den
Umgang mit Menſchen.
in der Schmidtſchen Buchhandlung.
1788.
Zweyter Theil.
[][]Inhalt des zweyten Theils.
Erſtes Capittel. Ueber den Umgang mit
den Großen der Erde, mit Fuͤrſten,
Vornehmen und Reichen.
1) Character der mehrſten Groſen und
Reichen. 2) Unterſchied im Umgange mit ih¬
nen, je nachdem man von ihnen abhaͤngt, Ih¬
rer bedarf, oder nicht. 3) Man ſoll ſich den
Vornehmern und Reichern auf keine Weiſe auf¬
dringen. 4) Man muß ſich nicht das Anſehn
geben, als gehoͤrte man zu der Claſſe der Vor¬
nehmern, oder lebte mit ihnen in der engſten
Vertraulichkeit; noch ihre Gewohnheiten, oder
gar ihre Fehler ſich eigen machen. 5) Man baue
nicht auf alle freundliche Blicke der Großen, und
laſſe ſich dadurch nie bewegen, ſich mit ihnen
* 3ge¬[] gemein zu machen! 6) Grenzen der Gefaͤllig¬
keit gegen ſolche Großen, in deren Haͤnden unſer
buͤrgerliches Gluͤck iſt. 7) Man ſoll ſich von
ihnen zu unedlen und gefaͤhrlichen Dienſten nicht
misbrauchen, ſich in keine bedenkliche Haͤndel
ziehn, noch gewiſſe Dinge vertrauen laſſen. 8)
Ueber die Dankbarkeit der Vornehmen und Rei¬
chen. Man ſoll ihnen nichts aufopfern, nichts
ſchenken, nichts leyhen, von ihnen nichts borgen.
9) Trage nichts dazu bey, ſie und die Ihrigen
noch mehr zu verderben, weder durch Schmei¬
cheley, noch auf andre Art! 10) Ueberhaupt
ſoll man bey ihnen vorſichtig im Reden ſeyn,
und ſich aller Mediſance enthalten, uͤbrigens aber
ſie angenehm zu unterhalten ſuchen. 11) Vor¬
ſichtigkeits-Regeln in Anſehung ſolcher Vertrau¬
lichkeit mit andern Menſchen, woraus Fuͤrſten
und Vornehme Verdacht ſchoͤpfen koͤnnen. 12)
Rede mit den Großen der Erde nicht von Dei¬
nen haͤuslichen Umſtaͤnden! Klage ihnen nicht
Dein Leid! Vertraue ihnen nichts! Suche ih¬
nen zu zeigen, daß Du Ihrer nicht bedarfſt!
Mache Dich vielmehr ihnen nothwendig! 13)
Aber huͤte Dich, ſie Dein Uebergewicht fuͤhlen
zu laſſen, ſie zu verdunkeln, beſonders Deine
Vorgeſetzten! 14) Ueber kleine unſchaͤdliche Ge¬
faͤlligkeiten gegen die Großen. 15) Betragen,
wenn Vornehme und Reiche um Rath fragen.
16) Alle dieſe Vorſichtigkeits-Regeln werden
doppelt wichtig im Umgange mit vornehmen
Dummkoͤpfen. 17) Betragen, wenn man der
Liebling eines Erden-Goͤtzen iſt. 18) Auffuͤh¬
rung gegen einen geſtuͤrzten Großen. 19) Nicht
alle Großen der Erde haben die Fehler ihres
Standes. Es giebt edle, gute Menſchen unter
ih¬[] ihnen. 20) Noch etwas uͤber den Umgang der
Großen und Reichen unter einander!
Zweytes Capittel. Ueber den Umgang
mit Geringern.
1) Der Leſer wird zum Theil auf das ver¬
wieſen, was im achten Capittel des erſten Theils
geſagt worden. 2) Man ſey hoͤflich gegen Ge¬
ringere, auch dann, wenn man Ihrer nicht bedarf!
Man ehre das Verdienſt auch im niedern Stande,
auch in Gegenwart der Großen, und aus reiner
Abſicht! 3) Aber dieſe Hoͤflichkeit ſey weder
uͤbertrieben, noch beleidigend, noch abgeſchmackt!
4) Man huͤte ſich vor grenzenloſer Vertraulich¬
keit gegen Leute, die keine Erziehung haben!
5) Man ſoll ſich im Wohlſtande nicht raͤchen,
wenn Leute von niederm Stande uns im Un¬
gluͤcke nicht geachtet, ſondern unſern maͤchtigen
Feinden gehuldigt haben. 6) Man ſoll ſie nicht
mit leeren Verſprechungen, nicht mit falſchen
Hofnungen taͤuſchen. 7) Man muß auch ab¬
ſchlagen koͤnnen. 8) Zu viel Aufklaͤrung taugt
nicht fuͤr niedre Staͤnde.
Drittes Capittel. Ueber den Umgang mit
Hofleuten und ihres Gleichen.
1) Hierher gehoͤren die Bemerkungen uͤber
den Umgang mit Leuten, die in der ſo genann¬
ten großen Welt leben, uͤberhaupt. Bild der
dort herrſchenden Sitten. 2) Wer da kann, der
bleibe* 4[] bleibe fern von Hoͤfen und großen Cirkeln! Und
das ſteht oͤfter in unſrer Gewalt, als man gemei¬
niglich glaubt. 3) Will oder muß man aber in
der großen Welt auf immer oder auf einige Zeit
leben, ohne den Ton derſelben annehmen zu koͤn¬
nen; ſo giebt es doch Mittel, ſich geachtet zu
machen. Welche ſind dieſe? 4) Lebt man end¬
lich immer in der großen Welt; ſo ſoll man ſich
in derſelben nicht auszeichnen. 5) Wie weit man
in Nachahmung der Hofſitten gehn duͤrfe? 6)
Etwas uͤber den heutigen Hofton junger Leute.
7) Verachte nicht alles, was blos conventionel¬
len Werth hat! 8) Der beſſere Mann wird in
der großen Welt nicht leicht unangetaſtet bleiben.
Betragen dabey. 9) Sey in der großen Welt
zuverſichtlich, frey, und mache Dich gelten, doch
ohne Unverſchaͤmtheit und Prahlerey! 10) Man
meſſe ſein Betragen gegen Hofleute puͤnctlich nach
dem ihrigen gegen uns ab! Ueber Klatſchereyen.
11) Man ſey hoͤflich gegen ſie, mache ſich aber
fuͤrchten, ſetze ſich in Anſehn und Wuͤrde, und
ſage ihnen nach Gelegenheit die Wahrheit! 12)
Noch einige Vorſichtigkeits-Regeln uͤber Ver¬
traulichkeit und Offenherzigkeit. 13) Wie viel
groͤßere Vorſicht noch Derjenige beobachten
muͤſſe, welcher nicht blos in der großen Welt le¬
ben, ſondern auch in derſelben wuͤrkſam ſeyn
will. 14) Wozu das Leben in der großen Welt
nuͤtzen koͤnne.
Viertes Capittel. Ueber den Umgang
mit Gelehrten und Kuͤnſtlern.
1)[]
1) Was man heut zu Tage unter einem
Gelehrten und Kuͤnſtler verſteht. 2) Ob man
den Gelehrten nach ſeinen Schriften beurtheilen
koͤnne, und ob ein Schriftſteller auch im Um¬
gange immer anders reden muͤſſe, als gewoͤhn¬
liche Menſchen? Es iſt ſehr zu verzeyhn, wenn
ein Mann gern von ſeinem Fache redet. 3) Ei¬
nige Vorſichts-Regeln im Umgange mit Schrift¬
ſtellern. 4) Ueber den Umgang der Gelehrten
unter einander. 5) Man ſoll nicht prahlen mit
der Freundſchaft der Gelehrten, noch mit den
Brocken aus ihren Schriften. 6) Vorſicht im
Umgange mit Journaliſten und Anecdoten-
Sammlern. 7) Ueber den Umgang mit Dich¬
tern, Muſikern, Dilettanten, und wie ſich ein
Kuͤnſtler betragen ſolle, der heut zu Tage ſein
Gluͤck machen will. 8) Etwas uͤber das Schau¬
ſpieler-Leben. Warnung fuͤr den Juͤngling, der
ſein Leben den gefaͤlligen Muſen und dem Um¬
gange mit ihren Prieſtern widmet. 9) Wie
man ſich zu betragen habe, wenn man die Di¬
rection uͤber Tonkuͤnſtler und Schauſpieler fuͤhrt.
10) Man ſoll den jungen Kuͤnſtler nicht durch
Schmeicheley verderben. 11) Gluͤck im Um¬
gange mit dem aͤchten philoſophiſchen Kuͤnſtler,
beſchrieben.
Fuͤnftes Capittel. Ueber den Umgang
mit Geiſtlichen.
1) Bild eines redlichen Prieſters, im Ge¬
genſatze mit einem aͤchten Pfaffen. 2) Vor¬
ſichtigkeits-Regeln im Umgange mit Geiſt¬
li¬* 5[] lichen, ohne Unterſchied, 3) Betragen in Praͤ¬
laturen, Kloͤſtern, Stiftern und gegen Domherrn.
Sechſtes Capittel. Ueber den Umgang
mit Leuten von allerley Staͤnden, im
buͤrgerlichen Leben.
1) Etwas von Aerzten; welche man waͤh¬
len, und wie man ſich gegen ſie betragen ſolle?
2) Ueber Juriſten, und der Art mit ihnen zu
verfahren. 3) Ueber den Soldaten-Stand und
den Umgang mit Officiers. 4) Ueber Kauf¬
mannſchaft, den Umgang und den Handel mit
großen und kleinen Kaufleuten. 5) Etwas uͤber
Buchhaͤndler, Nachdrucker und dergleichen. 6)
Ueber Sprachmeiſter, Muſicmeiſter und derglei¬
chen. 7) Von dem Umgange mit Kuͤnſtlern
und Handwerksleuten. 8) Ueber Juden und
die Art mit ihnen zu verfahren. 9) Ueber die
Art, wie man Bauern und uͤberhaupt Land¬
leute behandeln muͤſſe.
Siebentes Capittel. Ueber den Umgang
mit Leuten von allerley Lebensart und
Gewerbe.
1) Mit Aventuriers von der unſchaͤdlichern
Art. 2) Mit denen von ſchlimmerer Gattung.
3) Etwas von Spielern; uͤber das Spiel und
von dem Betragen bey demſelben. 4) Ueber
myſtiſche Betruͤger, Geiſterſeher, Goldmacher
und[] und dergleichen, und uͤber die Anhaͤnglichkeit
unſers Zeitalters an Myſtic.
Achtes Capittel. Ueber geheime Verbin¬
dungen und den Umgang mit ihren
Mitgliedern.
1) Ueber Unnuͤtzlichkeit und Schaͤdlichkeit
geheimer Verbindungen. 2) Vorſichtigkeits-Re¬
geln, in Ruͤckſicht auf dieſelben. 3) Betragen,
wenn man ein Mitglied einer ſolchen Verbin¬
dung iſt.
Neuntes Capittel. Ueber das Betragen
gegen Leute, in allerley beſondern
Verhaͤltniſſen und Lagen.
1) Gegen Feinde. 2) Ueber den Umgang
mit Leuten, die einander feind ſind. 3) Ueber
die Art, Kranke zu behandeln. 4) Ueber das
Betragen gegen Arme, Leidende, Verlaſſene,
Verirrte und Gefallene.
Zehntes Capittel. Ueber den Umgang
mit Leuten von verſchiedenen Gemuͤths¬
arten, Temperamenten und Stim¬
mungen des Geiſtes und Herzens.
1)[]
1) Ueber die vier Haupt-Temperamente
und deren Miſchungen. 2) Ueber herrſchſuͤch¬
tige Leute. 3) Ueber Ehrgeizige. 4) Eitle.
5) Hochmuͤthige, im Gegenſatze von Stolzen.
6) Ueber ſehr empfindliche Leute. 7) Ueber
den Umgang mit Eigenſinnigen. 8) Mit Zank¬
ſuͤchtigen, Staͤnkern, und Solchen, die Parado¬
xie lieben. 9) Mit Jaͤhzornigen. 10) Mit
Rachgierigen. 11) Mit faulen und phlegmati¬
ſchen Leuten. 12) Mit mistrauiſchen, argwoͤh¬
niſchen, muͤrriſchen und verſchloſſenen Leuten.
13) Mit neidiſchen, haͤmiſchen, ſchadenfrohen,
misguͤnſtigen und eiferſuͤchtigen. 14) Ueber den
Geiz. 15) Ueber das Betragen gegen Undank¬
bare. 16) Gegen raͤnkevolle Leute und Luͤgner.
17) Gegen Windbeutel. 18) Gegen Unver¬
ſchaͤmte, Muͤſſiggaͤnger, Schmarotzer, Schmeich¬
ler und zudringliche Leute. 19) Gegen Schur¬
ken. 20) Gegen zu beſcheidene, zu furchtſame
Menſchen. 21) Gegen Unvorſichtige und Plau¬
derhafte, Vorwitzige und Neugierige, Zerſtreuete
und Vergeſſene. 22) Gegen Wunderliche und
Sonderlinge. 23) Ueber den Umgang mit
dummen, ſchwachen, uͤbertrieben gutherzigen,
leichtglaͤubigen und ſolchen Menſchen, die ge¬
wiſſe Liebhabereyen und Steckenpferde haben.
24) Mit muntern und ſatyriſchen Leuten. 25)
Mit Trunkenbolden, groben Wolluͤſtlingen und
andern laſterhaften Leuten. 26) Mit Enthu¬
ſiaſten, Ueberſpannten, Romanhaften, Kraft-
Genies und excentriſchen Leuten. 27) Etwas
von Andaͤchtlern, Froͤmmlern, Heuchlern und
aberglaͤubiſchen Leuten. 28) Von Deiſten,
Freygeiſtern und Religions-Spoͤttern. 29) Ue¬
ber die Art, wie man Schwermuͤthige, Tolle
und[] und Raſende behandeln muͤſſe. Geſchichte
zweyer Wahnſinnigen.
Eilftes Capittel. Ueber das Betragen
bey verſchiedenen Vorfaͤllen im menſch¬
lichen Leben.
1) In eigenen und fremden Gefahren.
2) Auf Reiſen. Einige Regeln, um bequem,
angenehm, wohlfeil und nuͤtzlich zu reiſen. 3)
Ueber das Betragen in Geſellſchaft betrunkener
Leute.
Zwoͤlftes Capittel. Ueber die Art mit
Thieren umzugehn.
1) Ob dieſer Gegenſtand hierher gehoͤre?
2) Ueber Grauſamkeit gegen Thiere. 3) Ue¬
ber abgeſchmackte Empfindeley, in Ruͤckſicht auf
Behandlung der Thiere. 4) Ueber das Ver¬
gnuͤgen an eingeſperrten Thieren. 5) Ueber
abgerichtete Thiere. 6) Ueber die Thorheit de¬
rer Leute, die mit Thieren, wie mit Menſchen
umgehen.
Dreyzehntes Capittel. Ueber den Um¬
gang mit ſich ſelbſt.
1) Es iſt nuͤtzlich und intereſſant, uͤber den
Umgang mit andern Menſchen, ſeine eigene Ge¬
ſell¬[] ſellſchaft nicht zu vernachlaͤſſigen. 2) Es kom¬
men Augenblicke, wo wir uns ſelbſt am noͤthig¬
ſten ſind. 3) Gehe eben ſo vorſichtig, fein,
redlich und gerecht mit Dir ſelber um, als mit
Andern! 4) Sorge fuͤr Deine Geſundheit,
aber verzaͤrtele Dich nicht! 5) Reſpectire Dich
ſelbſt, und habe Zuverſicht zu Dir ſelber! 6)
Verzweifle nicht bey dem Bewuſſtſeyn mangeln¬
der Vollkommenheiten, bey den Schwierigkei¬
ten, ein großer Mann zu werden! 7) Sey Dir
ein angenehmer Geſellſchafter! 8) Aber ſey Dir
auch kein Schmeichler, ſondern ein aufrichtiger
und gerechter Freund! Sey eben ſo ſtrenge ge¬
gen Dich, als Du gegen Andre biſt! 9) Wie
man Abrechnung mit ſeiner Moralitaͤt hal¬
ten ſolle.
Vierzehntes Capittel. Ueber das Ver¬
haͤltniß zwiſchen Schriftſteller und
Leſer.
1) Ueber den Schriftſteller-Beruf. Es
kann auch einem verſtaͤndigen Manne begegnen,
etwas Mittelmaͤßiges drucken zu laſſen, nie aber
etwas, das der Moralitaͤt ſchadet, Unſinn ver¬
breitet, und einen Andern vorſetzlich kraͤnkt. 2)
Was noch mehr dazu gehoͤre, um in der Welt
als Schriftſteller ſein Gluͤck zu machen. 3) Ue¬
ber das Betragen des Leſers gegen den Schrift¬
ſteller und uͤber Critic.
Funf¬[]
Funfzehntes Capittel. Noch einige allge¬
meine Vorſchriften fuͤr den Umgang
mit Menſchen.
1) Ueber den Schein der Vollkommenheit.
2) Ueber Selbſtſtaͤndigkeit. 3) Man ſoll die
Maͤngel Andrer nicht hervorziehn. 4) Schreibe
nicht auf Deine Rechnung das, wovon Andern
das Verdienſt gebuͤhrt! 5) Ueber Ordnung und
Puͤnktlichkeit. 6) Unterſchied im Aeuſſern Be¬
tragen gegen Menſchen von verſchiedener Art.
Sey immer der Nemliche im Umgange! 8)
Rede nicht zu viel von Dir ſelber, noch von
Deinen Werken! 9) Man ſoll ſich nicht ſelbſt
wiederſprechen; 10) Sich nicht wiederholen;
11) Keine Zweydeutigkeit vorbringen; 12)
Keine Gemeinſpruͤche; 13) Keine unnuͤtze Fra¬
gen; 14) Man ſoll Wiederſpruch ertragen
koͤnnen. 15) Wo ſoll man nicht von ernſthaf¬
ten Geſchaͤften reden? 16) Ueber kleine geſell¬
ſchaftliche Unſchicklichkeiten. 17) Man ſoll keine
Annecdoten nacherzaͤhlen; 18) Nicht in einem
Hauſe wieder plaudern, was man in dem an¬
dern wahrgenommen, 19) Noch etwas uͤber
Diſputirgeiſt, u. ſ. f. 20) Betragen, wenn
Andern unangenehme Dinge geſagt werden.
21) Mache niemand vergebliche Freude! 22)
Bekuͤmmre Dich nicht um das, was Dich nicht
angeht! 23) Waͤhle nicht zu Deinem Umgange
den Haufen der Malcontenten! 24) Verflechte
niemand in Deine Privat-Zwiſtigkeiten! 25)
Sey vorſichtig in Briefen, u. ſ. f! 26) Wuͤn¬
ſcheſt Du etwas in der Welt; ſo muſſt Du dar¬
um[] um bitten. 27) Intereſſire Dich fuͤr andre
Menſchen! 28) Beurtheile die Menſchen nach
kleinen Zuͤgen! 29) Sey vorſichtig im Tadel!
30) Ueber die Art ſich zu kleiden.
Sechzehntes Capittel. Schluß.
1) Anrede an die Leſer uͤber dies Buch.
2) Ueber den Nutzen deſſelben. 3) Anmerkun¬
gen uͤber den Satz: daß man aus den Menſchen
machen koͤnne, was man wolle. 4) Warum
der Verfaſſer die Fehler mancher Claſſen von
Leuten hat aufdecken muͤſſen, und was er noch
mehr haͤtte thun koͤnnen?
Erſtes Capitel.
Ueber den Umgang mit den Großen der
Erde, Fuͤrſten, Vornehmen und
Reichen.
1.
Ich habe mich im erſten Theile auf die natuͤr¬
lichſten Verhaͤltniſſe unter den Menſchen einge¬
ſchraͤnkt, und Regeln fuͤr den Umgang unter
Alten und Jungen, unter beyden Geſchlechtern,
Eltern und Kindern, Eheleuten, Geliebten,
Freunden, Verwandten, Herrn und Dienern,
Wirthen und Gaͤſten, Nachbarn, Wohlthaͤtern
und Verpflichteten, Lehrern und Schuͤlern, Glaͤu¬
bigern und Schuldnern gegeben; Jetzt fuͤhrt
mich die Ordnung der Gegenſtaͤnde zu den Be¬
trachtungen uͤber den Umgang mit Perſonen von
(Zweiter Th.) Aver¬[2] verſchiedenen Staͤnden und buͤrgerlichen Ver¬
haͤltniſſen, da ich dann, wie billig, mit den
Großen der Erde den Anfang mache.
Man wuͤrde ungerecht handeln, wenn man
behaupten wollte, alle Fuͤrſten, alle ſehr vorneh¬
men und alle ſehr reichen Leute haͤtten die nem¬
lichen Fehler mit einander gemein, durch welche
Viele von ihnen ungeſellig, kalt, unfaͤhig zum
aͤchten Freundſchaftsbande und ſchwer zu behan¬
deln im Umgange werden; allein man verſuͤn¬
digt ſich wahrlich nicht, wenn man ſagt, daß
dies bey den Mehrſten von ihnen der Fall iſt.
Sie werden in der Erziehung verwahrloſt, von
Jugend auf durch Schmeicheley verderbt, durch
Andre und ſich ſelbſt verzaͤrtelt. Da ihre Lage
ſie uͤber Mangel und Beduͤrfniß mancher Art
hinausſetzt; da ſie ſelten in Verlegenheit und
Noth gerathen; ſo lernen ſie nicht, wie noͤthig
ein Menſch dem Andern, wie ſchwer, allein zu
tragen, manches Ungemach in der Welt, wie ſuͤß,
theilnehmende, mitleidende Seelen zu finden,
und wie wichtig es iſt, Andrer zu ſchonen, da¬
mit man einſt zu ihnen ſeine Zuflucht nehmen
koͤnne. Sie lernen ſich ſelbſt nicht kennen, weil
man[3] man ſie, aus Furcht oder Hofnung, die wiedri¬
gen Eindruͤcke, welche ihre Fehler und Gebre¬
chen wuͤrken, nicht empfinden laͤſſt. Sie ſehen
ſich als Weſen beſſerer Art an, von der Natur
beguͤnſtigt, zu herrſchen und zu regieren, die
niedern Claſſen hingegen beſtimmt, ihrem Egois¬
mus, ihrer Eitelkeit zu huldigen, ihre Launen
zu ertragen, und ihren Phantaſien zu ſchmei¬
cheln. Auf die Vorausſetzung, daß die mehrſten
Großen und Reichen groͤßtentheils dieſem Bilde
gleichen, muß man ſein Betragen im Umgange
mit ihnen gruͤnden. Um deſto wohlthaͤtiger
zwar iſt die Empfindung, wenn man unter ihnen
Einen antrifft, der mit einem gewiſſen edeln Stol¬
ze, mit mehr Feinheit, Großmuth und beſſerer Cul¬
tur — Vortheile, welche freylich eine zweck¬
maͤßige, vornehme Erziehung gewaͤhren kann! —
alle Privat-Tugenden verbindet. — Und, noch
einmal! es giebt Deren, ſelbſt unter Fuͤrſten —
aber ſie ſind duͤnne geſaͤet, und nicht immer
macht der allgemeine Ruf ſie uns bekannt. Auf
dieſen und auf die Poſaunen der Zeitungsſchrei¬
ber und Journaliſten rathe ich, nicht zu ſehr zu
bauen. Ich habe oft mit inniger Betruͤbniß ge¬
ſehn, wie ſo ganz anders der allgemein bewun¬
derte,A 2[4] derte, als Wohlthaͤter des Menſchengeſchlechts
und Befoͤrderer alles Edeln, Großen und Schoͤ¬
nen geprieſene Erdengott und Liebling des Volks
in der Naͤhe ſo klein, ſo erbaͤrmlich war. Die
beſten Fuͤrſten ſind nicht ſelten die, von
denen am wenigſten geredet wird, ſo¬
wohl im Guten als im Boͤſen.
2.
Der Umgang mit Großen und Reichen
muß aber ſehr verſchieden ſeyn, je nachdem man
Ihrer bedarf, oder nicht, von ihnen abhaͤngig,
oder frey iſt. Im erſtern Falle darf man wohl
nicht immer ſo gaͤnzlich ſeinem Herzen folgen,
muß zu Manchem ſchweigen, ſich Manches ge¬
fallen laſſen, darf nicht ſo kuͤhn die Wahrheit
ſagen, obgleich ein feſter, redlicher Mann dieſe
Geſchmeidigkeit dennoch nie bis zu niedriger
Schmeicheley treiben wird. Indeſſen veraͤndern
kleine Umſtaͤnde, ſo wie die feinen Nuancen der
Charactere, das Verhaͤltniß, weswegen ich denn
in dem Folgenden alle Regeln fuͤr den Umgang
mit den Großen zuſammenfaſſen, und den Leſern
uͤberlaſſen werde, zu ordnen und auszuwaͤhlen,
was in jeder Lage anwendbar iſt.
3.[5]
3.
Ein allgemeiner Satz fuͤr alle Faͤlle iſt der:
Dringe Dich den Vornehmen und Reichen nicht
auf, wenn Du nicht von ihnen verachtet werden
willſt! Ueberlaufe ſie nicht mit Bitten fuͤr Dich
und Andre, wenn ſie Deiner nicht uͤberdruͤßig
werden, wenn ſie Dich nicht fliehn ſollen! Laß
Dich vielmehr von ihnen ausſuchen! Mache
Dich rar; doch dies alles ohne daß Deine Ab¬
ſicht merklich, ohne daß es gezwungen ſcheine!
4.
Suche nicht, Dir das Anſehn zu geben,
als gehoͤrteſt Du zu der Claſſe der Vornehmern,
oder lebteſt wenigſtens mit ihnen in engſter Ver¬
traulichkeit! Ruͤhme Dich nicht ihrer Freund¬
ſchaft, ihres Briefwechſels, ihres Zutrauens,
noch Deines Uebergewichts uͤber ſie! Wenn eine
ſolche Verbindung ein Gluͤck iſt — Ich meine,
man kennt hieruͤber meine Grundſaͤtze — ſo er¬
freue man ſich in der Stille dieſes unbequemen
Gluͤcks! Es giebt Menſchen, die durchaus da¬
fuͤr angeſehn ſeyn wollen, eine groͤßere Figur in
der Welt zu ſpielen, in hoͤherem Anſehn zu
ſtehn, als wuͤrklich der Fall iſt. Sie fuͤhren,
aufA3[6] auf Unkoſten ihres Geldbeutels, den Luxus der
Vornehmen und Reichen in ihren Haͤuſern, oder
draͤngen ſich in deren Cirkel ein, wo ſie eine
elende Figur ſpielen, nur hinter her laufen muͤſ¬
ſen, und keinen frohen Genuß haben, indeß ſie
lehrreichern und ſuͤßern Umgang gaͤnzlich ver¬
nachlaͤßigen, und gute Freunde und weiſe Men¬
ſchen von ſich entfernen. Die geizigſten Leute
ſparen zuweilen keine Koſten, wenn ſie Gelegen¬
heit finden koͤnnen, Zutritt in großen Haͤuſern
zu erlangen, und hungern gern Monathe hin¬
durch, um einmal einen Fuͤrſten bey ſich zu be¬
wirthen, der dieſes Opfer gar nicht gewahr wird,
nicht dankbar dafuͤr iſt, vielleicht Langeweile bey
ihnen hat, alles ſehr buͤrgerlich findet, und nach
vierzehn Tagen wohl gar den Namen des thoͤ¬
richten Wirths vergeſſen hat. Andre laſſen es
ſich wenigſtens angelegen ſeyn, die nichtsbedeu¬
tenden und verderbten Sitten der Großen puͤnct¬
lich nachzuahmen, ihre hochmuͤthige Herablaſ¬
ſung, ihren geſchaͤftigen Muͤßiggang, ihre Zer¬
ſtreuung, ihr Wichtigthun, ihre leeren Vertroͤ¬
ſtungen, ihre ſeelenloſen Geſpraͤche, ihre Zwey¬
zuͤngigkeit, Windbeuteley, Gefuͤhlloſigkeit, Nach¬
ahmung der Auslaͤnder, die Verachtung ihrer
Mut¬[7] Mutterſprache, ihre fehlerhafte Schreibart, ja!
ſogar ihre laͤcherlichen Gebehrden, Gewohnhei¬
ten und Gebrechen, ihr Stammlen, Liſpeln,
Achſelzucken, ihre Grobheit gegen Niedere,
Kraͤnklichkeit, ihr Podagra, ihre ſchlechte Haus¬
wirthſchaft, ihre dummen Launen, und mehr
dergleichen herrliche Vorzuͤge zu copieren, und
ſich eigen zu machen. Ihnen iſt der beſte Be¬
weis fuͤr die Guͤte einer Sache der, daß ſie ſa¬
gen: jedermann von Stande handle ſo und
nicht anders, als wenn das eine Narrheit heili¬
gen koͤnnte! — Handle ſelbſtſtaͤndig! Verleugne
nicht Deine Grundſaͤtze, Deinen Stand, Deine
Geburth, Deine Erziehung; ſo werden Hohe
und Niedre Dir ihre Achtung nicht verſagen
koͤnnen!
5.
Man traue nicht zu ſehr den freundlichen
Geſichtern der mehrſten Großen, glaube ſich
nicht auf dem Gipfel der Gluͤckſeligkeit, wenn
der gnaͤdige Herr uns anlaͤchelt, die Hand ſchuͤt¬
telt, oder uns umarmt! Vielleicht bedarf er Un¬
ſrer in dieſem Augenblicke, und behandelt uns
mit Verachtung, wenigſtens mit Kaͤlte, ſobald
die¬A4[8] dieſer Augenblick voruͤber iſt. Vielleicht fuͤhlt
er gar nichts bey ſeiner Freundlichkeit, wechſelt
Mienen, wie Andre Kleider wechſeln, iſt grade
in der Verdauungs-Stunde zu unthaͤtigem
Wohlwollen geſtimmt, oder will einen Andern
von ſeinen Sclaven dadurch demuͤthigen. Man
bleibe mit dieſer Gattung Menſchen immer in
ſeinen Schranken, mache ſich nicht gemein mit
ihnen, und vernachlaͤſſige nie die aͤuſſere unter¬
ſcheidende Hoͤflichkeit und Ehrerbiethung, die
man ihrem Stande ſchuldig iſt, ſollten ſie ſich
auch noch ſo ſehr herablaſſen! Fruͤh oder ſpaͤt
faͤllt es ihnen doch ein, ihr Haupt wieder empor
zu heben, oder ſie verabſaͤumen uns, wenn ein
andrer Schmeichler ſie an ſich zieht, und dann
ſetzt man ſich unangenehmen Demuͤthigungen
aus, die man mit weiſer Vorſicht vermeiden kann.
6.
Ueberſchreite nicht bey Deiner Gefaͤlligkeit
gegen die Großen der Erde, in deren Haͤnden
Dein buͤrgerliches Gluͤcke iſt, die Grenzen der
wahren Ehre! Es iſt eine große Verſuchung fuͤr
einen armen oder ehrbegierigen jungen Men¬
ſchen, der in dem Dienſt eines ſchwachen Fuͤr¬
ſten[9] ſten ſich emporſchwingen will, ob er nicht deſſen
raͤnkevollem Miniſter, dem regierenden Cam¬
merdiener, oder einer tiranniſchen Buhlerinn
huldigen ſoll; aber ſelten nimt das ein gutes
Ende. Solche Lieblinge ſtuͤrzen ſich fruͤh oder
ſpaͤt ſelber, und reiſſen dann ihre Creaturen mit
in ihr Verderben; Und waͤre auch das nicht; ſo
werden doch die groͤßten Vortheile die man da¬
durch erlangen koͤnnte, zu theuer erkauft, wenn
man dafuͤr die Achtung weiſer und rechtſchaffe¬
ner Maͤnner aufopfern muß; und das iſt gewiß
immer der Fall — Der grade Weg hingegen
fuͤhrt ohnfehlbar, wo nicht zu einem glaͤnzenden,
doch zu einem dauerhaften Gluͤcke.
7.
Auch laſſe man ſich von den Erden-Goͤt¬
tern nicht nur zu keinen unedeln Geſchaͤften mis¬
brauchen, ſondern ſey auch vorſichtig in allen
Dienſten, welche man ihnen erweiſt! Sie ma¬
chen leicht aus jeder Gefaͤlligkeit eine Pflicht,
und halten es nachher fuͤr Verabſaͤumung unſrer
Schuldigkeit, wenn wir zu einer andern Zeit
uns nicht grade aufgelegt zeigen, uns eben alſo
preiszugeben. Wenigſtens vergeſſen ſie leicht,
wasA5[10] was man fuͤr ſie gethan hat. Es bath mich
einmal der * * * von * * *, der ſonſt in
der That viel gute Eigenſchaften hatte, ihm
ein Paar Aufſaͤtze in franzoͤſiſcher und teutſcher
Sprache zu verfaſſen, die er bey einer gewiſſen
Gelegenheit oͤffentlich vorleſen wollte, um die
Gemuͤther zu lenken. „Es fehlt mir an Zeit,
„mein Lieber!“ ſagte er „ſonſt wuͤrde ich Sie
„nicht bemuͤhn; doch, Sie ſind auch in der¬
„gleichen Arbeiten geuͤbter, als ich.“ Ich
wendete einige Stunden Fleiß und Anſtrengung
daran, und als ich ihm das Ganze brachte,
druͤckte er mich an ſeine Bruſt, dankte mir un¬
ter vier Augen in den zaͤrtlichſten, herablaſſend¬
ſten Ausdruͤcken dafuͤr, und ſchwur, ſehr uͤber¬
trieben: meine Arbeit ſey ein Meiſterſtuͤck von
Beredſamkeit. Kurz! er gebehrdete ſich, als
wenn ich ihm den wichtigſten Dienſt geleiſtet
haͤtte, bath mich aber, die Sache zu verſchwei¬
gen, welches ich auch that. Nach ein Paar
Jahren kam ich des Morgens in * * * zu
ihm. Er erzaͤhlte mir allerley zu ſeinem eige¬
nen Lobe — ich hoͤrte demuͤthig zu — „Und
„das alles“ fuhr er fort „habe ich durch ein
„Paar Memoires bewuͤrkt, die mir, ohne mich
„zu[11] „zu ruͤhmen, nicht uͤbel gerathen ſind. Sie
„ſollen ſie ſelbſt leſen. Nehmen Sie ſie mit
„Sich nach Hauſe!“ Er uͤberreichte mir dar¬
auf meine eigne Geiſtes-Waare, nur von ſeiner
Hand geſchrieben, und ich ſteckte ſie ein, legte
aber zu Hauſe meine Concepte dazu, und ſchickte
ihm dann die Papiere zuruͤck. Er wurde ein
wenig beſchaͤmt, und wir ſcherzten nachher dar¬
uͤber — Allein ſo ſind auch die Beſten unter
ihnen!
Vor allen Dingen huͤte man ſich, von ih¬
nen in gefaͤhrliche Haͤndel gezogen zu werden!
Sehr gern pflegen ſie das zu thun, und ſchieben
dann entweder die Schuld auf uns, wenn die
Unternehmung nicht gelingt, oder laſſen uns gar
darinn ſtecken und alles Ungemach allein auf uns
fallen, wenn die Sache ſchief geht. Auch von
letzterer Art habe ich in den Jahren meiner un¬
vorſichtigen Jugend Erfahrungen gemacht, wo¬
von indeſſen die Erzaͤhlung hier um ſo weniger
Platz finden kann, da ich mir feſt vorgeſetzt habe,
keine Anecdote einzumiſchen, wobey eigentlich
irgend Jemandes Character in ein ſchlechtes Licht
geſetzt wuͤrde. Kurz! Man laſſe ſich ihre Ge¬
heim¬[12] heimniſſe nicht mittheilen! Sie ſchonen des Man¬
nes, der um ihre Heimlichkeiten weiß, nur ſo
lange, als ſie Seiner ohnumgaͤnglich beduͤrfen;
aber ſie fuͤrchten ihn, und ſuchen ſich von ihm
loszumachen, ſobald ſie koͤnnen, moͤgte man ih¬
nen auch noch ſo deutlich zeigen, daß man un¬
faͤhig iſt, dies Uebergewicht und ihr Zutrauen
zu misbrauchen.
8.
Ueberhaupt darf man auf die Dankbarkeit
der mehrſten Vornehmen und Reichen, ſo wie
auf ihre Verſprechungen, nicht bauen. Opfre
ihnen alſo nichts auf! Sie fuͤhlen den Werth
davon nicht, glauben alle andre Menſchen ſeyen
ihnen einen ſolchen Tribut ſchuldig, fuͤr den
Schutz, fuͤr die gnaͤdigen Blicke, ja! fuͤr eine
ungeſtoͤhrte Exiſtenz, oder man wolle dadurch
kleine Vortheile erringen. Schenke ihnen alſo
auch nichts! Das heiſſt einen Tropfen koͤſtlichen
Balſams in einen Eymer truͤben Waſſers fallen
laſſen. Ich beſaß ein altes koſtbares Gemaͤlde;
ein geſchickter Maler ſchaͤtzte den Werth deſſelben
auf hundert Piſtolen. Die Haͤlfte dieſer Summe,
die ich leicht dafuͤr bekommen haben wuͤrde, waͤre
bey[13] bey meinen damaligen haͤuslichen Umſtaͤnden mir
aͤuſſerſt nuͤtzlich geweſen; mein gutmuͤthiges Tem¬
perament aber, oder vielmehr meine Thorheit
verleitete mich, das Gemaͤlde dem Durchlauch¬
tigſten * * * von * * * zu ſchenken,
welcher es auch annahm. Ich dachte dadurch
nichts zu erſchleichen, aber theils wollte ich die¬
ſem Fuͤrſten hiermit meine Zuneigung bezeugen,
theils hoffte ich, da ich im Begriffe ſtand, ihn
um etwas zu bitten, das er mir, weil er mir's
verſprochen, laͤngſt ſchuldig war, er werde ſich
nun endlich ſeines Worts erinnern, ſo oft er das
Gemaͤlde erblickte; Allein ich betrog mich. Er
umarmte mich, als ich zu ihm kam, und zeigte
mir den Ehrenplatz, welchen er meinem Geſchenke
angewieſen, doch ſein Verſprechen erfuͤllte er
nicht, und als ich mich nach Jahres Friſt eines
Abends, zugleich mit einem Geſandten, dem er
ſeine Schaͤtze der Kunſt zeigte, in ſeinem Cabi¬
nette befand; ſagte er dieſem Fremden in mei¬
ner Gegenwart, indem er von meinem theuren
Gemaͤlde redete! „Es iſt wahrlich ein ſchoͤnes
„Stuͤck, und ich bin ziemlich wohlfeil daran
„gekommen.“ — Er hatte alſo vergeſſen, daß
ich es war, der ihm dieſen ſehr wohlfeilen
Preis[14] Preis gemacht hatte, und ich beſeufzte die ver¬
ſchwundene Hofnung und die verlohrne Summe,
von welcher ich mit den Meinigen eine Zeitlang
haͤtte leben koͤnnen.
Eben ſo wenig rathe ich, den Großen Geld
zu leyhen, oder von ihnen zu borgen. Im er¬
ſtern Falle ſehen ſie nicht nur ihre Glaͤubiger als
Wucherer und als Solche an, die ſich eine Ehre
daraus machen muͤſſen, den gnaͤdigen Herrn mit
ihrem Vermoͤgen aufzuwarten, ſondern auch,
wenn ſie ſaumſelig in Wiederbezahlung der
Schuld ſind, wie man denn das ſehr oft erlebt;
(da ſie mehrentheils groͤßern Aufwand machen,
und unordentlicher in ihren haͤuslichen Geſchaͤf¬
ten zu ſeyn pflegen, als ſie ſollten) ſo hat man
unerhoͤrte Weitlaͤuftigkeiten, hat zuweilen Muͤhe,
Gerechtigkeit gegen ſie zu erlangen, und macht
ſich wohl noch obendrein eine maͤchtige Parthey
zu Feinden. Im andern Fall aber, nemlich
wenn man von ihnen borgt, wagt man, tauſend¬
faͤltig ihr Sclav zu werden.
9.
Trage nichts dazu bey, ſie und ihre Kinder
noch mehr zu verderben, moraliſch zu verſchlim¬
mern![15] mern! Schmeichele ſie nicht! Naͤhre nicht ihren
Stolz, ihre Ueppigkeit, ihre Eitelkeit, ihren
Hang zu nichtigen und wolluͤſtigen Freuden! Be¬
ſtaͤrke die Großen nicht in den Grundſaͤtzen von
angebohrnen Vorzuͤgen, von Herrſchers-Rechten,
von Geſalbtheit und dergleichen Grillen! Heuchle
nicht! Verleugne nicht Wahrheit, ſelbſt die bittre
Wahrheit nicht! Sey freymuͤthig, aber ohne
grob zu werden, und ohne Dich ſelbſt zu Grunde
zu richten! Nimm Dich der verkannten Unſchuld,
des verleumdeten Edeln, des durch Hof-Raͤnke
verſchwaͤrzten Ehrenmanns an; doch mit Vor¬
ſicht, ohne ſeine Feinde dadurch noch mehr zu
erbittern, und ſo viel Deine Lage es Dir erlaubt!
Befoͤrdere, unterſtuͤtze, wo Klugheit es geſtattet,
die Wuͤnſche, den guten Ruf und die billigen Ge¬
ſuche Derer, die zu ſchuͤchtern, zu arm, zu be¬
ſcheiden, oder zu ſehr niedergedruͤckt, verkannt,
von zu geringem Stande ſind, um ſich den Pal¬
laͤſten zu naͤhern! Man ſollte es kaum glauben,
welchen Einfluß die Reden eines verſtaͤndigen,
allgemein geſchaͤtzten Mannes auf dieſe Men¬
ſchen haben koͤnnen, ſowohl im Guten als Boͤ¬
ſen, wie gern ſie alles zum Vortheil ihres Duͤn¬
kels auslegen, und wie viel man auf ſie wuͤr¬
ken[16] ken kann, wenn auch die Folgen nicht ſichtbar
werden.
10.
Ueberhaupt kann man kaum vorſichtig genug
in ſeinen Reden mit ihnen ſeyn. Man enthalte
ſich daher in ihrer Gegenwart aller nachtheiligen
Urtheile uͤber andre Leute, aller Mediſance! Sie
pflegen dergleichen ganz gern zu hoͤren, aber die
Folgen ſind oft ſehr ungluͤcklich. Zuerſt ſetzt
man dadurch ſich und Andre in ihren Augen herab,
denn ſie lachen zwar mit, haſſen aber doch den
Laͤſterer und Ausſpaͤher fremder Fehler, bey dem
heimlichen Bewuſſtſeyn ihrer eigenen vielfachen
Gebrechen, (ſo gern ſie dies auch unterdruͤcken)
und da ſie ſchon alle uͤbrigen Menſchen verach¬
ten; ſo waͤchſt dieſe Verachtung durch Aufde¬
ckung fremder Schwachheiten. Sodann mis¬
brauchen ſie wohl gelegentlich unſern Namen,
compromittiren uns, indem ſie unſern Einfall
nacherzaͤhlen, hetzen uns mit Andern zuſammen.
Endlich weiß man nicht, ob nicht zuweilen das
zeitliche Gluͤck ſolcher Menſchen, von denen
man nachtheilige Begriffe erweckt, in ihren
Haͤnden iſt, und da erſtaunt man, wenn man
er¬[17] erfaͤhrt, wie oft ein einziges, ohne boͤſe Abſicht
hingeworfenes Wort feſte Wurzel faſſt, und nach
langer Zeit noch die ſchaͤdlichſten, ungluͤcklichſten
Folgen haben kann. Das Gute gleitet auf ih¬
ren untheilnehmenden Herzen ab, das Boͤſe hin¬
gegen ſetzt ſich feſt, und wird ſo leicht nicht aus¬
geloͤſcht. Ich koͤnnte davon die ſonderbarſten
Beyſpiele anfuͤhren, wenn ich nicht fuͤrchtete,
dadurch die Geduld der Leſer zu ermuͤden. Am
aller vorſichtigſten aber ſoll man in ſeinen Ge¬
ſpraͤchen uͤber andre Perſonen von hoͤherem
Stande ſeyn. Obgleich die Erden-Goͤtter ſich
unter einander ſelten lieben, ſondern mehren¬
theils durch allerley Leidenſchaften getrennt ſind;
ſo hoͤren ſie doch nicht gern, daß man die privi¬
legierten Lieblinge des Himmels in ihrer Gegen¬
wart ohne Ehrerbiethung nennt. Uebrigens
wollen die Vornehmen und Reichen angenehm
unterhalten und in froͤhliche Laune geſetzt ſeyn.
Thue dies auf unſchuldige Weiſe, wenn Dir an
ihrer Gunſt gelegen iſt! Aber erniedrige Dich
nicht zu ihrem beſoldeten Spaßmacher, der
Schwaͤnke liefern muß, ſo oft ſie winken, und
von dem ſie kein vernuͤnftiges Wort hoͤren moͤgen!
(Zweiter Th.) B11.[18]
11.
In den Herzen der mehrſten Großen wohnt
Mistrauen. Es herrſcht bey ihnen der Ge¬
danke, alle uͤbrigen Menſchen haͤtten einen
Bund gegen ſie gemacht. Deswegen ſehen ſie
es ſo ungern, wenn unter Denen, welche ihnen
unterworfen ſind, enge Freundſchaften entſtehen.
Wer ſich um Fuͤrſten und Vornehme nicht zu
bekuͤmmern braucht, der kann ſich hieruͤber gaͤnz¬
lich hinaus ſetzen, Verbindungen nach ſeinem
Herzen ſchlieſſen, und uͤberhaupt wird kein red¬
licher Mann, aus niedriger Gefaͤlligkeit gegen
irgend einen Beſchuͤtzer und Goͤnner, einen
wahren Freund vernachlaͤſſigen, noch einen wuͤr¬
digen Mann, der ihm die Hand reicht, von ſich
ſtoßen. Wer aber an Hoͤfen ſein Gluͤck machen
will, der thut doch wohl, wenn er vorſichtig in
der Wahl ſeines Umgangs, ſeiner Vertraueten
und der Geſellſchaften iſt, welche er am haͤufig¬
ſten beſucht. Es herrſchen da immer Partheyen
und Cabalen, in welche ein wohlwollendes, theil¬
nehmendes Herz gar zu leicht hineingezogen
wird; Und wenn nun eine dieſer Partheyen
uͤber die andre ſiegt; ſo muß oft der Unſchul¬
digſte, wenn er nur irgend Mitwiſſender bey
dem,[19] dem, was vorgefallen, geweſen iſt, die Zeche be¬
zahlen helfen. Ich habe an einem Orte, wo ich
mich wahrlich — wieder meine ſuͤndliche Natur
— aͤuſſerſt vorſichtig aufgefuͤhrt hatte, unbe¬
ſchreiblichen Verdruß blos dadurch gelitten, daß
man muthmaßte, ich habe eine gewiſſe Sache,
die vorgegangen, gewuſſt, oder wenigſtens ge¬
merkt, weil ich viel mit den Perſonen umgieng,
welche darinn verwickelt waren. Und doch
konnte man leicht ſchlieſſen, daß ich keine Rolle
dabey geſpielt, ja! daß ich dieſe Sache nicht
eher erfahren haben konnte, als bis ſie ſchon ge¬
ſchehn, folglich durch meinen Rath oder An¬
gabe nicht mehr zu hindern geweſen. Man
haͤtte mir alſo meine Verſchwiegenheit in jedem
Betrachte und auch deswegen zum Verdienſte
anrechnen ſollen, weil ich meine Freunde nicht
verrathen hatte. Man haͤtte uͤberlegen ſollen,
daß ich ein freyer, dienſt- und pflichtloſer Menſch
war, folglich keine Obliegenheit hatte, den Fis¬
cal oder Angeber zu machen, und mich in ſolche
Haͤndel zu miſchen — Aber man iſt denn nicht
ſo billig, und ich rathe angelegentlichſt, an Hoͤ¬
fen ſich zu keiner Parthey merklich zu ſchlagen,
ſondern ſeinen graden Gang fortzugehn, und
ſichB 2[20] ſich um nichts zu bekuͤmmern, was uns nicht
unmittelbar betrifft, hoͤflich gegen jedermann,
vertraulich aber nur unter vier Augen gegen die
Allergepruͤfteſten zu ſeyn.
12.
Rede mit den Großen der Erde ohne Noth
nicht von Deinen haͤuslichen Umſtaͤnden, von
Dingen, die nur perſoͤnlich Dich und Deine
Familie angehen! Klage ihnen nicht Dein Un¬
gemach! Vertraue ihnen nicht den Kummer
Deines Herzens! Sie fuͤhlen ja doch kein war¬
mes Intereſſe dabey, haben keinen Sinn fuͤr
freundſchafliche Theilnahme; Es macht ihnen
Langeweile; Deine Geheimniſſe ſind ihnen nicht
wichtig genug, um ſie treu zu bewahren; Im¬
mer meinen ſie, man wolle bey ihnen betteln,
und ſie verachten den Mann, der nicht gluͤcklich,
nicht frey iſt. Von Jugend auf glauben ſie, je¬
dermann mache Plan auf ihren Geldbeutel, auf
ihre Wohlthaten. Ueberhaupt ſehen uns die
Leute von dem Augenblicke, da wir etwas zu
ſuchen, Andrer zu beduͤrfen ſcheinen, mit ganz
andern Augen an, als vorher. Man laͤſſt uns
Gerechtigkeit wiederfahren, ja! man zeigt ſich
be¬[21] bezaubert von unſern angenehmen Talenten, von
unſern Kenntniſſen, von unſrer Herzensguͤte,
von den glaͤnzenden Vorzuͤgen unſers Geiſtes,
ſo lange wir mit allen dieſen ſchoͤnen Eigenſchaf¬
ten nichts als hoͤfliche Behandlung und Gefaͤl¬
ligkeit verdienen wollen, ſo lange wir als Fremde,
als unabhaͤngige Menſchen niemand im Wege
ſtehen, niemand verdunkeln; Aber viel genauer,
ſtrenger und unbilliger faͤngt man an uns zu
beobachten und zu richten, wenn wir unſre Vor¬
zuͤge im Staate gelten machen und die erlaubten
Vortheile damit erringen wollen, worinn ſich
ſo gern die vornehmen Dummkoͤpfe und deren
Creaturen theilen. Am beſten wird man von
den Vornehmen und Reichen behandelt, wenn
ſie erkennen, daß man Ihrer gar nicht bedarf;
wenn man ihnen dies auf ſeine Art zeigt, ohne
ſich deſſ laut zu ruͤhmen; wenn ihnen im Ge¬
gentheil unſre Huͤlfe, unſre Einſicht unentbehrlich
iſt; wenn wir dabey nie die Beſcheidenheit und
aͤuſſere Huldigung auſſer Augen ſetzen; wenn
unſer Scharfſinn, unſre groͤßere Weisheit, unſre
Feſtigkeit und Gradheit ihnen Ehrerbiethung
einfloͤßt, ohne daß ſie uns eigentlich fuͤrchten;
wenn wir uns bitten, uns aufſuchen laſſen, nicht
aberB 3[22] aber unſern Beyſtand aufdringen — Einen ſol¬
chen Mann ſchonen ſie ſorgfaͤltig —
13.
Huͤte Dich aber, einen Großen, der An¬
ſpruͤche auf Verſtand, Witz, hohe Tugenden, Ge¬
lehrſamkeit, Kunſtgefuͤhl, oder worauf es immer
ſey, macht, huͤte Dich, ihn deutlich, oder gar
in Gegenwart Andrer merken zu laſſen, daß Du
Dir bewußt biſt, Du uͤbertreffeſt, Du uͤberſe¬
heſt, Du verdunkelteſt ihn! In der Stille darf
er das wohl fuͤhlen, aber er muß es nur allein
zu fuͤhlen glauben. Vor allen Dingen iſt dieſe
Vorſicht noͤthig gegen Vorgeſetzte, die ungeſchick¬
ter in ihrem Fache ſind, als Du. Gern moͤgen
ſie Dir Deine beſſern Einſichten, gleichſam als
pruͤften ſie Dich, abfragen, ſich zu eigen machen,
Dir nach Gelegenheit Deine eigene Waare wie¬
der verkaufen; doch wehe Dir, wenn Du das
ruͤgſt, wenn Du nur einmal thuſt, als merkteſt
Du das, oder gar, wenn Du den unterrichten¬
den Ton gegen ſie annimſt! — Wie werden ſie
Dir das Leben ſauer machen! Wie viel werden
ſie von Dir fordern, das ſie ſelbſt nie zu leiſten
im Stande ſeyn wuͤrden, damit ſie Gelegenheit
haben, Dich eines Fehlers zu zeugen!
14.[23]
14.
Es giebt aber geringe, unſchuldige Gefaͤllig¬
keiten gegen die Großen der Erde, die man ih¬
nen, ohne ſich ein Gewiſſen daraus zu machen,
erweiſen, und unwichtige Forderungen von ihrer
Seite, die man ohne niedrige Schmeicheley er¬
fuͤllen kann. Dieſe verzogenen Schooßkinder
des Gluͤcks ſind nemlich von Jugend auf daran
gewoͤhnt worden, daß man ſich in Kleinigkeiten
nach ihren Phantaſien fuͤgt, ihren Geſchmack
zur Richtſchnur annimmt, ihre Liebhabereyen
artig findet, und alles vermeidet, was ihnen aus
Vorurtheil oder kindiſchem Eigenſinne zuwieder
iſt. Auch die Beſten unter ihnen ſind von ſol¬
chen Grillen und Einbildungen nicht ganz frey,
und wenn man nun auf einen ſonſt redlichen,
edeln Fuͤrſten dadurch zum Guten wuͤrken kann,
daß man ſich hierzu bequemt, oder wenn unſer
und unſrer Familie zeitliches Gluͤck in ſeinen
Haͤnden iſt — wer wird da nicht nachgebend ſeyn,
und ſich ein wenig nach einem Solchen richten?
So reden zum Beyſpiel manche Fuͤrſtenkinder
ſehr geſchwind und undeutlich und ſehen es nicht
gern, wenn man noch einmal fraͤgt, ſondern
wollen gleich verſtanden ſeyn. Freylich waͤre es
beſ¬B 4[24] beſſer, wenn man ihnen dieſe Unart in der Kind¬
heit abgewoͤhnt haͤtte; aber es iſt nun einmal
nicht geſchehn; oder ſie lieben Pferde, Hunde,
bunte Soldaͤtgen, Schauſpiele, Pfeifenkoͤpfe,
Bilder, Geiger, Fidler, componieren auch wohl
ſelbſt, bauen, pflanzen, errichten Accademien,
Muſaͤa und dergleichen. — Wie unſchuldig iſt
es nicht da, zuweilen mit einzuſtimmen, einige
Kennerſchaft zu zeigen? Nur muß man ſie in
ihren Lieblings-Faͤchern nicht uͤberſehn, nicht,
uͤbertreffen wollen, welches leicht zu geſchehn
pflegt, da ſie oft von den Dingen, womit ſie
ſich am mehrſten beſchaͤftigen, am wenigſten ver¬
ſtehen, (wie ſich denn uͤber den vorſichtigen Um¬
gang mit vornehmen Componiſten, und unwiſſen¬
den Maͤcenaten ein weitlaͤuftiges Capittel ſchrei¬
ben lieſſe.) Auch was gewiſſe Kleidertrachten,
Manieren, den Ton der Stimme, was Styl,
Handſchrift und mehr ſolche Dinge betrifft, dar¬
uͤber haben ſie zuweilen gewiſſe eigene Meinun¬
gen, die man ſchonen muß, wenn man ſich ih¬
nen nicht unangenehm machen will. Uebrigens
verſteht ſich's, daß dieſe Gefaͤlligkeit aufhoͤren
ſoll, ſobald dieſelbe ſchaͤdlichen Einfluß auf den
Character haben kann, wenn ſie dadurch im Egois¬
mus[25] mus merklich beſtaͤrkt, von ernſthaften Beſchaͤf¬
tigungen abgezogen, unbillig gegen Andre, un¬
gerecht gegen wuͤrkliche Verdienſte werden, oder
wenn ihre Liebhabereyen von ſolcher Art ſind,
daß dadurch ihr Herz verwildert, verhaͤrtet, grau¬
ſam wird.
15.
Fuͤrſten, Vornehme und Reiche pflegen zu¬
weilen ſich ſo weit zu Leuten von geringerm
Stande herabzulaſſen, daß ſie dieſelben um Rath
fragen, oder ſie um Beurtheilung ihrer Spiel¬
werke, ihrer Schriften, Anlagen, Plane, Mei¬
nungen und dergleichen bitten. Ich empfehle
da Behutſamkeit, und daß man ſich erinnere,
wie uͤbel das Rathgeben und Warnen dem ar¬
men Gil Blas von Santillana in dem Hauſe
des Cardinals bekam, obgleich Dieſer ihn ſo drin¬
gend aufgefordert hatte, ihm zu erzaͤhlen, was
die Leute von ſeinen Predigten redeten. So
wie faſt alle uͤbrigen Menſchen; ſo legen beſon¬
ders die Großen der Erde uns mehrentheils nur
darum ſolche Dinge zur Beurtheilung vor, da¬
mit wir ſie loben ſollen, und fragen nicht eher
um Rath, als bis ſie ſchon entſchloſſen ſind uͤber
das, was ſie thun wollen.
B 516.[26]
16.
Noch moͤgten alle dieſe Regeln der Vor¬
ſichtigkeit nicht ſo gefaͤhrlich zu uͤbertreten ſeyn
im Umgange mit ſolchen Perſonen, die zwar
nicht frey von den Fehlern einer vornehmen Er¬
ziehung, uͤbrigens aber gut geartet, wohlwollend
und verſtaͤndig ſind; allein doppelt wichtig wird
ihre Befolgung, wenn man es mit vornehmen
Pinſeln, mit Menſchen zu thun hat, die zugleich
hochmuͤthig, unwiſſend, dumm, von Jedem, wie
ein Rohr, hin und her zu leiten, mistrauiſch,
kalt und rachſuͤchtig ſind, und ich bedaure jede
Chriſten- Seele, die von dergleichen kleinen und
großen Tirannen abhaͤngen muß.
17.
Wenn Du das glaͤnzende Ungluͤck haſt, der
Liebling eines ſchwachen Erden- Goͤtzen zu ſeyn;
ſo bereite Dich nicht nur ſelber dazu vor, daß
dieſe Freude nicht lange dauern, daß ein Schmeich¬
ler Dich aus Deinen Poſten verdraͤngen wird;
ſondern zeige auch ſowohl Deinem Sultane,
daß Du nicht gaͤnzlich von ſeinen Blicken lebſt,
als auch dem Volke, wie wenig Du Dir auf die¬
ſen nichtigen Vorzug zu gut thuſt, wie unwe¬
ſent¬[27] ſentlich zu Deiner moraliſchen Exiſtenz ein ſol¬
cher unbedeutender, zufaͤlliger Glanz iſt! Wenn
Du dann in tiefe Ungnade faͤllſt; ſo fliehen doch
wenigſtens die Beſſern nicht vor Dir, wie vor
einem vernichteten, verweſeten Menſchen, und
der undankbare Deſpot fuͤhlt, daß es noch Leute
giebt, die Seiner entbehren koͤnnen. Baue
uͤberhaupt nicht auf die Freundſchaft, Feſtigkeit
und Anhaͤnglichkeit der Großen! Sie achten
Dich, ſo lange ſie Deiner beduͤrfen, ſind wan¬
kelmuͤthig, glauben lieber das Boͤſe, als das
Gute, und der Letzte hat bey ihnen immer Recht.
18.
Wenn Dein Beſchuͤtzer, wenn ein Großer,
den Du in der Zeit ſeines aͤuſſern Gluͤcks, aus
Noth, Hoͤflichkeit, Politic oder gutem Willen,
gehuldigt haſt, von ſeiner Hoͤhe herabſtuͤrzt;
wenn er Stand, Vermoͤgen, Einfluß oder Glanz
verliehrt; ſo ſchlage Dich nicht zu der Parthey
der Niedertraͤchtigen, die dem Ungluͤcklichen, der
ihnen zu nichts mehr helfen kann, den Ruͤcken
zukehren! Verdient er Deine Hochachtung; ſo
zeige ihm nun mit doppeltem Eifer, daß Dein
Herz nicht von der Stimme des Poͤbels ab¬
haͤngt;[28] haͤngt; Iſt er aber Deiner Zuneigung unwerth;
ſo ſchone Seiner wenigſtens darum, weil er von
jedermann verlaſſen iſt, und alſo zu Mishand¬
lungen ſchweigen muß! Raͤche Dich auch eben
deswegen nie an Dem, von welchem Du ver¬
folgt, gedruͤckt worden, ſo lange er Gewicht
hatte! Sammle vielmehr feurige Kohlen auf
ſein Haupt, damit er in ſich gehe, und wo moͤg¬
lich durch Großmuth gebeſſert werde!
19.
Und nun noch einmal! Wenn ich hier ſehr
viel zum Nachtheile des Characters der mehrſten
Großen und Reichen geſagt habe; ſo bin ich doch
weit entfernt, dies ohne Unterſchied auf alle Per¬
ſonen der hoͤhern Claſſen ausdehnen zu wollen.
Es iſt mir immer aͤuſſerſt zuwieder geweſen, zu
ſehn, wie manche unſrer armſeligen neuern
Schriftſteller es ſich zum Geſchaͤfte machen, auf
die hoͤhern Staͤnde zu ſchimpfen. Viele von
ihnen ſind ſo wenig mit den erhabnern Menſchen-
Claſſen bekannt, daß es die hoͤchſte Impertinenz
verraͤth, wenn ſie uͤber Sitten und Denkungs¬
art derſelben ein Urtheil wagen. Von ihren
Dachſtuͤbchen herunter ſchielen ſie neidiſch und
haͤ¬[29] haͤmiſch nach den Pallaͤſten der Gluͤcklichern hin¬
unter; Wenn, bey grober Koſt und dem Waſſer¬
kruge, die ſuͤßen Duͤfte aus den Kuͤchen und
Kellern Derer, die im Ueberfluſſe leben, zu ih¬
nen hinaufſteigen; ſo reizt das ihre Nerven, er¬
regt ihre Galle; Es aͤrgert ſie, daß ihre Gluͤcks-
Umſtaͤnde ihnen nicht wie Jenen erlauben, ihre
Leidenſchaften zu befriedigen; Sie verwuͤnſchen
den Mann im vergoldeten Wagen, den ſie zu
Fuße nicht einholen koͤnnen, ſchimpfen auf den
hartherzigen Maͤcen, der nicht eben ſo uͤberzeugt
ſcheint von ihren großen Verdienſten, als ſie ſelbſt
es ſind, und fluchen auf das Geſchick, welches
die Guͤter der Erde ſo ungleich ausgetheilt hat.
Da muͤſſen es dann die armen Fuͤrſten, Mini¬
ſter, Edelleute und Reichen entgelten, die ſie als
Tirannen, Boͤſewichte, Thoren und hartherzige
Unterdruͤcker alles deſſen, was edel und gut iſt,
abſchildern. Ein ſo fanatiſcher Eifer kann wohl
nie mein Gehirn ergreifen. Selbſt im Ueber¬
fluſſe und mit großen Erwartungen aufgewachſen,
kenne ich recht gut die Vortheile und Nachtheile
einer reichen und vornehmen Erziehung. Meine
nachherigen Schickſale aber, mein Aufenthalt
an Hoͤfen und der Umgang mit Menſchen aller
Art,[30] Art, das alles hat mich gelehrt, wie noͤthig es
ſey, Denen, die nicht durch wiedrige Erfahrun¬
gen vollends ausgebildet werden, und die ſo ſel¬
ten reine, lautre, unpartheyiſche Wahrheit hoͤ¬
ren, ohne Heucheley, doch mit Beſcheidenheit
und ohne Leidenſchaft zu ſagen, was ihnen ſo
noͤthig iſt zu hoͤren. Viele von ihnen ſind wahr¬
lich herzlich gut; Selbſt die Schwaͤchern haben
oft manche Temperaments-Tugend, deren Wuͤr¬
kungen fuͤr die Welt viel wohlthaͤtiger werden
koͤnnen, als die ſanften Aufwallungen aͤrmerer
und ohnmaͤchtigerer Sterblichen. Sie haben
von ihrer erſten Jugend an, alle Muße und Ge¬
legenheit, ihren Geiſt zu bilden, ſich Talente zu
erwerben, Welt und Menſchen kennen zu lernen,
haben Veranlaſſungen in Menge, Gutes zu thun,
die Freuden der Wohlthaͤtigkeit zu ſchmecken.
Ihr Character wird nicht niedergedruͤckt, ver¬
ſchoben durch Ungluͤck und Mangel, durch die
Nothwendigkeit, ſich zu ſchmiegen und zu beugen.
Und wenn von einer Seite Schmeicheley ſie leicht
verderben kann; ſo iſt von der andern der Gedan¬
ke, daß jede ihrer edeln Handlungen bemerkt wird,
und ihre Verirrungen oft noch der ſpaͤten Nachwelt
vorerzaͤhlt werden, ein Sporn mehr, groß und
vor¬[31] vortrefflich zu werden. Auch nuͤtzen Viele von
ihnen alle dieſe Triebfedern, und es iſt ein Gluͤck,
an der Seite eines Fuͤrſten zu leben und Einfluß
auf ihn zu haben, der die Wuͤrde ſeines Stan¬
des kennt und ſich ſeines hohen Berufs werth
zeigt. Ich kenne deren Einige, die es auch ge¬
wiß nicht uͤbel aufnehmen, wenn man ihnen die
Klippen zeigt, an welchen ſo Viele von ihnen
ſcheitern.
20.
Zum Schluſſe noch ein Paar Worte uͤber
den Umgang der Großen und Reichen unter ſich!
Sie verderben ſich groͤßtentheils Einer den An¬
dern. Die Kleinern beeifern ſich, es den Groͤ¬
ßern nach, ja! es ihnen an Aufwand und uͤbel
verſtandener Erhabenheit zuvorzuthun, und ſo
verewigen ſie ihre Thorheiten, welche von noch
kleinern Magnaten bis auf den Geringſten, der
nur einen Schuhputzer in ſeiner Livree herum¬
laufen hat, nach moͤglichſten Kraͤften nachgeahmt
werden. Luſtige Beyſpiele von dieſer Art ſieht
man an den kleinen teutſchen Hoͤfen; wie ſie
einander aufpaſſen, ſich wechſelſeitig controllie¬
ren, beneiden, zu uͤbertreffen ſuchen; wie, wenn
der[32] der durchlauchtige Herr in Y * * * an ſei¬
nem Geburtstage einen Ball und zugleich eine
Illumination von ſieben Pfund Talch-Lichtern
gegeben hat, der Fuͤrſt in V * * * an ſeinem
Feſte ein Feuerwerk von acht Pfunden Pulver
hinzuthut; wie, wenn der Eine ſich einen
Ober-Hof-Marſchall fuͤr dreyhundert Gulden
Gage und zwoͤlf Scheffel Haber haͤlt, der An¬
dre dem Cheff ſeines Hofes noch obendrein ein
breites Ordensband uͤber den hungrigen Magen
henkt. Der eine regierende Graf verſchreibt
ſich eine Meute Jagdhunde, wie ſie kein Po¬
tentat in Europa hat, der Angrenzende beſoldet
eine Meute Hofmuſici, die wenigſtens eben ſo
viel Lerm macht. Der Dritte, voll Verzweif¬
lung daruͤber, daß er es ſeinen Nachbarn nicht
zuvorthun kann, verzehrt lieber den ſauern Er¬
werb ſeiner gepluͤnderten Unterthanen in Paris,
ſpielt lieber da eine elende Rolle, als in ſeiner
Reſidenz den guten, treuen Landesvater vorzu¬
ſtellen. Und ſo geht das weiter hinunter! Man
fange nur in Staͤdten an, ein Concert oder der¬
gleichen zu geben, welches abwechſelnd von einer
geſchloſſenen Geſellſchaft gehalten wird, und wo¬
mit etwa ein Abend-Eſſen verknuͤpft iſt. Der
Er¬[33] Erſte, bey welchem ſich der Cirkel verſammlet,
wird ein Paar Flaſchen Wein und kalte Kuͤche
hergeben; der Andre fuͤgt einen Punſch hinzu;
und ehe ein Vierteljahr vergeht, iſt die Anſtalt
in eine koſtſpielige Freſſerey ausgeartet. Das
ſollte nun unter verſtaͤndigen vornehmen und
reichen Leuten nicht alſo ſeyn. Sie ſolten den
Niedern Beyſpiel geben von Ordnung, Einfalt,
Hinwegſetzung uͤber ſteife Etikette und Maͤßig¬
keit in Speiſe, Kleidung, Pracht, Bedienung,
Hausrath und allen ſolchen Dingen. Sie ſoll¬
ten das Vorurtheil vernichten, daß die Herzen
der Großen zu keinen dauerhaften Freundſchaf¬
ten faͤhig ſeyen — mit Einem Worte! ſie ſoll¬
ten nicht vergeſſen, daß die Augen ſo Vieler auf
ſie gerichtet ſind.
Zwey¬(Zweiter Th.) C[34]
Zweytes Capittel.
Ueber den Umgang mit Geringern.
1.
Im achten Capittel des erſten Theils dieſes
Werks habe ich von dem Betragen des Herrn
gegen den Diener und von den Pflichten geredet,
welche der Vornehmere auf ſich hat. Denen, die
vom Schickſale beſtimmt ſind in Unterwuͤrfigkeit
zu leben, ihr Daſeyn leicht und ſuͤß zu machen.
Ich verweiſe alſo zuerſt die Leſer dahin, und fuͤge
hier nur noch einige Regeln fuͤr den Umgang
mit ſolchen Perſonen hinzu, die zwar nicht in
unſern Dienſten, aber doch, der Geburth, dem
Vermoͤgen, oder andern buͤrgerlichen Verhaͤlt¬
niſſen nach, tiefer als wir ſtehen.
2.
Man ſey hoͤflich und freundlich gegen ſolche
Leute, denen das Gluͤck nicht grade eine ſo reich¬
liche Summe nichtiger zeitlicher Vortheile zuge¬
worfen hat, als uns, und ehre das wahre Ver¬
dienſt, den aͤchten Werth des Menſchen, auch
im niedern Stande! Man ſey nicht, wie die
mehr¬[35] mehrſten Vornehmen und Reichen, etwa nur
dann herablaſſend gegen Leute von geringerm
Stande, wenn man Ihrer bedarf, da man ſie
hingegen verabſaͤumt, oder ihnen uͤbermuͤthig
begegnet, ſobald man Ihrer entbehren kann! Man
vernachlaͤſſige nicht, ſobald ein Groͤßerer gegen¬
waͤrtig iſt, den Mann, den man unter vier Au¬
gen mit Freundſchaft und Vertraulichkeit behan¬
delt, ſchaͤme ſich nicht, oͤffentlich den Mann vor
der Welt zu ehren, der Achtung verdient, moͤgte
er auch weder Rang, noch Geld, noch Titel
fuͤhren! Man ziehe aber nicht die niedern Claſ¬
ſen blos aus Eigennutz und Eitelkeit vor, um
die Stimme des Volks auf unſre Seite zu brin¬
gen, um als ein lieber, leutſeliger Herr geprie¬
ſen und uͤber Andre erhoben zu werden! Man
waͤhle nicht vorzuͤglich den Umgang mit Leuten
von gemeiner Erziehung, um etwa in dieſen Cir¬
keln mehr geehrt, mehr geſchmeichelt zu werden,
und glaube nicht, daß man populaͤr und natuͤr¬
lich ſey, wenn man die Sitten des Poͤbels nach¬
ahmt! Man ſey nicht lediglich darum freundlich
gegen die Geringern, um irgend einen Hoͤhern
im Range zu demuͤthigen, nicht aus Stolz her¬
ablaſſend, um deſto mehr geehrt zu werden, ſon¬
dernC 2[36] dern uͤberall aus reiner, redlicher Abſicht, aus
richtigen Begriffen von Adel, und aus Gefuͤhl
von Gerechtigkeit, die, uͤber alle zufaͤllige Ver¬
haͤltniſſe hinaus, in dem Menſchen nur den
Werth ſchaͤtzt, den er als Menſch hat!
3.
Aber dieſe Hoͤflichkeit ſey auch wohl geord¬
net! Sie ſey nicht uͤbertrieben! Sobald der
Geringere fuͤhlt, daß ihm die Ehre, welche wir
ihm erweiſen, ohnmoͤglich zukommen kann; ſo
haͤlt er es entweder fuͤr Mangel an Vernunft,
fuͤr Spott, oder gar fuͤr Falſchheit, argwoͤhnt,
es ſtecke etwas dahinter, wir wollen Seiner mis¬
brauchen. Sodann giebt es auch eine Art von
Herablaſſung, die wahrhaftig kraͤnkend iſt, wo¬
bey der leidende Theil offenbar fuͤhlt, daß man
ihm nur ein mildthaͤtiges Almoſen der Hoͤflichkeit
darreicht. Endlich giebt es eine abgeſchmackte
Art von Hoͤflichkeit, wenn man nemlich mit Leu¬
ten von geringerm Stande eine Sprache redet,
die ſie gar nicht verſtehen, die unter Perſonen
von der Claſſe gar nicht uͤblich iſt, wenn man
das conventionelle Gewaͤſche von Unterthaͤnig¬
keit, Gnade, Ehre, Entzuͤcken, und ſo ferner,
bey[37] bey Perſonen anbringt, die an ſolche ſtarke Ge¬
wuͤrze gar nicht gewoͤhnt ſind. Dies iſt der ge¬
meine Fehler der Hofleute. Sie halten ihren
Jargon fuͤr die einzige allgemeine Sprache, und
machen ſich dadurch oft bey dem beſten Willen
laͤcherlich oder verdaͤchtig. Die große Kunſt des
Umgangs iſt, wie ich gleich zu Anfange dieſes
Buchs geſagt habe, den Ton jeder Geſellſchaft
zu ſtudieren, und nach Gelegenheit annehmen
zu koͤnnen.
4.
Man huͤte ſich aber vor grenzenloſer Ver¬
traulichkeit gegen ſolche Menſchen, die keine
feine Erziehung haben! Sie misbrauchen leicht
unſre Gutwilligkeit, fordern immer mehr, und
werden unbeſcheiden. Man gebe Jedem, ſo viel
er zu ertragen vermag!
5.
Laß es den Geringern in Deinen glaͤnzen¬
den Umſtaͤnden nicht entgelten, wenn er Dich,
ſo lange Dir das Gluͤck nicht anlaͤchelte, verab¬
ſaͤumt, wenn er Deinen maͤchtigen Feinden ge¬
huldigt hat, wenn er ſich, wie die großen gel¬
C 3ben[38] ben Blumen, nach der Sonne dreht! Denke,
daß ſolche Menſchen oft in die Nothwendigkeit
verſetzt werden, wenn ſie mit den Ihrigen leben
und eſſen wollen, ſich zu kruͤmmen und zu ſchmie¬
gen, daß Wenige unter ihnen ſo erzogen ſind,
daß ſie Sinn fuͤr gewiſſe feinere Gefuͤhle und
Aufopferungen haben, und daß alle Menſchen
mehr oder weniger nach Eigennutz handeln, den
die Geſchliffenern nur kuͤnſtlicher verbergen.
6.
Taͤuſche nicht den Niedern, der Dich um
Schutz, Vorſprache, oder Huͤlfe bittet, mit fal¬
ſchen Hofnungen, leeren Verſprechungen und
nichtigen Vertroͤſtungen, wie es die Weiſe der
mehrſten Vornehmen iſt, die, um die Clienten
ſich vom Halſe zu ſchaffen, oder in den Ruf von
Leutſeligkeit zu kommen, oder aus Schwaͤche,
aus Mangel an Feſtigkeit, jeden Bittenden mit
ſuͤßen Worten und Verheiſſungen uͤberſchuͤtten,
ſobald er aber den Ruͤcken gewendet hat, nicht
mehr an ſein Anliegen denken. Der Arme geht
indeß voll Hofnung nach Hauſe, glaubt ſeine
Angelegenheit den beſten Haͤnden anvertrauet
zu haben, verſaͤumt alle andre Wege, die er zu
Er¬[39] Erlangung ſeines Zwecks einſchlagen koͤnnte, und
fuͤhlt ſich nachher doppelt ungluͤcklich, wenn er
ſieht, wie ſehr er ſich betrogen hat.
7.
Hilf Dem, der deſſen bedarf! Befoͤrdere und
ſchuͤtze Die, welche Dich um Huͤlfe, Wohlthat
und Schutz anſprechen, in ſo fern die Gerechtig¬
keit es geſtattet! Aber huͤte Dich, ſo ſchwach zu
zu ſeyn, daß Du durchaus nichts abſchlagen koͤn¬
neſt. Daraus entſtehen zweyerley nachtheilige
Folgen: zuerſt, daß Leute von niedriger Den¬
kungsart Deine Schwaͤche misbrauchen, und Dir
eine Laſt von Verbindlichkeiten, Arbeiten und
Sorgen auflegen, die fuͤr Dein Herz, fuͤr Deine
Kraͤfte, oder fuͤr Deinen Geldbeutel zu ſchwer
iſt, oder wodurch Du gezwungen wirſt, unge¬
recht gegen Andre zu handeln, die weniger zu¬
dringlich ſind. Und dann der zweyte Schaden:
Wer zu viel verſpricht, der wird wieder Willen
zuweilen ſein Wort zu brechen genoͤthigt. Ein
feſter Mann muß auch den Muth haben, eine
abſchlaͤgige Antwort geben zu koͤnnen, und wenn
er dies auf edle, nicht beleidigende Weiſe, aus
wichtigen Gruͤnden thut, und ſonſt dafuͤr bekannt
C4iſt,[40] iſt, daß er gerecht handelt und gern hilft; ſo
wird er ſich dadurch keine Feinde erwecken. Al¬
len Menſchen kann man es freylich nicht recht
machen, aber wenn man immer conſequent und
weiſe handelt; ſo werden uns wenigſtens die
Beſſern nicht verkennen. Schwaͤche iſt nicht
Guͤte, und verweigern, was man vernuͤnftiger
Weiſe nicht zugeſtehn kann, heiſſt nicht harther¬
zig ſeyn.
8.
Verlange nicht einen uͤbermaͤſſigen Grad
von Cultur und Aufklaͤrung von Leuten, die
beſtimmt ſind, im niedern Stande zu leben!
Trage auch nichts dazu bey, ihre intellectuellen
Kraͤfte zu uͤberſpannen, und ſie mit Kenntniſſen
zu bereichern, die ihnen ihren Zuſtand wiedrig
machen, und den Geſchmack an ſolchen Arbeiten
verbittern, wozu Stand und Beduͤrfniß ſie auf¬
rufen! Das Wort Aufklaͤrung wird in unſern
Zeiten oft ſehr gemisbraucht, und bedeutet nicht
ſowohl Veredlung des Geiſtes, als Richtung
deſſelben auf grillenhafte, ſpeculative und phan¬
taſtiſche Spielwerke. Die beſte Aufklaͤrung
des[41] des Verſtandes iſt die, welche uns lehrt, mit
unſrer Lage zufrieden und in unſern Verhaͤltniſ¬
ſen brauchbar, nuͤtzlich und zweckmaͤſſig thaͤtig
zu ſeyn. Alles Uebrige iſt Thorheit, und fuͤhrt
zum Verderben.
Drit¬C5[42]
Drittes Capittel.
Ueber den Umgang mit Hofleuten und
ihres Gleichen.
1.
Ich faſſe hier die Bemerkungen uͤber den Um¬
gang mit Hofleuten und mit ſolchen Perſonen
uͤberhaupt, die in der ſo genannten großen Welt
leben, und den Ton derſelben angenommen haben,
zuſammen. Leider! wird dieſer Ton, den Fuͤr¬
ſten und Vornehme von ſolcher Art, wie ich ſie
im erſten Capittel dieſes Theils beſchrieben habe,
angeben und ausbreiten, von allen Staͤnden,
die einigen Anſpruch auf feine Lebensart machen,
nachgeaͤfft. Entfernung von Natur; Gleich¬
guͤltigkeit gegen die erſten und ſuͤßeſten Bande
der Menſchheit; Verſpottung der Einfalt, Un¬
ſchuld, Reinigkeit und der heiligſten Gefuͤhle;
Flachheit; Vertilgung, Abſchleifung jeder charac¬
teriſtiſchen Eigenheit und Originalitaͤt; Mangel
an gruͤndlichen, wahrhaftig nuͤtzlichen Kennt¬
niſſen; an deren Stelle hingegen Unverſchaͤmt¬
heit, Perſifflage, Impertinenz, Geſchwaͤtzigkeit,
Inconſequenz, Nachlallen; Kaͤlte gegen alles,
was[43] was gut, edel und groß iſt; Ueppigkeit, Un¬
maͤßigkeit, Unkeuſchheit, Weichlichkeit, Ziere¬
rey, Wankelmuth, Leichtſinn; abgeſchmackter
Hochmuth; Flitterpracht, als Maske der Bette¬
ley; ſchlechte Hauswirthſchaft; Rang- und
Titelſucht; Vorurtheile aller Art; Abhaͤngigkeit
von den Blicken der Deſpoten und Maͤcenaten;
ſclaviſches Kriechen, um etwas zu erringen;
Schmeicheley gegen Den, deſſen Huͤlfe man bedarf,
aber Vernachlaͤſſigung auch des Wuͤrdigſten, der
nicht helfen kann; Aufopferung auch des Hei¬
ligſten, um ſeinen Zweck zu erlangen; Falſch¬
heit, Untreue, Verſtellung, Eidbruͤchigkeit, Klat¬
ſcherey, Cabale; Schadenfreude, Laͤſterung,
Anecdoten-Jagd; laͤcherliche Manieren, Ge¬
braͤuche und Gewohnheiten — Das ſind zum
Theil die herrlichen Dinge, welche unſre Maͤn¬
ner und Weiber, unſre Soͤhne und Toͤchter, von
dem liebenswuͤrdigen Hofgeſindel lernen — Das
ſind die Studien, nach welchen ſich die Leute
von feinem Ton bilden! Da, wo dieſer Ton
herrſcht, wird das wahre Verdienſt nicht nur
blos uͤberſehn, ſondern ſo viel moͤglich mit Fuͤßen
getreten, unterdruͤckt, von leeren Koͤpfen zuruͤck¬
gedraͤngt, verdunkelt, verſpottet. Kein groͤßerer
Tri¬[44] Triumpf fuͤr einen faden Hofſchranzen, als wenn
er den Mann von entſchiedenem Werthe, deſſen
Uebergewicht er heimlich fuͤhlt, demuͤthigen, ihn
auf einen Mangel an conventioneller feinen Le¬
bensart ertappen und, durch die Art wie er dies
bemerken macht, oder dadurch, daß er mit ihm
in einer Sprache, oder uͤber Gegenſtaͤnde redet,
wovon er nichts verſteht, es dahin bringen kann,
daß Jener verwirrt wird und ſich in ſchiefem
Lichte zeigt! Kein groͤßerer Triumpf fuͤr die
petitte Maitreſſe, als wenn ſie eine redliche Frau,
voll wahrer innerer und aͤuſſerer Vorzuͤge und
Wuͤrde, in einer Geſellſchaft von Weltleuten von
einer laͤcherlichen Seite darſtellen kann! Das
alles muß man erwarten, wenn man ſich unter
Menſchen von dieſer Claſſe miſcht. Man muß
ſich dann nicht beunruhigen, wenn uns der¬
gleichen wiederfaͤhrt, und hinterher ſich kein
graues Haar darum wachſen laſſen. Man hat
ſonſt keinen friedlichen Augenblick, wird unauf¬
hoͤrlich von tauſend Leidenſchaften, beſonders
von Ehrgeiz und Eitelkeit, in Aufruhr gebracht.
Es giebt aber drey Mittel, allen dieſen Unge¬
maͤchlichkeiten auszuweichen, indem man nem¬
lich entweder ſich mit der großen Welt unbefan¬
gen[45] gen laͤſſt, oder aber in derſelben ſeinen graden
Gang fortgeht, ohne ſich alle dieſe Thorheiten
anfechten zu laſſen, oder endlich, indem man
den Ton derſelben ſtudiret, und ſoviel es ohne
Verleugnung des Characters geſchehen kann,
mit den Woͤlfen heult.
2.
Wer nicht, ſeiner Lage nach, ſchlechterdings
dazu verdammt iſt, an Hoͤfen, oder ſonſt in der
großen Welt zu leben, der bleibe fern von die¬
ſem Schauplatze des glaͤnzenden Elends, bleibe
fern vom Getuͤmmel, das Geiſt und Herz be¬
taͤubt, verſtimmt und zu Grunde richtet! In
friedlicher, haͤuslicher Eingezogenheit, im Um¬
gange mit einigen edeln, verſtaͤndigen und mun¬
tern Freunden, ein Leben zu fuͤhren, das unſrer
Beſtimmung, unſern Pflichten, den Wiſſen¬
ſchaften und unſchuldigen Freuden gewidmet iſt,
und dann zuweilen einmal mit Nuͤchternheit an
oͤffentlichen Vergnuͤgungen, an großen, gemiſch¬
ten Geſellſchaften Theil zu nehmen, um fuͤr die
Phantaſie, die doch auch nicht leer ausgehn will,
neue Bilder zu ſammeln, und die kleinen, wiedri¬
gen Gefuͤhle der Einfoͤrmigkeit zu verloͤſchen, —
Das[46] Das iſt ein Leben, das eines weiſen Mannes
werth iſt! Und in Wahrheit! es ſteht oͤfter in
unſrer Macht, als man gemeiniglich denkt, ſich
der großen Welt zu entziehn. Menſchenfurcht,
elende Gefaͤlligkeit gegen mittelmaͤßige Leute,
Eitelkeit, Schwaͤche, Nachahmungsſucht, das
iſt es, was ſo manchen ſonſt nicht ſchlechten Mann
bewegt, ſeine ſchoͤnſten Stunden da zu verſchleu¬
dern, wo er im Grunde nicht zu Hauſe iſt, wo
ſo oft Eckel und Langeweile ihn anwandeln, und
allerley unedle Leidenſchaften ihr Spielwerk mit
ihm treiben. Freylich aber muß man, um ſich
dieſem zu entziehn, nicht nur, ſeinen Verhaͤlt¬
niſſen nach, unabhaͤngig ſeyn, ſondern auch nach
feſten Grundſaͤtzen zu handeln und ſich uͤber das
Geſchwaͤtz der Leute hinauszuſetzen den Muth
haben, mag auch davon geſprochen werden,
was da will!
3.
Muß oder will man aber in der großen
Welt leben, und man iſt nicht ganz ſicher, den
Ton derſelben annehmen zu koͤnnen; ſo bleibe
man lieber der Art von Stimmung und Wen¬
dung treu, die uns Natur und Erziehung gege¬
ben[47] ben haben! Nichts kann abgeſchmackter ſeyn,
als wenn man jene Sitten halb und unvollſtaͤn¬
dig copiert, wenn der ehrliche Landmann, der
ſchlichte Buͤrger, der grade, teutſche Bieder¬
mann den franzoͤſiſchen petit Maitre, den Hof¬
mann, den Politiker ſpielen will, wenn Leute,
die einer auslaͤndiſchen Sprache nicht maͤchtig
ſind, alle Gelegenheit aufſuchen, mit fremden
Zungen zu reden, oder, wenn ſie auch in ihrer
Jugend an Hoͤfen gelebt haben, nicht merken,
daß die galante Sprache aus Ludwig des Vier¬
zehnten Zeiten jetzt gar nicht mehr im Umlaufe
iſt, und eine Stutzer-Garderobe aus dem vo¬
rigen Jahrhunderte im Jahre 1788 nur auf dem
comiſchen Theater Wuͤrkung thut. Solche Men¬
ſchen machen ſich muthwilliger Weiſe zum Ge¬
ſpoͤtte, da man hingegen mit einem ungezwun¬
genen, natuͤrlichen und verſtaͤndigen Betragen,
Anſtande und Anzuge, wenn dies alles auch nicht
nach dem feinſten Hofſchnitte iſt, ſich, mitten
unter dem leichtfertigen Geſindel, Achtung und,
wo nicht ein angenehmes, doch ein ruhiges, un¬
gekraͤnktes Leben verſchaffen kann. Sey alſo
einfach in Deiner Kleidung und in Deinen Ma¬
nieren, ehrlicher Biedermann! Sey ernſthaft,
be¬[48] beſcheiden, hoͤflich, ruhig, wahrhaftig! Rede
nicht zuviel und nie von Dingen, wovon Du
nichts weiſſt, noch in einer Sprache, die Dir
nicht gelaͤufig iſt, in ſo fern Der, welcher mit
Dir ſpricht, Deine Mutterſprache verſteht! Be¬
trage Dich mit Wuͤrde und Gradheit, ohne grob
zu ſeyn, ohne Ungeſchliffenheit! ſo wird man
Dich ungeneckt laſſen. Allein freylich wirſt Du
auch nicht ſehr vorgezogen. Dein Geſicht wird
kein Mode- Geſicht werden. Hieruͤber aber be¬
ruhige Dich! Zeige Dich nicht verlegen, aͤngſt¬
lich, wenn in einer großen Geſellſchaft kein
Menſch mit Dir redet! Du verliehrſt nichts da¬
bey, kannſt fuͤr Dich an allerley gute Dinge den¬
ken, auch manche nuͤtzliche Bemerkung machen,
und man wird Dich nicht verachten, ſondern
vielleicht gar fuͤrchten, ohne Dich zu haſſen, und
das iſt denn doch zuweilen ſo uͤbel nicht.
Leute, die in der Jugend an Hoͤfen und
in großen Staͤdten keine unbetraͤchtliche Rolle
geſpielt, die vielmehr dort geglaͤnzt, nachher
aber ſich zuruͤckgezogen, ſich einer einfachern Le¬
bensart gewidmet haben, vergeſſen gar zu leicht,
daß, um hier immer ein Mode- Geſicht zu blei¬
ben,[49] ben, man nie den Faden der herrſchenden Conver¬
ſation aus der Hand verliehren, nie verſaͤumen
darf, auch in den kleinſten Fortſchritten, der Cul¬
tur — wenn man das Cultur nennen muß — nach¬
zufolgen. Das iſt aber, bey der unbeſchreiblichen
Veraͤnderlichkeit des Geſchmacks und der Phan¬
taſie ohnmoͤglich, ſobald man nicht immer mit der
ganzen Flotte auf dem großen Weltmeere herum¬
ſchwimmt. Es geſchieht dann, daß wir ſehr boͤſer
Laune werden, wenn wir ſehen, daß man uns ver¬
nachlaͤſſigt, daß juͤngere, oft ſehr unbedeutende
Menſchen jetzt die Coriphaͤen ſind, daß Dieſe und
deren Bewunderer uns uͤber die Achſel anſehen,
uns nur aus nachſichtiger Hoͤflichkeit einige Auf¬
merkſamkeit beweiſen — O! es iſt unglaublich,
wie ſo etwas die Gemuͤthsruhe, auch des klugen
Mannes (denn ſelbſt kluge Leute ſind nicht im¬
mer ganz von Eitelkeit frey) erſchuͤttern, wie
es verſtimmen und bewuͤrken kann, daß man
ſich in recht unangenehmer Haltung zeigt und,
wenn man etwas zu ſuchen hat, die Frucht einer
weiten Reiſe und große Unkoſten verliehrt, da
hingegen unſer Witz, unſre Laune unaufhaltſam
und bezaubernd fortſtroͤhmen, wo wir uns ge¬
ehrt, geliebt und mit Aufmerkſamkeit behandelt
wiſ¬(Zweiter Th.) D[50] wiſſen. Wer ſich viel Jahre hindurch an großen
und kleinen Hoͤfen und ſonſt in der großen Welt
hat umhertreiben muͤſſen, der wird nie in Ver¬
legenheit von jener Art kommen koͤnnen. Er
wird die Fertigkeit erlangt haben, ſich geſchwind
zu orientiren, ſchnell zu faſſen, welche Sprache
anwendbar iſt; die guten Leute hingegen, die
nicht Gelegenheit gefunden haben, dieſen Grad
von Verfeinerung zu erlangen, ſollen wohl be¬
herzigen, was zu Anfange dieſes Abſchnitts ge¬
ſagt worden.
4.
Wer aber endlich viel und immer in der
großen Welt lebt, der thut doch wohl, den herr¬
ſchenden Ton zu ſtudieren und die aͤuſſern Ge¬
braͤuche derſelben anzunehmen. Erſteres iſt ſo
ſchwer nicht, und Letzteres kann ohne ſchaͤdlichen
Einfluß auf unſern Character geſchehen. Zeichne
Dich alſo nicht aus, durch altvaͤteriſche Kleidung
oder Manieren! aber vergiß nicht, dabey auf
Dein Alter, Deinen Stand und Dein Vermoͤ¬
gen Ruͤckſicht zu nehmen, und copiere nicht die
Laͤcherlichkeiten einzelner Thoren, noch die ephe¬
meriſchen Moden des Augenblicks! Mache Dich
mit[51] mit der Sprache der Hofleute, mit ihrer Art ſich
gegen einander zu betragen, mit den Conventio¬
nen im Umgange bekannt; aber verleugne nicht
innere Wuͤrde, Character und Wahrheit!
5.
Es laſſen ſich ohnmoͤglich allgemeine Re¬
geln geben, wie weit man in Nachahmung der
Hofſitten gehn duͤrfe. Ein verſtaͤndiger und
redlicher Mann wird das am beſten ſelbſt nach
ſeiner Lage, Gemuͤthsart und nach ſeinem Ge¬
wiſſen abmeſſen koͤnnen. Doch nur ſo viel! Un¬
ſchaͤdliche Thorheiten, die man nicht Luſt hat
nachzuahmen, hat man deswegen nicht immer
Beruf zu bekaͤmpfen, und gleichguͤltige Gewohn¬
heiten und Sitten, die weiter keinen Einfluß
auf den Character haben, kann man, ja! muß
man zuweilen auf kurze Zeit mitmachen, und
darf ſich das um ſo weniger uͤbelnehmen, wenn
man dadurch manches groͤßere Gute zu bewuͤr¬
ken in den Stand geſetzt wird.
Es giebt auch Moden in Litteratur und
Kunſt, im Geſchmacke, in gewiſſen Vergnuͤgun¬
gen und Schauſpielen, in dem Beyfalle, den
irgend eine Saͤngerinn, irgend ein Tonkuͤnſtler,
D2Schrift¬[52] Schriftſteller, Prediger, Maler, Geiſterſeher,
Schneider, oder Friſeur, oft gegen Verdienſt
und Wuͤrdigkeit, vom vornehmen großen Hau¬
fen einerndtet, und es iſt verlohrne Muͤhe, die¬
ſem Mode-Geſchmacke ſich wiederſetzen zu wol¬
len. Am beſten iſt es da, ruhig abzuwarten,
daß eine neue Narrheit die alte verdraͤnge. Es
giebt Moden im Gebrauche von Arzeneyen, de¬
nen ſich die Vornehmern unterwerfen zu muͤſſen
glauben — ſey es, daß ſie ſich taͤglich clyſtieren,
oder in ein gewiſſes Bad und in kein anders
reiſen, oder ſich mit den Pillen oder Pulvern
irgend eines Marktſchreyers langſam vergiften!
Laͤchle in der Stille daruͤber! clyſtiere Dich ohn¬
maßgeblich auch ein wenig, und mache mit, was
ſich ohne Gefahr und Tollheit mitmachen laͤſſt!
Wenigſtens mache Dich mit dieſen Moden be¬
kannt, um nicht in Deinen Geſpraͤchen dagegen
anzuſtoßen! Du wirſt uͤbel anlaufen, wenn Du
nach Deiner Empfindung eine Theaternimpfe
tadelſt, deren Gebruͤlle grade zu der Zeit in der
feinen Welt fuͤr Goͤtterſtimme gilt, oder wenn
Du ein Buch erbaͤrmlich nennſt, deſſen Verfaſſer
als ein großes Genie anerkannt wird. Du wirſt
uͤbel anlaufen, wenn Du eine Dame, die grade in
der[53] der Periode iſt, in welcher ſie nach der Mode frey¬
geiſteriſche Grundſaͤtze haben muß, von religioſen
Gegenſtaͤnden unterhaͤltſt. Denn auch das hat
ſeine Geſetze, die von der Mode beſtimmt werden.
Juͤnglinge fangen an im fuͤnf und zwanzigſten
Jahre alt zu werden, nicht mehr zu tanzen, ſich
den Cirkeln der Greiſe zuzugeſellen, ein feyerli¬
ches, philoſophiſches, ein Geſchaͤfts-Geſicht mit
in die Geſellſchaft zu bringen. Kommen ſie aber
nahe an die Vierzige, dann werden ſie wieder
jung, huͤpfen herum, ſpielen um Pfaͤnder mit
jungen Maͤdgen — das alles muß man beobach¬
ten und ſeine Maaßregeln darnach nehmen.
6.
Uebrigens geſtehe ich — es bleibt aber un¬
ter uns — daß der Ton, welcher jetzt unter un¬
ſern ganz jungen Leuten ziemlich allgemein an
Hoͤfen und in der feinen Welt eingeſchlichen iſt,
mir gar nicht ſo gefallen will, wie der, welcher
vor etwa zwanzig Jahren herrſchte. Viele von
ihnen kommen mir aͤuſſerſt ungeſchliffen und
plump vor; Es ſcheint mir, als ſuchten ſie etwas
darinn, Beſcheidenheit, Hoͤflichkeit und Delica¬
teſſe zu beleidigen, ſtumm, ungefaͤllig gegen Da¬
menD 3[54] men und Fremde zu ſeyn, ſelbſt ihren Coͤrper
zu vernachlaͤſſigen, ohne alle Grazie beym Tanze
herumzuſpringen, krumm und ſchief und gebuͤckt
zu gehn, keine Kunſt, keine Wiſſenſchaft gruͤnd¬
lich zu erlernen. Es giebt freylich einen Bocks¬
beutel, einen Zwang, eine Steifigkeit im Um¬
gange, die in vorigen Zeiten in Teutſchland herr¬
ſchend waren, und wovon es ein Gluͤck iſt, daß
wir anfangen, ſie abzulegen; aber edler Anſtand
iſt nicht Steifigkeit, verbindliche Hoͤflichkeit und
Aufmerkſamkeit nicht Bocksbeutel, Grazie nicht
Zwang, und aͤchtes Talent, wahre Geſchicklich¬
keit nicht Pedanterey. Und man ſehe auch die
papiernen Maͤnnchen an, wie Ueberdruß und
Langeweile auf ihrer fruͤh ſich runzelnden Stirne
wohnen, wie ſie unfaͤhig ſind, von ganzem Her¬
zen froh zu werden, wie ſie in den ſchoͤnſten Jah¬
ren des Lebens ſchon bey den unſchuldigen Freu¬
den der Jugend Eckel empfinden. — Doch, ich
habe Hofnung, daß es bald wieder beſſer damit
werden ſoll, und, ohne Stolz auf unſre Vater¬
ſtadt kann ich es wohl ſagen, wir haben hier
eine liebenswuͤrdige, wohlerzogene Jugend in
allen Claſſen und Staͤnden auszuweiſen.
7.[55]
7.
Verachte nicht alles, was blos conventio¬
nellen Werth hat, wenn Du mit Annehmlich¬
keit in der großen Welt leben willſt! Verachte
nicht ſo ganz und gar Titel, Orden, Glanz,
aͤuſſere Zierathe und dergleichen! aber ſetze kei¬
nen innern Werth darauf! ringe nicht aͤngſtlich
darnach! Es giebt doch wohl Faͤlle, wo ein ſol¬
cher an ſich nichtiger Stempel Dir und den Dei¬
nigen, wo nicht reelle Vortheile, doch Annehm¬
lichkeiten zu Wege bringen kann. Heimlich in
Deinem Caͤmmerlein darfſt Du herzlich aller
dieſer Thorheiten lachen; aber thue das nicht
laut! Mit Einem Worte! zeichne Dich nicht zu
ſehr aus, unter den Weltleuten, mit denen Du
leben muſſt. Dies iſt nicht nur Regel der Klug¬
heit, nein! ſondern es iſt auch Pflicht, die Sit¬
ten des Standes anzunehmen, den man waͤhlt,
ganz zu ſeyn, was man iſt, doch, wie ſich das
verſteht, nie auf Unkoſten des Characters. Er¬
warte uͤbrigens auf dieſem Schauplatze nicht,
daß man in Dir den edeln, weiſen, geſchickten
Mann ſchaͤtze, ſondern nur, daß man Dich ar¬
tig finde, daß man von Dir ſage: Par dieu!
il a de l'eſprit, comme nous autres!
8.D 4[56]
8.
Und willſt Du auch nur dies eitle Lob da¬
von tragen; ſo darfſt Du ſelbſt nicht einmal mer¬
ken laſſen, daß Du von beſſerm Stoffe biſt, als
der große Haufen jener hirnloſen Muͤßiggaͤnger.
Der kluͤgere und edlere Mann, bequemte er ſich
auch noch ſo puͤnctlich nach den Sitten der ſo
genannten feinen Societaͤt, wird dennoch dem
Neide, der Verleumdung und den unaufhoͤrli¬
chen Neckereyen und Klatſchereyen, welche hier
herrſchen, nicht ausweichen; denn um ſchalen
Koͤpfen zu gefallen, muß man ſelbſt ein ſchaler
Kopf ſeyn. Ich rathe dann, ſich das gar nicht
anfechten zu laſſen, vor allen Dingen aber kei¬
nen Verdruß, keine Unruhe zu aͤuſſern, ſonſt
bekoͤmmt man nie Frieden. Man gehe alſo
ſeinen Gang fort, folge ſeinem Syſteme, und
laſſe die Thoren ſchwaͤtzen, bis ſie muͤde werden!
Hier ſind auch alle Erlaͤuterungen, alle Ent¬
ſchuldigungen uͤbel angebracht, und menn Du
mit Wiederlegung Einer Verleumdung fertig
biſt; ſo wird man ſchon eine andre in Bereit¬
ſchaft haben.
9.[57]
9.
In der großen Welt iſt der oben entwickelte
Grundſatz vorzuͤglich nicht auſſer Augen zu laſſen,
nemlich daß jedermann nur ſo viel gilt, als er
ſich ſelbſt gelten macht. Man zeige ſich alſo
frey, zuverſichtlich, ſeiner Sache gewiß! Man
laſſe die Leute nicht einmal ahnden, daß es moͤg¬
lich waͤre, man koͤnne uns zuruͤckſetzen, ſich un¬
ſers Umgangs ſchaͤmen, in unſrer Geſellſchaft
Langeweile, haben! Hofleute und ihres Gleichen
pflegen die Grade ihrer Hoͤflichkeit und Auf¬
merkſamkeit gegen uns darnach abzumeſſen, in
welcher aͤuſſern Achtung wir in den vornehmen
Cirkeln ſtehen. Man mache ſich alſo da gelten,
mache ſich eine gewiſſe Aiſance eigen, die man
nur durch Uebung erlernt, die ſehr unterſchieden
von Unverſchaͤmtheit, Zudringlichkeit und Prah¬
lerey iſt, und die vorzuͤglich in einem ruhigen,
leidenſchaftsfreyen, anſtaͤndigen, gleichmuͤthigen
Betragen, das planlos und ohne Forderungen
zu ſeyn ſcheint, beſteht, und zu welchem man
nie gelangt, wenn unſre Eitelkeit aller Orten
Glanz ſucht, und wenn im Grunde des Herzens un¬
ſer eigener Beyfall uns nicht mehr werth iſt, als die
Bewunderung, womit leere Koͤpfe uns beehren.
D 510.[58]
10.
Man meſſe ſein Betragen gegen Hofleute
puͤnctlich nach dem ihrigen gegen uns ab, und
gehe ihnen keinen Schritt entgegen! Dieſe
Menſchen-Gattung nimt eine Hand breit, wo
man ihnen einen Finger breit einraͤumt. Man
erwiedere Stolz mit Stolz, Kaͤlte mit Kaͤlte,
Freundlichkeit mit Freundlichkeit, gebe aber nicht
mehr und nicht weniger, als man empfaͤngt!
Die Befolgung dieſer Vorſicht hat mannigfalti¬
gen Nutzen. Die feinen Weltleute ſind wie ein
Rohr, das vom Winde bewegt wird. Da ſie
ſelbſt ſo wenig Bewuſſtſeyn innerer Wuͤrde ha¬
ben; ſo beruht ihre ganze Exiſtenz auf ihren
aͤuſſern Ruf. Sie werden ſich an Dich ſchlieſ¬
ſen, ſobald ſie ſehen, daß Du in gutem Lichte
wandelſt. Aber wenn Du nicht durch die nie¬
drigſte Schmeicheley und Preisgebung alle alten
Weiber beyderley Geſchlechts auf Deine Seite
ziehſt; ſo wird bald einmal eine Laͤſterzunge et¬
was Nachtheiliges gegen Dich ausſprechen.
Kaum wird ein ſolches Geruͤcht herumlaufen;
ſo werden jene Sclaven lauern, welche Wuͤrkung
dies auf das Publicum macht, und faſſt es Wur¬
zel; ſo werden ſie den Kopf um ein Paar Zoll
hoͤher[59] hoͤher gegen Dich tragen. Macht Dich das un¬
ruhig, aͤngſtlich; behandelſt Du ſie nach Dei¬
nem Herzen, wie Leute, deren Freundſchaft Du
gern erhalten moͤgteſt; ſo werden ſie immer un¬
beſcheidener, und helfen die elende Klatſcherey
weiter tragen, woraus Dir denn, ſo geringe
auch die Sache ſcheinen moͤgte, mancherley Ver¬
druß erwachſen kann. Wirf aber auf den Er¬
ſten, der Dir kalt begegnet, einen veraͤchtlichen
Blick; ſo wird er zuruͤck ſpringen, fuͤr ſeinen ei¬
genen Ruf beben, kein nachtheiliges Wort von
Dir uͤber ſeine Zunge kommen laſſen, und ſich
vor dem Manne beugen, von dem er glaubt,
er muͤſſe geheimen Schutz haben, weil er ſo feſt
ſteht, ſo gleichguͤltig gegen die ſeligmachende
Stimme des hohen Poͤbels iſt. Ja! gieb ihm
doppelt wieder, was er wagt, Dir zu biethen!
Laß Dich durch kein freundliches Woͤrtgen wie¬
der heranlocken, bis er gaͤnzlich zu Creutze kriecht!
Ich, der ich nun keine Plane mehr auf das
Gluͤck mache, in der großen Welt zu glaͤnzen,
folge darinn eben keinem feſten Syſteme, ſon¬
dern meiner jedesmaligen Gemuͤthsſtimmung
und Laune. An aͤchte, unverfaͤlſchte Herzens-
Ergieſſung gewoͤhnt, voll Waͤrme fuͤr alles, was
Freund¬[60] Freundſchaft und Zuneigung heiſſt, weniger da¬
um bekuͤmmert, geehrt, als geliebt zu ſeyn, be¬
unruhigt mich — ich ſchaͤme mich dieſes Ge¬
ſtaͤndniſſes nicht — beunruhigt, verſtimmt mich
jedes kalte Betragen von Leuten, die mir gute
Eigenſchaften zu haben ſcheinen, mehr als mir,
nach ſo mancher Erfahrung in der großen Welt,
zu verzeyhen iſt. Zu andern Zeiten aber be¬
handle ich auch das Ding von der luſtigen Seite,
und freue mich herzlich, indem ich hoͤre, daß das
muͤſſige Publicum ſich auf Unkoſten meiner We¬
nigkeit beſchaͤftigt, daruͤber, daß dies grade einen
Mann trifft, der nur als Volontair in der gro¬
ßen Welt dient, und kein Avancement verlangt.
Indeſſen iſt was ich meinem Temperamente
nach thue, darum noch nicht gut gethan. Am
beſten iſt es gewiß, uͤber dergleichen und uͤber
Klatſchereien aller Art wenigſtens nicht die ge¬
ringſte Unruhe zu zeigen, mit niemand weiter
daruͤber zu reden, und ſich auf keine Explications
einzulaſſen. Dann iſt in acht Tagen das Maͤr¬
chen vergeſſen, da auf jede andre Art hingegen
die Sache aͤrger gemacht wird.
II.[61]
11.
Sey hoͤflich und geſchliffen im Aeuſſern!
Man muß an Hoͤfen und im Umgange in großen
Staͤdten manchen Menſchen ſehn, ertragen und
freundlich behandeln, den man nicht ſchaͤtzt, auch
ſucht man ja in dieſem Getuͤmmel keine Freunde,
ſondern nur Geſellſchafter. Allein wo es Nutzen
ſtiften, oder wenigſtens unſer Anſehn befeſtigen,
wo es wuͤrken kann, daß Der Dich fuͤrchte, der
nicht anders als durch Furcht im Zaume zu hal¬
ten iſt; da laß ihn Dein Anſehn fuͤhlen! Nim
eine Art von Wuͤrde, von edelm Stolze und von
Hoheit an gegen den Hofſchranzen, damit nie
der Gedanke in ihm aufkeimen koͤnne, Dich zu
foppen, oder zu misbrauchen! Dieſe Sclaven-
Seelen zittern vor dem Uebergewichte des ver¬
ſtaͤndigen, conſequenten Mannes; allein das
muß weder in Aufgeblaſenheit, noch in Bauern¬
ſtolz ausarten. Sage dieſen Leuten zuweilen
einmal, doch ohne Hitze und Grobheit, die
Wahrheit! Schlage ihre flachen, ſchiefen Ur¬
theile kaltbluͤtig mit Gruͤnden nieder, wo es nach
den Umſtaͤnden die Klugheit erlaubt! Stopfe
ihnen das Maul, wenn ſie den Redlichen laͤ¬
ſtern! Setze ihren Schleichwegen Muth, Thaͤ¬
tig¬[62] tigkeit und wahre Kraft entgegen! Scherze
nicht vertraulich mit ihnen! Laß aͤchter Laune
nicht den Lauf; aus Furcht ein Wort zu ſpre¬
chen, das man misbrauchen, verdrehen koͤnnte!
12.
Ueberhaupt rede in der großen Welt nie
warme Herzensſprache! das iſt dort eine fremde
Mundart. Rede nicht von den reinen, ſuͤßen,
einfachen haͤuslichen Freuden! Das ſind Myſte¬
rien fuͤr ſolche Profane. Habe Dein Geſicht in
Deiner Gewalt, daß man nichts darauf geſchrie¬
ben finde, weder Verwunderung, noch Freude,
noch Wiederwillen, noch Verdruß! Die Hof¬
leute leſen beſſer Mienen, als gedruckte Sachen;
Das iſt faſt ihr einziges Studium. Vertraue
Deine Angelegenheiten niemand! Sey vorſich¬
tig, nicht nur im Reden, ſondern ſogar im Hoͤ¬
ren! ſonſt wird Dein Name leicht compromittirt.
13.
Ich habe ſchon vorhin geſagt, daß unſer
Betragen in der großen Welt nach eines Jeden
individuellen Lage modificiert werden muͤſſe, und
daß, was dem Einen darinn zu beobachten wich¬
tig,[63] tig, fuͤr den Andern vielleicht von gar keinem
Belange ſeyn koͤnne! Wer nicht blos in derſel¬
ben leben und geachtet werden, ſondern wer auch
wuͤrken, ſich emporarbeiten, regieren will, der
muß das Ding freylich noch viel feiner ſtudiren.
Da kann es aͤuſſerſt wichtig werden, entweder
zu der herrſchenden Parthey, oder (wobey man
groͤßtentheils am ſicherſten geht, wenn man ſonſt
kein ganz unwichtiger Mann iſt) zu gar keiner
zu gehoͤren, um von allen aufgeſucht zu werden,
und nach Gelegenheit unmerklich Anfuͤhrer einer
eigenen zu werden. Da muß oft die Politic uns
lehren, wo wir des ſichern Vortheils nicht gewiß
ſind, wo nicht zu helfen, vielleicht gar zu ſcha¬
den iſt, unſre verfolgten Freunde allein kaͤmpfen
zu laſſen, und uns Ihrer nicht oͤffentlich anzu¬
nehmen. Da kann es noͤthig ſeyn, ſich anfangs
ſehr klein zu ſtellen, um nicht beobachtet, in un¬
ſern Planen nicht geſtoͤhrt, vielmehr als ein un¬
bedeutender Menſch, (weil ein Solcher immer
mehr Stimmen auf ſeiner Seite hat, als der
von beſſerer Art) befoͤrdert zu werden. Zu al¬
len Geſchaͤften aber, die man in der großen Welt
fuͤhren muß, iſt nichts ſo dringend anzuempfeh¬
len als — Kaltbluͤtigkeit, das heiſſt: ſich
nie[64] nie zu vergeſſen; nie ſich zu uͤbereilen, den Ver¬
ſtand nie dem Herzen, dem Temperamente, der
Phantaſie preis zu geben; Vorſicht, Verſchloſſen¬
heit, Wachſamkeit, Gegenwart des Geiſtes, Un¬
terdruͤckung willkuͤhrlicher Aufwallungen und
Gewalt uͤber Launen. Mit Kaltbluͤtigkeit und
den dahin gehoͤrigen Eigenſchaften ſieht man Per¬
ſonen von den mittelmaͤßigſten natuͤrlichen Ga¬
ben uͤber den lebhafteſten, feinſten Feuer-Kopf
herrſchen. Aber dieſe ſchwere Kunſt — wenn
ſie ſich je erlernen laͤſſt, wenn ſie nicht ausſchlie߬
lich ein Geſchenk der Natur iſt — erlangt man
nur nach vieljaͤhriger Arbeit und Erfahrung.
14.
Und nun zum Schluſſe dieſes Capittels
auch etwas uͤber den Nutzen, den uns der Um¬
gang mit Menſchen in der großen Welt gewaͤhrt!
Er iſt wahrlich nicht unbetraͤchtlich. Vorſchrif¬
ten, welche uns auf die erlaubten Sitten der
feinern Societaͤt verweiſen, ſind freylich keine
Grundſaͤtze der Moral, ſondern nur der Ueber¬
einkunft; allein eben dieſe Uebereinkunft beruht
doch darauf, daß man ſuche, ſich und Andern,
in einer zwangvollen Lage, deren Ungemaͤchlich¬
keit[65] keit wir nun einmal nicht ganz aus dem Wege
raͤumen koͤnnen, ſeinen Zuſtand ſo leidlich als
moͤglich zu machen, ohne dazu ſolche Mittel zu
ergreifen, die unſern innern Werth auf das
Spiel ſetzen. Dieſer innere Werth aber, der,
wie ein Schatz unter der Erde, immer, auch
verborgen, Gold bleibt, kann doch Witwen und
Waiſen naͤhren, und Monarchen und Reiche
zum Wohl der Welt in Wuͤrkſamkeit ſetzen,
wenn er hervorgeholt und durch den Stempel
der Convention in Umlauf gebracht, wenn er all¬
gemein anerkannt wird — anerkannt von Denen,
die ſich auf reines Gold verſtehen, und anerkannt
von Denen, die nur auf das Gepraͤge achten —
Alſo daͤchte ich, man eiferte nicht ſo heftig gegen
den wahren feinen Weltton. Er lehrt uns, die
kleinen Gefaͤlligkeiten nicht auſſer Acht zu laſſen,
die das Leben ſuͤß und leicht machen. Er er¬
weckt in uns Aufmerkſamkeit auf den Gang des
menſchlichen Herzens, ſchaͤrft unſern Beobach¬
tungsgeiſt, gewoͤhnt uns daran, ohne zu kraͤnken
und ohne gekraͤnkt zu werden, mit Menſchen al¬
ler Art leben zu koͤnnen. Der aͤchte und zugleich
redliche alte Hofmann verdient wahrlich Vereh¬
rung, und man braucht nicht in die Wuͤſten zu
fliehn,(Zweiter Th.) E[66] fliehn, noch ſich in Studierzimmern zu vergra¬
ben, um auf den Titel eines Philoſophen An¬
ſpruch machen zu duͤrfen. Ja! ohne einige
Kenntniß der großen Welt hilft uns alle Stu¬
ben-Gelehrſamkeit, alle Menſchenkunde aus
Buͤchern ſehr wenig. Ich rathe alſo jedem jun¬
gen Manne, der edeln Ehrgeiz, Durſt nach
Welt- und Menſchen-Kenntniß und Begierde
hat, nuͤtzlich und thaͤtig zu ſeyn, wenigſtens auf
einige Zeit den groͤßern Schauplatz zu betreten,
waͤre es auch nur, um Stoff zu ſammeln zu
Beobachtungen, die einſt im Alter ſeinen Geiſt
beſchaͤftigen und ihn in den Stand ſetzen, ſei¬
nen Kindern und Enkeln, die vielleicht beſtimmt
ſind an Hoͤfen oder in großen Staͤdten ihr Gluͤck
zu ſuchen, weiſe Lehren zu geben.
Vier¬[67]
Viertes Capittel.
Ueber den Umgang mit Gelehrten und
Kuͤnſtlern.
1.
Wenn der Titel eines Gelehrten nicht heut zu
Tage ſo gemein wuͤrde, als der eines Gentel¬
mann in England; wenn man ſich unter einem
Gelehrten immer nur einen Mann denken
duͤrfte, der ſeinen Geiſt durch wahrhaftig nuͤtz¬
liche Kenntniſſe ausgebildet, und dieſe Kennt¬
niſſe zu Veredlung ſeines Herzens angewendet
haͤtte — kurz! einen Mann, den Wiſſenſchaf¬
ten und Kuͤnſte zu einem weiſern, beſſern und
fuͤr das Wohl ſeiner Mitbuͤrger thaͤtigern Men¬
ſchen gemacht haͤtten; dann brauchte ich hier
kein Capittel uͤber den Umgang mit ſolchen Leu¬
ten zu ſchreiben. Was bedarf es einer Vorſchrift,
wie man mit dem Weiſen und Edeln umgehn
ſoll? An ſeiner Seite zu horchen auf die Lehren,
die von ſeinen Lippen ſtroͤhmen; ſeine Augen
auf ihn gerichtet zu haben, um ſein Beyſpiel
die Richtſchnur unſrer Handlungen ſeyn zu laſ¬
ſen; die Wahrheit von ihm zu vernehmen, und
E 2die¬[68] dieſer Wahrheit zu folgen — das iſt ein Gluͤck,
deſſen Genuß nicht nach Regeln gelernt zu wer¬
den braucht. Wenn aber heut zu Tage jeder
elende Verſeſchmidt, Compilator, Journaliſt,
Anecdoten-Jaͤger, Ueberſetzer, Pluͤnderer frem¬
der literariſchen Guͤter, und uͤberhaupt Jeder,
der die unbegreifliche Nachſicht unſers Publi¬
cums misbraucht, um ganze Baͤnde voll Unſinn,
Thorheit und Wiederholung laͤngſt beſſer geſag¬
ter Dinge drucken zu laſſen, ſich ſelber einen Ge¬
lehrten nennt; wenn die Wiſſenſchaften nicht
nach dem Grade ihrer Nuͤtzlichkeit fuͤr die Welt,
ſondern nach dem veraͤnderlichen, leichtfertigen
Geſchmacke des leſenden Poͤbels geſchaͤtzt, ſpe¬
culative Grillen Weisheit genannt werden, fie¬
berhafte Phantaſie fuͤr Schwung und Begeiſte¬
rung gilt; wenn ein Knabe, der ſein rauhes
Gewaͤſche in abwechſelnd kurzen und langen Zei¬
len in einen Muſen-Almanach einruͤcken laͤſſt,
ein Dichter heiſſt; wenn der Menſch, der mit
ſeinen Fingern ein Gewuͤhl von falſchen Toͤnen,
ohne Verbindung und Ausdruck, den Saiten
entlockt, ein Tonkuͤnſtler, Der, welcher ſchwarze
Puncte, in Abſchnitte eingetheilt, auf Papier
ſetzen kann, ein Componiſt, Der, welcher auf
Bret¬[69] Brettern herumſpringt, ein Taͤnzer genant
wird; dann muß man wohl ein Paar Worte
daruͤber ſagen, wie man ſich im Umgange mit
ſolchen Leuten zu betragen hat, wenn man nicht
fuͤr einen Mann ohne Geſchmack und Kenntniß
angeſehn ſeyn will.
2.
Beurtheile nicht den moraliſchen Character
des Gelehrten nach dem Inhalte ſeiner Schrif¬
ten! Auf dem Papiere ſieht der Mann oft ganz
anders aus, als in natura. Auch iſt das ſo
uͤbel nicht zu nehmen. Am Schreibtiſche, wo
man die ruhigſte Gemuͤthsverfaſſung waͤhlen
kann, wenn keine ſtuͤrmiſche Leidenſchaften un¬
ſern Geiſt aus ſeiner Faſſung bringen; da laſſen
ſich herrliche moraliſche Vorſchriften geben, die
nachher in der wuͤrklichen Welt, wo Reizung,
Ueberraſchung und Verfuͤhrung von Seiten der
beruͤchtigten drey geiſtlichen Feinde uns hin und
hertreiben, nicht ſo leicht zu befolgen ſind. Alſo
ſoll man freylich den Mann der Tugend pre¬
digt, darum nicht immer fuͤr ein Muſter von
Tugend halten, ſondern auch bedenken, daß er
ein Menſch bleibt, ihm wenigſtens dafuͤr dan¬
ken,E3[70] ken, daß er vor Fehlern warnt, wenn er ſelbſt
auch nicht ſtark genug iſt, dieſe Fehler zu ver¬
meiden, und es wuͤrde unbillig ſeyn, ihn des¬
falls fuͤr einen Heuchler zu halten (obgleich es
eben ſo unbillig waͤre, ohne Beweis vorauszu¬
ſetzen, er thue das Gegentheil von dem, was er
lehrt, oder man muͤſſe ſeine Worte anders aus¬
legen, als ſie lauten.) Von der andern Seite
ſoll man auch nicht die Grundſaͤtze, die ein
Schriftſteller den Perſonen ſeiner eigenen Schoͤ¬
pfung in den Mund legt, als ſeine eigenen an¬
ſehn, noch einen Mann deswegen fuͤr einen Boͤ¬
ſewicht, oder Faun, oder Menſchenhaſſer hal¬
ten, weil ſeine uͤppige Phantaſie, ſein Feuer
ihn verleitet, irgend einen boshaften Character
von einer glaͤnzenden Seite darzuſtellen, oder
eine wolluͤſtige Scene mit lebhaften Farben zu
ſchildern, oder mit Bitterkeit uͤber Thorheiten zu
ſpotten. Wohl thaͤte er beſſer, wenn er das un¬
terlieſſe, aber er iſt darum noch kein ſchlechter
Mann, und ſo wie man bey hungrigem Magen
Goͤtter-Malzeiten ſchildern kann; ſo kenne ich
Dichter, die Wein und materielle Liebe beſin¬
gen, und dennoch die maͤßigſten, keuſcheſten
Menſchen ſind; kenne Schriftſteller, die Greuel
von[71] von Schandthaten mit der treffendſten Wahr¬
heit dargeſtellt haben, und dennoch Rechtſchaft¬
fenheit und Sanftmuth in ihren Handlungen
zeigen; kenne endlich Satyriker, voll Menſchen¬
liebe und Wohlwollen.
Eine andre Art von Ungerechtigkeit gegen
Schrifftſteller und Kuͤnſtler begeht man, wenn
man von ihnen erwartet, ſie ſollen auch im ge¬
meinen Leben nichts als Sentenzen reden, nichts
als Weisheit und Gelehrſamkeit predigen. Der
Mann, der am glaͤnzendſten von einer Kunſt
ſchwaͤtzt, iſt darum nicht immer der, welcher
die gruͤndlichſten Kenntniſſe davon beſitzt. Es
iſt nicht einmal angenehm und ſchmeckt nach
Pedanterey, wenn wir Jeden ohne Unterlaß
von unſern eigenen Lieblings-Beſchaͤftigungen
unterhalten. Man geht in Geſellſchaften, um
ſich zu zerſtreuen, um auch einmal Andre als ſich
ſelbſt zu hoͤren. Nicht Jeder hat ſo viel Gegen¬
wart des Geiſtes, mitten im Getuͤmmel, und
wenn er durch Fragen und Vorwitz uͤberraſcht
wird, mit Wuͤrde und Beſtimmtheit von Ge¬
genſtaͤnden zu reden, die er vielleicht zu Hauſe
in ſeinem einſamen Zimmer mit der groͤßten
Klar¬E 4[72] Klarheit durchſchauet. Und dann giebt es auch
Geſellſchaften, in welchen die Leute ſo gaͤnzlich
anders als wir geſtimmt ſind, die Dinge von ſo
durchaus andern Seiten anſehen, daß es nicht
moͤglich iſt, in dem erſten Augenblicke ſich ſo
zu faſſen, daß man etwas Geſcheutes auf das
antworte, was ſie uns vortragen. Auch hat ja
ein Gelehrter, ſo gut als ein andrer Erdenſohn,
ſeine Launen, iſt nicht ſtets gleich aufgelegt zu
wiſſenſchaftlichen und uͤberhaupt zu ſolchen Ge¬
ſpraͤchen, die Nachdenken erfordern; Oder die
Menſchen, die er um ſich ſieht, behagen ihn
nicht, ſcheinen ihm keines Aufwandes von Ver¬
ſtand und Witz wuͤrdig.
Als vor ohngefehr ſieben Jahren der Abbe'
Raynal in den Rhein-Gegenden war, wurde
ich einſt mit ihm in einem vornehmen Hauſe zu
Gaſte geladen. Es hatte ſich da eine Schaar
neugieriger Damen und Herrn nebſt einigen
ſchoͤnen Geiſtern verſammlet, um ihn zu bewun¬
dern, und von ihm bewundert zu werden. Er
ſchien zu beyden nicht aufgelegt und, ich geſtehe
es, der Ton ſeiner Unterhaltung gefiel mir gar
nicht. Die ganze Geſellſchaft aber war aufge¬
bracht[73] bracht und erbittert gegen den Mann, der ihre
Erwartungen ſo getaͤuſcht hatte, und das gieng
denn ſo weit, daß Alle behaupteten: Dieſer ſey
nicht der Abbe' Raynal geweſen, oder es ſey ohn¬
moͤglich, daß der Abbe' Raynal ſo ſchoͤne Sachen
geſchrieben habe.
Spricht aber ein Gelehrter, ein Kuͤnſtler
gern und viel von ſeinem Fache! ſo nim ihm
auch das nicht uͤbel auf! Die ungluͤckliche Poly¬
hiſtorey, die Wuth auf allen Zweigen der Wiſ¬
ſenſchaften und Kuͤnſte herumzuhuͤpfen, ſich zu
ſchaͤmen, daß irgend etwas unter der Sonne
ſeyn duͤrfte, woruͤber wir nicht raiſonnieren
koͤnnten, iſt nicht eben das, was unſerm Zeit¬
alter am mehrſten Ehre macht, und wenn es
langweilig iſt, einen Mann alle Geſpraͤche auf
ſeinen Lieblings-Gegenſtand lenken zu hoͤren; ſo
iſt es mehr als langweilig, es iſt empoͤhrend,
wenn ein Schwaͤtzer entſcheidende Urtheile uͤber
Dinge ausſpricht, die gaͤnzlich auſſer ſeinem Ge¬
ſichtskreiſe liegen, wenn der Prieſter uͤber Poli¬
tic, der Juriſt uͤber Theater, der Arzt uͤber Ma¬
lerey, die Cokette uͤber philoſophiſche Gegen¬
ſtaͤnde, der ſuͤße Herr uͤber Tactic deraiſoniert.
E 5Er¬[74] Erlaube dem Manne, der etwas gelernt hat,
mit Leidenſchaft von ſeiner Kunſt, von ſeiner
Wiſſenſchaft zu reden, ja! gieb ihm Gelegen¬
heit dazu! Man iſt wahrlich recht viel werth
in der Welt, wenn man — doch uͤbrigens bey
geſundem Hausverſtande — Ein Fach aus dem
Grunde verſteht, und mich eckelt vor den her¬
umwandelnden encyclopaͤdiſchen Woͤrterbuͤchern.
3.
Die mehrſten Schriftſteller verzeyhen es
uns leichter, wenn wir ihren ſittlichen Character,
als wenn wir ihren Ruf in der gelehrten Welt
anraſten. Man ſey daher vorſichtig in Beur¬
theilung ihrer Producte! Selbſt dann, wenn
ſie uns um unſre Meinung daruͤber fragen, iſt
dies immer ſo auszulegen, als baͤthen ſie uns,
um ein Lob. Den Fall ausgenommen, wenn
Freundſchaft uns zu voͤlliger Offenherzigkeit ver¬
pflichtet, rathe ich alſo, bey ſolchen Gelegenhei¬
ten, wo man ohnmoͤglich ohne Niedertraͤchtig¬
keit loben, wenigſtens etwas zu ſagen, das die
Eitelkeit als Beyfall auslegen kann.
Faſt[75]
Faſt noch ungnaͤdiger pflegen es die Herrn
aufzunehmen, wenn man gar nichts von ihrer
Autorſchaft weiß, gar nichts von ihnen geleſen
hat, oder wenn man den Mann, eines Buches
wegen, das er geſchrieben, dennoch im gemeinen
Leben nicht anders wie Jeden behandelt, der auf
andre Weiſe der Welt nuͤtzlich wird, endlich,
wenn man Grundſaͤtze aͤuſſert, die nicht in ihr
Syſtem paſſen, die mit denen ſtreiten, zu deren
Behauptung ſie ſo manchen Bogen Papier mit
Buchſtaben verſehn haben. Huͤte Dich vor die¬
ſem Allen, wenn Du einen Schriftſteller nicht
beleidigen willſt! Allein unterſcheide auch wohl,
welchen Mann Du vor Dir haſt, groß, klein,
oder mittelmaͤßig! Alle riechen den Weyhrauch
gern, der ihnen geſtreuet wird, aber nicht Jeden
darf man auf gleich grobe Art einraͤuchern. Der
Eine nimmt vorlieb, wenn Du es ihm grade in
den Bart ſagſt: er ſey ein großer Mann; der
Andre iſt zufrieden, wenn Du nur, ohne Wie¬
derſpruch, erlaubſt, daß er dies ſelbſt von ſich
ſage; der Dritte verlangt nichts von Dir, als
Hiobs Geduld, wenn er Dir ſeine elenden Pro¬
ducte vorlieſt; Den Vierten kitzelt eine kleine
vortheilhafte Anſpielung auf irgend eine Stelle
aus[76] aus ſeinen Schriften; den Fuͤnften behagt aͤuſſere
ausgezeichnete Ehrerbiethung wenn auch von
ſeiner Autorſchaft nicht ausdruͤcklich Erwaͤhnung
geſchieht, und ein Sechſter endlich — es ſey mir
erlaubt, neben Dieſem mein Plaͤtzgen zu neh¬
men! — begnuͤgt ſich, wenn die wenigen Edeln
ihm die Gerechtigkeit wiederfahren laſſen, zu
glauben, daß es ihm wenigſtens um Wahrheit
und Tugend zu thun ſey, daß er nichts geſchrie¬
ben habe, deſſen ſein Herz ſich zu ſchaͤmen
brauchte, und daß, wenn ſeine Werke keine Mei¬
ſterſtuͤcke ſind, ſie ſich doch auch nicht ausſchlie߬
lich zu Roſinen-Duͤten qualificieren.
4.
Luſtig, anzuſehn aber iſt es, wenn zwey
Schriftſteller ſich einander muͤndlich oder ſchrift¬
lich loben und preiſen, vortheilhafte Rezenſionen
gegenſeitig erſchleichen, ſich bey lebendigem Leibe
einbalſamieren, und ſich eine glaͤnzende Ewig¬
keit zuſichern. Ueberhaupt mag ich wohl ein
ruhiger Zuſchauer ſeyn, wenn ein Paar Leute
zuſammen kommen, die gern von einander be¬
wundert werden moͤgten, oder die ſehr viel Gu¬
tes von einander gehoͤrt haben. Wie ſie ſich
dre¬[77] drehen und wenden, um ſich wechſelsweiſe die
ſchwache Seite abzujagen! Und wenn ſie nun
aus einander gehen, dann zeigt ſich immer, daß
der Eine den Andern vortrefflich findet, wenn
Dieſer ihm entweder Gelegenheit gegeben hat,
ſeine Talente auszukramen, oder wenn beyde
Narren ſich auf aͤhnliche ſympathetiſche Thor¬
heiten ertappt haben.
Nicht ſo luſtig aber iſt der Anblick des Un¬
weſens, das man ſo oft unter Gelehrten wahr¬
nimmt, die entweder wegen der Verſchiedenheit
ihrer Meinungen und Syſteme ſich vor dem
ehrſamen Volke wie Bettelbuben herumzanken,
oder wenn ſie an dem nemlichen Orte leben, und
in dem nemlichen Fache auf Ruhm Anſpruch
machen, einander verfolgen, haſſen, einander
auch nicht die mindeſte Gerechtigkeit wiederfah¬
ren laſſen; wie Einer den Andern zu verkleinern
und bey dem Publico herabzuſetzen ſucht — Pfui!
der Niedertraͤchtigkeit! Iſt denn die Quelle der
Wahrheit nicht reich genug, um zugleich den
Durſt vieler Tauſenden zu ſtillen, und koͤnnen
Neid, Scheelſucht und poͤbelhafte Erbitterung
auch Geiſter herabwuͤrdigen, die der Weisheit
ge¬[78] geweyhet ſind? — doch hieruͤber iſt ſchon oft
ſo viel geſagt worden, daß ich es fuͤr beſſer halte,
einen Vorhang vor ſolche gelehrte Proſtitutionen
zu ziehn, die leider! in unſern Zeiten nicht ſel¬
ten geſehn werden.
5.
Es giebt Leute, die ſich dadurch Gewicht
zu geben ſuchen, daß ſie ſich ihrer Verbindung,
ihrer Verwandſchaft, Freundſchaft, oder ihres
Briefwechſels mit Gelehrten ruͤhmen. Das iſt
eine Thorheit, der man ſich enthalten ſoll. Ein
Mann kann große Verdienſte als Schriftſteller
haben, ohne daß uns desfalls eine genaue Ver¬
bindung mit ſeiner Perſon Ehre macht. Man
iſt auch darum nicht gleich weiſe und gut, wenn
Weiſe und Edle uns mit Nachſicht und Freund¬
lichkeit behandeln. Auch kann ich das Citiren
und Berufen auf fremde Autoritaͤten, wie uͤber¬
haupt alles Prahlen und Schmuͤcken mit frem¬
den Federn nicht leiden. Das mittelmaͤſſigſte
ſelbſt Gedachte und mit Ueberzeugung Gefuͤhlte
iſt fuͤr uns mehr werth, als das Vortreflichſte,
ſo wir blos nachlaſſen.
6.[79]
6.
Unter den heutigen ſo genannten Gelehrten
muß man billiger Weiſe einigen unſrer Journa¬
liſten und Anecdoten-Sammler einen anſehnlichen
Rang einraͤumen. Mit dieſen Leuten aber iſt
eine ganz beſondre Vorſicht im Umgange noͤthig.
Sie ſtehen gemeiniglich, bey geringem Vorrathe
an eigener Gelehrſamkeit, im Solde irgend ei¬
ner herrſchſuͤchtigen Parthey, oder eines Anfuͤh¬
rers derſelben, ſey es nun von Naturaliſten,
Ortodoxen, Deiſten, Schwaͤrmern, Weltbuͤr¬
gern, Myſtikern, oder wovon es immer ſey.
Dann ziehen ſie durch's Land, um Maͤrchen zu
ſammlen, die ſie nach Gelegenheit Documente
nennen, oder mit dem Schwerdte der Verleum¬
dung Jeden zu verfolgen, der nicht zu ihrer
Fahne ſchwoͤren will, Jedem das Maul zu ſtop¬
fen, der es wagt, an ihrer Ohnfehlbarkeit zu
zweifeln. Ein einziges Woͤrtgen, das nicht in
ihr Syſtem paſſt, und das ſie irgendwo auffan¬
gen, giebt ihnen Stoff zu Verketzerungen, zu
unwuͤrdigen Neckereyen, zu Verfolgungen der
beſten, ſorgloſeſten, planloſeſten Menſchen. Sey
behutſam im Reden, wenn ein Solcher Dich
freundlich beſucht und erwarte, daß er nach¬
her[80] her einmal Dein Portrait und alles drucken
laſſen werde, was er bey Dir geſehn und ge¬
hoͤrt hat! Der Mann, der dies Handwerk
in Teutſchland am heftigſten treibt, und ge¬
gen den alle Art von rechtlicher und handfeſter
Huͤlfe vergebens angewendet wird; dieſer Mann
heiſſt — ich muß ihn hier oͤffentlich nennen —
heiſſt — Anonymus, und iſt ein gar verteufel¬
ter Kerl. Da er ſich, wie Cartouche, in ſo viel¬
fache Geſtalten umzuformen weiß, daß kein
Steckbrief auf ihn paſſt; ſo rathe ich, jeden Un¬
bekannten, der gewiſſe Mode-Woͤrter, wie zum
Beyſpiel: Aufklaͤrung, Publicitaͤt, Denk-Frey¬
heit, Toleranz, oder einzig ſeligmachenden Glau¬
ben, oder Jeſuitismus, Catholicismus, Hierar¬
chie, hoͤhere Wiſſenſchaften, Magnetismus, oder
dergleichen gar zu oft im Munde fuͤhrt, vorerſt
fuͤr jenen Herrn Anonymus zu halten, der ein
garſtiger, ſchadenfroher Spitzbube iſt, und um¬
hergeht, wie ein bruͤllender Loͤwe, um zu ſuchen,
wen er verſchlingen moͤgte — leo rugiens, mu¬
giens, quaerens, quem deferet.
7.
Mit Tonkuͤnſtlern, einer Gattung von
Dichtern, Componiſten, Taͤnzern, Schauſpie¬
lern[81] lern, Malern und Bildhauern iſt der caſus
ganz anders zu behandeln. Dieſe ſind — es
verſteht ſich immer, daß ich in jeder Claſſe von
Menſchen die Beſſern ausnehme — wohl keine
gefaͤhrliche, aber deſto eitlere und oft ſehr zu¬
dringliche und unſichre Leute. Weit entfernt zu
fuͤhlen, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte, obgleich man
ihnen nicht den Einfluß auf Herz und Sitten
abſprechen kann, doch am Ende zum Haupt¬
zwecke nur das Vergnuͤgen haben, folglich
im Werthe fuͤr das Gluͤck der Welt, den hoͤhern,
wichtigern, ernſthaftern Wiſſenſchaften nachſtehn
muͤſſen; weit entfernt zu fuͤhlen, daß, um wahr¬
haftig den Titel eines großen Mannes zu ver¬
dienen, man mehr verſtehn und mehr muͤſſe be¬
wuͤrken koͤnnen, als Augen zu vergnuͤgen, Oh¬
ren zu kitzeln, Phantaſien zu erhitzen, und
Herzgen in Aufruhr zu bringen, ſehen ſie ihre
Kunſt als das Einzige an, was des Beſtrebens
eines vernuͤnftigen Menſchen werth waͤre, und
es muß uns nicht befremden, wenn ein Taͤnzer,
der hoͤher beſoldet wird, als ein Staatsminiſter,
herzlich bedauert, daß Dieſer nichts beſſers ge¬
lernt habe. Der philoſophiſchen Kuͤnſtler, ſo
wie Georg Benda Einer war, der beſcheidenen
Vir¬(Zweiter Th.)[82] Virtuoſen, wie der edle Fraͤnzl und ſein liebens¬
wuͤrdiger Sohn in Manheim, der verſtaͤndigen
mit allen Privat-Tugenden geſchmuͤckten Ma¬
ler, wie der alte Tiſchbein, der Schauſpieler,
bey denen Kopf, Herz und Sitten gleich viel
Verehrung verdienen, wie unſer Iffland — ſol¬
cher Maͤnner giebt es nicht ſo gar Viele unter
ihnen. Ich rathe desfalls, einen aͤuſſerſt ver¬
traueten Umgang mit dieſer Menſchen-Claſſe
nur nach der ſtrengſten Auswahl zu ſuchen.
Cantores amant humores, das heiſſt: auf ein
Liedgen ſchmeckt ein Schluͤckgen. Saͤnger,
Dichter und dergleichen lieben das Wohlleben,
und das kann uns nicht wundern. Es giebt
wohl eine Art von Begeiſterung, zu der ſich die
Seele bey der einfachſten, maͤßigſten Lebensart
erheben kann, und die Wahrheit zu geſtehn, das
iſt wohl die einzige, deren Fruͤchte auf Unſterb¬
lichkeit Anſpruch machen duͤrfen. Hoher
Schwung des Genius, hinauf zu der heiligen,
reinen Quelle, aus welcher er entſprungen, iſt
freylich ganz von andrer Art, als Spannung
der Nerven, Erhitzung der Phantaſie, durch
Reizung der Sinne, und man ſieht es ſolchen
Werken, wie Klopſtocks Meſſias iſt, bald an,
daß[83] daß ihr Feuer nicht aus der Champagner-Flaſche
gezogen worden. Allein wie wenig Kuͤnſtler
werden von jener beſſern Glut entzuͤndet! Ihre,
durch unordentliche Auffuͤhrung und ungluͤckliche
aͤuſſerliche Verhaͤltniſſe, uͤber welche ſie nicht
Kraft genug haben ſich durch Philoſophie zu er¬
heben, ihre dadurch geſchwaͤchte Maſchiene, ſage
ich, fordert, um nicht ganz den Geiſt niederzu¬
druͤcken, gewaltſame Staͤrkungs- oder vielmehr
berauſchende Mittel. Dies treibt ſie zuerſt zu
einem den ſinnlichen Freuden gewidmeten Leben.
Dazu koͤmmt, daß Der, welcher einmal die ſchoͤ¬
nen Kuͤnſte zu ſeinem einzigen Berufe gemacht
hat, ſelten noch Geſchmack an ernſthaften Ge¬
ſchaͤften findet, ſondern daß dieſe ihm aͤuſſerſt
trocken ſcheinen, und da man doch nicht immer
ſingen, geigen, pfeifen und kleckſen kann; ſo
bleiben viel Stunden des Tages auszufuͤllen,
welche dann dem Wohlleben geopfert werden.
An weiſe Vertheilung und Anwendung der Zeit,
an Aufſuchung eines lehrreichen und vernuͤnfti¬
gen Umgangs denken alſo dieſe Herrn ſelten, und
ſie ſchaͤtzen den Mann, der ihnen ſinnliche Freu¬
den gewaͤhrt und ſie dabey ſchmeichelt, hoͤher,
als den Weiſen, der ſie auf den Weg der Wahr¬
F 2heit[84] heit und Ordnung fuͤhrt. Jenem draͤngen ſie
ſich auf. Dieſen fliehen ſie. Bey dem allgemein
einreiſſenden frivolen Geſchmacke unſers Zeital¬
ters, bey der Vernachlaͤſſigung ſolider Wiſſen¬
ſchaften iſt dies, wie ich glaube, ein Wort zu
ſeiner Zeit geredet, moͤgte man mich auch des¬
wegen fuͤr einen Pedanten halten! Jeder ſeichte
Kopf, der nur ein weiches Herzgen hat, den
edeln Muͤßiggang und ein liederliches Leben liebt,
legt ſich heut zu Tage auf die ſchoͤnen Wiſſen¬
ſchaften, glaubt Beruf zum Kuͤnſtler zu haben,
macht Verſe, ſchreibt fuͤr das Theater, ſpielt ein
Inſtrument, componiert, pinſelt — und ſo muß
denn am Ende der Geſchmack ausarten und die
Kunſt veraͤchtlich werden. Deswegen ſehen wir
auch ganze Heerden ſolcher Kuͤnſtler herumlau¬
fen, die nicht einmal mit den erſten theoretiſchen
Grundſaͤtzen ihrer Kunſt bekannt ſind; Muſiker,
die nicht wiſſen, aus welcher Tonart ſie ſpielen,
die nichts vorzutragen verſtehen, als was ſie auf
ihrer Geige oder Pfeife auswendig gelernt haben;
ohne philoſophiſchen Geiſt, ohne geſunde Ver¬
nunft, ohne Studium, ohne wahres Natur-
Gefuͤhl, aber dagegen mit deſto mehr Selbſtge¬
nuͤgſamkeit und Impertinenz ausgeruͤſtet; unter
ſich[85] ſich von Brodneid entbrannt; neidiſch auf einen
Liebhaber, der ihr Hauptſtudium nur als Neben¬
ſache treibt, und dennoch mehr davon weiß, als
ſie, die weiter nichts gelernt haben. Hat ein
Solcher aber Anhang unter den Leuten nach der
Mode, genießt er die Protection der anmaßli¬
chen Kenner; ſo wage man es ja nicht, laut zu
ſagen, daß er ein Stuͤmper ſey, wenn man nicht
fuͤr einen unwiſſenden Menſchen gelten, und alle
Dilettanten gegen ſich aufbringen will! Allein
wen eckelt nicht vor der Menge ſolcher vorneh¬
men und geringen Dilettanten, vor ihren ſchie¬
fen Urtheilen, vor ihrem albernen Gewaͤſche?
Willſt Du Dich bey dieſem wilden Haufen be¬
liebt machen; ſo muſſt Du die Geduld haben,
ihren Unſinn auzuhoͤren, oder gar die Nieder¬
traͤchtigkeit begehn, ihn zu loben, und ihren
Maͤchtſpruͤchen beyzupflichten. Willſt Du Dich
aber bey ihnen in Anſehn ſetzen; ſo ſey ja nicht
beſcheiden, ſondern eben ſo unverſchaͤmt, wie ſie!
Entſcheide mit Kuͤhnheit! Tritt mit Zuverſicht
mitten unter die groͤßten Maͤnner! Dringe Dich
hervor! Thue, als ſeyeſt Du aͤuſſerſt eckel in
Deinem Geſchmacke, als ſey es ſchwer, den
Beyfall Deines verwoͤhnten Auges und Ohrs
zuF3[86] zu gewinnen! Rede von dem allgemeinen Rufe,
in welchem Deine Kenntniſſe ſtuͤnden! Verachte,
was Dir zu hoch iſt! Schuͤttle bedeutend mit
dem Kopfe, wenn Du nichts Paſſendes zu ſa¬
gen weiſſt! Begegne dem Anfaͤnger mit Ueber¬
muthe! Schmeichle vornehme, reiche und maͤch¬
tige Dilettanten und Maͤcenaten! Befoͤrdre die
Luſt an Spielwerken und Kleinigkeiten, an nied¬
lichen Rondo's, an Bierhaus-Minuetten mitten
in ernſthaften Stuͤcken, an buntſchaͤckichtem Co¬
loritte, an Sinn-Gedichtgen, an Bombaſt und
leerer Phraſeologie, an Schauſpielen voll Greuel,
Verwicklung und Uebertreibung! — So kannſt
Du Dein Schaͤrflein zum allgemeinen Verderb¬
niſſe des Geſchmacks redlich beytragen! Fuͤhlſt
Du aber Kraft in Dir, und haſt nicht Urſache,
Menſchen zu ſcheuen; ſo wiederſetze Dich dem
Unweſen! eifre gegen dieſe Erbaͤrmlichkeiten,
aber eifre mit Gruͤnden, und ruͤcke den Midaſſen
unſrer Zeit die großen Peruͤcken und Narrenkap¬
pen zuruͤck, damit man ihre langen Ohren ſehe,
und ſich nicht durch ihre Amtsgeſichter taͤuſchen
laſſe! Traurig iſt es indeſſen, daß auch der wahr¬
haftig große Kuͤnſtler heut zu Tage einen Theil
dieſer Wege einſchlagen muß, wenn er nicht dem
Char¬[87] Charlatan das Feld raͤumen will; daß er oft Na¬
tur, Beſcheidenheit, Einfalt und Wuͤrde der
Mode und dem Vorurtheile aufzuopfern, ſich
mit falſchem Glanze auszuruͤſten, ſich zum Wind¬
beutel und Spaßmacher zu erniedrigen gezwun¬
gen iſt, um zu gefallen und Brod zu finden.
8.
Nun noch ein Wort zur Warnung fuͤr den
Juͤngling, in Betracht der Kuͤnſtler, beſonders
der Schauſpieler, von gemeiner Art! Ich habe
vorhin geſagt, daß der vertrauete Umgang mit
den Mehrſten derſelben, von Seiten ihrer
Kenntniſſe, ihres ſitlichen Lebens und ihrer oͤko¬
nomiſchen Umſtaͤnde, fuͤr Kopf, Herz und Geld¬
beutel nicht ſehr vortheilhaft ſeyn koͤnne; allein
noch in andern Ruͤckſichten muß ich Vorſicht em¬
pfehlen. Wenn man aber weiß, welch ein war¬
mer Verehrer der ſchoͤnen Kuͤnſte ich ſelbſt bin;
ſo wird man mir wohl nicht Schuld geben, daß
es aus Vorurtheil oder Kaͤlte geſchehe, wenn
ich dem Juͤnglinge rathe, maͤßig im Genuſſe
der ſchoͤnen Kuͤnſte, maͤßig im Genuſſe des Um¬
gangs mit der gefaͤlligen Muſen und deren Prie¬
ſtern zu ſeyn. Muſic, Poeſie, Schauſpielkunſt,
F 4Tanz[88] Tanz und Malerey wuͤrken freylich wohlthaͤtig
auf das Herz. Sie machen es weich und em¬
pfaͤnglich fuͤr manche edle Gefuͤhle; ſie erheben
und bereichern die Phantaſie, ſchaͤrfen den Witz,
erwecken Froͤhlichkeit und Laune, mildern die
Sitten, und befoͤrdern die geſelligen Tugenden.
Allein eben dieſe herrlichen Wuͤrkungen koͤnnen,
wenn ſie uͤbertrieben werden, mannigfaltiges
Elend veranlaſſen. Ein zu weiches, weibiſches,
von allen wahren und eingebildeten, eigenen und
fremden Leiden in Aufruhr zu bringendes Ge¬
muͤth iſt wahrlich ein trauriges Geſchenk; ein
Herz, das, empfaͤnglich fuͤr jeden Eindruck, wie
ein Rohr von mannigfaltigen Leidenſchaften hin
und her zu bewegen, jeden Augenblick von an¬
dern, ſich durchkreuzenden Empfindungen hin¬
geriſſen wird; ein Nerven-Syſtem, auf wel¬
chem jeder Betruͤger, der nur den rechten Ton
zu treffen weiß, nach Gefallen ſpielen kann —
das alles wird uns ſehr zur Laſt, da, wo es auf
Feſtigkeit, unerſchuͤtterlichen maͤnnlichen Muth,
auf Ausdauern und Beharrlichkeit ankoͤmmt.
Eine zu warme, zu hochfliegende Phantaſie, die
allen unſern geiſtigen Anſtrengungen einen ro¬
manhaften Schwung giebt, und uns in eine
Ideen¬[89] Ideen-Welt verſetzt, kann uns in der wuͤrklichen
Welt theils ſehr ungluͤcklich, theils zu gaͤnzlich
unbrauchbaren Menſchen machen. Sie ſpannt
uns zu Erwartungen, erregt Forderungen, die
wir nicht befriedigen koͤnnen, und erfuͤllt uns
mit Eckel gegen alles, was den Idealen nicht
entſpricht, nach welchen wir in der Bezaube¬
rung, wie nach Schatten greifen. Ein luxurio¬
ſer Witz, eine ſchalkhafte Laune, die nicht unter
der Vormundſchaft einer keuſchen Vernunft ſte¬
hen, koͤnnen nicht nur leicht auf Unkoſten des
Herzens ausarten, ſondern wuͤrdigen uns auch
herab, verleiten zu Spielwerken, ſo daß wir,
ſtatt der hoͤhern Weisheit und nuͤchternen Wahr¬
heit nachzuſtreben und unſre Denkkraft auf wahr¬
haftig nuͤtzliche Gegenſtaͤnde zu verwenden, nur
den Genuß des Augenblicks ſuchen, und ſtatt,
mitten durch die Vorurtheile hindurch, in das
Weſen der Dinge einzudringen, uns bey den
glaͤnzenden Auſſenſeiten verweilen. Froͤhlichkeit
kann in Zuͤgelloſigkeit, in Streben nach immer¬
waͤhrenden Taumel uͤbergehn. Milde Sitten
verwandeln ſich nicht ſelten in Weichlichkeit, in
uͤbertriebene Geſchmeidigkeit, in niedre, unver¬
antwortliche Gefaͤlligkeit, die alles Gepraͤge von
maͤnn¬F5[90] maͤnnlichem Character abſchleifen, und ein Leben,
das blos den geſelligen Freuden und dem ſinnli¬
chen Vergnuͤgen gewidmet iſt, leitet uns fern
von allen ernſthaften Geſchaͤften, bey welchen
der ſpaͤtere, aber ſichere, dauerndere Genuß
durch Ueberwindung von Schwierigkeiten und
durch anhaltende Arbeit und Anſtrengung er¬
kauft werden muß; Es macht uns die fuͤr Geiſt
und Herz ſo wohlthaͤtige Einſamkeit unertraͤg¬
lich, macht uns ein ſtilles haͤusliches, den Fa¬
milien- und buͤrgerlichen Pflichten gewidmetes
Daſeyn unſchmackhaft — Mit Einem Worte!
wer ſich gaͤnzlich den ſchoͤnen Kuͤnſten widmet,
und mit den Prieſtern ihrer Gottheiten ſein
ganzes Leben verſchwelgt, der wagt es darauf,
ſein eigenes dauerhaftes Wohl zu verſcherzen,
und wenigſtens nicht ſo viel zur Gluͤckſeligkeit
Andrer beyzutragen, als er nach ſeinem Berufe
und nach ſeinen Faͤhigkeiten vermoͤgte. Alles,
was ich hier geſagt habe, trifft vorzuͤglich bey
dem Theater und bey dem Umgange mit Schau¬
ſpielern ein. Wenn unſre Schauſpiele das waͤ¬
ren, wofuͤr wir ſie ſo gern ausgeben moͤgten;
wenn ſie eine Schule der Sitten waͤren, wo
uns auf eine gefaͤllige und zweckmaͤßige Weiſe
unſre[91] unſre Verirrungen und Thorheiten dargeſtellt
und an das Herz gelegt wuͤrden, ja! dann
koͤnnte es immer recht gut ſeyn, oft die Buͤhne
zu beſuchen, und den Umgang mit Maͤnnern
zu waͤhlen, welche man als Wohlthaͤter ihres
Zeitalters anſehn muͤſſte. Man darf aber nicht
das Theater nach demjenigen beurtheilen, was
es ſeyn koͤnnte, ſondern nach dem, was es
iſt. Wenn in unſern Luſtſpielen die comiſchen
Zuͤge der Narrheiten der Menſchen ſo uͤbertrie¬
ben geſchildert ſind, daß niemand das Bild ſei¬
ner eigenen Schwachheiten darinn erkennt;
wenn romanhafte Liebe darinn beguͤnſtigt wird;
wenn junge Phantaſten und verliebte Maͤdgen
daraus lernen, wie man die alten vernuͤnftigen
Vaͤter und Muͤtter, die zur ehelichen Gluͤckſelig¬
keit mehr als eingebildete Sympathie und vor¬
uͤbergehenden Liebes-Rauſch fordern, betruͤgen
und zu ihrer Einwilligung bewegen muß; wenn
in unſern Schauſpielen Leichtſinn im gefaͤlligen
Gewande erſcheint, eminentes Laſter in Glanz
und Hoheit auftritt, und, durch einen Anſtrich
von Groͤße und Kraft, wieder Willen Bewun¬
derung erzwingt; wenn im Trauerſpiele unſer
Auge mit dem Anblicke der aͤrgſten Greuel ver¬
trau¬[92] trauet; wenn unſre Einbildungskraft an Erwar¬
tung wunderbarer, feenmaͤßiger Entwicklungen
und Aufloͤſungen gewoͤhnt wird; wenn man uns
in den Opern dahin bringt, daß es uns gleich¬
guͤltig iſt, ob die geſunde Vernunft empoͤrt wird,
in ſo fern nur die Ohren gekitzelt werden; wenn
der elendeſte Grimaſſen-Schneider, die unge¬
ſchickteſte Dirne, wenn ſie Anhang unter dem
Volke haben, allgemeine Bewunderung einernd¬
ten; wenn endlich, um alle dieſe nichtigen Zwecke
zu erlangen, unſre Theater-Dichter ſich uͤber
Wahrſcheinlichkeit, aͤchte Natur, weiſe Kunſt
und Anordnung hinaus, folglich den Zuſchauer
in den Fall ſetzen, im Schauſpielhauſe keine
Nahrung fuͤr den Geiſt, ſondern nur Zeitverkuͤr¬
zung und ſinnlichen Genuß zu ſuchen — Wer
wird ſich's da nicht zur Pflicht machen, Juͤng¬
lingen und Maͤdgen den ſparſamſten Genuß die¬
ſer Vergnuͤgungen zu empfehlen? Und nun,
was die Schauſpieler betrifft! Ihr Stand hat
ſehr viel blendendes; Freyheit; Unabhaͤngigkeit
von dem Zwange des buͤrgerlichen Lebens; gute
Bezahlung; Beyfall; Vorliebe des Publicums;
Gelegenheit da einem ganzen Volke oͤffentlich
Talente zu zeigen, die auſſerdem vielleicht ver¬
ſteckt[93] ſteckt geblieben waͤren; Schmeicheley; gute,
gaſtfreundſchaftliche Aufnahme von jungen Leu¬
ten und Liebhabern der Kunſt; viel Muſſe; Ge¬
legenheit, Staͤdte und Menſchen kennen zu ler¬
nen — Das alles kann manchen Juͤngling, der
mit einer unangenehmen Lage, oder mit einem
unruhigen Gemuͤthe, mit uͤbel geordneter Thaͤ¬
tigkeit kaͤmpft, bewegen, dieſen Stand zu waͤh¬
len, beſonders, wenn er in vertraueten Umgang
mit Schauſpielern und Schauſpielerinnen ge¬
raͤth. Aber nun die Sache naͤher betrachtet!
Was fuͤr Menſchen ſind gewoͤhnlich dieſe Thea¬
ter-Helden und Heldinnen? Leute, ohne Sitten,
ohne Erziehung, ohne Grundſaͤtze, ohne Kennt¬
niſſe; Abentheurer; Leute aus den niedrigſten
Staͤnden; freche Buhlerinnen — Mit Dieſen
lebt man, wenn man ſich demſelben Stande ge¬
widmet hat, in taͤglicher Gemeinſchaft. Es iſt
ſchwer, da nicht mit dem Strohme fortgeriſſen
zu werden, nicht zu Grunde zu gehn. Neid,
Feindſchaft und Cabale erhalten immerwaͤhren¬
den Zwiſt unter ihnen; Dieſe Menſchen ſind
nicht an den Staat geknuͤpft, folglich faͤllt bey
ihnen ein großer Bewegungsgrund, gut zu ſeyn,
die Ruͤckſicht auf ihren Ruf unter den Mitbuͤr¬
gern,[94] gern, weg. Koͤmmt noch etwa die Verachtung,
mit welcher, freylich unbilliger Weiſe, manche
ernſthafte Leute auf ſie herabſehn, hinzu; ſo
wird das Herz erbittert und ſchlecht. Die taͤg¬
liche Abwechſelung von Rollen benimt dem Cha¬
racter die Eigenheit; Man wird zuletzt aus Ha¬
bituͤde, was man ſo oft vorſtellen muß; Man
darf dabey nicht Ruͤckſicht auf ſeine Gemuͤths-
Stimmung nehmen, muß oft den Spaßma¬
cher ſpielen, wenn das Herz trauert, und um¬
gekehrt; Dies leitet zur Verſtellung; Das
Publicum wird des Mannes und ſeines Spiels
uͤberdruͤſſig; Seine Manier gefaͤllt nicht mehr
nach zehn Jahren; Das ſo leichtfertiger Weiſe
gewonnene Geld geht eben ſo leichtfertig wieder
fort — und ſo iſt denn ein armſeliges, duͤrfti¬
ges, kraͤnkliches Alter nicht ſelten der letzte Auf¬
tritt des Schauſpieler-Lebens.
9.
Wer Schauſpieler und Tonkuͤnſtler unter
ſeiner Aufſicht und Direction hat, dem rathe ich,
ſich gleich Anfangs auf einen gewiſſen Fuß mit
ihnen zu ſetzen, wenn man nicht von ihrem Ei¬
genſinne und ihren Grillen abhaͤngen will. Die
Haupt¬[95] Hauptpuncte, worauf es dabey ankoͤmmt, ſind:
ihnen zu zeigen, daß man dem Geſchaͤfte gewach¬
ſen ſey, daß man einen Kuͤnſtler zu beurtheilen
und zurechtzuweiſen verſtehe; ſie an Punctlich¬
keit und Ordnung zu gewoͤhnen, und bey der
erſten Uebertretung, Naſeweiſigkeit oder Zuͤgel¬
loſigkeit, Strenge fuͤhlen zu laſſen; ſie uͤbrigens
aber, nach Verhaͤltniß der Talente und der
ſitlichen Auffuͤhrung eines Jeden, mit Hoͤflich¬
keit und Auszeichnung zu behandeln, ohne ſich
je gemein mit ihnen zu machen.
10.
Ermuntre durch beſcheidenes Lob, aber
ſchmeichle nicht, erhebe nicht zur Ungebuͤhr den
jungen angehenden Schriftſteller und Kuͤnſtler!
dadurch verdirbt man die Mehrſten von ihnen
in Teutſchland. Das uͤbertriebene Beklatſchen
und Lobpreiſen macht ſie ſchwindlicht, aufgebla¬
ſen, hochmuͤthig. Sie beeifern ſich dann nicht
weiter, der groͤßern Vollkommenheit nachzuſtre¬
ben, und hoͤren auf, ein Publicum zu reſpecti¬
ren, das ſo leicht zu befriedigen ſcheint.
11.
So wenig Vortheil man von der Vertrau¬
lichkeit mit Kuͤnſtlern von gemeiner Art hat;
ſo[96] ſo lehrreich und unterhaltend iſt der Umgang mit
einem Manne, der philoſophiſchen Geiſt, Ge¬
lehrſamkeit und Witz mit ſeiner Kunſt verbindet.
Es iſt ein Gluͤck an der Seite eines ſolchen
Kuͤnſtlers zu leben, deſſen Geiſt durch Kenntniſſe
gebildet, deſſen Blick durch Studium der Natur
und der Menſchen geſchaͤrft, bey dem, durch die
milden Einwuͤrkungen der Muſen, das Herz zu
Liebe, Freundſchaft und Wohlwollen geſtimmt
und die Sitten gereinigt worden. Seine freund¬
liche Beredſamkeit wird uns in truͤben Stunden
aufheitern, ſein Umgang wird uns wieder mit
der Welt ausſoͤhnen, wenn Mismuth und Un¬
zufriedenheit uns plagen; Er wird uns Erho¬
lung gewaͤhren von verdrießlichen, muͤhſamen,
trocknen Berufs-Geſchaͤften, wird uns erwaͤr¬
men, wird uns neue Federkraft geben, wenn
wir durch lange Anſtrengung herabgeſpannt ſind;
Er wird uns die maͤßigſte Koſt zu einem Goͤtter¬
male, unſre Huͤtte zu einem Heiligthume, zu
einem Tempel, unſern Heerd zu einem Altar
der Muſen erhoͤhn.
Fuͤnf¬[97]
Fuͤnftes Capittel.
Ueber den Umgang mit Geiſtlichen.
1.
Ich mache, da ich nun auf den Umgang mit
Leuten von allerley Staͤnden und Verhaͤltniſſen
komme, billiger Weiſe in einem eigenen Capittel
mit der Geiſtlichkeit den Anfang. Lehrreich und
wohlthaͤtig iſt der Umgang mit einem Solchen,
der ſich aus ganzer Seele ſeinem heiligen Be¬
rufe widmet, ſeinen Verſtand und Willen durch
den ſanften Einfluß der liebevollſten Religion
Jeſu gelaͤutert hat; der Wahrheit und Tugend
mit Eifer und Waͤrme nachſtrebt, und die Kraft
des Worts durch eigenes Beyſpiel beſtaͤttigt; der
ſeiner Gemeine, Bruder, Freund, Wohlthaͤter
und Rathgeber, in ſeinem Vortrage populaͤr,
warm und herzlich iſt; durch Beſcheidenheit,
Einfalt der Sitten, Maͤßigkeit und Uneigen¬
nuͤtzigkeit ſich als einen wuͤrdigen Nachfolger der
Apoſtel auszeichnet; duldend gegen fremde Re¬
ligions-Verwandte, vaͤterlich nachſichtig gegen
Verirrte, kein Feind unſchuldiger Froͤhlichkeit,
und dabey in ſeinem haͤuslichen Cirkel ein guter,
zaͤrt¬(Zweiter Th.) G[98] zaͤrtlicher und weiſer Hausvater iſt. Allein nicht
alle Diener der Kirche ſehen dieſem Bilde aͤhn¬
lich. Menſchen ohne Erziehung und Sitten,
aus dem niedrigſten Poͤbel entſproſſen, ohne ge¬
ſunde Vernunft und ohne andre Kenntniſſe, als
die dazu gehoͤren, ſich nach einem elenden Schlen¬
drian examinieren zu laſſen, dringen ſich in die¬
ſen Stand ein, haſchen nach reichen Pfruͤnden
und Pfarreyen, und erlauben ſich, um dahin zu
gelangen, alle Arten von Schleichwege und Nie¬
dertraͤchtigkeiten. Haben ſie nun ihren Zweck
erreicht, dann faͤhrt der aͤchte Pfaffen-Geiſt in
ſie. Geizig, haabſuͤchtig, wolluͤſtig, gefraͤſſig,
Schmeichler der Großen und Reichen, uͤber¬
muͤthig und ſtolz gegen Niedre, voll Neid und
Scheelſucht gegen ihres Gleichen, ſind ſie groͤſten¬
theils daran Schuld, wenn Verachtung der hei¬
ligſten Religion ſo allgemein einreiſſt. Dieſe
Religion behandeln ſie als eine trockene Wiſſen¬
ſchaft, und ihr Amt als ein eintraͤgliches Hand¬
werk. Auf dem Lande verbauern ſie, ergeben
ſich dem Muͤſſiggange und der Bequemlichkeit,
und klagen uͤber ungeheure Arbeit, wenn ſie alle
acht Tage einmal von der Kanzel herunter die
Zuhoͤrer mit ihren dogmatiſchen, armſeligen
Spitz¬[99] Spitzfuͤndigkeiten einſchlaͤfern muͤſſen. Sie an¬
geln nach Geſchenken, Erbſchaften und Ver¬
maͤchtniſſen, wie der Teufel nach ihrer Seele.
Ihr Ehrgeiz iſt unermeßlich; ihr geiſtlicher Stolz,
ihr Despotismus, ihre hierarchiſche Herſchſucht
ohne Grenzen. Den Eifer fuͤr die Religion
brauchen ſie zum Deckmantel ihrer Leidenſchaf¬
ten. Ortodoxie iſt die Parole, blinder Glauben
und Ehre Gottes das Feldgeſchrey, wenn ſie
den unſchuldigen, ruhigen Buͤrger, der einen
Unterſchied unter Religion und Theologie macht,
die Pfaffen nicht ſchmeichelt und ihnen nicht
opfert, bis in den Tod verfolgen wollen. Ihre
Rache iſt fuͤrchterlich, unerſaͤttlich, ihre Feind¬
ſchaft unverſoͤhnlich — ich rede aus Erfahrung —
gegen Den, der ſich ihrem eiſernen Scepter nicht
unterwerfen, oder zu ihren Bosheiten nicht
ſchweigen will. Ihre Eitelkeit iſt groͤßer, als
die eines Weibes. Sie ſchleichen ſich in die
Haͤuſer und Familien ein, aus Vorwitz, kindi¬
ſcher Neugier, um ſich in Haͤndel zu miſchen,
die ſie nichts angehn, um Raͤnke zu ſchmieden,
Zwietracht zu ſtiften, und im Truͤben zu fiſchen.
Ihre Predigten, ihre Geſpraͤche und Mienen
ſind Bannſtrahlen, Verdammungs-Urtheile und
G 2Dro¬[100] Drohungen gegen andre Religions-Verwandte
und gegen Jeden, der das Ungluͤck hat, nicht
glauben zu koͤnnen, was ſie — oft ſelbſt nicht
glauben, ſondern nur lehren, weil es Geld ein¬
bringt. Sie lauſchen auf die Fehler ihrer Ne¬
benmenſchen, ſchreyen dieſelben vergroͤßert aus,
oder wo ſie das alles nicht oͤffentlich thun duͤrfen,
da wuͤrken ſie durch Andre im Verborgenen, oder
haͤngen die Maske der Demuth, der Heucheley,
des Eifers fuͤr Gottſeligkeit und gute Sitten
vor, um mit ſanfter Stimme, mit Klagen und
Winſeln, die Schwachen auf ihre Seite zu brin¬
gen, und den Weiſern und Beſſern bey dem
Volke verdaͤchtig zu machen — Ja! ſolche Un¬
geheuer giebt es unter den Dienern der Kirchen,
und nicht etwa nur in Moͤnchs-Kutten und Je¬
ſuiten-Maͤnteln — nein! mancher proteſtantiſche
Pfaffe wuͤrde ein zweyter Hildebrand ſeyn, wenn
ihm nicht die Fluͤgel beſchnitten waͤren.
2.
Da nun aber hie und da, auch unter den
weniger boshaften, ja! unter den redlichen Geiſt¬
lichen, Einige doch einen kleinen Anſtrich von
manchen dieſer Fehler, zum Beyſpiel von geiſt¬
lichem[101] lichem Stolze, von Intoleranz, von Anhaͤng¬
lichkeit an Syſtemgeiſt, von falſchem esprit de
corps, von Haabſucht, oder von Rachſucht ha¬
ben; ſo kann es wohl nicht ſchaden, wenn man
gewiſſe Vorſichtigkeits-Regeln beobachtet, die im
Umgange mit allen Perſonen dieſes Standes,
ohne Unterſchied, nicht ganz uͤbel angebracht ſind.
Man huͤte ſich alſo, ihnen Gelegenheit zu
Verketzerungen zu geben! und ſo wie uͤberhaupt
ein verſtaͤndiger Mann ſich enthaͤlt, uͤber religioͤſe
Gegenſtaͤnde in Geſellſchaften zu raiſonniren;
ſo ſoll man vorzuͤglich Acht haben, in Gegen¬
wart eines Geiſtlichen nie Ein Wort fallen zu
laſſen, das uͤbel ausgelegt, und als ein Ausfall
gegen irgend ein Kirchenſyſtem oder einen Re¬
ligions-Gebrauch angeſehn werden koͤnnte! Auch
beſuche man die Kirchen, ſelbſt wenn die Art
des Gottesdienſtes und der Vortrag des Pre¬
digers unſre Andacht nicht ſehr befoͤrdern, des
Beyſpiels wegen, und um nicht Gelegenheit zu
geben, daß man uns Gleichguͤltigkeit gegen Re¬
ligion aufbuͤrde!
Man mache in Geſellſchaft nie einen Geiſt¬
lichen laͤcherlich, moͤgte er auch noch ſo viel Ver¬
G 3an¬[102] anlaſſung dazu geben! auch rede man mit Vor¬
ſicht von ihnen! Theils machen dieſe Herrn gar
zu gern ihre eigene Sache zur Sache Gottes,
theils verdient dieſer ehrwuͤrdige Stand auf alle
Weiſe eine Schonung, die man, wegen der Un¬
wuͤrdigkeit einzelner Mitglieder, nicht aus den
Augen ſetzen darf, theils kann man durch das
Gegentheil Verachtung der Religion, die leider!
ſo ſehr einreiſſt, wieder Willen befoͤrdern.
Man bezeuge hingegen den Geiſtlichen alle
aͤuſſere Ehrerbiethung, die ſie nur irgend billi¬
ger Weiſe fordern koͤnnen, und beleidige nicht
nur keinen Derſelben, auf keine auch noch ſo ge¬
ringe Art, ſondern mache ſich auch nicht der
mindeſten, von jedem Andern leicht zu verzey¬
henden Unterlaſſungs-Suͤnde, keines Mangels
an Hoͤflichkeit gegen ſie ſchuldig!
Man laſſe, in Entrichtung der ihnen zu¬
kommenden Gebuͤhren und Abgaben, ſich keine
Abkuͤrzung, noch Saumſeligkeit zu Schulden
kommen, gebe aber auch, bey Faͤllen die oͤfter
eintreten koͤnnen, nicht zu viel! denn ſie ſchrei¬
ben gern alles auf, und machen aus Freygebig¬
keit[103] keit ein Geſetz, ein Recht, das ſie ſogar auf
ihre Nachfolger zu vererben trachten.
Man ſey gaſtfrey gegen Diejenigen, welche
eine gute Tafel und ein volles Glaͤsgen lieben!
Man huͤte ſich, bevor man den Mann
nicht recht genau kennt, einen Geiſtlichen von der
alltaͤglichen Art zum Vertraueten in haͤuslichen
Angelegenheiten und andern Dingen von Wich¬
tigkeit zu machen, und halte ihn entfernt, wenn
er ſich ohnberufen in dergleichen miſchen will!
Man verhindre die zu große Vertraulich¬
keit der Weiber und Toͤchter mit gewiſſen Beicht¬
vaͤtern und geiſtlichen Rathgebern.
3.
In Praͤlaturen und Kloͤſtern muß man den
Ton der Herrn Patrum anzunehmen verſtehn,
wenn man ihnen willkommen ſeyn will. Ein
guter, geſunder Apetit; nach Verhaͤltniß eben
ſo viel Durſt und die Gabe, ein Glaͤsgen mit
Geſchmack und oft genug ausleeren zu koͤnnen;
ein jovialiſcher Humor; ein Witz, der nicht zu
fein, ſondern ein wenig materiel ſeyn muß; zu¬
wei¬G 4[104] weilen ein Wortſpielchen; ein lateiniſches Raͤth¬
ſel, eine Anſpielung auf eine ſcholaſtiſche Spitz¬
fuͤndigkeit; einige Bekanntſchaft mit Legenden
und Kirchenvaͤtern; Beyfall, durch Bauch er¬
ſchuͤtterndes Lachen an den Tag gelegt, wenn
der Pater Spaßmacher — dies Amt pflegt ſel¬
ten ohnbeſetzt zu ſeyn — einen Schwank her¬
vorbringt; viel Ehrerbiethung gegen den hoch¬
wuͤrdigen Herrn Praͤlaten, Guardian, oder
Prior; Bewunderung der Koſtbarkeiten, Reli¬
quien, Gebaͤude und Anſtalten; kein Geſpraͤch
uͤber Aufklaͤrung und Literatur, aber deſto mehr
uͤber Politic, Krieg und Frieden, Zeitungs-
Nachrichten; Befriedigung der Neugier, wenn
nach Familien-Umſtaͤnden und Anecdoten ge¬
forſcht wird; da, wo man Muſic treibt, gezeigt,
daß man in dieſer Kunſt nicht fremd iſt; Vor¬
ſichtigkeit, wenn von andern geiſtlichen Orden,
beſonders von Jeſuiten die Rede iſt; Rang, An¬
ſehn, Reichthum, Pracht, Titel, Orden, und
mehr als dies alles, wo es noͤthig iſt, Geſchenke
— das ſind ohngefehr die Mittel, dort gut auf¬
genommen zu werden, und ſich Achtung zu er¬
werben.
Zu[105]
Zu Domherrn braucht man groͤßtentheils
nur Apetit zum Eſſen und Trinken, muthwil¬
lige, ein wenig fauniſche Laune, und Stillſchwei¬
gen uͤber gelehrte Gegenſtaͤnde mitzubringen.
In Nonnenkloͤſtern, ſo wie in catholiſchen
und proteſtantiſchen weiblichen Stiftern kann
man mit einer huͤbſchen Figur, mit treuherziger,
doch aͤuſſerlich anſtaͤndiger Vertraulichkeit, mit
einem Sacke voll Maͤrchen, Neuigkeiten und
Spaͤßgen auch ziemlich weit kommen.
Von dem Umgange der Religioſen unter
ſich rede ich nicht; Daruͤber iſt in den Briefen
uͤber das Moͤnchsweſen, in den Briefen aus dem
Noviziat und in unzaͤhligen andern Schriften
ſchon ſehr viel Gutes und Treffendes geſagt
worden.
G 5Sech¬[106]
Sechſtes Capittel.
Ueber den Umgang mit Leuten von aller¬
ley Staͤnden, im buͤrgerlichen Leben.
1.
Machen wir den Anfang mit den Aerzten!
Kein Stand iſt fuͤr das Menſchengeſchlecht wohl¬
thaͤtiger, als dieſer, wenn er ſeine Beſtimmung
erfuͤllt. Der Mann, welcher alle Schaͤtze der
Natur durchwuͤhlt, und ihre Kraͤfte erforſcht,
um Mittel aufzuſuchen, das Meiſterſtuͤck der
irdiſchen Schoͤpfung, den Menſchen, von den
Plagen zu befreyen, von denen ſein ſichtbarer,
materieller Theil befallen wird, die ſeinen Geiſt
zu Boden druͤcken, und oft ſchon ſeine Ma¬
ſchiene zerſtoͤhren, ehe noch einmal ſich jede
Kraft in ihm entwickelt hat; Der Mann, der
ſich nicht ſcheuet vor dem Anblicke des Elendes,
Jammers und Schmerzens, der ſeine Gemaͤch¬
lichkeit, ſeine Ruhe, ſelbſt ſeine eigene Geſund¬
heit und ſein Leben daranwagt, um den leiden¬
den Bruͤdern beyzuſtehn; dieſer Mann verdient
Verehrung und warmen Dank. Er giebt einer
zahlreichen Familie ihren Beſchuͤtzer, ihren Er¬
hal¬[107] halter, ihren Wohlthaͤter wieder, erhaͤlt unmuͤn¬
digen Kindern ihren Vater, Ernaͤhrer und Er¬
zieher, fuͤhrt vom Rande des Grabes den edeln
Gatten zuruͤck in die Arme ſeines treuen Wei¬
bes — Mit Einem Worte! kein Stand hat ſo
unmittelbar ſegenvollen Einfluß auf das Wohl
der Welt, auf das Gluͤck, auf die Ruhe, auf
die Zufriedenheit der Mitbuͤrger, als der, eines
Arztes. Und wenn man bedenkt, welch' ein
Umfang von Kenntniſſen dazu gehoͤrt! — Man
wird es ohne Genie in keinem Stande recht
weit bringen; doch giebt es Wiſſenſchaften, in
welchen ein ſchlichter geſunder Hausverſtand,
und wohl noch etwas weniger, recht gute Dienſte
thut; große Aerzte hingegen koͤnnen durchaus
nur die feinſten Koͤpfe ſeyn. Doch das Genie
macht es nicht allein aus; Es gehoͤrt das aͤm¬
ſigſte Studium dazu, um es in dieſem Fache
weit zu bringen; Endlich, wenn man uͤberlegt,
daß dieſe Kenntniſſe, mit allen Huͤlfs-Wiſſen¬
ſchaften, welche die Arzneykunde vorausſetzt,
grade die erhabenſten, natuͤrlichſten, erſten
Grundkenntniſſe des Menſchen ſind — Stu¬
dium der Natur in allen ihren Reichen, in allen
ihren moͤglichen Wirkungen, in allen ihren Be¬
ſtand¬[108] ſtandtheilen; Studium des Menſchen, an Leib
und Seele, in ſeinen feſten und fluͤſſigen Thei¬
len, in ſeiner ganzen Compoſition, in ſeinen Ge¬
muͤthsbewegungen und Leidenſchaften — Was
kann dann lehrreicher, troͤſtender, erquickender
ſeyn, als der Umgang und die Huͤlfe eines ſol¬
chen Mannes? Es giebt aber unter den Soͤh¬
nen Aesculaps auch unzaͤhlige Leute von ganz
andrer Art, Leute, denen der Doctorhut das Pri¬
vilegium giebt, an armen Kranken Verſuche ih¬
rer Unwiſſenheit zu machen; Leute, die den
Coͤrper des Patienten als ihr Eigenthum, als
ein Gefaͤß anſehen, in welches ſie nach Willkuͤhr
allerley fluͤſſige und trockne Materien ſchuͤtten
duͤrfen, um wahrzunehmen, welche Wuͤrkung
durch den Streit dieſer ſalzartigen, ſauren und
geiſtigen Dinge hervorgebracht wird, und wo¬
bey ſie nichts wagen, als hoͤchſtens, daß — das
Gefaͤß zu Grunde geht. Andern fehlt es, bey
der gruͤndlichſten Kenntniß, an Beobachtungs¬
geiſt. Sie verwechſeln die Zeichen der Krank¬
heiten, laſſen ſich durch falſche Berichte der Pa¬
tienten taͤuſchen, forſchen nicht kaltbluͤtig, nicht
tief, nicht fleiſſig genug, und verordnen dann
Mittel, die gewiß helfen wuͤrden — wenn wir
die[109] Krankheit haͤtten, mit welcher ſie uns behaftet
glauben. Wieder Andre kleben an Syſtemgeiſt,
an Autoritaͤt, an Mode, und ſchieben nie auf
ihre Blindheit, ſondern auf die Natur die
Schuld, wenn ihre Arzneymittel andre Wirkun¬
gen hervorbringen, als die, welche ſie, aus Vor¬
urtheil, ihnen zutrauen; Endlich noch Andre
halten aus Gewinnſucht die Genehſung der Lei¬
denden auf, um deſto laͤnger nebſt dem Apothe¬
ker und Wundarzte den Vortheil davon zu ziehn.
In weſſen von dieſen Herrn Haͤnden man nun
auch faͤllt; ſo wagt man es doch darauf, das
Opfer der Unwiſſenheit, der Sorgloſigkeit, des
Eigenſinns, oder der Bosheit zu werden.
Nun iſt es freylich, ſelbſt einem Layen, der
ſonſt einen graden Blick mit ein bisgen Men¬
ſchenkenntniß, Erfahrung und Gelehrſamkeit
verbindet, nicht ſo ſchwer, den groben Char¬
latan von dem geſchickten Manne, an ſeinem
Vortrage, an der Art ſeiner Fragen und Ver¬
ordnungen auszuzeichnen; Unter den Beſſern
aber Den zu unterſcheiden, den man am ſicher¬
ſten ſeinen Coͤrper anvertrauen kann, das iſt ſehr
viel ſchwerer. Folgende Vorſchriften wuͤrde ich
da¬[110] daher, in Ruͤckſicht auf den Umgang mit Aerz¬
ten empfehlen;
Lebe maͤßig in allem Betrachte; ſo magſt
Du den Arzt als Freund bey Dir ſehn, aber
Du wirſt ſeiner Huͤlfe ſelten beduͤrfen!
Gieb wohl Acht auf das, was Deiner Con¬
ſtitution ſchaͤdlich und heilſam iſt, was Dir wohl,
und was Dir uͤbel bekoͤmmt! Richte darnach
ſtrenge Deine Lebensart ein; ſo wirſt Du nicht
oft in den Fall kommen, Dein Geld in die Apo¬
theke zu ſchicken!
Wenn man nicht ganz fremd in der Phyſic,
dabey ein wenig bewandert in mediciniſchen Buͤ¬
chern iſt; ſein Temperament kennt, und weiß,
zu welchen Krankheiten man Anlage hat, und
was Wuͤrkung auf uns macht; ſo kann man
auch oft, bey wuͤrklichen Krankheiten, ſein eige¬
ner Arzt ſeyn. Jeder Menſch iſt einer Art von
Gebrechen mehr ausgeſetzt, als einer andern,
in ſo fern er einfoͤrmig lebt. Studiert er nun
mit Ernſt dieſen einzigen Zweig der Heilkunde;
ſo muͤſſte es ſonderbar zugehn, wenn er davon
nicht[111] nicht vielleicht mehr, wenigſtens eben ſo viel
Einſicht erlangen ſollte, als ein Mann, der das
ganze Heer von Krankheiten uͤberſehn muß.
Fordert aber die Noth, daß Du Dich an
einen Doctor wendeſt, und Du willſt Dir Einen
unter dem Haufen ausſuchen; ſo gieb zuerſt Acht,
ob der Mann geſunde Vernunft hat; ob er uͤber
andre Gegenſtaͤnde, mit Klarheit, unpartheyiſch,
ohne Vorurtheil raiſonnirt; ob er beſcheiden,
verſchwiegen, fleiſſig, anhaͤnglich an ſeine Kunſt
iſt; ob er ein gefuͤhlvolles, menſchenliebendes
Herz offenbart; ob er ſeine Kranken mit einer
Menge verſchiedener Arzeneyen zu beſtuͤrmen,
oder ſich einfacher Mittel zu bedienen, der Na¬
tur wo moͤglich ihren Lauf zu laſſen pflegt; ob
er eine Diaͤt empfiehlt, die nach ſeinen Begier¬
den abgemeſſen, ob er verbiethet, was ihm zu¬
wieder iſt, anraͤth, wozu er Apetit hat; ob er
ſich im Reden zuweilen wiederſpricht; ob er
Brodneid gegen ſeine Kunſt-Verwandten, ob er
ſich bereitwilliger zeigt, den Großen und Reichen,
als den Niedern und Armen beyzuſtehn? Biſt
Du uͤber dieſe Puncte befriedigt und beruhigt;
ſo vertraue Dich ihm an!
Ver¬[112]
Vertraue Dich aber ihm allein, gaͤnzlich
und ohne Zuruͤckhaltung! Verſchweige auch nicht
den kleinſten Umſtand, der dazu dienen mag,
ihn mit dem Zuſtande und den Sitz Deines
Uebels bekannt zu machen! Doch miſche keine
nichtsbedeutende Kleinigkeiten, keine Thorheiten,
keine Grillen, keine Einbildungen hinein, die
ihn irre machen koͤnnten! Folge ſtrenge und
puͤnctlich ſeinen Vorſchriften, damit er ſicher ſeyn
duͤrfe, ob das, was Du nachher empfindeſt, die
Folge ſeiner angewendeten Mittel ſey! Desfalls
laſſe Dich auch nicht verleiten, nebenher kleine
Haus-Arcana, moͤgten ſie auch noch ſo unſchul¬
dig ſcheinen, zu gebrauchen, noch heimlich einen
zweyten Arzt um Rath zu fragen. Vor allen
Dingen nim nicht etwa zu gleicher Zeit zwey
ſolcher Herrn oͤffentlich an! Die Reſultate ihrer
mediciniſchen Conſilien werden eben ſo viel To¬
des-Urtheile fuͤr Dich ſeyn; Keinem von Bey¬
den wird Deine Genehſung am Herzen liegen;
Sie werden Deinen Coͤrper zu dem Kampfplatze
ihrer verſchiedenen Meinungen gebrauchen; Sie
werden Einer dem Andern die Ehre misgoͤnnen,
Dich geſund zu machen, und Dich alſo lieber
gemeinſchaftlich in jene Welt ſchicken, um nach¬
her[113] her wechſelſeitig die Schuld auf einander ſchie¬
ben zu koͤnnen.
Den Mann, der alles anwendet, was in
ſeinen Kraͤften ſteht. Deine Geſundheit herzu¬
ſtellen, belohne nicht ſparſam! Gieb ihm reich¬
lich nach Deinem Vermoͤgen! Haſt Du aber
Urſache zu glauben, daß er eigennuͤtzig ſey; ſo
ſetze Dich auf den Fuß, ihm jaͤhrlich etwas Feſt¬
geſetztes zu zahlen. Du moͤgeſt unpaß oder ge¬
ſund ſeyn, damit er kein Intereſſe dabey habe,
Dich mit allerley Krankheiten zu verſehn, oder
Deine Herſtellung aufzuhalten!
2.
Wenden wir uns nun zu den Juriſten!
Naͤchſt den natuͤrlichen Guͤtern, naͤchſt der Wohl¬
farth des Geiſtes, der Seele und des Leibes,
iſt in der buͤrgerlichen Geſellſchaft der ſichre Be¬
ſitz des Eigenthums das Heiligſte und Theuerſte.
Wer dazu beytraͤgt, uns dieſen Beſitz zuzuſi¬
chern; wer ſich weder durch Freundſchaft, noch
Partheylichkeit, noch Weichlichkeit, noch Leiden¬
ſchaft, noch Schmeicheley, noch Eigennutz, noch
Menſchenfurcht bewegen laͤſſt, auch nur einen ein¬
zigen kleinen Schritt von dem graden Wege der
(Zweiter Th.) HGe¬[114] Gerechtigkeit abzuweichen; wer durch alle Kuͤnſte
der Chicane und Ueberredung, durch die Unbe¬
ſtimmtheit, Zweydeutigkeit und Verwirrung der
geſchriebenen Geſetze hindurch, klar zu ſchauen,
und den Punct, den Vernunft, Wahrheit, Redlich¬
keit und Billigkeit beſtimmen, zu treffen weiß;
wer der Beſchuͤtzer des Aermern, des Schwaͤchern
und Unterdruͤckten gegen den Staͤrkern, Rei¬
chern und Unterdruͤcker; wer der Waiſen Vater,
der Unſchuldigen Retter und Vertheydiger iſt —
der iſt gewiß unſrer ganzen Verehrung werth.
Was ich hier geſagt habe, beweiſt aber
auch zugleich, wie ſehr viel dazu gehoͤrt, auf den
Titel eines wuͤrdigen Richters und auf den eines
edeln Sachwalters Anſpruch machen zu duͤrfen,
und es iſt, am gelindeſten geſprochen, ſehr uͤber¬
eilt geurtheilt, wenn man behauptet, es werde,
um ein guter Juriſt zu ſeyn, wenig geſunde
Vernunft, ſondern nur Gedaͤchtniß, Schlen¬
drian und ein hartes Herz erfordert, oder die
Rechtsgelehrſamkeit ſey nichts anders, als die
Kunſt, die Leute auf privilegierte Art um Geld
und Gut zu bringen. Freylich, wenn man
unter einem Juriſten einen Mann verſteht, der
nur[115] nur ſein roͤmiſches Recht im Kopfe hat, die
Schlupfwinkel der Chicane kennt, und die ſpitz¬
findigen Diſtinctionen der Rabuliſten ſtudiert
hat; ſo mag man Recht haben; aber ein Sol¬
cher entheiligt auch ſein ehrwuͤrdiges Amt.
Doch iſt es in der That traurig — um
auch das Boͤſe nicht zu verſchweigen — daß in
dieſem Stande die Handlungen ſo vieler Rich¬
ter und Advocaten, ſo wie die Juſtitz-Verfaſ¬
ſung in den mehrſten Laͤndern, ſehr mannigfal¬
tige Gelegenheit zu jenen harten Beſchuldigun¬
gen geben. Da widmen ſich denn die ſchiefſten
Koͤpfe dem Studium der Rechtsgelehrſamkeit,
womit ſie keine andre feine Kenntniſſe verbin¬
den, dennoch aber ſo ſtolz auf dieſen Wuſt von
alten roͤmiſchen, auf unſre Zeiten wenig paſſen¬
den Geſetzen ſind, daß ſie von dem Manne, der
die edlen Pandecten nicht am Schnuͤrchen hat,
glauben, er koͤnne gar nichts gelernt haben.
Ihre ganze Gedanken-Reyhe knuͤpft ſich nur
an ihr Buch aller Buͤcher, an das Corpus Ju¬
ris an, und ein ſteifer Civiliſt iſt wahrlich im
geſellſchaftlichen Leben das langweiligſte Ge¬
ſchoͤpf, das mun ſich denken mag. In allen
uͤbri¬H 2[116] uͤbrigen menſchlichen Dingen, in allen andern,
den Geiſt aufklaͤrenden, das Herz bildenden
Kenntniſſen unerfahren, treten ſie dann in oͤf¬
fentliche Aemter. Ihr barbariſcher Styl, ihre
bogenlangen Perioden, ihre Gabe, die einfachſte,
deutlichſte Sache weitſchweifig und unverſtaͤnd¬
lich zu machen, erfuͤllt Jeden, der Geſchmack
und Gefuͤhl fuͤr Klarheit hat, mit Eckel und
Ungeduld. Wenn Du auch nicht das Ungluͤck
erlebſt, daß Deine Angelegenheit einem eigen¬
nuͤtzigen, partheyiſchen, faulen, oder ſchwach¬
koͤpfigten Richter in die Haͤnde faͤllt; ſo iſt es
ſchon genug, daß Dein oder Deines Gegners
Advocat ein Menſch ohne Gefuͤhl, ein gewinn¬
ſuͤchtiger Gauner, ein Pinſel, oder ein Chica¬
neur ſey, um bey einem Rechtsſtreite, den jeder
unbefangene geſunde Kopf in einer Stunde
ſchlichten koͤnnte, viel Jahre lang hingehalten
zu werden, ganze Zimmer voll Acten zuſammen¬
geſchmiert zu ſehn, und dreymal ſo viel an Un¬
koſten zu bezahlen, als der Gegenſtand des gan¬
zen Streits werth iſt, ja! am Ende die gerech¬
teſte Sache zu verliehren, und Dein offenbares
Eigenthum fremden Haͤnden preiszugeben. Und
waͤre beydes nicht der Fall; waͤren Richter und
Sach¬[117] Sachwalter geſchickte und redliche Maͤnner; ſo
iſt der Gang der Juſtitz in manchen Laͤndern
von der Art, daß man Methuſalems Alter er¬
reichen muß, um das Ende eines Proceſſes zu
erleben. Da ſchmachten dann ganze Familien
im Elend und Jammer, indeß ſich Schelme
und hungrige Scribler in ihr Vermoͤgen thei¬
len. Da wird die gegruͤndeteſte Forderung, we¬
gen eines kleinen Mangels an elenden Formali¬
taͤten, fuͤr nichtig erklaͤrt. Da muß der Aer¬
mere ſich's gefallen laſſen, daß ſein reicherer
Nachbar ihm ſein vaͤterliches Erbe entreiſſt,
wenn die Chicane Mittel findet, den Sinn ir¬
gend eines alten Documents zu verdrehn, oder
wenn der Unterdruͤckte nicht Vermoͤgen genug
hat, die ungeheuren Koſten zu Fuͤhrung des
Proceſſes aufzubringen. Da muͤſſen Soͤhne und
Enkel ruhig zuſehn, wie die Guͤter ihrer Vorel¬
tern, unter dem Vorwande die darauf haftenden
Schulden zu bezahlen, Jahrhunderte hindurch
in den Haͤnden privilegierter Diebe bleiben, in¬
deß weder ſie noch die Glaͤubiger Genuß davon
haben, wenn dieſe Diebe nur die Kunſt beſitzen,
Rechnungen aufzuſtellen, die der gebraͤuchlichen
Form nach richtig ſind. Da muß mancher Un¬
ſchul¬H 3[118] ſchuldige ſein Leben auf dem Blutgeruͤſte hinge¬
ben, weil die Richter nicht ſo bekannt mit der
Sprache der Unſchuld, als mit den Wendungen
einer falchen Beredſamkeit ſind. Da laſſen Pro¬
feſſoren Urtheile uͤber Gut und Blut durch ihre
unbaͤrtigen Schuͤler verfaſſen, und geben Dem¬
jenigen Recht, der das Reſponſum bezahlt —
Doch was helfen alle Declamationen, und wer
kennt nicht dieſen Greuel der Verwuͤſtung?
Einen beſſern Rath weiß ich nicht zu ge¬
ben, als den: Man huͤte ſich, mit ſeinem Ver¬
moͤgen oder ſeiner Perſon in die Haͤnde der Ju¬
ſtitz zu fallen!
Man weiche auf alle moͤgliche Weiſe jedem
Proceſſe aus, und vergleiche ſich lieber, auch
bey der ſicherſten Ueberzeugung von Recht, gebe
lieber die Haͤlfte deſſen hin, was uns ein And¬
rer ſtreitig macht, bevor man es zum Schrift¬
wechſel kommen laſſe!
Man halte ſeine Geſchaͤfte in ſolcher Ord¬
nung, mache alles darinn bey Lebzeiten ſo klar,
daß man auch ſeinen Erben nicht die Wahr¬
ſchein¬[119] ſcheinlichkeit eines gerichtlichen Zwiſtes hinter¬
laſſe!
Hat uns aber der boͤſe Feind zu einem
Proceſſe verholfen; ſo ſuche man ſich einen red¬
lichen, uneigennuͤtzigen, geſchickten Advocaten —
man wird oft ein wenig lange ſuchen muͤſſen —
und bemuͤhe ſich, mit ihm alſo einig zu werden,
daß man ihm, auſſer ſeinen Gebuͤhren, noch rei¬
chere Bezahlung verſpreche, nach Verhaͤltniß der
Kuͤrze der Zeit, binnen welcher er die Sache zu
Ende bringen wird!
Man mache ſich gefaſſt, nie wieder in den
Beſitz ſeiner Guͤter zu kommen, wenn dieſe ein¬
mal in Advocaten- und Curatoren Haͤnde gera¬
then ſind!
Man erlaube ſich keine Art von Beſtechung
der Richter! Wer dergleichen giebt, der iſt bey¬
nahe ein eben ſo arger Schelm, als Der, wel¬
cher nimt.
Man wafne ſich mit Geduld in allen Ge¬
ſchaͤften, die man mit Juriſten von gemeinem
Schlage vorhat!
ManH 4[120]
Man bediene ſich auch keines Solchen zu
Dingen, die ſchleunig und einfach behandelt
werden ſollen!
Man ſey aͤuſſerſt vorſichtig, im Schreiben,
Reden, Verſprechen und Behaupten, gegen
Rechtsgelehrte! Sie kleben am Buchſtaben;
Ein juriſtiſcher Beweis iſt nicht immer ein Be¬
weis der geſunden Vernunft, juriſtiſche Wahr¬
heit zuweilen etwas mehr, zuweilen etwas we¬
niger, als gemeine Wahrheit, juriſtiſcher Aus¬
druck nicht ſelten einer andern Auslegung faͤhig,
als gewoͤhnlicher Ausdruck, und juriſtiſcher Wille
oft das Gegentheil von dem, was man im ge¬
meinen Leben Willen nennt.
3.
Ich komme jetzt zu dem Wehrſtande.
Wenn in unſern heutigen Kriegen noch Mann
gegen Mann foͤchte, und die Kunſt Menſchen
zu vertilgen nicht ſo methodiſch und maſchienen¬
maͤßig getrieben wuͤrde; wenn allein perſoͤnliche
Tapferkeit das Gluͤck des Krieges entſchiede,
und der Soldat nur fuͤr ſein Vaterland, zu Ver¬
theydigung ſeines Eigenthums und ſeiner Frey¬
heit[121] heit ſtritte; ſo wuͤrde auch freylich noch kein ſol¬
cher Ton unter dieſen Maͤnnern herrſchen, als
jetzt, da zu einem geſchickten Kriegshelden ganz
andre Arten von Kenntniſſen gehoͤren, da ein
Paar neue Reſſorts, nemlich Subordination
und ein conventioneller Begriff von Ehre, auf
gewiſſe Weiſe an die Stelle des kuͤhnen Muths
getreten ſind, und dieſe die Menſchen zwingen
muͤſſen, da ſtehn zu bleiben und aus der Ferne
auf ſich ſchieſſen zu laſſen, wo die Leidenſchaften
der Fuͤrſten ihnen gebiethen, zu ſtehn und ihr
Leben fuͤr wenig Groſchen daran zu wagen.
Dennoch war eine gewiſſe Rohigkeit, Zuͤgello¬
ſigkeit und ein Hinausſetzen uͤber alle Regeln der
Moral und buͤrgerlichen Uebereinkunft — gleich
als waͤren dieſe Geſetze nur Kinder des Frie¬
dens — noch in der erſten Haͤlfte dieſes Jahr¬
hunderts faſt der allgemeine Character eines
Soldaten von hohen und niederm Range. In
unſern Tagen aber ſieht es damit ganz anders
aus. Faſt in allen europaͤiſchen Staaten findet
man unter Maͤnnern und Juͤnglingen im Sol¬
datenſtande Perſonen, die durch Kenntniſſe in
allen Faͤchern der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte,
beſonders in ſolchen, die zu ihrem Handwerke
ge¬H 5[122] gehoͤren, durch eine beſcheidene, feine Auffuͤh¬
rung, durch ſtrenge Sittlichkeit, Sanftmuth
des Characters und nuͤtzliche Anwendungen ih¬
rer Muße zu Bildung des Geiſtes und Herzens,
ſich der allgemeinen Achtung und Liebe werth
machen. Ich wuͤrde alſo gar keine beſondre
Vorſchriften uͤber den Umgang mit Officiers zu
geben haben, wenn nicht theils, ſo wie in allen
Staͤnden, alſo auch hier, Ausnahmen vom Gu¬
ten Statt fanden, theils einige andre Ruͤckſich¬
ten nicht mit Stillſchweigen uͤbergangen werden
duͤrften; doch kann ich mich dabey kurz faſſen.
Wer, ſeinem Stande, ſeinem Alter, oder
ſeinen Grundſaͤtzen nach, ſich weder aufziehn
und beleidigen zu laſſen, noch eine Beleidigung
durch den Zweykampf auszutilgen Luſt haben
kann; der thut wohl, wenn er die Gelegenheit
vermeidet, bey Spiel, Trunk oder andern der¬
gleichen Faͤllen, mit rohen Leuten vom Solda¬
tenſtande in Gemeinſchaft zu kommen, oder,
wenn er ſolchen Gelegenheiten nicht ausweichen
kann, ſich ſo behutſam, hoͤflich und ernſthaft
als moͤglich aufzufuͤhren. Indeſſen koͤmmt hie¬
bey auch ſehr viel auf den Ruf an, in welchen
man[123] man ſich geſetzt hat, und ein grader, feſter, red¬
licher und verſtaͤndiger Mann pflegt, ſelbſt von
ausſchweifenden, ungeſitteten Leuten, reſpectirt
und geſchont zu werden.
Ueberhaupt aber rathe ich, im Reden und
Handeln gegen Officiers vorſichtig zu ſeyn.
Das Vorurtheil von uͤbel verſtandener Ehre,
das in den mehrſten Armeen, vorzuͤglich in der
franzoͤſiſchen, herrſchend iſt, und das von man¬
cher andern Seite einen Nutzen ſtiften kann,
der hier zu weitlaͤuftig zu entwickeln ſeyn wuͤrde,
befiehlt dem Officier, auch nicht das kleinſte
zweydeutige Woͤrtgen, ſo ihm geſagt wird, hin¬
zunehmen, ohne Genugthuung durch Waffen
zu fordern, und da hat denn vielmals ein Aus¬
druck, den man ſich im gemeinen Leben erlauben
duͤrfte, fuͤr ihn einen beleidigenden Sinn. Man
darf, zum Beyſpiel, wohl ſagen: „das war
doch nicht gut“ aber keineswegs: „das war
ſchlecht von Ihnen“ und doch muß das, was
nicht gut iſt, nothwendig ſchlecht ſeyn. Mit
dieſer Sprache der Uebereinkunft ſoll man ſich
alſo auch bekannt machen, wenn man mit Perſo¬
nen, denen dieſelbe Geſetze auflegt, umgehn will.
Daß[124]
Daß man in Gegenwart eines Officiers
nie, auch nicht das Mindeſte zum Nachtheile die¬
ſes Standes vorbringen duͤrfe, verſteht ſich wohl
um ſo mehr von ſelbſt, da es in der That noͤ¬
thig iſt, daß der Soldat ſeinen Stand fuͤr den
erſten und wichtigſten in der Welt halte —
Denn was ſoll ihn denn bewegen, ſich einer ſo
beſchwerlichen und gefaͤhrlichen Lebensart zu
widmen, wenn es nicht die Anſpruͤche auf Ruhm
und Ehre ſind?
Endlich pflegt bey dem Soldatenſtande eine
Art von ofnen, treuherzigen, nicht ſehr feyerli¬
chen, ſondern muntern, freyen, und durch ge¬
ſitteten Scherz gewuͤrzten Betragen uns beliebt
zu machen, mit welchem man daher vertrauet
werden muß, wenn man mit dieſer Claſſe viel
leben will.
4.
Kein Stand hat vielleicht ſo viel Annehmlich¬
keit, als der eines Kaufmanns, wenn dieſer nicht
ganz mit leerer Hand anfaͤngt, wenn das Gluͤck
ihm nicht entſchieden zuwieder iſt, wenn er ein
wenig vor ſich gebracht hat, wenn er ſeine Un¬
ter¬[125] ternehmungen mit gehoͤriger Klugheit treibt,
nicht zu viel wagt und auf das Spiel ſetzt. Kein
Stand genieſſt einer ſo gluͤcklichen Freyheit, als
dieſer. Kein Stand hat von jeher ſo unmittelbar
thaͤtigen, wichtigen Einfluß auf Moralitaͤt, Cul¬
tur und Luxus gehabt, als die Kaufmannſchaft.
Wenn durch ſie und durch die Verbindung, wel¬
che dieſelbe zwiſchen entlegenen, von einander in
ſo viel Dingen verſchiedenen Voͤlkern ſtiftet, der
Ton ganzer Nationen umgeſtimmt, und Men¬
ſchen mit geiſtigen und coͤrperlichen Beduͤrfniſ¬
ſen, mit Wiſſenſchaften, Wuͤnſchen, Krankhei¬
ten, Schaͤtzen und Sitten bekannt werden, die
auſſerdem vielleicht nie, wenigſtens ſehr viel ſpaͤ¬
ter, bis dahin gedrungen ſeyn wuͤrden; ſo laͤſſt
ſich wohl nicht zweifeln, daß, wofern die fein¬
ſten Koͤpfe unter den Kaufleuten eines großen
Reichs ſich uͤber ein Syſtem von Wuͤrkſamkeit
nach feſten Grundſaͤtzen vereinigten, es in ihrer
Macht ſtehn muͤſſte, welche Richtung des Ver¬
ſtandes und Willens ſie ihrem Vaterlande geben
wollten. Zum Gluͤck fuͤr unſre Freyheit aber
giebt es theils nicht viel ſo weitſehende, plan¬
volle Koͤpfe unter Leuten dieſes Standes in der
Welt, theils ſind ſie durch ſehr verſchiedenes
In¬[126] Intereſſe ſo getrennt, daß ſie ſich nicht zur Ty¬
ranney vereinigen koͤnnen; und ſo faͤllt zwar die
Wuͤrkung nicht weg, welche der Handel auf
Sitten und Aufklaͤrung hat, aber es geht doch
damit nicht methodiſch zu, ſondern alles geht
ſeinen Gang, an der Hand der Zeit. Indeſſen
begreift man leicht, daß eben das Ideal, wel¬
ches ich von einem großen Negocianten aufge¬
ſtellt habe, einen Mann von feinem, voraus¬
ſchauenden, weit umfaſſenden Geiſte und, wenn
es ihm um das Wohl der Welt zu thun iſt, ei¬
nen Mann von edeln, erhabenen Geſinnungen
bezeichnet. Auch giebt es ſolcher Maͤnner in
dieſem Stande, und ich habe, beſonders waͤh¬
rend meines Aufenthalts in Frankfurth am
Mayn und den benachbarten Gegenden, deren
Einige kennen gelernt, die wahrlich, wenn ſie
auf einem andern Schauplatze geſtanden, unter
den groͤßten Maͤnnern ihrer Zeit genannt wor¬
den waͤren.
Da man nun aber keiner Vorſchriften be¬
darf, um zu lernen, wie man mit weiſen und
guten Menſchen umgehn ſoll; ſo will ich hier
nur von dem Betragen im Umgange mit Kauf¬
leu¬[127] leuten von gemeinem Schlage reden. Dieſe
werden von ihrer erſten Jugend an gewoͤhnlich
ſo mit Leib und Seele nur dahin gerichtet, auf
Geld und Gut ihr Augenmerk, und fuͤr nichts
anderes Sinn zu haben, als fuͤr Reichthum und
Erwerb, daß ſie den Werth eines Menſchen faſt
immer nach der Schwere ſeiner Geldkaſten be¬
urtheilen, und bey ihnen: der Mann iſt gut,
ſo viel heiſſt, als: der Mann iſt reich. Hierzu
geſellt ſich wohl noch, beſonders in Reichsſtaͤd¬
ten, eine Art von Prahlerey, eine Begierde, es
Andern ihres Gleichen, da wo es in die Augen
faͤllt, an Pracht zuvorzuthun, um zu zeigen,
daß ihre Sachen feſt ſtehen. Da ſich aber mit
dieſer Neigung immer noch Sparſamkeit und
Haabſucht verbinden, und ſie, ſobald es nicht
bemerkt wird, in ihren Haͤuſern aͤuſſerſt einge¬
ſchraͤnkt und hungrig leben, und ſich ſehr viel
verſagen; ſo bemerkt man da einen Contraſt
von Kleinlichkeit und Glanz, von Geiz und Ver¬
ſchwendung, von Niedertraͤchtigkeit und Stolz,
von Unwiſſenheit und Praͤtenſion, der Mitlei¬
den erregt, und ſo induſtrios auch ſonſt die
Kaufleute ſind; ſo fehlt es ihnen doch mehren¬
theils an der Gabe, ein kleines Feſt durch ge¬
ſchmack¬[128] ſchmackvolle Anordnung glaͤnzend, und mit we¬
nig Koſten einen anſtaͤndigen Aufwand zu machen.
Willſt Du bey dieſen Leuten geachtet ſeyn;
ſo muſſt Du wenigſtens im dem Rufe ſtehn,
daß Deine Vermoͤgens-Umſtaͤnde nicht zerruͤttet
ſind; Wohlſtand macht auf ſie den beſten Ein¬
druck. Sey es durch Deine Schuld oder durch
Ungluͤck; ſo wirſt Du, auch bey den herrlichſten
Vorzuͤgen des Verſtandes und Herzens, von ih¬
nen verachtet werden, wenn Du Mangel leideſt.
Willſt Du einen Solchen zu einer milden
Gabe, oder ſonſt zu einer großmuͤthigen Hand¬
lung bewegen; ſo muſſt Du entweder ſeine Ei¬
telkeit mit in das Spiel bringen, daß es bekannt
werde, wie viel dies große Haus an Arme giebt,
oder der Mann muß glauben, daß der Himmel
ihm die Gabe hundertfaͤltig vergelten werde;
Dann wird es andaͤchtiger Wucher.
Große Kaufleute ſpielen, wenn ſie ſpielen,
gewoͤhnlich um hohes Geld. Sie betrachten
das, wie jeden andern Speculations-Handel;
aber ſie ſpielen dann auch mit aller Kunſt und
Auf¬[129] Aufmerkſamkeit. Man huͤte ſich daher, wenn
man das Spiel nicht verſteht, oder es nachlaͤſſig,
blos als Zeitvertreib anſieht, ſich mit ſolchen
Maͤnnern darauf einzulaſſen!
Laß es Dir hier ja nicht einfallen, Werth
auf Geburth und Rang zu ſetzen, beſonders wenn
Du arm biſt! oder Du wirſt Dich kraͤnkenden
Demuͤthigungen ausſetzen.
Doch pflegt in manchen Kaufmannshaͤu¬
ſern ein Mann mit Stern, Orden und Titel
geſchmeichelt zu werden, und das geſchieht dann
aus Prahlerey, um zu zeigen, daß auch Vor¬
nehme da Gaſtfreundſchaft genieſſen, oder daß
man mit Hoͤfen und großen Familien in Ver¬
haͤltniſſen ſteht.
Auch der Gelehrte und Kuͤnſtler wird hier
uͤberſehn, oder nur aus Eitelkeit vorgezogen.
Er erwarte nicht, daß ſein wahrer Werth er¬
kannt werde!
Da die Sicherheit des Handels auf Puͤnct¬
lichkeit im Bezahlen und auf Treue und Glau¬
(Zweiter Th.) Iben[130] ben beruht; ſo ſetze Dich bey den Kaufleuten in
den Ruf, ſtrenge Wort zu halten und ordent¬
lich zu bezahlen; ſo werden ſie Dich hoͤher ach¬
ten, als manchen viel reichern Mann!
Wer wohlfeil kaufen will, der kaufe fuͤr
baares Geld — das iſt eine ſehr bekannte Lehre!
Man hat dann die Wahl von Kaufleuten und
von Waaren, und man kann es niemand uͤbel
auslegen, wenn er, bey der Ungewißheit, ob
und wie bald er bezahlt werden wird, fuͤr ſeine
Waare einen uͤbertriebenen Preis fordert, oder
das Schlechteſte hingiebt, was er hat.
Hat man Urſache, mit dem Betragen des
Mannes zufrieden zu ſeyn, mit welchem man
Handlungs-Geſchaͤfte getrieben; ſo wechſele
man nicht ohne Noth, laufe nicht von einem
Kaufmanne zu dem andern! Man wird treuer
bedient von Leuten, die uns kennen, denen an
der Erhaltung, unſrer Kundſchaft gelegen iſt, und
ſie geben uns auch, wenn es ja unſre Umſtaͤnde
erforderten, leichter Credit, ohne deswegen den
Preis der Waaren zu erhoͤhn.
Bey[131]
Bey kleinen Kaufleuten und in Staͤdten,
wo eigentlich nur Kraͤmer wohnen, iſt die unar¬
tige Gewohnheit eingeriſſen, daß Dieſe oft ſehr
viel mehr fuͤr ihre Waare fordern, als wofuͤr
ſie dieſelbe hingeben wollen. Andre affectiren
mit angenommener Treuherzigkeit und Bieder¬
keit, immer den aͤuſſerſten Preis zu ſetzen, und
ſich keinen Heller abdingen zu laſſen, und ſo
muß man oft doppelt ſo viel bezahlen, als die
Sache werth iſt. Erſteren wuͤrde man ihre
kleinen Kuͤnſte leicht abgewoͤhnen koͤnnen, wenn
die Angeſehnſten in einer Stadt ſich vereinigten,
ſolchen Gaunern gar nichts abzukaufen. Es iſt
aber das juͤdiſche Verfahren beyder Art von
chriſtlichen Kaufleuten eben ſo unredlich, als un¬
klug. Sie betruͤgen damit hoͤchſtens nur einige
Fremde und Solche, die von dem Werthe der
Waaren nichts verſtehen; bey Andern hingegen
verliehren ſie allen Glauben, und wenn man
erſt ihre Weiſe kennt; ſo biethet man ihnen nur
die Haͤlfte von dem, was ſie fordern. Uebri¬
gens ſoll Der, welcher kaufen will, die Augen
aufthun, und es iſt unvernuͤnftig, einen Handel
von einiger Wichtigkeit zu ſchlieſſen, ohne vor¬
her ſich Kenntniß von dem wahren Werthe der
Sa¬I 2[132] Sache erworben zu haben, die man zu kaufen
die Abſicht hat.
5.
Die Herrn Buchhaͤndler verdienten wohl
ein eigenes Capittel. In demſelben koͤnnte man
ſehr viel Wahres zum Lobe Derer unter ihnen
ſagen, die dieſen Handel nicht als einen juͤdi¬
ſchen Erwerb treiben, ſo daß ſie etwa wenig
darum bekuͤmmert waͤren, was fuͤr Buͤcher bey
ihnen verlegt und gekauft, in ſo fern nur Gel¬
der daraus geloͤſet werden; denen es nicht gleich¬
guͤltig iſt, ob man ſie zu Hebammen von klei¬
nen Kruͤppeln und Misgeburthen gebraucht, ob
ſie zu Werkzeugen der Ausbreitung eines elen¬
den, frivolen, falſchen Geſchmacks und ſchlechter
Grundſaͤtze dienen; ſondern denen Wahrheit,
Cultur und Aufklaͤrung am Herzen liegt; die
das miskannte, im Dunkeln lebende Talent er¬
muntern, aus dem Staube hervorziehen, in
Thaͤtigkeit ſetzen, und großmuͤthig unterſtuͤtzen;
die den taͤglichen Umgang und das Verkehr mit
Gelehrten und Buͤchern dazu anwenden, ſich
ſelber Kenntniſſe zu ſammlen, ihren Geiſt
zu bilden, und beſſere Menſchen zu werden.
Und[133] Und dann wuͤrde, des Contraſtes wegen, das
Gegenbild keine uͤble Wuͤrkung machen — Das
Bild eines Mannes, der, nachdem ein halbes
Jahrhundert hindurch die vortreflichſten Werke
durch ſeine ſchmutzigen, geldgierigen Finger ge¬
gangen, noch immer eben ſo unwiſſend und
dumm geblieben — auſſer was die kleinen Wu¬
cher-Kuͤnſte betrifft — als ein zehnjaͤhriger
Knabe; der Manuſcripte und neue Buͤcher nach
der Dicke, nach dem Titel, und nach dem Ver¬
haͤltniſſe ſchaͤtzt und kauft, nach welchem er ver¬
muthen kann, daß ein von falſchem Geſchmacke
irregeleitetes Publicum darnach greifen wird;
der, um dieſen falſchen Geſchmack zu unterhal¬
ten, durch unbaͤrtige Knaben jaͤmmerliche Bro¬
ſchuͤren, Romaͤnchen und Maͤrchen ſchreiben,
und unter ſeiner Firma in die Welt gehn laͤſſt;
der die erbaͤrmlichſte Schmiererey, deren Nichts¬
wuͤrdigkeit er ſelbſt fuͤhlt, durch einen viel ver¬
ſprechenden Mode-Titel, oder durch ſaubre
Bildlein aufgeſtutzt, nach Frankfurth und Leip¬
zig ſchleppt, und fuͤr dieſe Lumpereyen ein ſchaͤn¬
dendes Lob von feilen Rezenſenten erkauft; der
den Mann von Talenten wie einen Tagloͤhner
behandelt und bezahlt, von der eingeſchraͤnkten
I 3haͤus¬[134] haͤuslichen Lage eines armen Schriftſtellers
Vortheil zieht, um ein Werk, das Anſtrengung
aller Kraͤfte, Nachtwachen und Aufwand von
wahrer Geiſtesgroͤße erfordert hat, und womit
er Tauſende gewinnen kann, wie Maculatur zu
erhandeln; der, ſo oft ihm ein Werk angebo¬
then wird, veraͤchtlich die Naſe ruͤmpft und den
Kopf ſchuͤttelt, um deſto wohlfeiler daranzukom¬
men; der, durch Nachdruck ein Dieb an frem¬
den Eigenthume wird. Endlich koͤnnte ich Vor¬
ſchriften geben, wie die Schriftſteller mit Buch¬
haͤndlern von dieſer Art umgehn ſollten, um
nicht ihre Sclaven zu werden; wie man ſich
bey ihnen Gewicht geben kann; und in welche
Form man ſeine Geiſtes-Producte gieſſen muß,
damit ſie von den Soſiern unſrer Zeit in Ver¬
lag genommen werden — Das aber ſind zum
Theil Zunft-Geheimniſſe, die unter uns großen
Gelehrten nur muͤndlich fortgepflanzt werden,
und die man alſo nicht Jedem, der blos Leſer
iſt, auf die Naſe heften darf.
Doch noch Eine Bemerkung! Wer ſich
bey Buchhaͤndlern, beſonders in minder großen
Staͤdten, beliebt machen will, der leyhe und
ver¬[135] verleyhe nicht viel Buͤcher, und errichte keine
Leſe-Geſellſchaften! Man kann es ſonſt wahr¬
lich den armen Handelsmaͤnnern nicht uͤbel neh¬
men, daß ſie ſich, durch Nachdruck, kleine Kuͤnſte
und ſparſames Honorarium, an ihren Collegen,
am Publico und an den Autorn zu erholen ſu¬
chen, wenn unter zwanzig Perſonen kaum Ei¬
ner ein Buch kauft, die Uebrigen aber umſonſt
mitleſen.
6.
Ich habe im erſten Theile dieſes Buchs,
bey Gelegenheit, da ich Bemerkungen uͤber den
Umgang mit Wohlthaͤtern machte, zugleich von
dem Betragen in Ruͤckſicht auf Lehrer und Er¬
zieher geredet. Unter dieſer Claſſe habe ich aber
die ſo genannten Maîtres, daß heiſſt: die ſtun¬
denweiſe bedungenen Unterweiſer in Sprachen
und Kuͤnſten, nicht mit begriffen. Von Dieſen
werde ich daher noch hier ein Paar Worte ſagen.
Wuͤrklich iſt es eine recht laͤſtige Beſchaͤfti¬
gung, zu Erringung ſeines Unterhalts, den gan¬
zen Tag durch, in Wind und Wetter, von einem
Hauſe in das andre zu laufen und, ohne freye
I 4Wahl[136] Wahl der Schuͤler, die nemlichen Anfangsgruͤnde
einer Kunſt oder Sprache unzaͤhlichemal wiederho¬
len zu muͤſſen. Findet man nun unter dieſen Mei¬
ſtern dennoch einen Mann, dem, trotz dieſer ab¬
ſchreckenden Schwierigkeiten, die Fortſchritte,
welche ſeine Schuͤler machen, mehr als der Ge¬
winſt am Herzen liegen, dem es ernſtlich darum
zu thun iſt, ſeine Kunſt leicht, gruͤndlich, leb¬
haft und deutlich vorzutragen; ſo ehre man
Dieſen, wie jeden Andern, der etwas zu unſrer
Bildung beytraͤgt! Man folge ihm! Man laſſe
es nicht dabey bewenden, die Lehrſtunde auszu¬
halten, ſondern bereite ſich darauf vor und wie¬
derhole das Gelernte, damit er ſeine ſchwere
Arbeit nicht mit Seufzen verrichte! Oft aber
trifft man unter dieſen Herrn ſehr ſchlechte Sub¬
jecte an; Menſchen ohne Erziehung und Sit¬
ten, die von dem, was ſie Andern beybringen
wollen, ſelbſt keine klare Begriffe, am wenig¬
ſten aber die Gabe haben, in Andern derglei¬
chen zu erwecken; Menſchen, die, beſonders
wenn ſie es mit Kindern zu thun haben, ihre
Schuͤler etwas auswendig lernen laſſen, womit
ſie gelegentlich die unwiſſenden Eltern taͤuſchen
koͤnnen, welche dann große Begriffe von den
Fort¬[137] Fortſchritten faſſen, die gemacht werden, indeß
der Meiſter froh iſt, wenn die Stunde gluͤcklich
voruͤber gegangen; Menſchen, die, um dieſe
Stunde zu vertreiben, Stadt-Maͤrchen erzaͤh¬
len, aus einem Hauſe in das andre tragen, oder
gar das unedle Handwerk von Kupplern und
Liebesbrieftraͤgern verwalten. Ich kann jeden
ſorgſamen Vater, und wem ſonſt junge Leute
anvertrauet ſind, nicht genug vor dieſer boͤſen
Gattung von Unterweiſern warnen, und rathe,
ſo viel moͤglich bey den Lehrſtunden ſolcher Mei¬
ſter, die man nicht recht genau kennt, gegenwaͤr¬
tig zu ſeyn.
7.
Ein redlicher, arbeitſamer und geſchickter
Handwerksmann oder Kuͤnſtler iſt eine der nuͤtz¬
lichſten Perſonen im Staate, und es macht un¬
ſern Sitten wenig Ehre, daß wir dieſen Stand
ſo geringſchaͤtzen. Was hat ein muͤßiger Hof¬
ſchranze, was hat ein reicher Tagedieb, der um
ſein baares Geld ſich Titel und Rang erkauft
hat, vor dem fleiſſigen Buͤrger voraus, der ſei¬
nen Unterhalt auf erlaubte Weiſe durch ſeiner
Haͤnde Arbeit erwirbt? Dieſer Stand befrie¬
digtJ 5[138] digt unſre erſten und natuͤrlichſten Beduͤrfniſſe;
Ohne ihn wuͤrden wir fuͤr unſre Nahrung und
Kleidung und fuͤr alle Gemaͤchlichkeiten des Le¬
bens mit eigenen hohen Haͤnden ſorgen muͤſſen;
Und erhebt ſich nun gar der Handwerker oder
Kuͤnſtler (wie es ſehr oft der Fall iſt) uͤber das
Mechaniſche, durch Erfindungskraft und Ver¬
feinerung ſeiner Kunſt; ſo verdient er doppelte
Achtung. Dazu koͤmmt, daß man wuͤrklich un¬
ter dieſen Leuten, die bey ihren Geſchaͤften Zeit
genug haben, an andre gute Dinge zu denken,
zuweilen die hellſten Koͤpfe und Maͤnner an¬
trifft, die freyer von Vorurtheilen ſind, als
Viele, die durch Studieren und Syſtemgeiſt
ihre geſunde Vernunft verſchroben haben.
Man ehre alſo einen rechtſchaffenen und
fleiſſigen Handwerksmann, und betrage ſich hoͤf¬
lich gegen ihn! Man gehe nicht ohne Noth, ſo
lange man von ſeiner Arbeit, von ſeinem Fleiſſe
und von ſeinen Preiſen zufrieden iſt, von ihm
ab, um ſich an einen andern zu wenden! Man
mache nicht den Handwerksneid unter dieſen
Leuten rege! Man ziehe, bey gleichen Umſtaͤn¬
den, den Handwerksmann, der unſer Nachbar
iſt,[139] iſt, dem entfernter wohnenden vor! Man be¬
zahle ordentlich, puͤnctlich, baar, und dinge
ihm nicht uͤber die Grenzen der Billigkeit ab!
Unverantwortlich iſt das Verfahren ſo vieler
Vornehmen und ſelbſt Reichen, die, bey allem
Aufwande, den ſie machen, nur zuletzt daran
denken, die Handwerksleute, welche fuͤr ſie ar¬
beiten, zu befriedigen. Sie verliehren vielleicht
in Einem Abende Tauſende im Spiel, und ma¬
chen es ſich zu einem Ehrenpuncte, dieſe Schuld
ohne Aufſchub zu tilgen; ihr armer Schuſter
hingegen muß, um eine Rechnung von zehn
Thalern, worunter mehr als die Haͤlfte in baa¬
ren Auslagen von ſeiner Armuth beſteht, be¬
zahlt zu erhalten, Jahre lang manchen ſauren
Weg vergebens thun, und ſich von einem gro¬
ben Haushofmeiſter abweiſen laſſen. Dies
ſtuͤrzt ſo manchen ehrlichen, ſonſt wohlhabenden
Buͤrger in Mangel, oder verleitet ihn, ein Be¬
truͤger zu werden.
Es herrſcht aber unter den Handwerksleu¬
ten die unartige Gewohnheit des Luͤgens. Sie
verſprechen, was ſie weder halten koͤnnen, noch
halten wollen, und uͤbernehmen mehr Arbeit,
als[140] als ſie in der verheiſſenen Friſt zu liefern im
Stande ſind. Es wuͤrde der Muͤhe werth ſeyn,
daß ſich, wie ich etwas Aenliches vorgeſchlagen
habe, als ich von dem Ueberfordern der Kraͤmer
redete, die angeſehenſten Leute einer Stadt da¬
hin vereinigten, bey einem ſolchen Windbeutel
nicht mehr arbeiten zu laſſen. Was mich be¬
trifft, (der ich vielleicht zu pedantiſch auf Worts-
Erfuͤllung und Ordnung halte) ich mache mit
den Handwerksleuten, welche fuͤr mich arbeiten,
den Vertrag, daß ich augenblicklich von ihnen
abgehe, ſobald ſie mir ihre Zuſage nicht halten.
In ihrer Gegenwart ſchreibe ich mehrentheils
die Stunde auf, in welcher ſie die Arbeit zu lie¬
fern verheiſſen; Iſt nun dieſe Stunde erſchie¬
nen, und ſie ſtellen ſich nicht ein; ſo haben ſie
vom fruͤhen Morgen bis in die Nacht vor mir
und meinen Leuten keine Ruhe. Dadurch nun,
und weil ich jedesmal bey Ablieferung der Ar¬
beit baar bezahle, erlange ich, daß ich ſeltener
belogen werde, als Andre.
8.
Ein Blick zuruͤck auf das, was ich von
dem Umgange mit Kaufleuten geſagt habe, er¬
in¬[141] innert mich, daß ich bey dieſer Gelegenheit auch
von den Juden, als gebohrnen Handelsmaͤnnern,
haͤtte reden ſollen. Ich will aber das Wenige,
ſo ich etwa uͤber dieſen Gegenſtand vorzutragen
habe, hier nachholen.
In America trifft man ſehr viel Juden an,
die durchaus in allen ihren Sitten mit den Chri¬
ſten uͤbereinſtimmen, auch ſogar mit chriſtlichen
Familien, durch wechſelſeitige Heyrathen, ſich
verbinden. In Holland und einigen Staͤdten
von Teutſchland, beſonders in Berlin, iſt die
Lebensart mancher juͤdiſchen Familien von der
Weiſe, wie andre Religions-Verwandte leben,
auch faſt gar nicht unterſchieden. In dieſen
Faͤllen nun iſt eine von den Urſachen gehoben,
weswegen der Character dieſes Volks ſo viel
nicht vortheilhafte Eigenheiten hat. Daß uͤbri¬
gens die hoͤchſt unverantwortliche Verachtung,
mit welcher wir den Juden begegnen, der Druck
in welchem ſie in den mehrſten Laͤndern leben,
und die Ohnmoͤglichkeit auf andre Weiſe als
durch Wucher ihren Lebens-Unterhalt zu gewin¬
nen, daß dies alles nicht wenig dazu beytraͤgt,
ſie moraliſch ſchlecht zu machen, und zur Nie¬
der¬[142] dertraͤchtigkeit und zum Betruge zu reizen; end¬
lich daß es, ohngeachtet aller dieſer Umſtaͤnde,
dennoch edle, wohlwollende, großmuͤthige Men¬
ſchen unter ihnen giebt — das ſind bekannte,
oft geſagte Dinge. Betrachten wir aber hier
die Juden, nicht wie ſie unter andern Umſtaͤn¬
den ſeyn koͤnnten, noch wie einzelne Sub¬
jecte unter ihnen ſind, ſondern ſo, wie wir jetzt
ihren Volks-Character nach der groͤßern Anzahl
beurtheilen muͤſſen!
Sie ſind unermuͤdet da, wo etwas zu ge¬
winnen iſt, und machen, durch ihren engen Zu¬
ſammenhang in allen Laͤndern, und dadurch,
daß ſie ſich durch keine Art von Behandlung
und Zuruͤckweiſung abſchrecken laſſen, faſt ohn¬
moͤgliche Dinge moͤglich. Man kann ſie daher
unter der Hand zu den wichtigſten Verhandlun¬
gen brauchen, nur muß man ihre Dienſte gut
bezahlen.
Sie ſind verſchwiegen, wo ſie Intereſſe da¬
bey finden, vorſichtig, zuweilen zu furchtſam,
doch fuͤr's Geld bereit das Aergſte zu wagen,
verſchlagen, witzig, originell in ihren Einfaͤllen,
Schmeich¬[143] Schmeichler im hoͤchſten Grade, und finden alſo
Mittel, ſich ohne Aufſehn in den groͤßten Haͤu¬
ſern Einfluß zu verſchaffen und durchzuſetzen,
was man ohne ſie ſchwerlich erlangen wuͤrde.
Sie ſind mißtrauiſch. Haben wir ſie aber
einmal von unſrer Puͤnctlichkeit im Bezahlen
und von der Heilighaltung unſers Worts uͤber¬
zeugt; haben ſie oft Geſchaͤfte mit uns gemacht
und wiſſen, daß wir mit unſern Finanzen nicht
ganz uͤbel ſtehen; ſo kann man auch bey ihnen
Huͤlfe finden, wenn alle chriſtliche Wucherer uns
in Stiche laſſen.
Biſt Du aber ein ſchlechter Wirth, oder
ſind Deine Vermoͤgens-Umſtaͤnde in einer zwey¬
deutigen Lage; ſo wird niemand dies leichter
gewahrwerden, als der Jude. Rechne dann
nicht darauf, daß er Dir Geld vorſchieſſen
werde, oder mache Dich gefaſſt, ihm, wenn er es
auf Speculation daran wagt, Dich zu ſo uͤber¬
triebenen Procenten und zu ſolchen Clauſeln ver¬
bindlich machen zu muͤſſen, daß dadurch Deine
Lage gewiß noch ungluͤcklicher wird!
Es[144]
Es wird den Juden gewaltig ſchwer, ſich
vom Gelde zu ſcheiden. Wenn jemand, den ſie
nicht recht genau kennen, ſie um ein Darlehn
anſpricht; ſo werden ſie denſelben auf einen an¬
dern Tag wieder beſtellen. Unterdeſſen forſchen
ſie bey Handwerkern, Nachbarn, Bedienten
und dergleichen, nach den kleinſten Umſtaͤnden
des kuͤnftigen Schuldners. Koͤmmt Dieſer zur
beſtimmten Zeit wieder; ſo laͤſſt ſich der Jude
verleugnen, oder verſchiebt die Zahlung noch um
einige Wochen, Tage, oder Stunden. Und iſt
auf Deinem Geſichte nur irgend eine Spur von
Verlegenheit uͤber Deine Umſtaͤnde, oder von
zu großer Freude uͤber die zu hoffende Huͤlfe zu
leſen; ſo wird der Jude ſich nicht von ſeinem
Mammon trennen, und haͤtte er auch ſchon an¬
gefangen das Geld hinzuzaͤhlen. Auf dies alles
muß man ſich gefaſſt machen, wenn man in
ſolche Faͤlle koͤmmt.
Bey dem Handel mit Hebraͤern gemeiner
Art rathe ich die Augen oder den Beutel zu oͤf¬
nen. Es iſt ſehr natuͤrlich, daß ein Chriſt ſich
auf ihre Gewiſſenhaftigkeit, auf ihre Betheue¬
rungen nicht verlaſſen darf. Sie werden Euch
Kupfer[145] Kupfer fuͤr Gold, drey Ellen fuͤr vier, alte Sa¬
chen fuͤr neue verkaufen, uͤberleichte Louisd'or fuͤr
vollwichtige, falſche Muͤnze fuͤr aͤchte geben,
wenn Ihr es nicht beſſer verſtehet.
Wenn man alte Kleider oder andre Sachen
an Juden verhandeln will; ſo ſuche man mit
dem Erſten, der uns ein irgend leidliches Ge¬
both thut, ſogleich einig zu werden! Laͤſſeſt Du
ihn fortgehn, ohne ſein Geboth anzunehmen;
ſo wird die Nachricht, daß bey Dir etwas zu
ſchachern ſey, und daß man Mendeln oder Jo¬
kef den Handel nicht verderben duͤrfe, wie ein
Lauffeuer durch die ganze Judenſchaft gehn, und
in der Sinagoge publiciert werden; In ſolchen
Faͤllen halten ſie treulich zuſammen. Es wer¬
den dann haufenweiſe die Israeliten, fremde
und einheimiſche, Dein Haus beſtuͤrmen, aber
jeder ſpaͤter Kommende wird immer etwas we¬
niger biethen, als der Vorhergehende, bis Du
endlich entweder den Erſten wieder aufſuchſt,
der aber dann die gleich anfangs gebothene
Summe noch vermindert, oder bis Deine Waare
Dir ſo zuwieder wird, daß Du ſie fuͤr die Haͤlfte
des Werths einem Andern hingiebſt, der ſie
treulich dem Erſtern einhaͤndigt.
(Zweiter Th.) KIſt[146]
Iſt man ſeines Kaufs mit einem Troͤdel-
Juden voͤllig einig; ſo wird er doch noch verſu¬
chen, uns zu hintergehn. Er wird gewoͤhnlich
ſagen: „er habe kein baares Geld bey ſich, wolle
„uns aber die Uhr oder ſo etwas zum Unter¬
„pfande laſſen.“ Er weiß wohl, daß man das
ſelten annimt. Giebt man ihm nun Credit und
das Gekaufte mit; ſo ſchleppt er dies in der
ganzen Stadt umher, biethet es feil, und bringt
es endlich wieder, mit dem Bedeuten: „man
„ſolle etwas ſchwinden laſſen; er habe ſich uͤber¬
„eilt.“ Oder er koͤmmt gar nicht wieder, [und]
man muß lange hinter der Bezahlung herlau¬
fen. Auch wollen ſie gar zu gern Waare ſtatt
Geld geben, denn die baare Muͤnze iſt ihnen
ſehr an das Herz gewachſen — Auf dies alles
darf man ſich nicht einlaſſen.
9.
In den mehrſten Provinzen von Teutſch¬
land lebt der Bauer in einer Art von Druck
und Sclaverey, die wahrlich oft haͤrter iſt, als
die Leibeigenſchaft deſſelben in andern Laͤndern.
Mit Abgaben uͤberhaͤuft, zu ſchweren Dienſten
verurtheilt, unter dem Joch, grauſamer, rauh¬
her¬[147] herziger Beamte ſeufzend, werden ſie des Le¬
bens nie froh, haben keinen Schatten von Frey¬
heit, kein ſicheres Eigenthum, und arbeiten
nicht fuͤr ſich und die Ihrigen, ſondern nur fuͤr
ihre Tyrannen.
Wen nun die Vorſehung in die gluͤckliche
Lage geſetzt hat, zur Erleichterung dieſer ſo ſehr
gedruͤckten und doch ſo wichtigen, ſo nuͤtzlichen
Menſchen-Claſſe etwas beytragen zu koͤnnen;
o! der ſchaffe ſich doch die ſuͤße Wonne, in den
kleinen Huͤtten der Landleute Freude zu verbrei¬
ten, und ſeinen Namen von Kindern und En¬
keln mit Segen genannt zu hoͤren!
Wohl freylich ſind die Bauern zum Theil
ſo hartnaͤckige, zaͤnkiſche, wiederſpenſtige und
unverſchaͤmte Geſchoͤpfe, daß ſie aus der gering¬
ſten Wohlthat eine Schuldigkeit machen, daß
ſie nie zufrieden ſind, immer klagen, immer
mehr haben wollen, als man ihnen zugeſtehn
kann; Allein ſind wir nicht ſelbſt, durch lange
fortgeſetzte unedle Behandlung und Vernachlaͤſ¬
ſigung ihrer Bildung, daran Schuld, daß nie¬
dertraͤchtige Geſinnungen bey ihnen herrſchend
K 2wer¬[148] werden? Und giebt es nicht einen Mittelweg,
zwiſchen uͤbertriebener Nachſicht, und deſpoti¬
ſcher Strenge und Grauſamkeit? Ich verlange
nicht, daß ein Landes- oder Gutsherr ſich des
Rechts begeben ſoll, ſeine Unterthanen zu gewiſ¬
ſen ſchuldigen Dienſten zu brauchen; allein er
ſoll nicht, damit er, zum Beyſpiele, das grau¬
ſame Vergnuͤgen einer Hirſch- und Schweine-
Metzeley ſchmecke, den Bauer, zu einer Zeit,
wo ſeine Gegenwart zu Hauſe ihn und ſeine
Familie gegen Mangel ſchuͤtzen muß, mehr Tage
hinter einander in ſtrenger Kaͤlte mit leerem
Magen herumlaufen, und Ohren und Naſen er¬
frieren laſſen. Er ſoll ihm die ſchuldigen Ab¬
gaben nicht ſchenken; aber er ſoll Nachſicht mit
ſeinen Umſtaͤnden haben, Ruͤckſicht auf erlittene
Ungluͤcksfaͤlle nehmen, und darauf halten, daß
die Beamten die Gelder zu einer Zeit eintreiben,
wo es dem armen Landmanne weniger ſchwer
wird, baare Muͤnze aufzutreiben, ohne ſich mit
Leib und Seele dem Juden oder dem boͤſen
Feinde zu verſchreiben.
Man ſchwaͤtzt ſo viel von Verbeſſerung der
Dorfſchulen und Aufklaͤrung des Landvolks; al¬
lein[149] lein uͤberlegt man auch wohl immer genau ge¬
nug, welch' ein Grad von Aufklaͤrung fuͤr den
Landmann, beſonders fuͤr den von niedrigem
Stande, taugt? Daß man den Bauer nach
und nach, mehr durch Beyſpiele als durch De¬
monſtrationen, zu bewegen ſuche, von manchen
ererbten Vorurtheilen, in der Art des Feldbaues
und uͤberhaupt in Fuͤhrung des Haushalts, zu¬
ruͤckzukommen; daß man durch zweckmaͤßigen
Schul-Unterricht die thoͤrichten Grillen, den
dummen Aberglauben, den Glauben an Geſpen¬
ſter, Hexen und dergleichen zu zerſtoͤhren trachte;
daß man die Bauern gut ſchreiben, leſen und
rechnen lehre; daß iſt loͤblich und nuͤtzlich. Ih¬
nen aber allerley Buͤcher, Geſchichten und Fabeln
in die Haͤnde zu ſpielen; ſie zu gewoͤhnen, ſich
in eine Ideen-Welt zu verſetzen; ihnen die
Augen uͤber ihren armſeligen Zuſtand zu oͤfnen,
den man nun einmal nicht verbeſſern kann; ſie
durch zu viel Aufklaͤrung unzufrieden mit ihrer
Lage, ſie zu Philoſophen zu machen, die uͤber
ungleiche Austheilung der Gluͤcksguͤter declamie¬
ren; ihren Sitten Geſchmeidigkeit und den An¬
ſtrich der feinen Hoͤflichkeit zu geben — Das
taugt wahrlich nicht. Ohne alle dieſe kuͤnſtlichen
Huͤlfs¬K 3[150] Huͤlfsmittel trifft man indeſſen unter allen Land¬
leuten Menſchen von ſo unverfaͤlſchtem Sinne,
von ſo hellem, heitern Kopfe, und von ſo feſtem
Character an, daß Dieſe manchen hochſtudierten
Herrn beſchaͤmen koͤnnten. Im Ganzen betrage
man ſich gegen den Bauer treuherzig, grade,
offen, ernſthaft, wohlwollend, nicht geſchwaͤtzig,
conſequent, immer gleich! und man wird ſich
ſeine Achtung, ſein Zutrauen erwerben, und viel
uͤber ihn vermoͤgen.
Von Land-Edelleuten und andern Perſo¬
nen hoͤhern Standes, die in den Doͤrfern leben,
gilt zum Theil das Nemliche. Man nehme kei¬
nen Reſidenz-Ton mit zu ihnen hin, huͤte ſich
vor leeren Complimenten, nehme Theil an ihren
laͤndlichen Freuden, Sorgen und Geſchaͤften,
und verbanne allen Zwang im Umgange mit ih¬
nen, ohne jedoch zu ſchmutziger, poͤbelhafter Auf¬
fuͤhrung herabzuſinken! ſo wird man ihnen als
Gaſt, Nachbar, Freund und Rathgeber will¬
kommen ſeyn.
Sie¬[151]
Siebentes Capittel.
Ueber den Umgang mit Leuten von allerley
Lebensart und Gewerbe.
1.
Zuerſt von den ſo genannten Aventuriers! Ich
rede hier nicht von den eigentlichen Betruͤgern
und Gaunern; Von Dieſen ſoll gleich nachher
gehandelt werden; ſondern von der unſchaͤdlichen
Art der Abentheurer, die, wenn ſie ſich mit
Madam Fortuna gar zu oft uͤberworfen haben,
zuletzt an die kleinen Neckereyen dieſes launich¬
ten Weibes ſo gewoͤhnt ſind, daß ſie immer auf’s
Neue blindlings in den Gluͤckstopf hineingrei¬
fen, und es wagen, entweder auf die Finger ge¬
klopft zu werden, oder einmal einen fetten Bro¬
cken zu erhaſchen. Sie leben ohne feſten Plan
fuͤr den folgenden Tag, auf gute Hofnung los,
unternehmen alles, was ihnen fuͤr den Augen¬
blick eine Ausſicht zu einigem Unterhalte zu er¬
oͤfnen ſcheint. Wo eine reiche Witwe zu hey¬
rathen, eine Penſion, eine Bedienung an irgend
einem Hofe, oder dergleichen zu erhalten iſt; da
ſind ſie nicht ſaumſelig. Sie taufen ſich, adeln
ſichK 4[152] ſich, ſchaffen ſich um, ſo oft es ihnen beliebt,
und es die Sache erleichtern kann. Was ſich
als Edelmann nicht durchſetzen laͤſſt, das verſu¬
chen ſie als Marquis, als Abbé, als Officier.
Zwiſchen Himmel und Erde iſt kein Fach, kein
Departement, in welchem ſie nicht bereit waͤren,
ſich an die Spitze der Geſchaͤfte ſtellen zu laſſen,
keine Wiſſenſchaft, uͤber welche ſie nicht mit einer
Zuverſicht plaudern, die ſogar den Gelehrten zu¬
weilen ſtutzen macht. Mit einer bewunderns¬
wuͤrdigen Gewandtheit, mit einem favoir faire,
das ſelbſt der beſſere Mann zum Theil von ihnen
lernen ſollte, gelangen ſie zu Dingen, die der
Rechtſchaffenſte und Verſtaͤndigſte nicht einmal
zu wuͤnſchen den Muth hat. Ohne tiefe Men¬
ſchenkenntniß haben ſie grade das, womit man
in dieſer Welt uͤber wahre Weisheit den Mei¬
ſter ſpielt — eſprit de conduite. Gelingt das
nicht, was ſie unternehmen; ſo werden ſie doch
dadurch nicht in ihrem guten Humor geſtoͤhrt;
die ganze Welt iſt ihr Vaterland, und als blinde
Paſſagiers ſind ſie auf dem Poſtwagen eben ſo zu
Hauſe, als in einer praͤchtigen Caroſſe. — Ein
gutmuͤthiges Voͤlkgen! durch das Nomaden-Le¬
ben gewoͤhnt, Freuden und Leiden geduldig zu
er¬[153] ertragen und zu theilen. Haben ſie irgendwo
ihre Rolle ausgeſpielt; ſo ſchnuͤren ſie ihr Buͤn¬
delchen, und gehen aus ihren Pallaͤſten ſo leicht¬
fuͤßig davon, wie ein fluͤchtiger Morgen-Traum.
Als Geſellſchafter mag man dieſe Leute nicht
verachten! Sie haben ſo manches geſehn und
erfahren, daß dem Menſchenkenner ihr Um¬
gang nicht ganz unintereſſant ſeyn kann. Ja!
wenn ſie ſonſt nicht boͤsartig ſind; ſo findet man
bey ihnen Theilnehmung, Dienſtfertigkeit und
Gefaͤlligkeit in hohem Grade. Dagegen iſt zu
einer genauen freundſchaftlichen Verbindung mit
ihnen gar nicht zu rathen. Man ſey nicht zu
vertraulich gegen ſie, und bediene ſich nicht ihrer
Huͤlfe zu wichtigen Geſchaͤften! Theils leidet
dadurch unſer eigener Ruf; theils kann man ſich
von ihrem Leichtſinne und ihrer Characterloſig¬
keit wenig wahre Huͤlfe verſprechen; auch pfle¬
gen ſie nicht eben ſehr eckel in der Wahl der
Mittel zu ſeyn, welche ſie anwenden, um zu
einem Zwecke zu gelangen.
2.
Beſchaͤme nicht leicht den Aventurier, auch
Den von ſchlechterer Art nicht, wenn Du ihn
irgendK 5[154] irgendwo in einer erborgten Geſtalt, unter fal¬
ſchem Namen, oder mit ſelbſt geſchaffenen Titeln
und Ehrenzeichen geſchmuͤckt antriffſt, in ſo fern
nicht wichtige Gruͤnde eintreten, oder Du be¬
ſondern Beruf dazu haſt! Auch wuͤrde Dir das
nicht immer gelingen, denn ſeine Unverſchaͤmt¬
heit moͤgte vielleicht Wege finden, das Unan¬
genehme einer ſolchen Scene auf Dich ſelbſt fal¬
len zu machen. Doch kann es zuweilen nuͤtzlich
ſeyn, ſo einen Herrn unter vier Augen merken zu
laſſen, daß er von unſrer Bekanntſchaft ſey, und
daß es in unſrer Macht ſtehen wuͤrde, ihn zu
entlarven, daß man aber Seiner ſchonen wolle.
Dann wird ihn vielleicht die Furcht vor der Ent¬
deckung zuruͤckhalten, boͤſe Streiche zu ſpielen.
Es giebt aber unter dieſen Landlaͤufern aͤuſſerſt
gefaͤhrliche Leute, Ausſpaͤher, Verfuͤhrer, Ver¬
leumder, Diebe und Schelme aller Art. Nicht
nur ſollte Dieſen die Thuͤr jedes ehrlichen Man¬
nes verſchloſſen bleiben, ſondern die kleinern
teutſchen Fuͤrſten wuͤrden auch wohlthun, wenn
ſie ſich weniger mit ſolchem Geſindel einlieſſen,
welches gewoͤhnlich mit einer Taſche voll von
Planen und Projecten zum Beſten des Landes,
zu Befoͤrderung des Handels, zum Flor und
zur[155] zur Verſchoͤnerung ihrer Reſidenzen, angezogen
koͤmmt, redliche Diener aus ihren Aemtern ver¬
draͤngt und verdaͤchtig macht, ſeinen Beutel zum
Ruin des Landes ſpickt, freylich ſeine Rolle ſel¬
ten lange ſpielt, aber, wenn es auch, mit Schimpf
und Schande beladen, davongehn muß, mehren¬
theils viel geſtiftetes Ungluͤck zuruͤcklaͤſſt, was es
nie wieder gutmachen kann, und irgend einen
andern ſchwachen Herrn findet, mit dem es ſeine
Operationen auf das Neue anfaͤngt. In dieſen
Faͤllen iſt es Pflicht, dem Boͤſewichte oͤffentlich
die Maske abzuziehn; doch thue man das nicht
eher, als bis man die deutlichſten Beweiſe ge¬
gen ihn in Haͤnden hat! denn dergleichen Men¬
ſchen haben die Gabe, ihre Sache von ſolchen
Seiten vorzuſtellen, daß man ſehr viel wagt,
wenn man ſie mit unſichern Waffen angreift.
3.
Unter allen Abentheurern ſind, nach mei¬
ner Empfindung, die Spieler vom Handwerke
die veraͤchtlichſten. Indem ich nun von ihnen
rede, werde ich auch Gelegenheit nehmen, uͤber
das Spiel im Allgemeinen und uͤber das Betra¬
gen bey demſelben etwas zu ſagen.
Keine[156]
Keine Leidenſchaft kann ſo weit fuͤhren,
keine kann den Juͤngling, den Mann und ganze
Familien in ein grenzenloſeres Elend ſtuͤrzen,
keine den Menſchen in eine ſolche Kettenreyhe
von Verbrechen und Laſtern verwickeln, als die
vermaladeyete Spielſucht. Sie erzeugt und
naͤhrt alle nur erſinnlichen unedlen Empfindun¬
gen: Habſucht, Neid, Haß, Zorn, Schaden¬
freude, Verſtellung, Falſchheit und Vertrauen
auf blindes Gluͤck; Sie kann zu Betrug, Zank,
Mord, Niedertraͤchtigkeit und Verzweiflung fuͤh¬
ren, und toͤdtet auf die unverantwortlichſte Weiſe
die goldene Zeit. Wer reich iſt, der thut thoͤ¬
richt, wenn er ſein Geld auf ſo ungewiſſe Spe¬
culation anlegt, und wer nicht viel zu wagen
hat, der muß furchtſam ſpielen, kann die Lau¬
nen des Gluͤcks nicht abwarten, ſondern muß
bey dem erſten wiedrigen Schlage das Feld raͤu¬
men, oder er wagt es darauf, aus einem Duͤrf¬
tigen, ein Bettler zu werden. Doch iſt die Thor¬
heit der Erſteren noch weit groͤßer, als die der
Letzteren. Selten ſtirbt der Spieler als ein
reicher Mann; Wer daher auf dieſem elenden
Wege Vermoͤgen erworben hat, und dann nicht
aufhoͤrt zu ſpielen; der hat zehnfaches Unrecht.
Huͤte[157]
Huͤte dich, mit Leuten vom Handwerke
Dich auf ein Spiel einzulaſſen, wenn Dir dein
Geld lieb iſt!
Traue Keinen von ihnen; in keiner Sache! —
Die wenigen Ausnahmen, wo dieſe Regel ei¬
nem ehrlichen Spieler von Profeſſion Unrecht
thun koͤnnte, verdienen nicht in Anſchlag ge¬
bracht zu werden, und wer ſich dieſer veraͤchtli¬
chen Lebensart widmet, der mag es nicht uͤbel¬
nehmen, daß man ihm den Geiſt der Zunft zu¬
traut, zu welcher er ſich bekennt.
Laß Dich auf keine bloße Hazard-Spiele
ein! Um geringen Preis geſpielt, ſind ſie aͤuſ¬
ſerſt langweilig, und hohes Geld dem Ohngefehr
preis zu geben, iſt Narrheit. Ein verſtaͤndiger
Mann verachtet jede Beſchaͤftigung, bey wel¬
cher Kopf und Herz ſchlummern muͤſſen, und
man darf nur ein mittelmaͤßiger Rechner ſeyn,
um leicht zu calculieren, daß bey ſolchen Gluͤcks-
Spielen die Wahrſcheinlichkeit immer gegen uns
iſt. Wollen wir aber gar keine Wahrſcheinlich¬
keit annehmen; ſo bleibt der Erfolg ein Werk
des Zufalls, und wer wird denn vom Zufall ab¬
haͤngen wollen?
Auf[158]
Auf die ſo genannten Commerce-Spiele
thue entweder auch Verzicht, oder lerne ſie vor¬
her recht, und ſpiele mit gleicher Aufmerkſam¬
keit, es mag um hohen Preis, oder um eine
Kleinigkeit gelten! Lerne Dich aber auch im
Spiele bemeiſtern! Mache nicht durch gehaͤufte
Fehler an Aufmerkſamkeit und Kunſt, Dich ſel¬
ber arm, und Deinen Mitſpielern Ungeduld
und Langeweile!
Zeige keine boͤſe Laune, wenn Du ſchlechte
Carten bekoͤmmſt, wenn Du verliehrſt! Wer
nie Geld im Spiele verliehren will, der muß
ſich auf die Blindekuh einſchraͤnken.
Spiele nicht ſo unertraͤglich langſam, daß
Deinen Geſellſchaftern alle Geduld vergeht!
Zanke nicht, wenn Deine Mitſpieler Feh¬
ler machen!
Zeige keine laute Freude, wenn Du ge¬
winnſt! das pflegt Dem, welcher verlohren hat,
empfindlicher zu ſeyn, als der Verluſt ſelbſt.
— Doch[159]
— Doch dieſe Materie iſt wohl kaum ei¬
ner ſo langen Abhandlung werth — Wenden
wir uns zu andern Gegenſtaͤnden!
4.
Unter den Abentheurern unſrer Zeit ſpie¬
len die Geiſterſeher, Goldmacher und andre
myſtiſche Betruͤger keine unbetraͤchtliche Rolle.
Dieſe Art von Schwaͤrmerey, nemlich der Glaube
an uͤbernatuͤrliche Wuͤrkungen und Erſcheinun¬
gen, iſt ſehr anſteckend. Bey dem Gefuͤhle,
wie manche Luͤcke in unſern philoſophiſchen Sy¬
ſtemen und Theorien uͤbrigbleibt, ſo lange unſer
Geiſt in den Grenzen irdiſcher Ausdehnung
eingeſchraͤnkt iſt, und bey der Begierde, dennoch
uͤber die Grenzen dieſer Eingeſchraͤnktheit hin¬
aus Blicke zu thun, ſcheint es dem Menſchen
ganz natuͤrlich, die unerklaͤrbaren Sachen a po¬
ſteriori zu erlaͤutern, wenn es mit den Bewei¬
ſen a priori nicht recht gehn will; das heiſſt:
aus den geſammleten Thatſachen Reſultate zu
ziehn, die ihm angenehm ſind, Reſultate, die
theoretiſch, durch Schluͤſſe, nicht vollſtaͤndig her¬
aus kommen. Da geſchieht es dann, daß, um
eine Menge ſolcher Thatſachen zu gewinnen,
man[160] man geneigt iſt, jedes Maͤrchen fuͤr wahr, jede
Taͤuſchung fuͤr Realitaͤt zu halten, damit man
ſeinem Glauben Gewicht gebe. Je aufgeklaͤr¬
ter aber die Zeiten werden, je aͤmſiger man ſich
beſtrebt, der Wahrheit auf den Grund zu kom¬
men; deſto ſichtbarer wird es uns, daß wir auf
Erden dieſen Grund nicht finden, um deſto leich¬
ter alſo gerathen wir auf jenen Weg, den wir
vorher verachtet haben, ſo lange noch auf dem
hellen Wege der Theorien neue Entdeckungen
zu machen waren. Ich glaube, daß dies eine
ungezwungene Erklaͤrung des Phaͤnomens iſt,
das ſo Manchen hoͤchſt wunderbar ſcheint, des
Phaͤnomens, daß in den Zeiten der groͤßten Auf¬
klaͤrung ein blinder Glaube an Ammen-Maͤr¬
chen grade am ſtaͤrkſten einreiſſt.
Dieſe Stimmung des Publicums nun ma¬
chen ſich eine Menge von Betruͤgern zu Nutze,
die, theils planmaͤßig verbunden uns zu unter¬
jochen, theils einzeln, nach Zeit und Gelegenheit,
darauf ausgehen, die Augen der Schwachen
zu blenden.
Sey es nun dabey auf unſere Geldbeutel,
oder auf Tyranney uͤber unſern Willen, oder auf
irgend[161] irgend einen andern moraliſchen, intellectuellen,
oder politiſchen Misbrauch, angeſehn: ſo iſt es
immer ſehr wichtig, dagegen auf ſeiner Hut zu
ſeyn.
Obgleich ich mich nicht feſt uͤberzeugen kann,
daß eben alle Abentheurer ſolcher Art, daß die
Caglioſtros, Saint Germains, Schroͤpfer und
Conſorten bis auf den armen Maſius hinunter,
ſaͤmtlich von einer einzigen Triebfeder regiert
werden, und daß jeder ſolcher Wundermann
ſeine Unternehmungen auf den nemlichen Zweck
zu leiten die Abſicht haben ſollte; ſo ſind wir
doch Denen allen Dank ſchuldig, die uns vor
ſolchen Abentheurern warnen, und uns wenig¬
ſtens zeigen, wohin das fuͤhren koͤnnte.
Um aber nicht zu wiederholen, was ſo vielfaͤltig
geſagt worden und noch immer geſagt wird;
ſo will ich hier, bey dem Betragen gegen Leute
von der Art, nur folgende Vorſichtigkeits-Regeln
vorſchlagen:
Laß es an ſeinen Ort geſtellt ſeyn, ob man
Geiſter ſehn und Gold machen koͤnne! Leugne
nicht das, wovon Du nicht das Gegentheil
(Zweiter Th.) Lſo[162] ſo klar beweiſen kannſt, daß es nicht moͤg¬
lich iſt, dagegen etwas einzuwenden! —
denn Beweiſe, die auf Vorderſaͤtze beruhen,
welche nur conventionel angenommen ſind, koͤn¬
nen blos Den uͤberzeugen, der Luſt hat, davon
uͤberzeugt zu werden. — Aber baue nicht auf
die Moͤglichkeit einer Sache den Schluß auf
ihre Wuͤrklichkeit, noch auf metaphyſiſche Poſi¬
tionen moraliſche Handlungen! Sollte auch je¬
mand durch Schluͤſſe uͤberfuͤhrt werden koͤnnen,
daß wohl ſehr wahrſcheinlich jedes ſichtbare We¬
ſen von einer Menge unſichtbarer umgeben iſt;
ſo bleibt es doch immer thoͤricht, wenn dies ſicht¬
bare Weſen ſeine ſichtbaren Handlungen mehr
nach der vermuthlich unſichtbaren Geſellſchaft,
die ihn umgiebt, einrichtet, als nach den Sitten
der wackern wuͤrklichen Perſonen, unter denen
er umherwandelt.
Man zeige alſo in Worten und Handlun¬
gen mehr Waͤrme fuͤr thaͤtige, nuͤtzliche Wuͤrk¬
ſamkeit, als fuͤr Speculation; ſo werden ſich
die Herrn Myſtiker nicht leicht zu uns geſellen!
Geraͤth man aber an einen ſolchen Wun¬
dermann, und es iſt uns daran gelegen, ihn
und[163] und ſein Syſtem genauer kennen zu lernen; ſo
huͤte man ſich, vorher Unglauben und Vorwitz
zu offenbahren! Er wird ſonſt bald merken, daß
mit uns nicht viel anzufangen iſt, daß wir nicht
empfaͤnglich fuͤr ſeine Weisheit ſind; Er wird
uns nicht einweyhn in ſeine Geheimniſſe, nicht
zulaſſen zu ſeinem eſoteriſchen Unterrichte, und
wir werden den Vortheil entbehren, uns und
unſre Freunde von dem wahren Zuſammenhange
zu unterrichten — ohngerechnet, daß es ſich wuͤrk¬
lich fuͤr einen vernuͤnftigen Mann nicht ſchickt,
ſich fruͤher vor oder gegen eine Sache einnehmen
zu laſſen, bevor er dieſelbe kaltbluͤtig unterſucht
hat, waͤre auch aller Anſchein dagegen, beſon¬
ders wenn es Dinge betrifft, in welchen ſelbſt
der Weiſeſte lebenslang im Finſtern tappt.
Glaubt man zuverſichtlich einen Betrug ent¬
deckt zu haben; ſo iſt Spott, ſo iſt Perſifflage
nicht das Mittel, Schwaͤrmer zu bekehren. Man
gehe alſo Schritt vor Schritt, und, da die
Sinne leichter getaͤuſcht werden koͤnnen, als die
Vernunft; ſo fordere man, bevor man ſich auf
Erſcheinungen, Proben und Proceſſe einlaͤſſt,
daß uns vor allen Dingen zuerſt die Theorie,
L2auf[164] auf welcher das alles beruht, recht deutlich erklaͤrt
werde! und hier laſſe man ſich nicht etwa auf
eine bildliche Sprache ein, ſondern auf be¬
ſtimmte, verſtaͤndliche teutſche Worte, und auf
den Ideen-Gang Sprach-Gebrauch, der
einmal unter Gelehrten uͤblich iſt. Es mag viel¬
leicht ſehr viel Weisheit in dem Jargon der My¬
ſtiker ſtecken; aber fuͤr uns kann nur das
Werth haben, was wir verſtehen. Man goͤnne
alſo einem Jeden die Freude, einen ſchmutzigen
Kieſel fuͤr einen Diamanten zu halten! aber
wenn man kein eben ſo großer Kenner von Edel¬
geſteinen iſt; ſo ſage man gutmuͤthig ohne Scham,
frey heraus: „daß man dieſen Stein fuͤr nichts
„anders, als fuͤr einem ſchmutzigen Kieſel halten
„koͤnne!“ Es iſt keine Schande, etwas nicht
einzuſehn, aber es iſt mehr als Schande, es iſt
Betrug, das Anſehn haben zu wollen, als ver¬
ſtuͤnde man — was man nicht verſteht.
Hat Dich indeſſen ein Landſtreicher, ein
Goldmacher, oder Geiſterſeher bey Deiner ſchwa¬
chen Seite gefaſſt, eine Zeitlang ſein Spiel¬
werk mit Dir getrieben — o! wer iſt mehr in
dieſer Leute Haͤnden geweſen, als ich? — und
Du[165] Du entlarvſt endlich den Schurken; dann ſchaͤme
Dich nicht, nein! denke, daß es Pflicht iſt, zur
Warnung andrer ehrlichen, leichtglaͤubigen Leute,
oͤffentlich den Betrug bekannt zu machen — moͤg¬
teſt Du auch dabey in einem ſehr unvortheilhaf¬
ten Lichte erſcheinen!
Ach¬L 3[166]
Achtes Capittel.
Ueber geheime Verbindungen und den Um¬
gang mit den Mitgliedern derſelben.
1.
Unter die mancherley ſchaͤdliche und unſchaͤdliche
Spielwerke, mit welchen ſich unſer philoſophi¬
ſches Jahrhundert beſchaͤftigt, gehoͤrt auch die
Menge geheimer Verbindungen und Orden ver¬
ſchiedener Art. Man wird heut zu Tage in al¬
len Staͤnden wenig Menſchen antreffen, die
nicht, von Wißbegierde, Thaͤtigkeitstrieb, Ge¬
ſelligkeit oder Vorwitz geleitet, wenigſtens eine
Zeitlang Mitglieder einer ſolchen geheimen Ver¬
bruͤderung geweſen waͤren. Und doch moͤgte es
wohl nun endlich einmal Zeit ſeyn, dieſe theils
zweckloſen, thoͤrichten, theils dem geſellſchaftli¬
chen Leben gefaͤhrlichen Buͤndniſſe aufzugeben.
Ich habe mich lange genug mit dieſen Dingen
beſchaͤftigt, um aus Erfahrung reden und jeden
jungen Mann, dem ſeine Zeit lieb iſt, abrathen
zu koͤnnen, ſich in irgend eine geheime Geſell¬
ſchaft, ſie moͤge Namen haben, wie ſie wolle,
aufnehmen zu laſſen: Sie ſind alle, freylich
nicht[167] nicht in gleichem Grade, aber doch alle ohne
Unterſchied zugleich unnuͤtz und gefaͤhrlich.
Unnuͤtz ſind ſie zuerſt, weil man in unſerm
Zeitalter keine Art von wichtigem Unterrichte
in Geheimniſſe einzuhuͤllen braucht. Die
chriſtliche Religion iſt ſo klar und befriedigend,
daß ſie nicht, wie die Volks-Religionen der al¬
ten Heiden, einer geheimen Auslegung, einer
doppelten Lehrart bedarf, und in den Wiſſen¬
ſchaften werden die neueſten Entdeckungen zum
Wohl der Welt oͤffentlich bekannt gemacht, muͤſ¬
ſen und ſollen oͤffentlich bekannt gemacht wer¬
den, damit ſie jeder Sachverſtaͤndige pruͤfen und
bewahrheiten koͤnne. In den einzelnen Laͤn¬
dern hingegen, wo noch Finſterniß und Aber¬
glauben herrſchen, muß man den kommenden
Tag erwarten. Man darf da nichts uͤbereilen;
Man verdirbt oft mehr als man gutmacht, wenn
man die Zwiſchenſtufen uͤberſpringen will; Es
hat gar keinen Nutzen, daß einzelne Menſchen
die Periode der Aufklaͤrung zu beſchleunigen
trachten; auch koͤnnen ſie das nicht, und wenn
ſie es koͤnnen; ſo iſt es Pflicht dies oͤffentlich zu
thun, um deſto mehr Pflicht, damit andre ver¬
nuͤnftige Maͤnner in dem nemlichen Lande und
inL 4[168] in andern Gegenden uͤber den Beruf der Auf¬
klaͤrer, uͤber den Werth der intellectuellen Waare,
welche ſie feilbiethen, und daruͤber moͤgen urthei¬
len koͤnnen, ob das, was ſie lehren, auch wuͤrk¬
lich Aufklaͤrung ſey, oder ob ſie nicht vielleicht
ſchlechtere Muͤnze auspraͤgen, als die iſt, welche
ſie verrufen. Unnuͤtz ſind ſolche Verbindungen
ferner, von Seiten ihrer Wuͤrkſamkeit, weil ſie
mehrentheils ſich mit elenden Kleinigkeiten und
abgeſchmackten Caͤremonien beſchaͤftigen, eine
Bilder-Sprache reden, die alle moͤgliche Ausle¬
gung leidet, nach ſchlecht durchgedachten Planen
handeln, unvorſichtig in der Wahl ihrer Mit¬
glieder ſind, folglich bald ausarten, und wenn
ſie auch anfangs in ihrer Einrichtung Vorzuͤge
vor oͤffentlichen Geſellſchaften haben koͤnnten,
nachher die nemlichen und noch mehr ſolcher
Gebrechen bey ihnen einreiſſen, uͤber die man
in der Welt klagt. Wer Luſt hat, etwas
Großes und Nuͤtzliches zu thun, der findet
dazu im buͤrgerlichen und haͤuslichen Leben ſehr
viel Gelegenheit, die faſt kein Einziger ganz
ſo anwendet, wie er koͤnnte. Es muͤſſte erſt be¬
wieſen werden, daß auf dieſem oͤffentlich privi¬
legierten Wege nichts mehr zu thun uͤbrigbliebe,
oder[169] oder daß dem warmen Befoͤrderer des Guten
unuͤberſteigliche Hinderniſſe in den Weg gelegt
waͤren, bevor man das Recht haben duͤrfte, ſich
einen vom Staate nicht ſancierten, geheimen,
beſondern Wuͤrkungskreis zu ſchaffen. Wohlthaͤ¬
tigkeit bedarf keiner myſterioſen Huͤlle; Freund¬
ſchaft muß auf freye Wahl beruhn, und Geſel¬
ligkeit braucht nicht durch geheime Wege befoͤr¬
dert zu werden.
Allein dieſe geheimen Verbindungen ſind
auch ſchaͤdlich fuͤr die Welt. Schaͤdlich, weil
alles, was im Verborgenen geſchieht, mit Recht
in Verdacht gezogen werden kann; weil die Vor¬
ſteher der buͤrgerlichen Geſellſchaft die Befugniß
haben, von dem Zwecke jeder Thaͤtigkeit, zu
welcher ſich Mehrere vereinigen, ſich unterrich¬
ten zu laſſen; weil ſonſt unter dem Schleyer
der Verborgenheit eben ſo wohl gefaͤhrliche
Plane und ſchaͤdliche Lehren, als edle Abſichten
und weiſe Kenntniſſe verſteckt ſeyn koͤnnen; weil
ſelbſt nicht alle Mitglieder von ſolchen verderb¬
lichen Abſichten, die man zuweilen hinter der
ſchoͤnſten Auſſenſeite zu verhuͤllen pflegt, unter¬
richtet ſind; weil nur mittelmaͤßige Genies ſich
in dieſen Schraubeſtock einzwaͤngen laſſen, die
L 5beſ¬[170] beſſern hingegen entweder bald zuruͤcktreten,
oder zu Grunde gehen, ausarten und eine ſchiefe
Richtung bekommen, oder auf Unkoſten der An¬
dern herrſchen; weil mehrentheils unbekannte
Obern im Hinterhalte ſtehen, und es eines ver¬
ſtaͤndigen Mannes unwerth iſt, nach einem
Plane zu arbeiten, den er nicht uͤberſieht, fuͤr
deſſen Wichtigkeit und Guͤte ihm Leute einſte¬
hen — die er nicht kennt, denen er ſich verbind¬
lich machen muß, ohne daß ſie ſich ihm verbind¬
lich machen, ohne daß er weiß, an wen er ſich
zu halten hat, wenn man ihm dafuͤr gar nichts
leiſtet; weil ſchiefe Koͤpfe und Schurken ſich
dies zu Nutzen machen, ſich zu unbekannten
Obern aufwerfen, und die uͤbrigen Mitglieder
zu ihren Privat-Abſichten misbrauchen; weil
jeder Erdenſohn Leidenſchaften hat, und dieſe
Leidenſchaften alſo mit in die Geſellſchaft bringt,
wo ſie dann im Schatten, unter der Maske der
Verborgenheit, freyern Spielraum haben, als
am Tageslichte; weil dieſe Verbindungen alle,
durch nach und nach einſchleichende uͤble Wahl
der Mitglieder, dahin ausarten; weil ſie Geld
und Zeit koſten; weil ſie von ernſthaften buͤrger¬
lichen Geſchaͤften ab, zum Muͤßiggange, oder zu
zweck¬[171] zweckloſer Geſchaͤftigkeit leiten: weil ſie bald der
Sammelplatz von Abentheurern und Tagedieben
werden; weil ſie allerley Gattung von politiſcher,
religioͤſer und philoſophiſcher Schwaͤrmerey be¬
guͤnſtigen; weil moͤnchiſcher eſprit de corps
bey ihnen einreiſſt, und viel Unheil ſtiftet; end¬
lich, weil ſie Gelegenheit zu Cabalen, Zwiſt,
Verfolgung, Intoleranz und Ungerechtigkeit ge¬
gen gute Maͤnner geben, die keine Mitglieder
eines ſolchen, oder wenigſtens nicht des nemli¬
chen Ordens ſind.
Dies iſt mein Glaubens-Bekenntniß uͤber
geheime Verbindungen! Giebt es eine unter
ihnen, die manche dieſer Gebrechen nicht hat —
ey nun! ſo mag ſie denn als Ausnahme gelten!
— ich kenne keine, die nicht wenigſtens an eini¬
gen derſelben krank laͤge.
2.
Ich rathe daher nochmals, ſich auf dieſe
Mode-Thorheit nicht einzulaſſen; ſich ſo wenig
als moͤglich um die Syſteme, um das Perſo¬
nale und um die Schritte geheimer Verbindungen
zu bekuͤmmern; ſeine Zeit nicht mit Leſung ihrer
Streitſchriften zu verſchwenden; vorſichtig im
Reden uͤber dieſen Gegenſtand zu ſeyn, um ſich
Ver¬[172] Verdruß zu erſparen, und weder ein gutes noch
boͤſes Urtheil uͤber ſolche Syſteme zu wagen,
weil der Grund derſelben oft ſehr tief verbor¬
gen liegt.
3.
Haben aber Vorwitz, uͤbel geordnete Be¬
gierde thaͤtig zu ſeyn, Neugier, Ueberredung,
Eitelkeit, oder andre Bewegungsgruͤnde Dich
verleitet, in eine ſolche Verbindung zu treten;
ſo huͤte Dich wenigſtens, von den nemlichen
Thorheiten und Schwaͤrmereyen angeſteckt, von
dem nemlichen Secten-Geiſte hingeriſſen zu wer¬
den! Huͤte Dich, das Spielwerk, die Ma¬
ſchiene verkappter Boͤſewichte zu werden! Drin¬
ge, wenn Du kein Knabe mehr biſt, auf deut¬
liche Entwicklung des ganzen Syſtems. Nim
nicht eher Andre auf, als bis Du ſelbſt vollkom¬
men unterrichtet biſt! Laß Dich nicht durch raͤth¬
ſelhafte Vorſpiegelungen, durch große Verheiſ¬
ſungen, durch blendende Plane zum Beſten der
Menſchheit, durch den Anſchein von Uneigen¬
nuͤtzigkeit, Heiligkeit und Reinigkeit der Abſicht
blenden: ſondern fordre Beweiſe von Thaten
und gaͤnzliche Ueberſicht! Wirft man Dir dann
Deinen Mangel an Empfaͤnglichkeit, Deine
Un¬[173] Unwuͤrdigkeit vor; ſo laß Dir erzaͤhlen, welche
Eigenſchaften die hohen Obern fordern, und be¬
leuchte ſie, dieſe Obern, ſelber, nach ihrem Ma߬
ſtabe, um ihren Werth, alle Eitelkeit bey Seite
geſetzt, gegen den Deinigen zu halten! Laß Dich
aber durchaus nicht darauf ein, unbekannten
Obern zu huldigen, moͤgte man auch noch ſo
einleuchtend ſcheinende Gruͤnde dafuͤr anfuͤhren!
Sey vorſichtig in jedem Worte, das Du in Or¬
dens-Geſchaͤften ſchreibſt, und noch mehr in
Uebernehmung irgend einer eidlichen oder an¬
dern Verbindlichkeit! Fordre Rechenſchaft von
Anwendung der Gelder, die man Dich bezah¬
len laͤſſt! — Und wenn, bey dieſer vielfachen
Vorſicht, Du der Verbindung, oder die Ver¬
bindung Deiner uͤberdruͤſſig wird; ſo trenne
Dich ohne Geraͤuſch und Zank von ihr, und
rede nachher nie wieder von der Sache, damit
Du allen Verfolgungen ausweicheſt! Sollte
man Dich aber dennoch nicht in Ruhe laſſen;
ſo tritt oͤffentlich auf, und ſcheue Dich nicht,
Betrug, Narrheit und Bosheit vor den Augen
des ganzen Publicums, Andern zur Warnung,
bekannt zu machen!
Neun¬[174]
Neuntes Capittel.
Ueber das Betragen gegen Leute, in aller¬
ley beſondern Verhaͤltniſſen und Lagen.
1.
Zuerſt uͤber die Auffuͤhrung gegen unſre Feinde!
Man kraͤnke niemand vorſetzlich! Man ſey wohl¬
wollend, dienſtfertig, verſtaͤndig, vorſichtig, grade
und ohne Winkelzuͤge in allen Handlungen! Man
erlaube ſich keinen Schritt zum Nachtheil eines
Andern! Man zerſtoͤhre keines Menſchen Gluͤck¬
ſeligkeit! Man verleumde niemand! Man ver¬
ſchweige ſelbſt das wuͤrklich Boͤſe, ſo man von
ſeinen Mitmenſchen weiß, wenn man nicht ent¬
ſchiedenen Beruf hat, oder das Wohl Andrer es
beſtimmt erfordert, daruͤber zu reden! — ſo
wird man — etwa keine Feinde haben? — das
ſage ich nicht; aber man wird, wenn uns den¬
noch Neid und Bosheit verfolgen, wenigſtens
die Beruhigung empfinden, keine Veranlaſſung
zur Feindſchaft gegeben zu haben.
Es ſteht nicht immer in unſrer Willkuͤhr,
geliebt, aber es haͤngt immer von uns ab, nicht
ver¬[175] verachtet zu werden. Allgemeiner Beyfall, all¬
gemeines Lob ſind ſehr entbehrliche Dinge; all¬
gemeine Achtung koͤnnen dem Redlichen und
Weiſen wieder Willen ſelbſt die Schurken in ih¬
ren Herzen nicht verſagen, und der warmen
Freunde bedarf man etwa nur drey in der Welt,
um gluͤcklich zu ſeyn.
Will man ohne Angſt in dem Umgange
mit Menſchen leben; ſo darf es uns nicht beun¬
ruhigen, wenn nicht alle Menſchen uns fuͤr gut
und weiſe halten. Je mehr hervorleuchtende
edle Eigenſchaften aber ein Mann hat, um deſto
gewiſſer kann er darauf rechnen, von der Scheel¬
ſucht ſchwacher und ſchlechter Menſchen manches
ertragen zu muͤſſen, und Die, welche die allge¬
meine Stimme des Poͤbels aller Claſſen vor
ſich haben, ſind mehrentheils die mittelmaͤßig¬
ſten Leute, Leute ohne Character, oder niedrige
Schmeichler und Heuchler. Es iſt wahrlich
nicht ſchwer, Menſchen zu gewinnen, auch die
zu gewinnen, welche am heftigſten gegen uns
eingenommen waren, und das oft durch ein ein¬
ziges Geſpraͤch unter vier Augen, wenn man
ihre ſchwache Seite ſtudiert hat, und es recht
dar¬[176] darauf anlegt — allein das iſt eine elende, des
redlichen Mannes unwuͤrdige Kunſt — Und
was bekuͤmmert es mich am Ende, ob Men¬
ſchen, die mein Herz nicht kennen, ja! die mich
nie geſehn haben, durch die Geſchwaͤtze irgend
eines alten Weibes gegen mich eingenommen
ſind, oder nicht?
Klage aber nie uͤber Verfolgung und Feinde,
wenn Du nicht Luſt haſt, die Anzahl der Letz¬
tern zu vermehren! Es ſchleicht immer eine An¬
zahl furchtſamer, niedertraͤchtiger Geſchoͤpfe um¬
her, die nicht den Muth haben, gegen einen
Mann von Wuͤrde ſich oͤffentlich zu erklaͤren,
die aber ſich augenblicklich an Dich wagen, ſo¬
bald ſie Dich huͤlflos, ſcheu und niedergeſchla¬
gen erblicken; und Dieſe, ſo unbedeutend ſie
Dir auch ſcheinen moͤgten, koͤnnen mit ihren
Neckereyen Dir tauſendfaͤltigen Kummer ma¬
chen. Der feſte Mann muß ſich ſelbſt ſchuͤtzen.
Zeige Zuverſicht zu Dir ſelber; ſo wirſt Du
ganze Heere von Schelmen im Zaume halten!
Zudem iſt des Kaͤmpfens in der Welt ſo viel;
Jeder gute Mann hat mit ſeinen eigenen Ange¬
legenheiten genug zu thun, ſo daß es vergebens
iſt,[177] iſt, Alliirte zu ſuchen, weil Dieſe bey der erſten
Gelegenheit, wo es eigene Sicherheit gilt, da¬
vonlaufen. Der Mann, welcher ſich ſtellt, als
merke er es nicht einmal, daß man ihn verfolgt,
der von Zeit zu Zeit ſagt: „Gottlob! mir geht
„es gut; ich habe Freunde“ wird fuͤr einen
maͤchtigen Bundesgenoſſen gehalten, Deſſen man
ſchonen muͤſſe, da hingegen auf den Verlaſſenen
Jeder, wie die benachbarten Fuͤrſten auf das Ei¬
genthum einer kleinen Reichsſtadt, herumtanzt.
Werde nie hitzig oder grob gegen Deine
Feinde, weder in Geſpraͤchen, noch Schriften!
und wenn boͤſer Willen und Leidenſchaft, wie es
mehrentheils geſchieht, bey ihnen im Spiele iſt;
ſo laſſe Dich auf keine Art von Explication ein!
Schlechte Leute werden am beſten durch Verach¬
tung beſtraft, und Klatſchereyen am leichteſten
wiederlegt, wenn man ſich gar nicht darum be¬
kuͤmmert.
Wenn man daher unſchuldig verleumdet,
angeklagt, verkannt wird; ſo zeige man Stolz
und Wuͤrde in ſeinem Betragen! und die Zeit
wird alles aufklaͤren.
(Zweiter Th.) MNicht[178]
Nicht alle Boͤſewichte ſind unempfindlich ge¬
gen eine edle, großmuͤthige, immer gleiche, grade
Behandlung. Mit dieſen Waffen alſo kaͤmpfe
man, ſo lange ſich's irgend thun laͤſſt, gegen
ſeine Feinde! Sie muͤſſen nicht Rache fuͤrchten,
ſondern fuͤrchten, daß ſie ſelber ſich in den Au¬
gen des Publicums herabſetzen wuͤrden, wenn
ſie fortfuͤhren einen Mann zu verfolgen, dem
niemand ſeine Ehrerbiethung verſagt.
Wollen ſie aber dennoch nicht das Gewehr
ſtrecken, und macht Dein Stillſchweigen bey ih¬
ren Ausfaͤllen ſie noch kecker; dann zeige einmal
mit ganzer Kraft, was Du thun koͤnnteſt,
wenn Du wollteſt! Aber gebrauche dabey keine
Winkelzuͤge! Vereinige Dich nie mit andern
ſchlechten Leuten! Mache keine gemeinſchaftliche
Sache mit Einem Schelm, um den andern zu
bekaͤmpfen; ſondern tritt ganz allein, muthig,
kuͤhn, ſchnell, grade und oͤffentlich gegen ſie
auf! Es iſt unglaublich, wie viel ein Einziger,
mit einem guten Gewiſſen und edlem Feuer,
gegen Schaaren von Nichtswuͤrdigen vermag.
Sey[179]
Sey nur trotzig gegen maͤchtige, ſiegende
Feinde! Des Ueberwundenen, des Ungluͤckli¬
chen ſchone, und verſchweige alles Unrecht, das
er Dir vormals zugefuͤgt, ſobald er auſſer
Stande iſt, Dir ferner zu ſchaden, ſobald er
die Stimme des Publicums gegen ſich hat!
Laß Dir nie zweymal die Hand zur Ver¬
ſoͤhnung reichen! Vergiß dann alle Beleidigun¬
gen, ſollteſt Du auch fuͤrchten muͤſſen, daß der
Mann bey der erſten Gelegenheit die Feindſe¬
ligkeit erneuern wird! Sey zwar auf Deiner
Hut; aber zeige kein Mistraun! Es iſt beſſer,
unſchuldigerweiſe zum zweytenmal beleidigt zu
werden, als ein einzigmal den Mann zu kraͤn¬
ken, zu erbittern, und ihm allen Muth zu neh¬
men, dem es mit ſeiner Ruͤckkehr zu Dir ein
Ernſt iſt!
Je vornehmer der Mann, der von Fein¬
den verfolgt wird, um deſto wichtiger iſt es, daß
er den groͤßten Theil dieſer Vorſchriften ſich zu
Nutzen mache. Ein Miniſter wird oft durch
kleine, ſehr kleine Leute, deren Einfluß er ver¬
achtet, blos dadurch geſtuͤrzt, daß er bey dem
M 2er¬[180] erſten Angriffe Furchtſamkeit, Mangel an Zu¬
verſicht blicken laͤſſt.
Uebrigens hat man nicht Unrecht, wenn
man behauptet, daß unſre Feinde oft, ohne es
zu wollen, unſre groͤßten Wohlthaͤter ſind. Sie
machen uns aufmerkſam auf Fehler, die unſre
eigene Eitelkeit, die Nachſicht unſrer partheyi¬
ſchen Freunde und die niedrige Gefaͤlligkeit der
Schmeichler vor unſern Augen verbergen. Ihre
Schmaͤhungen feuern in uns den Eifer an, um
deſto ſorgſamer den Beyfall der Beſſern zu ver¬
dienen; und wenn ſie jedem unſrer Schrite auf¬
auren; ſo lehren ſie uns, auf unſrer Hut zu
ſeyn, um ihnen keine Bloͤße zu geben.
Keine Feindſchaft pflegt heftiger zu ſeyn,
als die unter entzweyeten Freunden. Unſre Eitel¬
keit koͤmmt da in das Spiel; Wir ſchaͤmen uns
das Spielwerk eines Boͤſewichts geweſen zu
ſeyn; Wir wenden alles an, um Dieſen nun
im ſchlechteſten Lichte zu zeigen, damit wir vor
der Welt unſre Trennung von ihm rechtfertigen
moͤgen. — Doch, uͤber das Betragen gegen
Freunde nach dem Bruche habe ich ja ſchon im
zehnten Capittel des erſten Theils geredet.
2.[181]
2.
Man koͤmmt oft in nicht geringe Verlegen¬
heit, wenn unſre Lage uns zwingt, mit Leuten
umzugehn, die einander feind ſind, wo man es
alſo gar leicht mit einer Parthey verdirbt, ſobald
man mit der andern gut ſteht, oder es mit bey¬
den verdirbt, wenn man ſich ohngebethen, oder
auf unvorſichtige Weiſe, in dieſe Haͤndel miſcht.
Ich empfehle dabey folgende Vorſichtigkeits-
Regeln:
So viel man kann, vermeide man die Un¬
annehmlichkeit, mit zwey Partheyen zu glei¬
cher Zeit umzugehn, die mit einander in Zwiſt
leben!
Kann man dies aber nicht aͤndern, zum
Beyſpiel, ohne ploͤtzlich ein Verhaͤltniß aufzu¬
heben, in welchem man lange Zeit geſtanden;
ſo ſetze man ſich wo moͤglich auf den Fuß, durch¬
aus nicht eingeflochten zu werden in die obwal¬
tenden Streitigkeiten! Man bitte ſich's viel¬
mehr aus, daß in den Geſpraͤchen dieſe Sache
nie beruͤhrt werde!
M3Kann[182]
Kann man aber auch dies nicht aͤndern; ſo
enthalte man ſich zuerſt aller Zweyzuͤngigkeit!
Das heiſſt: Man rede nicht, wenn man bey
der einen Parthey iſt, zum Nachtheile der an¬
dern, und wiederum zum Tadel jener, wenn
dieſe es wuͤnſcht; ſondern, wenn man ſich durch¬
aus daruͤber erklaͤren muß. immer ſo, wie es
einem redlichen, gerechten Manne zukoͤmmt!
Noch ſchaͤndlicher aber, als jene Duplici¬
taͤt, iſt das Verfahren mancher Menſchen, die,
um dabey im Truͤben zu fiſchen, oder um da¬
durch zu einer wichtigen Perſon zu werden, oder
aus Schadenfreude und Geiſt der Intrigue, von
beyden Seiten Oel zum Feuer gieſſen, und den
Zwiſt unterhalten.
Wenn man ferner die ſtreitenden Theile
nicht recht genau kennt; wenn ſie nicht unſre
vertraueteſten Freunde ſind; wenn man nicht
ganz gewiß weiß, daß man es mit edeln, von
Vernunft regierten Leuten zu thun hat, die viel¬
leicht nur durch Misverſtaͤndniſſe, oder durch
andre, mit Huͤlfe eines Dritten leicht zu hebende
Irrungen getrennt werden; ſondern wenn boͤ¬
ſer[183] ſer Willen, Eigennutz, ungeſellige Gemuͤthsart,
oder unbaͤndige Leidenſchaft im Spiele iſt, folg¬
lich keine dauerhafte Wiedervereinigung nach
den Gemuͤthsarten der Leute zu hoffen ſteht;
ſo laſſe man ſich nicht darauf ein, Verſoͤhnungen
ſtiften zu wollen! Man verdirbt es dabey leicht
mit Einer Parthey, und nicht ſelten mit beyden.
Iſt es endlich gar nicht zu vermeiden, daß
man ſich vor oder gegen eine von den beyden
Partheyen beſtimmt erklaͤre; ſo nehme man ſich
nicht etwa, wie Leute von niedriger Denkungs¬
art zu thun pflegen, immer der ſtaͤrkern gegen
die ſchwaͤchere an, oder drehe gar den Mantel
nach dem Winde, um abzulauern, wer ſiegen
wird, und alsdann Den im Stiche zu laſſen,
der von dem Andern durch allerley Cabale unter¬
druͤckt worden; ſondern man entſcheide ſich,
ohne Anſehn der Perſon und ohne Ruͤckſicht auf
Freundſchaft, Schmeicheley und Verwandtſchaft,
maͤnnlich und unerſchuͤtterlich, nach den Regeln
der Gerechtigkeit fuͤr Den, von dem uns unſre
Vernunft ſagt, daß er Recht habe, und bleibe
ihm treu und beſtaͤndig zugethan, es gehe auch,
wie es wolle!
3.M 4[184]
3.
Wenden wir uns jetzt zu Kranken und Lei¬
denden! Wer je empfunden hat, welch' ein Lab¬
ſal bey Krankheiten und Schmerzen eine gute,
ſorgſame, ſtille und beſcheidene Wartung ge¬
waͤhrt, der wird es nicht unnuͤtz finden, daß ich
ein Paar Worte hieruͤber ſage. Die Art der
Behandlung und Sorgfalt muß ſich aber frey¬
lich nach der Verſchiedenheit der Krankheiten
richten, mit welchen der Leidende kaͤmpft, und
ich kann alſo keine allgemein paſſende Regeln
vorſchlagen; Doch, ſo viel ſich im Ganzen uͤber
dieſen Gegenſtand ſagen laͤſſt, moͤge hier Platz
finden!
Es giebt Krankheiten, in welchen Aufmun¬
terung des Gemuͤths, Zerſtreuung und ange¬
nehme Unterhaltung ſehr viel zur Genehſung
beytragen, und hingegen andre, bey denen Ruhe
und ſtille Wartung das Einzige ſind, wodurch
man dem Leidenden Linderung verſchaffen kann.
Man ſoll daher wohl unterſcheiden und beobach¬
ten, welche Art von Behandlung anwendbar
ſeyn moͤgte.
Ich[185]
Ich geſtehe, daß in ſchweren Krankheiten
mir die Aufwartung bezahlter Waͤrter immer
angenehmer geweſen iſt, als die ſorgfaͤltige, lie¬
bevolle Zudringlichkeit werther Freunde. Jene
ſind durch Erfahrung mit den kleinen Handgrif¬
fen bekannt, und leiſten ihre Dienſte mit un¬
verdroſſener Geduld, Kaltbluͤtigkeit und ſtren¬
ger Puͤuctlichkeit, bekuͤmmern ſich nicht um
unſre Launen, und leiden nicht bey unſern
Schmerzen; Dieſe hingegen werden uns oft,
beſonders wenn unſre Nerven ſehr reizbar ſind,
durch zu viel Eifer, laͤſtig; wiſſen nicht behut¬
ſam genug bey ihren Handreichungen mit uns
umzugehn; erregen unſre Ungeduld durch Fra¬
gen, und machen unſer Leiden, durch zu war¬
mes Mitgefuͤhl, ſo wir in ihren Augen leſen,
doppelt ſchwer; wozu denn noch koͤmmt, daß
der Gedanke, ſie zu haͤufig zu bemuͤhn, und die
Furcht, ſie zu beleidigen, wenn wir uͤber etwas
unzufrieden ſind, uns einen peinlichen Zwang
auflegen. Will man daher ſeinen Freund ſelbſt
verpflegen; ſo ſuche man die Art geuͤbter Kran¬
ken-Waͤrter nachzuahmen, und den Leidenden
ſo wenig als moͤglich zu genieren; ſondern alles
mechaniſch ſo zu machen, wie er es gern zu ha¬
benM 5[186] ben ſcheint! Man werde nicht misvergnuͤgt,
wenn ein Kranker zuweilen auffahrend, boͤſer
Laune, oder zaͤnkiſch wird! Wir fuͤhlen nicht,
wie ihm zu Sinne iſt, und wie ſeine zerruͤttete
Maſchine auf ſeinen Geiſt wuͤrkt.
Man mache nicht, beſonders bey einem
Kranken von ſehr empfindlicher, weicher Ge¬
muͤthsart, ſein Leiden durch Wehklagen und
aͤngſtliches Bezeigen noch ſchwerer!
Man rede nicht von Dingen, die ihm,
ſelbſt wenn er geſund waͤre, unangenehm ſeyn
wuͤrden, nicht von haͤuslichen Verlegenheiten,
vom Tode, noch von Vergnuͤgungen, an wel¬
chen er nicht Theil nehmen kann!
Leute, die blos in der Einbildung krank
ſind, muß man zwar nicht verſpotten, noch zu
uͤberzeugen ſuchen, daß ihnen nichts fehlt, denn
das macht ganz verkehrte Wuͤrkung auf ſie; aber
man ſoll ſie auch nicht in ihrer Thorheit beſtaͤr¬
ken, ſondern, wenn vernuͤnftige Vorſtellungen
nichts helfen, nur gar keine Theilnahme zeigen,
ihre Klagen mit Stillſchweigen beantworten,
und[187] und wenn der Sitz des Uebels im Gemuͤthe iſt,
ſie durch weiſe gewaͤhlte Zerſtreuungen auf an¬
dre Gedanken zu bringen ſuchen.
Auch giebt es Menſchen, die dadurch In¬
tereſſe zu erwecken glauben, daß ſie ſich kraͤnklich
ſtellen. Das iſt eine thoͤrichte Schwaͤche! Auf
unmaͤnnliche, marzipanene Stutzer vielleicht,
nicht aber auf verſtaͤndige Menſchen, kann gei¬
ſtige und coͤrperliche Gebrechlichkeit beſonders
vortheilhaft wuͤrken, und nur in einem Zeitalter
von allgemeiner Entnervung darf man auf den
Gedanken gerathen, durch Klagen uͤber Mangel
an Praͤſtanz, ſo wie durch bloͤde Augen, Blaͤ¬
hungen und ſchwache Werkzeuge, ſich von einer
artigen Seite zeigen zu wollen. Man ſuche ſolche
Leute von ihrer Albernheit zuruͤck zu fuͤhren, ſie
zu uͤberzeugen, daß es beſſer ſey Bewunderung,
als Mitleiden zu erregen, und daß nichts ſo all¬
gemein vortheilhafte Eindruͤcke mache, als der
Anblick eines Weſens, das, an Leib und Seele
geſund, in ſeiner vollen Kraft, zur Ehre der
Schoͤpfung daſteht!
Endlich in Unpaͤßlichkeiten, wo der Geiſt
viel uͤber den Coͤrper vermag, wo Seelen-Leiden
das[188] das Uebel vermehren und die Beſſerung hindern,
da ſoll man alle Kraͤfte aufſpannen, ſeine ganze
Lebhaftigkeit in Bewegung ſetzen, um Heiter¬
keit, Muth, Troſt und Hofnung in das Ge¬
muͤth des Kranken zuruͤckzurufen.
4.
Noch ſchonender als mit dieſen Leidenden
ſoll man mit Leuten umgehn, auf welchen die
ſchwere Hand des Schickſals liegt; mit Un¬
gluͤcklichen, Armen, Bedraͤngten, Verſtoßenen
und Zuruͤckgeſetzten, mit Verirrten und Gefalle¬
nen. Reden wir von jeder dieſer Claſſen ein
Paar Worte beſonders!
Nim Dich des Armen an, wenn Dir Gott
die Mittel in die Haͤnde gegeben hat, ſeine Noth
zu erleichtern! Weiſe nicht den Duͤrftigen von
Deiner Thuͤr zuruͤck, ſo lange Du noch, ohne
Ungerechtigkeit gegen die Deinigen, eine kleine
Gabe zu geben haſt! Sey es wenig oder viel;
ſo gieb es mit gutem Herzen, und — wie ich
bey Gelegenheit geſagt habe, als von der Art
Wohlthaten zu erzeigen die Rede war, — gieb
es mit guter Manier! Calculiere nicht ſo genau,
ob[189] ob der Mann, dem Du helfen kannſt, ſelbſt an
ſeinem Ungluͤcke Schuld ſey, oder nicht! Wer
in der Welt wuͤrde ganz unſchuldig an den Lei¬
den, die ihn treffen, befunden werden, wenn
man alles ſo ſtrenge unterſuchen wollte? Willſt
oder kannſt Du aber gar nichts, oder nur wenig
geben; ſo brauche keine leere Ausfluͤchte! Laß
den Armen nicht durch Deine Bedienten unter
allerley Vorwande wiederbeſtellen, oder vertroͤ¬
ſten! Am wenigſten aber erlaube Dir, etwa zu
Rechtfertigung Deiner Hartherzigkeit, Grob¬
heiten, beleidigende Strafpredigten gegen Den,
deſſen Bitte Du abzuſchlagen entſchloſſen biſt;
ſondern ſprich den Mann ſelbſt, und ſage ihm
kurz und menſchenfreundlich, warum Du nicht
geben kannſt, nicht geben willſt! Thue auch
auf das erſte Wort, was zu thun vernuͤnftig
und gut iſt, und warte nicht darauf, daß man
durch wiederholtes Betteln Dein Herz erweiche!
Gieb aber nicht als ein Verſchwender, ſondern
laß Deine Wohlthaten von der Gerechtigkeit ge¬
gen Dich und Andre geordnet werden, und ver¬
ſchleudre nicht an den Landlaͤufer, Bettler von
Handwerke und Faullenzer, was Du dem huͤlf¬
loſen Alter, der Gebrechlichkeit und dem durch
wie¬[190] wiedrige Zufaͤlle Verungluͤckten ſchuldig biſt!
Und wo es Labſal geben kann, da begleite Deine
kleine Gabe von einem ſanften Troſtworte, von
einem vertraulichen Rathe und von einem freund¬
lichen, mitleidigen Blicke! Gehe ſchonend und
aͤuſſerſt fein mit Leuten um, die in unangenehmen
haͤuslichen Lagen ſind! Sie pflegen ſehr empfind¬
lich zu ſeyn, pflegen leicht zu glauben, man ver¬
achte ſie, ſetze ſie zuruͤck, ihrer Armuth wegen.
Das elende Geld hat leider! nur gar zu viel
Einfluß auf den Poͤbel aller Staͤnde. Unter¬
ſcheide Dich von dieſem Haufen! Ehre den ver¬
dienſtvollen Armen oͤffentlich! Suche ihm we¬
nigſtens einen frohen Augenblick zu machen,
wenn Du auch ſeine Umſtaͤnde nicht verbeſſern
kannſt! Entziehe Dich nicht dem Anblicke des
Jammers! Fliehe nicht die Wohnungen der
Noth und der Duͤrftigkeit! Man muß vertrauet
ſeyn mit dem mancherley Elende auf dieſer Welt,
um theilnehmend mitempfinden zu koͤnnen bey
den Leiden des ungluͤcklichen Bruders. Wo der
beſcheidene Arme im Verborgenen ſeufzt, es nicht
wagt, ſich herbeyzudraͤngen und um Huͤlfe zu
bitten; wo wiedrige Vorfaͤlle den fleiſſigen
Mann, den Mann, der einſt beſſere Tage ge¬
ſehn[191] ſehn hat, zu Boden ſchlagen; wo eine zahlreiche
ehrliche Familie, mit allem Fleiſſe, durch die
taͤgliche Arbeit ihrer Haͤnde nicht ſo viel errin¬
gen kann, um ſich gegen Hunger, Bloͤße und
Krankheit zu ſchuͤtzen; wo auf hartem Lager, in
durchwachten, durchſeufzten Naͤchten, ſcham¬
hafte Thraͤnen uͤber gerungene Haͤnde rollen —
Dahin, menſchenfreundlicher Wohlthaͤter! da¬
hin bringe Dein Blick! Da kannſt Du Deine
Gelder, den Ueberfluß deſſen unterbringen, was
Dir der Schoͤpfer anvertrauet hat, und Zinſen
damit erwerben, die keine Bank auf Erden Dir
zuſichern kann.
Manchen aber druͤcken ſchwerere Leiden,
als die der Armuth und des Mangels; Seelen-
Leiden, die an der Knospe des Lebens nagen.
O! ſchone des Kummervollen! Pflege Seiner!
Suche ihn aufzurichten, zu troͤſten, mit Hof¬
nung zu erfuͤllen, Balſam in ſeine Wunden zu
gieſſen, und wenn Du ſeine Laſt nicht erleich¬
tern kannſt; ſo hilf wenigſtens tragen, und
weine eine bruͤderliche Thraͤne mit ihm! Richte
aber die Art Deiner Behandlung nach Vernunft
ein! Es giebt Augenblicke des Schmerzens, wo
alle[192] alle Gruͤnde der Philoſophie keinen Eingang
finden, und da iſt Mitgefuͤhl oft das beſte Lab¬
ſal. Es giebt Kummer, deſſen Tilgung man
ruhig und ſtill der Zeit uͤberlaſſen muß; Es
giebt Leidende, die erleichtert werden, wenn man
mit ihnen uͤber ihr Ungluͤck plaudert; Es giebt
Schmerzen, die nur Einſamkeit lindert; Es
giebt andre Situationen, in welchen ein feſtes,
maͤnnliches Zureden, Erweckung des Muths,
Aufruf zu ſtolzerer Zuverſicht angewendet wer¬
den muͤſſen — ja! es giebt Lagen, wo man
den Niedergebeugten mit Gewalt herausziehn
und der Verzweiflung entreiſſen muß. Die Klug¬
heit aber ſoll uns in jedem dieſer einzelnen Faͤlle
lehren, was fuͤr Mittel wir zu waͤhlen haben.
Die Ungluͤcklichen ketten ſich gern an ein¬
ander. Statt ſich aber gemeinſchaftlich zu troͤ¬
ſten, winſeln ſie mehrentheils nur mit einander,
und verſinken immer tiefer in Schwermuth und
Hofnungsloſigkeit. Hiervor warne ich daher,
und rathe jeden Bedraͤngten, wenn weder Gruͤnde
der Vernunft, die er ſich ſelbſt vorhalten kann,
noch Zerſtreuungen ſeinen Zuſtand ertraͤglich ma¬
chen, den Umgang eines verſtaͤndigen, nicht
em¬[193] empfindelnden Freundes zu waͤhlen, und an die¬
ſes Mannes Seite die Gedanken auf andre Ge¬
genſtaͤnde zu richten, die ſeinen Schmerz nicht
naͤhren.
Der Unterdruͤckten, Zuruͤckgeſetzten und
Verfolgten ſoll man ſich annehmen, in ſo fern
es die Klugheit erlaubt, und wir ihnen dadurch
nicht etwa mehr ſchaden, als nuͤtzen. Dies iſt
nicht nur Pflicht, wenn von thaͤtiger Huͤlfe und
Rettung des ehrlichen Namens die Rede iſt;
ſondern man ſoll es ſich auch zum Geſetze machen,
im geſellſchaftlichen Umgange, wo das beſchei¬
dene Verdienſt ſo oft uͤberſehn und von leeren
Windbeuteln uͤber die Achſel angeſchauet wird,
wo Rang und Glanz den innern Werth verdun¬
keln, und der Schwaͤtzer und Perſiffleur den
Weiſen uͤberſchreien, in dieſen Cirkeln den guten
Mann, der ſtumm und verlegen daſteht, von
niemand angeredet, ja! mit Verachtung behan¬
delt, gedemuͤthigt, laͤcherlich gemacht wird, aus
ſeinem Winkel hervorzuholen, und ihn durch eh¬
renvolles, freundliches Zureden in gute Laune zu
ſetzen. Man gebe einem Solchen nur Gelegen¬
heit, ſich von einer vortheilhaften Seite zu zei¬
(Zweiter Th.) Ngen,[194] gen, ſich auf anſtaͤndige Weiſe in die Unterhal¬
tung zu miſchen; und man wird ſich wundern,
welch' ein ganz andrer Menſch aus ihm werden
kann: Wie oft habe ich mich innerlich geaͤrgert
uͤber die Art, mit welcher zuweilen Staabs-Of¬
ficiers jungen Leuten begegnen, die doch ſchon
die erſte Stufe erſtiegen haben, um zu werden,
was Jene ſind; wie die Hofmeiſter in großen
Haͤuſern, die Geſellſchafterinnen vornehmer Thoͤ¬
rinnen, die Auditoren auf manchen Aemtern,
die armen Landmaͤdgen in den Cirkeln der duͤr¬
ren Stadt-Fraͤulein, die Candidaten an den Ta¬
feln feiſter Conſiſtorialraͤthe und die jungen Kauf¬
mannsdiener in dem Geſellſchaften ihrer Patrone
behandelt werden; und wo mein Betragen nur
irgend von Gewicht ſeyn konnte, da rechnete ich
es mir immer zur Ehre, ſolche Maͤrtirer des
Hochmuths aus ihrer peinlichen Lage zu reiſſen,
mich Ihrer anzunehmen und mit ihnen zureden,
wenn jedermann ſie ſtehn ließ.
Unter allen Ungluͤcklichen ſind wohl die Ver¬
irrten nnd Gefallenen am mehrſten zu bedauern.
Hierunter verſtehe ich Solche, die, vielleicht
durch einen einzigen begangenen Fehltritt in
ei¬[195] eine Kettenreyhe von Vergehungen eingeflochten,
das Gefuͤhl fuͤr die Tugend erſtickt, oder die
Fertigkeit ſchlecht zu handeln erlangt, oder alle
Zuverſicht zu Gott, Menſchen und ſich ſelbſt
und den Muth verlohren haben, den beſſern
Weg wieder zu ſuchen, oder die wenigſtens im
Begriffe ſtehen, ſo tief zu fallen. Sie ſind,
ſage ich, am mehrſten zu bedauern, denn ſie
entbehren den einzigen Troſt, der uns in den
ſchwerſten Leiden aufrichten kann, das Bewuſſt¬
ſeyn nicht muthwilligerweiſe ſich das Schickſal
zugezogen zu haben. Dieſe Ungluͤcklichen ver¬
dienen aber nicht nur unſer Mitleiden, nein!
auch unſre bruͤderliche Nachſicht, unſre Zurecht¬
weiſung und, wenn es noch Zeit iſt, unſern Bey¬
ſtand. Wenn man immer weiſe, duldend und
unpartheyiſch genug waͤre, zu uͤberlegen, wie
leicht das ſchwache menſchliche Herz irre zu lei¬
ten iſt; wie unwiederſtehlich, bey heftigen Lei¬
denſchaften, warmen Blute und verfuͤhreriſchen
Gelegenheiten, manche Reizungen ſcheinen; wie
blendend, anlockend und bezaubernd die Auſſen¬
ſeiten mancher Laſter ſind; wie dieſe zuweilen
ſogar den Mantel der Philoſophie umzuhaͤngen,
und durch ſophiſtiſche Gruͤnde die innere Stimme
N 2der[196] der beſſern Ueberzeugung zum Schweigen zu
bringen verſtehen, und wie es dann nur auf ei¬
nen kleinen Schritt ankoͤmmt, um das Opfer
der feinſten Taͤuſchung, und ſtufenweiſe, ohn¬
merklich in das ſchrecklichſte Labyrinth gelockt zu
werden; wenn man bedenken wollte, wie oft
Mismuth, oder Verzweiflung uͤber ein feindſe¬
liges Schickſal, aus einem Menſchen von den
beſten Anlagen einen Boͤſewicht und Verbrecher
machen, wie ungerechtes, ſchaͤndliches Mis¬
trauen ihn verleiten kann, das zu werden,
wofuͤr man ihn doch einmal haͤlt; wenn man
dann demuͤthig auf ſeine Bruſt ſchluͤge, und ge¬
ſtuͤnde, daß mehrentheils nichts als das Zuſam¬
mentreffen der nemlichen innern und aͤuſſern
Umſtaͤnde, wodurch Jene gefallen ſind, erfor¬
dert worden waͤre, um aus uns zu machen,
was ſie ſind — o! ſo wuͤrden wir nicht ſo ſtrenge
richten, wuͤrden nicht ſo zuverſichtlich pochen auf
unſre Tugenden, die nicht ſelten nur das Spiel
des Temperaments, das Werk des Zufalls ſind,
wuͤrden uns der Gefallenen annehmen, und
dem Strauchelnden liebevoll die Hand reichen
— Aber heiſſt das nicht tauben Ohren predigen?
— Doch mein Herz draͤngt mich, uͤber dieſen
Ge¬[197] Gegenſtand etwas zu ſagen; alſo zur Sache!
Nichts beſſert weniger, als kalte moraliſche Pre¬
digten. Es giebt wenig Menſchen, ſelbſt unter
den Laſterhaften, die nicht eine Menge herrli¬
cher Gemeinſpruͤche uͤber die Pflichten, welche
ſie uͤbertreten, zu ſagen wuͤſſten; das Ungluͤck
will nur, daß die Stimme der Leidenſchaft mit
waͤrmerer Beredſamkeit ſpricht, als die Stimme
der Vernunft. Willſt Du alſo dieſer gegen jene
Gewicht geben; ſo muſſt Du die Kunſt ver¬
ſtehn, Deine Tugend-Lehren in ein reizendes
Gewand zu huͤllen, muſſt nicht nur den Kopf,
ſondern auch das Herz und die Sinnlichkeit Deſ¬
ſen, den Du zurechtweiſen willſt, auf Deine
Seite bringen; Dein Vortrag muß warm, und
nach den Umſtaͤnden bildreich, ſinnlich, erſchuͤt¬
ternd, hinreiſſend ſeyn; Allein der Mann, den
Du vor Dir haſt, muß Dich auch lieben und
hochſchaͤtzen, muß ſich zu Dir hingezogen fuͤh¬
len, muß mit Enthuſiasmus fuͤr das Gute und
Schoͤne erfuͤllt werden, und dabey in der Ent¬
fernung Ehre, Freude und Genuß auf dem
Wege vorausſehn, auf welchen Du ihn zu lei¬
ten die Abſicht haſt. Dein Umgang, Dein
Rath muß ihm zum Beduͤrfniſſe werden.
N 3Dies[198] Dies aber erlangſt Du nicht, wenn Du als
ein ſtolzer, ſtrenger Geſetzprediger vor ihm
hintritſt; wenn Du ihm mit Deiner kalten
Moral Langeweile machſt; wenn Du ihn mit
Anmerkungen uͤber das Geſchehene, das doch
nun nicht mehr zu aͤndern iſt, ermuͤdeſt, und
ihm erzaͤhlſt, wie es ganz anders wuͤrde gekom¬
men ſeyn, wenn — es nicht ſo gekommen waͤre,
als es gekommen iſt, wenn er Dir haͤtte folgen
wollen. Nichts iſt ferner ſo faͤhig, zur Nieder¬
traͤchtigkeit zu verleiten, als oͤffentliche Verach¬
tung und Bezeugung eines fortdauernden Mis¬
trauens in die Beſſerung eines Menſchen. Wem
es daher ein Ernſt iſt, einen Verirrten zurecht¬
zufuͤhren, der begegne ihm mit Schonung, und
zeige ihm wenigſtens aͤuſſerlich, daß man die
beſte Erwartung von ihm habe, daß man von
ſeinen herrlichen und guten Vorſaͤtzen alles hof¬
fen koͤnne, und gebe ihm zu verſtehn, daß wenn
er einmal wieder mit feſtem Fuße auf edlerer
Bahn wandle, er ſichrer vor neuer Verfuͤhrung
ſeyn werde, als Der, welcher die Gefahr nicht
kennt! Man zeige ihm, wenn er wuͤrklich an¬
faͤngt ſich zu beſſern, waͤre dieſe Beſſerung auch
anfangs nur erzwungen oder verſtellt, wie mit je¬
dem[199] dem Tage unſre Achtung fuͤr ihn waͤchſt! —
Wenn er Verſtand hat, ſo wird er ſchon ſehn,
ob Du der Mann biſt, den er in der Folge taͤu¬
ſchen kann — Man werfe ihm nie, auch nicht
auf die entfernteſte Weiſe, ſeine ehemaligen Ver¬
irrungen vor; ſondern ſcheine nur Augen fuͤr
ſeine jetzige Auffuͤhrung zu haben! Allein es
geht nicht ſo ſchnell mit Ablegung von Laſtern,
die uns ſchon zu einrr Art von Habituͤde gewor¬
den ſind; Alſo darf uns ein kleiner Ruͤckfall
nicht befremden, und obgleich man dann die
Staͤrke ſeines Vortrags und der angewendeten
Mittel zur Beſſerung verdoppeln muß; ſo ſoll
man doch nicht muthlos werden, noch dem Ruͤck¬
kehrenden den Muth benehmen. Laſſet uns
endlich, zur Ehre der Menſchheit und zu Erwe¬
ckung unſers Eifers, glauben, daß niemand in
der Welt ſo tief gefallen, ſo von Grund aus
verdorben ſeyn koͤnne, daß ihm nicht, bey red¬
licher, eifriger Anwendung der beſten Mittel,
noch zu helfen waͤre! Und Ihr, die Ihr in der
großen Welt lebet, und ſo bereitwillig ſeyd, ei¬
nen Mann oder ein Weib, die durch irgend eine
zweydeutige oder ſchlechte Handlung ſich ernie¬
drigt, oder auch wohl nur etwa laͤcherlich ge¬
machtN 4[200] macht haben, auf immer aus Euren Geſellſchaf¬
ten zu verbannen, und mit Schande und Spott
zu beladen, indeß Hunderte unter Euch umher¬
wandeln, die entweder das nemliche heimlich
treiben, oder wenigſtens treiben wuͤrden, wenn
es die Umſtaͤnde erlaubten! denket, daß Ihr es
zu verantworten habt, wenn Verzweiflung Jene
ergreift; wenn ſie von Stufe zu Stufe hinab¬
ſinken, und wenn ſie, da die beſſern Haͤuſer ih¬
nen verſchloſſen ſind, ſich einen Umgang waͤhlen,
in welchen ſie immer niedertraͤchtiger werden,
und zuletzt, ohne Rettung verlohren, durch Eure
Schuld zu Grunde gehen!
Zehn¬[201]
Zehntes Capittel.
Ueber den Umgang mit Leuten von ver¬
ſchiedenen Gemuͤthsarten, Temperamen¬
ten und Stimmungen des Geiſtes und
Herzens.
1.
Man pflegt gewoͤhnlich vier Haupt-Arten von
Temperamenten anzunehmen, und zu behaupten,
ein Menſch ſey entweder choleriſch, phlegma¬
tiſch, ſanguiniſch, oder melancholiſch. Obgleich
nun wohl ſchwerlich je eine dieſer Gemuͤthsarten
ſo ausſchließlich in uns wohnt, daß dieſelbe nicht
durch einen kleinen Zuſatz von einer andern mo¬
dificiert wuͤrde, da dann aus dieſer unendlichen
Miſchung der Temperamente jene feinen Nuͤan¬
cen und die herrlichſten Mannigfaltigkeiten ent¬
ſtehen; ſo iſt doch mehrentheils in dem Seegel¬
werke jedes Erdenſohns einer von jenen vier
Haupt-Winden vorzuͤglich wuͤrkſam, um ſeinem
Schiffe auf dem Ocean dieſes Lebens die Rich¬
tung zu geben. Soll ich mein Glaubensbe¬
kenntniß uͤber die vier Haupt-Temperamente
N 5ab¬[202] ablegen; ſo muß ich aus Ueberzeugung Folgen¬
des ſagen:
Blos choleriſche Leute flieht billig Jeder,
dem ſeine Ruhe lieb iſt. Ihr Feuer brennt un¬
aufhoͤrlich, zuͤndet und verzehrt, ohne zu waͤrmen;
Blos Sanguiniſche ſind unſichre Weich¬
linge, ohne Kraft und Feſtigkeit;
Blos Melancholiſche ſind ſich ſelbſt, und
blos Phlegmatiſche andern Leuten eine uner¬
traͤgliche Laſt.
Choleriſch- ſanguiniſche Leute ſind Die,
welche in der Welt ſich am mehrſten bemerken,
gefuͤrchtet, welche Epoche machen, am kraͤftig¬
ſten wuͤrken, herrſchen, zerſtoͤhren und bauen;
Choleriſch-ſanguiniſch iſt alſo der wahre Herr¬
ſcher, der Despoten- Character; aber noch ein
Grad von melancholiſchem Zuſatze! und der Ty¬
rann iſt gebildet.
Sanguiniſch–Phlegmathiſche leben
wohl am gluͤcklichſten, am ruhigſten und unge¬
ſtoͤhr¬[203] ſtoͤhrteſten, genieſſen mit Luſt, misbrauchen
nicht ihre Kraͤfte, kraͤnken niemand, vollbrin¬
gen aber auch nichts Großes; allein dieſer Cha¬
racter im hoͤchſten Grade artet in geſchmackloſe,
dumme und grobe Wolluſt aus.
Choleriſch-Melancholiſche richten viel
Unheil an; Blutdurſt, Rache, Verwuͤſtung,
Hinrichtung des Unſchuldigen und Selbſtmord
ſind nicht ſelten die Folgen dieſer Gemuͤthsart.
Melancholiſch-Sanguiniſche zuͤnden
ſich mehrentheils an beyden Enden zugleich an,
reiben ſich ſelbſt an Leib und Seele auf.
Choleriſch-phlegmatiſche Menſchen
trifft man ſelten an; Es ſcheint ein Wiederſpruch
in dieſer Zuſammenſetzung zu liegen; und den¬
noch giebt es Deren, bey welchen dieſe beyden
Extremen, wie Ebbe und Fluth, abwechſeln,
und ſolche Leute taugen durchaus zu keinen Ge¬
ſchaͤften, zu welchen geſunde Vernunft und Gleich¬
muͤthigkeit erfordert werden. Sie ſind nur
mit aͤuſſerſter Muͤhe in Bewegung zu ſetzen,
und hat man ſie endlich in die Hoͤhe gebracht,
dann[204] dann toben ſie, wie wilde Thiere umher, fallen
mit der Thuͤr in das Haus, und verderben alles
durch raſenden Ungeſtuͤm.
Melancholiſch-phlegmatiſche Leute
aber ſind wohl unter Allen die unertraͤglichſten,
und mit ihnen zu leben, das iſt fuͤr jeden ver¬
nuͤnftigen und guten Mann Hoͤllenpein auf Erden.
2.
Herrſchſuͤchtige Menſchen ſind ſchwer zu
behandeln, und paſſen nicht zum freundſchaftlichen
und geſelligen Umgange. Sie wollen aller Or¬
ten durchaus die Erſte Rolle ſpielen; Alles ſoll
nach ihrem Kopfe gehn. Was ſie nicht errichtet
haben, was ſie nicht dirigieren, das verachten
ſie nicht nur, nein! ſie zerſtoͤhren es, wenn ſie
koͤnnen. Wo ſie hingegen an der Spitze ſtehen,
oder wo man ſie wenigſtens glauben macht, daß
ſie an der Spitze ſtuͤnden, da arbeiten ſie mit
unermuͤdetem Eifer, und ſtuͤrzen alles vor ſich
weg, was ihrem Zwecke im Wege ſteht. Zwey
herrſchſuͤchtige Leute neben einander taugen zu
gar nichts in der Welt, und zertruͤmmern alles
um ſich her, aus Privat-Leidenſchaft. Hieraus
nun[205] nun iſt leicht abzunehmen, wie man ſich gegen
ſolche Leute zu betragen habe, wenn man mit
ihnen leben muß, und ich glaube daruͤber nichts
hinzufuͤgen zu duͤrfen.
3.
Ehrgeizige Menſchen muͤſſen ohngefehr
auf eben dieſe Art behandelt werden. Der
Herrſchſuͤchtige iſt zugleich auch ehrgeizig, aber
umgekehrt der Ehrgeizige nicht immer herrſchſuͤch¬
tig, ſondern begnuͤgt ſich auch wohl mit einer
Neben-Rolle, in ſo fern er darinn nur mit ei¬
nigem Glanze zu erſcheinen hoffen darf; ja! es
koͤnnen Faͤlle kommen, wo er ſelbſt in der Er¬
niedrigung Ehre ſucht; Doch verzeyht er nichts
weniger, als wenn man ihn an dieſer ſchwachen
Seite kraͤnkt.
4.
Der Eitle will geſchmeichelt ſeyn; Lob ki¬
tzelt ihn unausſprechlich; und wenn man ihm
Aufmerkſamkeit, Zuneigung, Bewunderung wid¬
met; ſo braucht nicht eben große Ehrenbezeu¬
gung damit verbunden zu ſeyn. Da nun jeder
Menſch mehr oder weniger von dieſer Begierde,
zu[206] zu gefallen und vortheilhafte Eindruͤcke zu ma¬
chen, an ſich hat; ſo kann man ohne Suͤnde
hie und da einem ſonſt guten Manne, dem dieſe
kleine Schwachheit anklebt, in dieſen Puncten
ein wenig nachſehn, ein Woͤrtgen, ſo er gern
hoͤrt, gegen ihn fallen laſſen, ihm erlauben an
dem Lobe, ſo er einerndtet, ſich zu erquicken,
oder ſich ſelbſt nach Gelegenheit ein wenig zu lo¬
ben. Das ſchaͤndlichſte Handwerk aber treiben
die niedrigen Schmeichler, die durch unaufhoͤr¬
liches Weyrauch-Streuen eiteln Leuten den Kopf
ſo einnehmen, daß Dieſe zuletzt nichts anders
mehr hoͤren moͤgen, als Lob, daß ihre Ohren
fuͤr die Stimme der Wahrheit verſchloſſen ſind,
und daß ſie jeden guten graden Mann fliehen
und zuruͤckſetzen, der ſich nicht ſo weit erniedri¬
gen kann, oder es fuͤr eine Art von Unbeſchei¬
denheit und Grobheit haͤlt, ihnen dergleichen
Suͤßigkeiten grade in's Geſicht zu werfen. Ge¬
lehrte und Damen pflegen am mehrſten in die¬
ſem Falle zu ſeyn, und ich habe deren Einige
gekannt, mit denen ein ſchlichter Biedermann
deswegen faſt gar nicht umgehn konnte. Wie
die Kinder dem Fremden nach den Taſchen ſchie¬
len, um zu erfahren, ob man ihnen keine Zucker¬
ple¬[207] pletzen mitgebracht hat; ſo horchen Jene auf je¬
des Wort, ſo Du ſprichſt, um zu vernehmen,
ob es nicht etwas Verbindliches fuͤr ſie enthaͤlt,
und werden muͤrriſcher Laune, ſobald, ſie ſich in
ihrer Hofnung betrogen finden. Der hoͤchſte
Grad dieſer Eitelkeit fuͤhrt zu einem Egoismus,
der zu aller geſellſchaftlichen und freundſchaftli¬
chen Verbindung untuͤchtig macht, dem Eiteln
eben ſo ſehr zur Laſt, als Dem zum Eckel wird,
der mit ihm leben muß.
5.
Von Herrſchſucht, Ehrgeiz und Eitelkeit
iſt Hochmuth, ſo wie von Stolz, unterſchie¬
den. Ich moͤgte gern, daß man Stolz als eine
edle Eigenſchaft der Seele anſaͤhe; als ein Be¬
wuſſtſeyn wahrer innerer Erhabenheit und
Wuͤrde; als ein Gefuͤhl der Unfaͤhigkeit, nie¬
dertraͤchtig zu handeln. Dieſer Stolz fuͤhrt zu
großen, edeln Thaten; Er iſt die Stuͤtze des
Redlichen, wenn er von jedermann verlaſſen iſt;
Er erhebt uͤber Schickſal und ſchlechte Menſchen,
und erzwingt ſelbſt von dem maͤchtigen Boͤſe¬
wichte den Tribut der Bewunderung, den er
wieder Willen dem unterdruͤckten Weiſen zollen
muß,[208] muß. Hochmuth hingegen bruͤſtet ſich mit Vor¬
zuͤgen, die er nicht hat, bildet ſich auf Dinge
etwas ein, die gar keinen Werth haben. Hoch¬
muth iſt es, der den Pinſel von ſechzehn Ahnen
aufblaͤht, daß er die Verdienſte ſeiner Vorfah¬
ren— die oft nicht einmal ſeine aͤchten Vorfah¬
ren ſind, und oft nicht einmal Verdienſte gehabt
haben — daß er dieſe ſich anrechnet, als wenn
Tugenden zu dem Inventario eines alten Schloſ¬
ſes gehoͤrten! Hochmuth iſt es, der den reichen
Buͤrger ſo grob, ſo ſteif, ſo ungeſellig macht.
Und wahrlich! dieſer poͤbelhafte Hochmuth iſt,
da er mehrentheils von Mangel an Lebensart
und ungeſchickten Manieren begleitet wird, wo
moͤglich, noch empoͤhrender als der des Adels.
Hochmuth iſt es, der den Kuͤnſtler mir ſo viel
Zuverſicht zu Talenten erfuͤllt, die, ſollten ſie
auch von niemand anerkannt werden, ihn dennoch
in Gedanken uͤber alle Erdenſoͤhne hinausſetzen.
Er wird, wenn niemand ihn bewundert, eher
auf die Geſchmackloſigkeit der ganzen Welt ſchim¬
pfen, als auf den natuͤrlichen Gedanken gera¬
then, daß es wohl mit ſeiner Kunſt nicht ſo
ganz richtig ausſehn muͤſſe.
Wenn[209]
Wenn dieſer Hochmuth nun gar in einem
armen, verachteten Subjecte wohnt; dann wird
er ein Gegenſtand des Mitleidens, und pflegt
eben nicht viel Unheil anzurichten. Er iſt aber
uͤbrigens faſt immer mit Dummheit gepaart, al¬
ſo durch keine vernuͤnftigen Gruͤnde zu beſſern,
und keiner beſcheidenen Behandlung werth.
Hier hilft alſo nichts, als Uebermuth gegen Ue¬
bermuth zu ſetzen, oder zu ſcheinen, als bemerkte
man ein hochmuͤthiges Betragen gar nicht; oder
Leute, die ſich aufblaſen, gar keiner Achtſamkeit
zu wuͤrdigen, ſie anzuſehn, als wie man auf ei¬
nen leeren Fleck hinblickt, ſelbſt wenn man Ih¬
rer bedarf; denn wahrhaftig! — ich habe das
oft erfahren — je mehr man nachgiebt, deſto
mehr fordern, deſto uͤbermuͤthiger werden ſie.
Bezahlt man ſie aber mit gleicher Muͤnze; ſo
weiß ihre Dummheit nicht, wie ſie das Ding
nehmen ſoll, und ſpannt gewoͤhnlich andre Sai¬
ten auf.
6.
Mit ſehr empfindlichen, leicht zu belei¬
digenden Leuten iſt es nicht angenehm umzu¬
gehn. Allein dieſe Empfindlichkeit kann ver¬
(Zweiter Th.) Oſchie¬[210] ſchiedene Quellen haben. Hat man daher nach¬
geſpuͤrt, ob der Mann, mit welchem wir leben
muͤſſen, und der leicht durch ein kleines unſchul¬
diges Woͤrtgen, oder durch eine zweydeutige
Miene, oder durch einen Mangel an Aufmerk¬
ſamkeit, gekraͤnkt und vor den Kopf geſtoßen
wird, ob dieſer Mann, ſage ich, aus Eitelkeit,
wie es mehrentheils der Fall iſt, oder aus Ehr¬
geiz, oder weil er oft von boͤſen Menſchen
hintergangen und geneckt worden, oder endlich
deswegen ſo leicht zu beleidigen iſt, weil ſein
Herz zu zaͤrtlich fuͤhlt, weil er von Andern eben
ſo viel verlangt als er ihnen ſelbſt giebt, ſo muß
man ſein Betragen darnach einrichten, und je¬
den Anſtoß von der Art zu vermeiden ſuchen;
Doch pflegt das ſchwer zu ſeyn. Iſt er uͤbri¬
gens der redlich und verſtaͤndig: ſo wird ſeine
Verſtimmung nicht lange dauern; Er wird
durch eine grade, freundliche Erklaͤrung bald zu
beſaͤnftigen ſeyn; Er wird nach und nach ſeinen
beſten Freunden trauen lernen, und vielleicht zu¬
letzt, wenn man immer edel und offen mit
ihm verfaͤhrt, von ſeiner Schwachheit zuruͤck¬
kommen.
7.[211]
7.
Eigenſinnige Menſchen ſind viel ſchwe¬
rer zu behandeln, als ſehr empfindliche. Noch
iſt mit ihnen auszukommen, wenn ſie uͤbrigens
verſtaͤndig ſind. Sie pflegen dann, in ſo fern
man ihnen nur in dem erſten Augenblicke nach¬
zugeben ſcheint, bald von ſelbſt der Stimme der
Vernunft Gehoͤr zu geben, ihr Unrecht und die
Feinheit unſrer Behandlung zu fuͤhlen, und we¬
nigſtens auf eine kurze Friſt geſchmeidiger zu
werden; Ein Elend aber iſt es, Starrkoͤpfigkeit
in Geſellſchaft von Dummheit anzutreffen und
behandeln zu muͤſſen. Da helfen weder Gruͤnde,
noch Schonung. Es iſt da mehrentheils nichts
weiter zu thun, als einen ſolchen ſteifſinnigen
Pinſel blindlings handeln zu laſſen, ihn aber
ſo in ſeine eigenen Ideen, Plane und Unter¬
nehmungen zu verwickeln, daß er, wenn er durch
uͤbereilte, unkluge Schritte in Verlegenheit ge¬
raͤth, ſich ſelbſt nach unſrer Huͤlfe ſehnen muß.
Dann laͤſſt man ihn eine Zeitlang zappeln, wo¬
durch er nicht ſelten demuͤthig und folgſam wird,
und das Beduͤrfniß geleitet zu werden fuͤhlt.
Hat aber ein ſchwacher, eigenſinniger Kopf von
ohngefehr ein einzigmal gegen uns Recht gehabt.
O 2oder[212] oder uns uͤber einen kleinen Fehler erwiſcht;
dann thue man nur Verzicht darauf, ihn je
wieder zu leiten! Er wird uns immer zu uͤber¬
ſehn glauben, unſrer Einſicht und Rechtſchaffen¬
heit nie trauen; und das iſt eine hoͤchſt verdrie߬
liche Lage.
Bey beyden Gattungen von Leuten aber
helfen in dem erſten Augenblicke keine wettlaͤuf¬
tige Vorſtellungen, indem ſie dadurch nur noch
mehr verhaͤrtet werden. Haͤngen wir von ih¬
nen ab, und ſie geben uns Auftraͤge, wovon
wir wiſſen, daß ſie dieſelben nachher ſelbſt mis¬
billigen werden; ſo kann man nichts Kluͤgers
thun, als ihnen ohne Wiederrede Gehorſam zu
verſprechen, aber entweder die Befolgung ſo
lange zu verſchieben, bis ſie ſich indeß eines Beſ¬
ſern beſinnen, oder in der Stille die Sache nach
eigenen Einſichten einzurichten, welches ſie ge¬
woͤhnlich in ruhigen Augenblicken zu billigen
pflegen, in ſo fern man nur etwa thut, als habe
man ihren Befehl alſo verſtanden, ſich aber ja
nie ſeiner groͤßern kaltbluͤtigen Einſicht ruͤhmt.
Nur in ſehr wenig eiligen, oder ſonſt hoͤchſt
wichtigen Faͤllen kann es nuͤtzlich und noͤthig ſeyn,
Ei¬[213] Eigenſinn gegen Eigenſinn aufzuſpannen, und
ſchlechterdings nicht nachzugeben. Doch geht
alle Wuͤrkung dieſes Mittels verlohren, wenn
man es zu oft und bey unbedeutenden Gelegen¬
heiten, oder gar da anwendet, wo man Unrecht
hat. Wer immer zankt, der hat die Vermu¬
thung gegen ſich, immer Unrecht zu haben; Es
iſt alſo weiſe gehandelt, den Andern in dieſen
Fall zu ſetzen.
8.
Eine beſondre Gemuͤthsart, die mehren¬
theils aus Eigenſinn entſpringt, doch auch wohl
zuweilen blos Bizarrerie, oder ungeſellige Laune
zur Quelle hat, iſt die Zankſucht. Es giebt
Menſchen, die alles beſſer wiſſen wollen, allem
wiederſprechen, was man vorbringt, oft gegen
eigene Ueberzeugung wiederſprechen, um nur
das Vergnuͤgen zu haben, disputiren zu koͤnnen;
Andre ſetzen eine Ehre darinn, Paradoxen
zu ſprechen, Dinge zu behaupten, die kein Ver¬
nuͤnftiger irgend ernſtlich alſo meinen kann, blos
damit man mit ihnen ſtreiten ſolle; Endlich noch
Andre, die man Querelleurs, Staͤnker nennt,
ſuchen vorſetzlich Gelegenheit zu perſoͤnlichem
O3Zan¬[214] Zanke, um eine Art von Triumpf uͤber furcht¬
ſame Leute zu gewinnen, uͤber Leute, die wenig¬
ſtens noch feiger ſind als ſie, oder, wenn ſie
mit dem Degen umzugehn wiſſen, ihren fal¬
ſchen Muth in einem thoͤrichten Zweykampfe
zu offenbaren.
In dem Umgange mit allen dieſen Leuten
rathe ich die unuͤberwindlichſte Kaltbluͤtigkeit an,
und daß man ſich durchaus nicht in Hitze brin¬
gen laſſe. Mit Denen von der erſtern Gattung
laſſe man ſich in gar keinen Streit ein, ſondern
breche gleich das Geſpraͤch ab, ſobald ſie aus
Muthwillen anfangen, zu wiederſprechen! Das
iſt das einzige Mittel, ihrem Disputirgeiſte,
wenigſtens gegen uns, Schranken zu ſetzen,
und viel unnuͤtze Worte zu ſparen. Denen von
der zweyten Gattung kann man je zuweilen die
Freude machen, ihre Paradoxien ein wenig zu
bekaͤmpfen, oder noch beſſer, zu perſifflieren.
Die Letztern aber muͤſſen viel ernſthafter behan¬
delt werden. Kann man ihre Geſellſchaft nicht
vermeiden; kann man in derſelben, durch ein
entfernendes, fremdes Betragen, ſie ſich nicht
vom Leibe halten, ihren Grobheiten nicht aus¬
wei¬[215] weichen; ſo rathe ich, einmal vor allemal ihnen
ſo kraͤftig zu begegnen, daß ihnen die Luſt ver¬
gehe, ſich ein zweytesmal an uns zu reiben.
Saget ihnen auf der Stelle in unzweydeutigen,
maͤnnlichen Ausdruͤcken Eure Meinung, und
laſſet Euch durch ihre Aufſchneiderey nicht irre¬
machen! Man wird mir zutrauen, daß ich uͤber
den Zweykampf ſo denke, wie jeder vernuͤnftige
Mann daruͤber denken muß, nemlich daß er
eine unmoraliſche, unvernuͤnftige Handlung ſey;
Sollte nun aber auch jemand, ſeiner buͤrgerli¬
chen Lage nach, zum Beyſpiel ein Officier, durch¬
aus ſich dem Vorurtheile unterwerfen muͤſſen,
eine Beleidigung durch die andre und durch per¬
ſoͤnliche Rache auszuloͤſchen; ſo kann doch dieſer
Fall nie dann eintreten, wenn er ohne die ge¬
ringſte Veranlaſſung von ſeiner Seite, haͤmi¬
ſcher Weiſe angetaſtet wird, und Der hat dop¬
pelt Unrecht, der gegen einen ſo genannten Staͤn¬
ker mit andern Waffen, als mit Verachtung,
oder, wenn es ihm gar zu nahe gelegt wird, an¬
ders als mit einem geſchmeidigen ſpaniſchen
Rohre kaͤmpft, und hat nachher Unrecht, wenn
er ihm Satisfaction giebt, wie man das zu nen¬
nen pflegt.
9.O 4[216]
9.
Jaͤhzornige Leute beleidigen nicht mit
Vorſatz. Sie ſind aber nicht Meiſter uͤber die
Heftigkeit ihres Temperaments; und ſo vergeſ¬
ſen ſie ſich, in ſolchen ſtuͤrmiſchen Augenblicken,
ſelbſt gegen ihre geliebteſten Freunde, und be¬
reuen nachher zu ſpaͤt ihre Uebereilung. Ich
brauche wohl kaum zu erinnern, daß Nachgie¬
bigkeit — vorausgeſetzt, daß dieſe Leute andrer
guten Eigenſchaften wegen, einiger Schonung
werth ſcheinen, denn auſſerdem muß man ſie
gaͤnzlich fliehn — daß weiſe Nachgiebigkeit und
Sanftmuth die einzigen Mittel ſind, den Jaͤh¬
zornigen zur Vernunft zuruͤckzufuͤhren. Allein
ich muß dabey erinnern, daß phlegmatiſche Kaͤlte
dem Erzuͤrnten entgegen zu ſetzen, aͤrger als der
heftigſte Wiederſpruch iſt; Er glaubt ſich dann
verachtet, und wird doppelt aufgebracht.
10.
Wenn der Jaͤhzornige nur aus Uebereilung
Unrecht thut, und uͤber den kleinſten Anſchein
von Beleidigung in Hitze geraͤth, nachher aber
auch eben ſo ſchnell wieder das erwieſene Unrecht
bereuet und das erlittene verzeyht; ſo verſchlieſſt
hingegen der Rachgierige ſeinen Groll im Her¬
zen,[217] zen, bis er Gelegenheit findet, ihm vollen Lauf
zu laſſen. Er vergiſſt nicht, vergiebt nicht, auch
dann nicht, wenn man ihm Verſoͤhnung anbie¬
thet, wenn man alles, nur keine niedertraͤchtige
Mittel anwendet, ſeine Gunſt wieder zu erlan¬
gen. Er erwiedert ſowohl daß ihm zugefuͤgte
wahre, als vermeindliche Uebel, und dies nicht
nach Verhaͤltniß der Groͤße und Wichtigkeit deſ¬
ſelben, ſondern tauſendfaͤltig; fuͤr kleine Necke¬
reyen, wuͤrkliche Verfolgung; fuͤr unuͤberlegte
Ausdruͤcke, in Uebereilung geredet, thaͤtige Ra¬
che; fuͤr eine Kraͤnkung unter vier Augen, oͤf¬
fentliche Genugthuung; fuͤr beleidigten Ehrgeiz,
Zerſtoͤhrung reeller Gluͤckſeligkeit. Seine Rache
ſchraͤnkt ſich nicht auf die Perſon ein, ſondern
erſtreckt ſich auch auf die Familie, auf die buͤr¬
gerliche Exiſtenz und auf die Freunde des Be¬
leidigers. Mit einem ſolchen Manne leben zu
muͤſſen, das iſt in Wahrheit eine hoͤchſt traurige
Lage, und ich kann da nichts rathen, als daß
man ſo viel moͤglich vermeide, ihn zu beleidi¬
gen, und zugleich ſich in eine Art von ehrerbie¬
thiger Furcht bey ihm ſetze, die uͤberhaupt das
einzige wuͤrkſame Mittel iſt, ſchlechte Subjecte
im Zaume zu halten.
O 511.[218]
11.
Faule und phlegmatiſche Menſchen muͤſ¬
ſen ohne Unterlaß getrieben werden, und da
doch faſt jeder Menſch irgend eine herrſchende
Leidenſchaft hat; ſo findet man zuweilen Gele¬
genheit, durch Aufruͤhrung derſelben, ſolche ſchlaͤf¬
rige Geſchoͤpfe in Bewegung zu ſetzen.
12.
Mistrauiſche, argwoͤhniſche, muͤr¬
riſche und verſchloſſene Leute ſind wohl un¬
ter Allen die, in deren Umgange ein edler, gra¬
der Mann am wenigſten von den Freuden des
geſelligen Lebens ſchmeckt. Wenn man jedes
Wort abwaͤgen, jeden unbedeutenden Schritt ab¬
meſſen muß, um ihnen keine Gelegenheit zu
ſchaͤndlichem Verdachte zu geben; wenn kein
Funken von erquickender Freude aus unſerm
Herzen in das ihrige uͤbergeht; wenn ſie keinen
frohen Genuß mit uns theilen; wenn ſie die
Wonne der ſeltenen heitern Augenblicke, welche
uns das Schickſal goͤnnt, nicht nur durch Man¬
gel an Theilnehmung uns unſchmackhaft machen,
ſondern ſogar mitten in unſern gluͤcklichſten Lau¬
nen, uns unfreundlich ſtoͤren, aus unſern ſuͤße¬
ſten[219] ſten Traͤumen uns verdrießlich aufwecken; wenn
ſie unſre Offenherzigkeit nie erwiedern, ſondern
immer auf ihrer Hut ſind, in ihrem zaͤrtlichſten
Freunde einen Boͤſewicht, in ihrem treueſten
Diener einen Betruͤger und Verraͤther zu ſehn
glauben; dann gehoͤrt wahrlich ein hoher Grad
von feſter Rechtſchaffenheit dazu, um nicht dar¬
uͤber ſelbſt ſchlecht und menſchenfeindlich zu wer¬
den. Hiebey iſt nichts zu thun, wenn ein un¬
gezwungenes, immer gleich redliches Betragen
vergebens angewendet wird; wenn es nicht hilft,
daß man ihnen jeden Zweifel, ſobald man den¬
ſelben gewahr wird, hebt, als daß man ſich um
ihren Argwohn und um ihr muͤrriſches Weſen
ſchlechterdings nichts bekuͤmmere, ſondern mu¬
thig und munter den Weg fortgehe, den uns
Klugheit und Gewiſſen vorſchreiben. Uebrigens
ſind ſolche Menſchen herzlich zu bedauern; Sie
leben ſich und Andern zur Quaal. Es liegt
bey ihnen nicht immer Boͤsartigkeit zum Grunde,
nein! eine ungluͤckliche Stimmung des Gemuͤths,
dickes Blut, oft auch Einwuͤrkung des Schick¬
ſals, wenn ſie gar zu oft ſind hintergangen wor¬
den — das ſind mehrentheils die Quellen ihrer
Seelen-Krankheit. Und dieſe Krankheit iſt in
juͤn¬[220] juͤngern Jahren nicht ganz unheilbar, wenn
Die, welche einen ſolchen Mann umgeben, ſtets
edel und grade gegen ihn handeln, ohne ſich um
ſeine Grillen und Launen zu bekuͤmmern, und
er dadurch endlich uͤberzeugt wird, daß es noch
Redlichkeit und Freundſchaft in der Welt giebt.
Bey alten Perſonen hingegen faſſt dies Uebel
immer tiefere Wurzel, und muß mit Gedult er¬
tragen werden.
13.
Neidiſche, ſchadenfrohe, misguͤnſtige
und eiferſuͤchtige Gemuͤthsarten ſollten wohl
nur das Erbtheil haͤmiſcher, niedertraͤchtiger
Menſchen ſeyn; und doch trifft man leider! einen
ungluͤcklichen Zuſatz von dieſen boͤſen Eigenſchaf¬
ten in den Herzen ſolcher Leute an, die uͤbrigens
manche gute Eigenſchaft haben — Allein ſo
ſchwach iſt die menſchliche Natur! — Ehrgeiz
und Eitelkeit koͤnnen in uns das Gefuͤhl erwe¬
cken. Andern ein Gluͤck nicht zu goͤnnen, nach
welchem wir ausſchließlich ſtreben; ſey es nun
Vermoͤgen, Glanz, Ruhm, Schoͤnheit, Gelehr¬
ſamkeit, Macht, ein Freund, eine Geliebte,
oder was es auch ſey; und ſobald dann dieſe
Em¬[221] Empfindung einen gewiſſen Wiederwillen gegen
die Perſon in uns erzeugt hat, die, trotz unſrer
Misgunſt, trotz unſrer Eiferſucht, im Beſitze
jenes ihr beneideten Gutes bleibt; ſo koͤnnen
wir uns heimlich eines ſchadenfrohen Kitzels
nicht erwehren, wenn es dieſer Perſon ein we¬
nig hinderlich geht, und die Vorſehung unſre
feindſeligen Geſinnungen, beſonders nachdem
wir ſchwach genug geweſen ſind, dieſe bekannt
werden zu laſſen, gleichſam rechtfertigt. Ich
habe bey den Gelegenheiten, als von Kuͤnſtler-
Gelehrten- und Handwerks- Neide, von Mis¬
gunſt unter Fuͤrſten, Vornehmen, Reichen und
Leuten, die in der großen Welt leben, und als
von Eiferſucht unter Ehegenoſſen, Freunden und
Geliebten die Rede war, ſchon manches geſagt,
was auch hier anwendbar, aber uͤberfluͤſſig zu
wiederholen ſeyn wuͤrde, und es bleibt mir wuͤrk¬
lich nichts hinzuzufuͤgen uͤbrig, als daß, um al¬
lem Neide in der Welt auszuweichen, man auf
jede gute Eigenſchaft, ſo wie auf alles, was Er¬
folg unſrer Bemuͤhungen und Gluͤck heiſſt, Ver¬
zicht thun, und, wenn es darauf ankoͤmmt, mit¬
ten unter einem Schwarme von misguͤnſtigen
Leuten zu leben, und dennoch dem Neide und
der[222] der Eiferſucht ſo wenig als moͤglich Nahrung zu
geben, man ſeine Vorzuͤge, ſeine Kenntniſſe und
ſeine Talente mehr verbergen als kundmachen,
keine Art von Eminenz zeigen, anſcheinend we¬
nig fordern, wenig begehren, auf wenig An¬
ſpruͤche machen, und wenig leiſten muͤſſe.
14.
Der Geitz iſt eine der unedelſten, ſchaͤnd¬
lichſten Leidenſchaften. Man kann ſich keine
Niedertraͤchtigkeit denken, zu welcher ein Geiz¬
hals nicht faͤhig waͤre, wenn ſeine Begierde
nach Reichthuͤmern in das Spiel koͤmmt, und
jede Empfindung beſſerer Art, Freundſchaft,
Mitleid und Wohlwollen finden keinen Eingang
in ſein Herz, wenn ſie kein Geld einbringen;
ja! er goͤnnt ſich ſelber die unſchuldigſten Ver¬
gnuͤgungen nicht, in ſo fern er ſie nicht unent¬
geltlich ſchmecken kann. In jedem Fremden
ſieht er einen Dieb, und in ſich ſelbſt einen
Schmarotzer, der auf Unkoſten ſeines beſſern
Ichs, ſeines Mammons zehrt.
Allein in den jetzigen Zeiten, wo der Lu¬
xus ſo uͤbertrieben wird; wo die Beduͤrfniſſe,
auch[223] auch des maͤßigſten Mannes der in der Welt le¬
ben und eine Familie unterhalten muß, ſo groß
ſind; wo der Preis der noͤthigſten Lebensmittel
taͤglich ſteigt; wo die Macht des Geldes ſo viel
entſcheidet; wo der Reiche ein ſo betraͤchtliches
Uebergewicht uͤber den Armen hat; endlich, wo
von der einen Seite Betrug und Falſchheit,
und von der andern Mistraun und Mangel an
bruͤderlichen Geſinnungen in allen Staͤnden ſich
ausbreiten, und daher die Zuverſicht auf die
Huͤlfe der Mitmenſchen ein unſicheres Capital
wird; in dieſen Zeiten, meine ich, hat man
Unrecht, wenn man einen ſparſamen, vorſich¬
tigen Mann, ohne naͤhere Pruͤfung ſeiner Um¬
ſtaͤnde und der [Bewegungsgruͤnde], welche ſeine
Handlungen leiten, ſogleich fuͤr einen Knicker
erklaͤrt.
Es giebt ferner unter den wuͤrklich geizigen
Leuten ſolche, die neben dieſer Geld-Begierde
noch von einer andern mitherrſchenden Leiden¬
ſchaft regiert werden. Dieſe ſcharren dann zu¬
ſammen, ſparen, betruͤgen Andre, und verſagen
ſich alles, auſſer wo es auf Befriedigung dieſer
Leidenſchaft ankoͤmmt; ſey es nun Wolluſt,
Ge¬[224] Gefraͤſſigkeit, Ehrgeiz, Eitelkeit, Neugier, Spiel¬
ſucht, oder was es auch immer ſey. So habe
ich Menſchen gekannt, die, um einen Louisd'or
zu gewinnen, Bruder und Freund verrathen,
und ſich der oͤffentlichen Beſchimpfung ausge¬
ſetzt haben wuͤrden, fuͤr den ſinnlichen Genuß
eines Augenblicks hingegen hundert hingegebene
Gulden fuͤr gut angelegtes Geld hielten.
Noch Andre calculieren ſo ſchlecht, daß ſie
Heller ſparen, und Thaler wegwerfen. Sie
lieben das Geld, aber ſie verſtehen nicht, damit
umzugehn. Um alſo die Summen wieder zu
erhaſchen, um welche ſie von Gaunern, Aben¬
theurern und Schmeichlern betrogen werden,
geben ſie ihrem Geſinde nicht ſatt zu eſſen, und
um tauſend Thaler wieder zu gewinnen, die ſie
verſchleudert haben, wechſeln ſie auf die unan¬
ſtaͤndigſte Weiſe aller Orten einzelne feine Gul¬
den ein, damit ſie an jedem vielleicht einen Hel¬
ler Agio gewinnen.
Endlich noch Andre ſind in allen Stuͤcken
freygebig und achten das Geld nicht; in einem
einzigen Puncte aber, worauf ſie grade Werth
ſe¬[225] ſetzen, laͤcherlich geizig. Meine Freunde haben
mir oft im Scherze vorgeworfen, daß ich auf
dieſe Art karg in Schreib-Materialien ſey, und
ich geſtehe dieſe Schwachheit. So wenig reich
ich bin; ſo koſtet es mich doch geringere Ueber¬
windung, mich von einem halben Gulden, als
von einem hollaͤndiſchen Brief-Bogen zu ſchei¬
den, obgleich man fuͤr zwoͤlf Groſchen vielleicht
ein Buch des feinſten Papiers kaufen kann.
Die allgemeine Regel im Umgange mit
geizigen Leuten iſt wohl die, daß, wenn man
ihre Gunſt erhalten will, man nichts von ihnen
fordern muͤſſe; Da dies nun aber nicht immer
zu aͤndern iſt; ſo ſcheint es der Klugheit gemaͤß,
daß man pruͤfe, zu welcher der vorhin geſchilder¬
ten Gattungen von Geizigen der Mann, mit
dem man es zu thun hat, gehoͤre, um darnach
ſeine Behandlung einzurichten.
15.
Reden wir itzt von dem Betragen gegen Un¬
dankbare! Ich habe bey mancher Gelegenheit
erinnert, daß man auf dieſer Erde, auch bey
den edelſten und weiſeſten Handlungen, weder
auf(Zweiter Th.) P[226] auf Erfolg, noch auf Dankbarkeit rechnen duͤrfe.
Dieſen Grundſatz ſoll man, wie ich dafuͤr halte,
nie aus den Augen verliehren, wenn man nicht
karg mit ſeinen Dienſtleiſtungen, feindſelig ge¬
gen ſeine Mitmenſchen werden, noch gegen Vor¬
ſehung und Schickſal murren will. Bey dem
Allen aber muͤſſte man jeder menſchlichen Em¬
pfindung entſagt haben, wenn es uns nicht kraͤn¬
ken ſollte, daß Menſchen, denen wir treulich,
eifrig und uneigennuͤtzig gedient, die wir aus
der Noth gerettet, denen wir uns ganz ge¬
widmet, uns ihnen vielleicht aufgeopfert haben,
daß Dieſe uns vernachlaͤſſigen, ſobald ſie Unſrer
nicht mehr beduͤrfen, oder gar verrathen, ver¬
folgen, mishandeln, wenn ſie dadurch zeitliche
Vortheile oder die Gunſt unſrer maͤchtigen Feinde
gewinnen koͤnnen. Doch wird der weiſe Men¬
ſchenkenner und warme Freund des Guten ſich
dadurch nicht abſchrecken laſſen, großmuͤthig zu
handeln. Mit Bezug auf das, was hieruͤber
ſchon im eilften Capittel des erſten Theils und
im fuͤnften Abſchnitte des zweyten Capittels in
dieſem andern Theile geſagt worden, erinnere
ich nur nochmals, daß jede gute Handlung ſich
ſelbſt belohnt, ja! daß der Edle eine neue Quelle
von[227] von innerer Freude aus der Undankbarkeit der
Menſchen zu ſchoͤpfen verſteht, nemlich die Freu¬
de, ſich bewuſſt zu ſeyn, gewiß uneigennuͤtzig,
blos aus Liebe zum Guten, Gutes zu thun,
wenn er vorausweiß, daß er auf keine Erkennt¬
lichkeit rechnen darf. Er bedauert die Verkehrt¬
heit Derer, die faͤhig ſind ihres Wohlthaͤters zu
vergeſſen, und laͤſſt ſich dadurch nicht abhalten,
den Menſchen zu dienen, die ſeiner Huͤlfe um
ſo noͤthiger beduͤrfen, je ſchwaͤcher ſie ſind, je
weniger Gluͤck ſie in ſich ſelbſt, in ihren Herzen
haben.
Klage alſo nicht uͤber die Undankbarkeit,
mit welcher man Dich lohnt! Wirf ſie Dem nicht
vor, der ſie Dir erzeigt! Fahre fort, ihn gro߬
muͤthig zu behandeln! Nim ihn wieder auf,
wenn er zu Dir zuruͤckkehrt! Vielleicht geht er
endlich in ſich, fuͤhlt den ganzen Werth, die Fein¬
heit Deiner Behandlung, und wird dadurch ge¬
beſſert — wo nicht; ſo denke, daß jedes Laſter
ſich ſelbſt beſtraft, und daß das eigene Herz des
Boͤſewichts und die unausbleibliche Folge ſeiner
Niedertraͤchtigkeit Dich an ihm raͤchen werden —
O! welch' ein langes Capittel uͤber die Undank¬
P 2bar¬[228] barkeit der Menſchen koͤnnte ich ſchreiben, wenn
ich nicht, aus Schonung gegen Die, welche ſich
von dieſer Seite an mir verſuͤndigt haben, meine
vielfachen traurigen Erfahrungen in dieſem Fache
lieber verſchweigen wollte!
16.
Manchen Leuten iſt es ſchlechterdings ohn¬
moͤglich, in irgend einer Sache den graden
Weg zu gehn; Raͤnke, Schwaͤnke und Win¬
kelzuͤge miſchen ſich in alle ihre Unternehmun¬
gen, ohne daß ſie deswegen von Grund aus boͤſe
ſind. Eine ungluͤckliche Stimmung des Ge¬
muͤths und die Einwuͤrkung von Lebensart und
Schickſalen koͤnnen dieſen Character bilden. So
wird, zum Beyſpiel, ein ſehr mistrauiſcher
Mann auch wohl die unſchuldigſte Handlung
heimlich thun, ſich verſtellen, und ſeinen wahren
Zweck verſchleyern. Ein Mann von uͤbel geord¬
neter Thaͤtigkeit, oder von zu viel raſchem Feuer,
ein ſchlauer, unternehmender Kopf, der in ei¬
ner Lage iſt, wo ihm alles zu einfach hergeht,
wo es ihm an Gelegenheit fehlt, ſeine Talente
zu entwickeln, wird allerley ſchiefe Seitenſpruͤnge
wagen, um ſeinen Wuͤrkungscreis zu erweitern,
oder[229] oder mehr Intereſſe in die Scene zu bringen;
Und dann wird er nicht immer eckel genug in
der Wahl ſeiner Mittel ſeyn. Ein ſehr eitler
Menſch wird in manchen Faͤllen verſteckt han¬
deln, um ſeine Schwaͤche zu verbergen. Ein
Mann, der lange an Hoͤfen gelebt hat, um ſich
her nichts als Verſtellung, Intrigue, Cabale
und Gegeneinanderwuͤrken zu ſehn, und ſelbſt
auf gradem Wege nichts zu erhalten gewoͤhnt
iſt, findet ein Leben, das ohne Verwicklung fort¬
geht, zu einfoͤrmig; Er wird ſeine unbedeutend¬
ſten Schritte ſo thun, daß man ihm nicht nach¬
ſpuͤren kann, und ſeinen unſchuldigſten Hand¬
lungen einen raͤthſelhaften Anſchein geben.
Der Juriſt, der ſich ſtets mit den Spitzfuͤndig¬
keiten der Chicane beſchaͤftigt, findet innigen
Seelen-Genuß darinn, daß er in Worten und
Werken allerley Cautelen und Schwaͤnke an¬
bringe. Wer ſeine Gehirn-Nerven durch
Romanen-Leſen und andre phantaſtiſche Traͤu¬
mereyen uͤberſpannt, oder wer durch ein uͤppi¬
ges, muͤſſiges Leben, durch ſchlechte Geſellſchaft
und dergleichen, den Sinn fuͤr Einfalt, kunſt¬
loſe Natur und Wahrheit verlohren hat; der
kann nicht exiſtieren ohne Intrigue — und ſo
P 3giebt[230] giebt es eine Menge Menſchen, die, was ſie auf
gradem Wege erlangen koͤnnten, nicht halb ſo
eifrig wuͤnſchen, als was ſie heimlich zu erſchlei¬
chen hoffen. Man kann aber endlich den edel¬
ſten, offenherzigſten Menſchen, beſonders in juͤn¬
gern Jahren, zu Winkelzuͤgen verleiten, wenn
man ihm ohne Unterlaß Mistraun zeigt, oder
ihn mit ſo viel Strenge behandelt, ihn in einer
ſolchen Entfernung von uns haͤlt, daß er kein
Zutraun zu uns haben kann.
Was nun auch dazu beygetragen haben
mag, manchen Menſchen Raͤnke und Winkel¬
zuͤge zur Gewohnheit zu machen; ſo iſt wohl
folgende Art ſich gegen ſie zu betragen die beſte,
die man waͤhlen kann:
Man handle ſelbſt immer ſo offen und un¬
verſtellt, und zeige ſich ihnen in Worten und
Thaten als einen ſo entſchiedenen Feind von al¬
lem, was Schiefigkeit, Intrigue und Verſtel¬
lung heiſſt, und als einen ſo warmen Verehrer
jedes redlichen aufrichtigen Mannes, daß ſie we¬
nigſtens fuͤhlen, wie viel ſie in unſern Augen
verliehren wuͤrden, wenn wir ſie auf boͤſen Schli¬
chen ertappten!
Man[231]
Man zeige ihnen, ſo lange ſie uns noch
nicht getaͤuſcht haben, ein unbegraͤnztes Ver¬
trauen; ſtelle ſich, als koͤnne man ſich auch die
Moͤglichkeit nicht einbilden, daß ſie uns hinter¬
gehn wuͤrden! Iſt ihnen dann an unſrer Ach¬
tung gelegen; ſo werden ſie ſich vor dem erſten
uns misfaͤlligen Schritte huͤten.
Man zeige ſich ſo tolerant gegen kleine
Schwachheiten und ſo bereit, begangene Fehler
zu verzeyhn und zu entſchuldigen, in ſo fern nur
keine Tuͤcke dabey im Spiele geweſen, daß ſie
ſich nicht vor uns, als vor ſtrengen Sittenrich¬
tern zu ſcheuen und zu verſtecken noͤthig finden!
Man ſpioniere nie um ſie her, beſchleiche
ſie nie, erlaube ſich keine verſteckte Wege, ſon¬
dern frage, wenn man Recht dazu hat, und uns
daran gelegen iſt, etwas das uns nicht klar
ſcheint erlaͤutert wiſſen zu wollen, gradezu, mit
feſten Tone, begleitet von einem durchdringen¬
den Blicke, um den Grund der Sache! Stot¬
tern ſie, ſuchen ſie auszuweichen; ſo breche man
entweder ab, um ihnen zu verſtehn zu geben,
daß man ihnen die Schande eines Betrugs er¬
ſpa¬P 4[232] ſparen wolle, nehme aber nachher eine kaͤltere
Auffuͤhrung gegen ſie an, oder man warne ſie,
mit freundlichem, doch ernſthaften Weſen, Ihrer
nicht unwuͤrdig zu handeln!
Haben ſie uns aber dennoch einmal hinten
gangen; ſo nehme man die Sache nicht auf ei¬
nen leichten, ſcherzhaften Fuß! Man zeige ſich
uͤber dieſen erſten falſchen Schritt ſo entruͤſtet,
ſey nicht ſo gleich bereit, denſelben zu verzeyhn!
und hilft dann das alles nicht, und ſie fahren
fort, uns mit Winkelzuͤgen und Raͤnken zu hin¬
tergehn; ſo beſtrafe man ſie durch Verachtung
und fortgeſetztes Mistraun, ſo man in Alles
was ſie reden und thun ſetzt, bis ſie ſich beſſern;
aber ſelten koͤmmt Der, welchem ſchiefe Streiche
zur Habituͤde geworden, wieder auf den Weg
der Wahrheit zuruͤck.
Alles hieruͤber Geſagt paſſt alſo auch auf
das Betragen gegen Luͤgner;
17.
Was man aber im gemeinen Leben einen
Windbeutel oder Aufſchneider und Prah¬
ler[233] ler nennt, das iſt eine andre Gattung von
Menſchen. Dieſe haben nicht die Abſicht, je¬
mand eigentlich zu hintergehn; Um ſich in beſ¬
ſerm Glanze zu zeigen; um ſich bemerken zu
machen; um Andern eine ſo hohe Meinung von
ſich beyzubringen, als ſie ſelbſt haben; um Auf¬
merkſamkeit durch Erzaͤhlung wunderbarer Vor¬
faͤlle zu erregen; oder um fuͤr angenehme, un¬
terhaltende Geſellſchafter zu gelten, erdichten
ſie, was nie exiſtiert hat, oder vergroͤßern, was
wenigſtens nie alſo geweſen iſt; und haben ſie
einmal die Fertigkeit erlangt, auf Unkoſten der
Wahrheit, eine Begebenheit, ein Bild, einen
Satz zu verziehren; ſo fangen ſie zuweilen an,
ihren eigenen Windbeuteleyen zu glauben, alle
Gegenſtaͤnde durch ein Vergroͤßerungs-Glas
anzuſehn, und ſo in Rieſengeſtalten, wieder zu
Papier zu bringen.
Die Erzaͤhlungen und Beſchreibungen ei¬
nes ſolchen Aufſchneiders ſind zuweilen ganz lu¬
ſtig anzuhoͤren, und wenn man erſt mit ſeiner
Bilderſprache bekannt iſt; ſo weiß man ſchon,
was man vom Ganzen abzurechnen hat, um
den Ueberreſt fuͤr baares Geld anzurechnen.
GehtP 5[234] Geht es aber mit ſeinen Verbraͤmungen zu weit;
ſo kann es nicht ſchaden, wenn man ihn entwe¬
der durch eine Menge von Fragen uͤber die ge¬
naueſten Umſtaͤnde ſo in ſein eigenes Gewebe ver¬
wickelt, daß er, indem er weder ruͤckwaͤrts noch
vorwaͤrts kann, beſchaͤmt wird, oder wenn man
ihm fuͤr jede Unwarheit auf comiſche Art eine
noch derbere wieder aufheftet, und ihm da¬
durch merklich macht, daß man nicht dumm
genug geweſen ſey, ihm zu glauben, oder aber
wenn man, ſobald er anfaͤngt zu blaſen, die See¬
gel der Unterhaltung auf einmal einzieht, und
ſeinem Winde ausweicht, da er dann, wenn
dies oͤfter und von mehreren verſtaͤndigen Maͤn¬
nern geſchieht, behutſamer zu werden pflegt.
18.
Unverſchaͤmte, Muͤſſiggaͤnger, Schma¬
rotzer, Schmeichler, und zudringliche
Leute rathe ich in der gehoͤrigen Entfernung
von ſich zu halten; ſich mit ihnen nicht gemein
zu machen; ihnen durch ein hoͤfliches, aber im¬
mer ſteifes und ernſthaftes Betragen zu erken¬
nen zu geben, daß ihre Geſellſchaft und Vertrau¬
lichkeit uns zuwieder iſt. Die, welche gern bey
uns[235] uns ſchmauſen, kann man am leichteſten dadurch
verſcheuchen, daß man ſie, ohne ihnen etwas
zu reichen, wieder fortgehn laſſe; aber gegen
Schmeichler, beſonders gegen die von feinerer
Art, ſoll man, ſeiner eigenen Moralitaͤt wegen,
auf ſeiner Hut ſeyn. Sie verderben uns von
Grund aus, wenn wir unſer Ohr an ihren Si¬
renen-Geſang gewoͤhnen. Dann wollen wir
ohne Unterlaß geſtreichelt und gekitzelt ſeyn, fin¬
den die wohlthaͤtige Stimme der Wahrheit nicht
harmoniſch genug, und vernachlaͤſſigen und ver¬
ſaͤumen die treuern, beſſern Freunde, die uns
aufmerkſam auf unſre Fehler machen wollen.
Um nicht ſo tief zu fallen, wafne man ſich mit
Gleichguͤltigkeit gegen die gefaͤhrlichen Lockungen
der Schmeicheley. Man fliehe vor dem Schmeich¬
ler, wie vor dem boͤſen Feinde! Allein das iſt
nicht ſo leicht, als man wohl glaubt; Es giebt
eine Art, Suͤßigkeiten zu ſagen, die das Anſehn
hat, als wollte man grade das Gegentheil thun.
Der ſchlaue Schmeichler, der Deine ſchwache
Seite ſtudiert hat, wird, wenn er Dich fuͤr
zu verſtaͤndig haͤlt, um nicht die groͤbern Schlin¬
gen dieſer Art fuͤr gefaͤhrlich zu erkennen, Dir
nicht immer Recht geben; Er wird vielmehr
Dich[236] Dich tadeln; Er wird Dir ſagen: „daß er nicht
„begreifen koͤnne, wie ein ſo edler und weiſer
„Mann, als Du ſeyeſt, ſich einen kleinen Au¬
„genblick auch einmal habe vergeſſen koͤnnen;
„Er haͤtte geglaubt, ſo etwas koͤnne nur gemei¬
„nen Leuten von ſeinem Schlage begegnen.“
Er wird an Deinen Schriften Fehler ruͤgen, die
Dir gleich beym erſten Anblicke unbedeutend
ſcheinen muͤſſen, und ihm nur dazu dienen, die¬
jenigen Stellen um deſto unverſchaͤmter zu lo¬
ben, von welchen er weiß, daß Du Dir etwas
darauf zu gut thuſt. „Schade!“ wird er ausru¬
fen „daß Ihre Sinfonien — ich bin kein Schmeich¬
„ler; ich ſage meine Meinung immer rund her¬
„aus — Schade, daß dieſe herrlichen Sinfonien,
„die gewiß in allem Betracht ein claſſiſches
„Werk genannt werden koͤnnen, ſo aͤuſſerſt
„ſchwer vorzutragen ſind. Wo findet man Mei¬
„ſter, die wuͤrdig waͤren, ſo etwas aufzufuͤhren?
„Und doch iſt das ein weſentlicher Fehler, den
„Sie, verzeyhen Sie meiner Offenherzigkeit!
„haͤtten vermeiden ſollen.“ Er wird Maͤngel
an Dir finden, und mit verſtelltem Eifer dage¬
gen declamieren, Schwachheiten und Maͤngel
auf welche Deine Eitelkeit ſich etwas einbildet.
Er[237] Er wird Dich einen Myſantropen ſchimpfen,
wenn Du gernſiehſt, daß Deine abgezogene Le¬
bensart Aufſehn erregen ſoll; Er wird Dir vor¬
werfen, Du ſeyeſt intrigant, wenn es Dich be¬
hagt, fuͤr einen ſchlauen Hofmann angeſehn zu
werden. Auf dieſe Weiſe wird er ſich bey Dir
und andern Kurzſichtigen in den Ruf eines un¬
partheyiſchen, wahrheitliebenden Mannes ſetzen;
ſein honigſuͤßer Trank wird glatt hinuntergehn,
und in der Berauſchung werden Dein Herz und
Dein Beutel dem verſchmitzten Spoͤtter offen¬
ſtehn. Vielfaͤltig habe ich, beſonders an Hoͤfen,
dergleichen Maͤnner angetroffen, die, unter der
Maske der Bonhomie, und bey dem Rufe, den
Fuͤrſten tapfer die Wahrheit zu ſagen, die aͤrg¬
ſten Maulſchwaͤtzer waren.
19.
Jetzt werde ich im Allgemeinen von dem
Betragen gegen Schurken, das heiſſt gegen
Leute, die von Grund aus ſchlecht ſind, reden,
obgleich ich dafuͤr halte, daß — ein bisgen Erb¬
ſuͤnde abgerechnet — eigentlich kein Menſch von
Grund aus ganz ſchlecht, wohl aber durch feh¬
lerhafte Erziehung, Nachgiebigkeit gegen ſeine
Lei¬[238] Leidenſchaften, oder durch Schickſale, Lagen und
Verhaͤltniſſe ſo verwildert ſeyn koͤnne, daß von
ſeinen natuͤrlichen guten Anlagen faſt keine Spur
mehr zu ſehn iſt. Hier aber koͤmmt es nicht
darauf an, wie jemand ein Schurke geworden,
ſondern wie er, wenn er ein Solcher iſt, muͤſſe
behandelt werden. Ich beziehe mich dabey zu¬
erſt auf das, was ich uͤber den Umgang mit
Feinden und uͤber das Betragen gegen Verirrte
und Gefallene geſagt habe, und fuͤge nur noch
nachſtehende Bemerkungen hinzu:
Daß man, wo moͤglich, den Umgang mit
ſchlechten Leuten fliehn muͤſſe, wenn uns unſre
Ruhe und unſre moraliſche Vervollkommung
am Herzen liegt, das verſteht ſich wohl von
ſelbſt. Wenn ein Mann von feſten Grundſaͤ¬
tzen auch nicht eigentlich ſchlecht durch ſie wird, ſo
gewoͤhnt er ſich doch nach und nach an den An¬
blick der Unthaten, und verliehrt jenen Abſcheu
gegen alles was unedel iſt, einen Abſcheu, der
zuweilen einzig hinreicht, uns in Augenblicken
von Verſuchung vor feineren Vergehungen zu be¬
wahren. Leider! aber zwingt uns unſre Lage
zuweilen, mitten unter Schurken zu leben, und
mit[239] mit ihnen gemeinſchaftlich Geſchaͤfte zu treiben;
und da iſt es denn noͤthig, gewiſſe Vorſichtig¬
keits- Regeln nicht aus der Acht zu laſſen.
Glaube nicht, wenn Du einiges Verdienſt
von Seiten des Kopfs und des Herzens haſt,
glaube nicht, es dahin zu bringen, daß Du von
ſchlechten Menſchen je gaͤnzlich in Ruhe gelaſſen
werdeſt, noch mit ihnen in Frieden leben koͤnneſt.
Es herrſcht ein ewiges Buͤndniß unter Schurken
und Pinſeln, gegen alle verſtaͤndige und edle Men¬
ſchen, eine ſo ſonderbare Verbruͤderung, daß ſie
unter allen uͤbrigen Menſchen einander erkennen
und bereitwillig die Hand reichen, moͤgten ſie
auch durch andre Umſtaͤnde noch ſo ſehr getrennt
ſeyn, ſobald es darauf ankoͤmmt, das wahre
Verdienſt zu verfolgen und mit Fuͤßen zu tre¬
ten. Da hilft keine Art von Vorſichtigkeit und
Zuruͤckhaltung; Da hilft nicht Unſchuld, nicht
Gradheit; Da hilft nicht Schonung, noch Maͤ¬
ßigung; Da hilft es nicht, ſeine guten Eigen¬
ſchaften verſtecken, mittelmaͤßig ſcheinen zu wol¬
len. Niemand erkennt ſo leicht das Gute, ſo
in Dir iſt, als Der, dem dies Gute fehlt. Nie¬
mand laͤſſt innerlich dem Verdienſte mehr Ge¬
rech¬[240] rechtigkeit wiederfahren, als der Boͤſewicht;
aber er zittert davor, wie Satan vor dem Evan¬
gelio, und arbeitet mit Haͤnden und Fuͤßen da¬
gegen. Jene große Verbruͤderung wird Dich
ohne Unterlaß necken; Deinen Ruf antaſten;
bald zweydeutig, bald uͤbel von Dir reden; die
unſchuldigſten Deiner Worte und Thaten bos¬
haft auslegen — Aber laß Dich das nicht anfech¬
ten! Wuͤrdeſt Du auch wirklich von Schurken
eine Zeitlang gedruͤckt; ſo wird doch die Recht¬
ſchaffenheit und Conſequenz Deiner Handlungen
am Ende ſiegen, und der Unhold bey einer an¬
dern Gelegenheit ſich ſelbſt die Grube graben.
Auch ſind die Schelme nur ſo lange einig unter
ſich, als es nicht auf maͤnnliche Standhaftig¬
keit ankoͤmmt, ſo lange ſie im Dunkeln fechten
koͤnnen. Hole aber Licht herbey, und ſie wer¬
den aus einander rennen! Und wenn es nun
gar zur Theilung der Beute gienge; dann wuͤr¬
den ſie ſich unter einander bey den Ohren zauſen,
und Dich indeß mit Deinem Eigenthum ruhig
davonwandern laſſen. Gehe Deinen graden
Gang fort! Die Zeit wird Dich rechtfertigen,
wenn Du verlaͤumdet wirſt. Erlaube Dir nie
ſchiefe Streiche, nie Schleichwege, um Schleich¬
we¬[241] wegen zu begegnen; nie Raͤnke, um Raͤnke zu
zerſtoͤhren! Mache nie gemeinſchaftliche Sache
mit Boͤſewichten, gegen Boͤſewichte! Handle
großmuͤthig! Unedle Behandlung und zu weit
getriebenes Mistrauen koͤnnen Den, welcher
auf halbem Wege iſt, ein Schelm zu werden,
vollends dazu machen, und Großmuth hingegen
kann einen nicht ganz verſtockten Unhold viel¬
leicht auf einige Zeit wenigſtens beſſern, und die
Stimme des Gewiſſens in ihm erwecken. Aber
er muͤſſe fuͤhlen, daß Du nur aus Huld, nicht
aus Furcht alſo handelſt! Er muͤſſe fuͤhlen, daß,
wenn es auf das Aeuſſerſte koͤmmt, wenn der
Grimm eines unerſchrocknen redlichen Mannes
losbricht, der kuͤhne, rechtſchaffene Weiſe im nie¬
drigſten Stande maͤchtiger iſt, als der Schurke
im Purpur; daß ein großes Herz, daß Tugend,
Klugheit und Muth, ſtaͤrker machen, als er¬
kaufte Heere, an deren Spitze ein Schuft ſteht!
Was kann Der fuͤrchten, der nichts mehr zu
verliehren hat, als das, was kein Sterblicher
ihm rauben kann? und was vermag, in dem
Augenblicke der aͤuſſerſten, verzweifelten Noth¬
wehre, ein feiger Sultan, ein ungerechter De¬
ſpote, der in ſich ſelbſt einen Feind herumtraͤgt,
der(Zweiter Th.) Q[242] der ihm immer in die Flanke faͤllt, gegen den
Niedrigſten ſeiner Unterthanen, der ein reines
Herz, einen hellen Kopf, Unerſchrockenheit und
geſunde Arme zu Bundesgenoſſen hat?
20.
Zu uͤbertrieben beſcheidene und furcht¬
ſame gute Menſchen ſoll man zu ermuntern,
ſie mit groͤßerer Zuverſicht zu ſich ſelber zu er¬
fuͤllen ſuchen. So verachtenswerth Unbeſchei¬
denheit und Duͤnkel ſind, ſo unmaͤnnlich iſt zu
weit getriebene Schuͤchternheit. Der Edle ſoll
ſeinen Werth fuͤhlen, und eben ſo wenig unge¬
recht gegen ſich, als gegen Andre ſeyn. Ueber¬
triebenes Lob und zu weit ausgedehnter Vorzug
aber beleidigen den Beſcheidenen. Er muͤſſe we¬
niger aus Deinen Worten, als aus Deinen un¬
gekuͤnſtelten, wahre Zuneigung verrathenden
Handlungen Deine Hochachtung zu ihm erkennen!
21.
Unvorſichtigen und plauderhaften
Leuten darf man natuͤrlicher Weiſe keine Ge¬
heimniſſe anvertrauen. Beſſer waͤre es, man
haͤtte uͤberhaupt keine Geheimniſſe in der Welt,
koͤnn¬[243] koͤnnte immer ſo frey und offen handeln und al¬
les, was im Herzen vorgeht, vor jedermann
ſehn laſſen; Beſſer waͤre es, man daͤchte und
redete nichts, als was man laut denken und re¬
den darf; Da dies indeſſen, beſonders bey Maͤn¬
nern, die in oͤffentlichen Aemtern ſtehen, oder
ſonſt fremde Geheimniſſe zu verwahren haben,
nicht moͤglich iſt; ſo muß man freylich vorſichtig
in Mittheilung ſeiner Heimlichkeiten ſeyn.
Man findet Menſchen, denen es ſchlechter¬
dings ohnmoͤglich iſt, eine Sache zu verſchwei¬
gen. Man ſieht es ihnen an, wenn ſie aͤngſt¬
lich umherlaufen, daß ſie etwas Neues tragen,
und daß ſie leiden, bis ſie einem andern Plau¬
derer ihre Nachricht heiß mitgetheilt haben.
Andern fehlt es zwar nicht an dem guten Wil¬
len, zu ſchweigen, wohl aber an der Klugheit,
ſich nicht durch Winke, Blicke oder auf andre
Art zu verrathen, oder an der Feſtigkeit, ſich
nicht ausfragen zu laſſen, oder ſie haben eine
zu gute Meinung von der Ehrlichkeit und Ver¬
ſchwiegenheit Derer, welchen ſie ſich anvertrauen
— Gegen alle Dieſe muß man verſchloſſen ſeyn.
Q 2Es[244]
Es kann auch zuweilen nicht ſchaden, wenn
man plauderhafte Leute, bey der erſten Gelegen¬
heit da ſie etwas uͤber uns geſchwaͤtzt haben,
dergeſtalt in Furcht ſetzt, daß ſie es nicht wagen
duͤrfen, hinter unſerm Ruͤcken auch nur einmal
unſern Namen zu nennen, es ſey im Guten oder
Boͤſen. Die eigentlichen bekannten Zeitungs¬
traͤger aber, deren es faſt in jeder Stadt Einige
giebt, kann man nuͤtzen, wenn man ein Maͤr¬
chen im Publico ausgebreitet wiſſen will. Nur
muß man dann nicht verfehlen, ſie um Verheim¬
lichung der Sache zu bitten, ſonſt halten ſie es
vielleicht der Muͤhe nicht werth, dieſelbe aus¬
zuplaudern.
Vorwitzige und neugierige Menſchen
kann man nach den Umſtaͤnden entweder auf
ernſthafte oder ſpaßhafte Manier behandeln.
Im erſtem Falle muß man, ſobald man merkt,
daß ſie ſich im mindeſten um unſre Angelegen¬
heiten bekuͤmmern, uns belauſchen, behorchen,
ſich in unſre Geſchaͤfte miſchen, unſern Schritten
nachſpuͤren, oder unſre Plane und Handlungen
ausſpaͤhn wollen, ſich gegen ſie muͤndlich, ſchrift¬
lich oder thaͤtig ſo kraͤftig erklaͤren, ſie auf eine
ſol¬[245] ſolche Weiſe zuruͤckſchicken, daß ihnen die Luſt
vergeht, auch nur vom Weitem ſich an uns zu
wagen. Will man aber ſeine Luſt mit ihnen
haben; ſo kann man ihrer Neugier ohne Unter¬
laß ſo viel zu ſchaffen machen, daß ſie uͤber die
Kindereyen, worauf man ihre Achtſamkeit lenkt,
keine Muße behalten, ſich um diejenigen Dinge
zu bekuͤmmern, woran uns gelegen iſt, daß ſie
dieſelben nicht beobachten.
Zerſtreuete und vergeſſene Leute taugen
nicht zu Geſchaͤften, wo es auf Puͤnctlichkeit an¬
koͤmmt. Jungen Perſonen kann man dieſe Fehler
zuweilen noch abgewoͤhnen und es dahin bringen,
daß ſie ihre Gedanken bey einander halten.
Manche, die aus zu großer Lebhaftigkeit des
Temperaments leicht alles vergeſſen, und nie da
zu Hauſe ſind, wo ſie ſeyn ſollten, kommen von
dieſer Schwachheit zuruͤck, wenn ſie aͤlter, kuͤhler
und ſittſamer werden. Andre affectiren zerſtreuet
zu ſeyn, weil ſie glauben, das ſaͤhe vornehm
oder gelehrt aus, und uͤber ſolche Thoren ſoll
man nur die Achſeln zucken und ſich wohl huͤten,
ihre Distractionen artig zu finden. Es gilt von
ihnen, was ich uͤber Die geſagt habe, welche ſich
coͤr¬Q 3[246] coͤrperlich krank ſtellen, um Intereſſe zu erwe¬
ken. Weſſen Gedaͤchtniß aber wuͤrklich ſchwach,
und nicht etwa durch Uebung nach und nach zu
ſtaͤrken iſt, dem rathe man, ſich alles ſchriftlich
aufzuzeichnen, was er behalten will, und dies
Zettel taͤglich oder woͤchentlich einmal durchzule¬
ſen; denn es iſt wahrlich nichts verdrießlicher,
als wenn uns jemand verſpricht eine Sache zu
beſorgen, an welcher uns gelegen iſt, wir uns
auch auf ſein Wort verlaſſen, er aber nachher
rein vergiſſt, wovon die Rede geweſen.
Sehr zerſtreueten Leuten muß man es uͤbri¬
gens ſo hoch nicht anrechnen, wenn ſie gegen
uns zuweilen in Aufmerkſamkeit, Hoͤflichkeit,
oder was man ſonſt im geſelligen und freund¬
ſchaftlichen Umgang fordert, unvorſetzlich fehlen.
22.
Es giebt eine Art Menſchen, die man
wunderliche (difficile) Leute nennt. Sie
ſind nicht boͤsartig, ſind nicht immer zaͤnkiſch
und muͤrriſch; aber man kann ihnen doch nicht
leicht etwas ganz recht machen. Sie haben ſich,
zum Beyſpiel an eine pedantiſche Ordnung ge¬
woͤhnt,[247] woͤhnt, deren Regeln nicht Jeder ſo wie ſie im
Kopfe hat, und da kann es denn leicht kommen,
daß man einen Stuhl in ihrem Zimmer anders
hinſtellt, als ſie es gernſehen; (Wenn dies uͤbri¬
gens aus wahrem Ordnungsgeiſte herruͤhrt; ſo
habe ich daran nichts auszuſetzen) Oder ſie haͤn¬
gen gewiſſen Vorurtheilen an, denen man ſich un¬
terwerfen muß, wenn man in ihren Augen Werth
haben will, zum Beyſpiel in Kleidertrachten, in
der Art laut oder leiſe zu reden, groß oder klein
zu ſchreiben und dergleichen. Man ſollte wohl
ſagen, daß ein vernuͤnftiger Mann uͤber ſolche
Kleinigkeiten hinausgehn muͤſſte; unterdeſſen
trifft man doch Maͤnner an, die uͤber andre Ge¬
genſtaͤnde ſehr verſtaͤndig und billig denken, nur
in ſolchen Puncten nicht; und was wichtiger
als das iſt, an dieſer Maͤnner Gunſt kann uns
vielleicht ſehr viel gelegen ſeyn. Wenn dies
Letztere nun der Fall iſt; ſo rathe ich, in Din¬
gen von ſo geringem Belange, und die mit eini¬
ger Aufmerkſamkeit ſo leicht zu befolgen ſind.
ſich ihnen gefaͤllig zu bezeigen. Andre aber,
mit denen wir weiter in keinem Verhaͤltniſſe
ſtehen, laſſe man, in ſo fern ſie uͤbrigens brave
Maͤnner ſind, bey ihrer Weiſe, und vergeſſe
nicht,Q 4[248] nicht, daß wir Alle unſre Schwachheiten haben,
die man bruͤderlich ertragen muß!
Leute, die etwas darinn ſuchen, ſich durch
ihr Betragen in unweſentlichen Dingen von An¬
dern zu unterſcheiden; nicht eigentlich aus Ue¬
berzeugung, daß es ſo beſſer ſey als anders, ſon¬
dern hauptſaͤchlich darum, weil ſie das zu thun
vorziehen, was Andre nicht thun; ſolche Leute
nennt man Sonderlinge. Sie ſehen es gern,
wenn man ihre Weiſe bemerkt, und ein verſtaͤn¬
diger Mann muß in ſeinem Betragen gegen ſie
wohl uͤberlegen, ob ihre Bizarrerien von un¬
ſchaͤdlicher Art, und ob ſie Maͤnner ſind, die in
irgend einer Ruͤckſicht Schonung verdienen, um
darnach im Umgange mit ihnen zu verfahren,
wie es Vernunft und Duldung fordern.
23.
Dumme Leute, die ihre Schwaͤche fuͤh¬
len, ſich von vernuͤnftigen Menſchen leiten laſ¬
ſen, und zwar, einem natuͤrlich gutmuͤthigen,
wohlwollenden, ſanften Temperamente gemaͤß,
ſich leicht zum Guten und ſchwer zum Boͤſen
leiten laſſen; die ſind nicht zu verachten. Es
koͤn¬[249] koͤnnen nicht alle Menſchen hohen, erhabenen
Geiſtes-Schwung haben, und die Welt wuͤrde
auch ſehr uͤbel dabey fahren, wenn es alſo waͤre.
Es muͤſſen mehr ſubalterne als Herrſcher-Genies
unter den Erdenſoͤhnen ſeyn, wenn nicht Alle
in ewiger Fehde mit einander leben ſollen. Daß
ein gewiſſer hoͤherer Grad von Tugend, zu wel¬
cher Kraft, Muth, Feſtigkeit, oder feine Beur¬
theilungskraft gehoͤrt, nicht mit Schwaͤche des
Geiſtes beſtehn kann, das iſt wohl freylich ge¬
wiß; Allein das gehoͤrt ja nicht hierher. Wenn
im Ganzen nur das Gute geſchieht, und die
duͤmmern Menſchen zu dieſem Guten ſich die
Haͤnde fuͤhren laſſen; ſo fuͤllen ſie ihren Platz
nuͤtzlicher aus, als die uͤberſchwenglichen Genies,
die Feuerkoͤpfe, mit ihrem ſich durchkreutzenden
unaufhoͤrlichen Wuͤrken und Streben.
Unertraͤglich hingegen iſt die Lage, wenn
man es mit einem Stockfiſche zu thun hat, der
ſich fuͤr einen Halbgott haͤlt, mit einem eiteln,
eigenſinnigen, mistrauiſchen Pinſel, mit einem
verzogenen, verzaͤrtelten vornehmen Schoͤps,
der Laͤnder und Voͤlker zu regieren hat, und
alles ſelbſt regieren will. Doch habe ich ſchon
beyQ 5[250] bey verſchiedenen einzelnen Gelegenheiten in die¬
ſem Buche geſagt, wie man mit dieſer Art Men¬
ſchen umgehn muͤſſe.
Allein man thut oft den Leuten großes Un¬
recht, wenn man Solche fuͤr ſchwach, dumm,
gefuͤhllos oder unwiſſend haͤlt, die es wahrlich
gar nicht ſind. Nicht Jeder hat die Gabe, ſeine
Gedanken und Empfindungen an den Tag zu
legen, am wenigſten auf unſre Manier. Nach
ſeinen Thaten muß man ihn richten, aber auch
das nur mit Ruͤckſicht auf ſeine Lage, und auf
die Gelegenheit die er gehabt, oder die ihm ge¬
fehlt hat, ſich auszuzeichnen. Man uͤberlegt
ſelten, daß Der Menſch ſchon ſehr viel Werth
hat, der in der Welt nur nichts Boͤſes thut,
und daß die Summe dieſes negativen Guten
zur Wohlfarth des Ganzen oft mehr beytraͤgt,
als der lange Lebenslauf eines thaͤtigen Mannes,
deſſen heftige Leidenſchaften in unaufhoͤrlichem
Kampfe mit ſeinen großen edeln Zwecken ſtehen.
Und dann ſind Gelehrſamkeit, Cultur und ge¬
ſunde Vernunft wieder ſehr verſchiedene Dinge.
Es herrſcht unter Menſchen von einer gewiſſen
Erziehung und Bildung ſo viel Convention, und
wir[251] wir verwechſeln nur gar zu leicht die Grundſaͤ¬
tze, welche auf dieſe Uebereinkuͤnfte beruhen,
mit den unwandelbaren Vorſchriften der reinen
Weisheit. Wir ſind nun einmal gewoͤhnt,
nach jenem Maßſtabe zu denken, oder vielmehr
Worte nachzulallen, deren zweydeutigen Sinn
wir Muͤhe haben wuͤrden, einem ganz rohen
Wilden zu erklaͤren; und ſo halten wir denn
Denjenigen fuͤr einen Schafskopf, der von allem
dieſen auswendig gelernten Zeuge nichts weiß,
und nur ſo redet — wie ihm der Schnabel ge¬
wachſen iſt. Wie oft haben mich, uͤber Kunſt¬
werke, die Ausſpruͤche gemeiner Leute ohne
alle Cultur, Ausſpruͤche, die dem ſo genannten
Kenner ſehr abgeſchmackt vorkommen wuͤrden,
aus dem Zauber einer falſchen, erzwungenen
Illuſion geriſſen, und den Sinn fuͤr wahre,
aͤchte Natur in mir wieder erweckt! Wie oft
habe ich im Schauſpielhauſe erſt das nuͤchterne
Urtheil der Gallerie erwartet, habe erwartet,
was fuͤr Eindruck eine Scene aus das unbeſto¬
chene Volk, das wir Poͤbel nennen, machen,
habe erwartet, ob ein ruͤhrender Auftritt allge¬
meine Stille, oder lautes Gelaͤchter verbreiten
wuͤrde, um mich zu beſtimmen in meinem Glau¬
ben,[252] ben, wie treu, der Schriftſteller und Schauſpie¬
ler die Natur copiert, oder ob er ſie verfehlt
haͤtte! Auf mich wuͤrkt Illuſion, weil ich in ei¬
ner Welt voll Taͤuſchungen von Jugend auf ge¬
wandelt habe; Jene aber leben und weben in
Wahrheit. Groß iſt der Kuͤnſtler, der durch
das Spiel ſeiner Phantaſie, durch ſeine, die
Natur nachahmende Darſtellung, auch unculti¬
vierte Menſchen vergeſſen machen kann, daß ſie
getaͤuſcht werden. Groß iſt ferner der Mann,
der den Sinn fuͤr ungeſchminkte Wahrheit nicht
in dem Meere von Neben-Ideen, Vorurtheilen
und Conventionen erſaͤuft hat. Aber wie ſelten
trifft man Kunſt und Wahrheits-Sinn, Cultur
und Einfalt, Arm in Arm an! — Laſſet uns
alſo Den nicht verachten, der den beſſern Theil
auf Unkoſten des ſchlechtern gerettet hat, und
laſſet uns ihn ja nicht aufklaͤren, ſondern lieber
bey ſolchen dummen Leuten in die Schule gehn!
Auf gutmuͤthige, aber ſchwache Leute
ſoll man zum Beſten zu wuͤrken, ſoll, wenn man
kann, edle Freunde um ſie her zu verſammlen
ſuchen, von denen ſie nicht misbraucht, ſondern
zu Thaten gelenkt werden, die eines wohlwol¬
len¬[253] lenden Herzens wuͤrdig ſind. Es giebt Perſo¬
nen, die nichts abſchlagen koͤnnen, wenigſtens
nicht muͤndlich; und da geſchieht es dann, daß,
um niemand zu kraͤnken, oder damit man nicht
glaube, daß es ihnen an gutem Willen fehle,
ſie mehr verſprechen, als ſie erfuͤllen koͤnnen,
mehr hingeben, mehr Arbeit fuͤr Andre uͤber¬
nehmen, als ſie gerechter Weiſe thun ſollten.
Andre ſind ſo leichtglaͤubig, daß ſie Jedem
trauen, ſich jedem preisgeben und aufopfern,
Jeden fuͤr einen treuen Freund halten, der die
Auſſenſeite des ehrlichen, menſchenliebenden
Mannes traͤgt. Noch Andre ſind nicht im
Stande fuͤr ſich ſelbſt etwas zu erbitten, ſollten
ſie auch daruͤber nichts in der Welt von demje¬
nigen erlangen, worauf ſie die billigſten An¬
ſpruͤche machen duͤrften. Ich brauche wohl nicht
zu ſagen, wie ſehr alle dieſe Schwachen gemis¬
handelt werden; wie man auf die Gutherzigkeit
und Dienſtfertigkeit der Erſtern losſtuͤrmt, und
wie den Andern die Unverſchaͤmtheit alles vor
dem Munde wegnimt, weil ſie nicht den Muth
haben, zuzugreifen. Misbrauche keines Men¬
ſchen Schwaͤche! Erſchleiche von Keinem Vor¬
theile, Geſchenke, Verwendung von Kraͤften,
die[254] die Du nicht nach den Regeln der ſtrengſten
Gerechtigkeit, ohne ihm Verlegenheit und Laſt
aufzuladen, von ihm fordern darfſt! Suche auch
zu verhindern, daß Andre dergleichen thun!
Mache dem Bloͤden Muth! Verwende Dich,
rede fuͤr ihn, wenn ſeine Schuͤchternheit ihn
abhaͤlt, ſein eigener Vorſprecher zu ſeyn!
Manche Leute haben die Schwachheit, mit
ganzer Seele gewiſſen Liebhabereyen nach¬
zuhaͤngen. Sey es nun irgend eine noble
Paſſion, Jagd, Pferde, Hunde, Katzen, Tanz,
Muſic, Malerey, oder die Wuth Kupferſtiche,
Naturalien, Schmetterlinge, Petſchafte, Pfei¬
fenkoͤpfe und dergleichen zu ſammeln, oder Bau-
Geiſt, Garten-Anlage, Kinder-Erziehung, Maͤ¬
cenatenſchaft, phiſikaliſche Verſuche — oder was
fuͤr ein Steckenpferd ſie auch reiten; ſo dreht
ſich doch der ganze Cirkel ihrer Gedanken immer
um dieſen Punct herum; Sie reden von keiner
Sache ſo gern, als von dieſem ihren Lieblings-
Gegenſtande; Jedes Geſpraͤch wiſſen ſie dahin
zu lenken. Sie vergeſſen dann, daß der Mann,
welchen ſie vor ſich haben, vielleicht von keinem
Dinge in der Welt weniger verſteht, als von
die¬[255] dieſem, verlangen aber auch dagegen nicht grade,
daß derſelbe mit großer Kenntniß davon rede,
wenn er nur die Geduld hat, ihnen zuzuhoͤren,
oder wenn er ihn Saͤchelchen nur mit Aufmerk¬
ſamkeit betrachtet, nur bewundert, was ſie ihm
als die groͤßte Seltenheit empfehlen, und Inte¬
reſſe daran zu nehmen ſcheint. Nun! wer wird
denn wohl ſo hartherzig ſeyn, dieſe kleine Freude
einem Manne, der uͤbrigens redlich und verſtaͤn¬
dig iſt, nicht zu gewaͤhren? Vorzuͤglich empfehle
ich Aufmerkſamkeit auf die — doch, wie ſich's ver¬
ſteht, unſchuldigen — Liebhabereyen der Großen,
an deren Gunſt uns gelegen iſt; denn, wie
Triſtram Schandy anmerkt, ſo wird ein Hieb,
welchen man dem Steckenpferde giebt, ſchmerz¬
licher empfunden, als ein Schlag, den der Reu¬
ter ſelbſt empfaͤngt.
24.
Mit muntern, aufgewecktenLeuten,
die von aͤchtem Humor beſeelt werden, iſt leicht
und angenehm umzugehn. Ich ſage, ſie muͤſſen
von aͤchtem Humor beſeelt werden; die Froͤh¬
lichkeit muß aus dem Herzen kommen, muß
nicht erzwungen, muß nicht eitle Spaßmache¬
rey,
[256] rey, nicht Haſchen nach Witz ſeyn. Wer noch
aus ganzem Herzen lachen, ſich den Aufwallun¬
gen einer lebhaften Freude uͤberlaſſen kann, der
iſt kein ganz boͤſer Menſch. Tuͤcke und Bos¬
heit machen zerſtreuet, ernſthaft, nachdenkend,
verſchloſſen, mais un homme, qui rit, ne fera
jamais dangereux. Daraus folgt indeſſen
nicht, daß Jeder, der nicht von froͤhlicher Ge¬
muͤthsart iſt, deswegen etwas Boͤſes im Schilde
fuͤhren ſollte. Die Stimmung des Gemuͤths
haͤngt vom Temperamente, ſo wie von Geſund¬
heit und von innern und aͤuſſern Verhaͤltniſ¬
ſen ab. Aechte muntere Laune aber pflegt an¬
ſteckend zu ſeyn, und dieſe Epidemie hat etwas
ſo wohlthaͤtiges, es iſt ein ſo wahres Seelen-
Gluͤck, einmal alle Sorgen und Plagen dieſer
Welt weglachen zu duͤrfen, daß ich dringend an¬
rathe, ſich zur Munterkeit anzufeuern, und
wenigſtens ein Paar Stunden in der Woche auf
dieſe Weiſe der geſitteten Froͤhlichkeit zu widmen.
Allein es iſt ſchwer, in luſtiger Stimmung,
und wenn man dem Witze den Zuͤgel ſchieſſen
laͤſſt, nicht in einen ſatyriſchen Ton zu fallen.
Was giebt uns reichern Stoff zum Lachen, als
das[257] das unzaͤhlige Heer von Thorheiten der Men¬
ſchen? Und dieſe Thorheiten treten am lebhafte¬
ſten vor unſre Augen, wenn wir uns die Origi¬
nale dazu denken, in welchen ſie wohnen. Lachen
wir nun uͤber die Narrheit; ſo iſt es faſt unver¬
meidlich, auch uͤber den Narren mit zu lachen,
und da kann denn dies Lachen ſehr ernſthafte,
verdrießliche Folgen haben. Wenn ferner unſre
Spoͤttereyen Beyfall finden; ſo werden wir
verleitet, unſern Witz immer feiner zuzuſpitzen,
und Andre, denen es auſſerdem vielleicht an
Stoff zu munterer Unterhaltung fehlen wuͤrde,
ſchaͤrfen, durch unſer Beyſpiel verfuͤhrt, ihre
Aufmerkſamkeit auf die Maͤngel ihrer Neben¬
menſchen, und was daraus entſtehn koͤnne, das
iſt theils bekannt genug, theils habe ich daruͤber
ſchon etwas im neunzehnten Abſchnitte des er¬
ſten Theils geſagt. Ich halte es daher fuͤr
Pflicht, im Umgange mit ſehr ſatyriſchen Leu¬
ten auf ſeiner Hut zu ſeyn. Nicht, daß man
ſich perſoͤnlich vor ihrer ſpitzen Zunge oder Feder
fuͤrchten muͤſſte, denn das zeigt wuͤrklich den
hoͤchſten Grad von innerem Bewuſſtſeyn eige¬
ner Erbaͤrmlichkeit an; ſondern daß man nicht
durch ſie verfuͤhrt werde, mit zu laͤſtern, daß
man(Zweiter Th.) R[258] man ſich und Andern dadurch nicht ſchade, und
daß der Geiſt der Duldung nicht von uns wei¬
che! Man zeige daher ſatyriſchen Leuten keinen
zu lauten Beyfall, beſtaͤrke ſie nicht in der Ge¬
wohnheit, ihren Witz auf andrer Menſchen Un¬
koſten ſpielen zu laſſen, und lache nicht mit,
wenn ſie laͤſtern und ſchmaͤhen!
25.
Trunkenbolde, grobe Wolluͤſtlinge
und alle andre Arten von laſterhaften Leuten
ſoll man freylich fliehn, und ihren Umgang,
wenn man kann, vermeiden; Iſt dies aber
durchaus ohnmoͤglich; ſo bedarf es wohl keiner
Erinnerung, daß man ſich huͤten muͤſſe, von ih¬
nen zur Untugend verfuͤhrt zu werden. Allein
das iſt nicht genug; Es iſt auch Pflicht, ihren
Ausſchweifungen, moͤgten ſie ſolche auch in das
gefaͤlligſte Gewand huͤllen, nicht durch die Fin¬
ger zu ſehn, ſondern vielmehr, wo es mit Klug¬
heit geſchehn kann, einen unuͤberwindlichen Ab¬
ſcheu dagegen zu zeigen, ſich auch wohl zu ent¬
halten, an unzuͤchtigen, ſchmutzigen Geſpraͤchen
beyfaͤlligen Antheil zu nehmen. Man ſieht in
der großen Welt die ſo genannten agréables
dé¬[259]débauchés mehrentheils die glaͤnzendſte Rolle
ſpielen, und in manchen, beſonders maͤnnlichen
Cirkeln, die Unterhaltung auf Zoten und Zwey¬
deutigkeiten hinausgehn, wodurch die Phantaſie
junger Leute erhitzt, mit ſchluͤpfrigen Bildern
erfuͤllt, und die Corruption weiter ausgebreitet
wird. Zu dieſem allgemeinen Verderbniſſe der
Sitten, zu Unterdruͤckung, vielleicht gar zu Ver¬
achtung der Keuſchheit, Nuͤchternheit, Maͤßig¬
keit und Schamhaftigkeit darf kein redlicher
Mann auch nur das Mindeſte beytragen. Er
muß vielmehr, ſo viel an ihm iſt, ohne Anſehn
der Perſon, ſein Misfallen daran beſtimmt zu
erkennen geben, und, wenn er Menſchen, die auf
dem Wege des Laſters wandeln, durch freund¬
ſchaftliche Warnung und Hinlenkung ihrer Thaͤ¬
tigkeit auf wuͤrdigere Gegenſtaͤnde, nicht beſſern
kann, ihnen wenigſtens zeigen, daß er den Sinn
fuͤr Reinigkeit und Tugend nicht verlohren habe,
und daß in ſeiner Gegenwart die Unſchuld re¬
ſpectirt werden muͤſſe.
26.
Einen ganz eignen Abſchnitt verdienen die
Enthuſiaſten, uͤberſpannten, romanhaf¬
R 2ten[260]ten Menſchen, Kraft-Genies und excen¬
triſchen Leute. Sie leben und weben in einer
Ahtmosphaͤre von Phantaſien, wie ein Fiſch im
naſſen Elemente, und ſind geſchworne Feinde
der kalten Ueberlegung. Mode-Lectur, Romane,
Schauſpiele, geheime Verbindungen, Mangel
an gruͤndlichen wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen und
Muͤſſiggang ſtimmen einen großen Theil unſrer
heutigen Jugend auf dieſen Ton; man trifft
aber auch Schwaͤrmer mit grauen Koͤpfen an.
Sie ſtreben ohne Unterlaß nach dem Auſſeror¬
dentlichen und Uebernatuͤrlichen; verachten das
nahe liegende Gute, um nach fernen Erſcheinun¬
gen zu greifen; verſaͤumen das Noͤthige und
Nuͤtzliche, um Plane fuͤr das Entbehrliche zu
machen; legen die Haͤnde in den Schooß, wo
es Pflicht waͤre zu wuͤrken, um ſich in Haͤndel
zu miſchen, die ſie nichts angehn; reformieren
die Welt, und vernachlaͤſſigen ihre haͤuslichen
Geſchaͤfte; finden das Wichtigſte zu klein, und
das Abgeſchmackteſte erhaben; verſtehen das
Deutlichſte nicht, und predigen das Unbegreif¬
liche. Vergehens ſtellſt Du ihnen die Gruͤnde
der geſunden Vernunft vor; Sie werden Dich
als einen gemeinen Menſchen, ohne Gefuͤhl,
oh¬[261] ohne Sinn fuͤr das Große, verachten. Mitlei¬
den mit Deiner Weisheit haben, und ſich lieber
an ein Paar andre Narren von aͤhnlichem
Schwunge ſchlieſſen, die in ihren Unſinn ein¬
ſtimmen. Iſt Dir's alſo darum zu thun, einen
ſolchen Schwaͤrmer von etwas zu uͤberzeugen,
oder auch nur irgend in Anſehn bey ihm zu ſtehn;
ſo muͤſſen Deine Geſpraͤche warm und feurig
ſeyn, und Du muſſt mit eben ſo viel Enthuſias¬
mus der geſunden Vernunft das Wort reden,
als womit er die Sache ſeiner Thorheit verficht.
Selten aber richtet man uͤberhaupt etwas mit
ſolchen Menſchen aus, und es iſt am beſten ge¬
than, der Zeit ihre Cur zu uͤberlaſſen. Indeſſen
ſteckt zum Ungluͤcke Schwaͤrmerey an, wie der
Schnupfen. Wer daher eine ſehr lebhafte Ein¬
bildungskraft hat, und nicht ganz ſicher von der
Herrſchaft ſeines Verſtandes uͤber dieſelbe iſt,
dem rathe ich, im Umgange mit Enthuſiaſten
jeder Gattung, auf ſeiner Hut ſeyn. In dieſem
Jahrhunderte, in welchem die Wuth nach gehei¬
men Verbindungen, die faſt alle auf ſolche Gril¬
len beruhen, ſo allgemein geworden iſt, hat man
ſogar Mittel gefunden, alle Arten von religioſer,
theoſophiſcher, chymiſcher und politiſcher, oder
werR 3[262] wer weiß von was fuͤr Schwaͤrmerey? in Sy¬
ſteme zu bringen. Ich mag nicht entſcheiden,
welche von dieſen Gattungen die gefaͤhrlichſte
iſt, halte aber doch dafuͤr, diejenigen, welche auf
politiſche, halb phantaſtiſche, halb jeſuitiſche
Plane und auf Welt-Reformation hinausgehn,
gehoͤren wohl wenigſtens nicht zu den unſchaͤd¬
lichſten Donchixoterien: ich glaube dies um ſo
feſter, da grade dieſe Art von Schwaͤrmer-Sy¬
ſtemen am mehrſten Verwirrung im Staate an¬
richten kann, und die blendendſte Auſſenſeite zu
haben pflegt, ſtatt daß die uͤbrigen bald Lange¬
weile machen, und nur ſchiefe und mittelmaͤßige
Koͤpfe dauerhaft beſchaͤftigen. Man gewoͤhne
ſich daher, im Umgange mit den Apoſteln ſolcher
Syſteme, die großen Woͤrter: Gluͤck der Welt,
Freyheit, Gleichheit, Rechte der Menſchheit,
Cultur, allgemeine Aufklaͤrung, Bildung, Welt¬
buͤrgergeiſt, und dergleichen fuͤr nichts anders,
als fuͤr Lockſpeiſen, oder hoͤchſtens fuͤr gutge¬
meinte leere Worte zu nehmen, mit denen dieſe
Leute ſpielen, wie die Schulknaben mit den ora¬
toriſchen Figuren und Tropen, welche ſie in ih¬
ren magern Exercitien anbringen muͤſſen.
Kraft¬[263]
Kraft-Genies und excentriſche Leute laſſe
man laufen, ſo lange ſie ſich noch nicht gaͤnzlich
zum Einſperren qualificieren! Die Erde iſt ſo
groß, daß eine Menge Narren neben einander
Platz darauf haben.
27.
Reden wir itzt ein Wort von Andaͤcht¬
lern, Froͤmmlern, Heuchlern und aber¬
glaͤubiſchen Leuten!
Wem es mit ſeinen Empfindungen fuͤr die
Religion, mit ſeiner Waͤrme fuͤr Gottes-Liebe,
Gottes-Furcht und Gottes-Verehrung und mit
ſeiner Anhaͤnglichkeit an die gottesdienſtlichen
Gebraͤuche der Kirche, zu welcher er ſich in ſei¬
nem Herzen bekennt, ein aufrichtiger Ernſt iſt;
der hat die gegruͤndeteſten Anſpruͤche auf unſre
Achtung. Sollte er auch das Weſen der Reli¬
gion, mehr als wir fuͤr gut halten, in bloßem
Gefuͤhle, ohne allen Gebrauch ſeiner ihm von
Gott verliehenen Leiterinn, der Vernunft, ſe¬
tzen; ſollte auch, unſrer Meinung nach, eine
erhitzte Phantaſie ſich in ſeine religioͤſen Em¬
pfindungen miſchen; ſollte er auch, zu anhaͤng¬
lichR 4[264] lich an gewiſſe Caͤremonien, Gebraͤuche und
Syſteme ſeyn; ſo verdient er, wenn er uͤbri¬
gens ein redlicher Mann, ein practiſcher Chriſt
iſt, Duldung, Schonung und Bruderliebe.
Allein um deſto verachtungswuͤrdiger iſt ein
Schuft, ein gleisneriſcher Boͤſewicht, der hin¬
ter der Larve der Heiligkeit, Sanftmuth und
Religioſitaͤt, den wolluͤſtigen Verfuͤhrer, den tuͤ¬
ckiſchen Verleumder, Aufruͤhrer, Anhetzer, rach¬
gierigen Boͤſewicht, oder den fanatiſchen Ver¬
folger verſteckt. Beyde Arten von Leuten ſind
aber nicht ſchwer zu unterſcheiden. Der fromme
Edle iſt grade, offen, ſtill und heiter, nicht uͤber¬
trieben hoͤflich, nicht uͤbertrieben zuvorkommend,
noch uͤbertrieben demuͤthig, aber liebevoll, einfach
und zutraulich in ſeinem Betragen. Er iſt nach¬
ſichtig, milde und duldend, redet auch nicht viel,
auſſer mit vertraueten Freunden, uͤber religioſe
Gegenſtaͤnde; der Heuchler hingegen pflegt ſuͤß,
kriechend, ſchmeichelnd, immer auf ſeiner Hut,
ein Sclave der Großen, ein Anhaͤnger der herr¬
ſchenden Parthey, ein Freund der Gluͤcklichen,
nie ein Vertheydiger der Verlaſſenen zu ſeyn.
Er fuͤhrt Rechtſchaffenheit und Religion ohne
Unterlaß im Munde, giebt ſeine reichen Almo¬
ſen[265] ſen und erfuͤllt ſeine chriſtlichen Liebes-Pflichten
mit Geraͤuſch und Aufſehn, tobt und ſchaͤumt
uͤber den Gottloſen und Laſterhaften, oder ent¬
ſchuldigt fremde Fehler auf ſolche Weiſe, daß
ſie dadurch tauſendfaͤltig vergroͤßert erſcheinen.
Huͤte Dich, Dieſem auf irgend eine Weiſe in die
Haͤnde zu fallen! Fliehe ihn! Tritt ihm nicht
auf den Fuß! Beleidige ihn nicht, wenn Dir
Deine Ruhe lieb iſt!
Aberglaͤubiſche Leute, die an Ammen-Maͤr¬
chen, Geſpenſter-Hiſtoͤrchen und dergleichen haͤn¬
gen, ſind nicht durch Gruͤnde der Philoſophie
und vernuͤnftige Zweifels-Erweckung von ihrem
Wahne zu befreyen, am wenigſten aber durch De¬
clamationen, Perſifflage und Ereiferung. Es iſt
da kein anders Mittel, als ihnen nicht eher zu
wiederſprechen, bis man zugleich eine einzelne
Thatſache ſtrenge und kaltbluͤtig unterſuchen, und
ſie mit eigenen Augen von dem Betruge oder Un¬
grunde uͤberzeugen kann, obgleich es wahrlich
unbillig iſt, daß man Dem, welcher eine uͤber¬
natuͤrliche Erſcheinung behauptet, den Beweis
erlaͤſſt, und ihn Demjenigen auflegt, der die
Rechte der Vernunft vertheydigt.
29.R 5[266]
29.
Nicht toleranter als die Froͤmmler pflegen
ihre Gegenfuͤßler, die Deiſten, Freygeiſter
und Religions-Spoͤtter von gemeiner Art
zu ſeyn. Ein Mann der ungluͤcklich genug iſt,
ſich von der Wahrheit, Heiligkeit und Noth¬
wendigkeit der chriſtlichen Religion nicht uͤber¬
zeugen zu koͤnnen, verdient Mitleiden, weil er
ein ſehr weſentliches Gluͤck, einen kraͤftigen Troſt
im Leben und Sterben entbehrt; Er verdient
mehr als Mitleiden, er verdient Liebe und Ach¬
tung, wenn er dabey ſeine Pflichten als Menſch
und Buͤrger, ſo viel an ihm iſt, treulich erfuͤllt,
und niemand in ſeinem Glauben irremacht;
Wenn aber jemand, der aus boͤſem Willen,
aus Verkehrtheit des Kopf oder des Herzens,
ein Religions-Veraͤchter geworden, oder gar zu
ſeyn nur affectirt, aller Orten Proſeliten zu
werben ſucht, oͤffentlich mit ſchaalem Witze oder
nachgebetheten voltairiſchen Floskeln der Lehren
ſpottet, auf welche andre Menſchen ihre einzige
Hofnung, ihre zeitliche und ewige Gluͤckſelig¬
keit bauen; Wenn er Jeden verfolgt, verachtet,
ſchimpft, Jeden einen Heuchler oder heimlichen
Jeſuiten ſchilt, der nicht wie Er denkt; ſo iſt
ein[267] ein ſolcher boͤsartiger Thor unſrer Verachtung
werth, iſt werth, daß man ihm dieſe Verach¬
tung zeige, waͤre er auch ein noch ſo vornehmer
Mann; und wenn man es fuͤr vergebliche Muͤhe
haͤlt, ſeinem Gewaͤſche ernſthafte Gruͤnde ent¬
gegen zu ſetzen; ſo ſtopfe man ihm wenigſtens,
wenn es irgend moͤglich iſt, ſein Laͤſtermaul!
30.
Ueber die Art, wie man ſchwermuͤthige,
tolle, und raſende Menſchen behandeln
muͤſſe, ſollte billig ein philoſophiſcher Arzt ein
eigenes Werk ſchreiben. Dieſer Mann muͤſſte
Leute von der Art in und auſſer den Hospitaͤ¬
lern aufſuchen, dieſelben genau und in verſchie¬
denen Jahrszeiten und Mond-Veraͤnderungen
beobachten, und aus den Reſultaten dieſer Un¬
terſuchungen ein ganzes Syſtem ausarbeiten.
Mir fehlt es an der Menge von Thatſachen,
ſo wie an mediciniſchen Kenntniſſen dazu, und
hier wuͤrde eine weitlaͤufige Abhandlung uͤber
dieſen Gegenſtand auch zu viel Raum wegneh¬
men, nachdem ich ſchon ſo manches Blatt mit
Bemerkungen uͤber den Umgang mit nicht ein¬
geſperrten Narren angefuͤllt habe. Alſo
nur wenig Zeilen daruͤber!
Der[268]
Der wichtigſte Punct ſcheint bey ſolchen
Kranken anfangs der zu ſeyn, daß man die er¬
ſte Quelle ihres Uebels aufſuche, daß man be¬
wahrheite, ob und wie dieſelbe, durch Zerruͤt¬
tung einzelner coͤrperlicher Werkzeuge, oder durch
Gemuͤthslagen, heftige Leidenſchaften, oder Un¬
gluͤcksfaͤlle entſtanden. Zu dieſem Endzwecke
muß man Acht darauf geben, womit ſich ihre
Phantaſie in den Augenblicken der Raſerey oder
Verwirrung und auſſer denſelben beſchaͤftigt,
worauf ihre Einbildungskraft bruͤtet. Da wuͤrde
ſich's dann zeigen, daß man um dieſe Ungluͤck¬
lichen nach und nach zu heilen, mehrentheils
nur auf einen einzigen Punct zu wuͤrken, in
ihnen auf vorſichtige Weiſe nur eine einzige
herrſchende Grille zu zerſtoͤhren oder zu modifi¬
cieren brauchte. Ferner wuͤrde es wichtig ſeyn,
darauf Acht zu geben, welche Art von Wetter-
Veraͤnderung, Jahrszeit und Mond-Wandelung
Einfluß auf ihre Krankheit haͤtte, um die gluͤckli¬
chen Augenblicke zur Behandlung zu nuͤtzen.
Endlich habe ich bemerkt, daß das Einſperren
und jede harte Verfahrungsart faſt immer das
Uebel aͤrger macht. Ich muß bey dieſer Gele¬
genheit mit wahrem, aufrichtigem Lobe der Ein¬
rich¬[269] richtung Erwaͤhnung thun, welche im Tollhauſe
in Frankfurth am Mayn herrſcht, und welche
ich vielfaͤltig zu beobachten Gelegenheit gefunden
habe. Man laͤſſt dort die Wahnſinnigen, wenn
es nur irgend ohne Gefahr geſchehn kann, we¬
nigſtens in den Jahrszeiten, von welchen man
weiß, daß alsdann ihre Tollheit weniger heftig
iſt, unter unmerklicher Beobachtung, frey im
Hauſe und Garten herumgehn, und der Zucht¬
meiſter verfaͤhrt ſo ſanft und liebreich mit ih¬
nen, daß Viele derſelben nach einigen Jahren
voͤllig geheilt wieder herauskommen, und eine
groͤßere Anzahl wenigſtens nur melancholiſch
bleibt und allerley Handarbeit zu verrichten im
Stande iſt, indeß dieſe Menſchen in manchen
andern Hospitaͤlern durch Einſperren und Haͤrte
vielleicht im hoͤchſten Grade wuͤthend geworden
ſeyn wuͤrden.
Man kann aber auch ſchwache Menſchen
ſtufenweiſe um ihren Verſtand bringen, wenn
man eine heftige Leidenſchaft, von welchen ſie
regiert werden, ſey es Liebe, Hochmuth oder Ei¬
telkeit, naͤhrt, reizt und dann wieder kraͤnkt.
Zwey ſolcher elenden Geſchoͤpfe erinnere ich mich
ge¬[270] geſehn zu haben. Der Eine trug ein Hofnar¬
ren-Kleid an dem Hofe des Fuͤrſten von * * *.
Er war in der Jugend ein Menſch von feinem
Kopfe, guten Anlagen und voll Witz geweſen;
Noch loderten davon in ruhigen Augenblicken
Flammen hervor. Er hatte ſtudieren ſollen,
aber nichts gelernt, ſondern ſich einem liederli¬
chen Leben uͤberlaſſen. Als er darauf in ſein Va¬
terſtaͤdtgen zuruͤckkam, behandelte man ihn als
einen unwiſſenden Muͤßiggaͤnger, und er ſelbſt
fuͤhlte, daß er weiter nichts war. Er hatte aber
einen ungeheuren Hochmuth, und war nicht
gaͤnzlich arm. Von ſeiner Familie und den Leu¬
ten ſeines Standes verſtoßen, fing er nun an,
mit den Hof-Officianten des Fuͤrſten von * * *
ſich herumzutreiben. Seine luſtigen Einfaͤlle
zogen ſogar die Aufmerkſamkeit dieſes faſt ſehr
muntern Herrn auf ihn. Er wurde bald ver¬
trauet mit demſelben und mit dem ganzen Hofe,
wodurch anfangs ſeine Eitelkeit gekitzelt wurde;
Doch endigte ſich das natuͤrlicher Weiſe damit,
daß man ihn misbrauchte und als einen privi¬
legierten Spaßmacher betrachtete. Dies war
indeſſen immer noch eine Art von Exiſtenz, die
ihn behagte, ſo lange das Ding in gewiſſen
Schran¬[271] Schranken blieb, und es ihm erlaubt war, auf
vertraulichem Fuße mit vornehmen Leuten um¬
zugehn, und ihnen zuweilen derbe Wahrheiten
zu ſagen. Weil Dieſe aber ſich nicht umſonſt
ſo weit herablaſſen wollten, auch nicht zu aller
Zeit gleich gut aufgelegt waren, ſeinen Witz,
der zuweilen in das Grobe fiel, aufzunehmen;
ſo erfuhr er Demuͤthigungen aller Art, bekam
zuweilen Schlaͤge, und konnte doch nun nicht
mehr zuruͤck, indem ihm ſeine Verwandten und
Bekannten in der Stadt mit aͤuſſerſter Verach¬
tung begegneten, und ſein kleines Vermoͤgen
geſchmolzen war — Und ſo ſank er denn immer
tiefer. Er wurde gaͤnzlich abhaͤngig vom Hofe;
der Fuͤrſt ließ ihm eine buntſchaͤckigte Kleidung
machen, und es war kein Kuͤchenjunge im Schloſſe,
der nicht das Recht zu haben glaubte, einen
Spaß von ihm zu begehren, oder ihm fuͤr einen
Schoppen Wein einen Naſenſtuͤber zu geben.
Aus Verzweiflung berauſchte er ſich nun taͤglich,
und war er ja einmal nuͤchtern; ſo nagten die
Vorſtellung ſeiner fuͤrchterlichen Lage, das Ge¬
fuͤhl der unedelen Rolle, welche er ſpielte, die
Anſtrengung neue Spaͤße zu erfinden, um nicht
auf immer verſtoßen zu werden, und ſein auf¬
wa¬[272] wachender Hochmuth an ſeiner Seele, indeß er
ſeinen Coͤrper durch Ausſchweifungen zerruͤttete.
Er wurde wuͤrklich ein Narr, und einmal ſo ra¬
ſend, daß man ihn ein halbes Jahr hindurch an
der Kette verwahren muſſte. Als ich ihn ſahe,
war er ein alter Mann, trieb ſich in einem arm¬
ſeligen Zuſtande umher, wurde als ein verruͤck¬
ter Menſch angeſehn, war aber mehr ein Ge¬
genſtand des Wiederwillens, als des Mitleidens,
und hatte doch noch helle Augenblicke, in wel¬
chen er ungewoͤhnlichen Scharfſinn, Witz und
Genie verrieth, auch, wenn er einen halben
Gulden erbetteln wollte, auf eine ſo feine Weiſe
zu ſchmeicheln, und mit ſo ſchlauer Menſchen¬
kenntniß die ſchwachen Seiten der Leute zu
faſſen verſtand, daß ich nicht wuſſte, ob ich nicht
mehr uͤber die Leute, die ihn ſo tief hinabgeſto¬
ßen hatten, als uͤber ſeine Verirrungen ſeufzen
ſollte.
Der andre Menſch, von welchem ich reden
wollte, war einſtens Verwalter auf einem ade¬
lichen Gute geweſen, nachher aber in Penſion
geſetzt worden. Da nun ſolchergeſtalt die Herr¬
ſchaft nichts mit ihm anzufangen wuſſte; ſo
trieb[273] trieb ſie ihren Spaß mit ihm, indem er ſehr
dumm und zugleich hochmuͤthig und verliebt
war. Sie nannten ihn Fuͤrſt, gaben ihm einen
Orden, lieſſen erdichtete Briefe von hohen Po¬
tentaten an ihn ſchreiben, in welchen ihm ent¬
deckt wurde: daß er eigentlich aus einem großen
Hauſe abſtamme, aber in ſeiner Jugend entfuͤhrt
worden ſey; daß der Großſultan, welcher un¬
rechtmaͤßigerweiſe ſeine Laͤnder beſaͤße, ihm nach
dem Leben trachtete; daß eine griechiſche oder he¬
braͤiſche Prinzeſſinn in ihn verliebt ſey, und
dergleichen mehr. Es muſſten luſtige Freunde,
als Geſandten verkleidet, in Unterhandlungen
mit ihm treten — Und kurz! nach wenig Jah¬
ren brachte man es dahin, daß der arme Tropf
wuͤrklich verruͤckt wurde, und alle dieſe Thor¬
heiten glaubte.
Ich enthalte mich aller Anmerkungen uͤber
dieſe beyden Geſchichten; Der Leſer wird ſie,
ohne meine Anweiſung machen koͤnnen.
Eilf¬(Zweiter Th.) S[274]
Eilftes Capittel.
Ueber das Betragen bey verſchiedenen
Vorfaͤllen im menſchlichen Leben.
1.
Ich habe bey mancher Gelegenheit Gegenwart
des Geiſtes und Kaltbluͤtigkeit, als Haupt-Er¬
forderniſſe zu allen Geſchaͤften und Verrichtun¬
gen im menſchlichen Leben, empfohlen; Nirgends
aber ſind uns dieſe Eigenſchaften nothwendiger,
als in Vorfaͤllen, wo wir, oder Andre in
augenſcheinlicher Gefahr ſchweben. Hier
haͤngt die ganze Rettung in critiſchen Augenbli¬
cken zuweilen von einem raſchen Entſchluſſe ab.
Halte Dich daher nicht mit Geſchwaͤtzen auf,
wo es Noth iſt, zu handeln! Unterdruͤcke Dein
zu zartes Gefuͤhl, und winſele nicht, wo Du
zugreifen ſollteſt! Sey Dir gegenwaͤrtig in
Feuer- und Waſſers-Noth und dergleichen, wo
man oft alles verliehrt, wenn man den Kopf
verliehrt, wo Die, welche wir retten koͤnnen,
zuweilen gezwungen werden muͤſſen, ſich uns
zu uͤberlaſſen! Vorzuͤglich wichtig wird dieſe
Gegenwart des Geiſtes auch dann, wenn man
ohn¬[275] ohnerwartet von Dieben oder Moͤrdern ange¬
griffen wird. Raͤuber und Banditen ſind faſt
immer entweder furchtſam, oder, wenn Ver¬
zweiflung ſie berauſcht, nicht genug auf ihrer
Hut, auf ernſthaften, foͤrmlichen Wiederſtand
nicht vorbereitet. Ein entſchloſſener, kaltbluͤtiger
Mann iſt da ſtaͤrker, als zehn ſolcher Elenden,
die ihn angreifen. Hier muß aber wohl uͤber¬
legt werden, ob es Schaden oder Nutzen ſtiften
koͤnne, ſich mit Schieß- oder anderm Gewehre
zu vertheidigen, oder nicht; ob es gerathener
ſey, Lerm zu machen, oder ſich in ſein Schickſal
zu finden, der Uebermacht zu weichen, und mit
Hingebung ſeines Mammons ſein Leben zu er¬
kaufen. Es laſſen ſich daruͤber ohnmoͤglich all¬
gemeine Regeln geben. Um aber auf jeden die¬
ſer Faͤlle ſich gefaſſt zu halten, rathe ich, bey
kaltem Blute ſich in dergleichen Lagen hineinzu¬
denken, und ſich dann dienliche Maßregeln vor¬
zuſchreiben. Ich halte es auch fuͤr einen wich¬
tigen Theil der Erziehung, ſeine Kinder zuwei¬
len nicht nur durch Fragen, wie ſie ſich bey ſol¬
chen Gelegenheiten betragen wuͤrden, aufmerk¬
ſam auf unerwartete Vorfaͤlle aller Art zu ma¬
chen, ſondern ſie auch zuweilen in wuͤrkliche
klei¬S 2[276] kleine Verlegenheiten zu ſetzen, um ſie an Gegen¬
wart des Geiſtes zu gewoͤhnen, und ſie auf die
Probe zu ſtellen.
2.
Ich habe einmal den Wunſch geaͤuſſert, es
moͤgte jemand, ſtatt die ungeheure Anzahl von
Beſchreibungen großer und kleiner Reiſen durch
alle Winkel von Teutſchland zu vermehren, ein
Werk drucken laſſen, in welchem er Vorſchriften
gaͤbe, wie man ſich im Allgemeinen zu betragen
haͤtte, um wohlfeiler, angenehmer und nuͤtzli¬
cher zu reiſen, ſodann darinn ſagte, in welchen
Provinzen zu Wagen, in welchen aber zu Pferde
beſſer fortzukommen waͤre, und ſo ferner. Ste¬
hen auch Bemerkungen daruͤber zerſtreuet in ſol¬
chen nuͤtzlichen Werken, als zum Beyſpiel in
des Herrn Nicolai Reiſebeſchreibung; ſo wuͤrde
dennoch ein Buch, in welchem dieſe Vorſchriften
geſammelt waͤren, meiner Meinung nach, nicht
uͤberfluͤſſig ſeyn. In einer Schrift uͤber den
Umgang mit Menſchen kann nur ein geringer
Theil dieſer Regeln Platz finden; doch darf ich
dieſen Gegenſtand auch nicht ganz mit Still¬
ſchweigen uͤbergehn; Alſo nur einige einzelne
An¬[277] Anmerkungen uͤber das Betragen auf
Reiſen!
Es iſt weiſe gehandelt, bevor man ausreiſt,
aus Buͤchern oder muͤndlichen Erzaͤhlungen, ſich
genau von dem Wege, den man nehmen will,
von Demjenigen, was unterwegens und in den
Oertern, die man beſuchen moͤgte, zu bemerken,
zu beobachten und zu vermeiden iſt, nicht weni¬
ger von den Preiſen und den unvermeidlichen
Geld-Ausgaben zu unterrichten, damit man we¬
der betrogen werde, noch in Verlegenheit gera¬
the, noch etwas zu ſehn verſaͤume, das der Auf¬
merkſamkeit werth ſcheint.
Man verrechnet ſich leicht in ſeinen Ueber¬
ſchlaͤgen der Reiſekoſten; Ich rathe daher nicht
nur, nach gemachtem Etat, ſich immer etwa
auf ein Drittel mehr gefaſſt zu halten, als die
gezogene Summe betraͤgt, ſondern auch beſorgt
zu ſeyn, daß man in den Haupt-Oertern, durch
welche man koͤmmt, an ſichre Maͤnner addreſ¬
ſiert ſey, oder ſonſt Mittel habe, im Fall un¬
vorhergeſehene Umſtaͤnde eintreten, ſich aus der
Verlegenheit zu reiſſen.
InS 3[278]
In manchen Gegenden, beſonders im Rei¬
che, iſt es vortheilhafter, und geht dennoch eben
ſo ſchnell, (beſonders, wenn man nur wenig Ta¬
gereiſen macht, bevor man ſich in einer Stadt
verweilt) ſich durch ſogenannte Hauderer oder
Miethkutſcher fahren zu laſſen; in andern hin¬
gegen koͤmmt man am beſten mit Poſtpferden
fort. Im erſtern Falle iſt es nicht gut, einen
eigenen Wagen zu haben, wenigſtens iſt dann
ſelten Vortheil dabey. Es giebt aber auch Land¬
ſchaften, in welchen man am bequemſten und
nuͤtzlichſten zu Pferde reiſt, und andre, wo man
ſeinen Zweck am vollkommenſten erreicht, wenn
man zu Fuße wandert.
Leute von gewiſſem Stande pflegen Tag
und Nacht fortzurollen, ohne ſich unterwegens
aufzuhalten. Dies mag recht gut ſeyn, wenn
man die theuren Zehrungen in den Wirthshaͤu¬
ſern erſparen will, wenn man eilig iſt, um den
Ort ſeiner Beſtimmung zu erreichen, oder wenn
man mit den Gegenden, welche man durchreiſt,
ſchon ſo bekannt geworden, daß man da nichts
mehr ſehn kann, das unſrer Beobachtung werth
waͤre. Auſſer dem aber rathe ich lieber kleine
Rei¬[279] Reiſen aufmerkſam zu unternehmen, als große,
auf denen man bis in die Hauptſtaͤdte hinein
nur Poſtmeiſter und Poſtknechte kennen lernt.
Auch miſche man ſich, wenn es uns ein
Ernſt iſt, unſre Menſchen- und Laͤnder-Kennt¬
niß zu erweitern, unter Perſonen von allerley
Staͤnden! Die Leute von gutem Tone ſehen
einander in allen europaͤiſchen Staaten und Re¬
ſidenzen aͤhnlich, aber das eigentliche Volk, oder
noch mehr der Mittelſtand, traͤgt das Gepraͤge
der Sitten des Landes. Nach ihnen muß man
den Grad der Cultur und Aufklaͤrung beurtheilen.
Nicht in allen Provinzen von Teutſchland
ſind Wege und Poſt-Anſtalten gleich gut. Man
muß dies in genaue Erwaͤgung ziehn, und dar¬
nach ſeine Verfuͤgungen treffen, beſonders wenn
uns daran gelegen iſt, ſchnell fortzukommen.
Zum Reiſen gehoͤrt Geduld, Muth, guter
Humor, Vergeſſenheit aller haͤuslichen Sorgen,
und daß man ſich durch kleine widrige Zufaͤlle,
Schwierigkeiten, boͤſes Wetter, ſchlechte Koſt
und dergleichen nicht niederſchlagen laſſe. Dies
iſtS 4[280] iſt doppelt zu empfehlen, wenn man einen Ge¬
ſellſchafter bey ſich hat; denn nichts iſt langwei¬
liger und verdrießlicher, als mit einem Manne
zu reiſen und in Einem Kaſten eingeſperrt zu
ſitzen, der ſtumm und muͤrriſcher Laune iſt, bey
der geringſten unangenehmen Begebenheit aus
der Haut fahren will, uͤber Dinge jammert, die
nicht zu aͤndern ſind, und in jedem kleinen
Wirthshauſe ſo viel Gemaͤchlichkeit, Wohlleben
und Ruhe fordert, als er zu Hauſe hat.
Das Reiſen macht geſellig; Man wird da
mit Menſchen bekannt und auf gewiſſe Weiſe
vertraut, die wir auſſerdem ſchwerlich zu Ge¬
ſellſchaftern waͤhlen wuͤrden; das iſt auch weiter
von keinen Folgen, und ich brauche wohl uͤbri¬
gens nicht zu erinnern, daß man ſich huͤten muͤſ¬
ſe, in der Vertraulichkeit gegen Fremde, die
man unterwegens antrifft, zu weit zu gehn,
und dadurch Abentheurern und Spitzbuben in
die Haͤnde zu fallen.
Ich rathe niemand, ſich auf Reiſen einen
fremden Namen zu geben; Man kann dadurch,
ehe man ſich's verſieht, in große Verlegenheit
ge¬[281] gerathen, und ſelten iſt es noͤthig und nuͤtzlich,
ein ſolches Incognito zu beobachten.
Manche Leute ſuchen etwas darinn, auf
Reiſen zu prahlen, viel Geld zu verzehren,
glaͤnzen zu wollen, und praͤchtig gekleidet zu
ſeyn. Das iſt eine thoͤrichte Eitelkeit, die ſie
in den Wirthshaͤuſern theurer buͤßen muͤſſen,
ohne fuͤr ihr Geld mehr zu erhalten, als der ein¬
fache Reiſende. Niemand erinnert ſich weiter
des Fremden, der ſo viel Aufwand gemacht hat,
wenn Dieſer weiter gereiſt, und nichts mehr
von ihm zu ziehn iſt. Doch iſt es der Klugheit
gemaͤß, anſtaͤndig, und was man in Nieder¬
ſachſen rechtlich nennt, in ſeinem Aufzuge zu
ſeyn, ſich nicht zu vornehm und nicht zu demuͤ¬
thig, nicht zu reich und nicht zu arm ſtellen,
weil man ſonſt, in beyden Extremitaͤten, leicht
entweder fuͤr einen unwiſſenden Pinſel, deſſen
erſte Ausflucht dies iſt, und den man alſo nach
Gefallen prellen kann, oder fuͤr einen gewaltig
vornehmen Herrn, von dem etwas zu ziehn iſt,
oder fuͤr einen Aventurier angeſehn wird, dem
man aus dem Wege gehn, und der mit ſchlech¬
ter Bewirthung vorliebnehmen muß.
ManS 5[282]
Man ſpare auf der Reiſe nicht am unrechten
Orte! So gebe man, zum Beyſpiel, den Po¬
ſtillons zwar nicht uͤbertriebene, aber doch, nach
den Umſtaͤnden reichliche Trinkgelder! Sie ſa¬
gen ſich das Einer dem Andern auf den Statio¬
nen wieder; man koͤmmt dann ſchneller fort,
und hat manche Vortheile davon.
Teutsche Poſthalter, Wagenmeiſter und
Poſtknechte pflegen in dem Ruf einer ausgezeich¬
neten Grobheit zu ſeyn. Es koͤmmt aber alles
auf die Art an, wie man mit ihnen umgeht,
und ein ernſthaftes, von einer gewiſſen Wuͤrde
begleitetes Betragen und, wo es anzubringen
iſt, ein freundliches Wort, das wird bey dieſen
Leuten ſelten ohne gute Wuͤrkung angewendet.
Wenn man an dem Wagen etwas zerbricht,
ſo ſind mehrentheils in den Staͤdten die Hand¬
werksleute ſogleich bey der Hand, verſtehen ſich
auch wohl mit den Poſtillons, um den Scha¬
den fuͤr viel groͤßer auszugeben, als er iſt, und
deſto mehr Geld von uns zu ziehn. Ich rathe
desfalls, bey ſolchen Gelegenheiten alles ſelbſt
zu unterſuchen, oder durch treue Bedienten un¬
ter¬[283] terſuchen zu laſſen, bevor man Befehle zur Aus¬
beſſerung giebt.
Die Poſtknechte ſind groͤßtentheils von den
Gaſtwirthen beſtochen, oder ein Wirth verabredet
ſich mit dem andern in der nahe gelegenen Stadt,
um den Fremden gewiſſe Gaſthoͤfe zu empfehlen,
die darum aber weder immer die beſten, noch die
wohlfeilſten ſind. Es iſt daher vernuͤnftig, ſich
hierauf nicht zu verlaſſen, ſondern ſich bey an¬
dern ſichern Leuten zu erkundigen, wo man am
beſten und billigſten behandelt wird.
Die Bedienten, die man mit ſich auf Rei¬
ſen nimt, ſollen wohl darauf Acht geben, daß
die Poſtknechte, welche mit den Pferden zuruͤck¬
reiten, nicht, wie es vielfaͤltig geſchieht, Schwen¬
gel, Naͤgel oder andre Kleinigkeiten, die zum
Wagen gehoͤren, mitnehmen. Auch pflegen
Dieſe mit den Chauſſee-Aufſehern durchzuſtecken,
an den Weghaͤuſern vorbey zu fahren, unter
dem Vorwande, uns nicht aufhalten zu wollen,
nachher aber eine Rechnung zu machen, vermoͤge
deren wir doppelt ſo viel bezahlen muͤſſen, als
feſtgeſetzt iſt, und man gegeben haben wuͤrde,
wenn[284] wenn man das Weggeld jedesmal ſelbſt entrich¬
tet haͤtte.
Es iſt eine Gewohnheit der Poſtknechte,
in allen Staͤdten raſch zu fahren; eine Gewohn¬
heit, die ihren Nutzen hat, und gegen welche
man nicht eifern ſoll. Iſt nemlich an der Kut¬
ſche etwas zerbrechlich; ſo wuͤrde es beſſer ſeyn,
wenn es da vollends braͤche und riſſe, wo die
Huͤlfe nahe iſt, als auf ofner Straße. Haͤlt
aber das Fuhrwerk die Probe des Raſſelns auf
dem Steinpflaſter aus; ſo kann man hoffen,
damit an Ort und Stelle zu kommen.
Es iſt eine Regel der Klugheit, vorher mit
Handwerksleuten auf das Genaueſte zu accordie¬
ren, bevor man etwas ausbeſſern laͤſſt, oder
ſonſt Dinge, die zur Bequemlichkeit dienen, an
fremden Oertern anſchafft.
Wenn der Gaſtwirth uͤbermaͤßig viel fuͤr
die Zehrung fordert, und ſich nicht auf einen
ſtarken Abzug einlaſſen will; ſo thut man doch
nicht wohl, ihm ſchriftliche Rechnung und
genaue Specification jedes einzelnen Puncts
ab¬[285] abzufordern, es muͤſſte denn der Muͤhe werth
ſeyn, ihn bey der Policey zu belangen. Faͤngt
er an aufzuſchreiben; ſo rechnet er immer noch
mehr heraus, als er anfangs gefordert, und wer
kann denn mit einem ſolchen Taugenichts uͤber
die Preiſe der Lebensmittel ſich herumzanken?
Die Wirthe fragen uns gemeiniglich: was
wir zu eſſen befehlen? — Das iſt ein Kunſt¬
griff, durch den man ſich nicht fangen zu laſſen
braucht; Denn beſtellt man nun etwas, zum
Beyſpiel, ein Huhn, einen Pfannekuchen, oder
dergleichen; ſo muß man dies Gericht und noch
obendrein eine gewoͤhnliche Malzeit bezahlen.
Man thut da am beſten, zu antworten: man
verlange nichts, als was grade im Hauſe, oder
ſchon zubereitet ſey. Auch rathe ich, — ausge¬
nommen in ſo großen Gaſthoͤfen, als etwa in
Frankfurth am Mayn bey meinem ehrlichen
Krug, Herrn Dick, Fritſch, und in andern ſol¬
chen Haͤuſern — keine fremde Weine, ſondern
nur gemeinen Tiſchwein zu begehren. Es
koͤmmt doch alles aus dem nemlichen Faſſe, nur
mit dem Unterſchiede, daß das, was man uns
als alten oder fremden Wein verkauft, koſtbare¬
res[286] res Gift iſt, als das, womit man uns am all¬
gemeinen Wirthstiſche verſorgt. Und ſelbſt an
dieſer Wirthstafel zu ſpeiſen, iſt gewiß fuͤr einen
einzelnen Reiſenden wohlfeiler und unterhalten¬
der, als auf ſeinem Zimmer ſeiner eigenen Perſon
gegen uͤber zu ſitzen.
Wenn Poſtmeiſter, in Laͤndern, wo keine
gute Poſt-Ordnung herrſcht, uns mehr Pferde
aufdringen wollen, als billig, und zu Fortſchaf¬
fung unſers Fuhrwerks noͤthig iſt, ſey es nun
unter dem Vorwande von ſchlechten Wegen, boͤ¬
ſer Jahrszeit, oder daß unſre Kutſche zu ſchwer
ſey; ſo hilft es ſelten, wenn man ſich auf's
Bitten legt, oder ſein Recht, auf eben ſolche
Weiſe weiter befoͤrdert zu werden, als man ge¬
kommen iſt, ſtrenge behaupten will; denn jene
Leute wiſſen wohl, daß einem Fremden mehr
daran gelegen iſt, nicht aufgehalten zu werden,
als ſich zu verweilen, um einen Proceß bey dem
Ober-Poſtamte zu fuͤhren. Da indeſſen das
Vorſpannen mehrerer Pferde Folgen fuͤr alle uͤbri¬
gen Stationen hat: ſo pflegen ſich die Poſthal¬
ter, wenn ſie recht hoͤflich ſind, zu erbiethen,
uns einen ſchriftlichen Schein auszuſtellen, daß
dies[287] dies weiter nicht von Conſequenz ſeyn ſolle.
Hierauf aber laſſe man ſich nicht ein! Dies Do¬
cument hat keinen Nutzen; Auf der naͤchſten
Station wird man uns, wenn grade ein Paar
Pferde muͤſſig ſtehen, nichts deſto weniger eben
ſo viele vorſpannen, und uns wiederum einen
Schein anbiethen, der eben ſo unwuͤrkſam bleiben
wuͤrde, als der erſte. Das ſicherſte Mittel in
ſolchen Faͤllen iſt, entweder dem Wagenmeiſter
ein gutes Trinkgeld zu geben, und den Poſtillon,
welcher fahren ſoll, auf eben dieſe Art zu gewin¬
nen, oder aber ein oder zwey Pferde mehr zu
bezahlen, ohne ſie vorſpannen zu laſſen.
Wenn man Waſſer- Reiſen auf Stroͤhmen
macht, oder Hausrath auf dieſe Weiſe fortbrin¬
gen laͤſſt; ſo baue man nie auf die Verſprechun¬
gen der Schiffer, in Anſehung der Zeit, binnen
welcher ſie an Ort und Stelle ſeyn wollen! Sie
halten ſich mehrentheils unterwegens auf, um
noch mehr Fracht zu ihrem Profit aufzunehmen,
oder Schleichhandel zu treiben, wenn ſie heim¬
lich Kaufmannsguͤter mit eingeladen haben; es
muͤſſte denn uͤber dies alles der buͤndigſte ſchrift¬
liche Contract aufgeſetzt ſeyn.
Wer[288]
Wer zu Pferde reiſt, ſey es nun mit oder
ohne Reitknecht, der darf ſich nicht auf die Leute
in den Wirthshaͤuſern in Anſehung der Verpfle¬
gung ſeiner Cavallerie veranlaſſen, ſondern muß
ſelbſt beſorgt ſeyn, oder ſeine Bedienten dazu an¬
halten, daß die Pferde in einem guten, reinen
und geſunden Stalle, von fremden Gaͤulen ge¬
trennt, gehoͤrig gewartet und gefuͤttert werden.
Man unternehme keine weite Reiſe auf
Miethkleppern, wenn man nicht zuverlaͤſſig weiß,
daß die Pferde geſund und gut ſind, ein Paar
Tage vorher geruht haben, und friſch fortgehen;
Denn, wenngleich die Pferde-Verleyher ſehr
ernſthaft zu bitten pflegen: man moͤge ja dem
Gaule mit den Sporren nicht zu nahe kommen;
er ſey gewaltig feurig; ſo ſind doch dieſe feuri¬
gen Bucephalen oft mit Sporren, Peitſchen
und Verwuͤnſchungen nicht aus der Stelle zu
bringen.
Das Fußgehn iſt gewiß die angenehmſte
Art zu reiſen. Man genieſſt die Schoͤnheiten
der Natur; Man kann ſich ohnerkannt unter
allerley Leute miſchen, beobachten, was man
auſ¬[289] auſſerdem nicht erfahren wuͤrde; Man iſt un¬
gebunden; kann das freundlichſte Wetter und
den ſchoͤnſten Weg waͤhlen; ſich aufhalten, ein¬
kehren, wenn und wo man will; Man ſtaͤrkt
den Coͤrper; wird weniger erhitzt und geruͤttelt;
hat Apetit, hat Schlaf, und iſt, wenn Muͤdigkeit
und Hunger der Bewirthung das Wort reden,
leicht mit jeder Koſt und jedem Lager zufrieden.
Ich bin auf dieſe Weiſe einige Kreiſe von Teutſch¬
land verſchiedenemal durchwandert, und habe
unter andern auf ſolche Art die erſte genauere
Bekanntſchaft mit dem Paradieſe von Teutſch¬
land, mit der ſchoͤnen Pfalz gemacht. Hier wurde
der Entſchluß in mir reif, eine Zeitlang mich da
niederzulaſſen, wo ich nachher vier Jahre hin¬
durch ſo manche gluͤckliche Stunde in der herr¬
lichſten Gegend, an der Seite edler Menſchen
und unvergeßlich lieber Freunde, verlebt habe,
denen ich hier dies kleine Opfer treuer, dankba¬
rer Hochachtung bringe. Aber ich habe doch
auch gefunden, daß dieſe Art zu reiſen in Teutſch¬
land mit einiger Schwierigkeit verknuͤpft iſt.
Zuerſt hat man die Ungemaͤchlichkeit, nur wenig
Kleidungsſtuͤcke, Buͤcher, Schriften und ſo fer¬
ner mit ſich fuͤhren zu koͤnnen. Dieſem kann
man(Zweiter Th. ) T[290] man indeſſen dadurch einigermaßen abhelfen,
daß man, was etwa ein Bothe nicht tragen
kann, mit der Poſt in die Haupt-Oerter ſchickt,
durch welche man reiſen will. Allein eine zweyte
Unbequemlichkeit beſteht darinn, daß dieſe, in
Teutſchland fuͤr einen Mann von Stande unge¬
woͤhnliche Art zu reiſen, zu viel Aufmerkſamkeit
erregt, und daß die Gaſthalter nicht eigentlich
wiſſen, wie ſie uns behandeln ſollen. Iſt man
nemlich beſſer gekleidet, als gewoͤhnliche Fu߬
gaͤnger; ſo haͤlt man uns entweder fuͤr verdaͤch¬
tige Menſchen, fuͤr Abentheurer, oder fuͤr
Geizhaͤlſe; Man wird beobachtet, ausgefragt,
und mit Einem Worte! man paſſt nicht in den
Tarif, nach welchem die Wirthe ihre Fremden
zu taxieren pflegen. Iſt man aber ſchlecht ge¬
kleidet; ſo wird man, wie ein reiſender Hand¬
werkspurſche, in Dachſtuͤbchen und ſchmutzige
Betten einquartirt, oder man muß jedesmal
weitlaͤuftig erzaͤhlen, wer man iſt, und warum
man nicht mit Kutſchen und Pferden erſcheint.
Bey Fußreiſen iſt die Geſellſchaft eines ver¬
ſtaͤndigen und muntern Freundes vorzuͤglich
angenehm.
Man[291]
Man verlaſſe ſich nicht auf die Bauern,
wenn ſie uns Fußwege anzeigen, die naͤher als
die gewoͤhnlichen ſeyn ſollen! So wie uͤberhaupt
dieſe Menſchen voll Vorurtheile und Anhaͤng¬
lichkeit an alte Gewohnheiten ſind; ſo gehen ſie
auch immer die Wege, die vom Vater auf den
Sohn herab, als die naͤchſten ſind anerkannt wor¬
den, ohne daß ſie Augenmaß und Ueberlegung
gebrauchen, um die Irthuͤmer ihrer Voreltern zu
berichtigen.
3.
Ich komme jetzt zu dem Umgange mit be¬
trunkenen Leuten. Der Wein erfreuet des
Menſchen Herz, und wenn man dies Vehiculum
nicht als ein nothwendiges Beduͤrfniß, ohne
welches man durchaus nicht in frohe Laune zu
ſetzen iſt, ſondern als ein Erweckungsmittel
braucht, um in truͤben Augenblicken den natuͤr¬
lichen guten Humor, der nie ganz aus dem Ge¬
muͤthe eines ehrlichen Biedermanns weichen
darf, unter dem Schutte von haͤuslichen Sor¬
gen hervorzurufen; ſo habe ich nichts dagegen
einzuwenden, ſondern geſtehe vielmehr, daß ich
ſelbſt die wohlthaͤtige Wuͤrkung dieſer herrlichen
Arzeney aus dankbarer Erfahrung kenne. Al¬
T 2lein[292] lein kein Anblick iſt ſo wiedrig fuͤr den verſtaͤn¬
digen Mann, als der eines Menſchen, welcher
ſich durch ſtarke Getraͤnke um Sinne und Ver¬
nunft gebracht hat. Wenn dies aber auch nicht
der Fall iſt; — ſo bleibt es ſchon unangenehm,
der Einzige ganz Kaltbluͤtige in einer Geſell¬
ſchaft von Leuten zu ſeyn, die ſich durch ein
Glaͤschen uͤber die Gebuͤhr um einen Ton hoͤher
geſtimmt haben; und wenn man ſo den Tag
mit ernſthaften Geſchaͤften hingebracht hat, und
dann von ohngefehr des Abends in einen Cirkel
von ſolchen muntern Gaͤſten geraͤth; ſo iſt faſt
kein anders Mittel zu finden, oder man muͤſſte
denn von Natur immer zum Scherze aufgelegt
ſeyn, als ein wenig mit zu zechen, um ſich den
nemlichen Schwung zu geben.
Die Wuͤrkungen des Weins auf die Gemuͤ¬
ther der Menſchen ſind aber, nach ihren natuͤr¬
lichen Temperamenten, ſehr verſchieden. Man¬
che zeigen ſich aͤuſſerſt luſtig; Andre ſehr zaͤrt¬
lich, wohlwollend und offenherzig. Andre me¬
lancholiſch, ſchlaͤferig, verſchloſſen; Andre hin¬
gegen geſchwaͤtzig, und noch Andre zaͤnkiſch,
wenn ſie berauſcht ſind. Man thut wohl, der
Ge¬[293] Gelegenheit auszuweichen, mit Betrunkenen
von dieſer letztern Art in Geſellſchaft zu gera¬
then. Iſt dies aber nicht zu vermeiden; ſo
kann man doch darinn mehrentheils mit einem
vorſichtigen, nachgebenden und hoͤflichen Betra¬
gen, und dadurch, daß man ihnen nicht wieder¬
ſpricht, ſo ziemlich gut fortkommen. Daß man
auf das, was ein Menſch im Rauſche verſpricht,
nicht bauen duͤrfe; daß man ſich doppelt ernſt¬
lich huͤten muͤſſe, eine Ausſchweifung im Trunke
zu begehn, wenn man weiß, daß man einen boͤ¬
ſen Rauſch hat; daß es unedel gehandelt ſey,
dieſen ſchwachen Zuſtand eines Menſchen zu
nuͤtzen, um ihm Zuſagen oder Geheimniſſe zu
entlocken, und endlich, daß man mit Leuten, die
zu tief in die Flaſche geſchauet haben, keine
ernſthafte Sachen verhandeln muͤſſe — das ver¬
ſteht ſich wohl von ſelbſt.
Zwoͤlf¬T 3[294]
Zwoͤlftes Capittel.
Ueber die Art, mit Thieren umzugehn.
1.
In einem Buche uͤber den Umgang mit Men¬
ſchen ſcheint wohl freylich ein Capittel uͤber die
Art, mit Thieren umzugehn, nicht an ſeinem
Platze. Allein, was ich hieruͤber zu ſagen habe,
iſt ſo wenig, und hat doch im Ganzen ſo viel
Bezug auf das geſellſchaftliche Leben uͤberhaupt,
daß ich hoffen darf, man wird mir dieſe kleine
Ausſchweifung guͤtigſt verzeyhn.
2.
Der Gerechte erbarmet ſich auch ſeines Viehes
— Das iſt ein vortreflicher Spruch! ja! der edle,
der gerechte Mann martert kein lebendiges We¬
ſen. Wenn doch die hartherzigen, grauſamen,
oder, um billiger zu urtheilen, zum Theil nur
leichtſinnigen, verwilderten Menſchen, deren
Augen ſich an der Quaal eines raſtlos umher¬
getriebenen Hirſches, oder an der Todesangſt
eines in dem Schauplatze der Barbarey auf den
Tod gehetzten Viehes weiden koͤnnen; wenn die
Un¬[295] Unbeſonnenen, die mit dem Leben eines armen
Geſchoͤpfs, das in ihre kindiſchen Haͤnde faͤllt,
wie mit einem Balle ſpielen, Fliegen und Kaͤ¬
fern Beine ausreiſſen, oder ſie ſpieſſen, um zu
ſehn, wie lange ein alſo leidendes Thier in con¬
vulſiviſcher Pein fortleben kann; Wenn die
vornehmen Muͤßiggaͤnger, die, um die Ehre zu
haben, am ſchnellſten der lieben Langeweile in
den Rachen zu reiten oder zu fahren, ihre armen
Pferde auf den Tod jagen; wenn Dieſe und
Alle, die nicht erweicht werden durch den An¬
blick der geaͤngſteten, duldenden, von dem grau¬
ſamſten aller Raubthiere, von dem Menſchen,
mit kaltem Blute, nicht aus Hunger, ſondern
aus Muthwillen nur gemarterten Creatur; nicht
erweicht werden durch das anklagende Seufzen
und Winſeln dieſer ungluͤcklichen Geſchoͤpfe, zu
ihrem und unſern gemeinſchaftlichen Schoͤpfer;
wenn ſie doch nur bedenken wollten, daß dieſe
Thiere zwar zu unſrer Nahrung auf der Erde
ſind, nicht aber, um von uns gepeinigt zu wer¬
den, und das ſelbſt kein Engel das Recht haben
koͤnnte, mit dem Leben eines Geſchoͤpfs, dem
Gott einen Othem eingeblaſen hat, ſein Spiel¬
werk zu treiben; daß dies Verſuͤndigung an
demT 4[296] dem Vater aller lebendigen Weſen iſt; daß ein
Thier eben ſo ſchmerzhaft, Mishandlung, bar¬
bariſchen Misbrauch groͤßerer Staͤrke und Wehe
fuͤhlt, als wir, und vielleicht noch lebhafter,
da ſeine ganze Exiſtenz auf ſinnliche Empfindun¬
gen beruht; daß dieſe Exiſtenz vielleicht ſeine
erſte Stufe iſt, um, auf der Leiter der Schoͤpfung
dahinauf zu ſteigen, wo wir itzt ſtehen; daß
Grauſamkeit gegen unvernuͤnftige Weſen ohn¬
merklich zur Haͤrte und Grauſamkeit gegen unſre
vernuͤnftigen Nebengeſchoͤpfe fuͤhrt — Wenn
ſie doch das alles fuͤhlen, und ihr Herz dem ſanf¬
ten Mitleiden gegen alle Creaturen eroͤfnen
wollten!
3.
Doch wuͤnſche ich, man moͤge dieſe Ex¬
clamationen nicht auf die Rechnung einer abge¬
ſchmackten Empfindeley ſchreiben. Es giebt ſo
zarte Maͤnnlein und Weiblein, die gar kein
Blut ſehn koͤnnen, die zwar mit großem Apetit
ihr Rebhuͤhnchen verzehren; aber ohnmaͤchtig
werden wuͤrden, wenn ſie eine Taube abſchlach¬
ten ſehn muͤſſten; Leute, deren Federn und Zun¬
gen mit moraliſchem Gifte und Dolche den Freund
und[297] und Bruder verfolgen, aber mitleidig einer mat¬
ten Fliege das Fenſter oͤfnen, damit ſie fern von
ihren Augen — zertreten werden koͤnne, die
ihre Bedienten in dem rauheſten Wetter ohne
Noth ſtundenlang umherjagen, aber dagegen
herzlich den armen Sperling bedauern, der,
wenn es regnet, ohne Parapluͤ und Ueberrock,
herumfliegen muß. Zu dieſen ſuͤßen Seelchen
gehoͤre ich nicht, halte auch nicht alle Jaͤger fuͤr
grauſame Menſchen — Es muß ja dergleichen
Leute geben, ſo wie wir, wenn keine Schlaͤchter in
der Welt waͤren, blos von Speiſen aus dem Pflan¬
zenreiche leben muͤſſten — Aber ich verlange nur,
daß man nicht ohne Zweck und Nutzen Thiere
martern noch ein vornehmes Vergnuͤgen darinn
ſuchen ſolle, mit wehrloſen Geſchoͤpfen einen
ungleichen Krieg zu fuͤhren.
4.
Ich habe immer nicht begreifen koͤnnen,
welche Freude man daran haben kann, Thiere
in Kefigen und Kaſten einzuſperren. Der An¬
blick eines lebendigen Weſens, das auſſer Stand
geſetzt iſt, ſeine natuͤrlichen Kraͤfte zu nuͤtzen
und zu entwickeln, darf keinem verſtaͤndigen
T 5Man¬[298] Manne Freude gewaͤhren. Wer mir daher
einen ſchoͤnen Vogel in einem Bauer ſchenken
will, dem kann ich vorherſagen, daß das einzige
Vergnuͤgen, welches er mir dadurch verſchaffen
kann, das ſeyn wird, ſein Baur zu oͤfnen, und
das arme Thier aus der Sclaverei in Gottes
freye Luft hinausfliegen zu laſſen; Auch iſt eine
Menagerie, in welcher wilde Thiere mit großen
Koſten in kleinen Verſchlaͤgen aufbewahrt wer¬
den, meiner Meinung nach, ein ſehr aͤrmlicher
Gegenſtand der Unterhaltung.
5.
Noch abgeſchmackter aber ſcheint es mir,
wenn man ſich an einem Vogel ergoͤtzt, der ſei¬
nen ſchoͤnen wilden Geſang hat vergeſſen muͤſ¬
ſen, um vom Morgen bis zu dem Abend die
Melodie einer elenden Polonaiſe zu pfeifen, oder
wenn man Geld ausgiebt, um einen Hund zu
ſehn, den man gelehrt hat, einen Reverenz wie
ein Tanzmeiſter zu machen, und auf den Wink
ſeines Meiſters anzudeuten, wie viel ſchoͤne
Junggeſellen in der Verſammlung ſind.
6.[299]
6.
Habe ich aber diejenigen getadelt, die grau¬
ſam gegen Thiere verfahren; ſo muß ich doch
auch ſagen, daß Andre in die entgegengeſetzte
Uebertreibung fallen, indem ſie mit dem Viehe,
wie mit Menſchen umgehen. Ich kenne Da¬
men, die ihre Katze zaͤrtlicher umarmen, als ihre
Ehegatten; junge Herrn, die ihren Pferden
ſorgſamer aufwarten, als ihren Oheimen und
Baaſen, und Maͤnner, die gegen ihre Hunde
mehr Zaͤrtlichkeit, Schonung und Nachſicht be¬
weiſen, als gegen ihre Freunde, welches denn
nun freylich ein Verfahren iſt, welches ich eben
ſo wenig billigen kann.
Drey¬[300]
Dreyzehntes Capittel.
Ueber den Umgang mit ſich ſelbſt.
1.
Die Pflichten gegen uns ſelbſt ſind die wichtig¬
ſten und erſten, und alſo der Umgang mit unſrer
eigenen Perſon gewiß weder der unnuͤtzeſte,
noch unintereſſanteſte. Es iſt daher nicht zu
verzeyhn, wenn man ſich immer unter andern
Menſchen umhertreibt, uͤber den Umgang mit
Menſchen ſeine eigene Geſellſchaft vernachlaͤſſigt,
gleichſam vor ſich ſelber zu fliehn ſcheint, ſein
eigenes Ich nicht cultiviert, und ſich doch ſtets
um fremde Handel bekuͤmmert. Wer taͤglich her¬
umrennt, wird fremd in ſeinem eigenen Hauſe;
Wer immer in Zerſtreuungen lebt, wird fremd
mit ſeinem eigenen Herzen, muß im Gedraͤnge
muͤßiger Leute ſeine innere Langeweile zu toͤdten
trachten, buͤßt das Zutrauen zu ſich ſelber ein,
und iſt verlegen, wenn er ſich einmal vis à vis
de foi-même befindet. Wer nur ſolche Cirkel
ſucht, in welchen er geſchmeichelt wird, verliehrt
ſo ſehr den Geſchmack an der Stimme der Wahr¬
heit, daß er dieſe Stimme zuletzt nicht einmal
mehr[301] mehr aus ſich ſelber hoͤren mag; Er rennt dann
lieber, wenn das Gewiſſen ihm dennoch unan¬
genehme Dinge ſagt, fort, in das Getuͤmmel
hinein, wo dieſe wohlthaͤtige Stimme uͤber¬
ſchrien wird.
2.
Huͤte Dich alſo, Deinen treueſten Freund,
Dich ſelber, ſo zu vernachlaͤſſigen, daß dieſer
treue Freund Dir den Ruͤcken kehre, wenn Du
Seiner am noͤthigſten bedarfſt. Ach! es kom¬
men Augenblicke, in denen Du Dich ſelbſt nicht
verlaſſen darfſt, wenn Dich auch jedermann ver¬
laͤſſt; Augenblicke, in welchen der Umgang mit
Deinem Ich der einzige troͤſtliche iſt — Was
wird aber in ſolchen Augenblicken aus Dir wer¬
den, wenn Du mit Deinem eigenen Herzen
nicht in Frieden lebſt, und auch von dieſer Seite
aller Troſt, alle Huͤlfe Dir verſagt wird?
3.
Willſt Du aber im Umgange mit Dir
Troſt, Gluͤck und Ruhe finden; ſo muſſt Du
eben ſo vorſichtig, redlich, fein und gerecht mit
Dir ſelber umgehn, als mit Andern, alſo daß
Du[302] Du Dich weder durch Mishandlung erbitterſt
und niederdruͤckeſt, noch durch Vernachlaͤſſigung
zuruͤckſetzeſt, noch durch Schmeicheley verderbeſt.
4.
Sorge fuͤr die Geſundheit Deines Leibes
und Deiner Seele; aber verzaͤrtele beyde nicht!
Wer auf ſeinen Coͤrper losſtuͤrmt; der verſchwen¬
det ein Gut, welches oft allein hinreicht, ihn
uͤber Menſchen und Schickſal zu erheben, und
ohne welches alle Schaͤtze der Erde eitle Bettel-
Waare ſind. Wer aber jedes Luͤftchen fuͤrchtet,
und jede Anſtrengung und Uebung ſeiner Glie¬
der ſcheuet; der lebt ein aͤngſtliches, nervenloſes
Auſter-Leben, und verſucht es vergeblich, die
verroſteten Federn in den Gang zu bringen,
wenn er in den Fall koͤmmt, ſeiner natuͤrlichen
Kraͤfte zu beduͤrfen. Wer ſein Gemuͤth ohne
Unterlaß dem Sturme der Leidenſchaften preis¬
giebt, oder die Seegel ſeines Geiſtes unaufhoͤr¬
lich ſpannt; der rennt auf den Strand, oder
muß mit abgenutztem Feuerzeuge nach Hauſe
lavieren, wenn grade die beſte Jahrszeit zu neuen
Entdeckungen eintritt. Wer aber die Facultaͤ¬
ten ſeines Verſtandes und Gedaͤchtniſſes immer
ſchlum¬[303] ſchlummern laͤſſt, oder vor jedem kleinen Kam¬
pfe, vor jeder Art von weniger angenehmen An¬
ſtrengung zuruͤckbebt, der hat nicht nur wenig
wahren Genuß, ſondern iſt auch ohne Rettung
verlohren, da wo es auf Kraft, Muth und
Entſchloſſenheit ankoͤmmt.
Huͤte Dich vor eingebildeten Leiden des
Leibes und der Seele! Laß Dich nicht gleich
niederbeugen von jedem wiedrigen Vorfalle,
von jeder coͤrperlichen Unbehaglichkeit! Faſſe
Muth! Sey getroſt! Alles in der Welt geht
voruͤber; alles laͤſſt ſich uͤberwinden, durch Stand¬
haftigkeit; alles laͤſſt ſich vergeſſen, wenn man
ſeine Aufmerkſamkeit auf einen andern Gegen¬
ſtand heftet.
5.
Reſpectire Dich ſelbſt, wenn Du willſt,
daß Andre Dich reſpectieren ſollen! Thue nichts
im Verborgenen, deſſen Du Dich ſchaͤmen muͤſſ¬
teſt, wenn es ein Fremder ſaͤhe. Handle, weniger
Andern zu gefallen, als um Deine eigene Ach¬
tung nicht zu verſcherzen, gut und anſtaͤndig!
Selbſt in Deinem Aeuſſern, in Deiner Kleidung
ſieh[304] ſieh Dir nicht nach, wenn Du allein biſt! Gehe
nicht ſchmutzig, nicht lumpicht, nicht unrecht¬
licht, nicht krumm, noch mit groben Manieren
einher, wenn Dich niemand beobachtet! Mis¬
kenne Deinen eigenen Werth nicht! Verliehre
nie die Zuverſicht zu Dir ſelber, das Bewuſſt¬
ſeyn Deiner Menſchen-Wuͤrde, das Gefuͤhl,
wenn nicht eben ſo weiſe und geſchickt als manche
Andre zu ſeyn, doch weder an Eifer es zu wer¬
den, noch an Redlichkeit des Herzens irgend je¬
mand nachzuſtehn!
6.
Verzweifle nicht, werde nicht mismuͤthig,
wenn Du nicht die moraliſche oder intellectuelle
Hoͤhe erreichen kannſt, auf welcher ein Andrer
ſteht, und ſey nicht ſo unbillig, andre gute Sei¬
ten an Dir zu uͤberſehn, die Du vielleicht vor
Jenem voraus haben magſt! — Und waͤre das
auch nicht der Fall! Muͤſſen wir denn Alle
groß ſeyn?
Stimme Dich auch herab von der Begierde
zu herrſchen, eine glaͤnzende Haupt-Rolle zu
ſpielen. Ach wuͤſſteſt Du wie theuer man das
oft[305] oft erkaufen muß! Ich begreife es wohl, dieſe
Sucht, ein großer Mann zu ſeyn, iſt bey dem
innern Gefuͤhle von Kraft und wahrem Werthe
ſchwer abzulegen. Wenn man ſo unter mittel¬
maͤßigen Geſchoͤpfen lebt, und ſieht, wie wenig
Dieſe erkennen und ſchaͤtzen, was in uns iſt,
wie wenig man uͤber ſie vermag, wie die elen¬
deſten Pinſel, die alles im Schlafe erlangen,
aus ihrer Herrlichkeit herunterblicken — Ja!
es iſt wohl freylich hart! — Du verſuchſt es in
allen Faͤchern; Im Staate geht es nicht; Du
willſt in Deinem Hauſe groß ſeyn; aber es fehlt
Dir an Gelde, an dem Beyſtande Deines Wei¬
bes; Deine Laune wird von haͤuslichen Sorgen
niedergedruͤckt; und ſo geht denn alles den Wer¬
keltags-Gang; Du empfindeſt tief, wie ſo alles
in Dir zu Grunde geht; Du kannſt Dich durch¬
aus nicht entſchlieſſen, ein gemeiner Kerl zu
werden, in der Fuhrmanns-Gleiſe fortzuziehn
— Das alles fuͤhle ich mit Dir; Allein verliehre
doch darum nicht den Muth, den Glauben an
Dich ſelbſt und an die Vorſehung! Gott be¬
wahre Dich vor dieſem vernichtenden Ungluͤcke!
Es giebt eine Groͤße — und wer die erreichen
kann, der ſteht hoch uͤber Alle — Dieſe Groͤße
(Zweiter Th.) Uiſt[306] iſt unabhaͤngig von Menſchen, Schickſalen und
aͤuſſerer Schaͤtzung. Sie beruht auf innerem
Bewuſſtſeyn; und ihr Gefuͤhl verſtaͤrkt ſich, je
weniger ſie erkannt wird.
7.
Sey Dir ſelber ein angenehmer Geſellſchaf¬
ter! Mache Dir keine Langeweile! das heiſſt:
Sey nie ganz muͤſſig! Lerne Dich ſelbſt nicht
zu ſehr auswendig; ſondern ſammle aus Buͤ¬
chern und Menſchen neue Ideen! Man glaubt
es gar nicht, welch' ein eintoͤniges Weſen man
wird, wenn man ſich immer in dem Cirkel ſei¬
ner eigenen Lieblings-Begriffe herumdreht, und
wie man dann alles wegwirft, was nicht unſer
Siegel an der Stirne traͤgt.
8.
Es iſt aber nicht genug, daß Du Dir ein
lieber, angenehmer und unterhaltender Geſell¬
ſchafter ſeyeſt, Du ſollſt Dich auch, fern von
Schmeicheley, als Deinen eigenen treueſten und
aufrichtigſten Freund zeigen, und wenn Du eben
ſo viel Gefaͤlligkeit gegen Deine Perſon als ge¬
gen Fremde haben willſt; ſo iſt es auch Pflicht,
eben[307] eben ſo ſtrenge gegen Dich als gegen Andre zu
ſeyn. Gewoͤhnlich erlaubt man ſich alles, ver¬
zeyht ſich alles, und Andern nichts; giebt bey
eigenen Fehltritten, wenn man ſie auch dafuͤr
anerkennt, dem Schickſale, oder unwiederſteh¬
lichen Trieben die Schuld, iſt aber weniger to¬
lerant gegen die Verirrungen ſeiner Bruͤder —
Das iſt nicht gut gethan.
9.
Miß auch nicht Dein Verdienſt darnach
ab, daß Du ſageſt: „ich bin beſſer, als Dieſer
„und Jener, von gleichem Alter, Stande, und
„ſo ferner;“ ſondern nach den Graden Deiner
Faͤhigkeiten, Anlagen, Erziehung, und der Ge¬
legenheit, die Du gehabt haſt, weiſer und beſſer
zu werden, als Viele. Halte hieruͤber oft in
einſamen Stunden Abrechnung mit Dir ſelber,
und frage Dich als ein ſtrenger Richter, wie
Du alle dieſe Winke zu hoͤherer Vervollkom¬
mung genuͤtzt habeſt!
Vier¬U2[308]
Vierzehntes Capittel.
Ueber das Verhaͤltniß zwiſchen Schrift¬
ſteller und Leſer.
1.
Ich halte es fuͤr billig, bevor ich die Werk
uͤber den Umgang mit Menſchen beſchlieſſe, mit
meinen Leſern auch ein Paar Worte uͤber unſre
wechſelſeitigen Verhaͤltniſſe gegen einander zu
reden. Zuerſt alſo einige Bemerkungen uͤber
den Beruf, den ein Mann haben kann, ein
Buch zu ſchreiben!
Es iſt in der Vorrede zum erſten Theile
geſagt worden, daß ich Schriftſtellerey in unſern
Zeiten fuͤr nichts mehr, als fuͤr ſchriftliche Un¬
terredung mit der Leſewelt halte, und daß man
es dann im freundſchaftlichen Geſpraͤche ſo genau
nicht nehmen duͤrfe, wenn auch einmal ein un¬
nuͤtzes Wort mit unterliefe. Man ſoll es alſo
dem Schriftſteller nicht uͤbel ausdeuten, wenn
er, verfuͤhrt von ein wenig Geſchwaͤtzigkeit, von
der Begierde, uͤber irgend eine Materie allerley
Arten von Menſchen ſeine Gedanken mitzuthei¬
len,[309] len, etwas drucken laͤſſt, das nicht grade die
Quinteſſenz von Weisheit, Witz, Scharfſinn
und Gelehrſamkeit enthaͤlt. Es iſt uͤberhaupt
ſehr viel ſchwerer als man glauben ſollte, ſeine
eigenen Producte zu beurtheilen; Nicht nur
weil unſre Eitelkeit da in das Spiel koͤmmt;
ſondern auch weil die Objecte, uͤber deren Be¬
obachtung wir lange gebruͤtet, fuͤr uns, eben
durch das Nachdenken, welches wir darauf ver¬
wendet, einen ſolchen Werth bekommen haben
koͤnnen, daß wir unſre Gedanken daruͤber fuͤr
aͤuſſerſt wichtig halten, indeß einem Andern,
was wir auch davon ſagen moͤgen unwichtig und
gemein vorkoͤmmt. Und haben wir etwa gar
Sprache und Beredſamkeit nicht in unſrer Ge¬
walt; oder ſind verſtimmt zu der Zeit, wenn
wir unſre Gedanken zu Papier bringen wollen;
oder vergeſſen, daß der Gegenſtand, uͤber wel¬
chen wir ſchreiben, nur durch kleine ſpecielle Be¬
ziehungen auf unſre dermalige Lage, die ſich
nicht mit uͤbertragen laſſen, uns am Herzen
liegt; oder dies Herz iſt zu voll, um, was es
empfindet, nach der Reyhe hererzaͤhlen zu koͤn¬
nen; ſo geſchieht es, daß wir etwas ſchreiben,
welches uns, die wir alle Neben-Begriffe daran
knuͤ¬U 3[310] knuͤpfen, die dazu gehoͤren das Bild auszumalen,
ſehr intereſſant ſcheint, jeden Andern aber jaͤh¬
nen macht und mit Unwillen gegen uns erfuͤllt.
Indem es nun desfalls leicht geſchehn kann, daß
ſelbſt ein verſtaͤndiger Mann, von Eitelkeit ge¬
blendet, oder durch jene Gefuͤhle irregeleitet, ein
Buch ſchreibt, das andre Menſchen fuͤr ein un¬
nuͤtzes und langweiliges Buch halten; ſo kann
und darf es doch nie einen verſtaͤndigen Manne
begegnen, etwas oͤffentlich vor dem Publico zu
reden, das gegen Moralitaͤt und geſunde Ver¬
nunft ſtritte, oder wodurch er einem ſeiner Mit¬
menſchen Schaden zufuͤgte. Denn wenn gleich
Schriftſtellerey nur Unterredung iſt; ſo iſt ſie
doch eine ſolche Unterredung, auf welche man
ſich ſo lange Zeit zu beſinnen Muße gehabt hat,
als dazu gehoͤrt, jeden unſittlichen, ganz ſchiefen
und boshaften Gedanken zu unterdruͤcken. Ich
meine daher, alles was das Publicum von ei¬
nem Schriftſteller, der ohne zu weit getriebene
Anſpruͤche auftritt, fordern kann, iſt, daß er
durch ſeine Werke nichts dazu beytrage, Corrup¬
tion, Dummheit und Intoleranz zu verbreiten.
Alles Uebrige: Beruf zu ſchreiben; Wahl
des Gegenſtands; Einkleidung; Anſpruͤche auf
Ruhm,[311] Ruhm, Beyfall, Lob; zu ſtiftender Nutzen;
einzunehmender Gewinn; Hofnung auf Un¬
ſterblichkeit — das alles iſt ſeine Sache, und
es geht auf ſeine Gefahr, wenn er ſich dem
Schimpfe ausſetzt, entweder in der Stille zu
Fuße vom Parnaſſe wieder herunterſchleichen zu
muͤſſen, oder von der Meute der Rezenſenten
parforce gejagt zu werden.
2.
Wenn alſo ein Autor nichts Schaͤdliches
und nichts Unſinniges ſagt; ſo muß man ihm
erlauben, ſeine Gedanken drucken zu laſſen;
Wenn er etwas Nuͤtzliches ſagt, ſo macht er ſich
ein Verdienſt um das Publicum — Aber wird
deswegen ſein Buch auch gewiß gefallen? Das
iſt wieder eine ganz andre Frage. Allgemeiner
Beyfall, von Guten und Boͤſen, von Weiſen
und Thoren, von Hohen und Niedern? — Ey
nun! wer wird ſo eitel ſeyn, darauf Anſpruch
zu machen? Aber um auch nur dem groͤßten
Theile der Leſewelt zu gefallen; welche niedrige
Mittel waͤhlt da nicht mancher Schriftſteller?
— Wer ſich nicht, in Anſehung der Form, der
Einkleidung, des Titels ſeines Buchs, nach dem
U 4Ge¬[312] Geſchmacke des Jahrs richtet; Wer keine Annec¬
doͤtgen einmiſcht; Wer nicht dafuͤr ſorgt, daß
ſein Werckgen huͤbſch fein gedruckt und mit Bild¬
lein ausgeziert ſey; Wer herrſchende Vorurtheile,
Mode-Syſteme, glaͤnzende Thorheiten, politi¬
ſchen, kirchlichen, gelehrten und moraliſchen Des¬
potismus angreift, oder laͤcherlich macht; Wer
ſich einen Verleger waͤhlt, auf den die andern
Buchhaͤndler neidiſch, dem ſie feind ſind; Wer
ſich nicht demuͤthig unter den Schutz irgend ei¬
nes gelehrten Poſaunen-Blaſers begiebt; Wer
nicht die Schreyer im Publico und Die, welche
in der feinen Welt den Ton angeben, zu gewin¬
nen ſucht; Wer zu beſcheiden auftritt; Wer
ſein Buch einem Manne widmet, oder in dem¬
ſelben einem Manne Gerechtigkeit wiederfahren
laͤſſt, deſſe.. Verdienſte beneidet, verfolgt werden
— der wird, wenigſtens in dieſer Generation,
ſein Gluͤck als Autor nicht machen, und auch
ſein nuͤtzlichſtes Werk bald als Maculatur behan¬
delt ſehn. Ich rathe daher, die unſchuldigſten
unter dieſen kleinen Autorkuͤnſten nicht gaͤnzlich
zu vernachlaͤſſigen.
3.[313]
3.
Reden wir jezt aber auch von dem Betra¬
gen, von den Pflichten des Leſers gegen den
Schriftſteller! Zuerſt ſoll, denke ich, Jener nie
vergeſſen, daß Dieſer ſich nicht nach dem Ge¬
ſchmacke jedes Einzelnen richten kann. Was
fuͤr Dich, in Deiner Lage, in Deiner Stimmung,
hoͤchſt intereſſant iſt, das ſcheint einem Andern
vielleicht aͤuſſerſt langweilig und unbedeutend,
und wahrlich der Mann muͤſſte ein Hexenmei¬
ſter ſeyn, der ein Buch verfaſſen koͤnnte, in
welchem Jeder fuͤr ſein Paar Groſchen faͤnde,
was er ſuchte. Es giebt Buͤcher, die man
durchaus nur dann leſen muß, wenn man eben
ſo geſtimmt iſt, als der Mann war, der ſie
ſchrieb, ſo wie es auch andre giebt deren Sinn
und Schoͤnheit man immer, in jeder Laune, faſ¬
ſen, und ſich eigen machen kann. Nicht immer
ſind darum Jene geiſtvoll, groß und erhaben
von Inhalte, noch im Gegentheil immer ſchwaͤr¬
meriſch und fieberhaft. Nicht immer enthalten
darum Dieſe lauter beſtimmte, ewige Wahrhei¬
ten, auf kalte, unwiederlegbare, allein des voll¬
kommnen Mannes wuͤrdige, unerſchuͤtterliche
Philoſophie gegruͤndet, oder, im Gegentheile,
U 5nicht[314] nicht immer gemeine, ohne Muͤhe leicht zu ver¬
dauende Seelen-Speiſe. Sey alſo nicht zu
ſtrenge, mein gelehrtes Leſerlein! in Beurthei¬
lung eines ſonſt nicht ſchlecht geſchriebenen Buchs!
oder behalte wenigſtens Deine Meinung daruͤber
in Deinem Kopfe, in welchem oft viel leerer
Raum iſt, und verſchreye das Buch nicht! Am
wenigſten aber laß Dich verleiten, den morali¬
ſchen Character des Schriftſtellers, auf bloße
Muthmaßung, bey dieſer Gelegenheit anzugrei¬
fen, ihm ſchaͤdliche Abſichten beyzumeſſen, ſeinen
Worten einen erzwungenen Sinn zu geben,
und ſeine Winke haͤmiſch auszudeuten! Beur¬
theile nicht ein Buch, wenn Du nur einzelne
Stellen daraus geleſen haſt, und bethe nicht
das Lob und den Tadel unwiſſender, boshafter,
oder feiler Rezenſenten nach!
Funf¬[315]
Funfzehntes Capittel.
Noch einige allgemeine Vorſchriften fuͤr
den Umgang mit Menſchen.
1.
Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach
dem Scheine der Vollkommenheit und Ohnfehl¬
barkeit! Die Menſchen beurtheilen und richten
Dich nach dem Maßſtabe Deiner Praͤtenſionen,
und ſie ſind noch billig, wenn ſie nur das thun,
wenn ſie Dir nicht Praͤtenſionen aufbuͤrden.
Dann heiſſt es, wenn Du auch nur des klein¬
ſten Fehlers Dich ſchuldig machſt: „Einem ſol¬
„chen Manne iſt das gar nicht zu verzeyhn;“
und da die Schwachen ſich ohnehin ein Feſt dar¬
aus machen, an einem Menſchen, der ſie ver¬
dunkelt, Maͤngel zu entdecken; ſo wird Dir ein
einziger Fehltritt hoͤher angerechnet, als Andern
ein ganzes Regiſter von Bosheiten und Pin¬
ſeleyen.
2.
Sey aber nicht gar zu ſehr ein Sclave
der Meinungen Andrer von Dir! Sey ſelbſt¬
ſtaͤn¬[316] ſtaͤndig! Was kuͤmmert Dich am Ende das Ur¬
theil der ganzen Welt, wenn Du thuſt, was
Du ſollſt? und was iſt Deine ganze Garderobe
von aͤuſſern Tugenden werth, wenn Du dieſen
Flitterputz nur uͤber ein ſchwaches, niedriges
Herz haͤngſt, um in Geſellſchaften Staat damit
zu machen?
3.
Enthuͤlle nie auf unedle Art die Schwaͤ¬
chen Deiner Nebenmenſchen, um Dich zu er¬
heben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen
an das Tageslicht, um auf ihre Unkoſten zu
ſchimmern!
4.
Schreibe nicht auf Deine Rechnung das,
wovon Andern das Verdienſt gebuͤhrt! Wenn
man Dir, aus Achtung gegen einen edeln Mann,
dem Du angehoͤrſt, Vorzug oder Hoͤflichkeit be¬
weiſt; ſo bruͤſte Dich damit nicht; ſondern ſey
beſcheiden genug, zu fuͤhlen, daß dies alles viel¬
leicht wegfallen wuͤrde, wenn Du einzeln auf¬
traͤteſt! Suche aber ſelbſt zu verdienen, daß
man Dich um Deinetwillen ehre! Sey lieber
das[317] das kleinſte Laͤmpgen, das einen dunkeln Win¬
kel mit eigenem Lichte erleuchtet, als ein großer
Mond er fremden Sonne, oder gar Trabant
eines Planeten!
5.
Sey ſtrenge puͤnctlich, ordentlich, arbeit¬
ſam, fleiſſig in Deinem Berufe, treu im Wort¬
halten! Bewahre Deine Papiere, Deine Schluͤſ¬
ſel und alles ſo, daß Du jedes einzelne Stuͤck
auch im Dunkeln finden koͤnneſt! Verfahre noch
ordentlicher mit fremden Sachen! Verleyhe nie
Buͤcher, oder andre Dinge, die Dir geliehn wor¬
den! — Jedermann geht gern mit einem Men¬
ſchen um, und treibt Geſchaͤfte mit ihn, wenn
man ſich auf ſeine Puͤnctlichkeit in Wort und
That verlaſſen kann.
6.
Mache einigen Unterſchied in Deinem aͤuſ¬
ſern Betragen, gegen die Menſchen, mit denen
Du umgehſt, in den Zeichen von Achtung, die
Du ihnen beweiſeſt! Reiche nicht Jedem Deine
rechte Hand dar! Umarme nicht Jeden! Druͤ¬
cke nicht Jeden an Dein Herz! Was bewahrſt
Du[318] Du den Beſſern und Geliebten auf, und wer
wird Deinen Freundſchafts-Bezeugungen trauen,
ihnen Werth beylegen, wenn [Du] ſo verſchwen¬
deriſch in Austheilung derſelben biſt?
7.
Sey, was Du biſt, immer ganz, und im¬
mer der Nemliche! Nicht heute warm, morgen
kalt; heute grob, morgen hoͤflich und zuckerſuͤß;
heute der luſtige Geſellſchafter, morgen trocken
und ſtumm, wie eine Bildſaͤule! Mit ſolchen
Leuten iſt uͤbel umzugehn; Sie uͤberhaͤufen uns,
wenn ſie grade in guter Laune ſind, oder niemand
um ſich haben, der vornehmer als wir, oder
ſpashafter, oder ein groͤßerer Schmeichler iſt,
mit allen Zeichen der herzlichſten, vertraulich¬
ſten Freundſchaft. Wir bauen darauf, und
wollen wenig Tage nachher den Mann wieder
beſuchen, der uns ſo gern bey ſich ſieht, der uns
ſo freundlich eingeladen hat, recht oft zu kom¬
men. Wir gehen hin, und werden nun ſo fro¬
ſtig und verdrießlich empfangen, oder man laͤſſt
uns ohne Unterhaltung in einer Ecke ſitzen, ant¬
wortet uns nur mit abgebrochenen Silben, weil
man grade von Creaturen umgeben iſt, die mehr
Wey¬[319] Weyrauch ſpenden, als wir. Von ſolchen Men¬
ſchen muß man ſich ohnmercklich zuruͤckziehn,
und wenn ſie nachher in einem Augenblicke von
Langerweile uns wieder aufſuchen, gleichfals ge¬
gen ſie den Sproͤden machen, und ihnen unter
den Haͤnden fortſchluͤpfen.
8.
Rede nicht zu viel von Dir ſelber, auſſer
in dem Cirkel Deiner vertrauteſten Freunde, von
welchen Du weiſſt, daß die Sache des Einen
unter ihnen, eine Angelegenheit fuͤr Alle iſt;
und auch da bewache Dich, daß Du nicht Ego¬
ismus zeigeſt! Vermeide ſelbſt dann zu viel von
Dir zu reden, wenn gute Freunde, wie es viel¬
faͤltig geſchieht, das Geſpraͤch aus Hoͤflichkeit
auf Deine Perſon, auf Deine Schriften und
dergleichen leiten! Beſcheidenheit iſt eine der
liebenswuͤrdigſten Eigenſchaften, und macht um
ſo vortheilhaftere Eindruͤcke, je ſeltener dieſe
Tugend in unſern Tagen wird. Sey alſo auch
nicht ſo bereit, jedermann Deine Schriften ohn¬
berufen vorzuleſen, Deine Anlagen zu zeigen
und Deine ruͤhmlichen Handlungen zu erzaͤhlen,
noch auf feine Art Gelegenheit zu geben, daß
man Dich darum bitten muͤſſe!
9.[320]
9.
Wiederſprich Dir nicht ſelbſt im Reden,
ſo daß Du einen Satz behaupteſt, deſſen Ge¬
gentheil Du ein andermal vertheydigt haſt!
Man kann ſeine Meinung von Dingen aͤndern,
allein man thut doch wohl, in Geſellſchaft nicht
eher, wenigſtens nicht entſcheidend zu urtheilen,
als bis man alle Gruͤnde vor und gegen dieſel¬
ben gehoͤrig abgewogen hat.
10.
Huͤte Dich, in den Fehler Derjenigen zu
verfallen, die aus Mangel an Gedaͤchtniß, oder
an Aufmerkſamkeit auf ſich, oder weil ſie ſo ver¬
liebt in ihre eigenen Einfaͤlle ſind, die nemlichen
Hiſtoͤrchen, Annecdoten, Spaͤße, Wortſpiele,
witzigen Vergleichungen und ſo ferner, bey jeder
Gelegenheit wiederholen!
11.
Wuͤrze nicht Deine Unterhaltung mit Zwey¬
deutigkeiten, mit Anſpielungen auf Dinge, die
entweder Eckel erwecken, oder keuſche Wangen
erroͤthen machen! Zeige auch keinen Beyfall,
wenn Andre dergleichen vorbringen! Ein ver¬
ſtaͤn¬[321] ſtaͤndiger Mann kann an ſolchen Geſpraͤchen
keine Luſt haben.
12.
Flicke keine platte Gemeinſpruͤche in Deine
Reden ein! zum Beyſpiel: daß Geſundheit ein
ſchaͤtzbares Gut; daß das Schlittenfahren ein
kaltes Vergnuͤgen; daß Jeder ſich ſelbſt der
Naͤchſte ſey; daß, was lange dauert, gut werde,
wovon ich das Gegentheil zu beweiſen uͤberneh¬
me; daß man durch Schaden klug werde, welches
leider! ſelten eintrifft; oder daß die Zeit ſchnell
hingehe — welches, im Vorbeygehn zu ſagen! gar
nicht wahr iſt; denn da die Zeit nach einem be¬
ſtimmten Maaßſtabe berechnet wird; ſo geht ſie
nicht ſchneller vorbey, als ſie grade muß, und Der
welchem ein Jahr kuͤrzer vorkoͤmmt, als es iſt,
der muß in demſelben uͤber Gebuͤhr geſchlafen
haben, oder ſonſt ſeiner Sinne nicht maͤchtig ge¬
weſen ſeyn. Solche Spruͤchwoͤrter ſind ſehr
langweilig und nicht ſelten ſinnlos und unwahr.
13.
Belaͤſtige nicht die Leute, mit welchen Du
umgehſt, mit unnuͤtzen Fragen! Es giebt Men¬
(Zweiter Th.) Xſchen,[322] ſchen, die, nicht eben aus Vorwitz und Neugier,
ſondern, weil ſie nun einmal gewoͤhnt ſind, ihre
Geſpraͤche in Cathechiſations–Form zu verfaſſen,
uns durch Fragen ſo beſchwerlich werden, daß
es gar nicht moͤglich iſt, auf unſre Weiſe mit ih¬
nen in Unterhaltung zu kommen.
14.
Lerne Wiederſpruch ertragen! Sey nicht
kindiſch eingenommen von Deinen Meinungen!
Werde nicht hitzig noch grob im Zanke! Auch
dann nicht, wenn man Deinen ernſthaften
Gruͤnden Spott und Perſifflage entgegenſetzt!
Du haſt, bey der beſten Sache, ſchon halb ver¬
lohren, wenn Du nicht kaltbluͤtig bleibſt, und
wirſt wenigſtens auf dieſe Art nie uͤberzeugen.
15.
An Oertern, wo man ſich zur Freude ver¬
ſammelt; beym Tanze, in Schauſpielen und
dergleichen, rede mit niemand von haͤuslichen
Geſchaͤften, noch viel weniger von verdrießlichen
Dingen! Man geht dahin, um ſich zu erholen,
um auszuruhn, um kleine und große Sorgen
abzuſchuͤtteln, und es iſt alſo unbeſcheiden, je¬
mand[323] mand mit Gewalt wieder mitten in ſein taͤgli¬
ches Joch hineinſchieben zu wollen.
16.
Es giebt kleine geſellſchaftliche Unſchicklich¬
keiten und Inconſequenzen, die man vermeiden,
und wobey man immer uͤberlegen muß, wie es
wohl ausſehn wuͤrde, wenn Jeder von den An¬
weſenden ſich die nemliche Freyheit erlauben
wollte; zum Beyſpiel: waͤhrend der Predigt
zu ſchlafen; in Concerten zu plaudern; bey dem
Tanze zugleich die Melodie mit zu ſingen; in
Schauſpielen ſo hinzutreten, daß man nicht uͤber
uns wegſehn kann; in jede Verſammlung ſpaͤ¬
ter zu kommen, fruͤher wegzugehn, oder laͤnger
zu verweilen, als alle uͤbrigen Mitglieder der
Geſellſchaft.
17.
Erzaͤhle nicht leicht Annecdoten, beſonders
nie ſolche, die irgend jemand in ein nachtheili¬
ges Licht ſetzen, auf bloßes Hoͤrenſagen nach!
Sehr oft ſind ſie gar nicht auf Wahrheit ge¬
gruͤndet; oder ſchon durch ſo viel Haͤnde gegan¬
gen, daß ſie wenigſtens vergroͤßert, verſtuͤmmelt
wor¬X 2[324] worden, und dadurch eine weſentlich andre Ge¬
ſtalt bekommen haben. Vielfaͤltig kann man
dadurch unſchuldigen guten Leuten ernſtlich ſcha¬
den, und noch oͤfter ſich ſelber großen Verdruß
zuziehn.
18.
Huͤte Dich, aus einem Hauſe in das andre
Nachrichten zu tragen, vertrauliche Tiſchreden,
Familien-Geſpraͤche, Bemerkungen, die Du uͤber
das haͤusliche Leben von Leuten, mit welchen Du
viel umgehſt, gemacht haſt, und dergleichen aus¬
zuplaudern! Wenn dies auch nicht eigentlich aus
Bosheit geſchieht; ſo kann doch eine ſolche Ge¬
ſchwaͤtzigkeit Mistraun gegen Dich, und allerley
Zwiſt und Verſtimmung veranlaſſen.
19.
Ueber die Gewohnheit, Paradoxen vorzu¬
bringen; uͤber Wiederſprechungsgeiſt, Disputir¬
ſucht, Citiren und Berufen auf die Meinungen
und Ausſpruͤche Andrer, habe ich mich im zehn¬
ten Capittel dieſes Theils erklaͤrt, und beziehe
mich hier darauf.
20.[325]
20.
Nimm nicht Theil daran; laͤchle nicht bey¬
faͤllig; thue lieber, als hoͤrteſt Du es gar nicht,
wenn jemand einem Dritten unangenehme Dinge
ſagt, oder ihn beſchaͤmt! Die Feinheit eines ſol¬
chen Betragens wird gefuͤhlt, und oft dankbar
belohnt.
21.
So wie ich im ſieben und zwanzigſten Ab¬
ſchnitte des erſten Capittels im erſten Theile er¬
innert habe, daß es nicht gut ſey, jemand mit
erdichteten boͤſen Nachrichten einen Augenblick
in Verlegenheit zu ſetzen; ſo halte ich es auch
fuͤr unſchicklich, einem Freunde, aus Scherz,
wie es die Gewohnheit mancher Leute iſt, mit
ſelbſt erfundenen erfreulichen Neuigkeiten ein
kurzes Vergnuͤgen zu machen, das nachher ver¬
eitelt wird. Das alles iſt Neckerey, durch welche
die Freuden des Umgangs nicht gewuͤzt, ſondern
verſalzen werden.
22.
Bekuͤmmere Dich nicht um die Handlungen
Deiner Nebenmenſchen, in ſo fern ſie nicht Be¬
zugX 3[326] zug [auf] Dich, oder ſo ſehr auf die Moralitaͤt
im Ganzen haben, daß es Verbrechen ſeyn wuͤrde,
daruͤber zu ſchweigen! Ob jemand langſam oder
ſchnell geht, viel oder wenig ſchlaͤft, oft oder ſel¬
ten zu Hauſe, praͤchtig oder lumpicht gekleidet
iſt, Wein oder Bier trinkt, Schulden oder Ca¬
pitalien macht, eine Geliebte hat, oder nicht —
was geht das Dich an, wenn Du nicht ſein Vor¬
mund biſt?
23.
Es giebt faſt in jeder Stadt eine Parthey
Unzufriedener; ſey es nun mit der Regierung,
oder nur mit der Geſellſchaft. Zu Dieſen
geſelle Dich nicht! Waͤhle nicht unter ihnen
Deinen Umgang! Dieſe Malcontenten glauben
ſich nicht geehrt genug, oder ſind unruhige Koͤpfe,
Laͤſtermaͤuler, Menſchen voll unvernuͤnftiger Praͤ¬
tenſionen, raͤnkevolle, oder unſittliche Leute. Da
ſie nun, einer dieſer Urſachen wegen, von ihren
Mitbuͤrgern geflohn werden; ſo ſuchen ſie unter
ſich eine Art von Buͤndniß zu errichten, in wel¬
ches ſie, wenn ſie koͤnnen, verſtaͤndige und
wackre Maͤnner, zu ihrer Verſtaͤrkung, durch
Schmeicheley hinein ziehen. Laß Dich weder
dar¬[327] darauf, noch uͤberhaupt auf das ein, was Par¬
they und Faction genannt werden kann, wenn
Du mit Annehmlichkeit leben willſt!
24.
Verflechte niemand in Deine Privat-Zwi¬
ſtigkeiten, und fordere nicht von Denen, mit
welchen Du umgehſt, daß ſie Theil an den
Uneinigkeiten nehmen ſollen, die zwiſchen Dir
und andern herrſchen!
25.
Ich kann nicht genug Vorſichtigkeit in
Briefen und uͤberhaupt im Schreiben empfehlen.
Ein uͤbereiltes muͤndliches Wort wird wieder
vergeſſen; aber ein geſchriebenes kann noch nach
fuͤnfzig Jahren, in Erben Haͤnden, Unheil ſtiften.
26.
Wuͤnſcheſt Du zeitliche Vortheile, Unter¬
ſtuͤtzung, Verſorgung im buͤrgerlichen Leben;
moͤgteſt Du in einer Bedienung angeſtellt wer¬
den, in welcher Du Deinem Vaterlande nuͤtzlich
ſeyn koͤnnteſt; ſo muſſt Du darum bitten, ja!
nicht ſelten betteln. Rechne nicht darauf, daß
dieX4[328] die Menſchen, ſie muͤſſten denn Deiner ganz noth¬
wendig beduͤrfen, Dir etwas anbiethen, oder ſich
ohngebethen fuͤr Dich verwenden werden, wenn
auch Deine Thaten noch ſo laut fuͤr Dich reden,
und jedermann weiß, daß Du Unterſtuͤtzung
bedarfſt und verdienſt! Jeder ſorgt fuͤr ſich und die
Seinigen, ohne ſich um den beſcheidenen Mann
zu bekuͤmmern, der indeß nach Gemaͤchlichkeit
in ſeinem Winkelchen ſeine Talente vergraben,
oder gar verhungern kann.
27.
Intereſſiere Dich fuͤr Andre, wenn Du
willſt, daß Andre ſich fuͤr Dich intereſſieren ſol¬
len! Wer untheilnehmend, ohne Sinn fuͤr Freund¬
ſchaft, Wohlwollen und Liebe, nur ſich ſelber
lebt, der bleibt verlaſſen, wenn er ſich nach frem¬
dem Beyſtande ſehnt.
28.
Beurtheile Die Menſchen nicht nach dem,
was ſie reden, ſondern nach dem, was ſie thun!
Aber waͤhle zu Deinen Beobachtungen ſolche
Augenblicke, in welchen ſie von Dir ohnbemerkt
zu ſeyn glauben! Richte Deine Achtſamkeit auf
die[329] die kleinen Zuͤge, nicht auf die Haupt-Handlun¬
gen, zu denen Jeder ſich in ſeinen Staatsrock
ſteckt! Gieb Acht auf die Laune, die ein geſun¬
der Mann beym Erwachen vom Schlafe, auf
die Stimmung, die er hat, wenn er des Mor¬
gens, wo Leib und Seele im Nachtkleide er¬
ſcheinen, aus dem Bette aufſteht, oder wenn er
ploͤtzlich aus dem Schlafe geweckt wird; [auf]
das, was er vorzuͤglich gern iſſt und trinkt, ob
ſehr materielle, einfache, oder ſehr feine, ge¬
wuͤrzte, zuſammengeſetzte Speiſen; auf ſeinen
Gang und Anſtand; ob er lieber allein ſeinen
Weg geht, oder ſich immer an eines Andern Arm
haͤngt; ob er in einer graden Linie fortſchreiten
kann, oder ſeines Neben-Gaͤngers Weg durch¬
kreuzt, oft an Andre ſtoͤßt, und ihnen auf die
Fuͤße tritt; ob er durchaus keinen Schritt allein
thun, ſondern ſtets Geſellſchaft haben, immer
ſich an Andre anſchlieſſen, auch um die gering¬
ſten Kleinigkeiten erſt um Rath fragen, ſich er¬
kundigen will, wie es ſein Nachbar, ſein Col¬
lege macht; ob, wenn er etwas fallen laͤſſt, er
es ſogleich wieder aufnimt, oder es da liegen
laͤſſt, bis er gelegentlich, nach ſeiner Gemaͤch¬
lichkeit einmal hinreicht, um es aufzuheben; ob
er¬X 5[330] er gern Andern in die Rede faͤllt, niemand zu
Worte kommen laͤſſt; ob er gern geheimnißvoll
thut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen
gemeine Dinge in das Ohr zu ſagen; ob er gern
in Allem entſcheidet, und ſo ferner! — Faſſe
alle dieſe Wahrnehmungen zuſammen, und ſey
nicht ſo unbillig, nach einzelnen ſolchen Zuͤgen
den ganzen Character zu richten!
29.
Sey vorſichtig im Tadel und Wiederſpru¬
che! Es giebt wenig Dinge in der Welt, die
nicht zwey Seiten haben. Vorurtheile verdun¬
keln oft die Augen, ſelbſt des kluͤgern Mannes,
und es iſt ſehr ſchwer, ſich gaͤnzlich an eines An¬
dern Stelle zu denken. Urtheile beſonders nicht
ſo leicht uͤber kluger Leute Handlungen, oder
Deine Beſcheidenheit muͤſſte Dir ſagen, daß
Du noch weiſer wie ſie ſeyeſt! und da iſt es denn
eine misliche Sache um dieſe Ueberzeugung.
Ein kluger Mann iſt mehrentheils lebhafter,
als ein Andrer, hat heftigere Leidenſchaften zu
bekaͤmpfen, bekuͤmmert ſich weniger um das Ur¬
theil des großen Haufens, haͤlt es weniger der
Muͤhe werth, ſein gutes Gewiſſen durch große
Apo¬[331] Apologien zu rechtfertigen. Uebrigens ſoll man
nur fragen: „Was thut der Mann Nuͤtzliches
„fuͤr Andre?“ und wenn er dergleichen thut,
uͤber dies Gute ſeine kleinen leidenſchaftlichen
Fehler, die nur ihm ſelber ſchaden, oder hoͤch¬
ſtens unwichtigen, voruͤbergehenden Nachtheil
wuͤrken, vergeſſen.
Vor allen Dingen aber maße Dir nicht an,
die Bewegungsgruͤnde zu jeder guten Handlung
abwaͤgen zu wollen! Bey einer ſolchen Rech¬
nung wuͤrden vielleicht manche Deiner eigenen
großen Thaten verzweifelt klein erſcheinen. Je¬
des Gute muß nach ſeiner Wuͤrkung fuͤr die
Welt beurtheilt werden.
30.
Ueber den aͤuſſern Anſtand und uͤber ſchick¬
liche Manieren iſt im erſten Capittel des erſten
Theils geredet worden; Alſo nur noch etwas
uͤber die Kleidung! Kleide Dich nicht unter und
nicht uͤber Deinen Stand; nicht uͤber und nicht
unter Dein Vermoͤgen; nicht phantaſtiſch; nicht
bunt; nicht ohne Noth praͤchtig, glaͤnzend und
koſtbar; aber reinlich, geſchmackvoll, und we
Du[332] Du Aufwand machen muſſt; da ſey Dein Auf¬
wand zugleich ſolide und ſchoͤn! Zeichne Dich
weder durch altvaͤteriſche, noch jede neumodiſche
Thorheit nachahmende Kleidung aus! Wende
einige groͤßere Aufmerkſamkeit auf Deinen An¬
zug, wenn Du in der großen Welt erſcheinen
willſt! Man iſt in Geſellſchaft verſtimmt, ſo¬
bald man ſich bewuſſt iſt, in einer unangeneh¬
men Ausſtaffierung aufzutreten.
Sech¬[333]
Sechzehntes Capittel.
Schluß.
1.
Und nun, wertheſte Leſer! eile ich zum Schluſſe
dieſes Werks uͤber den Umgang mit Menſchen.
Finden Sie etwas darinn, das Ihrer Aufmerk¬
ſamkeit werth iſt; wird dies Buch vom Publico
guͤtig aufgenommen und billig beurtheilt; ſo
wird mir das mehr Freude machen, als mir
bis itzt ſelbſt der beſte Erfolg irgend einer mei¬
ner Schriften gewaͤhrt hat. Wenigſtens hoffe
ich, Sie werden hierinn keine Grundſaͤtze antref¬
fen, deren ſich ein rechtſchaffener und verſtaͤndi¬
ger Mann ſchaͤmen duͤrfte, und, wenn es ſonſt
kein anders Verdienſt hat, ihm doch das der
Vollſtaͤndigkeit nicht abſprechen; Denn ich glau¬
be, daß doch nicht leicht irgend ein Verhaͤltniß
im geſelligen Leben gefunden werden koͤnne, uͤber
welches ich nicht etwas geſagt haͤtte — Ob gut,
oder ſchlecht, oder beydes vermiſcht, oder mit¬
telmaͤßig von Anfang bis zu Ende; das darf
ich nicht entſcheiden.
2.[334]
2.
Daß ein ſolches Buch aber, vorausgeſetzt
nemlich, daß der Gegenſtand mit gehoͤriger Ein¬
ſicht, Erfahrung und Menſchenkenntniß behan¬
delt waͤre, nicht nur Juͤnglingen, ſondern ſelbſt
Maͤnnern Nutzen gewaͤhren koͤnnte; das darf
ich wohl behaupten. Man verlangt von ſei¬
nen, hellſehenden Leuten immer auch eſprit
de conduite; aber man hat darinn Unrecht.
Dieſer Geiſt des Umgangs erfordert Klatbluͤ¬
tigkeit, Achtſamkeit auf geringe Dinge, auf
Kleinigkeiten, die man bey feurigen Genies ſel¬
ten antrifft. Ein Wink hingegen aus einem
ſolchen Buche kann Manchen aufmerkſam auf
Fehler in Behandlung der Menſchen machen,
auf Fehler, die er an ſich aus zu großer Leb¬
haftigkeit bis itzt uͤberſehn hatte.
3.
Ich habe aber in dieſem Werke nicht die
Kunſt lehren wollen, die Menſchen zu ſeinen
Endzwecken zu misbrauchen, uͤber Alle nach Ge¬
fallen zu herrſchen, Jeden nach Belieben fuͤr
unſre eigennuͤtzigen Abſichten in Bewegung zu
ſetzen. Ich verachte den Satz: „daß man aus
„den[335] „den Menſchen machen koͤnne, was man wolle,
„wenn man ſie bey ihren ſchwachen Seiten zu
„faſſen verſtuͤnde.“ Nur ein Schurke kann
das, und will das, weil nur ihm die Mittel
zu ſeinem Zwecke zu gelangen gleichguͤltig ſind;
Der ehrliche Mann kann nicht aus allen Men¬
ſchen alles machen, und will das auch nicht;
und der Mann von feſten Grundſaͤtzen laͤſſt auch
nicht alles aus ſich machen. Aber das wuͤnſcht,
und das kann jeder Rechtſchaffene und Weiſe
bewuͤrken, daß wenigſtens die Beſſern ihm Ge¬
rechtigkeit wiederfahren laſſen; daß niemand ihn
verachte; daß er Frieden von Auſſen her habe;
daß man ihn in Ruhe laſſe; daß er Genuß aus
dem Umgange mit allen Claſſen von Menſchen
ſchoͤpfe; daß Andre ihn nicht misbrauchen, oder
bey der Naſe herumfuͤhren. Und wenn er aus¬
dauert, immer conſequent, edel, vorſichtig und
grade handelt; ſo kann er ſich allgemeine Ach¬
tung erzwingen, kann auch, wenn er die Men¬
ſchen ſtudiert hat, und ſich durch keine Schwie¬
rigkeit abſchrecken laͤſſt, faſt jede gute Sache
am Ende durchſetzen. Und hierzu die Mittel zu
erleichtern, und Vorſchriften zu geben, die dahin
einſchlagen, — das iſt der Zweck dieſes Buchs.
4.[336]
4.
Daß ich bey dieſer Gelegenheit die Schwach¬
heiten mancher Claſſen von Leuten habe aufdecken
muͤſſen, ohne jedoch auf einzelne Subjecte un¬
edle Fingerzeige zu geben; das war wohl ſehr
natuͤrlich. Aber o! was haͤtte ich ſagen koͤnnen,
wenn ich mein Buch mit wuͤrklichen Annecdoten
haͤtte auszieren und ſpecielle Erfahrungen aus
meinem Leben erzaͤhlen wollen! — Schmeichle
ich mich zu viel, wenn ich hoffe, daß man den
Werth dieſer Schonung fuͤhlen, und mir wenig¬
ſtens von dieſer Seite wird Gerechtigkeit wie¬
derfahren laſſen?
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Ueber den Umgang mit Menschen. Ueber den Umgang mit Menschen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn5m.0