefallen, doch bald wieder
zu kommen. Auch Gretchen bat. Hanſen
kam es vor, daß es blos ſeinen Nebenbuhler
galt. Sah ſie ihn nicht an? fragt’ er ſich.
Hans gieng voller Verzweiflung von hinnen.
Er lachte, da er gieng. Den andern Mor-
gen, als er alles zuſammen rechnete, (bis da-
hin lag alles ungezaͤhlt, unberechnet) was er
geſehen und gehoͤrt, war ſein Entſchluß ge-
faßt, wozu Gretchen ihm die Hand bot. Es
jammert’ ihr ſein. Sie wollte ihren Vielge-
treuen beruhigen, und legt es recht gefliſſent-
lich an, mit ihm ins Feld zu gehen. Er,
gleich da, was iſt dir aber, fuhr Grete fort.
Es wird ſich, erwiedert’ er, im Freyen geben,
ſolt ich denken. — Gretchen wolt’ es anfaͤng-
lich heimlich machen, endlich entſchloß ſie ſich,
von ihren Eltern die Erlaubnis zu dieſem
Gange zu bitten. Dies kleine Opfer, dachte
ſie,
[289] ſie, bin ich Hanſen wegen des Kummers
ſchuldig, den ich ihm gemacht habe. Mit
Hanſen ſagte der Vater? und laͤchelte. Die
Mutter ſagte ſo? und laͤchelte desgleichen.
Gretchen haͤtte zu keiner erwuͤnſchtern Stunde
dieſe Erlaubnis bitten koͤnnen. Vater und
Mutter hielten in Gegenwart Gretchens einen
Rath uͤber ſie und das Ende war: Grete ſolte
Hanſen zum ehelichen Gemahl haben. Ja
doch, ſagte der Vater, ich muß Jemand ha-
ben, der mir zur Hand geht; allein halt ichs
nicht mehr aus. Ja doch, ſagte die Mutter,
der es jetzt einfiel, was ihr laͤngſt haͤtte ein-
fallen koͤnnen, daß ſie ſchon ein Jahr fruͤher
geheyrathet haͤtte. Grete ſtand da, ſo froh,
daß ſie ihren Eltern vor Freude nicht danken
konnte. Das, duͤnkt mich, iſt der beſte Dank,
fuͤr Erkenntlichkeit nicht zum Dank kommen
koͤnnen. Dieſes Geſpraͤch hielte Grete uͤber
die Zeit auf, die verabredet war. Hans war
ſchon unruhig. So fand ſie ihn. Du wirſt
ſchon ruhig werden, dachte ſie, hiebey zielte
ſie auf den Rath, den ihre Eltern geflogen
hatten; allein ſie lies ſich nichts merken. An-
faͤnglich wollte ſie ihr Luſtſpiel fortſetzen.
Hans war ihr aber zu ernſthaft. Sie beſann
ſich bald, und zog ein ander Kleid an; das
Tnatuͤr-
[290] natuͤrlichſte, das beſte. Ihre Eltern hatten
ſo gar ihr nicht verboten, Hanſen zu ſagen,
was geſchehen war, und waͤr’ es ihr verboten
geweſen, wie haͤtte ſie ſich helfen koͤnnen?
Lieber Hans, fieng ſie an, und nahm ihn
bey der Hand. Ha, dacht’ er, Mitleiden!
Wie es mit ſolchem Mitleiden iſt, wiſſen wir
alle. Solch Mitleiden iſt das empfindlichſte,
was ich kenne. Nichts thut ſo weh, als dies.
Mitleiden kann zuweilen der Liebe Anfang
ſeyn, noch oͤfter aber iſt es das Ende der
Liebe und ein ſchreckliches Ende! Du biſt boͤſe,
daß ich ſo ſpaͤt gekommen, fieng Gretchen an.
Betruͤgerin, dachte Hans, ohne mehr zu ſa-
gen und zu thun, als ſich den Hut tiefer zu
ſetzen. Jetzt waren ſie ſo weit, daß ſie von
dem vaͤterlichen Guͤtchen voͤllig entfernt wa-
ren. Nur zwey Stiere, die ſich von der
Heerde verlaufen hatten, waren ihnen nach-
gekommen, woruͤber ſich Gretchen wun-
derte, Hans aber nicht. Eben wollte Gret-
chen ihrem Hanſen erzaͤhlen, was vorgefal-
len war, und wozu ſich ihre Eltern von freyen
Stuͤcken entſchloſſen haͤtten, als Hans ſie
faßte, ſein Mordmeſſer zog und ihr zehn
Wunden beybrachte. Seine Hand zitterte
und bebte nicht, als wie vorhin, wenn er
aus
[291] aus ihres Vaters Hauſe gieng, und Gret-
chen oͤffentlich die Hand reichte. Gott! ſchrie
ſie, Gott! nimm meinen Geiſt auf! Sie war
uͤber und uͤber mit Blut bedeckt, und ſchwamm
in ihrem Blut. Die Stiere bruͤllten auf eine
ſo ſchreckliche Art, daß dem Moͤrder ihrent-
wegen das erſte Grauſen ankam. Sie kamen
hinzugelaufen, als ob ſie dieſe That verhin-
dern wollten, ſie liefen davon, als ob ihnen
der Anblick zu ſchwer wuͤrde. Nun fragte
Hans laͤchelnd: (es war das letztemahl, daß
er lachte) wen wilſt du jetzt lieben, Ungetreue?
Dich, antwortete Grete, und Blut ſchoß aus
ihrem Herzen. Dich, wiederhohlte ſie und
druͤckte Hanſen auf eine Art die Hand, daß
er ſeinen ganzen entſetzlichen Irthum einſahe.
Jetzt hatte er der Stiere nicht mehr noͤthig;
das Grauſen kam von ſelbſt. Er warf ſich
auf die Erde, ſchrie nach Rettung, ſprang
auf, eilte ſelbſt, Huͤlfe zu ſuchen, in ein be-
nachbartes Staͤdtchen — und fand den
Wundarzt nicht an Ort und Stelle. Alles
hatte er Gretchen zur Huͤlfe aufgeboten. Nun
kam er, wie ein Verdammter, der um einen
Tropfen Waſſer bettelt, und ihn nicht erhaͤlt,
und fand den Wundarzt, den Gretchens El-
tern aufgefunden, fand die Eltern ſelbſt, die
T 2ihm
[292] ihm mit ofnen Armen entgegen kamen. Ei-
nem Tochtermoͤrder! Grete hatte dieſe That
auf einen andern ausgeſagt, der ſie uͤber-
fallen, und hiebey hatte ſie Hanſens ſtarke
Hand geprieſen, die ſie zu retten unermuͤdet
geweſen. Gott, dieſe Unwahrheit, betete ſie
im Herzen, vergib ſie mir! Die Eltern hatten
ihr zugeſchworen, Hanſen das Guͤtchen zu
laßen, und nun, voll des Danks und der
Erkenntlichkeit, kamen ſie ihm entgegen, fie-
len auf die Blutflecken, die ſie an ſeinem
Kleide gewahr wurden, als ſo viel Beweiſe
ſeines Edelmuths. Fuͤr jede Wunde, die
Grete erhalten, umarmten ſie ihn! — Es
koſtete Hanſen kaum ſo viel Muͤhe, zu mor-
den, als die Eltern zu uͤberreden, daß er
Moͤrder ſey. Sie glaubten, er haͤtt’ aus zu
großer Liebe den Verſtand verlohren. Je guͤ-
tiger Gretchens Eltern gegen ihn thaten, je
ſchrecklicher klagte Hans ſich an. Wenn er
Gott, und alles, was heilig, zu Zeugen auf-
gerufen: er ſey der Thaͤter; ſo ſahen ihn
Gretchens Eltern ſo muͤhſeelig, ſo beladen
an, als wollten ſie ſagen: der arme Junge,
wie ihn Gretens Schickſal uͤbernommen hat!
Und wenn er ihnen das Mordmeſſer zeigte,
druͤckten ſie ihm die Haͤnde, weil ſie Gretchen
ſo
[293] ſo maͤchtig beſchuͤtzet. Wenn er es gen Him-
mel hielt und ſchwur, bogen ſie ſanft ſeine
Haͤnde zur Erde. Niemand wuſte, woran
es mit Hanſen war. Lieber Sohn, fiengen
die Eltern an, du biſt mehr todt, als ſie!
Endlich gieng allen ein Licht auf. Hans ward
eingezogen. Er ſahe die Gerichtsdiener, die
ihn feſſelten, als ſeine Wohlthaͤter an, die
ihm den Tod, das einzige Verband fuͤr ſeinen
Schmerz, mitbrachten! — Der Abſchied war
ruͤhrend. Er bat Gretchen um Vergebung;
ſie verſicherte, daß ſie ihm nichts zu vergeben
haͤtte, und da ſie endlich einſahe, daß alle
ihre Bemuͤhungen, Hanſen zu retten, verge-
bens waͤren, rang ſie die Haͤnde, und weinte
ſo herzlich, daß ſelbſt die Gerichtsdiener zu
weinen anfiengen. Hanſen ward der Proceß
gemacht. Er konnte die Zeit nicht abwarten,
ſein Todesurtel zu hoͤren. Wenn ich doch an
einem Tage mit ihr ſterben koͤnnte, das war
der einzigſte Wunſch, den er noch in dieſer
Welt hatte. Eben an dem Tage, da ſich die
Richter einigten, daß Hanſen, als einem Un-
menſchen, der den Vorſatz gehabt, auf der
Landſtraße zu morden, ſein Leben auf eine
ſchreckliche Art, vor aller Welt Augen, ge-
nommen werden ſollte, war es ausgemacht,
T 3daß
[294] daß Grete auſſer Gefahr ſey. Sie erhohlte
ſich nach dieſem Tage zuſehens, und es war
die Frage: ob es gut ſey, Gretchen Hanſens
und Hanſen Gretchens Schickſal zu entdecken?
Die Frage wurde noch bey Herzensguten Leu-
ten problematiſch abgehandelt, da ſchon we-
niger Herzensgute Menſchen der Beantwor-
tung zuvor gekommen waren. Hans wuſte
um Greten, und Grete um Hanſen. Im
erſten Augenblick war es Hanſen anzuſehen,
daß ihm uͤber Gretens Aufkommen der Kopf
herum gieng. Da er ſich aber beſann, und
noch dazu hoͤrte, daß Grete durchaus nicht
leben wolte, ſchrieb er an ſie wie folget:
Es iſt genug, du lebſt, und ich will
froͤhlich ſterben! Dein Blut wird mir nicht
vor den Augen flieſſen, wenn ich fuͤr meine
That bluten werde. Nun darf ich an mei-
ner Seeligkeit nicht verzweifeln, und an
meinem ewigen Leben. Meine Hand iſt
mir von den Ketten nicht ſo ſchwer, als
vom Herzen. Vergib deinem Moͤrder, und
bete fuͤr Hanſen. Dank dem, der mich ver-
hoͤrt hat. Mit dem aͤdlen Mann hat Tod
und Leben, Geſetz und Menſchlichkeit ge-
kaͤmpft. Wuͤnſch ihm in meinem Namen
ein langes gluͤckliches Leben, und geh nicht
her-
[295]heraus, wenn ich ausgefuͤhret werde.
Reiſe, wenn es deine Geſundheit erlaubt,
dahin, wo ich dich erſchlug und ſchreye ein
Vater unſer fuͤr mich. —
Dieſer Brief, anſtatt daß er Kraut und
Pflaſter zur Beruhigung fuͤr Greten ſeyn
ſollte, naͤhrte ihren Gram. Er brachte ihr
empfindlichere Wunden bey, als Hanſens
Mordmeſſer. Niemand hatte Hanſens Tod
erwartet. Hans nahm ſein Urtel als Got-
tes Ausſpruch an. Grete war auſſer ſich. Sie
wollte fuͤr ihn ſterben. Die Geiſtlichen loͤſe-
ten die Wundaͤrzte ab, um ihr Ruhe zuzu-
ſprechen; allein vergebens. Das Wollen,
ſchrie ſie, nicht das Vollbringen. Wenn
Gott ſtrafen ſollte, was wir wollen, wer
koͤnnte vor ihm beſtehen? Sie ſprach wie alle
Leute, die auſſer ſich ſind, ſo weiſe, ſo ver-
nuͤnftig, daß ſich Jedes wunderte, wo ſie
alles dieſes her hatte, was wuͤrklich uͤber ihr
war. Es war klaͤglich anzuſehen, daß dieſe
beyden Menſchen ohneinander nicht leben,
nicht ſterben konnten. Grete trat, ohne daß
Hans es wuſte, den Koͤnig an. Sie ſind ein
Menſch, ſchrieb ſie, Monarch, und machen
ſich eine Ehre draus, es zu ſeyn! Schenken
Sie Hauſen das Leben, oder nehmen Sie es
T 4mir,
[296] mir, ſo und nicht anders iſt uns beyden ge-
holfen. — Der Koͤnig verwandelte die Todes-
ſtrafe in eine einjaͤhrige Feſtungsſtrafe, und
alle Welt ſagte, daß dieſes ein ſalomoniſches
Urtheil waͤre. Um ſolch ein Urtel zu ſprechen,
wer wuͤnſcht ſich nicht Koͤnig zu ſeyn! Hans
waͤre gar nicht in der Feſtung geweſen, wenn
nicht Grete ſeine Strafe mit ihm getheilt
haͤtte. Dies war das einzige, was ihm
ſchwer zu tragen war. Seine Ketten waren
ihm nicht laͤſtig. Nach ſo viel Kummer und
Noth, gieng endlich die Sonne uͤber dieſes
treue Paar auf. An das Guͤtchen, in wel-
chem Hans ſo viele Veranſtaltungen in Ge-
danken getroffen, war nun nicht mehr zu
denken. Sie wollten beyde weder Land noch
Leute dieſer Gegend ſehen, und entſchloſſen
ſich, um ſich recht zu verbergen, nach Koͤnigs-
berg zu ziehen. Sie waren eben zum dritten-
mal aufgeboten, da Hans in ein hitziges Fie-
ber fiel und ſtarb. So entſcheidet Gott, der
Herr, wenn gleich Koͤnige anders entſcheiden.
Seine Wege ſind nicht unſere Wege, ſeine
Gedanken ſind nicht unſere Gedanken. Grete
fiel an Hanſens Begraͤbnistage in eine ſolche
Schwermuth, daß ſie jetzt im Irhauſe, wie-
wohl in einem beſſern, als den gewoͤhnlichen
Zim-
[297] Zimmern, gehalten wird. Gott was hat
Grete verbrochen, daß ſie gelacht hat? Sara
lachte auch, und Gott ſegnete ſie mit dem
Sohne Iſaac, und Grete? im Irrhauſe.
Ihre zerruͤttete Einbildungskraft laͤßt ſie
glauben, Hans ſey auf dem Richtplatz aus
der Welt gegangen. Sie macht beſtaͤndig
eine Bewegung mit der Hand, als koͤpfe
ſie! — Hans liegt auf dem Rosgaͤrtſchen
Kirchhofe zur linken Hand, am kleinen Aus-
gange, begraben.
Dieſe Geſchichte hab ich aus einem Auf-
ſatz genommen, den ein armer Candidatus
Theologiaͤ zu einem Jahrmarktsliede entwor-
fen, zu ſingen von einem lahmen Bettler,
auf die bekannte Melodie: Es iſt gewißlich
an der Zeit. Der Todtengraͤber, der nur
ſehr unvollſtaͤndig dieſe Geſchichte erzaͤhlte,
behaͤndigte mir dieſen Entwurf, den ich aus-
gezogen habe.
Wahrlich, Freund Todtengraͤber, wer
ſeine Einbildungskraft begraben kann, hat
ſich leicht gemacht! Wie koͤnnt’ ich aber Mi-
nens Andenken zuruͤcklaſſen?
Schluͤßlich ſties ich auf drey ausgegan-
gene Baͤume, und mein Lehrmeiſter ver-
ſicherte mich, daß nachdem die Familie, die
T 5hier
[298] hier ihr Erbbegraͤbnis gehabt, ausgeſtorben,
ſie in einem Herbſt alle drey ausgegangen
waͤren. Das iſt nichts neues, ſetzte der Tod-
tengraͤber hinzu. Es haben ſich viel Hunde
um ihren Herrn zu Tode gegraͤmt, und die
Stiere, die in dieſer Geſchichte vorkommen,
ſind ein neuer Beweis, daß die Baͤume ge-
wuſt, wenn es Zeit zum Ausgehen war. Ich
bat den Todtengraͤber, dieſe Mordgeſchichte
dem Grafen zu uͤberſenden, welches er mir
aber abſchlug, „ich muß ſo etwas aufbewah-
„ren, um es ihm hier vorzuſetzen.”
Ich ſchließe den Kirchhof, ehe das Stadt-
thor fuͤr mich geſchloſſen wird. Wer mir aber
dergleichen Vorgriffe uͤbel nimmt, kann mir
mehr uͤbel nehmen, wenn es ihm ſo beliebt. —
So ſehr mir dieſe Geſchichte auffiel; ſo war ich
doch nicht im Stande, Greten im Irhauſe
zu beſuchen, um ihren ſchrecklichen Scharf-
richter-Handgrif zu ſehen! —
Wenn es ausgemacht iſt, (und nichts iſt
gewiſſer, als dies,) daß die wahre Philoſo-
phie eine Sterbkunſt ſey; ſo legt’ ich mich
mehr auf die Philoſophie, als auf irgend et-
was. Um reich zu ſeyn, braucht man nicht
Geld nicht Gut, ſondern Maͤßigkeit. Gute
Fuͤhrung beehrt uns, nicht Wuͤrde. Wer
lang
[299] lang und gluͤcklich leben will, ſey ſein eigner
Herr, im philoſophiſchen Sinn! Wer die
Welt verachten will, hab eine Mine im Him-
mel! — Mine war der philoſophiſche Text,
uͤber den ich ſtudirte. Ueberall war ſie. Je
mehr ich ſtudirte, je mehr fand ich: geſunder
Verſtand ſey taͤglich Brod. Woͤrterkram,
Schnirkeley aber, Kopfverderbendes Geback-
nes. Wenn mein Vater redete, (docirte,
wenn man will, denn ich leugn’ es nicht, daß
der Lehrton ihm wie eine Klett’ am Kleide
hieng,) hatt’ er jederzeit was in der Hand,
Meſſer, Scheere, ein Buch, einen dem Wachs-
licht abgenommenen Bart, einen Zahnſtocher,
kurz, ohne was koͤrperliches war er nicht.
Er ſchwur immer einen koͤrperlichen Eyd,
wenn ich mit Verzeihung der juriſtiſchen Ge-
nies mich ſo erklaͤren darf. So was hilft die
Sache ſinnlich machen. — Er knetete die
deutlich zu machende Sache durch, wuͤrd ein
andrer geſagt haben; er nicht — ich auch
nicht — Gott der Herr hatte ein Chaos, aus
dem er die Welt allmaͤhlig herausrief, und
wenn ichs recht bedenke, iſt was Koͤrperliches
vielleicht darum in der Hand gut, um fuͤr den
Gedanken ein Kleid, fuͤr den Geiſt einen Koͤr-
per zu finden. Gott ehre mir Leute, die
Hand
[300] Hand und Mund zugleich bewegen, war, wie
wir wiſſen, meines Vaters Loſung. — —
Der Kirchhof in L—, der roßgaͤrtſche Kirch-
hof in Koͤnigsberg, das waren mein Meſſer,
Buch, Scheere, Wachsbart, Zahnſtocher. —
Die Alten brauchten den Tod, als ein
Mittel der Aufmunterung. Ich ahmt’ ihnen
nach, wiewohl auf andre Weiſe, die aber
nichts zur Sache ſelbſt thut. Haͤtt ich, ein-
ſam in mich verſchloſſen, der Welt das Rau-
he zugekehrt: da waͤre freylich nichts Kluges
herausgekommen. In Geſellſchaft gefaͤllt
das Wunderſame; in der Einſamkeit ſcha-
det es.
Ich habe ſchon meinen Leſern meinen Stu-
dirplan ad unguem vorgeriſſen. Ich war
darum auf der Akademie, um mich vor Ir-
thuͤmern proteſtando zu verwahren. Mein
Vater ſtand keinem Menſchen das Recht zu,
ohne Rand zu ſchreiben, und auch, wie er
ſich uneigentlich auszudruͤcken pflegte, ohne
Rand zu ſprechen. Wir ſind Menſchen, ſetzte
er hinzu. Man muß ſich mit keiner Schrift
ſo einverſtehen, daß man es dabey laͤßt: Es
ſtehet geſchrieben. Was muͤndlich vorfaͤlt,
iſt Scheidemuͤnze. Was iſt Ihre Meynung,
lieber Profeſſor Grosvater? Was? Iſts ge-
nung,
[301] nung, daß die erſte Erziehung negativ ſey?
oder muß jeder Unterricht cum reſeruatione
reſeruandorum negativ ſeyn? Ich denke ad
Zwey, Ja. Willſt du ein collegium chari-
tatiuum anordnen, willſt du cauſſa cognita
rechtliches Erkenntnis eroͤfnen? In allen
Stuͤcken will ich hoͤren! — denn dazu bin ich,
und du zum Leſen (Gott helf dir!) berufen.
Wuͤrde mein vorgeſchlagener Weg gewandelt,
wahrlich wir waͤren ſelbſt im ſpeculativen
Fache ein wenig weiter, nicht eben in Ruͤck-
ſicht von Sonne, Mond und Sternen, ſon-
dern unſerer ſelbſt, der Welt in nuce, in
compendio. — Wahrlich, das ſind wir.
Der Menſch hat einen innerlichen Sporn zur
Thaͤtigkeit. Er will durchaus, daß die Leute
ſelbſt mehr von ihm ſagen ſollen, als an ihm
iſt. (Obgleich der Philoſoph durch ſich ſelbſt,
und nicht durch ſein aͤußeres, ſich vom Haufen
unterſcheidet, obgleich alle Affektation ein
Mangel wahrer Vollkommenheit, ein Man-
gel menſchlicher Vollſtaͤndigkeit iſt,) Woher
dies? Der Menſch dringt durchaus zum
Poſitiven. Glaube mir, hohe Schule!
Wenn jeder poſitive Juͤngling, nach ruͤhm-
lichſt zuruͤckgelegter academiſchen negativen
Bahn, weiter gienge: was wuͤrde da nicht
zum
[302] zum Vorſchein kommen? Mehr, als in vie-
len uͤberdachten Beantwortungen gleich uͤber-
dachter Preisaufgaben! Wie ſelten iſt der
Menſch, Menſch, wie ſelten kann, wie ſelten
darf ers ſeyn! o! wenn ers doch immer waͤ-
re! — Tauſendmahl um Vergebung, ſagte
Herr v. W— und Herrmann tauſendmahl
unterthaͤnigſt um Vergebung, wenn von Je-
manden wo ein Schnack mit andern Umſtaͤn-
den erzaͤhlt ward, als Herr v. W— oder der
ſchnackreiche alte Herr ihn zu wißen das Ver-
gnuͤgen hatten. Es hat ehegeſtern gefroren,
ſagt Herr v. G—, tauſendmahl um Verge-
bung, faͤllt Herr v. W— ein, und der alte
Herr nimmt ſich die Erlaubnis, tauſendmahl
unterthaͤnigſt um Vergebung zu bitten. War-
um tauſendmahl, erwiederte Herr v. G—,
ich ſags einmal, und warum um Vergebung?
Hats nicht gefroren; ſo ſagen Ew. Hochwohl-
gebohrnen und Hoch-Edlen: es hat nicht ge-
froren. Hat es aber gefroren; ſo halt’t bey-
de das Maul! Mit der Vergebung bleibt
mir in alle Wege vom Leibe. — Vergebt
eurem Schuldiger, wie Gott euch vergeben
ſoll. So der brave v. G—. Mein Vater
wuͤrde dieſen Auftritt auf philoſophiſche No-
ten ſetzen, und ſich alſo verlauten laſſen: der
Menſch
[303] Menſch fuͤhlt ſich berufen zur Thaͤtigkeit, wenn
ihm Jemand in die Quere kommt, ſchlaͤgt er
aus, mit dem Munde nehmlich. Beym Ein-
wurf wird er aufgehalten, dieſer Renner nach
dem Preiſe, und das iſt freylich unangenehm.
Daher: Pardonnez — Verzeihung! Weg
mit dieſem franzoͤſiſchen unphiloſophiſchen
hoͤflichen Halt! Laßt den Herrn v. G— den
aͤltern erzaͤhlen, was ihn gut duͤnkt, laßt je-
den ſeine Meynung ſagen. Wer hindert
euch, dagegen gerades Weges und ohne Buͤck-
ling einzuwenden. Jeder Menſch hat in der
Welt gleiche Rechte. Das iſt ſo, und das iſt
nicht alſo, kann jeder ſagen. Auf dieſe Art
wuͤrde ſich, von wahr und nicht wahr alles
fein abgezogen, der Ueberſchus ſchon finden,
den dieſe Behauptung vor jener hat, und
jene vor dieſer! — So kaͤme das Poſitive,
ohn unſer Gebet, allmaͤhlig zum Vorſchein,
wenn wir erſt recht negativ geweſen. Nach
langem Regen die Sonne. Und bliebe dann
ſo manches, aller Muͤhe unerachtet, unent-
ſchieden; Mir ſchon recht. Man wuͤſte denn
doch, woran man mit ſolchen unzuentſchei-
denden Dingen waͤre, die jezt ſo oft unge-
buͤhrlich auf Wetten ausgeſetzet werden, ob-
gleich hier nichts zu wetten iſt.
Was
[304]
Was meynt ihr Herren Gelehrten, waͤ-
ren Univerſitaͤten nicht die Plaͤtze, wo der-
gleichen Streit gefuͤhrt werden koͤnnte? Es
verſteht ſich, nicht uͤber den Umſtand, ob es
ehegeſtern gefroren, oder nicht? Und uͤber
dieſen und jenen Schnack, den Herr v.
W— anders, und Herrmann anders gehoͤrt
haben.
Bey unſern jetzigen Verfaſſungen ſiehet
man offenbar ein, wie nuͤtzlich und ſelig es
ſey, gewißen Dingen ein Anſehn beyzulegen,
ſie zu Wuͤrden und Ehren zu bringen, und
ſie dabey zu erhalten. Eben ſo ſiehet man
auch ein, wie wenig die Sache ſich von ſelbſt
zur Strenge, zum Ernſt berechtige, und was
iſt zu thun? Man wuͤrzet geſundes Eſſen,
man haͤngt ſich einen langen ſchwarzſeidnen
oder wollenen Mantel, eine Reverende, um
die Schultern, man theilt Stock und Degen
aus. Der Menſch iſt von ſeiner Unwichtig-
keit, ſo bald er ſich ins rechte Licht ſtellt, voll-
ſtaͤndig uͤberzeugt, und dies bringt ihn zum
Luſtigen, obgleich es noch eine zum Streit
auszuſetzende Frage waͤre: ob der Menſch zur
Luſtigkeit gebohren ſey? Das Kluͤgſte, was
ein unwichtiger Menſch anfangen kann, iſt,
luſtig ſeyn. Das ſehen wir an unſern All-
tags-
[305] tags-Einfaͤlliſten. Die einzige Rolle, die der
Mittelmaͤßigkeit angemeßen iſt, iſt froͤhlich
und guter Dinge ſeyn. Seht euch um! Alle
mittelmaͤßige Leute ſind es von Herzens
Grund. Sie haben nicht umſonſt Verſtand.
Wer kann nicht Voͤgel leiden, die luſtigſten
Thierchen auf Gottes Erdboden? Der Pro-
feſſor Grosvater erzaͤhlte, einen Tauben ge-
kannt zu haben, der ſich Voͤgel gehalten, blos
des Springens wegen! — Meine Mutter
wuͤrde freylich das Singen vom Springen
nicht ſcheiden, da es die Natur zuſammenge-
fuͤgt hat; was konnte aber der Taube dafuͤr,
daß ſeine Ohren verſchloſſen waren?
Man laſſe die Menſchen bey ihrer Luſtig-
keit, der erſten Thraͤnen unbeſchadet, womit
wir alle das Taufwaſſer verſtaͤrkt haben, und
des aͤlteſten bibliſchen Buchs unerachtet, wel-
ches ein Trauerſpiel iſt. — Ließen ſich doch
die Stoiker ſelbſt zu oͤffentlichen Bedienun-
gen brauchen; da giebts genug zu lachen.
Und Epikur! war er nicht ein allerliebſter
Weiſer? Warum ſollten wir den Menſchen
nicht zugeſtehen zu huͤpfen, wenn ſie nur nicht
Luftſpringen, und ihr grundgelehrte Herren
ſelbſt, die ihr darauf bedacht ſeyd, alles tro-
cken zu ſagen, allem ein Anſehen beyzulegen;
Uein
[306] ein gewiſſes Ceremoniel einzufuͤhren, wobey
ſich jeder gerad halten, ein ſteifes Kleid an-
legen, und im bloſſen Kopf gehen muß.
Wenn ihr doch den Verſuch machen moͤchtet,
auf alle dieſe ſteife Etikette Verzicht zu thun.
Sagt eure Wahrheiten immerhin trocken,
gebt uns kalte Kuͤche, nur ſchreibt uns die
Bratencur nicht vor, wenn wir geſund ſind.
Thut nicht ſo ernſthaft, wo zu lachen iſt.
Haͤngt euch nicht eine Reverende von Worten
um, wo es auf Sachen ankommt. Ich weiß,
Kleider machen Leute; allein nicht unter Maͤn-
nern, denen das Denken obliegt. Warum
das ermuͤdende Ceremoniel, das, ſobald es
aus eurem Tempel ins Freye gebracht wird,
laͤcherlich iſt. Gehoͤrt denn dazu ſo viel
Kunſt, zu ſagen: Wir wißen nichts, und
das iſt doch das Ende aller eurer Kunſt.
Wahrlich eine menſchliche Kunſt, die aber na-
tuͤrlich vorgetragen werden muß, wenn ſie
Frucht bringen ſoll in Geduld. Was iſt denn
Poſitiv, ſo wie ihr es nehmt, Hochgelahrte
Herren? Das Format des Poſitiven iſt
Duodez. Warum doch alle die Formalien,
wo es auf Ja und Nein ankommt? So
ſey eure Rede! Was druͤber iſt, ſagt, iſt es
nicht vom Uebel? Wir leben nicht mehr im
alten
[307] alten Bunde, ſondern in der chriſtlichen Frey-
heit, wo das Ceremonialgeſetz, Gott ſey ge-
dankt! abgeſtellt iſt, warum wolt ihr ſolch
einen Kopfzwang, ſolche Daumenſchrauben,
einfuͤhren? Geſtehet aufrichtig, legt ihr es
nicht recht gefliſſentlich darauf an, das aller-
leichteſte ſchwer zu machen, das lichte zu ver-
finſtern, und euch vom Leben zu entfernen?
Hat denn dieſe Welt nicht Muͤhſeligkeiten ge-
nug, und ihr wolt ſie noch mit mehr Drang-
ſalen belaͤſtigen? Seht! Ich vergelte nicht
Boͤſes mit Boͤſem, nicht Kunſtwort mit
Kunſtwort, ich begegne nicht trockenen Wahr-
heiten mit trocknen Einfaͤllen, obgleich trock-
ne Wahrheiten und trockne Einfaͤlle Gevat-
tersleute ſind, und in canoniſcher Verbindung
ſtehen. Wie kann ich Euch aber retten, wenn
ſich dergleichen trockene Einfaͤlliſten wuͤrklich
faͤnden, die euch uͤber kurz oder lang darſtell-
ten, wie ihr ſeyd? — Um des armen Men-
ſchengeſchlechts willen bitt ich euch, laßt ab
vom Ziegelſtreichen und von egyptiſcher Dienſt-
barkeit, und vom Morde der geiſtvollen Knaͤb-
lein, und wollt und koͤnnt ihr nicht? Es wird
ein Moſes kommen, der uns nach Canaan
fuͤhrt, wo Milch und Honig fleußt. —
U 2Daß
[308]
Daß das Studiren troͤſte, hab ich erfah-
ren. Der einzige Troſt in der Welt, wenn
ja die Welt Troſt hat, liegt in den Wiſſen-
ſchaften. Selbſt die Unvollkommenheit un-
ſeres Wiſſens iſt troͤſtlich; die edle Art, uns
zu zerſtreuen, die den Wiſſenſchaften eigen iſt,
hat weder die Welt, noch etwas, das in der
Welt iſt! — Die Wiſſenſchaften allein koͤn-
nen zerſtreuen! — In ihnen liegt Lehr- und
Troſtamt eines guten, eines heiligen Geiſtes,
den der Vater in unſern lezten Tagen geſen-
det hat, denen zur Staͤrke, welche ob dem
Jammer, ob dem Elend dieſer im Argen lie-
genden Welt danieder liegen! Wir haben
die Natur, die Freyheit, verlaßen, und uns
ſelbſt in die Feſtung gebracht. Die Wiſſen-
ſchaften ſind da, um uns wenigſtens in der
Feſtung eine gute Ausſicht zu verſchaffen, um
uns die Zeit zu vertreiben.
Studiren iſt eine Art von Geiſterſeherey,
eine Empfindung hoͤherer Kraͤfte, ein Vor-
ſchmack des Himmels! — Die Alten, wel-
che die Ideen der andern Welt nur fuͤr ſchoͤne
Traͤume hielten, wußten nicht, wie dieſer
Troſt eigentlich mit den Wiſſenſchaften ver-
bunden war, wo er eigentlich zu Hauſe ge-
hoͤre? —
Uebri-
[309]
Uebrigens haͤngt dies Leben an einem ſeid-
nen Faden. Wir leben nur einmal, wir ha-
ben nur eine Seele zu verlieren. Ein Menſch,
der im Himmel, das heißt: uͤberall, nur im
Planeten Erde nicht, zu Hauſe gehoͤrt, ſollte
aus Paris, London, Rom, Athen ſeyn?
Unſer Wandel iſt im Himmel. Wir wollen
Herzhaftigkeit haben, aus Gottes Welt, aus
uns ſelbſt zu ſeyn. —
Den Menſchen kennen lernen, heißt: den
beſten Theil der Wiſſenſchaften gewaͤhlt ha-
ben. Das ſoll nicht von uns genommen wer-
den! Wenn uns alles verlaͤßt, behalten wir
uns doch! —
Ich werde noch Gelegenheit haben, von
meinem academiſchen Lebenslauf ein Woͤrt-
chen zu geben. Will man dies Woͤrtchen in
Ruͤckſicht, daß das Studiren eine Art von
Geiſterſeherey iſt, ſo uͤberſetzen: ich werde ei-
nen Geiſt erſcheinen laſſen! Auch gut! Ei-
nen guten Geiſt, verſteht ſich. Alle gute Gei-
ſter leben Gott den Herrn! — —
Ich verlies, wie es meinen Leſern nicht
unbekannt ſeyn kann, Gretchen eben zu einer
U 3Zeit,
[310] Zeit, da ſich der Juſtitzrath Nathanael zwey
Stunden zuvor in dem Widdem (Paſtorat)
anmelden lies. Meine Leſer wiſſen, daß ich
Gretchen bat, ihn zu gruͤſſen, und daß ſie da-
gegen fragte: mich? — Ich kuͤßte Gretchen
nicht, da ich von hinnen zog, wohl aber, da
ich vom beſondren Grafen kam; wenigſtens
glaub ich es ſo. — Nichts war mehr zu ver-
muthen, als daß ſich der Juſtitzrath ſeiner
Anmeldung gemaͤß einfinden wuͤrde. — Auf
die Verlobung folgt die Hochzeit, wenn kein
Einſpruch geſchiehet, wenn nicht wo der Wa-
gen bricht, oder andere Hinderniße ſich in den
Weg legen. Nathanael kam wohl behalten
in das Wirthshaus in L —, aus welchem er
zuvor Kundſchafter ſandte, ob ich auch wuͤrk-
lich ſchon abgereiſet waͤre? Und da er Ja
zuruͤck empfieng; kam er mit einer ganz friſch
aufgepuderten Peruͤke, und ſo ſtattlich ausge-
zieret, daß der Prediger ſehr um Verzeihung
bat, daß er ihn ſo alltaͤglich faͤnde. Meine
Leſer wiſſen zwar ſchon, daß er ſeinen Erlaß
erhalten; allein dies war ein Wort aus gu-
tem Herzen, das auch oft zur Unzeit faͤllt.
Nathanael war jetzt, da er ſeine Aufwartung
in L — machte, auf das allerunterthaͤnigſte
Geſuch um ſeinen Erlaß noch nicht beſchieden,
und
[311] und konnt’ auch noch nicht beſchieden ſeyn.
Das erſt und lezte Wort des Nathanaels war
Mine! Und dies ſchien die einzige Urſache,
warum Gretchen auf alle ſeine Fragen ant-
wortete. Er lies ſich das Grab zeigen, und
weinte herzlich, wie Petrus, da er ſeinen Mei-
ſter verrathen hatte. Da ihm Gretchen die
Stelle in Minens Teſtament, auf die Erinne-
rung des Predigers, (von ſelbſt that ſie es
nicht) zeigte: „Sag ihm, wenn du ihn in
„dieſer Welt ſprichſt, daß ich ihm von Herzen
„vergeben habe“ weint’ er ſo heftig, daß er
die Haͤnde brach, und ſich an die Stirn ſchlug,
ohne ſeine aufgepuderte Peruͤke und die ſtatt-
liche Verzierung zu bedenken, womit er aus-
geruͤſtet war. Der Prediger hatte ſein gan-
zes Troſtamt noͤthig, um ihn wieder ins Ge-
leiſe zu bringen. Mein Gruß, den ihm Gret-
chen warm beſtellte, koſtete ihm neue Thraͤ-
nen; allein er troͤſtet’ ihn auch. Die Predi-
gerin ſelbſt, lief nicht mehr vor ihm. Seine
Thraͤnen hatten ſie aus dem andern Zimmer
herbeygelockt. Nathanael konnte nicht aus
L — kommen. Jezt bedauert’ er, daß er
zwey Stunden vor meiner Abreiſe ſich mel-
den laßen und nach vieren vor derſelben ge-
kommen waͤre. Dies alles machte den Na-
U 4tha-
[312] thanael bey den Frauenzimmern ertraͤglich,
ohne daß hiebey auf ſeine muͤhſame Dekora-
tion geſehen ward, die der Schmerz, nach
ſeiner Gewohnheit, ziemlich in Unordnung
gebracht hatte. Man bat den Nathanael ſo
gar, noch laͤnger zu weilen, um von Minen
und mir erzaͤhlen zu koͤnnen. Nathanael blieb
in Mitbetracht des Mondſcheins. — Seine
Bitte war die Erlaubnis, Minens Andenken
in L — oͤfters feyern zu doͤrfen, die ihm ſelbſt
von der Predigerin bewilliget ward. Ohne
Thraͤnen aber nicht, fuͤgte dieſe gute Han-
na hinzu: Zu befehlen, beſchlos Nathanael,
und fuhr ſeine Straße weinerlich. Der
Prediger, Hanna und Gretchen, begleite-
ten ihn bis — an den Mond, haͤtt’ ich bald
geſchrieben — bis ins freye. Alle ſahen auf
Minens Grab, und es kam jeden ſo vor, als
wenn der Mond hier ganz beſonders ſich hin-
gewandt und es beblitzet. — Was meynſt
du, Einzelner! es iſt doch gut, wenn man
Freunde nachlaͤßt, die beym Mondſchein nach
unſerm Grabe ſehen. — Nathanael, der,
ohne daß Gretchen es empfunden, ſo oft es
die Thraͤnen nachgegeben, ſein Auge nicht von
ihr gelaſſen, war ſo erbaut, von allen dieſen
Vorgaͤngen, daß er — weg war. Am Heck
ſang
[313] ſang ein Bauermaͤdchen ein bekanntes Volks-
lied in gleich bekannter Melodie, indem ſie
das Heck oͤfnete:
Das fehlte noch dem Nathanael, um von
ganzer Seele ſeinen Abſchied zu wuͤnſchen,
und einem Plan nachzuſpuͤren, in den Gret-
chen mitgehoͤrte. Nathanael wiederholte ſei-
nen Beſuch, ohne ſich weiter melden zu laßen.
Gretchen blieb, wie ſie ſtand und gieng. Va-
ter und Mutter bedachten die erneute Peruͤke
des Nathanaels und ſein ſonſtiges Schnitz-
werk, und halfen ſich nach. Gretchens
Nachlaͤßigkeit machte Nathanael noch ver-
liebter: Mine und ich blieben die Hauptma-
terien. Nathanael kam auch der Ermahnung
der Hanna, nie ohne Thraͤnen, nach; in-
deſſen wußt er je laͤnger je mehr es ſo einzu-
richten, daß er Gretchen einen begehrenden
Blick zuwand, den Gretchen nie auffaßte.
Sein Funke zuͤndete nicht. Jetzt war die
Erlaſſung gekommen, die keinem in Preuſſen
ſchwer wird, und waͤre Nathanael das A und
O in Staatsſachen geweſen, da er es doch
jetzt nur im Juſtitz-Collegio war. Der Koͤ-
U 5nig
[314] nig von Preußen haͤlt keinen — „Wenn der
„Tod ihn will, muß ich nicht auch wollen“
iſt ſein koͤniglicher Grundſatz. — Ein Koͤnig
muß ſich zu allem gewoͤhnen lernen, ſo wie
ſich alles zu ihm gewoͤhnt.
Mit einer Freude, die ihres gleichen nicht
hatte, kam Nathanael nach L —, entdeckte
dem Prediger, ſein Vermoͤgen zu einem klei-
nen Guͤtchen ohnweit L — angelegt zu haben,
und hatte ohne Promemoria Herz genug, dem
Prediger ſein Anliegen naͤher zu legen. Na-
thanael war diesmahl noch geputzter, wie je,
obgleich ihm ſchon zuvor nichts abgieng. Der
Prediger erwiederte, dieſen Antrag in Erwaͤ-
gung zu nehmen, und Nathanael trat ab,
wie alle Partheyen, wenn die Richter in ih-
ren Sachen erkennen wollen. Der Prediger
trug Frau und Tochter mit einer kleinen An-
rede die Sache vor, und kleidete alles in einer
wohlgemeynten Rede uͤber die Worte ein:
willſt du mit dieſem Manne ziehen? Da
gieng Gretchen uͤber manchen unverſtaͤndlich
gebliebenen Blick ein Licht auf. Hanna hatte
tauſend Bedenklichkeiten, die aber alle tauſend
in den Umſtand zuſammen kamen, daß ich —
Gretchen ward roth. — Nun, ſagte der
Prediger, wenn das iſt; deſto beſſer, ich bin
ihm
[315] ihm wegen meiner Suͤnde wider den hei-
ligen Geiſt tauſend Verbindlichkeiten ſchul-
dig. Er hatte ſchon laͤngſtens den Erfolg
ſeines Auftrags in Haͤnden. — Wenn er
mit dir ſo umgeht, wie mit dieſer Abhand-
lung; haſt du gewonnen Spiel. Fein Pa-
pier. Der ſchoͤnſte Druck — Die Recen-
ſenten werden wider dieſe Verbindung kein
Wort haben. Der Beſchluß war, dem Ju-
ſtitzrath Nein zu ſchreiben, weil Gretchen mit
mir eins waͤre. — Nathanel hatte gebeten,
ihm ſein Urtel ſchriftlich zuzuſenden, welches
er als publicirt anſehen wuͤrde und war, voll
Erwartung der Dinge, die kommen ſollten,
heim gereiſet. Den andern Morgen fiel dem
Prediger die Frage ein: ob ich denn wuͤrk-
lich mit Gretchen eins waͤre? Und da man
alles zuſammenhielt, fand man mich in wei-
tem Felde — im weiteſten. — Es giebt
nicht alle Tage Nathanaels, ſagte der Predi-
ger, der dieſen ganzen Vorfall ſeinem Bru-
der zu referiren, und die Sache ſeinem Schieds-
ſpruch zu uͤberlaſſen antrug. Hanna trat
bey, und bat nur, das Teſtament in dieſer Re-
lation abſchriftlich beyzufuͤgen, als ein Docu-
ment, woraus ganz deutlich hervorgienge,
daß ich Gretchen heyrathen muͤſſe.
Der
[316]
Der Haupteinwand, den Gretchen aber
fuͤr ſich behielt, war, daß obgleich ſie mit
zwey Accenten verlangt, daß ich wenigſtens
noch einmahl nach L — kommen ſollte, ich
doch in ſo langer Zeit nicht gekommen — —
Zwar hatt’ ich geſchrieben; allein, da war
auch keine Spur, die dieſes Obgleich heben,
oder nur mindern koͤnnen.
Ein Brief von mir an Gretchen, der meine
Reiſe nach Goͤttingen eroͤfnete, gab allem
eine andre Wendung. Der Prediger ſahe
dieſen Brief als eine goͤttliche Schickung an.
Die Predigerin ſelbſt war der Meynung, daß
die Relation nicht abgehen doͤrfe. Er hat doch
keinen Amtswachtmeiſter mehr, ſetzte Hanna
hinzu, und Gretchen? Sie haͤtte freylich be-
denken koͤnnen, daß ihre Eltern arm waͤren,
und ihre Mutter noch obenein Lindenkrank;
allein dies war ihr wenigſter Kummer. Es
iſt nicht die einzigſte und ſicherſte Art, Maͤd-
chens durch Schmeicheleyen zu fahen. Man
ſollte kaum glauben, was in einem unbefan-
genem Weibsbilde Raum hat. Eine Gros-
muth, die uͤber allen Ausdruck iſt. Ich ge-
traue mir zu behaupten, daß man ein Maͤd-
chen durch Beleidigungen eben ſo weit brin-
gen kann, als durch Liebkoſungen. Wenn
nicht
[317] nicht Curlaͤnder gerad uͤber gewohnt und ihr
Herz durch buhleriſche Blicke verdorben ha-
ben, was kann ſie nicht? Wißt ihr, Freunde,
wer die groͤßten Menſchenfeinde ſind? Die,
denen die Menſchen am meiſten gutes gethan.
Dieſe Begluͤckten empfinden ihren Unwerth,
ſie wiſſen am beſten, durch was fuͤr Wege ſie
ſich dies und jenes erſchleichen, und eben dies
macht ſie zu Menſchenfeinden. — Ungluͤck,
Freunde, das man duldet, leitet uns oft zur
genaueſten Menſchenliebe. — Daher Freud
und Leid, Sarg und Hochzeitbette, ſo nah
verwandt! Nichts iſt natuͤrlicher, als daß
Gretchen Ja ſagte. Sie haͤtt’ es geſagt,
wenn gleich Nathanael nicht ſo geweint, als
er gethan, wenn er gleich den Abſchied nicht
genommen. Gut iſt gut; allein beſſer iſt beſ-
ſer. Einer der Buße thut, iſt beſſer, als
neunzig, die der Buße nicht beduͤrfen. — Ehe
es ſich noch ſchickte die Bedenkzeit zu ſchluͤßen,
wiewohl alles ſchon bedacht war, erſchienen
Se Hochgebohrnen, der hohe Eingepfarrte,
mit einer Anwerbung — auch fuͤr Natha-
nael. Das Nathanaelſche Guͤtchen ſtieß an
eines des Grafen. Wer viel im Himmel ha-
ben will, muß ſorgen, daß die Welt frucht-
bar ſey und ſich mehre. Man gab, um alles
fein
[318] fein und ſchoͤn zu machen, dem Grafen die
Einwilligung mit, und ſiehe da! Nathanael
und Gretchen ein Paar! — Eins haͤtte Gret-
chen ſich gern ausgedungen, wenn es ſich ge-
ſchickt haͤtte. Sie wuͤnſchte, daß Nathanael,
der ſonſt eben nicht unleidlich war, ſeine Haare
wachſen, oder ſie wenigſtens mit ſeiner Pe-
ruͤke ſo verheyrathen moͤchte, daß man nicht
wuͤſte, obs Natur oder Kunſt, eigen Haar
oder Peruͤke waͤre. Die Natur traͤgt ihr ei-
gen Haar. Solche Wuͤnſche heben in der
Ehe ſich von ſelbſt. Das Weinen lies dem
Nathanael, wie Hanna verſicherte, nicht
uͤbel. Die erweinte Roͤthe, welche ſich von
einer andern, ohngefehr wie das Taufwaſſer
gruͤn von andern unterſcheidet, gefiel Greten
ſelbſt. Ueber das Weinen lies ſich Hanna
aus: „Es kleidet wenigen Leuten, Lachen ſteht
„faſt allen gut; drum laßen ſich die Men-
„ſchen faſt alle im Laͤcheln mahlen. — Wer
war gluͤcklicher, als Nathanael? Daß du es
doch immer ſeyſt, gutes Paar, ich wuͤnſch es
von Herzen! Gretchen beſtand darauf, daß
die Verlobung auf Minens Grabe geſchehe.
Man bat mich ſchriftlich um dieſe Erlaubnis,
und ich bewilligte ſie mit einem Seufzer, der
aber blos Minen zugehoͤrte. Gretchen ſchrieb
„damit
[319]„damit auch ein Engel des Herrn dieſer
„Verlobung beywohne!“ Der Graf fand
dieſes ſo original, daß er ſehr bedaurte, nicht
auch auf dieſen Fuß ſich verlobt zu haben.
Der Prediger ſchenkte ſeinem Schwiegerſohne
zwey Autorexemplare von der Abhandlung,
die auf extrafein Papier gedruckt waren, und
fragt’ ihn, was fuͤr Baͤnde in ſeiner Biblio-
thek hervorſtaͤchen? „Lieblingswerke bro-
„chuͤrt ohne Glaß und Rahmen am we-
„nigſten goldnen“ indeſſen ſchien der Pre-
diger zu wuͤnſchen, daß er mit dieſem Werk-
lein eine Ausnahme von der Regel machen,
und ihm eine ſchwarzcorduane Uniform an-
ziehen moͤge. — Nathanael haͤtte das Werk
auswendig gelernt, ſo lieb hatt’ er Gretchen.
Ein ſchwarzcorduanes Kleid war das wenig-
ſte, was er dran wenden konnte.
Nachdem alles von Seiten der Verlobten
Ja, und von Seiten des Predigers und ſeiner
Hanna Amen war, und man ſich, wie doch
im Brautſtande gewoͤhnlich, das Herz aus-
ſchuͤttete, erſchien auch ein Theil von der ge-
heimen Abſchiedsgeſchichte des Juſtitzraths.
Er entſchlos ſich freylich auf friſcher That,
nicht mehr zu richten, damit er nicht auch ge-
richtet wuͤrde; allein bey alledem wuͤrde
wenig-
[320] wenigſtens der Abſchied nicht ſo ſchnell geſucht
und erfolgt ſeyn, wenn nicht noch ein Um-
ſtand dazu gekommen waͤre. —
Der Juſtitzrath fand wegen verſchiedener
unrichtigen Beſchwerden, die man wider das
Collegium hoͤheres Orts, das heißt, in Koͤ-
nigsberg angebracht, bey ſeiner Ruͤckkunft
einen Reviſor, bald haͤtt ich Sequeſter geſagt,
das iſt, ein Maͤnnchen aus einem Collegio,
das den Koͤniglichen Titel hat, wenn es bey-
ſammen iſt, ein Maͤnnchen, das den Tag ſeine
drey Reichsthaler aus dem Seckel der Juſtitz,
aus der Sportelcaſſe, ſich zueignet und jedes
einladet, ſeine Beſchwerden uͤber die Orts-
obrigkeit anzubringen. Beſonders! daß der
Koͤnig von Preuſſen den Militairperſonen,
wenn gleich ſie excellent ſind (das iſt hier zu
Lande der Feldherr vom Generallieutnant an,)
ſein Bild nicht anhaͤngt und ihnen den Koͤnig-
lichen Titel verleiht, dagegen im Civildienſt
oft an einem Orte vier Stuͤck Koͤnige regieren,
oder Collegia, die den Namen ihres Koͤnigs
unnuͤtzlich fuͤhren. Ein Koͤnig uͤbern an-
dern — Ein Reviſor iſt ein einzelnes Mit-
glied aus einem dergleichen mit dem koͤnig-
lichen Namen begabten Collegio. Ein Po-
ſtillion ohne Horn. Solch ein Poſtillion
iſt
[321] iſt indeſſen im Collegio zu ſehr gewohnt,
all Augenblick ins Horn zu ſtoßen, und
durch: Wir Friedrich von Gottes Gna-
den ꝛc. ſich Platz zu machen, als daß er nicht
auch ohne dieſen Ordensfaden ſich einbilden
ſollte, er ſey Etwas. Muthwillige Knaben
machen mit der Hand das Poſthorn ſo nach,
daß man glauben ſollte, die Poſt kaͤme. Je-
der Mann denkt ſich unter einem Richter, ei-
nen Aelteſten im Volke, und es iſt nicht zu
leugnen, daß es auf zehn Jahre, in oder
außer dem Wege, ſehr viel beym Richter an-
kommt. Von dem Geburtsbrief, vom Tauf-
ſchein unſeres Reviſors, war der blanke
Streuſand noch nicht abgerieben. Er konnte
ungefehr drey und zwanzig Jahr haben, und
war alſo ſehr zeitig zur Landesregierung ge-
kommen. Dieſer Juͤngling hatte die juriſti-
ſche Collegia durchlaufen, wie ungefehr ein
Hofmann ein Puderſtuͤbchen, damit nur ein
feiner Septemberreif kleben bleibe. — So
viel war dem Reviſor auch kleben geblieben.
Stolz, feurig indeſſen in Gedanken, Gebehr-
den, Worten und Werken! Er ruͤhmte ſich
einen gluͤcklichen Aktenblick zu haben. Das
hieß: Er laß die Akten nicht ganz, ſondern
ſchweifte nur umher, huͤpfte ſie nur durch,
Xund
[322] und doch, ſagt’ er, find’ ich die rechten Stel-
len, die verba probantia, den phyſiognomi-
ſchen Fleck. — Gott erbarm ſich deſſen, der
ſein Wohl und Weh ſo aufs Spiel ſetzen muß!
Ein Schurk’ anderer Art war er oben ein,
nach der Weiſe des Ehegerichtsraths, der den
Ritter und die Curlaͤnderin ſchied, und Klaͤ-
ger, Richter, Henker in einer Perſon war.
Er lies ſich ſo klar und offenbar beſtechen, daß
kein Menſch es groͤber machen konnte, und
eben dieſe Grobheit war Feinheit. Er borgte
nehmlich von allen Menſchen Geld, und gab
es nicht wieder, oder beßer, man fordert’ es
nicht. Das nenn ich einen Bock zum Gaͤrt-
ner ſetzen! Unſer juriſtiſches Genie war dem
A und O im Collegio wie auf den Leib ge-
bannt. An keinem kleinern, als ihm, wollte
der Knabe zum Ritter werden.
Wo geweſen?
Auf Koͤniglicher Commißion.
Und die Akten?
Beym Prediger in L —
Als Mitcommiſſarius?
Nein.
Warum denn?
Damit er der Regierung Bericht erſtatte —
Deſto
[323]
Deſto beſſer!
Nathanael erzaͤhlte dem Poſtillion ohne
Horn ſehr gerade den Vorfall, und zeigt’ ihm
das Promemoria, daß er allein zuruͤckbehal-
ten. — Der Reviſor beſtand darauf, daß
er wieder zuruͤck nach L — ſollte. Er ſelbſt
wollte mit, um dieſe Sache zu ergruͤnden.
Mine kam ihm, als die feinſte Betruͤgerin,
vor. Sterbend hin, ſterbend her, ſagte der
Reviſor! An dieſem Herodes, an dieſem
Zaunkoͤnig, hatt’ es auch noch gefehlt! —
Einige dringende Beſchwerden derer, die von
den Straſſen und Zaͤunen geladen waren,
hielten dieſe Reiſe auf, und eben da er hin
wollte, kam die Nachricht und der Bericht
zur Unterſchrift, daß Mine im Herrn ent-
ſchlafen ſey. — Der Reviſor behauptete,
Mine haͤtte Gift genommen, da er die unzu-
laͤngliche Aktenſtuͤcke las. Solch einen tref-
lichen Ueberblick hatt’ er! — Zwar lies er
auf die Vorſtellung des Nathanaels die Ob-
duktion, die er anfaͤnglich durchaus veran-
ſtalten wollte, nach; indeßen konnte Natha-
nael es nicht hindern, daß der Reviſor auf
zehn Bogen Papier dieſen Vorfall auseinan-
der ſetzte, um denen, die ihn geſandt hatten,
zu zeigen, was geſchehen waͤre, und was nicht
X 2geſche-
[324] geſchehen waͤre, und was geſchehen koͤnnen,
und was geſchehen ſollen. — — —
Da kam eine Wittwe, die ſich beſchwerte,
man haͤtte zu viel Stempelgebuͤhren von ihr
genommen. — Akten! ſchrie der Reviſor,
und ſetzte auseinander, was bey dieſer Sache
verſehen waͤre. Nun fand er zwar, daß nach
der Verordnung mehr Stempelgebuͤhr ge-
nommen werden ſollen, die auch das arme
Weib nachbezahlen muſte; allein neben her
ſetzt’ er die Fehler ins Licht, welche bey dieſer
Sache vorgefallen. Akten waren nicht ge-
hoͤrig geheftet, nicht gebuͤhrend foliirt, das
Rubrum war falſch und haͤtt’ auch groͤſſer ge-
ſchrieben werden muͤßen. Lateinſche Worte,
die man ſchon beßer, als die Deutſchen, ver-
ſtand, verdeutſcht’ er, und das mit einer
Randweiſung: in Zukunft, des gemeinen
Manns wegen, ſich ſo viel als moͤglich der
deutſchen Sprache zu bedienen. Wo er Ter-
min fand, ſezt’ er Tagefarth, wo Concurs,
Brodel u. ſ. w. Die tauſend Kleinigkeiten,
ſo der Reviſor zu moniren fand, zeigten eben
ſo, wie der blanke Streuſand auf dem Ge-
burtsbrief, ziemlich deutlich, daß er nicht ſehr
lange aus dem A. B. C. heraus waͤre. —
Der
[325]
Der Wittwe wurden alle dieſe Erinnerun-
gen und Weiſungen, wiewohl ohne Stempel-
papier, gegen Bezahlung der Copialien zuge-
fertiget, und anſtatt, daß ſie heraus bekom-
men ſollte, muſte ſie V. R. W. noch das zu
wenig genommene Stempelpapier und die Co-
pialien fuͤr den Reviſionsbeſcheid zuzahlen.
Schwerlich wird ſie mehr klagen! Ich wollte,
ſagte ſie, fuͤr meine Tochter, die eben heyra-
thet, zu einem ſilbernen Speiſeloͤffel aus den
Akten heraus haben, und muß in die Akten
einen ſilbernen Vorlegeloͤffel dazu geben. — —
Das war fuͤrs Promemoria, dacht’ unſer
gute Nathanael. Wen Gott lieb hat, den
zuͤchtigt er auf friſcher That, wie jeder gute
Vater ſeinen Sohn! Wenn ich meine Rieben
pflanze, wie angenehm wird es mir ſeyn, ge-
buͤſſet zu haben! — — und beym vermißten
fruͤh oder Spatregen nicht denken zu doͤrfen;
fuͤrs Promemoria! Wahrlich Nathanael war
hiebey auf keinem unrichtigen Wege. Mein
Vater pflegte zu ſagen: es muß jedem klugen
Menſchen (und auch der kann ein Suͤnder
ſeyn,) eben ſo angenehm ſeyn, zu buͤßen, als
zu ſuͤndigen. — Die bitterſten Erniedrigun-
gen, in Gegenwart der andern Mitglieder des
Collegii und der Subalternen, kraͤnkten den
X 3Na-
[326] Nathanael, des A und O, am meiſten. Sel-
ten iſt ein Ungluͤck allein. Der Direktor des
Juſtitzcollegii ſtarb, aus Furcht ohnfehlbar.
Furcht iſt eine Krankheit, welche den groͤſten
Theil der Menſchen, nach der Liebe, dahin-
raft. Es iſt die Seelengicht. Unſer Reviſor
hatte einen adlichen Referendarius, Auſculta-
tor, was weiß ich, wie ſolch ein Zoͤgling recht
heißt, mit. Man kann ſich vorſtellen, wie
alt dieſer geweſen, da er an der Bruſt des
Reviſors lag. Nach dem Vorſchlage, den
der Reviſor denen, die ihn geſandt hatten,
that, und der durchaus genehmigt ward, ſoll-
te dieſer Saͤugling von unſerm Reviſor als
Interimsdirektor eingefuͤhret werden. Na-
thanael hatte wider dieſen Direktor den
Spruch „aus dem Munde der jungen
„Kinder“ und die Stelle Jeſaia drey, der
zwoͤlfte Vers: Kinder ſind Treiber mei-
nes Volks, und Weiber herrſchen uͤber
ſie, gemisbrauchet. Die Folge war gruͤne
Galle bey der Introductionsrede und
außer ihr noch ein Anhang mehr, als Galle.
Der Interimsjuſtitzdirector machte den Revi-
ſor mit denen benachbarten von Adel bekannt.
— Das war ein Leckerbiſſen fuͤr ſeinen Stolz,
ein Kitzel fuͤr ſeinen Gaumen; der Reviſor
war
[327] war nicht von Adel. Jedem ſeiner adlichen
Wirthe ſagte der Reviſor die Spoͤttereyen
uͤber das Juſtitzcollegium vor, die er in ſei-
ner Einfuͤhrungsrede angebracht, und zum
Schlus, der adliche Wirth mochte lateiniſch
verſtehen oder nicht, cognovit bos \&
aſinus,
quod puer erat dominus.
Der Juſtitzrath hatt’ ihn aus der Bibel be-
leidigt; der Reviſor ſchlug ihn aus dem Ge-
ſangbuch. Dieſe Strophe iſt aus dem Liede:
Ein Kind gebohren zu Bethlehem: Puer na-
rus in Bethlehem, und heißt nicht, wie wir
ſingen, das Oechslein und das Eſelein, ſon-
der der Ochſe und Eſel erkannten, daß der
Knabe Herr war. Ob nun gleich Nathanael
nicht wuſte, wie er und ſein College (aus
zweyen Raͤthen beſtand das Juſtitzcollegium,)
ſich dieſe beyde Praͤdicate vertheilen ſollten;
ſo waren doch beyde Ehrentitel nicht viel aus-
einander. Beyde Leute hoͤrten ganz laut die-
ſen Zuſatz erzaͤhlen, obſchon der Reviſor ihn
nur jederzeit ins Ohr geſagt hatte. Wieder
ein Genieblick von unſerm Reviſor. Der
Adel nimmt Recht beym Juſtitzcollegio. —
Der Menſch beſteht aus Leib und Seel,
aͤuſſerlichem und innerlichem Sinn, und be-
X 4darf
[328] darf alſo immer etwas von innen, und etwas
von außen, wenn er zum Ziel kommen ſoll;
ohne einen Schlag ans Herz, etwas ad ho-
minem, bleibt die ſpeculativiſche Demonſtra-
tion ein Luftſchlos. Faſt ſollte man glauben,
daß die Sinnen, die anfangen, auch vollen-
den, Allerſeits und Amen ſagen! Selbſt zu
Entſchluͤſſen, wenn nichts ans Herz kommt,
wie ſchwer die Geburt! Wen Gott lieb hat,
dem giebt er, außer dem ſchweren Buche, noch
ein Handbuch, außer der Bibel einen Cate-
chismus, außer den hoͤhern geiſtiſchen Gruͤn-
den, einen mit Fleiſch und Bein — Außer
tiefer Wiſſenſchaft — Dichtkunſt.
So mit unſerm Juſtitzrath. Minens
Geſchichte erregte den Entſchluß: du kannſt
hinfort nicht mehr Haushalter ſeyn!
Der Reviſor macht’ ihn lebendig! —
Bey dieſen Umſtaͤnden verdachte der Pre-
diger in L — ſelbſt nicht dem Nathanael, daß
er ſein Amt niedergelegt, und eine Zeit der
Ruhe, der Heiligung, angefangen. Lieber
Nathanael, wenden Sie Ihre Zeit gut
an, und Gott ſegne Ihre Studia! Der
Koͤnigliche Rath, dem ich gelegentlich dieſen
Vorfall erzaͤhlte, war ſo wenig uͤber dieſen
Vorgang außer ſich, daß er vielmehr, ob-
gleich
[329] gleich er ſelbſt ein Stuͤckle in Koͤnig war, nichts
mehr that, als die Achſeln ziehen. — Der
Entſchluß des Nathanaels war ſo nach ſei-
nem Sinn, daß auch er ſich, wie man deut-
lich ſahe, nach dieſer Erloͤſung ſehnte. —
Gretchens Hochzeit ward meinethalben
zeitiger veranſtaltet, als es wohl ſonſt nach
der Sitt’ im Lande haͤtte geſchehen koͤnnen, wo-
fuͤr mir, glaub ich, Braut und Braͤutigam, wie
wohl mit dem Unterſchiede verbunden waren,
daß der Braͤutigam allein ſich dies Verbun-
den ſeyn merken lies. — Ich kam ein Paar
Tage vor dem Hochzeitstage. Gretchen, ſo-
bald ſie mich ſahe, kuͤßte mich ſo aus Her-
zensgrund, und ich ſie wieder, daß Natha-
nael auffuhr! — Sie lies ihn, und kam zu
mir. Dem Nathanael war hiebey eben ſo
uͤbel, als bey der Reviſion, zu Muthe, und
was das aͤrgſte war, ſo durfte er ſich dies
nicht einſt merken laſſen. — Jeder, das ſah’
er ein, wuͤrd’ ihn wegen ſeiner Eiferſucht aus-
gelacht haben. An einen Abſchied war hier
ohnedem nicht zu denken. Er liebte Gretchen
unendlich. Anfaͤnglich affektirt’ er dabey ſo
eine Heiterkeit, daß man gar nicht wuſte, wie
ihm worden. Bald darauf ward er unruhig.
Er ſchien nicht aus noch ein zu wiſſen. Wenn
X 5ich
[330] ich mit ihm allein war, fragt’ er mich ohn’
End und Ziel: wenn ich denn gedaͤchte Preuſ-
ſen zu verlaßen? Und, ohne mich zu noͤthi-
gen, auch nur einen Tag laͤnger zu bleiben,
war wieder ein wenn da. So bald mir uͤber
dieſe Eiferſucht, die ſich jezt in eine ungewoͤhn-
liche Hoͤflichkeit gegen Gretchen aufloͤſete, nur
das erſte Licht aufgieng; dacht’ ich auf Mit-
tel, den armen Nathanael zu heilen. — Iſts
nicht eigen, daß man den Eiferſuͤchtigen allein
durch Affektation beruhigen kann? Ich fieng
an, gegen Gretchen mich zu zwingen, und
da ſie ſich daruͤber beſchwerte, ſucht’ ich fuͤr
den Juſtitzrath auf eine ſo gute Art alles zum
Beſten zu kehren, daß er von Stund an, an-
ders zu werden anfieng. Ganz kam er nicht
ins Geleiſe; obgleich er nicht mehr wenn
fragte.
Der Graf konnte ſo wenig, wie ſein an
Bruder ſtatt angenommener Bedienter, auf
die Hochzeit kommen. Etwas Sterbendes
hielt ihn ab. Gern haͤtt’ ich ihn zu Cana in
Galilaͤa geſehen — und der Koͤnigliche Rath?
Auch er nicht. Er hatte einen Reviſionsauf-
trag erhalten. So viel weiß ich, daß er kei-
ner Wittwe, auſſer dem eingebildeten Ge-
winſt
[331] winſt eines ſilbernen Eßloͤffels, einen Vor-
legeloͤffel von der Seele revidirt haben wird.
Gretchen hatte von je her auf ein ſtilles
kleines Hochzeitmahl beſtanden. Ihre Mut-
ter war zu dieſen Wuͤnſchen eine Miturſache.
Wir ſind in Trauer, ſagte ſie zum Juſtitzrath,
und ſah mich an. Einige der Eingepfarrten
indeſſen muſten geladen werden und hiezu war
der 14 — angeordnet. Den 13 — des
Morgens giengen wir all zuſammen ins nahe
Waͤldchen, und kamen ſo heiter zuruͤck, daß
wir, Gretchen, Nathanael und ich, auf den
Gedanken fielen, heute ſtehendes Fußes den
geſchuͤrzten Knoten zuzuziehen. Der Predi-
ger hatte Bedenklichkeiten; unfehlbar war er
mit der Hochzeitrede noch nicht fertig. Er
gab indeſſen nach, da er unſere vereinigte
Wuͤnſche merkte. Gretchen und ich giengen
zur Mutter; was konnte die uns beyden ab-
ſchlagen? Waͤhrend der Zeit, daß der Predi-
ger ſich in ſeine Reverende ſetzte, und an ſeine
Traurede dachte, ward nach dem Organi-
ſten und ein Paar Dorfaͤlteſten geſandt, wozu
noch ein Verwandter des Juſtitzraths, der
ſchon den 12 — angelangt war, ſties. Es
war ein Koͤniglicher Amtmann, (Paͤchter ei-
nes Domainen-Guts.) Gretchen fragte den
Natha-
[332] Nathanael: ob ſie ihren Brautſchmuck anle-
gen ſollte? — Den koͤnnen Sie nie ablegen,
erwiderte der galante Braͤutigam. Wir ba-
ten alle, Gretchen moͤchte bleiben, wie ſie
waͤre, und dieſe Bitte machte uns wenig
Muͤhe, weil ſie ſelbſt dazu geneigt war. Sie
blieb, und die Natur ſelbſt haͤtte ſie nicht beſ-
ſer putzen koͤnnen, als ſies war. Sehet die
Lilien auf dem Felde! Und Salomo war nicht
gekleidet, wie derſelben eine! — Wahrlich
Gretchen war eine ſchoͤne Feldblume! — Wie
ſchoͤn ſie da ſtand! Nathanael konnt’ es ohne
Puder nicht laßen, ſonſt konnt’ er ſeiner Ga-
lanterie keine Elle mehr zuſetzen; er war wie
aus einem Putzkaͤſtchen gezogen. — Der
Amtmann war nicht im Stande, ſich ans
ſeinem Erſtaunen heraus zu finden. Er hatte
ſein Kleid mit den Goldbeſponnenen Knoͤpfen
noch nicht herausgepackt, und nun war es
zu ſpaͤt. Der Organiſt bat um Verzeihung,
daß er kein hochzeitlich Kleid anhatte, und
waͤhrend aller dieſer Dinge kamen die Beglei-
ter zu Hauf. Gretchen bat mich um Blu-
men, die ich ihr zitternd brachte; ich haͤtt’ ihr
gewiß keine gepfluͤckt, wenn ſies nicht ſelbſt
verlangt haͤtte. Sie nahm dieſe Blumen mit
einem Blick entgegen, der mir durchs Herz
gieng,
[333] gieng, und ſteckte ſie ſich, warm von meiner
Hand, an den Buſen. Nathanael war zu
andaͤchtig, um daruͤber eiferſuͤchtig zu wer-
den, und der Blumen halber zur Frage:
wenn? Gelegenheit zu nehmen. — Natha-
nael gieng mit ſeiner Braut, ich mit der Pre-
digerin, der Prediger mit dem Amtmann
ohne die goldbeſponnenen Knoͤpfe. Dann
Gretchens beyde Bruͤder, ein Paar Primaner.
Die beyden Dorfaͤlteſten machten das letzte
Paar. Der Organiſt war voraus gelaufen,
um uns mit einigen ſeiner Schuͤler zu bewill-
kommen. An Minens Grabe ſtanden wir einige
Minuten ſtill, als wenn wir uns ausruheten.
In der Kirche trafen wir eine ungebetene Ver-
ſammlung, der man es anſahe, daß ſie mit
dieſer Eilfertigkeit nicht voͤllig zufrieden war.
Vielen ſah man an, daß ſie auf die erſte Nach-
richt ſich zu putzen angefangen, und in dieſem
gutgemeinten Beſtreben, zu Gretchens Ehren-
tage etwas beyzutragen, geſtoͤret worden.
Es war nicht halb, nicht ganz. Die Toͤchter
der Dorfaͤlteſten ſtachen durch gruͤnen Band
hervor; indeſſen waren auch ſelbſt ſie nicht
fertig. Der goldgeſponnene Knopf fehlte ih-
nen ſo gut, wie dem Amtmann. Die Toͤch-
ter der Dorfgeſchwornen hielten einen Kranz,
den
[334] den ſie Gretchen, eben da ſie in die Kirche
trat, aufſetzten. Der Organiſt, der entwe-
der auf ein Praeludium nicht denken koͤnnen,
oder der dem Geſang durchs Praeludium nicht
zu nahe treten wollte, fieng bey unſerm Ein-
tritt ſingend und ſpielend an:
Eben ſo begann Minens Begraͤbnis — und
dieſe Erinnerung, wie bewegte ſie mich! —
Der Prediger war gerades Weges auf
den Altar gegangen. — Wir andern ſtan-
den rund herum — Nach den Worten:
Drum laß ich ihn nur walten, als
den letzten des Geſanges, fieng er ſo zu reden
an, als ob er ſich mit uns unterhalten wollte.
„Haͤtten Sie ſichs wohl vorgeſtellt, lie-
„ber Freund!“ ſo ungefehr war ſein Anfang,
„daß Sie, was Gott thut, das iſt wohlge-
„than, in unſerm lieben L — bey einer Hoch-
„zeit ſingen wuͤrden?“ Eben wollt’ ich ant-
worten: nimmermehr, lieber Paſtor, da er
feierlicher fortfuhr: „und doch lag dieſes:
„Was Gott thut, das iſt wohlgethan, in je-
„nem: was Gott thut, das iſt wohlge-
„than.“ —
Der
[335]
Der gute Mann hatte ſich, das merkte
man, vorgeſetzt, uͤber Minchens Leichentext:
ſiehe ich komme bald, halt was du haſt,
daß Niemand deine Krohne nehme, auch
ſeine Hochzeitsrede zu halten; allein es fehlt’
ihm juſt ſo viel Zeit, um ſeiner Rede die gold-
beſponnenen Knoͤpfe anzuſetzen. Sonſt war
ſie fertig, in ſechs Stunden waͤr alles ange-
heftet geweſen, und wir haͤtten geſehen, wie
dieſer Text eben ſo gut fuͤr Minens Tod, als
fuͤr Gretchens Hochzeit, in der Offenbarung
Johannis des dritten Capitels eilften Vers
ſtuͤnde. —
So gut es indeſſen dem Amtmann und
den beyden Toͤchtern der Dorfaͤlteſten lies,
eben ſo gut ſtand es auch dem guten Paſtor.
Was ihm an gerundeten Perioden abgieng,
erſetzt er durchs Herz, und ich haͤtt’ um vie-
les nicht dieſe Hochzeitrede mit der grundge-
lehrten Abhandlung von der Suͤnde wider den
heiligen Geiſt vertauſcht, obgleich dieſe Ab-
handlung befeilt und beſchliffen war und in
zwey gleichlautenden und gleichgebundenen
Exemplaren in der Bibliothek des Braͤuti-
gams ſtand. Zehnmal ſchien es mir ſo, daß
es der Prediger dazu anlegte, mit dieſem oder
jenem unter uns ein Wort zu wechſeln. Es
lief
[336] lief indeſſen allemal ſo ab, wie mit mir beym
Anfange. Zuletzt hatt’ er ſich zu tief in ſei-
nen Spruch, ich komme bald, verwickelt,
oder war es vaͤterliche Ruͤhrung? Kurz, ohne
Uebergang nahm er ſeine Agende und las:
„Lieben Freunde in dem Herrn„
„Gegenwaͤrtige beyde Perſonen wollen ſich
„in den Stand der Ehe begeben — und ſo
„weiter.“
Dies Formular, alt und wohlgemeynt,
war mir darum ſo ruͤhrend, weil ich mich all’
Augenblick befragte: wenn du da ſo mit Mi-
nen ſtuͤndeſt? —
Der Prediger erzaͤhlt’ uns nach der Trau-
ung, daß bey Hauscopulationen, die in
Preuſſen ſehr haͤufig waͤren, gemeinhin das
Formular verbeten wuͤrde, und zwar wegen
des Fluchs und Segens des heiligen Eheſtan-
des, der in dieſem Formular ſo ehrlich, als
nur immer moͤglich, vorgetragen wird. —
Iſts Wunder, daß Gott denen den Ehe-
ſeegen entzieht, deren zu feine Ohren die Ehe-
ſtandsbeſchwerden nicht einſt in der Kirchen-
agende ertragen koͤnnen? Leute, denen die
Bibel zu herb iſt, Gottes Wort, was fuͤr ei-
nen ſchwachen Kopf und Herz muͤſſen die
haben! —
„Und
[337]
Das iſt ein Wort in allem Verſtand anwend-
bar. Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein
ſey. — Selbſt im Sterben, wuͤrde der
Graf wiederhohlen, iſts nicht gut, daß er
allein ſey. Selbſt auf dem Kirchhofe, wuͤrde
der Todtengraͤber hinzufuͤgen.
Der Prediger macht’ in ſeiner Rede die
Anmerkung, daß die Copulation vor dem
betruͤbten Suͤndenfall ganz anders geweſen
waͤre und manche, ſetzt’ Er hinzu, die viel-
leicht den betruͤbten Suͤndenfall am deutlich-
ſten an ſich tragen, wollen durchaus eine pa-
radiſiſche Copulation, und kein Wort aus dem
dritten Capitel des erſten Buchs Moſe, ſon-
dern alles huͤbſch und fein, alles aus dem
zweyten Capitel, wie kann das aber? —
Freylich erſchrack das aus dem Paradieſe ge-
triebene Paar uͤber das dritte Capitel ſo ſehr,
daß, da Gott ihnen Kleider von Fellen machte,
ſie ſolche in der Verwirrung nicht einſt anzu-
ziehen verſtanden: er zog ſie ihnen an, heißt
es. Die meiſten unſerer angehenden Ehe-
leute haͤtten weniger Urſach, dieſem Capitel
durch eine Hauscopulation und Weglaßung
Yder
[338] der Agende auszuweichen, da ſie vom Stande
der Unſchuld keinen Begrif haben. —
Meine Leſer ſind in der Kirche zu L —
ſchon ſo bekannt, wie ich ſelbſt, und wiſſen,
daß die Kirche nie anders als nach einem Lob-
geſang geſchloſſen wird. Wie beym Begraͤb-
nis ward nach der Copulation geſungen:
Nun danket alle Gott! —
Nach dieſem Geſang betet’ alles vorm Al-
tar. Die Braut hatte, wie es wohl ſonſt
etwas ungewoͤhnliches iſt, keine einzige
Thraͤne geweint. — Nach dem Gebet tra-
ten die beyden Toͤchter der Dorfaͤlteſten hin-
zu, und wuͤnſchten Gretchen alles aus dem
zweyten Capitel. — Die aͤdle Einfalt dieſer
Wuͤnſchenden war ruͤhrend, ſo wie es alles
aͤdeleinfaͤltige iſt. Gretchen und die Maͤd-
chen waren Jahreskinder, Milchſchweſtern,
zuſammen zur Kinderlehre gegangen und zu-
ſammen confirmirt, oder, wie es in Preuſſen
heißt: eingeſegnet. Gretchen wuͤnſchte, daß
ſie auch bald Gelegenheit haben moͤge, ihnen
beyden ſo Gluͤck zu wuͤnſchen. — Die Maͤd-
chen hatten Thraͤnen in den Augen, und man
ſah’ es ihnen an, daß es Thraͤnen der Liebe
waren. Gretchen kuͤßte ſie beyde, und nun
gien-
[339] giengen ſie zum groͤſſern Haufen zuruͤck, der
in der Entfernung geblieben war.
Es gieng alles wieder Paarweiſe ſo, wie
es gekommen war. An Minens Grabe ſtreute
Gretchen die von mir erhaltene Blumen
hin. — Sie warf ſich nieder, (ſchwerlich
haͤtte ſie dies thun koͤnnen, wenn ſie in hoch-
zeitlichen Schmuck geweſen waͤre) und weinte,
als ob ſie bis hieher ihre Thraͤnen aufgeſpart
haͤtte. Der ſchwerfaͤllige Juſtitzrath ſetzte
ſich — ich kniete. — Der Prediger und
ſeine Frau hatten ſich umfaͤßt. — Die bey-
den Dorfaͤlteſten ſtanden von ferne. Wir
weinten alle. Das neue Paar weinte mit,
aus dem dritten Capitel. Es war ruͤhrend!
Ihr ſahe man die Wort’ an: „ich will dir
viel Schmerzen machen, wenn du ſchwan-
ger wirſt, du ſolt mit Schmerzen Kinder
gebaͤhren, und dein Wille ſoll deinem
Manne unterworfen ſeyn, und er ſoll
dein Herr ſeyn. Ihm, die folgende Verſe:
dieweil du haſt gehorchet der Stimme
deines Weibes und geſſen von dem
Baum, davon ich dir gebot und ſprach:
du ſolt nicht davon eſſen; verflucht ſey
der Acker um deinetwillen, mit Kum-
mer ſolt du dich darauf naͤhren dein
Y 2Leben-
[340]Lebenlang. Dornen und Diſteln ſoll er
dir tragen und ſollſt das Kraut auf dem
Felde eſſen. Im Schweis deines Ange-
ſichts ſollſt du dein Brod eſſen, bis daß
du wieder zur Erde werdeſt, davon du
genommen biſt: denn du biſt Erde und
ſollſt zur Erde werden. —
Mir war nur Minchen in Herz und
Sinn. —
Die ungebetene Verſammlung hatte noch
das Poſtludium des Organiſten gehoͤrt, der
ſich, weil wir nicht mehr drinn waren, mit
Manual und Pedal hoͤren laßen. — Jetzt
kam der ganze Haufen und blieb ſtehen.
Allen und jeden ſahe man auf den Geſich-
tern: du biſt Erde und ſollſt zur Erde
werden. —
Genau genommen, lieben Freunde, iſts
all Eins, taufen, ſterben, heyrathen. Menſch,
du biſt Erd und ſollſt zur Erde werden! Nach
dieſer Scene kamen wir in die Widdem. Das
neue Paar fiel ſich in die Arme! — Man
ſahe, wie es ſich liebte. Von Stund an lies
Gretchen nicht mehr ihren Nathanael. Sie
nahm mich nicht weiter. Er war der Ih-
rige. — Pflicht, Freunde! iſt ſie nicht beſſer,
als Neigung? Sicherer, ſtaͤrker, wahrlich!
Sie
[341] Sie uͤberwindet den Tod oft weit leichter als
die Liebe: allein auch ſie wird von der Pflicht
uͤberwunden. Der Juſtitzrath fragte ſo wenig
wenn? daß er mich jetzt zu bitten anfieng,
doch ja zur Heimfuͤhrung zu bleiben. Da
Gretchen fortfuhr, ſich ihm ganz zu weihen,
gab er in ſeiner Bitte immer mehr zu. —
Zuletzt bat er mich im ganzen Ernſt, gar
nicht aus Preuſſen zu gehen. — Haben Sie
nicht hier Minens Grab? ſetzte er hinzu, und
konnte keinen groͤſſern Bewegungsgrund an-
fuͤhren. — Doch warum vorgreifend? Wir
ſetzten uns zu einem Mahl, ſo natuͤrlich ein-
gerichtet, wie Gretchen gekleidet war. —
Wir alle, koͤnnt’ ich faſt ſagen, waren ſo ge-
kleidet, bis auf den Juſtitzrath, der wie ein
ſauber geſchriebenes Urtel in beweiſender
Form ausſah. — Der Prediger bringt
mich auf dieſen Ausdruck. Er hatte den
Einfall, daß wir alle, wie ein Concept, ein
Entwurf, ausſaͤhen — wie die Probe, ſagt’
ich, indem mir das Lautenconcert einfiel. —
Der Organiſt, obgleich er kein hochzeitlich
Kleid anhatte, blieb zum Mahl; nur die
Dorfgeſchwornen nicht, obgleich man ſie ſehr
darum erſuchte. Ich erzaͤhlte dem Prediger
und dem Juſtitzrath, was ich bey dem Gluͤck-
Y 3wunſch
[342] wunſch der beyden Kranztraͤgerinnen bemerkt
hatte, und bat ſie beyderſeits, ſich der Her-
zen dieſer guten Maͤdchens anzunehmen. Dies
geſchah unverzuͤglich. — Da kam es denn
bald zum Vorſchein, daß der eine Vater ſeine
Tochter einem kleinen dicken Paͤchter, und
nicht dem raſchen Martin, der die Tochter
liebte, beſtimmt hatte; der andere wollte ſie
ſeiner Schweſterſohn, einem weit ſchoͤnern
reichern Burſchen, als Caſpar war, zuwen-
den. Das Maͤdchen aber wollte Caſparn
oder keinen. Dergleichen Wahleigenſinn,
ſollte man ihn wohl unter Leuten dieſer Art
vermuthen? Kunſt iſt er. Von Anbeginn iſt
es nicht ſo geweſen. Adam konnte nicht waͤh-
len und doch hatt’ er ein allerliebſtes Weib. —
Caſpar war indeſſen ein guter Junge, der
dem Maͤdchen mehr zur Hand gieng, als der
Schweſterſohn, der ſeiner Sache ſich gewis
glaubte. Nathanael und der Prediger brach-
ten es in kurzer Zeit zum Vergleich. Martin
und Caſpar waren an dem Tage, da Gretchen
Hochzeit hielt, die gluͤcklichen Braͤutigams.
Wir werden ſchon nacheilen, ſagten die ver-
gnuͤgten Burſche, und Gretchen ward roth,
was weiß ich warum? Nathanael ſah’ in den
Spiegel. Ich glaube nicht, daß es eben ſo
ange-
[343] angenehm ſey, in Geſellſchaft zu heyrathen,
als zu ſterben, obgleich ich nicht vom Grafen
zu dieſem Glauben aufgefordert bin. Ein
verliebtes Paar iſt Adam und Eva in der gan-
zen weiten Welt; ſie duͤnken ſich die einzigſten
Menſchen in der Welt zu ſeyn und ſich ſelbſt
genug. —
Eine Geſellſchaft wie dieſe indeſſen, muß
auch bey den Verliebteſten ein Beytrag des
Vergnuͤgens ſeyn. Das Dorf kam unſerer
Hochzeitfreude eben dadurch naͤher. Es
war alles Paar und Paar. Die Dorfaͤlte-
ſten hatten ſich ſchon laͤngſt vor der Hochzeit
vorgeſetzet, dem Nathanael-Gretſchen Myr-
tenfeſte zu Ehren eine Beyfreude zu bezeigen.
Ein Reihentanz konnt’ es nicht ſeyn; denn ſie
war aus dem Stamme Levi, und des See-
lenhirten eheleibliche einzige Jungfer Tochter.
Nach vielem Hin- und Herdenken waren ſie
endlich auf einen laͤndlichen Geſang gefallen,
den zwoͤlf der ſchoͤnſten Maͤdchen in weißen
Kleidern kurz vor Schlafengehen abſingen
ſollten. Ein junger Burſche hatte dieſen Ge-
ſang entworfen, der Herr Organiſt aber, wie
es hies, hatt’ ihn ſtiliſirt, oder die Natur
verkuͤnſtelt. Die beyden Kranztraͤgerinnen
hatten große Rollen bey dieſer ſingenden
Y 4Mit-
[344] Mitfreude, wobey ſich alle zwoͤlf die Haͤnde
geben und eine Freudenkette machen woll-
ten. — Haͤtten die Mitfreudigen und ſelbſt
der Cenſor von den neun Muſen gewuſt, es
waͤren nicht nach Zahl der Monate zwoͤlf ge-
weſen! Ohnfehlbar aus denen mehr als zwan-
zig jungen Maͤdchen, die in die Stelle der Lei-
chenbegleiter traten, nachdem Minens Sarg
vor dem Altar geſetzt war.
So ward es beſchloßen; jetzt aber kam
alles in Unordnung. Die beyden Kranztraͤ-
gerinnen, welche die groſſen Rollen hatten,
waren aus Text und Melodie gekommen.
Niemand wuſte, ob das Staͤndchen heut oder
morgen gebracht werden ſollte, und doch woll-
te jedermann es ſo gut als moͤglich machen.
Kurz, das Dorf war in Unordnung. Dieſe
Unordnung ſelbſt indeßen bot Hand zur Freu-
de. Die Freude iſt die unordentlichſte von
allen Leidenſchaften. Unſer Pfarrhaus war
waͤhrend der Zeit das gluͤcklichſte Haus in der
Welt. Gretchen ſo ganz und gar des Natha-
naels, daß ſie auch nicht einſt einen Blick fuͤr
mich uͤbrig hatte. Neigung iſt ſo puͤnktlich
nicht. Pflicht aber iſt das puͤnklichſte, was
ich weiß. Der gute Paſtor lies ſich an die-
ſem Tage die Verlagsgeſchichte ſeiner Suͤnde
wider
[345] wider den heiligen Geiſt erzaͤhlen, und war ſo
froh, daß er ſein Seelenkind ſo gut, wie
Gretchen, angebracht! Ein wahrer Natha-
nael vom Verleger, ſagte der Prediger, und
feyerte ein doppeltes Hochzeitfeſt. Gretchen
und ihre Mutter nahmen wie gewoͤhnlich kei-
nen Theil an dieſem Seelenkinde. Natha-
nael indeſſen muſte wegen der in ſchwarz Cor-
duan eingebundenen Exemplare ſein Ohr zu
dieſer Unterredung neigen. Da er Gretchen
hatte, war ihm ſchon vieles von dieſem Eh-
renwerk entfallen, das er, als angehender
Braͤutigam, faſt woͤrtlich wußte. Gretchens
Mutter war ſelbſt ſo heiter, als waͤre ſie gar
nicht lindenkrank, als waͤre der Lindenbaum,
der ſo alt wie ſie war, und der in ihren lezten
Wochen ausgieng, wieder zu Kraͤften gekom-
men. Der Organiſt, ſo erkenntlich gegen
mich, wegen des Schauſtuͤcks, daß ich nicht
aus dem Buͤcken heraus kam, und ſo ehrer-
bietig gegen den Hochedelgebohrnen Herrn
Juſtitzrath, daß ich immer beſorgte, er wuͤrde
wieder etwas aus dem Hute leſen, obſchon er
nur auf Begraͤbnisreden fundirt war. Der
Amtmann ſo ins Vergnuͤgen verſtrickt, daß
er den goldbeſponnenen Knopf vergeßen
hatte. Wahrlich, man kann auch ohne gold-
Y 5beſpon-
[346] beſponnenen Knopf vergnuͤgt ſeyn! Und
Gretchens beyde Bruͤder, welche der Koͤnig-
liche Rath als die Seinigen in Koͤnigsberg
erzog, die in eine der beſten Schulen giengen,
wo ſie gerades Wegs auf einen Superinten-
denten losſtudirten. Die guten Primaner,
hatten ein Gedicht zuſammengetragen, das
ſie beym Braten uͤbergaben. Freylich haͤtten
ſie bis zum Kuchen warten koͤnnen; indeſſen
war es ihre erſte Autorſchaft, die ſelten den
Kuchen abwartet. Der Vater critiſirte die
armen Jungens ſehr ſcharf, und nannte ihr
Maſ kopiewerklein ein Aehrengeleſenes Stuͤck!
— Guter Paſtor, haſt du denn ſchon aller
kritiſchen Tage Abend belebt? — Die bey-
den Knaben thaten in alle Wege ſo altklug,
daß man ihnen ihre Arons Beſtimmung ohne
Fingerzeig anſah. — Es gebrach bey dieſem
Feſt nicht an Wein. — Se. Hochgebohrnen
hatten dem guten Prediger ein gutes Faͤßchen
Rheinwein verehret, welches wir nicht feyer-
licher begruͤſſen konnten. Wein haͤtte heut
getrunken werden muͤſſen. Der Communion
wegen wird an allen chriſtlichen Orten Wein
gehalten. Da aber die Andacht keinen Ge-
ſchmack am Koͤrperlichen hat; ſo iſt der Com-
munionwein gemeinhin ſchlecht, ſagte der
Predi-
[347] Prediger. Ich, fuhr er fort, habe noch nie
bey dieſer heiligen Handlung den Wein ge-
ſchmeckt. Viele der Herren von Adel ſchicken
den Tag zuvor ein Flaͤſchgen aus ihrem Kel-
ler; unſer Graf nicht alſo, obgleich ſein
Rheinwein ſich nicht gewaſchen hat. Wir
faſſen laͤnger als gewoͤhnlich bey Tiſch. Heut,
ſagte der Prediger, froͤhlich mit den Froͤhli-
chen! Wir waren traurig mit den Trauri-
gen; wir ſind es noch, ſagte Gretchen, und
dachte ſo ruͤhrend an Minen, ohne ſie zu nen-
nen, daß alles an ſie dachte. Der Prediger
belebte dieſen Gedanken durch ein paar ruͤh-
rende Worte. Wer ſeiner Todten nicht denkt,
wenn er vergnuͤgt iſt, bedenkt nicht, daß auch
ſie lebten, und daß auch er ſterben wird. Das
war das Gerippe, das er auf gut aͤgyptiſch
aufſtellte! Wahrlich es war nicht fuͤrchterlich.
Sie hat ihren Myrtentag nicht erlebt, ſagte
Gretchen, und lies eine Thraͤne fallen. Ra-
thanael kuͤßte ſie herzlich. Wer es weiß, wie
ſchoͤn es ſey, ein Maͤdchen in ſolchen Thraͤnen
zu kuͤſſen, denke ſich die Wonne dieſes Paa-
res. Ohne Thraͤnen giebts keine Trunken-
heit der Liebe. Dieſe Ehe, ſagte die Predi-
gerin, hat der Tod gerathen; was er raͤth, iſt
wohl gerathen. — Die Dorfaͤlteſten ſchloſſen
dieſe
[348] dieſe wahre hochzeitllche Scene, ſie kamen
und fragten im Namen der jungen Dorfleute
an, ob es wohl erlaubt waͤre, die vier Dorf-
flinten dem Tage zu Ehren abzufeuren, wie
es wohl ſonſt bey dergleichen Gelegenheiten
geſchehen waͤre? — Das waͤre ſo recht fuͤr
Junker Gotthardten geweſen! Wir alle aber
verbaten dies Feuerwerk. Die Anfrager mu-
ſten ein Glas Wein dem Brautpaar zu Ehren
leeren; das iſt beßer als ein Flintenſchus,
ſagte der Amtmannn ohne goldbeſponnene
Knoͤpfe, und dann noch Eins, und dann das
Dritte. Aller guten Dinge ſind drey, ſagte
der Prediger, und ich ſtimmt’ ihm, meiner
heilgen Zahl wegen, herzlich bey. Im Para-
dieſe was braucht’ Adam mehr als Eva, um
froh zu ſeyn, ſagte Nathanael? Nach dem
Fall haben wir auch Rheinwein noͤthig, um
uns ins Paradies zu bringen. Man muß ſich
herein trinken. Er fieng ſich aus lichterloher
Galanterie zu wundern an, daß Adam nicht
beym Blick ſeines Weibes aus Entzuͤcken, aus
Uebermaas des Sehens, blind geworden!
Der Prediger half ihm zurecht. Es war im
Paradieſe, ſagt’ er, wo Adams Auge ſo gut,
wie ſeine andere Gliedmaaßen, unſterblich
waren. — Der Organiſt, damit ich ſein
nicht
[349] nicht vergeße, hatte den geſunden Gedanken,
da ſich das Brautpaar kuͤßte: laßen Sie uns
ihm mit den Glaͤſern nachkuͤſſen! Wir ſtieſ-
ſen an, und zur Ehre dieſes Einfalls zwey-
mahl. — Der heiligen Zahl war er nicht
werth. Wir ſtanden auf. Der Prediger
ſchlug einen Spaziergang in das nemliche
Waͤldchen vor, das uns zu dieſem Tage an-
raͤthig geweſen, und beſchloſſen wir alſo, wie
angefangen war. Wahrlich ein ſchoͤner Tag! —
Wir kamen in der Daͤmmerung heim, und
eben wollten wir ins Paſtorat, da uns das
Muſenchor uͤberfiel. Der Organiſt hatte ſich
der Noth angenommen, und die Zahl zwoͤlf
noch mit zwoͤlf andern vermehrt. Ein wah-
rer Minnegeſang! — Gretchen gieng nach
vollendetem Staͤndchen unter dieſen ſchoͤnen
Haufen, nannt’ alles Schweſter und dankte
ſo ſchoͤn, daß jedes Maͤdchen glaubte, Gret-
chen haͤtte nur ihm gedankt. —
Der Prediger konnte ſich ohne Abendeſſen
nicht behelfen. Nathanael declamirte wider
das Abendeſſen, er ward aber uͤberſtimmt:
den Alten, ſagt’ ich, waͤre das Abendeſſen frey-
lich das vorzuͤglichſte, und den Chriſten, be-
merkt’ er, ſollt’ es noch weit mehr ſeyn. Man
ſetzte ſich an ein Milchmaal. Die Saͤngerin-
nen
[350] nen hatten uns muſikaliſch gemacht. Alles
ſang, und — ſprang, haͤtt’ ich beynah muͤt-
terlich hinzugereimt. Es war aber wahrlich
kein Springen, es war eine ſtille Freude, eine
Milchfreude! O Gott, was liegt in der Un-
ſchuld, in der lautern Milch der Unſchuld! —
Unter tauſend andern Dingen liegt auch Ver-
nunft drinn. Es heißt vernuͤnftige lautre
Milch und nichts iſt einpaſſender, als dieſe
Beyworte, zur Unſchuld. Es liegt in ihr Ver-
nunft, hoͤchſte oder tiefſte, wie ſoll ich ſie
nennen? —
Nun gieng das neue Paar ins Schlafge-
mach. — Es verſchwand, und das iſt das
natuͤrlichſte Ceremoniel, wenn ein neues Paar
zu Bette geht. Die Auskleidung der Braut
iſt eben ſo unwuͤrdig, als eine laute Hochzeit.
Geht in Frieden, lieben Leute! Es gleite
euch der, welcher dem Menſchen ſein Schoͤpfer-
bild anhieng, mit ſeinem himmliſchen Segen!
Das iſt mein Hochzeitgeſchenk. Auch jedes
der Hochzeitgaͤſte gieng in ſein Kaͤmmerlein;
nur ich nicht. Ich ſchlich mich an Minens
Grab, und hatt’ eine Scene uͤber alle Sce-
nen. — Eine himmliſche Hochzeit! Wer
war gluͤcklicher, ich, oder Nathanael? Spaͤt
kam ich in mein Kaͤmmerlein und fand, daß
der
[351] der Amtmann, mit dem ich gepaart war, auf
mich gewartet. Ich konnte nichts ſprechen,
nicht einſt ein Wort zum Dank. Auf ſolch
einen Tag, wie ſchoͤn ſchlaͤft es ſich! — Mein
Schlaf war eine Entzuͤckung in den dritten
Himmel. Es fiel keine Schaͤkerey den andern
Morgen vor, keine Strohkranzrede. Die
Frau Nathanael ſchlich ſich aus der Schlaf-
kammer, und ich merkte, ſie ward roth auf
ihre eigene Hand; ſie haͤtte nicht ſchleichen
duͤrfen, auch nicht roth werden, das gute
Gretchen! Nathanael und Gretchen waren
jetzt ſo ganz eins. Ein Leib, eine Seele!
Wie ſich das Paar benachbarter Freunde
kreuzt’ und ſegnete, das zur Hochzeit gebeten
war, und wie der Prediger ſagte: poſt feſtum!
(nach dem Feſt) kam, kann man ſich leicht
vorſtellen. Haͤtte der Graf et Compagnie
zuſagen laßen; dann haͤtten wir den Tag zu-
vor dieſe Freude nicht haben koͤnnen. Mit
dem Paar benachbarter Freunde hatt’ es
nichts zu bedeuten. Dieſer Nachtag, dies
Agio von Hochzeitfeſt, hatte drey Umſtaͤnde,
die ich außer dem, daß dreymahl mehr Eßen
und dreymahl weniger Vergnuͤgen herrſchte,
der Bemerkung werth halte. Die erſte Denk-
wuͤrdigkeit. Der Amtmann brachte ſein Kleid
mir
[352] mir den goldbeſponnenen Knoͤpfen nicht zum
Vorſchein. Warum ſolt’ ich, ſagt’ er, Moͤ-
ſtrich nach der Mahlzeit —
So gern ich alſo auch meinen Leſern des
Kleides Farbe, Form und naͤhere Nachricht
von den Knoͤpfen und ihrer Zahl mittheilen
moͤchte, kann ich?
Die zweyte Denkwuͤrdigkeit. Die poſt
feſtum gekommene Freunde hießen die neuen
Eheleute nicht anders, als Brautpaar, und
wenn ſies ausgeſprochen hatten, ſchaͤmten ſie
ſich dieſer Uebereilung, die ſie doch gleich dar-
auf wieder begiengen, und dann noch ein-
mahl. — So feſt hatten ſie es ſich eingepraͤgt,
es gienge zur Hochzeit. —
Vielen wird dieſer Mittelumſtand nicht
denkwuͤrdig ſcheinen. Mag’s doch. —
Die Dritte. Der Graf kam ohne ſeinen
Bruder nach Mittage. Alles voll Freude!
Auch zu Ihnen komm’ ich, ſagt’ er, um Sie
noch einmahl zu ſehen und noch einmahl zu
ſagen — hier oder dort. — Was er ſich
freute, daß die Hochzeit vor der Hochzeit ge-
weſen! Das kommt aus dem Bitten heraus.
Das Feine des Vergnuͤgens geht verlohren.
Die Natur laͤßt ſich nicht melden, es waͤre
denn bey Krankheiten. — — Wir muſten
dem
[353] dem Grafen den geſtrigen ganzen Tag referi-
ren, und wahrlich unſere ganze Freude dieſes
Tages war, daß wir den vorigen Tag froh
geweſen. —
Mit den lieben großen Hochzeiten, ſagte
der Graf — So was nenn’ ich nicht leben,
wenigſtens will ich das Leben bey dieſer Gele-
genheit ſo wenig obſerviren, als auf dem
Chavott den Tod! — Allzu viel iſt ungeſund.
Zu Warnungs-Anzeigen findet ſich zwar in
beyden Faͤllen Stof die Menge; nur zu Le-
bens und Sterbens Obſervationen nicht. —
Der Graf konnte nicht lange bleiben.
Er hatte, wie er ſagt’, einen rechten Segen
Sterbender bey ſich. Obgleich, fuͤgt’ er hin-
zu, ich wenig Heil in meiner Ehe belebt; iſts
mir doch lieb, geheyrathet zu haben, um dort
einſt ſagen zu koͤnnen: hier bin ich, und hier
ſind, die du mir gegeben haſt! Kann das ein
Eheloſer? So ruͤhrend mir dieſe Empfin-
dung war, ſo ſchwaͤchte ſie doch die Erinne-
rung an die Grafenkrone, an die weiße Fe-
dern und den Orden. — Fuͤllet die Erde heißt:
fuͤllet den Himmel! Wenn Menſchen ſich
nicht Leid klagen koͤnnten, wie ungluͤcklich
wuͤrden ſie ſeyn? Die Ehe iſt ein Band, wo
Zſich
[354] ſich Mann und Weib auf Lebenslang verbin-
den, ſich Leid zu klagen. —
Der Organiſt, der auch dieſen Tag herr-
lich und in Freuden beym Prediger lebte, hielt
ſich waͤhrend der Zeit, da der Graf gegen-
waͤrtig war, ſo demuͤthig, daß er nicht vom
Ofen kam. Wie viel ſind dieſen Monat im
Kirchſpiel geſtorben? fragt’ ihn der Graf,
und er, ich habe nicht geglaubt, die Ehre zu
haben Ew. Gnaden zu ſehen: zwey Reden
hab’ ich gehalten, aus dieſem Dorf alſo zwey.
Der Prediger muſte das Buch hohlen, und
wir fanden abermahl, daß die Erinnerung des
Todes keine Hochzeitfreude verderbe. Die
Hochzeitgeſchenke, welche der Graf unver-
merkt in die Brautkammer ſetzen laßen, wa-
ren Sinnbilder vom Tod und Verweſung.
Sie hatten einen ausgemachten Werth. Ei-
ne Urne von Porcellain gefiel mir am beſten.
Ich blieb noch einen Tag in L — und die-
ſen einen Tag waren wir wieder ganz unter
uns. Den Amtmann hatten wir unter uns
aufgenommen. Es war ein recht guter bie-
derer Mann! Wie lang er am Hochzeittage
meinethalben ſeine Ruh’ abgebrochen! Mit-
telmaͤßig war er in allem; allein warum ſagen
wir:
[355] wir: die Mittelſtraße die beſte, und wanken
doch ſo gern. Warum?
Bey dem Mittelmaͤßigen faͤllt es mir ein,
daß wir den dritten Tag viel von der Schoͤn-
heit ſprachen. Nathanael that ſich bey dieſer
Unterredung recht ſichtlich hervor. Er ſetzte
die groͤſte Schoͤnheit in der Mitte zwiſchen
Feiſtigkeit und Magerheit, obgleich er ſelbſt
mehr fett, als mager war. Gretchen aber
dient’ ihm zum Exempel, ſeine Regel zu be-
weiſen, und außer ihr alle Statuͤen der Alten.
Ich muß es doch wohl wißen, ſagte Natha-
nael. Der Amtmann, der ſeinem Bauche
nichts vergeben wollte, fand indeſſen dies
lezte Argument unwiderlegbar, ſchlug ſich
auf ſeine Bauchbuͤrde, ſah Gretchen an, und
ſchwieg. —
Nathanael lies nicht ab, mich zur Heim-
fuͤhrung einzuladen; allein meine Stunde war
kommen. Ans wenn? war gar nicht weiter
beym Juſtitzrath zu denken. Dieſen Abend
weihet’ ich noch Minens Grabe, nahm von
Nathanael und Gretchen das feyerliche Ver-
ſprechen, dieſes Grabes Beſchuͤtzer zu ſeyn,
und nun wollt ich L — (allem Vermuthen nach
auf ewig) gute Nacht ſagen. Die Predigerin
macht’ es mir zur Pflicht, daß ich, wenn ich
Z 2bey
[356] bey der Heimfuͤhrung nicht gegenwaͤrtig ſeyn
koͤnnte, wenigſtens bis zu Gretchens Abreiſe
bleiben moͤchte. Der Prediger und ſeine Lin-
denkranke Frau blieben auch zuruͤck. Der
Amtmann allein und Gretchens beyde Bruͤ-
der begleiteten das junge Ehepaar. Der Ab-
ſchied? Bey Beſchreibungen der ganzen Na-
tur kann man mahlen oder pinſeln, nach der
Gabe, die jeder empfangen hat. Iſt von
Menſchen die Rede; wer kann ohne laͤſtig zu
werden Leidenſchaften in Worte ausbrechen
laßen?
Gretchen war im Reiſekleide ausgegangen
und kam mit verweinten Augen zuruͤck. Wo
ſie geweſen? werden meine Leſer nicht fragen.
An Minens Grabe. — Ihre Mutter ſtand
am Fenſter, ſah unverwandt den Reiſewagen
an und hatte ſich betruͤbt aufgeſtuͤtzt. Gret-
chen gieng zu ihr, faſte ſie zaͤrtlich an, und
Hanna kuͤßte ſie herzlich. Gretchen fiel ihr
zu Knien und bat um Segen! Sey geſegnet,
ſagte Hanna, und legte beyde Haͤnde auf ſie,
und ſey eine ſo gute Mutter, als du eine gute
Tochter geweſen. Nie geh’ ein Lindenbaum
vor deiner Thuͤr aus! — Hier hemmten die
Thraͤnen der Mutter und Tochter dieſe Se-
genshandlung. Nach einer Weile ſetzte ſie
hinzu,
[]
[][357] hinzu, deine Toͤchter werden wie Mine und
deine Soͤhne, wie Minens Mann. Gott be-
wahre die Soͤhne, im Fall ſie Juſtitzraͤthe
werden vor Treibern, vor Reviſoren, die
Knaben ſind; und die Toͤchter vor Nachſtel-
lern der Unſchuld, vor v. E—s — und nun
legte der Prediger den Segen, womit Gott
ſein Volk zu ſegnen befohlen, auf beyde: der
Herr ſegne dich u. ſ. w. ohne daß er von et-
nem Candidaten mit langen Manſchetten aus
der Bauskeſchen Praͤpoſitur unterbrochen
ward. —
Die beyden Aelteſten der Gemeine kamen
gemeinſchaftlich, das Aufgebott fuͤr ihre Toͤch-
ter nachzuſuchen, welches den naͤchſtfolgenden
Sonntag zum erſtenmahl geſchehen ſollte. —
Nebenher wollten ſie ſich erkundigen, wenn
heimgefahren werden ſollte, und da ſie ſahen,
daß es hier ſo raſch, als mit dem Hochzeit-
tage gieng, ſetzten ſich einige junge Ehemaͤn-
ner zu Pferde, um dem neuen Paar bis zur
Grenze das Geleit zu geben. Einige junge
Frauen, worunter drey geſegnet waren, be-
gleiteten das Paar bis aus dem Dorfe. So
weit gieng auch Vater, Mutter und ich. —
Der Genius des mir unvergeßlichen Kirch-
dorfs gieng weiter mit Gretchen, mit ſeinem
Z 3Lieb-
[358] Liebling. — Es gehe dir wohl, liebe Seele,
vergiß Minen und ihr Grab nicht!
Ich reiſete denſelben Tag nach Koͤnigs-
berg, und fand bey meiner Ankunft einen
Brief nebſt hundert Piſtolen. Ich brach den
Brief und fand weiter nichts, als folgende
Deviſe:
„Fuͤr Minchens Verwandten in
Mitau.“
Ein Zug, an dem ich den Grafen kannte, ob-
gleich er incognito war und blieb. Aller
Muͤhe, die ich mir gab, ohnerachtet, konnt
ich ihn nicht herausbringen. Wahrlich dieſer
Zug aͤhnelt ihm! Der Graf, dacht’ ich, der
den Sargtiſchler nicht in Stand ſetzen wolte,
ein Maͤdchen zu heyrathen, das keinen andern
Fehler hatte, als den, daß es arm war, der
Graf, der dieſen Juͤngling fuͤr Protektion ar-
beiten und ſich das Herz abhobeln lies —
da fiel mir wieder ſeine ſtrenge Gerechtigkeit
ein. Er war Patron der Kirche und des Ho-
ſpitals, dem Minchens Anverwandter in L —
den Halbſcheid ſeines Vermoͤgens zugewendet
hatte. Alſo — gedankt haͤtt’ ich dem Gra-
fen nicht, wenn gleich ich ſeines Namens ge-
wiß geweſen waͤre. Gott dank ihm! — Der
dankt
[359] dankt nicht mit Worten, ſondern mit That
und Wahrheit. Zwar hatt ich meiner Mut-
ter die Wort’ aus Minchens Teſtament beſtens
empfohlen:
„Kanſt du meinen Verwandten in Mi-
„tau foͤrderlich und dienſtlich ſeyn; ſey
„es. Gott wird dich lohnen;
indeſſen kam mir dies ανέχου και απίχου, dieſe
Lotteriedeviſe mit einem Gewinſt, ſehr will-
kommen. Willkommner kann es den Anver-
wandten in Mitau nicht ſeyn! Schwer war
es mir, zu dieſem allem nichts mehr als ein
Franko beytragen zu koͤnnen — ein Scherf-
lein in den Gotteskaſten.
Das Schwere bey einem maͤßigen uns zu-
gemeſſenen Auskommen iſt blos, daß wir
nichts mehr, als hoͤchſtens die Gabe der Rei-
chen frankiren koͤnnen! Darf ich wohl bemer-
ken, daß ich gegen den Grafen kein Wort von
Minchens armen Verwandten in Mitau ver-
lohren? Es wird nicht jeder ſo neugierig ſeyn,
zu fragen, ob die Poſt auch richtig das Haus
der Armen gefunden, die in der Welt Angſt
hatten. Um ihnen keine Minute zu entziehen,
ſandt’ ich das Geld gerades Weges, und nicht
durch meinen Vater, auch nicht einſt durch
Z 4Wech-
[360] Wechſel; allein ich bat meine Mutter, ſich
nach der Aufnahme dieſes Geldes zu erkun-
digen, da ich hieruͤber dem lieben Gott un-
mittelbare Rechnung abzulegen haͤtte. Er!
der ehrliche Alte, war ſchon ſeit drey Wochen
zur Ruhe eingegangen in jene ſelge Wohnun-
gen, wo ihn kein Pachtungluͤck und kein Con-
trakt, der ohne den lieben Gott gemacht ward,
und kein W. R. J. V. R. W. mehr druͤcken
konnte. Seine Frau lebte noch, zaͤhlte bis
zehn, noch mehr, ſagte ſie, als ob das Geld
unter ihren Haͤnden ſich mehrte. Sie ſprach
fuͤr den Geber Segen, gab das ungezaͤhlte
Geld und die gezaͤhlten zehn, Einem ihrer
Nachbaren zum Aufheben, und ſtarb. — —
Der Tod war ihr lieber, als hundert Piſto-
len. Der Sohn, der Amtsgeſchaͤfte halber
ſeinem Vater nicht das letzte Geleite geben
koͤnnen, kam zum muͤtterlichen Begraͤbnis.
Solten ihn wohl die hundert Piſtolen dazu
vermocht haben? Meine Mutter verſicherte
mir, daß der Leidtragende Herr Sohn nicht
aufhoͤren koͤnnen, Gottes wunderbare Fuͤh-
rung zu verherrlichen! — Das dacht’ ich
wohl, und meine Leſer mit mir, daß er dieſe
hundert Piſtolen nicht ohn’ ein Kirchengebet
einſtreichen wuͤrde — ich wuͤnſche wohl zu
bekom-
[361] bekommen, lieber Herr Prediger an der
Grenze. —
Ein Wort zur Rettung der Ehre meiner
Mutter, die ich vielleicht hier und da auf zu
friſcher That beurtheilt haben kann. Darf
ich bitten, lieber Freund! zu dieſem Ret-
tungswort? Auch du urtheilteſt auf friſcher
That, da ich dir meinen Lebenslauf aus freyer
Fauſt erzaͤhlte, und an den Brief kam, den
meine Mutter an Minen ſchrieb, ſich an-
hebend:
„Es will verlauten“
Herrmann machte meine Mutter mit dem Ab-
ſchiedsbriefe bekannt, den Mine ihrem Vater
zuruͤcklies, als ſie aus ihrem Vaterlande,
und aus ihres Vaters Hauſe, in ein Land
gieng, das ihr der Herr zeigte.
Hier iſt die Antwort meiner Mutter und
meines Vaters. Was jenes Weib vom Pe-
trus am Camin ſagte, gilt auch von dieſen
Briefen. Die Sprache verraͤth ſie.
Z 5— Faſſe
[362]
— Faſſe dich! bedenke das Ende; ſo wirſt
du auch in deinem Schmerz nicht uͤbel thun.
Gott iſt die Liebe! Das groͤßte Ueberbleibſel
des goͤttlichen Ebenbildes iſt die Liebe. Liebe
iſt der Funke, den Gott anſchlug, da er die
Welt ſchuf. Du weißt das Sinnbild Feur,
Liebe, Waſſer, Haß! Wo Feur iſt, iſt Licht —
wo Licht iſt, iſt Wahrheit. Das Licht der
Vernunft iſt Liebe, die Luft der Geiſter iſt
Liebe. Suche deinen Troſt in der Liebe! —
Du ſollſt Gott lieben, den du nicht geſehen
haſt, und nicht ſieheſt. Sieh! ein Huͤlfs-
ein Hausmittel, dich zu dieſer Gottes Liebe
hinauf zu ſchwingen, da du Minen liebeſt,
die du geſehen haſt, und nicht ſieheſt. Um
dieſe Welt gleichguͤltiger zu finden, iſts gut,
einem geliebten Gegenſtand in der andern
Welt zu haben. Wahrlich! es warten noch
Stunden auf dich, wo es dir in dieſer Welt
nicht gefallen wird. — Du liebſt Minen
und wuͤnſcheſt ſie nicht gluͤcklicher, als du
biſt? — Iſt die Liebe nicht ſtaͤrker, als der
Tod? Sind wir nicht am geneigteſten, allent-
halben eine Aehnlichkeit von Menſchen zu ent-
decken? Ein Baum in der Entfernung duͤnkt
uns ein Menſch. Wir geben ihm alle Glied-
maaßen, und alles duͤnkt uns ſo. An der
Wand,
[363] Wand, im Dunkeln, uͤberall Menſchenge-
ſtalten! Nichts iſt uns wichtiger, als der
Menſch, nichts natuͤrlicher, als er, und dir
ſollt es ſchwer werden, Minen darzuſtellen? —
Wer ſich ſelbſt nicht liebt, liebt auch andere
nicht. In der Schule der Naͤchſtenliebe wird
mit der Selbſtliebe der Anfang gemacht. Ein
Verſchwender kann dem Duͤrftigen ſein Brod
nicht brechen, weil er ſelbſt nichts zu beiſſen,
nichts zu brechen hat.
Warum aber ſo Cabinetsverſchwiegen?
waren wir denn Vater und Sohn? oder wa-
ren wir du und du, und gute Freunde zuſam-
men? ich find’ in dieſen Fragſtuͤcken Troſt;
allein du wirſt ihn hier ſchwerlich finden.
Auch fuͤr mich ſelbſt iſt hier Unkraut zwiſchen
dem Waizen. Friede mit Minens Seele,
Friede mit der Deinigen! Friede mit deiner
Mutter, die unausſprechlich leidet. Faͤllt dir
ein, daß ich es euch im Waͤldchen wohlfeilern
Kaufs laßen koͤnnen; ſo wiſſe, daß dieſer Um-
ſtand mich oft ergriffen, daß er mich noch er-
greife, und mehr, als es Chriſten geziemet.
Gott
[364] Gott helf unſerer Schwachheit! Dieſer Brief
wird mir ſaurer, als je ein Brief mir worden,
obgleich mir jede Schrift ſchwer wird, und
ich meinen Schreibtiſch, der aber kaum die-
ſen Herrn-Namen verdient, die meiſte Zeit
widerwillig anſehe. — Troſt zuſprechen
ſagt man: wer kann ihn ſchreiben? und
wenn es viele koͤnnten; wuͤrde dieſe Kunſt
doch nicht mein ſeyn! Denke! mein Sohn! —
das heißt: ſey mit Minen zuſammen. Du
haſt nur Minens Form verlohren! Mine
lebt! und wir werden auch leben! — Be-
ſorgt ſeyn und ſorgen, iſt zweyerley. Hier
iſt ſo viel von der Predigt uͤber den Text:
Wir haben hier keine bleibende Staͤte,
als ich ſelbſt beſitze. Du kennſt meine Weiſe
zu concipiren. Hie und da ein Wecker. Be-
truͤgen mag ich nicht. So ſchick ihm doch
das Concept, wie es ſteht und geht, ſagt
deine Mutter. Da iſt es, wie es ſteht und
geht. —
Herzlich geliebter und nach dem Willen
Gottes ſchmerzlich betruͤbter und nach kur-
zer Freude viel Leidtragender einziger lieber
Sohn!
Da
[365]
Da ſitz’ ich und leſe dieſe Ueberſchrift zehn-
mal: herzlich geliebter und nach dem Willen
Gottes ſchmerzlich betruͤbter und nach kurzer
Frende viel leidtragender einziger lieber Sohn,
und kann keinen Anfang finden, ich, die ihr
Lebtage nicht des Anfangshalber eine verlege-
ne Minute gehabt, und auch noch hab ich den
Anfang nicht, denn das iſt erſt der Anfang
zum Anfang. Beym Ende, mein Kind, war
ich oft verlegen. Dein Vater pflegte zu ſa-
gen, ich koͤnnte das Ende nicht finden, ob-
gleich mit ſeinen Anfaͤngen, wenn er was
ſchreibet, wahrlich nicht zu prahlen iſt. —
Bis jezt hab’ ich, Gott ſey Dank, noch immer
das Ende gefunden, freylich oft in Winkeln,
wo es nicht jeder zu ſuchen gewohnt iſt. —
O mein Sohn, wenn du wuͤßteſt, wie ſchwer
es mir wird, den Anfang dieſes Briefes zu
finden, du wuͤrdeſt deine Mutter bedauren,
und ſie in deinen Schmerz einſchließen, wie
ich dich immer in mein Gebet eingeſchloßen
habe, und jezt in mein Gebet einſchließe.
Ich will Sie nur nennen — ſo gern ich die-
ſem Namen auswich. Mine da iſt der An-
fang, Mine! o mein Sohn! wie wird mir,
da ich dieſen Namen, dieſen ſeligen Namen,
ſchreibe und ſpreche. Zacharias ſchrieb und
ſprach:
[366] ſprach: er ſoll Johannes heiſſen, und war
ein ſo gluͤcklicher Vater, als ich eine ungluͤck-
liche Mutter bin, obgleich mein Johannes
nicht dran Schuld iſt, ſondern ich ſelbſt, ich
allein ſelbſt. Mine! Mine! Mine! Da iſt
der Anfang. Ihr Name wird auch das En-
de ſeyn! Meine Seele iſt betruͤbt bis in den
Todt! —
Aus dem Liede: Befiehl du deine Wege,
woraus wie ein Ausgebaͤude die ſchoͤnen
Worte: Befiehl dem Herrn deine Wege, und
hoff auf ihn, er wirds wohl machen, her-
ausſpringen. Dieſer Vers heißt Wohl!
Der Spruch ſteht im ſieben und dreyßigſten
Pſalm, der fuͤnfte Vers. Faſt kann ich ſa-
gen, ich fiel zu Grunde, wie ein Stein.
Nichts, nichts in dem ganzen Laufe meines
Lebens, hat mich ſo gegriffen, als dieſer Fall.
So wie den Egyptern giengs mir. Sie faſſen
in
[367] in der Nacht, waͤhrend, daß bey den Iſrae-
liten Tag war. — Das Licht war nicht bey
mir. Zu Gott rief ich: die Angſt meines
Herzens iſt gros, fuͤhre mich aus meinen Noͤ-
then! Siehe an meinen Jammer und Elend,
und vergib mir meine Suͤnde! Der Herr
ſey gelobt! Ich habe Gnade funden in ſei-
nen Augen, ſo wie den Anfang zu dieſem
Briefe. Meine Bruſt ſchwoll ſo in die Hoͤhe,
daß alle Bande zu reißen ſchienen. Jezt le-
gen ſich dieſe Blutwogen — obgleich ich noch
lange nicht ſagen kann: es iſt ſtille. Viel-
leicht wird es nie ganz ſtille. Du warſt kein
Kind mehr, als du ſchwach und krank dani-
der lageſt, und wieder geſund wurdeſt, ich
weiß indeß nicht wie? Der D. Saft hat we-
nig oder nichts dabey gethan, der, wenn
gleich er ſeinem Vater ſeliger eben nicht in
Wundercuren durch Heyrathen gleich kommt,
jedoch in der Apotheke zu Hauſe gehoͤret und
ſeine Kunſt verſteht, trotz Einem. Du weiſt,
wie Gottergeben ich damals war. Waͤrſt du
geſtorben, ich haͤtte keine Thraͤne, wie ich nach
der Liebe hoffe, ſinken laßen. Seit der Mi-
nute, da ich fuͤhlte, daß ich dich hatte, bis
jezt, da du dich zum Dienſt des Herrn weiheſt
und heiligeſt — wußt’ ich, daß mein Sohn
ſterb-
[368] ſterblich war. Sterblich von ſterblich, und
waͤrſt du geſtorben! Wohl dir, du Kind der
Treue!
Du ſaͤngeſt Freudenpſalmen
dem, der dein Leid gewandt. Aus
der Strophe Wohl!
Du waͤreſt wohl verſorgt. Ein himm-
liſcher Superintendent und Oberpaſtor! Das
iſt mehr, als in Mitau, wohin dich der liebe
guͤtige Gott, wenn es ſeinem heiligen und al-
lezeit guten Willen nicht zuwider iſt, verhel-
fen wolle zu ſeiner Zeit! — Da iſt er wieder
in Herz und Feder der Name: Mine! Mine!
O, der namloſen Angſt bey dieſem Namen,
den Gott in Gnaden von mir wende! Wenn
der lezte Kampf anbricht, o wend ihn, wende
am Lebensende das Schreckliche dieſes Na-
mens, du, der du alles lenkeſt, wie Waſſer-
baͤche. —
Wie hies der Barbar, der zween roͤmiſche
Rathkoͤpfe (nicht Glieder) jaͤmmerlich hinrich-
ten lies, und, da ihm nach kurzer Zeit bey
einem Abendmahl unter vielen andern Speiſen
ein gekochter Fiſchkopf aufgetragen ward, ihn
fuͤr das Haupt des einen Erwuͤrgten anſahe?
Er ſprang auf; denn der Fiſchkopf drohete
ihm, in ſeiner Einbildung. Er flohe, der
Fiſch-
[369] Fiſchkopf verfolgt’ ihn, und unter dieſen
Aengſten, da beyde Ermordete ihr Blut von
ſeinen Haͤnden forderten, ſtarb er. Man
kann leicht denken wie? Ich meines Orts
behaupte Stein und Bein von dergleichen Leu-
ten, daß ſie lebendig in die Hoͤlle gefahren!
Da ſagen denn die Gewiſſensloſen: der Bar-
bar hatte Hitze! freylich hatt’ er Hitze; al-
lein Hoͤllenhitze! Er ſetzte ſich hin, um froͤh-
lich und guter Dinge zu ſeyn, bis der Ermor-
dete ihm erſchien. Der Fiſchkopf war ihm
ein magiſcher Spiegel, und ſo iſts immerdar
mit dem Gewiſſen. Einbildung? Recht.
Allein das iſt des Gewiſſens Art und Weiſe.
Es haͤlt uns immer einen Spiegel vor, dieſer
ſey ein Fiſchkopf, oder was anders — und
am Ende will ich lieber wuͤrklich leiden, als
einen ſolchen Fiſchkopf ſehen! Was mich
mit Waſſer in meiner Minenhitze beſprengte,
war der Umſtand, welcher andere vielleicht
unmuthiger gemacht haben wuͤrde. Du haſt,
dacht’ ich, meinen grauſamen Brief an Mi-
nen! Du weiſt alles; das Bekaͤnntnis der
Suͤnd’ iſt eine halbe Reue, eine halbe Beſſe-
rung. Die Beichte koͤnnte eine ſehr vernuͤnf-
tige Sache ſeyn; jezt freylich iſt ſie nichts we-
niger, wie das. Sey mein Richter! Ein
A aSohn
[370] Sohn zum Richter. O hier iſt mehr als ein
Fiſchkopf! Es iſt immer eine und dieſelbe
Saite, die in mir ſumſet. — O ein ſchreck-
licher Ton! Auch die Hoͤrner des Altars
ſelbſt kann ich nicht ergreifen. So oft ich in
Gottes Haus bin, ſeh’ ich hier Num. 5. und
da Num. 5. An Num. 5. haͤngt mein Ge-
wiſſensſpiegel. Da ſeh’ ich das ſtille gute
Maͤdchen und fuͤhl es, daß ich ihr mit Unge-
ſtuͤm begegnete, den lezten Sonntag, da ſchon
ihre Seele alles eingepackt hatte. Sie gruͤßte
mich, und ich! O Num. 5. Num. 5. O
wenn dieſe Zahl nicht waͤre! Einfaͤltiger
Wunſch, da eben fallen mir die fuͤnf Finger
ein. Sie bleibe dieſe Zahl, und die Erinne-
rung bleibe, daß ich Minen auf der Seele
habe! Wie lebhaft ich mir alles zuruͤckerin-
nere! Ich beſann mich, indem ich dankte,
ob ich wohl danken ſollte, und ſolch ein Dank
iſt aͤrger, als Undank. Jezt dank ich, ſo oft
ich die Bank ſehe! — und niemand iſt, der
mir dieſen Dank abnimmt. O wenn doch
Minchens Geiſt dieſe meine Buͤcklinge ſehen
koͤnnte, und mich bedauerte! O wenn doch
ihr Geiſt nur ein einzigmahl noch in unſre
Kirche kaͤme! Wenn ich dieſen Fiſchkopf:
Sonntag, zuruͤck haͤtte, was gaͤb’ ich drum!
Nur
[371] Nur den Vormittag, nur die Predigtſtunde.
Ich ſah Minen deines Vaters Predigt hoͤren
uͤber: wir haben hier keine bleibende Staͤte,
ſondern die zukuͤnftige ſuchen wir, welche dir
dein Vater auf mein Zudringen, wie ſie da
geht und ſteht, ſenden wird! O Gott, wie
hoͤrte Mine dieſe Predigt, und ich, wie ſah
ich ſie hoͤren! Gleich dacht’ ich, ein Maͤd-
chen, das ſo hoͤren kann, kann das boͤſe ſeyn?
Es kann nicht. Ich ſah Minen manches Pre-
digtwort befeuchten mit ihren Thraͤnen! Ein
warmer fruchtbarer Regen zur Seligkeit!
Ich ſah ſie Abſchied von N. 5. nehmen, einen
ſanften ſeligen Abſchied! O moͤcht’ ich doch
auch, wenn ich zum letztenmal in das Gottes-
haus gehe, von Num. 1. ſo Abſchied nehmen,
und wenn es auch zu mir heißt: wir haben
hier keine bleibende Staͤte, ſondern die zu-
kuͤnftige ſuchen wir, ſo von hinnen gehen,
wie ſie aus Num. 5. O haͤtt’ ich doch nur
einen Buchſtab von dieſem Abſchiede gemerkt,
da Minchen ihn nahm, nur ein Uhuͤtchen, ein
Ipuͤnktchen! Welch ein ſchreckliches Licht iſt
mir jezt aufgegangen. Vorigen Sonnabend
gieng ich allein ins Gotteshaus, und wollte
verſuchen, ob ich mich vielleicht in der Stille
mit Minens Bank verſoͤhnen koͤnnte? Lang-
A a 2ſam
[372] ſam gieng ich zu ihr, als zu meinem Richter-
ſtuhl. Ohngefehr kam ich an die Stelle, der
ſie die Hand gedruckt, und ſiehe! es waren
feurige Kohlen, die da brannten. — Noch
jezt bin ich mit Num. 5. nicht in Ordnung.
Gott ſey gelobt und gebenedeyt, daß ich Min-
chen anders gruͤſte, da ſie heraus gieng.
Gott! Gott! Groſſer Gott, ihre Thraͤnen!
Ihr Ringen im Aug’ ehe die Thraͤnen floſſen,
die bange Thraͤnen und die lezte, die Abſchieds-
Thraͤne, die ſie weinte, da ſie gieng, die ihr
mein lezter Grus erregte! — O ſie komme
zur Linderung uͤber mich, zum Erquickungs-
tropfen in meiner brennenden Todeshitze!
In meiner Todesnoth! Vater, vergib! Ich
wuſte ſo wenig, als Nathanael, was ich that!
Dieſer Wehrwolf —
Der Stank fuͤr Dankbrief! O haͤtt’ ich
nie ſchreiben gelernt! Die Zunge hat viel Un-
heil angerichtet; allein es geht mit ihr, wie
mit dem Brod beym Becker. Den andern
Tag wird friſch gebacken. — Nie, mein
Sohn, das ſchwoͤr’ ich ſchriftlich vor Gott,
der uͤber mir iſt, ich ſchwoͤre, nie werd ich
Lebenslang einen Brief, ein Promemoria,
einen
[373] einen Waſchzettel ſchreiben, wo ich nicht an
Minen ſchriftlich denke, und ihren Nahmen,
waͤr’ es auch nur der erſt’ und lezte Buchſtab
M. e. mit hinein ſchreibe, um meine ſchrift-
liche Suͤnde, meinen Stank fuͤr Dank zu
buͤſſen. Sey mit dieſer Buſſe zufrieden, lie-
ber guͤtiger Gott, und ſieh mich ſo nicht an,
wie ich Minen, vor der lezten Predigt in
unſrer Kirche! Wie koͤnnt’ ich ſonſt vor dir
beſtehen! — Straf mich nicht nach meinen
Suͤnden, vergilt mir nicht nach meinen Miſ-
ſethaten! — So du willſt, Herr, Suͤnde
zurechnen hier, in der erſten Inſtanz, vor dem
Gewiſſen, und dort in der lezten, wer kann
beſtehen? —
Das! das! mein Sohn, iſt mein taͤglich,
mein ſtuͤndlich Gebet zu Gott, das ich aus
der Tiefe herauswinde, wie ein muͤder Wan-
derer einen Labetrunk aus einem Brunnen,
der dem Reiſebecher Tropfen auspreßt. Wie
gern ich ſehe, wenn das Glas beſchlaͤgt, kann
A a 3ich
[374] ich dir nicht ſagen. Es iſt mir ſo, mein lie-
ber Sohn, als erquicke ſich das Glas ſelbſt.
Du haſt mir, es iſt nicht zu leugnen, ei-
nen ſtark gewuͤrzten Brief geſchrieben, Muſ-
katennuß, Engliſchgewuͤrz, Pfeffer und Ing-
ber war drinn. Zu ſehr indeſſen zeigt der
Brief noch, daß du mein Sohn biſt, und ich
deine Mutter. Zu ſehr, daß du unter mei-
nem Herzen und an meiner Bruſt gelegen,
die niemand, als dein Vater, und der nur
beylaͤufig, geſehen hat. O warum, warum
vergißt du denn dies nicht alles? Das konn-
teſt du leider nicht. Warum denn nicht?
Grif ich dir nicht ins Herz hinein? Riß
ich dir nicht ein Aug’ aus? Sohn! zu guter
Sohn! — Wiſſe, daß ich mir ſelbſt, wie jener
Geſetzgeber, deſſen Sohn ein Geſetz uͤbertrat,
worauf zwey Augen ſtanden, auch ein Aug’
ausgeriſſen, und zwar das linke, das ich das
Herzensauge nenne, ſo wie das rechte das
Verſtandsaug’ iſt. Jezt, ich weiß ſelbſt nicht
wies zugeht, da ich dies alles aus der Fuͤlle
meines Herzens herausſchreibe, fuͤhl’ ich mich
einigermaaſſen getroͤſtet. Mich ſoll verlan-
gen, ob es von Beſtand ſeyn wird. — —
Wundershalber brech’ ich auf einen Tag ab.
Gelobt
[375]
Gelobt ſey der, deſſen Aufſehen unſern
Odem bewacht! Ich bin zufriedener. Ich
bitte dem lieben Gott wegen des Fluchs ab,
den ich uͤbers Schreiben ausſprach! — Es
iſt grundfalſch, daß das Schreiben nicht auch
ſein Gutes habe. Freylich haͤtt’ ich an Mi-
nen nicht ſchreiben ſollen. Was kann aber
das Waſſer dafuͤr, daß es nicht Taufwaſſer
wird, welches ſo ſchoͤnes Gruͤn hervorbringt,
daß das Auge fuͤhlbar geſtaͤrkt wird? Denke
doch weiter uͤber das Schreiben, und ſchreibe
mir mit naͤchſtem, was du gedacht haſt. Bey
deinem Vater kann ich mich deshalb nicht
Raths erhohlen. Das Schreiben kommt mir
als ein vernuͤnftiger Monolog vor, die beſte
Manier, wie man zu ſich ſelbſt kommen, und
ſich ein Woͤrtchen ins Herz und Seele hinein
bringen kann. Wenn man mit ſich ſelbſt
ſpricht, laͤuft jeder fuͤr uns: und mit den lie-
ben Gedanken — wer zaͤunt ſie gern ein,
und unverzaͤunt, wie ſelten halten ſie Stich?
— Ich weiß, an welchen ich glaube — und
bin gewiß, daß er mir meine Beylage bewah-
ren werde bis an jenen Tag, daß der, ſo
meinen Nelkenſamen geſtreuet, auch die Nel-
ken ablegen, und in ein ander Beet verſetzen
werde, daß der, ſo in mir angefangen das
A a 4gute
[376] gute Werk ſeiner Verherrlichung, es auch
durch ſeinen heiligen Geiſt beſtaͤtigen und voll-
fuͤhren werde, bis an den lieben juͤngſten Tag.
O wie es mich entzuͤckt hat, daß die Selige
Moſen und die Propheten, Bibel und Ge-
ſangbuch, zu ihrem Ein und Alles gemacht,
und daß ſie beſonders in geiſtlichen und himm-
liſchen Liedern ihre Wonne gefunden! O du
mir ſonſt ſchon theur und werthes Lied:
ich hab mein Sach Gott heimgeſtellt
wie weit theurer und werther biſt du mir jetzo!
Du Minens Reiſelied auf ihrer Wanderſchaft
zur ſelgen Ewigkeit! Weißt du auch noch,
mein Erſt- und Letztgebohrner! wie wir un-
terwegs, da wir die Folianten, die uns kreutz-
weiſe zur Verewigung des Vetterlichen Ku-
pferſtichs dienten, zu Hauſe brachten: wie
wir ſangen:
Behuͤte Gott, daß ich dich an dieſe preiß-
wuͤrdige Stelle darum erinnern ſollte, damit
auch die hingetragene Mine dir wohl aus
den Augen und aus dem Sinn kommen moͤge!
Nein, ewig ſollſt du an ſie denken, aber denk’
an ſie, als Chriſt! Sieh! die Natur giebt dir
die Vorſchrift, deinen Schmerz nicht zu ver-
ewi-
[377] ewigen. Allmaͤhlig, wie Spiritus, duftet
er aus. Man merkt wohl, es iſt Spiritus
geweſen; allein die Hauptkraͤfte ſind in den
Wind geſchlagen. — Dein Vater pflegte zu
ſagen, daß er jeder Hand anſehen koͤnnte,
auch dann, wenn jetzt kein Ring daran hieng,
daß einer dran geweſen. Ein gewiſſer Zwang,
ein gewiſſer Stolz, bleibt drinn, und der kleine
Finger will mit aller Gewalt der Daumen
oder Mittelfinger ſeyn. Das kleine Naͤrr-
chen! So nicht mit Chriſtenleuten. Sie ſind
einen Zoll uͤber die Natur! groͤßer, ſtaͤrker,
als ſie. — Was die Natur nicht kann, ver-
mag die Gnade, die maͤchtig macht! Dieſer
Gnade befehl ich deinen Geiſt, Seel und Leib,
alles muͤſſe unſtraͤflich behalten werden bis
zum allgemeinen Concilio, wenn offenbar
wird, der Gott dient, und der ihm nicht
dient. — Wenn du das ſchoͤne Werk: Ehre
und Lehre der Augsburgiſchen Con-
feßion von Johann Weidner, Ulm 732.
habhaft werden kannſt, laß es nicht aus der
Hand und dem Auge! Dein Vater hat es
nicht! Ueber das Reiſelied: ich hab mein
Sach Gott heimgeſtellt, hab ich nicht ohne
die aͤuſſerſte Ruͤhrung meines Herzens nach-
geſchlagen, daß ein ſieben und ſiebenzigjaͤh-
A a 5riger
[378] riger Greiß, da er ſich dieſen Kern- und
Stern-Geſang vorſingen lies, und an die
Worte kam:
ſich ſo angegriffen, daß ſein erſtorbener Koͤr-
per ſich verjuͤngte, wie ein junger Adler. Man
ſah ihn ordentlich auferſtehen. Nicht eins,
nicht eins, nicht eins, ſchrie er, vom Leibe
mein, umkommen und verlohren ſeyn! und
ſtarb ruhig und ſelig! — Wuͤrdeſt du es
wohl gern ſehen, wenn du von Minen in der
andern Welt nur ein Gemaͤhlde, nur einen
Kupferſtich ſehen ſolteſt? Nicht eins, nicht
eins, hoͤr’ ich dich auffahrend rufen, wie den
ſieben und ſiebenzigjaͤhrigen Greis. Nun,
du ſollſt ſie wieder haben, ganz und gar! Es
giebt Plaͤtze in unſern Liedern, wo man in der
groͤßten Sonnenhitze vorm Sonnenſtich ſicher
iſt, wo kein Sonnenfunke hineinblitzt, kein
Strahl hineinſchleudert, und wo es einem ſo
wohl iſt, ſo herzlich wohl! — Ich weiß nicht,
(mein Gedaͤchtnis faͤngt mir an ſo ſchlecht zu
werden, und ich merke ſelbſt bey Liederſtellen,
daß ſie mir wie die Zaͤhne ausfallen,) ich weiß
nicht, wo ich es geleſen habe, daß ein braver
Mann
[379] Mann ſich alle liebe Morgen, wenn er aus
dem Bette gefahren, einen friſchen Erdenklos
bringen laßen, daran er eine Weile gerochen.
Er behauptete, daß er Geſundheit und Le-
bensverlaͤngerung daraus roͤche! Mein Sohn!
giebts einen originalern Menſchengeruch? Ein
Erdenklos war noch vor dem Adam, und er
ward aus ihm gemacht. Zwar iſt die Erde
jetzt ſehr mit Todten verſetzt, denn wer weiß,
ob ein Stellchen iſt, das nicht ein Kirchhof,
eine Urne, waͤre? Und wer kann es leugnen,
daß ſo ein Erdenklos, aus dem Gott der
Herr den erſten Menſchen machte, ſich unge-
fehr gegen unſere jetzige Erde verhalten ha-
ben koͤnne, als gekochtes Gemuͤſe und rohes
Obſt. — Indeß erfriſchet auch das gekochte
Gemuͤſe das Blut, und auch noch, glaub
mir, auch noch muß man von der Erde was
originales riechen koͤnnen, wenn man ſich
nicht an ſo genanntem wohlriechenden Waſſer
die Naſe von Grund aus bis auf die Wurzel
verdorben hat, welches aber nicht, wie dir
erinnerlich ſeyn wird, durch Himmelsſchluͤſ-
ſelchen, wozu auch Krauſemuͤnze zu zaͤhlen,
geſchiehet. Den Erdenklos, aus dem Adam
ward, nicht wahr, den haͤtteſt du riechen moͤ-
gen! Ich auch mein Sohn! — Noch eine
Anek-
[380] Anekdote ſchwebt mir in Gedanken uͤber: ich
hab mein Sach; allein ich kann ſie nicht
zum Stehen bringen. So gehts, je aͤlter je
kaͤlter! und bald wird mich der Papagay jenes
ſpaniſchen Geſandten uͤbertreffen, welcher,
wie ein bewaͤhrter Schriftſteller verſichert,
die ganze Litaney ſingen koͤnnen. Das waͤr
ein Caſus fuͤr mich! Was iſt Nachtigall und
Lerche! und alle Finkarten gegen ſolch einen
Litaney Papagay — zum erſtenmahl merke
ich, daß ſich Litaney und Papagay reimt!
Schoͤn! — Es giebt Laſten des Lebens, mein
lieber Sohn, die auch dem Chriſten zu ſchwer
zu heben ſind; allein er vermag alles durch
den, der ihn maͤchtig macht. Er probirt
und probirt ſo lange, bis er hebt und traͤgt.
Es kommt viel drauf an, wie mans angreift,
und ſich auflegt. Die Gelehrten laßen ſich
gemeinhin mit einem Buch in der Hand mah-
len, und druͤber wegſehend! Nicht alſo, mein
Sohn, wie dieſe Verkehrten! Ins Buch, ſag’
ich, ins Buch das Auge! Glaubt, ihr Her-
ren Gelehrte Verkehrte, etwa, daß das Auge
dem, der euch ſieht, verloren gehe? Eben
dieſer Blick ins Buch iſt das Aug’ eines Ge-
lehrten, wenn er nicht ein Verkehrter ſeyn
will, und nun, mein Sohn, laß dich nicht
blos
[381] blos ſo mahlen, ſondern ſieh wuͤrklich ins
Buch des Lebens! Die Bibel iſt davon die
erſte Ausgabe, die zweyte vermehrt wird dir
in der andern Welt aufgethan!
Dein Grosvater ſeliger, der gluͤckliche,
machte, wenn er nachſann, kleine Augen,
recht als ob er keinem Gegenſtand mehr Platz
laßen wollte; dein Vater macht ſie gros,
wenn er nachdenkt, wenn er mit der Seele
wohin ſieht, und da fallen denn Sonnenkoͤr-
ner, kleine Sterne, wie die Sternſchnuppen,
aus ſeinen Augen. Manche machen die Au-
gen dicht zu, als ob ſie nicht ſehen auf das
Sichtbare, ſondern auf das Unſichtbare;
denn was ſichtbar iſt, das iſt zeitlich, was
aber unſichtbar iſt, das iſt ewig. —
Was ſteht in der erſten Ausgabe des Le-
bensbuchs? Denen, die Gott lieben, muͤſſen
alle Dinge zum Beſten dienen. Kann der
Ton ſprechen zum Toͤpfer: warum machſt du
mich alſo?
Der Menſch ſieht immer ſcheel uͤber den
lieben Gott, weil er ſo guͤtig iſt, nicht nur
in Abſicht ſeines Groſchens, ſondern anderer.
Dies Evangelium vom Groſchen iſt vortref-
lich. Es iſt nicht mit Gold zu bezahlen. Was
kannſt du, Menſch, mehr als einen Groſchen
ver-
[382] verlangen? Am Ende hat Niemand mehr.
Nur daß es anſcheint, als haͤtte dieſer oder
jener druͤber. Was willſt du mehr, Menſch!
wenn du deinen Groſchen bekommſt? Was
mehr? Du willſt die ganze Natur verſchlin-
gen. Unthier! Wie viel Arten von Speiſen
in einer Mahlzeit? Faſt alle ſechs Tagewerke
werden aufgetragen. Dafuͤr muſt du aber
auch leider! den D. Saft in Ehren haben.
Selbſt das Sterben muß dir dafuͤr ſchwer
werden. Du bringſt dich ſelbſt um, Iſrael!
Wahrlich in allem Betracht dich ſelber! —
Das iſt ein theur werthes Wort, daß ſich der
Menſch mit dem lieben Gott in Verbindung
denkt, daß er weiß, wie ohne den Vater uͤber
alles kein Sperling faͤllt, wenn gleich dieſer
den Kirſchen nachſtellt. Kein Haar auf dei-
nem Haupt’ iſt, das Gott der Herr nicht ge-
zaͤhlet haͤtte. Alles iſt in Verbindung mit
einander, und alles zu Gott. So drehen ſich
große Weltcoͤrper um ihre Achſe und wandeln,
ſagt dein Vater. Ich ſtelle die großen Welt-
koͤrper an ihren Ort, gnuͤgſam mit der Be-
merkung, daß goͤttliche Heimſuchungen, der-
gleichen du jetzt erfahren, dergleichen ich auch
oft erlebt, beſonders, da dein Vater mir
lieblos den Ruͤcken kehrte, und ich im hitzigen
Fie-
[383] Fieber hebraͤiſch lernte, da mir deine Gros-
mutter den Ring aufdruͤckte, und da dein
Vater dich Alexander hieß, und da er ſelbſt
M — l — ch genannt ward, was wollt’ ich
ſagen? Dergleichen Heimſuchungen ſind We-
cker, ſind Haltrufer! Steh doch, Seele,
ſteh doch ſtille! Gott ſucht den Menſchen
heim, wenn es dem Menſchen wohlgeht.
So ſieh dich doch um, wie ſchoͤn dein Feld
ſteht, dein Weib fuͤrchtet den Herrn, und
deine Kinder ſtehen, wie Palmen am Waſſer;
du haſt was dein Herz wuͤnſcht und deinen
Augen gefaͤllt. Gott ſucht den Menſchen
heim, wenn er ihm mit unerwartetem Un-
gluͤck in die Quere kommt. Gluͤck kommt in
die Laͤnge. Gott kommt, ſo zu ſagen, bis
ins Menſchen Haus, um ihm Gutes im
Gluͤck und Ungluͤck zuzufuͤgen. Was liegt
nicht alles in dem Worte heimſuchen! Gott
ſucht den Menſchen heim zu ziehen, von der
Welt ab, und in ſich ſelbſt, in ſeinen eigenen
Buſen, um durch eben dieſe Selbſterkenntnis
ihn dahin zu bringen, wo wir ewig ſeyn wer-
den! Kreutz und Leiden, mein Kind, ſind der
Zaum und Gebis, ſo der liebe Gott uns, ſeinen
Roßen, ins Maul legt, wenn wir nicht zu ihm
wollen; und wer iſt ohne Kreuz und Leiden?
Willſt
[384] Willſt du mit Gott rechten, du toll und thoͤ-
richt Volk, das wahrlich nicht an ſeine Bruſt
ſchlagen und ſagen kann: mein Gewiſſen beißt
mich nicht, meines ganzen Lebens halber.
Das Gewiſſen, wie du ſelbſt wiſſen wirſt,
geht von unten, ungefehr um den Magen her-
um, in die Hoͤhe. Oben haͤlt es ſein richter-
liches Amt, unten iſt ſein Schlafſtuͤbchen.
Wenn es aufwacht zum harten Criminalur-
tel, wie brennend ſind ſeine Tritte! Wie gluͤ-
hend Eiſen gehts in die Hoͤhe. — Was
ſchreyen wir denn? Daß wir nicht dies,
und daß wir nicht jenes haben? Wenn wir
auch das nicht haͤtten, was wir haben? Wenn
du z. E. nicht Paſtors Sohn waͤrſt, und Mi-
ne die Tochter eines Litterati, obgleich uͤber
ſeine Litteratur noch ein Streit iſt. Waren
wir nicht Ton, aus dem der Weltmeiſter ma-
chen konnte, was er wollte? Warum ſollten
wir der Erde noch mehr Dornen und Diſteln
auf den Hals wuͤnſchen, und ihr fluchen? —
Glaub mir, am Ende hat der Generalſupe-
rintendent und der Herzog, der Praͤpoſitus,
der Paſtor, der Litteratus, ſchlecht und recht,
faſt moͤcht’ ich ſagen der Wacker ſelbſt, nichts
vor dem andern druͤber und drunter. Jeder
hat ſeinen Groſchen. Staub iſt Staub, er
ſitze
[385] ſitze im Sammetrok, oder im Kittel. Schmerz
iſt ein Praͤludium zur Freude. Freude ein
Praͤludium zum Schmerz. Es geht in der
Welt alles aus Einem Ton, aus Bdur.
Freylich leiden wir oft des Ganzen wegen, ſo
wie der Gerechte durchs Geſetz, das eigent-
lich nur dem Ungerechten gegeben iſt; allein
leiden nicht auch viele fuͤr uns? Es geht
immer mit einander auf. Wie viel Haͤnde
ſind nicht unſertwegen, eben da ich dies ſchrei-
be, in Bewegung. Die Menſchen haben
ſchon einen angebohrnen Trieb zur Huͤlfſam-
keit, ſich einander foͤrderlich und dienſtlich zu
ſeyn. Du empfindeſt die Sonne, weiſt du
aber ihre Natur und Weſen, weiſt du, ob
drinn gegeſſen oder getrunken wird? Das ſey
dir eine Warnung! Ueber Gott und ſeine
Wege meiſtre nicht! Dein Standort iſt dir
nicht recht; weiſt du aber auch, wo du ſteheſt,
und wenn du es weiſt, ſiehe wohl zu, daß du
nicht faͤllſt. Willſt du gerechter, guͤtiger ſeyn,
als der Allguͤtige, der Allgerechte? Die Na-
tur des Menſchen hilft ſich durch die Krank-
heit; ſo wie die große Hauptnatur durch Don-
ner und Blitz, Hagel und Stuͤrme. Wenn
ſie ſich den Magen verdorben hat, muß es
heraus. So lange dir der liebe Gott die
B bzwey
[386] zwey Bruͤnnlein deiner Augen giebt, in denen
Waſſer des Lebens, des Troſtes rinnen, und
ſo lange der Menſch manche ſchwere Stunde
verweinen kann, was will er denn? Zwar
allein iſts nicht beſſer, daß eine Wohlvorbe-
reitete unter die Engel kommt, als Eine, die
es nicht iſt. Wuͤrden die Engel ſonſt nicht
alle Liebe zu den Menſchenkindern verlieren,
wuͤrden ſie ſich nicht des Menſchen ſchaͤmen,
obgleich er, wie ſie, Gottes Geſchoͤpf iſt?
Wenn der v. E — mit ſeinen habſuͤchtigen
Augen dahin geraft waͤre, wahrlich ganz Cur-
land haͤtt’ im Himmel drob verlohren. Es
waͤre Curland gegangen, wie es den Deut-
ſchen dadurch geht, daß ſie lauter Gruͤtzkoͤpfe
nach Paris geſchickt, das Land zu beſehen,
woruͤber dein Vater nicht gnug ſeinen deut-
ſchen Kopf ſchuͤtteln kann. Lies dir da Troſt-
gruͤnd’ aus, wie wir Zuckererbſen zur Saat
auszuleſen pflegen. Was wurmſtichig iſt,
wirf davon. Nicht alle meine Troſtgruͤnde
ſind Saat-Zuckererbſen. Du weißt doch, man
muß ſie erſt aufweichen, wenn ſie aufgehen
ſollen.
[387] ſollen. Weine, herzlich geliebter und nach
dem Willen Gottes ſchmerzlich betruͤbter und
leidtragender Sohn! und erweiche die Saat-
erbſen von Troſtgruͤnden, durch deine Thraͤ-
nen; dann wirſt du alles ganz anders finden.
Weine fuͤr Freuden, daß wir weinen koͤnnen,
und erhohle dich, wie die angebrannte Pflanze
nach dem Abendtau. Verſtopfe die Quelle,
aus der Leben abfließt, nicht durch bittere
Haͤrte. Murre nicht wider Gott! Nicht alle
koͤnnen alles. Nicht jeder kann einen Wald
voll Waldgreiſer, alt und wohlbetagter Ei-
chen, nicht jeder kann einſame Gegenden aus-
halten, wo Schauer aus allen Winkeln zu-
ſammen kommen, und den Ankoͤmmling aͤng-
ſtigen, als kaͤm’ er in ein verfluchtes Schloß.
Da wird er denn in die Enge getrieben, und
kommt ſo im Kleinen zu ſtehen, daß er wie in
ſich ſelbſt verkrochen iſt. Ich konnte den dick-
ſten Wald aushalten, als ſaͤh’ ich Johannis-
beerenſtrauch, und ſelbſt in der alten Rum-
meley eines vernachlaͤßigten Waldes, in einer
zerſtoͤrten Staͤte, wo ein Kaͤuzlein keinen Laut
wagt, konnt’ ich froh ſeyn. Da fieng ich
dann ein Morgen- oder Abendlied an, und
freute mich, daß der Wiederhall ſo gut Me-
lodie hielt. Da ſah’ ich dann manchen Baum,
B b 2dem
[388] dem die Erde an der Wurzel ungetreu worden.
Sie wollte von ihm abfallen; allein er be-
faßte ſie mit ſeiner Klaue — und ſie blieb.
Da war ich wie zu Hauſe, und fuͤhlt’ es tief
in der Seele, daß im Stillen wirken, goͤtt-
lich ſey. Die Natur (Gottesſprachzimmer)
ſieh! wie ſtill ſie iſt! — Eine Waldblume,
obgleich ſie wie eine Eiche wird, bekommt et-
was von der Staͤrke ihrer Cameraden. Sie
ſteht laͤnger, als die, auf dem Felde; denn
wenn ich gleich nur ein Lied bin, geht doch
manche Ode auf meine Melodie — ich hoͤrte
den Donner nicht, als hoͤrt ich Gottes Schelt-
wort. Schelten konnte nur meine ſelige
Mutter — uͤberall, und ich — in der Kuͤche.
Ich hab’ es ſelbſt geſehen und gehoͤrt, daß
mitten im Geſange deine Grosmutter ſelige,
war es Catharinen, oder einer andern, einen
Schlag ans Ohr gab — mitten drinn. Der-
gleichen Taktſchlaͤge ſind mir nicht eigen. Wer
ein gut Gewiſſen hat, haͤlt den Donner fuͤr
eine Inſtrumentalmuſik der Natur. Thut
Buße, toͤnt er dem Verbrecher, denn das Him-
melreich iſt nahe herbey kommen — und der
Blitz? Gott verzeih mir meine Suͤnden, oft
iſt es mir vorgekommen, als ſchluͤge ſich der
liebe Gott Licht an, und auch im dickſten
Walde
[389] Walde, wo ich denn wohl einſah, daß die
ſtolze Eiche, die gern ein Woͤrtchen mitſpricht,
und die, wenn der Wind daher faͤhrt, Schelt-
wort auf Scheltwort giebt, ſtock ſtill war.
Im Walde, wo der Blitz ſich ſo recht herum
ſchlengeln kann, war mir ehemals nichts
ſchrecklich! — Wie ſtill es hier war, wie vor
dem Wort: es werde Licht! Da bewegte ſich
kein Blat. Mir war ehemals dieſe Stille
erwecklich! himmliſch — Nach Minens Tode,
ich kann es nicht leugnen, iſt mir beym Don-
ner und Blitz nicht mehr ſo zu Muthe! Jetzt
iſt auch was von thut Buße drinn, und im
Blitz: bedenke das Ende! Ich ſchaudre
vor dicker Finſternis, und alles ſcheint Mine
im Munde zu haben und wider mich aus-
brechen zu wollen. Vor dieſem, ſelbſt wenn
eins vom Blitz getroffen war, kam es mir
vor, als waͤr’ es im feurigen Roß und Wa-
gen gen Himmel gehohlt; vorzuͤglich dacht’
ich dies bey dem Blitztode des alten Peters,
denn es war ein ſo guter frommer alter
Mann, daß nichts wider ihn zu ſagen war.
Man ſuchte nach ſeinem Tode; allein kein
blauer Fleck an ihm! — Es war kein Schmerz
in ſeinen Falten; ſie ſchienen wie ausgeglet-
tet. Im Leben hatte Peter auch keinen Fleck,
B b 3auſſer
[390] auſſer daß er zuweilen ein Glaͤschen uͤbern
Durſt trank. Eins nur. Jetzt iſt alles mit
mir gar anders! — Das ganze Haupt iſt
krank, das ganze Herz iſt matt, von den
Fußſohlen an, bis zur Scheitel, iſt nichts
geſundes, nichts feſtes, an mir.
Charlottens Laube ſelbſt, wie ſchrecklich
ſie mir da iſt! Hier, wo ſo viel Thraͤnen ver-
goſſen ſind, hab’ ich Muͤhe die meinigen in
Gang zu bringen. Sieh’ mein Sohn! Du
biſt zu Superintendenten Leiden und zu Su-
perintendenten Freuden gebohren und erkoh-
ren, zur hohen Wuͤrde, zur ſchweren Buͤrde.
Zum hoͤhern Halleluja, zum tieferen Kyrie
Eleiſon. Du biſt, das weiß ich, nicht un-
behuͤlflich in dieſem Kummer. — Der Gram
iſt durſtig, wenn er aus verungluͤckter Liebe,
aus Todesliebe, kommt, hungrig, wenn er
Verachtung, Verſpottung zur Triebfeder hat.
Trink ein wenig Weins, deines ſchwachen
Magens halber, und wiſſe, daß deine Mine
wohl verſorgt ſey: aber warum ſchein’ ich es
ſelbſt nicht zu wiſſen?
Ach! wer doch einmal droben waͤr!
Wenn du gelegentlich, mein Kind, ein Buch:
Die große Diana der Epheſer, oder ein
Traktaͤtchen von den Accidentien der
Predi-
[391]Prediger. Danzig 693. leſen kannſt, lies
es und ſchreib mir den Inhalt. Selbſt
leſen mag ich es nicht, wohl aber die Ehre
und Lehre der Augſpurgiſchen Confeſſion von
Johann Weidner, Ulm 732. Wenn es dir
begegnet, kauf es. Mit Freuden erſetz ich
Koſten und Porto. — Glaub mir, mein
hieſiger Aufenthalt wird nicht langwierig
ſeyn, und ich freue mich drob, bald! bald!
ausgeſpannt zu ſeyn, und auſſer dem Leibe zu
wallen. Meine Seele, ein Strahl aus dem
goͤttlichen Lichte, ſehnet ſich zuruͤckprallen zu
koͤnnen, und mit dem lieben Gott ins naͤhere
Verkehr zu kommen! Der Tod wahrlich iſt
das wahre Univerſale wider alle Leiden dieſer
Zeit. Wuͤrden wir wohl Luſt haben einzu-
packen, wenn nicht heute hier, morgen da, ei-
ner von unſern Lieblingen und Geſpielen das
Zeitliche ſegnen und aus unſerm Kraͤnzchen
wie eine Roſe, die am beſten riecht und am
erſten bricht, ausfallen wuͤrde, und was hat
ſie denn, die Welt, im Pallaſt, und in der
Waͤchterhuͤtte? Was hat ſie denn
ſo uns nicht naget und plaget?
In der Natur iſt Tag und Nacht, Sommer
und Winter, Leben und Tod. Waͤre nicht
Abend, waͤr auch kein Morgen, waͤre nicht
B b 4der
[392] der Tod, waͤre wohl Leben? Hier iſt der er-
ſte Eingang bey den meiſten Menſchen bis
ans Vaterunſer. Bey den andern das The-
ma, die Partition, bey den meiſten ein Ge-
rippe zur Ausfuͤhrung, die mein ſeelger Va-
ter, wenn der Edelmann communicirte, vorn
in die Bibel zu legen pflegte, um keine Divi-
ſion und Subdiviſion zu verlieren.
Die rechte Ausfuͤhrung, vorzuͤglich die
Application, iſt der Zukunft vorbehalten.
Zum Amen kommt es bey keinem Menſchen.
Gott allein iſt Amen. Alle Verheißungen
ſind Ja in Ihm, und Amen in Ihm! Gott
zu Lobe durch uns! Drum lieb’ ich auch dies
Wort, das Amen fein, Amen, bis zum Herz-
andruck, bis zum Kuͤßen. — Gott der Herr
iſt uͤberſchwenglich. Er thut mehr, als wir
wißen oder verſtehen. Wir fragen zwar all
Augenblick, wie Maria, wie ſoll das zuge-
hen? und lachen wie Sara, weil ihr Herr
alt war, und ihr nicht mehr nach der Weiber-
weiſe gieng; allein Zeit bringt Roſen, und
Hofnung laͤßt die nicht zu Schanden werden,
die im Dienſt der Wahrheit und des Lebens
ſtehen, und nicht auf das Wirrwarr dieſes
Lebens, ſondern auf die Harmonie des Zu-
kuͤnf-
[393][kuͤnftigen] ſehen; daher auch der Himmel mu-
ſikaliſch vorgeſtellet wird.
In Parentheſi merk ich an, daß ich am
Sterbtage deiner Mine faſte und faſten wer-
de, bis mich nicht mehr hungert, noch dur-
ſtet, und auf mich faͤllt irgend eine Hitze der
Angſt — aber wie faſt’ ich? Nicht, daß ich
mich verſchloͤße; ſondern daß ich meine Lieb-
lingsſchuͤßeln ſelbſt mit eigener Hand koche,
und mit eigner Naſe rieche. Dann iſts keine
Kunſt zu faſten, wenn uns Feur und Waſſer
im Exilio verſagt werden. Sey getroſt, mein
Sohn! Der Trieb des Lebens hoͤrt nicht auf,
ſondern mehrt ſich mit den Jahren; nur
durch die Religion wird er eingeſchraͤnkt und
zur rechten Ader gelenkt. Ich kann es dir
verſichern, daß meine Luſt zum Leben ſo ziem-
lich verſiegt iſt. Wie ſollte das zugehen,
wenn nicht noch was dahinter waͤre? Dar-
auf verlaß dich! Es iſt noch was dahin-
ter. —
Weiter kann mein centnerſchwer beladenes
Herz weder ſchreiben noch ſingen. Wieder ein
Abſatz! — Meine Lippen ſind gedoͤrrt, ſo, daß
die Triller nicht aus der Stelle wollen, eben ſo
B b 5wenig,
[394] wenig, als die Feder. Ich will morgen wie-
der eins verſuchen. — Alte, mein Sohn,
muͤſſen aufs Vergangene, Junge aufs Zu-
kuͤnftige denken. Wer die Urſachen der ge-
genwaͤrtigen Dinge, und ihre Verbindung
mit den Zukuͤnftigen, uͤberſehen kann, das
iſt ein weiſer, das iſt ein goͤttlicher Mann.
Der hat Verſtand, dem etwas leicht wird,
was andern Menſchen ſchwer iſt, der hat
Verdienſt, der es ſeinen Nebenmenſchen leicht
machen kann. Ich wuͤnſche dir wohl zu
ruhen!
Dieſe
[395]
Dieſe beyden Reihen hoͤrt’ ich einſt von
einer Bettlerin ſingen, und dieſer Geſang iſt
mir in der Erinnerung noch ſo ruͤhrend, daß
ich keine Zeile mehr, weder abſchreiben noch
ſingen kann.
Wie haſt denn du geſchlafen? — wenn
man auch nicht gut wacht, wenn man nur gut
ſchlaͤft, ſo findet ſich auch das Wachen.
Der Candidat erzaͤhlte juͤngſt ein Vorfaͤll-
chen, das kuͤrzer, als ſeine Manſchetten, al-
lein recht artig iſt. Ein Bauer kommt nach
Mitau, um den Brief an ſeinen Sohn ja
recht gut anzubringen. Er giebt ihn ab, und
wartet bis der Poſtillion blaͤſet, und nun bit-
tet er ihn recht freundlich, doch ja den Brief
gut zu beſtellen. Lieber Sohn! Wir Men-
ſchen, denk’ ich, machen es eben ſo, und auch
du biſt, mit deiner Erlaubnis, nichts mehr,
nichts weniger, als dieſer Bauer mit dem
Briefe. Wir alle bitten den Poſtillion, den
Brief, den er zwey Meilen traͤgt, gut zu be-
ſtellen. Wer erreicht ſeine Schickſale, nur
uͤber eine Hand voll Jahre, das ſind fuͤnf
nach der Zahl der Finger? Wer bis an Stell
und Ort? Auch in Abſicht deiner Mine biſt
du nach Mitau gereiſet, und haſt ſo lang ge-
wartet, bis geblaſen ward, und haſt recht
freund-
[396] freundlich gebeten, doch ja den Brief zu be-
ſtellen. Sag am Ende, um nur mit einem
Blick, mit einem einzigen, auf die naͤchſtfol-
gende Station zu kommen, haͤtte wohl Mine
fuͤglich Superintendentin werden koͤnnen?
Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark, ſagt ein
Apoſtel, der doch entzuͤckt ward bis in den
dritten Himmel, ins Paradies, wo er unaus-
ſprechliche Worte hoͤrte, die kein Menſch aus-
druͤcken kann. In Parentheſi, mein Sohn!
Betruͤge den Petrus und den Paulus nicht
um ihr us. Scheer ihnen den Bart nicht,
der ihnen ſo treflich ſteht. Recht Maaß,
rechte Elle, recht Gewicht. Sey nicht ſolch
ein Ehrenſchaͤnder, als ein junger Candidat,
der vor acht Tagen bey uns war, welcherley
es viel giebt unter den Deutſchgelehrten. Der
heilige Paul, der heilige Peter! O du hoͤl-
zerner Peter du! Peter und Paul ohn us iſt
nicht Petrus und Paulus. Dein Vater ſelbſt,
der in ſolchen Dingen, wie du weißt, kein
Zelot’ iſt, und ſeinen Schlagbaum manchem
oͤfnet, wobey ich halt rufe, aͤrgerte ſich die-
ſes Candidaten mit hinten geſteckten Locken.
Du in dich ſelbſt verliebter Narciß, der du
der Kirche nicht einſt die Tonſur deiner Haare
leiſteſt, und deine Haͤrlein mehr liebeſt, denn
Sitt’
[397] Sitt’ im Land’ iſt. — Doch ich mag keine
Delila ſeyn, die Simſons Haupt peruͤken-
duͤrftig machte, ob gleich unſer Candidat ſo
wenig Simſon iſt, als ich Delila. — Was
wollt’ ich aber von Paulus ſagen? Daß er
im zweyten Brief’ an die Corinther ſich Ge-
rechtigkeit wiederfahren laͤßt, und dies
Woͤrtchen zu ſeiner Zeit, wer verdenkt es
ihm? Ich bin nicht wider Selbſtgefuͤhl.
Wer nicht im Geiſt und Wahrheit ſagen kann
ich, wie kann der du, er, ihr, wir, ihr, ſie,
ſagen? Jede Woche hat ihren Sonntag,
und ſo hat auch der Herr unſer Gott Staͤnde
eingerichtet. Wer wird dem Stolz das Wort
reden; allein ich ſoll meinen Naͤchſten lieben,
als mich ſelbſt. Ich bin alſo das Original,
mein Naͤchſter die Kopie. Ich enterbe mei-
nen Bruder nicht, gebe meinem Naͤchſten ſein
Pflichttheil, behalt aber fuͤr mich, was Recht
iſt. So auch Sanct Paulus zu den Corin-
thern, der ſeine Lobrede anfaͤngt, wie ich nie
eine angefangen. Ihr vertraget die Nar-
ren, weil ihr klug ſeyd. Solch einen Ein-
gang laß ich wohl bleiben. Meine Corinther
ſind aber auch darnach.
„Ich habe mehr gearbeitet, ich habe mehr
„Schlaͤge erlitten, ich bin oͤfter gefangen, oft
„in
[398] „in Todesnoth geweſt. Von den Juden hab’
„ich fuͤnfmahl empfangen vierzig Streiche,
„weniger eins. Ich bin dreymahl geſtaͤupet,
„einmahl geſteiniget, dreymal hab’ ich Schif-
„bruch erlitten, Tag und Nacht hab’ ich zu-
„gebracht in der Tiefe des Meeres. Ich ha-
„be oft gereiſet, ich bin in Faͤhrlichkeit gewe-
„ſen zu Waſſer, in Faͤhrlichkeit unter den
Moͤrdern, in Faͤhrlichkeit unter den Juͤden,
„in Faͤhrlichkeit unter den Heiden, in Faͤhr-
„lichkeit in Staͤdten, in Faͤhrlichkeit in der
„Wuͤſten, in Faͤhrlichkeit auf dem Meer, in
„Faͤhrlichkeit unter den falſchen Bruͤdern.
„In Muͤhe und Arbeit, in viel Wachen, in
„Hunger und Durſt, in viel Faſten, in Froſt
„und Bloͤße. Ohne was ſich ſonſt zutraͤget,
„nemlich daß ich taͤglich werde angelaufen,
„und trage Sorge fuͤr alle Gemeinen.“
O des vortreflichen Paulus! O des theu-
ren auserwaͤhlten Ruͤſtzeuges, des Superin-
tendenten unter den Apoſteln! Da bin ich
eben, wo ich hin wollte. Kann ſich, lieber
Sohn, Sankt Paulus ruͤhmen ſeiner Supe-
rintendentur, warum ſollten wir vergeßen,
daß wir aus dem Stamme Levi ſind, und daß
ich fuͤnf Paſtorahnen von Vater- und vier
von muͤtterlicher Seite zaͤhlen kann, daß einer
meiner
[399] meiner Ahnherrn Superintendent und zwey
Praͤpoſiti geweſen, daß Ehren Paul Ein-
horn mit uns von der Seitenlinie verwandt
iſt? Iſts denn nichts, Menſchen vom Ir-
thum und Thorheit bringen zu der Wahr-
heit? Iſts denn nichts, Superintendent
ſeyn? Der Herzog regiert uͤber den Leib, der
Superintendent uͤber die Seele. Dein ſeli-
ger Grosvater ſagte, wer ein kluges Buch
ſchreibt, hat ein Edict ausgeſchrieben, das
nicht ein ſpannlanges Laͤndchen, ſondern die
Welt beobachtet. Er iſt mehr von Gottes
Gnaden, was er iſt, als dieſe Durchlauchtige
Haͤupter. Wenn ich die Wahl haͤtte, ſo wolt’
ich lieber Newton, als Czar Peter ſeyn,
ſagt’ unſer Hauptcandidat. Dein Vater
ſchuͤttelte den Kopf, was iſt aber da zu ſchuͤt-
teln? Und wenn nicht ein Dichter, ein Hi-
ſtoricus, dazu kommt, fuhr der Candidat
fort, (Es iſt immer derſelbe mit den langen
Manſchetten) was iſt denn des Helden groͤßte
That? Ein Held, ein Monarch, braucht ei-
nen Dichter, einen Redner; aber dieſe koͤnnen
ſich ohn’ ihn behelfen. — Dein Vater nahm
den Candidaten bey der Hand, damit aber
war die Sache nicht ausgemacht. Es iſt
kein Kleines, Gottes Diener zu ſeyn. Was iſt
der
[400] der kaltbrandige alte Herr dagegen! Und
doch iſt er Minens Vater. Sein Flick von
Litteratur macht es nicht aus. Wie, ſage
ſelbſt, wie haͤtte ſich Herrmann zum Schwie-
gervater eines Ehrn Superintendenten ge-
ſchickt, wenn auch Mine ſeine Tochter zur
Superintendentin zu erkieſen geweſen? Wenn
auch? O vergib mir dieſes wenn auch, und
oben die Frage: Haͤtte wohl Mine fuͤg-
lich Superintendentin werden koͤnnen?
Ein boͤsartiges fuͤglich. Ja ſie haͤtte fuͤg-
lich koͤnnen. Ja, ſie haͤtte koͤnnen!
Du weiſt wohl, wie dein Vater ſich zu aͤr-
gern pflegte, wenn jemand Papier im Garten
viertheilte, wenn Papierſtuͤcke auf der Erde
lagen. „Papier,“ pflegt’ er zu ſagen, „ge-
„hoͤret ſo wenig in den Garten, daß es das
„Auge beleidigt, ſo was im Freyen zu ſehen.
„Weißt du was Kuͤnſtlichers, auſſer deinem
„Hemde, als Papier? Und doch muß erſt
„dein Hemde alt werden, wenn Papier draus
„werden ſoll.“ In der Studirſtube deines
Vaters war freylich mehr zerriſſen, als ganz.
Da liegt der Menſch, ſagt’ er! — wenn ich
ausfegen wollte, hieß es: laß ihn! Ich mei-
nes Orts, das weiß Gott, habe kein Blaͤt-
chen entzweyet, und oft, wenn ich gern was
vertilgt
[401] vertilgt haͤtte, konnt’ ichs? Ich kam nicht zu
ſehen des Knabens Sterben, hieß es von mir,
wie von Hagar und Iſmael! Obgleich Iſmael
ein Spoͤtter war; ich aber kein Wort geſchrie-
ben habe, was iſmaeliſch waͤre. Die Frage:
haͤtte Mine fuͤglich Superintendentin werden
koͤnnen? und die Stelle: wenn auch —
Das waͤre ſo etwas, das ich Luſt zu vernich-
ten haͤtte! Und der Brief an Sie iſt wahrlich
des Feuers ſchuldig. — Selten, mein Sohn,
iſt ein Herz, das nicht mit dem Kopf uͤbern
Fuß geſpannt waͤre, oft wenig, oft viel. Sel-
ten iſts, daß Kopf und Herz ſich mit einander
einverſtehen, und dann ſpotten ſie ſich nach.
Da ſpielt denn das Herz den Kopf, und der
Kopf das Herz, und die beyden Gecken ſehen
ſich als ein Paar Affen an! — Ja, ſie
haͤtte! — Mine haͤtte koͤnnen! Wenn ein
Hechtkopf aufgetragen wird, ſuche des Kopfs
habhaft zu werden. Zwar iſts auch ein
Fiſchkopf, der jedem Tyrannen ſchrecklich
ſeyn wuͤrde; dich aber wird er erbauen:
da fehlt nicht ein Stuͤck von dem, was
bey der Kreuzigung vorgefallen — Speer,
Kreutz. — Wie ſtehts, wie gehts auf der
Academie? Laß dich nicht durch Minens Tod
von deinem Fleiß abwendig machen. Sie
ſtudirt dort, du hier, beyde Theologiam!
C cVer-
[402] Vergiß nie, mein Sohn, daß du im Dienſte
der Wahrheit und in keines Menſchen Dienſt
ſteheſt. Die Wahrheit iſt Gottes. Profeſſor
Grosvater, ſo gut ich ihm gleich bin, iſt doch
ein Menſch. Von den Kopfhaͤngenden Pieti-
ſten, dergleichen es in Koͤnigsberg an allen
Ecken der Straßen geben ſoll, laß dich nicht
verfuͤhren. Die Hurer und Ehebrecher wird
Gott richten. Ein Menſch, wie du, muß ſo
ſeelenkrank in der Welt ſeyn! — Iſt das
nicht Jammer und Schade! Doch du wirſt
alles gewohnt werden, und Gewohnheit iſt
die andre Natur. — Minchens Anverwandte
in Mitau ſind Anverwandte meines Herzens
durch Minens letzten Willen worden. So
lang ich Brod habe, ſolls ihnen gebrochen
werden. Die guten Alten! Warum ſolt’ ich
ihnen ſogleich ſagen laßen, daß Minchen todt
waͤre? Was die Minchen geſegnet haben! —
Sie braucht euren Segen nicht mehr. Jetzt
wiſſen ſie ihren ſelgen Tod; denn die Wahr-
heit zu ſagen, ich wollte mir dieſe Penſion
von Seegen ſelbſt zuwenden; da hab ich einen
Geitz, der ſeines Gleichen nicht hat. Sieh!
das iſt ein Capitaͤlchen, das in der himmli-
ſchen Bank ausſtehet, wo die Zinſen auf den
Tag fallen. Eile mit Weile. Ein Arzt, der
einen Schaden vorbeugt, iſt theurer und wer-
ther,
[403] ther, als einer, der ihn heilet. Ich weiß
nicht, ob du Minens wegen ein Schwarzroͤck-
ler werden wirſt? Ich vermuth es und bin
drob froͤhlich, weil du dich ſchon zeitig an dieſe
Farbe gewoͤhnſt, die deine einzige, deine Leib-
farbe, werden wird; wenigſtens wuͤrd ich dir
zu ſchwarzen Knopfloͤchern und Knoͤpfen nem-
licher Farbe anraͤthig ſeyn. Was Gutes kann
man nie zeitig genug anfangen. Schwarz
kleidet jeden Menſchen. Hier wird Mi-
nens Geſchichte ſehr geheim gehalten. Alles
ſchleicht incognito. Du kannſt ſehr leicht ra-
then, warum? Der Herr v. G — kam juͤngſt,
blos dieſer traurigen Geſchichte wegen, zu
uns, und ſo was muß man ſehen, wie ſie ihm
nahe gieng. Die Frau von G — ſoll geſagt
haben: Da ſieht man, was nicht adelich,
nicht — Wie wenig beneid’ ich ihr dieſen
Adel! Und wie wenig hab’ ich es Urſache,
wenn dich Gott zur Superintendentur aufge-
hen laͤßt — ich werd’ es freylich nicht erleben,
in dieſem Jammerthal; allein ſolch eine
Nachricht kommt ſehr ſchleunig und durch ei-
nen himmliſchen Courier gen Himmel! —
und da werd’ ich mich freuen! wenn mir meine
engliſchen Geſellſchafter oder Geſellſchafterin-
nen (wie ſoll ich ſagen? es wird da, glaub’
C c 2ich,
[404] ich, kein Maͤnnchen, kein Weibchen, ſondern
alles wird Engel ſeyn,) Gluͤck wuͤnſchen wer-
den. Habt Dank, ihr lieben guten Engelein,
wegen eurer Gluͤckwuͤnſche! Schon, da ich
mit ihm geſegnet gieng, ſchon in Mutterleibe,
war er Superintendent, und ihr werdet hoͤ-
ren und ſehen, in wieviel Abgewichenen er das
glimmende Tocht anfachen, wie viel Fromme
er befeſtigen, wie viel unſchuldige junge See-
len er gruͤnden werde! — Wir werden ſo
ein Plus im Himmel haben, daß man druͤber
erſtaunen wird, und kommſt du ſelbſt einmal,
lieber Sohn, wenn dein Stuͤndlein vorhan-
den iſt, zur ewigen Freud und Herrlichkeit,
wie wonnereich wird es mir ſeyn, die Stim-
me zu hoͤren: ey, du frommer und getreuer
Erzknecht! Das iſt eine andre Ehre, als die
Canoniſation, die wir einem unſerer Vorfah-
ren erwieſen, der dir ſo aͤhnlich ſieht, wie ein
Ey dem andern, als deßen Kupferſtich wir
dem Himmel nahe brachten, indem wir es in
der Speiſekammer aufhiengen! Du wirſt es
nicht bey Oſtereyern bewenden laßen, lieber
Sohn, welche dieſer unſer Vorfahr in ſeiner
Gemeine ruͤhmlichſt abſtellte, ſondern mit of-
fenbaren im Schwange gehenden Suͤnden ſo
umſpringen, wie er mit den Oſtereyern.
Mache
[405] Mache mir, geliebteſter Sohn, die Freude,
daß ich von dir im Himmel hoͤre und bey
dem: gehe ein zu deines Herrn Freude!
ich, als des Triumphators Mutter, mit tri-
umphiren und jubiliren koͤnne in Ewigkeit.
Gern werd’ ich dich dort in Pontificalibus ſe-
hen, das heißt, nicht in Mantel und Kragen,
ſondern als himmliſcher Superintendent.
Ohne dir den Tod zu wuͤnſchen, wenn du hier
zu leben Luſt haſt, ſtell dir vor, wie es dich
ſelbſt ergetzen wird, wenn der und die kommt,
dieſer und jene, und dir dankt, daß du das
glimmende Tocht angefacht, daß du es befe-
ſtiget, daß du es gegruͤndet haſt! Da wirſt
du manche That empor geſchoßen finden, die
du aus einem Wortkern gezogen haſt! — O!
der unnennbaren Wonne! — Iſt dies ſchon
ſo ſchoͤn in der Prophezeyung, was wird die
Erfuͤllung ſeyn! Guter Oberhirte,
Du weißt, mein Lieber, wie ich zuweilen mich
von Grund aus, recht von Herzen freuen
kann in dem bibliſchen Sinn: freuet euch in
dem Herrn, und abermahl ſag’ ich euch, freuet
euch! Dein Vater pflegte zu ſagen: bey der
rechten Freude ſind alle Fenſter beym Men-
C c 3ſchen
[406] ſchen offen, und da hat er ganz recht. Man
fuͤhlt ſolch eine Freude durch alle Organe.
Ich fliege zwar nicht an allen meinen Glie-
dern, wiewohl dieſe Freudenfluͤgel bey einigen
im Gebrauch ſind; allein alles iſt in Bewe-
gung an mir. Wo iſt aber dieſe Freudenſon-
ne blieben? Sie iſt hin — ihre Staͤte iſt
nicht mehr. Eben war es bey mir ſo ſchoͤn
Maygruͤn an der Erde, und Mayweiß auf
den Baͤumen, und ſiehe da die Bothſchaft:
Mine iſt todt, zertrat jedes Gras, das ſein
Haupt heben wollte, und zog den Baͤumen
das weiße Hemd’ aus, ſo daß alles wuͤſt’ und
leer ſteht! — Alles ward ſo eilig in einem
Nu, in einem einzigen, alles ſo kurz und klein,
ſo verheert und zerſtoͤrt, alles ſo bettelarm
entkleidet, daß es auch den Kaltherzigen jam-
merte. Deinem Vater, das ſah ich, geh ich
ſo nah, daß ich ihn drob liebe, als koͤnnt’ er
hebraͤiſch, wie Waſſer. — Der gute Mann
ſeines Weibes, der gute Vater ſeines Soh-
nes! Alles uͤbrige, was ein jeder Chriſt und
jede Chriſtinn auf ſeinem und ihrem Herzen
und Gewiſſen hat, die Noth der ganzen Chri-
ſtenheit, beſonders das gegenwaͤrtige und zu-
kuͤnftige Gewitter, faſſe ich zuſammen in die
ſchoͤnen Worte: Leben wir, ſo leben wir dem
Herrn,
[407] Herrn, ſterben wir, ſo ſterben wir dem Herrn;
darum, wir leben oder ſterben, ſo ſind wir
des Herrn! — Sonſt, mein lieber Sohn,
muß wohl das lichtere den kleinern Theil aus-
machen. Rothe Weſte, blauer Rock. Wer
kann die ſtets luſtigen Leute ausſtehen? Der
kleinſte Theil des Lebens kann nur dem Ver-
gnuͤgen gewidmet ſeyn! — Dem allen un-
erachtet, will ich dir doch wegen der noch bluͤ-
henden Jahre das meiſte Licht erlauben, wenn
nur das kleinſte, Knopf und Knopfloͤcher,
ſchwarz ſind. Heller Futter, als die Far-
be des Kleides, pflegt dein Vater zu ſagen;
allein er verzeihe mir. Dies wuͤrde heißen:
ſie glaͤnzen ſchoͤn von außen, oder der Hoch-
wuͤrdige Herr weiß ſich nicht zu regieren und
zu fuͤhren. Alſo laß dein Licht leuchten vor
den Leuten, trag ein lichtes Oberkleid, und
beweiſe, daß du auch mit Phariſaͤern und
Oberſten im Volke zu Tiſche zu ſitzen ver-
ſtehſt — ohne deinem Innerlichen, dem in-
wendigen Menſchen, dem ſchwarzen Unter-
futter, zu nahe zu treten. Ich beharre deine
treue Mutter und Fuͤrbitterin bey Gott! —
Deines Vaters Brief, der ihm durchweg
ſo viel Schweis gekoſtet, als mir der Anfang,
leg ich dieſem Sendſchreiben bey! —
C c 4Der
[408]
Der Vater Amaliens und ich, nach mei-
ner Zuruͤckkunft von dem Nathanael
Gretenſchen Myrtentage.
- Er. Wenn das Ehegeld in Curland nicht hoͤ-
her iſt; - ich. ſchwerlich — es giebt Faͤlle, ſie ſind aber
ſelten. - er. So iſt die Sache richtig. Meine Frau,
um mit der Thuͤr ins Haus zu fallen,
wuͤnſcht den Herrn v. G — zum Schwie-
gerſohn. Er hat ihr ſein Ja ſo deutlich
gemacht, nicht etwa zu verſtehen gegeben,
ſo deutlich gemacht, daß es jedem Men-
ſchen ſichtbar iſt. Nur hoͤrbar noch nicht.
Die Ausſprache des Worts fehlt. Ange-
ſchrieben ſtehts in ſeinen Augen, Mund,
Haͤnden, Fuͤßen — - ich. Sie ſagen mir da etwas —
- er. was Sie ſelbſt wißen.
- ich. ich?
- er. haͤtten Sie es denn nicht geleſen? Doch
ſtand es ſo leſerlich, ſo fraktur gros. - ich. Von wem geſchrieben?
- er. ich ſeh wohl, daß Sie in dergleichen
Schrift nicht gelehrt ſind; das hab’ ich
von je her ihretwegen behauptet. Gelt!
ſie find ein Abſtemius, obgleich das Gered’
im
[409] im Weiberzirkel ging, Sie haͤtten wuͤrklich
ein Maͤdchen unter die Haube gebracht,
das heißt bey uns: ſie waͤren verheyra-
thet. Bald darauf gieng es: ſie waͤren
Wittwer! — So, oder anders, ich kann
in Sachen meiner Tochter — - ich. So, oder anders, ſind ſie mir lieb.
- er. Hoͤren Sie nur, auf Betruͤgerey ſteht
ein boͤſes Gewißen, auf Wind ſteht Verach-
tung — Warum der Streit zwiſchen Geiſt
und Fleiſch, zwiſchen Fleiſch und Blut?
Gerad aus iſt am naͤheſten. Sie kennen
mich eines Theils, und haͤtten mich andern
Theils noch naͤher kennen lernen koͤnnen,
wenn Sie oͤfter bedacht, daß wir uns in
die Fenſter ſehen koͤnnen, und ſo nahe Nach-
baren ſind. Mit Ehren zu melden, bin
ich ſo offenbar, wie mein Laden. — Am
Ende was waͤre denn, wenn meine Tochter
Frau v. G — wuͤrde? - ich. Frau v. G?
- er. nicht anders.
- ich. Soll ich, ohne ofnen Laden, ſo offen
ſeyn, wie Sie? — Herr v. G — - er. ich bitte —
- ich. Herr v. G —
- er. zu dienen,
C c 5ich
[410]
- ich. iſt Studirens halber in Koͤnigsberg, und
gewis nicht, um ſich eine Lebensgehuͤlfin
zu ſuchen. - er. und wenn er was ungeſucht findt?
- ich. iſt ein Edelmann.
- er. Ha, da liegt der Hund begraben —
wohl recht, der Hund! Edelmann! Er
Edelmann, ich Kaufmann. Mann iſt
Mann. Herr v. G — waͤre nicht der erſt’
und wird der lezte nicht ſeyn, der es ſo
macht, ob es gleich freylich nicht Al Corſo,
nach laufendem Preiß, iſt, ich finde nichts
in den zehn Geboten — - ich. Gott und Natur haben nichts dagegen;
allein der Lauf der Welt — - er. Laß die Welt einmahl gehen, und nicht
laufen. - ich. Lauf, oder Gang —
- er. Wenn die Welt geht, und nicht laͤuft,
und ſich nicht uͤbereilt, kann meine Tochter
ſo gut Ja ſagen, als ein Fraͤulein — - ich. und kommt ſo gut von Adam und Eva,
als ein Fraͤulein — - er. nicht anders.
- ich. aber wir ſind nicht beſtanden in der
Wahrheit, und eben darum Staͤnde, Koͤ-
nigreiche, Fuͤrſtenthuͤmer, Grafen, Frey-
herren,
[411] herren, Herren und desgleichen. Ehe die
Welt wieder ins Paradies kommt, und das
moͤchte wohl eine Zeitlang dauren — Noch
iſt an dieſe Gleichheit der Staͤnde nicht zu
denken. Meynen Sie wohl, daß wirs er-
leben werden? - er. Curland iſt doch aber ein freyer Staat.
- ich. Das heißt: der Edelmann geht in Stie-
feln zur Cour, wenn es ihm ſo einfaͤllt. - er. So! das iſt alles?
- ich. So ziemlich! Ein Cavalier wenigſtens
heyrathet ein Fraͤulein, und ein Fraͤulein
einen Cavalier, des freyen Staats uner-
achtet. - er. und das iſt ein freyer Staat?
- ich. wie es heißt!
- er. Baſta! Das Weiberzeug! Ich hab es
gleich gedacht, Herr v. G — koͤnnte mein
Kundmann nicht ſeyn; aber da wollen die
Weiber immer hoch heraus. Der Henker
mag wißen, was am Ende wird. Ein
Schuſtermaͤdel will einen Kaufmann, eines
Kaufmanns Tochter einen geheimen Rath,
die Tochter des geheimen Raths, die we-
nigſtens Emilia Philippina Polexina Ale-
xandria heißt, uͤbrigens kein Hemde, we-
nigſtens keins von hollaͤndiſcher Leinwand
aufm
[412] aufm Leib’ hat, will gar einen Faͤhndrich,
ein Fraͤulein ſchlechtweg einen Grafen u.
ſ. w. Das iſt ſchon Preis courant; aber
da bleibt denn auch manches Maͤdel ein La-
denhuͤter, wenn ſie nicht klein beygiebt. — - ich. Sie ſind ein vernuͤnftiger Mann.
- er. Decourtiren Sie immer etwas von die-
ſem Lobe. Ich liebe meine Frau, und da
paſſirt denn zuweilen unrichtig Maas, Ge-
wicht und Elle — - ich. Ihre Tochter ſelbſt —
- er. Sagen Sie nicht! Der Jaͤger hat ihr
das Herz getroffen. - ich. Das bedaur’ ich!
- er. Laͤndlich, ſittlich! Coſti, das heißt: hier
auf dem Platz, iſt es ſo was ungewoͤhnli-
ches nicht, daß ein Edelmann Hans und
eine Buͤrgerliche Gret’ iſt.
Der ehrliche Nachbar bat mich dringend
das Wort: ich liebe auszuloͤſchen, das auf
dem Geſichte des Junker Gotthardts mit ſo
blendenden, goldnen Buchſtaben angeſchrie-
ben waͤre, und ich verſprach es dem Bieder-
mann. Der Vater hatt’ einen Collegen, ei-
nen Kraͤmer, bey der Hand, der den Junker
Gotthard erſetzen ſollte. Das Maͤdchen wollt’
um aller Welt nicht. Sie hatte, wie es ſich
von
[413] von ſelbſt verſieht, ihr gebranntes Herzeleid
vom Vater; Ruͤckhalt aber von der Frau
Mamma, die durchaus ihr Blut, wie ſie
ſagte, ins Reine bringen wollte. Ihr Va-
ter ſeliger war Sekretair, und hatte des Jahrs
præter propter hundert Reichsthaler jaͤhrliche
Einkuͤnfte gehabt, womit ihr Ehemann gewis
kaum vierzehn Tage haushielt, aber des
Bluts wegen —
Eine Ermahnung an Herrn
v. G — der von der Jagd kam, und ſich
noch ein Viertelſtuͤndchen vom Schlaf losbit-
ten muſte.
Es koſtet’ ihm doch einige Muͤhe, die Frak-
turbuchſtaben fuͤr die Blondine auszuſirei-
chen, eigentlich auszukratzen. Die Reiſe
kam ihm ſehr zu ſtatten. Waͤren wir laͤnger
in Koͤnigsberg geblieben, wuͤrd’ er ſich vor-
zuͤglich an die Brunette gewendet haben, die
ihm der Teſtator eigentlich beſchied, und die,
ſo ſtolz ſie war, mit keiner Sylbe an die hei-
lige Ehe dachte. Sie wollte nur ſiegen, blos
ſiegen; aus der Beute machte ſie nichts. Sie
theilte ſie andern aus. Mit den lieben Blon-
dinen, ſie wollen gleich heyrathen, ſagte Jun-
ker Gotthard. — Ich hab’ es ſchon irgend-
wo bemerkt, daß Junker Gotthard beyde,
die
[414] die Brunette und Blondine, liebte. Die
Blondine hatt’ indeſſen, wie das mitgetheilte
Geſpraͤch es ausweiſet, nach der Zeit die Ober-
hand erfochten — unfehlbar, weil ſie mir
legirt ward; (wer ißt nicht gern vom verbote-
nen Baum) obgleich auch die zehntauſend Lie-
besgoͤtter, die auf dem Buſen der Brunette
tanzten, einen Beytrag zum Siege fuͤr Ama-
lien das Ihrige geliefert haben koͤnnen. —
Das Nein, welches Amalia dem Collegen ih-
res Vaters, dem Kraͤmer, halsſtarrig ſagte,
ſo eine blonde ſanfte Stimme ſie auch ſonſt
hatte, that mir Amaliens halber leid. — Mich
duͤnkt, ſie haͤtte Ja ſagen ſollen, wenigſtens
kein ſo halsſtarriges Nein, welches keiner
Blondine eignet und gebuͤhret. —
Ich kann nicht ſagen, daß der Zeitpunkt
des Herrn v. G — gekommen waͤre, zu Hauſe
zu bleiben. Stosweiſe kam es ihm ſo. Er
war oft auf der Jagd, wozu ihn, auſſer den
wohlfeilen ihm als plus licitanti zugeſchlage-
nen Feldmarken, die Homerſche Hunde,
Argos genannt, verleiteten, die ihm ganz
vortreflich einſchlugen. Er wuſte durch den
Ton, durch die Ausſprache des Namens, dieſe
Argoſſe ſo von einander zu unterſcheiden, daß
ich anfange zu glauben, man koͤnne ſechs
Soͤhne
[415] Soͤhne Johann taufen laßen, und der von
ihnen gerufen wird, koͤnne wiſſen, das juſt
er es ſey, der unter den ſechſen aufgefordert
worden.
Laß uns, ſagt ich dem Junker Gotthard
einen Abend, ſobald als moͤglich, von hinnen
gehen. Amalia wird ſich bedenken, und dem
Collegen ihres Vaters, dem Kraͤmer, nicht
mehr halsſtarrig, ſondern blond begegnen,
und dann geheſt du mit dem Gedanken aus
Koͤnigsberg, Amalien in ihrem Lebenslauf
keinen Stein der Aergernis, uͤber den ſie leicht
fallen koͤnnen, in den Weg gewaͤlzt zu haben!
Wehe dem Menſchen, durch welchen Aerger-
nis kommt! Junker Gotthard ſtraͤubte ſich
wegen der Abreiſe, und dies nahm ich als ei-
nen Beweis ſeiner Liebe zu Amalien. Ich
ſann auf Mittel und Wege, ihn abzubringen,
bis es, eh ich mich verſah, heraus kam, daß
die Feldmarken den eigentlichen Grund des
Widerſtandes enthielten. Er hatte ſie auf
vier Jahre ſich zuſchlagen laßen; wie wenig,
ſagt’ er, hab’ ich ſie benutzet. All Augenblick
Setzzeit! — Eben dieſer Setzzeit halber
komm, Bruder, ich bin fertig! —
Unſer Lebwohl war kurz und gut. Ama-
lia nahm auf eine Art vom Junker Gotthard
Ab-
[416] Abſchied, daß wenig Hofnung fuͤr den ehr-
lichen Kraͤmer blieb. Er beklagte ſich gegen
ſie wegen der entbehrten Jagdnutzung, daß
es mir ſo ſchien, als wolt’ er die noch kuͤnftige
Pachtzeit ihr zum Andenken uͤberlaßen. Ich
miſchte mich in die Unterredung, und ſie ward
beygelegt. Der Profeſſor Grosvater wuͤnſch-
te mir ſo altklug Heil und Segen, daß, wenn
ich ihn nicht ſchon ſo herzlich geliebt haͤtte, ich
es jezt angefangen haben wuͤrde. Ich konnte
nicht weg von ihm. Es iſt, wie mich duͤnkt,
kein unangenehmer Anblick, wenn ein alter
Mann und ein Juͤngling ſich ſo zuſammen
paßen, wie der Profeſſor Grosvater und ich.
Den Grosvaͤtern iſt eine ſolche Art eigen.
Sie gewoͤhnen es ſich bey ihren Enkeln an!
Die Grosmutter in Sterbensgroͤße ſchlug
diesmahl kein Feuer aus ihrem rechten Auge.
Sie lies ſich nicht ſehen. Mir kam es vor,
daß ſie zu ihrer Tochter gegangen. —
Freund, ſagte der Alte, ich halte nicht viel
von Leuten, die Laͤnder, und keine Karte, ge-
ſehen haben. Sie gehen, das weiß ich, von
dem Ganzen auf die Theile, und das iſt der
Weg zur Deutlichkeit. Eine Erkenntnis, die
ohne einen uͤberdachten Zuſammenhang der-
ſelben mit andern Erkenntnißen entſpringt,
heißt
[417] heißt bey mir ein Einfall. Wer hat nicht al-
les Einfaͤlle! Schade, daß der gute Grosva-
ter ſo wenig geſellig war! Ich glaube, ſeine
Schlafmuͤtze war ſchuld daran. Ein großer
Kopf iſt indeßen gewoͤhnlich ungeſellig. Ge-
ſelligkeit hat nur was Gemeines, was Unvoll-
ſtaͤndiges. Man iſt ſich nicht ſelbſt genug.
Dieſe Groͤße hatt’ unſer Grosvater nicht.
Man ſah es ihm an, daß Umgang ſein Be-
duͤrfnis ſey. Er war froͤlich und guter Din-
ge, wenn ſeine Hausmuͤtze ihm die Erlaubnis
ertheilte, in Geſellſchaft zu gehen. Beim
Koͤniglichen Rath haͤtte er in alle Wege ein
ordentliches Mitglied werden ſollen. — — —
Das Schreyen, ſagt man, befreyt den Au-
genblick vom Schreck. Es treibt das zu-
ſammen gezogene Blut aus einander, und die
Natur ſelbſt hat dieſes Hausmittel dem ſchoͤ-
nen Geſchlechte verliehen. Das war ein
Gluͤck, ſagte der Profeſſor Grosvater, daß
ich ſchrie: nun iſts uͤber. Er hatte die Buͤſte
des Homers auf einem ſeiner Repoſitorien,
die herabſtuͤrzte, da er zu heftig aufſtand; ich
fieng ſie auf, und duͤnkte mich gros, dieſen
Kopf in meiner Hand zu haben. Schnell
faßt’ ich ihn auch mit der andern an, und
wahrlich ſolch ein Kopf verdient beyde Haͤnde.
D dDer
[418] Der Grosvater freute ſich uͤber meine Freu-
de, und wir brachten den Kopf wieder dem
Himmel naͤher, wohin er, der blinden Hei-
denſchaft unerachtet, eher hin gehoͤrt, als der
Kopf des Eyerheiligen, deßen Kupferſtich
in der Speiſekammer haͤngt. Bey allem,
was faͤllt, bemerkte der Grosvater, iſt uns
ſo, als fiel es uns auf den Kopf. Wer glaubt
nicht, jede Raquete ſteige gerad’ auf uns her-
ab? Faſt ſchien es, daß wir das Examen bis
auf den Homer, den ich aber diesmal nicht
uͤberſetzte, ſondern der mir auf den Kopf fiel,
wiederhohlten. Dem Kunſtrichter zu dienen
noch die Gloſſe, daß die Buͤſte von Holz war.
Ey, ſagte der Grosvater, ich habe gehoͤrt: ſie
waͤren Wittwer worden. Beym Examen
hies ich dieſen Seitenblick auf Minen Traufe,
und wußt’ ich nicht, was ich geantwortet,
nur das wußt’ ich, daß es nicht griechiſch,
nicht lateiniſch, nicht deutſch war, und daß
ich mich lieber noch einmahl examiniren, als
dieſe Frage an mich ergehen laßen wollte.
Jezt war ich gefaßt, und ſagte dem Grosva-
ter, daß ich Minen verlohren. — Schade,
ſagt’ er. Der Todesfall wird Sie in ihrem
Studienlauf geſtoͤrt haben. Nicht im min-
deſten, antwortet’ ich. Er iſt mir ſo gar foͤr-
derlich
[419] derlich und dienſtlich geweſen. Wie das?
Schoͤnheit gefaͤllt unmittelbar; die Wiſſen-
ſchaften mittelbar — ich hatte des Weges
nichts zu beſtellen. Der Profeſſor merkt’ es
mir ab und umarmte mich! — Wir nahmen
ſehr ruͤhrend Abſchied. Allem Vermuthen
nach, ſagt’ er, werd’ ich ſo wenig einen neuen
Beweis meiner Grosvaterſchaft erleben, als
ihre Zuruͤckkunft. (Seine Tochter war heck-
tiſch.) — Mir ſchon recht, ſetzt’ er hinzu, ich
habe gelehrt, und will gern lernen, der Schat-
ten des Todes enthaͤlt, wenn er ſich enthuͤllt,
Klarheit des Lebens. — Die groͤſte Unvoll-
kommenheit der Natur, den Weg zum ewi-
gen Leben. Der Profeſſor empfahl mir Auf-
munterungen, weil es auch in Wuͤſten Ver-
ſuchungen gebe, und nahm ſo Abſchied, als
wenn er unter Minens Leichenbegleitern ge-
weſen. — Schluͤßlich bat der Grosvater,
dem Junker Gotthard fuͤr die richtige Zah-
lung zu danken, wenn er nicht die Ehre haben
ſollte, dieſen Dank ſelbſt zu ſagen. Das ba-
ten alle academiſche Lehrer, denen ich mich
empfahl. Man bemerkte, daß ſelten ein
Curlaͤnder ſo richtig Zahlungstermin gehal-
ten, wie Junker Gotthard. Gern, das weiß
ich, haͤtte Gotthard den Profeſſor Grosvater
D d 2ge-
[420] geſprochen, und waͤr’ es nur geweſen, um
ihm des Argos halber verbindlichſt zu danken,
wenn er ſich nicht des Danks, wegen rich-
tig bezahlter Collegiorum, geſchaͤmt haͤtte. —
Der Creyßrichter wollt’ uns durchaus den
Abend ein Mahl geben, welches wir aber aus-
ſchlugen. Gotthard war in die Stelle eines
Hausofficiers wuͤrklich geruͤckt, die ein andrer
ihm uͤberlaßen, und ſah ſich alſo, dieſes Ver-
haͤltnißes wegen, gedrungen, ſeinen Erlaß
nachzuſuchen, den er mit vielen hoͤflichen Aus-
druͤcken erhielt. Mit eins fieng der Creyß-
richter an: Sie reiſen ab, eben da in ihrer
Gegend ein luſtiger Sprung vorfaͤllt! Dies
ſollte Amalia und der unerhoͤrte Kraͤmer ſeyn.
Gotthard hatt’ Amalien in des Creyßrichters
Haus eingefuͤhret. Junker Gotthard verſi-
cherte, dieſe Neuigkeit waͤre kaum Reitergahr,
und da er merkte, daß man ihm auf den Zahn
zu fuͤhlen anlegte; ſo macht’ er ein Rechts
um kehrt euch, und der Creyßrichter war ſo
klug, als zuvor. — Die alt’ und wohlbe-
tagte Frau hatt’ ihr Gehoͤr, dieſen Sinn der
Geſelligkeit, verlohren, und war eben dadurch
argwoͤhniſch und verdruͤßlich worden. Ge-
ſicht, pflegte mein Vater zu ſagen, iſt im
Dienſt
[421] Dienſt des Verſtandes, Gehoͤr im Dienſt der
Vernunft. Was dieſen Dienſt betraf; ſo
hatte die gute Frau ihn wahrlich nicht uͤber-
trieben. — Wenn Gott ihr nicht hilft, ſagte
der Creyßrichter, ſo geht meine Bruſt verloh-
ren, die ich zu meinem Amte wahrlich noth-
wendig habe. Dieſe Huͤlfe, das ſah man dem
engbruͤſtigen Manne an, war, nach ſeiner
Meynung, ein baldiger Tod, der nach menſch-
lichen Berechnungen auch nicht lange mehr
ausbleiben konnte. Sie lies, obgleich wir
beyde keinen Lungenfehler hatten, uns nicht
vor. — Was meynſt du, ſagte Gotthard, da
wir giengen, wenn er Wittwer wird, und
wieder heyrathet, ob er die Hausofficiere be-
haͤlt? oder die Stellen eingehen laͤßt?
Bey unſerm Koͤniglichen Rath mußten
wir die lezte Mahlzeit halten. Junker Gott-
hard hatte uͤberhaupt keine Collegia gehoͤrt,
und war auch nur, wenn der Koͤnigliche Rath
es nicht laͤnger ausſetzen konnte, und eine
große Mahlzeit gab, unter dieſen Gaͤſten.
Es gefiel Gotthardten dieſer Zirkel, beſtehend
aus einem Officier, einem andern koͤniglichen
Rath, einem Prediger, und Profeſſor, un-
gemein, und wenn eben dieſer Profeſſor ihm
nicht wegen richtiger Bezahlung ſeines Colle-
D d 3giums
[422] giums gedankt, und ihn dieſes Danks halber
auf eine Viertelſtunde in Verlegenheit geſetzt
haͤtte; Gotthard waͤre noch weit vergnuͤgter
geweſen. Bruder, ſagt’ er, wie wir weg-
giengen, Geſellſchaften ſolcher Art machen
weit kluͤger, als Collegia. Das Erkenntniß
aus Buͤchern iſt todt; das aus Geſellſchaften
lebendig. Es hat eine oͤffentliche Probe aus-
gehalten, es iſt abvotirt. — —
Nach Goͤttingen.
Berlin den — — 17 —
Den Koͤnig, den Koͤnig, nicht einen Koͤ-
nig, den Koͤnig hab’ ich geſehen! Gern moͤcht’
ich ſagen, Koͤnig, wenns nicht undeutſch waͤre.
Von Angeſicht zu Angeſicht, lieber Vater, ge-
ſehen! Das nenn’ ich ſehen, wenn man ſo
hoͤrt, wuͤrd’ ich ſagen: er predigt gewaltig-
lich. Dich, mein Vater, hab’ ich ſo gehoͤrt,
wie den Koͤnig geſehen! Solch ein Aug — hat
er Augen? Sterne hat er, Sonnen, die ihr
eigen Licht haben und Strahlen werfen. Er
iſt die Experimentalphyſick zu deinen Grund-
ſaͤtzen uͤber den monarchiſchen Staat. Herr
v. G. der aͤltere, das wett’ ich, wuͤrde huldi-
gen, wo nicht mit den beyden Schwurfingern,
ſo
[423] ſo doch innerlich — bis recht zum Herzen
dringt, glaub’ ich keine Huldigung; ſie ge-
ſchaͤhe dem Koͤnig, oder ſonſt wem. Mein
Reiſegefehrter iſt in Beziehung der Monar-
chie dem Bilde ſeines Vaters aͤhnlich. (Ich be-
halte mit Fleiß deine Diſtinktion bey, nicht
ihm ſondern ſeinem Bilde aͤhnlich — nicht
die andre Welt empfinden, heißt es, ſondern
die Kraͤfte der andern Welt —). Der
dem Bilde ſeines Vaters aͤhnliche Sohn,
ſtand, ſah und war weg — weg war er! —
Er haͤtte nicht angelegt, wenn das Wild ihm
zu Fuß gefallen und gehuldigt haͤtte. — Was
wahr iſt, iſt wahr, ſagte der gute Wildfaͤnger
zu Hauſe, nachdem er ſich von der Koͤnigli-
chen lieben Sonnen Licht und Pracht im
Schatten erhohlt hatte. Was wahr iſt, iſt
wahr. Ein beſonder Ding, Koͤnig zu ſeyn!
Was wahr iſt, iſt wahr! Dieſer da! Gros,
ſehr gros, wie ein Loͤwe! (um beym Wild zu
bleiben) und wenn er Liebhaber von der Jagd
waͤre — — „und wenn er aufhoͤren
„moͤchte, der Koͤnig zu ſeyn!“ Ob ich
ihn recht beym Wort gefaßt’, ob ich recht ein-
gegriffen, ſtell’ ich deiner reifern Entſcheidung
anheim. Vater! die Augen! die Augen!
Die Naſe, Stirn, Hand, Gang, alles Koͤ-
D d 4nig-
[424] niglich. — Wenn er ſie doch ſchonen moͤchte,
die groſſen Koͤnigs-Augen, und ſie nicht ſo hin
und herwerfen, oft auf Leute, die des Blicks
nicht werth ſind — wahrlich nicht. Nach
allem Menſchmoͤglichen hab’ ich mich erkun-
diget. Der kleinſte Zug hat einen Koͤnig. —
Man ißt bey ihm; er ißt bey keinem ſeiner
Unterthanen. Keiner wuͤrd’ ihn, wenn der
Legitimationspunkt zum Regiment je zur
Frage kommen ſolte, ſeiner Vollmacht wegen
in Anſpruch nehmen. Er traͤgt ſie unterſchrie-
ben und beſiegelt in Gedanken, Gebehrden,
Worten und Werken. So viel Siegel, daß
der Lack ordentlich verſchwendet iſt. Feiner
Lack, Vater! — Gleich wie ich ihn ſahe,
dacht’ ich, warum reiſen denn nicht Dichter,
Mahler, Bildhauer nach dieſem Ideal eines
Koͤniglichen Ausſehens, nach dieſem Bilde
des Koͤniges. Er herrſcht und regiert. Re-
genten giebts auch in der Schule. Mein
Rector magnificus, den ich das letzte halbe
Jahr hatte, regiert’ im rechten wahren Sinn;
allein herrſchen kann nur Koͤnig Friedrich! —
Beym Regieren wirds ſchwer! Du haͤtteſt
hoͤren ſollen, wie Se. Magnificenz Kron und
Scepter niederlegten, als wenn Sie ſich ge-
badet haͤtten, ſo leicht, ſo wie neugebohren.
Herr-
[425] Herrſchen ſieht immer leicht aus, ſo leicht,
als einſchlafen. Eins, Vater, mit Sr. Ma-
jeſtaͤt Erlaubnis, gefaͤllt mir nicht. — Was
ich mich geaͤrgert habe, daß Er die Floͤte ſpielt,
das ſollt’ er dem Apoll uͤberlaßen, wenn er in
der Schaͤfermaſke iſt. Sage, Vater, giebts
ein Koͤnigliches Inſtrument? Ich kenne kei-
nes. Die Floͤte? Freylich da der Koͤnig ſie
blaͤßt, ſcheint es, es koͤnne was aus ihr wer-
den. — Einige glauben gar, ſie waͤre gekoͤ-
niget, in den Koͤnigsſtand erhoben. O ihr
Kleinglaͤubigen! Ich find’ es nicht. Blaſen?
kann man denn nicht den Odem zum Worte
ſparen, den Odem, den goͤttlichen Spiritus,
den Geiſt, oder das Bild von ihm! — Aber
der Koͤnig laͤßt ſich nie hoͤren, er blaͤſt die
Floͤte eben ſo, als er ſich im Schlafgewand,
wenn man es ſo nennen ſoll, ſehen laͤßt. Eine
Schlafmuͤtze hat er nie auf ſeinem Koͤniglichen
Haupte gehabt. Sie ſticht uͤberhaupt ſchlecht
mit der Kron’ ab. Sein Hut ſtehet ihm, als
eine Krone! So traͤgt keiner ſeinen Hut.
Der Hut iſt uͤberhaupt ein Hauptkleidungs-
ſtuͤck am Koͤnige. Der Koͤnig von Pohlen
mit einer Muͤtze, der Sultan mit einem Bund,
machen keinen Einwand. Den Biſchoͤfen ihr
Inful! Wenn der Koͤnig gruͤßt, du ſolltſt ſe-
D d 5hen,
[426] hen, Vater, wie er den Hut faßt! — Seine
Kleidung? nichts was neu anſchiene. Ein
neues Kleid iſt nicht Koͤniglich! Am Hut, der
gewiß nicht neu war, keine Verzierung! Va-
ter, durchweg ein Koͤnig! Alles ſo natuͤr-
lich. — Thaͤten wir es, waͤr es die aͤuſſerſte
Affektation.
Aber wieder von der Floͤte. Nur die ha-
ben ſeine Triller, ſeine Laͤufe gehoͤrt, die ihn
nicht als Koͤnig anſehen duͤrfen, Freunde!
Fremde! — Tonkuͤnſtler! Ein Koͤnig, Freun-
de? Koͤnig Friedrich ſoll einen haben oder ein
Paar, und das iſt viel! — ich haͤtte nicht
das Herz, es zu ſeyn, auch du, Vater! ſo
ſehr du Monarchenfreund in abſtrakto biſt,
haͤtteſt du wohl goͤttlichen Ruf, es in concreto
zu ſeyn? Immer gerade, wer kann ſich hal-
ten? — nur die ſo geſchnuͤret ſind, und denn
thun es nicht ſie, ſondern das Eiſen.
Die Verſe, die er macht? auch das koͤnnt’
er bleiben laſſen, und es dem Voltair anheim
ſtellen. Franzoͤſiſche Notabene gereimte
Verſe! haͤtteſt du das gedacht, Vater? Gott
der Herr hat nie in Verſen geredet. Koͤnige
tragen ſein Bild. Es ſind Goͤtter der Erden.
— Das ſchwerſte Stuͤck Arbeit eines Dich-
ters iſt, wie mich duͤnkt, Gott den Herrn re-
dend
[427] dend einzufuͤhren. Wenn Gott zu Menſchen
ſpricht, iſt es Proſa. Der Donner ſelbſt iſt
wahre Proſe. — Wir Menſchen, wenn wir
zu Gott ſprechen, poetiſiren, und das iſt
nicht ohne —
Du pflegteſt zu ſagen, Vater! jeder große
Mann hat einen Vers gemacht, es ſey im
Wachen, oder im Schlaf — Newton ſo
gut, wie Rouſſeau, und ich glaub es dir aufs
Wort, dir, dem einzigen, dem ich aufs Wort
glaube, und als Sohn zu glauben von Gott
und der Natur angewieſen bin, wofuͤr ich
dem lieben Gott Dank ſage fuͤr und fuͤr. Da,
duͤnkt mich, hab’ ich die ganze Pflicht des
Sohnes zum Vater geſagt. Chriſtus ver-
langt ſelbſt nichts mehr, da er uns zu Kindern
Gottes berief, erleuchtete und heiligte.
Des Koͤnigs Poeſie(*) Gern lieber
Vater haͤtt ich mir den Koͤnig abmahlen
laſſen,
[428] laſſen, allein da iſt er ſo eigen, wie Alexan-
der, mein Vetter.
Du haſt mir oft und viel, lieber Vater,
den Schluͤſſel zu deiner Monarchen Liebe be-
haͤndiget, und wie viel hab ich nicht, wie ſehr
viel, was ich noch weglege, weil du dieſes
Depoſitum mit der Ermahnung zu uͤbergeben
pflegteſt: Winterſaat — kommt Zeit kommt
Rath! Wenn ich gleich, wie du weißt, das
erſte Siegel von ανέχου και απέχου gebrochen;
dies Siegel ſoll mir heilig ſeyn. Es giebt
Dinge, die durchaus Jahre erfordern. Leib-
nitz war zwar im funfzehnten Jahre Magi-
ſter; allein als Magiſter war er nicht Leibnitz,
und da er ſchon Leibnitz war, wie oft fiel er
in den Magiſter! — Ich beſcheide mich von
ſelbſt, daß ich gewiße Dinge, die du fuͤr mich
eingepackt haſt, noch ſo anzuſehen verpflichtet
bin, wie die meiſten Menſchen einen Folian-
ten. Wenn ich gelegene Zeit habe —, oder
wenn ich volljaͤhrig bin; denn wahrlich ein
Foliant in der Hand eines Knaben, iſt nicht
gleich und gleich, das doch allein ſich geſellen,
ſich
[429] ſich paaren ſollte. Zwar hab’ ich oft in mei-
nem Leben Folianten getragen, und Stellen-
weiſe, durch deine Guͤte, aus Folianten, die
einige Leute, ich weiß nicht warum, gerade-
weg Quellen heißen, geſchoͤpft. [Quellen] im
gemeinen Leben ſind im Verhaͤltnis mit andern
Gewaͤßern nicht Folianten. —
Verzeih, Vater, meine Altklugheit, die
in dieſem Briefe hie und da hervorſticht. —
Der Koͤnig von Preußen, oder ſein Blick, gab
mir Veniam ætatis. Iſt man doch heiter am
heitern Tage. Ich muͤßte mich ſehr irren,
wenn ich nicht des Dafuͤrhaltens ſeyn ſollte,
du waͤreſt darum ein Monarchenfreund, weil
du ein Menſchenfreund biſt. Der Monarchen
wegen iſts nicht. Da dem Herrn Chriſto,
deinem Herrn, eine Muͤnze vorgezeigt ward,
was ſagt’ er? Gebet dem Kayſer, was des
Kayſers iſt, und Gotte, was Gottes iſt. Die
Monarchen ſind unſerer Herzens Haͤrtigkeit
halber von Gott gegeben, und da nur ein
Gott iſt; ſo iſt nach deiner Meynung die
Monarchie die kluͤgſte, die natuͤrlichſte Staats-
form. Sie iſt die Theokratie in hoͤchſt feh-
lerhafter Ueberſetzung. O Gott, wenn ſie
doch einmal D. Martin Luther uͤberſetzen
wollte, ſo ins ehrliche deutſch! Monarchie
iſt
[430] iſt der Freyheit halber da, die dem menſchli-
chen Geſchlecht ins Herz geſchrieben iſt. Der
Monarch ſoll ſo lange gruͤnen und bluͤhen,
und leben und hoch leben, bis die Untertha-
nen zu ihm kommen und ihm ſagen: nun ſind
wir alle ſo, daß, wenn uns Gott der Herr
ins Paradies ſetzen wollte, wir nicht eſſen
wuͤrden von der verbotnen Frucht. Jezt iſt
kein Mein und kein Dein mehr zu verzaͤunen
noͤthig, wir brauchen keine Beſaz und Hypo-
thekenbuͤcher, und keinen rothbeſchlagenen
Richterſtuhl weiter. Sey, lieber Herr Koͤ-
nig, wie unſer Einer. Sey mit uns, wie
Engel Gottes im Himmel, wie Adam vor
dem Fall! — —
Hab ich dich nur von weitem verſtanden,
ſo ſchreib mir ja, Vater, ſonſt hilf mir zurecht
mit einer autentiſchen Intrepretation.
Die meiſten Menſchen reden wider den
Staat, wider den Koͤnig. Dergleichen giebts
in Preußen, ſo wie uͤberall; indeſſen hilft der
Koͤnig ſich mit ſeinen Augen. Sein Aug’ iſt
ſein Miniatuͤr. Wenn die Berliner, ſeine
naͤchſte Nachbaren, politiſch Kannengießen —
ſieht er, und ſieht alles rings umher treu und
hold, folgſam und gehorſam. — Er hat ein
Geſicht, das man ſehen muß, ſo oft es zu ſe-
hen
[431] hen iſt. Er komme, wenn er wolle, jedes laͤßt
liegen, was es treibt, ſieht, oder will ſehen. Es
iſt, als wenn heraus gerufen wuͤrde. Die Mut-
ter hebt ihr Kleines in die Hoͤhe, und der Jun-
ge bleibt ſtarr! Das Maͤdchen laͤchelt! Er iſt
ſelten in Berlin. In Potsdam iſt er Koͤnig;
in Sanſouci Menſch. Aber, Vater! warum
redet alles wider die Obern? Es iſt die natuͤr-
liche Freyheit, welche ſich vordrenget, wel-
che das Wort nimmt, pflegteſt du zu ſagen,
und Herr v. G — iſt dein unumſtoͤslicher Be-
lag. Ich hab indeſſen Misvergnuͤgte gefun-
den, die es blos ſind, weil ſie den Tyrannen
in Kopf und Herz haben. Sie ſelbſt wollen
auf den Thron. O der Tyrannen! mit ih-
rem Freyheitsgeplerr! O der Suͤnder wider
den heiligen Geiſt! Einige der Misvergnuͤg-
ten ſind es, weil ſie es ſind. Sie wiſſen nicht,
was ſie thun. — Das Wort Freyheit iſt ih-
nen nicht ein Deckel der Bosheit, wohl aber
ein Deckel des Unverſtandes.
In Curland, pflegteſt du zu ſagen, iſt
Sclaverey und Freyheit zu Hauſe. Jeder
Adelhof iſt ein Thron, jeder Thurm Sibirien,
jeder Stock Scepter. Der Edelmann iſt
Deſpot, Tyrann, ſeine Einwohner, bis auf
den
[432] den Paſtor loci und den Hofmeiſter, welche
altioris indaginis ſind — Sclaven! —
Solch ein Koͤnig auch Koͤnig Friedrich iſt;
getrau’ ich mir doch (und das iſt wieder ein
Wunder in ſeinem Auge) zu ihm zu kommen,
und ihm den Antrag zu thun, zu ſeyn, wie
unſer Einer; es verſteht ſich, wenn dies Stuͤnd-
lein vorhanden iſt. Das Menſchengeſchlecht
ſucht alles auf dem unrechten Wege, und das
kommt, weil es nicht zuſammenhaͤlt. Da es
nicht Gott treu iſt, wie kann es Menſchen
treu ſeyn? Gott hat alles dabey gethan, und
den Menſchen den Trieb der Geſelligkeit ſo
gar tief ins Herz gelegt; allein noch ſtoſſen
ſie ſich von einander. Wie ſehr in weitent
Felde liegt nicht alles, und wie nahe koͤnnt’
es liegen; wenn Gottes Wille geſchaͤhe!
Nimm, lieber Vater, mit dieſem ſpeci-
mine academico vorn Willen, das ich dir loco
teſtimonii ſchuldig bin. Ich habe die Koſten
dabey geſpart, und bin bey einem Manne,
wie du, eben ſo weit, wo nicht weiter. — —
Meine Leſer werden freylich aus dieſem
Briefſtuͤck des mehrern erſehen, daß eine ge-
wiſſe
[433] wiſſe mir angebohrne Koͤnigsfreude mich be-
geiſtert habe, und eben darum dieſes Er an
Ihn verzeihen, dafuͤr ſind auch ſo viele Sie’s
an Ihn (Briefe meiner Mutter an mich)
weggefallen, und mit keinem einzigen ich an
Sie, mit keinem einzigen von meinen Brie-
fen an meine Mutter ſind meine Leſer be-
laͤſtiget — — ich habe meinen Brief an
meinen Vater ſo gelaßen, wie er war, war-
um ſollt’ ichs nicht? —
Im letzten Kriege, nicht in dem Proceß,
die Succeßion von Bayern betreffend, ſon-
dern im letzten Kriege, ſagte Madam Pom-
padour, da ihr einer aus dem Volke vor-
windbeutelte: man wuͤrde den Koͤnig gefan-
gen nach Paris fuͤhren; da wird man doch
einen Koͤnig zu ſehen bekommen! Dies,
was freylich nur eine Maitreſſe ſagen konnte,
ſo wie das erſte nur ein Franzoſe, iſt ſo ſchoͤn,
als wahr, geſagt! — Einem Kreutzzuge der
Koͤnigin Saba zum Koͤnige Salomo ſieht es
freylich nicht aͤhnlich, dafuͤr iſt auch Pompa-
dour nicht Koͤnigin aus Saba, und Friedrich
iſt er Salomo, der durch eine Lilie auf dem
Felde in ſeiner Herrlichkeit beſchaͤmt ward?
Koͤnig Friedrich laͤßt ſich mit keiner Feldlilie
im Wettſtreit ein. —
E eDer
[434]
Der Koͤnig lacht nur mit ſeinen Freun-
den; denn er iſt Koͤnig. Ernſt liegt in ihm,
und wenns hoch kommt, Beyfall. Er ſtraft
durch ſeine Collegia; den Lohn hat er ſich
vorbehalten. Danken kann er nicht; durch
Thaten dankt er. In ſeinem Danke liegt:
ihr ſeyd ein unnuͤtzer Knecht, ihr habt gethan,
was ihr zu thun ſchuldig waret! Das ſagt
er, nicht in ſeinem, ſondern im Namen des
Staats. Er wechſelt nicht mit Leuten, auf
die er einen Koͤniglichen Accent gelegt; allein
er hat auch keinen Liebling, ohne den es ihm
ſchwer waͤre nicht zu ſeyn.
Bey ſeiner Liebe zu Hunden iſt mir ein-
gefallen: er ſaͤhe ſelbſt als Koͤnig ein, daß,
wenn der Menſch ſich dienen laßen ſollte, es
durch Hunde geſchehen muͤßte. Sie ſcheinet
die Natur dazu beſtimmt zu haben. Vielleicht
wuͤrden die Hunde und noch andere Thiere
beſſer, wenn ihre angebohrne Herren beſſer
waͤren. Wenn ein Menſch, Menſch iſt, be-
darf er wahrlich keine andre Bedienung, als
im Fall der Noth einen Hund. Diogenes
konnte ſich ohn’ ihn behelfen.
Der Koͤnig haͤlt viel von gluͤcklichen
Menſchen. Der Menſch hat Gluͤck, ſagt’ er.
Gluͤck
[435] Gluͤck und Welt iſt in dieſem Koͤniglichen
Sinn nicht viel auseinander, und ſo koͤnnte
man auch ſagen, der Koͤnig habe Gluͤck! —
Der Koͤnig lies in ſeinen Feldzuͤgen die
Kugeln um ſich herum pfeifen und heulen;
ſo wie Muͤcken ſah’ er ſie an, die um ſeinen
Kopf ſich luſtig machten. Man ſollte faſt
glauben, fuͤr einen unverwandten Blick auf
einen Fleck, fuͤr einen feſten Gang zum Ziel,
fuͤr ein Bewuſtſeyn: das iſt der rechte Weg!
haben die Kugeln ſelbſt Reſpekt. — Im
Willen des Menſchen liegt eine menſchliche
Allmacht. — Alle beherzte Leute verlieren
das Gleichgewicht, wenn ſie einen Unſinni-
gen ſehen. Iſts Wunder, da die Beherzten
die Mitleidigſten ſind? Feigheit allein iſt
grauſam. —
Was iſt der Menſch ohne Vernunft? ſo
ſehen Thiere nicht aus, welchen es doch allen
am beſten, an der Vernunft, fehlt — als ein
unſinniger Menſch. Er iſt weniger als ein
Thier worden. — Die menſchliche Geſtalt,
ohne Vernunft, iſt das ſchrecklichſte, was
man in der Natur ſehen kann. Kains Zei-
chen iſt ein Gnadenkreutz dagegen. Der Koͤ-
nig kann keinen Unſinnigen aushalten. Er
E e 2ſieht,
[436] ſieht, wie tief der Menſch ſinken koͤnne, ob-
gleich er ſeines gleichen iſt. Ein προσκυνειν
duͤnkt ihn daher wie ein Bruch der Ver-
nunft. — Er zieht ſich vor jedem zuruͤck,
der vor ihm die Knie beugt. Alles aus einer
und der nemlichen Quelle. — Das Haupt
regiert, und nicht die Fuͤße, ſagte der nem-
liche Kayſer, da man ihm zu Fuße fiel, der,
da man ihm ſein theures Leben landesvaͤter-
lich vor dem Geſchuͤtze zu decken anrieth, er-
wiederte: es iſt noch kein Kayſer erſchoſſen!
Gott der Herr iſt uͤberall. Der Himmel,
heißt es zwar, iſt ſein Stuhl, und die Erde
ſeiner Fuͤße Schemel; allein das iſt Poeſie,
und ein Selbſtherrſcher, ein Monarch, der
im eigentlichen Sinn Gottes Bild traͤgt, ſollte
auch keinen beſtaͤndigen Aufenthalt haben.
Er, der uͤberall ſeyn ſollte, muͤſte wenigſtens
uͤberall zu Hauſe ſeyn. Das Hoflager, kann
es denn nicht wandelbar ſeyn? um die Allge-
genwart zu ſpielen. Die deutſchen Kayſer
waren ehemals an keiner Stell und Ort zu
Hauſe. Die Koͤnige von Pohlen zogen auch
umher, und was iſt natuͤrlicher, als daß Re-
ſidenzen, Koͤnigsſtaͤdte, durch den Vorzug,
den ihnen das Schlafzimmer des regierenden
Herrn
[437] Herrn beyleget, das Haupt, die andern Pro-
vinzen aber die Glieder werden! Wuͤrd’ es
nicht gut ſeyn, wenn die hohen Collegia des
Landes an den kleinſten unbedeutenſten Oer-
tern waͤren? Gott regieret im Verborgenen. —
Der Koͤnig von Preußen viſitirt wenigſtens
jaͤhrlich ſeine Provinzen. Er braucht keinen
Wardein ſeiner Diener. Sein Aug’ iſt
Schwert und Waage und da blickt er umher,
und wenn er einen Ueberhang von Aeſten ei-
nes Unterthans uͤber des andern Boden fin-
det, der dieſen ſtoͤhret; heißts: haue ſie ab,
was hindern ſie das Land. — Er beſitzet
ein moraliſches Menſtruum univerſale, alle
ſeine Unterthanen aufzuſchlieſſen. — Bey
Freunden irrt er oͤfters. Er hat einmahl
Berlin, und es verlohnts, daß er es hat. Wer
es behauptet, daß die Reſidenz der Extrakt,
das Extrafeine, die Punktation aller Provin-
zen ſey, mag ſo unrecht nicht haben. Ich
glaube faſt, daß man aus der Reſidenz den
ganzen Staat in unſern Zeiten am ſicherſten
uͤberſehen koͤnne; es kommt nur hier, wie
uͤberall, auf den Standpunkt an.
Thiergarten, rief Junker Gotthard, und
lief ſpornſtreichs hin. — Glockenſpiel!
E e 3ſchrie
[438] ſchrie Gottfried, und vergaß daruͤber Dan-
zig, wo Glockenſpiel und kein End iſt. Gott
ehre mir, fuhr Junker Gotthard fort, meinen
Thiergarten in — — der natuͤrlich iſt, ich
will den Berlinern gern den kuͤnſtlichen laßen,
und den Sand oben ein, der, wie er bemerk-
te, der gruͤnen Farb’ am ſchaͤdlichſten iſt.
Sieh nur, ſagt er, eine Blume, deren Laub
vollgeſtaͤubt iſt! — Darf man doch im Thier-
garten nicht einmal eine Flinte losknallen!
Auf die Parade zu gehen, haͤtt ich ihn um
eine Obriſtenſtelle nicht uͤberreden koͤnnen.
Man muß den Teufel nicht an die Wand
mahlen, war ſeine Meynung. Ich war auf
der Parade in meinem Element. Zuwei-
len war mir das Commandowort ſo nahe,
daß ichs mit Gewalt unterdruͤcken muſte.
Der Alexander wollte durchaus zum Vor-
ſchein. Wie viel Helms ſah ich da, tapfe-
re Helms! Alles waͤre dem Junker Gott-
hard ertraͤglicher geweſen, wenn nur die Fra-
gen: woher? wohin? wer? wie? was?
an den Thoren ihn nicht mit Vorurtheil ein-
genommen haͤtten. Muß man ſich doch, ſagt
er, hier durchdecliniren und durchconjugiren
laſſen. Da hatt’ ichs ja beym Profeſſor
Grosvater noch leichter, wo ich dich fuͤr mich
ant-
[439] antworten lies, und den Argos kennen lern-
te, welches der beſte Hund in der ganzen
Welt iſt. Einen ſeiner Koͤnigsbergſchen Ar-
gos, von dem er glaubte, daß er vom Homer-
ſchen abſtammen muͤſte, hatt’ er mit. Die
andern wurden verſchenkt. Amalia hatt’ ei-
nen, (dies erfuhr ich erſt unterweges.) Es
war wahrlich kein Schooshund! Was thut
die Liebe nicht! Gottfried ſagte, da auch er
am Thor examinirt ward, muß man ſich doch
hier an die Glocke ſchreiben. Da, wo der
Koͤnig ſelbſt iſt, gilt kein Reviſor, wie der
Nathanaelſche, kein Knabe, der mit der Hand
das Poſthorn ſo nachmacht, daß man glau-
ben ſollte, die Poſt kaͤme. Nathanael wuͤrde
hier ſeinen Abſchied nicht genommen haben.
Wo ſolche Reviſores, wie unſer Nathanael-
ſche, den Koͤnig ſelbſt fuͤr Augen haben, koͤn-
nen ſie unmoͤglich: Wir Friedrich, ohne
Furcht der Ruthe, misbrauchen. Ich wuͤrde
kein Kind zum Treiber des Volks machen.
Wahrlich! Richterverſtand kommt nicht vor
Jahren!
Einem feinen Englaͤnder lief ich in Berlin
nach, und macht’ ihn mit vieler Muͤhe zu
meinem — Bekannten. Freund war er noch
nicht. Ein Menſch von ausnehmendem
E e 4Kopf
[440] Kopf — Seine Nation war in ihm getroffen,
wie aus dem Auge geriſſen. Er kam von Ruß-
land, und wollte noch weiter in die Welt.
Hier, ſagt er, in eurem Staat (ich bin ein
Curlaͤnder, mein Herr Englaͤnder,) uͤberall
eine Saladiere zu wenig, ein Friedrichsd’or
beſpart. In Rußland zehn Rubel, ein paar
Schuͤſſeln zu viel. Immer Epakten, immer
Ueberſchuß! Das, fuhr er fort, liegt im
geheimſten Mark des Staats. In Peters-
burg iſt zu viel, in Berlin zu wenig Platz, das
ſeh’ ich an Gebaͤuden, die ſich ſehen laßen. —
Man weiß, wie die Englaͤnder ſind! Fuͤr den
Koͤnig war er, wie ich. Ganz gewiß hat er
an ſeinen Vater auch ſo geſchrieben, wie
ich. — Der Starrkopf! Die Franzoſen wa-
ren ſeine Freunde nicht, wie gewoͤhnlich. Der
Koͤnig von Preußen, ſagte mein Eng-
laͤnder, liebt den franzoͤſiſchen Verſtand;
aber nicht den franzoͤſiſchen Willen. Wir
und ihr (Wir voraus, das hieß: Englaͤnder
und Teutſchen) bleiben bey der Angel,
wenn gleich in einigen Stunden kein
Fiſch kommt. Der Franzoſe ſchießt waͤh-
rend der Zeit einen Vogel. Er traͤgt
Gold auf dem Hut; wir ein feines Hemde.
Viele in Berlin, fuhr er fort, welche den Un-
ter-
[441] terſchied von Verſtand und Willen, nicht ſo
gut, wie der Koͤnig, einſehen, ſind ganz und
gar Franzoſen. Man koͤnnte dieſe, unter-
brach ich meinen Englaͤnder, weit eher, als
die Letten in Curland, Undeutſche nennen.
Dies war ihm was Neues vom Jahr. Un-
deutſch, wiederhohlt’ er, und laͤchelte. Das
Frauenzimmer, bemerkt’ er, iſt in Berlin
zum groͤſten Theil von Haupt bis zu Fuͤßen
franzoͤſiſch. Zum groͤſten Theil, fiel ihm
Junker Gotthard ein, und der kleinere
Theil? iſt engliſch! — Deutſch! wie Sie
wollen, erwiederte der Englaͤnder. Ich
daͤchte, beſchlos Junker Gotthard, das
Frauenzimmer ſtamme durch die ganze Welt
von den Franzoſen, oder die Franzoſen vom
Frauenzimmer. Wir, der Englaͤnder und
ich, vereinigten uns wider den Junker Gott-
hard, und bewieſen ihm, daß es noch Frauen-
zimmer teutſcher, oder engliſcher Art, gebe,
und zeigten ihm davon etliche in Berlin!
Ihr kennt ſie nur von Anſehen, fuhr Junker
Gotthard fort. Darf man mehr, wenn vom
Frauenzimmer die Red iſt? Da ich dem Jun-
ker Gotthard die Gewiſſensfrage that, ob
denn ſeine Trine von franzoͤſiſcher Abkunft
ſey? war er verlegen. Ich richte meine Frage
E e 5nicht
[442] nicht auf Amalien, die einen Argos von dir
zum Geſchenke zuruͤckbehielt, nicht auf die
Brunette mit dem treflichen Buſen, wo ein
Ball gegeben wird, und wo zehn tauſend Lie-
besgoͤtter ſchweben! — von Trinen frag
ich? — — Gotthard trat uns bey.
Der gute Junker Gotthard hatt’ es von
ſeinem Vater, und dieſer von dem Meinigen,
daß man das Volk in der Sprache ſuchen
muͤſte, und da er ſich viel darauf zu gut that,
ein halber Landsmann von Grosbrittanien zu
ſeyn, ſo neckt’ er ſich mit dem Englaͤnder, dem
es ſichtbarlich Vergnuͤgen machte. Schade
nur, daß Junker Gotthard nicht viel eng-
liſch wuſte. Engliſch Mann, fieng er an,
England! Curland, warum denn nicht:
curſch Mann? — und dann wieder: was
ſolch ein Englich Mann vom Kopfe macht!
Da haben wir doch, Gottlob! Stirne und
Scheitel, und er Kopfkron und Vorkopf! —
Bruder! erwiedert’ ich, das Volk kann ein
Wort vom Kopf mitreden, und denn immer
ich ſelbſt, fuhr Gotthard fort, das Selbſt
doch ja nicht zu vergeſſen! Sieh! ſagt ich
ihm, Bruder! da iſt doch jeder was ſelbſt;
im monarchiſchen Staat iſt man alles par
Bri-
[443] Brikol. Dies vom Billard geliehene Kunſt-
wort fiel ihm ſo auf, daß er als Curlaͤnder
auch von ſelbſt zu ſagen ſich berechtiget
glaubte — obgleich ein Curlaͤnder mehr, als
zween Herren, dient, und Niemand kann
zween Herren dienen! —
Das ſich die Engliſchmaͤnner auch in Ab-
weſenheit beehren und dem Namen ein ehrer-
bietiges Herr vorſetzen, wenn gleich der Herr
nicht da iſt, und es auch ſo mit ihren Wei-
bern halten, gehoͤrt auf das nemliche Con-
to! — In der Monarchie iſt man Augendie-
ner, fieng ich an. Wenn man mit dem
Herrn ſpricht, buͤckt man ſich dazu, und iſt
er nicht da, heißt er ſchlechtweg Peter Paul
Pompey. Heucheley iſt der Erbfehler der
Monarchien. In Curland, wo doch Frey-
heit herrſchen ſoll, fuhr ich fort, ſehen die
Leute ein, wie wenig ſie bedeuten. — Doch
warum eine Donatſche Stunde! — Ich
will ſie mit dem Worte Koͤnigreich ſchließen,
auf welches mein Vater aus dem engliſchen
Vater unſer den Accent legte, und zwar
nicht, wie man beym erſten Blick glauben ſoll-
te, weil mein Vater ein Koͤnigſcher war; ſon-
dern weil er den ſeligen Zeitpunkt wuͤnſchte,
das
[444] das Feſt aller Heiligen, wie ers zu nennen
pflegte, da wir allzuſammen eine Heerde ſeyn
werden, und Gott unſer Koͤnig, ein Koͤnig-
licher Vater. Iſts Wunder, daß wir uns
in einer Reſidenz, wo unſtreitig der erſte Koͤ-
nig regiert, an dies Feſt aller Heiligen erin-
nerten, wo eitel Guͤte und Wahrheit herr-
ſchen wird, wo nicht ſteinerne Herzen und
ſteinerne Geſetztafeln, ſondern fleiſcherne Her-
zen ſeyn werden, und Leben fuͤr und fuͤr.
Gott verhelf uns allen dahin, wo Freude die
Fuͤlle und liebliches Weſen iſt immerdar! —
So lang aber dies goͤttlich vaͤterliche Koͤnig-
reich nicht kommt; iſts wahrlich das beſte,
einen Koͤnig zu haben, der es im Geiſt und
in der Wahrheit iſt. —
Der Koͤnig von Preuſſen hat viele Raͤthe;
allein er ziehet keinen zu Rath.
Noch mehr vom Koͤnige.
Gern! Sowohl der Englaͤnder, als ich,
ſind zu mehr bereit. Junker Gotthard wird
ſehen, wie es faͤllt.
Der Koͤnig ſchreibt, trotz aller Woͤrter-
buͤcher, Federic, obgleich Friedrich Frederic
heißt.
Ich
[445]
Ich habe ſchon bemerkt, daß er ſich nur
angekleidet ſehen laͤßt. Ein Held iſt wie
eine Uhr; ſie muß aufgezogen ſeyn, wenn ſie
gehen ſoll. Sollte man dies nicht auch von
einem Koͤnige ſagen koͤnnen?
Der Englaͤnder ſagte, finden Sie es nicht
auch, daß Preußen ſo lange gros bleiben
werde, als es immer Schach bietet? —
Alexander der Große fuͤrchtete ſich be-
kanntlich vor dem athenienſiſchen Czar
Peter, vor den Hollaͤndiſchen Zeitungen.
Aretin machte ſich alle Europaͤiſche Hoͤfe
zinsbar; Koͤnig Friedrich iſt druͤber weg.
Man ſagt: er habe bey Gelegenheit, daß eine
unſchickliche Schrift, die wider ihn gerichtet
war, ſehr hoch hieng, blos verfuͤget, ſie
ſollte Etwas tiefer geſchlagen wer-
den. —
Was ich gern Prinzen ſehe! ſagte mein
Englaͤnder, ich ſeh’ in ihnen ein ganzes Land.
Hundert tauſend in Einem. — —
Der Koͤnig ſiehet jeden an; allein er will
nicht, daß man ihn wieder ſo dreiſt anſehe.
Wer kann in die Sonne ſehen? —
Man
[446]
Man ſagt: der Koͤnig habe bloͤde Augen,
und eben daher ſein Blick, ſein groſſes Auge!
Kann ſeyn! Seinem Blick iſt es nicht anzu-
ſehen. Er hat alles an ſich, was ein voll-
guͤltiger Blick haben kann — Koͤnig und ein
Perſpektiv ſind faſt unzertrennlich. —
Der Koͤnig haͤlt den Soldaten fuͤr ſeinen
Freund, den Civiliſten fuͤr ſeinen Unterthan.
Iſt das recht? fragte der Englaͤnder, Jun-
ker Gotthard ſchrie: Nein! Der Englaͤnder
gab ihm die Hand. Der Soldat, fieng ich
an, iſt des Staats Wundarzt; der Civiliſt
ſein Medicus! allein ich kam nicht wei-
ter. — Mit dem Civiliſten ſpricht der Koͤ-
nig uͤber ſein beſchieden Theil; mit dem Sol-
daten uͤber alles. Ob der Soldat antwor-
ten kann, iſt des Koͤniges wenigſter Kum-
mer! Alle Staaten, wenn ſie gros wer-
den, ſind kriegeriſch. Sind ſie gros, und
wollen ſies bleiben, beduͤrfen ſie Staats-
maͤnner.
Der Koͤnig will einen gewiſſen Esprit de
corps in ſein Heer einfuͤhren, welches das
ganze Geheimnis des Phalanxs war, ſo im
erſten
[447] erſten Paragraph der phanlanxiſchen Krie-
gesartikel ſtand. Das ganze preußiſche
Heer ſoll ein Phalanx ſeyn. Was einem be-
gegnet, ſoll allen begegnet ſeyn. So denkt
jeder Edelmann in Curland, fiel Gotthard
ein. Nicht wahr, Alexander? Ja doch,
lieber Junker Gotthard, jeder Edelmann in
Curland! —
Wie kommts, fragte der Englaͤnder, daß
beym Exerciren Niemand huſtet. Hat kein
preußiſcher Soldat den Huſten? Er haͤlt
ſich gerad’ erwiedert’ ich! — das hilft
fuͤr alle Krankheiten, ſelbſt des Todes
Bitterkeit iſt damit zu vertreiben. —
Es iſt eine monarchiſche Cur, ſagte der Eng-
laͤnder, und Gotthard trat bey. Ich weiß,
daß viele Krankheiten hiedurch curirt
ſind! — Man verbeißt ſie! —
Bey allem, was der Koͤnig oͤffentlich
thut, iſt die Uhr aufgezogen. Thun die
Menſchen, ſagte der Englaͤnder, denen der
Koͤnig die Parole giebt, doch ſo, als wenn
ſie den Koͤnig Salomo urteln gehoͤrt!
Der
[448]
Der Koͤnig hat in gewiſſen Dingen keine
Proportion. „Da geb’ er doch den beyden
Maͤdchen drey Friedrichsd’or“ Es ſind viere,
Ew. Majeſtaͤt, die geſungen haben! „So geb
er drey hundert,“ das heißt, geb’ er ihnen
eine Kammer, oder ein Schloß!
Der Koͤnig (wahrlich das iſt groß) wird
ſo wenig im Krieg als im Frieden bewacht.
Man ſieht offenbar ein, er ſey unbeſorgt, er
ſey ruhig! — Wenn das ein Koͤnig ſeyn
kann; ſo hat ers weit gebracht!
Noch etwas, das dem Englaͤnder das
Herz ſtahl! Alles iſt gleich weit vom Thro-
ne. Der Bediente des Koͤnigs iſt ein Be-
dienter. —
Warum beſchreibt Er nur eine Seite?
Und warum muß alles, was an ihn gebracht
wird, auf eine Seite Platz haben? —
Er liebt nicht Regiſtraturen und Canze-
leyen. Herzog Friedrich der weiſe, Chur-
fuͤrſt zu Sachſen, nannte die Canzeley der
Fuͤrſten Herz! — Wie ſie doch der Koͤnig
nennen mag? Wir waren alle der Meinung
des
[449] des Herzogs Friedrich des Weiſen, Churfuͤr-
ſten zu Sachſen.
Alexander der Große aͤrgerte ſich, da Ari-
ſtoteles eines ſeiner Werke — drucken lies,
haͤtt ich bald geſagt, und einen entſetzlichen
Druckfehler begangen — ausgab. Alexan-
der wollte in allem beſonders ſeyn, und et-
was blos fuͤr ſich haben, was jezt auch an-
dere hatten. Wie muß er es doch gemeint
haben, daß er lieber alles an Gelehrſamkeit
als an Macht uͤbertreffen wollte?
Was iſt beſſer: wenn die Fuͤrſten philoſo-
phiren und die Philoſophen regieren, oder
wenn die Regenten blos thun, was die Wei-
ſen lehren? Der Koͤnig von Preußen iſt ein
ſchoͤner Geiſt — — —
und mein Englaͤnder iſt ein Englaͤnder. —
Gern haͤtt’ ich mir dieſen lieben Jungen zum
Freunde gemacht. Wer weiß aber, wie lang
er den im Noviciat behaͤlt, der zum Freunde
eingeweiht wird! — Wir waren wuͤrklich
F fſo
[450] ſo nahe, als man es mit einem Englaͤnder
ſeyn kann, der noch nicht Freund iſt. Sei-
ne Ungeſelligkeit blieb mir kein Geheimnis,
das iſt der einzige Umſtand, wo die Englaͤn-
der ohne Ruͤckhalt ſind. Wir waren immer,
wilt du zur Rechten, will ich zur Lin-
ken, obgleich er den Teutſchen die Ehre that,
ſich mit ihnen wider die Franzoſen in Buͤnd-
niß einzulaßen. Ich lies es mir merken,
(bitten haͤtt ich ihn um vieles nicht koͤnnen,
kein Englaͤnder laͤßt ſich bitten) daß ich es
gern ſehen wuͤrde, wenn er noch acht Tage
bliebe, wie ich. — Den andern Morgen
war er weg, und, um ganz engliſch zu ſeyn,
ohne Abſchied. Ohnfehlbar ſtand in ſeinem
Reiſekalender Geh ich ab, und da haͤtt ihn
keine Obſervation der Venus durch die Son-
ne gehalten. Gott gleit’ ihn, den guten
Jungen! Ich wuͤnſchte wohl, wenn er ſei-
nen Lebenslauf ſchriebe, daß er an mich daͤch-
te. In dieſer Welt glaub ich, werd ich ihn
ſo wenig wiederſehen, als den Alten mit dem
Einen Handſchuh, der auf ein ſanftes Ende
mit dem Herrn v. G — trank, und der nur
hoͤchſtens noch acht Tage zu leben hatte, da
er
[451] er zum Herrn v. G. kam, und deßen Zeit edel
war. O da werden wir ſo manche gute
Seele finden, die wir in dieſem Buche ver-
lohren haben! Junker Gotthard wuͤrde hin-
zufuͤgen, auch ſo manchen Argos. — Die
Fortſetzung alſo von unſerm Englaͤnder
folgt kuͤnftig.
Ich habe viel in Berlin verlohren, da
mein Englaͤnder mit ſeinem zu viel und zu
wenig nicht mehr da war. Junker Gott-
hard munterte mich wahrlich nicht auf. —
Gottfried glaubt’ auch noch andere Oerter zu
finden, wo Glockenſpiel waͤre. —
Auch ohne Englaͤnder, wie vortreflich
Berlin! — Außer meinem Elemente, dem
Paradeplatz, was fuͤr Nahrung fuͤr Geiſt und
Herz! Berlin koͤnnte Deutſchlands Athen
ſeyn, wenn der Koͤnig es wollte, und ſo
mancher Undeutſche, der um ihn iſt!
Den Tag vor unſerer Abreiſe kam Jun-
ker Gotthard ſo aus dem Athem nach Hauſe,
daß ich befuͤrchtete, es waͤr ihm ein Ehren-
handel aufgeſtoſſen. Was iſt dir, fieng ich
F f 2an?
[452] an? und ſiehe da! man hatte ſich uͤber ſein
gruͤnes Kleid luſtig gemacht, und wußt er
nicht, wie er damit dran war. Warum,
fieng ich an, haſt du nicht was dran ſpendirt
und dem Wizling, dem eine derbe Antwort
noth that, Wehr und Harniſch genommen?
Warum waghalſen? ſagt’ er, Bruder! Wir
reiſen heute. Morgen, erwiedert’ ich. —
Damit ich mich raͤche, fiel er ein, heute!
Ich hatte Muͤh’ ihm zu beweiſen, daß man
ſich darum an einem Verraͤther der gruͤnen
Farbe nicht raͤche, wenn man einen Tag fruͤ-
her aus Berlin reiſet. Wir blieben die vol-
len acht Tage.
[][][]
oder, wie einige wollen, Gold und Silbergeld,
oder im Provinzial-Ausdruck, grob und fein,
gros und klein Geld, dies will ſagen, Alberts-
Thaler und Vierdings.
ſondern begnuͤge mich, eh’ ich weiter kom-
me, die Anmerkung hinzuzufuͤgen, daß Se.
Majeſtaͤt und ich einen und den nemlichen
Verleger haben. Ein Compliment fuͤr uns
alle drey! Das haͤtte noch mein Vater be-
leben ſollen! —
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Hippel, Theodor Gottlieb von. Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn74.0