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Die Chronik
der
Sperlingsgaſſe.
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Die Chronik
der
Sperlingsgaſſe.


Berlin.:
Verlag von Franz Stage.
1857.
[][[1]]

Es iſt eigentlich eine böſe Zeit! Das Lachen iſt theuer
geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar
wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Don-
nerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krank-
heit, Hunger und Noth ihren unheimlichen Schleier ge-
legt; — es iſt eine böſe Zeit! Dazu iſt’s Herbſt, trauriger
melancholiſcher Herbſt, und ein feiner, kalter Vorwinter-
regen rieſelt ſchon wochenlang herab auf die große Stadt;
— es iſt eine böſe Zeit! Die Menſchen haben lange
Geſichter und ſchwere Herzen, und wenn ſich zwei Be-
kannte begegnen, zucken ſie die Achſel und eilen faſt ohne
G[ru]ß an einander vorüber; — es iſt eine böſe Zeit! —
Mißmuthig hatte ich die Zeitung weggeworfen, mir
eine friſche Pfeife geſtopft, ein Buch herabgenommen
und aufgeſchlagen. Es war ein einfaches altes Buch,
[i]n welches Meiſter Daniel Chodowiecki gar hübſche Bil-
der gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum por-
1
[2]tans, der prächtige Wandsbecker Bote des alten Mat-
thias Claudius, weiland Homme de lettres zu Wands-
beck, und recht ein Tag war’s, darin zu blättern. Der
Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen,
der Wiederſchein deſſelben auf dem Boden und an den
Wänden, — alles trug dazu bei, mich die Welt da drau-
ßen ganz vergeſſen zu machen und mich ganz in die
Welt von Herz und Gemüth auf den Blättern vor mir
zu verſenken.


Auf’s Gerathewohl ſchlug ich eine Seite auf: Sieh!
— da iſt der herbſtliche Garten zu Wandsbeck. Es iſt
eben ſo nebelig und trübe wie heute; leiſe ſinken die
gelben Blätter zur Erde, als bräche eine unſichtbare
Hand ſie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da
den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die
weiße Zipfelmütze über dem Ohr? — Er iſt’s — Mat-
thias Claudius, der wackere Asmus ſelbſt! — Bedäch-
tiglich ſchreitet er einher, von Zeit zu Zeit ſtehe[n] blei-
bend; jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zier-
liche Geäder deſſelben betrachtend, jetzt in die neblige
Luft hinauf ſchauend. Er ſcheint in Gedanken verſun-
ken zu ſein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder [d]en
Freund Hain, an den Invaliden Görgel mit der Pud[el]-
mütze und dem neuen Stelzbein; denkt er an die neue
Kanone oder an das Ohr des ſchuftigen Hofmarſchall-
[3] Albiboghoi? Wer weiß! — Sieh! wieder bleibt er ſte-
hen. Was fällt ihm ein!? Luſtig wirft er die weiße
Zipfelmütze in die Luft und thut einen kleinen Sprung:
ein großer Gedanke iſt ihm „auf’s Herz geſchoſſen“, —
das große neue Feſt der Herbſtling iſt erfunden, —
der Herbſtling, ſo anmuthig zu feiern, wenn der erſte
Schnee fällt
mit Kinderjubel und Bratäpfeln und
Lächeln auf den Geſichtern von Jung und Alt! —


Wenn der erſte Schnee fällt — — — wie ich in
dieſem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen
Himmelsdecke hinauf werfe, da — kommt er herunter —
wirklich herunter der erſte Schnee!


Schnee! Schnee! der erſte Schnee! —


In großen wäſſrigen Flocken, dem Regen untermiſcht,
ſchlägt er an die Scheiben, grüßend wie ein alter Be-
kannter, der aus weiter Ferne nach langer Abweſenheit
zurück kommt. Schnell ſpringe ich auf und an’s Fen-
ſter. Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die
eben noch mürriſch und unzufrieden mit ſich und der
Welt umherſchlichen, ſehen jetzt ganz anders aus. Ge-
gen den Regen ſuchte jeder ſich durch Mäntel und Schirme
auf alle Weiſe zu ſchützen, dem Schnee aber kehrt man
luſtig und verwegen das Geſicht zu.


Der erſte Schnee! der erſte Schnee! —


An den Fenſtern erſcheinen lachende Kindergeſichter,
1*
[4] kleine Händchen klatſchen fröhlich zuſammen: welche Ge-
danken an weiße Dächer und grüne funkelnde Tannen-
bäume! Wie phantaſtiſch die Sperlingsgaſſe in dem wir-
belnden, weißen Geſtöber ausſieht! Wie die waſſerholen-
den Dienſtmädchen am Brunnen kichern! Der fatale
Wind! —


„Gehorſamſter Diener Herr Profeſſor Niepeguk!
Auch im erſten Schnee?“


„Aerztliche Verordnung!“ brummt der Weiſe und
lächelt herauf zu mir, ſo gut es Würde und Hypochon-
drie erlauben.


Auf der Sophienkirche ſchlägt’s jetzt! — Erſt vier?
und ſchon faſt Nacht! — „Vier!“ wiederholen die
Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt ſind die
Schulen zu Ende! Hurrah — hinaus in den beginnen-
den Winter: die Buben wild und unbändig, die Mäd-
chen ängſtlich und trippelnd, dicht ſich an den Häuſer-
wänden hinwindend.


Hier und dort blitzt nun ſchon in einem dunkeln La-
den ein Licht auf, immer geiſterhafter wird das Aus-
ſehen der Sperlingsgaſſe.


Da kommt der Lehrer ſelbſt, ſeine Bücher unter dem
Arm; aufmerkſam betrachtet er das Zerſchmelzen einer
Flocke auf ſeinem fadenſcheinigen, ſchwarzen Rockärmel.
Jetzt iſt die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen
[5] Dichter. — Ganz aufgeregt ſchritt ich hin und her;
vergeſſen war die böſe Zeit; — auch mir war, wie wei-
land dem ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke „auf’s
Herz geſchoſſen“. „Ich führe ihn aus, ich führe ihn
aus!“ brummte ich vor mich hin, während ich auf und
ab lief; wie verwundert mich auch alle meine Quartan-
ten und Folianten von den Büchergeſtellen anglotzten,
wie ſpöttiſch auch das Allongeperückengeſicht auf dem
Titelblatt der dort aufgeſchlagenen Schwarte hergrinzte!


„Ein Bilderbuch der Sperlingsgaſſe!“


„Eine Chronik der Sperlingsgaſſe!“


Ein Kinderkopf drückt ſich drüben im Hauſe gegen
die Scheibe, und der Lampenſchein dahinter wirft den
runden Schatten über die Gaſſe in mein dunkles Fen-
ſter und über die Büchergeſtelle an der entgegengeſetzten
Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinzt nur,
ihr Meiſter in Folio und Quarto, ihr Aldinen und El-
zeviere! Ein Bilderbuch der Sperlingsgaſſe; eine Chro-
nik der Sperlingsgaſſe! Ich mußte mich wirklich ſetzen,
ſo war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren,
und benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen
für meinen großen Gedanken und einen letzten Blick
hinaus zu werfen in den erſten Schnee. Bah! — Wo
war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nach-
dem er die Ankunft ſeines Meiſters, des geſtrengen Herrn
[6] Winters verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur
zu hinterlaſſen. — — —


Ich bin ein einſamer alter Mann geworden! Die
bunten, ewig wechſelnden, ewig neuen Bilder dieſes gro-
ßen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten
Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verſchwim-
men ſie, mehr und mehr fließen ſie in einander. Ich bin
mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem
Uebergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebniſſe des
Tages ſich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen,
wo aber bereits die dunkle, traum- und geiſtervolle Nacht
über Alles, Gutes und Böſes, ihren Schleier breitet.
Ich bin alt und müde; es iſt die Zeit, wo die Erinne-
rung an die Stelle der Hoffnung tritt.


Schaue ich auf aus meinen Träumen, ſo ſehe ich
zwar daſſelbe Lächeln, daſſelbe Schmerzenszucken auf den
Menſchengeſichtern um mich her, wie vor langen blühen-
deren Jahren, aber wenn auch Freude und Leid dieſel-
ben geblieben ſind auf der alten Mutter Erde: — die
Geſichter ſelbſt ſind mir fremd, — ich bin allein! —
Allein, — und doch nicht allein. Aus der dämmrigen
Nacht des Vergeſſens taucht es auf und klingt es; Ge-
ſtalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm,
[7] die ich einſt gern ſah und hörte in vergangenen böſen
und guten Tagen werden wieder wach und lebendig;
todte, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen
und zu blühen; vergeſſener Kindermärchen entſinne ich
mich; ich werde jung und — fahre auf und — er-
wache!


Verſunken iſt dann die Welt der Erinnerung, mich
fröſtelt in der kalten traurigen Gegenwart, drückender
fühle ich meine Einſamkeit und weder meine Folianten
noch meine anderen mühſam aufgeſtapelten gelehrten
Schätze vermögen es, die aufſteigenden Kobolde und
Quälgeiſter des Greiſenalters zu verſcheuchen. Sie zu
bannen ſchreibe ich die folgenden Blätter, und ich ſchreibe,
wie das Alter ſchwatzt. Für einen Freund will ich dieſe
Bogen anſehen, mit dem ich plaudere, der Geduld mit
mir hat und nicht ſpöttelt über Wiederholungen, — ach
das Alter wiederholt ja ſo gern — der nicht zum Auf-
bruch treibt, wo die vertrocknete Blume irgend einer
ſüßen Erinnerung mich feſſelt, der nicht zum Bleiben
nöthigt, wo ein trübes Angedenken unter der Aſche der
Vergeſſenheit noch leiſe fortglimmt. Eine Chronik
aber nenne ich dieſe Bogen, weil ihr Inhalt, was den
Zuſammenhang betrifft, gar ſehr jenen alten naiven Auf-
zeichnungen gleichen wird, die in bunter Folge die Be-
gebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
[8] erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Er-
ſcheinen eines wunderſamen Himmelszeichens beobachten;
die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald
wieder ſich über ein Stachelſchwein, welches die deutſche
Kaiſerin im Kloſtergarten vorführen läßt, wundern und
freuen. Und wie die alten Mönche hier und da zwiſchen
die Pergamentblätter ihrer Hiſtorien und Meßbücher
hübſche, farbige, zierlich ausgeſchnittene Heiligenbilder
legten, ſo will auch ich ähnliche Blätter einflechten und
durch die eintönigen farbloſen Aufzeichnungen meiner
alten Tage friſchere blüthenvollere Ranken ſchlingen.


Ich, der Greis — der zweiten Kindheit nahe, will
von einem Kinde erzählen, deſſen Leben durch das meinige
ging wie ein Sonnenſtrahl, den an einem Regentage
Wind und Wolken über die Fluren jagen; der im Vor-
beigleiten Blumen und Steine küßt, und in derſelben
Minute das glückliche Geſicht der Mutter über der Wiege,
die heiße Stirn des Denkers über ſeinem Buche und die
bleichen Züge des Sterbenden ſtreifen kann. Ich ſchreibe
keinen Roman und kann mich wenig um den ſchrift-
ſtelleriſchen Contrapunkt bekümmern; was mir die Ver-
gangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart giebt,
will ich hier, in hübſche Rahmen gefaßt, zuſammenheften
und bin ich müde — nun ſo ſchlage ich dieſes Heft zu,
wühle weiter in meiner ſchweinsledernen Gelehrſamkeit
[9] und compilire luſtig fort an meinem wichtigen Werke
De vanitate hominum, einem ausnehmend — dicken
Gegenſtande.


Ich liebe in großen Städten dieſe ältern Stadttheile
mit ihren engen, krummen, dunkeln Gaſſen, in welche der
Sonnenſchein nur verſtohlen hineinzublicken wagt; ich
liebe ſie mit ihren Giebelhäuſern und wunderſamen Dach-
traufen, mit ihren alten Carthaunen und Feldſchlangen,
welche man als Prellſteine an die Ecken geſetzt hat.
Ich liebe dieſen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um
welchen ſich ein neues Leben in liniengraden, parade-
mäßig aufmarſchirten Straßen und Plätzen angeſetzt hat,
und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgaſſe
biegen, ohne den alten Geſchützlauf mit der Jahreszahl
1589, der dort lehnt, liebkoſend mit der Hand zu be-
rühren. Selbſt die Bewohner des ältern Stadttheils
ſcheinen noch ein originelleres, ſonderbareres Völkchen zu
ſein, als die Leute der modernen Viertel. Hier in dieſen
winkligen Gaſſen wohnt das Volk des Leichtſinns dicht
neben dem der Arbeit und des Ernſt’s, und der zuſam-
mengedrängtere Verkehr reibt die Menſchen in tolleren,
[10] ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern,
aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten
Patrizierhäuſer, — die Geſchlechter ſelbſt ſind freilich
meiſtens lange dahin — welche nach einer Eigenthüm-
lichkeit ihrer Bauart oder ſonſt einem Wahrzeichen unter
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde
des Volks fortleben. Hier ſind die dunkeln verrauchten
Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier iſt
das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die
Dämmerung, die Nacht produciren hier wunderſamere
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondſchein, ſelt-
ſamere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen
der verroſteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes
mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt
es paſſender — man möchte ſagen dem Ort angemeſſener,
als hier in dieſen engen Gaſſen, zwiſchen dieſen hohen
Häuſern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorſprung
den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! —


Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieſes nieder-
ſchreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh-
orgel beginnt; wie ſie ihre klagenden an dieſem Ort
wahrhaftig melodiſchen Tonwogen über das dumpfe Murren
und Rollen der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes
ſpricht zwar vernehmlich genug im Rauſchen des Windes,
[11] im Brauſen der Wellen und im Donner; aber nicht
vernehmlicher als in dieſen unbeſtimmten Tönen, welche
das Getriebe der Menſchenwelt hervorbringt. Ich be-
haupte ein angehender Dichter oder Maler — ein Mu-
ſiker, das iſt freilich eine andere Sache — dürfe nirgend
anders wohnen als hier! Und fragſt Du auch, wo die
friſcheſten originellſten Schöpfungen in allen Künſten
entſtanden ſind, ſo wird meiſtens die Antwort ſein: in
einer Dachſtube! — In einer Dachſtube im Brick
Court war es, wo Oliver Goldſmith, von ſeiner Wirthin
wegen der rückſtändigen Miethe eingeſperrt, dem Dr.
Johnſon unter alten Papieren, abgetragenen Röcken,
geleerten Madeiraflaſchen und Plunder aller Art ein
beſudeltes Manuſcript hervorſuchte mit der Ueberſchrift:
Der Landprediger von Wakefield.


In einer Dachſtube ſchrieb Jean Jacques Rouſſeau
ſeine glühendſten, erſchütterndſten Bücher. In einer
Dachſtube lernte Jean Paul den Armenadvokat Siebenkäs
zeichnen und das Schulmeiſterlein Wuz und das Leben
Fibels! — —


Die Sperlingsgaſſe iſt ein kurzer enger Durchgang,
der die Kronenſtraße mit einem Ufer des Fluſſes verknüpft,
welcher in vielen Armen und Kanälen die große Stadt
durchwindet. Sie iſt bevölkert und lebendig genug,
[12] einen mit nervöſem Kopfweh Behafteten wahnſinnig zu
machen und ihn im Irrenhauſe enden zu laſſen; mir
aber iſt ſie ſeit vielen Jahren eine unſchätzbare Bühne
des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück,
Hunger und Ueberfluß, alle Antinomien des Daſeins ſich
wiederſpiegeln.


In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander,
im Geiſt concentrirt ſich das Univerſum in einem Punkt,
docirte einſt mein alter Profeſſor der Logik. Ich ſchrieb
das damals zwar gewiſſenhaft nach in meinem Heft, be-
kümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieſes
Satzes. Damals war ich jung und Marie die niedliche
kleine Putzmacherin wohnte mir gegenüber und nähte ge-
wöhnlich am Fenſter, während ich, Kants Kritik der reinen
Vernunft vor der Naſe, die Augen — nur bei ihr hatte.
— Sehr kurzſichtig und zu arm, mir für dieſe Fenſter-
ſtudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker
zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff was es
heißt: Alles liegt ins Unendliche auseinander. —


Da ſtand ich eines ſchönen Nachmittags, wie ge-
wöhnlich am Fenſter, die Naſe gegen die Scheibe gedrückt
und drüben unter Blumen, in einem luſtigen hellen
Sonnenſtrahl, ſaß meine, in Wahrheit ombra adorata.
Was hätte ich darum gegeben zu wiſſen, ob ſie herüber-
lächele!


[13]

Auf einmal fiel mein Blick durch eines jener kleinen
Bläschen, die ſich oft in den Glasſcheiben finden. Zu-
fällig ſchaute ich hindurch nach meiner kleinen Putzmache-
rin und — ich begriff, daß das Univerſum ſich in einem
Punkt concentriren könne.


So iſt es auch mit dieſem Traum und Bilderbuch
der Sperlingsgaſſe. Die Bühne iſt klein, der darauf
Erſcheinenden ſind wenig und doch könnten ſie eine Welt
von Intereſſe in ſich begreifen für den Schreiber und
eine Welt von Langweile für den Fremden, den Unbe-
rufenen, dem einmal dieſe Blätter in die Hände fallen
ſollten. —


Der Regen ſchlägt leiſe an meine Scheiben. Was
und wer der ſonderbare lange Geſell iſt, der vorgeſtern
da drüben in Nr. Eilf eingezogen iſt, in jene Wohnung,
wo auch ich einmal hauſte, wo einſt auch der Doctor
Wimmer ſein Weſen trieb, hab’ ich noch nicht heraus
gebracht. — Es iſt recht eine Zeit zu träumen. Ich
ſitze, den Kopf auf die Hand geſtützt am Fenſter und
laſſe mich allmählig immer mehr einlullen von der mo-
[14] notonen Muſik des Regens da draußen, bis ich endlich
der Gegenwart vollſtändig entrückt bin. Ein Bild nach
dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir
vorbei, verſchwindend, wenn ich mich beſtrebe es feſt zu
halten. O, es iſt wahrlich nicht das, was mich am
meiſten feſſelt und hinreißt, was ich auf das Papier feſt-
bannen kann; — ein ganz anderer Maler müßte ich
ſein, um das zu vermögen. —


Das verſchlingt ſich, um ſich zu löſen; das verdichtet
ſich, um zu verwehen; das leuchtet auf, um zu verflie-
gen, und jeder nächſte Augenblick bringt etwas Anderes.
Oft ertappe ich mich auf Gedanken, welche aufgeſchrieben,
kindiſch, albern, trivial erſcheinen würden, die aber, mir
dem alten Mann in ihrem flüchtigen Vorübergleiten ſo
ſüß, ſo heimlich, ſo beſeligend ſind, daß ich um keinen
Preis mich ihnen entreißen könnte.


Nur das Concreteſte vermag ich dann und wann
feſtzuhalten, und diesmal ſind es Bilder aus meinem
eigenen Leben, die ich hier dem Papier anvertraue.


Was iſt das für eine kleine Stadt zwiſchen den grü-
nen buchenbewachſenen Bergen? Die rothen Dächer
ſchimmern in der Abendſonne; da und dort laufen die
Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Thal
kommt rauſchend und plätſchernd ein klarer Bach, der
[15] mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich bildet,
bedeckt am Rande mit Binſen und gelben Waſſerlilien,
und in einem andern Thal verſchwindet. Ich kenne das
Alles; ich kann die Bewohner der meiſten Häuſer mit
Namen nennen; ich weiß, wie es klingen wird, wenn
man in dem ſpitzen ſchiefergedeckten Thurm jener hüb-
ſchen alten Kirche anfangen wird zu läuten. Habe ich
nicht oft genug mich von den Glockenſeilen hin und her
ſchwingen laſſen?


Das iſt Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit, —
das iſt meine Vaterſtadt! —


Und ſchau, dort oben in dem Garten, der ſich von
jenem zerbröckelnden, noch ſtehenden Theil der Stadt-
mauer aus, den Berg hinanzieht, gelagert unter einem
blühenden Holunderſtrauch die drei Kinder. Da ſitzt
ein kleines Mädchen mit großen glänzenden Augen, dem
wilden Franz aus dem Walde zuhörend. Franz Ralff,
aufgewachſen im Wald und jetzt in der Zucht bei dem
Vater der kleinen Marie, dem ſtrengen lateiniſchen Stadt-
rector Volkmann, erzählt, ein gewaltiges angebiſſenes
Butterbrod in der Hand, kauend und zugleich durch ſei-
nen eigenen Vortrag gerührt, eine ſeiner wunderbaren
Geſchichten, die er aus der Waldeinſamkeit mitgebracht
hat und mit denen er uns kleines Volk ſtets zum „Gru-
ſeln“ brachte oder zu bringen verſuchte.


[16]

Und nun ſieh da, im Graſe ausgeſtreckt, da bin auch
ich, der kleine Hans Wachholder, der Sohn aus dem
Pfarrhauſe; blinzelnd zu dem blauen Himmel hinauf-
ſchauend und den kleinen weißen „Schäfchen“ in der
reinen Luft nachträumend! —


Die Glocken der heimkehrenden Heerden erklingen
zwiſchen den Bergen, rings umher ſummt und tönt un-
endliches Leben; im Gras, in den Bäumen, in der Luft,
und das Kinderherz verſteht Alles, es iſt ja noch eins
mit der Natur, eins mit — Gott! —


Aber warum öffnet ſich nicht dort unten die braune
Thür, die aus dem hübſchen, vom Weinſtock überſponne-
nen Hauſe mit den hellglänzenden Fenſtern, in den Gar-
ten führt?


Wo iſt der alte Mann mit den ehrwürdigen grauen
Haaren, der da allabendlich ſeine Blumen zu begießen
pflegt?


Wo iſt — wo iſt meine Mutter? Meine Mutter!


Keine freundliche Stimme antwortet! Ich ſelbſt habe
ja graue Haare. Vater und Mutter ſchlummern lange
in ihren vergeſſenen eingeſunkenen Gräbern auf dem
kleinen Stadtkirchhof zu Ulfelden. Jüngere Geſchlechter
ſind ſeitdem hinab gegangen. — —


Plötzlich verändert ſich das ſonnige, ſommerliche Bild.
— Da iſt ſchon die große Stadt! Diesmal iſt es nicht
[17] Frühling, nicht blühender Sommer, ſondern eine ſtür-
miſche, dunkle Herbſtnacht; — vielleicht wird eine ähn-
liche auf den heutigen Tag folgen. — In dieſer Nacht
ſitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als vier-
eckigen Dachſtübchen ein Student vor einem gewaltigen
ſchweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegſtarrt.
Wo wandern ſeine Gedanken? Draußen jagt der Wind
die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dach-
ziegeln, ſchüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der
erfinderiſche Muſenſohn, um ſich und ſeine Studien ganz
von der Außenwelt abzuſperren vor dem Fenſterkreuz feſt-
genagelt hat, — kurz geberdet ſich ſo unbändig, wie
nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von
den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, ſich
geberden kann. Lange hat der Muſenſohn in tiefe Ge-
danken verſunken dageſeſſen; jetzt ſpringt er plötzlich auf,
und dreht mir das Geſicht zu, — — — das bin ich
wieder. — Johannes Wachholder, ein Student der Phi-
loſophie in der großen Haupt- und Univerſitätsſtadt.
Sehr aufgeregt ſcheint der Doppelgänger meiner Jugend
zu ſein; mit ſo gewaltigen Schritten, als das enge, wun-
derlich ausſtaffirte Gemach nur erlaubt, rennt er auf
und ab.


Plötzlich ſpringt er auf das Fenſter zu, reißt den
improviſirten Vorhang herunter und läßt einen präch-
2
[18] tigen Mondenſtrahl, der in dieſem Augenblick durch die
zerriſſenen Wolken fällt, hinein. —


„Marie! Marie!“ flüſtert mein Schattenbild [leiſe],
die Arme gegen ein ſchwach erleuchtetes Fenſter drüben
ausſtreckend, gegen deſſen herabgelaſſene Gardine der kaum
bemerkbare Schatten einer menſchlichen Geſtalt fällt,
und — — — —


Es iſt eine gefährliche Sache, in den Momenten un-
gewöhnlicher Aufregung — ſei es Freude oder Schmerz,
Haß oder Liebe — ſich dem klaren, weißen Licht des
Mondes auszuſetzen. Das Volk ſagt: Man wird dumm
davon. Wirklich, wunderſame Gedanken bringt dieſer
reine Schein mit ſich; allerlei tolles Zeug gewinnt
Macht, ſich des Geiſtes zu bemächtigen und ihn unfähig
zu machen, fürderhin gemüthlich auf der ausgetretenen
Straße des Alltagslebens weiter zu traben. „Man wird
dumm davon!“ — Zauberhafte Ausſichten in [phantaſti-
ſche]
, nebelhafte Gründe öffnen ſich zu beiden Seiten;
nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit [Sirenen-
ſang]
, flüſtern unwiderſtehlich, winken den Wanderer ab
vom ſicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in
den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantaſie. —


„Ich liebe Dich,“ flüſtert mein Schattenbild, „ich
will Dich reich, ich will Dich glücklich, ich will Dich
berühmt machen, ich will — der ſchreibende Greis kann
[19] jetzt nur lächeln — die Welt für Dich gewinnen, Ma-
rie!“ —


Mehr noch flüſtert mein Doppelgänger, die Stirn
an die Scheiben gedrückt, hinüber nach dem kleinen
Stübchen, wo die Jugendgeſpielin, fortgeriſſen von dem
kalten Arm des Lebens aus der waldumgebenen fried-
lichen Heimath, einſam in der dunkeln ſtürmiſchen Nacht
arbeitet, als ein anderer Schatten ſeine Träume von
Glück und Ruhm durchkreuzt. —


Da iſt eine andere Geſtalt, ſchwarze, dichte Locken
umgeben ein ſonnverbranntes Geſicht, die Augen blitzen
von Lebensluſt und Lebenskraft, es iſt der Maler Franz
Ralff, der von Italien zurückkehrend, voll der göttlichen
Welt des Alterthums und voll der großen Gedanken
einer ebenſo göttlichen jüngern Zeit, den Freund um-
armt.


Und weiter ſchweift mein Geiſt. — Ich ſehe noch
immer die junge Waiſe in ihrem kleinen Stübchen un-
ter Blumen arbeitend. Ich ſehe zwei Männer im Strom
des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen,
und ich ſehe endlich den Einen mit keuchender Bruſt
ſich an’s Ufer ringen und den ſchönen Preis erfaſſen,
während der Andere weiter getrieben, willenlos und wiſ-
ſenlos auf einer kahlen, ſceptiſchen Sandbank ſich wie-
derfindet. — Ich ſehe mich, ein blöder Grübler ge-
2*
[20] worden, der ſich nur durch erborgte und erheuchelte Sta-
cheln zu ſchützen weiß, bis er endlich nach langem Um-
herſchweifen in der Welt hervorgeht aus dem Kampf,
ein ernſter, ſehender Mann, der Freund ſeines Freundes
und deſſen jungen Weibes. —


Ich lebe durch ein kurzes Jahr von Glück und Ruhe;
ich ſehe während dieſes Jahres eine feine blondlockige
Geſtalt lächelnd, wie unſer guter Genius, Franz und mich
umſchweben und ihre ſchützende Hand ausſtrecken über
ſeine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende
Traurigkeit; — ich ſehe bald ein kleines Kind — Eliſe
genannt in den Blättern dieſer Chronik — des Abends
aus den Armen der Mutter in die des Vaters und aus
den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen,
mit großen, verwunderten Augen zu uns aufſchauend
— — — —


Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenſter zu ſchla-
gen; ich ſchrecke auf; — es iſt ſpäte Nacht. Einen letz-
ten Blick werfe ich noch in die Gaſſe hinunter. Sie iſt
dunkel und öde; der unzureichende Schein der einen Gas-
laterne ſpiegelt ſich in den Sümpfen des Pflaſters, in
den Rinnſteinen wieder. Eine verhüllte Geſtalt ſchleicht
langſam und vorſichtig dicht an den Häuſern hin. Von
Zeit zu Zeit ſchaut ſie ſich um. Geht ſie zu einem
Verbrechen, oder geht ſie ein gutes Werk zu thun?
[21] Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer
Pfiff, —


„Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“


„Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein-
geſchlafen,“ ....


Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige
unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich
ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. —


Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das
Fenſter.


So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die
Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel-
nen beginnt mit — einem Traume. —


Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen
Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf
meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine
Pritſche und ſagte:


„Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine
Zeit mehr zu verlieren.“ —


Jener ſonderbare lange Menſch von drüben, im ab-
[22] getragenen grauen Flausrock, einen ziemlich roth und
ſchäbig blickenden Hut unter dem Arme, klopfte an
meine Thür, kündigte ſich als der Carrikaturenzeichner
Ulrich Strobel an, breitete eine Menge der tollſten Blät-
ter auf dem Tiſche vor mir aus und verlangte: ich ſolle
ihm für den Winter — den Sommer bummele er drau-
ßen herum — eine Stelle als Zeichner bei einem der
hieſigen illuſtrirten Blätter verſchaffen. Er behauptete,
meinen dicken Freund, den Doctor Wimmer in München,
ſehr gut zu kennen, und malte wirklich als Wahrzeichen
das heitere Geſicht des vortrefflichen Schriftſtellers ſo-
gleich auf die innere Seite des Deckels eines daliegen-
den Buches. Ich verſprach dem wunderlichen Burſchen,
deſſen Federzeichnungen wirklich ganz prächtig waren, von
meinem geringen Anſehen in der Literatur hieſiger Stadt
für ihn den möglichſt beſten Gebrauch zu machen, und
er ſchied, indem er in der Thür mir die Hand drückte,
mich ſüß-ſäuerlich anlächelte und ſagte:


„Sie thun ſehr wohl, mich ſo zu verbinden, verehr-
teſter Herr, denn als braver Nachbar würde ich doch
manche angenehme Seite an Ihnen entdecken, die, zu
Papier gebracht, ſich ſehr gut ausnehmen könnte. Gute
Nachbarn werden wir übrigens dieſen Winter hindurch
wohl ſein, theuerſter Herr Wachholder, denn — Sie
ſchauen gern aus dem Fenſter, eine Eigenthümlichkeit
[23] aller der Leute, mit welchen ſich auf die eine oder an-
dere Weiſe leicht leben läßt. Guten Morgen!“


Um eine originelle Bekanntſchaft reicher, kehrte ich
zu meiner Chronik zurück, mit der Gewißheit, dem Mei-
ſter Strobel von Zeit zu Zeit darin wieder zu be-
gegnen. —


Es iſt heute Jahrestag. Ich werde die Erinne-
rung nicht los, ſie verfolgt mich, wo ich gehe und ſtehe.


Es war ein eben ſo trüber, regenfarbiger Winter-
nachmittag wie jetzt, als ich traurig dort drüben in je-
nem Fenſter ſaß — vor langen Jahren — dort drüben
in jenem Fenſter, von welchem aus mir eben der Zeich-
ner Strobel zunickt, — und traurig hinaufſchaute zu der
grauen, eintönigen Himmelsdecke. Die Gaſſe ſah damals
wohl nicht viel anders aus, als heute; doch ſind viele
Geſichter, deren ich mich noch gar gut erinnere, ver-
ſchwunden und haben andern Platz gemacht, und nur
Einzelne, wie zum Beiſpiel der alte Keſſelſchmidt Mar-
quart im Keller drunten, der heute wie vor ſo vielen
Jahren luſtig ſein Eiſen hämmert, haben ſich erhalten
in dieſem ununterbrochenen Strom des Gehens und
[24] Kommens. Dieſe ſind denn auch mit die Anhaltepunkte,
an welche ich bei meinem Rückgedenken den ſtellenweis
unterbrochenen Faden meiner Chronik wieder anknüpfe.


Einem Wäſſerchen will ich dieſe Chronik vergleichen,
einem Wäſſerchen, welches ſich aus dem Schooß der Erde
mühevoll losringt und anfangs trübe, noch die Spu-
ren ſeiner dunklen, ſchmerzenvollen Geburtsſtätte an ſich
trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht
ſprudeln, Blumen werden ſich in ihm ſpiegeln, Vögel-
chen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieſer
Stelle werdet Ihr es faſt zu verlieren glauben, an je-
ner wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird ſeine
eigene Sprache reden in wagehalſigen Sprüngen über
Felſen, im liſtigen Suchen und Finden der Auswege —
— Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im
Sande! …


So fahre ich fort:


Es war, wie geſagt, ein trauriger unheimlicher Tag,
aber nicht er war es, der damals ſo ſchwer auf meine
Seele drückte. An jenem Tage ſah ich von dem Fenſter
dort drüben, die Fenſter der Kammer meiner jetzigen
Wohnung weit geöffnet trotz der Kälte, trotz dem Regen.
Die weißen Vorhänge waren herabgelaſſen und an den
Seiten befeſtigt, damit der Wind, welcher ſie heftig hin
und her bewegte, ſie nicht abriſſe.


[25]

Der Tod hatte ſeine finſtere kalte Hand trennend
auf ein glückliches Zuſammenleben gelegt; der kleine
Stuhl dort unter dem Epheugitter auf dem Fenſtertritt
vor dem Nähtiſchchen war leer geworden.


Marie Ralff war todt! — — — —


Ich ſah von meinem Fenſter aus hier eine Geſtalt
im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes
kleines Kind! Armer — Johannes! — Sie war ſo
lieblich, ſo jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen
im Arm! —


Da hängt im Muſeum der Stadt ein kleines Ma-
donnenbild, wo die „Unberührbare“ den auf ihrem
Schooß ſtehenden kleinen Jeſus gar liebend-verwundert
und mütterlichſtolz betrachtet. Dem Bilde glich ſie,
die eben ſo blondlockig, eben ſo heilig, eben ſo ſchön
war, und oft genug bleibe ich vor dieſem Bilde, einem
Werk des ſpaniſchen Meiſters Morales, den ſeine Zeit-
genoſſen el divino nannten, ſtehen, alter vergangener
ſchöner Zeit gedenkend.


O, ich liebte ſie ſo, ich hatte ſo gelitten, als ſie mich
nur „Freund“ und ihn meinen Freund Franz Ralff „Ge-
liebter“ nannte. Und jetzt war ſie todt; einſam hatte
ſie uns zurückgelaſſen! Der Abend ſank tiefer herab
und die Dämmerung legte ſich zwiſchen mich und das
Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hin-
[26] über! Als ich eintrat, ſchritt Franz immer noch auf und
ab; er ſchien mich nicht zu bemerken und ſtill ſetzte ich
mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha, die
Wärterin über dem Kinde wachte, welches ruhig ſchlief,
die kleinen Hände zum Mündchen hinauf gezogen.


Ich weiß nicht wie lange ich da geſeſſen habe, ich
weiß von keinem meiner Gedanken in jener Nacht Rechen-
ſchaft zu geben. Die tiefe Stille, die auf der großen
Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als
ob das Leben auch dieſes zuckende bewegte Herz eines
ganzen großen Landes verlaſſen habe, als ob das leiſe
Picken der Wanduhr das letzte verklingende Getön des
Weltenrades ſei und die ewige Stille nun binnen Kur-
zem alles Leben zurückgeſchlürft haben würde.


Das leiſe Weinen des Kindes neben mir erweckte
mich endlich; Franz legte mir die Hand auf die Schul-
ter und fiel dann plötzlich erſchöpft auf einen Stuhl ne-
ben mir.


„Gute Nacht, Johannes,“ ſagte er den Kopf an
meine Bruſt legend, „morgen wollen wir ſie begraben!“ —


Es waren die erſten Worte die er an dem Tage
ſprach! —


[27]

O cara, cara Maria vale!

Vale cara Maria!

Cara, cara Maria vale!

Es war ein großer Dichter, der dies auf den Grab-
ſtein einer geliebten Abgeſchiedenen ſetzte, er hatte große,
gewaltige, herzerſchütternde Geſänge geſungen; hier
wußte er nichts weiter als dieſe drei Worte, herzzerreißend
wiederkehrend. Und jenes: Morgen, dämmerte. Das
Leben der großen Stadt begann wieder ſeinen gewöhn-
lichen Gang; der Reichthum gähnte auf ſeinen Kiſſen,
oder hatte auch wohl das Herz ebenſo ſchwer, als die
Armuth, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huſchte, um
einen neuen Ring der Kette ihres Leidens, einen neuen
Tag ihrem Daſein anzuſchmieden. Die Gewerbe faßten
ihr Handwerkszeug; die großen Maſchinen begannen wie-
der zu hämmern und zu rauſchen; die Wagen rollten in
den Straßen und der Taufzug begegnete dem Todten-
wagen, denn es war nicht die einzige Leiche drüben in
der kleinen Kammer, die in der menſchenvollen Stadt
im letzten Schlaf ausgeſtreckt lag. —


Ich ging hinüber. Der Keſſelſchmidt Marquart —
er war damals noch jünger und kräftiger als heute —
hatte ſein Hämmern eingeſtellt und lehnte traurig in der
niedrigen Thür, die in ſeine unterirdiſche Werkſtatt hin-
[28] abführt; er liebte die todte Marie ſo gut wie Alle, die
mit ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte ſie
nicht für jeden fremden Schmerz eine Thräne, für jede
fremde Freude ein theilnehmendes Lächeln? War ſie
nicht in der dunkeln Sperlingsgaſſe wie jene ſonnige,
gute, kleine Fee, die überall wo ſie hintrat, eine Blume
aus dem Boden hervorrief? —


Auf dem Hausflur ſtanden flüſternde Frauen, die mir
traurig, als ich vorüberging, zunickten und auf einer
Treppenſtufe ſaß ein kleines ſchluchzendes Mädchen, eine
zerbrochene Puppe im Schooß. — O, ich weiß das Alles
noch! Und jetzt trat ich ein — — —


Da lag ſie in ihrem weißen, mit rothen Schleifen
beſetzten Kleide, eine aufgeblühte Roſe auf der Bruſt,
in ihrem ſchwarzen Sarge; die einſt ſo klaren innigen
Augen geſchloſſen, die ewige ernſte Ruhe des Todes auf
der reinen Stirn! Franz fiel mir weinend um den
Hals; junge Nachbarinnen in weißen Sonntagskleidern
befeſtigten Guirlanden von Tannenzweigen und Immer-
grün, aus denen hier und da eine einſame Blume her-
vorſchaute, um den ſchwarzen Schrein.


Ach, die Armuth und der Winter erlaubten nicht,
allzu viel:
„Süßes der Süßen“
zu ſtreuen! —


[29]

Der junge Tiſchler Rudolf unten aus dem Hauſe
ſtand, die Augen mit der Linken bedeckend, Hammer und
Nägel in der Rechten zur Seite; ſeine junge Braut
lehnte ſchluchzend das Haupt auf ſeine Schulter. O,
ich weiß das Alles, Alles noch! — Einen letzten, langen,
langen Blick warf ich auf die ſchöne, bleiche, ſtille Ge-
ſpielin meiner Kindheit, die Heilige meiner Jünglings-
jahre, die Tröſterin meines Mannesalters, dann hob ich
leiſe Franz von ihrer Bruſt, über die er hingeſunken
war, auf und führte ihn an die Wiege ſeines Kindes.
— Rudolf der Tiſchler, begann ſein trauriges Werk.
Unter dumpfen Hammerſchlägen legte ſich der Deckel über
dies Reliquarium eines Menſchenlebens. Ein kalter
Schauer überlief mich! Vale, vale cara Maria! — —


Die Träger kamen, hoben die leichte Laſt auf die
Schultern und trugen ſie die ſchmale enge Treppe hinab;
die Frauen ſchluchzten, Kinderköpfe lugten verwundert-
ernſt durch die Hausthür und wichen ſcheu zur Seite,
als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde
und Bekannte hatten ſich eingefunden, das Weib des
Malers auf dem letzten Wege zu begleiten; der Keſſel-
ſchmidt zog das Mützchen ab und ſtrich mit ſeiner
ſchwarzen ſchwieligen Hand über die Augen. Den, wie
in einem böſen Traum gehenden Franz führend, ſchritt
ich dem Bretterhäuschen nach, welches unſer Liebſtes
[30] barg — O, ich weiß das Alles noch ganz genau! So
iſt das Menſchenherz! Viele Jahre ſind vorüber gegangen
ſeit jenem traurigen Tage, und heute noch erinnere ich
mich an alle die finſtern Gedanken, die damals durch
meine Bruſt zogen, während ich ſo manche jüngere Freude
vergeſſen habe!


Es lernt und ſieht ſich ſo Manches auf einem ſolchen
Gange, für den, der es verſteht, auf den Geſichtern der
Begegnenden und Nachſchauenden zu leſen.


Sieh dort an der Ecke die arme, mit Lumpen be-
kleidete Frau aus dem Volk, wie ſie ihr Kind feſter an
ſich drückt und flüſtert: „Was ſollte aus dir werden,
mein kleines Herz, wenn ich heute ſo ſtill liege wie die,
welche man da fortträgt.“ —


Dort kommt eine elegante Equipage, Kutſcher und
Bediente in prächtiger Livree mit Blumenſträußen im
Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern an den Kopf-
geſchirren der Pferde; der junge vornehme Mann führt
ſeine ſchöne Braut zur Trauung, ihr Auge trifft den
Sarg, der langſam auf den Schultern der Träger daher
ſchwankt und die junge Verlobte birgt zitternd ihr
Juwelenblitzendes Haupt an der Bruſt neben ihr. —


Sieh den Arbeiter, der dort das Beil ſinken läßt
und ſtier dem Zuge des Todes nachſieht. „Schaffe weiter
Proletarier, auch dein Weib liegt zu Hauſe ſterbend;
[31] ſchaffe weiter, du haſt keine Zeit zu verlieren; der Tod
iſt ſchnell aber du mußt ſchneller ſein, Mann der Arbeit,
wenn du ſie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger
ſchützen willſt.“ —


Beugt das Haupt und tretet zur Seite ihr Ketten-
klirrende Verbrecher! Der Tod zieht vorüber! Er wird
auch euch einſt von euern Ketten befreien! Beugt das
Haupt ihr armen Geſchöpfe der Nacht, der Tod zieht
vorüber, und auch euch hebt er einſt, den erborgten
Flitterputz, den armen beſchmutzten Körper, die Sünde
der Geſellſchaft euch abſtreifend, rein und heilig empor
aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend. —


Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf
den Lippen fordere ich nicht, daß du zur Seite treteſt!
Der Zug des Todes mag dir ausweichen; — du biſt
würdig dein Leben doppelt und dreifach zu leben! —


Es iſt ein langer Weg aus der Mitte der großen
Stadt bis zu dem Johanniskirchhofe draußen, und nie
iſt mir ein Weg ſo lang und doch zugleich ſo kurz vor-
gekommen. Ich dachte an den Verurtheilten, der dem
Richtplatz näher und näher kommt, dem jede Minute
eine Ewigkeit und der ſtundenlange Weg ein Augenblick
iſt. — Ach wir armen Menſchen, iſt nicht das ganze
Leben ein ſolcher Gang zum Richtplatz — und doch
freuen wir uns und jubeln über die Blumen am Wege,
[32] und ſehen in jedem Thautropfen, der in ihnen hängt,
Himmel und Erde! — Armes glückliches Menſchenherz!


Die ſchweren, maſſigen Regenwolken wälzten ſich
dicht über der Erde weg, als wir aus dem Thor traten.
Grau in Grau Himmel und Erde! Grau in Grau
Herz und Welt!


Die Bäume ſtreckten ihre leeren Aeſte wehmüthig
empor, eine Meiſe flog von Aſt zu Aſt vor dem Zuge her.


Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des
Friedhofes. Langſam wand der Zug ſich den Weg ent-
lang, an friſchen und eingeſunkenen Hügeln, ſtolzen Mo-
numenten und dürftig naiven Putz vorüber, der Stelle
zu, wo die Hülle der todten Marie ruhen ſollte. Im
folgenden Frühling machten wir einen hübſchen heimli-
chen Ort daraus, wo die Goldregenbüſche ihre duften-
den Trauben herabhängen ließen und die Vögel in den
Roſenſträuchern zwitſcherten, heute aber war’s rings um-
her gar traurig und unheimlich. Auf dem Grunde der
Grube, die unſer Liebſtes aufnehmen ſollte, ſtand ein
kleiner Sumpf Regenwaſſer, in welchem ſich aber plötz-
lich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwi-
ſchen den ziehenden Wolken durchlugte, wiederſpiegelte.
— — Ich habe Nichts, Nichts vergeſſen!


Und nun ihr Männer laßt den Sarg hinabgleiten;
gebt der alten ſchaffenden Mutter Erde ihr ſchönes Kind
[33] zurück! Und nun Franz, wirf drei Hände voll Erde auf
die verſinkende Welt deiner Freude! — Ergreift die
Schaufeln ihr Clowns und vollendet euer Geſchäft! Du
alter, rothnäſiger Burſch, bemühe dich nicht, ein weh-
müthiges Geſicht zu ziehen, winke nur deinem Gefähr-
ten, daß er die Flaſche bei Yaughan füllen laſſe, und
brumme leiſe dein altes Todtengräberlied in den Bart! —


Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den
Sarg poltern, und wie jeder Ton das arme Herz
erzittern läßt in ſeinen tiefſten Tiefen! Wie das Auge
ſich anklammert an den letzten Schein des ſchwarzen
Holzes, der durch die bedeckende Erde ſchimmert, bis
endlich jede Spur verſchwindet, die hinabgeworfene Erde
nur noch Erde trifft, die Höhle ſich allmählig füllt und
endlich der Hügel ſich erhebt, der von nun an mit dem
geliebten begrabenen Weſen in unſern Gedanken identiſch
iſt! — — —


Wunderliches Menſchenvolk, ſo groß und ſo klein in
demſelben Augenblick! Welch’ eine Tragödie, welch’ ein
Kampf, welch’ ein — Puppenſpiel jedes Leben; von dem
des Kindes, das vergeblich nach der glänzenden Mond-
ſcheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort „Ich“
ausſprechen kann, bis zu dem des grübelnden Philoſo-
phen, der in daſſelbe Wörtchen „Ich“ das Univerſum
legt und zuſammenbricht, ein körper- und geiſtesſchwacher
3
[34] Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und
Kälte behalten hat.


Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen
Eſel „Zeit“ ſitzend, reitet die Menſchheit ihrem Ziele
zu. Horch, wie luſtig die Schellen und Glöckchen am
Sattelſchmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygiſche
Mützen — Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem
Ziel ſchleicht das graue Thier entgegen? Iſt’s das wie-
dergewonnene Paradies; iſt’s das Schaffot? Die Rei-
terin kennt es nicht; ſie — will es nicht kennen! Den
Kopf dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangen-
heit zugewandt, lauſcht ſie den Glöckchen, mag das Thier
über blumige Friedensauen wandern oder durch das Blut
der Schlachtfelder waten, — ſie lauſcht und träumt!
Ja, ſie träumt. Ein Traum iſt das Leben der Menſch-
heit, ein Traum iſt das Leben des Individuums. Wie
und wo wird das Erwachen ſein?


Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Aſche
eines großen volksthümlichen Tonkünſtlers ein Stein,
auf welchen eine Freundeshand geſchrieben hat:


„Sein Lied war deutſch und deutſch ſein Leid,

„Sein Leben Kampf mit Noth und Neid,

„Das Leid flieht dieſen Friedensort,

„Der Kampf iſt aus — das Lied tönt fort! —“

[35]

Ich lege die Feder nieder und wiederhole leiſe dieſe
Zeilen. — Ich kann heute nicht weiter ſchreiben. —


Meinem Verſprechen gemäß hatte ich der Redaction
der welken Blätter — Wimmerianiſchen Angeden-
kens — einige der Federzeichnungen meines Nachbars
Strobel vorgelegt und konnte heute ſchon ihm ſeine Auf-
nahme unter die Zeichner jenes witzigen Journals mit-
theilen. Da ich ſeine Naſe hinter den Scheiben ſeiner
Fenſter einige Male hatte hervorlugen ſehen, ſo machte
ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Woh-
nung, in die ich, ſeit ich ſie verlaſſen, ſo Viele ein- und
ausziehen geſehen habe.


Die dicke Madame Pimpernell hat es aufgegeben,
in eigener, gewichtiger Perſon über den Vorräthen des
Viktualienladens zu thronen, ſie hat ſich in einen ge-
waltigen, ausgepolſterten Lehnſtuhl hinter dem Ofen
zurückgezogen, von wo aus ſie oft genug Dorette —
auch Rettchen genannt — ihre hagere Tochter und Nach-
folgerin im Reich der Käſe, der Butter und der Milch
zur Verzweiflung zu bringen vermag.


3*
[36]

Das mittlere Stockwerk des Hauſes Nr. 11 ſteht
augenblicklich leer, indem nach heftigen Kämpfen mit
dem Parterre, Trepp’ auf und ab, die letzten Ein-
wohnerinnen: die verwittwete Geheime Ober-Finanz-Se-
cretairin Trampel und ihre zwei ſehr ältlichen und ſehr
anſäuerlichen Töchter Heloiſe und Klara — Oehllieſe
und Knarre von der Madame Pimpernell genannt —
abgezogen ſind. Clavier, Harfe und Guitarre, die drei
Marterinſtrumente der Sperlingsgaſſe, nahmen ſie glück-
licherweiſe mit, ſo wie auch den edlen Kater Eros und
den eben ſo edlen, ſchiefbeinigen Teckel Anteros — Ge-
ſchenke eines neuen und doch ſchon antediluvianiſchen
Abälards und Egmonts. —


Wie oft war ich einſt dieſe ſteilen, engen Treppen
hinauf und hinabgeklettert; jetzt einen Haufen Bücher
unter dem Arm, jetzt einen, wie ich glaubte, Furore
machenſollenden Leitartikel in der Rocktaſche. Wie oft
haben Mariens kleine Füße dieſe ſchmutzigen Stufen be-
treten, wenn ſie mit Franz zu einem prächtigen Thee-
abend kam, dem ich immer mit ſo untadelhafter, haus-
väterlicher Würde vorzuſtehen wußte! Wie ich dann ihr
helles Lachen, welches die feuchten, ſchwarzen Wände ſo
fröhlich wiedergaben, erwartete; wie ſie ſo reizend über
meine verwilderte Stube ſpötteln konnte und dann trotz
aller meiner vorherigen ſtundenlangen Bemühungen erſt
[37] durch fünf Minuten ihrer Anweſenheit einen menſch-
lichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann ſpä-
ter von der kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine un-
glückliche Flöte hervorzuholen und ſteinerweichend eine
klägliche Nachahmung von: „Guter Mond, du gehſt ſo
ſtille,“ hervorzujammern, bis Franz Einſpruch that, oder
mir der Athem ausging, oder der kleinen Tyrannin die
Kraft zu lachen. Es waren ſelige Abende, und ich nahm
das Andenken daran mit herauf bis zur Thür des Zeich-
ners. Auf mein Anklopfen erſchallte drinnen ein un-
verſtändliches Gebrumme; ich trat ein. — — —


Manche Junggeſellenwirthſchaft habe ich durchgemacht
und kann viel vertragen in dieſer Hinſicht. Den Doc-
tor Wimmer, den Schauſpieler Müller, den Muſiker
Schmidt, den Candidaten der Theologie Schulze habe
ich in ihrer Häuslichkeit geſehen, von meiner eigenen
Unordnung nicht zu ſprechen, aber eine ſolche maleriſche
Liederlichkeit war mir doch noch nicht vorgekommen.
Eine Phantaſie, durch Juſtinus Kerner’s kakodämoni-
ſchen Magnetismus in Verwirrung gerathen, könnte, ge-
froren, verſteinert, verkörpert in einem anatomiſchen Mu-
ſeum ausgeſtellt, keinen tolleren Anblick gewähren! Auf
einem unausſprechlich lächerlichen Sopha, viel zu kurz
für ihn, lag, den Kopf gegen die Thür, die Beine über
die Lehne weg geſtreckt, und die Füße gegen die Fenſter-
[38] wand geſtemmt, der lange Zeichner, die Cigarre, die
große Troſtſpenderin des neunzehnten Jahrhunderts im
Munde, ein Zeichenbrett auf den Knien und den Stift
in der Hand. Ein dreibeiniger Tiſch, der ohne Zweifel
einſt unter die Quadrupeden gehört hatte, war an dieſe
Lagerſtatt gezogen; ein leerer Bierkrug, eine halbgeleerte
Cigarrenkiſte, Tuſchnäpfchen, bekritzelte Papiere und an-
dere heterogene Gegenſtände bedeckten ihn im reizendſten
Miſchmaſch. Drei verſchiedengeſtaltete Stühle hatte die
„Bude“ aufzuweiſen; der eine aus der Rokokozeit diente
als Bibliothek, der andere, ein grünangeſtrichener Gar-
tenſtuhl, verrichtete die Dienſte eines Kleiderſchranks, und
der dritte, von deſſem früheren Polſter nur noch der zer-
fetzte Ueberzug herabhing, war o horror! — zur —
Toilette entwürdigt, und ein Waſchnapf, Seife, Kämme
und Zahnbürſten machten ſich breiter auf ihm als eigent-
lich nöthig war. In einer Ecke des Zimmers lehnte
der Ziegenhainer des wanderluſtigen Karikaturenzeich-
ners und auf ihm ſein breitrandiger Filz. In einem
andern Winkel hing eine umfangreiche Reiſetaſche, und
die Wände entlang war mit Stecknadeln eine tolle Zeich-
nung neben der andern feſtgenagelt. Das Ganze ein
wahres Pandämonium von Humor und ſcurrilem Un-
ſinn! —


„Ah, mein Nachbar!“ rief Meiſter Strobel, bei mei-
[39] nem Eintritt von ſeinem Sopha aufſpringend, mit der
einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit der an-
dern den wackelnden Tiſch am Fallen hindernd. „Das
iſt ſehr edel von Ihnen, daß Sie meinen Beſuch ſo
bald erwiedern; ſeien Sie herzlichſt gegrüßt und neh-
men Sie Platz!“ Mit dieſen Worten ließ er die Laſt
des Bibliothekſtuhls zur Erde gleiten und zog ihn an
den Tiſch, von dem er ebenfalls die meiſten Gegenſtände
an beliebige Plätze ſchleuderte.


„Ich bin gekommen, Ihnen mitzutheilen, Herr Stro-
bel, daß Ihre Blätter großen Anklang bei der Redac-
tion der welken Blätter gefunden haben, und daß die-
ſelbe ſtolz ſein wird, Sie unter ihre Mitarbeiter zu
zählen.“


„Sehr verbunden,“ ſagte der Zeichner, der ſich auf
myſteriöſe Weiſe eben am Ofen beſchäftigte, „bitte, neh-
men Sie eine Cigarre und erlauben Sie mir, Ihnen
eine Taſſe Kaffee anzubieten.“


Er ſchaute in einen ſehr verdächtig ausſehenden Topf,
den er aus der Ofenröhre nahm. — „O weh,“ rief er,
während ich alle Heiligen des Kalenders anrief, „die
Quelle iſt verſiegt!“ —


„Bitte, machen Sie keine Umſtände, Ihre Cigarren
ſind ausgezeichnet!“


„Ja,“ ſagte Strobel, ſich nun wieder auf ſein So-
[40] pha ſetzend, „das iſt der einzige Luxus, den ich nicht
entbehren könnte, und ich preiſe meinen Stern, der mich
in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redens-
art: Kein Vergnügen ohne die Damen —, in die je-
denfalls paſſendere: Kein Vergnügen ohne eine Cigarre,
— umgeändert hat.“


„Sind Sie ein ſolcher Weiberfeind?“


„Keineswegs; im Gegentheil, ich beuge mich ganz
und gar dem franzöſiſchen Wort: Ce que femme veut,
Dieu le veut
und ziehe — deshalb gerade, die nicht
ſo anſpruchsvolle Cigarre vor, die für uns glüht, ohne
das Gleiche zu verlangen, die intereſſant iſt, ohne in-
tereſſirt ſein zu wollen und ſo weiter, und ſo weiter!“


„Sie ſind wirklich ein echtes Kind unſerer Zeit, die
durch zu viele und zu verſchiedenartige Anſpannungen
im Ganzen, bei dem Einzelnen das Gehenlaſſen, die
Athaumaſie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.“


„Puh,“ ſagte der Zeichner, eine gewaltige Dampf-
wolke fortblaſend, „ich konnt’s mir denken, da ſind wir
ſchon in einem ſolchen Geſpräche, wie ſie alles Zuſam-
menleben jetzt verbittern; übrigens iſt unſere Zeit durch-
aus nicht apathiſch, aber der Einzelne fängt an, das
wahre Princip herauszufinden, daß nämlich die Sache
durch die Sache gehen muß. — Nicht jeder Erſte Beſte
ſoll ſich fähig glauben, den Wegweiſer ſpielen zu kön-
[41] nen, den Arm ausſtrecken und ſchreien: Holla, da lauft,
dort geht der rechte Weg, dorthin liegt das Ziel!“


„Und die ſeitwärts abführenden Holzwege? …“


„Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem ſie
an irgend einer ſchönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle
vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie ſo
viel Erfahrungen für den Geiſt, ſo viel Skizzen für
meine Mappe mitgebracht, als wenn ich mich verirrt
hatte.“


„Sie müſſen ein eigenthümliches Leben geführt ha-
ben und führen!“ ſagte ich, den ſonderbaren Menſchen
vor mir anſehend. Er ſtrich mit der Hand über das
ſonnverbrannte, verſchrumpfte Geſicht und lächelte. —


„Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, iſt ſtets
eigenthümlich!“ ſagte er. „Uebrigens wird jeder Menſch
mit irgend einer Eigenthümlichkeit geboren, die, wenn
man ſie gewähren läßt — was gewöhnlich nicht ge-
ſchieht — ſich durch das ganze Leben zu ranken vermag,
hier Blüthen treibend, dort Stacheln anſetzend, dort —
von Außen geſtochen — Galläpfel. Was mich betrifft,
ſo bin ich von früheſter Jugend auf mit der unwider-
ſtehlichſten Neigung behaftet geweſen, mein Leben auf
dem Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und
Gehen die Hände in die Hoſentaſchen zu ſtecken. Sie
lächeln, — aber was ich bin, bin ich dadurch geworden.“


[42]

„Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemer-
kung. Wir Alle ſind Sonntagskinder, in Jedem liegt
ein Keim der Fähigkeit, das Geiſtervolk zu belauſchen,
aber es iſt freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen
kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerſtraße
und dem Lärm des Marktes.“


„Holla,“ rief der Zeichner, plötzlich aufſpringend
und nach dem Fenſter eilend, „ſehen Sie, welch’ ein
Bild!“ —


In der Dachwohnung über der meinigen drüben
hatte ſich ein Fenſter geöffnet. Die kleine Ballettänze-
rin, welche dort wohnt, ließ ihr hübſches Kindchen nach
den leiſe herabſinkenden Schneeflocken greifen. Das Kind
ſtreckte die Aermchen aus und jubelte, wenn ſich einer
der großen, weißen Sterne auf ſeine Händchen legte oder
auf ſein Näschen. Die arme, ohne die Schminke der
Bühne ſo bleiche Mutter ſah ſo glücklich aus, daß Nie-
mand in dieſem Augenblick die traurige Geſchichte des
jungen Weibes geahnt hätte.


„Ich habe auf ihrem Schreibtiſche Blätter geſehen
mit der Ueberſchrift: Chronik der Sperlingsgaſſe,“ ſagte
Strobel, „das Bild da drüben gehört hinein, wie es in
meine Skizzenmappe gehört.“


„Es würde eine dunkle Seite darin bilden,“ ant-
wortete ich, „und die Chronik hat deren genug. Wie
[43] wär’s aber, wenn Sie Mitarbeiter dieſer Chronik der
Sperlingsgaſſe würden; Sie haben ein gar glückliches
Auge!“


„Glauben Sie?“ ſagte der Karikaturenzeichner, der
den Kleiderſchrankſtuhl an das Fenſter gezogen hatte
und emſig auf einem Papier kritzelte. „Sie wollen keine
dunkeln Blätter; — kennen Sie vielleicht die Geſchichte
jenes engliſchen Zerrbildzeichners, der vor dem Spiegel
an ſeinem eigenen Geſichte die Fratzen der menſchlichen
Leidenſchaften ſtudirte?“


„Nein, ich kenne die Geſchichte nicht. Was ward
mit ihm?“


„Er — ſchnitt ſich den Hals ab,“ ſagte der Zeich-
ner dumpf, ſeine vollendete Skizze fortlegend.


Verwundert ſchaute ich auf. Das Geſicht Strobels
hatte einen Ausdruck von Trübſinn angenommen, der
mich faſt erſchreckte. Er ſprach nicht weiter und es trat
eine Stille ein, während drüben das Kind lachte und
jubelte und die Tänzerin den Spatzen, die ſich zwit-
ſchernd auf die Dachrinne ſetzten, Brodkrumen ſtreute.
Ich ſah, daß der Zeichner allein ſein wollte und ging;
der ſonderbare Menſch begleitete mich bis zur Treppe.
Dort ſagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:


„Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik wer-
den, Signor!“ —


[44]

So endete mein erſter Beſuch bei dem Karikaturen-
zeichner Ulrich Strobel.


Es iſt jetzt vollſtändig Winter geworden; der Schnee
liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt
der verſpäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hö-
ren könnte. Es iſt tiefe Nacht.


Was iſt das für ein bleiches, verfallenes Geſicht,
welches da vor mir auftaucht? Iſt das Franz, — der
lebensmuthige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einſt
kannte? —


Drei Monate waren hingegangen, ſeit man die todte
Marie zu ihrer ſtillen Ruheſtätte hinausgetragen hatte.
Ich ſaß neben meinem Freunde, der, auf die graugrun-
dirte Leinwand vor ihm ſtarrend, plötzlich begann:


„Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geſchichte er-
zählen. Es wird gut ſein, daß Du ſie kennſt, auch
könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind ſie er-
fahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlaſſen,
Johannes.“


„Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unſere
früheſte Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ah-
[45] nungsloſe Kinder waren. — O Johannes, laß mich ſie
zurückrufen, dieſe ſeligen Tage! Klingt es Dir nicht
auch bei jeder Erinnerung daran, wie das Läuten jener
im Wald verlorenen Kirche? O, mein Jugend-Wald-
leben! — Wie ich es jetzt vor mir ſehe, dieſes alte,
braune, verfallende Jägerhaus, mitten in der grünen,
duftigen Einſamkeit! Vorbei plätſchernd der klare Bach,
der dann tiefer im Walde den ſtillen Teich bildet, den
die Sage ſo wunderſam umſchlungen hat! Wie oft bin
ich nicht, das Kinderherz voll geheimnißvollen Bebens,
an funkelnden Mondſcheinabenden, wenn die Bewohner
des Jägerhauſes vor der Thür ſaßen und der alte Burch-
hard das Waldhorn — Du weißt wie ſchön — bließ,
dem durch das Dunkel glitzernden Bach nachgeſchlichen,
dem ſtillen Waſſer zu, das Treiben der Nixen und El-
fen zu belauſchen. Wie fuhr ich nicht zuſammen, wenn
eine Eidechſe im Graſe raſchelte, oder ein Nachtvogel
ſchwerfälligen Flugs über den glänzenden Spiegel des
Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müſſe das wun-
derſame Geheimniß an’s Licht treten und ſein Weſen
und [Wehen] beginnen um die volle Scheibe des Mon-
des, die in der klaren, ſtillen Fluth wiedergeſpiegelt lag.
Erſt ſpäter erfuhr ich, woher der tiefe, geheime Zug in
mir nach dieſem Waldwaſſer ſtamme.


Wie oft bin ich nicht, wenn der Sturm in den
[46] Bäumen rauſchte, hinauf geſtiegen in eine hohe Tanne,
um mich, die Arme feſt um den rauhen, harzigen Stamm
geſchlungen, das Herz gepreßt von Angſt und unſäglicher
Seligkeit — hin und her ſchleudern zu laſſen vom
Winde.


Und dann, wenn draußen die heiße Juliſonne auf
der Welt lag, die in dieſe Waldnacht nur vorſichtig
neugierig hinein zu lugen wagte: welch’ ein Träumen
war das! — Welch’ eine Wonne war’s, im Graſe zu
liegen, während der Rauhbach an meiner Seite rauſchte
und murmelte und ſeine Kieſel langſam weiterſchob;
während die Sonnenlichter an den ſchlanken Buchen-
ſtämmen oder über den Wellchen des Baches ſpielten
und zitterten; die Waſſerjungfer über mich hinſchoß;
rings umher die Glocken-Blumen ihre blauen Kelche der
Erde zuneigten und der ſtolze Fingerhut die ſeinen
trotzend emporhob, als wolle er die verirrten Strahlen
der Sonne darin auffangen.


Welche Winterabende waren das, wenn ich dem al-
ten, weißbärtigen Mann, den ich Oheim nannte, auf
dem Knie ſaß, mit den Quaſten ſeiner kurzen Jäger-
pfeife ſpielte und ſeinen Geſchichten und Sagen lauſchte,
während die Hunde zu unſern Füßen ſchliefen und träum-
ten, und nur von Zeit zu Zeit aufhorchten, wenn der
alte Caro draußen anſchlug.


[47]

Es war ein glückliches Leben, dieſes Leben im Walde,
und iſt von großem Einfluß auf meine ſpätere künſt-
leriſche Entwickelung geweſen. Noch gar gut erinnere
ich mich des Tages, an welchem ich mein erſtes Kunſt-
werk an der Stallthür zu Stande brachte. Es war ein
Portrait unſeres alten Burchhards und ſeines getreuen
Begleiters, des kleinen Dachshundes, der die Eigen-
thümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu beſitzen, ſon-
dern nur auf einen beſonderen Pfiff ſeines Herrn
hörte. —


Der folgende Zeitraum meiner Geſchichte, Johannes,
iſt Dir faſt ſo gut als mir bekannt, und ich könnte
kürzer darüber weggehen, wenn es mich nicht überall,
wo ihr Bild auftaucht, ſo gewaltig feſthielte.


Wieviel heimliche Thränen — der Oheim liebte das
Weinen nicht — wiſchte ich mir aus den Augen, als
der Tag kam, an welchem ich meiner grünen Waldes-
nacht Ade ſagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden
Baum, an jeden Strauch, an welchem der Weg aus
dem Walde heraus vorbeiführte, feſtgeklammert. Wie un-
ermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor. Wie eine
Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Son-
nenſchein gezerrt hat, ſchien ich mir anfangs in Ulfel-
den. Ich war unglücklich, wie ein Kind von zwölf Jah-
[48] ren es nur ſein kann, ehe ich mich in das ungewohnte
Leben hinein fand. —


Wie deutlich ſteht mir der erſte Abend in unſerer
Kindheitsſtadt noch vor dem Gedächtniß! Der Oheim
war zurückgekehrt in ſein einſames Waldhaus, die Frau
Rectorin wirthſchaftete in der Küche, der alte Rector
ſaß oben in ſeinem kleinen Studirſtübchen über dem
Tacitus, ſeinem Lieblingsſchriftſteller, wie ich ſpäter er-
fuhr und — ich kauerte einſam mit verquollenen, thrä-
nenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hauſe
und ſchaute in dumpfem Hinbrüten den vorbeiſchießen-
den Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas
ſchmutziges Händchen mir einen angebiſſenen rothbackigen
Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen ſich unter meine Naſe
drängte und ein feines Stimmchen ſagte:


„Nicht weinen … Junge … Mama auch Eierku-
chen backen.“


Ich hatte damals große Luſt, die kleine Tröſterin
zurückzuſtoßen, ſie ließ ſich aber nicht abweiſen, und als
ich über ihr Mitgefühl ſtärker zu ſchluchzen anfing, fing
auch ſie an zu weinen. Unter dieſem Thränenſtrom
wurden wir von dem alten Rector überraſcht, welcher
plötzlich in ſeinem rothgeblümten Schlafrock — ein Por-
trait von ihm giebt es dort unter meinen Skizzen —
und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns ſtand.


[49]

„Nun, kleines Volk,“ ſagte er lächelnd, das iſt ja
eine prächtige Freundſchaft zwiſchen Euch, die ſo mit
Heulen anfängt! Wer hat denn dem Andern etwas zu
Leide gethan?“


Dieſe diplomatiſche Wendung der Sache brachte auf
einmal meinen Thränenſtrom zum Stehen, und auch die
kleine Marie lächelte ſogleich wieder durch die hellen
Tropfen, die ihr über beide Backen rollten.


„Wird ſchon gehen, wird ſchon gehen!“ brummte der
alte Scholarch, fuhr mit der Hand über meine Haare
und ging dann zurück in’s Haus, um ſeiner Frau beim
Eierkuchenbacken zuzuſehen.


Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Gar-
ten im Winkel, grub eine keimende Bohne hervor,
zeigte ſie mir jubelnd und verſprach mir ein ähnliches
Feld für meine Thätigkeit. Dann zogen wir uns in
die Geisblattlaube zurück, wo der Tiſch gedeckt war.
Da fand ich neben dem Nähzeuge der Frau Rectorin
ein Buch auf der Bank, — ein Bilderbuch, welches mich
den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burch-
hard, mein ganzes Heimweh zuerſt vergeſſen ließ. Es
war ein zerleſener und zerblätterter Band des Welt- und
Kinderbekannten Bertuch’ſchen Werks! Welch’ eine neue
Welt ging mir da auf! — Und die kleine Marie lehnte
neben mir; lachte, erklärte und kitzelte mich mit Stroh-
4
[50] halmen; — dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier-
kuchen und der Rector verließ ſeinen Tacitus; die
Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden
Sonntag ein; — ich hatte mich gefunden! — Erin-
nerſt Du Dich wohl noch, Hans, dieſes Sonntagmor-
gens, der auf meinen erſten Tag in Ulfelden folgte?
Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu-
nickteſt und beim Nachhauſegehen unſere Freundſchaft
ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche
Du mir in die Haare warfeſt? Weißt Du wohl, Jo-
hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem
tollſten, verwegenſten Schlingel der ganzen Gegend her-
anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie
aus ihren großen Augen ſo traurig anſah? Es war eine
prächtige Zeit und — das Latein war durchaus keine
ſo böſe Krankheit wie das Scharlachfrieſel; — ich hatte
dieſen Gedanken aus dem Walde mitgebracht — ſon-
dern höchſtens ein leichter Schnupfen, der bald wieder
auszuſchwitzen war.


Dann kamen die Zeichenſtunden bei dem alten Ma-
ler Gruner, der mir zuerſt die Welt des Schönen deut-
licher vor die Augen legte, der in ſeiner trockenen, kau-
ſtiſchen Weiſe das Leben, welches er ſehr wohl kannte,
an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich
hinaus ſehnte in dieſe ſo ſchön blühende Welt, wo man
[51] nur die Hand auszuſtrecken brauchte, um Glück, Ruhm
und Reichthum zu erfaſſen.


Den Wald hatte ich faſt ganz vergeſſen; ich ſehnte
mich gar nicht zurück; hinaus wollte ich in die Welt,
Maler werden, tauſend Träume machte ich und — in
allen ſchwebte Mariens holdes Bild! —


Da wurde ich eines Tages zurückgerufen in das ein-
ſame Jägerhaus und fand — meinen alten Oheim
auf dem Sterbebette. Eine Erkältung, die er ſich zu-
gezogen und nicht beachtet, hatte bei ſeinem vorgerück-
ten Alter eine tödtliche Wendung genommen. Alle ärzt-
liche und geiſtliche Hülfe verſchmähend, hatte er nur
nach mir verlangt. Eine ſchreckliche Enthüllung erwar-
tete mich am Bette des Mannes, an deſſen Seite ich
nur den alten Burchhard traf, während die Waldgrethe,
die bejahrte Magd des Förſterhauſes, ab und zu ging. —


Als ich, — jetzt ein neunzehnjähriger Jüngling, —
an das Lager meines Ohms trat, ſah mich dieſer, eben
aus einem kurzen, unruhigen Schlummer erwachend,
ſtarr an.


„Er gleicht ihm immer mehr,“ murmelte er. Als
ich mich über ihn beugte, küßte mich der alte, ſtrenge
Mann und ſagte mit erloſchener Stimme:


„Franz, — Du ſiehſt, es iſt vorbei mit mir; ich
brauche den Jagdranzen nicht zu füllen und nicht für
4*
[52] Schießzeug zu ſorgen für den Gang, den ich jetzt gehen
muß. Heule nicht, Junge; weißt, ich hab’s nie leiden
können. Iſt Weibermode! — Ich möchte Dir aber
noch etwas ſagen, eh’ ich abmarſchire vom Anſtand;
kannſt dann daraus machen, was Du willſt. Setze Dich
und höre zu! — Schau, da hinten,“ — der Alte zeigte
durch das offene Fenſter, in welches grüne Zweige ſchlu-
gen und die Abendſonne zitterte, während ein Buchfink
davor ſang;“ — „da hinten hinter dem Walde kommſt
Du in die große Ebene, wo Du Tage lang gehen
kannſt, ohne einen Berg zu ſehen. Die Leute nennen’s
ein ſchönes Land; — mag ſein, hab’s aber nie leiden
können und mag den Wald lieber. Einen Hügel aber
giebt’s doch da, mitten in dem flachen Lande und den
Kornfeldern, mit einem Schloß, Seeburg geheißen, und
am Fuße des Hügels ein Dorf deſſelbigen Namens.
Daher ſtammt unſere Familie, da bin ich geboren, da
iſt auch Burchhard her.“


Der Letzterwähnte nickte hier mit dem Kopfe und
brummte vor ſich hin: „Beides ’ne gute Art, die Ralffs
und Burchhards!“


„Haſt Recht, Alter,“ fuhr mein Oheim fort, „hoffe
auch, der da (er wies auf mich) ſoll nicht aus der Art
ſchlagen, wenn er gleich unrecht Blut in den Adern hat!
Höre weiter, Junge: War ein ſtolz Volk, die Grafen
[53] Seeburg, die da ſeit alter Zeit auf dem Neſte ſaßen.
Hab’s geleſen in alten Chroniken, wie ſie die Leute plag-
ten und die Kaufleute fingen. Trieb’s auch die neue
Art, die damals in ſeidenen Strümpfen und Schuhen
ging, nicht viel beſſer, wenn auch anders. Halt’s Maul,
Burchhard, weiß, was Du ſagen willſt. — Ich war da-
mals ein ſchmucker Burſch’, wußte trefflich mit der
Büchſe umzugehen und war Andreas Ralff bekannt als
Meiſterſchütze auf Kirchweihen und Vogelſchießen weit
und breit, wie Deine Mutter, Franz, meine Schweſter,
als das ſchönſte Mädchen im Lande. Sagte mir da-
mals der junge Graf, der eben von Reiſen zurückkam:
„Hör’ Andreas, tritt in meinen Dienſt, will Dich gut
halten und ſoll es Dein Schaden nicht ſein. — Da
faßte mich der Satan, daß ich’s für mein Glück hielt
und einſchlug.“


Der Alte ſtöhnte hier laut auf und barg den Kopf
in den Kiſſen, während Burchhard aufſtand und leiſe
eine Jägerweiſe aus dem Fenſter pfiff. Ich beſchwor
den Ohm, ſeine Erzählung abzubrechen und zu ver-
ſchieben.


„Hab’ das nie gethan,“ ſagte der alte, eiſerne Mann,
„iſt nicht rechte Jägermanier, eine Kreatur angeſchoſſen
umherlaufen zu laſſen. Reine Büchſe, reiner Schuß. —
Schuf’s der böſe Feind, daß der Graf die Louiſe zu
[54] ſehen kriegte und — Burchhard, erzähl’s dem Jungen
weiter .....“


Dieſer, der wieder neben dem Bette ſeines alten
Freundes ſaß, nickte finſter und fuhr fort in der unter-
brochenen Erzählung, den Blick auf den Boden geheftet.


„Waren wir zuſammen aufgewachſen und hatte ich
ſie gar lieb die Louiſe mit ihren ſchwarzen Haaren und
ſchwarzen Augen. Hatte aber nicht den Muth, ihr zu
ſagen: Herzlieb, wollteſt Du mich nicht zum Manne
nehmen? Wollte Dich auch auf’n Händen tragen! Stand
ich immer und ſchaute ihr nach auf den Kirchwegen und
allenthalben, wenn ſie durch das Dorf hüpfte, lachend
und ſchäckernd, flink wie ein Reh, luſtig wie eine Am-
ſel! …“


Der Kranke ſeufzte tief auf, Burchhard legte ihm
das Kopfkiſſen zurecht und ſchwieg dann, von ſeiner Er-
innerung überwältigt, einige Minuten, während drau-
ßen die Vögel gar luſtig zwitſcherten und die Sonne
immer glühender dem Untergange zuſank.


Plötzlich fuhr der Erzähler faſt barſch auf:


„Was iſt da weiter zu berichten! War ſie ein jung’
Blut und hatte ihr der Paſtor mehr Gutes als Böſes
von den Menſchen erzählt … Wurde Andreas hierher
in den Wald geſchickt auf Antrieb des Grafen; jubelte
er mächtig, denn von je war’s ſein Wunſch geweſen,
[55] ein Jägersmann zu ſein, und zog er ſogleich fort von
Seeburg, dies alte, verfallene Haus in Stand zu ſetzen,
daß die Louiſe nachfolgen könne. War ich damals nicht
daheim, ſondern im fremden Franzoſenland, wo das
Volk der Plackerei und Adelswirthſchaft müde geworden
war und reinen Tiſch machte; ſchlug ich mich herum in
der Champagne in dem Regiment Weimar-Cuiraſſire,
bis der Herzog von Braunſchweig und die Preußen und
Alle retiriren mußten durch Dreck und Regen. Kam
ich zurück auf Urlaub, ſtellte mein Pferd ab im golde-
nen Hirſchen, putzte den Staub von den hohen Stie-
feln, rieb den Harniſch ſo blank als möglich, ſetzte den
Dreimaſter verwegen auf’s Ohr und faßte mir ein Herz,
— war ich nicht Wachtmeiſter in der ſechſten Schwa-
dron? — meinen heimlichen Schatz zu bitten um ſeine
hübſche weiße Hand. Sahen mich die Leute ſo ſonder-
bar an, als ich durch das Dorf ſchritt dem kleinen Häu-
ſel zu, wo mein Schatz wohnte, und begegnete mir auch
der Caſtellan vom Schloß, der mich nicht leiden konnte,
und grinſte er mich ſo höhniſch an, daß ich den Pallaſch
feſter faßte und einen welſchen Fluch brummte. Ahnte
ich aber nichts und ſchob Alles auf die Verwunderung
über mein martialiſch’ Anſehen, und ſchritt mit einem
Herzen, das halb freudig, halb furchtſam klopfte, der
kleinen Thür in dem Zaune zu, der das Ralff’ſche
[56] Haus umgab. Hörte ich aus dem kleinen Stübchen
eine Stimme ſingen, die mir gar fremd und doch gar
bekannt vorkam. Sang die Stimme immer nur den
Anfang eines alten Liedes:


„Es trägt mein Lieb ein ſchwarzes Kleid,

Darunter trägt ſie groß Herzenleid

In ihren jungen Tagen. …“

„Nahm ich den Hut ab und trat in die Hausflur:
Grüß Gott, Jungfer Lieschen, bin zurück aus Franzo-
ſenland, — wollte ich ſagen, ſprach aber kein Wort,
ſondern fiel mir der Hut zur Erde und mußte ich mich
am Pfoſten halten, um nicht ſelbſt zu fallen. Da ſaß
ein bleiches Weſen mit eingefallenen Wangen im Win-
kel, hatte die Hände im Schooß gefaltet und zitterte,
als ob ein heftiger Froſt es ſchüttle. —


„Louiſe, Louiſe! ſchrie ich auf, in die Knie vor
ihr ſtürzend, in unmenſchlicher Angſt.


„Die Geſtalt erhob ſich, kam ſchwankend auf mich
zu und ſagte, indem ſie mit eiskalter Hand mir über
die Stirn ſtrich:


„Ei, mein ſchön’s Lieb, biſt zurück aus fremdem
Land? Hab’ lange auf Dich gewartet, mein blankes
Herz! —“


„Schlug mir das Herz, daß mir der Harniſch zu
[57] ſpringen drohte, den ſie betaſtete und über deſſen Glanz
ſie ſich zu freuen ſchien.


„Was weiter vorging, weiß ich nicht; noch eine Zeit-
lang hörte ich dumpf den Geſang:


„Es trägt mein Lieb ein ſchwarzes Kleid,

Darunter trägt ſie groß Herzenleid“

— dann vergingen mir die Sinne, — das war meine
Heimkehr aus dem Franzoſenkrieg. Ich erwachte am
Abend in meinem eigenen Häuschen, das ich vermiethet
hatte, und die alte Frau, die damals drinnen wohnte,
ſaß neben mir. Glaubte ich geträumt zu haben, —
einen böſen, böſen Traum; beſann mich erſt allmäh-
lich wieder, und fügte es Gott, daß ich weinen konnte.
Erzählte mir die gute Frau den Eingang und Aus-
gang des Leidens und ſchaute ich nach meinen Piſtolen,
den bübiſchen Grafen hinzuſchicken vor Gottes Richter-
ſtuhl; erfuhr ich aber, daß er auf und davon ſei in
ferne Länder; habe es ihn nicht mehr raſten und ruhen
laſſen und ſei er auf einmal ſpurlos verſchwunden ge-
weſen, ohne über ſein Verbleiben etwas zu hinter-
laſſen. …“


„Und hat ihn Gott davor behütet, uns vor die
Augen zu kommen,“ fiel mein Oheim mit abgewandtem
Geſicht ein.


[58]

„Schrieb ich dem Andreas am andern Morgen das
Geſchehene, denn er wußte noch nichts davon. …“


Der Kranke im Bett ſtöhnte, als ob ihm das Herz
zerbreche, während ich ſchwindelnd und wortlos da
ſaß. …


„Verkauften wir unſere Liegenſchaften und brachten
wir die Louiſe und Dich, Franz, ihr kleines Kind, hier-
her in den grünen Wald. Sie war immer ſtill vor ſich
hin und ward immer ſtiller; ſie ſang nicht mehr ihre
alten Liederverſe und ſaß am liebſten in der Sonne
und hielt ihre armen magern Finger gegen das Son-
nenlicht. Dann lachte ſie wohl und ſagte:


„Noch immer, — noch immer, — wie es rinnt,
rinnt!“ —


„Und eines Morgens — — — Ja, wie war’s denn,
was ich einmal im Franzoſenland von Einem den Offi-
ficieren vorleſen hörte, als ich Wache vor dem Zelt ſtand.
Ich glaube, Herr Göthe oder ſo nannten ſie ihn, der
es las (er zog mit des Herzogs Durchlaucht) und es
handelte von einer däniſchen Prinzeſſin, die wahnſinnig
wurde, weil ihr Liebſter ſich wahnſinnig geſtellt hatte. …“


„Bleib’ bei der Stange, Burchhard,“ rief mein
Oheim plötzlich, ſich aufrichtend, — „eines Morgens
lag ſie am Rande des Hungerteiches ertrunken im Waſ-
ſer!“ —


[59]

Laut aufſchreiend ſtürzte ich auf die Knie und ver-
barg den Kopf in dem Kiſſen des alten ſterbenden Mannes.
Dieſer ſaß jetzt auf den Ellenbogen gelehnt aufrecht, un-
terſtützt von der weinenden Waldgrethe, ſeine Augen
funkelten; er legte mir die Hand auf den Kopf und
ſagte leiſe:


„Er war jünger als Burchhard und ich; er wird
leben; — — — ſuch’ ihn!“ —


Damit ſank er erſchöpft zurück, während ich betäubt
liegen blieb. —


Endlich legte mir der alte Burchhard die Hand auf
die Schulter und führte mich heraus.


„Ich will dir ein Wahrzeichen geben,“ ſagte er, als
wir unter den grünen Bäumen waren, die auf jene Tra-
gödie eben ſo grün und luſtig herabgeſehen hatten. Wieder
einmal folgte ich dem Laufe des Baches durch die grüne
Wildniß. Mit welchen Gefühlen?! — Jetzt wußte ich,
woher der tiefinnere Zug nach dem ſtillen Waldteiche in
mir kam! Da lag die klare Fläche in der Abendgluth
vor uns, der leiſe Wind flüſterte in den Binſen, ſchlug
die gelben Irisglocken an einander und ſchaukelte die
auf ihren breiten ſaftigen Blättern ſchwimmenden Waſſer-
roſen; das war alles ſo friedlich, ſo heimlich, ſo ſchön
und doch — welch unnennbares Grauen gewährte mir
der Anblick! —


[60]

„Als ich ſie da fand,“ ſagte Burchhard, „hielt ſie
die eine Hand feſt zu und das Gold eines Ringes ſchim-
merte durch die ſtarren Finger. Komm mit!“ —


Der Alte führte mich ſeitab in den Wald, wo ein
Stein mit einem Kreuz bezeichnet im Mooſe lag. Er
knieete nieder, hob ihn weg und wühlte eine Zeitlang
in der Erde.


„Da!“ ſagte er plötzlich und ſchleuderte den kleinen
goldenen Reif, als habe er eine Schlange berührt, in’s
Gras. Es war auch eine Schlange, die einen wappen-
geſchmückten Rubin mit Kopf und Schweifende umſchlang.
„Du wirſt ihn in dieſem Käſtchen finden, Johannes!“ —


An jenem Abend noch ſtarb mein Oheim und ich
führte ſeine Leiche, wie du weißt, Johannes, nach Ul-
felden. Ich weiß nicht, der Tod des alten Mannes
erſchien mir als gleichgültig im Vergleich mit dem
Schrecklichen, welches mir enthüllt war. — Es war
übrigens ein ſeltſamer Zug; wir hatten den ſchwarzen
Sarg auf einen niedern Wagen mit Zweigen und Wald-
blumen geſchmückt, geſtellt; die Holzhauer mit ihren
Aexten, die umwohnenden Köhler mit ihren Schürſtan-
gen gaben ihm das Geleit. Dicht hinter dem Sarg
ſchritt der alte Burchhard, die Büchſe und das Wald-
horn über der Schulter, die Hunde um ihn her. Von
Zeit zu Zeit bließ er eine luſtige, ſchmetternde Jäger-
[61] weiſe, die er dann ergreifend und ſeltſam in einen Choral
übergehen ließ. — Unter den letzten Bäumen hielt er
an, die Holzhauer und Köhler um ihn her; noch ein-
mal bließ er einen fröhlichen Jagdgruß, dann drückte er
mir ſchweigend die Hand und ſagte dumpf: Lebe wohl
Franz Ralff! und ſchritt langſam in den Wald zurück,
und immer ferner hörte ich die Töne ſeines Hornes ver-
klingen. Der Ohm wurde auf dem Ulfeldener Kirchhof,
dicht neben ſeiner Schweſter, meiner Mutter, begraben.
Den alten Burchhard habe ich nicht wieder geſehen; ich
hielt’s nun gar nicht mehr aus in der engen Welt um
mich her, ich ging nach Italien. Burchhard aber zog
nach dem Harz, wo Verwandte von ihm lebten und wo
er auch bald geſtorben iſt.“ —


„Das, Johannes, iſt der Theil meiner Geſchichte,
den ſelbſt Du, mein Freund nicht kannteſt. Ich über-
laſſe Dir nun, welche Anwendung Du davon einſt für
mein Kind wirſt machen können; von jenem Mann
habe ich nie eine Spur entdecken können. — Verſunken
und vergeſſen! — Das Schloß Seeburg iſt jetzt eine
Fabrik!“ —


Da liegt das alte vergilbte Heft vor mir, aus wel-
chem ich dieſe Bogen der Chronik der Sperlingsgaſſe
abgeſchrieben habe. Lange ſaß ich noch an jenem Tage
[62] neben meinem Freunde; er ſprach viel von ſeinem Tode
und lächelte oft trübe vor ſich hin. Während ſeiner Er-
zählung hatte er mit der Reiskohle die Umriſſe eines
Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. „Das
Bild male ich dir erſt noch, Johannes,“ ſagte er. Ich
kannte die milden Züge zu wohl, um ſie nicht ſelbſt in
dieſen leichten Linien zu erkennen. —


Und ſo geſchah es! Je heller und ſonniger die Far-
ben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Locken-
kopf Mariens aus dem Grau auftauchte, deſto bleicher
wurden die Wangen meines Freundes, und eines Mor-
gens — war er ihr hinabgefolgt und hatte ſein kleines
Kind und ſeinen Freund allein zurückgelaſſen! —


Weihnachten! — Welch ein prächtiges Wort! —
Immer höher thürmt ſich der Schnee in den Straßen;
immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen;
immer ſchwerer thauen am Morgen die gefrorenen Fen-
ſterſcheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen thun
ſie es gar nicht mehr. — Hinter den meiſten Fenſtern
lugen erwartungsvolle Kindergeſichter hervor; da und
[63] dort liegt auf der weißen Decke des Pflaſters ein ver-
lorner Tannenzweig. Es wird viel Goldſchaum verkauft,
und bedeckte Platten von Eiſenblech, die vorbeigetragen
werden, verbreiten einen wundervollen Duft. — —


„Was iſt ein echter Hamburger Seelöwe?“ fragte
Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des
Hutes ein Miniaturſchneegeſtöber hervor brachte.


„Ein Hamburger Seelöwe?“ fragte ich verwundert.
„Doch nicht etwa ein Mitglied des Raths der Ober-
alten?“


„Beinahe,“ lachte der Zeichner. „Ein Hamburger
Seelöwe iſt eine Haſenpfote, auf welche oben ein men-
ſchenähnliches Geſicht geleimt iſt. Ein ſolches Indivi-
duum verſteht an einem Tiſchrande gar anmuthige Be-
wegungen zu machen. Sehen ſie hier!“


Dabei zog er den Gegenſtand unſres Geſprächs her-
vor, hing ihn an meinen Schreibtiſch und brachte ihn
durch eine Art Pendel in Bewegung.


„Iſt das nicht eine wundervolle Erfindung?“


„Prächtig,“ ſagte ich, — „in meiner Jugend brachte
man aber denſelben Effect durch den abgenagten Bruſt-
knochen eines Gänſebratens, in welchen man eine Gabel
ſteckte, hervor, aber die Cultur muß ja fortſchreiten.“


„Ja, die Kultur ſchreitet fort!“ ſeufzte der Zeichner.
„Sogar die einfachen Tannen machen allmählich dieſen
[64] Pyramiden von bunten Papierſchnitzeln Platz. Papier,
Papier überall! Aber was ich ſagen wollte: wäre es
nicht eigentlich die Pflicht zweier Mitarbeiter der welken
Blätter, jetzt auf die Weihnachtswandrung zu gehen?“


„Auch ich wollte Sie eben dazu auffordern,“ ſagte ich.


„Vorwärts!“ rief Strobel und ſtülpte ſeinen Filz
wieder auf, während ich meinen Mantel und rothen
baumwollenen Regenſchirm hervorſuchte.


Wir gingen. Den Hamburger Seelöwen ließen wir
ruhig am Tiſch fortbaumeln, nachdem ihn Strobel noch
einen letzten Stoß gegeben hatte. Zur Weihnachtszeit
habe ich gern ein ſolches Spielzeug in der Nähe; er-
freute ſich doch auch der alt und grau gewordene Jean
Paul zu ſolcher Zeit gern an dem Farbenduft einer höl-
zernen Kindertrompete. —


Welch ein Gang war das, den ich mit dem tollen
Karikaturenzeichner in der Dämmerung des Abends
machte! In wie viel Keller- und andere Fenſter mußte
der Menſch ſchauen; in wie viel kleine froſtgeröthete
Hände, die ſich an den Ecken und aus den Thorwegen
uns entgegenſtreckten, ließ er ſeine Viergroſchenſtücke glei-
ten! Welch ein Gang war das! Die Geiſter, die den
alten Scrooge des Meiſter Boz über die Weihnachts-
welt führten, hätten mich nicht beſſer leiten können, als
Herr Ulrich Strobel. Jetzt betrachteten wir die phan-
[65] taſtiſche Ausſtellung eines Ladens, jetzt die ſtaunenden,
verlangenden Geſichter davor; jetzt entdeckte Strobel eine
neue Idee in der Anfertigung eines Spielzeugs, jetzt
ich; es war wundervoll! —


An der Ecke des Weihnachtsmarktes blieben wir ſte-
hen, in das fröhliche Getümmel, welches ſich dort um-
hertrieb, hinein ſchauend. Im ununterbrochenen Zuge
ſtrömte das Volk an uns vorbei: Väter, auf jedem
Arme und an jedem Rockſchoß ein Kind; Handwerksge-
ſellen mit dem Schatz, den ſie aus der Küche ſeiner
„Gnädigen“ weggeſtohlen hatten; ehrliche unbeſchreiblich
gutmüthig und dumm lächelnde Infanteriſten, feine
ſchmucke Garde-Schützen, ſchwere Dragoner und „klobige“
Artillerie. — Hier und da wanden ſich junge Mädchen
zierlich durch das Getümmel; jedes Alter, jeder Stand
war vertreten, ja ſogar die vornehmſte Welt überſchritt
einmal ihre Grenzen und zeigte ihren Kindern die —
Freude des Volks! —


Der Zeichner war auf einmal ſehr ernſt geworden.
„Sehen Sie,“ ſagte er, „da ſtrömt die Quelle, aus wel-
cher die Kinderwelt ihr erſtes Chriſtenthum ſchöpft!
Nicht dadurch, daß man ihnen von Gott und ſo weiter
Unverſtändliches vorräſonnirt, ſie Bibel- oder Geſang-
buchverſe auswendig lernen läßt; nicht dadurch, daß man
ſie — wo möglich in den Windeln — in die Kirchen
5
[66] ſchleppt, legt man den Keim der wunderbaren Religion
in ihre Herzen! An das Gewühl vor den Buden, an
den grünen funkelnden Tannenbaum knüpft das junge
Gemüth ſeine erſten, wahren — und was mehr ſagen
will, wahrhaft kindlichen Begriffe davon!“ —


Ich wollte eben darauf etwas erwiedern, als plötzlich
eine Geſtalt in einen dunkeln Mantel gehüllt, ein Kind
auf dem Arme tragend, an uns vorbeiſchlüpfen wollte.
Ein Strahl der nächſten Gaslaterne fiel auf ihr Geſicht,
es war die kleine Tänzerin aus der Sperlingsgaſſe. Ich
freute mich über die Begegnung und rief ſie an:


„Das iſt prächtig, Fräulein Roſalie, daß wir Sie
treffen. Vielleicht werden Sie uns erlauben, daß wir Sie
begleiten, denn um die Myſterien eines Weihnachtsmark-
tes zu durchdringen, iſt es jedenfalls nöthig, ein Kind
bei ſich zu haben.“


Die Tänzerin knixte und ſagte: „O, Sie ſind zu gü-
tig, meine Herren; Alfred hat mir den ganzen Tag keine
Ruhe gelaſſen und da kein Theater iſt, ſo mußte ich ihm
doch die Herrlichkeit zeigen.“


„Ja Mann,“ — ſagte Alfred unter einer dicken
Pudelmütze gar verwegen hervorſchauend — „mitgehen!“ —


Ich ſtellte der Tänzerin den Nachbar Zeichner vor
und das vierblättrige Kleeblatt war bald in der Stim-
mung, die ein Weihnachtsmarkt erfordert. Was für ein
[67] Talent, Kinder vor Entzücken außer ſich zu bringen, ent-
wickelte jetzt der Karikaturenzeichner. Er hatte der
Mutter den dicken Bengel ſogleich abgenommen, ließ ihn
nun gar nicht aus dem Aufkreiſchen herauskommen und
ſchleppte ihn hoch auf der Schulter durch das Gewühl
voran. „O ich bin Ihnen ſo dankbar, ſo dankbar Herr
Wachholder,“ flüſterte die kleine Tänzerin, zu deren Be-
ſchützer ich mich ſehr gravitätiſch aufwarf.


„Liebes Kind,“ ſagte ich, „ein Paar ſolcher Jung-
geſellen wie ich und mein Freund würden ſolche Abende
wie dieſer ſehr übel zubringen, wenn nicht dann aus-
drücklich eine Vorſehung über ſie wachte!“ —


„Sie ſollen einmal ſehen, wie prächtig wir heute
Abend noch Weihnachten feiern werden; — hören Sie
nur, wie Alfred jubelt; — ſehen Sie, wie ſtolz und glück-
lich er unter der Pickelhaube vorſchaut, die ihm eben
der Herr Strobel übergeſtülpt hat!“ —


Der Karikaturenzeichner hätte ſich in dieſem Augen-
blick ſehr gut ſelbſt abconterfeien können — er that es
auch, aber ſpäter. — Wundervoll ſah er aus. Im
Knopfloche baumelte ein gewaltiger Hampelmann, in
der rechten Hand hatte er eine große Knarre, die er
energiſch ſchwenkte; während auf ſeinem linken Arm Al-
fred mit aller Macht auf eine Trommel paukte.


„Kleine Dame,“ ſagte der Zeichner jetzt zu unſerer
5*
[68] Begleiterin, „ſtecken Sie mir doch einmal jene Düte in
die Rocktaſche, ich komme nicht dazu! Heda, alter Wach-
holder!“ ſchrie er dann mich an, „gleiche ich nicht auf’s
Haar einer Kammerverhandlung? Rechts Geknarre, links
Getrommel und für das Faſſen und Einſacken der be-
gehrten Süßigkeiten weder Kraft noch Platz!“ —


„Mama, der Onkel aber mal rechter Onkel!“ rief
der Kleine entzückt von ſeinem Throne herab, als Ro-
ſalie der Anforderung Strobel’s nachkam, und ich eben-
falls die Taſchen mit Allerlei füllte. —


So ging es weiter, bis uns endlich die Kälte zu
heftig wurde. Der Zeichner löſte ſich auf — wie er’s
nannte — und überlieferte mir die Spielzeugbehangene
Linke, behielt jedoch die Knarre in der Rechten und nun
gings durch die Menſchen- und Lichtererfüllten Straßen
nach Hauſe. Wie glänzte heute Abend die alte, dunkle
Sperlingsgaſſe! Von den Kellern bis zum ſechſten Stock,
bis in die kleinſte Dachſtube war die Weihnachtszeit ein-
gekehrt; freilich nicht allenthalben auf gleich „fröhliche,
ſelige, gnadebringende“ Weiſe. Welch’ einen Abend
feierten wir nun! Wir ließen unſere kleine Begleiterin
natürlich nicht zu ihrem kaltgewordenen Stübchen hin-
aufſteigen. War ich nicht ſchon auf der Univerſität mei-
nes famoſen Punſchmachens wegen berühmt geweſen?
(eine Kunſt, die mir mein Vater mit auf den Lebens-
[69] weg gegeben hatte.) Der Karikaturenzeichner holte einen
Tannenzweig, den er auf der Straße gefunden hatte,
hervor und hielt ihn ins Licht.


„Das iſt der wahre Weihnachtsduft,“ ſagte er, „und
in Ermangelung eines Beſſern muß man ſich zu helfen
wiſſen.“


Horch! was trappelt auf einmal da draußen auf der
Treppe? Ein leiſes Kichern erſchallt auf dem Vorſaal
und ſcheint noch eine Treppe höher ſteigen zu wollen.
„Zu mir?“ ſagt Roſalie und ſpringt verwundert nach
der Thür. — —


Ach, da iſt ſie?! ſchallt es draußen, und auch ich
ſtecke meinen Kopf heraus.


„Guten Abend alter Herr! Guten Abend Roſalie!
Guten Abend Röschen!“ erſchallte ein Chor heller luſti-
ger Stimmen.


„Wo iſt Alfred, wir bringen ihm einen Weihnachts-
baum!“ —


„Hurrah, das iſt’s, was wir eben brauchen!“ ſchreit
der Zeichner ſeine Knarre ſchwingend. „Schönen guten
Abend meine Damen und fröhliche Weihnachten!“


Aus dunkeln Mänteln und Shawls und Pelzkragen
entwickelt ſich jetzt ein halbes Dutzend kleiner Theater-
feen, die alle jubelnd und lachend meine Stube füllen
und — auf einmal alle ein verſchiedenes Muſikinſtrument
[70] hervorholen, welches ſie auf dem Weihnachtsmarkt er-
ſtanden haben. Ein Heidenlärm bricht los; das knarrt
und quickt und plärrt und klappert, daß die Wände
wiederhallen, und Roſalie, welche beſchwörend von einer
der kleinen Ratten zur andern lief, die Ohren zuhal-
tend in dem fernſten Winkel ſich verkriecht. —


Endlich legt ſich der Scandal mit dem ausgehenden
Athem und der ausgehenden Kraft des Karikaturenzeich-
ners, der vor Wonne über das Pandämonium, kaum
noch ſeine Knarre ſchwingen kann.


Welch’ ein Punſch war das! Welche Geſundheiten
wurden ausgebracht! Welche Geſchichten wurden erzählt!
Vom Souffleur Flüſtervogel bis zum Balletmeiſter
Spolpato, ja bis zu ſeiner Excellenz dem Herrn In-
tendanten! —


Heute Abend malte Strobel keine Karikaturen, aber
ſich ſelbſt machte er oft genug zu einer. Beim Verſuch,
ſich auf einer, mit dem Halſe auf der Erde ſtehenden,
Flaſche ſitz’end zu drehen, beim Zuckerreiben, beim Ver-
ſuch, den glimmenden Docht eines ausgeputzten Wachs-
lichtes wieder anzublaſen und bei anderen Kunſtſtücken.


Alfred, der durch Unterlegung von Pfuffendorf’s und
Bayle’s ſchweinslederner Gelehrſamkeit und verſchiedener
dickbändiger Erziehungstheorien dazu gebracht war, neben
ſeiner kleinen Mutter ſitzend, über den Tiſch ſchauen zu
[71] können, jubelte mit, bis ihm die Augen zufielen und er
auf meinem Sopha ein- und weiter ſchlief bis elf Uhr,
wo das Feſt endete, die kleinen Gäſte wieder in ihre
Mäntel krochen, mich für einen „gottvollen alten Herrn“
erklärten, Röschen küßten und nach einem vielſtimmigen
„gute Nacht“ die Treppe herabtrippelten. Darauf trug
Strobel den ſchlafenden Alfred eine Treppe höher (wozu
ich leuchtete) und — auch dieſer Weihnachtsabend der
Sperlingsgaſſe war vorbei. —


Neujahrstag! — Ich habe einen Brief bekommen
aus dem fernen Italien; ein köſtliches Neujahrsgeſchenk.
Er ſpricht von der alten dunkeln Sperlingsgaſſe und
Glück und Wiederſehen, und eine Frauenhand hat dieſe
feinen, zierlichen Buchſtaben gekritzelt. Den Namen der
Schreiberin nenne ich aber noch nicht, ſondern fahre
in meinem Gedenkbuch fort, wozu ich diesmal eine neue
Mappe hervorſuchen muß. —


So war ich denn allein mit der kleinen Eliſe, die
unbewußt ihres Waiſenthums und des unbehülflichen
[72] Pflegevaters, auf Martha’s Schooß tanzte, als ich auch
von dem Begräbniſſe zurückkehrte in dieſe vor kurzem
noch ſo fröhliche, jetzt ſo öde Wohnung in No. 7. der
Sperlingsgaſſe. Da ſtand — es ſteht noch da — auf
dem Fenſtertritt Mariens kleines Nähtiſchchen mit un-
vollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen, Nadeln und Bän-
dern, wie ſie es an jenem Abend, über Kopfweh kla-
gend, verlaſſen, um nicht wieder davor zu ſitzen, nicht
wieder durch die Roſen- und Reſedaſtöcke und das Epheu-
gitter in die dunkle Gaſſe hinaus zu ſchauen. Da waren
noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen Geſchäftig-
keit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Ar-
gus über ihre Erhaltung gewacht. — Dort auf jenem
Stuhl hing ihr Hütchen, dort das Handkörbchen, welches
ſie bei ihren Einkäufen mit ſich führte. —


Im zweiten Fenſter ſtand Franzens Staffelei:
das vollendete Bild Mariens, lächelnd, wie ſie nur
lächeln konnte, — darauf lehnend. Seine farbenbedeckte
Palette hing daneben, ſeine Skizzenmappen und Rollen
lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Thür hing
ſein zerdrückter Biber, den wir ſo oft auf unſern Spa-
ziergängen mit Blumen und Laubgewinden umkränzten
und der Marien, ſeines jämmerlichen manchen -ſturm-
durchlebten Ausſehens wegen, ein ſolcher Dorn im
Auge war.


[73]

Kein Fleckchen, kein Geräth ohne ſeine traurig ſüße
Erinnerung. Zerbrochenes Kinderſpielzeug auf dem Bo-
den ....... und ich allein mit dem Kinde in dieſer
kleinen Welt eines verlornen Glücks, — Erbe von ſo
viel Schmerz und Thränen und Verlaſſenheit!


Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen.
Ich mußte mich aufraffen. Ich nahm der Wärterin das
kleine Lischen aus den Armen, küßte es und verſprach
mir leiſe dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer
Helfer zu ſein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei
Tage und — ich glaube den Schwur gehalten zu haben.
Das Kind ſchaute mich mit ſeinen großen, blauen —
denen der Mutter ſo ähnlichen — Augen lächelnd an,
griff mit beiden Händchen mir in die Haare und begann
luſtig zu zauſen, wobei die alte Martha mit gefalteten
Händen zuſah. Martha war ſchon Mariens Wärterin
im Rectorhauſe zu Ulfelden geweſen, war mit ihr zur
Stadt gekommen und hatte ſie nicht verlaſſen, bis an
ihren Tod.


Da meine Wohnung drüben in No. 11 zu beſchränkt
war, um die ganze kleine Welt dahin überzuſiedeln, ſo
hielt ich zuerſt mit der Martha einen Rath, deſſen Re-
ſultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen
und unleſerlichen Manuſcripte nach No. 7. herüber holte,
worauf Martha Alles auf’s Beſte einrichtete. Indem
[74] ich alle Liebe für die Eltern nun in dem Kinde concen-
trirte, hoffte ich auf den Trümmern des zuſammenge-
ſtürzten Glücks ein neues hervorblühen ſehen zu können.
— Drüben blieb die Wohnung nicht lange leer; mein
dicker Freund, der Doctor Wimmer, zog ein und machte
eine geraume Zeit den Haupthelden und Faxenmacher
der Sperlingsgaſſe.


Eliſe! — So oft ich dieſen Namen niederſchreibe,
klingt es wieder in der immer dunkler herabſinkenden
Nacht meines Alters, wie ein Kindermärchen, wie Lerchen-
jubel und Nachtigallenklage, — umgaukelt es mich ſo
duftig, ſo leicht, ſo elfenhaft ...... Eliſe, Eliſe komm
zurück! Sieh’ ich bin alt und einſam! Weißt Du nicht,
daß ich Dich auf den Armen ſchaukelte, daß ich über Dir
wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über
ihrem Kinde wachen kann? — Und aus weiter Ferne
glaube ich oft eine zärtliche wie Muſik tönende Stimme
zu vernehmen: Ich komme! ich komme! — Geduld, nur
noch eine kurze Zeit! —


Und ich warte und hoffe und fülle dieſe Blätter mit
den Namen meines Kindes Eliſe!


[75]

So tauche denn auf aus dem Dunkel du Idyll,
bringe mit dir deine Märchenwelt, dein Lächeln durch
Thränen! Komm mein kleines Herz; — aus den ſchweins-
ledernen Folianten laſſen ſich ſo hübſche Puppenſtuben
bauen; ſchau’ einmal her, was für ein prächtiges Bett
giebt mein Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura,
Joſephine und wie die Kleiegefüllten Donnen ſonſt heißen!
Einen niedlichen, goldigen Canarienvogel ſchenke ich Dir,
wenn Du nicht weinen willſt und hübſch herzhaft den
Löffel voll brauner Medizin herunterſchluckſt! — Weine
nicht Liebchen, ſieh wie das Epheu aus Deiner Mutter
Heimathswalde Blättchen an Blättchen anſetzt und im-
mer höher an der Fenſterwand ſich emporrankt. Schau,
wie der Sonnenſchein hindurchzittert und auf dem Fuß-
boden tanzt und flimmert; — es iſt wie im grünen
Wald — Sonnenſchein und blauer Himmel! Du mußt
aber auch lächeln! —


Und wie das Epheu höher und höher emporſteigt,
ſo wächſt auch Du, mein kleines Lieb; ſchon umgeben
eben ſo feine, lichtbraune Locken, wie die auf jenem
Bilde, Dein Köpfchen. Wer hat Dich gelehrt, das Köpf-
chen ſo hinüber hängen zu laſſen nach der linken Seite,
wie ſie es that?


Schüttle die Locken nicht ſo und gucke mich nicht ſo
ſchelmiſch an aus Deinen großen, glänzenden Augen! Soll
[76] das ein R ſein, dieſes Ungethüm? O, welch ein Klex
Schriftſtellerin! Welche Dintenverſchwendung von den
Händen bis auf die Naſenſpitze! Wie wird die alte
Martha waſchen müſſen! Du ſagſt: Du habeſt nun ge-
nug Buchſtaben gemalt, Du müſſeſt jetzt herunter; Du
meinſt: ſogar die Fliegen hielten es nicht mehr aus in
der Stube, Du ſäheſt wohl, wie ſie mit den Köpfen ge-
gen die Scheiben ſtießen?!


Nun ſo lauf und fall’ nicht, Wildfang; ich ſehe ein,
wir müſſen Dich doch wohl zu dem Herrn Roder in die
Schule ſchicken, damit Du Stillſitzen lernſt. — —


Was iſt das auf einmal für ein helles Stimmchen,
welches drüben aus dem Fenſter meiner alten Wohnung
in No. 11 ruft:


„Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen,
Ausgehen!“


Quält die kleine Hexe nicht ſchon wieder den Doc-
tor der Philoſophie Heinrich Wimmer, der da drüben
ſeine Leitartikel und ſchlechten Romane ſchreibt? Wirk-
lich es iſt ſo. Eine Baßſtimme brummt herüber:


„Wachholder, ’s iſt ’ne abſolute Unmöglichkeit, bei
dem Heidenlärm, den Euer Mädchen hier mit dem Buch-
druckerjungen und dem Rezenſenten — (Rezenſent heißt
der Hund des Doctors, ein ehrbarer, ſchwarzer Pudel)
treibt, weiter zu ſchreiben. Ich bin mitten in einer der
[77] ſentimentalſten Phraſen abgeſchnappt, — die kleine Range
iſt aus Rand und Band und dabei grinſt der Lümmel
Fritze im Winkel und will Manuſcript für die morgende
Nummer“ ....


„Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doctor, und
riegeln Sie Ihren Muſentempel hinter ihr zu!“ lache
ich hinüber.


„Dummes Zeug,“ brummt der Doctor, der eine
echte Zeitungsſchreibende Bummelnatur iſt, und dem die
Störung durchaus nicht mißfällt. „Dummes Zeug; ich
ſchreibe „Fortſetzung folgt“ und wir bringen die Dirne
nach Schreier’s Hunde- und Affenkomödie; der Rezen-
ſent hat’s auch nöthig, daß ſeine äſthetiſche Bildung auf-
gefriſcht werde, wie ein Pack verflucht ſonderbar riechen-
der Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweiſt!
Machen Sie ſich fertig, Verehrteſter! —“


Damit verſchwindet der Doctor vom Fenſter; ich
höre drüben auf der Treppe ein Getrappel kleiner Füß-
chen und Liſe erſcheint, begleitet vom Rezenſenten, in
der Hausthür. Mit einem Satz iſt ſie über die Gaſſe,
ebenſo ſchnell bei mir und im Handumdrehen fertig —
wenn’s ſein müßte, eine Reiſe um die Welt anzutreten.


Einige Minuten ſpäter ſtürzt Fritze, der Drucker-
junge, aus der Thür von Nummer Eilf mit einem Blatt
Papier, welches noch ſehr naß zu ſein ſcheint, denn er
[78] trägt es gar vorſichtig und hält es mit beiden Händen
weit von ſich ab. Jetzt erſcheint der Doctor ebenfalls
in der Gaſſe, den öſtreichiſchen Landſturm pfeifend, die
Cigarre im Munde und mit dem Hakenſtock ſehr burſchi-
koſe Fechterübungen gegen einen eingebildeten Gegner
machend. Er brüllt herauf:


„Wetter, edler Philoſoph, laſſen Sie die deutſche
Preſſe nicht zu unvernünftig lange warten.“


Halb gezogen von Lischen, halb umgeworfen vom
Rezenſenten, der, wie es ſcheint, ſeiner höheren Bil-
dungsſchule ſehr ungeduldig entgegengeht ſtolpere ich
die Treppe hinunter: über Eimer und Beſen, über Kin-
der und Körbe. Aus allen Thüren ſchauen alte und
junge, männliche und weibliche Köpfe, die alle der klei-
nen Liſe Ralff freundlich zunicken. Und wirklich, ſie iſt
auch, — wie einſt ihre Mutter, nur jetzt noch auf andere
Weiſe — das bewegende Princip der ganzen Hausge-
noſſenſchaft. Auf der Gaſſe taucht der Klempner Mar-
quart aus ſeiner Höhle auf und erhält von der Liſe
Gruß und Handſchlag, nicht aber vom Rezenſenten, der
den Feuerarbeiter haßt und, wie es ſo oft in der Welt
geſchieht, das Werkzeug für die Urſache nimmt. — Hat
nicht Marquart auf hohe polizeiliche Anordnung ihm,
dem ehrbaren, ſoliden Rezenſenten, dem Muſter aller
Pudel, den Maulkorb mit der Steuermarke um die be-
[79] ſchnurrbartete Schnauze geſchloſſen? Wer verdenkt es dem
braven Köter, wenn er wehmüthigwüthig vor dem Keller
den Huſarenfederbuſchartig zugeſchnittenen Schwanz zwi-
ſchen die Beine zieht und ſeitwärts ſchielend vorbeiſchleicht,
„ſich in die Büſche ſchlägt“ wie Seume und mein Freund
Wimmer ſagen? Und nun durch die Gaſſen! Himmel,
was ſollen wir der Kleinen nicht Alles verſprochen haben!
Da eine „reizende“ Gliederpuppe mit Wachsgeſicht, an
jenem Laden wieder ein „wonniges“ kleines Puppen-
ſerviçe von gemaltem Porzellan und ſo fort, daß der
Doctor ganz wehmüthig den Hut auf die Seite ſchiebt
und ſich hinter dem Ohr kratzt.


„Ja, kucke nur, Onkel Wimmer, haſt Du nicht
geſagt, Du wollteſt mir ſolch’ ein hübſches Kaffee-
geſchirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus Deinen alten,
ſchmutzigen Schreibbüchern dem Rezenſenten einen Feder-
hut machen wolle?“


„Denken Sie, Wachholder“ — ſagt der Doctor zu
mir — „da hatte die Heroſtratin vorgeſtern einen gan-
zen Bogen Manuſcript, das ganze zwanzigſte Kapitel
der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke
vermißbraucht! Denken Sie ſich meine Verblüfftheit,
als der Köter ſo geſchmückt aus ſeinem Winkel mir ent-
gegenſtolzirt, auf den Stuhl mir gegenüber ſpringt und
einen verachtenden Blick über den Schreibtiſch und die
[80] noch übrigen Bogen wirft, als wolle er ſagen: Pah,
aus dem andern Schund machen wir eine ganz famoſe
Jacke!“


„Kriege ich mein Geſchirr?“ ruft der kleine Verzug
zwiſchen uns ungeduldig.


„Ja,“ ſagte der Doctor gravitätiſch; „mit der zwei-
ten Auflage der Flodoardine!“ —


„Ach,“ mault die Kleine wehmüthig über dieſe dunkle,
ihr unverſtändliche Vertröſtung — „ich ſehe ſchon, Du
haſt wieder mal kein Geld!“


Lachend marſchirte ich weiter, während der Doctor
ebenfalls etwas Unverſtändliches in den Bart brummte.


Und jetzt ſind wir am Eingange der buntgeſchmück-
ten Bude angekommen und einen Augenblick darauf auch
drinnen. Affen und Aeffinnen, Hunde und Hündinnen,
machten ihre Kunſtſtücke, und die Bretter bedeuteten
auch hier eine Welt, und Affe und Aeffin, Hund und
Hündin betrugen ſich wie Menſchen. Die kleine Eliſe
jauchzte, und Rezenſent ſtarrte verwundert ſeinen Stam-
mesgenoſſen auf der Bühne zu. Er ſchien ganz perplex
und von Zeit zu Zeit ſtieß er einen heulenden Laut,
den der Doctor verdollmetſchte:
„Berichterſtatter war außer vor Entzücken.“


Bellte der gelehrte Pudel kurz und ſchroff, ſo meinte
der Doctor das bedeute:
[81]„Berichterſtatter war außer ſich über die Inſo-
lenz eines ſo unreifen Künſtlers, vor einem ſo
kritiſch gebildeten Publikum, wie das unſerer Re-
ſidenz, zu erſcheinen.“


Wedelte das Vieh mit ſeinem Huſarenbuſch, ſo hieß
das:
„Dieſe junge Künſtlerin verdient alle Ermunte-
rung. Bei fortgeſetztem fleißigem Studium ver-
ſpricht ſie etwas Großes zu leiſten.“


Gähnte der Köter, ſo ſagte der Doctor:
„Berichterſtatter räth dem Verfaſſer dieſes geiſt-
vollen Stücks, ſein elendes Machwerk nicht für
dramatiſche Poeſie auszugeben. Mit einer Tragödie
hat es nichts gemein, als fünf Acte!“ —


Als am Schluß der Vorſtellung das große und
kleine Publikum ſich erhob und Beifall klatſchte, der
Pudel aber wie von einer großen Verpflichtung be-
freit, unter die Bank ſprang, erklärte der Doctor, das
bedeute:
„Gottlob, daß die Geſchichte vorbei iſt. Jetzt
kann man ſich doch mit Gemüthsruhe eine Cigarre
anſtecken und zu Butter und Wagener am Gänſe-
markt gehen.“


Und das that der Doctor auch. Vorher aber hob
er die kleine Eliſe noch zu ſich empor und gab ihr —
6
[82] wie ſehr ſie ſich auch ſträubte — einen tüchtigen
Schmatz.


„Alſo bei der zweiten Auflage der Flodoardine ſchaf-
fen wir uns ein neues Theeſerviçe an,“ ſagte er lachend.


Rezenſent ſchien erſt im Zweifel mit ſich zu liegen,
welcher von beiden Parteien er folgen ſolle. Zuletzt
gewann aber der Gedanke an Wurſtſchelle und ſo weiter
die Oberhand. Er trabte dem Doctor nach. — —


Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am
Gänſemarkt. Wir kaufen noch Obſt von der alten
Hökerfrau an der Ecke, und kehren glücklich — das
kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und
dem Spitz Hudiwudri, der luſtigen Madame Pompadour
und all den andern Wundern, zurück in unſere Sper-
lingsgaſſe und ſchlafen, müde vom Gehen, Lachen und
Jubeln, ſchon beim Ausziehen ein. — — —


Dann ſteigt der volle, reine Mond über den Dächern
auf. Der Abendwind weht friſchere Lüfte über die
große Stadt. Der Lärm des Tages iſt vorbei; manche
bedrückte Bruſt athmet leichter in der dämmerigen Kühle.
Mancher ſehnige Mannsarm, der den Tag über den
Hammer, das Beil, die Feile regierte, legt ſich ſanft
um ein befreundetes Weſen, das ihm neuen Muth im
harten Kampf gegen die Materie giebt; manche harte
Hände heben kleine, ſchlaftrunkene Kindchen aus den
[83] ärmlichen Bettchen, um an den kleinen Lippen Hoffnung
und Muth zum neuen Schaffen zu ſaugen! Und auch
ich beuge mich dann über meine ſchlafende Pflegetochter,
den leiſen, ruhigen Athemzügen der kleinen Bruſt lau-
ſchend, während die alte Martha am Fußende des Bet-
tes ſtrickt.


Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rech-
ten Aermchen, das Geſichtchen iſt in dem Kopfkiſſen be-
graben; ich kann die lieblichen, reinen Züge nicht ſehen.
— — — — — — — — — — —


Da ſieh! Plötzlich wendet ſich das Kind um und
dreht mir voll das Geſicht zu — es murmelt etwas —
„Mama!“ flüſtert es leiſe und ein heiliges, glückſeliges
Lächeln gleitet über das Geſichtchen.


Wer raunt der Waiſe das ſüße Wort zu! — Die
alte Martha hat die Hände gefaltet und betet leiſe! —
„Mama, liebe, liebe Mama!“ flüſtert das Kind wieder,
das Aermchen ausſtreckend.


Iſt es ein Traum, oder kommt die erdentodte
Mutter zurück, über ihrem Kinde zu ſchweben?


Dann fällt wohl ein Mondſtrahl glänzend durch das
Epheugitter auf das Bild Mariens! Der Canarienvogel
zwitſchert auch wie im Traume auf! — — — Eine
Wolke legt ſich vor den Mond, der Strahl verſchwindet,
6*
[84] — das Kind verſenkt, ſich umdrehend, das Köpfchen
wieder in die Kiſſen. — — — — — — —


„Gute Nacht, Eliſe! Felicissima notte, ſagen ſie
in dem ſchönen Italien, wo Du heute weilſt, eine glück-
liche, liebende Frau: Felicissima notte, Eliſe!“ —


Seit ich jene Mappe, überſchrieben: Ein Kinderleben,
— hervorgenommen habe, iſt in meinem bisherigen Fen-
ſter- und Gaſſenſtudium eine Pauſe eingetreten. Es
ſoll draußen ſehr kalter Winter ſein; Strobel behauptet
es, auch Roſalie iſt nicht dagegen. Ich kann nicht
ſagen, daß ich viel davon wüßte. In dieſen vergilben-
den Blättern hier vor mir iſt es ſonniger Frühling und
blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin
zu verlieren und ich erzähle deshalb weiter.


Da iſt ſo ein altes Blatt:


Wir ſind ſehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächeln-
der Herr iſt da geweſen, hat uns den Puls gefühlt,
noch mehr gelächelt, einige Mal mit ſeinem ſpiegelblan-
ken Stockknopf ſeine Naſenſpitze berührt, hat Dinte und
Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen
[85] Papierſtreifen gekritzelt. Martha hat dieſen Zettel dar-
auf fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen
geklopft und geſagt: „Schwitzen, Schwitzen!“ —


„Brr!“ — —


Mühe genug hat’s dem Onkel Wachholder gekoſtet,
einen ſolchen kleinen, ſtrampelnden Wildfang zur Raiſon
und ins Bett zu bringen. — S’iſt auch zu viel verlangt,
die Arme ſo ruhig unter die Decken zu halten und nur
den Kopf frei zu haben. — Himmel, was bringt Martha
da für einen kleinen, braunen Kerl an! Er gleicht faſt
dem Sem, dem Ham oder dem Japhet aus dem Noah-
kaſten, trägt ein rothes Mützchen über das Geſicht ge-
zogen und mit einem Faden umbunden, und ſchleppt
hinter ſich her einen langen, papiernen Zopf. Was iſt’s
für ein Glück, daß wir noch nicht im Stande ſind, die
Inſchrift darauf zu leſen:
Fräulein Eliſe Ralff.
Alle 2 St. einen Eßlöffel voll.


Wir ſehen den Burſchen aber doch mißtrauiſch genug
aus unſerm Bettchen an, und der Doctor Wimmer, der
zur Hülfe herübergekommen iſt, (natürlich begleitet vom
Rezenſenten) meint gegen mich gewandt:


„Geben Sie Acht, Wachholder, ohne Spectakel
wird’s nicht abgehen. Das Volk hat ſich erkältet oder
[86] erhitzt; einerlei! Schwitzen, ſchwitzen! Schweiß und
Blut! Probatum est.


Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas
Waſſer und einem Stück Zucker, während die Kleine in
ihrem Bette immer unruhiger wird und Rezenſent immer
geſpannter auf die Entwickelung der Dinge zu warten
ſcheint.


„Ich mag nicht einnehmen!“ wehklagt jetzt Liſe, als
ich dem Meiſter Sem die rothe Mütze abziehe, — „es
ſchmeckt ſo ſcheußlich!“ —


„Aha,“ lacht der Doctor Wimmer, — „die Ver-
faſſung!“


Während ich mich mit dem Löffel voll Medizin der
Kleinen, die ſich immer weiter zurückzieht, nähere, ſuche
ich vergeblich alle möglichen Gründe für das ſchnelle
Herunterſchlucken hervor.


„Gieb’s dem Rezenſenten, — er war auch geſtern
mit im Regen!“ ruft Lischen endlich weinerlich.


„Ja, das iſt auch wahr; kommen Sie, Onkel Wach-
holder! der Redactionspudel ſoll’s wenigſtens koſten,
damit die Liſe ſieht, daß es den Hals nicht gilt.“


Und der Doctor nimmt, den Rücken der Kleinen
zugekehrt, den Köter zwiſchen die Knie, thut als ob er
ihm einen Löffel voll Mixtur eingöſſe und liebkoſt den
Pudel dabei, daß dieſer freudig aufſpringt und luſtig bellt.


[87]

„Siehſt Du, Jungfer, wie prächtig es ihm ge-
ſchmeckt hat! Allons, kleine Donna! Friſch herunter! —
— — Eins! Zwei! Drei und“ .....


Herunter war’s. Schnell das Glas Waſſer und das
Stück Zucker dahinter her!


„Du häßlicher Hund!“ ſagt die Kleine ärgerlich, den
Mund in dem Deckbett abwiſchend, während die alte
Martha ſie feſter wieder zudeckt.


Der Doctor geht nun zurück zu ſeinen Correctur-
bogen, aber der Hund begleitet ihn dies Mal nicht,
ſondern ſpringt auf den Stuhl neben dem Bettchen
ſeiner grollenden Geſpielin und ſchaut gar ehrbar auf
ſie herab.


„Ja, kucke mich nur ſo an und lecke deinen Schnurr-
bart,“ ſagt Lischen. „Es ſchmeckte ja doch bitter?!
Warte nur, wenn ich erſt wieder aus dem Bett
darf“ .....


Da Rezenſent nicht antwortet, ſo nehme ich für
ihn das Wort:


„Vielleicht freute ſich das arme Thier nur, daß es
nun auch bald wieder geſund werden könne, — es war
doch eben ſo naß geworden wie Du und hat gewiß auch
die ganze Nacht hindurch gehuſtet.“


„Nein,“ ſagte die Kleine, „er thats nur, weil ich
ihm meine Schürze über den Kopf gebunden hatte.
[88] Sieh nur, wie er ſich freut, wie er ſeinen Schnurrbart
leckt!“ —


Dagegen läßt ſich nichts einwenden, das Redactions-
vieh leckt wirklich mit ungeheuerm Behagen die Schnauze,
und ich ziehe es vor, die moraliſche Seite herauszukehren.


„Das war aber auch ſehr unrecht von Dir, Eliſe!
Was hatte Dir denn das arme Thier gethan? Eigent-
lich dürfte ich Dir nun die ſchöne Geſchichte, die ich
weiß, gar nicht erzählen.“


„Wir wollen uns wieder vertragen,“ ſagt Eliſe
wehmüthig und nickt dem Pudel zu. „Nicht wahr, Du?“


Glücklicherweiſe legt Rezenſent gravitätiſch ſeine
ſchwarze Pfote auf die Bettdecke, und ſo nehme ich den
Frieden für geſchloſſen an.


„Gut denn, wenn Du hübſch artig und ſtill liegen
bleiben und weder Händchen noch Füßchen hervorſtrecken
willſt, ſo werde ich Dir eine wunderbare Geſchichte er-
zählen, die noch dazu ganz und gar wahr iſt.“


„Höre:“


„Es war einmal ein — Küchenſchrank; ein ſehr vor-
trefflicher, alter, ehrenfeſter Küchenſchrank und er ſtand
und ſteht — draußen, in unſerer Küche, wo wir ihn
uns morgen anſehen wollen! — Er war feſt verſchloſ-
ſen, welches von zwei ſehr wichtigen und angeſehenen
Perſonen, die davor ſtanden, für das einzige Uebel an
[89] ihm erklärt wurde. Martha hatte aber die Schlüſſel
in ihrer Taſche, und beide Perſonen, die ich Dir ſogleich
näher beſchreiben will, erklärten das einſtimmig — ſie
waren ſelten einer Meinung — für ſehr unangenehm,
ſehr unrecht und ſehr Mißtrauen und Verachtung
erregend.“


„Ich habe ſchon geſagt, daß beide davor ſitzenden
Perſonen von großem Anſehen und Gewicht waren, ſo-
wohl in der Küche, als auf dem Hofe und dem Boden.
Beide machten ſich oft nützlich, oft aber auch ſehr un-
nütz. Jede hatte ein Amt zu verwalten und verwaltete
es auch, — das war ihre Pflicht; jede miſchte ſich aber
auch nur zu gern in Dinge, die ihr durchaus nichts
angingen und das — war ſehr unartig. Vor dem
Küchenſchrank zum Beiſpiel hatten ſie in dieſem Augen-
blick durchaus nichts zu thun und doch waren ſie da;
guckten ihn an, guckten darunter, guckten an ihm herauf.
Es roch aber auch gar zu lieblich daraus hervor!“


„Die eine dieſer Perſonen war mit einem ſchönen,
weißen Pelz bekleidet, einen kleinen Schnurrbart trug ſie um
das Stumpfnäschen und ſchritt ganz leiſe, leiſe auf vier
Pfoten mit ſcharfen Krallen einher. Einen ſchönen, lan-
gen, ſpitzen Schwanz hatte ſie auch und ſie ſchwang ihn
in dieſem Augenblick heftig hin und her, denn ſie ärgerte
ſich eben ſehr und zwar über drei Dinge:
[90]erſtens: über den verſchloſſenen Schrank,
zweitens: über die andere Perſon,
drittens: über ſich ſelbſt.“


„Es war, es war ..... nun Lischen, wer war es?“


„Die Katze, die Katze!“


„Richtig, die Katze, Mietz, der Madame Pimpernell
ihre Katze. (Holla, Rezenſent! Du brauchſt nicht auf-
zuſtehen!) Die andere Perſon war etwas größer, als
Mietz, hatte einen braunen Pelz an, marſchirte auch
auf vier Beinen einher, wie Mietz, aber lange nicht ſo
leiſe, und ärgerte ſich auch über drei Dinge: das Schloß
am Schranke, die Katze und ſich ſelbſt. Ihren Schwanz
hätte ſie ebenfalls gern hin und her geſchleudert, aber
ſie konnte es leider nicht, denn ſie beſaß nur einen ganz
kleinen Stummel, nicht der Rede werth. Das machte
ſie faſt noch ergrimmter, als Mietz, denn die konnte
doch wenigſtens ihrem Zorn Luft machen.“


„Nun, wer mochte dieſe zweite Perſon wohl ſein,
Liſe?“


„Der Hund, Marquart’s Bello!“ ſchrie Eliſe ganz
entzückt. —


„Gerathen, es war Bello, der Edle; ein weiter Ver-
wandter vom Rezenſenten und ſonſt auch ein ganz netter
Kerl, aber — wie geſagt — vor dem Schrank hatte
er nichts zu ſuchen!“


[91]

„Nun?“ ſagte Mietz, den Bello anguckend.


„Nun?“ ſagte Bello, die Mietz anguckend.


„Miau!“ klagte Mietz, den Schrank anguckend.


„Wau!“ heulte Bello, den Schrank anguckend.


„So weit waren ſie; ſie wollten aber dabei nicht
bleiben!“ —


„Packen Sie ſich auf den Hof,“ ſagte die Katze,
was haben Sie hier zu gaffen?“ —


Sie hätte ich Luſt zu packen, ſchrie der Hund,
„ſcheren Sie ſich gefälligſt auf Ihren Boden und fangen
Sie Mäuſe. Aufkriegen Sie ihn doch nicht!“


„Pah!“ ſagte die Katze und ſchleuderte ihren ſchönen
Schweif dem Hunde zu, welches ſo viel heißen ſollte,
als: „Armer Kurzſtummel, wenn ich nur wollte!“ —
Das war aber dem armen Bello zu viel, denn jede An-
ſpielung auf ſeinen Stummel machte ihn wüthend, wie
auch der Swinegel, der mit dem Haſen auf der Buxte-
huder Heide um die Wette lief, nichts auf ſeine krum-
men Beine kommen ließ.“


„Auf ſprang alſo Bello, heulte furchtbar und wollte
eben der Mietz an ihr ſchönes, glattes Fell, als auf
einmal ......


Piep, Piep, Piep!


es im Schranke ertönte.“


„Mauſe, Mi — auſe, Mi — auſe am Braten drinnen
[92] — und ich dri—außen, dri—außen, dri—i—i—außen!“
— jammerte die Katze.“


„Wau, wau; das kommt von Ihrem albernen Be-
tragen und Ihrer Nachläſſigkeit!“ heulte der Hund und
dann — kam Martha vom Markte zurück, und Hund
und Katze gingen hin, wo ſie her gekommen waren.“


„Jetzt aber, mein Kind, ſchlaf ein und ſchwitze recht
tüchtig, damit wir morgen die Stelle beſehen können,
wo dieſe merkwürdige Geſchichte vorgefallen iſt.“ Und
ſo geſchah’s; Lischen ſchlief ein, ich aber freute mich,
wieder einmal ein Mährchen geendet zu haben, wie ein
wahres Mährchen enden muß; nämlich ohne Schluß und
ohne Moral. Daß der Doctor nicht bei meiner Er-
zählung war, konnte mir ebenfalls nur lieb ſein. Jeden-
falls hätte er wieder ſchnöde Vergleiche und Anſpielun-
gen losgelaſſen, was mir ſehr unangenehm geweſen wäre.“


„Herr Wachholder!“ ſagte Martha auf einmal ganz
treuherzig, — „das Loch im Schranke hat der Tiſchler
Rudolf ſchon wieder zugemacht. Die Mäuſe können
nun nicht mehr hinein“ ....


„Bis ſie ſich wieder durchgefreſſen haben, Martha!“
Ich dachte an den Doctor und ſeine Anſpielungen.


[93]

Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und
höher hinaufſteigt an der Wand des Fenſters, geküßt
von der warmen Sonne, getränkt von kleinen, ſorgenden
Händen, welche alle verwelkten, gelben Blätter abpflücken,
daß die Pflanze immer friſch und jung daſtehe.


Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate,
aus Monaten Jahre, und das junge Menſchenkind wächſt
und entfaltet ſich ſchöner und blühender als die köſtlichſte,
wunderſamſte Pflanze. Die alte Martha wird immer
älter und gebückter, und graues Haar miſcht ſich mehr
und mehr unter mein braunes. Zum erſten Mal iſt der
Tod an mein Kind herangetreten. Es hat über der
erſten Leiche geweint. Der hübſche, goldgelbe Canarien-
vogel, der ſo zahm und lieb war, lag eines Morgens
kalt und erſtarrt auf dem Boden ſeines kleinen Hauſes.


So fand ihn Eliſe und ſchrie auf, nahm ihn in ihre
Hände, hauchte ihn an und ſuchte ihn zu erwärmen —
ach armes Kind: die Todten kommen nicht wieder! —


Leg’ ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir
jungem Weſen iſt es jetzt ſchon nicht mehr vergönnt zu
klagen und zu trauern, wie Du wohl möchteſt; auch Dich
hat das Leben jetzt ſchon erfaßt und in ſeine Wirbel ge-
zogen; — gehe hin mit Deinem gedrückten, kleinen Her-
zen — daß Du die Schule nicht verſäumſt! — Eilf
[94] Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der
Chronik. Das runde Geſichtchen zieht ſich ſchon mehr
und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an
der Wand ſo lieblich macht; aus Lischens Kinderſtimme
klingt mir nun oftmals, — wenn ſie ſich wundert, ſich
freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich faſt er-
ſchreckt auffahren läßt. Es iſt derſelbe Ausruf, den
ſie an ſich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines
Herz? Dieſen Ton, den ich für ewig verklungen hielt
und welcher jetzt nach ſo langen Jahren wieder friſch
und lebendig wird? —


Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an
ernſtere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da
wollen wir uns hinſetzen unter die blühenden Roſen-
büſche und denken, daß die Welt ſo groß, ſo unendlich
groß ſei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen
wir auch dem todten Vogel ſein kleines Grab graben
und uns vorſtellen, daß im nächſten Frühlinge aus ſei-
nem kleinen Leibe eine hübſche, goldgelbe Blume auf-
ſprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet-
terlings und des großen, ewigen Gottes! —


Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen
(wenn du es heute vielleicht auch verſchenken wirſt) —
gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder!
Du kannſt ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
[95] Sonntag mit uns hinausgehen wolle in den Wald und
vielleicht auch weiter. —


Lischen nickte und ging — noch immer ſchluchzend;
ich aber machte mich auf den Weg zur Expedition der
Welken Blätter, ohne eine Ahnung von dem neuen
tragiſchen Ereigniß, welches den Tag noch wichtig
machen ſollte.


Mohrenſtraße No. 66 war damals ſchon und iſt auch
heut noch das Bureau dieſes bekannten Blattes. Ich
hatte bald meine Geſchäfte abgemacht mit dem Haupt-
redacteur dem Doctor Brummer, einem kleinen, queck-
ſilbrigen Individuum mit goldener Brille und rother
Perrücke — jetzt lange todt — und ſchwatzte noch mit
den anweſenden Journaliſten und den Künſtlern beiderlei
Geſchlechts, die gelobt ſein wollten, — — als plötzlich
die Thür aufgeriſſen wurde und der Doctor Wimmer
erſchien, begleitet von dem, uns nur zu wohl bekannten
dicken, hochrothgeſichtigen Polizeicommiſſar Stulpnaſe.
Da ſie mit einander eintraten, war es nicht ausge-
macht, wer von Beiden den Andern eigentlich mit-
ſchleppe.


„Meine Herren!“ ſchrie einen geſtempelten Bogen
ſchwingend der Doctor, — „Ausgewieſen!“ —


[96]

„Ausgewieſen!?“ ertönte es im Chor verwundert
und fragend.


„Auskewieſen? Was das ſein, Signor dottore?“
fragte Signora Lucia Pollaſtra, die jüngſt angekommene
Baßſängerin.


„Ausgewieſen, — ausgewieſen, — das heißt, —
cela veut dire: — eliminito!“ ſagte der Hauptredac-
teur, der alle Sprachen zu kennen glaubte.


„Dio mio!” rief die Sängerin, die ſo klug als zu-
vor war.


„Sehen Sie, Wimmer; ich hab’s mir gleich gedacht!“
ſchrie eine feine ſächſiſche Stimme, die dem zweiten Re-
dacteur Flußmann aus „Dreſen“ zugehörte, — „wie
konnten Sie aber auch das ſchreiben?“


Der Journaliſt nahm die letzte Nummer der Wel-
ken Blätter und las:


… Und wenn alle Eſel dieſer Maßregel Beifall
brüllen ſollten: — ich kann ſie nur „bewimmern!“


— „Und er hatte ſeinen Lohn dahin und wurde
ſelbſt gemaßregelt!“ ſagte der Doctor, welcher ſehr ge-
müthlich, den Hut auf einem Ohr, die Cigarre im Munde,
auf einem hohen Dreibein ſaß.


„Ich hätte das Deinetwegen ſchon nicht aufnehmen
ſollen, Wimmer!“ ſagte Brummer.


[97]

„Dann hätteſt Du ja ſelbſt unter die Beifallsbrüller
gehört, Alter!“ — —


Jetzt miſchte ſich aber die hohe Polizei ein, welche
bis dahin ſtillgeſchwiegen und nur mit Würde ge-
ſchnauft hatte.


„Alſo in vierundzwanzig Stunden, Herr Doc-
tor“ .....


„Habe ich das Neſt hinter mir, Edelſter! ſeien Sie
unbeſorgt!“ lachte der Doctor. — „Aber halt, Verehr-
teſter, würden Sie mir vielleicht wohl erlauben, Ihnen
jetzt noch eine kleine Rede zu halten? — Fritze, Lümmel!
Gieb dem Herrn Commiſſar einen Stuhl!“


Fritze, der unendlich ſelig grinzte, kam dem Gebote
nach; die Polizei ließ ſich ſchnaufend nieder und ihr
Opfer — begann:


„Ich habe in Jena ſtudirt, Herr Polizeicommiſſarius.
Das iſt eine allgemein hiſtoriſche Thatſache, aber es
knüpft ſich Bemerkenswerthes daran. — Damals gab
es dort einen raffinirt groben Philiſter, Deppe genannt,
der alle Augenblicke eine ſehr draſtiſche Redensart her-
ausdonnerte, übrigens aber der Gott aller der wilden
Völkerſchaften: Vandalen, Hunnen, Alanen, Viſo-, Möſo-
und Oſtrogothen u. ſ. w. u. ſ. w. war. Verehrteſter
Herr Commiſſarius: der deutſche Student, viel zu zart-
fühlend, viel zu ſehr von Alberti’s Complimentirbuch
7
[98] angekränkelt, konnte unmöglich dieſe Redensart adopti-
ren. Eben ſo wenig aber konnte er auch den Effect
derſelben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen Geſindel
entbehren. Was that er? — Er deckte Roſen auf den
Molch und ſagte: Deppe! —


Deppe überall! Deppe konnte jeder Rector magni-
ficus, Deppe jeder Profeſſor, Deppe jede Profeſſoren-
tochter ſagen.


Alſo Herr Polizeicommiſſarius: Deppe!


’N Morgen meine Herren! Addio Signora Polla-
ſtra, brüllen Sie wohl! Ich muß packen!“ —


Damit ſchob ſich der Doctor der Philoſophie Hein-
rich Wimmer und verließ das Expeditionszimmer der
Welken Blätter, um es nie wieder zu betreten.


Nie aber habe ich ein ſolches Geſicht wiedergeſehen,
als das des edlen Stulpnaſe. Sprachlos ſaß er da;
auf einmal aber ſprang er auf, ſtülpte den Dreimaſter
über und ſchrie:


„Man ſoll ja nicht denken, ſeinen Spaß mit einer
hohen Behörde treiben zu können!“ — Damit ſtürzte
auch er fort.


„Wenn er nur nicht herausbringt, was „Deppe“
heißt!“ — ſagte der Hauptredacteur unter dem unend-
lichen Gelächter der Redaction und der Anweſenden, und
die Verſammlung löſte ſich auf. —


[99]

Nach Hauſe zurückgekehrt, traf ich die kleine Liſe,
die bereits aus ihrer Schule zurückgekommen war, über
einer bunten Pappſchachtel an, in welche Martha den
Vogel gelegt hatte. Den Doctor hörte ich drüben ge-
waltig rumoren und von Zeit zu Zeit erſchien er am Fen-
ſter, blies eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel
hinauf, oder pfiff eine Paſſage aus dem öſtreichiſchen Land-
ſturm, ſeinem Lieblingsſtück. Der kleinen Liſe ſagte ich
von dem Schickſal ihres dicken Freundes noch nichts;
ich wollte ihr das Herz nicht noch ſchwerer machen.
Mittags konnte ſie ſchon ſo vor Betrübniß nichts eſſen,
obgleich ſie ihr Butterbrod richtig weggeſchenkt hatte.
Alle Augenblicke richteten ſich ihre Augen auf die bunte
Schachtel, worin das todte Thier lag.


Am Abend begruben wir es unter dem blühenden
Roſenſtrauch zu den Füßen der Gräber von Franz
und Marie. Die rothen Abendwolken ſegelten über uns
weg, die Roſen dufteten ſo herrlich; überall Licht und
Blumen. Ich ſaß auf dem Bänkchen neben den Grä-
bern; Eliſe hatte ihr Köpfchen an meine Bruſt gelegt,
ſie hatte ſich ſo müde getrauert, daß ſie — o glückliche
Kindheit! — die Augen ſchloß und einſchlummerte.


Eine ſchöne, bleiche, ſchwarzgekleidete Dame kam und
kniete an einem einfachen Denkmale nieder; arme Kin-
der legten, weiter weg an der Kirchhofsmauer, Wald-
7*
[100] blumenkränze auf das Grab des todten Vaters; ein
Greis ſchritt gebückt an den Steinen und Kreuzen um-
her, die Aufſchriften leſend.


In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgen-
den Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge,
die in den Straßen im Rollen und Rauſchen der Ar-
beit erſticken, über dieſe ſtille Welt hinweg. Immer
goldner glänzte der Himmel im Weſten, immer tiefer
ſank die Sonne dem Horizont zu. Nacht wird’s auf
der einen Hälfte dieſes drehenden Balles, während auf
dem großen atlantiſchen Ocean vielleicht eben ein Schiff
dem jungen Amerika entgegenſegelnd, die Sonne auf-
ſteigend begrüßt. Vielleicht iſt es nur ein Schiff, das
jetzt im jungen Tage ſegelt, während hier die Nacht
ſich über ſo viele Millionen legt. — Dort ſteht der
Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; —
im Maſtkorb ſchaut ein freudiges Auge nach dem erſehn-
ten Lande aus, überall Leben und Bewegung. — Hier
zündet der einſame Denker ſeine Lampe an und ſchlägt
die Bücher der Vergangenheit auf — die Zukunft dar-
aus zu enträthſeln und findet vielleicht, daß die Nacht,
die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in dem-
ſelben Augenblick, wo auf jenem einſamen Schiff der Will-
kommensſchuß donnert: „Amerika!“ die zu den Schiffs-
rand ſtürzende Auswandrerſchaar ruft, und eine Mutter
[101] ihr kleines lächelndes Kind in die Morgenſonne und dem
neuen Vaterland entgegenhält! —


Das Gras fängt an feucht zu werden, ich muß
meine kleine Schläferin aufwecken. Die bleiche Frau
erhebt ſich ebenfalls; ſie kommt auf uns zu. Wir ken-
nen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof ſcheut ſie
ſich nicht, ſich über mich und das ſchlummernde Kind zu
beugen.


„Laſſen Sie mich die Kleine küſſen!“ ſagt ſie. — —
— — — — —


Ich ſehe ſie unter den Bäumen verſchwinden, ein
Tuch vor den Augen.


Eliſe erwacht: „O wie ſchön!“ ruft ſie, in die Glut
des Abends ſchauend. —


„Gute Nacht Franz! Gute Nacht Maria!“ — —


Holla! Was iſt in der Sperlingsgaſſe los? Als
wir nach Haus kommen, herrſcht ein Tumult darin, wie
ich ihn noch nie darin erlebt habe. In allen Hausthüren
ſchwatzende Gruppen, jede Arbeit eingeſtellt: Salat-
waſchen, Schuhflicken, Strümpfeſtopfen, Hämmern, Sä-
gen, Federkritzeln, Alles in’s Stocken gerathen, nur nicht
— die Zungen!


„O je, o je Herr Wachholder, ſehen Sie mal da
oben!“ ſchreit Martha, die auf der Treppe unſerer Haus-
[102] thür, umgeben von einem Kreis Nachbarinnen, Poſto
gefaßt hat, mir ſchon von weitem entgegen.


„Was giebt’s denn Martha? was iſt los?“ — rufe
ich ihr entgegen. —


„Der Herr Doctor Wimmer iſt los!“ — jubeln
zwanzig Stimmen um mich und zwanzig Finger zeigen
nach dem Fenſter des vortrefflichen Burſchen, welcher der
„bunte Hund“ der ganzen Gaſſe war.


Ein großer Bogen Papier flattert dort oben und
darauf ſteht mit gewaltigen Buchſtaben:
DR. WIMMER
P. P. C.


Aus dem offenen Fenſter aber beugt ſich — Herrn
Polizeicommiſſarius Stulpnaſe’s ehrwürdiges Vollmond-
geſicht, und ſeine weißbehandſchuhten Hände ſind bemüht,
den Zettel abzunehmen.


Ich überliefere ſchnell die verwunderte Liſe der alten
Martha und ſteige die Treppen zu der Wohnung des
Doctors hinauf, welches ſehr langſam geht, denn vor
mir her ſchiebt ſich eine unbeſchreibliche, wunderbare
Maſſe von Kleidungsſtücken ächzend und ſtöhnend den
engen Weg langſam, langſam hinauf.


Das war die dicke Madame Pimpernell, die das
Ereigniß ſeit langen Jahren zum erſten Male wieder
in die obern Räume ihres Hauſes trieb.


[103]

Das Zimmer beſchrieb ich neulich bei meinem Beſuch
des Zeichners Strobel und brauche daher jetzt nur zu
ſagen, daß der Nachlaß des Doctors in einem zerſpal-
tenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiſte — Fuma-
doria regalia
— und einem Exemplar der Flodoardine
beſtand.


Stulpnaſe ſaß da auf einem Stuhl, ſchaute das leere
Neſt wehmüthig-grimmig an und ächzte:


„Ausgewieſen! Nun gar ausgekniffen! Donner-
wetter — ohne erſt für ſeinen „Deppe“ geſeſſen zu
haben.“


„Jotte, einer armen Wittfrau ihren beſten Miether
abzutreiben, is das in der Ordnung Herr Kumzarius?
Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer um ’nen
Dreier billiger gelaſſen?“ greint die dicke Madame Pim-
pernell, die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen
Stuhl geſunken iſt.


„Halte Sie das Maul, Frau!“ ſchnauzt Stulpnaſe,
worauf die Dicke ein Geſicht macht, wie es einſt jedes
brave corinthiſche Weib geſchnitten haben muß, als es
das Wort des Apoſtels Paulus hörte: Mulier taceat
in ecclesia.


Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten
ſtößt Stulpnaſe ein dumpfes Geheul aus und ſeufzt in
ſich: „Deppe“. Plötzlich aber, mit Wuth auf ſeine
[104] Bruſttaſche ſchlagend, ſchreit er: „Und hier hab’ ich den
Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienſt,
und — ausgekniffen!“


Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch
Lachen noch mehr zu reizen, verſchwinde und platze erſt
auf der Treppe los, die beiden Würdigen einander ge-
genüber ſitzen laſſend.


In der Gaſſe ſteckt mir Marquart ein Billet zu und
flüſtert geheimnißvoll, nach dem Fenſter des Doctors
deutend:


„Das hat er zurückgelaſſen für Sie Herr Wachhol-
der!“


Der Zettel lautet:
Liebſter Freund!


„Eine hohe Polizei weiß, was „Deppe“ heißt,
„obgleich es nicht im Converſationslexikon ſteht. Ein
„Freund hat mich gewarnt; — ich verſchwinde! —
„In den böhmiſchen Wäldern ſehen wir uns wieder! —


Dr. Wimmer.“


P. Scr. Der Redactionspudel begleitet mich! —


„Onkel, was ſoll denn das Alles bedeuten, wo iſt
denn der Onkel Doctor?“ fragt die kleine Liſe, welche,
obgleich ſchon im Nachtzeug, nicht vom Fenſter wegge-
kommen iſt.


Ich ſchreibe: pour prendre congé auf einen Zettel
[105] und Lischen, die jetzt ſchon eine kleine Gelehrte iſt,
hat mit Hülfe eines Dictionnaires noch vor dem Schla-
fengehen heraus:
„Um — nehmen — Abſchied“ —


„Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reiſe machen,
Schatz!“ —


Damit geht Eliſe getröſtet zu Bette und verſchläft
und verträumt ſanft ihren erſten Schmerz. In dieſem
Alter genügt noch eine Nacht, ihn zu begraben.


Ich hab’s mir wohl gedacht, als ich dieſe Bogen
falzte und ich hab’s auch wohl mit aufgeſchrieben, daß
ihr Inhalt nicht viel Zuſammenhang haben würde. Ich
weile in der Minute und ſpringe über Jahre fort; ich
male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab
ohne den alten Ton ausklingen zu laſſen; ich will nicht
lehren, ſondern ich will vergeſſen, ich — ſchreibe keinen
Roman! —


Heute werfe ich zum erſten Mal einen prüfenden Blick
zurück und muß ſelber lächeln. Alter Kopf, was machſt
Du? Was werden die vernünftigen Leute ſagen, wenn
[106] dieſe Blätter einmal das Unglück haben ſollten, hinaus-
zugerathen unter ſie?


Doch — einerlei! Laß ſie ſprechen, was ſie wollen:
ich ſegne doch die Stunde, wo ich den Entſchluß faßte
dieſe Blätter zu bekritzeln, — mit einem Fuß in der
Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der
Vergangenheit! — Wieviel trübe, einſame Stunden ſind
mir dadurch nicht vorüber geſchlüpft ſonnig und hell,
ein Bild das andere nachziehend, dieſes feſtgehalten,
jenes entgleitend: ein buntes freundliches Wechſelſpiel!
So ſchreibe ich weiter.


Manche alte verſtaubte Mappe mit Büchern, Heften,
Zeichnungen, vertrockneten Blumen und Bändern liegt
da; ich brauche nur hinein zu greifen, um eine ſüße
oder traurige Erinnerung aufſteigen zu laſſen, — keine
aber ſo duftig, ſo waldfriſch, als die folgende, welche
ich überſchreibe:
Ein Tag im Walde.


„Fahren wir, oder gehen wir?“ hatte Lischen am
Abend jenes auf den vorigen Seiten beſchriebenen ſo
[ereignißvollen] Tages noch gefragt.


„Wir fahren!“ war die Antwort geweſen und glück-
lich darüber hatte ſie das Näschen nach der Wand ge-
kehrt und war eingeſchlafen.


Mit dem Wagen erſchien am andern Morgen auch
[107] Roder, der Lehrer Eliſens, den leichten Strohhut auf
dem Kopf, die grüne Botaniſirbüchſe auf dem Rücken,
ſchon an der Ecke luſtig nach dem Fenſter hinaufwinkend.


Die alte Martha hatte den Kaffee fertig und Lis-
chen, die bei ihrem Eifer ebenfalls fertig zu ſein, dies-
mal mehr Hülfe als gewöhnlich nöthig gehabt hatte,
ſprang die Treppe hinunter und erſchien nun, den Lehrer
hinter ſich herziehend. — —


Roder iſt einer jener Volkslehrer, wie ſie nur Deutſch-
land hervorbringt. Er iſt, wie es ſich faſt von ſelbſt
verſteht, der Sohn eines Schulmeiſters, der wiederum
der Sohn eines Schulmeiſters war; denn wenn es einen
Stand giebt, der ſich durch Generationen fortpflanzt,
ſo iſt es das deutſche Volkslehrerthum. Da bringt der
Vater vom Lande einen ſeiner, gewöhnlich ſehr zahl-
reichen Söhne, in die Stadt; mit einer Bibel, einem
Geſangbuch und vor allem einem Choralbuch als Biblio-
thek. Der Junge iſt der Stolz ſeines Vaters. Wer
hat ein größeres Talent die Orgel zu ſpielen? wer hat
eine beſſere Stimme — wenn ſie auch gerade ſich ſetzt?
So ausgerüſtet betritt der junge Gelehrte den Schau-
platz ſeiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn an-
fangs das Heimweh unter der wilden Bande ſeiner Mit-
ſchüler, die ihn hänſeln und zum Beſten haben in ſeiner
Gutmüthigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben iſt ihm
[108] anfangs nur ein erſter April, wo man die Narren
„umherſchickt — in den April.“ Selbſt der Zuwachs
ſeiner Bibliothek, beſtehend aus den Schulbüchern ſeiner
Klaſſe und — Funke’s Naturgeſchichte, vermag ihn nur
mittelmäßig zu tröſten; ein größerer Freund iſt ihm in
dieſer Epoche ſeines Daſeins das alte wacklige Clavier,
welches ihm der Vater gemiethet und in ſein Dachſtüb-
chen geſtellt hat. Davor ſitzt der Arme und ſpielt ſeine
Choräle und Volksweiſen, — letztere nach dem Gehör
— und denkt zurück an ſein Dorf, an ſeine Eltern und
Geſchwiſter und vor allem an die Schule, wo er der
Erſte war, — ja ſogar in der Ernte den Vater zuweilen
vertreten durfte; während er hier — er der große Ben-
gel! ganz unten ſeinen Platz unter den Kleinſten und
Faulſten bekommen hat!


Warte nur, armer Kerl, — ſieh, da bricht ſchon
der erſte freudige Strahl in Dein dunkles Sein. Ge-
wöhnlich giebt es auf jeder Schule einen Lehrer, der ein
Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenſchaftlicher
Naturfreund iſt, womit meiſtens die Gabe der Mit-
theilung ſich verbindet, dem begegne Du armes einſames
Gemüth und Du wirſt einen Freund gefunden haben.
Jetzt verändert ſich Alles!


Welch’ ein Schweifen nun über Berg und Thal;
welch’ ein Verſenken in all’ die kleinen und kleinſten ge-
[109] waltigen Wunder in der Luft, im Waſſer, auf und
unter der Erde! Wie ſich das Dachſtübchen füllt mit
Käfern, Schmetterlingen, Herbarien u. ſ. w. Welch’ eine
ſelige Ermüdung an jedem Abend, welch’ ein Träumen
des Nachts, welch’ ein Erwachen am Morgen!


Nun zieht eine Wiſſenſchaft alle andern nach ſich;
die Klaſſen werden durchflogen, — den Schiller lernen
wir auswendig und die Welt dehnt ſich immer ſchöner
und weiter vor uns aus! — Ach ein Fauſt zu ſein, iſt
es nicht nöthig Alles ſtudirt zu haben: das Wollen
allein genügt, den Mephiſtopheles aus dem Nebel her-
vortreten zu laſſen!


Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand Du Sohn
Deutſchlands in langen durchwachten Nächten, beſchwöre
nur die Geiſter alter und neuer Zeit herauf, ſie ſind
doch ſtets um Dich, die Geſpenſter: Lebensnoth und
Zweifel und vergebliches Streben!


Der Arm der Nothwendigkeit faßt Dich und ſchleudert
Dich mit Deinem Wiſſensdrang in ein kleines ablegenes
Walddorf oder an die Armenſchule einer großen Stadt;
da begrab Dein volles Herz und ſuche — zu vergeſſen!


Glücklich, wenn Du’s kannſt; glücklicher aber viel-
leicht doch, wenn es Dir gegeben iſt, auch hier weiter
zu ſuchen. Der Pulsſchlag des Weltgeiſtes pocht ja
überall: „Suchet, ſo werdet ihr ihn finden!“ ſagt das
[110] ſchönſte der Bücher, das ſo leicht zu verſtehen iſt und
ſo ſchwer verſtanden wird. — — — — —


Ungeduldig klatſcht der Kutſcher unten vor der Thür,
ungeduldig treibt Eliſe, während Martha noch immer
Zurüſtungen macht, wie zu einer Reiſe nach dem Nord-
pol! Endlich aber ſteigen wir ein.


Unſere Sonntagsodyſſee beginnt!


„Hätte der Onkel Doctor nicht morgen abreiſen kön-
nen?“ fragt noch Lischen nach dem Zettel droben ſchauend,
auf welchem die Madam Pimpernell ankündigt:


„Hier iſt eine Stube mit Cabinet zu vermiethen.“


Roder lächelt, ſcheint etwas auf dem Herzen zu haben,
aber ſich gegenwärtig auf Weiteres nicht einlaſſen zu
wollen, und ſo rollen wir durch die noch ſtillen Straßen
dem Thore zu. An den Wochentagen iſt’s um dieſe Zeit
ſchon lebendig genug, heute aber ſchläft das Volk der
Arbeit in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat
das Recht dazu nach ſechs Schöpfungstagen.


Jetzt ſind wir in den grünen Anlagen, die ſich rings
um die Stadt ziehen. Landhäuſer und Gärten faſſen
auf beiden Seiten die Straße ein. Eine Eiſenbahn-
linie geht mitten über den Weg und wir müſſen an-
halten, denn ein Zug fliegt eben brauſend und ſchnau-
bend dem Bahnhofe zu. Der Sonntag, der den Städter
hinaus führt, bringt den Landmann hinein in die Stadt
[111] und alle die Tauſende, die heute ein- und ausfliegen
werden, ſuchen alle ein anderes Ziel des Genuſſes; jeder
die Freude auf eine andere Weiſe!


Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und
fahren nun langſam die Pappelallee hinauf den Höhen
zu, welche im weiten Umkreis die große Ebene und die
große Stadt umgrenzen. Die Sonne ſteigt empor über
dem Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tra-
gen alle einen Thautropfen, das Geſchenk der Nacht;
die Lerche erhebt ſich jubelnd in die blaue friſche Luft
und auch ſie ſchüttelt Thau von den Flügeln. Wenn
wir zurückſchauen, liegt die große Stadt noch verhüllt in
dem ſilbergrauen Duftſchleier, den ſie ſelbſt ſich webt und
den ſie wie Penelope den ihrigen nur zertrennt, um ihn
von Neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldſterne
blitzen die Kreuze der Thürme — die Zeichen des
Leids — darauf. — Wir aber fahren ſchon im vollen
Sonnenſchein und jetzt — ſind wir am Rande des
Waldes angekommen; nun brauchen wir den Wagen
nicht mehr, und ſchnell rollt er die Höhen wieder herab,
der Stadt zu.


Was trappelt auf einmal vor uns und raſchelt
durch das welke Laub des vorigen Jahres, das den
Boden bedeckt? Was bricht da durch’s Gebüſch, die
Ohren und den ſchwarzen Pelz naß vom Morgenthau,
[112] luſtig jetzt um uns her bellend und ſpringend und die
hellen blitzenden Tropfen abſchüttelnd?


„Hurrah! Willkommen im Walde!“ ruft eine wohl-
bekannte Baßſtimme. —


Wer trabt da lachend her — hinter einer kleinen
Rauchwolke, eine hohe ſchwankende Königskerze auf dem
Hut, — auf dem Fußpfade, der ſeitab tiefer ins Holz
führt?


„Willkommen fahrender Recke!“ ruft Roder den
Hut ſchwingend.


„Allerſeits ſchönſten guten Morgen!“ grüßt der aus-
gewieſene Doctor, den abgenommenen Maulkorb des
Pudels in die Höhe ſchleudernd und wiederfangend.


„Haſt Du mit Rezenſent im Walde geſchlafen?“ fragt
die kleine Liſe.


„Der Herr Polizeicommiſſarius läßt Sie grüßen,
Wimmer!“ lache ich.


Jeder hat zu gleicher Zeit zu fragen und zu ant-
worten und Jeder thut es auch, während Rezenſent ſich
immer dicht an Eliſe hält, von Zeit zu Zeit ein kurzes
fideles Gebell ausſtößt und immer unſern Proviantkorb
im Auge behält.


Mit pathetiſcher Geberde tritt jetzt der Doctor an
den Rand der Höhe, ſtreckt den Arm gegen die Stadt
aus und declamirt:


[113]

„Ha, da liegt ſie — die Undankbare, ſie wo ich
meine Nächte durchwachte — Sänger und Sängerinnen,
Schauſpieler und Schauſpielerinnen, Ballettänzer und
Ballettänzerinnen lobte oder herunterriß, — wo ich ſo
manchen Leitartikel ſchrieb, — wo ich ſo manche Pfeife
rauchte! — Da liegt ſie wollüſtig träumend im Mor-
genſchlummer, — während ich umherirre verbannt, ver-
trieben, an die Luft geſetzt, eliminito, wie der Doctor
Brummer ſagte, gejagt, gemaßregelt, — ein Lamm im
ſcharfen Nordwind. Neſt! — Brüſte Dich mit Deinen
Gardelieutenants — Deiner famoſen Muſenbude, die ich
dort über die Dächer zwiſchen dem Pfeffer- und Salz-
faſſe ragen ſehe — ich verachte Dich, ein deutſcher Zei-
tungsſchreiber! — Mache in der Liſte Deiner unter
polizeilicher Aufſicht Stehenden ein dickes Kreuz hinter
dem Namen: Heinrich Theobald Wimmer Dr. phil., ſetze
ein dreimal unterſtrichenes „Ausgewieſen“ dahinter;
ich ſchüttle Deinen Staub von meinen Füßen, ich ver-
achte Dich! — Bin ich nicht heimathsberechtigt in Mün-
chen an der Iſar, ſtehen nicht viele Löcher offen im
edlen Was-iſt-des-Deutſchen-Vaterland? — Zeugt nicht
dieſer ſolide Bauch (hier ſchlug ſich der Doctor auf den
erwähnten Körpertheil) von Baiern? Es lebe München!
— Ha, prophetiſch verkünde ich Dir, ausweiſender Paſcha
von ſo und ſo viel Roßſchweifen: ein Schmächtigerer
8
[114] aber — Giftigerer wird meine Stelle einnehmen. Er-
fahren ſollſt Du Zeitungenüberwachende Behörde, daß
das, was Ihr Unkraut nennt, wenigſtens auch die Tu-
gend deſſelben hat: nämlich nicht zu verderben und aus-
zugehen! — Fort in die Breſche, mein unbekannter
Mitkämpfer! Mein Segen begleitet Dich! — Dixi, ich
habe geſprochen! — Komm Lischen!“ —


Damit warf der Doctor den Maulkorb den Berg
hinunter der Stadt zu, hob die Kleine empor, ſetzte ſie
mit ihrer Taſche und den erſten während ſeiner Rede
von ihr gepflückten Blumen auf ſeine Schulter und
ſchrie: „Allons, meine Herren; hinein in den Wald!
Kehren wir dem Neſte den Rücken zu!“ —


Mit dieſen Worten trabte der tolle Geſell den Fuß-
pfad, den er gekommen war, zurück in’s Holz; Roder
und ich folgten lachend. Der Ex-Redactionspudel ſprang
wie toll hinter uns her; gaudeamus igitur tönte des
Doctors Baß in das beginnende Conzert der Vögel —
unſer Sommer-Sonntag im Walde hatte begonnen!


Welch’ ein Tag war das! —


Dieſes erſte Eintreten in die grüne Blätterwelt, —
dieſes Aufathmen aus voller Bruſt! Der Doctor hatte
mit der ſich gewaltig ſträubenden Liſe einen ordentlichen
Galopp angeſchlagen und war unſern Augen entſchwun-
den, unſern Ohren aber nicht. Die Kleine lachte, —
[115] wurde ärgerlich, — bat; — der Pudel bellte aus Lei-
beskräften, und der Doctor fiel aus einem ſeiner Stu-
dentenlieder in’s Andere.


Mit ſeiner Ausweiſung ſchien der alte Jenenſer
Burſch alle geſellſchaftlichen Bande für aufgelöſ’t zu
halten.


„Das iſt ein ſonderbarer Menſchentypus,“ ſagte
Roder lächelnd, als wir langſamer hinterhergingen; „die
perſonificirte Gutmüthigkeit unter dieſer tollen, barocken
Maske. Wir ſind Jugendfreunde, welches ſonderbar
ſcheinen kann, da er in Lumpenhauſen das Gymnaſium
beſuchte, während ich auf dem Seminar mich zum Schul-
meiſterlein einpuppte. Eben ſo gut hätte ein Guelfe
mit einem Ghibellinen Arm in Arm auf der via dei
malcontenti
in Florenz ſpazieren gehen können. — Aber
es war ſo; — er lehrte mich Cigarren drehen, ich da-
gegen brachte ihm bei: ſich auf dem Clavier mit einem
Finger zu dem famoſen Liede zu begleiten:


Mihi est propositum

In taberna mori …

Später verlor ich ihn aus den Augen; ich ward
Hülfslehrer in Lammsdorf, er ging auf die Univerſität.
Da ſaß ich eines Abends und unterſuchte Mooſe durch
die Loupe, als mich plötzlich Jemand auf die Schulter
klopfte und eine Bierbaßſtimme — wie weiland Leib-
8*
[116] geber zum Armenadvokat Siebenkäs — „’n Morgen
Roder,“ hinter mir ſagte. — Es war Wimmer, der,
wegen Uebertretung der Duellgeſetze relegirt, „die große
Tour machte,“ wie er ſagte. — Geld beſaß er ſchon
damals nicht, aber viel Humor und guten Muth, und
ſo hat das Schickſal uns öfters wieder einander in den
Weg geführt und immer war der Doctor Wimmer —
derſelbe … „Und ausſterben wird dieſe Art nicht in
Deutſchland, ſo lange man noch die Namen: Bier, Ro-
mantik und Politik nennen hört,“ ſagte ich … „Halt,“
rief der Lehrer, „welch’ ein prächtiges Aconitum, ent-
ſchuldigen Sie!“ — Damit ſprang er in’s Gebüſch,
die Pflanze auszugraben, während ich in den Bart
murmelte:


„Und auch Deine Art, deutſche Seele, wird nicht
ausgehen, ſo lange noch in eine Blüthe das deutſche
Gemüth ſich verſenken kann zwiſchen Weichſel und Rhein.“


„Onkel Wachholder, Onkel Wachholder; kommt Alle
ſchnell, ſchnell einmal her!“ rief jetzt Lischen in der Ferne.


„Was giebt’s denn Liſe? ruft Röder, ſeine Blume
in die Botaniſirbüchſe legend.


„Ein wunder-wunderhübſches Vogelneſt hat der Onkel
Doctor gefunden!“ ſchallte es wieder und wir ſetzten
uns in Trab.


Auf einem kleinen ſonnigen Platz ſeitab ſtand der
[117] Doctor, hochroth vom Singen und Rennen und ließ die
Kleine in einen Fliederbuſch ſchauen. Liſe, den Athem
anhaltend, um die kleine piepende Welt nicht zu ſtören,
guckte ſelig durch die Zweige; während der Rezenſent
das Wunder weiter unten ſuchte und, den Kopf und
Leib im Laubwerk verborgen, nur die Hinterbeine und
den wedelnden Huſarenbuſch zeigte.


„Nicht wahr Liſe, das mußte ich Dir doch zeigen?
S’iſt doch prächtig, wenn Einen die Polizei ſo früh
hinaus jagt in den Wald!“


Ein Buch guckte dem Doctor hinten aus der Rock-
taſche und der Lehrer zog’s ihm heraus. Es war —
Reineke de Voß, des Doctors ewiger Begleiter auf
allen ſeinen Fahrten, den er faſt auswendig wußte.
Bei der Berührung des Lehrers ſchaute er ſich auch ſo-
gleich um und begann:


De quad deyt, de schuwet gern dat licht:

Also dede ok Reinke de bösewicht.

He hadde in de stad so vele missdan,

Dat he dar nicht dorfte kamen noch gan.

He schuwede seer des Konniges hoff

Darin he hadde seer kranken loff!“ —

„Aber hier Liſe iſt’s was Anderes, wenn wir
hier ein Vogelneſt finden, ſo dürfen wir auch hinein-
gucken und unſere Meinung darüber ſagen“ — — —


[118]

„O das iſt wunder-wunderhübſch,“ ruft die Kleine,
welche gar nicht hört, was der Doctor ſagt. „Sieh
der alte Vogel fürchtet ſich gar nicht, — o, welche
große Schnäbel, — er ſitzt ganz ſtill zwiſchen ſeinen
Jungen und ſieht nur nach Rezenſenten hinunter! —
Er thut Dir nichts, kleiner Vogel, — bleib ruhig
ſitzen!“ —


Jetzt ließ der Doctor das Kind auf den Boden
gleiten: „Nun lauf zu Fuß,“ ſagte er, „das Gras
iſt trocken.“


Welch ein Tag! Noch zogen weiße Wölkchen über
die Baumwelt weg, bald aber hatte die Sonne ſie ver-
zehrt, und das ewige Blau lächelte rein und klar auf
uns herab. Immer tiefer verſenkten wir uns in die
duftende Wildniß: „Wo laſſen wir alle die Blumen,
die wir pflücken, Lischen? — Die Händchen ſind ſchon
ſo voll, daß wir bei jedem Schritt eine verlieren und
daß der Doctor ſagen muß:


„Iſt’s nicht wie im Märchen, wo der Vater die ver-
lorenen Kinder durch hingeſtreute Steinchen wiederfindet?
Ein verfolgter Zeitungsſchreiber — ſchrecklich — die Hä-
ſcher ſind ihm auf den Ferſen, — wo hat er ſich hin-
gewendet? — „Ha,“ ſagt der Erfahrenſte der Spürer,
ein wahrer Pfadfinder auf der Vagabondenjagd: „Seht
die Blumen — untermiſcht mit Cigarrenenden! Laßt
[119] uns dieſer Spur folgen, Brüder! — Ha, ſeht hier im
weichen Boden die Hundetapfen! — Er iſt’s, er iſt’s —
Fort, ihm nach!“ — Schrecklich! — — —


„Bravo Wimmer!“ lachte der Lehrer, der wieder
eine Pflanze im Gehen zerlegte. „Welcher Stoff für
Dein nächſtes Werk; wo Du es auch ſchreiben magſt,
ich hoffe auf ein Exemplar.“


„In München werde ich es ſchreiben, Verehrteſter!
Habe ich nicht einen Contrakt mit dem Buchhändler
und Eigenthümer der „Knospen“ — Gabriel Pümpel,
in der Taſche? Iſt nicht Gabriel Pümpel mein Onkel?
Iſt nicht Nanette Pümpel meine Couſine? Wetter, ich
ſehne mich ordentlich nach dem Nannerl!“


„Doctor! Doctor!“ rufe ich lächelnd.


„Wahrhaftig,“ ſeufzt der eliminirte Schriftſteller, „ich
habe heute ordentlich Luſt ſolid zu werden!“


Ehrlicher alter Burſch!


„Alſo das waren Deine Gedanken,“ ſagt der Lehrer
lächelnd und gerührt, „als Du geſtern den ganzen Nach-
mittag auf meinem Sopha lagſt? Ich konnte Dich vor
Tabacksqualm nicht recht ſehen, aber Du ſchienſt mir
außergewöhnlich nachdenklich und träumeriſch. Gottlob,
wenn dieſe Exilirung ſo ausſchlüge“ ….


„Hurrah,“ ſchreit der Doctor, den Hut in die
Luft werfend: „Es leben die Knospen! Es lebe das
[120] Bockbier! Es lebe das Haus Pümpel und Com-
pagnie!“


Der Exredactionspudel iſt außer ſich; jetzt hat er
die größte Luſt Eliſe vor Wonne über den Haufen zu
werfen, jetzt ſpringt er an ſeinem Herrn in die Höhe,
jetzt iſt er im Gebüſch verſchwunden, jetzt kommt er auf
der andern Seite wieder zum Vorſchein! Bumms — da
liegt er im Graſe, wälzt ſich, daß man nicht weiß,
was Oben oder Unten, Beine oder Rücken, Kopf oder
Schwanz iſt!


„Wer hat eine Uhr? Niemand? Deſto beſſer, der
Magen iſt unſere Uhr. Hier unter dieſer prächtigen
Buche wollen wir uns lagern. Wie das Moos ſo weich
iſt! Ausgepackt die Taſchen, den Korb, die Botaniſir-
büchſe! Eine Flaſche Wein erſcheint. Wer hat einen
Korkzieher? Niemand? Deſto beſſer, wir ſchlagen ihr den
Hals ab; ein niedliches Glas hat Eliſe mitgebracht.“


„Holla, Roder, aufgepaßt! Rezenſent hat den Kopf
in Ihrer Rocktaſche!“


„Welch Behagen, ſich ſo im weichen Graſe auszu-
ſtrecken! Wie das ſchmeckt im grünen Walde; — die
alte Martha ſoll leben, ſie hat prächtig geſorgt!“ —


„Komm Kind, unſere kleinen Beine ſind doch wohl
müde! Was bedeuten dieſe Faden? Aha, jetzt werden
wir Kränze winden. Welche prächtigen, wilden Roſen!“


[121]

„Sieh, da kriecht ein Marienkäfer auf Deinem Arm,
Lischen; — er entfaltet die Flügel — prr, dahin geht
er, ein kleines rothes Pünktchen im Sonnenſtrahl.“


Eliſe ſchaut ihm nach und fängt an zu ſingen:


Marienvogel kleine,

Rühre Deine Beine,

Kriech an meinem Finger n’auf,

Setz Dich als das Knöpflein drauf!

Iſt er nicht ein hoher Thurm

Für ſo kleinen rothen Wurm?

Und dann mit ganz feiner Stimme:


„Rothen Purpur trag’ ich,

„Flüglein viere ſchlag’ ich!

„Gar kein’ Flüglein regſt Du,

„Nur zwei Bein’ bewegſt Du —

„Beine achte rühr’ ich,

„Sieben Punkte führ’ ich,

„Fliege höher als der Thurm!

„Wer iſt nun der kleine Wurm? — Etſch!

Die Sonne muß draußen gar heiß und drückend
ſein, ſie ſteht hoch im Mittage. Hier aber hat ſie die
Herrſchaft mit dem Schatten zu theilen und zwar ſo,
daß man gar nicht mehr weiß, wo Dunkel, wo Licht
iſt, ſo flimmert und zuckt beides durcheinander.


„Wirſt Du müde, Lischen? berauſcht Dich der Wald-
[122] duft, kleines Herz? Komm, lege Dein Köpfchen hierher;
keine Mücke, keine Fliege, und wenn ſie noch ſo golden
wäre, ſoll Dich im Schlummer ſtören. Schließe dreiſt
die Augen und träume einen hübſchen Elfentraum von
Schmetterlingen und Blumen und kleinen Vögeln.“


Wie behaglich der Pudel gähnt und, den Kopf auf
die Vorderpfoten gelegt, mit den Augen blinzelt.


„S’iſt doch ein ganz ander Ding ohne Maulkorb, —
nicht wahr Rezenſent?“


Wie der Doctor ſo nachdenklich die blauen Cigarren-
wölkchen von ſich bläſ’t! Denkt er an ſeinen erſten Auf-
ſatz in den „Knospen;“ denkt er an die Münchener
Couſine?


Wie ſich der Lehrer mit leuchtenden Augen in die
Pflanzenſchätze ſeiner Botaniſirbüchſe vertieft!


„Heda Roder, was ſchaut da zwiſchen den Blättern
und Wurzelwerk für ein Heft hervor?“


„Her damit!“


Der Lehrer erröthet und reicht lächelnd das Heft
herüber.


„Was ſehe ich! Vermag der Schulſtaub ſolche Blü-
then zu treiben?!“


Grinſend ſteckte der Doctor Wimmer den Kopf über
meine Schulter und machte nach einigen Blicken auf das
Manuſcript ſogleich Anſtalt, es für die Knospen mit
[123] Beſchlag zu belegen, aber der Lehrer that gewaltig Ein-
ſprache dagegen. Später ſchenkte er es mir. Soll ich
ein Blatt daraus der Chronik einſchieben?


Es ſei! Da iſt eins!


„Ich lag am Rande des Bachs und ſann nach über
„die Geſchicke der Völker und Könige und über — meine
„Liebe. Hinten in der Türkei lagen jene einander in
„den Haaren und drüben in der kleinen Gartenlaube ſaß
„mein Schatz und ſchmollte. Ah!


„Lippe-Detmold iſt mein Vaterland — was geht
„mich die orientaliſche Frage an und der General Sa-
„balkanskoi und die Schlacht bei Navarino?!


„Aber das Frauenzimmer dort?


„Beim großen Pan, damit muß es anders werden!


„Roth wie die Liebe iſt der Abendhimmel; goldne
„Wölkchen, weiße Tauben ſchweben darin hin und wie-
„der wie Liebesgedanken … Wo ſind meine Diploma-
„ten, wo meine Kabinetscouriere?


„Es ſchwanken die Gräſer — es regt ſich — es
„läuft, es kriecht, es klettert, es hüpft, es flattert und
„fliegt — tauſendbeinig, tauſendflügelig! Es zwitſchert
„und ſummt — tauſendtönig!


„Dichter-Miniſter, Frühlings-Räthe, Liebes-Geſandte
„verſammeln ſich um mich zu Rath und That.


[124]

„Wohlan, — die Conferenzen ſind eröffnet! Allen
„Gegenwärtigen und Zukünftigen Gruß! Wen ſend’ ich
„zuerſt an Jene dort, hinter den Holunderblüthen?


„Ach! Du da — fort mit Dir zu Ihr hin — Du
„mein leichtgeflügelter, magenloſer Herold, Du den ſie
„den „rothen Augenſpiegel“ nennen, zeig Ihr auf
„Deinen weißen Schwingen die beiden Purpurtropfen,
„ſag Ihr, es ſei Herzblut — mein Herzblut aus dem
„wilden Kampf um die Liebe, die rothe Liebe! … Da
„flattert der Bote der Laube zu; es zittert mein Herz,
„mein banges Herz. — Sie — nieſt!!!.. O Dank,
„Dank ihr ewigen guten Götter, Dank für das Omen!
„(Erkälte Dich nicht, Louiſe; nimm ein Tuch um,
„hörſt Du?)


„Wer iſt der zweite meiner Boten? Schnell, ſchnell
„meine kleine emſige Biene; — hin zu Ihr — ſumme
„Ihr ins Ohr, Honiggedanken, Hausgedanken, Leinen-
„und Drellgedanken!


„(Was hat das Frauenzimmer zu lachen über ihrem
„Nähzeuge, in der kleinen Laube?)


„Und nun mein letzter Bote, mein ſchwarzer Trauer-
„mantel flattere hin zu Ihr! Hör’, was Du Ihr ſagen
„ſollſt. Sag Ihr: „Louiſe, Louiſe, der Tag iſt zu
„Ende — die Eintagsfliegen wurden müde, todmüde —
„der Bach ſchaukelt ihre armen kleinen Leiber fort, vor-
[125] „über an den Blumen, über denen ſie vor einer Stunde
„noch tanzten und ſpielten. Louiſe, Louiſe das Leben
„iſt kurz; Louiſe die Nacht bricht herein; ſieh den roth-
„finſtern Streif im Weſten, ſieh wie es im Oſten un-
„heimlich zuckt und leuchtet — horch wie es grollt!“


„(Es regt ſich in der kleinen Laube! Sie ſeufzt!)
„Louiſe! Louiſe!


„(Sie tritt heraus!)


„Louiſe! Louiſe!


„Die Bäume ſchütteln ihre Blüthen herab auf Sie:
Ave Louisa! Der Abendwind flüſtert Ihr zu: Ave
„Louisa!
Die Blumen des Tages neigen ſich Ihr:
Ave Louisa! Die Blumen der Nacht öffnen ihre
„Weihrauchkelche Ihr — Ave Louisa! Ave Louisa!
„(Sie winkt .... ſie lächelt ....)


„Friede?


„Friede!


„Friede! Läuten die Glocken im Reich! Erleuchtet
„die großen Städte, die Dörfer, erleuchtet jedes ein-
„ſame Haus! Orgelklang in allen Domen, Kirchen und
„Kapellen! Auf die Knie, auf die Knie alles Volk!
„Männer, Weiber, Greiſe, Kinder, Jünglinge und
„Jungfrauen:


Herr Gott! Dich loben wir!

Herr Gott! Wir danken Dir!

[126]

„Friede! Friede im Himmel und auf Erden und den
„Menſchen ein Wohlgefallen!


Ich kannte dieſe „Louiſe“ des Lehrers gar gut. War
ſie nicht Gouvernante bei den Kindern des Baron Silber-
heim? Hat ſie nicht ſpäter den Lehrer Roder geheirathet?
Hat ſie nicht Glück und Kummer und Verbannung mit
ihm getheilt?


Seid gegrüßt Otto und Louiſe Roder, wo Ihr auch
weilen mögt! — — —


„Ei, das war ſchön!“ ſagte Lischen erwachend und
das Köpfchen aufrichtend. Sie dachte an ihren Traum
im Grünen, nicht an des Lehrers Phantaſien, — die
hatte ſie richtig verſchlafen.


„Was hat Dir denn geträumt, Lischen? fragte der
Doctor und das Kind ſchaute ihn verwundert an.


„Hab’ ich denn geſchlafen?“ fragte ſie.


„Das kann man bei ſolchem kleinen Mädchen wie
Du biſt Liſe, niemals recht wiſſen. Was haſt Du denn
geſehen und gehört? Erzähle mal!“ ſagte ich.


„O es war wunderſchön was ich geſehen habe!“ „Ich
konnte gar nicht über das Gras weggucken; es war
wie ein kleiner Wald, und welch’ eine Menge kleiner
Thiere lief darin herum! Und wenn ich die Augen
zumachte, wurde Alles ſo roth, als brennte der ganze
[127] Himmel, daß ich ſie ſchnell wieder aufmachen mußte.
Ich dachte, ich wäre ganz allein, da kam auf einmal ein
wunderſchöner gelber Schmetterling mit zwei großen
Augen in den Flügeln, die unten ganz ſpitz zu liefen,
der ſetzte ſich dicht vor meinem Geſicht auf einen Halm
und ſagte mit ganz feiner, feiner Stimme:


„Ein ſchönes Compliment, kleines Fräulein, und ob
Sie nicht zum Thee kommen wollten, zur Waldroſen-
königin?“


Der Herr Lehrer las in dieſem Augenblick was vor,
ich hätte gern weiter zugehört und ſagte es dem Schmet-
terling auch. Der aber ſagte: bei der Königin ſäße ein
gelehrter Herr, Namens Brennneſſel, der hielte gar nichts
von der Geſchichte, ich ſolle daher nur dreiſt mitkommen.
Ich frug den Schmetterling: ob’s ſehr weit wäre; er
meinte: weit wär’s nicht, aber wir müßten einen Um-
weg machen, da läge ein groß ſchwarz Thier im Graſe,
das habe greulich nach ihm geſchnappt, als er vorüber-
geflogen ſei. Das war der arme Rezenſent! Dann ſagte
der Schmetterling: er müſſe auch den giftigen Wolken
ausweichen, die da herumzögen und ihm ſeine hübſchen
Flügel ganz ſchwarz machten. Das war des Onkel
Wimmer’s Cigarrendampf! — Ich war auf einmal
ſo klein geworden, daß mich der ſchöne gelbe Schmet-
terling ganz leicht auf ſeinen Rücken nehmen und fort-
[128] tragen konnte zu dem Roſenbuſch dort bei der Buche.
Da war eine gar niedliche vornehme Geſellſchaft bei der
Königin. Da war der brummige, böſe, alte Herr Brenn-
neſſel, dem Jeder gern auswich; da war die dicke Ma-
dame Klatſchroſe, die dicht hinter der hübſchen Königin
ſtand. „Fräulein Eliſe,“ ſagte die Königin, „ich freue
mich ſehr, Ihre Bekanntſchaft zu machen. Iſt das Ihr
Onkel drunten, der den häßlichen Dampf ausbläſ’t?“
„Nein“, ſagte ich, „das iſt der Onkel Doctor, den ſie
weggejagt haben aus der Stadt; er ſchreibt Bücher und
iſt unartig geweſen und hat zuviel Klexe und Schreib-
fehler gemacht! „So, er ſchreibt Bücher? Dann will
ich ihn mal beſuchen!“ ſagte der kluge Herr Brennneſſel
böſe ......


„Alle Wetter, lachte der Doctor hier, halb ärgerlich
über Liſens Traum, und griff mit der Hand hinter ſich,
um ſich aufzurichten ..... „Au, Teufel!“ ſchrie er plötz-
lich. — Er hatte wirklich mit der Hand in einen Brenn-
neſſelbuſch gefaßt!


Wir lachten herzlich und nur Lischen ſagte ganz ernſt:
„Siehſt Du Onkel Wimmer, das war er! Dann fuhr
ſie fort:


„Wir tranken nun Thee aus wunderniedlichem Ge-
ſchirr (Onkel Wachholder gieb mir noch ein Butterbrod!)
und Jeder erzählte eine hübſche Geſchichte vom Frühling,
[129] Sommer oder Herbſt; vom Winter aber wußten ſie
nichts, — da ſchlafen ſie. Dabei hörte ich aber immer
den Herrn Lehrer leſen und Herr Brennneſſel brummte
dann dazwiſchen. Der war auch der Einzige, welcher vom
Winter erzählen wollte, es ward aber nicht gelitten.
— Auf einmal hörte Herr Roder auf zu leſen und ich
lag wieder bei Dir, Onkel Wachholder, im Graſe und
Rezenſent ſteckte dicht vor meinem Geſicht ſeine ſchwarze
Naſe zwiſchen den Halmen durch und ſchaute mich groß
an! Das habe ich geſehen! — War das nicht hübſch?
Und nun Herr Roder — leſen Sie Ihre Geſchichten
noch einmal — bitte, bitte!“


„Danke ſchön,“ ſagte lachend der Lehrer. „Der kluge
Herr Brennneſſel hatte ganz Recht, und jetzt ſehe ich auch
ein; meine Geſchichten ſind gar nicht hübſch!“ — Wie
lange haben wir ſo geträumt und erzählt und im grünen
Gras und weichen Moos gelegen? — Schon ſteigt die
Sonne wieder abwärts am blauen Himmel! — Muß
nicht der Doctor heute noch durch den Wald nach der
nächſten Eiſenbahnſtation? — Auf, Liſe, winde dem
Rezenſenten den letzten Kranz um den ſchwarzen Pelz!
Laßt nichts zurück von Euern Sachen! Vorwärts! —
— — Auf engen ſchattigen Waldpfaden geht’s nun
quer durch das Holz, bis wir endlich das Rollen der
Wagen auf der großen Landſtraße hören und zuletzt den
9
[130] weißen Streif durch die Stämme ſchimmern ſehen. Horch,
Geigen- und Hornmuſik! Im weißen Roß mitten im
Wald an der Chauſſee iſt Tanz. Die Hausthür iſt mit
Laubgewinden geſchmückt; Stadtvolk und Landvolk drängt
ſich allenthalben davor und dadrinnen, im Haus und
im Garten. — Wir erobern noch eine ſchattige Laube
und der Doctor geräth in ſein Element. Jetzt iſt er
oben im Saal, ſchwenkt ſich luſtig herum mit einer
friſchen Landdirne oder einer kleinen bleichen Nähterin
aus der Stadt; jetzt erregt er unter den Kegelnden ein
ſchallendes Gelächter durch einen wohlangebrachten Witz;
jetzt ſitzt er wieder bei uns, den Rock ausgezogen, glühend,
puſtend, fächelnd. Und überall, wo der Doctor iſt, iſt
auch der Pudel. Jetzt oben im Saal wie toll zwiſchen
die Tanzenden fahrend; jetzt, ausgewieſen, wie ſein Herr
aus der Stadt, ſteckt er ſeine feuchte Schnauze unter
unſerm Tiſche hervor.


Immer tiefer ſinkt die Sonne herab! Doctor, Doctor,
wir müſſen ſcheiden! —


Und der Doctor zieht den Rock wieder an und hängt
die Reiſetaſche um. Wir Alle ſtehen auf.


„Alſo mußt Du wirklich weg, Onkel Wimmer?“ fragt
Eliſe weinerlich.


„Ja ja, liebes Kind!“ ſagt der wunderliche Menſch
plötzlich ernſt. Er hebt die Kleine empor, die ſich dies-
[131] mal nicht ſträubt, ſondern ſelbſt ihm einen herzhaften
Kuß giebt.


„Wirſt Du auch wohl zuweilen an den Pudel und
mich denken, Lischen?“


„Ganz gewiß,“ ſchluchzt Lischen, „und ich will
ſchreiben und der Pudel — nein, Du mußt’s auch thun!“
Der Doctor ſetzt die Kleine vorſichtig wieder auf ihren
Stuhl: „Adieu Wachholder,“ ſagt er, „Adieu Roder,
alter Freund!“


Der Pudel ſchaut ganz verblüfft von ſeinem ernſten
Herrn auf uns und wieder zurück: es muß etwas nicht
ganz in der Ordnung ſein!


„Lebt Alle wohl! Ein fröhliches Wiederſehen! Alle!
En avant Rezenſent!“ ſchreit der Doctor, über die
Gartenhecke und den Chauſſeegraben ſpringend und rennt
ohne ſich umzuſehen dem Walde zu. Am Rande bleibt
er noch einmal ſtehen und ſchwenkt den Hut.


„Smollis!“ ruft der Lehrer, ihm mit einem Glaſe
zuwinkend. — „Grüß die Münchener Couſine, die
hübſche Nannerl!“ —


„Fiducit!“ ruft der Doctor zurück und verſchwindet
hinter den Büſchen. Rezenſent ſteht noch am Rande,
ſchaut nach uns herüber und ſtößt ein kurzes Gebell aus!


Jetzt iſt auch er verſchwunden! — — —


Wir ſitzen noch eine Weile ſtill allein.


9*
[132]

„Gott gebe dem ehrlichen alten Geſellen Glück!“
ſagt der Lehrer vor ſich hin. Ein Omnibus will eben
nach der Stadt abfahren. Was ſollen wir noch hier?
Wir nehmen Plätze und ſteigen ein. —


Zurück geht’s nun nach der großen Stadt, die ſtau-
bige Landſtraße hinunter! Fröhliche Geſichter jedes
Alters und Geſchlechts um uns her im dichtbepackten
Wagen! Wie die Sonne ſo prächtig untergeht! Ade,
du ſchöner Wald! Ade Du alter Freund Wimmer! —


Da ſind wir ſchon in den Anlagen. Welche ſonn-
täglich geputzte Menge noch ein- und ausſtrömt! Wir
ſteigen aus auf dem freien Platz vor dem Thor; den
Weg durch die Stadt bis in unſere Sperlingsgaſſe kön-
nen wir wohl noch zu Fuße machen. — —


Da ſind wir, als es eben dämmerig wird. Sieh,
da ſteht die alte Martha, ſtrickend in der Thür; ſie er-
blickt uns:


„Guten Abend, guten Abend!“ —


„Ach Martha, das war ſchön — und — der Onkel
Doctor iſt fort!“ — ſagt die kleine müde Eliſe. Auch
der Lehrer ſagt jetzt gute Nacht und kehrt zurück in ſein
einſames Stübchen, eine lange Woche mühſamer Arbeit
vor ſich! —


Das war ein Sommertag im Walde, den ich hier
aufzeichne in einer öden kalten Winternacht.


[133]

Die Kälte iſt auf’s Höchſte geſtiegen. Wenige Na-
ſen werden in der Sperlingsgaſſe herausgeſtreckt, und
die es werden, laufen roth und blau an. Welch’ ein
Künſtler der Winter iſt; die Spatzen färbt er gelb und
den freien Deutſchen macht er ausrufen: mein Haus
iſt meine Burg!


Was kann ein Chronikenſchreiber bei ſo bewandten
Umſtänden Beſſeres thun, als ſein Haus einzig und
allein zum Gegenſtand ſeiner Aufzeichnungen zu machen
und die große Welt draußen, die allgemeine Gaſſen-
geſchichte, gehen zu laſſen wie ſie will? —


Im Jahre der Gnade 1619 verbrannten ſie zu Rom
einen Gottesleugner, genannt Julius Cäſar Vanini, der
hob, auf ſeinem Scheiterhaufen ſtehend, einen Stroh-
halm zwiſchen den Holzklötzen auf und ſagte lächelnd:
„Wenn ich auch das Daſein Gottes leugnen würde, die-
ſer Halm würde es beweiſen!“ — Die Geſchichte eines
Hauſes iſt die Geſchichte ſeiner Bewohner, die Geſchichte
ſeiner Bewohner iſt die Geſchichte der Zeit, in welcher
ſie lebten und leben, die Geſchichte der Zeiten iſt die
Geſchichte der Menſchheit, und die Geſchichte der Menſch-
heit iſt die Geſchichte — Gottes! Wohin führt uns
[134] das? Kehren wir ſchnell um und ſteigen wir die Trep-
pen hinunter in das unterſte Stockwerk.


Da ſitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth’s
und Tiſchlermeiſter’s Werner eine weißhaarige gebückte
Frau in ihrem Lehnſtuhl hinter dem Ofen, ſpinnend
vom Morgen bis zum Abend. Das iſt die alte
Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des
Hauſes, welche den Grundſtein legen und den Knopf
auf die Giebelſpitze ſetzen ſah und mit dem Hauſe und
ſeiner Geſchichte verwachſen iſt durch und durch.


Manche Leiche hat ſie in den langen Jahren ihres
Lebens hinaustragen ſehen: ihre Eltern und alle ihre
Geſchwiſter, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf
eins, die Anna, die Frau des jetzigen Beſitzers. Sie
hat den Sarg Mariens mit ſchmücken helfen und den
Sarg Franzens; ſie hat ihre Freundin, meine alte
Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof,
wo ſie begraben ward an der Seite ihrer Herrin,
und manchen Andern vom Dachſtübchen bis zur Keller-
wohnung.


Einſt war ſie das ſchönſte Mädchen der Gaſſe — wie
ſie jetzt noch die ſchönſte alte Frau iſt — und als der
Hausknopf geſchloſſen werden ſollte, und jedes Glied der
damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that,
legte ſie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen
[135] hinzu, welches aus fernem Land gekommen war, und
die Ueberſchrift trug:


„Dieſes kleine Briefelein kommt an die

Herzallerliebſte in Herz und Liebe.“

und ſchloß:
„… meiner Liebſten noch einen Gruß und Kuß und
„hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwal-
„ben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinen
„Schatz, den grüßt und küßt in Gedankenſinn ſein
„herzlieber


Gottfried Karſten,
Tiſchlergeſelle.


Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirſchen
und kreiſchen läßt, mag ſie wohl an das Blättchen im
Knopf darunter denken und an den, der’s ſchrieb und
der nun auch ſchon ſo lange todt und begraben iſt.


An wie manches Kindbett im Hauſe aber auch iſt die
alte Margarethe Karſten gerufen und wie manches junge
Leben hat ſie aufblühen ſehen im Hauſe Nr. 7 in der
Sperlingsgaſſe.


Wer weiß ſo viel Wiegenlieder wie ſie; wer weiß ſo
viel Märchen, die alle anfangen: „Es war einmal“ und
damit enden, daß Jemand in ein Faß mit Nägeln und
Ottern geſteckt und den Berg herabgerollt wird? Wer
[136] im Hauſe hat zu allen Tageszeiten ſo viele Kinder um
ſich, die den Geſchichten lauſchen, dem ſchnurrenden Rade
zuſehen und Abends mit der zunehmenden Dämmerung
immer dichter an den großen Lehnſtuhl ſich drängen?
Wie oft habe ich einſt da die kleine Eliſe mit Re-
zenſent an ihrer Seite gefunden, andächtig lauſchend,
und wie oft, wenn ich mit der beſten Abſicht kam, ſie
heraufzuholen zu Bett, bin ich ſelbſt ſitzen geblieben,
den Schluß einer Hiſtorie abwartend, bis endlich auch
noch Martha herabkam, und es uns faſt ging wie dem
Herrn, welcher den Jochen ausſchickte, den Pudel zu
holen.


Heute freilich treffe ich die kleine Liſe nicht auf der
Fußbank am Lehnſtuhl ſitzend, auch die alte Martha
kommt nicht mehr herunter uns Beide abzuholen; aber
einen Anderen treffe ich häufig genug ſeit Mitte des
vorigen Herbſtes, und dieſer Andere iſt kein Geringerer,
als unſer Freund und Nachbar, der Karikaturenzeichner
Strobel. In der Werkſtatt bei Meiſter und Geſellen,
in der Küche bei der Hausmutter, überall iſt der Zeich-
ner ein willkommener Gaſt. Die Geſellen zeichnet er ab
für ihre reſpectiven Schätze, mit dem Meiſter politiſirt
er, der Meiſterin lehrt er neue Gerichte fabriciren —
er hat unter ſeiner Bibliothek ein dickes Kochbuch —
und der Großmutter — hört er zu.


[137]

So traf ich ihn heute Abend, als ich herunter kam,
einen geborgten Leimtopf wieder abzuliefern. Da es
Feierabend war, ſo war die ganze Familie in der Stube
verſammelt, der Zeichner hatte alle ſeine Geſprächs-
elemente beieinander und plätſcherte mit Wonne darin
herum.


„.... Alſo Meiſter,“ ſagte er, als ich eintrat, wer,
meinen Sie, kriegt dabei die Prügel?“


„Der Ruſſe nicht!“ antwortet nach einer kleinen
Pauſe bedächtig der Meiſter, der mit der Brille auf
der Naſe die Zeitung hinter das Licht hielt, um beſſer
zu ſehen.


„Alſo die Alliirten?“


Der Meiſter nimmt eine Priſe und da ſeine Erinne-
rungen nur bis zu den Befreiungskriegen gehen, ſchaut
er verwundert auf, es ſcheint ihm auch das unwahr-
ſcheinlich. — Plötzlich aber beſinnt er ſich:


„Donnerwetter, da ſind ja auch die Franzoſen bei!“
ruft er. — „Himmel! das hat ſich ja auf einmal ganz
umgedreht!“ —


„Richtig Meiſter,“ ſagt der Zeichner, dem Tiſchler-
meiſter auf die Schulter klopfend. „Richtig! Alles in
der Welt dreht ſich von Zeit zu Zeit um.“


„Meiſterin, die Kartoffeln brennen an!“ unterbricht
Anton, der Lehrjunge, die Politik.


[138]

„Wir kommen gleich!“ ruft Strobel lachend. — „Ich
gehe auch mit, Meiſterin, und die Kinder auch! Vor-
wärts! En avant! On with you boys! Heraus in —
die Küche!“


So werden die Kartoffeln gerettet, der Meiſter ſtudirt
ſeine Zeitung weiter und das Spinnrad ſummt und
ſchnurrt im Winkel wie immer. Endlich kommen Stro-
bel, die Frau Anna und die Kinder zurück und die
Alte fragt:


„Alſo der Franzos iſt auch wieder dabei? Iſt das
derſelbe der Anno Sechs hier war?“


„Nein,“ ſagt Strobel, „jetzt trägt er rothe Hoſen.“


„Und der Napoleon — ich meine der iſt lange todt?“


„Ja, Mutter,“ ſagt der Meiſter von ſeiner Zeitung
aufſehend, — „das iſt auch ein Anderer.“


„Gott,“ ſagt die Großmutter, — „wenn ich noch
daran denke, wie das kleine, gelbe, ſchwarze Volk hier
war und in den Straßen kauderwelſchte, und eine Sorte
hatte in ihren Hüten große Kochlöffel ſtecken und Acht
hatten wir hier im Haus.“


Strobel, der jetzt die Alte da hat, wo ſie ihm in-
tereſſant wird, rückt einen Schemel an ihren Lehnſtuhl
und ſagt: „Großmutter es iſt noch früh, erzählen Sie
uns noch etwas von den Achten, wenn der Meiſter ſeine
Zeitung lieſ’t, iſt gar kein Auskommen mit ihm. Kom-
[139] men Sie, Wachholder, rücken Sie her. Burſchen, ſeht
wo Ihr Plätze findet und haltet das Maul, die Groß-
mutter will von den acht Franzoſen in Nummero Sie-
ben erzählen!“


Die Alte lächelt und bringt ihr Rad wieder in
Gang: „Solchen gelehrten Herren ſoll ich erzählen? Die
haben ja Alles viel beſſer in Büchern geleſen; von Allen
Achten weiß ich auch nichts!“


„Großmutter, was ich in Büchern geleſen, habe ich
Gottlob nun bald wieder vergeſſen,“ ſagt der Zeichner,
„und wenn Sie von allen Achten nichts wiſſen, ſo ſind
wir auch mit Vier zufrieden, oder mit ſo viel, als Sie
wollen; erzählen Sie nur!“


„Nun, wenn Sie’s denn wollen, ſo muß ich mich
mal beſinnen. — Gut!“ —


„Alſo es war Anno Sechs, als der Franzos im
Lande rumorte und drunten ſchrecklich hauſen ſollte, denn
er hatte einen großen Sieg erfochten und glaubte das
Recht dazu zu haben. Die Leute fürchteten ſich alle
ſehr, gruben ihre Löffel weg und näheten ihren Kindern
jedem ein Goldſtück in den Rockſaum, auf den Fall,
daß ſie abhanden kämen oder mitgenommen würden.
Aber mein Seliger that gar nicht, als ob ihn das
was anginge. — Wenn ſie kommen, ſind ſie da — ſagte
er, und dabei blieb er, und wenn die Nachbarn kamen
[140] und klagten und jammerten, ſagte er nur: Einmal wir,
einmal ſie! — Und wenn ſie ihm die Ohren zu voll
ſchrieen, zog er eine weiße Zipfelmütze, die er zu mei-
ner Verwunderung ſeit kurzer Zeit immer in der Taſche
führte — darüber und that als ob er einſchliefe. Es
war immer ein ſonderlicher Mann, Annchen, Dein Vater!


Gut! Eines Morgens erhub ſich ein Lärm: Sie
ſind da! heiliger Gott, mir fuhr’s ordentlich in die
Knie; meine Jungen (Gott hab’ ſie ſelig) in allen Gaſ-
ſen, Gott weiß wo, und nur mein Annchen hatt’ ich
in der Wiege; mein Alter hatte mal wieder die Zipfel-
mütze hervorgekriegt und übergezogen und ſägete im Hofe.


„Gottfried, Gottfried!“ ſchreie ich, „ſie ſind da! ſie
ſind da!“ Er that, als ob er’s nicht hörte, obgleich
ich dichte bei ihm ſtand. In meiner Angſt und auch
vor Aerger riß ich ihm die dumme Mütze ab, warf ſie
auf die Erde und ſchrie wieder: „… Und die Jungen
ſind auf der Straße — heiliger Vater! — und unſere
Löffel — Mann! — Mann!“ —


Er hob ganz ruhig ſeine Mütze auf, klopfte
die Sägeſpäne an mir ab, ſetzte ſie ruhig wieder auf
und ſagte: Ja, — wenn’s ſo iſt, werden ſie wohl
durch’s Waſſerthor kommen, da her geht der Weg von
Jena. Ich glaube ſo hieß es. Dann ſägt’ er weiter.


Richtig, da trommelte es ſchon die lange Straße
[141] vom Waſſerthor her, herunter, — mir zitterte das
Herz immer mehr! —


„Meiſter Karſten! Meiſter Karſten! Schnell, ſchnell!“
ſchrieen plötzlich mehrere Nachbarn, die in den Hof
ſtürzten im beſten Sonntagsſtaat. „Ihr ſollt kommen,
Ihr ſollt mit zur Depentatſchon an den franzöſchen
General!“


„So?!“ — ſagt mein Gottfried, ſtellte ſeine Säge
hin und ging langſam in das Haus, gefolgt von den
Nachbarn, dem Herrn Secretair Schreiber, dem Herrn
Rath Puſteback, dem Schornſteinfeger Blachdorf und
dem Schmied Pruſter und anderen. Alle zogen mit
meinem Alten in die Stuben, weil ſie dachten, er würde
nun gleich in den Bratenrock fahren und mitrennen.
Aber proſte Mahlzeit! — An den Tabackskaſten ging
mein Alter, ſtopfte ſich eine Pfeife, ſchlug langſam
Feuer und ſagte:


„Nun, ſo kommt meine Herren!“


Die ſtanden alle mit offenen Mäulern da, aber
mein Gottfried ließ ſich nicht irre machen. In Schlaf-
rock und Pantoffeln marſchirte er ruhig — ich ſehe ihn
wie heute — voran bis an die nächſte Straßenecke. Da
blieb er ſtehen und die Nachbarn um ihn herum; zeigte
mit der Pfeifenſpitze auf einen Zettel, der da klebte
und auf welchem ſtand:
[142]„Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht!“
oder ſo was, — ich hab’s vergeſſen — klappte ſeinen
Pfeifendeckel zu, drehte ſich langſam um und ging in’s
Haus zurück. Meine beiden Jungen brachte er mit,
worüber ich ſeelenfroh war. „Da Mutter,“ ſagte er,
als er ſie in die Thüre ſchob. „Heb’ ſie mir auf,“
ſagte er, „wir brauchen ſie einſtmal!“


Ich wußte damals nicht, was das heißen ſollte; —
ſpäter erfuhr ich’s!“ —


Hier traten der alten Frau die Thränen in die
Augen und ihr Spinnrad hörte auf zu ſchnurren. Es
herrſchte eine leiſe Stille im Zimmer. —


— „Gut. Von nun ab bekümmerte ſich mein alter
Seliger um nichts mehr draußen, ſondern ging wieder
zu ſeinen Sägebock und ſägte weiter, bis die Einquar-
tirung kam. Herr meines Lebens; da hättet Ihr den
Mann ſehen ſollen! das ganze Haus kam in Aufruhr;
das Beſte, was Küch’ und Keller hielt, ward aufgetiſcht
und je mehr die kleinen, gelben Kerle ſchwadronirten
und ſakermentirten, deſto fröhlicher wurde mein Alter.


„Das iſt die rechte Sorte!“ rief er immer, ſich die
Hände reibend. „Solche mußten’s ſein! Wenn nur
genug von ihnen da ſind?!“ —


Franzöſiſch hatt’ er etwas von der Wanderſchaft mit-
gebracht und ſo waren ſie bald die beſten Freunde mit-
[143] einander und auf Du und Du, daß die Nachbarn ordent-
lich die Naſen rümpften. Die aber gingen zu allen
Depentaſchonen und illuminirten und bekränzten ihre Häu-
ſer und ſo, — das that aber mein Gottfried nicht und
wenn er Einen vom Rath der Stadt ſah, zog er jedes-
mal richtig die Zipfelmütze herunter über die Ohren.
Gut, da war ein Franzos zwiſchen den Andern, der
war von daher, wo ſie halb Deutſch, halb Franzöſch’
ſprechen, den konnt’ ich auch verſtehen, und es war ſo
gut, als wenn ich Franzöſch’ gekonnt hätte. Was ge-
ſchieht? Eines Abends ſitzen ſie alle zuſammen und mein
Alter mitten drinnen und kauderwelſchten, daß Einem
Hören und Sehen verging, und ſaß ich im Winkel und
ſtrickte und die Jungen ſpielten im Winkel. Spricht mein
Alter auf einmal zu dem Deutſchfranzos: „Nun ſagt
mal Kamerad, wie lange denkt Ihr denn eigentlich noch
in Deutſchland zu bleiben?“


Der Deutſchfranzos ſtieß mit den Andern den Kopf
zuſammen, und ſie ſchnatterten was in ihrer Sprache.
Dann lachten ſie aus vollem Halſe.


„Immer bleiben wir da!“ ſagt der Deutſchfranzos.
„Wir ſein einmal da; wir gehen nit raus wieder!“ —


„Woui!“ ſchrieen die Andern und hielten ſich die
Bäuche. „Nit raus! nit raus!“ —


„Ne,“ ſagt mein Alter, „immer nicht. Ihr ſeid
[144] zwar da und Unſereins kann unſerm Herrgott nur dank-
bar ſein, daß er Euch geſchickt hat, aber immer —“


„Nit raus! Nit raus!“ — ſchrieen die Franzoſen.


„Laſſet Euch handeln!“ ſagt mein Alter, „ich biete
zwölf Jahr, — höchſtens!“ —


„Nit raus! Nit raus!“ kauderwelſchten die wieder.


„Willem! Ludwig! kommt mal her!“ rief mein Alter
jetzt die Jungen, die ſogleich angeſprungen kamen und
ſich an ſeine Knie ſtellten.


„Richt’ Euch!“ rief mein Alter. „Augen rechts!
Seht mal Jungens die da, — das ſind Franzoſen, die
eigentlich hier nicht in unſere Stube gehören. Das
kleine Annchen kann gar nicht ſchlafen vor ihrem Specta-
kel — und doch haben ſie Luſt immer da zu bleiben!
Was meint Ihr, Jungens, — wenn Ihr ſtark genug
wäret? — — —


Kuckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den
Augen und die Franzmänner an, und dann ſich und
dann meinen Alten!


„Das ſich finden — ich groß werden — ich ſchon
Puſtebacks Theodor zwinge“ — ſagte Willem, mein
Kleinſter. Ludwig, mein Aelteſter, ſagte gar nichts,
aber auf einmal rann ihm eine dicke Thräne über die
Backe, und ſein Vater klopfte ihn auf die Schulter
und ſagte:


[145]

„Warte nur, mein Junge, Du kommſt zuerſt.“


Die Franzoſen hatten ihren Heidenjubel und beſon-
ders einer — ſie nannten ihn Piär oder ſo — wußte
ſich gar nicht zu helfen vor Lachen. Mein Alter aber
war ſehr ernſt geworden und ſprach den ganzen Abend
kein Wort mehr. Die andere Woche zogen die Franz-
männer ab und lachten noch beim Abſchied, als ſie uns
Allen die Hand drückten und ordentlich ſich bedankten
für gute Bewirthung:


„Nit raus! Nit raus!“


„Wird ſich finden,“ ſagte mein Alter. „Wird ſich
finden!“ ſchrieen meine beiden Jungen.


Gut, nun kamen lange Jahre und immer andere
Franzoſen.


„Bald iſt’s genug,“ brummte mein Gottfried. Und
einmal zogen ſie Alle hinauf nach Norden, aber zurück
kam Keiner. Und dann fing’s auf einmal an zu rumoren
im Lande und ganz andere Zettel ſtanden an den Ecken,
die mein Alter immer las und wobei er mit dem Kopf
nickte. Er war die Zeit nicht viel zu Haus.


Da kam er eines Tages zurück und rief den Lud-
wig aus der Werkſtatt und ſie kamen beide in die Küche
zu mir.


„Sieh, Mutter,“ ſagte mein Gottfried, „s’iſt gut,
daß Dein Feuer brennt! Paß auf, Ludchen!“ Damit
10
[146] zog mein Alter ſeine Zipfelmütze aus der Taſche und
warf ſie unter meinen Topf, daß ſie verſchwielte und
das ganze Haus voll Qualm ward; dann ging er
mit meinem Ludwig fort und kam allein und ganz ſtill
wieder.


Am andern Morgen zog ein Trupp ſchwarzer Reiter
in die Stadt — auch durch das Waſſerthor. Einer
kam zu Pferd hier in die Sperlingsgaſſe vor unſer Haus
und ſtieg ab, — mir ſank das Herz in die Knie —
es war mein Ludwig! —


„Adjes Mutter! Adjes Vater!“ rief er, — „behüt
Euch Gott!“ — und dann ritt er fort, den Andern nach,
die ſchon durch das Grüne Thor zogen.


„Da geht’s nach Frankreich, Alte!“ rief mein Mann,
während ich heulte und jammerte. Aber es war noch ſo
weit nicht.


Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle
Glocken in der Stadt läuteten, und auch im ganzen Land,
wie ſie ſagten. — Es war eine große Schlacht geweſen
und Unſere hatten gewonnen und mein Ludwig war —
todt! —


„Der Erſte,“ ſagte mein Alter. —


Wieder ging ein Jahr hin und einmal kam das Ka-
nonenſchießen ſo nahe, daß die Leute vor das Thor
liefen, es zu hören; natürlich lief mein Gottfried und
[147] ich mit. Da kamen bald aus der Gegend her, wo es
ſo rollte und donnerte, Wagen mit Verwundeten, Freund
und Feind durcheinander und immer mehr und mehr.
Die wurden alle in die Stadt gebracht.


„Herr, mein Heiland!“ — mußte ich auf einmal
ausrufen, „iſt das nicht der Piär von damals, von
Anno Sechs?“


Richtig, er war’s. Mit abgeſchoſſenem Bein lag er
auf dem Stroh und wimmerte ganz jämmerlich. „Den
nehm’ ich mit,“ ſagte mein Alter und bat ihn ſich aus,
und wir brachten ihn hier in’s Haus — in Ihre Stube,
Herr Wachholder. Da kurirten wir ihn. Als er beſſer
wurde, hatte mein Mann oft ſeine Reden mit ihm. Ein-
mal war der Franzos oben auf, einmal mein Alter.
Da hieß es plötzlich, die Deutſchen ſeien wieder geſchla-
gen und der Napoleon abermals Obermeiſter. Mein Alter
ſchaute den Willem bedenklich an, als ginge er mit ſich
zu Rath; als aber in der Nacht die Sturmglocken auf
allen Dörfern läuteten, wußte ich, was geſchehen würde
und weinte die ganze Nacht und — am Morgen zog
auch mein Willem fort mit grünen Jägern zu Fuß, und
Minchen Schmidt, die mit ihrer alten Mutter in Ihrer
Stube drüben wohnte, Herr Strobel, weinte auch und
winkte mit dem Taſchentuch. Vorher aber führte ihn
mein Alter noch an das Bett des Franzoſen und ſagte:
10*
[148] „Das iſt der Zweite!“ — Der Franzos ſchaute ganz
kurios und bewildert drein und ſagte gar nichts, ſon-
dern drehte ſich nach der Wand.


Das Kanonenſchießen kam nun nicht wieder ſo nah
und der Willem ſchrieb von großen Schlachten, wo viele
tauſend Menſchen zu Tod kamen, aber er nicht, und die
Briefe kamen immer ferner her und auf einmal ſtanden
gar welſche Namen darauf. Die brachte mein Alter
dem Franzos herauf, der nun ſchon ganz gut Deutſch
konnte und ſagte lachend zu ihm: „Nun, Gevatter!
Nit raus? Nit raus?“ — Und der Franzos machte ein
gar erbärmlich Geſicht und ſagte, den Brief in der
Hand: „Das ſein mein ’Eimathsort, da wohnen mein
Vatter und mein Mutter.“ Mein Alter aber ſaß am
Bett und rechnete an den Fingern: „Eins, zwei, vier —
acht. Acht Jahr, Gevatter Franzos! Warum habt Ihr
dunnemalen meine zwölf nicht genommen?“ —


Die Briefe von unſeren Willem kamen nun immer
ſeltener und auf einmal blieben ſie ganz aus und eines
Tages — kommt mein Alter nach Haus, ſetzet ſich an
den Tiſch, legt den Kopf auf beide Arme und — weint.
Ich dachte der Himmel fiele über mich — — — —
der und Weinen!


„Der Andere!“ ſtöhnte mein Alter in ſich hinein
und ich fiel in Ohnmacht zu Boden.


[149]

Da vor der großen Franzoſenſtadt Paris muß ein
Berg ſein — ich kann den Namen nicht ordentlich
ausſprechen — von wo man die Stadt ganz überſehen
kann. Da ſchoſſen ſie zum letzten Mal auf einander
und da iſt auch dem Willem eine Kugel mitten durch
die Bruſt gegangen, wie der Kamerad ſchrieb, und iſt
er da begraben mit vielen, vielen Andern aus Deutſch-
land. — Das iſt meine Geſchichte! Den Franzoſen aber
kurirten wir aus und mein Alter gab ihm einen Zehr-
pfennig und brachte ihn an das Thor, wo der Weg nach
Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen waren,
ſah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus
murmelnd: „Nit raus, nit raus!“ — Gott hab’ ihn
ſelig, den Mann, es war ein Wunderlicher, Dein Va-
ter, Annchen.“


So erzählte die alte Margarethe Karſten und wir
Alle ſaßen um ſie herum, als ſie geendet hatte, jeder
ſeinen eigenen Gedanken nachhängend. Der Meiſter
hatte lange ſeine Zeitung weggelegt und auch die Ge-
ſellen, die nach und nach eingetreten und gewöhnlich
ziemlich fröhlich und laut waren, ſtanden und ſaßen
diesmal ganz ſtill umher.


„Nun will ich noch was erzählen!“ rief plötzlich die
Alte, deren Augen durch die wachgewordenen Erinnerun-
gen in einem ſeltſamen Glanz leuchteten. „Ich will
[150] was erzählen, was lange nachher geſchah und doch mit
dazu gehört! — Wenn die Fenſterſcheiben nicht ſo ge-
froren wären, könntet Ihr den Thurm der neuen So-
phienkirche ſehen, die gebaut iſt, nachdem die alte ab-
gebrannt iſt. In der alten war’s, wo eine Tafel an
der Wand hing, wo die Namen aller der drauf ſtanden,
welche in dem Franzoſenkriege aus unſerm Viertel ge-
fallen waren und worunter auch meine Jungen waren:
Ludwig Friedrich Karl Karſten und Wilhelm Johannes
Albert Karſten. Die Tafel hatten wir unſerm Kirchſtuhl
grade gegenüber, und des Sonntags ſchauten wir immer
darauf und dachten an unſre brave Jungen und mein
Alter war ſtolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich
auch genug darüber geweint hatte und noch weinte. —
Aber es blieb nicht ſo bei meinem Gottfried. — Es
kam eine Zeit, da ſchlich er an der Tafel vorbei, ohne
aufzukucken, und wenn wir an unſerm Platze ſaßen
und ſein Blick fiel mal drauf hin, ſchaute er ſchnell
weg, oder auf den Boden, oder murmelte etwas, was ich
nicht verſtand.


Gut, eines Tages gegen Abend ſtand ein ſchreckba-
res Gewitter über die Stadt; es donnerte und blitzte
unbändig und auf einmal hieß es: in der Sophienkirche
hat’s eingeſchlagen! — Richtig, — da brannte ſie lich-
terloh. Mein Alter, der ſonſt bei ſo was immer vorn
[151] dran war, rührte diesmal nicht Hand, nicht Fuß, und
es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm
Arm und wir ſtanden in der Menſchenmenge und ſahen
zu. Auf einmal ſchwankt der Thurm, der wie eine
Fackel war, hin und her und ſtürzt dann herunter auf
das Kirchendach mit einem Krach, daß Menſchen und
Pferde in die Knie ſchoſſen und ich mit. Mein Alter
aber blieb aufrecht ſtehen und kehrte ſich um und brachte
mich nach Hauſe. Als wir in unſerer Stube waren,
ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich
vor mir ſtehen blieb und ſagte:


„Mutter, Gottlob, die Tafel iſt verbrannt! Mutter,
ich konnt’ ſie nicht mehr anſehen! — Gute Nacht Mut-
ter!“ — Ich verſtand ihn gar nicht und fragte, was
das bedeuten ſolle, aber er ſchüttelte nur mit dem Kopf
und ging zu Bett. Und das will ich auch thun, mein
Flachs iſt alle! Gute Nacht Ihr Herrn, gute Nacht
Kinder! — Komm Annechen!“ — Damit erhob ſich
die alte Frau, und ging auf ihren Stock und den Arm
ihrer Tochter geſtützt hinaus, ihrer kleinen Kammer zu,
um von ihrem alten Gottfried mit dem eiſernen Her-
zen, um von den beiden erſchoſſenen Freiheitskämpfern
weiter zu träumen. Der Karicaturenzeichner macht
heute Abend keinen Witz mehr, der Meiſter ſog an der
erloſchenen Pfeife. Es war, als wage Keiner ſich von
[152] ſeinem Platz zu rühren; es war, als müſſe nun gleich
die Thür ſich öffnen und der alte gewaltige Mann her-
eintreten mit dem ſchwarzen Reiter und dem grünen
Jäger an ſeiner Seite, von denen der Eine an der Oder
und der Andere dicht vor Paris begraben liegt auf dem
Montmartre .....


„Ich weiß, warum der Meiſter Karſten die Tafel nicht
mehr anſehen konnte!“ rief plötzlich eine klangvolle
Mannsſtimme, daß Alle faſt erſchrocken aufſahen. Es
war Rudolf, der Altgeſelle, der ſich in ſeinem Winkel
hoch aufgerichtet hatte.


„Ich auch!“ — rief Bernhard, der zweite Geſell,
ſeinem Gefährten die Hand auf die Schulter legend.


„Ich auch!“ — rief Strobel aufſpringend. „Wie
viel Wiſſende noch?“ —


„Ich auch!“ rief der Meiſter. „Ich auch!“ ſagte
ich, Und dann — — — — — — — — — — —
— kam die Meiſterin mit den Kartoffeln!


Und wieder überſchreibe ich ein Blatt der Chronik:
Eliſe.


[153]

Wir haben gejubelt und gelacht, — auch wohl ge-
weint über kleine Schmerzen und verunglückte Freuden!
— Wie die Jahre kommen und gehen! —


Das Epheu hat nun eine ordentliche, ſchattige, grüne
Laube gebildet; rothe und blaue Wachsbilder hat eine
kleine ſchmückende Hand zwiſchen das Blätterwerk ge-
hängt; wieder flattert ein zahmer Kanarienvogel in der
Stube hin und her, von meinen Büchern und Schreibe-
reien auf eine hübſche runde Schulter im Fenſter oder
auf einem niedlichen Finger, der ihm winkend hingehal-
ten wird. — Eliſe iſt nun dreizehn Jahr alt auf den
Blättern dieſer Chronik. Oft wenn ein luſtiger Son-
nenſtrahl über das Blätterwerk ſchießt, zwitſchert wohl
Flämmchen — ſo heißt der neue kleine Freund — fröh-
lich auf, hüpft aus ſeinem Bauer, dreht das Köpfchen
mit den funkelnden kohlſchwarzen Aeuglein einige Male
hin und her und flattert dann zum offenen Fenſter hin-
aus. — Einen Augenblick glänzt er, hin und her ſchie-
ßend, wie ein Goldpünktchen im Sonnenſchein, dann
flattert er nach der jenſeitigen Häuſerreihe und verſchwin-
det in einem Fenſter des mittleren Stockwerkes in Nr.
12. Von dort ward er herübergebracht, auch dort hat
er ein kleines Meſſingbauer. —


Neue Geſichter ſind aufgetaucht, neue Fäden ſchlin-
gen ſich wunderſam in unſer Leben und damit heute an
[154] dieſem regnigen windigen Februartage auch in dieſe
Blätter. — — —


Was todt war, wird lebendig; was Fluch war, wird
Segen; die Sünde der Väter wird nicht heimgeſucht
an den Kindern bis in’s dritte und vierte Glied!


Eine helle friſche Stimme erſchallt unten im Hauſe;
ein leichter Schritt kommt die Treppe herauf — Eliſe
horcht. — Nach einigen Minuten erſchallt plötzlich drau-
ßen ein Gepolter — Martha’s Stimme läßt ſich hören,
klagend und ärgerlich. — Da iſt er — der Tauge-
nichts der Gaſſe!


Die Thür wird halb aufgemacht und herein ſchaut
ein lachendes, kerngeſundes, mit unzähligen Sommer-
flecken bedecktes Knabengeſicht.


„Nun Guſtav, was giebt’s wieder?“


„O gar nichts!“ ſagt das mauvais sujet, den Mund
von einem Ohr bis zum andern ziehend, während Martha
jetzt kläglich draußen nach Eliſen ruft. „Was mag er
nur angefangen haben?“ ſagt dieſe aufſpringend und
hinausgehend. Ein helles Gelächter, in welches ich ſie
herzlich draußen ausbrechen höre, zwingt auch mich von
meinen Büchern aufzuſtehen, während Guſtav ſich ganz
ehrbar in einen Band von Becker’s Weltgeſchichte ver-
tieft zu haben ſcheint. Ich nehme die möglichſt ernſteſte
[155] Miene an und ſchreite hinaus. Welch’ ein Anblick er-
wartet mich!


Die gute Alte hat höchſt wahrſcheinlich ihre Mittags-
ruhe gehalten und iſt, das Strickzeug im Schooß, ein-
geſchlafen. Dieſen günſtigen Augenblick zu benutzen hat
der Taugenichts, der vielleicht mit ſehr guten Vorſätzen
die Treppe heraufkam, doch nicht unterlaſſen können.


Feſtgebunden ſitzt die Unglückliche in ihrem Stuhle;
— Handtücher, Bindfaden, das Garn ihres Strickzeuges,
kurz alles nur mögliche Bindematerial iſt benutzt, ſie
unvermögend zu machen, ſich zu rühren. Vor ihr auf
einem, noch dazu ſehr zierlich gedeckten Tiſchchen, ſteht
— ein großer Napf Milch, der höchſt wahrſcheinlich zu
den wichtigſten culinariſchen Zwecken beſtimmt war und
um ihn im Kreis ſitzt ſchlürfend und ſchmatzend, — die
ganze Katzenwelt des Hauſes, — von Zeit zu Zeit einen
höhnenden Blick nach dem Lehnſtuhl werfend, wo die
gefeſſelte Küchentyrannin ſtrampelt und droht, in wahr-
haft tantaliſchen Qualen.


„Lischen — ſo jag’ ſie doch weg — (Eliſe hat vor
Lachen die Kraft gar nicht dazu und ſitzt athemlos auf
einem Schemel) — o der Schlingel — aber Herr Wach-
holder jagen Sie ſie doch weg — es bleibt ja nichts
übrig — o meine ſchöne Milch — der Böſewicht!“ —
Ja der Böſewicht, — wo war er, als dieſe Tragico-
[156] mödie zu Ende gekommen war, und man ſich nach dem
Urheber umſah? Der Band von Becker’s Weltgeſchichte
lag freilich noch aufgeſchlagen da, aber von Guſtav —
nirgends eine Spur! —


Wer iſt dieſer Guſtav?


Der Enkel eines Mannes, deſſen Name ſchon einmal
gar unheimlich in dieſe Blätter hineingeklungen iſt —
der Enkel des Grafen — Friedrich Seeburg. —


Es war im Jahr 1842, als in die Wohnung drüben
in Nro. 12, in deren Fenſter ſpäter der Kanarienvogel
ſo oft hinüberflatterte, eine ſchöne, ſchwarz gekleidete,
bleiche Frau zog, welche ſich Helene Berg nannte, die
Wittwe eines vor Kurzem verſtorbenen Mediziners. Sie
war es, die ſchon einmal durch unſer Leben und durch
die Blätter dieſer Chronik geglitten iſt, mit jenem
Sonnabend im Sommer 1841, als wir den todten klei-
nen Vogel auf dem Johanniskirchhofe begruben zu den
Füßen der Gräber von Franz und Marie. Sie küßte
damals die kleine Eliſe, aber wir kannten einander nicht.
— „Georg Berg“ ſtand auf dem Grabſtein, an welchem
ſie gekniet und geweint hatte, und in der ärmlichen Woh-
nung drüben in Nro. 12, in der engen dunkeln Sper-
lingsgaſſe verklingt die letzte Saite der unheilvollen
wilden Geſchichte, die einſt der ſterbende Jäger dem
[157] Maler Franz Ralff erzählte. — Iſt das Lied vorbei?
— Eine junge fröhlichere Weiſe nahm den letzten Ton
auf und „Guſtav und Eliſe Berg“ wird die neue Me-
lodie lauten! — — —


Wie die Letzte aus dem ſtolzen Hauſe der Grafen
Seeburg das Zuſammenhängen ihres Schickſals mit dem
kleinen Mädchen an meiner Seite erfuhr? — Ihre Ge-
ſchichte?


Ich fürchte mich faſt, die Decke, die über ſoviel kaum
vergeſſenem und begrabenem Unheil liegt, wieder auf-
zuritzen. —


„Sieh welch’ ein ſchöner Ring!“ ſagte einmal Eliſe,
der Frau Helene, die bei uns ſaß, jenen Reif zeigend,
den vor langen langen Jahren der alte Burchhard am
Hungerteiche im Ulfeldener Walde der todten Louiſe aus
der erſtarrten Hand gezogen hatte, der ſo lange Jahre
unter jenem bekreuzten Stein gelegen hatte und der das
Wappen des Grafen von Seeburg trug! — Ich habe
nicht nöthig aufzuſchreiben, was folgte! — — — —
Wir trennten uns damals ſo bald nicht. Den gan-
zen Abend ließ die weinende Helene die kleine Eliſe
nicht aus den Armen, und Guſtav, — Guſtav der Tauge-
nichts der Gaſſe begrüßte jubelnd ſeine Couſine auf
ſeine Weiſe. — — —


Nachdem er lange unſtät ſich umhergetrieben hatte,
[158] heirathete in Italien der Graf Friedrich Seeburg eine
ſchöne, vornehme, aber arme Italienerin; ſie ward die
Mutter Helenens und ſtarb ſie gebärend im zweiten Jahr
ihrer Ehe. Die Griechen dachten ſich die Kluft zwiſchen
Gott und dem Menſchthum ausgefüllt durch ein Ver-
mittelndes, das Dämoniſche: da ſchwebten, „damit das
Ganze in ſich ſelbſt verbunden ſei“ Geiſter „viel und
vielerlei“ auf und nieder; ſtrafende und lohnende Boten
der Gottheit und Niemand entging ſeinen Thaten. Dieſe
Geiſter verfolgten auch den Grafen: Reue, Ruheloſigkeit,
Lebensüberdruß hießen ſie, und auf jede Lebensfreude
legten ſie ihre ertödtende Hand. Wieder zog der Graf
über die Alpen nach Deutſchland. Das Schloß Seeburg
war verkauft — er kam nach Wien, wo er menſchenſcheu
und finſter in einem einſamen kleinen Hauſe wohnte.
Oft hörte ihn ſeine Tochter auf- und abgehen in der
Nacht; ſie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin;
eine alte Dienerin ihrer Mutter war ihr ganzer Umgang.
So verlebte ſie ihre erſten Jugendjahre faſt ganz ſich
ſelbſt überlaſſen; während ihr Vater immer finſterer und
finſterer ward. Er verbot ihr zu ſingen — zu ſpielen;
ſie ſeufzte und fügte ſich. — Da wurde eines Morgens
der alte Graf Seeburg todt im Bett gefunden; kein
Menſch war in ſeinen letzten Augenblicken zugegen ge-
weſen, er war geſtorben wie ihn Helene nur gekannt
[159] hatte — einſam und allein! — Einſam und verlaſſen
war aber auch ſie jetzt, ein junges Mädchen in einer
großen fremden Stadt, die ſie nicht kannte, wo Niemand
ſie kannte. — Es fand ſich, daß die Hinterlaſſenſchaft
ihres Vaters kaum hinreichte, die während ſeines Auf-
enthalts in Wien gemachten Schulden zu bezahlen.


Unter den Wenigen, die von Zeit zu Zeit das Haus
ihres Vaters betreten hatten, war ein Doctor Berg, ein
nicht mehr ganz junger Mann, und dieſer war der Ein-
zige, der, an das Todtenbett des alten Grafen ge-
rufen, nachdem er ihm die Augen zugedrückt hatte, ſich
der jungen Waiſe annahm. Er brachte ihre Vermögens-
verhältniſſe in Ordnung; er führte ſie, die ebenfalls faſt
menſchenſcheu Gewordene, zu guten Menſchen, zu ſeiner
alten freundlichen Mutter. — Er ſchien Alles, was er
that, nur als ſeine Pflicht anzuſehen und er, — der ihr
anfangs gleichgültig war, gewann ihre Zuneigung mehr
und mehr. Da bot er ihr ſeine Hand, und die Gräfin
Helene Seeburg ward ſeine zufriedene glückliche Gattin,
bald noch glücklicher durch die Geburt eines Sohnes, der
Guſtav genannt wurde. Da zwangen Verhältniſſe —
auch ſeine Mutter war geſtorben — den Doctor Berg,
Wien zu verlaſſen; er zog hierher und bemühte ſich, eine
Praxis zu gewinnen. Eben ſchien es ihm zu gelingen,
als eine heftige Seuche, die verheerend von Oſten kam
[160] und über das ganze Land todbringend zog, auch ihn
wegraffte; — er ließ ſeine Frau und ſeinen Sohn faſt
unbemittelt zurück. Auf dem Johanniskirchhof, zwanzig
Schritte von Franz und Marie Ralff, ward er begraben.


Das war es, was die Frau Helene Berg erzählte,
während der Ring mit dem Wappen des Grafen See-
burg, die Schlange, die den Rubin umwand, vor ihr
auf dem Tiſche funkelte. Noch an demſelben Abend trug
ich ihn auf die Königsbrücke und warf ihn weithin in
den Strom, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen.
— — — Helene lehnte neben mir am Geländer und
ſchweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgaſſe zu
— unſern Kindern. —


War’s nicht ein hübſches, ein glückliches Vorzeichen
dieſer kleine goldgelbe Vogel, der zwiſchen den beiden
Wohnungen hin und her flatterte, der ſeine Wohnung
dort und hier hatte, oft ein kleiner treuer Bote war,
und an ſeinem beweglichen Hälschen gar wichtige Nach-
richten, Fragen oder Antworten hinüber- und herüber-
trug? — —


„Schau mal nach, Liſe, das Flämmchen trägt wieder
einen Zettel am Halſe. Jetzt werden wir wohl erfah-
ren, wo der Böſewicht, über den ich die alte Martha
draußen noch brummen höre, ſteckt.“


[161]

Zwitſchernd hüpft Flämmchen auf Eliſens Hand.
Sie nimmt ihm den Zettel ab und in einer weitbeinigen
Knabenhandſchrift lautet die Botſchaft:


Liſe!

„Da ich mich vor Morgen bei Euch nicht zu zeigen
„wage und noch dazu leider gezwungen bin (ſcheußlich!)
„3 Seiten, ſchreibe drei Seiten voll lateiniſchen Unſinn’s
„zu überſetzen (ich möchte nur wiſſen, wozu ein Maler,
„und ich will einer werden, Latein braucht ?????) ſo
„bitte ich Dich, den Onkel (Du brauchſt ihm dieſen
Brief nicht zu zeigen) ebenſo auf ſeinem Lehnſtuhl
„feſtzubinden, wie ich die alte Martha und ſobald als
möglich vor die Thür zu kommen. — Ich will Dir
„mal was Wichtiges ſagen.


Guſtav.


P. Scr. Ich paſſe auf und wenn ich Deine Naſen-
„ſpitze ſehe, ſchleiche ich an den Häuſern hin zu Euerer
„Thür! Komme bald!!


P. Scr. Bring’ Deine Korbtaſche mit!“


„Was mag er nur wollen?“ fragt Lischen, die ſchon
nach dem Nagel guckt, an welchem ihre Taſche hängt,
während ich trotz des warnenden Paſſus den Brief des
Uebelthäters und ſeine echte Tertianerlogik ſtudire. Es
iſt prächtig: Weil ich ein dreiſeitiges Excercitium machen
muß — ſo komme ſobald als möglich! Und dann
11
[162] die kleine Heuchlerin, die recht gut weiß, was der Faul-
pelz will!


„Was für einen Tag haben wir heute, Lischen?“


„Ah — Sonnabend!“ ruft Eliſe. — „Jetzt weiß
ich’s! — Er hat ſein Taſchengeld gekriegt — — — —


„Welches eigentlich die alte Martha confisciren müßte.
Höre Lischen; ſchreib ihm als Bedingung Deines Kom-
mens vor, daß die „ſcheußliche“ Arbeit fertig ſein müſſe.“ —


„Wie lange dauert das wohl, Onkel?“ fragt die
Liſe ganz bedenklich; ſie zöge das „Sobald als möglich“
unbedingt vor.


„Nun, — zwei Stunden; mindeſtens!“ —


„O, oh zwei Stunden?!“ —


„Ja, und dann wimmelt ſie doch noch von Fehlern,
einer immer ſchlimmer als der andere!“ —


„Onkel, Guſtav ſagt aber: je länger er an einer
Arbeit ſäße, deſto mehr Böcke mache er!“


„Nun denn, wenn er das ſagt, ſo ſoll er ſie fürs
Erſte nur fertig machen und mit herüberbringen. Schreib
ihm das!“ —


Eliſe ſtellt nun eine große Auswahl unter meinen
Federn an und beklagt ſich ſehr über „unſere“ ſchlechte
Dinte; während Flämmchen, auf einer Stuhllehne ſitzend,
anfangs geduldig wartet, dann aber, als ihm die Sache
zu lange dauert, ſich bemüht, über dem Tiſch flatternd,
[163] ebenfalls in das Dintenfaß zu ſchauen, um den Grund
der Zögerung zu erfahren. Endlich aber iſt Eliſe mit
ihren Vorbereitungen fertig und ſchreibt:


Lieber Guſtav!

„Dein Brief iſt glücklich angekommen. Flämm-
„chen hat ihn gebracht. Die alte Martha hat einen
„naſſen Waſchlappen im Fenſter liegen; ſie will Dich
„tüchtig waſchen, wenn Du kommſt. Den Onkel
„kann ich nicht feſtbinden, er rennt heute immer in
„der Stube auf und ab und ſitzt keinen Augenblick
„ſtill. Du ſollſt erſt Dein Exercitium fertig machen
„und es mit bringen, eher ſoll ich nicht kommen!
„Mach’ ſchnell!!! Meine Taſche bringe ich mit!“ —


Eliſe.


Auch dieſe Botſchaft wird dem Flämmchen umge-
hängt — die Praxis hat es gelehrig gemacht; zwitſchernd
ſchüttelt es das Köpfchen, als wolle es ſagen, nun[ ]iſt’s
aber genug, jetzt komme ich nicht wieder, und — ver-
ſchwunden iſt’s. Eliſe ſitzt wartend vor ihrem Nähtiſch-
chen unter der Epheulaube, ich vertiefe mich wieder in
meine Bücher, aber keine halbe Stunde vergeht, da er-
tönt unterm Fenſter ein heller Pfiff, und Eliſe ſpringt
auf und ſchaut hinaus.


„Da iſt er ſchon!“ ruft ſie halb zurück mir zu. —


„Komm herauf Guſtav!“ — ruft ſie herunter.


11*
[164]

„Dieſes weniger!“ erſchallt unten die Schülerredens-
art und mich wundert wirklich, daß der Bengel diesmal
nicht die noch dazu gehörende weiſe Benachrichtigung
damit verbindet: Aber mein Bruder bläſt die Flöte. —


„Haſt Du Dein Exer?“ (scilicet citium) ruft Eliſe. —


„Verſteht ſich; fix und fertig, komm herunter, Du
kannſt es ihm herauf bringen.“


Eliſe ſieht mich fragend an und ich nicke. Herunter
iſt ſie wie der Blitz und ich gehe ans offene Fenſter,
hüte mich aber wohl, etwas von meiner werthen Perſön-
lichkeit ſehen zu laſſen.


„Du biſt aber ſchnell damit fertig geworden, Guſtav!“
ſagt Eliſe und ich ſtelle mir oben lebhaft vor, wie der
Schlingel grinſt, als er ihr ſein Machwerk einhändigt.


„Mit Geduld und Spucke

Fängt man jede Mucke!“

lautet die Antwort: „Hier, nimm Dich in Acht, es
iſt noch naß; und höre Lischen — komm ſchnell wieder
herunter, eh er hereingekuckt hat; er könnte mich noch
zurückrufen!“ —


„Taugenichts! — das mag was Schönes ſein!“
moraliſirt Eliſe, die ich nun die Treppe heraufkommen
höre. —


„Da iſt’s Onkel!“ ruft ſie in die kaum handbreit
geöffnete Thür, wirft das edle Manuſcript auf den
[165] nächſten Stuhl, ſchlägt die Thür zu und — in drei
Sätzen iſt ſie die Treppe hinunter.


„Liſe, Lischen, Eliſe!“ rufe ich, aber wer nicht hört,
iſt Fräulein Eliſe Johanne Ralff.


„Komm ſchnell, er ruft ſchon!“ ſagt unten der
Schlingel, ſie am Arm faſſend, und fort ſind ſie um
die Ecke! —


Da liegt nun das blaue Heft; auf dem Umſchlag:
„Guſtav Berg“ und drunter die geniale Ueberſetzung
Gustavus Mons mit Angabe von Wohnort, Datum
und Jahreszahl. Ich ſchlage es auf und es iſt wirklich
zweifelhaft, ob der Collaborator Beſenmeier es mit rother
Dinte, oder ob es Meiſter Gustavus Mons mit ſchwar-
zer geſchrieben hat. — Hier ſind die neueſten Seiten.
Reizend! Ita uno tempore quatuor locibus (Schlin-
gel!) pugnabatur etc. etc. Als Schulmeiſter müßte
ich ausrufen: „Was ſoll aus dem Jungen werden? Als
Nichtſchulmeiſter aber halte ich mich an das — Löſch-
blatt und rufe aus: „Was kann aus dem Jungen wer-
den!“ — Hier „an vier Orten“ ſchlagen ſie ebenfalls
Römer, Carthager, Macedonier, Sarden, und zwar
beſſer als im Latein! Pferde, Menſchen, Hannibal ante
portas,
Triarier, Veliten, Principes! Ausgezeichnet!
Ich werde dem Schlingel eine tüchtige Rede halten ſo-
wohl über ſeine „locibus,“ als auch über die Unver-
[166] ſchämtheit, ein Heft mit ſolch’ beſchmiertem Löſchblatt
drin, „abliefern“ zu wollen. Das Letztere aber werde ich
confisciren, und Zeichenſtunde ſoll der Junge auch haben;
dieſer Signifer hat doch etwas zu lange Arme. —


Eine halbe Stunde ſitze ich nun noch arbeitend, dann
ſchlägt es auf der Sophienkirche Sechs. Ich weiß nicht,
iſt es das ſchlechte Beiſpiel, welches mir da gegeben
wurde, oder der blaue Sommerhimmel und die Sonne
draußen; auf meinem Papier rücke ich nicht weiter, wohl
aber unruhig auf dem Stuhl hin und her. Eliſe hat
übrigens auch Recht: „unſere“ Dinte iſt wirklich abſcheulich.
— Ich ſchlage meine Bücher zu, ziehe den Rock an und
— gehe den Tönen eines Fortepiano’s nach, welche von
drüben herüberklingen. Wenn ich in Nr. 12 die Treppe
hinaufgeſtiegen bin, ſo finde ich dort in dem einfach
aber hübſch ausgeſtatteten Zimmer des erſten Stocks
eine Dame vor dem Clavier ſitzen, die mir freundlich
zunickt, ohne ſich in ihren Phantaſien ſtören zu laſſen.
Ich ſetze mich neben die Roſen- und Reſedatöpfe im
Fenſter, der Muſik lauſchend und kann dabei zugleich
einen muſternden Blick über das Zimmer gleiten laſſen.
Hier gleich neben mir unter den Blumen ſteht Flämm-
chen’s Meſſingbauer, in welchem der kleine Vogel bereits
auf der Stange ſitzt, das Köpfchen unter den Flügel
gezogen. Müde von den Anſtrengungen des Tages, iſt
[167] er früh zu Bett gegangen. Im zweiten Fenſter, mir
gegenüber, ſteht ein ähnliches Nähtiſchchen, wie das,
vor welchem ich ſitze; ein Stickrahmen mit angefangener
Arbeit liegt darauf. — Das iſt Eliſen’s Platz; auch ſie
hat, wie Flämmchen, hier eine zweite Behauſung. —
Zwiſchen beiden Fenſtern, gegen das Licht gezogen, macht
ſich ein, einſt roth bemalt geweſener Tiſch breit; bedeckt
mit Büchern, Schreibzeug, Heften, Federmeſſern u. ſ. w.
u. ſ. w. bekritzelt, zerſchnitten, zerhackt, iſt er der Schau-
platz von Guſtav’s „ſtillen Freuden.“


Hier brütet das Genie über ſeinen „locibus,“ den
Kopf auf beide Fäuſte geſtützt und in den Haaren wüh-
lend; hier füllen ſich die Blätter mit Fratzen aller Art,
ſtatt mit lateiniſchen Phraſen; hier werden alle die
Dummheiten ausgebrütet, welche die Gaſſe in Verwun-
derung und Verwirrung ſetzen ſollen; hier werden mit
dem demüthigſten Geſicht, der reuevollſten Miene, die
Ermahnungen und Vorwürfe, welche die Mutter von
ihrem Thron herab auf das Haupt des Taugenichts der
Gaſſe ſchüttet, in Empfang genommen und richtig quittirt
durch — einen tollen Streich, eine Viertelſtunde nach-
her; hier, kurz hier — iſt Guſtav Berg’s Schreibtiſch! —


Als die Tante Helene ihr Spiel beendet, erzähle ich
ihr die Geſchichte des Katzendiners, von dem ſie natür-
lich noch nicht das Mindeſte weiß.


[168]

„Ich kann ihn nicht mehr bändigen!“ ruft ſie halb
lachend, halb in Verzweiflung aus. „Und die Eliſe
verdirbt er mir auch ganz! Statt zu ſticken und Vo-
kabeln aufzuſchlagen, ſchießen ſie ſich mit Papierkugeln;
wenn er ihr einen Käfer in den Nacken gleiten läßt,
bin ich ſicher, daß ſie ihm einen Zopf anſteckt oder einen
Eſelskopf auf den Rücken malt. Ich ſpreche und ſchelte
mich heiſer und müde, aber es hilft nichts! „Tante,
er hat angefangen, ich ſaß ganz ruhig!“ „Mutter, s’iſt
nicht wahr, ſie hat zuerſt geſchoſſen!“ So geht das
den ganzen lieben Tag! — Wo mögen ſie nur jetzt
wieder ſtecken?“ —


„Wenn man den Wolf an die Wand malt, ſo kommt
er um die Ecke!“ ſagt das Sprichwort und unſere Alt-
vordern wußten, was ſie thaten, als ſie es aufbrachten.
Mit Helenen’s Frage öffnet ſich die Thür, oder viel-
mehr, ſie wird aufgeriſſen und herein, hochroth, ſtürzt
— Windbeutel und Wildfang! Kaum erblickt mich aber
Freund Guſtav, ſo macht er Kehrt und ſucht ſchleunigſt
die Thür wieder zu gewinnen, glücklicher Weiſe aber
bin ich diesmal ſchneller.


„Halt, Messire! hier geblieben!“


„Ja, hier geblieben, Guſtav!“ ruft die Mutter.


Ich beginne nun das Verhör.


„Wie alt biſt Du jetzt, Guſtav? Antwort!“ —


[169]

„Vierzehn und ein halb!“


„Welchen Platz in der Claſſe haſt Du jetzt?“


„Ich bin der Vierundzwanzigſte von Oben!“


„Und von Unten?“


„Der — der — der Fünfte!“ — (Pauſe.)


Ich lege nun ein Geſicht an, wie Zeus Kronion,
wenn’s lange heiß geweſen iſt und er donnern will, und
beginne eine Rede, die anfängt: „Als ich in Deinem
Alter war;“ (wie Nota bene alle Väter und Erzieher
beginnen, ſeit Adam ſeinen Erſtgeborenen „rüffelte“)
ich flechte die Milchgeſchichte ein, gehe dann zu den
locibus“ und der letzten Arbeit über, bringe einen
kleinen Seitenhieb auf Eliſe an und ende, indem ich
die rührend-pathetiſche Seite — den Kummer der Mut-
ter, herauskehre! —


Während der ganzen Dauer dieſer „Pauke“ hat mein
Miſſethäter, bald auf dem einen, bald auf dem andern
Fuß ſtehend, mit einem dummpfiffigreuigwehmüthigen Ge-
ſicht angeſtrengt einen Punkt oben an der Decke, der
ihm ſehr merkwürdig erſcheinen muß, in’s Auge gefaßt.
Kaum aber habe ich geendet, ſo verliert auch beſagter
Punkt alles Intereſſe für den Schlingel, „die Erde hat
ihn wieder,“ er ſchiebt ſich hinter Eliſe, — die fort-
während mit ihrer Schürze zu thun gehabt hat, — und
dann zu ſeiner Mutter, die ihm bemerkt:


[170]

„Siehſt Du; ich hab’s Dir oft geſagt, aber auf
mich hörſt Du nicht. Wie heiß Ihr ſeid! Geh’ aus
dem Zugwind, Eliſe, Kind, Du erkälteſt Dich! Wo
habt Ihr eigentlich geſteckt?“


„Wir ſind nur auf dem Fontainenplatz geweſen!“ ſagt
Eliſe, mit dem Rücken der Hand über den Mund fahrend.


„So! — Und was habt Ihr da gemacht?“


„Wir haben die Goldfiſche gefüttert!“ —


„Die Goldfiſche?! — Guſtav, wie viel von Deinem
Taſchengeld haſt Du noch?“


Bei dieſer Wendung des Geſprächs ſteht Guſtav auf
einmal wieder auf einem Bein und ſcheint ſehr zu be-
dauern, daß er ſich nicht wie die Gänſe mit dem andern
hinterm Ohr kratzen kann. Langſam fährt er mit der
Hand in die Taſche, beſinnt ſich aber und zieht ſie
ſchnell zurück.


„Nun?!“ —


„Haſt Du’s mir zum Ausgeben gegeben, Mama?“
fragt der Schlingel, den ſeine Erziehung Weiberlogik
kennen gelehrt hat.


„Freilich — aber — aber“ — — —


„Nun, ausgegeben hab’ ich’s! Liſe kann es be-
zeugen!“ —


„Ja, das kann ich!“ — ruft Lischen ganz eifrig.
„Darüber braucht Ihr ihn nicht auszuſchelten!“ —


[171]

Ich komme jetzt der bedrängten Tante zu Hülfe.


„Ausgeben kann er’s freilich, aber das „Wie“ iſt
jetzt die Frage. Was habt Ihr mit dem Gelde an-
gefangen?“


Das Paar ſieht ſich ſtumm an. Plötzlich greift
Liſe in ihre Taſche, zieht einen Kirſchkern hervor und
ſchnellt ihn Guſtav an die Naſe. Die Frage iſt ge-
löſt!


Ach ſo! — ruft die Tante Berg. „Nun es iſt gut,
daß es fort iſt, ſo kann er wenigſtens nicht wieder Ci-
garren dafür kaufen, wie vorige Woche.“


Auch ich bin ganz damit einverſtanden, während
Eliſe dem Vetter den Ellenbogen in die Seite ſtößt und
ihm zuflüſtert: „Warte nur, morgen kriege ich meins!“


Glückliche Kindheit! Alle ſpäteren Lebensalter, die
eine einſame Minute fröhlich verträumen wollen, laſſen
dich vor ſich aufſteigen, und ich — der alternde Greis
fülle dieſe Bogen mit längſt vergangenen, längſt vergeſ-
ſenen Kindergedanken und Kinderſorgen! — Träumt
nicht ſogar die Menſchheit von einem „goldenen Zeit-
alter“ einer längſt untergegangenen glücklichen Kinder-
Welt? —


[172]

Es iſt gar kein übler Monat dieſer Februar, man
muß ihn nur zu nehmen wiſſen! — Da iſt erſtlich die
ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden Tage. Was habe
ich mir einſt, vor langen Jahren, den Kopf über ihr
Verbleiben zerbrochen. Jeder andere Monat paßte auf’s
Haar mit Einunddreißig auf den Knöchel der Hand,
mit Dreißig in das Grübchen und nur dieſer eine Fe-
bruar — ’s war zu merkwürdig! — Das iſt ein Stück
aus der formellen Seite der Vorzüge dieſes Monats,
jetzt wollen wir aber auch die inhaltvolle in Betrach-
tung ziehen: Was iſt an dieſem Regen auszuſetzen?
Thut er nicht ſein Möglichſtes, die Pflicht eines braven
Regen zu erfüllen? Macht er nicht naß, was das Zeug
halten will und mehr? — Der alte Marquart in ſei-
nem Keller iſt freilich übel dran, ſeine Barrikaden, die
er brummend anbringt, werden weggeſchwemmt, ſeine
Treppe verwandelt ſich in einen Niagarafall. Alles,
was Loch heißt, nimmt der Regen von Gottes Gnaden
in Beſitz. Immer iſt er da; ſeine Ausdauer gränzt faſt
an Hartnäckigkeit! Man ſollte meinen, Nachts würde
er ſich doch wohl etwas Ruhe gönnen. Bewahre! Da
pladdert er erſt recht. Da wäſcht er Nachtſchwärmer von
Außen, nachdem ſie ſich von Innen gewaſchen haben; da
wäſcht er Doktoren und Hebammen auf ihren Berufs-
[173] wegen; da wäſcht er Kutſcher und Pferde, Herren und
Damen — maskirt und unmaskirt, da wäſcht er Katzen
auf den Dächern und Ratten in den Rinnſteinen; da
wäſcht er Nachtwächter und Schildwachen in ihrem Schil-
derhaus. Alles was er erreichen kann, wäſcht er!
Kurz: „Bei Tag und Nacht allgemeiner Scheuertag, und
Hausmütterchen Natur ſo unliebenswürdig, wie nur eine
Hausfrau um drei Uhr Nachmittag’s an einem Sonn-
abend ſein kann!“ Das iſt das Bülletin des Februars,
den man einſt mensis purgatorius nannte. — Jetzt
finde ich auch einen Vergleich für das Ausſehen der
großen Stadt. Lange genug hab’ ich mich beſonnen,
keiner ſchien paſſend. Nun aber hab’ ich’s! Auf’s Haar
gleicht ſie einem unglücklichen Hausvater, den die Flu-
then des ſonnabendlichen Scheuerns auf einen Stuhl
am kalten Ofen geſchwemmt haben, wo er ſitzt — ein
neuer Robinſon Cruſöe — mit Kind, Hund, Katze und
Dompfaffenbauer, die Beine auf einem hohen Schemel
ſtehend und die Schlafrockenden herabhängend in die
Wogen.


„Brr!“ — Das iſt mal wieder ein Wetter, um in
alten Mappen zu wühlen und — ich wühle auch darin
ſchon ſeit geraumer Zeit! Da muß ein Brief ſein, den
ich trotz aller Mühe nicht finden kann und der doch ei-
gentlich ſchon früher der Chronik hätte eingelegt werden
[174] ſollen. Briefe mit ſpäterm Datum von derſelben Hand
finde ich da genug; ſie berichten von Kindtaufen, und
einer auch von dem Hinſcheiden eines ehrwürdigen Pu-
dels „Rezenſent“ genannt. Ich möchte aber gern ein
älteres Schreiben haben, welches noch nicht von Kind-
taufen erzählt! Gottlob, hier iſt’s! Die Chronik hätte
es, wie geſagt, viel früher aufnehmen müſſen, aber was
thut’s. Je älter ſolche Briefe werden, je älter ihr
Schreiber ſelbſt geworden iſt, deſto friſcher klingen ſie!


Hier iſt das Scriptum:
„Unter Verantwortlichkeit der Redaction.“
Liebe und Getreue!


Eben hatte ich dieſen Anfang „Liebe und Getreue“
gemacht, als ſich auf einmal ein kleines Patſchhändchen
auf meine Schulter legte, ein brauner Lockenkopf ſich
vorbeugte und ein Stimmchen ganz fein ſagte:


„Erlaube liebes Kind („liebes Kind,“ das bin ich,
der Dr. Wimmer) — erlaube liebes Kind, an was für
eine Dame willſt Du da ſchreiben?“ Ich ſchaute ver-
wundert auf und erblickte — eine kleine runde Dame,
(ſie ſitzt jetzt neben mir und zieht mich für das „rund“
tüchtig am Ohr) die eine allerliebſte moue machte:


„Liebes Kind, ich möcht’s halt gern wiſſen!“ „Sollſt
Du auch Schatz,“ ſagte ich lachend. Gieb Acht, es iſt
eine ſeltſame Geſchichte! — Es war einmal ein Mann,
[175] der lief in der Welt herum und die Leute nannten ihn
Dr. Heinrich Wimmer; einige freilich titulirten ihn auch
„Eſel“ oder ſo. Das waren aber nur die, welchen er
daſſelbe Epitheton gegeben hatte — was er oft ſogar
ſchriftlich, Schwarz auf Weiß, that. — Gut; — dieſer
Menſch hatte eigentlich nur wenig wahre Freunde, (Be-
kannte genug) denn er war ſo eine Art von Vagabond,
wenn auch nicht in der ſchlimmſten Bedeutung des Worts.
Er war ein Literat. Zu den Freunden, die ihn ertru-
gen und nicht „Eſel“ nannten, gehörte erſtens ein Schul-
meiſter Namens Roder, zweitens ein ältlicher Herr,
Wachholder genannt, und drittens — ein junges Mäd-
chen, (beruhige Dich Nanette, ſie war höchſtens eilf Jahr
alt, als wir ſchieden) Namens Eliſe Ralff. Wir wohn-
ten in einer großen Stadt, wo es viel Staub giebt und
aus der ſie mich wegjagten, weil jener Staub mich ſtets
zum Huſten brachte, ziemlich dicht zuſammen und
betrugen uns gegen einander wie gute Freunde ſich be-
tragen müſſen. Sogar der Pudel Rezenſent, mein vier-
ter Freund, fühlte oft eine menſchliche Rührung darüber;
wie es in der That ein vortreffliches Vieh iſt, was Du
auch ſagen magſt, Nannerl! —


Und nun höre — grimme Othelloin das „Liebe
und Getreue“ gilt den drei Freunden und „halt“
nicht einer Dame, Du Eiferſucht! —


[176]

Da wir nun aber einmal dabei ſind, ſo laß Dir
auch weiter erzählen, liebe Nanette. Mit dieſen Freun-
den lag ich an dem Tage, an welchem ich den letzten
Staub von den Füßen über jene Sand-Stadt ſchüttelte,
in einem Holze, wo wir den ganzen Tag über Vogel-
neſter geſucht, Blumen gepflückt und Märchen erzählt
hatten, als auf einmal ein Gefühl bodenloſer Einſam-
keit und moraliſchen Katzenjammers u. ſ. w. u. ſ. w.
über mich kam. Da ſtieg plötzlich, mitten im grünen
Walde, wo die Vögel ſo luſtig ſangen und die Sonne
ſo hell und fröhlich durch die Zweige ſchien, ein Gedanke
in mir auf, ein Gedanke an ein kleines hübſches Mäd-
chen, mit welchem ich einſt zuſammen geſpielt, und an
das ich oft, oft gedacht hatte in ſpätern Jahren. —
Daran aber dacht’ ich in dem Augenblick nicht, daß
zwiſchen dem Kinderſpiel und dem Waldtage ſo lange
Zeit lag; — ich dachte — ich dachte: — Heinrich,
warum gehſt du nicht nach München, wo du geboren
biſt, wo dein Onkel Pümpel, wo dein — kleines lie-
bes Mühmchen Nanette wohnt?


Wie ein Lichtſtrahl, — viel heller und fröhlicher
als die Sonne — durchzuckte mich das; ich ſprang auf,
warf den Hut in die Luft und ſchrie: „Hurrah, ich
gehe nach München zu meinem Onkel Pümpel zu mei-
ner Couſine Nanette!“ — Die Freunde ſchauten mich
[177] verwundert und lächelnd an, und der Lehrer Roder ſagte:
„Junge, das wäre prächtig, wenn Du — ſolide wür-
deſt!“ —


(Gieb mir einen Kuß, Schatz, und ich erzähle
weiter.)


Sieh’, da wand die kleine Liſe Ralff dem Pudel
einen hübſchen Waldblumenkranz um den Pelz, ſie drück-
ten mir Alle die Hand — das kleine Mädchen weinte
ſogar — und — — — ich ging nach München.


Lange Jahre waren hingegangen, ſeit ich meine Va-
terſtadt nicht geſehen hatte, und ganz wehmüthig ge-
ſtimmt, ſchritt ich in der Abenddämmerung durch die
alten bekannten Gaſſen der Altſtadt. Da lag das Haus
meiner Eltern; — Fremde wohnten darin. Ich ſchaute
durch die Ritze eines Fenſterladens und ſah zwei Kinder,
die allein am Tiſche bei der Lampe ſaßen; ſie waren
ſehr eifrig in ein Gänſeſpiel vertieft und ich dachte an
unſere Jugend Nannerl und das Herz ward mir immer
ſchwerer. — Seidelgaſſe Nr. 20., da ſtand ich jetzt vor
einem andern Haus. Dort hing ein altes wohlbekann-
tes Schild: „Pümpels Buchhandlung“ darauf gemalt.
Der Laden war bereits geſchloſſen, der Onkel jedenfalls
ſchon im Hofbräuhaus; ein Lichtſchein erhellte noch die
Fenſter des obern Stockwerks.


Ich wagte kaum die K[l]ingel zu ziehen. Endlich
12
[178] that ich’s aber doch. Mein Gott, eben ſo jämmerlich
klang die Glocke ſchon vor zehn Jahren. Schlürfende
Schritte näherten ſich — die Thür ging auf; — da
war ſie noch, die dicke Betty, eher jünger als älter!
Der Pudel und ich hätten ſie beinah über den Haufen
geworfen; ſie kannte mich nicht und ſtand ſtarr vor
Schrecken und Verwunderung, als ich mit meinem vier-
beinigen Begleiter in zwei Sätzen die Treppe hinauf
war.


Eine kleine runde .... (Au, mein Ohr! Hör’ ein-
mal Nanette, das iſt das Ohr, in welches es bei mir
„hineingeht“, was wird das für eine Ehe abgeben, wenn
Du mir das abkneifſt. Nanette, ich würde in Deiner
Stelle mal das andere, zu welchem es „herausgeht“
nehmen!“)


Dame trat mir entgegen:


„Der Vater iſt nicht zu Haus, mein Herr!“ — —
Ich antwortete nicht, ſondern nahm ihr das Licht aus
der Hand, — die kleine runde Dame erſchrack ebenfalls gar
ſehr, — und hielt es ſo, daß mir der Schein voll in’s
Geſicht fiel …


„Herr Gott, der Vetter Heinrich!“ rief die kleine
rrr .. Dame (Nanette ſag’ ’mal, ich glaube, ich habe
Dir in dem Augenblick einen Kuß gegeben?)


„O welch’ abſcheulicher Bart — — und eine Brille
[179] trägt er auch! Betty, Betty, ſchnell nach dem Bräu-
haus: der Vetter Wimmer ſei da!“


Ja, er war da, der Vetter Heinrich Wimmer und
der alte Onkel kam auch; er umarmte den Landläufer
und ſteckte ihn in ſeinen Sonntagsſchlafrock; er wollte
— — ja, was wollte er nicht Alles! Der Pudel ſprang
wie toll und machte ſogleich, als ein vernünftiger
Köter, Freundſchaft mit dem dicken Pümpel’ſchen Ka-
ter Hinz.


Und dann — dann ward ich Redakteur der Kospen,
unter der Bedingung, den fatalen Huſten vorher erſt
auszuſchwitzen; dann ward ich von Deinem Papa, mei-
nem guten, dicken, vortrefflichen Onkel in den deutſchen
Buchhandel „eingeſchoſſen“ und dann — — — Nun
Nanette und dann? — — — — — — — — — —
— — — — — Meine Herren und Freunde,
was hab’ ich Ihnen da geſchrieben
! — So geht’s,
wenn man verlobt iſt und neben ſeiner Braut einen
Brief ſchreiben will! Die reine Unmöglichkeit! Statt
eines ſoliden, nach allen Regeln der Logik und Brief-
ſchreibekunſt abgefaßten Berichts, ſchmiere ich Ihnen
meine Unterhaltung mit dem Frauenzimmer. S’iſt
göttlich!


Nun — was thut’s? Die Hauptmomente meiner
Geſchichte habt Ihr doch bei der Gelegenheit erfahren.
12*
[180] Ich habe eine neue Seite meines Lebens aufgeſchlagen;
und wer hat dieſe vita nuova bewirkt? Der edle Po-
lizeicommiſſar Stulpnaſe nebſt ſeinen Myrmidonen und
— meine kleine Beatrice, genannt Nanette Pümpel!
Geſegnet ſei das Haus Pümpel et Comp. bis ins tau-
ſendſte Glied!! —


Ich ſchließe. Meine gentilissima verlangt ebenfalls
Platz auf dieſem Bogen. Mich ſoll’s wundern, was ſie
ſchreiben wird; ihre Augen leuchten gar argliſtig.


Dr.Wimmer.

Liebe, kleine Eliſe!

Obgleich wir uns noch nicht mit Augen geſehen
haben, ſo kann ich doch halt nicht unterlaſſen, Dir,
Herz, dieſen ganz kleinen Brief zu ſchreiben, der böſe
Menſch hat nicht viel Raum übergelaſſen. So ganz
böſe freilich iſt er doch nicht, denn er hat mir viel
Gutes und Schönes von Dir erzählt, aber ſage doch den
beiden Herren, die ich auch nicht kenne, daß ſie das
thörichte Zeuch, was er alles geſchrieben hat, halt nicht
Alles glauben. Ich hab’ ihn durchaus nicht ſo viel in’s
Ohr gekneift, als er ſagt. — Liebes Kind, Ihr müßt
uns einmal Alle beſuchen. Ich habe zwei Kanarien-
vögel und einen Stieglitz, der ſich ſein Futter ſelbſt herauf-
zieht. Ich hätte Dir gern eins von den Vögelchen ge-
ſchickt, aber der Onkel Doctor meint, ſie könnten das
[181] Fahren nicht vertragen, das könnte ſelbſt ſein häßlicher
Puhdel nicht. Es iſt nur gut, daß das ſchwarze Thier
ſich ſo vor meinem ſchönen bunten Hinz fürchtet; ſie
beißen ſich zwar halt nicht, aber ſie ſehen ſich oft ſchief
an von der Seite. Liebes Kind, beſuche uns einmal
und grüße den Herrn Onkel Wachholder und den Herrn
Lehrer recht ſchön!

Deine unbekannte Freundin
Nanette P.


P. Scr. Verehrteſter, überreichen Sie doch meiner
dicken Freundin, der Madam Pimpernell, beifolgende
drei Fünfthalerſcheine; da wird ein noch zu tilgender
Schuldenreſt ſein.

Dr. W.


P. Scr. Ich muß in die Küche, ſonſt hätte ich mich
eben noch recht über den Doctor zu beklagen. Er iſt
recht böſe. Geſtern hat er ſein Dintenfaß über meine
beſte Tiſchdecke gegoſſen. Das geht mein Lebtag nicht
wieder heraus! — Aber das iſt das Wenigſte. — S’iſt
nur gut, daß ich den Tabacksdampf gewohnt bin, auch
mein Papa macht furchtbare Wolken und die Gardinen
müſſen nun nur noch einmal ſo bald gewaſchen werden.


Adieu! Nanette.


P. Scr. Der Onkel Pümpel hat ſich’s in den Kopf
geſetzt, dem armen „Puhdel,“ wie Nann’l ſchreibt —
auf ſeine alten Tage noch das „Todſtellen“ beizubringen.


Dr. W.


[182]

P. Scr. Bier mag er ſchon! (Ich meine halt den
Pudehl — ſo wird’s wohl recht geſchrieben ſein) Gott,
ich muß wirklich in die Küchen!

N.


P. Scr. Nanette iſt fort! Meine lieben Freunde,
ich bin ſehr glücklich und fidel! Ich hoffe auf baldige
Nachrichten von Euch Allen. Gruß und Brüderſchaft!


Euer H. Wimmer.


Welchen Jubel hatte einſt dieſer Doppelbrief mit
ſeinen Poſtſcripten in der Sperlingsgaſſe erregt! Wie
tanzte an jenem Auguſtnachmittag im Jahr 1841, als
er ankam, der Lehrer Roder mit der kleinen Eliſe im
Zimmer herum! Heute, wo ich ihn wieder hervor-
ſuchte, iſt weder Roder bei mir, — ſie haben ihn Acht-
zehnhundertundachtundvierzig nach Amerika gejagt, ſie
fürchteten ſich gewaltig vor ihm — noch ſchaut das
kleine Lischen, auf einem Stuhl ſtehend, mir über die
Schulter. Aber allein bin ich doch nicht beim Wieder-
leſen; trotz dem Regen hat ſich der Zeichner Strobel
herausgewagt und iſt, da das Glück dem Kühnen lächelt,
wohlbehalten, wenn auch etwas durchnäßt, bei mir
angekommen.


„Es iſt ein prächtiges Ehepaar geworden,“ ſagte er
lächelnd, indem er mir die Nadel einfädelte, mit welcher
ich das Document der Chronik anheften wollte. „Seit
der Doctor den böſen, politiſchen Huſten, der ihn ſonſt
[183] plagte, losgeworden iſt, hat er einen Umfang gewon-
nen, dem nur das Embonpoint der kleinen fidelen Frau
Doctorin Nannerl nahe kommt. Und dieſe kleinen, fet-
ten Wimmerleins: Hans, Fritz und Eliſe, „das jüngſte
Wurm,“ wie der Doctor ſagt! — Und dieſe Nachkom-
menſchaft des edlen Rezenſent! — Für jedes Wimmer-
lein ein Pudel, einer immer ſchwärzer und ſchnurrbärti-
ger als der andere. Wie heißen ſie doch? Richtig:
Stulpnas (gewöhnlich Stulp abgekürzt), Dinte und
Quirl. Es iſt ein Schauſpiel für Götter, die Fa-
milie ſpazieren gehen zu ſehen. Voran ſchreitet der
Doctor mit dem alten Großvater Pümpel, dann folgen
Dinte und Quirl, die den Korbwagen ziehen, in
welchem das „Kroop“ Eliſe liegt. Neben ihnen trabt
Stulp mit des Doctors Hut und Stock und zuletzt
kommt die Nannerl, an der Rechten den Hans, an der
Linken den Fritz. Von Zeit zu Zeit treibt ſie mit dem
Sonnenſchirm das Paar der Zugthiere an oder ruft dem
Doctor zu:


„Wimmer, Du wirſt gleich Dein Taſchentuch ver-
lieren!“


oder:


„Wimmer, renne nicht ſo mit dem Vater. Wir
kommen halt nicht mit!“


oder:


[184]

„Wimmer, Stulp hat nur noch Deinen Stock!“


Dann dreht ſich der Doctor gravitätiſch um, wirft
einen Feldherrnblick über den langſam daher ziehenden
Heereszug, puſtet und fächelt, knöpft die Weſte auf,
bindet das Halstuch ab oder zieht wohl gar den Rock
aus und ſagt:


„Schatz, das Spazierengehen müſſen wir aufſtecken.
Beim Zeus, es wird zu angreifend für Unſereinen! —
Stulp, Schlingel, hol’ meinen Hut — dort! — Allons!“


Während nun der Zug ſo lange hält, bis Stulp
mit dem Verlorenen zurückkommt, ſagt der Alte wohl:


„Heinerich, paß auf, das neue Complimentirbuch
geht nicht!“


„Weshalb nicht, Papa?“


„Wir ſind hier zu Lande nicht recht dran gewöhnt!“
lautet die Antwort.


„Das weiß ich ſchon aus den Nibelungen und dem
Parcival,“ ſagt der Doctor, eine gewaltige Rauchwolke
auspuffend. „Es ſoll aber ſchon „gehen,“ Onkel und
Schwiegerpapa Pümpel! Das Ungewohnte und Unge-
wöhnliche macht am meiſten Gl. … Fritz, laß den
Froſch in Ruhe, ſetz’ ihn wieder in’s Gras! — Vor-
wärts! Yankee doodle doodle dandy!“ — Da-
mit ſetzt ſich das Haus Pümpel et Comp. wieder in
Marſch.“ — — —


[185]

Ich lachte herzlich über dieſe Schilderung. „Es
wachſe, blühe und grüne das Haus Pümpel et Comp.
wie — wie — —“


„Hopfen! — Vivat hoch!“ — ſchrie der Zeichner,
nahm den Hut und trabte wieder davon. Wo er ge-
ſeſſen hatte, ſtand ein kleiner Sumpf Regenwaſſer. Einen
Schirm brauchte ich ihm alſo nicht anzubieten! —


Wie traurig hat dieſer Tag geendet! Ich wollte die
Geſchichte der armen Tänzerin über mir, die wir einſt
auf den Weihnachtsmarkt begleiteten, nicht erzählen aus
Furcht, dieſem Bilderbuch eine dunkle Seite mehr zu
ſchaffen, aber die unſichtbare Hand, welche die gewalti-
gen Blätter des Buches, Welt und Leben, eins nach
dem andern umwendet, mit ihren zertretenen Generatio-
nen, gemordeten Völkern und geſtorbenen Individuen,
will es anders, als der kleine nachzeichnende Menſch.
Dunkel wird doch dieſes Blatt, dunkel — wie der Tod! —


„Herr Wachholder,“ ſagte die Frau Anna Werner,
die um neun Uhr Abends an meiner Thür klopfte. „Herr
Wachholder, das Kind der Tänzerin ſtirbt in dieſer
[186] Nacht! Der Doctor Ehrhard, der eben oben iſt, hat’s
geſagt. — Iſt’s nicht ſchrecklich, daß die Mutter in die-
ſem Augenblick tanzen muß? — Sie haben ihr nicht
erlauben wollen, die ſchlechten Menſchen, wegzubleiben
dieſen Abend: es wäre heute der Geburtstag der Köni-
gin, ſie müſſe tanzen!“ —


Arme, arme Mutter! Ein hübſcher, leichtſinniger
Schmetterling gaukelteſt Du, bis die Verführung kam
und — ſiegte. Verlaſſen, verſpottet, ſuchteſt Du Dein
Glück nur in den Augen, in dem Lächeln Deines Kin-
des und jetzt nimmt Dir der Tod auch das! —


Arme, arme Mutter! Mit geſchminkten Wangen und
den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörſt nicht die tau-
ſend jubelnden Stimmen der Menge, Du hörſt nicht die
rauſchende Muſik: das Aechzen des winzigen, ſterbenden
Weſens in der fernen Dachſtube übertönt Alles. — —
Ich ſteige die enge, dunkle Treppe hinauf, die zu der
Wohnung der Tänzerin führt. Frau Anna und der gute,
alte Doctor Ehrhard ſitzen an dem Bettchen des kranken
Kindes. Eine verdeckte Lampe wirft ein trübes Licht
über das kleine Zimmerchen; hier und da liegt auf den
Stühlen phantaſtiſcher Putz; eine ſchwarze Halb-Maske
unter den Arzneigläſern auf dem Tiſche. Der Doctor
legt das Ohr dem Knaben auf die Bruſt und lauſcht
den ſchweren ängſtlichen Athemzügen; ich ſtehe am Fen-
[187] ſter und ſchaue in die Nacht hinaus. Der Regen ſchlägt
noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal
der niedrigſten Volksklaſſe dringen die ſchrillen, ſchnei-
denden Töne einer Geige bis hier herauf. — Jetzt zieht
der Doctor die Uhr hervor und ſagt leiſe und ernſt:


„Sie muß ſich beeilen!“


Das Kind ſtöhnt in ſeinem unruhigen Schlaf; die
Hand des Todes drückt ſchwer und ſchwerer auf das
kleine unwiſſende Herz, dem ſich gleich ein Geheimniß
enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde
rathlos ſteht. —


Auf der Sophienkirche ſchlägt es dumpf Zehn. Der
Wind macht ſich plötzlich auf und rüttelt an den ſchlecht-
verwahrten Fenſtern. Die Februarnacht wird immer un-
heimlicher und düſterer. — —


Unter Blumenkränzen ſich verneigend, ſteht jetzt im
Theater die große, berühmte Künſtlerin, die Menge
jubelt und klatſcht Beifall; der König, die Königin, das
Publikum hat ſich erhoben; — der ſchwere, goldbeſternte
Vorhang rollt langſam nieder. Die bleiche Königin iſt
müde in ihren Wagen geſtiegen; die große Künſtlerin
nimmt die Glückwünſche und Schmeicheleien der ſie Um-
gebenden in Empfang; leer wird das eben noch ſo Men-
ſchengefüllte Opernhaus und — die arme Choriſtin iſt
halb bewußtlos an einer Couliſſe zu Boden geſunken,
[188] um wie aus wildem Traume zu noch wilderer Wirklich-
keit erwachend, mit dem herzzerreißenden Schrei: „mein
Kind! mein Kind!“ fortzuſtürzen. — — — Wir in
dem kleinen Dachſtübchen haben das nicht geſehen, nicht
gehört, aber jeder kürzer werdende Athemzug des ſterben-
den Kindes ſagte uns, was dort in dem Lichterglänzen-
den, Muſikerfüllten Gebäude am andern Ende der großen
Stadt geſchehe.


Horch! Ein Wagen raſſelt heran; er hält drunten.


„Die Mutter,“ ſagt der Doctor aufſtehend. „Es
war Zeit!“ —


Ein eiliger Schritt kommt die Treppe herauf; eine
Frau, in einen dunkeln Mantel gehüllt, erſcheint todt-
bleich und athemlos in der Thür. Sie läßt den regen-
feuchten Mantel fallen und im phantaſtiſchen Coſtüm,
wie wir es in Satanella ſahen, ſtürzt ſie auf das
Bettchen zu.


„Mein Kind! Mein Kind!“ flüſtert ſie, in gräßlicher
Angſt den Doctor anſehend. Sie beugt ſich, ſie hört
den leiſen Athem des Kindes: Es lebt noch! — Das
ſchwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glas-
diamanten und feuerrothen Bändern ſinkt auf das ärm-
liche Kiſſen.


„Mama! liebe Mama!“ ſtöhnt das ſterbende Kind,
mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die ſchwar-
[189] zen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin
blitzen und funkeln. — — Jetzt läuft ein Schauer über
den kleinen Körper — — —


„Vorüber!“ — ſagt der alte Doctor dumpf, mir
die Hand drückend. — —


Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht
bei der armen, bewußtloſen Mutter. —


Geſtern Nachmittag begannen die ſchweren Regen-
wolken, die wochenlang über der großen Stadt gehan-
gen hatten, ſich zu heben. Sie zerriſſen im Norden
wie ein Vorhang und wälzten ſich langſam und ſchwer-
fällig dem Süden zu. Ein Sonnenſtrahl glitt pfeil-
ſchnell über die Fenſter und Wände mir gegenüber, um
eben ſo ſchnell zu ſchwinden; ein anderer von etwas
längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigſte
Frühlingsſonnenſchein auf den Dächern und in den Stra-
ßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht
mehr einem ſcheuergeplagten Ehemann; ſie gleicht viel-
mehr ſeiner beſſern Hälfte, die nun ihre Pflicht gethan
zu haben meint, erſchöpft auf einen Stuhl zum Kaffee-
[190] trinken niederſinkt und lispelt: „Puh! hab’ ich mich
abgequält, aber Gottlob, nun iſt’s auch mal wieder
rein!“ —


Ja, rein iſt’s! — Verſchwunden iſt der Schnee, der
zuletzt doch gar zu grau und unanſehnlich geworden war;
viel mißmuthige, verdroſſene Geſichter haben ſich auf-
gehellt und — die kleine Leiche von Oben iſt fort.
Die alte Großmutter Karſten hat auch ihr nachgeſchaut;
ſie hat die arme Mutter auf die Stirn geküßt, als man
den Sarg hinabtrug und hat, gleichſam als wundere
ſie ſich über etwas, lange das Haupt geſchüttelt. Wer
weiß, wie viel jüngere Leben ſie noch dahin ſchwinden
ſieht! —


Ich habe dieſe Blätter, glaub’ ich, einmal ein
Traumbuch genannt; — wahrlich, ſie ſind es auch.


Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und ſonnig,
bald finſter und traurig vorüber. Jetzt iſt der dunkle
Grund, aus dem ſie ſich ablöſen, ganz bedeckt von Leben
und Jubel; — jetzt taucht wieder die unheimliche finſtere
Folie auf. Die Freude verſtummt, der Jubel verhallt,
es iſt todte Nacht allenthalben, die nur dann und wann
ein Klagelaut unterbricht. Sei die Nacht aber auch
noch ſo dunkel, ein Stern funkelt ſtets hinein: Eliſe!
— Ich brauche nur in meine alten Mappen und Er-
innerungsbücher mich zu verſenken und die Geſpenſter
[191] entfliehen, die Nebel ſinken und es wird wieder fröh-
licher Tag in mir! —


Eliſe!


Die Knospe, die hundert duftige Blumenblätter in
ihrer grünen Hülle einſchloß, entfaltet ſich wie ein ſüßes,
liebliches Geheimniß. — Noch ein warmer Kuß der
Sonne und die Centifolie, den reinen Thautropfen der
Jugend und der Unſchuld im Buſen, iſt die ſchönſte der
Erdenblüthen.


Ich glaube an keine Offenbarung, als an die, welche
wir im Auge des geliebten Weſens leſen; ſie allein iſt
wahr, ſie allein iſt untrüglich; in dem Auge der Liebe
allein ſchauen wir Gott „von Angeſicht zu Angeſicht.“
— Die Zunge iſt ſchwach und des Menſchen Sprache
unvollkommen; die Schrift iſt noch ſchwächer und un-
vollkommener und ein Blatt Papier zum Urquell der
Erkenntniß des ewigen Geiſtes machen zu wollen, iſt
ein arm thöricht Beginnen. Ich drücke die Augen zu
und — ſie iſt vor mir mit ihrem ſüßen Lächeln, ſie
ſchlägt ſie auf, dieſe großen blauen Augen, in denen
ich Troſt ſuche und finde. Eliſe, Eliſe, nun biſt Du ein
großes, ſchönes Mädchen geworden und das Bild dort,
welches Dein todter Vater von Deiner todten Mutter malte,
gleicht einem Spiegel, wenn Du ſo ſinnend davor ſtehſt
und ſo ſüßtraurig lächelnd zu ihm empor ſchauſt. Die
[192] wilden Spiele, die tollen Streiche in dem Hauſe und
auf der Gaſſe ſind vorüber; — (wenn auch noch nicht
ganz, Schelm) — wo Du ſonſt lachteſt, Eliſe, lächelſt
Du jetzt, wo Du ſonſt weinteſt und klagteſt, ſenkſt Du
jetzt die Augen und träumſt; wo Du ſonſt den Schürzen-
zipfel in den Mund ſteckteſt oder die Aermchen auf dem
Rücken in einander wandeſt, fliegt jetzt ein hohes Roth
über Deine Wangen, — Du biſt eine Jungfrau ge-
worden in den Blättern der Chronik, Eliſe! —


Oftmals läſſeſt Du, vor dem Nähtiſchchen Deiner
Mutter unter der Epheulaube ſitzend, die Arbeit lau-
ſchend in den Schooß ſinken, das Köpfchen in das dich-
teſte Blätterwerk verbergend. — Eine helle, friſche
Stimme klingt dann von drüben herüber, ein Studen-
tenlied anſtimmend. Wo will Flämmchen hin, Eliſe? —
Einen Augenblick ſitzt es auf ihrer Schulter, ihr in’s
Ohr zwitſchernd, als habe es ihr ein wichtiges, ein gar
wichtiges Geheimniß mitzutheilen, dann verſchwindet es
aus dem Fenſter. Wo iſt es geblieben? —


Die Stimme drüben, die plötzlich mitten in ihrem
Geſang abbricht, giebt Antwort darauf. Ein wohlbe-
kanntes, wenig verändertes, braunes Geſicht, von dun-
keln Locken umwallt, erſcheint in No. 12 am Fenſter;
es iſt der junge Maler Guſtav Berg, der Vetter Guſtav,
[193] der einſtige Taugenichts der Gaſſe, jetzt ein „denkender“
Künſtler und, wie man munkelt, oft genug der „Tauge-
nichts des Ateliers“ beim Meiſter Frey in der Roſen-
ſtraße. —


„Couſine, Couſine Eliſe! Onkel Wachholder!“ ruft
er. „Die Mama iſt außer ſich! Flämmchen hat ein
Leinölglas umgeſtoßen, und — Unordnung über Un-
ordnung — nicht nur eine ſehr angenehme Verſchöne-
rung auf dem Fußboden, ſondern auch eine ſehr unan-
genehme Verbeſſerung auf meiner Zeichnung angebracht.
Es iſt keine Möglichkeit, weiter zu arbeiten! — Wie
wär’s mit einem Spaziergang?“ —


Ich denke lächelnd an den Doctor Wimmer, der auch
einſt oft genug Aehnliches von drüben herüber rief; die
Chronik der Sperlingsgaſſe hat ihre Wiederholungen,
wie Alles in der Welt. — Eliſe ſetzt ihren Strohhut
auf und wir gehen hinüber. Auf der Treppe ſchon
empfängt uns Guſtav, noch im leichten farbebeſchmutzten
Malrock, den Canarienvogel auf dem Finger.


„Da iſt der Verbrecher,“ lacht er. „Sieh, Lis-
chen, wie unſchuldig er ausſieht, grade wie Du, die
doch auch um kein Haar breit beſſer iſt, als er.“


„Was? — Was hab’ ich denn verbrochen?“ fragt Eliſe.


„Höre nicht auf den böſen Menſchen,“ ſagt die Tante
Helene, die jetzt in der Thür erſcheint.


13
[194]

„So; — das iſt ja prächtig, Mama! höre nicht auf
den böſen Menſchen! Das iſt himmliſch! Onkel Wach-
holder, das Frauenzimmervolk hängt wie Pech zuſam-
men; ich rufe Sie zum Richter auf. Aber kommen Sie
herein, die Sache iſt zu wichtig, als daß man ſie auf
der Treppe abmachen könnte.“


Wir treten ein, Jeder ſucht ſich einen Platz und
Guſtav beginnt:


„Hören Sie zu, Onkel! Heute Morgen gehe ich,
mit meiner Zeichenmappe unter dem Arm, ganz ſolide
von hier weg. Die beſten Vorſätze und Geſinnungen
bewegten meinen Buſen und ich rechnete mir innerlich
für den immenſen Fleiß, den ich heute beweiſen wollte,
verſchiedene Bummeleien zu Gute. Ich wollte, ich hätte
das Selbſtgeſpräch, welches ich hielt, ſtenographiren
können, es würde mir jetzt von großem Nutzen ſein.
An mancher Scylla und Charybdis, wo meine [guten]
Vorſätze ſonſt dann und wann geſcheitert waren, war
ich diesmal glücklich vorbei geſegelt. Als mich Thomas
Helldorf aus ſeinem Fenſter anbrüllte, hatte ich mich
taub geſtellt, als aus Schnolly’s Conditorei Leopold
Dunkel mir zuwinkte, hatte ich mich blind geſtellt; ge-
fühllos zu ſein, hatte ich geheuchelt, als Richard Brei-
müller mich in die Seite ſtieß und mir den Arm faſt
ausrenkte, um mich mit zu einem großartigen Frühſtück
[195] zu ziehen, welches die unmoraliſchen Menſchen, die Frei-
willigen von den Zweiunddreißigern, gaben. Ich ent-
wickelte eine rieſige Moral! Da biege ich im vollen Ge-
fühl meiner Sittlichkeit um die Ecke, die auf den Ge-
müſemarkt führt und — renne gegen einen Korb oder
vielmehr eine Korbträgerin, die mir entgegen kommt
und mir ohne Weiteres mit ihrem Sonnenſchirm den
Weg verſperrt ....“


„Oh, dieſer Lügner!“ fällt hier Eliſe ein. „Wer
hat Dir den Weg verſperrt? Haſt Du mich nicht an-
gehalten? Haſt Du mir nicht meinen Korb weggenom-
men! Du …“


.... „Die mir alſo den Weg verſperrt und ....“


„Verleumder! — Haſt Du mir nicht meinen ganzen
Korb umgekramt und die größte Mohrrübe hervorgezo-
gen, um ſie auf der Stelle mit Deinem Meſſer ....“


.... „Die mir, wie geſagt, den Weg verſperrt und
ſagt: Sieh, das iſt prächtig, Guſtav; jetzt ſollſt Du
wider Deinen Willen einmal zu Etwas nützlich ſein;
hier, nimm meinen Korb! — Kannſt Du das leugnen,
Liſe?“ —


„Onkel,“ ſagt Eliſe, „er verdreht die ganze Ge-
ſchichte. Ich hätte ihn doch nicht den Korb tragen
laſſen?! — Er war es, der ihn nicht wieder heraus
gab und da er noch dazu zwiſchen jedem Biß, den er
13*
[196] an ſeine Mohrrübe that, an einem Roſenſtrauch roch,
welchen er ebenfalls herausgewühlt hatte, ſo ſagte ich:
Ich habe keine Zeit mehr und …“


„Onkel Wachholder,“ unterbricht jetzt Guſtav, „ich
verband das Schöne mit dem Nützlichen! Mama, ſind
rohe Mohrrüben nicht etwa gut gegen Würmer?“ ....


… Ich habe keine Zeit mehr und wenn Du den
Korb einmal nicht wieder herausgeben willſt, ſo behalte
ihn und ſchleppe ihn, meinetwegen!“ —


„Siehſt Du! Seht Ihr! Da geſteht ſie ihre Schlech-
tigkeit ſelbſt ein. Denken Sie, Onkel Wachholder, auf
einmal dreht ſie ſich um, rennt davon wie eine Gazelle
und läßt mich an der Ecke ſtehen wie ein Kameel, bela-
den mit Roſen von Schiras und Gemüſe aus dem Thal
von Schâm. Eliſe, Lischen, Couſine Ralff! rufe ich
aus vollem Halſe; Liſe mit dem Korb kann ich doch
nicht in’s Atelier gehen! Himmliſche Couſine Lischen,
befreie mich von dieſem Stillleben! — Wer aber nicht
hört, iſt Eliſe. Was war zu thun? Ich ſetze mich in
Trab; mit Korb und Mappe, mit Rüben und Roſen
hinter ihr her. Solch’ eine Jagd! — Von Zeit zu Zeit
ſehe ich ihren Strohhut oder ihr blaues Kleid zwiſchen
dem Schwefelholz-, Härings-, Butter- und Käſehandel,
— ich glaube ſie zu haben — Täuſchung, da iſt ſie wie-
der hinter einer Bude verſchwunden! Ich fange an, dem
[197] kaufenden und verkaufenden Publicum lächerlich zu wer-
den mit meiner Mohrrübe, die ich noch immer krampf-
haft in der Hand halte. — Ich trete in einen Eierkorb!
Rieſiger Scandal! — Die Polizei erſcheint! — „Ver-
koofen Se Ihr Grünkraut ſachte,“ ſagt grinſend Poli-
zeimann Nr. 69., „immer langtemang!“ — Ich bezahle
für den Eierkorb mit blutendem Herzen und gelben Stie-
feln; — von Eliſe keine Spur! — Neue Jagd, — ich
glitſche über einem Kohlſtrunk aus — baff, da liege ich
mit Korb und Mappe; Kohlrüben, Roſen, Zwiebeln,
meine Zeichnungen und Eliſens Marktrechnungen im
maleriſchen Durcheinander um mich her. „O Jotte, det
arme Kind,“ ſagt eine dicke Gemüſefrau, „ebent in die
Eier und nu in den D …! Soll ich Se ufhelfen, Män-
neken!“ — „Immer langtemang,“ grinſt wieder Polizei-
mann Nr. 69., der mir wie mein böſes Princip gefolgt
iſt. — Ich ſuche meine Schätze, die ich zu allen Teufeln
wünſche, gleich im Liegen auf, und erhebe mich dann in
einer wirklich anmuthigen Verfaſſung. Außer Athem und
hinkend, ſchlage ich mich durch die Menge und ſinke auf
den Eckſtein an derſelben Ecke, wo mein Leiden begon-
nen hatte. Ich ſtelle den Korb zwiſchen die Beine und
ſtarre mit äußerſt bitterm Gefühl hinein. Soll ich das
Ungethüm wirklich hinſchleppen nach der Sperlingsgaſſe?
— Vorbei an der Caſerne der Zweiunddreißiger und an
[198] Schnolly’s Conditorei? — Einen Spitznamen hätte ich
und meine ganze Nachkommenſchaft weg — drei Ellen
lang! Mein innerer Menſch ſträubte ſich dagegen. Eine
Droſchke konnte ich nicht nehmen, denn meinen Geldvor-
rath hatte das Eierunglück aufgefreſſen, es blieb mir
nichts anderes übrig, — als eine neue Mohrrübe abzu-
kratzen, meine Verzweiflung an ihr zu verbeißen. Das
kommt davon, wenn man mit ſoliden Vorſätzen von
Hauſe weggeht! Wie gemüthlich hätte ich in dem
Augenblick, ſtatt auf dieſem fatalen Eckſtein, bei dem
Frühſtück der Freiwilligen ſitzen können! — Ich weiß
nicht, wie lange ich ſo brütend da geſeſſen habe,
als ich plötzlich, um zum Himmel zu ſchauen, meinen
Blick aufſchlage, aber halbwegs erſtarrt ruhen laſſe! —
Da ſaß ſie! — Kichernd lehnt ſie an dem Eckſtein
der andern Straßenecke, mir gegenüber, eine große, grüne,
angebiſſene Birne in der Hand! — „Guten Morgen,
Vetter!“ lacht ſie, ohne ſich vom Fleck zu rühren. „Könn-
teſt Du mir jetzt vielleicht meinen Korb geben? Ich
muß wirklich nach Haus; der Onkel kriegt ſonſt nichts
zu eſſen!“ — Ich fahre mit der Hand über die Stirn,
ich muß wirklich erſt meine Sinne zuſammenſuchen; ich
ſtoße einen tiefen Seufzer aus, — da erhebt ſie ſich,
als ſchicke ſie ſich an, wieder fortzurennen. In Todes-
angſt ſpringe ich auf, bin in einem Satz mit dem ver-
[199] dammten Korb an ihrer Seite, hänge ihn ihr an den
Arm und ſinke nun auf den Eckſtein neben ihr, um auch
ihn als Sitzmittel zu probiren. — „Hab’ ich Dich aber
geſucht, Guſtav!“ hohnlächelt die Boshafte. „Gott,
wie ſiehſt Du aus? Wo haſt Du denn geſteckt?“ —
„Δαιμονίη!“ murmele ich dumpf, während es auf der
unirten Kirche Eilf ſchlägt und die Atelierszeit ihrem
Ende naht; und ſo ziehen wir nach Haus, Eliſe immer
kichernd voran, ich hinkend hinter her, meine Rockſchöße
vorſichtig zuſammenhaltend. Eine derangirte Toilette,
ein leerer Geldbeutel, müde Beine, ein gräßlicher Nach-
geſchmack von den fatalen Mohrrüben, und das bodenloſe
Gefühl, mich unendlich lächerlich gemacht zu haben, das
waren die Ergebniſſe dieſes Morgens! Und nun richten
Sie Onkel Johannes!“ —


„Onkel, laß das Richten nur ſein,“ ſagt Eliſe.
„Er hat ſich ſchon ſelbſt gerichtet. Hat er nicht?“


„Ich glaube auch,“ ſagt die Tante Berg.


„Ich desgleichen,“ gebe ich mein Verdikt ab.


„Das dachte ich wohl,“ brummt der denkende Künſt-
ler. „Wann hätte je die Unſchuld geſiegt?! Abgemacht.
Wie wird’s nun mit unſerm Spaziergang?“ —


„Ja, wo wollen wir hin!“ ruft Eliſe, und Guſtav
meint:


„Ein Vorſchlag zur Güte: Wir gehen nach dem
[200] Waſſerhof; da iſt bal champêtre! Was meinſt Du,
Lischen?“


Kann man da hingehen?“ fragt die Tante Berg
bedenklich.


„Warum nicht? Sind wir doch dabei!“ ſagt der
denkende Künſtler, gravitätiſch den Halskragen in die
Höhe zupfend. „Uebrigens iſt heute auch das Atelier
mit ſeinen Schweſtern da; ebenſo der Profeſſor Frey mit
ſeinen ſechs Nichten und …“


„Nach dem Waſſerhof!“ rufe ich electriſirt. „Tante
Berg, man kann dahin gehen!“ —


Und wir gehen hin. —


Wer kennt nicht den Waſſerhof? Hat ihn nicht Göthe
im Fauſt unſterblich gemacht? „Der Weg dahin iſt gar
nicht ſchön.“ Welcher Weg um dieſe Stadt iſt ſchön?
Es lebe der Waſſerhof! Da giebt es Schatten und
kühle Lauben am Tage; Muſik, bunte Lampen und
fliegende Johanniswürmer am Abend; da giebt es Kell-
ner mit, einſt weißen Servietten, die in der rechten Ho-
ſentaſche ſtecken; da giebt es vor Allem einen — präch-
tigen Tanzplatz im Grünen!


„Lischen, heute Morgen haſt Du mir einen Korb
gegeben; ich will Dir das verzeihen, wenn Du mir jetzt
keinen anhängen willſt: Mein Fräulein, darf ich um
den erſten Walzer bitten?“


[201]

„Laß uns erſt ankommen, Vetter!“ ſagt Lischen, die
auf dem ganzen Wege ſtets die Vorderſte wäre, wenn
nicht Guſtav gleichen Schritt mit ihr hielte. — —


Da ſind wir! Heda, da ſitzt ſchon der alte Meiſter
Frey mit der langen Pfeife hinter einer Flaſche Wein,
behaglich dem luſtigen Treiben zuſchauend und lächelnd
das ſchwarze Käppchen auf den langen, weißen Haaren
hin und her ſchiebend. Schon aus der Ferne winkt er
uns, als wir uns durch die Menge drängen und ruft
uns ſein „Willkommen“ entgegen. Hurrah, da iſt das
„Atelier mit ſeinen Schweſtern,“ wie Guſtav ſagt, und
die ſechs Nichten des Profeſſors. Eine luſtige Gruppe:
lange Haare, ſchwarze Sammetröcke, Calabreſer mit ge-
waltigen Troddeln; dann wieder weiße Kleider, bunte
Bänder, Strohhüte; und Guſtav und Eliſe natürlich ſo-
gleich mitten dazwiſchen. Beim heiligen Vocabulus,
iſt das nicht der lange Oberlehrer Beſenmeier, der da,
aptus adliciendis feminarum animis, der dicken Frau
Rectorin Dippelmann einen Stuhl erobert? Wahrlich,
er iſt’s, und da iſt der Rector ſelbſt, der Ruthen und
Beile ſo vollſtändig abgelegt hat, daß ihn in dieſem
Augenblick jeder Secundaner, ohne böſe Folgen, um —
Feuer für ſeine Cigarre bitten könnte. Wen haben wir
hier? Darf ich meinen Augen trauen! Der Königliche
Profeſſor der Gottesgelahrtheit, Hof- und Domprediger
[202]Dr. Nipeguck!? — Wirklich, er iſt’s; mit Frau und Kin-
dern ſteuert er durch die Menge. „Weg die Dogmatik!“
lautet das Studentenlied; warum ſollte der alte Hallen-
ſer das an einem ſolchen prächtigen Abend nicht auch
noch einmal in — das Doppelkinn ſummen dürfen?
Wie die Univerſität vertreten iſt! Profeſſoren, Pri-
vatdocenten und Studenten von allen Facultäten und
Verbindungen! Dacht’ ich mir’s doch, da ſind auch die
„unmoraliſchen Menſchen,“ die Freiwilligen! Natürlich
durften ſie nicht fehlen! —


„Guten Abend, Cäcilie, Anna! Guten Abend Eliſe,
Johanne, Clärchen, Joſephine! Das iſt ja prächtig,
daß ihr auch da ſeid!“ — ſchwirrt und ſummt das
durcheinander!


„Gott, wo bleibt mein Tänzer! Der abſcheuliche
Menſch wird mich doch nicht „ſitzen“ laſſen?!“


„Auf keinen Fall, mein Fräulein!“ ſagt der Auscul-
tator Krippenſtapel, ſein ambroſiſches Haupt über die
Schulter der erſchrockenen Sprecherin ſtreckend und etwas
von „nur Perſonal-Arreſt“ murmelnd.


„Lischen, keinen Korb — bitte!“ ruft Guſtav, ein
Paar wunderſame Handſchuh anziehend und eine Roſen-
knospe in’s Knopfloch ſteckend.


„Nun, Vetter, — wenn’s denn nicht anders ſein
kann — ſo komm’ ſchnell, die Muſik fängt ſchon an.“


[203]

„Höre, Peter van Laar,“ ſagt Guſtav, ſchon im
Rennen, zu einem wohlbeleibten Kunſtjünger. „Wenn
Du mich wieder auf den Fuß trittſt, wie neulich, ſtecke
ich Dich morgen mit der Naſe in Dein Terpentinfaß!
Komm Lischen!“ —


Prr — davon ſind ſie: „Muthwill’ge Sommervögel.“


Ich habe unterdeſſen mit der Tante Helene Platz am
Tiſche des Meiſter Frey genommen, der eben unter ſchal-
lendem Gelächter eine Schnurre aus ſeinem italiſchen
Wanderleben beendet. Der Domprediger redet über die
Wirkungen des Weißbiers auf ſeine Conſtitution; wäh-
rend Petrus und Paulus, ſeine Sprößlinge, ſich unter
dem Tiſch wälzen und balgen, und die Frau Dompredi-
ger ſich darüber aufhält, daß die Kellner ſich mit der
Hand ſchnäuzen.


„Es iſt immer noch beſſer, als mit der Serviette!“
ſagt der Rector Dippelmann, eine Priſe nehmend und
in der Zerſtreuung die Doſe der Tante Helene anbietend.
An ein und demſelben Punkt werden nun zwei Geſpräche
angeknüpft: die Weiber plumpſen in die große Wäſche,
und der Domprediger mit dem Rector Dippelmann in
die — Theologie. —


„Kommen Sie, Wachholder,“ ſagt der Profeſſor
Frey, wir wollen lieber den Kindern beim Tanzen zuſe-
hen! — Mir wird wäſſrig und ſchwül zugleich!“


[204]

Da ich wirklich etwas Aehnliches in mir ſpüre, nehme
ich den Vorſchlag mit Freuden an, und wir wandeln
durch die Gänge mit den bunten Lampen und Laub-
gewinden dem Tanz-Platz zu. Da iſt ein luſtiges
Treiben.


„Welche prächtigen Reflexe!“ ruft der alte Maler
ganz enthuſiasmirt. „Sehen Sie Wachholder, da kommt
der Berg, aus dem ich Ihnen trotz ſeiner ſporadiſchen
Bummelei und Liederlichkeit doch noch einen ächten
Künſtler mache.“ „Nun ſanello,“ wendet er ſich an
den Herbeieilenden, „ich hoffe, Ihr werdet meine Mäd-
chen nicht „dörren“ laſſen — wie ſie ſagen!“


Der denkende Künſtler grinſt auf eine unbeſchreibliche
Weiſe:


„Wir thun unſer Möglichſtes, Herr Profeſſor. Se-
hen Sie nur den Peter Laar! Segelt er nicht wie
ein wahrer Fapreſto mit Fräulein Julie dahin? Hier
können Sie ſich doch wahrlich nicht beklagen, daß er
keine Fortſchritte mache. Sehen Sie nur, wie er weiter
kommt. — Sehen Sie, wie — buff! Dacht ich’s doch!
Da bohrt er den Auscultator Krippenſtapel mit ſeiner
Donna zu Grund! Alle Wetter! das giebt Scandal! —
Da muß ich retten! — — —


„Herr!“ ſchreit der Königliche Auscultator wüthend
aufſpringend und ſeine Tänzerin troſtlos-lächerlich auf
[205] ihrem „séant“ ſitzend laſſend. „Herr, können Sie nicht
ſehen, haben Sie keine Augen im Kopfe, Sie ....“


„Halt Krippenſtapel!“ fällt hier Guſtav ein, den
gefallenen Engel des Juriſten aufhebend. „Sie ſollen
fürchterlich gerächt werden, ich gebe Ihnen mein Ehren-
wort! — Peter Holzmann, Bamboccio, Ungethüm! ein
ſchreckliches Loos harrt morgen Deiner! — Mein Fräu-
lein, Sie haben ſich doch nicht weh gethan? Wollen
Sie eine kalte Meſſerklinge auflegen, das ſoll gut ſein
gegen Beulen? — Fräulein Julie geben Sie doch ge-
fälligſt dem dicken Ungeheuer an Ihrer Seite einen tüch-
tigen Naſenſtüber als Vorgeſchmack! — Krippenſtapel,
ſein Sie ein guter Kerl und fangen Sie keinen Lärm
an; kommen Sie, laſſen Sie ſich von Ihrer Dame eine
Stecknadel geben, ehe Sie weiter ſchweben. Vergeſſen
Sie’s nicht, es iſt wichtig; ich als Aeſthetiker muß das
wiſſen!“ — — —


Ein allgemeines Gelächter löſt die Sache in Wohl-
gefallen auf. Krippenſtapel ſchleicht mit ſeiner Steckna-
del ingrimmig in’s Gebüſch; ſeine Dame verkündet hin-
ter ihrem Taſchentuch, keine kalte Meſſerklinge anwenden
zu wollen; Peter Holzmann ſtolpert mit Fräulein Julie
zu einem Sitz, und alle übrigen Paare ordnen ſich zu
einem neuen Tanz.


Schon während des Verlaufs dieſer Scene habe ich
[206] mich gewundert, nirgend’s Eliſen’s Lockenkopf hervorlugen
zu ſehen, nirgends ihr helles Lachen zu hören; als nun
ein neuer Tanz beginnt und ſie auch jetzt nicht erſcheint,
wird mir die Sache bedenklich.


„Guſtav, heda hier! Wo haſt Du denn meine Liſe
gelaſſen?“


„Ich? — Onkel, fragen Sie lieber: wo hat Dich
die Liſe gelaſſen. Sie behauptet böſe zu ſein und iſt
mit Fräulein Henriette Frey weggelaufen, nachdem ſie
mich einen — einen — „Theekeſſel“ genannt hat.“


„So? — was habt Ihr denn wieder vorgehabt?“


„Ich kann mich auf Weiteres nicht einlaſſen!“ ſagt
der „denkende Künſtler,“ zieht ein wehmüthig-ſein-ſollen-
des Geſicht und verſchwindet unter der Menge.


„Wenn die Sachen ſo ſtehen,“ lacht der alte Frey,
„ſo werden die Mädchen jetzt wohl bei der Wäſche und
Theologie ſitzen. Kommen Sie, wir müſſen uns doch
erkundigen, was der Friedensſtifter (machte er ſeine Sache
nicht prächtig?) da für Unheil und Unfrieden angeſtiftet
hat?“ —


„Ich kann’s mir ſchon denken,“ brumme ich in den
Bart, und ſo ſchlagen wir uns ſeitwärts in’s Gebüſch
und gelangen zu unſerm Tiſch zurück.


„Richtig, da ſitzen die Turteltäubchen!“ ruft der Pro-
feſſor. „Wie andächtig ſie dem Oberlehrer Beſenmeier
[207] zuzuhören ſcheinen und doch ganz wo anders ſind! Kurre,
kurre, kurre, Fräulein Eliſe, mein Täubchen, was hat
Ihnen denn ein gewiſſer — hm — gewiſſer „Theekeſſel“
gethan?“


„Wer?“ — fragt Lischen, die ſich dicht an die Tante
gedrängt hat und von ihr mit einem gewaltigen Tuche
umwickelt iſt, während Henriette an ihrer andern Seite
emſig ſich mit ihrer Theetaſſe beſchäftigt.


„Wer? fragſt Du!“ nehme ich das Wort. „Nun
wir begegneten eben Jemand, der ziemlich nahe am —
„Ueberkochen“ war.“


„Ach, Du meinſt den Vetter! — Pah — Der!“ —


„Nun, was hat’s gegeben? Tante Helene, hat ſie
Ihnen vielleicht ſchon ihr Herz ausgeſchüttet?“


„Nein!“ ſagt die Tante. Haben ſie ſich wieder ge-
zankt?“


„Es ſcheint ſo! Fräulein Henriette, Sie wiſſen ge-
wiß etwas Näheres davon?“


„Soll ich’s ſagen, Lischen?“ fragt kichernd Henriette,
ihre Freundin am Ohr zupfend.“


„Meinetwegen!“ ſagt Eliſe, mit einem Geſicht wie
Menſchenhaß und Reue einen Nachtſchmetterling ver-
ſcheuchend, der ihr um den Kopf flattert und mit aller
Gewalt ſich in ihren Locken fangen will.


„Er hat — Herr Guſtav hat geſagt: — wenn er
[208] ihr nicht die Tänzer ſchicke und Propaganda (ich glaube
ſo heißt’s) für ſie mache, ſo würde ſie — ihr Lebtag
außer ihm keinen kriegen. Sie müſſe daher hübſch
dankbar und zuvorkommend gegen ihn ſein und“ — —


Ein Ausruf des Entſetzens entringt ſich Allen.


„Abſcheulich!“ ruft die Tante Berg. „Finis mundi!“
lacht der Rector Dippelmann. „Schändlich!“ ächzt die
Frau Rectorin; „Gräßlich!“ die Frau Dompredigerin.
„Beim Himmel, das iſt ſtark!“ meint ihr Gemahl.
Das hätte ich nicht gedacht,“ brumm’ ich. „Daß ſoll
er büßen,“ ruft der Profeſſor Frey „und“ ....


„Er büßt es ſchon!“ — ſagt eine Stimme, und
der Uebelthäter ſchaut durch das Gebüſch hinter Eliſens
Platze. „Theilweiſe hat er es ſogar ſchon gebüßt!“ —


Mit dieſen Worten windet ſich der Blasphemiſt
vollends hervor, ſchiebt ſich ganz ſachte zwiſchen ſeine
Mutter und Eliſe, die ſchnell nach der andern Seite
rückt, wohin er ihr eben ſo ſchnell folgt. Seinen Arm
um ſie legend, hält er folgende Rede: „Lischen,
engliſche Couſine Ralff, ich beſchwöre Dich, höre mich!
— Glaubſt Du etwa ich habe, nachdem Du jenem Schau-
platz eitler Freuden den Rücken gewandt, weiter ge-
walzt? Du irrſt! Du irrſt! — Gute Werke habe ich
gethan, meine Schuld zu ſühnen: den edlen Holzmann,
— Holzmann, komm mal her und gieb mir die Schach-
[209] tel mit den feurigen Thränen! — den edlen Holzmann
habe ich aus den Klauen des racheſchnaubenden Krippen-
ſtapels gerettet; Fräulein Thekla Stichel habe ich aus
der amüſanteſten aller Lagen, oder vielmehr Sitzungen,
emporgezogen; als mitten im Contretanz dem Freiwilli-
gen Breimüller der Steg riß und ihm die Unnennbare
bis zum Knie hinaufſchnurrte, habe ich ihm eine Droſchke
herbeigepfiffen; kurz überall, wo Thränen zu trocknen
waren, war auch ich — wie geſagt — nur um meine
Schuld zu büßen. Und hier, Lischen (Holzmann gieb
mir die Schachtel), nicht allein getrocknet habe ich
Thränen, auch geſammelt habe ich welche! — Sieh,
Lischen!“ —


Einen Ausruf der Verwunderung und Freude ſtößt
Eliſe trotz ihrem Groll aus, als ihr der Böſewicht den
Inhalt ſeiner Schachtel in den Schooß ſchüttet und un-
zählige, funkelnde, leuchtende Johanniswürmer um ſie
herum kriechen und ſchwirren.


Die Lampen ſind weit genug entfernt, daß die Thier-
chen in ihrem ganzen Glanz erſcheinen können, und es
iſt wirklich ein hübſcher Anblick — dieſe beſternte Eliſe! —


„Das ſind meine Reuethränen und Du — kriegſt
Tänzer leider zu viel — ohne mich! — und ich bin
ein Theekeſſel und et cetera — Lischen?! — Lischen,
gucke mich mal an!“ —


14
[210]

„Taugenichts!“ ſagt Eliſe, dem Sünder in die
Haare greifend und — der Friede iſt geſchloſſen! — —


War denn der alte Meiſter Frey an dieſem Abend
ganz aus Rand und Band? Auf einmal verkündete er,
daß er ſeinen morgenden 69ſten Geburtstag (es war der
letzte ſeines Lebens) jetzt feiern wolle, da bei ſolchen
Gelegenheiten das Improviſiren den wahren Genuß und
Jubel hervorbringe. Das halbe Atelier machte er halb
betrunken, die ganze weibliche Welt ganz angeheitert.
Einen Kranz bekam er aufgeſetzt trotz allem Sträuben,
— einen Kranz, der nur ſo ſein mußte. Der Dom-
prediger hielt eine Rede, die „verehrter Greis“ anfing und
ähnlich endete, und Reden wurden losgelaſſen und Toaſte
ausgebracht bis zwölf Uhr. Dann erhob ſich das alte,
bekränzte Geburtstagskind, beklagte ſich über Nachtkühle
und Nachtfeuchte und — das Feſt war vorbei! — — —


Vorbei! Wo ſind heute Alle die, welche es feierten?
Todt iſt der alte Meiſter Frey, zerſtreut in alle Welt
ſind ſeine Schüler. Peter Holzmann, genannt Peter van
Laar, oder auch Bamboccio, iſt 1849 in einer römiſchen
Villa von franzöſiſchen Plünderern erſtochen, als er eine
Raphael’ſche Madonna vor ihrer Zerſtörungswuth ſchützen
wollte. Der Domprediger iſt noch immer nicht zum
Mormonenthum übergetreten und der Oberlehrer Beſen-
[211] meier hat Fräulein Julie Frey geheirathet und ſteht, —
„mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der ſchöne
Wahn entzwei,“ — fürchterlich unter dem Pantoffel.
Die Frau Rector Dippelmann knüpft noch wie immer
alle Morgen ihrem Gemahl die Halsbinde um, ſteckt
ihm das Butterbrod, in die geſtrige Zeitung ge-
wickelt, in die Rocktaſche und ſieht ihm ſtolz nach aus
dem Fenſter, wie er über die Friedensbrücke nach dem
Schimmelſtädtiſchen Gymnaſium wandelt.


Und Guſtav und Eliſe? — — — Ich werde
nachher dieſes Blatt der Chronik herübertragen zu jener
ſchönen ältlichen Frau — in No. 12 der Sperlingsgaſſe,
deren Fortepianoklänge ſich ſchon den ganzen Nachmittag
über in meine Gedanken verwoben haben. — Dann
werden wir von Guſtav und Eliſe ſprechen! —


„Hören Sie, Wachholder,“ ſagte heute Strobel,
mit den zuſammengehefteten Bogen der Chronik auf’s
Knie ſchlagend, „wenn Ihnen einmal Freund Hain das
Lebenslicht ausgeblaſen hat; irgend Jemand unter ihrem
Nachlaß dieſe Blätter aufwühlt, und er ſich die Mühe
14*
[212] giebt, hineinzuſchauen, ehe er ſie zu gemeinnützigen
Zwecken verwendet, ſo wird er in demſelben Fall ſein,
wie der alte Albrecht Dürer, der ein Jagdbild lobte,
aber ſich zugleich beklagte: er könne nicht recht unter-
ſcheiden, was eigentlich die Hunde, und was die Haſen
ſein ſollten. Sie würfeln wirklich Traum und Hiſtorie,
Vergangenheit und Gegenwart zu toll durch einander.
Theuerſter, wer darüber nicht confus wird, der iſt es
ſchon! Und wenn Sie noch Ihre Bilder einfach hin-
ſtellten, wie ein alter, vernünftiger, gelangweilter Herr
und Memoirenſchreiber! Aber nein, da rennt Ihnen Ihr
Mitarbeiterthum der „Welken Blätter“ zwiſchen die
Beine, da putzen Sie Ihre Erinnerungen auf mit dem,
was Ihnen der Augenblick eingiebt; hängen hier ein
Glöckchen an und da eins und ehe man’s ſich verſieht,
haben Sie ein Ding hingeſtellt wie — wie ein Gebäude
aus den bunten Steinen eines Kinderbaukaſtens. Das iſt
hübſch und bunt, aber — es paßt nichts recht zuſammen,
und wenn man es genau beſieht — puh! — Nehmen Sie’s
nicht übel; aber manchmal gleicht Ihre Chronik doch
dem Machwerk eines angehenden literariſchen Lichts, das
ſich mit Rouſſeau getröſtet hat: Avec quelque talent
qu’on puisse être né, l’art d’écrire ne s’apprend
pas tout d’un coup
“ —


Ich hatte dieſer langen Rede des Karikaturenzeich-
[213] ners geduldig zugehört, jetzt ſagte ich, während ich er-
boſt meine Pfeife ausklopfte: „Sie haben vor einiger
Zeit verſprochen, ein Mitarbeiter meiner Chronik wer-
den zu wollen, ich nehme Sie jetzt nach Ihrer ſo tief
eingehenden Kritik ſogleich beim Wort und — laſſe Sie
mit Dinte, Feder und Papier allein, daß Sie Ihren
Beitrag derſelben auf der Stelle anhängen. Der einſt
Confuswerdende mag auch von Ihnen etwas mit auf-
wühlen. Guten Abend!“


Der Karikaturenmaler lachte, ſagte „fiat“ und be-
gann eine Feder zu ſchneiden, während ich Hut und
Stock nahm und abzog mit dem Gefühl eines Men-
ſchen, der eine belebte Straße hinabzieht unter der feſten
Ueberzeugung, daß ihm hinten ein ungreifbares, ellen-
langes Band von Vorhemde über den Rockkragen bau-
melt. „Und Recht hat er doch!“ brummte ich, indem
ich die Treppe herabſtieg. „Wenn nur die Liſe erſt
wieder da wäre! Komm zurück, Schlingel von Guſtav
und bringe ſie mit, daß Euer alter Onkel ruhig wieder
an ſeinem Werke de vanitate weiter ſchreiben kann!“


Damit trat ich aus dem Hauſe und zog eben die
Handſchuh an, als ſich oben mein Fenſter öffnete, der
Karikaturenzeichner den Kopf herausſteckte und her-
unter rief:


„Hören Sie, alter Herr, ich kann Sie ſo nicht
[214] weggehen laſſen — ich habe Gewiſſensbiſſe und muß
erſt Oel in Ihre Wunden gießen! Hören Sie, meine
Tante theilt die Bücher in zwei Arten: gute, über
welchen ſie nach Tiſch einſchlafen kann, und ſchlechte, bei
denen das nicht geht. Ihre Chronik würde ſie unter
die erſteren rechnen, wenn ſie, aufgewühlt, ihr in die
Hände fallen ſollte. Adieu!“


Ich wandte dem unverſchämten Geſellen lachend den
Rücken und marſchirte ab.


Ich bin zurückgekommen von meinem Spaziergang
und ſitze wieder allein und einſam vor den zerſtreuten
Bogen meiner Chronik. Der Karikaturenzeichner hat
wirklich ein Blatt vollgekritzelt, alle meine Federn ver-
dorben, einen Dintenklex auf den Fußboden gemacht,
meinen Siegellackvorrath zerbiſſen, zerdreht und zer-
brochen und — eine Ecke von meinem Schreibtiſch ab-
geſchnitzelt. — Er hat mir faſt die Fortſetzung der Auf-
zeichnung meiner Phantaſien verleidet, — und es war
doch ſo ſüß, wenn der Blick an irgend einen Gegen-
ſtand meines Zimmers, dort an jenes kleine, leere Meſ-
[215] ſingbauer, an jenen Seſſel vor dem Nähtiſchchen, an
ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte
Zeichnung in meiner Mappe, ſich feſt hing, und allmäh-
lig eine Erinnerung nach der andern aufſtieg und ſich
blühend und grünend darumſchlang. Wir ſind doch
thörichte Menſchen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor
dem Lächerlichwerden unſere innigſten, zarteſten Gefühle!
Man ſchämt ſich der Thräne und — ſpottet; man ſchämt
ſich des fröhlichen Lachens und — ſchneidet ein lang-
weiliges Geſicht; die Tragödien des Lebens ſucht man
hinter der komiſchen Maske zu ſpielen, die Komödien
hinter der tragiſchen; — man iſt ein Betrüger und Selbſt-
quäler zugleich! — Mit einem Kinderbaukaſten verglich
Strobel dieſe bunten Blätter ohne Zuſammenhang? Gut,
gut, — mag es ſein, — ich werde weiter damit ſpielen,
weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern
ſind, welche mir die farbigſten Steine dazu lieferten?
Ich werde von der Vergangenheit im Präſens und von
der Gegenwart im Imperfectum ſprechen, ich werde
Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem
Märchen machen und zuerſt — die bekritzelten Blätter des
Meiſters Strobel der Chronik anheften! Hier ſind ſie:
Strobeliana.


3 Uhr. Ich habe mir eine Cigarre angezündet, den
Bogen neben mich in’s Fenſter gelegt und beginne meine
[216] Beobachtungen. Zuerſt bringe ich zu Papier natürlich
das Wetter: das holdſeligſte Himmelblau, den präch-
tigſten Sonnenſchein. Hätte ich nur einen Funken poeti-
ſchen Feuers in mir, ſo würde ich mir beide durch ein
junges, ſchönes Paar perſonifiziren, welches da hoch
oben im Himmelszelt auf ſeinem weißen, weichen Wol-
kendivan tändelt und koſ’t und total vergeſſen hat, daß
noch ſo viel hunderttauſend deutſche Hausfrauen auf —
Märzſchnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da
iſt ja eine Fliege! Welch’ ein Fund für einen Chroniken-
ſchreiber! Summend ſtößt ſie gegen die ſonnebeſchiene-
nen Scheiben, die wir ſchnell ſchließen wollen, um das
arme Thierchen zu ſeinem Beſten vor dem heuchleriſchen
Frühling da draußen zu bewahren. Sie ſcheint auch
jetzt ihre Thorheit einzuſehen, ſie läßt ab und umfliegt
mich. Halt, jetzt ſetzt ſie ſich auf meine Knie, nach
mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Naſenſpitze;
ſie nimmt den Kopf zwiſchen beide Vorderbeine, kratzt
ſich hinter den Ohren und — — — kleiner ....! —
Dahin geht ſie, eine Spur hinterlaſſend auf meinem
Knie und — in der Chronik der Sperlingsgaſſe. Ich wollte,
es gäbe ein Sprichwort: „Schämt Euch vor den Fliegen
an der Wand.“ Um wie viel menſchliche Tollheiten und
Thorheiten ſchnurren dieſe winzigen Flügelweſen! Wer
weiß, was der Punkt, den der kleine Touriſt da eben
[217] niedergelegt hat, eigentlich bedeutet! Wer weiß, ob es
nicht ein deponirtes Tagebuch iſt, voll der geiſtreichſten
Bemerkungen; ein Tagebuch, das man nur aufzurollen
und zu entziffern brauchte, wie einen egyptiſchen Papy-
rus, um wunderbare, unerhörte Dinge zu erfahren.
Welch’ eine Revolution würde es hervorbringen, wenn
dem ſo wäre; wenn man ſich vor den Fliegen an der
Wand ſchämen müßte! Wie würden die Fliegenklatſchen
in Gang kommen. Arme Fliegen! Kein „redlicher Greis
in geſtreifter kalmankener Jacke“ würde euch mehr ver-
ſchonen „zur Wintergeſellſchaft.“ Wie den Vogel Dudu
würde man euch ausrotten und höchſtens — einige in
Uniform geſteckt, mit einer Cocarde auf jedem Flügel,
als Regierungsbeamte beſolden. Es wäre ſchrecklich, und
ich breche ab. — — —


Uhr. — Welche Reiſegedanken dieſer blaue Him-
mel ſchon wieder in mir erweckt! An ſolchen Vorfrüh-
lingstagen, wo der Geiſt die Laſt des Winters noch nicht
ganz abgeſchüttelt hat, iſt’s, wo die Sehnſucht nach der
Ferne uns am mächtigſten ergreift. Es iſt ein ſonder-
bares Ding um dieſe Sehnſucht, die wir nie verlieren,
ſo alt wir ſein mögen. Da zupft Etwas an unſerm
tiefſten Innern: Komm heraus, komm heraus, was ſitzeſt
Du ſo ſtill Du Thor und hältſt Maulaffen feil? Hier
findeſt Du nicht, worüber Du grübelſt, wonach Du Dich
[218] ſehnſt, ohne es zu kennen. Sieh’ wie blau, wie duftig
die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus,
heraus! —


Bah, dieſe blaue duftige Ferne; wie oft hab’ ich mich
von ihr verlocken laſſen. Die Erde läßt uns ja nicht
los; wir ſind ihre Kinder, und ſie iſt nichts ohne uns,
wir nichts ohne ſie. — Folge jetzt der lockenden Stimme,
Deine Füße werden ſchon in den weichen Boden verſin-
ken, närriſche Sprünge wirſt Du mit den Erdklößen an
den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn-
ſucht am ſtärkſten iſt, auch die Feſſeln am ſtärkſten ſind;
kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die geſtrige
Zeitung vor die Naſe: das Glück liegt nicht in der Ferne,
nicht über dem „wechſelnden Mond!“ —


Uhr. — Da höre ich eben unten in der Gaſſe
eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage-
löhners, der einen andern, ſehr übelgelaunt Ausſehenden,
mit den Worten auf die Schulter klopft: „Man muß
nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, ſo kommt’s doch
ſchlecht heraus
!“ In demſelben Augenblick öffnet ſich
nebenan ein Fenſter. Eine beſchmierte rothe Sammet-
mütze auf einem Wald ſchwarzer Haare beugt ſich heraus;
es iſt mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tour-
billon,
ſeines Zeichens ein franzöſiſcher Sprachlehrer.
Er ſcheint die Redensart drunten auch gehört und —
[219] verſtanden zu haben und gähnt: „Ah, ouf quelle bête
allemande! Eh vogue la galère, — jusqu’à la mort
tout est vie!“


Da habt ihr die beiden Nationen und ..... Wet-
ter, — da gebe ich nicht Acht und — meine Fliege von
vorhin entſchlüpft ſummend aus dem wiedergeöffneten
Fenſter! Nie mehr wird ſie meinen Freund Wachholder
umſchwirren, niemehr auf dem Rande der Zuckerdoſe
umherſpazieren oder gegen die Scheiben ſtoßen! Sie
hat, was ſie wollte — unbegrenzte Freiheit, aber ach —
heute Abend — keinen warmen Ofen mehr, ſich daran
zu wärmen; in den Rinnſteinen der Sperlingsgaſſe fließt
weder Milch noch Honig! — Verflucht ſei die Freiheit!
Amen! —


Uhr. Die meiſten Dichterwerke der neuſten Zeit
gleichen dem Bilde jenes italiſchen Meiſters, der ſeine
Geliebte malte, als Herodias, und ſich in dem Kopfe
des Täufers auf der Schüſſel portraitirte. Da pinſeln
uns die Herren ein Weibsbild, Tendenz genannt, hin,
welches anzubeten ſie heucheln, und welches auf dem Prä-
ſentirteller, hochachtungsvoll und ergebenſt, uns das ver-
zerrte Haupt des werthen Schriftſtellers ſelbſt überreicht.
Die Nützlichkeit ſolchen Treibens läßt ſich nicht ab-
ſtreiten, alſo — nur immer zu! — Wie komm’ ich
darauf?


[220]

4 Uhr. — Es iſt merkwürdig; ſeit ich dieſes Blatt
bemale, iſt dieſelbe Traumſeligkeit über mich gekommen,
die dieſer Chronik ein ſo zerfetztes, zerlumptes Anſehen
gegeben hat. Wachholder hat Recht, es iſt ein eigen-
thümlich-behagliches Gefühl, ſeinen Gedankenſpielen ſich
ſo ganz und gar hinzugeben, ohne ſich Geiſt-heraus-
quälend im Kreiſe zu drehn, wie ein hartleibiger
Pudel. — —


Wo war ich eben, als das Kindergeſchrei drunten
auf der Straße mich aufweckte? Ich will verſuchen, es
der Chronik einzuverleiben, worin zugleich für meinen
ehrenwerthen Freund Wachholder die größte Genugthuung
für meine vorigen Reden liegen wird:


Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als
ich auf Braunſchweig’ſchem Grund und Boden am Ufer-
rand der Weſer lag und hinüberſchaute nach dem jenſei-
tigen Weſtphalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich,
über Berg und Thal ſtreifend, mit dem erſten Strahl
im Oſten, in ein gleichgültiges Dorf hinabgeſtiegen. Ich
hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem Dorf-
krug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens
im Dorf belauſcht und andächtig der kleinen Glocke zu-
gehört, die in dem ſpitzen ſchiefergedeckten Kirchthurm
läutete. Manchem hübſchen, drallen, niederſächſiſchen Mäd-
chen, das ſich über den ſonderbaren, plötzlich in’s Dorf
[221] geſchneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zuge-
nickt; ich hatte Bekanntſchaft mit der geſammten Kinder-,
Hühner-, Gänſe- und Enten-Welt des „Krugs“ gemacht,
dem weißen Spitz den Pelz geſtreichelt und manche Frage
über „Woher und Wohin“ beantwortet. Mit meinem
Wirth, (der zugleich Ortsvorſteher war), hatte ich das
Bienenhaus beſucht; darauf die Gemeinde, den Cantor
und Paſtor in die Kirche gehen ſehen, und hatte mich
zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur
umgeben von der quackenden, pipſenden, geflügelten
Schaar des Federviehs. Aus dieſem ſüßen dolce far
niente
hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes
aufgeſchreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir, und
bewog mich aufzuſtehen und in das niedere, vom Wein-
ſtock umſponnene Fenſter zu ſchauen. Eine alte Frau
war eben beſchäftigt, einen widerſpänſtigen, heulenden,
ſtrampelnden Bengel von vier Jahren mit Waſſer, Seife
und einem wollenen Lappen tüchtig zu waſchen, wel-
cher Procedur drei bis vier andere kleine „Blaen“
angſtvoll zuſahen, wartend bis die Reihe an ſie kommen
würde. —


„Nun Mutter,“ ſagte ich, mich auf die Fenſterbank
lehnend; „und Ihr ſeid nicht in der Kirche?“


Die Alte ſah auf und ſagte lachend: Et geit nich
immer; ek mott düſſe lüttgen Panzen waſchen und an-
[222] trecken. — Herre — Kinderſchrieen is ok een Geſang-
bauksverſch!“ —


Ich nahm den Hut ab und trat unwillkührlich einen
Schritt zurück. Welch’ eine wunderbar ſchöne Predigt
lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine
Schwalbe beſchrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem
Neſte unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte
ſich, ihre Beute im Schnabel, an die Thür ihrer kleinen
Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitſcher der
federloſen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort
mehr ſagen. —


„Kinderſchrieen is ok een Geſangbaukverſch!“ murmelte
ich leiſe, zu meinem Tiſch unter der Linde zurückgehend.
Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftaſche, ſchrieb darauf:
Kinderſchrieen is ok een Geſangbauksverſch, und zog es
mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.


Träumend ſchritt ich dann durch die Thür des Dorf-
kirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu
dem offnen Kirchthor (auf dem Lande braucht der Pro-
teſtantismus ſeine Kirchen während des Gottesdienſtes
noch nicht zu ſchließen) und lehnte andächtig an der
Eſche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der
junge Paſtor eine Gellert’ſche Fabel in das Gleichniß
aus dem fernen Orient ſchlang; während die Schwalben
in dem heiligen Gebäude hin und her ſchoſſen und ein
[223] verirrter Schmetterling ſeinen Weg durch die geöffnete
Kirchthür eben wieder zurück fand.


„Kinderſchrieen is ok een Geſangbauksverſch!“ rief
ich, über die niedere Mauer in das freie Feld ſpringend,
und durch die gelben Kornwogen mit ihrem Kranz von
Flatterroſen am Rande, der Weſer zuwandernd. Da
hatte ich mich in’s Gras unter einen Weidenbuſch ge-
worfen und träumte in das Murren des alten Stromes
neben mir hinein; während drüben im katholiſchen Lande
eine Prozeſſion ſingend den Capellenberg zu dem Marien-
bild hinaufzog und hinter mir die proteſtantiſchen Orgel-
töne leiſe verklangen. Welch’ ein wundervoller, blauer, lä-
chelnder Himmel über beiden Ufern, über beiden Religio-
nen; welch’ eine wogende Gefühlswelt im Buſen, anknüpfend
an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals
jünger als jetzt und legte das Geſicht in die Hände:
„Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
„Ich habe keinen Namen
„Dafür! Gefühl iſt Alles“ — — — —


Ein näher kommender Geſang weckte mich plötzlich;
ich ſchaute auf. Brauſend und ſchnaufend, die gelben
Fluthen gewaltig peitſchend, kam der „Hermann“ die
Weſer herunter. Der Kapitain ſtand auf dem Räder-
kaſten und griff grüßend an den Hut, als das Schiff
vorbeiſchoß. — — Hunderte von Auswandrern trug der
[224] Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einſt
ſo viele Römerleichen der Nordſee zugewälzt hatte. Ein
Männerchor ſang: „Was iſt des Deutſchen Vaterland,“
und die alten Eichen ſchienen traurig die Wipfel zu ſchüt-
teln; ſie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das
Schiff flog weiter. Die Weſer trägt keine fremde Lei-
chen mehr zur Nordſee hinab; wohl aber murrend und
grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter!
— Ich verließ meine Stelle und ging durch den Buchen-
wald den nächſten Berg hinauf bis zu einer freien Stelle,
von wo aus der Blick weit hinausſchweifen konnte in’s
ſchöne Land des Sachſengau’s. Welch’ eine Stelle deut-
ſcher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge — der Teuto-
burger Wald! Dort jene ſchlanken Thürme — die große
germaniſche Culturſtätte, das Kloſter Corvey! Dort
jene Berggruppe — der Ith! cui Idistaviso nomen
ſagt Tacitus. Ich bevölkerte die Gegend mit den Ge-
ſtalten der Vorzeit. Ich ſah die achtzehnte, neunzehnte
und zwanzigſte Legion unter dem Proconſul Varus gegen
die Weſer ziehen, und lauſchte ihrem fern verhallenden To-
desſchrei. Ich ſah den Germanicus denſelben Weg kom-
men und lauſchte dem Schlachtlärm am Idiſtaviſus; bis
der große Arminius, der „turbator Germaniae“ durch
die Legionen und den Urwald ſein weißes Roß ſpornte,
das Geſicht unkenntlich durch das eigene, herabrieſelnde
[225] Blut, geſchlagen, todmüde. Ich ſah, wie er die Cherusca
von Neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die „urbs“;
wie das Volk zu den Waffen griff: pugnam volunt,
arma rapiunt: plebes, primores, juventus, senes!


Aber wo iſt denn die Puppe? kam mir damit plötzlich
in den Sinn. Ich ſchleuderte den Tacitus in’s Gras,
ſtellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, ſo lang
als möglich, und ſchaute hinüber nach dem Teutoburger
Walde. Da eine vorliegende „Bergdruffel,“ (wie Joach.
Heinr. Campe ſagt) mir einen Theil der fernen blauen
Höhen verbarg, gab ich mir ſogar die Mühe, in eine
hohe Buche hinaufzuſteigen, wo ich auch das Fernglas
zu Hülfe nahm. Vergeblich; — nirgends eine Spur vom
Hermannsbild! Alles, was ich zu ſehen bekam, war der
große Chriſtoffel bei Caſſel und mit einem leiſen Fluch
kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug.
Hatte ich aber eben einen leiſen Segenswunſch von mir
gegeben, ſo ließ ich jetzt einen um ſo lautern los. Ich
ſah ſchön aus! „Das hat man davon,“ brummte ich,
während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten Dau-
men ſog, „das hat man davon, wenn man ſich nach
deutſcher Größe umguckt: einen Dorn ſtößt man ſich in
den Finger, die Hoſen zerreißt man, und zu ſehen kriegt
man nichts als — den großen Chriſtoffel.“ Aergerlich
ſchob ich mein Fernglas zuſammen, ſteckte den Tacitus
15
[226] zurück in die Taſche und ging hinkend den Berg hin-
unter, wieder der Weſer zu. Aergerlich warf ich mich,
am Rande des Fluſſes angekommen, abermals in’s Gras.
Was hatte ſich Alles zwiſchen die gefühlsſelige Stim-
mung von vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt!
Der Himmel war noch eben ſo blau, die Berge noch
eben ſo grün, der Papierſtreifen von vorhin ſteckte noch
neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch —
wie verändert ſchaute mich das Alles an! Hätte das
Dampfſchiff mit ſeinen Auswanderern nicht ſpäter kom-
men können, da es doch ſonſt immer lange genug auf
ſich warten läßt?! Hätte ich Narr nicht unterlaſſen
können, nach dem Hermannsbild auszuſchauen? Wie
ruhig könnte ich dann jetzt im Graſe meinen Mittags-
ſchlaf halten, ohne mich über den großen Chriſtoffel, den
ſo viele brave Chatten mit ihrem Blute bezahlt haben,
zu ärgern! — Ich verſuchte mancherlei, um meinen
Gleichmuth wieder zu gewinnen; ich kitzelte mich mit ei-
nem Grashalm am Naſenwinkel, ich portraitirte einen
dicken, gemüthlichen Froſch, der ſich unter einem Kletten-
buſch ſonnte, — es half Alles nichts! — Der Dämon
Mißmuth ließ mich nicht los, wüthend ſprang ich auf,
ſchrie: Hole der Henker die Wirthſchaft! und marſchirte
brummend auf Rühle zu — — — — — — — —
Wetter, was iſt das für ein Lärm in der Sperlings-
[227] gaſſe?! Heda, — da iſt ein Hundefuhrwerk in einen
Victualienkeller herabgepoltert und ich — ich der Kari-
katurenzeichner Ulrich Strobel ſitze hier und ſchmiere Un-
ſinn zuſammen! — Hol’ der Henker auch die Chronik
der Sperlingsgaſſe! — Adieu Wachholder! — —


Es giebt ein Märchen — ich weiß nicht, wer es
erzählt hat — von Einem, der nach großem Unglück ſich
wünſchte, die Erinnerung zu verlieren, und dem in einer
dunkeln Nacht ſein Wunſch gewährt ward. Er empfand
von da an keinen Schmerz, keine Freude mehr; er ver-
lernte zu weinen und zu lachen; es ward ihm einerlei,
ob er Blumenknospen oder Menſchenherzen zertrat: alles
das hübſche Spielzeug, welches das Leben ſeinen Kindern
mitgiebt auf ihrem Wege von der Wiege bis zum Grabe,
zerbrach ihm in den Händen mit der Erinnerung. Das
iſt ein ſchrecklicher Gedanke! — Ihr Weiſen und Predi-
ger der Völker, nicht der Gedanke an Glück oder Unheil
in der Zukunft iſt’s, der liebevoll, rein, heilig macht;
nie iſt dieſer Gedanke rein von Egoismus und über
jede Blüthe, die das Menſchenherz treiben ſoll, legt er
15*
[228] den Mehlthau der Selbſtſucht: die wahre lautere Quelle
jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, iſt die traurig
ſüße Vergangenheit mit ihren erloſchenen Bildern, mit
ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen.
Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß
er einſt ſelbſt ſich an die Mutterbruſt geſchmiegt, daß
ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin-
nerung iſt das Gewinde, welches die Wiege mit dem
Grabe verknüpft, und mag das dunkle ſtachlige Grün
des Leidens, des Irrthums, noch ſo vorwaltend ſein;
niemals wird’s hier und da an einer hervorleuchtenden
Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüſtern
können: „Wie lieblich und heilig iſt dieſe Stätte!“ —


Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume
wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die
ältliche freundlich-ſchöne Frau, die mir heute den Strauß
junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen
ihrer Melodien ſich ſchaukeln läßt, kann ich ja nur auf
dieſe Weiſe feſthalten. — Ich habe bis jetzt Bilder
gezeichnet aus unſerer Kinder Kinderleben, heute will
ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau-
berſpiegel voll blühenden Lebens, voll ſüßen Flüſterns,
voll träumenden Sehnen’s und lächelnden Träumens, —
ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh-
lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!


[229]

„O daß ſie ewig grünen bliebe,“
„Die ſchöne Zeit der jungen Liebe!“

ſang der Dichter und überall treffen wir den Spruch an,
auf Kaffee-Taſſen, in Stammbüchern und auf Pfeifen-
köpfen. Das ſoll kein Spott ſein! Was das Volk er-
faßt hat, will es auch vor ſich ſehen, es ſpielt mit ihm,
es ſpricht den gereimten Gedanken, den es zu ſeinem
Eigenthum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf
den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im
Herzen. Das Volk ſteigt nicht zu dem Wahren und
Schönen hinauf, ſondern es zieht es zu ſich herab; aber
nicht, um es unter die Füße zu treten, ſondern um es zu
herzen, zu liebkoſen, um es im ewig wechſelnden Spiel
zu drehen und zu wenden und ſich über ſeinen Glanz zu
wundern und zu freuen. Ueber der Wiege des ewigen
Kindes „Menſchheit“ ſchweben die guten Genien, die
großen Weltdichter, ſchütten aus ihren Füllhörnern die
goldenen Weihnachtsfrüchte herab, und ſind mit ihren
Wiegenliedern ſtets da, wenn häßliche ſchwarze Kobolde
erſchreckend dazwiſchen gelugt haben. — —


Schön iſt die Zeit der jungen Liebe! Sie iſt gleich
der Morgendämmerung, wo der Himmel im Oſten leiſe
ſich röthet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem
kommenden Tage in die Arme ſchlummern, und nur hin
und wieder eine Lerche, den Thau von den Flügeln ſchüt-
[230] telnd, jubelnd, glückverkündend emporſteigt. Noch be-
deckt der Nebelduft zauberhaft, geheimnißvoll alle Ab-
gründe und öden Stellen des Lebens; die jungen Herzen
glauben nur Blumen und flatternde Schmetterlinge und
bunte neſterbauende Vöglein unter dem Schleier der Zu-
kunft verborgen.


„Süßes Geliebtſein, ſüßeres Lieben!“ hat ein anderer
Dichter einmal ausgerufen, und ich ein alter, einſamer
Mann bedecke die Augen mit der Hand, denke an die
Gräber auf dem Johanniskirchhof, denke an den Stern
meiner Jugend: „Maria!“ — — — — — — — —
Würde ich dieſe Erinnerung mit all’ ihrem Schmerz, für
der ganzen Welt Macht, Reichthum, Weisheit laſſen?
— — — — Ich glaube nicht. —


Der Mond kommt wieder hervor über die Dächer
und vermiſcht ſein weißes Licht mit dem kleinen Schein
meiner Lampe; über und durch das alte immergrüne
Epheu aus dem Uhlfeldener Walde ſchießt er ſeine blanken
Strahlen, ſeltſame Schatten auf den Fußboden und an
die Wände werfend. Mit ſich bringt er das heutige
Blatt der Chronik der Sperlingsgaſſe.


Dort auf dem Stühlchen im Fenſter zeichnet ſich die
feine liebliche Geſtalt Eliſens dunkel in der Mond-
dämmerung eines lange vergangenen Abends ab; währ end
[231] auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere
Geſtalt ſitzt. Was haben die Beiden ſo heimlich, ſo
leiſe ſich zuzuraunen, was haben ſie zu kichern? Ein
Garnknäuel, das von Lischen’s Nähtiſch fällt und über den
Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine ſich ſchlingt;
ein verirrter Nachtſchmetterling, eine vorbeiſchießende Fle-
dermaus, ein Ball, der von der Straße in’s Zimmer
fliegt, und über deſſen Herausgabe Guſtav mit dem un-
vorſichtigen Beſitzer kapitulirt alles, alles wird in die-
ſer Mondſcheindämmerung zu einem Märchen, zu einem
Traum. Iſt nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen;
iſt nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des
Traums? —


„Liebe kleine Eliſe!“ flüſtert Guſtav, in das mond-
beglänzte zu ihm ſich herabbeugende Geſicht ſchauend.


„Lieber großer Junge!“ lächelt Eliſe, indem ſie dem
vormaligen Taugenichts der Gaſſe die Locken aus
der Stirn ſtreicht. Sie ſagen einander weiter nichts,
aber dieſe abgebrochenen Worte enthalten Alles, was
das Menſchenherz in ſeinen heiligſten Augenblicken
bewegt.


„Ich liebe Dich ſo!“ flüſtert Guſtav wieder, worauf
Eliſe nichts erwidert, ſondern den Kopf in die Blätter
ihres Epheu’s verbirgt. Der Mond kann ſich in dieſem
Augenblick wahrſcheinlich in einem flimmernden Perlen-
[232] tröpfchen, das in einem blauen Auge hängt, ſpiegeln, und
als das Köpfchen ſich wieder erhebt aus dem grünen
Blätterwerk, iſt an Guſtav die Reihe, Eliſe die Locken
aus der Stirn zu ſtreichen.


„Sieh, wie der Mond da oben ſchwimmt,“ ſagt
Eliſe. „Warum macht er uns oft ſo tiefes Heimweh,
als ob wir hier auf der Erde gar nicht recht zu Hauſe
wären, Guſtav? Sieh, da iſt nur noch ein einziger,
kleiner Stern, mutterſeelenallein, wie ein goldener Fun-
ken. Sieh, — rechts vom Monde!“


„Ich ſehe noch zwei!“ ſagt Guſtav. „Ganz nah’,
und habe darum auch gar kein Heimweh und — willſt
Du wohl wieder die Augen aufmachen, Blondkopf! —
Sieh, das haſt Du davon; was ich noch Weiſes ſagen
wollte, hab’ ich nun rein vergeſſen!“


„Dann war’s gewiß eine Lüge, Braunkopf!“ meint
Eliſe lachend. „Und nun ſteh’ auf, der Onkel und die
Tante ſitzen da den ganzen Abend im Dunkeln; — es
iſt ſehr unrecht, daß wir uns gar nicht darum beküm-
mern. Komm, wir müſſen wirklich zuſehen, ob ſie nicht
eingeſchlafen ſind.“


Gewiß waren ſie nicht eingeſchlafen. Nur das Spinn-
rad der alten Martha hatte aufgehört zu ſchnurren und
ſchlummernd ſaß ſie in ihrem Winkel.


„Soll ich Euch Licht anzünden, oder — ſollen wir
[233] wieder einmal einen Mondſcheingang machen?“ fragt
Eliſe, mir den Arm um die Schulter legend.


Euch?“ fragt die Tante Helene. Warum denn
nur „Euch“ Licht anzünden?“


„Das will ich Dir ſagen, Mama,“ miſcht ſich Guſtav
ein. Du kannſt bekanntlich keine Mäuſe ſehen, und
da es ſeit einiger Zeit hier beim Onkel Wachholder
ordentlich von ihnen wimmelt, ſo ſind wir Deinetwegen
ſo aufopfernd, im Dunkeln zu ſitzen.“


„Waren das etwa Mäuſe, was wir da am Fenſter
knuspern und pispern hörten?“ frage ich.


„Ich habe nichts gehört!“ ſagt Lischen treuherzig,
während Guſtav: „Verſteht ſich!“ ruft und den Inhalt
eines Obſtkörbchens in ſeine Taſchen ausleert.


„Was machſt Du da, Mäuſekönig?“ fragt ſeine
Mutter.


„Ich verproviantire mich zu unſerer Mondſcheinfahrt,
Mama; Lischens Frage war natürlich höchſt überflüſſig.
Da, Liſe, nimm den Reſt — ich kann nicht mehr laſſen!“


Eliſe läßt ſich das nicht zweimal ſagen und ſcheint
in der That ihre Frage für unnöthig zu halten. Nach
einigen Einwendungen der Tante wegen kalter Abend-
luft u. ſ. w. machen wir uns auf, hinaus in die Som-
mermondſcheinnacht! —


Die ſcharfen Schatten auf dem Pflaſter und an den
[234] Häuſerwänden, das Glitzern der Fenſterſcheiben, die
ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel,
die flüſternden Gruppen in den Hausthüren und an den
Straßenecken, — alles wird nun zu einem Bilde für
Guſtav, zu einem Märchen für Eliſe. Da beleben ſich
die Straßen, Gaſſen und Plätze mit den wunderſamſten
Geſtalten; auf den Eckſteinen lauern, zuſammengekauert,
grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Thorwegen der
alten Patrizierhäuſer treten ſeltſame Geſellen mit nicken-
den Federn und weiten Mänteln, und ſchöne Damen be-
ſteigen weiße Zelter, in die Nacht davon reitend; Söld-
ner im Harniſch, die Partiſanen auf den Schultern,
ziehen über den Markt; Prozeſſionen vermummter Mönche
winden ſich langſam aus dem Domportal und — alles
liegt morgen in den hübſcheſten Scizzen feſtgebannt,
auf Eliſens Nähtiſchchen oder treibt ſich auf dem Fuß-
boden umher.


Natürlich ſind Guſtav und Eliſe immer einige Schritte
uns voraus, und nur von Zeit zu Zeit kann ich abge-
riſſene Sätze ihrer Unterhaltung erfaſſen. Ich denke an
Paul und Virginie unter den Palmbäumen von île de
France;
ich denke an die beiden ſüßen Geſtalten des
deutſchen Märchens, an Jorinde und Joringel, von
denen es heißt: „Sie waren in den Brauttagen, und ſie
hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.“ — Nach-
[235] dem wir manche Straße durchſtreift und vor dem er-
leuchteten Opernhauſe die ein- und ausſtrömende Menge,
die harrenden Equipagen, die Blumen und Zuckerwerk
verkaufenden Kinder betrachtet haben, finden wir uns
zuletzt auf dem Schloßplatz, an dem Becken des luſtig
im Mondſchein ſprudelnden Springbrunnens zuſammen.
Von den Raſenplätzen bringt ein warmer Luftzug den
Duft der Nachtviolen, der Holunder- und Goldregen-
büſche zu uns herüber; am ſüdlichen Himmel wetter-
leuchtet eine dunkle Wolke prächtig in die Mondnacht
hinein und neben uns plätſchert und murmelt — als
wolle er ſich ſelbſt in den Schlaf ſprechen — der Spring-
brunnen. Es iſt eine herrliche Sommernacht!


Woran denkt Eliſe? Wie nachdenklich ſie, das Kinn in
die Hand gelegt, dem ſchwatzenden Waſſerſpiel zuſchaut!


„Lischen, woran denkſt Du?“ fragt die Tante Helene.


„Ihr würdet lachen,“ antwortet Eliſe. „Es iſt ein
Traum und ein Märchen.“


„Erzählen! erzählen!“ ruft Guſtav den Arm ihr um
die Hüfte legend.


Was ſoll ich anfangen heute an dieſem einſamen
Abend; ich ergreife ein Heftchen von blaßrothem Papier,
[236] bedeckt mit mädchenhaft zierlichen Schriftzügen, durch-
woben mit hübſchen, feinen Federzeichnungen. Da iſt’s!
So erzählte Eliſe an jenem fernen Abend, als der Brun-
nen neben uns plätſcherte:


„Ich ſaß neulich mal des Abends ganz allein. Du
warſt ausgegangen, Onkel; Guſtav war am Morgen
ſchon mit ſeiner großen Mappe abgezogen, um Bäume
und Bauerhäuſer zu zeichnen; wo die Tante war, weiß
ich nicht; kurz, ich war mutterſeelen allein und nur
mein guter, dicker Kater ſchnurrte auf der Fußbank
neben mir und putzte ſich den Schnauzbart. Ich hatte
eine Menge Augen an meinem Strickzeug fallen laſſen
und durchaus keine Luſt, ſie wieder aufzunehmen. So
ſchrob ich denn die Lampe tief herunter und ſchaute aus
dem Fenſter in den Mond, der nicht ganz ſo voll wie
heute über die Dächer und Schornſteine herauf kam.
Es war ganz dämmerig in der Stube und nur zuweilen
tanzte ein Lichtſchein aus den Fenſtern drüben über die
Wände. Da plötzlich war der Mond hoch genug, —
ein glänzender, luſtiger Strahl ſchoß wie ein weißer
Blitz über meinen Topf mit Nachtviolen und ein Glas
mit Waldblumen, welches neben mir ſtand und — mit
ihm kam mein Märchen oder mein Traum. Es war zu
hübſch! — Zuerſt guckte ich eine ganze Weile in die
glänzende Straße auf dem Boden, die immer weiter
[237] rückte, als — auf einmal — Ihr glaubt’s gewiß
nicht, — der ganze Strahl von unzähligen, klei-
nen, zierlichen, durchſichtigen Flügelgeſtalten lebte, die
darin auf und abſchwebten und durch ihren Glanz ſelbſt
die Bahn bildeten. Halb erſchrocken und halb erfreut,
ſchaute ich dieſem wunderſamen Weben zu; als plötzlich
das Blumenglas im Fenſter einen ſchrillen, langanhal-
tenden Ton, wie er entſteht, wenn man mit dem Finger
um den Rand eines Glaſes ſtreift, von ſich gab. Das
Waſſer darin hob und ſenkte ſich, blitzte, funkelte und
bewegte die Waldroſen hin und her; die Blüthen der
Nachtviolen öffneten ſich und aus jeder ſchwebte eben-
falls ein zierlich geflügeltes Weſen, faſt noch feiner als
die Lichtgeiſterchen. Nach allen Seiten flatterten ſie,
den köſtlichſten Duft verbreitend. Während deſſen tönte
der ſchrille Ton des Glaſes fort, bis er mit einem Male
aufhörte, gleich einem Faden durchſchnitten, worauf
eine tiefe Stille eintrat. — Jetzt hatte der Mondſtrahl
Deinen Schreibtiſch erreicht, Onkelchen; das kleine Gei-
ſtervolk tanzte luſtig über Deinen Büchern und Papieren
und ſoweit hatte ich mich ſchon von meiner Verwunde-
rung erholt, daß ich herzlich über die ſonderbaren Ka-
priolen einiger der winzigen Dingerchen lachen konnte,
die auf alle Weiſe ſich bemühten, in unſer großes Din-
tenfaß zu gucken, ohne den Muth zu haben, ſich in die
[238] Nähe zu wagen. Andere wieder ſchwebten über den
Federn und noch andere machten ſich um einen recht
dicken, abſcheulichen Dintenklex zu ſchaffen; ſie ſchienen
ihm das Lebenslicht mit aller Macht ausblaſen zu wollen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dieſen zauberiſchen Weſen
zugeſehen hatte, als eine Menge feiner Stimmchen:
Folge! Folge! rief und ich plötzlich, immer kleiner wer-
dend, endlich ſelbſt als ein ſolches geflügeltes Figürchen,
in den Tanz gezogen wurde und mit den Geiſtern des
Mondlichts und den Duftgeiſtern der Waldblumen und
der Nachtviolen langſam dem Fenſter zuſchwebte. Denn
wie der Mond höher ſtieg, zog ſich auch der Strahl
mit ſeinen glänzenden Bewohnern wieder zurück, und
lief hinab an der Hauswand, um in die Gaſſe hinunter
zu ſteigen. — Ich hatte durchaus keine Furcht, trotz-
dem daß es da draußen wie eine verzauberte Welt war.
— Die ganze Gaſſe war ein Gewirr von Tönen und
Licht, und nichts von dem Leben und Weben des Gei-
ſtervolks war mir mehr verborgen, und von Geiſtervolk
lebte und webte Alles! — Dabei hatte ich auch nicht
die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu
ſchauen und zu vernehmen; ich kannte und belauſchte die
Leute in den Hausthüren, die Kinderköpfe in den Fen-
ſtern, die ſchlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren
Neſtern; — es war wunderhübſch! — Jetzt zog der
[239] Strahl mit ſeinen Bewohnern ſchräg über unſere Wand
fort und glitt auf die Fenſter unſerer Nachbarn zu.
Halb zehn Uhr hörte ich’s ſchlagen, als der Reigen vor
dem Fenſter der armen Frau Nudhart, die mit ihrem
kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen
knospenden Roſenbuſch in das kleine Zimmer glitt.
Leiſe ſingend ſchwebten die Geiſterchen des Lichts, und
ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten ſich um
den Schatten des Roſenbuſches auf den Boden, küßten
das bleiche Kindergeſicht auf dem Bettchen und die ebenſo
bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, ſorgen-
vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen
Geneſung, wir bringen Leben! flüſterten die Geiſter.
Das kranke Kind legte ſeine magern Händchen lächelnd
in den zitternden Strahl auf ſeinem Kiſſen. Wir brin-
gen Hoffnung, Geneſung, wir bringen Leben, ſang ich
mit im Chor und faſt widerſtrebend folgte ich dem zu-
rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte
ich zurück in’s Zimmer werfen, und im nächſten Augen-
blick ſchwebte ich ſchon wieder in der Gaſſe. Die Tante
aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen ſein, denn
plötzlich miſchten ſich die Töne ihres Flügels in den
Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor
ſeinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber
mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir
[240] waren jetzt vor dem Fenſter des erſten Stockes unſeres
Nachbarhauſes; ein heller Lampenſchein drang aus dem
Zimmer hervor, und über ein Glas mit Goldfiſchen
und das Strickzeug in den Händen der Frau Hofräthin
Zehrbein ſchwebten wir hinein, luſtig und glänzend,
ohne eine Ahnung des Schrecklichen, welches uns bevorſtand.
Mein Fräulein, lispelte eine Stimme, in deren Inhaber ich
den Aſſeſſor Kluckhuhn erkannte. Mein Fräulein, in-
commodirt Sie dieſe abominable ſchwüle Luft nicht zu
ſehr, bitte, ſo laſſen Sie uns noch einmal jene köſtliche
Barcarole aus Haydée hören. — Um Gottes willen!
dachte ich, aber ſchon war’s zu ſpät, meinen winzigen
Begleitern das Drohende mitzutheilen und zu ſchneller
Flucht zu rathen; ſchon hatte Eulalia begonnen:


Das Lido-Feſt iſt heute

Luſt und Vergnügen ringsum lächelt …

Entſetzen faßte die Geiſterſchaar; ihre ſchillernden, glän-
zenden Farben verblichen; von dem Reſonanzboden des
ächzenden Muſikkaſtens (wie Guſtav ſagt), und zwiſchen
den Lippen der Sängerin entwickelte ſich eine mißge-
ſtaltete Gnomenſchaar, die, geſpenſtiſch kreiſchend und
jammernd, ſich in der Luft überſtürzte und überſchlug
und grimmig über die Geiſter des Lichts herfiel. Es
war ſchrecklich! Schon fühlte ich mich von einem kobold-
[241] artigen C, welches mich an dem Hals gepackt hielt, halb
erdroſſelt, und zappelte wie eine unglückliche Mücke in
den Krallen der Spinne; da — erhob ſich die Frau
Hofräthin; die weiße Gardine ſank herab: wie ein elek-
triſcher Schlag durchzuckte es mich und das ganze Heer
des Lichts! Gerettet! — An der Außenſeite des Tuchs
hing der Strahl mit ſeinen Kindern, bleich und ange-
griffen; drinnen aber tönte es fort:


Ein ſchöner Herr, ein holder Jüngling,

Mit mildem, liebendem Aug’,

Umflattert mich, mit ſchmeichelnder Zunge! ....

Schnell und ſchneller ſank jetzt der Strahl herab und
eben berührte er die Erde, da — erwachte ich und
Guſtav, dicht vor mir, den Kopf auf beide Fäuſte ge-
ſtützt, grinſ’te mich an. — (Au, Nein, Du haſt mich
nicht angegrinſ’t?!) Eine dicke, ſchwarze Wolke ſtand
vor dem Mond und mein Traum war zu Ende, mein
Märchen iſt zu Ende!“ —


Das Märchen war zu Ende, aber noch nicht unſer
Mondſcheinabend damals.


„Und nun, Guſtav, Quälgeiſt .... hier .... da“ ....


Mit dieſen Worten greift Eliſe in das Waſſerbecken
neben ihr und ſchleudert eine Hand voll blitzender
Tropfen ihrem nichts ahnenden Gefährten in’s Geſicht.
16
[242] Erſchrocken und pruſtend ſpringt dieſer zur Seite, wor-
auf die Uebelthäterin, böſe Folgen ahnend, ſogleich,
um das Becken herum, die Flucht ergreift.


„Ihr ſeid Zeugen, daß Sie angefangen hat!“ ruft
Guſtav, ebenfalls die Hand in’s Waſſer tauchend und
Eliſen nacheilend.


„Tante! Tante! — Onkel, Hülfe!“ ſchreit dieſe,
mit der abgebundenen Schürze den Verfolger im Ren-
nen abwehrend und ihn mit der andern freien Hand
unaufhörlich beſpritzend.


„Warte, Waſſerjungfer!“ ruft Guſtav und bemäch-
tigt ſich der Schürze. „Das ſollſt Du büßen, Ver-
rätherin!“


Mit einem Schrei läßt Eliſe ihre Aegide fahren,
und — wie ein Reh iſt ſie ſeitwärts im Gebüſch hinter
den Holunderſträuchen verſchwunden, doch nicht, ohne
ihren durchnäßten Verfolger auf den Ferſen zu haben.


„Dieſe Wildfänge!“ ſeufzt die Tante Helene, auf
eine Bank ſinkend; während ich Taſchentuch, Arbeits-
körbchen und umherrollende Aepfel, welches alles das
Frauenzimmer, den Ausgang ihres Attentats vorher-
ſehend, ſogleich zu Boden geworfen hat, [aufſuche], wie
es einem guten Onkel und Vormund geziemt. „Hören
Sie nur, wie das Mädchen kreiſcht!“ —


Indem wir noch der wilden Jagd zwiſchen den
[243] Büſchen lauſchen, belebt ſich plötzlich die Scene und
andere Figuren kommen durch die Monddämmerung.
Mädchen- und Männerſtimmen, kichernd und ſummend
und Opernmelodien pfeifend! Jetzt treten die Kommen-
den aus dem Schatten in den hellern Lichtkreis um das
Fontainenbecken: „Der Onkel Wachholder!“ rufen ver-
wundert mehrere Stimmen und im nächſten Augenblick
ſind wir von den Nachtſchwärmern und Abendfaltern um-
geben und erkennen in ihnen wohlbekannte Freunde
und Freundinnen von Guſtav und Eliſe. Ein Gewirr
von Begrüßungen und Fragen erhebt ſich nun. Wo iſt
Fräulein Ralff, wo iſt Lischen, wo iſt die Liſe; wo iſt
Herr Guſtav, wo ſteckt der Menſch? ſchwirrt das durch-
einander und wird beantwortet; bis endlich Guſtav und
Eliſe zurückkommen von ihrer wilden Jagd, keuchend
und roth, die Haare in Unordnung, Eliſe einen großen
Riß im Kleide, aber Beide Arm in Arm, wie artige,
verträgliche Kinder. — Jetzt geht der Jubel erſt recht
an! Das iſt ſchön, das iſt prächtig, das iſt ausgezeich-
net; guten Abend, Natalie; guten Abend, Ida; ich
grüße Sie, mein Fräulein; wo kommt Ihr her, Ihr
Herumtreiber u. ſ. w., u. ſ. w.


Wie iſt doch die Jugend ſo ſchön; wie wenig bedarf
ſie um glücklich zu ſein! Ein Bischen Mondſchein, ein
Paar klingende Waſſertropfen, die Strophe eines Liedes,
16*
[244] und — die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie ſie
noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich,
der alte Mann, welch’ ein Dichter, welch’ ein Maler
müßte ich ſein, wenn ich alle dieſe friſchen, blühenden
Geſtalten, die da heute an dieſem einſamen Abend
wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen
Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren klei-
nen Sünden und Tugenden, mit ihren verſtohlenen
Seufzern, noch verſtohleneren Zärtlichkeiten und ihren
lauten Neckereien auf die Blätter dieſer Chronik feſt-
bannen wollte! Wie abgeblaßt und ſchal ſieht Alles aus,
was ich bis jetzt zuſammengetragen und niedergeſchrieben
habe; wie farbenbunt und friſch erlebte es ſich!


Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die
dunkeln Wolkenmaſſen, die im Süden lange genug ge-
droht hatten, hatten ſich unbemerkt herangewälzt; es
grollte und murrte in der Ferne und ſchwere warme Re-
gentropfen ſchlugen vereinzelt in die lenes susurros
sub noctem,
in das leiſe Geflüſter im Schatten der
Nacht. — —


Kennt Ihr das „Rette ſich wer kann!“ bei einem
plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt?
Alle Gruppen löſen ſich; — Schürzen werden über den
Kopf, Taſchentücher über die Hüte gebunden; hier flüch-
[245] tet ein Pärchen unter eine laubige Akazie, dort ein dicker
alter Herr unter den Vorſprung eines Hauſes; hier ſchlüpft
leichtfüßig ein junges Mädchen dicht an den Häuſerwän-
den hin, dort wandelt langſam und gleichmüthig ein Na-
turmenſch daher, nichts vor dem Regen ſchützend als
ſeine glühende Cigarre.


Die Droſchken ſcheinen ſich zu vervielfältigen und —
„ſüß iſt’s vom ſichern Hafen Schiffbrüchige zu ſehen“ —
an allen Fenſtern erſcheinen lachende Geſichter. Studen-
ten, Referendare, junge Theologen u. ſ. w. wiſchen ihre
Brillen ab; Maler verlaſſen ihre Palette und Staffelein
und machen Studien nach dem Leben; Tanten und Müt-
ter ſchelten über Indecenz. — Platſch! platſch! alle
Dachrinnen ſenden, wie hämiſche Ungeheuer ihre Waſſer-
güſſe der dahertrabenden Menſchheit in den Nacken. Es
iſt lächerlich-ſchrecklich! bei Tage, ſchrecklich bei Nacht!


„Siehſt Du Lischen, das haſt Du erſt gewollt, —
ſo lange haſt Du mit dem Waſſer geſpielt! Das kommt
davon!“ ruft ärgerlich die Tante Helene. Guſtav’s Ju-
bel erreicht den höchſten Grad und lachend ſchleppt er
ſeine Mutter nach, während diesmal ich mit Liſen vor-
auslaufe. Nach allen Seiten haben ſich unſere Freunde
und Freundinnen von vorhin zerſtreut. Das Gewitter
kommt immer näher, der Donner brummt ganz artig und
die Blitze ſind gar nicht übel. Selbſt Guſtav meint:
[246] „Gottlob, da iſt die Sperlingsgaſſe!“ Welche Ueber-
ſchwemmung! — Gute Nacht und keine langen Worte!!
— Guſtav verſchwindet mit ſeiner Mutter hinter ihrer
Hausthür und auch wir erreichen glücklich die unſrige.


„Gott, Herr Wachholder, was habe ich für ’ne Angſt
gehabt!“ ruft die alte Martha uns von der Treppe
entgegen.


Lischen puſtet und ächzt und lacht, hält Arme und
Hände weit ab vom Leibe und wird ſo ſchnell als mög-
lich in’s Bett geſchickt. Guſtav ruft natürlich von drü-
ben noch einige Fragen herüber, auf welche wir aber
nicht antworten und der Mondſchein-Spaziergang iſt zu
Ende. — —


Der April, der einſt mensis novarum hieß, iſt der
wahre Monat des Humors. Regen und Sonnenſchein,
Lachen und Weinen trägt er in einem Sack, und Regen-
ſchauer und Sonnenblicke, Gelächter und Thränen brachte
er auch diesmal mit und manch Einer bekam ſein Theil
davon. Ich liebe dieſen Janusköpfigen Monat, welcher
mit dem einen Geſichte grau und mürriſch in den enden-
[247] den Winter zurückſchaut, mit dem andern jugendlich fröh-
lich dem nahen Frühling entgegenlächelt. Wie ein Ge-
dicht Jean Paul’s greift er hinein in ſeine Schätze, und
ſchlingt ineinander Reif und keimendes Grün, verirrte
Schneeflocken und kleine Marienblümchen, Regentropfen
und Veilchenknospen, flackerndes Ofenfeuer und Schnee-
glöckchen, Aſchermittwochsklagen und Auferſtehungsglocken.
Ich liebe den April, den ſie den Veränderlichen, den Un-
beſtändigen nennen, und den ſie mit „Herrengunſt und
Frauenlieb“ in einen ſo böswilligen Reim gebracht
haben. —


Ich wurde dieſen Morgen ſchon ziemlich früh durch
das Geräuſch des Regens, der an meine Fenſter ſchlug,
erweckt, blieb aber noch eine geraume Zeit liegen und
träumte zwiſchen Schlaf und Wachen in [dieſe] monotone
Muſik hinein. Das benutzte ein ſchadenfroher Dämon
des Trübſinns und des Aergerniſſes, um mich in ein Netz
trauriger, regenfarbiger Gedanken einzuſpinnen, welches
mir Welt und Leben in einem ſo jämmerlichen Lichte
vorſpiegelte und ſo drückend wurde, daß ich mich zuletzt
nur durch einen herzhaften Sprung aus dem Bette dar-
aus erretten konnte. — Aprilwetter! Die Hoſen zog
ich, — wie weiland Freund Yorik — bereits wieder als
ein Philoſoph an, und der erſte Sonnenblick, der pfeil-
ſchnell über die Fenſter der gegenüberliegenden Häuſer
[248] und die Naſe des mir zuwinkenden Strobels glitt, ver-
trieb alle die Nebel, welche auf meiner Seele gelaſtet
hatten. Friſchen Muthes konnte ich mich wieder an meine
Vanitas ſetzen, und als ich gar in einem der ſchweins-
ledernen, verſtaubten Tröſter, die ich geſtern von der
Bibliothek mitgebracht hatte, eine alte vertrocknete Blume
aus einem vergangenen Frühling fand, konnte ich
ſchon wieder die ſeltſamſten Muthmaßungen über die Art
und Weiſe, wie das todte Frühlingskind zwiſchen dieſe
Blätter kam, anſtellen. Hatte ſie vielleicht an einem
lang vergangenen Feiertage ein uralter College mitge-
bracht von einem luſtigen Feldwege, oder hatte ſie viel-
leicht eins ſeiner Kinder ſpielend in dem Folianten des
gelehrten Vaters gepreßt? Hatte ſie etwa ein Student
von der Geliebten erhalten und hier aufbewahrt und
vergeſſen? Welche Vermuthungen! hübſch und anmuthig,
und um ſo hübſcher und anmuthiger, als ſie unwahr-
ſcheinlich ſind. —


O, verſteht es nur, Blumen zwiſchen die öden Blät-
ter des Lebens zu legen; fürchtet Euch nicht, kindiſch
zu heißen bei zu klugen Köpfen; Ihr werdet keine Reue
empfinden, wenn Ihr zurückblättert und auf die vergilb-
ten Angedenken trefft! —


Sei mir gegrüßt, wechſelnder April, du verzogenes
Kind der alten Mutter Zeit und — — — —


[249]

„Beſchütze Deinen Sohn Ulrich Georg Strobel! —
Guten Morgen, Meiſter Wachholder!“ ſagte eine Stimme
hinter mir.


Es war der Karikaturenzeichner, der, den grauen Filz
auf dem Kopf, die Reiſetaſche über der Schulter, den
Eichenſtock in der Hand, hinter mir ſtand.


„Ach Gott, nun iſt mein’ Zeit vorbei!“ fuhr er
lachend fort. „Ich komme Ihnen Lebewohl zu ſagen,
alter Herr.“


„Was, Sie wollen fort? Was fällt Ihnen ein?“
„Kann Deutſchland nit finden
„Rutſch allweil drauf ’rum!“

ſang der Zeichner und zeigte auf eine luſtige blaue Stelle
zwiſchen den ziehenden Wolken. „Es iſt nicht anders;
haben Sie einen Gruß an die freie weite Welt zu beſtellen,
heraus damit! Oder noch beſſer; kommen Sie — dort
ſteht Ihr Regenſchirm — begleiten Sie mich. Hören
Sie, wie luſtig der Spatz da in’s Fenſter pfeift!“


Was ſollte ich machen; ich ſchlug meinen Folianten
zu, der tolle Vagabond bot mir ſeinen Arm und wir
traten hinaus in die Gaſſe.


„Leben Sie wohl Mama, Adieu Fräulein!“ rief der
Zeichner ſeiner Hausgenoſſenſchaft zu, die ganz aufgeregt
in der Thür ſtand. „Adieu Freund Marquart; lebt
wohl Mutter Karſten; lebt wohl Meiſter und Meiſterin!
[250] lebt wohl, lebt wohl!“ rief er nach Rechts und Links
herüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick
hinauf nach ſeiner verlaſſenen Wohnung, wo die Fenſter
offen ſtanden und eine zerriſſene Gardine luſtig im
Frühlingswinde flatterte, und brummte: „Adieu Neſt!“ —


„Und wo wollen Sie nun hin?“ fragte ich meinen
wunderlichen Begleiter.


Der Zeichner lachte. „Was meinen Sie,“ ſagte er,
„wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig
anſähe, Coſtüme zeichnete und über das Bemühen lachte:
einen neu eintretenden Factor der Menſchheitsentwick-
lung durch Lancaſterkanonen und Kriegsſchiffe aufhalten
zu wollen?“


„Was?!“ rief ich mit offnem Munde.


„Wem gilt das „Was?“ lachte Strobel. „Meinem
Vorhaben oder meiner Meinung?“


„Sie glauben“ ......


„Ich glaube, daß die Erde jung iſt, alter Freund!
Wir brauchen friſches Blut und wollen nicht meinen, daß,
weil man uns nur Geſchichte der Vergangenheit lehrt,
es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar
zu gern in alles ein: in unſern Rock, in unſern Körper,
in unſere Familie, in unſer Volk; wir freuen uns, wenn
ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt er-
blickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder
[251] ein Krähenauge bekommen; wir betrüben uns, wenn unſer
Vater, unſere Mutter ſtirbt; aber wir halten das alles
für natürlich, — blos weil wir es leichter überſehen
können. Soll nun auf einmal in das Krähenaugenkrie-
gen, Geborenwerden und Sterben der großen Völkerfa-
milie der Erde ein Stillſtand eintreten; ein deus ex
machina
mit Manſchetten in das ewige Werden fahren
und ſagen: Stop! Halt da; entwickelt Euch in Euch
ſelbſt und — entſchlaft an Euthanaſie?“ — „Bah!“ —


Der Redner blies eine gewaltige Rauchwolke aus
ſeiner Cigarre und fuhr fort, während ich den Kopf be-
dachtſam ſchüttelte:


„Es hat den Griechen nichts geholfen, die beſten
Dichter, Bildhauer und Maler zu ſein, die geiſtreichſten
philoſophiſchen Syſteme aufſtellen zu können: die eiſer-
nen Männer Roms klopften an, ſtellten die griechiſche
Bildung sub hasta, ſpielten Würfel auf den Gemälden,
fabrizirten corinthiſches Erz aus den Metall-Statuen und
— die Weltgeſchichte — ging einen Schritt vorwärts! —
Es hat den Römern nichts geholfen, die größten
Kriegs- und Verwaltungskünſtler zu ſein, — Zündnadel-
gewehre und Lancaſterkanonen ſind Spielzeug im Kampf
gegen die eine Macht im Weltall, welche die Geſtirne
treibt und die Wandervögel, und welche die Völker be-
wegt zur rechten Zeit. Die Barbaren kümmerten ſich nicht
[252] um Commando-Wörter; ſie ſtürmten die Thore Roms
und — die Weltgeſchichte — ging einen Schritt wei-
ter!“ — —


Ich ſchüttelte wieder das Haupt und brummte: „Im-
mer zertrümmern, zertrümmern!“


„Meine Mutter ſtarb, indem ſie mich gebar!“ ſagte
der Zeichner grimmig und ſtand ſtill. Wir hatten den
Ausgang der Sperlingsgaſſe erreicht; ein kleiner Hand-
wagen mit Kiſten und Kaſten beladen, verſperrte uns
den Weg. „Jetzt will ich Ihnen auch ſagen, wo ich in
der That
hin will; nicht wohin ich gehen könnte!“
ſagte Strobel. „Kommen Sie!“


Verwundert folgte ich dem in eine dunkle Keller-
Wohnung Herabſteigenden.


So iſt das menſchliche Leben. Lange, lange Jahre
hatte ich in dieſer Gaſſe gewohnt, täglich faſt war ich
vor dieſem Hauſe, vor dieſen trüben Fenſtern vorbeige-
gangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier
wohnende Familie dahinter zubringt, ſteige ich zum erſten
Male die feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner
ſtellte mich dem Hausherrn vor, dem Schuhmacher Bur-
ger, einem Manne, welchem eine ganze Paſſionsgeſchichte
vom Geſichte abzuleſen war. Heute Abend führt ihn
und die Seinigen die Eiſenbahn dem Meere zu, von wo
ſie ein Schiff nach einer neuen Heimath, nach dem jun-
[253] gen Amerika bringen ſoll; und der Zeichner — will die
Familie begleiten nach Hamburg.


Die wenigen, des Mitnehmens werthen Habſeligkeiten
der ärmlichen Wohnung waren ſchon zuſammengepackt;
die bleichen, traurigen Geſichter der Eltern; das theil-
nahmloſe der alten Großmutter, die auch heute noch am
gewohnten Platz hinter dem Ofen ſpann; die Kinder,
welche verwundert in den Winkeln kauerten, alles machte
einen tiefen wehmüthigen Eindruck auf mich.


Es iſt nicht mehr die alte germaniſche Wander- und
Abenteuerluſt, welche das Volk forttreibt von Haus und
Hof, aus den Städten und vom Lande; die den Köhler
aus ſeinem Walde, den Bergmann aus ſeinem dunkeln
Schacht reißt, die den Hirten herabzieht von ſeinen Al-
penweiden und ſie Alle fortwirbelt dem fernen Weſten
zu: Noth, Elend und Druck ſind’s, welche jetzt das
Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimath
verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stamm-
zerriſſenheit, trotz aller Biegſamkeit des Nationalcharak-
ters, der ſo leicht ſich fremden Eigenthümlichkeiten an-
ſchmiegt und unterwirft, — worin übrigens in dieſem
Augenblick vielleicht allein die welthiſtoriſche Bedeutung
Deutſchlands liegt — trotz alledem hängt kein Volk ſo
an ſeinem Vaterland, als das deutſche! —


In engliſchen Schriften läuft Deutſchland öfters als
[254]„the fatherland“ Κατ̕ ἐξοχήν. Das wird zwar mit
einem gewiſſen „sneer“ geſagt, aber es iſt eine Ehre für
unſere Nation und wir können ſtolz darauf ſein.


O ihr Dichter und Schriftſteller Deutſchlands, ſagt
und ſchreibt nichts, Euer Volk zu entmuthigen, wie es
leider von Euch, die Ihr die ſtolzeſten Namen in Poeſie
und Wiſſenſchaften führt, ſo oft geſchieht! Scheltet,
ſpottet, geißelt, aber hütet Euch, jene ſchwächliche Reſig-
nation, von welcher der nächſte Schritt zur Gleichgül-
tigkeit führt, zu befördern, oder gar ſie hervorrufen zu
wollen. —


Als die Juden an den Waſſern zu Babel ſaßen und
ihre Harfen an die Weiden hingen, weinten ſie, aber ſie
riefen:
„Vergeſſe ich Dein, Jeruſalem, ſo werde meiner
„Rechten vergeſſen!“


Die Worte waren kräftig genug, ſelbſt die zucken-
den Glieder eines Volkes durch die Jahrtauſende zu er-
halten. —


Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vor-
münder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers
in das Geſangbuch des Heimathsdorfs zu ſchreiben;
ſchreibt:
„Vergeſſe ich Dein, Deutſchland großes Vater-
„land: ſo werde meiner Rechten vergeſſen!“ —


[255]

Der Spruch in aller Herzen, und — das Vater-
land iſt ewig! —


Das letzte Hausgeräth war zuſammengebunden und
auf den kleinen Wagen in der Gaſſe gelegt. Traurig
ſchauten ſich die armen Leute in ihrer verödeten Woh-
nung, die alle Leiden und Freuden der Familie geſehen
hatte, um.


„S’iſt ’n hart Ding, ſ’iſt ’n hart Ding!“ ſagte ſeuf-
zend der Meiſter, und Strobel klopfte ihm leiſe auf die
Schulter.


„Es iſt Zeit, Mann! Faßt Euch ein Herz, geht
Eurer Frau mit einem guten Beiſpiel voran.“


„Der Todtengräber hat verſprochen, er will unſeres
Fritzen Hügel draußen nicht verrotten laſſen!“ ſchluchzte
die Frau.


Burger wiſchte ſich mit dem Aermel über die Augen,
erhob ſich aus ſeinem Hinbrüten und ging, ſeine alte
Mutter hinaufzuführen; ſeine Frau weinte laut, brach
einen Zweig von der verkümmerten Myrthe im Fenſter,
legte ihn in ihr Gebetbuch und nahm ihr jüngſtes Kind
auf den Arm, während ſich die andern an ihre Schürze
und ihren Rock hingen. Die Familie ſtieg die enge,
ſchwarze Treppe, welche auf die Straße führt hinauf, —
ſie hatte ihren langen Weg begonnen!


[256]

Draußen wechſelte Regen mit Sonnenſchein, wie der
April es mit ſich brachte. Der Meiſter zog ſeinen Wa-
gen voraus, wir Andern folgten. Einen letzten Blick
werft zurück in die enge, dunkle, arme Sperlingsgaſſe —
Ihr werdet wohl oft genug an ſie denken — und [dann]
hinaus in die weite Welt, ihr Wanderer!


Bis an das Thor brachte ich den Zeichner und ſei[n]e
Schützlinge. Ein letzter Händedruck, ein letzter Gruß!
Wer weiß, ob wir nicht noch einmal uns wieder ſehen
Strobel! Lebt wohl! lebt wohl! — Und wieder ei[n]-
mal konnte ich einſam und allein zurückkehren, einſam
und allein dies Blatt der Chronik der Sperlingsgaſſe
aufzuzeichnen! —


Ich ſaß heute Nachmittag draußen im Park in den
warmen Sonnenſtrahlen, die hell und luſtig durch die
noch kahlen Zweige der höheren Bäume und durch das,
mit zartem, friſchem Grün bedeckte niedere Geſträuch
fielen. Kinder mit Sträußen von Frühlingsblumen zogen
an mir vorüber; ein Maikäfer, einen Zwirnfaden am
Bein, hing ſchlaftrunken an einem Zweige mir zur
[257] Seite und ein ſtubengeſichtiger junger Mann, dem ein
Buch hinten aus der Rocktaſche ſchaute, grub ſorgſam
eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings-
Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt
die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver-
künden und wieder ſchwebte, von den „Himmelstönen“
getragen, eine ſüße Erinnerung heran.


Es war auch ein erſter Mai. Da war der Frühling
gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und
einem — Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings-
Gaſſe. Sie hatten Blumen geſtreut, und mit Blumen
und Laubkränzen die Pfoſten umwunden; ſie hatten Sonn-
tagskleider angezogen in der Sperlingsgaſſe, und Alle
hatten fröhliche, fröhliche Geſichter. Und der Himmel
war blau, und die Sonne ſchien ſtrahlend durch das
Epheu, welches vor ſo langen Jahren Marie Ralff im
Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him-
melsblau noch Sonnenſchein kamen an heiliger Reinheit
dem Geſichtchen gleich, das ſich an jenem erſten Mai
an meine Schulter ſchmiegte und durch Thränen lächelnd
zu mir aufſchaute. Das Bild der Mutter ſah aus
ſeinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan-
den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln
überall! Und als das junge Herzchen an meiner Bruſt
pochte, auf der andern Seite Guſtav mir den Arm
17
[258] um die Schultern legte; als Helene weinend der jungen
Braut den Kranz in die Locken drückte, da war es mir,
als ſei nun ein lange dunkles Räthſel gelöſt und ich
ſenkte das Haupt vor der geheimnißvollen Macht, welche
die Geſchicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in
der Wiege und die Nation im Todeskampf. Wie die
Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gaſſe ſich
zuſammen zu ſchürzen zu einem neuen Bande! Wie ſo
viele Herzen faſt brechen wollten, um ein neues Glück
aufſprießen zu laſſen! Das iſt die große, ewige Melodie,
welche der Weltgeiſt greift auf der Harfe des Lebens,
und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der
Denker in den Blättern der Natur und Geſchichte
wahrnimmt! —


Wir ſprachen an jenem Tage nicht viel! Das Glück
iſt ſtumm und was die Liebe — die wahre Offenbarung
Gottes — ſich zuflüſtert, hat noch kein Dichter auf
Papyrus, Pergament oder Papier feſtgehalten. Die
kleine Kirche war gar feierlich heilig, als der junge
Maler — er dachte in dem Augenblick gewiß nicht an
ſein gefeiertes Bild: Milton, den Galilei im Gefängniß
zu Rom beſuchend —, als der junge Maler ſeine ſchöne
Braut hineinführte an den geſchmückten, lichterglänzen-
den Altar. Und Niemand fehlte in dem Kreiſe theilneh-
mender Geſichter umher! Da war das Atelier, da waren
[259] Eliſens Freundinnen, da war vor Allem die alte Martha
und die Hausgenoſſenſchaft und Nachbarſchaft der Sper-
lingsgaſſe. Die Orgel begann den Choral — und
Jungfrau Eliſa Johanna Ralff und Herr Guſtav Theo-
dor Maximilian Berg wurden durch ein ganz leiſes,
leiſes Ja und ein anderes viel lauteres, auf eine gar
verfängliche Frage, Mann und Frau! —


Die Chronik der Gaſſe nähert ſich ihrem Ende. Was
ſollte ich auch noch Vieles erzählen? Unſere Kinder ſind
glücklich in dem ſchönen Italien; die alte Martha ſchläft
nicht weit von Mariens Grabe auf dem Johanniskirch-
hofe; ich bin alt und grau. Wenn ein Paquet von
Rom gekommen iſt, ſo gehe ich hinüber zu der freundlichen,
ſchönen, weißhaarigen Frau, die da drüben in Nr. 12
gewöhnlich ſtrickend am Fenſter ſitzt und unſere alten
Herzen ſchlagen höher bei dem friſchen Lebensglück, wel-
ches uns aus den engbeſchriebenen Bogen entgegenleuch-
tet. Wir folgen den Kindern durch alle die alten und
neuen Herrlichkeiten, wir ſtehen mit ihnen vor dem
Laokoon, wir ſteigen mit ihnen zum Kapitol hinauf,
unſere Schritte hallen an ihrer Seite in den Sälen des
Vatikans, in den Loggien Raphaels wieder. Wie eine
reizende Märchenarabeske iſt jeder Brief: blauer Him-
mel und Sonne und ein fröhliches Lachen auf jeder Seite!


[260]

Es iſt ſpät in der Nacht, als ich dieſes ſchreibe;
tiefe Dunkelheit herrſcht in der Gaſſe; kein einziges er-
helltes Fenſter iſt zu erblicken. Der einzige Laut, den
ich vernehme, iſt das Schlagen der Thurmuhren oder
der Pfiff des Nachtwächters. — Da liegen alle die be-
kritzelten Bogen vor mir! bunt genug ſehen ſie aus! —


Was ſollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten
Chronikenſchreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta-
gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten
ſie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be-
ſitzer die „wenigen“ Ereigniſſe, welche vor dem Unter-
gang der Welt noch geſchehen würden, darauf nachtragen
könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn.
Dieſe Erde wird ſich noch lange drehen, in dieſer engen
Gaſſe wird noch manches Kind geboren werden, manche
Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel-
leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen ſie Johannes
Wachholder nannten. — Was die paar Tage, die mir
noch übrig ſind, bringen werden, will ich in Ruhe
erwarten; viel Neues können ſie mir nicht zeigen! —


Ich öffne das Fenſter und ſchaue in die dunkle, ſtille,
warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein-
ſamer Stern an der ſchwarzen Himmelsdecke. Wie
feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! …
In wie viel Träume mag ſich dieſer Schall verſchlingen.
[261] Der grübelnde Gelehrte wird von ſeinem Buche ver-
wirrt aufſehen, das junge Mädchen wird von Tanz-
und Ballmuſik träumen, der arme Kranke wird von
dem kommenden Tage Geneſung erflehen, die Mutter
wird im Schlaf ihr kleines Kind feſter an ſich drücken
und der Herrſcher, die Stirn wund vom Druck einer
Krone des Zeitalters der Revolution, wird das Haupt
in die Kiſſen ſenken und ſeufzen: Ein neuer Tag! —


Meine Lampe flackert und iſt dem Ausgehen nahe.
Mit müder Hand ſchließe ich das Fenſter und ſchreibe
dieſe letzten Zeilen nieder:


Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tage und bei
Nacht; ſei gegrüßt, du großes, träumendes Vaterland;
ſei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gaſſe; ſei gegrüßt,
du große, ſchaffende Gewalt, die du die ewige Liebe
biſt! — Amen! Das ſei das Ende der Chronik der
Sperlingsgaſſe! — —


[]

Appendix A

Druck von Brandes u. Schultze in Berlin, Roßſtraße 8.


[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Chronik der Sperlingsgasse. Die Chronik der Sperlingsgasse. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn4x.0