[][][][][][][[I]][[II]]
Die Verwaltungslehre.


Erſter Theil.

Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cottaſchen Buchhandlung.
1865.

[[III]]
Die Lehre
von der
vollziehenden Gewalt,
ihr Recht und ihr Organismus.

Mit Vergleichung der Rechtszuſtände
von
England, Frankreich und Deutſchland.


Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cottaſchen Buchhandlung.
1865.

[[IV]]
[[V]]

Dem Herrn Profeſſor
Dr.Rudolph Gneiſt
in Berlin.


Wenn ich Ihnen, verehrter Freund, dieß Werk überreiche, ſo
weiß ich nicht, ob Sie es ſo ganz von Herzen hinnehmen werden,
wie es gegeben wird. Ich trage damit einen Theil des Dankes ab,
den wir alle Ihnen für Ihre Arbeiten ſchuldig ſind; denn Sie
haben uns wiſſenſchaftlich das engliſche Leben und ſein Recht
erobert, und wenn es früher ſchwer war, darüber zu reden, ſo
iſt es jetzt noch ſchwerer, über einen Theil des öffentlichen Rechts
in Europa ein Urtheil haben zu wollen, ohne bei Ihnen zu lernen,
wie man England verſtehen muß. Aber indem ich danke, möchte
ich zugleich das Recht gewinnen, eine Klage auszuſprechen, eine
Klage aber, die wieder zur Hoffnung wird, wenn ich an das
denke, was, wie ich innig überzeugt bin, ſchon die nächſte Generation
zu leiſten beſtimmt iſt.


Als zum erſten Mal die mächtige Geſtaltung des römiſchen
Rechts die Alpen überſchritt und auch bei uns heimiſch wurde, da
war es anders in Europa. Das Corpus Juris war nicht bloß
eine Quelle des römiſchen Rechts, eine unerſchöpfliche Fundgrube
für die Bauſteine der neuen, noch hart kämpfenden Rechtsbildung
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die ſich mühevoll aus der ſtän-
diſchen herausarbeitete, der juriſtiſche Träger eines neuen ſocialen
Lebens — es war zugleich ein geiſtiges Band für die Rechts-
gelehrten in Europa, ein gemeinſchaftlicher Mittelpunkt für alle,
die an jenem Werke mit oder ohne ſociales Bewußtſein mitarbeiteten;
[VI] es war eine Macht, welche in allen Ländern gleichmäßig wirkte;
wer ihr angehörte, hatte mit ſeinen Lehrern und Schülern, mit
ſeinen Beſtrebungen und Erfolgen die ganze europäiſche Welt vor
ſich; gelang ihm etwas, ſo war er gewiß, jenſeits wie dieſſeits
des Rheins, jenſeits wie dieſſeits der Alpen gehört zu werden; und
wohl mußte es ein erhebendes Bewußtſein genannt werden, an
dieſer gewaltigen, das ganze Leben Europa’s umfaſſenden Arbeit
Theil zu nehmen.


Dieſe Zeit iſt hin. Die franzöſiſche Codifikation hat die ge-
ſammte romaniſche Welt von dieſer römiſchen Rechtsbildung getrennt,
leider nicht bloß äußerlich, ſondern auch innerlich, der Mutter faſt
vergeſſend, der ſie im Grunde alles verdankt. Die franzöſiſchen
Codes haben einen ſiegreichen Kampf begonnen mit dem Corpus
Juris.
In Frankreich, Spanien, Italien, Belgien haben ſie es
überwunden; ſelbſt das alte, ſeiner Klaſſizität ſo ſtolze Holland iſt
der neuen Codifikation verfallen; dem engliſchen und ſkandinaviſchen
Rechtsleben iſt jenes Erbtheil des alten römiſchen Reiches ferner
gerückt als je, und die Frage tritt uns nahe genug, wenn es ein-
mal ein europäiſches Rechtsleben wieder geben ſoll, wie es daſſelbe
einſt gab, worin wird es beſtehen?


Nur Deutſchland blieb die feſte Burg des Corpus Juris, der
Inſtitutionen und Pandekten. Aber auch das deutſche Rechtsleben
vermochten ſie nicht mehr ganz zu erfüllen. Die franzöſiſche Re-
volution hatte nicht bloß das römiſche Recht in Deutſchland, es
hatte die deutſche Volksthümlichkeit ſelbſt in Frage geſtellt. Da griff
das deutſche Volksbewußtſein, das unter allen Völkern das am
meiſten organiſche iſt, in ſeine Vergangenheit zurück, um aus ſeinen
Wurzeln einen neuen Keim zu treiben. Das deutſche Privatrecht,
bisher ein Nebengebiet der Rechtswiſſenſchaft und kaum ſich des
rein lokalen Charakters erwehrend, geſtaltete ſich nun zur deutſchen
Reichs- und Rechtsgeſchichte. Die deutſche Reichs- und Rechts-
geſchichte ward ein lebendiger Theil der deutſchen Jurisprudenz;
ſie war nicht eine Formel-Wiſſenſchaft; ſie hatte nicht mit dem bloß
Vergangenen zu thun; ſie wollte nicht alte Dokumente vor dem
Verderben bewahren, und die römiſche Caſuiſtik auf die unklaren
Worte der leges barbarorum oder den Sachſen- und Schwaben-
ſpiegel anwenden, um ein trefflicher Advokat auch vor dem lange
[VII] verſchwundenen Schöppenſtuhl und Oberhof zu ſein; ſie wollte den
Volksgeiſt in ſeiner mächtigſten und faßbarſten Sphäre, dem Rechts-
leben ergreifen; ſie wollte ihm Geſtalt und Kraft für die Gegenwart
durch das geben, wodurch er Geſtalt und Kraft in der Vergangen-
heit gehabt; ſie ward zu einer volksthümlichen That, und damit zu
einem mächtigen, nie zu hoch anzuſchlagenden Element der deutſchen
Staatenbildung. Aus tiefer innerer Ueberzeugung, aus dem ge-
waltigen Glauben an ein deutſches Volksleben und nicht aus bloßer
Gelehrſamkeit hervorgegangen, ward ihr der heilige Funke mit-
gegeben, der zündend in die Herzen fiel; aus Begeiſterung ent-
ſtanden, erweckte ſie Begeiſterung; ſie war keine Wiſſenſchaft mehr,
ſie ward zur ſtaatlichen, zur nationalen Macht; ſie verſtand es,
ihre Jünger im Namen der großen Idee, deren Träger ſie war,
über alles Kleinliche zu erheben, und ihnen in dem wahren, tiefen
und lebendigen Verſtändniß des Ganzen die warme Liebe für das
Einzelne, das Feſthalten an dem Werth des Beſonderen, den Lohn
für die Mühe der Arbeit zu geben. Sie war es, welche der
deutſchen, ſchwerwandelnden, vom übrigen Europa vergeſſenen
Rechtswiſſenſchaft die Friſche und Jugendlichkeit des lebendigen
Geiſtes zurückgab; ſie war es, welche es Deutſchland möglich machte,
neben dem Glanze der franzöſiſchen Rechtsbildung noch frei und
tapfer an der eigenen feſtzuhalten; und wenn unter den Einzelnen
die der Geſchichte der Wiſſenſchaft zieren, ein Name auch in der Ge-
ſchichte des deutſchen Staatslebens in erſter Reihe genannt werden
darf, ſo ſollen wir uns den Manen Eichhorns beugen; wenige
haben ſo viel, ſehr wenige mehr für Deutſchland geleiſtet, als er.


Iſt dieſe ſchöne, an Glauben und Begeiſterung, an geiſtigem
Schwung und friſcher Luſt ſo reiche Zeit noch für uns vorhanden?
Als das römiſche Recht ſeine Weltſtellung verlor, gab uns der
Geiſt unſeres edlen Volkes die deutſche Rechtsgeſchichte, ſie wurde
für das deutſche wiſſenſchaftliche Leben, was der Corpus Juris für
die ganze romaniſch-germaniſche Welt geweſen, der Mittelpunkt
und die Quelle des Bewußtſeins, daß jeder Einzelne an einem großen
Werke mitarbeite. Sie war die lebengebende Wärme des deutſchen
Rechtsbewußtſeins; ſie war unſer Eigenthum, denn kein Volk konnte
ſich eines Aehnlichen rühmen, und während der Fremde die Zer-
fahrenheit des praktiſchen Rechts in Deutſchland beklagte, mußte
[VIII] er die Einheit und Größe desjenigen bewundern, was wir in
unſerer Rechtsgeſchichte beſaßen. Iſt dem noch ſo?


Fordern Sie an dieſer Stelle keinen Beweis, keine Gründe,
keine Erwägungen und Erörterungen. Aber den Ausdruck der
Ueberzeugung laſſen Sie mir — ich glaube, nein. Die deutſche
Rechtsgeſchichte iſt nicht mehr, was ſie geweſen. Wir ſind im Ein-
zelnen, nicht aber im Ganzen weiter, als der Meiſter. Die
deutſche Rechtsgeſchichte wendet ſich. Sie wird ein Gebiet der
Gelehrſamkeit. Ihre Zeit iſt vorüber; ſie hat ihre große
Funktion erfüllt. Vergeblich ringt die Mühe ihrer Vertreter dar-
nach, ihr das alte Gewicht zurückzugeben; vergeblich nennt man
ſie mit dem alten Namen. Niemals iſt es der Sonne eines Tages
gegeben, zweimal zu ſcheinen.


Und dennoch war ſie es, an welcher ſich die Individualität,
die Kraft der Selbſtändigkeit unſeres Volkes erhielt. Mit ihr
ſinkt nicht bloß eine vergangene Zeit, ſondern auch eine lebendige
Potenz. Wer und was wird ſie erſetzen?


Wir ſind ein gelehrtes, ein fleißiges Volk. Wir vermögen zu
leiſten, was kein anderes auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Mühe
zu leiſten vermag. Aber über uns hinweg geht der mächtige Strom
des wirklichen, des europäiſchen Lebens. In tauſend Richtungen,
mit tauſend Gewalten ergreift es uns; die Völker vermiſchen ſich;
die Unternehmungen reichen ſich über Land und Meer die Hände;
es iſt eine neue Zeit, die uns kommt; was iſt unſere Aufgabe
in derſelben?


Es gibt, und deß bin ich innig überzeugt, nur Eins, was
wir zu thun haben, und was auch nur wir zu leiſten im Stande
ſind. Dieſe europäiſche Welt iſt eine wunderbare. Allen Ländern
derſelben leuchtet der gleiche Tag, allen keimt dieſelbe Epoche der
Geſchichte; alle erfaßt ſtets die gleiche Bewegung. Aber mit Bergen
und Meeren hat ſie der Herr geſchieden; innerhalb ihrer Gränzen
wächst und wird ein ſelbſtändiges, eigenthümliches Daſein; eine
eigenthümliche Kraft erfaßt gleichſam die großen europäiſchen That-
ſachen, hält ſie feſt an ihrem Ort, nährt und bewacht ſie, bis ſie
in der Mitte der Gleichartigkeit des Geſammtlebens ein individuelles
Daſein, einen in ſich ruhenden Geiſt empfangen. Europa iſt der
Welttheil, in welchem alle menſchlichen Dinge dieſelben und doch
[IX] wieder andere ſind; und in dieſer Selbſtändigkeit ruht der innere
Reichthum Europas, die unerſchöpfliche Quelle ſeiner Macht; denn
in ihm iſt die Nothwendigkeit gegeben, in dem Verſchiedenen an das
Gleiche, in dem Gleichen an das Verſchiedene zu denken. So
zieht es die Arbeit des Geiſtes groß, ſo macht es aus jedem Volke
und aus jedem Einzelnen in jedem Volke ein ſelbſtändiges Leben,
eine ſelbſtändige ſchöpferiſche Kraft, und das iſt es, was Europa
zur Herrin der Welt gemacht hat und machen wird.


Und wenn ich mich jetzt frage, worin die Zukunft der Rechts-
wiſſenſchaft, die Aufgabe der neuen Zeit für uns liegt, ſo ant-
wortet mir das Verſtändniß jener Thatſache. Es iſt, wollen wir
anders nicht zu den untern Reihen herabſinken, in unſerer Wiſſen-
ſchaft, die Auffaſſung des europäiſchen Rechtslebens als eines
Ganzen, und das Begreifen des einzelnen Volkes und ſeiner Rechts-
bildung als eines organiſchen Theiles dieſes Ganzen, das wir zu
leiſten haben. Wir, denen die Philoſophie die Erkenntniß der
abſoluten Principien, das römiſche Recht die geſchichtliche Grund-
lage der europäiſchen Rechtsbildung, die deutſche Rechtsgeſchichte
das innige Verſtändniß des individuellen Volksgeiſtes gelehrt haben,
wir ſind berufen, durch ein Jahrhundert ernſter und ſchwerer
Arbeit den Gedanken, das hohe Bild einer europäiſchen Rechts-
bildung zu erfaſſen und zu verwirklichen, in der jedes einzelne
Volk wieder ſeine eigene große Funktionen erfüllt. Wir, das Welt-
volk, wo es ſich um Gedanken handelt, wie die Engländer das
Weltvolk der Arbeit und die Franzoſen das Weltvolk des Waffen-
ruhmes ſind, wir müſſen uns über den engen, abſterbenden Kreis
unſerer bisherigen Auffaſſung auch in der Rechtswiſſenſchaft er-
heben. Indem wir bisher verſtanden, was wir für uns ſelbſt
ſind oder ſein mochten, ſo müſſen wir jetzt denken und ſagen
lernen, was wir neben den andern, für die andern ſind. Die
wahren Inſtitutionen unſerer deutſchen Rechtswiſſenſchaft müſſen
künftig in dem Bilde des europäiſchen Rechtslebens beſtehen, und
Niemand ſollte an deutſches Recht gehen, ohne, wenn auch nur in
ſeinen Grundzügen, das wunderbar große und ſchöne Bild des
europäiſchen Rechts, aus der Einheit ſeiner Volksrechte, ihrer Ge-
ſchichte, ihrer Geſtalt, ihrer Elemente und ihrer wirkenden Indi-
vidualität ſich zu einem machtvollen organiſchen Leben entfaltend,
[X] vor ſeinen geiſtigen Augen zu haben. Deßhalb aber ſollen wir uns
wiſſen und erkennen lernen als das was wir ſind — als einen
lebendigen Theil des Ganzen, dem wir dienen, in dem wir die
tieferen Wurzeln unſeres Daſeins haben, mit dem wir, zugleich
arbeitend und leidend, das Leben Europas bilden. Da liegt die
Zukunft und die Größe der deutſchen Rechtswiſſenſchaft.


Ihnen nun, verehrter Freund, übergebe ich zunächſt dieß
Werk, das in einem kleinen Theil des Rechts einen kleinen Theil
dieſer Aufgaben mit noch immer ſehr enger Beſchränkung auf Eng-
land, Frankreich und Deutſchland zu löſen verſucht hat. Wenn
ich über England nichts anders zu ſagen wußte, als was Sie ge-
geben, ſo mögen Sie darin einen Vorwurf erblicken, den Ihr
Werk ſelbſt verſchuldet. Es wird lange dauern, bevor wir hier
über das Benützen hinauskommen. Mein mag vielleicht das andere
Licht gehören, das mit meiner Arbeit auf einige der großen Er-
gebniſſe der Ihrigen fällt; Niemand wird beſſer als Sie zu beur-
theilen verſtehen, wie weit es richtig iſt. Aber das Ideal der
deutſchen Rechtswiſſenſchaft, das mir lebendig vorſchwebt, wird nie
erreicht werden, bis wir ſolche Werke wie das Ihrige über jeden
Theil Europas beſitzen, und lernen, ſie zu bewältigen. Das iſt
nicht die Arbeit eines Menſchen; das iſt die Arbeit eines Jahr-
hunderts. Mein Glaube iſt, daß wir an der Schwelle einer
ſolchen neuen Epoche für unſere Wiſſenſchaft ſtehen, die uns über
die ſteigende Gefahr der bloßen Caſuiſtik und der Unbekanntſchaft
mit dem Fremden, das uns durch die Entwicklung des Geſammt-
lebens von Europa in Wahrheit nicht länger fremd bleiben darf,
erheben wird. Ich ſehe die kommende Geſtaltung ihre Schatten
ſchon in unſere Welt werfen; unſer iſt die Arbeit; unſere Lieben
mögen’s erben. Und in dieſem Geiſte laſſen Sie mich Ihnen aus
der Ferne die Hand reichen.


Zum Schluſſe geſtatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie
werden im nachfolgenden Werke ſehen, daß ich von Oeſterreich
wenig oder gar nicht geſprochen habe. Den Grund würden Sie
wiſſen, wenn Sie dieß Reich kennten. Es iſt eine Welt für ſich,
ein eigenthümlicher Organismus, mit gar keinem andern Europas, ja
der Welt vergleichbar. Es iſt eine wunderbare Einheit der ver-
ſchiedenſten Elemente; alles was Europa im Ganzen bietet, iſt hier
[XI] in großen Theilen vertreten; oft feindlich, oft friedlich, oft in
ſtarrer Ruhe neben einander liegend, oft in gewaltiger Bewegung
einander begegnend, immer aber mächtig auf einander wirkend,
ſich durchdringend, beſtimmend, fördernd, bekämpfend; ein Reich,
das man mit dem gewöhnlichen Maße nun einmal nicht meſſen
kann, und das immer aufs neue mißverſtanden wird, weil man
eben das gewöhnliche Maß an daſſelbe anlegen will. Es iſt ein
Europa im Kleinen. Es enthält alle Völker, alle Kirchen, alle
volkswirthſchaftlichen Zuſtände, alle Rechtsbildungen des ganzen
Welttheiles in wunderbarer Nähe und Miſchung. In keinem Theile
Europas iſt ſo viel neues zu thun und ſo viel zu arbeiten als
hier; aber in keinem Theile iſt auch ein ſo reiches Feld. Die ge-
waltige Bewegung des Fortſchrittes, in der ſich dieß mächtige Reich
befindet, iſt jung; ſie hat nicht bloß zum Theil ein altes Geſchlecht,
alte Auffaſſungen, alte Gedanken, ſondern auch tiefe Verſchieden-
heiten des geiſtigen und wirthſchaftlichen, des geſellſchaftlichen und
ſtaatlichen Lebens vorgefunden; ſie hat den kühnen Verſuch ge-
macht, mit der Achtung vor dem Ueberlieferten und Gegebenen
die friſche und freie Anerkennung des Neuen zu verbinden. Sie
iſt mitten in ihrer ſchweren Aufgabe; es iſt ein großartiges
Werden, das uns hier entgegentritt, und für das die bekannten Formen
und Formeln, die auf ſtreng ausgeprägter nationaler Individualität
ruhen, nicht ausreichen. Es will daher für ſich betrachtet, für ſich
erkannt werden. Es läßt ſich nicht einfach einreihen in die Ver-
gleichung, denn jeder Punkt würde wieder ſeine eigene Geſchichte
fordern. Darum hat Oeſterreich zwar die Geſchichte einer Groß-
macht, aber es hat keine Geſchichtſchreiber. Denn die Geſchicht-
ſchreibung hat hier eine ganz andere Vorausſetzung als in Eng-
land, Frankreich, Deutſchland, andern Ländern. Sie kann nicht
von einer einfachen gegebenen Thatſache ausgehen und uns in
lebendigem Bilde den Wechſel ihrer Geſtaltungen vorführen, wie
in Glück und Unglück, in Sieg und Niederlage immer daſſelbe
Element als feſter Boden in Volk und Land uns auf eine leicht-
verſtändliche, der Anſchauung immer gegenwärtige Grundlage ſtellt.
Oeſterreichs wahres Lebenselement iſt keine ſolche Thatſache; es iſt
eine lebendige Kraft, die ſeine Völker und Länder umſchlingt.
Was nützt es, dieſe Kraft mit Einem Namen zu nennen? Aber
[XII] die Geſchichte Oeſterreichs iſt nicht denkbar, ohne die Anſchauung
dieſer Kraft und ihrer Arbeit, die in Weſen und Thätigkeit nur
Eine innerlich gleichartige, wenn auch äußerlich viel größere Er-
ſcheinung neben ſich hat, die alte römiſche Welt, die Einheit des
Völkerlebens in Einer gewaltigen Staatsbildung. Und bevor nicht
dieß Weſen Oeſterreichs ſeine Geſchichtſchreibung gefunden, kann
man es auch in der Rechtslehre nicht einfach an die drei übrigen
Völker anreihen, deren Namen und Natur dem Leſer vertraut ſind;
am wenigſten aber in dieſem Augenblick, wo dieß Reich mitten in
einer ſo tiefgreifenden, ſeine ganze Zukunft beherrſchenden Umge-
ſtaltung begriffen iſt. Und darum habe ich es nicht gewagt, die
Rechtsverhältniſſe Oeſterreichs in einfacher Anführung neben die
drei übrigen Völkerſchaften hinzuſtellen. Vielleicht daß auch ſo die
Arbeit einen Theil ihrer Aufgabe erfüllt. Denn immer iſt mir
das Wort meines hochverehrten Lehrers, des alten Feuerbachs
gegenwärtig: „Das beſte, was der Menſch zu leiſten vermag, be-
ſteht nicht in dem, was er thut, ſondern in dem, was er in edlen
und tüchtigen Geiſtern anregt.“


Leben Sie wohl.


Wien, im Mai 1864.


L. Stein.


[[XIII]]

Inhalt.


  • Einleitung.
    Der allgemeine organiſche Staatsbegriff.
  • Seite
  • Das Leben des Staats und ſeine Wiſſenſchaft 2
  • Die organiſchen Elemente der Perſönlichkeit des Staats 4
  • Die beiden Begriffe der Vollziehung und der Verwaltung 8
  • Der Begriff der Regierungslehre. Die drei Gebiete der Verwaltung 13
  • Begriff und Gebiete des öffentlichen Rechts 20
  • Die Bildungsformen des öffentlichen Rechts. Begriff und Bedeutung des
    Ausdrucks „Verwaltungsrecht“ 22
  • Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
  • Weſen der vollziehenden Gewalt 31
  • Begriff und hiſtoriſche Geſtaltung derſelben 33
  • Erſter Theil.
    Das Recht der vollziehenden Gewalt.
  • A.Syſtem der vollziehenden Gewalt39
  • I. Die einzelnen Gewalten in der vollziehenden Gewalt 40
  • Die Staatsgewalt im Allgemeinen. Das Heer 40
  • Die Regierungsgewalt und ihre drei Formen 43
  • Organiſches Verhältniß der drei Gewalten 46
  • II. Das Recht der vollziehenden Gewalt 50
  • Begriff deſſelben. Begriff von Geſetz und Verordnung und ihr Recht 50
  • Die Elemente der Geſchichte des Geſetzes- und Verordnungsrechts bis
    zum neunzehnten Jahrhundert 55
  • Die verfaſſungsmäßigen Begriffe von Geſetz und Verordnung. Neun-
    zehntes Jahrhundert 62
  • England. Nordamerika. Frankreich. Deutſchland 67—73
  • Seite
  • B.Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts77
  • Princip und Weſen dieſes Rechts 77
  • Erſtes Gebiet. Das perſönliche Vollziehungsrecht des Staatsober-
    haupts 86
  • Zweites Gebiet. Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht 91
  • Erſte Abtheilung. Das verfaſſungsmäßige Verordnungsrecht 93
  • I. Verhältniß zur Geſetzgebung. Die Verantwortlichkeit 94
  • 1) Die politiſche Verantwortlichkeit 95
  • 2) Die juriſtiſche Verantwortlichkeit der Regierung 99
  • II. Verhältniß zum ſtaatsbürgerlichen Recht. Das Klage- und Be-
    ſchwerderecht 105
  • 1) Das Recht des verfaſſungsmäßigen Gehorſams 106
  • 2) Das adminiſtrative Klagrecht und der adminiſtrative Proceß 113
  • 3) Das Beſchwerderecht und das Geſuchsrecht 121
  • Vergleichung des Syſtems des Klag- und Beſchwerderechts in
    England, Frankreich und Deutſchland 128
  • Das Verordnungsrecht in England 129
  • Das Verordnungsrecht in Frankreich. (La jurisdiction admini-
    strative et le contentieux.
    ) 133
  • Das Verordnungsrecht in Deutſchland. Die ſogenannten Juſtiz-
    und Adminiſtrativſachen 140
  • III. Das Petitionsrecht 148
  • Das Verhältniß der obigen Rechte zu einander 152
  • Zweite Abtheilung. Das Recht der Organiſation 153
  • I. Das verfaſſungsmäßige Organiſationsrecht 155
  • 1) Das Recht der amtlichen Organiſation 156
  • 2) Das Organiſationsrecht in der Selbſtverwaltung 158
  • II. Das Competenzrecht 161
  • 1) Begriff der Competenz 161
  • 2) Das Competenzrecht und der Competenzproceß 163
  • a) Begriff, Inhalt und Recht des Competenzſtreites 165
  • b) Begriff, Inhalt und Recht des ſogenannten Competenzconfliktes 169
  • 1) Der Competenzconflikt in England 171
  • 2) Der Competenzconflikt in Frankreich 173
  • 3) Competenzſtreit und Competenzconflikt im deutſch-franzöſiſchen
    Rechte Deutſchlands 179
  • 4) Der deutſche Begriff und Inhalt des ſogen. Competenzconfliktes 184
  • a) Das Competenzurtheil 185
  • b) Das richterliche Competenzrecht über die Geſetzesqualität 187
  • Dritte Abtheilung. Das Polizeirecht. (Das Zwangsrecht) 196
  • I. Begriff und Natur des Zwangsrechts 196
  • II. Das Princip des Zwangsrechts 201
  • III. Die Form des Zwanges 205
  • IV. Das Maß des Zwanges. Polizeiſtrafen 209
  • Seite
  • Drittes Gebiet. Das bürgerliche Verwaltungsrecht 212
  • Uebergang zur innern Verwaltungslehre. Das innere Verwaltungsrecht 219
  • Zweiter Theil.
    Der Organismus der vollziehenden Gewalt.
  • Allgemeine Grundlagen223
  • I. Der Organismus als Gegenſtand der Wiſſenſchaft. Aufgabe der
    letztern 224
  • II. Die drei Grundformen des Organismus der vollziehenden Gewalt:
    Staatsverwaltung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen 226
  • III. Die wirkenden Elemente der organiſchen Geſtaltung der vollziehenden
    Gewalt oder der Verwaltung im weitern Sinn 232
  • a) Weſen und Gegenſätze derſelben 232
  • b) Die beiden Principien der verfaſſungsmäßigen Harmonie zwiſchen
    der ſtaatlichen und der freien Verwaltung 235
  • c) Die Individualität des ſtaatlichen Organismus 238
  • IV. Die geſchichtlichen Grundlagen der Entwicklung des Verwaltungsſyſtems 245
  • V. England, Frankreich und Deutſchland 253
  • Die einzelnen großen Organismen der vollziehenden Gewalt 258
  • Erſtes Gebiet. Die perſönliche Staatsgewalt und ihre Organe 259
  • I. Organiſcher Inhalt der perſönlichen Staatsgewalt in der Verwaltung 259
  • II. Erſtes organiſches Element der perſönlichen Staatsgewalt. Die Staats-
    würden. Die Krone. Die Hofämter 260
  • III. Zweites organiſches Element der Staatsgewalt. Der Staatsrath 269
  • England. Frankreich. Deutſchland 273—279
  • Zweites Gebiet. Der Organismus der Regierung oder das Amtsweſen 281
  • I. Das Amt an ſich 281
  • 1) Der organiſche Begriff des Amts 281
  • 2) Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung und Vergleichung des Amts-
    weſens in England, Frankreich und Deutſchland 284
  • a) Das ethiſche Weſen des Amts 284
  • b) Die Elemente ſeiner Geſchichte 287
  • c) Das ſtaatsrechtliche Weſen des Amts in England, Frankreich
    und Deutſchland 292
  • II. Das Syſtem des amtlichen Organismus. Weſen und Princip des-
    ſelben. Die beiden Kategorien 298
  • 1) Das Miniſterialſyſtem. Organiſche Bedeutung deſſelben 304
  • a) Das einzelne Miniſterium. Das alte Collegialſyſtem. Weſen
    des Miniſteriums. Elemente ſeiner Organiſation. Miniſterrecht 306
  • b) Eintheilung in die einzelnen Miniſterien 311
  • c) Das Geſammtminiſterium und ſeine Organiſation 318
  • England, Frankreich und Deutſchland 321—323
  • Seite
  • 2) Das Behördenſyſtem 325
  • a) Organiſches Weſen deſſelben 325
  • b) Die Elemente der innern Organiſation des Behördenſyſtems 331
  • c) Die Elemente der äußern Geſtalt des Behördenſyſtems. Land
    und Volk 337
  • III. Das Staatsdienerrecht 342
  • 1) Begriff und Weſen 342
  • 2) Das Princip des Staatsdienerrechts 343
  • 3) Das Syſtem des Staatsdienerrechts 351
  • a) Die Anſtellung der Beamteten 351
  • b) Die Amtspflicht 354
  • c) Das Recht des Beamteten 358
  • Drittes Gebiet. Die Selbſtverwaltung und ihr Organismus 363
  • I. Der allgemeine Begriff der Selbſtverwaltung 363
  • II. Das organiſche Weſen der Selbſtverwaltung 365
  • III. Die beiden Grundbegriffe der Selbſtverwaltung, die Vertretungen und
    die Selbſtverwaltungskörper, ihre Rechtsprincipien und ihre Grund-
    formen 368
  • a) Die allgemeinen Rechtsprincipien der Selbſtverwaltung 368
  • b) Die Vertretungen. Die Principien ihres Rechts und die Grund-
    formen derſelben. Die Räthe und die Kammern 370
  • c) Die Selbſtverwaltungskörper. Die Principien ihres Rechts und
    ihre Grundformen: Landſchaft, Gemeinde und Körperſchaft 375
  • IV. Elemente der allgemeinen Geſchichte der Selbſtverwaltung. Weſen
    und Bedeutung des hiſtoriſchen Rechts derſelben 379
  • V. Die drei großen Culturſtaaten 385
  • a) Die Selbſtverwaltung Englands 385
  • b) Die Selbſtverwaltung Frankreichs 391
  • c) Die Selbſtverwaltung Deutſchlands 399
  • VI. Die Selbſtverwaltungskörper 405
  • A. Die Landſchaft 406
  • 1) England. Die alte County, der Sheriff und die Coroners, die
    neue County und die Quarterly Sessions414
  • 2) Frankreich. Das Département, das Conseil de préfecture und
    das Conseil général420
  • 3) Deutſchland. Die deutſche Landſchaft, die ſtändiſchen Verfaſſungen
    und die Provincialſtände 425
  • B. Das Gemeindeweſen 431
  • 1) Der Begriff der örtlichen Selbſtverwaltung. Ihr Syſtem. Die
    Ortsgemeinde. Die Verwaltungsgemeinde. Der Kreis 431
  • 2) Der amtliche Organismus und die geſellſchaftliche Ordnung in der
    örtlichen Selbſtverwaltung 437
  • a) Verhältniß zur Staatsverwaltung 438
  • b) Verhältniß zu den geſellſchaftlichen Grundlagen 440
  • Seite
  • 3) Die Elemente der ſocialen Geſchichte der örtlichen Selbſtverwaltung 445
  • 4) Princip, Syſtem und Recht der Selbſtverwaltung und des Gemeinde-
    weſens im neunzehnten Jahrhundert 459
  • 5) Die Grundformen der europäiſchen örtlichen Selbſtverwaltung 463
  • a) Englands Communalweſen 464
  • b) Frankreichs Municipalweſen 476
  • c) Deutſchlands Gemeindeweſen 487
  • C. Corporationen und Stiftungen 509
  • 1) Allgemeiner Charakter beider 509
  • 2) Corporationen und ihre Verwaltung 511
  • 3) Die Stiftungen und ihre Verwaltung 517
  • Viertes Gebiet. Das Vereinsweſen 520
  • I. Die Begriffe von Verein und Verbindung 520
  • II. Hiſtoriſche Entwicklung des Vereinsweſens und des Vereinsrechts 527
  • Zur Geſchichte des Vereinsrechts 539
  • III. Syſtem des Vereinsweſens 544
  • IV. Das Vereinsrecht 566
  • Allgemeine Einleitung in das Vereinsrecht 567
  • 1) Begriff des Vereins. Unterſchied von Geſellſchaft und Verein 567
  • 2) Die juriſtiſche Perſönlichkeit 575
  • a) Begriff der juriſtiſchen Perſönlichkeit 576
  • b) Die Form der juriſtiſchen Perſönlichkeit. Die wirthſchaftliche,
    die verwaltungsrechtliche und die ſtaatliche Perſönlichkeit 577
  • c) Inhalt der juriſtiſchen Perſönlichkeit 580
  • 3) Begriff des Vereinsrechts und Inhalt deſſelben 583
  • Syſtem des Vereinsrechts. Begriff und Inhalt deſſelben 586
  • Erſter Theil. Das innere Vereinsrecht. Syſtem deſſelben 587
  • 1) Das allgemeine Verfaſſungsrecht des Vereinsweſens. Mitgliedſchaft
    und Generalverſammlung 589
  • a) Die Mitgliedſchaft 589
  • b) Die Generalverſammlung 591
  • 2) Die allgemeinen Elemente des Vereinsorganismus 593
  • a) Die Vertretungsorgane. Der Vorſtand. Der Verwaltungsrath.
    Der Reviſionsausſchuß 593
  • b) Die Vollziehungsorgane. Die Direktion. Die Bedienſteten 605
  • α) Die Direktion 606
  • β) Die Bedienſteten 610
  • 3) Das allgemeine Verwaltungsrecht des Vereinsweſens. Die Bei-
    tragsvereine. Die Gegenſeitigkeitsvereine. Die Erwerbsvereine 611
  • Zweiter Theil. Das öffentliche Vereinsrecht. Begriff 616
  • 1) Das öffentliche Verfaſſungsrecht der Vereine 617
  • a) Begriff der Genehmigung des Vereins 617
  • b) Das Recht der Genehmigung. England, Frankreich, Deutſchland 621
  • c) Die juriſtiſche Perſönlichkeit als Moment des Vereinsweſens 629
  • Seite
  • 2) Das öffentliche Verwaltungsrecht des Vereinsweſens. Begriff und
    Princip 631
  • a) Die Organe 634
  • 1) Das Vereinscommiſſariat 635
  • 2) Die adminiſtrativen Organe 636
  • b) Das Oberaufſichtsrecht 637
  • 1) Die Ueberwachung der Vereine 638
  • 2) Das Princip der Oeffentlichkeit 640
  • 3) Suſpendirung, Schließung und Verbot des Vereins 642
  • Das beſondere Vereinsrecht 646
[[1]]

Einleitung.
Der allgemeine organiſche Staatsbegriff.


Wenn Begriff und Definition den Anforderungen der Wiſſenſchaft
entſprechen ſollen, ſo müſſen beide ſich als ein Entwicklungsmoment
eines höheren, allgemeineren Begriffes ergeben. Das gilt für alle
wiſſenſchaftliche Begriffsbeſtimmung, und ſo auch für den Begriff der
Verwaltung. Dieß zu leiſten iſt die Aufgabe unſrer Einleitung.


Wenn Begriff und Definition dem praktiſchen Bedürfniß entſprechen
ſollen, ſo müſſen beide für jeden einzelnen Theil des Ganzen zutreffend
erſcheinen. Dieß nachzuweiſen, iſt die Aufgabe des eigentlichen Inhalts
unſrer Darſtellung.


Es iſt daher bei dem Begriffe der Verwaltung nothwendig, ihn
auf den allgemeineren Begriff des Staats zurückzuführen, ihn aus dem-
ſelben organiſch zu entwickeln, und ihm daraus ſeine Stellung, ſeinen
Umfang und ſeine ethiſche, rechtliche und wirthſchaftliche Bedeutung zu
beſtimmen. Die Verwaltung iſt ihrem Inhalt und ihrer Aufgabe nach
ſo unendlich wichtig, daß wir dem Einzelnen eine Arbeit und Mühe
nicht erſparen können, ohne welche die Wiſſenſchaft niemals zu einem
feſten Reſultat gelangen kann. Und das großartige Leben, welches ſich
dabei vor unſern Blicken entfaltet, wird die Mühe lohnen, welche die
unendliche Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen auf wenige einfache und
herrſchende Elemente zurückführt, deren Verſtändniß wir als die Bedin-
gung des Verſtändniſſes des Ganzen betrachten müſſen.


Wir werden daher in dieſer Einleitung zuerſt den Begriff der Ver-
waltung für ſich, dann ſeine organiſche Stellung im Staate, und end-
lich ſeinen organiſchen Inhalt entwickeln. Und es wird das nicht ſchwierig
ſein, wenn man ſich nur deſſen enthalten kann, hergebrachte Ausdrücke
in hergebrachter Unklarheit beizubehalten. Wir werden zum Schluſſe
verſuchen, die Unfertigkeit der ganzen bisherigen Behandlungsweiſe
dieſes Gebietes auf ihre hiſtoriſchen Grundlagen zurückzuführen.


Stein, die Verwaltungslehre. I. 1
[2]

Das Leben des Staats und ſeine Wiſſenſchaft.


Wir ſind gezwungen, einen fertigen Begriff des Staats hier an
die Spitze zu ſtellen, ohne ſeine tiefere philoſophiſche Begründung unter-
nehmen zu dürfen. Der entſcheidende Beweis für ſeine Richtigkeit muß
dann in ſeiner Fähigkeit geſucht werden, von ihm aus jede den theo-
retiſchen ſowie den praktiſchen Inhalt des Staats betreffende Frage zu
beantworten.


Die Gemeinſchaft der Menſchen erſcheint in der That nicht bloß
als eine Thatſache, ſondern als eine abſolute Bedingung für das höchſte
Princip alles Lebens der Perſönlichkeit, der vollen und freien Entwick-
lung derſelben. Als eine abſolute, das iſt, in der Natur der Perſön-
lichkeit ſelbſt liegende Bedingung für dieſe Erfüllung des Weſens und
der Beſtimmung des letztern iſt ſie ſelbſt nicht eine Folge eines Beſchluſſes
oder Vertrages der Einzelnen zu betrachten, ſondern ſie iſt, wie die
einzelne Perſönlichkeit, durch ſich ſelbſt vorhanden. Sie hat daher ihren
Grund in ſich, unabhängig von dem Einzelwillen und ſelbſt von der
äußern Natur: ſie iſt vielmehr ein Ausfluß deſſelben Weſens, aus dem
die einzelne Perſönlichkeit entſprungen iſt. Sie kann nie aufgehoben
werden, ſo lange es Einzelne gibt; ſie iſt, wie man es anders aus-
drücken kann, dem Begriffe der Perſönlichkeit immanent; es iſt nicht
möglich, ohne ſie den letztern auszudrücken. Das iſt es, was ſchon
Ariſtoteles mit ſeinem ζωον πολιτικον bezeichnen wollte, und was
am Ende auch allen Vertragstheorien zum Grunde liegt. Denn die
Unmöglichkeit, die Nothwendigkeit eines ſolchen Vertrages zu läug-
nen oder auch nur zu bezweifeln, — und nie hat das jemand verſucht
— iſt ſelbſt allein der Beweis für das nicht mehr vertragsmäßige, ſon-
dern ſelbſtbedingte Daſein der menſchlichen Gemeinſchaft.


Iſt ſie aber ein ſolches ſelbſtbedingtes Weſen, ſo iſt ſie eben nicht
mehr bloß Thatſache und Bedingung für die Einzelnen, ſondern ſie iſt,
das höchſte Weſen der letztern ſelbſt beſitzend, daſſelbe was dieſe ſelber
ſind, eine Perſönlichkeit. Und dieſe zur Perſönlichkeit, zum per-
ſönlichen Bewußtſein, zum perſönlichen Wollen und Handeln erhobene
Gemeinſchaft der Menſchen iſt der Staat.


Indem nun der Staat die zum individuellen, perſönlichen Leben
erhobene Gemeinſchaft der Einzelnen, eine ſelbſtändige, höhere und un-
endlich großartigere Geſtalt der Perſönlichkeit iſt, als der Einzelnen, ſo
folgt, daß die Grundbegriffe und Grundverhältniſſe der einzelnen Per-
ſönlichkeit bei ihm nicht bloß im Allgemeinen wieder erſcheinen, ſondern
daß ſie vielmehr in höherer und größerer Form in ihm da ſein müſſen


[3]

Nun ſehen wir in der Geſammtheit der Verhältniſſe, welche das
einzelne Individuum umfaſſen und enthalten, zwei ſich ewig wieder-
holende Faktoren erſcheinen und thätig ſein. Der erſte dieſer Faktoren
— und wir müſſen hier ſo kurz als möglich ſein — iſt die freie Selbſt-
beſtimmung der Perſönlichkeit, der unendliche Keim ihrer Entwicklung.
Der zweite dieſer Faktoren iſt dagegen die äußere Welt, die ihr eigenes
Daſein hat, und die den Einzelnen auf allen Punkten umgibt und be-
ſchränkt. Sie iſt die ewig neue Quelle der Unfreiheit, des Beſtimmt-
werdens, der Unterwerfung der an ſich freien Perſönlichkeit unter das
ihr gegenſtändliche Daſein.


Aus dieſen beiden einander entgegengeſetzten Faktoren geht nun
ein Proceß hervor, den wir als den Proceß der Unterwerfung des
zweiten unter den erſten, der äußern Welt in all ihren Formen unter
die freie Selbſtbeſtimmung des Individuums bezeichnen. Er beginnt
bei der rein natürlichen Form des Daſeins der Perſönlichkeit, bei der
Befriedigung des materiellen Bedürfens, und erhebt ſich bis zu der
Berührung deſſelben mit der Gottheit zum Glauben, Lieben und Ahnen.
In allen tauſend verſchiedenen Formen, Bewegungen und Erfolgen iſt
dennoch dieſer Proceß immer derſelbe. Wir nennen ihn mit Einem
Worte: er iſt das Leben der Perſönlichkeit.


Wie es daher ein Leben der einzelnen Perſönlichkeit gibt, ſo gibt
es auch ein Leben des Staats.


Dieß Leben der Perſönlichkeit erſcheint nun dem Weſen derſelben
gemäß, nicht etwa aus einer Reihe von zufälligen oder willkürlichen
Erſcheinungen und Thatſachen. Es hat auf der einen Seite ein hohes
Ziel; es zeigt uns die höchſte, vollendetſte Form der irdiſchen Perſön-
lichkeit mit der Geſammtheit aller äußern natürlichen Dinge im Kampfe;
es iſt gleichſam die höchſte Anſtrengung des perſönlichen Daſeins, einer
mit ſeiner ganzen geſammelten, auf Einen Punkt vereinten Kraft der
Menſchen, um ſich dieſe äußere Welt zu unterwerfen; es iſt ander-
ſeits eben dadurch bedingt durch den gegebenen Inhalt des Weſens der
Perſönlichkeit wie der natürlichen Welt. Das Leben des Staats ent-
faltet ſich daher als ein großartiges Bild, aber als ein Bild, deſſen
Grundzüge feſt und klar in dem Weſen ſeiner beiden Elemente gegeben
ſind, und das daher in allen ſeinen einzelnen Erſcheinungen als eine
organiſche Bethätigung dieſer Elemente erſcheint. Und darum gibt es
nicht bloß eine Kenntniß dieſes Lebens des Staates, ſondern es gibt
eine Wiſſenſchaft deſſelben. Denn das iſt der Unterſchied zwiſchen
der bloßen Kunde der Thatſachen und der Wiſſenſchaft, daß dieſe das
Daſeiende, welches ſie weiß, als einen in ſeinen Grundlagen erkennbaren,
und darum für ſie nothwendigen Proceß begreift, und erſt da befriedigt
[4] iſt, wo ſie jede einzelne Erſcheinung in ihre tiefer wirkenden Urſachen
aufgelöst hat. In dieſem Sinne reden wir von der Wiſſenſchaft des
Staats als von der Wiſſenſchaft ſeines organiſchen Lebens. Sie iſt
die höchſte Form der Wiſſenſchaft des Lebendigen, und umfaßt das
ganze, in der äußern Welt thätige Daſein der Perſönlichkeit. Sie hat
zu ihrer Vorausſetzung die Kunde, und in ihrem höhern Stadium die
Wiſſenſchaft des natürlichen Daſeins, zu ihrem Inhalt die Wiſſenſchaft
des Proceſſes, mit welchem der Staat ſich das erſtere unterwirft. Ihr
gehört alles Folgende an. Aber eben um dieſer ihrer Natur willen
muß — und die weitere Darſtellung wird zeigen, daß das auch ſeine große
unmittelbar praktiſche Bedeutung hat — der beſondere Theil über ſein
organiſches Verhalten zum Ganzen klar ſein. Und wir ſind daher ge-
zwungen, die Gebiete der Wiſſenſchaft vom Staate darzulegen, um die-
jenigen beiden großen Gebiete deſſelben, die unſere eigentliche Aufgabe
bilden, die Vollziehung und die Verwaltung, in ihrem Weſen und ſelbſt
in ihrem Rechte hinreichend beſtimmen zu können.


Die organiſchen Elemente der Perſönlichkeit des Staats.


Die erſte Aufgabe der Wiſſenſchaft des Staats beſteht demnach
darin, den Begriff des Staats als jener höchſten Form der Perſönlichkeit
in die Elemente aufzulöſen, deren Zuſammenwirken das Leben des
Staats erzeugt und ordnet.


Es iſt kein Zweifel, daß dieſe Elemente, da wir den Staat als
die vollendete Form der Perſönlichkeit, wenn auch als eine werdende
ſetzen, im Weſen der Perſönlichkeit überhaupt gegeben ſeyn müſſen, die
im Staate nur eine höhere Geſtaltung empfangen.


Dieſe Elemente nun ſind die folgenden:


Jede Perſönlichkeit iſt zuerſt ein ſelbſtbedingtes Weſen, das ſeiner
Natur nach alles auf ſich bezieht und zum Inhalt ſeiner ſelbſt macht.
Wir nennen dieſe Funktion, die im innerſten Weſen der Perſönlichkeit vor
ſich geht, die Selbſtbeſtimmung, und zwar in ſofern jene Funktion
überhaupt Objekte aus der äußern Welt hat. In ſofern aber dieſe
Gegenſtändlichkeit hinweggedacht wird, erſcheint das reine Sich auf Sich
beziehen, das reine durch und in ſich ſelbſt ſeyn, oder wie man es ſonſt
bezeichnen will; und dieß reine für ſich ſeyn iſt das Ich der Perſön-
lichkeit. Im einzelnen Menſchen verſchwindet daſſelbe; es hat keine
eigene ſelbſtändige Erſcheinung. Im Staate dagegen erſcheint es
ſelbſtändig als das Staatsoberhaupt, das im Königthum ſeine
vollendetſte Form empfängt.


Dieſe, mit dem Begriff des Ich gegebene, und das eigentliche
[5] Weſen der Perſönlichkeit bildende Selbſtbeſtimmung der letzteren, in
ſofern ſie es mit den Thatſachen, Erſcheinungen und Kräften der äußern
Welt zu thun hat, und dieſe in das innere Leben der Perſönlichkeit
aufnimmt, iſt der Wille. Die große Funktion des perſönlichen Willens
in der äußern Welt beſteht darin, dem Natürlichen und dem Gegen-
ſtändlichen einen neuen, durch die Perſönlichkeit geſetzten Zweck zu
geben. Es gibt daher kein abſtraktes Wollen; das Etwas, was das
Wollen will, iſt eben der Zweck, den die äußern Dinge durch die Per-
ſönlichkeit empfangen ſollen. Der Wille gibt daher vermöge des Zweckes
den Dingen ein neues Leben, das perſönliche. Und dies Moment des
Wollens iſt nun gerade wie bei der Perſönlichkeit in ihrer abſtrakteſten
Geſtalt, im Staate nicht bloß ganz ſelbſtändig vorhanden, ſondern es
hat in ihm ein eigenes, nur für das Wollen beſtimmtes Organ. Dieſes
Organ nennen wir ſchon hier die geſetzgebende Gewalt, und die
ſelbſtändige reine Thätigkeit des Wollens die Geſetzgebung. Der
einzelne beſtimmte Wille dieſer Gewalt iſt das Geſetz.


In der einzelnen Perſönlichkeit nun wie im Staate hat dieſer für
ſich gedachte ſelbſtbeſtimmte Wille zu ſeinem Inhalt nur noch diejenige
Geſtalt des äußern Daſeyns, welche der Wille will; noch nicht die
wirklichen Verhältniſſe, auf welche er ſich bezieht. Es muß daher ein
zweiter Proceß entſtehen, durch welchen die Perſönlichkeit dieſen Inhalt
ihres Willens in der äußern wirklichen Welt zu verwirklichen trachtet.
Dieſen Proceß nennen wir die That. Die That, indem ſie die Ge-
ſammtheit der Momente und Geſtaltungen des äußern Lebens in ſich
aufnimmt und ſie dem Willen unterwirft, iſt eine unendlich vielgeſtal-
tige und wechſelnde. Sie iſt es, welche dem abſtrakten Begriffe der
Perſönlichkeit erſt ſeinen concreten Inhalt gibt; in ihr iſt das wirkliche
Leben der letztern enthalten; ſie iſt aber zugleich das Gebiet, in wel-
chem die ſelbſtändigen Kräfte des äußern Daſeyns gegenüber dem Willen
der Perſönlichkeit ſich zur Geltung bringen, und die reine und unbe-
dingte Verwirklichung dieſes Willens modificiren. Die That nimmt
daher dieſe Gewalt der Dinge in den Willen der Perſönlichkeit auf;
ſie iſt dadurch wieder nicht bloß die einfache Erſcheinung dieſes Willens,
ſondern ſie hat, die Verſchmelzung der Wirklichkeit mit dem Willen
vollziehend, ein ſelbſtändiges Leben, eine ſelbſtändige Funktion, die nie-
mals ganz von dem rein ſelbſtbeſtimmten Willen der Perſönlichkeit er-
füllt und erſchöpft, ja nicht einmal immer von ihm beherrſcht wird.
In ihr zeigt es ſich erſt, daß das was wir das Leben nennen, eine
doppelte Bewegung enthält, die einen ganz verſchiedenen Charakter hat,
und die wohl getrennt werden muß, will man überhaupt das wirkliche
Daſeyn der Perſönlichkeit verſtehen. Der erſte Theil dieſer Bewegung
[6] iſt derjenige Proceß, durch welchen die Perſönlichkeit den Eindruck der
Dinge in ſich aufnimmt, und ſie in ſich durch ihren Willen beſtimmt;
der zweite Theil iſt der Proceß, der dieſen Willen in die Außenwelt
trägt, und der dadurch, indem er die letztere unterwirft, von ihr wie-
der mannigfach bedingt wird. Das iſt für jede Perſönlichkeit gültig,
und mithin auch für den Staat. Und es verſteht ſich, daß dieſer Selb-
ſtändigkeit der That im Weſen des Staates nun auch beſtimmte Organe
entſprechen und beſtimmte Geſetze und Regeln, nach welchen dieſelbe
vollbracht wird. Dieſe letzteren aber zerfallen wieder in die beiden
großen Grundformen der Vollziehung und der Verwaltung; und
bei ihnen beginnt unſere eigentliche Aufgabe.


Allerdings iſt hier nicht der Ort, weder eine hiſtoriſche, noch eine kritiſche
Beurtheilung der Staatsphiloſophie und der Begriffe vom Staate zu geben.
Allein es iſt dennoch unumgänglich unſere Grundauffaſſung neben der bisherigen
ſcharf zu beſtimmen, da nur dadurch für viele das Folgende ganz verſtändlich
werden dürfte.


Der gemeinſame Charakter aller Staatsbegriffe ſeit Plato beruht darauf,
den Staat als die organiſche Conſequenz irgend eines andern Begriffes
zu entwickeln; ſei es des Rechts, ſei es der sociabilitas, ſei es des Gemeinwohls,
ſei es des Weſens der ſittlichen Geſetze, ſei es des ſich ſelbſt ſetzenden Begriffes.
So heftig auch der Streit unter dieſen verſchiedenen Anſichten ſein mag, ſo ſind
ſie doch niemals ſehr verſchieden geweſen, wenigſtens in ihrem Princip. Faſt
alle haben zwar den Irrthum gemein — wenigſtens kenne ich keinen, der ihn
nicht theilte — daß jeder von allen dieſen Philoſophen bloß dadurch, daß er
auf einem andern Wege zu ſeinem Begriffe kam, auch einen weſentlich andern
Begriff vom Staate gehabt habe. Es wäre aber ſehr leicht zu zeigen, daß am
Ende der in allen dieſen Philoſophien ſo entſtandene Staat bei allen Philoſophen
ſtets faſt ganz genau derſelbe iſt.


Wir müſſen dem unſere Anſchauung entgegenſetzen. Wir thun es, weil
es gewiß bleibt, daß alle Wiſſenſchaft zuletzt ihre höchſte Ordnung und Klarheit
doch nur durch die Philoſophie erhält. Vielleicht am meiſten in der Staats-
wiſſenſchaft; gewiß innerhalb derſelben am meiſten auf unſerm Felde.


Der Staat iſt weder eine Anſtalt, noch eine Rechtsforderung, noch eine
ethiſche Geſtaltung, noch ein logiſcher Begriff, ſo wenig wie das Ich des Men-
ſchen. Der Staat iſt eine — die höchſte materielle — Form der Perſön-
lichkeit
. Es iſt ſein Weſen, ſeinen Grund in ſich ſelbſt zu haben. Es kann
ſo wenig bewieſen werden, und ſo wenig „begründet“ werden, als das Ich. Er
iſt er ſelber. Ich kann ihn, wie das Ich, nicht aus einem andern entwickeln.
Er iſt die gewaltige Thatſache, daß die Gemeinſchaft der Menſchen,
außerhalb und über dem Willen der Gemeinſchaft ſelbſt, ein eigenes, ſelb-
ſtändiges und ſelbſtthätiges Daſein hat.


Der Staat hat daher nicht etwa, wie die bisherige Philoſophie ſagt, nur
eine „Beſtimmung,“ und iſt mit ihr erſchöpft, ſondern er hat ein Leben. Dieß
[7] Leben liegt in ſeiner freien Selbſtbeſtimmung. Er kann ſogar Unrecht thun,
wenn auch nur der Idee der Perſönlichkeit, nicht ſich ſelber oder den Dingen.
Er wird erzeugt und ſtirbt. Ihn richtet Gott in der Geſchichte.


Das unbedingt und klar auszuſprechen, iſt hier deßhalb nothwendig, weil
zunächſt aus dieſer Anſchauung der durchgreifende Unterſchied zwiſchen der fol-
genden und der gewöhnlichen Behandlung der Lehre von Vollziehung und Ver-
waltung des Staats folgt. Dieſer wieder liegt nicht etwa in der formalen An-
erkennung der Perſönlichkeit im Staat. Dieſe iſt alt, und hat ſich in der letzten
Philoſophien, namentlich des jüngern Fichte (Syſtem der Ethik II. 21. Abth.
z. B. S. 329 „der Staat iſt das umfaſſendſte ſittliche Individuum“ und Röß-
lers (Allgem. Staatslehre, z. B. S. XXIII) wieder Bahn gebrochen. Mit dieſer
formalen Idee iſt nichts gewonnen; ſie erſcheint ſelbſt nur als Moment einer
dialektiſchen Conſequenz. Und zwar darum iſt nichts damit gewonnen, weil
ſie nicht zu demjenigen gelangen kann, was eigentlich das Weſen der Perſön-
lichkeit ausmacht, der That derſelben. Die That mit ihrem Weſen und In-
halt iſt der Grundbegriff für Vollziehung und Verwaltung. Sie kann nicht
aus Prämiſſen entwickelt werden; ſie iſt das, was in der Perſönlichkeit das
ſchaffende Element, die lebendige Ahnung der Gottheit iſt. Sie iſt das Werden
nicht durch das Geſetz des Denkens, ſondern durch den abſolut freien Inhalt des
Ich. Wir wiſſen recht wohl, daß es in der ganzen Philoſophie keinen Begriff
und keine Lehre von der That gibt; hat doch nicht einmal die Statiſtik zu ſagen
vermocht, was eine Thatſache ſei. Der Grund der That iſt das unendliche
Ich; das Daſeiende und Begriffene iſt erſt der Inhalt der That. Die alte
vorkantiſche Philoſophie hat ſie einfach als thatſächliches Corollarium der Pflicht
verſtanden; die Identitätsphiloſophie hat ſie dialektiſch aufgehoben; merkwürdig
genug, daß ſelbſt Hegel nicht zu der Frage kam, ob neben dem was wirklich
iſt, auch das was wirklich wird, vernünftig iſt. Die neueren Philoſophen,
Herbart, Kraus, Schopenhauer, von andern zu ſchweigen, kennen ſie überhaupt
nicht. Aber die That iſt die Wirklichkeit der Perſönlichkeit. Erſt in ihr iſt dieſe
das was ihr Weſen iſt, Selbſtbeſtimmung; in der That iſt ſie ihr eigener Grund.
Die Philoſophie hat dieſen Begriff nicht. Daher hat die ganze Staats-
philoſophie keinen Begriff der Verwaltung; höchſtens daß die Verwal-
tung wie bei Fichte dem älteren (Naturrecht 2. Thl.) als Pflicht, bei Fichte
dem jüngeren als Aufgabe des Staats erſcheint. Die Philoſophie iſt daher in
ihrer bisherigen Geſtalt ganz unfähig, der Staatslehre über die Verfaſſung
hinaus den Weg zu zeigen. Wir werden ſie darum künftig in unſerer Arbeit
nicht gebrauchen. und nicht mit ihr zu rechten haben. Denn ohne den Begriff
und Inhalt der That zu entwickeln, kann man weder Vollziehung noch Ver-
waltung begreifen. Daher iſt nirgends im Gebiete der Verwaltung ein Einfluß
der Philoſophie vorhanden, während er im Gebiete der Verfaſſung um ſo größer
iſt, und dieſer Einfluß iſt unmöglich, ſo lange man Weſen und Inhalt des
Staats nur als Conſequenz eines andern Begriffes ſetzt. Denn iſt er nichts
als das, ſo kann er auch nichts als dieſe Conſequenz vollziehen; er kann
„Zwecke“ und „Aufgaben“ und „organiſchen Inhalt“ haben, aber er kann in
ſeiner That nicht mit ſeinem Weſen in Gegenſatz gerathen, das Thun
[8] deſſelben kann nicht ſelbſtändig gegenüber dem Wollen auftreten; es kann zwar
formell eine Verwaltung und Vollziehung, aber kein Verwaltungsrecht erſcheinen.
Die Möglichkeit des Verſtändniſſes des letzteren hört da auf, wo ich den Staat
aus dem Begriff des Rechts entwickele; ſie beginnt da, wo ich ihn als eine
ſelbſtthätige Form der Perſönlichkeit erfaſſe. Es gibt keinen andern Weg. Der
aber leitet noch zu vielen andern Dingen, welche als hohe, erhabene Ziele der
Wiſſenſchaft künftiger Geſchlechter vorbehalten bleiben. Wir können hier nur
die erſten, rohen Grundlagen finden. Eine größere Zeit wird Größeres leiſten.
Möge ſie bald kommen. In ihr werden wir die goldenen Tafeln im Graſe
wiederfinden. — Denen aber, die dieſe Grundgedanken für „myſtiſch“ erklären
möchten, wollen wir zum Schluſſe zurufen, daß die gewaltigſten Wahrheiten
des geiſtigen Lebens in der Geſchichte und im Einzelnen ſtets diejenigen geweſen
ſind und bleiben werden, die man nicht bewieſen hat und nicht beweiſen kann.
Den Gründen folgen wir, indem wir neue Gründe aus ihnen erzeugen; aber
das göttliche Leben der höchſten Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft ruht nicht auf
Beweiſen und Urſachen.


Die beiden Begriffe der Vollziehung und der Verwaltung.


Indem wir nunmehr den Begriff der Vollziehung von dem der
Verwaltung trennen, und dieſe Trennung der ganzen folgenden Arbeit
zum Grunde legen, wird es wohl nothwendig werden, dieſen Unter-
ſchied ſo tief und ſo klar als möglich zu begründen.


Offenbar iſt jener erſte von uns bezeichnete Proceß, die Selbſtbe-
ſtimmung des Willens der Perſönlichkeit, weder im Weſen der letztern,
und noch weniger im Staate ein einfacher. Wir unterſcheiden hier
vielmehr eine ganze Reihe von Stadien und Verhältniſſen, welche erſt
zuſammen genommen die Bildung des Willens oder die Geſetzgebung
enthalten. Dieſe einzelnen Momente in der Bildung des Staatswillens
kann man jedoch in zwei Hauptgruppen theilen; jede dieſer Gruppen
enthält zwar wieder eine Menge von Momenten, jedoch werden dieſelben
von gemeinſchaftlichen Grundlagen beherrſcht. Wir nennen ſie die Be-
rathung und die Beſchlußfaſſung. Verhältniſſe und Rechte beider ge-
hören in die Verfaſſungslehre.


Ebenſo nun wie ſich in der Willensbeſtimmung des Staats ſolche
Grundverhältniſſe ſcheiden, ſo iſt es auch in der Thätigkeit deſſelben
der Fall.


Dieſe Thätigkeit des Staats, wie wir ſie als ſelbſtändiges Moment
im perſönlichen Leben deſſelben ſo eben vorgelegt, und welche ſeinen
Willen im wirklichen Leben vollbringt, zeigt bei genauer Betrachtung
einen doppelten Charakter.


Einerſeits hat ſie den Willen der einheitlichen Perſönlichkeit des
[9] Staats zum Inhalt, und muß daher in allen Formen und Geſtaltun-
gen, die ſie annehmen mag, immer dieſelbe ſein. Sie muß von dieſem
Standpunkt betrachtet, nichts zum Inhalt haben, als eben den Willen
des Staats, wo ein ſolcher Wille beſtimmt und gegeben vorliegt; wo
aber ein ſolcher ausdrücklicher Wille mangelt, da muß ſie aus dem
Weſen des Staats die Aufgabe und Richtung ihrer Thätigkeit ſchöpfen,
und die formelle Willensbildung des Staats durch ihren eigenen Willen
erſetzen. Sie erſcheint daher hier nur noch als die reine Kraft des, ſeinen
Willen vollziehenden oder durch ſeine Thätigkeit ſein Weſen verwirk-
lichenden Staats, noch ohne Rückſicht auf die Objekte deſſelben; und in
dieſem Sinne nennen wir ſie die vollziehende Gewalt, und dieſe
abſtrakt, und noch ohne beſtimmten Inhalt gedachte Thätigkeit dieſer
Gewalt die Vollziehung.


Andrerſeits iſt dieſe vollziehende Gewalt für ſich gedacht, nur der
Organismus der Möglichkeit der Thätigkeit, oder die Kraft für ſich.
Die wirkliche Thätigkeit entſteht, ſowie dieſe Vollziehung nun die wirk-
lichen Verhältniſſe und Gegenſtände des Staatslebens ergreift, und in
ihnen den Willen oder das Weſen des Staats concret zur Verwirklichung
bringen will. Hier empfängt die vollziehende Gewalt ihre Aufgabe an
ihrem Objekte; ſie muß wie ſchon geſagt, daſſelbe innerlich und äußer-
lich verarbeiten; die Geſetze des Lebens dieſer Objekte bringen ſich zur
Geltung und geben der Vollziehung Geſtalt und Maß, Mittel und Ziel;
die großen Gebiete deſſelben theilen die letzten ſelbſt wieder in große,
ihnen entſprechende Funktionen, und die Vollziehung, inſofern ſie
auf dieſe Weiſe Geſtalt, Eintheilung und Namen durch Natur und
Kraft ihrer Objekte empfängt, heißt dann die Verwaltung.


Man kann daher ſagen, daß das thätige Leben des Staats ſich in
dieſen zwei Grundformen, Vollziehung und Verwaltung darſtellt; jene
die Kraft an ſich, aus welcher die Thätigkeit hervorgeht, dieſe die wirk-
liche Thätigkeit, welche die Kraft enthält. Es leuchtet ein, daß in dieſem
Sinne Vollziehung und Verwaltung zugleich den Ausdruck der beiden
Beziehungen enthalten, in denen die Thätigkeit des Staats ſteht. Die
Vollziehung bedeutet und enthält das Verhältniß der Thätigkeit zum
Willen und Weſen zu Geſetz und Natur des Staats, die Verwaltung
das Verhältniß deſſelben zum concreten Leben, das der Staat umfaßt,
und zu der Macht der Thatſachen in ſeinem materiellen Daſein. Da-
her laſſen ſich beide äußerlich gar nicht trennen; es giebt keine Voll-
ziehung ohne eine Verwaltung, und keine Verwaltung ohne eine Voll-
ziehung; ſie ſind ſtets verbunden wie zwei Seiten derſelben Fläche, aber
dennoch ſtets verſchieden wie jene. Allerdings können wir in der Pſycho-
logie des Einzelnen jenen Unterſchied thatſächlich nicht verfolgen; die
[10] Gränzen beider Funktionen gehen ſo innig in einander, daß die Scheidung
als Abſtraktion erſcheint. Allein im Staate ſind ſie ſehr beſtimmt trenn-
bar, und ihre Trennung wird ſogar zu einer der wichtigſten Vorausſetzun-
gen des Verſtändniſſes des Staatslebens. Denn das iſt ja das Weſen der
höhern Perſönlichkeit, daß in ihr die unklaren Elemente der niedern ſich
ſelbſtändig zur Geltung bringen. Und es wird ſogar nicht einmal ſchwierig
ſein, jenen Unterſchied ſchon hier ſo unzweifelhaft darzulegen, daß er ſo-
gleich als Grundlage der ganzen folgenden Darſtellung dienen könne.


Die Lehre von den „Staatsgewalten.“ — Der Begriff der Staats-
gewalten, ihre Benennung, Scheidung und Begränzung gehört zwar eigentlich
der Verfaſſungslehre an, iſt aber ſo durchgreifend wichtig, und ſo ſehr beinahe
vergeſſen, daß wir ſie zum Verſtändniß unſerer Auffaſſung hier in ihren Grund-
zügen bezeichnen müſſen.


Unter den „Staatsgewalten“ verſteht man eigentlich (unklar) die großen
organiſchen Funktionen des Staats. Das Auftreten des Begriffes ſetzt daher
die entſtehende Herrſchaft des Staats über die territoriale Zerſplitterung ſeiner
Macht im Lehnsweſen voraus; er muß angeſehen werden als der Anfang des
organiſchen Verſtändniſſes des Staatslebens. Er iſt daher die höhere Form
derſelben Vorſtellung, welche die „Hoheitsrechte“ (Regalien) bezeichnen. Die
Hoheitsrechte des Staats ſind die Rechte auf die im Weſen des Staats liegenden
Funktionen, aber in ihrer lehnsrechtlichen Entſtehung gedacht, gegenüber den
Rechten der Grundherrlichkeit; ſie enthalten daher beſtändig eine unverkennbare
Verſchmelzung privatrechtlicher und öffentlich rechtlicher Rechtstitel. Erſt in der
Vorſtellung von „Staatsgewalten“ tritt die Idee des Staats ſelbſtſtändig her-
vor; Hoheitsrechte kann der Staat haben, zum Theil aber auch nicht haben,
oder verlieren, wie es ſeine geſchichtliche Entwicklung mit ſich brachte; die Staats-
gewalten dagegen ſind mit ſeinem organiſchen Weſen ſelbſt, von ihm untrennbar,
gegeben. Man muß in dieſer Beziehung die franzöſiſche und die deutſche Auf-
faſſung unterſcheiden. Die erſtere legt den Begriff der Staatsgewalten, die
letztere den Begriff der Hoheitsrechte zum Grunde, um zu einer organiſchen
Auffaſſung des neueren Staatslebens zu gelangen. Die erſte will damit ein
Syſtem der organiſchen Freiheit, die letztere ein Syſtem des organiſchen Rechts
ſetzen. Die franzöſiſche Auffaſſung beginnt ſchon mit Montesquieu. Bei ihm
treten die „trois sortes de pouvoir: la puissance législative, la puissance
exécutrice des choses qui dépendent du droit des gens
(die Militärmacht)
et la puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit civil“ L. XI.
ch. VI.
auf. Die letztere iſt die puissance de juger, alſo eigentlich gar keine
vollziehende, ſondern eine richterliche Gewalt. Die pouvoirs intermédiaires,
von denen er 1—4 redet, ſind vielmehr die ſtändiſchen Ordnungen der Geſell-
ſchaft. Der wichtigſte Satz im ganzen Esprit des lois iſt ohne Zweifel der,
daß die Freiheit nur in der „Trennung jener drei Gewalten“ geſichert werden
könne. Was er ſich unter dieſer Trennung dachte, läßt er ungeſagt. Allein
das Streben nach Freiheit, das die ganze Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts
erſaßt, läßt die Vorſtellung entſtehen, daß auf dem richtigen Verſtändniß der
[11]pouvoirs des Staats die Organiſation jeder freien Verfaſſung beruhe. So
ſchon in der Encyclopädie von Al. und Did. Art. Représentant, Pouvoir und
a. a. O. Sieyes, die perſonificirte Reflexion der Revolutionen, ſcheidet dann die
drei Gewalten etwas anders: die geſetzgebende, die aktive oder exekutive, welche
die beiden Gewalten, die richtende und die verwaltende, zugleich enthielt, und
die coercitive; (Oeuvres I. 360) welche Auffaſſung zu den vier Gewalten der
Conſtitution von 1791 wurde. Damit iſt dann dieſe theoretiſche Scheidung in
die Verfaſſungsurkunden aufgenommen und erhält ſich bis auf die neueſte Zeit,
ohne daß man damit ein klares Bild gewonnen hätte; ſo in den von Klüber
§. 100 bereits angeführten Chartes von Braſilien 1823 und Portugal 1826,
dann in der Verfaſſung von Neapel 1848, Toscana und Piemont (eod.); Benj.
Conſtant bringt dann unter der Reſtauration ein neues Moment hinein. Er
fühlt, daß wenn man mit dem Syſtem der Pouvoirs den Staat umfaſſen will,
auch das Königthum als eine eigenthümliche „Gewalt“ erſcheinen müſſe, und
bezeichnet es als das Pouvoir régulateur; dadurch entſtand das wunderliche
Verhältniß, daß der König zugleich als pouvoir exécutifundrégulateur
begriffen ward; der erſte Beweis, daß man mit dem Begriffe der Pouvoirs
den Staat nicht organiſch erfaſſen kann. Demnach fehlte die einzige wahre
Grundlage dieſes Verſtändniſſes, der Begriff der Perſönlichkeit. Man mußte
daher bei jenem Begriffe bleiben und um mit ihm auszureichen, ſchuf nun jeder
wieder andere Pouvoirs, und zwar für jedes Gebiet, das als ein ſelbſtändiges
in der Verwaltung erſchien; ſo entſtand ein Pouvoir municipal, ein Pouvoir
électif,
ein Pouvoir administratif, und bei den Deutſchen ſogar eine Kameral-
Gewalt. Bentham (Traité de législ. III. 342) brachte es zu ſieben Gewalten,
ohne zu ſehen, daß er das Thätige aus ſeiner Thätigkeit, die Natur des
Staats aus ſeinen Funktionen, ſtatt umgekehrt, conſtruire. Es war offenbar,
daß man auf dieſem Wege nur zu Verwirrungen gelangen könne. Ohne ſich
daher über das Weſen der Pouvoirs klar zu werden, ließ man ſie allmählig
fallen; ſie ſind, nachdem ſie bis zum Ende der Reſtauration in Frankreich ge-
herrſcht, ziemlich vollſtändig aus der Literatur verſchwunden, und erhalten ſich
nur noch in dem hergebrachten Satze, daß „der König das Haupt der voll-
ziehenden Gewalt“ ſey. Auf dieſen Punkt kommen wir unten zurück.


Was nun die deutſche Literatur betrifft, ſo iſt hier die Verwirrung be-
deutend größer. Allerdings geht die deutſche Staatslehre, wie ſchon geſagt,
von dem Grundbegriff der Hoheitsrechte, ſtatt von dem der Gewalten aus, und
da keine Revolution an die Stelle dieſes rechtlichen Begriffes den organiſchen
ſetzte, ſo blieb derſelbe bis auf unſere Tage beſtehen. Hoheitsrecht bedeutet aber
den deutſchen Staatsrechtslehrern zweierlei; erſtlich die Rechte, welche das König-
thum von dem Lehnsherrn hiſtoriſch wirklich erworben hat, und zweitens die
Rechte, welche dem Staate ſeinem Weſen nach zukommen. Da keine Philoſophie
dieſelben über das wahre Verhältniß aufklärte, ſo verwechſelten ſie beide Seiten
der Sache beſtändig, und nahmen daher auch willig den Begriff der franzöſiſchen
Pouvoirs in die Theorie auf, namentlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts.
Dadurch entſteht eine ſolche Verwirrung aller Begriffe und Ausdrücke, daß es
faſt eben ſo nutzlos als unmöglich iſt, nach irgend einer klaren Vorſtellung über
[12] den Inhalt des Staats zu ſuchen. Doch kann man zwei Richtungen unter-
ſcheiden. Die eine kann man als die conſtruirende bezeichnen; ſie folgt dem
franzöſiſchen Vorgange, und verſucht ſo viel als möglich ohne Beziehung auf die
Hoheitsrechte den Staatsorganismus in ſeine Gewalten zu zerlegen; in größerem
Maße Schlözer (Allgem. Staatsrecht und Staatsverfaſſungslehre 1793 S. 100,
potestas, legislativa, coercitiva, punitiva, judiciaria, inspectiva, reprae-
sentativa, cameralis,
alſo das franzöſiſche Vorbild ſchon damals übertroffen.
Aehnlich Mayer Syſtem der Staatsregierung und Umriſſe 1803 mit ſieben
Gewalten). Dann kommen Verſuche, die alte trias politica herzuſtellen, die
legislativa, judiciaria, executiva, wie bei Heidenreich, Hufeland u. A.
Das Suchen gewinnt feſte Geſtalt in der Epoche der conſtitutionellen Epoche
des Staatsrechts; namentlich wird Benj. Conſtant das Muſter. Der be-
deutendſte Vertreter dieſer Richtung war Ancillon (Staatswiſſenſchaft 1820),
der übrigens noch eine „verwaltende Gewalt“ ſetzt, bis endlich das Hauptwerk
in dieſer Richtung, Aretins Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie B. I.
S. 170 in Verzweiflung über den Wirrwarr trocken erklärt „die meiſten Staats-
rechtsſchriftſteller ſind nun darüber einverſtanden, daß die bisherigen Einthei-
lungen nichts taugen, und daß man „der Trennung der Gewalten nicht bedarf,
vielmehr dieſelbe mit zahlloſen Colliſionen und gefährlichen Kämpfen verbunden
iſt.“ Das wäre nun ganz gut geweſen; allein unterdeſſen hatte ſich die zweite
Richtung der Sache bemächtigt, nämlich die des poſitiven Staatsrechts. Dieſe
bedurfte der Eintheilungsgründe für ihre Darſtellung, und nahm daher, weil
die alten „Regalia“ für das junge Staatsleben nicht mehr ausreichten, jetzt
die „Gewalten“ neben den Hoheitsrechten auf. Dieſe Hoheitsrechte hatte man
ſchon vorher in weſentliche und unweſentliche, in innere und äußere getheilt.
Nun kamen die Gewalten hinzu, und die Verwirrung ward vollſtändig. Gönner
war in ſeinem deutſchen Staatsrechte 1803 vielleicht der erſte, der aus dieſen
Begriffen ein Syſtem zu machen trachtete. Man ſieht ſeiner Mühe (§. 274 ff.)
es an, wie ſchwer es ihm wird, nur überhaupt zu irgend einem Reſultate zu
gelangen. Das Ergebniß iſt zuletzt, daß er alle Hoheitsrechte zugleich Staats-
gewalten nennt und dann alle Funktionen des Staats als Gewalten be-
zeichnet, die er dann gemeinſam unter dem Ausdruck „Regierungsrecht“ (Erſter
Theil, zweites Buch) verarbeitet. Bei dem Stammvater des deutſchen Bundes-
rechts, dem deutſchen Sieyes, Klüber, bleibt dieſelbe Auffaſſung; Hoheitsrecht
und Gewalten ſind ihm in einer gewiſſen Weiſe gleichbedeutend, aber dennoch
fühlt er, daß ſie verſchieden ſind, und kommt daher zu gar keinem Reſultat.
Er iſt der Hauptvertreter der Literatur des deutſchen Staatsrechts, welche von
da an es ſich zur Aufgabe ſtellt, die Klarheit über den Staat im Ganzen
vollſtändig aufzugeben, dagegen jedes einzelne Verhältniß auf das Gründ-
lichſte zu unterſuchen. Bei der hohen praktiſchen Wichtigkeit dieſer einzelnen
Rechte riß die Richtung die ganze Literatur mit ſich fort, um ſo mehr als die
Philoſophie vollſtändig unfertig daneben ſtand. (Vergl. z. B. Klüber §. 99 ff.)
Jeder deutſche Publiciſt wählte von jetzt an ganz nach ſeiner Convenienz die
Ausdrücke: Staatsgewalt, Regierungsrecht oder Regierungsgewalt, Hoheit,
Hoheitsrecht. Man vergl. z. B. MaurenbrecherII. Thl. Kap. 2., der
[13] überdieß eine trias politica aufſtellt, welche die oberaufſehende mit enthält §. 41.
Zachariä, deutſches bürgerliches Recht a. a. O. und andre. Dennoch iſt
ein gewiſſer Drang da, aus all dieſen Unklarheiten herauszukommen. Dieſer
erſcheint in der Reducirung aller jener Vorſtellungen auf die einfache Vorſtellung
von der „Staatsgewalt“ wie bei Zöpfl Staatsrecht Abſchnitt IV.Mohl,
Encyclopädie der Staatswiſſenſchaften §. 11 und 15 (der ſogar von „Eigenſchaften“
der Staatsgewalt — vier hat ſie, mehr nicht — redet). Der Begriff dieſer
Staatsgewalt hat ſich aber hiſtoriſch gebildet, wie wir unten in der Geſchichte
der vollziehenden Gewalt zeigen werden, und konnte daher in ſeiner eigenen
Unbeſtimmtheit, mit der er das ganze Staatsleben umfaßte, den Unterſchied
der einzelnen Gewalten nicht weiter erklären. Wir dürfen hoffen, daß das nun
anders wird. Weſentlich wird dazu der Gedanke beitragen, den wir Mohls
Württemb. Staatsrecht verdanken, den er aber nicht feſtzuhalten vermochte,
daß Verfaſſung und Verwaltung zwei ſelbſtändige Gebiete des Staatslebens
ſeyen. Es ergibt ſich aus allem, daß der Begriff der „Gewalt“ an ſich ein
ganz richtiger iſt; daß der Fehler nur darin lag, daß man das Weſen des
Staats aus der Gewalt, ſtatt die Gewalt aus dem Weſen des Staats ent-
wickeln wollte; hat man die organiſchen Grundgedanken des Staatslebens, ſo
ordnen ſich dieſe Begriffe von ſelber. Und da es uns hier nur auf das Erſtere
ankam, ſo dürfen wir die Erläuterungen der Begriffe von Staatsgewalt, Re-
gierung, vollziehender Gewalt u. ſ. w. jetzt an ihre beſondere Stellen verweiſen.


Der Begriff der Regierungslehre. Die drei Gebiete der
Verwaltung
.


Jede vollziehende Gewalt nämlich iſt zwar ein ſelbſtändiges Moment
in der organiſch gegliederten Perſönlichkeit des Staats; allein ſie ſteht
nicht für ſich da. Ihre Quelle iſt eben der, in ſeinem wirklichen Leben
ſich verwirklichende Staat; ihr Inhalt kann daher auch kein anderer,
als die Verwirklichung der Staatsidee ſein. Sie wird dieſen Inhalt
ſtets zunächſt in dem beſtimmt formulirten Willen des Staats,
dem Geſetze ſuchen; allein ſie kann und darf nicht bloß mit dem
formellen Geſetze ſich begnügen. Sie muß vielmehr von den Forde-
rungen, welche die Idee des Staats ſtellt, durchdrungen ſein; ſie muß
nichts wollen, als was ſie ſelbſt als Inhalt des letzteren erkennt; ſie
widerſpricht ihrem eigenen Weſen, wenn ſie etwas anderes will; ſie
muß daher die geſammte Aufgabe, welche dieſe Idee verwirklichen will,
ſich ſelber zum Bewußtſein erheben; und das Durchdrungenſein von
dieſer Idee, von dieſem Bewußtſein iſt eben dasjenige, was ſie zu einem
lebendigen Gliede des Staatsorganismus macht. Dieß Bewußtſein
geſtaltet ſich nun für die wirkliche Thätigkeit zu gewiſſen, dieſelben im
Einzelnen leitenden, für jede derſelben zur gleichmäßigen Gültigkeit
[14] gelangenden Principien, in welchen eben das geiſtige Band zwiſchen dem
inneren Leben des Staats und dieſer ſeiner ſelbſtändigen vollziehenden
Kraft gegeben iſt: und inſofern nun die vollziehende Gewalt auf dieſe
Weiſe von den, aus dem ſittlichen und rechtlichen Organismus des
Staats ſich ergebenden Principien durchdrungen und beſeelt iſt, nennen
wir die Vollziehung die Regierung des Staats. Die Lehre, welche
dieſe Principien finden und ergründen lehrt, iſt dann die Regie-
rungslehre
; die Kunſt, das richtige Verhältniß der allgemeinen Prin-
cipien zu dem gegebenen Zuſtande eines Staates zu jeder Zeit zu fin-
den, heißt die Regierungskunſt oder Politik.


Der Unterſchied zwiſchen vollziehender Gewalt und Regierung, den
man nie gehörig beachtet, iſt daher eben ſo wenig ein äußerlicher,
als der zwiſchen Vollziehung und Verwaltung. Die Regierung iſt eben
nichts als die principielle Vollziehung. Es iſt aber kein Zweifel,
daß dieſer Unterſchied, wie der Unterſchied zwiſchen Form und Inhalt
überhaupt, ein hochwichtiger iſt. Die Folge wird zeigen, daß derſelbe
faſt auf jedem Punkte ſeine Conſequenzen erzeugt. Ohne die ſcharfe
Innehaltung aller dieſer Unterſcheidungen aber iſt eine ſyſtematiſche
Wiſſenſchaft überhaupt nicht möglich. Wo ſelbſt die Sprache aller
Nationen die Unterſcheidung zwiſchen Vollziehung, Regierung und Ver-
waltung klar und unbedingt feſthält, darf da die Wiſſenſchaft weniger
in Beſtimmtheit der Auffaſſung leiſten, als das Wort, deſſen ſie ſich
bedienen muß? —


Während auf dieſe Weiſe Vollziehung und Regierung, jene das
organiſche, dieſe das principielle Verhalten der wirklichen Thätigkeit zur
innern Selbſtbeſtimmung der Staatsperſönlichkeit enthalten, eröffnet
ſich uns mit der Verwaltung das Gebiet des wirklichen Staatslebens
und der concreten Geſtalt, welche in ihm die Aufgaben der Vollziehung
empfangen; das heißt, die Vollziehung wird Verwaltung, indem ſie
mit den gegebenen äußeren Verhältniſſen zu thun hat, welche in ihrer
Berührung mit dem Staate ſich als die Staatsaufgaben darſtellen.


Dieſe Staatsaufgaben, welche auf dieſe Weiſe den Inhalt der
Verwaltung bilden, ſcheiden ſich nun in drei Gruppen, und dieſe Schei-
dung erzeugt dann die drei großen Gebiete der Verwaltung, deren
ſelbſtändige Behandlung ſo alt iſt wie die Staatswiſſenſchaft, wenn
auch über die Art und Weiſe der erſteren keine Gleichheit erzielt iſt.


Das erſte Gebiet der Verwaltung entſteht dadurch, daß der Staat
ſo gut wie der Einzelne ein wirthſchaftliches Leben hat. Er bedarf
der Güter; er muß ſie finden, erzeugen, erwerben, wie der Einzelne;
er muß die erworbenen wieder verwenden; er hat Einnahmen und
Ausgaben. Einnahmen und Ausgaben bilden daher den erſten und
[15] weſentlichſten Gegenſtand der concreten Thätigkeit des Staats, und die
Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten, welche in dieſer Weiſe auf die
wirthſchaftliche Exiſtenz des Staates verwendet werden, nennen wir
die Finanzverwaltung. Die Entwicklung und Darſtellung der
Begriffe und Regeln, nach welchen dieſe Finanzverwaltung zu Werke
zu gehen hat, iſt die Finanzwiſſenſchaft.


Zugleich aber beſteht der Staat aus einzelnen ſelbſtändigen Indi-
viduen. Die erſte äußerliche Bedingung des Lebens dieſer ſelbſtändigen
Individuen in ihrem Zuſammenleben iſt ohne Zweifel die Unverletzlich-
keit des Einen durch die Handlungen des Andern. Dieſe Unverletzlich-
keit der einen Lebensſphäre durch die — gleichviel ob willkürliche oder
unwillkürliche — Bewegung der anderen nennen wir das Recht. Die
Erhaltung des Rechts kann aber nicht durch den Einzelnen geleiſtet
werden, weil daſſelbe eben nicht von ſeiner individuellen Willkür ab-
hängen kann. Die Gewißheit für die Geltung meines Rechts kann
nicht in demjenigen geſucht werden, der nach meiner Anſicht eben dies
Recht verletzt hat. Es muß daher durch eine Thätigkeit hergeſtellt
werden, welche, indem ſie alle Rechtsindividuen umfaßt, allein das für
alle gültige Recht ſetzen und vollziehen kann. Dieſe Thätigkeit vermag nun
nur der Staat als die allgemeine Perſönlichkeit zu leiſten. Sie fordert,
da ihre Aufgabe das geſammte Leben aller Einzelnen umfaßt, einen
Organismus, der gleichfalls ſich über das ganze Leben des Staats er-
ſtreckt; ſie iſt daher, ebenſo wie die wirthſchaftliche Welt des Staats,
ein ſelbſtändiger Theil der Verwaltung des Staats; und dieſen Theil
der Verwaltung des Staats nennen wir kurz die Rechtspflege.


Während auf dieſe Weiſe die Verwaltung der Staatswirthſchaft es
mit den wirthſchaftlichen Bedingungen des Staats, die Verwaltung des
Rechts aber mit der Selbſtändigkeit der einzelnen Staatsbürger zu thun
hat, bleibt ein drittes großes Gebiet der Thätigkeit des Staats zurück.


Der wirkliche Staat nämlich beſteht aus der Geſammtheit aller
ſeiner Staatsbürger. Er hat als wirklicher Staat kein Daſein außer
ihnen; er iſt eben vorhanden als die perſönliche Einheit aller Einzelnen,
welche ihm gehören. Iſt nun das der Fall, ſo ergibt ſich, daß er ſelbſt
in ſeinem Fortſchritt wie in ſeinem Rückſchritt nicht bloß abhängt von
der perſönlichen wirthſchaftlichen oder geſellſchaftlichen Entwicklung dieſer
ſeiner Angehörigen, ſondern daß geradezu der Geſammtzuſtand des
Staates mit dem Zuſtande und der Entwicklung der Einzelnen, die ihm
angehören, identiſch iſt; oder daß das Maß der Entwicklung aller
Staasbürger die Bedingung und das Maß der Entwicklung
des Staats ſelbſt iſt
.


Es ergibt ſich daraus, daß dieſe Entwicklung aller einzelnen
[16] Perſönlichkeiten im Staate eine in der Natur des Staats liegende Aufgabe
des Staats ſelbſt iſt; er ſorgt für ſich ſelbſt, indem er für das Wohl
und den Fortſchritt der Einzelnen ſorgt, die ihm angehören; dieſe Thä-
tigkeit iſt ihm daher eine nothwendige und organiſche, wenn ſie auch
erſt in den höhern Entwicklungsſtufen des Staatslebens zur Geltung
gelangt. Sie umfaßt, indem ſie das ganze Leben der Einzelnen um-
faßt, eine Reihe der verſchiedenſten und wichtigſten Aufgaben nach allen
Seiten des Geſammtlebens; aber alle dieſe Aufgaben haben das mit
einander gemein, daß ſie Verwendungen der Macht und der Mittel des
Staats für die Förderung des Einzelnen in ſeinen individuellen Lebens-
verhältniſſen enthalten. Und die Geſammtheit der dieſen Aufgaben zu-
gewendeten Thätigkeit des Staats nennen wir die Verwaltung des
Innern
. Die Begriffe und Regeln aber, auf welchen dieſe Thätig-
keiten beruhen und nach welchen ſie ihr Ziel erreichen, bilden die
Innere Verwaltungslehre.


Aus dieſen Grundbegriffen ergeben ſich nun gewiſſe Folgerungen,
welche für die Klarheit des Verſtändniſſes unſeres ganzen Gebietes und
namentlich für den Sinn der Worte, die man hier gewöhnlich gebraucht,
von höchſter Wichtigkeit ſind, da vielleicht nirgends in der ganzen Staats-
wiſſenſchaft und in der Lehre vom öffentlichen Rechte, die ſich an dieſelbe
anſchließt, eine gleich große Verwirrung herrſcht.


Der Ausdruck „Verwaltung“ im Allgemeinen, wie man ihn
gewöhnlich gebraucht, hat nämlich mit dem Obigen ſeinen Sinn ver-
loren. Er bezeichnet den meiſten die Vollziehung, die Regierung, und
unbeſtimmt auch die einzelnen Verwaltungsgebiete zugleich, aber in un-
klarer Weiſe iſt er der Geſammtausdruck für das ganze thätige Leben
des Staats, und zwar im Gegenſatz zur Funktion der Willensbeſtim-
mung oder der Geſetzgebung. Dieſe letztere nennt man ferner, inſofern
ſie ſelbſt nach beſtimmten Ordnungen des geſetzlich anerkannten öffent-
lichen Rechts vor ſich geht, wohl auch die Verfaſſung. Man ſetzt da-
her die Geſetzgebung oder die Verfaſſung der Verwaltung gegenüber,
dem Willen die That. Und indem man den Rechtsbegriff auf beide
Gebiete anwendet, ſpricht man vom Verfaſſungs- oder Geſetzgebungs-
recht gegenüber dem Verwaltungsrecht.


Dieſe Unterſcheidung iſt an ſich richtig, wenn man ſich nur über
den Ausdruck vollkommen klar bleibt. Denn nach ihm umfaßt die Ver-
waltung ſowohl die Vollziehung als die einzelnen Verwaltungsgebiete,
die wir bezeichnet haben, die Finanz-, die Rechts- und die Innere Ver-
waltung. Indem man daher den einmal hergebrachten Ausdruck bei-
behält, würde das dritte große Gebiet des Staatslebens, das thätige
Leben, ſich in folgenden Grundbegriffen darſtellen.


[17]

Die Verwaltung im weiteſten Sinne begreift darnach die Ge-
ſammtheit des thätigen Staatslebens, ohne Rückſicht auf ſeinen beſon-
dern Inhalt. Es iſt die abſtrakte That des Staats. Eben deßhalb
bezeichnet dieſer Ausdruck auch nur den Gedanken der Scheidung von
Wille und That im Staate; er hat an ſich keinen Inhalt, als den des
abſtrakten Begriffes der That; es gibt keine Verwaltungslehre im
weiteſten Sinne, ſondern der Inhalt derſelben erſcheint erſt in den
folgenden beiden Begriffen. Dieſe ſind die Vollziehung oder vollziehende
Gewalt, und die eigentliche Verwaltung.


Die Vollziehung iſt die Kraft und die Organiſation der Thätigkeit
des Staats an ſich, noch ohne Rückſicht auf ihren Gegenſtand. Sie
erſcheint daher als dasjenige, was in allen Gebieten der eigentlichen
Verwaltung das Gemeinſame und Gleichartige iſt. Sie iſt daher der
allgemeine Theil der Verwaltung, und die Lehre von der vollziehen-
den Gewalt als allgemeine Grundlage jeder beſondern Vollziehung in
den einzelnen Gebieten der Verwaltung iſt der allgemeine Theil
der Verwaltungslehre
.


Die drei Gebiete der Verwaltung zuſammengenommen bilden nun
die Thätigkeit des Staats, inſofern ſie beſtimmte Aufgaben hat, und
daher durch die Natur und Gewalt derſelben bedingt erſcheint. Wir
nennen die Geſammtheit derſelben die eigentliche Verwaltung.
Die eigentliche Verwaltung, iſt daher der beſondere Theil der Verwal-
tung im weiteſten Sinn; aber ſie erſcheint nur in den drei großen
Grundformen der Verwaltung, der Finanz-, Rechts- und innern Ver-
hältniſſe des Staats. Sie hat daher wieder keinen Inhalt für ſich;
ihr Inhalt ſind dieſe drei Gebiete. Es gibt daher auch keine eigentliche
Verwaltungslehre, ſondern nur eine Verwaltungslehre der Staatswirth-
ſchaft, der Rechtspflege und der innern Verwaltung. Allen dieſen drei
Gebieten liegt nun wieder die vollziehende Gewalt zum Grunde; ſie
enthalten diejenige Geſtalt und Anwendung der vollziehenden Ge-
walt, welche ſie vermöge der Beſonderheit ihrer Aufgaben fordern und
erzeugen.


Vielleicht iſt es dienlich, namentlich auch um die faſt ganz all-
gemeine Unklarheit über den Begriff der innern Verwaltung und
die beſtändige Verwechslung derſelben bald mit der Verwaltung im
weiteſten Sinne, bald mit der eigentlichen Verwaltung zu beſeitigen,
und endlich eine feſte Grundlage auch für die Grundbegriffe und
Kategorien des öffentlichen Rechts zu gewinnen, dieſen Organismus
der Begriffe hier zu ſchematiſiren. Derſelbe ſtellt ſich in folgender
Weiſe dar.


Stein, die Verwaltungslehre. I. 2
[18]

Die Aufgabe des folgenden Syſtems iſt es nun, den allgemeinen
Theil der Verwaltung im weiteſten Sinne oder die Lehre der vollziehen-
den Gewalt nach all ihren Seiten und Ordnungen darzuſtellen. Und,
da die Finanzverwaltung in der Finanzwiſſenſchaft, die Rechtspflege
in Rechtslehre und Proceß ohnehin dargelegt wird, ſo bleibt als zweites
Gebiet unſerer Aufgabe die innere Verwaltungslehre übrig. Wir
geben demnach zuerſt den erſten Theil der Verwaltungslehre im wei-
teſten Sinn, und dann den letzten Theil, es dem Leſer überlaſſend,
die beiden mittleren Gebiete durch die beſtehenden Bearbeitungen aus-
zufüllen.


Dies nun wird ſeine definitive Geſtalt empfangen, indem wir den
Begriff und Inhalt des öffentlichen Rechts damit verbinden.


Verfaſſung, Regierung und Verwaltung. — Vielleicht auf keinem
Punkte der ganzen Staatswiſſenſchaft zeigt ſich das, was wir das, der deutſchen
Theorie überhaupt eigenthümliche Widerſtreben gegen Annahme feſter Begriffe
und Ausdrücke nennen müſſen, ſo ſehr, als in dem Ausdruck Verwaltung
und Regierung. Die Grundlage der ganzen obigen Auffaſſung, einerſeits
der Unterſchied zwiſchen Verfaſſung und Verwaltung, im weiteren Sinn, und
andererſeits zwiſchen Regierung (als allgemeiner) und eigentlicher Verwaltung
(als beſonderer) Thätigkeit des Staats iſt keineswegs neu; allein ſo klar dieſe
Unterſchiede auch ausgeſprochen werden, ſo hat man ſie doch nicht feſthalten
können. Vielleicht daß die Bezeichnung der Gründe, welche die Unſicherheit
der Ausdrücke erzeugten, dazu beitragen werden, ſie endlich ſelbſt mit all ihren
Uebelſtänden zu erkennen. Während wir den Unterſchied und die ganze Lehre
von den Gewalten den Franzoſen verdanken, gehört die im Grunde weit wich-
tigere Unterſcheidung von Verfaſſung, Regierung und Verwaltung der deutſchen
Wiſſenſchaft, welche ſie leider nicht gehörig entwickelt hat. So viel wir ſehen,
hat ſie Schlözer zuerſt ſehr klar aufgeſtellt (Staatsgelahrtheit 1793,
§. 3): „aus den Zwecken des Staats ergeben ſich ſowohl die Geſchäfte des
Staats (Staatsverwaltung), als die zu deren Betreibung nothwendigen
Rechte und Pflichten der Regierenden und Gehorchenden (Staatsrecht)“
(eigentlich das Verwaltungsrecht im weitern Sinn; ſiehe unten) „ſammt der
unter vielen möglichen Arten beliebten beſondern Einrichtung (Staatsverfaſſung),“
eine Unterſcheidung, die er dann in ſeiner Theorie der Statiſtik (1804)
[19] weiter verfolgt. — „Hiezu haben wir eine eigene Wiſſenſchaft, praktiſche Politik,
Staatsverwaltungslehre oder Regierungswiſſenſchaft — Lehre von
der Staatsverwaltung, geordnete Anzeige aller Geſchäfte, welche zu beſorgen
die Regierung Pflicht, Macht und Recht hat, und auf die Natur dieſer Geſchäfte
oder auf Erfahrung gegründete Angabe der Mittel, wie ſolche Geſchäfte am
zweckmäßigſten beſorgt werden können.“ Auf dieſer Grundlage ward ſchon im
Anfange des Jahrhunderts auch das organiſche Verhältniß zwiſchen Verfaſſung
und Verwaltung ſehr klar ausgeſprochen, zuerſt wohl von Gönner in ſeinem
Unterſchiede vom Conſtitutionsrecht (Verfaſſung) und Regierungsrecht
(Verwaltung), in welche Theile er ſein ganzes deutſches Staatsrecht theilt,
während das wahre Princip ihres gegenſeitigen Verhaltens vielleicht zuerſt auf-
geſtellt wird von dem trefflichen Malchus (Organismus der Behörden
für die Staatsverwaltung
, 1821, 2 Bände), der den ſo einfachen und
klaren Satz aufſtellt, „daß kein Staat ohne Verfaſſung ſeyn kann, die Ver-
faſſung aber die Richtſchnur der Verwaltung, dieſe letztere die Ausführung der
erſteren ſey“ (ſ. unten). Damit war die eigentliche Grundlage der organiſchen
Staatswiſſenſchaft gewonnen; allein noch fehlte die allerdings nothwendige Unter-
ſcheidung zwiſchen Regierung und Verwaltung. Dieſe ſtellte zuerſt Zachariä
in ſeinen 40 Büchern vom Staate auf (Thl. 3, S. 72) und zwar ganz weſent-
lich ſo wie wir; und dieſe Unterſcheidung ward dann von Pölitz aufgenommen
(Thl. I. S. 216): „Der Begriff der vollziehenden Gewalt zerfällt in zwei Haupt-
theile, in das Regieren und das Verwalten, in wiefern unter dem Re-
gieren
der Oberbefehl über die Vollziehung der beſtehenden Geſetze und die
Oberaufſicht über alle Zweige der Verwaltung, unter der Verwaltung da-
gegen die Vollziehung der Geſetze in den einzelnen Kreiſen und Verhältniſſen
des inneren Staatslebens verſtanden wird. Bei dieſer Unterſcheidung zwiſchen
Regieren und Verwalten bezieht ſich das erſte auf das geſammte Gebiet des
Staats, das zweite auf die örtlichen Verhältniſſe.“ Allerdings ſieht man in
der letzten Beſtimmung den Einfluß der franzöſiſchen Unterſcheidung zwiſchen
Gouvernement und Adminiſtration, welche freilich, ſo viel uns bekannt, nirgends
genauer unterſucht iſt; im Gegentheil hat man in neueſter Zeit das Gouverne-
ment ſo ziemlich in dem höhern Begriff der Adminiſtration aufgehen laſſen, ſ.
namentlich Block, Dict. de l’administration v. Administration und Gou-
vernement,
und Block, Dict. de Politique v. Gouvernement. Demnach
war mit den obigen Begriffen eine ganz feſte Grundlage gewonnen. Allein nun
entſtand die Schwierigkeit, dieſelben für das deutſche poſitive Staatsrecht zu
gebrauchen. Hier nun erſcheint zuerſt die deutſche Unklarheit über Weſen des
Unterſchieds zwiſchen Verfaſſung und Verwaltung, die Mohl, Encyclopädie der
Staatswiſſenſchaft S. 136 gut charakteriſirt, wenn ſie auch nicht gerade, wie
er meint, durch den Einfluß nordamerikaniſcher Auffaſſung entſtanden iſt. Der
eigentliche Grund war vielmehr der auch noch jetzt nicht behobene Mangel eines
Begriffes von Geſetz und Verordnung (ſ. unten). Dann zeigen ſich mit einer
faſt pedantiſchen Hartnäckigkeit die alten Begriffe der Hoheitsrechte, und er-
ſcheinen den Staatsrechtslehrern, namentlich Gönner, als der Inhalt der
„Regierungsgewalt,“ während von einer eigentlichen Verwaltung gar keine
[20] Rede war. Andererſeits verfiel die Hauptthätigkeit auf das Bundesrecht, das
wunderlicher Weiſe als Haupttheil „des deutſchen allgemeinen Staatsrechts“ be-
trachtet ward. Der Bund aber hatte weder zu verwalten noch zu regieren. Der
Gründer des deutſchen Bundesrechts, Klüber, wußte daher mit beiden Begriffen
gar nichts anzufangen, und warf Hoheitsrecht, Regierung, Verwaltung und die
einzelnen Gebiete der letztern ſo gründlich durcheinander, daß es nicht möglich war,
weder ſeine Meinung zu erkennen, noch ſich eine eigene zu bilden. Von da an
ſehen wir daher die Verwirrung aller Begriffe und das gänzliche Verſchwinden
der obigen klaren Unterſchiede entſchieden, um ſo mehr als in den Hauptſtaaten
überhaupt keine Verfaſſung beſtand. Die Nachfolger, Maurenbrecher, Za-
chariä
(Göttingen), Leiſt, haben ſich von dieſer Verwirrung nicht frei zu
machen gewußt, weil auch ihnen die erſte Baſis, Gegenſatz von Verfaſſung und
Verwaltung, fehlte. Nur Zöpfl (Staatsrecht II.) unterſcheidet ſehr gut Regierung
und Verwaltung, aber ohne für die Darſtellung ſeines Staatsrechts irgend
eine
Conſequenz daraus zu ziehen, §. 344, wogegen wieder Held in ſeiner
Verfaſſungslehre II. 450 kämpft. (S. übrigens über beide Begriffe unten.) Die
Bearbeitungen der einzelnen Staatsrechte, zuerſt Mohl, Württemb. Staats-
recht, dann Moy und Pötzl, Bayr. Staatsrecht, kamen allerdings wieder zu
jenem Unterſchied, aber ſie verloren dabei den Begriff der Regierung, da
dieſer nicht in objektiv geltende Beſtimmungen zu faſſen war. So ſind wir
jetzt gezwungen, gleichſam von vorne anzufangen. Und allerdings kann es nicht
genügen, dieß bloß mit Definitionen zu thun. Wir haben zu verſuchen, dieſe
bisher abſtrakten Begriffe mit einem concreten und praktiſchen Inhalt zu er-
füllen. Das kann aber nur durch das Recht und ſeine Darſtellung geſchehen.


Begriff und Gebiete des öffentlichen Rechts.


In der bisherigen Darſtellung haben wir nun den Begriff des
Staats in den Grundformen ſeiner organiſchen Geſtaltung dargelegt.
Wenn wir jetzt vom Leben des Staats reden, ſo bezeichnet uns dieſer
Ausdruck nicht länger jenes unbeſtimmte Etwas, das wir die Unter-
werfung des gegenſtändlichen Daſeins unter die perſönliche Beſtimmung
des Staats nennen. Das Leben des Staats iſt jetzt ein Proceß, den
wir in ſeinen organiſchen Elementen verfolgen können. Der Staat, in
der Mitte der wirklichen Dinge ſtehend, beſtimmt die Ordnung und das
Ziel ſeines wirklichen Daſeins durch ſeinen Willen, indem er vermöge
der Berathung zum Schluß kommt, und dieſer beſtimmte Wille, indem
er ſich auf den wirklichen Inhalt des Staatslebens bezieht, oder das
Geſetz des Staats, beſtimmt die Thätigkeit der Vollziehung, die wieder
in der wirthſchaftlichen, der rechtlichen oder der innern Aufgabe als
Verwaltung erſcheint. Das ſind die abſoluten Formen des Staatslebens.
Kein Theil dieſes Lebens iſt für ſich denkbar; es gibt keine Geſetzgebung
ohne Vollziehung, keine Vollziehung ohne Verwaltung, keine Verwaltung
[21] ohne Vollziehung und Geſetzgebung; es gibt kein Geſetz, das nicht
zuletzt in den einzelnen Zweigen der Verwaltung erſchiene. Alle jene
Begriffe ſind daher nur ſelbſtändige Momente in dem großartigſten aller
Lebensproceſſe, die es gibt, im Staatsleben.


Demnach mangelt hier ein Begriff, und das iſt der des Rechts
für das Verhältniß dieſer Momente unter einander.


Das nämlich iſt das höhere Weſen des Staats, daß er nicht bloß
ſelbſt eine Perſönlichkeit iſt, ſondern daß auch ſeine Organe, indem ſie
ſelbſtändig wirkſam ſein müſſen, und daher eines ſelbſtändigen und
ſelbſtthätigen Willens bedürfen, den Charakter eines perſönlichen Da-
ſeins empfangen. Neben dem innern geiſtigen Zuſammenhang mit dem
Ganzen muß jeder ſelbſtändige Theil die Fähigkeit beſitzen, auch ſelb-
ſtändig zu wirken, um durch ſich ſelbſt in ſeinem Kreiſe die Idee des
Staats zu verwirklichen. Indem er das thut, fordert er für das Maß
ſeiner Thätigkeit eine geltende Gränze. Die Beſtimmung dieſer Gränze
enthält das organiſche Verhältniß, in welchem die letztere zu dem Leben
des Ganzen ſteht. Es iſt wahr, daß dieſe Gränze an ſich in dem
ſpeziellen Weſen des beſondern Organes liegt; allein ſie muß, da das
letztere äußerlich thätig erſcheint, auch eine äußerlich feſtſtehende, objektiv
gültige ſein. Dieſe Gränze der Thätigkeit jeder der oben erwähnten
Organe, innerlich bedingt durch das Weſen ſeiner beſondern Funktion
im Geſammtorganismus und äußerlich als objektiv von der Einheit des
Staats anerkannt, iſt nun das öffentliche Recht des Staats.


Das öffentliche Recht des Staats, durch und für die Selbſtändig-
keit jener organiſchen Funktionen des Staats geſetzt, enthält daher kein
Syſtem für ſich, ſondern es ſchließt ſich einfach an das organiſche Sy-
ſtem des Staates ſelbſt an, und ſeine Gebiete ſind dieſelben mit denen
des Staatslebens. Dieß Syſtem des öffentlichen Rechts iſt daher ein-
fach und leicht verſtändlich in ſeiner formellen Geſtalt.


Das erſte Gebiet iſt das Recht des Staatsoberhaupts, welches die
im Weſen deſſelben liegenden Funktionen zur rechtlichen Bedingung jedes
Aktes der Staatsperſönlichkeit macht.


Das zweite Gebiet iſt das Recht der Geſetzgebung, welches die
Formen der Bildung des Staatswillens rechtlich zur Bedingung der An-
erkennung deſſelben als Staatswille erhebt.


Das dritte Gebiet kann man nach den Obigen das Verwaltungsrecht
im weiteſten Sinne nennen, das wieder als ſeinen allgemeinen Theil das
Recht der Vollziehung oder wie man gewöhnlich ſagt, das Recht der voll-
ziehenden Gewalt, und als ſeinen beſondern Theil das Recht der Finanz-
verwaltung, der Rechtspflege und der innern Verwaltung enthält, die man
zuſammengenommen als das Verwaltungsrecht im engeren Sinne bezeichnet.


[22]

Dieſe Begriffe ſind nun wohl ſehr einfach und bedürfen keiner Er-
klärung. Dennoch herrſcht hier eine große Unklarheit; und um dieſe zu
erläutern, müſſen wir auf den Proceß zurückgehen, der dieß Recht ge-
bildet
hat.


Die Bildungsformen des öffentlichen Rechts. Begriff und Bedeutung
des Ausdrucks „Verwaltungsrecht.“


Wie nun dieß öffentliche Recht an ſich nothwendig iſt, ſo gibt es
für den Staat und ſein Leben auch verſchiedene Grundformen, in denen
es ſich bildet. Es muß hier genügen ſie kurz zu bezeichnen.


Die erſte dieſer Grundformen entſteht durch die Erkenntniß des
Weſens des Staats und ſeiner Elemente. Wie das Recht ſelbſt die
Conſequenz des Wirkens und des Weſens dieſer Elemente iſt, ſo ent-
ſteht aus der wiſſenſchaftlichen Entwicklung derſelben im Bild des öffent-
lichen Rechts, in allen ſeinen Theilen, das ſeine Wahrheit nicht in der
thatſächlichen Geltung deſſelben, und ſeinen Einfluß nicht in der un-
mittelbaren Anwendung ſucht, ſondern vielmehr in der Wirkung, welche
es auf Verſtändniß und Willen derjenigen äußert, die dem Rechte Gel-
tung und Anwendung geben ſollen. Die Thätigkeit, welche dieß Recht
an ſich erzeugt, nennen wir die Wiſſenſchaft oder Philoſophie des
öffentlichen Rechts. Sie hat zu ihrem Gegenſtande das geſammte Ge-
biet des Staatslebens, zu ihrer Grundlage den Begriff und das leben-
dige Weſen des Staats an ſich, ohne Berückſichtigung der Verhältniſſe
des für ſie zufälligen, einzelnen und concreten Staatslebens.


Die zweite Grundform beruht auf einer ganz andern Baſis. Das
Recht kann für das wirkliche Leben nicht der abſtrakten Begriffe der
Wiſſenſchaft warten, und auch nicht dieſelben unbedingt annehmen.


Es bildet ſich daſſelbe daher, wie alles naturgemäß Nothwendige,
zunächſt von ſelbſt. Es entſteht gleichſam durch Druck und Gegendruck
der einzelnen großen und kleinen Organe eine Gränze für dieſelbe, die
dann mit dieſen Organen und ihrer ganzen Stellung im Staate ſo ver-
ſchmilzt, daß ſie ohne weiteres Zuthun der Einzelnen und des Ganzen
zu einem Geltenden wird. Das iſt der Proceß, den man als die
hiſtoriſche Bildung des öffentlichen Rechts bezeichnet. Die Elemente,
welche dieſe hiſtoriſche Bildung des öffentlichen Rechts beherrſchen, ſind,
wie alles Daſeiende, zweifacher Natur: ein perſönliches, und ein natür-
liches. Das große Element des perſönlichen Lebens, das die hiſtoriſche
Bildung des öffentlichen Rechts beherrſcht, iſt das, was wir die menſch-
liche Geſellſchaft nennen. Aus ihm ergibt ſich der Satz, den wir als
das entſcheidende Geſetz für alle Bildung des öffentlichen Rechtes an
[23] einem andern Orte entwickelt haben (Geſchichte der ſocialen Bewegung in
Frankreich, Bd. 1, Einleitung), daß nämlich jede Geſellſchaftsordnung ihr
eigenes öffentliches Recht erzeugt, und auch nur das ihr entſprechende
öffentliche Recht erträgt. Dieſem großen Geſetz der innern Staaten-
bildung werden wir im Folgenden auf jedem Punkte der geſchichtlichen
Darſtellung im Ganzen wie im Einzelnen begegnen. Es iſt mächtig
genug, das zweite Element, das natürliche Daſein des Staats, die
Landes- und Volksgeſtaltung, zu beherrſchen; dennoch wirkt auch dieſes
in ſeiner Weiſe, und ſo entſteht durch das Ineinandergreifen beider
Faktoren das hiſtoriſch geltende öffentliche Recht jeder Zeit und jedes
Staats; und das Verſtändniß dieſes Zuſammenwirkens erzeugt die
Wiſſenſchaft der Geſchichte deſſelben, die nicht bloß zu erzählen, ſon-
dern die Erſcheinungen auf ihren Grund zurückzuführen hat, indem ſie
jeden beſtimmten Zuſtand des öffentlichen Rechts als die nothwendige,
und in den Hauptfragen ſogar ſehr einfache Conſequenz des Wirkens
jener beiden Faktoren zeigt. Dieſe Wiſſenſchaft iſt bis jetzt, mit Aus-
nahme deſſen was Ariſtoteles in ſeiner Politik geſagt, noch in ihrem
erſten Anfange. Sie iſt beſtimmt, die ganze Geſchichte umzugeſtalten.
Die dritte Grundform des öffentlichen Rechts entſteht dagegen, indem
daſſelbe, als das weſentlichſte Element des Geſammtlebens der Menſchheit,
nicht mehr bloß der Wirkſamkeit und bildenden Gewalt jener beiden Ele-
mente überlaſſen, ſondern ſelbſt zum Gegenſtande der Selbſtbeſtimmung
der ſtaatlichen Perſönlichkeit, das iſt der Geſetzgebung, gemacht wird.


Hier nun beginnt ein weſentlich verſchiedenes Gebiet von Erſchei-
nungen und Ausdrücken, deren genaue Bezeichnung als eine unerläß-
liche Bedingung für das richtige formelle Verſtändniß aller bisherigen,
wie der folgenden Begriffe angeſehen werden muß.


Es kann nämlich zuerſt die Willensbeſtimmung des Staats oder
das Geſetz — noch ganz gleichgültig gegen die beſondere Bedeutung
dieſes Wortes — eben jenes organiſche Verhältniß der Hauptelemente
des Staats ſelbſt, alſo des Staatsoberhaupts, der geſetzgebenden und
der vollziehenden Gewalt, zum Gegenſtande des Staatswillens machen,
und damit die im Geſetze ausdrücklich enthaltene und vorgeſchriebene
Ordnung zum Elemente unter einander, zum allein geltenden öffentlichen
Rechte erheben. Ein ſolches, den Organismus des Staatslebens in
ſeinen Grundlagen rechtlich feſtſtellendes Geſetz nennen wir die Ver-
faſſung
. Dieſe Verfaſſung wird ihrerſeits ſtets theils auf den Ele-
menten beruhen, welche die Wiſſenſchaft bietet, theils auf den Rechts-
bildungen des hiſtoriſchen Rechts. Immer aber fordert die Verfaſſung,
daß ſie, ſo weit ſie mit ihren Beſtimmungen reicht, als ausſchließliche
Quelle des öffentlichen Rechts erkannt werde und gültig ſei.


[24]

Während auf dieſe Weiſe der Ausdruck „Verfaſſung“ im Allge-
meinen alle Gebiete des öffentlichen Rechts umfaßt, liegt es dennoch
im Weſen der Sache, daß er ſich hauptſächlich auf das öffentliche Recht
der Bildung des Staatswillens oder der geſetzgebenden Gewalt beziehe.
In dieſem Sinne nennen wir die geſetzlich beſtimmte Ordnung für die
Bildung des Staatswillens die Verfaſſung im eigentlichen
Sinn
. Sie umfaßt alsdann weſentlich zwei Gebiete: erſtens die Be-
ſtimmung des organiſchen Proceſſes, durch welchen ſich aus der Ge-
ſammtheit der Staatsbürger der Staatswille bildet, namentlich die
Ordnung der Volksvertretung; zweitens das Verhalten des Willens
oder der Thätigkeit dieſer Volksvertretung zum Staatsoberhaupt.


Dieſe beiden Theile muß jede Verfaſſung beſtimmen. Ein weiteres
braucht ſie nicht zu enthalten. In der That liegt es ſchon im Begriffe
des Staatswillens, daß das dritte Gebiet des Staatslebens, die Ver-
waltung im weiteſten Sinne, den Inhalt des Staatswillens zur Ver-
wirklichung bringen muß. Dazu bedarf es keines eigenen Geſetzes und
keiner beſondern Beſtimmung der Verfaſſung. Es iſt ſelbſtverſtändlich,
und ſein Recht iſt mit ſeiner Natur gegeben. Dieß organiſche Verhält-
niß beider Potenzen bezeichnen wir nun als die Identität der Voll-
ziehung mit der Geſetzgebung, als das Princip der verfaſſungs-
mäßigen Verwaltung
.


Allein die ſpeziellen Verhältniſſe der Verwaltung ſind natürlich
dadurch nicht nur nicht von der Beſtimmung des Staatswillens ausge-
ſchloſſen, ſondern vielmehr demſelben im Allgemeinen, und ſpeziell in
dem Verfaſſungsgeſetze unterworfen. Das letztere kann daher mehr ent-
halten als die beiden obigen Punkte, und zwar ſind hier die Verfaſſungen
ſehr verſchieden. Sie entſcheiden theils über beſtimmte Gebiete des
Rechts der vollziehenden Gewalt, theils auch über beſtimmte Ge-
biete aus den drei Theilen des Verwaltungsrechts im engern Sinne,
alſo aus dem Finanzrecht, der Rechtspflege, der innern Verwaltung.
Inſofern dieß der Fall iſt — was weder nothwendig, noch wo es
iſt, immer gleich ausgedehnt iſt — iſt das Vollziehungs- und Verwal-
tungsrecht ein Theil der Verfaſſung, oder wie wir ſagen, ein verfaſ-
ſungsmäßig beſtimmtes Verwaltungsrecht
. Die einzelnen
Verfaſſungen ſind hier ſehr abweichend in Form und Umfang ihrer Be-
ſtimmungen.


Wo nun aber dieß nicht der Fall, und dennoch die Geſetzgebung
des Staats ſelbſtändig thätig iſt, da kann ſie, ſowohl wenn gar kein
verfaſſungsmäßiges Verwaltungsrecht in dem obigen Sinne exiſtirt, als
auch wenn es zwar als Theil der Verfaſſung aber nicht ausgebildet,
oder gar nur unbeſtimmt angedeutet iſt, wiederum die einzelnen
[25] Thätigkeiten und Aufgaben der Verwaltung im engern Sinne in allen
ihren drei Gebieten zum Gegenſtand der Geſetzgebung machen. Wo das
geſchieht, da iſt eigentlich formell genommen kein verfaſſungsmäßiges
— einen Theil der Verfaſſungsurkunde bildendes — Verwaltungsrecht
vorhanden, ſondern vielmehr nur Verwaltungsgeſetze; und das auf
dieſe Weiſe durch einzelne Geſetze gebildete Verwaltungsrecht können wir
im Unterſchiede vom obigen das geſetzliche Verwaltungsrecht nennen.


Ferner aber wird weder das verfaſſungsmäßige noch auch das ge-
ſetzliche Verwaltungsrecht immer alle Thätigkeiten der Verwaltung im
weitern Sinne, geſchweige denn die Thätigkeiten derſelben im engern
Sinne beſtimmen. Theils ſind die letzteren zu vielfältig, theils ſind
ſie zu ſehr wechſelnder, und endlich örtlich bedingter Natur. Dem-
nach bedürfen dieſe Thätigkeiten der Verwaltung im weitern Sinne,
alſo ſowohl die der Vollziehung als die der einzelnen Gebiete, eines
Willens, der ſie ordnet. Da nun für ſie kein Geſetz im engern Sinne,
als von dem geſammten organiſchen Staatswillen beſtimmt, vorhanden
iſt, ſo muß ſich die vollziehende Gewalt im Namen des Staats ihren
Willen für den einzelnen Fall ſelber beſtimmen. Ein ſolcher Willens-
akt der letzteren heißt die Verordnung. Die Verordnungen der voll-
ziehenden Gewalt erzeugen daher gleichfalls ein Recht für die einzelnen
Gebiete der Verwaltung im engern Sinne, alſo für die Finanzen, des
Rechts und des Innern. Und das aus ſolchen Verordnungen entſtehende
und die Thätigkeit der geſammten Verwaltung überhaupt erſt ausfüllende
Recht der letzteren nennen wir mit einem Worte das verordnungs-
mäßige Verwaltungsrecht
.


Auch dieſe Begriffe dürfen wohl ſehr einfache genannt werden.
Dennoch reichen auch ſie nicht aus. Denn in manchem Falle iſt für
ein Verhältniß der Vollziehung oder Verwaltung weder ein verfaſſungs-
mäßiges, noch ein geſetzmäßiges, noch ſelbſt ein verordnungsmäßiges
Verwaltungsrecht im weitern Sinne vorhanden. Hier tritt daher zu-
erſt die hiſtoriſche Rechtsbildung ein, und erzeugt ein gegebenes Recht,
und wo ein ſolches nicht vorhanden, muß endlich die Wiſſenſchaft der
Verwaltung das mangelnde geltende Recht durch die von ihr zu ent-
wickelnde Natur der Sache erſetzen. Dieſe Wiſſenſchaft des Rechts, für
das geltende Recht ſtets die letzte Quelle, bildet nun allerdings für das
Werden dieſes geltenden Rechts oder für die Geſetzgebung die erſte
Quelle; denn das wahre Recht aller Lebensverhältniſſe, und ſo auch
das des Staatslebens, iſt zuletzt immer die wahre Natur derſelben,
deren Erkenntniß das Weſen und den Inhalt der Staatswiſſenſchaft
bildet. — Und dieß iſt ſomit das Syſtem der rechtsbildenden Kräfte
für das geltende Recht der Vollziehung und Verwaltung.


[26]

Es wird nun daraus einleuchten, weßhalb der Ausdruck „Verwal-
tungsrecht“ ein ſo äußerſt vieldeutiger und unklarer iſt. Einerſeits ver-
wechſelt man ihn mit dem Verfaſſungsrecht, oder ſchiebt ganze Theile
des Verwaltungsrechts in das Verfaſſungsrecht hinein, weil ſie von
verfaſſungsmäßig zu Stande gebrachten Geſetzen geordnet ſind, wie
z. B. das Gemeinde- und Vereinsrecht, das Zwangsrecht u. A., oder
gar unmittelbar in die Verfaſſungsurkunde aufgenommen ſind, wie
zum Theil das Recht der Verantwortlichkeit. Andererſeits verwechſelt
man Verwaltung und Vollziehung, indem man unter Verwaltungsrecht
nur das Vollziehungsrecht verſteht. — Dann verſteht man wieder unter
Verwaltungsrecht eben gar nicht mehr das Recht, ſondern die Ordnung
der Anſtalten der Verwaltung, die aus ihrem Zwecke hervorgeht, und
daher der Verwaltungslehre gehört. — Endlich begreift man unter
Verwaltungsrecht nur das innere Verwaltungsrecht, indem man nicht
bloß die ganze Vollziehung in die Verfaſſung ſtellt, ſondern das Finanz-
recht und das Recht der Rechtsverwaltung als ganz ſelbſtändig betrachtet.
In dieſer Verwirrung ſowohl der Begriffe als der Terminologie iſt keine
andere Hülfe möglich, als daß man ſich über den Sinn der einzelnen
Ausdrücke einmal für allemal verſtändige. Hat man das gethan, dann
iſt es wieder nicht von Bedeutung, ob man z. B. einen Theil des Voll-
ziehungsrechts in der Verfaſſung abhandelt, oder die innere Verwal-
tung hier oder dahin ſtellt. Wir müſſen aber ſtrenge darauf beſtehen,
daß man in der Sache ſelbſt die obigen Unterſcheidungen feſthalte.
Soll es jemals eine Wiſſenſchaft der Verwaltung und demgemäß des
Verwaltungsrechts geben, ſo muß der Organismus der obigen Funktio-
nen und des ihnen entſprechenden Rechts zum Grunde gelegt werden.
Und in der That iſt das ſehr leicht bei etwas gutem Willen; denn alle
obigen Begriffe und Unterſcheidungen ſind bereits vorhanden, und
nur ihr gegenſeitiges Verhältniß iſt dasjenige, warum es ſich handeln
kann.


Faßt man nun die ganze bisherige Darſtellung zuſammen, ſo
ſcheint es, als laſſe ſich nunmehr das Gebiet der Aufgaben, welche eine
Lehre vom Verwaltungsrecht im weitern Sinne hat, ziemlich leicht und
durchgreifend beſtimmen.


Das Verwaltungsrecht im weitern Sinne umfaßt das
geſammte öffentliche Recht der Thätigkeit des Staats, und beginnt ſo-
mit auf dem Punkte, wo der Wille des Staats zur That werden ſoll,
oder wo das Weſen oder der gegebene Zuſtand des Staats Wille und
That gleichzeitig erfordert, ohne daß ein eigentliches Geſetz vorhanden iſt.


[27]

Dieß Verwaltungsrecht im weitern Sinne hat an und für ſich,
das heißt noch ohne in ſeine einzelnen Elemente aufgelöst zu ſein, nur
einen principiellen Inhalt, für den es ſogar ganz gleichgültig iſt, ob
er zur geſetzlichen Gültigkeit erhoben oder in der Verfaſſung ausgeſpro-
chen iſt oder nicht. Die Verwaltung ſoll mit Weſen und Willen des
Staats in Harmonie ſtehen, und zwar ſoll ſie das ſowohl mit ihrem
Willen — der Verordnung — als mit ihrer wirklichen Thätigkeit.
Dieſes Princip umfaßt alle einzelnen folgenden Gebiete; daſſelbe gilt
unbedingt für ſie, ob es ausgeſprochen iſt oder nicht; es iſt die Seele
der That des Staats in all ihren Formen. Die Verwaltung im wei-
teſten Sinn zerfällt in die Vollziehung und in die eigentliche Verwaltung.
Jedes dieſer Gebiete hat dann wieder nicht bloß ſein Recht, ſondern
dieſe Rechte empfangen ihrerſeits alle oben bezeichneten Kategorien.


Es gibt daher zuerſt ein Recht der Vollziehung oder der vollziehen-
den Gewalt; und dieß Recht wird wieder ein verfaſſungsmäßiges, ein
geſetzliches, ein verordnungsmäßiges, ein hiſtoriſches, und endlich ein
wiſſenſchaftliches ſein. Es iſt daſſelbe ein Leben für ſich, und die Auf-
gabe des folgenden Werkes iſt es, daſſelbe nach all dieſen Seiten hin
zu entwickeln. Es iſt das Recht der Vollziehung, inſoweit ſie nur noch
Wille und Organ iſt, noch nicht das Recht der einzelnen concreten
Thätigkeit.


Es gibt dann ein Recht der Verwaltung im eigentlichen Sinn, in-
ſofern dieſelbe jene drei Gebiete umfaßt. Da dieſelbe aber nur in
dieſen drei Gebieten beſteht, ſo hat jenes Recht der Verwaltung im
engern Sinn, inſofern man von einer ſolchen neben den drei Theilen
reden will, die ihren Inhalt bilden, ebenſo wenig einen poſitiven In-
halt, als das Recht der Verwaltung im weitern Sinne. Es beſteht
daſſelbe alsdann nur in dem für alle drei Gebiete gemeinſchaftlichen
Princip, daß das Recht der letzteren ſo weit gehen muß, als die Be-
dingungen für die Funktionen der Verwaltung es im Einzelnen fordern,
und durch welche ſie ſelbſt erſt möglich werden. Dieſes Princip ſteht
jedoch unter dem höheren der verfaſſungsmäßigen Verwaltung, d. h.
das Recht aller eigentlichen Verwaltung hört da auf, wo ein beſtimm-
tes Geſetz ihm eine Gränze zeichnet, ſelbſt dann, wenn ſie dadurch un-
möglich werden ſollte. Dieß allgemeine Princip wird nun zur Grund-
lage für die drei Gebiete des eigentlichen Verwaltungsrechts.


Es gibt nämlich darnach ein Finanzrecht, ein Recht der Gerichte,
und ein inneres Verwaltungsrecht; und zwar iſt jedes dieſer Rechte
wieder entweder unmittelbar in der Verfaſſung, oder durch eigene Ge-
ſetze, oder durch Verordnungen beſtimmt, oder ein hiſtoriſches, oder ein
theoretiſches; faſt immer haben alle dieſe Rechtsquellen Theil an jedem
[28] Theil dieſer Gebiete des eigentlichen Verwaltungsrechts. Jedes dieſer
Rechtsgebiete bildet daher eine Wiſſenſchaft für ſich. Allein da dieſe
Rechtsbeſtimmungen wenigſtens zum Theil in vielen Verfaſſungen vor-
kommen, ſo geſchieht es auch, daß man ſie in der Verfaſſungslehre dar-
ſtellt. In dieſem Falle kann man von einer legalen Darſtellung des
Verwaltungsrechts im weitern wie im engern Sinne reden. Stellt man
ſie dagegen auf Grundlage ihrer inneren Natur als ſelbſtändige Er-
ſcheinungen dar, ſo kann man von einer ſyſtematiſchen Darſtellung
ſprechen. Jede hat ihre Eigenthümlichkeit und ihren Werth; nur wird
die legale ohne die ſyſtematiſche nie ein Bild des organiſchen Ganzen,
die ſyſtematiſche ohne die legale nie eine vollſtändige Erkenntniß des
Einzelnen geben. Das wahre Verhältniß iſt, daß ſtets beide, aber
niemals die eine ohne ein lebendiges Bewußtſein vom Weſen und Werth
des andern bearbeitet werden. —


Die Aufgabe des Folgenden beſteht nun darin, den erſten und
allgemeinen Theil der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts,
die Vollziehung und das Recht der vollziehenden Gewalt in ſyſtemati-
ſcher Methode darzuſtellen.


Es wird nun wohl ſchon durch das Obige klar ſein, weßhalb es uns an
einem irgendwie ausreichenden Begriff des Verwaltungsrechts mangelt. Die
erſte Vorausſetzung deſſelben wäre offenbar eine Beſtimmung des Begriffes der
Verwaltung, und dieſe fehlt entweder gänzlich, wie bei den Lehren des [allge-
meinen]
Staatsrechts, oder hat nur eine örtliche Bearbeitung, wie bei den
Darſtellungen der einzelnen Staatsrechte. Doch ließen ſich am Ende ziemlich
ausreichende Definitionen des Verwaltungsrechts aufſtellen, ſo lange man nicht
ein näheres Eingehen fordert. Die beſte iſt unzweifelhaft die von Pötzl, Baye-
riſches Verwaltungsrecht, §. 1; in ganz ähnlicher Weiſe faſſen die Franzoſen
den Begriff des droit administratif auf, am einfachſten und zutreffendſten bei
Block, Dict. de l’Acad., „le droit administratif est cette partie du droit
qui règle les rapports des citoyens avec les services publics et des ser-
vices publics entre eux.“
Allein bei beiden Begriffen liegt der Gedanke zum
Grunde, daß es ſich nicht um die Verwaltung im weitern Sinn, auch nicht
um die im engern Sinn, ſondern nur um die innere Verwaltung handelt.
Vollziehung, Finanzen und Rechtspflege fallen daher nicht hinein. Die ältere,
in dem Gefühle, daß die Verwaltung die geſammte Thätigkeit des Staats um-
faßt, beſtimmen den Begriff derſelben als Regierungsrecht; ſpäter iſt (ſ. unten)
an die Stelle der vagen Vorſtellung von der Regierung eine eben ſo vage von
der „Staatsgewalt“ getreten, bei welcher dann wieder die einzelnen Gebiete der
Verwaltung gänzlich verſchwinden. Dagegen hat Mohl in ſeinem Württemb.
Privatrecht das entſchiedene Verdienſt, in dieſen allgemeinen Begriff der Ver-
[29] waltung alle Miniſterien, alſo das ganze Gebiet der praktiſchen Staatsthätigkeit
hinein genommen zu haben; er hat damit der Verwaltung im engeren Sinn
ihren wahren Inhalt gegeben. Dafür hat er dann wieder die ganze Vollziehung
hinausgedrängt und in die Verfaſſung geſetzt, während er den Organismus richtig
in die Verwaltung und das Verwaltungsrecht aufnimmt. In ſeiner Encyclopädie
iſt dann der Begriff des Verwaltungsrechts wieder in dem der Verwaltungs-
thätigkeit untergegangen (§. 33). Bei den conſtitutionellen Staatsrechtslehrern,
Ancillon und Aretin, verſchwindet das Verwaltungsrecht, weil das damalige
Princip des Conſtitutionalismus darauf hinauslief, der vollziehenden Thätigkeit
jede Selbſtändigkeit gegenüber der Geſetzgebung zu beſtreiten. Bei Pölitz bleibt
die Verwaltung, aber es gibt kein Verwaltungsrecht. Bei Zachariä iſt eine
vollſtändige Lücke; Zöpfl, befangen in der Meinung, daß das Detail die Haupt-
ſache ſei, zählt das Regierungsrecht zur Verfaſſung, und beſtimmt das Verwal-
tungsrecht als „den Inbegriff der Rechtsnormen, welche ſich auf die Ausübung
der Staatsgewalt, reſpektive der einzelnen Hoheitsrechte beziehen“ — ohne
irgendwie die Sache weiter zu unterſuchen. Gerſtner vergißt geradezu den
Begriff des Rechts der Verwaltung über den Inhalt und die Aufgabe derſelben,
gerade wie die ſogenannten Polizeiwiſſenſchaften von Mohl und Beer; die
ältern, wie Berg, verwechſeln wieder Polizeirecht und Verwaltungsrecht. Man
darf das nicht ſo hoch anſchlagen, denn auch die beiden Arbeiten, welche ſpeziell
mit dem „Verwaltungsrechte“ zu thun haben, Hoffmann (über den Begriff
des Verwaltungsrechts, Tüb. Zeitſchr. I, 90 ff.) und Mayer (Grundſätze des
Verwaltungsrechts, 1862) kommen zu keinem Reſultate. Hoffmann läßt uns
ſogleich jede Hoffnung auf ein Verwaltungsrecht aufgeben; ihm iſt daſſelbe ge-
radezu nur die Verwaltungslehre, das iſt, „diejenigen Normen und Einrich-
tungen des Staats, welche ſich auf die Realiſirung der in der Verfaſſung und
der übrigen Entwicklung des Staats begründeten Zwecke im Einzelnen beziehen“
— im engern Sinn iſt ihm das Verwaltungsrecht die Finanzlehre und die
innere Verwaltung (Polizei), wie er ſagt, S. 191. Zum Begriffe des Rechts,
der doch Lebensverhältniſſe ſelbſtändiger Perſönlichkeiten vorausſetzt, kommt er
gar nicht. Er iſt der Ausdruck der unklaren Vorſtellung, welche Verwaltung
und Recht als ziemlich gleichbedeutend anſehen. Mayer hat einen ganz rich-
tigen Ausgangspunkt, indem er Geſetzgebung, Regierung und Verwaltung mit
Zöpfl ſcheidet (§. 1); zuerſt glauben wir in der ganzen Literatur die Schei-
dung von Verwaltung und Recht als nothwendig erkennt, dann aber das ganze
Verwaltungsrecht auf „die zwiſchen der Staatsgewalt und den Einzelnen
als ihren Untergebenen
in Bezug auf die verſchiedenen Staatszwecke“ ſich
bildenden rechtlichen Verhältniſſe beſchränkt, womit dann die großen Fragen
nach den rechtlichen Principien des Verhaltens zwiſchen Verfaſſung und Ver-
waltung gänzlich beſeitigt ſind, und ein durchaus ſyſtem- und einheitsloſes
Zuſammenſtellen einzelner Sätze entſteht. Lüders hat dann eine Broſchüre
geſchrieben: „das Gewohnheitsrecht in der Verwaltung,“ ein ſchöner Titel, ohne
entſprechenden Inhalt. — Es ſcheint nutzlos, noch mehr ſubjektive Auffaſſungen
aufzuführen. Es fehlt dem Verwaltungsrecht der Begriff der Verwaltungs-
lehre im Allgemeinen, und in demſelben die entſcheidende Trennung zwiſchen
[30] Vollziehung und eigentlicher Verwaltung; es fehlt ihm zweitens der Begriff
des Rechts, der nur durch den Unterſchied von Geſetz und Verordnung ent-
ſtehen kann, und der höchſt unentwickelt iſt; es fehlt endlich drittens ein klares
Bild der Gebiete der Verwaltung, welche erſt die Grundlage des Syſtems
des Verwaltungsrechts bildet, namentlich die durchgeführte Beſtimmung des
ſpecifiſchen Begriffes der innern Verwaltung. Oder, nachdem die deutſche
Wiſſenſchaft den Begriff des Staatswillens in ihrer Verfaſſungslehre vor-
trefflich und als Muſter für andre Nationen ausgearbeitet, hat ſie bisher für den
Begriff der That des Staats nichts, wie die Philoſophie, oder nur Beiläufiges,
wie das allgemeine Staatsrecht, oder Unzuſammenhängendes, wie die einzelnen
Unterſuchungen über Verantwortlichkeit, Finanzen, Proceßrecht, Polizei und
Inneres u. ſ. w. gethan. Hier, in der Darlegung des organiſchen Ganzen,
liegt die Zukunft der Staatswiſſenſchaft. — Zum Schluß möge hier die Auf-
faſſung Laferrière’s in ſeinem Droit administratif, Livre prélim. p. 378
(5. edit.)
Platz finden, die im Weſentlichen auf ganz gleicher Grundlage mit
der den Franzoſen eigenen einfachen, um die tiefere Begründung unbekümmerten
Weiſe den Begriff des Vollziehungs- und Verwaltungsrechts ſcheidet. Er
ſagt: Le droit administratif a deux objets. L’un concerne le droit et le
mécanisme des services publics
(vollziehende Gewalt), une organisation in-
térieure et détaillée; l’autre concerne les rapports de l’administration avec
les citoyens pour l’exécution des lois et des décrets. Le premier objet
forme la partie organique règlementaire et technique de l’administration,
la deuxième constitue à proprement parler le droit administratif
(die Ver-
waltung im engern Sinn und das eigentliche Verwaltungsrecht).


[[31]]

Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Weſen der vollziehenden Gewalt.


Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt nur dann ihrem ganzen
Inhalte nach darzuſtellen, wenn man dieſelbe nunmehr von dem höhern
von uns aufgeſtellten Standpunkte betrachtet.


Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erſcheint jetzt näm-
lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion
hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; ſie iſt im
Gegentheil die That des Staats in höchſter und weiteſter Bedeutung.
Sie ſoll daher das Weſen des Staats zur Verwirklichung bringen, und
zwar innerhalb der Welt der äußern Thatſachen. Sie iſt daher nicht
nur kein iſolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie
umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit
ihren materiellen Wirkungen, ſie iſt nicht bloß allgegenwärtig in dem-
ſelben, allgegenwärtiger ſogar als der beſtimmte Wille des Staats, das
Geſetz; ſie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unterſten
Staatsdiener wie eine große organiſche und doch einheitliche Macht,
ſondern ſie iſt zuletzt das Organ der geſammten poſitiven Verwirklichung
der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch
einen mechaniſchen Dienſt gegenüber dem Geſetze genügen; ſie muß viel-
mehr von dem Weſen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats-
idee innerlich durchdrungen ſein, immer eben ſo ſehr, oft noch lebendi-
ger als die Geſetzgebung, weil ſie die Staatsidee mitten unter den
Verſchiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zuſtände feſthalten ſoll; ja ſie
muß beſtändig das Geſetz erſetzen, über daſſelbe hinausgehen, es im
Grunde noch breiter auffaſſen als die Geſetzgebung ſelbſt, denn wo das
Geſetz mangelt, da iſt ſie ſelbſt die höchſte Gewalt. Es iſt daher nichts
unverſtändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das
Geſetz zu reden, denn das Geſetz iſt ja ſelbſt nur ein formeller Ausdruck
dieſer Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erſt
[32] die Vollziehung mit ihrem Verſtändniß der wirklichen Dinge und ihrer
Poſtulate den Körper gibt. Die halbe Mißachtung und das Mißtrauen
gegen die Vollziehung ſind daher nur hiſtoriſch zu erklären; in Wahr-
heit iſt die Funktion derſelben eine jedenfalls nicht leichtere, und eben
ſo ernſte, als die der Geſetzgebung. Wer das Staatsleben begreifen will,
ſollte ſich als erſte Aufgabe dieſe Anſchauung des hohen Berufes der
Vollziehung in dieſem Sinne eigen machen. Nur dieß Verſtändniß kann
aller Thätigkeit, welche dazu gehört, die geiſtige Spannkraft und Trag-
weite geben, deren ſie gerade in unſerer Zeit bedarf, wo der hiſtoriſche
Standpunkt, auf welchem wir ſtehen, es mit ſich gebracht hat, daß man
ſtets geneigt iſt, alles Gute was geſchieht, der Geſetzgebung, und alles
Ueble der Vollziehung zuzuſchreiben.


Die folgende Darſtellung wird zeigen, daß dieſe allgemeinen Sätze
auch im Einzelnen ihre volle Berechtigung finden.


Die ganze Lehre von der Vollziehung muß nämlich in zwei Theile
zerfallen, die im Weſen der That liegen. Jede That erſcheint nämlich
zuerſt als Kraft, und dann als Mittel der Ausführung. Beide,
Kraft und Mittel, ſind aber in der Perſönlichkeit des Staats nicht wie
bei dem einzelnen Menſchen ununterſcheidbar verſchmolzen; das höhere
Weſen der Perſönlichkeit des Staats zeigt ſich auch hier darin, daß
beide Momente der That nicht bloß abſtrakt in der Theorie geſchieden
werden, ſondern in der Wirklichkeit geſchieden ſind. Und jedes dieſer
Momente zeigt ſich bei näherer Betrachtung wieder als ein Syſtem von
Begriffen, deren Darlegung einen reichen Inhalt bietet, und die wiederum
für das ganze Gebiet der eigentlichen Verwaltung gültig
ſind
. Die Darſtellung dieſer, als ſelbſtändig gedachten Kraft des
Staats, oder der vollziehenden Gewalt, in allen ihren einzelnen
Momenten nennen wir kurz das Recht der vollziehenden Gewalt, weil
ſich dieſe Selbſtändigkeit ſowohl des Ganzen als der einzelnen Momente,
die es bilden, erſt am Rechte beſtimmt und äußerlich ſcheidet, und das
Verſtändniß des Rechts zum Verſtändniß der Natur derſelben führen
muß. Das Mittel aber, deſſen ſich dieſe Kraft bedient und in welchem
ſie lebt, iſt das Organ der Vollziehung. An ſich bedarf die Voll-
ziehung des Staats wie jede Kraft eines Organes, und es iſt nicht
ſchwer, es von der Kraft äußerlich zu trennen. Allein in dem groß-
artigen perſönlichen Leben des Staats tritt dieſe vollziehende Gewalt
nicht als ein einzelnes Organ, ſondern vielmehr als ein Syſtem von
Organen
, darin jedes wieder in Geſtalt und Umfang bedingt iſt durch
das Objekt, welche die Vollziehung ihm übergeben hat, um den Staats-
willen in ihm zu vollziehen. Die Bildung dieſes Organismus der voll-
ziehenden Gewalt hat wieder ihre beſondere Geſetze; immer aber iſt der
[33] Organismus der Träger des Rechts der vollziehenden Gewalt in ihren
einzelnen Gebieten. Der Organismus derſelben iſt daher ein ſelbſtän-
diges Gebiet, und bildet neben dem Rechte der vollziehenden Gewalt
den zweiten Theil der allgemeinen Verwaltungslehre.


Man kann nun als dritten Theil der letztern die Darſtellung des
poſitiven Rechts und des poſitiven Verwaltungsorganismus hinſtellen.
Es wird aber zweckmäßig ſein, dieſen Theil mit den beiden andern ſo
zu verſchmelzen, daß ſie zugleich eine vergleichende Darſtellung des Gel-
tenden bilden. Darnach nun iſt in dem Folgenden zu Werke gegangen.


Auf dieſe Weiſe werden wir nun, indem wir die Lehre von der
Vollziehung in das Recht der vollziehenden Gewalt und in den Orga-
nismus
derſelben theilen, dieſe ganze Lehre als ein künftig ſelbſtän-
diges Gebiet der Wiſſenſchaft, und als die allgemeine Grundlage der
Lehre von der Verwaltung im eigentlichen Sinne und ihrer drei Ge-
biete betrachten dürfen. Dieß im Einzelnen auszuführen iſt der Zweck
des Folgenden.


Begriff und hiſtoriſche Geſtaltung der vollziehenden Gewalt.
Begriff und Bedeutung der vollziehenden Gewalt ſind für das ganze Staats-
leben aller Völker ſo wichtig, daß wir gezwungen ſind, denſelben eine eigene
Betrachtung zu widmen, obwohl dieſelbe eigentlich in die Verfaſſung gehört.


Um aus der großen Verwirrung hinauszukommen, die in dieſer Beziehung
herrſcht, muß man über gewiſſe Punkte erſt einig ſein. Erſtlich, daß es ſich
bei der vollziehenden Gewalt im Sinne des verfaſſungsmäßigen Staatsrechts
und ſeiner Geſchichte nicht um die trias politica des Ariſtoteles, ſondern um
etwas ganz anderes handelt, wie es ſich gleich zeigen wird. Zweitens, daß
es nicht möglich iſt, zu einem klaren Begriffe zu gelangen, ſo lange man die
Vollziehung mit der ganzen Verwaltung verſchmilzt, wie das ſo oft geſchieht,
oder gar ſo lange man ſie nur als die Zwangsgewalt betrachtet. Drittens
endlich, daß die deutſche Literatur durch das Aufnehmen des Begriffs und des
Inhalts der einzelnen Hoheitsrechte und der Verſchmelzung mit den im abſtrakten
Weſen des Staats liegenden Gewalten nur Verwirrung erzeugte. Dazu kommt,
daß auch hier die deutſche Staatsrechtslehre in dem von ihr nicht einmal klar
erkannten Widerſpruch lebt, ein deutſches Staatsrecht zu bilden, welches eben
nicht exiſtirt. Dieſen verſchiedenen Standpunkten gegenüber muß in der hiſto-
riſchen Entwicklung die einzig wahre Baſis für dieß ganze Gebiet gefunden
werden.


Es iſt bekannt, und das Folgende wird es im Genaueren zeigen, daß die
Unfreiheit der Zuſtände im achtzehnten Jahrhundert darin lag, daß die könig-
liche Gewalt zugleich die Geſetzgebung und die Vollziehung enthielt, und daher
jeder Akt der letzteren als ein geſetzlich gültiger erſchien. Die unabweisbare
Vorausſetzung aller Freiheit ward dadurch die Selbſtändigkeit der geſetzgebenden
Gewalt. Dieſe aber konnte nur dadurch erreicht werden, daß man ſie erſtlich
von der verwaltenden und vollziehenden trennte, und zweitens den Grundſatz
Stein, die Verwaltungslehre. I. 3
[34] ausſprach, daß die letztere, in dieſer Trennung, nun auch der erſteren unter-
geordnet ſein müſſe, wie die äußere Thätigkeit dem Willen der Perſönlichkeit.
So entſtand nicht ſo ſehr ein neues Syſtem als vielmehr ein neues Princip
für die Staatsgewalten, das Princip der Herrſchaft der Geſetzgebung
über die Verwaltung
, und dieß Princip erſchien als die Baſis der Frei-
heit der Völker
. So wie daher die Idee der Umgeſtaltung des öffentlichen
Rechts praktiſch lebendig war, ward dieſe Unterwerfung der vollziehenden Gewalt
unter die geſetzgebende eine ihrer erſten Grundlagen, und die Formel, unter
der dieß Princip zur Geltung kam, war die „Theilung der Gewalten,“ welche
in der äußeren Scheidung die innere Unterordnung zum Inhalt hatte. Allein
andererſeits ließ es ſich nicht verkennen, daß eine ſolche reine Unterwerfung des
einen Elements unter das andere mit dem organiſchen Weſen des Staats, und
auch mit den praktiſchen Bedürfniſſen deſſelben in offenem Widerſpruch ſtehe.
Man mußte dieſe Unterwerfung und mit ihr die „Theilung der Gewalten“ im
Begriff der Staatsgewalt wieder aufheben, die letztere als eine perſönliche Ein-
heit wieder herſtellen, und das Staatsoberhaupt als perſönlichen Träger dieſer
Einheit anerkennen. Das hob die Vollziehung nicht etwa auf, ſondern machte
ſie nur zu einer beſtimmten, organiſchen Funktion des Staatsoberhaupts. Der
Begriff der vollziehenden Gewalt verſchwindet daher nicht, aber dieſelbe erſcheint
als das, was ſie wirklich iſt, als ein Moment in einer höhern Gewalt; und
das richtige Verſtändniß dieſes Verhältniſſes läßt daher auch für daſſelbe einen
neuen Namen entſtehen; ſtatt der vollziehenden Gewalt tritt jetzt die Staats-
gewalt
auf. Damit war der Widerſpruch der Theilung der Gewalten beſeitigt;
aber die Vollziehung war dafür als ſelbſtändiges Moment mit eigenem Rechte
verloren gegangen, theils in dem unentwickelten Begriff der „Staatsverwaltung,“
theils in dem der polizeilichen Gewalt. Und auf dieſem Standpunkt ſteht die
heutige Doctrin. Die Darſtellung des Verhältniſſes von Geſetz und Verordnung
wird das im Einzelnen zeigen. Hier ſoll nun jener hiſtoriſche Proceß mit den
Beweiſen aus den wichtigſten Documenten, den Verfaſſungsurkunden, dargelegt
werden.


Man kann im Allgemeinen ſagen, daß das Princip der wirklichen Unter-
werfung der Vollziehung unter die Geſetzgebung, und damit die Uebertragung
der ganzen Staatsgewalt in den geſetzgebenden Körper während des achtzehnten,
die Wiederherſtellung der Staatsgewalt und die Selbſtändigkeit der vollziehenden
Gewalt während des neunzehnten Jahrhunderts gegolten hat. Das erſtere iſt
in den franzöſiſchen, das zweite in den deutſchen Verfaſſungen zum Ausdruck
gebracht.


Die erſte Verfaſſung, welche die Auflöſung der Vollziehung in die Geſetz-
gebung enthält, iſt die Verfaſſung der Vereinigten Staaten vom 17. September
1787. Hier iſt die geſammte Geſetzgebungs- und Verordnungsgewalt (ſ. unten)
dem Congreß übergeben; von ihr iſt die executive power geſchieden Art. II,
S. 1): the executive power shall be vested in a President of the United
States of America.
Die Verfaſſung läßt ihm nichts als das Heer und die
Vertretung nach Außen. Was die vollziehende Gewalt deſſelben im Innern
enthielt, wird nicht geſagt. Man meinte, daß ſich das von ſelbſt verſtände.
[35] Derſelbe Gedanke beherrſcht die franzöſiſchen Conſtitutionen; der Satz der erſten
Conſtitution von 1791: le pouvoir exécutif est délégué au Roi pour être
exercé sous son autorité par des ministres; T. III, Art.
4 ſtellt die
Unterordnung der vollziehenden Gewalt unter die souveraineté de la nation;
das Ch. II, Sec. 1. 3 ſagt ausdrücklich: le Roi ne règne que par la loi;
et ce n’est qu’au nom de la loi qu’il peut exiger l’obéissance
. Die voll-
ziehende Gewalt iſt nur noch Mandatar der geſetzgebenden. Die Conſtitution
von 1793, die den Conseil exécutif errichtet, drückt das noch ſchärfer aus,
indem ſie ausdrücklich auch die Verordnungen der geſetzgebenden Gewalt über-
gibt: „il (le Conseil exécutif) ne peut agir qu’en exécution des lois et
des décrets
du corps législatif.“
(Art. 65.) Aber ſchon die Conſtitution
von 1795 iſt nicht mehr ſo beſtimmt; der Art. 144 bringt ſchon den viel-
deutigen Satz: „le directoire pourvoit, d’après le lois, à la surété extérieure
ou intérieure de la république.“
Die Conſtitution von 1799 ſcheidet end-
lich beſtimmt Geſetz und Verordnung; der Begriff eines pouvoir exécutif
iſt verſchwunden, um in den Verfaſſungen Frankreichs nicht wieder zu er-
ſcheinen. An ſeiner Stelle ſteht T. IV. „le gouvernement.“ Die ſpäteren
Conſtitutionen halten, wie wir ſehen werden, kaum noch den Unterſchied von
Geſetz und Verordnung, geſchweige denn die Selbſtändigkeit der geſetzgebenden
Gewalt feſt, eben ſo iſt der Unterſchied der pouvoirs in den Charten von 1814
und 1830 formell nicht wieder aufgetreten. Wohl aber entſteht jetzt in der
Theorie die Frage, welches denn die Stellung des Königthums ſei. Frankreich
entſchied ſie theoretiſch, Deutſchland geſetzlich. In Frankreich ging aus dem
Bewußtſein, daß man den Begriff der vollziehenden Gewalt neben dem des
Königthums feſthalten müſſe, das richtige Verſtändniß hervor, daß das König-
thum das Haupt aller Gewalten ſei, was Benj. Conſtant durch die Aufſtellung
des pouvoir royal als pouvoir régulateur ausdrückte. Während aber aus
der franzöſiſchen Charte der Ausdruck pouvoir exécutif verſchwindet, ſehen wir
ihn ganz nackt in der norwegiſchen Verfaſſung, 1814, §. 3: „die ausübende
Macht iſt beim Könige“ — und in der belgiſchen vom 25. Febr. 1831, Art. 29,
wieder auftreten, um mit dem Jahre 1848 wieder ſeine Rolle zu ſpielen. Da-
gegen brach ſich in den deutſchen Verfaſſungen, die den theoretiſirenden Charakter
nirgends verläugnen, der Gedanke der perſönlichen Einheit Bahn in dem Be-
griff der Staatsgewalt. Das deutſche Staatsleben war gleich anfangs von
der Ueberzeugung durchdrungen, daß die Einheit der Staatsgewalt die Grund-
lage des Staats ſei. Der Begriff einer Identificirung des Königthums und
der Vollziehung hat daher nie Platz gegriffen, ſondern die Vollziehung iſt ſtets
als eine Funktion des erſteren aufgefaßt, die nur die Pflicht habe, ſich da,
wo Geſetze beſtehen, an denſelben conform zu halten. Man kann die Auf-
ſtellung der Verfaſſungsurkunden in vier große Epochen theilen. Die erſte fällt
unter die Herrſchaft Napoleons. In den drei Verfaſſungen, die dahin gehören,
Verfaſſung von Weſtphalen, 15. Nov. 1807, Großherzogthum Frankfurt,
16. Aug. 1810, Königreich Bayern, 1. Mai 1808, iſt noch von dem Begriff
und Recht, von Geſetzgebung und Vollziehung überhaupt keine Rede. Auch
erſcheint Begriff und Wort noch nicht in dem Sachſen-Weimar-Eiſenacher
[36] Grundgeſetz von 1816. Die zweite umfaßt die Verfaſſungen ſeit 1817—1821.
Hier bildet ſich die Formel aus, welche Begriff und Verhältniß der Staatsgewalt
und der Vollziehung ſo beſtimmt und klar feſtſtellt, daß dieſelbe auch ſpäter
faſt wörtlich beibehalten iſt. Sie lautet nach der bayeriſchen Verfaſſung von
1818: „der König iſt Oberhaupt des Staats, vereinigt in ſich alle
Rechte der Staatsgewalt
und übt ſie unter den in der Verfaſſungsurkunde
feſtgeſetzten Beſtimmungen aus (Thl. II. §. 1). Wörtlich gleichlautend iſt die
Verfaſſung von Württemberg, Kap. II. §. 1 (1819); ebenſo die von Baden
(22. Aug. 1818), I. §. 5, die von Coburg von 1821 (§. 3), und vom Groß-
herzogthum Heſſen (1820) Art. 4. — Die dritte Epoche, die Zeit der Ver-
faſſungen der dreißiger Jahre (1831—1834), im Uebrigen weſentlich verſchieden
von der früheren, hat doch in dieſem Punkte den Boden, ja ſogar die Aus-
drücke derſelben nicht verlaſſen. Das Princip, daß die vollziehende Gewalt nicht
ein Mandatar der geſetzgebenden ſei, war allerdings ſchon durch die württemb.
Landesverfaſſung, Art. 57, als deutſcher ſtaatsrechtlicher Begriff feſtgeſtellt; der
Ausdruck dieſes Artikels iſt in der That der deutſche Grundgedanke gegenüber
dem franzöſiſchen, wie er bereits in den oben erwähnten Verfaſſungen aus-
geſprochen ward: „Die geſammte Staatsgewalt muß in dem Oberhaupte des
Staats vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine landſtändiſche
Verfaſſung nur in der Ausübung beſtimmter Rechte an die Mitwirkung
der Stände gebunden werden.“ Das Staatsoberhaupt iſt hier klar genug von
der Geſetzgebung und Vollziehung, ihrem beiderſeitigen Begriffe nach geſchieden,
wenn auch die Rechte, in denen es beſchränkt werden kann, nicht beſtimmt
waren; andererſeits beſtand bis 1830 überhaupt in der Hälfte Deutſchlands noch
gar keine Verfaſſung; der Souverän war Geſetzgeber und Vollzieher zugleich.
Das Jahr 1830 erſchuf hier daher nichts Neues, ſondern fügte den bisherigen
Verfaſſungen nur noch einige neue hinzu, in welcher faſt wörtlich der Stand-
punkt der ſüddeutſchen Verfaſſungen über die vollziehende Gewalt aufrecht ge-
halten ward. So in der kurheſſ. Verfaſſung 1831, Art. 4; Sachſen-
Altenburg
1831, Art. 4; Braunſchweig 1832, §. 3; Hannover 1833,
§. 8, iſt etwas differirend, „vom König geht alle Regierungsgewalt aus“
und „die Behörden üben ſie aus im Namen des Königs“ — wobei die Voll-
ziehung etwas den Charakter einer polizeilichen Gewalt annimmt; Königreich
Sachſen
(I. §. 4 des Entwurfs: wie die ſüddeutſchen); die angenommene Ver-
faſſung §. 4 hat dann auch dieſelben Ausdrücke acceptirt. Preußen, Mecklen-
burg, Oldenburg, Schleswig-Holſtein blieben dagegen noch auf dem Standpunkt
der Provinzialſtände; der Begriff der vollziehenden Gewalt erſcheint hier über-
haupt nicht, ſondern in dem landſtändiſchen Recht nur der Anfang des Begriffes
von ſelbſtändiger Geſetzgebung; in Oeſterreich beſtand auch das nicht, der klei-
neren Staaten geſchweigen wir. Man kann daher ſagen, daß ſo weit es
Verfaſſungen gab, die Perſönlichkeit des Staats in dem Begriffe der Staats-
gewalt, das monarchiſche Princip in der Identität derſelben mit der Perſönlichkeit
des Monarchen, die Vollziehung aber als ein übrigens verſchieden beſtimmtes
Moment in der Staatsgewalt wirklich anerkannt war, während in einigen
Staaten die Vollziehung noch mit der Geſetzgebung ganz (Oeſterreich) in andern
[37] zum Theil verſchmolzen blieb. Unter dieſen Umſtänden konnte man von einer
deutſchen geltenden Macht der vollziehenden Gewalt und ihres Rechts nicht
wohl reden und die Theorie hatte dann auch keine aufzuweiſen.


Dennoch iſt es ſchon aus dem Obigen klar, daß damit die beiden Grund-
formen der Auffaſſung der vollziehenden Gewalt ſich ziemlich beſtimmt charak-
teriſirt haben; die franzöſiſche, welche den Grundgedanken in der Scheidung
der vollziehenden Gewalt von der geſetzgebenden und damit der Auflöſung der
ſelbſtändigen Staatsgewalt in die Herrſchaft der Volksvertretung über das ganze
Staatsleben ſieht, und die deutſche, welche die Ausübung oder Vollziehung
nur als ein organiſches Moment der Staatsgewalt betrachtet, damit den Begriff
des Geſetzes, und mit ihm erſt das Recht der Vollziehung und Verwaltung
möglich macht. Es kann kein Zweifel ſein, daß die erſte in einem unlösbaren
Widerſpruch mit dem Weſen des Staats ſteht, indem ſie ihn im letzten Grunde
immer auf einen mehr oder weniger nützlichen Vertrag, und ſeine Thätigkeit
auf ein Mandatsverhältniß zurückführt, was eben ſo logiſch unrichtig als prak-
tiſch unwahr iſt. Man kann die franzöſiſche Auffaſſung die republikaniſche, die
deutſche die monarchiſche nennen, und mit gutem Recht ſagen, daß beide gerade
in der Beſtimmung des Weſens und der Stellung der vollziehenden Gewalt
ihren entſcheidenden Ausdruck finden. Das Jahr 1848 und ſeine Verfaſſungen
haben dieſen Unterſchied aufs neue beſtätigt, und man wird dieſe Verfaſſungen eben
darum in die franzöſiſche und die deutſche Verfaſſungsgruppe theilen müſſen.


Die franzöſiſchen Verfaſſungen beginnen natürlich mit der franzöſiſchen
Republik, und dieſe ſtellt ſofort den alten Unterſchied zwiſchen Vollziehung und
Geſetzgebung her, Art. 43. „Die franzöſiſche Republik überträgt die vollziehende
Gewalt einem Bürger, welcher den Titel Präſident führt.“ Dieſer franzöſiſchen
Definition folgten dann die italieniſchen Verfaſſungen; Neapel, Art 5: „die
vollziehende Gewalt ſteht ausſchließlich dem Könige zu,“ faſt gleichlautend Tos-
cana
, Art. 13, und Piemont, Art. 18. Auch die Schweiz ſetzte mit ihrer
Bundesverfaſſung von 1848 den Bundesrath als „die oberſte vollziehende und
leitende Behörde“ ein. Die deutſchen Verfaſſungen, mit wenig Ausnahmen
(ſchleswig-holſteiniſche Verfaſſung, erſte öſterreichiſche Verfaſſung) halten dagegen
den in ihrer bisherigen Geſchichte gewonnenen Boden feſt. Für ſie iſt die
Staatsgewalt das Haupt aller Funktionen des Staats, auch der Geſetzgebung,
und die vollziehende Gewalt erſcheint nach wie vor als eine beſondere, und
nur durch die Verfaſſung beſchränkte Funktion des Staatsoberhaupts. Der
monarchiſche Charakter erhält ſich mitten in der Revolution. Die Formen, in
welchen die verſchiedenen Verfaſſungen faſt wörtlich gleichlautend Staatsgewalt
und Vollziehung beſtimmen, ſind die der erſten deutſchen Verfaſſungen von
1818: der Fürſt iſt Oberhaupt des Staats, Inhaber der Staatsgewalt, und
„übt dieſelbe“ „in verfaſſungsmäßiger Weiſe aus.“ So lauten die Verfaſſungen
von Hannover (3. Sept.), Oldenburg, Art. 4, Gotha, §. 49, Mecklen-
burg-Schwerin
, §. 58, Anhalt-Deſſau, §. 60, vergl. Bremen, §. 4.
Nur der Form nach verſchieden, den Gegenſatz zwiſchen Geſetzgebung und Voll-
ziehung auch hier vermeidend, ſind die Verfaſſungen von Oeſterreich 1849,
II. §. 9—23, und die preußiſche Verfaſſung.


[38]

So war eigentlich die Sache ihrem Weſen nach entſchieden. Aber für die
Theorie war ſie um ſo weniger klar, als dieſelbe theils noch immer nicht den
Begriff der Hoheitsrechte abſtreifen konnte, theils keinen Unterſchied zwiſchen
Geſetz und Verordnung zu Stande brachte, und nun gar noch einen neuen
Begriff, den der Staatsgewalt, zu bewältigen hatte, während ein poſitiv gemein-
gültiges Recht für Deutſchland fehlte. Dazu kam die traditionell gewordene
Neigung, alle Hauptfragen, alſo auch die der vollziehenden Gewalt, vielmehr
in die Verfaſſung als in die Verwaltung zu verlegen, da man eben weder
einen anerkannten allgemeinen Begriff der Verwaltung im weitern Sinn, noch
im engern Sinn, noch der innern Verwaltung hatte, und außerdem den Be-
griff einer „Regierung“ und den einer „Polizei“ unterbringen mußte. Man
verfiel daher darauf, die Aufzählung der Momente, welche im Begriff der
Thätigkeit des Staats liegen, als die Aufzählung der Rechte derſelben hinzu-
ſtellen, wie ZöpflI. §. 276, oder ſie ganz verſchwinden zu laſſen, wie Mohl,
natürlich ohne damit weiter zu kommen. Aber jedenfalls ſteht jetzt der Stand-
punkt feſt, von dem man ausgehen muß. Da nämlich die Staatsgewalt auch
nach poſitivem Recht Geſetzgebung und Vollziehung umfaßt, ſo kann der Be-
griff, Inhalt und Recht der Vollziehung künftig weder mit der Staatsgewalt
verwechſelt, noch auch an derſelben beſtimmt werden, ſondern ſie erſcheint nur
als das Verhältniß und das Recht der That des Staats gegenüber ſeinem
Willen. Man kann die Vollziehung und ihr Recht künftig nur an
der Geſetzgebung und ihrem Rechte beſtimmen
und zwar als eine
zweite ſelbſtändige Form des Willens der Staatsgewalt. In dieſem
Sinne nehmen wir gerne den Satz auf, den Pötzl neulich ausgeſprochen
(Krit. Vierteljahrsſchrift für Geſetz und Rechtswiſſenſchaft V. 2. Heft, S. 263):
„Wenn man die Verwaltung (im weitern Sinn) die vollziehende Gewalt
genannt hat, ſo iſt dieſe Bezeichnung nur in ſofern richtig, als man ſich als
Gegenſtand und Ziel derſelben den Staatszweck (natürlich abſtrakt, ſonſt wird
es eben eigentliche Verwaltung) denkt. Dagegen wäre ſie irrig, wenn man ſie
darauf beſchränken wollte, bloß die Geſetze zu vollziehen.“ Das iſt vollkommen
richtig. Es kommt jetzt nur darauf an, eben dieſe, noch nicht als eigentliche
Verwaltung erſcheinende, wichtige Funktion der vollziehenden Gewalt nun auch
in allen ihren einzelnen Momenten darzulegen; und das iſt die Aufgabe des
Nächſtfolgenden. Aus dem bisher Dargeſtellten geht aber hervor, daß wir dieſe
Aufgabe nur dann zu löſen im Stande ſind, wenn wir den Unterſchied zwiſchen
Geſetz und Verordnung, der eigentlich in die Verfaſſung gehört, hier genau
beſtimmen; denn dieſer Unterſchied wird ſich als die Quelle alles Rechts der
vollziehenden Gewalt ergeben.


[[39]]

Erſter Theil.
Das Recht der vollziehenden Gewalt.


A. Syſtem der vollziehenden Gewalt.


Wenn nunmehr nach dem Obigen der Begriff der vollziehenden
Gewalt feſtſteht, ſo iſt der einfache Begriff des Rechts derſelben nicht
ſchwierig. Es iſt das Recht der, als ſelbſtändig gedachten Kraft und
Thätigkeit des Staats innerhalb der Staatsorganismus, alſo ſowohl
dem Gebiete der geſetzgebenden Organe, als der einzelnen ſelbſtändigen
Perſönlichkeit gegenüber, oder mit einem Worte der Staatsgewalt
im weiteſten Sinne
.


Allein dieſer einfache Begriff reicht nicht aus; und zwar darum
nicht, weil zwar im einzelnen Menſchen die Kraft etwas Einfaches iſt,
nicht aber im Staate. Im Staate zeigt ſich vielmehr, daß dieſe Kraft
ſelbſt wieder ganz beſtimmt geſchiedene Momente hat, die zwar zuſam-
men ein Ganzes bilden, aber dennoch als ſelbſtändige erſcheinen, und
auch von jedermann als ſolche anerkannt werden. Das Recht der Kraft
des Staats hat daher ſeinen Inhalt erſt an dieſen ſelbſtändigen Mo-
menten derſelben, und zwar in der Weiſe, daß die Natur dieſer Mo-
mente ſo viel Recht ſich ſelber ſchafft, als ſie fordern müſſen, um ihre
organiſche Funktion vollziehen zu können. Das Recht der vollziehenden
Gewalt wird daher zur Conſequenz dieſer organiſchen Natur jener Ele-
mente, und in der That ergibt ſich wie wir ſehen werden, nur auf
dieſer Grundlage ein wirkliches Rechtsſyſtem für die vollziehende Ge-
walt, das ſeinerſeits ſich als eines der Hauptgebiete des öffentlichen
Rechts betrachten darf. Nur muß man dabei feſthalten, daß auch dieſe
Momente nicht etwa eine für ſich daſeiende, abſtrakte Erſcheinung haben,
ſondern nur in der eigentlichen, wirklichen Verwaltung zur concreten
Geltung kommen. Alle folgenden Begriffe ſind daher Grundſätze und
Rechtsbeſtimmungen für die vollziehende Gewalt in der praktiſchen Thä-
tigkeit der wirklichen Verwaltung, alſo in Finanzen, Rechtspflege
[40] und Innerem. Und daher werden wir zweckmäßig den Inhalt der
reinen vollziehenden Gewalt, oder die Darlegung der beſondern Momente
derſelben, dem Rechte derſelben, oder der feſten Gränzbeſtimmung
zwiſchen ihnen und den ſelbſtändigen perſönlichen Lebensverhältniſſen des
Staats und des Staatsbürgers voraufſenden.


I.
Die einzelnen Gewalten in der vollziehenden Gewalt.


Die Staatsgewalt im Allgemeinen. Das Heer.

Es wird nunmehr in Hinweiſung auf die hiſtoriſche Entſtehung
des eigenthümlich deutſchen Begriffes der Staatsgewalt wohl nicht ſo
ſchwierig ſein, das Weſen deſſelben und damit den Unterſchied von dem-
jenigen zu beſtimmen, was wir die vollziehende Staatsgewalt nennen
müſſen.


Die Staatsgewalt in dem Sinne, in welchem ſie dem Begriffe des
Staats und namentlich der deutſchen Staatsrechtsbildung zum Grunde
liegt, iſt keine beſondere Gewalt, kein Moment an einer andern Gewalt
im Staate. Sie bezeichnet uns eben das ganze perſönliche Leben des
Staats als eine einheitliche Gewalt, als die ganz allgemeine perſönliche
Kraft der Selbſtbeſtimmung ohne irgend eine Unterſcheidung des Ob-
jekts. Sie iſt überhaupt der Beſitz des Rechts und der Mittel, ſich zu
äußern, und zwar als höchſte Form der Perſönlichkeit ſowohl inſofern
der Staat iſt, als inſofern er will und handelt. Alles was durch den
Staat geſchieht, geſchieht für den Staat. Alle Funktionen des Staats
ſind daher Funktionen dieſer Staatsgewalt, und ich gelange nunmehr
leicht zu dem Begriffe der ſogenannten Staatsgewalten, indem ich mir
dieſe Funktionen ſelbſtändig, und in jeder derſelben die Staatsgewalt
thätig denke. Ich kann daher, ohne irgend einen Irrthum, freilich aber
auch ohne irgend einen Nutzen, mir ſo viel Staatsgewalten conſtruiren
als ich will, wenn ich nur feſthalte, daß eine dauernde und regelmäßige
Thätigkeit des Staats zum Grunde liegen muß. Daher haben die
Theorien über die verſchiedenen Staatsgewalten alle Recht, und daher
haben auch das deutſche Bundesrecht und die neueſte Staatsrechtslehre
Recht, jene indem ſie drei, fünf, ſieben Staatsgewalten, dieſes indem
es nur Eine Staatsgewalt annimmt. Verkehrt iſt nur das, daß man
den organiſchen Begriff des Staats aus den Gewalten hat conſtruiren
wollen, während man umgekehrt dieſe Gewalten als Aeußerungen der
organiſchen Eintheilung hatte erkennen müſſen. Nur das Eine iſt
[41] feſtzuhalten, daß die Staatsgewalt in dem Sinne nicht bloß an ſich, ſon-
dern auch organiſch untheilbar iſt und ſein muß, in welchem das deutſche
Recht es annimmt, daß alle einzelnen Gewalten niemals abſolut ſelb-
ſtändig, ſondern nur Momente an der einheitlichen Perſönlichkeit des
Staats — die Staatsgewalten Momente der Staatsgewalt ſind. Und
damit ergibt ſich jetzt auch das Verhältniß der vollziehenden Gewalt.


Die Staatsgewalt erſcheint nämlich zuerſt als die Kraft, vermöge
deren die Perſönlichkeit des Staats als ſolche ſich zur Erſcheinung und
Geltung bringt, noch ohne eine Beziehung auf den Willen und die
Thätigkeiten, welche das Leben des Staats erfüllen. Dieſe reine Staats-
gewalt iſt daher weder ein Moment in der Geſetzgebung noch in der
Verwaltung; ſie iſt die Erſcheinung des Staats an und für ſich. Man
muß nicht glauben, daß das eine Abſtraktion iſt. Die Verfaſſungen
der verſchiedenen Staaten haben dieſe reine Staatsgewalt nicht bloß
ſehr klar erkannt, ſondern auch zum Theil mit großer Schärfe diejeni-
gen einzelnen Funktionen nachgewieſen und anerkannt, welche in der-
ſelben liegen, indem ſie dieſe Funktionen als Rechte des Königthums
feſtſtellen. Man kann ſie mit dem Begriffe der Vertretung des Staats
umfaſſen; nach Innen als Inhaber der höchſten Würden, nach Außen
als Inhaber des Rechts, Krieg, Frieden und Verträge zu ſchließen.


Die Staatsgewalt erſcheint zweitens als höchſte Spitze der geſetz-
gebenden Gewalt. Die Funktion des Staatsoberhaupts iſt hier die,
durch ſeine Zuſtimmung das Wollen der Vertretung des Volkes zum
individuellen Willen des Staats zu machen, und durch ſeine Erklärung
demſelben die Geltung dieſes perſönlichen Willens zu geben. Das
drücken die meiſten Verfaſſungen dadurch aus, daß ſie dem Fürſten die
Sanktion und die Verkündigung der Geſetze zuerkennen.


Die Staatsgewalt erſcheint aber auch drittens als das Haupt
der Verwaltung
im weitern Sinn; das heißt, jede That des Staats
muß unbedingt als eine That der Staatsgewalt, das iſt des Staats-
oberhaupts erſcheinen. Dieß Princip wird ſo ausgedrückt, daß alle
Vollziehung und Verwaltung nur im Namen des Staatsober-
haupts
geſchehen kann — (oder „der König vereinigt in ſich alle
Gewalt, und übt ſie in verfaſſungsmäßiger Weiſe aus“). Dieß Princip
iſt mithin kein Princip der vollziehenden, ſondern vielmehr ein Princip
der Staatsgewalt; durch daſſelbe iſt die vollziehende Gewalt das was
ſie ſein ſoll, ein Moment an der Staatsgewalt. In dieſem richtigen
Verſtändniß aber liegt nun auch der Begriff des Rechts dieſer voll-
ziehenden Gewalt; denn ſie ſteht damit in einem organiſchen Verhältniß
zu der geſetzgebenden in dem Willen, in dem Begriff der Staatsgewalt
ſelbſt, welche ja zugleich das Haupt der Geſetzgebung iſt, und ſo
[42] entwickelt ſich aus dem Begriff der Staatsgewalt nicht bloß der Begriff,
ſondern auch das Rechtsſyſtem der vollziehenden Staatsgewalt.


Aber auch hier iſt die Staatsgewalt in ihrer vollziehenden Thätig-
keit nicht bloß ein Moment am Leben des Staats, ſondern ſie erſcheint
auch ſelbſtändig in einem nur ihr gehörigen Organismus, der ſeiner
ganzen Natur und ſeiner äußern Aufgabe nach eben das Organ dieſer
reinen, allgemeinen Gewalt der Perſönlichkeit des Staats iſt. Das iſt
das Heer, die Waffenmacht des Staats. Das Heer des Staats hat
keine beſondere Aufgabe, als die, die Kraft des Staats an und für
ſich objektiv darzuſtellen und zur Geltung zu bringen. Man wird uns,
glauben wir, unmöglich mißverſtehen, wenn wir demgemäß ſagen,
das Heer iſt die Erſcheinung und das Organ der abſtrakten voll-
ziehenden Gewalt des Staats. In der That folgen daraus die beiden
großen Grundſätze in einfachſter Weiſe, welche, ſo lange es Menſchen
und Staaten geben wird, das Heerweſen beherrſchen müſſen und be-
herrſcht haben. Zuerſt folgt, daß das Heer als Haupt nothwendig und
ausſchließlich das Staatsoberhaupt anerkenne; es iſt auch wiſſenſchaftlich
ein Unding, das Heer zum Organe der geſetzgebenden Gewalt machen
zu wollen. Zweitens folgt, daß das Heer, eben weil es organiſch
keine wie immer geartete ſpezielle Aufgabe hat und haben kann, auch
keinen ſelbſtändigen Willen zu haben beſtimmt iſt; es iſt das Organ
des perſönlichen Willens des Staatsoberhaupts. Von dieſen beiden
oberſten Grundſätzen kann ſich das Heerweſen keiner Zeit, keines Volkes
und keines öffentlichen Rechtszuſtandes trennen; geſchieht es dennoch,
ſo iſt die Folge eine Zerſtörung des ganzen Staatsorganismus. Die
Geſchichte liefert die entſcheidendſten Beiſpiele für dieſe Wahrheit, und
es iſt nur Schwäche des Staatsbürgerthums, auch nur einen Augen-
blick die abſolute Gültigkeit jener beiden Principien im Namen der
ſtaatsbürgerlichen Freiheit beſtreiten zu wollen. Jeder Kampf dagegen hat
ſtatt der Freiheit naturgemäß nur Schwäche des Staats erzeugt, und
nur die, welche der Schwäche des Ganzen froh ſind, haben andere Ge-
ſichtspunkte vertreten. Nicht in der Beſtreitung jener Principien liegt
die Sicherung der Freiheit; gibt das übrige organiſche Leben des Staats
dieſelbe nicht durch ſich ſelbſt, ſo wird man ſie gewiß niemals dadurch
erreichen und hat ſie niemals dadurch erreicht, daß man jene Grund-
gewalt des Staatsorganismus zu vernichten trachtet. Jene Principien
ſind vielmehr in ſo hohem Sinne organiſcher Natur, daß ſie ſich unbe-
dingt, ja gegen den direkten Willen der Geſetzgebung, durch ihre eigene
innere Macht wieder herſtellen, wenn ſie einmal angegriffen werden;
es lebt in dem Heere aller Zeiten und Völker das lebendige Gefühl,
daß das Daſein des Staats an und für ſich auf ihm beruhe, daß es
[43] daſſelbe gegen Außen, und daß es daſſelbe auch nach Innen, am letzten
Orte allein mit dem höchſten Opfer zu vertreten habe; jede geſunde
Armee wird durch das mehr oder weniger klare Bewußtſein dieſer ſeiner
oft ſo ernſten Aufgabe gehoben und getragen. Das Verſtändniß dieſer
organiſchen Stellung erſcheint in dem einzelnen Gliede des Heeres als
die militäriſche Ehre, die eben deßhalb ein unbedingtes Element des
Heerweſens iſt; und in den großen Aktionen des Heeres iſt es dieß
Bewußtſein, das, bis zur Begeiſterung geſteigert, die Heere zu Tod und
Sieg führt. Wie wenige von denen, welche ſeit Plato über das Staats-
weſen und ſeinen Begriff ſchreiben und denken, kennen das Heer und
ſein eigenthümliches Leben — und wie viele mögen wohl ernſthaft und
vorurtheilsfrei jemals darüber nachgedacht haben. Es iſt nicht gut, daß
dem ſo iſt. Verbannt ein ſo mächtiges und wichtiges Element des
Ganzen aus der ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft oder aus der ethiſchen An-
ſchauung des Staatslebens, und ihr werdet nichts anders erzielen, als
daß diejenigen euch und eure Lehre nicht verſtehen, die ihr ſelbſt nicht
verſtanden habt! —


Die Staatsgewalt, das Staatsoberhaupt iſt aber nicht durch das
Heerweſen erſchöpft; ſie enthält ein zweites organiſches Element, das
erſt in der zweiten Form der vollziehenden Gewalt zur Erſcheinung
gelangt.


In der That nämlich gehört dem Obigen nach das ganze Heer-
weſen überhaupt weder der Geſetzgebung noch der Verwaltung. Es
iſt ein Leben für ſich, innig und organiſch mit dem Staatsoberhaupt
und ſeiner Gewalt verbunden; aber mit der Verwaltung hat ſeine voll-
ziehende Kraft nichts zu thun, dieſer gehört erſt das zweite Element
derſelben.


Dieſe zweite Form der vollziehenden Gewalt bildet ſich nun, indem
für die Staatsgewalt die einzelnen beſonderen Staatsaufgaben
entſtehen, welche den Inhalt des Begriffes der Verwaltung bilden.


Die Regierungsgewalt und ihre drei Formen.

Wir haben bereits oben den Begriff der Regierung feſtgeſtellt.
Wenn wir nun von einer eigenen Regierungsgewalt als Form und Inhalt
der vollziehenden Gewalt reden, ſo geſchieht das in folgendem Sinne.


Wenn nämlich die Vollziehung die That des Staats, für ſich be-
trachtet, iſt, ſo muß ſie einen Willen enthalten, welcher dieß ihr Thun,
oder die Thätigkeit als ſolche zum Inhalt hat. In der wirklichen
Thätigkeit aber greifen äußere Momente in den Willen der Perſönlich-
keit hinein, inſofern dieſer nur einen Zweck und eine Aufgabe ſetzte,
[44] und nicht ſchon ſelbſt die Verwirklichung enthält. Dieſer auf die Thätig-
keit als ſolche gerichtete Wille muß daher die Fähigkeit haben, jene
in das abſtrakte Wollen hineingreifenden Elemente zu verarbeiten und
mit dem erſtern in Harmonie zu bringen; das iſt eben der Punkt, auf
welchem die Selbſtthätigkeit der Verwaltung im weitern Sinne beruht.
Die Kraft, dieſe Harmonie in feſten, für alle einzelnen Thätigkeiten
(der Verwaltung im engern Sinne) gültige Principien zu formuliren
und zur wirklichen Gültigkeit zu bringen, iſt nun gleichfalls eine Ge-
walt; ſie iſt die allgemeine Form für die beſondere Ausübung der
einzelnen Thätigkeiten der Verwaltung, und dieſe Gewalt iſt die Re-
gierungsgewalt
.


Man kann daher ſagen, daß die Regierungsgewalt der ſelbſtändig
gedachte thätige Wille der Staatsgewalt iſt. Ihre Selbſtändigkeit
iſt ſtets gleich der Selbſtändigkeit der Thatſachen, mit denen der
Staat zu thun hat. Sie wächst und nimmt ab mit der Kraft und
der Vielheit der gegebenen Lebensverhältniſſe im gegebenen Staate.
Sie ſelbſt aber erſcheint, wie jeder thätige Wille, in drei Formen, dem
Willen für ſich, der Verordnungsgewalt, der Bildung der Mittel
ſeiner Verwirklichung, der Organiſationsgewalt, und der äußern Thä-
tigkeit, der polizeilichen oder Zwangsgewalt.


Die erſte Grundform, oder der erſte Inhalt der Regierungsgewalt
entſteht mithin durch ihr Verhältniß zu dem Staatswillen oder dem
Geſetze. Allerdings iſt das Geſetz die höchſte, und darum, wo es
vorhanden iſt und ausreicht, die den Willen der vollziehenden Gewalt
beherrſchende Form des Staatswillens. Allein kein Geſetz iſt fähig,
alle Seiten desjenigen Lebensverhältniſſes wirklich und vollſtändig zu
umfaſſen, für welches es gegeben wird. Ja keine Geſetzgebung iſt je
im Stande geweſen noch wird ſie es ſein, jemals auch nur die Lebens-
verhältniſſe vollſtändig geſetzlich zu beſtimmen, für welche ein Geſetz er-
forderlich erſcheint. Dennoch wird ein Staatswille auch da unabweis-
bar nothwendig, wo ein Geſetz entweder nicht ausreicht, oder geradezu
mangelt. Die Vollziehung, die nicht entbehrt werden kann, muß daher
durch ihren eigenen Willen, obwohl ſie keine Geſetzgebung und von der-
ſelben organiſch getrennt iſt, dennoch den Mangel des Geſetzes erſetzen.
Dieſe Forderung iſt eine unbedingte Vorausſetzung für die, dem Staate
entſprechende Thätigkeit ſeiner Regierung. Sie liegt daher in dem Weſen
der vollziehenden Gewalt, und erſcheint als ein immanentes Recht der
Regierungsgewalt. Nur hat ſie keinen dauernden Zuſtand herzuſtellen,
ſondern ſie hat die gegebenen Verhältniſſe im Namen der vollziehenden
Gewalt ſo zu ordnen, wie es der Staatszweck erfordert. Und die mit
dieſem Inhalt gegebene Gewalt der Regierung, das Geſetz durch ihren
[45] eigenen Willen zu erfüllen oder zu erſetzen, nennen wir die Verord-
nungsgewalt
. Sie iſt das erſte und wichtigſte Element der Regie-
rungsgewalt. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ſie, als immanenter Be-
griff der letzteren, das ganze Gebiet der Verwaltung durchdringt, und
in allen drei Hauptgebieten derſelben, in Finanz-, Juſtiz- und innerer
Verwaltung gleichmäßig erſcheint. Es gibt daher eine Verordnungs-
gewalt für die Verwaltung der Staatswirthſchaft, der Rechtspflege und
des Innern, und dieſe iſt bei aller Verſchiedenheit in ihren Objekten
doch gleichartig in ihrem Weſen. Daher iſt auch das Recht derſelben
ein gleiches, für alle Theile gemeinſames. Allein es gibt auch eine Ver-
ordnungsgewalt, welche über die Verwaltung hinausgeht, und die
rechtlichen Zuſtände betrifft, welche Inhalt der Verfaſſung bilden. Das
Verhältniß dieſer Elemente wird ſich nun unten zeigen.


Die zweite Grundform, oder der zweite Inhalt der Regierungs-
gewalt entſteht daraus, daß eine Vollziehung nicht denkbar iſt, ohne
daß die vollziehende Gewalt die einzelnen Momente ihrer Thätigkeit
einzelnen Organen zutheile. Das Bild der Aufgabe des Staats ent-
hält ſchon in ſich ein Bild der Vertheilung derſelben an ſolche beſtimmte
Organe; die Regierung muß daher in dem letztern eine weſentliche Vor-
ausſetzung der praktiſchen Erfüllung ihrer Aufgaben erkennen. Die
Regierungsgewalt enthält daher ihrem eigenen Weſen nach die Gewalt,
die Organe für die einzelnen Momente der wirklichen Vollziehung zu
beſtimmen, und jedem dieſer Organe das Maß und die Gränze des
Antheils feſtzuſetzen, welche ihm bei der Thätigkeit der Vollziehung
eines Staatswillens zukommen ſollen. Dieſe Seite der Regierungsge-
walt nennen wir die Organiſationsgewalt; die wirklich geſchehene
Vertheilung nennen wir die Organiſation; das Maß, welches jedem
einzelnen Organe von der vollziehenden Gewalt zufällt, nennen wir die
Zuſtändigkeit oder Competenz. In der poſitiven Organiſation
einer Regierung ſehen wir daher die vollziehende Gewalt gleichſam in
ihrer äußern Geſtalt vorhanden; die Beſtimmung der Zuſtändigkeiten
oder Competenzen iſt ihrerſeits keine willkürliche oder zufällige, ſondern
wird nach Zweckmäßigkeitsgründen vor ſich gehen, und zwar in der
Weiſe, daß die Gränze der Competenz des einen Organs jedesmal durch
die eines andern gegeben iſt, und jedes einzelne Organ dazu beſtimmt
ſein muß, das andre zu erſetzen oder zu erfüllen. Die Grundſätze, nach
welchen dies geſchieht, werden in dem zwelten Theile, der Lehre vom
Organismus der vollziehenden Gewalt, dargelegt werden. Es gibt da-
her eine Organiſationsgewalt für das Ganze, und eine ſolche wieder
für jedes der einzelnen Gebiete der Verwaltung; alle Formen aber
unterliegen demſelben Grundſatze.


[46]

Die dritte Grundform oder der dritte Inhalt der Regierungsgewalt
entſteht nun daraus, daß der einzelne perſönliche Wille des Individuums
ſich der Vollziehung als dem perſönlichen Willen des Staats ent-
gegenſetzen kann. Die Vollziehung des Staatswillens muß dieſen Willen
des Individuums ſich unterwerfen, wenn es ſein muß nicht bloß auf
geiſtigem Wege, ſondern durch Anwendung beſtimmter Mittel. Die
Fähigkeit, dieſe Mittel anzuwenden und damit den Willen des einzelnen
Individuums mit dem allgemeinen Willen des Staats übereinſtimmend
zu machen, iſt daher ein immanenter Theil der vollziehenden Gewalt,
welche als Regierung das äußerlich erſcheinende Leben der Gemeinſchaft
in allen einzelnen Punkten mit dem Willen des perſönlichen Staats in
Uebereinſtimmung bringen ſoll; und dieſe Gewalt in beſtimmter Be-
ziehung auf die einzelne Perſönlichkeit, ihren Willen und ihr Leben
nennen wir die Polizeigewalt. Es verſteht ſich auch dabei von
ſelbſt, daß dieſe Polizeigewalt eben ſo wie die Verordnungs- und Or-
ganiſationsgewalt ſowohl für die Vollziehung im Ganzen wie für die
einzelnen Gebiete der Verwaltung zur Erſcheinung gelangt.


Das ſind die drei großen Elemente der Regierungsgewalt. Zunächſt
nun muß man dieſelben allerdings als einfach neben einander ſtehend
betrachten, um ihr eigenthümliches Weſen beſtimmen zu können. In
der Wirklichkeit aber können ſie weder äußerlich getrennt ſein, noch
ſind ſie es. Die Vollziehung in der Form der Regierung gewinnt
nämlich ihr organiſches Leben erſt dadurch, daß dieſe drei Formen der
Regierungsgewalt mit einander in beſtändiger organiſcher Verbindung
ſtehen und einander gegenſeitig erfüllen. So nothwendig das iſt für
das wirkliche Leben, ſo ſehr hat es anderſeits zur Unklarheit in der
Auffaſſung über Begriff und Weſen der Regierungsgewalt ſelbſt bei-
getragen. Es wird mithin darauf ankommen, dieſes gegenſeitige Ver-
halten auf ſeine möglichſt einfachen Elemente zurückzuführen. Dieſe
aber ſind folgende.


Organiſches Verhältniß der drei Gewalten.

Da jene drei Gewalten nämlich durch die Aufgaben derſelben über-
haupt erſt zur Erſcheinung gebracht worden, ſo ergibt ſich der Grund-
ſatz, daß jede dieſer drei Gewalten immer nur die Vollziehung
der Aufgaben der beiden andern enthält und bedingt
.
Darnach entſcheiden ſich auch die Arten oder Seiten jener Gewalten.


Die Verordnungsgewalt nämlich bezieht ſich ſtets entweder auf
die Organiſation im weitern Sinne, oder auf die Polizeigewalt und
ihre Aufgaben. Der Inhalt der Verordnung enthält ſtets die Beſtimmung
[47] der Aufgabe beſtimmter Organe in der Vollziehung des Staats-
willens; ſie ſetzt daher ſtets den Staatswillen als einen bereits fertigen
voraus, ſei es daß ſie ihn in der Form des Geſetzes als ausdrücklich
beſtimmten Staatswillen anerkennt und daher als Ausführungsverord-
nung auftritt, ſei es daß ſie das Geſetz erſetzt, wo es mangelt, und
dadurch entweder eine Erklärung des Geſetzes enthält, oder eine förm-
liche ſtaatliche Vorſchrift für Lebensverhältniſſe, welche der geſetzlichen
Anordnung entbehren. Immer aber bleibt es das Weſen der Verord-
nung, kein objektives Recht zu ſchaffen, ſondern nur den Organen der
Vollziehung in ihrer Thätigkeit beſtimmte Vorſchriften zu geben.
Inſofern dieſe Verordnungen die allgemeine organiſche Thätigkeit der
Organe der Regierung, und mithin ihre Zuſtändigkeit und die in der-
ſelben enthaltenen Pflichten und Aufgaben beſtimmen, nennen wir ſie
Verordnungen im eigentlichen Sinn; man würde am beſten die-
ſelben Regierungsverordnungen nennen, um ſie von den folgen-
den zu unterſcheiden. Dieſe Verordnungen haben allerdings ſehr ver-
ſchiedene Namen, die jedoch das Weſen derſelben nicht ändern, und
meiſtens aus nachweisbaren Gründen entſtanden ſind. So nennt man
ſie Patente, welcher Name auch aus der Zeit ſtammt, in der Geſetz
und Verordnung nicht getrennt waren; Reſcripte, meiſtens Verord-
nungen, die auf Anfragen der Organe über zweifelhafte Geſetze oder
Competenzen entſtanden; Circuläre, als Vorſchriften über die Aus-
führung der organiſchen Thätigkeiten in der Regierung; Erlaſſe, inſo-
fern ſie einzelne Vorſchriften aller Art enthalten; zuweilen auch gebraucht
man ohne weitere Unterſcheidung den Ausdruck „Verordnung.“ Inſo-
fern es ſich dabei um die rein ordnungsmäßige Thätigkeit der vollzie-
henden Organe handelt, heißen die Verordnungen Inſtruktionen;
es ergibt ſich, daß der Inſtruktion ſtets eine ſcharf beſtimmte Compe-
tenz zum Grunde liegt. — Die Regierungen der verſchiedenen Staaten
haben wohl nirgends feſte Regeln für den Gebrauch dieſer Bezeichnun-
gen aufgeſtellt oder anerkannt: ſelbſt der Begriff der Verordnung iſt
begränzt worden durch den Begriff des Geſetzes, und auch dieſe Gränze
iſt keinesweges eine ganz klare. Erſt das Vollziehungs recht hat ſie
beſtimmt, und wir werden ſie daher unten erledigen. Hier nun kann
man aber ſchon den Satz aufſtellen, daß eine Verordnung niemals etwas
anders enthalten kann, als den Ausſpruch über die Anwendung eines
(vorhandenen oder angenommenen) Staatswillens auf den Kreis der
Rechte und Aufgaben in der Competenz eines vollziehen-
den Organes
. Jede Verordnung enthält daher einen Befehl, und
einen beſtimmten Gegenſtand; jedes Geſetz dagegen eine Ordnung
eines beſtimmten Lebensverhältniſſes. Das iſt die innere organiſche
[48] Gränze beider, und erſt daran ſchließt ſich das Recht der Verordnungs-
gewalt.


Inſofern die Verordnung dagegen die Mittel beſtimmt, durch
welche die Vollziehung den Willen des Einzelnen dem allgemeinen Willen
conform erſcheinen läßt, iſt ihr Inhalt die Beſtimmung der Polizei-
gewalt, und dieſe Verordnungen ſind Polizeiverordnungen. Das
Objekt derſelben iſt ſtets das Verhalten der einzelnen Staatsbürger,
während das Objekt der Regierungsverordnungen ſtets das Verhalten
eines Regierungsorganes iſt. Auch dieſe Polizeiverordnungen haben
ihre Formen; ſie erſcheinen entweder in den öffentlichen Organen der
Regierung, oder als Plakate (Anſchläge). Der Inhalt derſelben iſt,
ihrem Weſen nach, ein Gebot oder Verbot an alle Einzelnen, und da-
neben meiſtens als Mittel der Erzwingung der Folgſamkeit eine Straf-
androhung.


Die Organiſationsgewalt erſcheint ihrerſeits entweder in Beziehung
auf die Verordnungen, oder in Beziehung auf die Polizeigewalt. Sie
hat im erſten Falle zu ihrem Inhalt die Zuſtändigkeit eines Regierungs-
organes in Beziehung auf den geſammten Organismus der Regierungs-
gewalt, und hier beſtimmt ſie die Gränzen, innerhalb deren jedes ein-
zelne Organ die Aufgabe hat, die Verordnungen der Regierung zur
Ausübung zu bringen; im zweiten Falle hat ſie zu ihrem Inhalt die
materiellen, geographiſchen oder ſachlichen Gränzen, welche die Voll-
ziehungsgewalt der einzelnen Organe beſtimmen, die ſich in ihrer Thä-
tigkeit gleich ſtehen. Sie organiſirt daher im erſten Theile die Regie-
rung, im zweiten Land und Volk. Der erſte vertheilt die Aufgaben,
der zweite die materielle Ausführung. Die Organiſationsgewalt erſcheint
daher in der Form von Verordnungen, und zwar theils über die
ſyſtematiſche Vertheilung der Competenzen, theils über die Eintheilungen
von Land und Volk. Durch ſie wird die Regierungsgewalt in ihren
einzelnen Organen mit den einzelnen Verhältniſſen des Lebens in concrete
Verbindung gebracht; ſie kann daher ihrerſeits wieder nur als Conſe-
quenz eines bereits beſtimmten Staatswillens erſcheinen, der durch den
Organismus der Zuſtändigkeiten in dieß Leben eingeführt werden ſoll;
aber mit dem Staatswillen, dem Geſetze an ſich, hat ſie ihrem Begriff
nach nichts zu thun, ſondern nur mit ſeiner Vollziehung.


Die Polizeigewalt endlich bezieht ſich entweder auf die ſo herge-
ſtellte Organiſation, indem ſie den Thätigkeiten der Organe, welche die
Geſetze in Gemäßheit der Verordnungen vollziehen, die Verwirklichung
verſchafft, oder auf die Einzelnen, indem ſie dieſelben zwingt, ſich ſelbſt
zum Gehorſam gegen die Organe zu beſtimmen. Daher hat die Polizei-
gewalt ſtets zwei Grundformen. Einerſeits iſt ſie ſelbſt ein ſelbſtändiges
[49] Organ, welches nichts als die Vollziehung gegenüber dem Einzelnen
zur Aufgabe hat, ohne Beſchränkung auf beſtimmte einzelne Verordnun-
gen; anderſeits iſt ſie mit dem einzelnen Organe der Vollziehung un-
mittelbar verbunden, ein Recht derſelben innerhalb ihrer Competenz und
zwar keineswegs bloß in der innern Verwaltung, ſondern eben ſo
ſehr in der Finanz- und Juſtizverwaltung. Jedes Organ hat innerhalb
ſeiner Zuſtändigkeit ſeine Polizeigewalt, und die Organiſation ordnet
die Art und die Organe, durch welche dieſelbe zur Vollziehung gelangt.


Faßt man nun das hier Dargelegte zuſammen, ſo ſieht man,
wie ſich der an ſich einfache Begriff der Gewalt zu einem völligen Or-
ganismus entwickelt hat. Es iſt von entſcheidender Bedeutung, wo
möglich einmal alle im gewöhnlichen Leben gebrauchten Ausdrücke auf
die angegebenen Grundbegriffe zu reduciren. Wir ſehen den abſtrakten
Begriff der vollziehenden Gewalt ſich zuerſt ſcheiden in die Staatsge-
walt und die Regierungsgewalt, jene als Vertreterin der allgemeinen
Staatsperſönlichkeit, dieſe als Trägerin der Vollziehung in den einzelnen
Erſcheinungen des Staatslebens; jene daher allgemein und allgegen-
wärtig, die Regierungsgewalt umfaſſend und enthaltend, dieſe beſtimmt
und geordnet, und deßhalb nur in feſten Formen erſcheinend. Dieſe
Formen ſind die Verordnungsgewalt, die Organiſationsgewalt, die Po-
lizeigewalt. Jede dieſer Formen der Regierungsgewalt gehört natürlich
zuerſt allen drei Gebieten der Verwaltung, wenn ſie gleich in Finanzen,
Gericht und Innerem ſehr verſchiedene Objekte haben; doch ſind ſie immer
die drei Momente aller Vollziehung in der wirklichen Welt. Alle drei
Formen ſind aber nicht ſchematiſch verſchieden, ſondern als Aeußerungen
derſelben Kraft ergänzen und beſtimmen ſie ſich wechſelſeitig, und ſo
erſcheint uns die Vollziehung ſchon an und für ſich als ein Stück des
lebendigen Staatslebens, ein Beweis, daß der Staat auch hier nur als
organiſche Perſönlichkeit aufgefaßt werden kann.


Das Einzige, was hierbei in Beziehung auf die formelle Unterſcheidung,
die ſpäter genauer dargelegt wird, noch hervorgehoben werden muß, iſt die
Erklärung, wie ſich dieſe Begriffe zu dem Satze verhalten, daß das Staats-
oberhaupt in der Staatsgewalt alle dieſe Momente der Regierungsgewalt in
ſich enthalte. Dieß Enthaltenſein bedeutet, daß alle Funktionen der Regierungs-
gewalten ſtets im Namen des Staatsoberhaupts geſchehen, und dadurch ihrem
Weſen und ihrem Rechte nach als Thätigkeiten des Staats ſelbſt erſcheinen.
Daraus folgt der wichtige Satz, daß jeder Akt der Regierungsgewalt durch die
geſammte Staatsgewalt, eventuell alſo auch durch die bewaffnete Macht ver-
treten wird, weil derſelbe eben ſtets als Akt des einheitlichen Staats erſcheint.
Dagegen iſt die Frage eine ganz andere, ob und in wie weit die einzelnen
Gewalten der Regierung unmittelbar durch den individuellen Willen des Staats-
oberhaupts, oder unter Zuziehung der eigenthümlichen Organe, die ihn perſönlich
Stein, die Verwaltungslehre. I. 4
[50] umgeben (Staatsrath, ſ. unten), oder durch die Miniſter im Wege der Ueber-
tragung, oder nach beſtimmten Vorſchriften der Verfaſſung auszuüben ſind
Dieß iſt je nach den einzelnen Verfaſſungen, namentlich in der Heimath der
theoretiſchen Verfaſſungsurkunden, verſchieden beſtimmt, und bildet ein Gebiet
des poſitiven Vollziehungsrechts. Der Gedanke, daß keine Theilung der Gewalten
ſtattfinden dürfe, bedeutet daher nicht, daß keine Uebertragung und keine Be-
ſchränkung dieſer Regierungsgewalten, ſondern nur daß die Ausübung derſelben
nur unter Zuſtimmung und im Namen der Staatsgewalt ſtattfinden dürfe.
Alle dieſe allgemeinen Sätze gewinnen aber erſt ihren feſten Inhalt in der
Lehre von dem Syſteme ihrer Rechte, zu dem wir jetzt übergehen.


II.
Das Recht der vollziehenden Gewalt.


Begriff deſſelben. Begriff von Geſetz und Verordnung und ihr Recht.

Das Recht dieſer, in der obigen Weiſe in ſeine Elemente aufge-
lösten vollziehenden Gewalt hat nun für das ganze Staatsleben eine ſo
hohe Bedeutung, daß es von jeher, ſeit es eine Wiſſenſchaft des öffent-
lichen Rechts gibt, die größte Aufmerkſamkeit gefordert und gefun-
den hat.


In der That entſpringt daſſelbe aus dem innerſten Weſen des or-
ganiſchen Staatsbegriffes, und begleitet die hiſtoriſche Entwicklung des-
ſelben auf allen Punkten. Es iſt in ſeinem Princip einfach, in ſeiner
Anwendung vielgeſtaltig. Es iſt das wichtigſte Recht für die ganze
innere Ordnung des Staats, und zugleich Ausdruck und Baſis der
ſtaatsbürgerlichen Freiheit gegenüber der Allgewalt des Staats und
ſeiner Organe. Es enthält, indem es für die vollziehende Gewalt gilt,
die maßgebenden Grundſätze für die einzelnen Gebiete der Verwaltung
im engern Sinne, alſo für Finanzen, Rechtspflege und innere Ver-
waltung. Wie wir der Verordnungs-, der Organiſations- und der
Polizeigewalt allenthalben begegnen, ſo finden wir gleichfalls auf allen
Punkten dieß Recht derſelben wieder; — und es iſt, wenn die bisherige
Darſtellung klar geworden iſt, nunmehr auch wohl einleuchtend, daß
und warum auch in dieſem Rechte eine ungemeine Verwirrung herrſcht.
Um ſo mehr dürfen wir um die Aufmerkſamkeit derer bitten, denen es
um die Sache zu thun iſt.


Offenbar hat das Recht der vollziehenden Gewalten zu ſeiner Vor-
ausſetzung die äußere und innere Selbſtändigkeit der vollziehenden Ge-
walt ſelbſt gegenüber den andern Organen, welche die Perſönlichkeit des
Staats bilden. Die Grundlage dieſes ganzen Rechts iſt daher das
[51] Verſtändniß eben dieſer Selbſtändigkeit, der Selbſtändigkeit eines orga-
niſchen Theiles im Ganzen, die, um nicht bloß eine Ordnung, ſondern
eben ein Recht zu ſein, nicht bloß eine äußerliche und formale, ſondern
die Selbſtändigkeit eines Willens ſein muß.


Die Vorausſetzung des Rechts der vollziehenden Gewalt iſt daher
das Setzen eines, in ihr ſelbſt liegenden Willens, und der damit
gegebenen Möglichkeit, daß dieſer Wille der vollziehenden Gewalt, ent-
weder als bloße Willensäußerung (Verordnung) oder als wirkliche That
(polizeiliche Gewalt), mit dem Willen des Staats nicht übereinſtimme.


Denn es iſt offenbar, daß wenn die vollziehende Gewalt entweder
faktiſch oder rechtlich keinen eigenen Willen hätte, ſondern nichts wäre als
die formelle Thätigkeit, welche den außerhalb ihrer ſelbſt liegenden Willen
des Staats vollbringt, dieſelbe auch eben ſo wenig ein Recht haben
könnte, wie jedes andre willenloſe Werkzeug. Es iſt auch nutzlos, dem
entgegen zu behaupten, daß ſie eben einen eigenen Willen haben ſolle.
Denn ſie kann ſich dieſen eigenen Willen nicht einſeitig durch ſich ſelbſt
verſchaffen, ſondern ſie kann ihn nur durch die geſammte organiſche
Entwicklung des Staats empfangen. Es mag daher ſehr unrecht ſein,
daß ſie den eigenen Willen nicht hat, aber das iſt nicht ihr Unrecht,
und darum iſt es auch nicht ihr Unrecht, wenn ſie in dieſem Falle un-
bedingt als eine gehorchende Gewalt erſcheint. Ihr Recht entſteht da-
her erſt mit dem organiſchen Grundſatze des Staatslebens, daß ſie in
ſich ſelbſt einen Willen ſetzen und äußern könne.


Um das nun zu können, muß es neben ihr im Staate eine zweite,
gleichfalls ſelbſtändige Form des Staatswillens geben, dem dieſer Wille
der vollziehenden Gewalt gegenüber treten kann. Dieſer zweite Wille
iſt nicht der des Staatsoberhaupts, und zwar darum nicht, weil die
in ihm liegende Staatsgewalt ja ſelbſt das Haupt der Vollziehung iſt;
ſondern jene zweite Form iſt die des Staatswillens in ſeiner geſetz-
gebenden Funktion, getragen durch den geſetzgebenden Körper, oder kurz
der Wille der geſetzgebenden Gewalt. Dieſe Form des ſich ſelbſt be-
ſtimmenden Staatswillens nennen wir das Geſetz. Den Willen der
vollziehenden Gewalt haben wir die Verordnung genannt. Die
Selbſtändigkeit des Willens der letztern entſteht daher erſt da, und mit
ihr das Recht derſelben, wo es neben den Verordnungen Geſetze gibt;
und das Recht der vollziehenden Gewalt iſt demnach die durch das
Weſen des Geſetzes für Verordnungs-, Organiſations- und
Polizeigewalt geſetzte rechtliche Gränze der vollziehenden
Gewalt
oder das Recht der Verordnung im Verhältniß zum
Geſetze
.


Es ergibt ſich daraus das erſte wichtige Princip dieſes Rechts-
[52] gebietes. So lange es nämlich kein ſelbſtändiges Organ der geſetzgeben-
den Gewalt, und mithin einen von dem Willen der vollziehenden Ge-
walt unterſcheidbaren, ſelbſtändigen Willen der erſteren gibt, gibt es
auch keine Rechtsgränze der vollziehenden Gewalt als in dem Willen
ihres eigenen höchſten Organs. Denn wo jenes ſelbſtändige Organ
fehlt, da iſt der Wille des Staatsoberhaupts allein das Organ der
Bildung eines Staatswillens; und da nun die Staatsgewalt zugleich
im Staatsoberhaupt gegeben iſt, und in und mit ihr die geſammte
vollziehende Gewalt der Regierung, ſo folgt, daß jede Thätigkeit der
letzteren, ſo lange ſie mit dem Willen des erſteren übereinſtimmt, nicht
bloß die Gewalt des Staats enthält, ſondern auch das wirkliche, orga-
niſche öffentliche Recht verwirklicht. Es ergibt ſich daraus, daß ſie,
ſo lange die Geſetzgebung nicht ſelbſtändig vorhanden iſt, überhaupt
kein Unrecht thun kann. Denn der perſönliche Wille des Staats-
oberhaupts iſt dann wirklich der Wille des Staats, und hat rechtlich
eben ſo wenig Gränzen, als der letztere. Der Begriff des Rechts ver-
ſchwindet alsdann für die vollziehende Gewalt, da jede Selbſtändigkeit
der letzteren hier nicht eine Selbſtändigkeit innerhalb des Staatsorga-
nismus, ſondern gegen denſelben, und damit nichts anders als ein
Verbrechen gegen den Staat wäre. Wir nennen einen ſolchen Zuſtand
eine Deſpotie. Das Weſen der Deſpotie beſteht demnach darin, daß
der ſubjektive Wille des Oberhaupts unbedingt und ohne Gränze der
objektive Staatswille iſt, und das Recht deſſelben, alſo das Recht des
Geſetzes hat. Der formelle Charakter dieſes Zuſtandes iſt darin gegeben,
daß jeder Unterſchied zwiſchen Verordnung und Geſetz ver-
ſchwindet
, und alles Befohlene ein Geſetz iſt. In ihm gibt es
daher überhaupt kein Recht der vollziehenden Gewalt, ja eigentlich auch
keine vollziehende Gewalt, ſondern nur eine mechaniſche Vollziehung.


Es ergibt ſich aber zweitens aus dem obigen Begriffe der Satz,
daß das Recht der vollziehenden Gewalt entſteht mit dem Rechte und
der Selbſtändigkeit der geſetzgebenden Gewalt, oder mit dem Entſtehen
des Geſetzes
. Und die weſentlichſte Frage iſt daher für das ganze
öffentliche Recht, und ſpeziell für das Recht der vollziehenden Gewalt,
was denn ein Geſetz ſey. Denn erſt wenn man weiß was ein Geſetz
iſt, kann man von einem Rechte des Willens der vollziehenden Gewalt
oder der Verordnung gegenüber dem Geſetz, und damit von einem Rechte
der erſteren überhaupt reden.


Es iſt nun nothwendig, ſich dabei zu ſagen, daß ſowohl in der
Philoſophie des Staats als im allgemeinen Staatsrecht der Begriff des
Geſetzes nicht feſtſteht. Und das iſt auch der Grund, weßhalb wir vom
Rechte der vollziehenden Gewalt ſo wenig wiſſen.


[53]

In der That nämlich ſind die gewöhnlichen Definitionen ganz
nichtig. Der „allgemeine Wille,“ der „auf ordnungsmäßigem Wege“
ja ſogar der auf „verfaſſungsmäßigem Wege“ zu Stande gekommene
Staatswille iſt noch kein Geſetz, ſondern kann eben ſo gut Verordnung
als Geſetz ſeyn. Eben ſo wenig ſcheidet der Gegenſtand Geſetz und
Verordnung; denn im Nothfalle verfügt auch die vollziehende Gewalt
über Gebiete, welche der Geſetzgebung angehören. Demnach iſt nun
wiſſenſchaftlich der Begriff des Geſetzes ſehr leicht zu beſtimmen und
auch ſchon oben angegeben. Es iſt derjenige Staatswille, der von dem
Organ der Geſetzgebung aufgeſtellt und durch die Zuſtimmung
des Staatsoberhaupts zum Willen des perſönlichen Staats erhoben iſt.
Es gibt daher kein Geſetz ohne Volksvertretung, und mithin
auch im Gegenſatz dazu keine Verordnung und mithin auch kein Recht
der vollziehenden Gewalt ohne dieſelbe; aber ſo wie jene da iſt, ent-
ſtehen dieſe von ſelbſt. Der Begriff von Geſetz iſt ein Correlat des
Begriffes der Volksvertretung; aber das Geſetz iſt eben darum nicht
die einzige Form des Staatswillens, ſondern die zweite Form des
Staatswillens iſt die der vollziehenden Gewalt, welchen das Staats-
oberhaupt gleichfalls zum Willen des perſönlichen Staats erhebt; und
dieſe Form iſt die Verordnung. In der That ſcheidet ſich daher auch
die Verordnung eigentlich erſt durch die Volksvertretung; ſie iſt der
Staatswille ohne dieſelbe, das Geſetz der Staatswille mit derſelben.
Und jetzt erſt iſt der Begriff des Rechts der vollziehenden Gewalt
möglich.


Dieſes Recht entſteht nämlich nunmehr nicht dadurch, daß Geſetz
und Verordnung verſchieden ſind, ſondern vielmehr erſt dadurch, daß
ſie gleich ſind. Denn bis da ſind ſie Akte der Selbſtbeſtimmung des
Staats. Es iſt nicht der Mühe werth, die Meinung nochmals zu
widerlegen, als könne es jemals einen Zuſtand geben, in welchem es
nur Geſetze und gar keine Verordnungen gäbe. Da ſie beide zugleich
vorhanden und beide zugleich organiſch entſtandene Staatswillen ſind,
ſo fordern ſie beide die gleiche Gültigkeit. An ſich hat die Ver-
ordnungsgewalt gerade ſo viel und gerade ſo wenig Gränzen des Ge-
horſams, wie die geſetzgebende Gewalt. An ſich befiehlt ſie mit dem-
ſelben Recht über alles, wie das Geſetz. Der Staatsbürger für ſich
ſtehend kann daher zwiſchen Geſetz und Verordnung in Beziehung auf
ſeinen Gehorſam gar keinen Unterſchied machen. Das Recht der
vollziehenden Gewalt oder der Verordnung beſteht daher nicht in einer
Begränzung dieſer Gewalt an ſich, ſondern es entſteht, erſt wo der
Verordnung ein Geſetz entgegenſteht
. Hier iſt die Verordnung
dem Geſetze untergeordnet. Ein anderes Recht der vollziehenden Gewalt
[54] als dieſe Unterordnung gibt es nicht. So weit ſie nicht durch ein
Geſetz begränzt iſt, iſt ſie ſelbſt der herrſchende Staatswille, iſt
ſie Geſetz im weiteren Sinn, und was ſie beſtimmt, iſt geltendes
öffentliches Recht, ſo gut wie das des eigentlichen Geſetzes. Das iſt
das fundamentale Princip des Rechts der vollziehenden Gewalt.


Es folgt daraus, daß alle Rechtsfragen auf dieſem Gebiete
keinen andern Inhalt haben als den, in welchem Verhältniß der Inhalt
des Willens der vollziehenden Gewalt mit dem beſtehenden Geſetze in
Harmonie ſtehe? Um dieſe Fragen beantworten zu können, müſſen erſt
Maß und Form des Antheils des geſetzgebenden Körpers an der Bil-
dung des Staatswillens ſelbſt feſtſtehen. Das aber, in der Theorie
vielleicht ſehr einfach, iſt in der Wirklichkeit erſt durch einen Jahrhunderte
langen Kampf der verſchiedenen Elemente des Staatslebens endgültig
geregelt, und zum Theil auch jetzt noch nicht ganz entſchieden. Der
poſitiv rechtliche Begriff des Geſetzes hat damit ſeine Geſchichte, und
mit ihm alle ſeine obigen rechtlichen Folgerungen. Noch immer ſind
wir in dieſer Geſchichte; ſie iſt keinesweges abgeſchloſſen. Noch immer
gibt es keinen in ganz Europa, und eben ſo wenig in Deutſchland ge-
meinſchaftlich gültigen Begriff des Geſetzes, geſchweige denn der Ver-
ordnung. Ja dieſer Begriff des rechtlich gültigen Geſetzes iſt nicht bloß
verſchieden in den verſchiedenen Staaten, und von der geſammten Staats-
wiſſenſchaft ganz und gar vernachläſſigt, ſondern es iſt in einigen Staaten
überhaupt gar nicht ſcharf zu beſtimmen, theils weil Verordnungen
als Geſetze erlaſſen werden, wie in England und Nordamerika, während
anderſeits wieder ſelbſtändige Verordnungsgewalten anerkannt ſind,
theils weil das Recht der Volksvertretung auf Theilnahme an der Be-
ſtimmung des Staatswillens ſo unbeſtimmt ausgedrückt iſt, daß die
Gränze zwiſchen Geſetz und Verordnung geradezu verſchwindet. Wir
müſſen daher, ehe wir weiter gehen, wenigſtens den großen hiſtoriſchen
Proceß in ſeinen Umriſſen darlegen, an deſſen Ende die definitive
Löſung dieſer Frage liegt, obgleich dieſe Aufgabe eigentlich der Ver-
faſſungslehre angehörte.


Nicht bloß in dem Moment eines anerkannten Begriffes von Geſetz und
Verordnung, ſondern eben ſo ſehr in dem eines beſtimmten Begriffes vom
öffentlichen Rechte liegt die Schwierigkeit unſerer Aufgabe. Wir müſſen feſt-
halten, daß ſo lange unſere Wiſſenſchaft ſich nicht dazu verſteht, mit den ge-
gebenen Ausdrücken einen ganz beſtimmten Sinn zu verbinden, wir im Ein-
zelnen nach wie vor Treffliches leiſten, aber im Ganzen nicht weiter kommen
werden. Freilich iſt es leicht erklärt, weßhalb der Begriff Geſetz noch ſo
ſchwankend und wir möchten ſagen örtlich iſt; aber es iſt keine Hoffnung, zu
einem gemeingültigen Reſultat zu kommen, wenn wir nicht feſte Definitionen
[55] anerkennen. Die exakten Wiſſenſchaften in der ganzen Welt ſind uns voraus,
weil ſie eben auf ſolcher Grundlage weiter gehen, und ſich mit Einzelnem be-
ſchäftigen können, ohne an die Erarbeitung des ſyſtematiſchen Zuſammenhanges
ihre beſte Kraft zu verlieren; die Franzoſen ſind uns namentlich im Verwal-
tungsrecht weit voraus, weil ſie ſich um dieſen Zuſammenhang nicht viel küm-
mern; wir müſſen ihn haben; aber werden wir auch hier in Deutſchland nie
einig werden?


Die Elemente der Geſchichte des Geſetzes- und Verordnungsrechts
bis zum neunzehnten Jahrhundert.

Von einer Geſchichte des Geſetzes läßt ſich überhaupt, und ſpeziell
in Beziehung auf das öffentliche Recht der vollziehenden Gewalt nur
dann reden, wenn man im oben aufgeſtellten Sinn Geſetz und Ver-
ordnung ſcheidet, und das Geſetz auf die Entſtehung und Ausbildung
des ſelbſtändigen geſetzgebenden Organes der Vertretung des Volkes
zurückführt.


Allerdings gehört von dieſem Standpunkt die ganze Lehre vom
Geſetze dem Verfaſſungsrecht, und das Verwaltungsrecht müßte ſie und
den gültigen Begriff des Geſetzes vorausſetzen. Wir können das nicht,
weil die Behandlung beider nicht genügen kann. Wir müſſen daher
verſuchen, die Grundlagen derſelben hier aufzuſtellen.


Die Geſchichte des Geſetzes iſt die Geſchichte des Rechts der Volks-
vertretung, als ſelbſtändiger geſetzgebender Körper aufzutreten. Dieß Recht,
ſeiner Natur nach einfach, entwickelt ſich langſam, und langſam wird
daher auch der Begriff und das Recht des Geſetzes im öffentlichen
Rechte beſtimmt. Die Stadien dieſer Entwicklung ſind folgende.


In der urſprünglichen Geſtalt des germaniſchen Staatslebens ſteht
allerdings der Grundſatz feſt, daß das geltende Recht nur durch das
ganze Volk feſtgeſtellt werden könne. Allein der Gegenſtand der Be-
ſchlüſſe dieſer noch ganz rohen, vom Volksleben nicht organiſch geſchie-
denen geſetzgebenden Gewalt war doch nur die Rechtspflege. Es gab
nur noch Rechtsgeſetze. Der König hatte daneben ſein Recht; es war
das Recht, das ſich auf das Heerweſen bezog. In den militäriſchen
Verordnungen beginnt das Verordnungsweſen, natürlich höchſt unent-
wickelt, wie in den Volksrechten die Geſetzgebung.


Schon in der Carolingiſchen Zeit verſchwindet dieß zweite Element.
Die Völker haben, über die ganze Welt zerſtreut, viel zu verſchiedene
Lebensverhältniſſe, um ferner noch einheitliche Rechtsgeſetze bilden zu
können. Das Königthum dagegen fügt ſeiner militäriſchen Verordnungs-
gewalt ſchon damals die polizeiliche Verordnungsgewalt hinzu, ja
greift ferner in die Rechtsgeſetzgebung durch einzelne Interpretationen
[56] und ſpezielle, meiſt proceſſualiſche Verfügungen hinein. Die Nothwendig-
keit ein gleiches Recht zu haben und die Unmöglichkeit, Rechtsgeſetzliches
durch das ganze Volk berathen und beſchließen zu laſſen, machen dieſe
Geſetzgebung durch das Königthum auch auf dem Gebiete des Rechts
in der Form von Verordnungen nothwendig. Da von einer vollziehen-
den Gewalt außerhalb des richterlichen Urtheils noch nicht die Rede
iſt, ſo wird auch das Bedürfniß nicht empfunden, ein Recht der Geſetze
dem Recht der Verordnung entgegenzuſtellen. Die Vorſtellung von dem
Recht des römiſchen Kaiſers, Verordnungen zu erlaſſen mit voller Gül-
tigkeit (constitutiones quae legis habent vigorem) geht in dieſer Weiſe
auf die Carolinger über. Alle Unterſchiede verwiſchen ſich daher in
dem Begriff des „geltenden Rechts,“ das aus den Volksrechten und den
königlichen Verordnungen zugleich beſteht, ohne daß man von einer
Verſchiedenheit ihres Rechts reden konnte. Das iſt die Zeit der Capi-
tularien und der ihnen mit gleichem Recht zur Seite ſtehenden leges
barbarorum
.


Ganz anders geſtaltet ſich das Verhältniß zur Zeit des Lehens-
weſens. Das Lehensweſen beruht auf dem Begriff des Eigenthums
an den ſtaatlichen Rechten, welche mit dem Grundbeſitz verſchmolzen
ſind. Dieſer Begriff ſchließt jede andere Form der Verwaltung als die
der Rechtspflege aus. Es gibt daher hier gar keine allgemeine Geſetz-
gebung, gar kein gemeingültiges Geſetz mehr; denn das Volk iſt in zwei
Stände aufgelöst, und jedes Mitglied des herrſchenden Standes iſt auf
ſeinem Grund und Boden ſouverain. Jeder Lehensherr hat daher jetzt
für ſeinen Beſitz das Recht der Staatsgewalt auf Geſetzgebung und
Verordnung zugleich; der König aber iſt ein oberſter Lehensherr. Er
hat daher keine andere vollziehende Gewalt als jeder Lehensherr, d. h.
für ſeinen eigenen Beſitz. Der Staat hat ſeinen Inhalt verloren;
er iſt in örtliche Selbſtherrlichkeiten aufgelöst; Geſetz und Verordnung
ſind nicht eben vermiſcht, ſondern ſie ſind eigentlich geradezu verloren.


Aus dieſem Verhältniß tritt der Staat nun zuerſt hinaus durch
die Hoheitsrechte. Die Hoheitsrechte, Regalien, bilden ſich als
das Gebiet der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber der Sou-
veränetät der Grundherrlichkeit; da aber der Staat in der Perſon des
Königs noch getrennt vom Volksleben daſteht, ſo erſcheinen die Regalien
gleichfalls unter dem Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im Lehen-
weſen, dem lehensherrlichen Eigenthum des Königs. Es folgt, daß
dieſe Regalien ſich der Beſtimmung durch den Volkswillen — der Ge-
ſetzgebung — gleich bei ihrem Entſtehen entziehen; ſie ſind Rechte des
Königthums, und damit iſt auch der Satz unbezweifelt, daß ſie und
ihre Ordnung nur der Verordnungsgewalt unterliegen.


[57]

Dieſe Thatſache wird nun von großer Wichtigkeit für die folgende
Zeit. Denn die Dehnbarkeit des Begriffs der Hoheitsrechte wird da-
durch identiſch mit der Ausdehnung des königlichen Rechts, die allmählig
entſtehenden öffentlichen Angelegenheiten überhaupt auf einfachem Ver-
ordnungswege zu verwalten. Was irgend als Regal ſich darſtellen
läßt, erſcheint an und für ſich der Geſetzgebung im urſprünglichen Be-
griffe entzogen, und dem perſönlichen Willen des Königthums eben ſo
gut unterworfen, wie die Domänen und der Privatbeſitz deſſelben. In
der That aber iſt ſchon damals die ganze entſtehende Verwaltung in
der Regalität enthalten. Das natürliche Verſtändniß ergab den Satz
ſelbſt in jener wenig philoſophiſch gebildeten Zeit, daß alle Anſtalten
welche dem allgemeinen Intereſſe dienen, Anſtalten des Staats ſein
müſſen; daß nur der Staat die Fähigkeit habe, ſie einzurichten und zu
betreiben; ſie ſind es daher, welche den bis dahin abſtrakten Begriff
des Staats mit einem concreten Inhalt erfüllen; ſie ſind die Ver-
waltung
der ſtändiſchen Epoche. Und auf dieſe Weiſe begründet ſich
nun der, mit ſeinen Conſequenzen bis zur heutigen Zeit reichende Satz,
daß überhaupt die Verwaltung keinen Gegenſtand der Geſetzgebung,
ſondern nur der Verordnungsgewalt und mithin des Verordnungsrechts
bilde. Auf dieſem Punkte iſt es daher auch, wo ſich der Kampf zwi-
ſchen den beiden Rechten ſpäter am lebhafteſten entwickelt und am mei-
ſten verwirrt. Denn in der That iſt gerade die Verwaltung ſowohl
im weitern als im engern Sinn das Gebiet der Geſetzgebung; hat ſie
hier keine Aufgaben, ſo hat ſie überhaupt nur wenig zu thun; dieſe
Aufgaben aber betrachtete das Verordnungsrecht als ſeine Domäne,
und nicht ohne den hartnäckigſten Widerſtand hat es daſſelbe ſo weit
hergegeben, als es das thun mußte.


Nur ein Gebiet aus der Verwaltung erhielt ſich ſelbſt in dieſer
Zeit die eigentliche Geſetzgebung, und das war das Recht und die
Rechtspflege. Es war allerdings klar, daß bei der zunehmenden Ent-
wicklung der Verordnungsgewalt nur in dem Recht und der Rechtspflege
ein Schutz der bürgerlichen Freiheit zu finden war, und eben ſo gewiß
waren es Recht und Gericht, welche die erſte Grundlage der Entwicklung
des Volkslebens, die Sicherung und Ordnung von Gewerbe und Ver-
kehr über die verwirrten Zuſtände der Epoche des Fauſtrechts erhoben.
Recht und Gericht erſcheinen daher als das bei weitem wichtigſte Ge-
biet der öffentlichen Thätigkeit; es war undenkbar, daſſelbe wie die
übrige Verwaltung der Verordnungsgewalt zu überlaſſen. Dazu kam,
was nicht minder weſentlich war, daß das Recht zugleich den Schutz
der Grundlage der ſtändiſchen Ordnung, die Vertheilung und die
Vorrechte des Beſitzes enthielt und ſchützte; eine Ueberlaſſung der
[58] Rechtsbildung an die Verordnungsgewalt war daher auch von dieſer Seite
nicht möglich. So hielt das germaniſche Leben an dem Grundſatze feſt,
daß das Rechtsleben nur durch Zuſtimmung des Volkes und unter
ſeiner Mitwirkung geſetzlich geregelt werden könne, während die übrige
Verwaltung ganz der Verordnungsgewalt anheim fiel. An den Rechts-
geſetzgebungen hielten ſich daher auch die Körper der Volksvertretung
feſt; ja ſie griffen in die übrige Verwaltung ſo weit hinein, als dieſelbe
es mit dem bürgerlichen und geſellſchaftlichen Recht zu thun hatte. Und
daraus entſtand nun die Grundlage der Vorſtellungen, die wir ſpäter
wiſſenſchaftlich formulirt ſehen, und die noch gegenwärtig ſo vielen gilt,
daß nämlich die Gewalt, welche das Recht bildet und verwaltet, etwas
ſpecifiſch Verſchiedenes von den übrigen Gewalten ſei, oder daß man die
richterliche und die vollziehende Gewalt vollkommen und
weſentlich ſcheiden müſſe
. Eine ſolche einſeitige Auffaſſung kann
natürlich nur geſchichtlich erklärt werden; es wäre ſonſt ganz unver-
ſtändlich, wie man die richterliche Gewalt mit dem Exekutionsrecht
ihrer Urtheile nicht als einen Theil der vollziehenden, oder ſie mit ihrer
organiſchen, rechtſprechenden Thätigkeit nicht als einen Theil der Ver-
waltung hätte betrachten ſollen.


Trotz dieſer Selbſtändigkeit der Rechtspflege fand die Bewegung auf
demſelben dennoch aus einer Reihe von Gründen nicht in dem Körper
der Volksvertretung, ſondern vielmehr auf dem Gebiete der Theorie
und der Praxis ſtatt; wir dürfen das alles als bekannt vorausſetzen.
Ebenſo bekannt wird es jedem Rechtshiſtoriker ſein, daß dieß geltende
Recht auch da, wo es geſammelt und als gültig anerkannt ward, nicht
durch eine förmliche Geſetzgebung, ſondern entweder durch Privatfleiß,
oder durch Regierungsmaßregeln, wie die coutumes in Frankreich, auf-
geſtellt ward. Da nun die Geſetzgebung gegenüber der Verordnung faſt
ausſchließlich auf das Rechtsleben angewieſen war, ſo ergab ſich, daß
die erſtere gegenüber der letztern faktiſch verſchwand. Während ſeit
dem vierzehnten Jahrhundert die Geſammtintereſſen mehr und mehr zur
Entwicklung gediehen und daher der Verordnungsgewalt mehr und mehr
durch die Natur der Dinge das Recht eingeräumt ward, das öffentliche
Recht zu bilden, ſehen wir die alte Geſetzgebung ſich faſt vollſtändig
auflöſen; es ward eine allgemeine europäiſche Thatſache, daß die Könige
das Recht des Staats zu bilden haben; von ihnen ward, und mit
Recht, alles erwartet, was als Grundlage des Wohlſtandes angeſehen
ward; die Vorſtellung von einem Gegenſatz des Verordnungsrechts und
des Geſetzesrechts ward um ſo vager, als einerſeits die geſetzgebenden
Körper ſich aufgelöst hatten, und anderſeits das römiſche Recht die
Tradition des fürſtlichen Rechts auf den Erlaß gültiger Verordnungen
[59] lebendig erhielt. Und daraus entſtand nun, wenn auch nicht klar for-
mulirt, ſo doch im allgemeinen Gange der Dinge begründet, eine Um-
geſtaltung der Auffaſſung des öffentlichen Rechts in Beziehung auf die
Geſetzgebung. Die königliche Gewalt nahm den Satz auf, daß die
Theilnahme des Volkes an der Bildung des Staatswillens mehr eine
Sache der Zweckmäßigkeit als des Rechts ſei, und daß der Wille der
Vertretungen daher für das Königthum nicht als Beſchluß, ſondern
nur als Berathung gelte
, deren ſich das letztere auch entſchlagen
könne. Das Weſen und Recht des Staatswillens, alſo des Geſetzes,
beruhe nicht auf der Zuſtimmung des Volkes in ſeiner Vertretung, ſon-
dern in der höchſten Gewalt des Staats, dem von Gott eingeſetzten
Königthum; ſein Wille ſei der Staatswille. Oder wie wir es jetzt aus-
drücken können, nachdem die Thätigkeit der Geſetzgebung verſchwunden,
verſchwand jetzt auch Begriff und Recht des Geſetzes, und damit der
Unterſchied deſſelben von der Verordnung. Die Verordnungsgewalt
nahm das Recht der geſetzgebenden Gewalt für ſich in Anſpruch; ſie
machte zum oberſten Grundſatz alles öffentlichen Rechts, daß der perſön-
liche Wille des Königs die Quelle der Gültigkeit jedes Rechts, oder daß
jede Verordnung ein Geſetz ſei. Das iſt das Princip welches im
ſechzehnten Jahrhundert den Kern der ſtaatsrechtlichen Auffaſſung bildet,
und das ihm ſiebenzehnten Jahrhundert ſeinen Kampf zu beſtehen hat,
um im achtzehnten definitiv zu ſiegen, und im neunzehnten dem freieren
Rechte unſrer Gegenwart Raum zu geben.


Es iſt daher charakteriſtiſch, daß wir auch in dieſer Zeit die Aus-
drücke von Geſetz und Verordnung theils gar nicht, theils nur in ſehr
ungenauer Anwendung finden. Es wird die Aufgabe der künftigen
Geſchichtſchreibung ſein, die Bedeutung und das Recht des „Landes-
rechts,“ der „Ordnungen,“ der „ordonnance,“ des „law“ genauer zu be-
ſtimmen. Sie ſind von großer Wichtigkeit für dieſen Theil der neuern
Geſchichte. Denn ſchon mit dem Anfange des ſiebenzehnten Jahrhunderts
tritt ein neuer Faktor auf, der ganz entſcheidend zu wirken beſtimmt iſt.


Das iſt die Nothwendigkeit für das Königthum, Steuern zu ver-
langen. Die Steuer iſt damals nicht bloß das was ſie jetzt iſt, ſie iſt
mehr. Sie iſt ein Eingriff in das Recht des ſtändiſchen Beſitzes. Die
Steuerforderung erſcheint daher als ein Widerſpruch mit dem Privat-
recht, dem Recht auf das Eigenthum. Das Privatrecht aber, das
ſtändiſche wie das bürgerliche, hatte ſich, wie erwähnt, wenigſtens prin-
cipiell noch immer dem Verordnungsrecht entzogen. Die Pflicht zur
Steuer konnte nicht auf dem einſeitigen Willen der höchſten Gewalt
beruhen, ſo wenig wie das Eigenthumsrecht. Dennoch mußten Steuern
ſein. Es blieb daher nichts übrig, als ſie auf den Willen der Volks-
[60] vertretung zurückzuführen, oder ihnen eine Geſetzgebung zum Grunde
zu legen. Dieſe neu entſtehende, erſt allmählig zur rechten Geſtaltung
gelangende Steuergeſetzgebung iſt bekanntlich das landſtändiſche Recht
der Steuerbewilligung. Allerdings hat dieſelbe einen viel engern Kreis
als man gewöhnlich annimmt; alles was als Regal eine Steuer ent-
hält, fällt nicht darunter, ſondern faſt ausſchließlich die Grundſteuer;
aber das ändert ihre hiſtoriſche Bedeutung nicht. Dieſe beſteht einfach
in dem bekannten Satze, daß, während Geſetzgebung und Geſetz auf
allen andern Punkten in der Verordnung untergegangen ſind, in der
Steuer das ſelbſtändige Recht des Geſetzes wieder auflebt, und das
Verordnungsrecht hier ſeine erſte, entſchiedene Gränze findet.


So wie dieß geſchieht, entſteht nun der Kampf zwiſchen Königthum
und Landesvertretung. Das erſte will auch dieſe ſtaatswirthſchaftliche
Verwaltung bloß durch Verordnungen regieren, die zweite will ihr
Recht, hier nur Geſetze gelten zu laſſen, dazu benützen, um das ganze
Gebiet der Verordnungen der Beſchlußfaſſung der Stände zu unter-
werfen. Man kennt die Geſchichte Englands, Frankreichs, Deutſchlands
in dieſer Beziehung. In England ſiegen die Stände — denn das
Parlament iſt doch nur eine große Ständeverſammlung — auf dem
Continent ſiegt das Königthum. In England geht daher auch die
ganze Verordnungsgewalt wenigſtens principiell an die Stände über,
auf dem Continent entſcheidet der dreißigjährige Krieg für das König-
thum und die Stände verſchwinden mit dem Anfange des achtzehnten
Jahrhunderts. Damit iſt die Frage für den ganzen Zeitraum endgültig
entſchieden und der Charakter des öffentlichen Rechts definitiv feſtgeſtellt.
Es gibt gar keinen Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung mehr;
es gibt nur noch ein gültiges Recht durch den Willen der Staatsgewalt.
Es gibt daher auch keine Frage mehr nach den Gränzen der Verord-
nungsgewalt, oder nach einem Rechte derſelben, denn jede Verordnung
iſt Staatswille, iſt Geſetz. Das geht ſo weit, daß jetzt auch das bür-
gerliche Recht nicht mehr grundſätzlich als Gegenſtand der Geſetzgebung
betrachtet wird; es iſt gerade ſo gut als die Finanzgeſetzgebung und die
innere Verwaltung der Verordnungsgewalt unterworfen, und die großen
Geſetzbücher dieſer Epoche, zuerſt das däniſche von 1683, dann die ver-
ſchiedenen franzöſiſchen, ſpaniſchen, ſardiniſchen Codificationen, endlich
das öſterreichiſche bürgerliche und das preußiſche Landrecht werden ein-
fach auf dem Wege der Verordnung mit unbezweifelter Geſetzeskraft
erlaſſen. Die Worte Geſetz und Verordnung haben nur noch eine
hiſtoriſche, höchſtens eine formelle Bedeutung; jeder Erlaß der Staats-
gewalt iſt jetzt das, was wir gegenwärtig Geſetz nennen. Das iſt das
Princip des öffentlichen Rechts im achtzehnten Jahrhundert.


[61]

Man ſoll nur nicht glauben, daß der tiefe Widerſpruch, der in
dieſem Princip zu dem Weſen der germaniſchen Staatenbildung liegt,
ganz unbeachtet vorübergegangen ſei. Wir ſehen im Gegentheil viel-
fache Verſuche, das Recht des Geſetzes gegenüber dem Rechte der Ver-
ordnung aufrecht zu halten. Aber ſie blieben bis zu den ſiebziger Jahren
im Gebiete der Theorie; dieſe Theorien ſind aber nur verſtändlich auf
Grundlage der obigen hiſtoriſchen Auffaſſung. Wir müſſen uns be-
gnügen, hier ihre Richtung zu charakteriſiren. Den erſten Verſuch macht
Montesquieu mit ſeiner Scheidung der Gewalten; indem er die geſetz-
gebende Gewalt der richterlichen gegenüberſtellt, will er eigentlich dem
Organismus des Staats Begriff und Recht des Geſetzes im Namen der
Politik vindiciren. Die zweite Richtung, von Moſer vertreten, will das
Recht auf die Scheidung von Geſetz und Verordnung auf die hiſtoriſchen
Bildungen des öffentlichen Rechts zurückführen, während die rein philo-
ſophiſche der franzöſiſchen Encyclopädiſten, vor allen Rouſſeau, jeden
Staatswillen zum Geſetze machen. Daneben ſucht die eigentliche Juris-
prudenz in der caſuiſtiſchen Unterſcheidung von Juſtiz- und Admini-
ſtrativſachen die Gränze für die rechtsbildende Kraft und Gültigkeit der
Verordnung, gelangt aber auch ihrerſeits nur zu Abſtraktionen, weil
eben das Subſtrat der Unterſcheidung, die rechtlich anerkannte Natur
des Geſetzes gegenüber der Verordnung fehlt, und dieſe Jurisprudenz
ſich eigentlich gar nicht zur Aufgabe macht, ſie herzuſtellen, ſo iſt mit
dem achtzehnten Jahrhundert das Gebiet des Verordnungsrechts eigent-
lich verſchwunden; auch die unklaren Verſuche, in einer Notabelnver-
ſammlung ein Organ der Geſetzgebung ſelbſtändig herzuſtellen, ſcheitern.
Grundſatz iſt, daß Recht iſt, was der König will, und nichts anderes;
in ihm beſteht das öffentliche Recht, und in dieſem Zuſtande konnte
daher auch keine Theorie, ſondern nur die organiſche Neugeſtaltung des
Staats Hülfe bringen.


Es iſt natürlich vollkommen unmöglich, an dieſem Orte auf dieſen durch-
aus vernachläſſigten Theil der Geſchichte einzugehen. Wir bemerken nur Eins,
um vielleicht zu weiteren Fragen anzuregen. Selbſt das römiſche Recht hat
ſich dieſen Unterſuchungen nicht etwa bloß entzogen, ſondern ſogar ein neues
Moment hinzugefügt, ohne es zu erklären, das Moment der Reception. Es
iſt bisher nicht im Stande geweſen, die Frage zu beantworten, ob das römiſche
Recht ſelbſt Geſetz ſei oder nicht; ſelbſt der Ausdruck „geltendes Recht“ genügt
nicht, da eben nicht alles im römiſchen Recht gilt, und nirgends auch nur
der Verſuch exiſtirt, einen leitenden Grundſatz für die Scheidung des Gelten-
den und Nichtgeltenden aufzuſtellen. Wir müſſen daher die weitere Bearbeitung
der oben angedeuteten Geſichtspunkte für die Aufgabe ſelbſtändiger, freilich eben
ſo ſchwieriger als wichtiger Arbeiten halten. Erſt das Folgende kann genauer
betrachtet werden.


[62]
Die verfaſſungsmäßigen Begriffe von Geſetz und Verordnung.
Neunzehntes Jahrhundert.

Wir können nun, der obigen Darſtellung gegenüber, den Begriff
des Geſetzes und der Verordnung, wie ſie in unſerem Jahrhundert zur
Geltung gelangt ſind, den Begriff und das Recht der verfaſſungs-
mäßigen Geſetze und Verordnungen nennen. Es wird nicht ſchwer ſein,
das Weſen derſelben nunmehr zu beſtimmen. Nur muß man dabei ſich
weder mit dem ſpecifiſch-deutſchen Begriffe begnügen, noch auch Frank-
reich und England bloß als intereſſante Beiſpiele hinzufügen, wie es
gewöhnlich geſchieht. Im Gegentheil muß man davon ausgehen, daß
das Recht der Geſetze und der Verordnungen ſich durch einen jener
Proceſſe gebildet hat, welche der europäiſchen Rechtsgeſchichte gemein-
ſam
angehören, daß dieß Recht zugleich in jedem Lande ein indivi-
duell geſtaltetes
iſt und mit dem ſelbſteigenen Charakter ſeines öffent-
lichen Rechtslebens auf das Innigſte verbunden, und daß wir endlich,
namentlich in Deutſchland, noch in der Mitte dieſes Proceſſes
ſtehen. Das deutſche Staatsleben wird noch ein ganzes Menſchenalter
brauchen, um über dieß Recht klar und einig zu ſein. Um ſo wichtiger
iſt der Verſuch, die Sache auf ihre einfachſte Grundlage zurückzuführen.


Mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nämlich und
dem Principe des freien Staatsbürgerthums iſt die Identität des Staats-
willens und des individuellen Willens der Fürſten, oder die Identität
von Geſetz und Verordnung unmöglich. Der Staatswille erſcheint als
der organiſch gebildete Geſammtwille des Volkes; das Recht an dieſer
Bildung Theil zu nehmen, iſt das eigentliche Weſen des Staatsbürger-
thums; das Recht des ſo gebildeten Staatswillens iſt die ſtaatsbürger-
liche Freiheit. Die Vorausſetzung beider iſt demnach die Bildung eines
Organes, welches der Träger dieſes Willens iſt; das iſt die Volksver-
tretung. Und ſo entſteht nun der erſte und eigentliche Begriff des Ge-
ſetzes; das Geſetz iſt der, durch den Volkswillen in ſeinem
verfaſſungsmäßigen Organe anerkannte Staatswille
.


Es bedarf nun keiner Erinnerung an die furchtbaren Kämpfe,
welche dieſer ſo einfache Gedanke hervorrief. Wohl aber muß man
nunmehr darauf hinweiſen, daß derſelbe in jener einfachen Form eben
noch keineswegs fertig war. Es war ein Princip. Die organiſche Har-
monie dieſes Princips mit den übrigen Geſetzen des Staatslebens, oder
die ſpezielle Geſtaltung des Begriffes und Rechts des Geſetzes ſollte erſt
gefunden werden.


Man wird in dieſer Beziehung drei Epochen ſcheiden können.


Die erſte dieſer Epochen bezeichnet uns gleichſam die Jugend jenes
[63] Princips. Der Wille überhaupt ſoll herrſchen, der Staatswille ſoll im
Staate herrſchen, das Geſetz iſt der Staatswille, es kann nichts über
dem Geſetze geben; die Volksvertretung iſt das herrſchende Organ des
Staatslebens. Alle Thätigkeiten müſſen daher dem Geſetz unterthan
ſein; ſie können keine Selbſtändigkeit gegenüber dem Geſetze haben; ſie
ſind Diener des Geſetzes. Die Vollziehung iſt daher nichts als eine
Aeußerung des Geſetzes; nur inſofern iſt ſie ſelbſtändig; ſie ſoll keinen
Willen für ſich haben; höchſtens darf ſie die Unmöglichkeit des Staats-
willens im Veto erklären. Damit hat das Staatsoberhaupt ſeinen
wahren Charakter verloren. Er iſt nicht mehr Staatsoberhaupt, ſon-
dern der ganze Staat hat ſich in die zwei Gewalten, die geſetzgebende
und die vollziehende geſchieden; das Staatsoberhaupt iſt nichts, als das
Haupt der vollziehenden Gewalt. Er darf eben ſo wenig
mehr ſein, als die That mehr ſein darf, als der Wille; er ſteht unbe-
dingt unter dem Willen, und dieſe Unterordnung formulirt ſich zum
Recht der Verantwortlichkeit. Die vollziehende Gewalt kann dieſen Ge-
horſam fordern, aber nicht im Namen des Staats, ſondern im Namen
des Geſetzes
. An und für ſich iſt ſie rechtlos. Es gibt daher dem
öffentlich-rechtlichen Begriff nach nur noch reine Vollzugsverordnungen;
keine Verordnung kann das Recht des Geſetzes für ſich in Anſpruch
nehmen. Das iſt das Princip des franzöſiſchen Contrat social, zuerſt
zum geltenden Recht erhoben in Nordamerika, dann in der franzöſiſchen
Revolution, und im Jahre 1848 wieder in einigen romaniſchen Ver-
faſſungen anerkannt.


Offenbar enthält dieſe Auffaſſung den Widerſpruch, daß der Ver-
ordnungsgewalt damit das Recht genommen iſt, die Stelle des Geſetzes
da zu vertreten, wo das Geſetz nothwendig iſt, aber fehlt. Sie lähmt
den Staat, indem ſie jede Thätigkeit deſſelben von der Volksvertretung
abhängig macht; ſie iſt unerfüllbar, weil die Geſetzgebung den Auf-
gaben der Verwaltung nie ganz genügt. Sie iſt daher auch nur erklär-
bar als Gegenſatz gegen das umgekehrte Verhältniß, welches das Recht
des achtzehnten Jahrhunderts bildete, und alle Geſetze in das Verord-
nungsrecht aufgehen ließ. Ihre Verantwortlichkeit iſt nicht die lebendige
der Verfaſſung, ſondern die privatrechtliche eines Mandatars. So ward
ſie aufgefaßt, und auch benannt; aber es war ein leeres Wort. Die
Unmöglichkeit der Sache war nicht geringer als die des entgegengeſetzten
Zuſtandes im achtzehnten Jahrhundert. Kein Geſetz kann das Weſen
der an ſich ſelbſtthätigen Vollziehung vernichten. Bald genug macht
ſich dieſe geltend. Geſetzgebung und Vollziehung gerathen in Kampf;
es entſteht die wunderbare Erſcheinung eines tiefen, faſt inſtinktmäßigen
Haſſes beider gegeneinander. Dieſer Haß wird zur offenen Verfolgung;
[64] erſt ſiegt die Geſetzgebung, unterwirft die Vollziehung, und wir ſehen
den organiſchen Widerſpruch zur Geltung gelangen, daß die Geſetzgebung
vorwalten will. Dann ſiegt die Vollziehung, und zwar wie es immer
geweſen iſt und ewig bleiben wird, durch das Heer, und jetzt wird
aus der beſchließenden Gewalt der erſteren eine bloß berathende. Das
iſt der Punkt, wo ſich die neue Geſetzgebung mit ihrem Recht am meiſten
der alten Geſtalt der Dinge nähert. Das Geſetz iſt jetzt der, unter
der Mitberathung
der Vertretungsorgane zu Stande gekommene
Wille des Staatsoberhaupts; nicht mehr der Beſchluß jener Organe.
Der Wille der Geſetzgebung iſt aus dem alleinherrſchenden Element zu
einem organiſchen, thatſächlich untergeordneten Faktor des Staatslebens
geworden. Das iſt die Epoche, welche mit dem Direktorium beginnt,
und ihren Höhepunkt unter Napoleon findet.


Die Epoche, welche der Herrſchaft Napoleons folgt, hat einen
andern Charakter. Es iſt die Zeit, in welcher die zur Selbſtändigkeit
gelangende ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft darin ihren Ausdruck findet, daß
ſie für ihre Vertretung das Recht des Beſchluſſes gewinnt, und daneben
das Königthum als ſelbſtändig anerkennt. Es iſt die Zeit, in der die
eigentlichen Verfaſſungen entſtehen. Mit ihnen formulirt ſich endlich der
Begriff des Geſetzes. Erſt mit der Charte Ludwigs XVIII. haben
wir das, was wir im ſtrengen Sinne des Wortes ein Geſetz nennen;
der Staatswille, geſetzt durch den Beſchluß einer organiſchen Volksver-
tretung und als Wille des Staats durch die Sanktion des Königs aner-
kannt. Das Königthum iſt jetzt nicht mehr bloß die vollziehende Ge-
walt, ſondern das ſelbſtändige Oberhaupt des Staats. Der Grund-
gedanke der eigentlich ſogenannten Verfaſſung iſt gefunden. Damit aber
entſteht zugleich die Frage nach dem Inhalt und Recht der Vollziehung
und Verwaltung. In dem Rechte der Geſetzgebung iſt die Idee leben-
dig, daß das Geſetz die Quelle alles öffentlichen Rechts ſein ſolle, allein
eben die Selbſtändigkeit des Königthums erhält den Gedanken, daß die
Perſönlichkeit des Staats ein Leben hat, das nicht bloß von dem Ge-
ſetze abhängig ſein darf. Der König muß das Recht haben, da wo
die Geſetze ſchweigen, Verordnungen zu erlaſſen, welche das Recht des
Geſetzes beſitzen. Dieſer Satz tritt anfangs mit einer gewiſſen Schüch-
ternheit auf, gleichſam in dem Bewußtſein der Gefahren, die er bringen
ſollte. Aber ſelbſt trotz dieſer Gefahren bleibt er noch in der Charte
von 1830 beſtehen und mit Recht; er iſt der Grundgedanke des ver-
faſſungsmäßigen Verordnungsrechts
, das Recht der vollziehenden
Gewalt, durch Verordnungen das Geſetz nicht bloß zu vollziehen, ſon-
dern auch zu erſetzen, beſchränkt durch das zweite Princip, daß keine
Verordnung ein einmal gegebenes Geſetz aufzuheben vermag.


[65]

Die — wir müſſen ſagen ziemlich unklare Vorſtellung von dieſem
Recht wird nun ſchon ſeit der Herrſchaft Napoleons auf die deutſchen
Verfaſſungsbildungen übertragen, und hätte hier vielleicht gleich anfangs,
ſeine volle wiſſenſchaftliche Entwicklung empfangend, die Baſis des öffent-
lichen Rechts gebildet, wenn nicht zwei Gegengewichte vorhanden ge-
weſen wären.


Das erſte beſtand darin, daß man in der Aufſtellung des offen
anerkannten Rechts der ſelbſtändigen, in der Volksvertretung repräſen-
tirten geſetzgebenden Gewalt dasjenige geſehen hatte, was man die
Theilung der Gewalten nannte. Man ging bei dieſer Vorſtellung
auf den revolutionären Begriff der geſetzgebenden Gewalt zurück, und
verſtand unter der Forderung nach einer Geſetzgebung im conſtitutio-
nellen Sinne ein Verhältniß, in welchem Königthum und Executive
identiſch, und das erſtere daher nicht nur ſeiner Stellung als freies
Oberhaupt beraubt, ſondern direkt und rechtlich zu demjenigen Gehor-
ſam gegen die Geſetzgebung verpflichtet wurde, der überhaupt der bloßen
Vollziehung gegenüber dem Willen zukommt. Die höhere Natur des
Königthums, geſtützt auf die Erfahrungen der Revolution, bekämpfte
dieſe Auffaſſung und mit vollem Recht, und ſo entſtand das, was man
in jener Zeit als das monarchiſche Princip in Verfaſſung und Verwal-
tung bezeichnete: die Negation „der Trennung der Gewalten.“ Sie
bedeutete nicht, daß nicht Geſetzgebung und Verwaltung getrennt ſein
ſollten, ſondern ſie bedeutete, daß das Recht des Königthums in voll-
kommen gleichem Maße über den beiden Gewalten ſtehe.


Das zweite wichtigere Moment aber beſtand darin, daß das Recht
des Körpers der Volksvertretung, in der Geſetzbildung mitzuwirken,
theils nicht klar gedacht, theils ſehr verſchieden begränzt, theils für ganze
Jahrzehnte in manchen Staaten gar nicht anerkannt ward. Es gab
daher Staaten, namentlich die drei ſüddeutſchen, welche den Begriff
und das Recht des Geſetzes vollſtändig ausgebildet hatten; es gab andere,
in denen das Recht der Theilnahme der Vertretung an der Bildung
des Staatswillens auf gewiſſe allgemeine Gränzen (z. B. Geſetze über
Freiheit und Eigenthum) beſchränkt war; es gab andere, in denen die
Vertretung nur das Recht der Berathung, und zwar in ganz unbe-
ſtimmter Ausdehnung beſaß; es gab andere, wie geſagt, in denen es
gar keine Vertretung gab. Deutſchlands öffentliches Recht bot daher
alle Variationen des Verhältniſſes von Geſetz und Verordnung dar,
Länder mit ausgebildetem, mit unklarem Verordnungsrecht, und Länder
in denen Geſetz und Verordnung wie im achtzehnten Jahrhundert voll-
kommen identiſch waren. In dieſer Verwirrung des Rechts und der
Begriffe lebte nun das Gefühl, und zum Theil auch das klare Bewußt-
Stein, die Verwaltungslehre. I. 5
[66] ſein von dem weſentlichen Unterſchied von Geſetz und Verordnung,
namentlich in der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechtes fort, und dieſe
Wiſſenſchaft ſtellte ſich jetzt wie ſeit zwei Jahrhunderten die ewig erneute
Aufgabe, das gemeinſame öffentliche Recht Deutſchlands, das ſoge-
nannte deutſche Staatsrecht, wiſſenſchaftlich formuliren zu wollen, und
thut es noch gegenwärtig; die Folge mußte eine ungeheure Verwirrung
der Begriffe ſein. Denn in der That gab es für das deutſche Staats-
recht weder einen Begriff und ein Recht von Geſetz und Verordnung,
noch mangelte er. Was für den einen Staat richtig und gültig war,
war für den andern ſchon zu fordern ein Verbrechen. Jede klare Er-
kenntniß verſchwand, und damit ſogar das Verſtändniß der ſo nahe
liegenden franzöſiſchen und engliſchen Zuſtände. Es gibt vielleicht in
der ganzen Geſchichte der Wiſſenſchaft Deutſchlands kein troſtloſeres Bild,
als das dieſer Zeit, in der man alle feſte Grundlage verloren, und die
ungeregeltſte Willkür in Ausdrücken und Rechtsvorſtellungen herrſchen ſieht.


Man kann nun im Allgemeinen ſagen, daß dieſe Epoche eine ziem-
lich überwundene iſt. Die Anerkennung der organiſchen Stellung der
Volksvertretung für die Geſetzgebung iſt faſt ausnahmslos gewonnen.
Das Leben ſelbſt vollbringt, was der Wortlaut der Verfaſſungen unbe-
ſtimmt gelaſſen. Ob auch vieles zu thun iſt, vieles iſt ſchon gethan.
Und wir können ſagen, daß ſich nach langen Mühen und Kämpfen Be-
griff und Recht der Geſetze neben dem der Verordnung feſtgeſtellt haben.
Aber auf dieſem Punkte nun iſt es, wo eine neue Arbeit beginnt. Und
dieſer Arbeit gehört das Folgende.


Das Gute hat nämlich die oben bezeichnete Verwirrung gehabt,
daß ſie die Vorſtellung beſeitigt hat, als könne jemals die Vollziehung
und Verwaltung nur die Dienerin der Geſetzgebung werden. Man
hat offen und ehrlich anerkannt, daß die Verwaltung eine Funktion hat,
welche durch die Geſetzgebung niemals ganz erſchöpft werden kann; ſie
iſt als ein ſelbſtwirkender Faktor des Lebens im Staate anerkannt.
Man iſt ſich einig, daß ſie nicht bloß das Recht hat, bei der Geſetz-
gebung die Initiative zu haben, ſondern daß die Verordnungsgewalt
auch an die Stelle der Geſetzgebung treten muß, wo dieſe mangelt.
Dadurch nun iſt die Frage nach dem wahren Verhältniß beider
Faktoren zu einander entſtanden, und die gerechte Anerkennung ihrer
Selbſtändigkeit innerhalb des Staats wird es möglich machen, dieß
Verhältniß nunmehr über die Sphäre der juriſtiſchen Caſuiſtik zu er-
heben, und es als ein lebendiges und organiſches darzuſtellen.


Die Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung. — Je gewiſſer
es iſt, daß ſich Geſetz und Verordnung erſt allmählig und zwar erſt ſeit dem
Ende des vorigen Jahrhunderts geſchieden und zu ſelbſtändigem Rechte entwickelt
[67] haben, und daß andererſeits in dieſem Unterſchied ein weſentliches Moment
des geſammten öffentlichen Rechts beruht, um ſo mehr fordert dieſe Entwicklung
eine genaue Beachtung. Man muß aber hier zuerſt den Gang derſelben in der
Geſetzgebung des öffentlichen Rechts ſelbſt von dem Gange der Theorie, in jener
aber wieder die großen Völker und ihr Verfaſſungsleben trennen.


Geſchichte des öffentlichen Rechts der Geſetze und Verord-
nungen
. — Da, wie ſchon geſagt, ein beſtimmter Unterſchied von Geſetz und
Verordnung gar nicht möglich iſt, ohne das Auftreten eines geſetzgebenden
Körpers, dieſer letztere aber nicht bloß der Zeit, ſondern auch dem Inhalt nach
in den verſchiedenen Staaten ſo ſehr verſchieden iſt, ſo haben auch Begriff und
Recht beider in jedem Volke ihre eigene Geſchichte.


England.

Was zuerſt England betrifft, ſo iſt in England der Sieg des König-
thums über die Volksvertretung niemals ein ſo entſchiedener geweſen, als auf
dem Continent. Es hat daher niemals das Bedürfuiß gehabt, in einer eigent-
lichen, theoretiſchen Verfaſſung das Recht der Geſetzgebung und der Verwaltung
gegen einander formell abzugränzen. Andererſeits hat ſich England immer das
lebendige Bewußtſein, ſowohl der königlichen, als der ſelbſtändig vollziehenden
Gewalt erhalten. Es hat daher jene Grundlagen des öffentlichen Rechts viel-
mehr in ſeinem ſtaatlichen Bewußtſein verarbeitet, als geſetzlich formulirt, und
die Darſtellung muß daher ſich hier mehr an die Natur der Sache anſchließen,
als an poſitive Rechtsbeſtimmungen; denn dieß öffentliche Recht Großbritanniens
iſt eben das Recht der natürlichen, organiſches Gleichgewicht erzielenden Ge-
ſtaltung der Dinge.


Die letztere iſt nun mit wenig Worten gegeben. Die Staatsgewalt iſt
„the King in Parliament;“ ſie hat das Recht, jedes Geſetz zu erlaſſen, was
ſie will; alles iſt ihr unterworfen. Das Parlament unter Sanktion des Königs
kann daher nicht bloß förmliche Geſetzgebung, ſondern auch jede einzelne
Verordnung
beſchließen. Es exiſtirt daher hier kein Unterſchied von Geſetz
und Verordnung nach dem Gegenſtand und daher auch kein Ausdruck, der genau
das Wort Geſetz wieder gäbe, denn „law“ iſt nicht Geſetz als ſolches, ſondern
bedeutet nichts anderes als das geltende Recht, gleichviel, woher es ſtammt,
ob common law oder statute law. Der ſpecifiſche Ausdruck für den ſanktio-
nirten Beſchluß der Geſetzgebung iſt dagegen „bill.“ Eine bill kann daher
jedes öffentliche und jedes Privatrecht ändern; ſie iſt kein Theil der Verfaſſung,
wohl aber iſt ihr Recht das höchſte geltende Recht. Wo daher eine Verwaltungs-
maßregel nur durch irgend eine Beſchränkung des bürgerlichen Rechts durch-
geführt werden kann, da bedarf die erſtere einer bill of Parliament; gibt ſie
einem Einzelnen ein Recht gegenüber dem bürgerlichen Recht anderer, ſo heißt
ſie private bill. Sie iſt alsdann eine durch die Geſetzgebung beſchloſſene
Verordnung. Dieſem Recht gegenüber ſteht allerdings ein Verordnungsrecht,
ausgeübt durch die vollziehende Staatsgewalt, dem King in Council. Dieſer
vollziehenden Staatsgewalt ſteht die höchſte Authority zu, das Recht, Gehorſam
zu fordern; es gibt für ſie an ſich keine Gränzen, weder in den Thatſachen, noch
[68] im Recht, als die, daß ſie weder ein „geltendes Recht“ (law) ändern, noch
ſeine Ausübung hindern kann. Das beſtehende geltende Recht iſt alſo die Gränze
des Verordnungsrechts des King in Council. Und unzweifelhaft muß ange-
nommen werden, daß die Verleihung des Verordnungsrechts namentlich
an die Selbſtverwaltung, oder das Recht auf bye laws, auch dann, wenn es
durch eine bill geſchieht, dieſelbe Gränze hat. Aus dieſem einfachen Unterſchied
zwiſchen Geſetz und Verordnung folgt dann das Recht der letzteren (ſ. unten).
Dieß Recht iſt, ſo viel wir wiſſen, niemals eigentlich eingeführt, ſondern hat
als natürliche Conſequenz die Entwicklung der Staatsverfaſſung Englands be-
gleitet, und bildet den Grundſtein derſelben. Die förmliche Anerkennung der-
ſelben exiſtirt, ſo viel wir ſehen, nur in der Bill of Rights. Sie iſt ſelbſt
weſentlich zweierlei. Erſtlich eine Erbfolgeordnung; und zweitens weſentlich die
erſte europäiſche Begränzung des Verordnungsrechts durch das Recht
des Geſetzes
. Die beiden entſcheidenden Sätze ſind folgende:


„That the pretended power of suspending Laws or the execution of
Lawes by Royal Authority without consent of Parlyament is illegal.“


„That the pretended power of dispensing with Laws or the execution
of Lawes by Royal Authority, as it has been assumed and exercised of
late, is illegal.“


Damit iſt der Grund für das ganze Geſetz- und Verordnungsrecht gegeben;
die Aufſtellung des Steuerbewilligungsrechts, die gleich folgt, iſt nur Conſequenz.
Die weiteren Folgen für das Verordnungsrecht werden wir weiter unten ſehen.
Es iſt keine Beſtimmung des Verordnungsrechts aus der höheren Idee des
Staatslebens, ſondern eine reine negative Feſtſtellung deſſelben. Als ſolche
iſt ſie muſtergültig, aber weſentlich verſchieden von dem Standpunkt, der mit
dem achtzehnten Jahrhundert in Frankreich zur Geltung kommt.


Nordamerika.

Die franzöſiſche Grundidee iſt die, daß alles für alle Staatsbürger Gültige
nur durch den Willen aller Staatsbürger geſetzt werden, und daher nie aus
dem Willen eines Theiles des Staats, der vollziehenden Gewalt, hervorgehen
könne. Das Geſetz, die Loi, iſt daher nur der Ausſpruch der volonté générale.
Die Vollziehung darf daher nie etwas anderes wollen, als die Ausführung
des Geſetzes. Das iſt der Grundgedanke, den man nun in den Verfaſſungs-
urkunden zum Ausdruck bringen wollte. Und hier iſt es nun höchſt intereſſant,
zu ſehen, wie ſich trotz der ſtreng theoretiſchen Härte deſſelben dennoch all-
mählig das eigentliche Weſen der Verordnungsgewalt aus dieſer abſtrakten Unter-
werfung unter die Geſetzgebung frei macht, wie aber das Princip der volonté
générale,
fortlebend, eine klare Anerkennung jenes Verhältniſſes verhindert,
weil man in demſelben den Keim der alten Unfreiheit fürchtete.


Die erſte Verfaſſung, die aus jenem Princip hervorging, war die Conſti-
tution der Vereinigten Staaten von Nordamerika von 1787. Sie iſt auch die
erſte, welche ganz klar Geſetz und Verordnung ſcheidet, aber beide ausſchließ-
lich der Geſetzgebung vindicirt. Die Sect. 8 gibt dem Congreß nicht allein
alle Funktionen der Geſetzgebung, nicht allein alle wichtigen Funktionen der
[69] Verwaltung im weitern Sinn, ſondern auch ausdrücklich das Recht der Ver-
ordnung: der Congreß hat das Recht: „to make all laws which shall be neces-
sary and proper for carrying into execution the foregoing powers, and
all other powers vested by this constitution in the gouvernement of the
United States, or in ony departement or office thereof.“


Die executive power des Präſidenten hatte dabei natürlich nicht viel zu
bedeuten. Die Hülfe gegen dieſen Widerſinn lag allerdings in zwei Dingen:
in dem Frieden und in der Selbſtverwaltung. Der Begriff der Ordres kommt
gar nicht vor.


Frankreich.

Von beſonderem Intereſſe iſt in der Entwicklung von Geſetz und Verord-
nung natürlich Frankreich. Man kann von ihm ſagen, daß alle Formen und
Auffaſſungen der Verhältniſſe beider hier in der Geſtalt förmlicher verfaſſungs-
mäßiger Beſtimmungen erſcheinen.


Dieſer hiſtoriſche Bildungsproceß des formellen Begriffes beginnt mit der
Déclaration des droits de l’homme. Sie iſt eigentlich das Lehrbuch für den
urſprünglichen Gedanken der ganzen Theorie. Art. 6 ſagt:


„La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens
ont droit de concourir personnellement, ou par leurs représentants, à sa
formation.“


Die Eintheilung der Souveraineté du peuple III. Art. 3, 4, 5 delegirt
die Geſetzgebung an die assemblée nationale, die Vollziehung an den König,
das Gericht an die Richter. Dieſe geſetzgebende Gewalt empfängt ihre ſpeziellen
Aufgaben Ch. III. Sect. 1. Dabei iſt der ſchon ganz beſtimmte Begriff der
Verordnung förmlich anerkannt Ch. II. Sect. IV.


Art. 4. „Aucun ordre du Roi ne peut être exécuté, s’il n’est signé
par lui, et contresigné par le ministre ou l’ordonnateur du departement.“


Es iſt, als ob man in dieſer Verfaſſung und der nordamerikaniſchen das
alte Europa neben dem jungen Amerika in ſeiner ſelbſteigenſten Geſtalt hin-
treten ſieht; es liegt eine ungeheure Differenz zwiſchen beiden Auffaſſungen.
Die folgenden Conſtitutionen haben umſonſt verſucht, das unverlöſchliche monar-
chiſche Princip auch nur für einen Augenblick zu verwiſchen, und die trans-
atlantiſche Idee ſelbſt auf den Boden der wildeſten europäiſchen Republik zu
verpflanzen! Die Conſtitution von 1793 geht nun einen Schritt weiter. In
ihr iſt der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung formell klar, obwohl
beide der Sache nach identiſch ſind, indem beide von der geſetzgebenden Gewalt
gegeben werden, aber beide ſowohl verſchieden ſind in ihren Gegenſtänden als
in der Form.


Art. 53. „Le Corps législatif propose les lois, et rend les décrets.
Art. 55. Les décrets — concernent: les mesures de sûreté et de tran-
quillité générale etc.“


In der Conſtitution von 1795 iſt dieſer Standpunkt dahin entwickelt, daß
aus motifs d’urgence die Formen der Geſetzgebung von dem Conseil des
Cinq Cents
übergangen werden können; es iſt der Anfang der in Deutſchland
[70] ſogenannten proviſoriſchen Geſetze Art. 81. 94. — In der Conſtitution von 1799
iſt die vollziehende Gewalt bereits ein ſelbſtändiges Glied des Ganzen; im T. IV
erſcheint das „Gouvernement“ zum erſtenmale. Die Geſetzgebung hat allerdings
noch in Gemeinſchaft mit dem tribunat die Geſetze zu machen; das Corps
législatif
dagegen erläßt die décrets 9. 37; daneben treten dann „les autres
actes du Gouvernement“
auf (42), und die „règlements“ ſind demſelben aus-
drücklich überlaſſen (44). Die Verfaſſungsgeſetze von 1802 und 1804 vollenden
was hier begonnen iſt. Mit Napoleon wird das Princip gültig, das in Deutſch-
land die Baſis des Staatsrechts bildet, daß der Fürſt das Oberhaupt des
Staats, und ſein Wille nur durch die Mitwirkung des Volkes beſchränkt iſt.
Aber dieß Princip iſt gleichfalls eine Form; denn dieſe Mitwirkung, auf keinem
hiſtoriſchen Rechte, ſondern bloß auf dem Geſetze beruhend, verſchwindet, und
die Alleinherrſchaft des Kaiſers tritt an ihre Stelle.


Dieß nun wäre wohl niemals möglich geweſen, wenn die Conſtitutionen
das öffentliche Recht der Verwaltung mehr als an der Oberfläche berührt
hätten. Man darf ſich darüber nicht täuſchen, daß dieß nie der Fall war.
Toqueville
(l’ancien régime) und früher ſchon die Organisation civile 1821
haben uns gezeigt, wie während des ganzen Ganges ſeiner inneren Geſchichte
das franzöſiſche Leben ſeit Jahrhunderten daran gewöhnt war, die Vollziehung
und Verwaltung ganz als eine ſelbſtändige auf eigenen Grundlagen beruhende,
nach eigenen Geſetzen und Rechten verfahrende Funktion zu betrachten. Der
Gedanke, daß jeder Staatswille nur als Geſetz auftreten könne, und daß die
Vollziehung nichts ſein dürfe, als Mandatar der Geſetzgebung, war daher dem
Volksbewußtſein und im Grunde ſogar der Geſetzgebung ſelber durchaus fremd.
Die obigen Beſtimmungen waren daher in der That gar nicht gegen die Voll-
ziehung oder Verwaltung, ſondern nur gegen das Königthum gerichtet. So wie
dieß gebrochen war, brach ſich die Selbſtändigkeit der letzteren ſofort Bahn, und
zwar ſo, daß in demſelben Augenblick, wo die Conſtitutionen die Verordnungen
zu Geſetzen machten, die Verwaltungsgeſetzgebung ihnen dieſen Charakter wieder
nahm, und ſie ganz formell dem bürgerlichen Richter entzog, die doch über
alle Geſetze zu entſcheiden hatten. Schon 1790 war ein Ausſchuß niedergeſetzt,
um die gerichtliche Organiſation zu entwerfen. Dieſer Ausſchuß forderte ſofort
in jedem Departement ein eigenes Verwaltungsgericht. Obgleich das nicht
angenommen ward, weil man es nicht auszuführen wußte, ſo wurde doch im
Geſetz vom 16—24. Aug. 1790 der Grundſatz ausgeſprochen:


„Les juges ne pourront, à peine de forfaiture, troubler de quelque
manière que ce soit les opérations des corps administratifs
, ni citer devant
eux les administrateurs pour raison de leurs fonctions.“


Das hieß mit andern Worten, der Verwaltung eine Gewalt geben, welche
mindeſtens der der Geſetze gleich war. Wir kommen ſpäter darauf zurück. In
der That ward durch dieſen, dann weiter im Einzelnen durchgeführten Grund-
ſatz die ganze Definition der Geſetzgebung praktiſch zu einer leeren Phraſe; das
Verwaltungsgericht ward zu einem mächtigen Organismus und das einzige
Band, das unter ſolchen Umſtänden die Verwaltung noch mit der Geſetzgebung
zuſammenhielt, war nur noch die Verantwortlichkeit, die eben darum ſich in
[71] Frankreich zuerſt in ſo detaillirten Beſtimmungen entwickelt hat (ſ. unten). So
erklärt es ſich nun, weßhalb gerade die Zeit der Republik die Arten der Ver-
ordnung ſo ſcharf unterſcheiden lehrte. So lange die Verordnungen noch von
der geſetzgebenden Gewalt erlaſſen werden, hießen ſie „décrets.“ Unter dem
Direktorium und dem Conſulat verſchwindet dieſer Ausdruck; ſie nehmen den
Namen der lois an, und die Verordnungen heißen jetzt arrêtés; unter Napoleon
tritt der einfache Satz auf, daß alle décrets und arrêtésgleiche geſetzliche
Gültigkeit haben. Das Königthum hebt wieder dieſen Grundſatz auf; der wich-
tigſte Artikel der Charte von 1814 war ohne Zweifel der, welcher zuerſt ein
feſtes Verhältniß zwiſchen Geſetz und Verordnung herzuſtellen ſuchte. Be-
kanntlich lautet dieſer durch die Revolution von 1830 ſo berühmt gewordene
Art. 14:


„Le Roi est le chef suprême de l’État — et fait les règlements et
ordonnances nécessaires pour l’exécution des lois et la sûreté de l’État.“


Es war in dem Artikel gar nichts Neues, und das war die Gefahr deſſelben.
Denn er ſetzte die Geſetzgebung der Verordnung gegenüber, ohne eine Gränze
zu beſtimmen. Die Folge war, daß die Regierung Karls X. in Anwendung
dieſes Artikels das Geſetz durch eine Verordnung ſuſpendirte. Das ward eigent-
lich nur denkbar eben durch jene furchtbare Selbſtändigkeit, welche die ganze
Verwaltung gegenüber der Geſetzgebung im Einzelnen hatte. Der Irrthum
beſtand nur darin, dieſe Selbſtändigkeit formell zu weit auszudehnen. Die Re-
volution folgte; ſie war weſentlich eine Revolution gegen den Inhalt dieſes
Artikels. Die kleine Aenderung deſſelben in der Charte von 1830 hat daher
eine große Bedeutung, ſie iſt eben die Herſtellung der Gränze für das Ver-
hältniß zwiſchen Verordnung und Geſetz. Der Art. 13 heißt:


„Le Roi est le chef suprême de l’État — et fait les règlements et
ordonnances nécessaires pour l’exécution des lois, sans pouvoir jamais ni
suspendre les lois elles-mêmes ni dispenser de leur exécution
.“


Allerdings war damit ein feſter Standpunkt gewonnen. Die Verordnung
kann nur ausführend ſeyn. Allein dieſer Standpunkt war eben ein falſcher.
Denn die Verordnung muß oft ſelbſtſtändig werden. Wenn daher auch feſtſteht,
daß die Verordnung nie das wirkliche Geſetz aufheben oder aufhalten kann, ſo
frägt ſich doch, welches Recht ſie hat, es zu erſetzen — oder welches Recht
die vollziehende Gewalt auch ohne Mitwirkung der geſetzgebenden hat. Man
hatte endlich in Frankreich erkannt, daß es nicht möglich ſei, dieſer Frage zu
entgehen. Daher ward denn nun in der Verfaſſung der Republik von 1848
zum erſtenmale dieſe Gewalt einer ſelbſtändigen Verordnung nicht bloß an-
erkannt, ſondern förmlich geregelt. Solche Verordnungen nämlich ſollen vom
Staatsrath berathen, und diejenigen Verordnungen ſelbſtändig von
ihm erlaſſen
werden, zu welchen er „beſondere Vollmacht“ bekommt. Damit
war im Grunde der Schwerpunkt ſelbſt in den Conseil d’État gelegt, und
jetzt wird man verſtehen, warum das neue Kaiſerthum gerade auf dieſen Staats-
rath ſo viel Gewicht gelegt hat. Er iſt die Schule nicht etwa bloß der Ver-
waltungsbehörden, ſondern er iſt die Quelle des Bewußtſeins und der Kraft,
mit welcher die Vollziehung ſich der Geſetzgebung rechtlich unterwirft. Die
[72] Verfaſſungsurkunde von 1852 unterſcheidet daher jetzt ſtrenge zwiſchen Geſetz,
Dekret
und Reglement. Das „Geſetz“ wird unter Mitwirkung aller
Faktoren gemacht. La Puissance législative s’exerce collectivement par
l’Empereur, le sénat et le corps législative. Const. 1852. a.
4. — Der
Kaiſer aber fait les règlements et décrets nécessaires pour leurs exécu-
tion.“
Dieſer Satz iſt eine Unwahrheit, und der Tradition der alten Ver-
faſſungen zulieb aufgenommen. In Wahrheit ſind die Dekrete eine zweite ſelbſt-
ſtändige Geſetzgebung. Am beſten charakteriſirt die Auffaſſung Block, Dict.
v. Décret: „Au 2 Déc. 1851 les décrets prirent un caractère dictatorial
et constituant pour établir les institutions actuelles, et cette mission
accompli ils sont rentrés dans le cercle des attributions du pouvoir exé-
cutif.“
Dabei iſt, wie geſagt, nur das erſtere wahr; denn ein Dekret vom
2. December 1852 ſtellte das Kaiſerthum her, ein Dekret vom 18. December
1852 ordnete die Thronfolge. Sie werden daher nur ſo weit ſich dem Geſetze
unterordnen, als die vollziehende Gewalt es nöthig erachtet; ſie ſind auch jetzt
noch je nach dem Willen des Staatsoberhauptes Geſetze oder nicht, und
das Staatsoberhaupt kann daher den Staatswillen entweder als Geſetz oder
als Verordnung nach Belieben erlaſſen. Es leuchtet ein, daß dieß nur ein
Uebergangszuſtand iſt; aber er iſt der Zuſtand Frankreichs.


Aber Eines geht aus dieſer Entwicklung hervor. Es iſt der grundſätz-
liche Unterſchied
zwiſchen den beiden großen Funktionen und Körpern des
Staats, der Geſetzgebung und der Verwaltung, ein Unterſchied, der das ganze
Leben des öffentlichen Rechts durchzieht. Die Geſetzgebung iſt eine Welt für
ſich, die Verwaltung eine zweite. Es iſt eine leere Phraſe, wenn die zweite
der erſten untergeordnet ſein ſoll. In der That ſteht die Verwaltung da als
ein vollkommen ſelbſtändiges, in jeder Beziehung der Geſetz-
gebung gleichberechtigtes Ganze
, das nur die einzige Pflicht hat, durch
ihren Willen, décret, arrêté und règlement die wirklich gegebenen Geſetze nicht zu
verletzen, und auch dieſe Pflicht hat das Kaiſerthum zum zweitenmale durch die
décrets organiques aufgehoben. Nur ſo läßt ſich die Eigenthümlichkeit der
franzöſiſchen Inſtitutionen und Begriffe des droit administratif erklären; es
iſt daſſelbe eine Rechtswelt für ſich, deſſen Rechtsquellen die Verordnungen,
deſſen Competenzen auf das Strengſte von denen der Gerichte geſchieden, deren
Eiferſüchteleien den letzteren gegenüber beſtändig und ſehr lebhaft ſind. Man
darf ſich nicht durch die Redensarten der Constitutions irre machen laſſen; ſie
haben nicht die Verordnungen den Geſetzen unterordnen, ſondern in der That
nur das Geſetz gegenüber den Verordnungen ſelbſtändig machen
ſollen
. Und nur dadurch iſt auch die Leichtigkeit zu erklären, mit welcher der
erſte und der zweite Kaiſer ihren Verordnungen ſelbſt gegenüber den Geſetzen
völlige Geltung verſchafft haben. In der franzöſiſchen Freiheit iſt von jeher das
Bedürfniß und die Fähigkeit zum Gehorſam ſtärker geweſen, als die der per-
ſönlichen Selbſtändigkeit.


Daher bietet uns Deutſchlands Recht ein der Form nach ſehr ähnliches,
dem Geiſte nach weſentlich verſchiedenes Bild dar.


[73]
Deutſchland.

In Deutſchland muß man für jene Begriffe davon ausgehen, daß die Vor-
ſtellung von dem wohlbegründeten hiſtoriſchen Rechte auf irgend eine, wenn
auch nicht klar gedachte Theilnahme der Volksvertretung an der Bildung des
Staatswillens eigentlich nie ganz untergegangen war. Die neuen Verfaſſungen
hatten daher nicht, wie die franzöſiſchen, ein ganz neues Princip erſt zu ſchaffen,
ſondern ein hiſtoriſch berechtigtes Princip auf neue Zuſtände anzuwenden. Das
gibt den Begriffen von Geſetz und Verordnung einen ganz andern Charakter.
Dieſe Begriffe beruhen nämlich darauf, daß der perſönliche Wille des Staats
in dem perſönlichen, wenn auch organiſch gebildeten Willen des Fürſten
beruhe; daß daher dieſer Wille das Geſetz ſei, und daß der Organismus der
Volksvertretung daher nur die Funktion habe, in beſtimmten Fällen bei
der Bildung dieſes Willens mitzuwirken, und ſogar dieſelbe von ihrer Zuſtim-
mung abhängig zu machen, während in den übrigen Fällen der König auch
ohne dieſe Mitwirkung den Staatswillen bilde. Dadurch entſtand die noch
gegenwärtig herrſchende Vorſtellung, daß das „Geſetz“ jeder vom Könige ſank-
tionirte Staatswille ſei, ohne daß man dieß Geſetz von der Verordnung in der
obigen Weiſe geſchieden hatte. Die Aufgabe der Conſtitutionen beſtand daher
nicht wie in Frankreich darin, den Begriff des Geſetzes als Grundlage der
Verfaſſung aufzuſtellen, ſondern nur diejenigen Punkte genau zu be-
wachen
, in welchen jene — berathende oder beſchließende — Mitwirkung der
Volksvertretung nothwendig ſei, nicht nur ein „Geſetz“ zu machen, denn das
konnte der Fürſt allein, ſondern nur — wir können uns nicht anders aus-
drücken — dem Staatswillen geſetzliche Gültigkeit zu geben. Dadurch
entſtand das eigenthümliche, etwas unklare Verhältniß, daß das „Geſetz“ in
unſerem Sinn nur als eine Form des königlichen oder Staatswillens erſchien, und
die das ganze deutſche Staatsrecht durchziehende gründliche Unklarheit ſowohl über
Begriff als Recht einerſeits des Geſetzes, andererſeits der Verordnung. Denn da bis
auf die neueſte Zeit alle Verfaſſungen den Fehler begingen, der freilich tief in
der hiſtoriſchen Entwicklung begründet war, jenes Recht der Volksvertretung
auf Berathung oder Beſchluß dem Gegenſtand nach beſtimmen zu wollen,
die Gränze dieſer Gegenſtände aber ganz unmöglich feſtzuſtellen war, ſo war
und iſt es auch unmöglich, zu beſtimmen, welcher Staatswillen als Geſetz, und
welcher als Verordnung feſtgeſtellt werden muß. Der tiefe Unterſchied zwiſchen
dieſer und der franzöſiſchen Auffaſſung beruht dabei darauf, daß das Recht des
Staatsoberhaupts, Verordnungen zu erlaſſen, nicht principiell auf die
Vollziehung der Geſetze beſchränkt iſt
, und daß deßhalb hier zuerſt die
Verordnung theils allerdings als ein auf dieſe Vollziehung gerichteter Wille,
theils aber als wirkliche, ſelbſtändige, neben der eigentlichen Geſetzgebung
beſtehende zweite Grundform der Geſetzgebung gedacht iſt. Das iſt
nun nicht bloß hiſtoriſch und poſitiv rechtlich das Verhältniß, ſondern das iſt
auch ganz richtig. Dabei hat ſich das deutſche Leben, das an der natürlichen
Gleichheit beider Funktionen feſthielt, einen neuen Begriff geſchaffen; das iſt der
der proviſoriſchen Geſetze. Während daher Frankreich nur zwiſchen Geſetz
[74] und Verordnung ſcheidet, hat ein Theil des deutſchen Staatsrechts Geſetz, pro-
viſoriſches Geſetz, und eigentliche (vollziehende) Verordnung. Wir werden Grund
und Sinn dieſes Begriffes, der ſeinerſeits zur Unklarheit nicht wenig beigetragen
hat, unten darlegen. Der Gang der Entwicklung eines ſelbſtändigen Begriffes
von Geſetz iſt aber im Weſentlichen folgender.


Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß die eigentlich Napoleoniſchen Ver-
faſſungen vor 1816 von dem Recht, von Geſetz und Verordnung nicht reden.
Der verfaſſungsmäßige Begriff der Geſetze beginnt erſt mit dem Grundgeſetz für
Sachſen-Weimar-Eiſenach vom 5. Mai 1816. Abſchn. II. §. 5. Es iſt be-
merkenswerth, daß ſich hier die Mitwirkung der Stände nur auf die Steuern
bezieht, und daher die ganze übrige geſetzgebende Gewalt nach der Verordnung
vom 1. December 1815 nur in Verordnungen erſcheint (Grundgeſetz §. 111).
Ein Begriff des Geſetzes iſt noch gar nicht vorhanden. Die bayeriſche Ver-
faſſung
vom 26. Mai 1818 ſtellt dagegen zuerſt die Formel auf, welche
man als die Grundlage des hiſtoriſchen deutſchen Begriffes von Geſetz be-
trachten kann:


T. VII. §. 2. „Ohne den Beirath und die Zuſtimmung der Stände des
Königreiches kann kein allgemeines neues Geſetz, welches die Freiheit der
Perſonen
oder das Eigenthum der Staatsangehörigen betrifft, er-
laſſen, noch ein ſchon beſtehendes abgeändert, anthentiſch erläutert oder auf-
gehoben werden.“


Im Weſentlichen ganz gleichlautend, im Geiſt gewiß ganz gleich verſtanden
ſind die entſprechenden Beſtimmungen der Verf. von Baden, 22. Aug. 1818,
§. 65, Coburg, 8. Aug. 1821, §. 64. 65. Weiter geht eine zweite Kategorie,
an deren Spitze Württemberg ſteht. Verf. vom 25. Sept. 1819. Kap. VII.
§. 88: „Ohne Beiſtimmung der Stände kann kein Geſetz aufgehoben, abgeän-
dert oder authentiſch erläutert werden.“


Man kann dieſe Bezeichnung als diejenige betrachten, welche in der Periode
ſeit 1831 durchgreift. Wörtlich erſcheint ſie wieder in der Verf. von Kurheſſen,
5. Jan. 1831, §. 45, Großh. Heſſen, §. 72; weſentlich gleich in Braun-
ſchweig
, 12. Oct. 1832, §. 97. 3; etwas modificirt Hannover, 26. Sept.
1833, §. 85. Bekanntlich brachte aber auch dieſe Periode noch nicht allen
Staaten Verfaſſungen. Es war daher bis 1848 abſolut unmöglich, von einem
deutſchrechtlichen Begriff des Geſetzes zu reden; im Grunde ſogar beſtand nicht
einmal für die Staaten mit Verfaſſung ein ſolcher Begriff, denn in der erſten
Gruppe war die Gränze nicht zu beſtimmen, in welcher die Volksvertretung zu-
ſtimmen müßte; in der zweiten war es zwar richtig, daß kein Geſetz ohne
Beiſtimmung der Stände gegeben oder geändert werden könne, wohl aber blieb
es offen, eine Verordnung zu geben. Das einzige entſchiedene Princip war
hier nur der für beide Gruppen gewonnene Satz, daß wenn einmal ein Geſetz
gegeben war, daſſelbe nicht mehr geändert werden könne. In dieſer Auffaſſung
haben auch die Verfaſſungen ſeit 1848 nichts geändert und den Begriff nicht
klarer gemacht. Hannover, Verf. §. 113 ff. Oldenburg verſucht ſogar durch
Aufführung von fünfzehn Haupt- und vier Nebenpunkten, welche als Gegen-
ſtand der Geſetzgebung der Zuſtimmung der Stände bedürfen, die Sache zu
[75] entſcheiden (Art. 153), fügt aber gleich hinzu (Art. 154), daß auch andere Gegen-
ſtände für gemeinſam erklärt werden können. Dennoch iſt ein weſentlicher Fort-
ſchritt angebahnt, indem einige von dieſen neuen Vecfaſſungen jene Scheidung
von Geſetz und Verordnung nach dem Gegenſtande fallen laſſen, und das Weſen
des Geſetzes ohne Beſchränkung in der gemeinſchaftlichen Bildung des
Staatswillens durch Staatsoberhaupt und Volksvertretung

ſetzen. Dieſen allein richtigen Standpunkt ſehen wir in der preußiſchen
Verfaſſung
von 1848 vertreten (T. V. Art. 60.):


„Die geſetzgebende Gewalt wird gemeinſchaftlich durch den König und durch
zwei Kammern ausgeübt.“


Wörtlich gleichlautend ſind die Verfaſſungen von Gotha §. 41, und Mecklen-
burg-Schwerin
§. 108. Es iſt kein Zweifel, daß erſt mit dieſer Formel die
feſte Baſis für den Begriff des Geſetzes gefunden iſt. Freilich, da die obigen
Verfaſſungen fortbeſtanden, war dieſer Begriff kein allgemein gültiger, und einen
poſitiv gültigen Begriff haben wir daher noch immer nicht. Man vergleiche
z. B. über die gegenwärtige Unbeſtimmtheit, in der ſelbſt die Staatsrechtslehrer
an einem Reſultate verzweifeln, Zachariä deutſches Staats- und Bundesrecht,
§. 158, der ganz richtig, und wir möchten faſt ſagen naiv bekennt: „bei der
Unbeſtimmtheit dieſer Ausdrücke, iſt hier ein Streit zwiſchen Regierung und
Ständen leicht möglich“ — und nach welchen Grundſätzen ſoll — abgeſehen
von praktiſcher Entſcheidung — dabei auch nun die Theorie ſich richten? —
Die Unfertigkeit der Sache liegt klar genug vor. Am klarſten ſcheint uns Stu-
benrauch
(Verhandlungen des vierten deutſchen Juriſtentages S. 202); warum
hat er die Frage nach den Verordnungen ganz weggelaſſen?


Daneben entwickelte ſich nun der Begriff eines proviſoriſchen Geſetzes.
Ein proviſoriſches Geſetz iſt eine Verordnung über einen Gegenſtand, welcher
der verfaſſungsmäßigen Beſchlußnahme durch die Volksvertretung unterworfen
iſt. Es leuchtet ſofort ein, daß dieſer Begriff wieder kein deutſcher, ſtaatsrecht-
licher Begriff iſt, ſondern nur für diejenigen Verfaſſungen gilt, welche die
Theilnahme der Volksvertretung eben auf beſtimmte Gebiete beſchränkt haben.
Denn wenn das Weſen des Geſetzes in der Gemeinſchaftlichkeit der Willens-
beſtimmung von Fürſt und Volk liegt, ſo hat kein beſonderer Gegenſtand, weder
Freiheit, noch Eigenthum, noch die achtzehn Gegenſtände Oldenburgs ein Recht
darauf, gerade durch ein Geſetz geregelt zu werden, während andrerſeits auch
kein Gegenſtand der Geſetzgebung entzogen iſt. Der Begriff des proviſoriſchen
Geſetzes iſt daher — man erlaube uns den Ausdruck — ein ganz lokaler, nur
beſtimmten Verfaſſungen angehöriger Begriff, der ſelbſt nur als einer von jenen
unklaren Uebergangszuſtänden betrachtet werden kann, wie ſie in der erſten
Hälfte unſeres Jahrhunderts in Deutſchland gang und gäbe ſind. Dagegen
muß man ihn in allen Verfaſſungen, die jenen klaren Begriff des Geſetzes nicht
haben, allerdings anerkennen; und für dieſe lokalen Rechtsverhältniſſe hat daher
auch das, was Zöpfl in ſeinem deutſchen Staatsrechte II. 441, Zachariä im
deutſchen Staats- und Bundesrecht II. §. 160, Mohl im württembergiſchen
Staatsrecht I. 199. ſagen, auch einen Werth. Nur ſoll man es mit den beiden
erſtern nicht für ein deutſches Recht, oder gar für einen wiſſenſchaftlichen
[76] Begriff halten. Es iſt eben ein rechtlich unfertiger Zuſtand. Wo einmal der
einfache Begriff des Geſetzes feſtſteht, und für irgend welche Fragen ein
Geſetz mangelt, da hat die Verordnung als Geſetz zu fungiren, und es iſt Sache
der Geſetzgebung, eigentliche Geſetze zu machen, wenn ſie es für nöthig hält.
Thut ſie es nicht, ſo iſt kein Zweifel, daß das Staatsoberhaupt unbedingt be-
rechtigt iſt, die Verordnung als Geſetz zu erlaſſen, ſo lange ſie eben nicht mit
dem bereits beſtehenden Geſetz in Widerſpruch tritt.


Dieß iſt der — auch hier gänzlich einheitsloſe — Zuſtand des deutſchen
Staatsrechts. Die genauere Unterſuchung der vorliegenden Fragen gehört nun
dem Princip nach der Verfaſſungslehre, der Anwendung nach den folgenden
Abſchnitten an. Faßt man aber das Obige zuſammen, ſo ergeben ſich folgende
Reſultate:


Erſtlich: es gibt keinen für ganz Deutſchland gültigen Begriff von Geſetz
und Verordnung; jede rechtliche Definition hat nur eine örtliche Gültigkeit.


Zweitens: alle Unterſuchungen über das poſitiv und objektiv gültige
Rechtsverhältniß zwiſchen Geſetz und Verordnung haben daher nur für die ört-
liche
Staatenbildung und die einzelnen poſitiven Verfaſſungen Werth, und
können, ohne gegen die ausdrücklichen Beſtimmungen der einzelnen Verfaſſungen
zu verſtoßen, auch nicht den Anſpruch machen, ein deutſches Staatsrecht zu
enthalten.


Drittens: der natürliche Entwicklungsgang der einheitlichen Bildung
des deutſchen Staatsrechts führt dahin, das Geſetz nur als einen formalen
Begriff zu erklären, deſſen Weſen in dem formellen, verfaſſungsmäßigen Zuſam-
menwirken von Staatsoberhaupt und Volksvertretung liegt, während die Ver-
ordnung gleichfalls nur ein formaler Begriff iſt, deſſen Weſen durch das
Zuſammenwirken von Staatsoberhaupt und Verwaltungsorganismus geſetzt iſt.


Seit Montesquien herrſcht die Ungewißheit der Ausdrücke I. 1. Es darf
uns wenig wundern, wenn die alten Staatsrechtslehrer, Gönner, Ritter u. a.,
gar keinen Begriff von Geſetz und Verordnung haben, eben ſo wenig wie die
neueren, Klüber, Maurenbrecher, Leiſt, und daß endlich die Neueſten beſtändig
in der wunderlichen Vorſtellung leben, als ſei ein ſcharf beſtimmtes Reſultat
nur in einzelnen Verfaſſungsurkunden, wie Wachter, Linde, Mohl (württem-
bergiſches Staatsrecht), oder ein Durchſchnittsbegriff aus allen, wie Zöpfl und
Zachariä, ein deutſches Staatsrecht, während andere gar wie Mohl (Ency-
klopädie §. 20) wieder ganz ins Unbeſtimmte zurückfallen, jeden Unterſchied über-
ſehend. Das Klarſte und Beſte, was über die ganze Frage geſagt iſt, ſcheint uns
noch immer das zu ſeyn, was Malchus, Politik der inneren Staatswiſſen-
ſchaft I. p. XXI. ſagt. Wir wollen dabei den gründlichen Unterſuchungen,
namentlich von Zöpfl und Zachariä, ihren großen Werth durchaus nicht be-
ſtreiten; aber die eigentliche Hauptſache erfaſſen ſie nicht. Wir müſſen dabei
ſtehen bleiben, daß es erſt mit der obigen formalen Differenz möglich iſt, zu
demjenigen zu gelangen, was im Grunde die Hauptſache iſt, nämlich zu
einem Begriff und Inhalt des Rechts der Verordnungen gegenüber den
Geſetzen.


[77]

B. Das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts.
Princip und Weſen dieſes Rechts.


Auf dieſem Unterſchied von Geſetz und Verordnung beruht nun
der Begriff des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts, der wichtigſte aller
Begriffe für die ganze Lehre von der Verwaltung im weitern Sinn und
ſpeziell für die vollziehende Gewalt. Nur iſt die formelle Definition von
dem lebendigen Inhalt wohl zu unterſcheiden.


I.Formell iſt derſelbe nun ſehr leicht zu definiren.


Das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht kann überhaupt erſt da
entſtehen, wo durch die Theilnahme der Volksvertretung ein Geſetz im
Sinne einer eigentlichen Verfaſſung entſteht. So wie das geſchehen iſt,
ſo ſcheiden ſich ſofort zwei große Gebiete der Rechtsbildung im öffent-
lichen Recht. Das erſte iſt das des geſetzlichen Rechts im eigent-
lichen Sinne. Das geſetzliche Recht umfaßt die Geſammtheit aller Be-
ſtimmungen, welche durch das Zuſammenwirken der drei Faktoren, des
Staatsoberhaupts, der Volksvertretung und der Verwaltung im weitern
Sinn als Staatswille anerkannt ſind, und zwar grundſätzlich ganz gleich-
gültig, welche Gegenſtände dieſes Recht betreffen mag. Das zweite iſt
dasjenige Rechtsgebiet, welches wir jetzt am beſten das Verordnungs-
recht
nennen können. Das Verordnungsrecht umfaßt ſeinerſeits die
Geſammtheit aller derjenigen Beſtimmungen des Staatswillens, welche
nur durch das Zuſammenwirken des Staatsoberhaupts mit dem Orga-
nismus der Verwaltung im weiteſten Sinn, unmittelbar, oder in über-
tragener Gewalt entſtanden ſind, ebenfalls an ſich ganz gleichgültig
gegen das Objekt dieſer Beſtimmungen.


Es iſt ſchon geſagt, daß dieſer ganze Unterſchied, und mithin der
ganze Begriff und Inhalt der verfaſſungsmäßigen Verwaltung über-
haupt nicht exiſtire, ſo lange es kein eigentliches Geſetz gibt.


Das Recht der verfaſſungsmäßigen Verwaltung iſt nun dasjenige
Recht, welches für das organiſche Verhältniß des Verord-
nungsrechts zum geſetzlichen Rechte gilt
.


Dieſer, zunächſt ganz formelle Begriff des verfaſſungsmäßigen Rechts
der Verwaltung im Allgemeinen, und der vollziehenden Gewalt im be-
ſondern, hat nun gleichfalls zunächſt ſeine ſehr einfache formelle An-
wendungen.


Da das Geſetz von allen Faktoren des Staatswillens gebildet
iſt, die Verordnung dagegen nur von einem Theil derſelben, ſo iſt da,
wo ein Geſetz vorhanden iſt, die Verordnung demſelben unbedingt
[78] untergeordnet. Die Verordnung kann daher im Gegenſatz zum Geſetze
kein Recht bilden. Wo ſie dem Geſetze widerſpricht, iſt ſie nichtig. Sie
kann das Geſetz weder aufheben, noch kann ſie es ſiſtiren.


Wo dagegen kein Geſetz vorhanden, oder ſo weit es nicht vor-
handen iſt, da iſt die Verordnung der geltende Staatswille, und hat
das Recht des Geſetzes. Und zwar theilen ſich die Fälle, in denen dieß
der Fall iſt, in zwei Gruppen. Zuerſt in diejenige, in welcher die
Verordnung das mangelnde Geſetz ſelbſt erſetzt, dann in dasjenige, in
welcher die Verordnung die Vollziehung des vorhandenen Geſetzes enthält.


Es iſt kein Zweifel, daß alle diejenigen Punkte, über welche es
Verordnungen gibt oder geben ſoll, ihrerſeits wieder durch Geſetze be-
ſtimmt werden können. Es gibt an ſich gar kein Verhältniß, das
nur durch Verordnungen ſein Recht zu empfangen berechtigt wäre, ſelbſt
die ſpeziellſten Formen der wirklichen Verwaltung nicht. Es iſt eine
andere Frage, in wie weit es zweckmäßig iſt, daß die Geſetzgebung in
das natürliche Gebiet der Verordnung hineingreife. Aber ausge-
ſchloſſen
iſt kein Theil des letztern von der Geſetzgebung.


Ebenſo iſt es kein Zweifel, daß alle diejenigen Gebiete, über welche
kein Geſetz exiſtirt, den Verordnungen der vollziehenden Gewalt unter-
liegen. Sind dieß Gebiete, welche nach der Verfaſſung der geſetzgeben-
den Gewalt unterworfen ſind, ſo nennt man ſolche Verordnungen wohl
proviſoriſche Geſetze; das ändert weder ihren Charakter noch ihr Recht.
Sie bleiben Verordnungen. Wie und unter welchen Forderungen ſie
zu Geſetzen erhoben werden ſollen, beſtimmt die Verfaſſung.


Das ſind die Punkte, welche das formelle verfaſſungsmäßige
Verwaltungs- oder Verordnungsrecht enthält. Ließe ſich daher ſtets
dieſe formelle Gränze auffinden, ſo hätte die Frage nach dem Inhalte
weiter keine Schwierigkeit.


In der That aber iſt dieſelbe nicht ſo einfach. Die Verordnung
erſcheint nämlich keineswegs bloß auf dem Gebiete wo das Geſetz
mangelt, ſondern begegnet dem Geſetz auf ſeinem eignen Gebiete. Sie
thut das nicht willkürlich oder als Verletzung des letzteren, ſondern ſie
gelangt dazu vermöge ihrer eignen innern Natur. Und es iſt noth-
wendig dieſe vor Augen zu haben.


II. Das Geſetz geht, ſeinem höhern Weſen nach, ſtets aus dem Ge-
ſammtbewußtſein des Staatslebens hervor, und will daher auch ſtets
zwei Ziele erreichen. Es will einerſeits das in allen thatſächlichen Ver-
hältniſſen Gleichartige erfaſſen, und den Willen des Staats eben
für dieß Gleichartige in allem Verſchiednen feſtſtellen. Es muß ſich
daher ſtets an das Weſen der Dinge ſtatt an ihre zufällige und vor-
übergehende Erſcheinung wenden. Es hat mit den Kräften zu thun,
[79] welche das Lebensverhältniß erzeugen, nicht mit denen, welche ihm dieſe
oder jene Geſtalt geben. Es muß daher andererſeits alle ſeine Objekte
einheitlich und gleichartig beſtimmen. Es muß ſtets mit ſich ſelber
übereinſtimmen; es darf das äußerlich Verſchiedene nicht als innerlich
Verſchiedenes ſetzen, ſondern es muß für alle Erſcheinungen ſtets daſſelbe
ſein. Das geſetzliche Recht iſt daher ſeinem organiſchen Weſen nach ein
gleichartiges und einheitliches Ganzes.


Die Verordnung dagegen geht vor allen Dingen von der That-
ſache
, und mit ihr von den Beſonderheiten und dem Wechſel derſelben
aus. Sie erfaßt die Dinge und die Lebensverhältniſſe nicht wie ſie an
ſich ſind, ſondern in dem Moment und in der Geſtalt, wo ſie zur Er-
ſcheinung kommen. Sie iſt daher nicht bloß verſchieden für Dinge, die
an ſich ganz gleich ſein können, ſondern ſie muß es ſein. Sie ſoll
nicht das Wahre, ſondern das Zweckmäßige ſuchen und beſtimmen.
Sie wechſelt daher beſtändig, ſie iſt der Wille für die äußere That,
und trägt auf allen Punkten den Charakter der äußern Welt an ſich.


Geſetzgebung und Verordnung ſind daher nicht etwa zwei formell
geſchiedene, ſondern weſentlich verſchiedene Funktionen des Staatswillens.
Ihr Gegenſatz liegt nicht etwa bloß in jenen formellen Beſtimmungen,
ſondern er liegt in ihrem tieferen Weſen ſelbſt. Und eben dieſe ihre
Natur ſtellt ſie auch nicht etwa einfach wie zwei äußerlich ſelbſtändige
Gebiete neben einander, die man durch gewiſſe Rechtsſätze äußerlich
immer von einander trennen könnte, ſondern da jedes Lebendige, und
mithin auch alle Dinge und Lebensverhältniſſe die dem Staatswillen
angehören, zugleich ihr inneres und äußeres Daſein haben, ſo ſind auch
alle dieſe Objekte ſtets beiden Funktionen zugleich, der Geſetzgebung und
der Verordnung unterworfen. Alle Thätigkeiten des Staats werden
unabänderlich zugleich durch Geſetze und Verordnungen beſtimmt. Und
wie man nun in keinem Dinge die Elemente des innern Weſens immer
ſcharf von der zufälligen äußern Erſcheinung trennen kann, ſo kann
man auch niemals äußerlich das Gebiet der Geſetze und der
Verordnungen endgültig ſcheiden
. Sie vermiſchen ſich auf allen
Punkten, ſie ſetzen ſich gegenſeitig beſtändig voraus; ſie erfüllen ſich
beſtändig; ſie ſind in der That erſt zuſammen der wahre Staats-
wille
. Es iſt daher nichts einſeitiger, als ſie im natürlichen Gegen-
ſatz betrachten zu wollen, und es iſt ebenſo falſch, die Verordnung nur
als die Ausführung des Geſetzes anzuſehen. Es iſt daher ein großer,
nur auf dem Nichtverſtändniß des wirklichen Lebens beruhender Irr-
thum, zu meinen, daß man das Verhältniß zwiſchen Geſetz und Ver-
ordnung ſelbſt wieder durch einzelne rechtliche Beſtimmungen regeln
kann. Eine ſolche Auffaſſung gehört den niedern Stadien der ſtaatlichen
[80] Entwicklung an. Sie endet ſtets mit dem Verſchwimmen ſolcher Be-
ſtimmungen in unklare Vorſtellungen oder unpraktiſche Caſuiſtik. Man
muß, will man ein Ergebniß das für das Leben des Staats gelten
ſoll, das Verhältniß jener beiden Funktionen ſelbſt als ein lebendiges
auffaſſen.


Offenbar nun liegt in dieſem Weſen beider der Grund des Strebens,
ſich von einander zu entfernen und eben darum ſich einander zu unter-
werfen. Denn die abſtrakte Natur der Dinge wird nur durch die wirk-
liche Erſcheinung erſchöpft, und ewig wird man bald das eine, bald
das andere für das herrſchende halten. Andererſeits gehören ſie dennoch
gemeinſam dem Begriffe des Staats, ſie ſind eben ja nur Funktionen
ſeiner Perſönlichkeit. Die höhere Entwicklung der letzteren hat daher zu
ihrem Inhalt nicht ſo ſehr die Verſchiedenheit oder gar den Gegenſatz
beider, ſondern vielmehr ihre höhere Einheit; aber die Aufgabe des
Staatslebens iſt ohne allen Zweifel die, die Harmonie zwiſchen Geſetz
und Verordnung, oder zwiſchen Willen und That herzuſtellen. Das
bedarf keines Beweiſes.


Da nun aber in jedem Falle, bei jeder That und Aktion des
Staats beide Elemente der Lebensverhältniſſe ſich beſtändig geltend
machen, ſo muß auch jene Harmonie beſtändig aufs Neue hergeſtellt
werden. Oder es muß die Herſtellung dieſer Harmonie ein beſtän-
diger Proceß
ſein. Oder: das was wir die verfaſſungsmäßige Ver-
waltung nennen, iſt ein beſtändig thätiger, das geſammte Leben des
Staats durchdringender, mächtiger Proceß, der in jeder Thätigkeit des
Staats die Harmonie der Verordnung mit der Geſetzgebung
aus ihrem Gegenſatze auf allen Punkten zu erzeugen und zu erhalten hat.
Ihn erſchöpft nicht dieſe oder jene Beſtimmung, ſondern er iſt etwas
Eigenthümliches und Ganzes für ſich. Aber indem er in dieſer Weiſe
wirkt, erzeugt er für beide Gewalten feſte Normen, durch welche er ſich
verwirklicht. Dieſe nennen wir auch hier das Recht. Und ſo kann man
ſagen: das verfaſſungsmäßige Recht der vollziehenden Gewalt bildet die
Geſammtheit der rechtlichen Grundſätze, welche die Harmonie zwiſchen
Geſetz und Verordnung in allen Aeußerungen und Erſcheinungen des
Staatslebens herzuſtellen berufen iſt.


III. Steht nun dieſer lebendige Begriff feſt, ſo leuchtet es ein, daß die
Verwirklichung dieſes Rechts nicht mehr eine formell einfache ſein kann.
Indem dieſelbe ſich an die einzelnen Elemente anſchließt, welche eben zu-
ſammen genommen erſt den organiſchen Begriff der vollziehenden Gewalt
bilden, muß jenes Recht vielmehr ſich wieder an die beſondere Natur
jener Elemente anſchließen, und für jedes derſelben in der ihm ent-
ſprechenden Weiſe jene Harmonie herſtellen. Oder: es gibt überhaupt
[81] kein einfaches Recht der vollziehenden Gewalt im Ganzen, ſondern nur
ein allgemeines Princip für dieſelbe. Das Recht der vollziehenden Ge-
walt oder der Proceß der Herſtellung der Harmonie der concreten That
mit dem abſtrakten Willen, der Vollziehung mit der Geſetzgebung, iſt
vielmehr ein beſonderes für jedes Element derſelben. Es gibt daher
ein beſonderes Recht der vollziehenden Staatsgewalt, ein beſonderes
Recht der eigentlichen Verordnungsgewalt, ein beſonderes Recht der
Organiſationsgewalt, und endlich ein beſonderes Recht der Polizeige-
walt. Alle dieſe Rechte ſind aber wieder Ausflüſſe deſſelben Princips,
ſie bilden daher trotz ihrer Verſchiedenheit ein inneres Ganze, und in
dieſem Sinne ſagen wir nunmehr, daß das Recht der verfaſſungsmäßigen
Verwaltung und Vollziehung ein Syſtem von Rechten ſei, deſſen In-
halt nunmehr im Einzelnen dargelegt werden ſoll.


Aber indem es auf dieſe Weiſe ein ſolches innere Ganze iſt,
trägt es auch den Charakter der Individualität je nach den Völkern an
ſich, bei denen es ſich ausgebildet hat. Die einzelnen Verſchiedenheiten,
denen wir dort begegnen, ſind Ausflüſſe dieſer Individualität, und ehe
die Wiſſenſchaft jenes Verhalten der Elemente ihrer innern Natur nach
darlegt, werden wir einen Blick auf die Grundformen werfen, in denen
jenes Recht zur individuellen Erſcheinung bei den großen Culturvölkern
gelangt iſt.


Es liegt in dem formellen Weſen des Unterſchiedes zwiſchen Geſetz und
Verordnung, daß die poſitive und formelle Entwicklung des verfaſſungsmäßigen
Verordnungsrechts erſt mit dem Auftreten beſtimmter Verfaſſungsurkunden vor
ſich geht. Dem Inhalte nach aber wird das poſitive Recht für das Verhältniß
zwiſchen Geſetz und Verordnung um ſo genauer, ja um ſo ängſtlicher aus-
gebildet ſeyn, je länger ſich die Tradition erhält, daß Geſetzgebung und Ver-
waltung mit einander im Gegenſatze ſtehen. Man kann daher das poſitive
Recht gerade hier am ſicherſten als den Ausdruck des Stadiums betrachten, in
welchem das Verſtändniß der Harmonie zwiſchen beiden großen Funktionen des
Staats getreten iſt. Je weniger ſich beide im Bewußtſein des Volkes berühren
und bedingen, je mehr verſchwinden die Formeln, welche jenes Recht bilden,
und je einfacher wird der Proceß, der die Harmonie herſtellt. Nur indem
man dieß zum Grunde legt, kann man den Unterſchied in dem principiell ganz
gleichen Rechte Englands, Frankreichs und Deutſchlands verſtehen, und den
noch ſehr niedrigen und unklaren Standpunkt beurtheilen, auf welchem auch
in dieſem Punkte das deutſche Leben ſteht.


In England hat niemals eine völlige Trennung der Geſetzgebung und
Vollziehung ſtattgefunden. Die Volksvertretung hat, ſoweit die germaniſche
Geſchichte zurückgeht, immer ihre Stellung behauptet. Namentlich hat der
glücklich vertheidigte Grundſatz, daß die Bewilligung der Steuer von dem
geſetzgebenden Körper abhange, die vollziehende Gewalt ſtets gezwungen, im
Stein, die Verwaltungslehre. I. 6
[82] Geiſt der geſetzgebenden zu wirken. Dazu aber kommt allerdings ein zweites,
höchſt bedeutſames Element, das man meiſtens überſieht. Das lebendige
Princip der Selbſtverwaltung hat der vollziehenden und verwaltenden Gewalt
des Staats den größten Theil der Objekte ihrer ſelbſtändigen Thätigkeit ge-
nommen, und ſie demſelben Kreiſe von Organen übertragen, welche das Geſetz
machen.


Während dadurch auf der einen Seite die Verordnungen niemals zu einem
ausgebildeten Syſtem und mithin auch nicht zu einem Gegenſatz zur Geſetz-
gebung gelangen konnten, war die Selbſtverwaltung derjenige Organismus,
der die örtliche Verwaltung des Staats von ſelbſt in Harmonie mit der aus
ihr ſelber ja hervorgehenden Geſetzgebung erhielt. Ein Gegenſatz beider, welcher
die formelle Entwicklung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Inhalt
gehabt hätte, konnte ſich deßhalb gar nicht recht ausbilden; und hier iſt der
Punkt, wo eigentlich die Selbſtverwaltung ihren ſo mächtigen Einfluß ausgeübt
hat. Während im übrigen Europa die Geſetze, hat in England die Selbſtver-
waltung die unerſchütterliche Grundlage der Harmonie zwiſchen beiden Funk-
tionen abgegeben.


Demgemäß finden wir nur eine ſehr geringe Entwicklung des Verord-
nungsrechts, und entſprechend eine ſehr geringe formelle Ausbildung des ver-
faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts, während dem Inhalt nach England gerade
in letzter Beziehung mit Recht allen Völkern als Muſter vorſchwebte, ſo lange
dieſelben noch an dem harten Gegenſatze zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung
zu leiden hatten. Eben darauf beruht auch das praktiſche Princip jenes Rechts;
es beſteht in dem Rechte der Klage der Einzelnen gegen die vollziehende Ge-
walt, durch welche jede einzelne Aktion der letzteren auf das geltende Recht
zurückgeführt wird. In der ſtrengen Ausbildung und Gültigkeit dieſes Grund-
ſatzes liegt der Charakter des engliſchen öffentlichen Verwaltungsrechts im wei-
tern Sinne (ſ. unter Klagrecht).


In Frankreich ſehen wir eine weſentlich verſchiedene Ordnung der Dinge.
Hier hat das Königthum ſchon ſeit Ludwig IX. gearbeitet, um jeden Akt der
Verwaltung der vollziehenden Gewalt zu unterwerfen. Die Selbſtverwaltung er-
ſcheint dem centralen Königthum als ein Feind der innerſten Natur der fran-
zöſiſchen Staatsbildung. Die vollziehende Gewalt und mit und in ihr die
Verordnung iſt das eigentlich ſchöpferiſche Element dieſes in ſeiner Art ſo eigen-
thümlichen Staats; ſie iſt allgegenwärtig, allenthalben gleichartig, ſtark, thätig,
tüchtig; ſie fühlt ſich als den eigentlichen Träger des franzöſiſchen Geſammt-
lebens. Sie iſt daher ſchon Jahrhunderte vor der franzöſiſchen Revolution nicht
bloß vorhanden, ſondern tritt auch als ein ſtarker und vom Königthum und
Volk gleich ſehr anerkannter Organismus auf; es fällt beiden gar nicht ein,
an ihm und ſeiner Funktion ernſthaft zu rütteln; beide ſind vielmehr von dem
Bewußtſeyn durchdrungen, daß auf ihm die ſtaatliche Individualität, die äußere
Kraft und der Glanz Frankreichs beruhe. Niemand hat das beſſer verſtanden,
als Toqueyille; ſein „Regime“ iſt eben die vollziehende, thätige Staatsgewalt in
ihrer Selbſtſtändigkeit gegenüber der Geſetzgebung. Dieſer Grundſatz hat ſich
nun als ein ganz unbezweifelter erhalten und zwar mitten unter allen Phaſen,
[83] welche die geſetzgebende Gewalt durchzumachen hat. Die Vollziehung und ihr
Recht, das thätige Beamtenthum, iſt eine Welt für ſich, und weist jedes
Hineingreifen von Seiten der übrigen Rechtsbildungen von ſich ab. Das Be-
wußtſein dieſer eigenthümlichen Selbſtändigkeit iſt ſchon in Montesquien lebendig.
wenn er in ſeinem Esprit des Lois XXVI. 24. ſagt: „Dans l’exercice de la
police
(die eigentlich vollziehende Gewalt, der die Verordnung zum Grunde
liegt) c’est plutôt le magistrat qui punit que la loi; dans les jugements
(denen das Geſetz zu Grunde liegt) c’est plutôt la loi qui punit que le magis-
trat.“
Das Verhältniß, in welchem jeder einzelne Akt dieſer Adminiſtration
wieder auf das Geſetz in irgend einer Weiſe zurückgeführt werden ſoll, exiſtirt
daher gar nicht in der Vorſtellung Frankreichs. Die Verwaltung als organi-
ſcher Körper hat vielmehr in ſich ſelbſt die Aufgabe, dieſe Harmonie zwiſchen
Vollziehung und Geſetzgebung herzuſtellen. Sie empfängt daher nicht ihr Recht,
ſondern ſie bildet es ſich ſelber; auf dem Punkte, wo die Fragen nach der Aus-
führung
des Geſetzes beginnen, hört jede andere Funktion, als die des Ver-
waltungsorganismus, auf, und er ſelber iſt das entſcheidende Organ über
die Verfaſſungs- und Rechtmäßigkeit der Thätigkeiten, mit welcher er das Geſetz
verwirklicht. Es gibt daher in Frankreich zu keiner Zeit eine eigentlich orga-
niſche Unterordnung der Vollziehung unter die Geſetzgebung; jene wacht eifer-
ſüchtig auf dieſe Gränze ihrer Gewalt; ſie erkennt deßhalb auch nirgends eine
wahre Selbſtverwaltung; ſie hat kein Gemeindeweſen; die Gemeinde iſt ein
Organ der Adminiſtration. So hat ſich dieſe eigenthümliche, nirgends in der
Welt wieder vorkommende Scheidung der Verwaltung und der Geſetzgebung
auf das Innigſte mit dem ganzen franzöſiſchen Leben verwebt, und die fran-
zöſiſche Literatur hat dieß Verhältniß in ganz beſtimmte Formeln gebracht.
Einerſeits ſind es gerade die Franzoſen, welche eben durch die beſtimmte Schei-
dung beider Gewalten gezwungen werden, die Harmonie derſelben als ein noth-
wendiges Element des Staatslebens anzuerkennen. Sehr ſchön ſagt Benjamin
Conſtant (Réflexions sur les constitutions, 1814): „Wollen iſt immer möglich,
nicht aber die Vollziehung. Eine Gewalt, gezwungen, einem Geſetze, das ſie
mißbilligt, Beiſtand zu leiſten, iſt bald ohne Kraft und Anſehen. Keine Gewalt
vollzieht ein Geſetz, das ſie nicht billigt, mit Eifer. Jedes Hinderniß iſt natür-
lich ein Triumph für ſie. Es iſt ſchon ſchwer, einen Menſchen am Handeln
zu hindern; unmöglich iſt es, ihn zum Handeln zu zwingen.“ So verſtand man
die höhere Nothwendigkeit der Harmonie beider Gewalten, und niemandem fiel
es ein, dieſe eigentliche Vollziehung dem Rechte und dem Willen der Geſetzgebung
unbedingt unterwerfen zu wollen; die Adminiſtration blieb, was ſie geweſen,
die ſouveräne Aktion der Vollziehung; der König iſt der Chef de l’Adminis-
tration,
und wir haben ſchon das merkwürdige Geſetz vom 16. bis 24. Auguſt
1790. citirt, welches den Richtern — und damit dem, was ſie vertreten, dem
Geſetze — das Recht geradezu abſpricht — „de citer devant eux les admi-
nistrateurs pour raison de leurs fonctions.“
Der Proceß, den wir als die
Herſtellung der Verfaſſungsmäßigkeit in der Verwaltung bezeichnet haben, muß
ſich daher in Frankreich innerhalb dieſer Verwaltung ſelbſt vollzie-
hen
; das iſt das Princip des franzöſiſchen Verwaltungsrechts; es gilt jetzt wie
[84] vor hundert Jahren; und wir glauben es nicht beſſer als mit den Worten des
Dictionnaire de l’administration, v. Administration, wieder geben zu können:
„les Codes règlent des intérêts privés, qui varient d’un individu à l’autre
— le droit administratif est également réglé par des principes généraux;
mais leur application peut varier avec les circonstances sociales. La pensée
du législateur se trouve ainsi commentée, d’un côté par la jurisprudence,
et de l’autre par la tradition des bureaux.“
Die Entſcheidung ſelbſt aber
heißt hier wie bei dem Gericht eine Jurisdiktion; und ſchon Macarel ſagt
(Eléments de jurispr. adm. I. 5.): „La jurisdiction contentieuse comprend
tout ce qui fait légalement obstacle à l’administration lorsqu’en marchant
elle froisse sur la route les intérêts des particuliers.“
Daher denn hat
in Frankreich ſowohl die Verantwortlichkeit als das eigentliche Verordnungsrecht
eine ganz andere Geſtalt, als in England und Deutſchland; und darum iſt und
war es ſo falſch und ſo ergebnißlos, das deutſche Recht durch das franzöſiſche
erklären und fördern zu wollen. Das letztere iſt eine Welt für ſich und will
für ſich verſtanden werden. Die folgende Darſtellung wird dieß im Einzelnen
beim Klagrecht zeigen.


In Deutſchland tritt nun mit dem vorigen Jahrhundert an die Stelle der
principiellen Klarheit Englands und der formellen Klarheit Frankreichs ſofort
eine gründliche, bis zum heutigen Tage nicht gehobene, und nur durch die
hiſtoriſche Entwicklung erklärliche Verwirrung der Ausdrücke und Begriffe. Wir
glauben, daß wir am beſten den Charakter der deutſchen Auffaſſung bezeichnen,
indem wir ſie mit dem Namen nennen, um den ſich noch heute die Frage
dreht, und der denn doch endlich einmal einem richtigeren Verſtändniß Platz
machen ſollte. Das iſt der Unterſchied zwiſchen den ſogenannten Juſtiz- und
Adminiſtrativſachen. Die Grundlage dieſes Unterſchiedes iſt die hiſtoriſche
Entwicklung der Staatsgewalt gegenüber dem Princip des feudalen Rechts.
Allerdings war der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung im vorigen
Jahrhundert verſchwunden; allein die öffentlichen Rechte der Grundherren und
Körperſchaften erſchienen als Privatrechte, und indem man im Allgemeinen
der Obrigkeit, als vollziehender Gewalt, das Recht zur Geſetzgebung auf dem
Wege der Verordnung unbedingt einräumte, mußte man jede Verordnung über
öffentliche Verhältniſſe, welche dem Grundherrn unter dem Titel ſeiner Grund-
herrlichkeit angehörten, als einen Eingriff in das bürgerliche Recht, als eine Beein-
trächtigung eines jus quaesitum anſehen, die mithin vom bürgerlichen Ge-
richte
zu entſcheiden, d. i. eine Juſtizſache ſei. Die Gränze der Verordnungs-
gewalt lag daher gleich anfangs in Deutſchland weder in dem Begriff des
Geſetzes, noch in dem der Verantwortlichkeit, ſondern in dem hiſtoriſch ent-
ſtandenen Privatrechte auf einen Antheil an der vollziehenden
Gewalt
, den die Staatsgewalt nicht nehmen konnte, ohne das Princip des
Eigenthums anzugreifen. Dieſer Antheil war nun einerſeits höchſt verſchieden
nach den verſchiedenen Ländern, oder die Sachen, welche die bürgerlichen
Gerichte gegenüber der Verordnungsgewalt zu erledigen hatten, erſchienen in
jedem Lande anders; nichts war daher gemeinſam in Deutſchland, als der
Grundſatz, daß jede Handlung der vollziehenden Gewalt und jede Verordnung,
[85] ſo wie ſie ein ſolches hiſtoriſches Recht angriffen, Juſtizſachen ſeien, während
alle übrigen Funktionen derſelben der Verwaltung als Adminiſtrativſachen
angehörten. Nun aber enthielten jene Rechte auf ſelbſtändige Verwaltung eine,
wenn auch lehensrechtlich ausgebildete, ſo doch ihrem Weſen und oft auch ihrer frü-
hern Ordnung nach unzweifelhafte Geſtalt der Selbſtverwaltung, namentlich im
alten Gemeinderecht. Die neu entſtehende Staatsverwaltung ſtrebte nun, dieſe Selb-
ſtändigkeit ſich zu unterwerfen; die ſelbſtändigen Körper vertheidigten ſie, und um
ſie mit Nachdruck vertheidigen zu können, hielten ſie das Princip des bürger-
lichen Rechts und der gerichtlichen Klage gegen jene Beſtrebungen der centralen
Staatsgewalt aufrecht. So geſchah es, daß die Juſtizſachen weſentlich die recht-
liche Gränze der Selbſtverwaltung bezeichneten, während die Adminiſtrativſachen
die ſtaatliche Verwaltung bedeuteten. Dieſe Gränze aber konnte, da ſie nicht
im Begriff von Geſetz und Verordnung wurzelte, auch nicht im Weſen des
Rechts, ſondern mußte nunmehr in dem Gegenſtande geſucht werden; und
ſo entſtand jene wunderliche Richtung, welche in dem abſolut nutzloſen Verſuche
nicht müde wurde, das Recht von Geſetz und Verordnung und damit die Gränze
beider in den Sachen zu beſtimmen, für welche das erſte oder die zweite gelten
ſollten. Die Unmöglichkeit, hier zu einem Reſultat zu gelangen, war abſolut,
denn jeder Gegenſtand iſt ja ſeiner Natur nach Gegenſtand des Geſetzes
und der Vollziehung
, und mithin der Juſtiz und der Adminiſtration
zugleich. Dennoch wäre man vielleicht weiter gekommen, wenn man in
Deutſchland nur eine klare Vorſtellung oder einen gültigen Begriff von Geſetz
und Verordnung gehabt hätte. Allein wir haben geſehen, daß dieſer fehlte
und noch fehlt. Unterdeſſen ward die Selbſtverwaltung für die Gemeinden
und Körperſchaften verfaſſungsmäßig feſtgeſtellt, und jetzt war jener Unterſchied
vollſtändig unentwirrbar, weil er jetzt den Unterſchied zwiſchen Gegenſtänden,
die nur Geſetzgebung, und ſolchen, die nur Vollziehung zulaſſen, bedeuten
müßte, was wahrlich keinen Sinn hat. Dazu kam ein faſt vollſtändiger Mangel
an einem klaren Begriff von Verwaltung und Verwaltungsrecht, der den letzten
Halt wegnahm, und ſo ſehen wir denn theoretiſch den Begriff des verfaſſungs-
mäßigen Verwaltungsrechts eigentlich gar nicht entſtehen, während er praktiſch,
namentlich in den einzelnen Momenten und Theilen deſſelben, ſich ſehr erkennbar
Bahn bricht. Und zwar iſt dieß, wie wir gleich hier bemerken wollen, in
durchgreifender Nachahmung des franzöſiſchen Begriffes des contentieux geſchehen,
indem die neue Organiſation auch in Deutſchland geſetzlich der Verwaltung
gewiſſe Funktionen der gerichtlichen Thätigkeit übertrug, und damit dem deutſchen
Unterſchied zwiſchen Juſtiz- und Adminiſtrativſachen einen franzöſiſchen Inhalt
gab, ohne ihm die franzöſiſche Klarheit zu geben. Wir müſſen darauf unten
zurückkommen. Im Allgemeinen iſt indeß kein Zweifel, daß wir in dieſer Be-
ziehung in einem Uebergangsſtadium uns befinden, und daß die Richtung der
Entwicklung dahin geht, das Princip des engliſchen Rechts mit den
durchſichtigen Formen des franzöſiſchen zu vereinigen
. Dazu
aber iſt allerdings nothwendig, daß man jede allgemeine Phraſe fallen läßt,
und auf das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts im Ganzen
wie im Einzelnen eingeht.


[86]

Wir wollen nun dabei verſuchen, auch bei den einzelnen Gebieten deſſelben
durch die Zurückführung der in den drei Landen geltenden Punkte auf jenen
allgemeinen Charakter dieſes Rechts ſo viel als möglich beizutragen.


Erſtes Gebiet.
Das perſönliche Vollziehungsrecht des Staatsoberhaupts.


Die Grundlage dieſes ſowie des folgenden Begriffes des Regie-
rungsrechts iſt die Auflöſung der allgemeinen und unklaren Vorſtellung
von der „Staatsgewalt“ in ihre einzelnen Funktionen. Ein Recht der-
ſelben kann nur dann gedacht werden, wenn man dieſe Funktionen als
ſelbſtändig innerhalb des allgemeinen Begriffes der Staatsgewalt
denkt; in dieſem Sinne iſt dann dieß Recht die verfaſſungsmäßige Gränze
der einen Funktion gegenüber der andern, und erſt dadurch entſteht ein
organiſcher Begriff des Staatsrechts.


Das Staatsoberhaupt vertritt die Perſönlichkeit des Staats an
ſich; er vertritt ſie in ihrem Verhalten zur Geſetzgebung; er vertritt ſie
in ihrem Verhalten zur Vollziehung. Die „einzelnen Rechte“ des
Staatsoberhaupts ſind daher die rechtlichen Beſtimmungen des Antheils,
den der individuelle Wille des Staatsoberhaupts an dem organiſchen
Leben des Staats hat. Damit erſcheint das Recht der vollziehenden
Staatsgewalt als das Rechtsverhältniß zwiſchen den zwei großen Fak-
toren der Vollziehung, dem Staatsoberhaupt als perſönlichem Haupt
der Vollziehung, und der Regierungsgewalt als organiſcher Geſtalt
derſelben.


Das Staatsoberhaupt iſt nämlich zuerſt das Haupt jeder That
des Staats; indem es der Träger der Perſönlichkeit des Staats iſt,
muß jede Aktion des Staats in ſeinem Namen geſchehen. Allein es
kann daſſelbe dieſe Funktion entweder als eine individuelle, als
einen Akt des perſönlichen Willens des Souveräns, vollziehen, oder
es kann die Vollziehung durch den Organismus der Regierungsge-
walt
, alſo als einen Regierungsakt, zur Ausführung bringen. Beide
Funktionen ſind weſentlich verſchieden. Aus dieſer Verſchiedenheit entſteht
die Frage, nach welchen Grundſätzen ſich die Gränze für das Gebiet
jeder perſönlich freien, von dem Einfluß der Regierungsgewalt unab-
hängigen vollziehenden Gewalt des Staatsoberhaupts bildet; dieſe Gränze
kann keine willkürliche ſein; ſie muß auf einem Recht beruhen, welches
einen Theil des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts bildet; und dieß
Recht der, im individuellen Willen des Staatsoberhaupts liegenden
vollziehenden Gewalt nennen wir das Vollziehungsrecht des
[87] Staatsoberhaupts
. Das Princip, welches dieß Recht erzeugt und
beſtimmt, liegt ſelbſt im Weſen des Staats.


Es iſt nämlich ein abſoluter Widerſpruch, daß das Haupt des
Staats, welches zugleich Haupt des ganzen, perſönlichen Staatswillens
iſt, mit dieſem in ihm lebendigen Staatswillen durch ſeine Handlungen,
die ja gleichfalls Handlungen der Perſönlichkeit des Staats ſind, in
Gegenſatz treten, d. i. Unrecht thun könne. Sowie aber mit dem
Auftreten des Begriffes von Geſetz und Verordnung ein Widerſpruch
zwiſchen beiden als möglich geſetzt iſt, ſo kann derſelbe auch für das
Staatsoberhaupt als Haupt der vollziehenden Gewalt erſcheinen. Der
Widerſpruch mit dem Weſen des Staatsoberhaupts, der wiederum in
dieſer Möglichkeit liegt, kann nur dadurch gelöst werden, daß die-
jenige Form gefunden und zur Geltung erhoben wird, durch welche alle
die Handlungen des Staatsoberhaupts, welche mit der Verfaſſung in
Widerſpruch treten können, die Natur ſeiner individuellen Handlung
verlieren, während diejenigen, welche das Staatsoberhaupt individuell
vollziehen kann, immer als unbedingt gültig anerkannt werden. Da-
durch entſteht mit jeder Verfaſſung der Unterſchied der freien Aktion
der vollziehenden Staatsgewalt und der Regierungsakte des
Staatsoberhaupts. Der freien Aktion deſſelben entſpricht das Recht,
daß der bloß perſönliche Wille des Regenten ihnen das Recht des Ge-
ſetzes beilegt; den Regierungsakten das Recht, daß ſie durch formelle
Zuſtimmung der Organe der Regierungsgewalt — meiſt durch Unter-
zeichnung der Miniſter — nicht mehr als perſönliche Thätigkeit des
Staatsoberhaupts, ſondern als Handlungen jener Organe gelten, welchen
das Staatsoberhaupt ſeine Zuſtimmung gibt, unter der Vorausſetzung,
daß der betreffende Wille der Regierung, die Verordnung, mit dem des
geſammten Staats, dem Geſetze, nicht im Widerſpruch ſtehe. Beide
Grundſätze ergeben den Satz, daß „das Staatsoberhaupt kein Unrecht
thun kann“ oder „unverantwortlich“ iſt; der erſte dadurch, daß hier der
perſönliche Wille des Fürſten wirklich Geſetz iſt, der zweite dadurch,
daß der Regierungsakt eben keinen perſönlichen Akt des Fürſten, ſondern
nur ſeine (bedingte) Zuſtimmung zu einem Akte der Regierung enthält.
Damit iſt jener im Weſen der verfaſſungsmäßigen Vollziehung liegende
Widerſpruch gelöst; ohne die Anerkennung dieſer Grundſätze muß ent-
weder das Fürſtenthum der Verfaſſung, oder die Verfaſſung dem Für-
ſtenthum gegenüber in Widerſprüche gerathen.


Steht dieß nun feſt, ſo muß die zweite Frage entſtehen, welche
Akte
demnach diejenigen ſind, die dem, von Geſetz und Regierung un-
abhängigen, individuellen Willen des Staatsoberhaupts nicht im Allge-
meinen, ſondern eben innerhalb des Gebietes der Vollziehung überlaſſen
[88] bleiben. Sind dieſe beſtimmt, ſo folgt von ſelbſt, daß alle übrigen
Akte der Vollziehung allerdings nur im Namen des Staatsoberhaupts
und mithin unter ſeiner Zuſtimmung, oder doch nur unter Zuziehung
der Organe der Regierung geſchehen können.


Die Beſtimmung jener Akte nun, welche auf dieſe Weiſe der un-
mittelbaren allerhöchſten Entſcheidung überlaſſen ſind, und auf welche
daher weder der Begriff des Geſetzes, noch der der Verordnung An-
wendung finden, ſondern welche man dann als allerhöchſte Entſchlie-
ßungen, Befehle, Erläſſe bezeichnen kann, iſt formell ſo lange von
großer Wichtigkeit, als noch ein nicht ausgetragener Gegenſatz zwiſchen
dem Begriff der fürſtlichen Souveränetät und dem Rechte der Volks-
vertretung exiſtirt. Denn da auf ſie die Verantwortlichkeit keine An-
wendung findet, während ſie mit der vollen Kraft des Geſetzes Gehor-
ſam fordern, ſo iſt hier allerdings ein Keim des innern Gegenſatzes
zwiſchen Fürſt und Volk vorhanden. Iſt dagegen das innere harmo-
niſche Verhältniß ein geſichertes, ſo wird auch jene formelle Beſtimmung
ziemlich überflüſſig, da eine Anwendung jener ſouveränen Vollziehungs-
gewalt im Gegenſatze zum geſetzlichen Zuſtande von ſelbſt verſchwindet.
Daher ſehen wir denn auch hier eine nicht unweſentliche Verſchiedenheit
der poſitiven Verfaſſungen, von denen einige jene Gränze beſtimmen,
einige ſie einfach übergehen. Das tiefere Verſtändniß des Staatslebens
hat dagegen die Ueberzeugung feſtgeſtellt, „daß es nicht bloß thöricht
und kurzſichtig, ſondern geradezu unrechtlich iſt, wenn einer geſetzlichen
Aufzählung der Rechte des Staatsoberhaupts insbeſondere ausdrücklich
die Beſtimmung beigefügt iſt, daß ihm weitere Befugniſſe nicht zuſtehen“
(Mohl, Encyclopädie der Staatswiſſenſchaft, S. 216), ſo daß „Nothwen-
diges aus formellen Gründen unterbleiben müßte.“ Allerdings folgt
aber daraus, daß jede formelle Aufzählung auch der, im vollziehen-
den Rechte des Staatsoberhaupts liegenden ſouveränen Akte im Grunde
falſch iſt. Die Unterſuchung des Inhalts dieſes Rechts ſoll daher auch
nicht das Ziel haben, eine ſolche verfaſſungsmäßige Beſchränkung zu
begründen, ſondern nur das Recht auf dieſelben auf das Weſen der
königlichen Gewalt zurückzuführen. Dieſe aber, als die höchſte perſönliche
Form des Staatslebens, fordert als Gebiet ihres von Volksvertretung
und Regierungsorganen vollkommen unabhängigen freien Willens fol-
gende Kategorien: den Oberbefehl über alles, was das Heerweſen be-
trifft, als das Organ der ſelbſtändigen Kraft des Staats; die Gna-
denverleihungen
und Begnadigungen, als freie Bethätigung
der Individualität des Staats; die Anſtellungen und Berufungen,
welche die perſönliche Seite des Organismus enthalten, und endlich die
Kategorie, welche niemals fehlen kann, und welche, indem man trotz-
[89] dem nicht im Stande iſt, ſie ſcharf zu begränzen, eben wieder die letzte
Herrſchaft des perſönlichen Lebens des Staats über alle einzelnen
Erſcheinungen und Ordnungen deſſelben bethätigt, die Kategorie des
Nothrechts des Staats. Das Nothrecht des Staats iſt das Recht der
Staatsgewalt, an die Stelle der Geſetze den Willen der Vollziehung
zu ſetzen: der Zuſtand, der daraus hervorgeht, wird gewöhnlich der
Belagerungszuſtand genannt. Der Belagerungszuſtand kann
nicht durch die geſetzgebende Gewalt beſchloſſen werden, denn das Ge-
ſetz kann die Geſetzmäßigkeit nicht aufheben. Der Belagerungszuſtand kann
auch nicht an Bedingungen geknüpft werden, denn es iſt unmöglich, dieſe zu
meſſen. Es iſt kaum zweckmäßig vorzuſchreiben, daß das Miniſterium
oder der Staatsrath gehört werden ſolle, ehe die vollziehende Staats-
gewalt im Namen der Noth dieß Recht der Geſetze ſuspendirt; denn
zuweilen iſt das nicht möglich — bei wirklicher Belagerung — gewöhn-
lich nutzlos, weil es ohnehin ſelbſtverſtändlich iſt. Es gibt nur Einen
Rechtsſatz, der für die Belagerungszuſtände gelten ſollte, das iſt der,
daß derſelbe die verfaſſungsmäßige Thätigkeit der geſetzgebenden Körper
nicht aufheben darf. Schützt eine ſolche Beſtimmung nicht gegen falſche
Anwendung deſſelben, ſo wird eine andere gewiß nichts ſchützen.


Die Schwierigkeit, in Geſetzgebung und Literatur die, dem aufgeſtellten
Begriffe der vollziehenden Rechte des Staatsoberhaupts entſprechenden Sätze zu
finden, liegt darin, daß man in der „Staatsgewalt“ höchſtens das Verhältniß
derſelben zu Geſetzgebung und Vollziehung im Allgemeinen, nicht aber innerhalb
der letzteren wieder die perſönliche Staatsgewalt von der Regierungsgewalt
geſchieden hat (ſiehe oben). Der Grund dieſer Erſcheinung in den Verfaſſungs-
urkunden lag darin, daß es dem Staatsrecht weſentlich darauf ankam, die
Einheit aller Gewalten als verfaſſungsmäßiges Princip feſtzuhalten, und
daher eine Scheidung jener beiden Funktionen in der Vollziehung und mit der-
ſelben ihr Recht nicht hervortreten ließ. Die faſt ganz allgemeine Formel der
deutſchen Verfaſſungen zeigt dieß deutlich genug: „Der König vereinigt in ſich
alle Rechte der Staatsgewalt und übt ſie in verfaſſungsmäßiger Weiſe aus“
(Bayern, Württemberg, Baden, Coburg, Naſſau, Sachſen). Auch die in einigen
Verfaſſungen gegebene Aufzeichnung der Rechte des Königs auf Abſchluß von
Verträgen, Oberbefehl über das Heer u. ſ. w. enthalten eigentlich nicht die
Aufſtellung jenes Begriffs der perſönlichen Vollziehungsgewalt, weil derſelbe
Ausdruck für den Erlaß aller zur Vollziehung nothwendigen Verordnungen
gebraucht wird, für welche doch die Verantwortlichkeit gewiß iſt. Eben ſo wenig
genügt die abſtrakte Anerkennung der Unverantwortlichkeit des Staatsoberhaupts;
denn es iſt ja eben die Frage, was daſſelbe zu thun berechtigt iſt, obgleich
er unverantwortlich ſeyn muß. Formell wäre daher nothwendig geweſen,
eine Bezeichnung für dieſe Akte der perſönlichen Souveränetät hinzuzuſetzen,
durch welche die Gültigkeit ohne Theilnahme der Regierung (Unterzeichnung und
[90] Verantwortlichkeit) ausgeſprochen würde. In den deutſchen Verfaſſungen iſt
formell eine ſolche Unterſcheidung nicht zu finden. Im Grunde bewegt ſich die
Verfaſſung Englands in ganz gleicher Unbeſtimmtheit: „Die Königliche
Autorität bildet die exekutive Gewalt im Staat; ſie iſt in eine Hand gelegt
zum Zweck der Einheit, Kraft und Schnelligkeit. Der König von England
iſt daher nicht bloß der oberſte, ſondern der einzige Magiſtrat des Volkes,
während alle andern durch Commiſſion in gebührender Unterordnung unter ihm
agiren.“ Blackstone Comm. I. 250. Die einzelnen Punkte ſtellt GneiſtI.
S. 274. 275. auf. Ob und welche Rechte darnach die perſönliche Souveränetät
gegenüber der Regierung habe, bleibt ungeſagt, weil ſie eben ſo gut als keine hat;
die wirkliche Thätigkeit auch des Souveräns fällt ſtets mit dem Council zu-
ſammen, und erſcheint als Verordnungsgewalt und mithin nicht als könig-
liche Gewalt. Die Verſuche der deutſchen Verfaſſungen ſeit 1848 bleiben gleich
unklar. Nur die franzöſiſche Conſtitution von 1852 tritt beſtimmt auf, Art. 3.
7. 8. 9—12.; aber die Uebertragung jener Rechte erſcheint hier formell nicht
als königliche ſouveräne, von Geſetz und Verwaltung unabhängige Gewalt; die
Unterzeichnung der Miniſter iſt im Gegentheil auch bei dieſen Akten beibehalten;
ſie verſteckt ſich vielmehr hinter dem Princip, daß jeder Miniſter nur für ſein
Reſſort verantwortlich iſt (ſiehe unten).


Daß unter dieſen Umſtänden von einer Klarheit in der deutſchen Staats-
rechtslehre keine Rede ſein kann, verſteht ſich von ſelbſt. Sie begnügt ſich mit
einer Aufzählung der Rechte — oder Hoheitsrechte — oder einzelnen Gewalten
— der Staatsgewalt oder Souveränetät. Vgl. Klüber Oeffentliches Recht
§. 238; Maurenbrecher §. 29. 30. 40. 42. Völlige Verwirrung bei Zacha-
riä
durch gänzliches Mißverſtändniß des Regierungsrechts. Zöpfl faßt
dagegen wieder „die perſönliche, mit voller Unverantwortlichkeit auszuübende
freie Selbſtthätigkeit des Souveräns in der oberſten (?) Leitung des Staats-
weſens,“ alſo den obigen Begriff als Regierung, die „beamtenmäßige
Thätigkeit unter perſönlicher Verantwortlichkeit“ als Verwaltung auf, was
bis auf die höchſt unglückliche Wahl der Ausdrücke ganz correct iſt; nur ge-
langt er nicht zu einem rechtlichen Inhalt ſeiner „Regierung,“ und verliert
ſpäter gänzlich ſeine richtigen Gedanken in der Verwirrung, die ihm die ſog.
Hoheitsrechte bringen. Unter den Darſtellungen der örtlichen Staatsrechte ver-
ſinkt bei Rönne (Preußiſches Staatsrecht I. §. 52) die einheitliche Auffaſſung
in lauter Details, welche in allen Akten der Vollziehung nur den Zuſammen-
hang mit dem Königthum, nicht ſein ſouveränes Recht erkennen; Mohl (Würt-
tembergiſches Verfaſſungsrecht I. §. 30. ff.), der wohl zuerſt (1829) die könig-
lichen Rechte genau analyſirte, ohne ſie von der Regierung zu trennen, bleibt
auch bei dem allgemeinen Satze ſtehen, daß „nur dem Könige die Vollziehung
der Geſetze gebühre,“ §. 35. Ebenſo Milhauſer (Sächſiſches Verfaſſungs-
recht §. 26). Selbſt Pötzl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht) hat trotz der Klarheit
ſeiner Darſtellung die Frage nicht erledigt; wie Moy (Bayeriſches Verfaſſungs-
recht I. II. §. 44. ff.) ſie trotz ſeiner Weitläuftigkeit nicht aufgenommen hat. —
Ueber das Nothrecht ſiehe Klüber (Oeffentliches Recht §. 551), der es als
dominium eminens der Expropriation zu Grunde legt und den Belagerungs-
[91] zuſtand noch gar nicht kennt; Zachariä, der in II. §. 153 noch auf dem-
ſelben Standpunkt ſteht, während er im Belagerungszuſtand nur einen polizei-
lichen Akt ſieht, I. S. 142. Mohl (Encyklopädie §. 29) und Bluntſchli
(Allgemeines Staatsrecht II. 108) faſſen das Nothrecht höher auf; ſehr gut ſagt
Mohl: „Man hat ſich nicht ſelten bemüht, wenigſtens den Eintritt des Falles
durch beſtimmte Formen feſtzuſtellen; es iſt aber einleuchtend, daß dieß eine
Folgewidrigkeit und entweder ein ſchädliches Hemmniß oder eine leere Warnung
iſt. Wenn die Noth die Beſchränkung zu durchbrechen gebietet, ſo muß es ge-
ſchehen, und iſt gerechtfertigt“ (S. 217). Das Recht des Belagerungszu-
ſtandes
in Preußen iſt durch das Geſetz vom 4. Juni 1851 beſtimmt, das an
die Stelle der octroyirten Verordnung vom 10. Mai 1849 getreten iſt. Siehe
Rönne Preußiſches Staatsrecht II. §. 52. S. 217. In Frankreich verſprach
der Art. 12 der Conſtitution von 1852 ein Geſetz über den Belagerungszuſtand;
es iſt aber keines erſchienen, und gilt daher noch immer das Geſetz vom
9. Auguſt 1849, nur mit dem Unterſchiede, daß nach dieſem Geſetz ſofort bei
Erklärung des Belagerungszuſtandes die Assemblée nationale ſich verſammeln
mußte, während nach Art. 12 der Kaiſer nur darüber an den Senat „berichtet.“


Zweites Gebiet.
Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht.


Während die vollziehende Staatsgewalt, der eigentlichen Regierungs-
gewalt gegenüber ſelbſtändig gedacht, demnach es mit den allgemeinſten
Formen der Staatsthätigkeit zu thun hat, erſcheint die Regierungs-
gewalt in den wirklichen Aufgaben der Verwaltung. Hier treten ſich
daher die beiden Elemente, der geſetzliche und der verwaltende Wille des
Staats, concret gegenüber; in der Regierung berühren ſie ſich im wirk-
lichen Leben; und hier wird daher auch das Recht eine beſtimmtere
und faßbare Geſtalt gewinnen. Denn während bei der ſelbſtändigen
Aktion der vollziehenden Staatsgewalt ein Gegenſatz zwiſchen Wille und
That des Staats ſchwer denkbar iſt und faſt nur gewaltthätig hervor-
gerufen werden kann, greifen bei der Regierungsthätigkeit die wirklichen
Lebensverhältniſſe ſo tief in die Geſetze hinein, ſie ſind ſo mächtig und
zugleich ſo wechſelnd, daß man nicht daran denken darf, die Harmonie
zwiſchen beiden Faktoren durch ein paar einfache Sätze herzuſtellen.
Und dieß um ſo weniger, als die Regierung ſelbſt nicht als einfache
Gewalt erſcheint, ſondern als ein Syſtem von Gewalten, deren jede
ihre eigene Funktion hat. Indem wir daher das Rechtsleben der ver-
faſſungsmäßigen Verwaltung als einen lebendigen Proceß bezeichnen,
der in beſtimmten rechtlich gültigen Formen jene Harmonie herſtellt,
wird dieſer Proceß zu einem Syſtem von Rechtsſätzen und zwar
[92] in der Weiſe, daß wieder die Verordnungsgewalt, die Organiſations-
gewalt und die Polizeigewalt jede ihr eigenes Recht beſitzen; d. i.
daß für jede dieſer Gewalten ein ihr eigenthümlicher, auf ihrer Natur
beruhender rechtlich gültiger Proceß exiſtirt, der für ſie jene Harmonie
mit der Geſetzgebung herſtellt. In der That wird erſt dadurch der
Begriff eines organiſchen Rechtslebens im Staate begründet und die
Vergleichung des betreffenden Rechtszuſtandes in den verſchiedenen
Staaten möglich. Hier wie immer iſt der Boden der Individualität
die Gleichartigkeit des Organismus.


Allerdings erſcheint nun die Regierung als die Einheit der ein-
zelnen Zweige der Verwaltung. — Sie hat als ſolche ihr eigenthümliches
Organ, das Geſammtminiſterium, ihre eigenthümliche Funktion,
und mit derſelben ihr eigenthümliches Recht, das eben der Ausdruck
jenes Weſens der Regierung gegenüber ſowohl der geſetzgebenden Gewalt
als den einzelnen Regierungsgewalten iſt. Dieß iſt das Recht der Ein-
bringung der Geſetze
, welches eben nur der Geſammtheit der höchſten
Regierungsorgane in Verbindung mit dem Staatsoberhaupt zuſteht. Es
kann dieſe Einbringung ausſchließlich der Regierungsgewalt einge-
räumt, und ſie kann mit dem geſetzgebenden Körper getheilt werden.
Immer aber hat ſie dieß Recht, und ſie hat es, weil ſie es iſt, welche
die Principien der wirklichen Verwaltung feſtzuſtellen hat. Das iſt
jedoch der Punkt, wo die Verwaltungslehre in die Lehre von der
Geſetzgebung übergeht, und wo unſer Gebiet aufhört. Wir haben da-
gegen die einzelnen Elemente des Regierungsrechts darzulegen.


Bei der vollſtändigen Unbeſtimmtheit des Begriffs der Regierung in der
bisherigen Literatur wird man wohl keinen Begriff des Regierungsrechts in
derſelben erwarten. Stellt doch Zachariä (Deutſches Staatsrecht II.) die ganze
Geſetzgebung als einen Theil des „Regierungsrechts“ hin. Hätte nur Zöpfl
ſeine richtige Auffaſſung, ſtatt ſie als Bemerkung in ſeine verkehrte hineinzu-
ſchieben (ſiehe oben), ſie ſeiner ſonſt ſo gründlichen Arbeit zum Grunde gelegt,
ſo wären wir vielleicht weiter; er nennt wahrhaftig die Initiative ein „Hoheits-
recht!“ II. 372. In §. 391 wird dann daſſelbe Hoheitsrecht ein „ſtändiſches
Recht,“ und doch kommt es nur in der hannöveriſchen Verfaſſung Art. 88 vor.
Das deutſche Recht mit ſeinen verſchiedenen Beſtimmungen iſt hier übrigens gut
zuſammengeſtellt, immer aber mit der vagen Vorſtellung, daß ein deutſches
Staatsrecht, das nicht iſt, ſeyn ſollte. Den Ausdruck ſelbſt erfand Napoleon,
Conſtitution von 1802, Art. 56. Murhard (die Initiative bei der Geſetz-
gebung, 1833) hat alle Raiſonnements und Beſtimmungen genau geſammelt,
ohne ſelbſt zu einem Reſultat zu kommen. In Frankreich, wo der Kaiſer doch
mancherlei aus Deutſchland gelernt hat, hat er ſich dieſe Initiative ausſchließlich
vorbehalten. Conſtitution 1832, Art. 8.


[93]
Erſte Abtheilung.
Das verfaſſungsmäßige Verordnungsrecht.

Das Recht der Verordnung iſt nun dasjenige Gebiet des
Regierungsrechts, welches das Verhältniß des ſelbſtändigen, durch das
Zuſammenwirken des Staatsoberhaupts und des Regierungsorganismus
geſetzten Willens der vollziehenden Gewalt zu dem organiſchen im Ge-
ſetze ausgedrückten Geſammtwillen des Staats beſtimmt. Nachdem wir
oben ſowohl das formale als das organiſche Verhältniß von Geſetz und
Verordnung, oder von Wille und That im Staate dargelegt, ihre
Selbſtändigkeit und zugleich ihr natürliches Ineinandergreifen bezeichnet
haben, wird es nun klar ſein, was den Inhalt dieſes Rechts der
Verordnung zu bilden hat. Da nämlich das Recht auf Erlaß von
Verordnungen mit dem Staatsbegriff ſelbſt gegeben iſt, eine äußerliche
Begränzung zwiſchen der Thätigkeit von Geſetzgebung und Vollziehung
aber dem Weſen beider widerſpricht, ſo kann das Recht der Verordnung
auch nur in denjenigen Formen und Rechtsſätzen enthalten ſein, welche
die beſtändige Zurückführung des Inhalts des Willens der Regie-
rung, oder der Verordnungen auf den Inhalt des Willens des geſamm-
ten Staats oder des Geſetzes enthalten. Dieſe dadurch hergeſtellte Har-
monie zwiſchen der Verordnung und dem Geſetze oder der Regierung
und der Geſetzgebung iſt die Verfaſſungsmäßigkeit der erſteren,
und das Recht der Verordnung iſt daher kein anderes als die Her-
ſtellung dieſer Verfaſſungsmäßigkeit, oder das verfaſſungsmäßige
Verordnungsrecht
.


Darin nun liegt zugleich das, was wir das Syſtem dieſes Ver-
ordnungsrechts nennen möchten. Jene Rechtsſätze ergeben ſich nämlich
demgemäß nicht aus dem Begriff des Geſetzes und der Verordnung an
ſich, ſondern ſie entſtehen vielmehr aus den Formen der Störung der
Harmonie zwiſchen beiden, oder aus den Kategorien, in welchen die
Verordnung mit dem Geſetze in Widerſpruch treten kann. Dieſe nun
ſind zweifach.


Die Regierung kann nämlich erſtens vermöge ihrer Verordnungs-
gewalt mit der Geſetzgebung als ſolcher in Widerſpruch treten, und
damit das Princip des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts angreifen,
nach welchem ſie ſelbſt die organiſche Verpflichtung hat, die Harmonie
der Gewalten aufrecht zu halten. Daraus entſteht das Recht der
Verantwortlichkeit der Regierung.


Sie kann aber auch zweitens mit ihrer Verordnung ein von dem
Geſetze bereits anerkanntes Recht eines Einzelnen angreifen, und
[94] damit ſtatt des Princips die einzelne Geltung des verfaſſungsmäßigen
Rechts aufheben. Daraus entſteht der zweite Theil des Verordnungs-
rechts, den wir als das Klag- und Beſchwerderecht bezeichnen.


In beiden Grundbegriffen iſt nun natürlich nicht bloß der Proceß
der Herſtellung der Harmonie, oder das Recht ſelbſt verſchieden, ſondern
auch die Organe welche es herſtellen, können nicht dieſelben ſein. Bei
der Verantwortlichkeit kann nur das Organ der Geſetzgebung das
Geſetz vertheidigen, bei dem Klag- und Beſchwerderecht nur das richter-
liche Organ. Es greift daher hier ſchon die Organiſation mit ihrem
Rechte hinein, wie es denn ja überhaupt unmöglich iſt, das lebendig
zuſammengehörige äußerlich vollſtändig zu trennen. Indeß wird das
wohl für das Verſtändniß keine Schwierigkeit bereiten. Entſcheidend iſt
eben nur, daß man ſich beide Funktionen als gleichzeitig und gleich-
berechtigt, mithin als gemeinſchaftlich denſelben Gedanken verwirk-
lichend vorſtelle.


Daß unſres Wiſſens die deutſche ſtaatsrechtliche Literatur die Verantwort-
lichkeit als etwas ganz allein Daſtehendes, und das geſammte Klag-, Petitions-
und Beſchwerderecht der vollziehenden Thätigkeit als gar nicht dazu gehörig be-
trachtet, wodurch dann die Klarheit im Syſteme unerreichbar iſt, beruht im
Allgemeinen auf der Abhängigkeit unſrer ſtaatsrechtlichen Begriffe von der ge-
ſchichtlichen Entwicklung des Staatslebens, dann aber auf dem Mangel eines einheit-
lichen deutſchen Staatsrechts, und endlich auf dem Mangel der klaren Erkenntniß
darüber, daß das ſogenannte deutſche Staatsrecht nichts iſt, als eine theo-
retiſche Vergleichung
örtlicher, oft weſentlich verſchiedener Staatsrechte, bei
denen man noch dazu die Vergleichung mit England und Frankreich aus-
geſchloſſen hat. Daß jene beiden Rechtsgebiete aber Ausflüſſe deſſelben euro-
päiſchen Princips ſind, wird ſich gewiß leicht darlegen laſſen.


I. Verhältniß zur Geſetzgebung.
Die Verantwortlichkeit.

Die Verordnungsgewalt, indem ſie durch ihre Verordnungen einer-
ſeits die Mängel und Unklarheiten der Geſetzgebung erfüllt, und anderer-
ſeits die Vollziehung des Geſetzes in der Wirklichkeit in ihren Formen
und Arten beſtimmt, iſt offenbar ſelbſt ein organiſcher Theil der Willens-
beſtimmung des Staats. Sie iſt zwar kein Geſetz, ſobald die Geſetz-
gebung ihren ſelbſtändigen Körper verfaſſungsmäßig empfangen hat,
allein ſie iſt darum nicht weniger ein Staatswille; ſelbſt die Form der-
ſelben bezeugt dieß, da ſie ihrer Anerkennung durch die Staatsgewalt
bedarf, ſei es direkt, ſei es im Wege der Uebertragung für die unter-
geordneten Fälle, um als Verordnung zu gelten. Sie bildet daher
[95] ebenſo gut wie die Geſetzgebung einen Theil des öffentlichen Rechts;
es iſt ganz unmöglich, das Syſtem oder den poſitiven Inhalt des letz-
tern nur auf den Inhalt der Geſetze zu begründen. Es iſt im Gegen-
theil unumgänglich, und auch von allen anerkannt, daß dasjenige öffent-
liche Recht, welches durch Verordnungen geſetzt iſt, unbedingt neben dem
geſetzlichen Recht als Verordnungsrecht beſtehe, mit der gleichen Gel-
tung, und faſt allenthalben ſogar mit größerem Umfang als das geſetz-
liche Recht.


Eben darum nun, weil beide Formen des öffentlichen Rechtes in
ihrer Geltung zuſammengehören und ein Ganzes bilden, müſſen ſie auch
in ihrem Inhalte in Harmonie ſein. Dieſe Harmonie hat aber eine
doppelte Geſtalt. Sie bezieht ſich zuerſt auf die geſammte Auf-
faſſung
der Aufgabe der Regierung gegenüber der Geſetzgebung, und
zweitens auf das Verhältniß der einzelnen Verordnung zum allge-
meinen verfaſſungsmäßigen Recht des Staats. Der Unterſchied iſt an
ſich ein weſentlicher, und erzeugt auch zwei Grundformen der Verant-
wortlichkeit. Wir nennen die erſte die politiſche, die zweite die
juriſtiſche Verantwortlichkeit.


1) Die politiſche Verantwortlichkeit.

Da die geſetzgebende Gewalt, von der vollziehenden geſchieden, in
ihrer Funktion die höchſte und allgemeinſte Beſtimmung des Willens der
Perſönlichkeit des Staats enthält, ſo ergibt ſich, daß es die organiſche
Aufgabe der vollziehenden Gewalt iſt, in ihren Willensbeſtimmungen,
den Verordnungen, ihrerſeits dieſe Harmonie mit dem Geſetze als ihre
erſte Pflicht im Auge zu haben. Sie iſt es, welche in der Ausübung
ihrer Gewalt im Wege der Verordnung das Geſetz nicht zu ändern,
ſondern zu erfüllen hat. Sie muß daher dafür ſorgen, daß dieſe Har-
monie durch keinen einzelnen Akt der Verordnungsgewalt gebrochen
werde. Oder, die vollziehende Gewalt der Regierung iſt für die Har-
monie zwiſchen Geſetz und Verordnung im Namen der höheren Idee
des Staatslebens verantwortlich.


Dieſes Verhältniß, welches auf dieſe Weiſe die Harmonie zwiſchen
Geſetzgebung und Vollziehung zu einem Lebensprincip des Staats macht,
und welches als die erſte Bedingung der Selbſtändigkeit von geſetzgeben-
der und vollziehender Gewalt erſcheint, nennen wir demnach die politiſche
Verantwortlichkeit der Regierungsgewalt, oder da die letztere
in den Miniſtern ihre perſönlichen Vertreter hat, die Miniſterver-
antwortlichkeit
.


In dieſem Sinne aufgefaßt, erſcheint die Verantwortlichkeit nicht
als etwas einfaches. Sie iſt vielmehr einerſeits von einer Reihe von
[96] öffentlich-rechtlichen Bedingungen getragen, und kommt andererſeits mit
beſtimmten öffentlich-rechtlichen Grundſätzen zur Erſcheinung, welche erſt
zuſammen genommen den Begriff der politiſchen Verantwortlichkeit mit
ſeinem Inhalt erfüllen.


Die politiſche Verantwortlichkeit der Verwaltung hat nämlich zu-
erſt
in der Verfaſſung drei Bedingungen, ohne welche dieſelbe gegen-
über der Geſetzgebung undenkbar iſt. Die erſte Bedingung iſt die,
daß die Regierung das unbeſchränkte Recht hat, die Entwürfe der Ge-
ſetze ſelbſt einzubringen. Die zweite beſteht darin, daß die Ver-
treter der Regierung in den Debatten der geſetzgebenden Gewalt beſtändig
das Recht haben, das Wort zu ergreifen. Die dritte Bedingung iſt, daß
wenn die Auffaſſung der vollziehenden Regierungsgewalt über die Be-
dürfniſſe der Verwaltung weſentlich verſchieden ſind, die Miniſter ihre
Stelle niederlegen. Das Niederlegen der Portefeuilles iſt die Erklärung,
daß nach der Auffaſſung der Regierung die wirklichen Lebensverhältniſſe
des Staats mit der Auffaſſung der geſetzgebenden Gewalt in ſolchem
Widerſpruche ſtehen, daß die Verordnungen der erſteren mit den Ge-
ſetzen der letzteren unbedingt in Gegenſatz gerathen müßten. Durch
dieſe Principien iſt die Harmonie zwiſchen Geſetzgebung und Regierung
als Grundlage der Verordnung bereits im Allgemeinen geſichert, und
die perſönliche Verantwortlichkeit der Regierung für dieſelbe erſt möglich
gemacht. Dadurch aber tritt die Forderung, daß ſie ſtets vorhanden
ſei, auch ohne beſtimmte Beziehung auf die einzelnen Regierungsakte
in den Vordergrund. Sie wendet ſich auf das ganz allgemeine geiſtige
Element der Verordnungsgewalt überhaupt; ſie will geradezu, daß nicht
etwa bloß die einzelne Verordnung der Regierung, ſondern daß die
ganze Auffaſſung der Staatsverhältniſſe als einer lebendigen Geſammt-
heit in dem Staatswillen, der ja doch auch zuletzt eine perſönliche,
individuelle Einheit iſt, eine gleichartige und harmoniſche ſei. Sie will
daher das allgemeine, ſchwer zu definirende und doch in ſeinem Weſen
ganz unzweifelhaft klare Gefühl im Staatsleben erzeugen, daß inner-
halb der höchſten perſönlichen Form des Staatswillens, von dem ja
Geſetzgebung und Verordnung nur zwei gleichberechtigte Seiten
ſind, kein Gegenſatz herrſche. In dieſem höchſten harmoniſchen Bedürf-
niß des verfaſſungsmäßigen Staats iſt das wahre Weſen der höhern
Verwaltung gegeben, und der unſchätzbare Werth, den ein ſolcher Zu-
ſtand hat, erzeugt daher Erſcheinungen, die formell mit den obigen
Principien in Widerſpruch zu ſtehen ſcheinen, und ſie dennoch im Weſen
beſtätigen; namentlich die Thatſache, daß in einzelnen Fragen die Ge-
ſetzgebung der Regierung nachgibt, obgleich ſie anderer Anſicht iſt, weil
ihr die allgemeine Harmonie zwiſchen beiden Elementen höher ſteht als
[97] eine einzelne Anſicht; das iſt ſtets der Fall bei den ſogenannten Kabinets-
fragen; oder aber, daß die Regierung bleibt, obgleich ihre Anträge, ſei
es in Form der Entwürfe oder der bereits erlaſſenen Verordnungen von
der Geſetzgebung verworfen werden, weil es ſich um einzelne Fälle und
nicht um die geſammte Auffaſſung derſelben handelt. So iſt das, was
wir die Verantwortlichkeit nennen, allerdings ein beſtändig, aber nur
im ganzen geiſtigen Leben des Staats wirkſamer Proceß; der ver-
faſſungsmäßige Staat erzeugt jene Harmonie durch ſeine eigene Kraft
in ſich ſelber, und die wahre Bedeutung der Verantwortlichkeit liegt
demgemäß nicht mehr darin, verantwortlich zu ſein für die einzelnen
Akte der Verordnungsgewalt, ſondern vielmehr darin, daß der Miniſter
überhaupt regiert; denn die Thatſache ſeiner Regierung iſt eben
ihrem Weſen nach die Thatſache der Identität in den weſentlichen Auf-
faſſungen der geſetzgebenden und vollziehenden Gewalt, und die Auf-
gabe des verfaſſungsmäßigen organiſchen Staatslebens iſt es, zu ver-
hindern, daß dieſe Thatſachen nicht im Widerſpruche ſtehen. Die
Mittel, welche die geſetzgebende Gewalt ihrerſeits hat, dieſen Wider-
ſpruch zu löſen, wenn er eintritt, ſind zweifach.


Das erſte iſt die Aufſtellung der Majorität gegen die Auffaſſung
der Regierung bei jeder Theilnahme der letzteren an der Funktion der
Geſetzgebung. Die antiminiſterielle Majorität gibt in dieſem Falle kein
Urtheil über die einzelnen Akte der Regierung; dieſelben können viel-
mehr an ſich vollkommen gut ſein, und daher von einer folgenden Re-
gierung ohne Bedenken wieder eingebracht werden; jene Majorität tritt
im Gegentheil nur auf als allgemeine Erklärung, daß die Harmonie
zwiſchen den beiden Gewalten geſtört, und daß damit eine Aenderung
in der beiderſeitigen Auffaſſung nothwendig ſei.


Das zweite, ernſtere Mittel iſt die Steuerverweigerung. Es
bedarf in unſerer Zeit wohl kaum einer weitern Darlegung, daß eine
Steuerverweigerung als Verweigerung der Steuer an ſich ein vollkom-
menes Unding iſt. Die Steuern ſind abſolute Bedingungen des Staats-
lebens, ſie an ſich verweigern, hieße den ebenſo abſoluten Widerſpruch
aufſtellen, daß derſelbe Staat ſelbſt nicht mehr exiſtiren ſolle, in welchem
und durch welchen eben die Geſetzgebung, welche die Steuern verweigert,
ihr Recht empfängt, überhaupt einen Beſchluß zu faſſen, alſo auch den
der Steuerverweigerung. Die Steuerverweigerung an ſich wäre daher
in der That die Aufhebung des Mandats die Steuer zu verweigern —
ein unlösbarer Widerſpruch. Die verfaſſungsmäßige Steuerverweigerung
kann daher nie die Verweigerung der Einnahmen der Steuern ſein,
ſondern nur als Verweigerung der Ausgaben des Staats erſcheinen.
Denn die Ausgaben des Staats enthalten die materiellen Mittel eben
Stein, die Verwaltungslehre. I. 7
[98] für die Vollziehung der Geſetze. Harmonieren nun Verwaltung und
Geſetzgebung nicht, ſo iſt es ganz naturgemäß, daß die Geſetzgebung
der erſteren, um ihre einzelnen Thätigkeiten unmöglich zu machen, die
Mittel für dieſelben verweigert, und dadurch jeden Akt, der dieſe Mittel
dennoch gebraucht, zu einem direkt ungeſetzlichen macht. Es ergibt ſich
daraus, daß der Akt der Geſetzgebung, welcher die Erhebung der Steuern
verweigerte, eine allgemeine Auflöſung des organiſchen Staatsverbandes
wäre; es iſt nicht möglich, dieß anders zu denken. Die Folge davon iſt
daher von jeher die geweſen, daß, da der Staat eine an und für ſich
nothwendige, abſolute Form des höchſten individuellen Lebens iſt, die
durch ein einzelnes ihrer Organe nicht aufgelöst werden kann, dieſe
Steuerverweigerung als Verweigerung der Erhebung der Steuern ein-
fach zur Selbſthülfe der Staatsgewalt geführt hat und ewig führen
muß, was dann am Ende den innern Krieg zur Folge hat. Jeder
innere Krieg aber erzeugt unbedingt die Deſpotie der ſiegenden Ele-
mente. Es gibt daher keine größere Gefahr der wahren Freiheit, als
das Heraufbeſchwören der Staatsſelbſthülfe durch ein ſolches Verweigern
der Steuererhebung. Die Verweigerung der Ausgaben erzeugt dagegen
die individuelle Verantwortlichkeit, welche mit der Dispoſition über frem-
des Eigenthum verbunden iſt. Es folgt daraus ferner, daß eine ganz
allgemeine Verweigerung der Ausgaben ganz denſelben Widerſpruch ent-
hält, wie eine Verweigerung der Einnahmen. Sie iſt gleichfalls un-
möglich
, und eine ſolche Unmöglichkeit vernichtet ebenſo ſehr das ganze
Staatsleben. Jede wahre, dem organiſchen Weſen des verfaſſungs-
mäßigen Staates entſprechende Steuerverweigerung ſollte zu ihrem geſetz-
lichen Inhalte nur das Recht der Geſetzgebung haben, diejenige
Gruppe von beſtimmten Ausgaben zu entziehen
, welche nicht
dem Staate, ſondern dem beſtimmten Chef des einzelnen Zweiges der
Verwaltung die Verfügung oder die Mittel zur Vollziehung derjenigen
Regierungsthätigkeit bieten, die mit der Geſetzgebung in Disharmonie
ſteht. Nur auf dieſem Wege kann in einem verfaſſungsmäßigen Staat
das Unheil vermieden werden, das unbedingt entſteht, wenn man
das Weſen des Staats an ſich in den Kampf der beiden Gewalten
hineinzieht. Und in der That, das wenigſtens wird man uns glauben,
daß wenn die Verweigerung dieſer Ausgaben nichts hilft, die Ver-
weigerung der Ausgaben überhaupt, oder gar der Einnahmen ebenſo
wenig nützt, gewiß aber entweder Revolution oder den Untergang der
geſetzgebenden Organe zur Folge hat. — Ein ganz anderes Gebiet tritt
uns nun bei der zweiten Form der Verantwortlichkeit, der juriſtiſchen,
entgegen.


[99]
2) Die juriſtiſche Verantwortlichkeit der Regierung.

Bei der juriſtiſchen Verantwortlichkeit der Regierung denkt man ſich
nun in der Regel, wenn man ſie überhaupt von der politiſchen zu
ſcheiden verſteht — was keinesweges auch nur häufig der Fall iſt — die
Verpflichtung der Regierung und ihrer Organe, für ihre einzelnen
Verordnungen und ihre Folgen zu haften, ſo weit ſie mit den beſtehen-
den Geſetzen in Widerſpruch ſtehen.


Die Wichtigkeit dieſes Begriffes hat darin beſtanden, daß an ihm
der abſtrakte Begriff der politiſchen Verantwortlichkeit überhaupt erſt
einen faßbaren Inhalt zu bekommen ſchien. Man glaubte ohne den
erſteren an dem zweiten nichts Concretes zu beſitzen, und durch eine
Menge juriſtiſcher Cautelen und Beſtimmungen die organiſche Kraft
des Staatslebens, die in der politiſchen Verantwortlichkeit liegt, erſetzen
zu können. Die Unmöglichkeit, dieß Ziel zu erreichen, liegt nun freilich
auf der Hand, und es iſt wohl klar, daß die juriſtiſche Verantwortlich-
keit ſtets um ſo ängſtlicher formulirt wird, je weniger eben die poli-
tiſche zur lebendigen Geltung gelangt. Die Ausbildung der erſteren
gehört deßhalb ſtets den unentwickelten Stadien des Verfaſſungslebens
an, und daraus erklärt es ſich denn auch, daß man ſich eben darum
ſo wenig klar war über das, was auch nur dieſer juriſtiſchen Verant-
wortlichkeit der Miniſter angehören kann, was nicht. Offenbar liegen
hier nämlich zwei Verhältniſſe vor.


Zuerſt, und im weiteren Sinne genommen, umfaßt die juriſtiſche
Verantwortlichkeit der Regierung jede Verordnung und Vollziehung,
und mithin auch alle die Fälle, in welchen ein Einzelrecht durch die
letzteren verletzt wird. Offenbar nun kann dieſelbe dieſe weiteſte Gränze
nicht umfaſſen. Es wird daher nothwendig, die Miniſterverantwortlichkeit
auf ein Gebiet zu beſchränken, welches ſeinem Inhalt nach der höheren
Idee der Verantwortlichkeit entſpricht. Denn es iſt gar kein Grund
vorhanden, weßhalb, wenn ein Klage- oder Beſchwerderecht vorliegt,
die Regierung als Ganzes anders behandelt werden ſoll, wie der einzelne
Beamtete; im Gegentheil würde dabei, da der letztere im Auftrag der
Verordnung der erſteren handelt, entweder die perſönliche Haftung des
Beamteten verſchwinden, oder es würden zwei Arten der Haftung für
dieſelbe Thatſache eintreten, eine als Klagerecht für den Beamteten,
die andere als Verantwortlichkeit für die Regierung. Die juriſtiſche
Verantwortlichkeit muß daher auf ein ſpezielles Gebiet von Regierungs-
handlungen eingeſchränkt werden, wenn ſie einen Sinn haben ſoll.


Die juriſtiſche Verantwortlichkeit kann demgemäß nur für diejenigen
Akte oder Ueberlaſſungen der Regierung eintreten, welche ſich auf Rechte
[100] oder Ordnungen beziehen, durch welche das verfaſſungsmäßige Verhalten
der großen Organe und Funktionen des Staats ſelbſt begründet wird.
Dieſelbe iſt dagegen ausgeſchloſſen, ſo wie es ſich um das Verhält-
niß der Verordnungsgewalt zu dem einzelnen, durch Geſetze erworbene
Rechte handelt. Dieſe Fälle gehören ſtets unter das Klag- und Be-
ſchwerderecht.


Man kann nun auf dieſer Grundlage einzelne Fälle ver-
faſſungsmäßig aufſtellen, bei denen die juriſtiſche Verantwortlichkeit ein-
treten ſoll; man kann ſich auch begnügen, das Princip auszuſprechen;
immer wird das erſtere das letztere nicht erſchöpfen, das letztere die
erſteren erzeugen. Je unſicherer eine Verfaſſung ſich fühlt, deſto mehr
wird ſie das erſtere thun; je gewiſſer ſie ihrer ſelbſt iſt, deſto mehr
wird man ſich mit dem zweiten begnügen. Nothwendig iſt immer nur
Eins: daß nämlich einerſeits das Verfahren, andererſeits das richtende
Organ klar feſtgeſtellt ſei. Die Individualität des öffentlichen Rechts
der einzelnen Staaten aber beruht demgemäß auf Form und Inhalt
des erſten Punktes, und hier iſt die Verſchiedenheit ebenſo groß als
bezeichnend, obwohl das Weſen der Sache ſtets daſſelbe bleibt.


Daß die Regierungsgewalt an und für ſich eine verantwortliche ſei, iſt ſo
natürlich, daß ſowohl der faſt endloſe Streit über dieſe Verantwortlichkeit, als die
Verſchiedenheit der Geſetzgebung einen tieferen Grund im Weſen des Staats
haben müſſen, der uns dann zugleich am beſten jene Verſchiedenheiten erklären wird.


So wie ſich nämlich Geſetzgebung und Vollziehung ſelbſtändig neben ein-
ander hinſtellen, ſo muß das öffentliche Leben mit der Erkenntniß der freien
Selbſtändigkeit des letzteren das Bedürfniß anerkennen, die Harmonie zwiſchen
beiden auf eine objektiv ſichere Grundlage zurückzuführen, ſtatt auf die zufällige
Individualität der höchſten Organe der Verwaltung. So lange die Scheidung
noch in ihren erſten Stadien iſt, begleitet ſie naturgemäß das Gefühl einer
gewiſſen Entfernung beider, das ſich bis zur Sorge vor der poſitiven Gefähr-
dung der Geſetzgebung durch die Vollziehung ſteigert. Die Verantwortlichkeit
iſt dann die Form, in welcher dieß Gefühl ſeinen juriſtiſchen Ausdruck findet;
ſie muß deßhalb ſtets im Anfange darnach trachten, diejenigen Handlungen be-
ſtimmt zu bezeichnen, welche der Verantwortlichkeit unterliegen; ſie muß aber
eben darum die letzteren auch nur auf die Organe der Regierung als ſolche
(Miniſter oder höchſte Staatsbehörden) beziehen; ſie muß ihr endlich nur die-
jenigen Fälle unterwerfen, welche zur Verfaſſung in Beziehung ſtehen. Jedes
Hinausſchreiten über dieſe Punkte iſt ein Mißverſtändniß des Regierungsrechts,
ſowohl in Betreff der Subjekte, als der Objekte der Verantwortlichkeit. Man
kann im Allgemeinen nun das Recht der letzteren in folgender Weiſe charak-
teriſiren. In England iſt die juriſtiſche Verantwortlichkeit gegenwärtig nur
noch der Form nach vorhanden, weil die politiſche ihren Einfluß in ſo entſchei-
dender Weiſe über die Geſammtheit aller Akte der Regierung erſtreckt, daß ſie
eine juriſtiſche Verletzung der Verfaſſung unmöglich macht. Dieß iſt jedoch nur
[101] ſeiner Form nach die höchſte Vollendung der Ideen der Verantwortlichkeit. In
Wahrheit iſt ſie dagegen untergegangen in der Herrſchaft der, die formelle
Majorität beſitzenden Partei, und iſt dadurch zu einem Scheinleben geworden,
zu einer Formel, die für die höheren Ideen des Staats nur einen ſehr zweifel-
haften Werth hat. Denn da die Häupter der Vollziehung die Häupter ihrer
eigenen geſetzgebenden Partei ſind, ſo iſt damit der Fall eines Widerſpruchs
zwiſchen ihrer Regierungsthätigkeit und der Auffaſſung derſelben von Seiten
des Parlaments grundſätzlich beſeitigt. Es iſt damit im Gegentheil der Grundſatz
zum formellen Princip der Verantwortlichkeit erhoben, daß jeder Miniſter nur
für das verantwortlich iſt, was er ohnehin gar nicht thun kann — für einen
Akt, der gegen das Intereſſe ſeiner Partei und ſeiner ſelbſt geht. So lange
er im Intereſſe der Majorität handelt, kann dieſelbe Majorität ihn ja nicht
dafür zur Verantwortung ziehen; thut er es nicht, ſo würde ihn, da die
Majorität ja das Geſetz macht, dieſelbe unbedingt verantwortlich machen. Dar-
aus folgt, daß ſelbſt formell die Vollziehung ihre Selbſtändigkeit verloren
hat; ſie iſt in ihrem innerſten Weſen die Dienerin der herrſchenden Partei. Es
iſt vielleicht das größte Verdienſt von Gneiſt, uns dieſen Charakter des
engliſchen Verfaſſungslebens zuerſt klar dargelegt, und die traditionelle un-
bedingte
Verehrung vor dieſem Zuſtande erſchüttert zu haben. Denn in der
That kann hier nur dasjenige durch die Verwaltung im Namen der Ideen des
Staats geſchehen, was den Intereſſen der herrſchenden Partei entſpricht, wenn
jene nicht „verantwortlich“ werden — d. i. gegen ihr eigenes Intereſſe handeln
will. Das iſt ein Zuſtand, in welchem der Geiſt des Staates untergehen muß,
wenn er nicht in dem einzelnen Staatsorgan lebendig bleibt. Denn Parlament
und Miniſter können ihn nicht mehr lebendig erhalten. Uebrigens hat es
lange gedauert, bis England ſo weit gekommen iſt. Mohl, Miniſterverant-
wortlichkeit (1837), hat alle bekannten Fälle der Anklage gegen engliſche Miniſter
zuſammengeſtellt (S. 597—696). Man ſieht deutlich, wie dieſe Anklagen noch
im Anfange des 18. Jahrhunderts auf politiſcher und juriſtiſcher Verantwort-
lichkeit beruhen; die Anklagen des 18. Jahrhunderts dagegen ſind eigentlich
nur noch ſtrafrechtliches Verfahren ohne Beziehung auf die Verfaſſung, und
gehören daher ſchon nicht mehr dem Principe der Verantwortlichkeit an. Ihre
gegenwärtige Geſtalt empfängt die letztere erſt mit der franzöſiſchen Revolution.
Die Verfaſſung von 1791 beſtimmt ſie einfach und richtig (Chap. II. S. IV.):


Art. 5. Les Ministres sont responsables de tous les délits par eux
commis contre la sûreté nationale et la constitution; de tout attentat à
la propriété et la liberté individuelle; de toute dissipation des déniers
destinés aux dépenses de leur département.


Art. 6. En aucun cas, l’ordre du Roi, verbal ou par écrit, ne
peut soustraire un ministre à la responsabilité.


Es war natürlich, daß dieſe Sätze unter Napoleon verſchwanden; ſowie
aber das verfaſſungsmäßige Königthum wiederkehrt, kehrt auch die Verantwort
lichkeit zurück, und wenn auch die Charte von 1814, ſowie die von 1830 ſich
auf das einfache Princip derſelben beſchränken, ſo iſt es doch gewiß, daß Frank-
reich die Sache ſelbſt mit tiefem Verſtändniß auffaßte.


[102]

Hier ſehen wir dem Rechte der Verantwortlichkeit eine Anſchauung des
organiſchen Verhältniſſes von Geſetzgebung und Vollziehung zum Grunde liegen,
die den Deutſchen nur zu ſehr abgeht. Es iſt nicht umſonſt, daß Benjamin
Conſtants
Réflexions sur les Constitutions als die Grundlage der Lehre vom
verfaſſungsmäßigen Königthum angeſehen wird; kürzer, klarer und tiefer ſind
die Wahrheiten, auf denen daſſelbe beruht, nie ausgeſprochen, ſchlagender iſt
nie die organiſche Verſchiedenheit von Verfaſſung und Verwaltung, Geſetzgebung
und Vollziehung bezeichnet. Wie Wenige leſen jetzt dieſe Schrift, die ſo viele
Phraſen überflüſſig machen würde! Ihm verdankt man die Verſöhnung des Be-
griffes des Königthums mit der Verantwortlichkeit der Miniſter, indem er die
letztere als unabweisbare Bedingung der Unverantwortlichkeit der Krone dar-
ſtellte. „Ich habe ſchon früher,“ ſagt er, „die Bemerkung gemacht, daß die
Verantwortlichkeit die unauflöslichſte aller conſtitutionellen Fragen ſei, wenn
man die königliche Gewalt nicht ſorgfältig von der vollziehenden ſcheidet. — In
der Erbmonarchie aber führt die Verantwortlichkeit keine Unbequemlichkeit mit
ſich. Die Elemente der Ehrfurcht, mit welcher der Monarch umgeben iſt, ver-
hindern, daß man ihn mit ſeinen Miniſtern vergleicht, und die Dauer ſeiner
Würde verurſacht, daß die Anhänger derſelben ihre Anſtrengungen gegen das
Miniſterium wenden können, ohne gegen den Monarchen aufzutreten. — Indem
man aber die höchſte Gewalt unverletzlich macht, beſtimmt man die
Miniſter zu Richtern des Gehorſams, den ſie ihr ſchuldig ſind
.“
(Chap. III. 4.) Ihm iſt daher die wahre Aufgabe der Verantwortlichkeit, nicht
das Recht, einen Miniſter zu verfolgen, ſondern die, die vollziehenden Gewalten
zum Bewußtſein über die Gränzen zwiſchen Geſetz und Verordnung zu bringen.
Sie erſcheint ihm daher nicht als eine Criminalunterſuchung; ſie iſt ein organi-
ſches Element des Staatslebens; es iſt nicht ihre Aufgabe, ein Verbrechen zu
beſtrafen, oder durch die Strafe zu hindern; ſie ſoll vielmehr nur das lebendige
Bewußtſein der Harmonie der Gewalten erzeugen, und dem Königthum damit
ſeine wahre Stellung geben. Spezieller hat er ſeine Gedanken in ſeiner Schrift:
De la responsabilité des ministres, dargelegt (1814), die freilich Mohl nicht
caſuiſtiſch genug iſt (a. a. O. S. 89). Sein Irrthum beſteht nur darin, die
Verantwortlichkeit mit dem Klagrecht zu verſchmelzen. Dieß hat Ferrier (De
la resp. min. relat. à l’administration des Finances 1832,
überſ. v. Buddeus)
vermieden; ſeine Schrift iſt das Vorbild des Werkes von Mohl. Es iſt die
praktiſche Auffaſſung und Durchführung, mit Vergleichung der beſtehenden
Rechte. Das franzöſiſche Staatsrecht hat ſich auf dieſem Standpunkt bis zum
neuen Kaiſerthum erhalten. Das letztere hat die wahre Verantwortlichkeit auf-
gehoben, und eine Scheinverantwortlichkeit an ihre Stelle geſetzt. Jeder Miniſter
iſt nach der Conſtitution von 1852, Art. 12, nur noch für das verantwortlich,
was ſeinem ſpeziellen Reſſort gehört; d. h. er hat nur die Verantwort-
lichkeit des Beamteten, nicht die der vollziehenden Gewalt; oder es gibt nur
noch ein Klagrecht gegen den Miniſter, nicht aber eine juriſtiſche oder gar poli-
tiſche Verantwortlichkeit deſſelben; denn für alles, was über die ſpezielle Com-
petenz des einzelnen Miniſters hinausgeht, iſt nur die unverantwortliche Staats-
gewalt — der Kaiſer — verantwortlich. Laferrière (Cours de droit publ.
[103] admin. I. Chap. II.
) hat ſich dazu hergegeben, dieſe Unwahrheit theoretiſch zu
formuliren, und auf Grundlage der préambule der Conſtitution von 1852:
„La Constitution actuelle proclame que le Chef que vous avez élu est
responsable derant rous
— étant responsable, il faut que son action soit
libre et sans entraves“
d. h. ohne Verantwortlichkeit — die Behauptung
auszuſprechen, daß der Art. 5 der Conſtitution: „Le chef d’État est respon-
sable devant le peuple français, auquel il a toujours le droit de faire appel“

eine Verantwortlichkeit höherer Ordnung, als die unter dem Königthum ent-
halte. Eine Tyrannei iſt ein Uebel; aber eine Tyrannei, welche nicht den
Muth hat, aufrichtig zu ſein, iſt mehr als ein Unglück. Das Recht, welches
das Dekret vom 25. Januar 1852 dem Conseil d’État in ſeiner Assemblée
générale
gibt — autorisation des poursuites intentées contre les agens du
Gouvernement“
iſt offenbar nichts weniger als eine verfaſſungsmäßige Verant-
wortlichkeit, da der Conseil d’État ſelbſt nur ein Glied im Amtsorganismus
iſt. Laferrière a. a. O. T. II. S. 145 (ſiehe unten). — Was nun die
deutſche Auffaſſung vom Recht der Verantwortlichkeit betrifft, ſo müſſen wir
geſtehen, daß ſie durchweg von einem ſehr beſchränkten, in juriſtiſcher und cri-
minaliſtiſcher Caſuiſtik befangenen Standpunkt ausgeht, und ſich bisher nicht
darüber hat erheben können. Sie hat gleich anfangs die Verantwortlichkeit nur
negativ begriffen; charakteriſtiſch iſt es, daß ſie in ihr nichts ſucht, als eine
„Garantie der Verfaſſung.“ Die Vorſtellung von einer beſtändigen, zum Theil
bis ins Kleinliche gehenden Feindſeligkeit zwiſchen Vollziehung und Geſetzgebung
beherrſcht ſie von Anfang an bis zu unſrer Gegenwart. Man hat das Gefühl,
als haben die Verfaſſungen und die einzelnen, zum Theil ſehr ausführlichen
Geſetze über die Verantwortlichkeit die Aufgabe, das Recht der Volksvertretung,
wie das eines Clienten gegenüber einem wachſamen und thätigen Gegner und
ſeine einzelnen Schritte ſicher zu ſtellen. Die Verantwortlichkeit wird ein Stück
des Strafrechts, nicht ein Theil des Staatsrechts; man fühlt ſich im Gebiete
der Rechtswiſſenſchaft und nicht in dem des ſtaatlichen Lebens, wenn man Ge-
ſetzgebung und Literatur der Verantwortlichkeit durchgeht; es iſt, als wäre es
die Hauptſache, nur ja keinen einzelnen Fall unerwogen zu laſſen, und dem
Gegner — der vollziehenden Gewalt — gleich anfangs die Ueberzeugung bei-
zubringen, daß er ſich wohl hüten und jeden Schritt als tüchtiger Advokat vor-
her überlegen müſſe, ehe er zu einer Handlung ſchreitet. Die Verfaſſungen der
erſten Periode haben ſich allerdings im Allgemeinen auf dem Standpunkt der
Conſtitution von 1791 gehalten; ſie machen die Miniſter nur verantwortlich
„wegen (vorſätzlicher) Verletzung der Verfaſſung.“ Bayern, Baden, Württem-
berg, Sachſen, Kurheſſen u. ſ. w. Allein damit war eben der caſuiſtiſchen
Jurisprudenz Thür und Thor geöffnet. Denn wie wir ſchon bemerkt, gab
und gibt es keinen gültigen deutſchen Begriff von Geſetz und Verordnung,
und daher war und iſt es auch ganz unmöglich, ein deutſches Recht der
Verantwortlichkeit aufzuſtellen; es gab und gibt nur ein örtliches Verantwort-
lichkeitsrecht. Die Unfähigkeit, zu einem einheitlichen Staatsleben zu gelangen,
und durch die geiſtige Gewalt des Volksbewußtſeins den Mißbrauch der voll-
ziehenden Gewalt zu hindern, ließ dieſe örtlichen Staatenbildungen ſich um ſo
[104] hartnäckiger an die Theorie von den einzelnen Fällen anklammern, in denen
man eine Anklage aufſtellen kann, und darin die Sicherheit der Freiheit ſuchen.
Der Drang, dieſe Fälle ſo viel als möglich zu vermindern, erzeugte aber natur-
gemäß den Gegendruck der vollziehenden Gewalten; die Regierungen reagirten
gegen ein Recht, das in ſeiner letzten Conſequenz die Vollziehung zur bloßen
Dienerin der Geſetzgebung gemacht hätte, und das Princip der Verantwort-
lichkeit, das dazu beſtimmt war, das Vertrauen durch die Beſtrafung des
Mißbrauchs zu befeſtigen, ward zu einer ſyſtematiſchen Entwicklung des Miß-
trauens gegen das Regieren an und für ſich, die unglückliche Entfremdung
zwiſchen Volksvertretung und Regierung förmlich und geſetzlich organiſirend,
das Selbſtvertrauen der thätigen Elemente des Staatslebens mit der beſtän-
digen Drohung ſtrafrechtlicher Anklage lähmend — ein unerfreulicher Zuſtand!
Am weiteſten ging das deutſche Bewußtſein da, wo es einmal ganz ſein eigener
Herr war, in dem Entwurf des Geſetzes über die Verantwortlichkeit der Reichs-
miniſter vom 18. Auguſt 1848 — außer der „allgemeinen Verantwortlichkeit
für jede Handlung und Unterlaſſung, welche die Sicherheit und Wohlfahrt des
deutſchen Bundesſtaates beeinträchtigt“ — noch zehn Anklagegebiete! Und
das in einem Augenblick, wo das Schickſal Deutſchlands in der friſchen, ſelbſt-
bewußten That ſeiner leitenden Organe lag! Da darf man ſich dann freilich
kaum wundern, wenn die Regierungen der großen Staaten ſich ſträubten, durch
ſolche Auffaſſungen ſich zu bloßen Beamten machen zu laſſen, die noch dazu
bei größeren Verpflichtungen zu geringerer Selbſtthätigkeit verurtheilt werden
ſollten. Auf dieſer Baſis konnte freilich weder ein Reichsminiſterium, noch
ein anderes beſtehen. Das war auch der Grund, weßhalb Preußen den Art. 61
ſeiner Verfaſſung von 1850 noch immer nicht ausgeführt hat, Rönne (Preu-
ßiſches Staatsrecht I. §. 188. S. 630), und vielleicht auch der Grund, weßhalb
ſeit Mohl (Verantwortlichkeit der Miniſter, 1837) dem auch kein anderes, als
das juriſtiſche Verſtändniß der Sache geworden iſt, die ganze deutſche Literatur
über dieſes Gebiet ſchweigt, während die ſogenannten deutſchen Staatsrechte,
namentlich Zöpfl (II. §. 402 ff.) mit der ganzen lebendigen Frage in die
geiſt- und principloſe Methode paragraphenweiſer Sammlung des Materials
zurückgefallen ſind. — Eben darum hoffen wir, daß dieſe ganze Kindheitsepoche
in der Auffaſſung der Verantwortlichkeit überwunden ſein wird. Eine Ver-
faſſung bedarf nicht mehr, als des einfachen Satzes der Conſtitutionen von
1818—1820, daß der Verletzung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts
das Anklagerecht gegenüberſteht, daß das Unterhaus die Anklage zu erheben
und das Oberhaus zu richten hat, während jede Verletzung einzelner Rechte dem
Klagrecht zugewieſen werden muß. Nimmt man der Regierung in unſerer
Gegenwart das Recht, ſelbſtthätig aufzutreten, und ſoll ihr die Formel des
Verantwortlichkeitsgeſetzes zum höheren, ſtaatlichen Gewiſſen werden, ſo wird
niemals ein kräftiges und geſundes Leben des Staats entſtehen können. Wenn
der Zweifel Princip iſt, wird der Widerſpruch Regel. Liegt die Verantwort-
lichkeit nicht in der lebendigen Kraft der Verfaſſung, aus den Artikeln ihres
Geſetzes wird ſie ſchwerlich lebendig werden.


[105]
II. Verhältniß zum ſtaatsbürgerlichen Recht.
Das Klag- und Beſchwerderecht.

Während nun die Verantwortlichkeit uns die Geſammtheit der-
jenigen Regeln und Grundſätze bezeichnet, durch welche die Harmonie
zwiſchen dem Geiſte der Geſetzgebung und Verwaltung, oder zwiſchen
dem geſetzgebenden und dem vollziehenden Körper und ihrer gegenſeitigen
Organe hingeſtellt wird, tritt ein zweites Verhältniß da ein, wo es ſich
um das Verhältniß der vollziehenden Gewalt und ihrer Verordnung
zu einem beſtehenden Rechte eines einzelnen Staatsbürgers
handelt.


Offenbar kann die Harmonie zwiſchen Geſetz und Verordnung hier
nicht in dem allgemeinen Gebiete der principiellen Uebereinſtimmung
gefunden, und die Herſtellung derſelben auch nicht aus den Grundſätzen
oder den Regeln der Verantwortlichkeit erzielt werden. Die Rechtsord-
nung, welcher hier die Verwaltung gegenüber tritt, iſt die der indivi-
duellen Lebensſphäre, und das Objekt der Verordnung iſt daher nicht
mehr der Staat im Ganzen, ſondern das Individuum. Das Recht des
Individuums iſt der Schutz gegenüber jeder Gewalt, die nicht im
Namen des Geſetzes kommt. Das Geſetz ſchützt daher das Individuum
vor der Verordnung, wenn dieſe das geſetzliche Recht des letzteren an-
greift. Die Sicherung dieſes Rechts iſt daher eine der weſentlichen Be-
dingungen des Staatslebens. Die Möglichkeit ſeiner Verletzung erzeugt
daher neben der Verantwortlichkeit und ganz gleichgültig gegen ſie einen
zweiten Proceß, deſſen Grundlagen und Formen ſelbſtändig und eigen-
thümlich ſind.


Die erſte Bedingung, daß derſelbe überhaupt eintreten kann, muß
die Thatſache einer wirklichen Bedrohung oder Verletzung des Einzelrechts
ſein. Dieſe wird durch den Gehorſam des Staatsbürgers erzielt.
Der Gehorſam iſt daher das erſte Rechtsgebiet des Verordnungsrechts
gegenüber dem Einzelnen.


Die zweite Bedingung iſt die, daß der Widerſpruch zwiſchen Ver-
ordnung und Geſetz durch dasjenige Organ wirklich conſtatirt ſei, das
über das Geſetz und ſeine Anwendung zu entſcheiden hat, das Gericht.
So entſteht das Klagrecht gegen Verordnungen.


Die dritte Frage iſt dabei die, ob die betreffende Verordnung, im
Falle ſie mit keinem Geſetz in Widerſpruch tritt, nicht vielleicht mit dem
Willen der Regierung im Widerſpruche ſtehe. Aus der Behauptung,
daß dieß der Fall ſei, entſteht die Beſchwerde und das Beſchwerde-
recht
.


[106]

Dieſes nun kann allerdings zunächſt von dem Einzelnen ausgeübt
werden. Es kann aber auch von einer, unter den Verordnungen ge-
meinſam und gleichmäßig leidenden Gemeinſchaft ausgeübt werden, und
wird dann zur Petition, oder zur öffentlichen Beſchwerde.


Alle dieſe verſchiedenen Formen haben es nun miteinander gemein,
daß ſie niemals das Verhältniß der Regierung zur Geſetzgebung, ſon-
dern immer nur zu den durch die Geſetze begründeten Einzelnrechten
zum Gegenſtande haben, und die Aufgabe erfüllen, die Harmonie zwi-
ſchen den Verordnungen und dem geſetzlichen Einzelrechte herzuſtellen.
Erſt mit ihnen iſt das Rechtsſyſtem vollſtändig, welches das verfaſſungs-
mäßige Verwaltungsrecht in allen denkbaren Thätigkeiten der Voll-
ziehung verwirklicht.


Es iſt nun dabei zu bemerken, daß die Frage, welche Organe
dieſen Proceß vollziehen, im poſitiven Rechte verſchieden beantwortet
ſind. Die Betrachtung derſelben gehört offenbar erſt dem folgenden
Hauptabſchnitt, dem Organiſationsrecht. Wir werden ſie dort verfolgen.
Hier kommt es zunächſt darauf an, die Grundbegriffe der obigen Ver-
hältniſſe feſtzuſtellen.


1) Das Recht des verfaſſungsmäßigen Gehorſams.

Das Recht des bürgerlichen Gehorſams entſteht da, wo die Re-
gierungsgewalt mit ihrem, in der Verordnung (im weiteſten Sinne)
erſcheinenden Willen der ſelbſtändigen Perſönlichkeit der Einzelnen ent-
gegentritt.


Da das Weſen des Staatsbürgerthums den Gehorſam des Staats-
bürgers vor dem Geſetze fordert, ſo kann von einem Rechte des Ge-
horſams dem Geſetze gegenüber keine Rede ſein, ſondern nur von einer
Pflicht deſſelben. Es folgt daraus, daß in allen denjenigen Zuſtänden
des öffentlichen Rechts, in welchem es noch keinen Unterſchied zwiſchen
Geſetz und Verordnung gibt, ſondern die geſetzgebende Gewalt noch
vollkommen identiſch iſt mit der vollziehenden, indem beide ungeſchieden
in dem perſönlichen Willen des Staatsoberhaupts liegen, die Pflicht
zum Gehorſam gegen jede Aeußerung dieſes Willens eben ſo unbedingt
iſt, wie gegen das förmliche Geſetz. Hier gibt es daher noch kein Recht
des Gehorſams.


Es bedarf keiner eingehenden Bemerkung, daß allerdings dieſe
Pflicht zum Gehorſam in dieſen Staatsordnungen als eine im höchſten
Grade ernſte erſcheint, da Freiheit und Wohlſein hier einer Gewalt
untergeordnet ſind, welche ganz außerhalb der Selbſtbeſtimmung des
Einzelnen ſteht. Allein alle die Gründe, welche eine Aenderung eines
ſolchen Zuſtandes wünſchenswerth machen, und welche ſogar, um dieſe
[107] Aenderung herbeizuführen, gewaltige Revolutionen erzeugt haben, können
doch das Recht nicht ändern. Iſt einmal keine ſelbſtändige geſetzgebende
Gewalt da, ſo gibt es auch gar kein Recht, irgend eine Willensäußerung
der Staatsgewalt nicht als Geſetz, und mithin als bindend zu be-
trachten, ſondern nur eine Pflicht des Gehorſams. In dieſem gewiß
unumſtößlichen Satze liegt am letzten Orte eben der hohe Werth einer
eigentlichen Verfaſſung, wie in ihm die einzige Gewähr der Ordnung
liegt. Alles das ſind jedoch Punkte, welche der Verfaſſungslehre an-
gehören.


Begriff und Gültigkeit des Rechts des Gehorſams treten dagegen
erſt dann ein, wenn Geſetz und Verordnung geſchieden ſind. Der In-
halt dieſes Rechts beruht alsdann auf folgenden an ſich einfachen
Sätzen. Geſetz und Verordnung ſind ihrem gemeinſamen Weſen nach
Beſtimmungen des Staatswillens an ſich. Beide haben daher Gehor-
ſam von dem Einzelnen zu fordern. Allein es iſt möglich, daß der
Wille der vollziehenden Gewalt — der Regierung — mit dem der ge-
ſetzgebenden in Widerſpruch ſtehe, oder daß die Verordnung einem Ge-
ſetze widerſpreche. Hier iſt es, wo die Frage entſteht, ob der Einzelne
dem Geſetze oder der Verordnung zu gehorchen habe, und welche Rechts-
verhältniſſe aus ſeinem Gehorſam gegen die Verordnung gegenüber dem
Gehorſam gegen das Geſetz entſtehen? Und die Geſammtheit dieſer Ver-
hältniſſe bezeichnen wir als den bürgerlichen Gehorſam und ſein
Recht
.


Die Grundſätze nun, welche ſich für dieſen bürgerlichen Gehorſam
ergeben — der demnach ſtets das Daſein einer ſelbſtändigen geſetzgeben-
den Gewalt und mithin den Unterſchied von Verordnung und Geſetz zu
ſeiner Vorausſetzung hat — ſind nach dem Weſen des Staats die
folgenden.


a) Da die Pflicht zum Gehorſam gegen die Verordnung, oder zum
bürgerlichen Gehorſam unzweifelhaft iſt, wenn Verordnung und Geſetz
übereinſtimmen, ſo kann der Zweifel nur dann entſtehen, wenn dieſe
Uebereinſtimmung beſtritten wird. Die Verweigerung des bürgerlichen
Gehorſams gegen eine Verordnung erſcheint demnach als die Erklärung
des einzelnen Individuums, daß es jene Uebereinſtimmung läugne, und
im Namen des Gehorſams gegen das Geſetz den Gehorſam gegen die
Verordnung verweigert. Dagegen enthält eben die Aufforderung zum
Gehorſam gegen die Verordnung die Erklärung von Seiten der voll-
ziehenden Gewalt, daß ein ſolcher Widerſpruch ihres Willens mit dem
Geſetze nicht vorhanden ſei. Indem daher das Individuum den Ge-
horſam verweigert, ſetzt es ſich als Richter über den Inhalt und Um-
fang des Geſetzes und ſtellt ſich ſelbſt über die Regierungsgewalt; es
[108] ſubſtituirt ſeinen individuellen Willen dem des Staats. Das iſt ein
unlösbarer Widerſpruch mit dem organiſchen Weſen des Staatsbürger-
thums und damit die Auflöſung des Staats ſelber. Es folgt daraus,
daß der Einzelne, indem er nicht zu entſcheiden hat über das Verhältniß
von Geſetz und Verordnung, auch nicht entſcheiden kann über Inhalt
und Gränze der Verpflichtung, welche ihm die Verordnung auferlegt.
Der bürgerliche Gehorſam gegen die Verordnungen der vollziehenden
Gewalt muß daher als abſolute Grundlage des Staatslebens
erkannt werden.


b) Es folgt daraus, daß der Widerſtand gegen die Anordnun-
gen der vollziehenden Gewalt an und für ſich ein Vergehen iſt, und
daß das Unrecht deſſelben dadurch nicht aufgehoben wird, daß die er-
folgende Entſcheidung des zuſtändigen Organes die Verordnung ſpäter
als nicht gültig erklärt. Denn nicht darin liegt das Unrecht, daß der
Einzelne einer nicht zu Recht beſtehenden Verordnung, ſondern darin,
daß er als Einzelner dem Organe der Vollziehung Widerſtand leiſtet,
und damit ſeinen ſubjektiven Willen an die Stelle des organiſchen
Staatswillens ſetzt, d. i. den organiſchen Staat ſelbſt aufhebt.


c) Es folgt daraus, daß bei wirklichem Widerſtande gegen den
Willen der Regierung, und zwar ohne alle Rückſicht auf Objekt oder
Geſetz, das Recht der Unverletzlichkeit des Einzelnen aufgehoben wird, und
die Berechtigung der vollziehenden Gewalt ſo weit geht, als ihre Macht
reicht. Das iſt der Punkt, auf welchem das Recht des Gehorſams in
das des Zwanges (ſ. unten) übergeht.


d) Dagegen hat allerdings der Gehorchende nicht die Pflicht, da
Gehorſam zu leiſten, wo eine Thätigkeit von ihm gefordert wird, welcher
die Rechte Dritter verletzt. Und zwar darum nicht, weil die Auf-
hebung dieſer Rechte im Namen eines Staatswillens eben die Funktion
der vollziehenden Gewalt iſt, und die Anordnung der letztern, daß der
Einzelne vollziehen ſolle, was ſie ſelbſt zu vollziehen berufen iſt, ſie mit
ſich ſelber in Widerſpruch bringt. In dieſem Falle iſt der Widerſtand
allerdings berechtigt; jedoch darf er nur ſo weit gehen, als er ſich auf
die beſtimmte, die Rechte Dritter verletzende Handlung bezieht.


Wenn daher der Einzelne in dieſem Falle den Gehorſam leiſtet,
ſo iſt es kein Zweifel, daß er perſönlich haftet, eventuell der Strafe
für ſeine Handlung unterworfen werden muß. Läßt er ſich zwingen,
ſo treten für ihn die Grundſätze der vis major und des metus qui in
virum constantem cadit,
ein; die bloße Erklärung, daß er die Ver-
antwortlichkeit von ſich abweiſe, macht ihn von der Haftung nicht frei.
Und zwar darum nicht, weil das Organ der vollziehenden Gewalt bei
einem ſolchen, auf die Verletzung der Rechte Dritter gerichteten Befehle
[109] eben als Individuum und nicht mehr als Staatsorgan erſcheint, und daher
für jede Verletzung nicht als Obrigkeit, ſondern nur ſtrafrechtlich als Ur-
heber betrachtet werden kann. Die genaue Gränze der perſönlichen
Verantwortlichkeit muß dann nach den allgemeinen Grundſätzen des
Strafrechts in jedem einzelnen Falle beſtimmt werden.


e) Jener Pflicht des bürgerlichen Gehorſams ſteht nun das Recht
deſſelben gegenüber. Dieſes Recht beſteht darin, daß der Einzelne auf
Grund ſeiner Auffaſſung das Recht der vollziehenden Gewalt zu der
betreffenden Verordnung läugnet, und dieſelbe daher als eine für
ſich unverbindliche erklärt. Hat er das gethan, ſo folgt, daß die Unter-
laſſung derjenigen von der Verordnung vorgeſchriebenen Handlungen, die
er für ungerecht erklärt hat, nicht als ein Unrecht angeſehen werden
kann; denn dieſe Unterlaſſung erſcheint von ſeiner Seite ja als eine
Befolgung eines von ihm als vorhanden angenommenen, wenn auch viel-
leicht nicht vorhandenen geſetzlichen Rechts, das eben das Recht der
Verordnung aufhebt. Den Ungehorſam gegen eine ſolche Verordnung
im Namen eines Geſetzes nennt man den paſſiven Widerſtand.
Das Recht zum paſſiven Widerſtand iſt daher ein verfaſſungsmäßiges,
aber nur unter der Vorausſetzung der Berufung auf ein Geſetz.
Dieſem Rechte entſpricht eben ſo unzweifelhaft das Recht der Exekution
und zwar auf Koſten des Ungehorſamen. Sowie dagegen dieſer paſſive
Widerſtand zur wirklichen Widerſetzlichkeit durch die That übergeht, ſo
entſteht ein ſogenannter aktiver Widerſtand, und es kann vernünftiger
Weiſe gar kein Zweifel ſein, daß der aktive Widerſtand auch gegen eine
ſcheinbar unzweifelhaft geſetzwidrige Verordnung an und für ſich ſtraf-
bar iſt, weil das Urtheil des Widerſetzlichen über dieſe Geſetzwidrigkeit
immer als ein ſubjektives erſcheint, und die Zulaſſung einer Geltung der
ſubjektiven Mei [...]ung den geſammten öffentlichen Rechtszuſtand zuletzt
auf lauter individuelle Anſichten zurückführen und damit auflöſen würde.
Das Weſen der verfaſſungsmäßigen Verwaltung fordert daher, daß der
Einzelne ſeinen Streit mit der Verordnungsgewalt durch den vom
Staate ſelbſt zur Löſung deſſelben organiſirten Proceß, das Klag- oder
Beſchwerderecht, löſe, wenn er nicht mit der Exekution gegen ſeinen
paſſiven Widerſtand zufrieden iſt; eine Widerſetzlichkeit von Seiten des
Einzelnen gegen die Verordnung oder der aktive Ungehorſam iſt eben
derſelbe Widerſpruch, der in den Privatverhältniſſen in der Selbſthülfe
liegt. Und dieſer Grundſatz, den Zweifel an der Verpflichtung zum Ge-
horſam durch den verfaſſungsmäßigen Proceß der Klage oder Beſchwerde
zur Entſcheidung zu bringen, ſtatt durch aktiven Widerſtand, iſt der eigent-
liche verfaſſungsmäßige Gehorſam.


Soll aber derſelbe nicht ein leeres Wort bleiben, oder zu tiefern
[110] Spaltungen im Staatsleben führen, ſo muß nun auch Klag- und
Beſchwerderecht deſto klarer feſtſtehen.


Der ganze, Jahrhunderte alte Streit über die Gränzen des Gehorſams
und die gegenwärtige Geſtalt in der deutſchen Literatur kann nur geklärt werden,
indem man den Gehorſam gegen die Geſetze von dem Gehorſam gegen die
Verordnungen ſcheidet, was man nicht gethan hat, weil eben beide Begriffe
eben ſo wenig klar waren, wie der der Verwaltung ſelbſt.


Im Allgemeinen iſt die Frage bis zum Anfange des gegenwärtigen Jahr-
hunderts in der That die Frage, wie weit der Gehorſam gegen das Ge-
ſetz
reiche; in unſerem Jahrhundert handelt es ſich nicht mehr um die anerkannte
Pflicht zum Gehorſam gegen das Geſetz, der unbeſtritten iſt, ſondern um den
Gehorſam gegen die Verordnung. Der Grund dieſes Entwicklungsganges
liegt eben in der Geſchichte der geſetzgebenden und verordnenden Gewalt ſelbſt.


So wie mit dem 17. Jahrhundert die Theilnahme des Volkes an der
Geſetzgebung verſchwindet, und der perſönliche Wille des Königs und ſeiner
Vertreter, der Obrigkeit, die geſetzgebende Gewalt wird, ſo entſteht nun die
Frage, ob die Staatsangehörigen dem Willen dieſer perſönlichen Gewalt den-
ſelben
Gehorſam zu leiſten haben, den ſie dem Geſammtwillen des Volkes
allerdings ſchuldig ſind. Das erſte Gebiet, auf welchem dieſer Zweifel entſteht,
iſt das kirchliche. Zweifelhaft ſchon erſchien es, ob ein durch den allgemeinen
Willen gebildetes kirchliches Gebot Gehorſam fordern könne; zweifelhafter ward
die Sache, als die Landesherren mit ihrem ſubjektiven Willen das Recht der
Geſetze vertraten, und für ihre Gebote den Gehorſam auch in religiöſen Fragen
forderten. In dieſem Widerſpruche trennte ſich zuerſt der Gehorſam in zwei
Gebiete; der kirchliche weigerte den weltlichen Gehorſam, und machte aus dem
ſtaatlichen Ungehorſam eine ſittliche Pflicht. Es war die erſte Gränze, welche
der formell gültige Staatswille fand. Die Frage nach dem Recht des Gehor-
ſams und des Widerſtandes entſteht faſt gleichzeitig in Deutſchland und Frank-
reich, und führt endlich in England zur Revolution gegen das Königthum. —
Das zweite Gebiet entſteht durch das Verhältniß der königlichen Gewalt zu den
Rechten der Landſtände. Das Recht des Königthums, daß ſein Wille als Geſetz
gelten ſolle, ward eigentlich an ſich nicht beſtritten; dagegen hielt man das
Recht der Stände als ein ſelbſtändiges dem königlichen gegenüber aufrecht, und
ſo entſtand die Frage nach der Gränze des königlichen Rechts gegenüber dem
„verbrieften“ Landesrecht. Die Frage war im Grunde unlösbar, da beide
Rechte Geſetzeskraft hatten, beide dieſelben Formeln für ihre Rechte gebrauchten
(Hoheitsrecht), beide ſich daher wie zwei gleichberechtigte Körper bekämpften,
während der Begriff des Geſetzes, nirgends erſcheinend, auch die Löſung nicht
geben konnte. Es iſt das die Zeit des 18. Jahrhunderts, die ſowohl in Eng-
land, namentlich unter Walpole, als in Frankreich in dem Kampf des Königs
mit den Parlamenten, als endlich in Deutſchland in dem Streit zwiſchen Landes-
fürſten und Landſtänden von dieſem Gegenſatz allenthalben durchdrungen iſt.
Es war offenbar unmöglich, hier zu einem feſten Begriffe von Gehorſam zu
gelangen; das lag nicht an dieſem Begriffe, ſondern an dem gleichen Recht der
[111] verſchiedenen Elemente, welche den Gehorſam forderten. Der Hauptname in
dieſem Streite Deutſchlands iſt und bleibt J. J. Moſer; das Hauptgebiet des-
ſelben war Süddeutſchland. Am beſten charakteriſirt den ganzen damaligen
Zuſtand der Frage der Satz Moſer’s (Landesfreiheit der Unterthanen, S. 71):
„Beſonders aber kann ein Herr von den Unterthanen keinen Gehorſam ver-
langen, wenn er ihnen etwas anbefiehlt, welches offenbar und unſtreitig den
Landesfreiheiten und Verträgen zuwider iſt.“ Von einem Gegenſatz
zwiſchen Geſetz und Verordnung war dabei natürlich keine Rede; es lag viel-
mehr der Gegenſatz noch innerhalb der geſetzgebenden Gewalt. Ehe dieſer
nicht beſeitigt und nicht mit dem Begriffe des Geſetzes die Pflicht des Ge-
horſams feſtgeſtellt war, konnte kein Abſchluß in jenem Streite gefunden
werden.


Dieſen nun brachte der Gedanke Rouſſeau’s, daß die Quelle des Ge-
ſetzes nicht wie bei Hobbes und Pufendorf der Wille eines vertragsmäßig ein-
geſetzten Geſetzgebers, ſondern eben dieſer ſtets lebendige Wille Aller ſelbſt, die
volonté générale ſei. Die Beſtimmung dieſer volonté générale iſt das Geſetz;
es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Geſammtwille auch der Wille des Einzelnen
ſei, oder daß er Gehorſam fordern müſſe. So war der Grundſatz im Princip
feſtgeſtellt, daß nur dieſes eigentliche Geſetz unbedingten Gehorſam zu fordern
habe, und daß, was nicht weniger wichtig war, jede andere Willensäußerung
des Staats (alſo die Verordnung, wie wir ſagen würden, gegenüber dem Geſetz)
nur durch ihre Uebereinſtimmung mit dem Geſetz zu gleichem Gehorſam berech-
tigt ſei. Dieſe Auffaſſung geht nun in das geſammte öffentliche Recht Frank-
reichs während der Revolution über, und hier gilt er noch gegenwärtig. Es
gibt keinen berechtigten Ungehorſam gegen die „loi“; mit ihm verſchwindet auch
die ganze Lehre vom Gehorſam aus Frankreich, ſo wie die Geſetzgebung durch
die Volksvertretung vollzogen wird. Zugleich beſteht neben der Geſetzgebung
die Verwaltung. Sie funktionirt auf Grundlage ihres eigenen Willens; dieſer
Wille iſt zwar kein Geſetz, wohl aber bildet er Recht, ſo weit das Geſetz ihm
nicht entgegentritt; hier entſteht daher die Möglichkeit eines ungeſetzlichen Willens
der Staatsgewalt; mit ihr die Frage nach der Verpflichtung zum Gehorſam,
nicht gegen das Geſetz, ſondern gegen die Verordnung im Namen des Ge-
ſetzes. Und ſo gewinnt jetzt der Gehorſam eine neue Geſtalt. Er iſt unbedingt
gegenüber dem Geſetz, und damit iſt der alte Streit des 18. Jahrhunderts
entſchieden; er iſt aber bedingt gegen die Verordnung, und erzeugt daher
jetzt neben der Pflicht auch ein Recht durch den Unterſchied derſelben vom Geſetz.
Dieß Recht erſcheint nun als das Recht auf den Widerſpruch des Einzelnen,
den er gegen die Verordnung haben kann, d. i. die Erklärung, daß er ver-
möge eines beſtimmten Geſetzes ſich nicht zum Gehorſam gegen eine beſtimmte
Verordnung verpflichtet glaubt. Dieſe Erklärung heißt Oppoſition; „former
opposition“
iſt der formelle Widerſpruch gegen die Verordnung; ſie iſt zum
Theil Klage, zum Theil Beſchwerderecht; jedenfalls aber erzeugt ſie die entweder
gerichtlichen oder adminiſtrativen Verhandlungen über die Gültigkeit der Verord-
nung und damit über die Pflicht des Gehorſams; die Formen der Oppoſition
werden dann endgültig in dem Arrêté vom 23. Nov. 1832 ſpeziell für die
[112]opposition aux contraintes administratives geregelt, und das Recht des
Gehorſams
iſt verfaſſungsmäßig feſtgeſtellt.


In Deutſchland dagegen kam man zu keinem Abſchluß, und iſt noch jetzt
nicht dazu gekommen. Man nahm allerdings aus dem Weſen des Geſetzes das
Princip auf, daß man dem Geſetze gehorchen müſſe, aber man hatte eben
keinen feſten Begriff vom Geſetz, und die entſcheidende Frage blieb daher offen,
wie weit der landesherrliche Wille in der Form des Befehles das Recht habe,
Geſetzeskraft und damit unbedingten Gehorſam zu fordern. Das poſitive Recht
beantwortete dieſe Frage nicht, wie wir geſehen haben, und bei aller Hoch-
achtung vor dem eigentlichen Geſetze mußte man ſich doch geſtehen, daß eben
jene landesherrlichen Verordnungen an ſich einen ganz gleichen Anſpruch auf
Gehorſam zu fordern berechtigt ſeien. In dieſem Zweifel, wem man zu ge-
horchen habe, erſtand daher der alte Zweifel über die Natur und die Gränze
des Gehorſams überhaupt; und die deutſche ſtaatsrechtliche Theorie zeigt uns
das wunderliche Bild, daß die ganze Geſchichte des Begriffs des Gehorſams
von Hobbes, Rouſſeau, Moſer und allen Theoretikern der vergangenen Jahr-
hunderte herbeigezogen wird, um den gegenwärtigen Begriff zu erklären. Nur
ſo begreift es ſich, daß noch gegen den „abſtrakt unbedingten Gehorſam“
(obedientia mera) gekämpft, und als die Gränze deſſelben „der Zweck und
Begriff des Staats“ geſetzt wird — über welche bis dahin noch niemand einig
geweſen — vergeſſend, daß es keinen Gehorſam für Ueberzeugungen, ſondern
nur immer für Thätigkeiten gibt, und daß die gezwungene Befolgung des
Staatswillens eben kein Gehorſam mehr iſt. Dieſem Grundſatz, daß es da
keine Pflicht zum Gehorſam gibt, wo im Grunde eben der Gehorſam aufhört
— denn das iſt ein Befolgen der unſittlichen Befehle — ſtellt das deutſche
Staatsrecht noch immer den zweiten Begriff des „verfaſſungsmäßigen Gehorſams“
(obedientia civilis) zur Seite, obgleich jeder Staat ſeine Verfaſſung hat, und
daher der Begriff eines deutſchen ſtaatsrechtlichen Gehorſams ein Unding iſt.
Es hat vielmehr jeder einzelne Staat ſein eigenes poſitives Recht des Gehor-
ſams, zum Theil in eigenen Geſetzen genau, und zum Theil recht verſchieden
beſtimmt. Vergleiche namentlich die treffliche Darſtellung des württembergiſchen
Gehorſams Mohl (Württembergiſches Staatsrecht I. 320 ff.); die des preußi-
ſchen bei RönneI. §. 103. Eben darum ſucht man auch vergeblich nach
demjenigen, was eigentlich unter dieſem „verfaſſungsmäßigen“ Gehorſam ver-
ſtanden wird. Denn mit dem Satz, daß es der Gehorſam gegen die Verfaſſung
ſein ſolle, iſt nichts erklärt, da die Verordnung ja auch der Verfaſſung ge-
hört; ein Gehorſam gegen das Geſetz beruht nicht erſt auf der Verfaſſung,
ſondern auf dem Begriff des Staats; ein Gehorſam gegen etwas, das kein
Geſetz iſt, hat keinen Sinn; ein nicht verfaſſungsmäßiges Geſetz gibt es nicht;
was heißt alſo jene traditionelle Unklarheit? Man kann ſich nur Eines dabei
denken: den Gehorſam in dem Falle, wo eine Verordnung mit dem Geſetze
in Widerſpruch tritt, und die Pflicht, in dieſem Falle das Geſetz und nicht
die Verordnung zu befolgen. Die Beurtheilung dieſer Pflicht kann man nun
aber nicht dem ſubjektiven Ermeſſen überlaſſen; und ſo bleibt in der That als
Inhalt des verfaſſungsmäßigen Gehorſams nichts als der paſſive Widerſtand,
[113] die Klage und die Beſchwerde. Einen andern concreten Inhalt kann man ſich
dabei nicht denken. Einig iſt die deutſche Literatur nur in zwei Punkten:
daß es eigentlich keine unvernünftigen Geſetze geben müſſe, damit jedes Geſetz
in ſeiner Vernünftigkeit die Quelle des Gehorſams finde, was ſehr richtig,
aber kein Staatsrecht iſt; und zweitens, daß der aktive Widerſtand an ſich
ſtrafbar ſei. Vgl. Maurenbrecher §. 56. Klüber §. 4 und 550. Zacha-
riä
I. 67. Namentlich ZöpflII. §. 982. Die ſehr fleißige Arbeit Mohls
(Literatur der Staatswiſſenſchaften I. 333) hat ſich viele nutzloſe Mühe gegeben,
die unklaren Vorſtellungen in der früheren deutſchen Literatur als klar hin-
zuſtellen.


2) Das adminiſtrative Klagrecht und der adminiſtrative
Proceß
.

Will man nun nach den obigen Vorausſetzungen über den wich-
tigen Begriff des adminiſtrativen Klagrechts ins Klare kommen, ſo
müſſen folgende Punkte feſtſtehen, die auch wohl an ſich kaum be-
zweifelt werden dürften.


Eine Klage in dem allgemein anerkannten Sinne, den wir natür-
lich feſthalten, kann nur da entſtehen, wo ein durch ein Geſetz aner-
kanntes Recht durch eine Handlung eines Dritten angegriffen wird. Wo
ein Geſetz ein ſolches geſetzlich beſtehendes Recht aufhebt, kann natürlich
von einer Klage keine Rede ſein; hier bleibt dem ſeiner Meinung nach Ver-
letzten nur übrig, etwa eine Aenderung des Geſetzes zu bewirken. Da
aber das Geſetz der höchſte Staatswille iſt, ſo kann auch kein anderer
als eben dieſer höchſte Staatswille das geſetzliche Recht ändern. Mit-
hin kann dieß auch nicht durch die Verordnung und durch die Regie-
rungsgewalt geſchehen. Es ergibt ſich, daß eine Klage in allen den
Fällen in ſtrenger Bedeutung des Wortes möglich iſt, wo durch eine
Verordnung ein vermöge des Geſetzes beſtehendes Recht eines Einzelnen
angegriffen wird. Allerdings wird dieſe Klage durch die Natur des
Beklagten in ihrer ganzen Geſtalt etwas verſchieden, und das auf eine
ſolche Klage entſtehende Verfahren niemals ganz mit dem der bürger-
lichen Klage identiſch ſein können. Wir nennen ſie daher auch am
beſten mit einem eigenen Namen; es iſt die adminiſtrative Klage, und
das Recht des Einzelnen ſie anzuſtellen iſt das adminiſtrative
Klagrecht
.


Dieß adminiſtrative Klagrecht tritt nun nicht in den Fällen ein,
wo der Staat als einzelne bürgerliche Perſönlichkeit mit einer andern
bürgerlichen Perſönlichkeit einen Rechtsakt abſchließt, oder wie wir ſagen,
wo er als Fiscus auftritt. Hier iſt vielmehr für ihn und ſeine Handlungen
das gewöhnliche bürgerliche Verfahren das gültige. Ein adminiſtratives
Klagrecht entſteht nur da, wo das Recht des Einzelnen gegenüber einer
Stein, die Verwaltungslehre. I. 8
[114]Verordnung, alſo einem Akte der Regierungsgewalt, zweifelhaft er-
ſcheint. Und darum hat das adminiſtrative Klagrecht auch eine weſentlich
andere Funktion, und muß von einem allgemeinen Standpunkt auf-
gefaßt werden.


Es iſt die Aufgabe aller Verwaltung gegenüber der Geſetzgebung,
die Verhältniſſe des wirklichen Lebens in der Vollziehung der Geſetze
anzuerkennen und zur Geltung zu bringen. Zu dieſem gehören auch die
geſetzlichen Rechte der Einzelnen. Dieſe ſind oft zwar ſehr klar, oft aber
auch nicht. Es iſt daher ſchwer, eine Colliſion zu vermeiden; aber es iſt
immer ein Unglück, wenn in einer ſolchen Colliſion das Recht des Einzel-
nen leidet. Denn in der That leidet dabei nicht etwa bloß das Wohl
und das Recht des Einzelnen, ſondern es iſt das in dieſen Recht leben-
dige Geſetz, das der Verordnung unterworfen und von ihr aufgehoben
wird. Die Regierung wird ſich daher in dieſem Falle ſelbſt als Ge-
ſetzgebung ſetzen, und das iſt das Weſen des tiefen Widerſpruchs, den
wir fühlen, wenn das Recht des Einzelnen der verordnenden Gewalt
preisgegeben wird, ſelbſt da wo Abſicht und ſelbſt Erfolg der Thätig-
keit der letztern die günſtigſten ſind. Denn in einem ſolchen Falle kehrt
eben der kaum überwundene Standpunkt der Identität von Geſetz und
Verordnung zurück, und die Wahrheit der Verfaſſung verliert ihren
feſten Boden, indem ſie in jedem concreten Streit zwiſchen beiden Po-
tenzen zur Niederlage des geſetzlichen Rechts gegenüber dem Verwal-
tungsrechte führt. In der Heiligkeit des Privatrechts auch gegenüber
der Verordnung iſt daher im Grunde die Herrſchaft des Geſetzes über das
Staatsleben, und damit das Princip der organiſchen Freiheit geſichert.


Dieſe Sicherung aber kann nun die Staatsgewalt ſich nicht durch
ein Geſetz geben, und zwar darum nicht, weil jeder Einzelne nicht ge-
zwungen werden kann, ſein durch eine Verordnung etwa verletztes ge-
ſetzliches Recht aufrecht zu halten. Es kann daher immer nur der
Einzelne ſelbſt die Verordnung angreifen, und ſie dadurch auf allen
den Punkten, in denen die verordnende und vollziehende Gewalt mit
dem geſetzlichen Einzelrecht in Gegenſatz kommt, nöthigen, dieß geſetz-
liche Recht als unantaſtbare Grundlage ihrer Thätigkeit anzuerkennen.
Das Mittel dazu iſt das adminiſtrative Klagrecht; und die Funktion
deſſelben können wir mithin ſo beſtimmen, daß es die Aufgabe hat, die
Harmonie der Verordnung mit dem im Rechte des Einzelnen
erſcheinenden Geſetze
herzuſtellen und zu ſichern.


Es folgt daraus, daß das adminiſtrative Klagrecht ein weſent-
liches
Recht im Organismus des Staats iſt. Es iſt die Grundlage
einer ganzen Seite des Lebens derſelben, und eins der großen Princi-
pien, auf welchen die Wohlfahrt und Freiheit der Staaten beruhen.
[115] Um ſo wichtiger iſt die möglichſt ſcharfe Beſtimmung ſeiner Elemente
und Bedingungen.


Zuerſt nun iſt es unzweifelhaft, daß ein ſolches adminiſtratives
Klagrecht die klare und anerkannte Scheidung von Geſetz und
Verordnung
zur Vorausſetzung hat. So lange nämlich beide noch
nichts anderes ſind als Willensformen derſelben öffentlichen Gewalt,
ſo iſt zwiſchen beiden kein rechtlicher Streit möglich, da am Ende ſtets
die neueſte Beſtimmung die ältere aufhebt. Es gibt daher kein admini-
ſtratives Klagrecht überhaupt, ſo lange der Grundſatz nicht feſtſteht, daß
ein Geſetz nur derjenige öffentliche Wille iſt, der unter Mitwirkung der
Volksvertretung zu Stande kommt. Oder, es gibt kein adminiſtratives
Klagrecht ohne Verfaſſung. Ja, es wäre ein ganz unlösbarer
Widerſpruch, wenn man daſſelbe ohne eine Verfaſſung für gewiſſe
Verordnungen der vollziehenden Gewalt einräumen wollte; denn da
dieſelben ebenſo gut Geſetze ſind wie alle andern Akte, ſo folgt, daß
man dabei dem Gerichte eine über ein Geſetz entſcheidende Gewalt bei-
legen würde. Wo dieß daher geſchieht, liegt gewöhnlich etwas anderes
zum Grunde, nämlich die Vorſtellung, daß nicht die Verordnung, ſon-
dern die Handlung der vollziehenden Behörde Gegenſtand der gericht-
lichen Verfolgung ſein ſolle. Indeß bleibt auch dieß ein Widerſpruch.
Denn entweder handelt die Behörde im Namen der Verordnung, und
dann kann conſequent kein Unrecht geſchehen; oder ſie thut es nicht,
und dann entſteht kein adminiſtratives Klagrecht, ſondern es tritt ein-
fach die perſönliche Haftung des Beamteten ein. Ohne verfaſſungs-
mäßige Scheidung von Geſetz und Verordnung kann daher jenes Klag-
recht — das Klagrecht der Verletzung des erſten durch die zweite —
überhaupt nicht entſtehen.


Zweitens folgt, daß auch da, wo Geſetz und Verordnung ver-
faſſungsmäßig geſchieden ſind, ein ſolches Klagrecht nur dann möglich
iſt, wo ein ausdrückliches Geſetz wirklich vorliegt. Es kann daſſelbe
nicht entſtehen, wo eine Verordnung Verhältniſſe regelt, über die kein
Geſetz exiſtirt, ſelbſt wenn nach der Verfaſſung ein Geſetz darüber exi-
ſtiren ſollte. Denn es iſt Sache der Geſetzgebung, die Lücke durch
förmliche Geſetze auszufüllen; ſo lange ſie es nicht gethan, hat die
Verordnung das Recht, an ihre Stelle zu treten. Es folgt daraus,
daß in den Fällen, in welchen das Geſetz für ſeine Ausführung gewiſſe
Beſchränkungen des Einzelrechts nothwendig fordern würde, wäh-
rend es ſelbſt noch nicht exiſtirt, die Verordnung das Recht hat, dieſe
Beſchränkungen mit dem Rechte des Geſetzes zur Geltung zu brin-
gen, da ſie ſelbſt ja das fehlende Recht des Geſetzes erſetzt; ſo z. B.
da, wo ein mangelndes Preßgeſetz oder ein mangelndes Expropriations-
[116] geſetz durch Preß- oder Expropriationsverordnungen vertreten werden.
Es iſt kein Zweifel, daß in einem ſolchen Falle die Verordnungen auch
die geſetzlich beſtehenden Einzelrechte zum Zwecke ihrer Vollziehung ge-
rade ſo gut beſchränken, wie das Geſetz ſelbſt. Eben darum heißen
ſie ja proviſoriſche Geſetze. Ohne dieſes Recht iſt aber die Voll-
ziehung im Staate nicht möglich. Iſt die Verordnung nicht angemeſſen,
ſo ſoll die eigentliche Geſetzgebung ſie aufheben; ſo lange ſie aber be-
ſteht, iſt ſie Geſetz, und gegen ein Geſetz und ſeine Conſequenzen gibt
es kein adminiſtratives Klagrecht. Daraus folgt noch immer nicht die
völlige Rechtloſigkeit der Einzelnen bei ſolchen proviſoriſchen Geſetzen.
Hier iſt der Punkt, wo das Beſchwerderecht an ſeine Stelle tritt,
von dem wir ſogleich handeln werden.


Zu dieſen beiden Vorausſetzungen kommt nun die dritte, daß näm-
lich entweder durch Gehorſam oder durch Vollziehung die Verletzung des
Einzelrechts vermöge der Verordnung wirklich erfolgt ſei. Der ſogenannte
paſſive Widerſtand iſt mit keinem adminiſtrativen Klagrechte verbunden.
Gegen die Verordnung als ſolche hilft nur die Verantwortlichkeit;
das adminiſtrative Klagrecht tritt erſt mit dem Momente ein, wo die
Vollziehung verwirklicht iſt. So lange die Verordnung nur als Ver-
ordnung beſteht, kann der Einzelne ſein bedrohtes Recht auch nur durch
die Beſchwerde ſchützen.


Wo nun dieſe Vorausſetzungen vorhanden ſind, da tritt das admini-
ſtrative Klagrecht ein. Daſſelbe erzeugt nun allerdings einen förmlichen
bürgerlichen Proceß. Allein die Natur des Objekts und Subjekts
bringen dennoch gewiſſe ſehr tiefgreifende Unterſchiede in dieſem, gegen die
Vollziehung eines Urtheils geführten Proceß hervor, und wir glauben
daher, daß das Recht der vollziehenden Gewalt uns nöthigen wird,
neben den bisher anerkannten Formen des Proceſſes eine neue aufzu-
ſtellen, die Form des adminiſtrativen Proceſſes. Wir wollen
verſuchen, die Punkte zu bezeichnen, in denen derſelbe ſich weſentlich
von dem bürgerlichen Proceß unterſcheidet.


1) Das Klagfundament iſt bei dem adminiſtrativen Proceß der
Satz, daß die beſtimmte Handlung des vollziehenden Organes als eine
Vollziehung einer Verordnung und nicht als eine Ueberſchreitung der-
ſelben anerkannt wird, in welchem letzteren Falle ja überhaupt kein
Streit zwiſchen Geſetz und Verordnung denkbar iſt, ſondern einfach die
perſönliche Haftung des Beamteten eintritt. Die Klage muß daher auf
dem Widerſpruche der durch die Thätigkeit des beklagten Organes voll-
zogenen Verordnung mit einem beſtimmt anzuführenden Geſetze be-
ruhen. Wo ein ſolcher Widerſpruch nicht als Grundlage der Klage
aufgeſtellt, und das betreffende Geſetz nicht angeführt wird, muß ſie
[117]angebrachtermaßen abgewieſen werden. Es iſt nicht richtig,
dem Gerichte zuzugeſtehen, daß es ſelbſt ſuche, ob die Verordnung viel-
leicht mit einem andern Geſetze in Widerſpruch ſtehe, und zwar iſt
dieſer Satz darum feſtzuhalten, weil das Geſetz, welches der Kläger
anführt, ſeinen Titel bildet und daher den Charakter des allgemeinen
Rechts verliert. Es iſt nie Sache des Gerichts, einen Titel für den
Kläger zu ſuchen; auf dieſem Punkte muß im Namen einer guten Voll-
ziehung dieß ſtrenge interpretirt werden.


2) Das Petitum der Klage kann nicht auf die Anerkennung oder
Nichtanerkennung der Gültigkeit einer Verordnung als ſolche gehen.
Die Verordnung erſcheint dem Gerichte als eine Thatſache, die es über-
haupt nur ſo weit zu unterſuchen hat, als ihre Vollziehung mit einem
Geſetze in Widerſpruch ſteht, und dieſer Widerſpruch nicht bloß in der
Abſicht liegt — was bei einer Verordnung ohne Vollziehung ja der
Fall iſt — ſondern zur wirklichen, das Recht des Einzelnen verfolgenden
Erſcheinung kommt. Der Widerſpruch der Verordnung mit dem Geſetze
iſt daher nie Gegenſtand oder Inhalt des Petitums, ſondern nur die
rechtliche Begründung deſſelben. Das Petitum muß vielmehr auf
die Handlung der Vollziehung ſelbſt, beziehungsweiſe ihre privatrecht-
lichen Folgen gehen, und kann eben darum auch nur die Nichtigkeit der
vollzogenen Handlung oder die Forderung auf einen Schadenerſatz
aus derſelben enthalten.


3) Daraus ergibt ſich weiter, daß der adminiſtrative Proceß der
Regel nach ein ſummariſcher ſein muß, da in den meiſten Fällen
das Objekt deſſelben nur einen ſehr geringen nachweisbaren Werth
haben wird, und die Natur der vollziehenden Thätigkeit keinen langen
Proceßgang zuläßt. Dieſer Grundſatz würde die Bedenken über das
Verhältniß jenes Proceſſes zur praktiſchen Verwaltung in hohem Grade
vermindern. Ein ordentlicher Proceß müßte einen nachgewieſenen wirth-
ſchaftlichen
Werth von Bedeutung betreffen.


4) Die Natur der Verwaltung fordert aber ferner, daß die Litis-
pendenz
im adminiſtrativen Proceß eine andere Natur habe, als im
bürgerlichen. Sie kann dort nicht das Recht haben, den Einzelnen
von der Leiſtung — dem Gehorſam gegen die verordnende Gewalt —
zu befreien, bis das Gericht ſeine Entſcheidung geſprochen hat. Im
Gegentheil muß die Leiſtung ohne Rückſicht auf die Anhängigkeit der
Klage in Gemäßheit der Verordnung vollzogen werden. Eben ſo wenig
kann eine Leiſtung, die verordnungsmäßig eine dauernde iſt, vermöge
der Anhängigkeit unterbrochen werden, denn ſie muß ſtets als ein
Ganzes betrachtet werden. Der Einzelne kann ſich nur ſeine Anſprüche
wahren, aber ſie durch Widerſtand vertheidigen kann er nicht, ſo wenig
[118] wie das Gericht ihm gegen eine Gewalt helfen kann, über deren Ge-
ſetzmäßigkeit eben noch der Streit anhängig iſt.


Es folgt daraus, daß eine Beſitzſtörungsklage gegen die Vollziehung
einer Verordnung überhaupt nicht zuläſſig iſt, wogegen anderſeits der
Gehorſam, der der Klage vorausgeht, gleichfalls nicht als Aufgeben
des Beſitzes im bürgerlichen Rechte zu betrachten iſt, und die proceſſualen
Folgen deſſelben nicht eintreten können. Es muß vielmehr der Beſitz
als ſolcher durch den Gehorſam als gar nicht unterbrochen angeſehen
werden, da die Grundlage des Beſitzesrechts in ſeiner Unterſcheidung
vom Eigenthum auf dem Weſen der Einzelperſönlichkeit beruht, die
adminiſtrative Klage dagegen nicht mit dem Einzelnen, ſondern mit
der Regierungsgewalt zu thun hat.


Wo dagegen in Folge der Ausübung einer Verordnung das Eigen-
thum übergeht, während die Verordnung einem Geſetze poſitiv wider-
ſpricht, da muß das Petitum nicht auf Herſtellung des Eigenthums,
ſondern auf Schadenerſatz gehen, während das erworbene Eigenthum
dem dritten Erwerber bleibt. Und zwar darum, weil geſetzlich das
Eigenthum dem Dritten durch die Beobachtung der Formen der Ueber-
tragung gewonnen wird, wenn auch der Grund der Uebertragung —
die Verordnung — mit dem Geſetze im Widerſpruche ſtände.


5) Dieſe große Wichtigkeit der Folgen des adminiſtrativen Proceſſes
macht es nun faſt nothwendig, daß die Geſetzgebung fordere, es ſolle
dem Beginnen des Proceſſes ſtets eine Oppoſition von Seiten des
Klägers an die vollziehende Behörde voraufgehen, und zwar mit
Angabe der Berufung auf das der Verordnung widerſprechende Geſetz,
und daß die Klage erſt dann eingereicht werden dürfe, wenn dieſer
Oppoſition keine Folge gegeben wird. Der Sicherheit halber könnte
man dabei einen Termin beſtimmen, in dem die Erklärung der Behörde
erfolgen ſoll. Dieß aus dem franzöſiſchen Rechte entnommene Princip
hat außerdem den großen Vorzug, daß die untere Behörde die eigent-
lich verordnende jedesmal von einer ſolchen Oppoſition verſtändigen und
die Maßnahmen derſelben erwarten kann. Darnach läßt ſich auch ein
zweckmäßiger Termin beſtimmen. Nur müßte dabei feſtgehalten werden,
was das franzöſiſche Recht nicht unterſcheidet, daß eine Oppoſition bei
Verordnungen und Vollziehungen, die keine dauernde, ſondern nur
eine einmalige Leiſtung oder Ueberlaſſung des Einzelnen oder einen
ſehr geringen Werth haben, mit der Klage zuſammenfallen kann.
Man würde durch das erſtere erzielen, daß eine motivirte Erklärung
der verordnenden Stelle ſchon an und für ſich den Proceß wohl in den
meiſten Fällen beſeitigen würde.


6) Was nun das Urtheil im adminiſtrativen Proceß betrifft, ſo
[119] ſind folgende Punkte durch die Natur der Sache als maßgebend zu
erkennen.


Zuerſt kann das Urtheil, wie ſchon erwähnt, niemals über die Ver-
ordnung oder das Geſetz ſelbſt gefällt, ſondern das Verhältniß beider
kann nur als Entſcheidungsgrund aufgeführt werden. Auf dieſen
höchſt wichtigen Satz kommen wir ſpäter zurück.


Zweitens kann das Urtheil des Gerichts niemals über das Ver-
hältniß der Vollziehung zur Verordnung gefällt werden, oder
eine Entſcheidung darüber enthalten, ob die Behörde in Gemäßheit der
Verordnung gehandelt habe. Es iſt das ein Satz, auf welchem
die Möglichkeit des adminiſtrativen Proceſſes neben einer tüchtigen Ver-
waltung überhaupt beruht. Die Frage, ob die wirkliche Thätigkeit der
Behörde mit den Abſichten und dem Willen — der Verordnung — der
Regierung übereinſtimmt oder nicht, kann nie Gegenſtand der Be-
urtheilung eines Gerichts, ſondern nur der höhern Behörde ſelbſt ſein.
Jede Klage iſt daher an und für ſich abzuweiſen, die ſich nur auf die
möglichen oder zweckmäßigen Anſichten der verordnenden Gewalt beruft;
hier beginnt das Gebiet des Beſchwerderechts. Das liegt im Grunde
ſchon in der allererſten Forderung alles adminiſtrativen Proceſſes, daß
die Klage ſich auf ein beſtimmtes, und zwar ſpeziell anzuführendes Ge-
ſetz
und nicht etwa auf eine Verordnung irgend einer Art berufen
muß, um nicht ohne weiteres abgewieſen zu werden. Jedes Urtheil eines
Gerichts daher, das dieß Verhalten des Beamten zu ſeinen Verord-
nungen
betrifft, iſt an und für ſich nichtig. Den Grund dieſes hoch-
wichtigen Princips werden wir ſogleich darlegen.


Allerdings entſteht damit die Frage, ob dem Gerichte das Recht
zuſtehe, über die Natur eines öffentlichen Aktes zu entſcheiden, ob der-
ſelbe ein Geſetz oder eine Verordnung ſei. Dieſe Frage aber gehört
nicht hierher, ſondern in das Competenzrecht, und es verwirrt alle Be-
griffe, wenn man ſie in die Frage nach dem adminiſtrativen Proceß
hineinzieht. Hier muß vor der Hand vorausgeſetzt werden, daß über
Geſetz und Verordnung kein Zweifel beſtehe. Was zu geſchehen hat,
wo dieſer Zweifel entſteht, muß an ſeinem Orte unterſucht werden.


Aus dieſen Sätzen ergeben ſich nun die folgenden Grundſätze für
das Urtheil und ſein Recht im adminiſtrativen Proceſſe.


7) Wenn unter den obigen Vorausſetzungen nun ein Urtheil ge-
fällt iſt, daß in Erwägung, daß die angezogene Verordnung mit dem
gleichfalls angezogenen Geſetze in Widerſpruch ſtehe, die Handlung der
Behörde, welche in Vollziehung der angezogenen Verordnung geſchehen,
als eine zu Recht nicht beſtehende erkannt werde, ſo folgt daraus, daß
das Urtheil, eben weil es nur auf die beſtimmte einzelne Handlung
[120] lautet, auch für Dritte kein Recht macht. Daſſelbe greift daher das
Recht der vollziehenden Behörde, gegen Dritte dieſelbe Handlung zu
vollziehen und Gehorſam von ihr zu fordern, nicht an, um ſo weni-
ger, als ja über den Rechtsgrund ihrer Forderungen, die Verordnung
ſelbſt, überhaupt kein Urtheil gefällt iſt und gefällt werden konnte;
denn dieſe erſcheint ja nur in den Erwägungen als Entſcheidungsgrund.


Ebenſo wenig kann man ein consortium litis bei dem admini-
ſtrativen Klagrecht einräumen, da jeder Einzelne als ſolcher Gegenſtand
der Rechtsverletzung iſt. Daß übrigens eine juriſtiſche Perſönlichkeit
gerade ſo gut als Kläger auftreten kann als der Einzelne, verſteht ſich
von ſelbſt; wo aber eine vollziehende Handlung gegen eine juriſtiſche
Perſönlichkeit geht, kann den einzelnen Mitgliedern weder ein Klag-
recht zugeſtanden, noch ein beſonderes Urtheil für ſie gefällt werden.


8) Schwieriger iſt die Frage, ob der Kläger, der ein günſtiges
Urtheil über die Ungeſetzlichkeit der Verordnung und mithin gegen die
aus derſelben fließenden Vollzugshandlung erzielt hat, verpflichtet iſt,
zum zweiten Male derſelben Verordnung Gehorſam zu leiſten. Wir
müſſen dieſe Frage entſchieden bejahen. Denn das Urtheil hat ja über-
haupt nicht die Gültigkeit der Verordnung zum Inhalt; bleibt ſie da-
her gültig, ſo muß die Behörde ſie auch zum zweitenmal vollziehen,
und die Pflicht des Gehorſams iſt damit klar, wobei natürlich der
paſſive Widerſtand nicht ausgeſchloſſen iſt.


9) Der letzte und ernſteſte Fall iſt endlich der, wo die Ausführung
einer, einem Geſetze entgegenſtehenden Verordnung einen dauernden
Zuſtand herbeiführt, gegen den das öffentliche Klagrecht gebraucht wird,
und wo daher das Petitum nicht mehr bloß auf Erſatz eines Schadens,
ſondern auf die Aufhebung dieſes Zuſtandes, beziehungsweiſe auf die
Einſtellung der zwar verordnungsmäßigen, aber geſetzwidrigen Voll-
ziehung leiten muß. Hier muß das Gericht mit einem, auf gerichtliches
Verbot dieſer adminiſtrativen Thätigkeit gerichteten Urtheil einſchreiten.
Gibt nun ein ſolches Urtheil dem Einzelnen das Recht des Wider-
ſtandes gegen die, vom Gericht als geſetzwidrig erkannte dauernde Voll-
ziehung, oder, iſt die Pflicht zum Gehorſam in dieſem Falle durch das
Urtheil aufgehoben?


Wir müſſen das entſchieden verneinen. Ein Widerſtand des
Einzelnen gegen die vollziehende Gewalt wäre eben nichts andres als
eine eigenmächtige Execution von Seiten des ſiegreichen Klägers gegen
den Verurtheilten, die niemals berechtigt iſt; denn die Execution kann
nur das Gericht führen. Vermag daſſelbe dieſe Execution nicht durch-
zuführen, ſo iſt das allerdings ein Bruch des Rechts; das gibt aber
noch dem Einzelnen nicht die Berechtigung, einen zweiten Rechtsbruch
[121] dem erſten hinzuzufügen. Hat derſelbe das Recht nicht einmal bei der
querela denegatae justitiae, ſo hat er es gewiß noch weniger hier.
Ihm bleibt nichts übrig, als eine Klage zu führen, und es iſt dann
Sache der Gewalten, welche die Verantwortlichkeit verwirklichen, das
Recht gegen die Verwaltung zu ſchützen. Vermag die es auch nicht, ſo
iſt das eben ein öffentliches Unglück, das aber dadurch nicht beſſer
wird, wenn das Individuum ein zweites hinzufügt, indem es ſich durch
Weigerung des Gehorſams ſelbſt Recht verſchafft. Die Entwicklung der
Grundſätze des öffentlichen Rechts ſetzen ja eben einen Rechtszuſtand
voraus; der Grundſatz der Verweigerung des Gehorſams durch den
Einzelnen würde ihn auch hier vernichten. Nicht in ihm, ſondern im
organiſchen Zuſammenwirken der Gewalten muß hier daher Abhülfe ge-
ſucht werden.


Dieß ſind nun die Grundſätze für das öffentliche Klagrecht. Andere
Regeln treten für das Beſchwerderecht ein.


Wir müſſen in Betreff der bisherigen Auffaſſung aller dieſer Fragen,
namentlich in Betreff der Adminiſtrativ- und Juſtizſachen, auf die Darſtellung
am Ende des Beſchwerderechts verweiſen, die ſich beide nicht trennen laſſen.
Ebenſo muß die ganze Frage nach den Competenzverhältniſſen definitiv hier
fern gehalten werden; wir müſſen nothwendig vorausſetzen, daß eben Geſetz
und Verordnung ſchon klar geſchieden vorliegen. Ohne das iſt das Klag- und
Beſchwerderecht durchaus nicht klar darzuſtellen.


3) Das Beſchwerderecht und das Geſuchsrecht.

Ein von dem adminiſtrativen Klagrecht ganz weſentlich verſchiedenes
Gebiet betreten wir nun mit dem Begriff und Inhalt der Beſchwerde.
Eine Darſtellung des Weſens und Rechts der Beſchwerde iſt uns außer-
halb der bürgerlichen Rechtspflege nicht bekannt. Wir müſſen daher
auf die Sache genauer eingehen.


Während nämlich die Klage dadurch, und nur dadurch entſteht,
daß ein Willensakt der vollziehenden Gewalt mit einem poſitiven Ge-
ſetze in Widerſpruch tritt und in ſeiner Vollziehung das Recht des Ein-
zelnen, welches von dieſem Geſetze geſchützt iſt, verletzt, kann ein zweites
Verhältniß innerhalb der Vollziehung auftreten, welches gleichfalls
zu einem Widerſpruch in der wirklichen Verwaltung führt.


An ſich iſt der Wille der vollziehenden Gewalt ein in ſich einheit-
licher, wie der Staatswille überhaupt. So gut aber in dem letztern
vermöge der Selbſtändigkeit des vollziehenden Willens ein Gegenſatz
zwiſchen Geſetz und Verordnung entſtehen und zum Klagrecht führen
kann, ſo gut erſcheint auch der Wille der erſtern in der Wirklichkeit als
ein vielfacher, indem die einzelnen Organe ihn in ſich reproduciren, und
[122]ihren ſelbſtändigen Willen als den der vollziehenden Gewalt ſetzen
müſſen. In dieſer unabweisbaren Selbſtändigkeit dieſer unendlich ver-
ſchiedenen individuellen Formen des allgemeinen Willens der vollziehen-
den Gewalt liegt nun die beſtändige Möglichkeit einer Differenz. Dieſe
Differenz iſt ein Widerſpruch. Die Regierungsgewalt hat das Recht
und die Pflicht, dieſen Widerſpruch zu beſeitigen. So lange derſelbe
aber nur innerhalb des Organismus dieſer Gewalt erſcheint, gehört er
dem Leben und dem innern Rechte deſſelben, das wir als das Staats-
dienerrecht und das Recht der Oberaufſicht beim Selbſtverwaltungs- und
Vereinsweſen unten betrachten werden. Wenn aber der Wille der Re-
gierung als Vollziehung einzelner Handlungen gegen Einzelne er-
ſcheint, wird es Sache des Einzelnen, ſich gegen dieſe Differenz zu
ſchützen und diejenigen Schritte zu thun, welche die Harmonie des be-
ſondern Willens der Verordnungsgewalt in ihrer Beziehung zum Ein-
zelnen mit dem allgemeinen Willen derſelben in Beziehung zum Ganzen
herſtellen. Die Geſammtheit dieſer Akte nennen wir die Beſchwer-
den
, und das Recht, dieſe Beſchwerden zu erheben, das Beſchwerde-
recht
.


Das Beſchwerderecht iſt demnach weſentlich verſchieden vom Klag-
recht, und das Feſthalten dieſer Verſchiedenheit iſt die Vorausſetzung
alles klaren Verſtändniſſes der einzelnen Punkte, welche den Inhalt
dieſes Rechtes bilden.


Da nämlich die adminiſtrative Klage ſtets auf einem angenomme-
nen Widerſpruch zwiſchen Verordnung und Geſetz, die Beſchwerde da-
gegen auf einem Widerſpruch einer einzelnen Verordnung gegen die
allgemeine, oder einer Verfügung gegen eine Verordnung, oder einer
vollziehenden einzelnen Handlung gegen Verfügungen oder Verordnungen
beruht, ſo ergibt ſich, daß die ganze rechtliche Grundlage beider Pro-
ceſſe eine durchaus andere iſt, und daher eine Verſchmelzung von Klag-
und Beſchwerderecht als vollkommen unzuläſſig und verwirrend aner-
kannt werden muß. Die rechtliche Natur der Beſchwerde iſt aber
folgende.


So lange die Verordnung nicht mit einem Geſetze in Widerſpruch
tritt, ſo iſt dieſelbe unzweifelhaft allgemeiner Staatswille und hat da-
her für ſich, ihre Natur und ihren Inhalt das Recht des Geſetzes
zu fordern. Aus dieſem Princip des Rechts für alle Akte der voll-
ziehenden Gewalt folgt nun, daß dieſelbe, ſo weit kein Widerſpruch mit
einem formell gültigen Geſetze nachweisbar iſt, ihren Willen in jedem
Augenblicke frei beſtimmen kann, und daß dieſe Beſtimmung für den
Einzelnen das volle Recht des Geſetzes hat. Sie iſt daher an keinem
Punkte und in keiner Zeit an ihren eigenen Willen gebunden; aber ſie
[123] hat das volle Recht, nicht bloß die allgemeine Verordnung durch ein-
zelne Verordnungen, die einzelnen Verordnungen durch Verfügungen
und Inſtruktionen jeden Augenblick zu ändern; ſie hat auch das Recht,
den Willen und einzelne Handlung ihrer einzelnen Organe als ihren
Willen anzuerkennen, ohne Rückſicht darauf, ob die letztere mit der
Verordnung im offenſten Widerſpruche ſtehen. Es iſt kein Zweifel, daß
der geſetzgebenden Gewalt daſſelbe Recht in Beziehung auf das geſetzliche
Recht zuſteht; es kann und ſoll aber auch kein Zweifel ſein, daß der
vollziehenden Gewalt für ihre Verordnungen, Verfügungen und ein-
zelnen Aktionen genau daſſelbe Recht zugeſprochen werden muß. Und
zwar iſt dieſe Forderung nicht etwa die Heiligung der Willkür. Sie
iſt vielmehr ein organiſches, und darum unbedingt nothwendiges Prin-
cip des Staatslebens. Denn die Vollziehung ſoll das Geſetz nicht
etwa in abstracto verwirklichen, ſondern ſie ſoll es in den unendlichen
Wechſel und die Vielgeſtaltigkeit des Lebens einführen. Sie ſoll nicht
ſtarr die Lebendigkeit dieſer äußern Welt brechen, ſondern das Princip
des Geſetzes mit den gegebenen Thatſachen und Lebensverhältniſſen zur
Harmonie bringen. Sie muß daher fähig ſein, wie dieſes Leben ſelbſt,
das niemals ſtill ſteht und ſich nirgends vollkommen gleich iſt, in un-
endlich vielen und verſchiedenen Geſtalten aufzutreten, zu wechſeln und
zu modificiren, wo ſie es für nöthig hält, und dadurch die Grundlage
allen Erfolges, die innere Gleichartigkeit der handelnden Kraft mit der
äußern lebendigen Welt ihrer Objekte hervorzubringen. Jene Rechte
der vollziehenden Gewalt ſind daher durch das Weſen des Staatslebens
ſelbſt bedingt; es iſt unmöglich, ſowohl ſie ihr zu nehmen als ſie zu
beſchränken; daß die Vollziehung mitten in dieſem Wechſel den einheit-
lichen Gedanken der Geſetzgebung feſthalte, dafür ſorgt das Princip der
Verantwortlichkeit; ſo lange aber kein poſitives Geſetz jener lebendigen
Thätigkeit entgegentritt, iſt die Verordnungsgewalt abſolut frei und
ſelbſtbeſtimmt
für alles, was als eine Aeußerung ihrer ſelbſt be-
trachtet werden muß.


Daraus nun folgt der oberſte Grundſatz für das ganze Be-
ſchwerderecht. Kein ausgeſprochener Wille der Regierung, keine Ver-
ordnung
, gibt einem Einzelnen ein Recht darauf, daß die Regierung
dieſe Verordnung ihm gegenüber als wirklichen Inhalt
ihres Willens anerkenne
. Wenn daher eine Differenz zwiſchen
Verordnung, Verfügung und Handlung ihrer Organe beſteht, ſo kann
ſie nach eigenem Ermeſſen, gleich der geſetzgebenden Gewalt, die Ab-
weichung der letztern von der erſtern unbedingt zu ihrem eigenen Willen
machen. Es kann daher von einem, durch eine Verordnung erwor-
benen Rechte des Einzelnen auf eine beſtimmte Geſtalt
[124] der wirklichen Vollziehung
keine Rede ſein. Es iſt mithin ganz
undenkbar, wegen einer ſolchen Differenz zwiſchen Verordnungen, Ver-
fügungen und Handlungen eine Klage erheben zu können, welche ja
unbedingt ein erworbenes Recht vorausſetzt. Sondern vermöge jener
Freiheit der vollziehenden Gewalt kann, wenn der Einzelne durch eine
ſolche Differenz ſich beeinträchtigt glaubt, nur ein Proceß eintreten,
welcher die Uebereinſtimmung oder Nichtübereinſtimmung der
den Einzelnen treffenden Handlung mit dem Willen der vollziehen-
den Gewalt conſtatirt
. Und dieſer Proceß iſt eben die Beſchwerde.


Dieſe Beſchwerde kann daher, ihrem eigenſten Weſen nach, gar
nicht von einem Gerichte entſchieden werden. Der unauflösbare Wider-
ſpruch, der hier in einer Thätigkeit des Gerichts läge, liegt auf der
Hand. Das Gericht müßte dadurch das Recht bekommen, der Voll-
ziehung das Feſthalten an dem, in ihrer Verordnung ausgeſprochenen
Willen zur Pflicht zu machen, und für das Nichtfeſthalten — die Ab-
weichung von demſelben — derſelben die Haftung zuzuſchreiben. Es
leuchtet ein, daß ein ſolcher Satz das innerſte Weſen der Vollziehung
vernichten und das ganze lebendige Staatsweſen gerade in dem Punkt
tödten würde, wo es der Wirklichkeit angehört. Nur der entſchiedene
Mangel an Verſtändniß des Staatslebens könnte eine ſolche Vorſtellung
entſtehen laſſen.


Dennoch müſſen wir nicht bloß von einer Beſchwerde, ſondern von
einem Beſchwerderecht reden, und dieſes ſogar als einen weſentlichen
Theil des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts anerkennen.


Das Leben des Einzelnen, Grundlage und Ziel der Verwaltung
im weiteſten Sinne, kommt nämlich mit der vollziehenden Gewalt als
ſolcher nicht in Berührung, ſondern nur mit den Handlungen, durch
welche ſie vermöge ihres Willens ihre Organe vollzieht. Jede ſolche
Berührung beſchränkt immer die volle Freiheit der einzelnen Perſönlich-
keit. Dieſe Beſchränkung iſt nur dann im Weſen des allgemeinen Rechts
begründet, wenn ſie vom Staate und nicht vom Einzelnen ausgeht.
Indem nun die Verantwortlichkeit die Identität des Geiſtes der Geſetze
und der Vollziehung, das Klagrecht die Unverletzlichkeit der Geſetze
gegenüber der Vollziehung, beide alſo die Harmonie zwiſchen Geſetz-
gebung und Verwaltung ſichern, bleibt nur das Gebiet der Verſchieden-
heit innerhalb des letztern; und die Sicherung daher, daß die in jeder
vollziehenden Handlung liegende individuelle Beſchränkung ein wirk-
licher Ausfluß der Vollziehung iſt, erſcheint damit als die letzte Gewähr
für das Leben der Harmonie im Staate ſelbſt, und andererſeits des
Einzelrechts gegenüber dem Einzelorgane der Verwaltung. Es ſteht da-
her ſelbſtändig da, und fordert ſeine ſelbſtändige Darlegung.


[125]

Die Grundſätze nun, welche aus dieſem Weſen der vollziehenden
Gewalt und ihrer Verordnungen, Verfügungen und Handlungen für
die Beſchwerde und ihr Recht entſtehen, ſind im Weſentlichen folgende.


1) Beſchwerde und Geſuch. Jede einzelne Aktion der Voll-
ziehung kann offenbar zu der Verordnung, oder vielmehr allgemeiner
zum Willen der vollziehenden Gewalt in einem doppelten Verhältniß
ſtehen. Es iſt möglich, daß ſie dieſen Willen überhaupt mißverſteht,
und daher nicht die wahre Abſicht der vollziehenden Gewalt im Allge-
meinen ausführt; es iſt aber auch möglich, daß ſie dieſelbe wirklich voll-
zieht, daß aber dieſe Vollziehung durch beſtimmte Verhältniſſe Folgen
erzeugt, welche die Regierung entweder nicht vorausgeſehen hat, oder
deren Nachtheil für den Einzelnen größer ſcheinen als der Vortheil für
das Ganze, oder die endlich in einer, die gegebenen Zuſtände mehr
ſchonenden Weiſe anders hätten vollzogen werden können. Das erſte
iſt meiſtens dann der Fall, wenn die beſondern Verordnungen, Ver-
fügungen oder Handlungen der vollziehenden Organe mit dem Wortlaute
oder auch mit dem Sinn einer allgemeinen Verordnung im Wider-
ſpruch ſtehen; das zweite dann, wenn zwar ein ſolcher Widerſpruch nicht
vorhanden, aber das Einzelintereſſe in der Vollziehung nicht hinreichend
berückſichtigt erſcheint. Im erſten Fall liegt die Möglichkeit eines un-
richtigen Verfahrens von Seiten der einzelnen Organe, im zweiten
die Möglichkeit einer größeren Berückſichtigung der Einzelintereſſen
von Seiten der verordnenden Gewalt ſelbſt vor. Den Akt nun, durch
den das Verfahren der einzelnen Organe in Harmonie mit dem Willen
der verordnenden Gewalt gebracht werden ſoll, nennen wir die eigent-
liche Beſchwerde
; ihre Vorausſetzung iſt eine angenommene falſche
Benützung der vollziehenden Gewalt; der Akt, der im zweiten Falle
eintritt, iſt ein Geſuch; ſeine Vorausſetzung iſt eine nicht hinreichende
Kenntniß oder Würdigung der Einzelintereſſen.


Daß im zweiten Falle kein Schritt bei dem Gerichte ſtattfinden,
ſondern daß ein Geſuch unbedingt nur bei der Behörde eingebracht
werden kann, iſt klar genug. Aber auch eine Beſchwerde kann nicht
bei einem Gericht vorgebracht werden. Denn da ſelbſt bei formellem
Widerſpruch zwiſchen den Vollzugsmaßregeln und der Verordnung die
verordnende Gewalt ihren Willen geändert und gerade diejenige Voll-
zugsform vorgeſchrieben haben kann, über welche die Beſchwerde
geführt wird, ſo fehlt jeder Rechtsgrund für ein Urtheil des Gerichts,
und nur die verordnende Gewalt kann über den Inhalt der Beſchwerde
entſcheiden. Aber auch in dem Fall, wo die letztere der Beſchwerde zu-
ſtimmt, und mithin einen Widerſpruch zwiſchen der Verfügung oder
Handlung und der Verordnung als vorhanden erklärt, kann dennoch
[126] das Gericht nicht auftreten. Und zwar darum nicht, weil es immer
ausſchließliche Sache der verordnenden Gewalt bleibt, den Grad zu
beſtimmen, bis zu welchem jener Widerſpruch ſtattgefunden, und mithin
eine Aufhebung des Vollzugsakts im Namen der Verordnung einzutreten,
reſpektive eine Herſtellung des frühern Zuſtandes Platz zu greifen hat.
Ein Urtheil des Gerichts wäre hier nur möglich, wenn ſich dieſer Grad
objektiv beſtimmen ließe. Die Natur der Vollziehung ſelbſt ſchließt dieſe
Beſtimmung aus, und mit ihr Klagrecht und gerichtliches Urtheil, und
die Entſcheidung auf die Beſchwerde kann auch in demſelben Falle nur
von der höhern verordneten Behörde gefällt werden. Nur wenn ein
poſitives Geſetz hier eine Gränze beſtimmt, kann letzteres Platz greifen;
bei Verordnungen gibt es eben kein Klagrecht.


2) Aus dieſem Weſen von Beſchwerde und Geſuch folgt nun zuerſt,
daß bei beiden weder von einem Rechtstitel, noch auch von proceſſualen
Formen, Terminen, Beweiſen u. ſ. w. die Rede ſein kann. Bei Be-
ſchwerden und Geſuchen handelt es ſich überhaupt nicht um Rechte,
ſondern um Intereſſen, ein Satz, den wir dem franzöſiſchen Ver-
waltungsrecht verdanken, und über welchen man ſich in Frankreich voll-
kommen klar iſt. Es gibt auch für die betreffende Behörde hier keine
andere Pflicht, als die der Erwägung der Intereſſen, ſowohl des
Einzelnen als des Staats. Die Entſcheidung ſelbſt iſt daher bei Be-
ſchwerde und Geſuch an gar nichts gebunden, weder an die Ver-
ordnung, noch an eine Thatſache, als eben an das, was im wahren
Geſammtintereſſe gefordert wird. Es folgt daraus, daß derartige Ent-
ſcheidungen nicht bloß bei äußerlich ähnlichen Fällen ganz widerſprechend
lauten, ſondern daß ſie unbedenklich auch den Wortlaut früher erlaſſener
Verordnungen aufheben, ja bei noch beſtehenden Verordnungen mit
demſelben in direktem Widerſpruch ſtehen können. Es iſt nicht möglich,
ſich dieſen ſtrengen Conſequenzen aus dem Weſen der vollziehenden Ge-
walt zu entziehen. Es bedarf eben deßhalb kaum der Bemerkung, daß
eine Entſcheidung auf eine Beſchwerde oder ein Geſuch nicht nur nicht
den Gehorſam des Betreffenden aufhebt, wenn der gleiche Fall noch
einmal eintritt, ſondern auch nicht für einen Dritten gilt. Die einzige
Frage iſt die, ob eine ſolche wirklich gegebene Entſcheidung auf die
Beſchwerde für den beſtimmten einzelnen, in demſelben bezeichneten
Fall ein erworbenes, alſo ein vor Gericht mit dem Klagrecht zu ver-
folgendes Recht bildet? Und dieß muß allerdings angenommen werden;
denn die Verordnungsgewalt kann für den einzelnen Fall nicht mit
ſich ſelbſt in Widerſpruch treten, und wird mit ihrer Entſcheidung ver-
pflichtet, den Einzelnen gegen ihre eigenen einzelnen Organe zu ſchützen.
Sie kann aber ſich auch nur für dieſen Fall binden. Iſt das
[127] Verhältniß eine ſich wiederholende Leiſtung, auf welche ſich Beſchwerde
oder Geſuch bezogen, ſo kann wieder nicht das Gericht, ſondern nur die
obere Behörde auf Grundlage einer neuen Eingabe im zweifelhaften
Falle dieſen Punkt entſcheiden.


3) Die große Macht, welche auf dieſe Weiſe der vollziehenden Ge-
walt gegenüber dem Einzelnen eingeräumt iſt, hat nun den Satz er-
zeugt, daß eine ſolche Entſcheidung über die Intereſſen der Einzelnen
im Verhältniß zur Vollziehung auch ſo fern als möglich von dieſen
Intereſſen ſtehen, alſo nicht von den, der vollziehenden Handlung nahe
ſtehenden Behörde endgültig gefällt werden dürfe. Man hat daher zwar
kein eigenes Verfahren, wohl aber ein eigenes Syſtem von Organen
aufgeſtellt, welche über jene Streitigkeiten zwiſchen Einzelnen und Be-
hörden entſcheiden, und es iſt natürlich, daß ſich für die Behandlung
ſolcher Fragen eine allgemeine und ziemlich feſte Uebung bildet, die
man innehält, ohne jedoch an dieſelbe gebunden zu ſein. Mögen nun
dieſe Organe und Uebungen ſein, welche ſie wollen, ſo gelten doch zwei
formell unbedingte Grundſätze für dieſelben. Erſtlich gibt es im Be-
ſchwerde- und Geſuchswege überhaupt keine Litispendenz, und mithin
keine Siſtirung der Vollziehung, ſo wenig wie bei der Klage; zweitens
iſt nicht einmal, wenn nicht eine beſondre Vorſchrift darüber beſteht,
eine Pflicht zu einer formellen Entſcheidung auf dieſelbe nachweisbar
— obwohl dieſelbe natürlich üblich ſein wird. — Daß von einer Friſt
bei Eingabe einer Beſchwerde an ſich keine Rede ſein kann, iſt klar;
zweckmäßig iſt es jedoch, eine ſolche vorzuſchreiben. Dennoch iſt die Be-
hörde nicht an die Verſäumniß derſelben gebunden. — Ebenſo iſt es
zweckmäßig, für gewiſſe Einzelne die Anlagen vorher zu beſtimmen.
Gebunden an das Vorhandenſein derſelben iſt wiederum die Be-
hörde nicht.


4) Von allen dieſen Grundſätzen ſind jedoch diejenigen Eingaben
ausgeſchloſſen, zu welchen in Folge einer Aufforderung zur Contrahirung
eines privatrechtlichen Vertrages, Lieferung ꝛc. von Seiten der Behörde
die Einzelnen aufgefordert werden. Hier beginnt das Gebiet des Privat-
rechts, gleichviel ob der Zweck des Vertrages in die Aufgaben der
Verwaltung hineingehört oder nicht.


5) Da ſich nun auf der obigen Grundlage nicht bloß ein Syſtem
von Entſcheidungsorganen und der Grundſatz gebildet hat, daß der
Einzelne ſeine Beſchwerde oder ſein Geſuch in einer, der Appellation
entſprechenden Stufenfolge von der niedern verordnenden Behörde bis
zur höchſten Regierungsgewalt vorbringen kann, ſondern ſich auch durch
die fortwährende Uebung und die innere Gleichartigkeit der Fülle eine
Gleichartigkeit der Entſcheidungen von ſelbſt erzeugt, welche ſchwer zu
[128] überſehen iſt, ſo hat man den durch Beſchwerde und Geſuch entſtehenden
Proceß gleichfalls als einen Zweig der Juſtiz, oder als ein Analogon
derſelben betrachtet, und dieß Verfahren im Beſchwerdewege die Admi-
niſtrativjuſtiz
genannt. Es iſt das ein höchſt unglücklicher Aus-
druck, den man — will man anders Klarheit in das bisher ſo ver-
worrene Gebiet bringen — um jeden Preis endgültig beſeitigen
müßte. Denn es iſt von einem Rechte oder gar von einer Juſtiz dabei
gar keine Rede, und das Wort erweckt dennoch die Vorſtellung, als
müſſe doch hier ein Juſtizverfahren eintreten. Wir werden ſchwerlich
mit dem Ganzen eher zu einem Abſchluß gelangen, als bis wir dieſen
Ausdruck mit dem der „Juſtizſachen“ und „Adminiſtrativſachen“ definitiv
aus dem Sprachgebrauch tilgen. Man ſoll daher künftig nur von dem
Gegenſatze des adminiſtrativen Klagrechts zu Beſchwerde- und Geſuchs-
recht reden. Freilich gehört dazu eine feſte Beſtimmung von Geſetz und
Verordnung, die wir ja wohl einmal bekommen, und das richtige Ver-
ſtändniß des franzöſiſchen contentieux, das wir unten zu geben ver-
ſuchen werden.


Vergleichung des Syſtems des Klag- und Beſchwerderechts in
England, Frankreich und Deutſchland
.

Wenn aus unſrer Darſtellung hervorgegangen iſt, daß das ganze Verhältniß
der Thätigkeit der vollziehenden Gewalt auf dem formellen, und dieſe wieder
auf dem tiefern organiſchen Unterſchiede von Geſetz und Verordnung, geſetz-
geberiſcher und verwaltender Thätigkeit beruht, und daß zuletzt dieſer Unterſchied
in dem durchgreifenden Unterſchiede des Klag- und des Beſchwerderechts zur
Erſcheinung gelangt, ſo wird nun damit auch die Grundlage einer Vergleichung
der Auffaſſung gegeben ſein, von welcher die drei großen Kulturvölker bei der
Ordnung jener Fragen ausgegangen ſind. Dieſe Ordnung, wenn auch im Ein-
zelnen vielfach unklar, hat dennoch eine Grundauffaſſung über das Verhältniß
der vollziehenden Thätigkeit zu Recht und Verordnung zur Baſis. Eine Ver-
gleichung iſt dann ſelbſt nur möglich, indem man die letzte auf die für alle
gültigen, wenn auch mehr oder weniger entwickelten und ſo oder anders formell
erſcheinenden von uns aufgeſtellten Kategorien zurückführt.


Da dieß hier zum erſtenmale verſucht wird, ſo mag mancher Irrthum und
manche Unvollſtändigkeit entſchuldigt bleiben.


Im Allgemeinen iſt aber für alle drei Völker feſtzuhalten, daß ſich ſowohl
das Bewußtſein als die poſitive Geſetzgebung über Klage und Beſchwerde, oder
über das Verhältniß der Verordnung und der Vollziehung zum Geſetz einerſeits,
und zu den einzelnen vollziehenden Akten anderſeits allenthalben nur lang-
ſam entwickelt hat, und daß, wie es in der Natur der Sache ſelbſt liegt, dieſe
Entwicklung im Weſentlichen bedingt iſt durch die formell gültige Unterſcheidung
von Geſetz und Verordnung. Wir dürfen daher unſre Andeutung über die Ge-
ſchichte des letzteren hier als bekannt vorausſetzen.


[129]
Das Verordnungsrecht in England.

Das engliſche Staatsleben hat, da in ihm das Königthum nie ſo weit kam,
die Berechtigung der ſtändiſchen Selbſtändigkeit zu vernichten, auch immer das
Princip feſtgehalten, daß nur dasjenige für das Volk Gültigkeit habe, was durch
ein Geſetz im eigentlichen Sinne befohlen ſei. Das engliſche Volk kennt daher
urſprünglich den continentalen Begriff der Verordnungsgewalt überhaupt nicht,
noch weniger den Begriff der ſog. proviſoriſchen Geſetze. Das engliſche Rechts-
bewußtſein ſtellt ſich daher auf den ſcheinbar ſehr einfachen Standpunkt, daß
jeder Akt eines Organs der Regierungsgewalt nichts anderes ſein kann und
dürfe, als die beſtimmte Vollziehung eines Geſetzes. Der Rechtsgrund,
vermöge deſſen dem Befehl des Beamteten Gehorſam geleiſtet wird, iſt immer
ein Geſetz, das zu ſeiner Vollziehung eines ſolchen Befehles bedarf; es gibt über-
haupt formell keinen Gehorſam gegen Beamtete, ſondern nur gegen Geſetze. Der
Begriff der Verwaltung in unſerm Sinne exiſtirt für dieſen gar nicht, im Grunde
auch nicht der Begriff der „Obrigkeit“; das Organ der Regierung iſt nicht be-
rechtigt, einen ſelbſtändigen aus dem Weſen und Leben des Staats hervorgehen-
den Willen, eine Verordnung zu ſetzen; es iſt nur Richter, und ſeine Thätig-
keit, der Inhalt der ganzen (amtlichen) Verwaltung iſt nur die richterliche Voll-
ziehung der beſtehenden Geſetze. Damit iſt nun eine Grundlage gewonnen,
die von der continentalen weſentlich verſchieden erſcheint, und die zuerſt wohl
Montesquieu verſtand, als er als dritte Gewalt nicht etwa die Vollziehung im
Allgemeinen, ſondern neben dem pouvoir législatif und judiciaire die „puissance
exécutrice des choses qui dépendent du droit civil
aufſtellte (L. XI. Ch. VI.)
und dabei zugleich England als Muſter vorführt. Das Syſtem, welches ſich
daraus ergeben hat, iſt nun leicht verſtändlich; dennoch iſt es kein Zweifel, daß
wir dieß Verſtändniß erſt Gneiſt verdanken, der zuerſt in die Rechtsgeſchichte
überhaupt die Geſchichte der Verwaltung hineingebracht hat, und damit der
Schöpfer einer neuen und unmeßbar wichtigen Richtung geworden iſt. Uns bleibt
nichts übrig, als uns hier wie im Folgenden an ihn anzuſchließen, wenn wir
auch manches ein wenig anders zu ordnen gezwungen ſein werden, um das Ver-
hältniß zu unſrer Auffaſſung klar hervortreten zu laſſen. Was Gneiſt ſchon in
ſeinem Engl. Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht (II, §. 73 ff.) dargeſtellt hat, iſt in
ſeiner kleinen Broſchüre: „Soll der Richter auch über die Frage zu befinden haben,
ob ein Geſetz verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt?“ (1863, S. 8 f.) zum
Theil noch prägnanter zuſammengefaßt. Das Ergebniß iſt Folgendes. Das Organ,
welches Recht ſpricht, iſt der Friedensrichter; der Friedensrichter iſt aber nicht bloß
Richter, ſondern er iſt der örtliche Inhaber der geſammten königlichen Gewalt
für ſeinen Bezirk. Er hat daher im Namen des Königs alle Funktionen dieſer
königlichen Gewalt zu vollziehen, mithin auch die Akte der Verwaltung. Allein
da der König ſelbſt doch nur im Namen der Geſetze verwalten kann, ſo erſcheint
jeder Verwaltungsakt des Friedensrichters als ein Richterſpruch.
Daraus folgen zwei große Grundſätze. Erſtlich, daß der Friedensrichter auch
in ſeiner ganzen adminiſtrativen Thätigkeit gegenüber dem Einzelnen als Richter
daſteht, und mithin jeder Akt ſeiner Verwaltung genau wie ein Richterſpruch
Stein, die Verwaltungslehre. I. 9
[130]appellabel erſcheint; zweitens, daß er, da er ſelbſt ſeinen Willen ausführt,
auch dem Einzelnen nach bürgerlichem Rechte haftet für jeden Befehl,
deſſen Befolgung er erzwingt; und dieſe Haftung bedeutet ihrerſeits nichts als
die Uebereinſtimmung dieſes Befehls mit dem geltenden Recht, dem Law of
England.
Aus dieſen beiden einfachen Grundlagen entwickelt ſich nun das
Syſtem des richterlichen Verwaltungsrechts, von dem manche geglaubt haben, es
ſei eigentlich das allein herrſchende in England. Daſſelbe iſt mit wenig Worten
zu bezeichnen. Die erſte Folge jenes Princips iſt, daß jedem Einzelnen gegen
jeden Ausſpruch des Justice of peace die Appellation zunächſt an die Quarterly
session
der Friedensrichter zuſteht; die zweite Folge iſt aber die, daß da das
Recht des Friedensrichters überhaupt von der Krone ausgeht, die letztere auch
das Recht behält, den Akt des Friedensrichters in jedem Augenblick demſelben ab-
zunehmen, und durch ein höheres Gericht vollziehen zu laſſen. Ganz offenbar
enthält dieſer zweite Punkt ſchon etwas, das über das eigentlich gerichtliche
Verfahren hinausgeht; man ſieht ihm an, daß in ihm etwas anders lebendig
iſt, als das bloße Urtheil, und daß dieſes Andere ſich allmählig zu einer ſelb-
ſtändigen Potenz entwickeln muß. Dieſes Abberufungsrecht des Königs
gegenüber dem Friedensrichter geſchieht durch das writ of certiorari. Es kann
dieß writ of certiorari erlaſſen werden in Folge einer Berufung eines Einzelnen;
es kann aber auch, und zwar ganz ohne beſondere geſetzliche Vorſchrift, erlaſſen
werden von der Krone ſelbſt und ihrem Attorney general. Es erſcheint daher
hier die obere Inſtanz in der Funktion einer oberaufſehenden Behörde über die
Rechtspflege des Friedensrichters; die höhere Behörde tritt ſchon an die Stelle
der höhern Inſtanz. Die zweite Form der Abberufung zeigt dieß jedoch noch
deutlicher. Wenn der Friedensrichter diejenigen Akte nicht vornimmt, welche
in ſeine Zuſtändigkeit fallen, ſo kann dieſe höhere Behörde oder Inſtanz, die
Kings-Bench einen Befehl erlaſſen, durch welchen dem Friedensrichter oder
den entſprechenden Behörden anbefohlen wird, „Recht zu ertheilen nach ihren
Amtsgewalten, wo ſolches verzögert iſt“ (Blackſtone III, 110). Allerdings iſt
die Vorausſetzung dabei immer, daß einem Geſetze nicht Genüge geſchieht; allein
da der Friedensrichter zugleich die polizeiliche, alſo die Verwaltungsgewalt übt,
ſo enthält das Mandamus ſeinem Weſen nach auch den Befehl, die durch die Er-
forderniſſe der Verwaltung nöthig gewordenen Amtsthätigkeiten vorzu-
nehmen, wobei er freilich nicht gegen das Law anſtoßen darf. Hier ſehen wir
daher jenes zweite Element ſchon deutlicher eintreten. Die friedensrichterliche
Gewalt iſt nur formell eine rein richterliche, in Wahrheit iſt ſie die Ver-
ſchmelzung der Adminiſtration mit der Juſtiz
, die zum förmlichen
Syſtem erhoben iſt, und deren weitere Bethätigung wir ſogleich ſehen werden.
Nur liegt das eigentlich Charakteriſtiſche dieſer, in ganz Europa bis zur
neueſten Zeit geltenden Verſchmelzung beider Funktionen in England in dem-
jenigen, was die meiſten davon abhält, ſie ſelbſt als vorhanden anzuerkennen:
daß während im übrigen Europa durch dieſe Verſchmelzung die Juſtiz den
Charakter der Adminiſtration annimmt
, und damit ihren wahren Cha-
rakter verliert, in England im Gegentheil die Adminiſtration den Cha-
rakter der Juſtiz empfängt
, und dadurch ihrerſeits ein weſentlich anderes
[131] Bild darbietet als auf dem Continent. Oder, um ſchon hier dieſe unglückliche
Benützung jener Ausdrücke, die ſo unendlich viel Unklarheit in Wiſſenſchaft und
Praxis hineingebracht haben, definitiv zu beſeitigen, daß während auf dem Con-
tinent die Ausſprüche der Behörde auch dann, wenn ſie Urtheile über geſetz-
liche Rechte enthalten, behandelt werden wie Verfügungen einer Verwaltungs-
behörde, in England auch die Verfügungen der Verwaltungsbehörde behandelt
werden wie gerichtliche Urtheile; und zwar darum weil hier wie dort dieſelben
Organe zugleich Recht ſprechen und Verfügungen erlaſſen. Wo daher eine Be-
ſchwerde hätte eintreten ſollen, da tritt in England eine Appellation ein, weil von
jeder Verordnung angenommen wird, daß ſie nur der Vollzug eines Geſetzes
iſt, während auf dem Continent, wo ein Klagrecht hätte eintreten ſollen, nur
eine Beſchwerde zuläſſig wird, weil der Ausſpruch der Behörden nicht als
Geſetz ſondern als Verordnung betrachtet wird. Man ſieht daher, daß das
engliſche Recht zwar im Princip, nicht aber in der Ausführung dem continen-
talen ganz gleichartig iſt; und das iſt es nun, was der zweiten Geſtaltung des
engliſchen Rechts in dieſem Punkte ſeinen Inhalt gibt.


Offenbar nämlich mußte die Aufgabe des Friedensrichters, als Verwaltungs-
behörde dennoch nur Juſtizbehörde zu ſein, zunächſt die erſte, ſchon oben be-
zeichnete Folge haben. Der Friedensrichter mußte für jeden Erlaß demjenigen
bürgerlich haften, den er zum Gehorſam zwang. Dieſer Grundſatz wird
ganz offen anerkannt, und ſo entſteht das, was Gneiſt ſo ſchön als die ſtraf-
rechtliche und die civilrechtliche Verantwortlichkeit der Friedensrichter darſtellt
(§. 74. 75). Das wäre nun vollſtändig conſequent geweſen, wenn die Thätigkeit
dieſes Organs auch wirklich nur eine judicielle, oder daſſelbe nur die reine,
zu keiner ſelbſtändigen Willensaktion in einer Verordnung berechtigte Be-
hörde für die Vollziehung geweſen wäre. Allein der Friedensrichter ſollte zu-
gleich die Verordnungsgewalt handhaben. Dadurch entſtand nun natürlich der
Widerſpruch, daß das Klagrecht auch auf denjenigen Punkten berechtigt erſchien,
auf welchem der Natur der Sache nach nur die Beſchwerde zuläſſig ſein
kann
. Um dieſer Klage zu entgehen, mußte der Friedensrichter daher für jede
Verordnung ein poſitives Recht anführen können, deſſen ſtrenge Ausführung
dieſe Verordnung enthalten ſollte. Konnte er das nicht, ſo war er natürlich
ſachfällig, mochte ſonſt die Verordnung auch noch ſo nothwendig erſcheinen. Das
nun machte ſelbſtverſtändlich den ganzen Theil der Verwaltung, der nun einmal
auf den Verordnungen beruht, im höchſten Grade gefährlich für die Friedens-
richter als Verwaltungsbehörde, und ſetzte ihn jedenfalls namentlich da, wo er
mit reichen und mächtigen Männern zu thun hatte, weitläuftigen und ſchwierigen
Proceſſen aus. Der Widerſpruch, das Beſchwerderecht nur als Klagrecht zur
Geltung bringen zu wollen, erzeugte ſomit eine große Unſicherheit in der Voll-
ziehung überhaupt. Das engliſche Leben ward dadurch gezwungen, einen Weg
zu finden, der, ohne das Princip der richterlichen Thätigkeit und das der ſtrengen
Geſetzmäßigkeit der Verwaltung zu brechen, dennoch jenem Bedürfniß Rechnung
tragen konnte. Wie dieß geſchehen iſt, hat Gneiſt theils in ſeinem großen Werke,
theils in dem angeführten Gutachten ſehr ſchön dargeſtellt, obgleich wir durch-
aus nicht mit ihm darin übereinſtimmen können, daß dieß eine „Jurisdiction
[132] über das öffentliche Recht“ geworden ſei, ſondern es iſt vielmehr gar nichts
anders als die geſetzliche Uebertragung der Verordnungsgewalt
an die richterliche Behörde
, allerdings „grundſätzlich immer mit einer
concurrirenden Gewalt der Reichsgerichte“ (Bd. II. §. 73 und Gutachten S. 9),
nur daß dieſe Gewalt auf dieſem Gebiete in der That keine richterliche,
ſondern eine Verwaltungsgewalt der höhern Gerichte, d. i. unſere „Adminiſtrativ-
juſtiz“ iſt. Es entſteht nämlich, ſobald man empfindet, daß die Friedensrichter
eine das wörtliche Geſetz erſetzende und erfüllende Verordnungsgewalt haben
müſſen, allmählig das, was Gneiſt „eine Deklaration der Weiſe und der
Schranken für die Ausübung der Polizei-, Finanz-, Militärhoheit“ nennt, und
deren einzelne Fälle in II. 17. 19. 35. 64. 73. 91. 93. aufführt. Nur ward den
Friedensrichtern dieſe Gewalt als ſolche nicht gegeben, ſondern man nahm ſie
als ihnen zuſtehend an, beſtimmte aber, und das iſt der Kern der Sache,
daß auch da, wo kein ausdrückliches Geſetz den Friedensrichter in ſeinen ordres
ſchützt, derſelbe dennoch nur dann verurtheilt werden ſoll, wenn er einen Akt
erlaſſen hat, der „maliciously“ und ohne „reasonable and probable cause“
vorgenommen iſt; das muß der Kläger in ſeiner Klagſchrift ausdrücklich an-
führen und auch beweiſen; ſchon im Falle eines unvollſtändigen Beweiſes er-
folgt Freiſprechung. Die hieher gehörigen Grundſätze haben ſich im Laufe der
Jahrhunderte langſam durch die Praxis ausgebildet, und ſind in neueſter Zeit
durch die Act. 11. 12. Vict. c. 44 (An act to protect Justices of the Peace
from vexatious actions for acts done by them in execution of their office)

11. Aug. 1848 zu einem ausführlichen Geſetz formulirt. Es iſt gar kein Zweifel,
daß hier die Form eines bürgerlichen Proceſſes mit gewöhnlicher Klage, aber
das Weſen einer Beſchwerde vorliegt, und daß das Urtheil der höhern Inſtanz,
welches mithin hier nicht mehr auf dem Verhältniß der Ordre des Justice of
the Peace
zu einem poſitiven Geſetz, ſondern auf der adminiſtrativen Zweck-
mäßigkeit der Verordnung an ſich — die reasonable cause — geradezu ein
adminiſtratives Urtheil über eine Beſchwerde iſt.


Faßt man nun das bisher Geſagte zuſammen, ſo ergibt ſich für engliſches
Klag- und Beſchwerderecht folgendes Syſtem, das jetzt, wie wir glauben, leicht
verſtändlich ſein wird. Es gibt der Form nach gar keinen Unterſchied zwiſchen
Klagrecht und Beſchwerderecht, und in dem Geiſte des Volkes beſteht auch ma-
teriell ein ſolcher nicht. Denn jeder Akt der verwaltenden Gewalt ſteht unter
dem, für alle gleichmäßig gültigen Klagrecht, und für jeden Akt tritt die ſtraf-
rechtliche und bürgerliche Haftung des vollziehenden Organs in Folge des rich-
terlichen Spruches ein. Aber das Gericht entſcheidet ſelbſt theils als Gericht,
wo es ſich um die Uebertretung eines Geſetzes durch die Verordnung handelt,
auf Grundlage des beſtimmt anzuführenden law of England im weiteſten Sinne
theils iſt es nicht Gericht, ſondern höhere Verwaltungsbehörde, wo nämlich
der Grund der Vollziehung nicht mehr ein geltendes Recht, ſondern eben eine
Forderung des öffentlichen Intereſſes iſt — die reasonable cause.Die Ver-
ſchmelzung der Juſtiz und Adminiſtration
iſt hier daher nicht etwa
aufgehoben, ſondern grundſätzlich und ſyſtematiſch durchgeführt, und wird nur
darum weniger gefühlt, weil die Geſetzgebung, und zwar namentlich die geſetzliche
[133] Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung, eine ſo ausführliche und thätige iſt,
was eben ſeinerſeits wieder den Grund dafür abgibt, daß der Verwaltungs-
organismus des Staats eine verhältnißmäßig ſo höchſt unvollkommene Aus-
bildung erfahren hat. Man kann daher auf Englands Zuſtände weder den fran-
zöſiſchen Begriff des Contentieux anwenden, noch den deutſchen der Admini-
ſtrativ- und Juſtizſachen, und daß man das nicht kann, iſt auch der Grund,
weßhalb man Englands Verordnungsrecht weder in Frankreich noch in Deutſch-
land bis auf Gneiſt verſtanden hat. Nur der Unterſchied zwiſchen Geſetz und
Verordnung und der Unterſchied von Klage und Beſchwerde, ſtrenge und im
Princip durchgeführt, zeigt uns das wahre Weſen der engliſchen Zuſtände, die
wiederum alle bürgerliche Freiheit ertödtet hätten, namentlich in den untern
Sphären des bürgerlichen Lebens, wenn nicht die Thätigkeit und die geſetzliche
Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung in allen Gebieten der öffentlichen
Zuſtände jener Verordnungsgewalt der Friedensrichter nur einen ſo engen Raum
übrig gelaſſen hätte. Eben das iſt auch die, nirgends in dem Maße ſo ent-
ſcheidend hervortretende Bedeutung des selfgovernment in England, von dem
wir ſpäter zu reden haben. Es iſt gerade darum die Baſis der engliſchen
Freiheit, weil das Verordnungsrecht Englands noch immer —
und wohl für immer — auf der Verſchmelzung der Juſtiz und der
Adminiſtration beruht
.


Ein weſentlich verſchiedenes Bild — aber dennoch auf derſelben feſten
Grundlage des Klag- und Beſchwerderechts — bietet uns nun Frankreich dar.


Das Verordnungsrecht in Frankreich. (La jurisdiction administrative
et le contentieux.)

Wenn wir oben geſagt haben, daß Englands Verordnungsrecht und die
ganze Stellung des Friedensrichters gar nicht zu verſtehen iſt ohne die engliſche,
beſtändig thätige Selbſtverwaltung, ſo iſt andererſeits die franzöſiſche jurisdiction
administrative
nur als der wir möchten ſagen bürgerlich rechtliche Ausdruck der
franzöſiſchen Staatsidee zu begreifen.


Frankreichs ganze Geſchichte zeigt uns ſo weit wir blicken einen beſtändigen
und zum Theil verzweifelten Kampf des neutralen Königthums mit der ur-
ſprünglich in Frankreich ſo gut als in Deutſchland geltenden lehensherrlichen
Selbſtändigkeit. In dieſem Kampfe handelt es ſich eigentlich keineswegs um
gewiſſe allgemeine Principien und abſtrakte Rechtsgrundſätze. Wir ſehen viel-
mehr gleich von Anfang an das Königthum ſich mit ſeinen Beamteten umgeben,
und die Monarchie mit einem Syſteme von Organen umfaſſen, die im Namen
der souveraineté das höchſte Recht im Reiche zu verwalten hatten. Ich darf
dabei wohl auf meine franzöſiſche Rechtsgeſchichte verweiſen, in der dieſer Ent-
wicklungsgang ſeit dem 13. Jahrhundert, wie ich glaube, ſo weit es innerhalb
beſchränkten Raumes möglich war, an den baillis, sénéchaux etc. nachge-
wieſen, und zugleich gezeigt iſt, wie ſich dieſer königlichen Gewalt naturgemäß
die Communes anſchloßen, die im Königthum ihre weſentliche Stütze gegen die
Lehensherrn fanden. Die königliche Gewalt und mithin namentlich die allgegen-
wärtige und einheitliche Funktion der großen königlichen Beamteten war daher
[134] die Quelle der Einheit; in ihr war die wahrhaft ſtaat- und rechtbildende Potenz
gegeben, ſie war das eigentliche Frankreich. Sie hatte daher in Frankreich eine
ganz andere Funktion als in England. Sie ſollte nicht bloß Ruhe und
Ordnung erhalten und ſchaffen, ſondern ſie ſollte in der That die Staatsidee
ſelbſt, gegenüber dem gegebenen Lehenrecht zur Verwirklichung bringen. Sie trat
damit nicht etwa mit ihren einzelnen Thätigkeiten, ſondern ſie trat mit ihrem
ganzen Lebensprincip der Lehens- und Grundherrlichkeit entgegen; ſie konnte
grundſätzlich die Rechtsanſchauungen, welche aus dieſen hervorgingen, für ſich
gar nicht anerkennen; ſie bildete eine Welt für ſich, getragen in der Thätigkeit
und dem Rechte aller einzelnen königlichen Organe. Die natürliche Folge davon
war, daß ſie die Gerichtsbarkeit der aus dem Lehensrecht und der feudalen Selb-
ſtändigkeit der einzelnen Provinzen hervorgegangenen Gerichte für dieſe ihre
Thätigkeit unmöglich anerkennen konnte; ſie durfte in dem Widerſpruch der
letzteren mit dem beſtehenden Recht kein Unrecht anerkennen, ohne mit ſich und
ihrer ganzen Miſſion ſelbſt in Widerſpruch zu gerathen; ſie mußte daher eine
Rechtswelt für ſich bilden und dieſe Rechtswelt für ſich auch verwalten, ohne ſich
dem bürgerlichen Gerichte zu unterwerfen. Schon ſehr frühe nun mußte ſich
allerdings für dieſe, der königlichen centralen Gewalt eigenen, in ihren Beam-
teten vertretenen Rechtsordnung ein gewiſſes Rechtsprincip, ein höherer gemein-
ſamer Rechtstitel bilden, der dieſelben von dem bürgerlichen Rechte ſchied und
das Maß der Unterordnung des hiſtoriſchen Rechts unter das königliche abgab.
Dieſes Princip ward, wie es in ſolchen Fällen immer geſchieht, Jahrhunderte
lang mehr gefühlt als formulirt; es war der Gedanke, daß die Bedingungen
und Intereſſen der Einheit und Gemeinſamkeit, wo ſie mit dem geltenden Recht
in Colliſion kamen, ſich das letztere im Namen Frankreichs unterordneten. Die
tiefe Wahrheit, die in dieſem Gedanken lag, ward nun aber zum Untergang der
Freiheit dadurch, daß das franzöſiſche Volk als Ganzes ſeine Geſetzgebung ſchon
mit dem 15. Jahrhundert verlor, und die Unfreiheit der landesherrlichen Selbſt-
verwaltung eine ſelbſtändige Thätigkeit der Gemeinden ſo gut als ganz un-
thunlich machte. Die königliche Gewalt mußte daher — und gerne genug that
ſie es — die geſetzgebende Funktion des Parlaments und des selfgovernment
Englands übernehmen und ſich mithin ihr eigenes Recht bilden. Dieſem Princip
gegenüber erhielt ſich nun die feudale Selbſtändigkeit weſentlich in dem Syſtem
der franzöſiſchen Parlamente. In ſie flüchtete ſich gleichſam der Grundſatz,
daß die Geſammtheit des Volkes ein Recht auf Theilnahme an der geſetzgebenden
Gewalt habe, und daß daher auch gegenüber der Verordnungsgewalt des könig-
lichen Organismus das beſtehende Recht durch die bürgerlichen Gerichte ver-
mittelſt des Klagrechts noch eine Vertretung finde. Auf dieſem Grunde beruht
die neuere Verfaſſungsgeſchichte ſeit der Mitte der 17. Jahrhunderts. Unter
Ludwig XIV. geht die ſtändiſche Theilnahme — das Recht der États provinciaux
und États de France an der geſetzgebenden Gewalt zu Grunde, und das Wort:
l’État c’est moi! bedeutete daher in Wahrheit durchaus nicht, daß der König
der Staat, ſondern daß er der Herr der Stände ſei. Unter Ludwig XV.
verſuchen die Parlamente den Kampf aufzunehmen, indem ſie das gerichtliche
Verfahren auf Grundlage einer Verordnung verweigern, und den Grundſatz
[135] aufſtellen, daß, wie wir jetzt wiſſenſchaftlich ſagen müſſen, eine Verordnung nur
dann ein Geſetz wird, wenn das Parlament ſie als Geſetz anerkennt. Dieſe
Anerkennung geſchah dann förmlich durch die Eintragung in die Bücher der
Parlamente, oder durch das Enregistrement. Das Recht der Parlamente ward
nun zwar vom Könige anerkannt, aber derſelbe behielt ſich das Recht vor, die
Enregistrement auch gegen den Willen des Parlaments zu befehlen, und damit
ſeiner Verordnung die Kraft eines Geſetzes zu geben. Das geſchah durch das
ſogenannte Lit de justice. So ward die Selbſtherrlichkeit des Königthums
hergeſtellt; aber eben in den Parlamenten blieb die Idee des Geſetzes im Gegen-
ſatz zu der Verordnung lebendig, und von dieſem Geſichtspunkte müſſen die Er-
ſcheinungen unter Ludwig XVI., die Ereigniſſe unter Meaupou und Maurepas
erklärt werden, was uns hier zu weit führen würde. Jedenfalls aber leuchtet
es ein, daß in dieſem zum Theil ſehr ſcharfen Gegenſatze die verordnende und
vollziehende Gewalt des königlichen Organismus, wenigſtens ſo weit ſich dieſelbe
auf ſtaatliche Rechte und Intereſſen bezog, ſich dem Syſtem jener
bürgerlichen Gerichte unmöglich unterwerfen konnte, wenn ſie nicht der unzweifel-
haften Verurtheilung gewiß ſein wollte. Sie mußte daher, indem ſie dem
letztern das rein bürgerliche Recht als ihre Domäne überließ, das öffentliche
Recht, als ganz in ihrer ausſchließlichen Competenz liegend, aufſtellen, und dieß
mit ihren eigenen Organen verwalten. So entſtanden ſchon lange vor der
Revolution zwei große, ſelbſtändige, principiell von einander geſchiedene Rechts-
gebiete; und nun muß man die Thatſache feſthalten, daß die Revolution dieſes
Frankreich eigenthümliche Verhältniß weder geſchaffen noch geändert, ſon-
dern es nur ſcharf und geſetzlich formulirt hat, und daß noch gegen-
wärtig
der geſammte öffentliche Rechtszuſtand der Verwaltung nichts anderes
iſt, als eine organiſche Ausbildung des obigen Verhältniſſes. Wir müſſen daher
die Idee des franzöſiſchen Verordnungsrechts und des Contentieux weder mit
England noch mit Deutſchland vergleichen; wir müſſen ſie vielmehr aus der
Staatsidee Frankreichs — in der That eben das, was wir die Individualität dieſer
ſtaatlichen Perſönlichkeit nennen müſſen — entwickeln. Ihr innerer Zuſammen-
hang mit den Grundſätzen des revolutionären Rechtslebens iſt folgender.


Die Revolution, indem ſie die Idee der ſtaatlichen Einheit Frankreichs
unbedingt annimmt, ſtellt den Grundſatz auf, daß dieſe Einheit nicht mehr im
Königthum, ſondern in der „Nation“ ruhe; „la souveraineté appartient à la
nation, elle est une et indivisible.“
Alles pouvoir exécutif geht von dieſer,
das Königthum vertretenden Nation aus, die Folgen dieſes Princips greifen
ſofort auf das Tiefſte ins Verwaltungsrecht hinein. Die Nation macht aller-
dings das Geſetz, die loi. Allein das kann auch eben nur die Nation als
volonté générale; ihr Recht darauf iſt un, indivisible; mithin iſt grundſätzlich
jeder ſelbſtändige Wille eines Theiles oder Gliedes des Ganzen, und mit-
hin auch die ſelbſtthätige Willensbeſtimmung der Selbſtverwaltung ausge-
ſchloſſen
; es gibt nicht bloß keine Selbſtverwaltung in Frankreich, es kann
keine
geben; ſie iſt ihrem innerſten Weſen nach im Widerſpruch mit der fran-
zöſiſchen Staatsbildung; die weitere Folge davon iſt, daß allerdings das pouvoir
exécutif
dem Geſetze zu gehorchen hat; wo aber ein Geſetz eben nicht exiſtirt,
[136] oder wo die sonveraineté der Einheit mit der Auslegung des Geſetzes in Col-
liſion kommt, da muß die vollziehende Gewalt ſich ſelbſt ihre Rechtsordnung
bilden und verwalten. Die Geſammtheit dieſer, die Verordnung und Voll-
ziehung umfaſſenden Thätigkeiten iſt nun der ächt franzöſiſche Begriff der
administration. Dieſelbe bedeutet demnach keineswegs bloß die Vollziehung des
Geſetzes, ſondern ſie iſt die Verwirklichung der souveraineté une et indivisible,
der Staatsidee, des Staatsintereſſes gegenüber auch dem bürgerlichen
Rechte
. Wo beide in Conflict mit einander gerathen, da muß mithin das
Einzelrecht dem öffentlichen Recht, das Einzelintereſſe ſich dem öffentlichen In-
tereſſe unterordnen, und da nun der Organismus der Adminiſtration der Träger
und Vertreter dieſes öffentlichen Rechts und Intereſſes gegenüber eben dem
Einzelnen iſt, ſo muß derſelbe auch das Recht haben, das Maß dieſes öffent-
lichen Rechts und Intereſſes zu beſtimmen, d. h. die Verordnungsgewalt geht
demnach ſo weit, wie das öffentliche Intereſſe es fordert. Damit erhält die
Adminiſtration ein, auf ihrer Auffaſſung des öffentlichen Intereſſes beruhendes
Recht; und da nun die Gerichte nur über das poſitive Geſetz entſcheiden, ſo folgt,
daß es jetzt nach der Revolution eben ſo unmöglich iſt, ihnen eine Juris-
diction über die obige Verordnungsgewalt der Verwaltung ein-
zuräumen, als es das vorher war
. Das droit administratif bildet
daher einen Körper für ſich; es iſt das, durch die Verordnungsgewalt beſtimmte,
in den Verordnungen enthaltene Recht des öffentlichen Intereſſes
gegenüber dem Einzelnen, oder, wie Block es in ſeinem Dictionnaire kurz und
klar definirt: „Le droit administratif est cette partie du droit qui règle les
rapports des citoyens avec les services publics et des services publics
entre eux“
und (v. administration) „l’administration est chargée des intérêts
généraux
tandis que la jusctice a pour mission la solution des difficultés
qui s’élèvent entre des intérêts privés
(ſ. auch oben unter Verwaltungsrecht).


Die Folge dieſes Grundſatzes war zuerſt, daß eine objektive Gränze
zwiſchen Geſetz und Verordnung für die Verhältniſſe, in welchen intérêts publics
und privés einander berühren, nicht gefunden werden konnte. Denn eine Menge
der letzteren, ſelbſt wo ſie vom Geſetz geordnet ſind, fiel natürlich unter die
erſteren; hätte man daher das Princip durchführen und für jede Aktion der
Adminiſtration ein Klagrecht einräumen wollen, wo ein geſetzlich anerkanntes
Privatrecht exiſtirte, ſo würde man die Funktion der einheitlichen Adminiſtration
damit im Geiſte der franzöſiſchen Staatsbildung eigentlich vernichtet haben. Die
franzöſiſche Geſetzgebung kam daher ſchon unter der Revolution zu dem ſtrenge
formulirten, im Geſetze vom 17—22. Auguſt 1790 ausgeſprochenen Grundſatz,
daß das Gericht niemals über Handlungen der Adminiſtration urtheilen könne
und dürfe
(ſ. oben). Dieſer Grundſatz wird nun ganz entſchieden feſtgehalten;
das Princip des franzöſiſchen Verwaltungsrechts iſt daher: es gibt kein bür-
gerliches Klagrecht gegen die Verordnungen
.


Natürlich folgte nun aus dieſem Satze, daß, da man die Verordnungen
denn doch nicht ohne Recht laſſen wollte und konnte, nun ein eigenes und
ſelbſtändiges Gebiet des Verordnungsrechts neben dem Gebiete des bürger-
lichen Rechts entſtehen mußte. Und zwar enthielt dieß Gebiet nicht bloß das
[137] Verhältniß der Verfügungen zu den Verordnungen, ſondern auch alle diejenigen
Fälle, in welchen die Verordnungen des Amts das geſetzliche Recht des Ein-
zelnen im öffentlichen Intereſſe berühren. Dieß Verhältniß nun wird auf die
klarſte Weiſe ſeit dem Anfange dieſes Jahrhunderts anerkannt. Die Thätigkeit
der Amtsgewalt iſt dem Gerichte entzogen und der Entſcheidung der höhern
Stellen ausſchließlich übergeben (ſ. oben). Schon die Const. de l’an VIII
ſagt im Art. 75: les agents du Gouvernement ne peuvent être poursuivis
pour les faits rélatifs à leur fonctions qu’en vertu d’une décision du Con-
seil d’État
(ſ. unten das Weſen des Conseil d’État). Allerdings ſagt Laferrière
(Droit administratif I. Ch. II.): „Cet article n’est pas réproduit dans la Consti-
tution de l’an 1830, mais il est dans nos moeurs publiques.“
Uebrigens hat das
Decret vom 25. Januar 1852 unter dem Conseil d’État ihn doch anerkannt.


Innerhalb dieſes Gebietes entſtand dann, da man es als einen ſelbſtändigen
Rechtskörper anerkannte, nun auch die Nothwendigkeit, ein ſelbſtändiges Syſtem
des Verfahrens für die Einzelnen aufzuſtellen und zwar mit einer dem pro-
ceſſualen Verfahren nachgebildeten Ordnung der einzelnen Akte, ſowie mit einer
förmlichen Organiſation des Conseil d’État als entſcheidender Behörde. Die Ge-
ſammtheit dieſer Organiſation bildet nun das, was die Franzoſen die jurisdiction
administrative
nennen. Die Geſammtheit der Fälle, welche unter die juris-
diction administrative
gehören, bilden das Gebiet des contentieux. Das
Contentieux unterſcheidet ſich nun von dem Klagrechte dadurch, daß es eine
ganze Menge von Fällen enthält, die unzweifelhaft dem bürgerlichen Rechte
gehören, die aber durch den oben bezeichneten Entwicklungsgang des droit ad-
ministratif
der Verwaltung überwieſen ſind; obgleich ſie alſo ihrem Weſen
nach ein Klagrecht enthalten, ſind ſie dennoch in Frankreich geſetzlich oder
durch Gebrauch auf den Weg der Beſchwerde angewieſen; oder, gegen die Ver-
ordnungen gibt es in Frankeich
, ſoweit ſie im intérêt public erlaſſen ſind,
überhaupt ſtatt des Klagrechts nur das Beſchwerderecht desContentieux.


Daraus folgt dann zuerſt eine vollkommene, von allen franzöſiſchen Rechts-
lehrern anerkannte Ungewißheit über die Gränze des droit administratif
und des contentieux. Denn es iſt natürlich vollſtändig unmöglich, die Scheide-
wand zwiſchen dem intérêt privé und général, welche die Gränze des droit ad-
ministratif
enthält, objektiv feſtzuſtellen. Der erſte Blick in jedes Lehrbuch be-
weist dieß. Es folgt zweitens daraus, daß in Frankreich der Streit zwiſchen
Verwaltung und Gericht ein ſtehender Zuſtand iſt, und daß der Conflit de
compétence
(ſ. unten) nicht mehr als Ausnahme, ſondern als ein organiſches
Element der Adminiſtration aufgenommen und ſehr ſcharf ausgebildet iſt; denn
in der That iſt der Begriff des intérêt public ſo unbeſtimmt, daß ſich nirgends
eine Gränze für daſſelbe ziehen läßt. „Le contentieux administratif“ ſagt
Vivien(Etudes adm. I. 125) „se compose de toutes les réclamations fondées
sur les violations des obligations imposées à l’administration par les lois
et règlements
qui la régissent, ou par le contrat qu’elle souscrit.“
Man
kann die Unbeſtimmtheit nicht beſtimmter ausdrücken. Auf demſelben Stand-
punkt ſteht Frankreich auch gegenwärtig, wie Laferrière(Droit adm. L. III.
Ch. III.)
zeigt. Es hilft nicht viel, wenn man mit ihm ſagt: Le contentieux
[138] administratif a sa nature propre, il est sui generis.
Es folgt aber drittens,
daß damit auch das Beſchwerderecht ſelbſt, da es nunmehr eine Menge von
geſetzlichen Anſprüchen zu vertreten hat, ſehr genau ausgebildet und zu
einem förmlichen Verfahren mit einer eignen ſogenannten Jurisprudence ge-
worden iſt. Man kann, wie man ſieht, dieß weite Gebiet nicht kurz abthun;
es muß genügen, den Geiſt des franzöſiſchen Beſchwerderechts bezeichnet zu haben.
Es erklärt ſich aber eben aus dieſer Stellung des letztern, daß ſich allmählig
eine Reihe von Grundſätzen feſtgeſtellt haben, welche als Baſis der Scheidung
des droit administratif von dem droit civil betrachtet werden, und daher die
Principien für die Entſcheidung der Frage abgeben, wann eine Beſchwerde
auch bei verletztem bürgerlichem Recht ſtatt einer Klage einzubringen iſt. Dieſe
ziemlich allgemein anerkannten Grundſätze, die Gränze des Beſchwerderechts ent-
haltend, ſind folgende: eine Beſchwerde iſt zuläſſig und geboten: 1) quand il
y a un act spécial ou un fait particulier d’administration; 2) quand la
réclamation est fondée sur un droit acquis; 3) quand la réclamation se
rapporte à un intérêt de l’ordre administratif
(ſ. u. A. LaferrièreVol. II,
L. III. Ch. III.)
Fügt man indeß hinzu, daß Laferrière allein ſechs Claſſen
von intérêts de l’ordre administratif entwickelt, ſo begreift ſich, daß die Zu-
ſtändigkeit des bürgerlichen Gerichts faktiſch, wie geſagt, vollſtändig ausge-
ſchloſſen
iſt, ſo wie es ſich um irgend eine Verordnung der Adminiſtration
auch bei dem unbezweifeltſten geſetzlichen Rechte handelt oder, nach Laferrière,
„ne sont point soumis au recours par la voie contentieuse — les ordon-
nances
ou arrêtés règlementaires qui préscrivent des mesures d’administration
publique, de police, et d’organisation ou division administrative; les rè-
glements qui concernent les intérêts collectifs(?) de l’agriculture, du commerce,
de l’industrie; les actes du pouvoir discrétionnaire de l’administration,
qui peuvent blesser des intérêts sans lésir des droits acquis.“
In allen dieſen
Fällen gibt es alſo überhaupt kein Beſchwerderecht, geſchweige denn ein Beſchwerde-
recht der voie contentieuse; es gibt nur noch die voie gracieuse, das Recht
des Geſuchs. Natürlich machen dieſe Beſtimmungen den ganzen Werth der in
der ſtrengen Ordnung des franzöſiſchen Beſchwerderechts am Ende liegt, wieder
illuſoriſch, und die Juriſten haben daher von jeher verſucht, jenem droit de
la voie contentieuse,
die am Ende mehr im Rechte als im Verfahren mit
dem Klagrecht im Widerſpruch ſteht, gegenüber der voie gracieuse Boden ab-
zugewinnen. Dieß Streben, das ſolche Forderungen auf Rechtsgründe zurück-
führen wollte, iſt es dann wieder, welches die Lehre vom droit administratif in
Frankreich viel weiter ausgebildet hat, als in irgend einem Lande der Welt,
und welches bei der theoretiſchen Auffaſſung der Verwaltung gerade in Frank-
reich den Geſichtspunkt des Rechts dem des öffentlichen Nutzens ſtets voran-
ſtellt, obgleich dieß Recht im Grunde nur ein Verordnungs- und kein Geſetzes-
recht iſt. Endlich erklärt ſich daraus zwar einerſeits die Ueberzeugung in der
franzöſiſchen Theorie, daß es bei allem Streben nach Codification dennoch nie-
mals einen Code du droit administratif geben kann, andererſeits die Klarheit,
die über das innere Weſen der Verordnungsgewalt durch die juriſtiſche Beſchäf-
tigung mit demſelben gewonnen iſt, und die wir namentlich in der deutſchen
[139] Literatur ſo ſchmerzlich vermiſſen. Die Grundlagen für die daraus entſtandene
Theorie, die wir daher als Grundlage für die Formen des Beſchwerderechts an-
erkennen dürfen, ſind ſehr einfach. Die Verordnungsgewalt ſelbſt iſt entweder
da, wo ſie allgemeine Beſtimmungen erläßt, die mithin unſerem Begriffe der
Verordnungen entſprechen, das pouvoir règlementaire; wo ſie dagegen ſich nur
auf die Verhältniſſe Einzelner bezieht, erſcheint ſie als pouvoir discrétionnaire.
Gegen die Beſtimmungen des pouvoir règlementaire hat die betreffende Partei zuerſt
die opposition zu bilden, eine Eingabe, deren Grundlage eine geforderte Leiſtung
iſt, oder eine pétition, welche beim Sekretariat der Präfektur abgegeben wird.
Darauf entſteht ein förmliches Verfahren, genau wie bei dem bürgerlichen
Gerichte; das Conseil de Préfecture als erſte Inſtanz (in den meiſten Fällen)
kann Zwiſchenurtheile (arrêtés préparatoires und ſelbſt interlocutoires) zur
Inſtruktion der Sache erlaſſen; die Einreden werden gehört bis zum Schluß-
urtheil, dem arrêté définitif. Auf dieß arrêté définitif folgt die Appellations-
friſt, die bis zur begonnenen Exekution läuft; gegen die Zwiſchenurtheile gibt
es keine Appellation. Dieſe letztere heißt der Rekurs; er geht meiſtens direkt
an den Conseil d’État. Vor dieſem findet dann ein förmliches gerichtliches
Verfahren ſtatt. Dieß gerichtliche Verfahren iſt in ſeinen Grundzügen bereits als
Règlement pour le Conseil d’État im Jahr 1738 von d’Agueſſeau beſtimmt,
das Reglement vom 22. Juli 1806 hat es nur weiter ausgebildet und klarer
gemacht; im Jahr 1832 wurde den Sitzungen der Abtheilungen des Conseil
d’État en matière contentieuse
die Oeffentlichkeit verliehen; das Reglement vom
30. Januar 1852 fügte noch einige weitere Beſtimmungen hinzu, und damit iſt
jetzt dieſe Abtheilung des Conseil d’État zum förmlich anerkannten oberſten
Gerichtshofe für das Verordnungsrecht
geworden, ſoweit das droit
administratif
reicht, während eine andere Abtheilung deſſelben Conseil d’Etat
den Conflikt zwiſchen der Adminiſtration und dem droit civil entſcheidet. Das
genauere Verfahren iſt für die Gegenwart am beſten bei Laferrière(C. de
droit adm. L. III. Ch. II.)
dargeſtellt. Inſofern es ſich jedoch um das pouvoir
discrétionnaire
handelt, kann von einem ſolchen Proceß natürlich keine Rede
ſein. Dieſer letztere heißt daher auch die voie contentieuse; ſie tritt ein, quand
un acte blesse un droit, résultant d’une loi, d’une ordonnance ou d’un
contrat;
gegen das pouvoir discrétionnaire dagegen gibt es nur die voie
gracieuse
,
und dieſe greift Platz, quand un acte blesse ou froisse un intérêt.
Dieß ſind die Grundlagen des franzöſiſchen Rechts für Klage und Beſchwerde.


Vergleicht man nun dieſen Rechtszuſtand mit dem oben dargeſtellten eng-
liſchen, ſo muß man ſagen, daß während in England das Beſchwerderecht in
dem Klagrecht untergegangen iſt, in Frankreich umgekehrt das Klagrecht nur
noch als Beſchwerderecht erſcheint. So weit das franzöſiſche Recht endlich in
ſeiner jurisdiction administrative mit dem natürlichen Gebiete des Beſchwerde-
rechts zu thun hat, iſt es ohne Zweifel das bei weitem ausgezeichnetſte in Eu-
ropa; ſein Mangel und ſeine Gefahr liegt nur darin, daß das Beſchwerderecht
und die Adminiſtrativjuſtiz auch über die geſetzlichen Rechte urtheilt, ſowie
ſie durch eine Verordnung verletzt werden. Die Souveränetät der Verwaltung,
die hier ganz klar ausgeſprochen iſt, wird indeß weſentlich gemildert erſtens durch
[140] die Verantwortlichkeit der höchſten verordnenden Gewalt, zweitens aber und
weit ſicherer durch das ſtreng geſetzliche und zum Theil öffentliche Verfahren
der höchſten entſcheidenden Behörde bei jeder Beſchwerde. Frankreichs Jurisdiction
administrative
muß daher als ein Muſter für das ganze europäiſche Syſtem
des Beſchwerdeſyſtems aufgeſtellt werden, ſowie man derſelben grundſätzlich das
Gebiet des Klagrechts — alſo den Fall des Widerſpruches zwiſchen Ge-
ſetz und Verordnung — entzieht, und es auf das eigentliche Ge-
biet des Verordnungsrechts zurückführt
.


Das Verordnungsrecht in Deutſchland. Die ſogenannten
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen
.

Nachdem die Frage nach dem Rechte der Verordnung und der Verwaltung
gegenüber dem geſetzlichen Recht, namentlich unter dem bekannten Gegenſatz der
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen; eine vollſtändige Bibliothek von Schriften her-
vorgerufen hat, ohne doch zur Klarheit und zum Abſchluß zu gelangen, müſſen
wir es für eine ziemlich nutzloſe Mühe halten, auf die Anſichten der Theorie
hier weiter einzugehen, und vielmehr uns zur Aufgabe machen, auf Grundlage
des Unterſchiedes von Geſetz und Verordnung einerſeits, und Klage und Be-
ſchwerde andererſeits eben nur den gegenwärtigen Zuſtand der beinahe hoff-
nungsloſen Verwirrung zu erklären, in dem ſich die deutſche Theorie, und den der
großen Verſchiedenheit und Unklarheit, in dem ſich die deutſche Geſetzgebung
befindet.


Zum Grunde legen muß man dabei den obigen Unterſchied zwiſchen Juſtiz-
und Adminiſtrativſachen. Unter Juſtizſachen verſteht man nämlich bekanntlich
jeden Streit, der vor das Gericht gehört, alſo in welchem nach unſerm Begriff
das Klagrecht Platz greift; unter Adminiſtrativſachen jeden Fall, in welchem
die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen iſt, und die Entſcheidung von der
Verwaltungsbehörde abhängt, d. i. wo ein Beſchwerderecht eintritt.


Dieſe Unterſcheidung, an ſich ſchon wichtig genug, wird es nun doppelt,
ſobald der Proceß der innern Staatsbildung lebendig wird und die geſetz-
gebende Gewalt gegenüber der vollziehenden ſich zur Geltung zu bringen trachtet.
Die Gränze zwiſchen beiden bezeichnet alsdann offenbar die Linie, innerhalb
welcher die Vollziehung ſich frei bewegt, und jenſeits derer das geltende Recht
ihrem Eingreifen eine feſte Schranke ſetzt. Daß bei einer Entwicklung des
Staatslebens, in der wie in Frankreich nicht eben die geſetzgebende Gewalt
die verfaſſungsmäßige Ordnung ſelbſt herſtellt, ſondern wie in Deutſchland
dieſe Verfaſſung eigentlich von dem Haupte der vollziehenden Gewalt ge-
geben wird, in der alſo, wie wir geſehen, der Begriff des Geſetzes
nicht feſtſteht
, ſondern beſtändig mit dem der Verordnung verſchmolzen iſt,
eben jene Gränze doppelt wichtig, und demnach doppelt ſchwer zu ziehen ſein
wird, iſt einleuchtend. Die deutſche Theorie, der ein ſo großer Theil an der
Bildung des öffentlichen Rechtes zugefallen iſt, hat die Wichtigkeit und Schwierig-
keit der Sache gefühlt. Da ihr aber der Begriff des Geſetzes und der Ver-
ordnung fehlte, ſo gelangte ſie nicht dazu, die Begriffe von Klagrecht und Be-
ſchwerderecht feſtzuſtellen. Sie verſtand daher eben ſo wenig das engliſche Recht,
[141] als das franzöſiſche. In der Nothwendigkeit ſich zu helfen, kam ſie aber dazu,
unter dem mächtigen Eindrucke, den ihr die Klarheit des eben dargeſtellten fran-
zöſiſchen Syſtems machte, daſſelbe in ihrer etwas beengten Weiſe zu formuliren,
indem ſie den — allerdings hoffnungsloſen — Verſuch machte, die Gränze des
geſetzlichen und des Verordnungsrechts nicht in einem allgemeinen Princip oder
Begriff, ſondern in der Bezeichnung der einzelnen Sachen zu ſetzen,
deren Entſcheidung den Gerichten oder den Verwaltungsbehörden zufallen ſolle.
So entſtanden die beiden Kategorien der Juſtizſachen und der Verwaltungsſachen.
Und dieſe Unterſcheidung iſt das Unheil der ganzen Theorie geweſen, ſo ſehr, daß
Theoretiker erſten Ranges wie Zachariä geradezu an einer Klarheit über das
Reſultat verzweifelt ſind.


Und mit Recht, denn es iſt abſolut falſch, einen ſolchen Unterſchied als
Grundlage des Rechts durchführen zu wollen. Es iſt im Gegentheil, denken
wir, vollkommen einleuchtend, daß es gar keinen Akt der Verwaltung gibt —
mit Ausnahme des Belagerungszuſtandes — in welchem nicht die Organe der
vollziehenden Gewalt ein beſtehendes Geſetz verletzen könnten. Iſt das der Fall,
und kann man eben nicht beſtreiten, daß ſolche Verletzungen des Geſetzes immer
von einem Gericht zu entſcheiden ſind, ſo iſt es gleichfalls unmöglich, einen Theil
der Thätigkeit der Vollzugsorgane den Gerichten principiell zu entziehen,
und die Entſcheidung über dieſelbe unter allen Umſtänden den Verwaltungs-
behörden ihrer Natur nach zuzuweiſen; das iſt eben, Juſtiz ſachen und Ad-
miniſtrativſachen als theoretiſch feſte Kategorien aufzuſtellen. Man muß im
Gegentheil ſagen, daß für die Wiſſenſchaft eine ſolche Scheidung ein ganz
unlösbarer Widerſpruch mit dem Weſen des Gerichtes ſelbſt iſt; jeder Verſuch,
ſie auf die natürliche Funktion von Gericht und Vollziehung zurückzuführen,
hebt eben das Weſen des Gerichts ſelber auf, und gelangt daher zu abſoluter
Verwirrung. Im Gegentheil iſt aus der Natur der Sache wohl das nun-
mehr klar, daß jede Thätigkeit der vollziehenden Organe, wenn ſie mit dem
beſtehenden Geſetze in Widerſpruch tritt, dem Gerichte oder dem Klagrecht,
wenn ſie dagegen bloß mit der Verordnung in Widerſpruch tritt, der höhern
Behörde und damit dem Beſchwerderecht anheimfällt, das letztere ſelbſt dann,
wenn die Verordnung das Geſetz erſetzt, weil ſtreng logiſch und juriſtiſch die
verordnende Gewalt, wie ſchon oben dargelegt, das Recht hat, ihren Willen
jeden Augenblick zu ändern, ſo gut wie die geſetzgebende. Wo dieß Uebel-
ſtände erzeugt, iſt es Sache der Geſetzgebung, das zu ändern; ſo lange das
Geſetz mangelt, iſt jeder Streit über den Inhalt einer Verordnung — ſelbſt bei
den ſogenannten proviſoriſchen Geſetzen — Angelegenheit der vollziehenden Gewalt.
Es folgt aber daraus, daß es dem Weſen der Sache nach gar keine
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen gibt
, ſondern daß jede „Sache“ je
nach dem Verhältniß zu Geſetz oder Verordnung ſowohl Juſtiz- als Ad-
miniſtrativſache ſein, d. h. wiſſenſchaftlich ausgedrückt, Gegenſtand einer Klage
oder einer Beſchwerde werden kann.


Daneben nun, und das iſt die Quelle ſo vieler Mißverſtändniſſe, kann
allerdings die poſitive Geſetzgebung eine Reihe von Thatſachen der Ver-
waltung, obgleich ſie ihrer Natur nach dem Klagrechte unterworfen ſind, der
[142] Entſcheidung der Verwaltung unterwerfen. In dieſem Falle gibt es innerhalb
der gerichtlichen Competenz eine zweite adminiſtrative; aber ein Theil des Klag-
rechts iſt dann geſetzlich dem Beſchwerderecht unterworfen; oder es gibt Juſtiz-
ſachen, welche geſetzlich Adminiſtrativſachen ſind. Das aber kann nur durch be-
ſondere Geſetze geſchehen, und daher auch in jedem Staate verſchieden ſein,
während das poſitive Recht des einen Staates keine Conſequenz für den
andern bildet
. Es iſt klar, daß damit keine wiſſenſchaftliche Begriffsbeſtim-
mung gefunden werden kann; die ganze Beſtimmung iſt hiſtoriſch aus den deut-
ſchen Rechtsverhältniſſen und der franzöſiſchen justice administrative entſtanden,
und erſcheint zuletzt als eine Sache der Zweckmäßigkeit. Geht man nun gar ſo
weit wie die deutſche Theorie, aus dieſen verſchiedenen geſetzlichen Ausnahmen
von dem Principe ſelbſt ein Princip für die Entſcheidung einzelner Fälle be-
ſtimmen, und daraus ein geltendes deutſches Verordnungsrecht bilden zu
wollen, ſo wird man in unabſehbare Widerſprüche verfallen.


Um nun aber den Zuſtand der deutſchen Auffaſſung erklären zu können,
muß man zwei Perioden derſelben, und mit ihnen zwei Tendenzen unter-
ſcheiden.


Die erſte dieſer Perioden reicht bis zur Bildung der neuen Verfaſſungen.
Ihre Grundlage iſt der früher ſchon geſchilderte Zuſtand der Geſetzgebung. Die
Theilnahme der Landesvertretung war bei der Geſetzgebung faktiſch aufgehoben;
die Verordnung war Geſetz und der Landesherr daher mit der vollen Kraft
der Geſetzgebung ausgerüſtet. Eine Gränze für Klag- und Beſchwerderecht war
mithin unauffindbar; im Grunde war das Klagrecht überhaupt gegenüber dem
Inhalt der landesherrlichen Verordnung verſchwunden. Die auf’s höchſte ge-
fährdete Selbſtändigkeit des Staatsbürgerthums flüchtete ſich daher gegenüber
dieſer Allgewalt der Verwaltung — oder wie ſie damals hieß, der Polizei — in
das Gebiet des Privatrechts, indem ſie den Beſitz öffentlicher Rechte zugleich als
Privatrecht erklärte. So entſtand die Theorie, daß jede Verordnung alsdann
Gegenſtand der Klage, alſo Juſtizſache ſei, wenn ſie einen Privatrechts-
titel angreife, während die Verhältniſſe des öffentlichen Intereſſes nur Gegen-
ſtand der Beſchwerde werden. Wir verweiſen in dieſer Beziehung namentlich
auf Berg, Polizeirecht, I. 144 ff. Seine Hauptgrundſätze, die auf den hiſto-
riſchen Verhältniſſen beruhen und nur durch ſie erklärt werden können, ſind:
die Vermuthung iſt ſtets für Juſtizſache (und alſo für das Klagrecht), die
Prävention entſcheidet; bei Eigenthumsfragen iſt unbedingtes Klagrecht
geſtattet (ſchon bei Pütter, im Jus publ.); die Ueberſchreitung der Po-
lizeigewalt
gehört vor den Richter, und gibt daher ein Klagrecht; das Ver-
fahren iſt dabei das des bürgerlichen Proceſſes; das Beſchwerderecht iſt neben
dieſem Klagrecht ganz ſelbſtändig. Läßt man nun die unglückliche Aufthei-
lung in Juſtiz- und Adminiſtrativſache weg, ſo liegt hier ſchon ein Syſtem vor,
das auch unſrer Zeit vollkommen genügen könnte. Die Staatsgewalt ihrerſeits
verhielt ſich gegen dieſe Theorie ziemlich gleichgültig; ſie hielt einfach daran feſt,
daß ſie das Recht habe, zu beſtimmen, welche Thatſachen ſie ihren Behörden
zur Entſcheidung vorbehalte. Natürlich entſtand auf dieſe Weiſe für die Wiſſen-
ſchaft kein Princip und für die Praxis keine Gleichartigkeit; das deutſche Recht
[143] beſtand ſchon amals nur in der Hoffnung, daß es einmal entſtehen werde. Den
Ausdruck dieſes Zuſtandes bilden namentlich die Lehre von Moſer und Struben.
An eine objektive Gültigkeit derſelben dachte Niemand.


Die zweite Periode hat allerdings einen weſentlich verſchiedenen Charakter.
Mit dem Auftreten der Verfaſſungen entſteht der Gedanke, daß Geſetz und
Verordnung verſchieden ſeien. Mit dem aufkeimenden Begriff vom Geſetz entwickelt
ſich der weitere Satz, daß die Entſcheidung über das Geſetz nur den Gerichten
zuſtehe. Die alte Vorſtellung, daß eine Juſtizſache ſich auf das geltende Privat-
recht beziehe, wird wankend. Man begreift, daß auch ein Akt der Verwal-
tungsbehörde dem Geſetze entgegentreten, und daher Gegenſtand der Gerichte
ſein könne. Die Grundlagen des richtigen Syſtems vom Klagrecht und Be-
ſchwerderecht ſind daher gelegt. Allein ſie kommen nicht zum Durchbruche, und
zwar weſentlich aus zwei Gründen. Erſtlich iſt der Begriff des Geſetzes nur
noch höchſt unklar und unbeſtimmt vorhanden, und daher eine ſcharfe Begränzung
jener beiden Begriffe faſt unthunlich. War das geltende Verordnungsrecht aus
früherer Zeit Geſetz? Waren die conſtituirenden Verordnungen Geſetze? Wo
war die Gränze für die Begriffe von „Freiheit und Eigenthum,“ für welche die
landſtändiſche Zuſtimmung nothwendig war? Konnte man unter irgend einem
Rechtstitel das Recht des Einen Staats zur Interpretation des Rechts des
andern brauchen? Und wie war es daher möglich, von einem feſten Begriff
der „Juſtizſachen“ zu reden? Andererſeits war es nicht minder klar, daß es
höchſt bedenklich erſcheinen mußte, mitten in dem gewaltigen Proceß der recht-
lichen Bildung der öffentlichen Zuſtände, die Möglichkeit aufzuſtellen, jede Aktion
der Verwaltung mit einem förmlichen bürgerlichen Proceß zu bedrohen, während
man ſich ſagen mußte, daß gewiſſe Funktionen niemals dem Klagrecht, ſondern
immer dem Beſchwerderecht unterworfen bleiben. Unter dieſen Umſtänden war
es nun ſehr natürlich, daß man ſich an das glänzende Beiſpiel Frankreichs an-
ſchloß, und grundſätzlich eine Menge von Thätigkeiten der Verwaltungen auch
dann vom Klagrecht ausſchloß, wenn ſie ihrem Weſen nach unzweifelhaft dem-
ſelben unterworfen geweſen wären. Aber dieſe Scheidung erwies ſich, abgeſehen
von allem andern, bald als höchſt unvollſtändig. Allerdings verſuchte man,
und verſucht man noch, die Idee einer materiellen Trennung von Juſtiz- und
Adminiſtrativ ſachen durchzuführen, und das dadurch zu erreichen, daß man
eine Reihe von Merkmalen oder Definitionen aufſtellt, mit welchen man ſie
ſcheiden will. Es liegt auf der Hand, daß jeder ſolcher Verſuch ganz nutzlos
ſein muß; und zwar um ſo mehr, als man dabei immer ein deutſches Staats-
recht im Auge hat, das ja eben nicht exiſtirt, während man ſich hätte ſagen
ſollen, daß man ſtatt deſſelben nur eine Zuſammenſtellung der deutſchen Staats-
rechte zu geben hatte. Andererſeits hatte man — wir können es unbedenklich
ſagen — weder den Muth, die gerichtliche Berechtigung der franzöſiſchen Juris-
diction administrative
anzuerkennen, noch auch den, das engliſche Klagrecht
anzunehmen. Das erſte ſchien der ſtaatsbürgerlichen Freiheit gefährlich, das
andere mit der kräftigen Aktion der Staatsverwaltung zu ſehr im Widerſpruch.
Dazu kam die gänzlich verwirrende Tendenz, den Unterſchied der beiden Kate-
gorien nach der Competenz der gerichtlichen und der Verwaltungsorgane
[144] feſtſtellen zu wollen. Es iſt kein Zweifel, daß hier gerade das Umgekehrte ein-
treten muß. Die Competenz ſelbſt nämlich kann ja doch nur die Conſequenz
entweder der Natur der Sache, oder eines beſtimmten Geſetzes ſein. Die
Beſtimmung des Unterſchiedes zwiſchen Adminiſtrativ- und Juſtizſachen aus der
Competenz der Gerichte und Verwaltungsbehörden ſelbſt, ſetzt daher das zu
Entſcheidende als bereits entſchieden voraus, und hebt damit ſich ſelber auf. Alle
dieſe Gründe, zuſammenwirkend, haben daher einen unglaublich verwirrten Zu-
ſtand hervorgebracht. Man wird ihn auch niemals auf der Grundlage
der Juſtiz- und Adminiſtrativſachen klären können. Aber die erſte Bedingung
des Verſtändniſſes wäre denn doch geweſen, die Theorie vom poſitiven Rechte
zu unterſcheiden; und hier müſſen wir geſtehen, daß das poſitive Recht viel
klarer iſt, als die, welche ſich mit demſelben beſchäftigt haben. Wir wollen das
Bild beider neben einander ſtellen.


Unter der Theorie verſtehen wir hier diejenigen, welche aus der Verſchmel-
zung der Betrachtungen über die Natur der Sache und der beſtehenden Geſetze
verſucht haben, ein Ganzes zu ſchaffen. In ihren Ausdrücken ſieht man deut-
lich das Beſtreben, Worte und Begriffsbeſtimmungen zu finden, die zugleich den
franzöſiſchen und den engliſchen Standpunkt anerkennen und vermeiden wollen,
und daher im höchſten Grade unſicher herumgreifen. Wir heben [nur] einige
Koryphäen heraus, da die Maſſe viel zu groß iſt, um ſie zu bewältigen.


Klüber erklärt, die „Einmiſchung (?) des Richters in eigentlichen (?) Po-
lizeiſachen ſei unzuläſſig“ (Bürgerl. Recht §. 389); „Angelegenheiten, welche die
Staatsregierung (?) unmittelbar (?) betreffen, ſind kein Gegenſtand gerichtlicher
Entſcheidung, Juſtizſache iſt, wenn die Rede iſt von wohlerworbenen Privat-
rechten namentlich von ſtreitiger Ausübung verleihbarer Regalien“ — (die
alſo die Staatsregierung nicht unmittelbar betreffen ſollen?). Aretin (Con-
ſtitutionelles Staatsrecht II. S. 227 ff.) ſagt: Privatrechtsſtreitigkeiten — gehören
allernächſt und eigentlich (?) der Juſtiz an; die übrigen Sachen des öffentlichen
Rechts — folglich auch diejenigen wo zwar allernächſt (?) nur Privatperſonen
ſich ſtreiten, aber aus Titeln, welche im öffentlichen Rechte ſich gründen (?),
gehören vor die Staatsgewalt ſelbſt (wer iſt das?) als entſcheidende Behörde.“
Maurenbrecher §. 185 erkennt als Adminiſtrativſachen „ſolche, 1) welche nicht
ſtreitig ſind, 2) welche nicht Streitigkeiten unter Privaten ſind, 3) welche nicht
Streitigkeiten zwiſchen Privaten und der Regierung ſind, über Rechte, die auf
Privattiteln beruhen“ — alſo vollkommen das droit administratif; wer aber
darüber entſcheidet, ob ein Recht auf Privattiteln beruht, und nach welchem Grund-
ſatz, das fehlt. Zachariä (Deutſches Staatsrecht, §. 149) erklärt ſich überhaupt
gegen das Daſein der Adminiſtrativjuſtizſache; in ſeiner Verzweiflung ſagt er:
„es dürfe wohl nie gelingen, einen das innere Weſen der Sache treffenden
Unterſchied zu finden“; „widerſinnig“ ſei es, „nach Rechtsgrundſätzen verwalten
zu wollen.“ Hätte er dazu einen Begriff der Verwaltung gehabt, ſo hätte er
geſehen, daß es denn doch ſo übel mit dem Rechte in der Verwaltung nicht
ſteht. Puchta (Beiträge 1, 204) beſtimmt den Begriff der Adminiſtrativjuſtiz-
ſache dahin, daß es diejenigen Angelegenheiten ſeien, „in welchen nach Grund-
ſätzen der öffentlichen Verwaltung Recht geſprochen wird.“ Die Frage iſt ja
[145] aber eben, ob eine ſolche Entſcheidung nach Grundſätzen der Verwaltung ein
Recht bilden; denn wenn ſie Recht enthält, muß eben das Gericht dieſelbe
treffen, und das iſt ja gerade der Zweifel. Mohl in ſeiner Polizeiwiſſenſchaft
(I. §. 7. 8), dem ſowohl der Begriff der Verordnung als der der Verwaltung
abgeht, nennt die Frage mit Recht eine „berüchtigte,“ hat aber ſelbſt gar keine
Antwort darauf; nur das wird ihm klar „daß die Anſicht gerechtfertigt ſei, daß
wenigſtens (?) die bedeutenderen Straffälle wegen Uebertretung von Polizei-
geſetzen
den Gerichten zu überlaſſen ſeien“ — womit man im Grunde gar
nichts weiß. Planitz in einer neueren kleinen Schrift (Juſtiz und Verwal-
tung. Ein Beitrag zur Feſtſtellung beider Gewalten. 1860), fühlt richtig, daß
man das Weſen beider Organe der Entſcheidung zum Grunde legen müſſe;
aber freilich muß man dann bei dem Begriffe des Staats anfangen, und nicht
damit beginnen, den Staat „zunächſt“ als einen Gerichtshof, und die Verwaltung
als etwas zu betrachten, was ſich „neben der Juſtiz regt.“ Ohne die Beſtimmung
des Begriffes der Verordnung wird die Sache nicht abgethan ſein, noch weniger
durch Illuſtration einzelner Fälle. Mayer in ſeinem Verwaltungsrecht iſt noch
übler daran; S. 39. 40 will er ganz allgemein, daß die Verwaltung „Recht
ſprechen ſoll,“ S. 453 findet er, daß „gewiſſe Akte der Verwaltung nicht Gegen-
ſtand rechtlicher Beſchwerde ſein können;“ S. 456 ſteht die „Erlaſſung allge-
meiner Anordnungen — in der Mitte zwiſchen Aufſtellung allgemeiner Ver-
ordnungen und der Anwendung derſelben auf beſtimmte Fälle“ — alſo wo? —
Und wer hat zu entſcheiden, ob ſie dieſe „richtige Mitte“ zwiſchen Juſtiz und
Adminiſtration verloren haben? — Es wäre leicht, dieſe Specifikation weiter zu
führen; es iſt aber nutzlos.


Im Allgemeinen läßt ſich nun nicht läugnen, daß man ſich in Deutſchland
unendlich viel Mühe gegeben hat, dieſe Frage zu einem klaren Abſchluß zu
bringen. Ein Hauptgrund, woran man ſcheiterte, iſt es, daß man nicht einig
werden konnte, ob man die jedenfalls gültigen Entſcheidungen der höheren Ver-
waltungen als „Recht“ anerkennen ſolle oder nicht, da man bei dem Ausdruck
„Recht“ ſich immer ein Gericht dachte, und den Begriff des franzöſiſchen droit
administratif
nicht annahm, weil man der „Polizei“ eine recht bildende Gewalt
nicht zuerkennen wollte. So ganz Unrecht hat Mayer wohl auch nicht, wenn er
dabei von einem „feindſeligen Geiſte der Gerichte gegen den Staat“ (er meint die
finanzielle und die innere Verwaltung) „bei Anſprüchen der Einzelnen an den
Treſor“ ſpricht. Würde man ſich aber den Begriff des Verwaltungsrechts an-
eignen, ſo wäre die Frage im Weſentlichen entſchieden. Aus demſelben Grunde
iſt die Lehre und das Recht der Competenzconflikte in der deutſchen Theorie
höchſt unklar; darauf kommen wir unten zurück. Merkwürdig, daß Pötzl
(bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 155) ſeine höchſt richtige Bemerkung: „es iſt nicht
ausgeſchloſſen, daß die nämliche Sache in ihrer rechtlichen Beziehung Juſtiz-
ſache ſei, welche in ihrer polizeilichen Richtung von der Polizeibehörde behandelt
wird“ (alſo doch auch gewiß die Beſchwerde zuläßt) „Beiſpiele: Heimath-, Ge-
werbeſachen u. ſ. w.“ — nicht weiter verfolgt hat. Er wäre genau zu unſerem
Reſultat gelangt. Uebrigens ſpricht auch Klüber (Off. R. §. 396) ganz den-
ſelben Satz aus: „Es kann dieſelbe Sache in verſchiedener Beziehung Juſtiz-
Stein, die Verwaltungslehre. I. 10
[146] und Polizeiſache ſein, auch aus einer Polizeiſache in eine Juſtizſache ſich ver-
wandeln“ — der richtige Gedanke geht dann in der Unklarheit über Juſtiz-
und Polizeihoheit zu Grunde.


Während ſo die Theorie für die ganze Frage ziemlich unfruchtbar geblieben
iſt, müſſen wir dagegen anerkennen, daß die poſitive Geſetzgebung viel weiter
gediehen, und zum Theil den Unterſchied zwiſchen Klag- und Beſchwerderecht
ſehr klar und beſtimmt durchgeführt hat. Es iſt ſehr zu bedauern, daß Zöpfl,
der hier am meiſten leiſtet, ſeine Sammlung von einzelnen Beſtimmungen nicht
geordnet hat, weil auch er ſich nicht von der Vorſtellung losmachen kann, daß
der Unterſchied in den „Gegenſtänden“ liegt; er gelangt daher zu einem voll-
ſtändigen Widerſpruch, indem er alle „Gegenſtände, bezüglich deren die
Staatsgewalt in der Form der Geſetzgebung (?), Verordnung oder Vollziehung
thätig wird, Regierungs- oder Adminiſtrativſachen nennt“ — alſo das ge-
ſammte
Rechtsleben, da daſſelbe unter die Geſetzgebung fällt (II. §. 450).
Dennoch iſt er noch der brauchbarſte, wenn man von ſcharfer wiſſenſchaftlicher
Beſtimmung abſieht. Er ſagt — „den Gerichten ſtehen in Bezug (?) auf jene
Verordnungen, welche von Behörden ausgehen (was heißt das?), das Recht der
Prüfung zu — wenn deren Rechtlichkeit und rechtliche Verbindlichkeit
in Frage kommt.“ Wahrſcheinlich denkt er ſich dabei das Verhältniß der Ver-
ordnungen zum Geſetze, denn ſonſt hätte es keinen Sinn, ihre verbindliche Kraft
überhaupt in Frage zu ſtellen. Indeß kann die deutſche Staatsrechtswiſſen-
ſchaft nur auf dem von ihm betretenen Wege weiter gelangen.


Die deutſchen Verfaſſungen faſt ohne Ausnahme ſtehen, und zwar ſchon
von Anfang an, auf dem Standpunkt, zuerſt das Beſchwerderecht der
Unterthanen ausdrücklich anzuerkennen, zum Theil, was höchſt bezeichnend iſt,
ohne ſich über das Klagrecht überhaupt zu äußern. Nur muß man ſich daſſelbe
etwas anders denken. Der Begriff des deutſchen Beſchwerderechts iſt nämlich
urſprünglich nicht der, den die Wiſſenſchaft aufſtellt, ſondern iſt urſprünglich
vielmehr der der landſtändiſchen Beſchwerde, der Gravamina, und zum
Theil mit dem Petitionsrechte verbunden. Daher wird in den meiſten Verfaſſungen
ausdrücklich geſagt, daß die Landſtände und neben denſelben auch der Einzelne
das Recht auf „Vorſtellungen und Beſchwerden“ habe. Das Naſſauiſche Patent
von 1814 ſteht ſogar noch auf dem Standpunkt, die Beſchwerden der Einzelnen
nur durch die Mitglieder der Landſtände vorbringen zu laſſen. Sachſen-
Weimar
von 1816, §. 5, ſpricht allgemein. Baden, Verfaſſung §. 67, ſcheidet
zwiſchen Einzelnen und Ständen; ſo auch Kurheſſiſche Verfaſſung §. 99,
Großherzogthum Heſſen §. 80. 81, Coburg von 1821, §. 78. 79, Braun-
ſchweig
§. 38, Hannover von 1840, §. 47. Daher wird auch noch in der
Deutſchen Reichsverfaſſung von 1849 das Recht auf Bitte, Beſchwerde
und Petition zuſammengeworfen §. 159, §. 160. Die erſten formellen Ausſprüche,
welche das Recht der Beſchwerde anerkannten, ſehen daher in denſelben keine
Beſchwerde gegen Verordnungen, die an die höhere Inſtanz der Behörden ge-
bracht werden müſſen, ſondern „Beſchwerden über Verletzung der conſtitutionellen
Rechte an die Ständeverſammlung,“ jedoch umfaßt der Gedanke unzweifelhaft
auch die eigentliche Beſchwerde und ihr Recht, indem die Verfaſſungen faſt
[147] ausnahmslos beſtimmen, daß „die Stände nur dann auf eine Prüfung derſelben
eingehen dürfen, wenn in der Eingabe nachgewieſen iſt, daß der Beſchwerde-
führer bereits den „geſetzlichen Inſtanzenzug der Staatsbehörden“ er-
ſchöpft, und vergeblich ſelbſt bei der oberſten Regierungsbehörde Abhülfe nach-
geſucht hat,“ ZöpflII. §. 412. Das iſt im Sinne der einzelnen Verfaſſungs-
urkunden, nur iſt der „geſetzliche Inſtanzenzug“ keineswegs immer ausge-
drückt, ſondern einige laſſen die Bezeichnung ganz weg, Baiern §. 21, Baden
§. 67 „geeignete Landesſtellen,“ Württemberg §. 36 „unmittelbar vorgeſetzte
Behörde,“ Großherzogthum Heſſen §. 81 „geſetzliche und verfaſſungsmäßige
Wege bei den Staatsbehörden,“ Sachſen-Altenburg §. 216 wie Baden,
Braunſchweig
§. 114 „bei der Landesregierung,“ und ähnlich Oldenburg
revidirte Verfaſſungs-Urkunde 134, Coburg Geſetz 1852, §. 133. Die Sache
iſt wichtig, weil gerade ein ſolcher geſetzlicher Inſtanzenzug erſt der Beſchwerde
ihre Bedeutung gibt; es ſcheint, daß hier die deutſchen Verfaſſungen wenigſtens
formell noch hinter dem franzöſiſchen Verfahren der jurisdiction contentieuse
zurück ſind, indem die Annahme und Feſtſtellung der Inſtanzen, vorzüglich aber
eine Feſtſtellung eines wie in Frankreich beim Conseil d’État geltenden öffent-
lichen Verfahrens
ein ganz weſentlicher Fortſchritt ſein würde, den die
deutſchen Staaten noch zu thun haben. Einen ſchlagenden Beweis des man-
gelnden Verſtändniſſes liefert hier der ſonſt ſo gründliche Rönne (Preußiſches
Staatsrecht I. §. 99), der das Beſchwerderecht noch immer mit dem Peti-
tionsrechte
verſchmelzt, wodurch natürlich die Strenge des Verfahrens
gänzlich in den Hintergrund tritt. In Preußen iſt das Beſchwerderecht allerdings
in abstracto anerkannt und den Behörden zur Pflicht gemacht, wie ſchon das All-
gemeine Landrecht (II. 20, §. 180) beſtimmt: „auf ſchleunige Unterſuchung und
Abhelfung gegründeter Beſchwerden bedacht zu ſein;“ aber zu einem objektiv
gültigen Beſchwerderecht, welches doch nur in einem geſetzlich aufgeſtellten
Verfahren nach Muſter des franzöſiſchen gedacht werden kann, hat man es
auch dort nicht gebracht. Siehe die einzelnen Citate bei RönneII. §. 66.
Uebrigens iſt für den Grundgedanken des Klag- und Beſchwerderechts in Preußen
die Reichsverordnung vom 8. Mai 1842 höchſt bezeichnend; hier finden wir
ganz und gar den ſtreng franzöſiſchen Standpunkt der justice administrative §. 1:
„Beſchwerden über polizeiliche Verfügungen, ſie mögen die Geſetzmäßig-
keit
, Nothwendigkeit oder Zweckmäßigkeit derſelben betreffen, gehören vor die vor-
geſetzte Dienſtbehörde
. Der Rechtsweg iſt nur dann zuläſſig, wenn die Ver-
letzung eines zum Privateigenthum gehörenden Rechts behauptet wird.“
Und auch dieß nur unter gewiſſen nähern Beſtimmungen.


Neben dieſem allgemeinen gültigen Princip des Beſchwerderechts, das
mithin noch der Entwicklung bedarf, haben einige Verfaſſungen ausdrücklich
das Klagrecht anerkannt, wenn gleich hier die meiſten ſchweigen, und die-
jenigen, die da reden, den Eindruck einer gewiſſen Aengſtlichkeit machen. So
ſagt Württembergiſche Verfaſſungsurkunde §. 95: „Keinem Bürger, der ſich durch
einen Akt der Staatsgewalt in ſeinem auf einem beſonderen Titel (?) be-
ruhenden Privatrechte verletzt glaubt, kann der Weg zum Richter verſchloſſen
werden.“ Viel offener ſagt die K. Sächſiſche Verfaſſungsurkunde §. 49: „Jedem,
[148] der ſich durch einen Akt der Staatsgewalt in ſeinem Rechte verletzt glaubt,
ſteht der Rechtsweg offen.“ Faſt wörtlich übereinſtimmen Kurheſſen §. 35,
Schwarzburg-Sondershauſen §. 176, Oldenburg Art. 48. Unbe-
ſtimmter wieder Hannover Geſetz vom 3. September 1848, §. 10. Dagegen
ſtellt Preußen den Satz auf: „Was nicht in den Privatrechtskreis des
Staats fällt, iſt Regierungsſache und der Zuſtändigkeit der Gerichte völlig ent-
zogen
,“ RönneI. §. 56, S. 201. Gibt es neben ſolchen Widerſprüchen in
den beſtehenden Geſetzen noch ein deutſches Staatsrecht? Und was bedeutet
das, was ZöpflII. §. 453 lehrt, mehr als ein pium desiderium? — Faßt
man aber das bisher Geſagte zuſammen, ſo muß man erkennen, daß das deutſche
Rechtsleben in einem offenbaren Uebergangsſtadium ſich befindet, aus welchem ſich
mit der Zeit das wahre Recht entwickeln wird: die Gültigkeit des engliſchen
Grundſatzes für das Gebiet der Verhältniſſe zwiſchen Geſetz und Verordnung
und des franzöſiſchen für das Verhältniß zwiſchen Verordnung und Ver-
fügung. Nur müſſen wir unſre Aengſtlichkeit ablegen, um das erſte, und unſere
hiſtoriſche Unklarheit, um das zweite zur richtigen Durchführung zu bringen.


III. Das Petitionsrecht.

Das Petitionsrecht, als ein allgemeines ſtaatsbürgerliches Recht,
darf hier ſeinem allgemeinen Weſen nach als bekannt vorausgeſetzt
werden. Daſſelbe gehört aber nicht bloß in das Gebiet der Verfaſſung,
ſondern es bildet gleichfalls ein weſentliches Element in dem Proceß,
der die verfaſſungsmäßige Verwaltung herſtellt. Und zwar erſcheint
daſſelbe hier als diejenige Form des Beſchwerde- und Geſuchsrechts,
welche, indem ſie die Harmonie der Vollziehung mit der Geſetzgebung
vorausſetzt, Uebelſtände, die in der letzteren liegen, aber erſt in der
erſteren zur Erſcheinung kommen, durch einen geſetzgeberiſchen Akt be-
ſeitigt zu wiſſen wünſcht, und ſich deßhalb an das Staatsoberhaupt,
oder an die geſetzgebenden Organe wendet. Wir würden am beſten
dieß die adminiſtrativen Petitionen nennen, die ſich von den
legislativen in ſofern unterſcheiden, als die letzteren nicht wegen
des Mißverhältniſſes der Geſetze zu den beſtehenden Lebensverhält-
niſſen, ſondern zu den allgemeinen Lebensprincipien eine Thätigkeit der
Geſetzgebung ſollicitiren. Der Unterſchied ſcheint ein abſtrakter; in der
That iſt er aber ſehr concret, und hat höchſt poſitive Folgen, die man
bei der auch über das Petitionsweſen herrſchenden Unklarheit faſt immer
gänzlich überſieht.


In der That nämlich hat das Petitionsrecht den weſentlichſten
Theil ſeiner Bedeutung darin gehabt, daß entweder der Grundſatz der
Verantwortlichkeit, oder der des Klag- und Beſchwerderechts nicht ge-
hörig zur Geltung gelangt und anerkannt worden ſind. Betrachtet man
[149] die bisherige Darſtellung beider genau, ſo iſt es wohl kaum zweifel-
haft, daß das gewöhnlich ſogenannte und zum Theil ſogar in den Ver-
faſſungen aufgeführte Petitionsrecht nichts anderes war, als eine höchſt
unklare und deßhalb für gewöhnlich ganz effektloſe, unter Umſtänden
aber für den organiſchen Bildungsgang des Staats höchſt ſtörende und
ſelbſt gefährliche Verſchmelzung der Verantwortlichkeit und des Klag-
rechts. Die Geſchichte zeigt daher auch, daß das adminiſtrative Petitions-
recht in dem Grade ſich auf ſeine wahre Baſis zurückzieht, in welchem
jene Rechte ſich ihrerſeits entwickeln, während das legislative Petitions-
recht ſeine natürliche Funktion ohne Störung beibehält. Geht man
mithin davon aus, daß Verantwortlichkeit, Klagrecht und Beſchwerde-
recht in der Weiſe funktioniren, wie ihre organiſche Natur es fordert,
ſo ergibt ſich das enge Gebiet, auf welches das adminiſtrative Petitions-
recht zurückgeführt werden muß, wenn es nicht ſtatt eines fördernden
ein hemmendes Glied im Staatsorganismus ſein ſoll, in folgenden
Sätzen, mit denen es dann als die natürliche Erfüllung und nicht
mehr als der unnatürliche Stellvertreter jener beiden Rechte erſcheint.


1) Keine Petition kann zuerſt die Verantwortung der vollziehenden
Organe zum Inhalt haben, weder die politiſche noch die juriſtiſche. Die
Ordnung des Staatslebens iſt aufgelöst, wenn die ungeſchiedene Maſſe
eine Funktion übernehmen will, für welche das in der Verfaſſung ſelbſt
geordnete Staatsbürgerthum ſein Organ in der Volksvertretung bereits
niedergeſetzt hat. Das Anklagerecht iſt das Recht der letzteren und kann
nie Gegenſtand einer Eingabe an ſie ſein, ohne ſeine Würde und ſeinen
wahren Erfolg zu verlieren, und die Volksvertretung ſelbſt in ihrer
Funktion herabzuwürdigen.


2) Eine Petition kann eben ſo wenig eine Klage, als eine
Anklage im obigen Sinn enthalten. Eine, durch Petition bei dem
Staatsoberhaupt oder gar bei der Volksvertretung erhobene admini-
ſtrative Klage enthält den Widerſpruch, daß ſie nicht da angeſtellt
wird, wo dieſelben Staatsgewalten, an die ſich die Petition wendet,
ſie anzuſtellen geſetzlich angeordnet haben, bei dem ordentlichen Gericht,
und erzeugt daher den zweiten Widerſpruch, das geſetzgebende Organ
zum richterlichen machen zu wollen. Eine adminiſtrative Petition mit
dem Inhalte einer adminiſtrativen Klage der Verletzung eines Geſetzes
durch eine Verordnung ſollte daher unbedingt abgewieſen, und der
Petent auf den ordentlichen Weg des Gerichts verwieſen werden. Selbſt
eine Erörterung über eine ſolche Petition muß ſchon das Gericht in
ſeiner hohen Stellung verletzen, oder als ein grobes Mißverſtändniß
der Volksvertretung von ihrer eigenen Funktion erſcheinen.


Nur in Einem Falle ließe ſich eine ſolche Petition mit dem
[150] Fundamente einer adminiſtrativen Klage denken — das iſt da, wo die Voll-
ziehung die Exekution des gerichtlichen Urtheils gegen ſie inhibirte. Nur
iſt hier nicht das Klagrecht, ſondern die Exekution Gegenſtand der
Petition, und dieſe daher nicht eine Klage, ſondern eben eine Beſchwerde.
Die gerichtliche Thätigkeit, und auch die Abweiſung der Klage, kann
nie Gegenſtand einer Petition ſein, denn die Volksvertretung hat dem
Gericht nicht zu befehlen wie, ſondern nur worüber es zu entſcheiden
hat. Wo daher, ſelbſt in Verfaſſungen, Ausdrücke vorkommen, welche
dahin gedeutet werden könnten, daß Einzelne oder Gemeinſchaften das
Petitionsrecht als Form der Klage wegen Verletzung von Rechten bei
der Volksvertretung gebrauchen dürfen, da ſind ſolche Ausdrücke nur
Beweiſe unvollkommener Zuſtände des öffentlichen Rechts; meiſtens
beweiſen ſie, daß die Gerichte ihre Funktion des Rechtſprechens bei
adminiſtrativen Klagen nicht übernehmen, oder das Volk nicht verſteht,
ſie zu benützen. Derartige Petitionen ſollten daher keinen weitern Er-
folg haben als den, zu unterſuchen, ob dem adminiſtrativen Klagrecht
in der Geſetzgebung ein Hemmniß entgegen ſtehe, und dieſes durch
Geſetze zu beſeitigen.


3) Was endlich Petitionen betrifft, welche Beſchwerden ent-
halten, ſo leuchtet es ein, daß das Recht, ſolche Beſchwerden bei der
Volksvertretung einzubringen, darum ein naturgemäßes und allgemeines
iſt, weil am Ende das ganze innere verfaſſungsmäßige Staatsleben auf
der Harmonie zwiſchen Verfaſſung und Verwaltung beruht, und eine
jede Beſchwerde eine Störung dieſer Harmonie bedeutet, die nicht mehr
durch gerichtliche Handhabung der Geſetze hergeſtellt werden kann. Das-
ſelbe gilt von den Geſuchspetitionen. Die Volksvertretung hat
zwar nicht das Recht, wohl aber die Intereſſen Aller in ſofern zu
vertreten, als ſie aus ihnen und für ſie die Verwaltungsgeſetze zu
machen hat. Daher können die Beſchwerde- und die Geſuchspetitionen
unzweifelhaft den Volksvertretungen übergeben werden. Nur muß man
das Recht der letzteren in dieſer Beziehung ſcharf beſtimmen. Und
zwar müſſen hier zwei Grundſätze durchgreifend zur Geltung gelangen.


Erſtlich darf keine Petition von der Volksvertretung angenommen
werden, welche nicht bereits alle geſetzlich zuſtändigen Inſtanzen
der Behörden durchlaufen hat, inſofern ſie ſich auf beſtimmte exekutive
Thätigkeiten der Vollzugsorgane bezieht. Sind ſolche Inſtanzen nicht
vorgeſchrieben, ſo bleibt es der Volksvertretung überlaſſen, zu entſcheiden,
ob der Petent das Nöthige gethan hat.


Zweitens kann keine Volksvertretung über eine Peti-
tion als ſolche überhaupt irgend etwas entſcheiden
, ohne
die Ordnung des Staats umzukehren. In der That nämlich enthält
[151] die Beſchwerde- oder Geſuchspetition entweder den Nachweis, daß die
Vollziehung ein geſetzliches Recht verletzt hat, und dann gehört ſie vor
die Gerichte; oder ſie weist nach, daß die Vollziehung nur die In-
tereſſen nicht gehörig gewahrt, aber ſich dabei an das Geſetz gehalten hat,
und dann hat die Volksvertretung ein neues Geſetz zu machen, welches
jene Verletzung der Intereſſen künftig unmöglich macht. Das iſt die
formell gezogene, ſtrenge Gränzlinie für die Thätigkeit der Volks-
vertretung in Beziehung auf dieſe Art der adminiſtrativen Petitionen.
Allerdings aber iſt es gut, wenn dieſelbe nicht gerade in dieſer ſtrengen
Weiſe eingehalten wird. Es iſt gut, wenn ſolche Petitionen den Anlaß
geben zwiſchen den beiden höchſten Organen der Geſetzgebung und Voll-
ziehung, ſich über die Geſtalt zu verſtändigen, welche ein beſtehen-
des Geſetz in der wirklichen Ausführung entweder annimmt oder an-
nehmen ſollte. Wann und wie weit das der Fall ſein kann, muß ſtets
von dem Gegenſtande, den Petenten, und endlich von Takt und Stim-
mung der beiden Organe ſelbſt abhängen. Niemals aber kann man
der Volksvertretung das Recht zugeſtehen, ſelbſtändig eine Erledigung
der Petition zu beſchließen; ſie kann höchſtens, da die Regierung
vollkommen das Recht hat, einem ſolchen Beſchluß, der kein Geſetz iſt,
geradezu den Gehorſam zu verweigern, ihre Anſicht als maßgebend
bei der Erledigung der Petition empfehlen.


Faßt man nun alle dieſe Punkte zuſammen, ſo wird man wohl
zu dem Reſultat kommen, daß erſt dann, wenn Geſetz und Verordnung
ſcharf geſchieden, und das Klagrecht in anerkannter Wirkſamkeit ſteht,
das Petitionsrecht ſeine rechte Funktion zu erfüllen und Geſetzgebung
und Verwaltung auf dem Gebiete zur Verſtändigung zu bringen beſtimmt
iſt, wohin die erſte zu ſelten gelangt, und das die zweite zu ſelten
verläßt, dem weiten Felde der praktiſchen Intereſſen des Volkslebens.


Während in England das Recht auf Petitionen gar keiner geſetzlichen
Anerkennung bedurfte, ſprachen in Frankreich alle Conſtitutionen das droit
de pétition
als ein „droit naturel“ aus; ſelbſt die Charte von 1814 enthält
daſſelbe (Art. 53), ſowie die Charte von 1830 (Art. 45). Von ihnen ging das
Princip der Sache nach Deutſchland über, wo es in den Verfaſſungen meiſt
als Anerkennung des Rechts auf Vorſtellung und Beſchwerde erſcheint. Frank-
reich aber hat nicht verſtanden, ſich dieß Recht zu bewahren. Die Conſtitution
von 1852
hat es im Grunde dem franzöſiſchen Volke genommen. Der Art. 45
erlaubt nur noch Petitionen an den Sénat, keine an den Corps législatif.
Das Dekret vom 31. Dec. 1852 hat das Verfahren des Senats bei den Peti-
tionen geregelt. Gewöhnliche Petitionen werden in den Petitionscomité’s be-
rathen und vorgelegt; bei Petitionen, welche ſich auf Verletzungen verfaſſungs-
mäßiger Rechte beziehen, wird erſt die question préalable geſtellt, und ſie
nur dann zur Berathung gezogen, wenn der Senat ſie anerkennt (le sénat
[152] maintient, ou annulle
). — Die geſetzlichen Beſtimmungen über das Petitions-
recht Deutſchlands leiden daran, daß man dieſelben meiſtens nur als legis-
lative betrachtet, und deßhalb ihre Einwirkung bekämpft hat. Daher das
Verbot von Petitionen von Körperſchaften u. ſ. w. Auf dieſem Standpunkt
ſtehen faſt alle Verfaſſungen vor 1848. Erſt nach 1848 ſieht man ein rich-
tigeres Verſtändniß eintreten, wenn gleich auch jetzt noch bei den meiſten Be-
ſchwerde und Petition als weſentlich gleichbedeutend betrachtet wird. Siehe
RönneI. 99. Am richtigſten hat die Verfaſſungsurkunde von Luxemburg
die Sache aufgefaßt: „L’Assemblée des États a le droit de renvoyer aux
membres du gouvernement les pétitions qui lui sont adressées.“
(§. 67.)
In den deutſchen Verfaſſungsurkunden iſt hier meiſtens eine große Unbeſtimmt-
heit über das Verhältniß zur Verwaltung. Man wird hier wohl nur weiter
kommen durch die Unterſcheidung von legislativen und adminiſtrativen Peti-
tionen. Vgl. ZöpflII. §. 412.


Das Verhältniß der obigen Rechte zu einander.

Die gegenwärtige, bereits bezeichnete Lage der Theorie veranlaßt
uns nun, dem Obigen einige Schlußſätze hinzuzufügen, die im Grunde
ganz ſelbſtverſtändlich, dennoch von großer Wichtigkeit gegenüber der
bisherigen Lehre ſind.


1) Das ganze verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht empfängt näm-
lich nunmehr ſeine Verwirklichung durch die Verantwortlichkeit einer-
ſeits, und das eigentliche Verordnungsrecht andererſeits. Beide ſind
nur Ausdrücke deſſelben Gedankens, Erſcheinungen deſſelben Princips.
Jenes bezieht ſich auf das Verhalten der vollziehenden Gewalt in der
Regierung zum geſammten organiſchen Staatsleben, als Einheit be-
trachtet; dieſes auf das Verhalten deſſelben zum geſetzlichen Rechte
des einzelnen Staatsbürgers.


2) Während nun für die Verantwortlichkeit das natürliche Organ
die Volksvertretung iſt, iſt das Organ für das Klagrecht das Gericht,
und für Beſchwerde und Geſuch die höhere Regierungsbehörde ſelbſt.
Jede Vermiſchung dieſer ganz klar vorliegenden Funktionen in dieſen
Fragen wird zu einem unlösbaren Widerſpruch.


3) Während aber dieſe Funktionen in Beziehung auf die Voll-
ziehung geſchieden ſind, gibt es keine äußerliche Scheidung in
den Thätigkeiten der Regierung
ſelbſt, durch welche dieſelben
der einen oder andern Funktion ausſchließlich zugewieſen wer-
den könnten
. Oder, es gibt keine Scheidung zwiſchen Regierungs-
thätigkeiten, ſeien es Verordnungen, Verfügungen oder Handlungen,
wornach dieſelben entweder nur Gegenſtand von Petitions-, oder
nur Gegenſtand von Klage- oder von Beſchwerderecht ſein könnten; —
oder, es iſt falſch, von einem in irgend einem objektiven Momente
[153] liegenden Unterſchied von Juſtizſachen, Adminiſtrativſachen
oder gar Petitionsſachen
zu reden, ſondern es iſt unbedingt feſt-
zuhalten, daß dieſer Unterſchied definitiv als ein hiſtoriſcher betrachtet
und damit beſeitigt werden muß. Es gilt im Gegentheil der Satz, daß
jede wie immergeartete Regierungsthätigkeit an ſich eben
ſowohl dem Klagrecht
, als dem Beſchwerde- oder endlich dem
Petitionsrecht
angehören kann; daß eine und dieſelbe Regierungs-
handlung je nach der beſtehenden Geſetzgebung in einem Lande Gegen-
ſtand der Klage, in einem andern der Beſchwerde und Petition ſein
kann; daß mithin darüber nicht der Inhalt der Sache, ſondern
lediglich die Frage entſcheidet, ob der betreffende Regierungsakt mit
einem Geſetze in Widerſpruch erſcheint oder nicht; oder, daß um den
bisherigen Ausdruck zu brauchen, jede Regierungshandlung ebenſo gut
Juſtiz- als Adminiſtrativſache ſein kann, je nachdem ſie mit einem Ge-
ſetze, oder mit einer Verordnung in Colliſion kommt, oder daß, wenn
überhaupt die Ausdrücke Juſtiz- und Adminiſtrativſachen noch einen Sinn
haben ſollen, Juſtizſachen die Regierungsakte in ihrem Verhältniß zum
Geſetz, Adminiſtrativſachen dieſelben in ihrem Verhältniß zur allge-
meinen Verordnung bedeuten, und, da das eine höchſt unklare Be-
zeichnung iſt, man wahrlich viel beſſer thut, ſie ganz zu beſeitigen.


Hält man nun aber das Klagrecht, das Beſchwerde- und Geſuchs-
recht, und endlich das Petitionsrecht, jedes mit ſeiner ſpecifiſchen Funk-
tion in der Zurückführung der Vollziehung auf die Geſetzgebung vor
Augen, und ſieht man, wie ſie ſich gegenſeitig bedingen und erfüllen,
ſo darf man jetzt wohl ſagen, daß die verfaſſungsmäßige Verwaltung
ein lebendiger Begriff im Staatsleben ſei.


Zweite Abtheilung.
Das Recht der Organiſation.

Die Organiſationsgewalt bildet neben der Verordnungsgewalt den
zweiten großen Inhalt der Regierungsgewalt. Es iſt kein Zweifel, daß
ſie der vollziehenden Gewalt ihrem Weſen nach angehört; die Grund-
lagen der poſitiv gültigen Organiſation werden wir unten darſtellen.
Es muß daher zunächſt feſtſtehen, in welchem Sinn wir überhaupt von
einem Rechte der Organiſationsgewalt hier als einem ſelbſtändigen
Gebiete des Rechts der vollziehenden Gewalt zu reden haben.


Der Gedanke, der hier zu Grunde liegen muß, und den die wirk-
liche Organiſation als einen bereits entſchiedenen vorauszuſetzen hat,
ergibt ſich aus Folgendem:


[154]

Die Organiſation hat im Leben des Staats wie in jedem andern
Leben die Aufgabe, die lebendige Kraft des Staats mit ihrem eigenen
Körper zu verſehen, und die Vermittlung zwiſchen dem abſtrakten Wollen
und den wirklichen einzelnen Thatſachen zu bieten. Sie iſt daher gleich-
ſam der formelle, individualiſirte Ausdruck der Staatsgewalt. Sie
umgibt dieſelbe auf allen einzelnen Punkten; ſie iſt es, welche die
einzelnen Organe zu ſelbſtändigen Gliedern des Ganzen macht; ſie
erzeugt daher die eigentlich concrete Geſtalt der vollziehenden Gewalt,
indem ſie zugleich mit der Selbſtändigkeit jedes Organes ſein Ver-
hältniß zum Ganzen feſtſetzt, und dadurch nicht bloß eine ſelbſtän-
dige Funktion des erſteren in ſeiner Sphäre, ſondern andererſeits auch
die Gemeinſchaft und innere Einheit der ſtaatlichen Gewalt in dieſen
einzelnen Funktionen möglich macht. Sie iſt daher einerſeits die concret
gewordene Vertheilung der vollziehenden Gewalt an die einzelnen
Organe, andererſeits die eben ſo concret daſtehende Einheit in dieſer
Selbſtändigkeit der letzteren. Sie iſt daher nicht bloß im Allgemeinen
von hoher Wichtigkeit, ſondern es leuchtet ein, daß ſie ſelbſt nicht
bloß vom einfachen Standpunkt des Rechts, ſondern eben ſo ſehr
von dem der harmoniſchen Anſchauung des Staatslebens betrachtet
werden muß.


Iſt das nun das Weſen der Organiſation, ſo folgt zuerſt, daß ſie
auch von dieſer höchſten Staatsgewalt ausgehen muß, welche ſie als
die einheitliche und gleiche im ganzen Staatsleben zu vertreten hat;
oder daß das Staatsoberhaupt für den ganzen Staat das Recht der
Organiſation
in ſeinem Willen beſitze.


Dieß Recht empfängt nun ſeinen Inhalt durch folgende Sätze:


Allerdings iſt das Staatsoberhaupt das Haupt der Organiſations-
gewalt; allein da dieſe Organiſation die vollziehende Gewalt enthält,
ſo kann auch ſie Gegenſtand der geſetzgebenden Gewalt werden, wie
alle Verhältniſſe der letzteren. Das Recht des Organismus wird da-
durch zu einem verfaſſungsmäßigen Organiſationsrecht,
gegenüber der ſouveränen Organiſationsgewalt des Staatsoberhaupts.


Andererſeits entſteht das Recht innerhalb des Organismus dadurch,
daß die einzelnen Organe einander ſelbſtändig gegenüber treten. Dieſe
ihre Selbſtändigkeit nennen wir ihre Competenz. Die Competenz ergibt
daher das zweite große Gebiet des Organiſationsrechts, das wir kurz
als das Competenzrecht bezeichnen.


Die Lehre von der Organiſation wird dann das Gebiet bilden,
auf welchem dieſe beiden allgemeinen Begriffe ihre ſpezielle Anordnung
finden.


[155]
I. Das verfaſſungsmäßige Organiſationsrecht.

Der Begriff des verfaſſungsmäßigen Organiſationsrechts kann natür-
lich erſt da entſtehen, wo ſich die geſetzgebende Gewalt mit einem ſelbſtän-
digen Körper aus der Verſchmelzung mit der vollziehenden entwickelt.
So lange das Königthum noch beide Gewalten ungeſchieden enthält, iſt
von einem Rechte der Organiſation noch keine Rede. Der innige Zu-
ſammenhang nun zwiſchen der Organiſation und der wirklichen Voll-
ziehung, welche durch jene bedingt wird, erzeugt ſofort ein Syſtem von
Rechtsgrundſätzen für die Organiſation an ſich, ganz abgeſehen von der
Geſtalt derſelben, welche ihrerſeits den Ausdruck der verfaſſungsmäßigen
Verwaltung in dem Gebiete der Organiſation bilden.


Das Syſtem von Rechtsgrundſätzen beruht nun zunächſt auf dem
oberſten Satz, daß jede Organiſation nicht etwa für und durch eine
einzelne ſelbſtändige Funktion innerhalb des Staats geſchieht, ſondern
daß ſie ſtets der Ausdruck der perſönlichen Einheit deſſelben in der
Verſchiedenheit ſeiner Lebensverhältniſſe ſein muß. Iſt ſie das, ſo kann
die Gewalt, von der ſie im geſammten Gebiete des Staats ausgeht,
auch nur Eine ſein; und das iſt die des Staatsoberhaupts. Das erſte
Princip alles Organiſationsrechts iſt deßhalb in allen Ordnungen des
öffentlichen Rechts das, daß alle Organiſation vom perſönlichen Willen
des Staatsoberhaupts ausgehen muß; das Staatsoberhaupt iſt die
Quelle aller Organiſationsgewalt.


Aus dieſem Grundprincip der Organiſation entſteht nun das Recht
derſelben, indem das Staatsoberhaupt in ſeinem Willen durch die Natur
und durch die Forderungen des innern Staatslebens beſtimmt wird,
und dieſe Beſtimmungen ſelbſt vermöge der Geſetzgebung zu Rechtsſätzen
werden. Die Organiſationsgewalt des Staatsoberhaupts daher, inſofern
ſie durch die verfaſſungsmäßige Geſetzgebung beſtimmt iſt, nennen wir
das verfaſſungsmäßige Organiſationsrecht.


Dieß verfaſſungsmäßige Organiſationsrecht hat nun zwei Gebiete,
in denen es als eine der weſentlichen Bedingungen des harmoniſchen
Staatslebens erſcheint. Das erſte dieſer Gebiete betrifft die amtliche
Organiſation
, das zweite die Selbſtverwaltung.


Die folgende Darſtellung muß nun beide Begriffe und ihren Inhalt
als bekannt vorausſetzen. Wir dürfen für alles Einzelne auf den
zweiten Theil verweiſen. An dieſem Orte kommt es nur darauf an,
das allgemeine Verhältniß des Staatsoberhaupts und ſeine Organi-
ſationsgewalt zu beiden Gebieten feſtzuſtellen, ſo weit dieß nicht ſchon
in dem Satze liegt, daß die perſönliche Vollzugsgewalt des Staats-
oberhaupts immer das Recht der perſönlichen Anſtellung behält (ſ. oben).


[156]
1) Das Recht der amtlichen Organiſation.

Es iſt vielleicht einige Schwierigkeit, den obigen Begriff zu be-
ſtimmen. In der That ſind die Miniſterien als Grundlage der ganzen
Organiſation des Staats gegenüber derjenigen der Selbſtverwaltung
gleichſam von ſelbſt entſtanden. Sie ſind ſo ſehr die natürliche Folge
der innern Entwicklung des Staatslebens, daß, ſo viel wir wiſſen,
zwar ſehr häufig und ernſthaft die Frage ventilirt worden iſt, wie ſie
am zweckmäßigſten eingerichtet werden ſollen (ſ. unten), niemals aber
die, ob das Staatsoberhaupt gezwungen ſei, Miniſterien überhaupt,
oder beſtimmte Miniſterien zu haben, das iſt, ob es ein Recht der
Miniſterialorganiſation gebe.


Die Grundſätze, die dafür gelten, ergeben ſich nun wohl ziemlich ein-
fach aus dem allgemeinen Princip der verfaſſungsmäßigen Verwaltung.


Keine verfaſſungsmäßige Verwaltung iſt möglich, ohne eine Ver-
antwortlichkeit der oberſten Staatsbehörden. Die verfaſſungsmäßige
Verwaltung iſt aber gegeben mit dem Auftreten der ſelbſtändigen Volks-
vertretung. Die Verantwortlichkeit der oberſten Staatsbehörden ihrer-
ſeits hat zu ihrer Vorausſetzung, daß die vollziehende Gewalt eines
beſtimmten Theiles der Regierung nur einzelnen Perſönlichkeiten vom
Staatsoberhaupt übertragen werde. Ob dieſe oberſte Staatsbehörde
Miniſter heißt oder nicht, iſt natürlich ganz gleichgültig. Nothwendig
iſt aber und durch das Princip der Geſetzmäßigkeit der Verwaltung ge-
fordert, daß die vom Staatsoberhaupt getroffene Organiſation ſo ein-
gerichtet ſei, daß ſie die perſönliche Verantwortlichkeit der Voll-
ziehung gegenüber der Geſetzgebung möglich mache. Dieſes einfache,
und in allen Verfaſſungen anerkannte Princip wird nun zum Recht
durch zwei Grundſätze, welche als Rechtsgrund der Verpflichtung des
Staatsoberhaupts, Miniſterien zu bilden, betrachtet werden kann; ent-
weder
durch die Aufnahme der einzelnen Miniſterien in die Verfaſſung,
oder durch den ausdrücklichen Satz, daß die Akte der vollziehenden
Gewalt durch Miniſter unterzeichnet ſein müſſen. Eine Verpflichtung
des Staatsoberhaupts, beſtimmte Miniſterien zu haben, kann ſtreng
genommen nur da anerkannt werden, wo ſie ausdrücklich im Wege eines
Geſetzes aufgeſtellt werden, was nur ſelten geſchehen iſt. Aber ſelbſt
aus dieſer Verpflichtung geht eigentlich nicht die zweite hervor, jedes
Miniſterium unbedingt mit einer einzelnen Perſon zu beſetzen. Es
liegt im Organiſationsrecht des Staatsoberhaupts, ſowohl mehrere
Miniſterien durch Eine Perſon, als ein Miniſterium durch einen Stell-
vertreter verwalten zu laſſen. So weit nicht das Princip der poli-
tiſchen Verantwortlichkeit durch ſolche Beſchlüſſe des Staatsoberhaupts
[157] beeinträchtigt wird, kann auch eine verfaſſungsmäßige Beſtimmung über
die Miniſterien dieſelben nicht beſchränken, da die adminiſtrative Verant-
wortlichkeit überhaupt nicht dadurch aufgehoben wird.


Auf derſelben Grundlage beruht dann das zweite Princip für die
innere Organiſation der Miniſterien. Es iſt kein Zweifel, daß die-
ſelbe grundſätzlich dem freien Beſchluſſe des Staatsoberhaupts unterliegt.
Allein da dieſe innere Organiſation endlich die vollziehende Thätigkeit
des Miniſters zur Verwirklichung bringt und mithin mit der Verant-
wortlichkeit derſelben auf das Engſte zuſammenhängt, zum Theil die
letztere geradezu bedingt, ſo folgt, daß die Miniſterien das Recht einer
zwar formell ſehr unmächtigen, materiell aber entſcheidenden Einwirkung
auf den Souverän haben müſſen, indem ſie demſelben ſowohl die
Organiſation ſelbſt, als auch die Perſonen, vorſchlagen. Es wird
nun ſehr ſchwer für einen Souverän ſein, einem ſolchen Vorſchlage ſich
zu entziehen, da die Ordnungen und Ernennungen außerhalb oder gar
gegen die Miniſter dieſelben natürlich von jeder Verantwortlichkeit be-
freien. Die untern Organe kann der Miniſter natürlich im Namen des
Staatsoberhaupts ſelbſt beſetzen.


Auf dieſe Weiſe enthält das Princip der verfaſſungsmäßigen Ver-
waltung die Organiſationsgewalt zwiſchen König und Verfaſſung inner-
halb des Staatsorganismus; eine andere Geſtalt empfängt es für die
Selbſtverwaltung.


Das Recht des Königthums in Beziehung auf die Miniſterialorganiſation
iſt, wie alle großen Beſtimmungen des öffentlichen Rechts, weſentlich verſchieden
bei den drei Kulturvölkern. In England iſt die Verantwortlichkeit praktiſch
eine Abhängigkeit des Miniſteriums von der Partei, und daher hat das König-
thum kein Recht, Miniſterien einſeitig zu creiren, noch weniger ſie innerlich
zu organiſiren. Sie entwickeln ſich von ſelbſt aus dem Privy Council (Gneiſt
I. §. 46. 47. und unten). In Frankreich war das Recht des Königs, ganz
nach Belieben Miniſterien zu ſchaffen, bis zur Revolution unbezweifelt. Erſt
der durchgreifende Grundſatz der Verantwortlichkeit erzeugte den zweiten, daß
auch die Zahl und Eintheilung der Miniſterien durch Geſetze beſtimmt werden
müſſe. Die erſte geſetzliche Organiſirung der Miniſterien geſchah durch das
Geſetz vom 25. Mai 1791; das Princip erhielt ſich bis unter Napoleon; mit
ihm verſchwindet das Recht der Volksvertretung, die Miniſterien zu organiſiren,
und fällt an das Königthum zurück; nur die Nothwendigkeit der Miniſter ſelbſt
bleibt als Vorausſetzung der verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeit beſtehen,
und ſo iſt es noch gegenwärtig. — In Deutſchland iſt es ſehr verſchieden.
Einige Staaten haben die Miniſterien ausdrücklich in die Verfaſſung auf-
genommen, namentlich Bayern Thl. V. §. 1, Königreich Sachſen §. 41,
Württemberg Kap. IV. §. 54, Kurheſſen 1831, §. 106. Die meiſten
ſetzen das Daſein von Miniſterien ſtillſchweigend voraus, und es kann nicht
[158] bezweifelt werden, daß der Grundſatz: „der König habe alle Anſtalten zur
Ausführung der Geſetze zu treffen,“ oder ähnliche Ausdrücke, dem Staats-
oberhaupt die volle Freiheit in der Miniſterialorganiſation gibt. Bayern iſt
mit ſeiner Verfaſſung, ſowie mit ſeinem wirklichen Staatsleben dabei ein Muſter.
Wir finden die oben ausgeſprochenen Gedanken in ſpezieller Anwendung auf
Bayern ſehr klar und erſchöpfend dargeſtellt bei Pötzl Bayeriſches Verfaſſungs-
recht §. 175, Bayeriſches Verwaltungsrecht §. 9 ff. Es iſt auch unpraktiſch,
die Organiſation der Miniſterien durch Geſetze feſtzuſtellen; in der Bewilligung
des Verwaltungsbüdgets liegt an ſich ſchon das richtige Maß des Einfluſſes
der Geſetzgebung auf das Gebiet der vollziehenden Gewalt.


2) Das Organiſationsrecht in der Selbſtverwaltung.

Auch die Ordnung des Organiſationsrechtes in der Selbſtverwaltung
hat zur Vorausſetzung ihres richtigen Verſtändniſſes im Grunde ſchon
den Ueberblick dieſes Organismus ſelbſt, und die Darſtellung des Princips
wird daher erſt in dem zweiten Theil ihre vollſtändige Erfüllung erhalten.
Dennoch iſt die Grundlage ſchon hier aufzuſtellen.


Wir gehen nämlich davon aus, daß die Selbſtverwaltung, wie es
ſchon in ihrem Namen liegt, einen Theil der Verwaltung, und ihre
Thätigkeit damit einen Theil der vollziehenden Gewalt bildet. Es folgt
daraus von dieſem Standpunkt, daß die Organiſation der Selbſtver-
waltung als ein Recht des Staatsoberhauptes erſcheint, wie die geſammte
übrige Organiſation. Andererſeits ſchließt der Begriff der Selbſtverwal-
tung eine ſolche Organiſation von Seiten der höchſten Staatsgewalt
wieder aus. Wie die Selbſtverwaltung an ſich, ihrem eigenſten Begriff
nach, nicht durch die einheitliche Gewalt des Staats erzeugt wird, ſon-
dern auf Grundlage der freien Individualität als ein Organismus des
Staats entſteht, ſo muß ſie ſich auch ſelbſt ihre Organe und die
Ordnung ihrer Thätigkeit ſetzen. Auf dieſe Weiſe treten für das Or-
ganiſationsrecht der Selbſtverwaltung zwei Principien einander gegen-
über, und die feſte und klare Beſtimmung des Verhältniſſes beider zu
einander wird dadurch zu einer der weſentlichſten Beſtimmungen des
öffentlichen Rechtes.


Offenbar nun kann dieß erſt genau und einigermaßen erſchöpfend
erſt dann dargelegt werden, wenn wir den Organismus und die Haupt-
formen der Selbſtverwaltung ſelbſt darſtellen. Allein die Grundlage
dieſer Ordnung, das entſcheidende Princip für das Verhältniß zwiſchen
der Organiſationsgewalt des Staatsoberhaupts gegenüber der Selbſt-
verwaltung bildet dennoch einen ſo weſentlichen Inhalt des Regierungs-
rechts, daß wir ſie hier ſchon aufnehmen müſſen.


Auch in dieſem Gebiete zeigt ſich nun der große und gleichartige
[159] Gang der hiſtoriſchen Entwicklung Europas, der über dieſe Frage wie
über alle andern zuletzt die Grundlage der Staatsrechtsbildung abgegeben
hat. Wir werden ihn am beſten in ſeinen Hauptepochen charakteriſiren.


In der erſten Epoche iſt nicht bloß das Recht der Organiſirung
in allen Formen der Selbſtverwaltung, Land-, Gemeinde- und Körper-
ſchaft, unzweifelhaft, ſondern das Königthum macht gar keinen un-
mittelbaren Anſpruch, in dieſelbe hineinzugreifen, ſo wenig wie die feu-
dale Vertretung des Volkes auf die Organiſirung der eigentlich könig-
lichen Verwaltung einen Einfluß nimmt. Es ſind eben zwei ſtaatliche,
ganz ſelbſtändig neben einander ſtehende Gebiete der Verwaltung, die
nur in der Perſon des Königs und der unbeſtimmten Idee des Staats
zuſammenhängen. Der Organismus der Selbſtverwaltung bildet ſich
auf dem Boden der gegebenen geſellſchaftlichen Zuſtände, der Organis-
mus des Königthums auf dem Boden des ſelbſtändigen ſtaatlichen Be-
dürfniſſes. Das Recht auf völlige Selbſtändigkeit in der beiderſeitigen
Organiſirung erſcheint als unantaſtbar; es ſind zwei gleichberechtigt
funktionirende Körper.


In der zweiten Epoche dagegen beginnt das Königthum ſeinen
Kampf mit dieſer Selbſtändigkeit. Dieſer Kampf erſtreckt ſich nun eigent-
lich nirgends direkt auf die Organiſation der ſelbſtändigen Verwaltungs-
körper, ſondern nur auf ihre Thätigkeit. Allein ſchon in dieſer Epoche
gelingt es dem Königthum, das Recht der Beſtätigung für die ganze
Ordnung dieſer Körper wenigſtens zum Theil zu gewinnen, die dann
unter der Form von Privilegien erſcheint, der Regel nach jedoch die
hiſtoriſche Organiſation beſtehen läßt. Die Theilnahme der höchſten
Staatsgewalt erſcheint in dieſer Epoche vielmehr in dem Auftreten neuer
königlicher Organe, der Landſchafts- und Gemeindebeamteten, und ſo
entſteht ein Zuſtand, in welchem die natürliche Selbſtändigkeit der Orga-
niſation der Selbſtverwaltung als eine freie Bewilligung von Seiten
der Staatsgewalt erſcheint, ohne daß eine objektiv gültige Gränze für
dasjenige beſtünde, wozu die letztere berechtigt iſt, wozu nicht. Dieſe
Unbeſtimmtheit iſt allerdings nicht bloß für die Organiſation vorhanden;
ſie erſtreckt ſich über das ganze Leben der Selbſtverwaltung und beruht,
wie wir ſchon geſagt, auf der allgemeinen Verſchmelzung der Gewalten
im Staat, in welcher damit der Begriff des Geſetzes in dem der Ver-
ordnung unterging. Dadurch wurde formell die perſönliche Staats-
gewalt wirklich zur allein berechtigten Gewalt auch für die Organiſation
der Selbſtverwaltung, und übte ſie im Grunde nur darum nicht aus,
weil überhaupt die Selbſtverwaltung faſt keine Bedeutung mehr hatte.


In dieſem Zuſtande lag der Widerſpruch, der überhaupt jede
vollſtändige Vernichtung der Selbſtändigkeit und Selbſtthätigkeit des
[160] Beſondern gegenüber der Einheit des Staats begleitet. Die Verſchmelzung
der Geſetzgebung und Vollziehung in dem individuellen Willen des
Königs hatte das ſtaatsbürgerliche Recht vernichtet; der Uebergang der
Zuſtändigkeiten in allen Gebieten der Verwaltung von den Organen
der Selbſtverwaltungskörper auf die Organe der centralen Staatsgewalt
vernichtete die Bildungen des hiſtoriſchen Rechts. Die Neugeſtaltung
der Staatsidee mußte in beiden Gebieten zu neuen Rechtsordnungen
führen.


Dieſe Neugeſtaltung erſcheint in der dritten Epoche für das ge-
ſammte öffentliche Recht mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaftsordnung. Die Form, in welcher ſie ſich in der Geſetzgebung
vollzieht, iſt bekanntlich die Herſtellung des ſelbſtändigen Organes für
die Geſetzgebung, das wir die Volksvertretung nennen. In dem Ge-
biete der Organiſation ſtellt ſich das Element des ſelbſtändigen öffent-
lichen Rechts dadurch her, daß die neue Geſetzgebung den Antheil, den
die Selbſtverwaltung an der Vollziehung der Geſetze haben ſoll, grund-
ſätzlich anerkennt, und dieſen Antheil zum Gegenſtande einer ſelbſtän-
digen, denſelben genau und im Sinne der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
ordnenden Geſetzgebung macht. Dieſe Geſetze über die Organiſation
der örtlich vollziehenden Gewalt der Selbſtverwaltungskörper und ihre
Zuſtändigkeiten nach allen Theilen ihrer öffentlichen Aufgaben ſind eben
die Landſchafts- und Gemeindeordnungen.


Es leuchtet daher ein, daß die Landſchafts- und Gemeindeordnun-
gen nicht ihrem Begriffe nach einen Theil der eigentlichen Ver-
faſſung
, d. i. desjenigen Organismus, der den Willen des Staats
zum Geſetze macht, bilden; denn weder die Landſchaften noch die Ge-
meinden können Geſetze machen. Allein die hohe Wichtigkeit der Selbſt-
verwaltung hat dennoch auch den geſetzlichen Organiſationen jener Körper
eine Stellung gegeben, nach welcher dieſelbe als ein verfaſſungsmäßiges
Recht erſcheinen; theils indem eigene, ſehr genaue Geſetze darüber er-
laſſen werden, theils indem man die Grundſätze derſelben unmittelbar
in die Verfaſſung aufnahm. Dadurch nun entſtand ein zweites Gebiet,
welches auch in Beziehung auf den Organismus der ſelbſtherrlichen Be-
ſtimmung der höchſten Staatsgewalt entzogen ward; es iſt das Gebiet
der verfaſſungsmäßigen Organiſation und der Competenzen der Selbſt-
verwaltung.


An dieſe Grundſätze nun mußte ſich natürlich die Frage anſchließen,
wie weit denn nun das Recht dieſer Körper gegenüber der einheitlichen
Staatsgewalt gehe. Es iſt nicht möglich, dieß zu erörtern, ohne die
Organiſation jener Körper ſelbſtändig darzulegen. Es darf daher hier
als Uebergang nur bemerkt werden, daß das Princip des organiſchen
[161] Verhaltens hier ein negatives iſt. Die höchſte Staatsgewalt ſoll
nur hindern, daß etwas Geſetzliches unterbleibe oder etwas Ungeſetz-
liches geſchehe. Die Formen, in welchen dieß Princip ausgeübt wird,
ſind, wie wir ſpäter ſehen werden, die Genehmigung und die Ober-
aufſicht
. Sie ſind es, welche die Selbſtändigkeit des verfaſſungs-
mäßigen Organismus der Selbſtverwaltungskörper mit der Nothwendig-
keit der Uebereinſtimmung ihrer verwaltenden Thätigkeit mit dem ganzen
Staate in Harmonie bringen, und bilden daher die zwei großen ver-
faſſungsmäßigen Grundlagen für das organiſche Verhalten der Staats-
und der Selbſtverwaltung. Ihre weitere Darſtellung muß ſich an die
Darſtellung der Selbſtverwaltung überhaupt anſchließen.


Siehe unten die Landſchaft, das Gemeindeweſen und die Körper-
ſchaften
. Es ſei hier nur bemerkt, daß der Gedanke, die Gemeindeordnungen
in die Verfaſſung ſelbſt aufzunehmen, ein franzöſiſcher iſt, und daß die deutſchen
Verfaſſungen eben daher, wie das immer erſcheint, wo ein franzöſiſcher Gedanke
in das deutſche Leben verwebt ward, ſie nicht einig darüber werden konnten,
ob ſie dieſelben als „Theil der Verfaſſung“ betrachten ſollen, oder nicht. Hier
iſt daher die größte Verſchiedenheit. In einigen iſt die Geſetzgebung über die
Selbſtverwaltung gar nicht berührt, ſondern nur die Volksvertretung; in
einigen iſt ſie kurz berührt, z. B. Braunſchweig Kap. III, Hannover Kap. IV,
Württemberg Kap. V, Kurheſſen §. 102; in andern iſt ſie ſehr weitläufig
behandelt; iu noch andern iſt ſie beinahe die Verfaſſung ſelbſt, wie in der alten
Oldenburger von 1831. Erſt die neueſte Zeit iſt im Begriff, hier zum Ab-
ſchluß zu gelangen.


II. Das Competenzrecht.

1) Begriff der Competenz.

Aus der Organiſationsgewalt in ihrer Thätigkeit entſteht nun ein
zweiter Begriff und mit ihm ein zweites Rechtsverhältniß, das eigent-
lich die praktiſche Seite des Organiſationsrechts enthält. Das iſt die
Competenz oder Zuſtändigkeit.


Wir ſind gezwungen, auch dieſen Begriff und ſei Recht genauer
zu beſtimmen, als dieß gewöhnlich geſchieht, um ihn über die ganze voll-
ziehende Gewalt auszudehnen, während die einſeitig juriſtiſche Bildung
in Deutſchland ſie faſt immer nur bei der Verwaltung des Rechts an-
wendet. Zu dem Ende muß man Inhalt und Umfang der Com-
petenz wohl unterſcheiden.


Die Competenz entſteht, indem die höchſte Staatsgewalt in einem
beſtimmten Lebensverhältniß ſich und ihre Aufgaben durch ein beſtimm-
tes Organ vertreten läßt. Sie enthält daher dasjenige Maß der
Stein, die Verwaltungslehre. I. 11
[162]allgemeinen Regierungsgewalt, welches für die Erfüllung einer
beſtimmten Aufgabe nothwendig iſt. Da nun dieſe Regierungsgewalt
wieder die verordnende, organiſirende und polizeiliche Gewalt enthält,
ſo beſteht der Inhalt der Competenz in demjenigen Antheil an jenen drei
Gewalten, welcher jedem einzelnen Organe durch die ſtaatliche Organi-
ſationsgewalt zugewieſen iſt. Man muß daher als allgemeinſten Grund-
ſatz der Competenz ſetzen, daß jedes Organ ſtets alle drei Gewalten
bis zu einem gewiſſen Maße in ſich vereinigt. Es gibt weder eine
ausſchließende Competenz nur für Entſcheidungen, Organiſirungen oder
Exekutionen, ſondern in jedem Organe ſind alle Momente vorhanden:
ja es kann gar kein Organ gedacht werden ohne dieſelben; denn jedes Or-
gan iſt am Ende das Ganze innerhalb eines beſchränkten Kreiſes. Und
das Maß jener drei Gewalten, welches dem einzelnen Organ auf dieſe
Weiſe zuſteht, iſt der Inhalt der Competenz.


Der Umfang der Competenz dagegen entſteht, indem das einzelne
Lebensverhältniß objektiv beſtimmt wird, für welches das Organ mit
jenen drei Gewalten nie thätig ſein ſoll. Während daher der Inhalt
die Gränze der letztern gegenüber der allgemeinen Regierungsgewalt
feſtſtellt, ſetzt der Umfang dieſe Gränze für die wirklichen Dinge.
Dieſe letztere kann nun wieder eine theils ſachliche, theils örtliche
ſein. Es können dabei innerhalb derſelben örtlichen Gränze viele ſach-
liche Competenzen zugleich gültig ſein; die örtlichen Competenzen dagegen
ſchließen ſich nothwendig aus. Daher aber entſteht, wie die Lehre vom
Organismus weiter zeigen wird, ein neuer Begriff durch die Momente
des Allgemeinen und des Beſondern auch für die Competenzen, indem
auch hier das erſte das zweite ſich unterordnet; dieſe Unterordnung er-
ſcheint dann als die Hierarchie der Competenzen oder der Organe,
denen dieſelbe zuſteht.


Auf dieſe Weiſe iſt die Geſammtheit der einzelnen Competenzen
die wirkliche Geſtalt des Organismus der Regierung. Und dieſe letztere
nun, obwohl ſie im Weſen der vollziehenden Gewalt liegt, und das
Princip der verfaſſungsmäßigen Verwaltung das zweite Princip erzeugt,
daß die vollziehende Gewalt allein Inhalt und Umfang der Competenzen
zu beſtimmen hat, da ſie die Träger ihrer concreten Thätigkeit ſind,
wird nun dadurch zu einem Gegenſtande der Wiſſenſchaft, daß die wirk-
liche Competenz und mithin der wirkliche Organismus ſeinerſeits be-
dingt erſcheint durch die Natur der Aufgaben, für welche er wirken ſoll.
In dem Syſteme der Organe finden wir daher das organiſche Syſtem
des Geſammtlebens, in dem Syſteme der einzelnen Competenzen die
concrete Geſtalt ſeiner einzelnen Aufgaben wieder, und die Defini-
tion eines Gebietes der Verwaltungslehre iſt daher die
[163] eigentlich allein richtige Beſtimmung der Competenz des,
für dieſes Gebiet gültigen Organes
.


Von dieſem Standpunkt aus kann nun allerdings die Lehre von
der Competenz Ausgang und Schlußpunkt der Betrachtung des concreten
Staatslebens werden. Es iſt klar, daß zunächſt die wirkliche Geſchichte
des Organismus der Regierung im Einzelnen innerlich dadurch verbun-
den iſt mit der Geſchichte des geſammten Staatslebens, und in dieſem
Sinne werden wir darauf zurückkommen. Allein an den Begriff der
Competenz an ſich ſchließt ſich nun zunächſt der Begriff des Compe-
tenzrechts
, der dem folgenden zum Grunde liegt.


2) Das Competenzrecht und der Competenzproceß.

Der Begriff des Competenzrechts entſteht nämlich, indem die
Organiſation eben vermöge jener Competenz jedes einzelne Organ dem
andern gegenüber als ein ſelbſtändiges hinſtellt. Dieſe Selbſtändigkeit
der Competenz iſt nun eine doppelte. Sie iſt zuerſt eine Pflicht, die
Aufgaben, die in der Competenz liegen, zu löſen; eine Pflicht, deren Er-
füllung zugleich die Verantwortlichkeit möglich macht. Sie iſt aber
zweitens ein Recht; ſie ſchließt die Zuſtändigkeit der andern Organe
aus; ſie muß ſie ausſchließen, weil durch dieſe Ausſchließung erſt das
einzelne Organ eine rechtliche Haftung für die geſetzliche Vollziehung des
Willens, ſowohl der geſetzgebenden als der vollziehenden Gewalt für
das competente Organ denkbar iſt. Das Recht der Competenz erſcheint
daher von dieſem Standpunkt als ein doppeltes; erſtlich als eine natür-
liche Conſequenz der Aufgabe des Organes, zweitens aber als die Be-
dingung der Verantwortlichkeit der Vollziehung und ihrer Thätigkeit im
Einzelnen gegenüber der Geſetzgebung.


Auf dieſem Grunde beruht nun der Satz, den wir als das Geſetz
für die Entwicklung der Organiſation und ſpeziell für die Beſtimmung
des Competenzrechts der einzelnen Organe aufſtellen können: die Aus-
bildung der Organiſation und die ſcharfe Beſtimmung des Competenz-
rechts halten ſtets gleichen Schritt mit der Verantwortlichkeit der voll-
ziehenden Gewalt gegenüber der Geſetzgebung; die Verantwortlichkeit
ſelbſt wird ihrerſeits illuſoriſch, wenn dieß Competenzrecht nicht feſtſteht.


Die Folge dieſes allgemeinen Geſetzes iſt es nun, daß mit dem
Auftreten der Verfaſſung überhaupt die Geſetzgebung beginnt, die
Competenzen feſtzuſtellen, und daß andererſeits die organiſatoriſchen Ver-
ordnungen, indem ſie zwar formell nur unter dem Verordnungsrecht
ſtehen, dennoch materiell den Charakter von Geſetzen annehmen. Der
ganze Organismus erſcheint dadurch als eine Geſammtheit von Rechts-
[164] körpern, und die Unverletzlichkeit der Competenz erhält dadurch dieſelbe
Bedeutung für die verfaſſungsmäßige Verwaltung, welche die Unver-
letzlichkeit des Eigenthums für das Privatleben hat. Und das iſt nun
der Punkt, auf welchem die verfaſſungsmäßigen Grundſätze für das
Competenzrecht begründet ſind.


So nothwendig auch die Beſtimmung der Competenz im Einzelnen
iſt, ſo iſt es dennoch unmöglich, für die organiſirende Gewalt alle
Gränzen jedes Organes genau zu beſtimmen. Dennoch iſt eine ſolche
Beſtimmung, für die beſtändigen Berührungen mit dem wirklichen Leben
nothwendig. Sie muß daher auf einem andern Wege als von oben
herab geſchehen. Das einzelne Organ muß ſich auf Grundlage ſeiner
allgemeinen organiſchen Aufgabe ſeine Competenz in den einzelnen Fällen
ſelbſt ſetzen.


Ein ſolches Recht jedes Organes iſt nun nicht bloß ein nothwen-
diges, ſondern es muß auch von jedem Einzelnen anerkannt werden.
Der Einzelne hat nicht das Recht, dem betreffenden Organe den Ge-
horſam unter der Behauptung zu verweigern, das es nicht competent
ſei. Das Competenzrecht erſcheint gerade hier als ein Analogon des
Verordnungsrechts; die Conſequenzen ſind deßhalb auch hier dieſelben.


Offenbar nämlich kann das einzelne Organ, indem es in ſeiner
Berührung mit dem Einzelnen ſich die Gränze ſeiner Conſequenz ſelbſt
ſetzt und ſich Gehorſam erzwingt, ſich irren. Es muß daher auch
einen Proceß geben, durch welchen dieſe Conſequenz auf ihre wirkliche,
organiſch gültige Gränze zurückgeführt wird. Dieſer Proceß muß, in-
dem er bei jedem Organ beſtändig eintreten kann, ein allgemein gül-
tiger und gleichartiger ſein. Und indem er es ſomit iſt, welcher den
Einzelnen gegen die unorganiſche Thätigkeit der einzelnen Organe ſchützt,
ſo bildet er eben einen weſentlichen Theil des verfaſſungsmäßigen Ver-
waltungsrechts.


Dieſer Begriff des Competenzrechts hat nun zwei Grundformen,
die man zu unterſcheiden hat, um das vielfach beſtrittene Gebiet der
hierher gehörigen Fragen überſehen zu können. Es iſt offenbar, daß
die Competenz des einzelnen Organes, die es ſich ſelber im einzelnen
Falle zuſchreibt, nichts anderes iſt, als eine Verfügung deſſelben über
ſeine Zuſtändigkeit. So lange nun der Begriff und das Recht des Geſetzes
nicht feſtſtehen, und mithin die geſetzgebende und verordnende Gewalt
noch identiſch ſind, iſt auch eine ſolche bloß verordnungsmäßige Compe-
tenz jedes Organes eine geſetzliche, und der Zweifel über dieſelbe im
einzelnen Falle kann niemals durch Herbeiziehung eines Geſetzes, ſon-
dern nur durch den verordnungsmäßigen Willen der zugleich geſetzgeben-
den und vollziehenden Gewalt gelöst werden. Erſt dann, wenn die
[165] erſtere von der letztern geſchieden iſt, kann auch die Frage entſtehen, in
welchem Verhältniß die Beilegung der Competenz von Seiten des ein-
zelnen Organes — etwas, wozu wie geſagt jedes Organ beſtändig
gegenüber dem Einzelnen das Recht haben muß — entweder zu der
als Verordnung erſcheinenden organiſirenden Gewalt der Regierung,
oder zu dem im Geſetze erſcheinenden Geſammtwillen des Staats ſteht.
Ohne allen Zweifel ſind nun das, wie es wohl hier ſchon aus dem
Früheren hervorgeht, zwei ſehr weſentlich verſchiedene Fälle, und er-
zeugen daher auch weſentlich verſchiedene Grundſätze. Und indem wir
daher den aus dem Zweifel an der Competenz des einzelnen Organes
entſtehenden Streit im Allgemeinen den Competenzproceß nennen,
würden wir ſagen, daß der Competenzſtreit die Art dieſes Proceſſes
enthält, der ſich auf die verordnungsmäßige Competenz des Organes
bezieht, während der Competenzconflikt diejenige Art bedeutet,
die auf dem Verhältniß der Competenz zum geſetzlichen Rechte beruht.


Dieſe Unterſcheidung iſt einfach; aber ſie hat wie geſagt zur Vor-
ausſetzung, daß überhaupt Geſetz und Verordnung klar und beſtimmt
geſchieden ſind, und daß daher auch hier der Begriff des verfaſſungs-
mäßigen Rechts feſtſtehe. Es wird nun, da dieß in Deutſchland, wie wir
oben geſehen, keineswegs der Fall iſt, damit auch die große Verwirrung
ſich erklären, welche in Deutſchland in dieſer Beziehung exiſtirt. Wir haben
zu verſuchen, dieſelbe zugleich hiſtoriſch zu begründen und aufzulöſen.


Faſt in allen deutſchen Ländern iſt wohl der Grundſatz angenommen, daß
bei einem eigentlichen Competenzſtreit, bei welchem es ſich um die gegenſeitige
Competenz der oberſten Verwaltungsſtellen handelt, erſt eine gegenſeitige Rück-
ſprache des Chefs dieſer Stellen ſtattfindet, und erſt nach dem vergeblichen
Verſuch derſelben, ſich zu einigen, die Sache entweder im Staatsrathe,
wie es nach der Verordnung vom 27. October 1810 in Preußen der Fall
war, oder im Geſammtminiſterium, wie es dort ſeit der Verordnung
vom 3. November 1817 gilt, zur Entſcheidung gelangt. RönneII. §. 225.
Ebenſo in Bayern, Inſtruktion von 1825; Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 52.
Das Geſetz vom 28. Mai 1850 bezieht ſich auf das, was wir als Competenz-
conflikt begreifen (ſiehe unten). Das obige Princip iſt offenbar nichts als die
Anwendung der franzöſiſchen Principien über den Conseil d’État, allerdings
nur innerhalb dieſer beſtimmten Frage. Das Recht des Miniſteriums, die
Competenzſtreitigkeiten zwiſchen den ihm untergeordneten Behörden zu ent-
ſcheiden, iſt der einfache Ausfluß der miniſteriellen Organiſationsgewalt (Pötzl
Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 19).


a) Begriff, Inhalt und Recht des Competenzſtreites.

Der Begriff des Competenzſtreites geht nun, wie erwähnt,
davon aus, daß jede Competenz zunächſt als ein Akt der vollziehenden
[166] Gewalt erſcheint, und daß daher jedes Organ, welches ſich im beſtimm-
ten Falle eine beſtimmte Competenz beilegt und im Namen derſelben
einen Gehorſam erzwingt, damit eine organiſatoriſche Verfügung
heißt. Eine ſolche Verfügung hat nun immer zur Vorausſetzung eine
allgemeinere Verordnung der höhern organiſirenden Organe, im
letzten Falle des Staatsoberhaupts als perſönlichen Inhabers der Or-
ganiſationsgewalt. Daraus folgt, daß, ſo weit dieſe höchſte Organi-
ſationsgewalt nicht durch Geſetze beſchränkt iſt, für das Recht auf die
Feſtſtellung der Competenz auch nur das Verordnungsrecht eintreten
und gültig ſein kann. Und die Geſammtheit aller derjenigen Fälle, in
welchen das Recht eines Organes auf die von ihm ſelbſt geſetzte Com-
petenz auf dieſe Weiſe auf den organiſatoriſchen Willen der höchſten
Staatsgewalt zurückgeführt wird, faſſen wir als den Competenzſtreit
zuſammen.


Die Grundlage jedes Competenzſtreites ſchließt daher principiell die
Frage aus, ob die fragliche Competenz mit irgend einem Geſetze in
Widerſpruch ſtehe. Sie beſteht immer nur in dem Zweifel, ob der
Wille des einzelnen Organes, welches ſich eine beſtimmte Competenz
beigelegt hat, übereinſtimmt mit dem Willen des höhern Organes,
welches das Recht hatte, demſelben nach ſeinem Ermeſſen, kraft ſeiner
organiſatoriſchen Verordnungsgewalt, dieſe Competenz auch wirklich bei-
zulegen oder nicht. Und das Verfahren, welches ſich daher ergibt,
wo ein Widerſpruch in der aufgeſtellten Competenz mit einem Geſetze
weder vorhanden iſt noch behauptet wird, iſt daher auch kein anderes,
als das, welches bei jedem Zweifel über das Verhältniß einer einzelnen
Verfügung zu einer Verordnung eintritt. Oder, es kann in dieſem
Falle gar kein Klagrecht eintreten, ſondern der Competenzſtreit
kann nur im Wege der Beſchwerde
erhoben und gelöst werden.


Damit iſt zunächſt das Fundament dieſer Beſchwerde, oder der
Erhebung des Competenzſtreites gegeben. Daſſelbe muß die Behauptung
— wo möglich natürlich die nachgewieſene — enthalten, daß die Gränze
der Competenz, welche das einzelne Organ in dem einzelnen Falle ſich
ſelbſt geſetzt hat, mit dem Willen und der Abſicht der Organiſations-
gewalt in Widerſpruch ſtehe, oder daß dem einzelnen Organe das Recht
auf die bezweifelte Competenz vermöge der geltenden Organiſation der
Behörden nicht zuſtehe. Kann ſich der Beſchwerdeführer dabei auf
ausdrückliche, die Competenz enthaltende Verordnungen berufen, ſo iſt
es deſto beſſer; nothwendig iſt das hier ſo wenig, wie bei jeder andern
Beſchwerde, und zwar aus den Gründen, die im Folgenden liegen.


Da nämlich die verordnende Gewalt das unzweifelhafte Recht hat,
ihren Willen jeden Augenblick frei zu beſtimmen, ſo weit er nicht in
[167] Widerſpruch mit dem Geſetze ſteht, ſo gibt der Nachweis, daß die an-
genommene Competenz mit einer Verordnung wirklich im Widerſpruch
ſtehe, noch der Partei keineswegs ein formelles Recht darauf, daß die
höhere Gewalt auch in dem gegebenen Falle ihre Verordnung für ihren
eignen Beſchluß als objektiv gültig anerkenne. Sie hat im Gegen-
theil gewiß die volle Freiheit, ſelbſt gegen ihre allgemeine Verordnung
im einzelnen Falle zu entſcheiden und der Competenz des Organes auch
dann die geltende Kraft zu verleihen, wenn ſie mit ihren allgemeinen
Beſchlüſſen in Widerſpruch tritt. Die tiefern Gründe dieſes Rechts
liegen in dem Weſen der lebendigen Vollziehung ſelbſt. Erſcheint dieſe
völlige Freiheit der Bewegung als bedenklich für den öffentlichen Rechts-
zuſtand, ſo iſt es Sache der Geſetzgebung, hier eben geſetzliche Compe-
tenzen aufzuſtellen. So lange das nicht geſchehen iſt, iſt ein objektives
Recht des Einzelnen auf eine Competenz nicht denkbar; die Regierung
iſt vollkommen frei, auch die größte Ueberſchreitung der Competenz
anzuerkennen. Die Anwendung eines Klagerechts iſt hier gänzlich
ausgeſchloſſen.


Nur in dem Falle kann eine ſolche Freiheit nicht anerkannt werden,
wenn ein bürgerliches Rechtsverhältniß in Folge einer beſtehenden
Competenz erzeugt iſt. Alsdann kann die Negierung nachträglich nicht
erklären, daß daſſelbe ungültig ſei, da die Competenz zugleich das
Mandat für die Abſchließung des bürgerlichen Rechtsverhältniſſes ent-
hält, und dieß durch Aenderung der Competenz nicht nachträglich geändert
werden kann. Eben ſo wenig wird ein bürgerlicher Rechtsakt, der mit
Ueberſchreitung der beſtehenden Competenz eingegangen ward, durch
nachträgliche Anerkennung dieſer Ueberſchreitung ohne Zuſtimmung —
ausdrückliche oder ſtillſchweigende — des Contrahenten ohne weiteres
gültig. Hier tritt eben darum das Klagrecht ſtatt des Beſchwerderechts
ein, weil es ſich um das Verhalten der Competenz zu einem Geſetze —
dem bürgerlichen — handelt. (Ueber das franzöſiſche Recht ſ. unten.)


Es folgt aus dieſen Grundſätzen, daß ein Competenzſtreit im
weitern oder uneigentlichen Sinne auch da erhoben iſt, wo die Partei zwar
nicht eine Ueberſchreitung der verordnungsmäßen Competenz behauptet,
oder um die Aenderung der letztern im Geſuchswege bittet. Das
Verfahren iſt dabei natürlich das gleiche.


Dieß Verfahren liegt nun offenbar im Weſen des Competenz-
ſtreites ſelbſt ſo tief begründet, daß es ſich von ſelbſt ergibt, und höchſt
einfach erſcheint. Die Grundſätze ſind folgende.


a) Kein Organ kann über ſeine eigene Competenz entſcheiden. Es
muß daher die Beſchwerde oder das Geſuch ſtets bei der höhern Stelle
angebracht werden. Es iſt durchaus kein Grund, in dieſer Beziehung
[168] irgend welche Abweichung von den Grundſätzen des Verfahrens bei dem
allgemeinen Beſchwerderecht anzunehmen.


b) Keine Beſchwerde wegen Competenzſtreites kann Suspenſiveffekt
haben; derſelbe tritt nicht einmal im Competenzconflikt ein, wo es ſich
um Gehorſam und nicht um bürgerliches Recht handelt.


c) Jede ſolche Beſchwerde muß bei der höhern Behörde deſſelben
Organismus angebracht werden; denn dieſe iſt die organiſirende Gewalt
für die niedere. Gegen den Entſcheid kann dann wieder Rekurs ergriffen
werden bei der höchſten Behörde. Es iſt klar, daß eine Beſchwerde
bei einem andern Miniſterium ebenſo wohl wie eine Entſcheidung des
letztern ipso jure ungültig wäre.


d) Der Competenzſtreit kann jedoch nicht bloß von den einzelnen
Privaten, ſondern er kann auch von Seiten der Behörde gegen die Be-
hörde erhoben werden. In dieſem Falle tritt ein anderes Vorverfahren
ein. Die untere Behörde kann nicht unmittelbar den Competenzſtreit
gegen die des andern Verwaltungszweiges erheben, weil ſie ſelbſt ja
kein objektives Recht auf ihre eigene Competenz hat. Sie muß daher
die vermeintliche Verletzung ihrer Competenz bei ihrer eigenen höheren
Behörde anzeigen, und es dieſer überlaſſen, die weitern Schritte zu
thun. Zweckmäßig wäre die Verpflichtung für dieſelbe, auch der andern,
entgegenſtehenden Behörde dieſen Schritt mit ſeiner Begründung mit-
zutheilen; da die letztere dieſe Mittheilung ihrerſeits anzuzeigen hätte,
würde viel Zeit erſpart werden.


Nimmt die höhere Behörde den Zweifel auf, ſo entſteht das Ver-
fahren vor dem Competenzgerichtshof (ſ. unten).


e) Die Beſchwerde des Einzelnen kann nur bei der höhern Behörde
entweder auf Grundlage der Thatſache geſchehen, daß die vermeintlich
nicht competente Behörde den betreffenden Verwaltungsakt wirklich vor-
genommen hat, oder auf Grundlage der Thatſache, daß die ver-
meintlich wirklich competente Behörde den betreffenden Verwaltungsakt
nicht vornehmen will. In beiden Fällen entſteht der Competenzſtreit;
wir pflegen den erſten mit franzöſiſchem Namen den poſitiven, den
zweiten den negativen Competenzſtreit zu nennen. In Verfahren und
Recht macht beides keinen Unterſchied. Beide Arten des Competenz-
ſtreites, der negative ſowohl als der poſitive, können ebenſo wohl von
Behörde gegen Behörde, als von Privaten gegen Behörde erhoben werden.


f) So lange die Behörden, über deren Competenz ein Streit ent-
ſteht, demſelben Miniſterium oder derſelben höchſten Behörde angehören,
hat natürlich dieſe höchſte Behörde einſeitig zu entſcheiden. So wie aber
die Behauptung aufgeſtellt wird, daß der fragliche Verwaltungsakt von
einem andern Zweige des Verwaltungsorganismus hätte ausgehen
[169] ſollen, kann natürlich das betreffende Miniſterium nicht mehr ſelbſt
entſcheiden. Hier entſteht daher ein neues Verfahren und ein neues
entſcheidendes Organ.


Dieß Verfahren beruht darauf, daß die Competenzbeſchwerde als-
dann bei beiden Behörden eingegeben werden muß. Bei der beſtritte-
nen wird ſie die Oppoſition gegen die Competenz enthalten, bei der an-
gerufenen die Bitte, den Gegenſtand für ihre Competenz vindiciren
zu wollen. Gegen die Entſcheidung beider iſt ſelbſt dann, wenn ſie
übereinſtimmen, ein Recurs zuläſſig.


Das Organ aber, welches zu entſcheiden hat, wenn ſich die beiden
höchſten Stellen nicht vereinigen, muß nun offenbar ein ſolches ſein,
welches hier nicht etwa gerichtlich verfährt, ſondern welches im Auftrage
der höchſten organiſirenden Gewalt die fragliche Competenz im Ver-
ordnungswege beſtimmt. Dieſe höchſte organiſirende Gewalt iſt nun
das Staatsoberhaupt. Es iſt daher vollkommen richtig, daß demſelben
eine ſolche Entſcheidung in jeder Verfaſſung beigelegt wird. Es muß
ferner dem Willen des Staatsoberhaupts ganz überlaſſen ſein, in welcher
Form er dieſe Entſcheidung treffen will, ſo lange kein Geſetz über dem
Competenzſtreit vorhanden iſt. Es iſt aber zweckmäßig, daß dafür ein
eigenes Organ aufgeſtellt werde. Und hier nun hat die Uebertragung
der franzöſiſchen Idee des Competenzconfliktes und ſeine Verſchmelzung
mit dem Competenzſtreit in den deutſchen Verfaſſungen den Grundſatz
erzeugt, daß man dieß höchſte Organ zum Theil aus gerichtlichen
Beamteten beſetzen müſſe, während, wie wir ſehen werden, der wahre
Begriff des Competenzconflikts dieß als durchaus überflüſſig erſcheinen
läßt. Das natürliche Organ iſt daher daſſelbe, welches überhaupt als
das berathende Organ für die Verordnungsgewalt des Staatsoberhaupts
auftritt, der Staatsrath; denn die Entſcheidung über den Competenz-
ſtreit iſt eine Verordnung und kein Richterſpruch. Die Schwierigkeit,
die beſtehenden deutſchen Geſetze auf die obigen Begriffe zurückzuführen,
beſteht aber nicht in den Geſetzen, ſondern eben, wie ſchon geſagt, in der
Unklarheit über den durchgreifenden Unterſchied von Competenzſtreit und
Competenzconflikt. Und zu dieſem müſſen wir daher jetzt zuerſt über-
gehen.


b) Begriff, Inhalt und Recht des ſogen. Competenzconfliktes.

Wir müſſen nochmals darauf hinweiſen, daß wir den Ausdruck
„Competenzconflikt“ keineswegs für einen richtigen halten, ſondern daß
wir die Hoffnung haben, derſelbe werde mit der Sache, die er bedeutet,
verſchwinden. Das kann und wird aber erſt dann geſchehen, wenn wir
den Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung durch das geſammte
[170] öffentliche Recht durchzuführen, und damit den Begriff und das Weſen
der wahren verfaſſungsmäßigen Verwaltung zur ſyſtematiſchen Geltung
zu bringen gelernt haben werden. Bis dahin behalten wir ihn, als
das Uebergangsſtadium am beſten bezeichnend, auch in der Wiſſen-
ſchaft bei.


Während nämlich der Competenzſtreit und der Competenzproceß
mit der Beſchwerde da entſteht, wo die Behauptung aufgeſtellt wird,
daß eine Behörde auf einen Verwaltungsakt kein Competenzrecht habe,
weil dem eine organiſatoriſche Verordnung entgegen ſteht, tritt der
Competenzconflikt da ein, wo behauptet wird, daß das von einer Be-
hörde in Anſpruch genommene Recht auf einen Verwaltungsakt mit
einem Geſetze in Widerſpruch tritt. Es iſt natürlich an ſich ganz
gleichgültig, welches das betreffende Geſetz iſt; es kann ſowohl ein
organiſatoriſches Geſetz über die verfaſſungsmäßige Organiſation, als ein
anderes ſein. Der Unterſchied iſt jedoch für die Competenz der ent-
ſcheidenden Behörde ein weſentlicher, wie ſich ſofort unten ergeben wird.


So wie dieſer Begriff des Competenzconflikts feſtſteht, ſo ergibt
ſich, in Gemäßheit des früher aufgeſtellten Unterſchiedes von Klagrecht
und Beſchwerderecht, daß während bei dem Competenzſtreit nur das
Beſchwerderecht eintritt, bei dem Competenzconflikt das Beſchwerderecht
grundſätzlich ausgeſchloſſen iſt, und zwar darum, weil die Organe
der vollziehenden Gewalt über den zweifelhaften Inhalt eines Geſetzes
überhaupt, und alſo auch über das Verhältniß der Verordnung zum
Geſetze nicht entſcheiden kann. Der Competenzconflikt kann daher ſeinem
Weſen nach nur auf dem Wege des Klagrechts, und mithin nur vor
dem Gerichte zur Entſcheidung gelangen. Das Verfahren, wie die
Entſcheidung ſelbſt, ſind daher bei dem Competenzconflikt weſentlich
andere, als bei dem Competenzſtreite; man kann ſagen, daß jedes ad-
miniſtrative Klagverfahren einen Competenzconflikt, jedes adminiſtrative
Beſchwerdeverfahren einen Competenzſtreit enthält.


Bei der Einfachheit dieſer Grundſätze wird es nun unſere Haupt-
aufgabe ſein, nachzuweiſen, wie es gekommen iſt, daß dieſelben nicht
zur Geltung gelangt, ſondern in unſern öffentlichen Rechtszuſtänden
nur noch im Keime vorhanden ſind. Der Grund dieſer Erſcheinung
gibt uns zugleich die Gewißheit, daß dieſer Keim ſich entwickeln und
mit der Zeit zur Herrſchaft gelangen wird, die ihm gebührt.


Offenbar nämlich hat jener Unterſchied zur Vorausſetzung, daß
eben Geſetz und Verordnung ſelbſt ſtrenge und formell geſchieden ſind.
Jeder Mangel an Klarheit über dieſe Unterſcheidung muß ſofort im
poſitiven Recht, wie in der Wiſſenſchaft, Competenzſtreit und Competenz-
conflikt vermiſchen, wie er Klagrecht und Beſchwerderecht vermiſcht.
[171] Und conſequent muß daher auch das poſitive Recht der erſteren ſeine
Erklärung in dem Verhältniß finden, welches poſitiv für Geſetz und
Verordnung in den einzelnen Staaten beſteht.


Es wird daher hier nothwendig ſein, den Inhalt und Charakter
des öffentlichen Rechts der großen Culturvölker darzulegen, denn in der
That ſtehen wir auch hier vor der Hauptfrage unſeres ganzen ſtaat-
lichen Lebens, dem Rechte der verfaſſungsmäßigen Verwaltung.


Wir werden demnach England, Frankreich und Deutſchland, jedes
für ſich darſtellen.


1) Der Competenzconflikt in England.

Wenn die frühere Darſtellung des Klag- und Beſchwerderechts in
England hinreichend klar geworden iſt, ſo glauben wir, daß das Recht
der Competenzconflikte hier als ein ſehr einfaches erſcheinen dürfte.


In England iſt der perſönliche Staat niemals auf die Dauer dem
Rechte des Volkes gegenüber getreten. Es iſt vielmehr die Grundlage
der ganzen Verwaltung nicht die centrale Aufgabe des Staats, ſondern
die örtliche der Selbſtverwaltung geweſen und geblieben. Es iſt daher
auch ein Bedürfniß in der Weiſe, wie auf dem Continent, nie ent-
ſtanden, eine ſcharfe Gränze für die Zuſtändigkeit des ſtaatlichen Organis-
mus gegenüber dem Organismus der Selbſtverwaltung zu ziehen. Die
Competenz iſt daher niemals Gegenſtand weder einer eigenen Geſetz-
gebung, noch umfaſſender Verordnungen geworden. Sie erſcheint viel-
mehr hier von Anfang an als die natürliche Conſequenz der Geſetze;
jedes Organ hat entweder das beſtehende Recht überhaupt, oder das für
daſſelbe gegebene beſtimmte Einzelgeſetz auszuführen; das Bedürfniß
nach organiſatoriſchen Verordnungen tritt überhaupt nicht ein, ſondern
die Competenz des einzelnen Organes geht ſo weit als die Anwen-
dung des Geſetzes fordert, auf welches ſich daſſelbe beruft
.
Daraus folgt dann der tiefe Unterſchied zwiſchen dem ganzen Compe-
tenzrecht Englands und dem des Continents. Es kann für den Ein-
zelnen keinen Competenzſtreit im obigen Sinn in England
geben
, und daher auch der Begriff des Competenzconflikts in ſeiner
Unterſcheidung vom Competenzſtreit gar nicht entſtehen, ſondern das
Verhältniß iſt einfach folgendes. Wenn der Einzelne glaubt, daß der
Akt der einzelnen Behörde die Competenz derſelben überſchritten hat,
ſo klagt ſie einfach bei dem Gerichte und zwar auf Grundlage der
Behauptung, daß die Behörde einen Akt vorgenommen, zu welchem ſie
durch kein Geſetz berechtigt geweſen. Es iſt dann formell Sache
der Behörde, durch die Anführung des geſetzlichen oder des gemein gül-
tigen Rechts den Beweis zu führen, daß ſie wirklich nur ein geltendes
[172] Recht vollzogen, das zuſtändig geweſen ſei, und das Gericht ent-
ſcheidet
.


Es gibt ſcheinbar kein einfacheres Syſtem. Es enthält daſſelbe,
um die obigen Ausdrücke zu gebrauchen, die völlige Auflöſung alles
Competenzſtreites in Competenzconflikte. Nirgends ſcheint das verfaſſungs-
mäßige Recht beſſer gewahrt; eine höhere Garantie als die des Geſetzes
und der das Geſetz anwendenden Gerichte kann es ſcheinbar nicht geben.
Vielen erſcheint daher das engliſche Syſtem als das Ideal des Compe-
tenzrechts.


Dennoch iſt das nicht der Fall. In der That iſt es häufig näm-
lich faktiſch unmöglich, daß die Geſetzgebung die Competenz der Behör-
den in allen Fallen wirklich beſtimme. Es liegt, wie wir geſehen,
vielmehr im Weſen des Organismus, daß dieß organiſch gar nicht
geſchehen ſoll; denn die Beſtimmung der Zuſtändigkeit muß gegen-
über den wechſelnden Lebensverhältniſſen eine wechſelnde, und die
Organiſationsgewalt muß daher eine freie ſein, wenigſtens bis zu einem
gewiſſen Grade. Keine Geſetzgebung vermag dieß Verhältniß zu ändern;
es kann zwar durch eine andere Form verdeckt, nicht aber im Weſen
geändert werden, und das hat ſich auch in England beſtätigt.


Da nämlich die Funktionen der vollziehenden Organe nicht unter-
bleiben können, auch wenn das Geſetz keine Competenz feſtſtellt, ſo hat das
engliſche öffentliche Recht den Gerichten die Entſcheidung über die Com-
petenz auch da übergeben müſſen, wo es ſich nicht mehr um Geſetze,
ſondern um die adminiſtrative Zweckmäßigkeit handelt. Das iſt ge-
ſchehen durch die ſchon früher erwähnte S. Jervis-Akte über das Klag-
recht gegen die Friedensrichter. Der Satz, daß „any probable and
reasonable cause“
den Friedensrichter für ſeine Handlungen vor Gericht
entlaſten ſoll, enthält das Recht der Gerichte, über die Competenz der
Behörden auch da zu entſcheiden, wo es ſich gar nicht mehr um
Geſetze, ſondern geradezu um Verordnungen handelt. Die Gerichte
haben dadurch die ganz unorganiſche Stellung, die Funktion der höheren
verwaltenden Behörden in der Entſcheidung über Competenzſtreite zu
beurtheilen; die probable and reasonable cause enthalten eben gar nichts
anderes als die Geſammtheit der Fälle des Competenzſtreits in unſerem
Sinn, und das Klagrecht gegen den Friedensrichter iſt daher ein Be-
ſchwerderecht in der Form des Klagrechts
. Eine ſolche Ver-
ſchmelzung wäre nun ſelbſt nicht möglich, wenn nicht die Quarterly
Session
ſelbſt wieder aus Friedensrichtern beſtände, alſo aus Behörden,
welche eben zugleich Juſtiz- und Adminiſtrativbehörden ſind. Eben
dadurch iſt nun die Sicherung des verfaſſungsmäßigen Rechts der Ein-
zelnen gegenüber der Competenz der Organe zwar formell gewährt; da
[173] aber ein förmlicher Proceß ſehr viel Geld koſtet, und das Geſetz zum
Schutze der Friedensrichter die Handlungen derſelben und ihre Compe-
tenz ſehr dehnbar macht, ſo darf man unbedenklich behaupten, daß
materiell das Syſtem der Scheidung von Competenzſtreit und Conflikt
auch für England weit beſſer ſein würde, als ſein gegenwärtiges Syſtem.
Die action of trespass iſt die Competenzklage bei Verhaftungen. Das
writ of certiorari und das mandamus, inſofern ſie alle anhängigen
Sachen umfaſſen, beziehen ſich daher auch auf diejenigen Competenz-
Entſcheidungen der Quarterly Sessions, welche unter den Competenzſtreit
fallen. Die Kings Bench erſcheint daher als der Competenzgerichts-
hof
Englands, obgleich man Begriff und Recht weder für Competenz-
ſtreit und Conflikt, noch für Competenzgerichtshof hat; nicht einmal
der Name kommt vor. Wir verweiſen für die weitere Ausführung theils
auf das Obige, theils auf GneiſtII. §. 75. Sollen wir demgemäß den
Charakter des engliſchen öffentlichen Rechts auf dieſem Punkte bezeichnen,
ſo müſſen wir ſagen: das Princip der Auflöſung aller Beſchwerden in
die Klage, und aller Competenzſtreite in die Competenzconflikte, und
damit des Verſchwindens des eigentlichen organiſchen Rechts der Com-
petenz in England beruht auch hier auf dem grundſätzlichen Mangel
der Selbſtändigkeit des Verordnungsrechts gegenüber der Geſetzgebung
und der daraus hervorgehenden Verſchmelzung von Juſtiz und Ad-
miniſtration. — Ein ganz anderes Bild bietet Frankreich dar.


2) Der Competenzconflikt in Frankreich.

Wie in England, ſo iſt auch in Frankreich das Competenzrecht
der Ausdruck und zum Theil die Grundlage der ganzen innern Bil-
dung des Staats und ſeines öffentlichen Rechts geweſen; es iſt nicht
möglich, jenes Recht zu verſtehen, ohne ſich den Geiſt des letzteren
gegenwärtig zu halten.


Frankreichs neuere Geſchichte iſt der Sieg der einheitlichen Staats-
idee über die rechtliche Selbſtändigkeit ſeiner Theile. Dieſer Charakter
Frankreichs iſt weder anders unter dem Königthum noch unter der
Republik, noch unter dem Kaiſerthum. Der Sieg der Staatsgewalt im
engeren Sinn des Wortes wird aber errungen eben durch die nie raſtende
Thätigkeit ihrer vollziehenden Organe. Nirgends iſt daher das Bedürf-
niß, ihnen die möglichſt große Freiheit zu laſſen, größer und herrſchen-
der, als in Frankreich ſelbſt; ja es iſt erklärlich, daß ſich dieſer den
eigentlichen Charakter dieſer merkwürdigen Staatsbildung erſt recht ver-
wirklichenden Forderung alle übrigen Grundſätze des öffentlichen Rechts
untergeordnet haben und noch unterordnen. Jene Freiheit der Be-
wegung der vollziehenden Organe aber iſt, rechtlich ausgedrückt, eben
[174] ihre Competenz. Das Recht der Competenz wird ſich daher hier ganz
anders geſtalten müſſen, als in England, und hat es auch wirklich
gethan.


Ohne uns bei den früheren Verhältniſſen aufzuhalten, über welche
wir auf das Répertoire de jurisprudence (1784, 17 Bände, 4.)
v. Compétence verwieſen, ſo wie auf mehrere Andeutungen bei To-
queville
L’ancien régime (1856) und l’Organisation civile (1822)
beginnen wir bei der Zeit der Revolution, in welcher der früher hiſto-
riſch begründete Rechtszuſtand ſich zu einer formell gültigen Geſetz-
gebung zuſammenfaßt.


Als die franzöſiſche Revolution begann, blieben bekanntlich eine
Zeitlang die alten Gerichte, länger noch die alten Richter in Funktion.
Dieſen nun war ein Rechtszuſtand nicht klar, in welchem die Fluth der
Geſetze alles beſtehende, und namentlich in Beziehung auf das Privat-
eigenthum das bisher unbezweifelte Recht der großen Grundherrn ver-
nichtete. Sie verhielten ſich daher vorzüglich im Innern Frankreichs
gegen die neuen Geſetze ſo weit möglich ſehr negativ, und verſuchten
vielfach die Vollziehung derſelben durch richterliche Sprüche zu hindern.
Die Assemblée constituante fühlte das ſehr deutlich hieraus. Sie
empfand daher das Bedürfniß, einerſeits die Gerichte neu zu organiſiren,
andererſeits die Vollziehung der Geſetze auch gegenüber den neuen Ge-
richten zu ſichern. Beide Aufgaben zugleich ſollte das Geſetz vom
16—24. Auguſt 1790 (T. II.) über die neue Organiſation der Gerichte
löſen. Dieſes Geſetz iſt eines der merkwürdigſten in der ganzen Revo-
lution. Es ſtellte nämlich die Organiſation der Gerichte auf; es ſtellte
aber daneben den Grundſatz hin: „que les tribunaux ne peuvent
prendre indirectement ou directement aucune part à l’exercice du
pouvoir législatif, ni empêcher ou suspendre l’exécution des lois“
(a. 10) — „que les fonctions judiciaires seraient distinctes et demeu-
reraient toujours separées des fonctions administratives“
und nament-
lich, „que les juges ne pourraient, à peine de forfaiture, troubler de
quelque manière que ce soit les opérations des corps administratifs,
ni citer devant eux les administrateurs pour raison de leurs fonctions
(a. 12).
Dieſer Grundſatz ward nun mehrfach und ausdrücklich wieder-
holt; ſo im Geſetz vom 2. September 1795 — „itératives défenses
aux tribunaux de connaître des actes administratifs, de quelque
espèce qu’ils fussent“
und öfter. Eine ſolche Beſtimmung war nur
hiſtoriſch zu erklären, aber ihr Inhalt war allerdings unzweifelhaft
genug. Jede Competenzfrage über die Verwaltungsakte einer voll-
ziehenden Behörde iſt definitiv den Gerichten entzogen, und
den Verwaltungsbehörden übergeben
. Mit dieſem Princip
[175] beginnt in Frankreich die Lehre vom Conflit de compétence; darnach
gibt es, im geraden Gegenſatze zu England, keinen Competenz con-
flikt
, ſondern nur einen Competenzſtreit; die Klage iſt definitiv aus-
geſchloſſen, und nur die Beſchwerde zuläſſig.


So wenig nun wie in England die Verſchmelzung beider in das
einſeitige Klagrecht ſich ſtrenge erhalten konnte, ſo wenig konnte ſich
natürlich in Frankreich jene Verſchmelzung in das einſeitige Beſchwerde-
recht auf die Dauer durchführen laſſen. Schon im ſelben Jahre, wo
das Geſetz vom 16—24. Auguſt erlaſſen ward, ſehen wir den Compe-
tenzſtreit zwiſchen Juſtiz und Adminiſtration entſtehen; und ſchon das
Geſetz vom 7—14. Oktober 1790 entſchied: des réclamations d’incom-
pétence à l’égard des corps administratifs ne sont, en aucun cas,
du ressort des tribunaux; elles seront portées au Roi, chef de
l’administration générale, et dans le cas où l’on prétendrait que
les Ministres de Sa Majesté auraient fait rendre une décision con-
traire aux lois,
les plaintes seront adressées au corps législatif.

Hier iſt alſo bereits der Conflikt neben der réclamation als plainte,
Klage, hingeſtellt; aber auch hier bleibt derſelbe den Gerichten entzogen,
und iſt zum Gegenſtand der geſetzgeberiſchen Thätigkeit gemacht. Einen
eigentlichen Conflikt gibt es daher nicht, denn es gibt noch keine Klage
vor Gericht. Dieſer Zuſtand erhielt ſich unter dem Kaiſerreich. Die
neue Gewalt des Kaiſerthums kann die Frage, ob ein Verwaltungsakt
gegen ein Geſetz laufe, den Gerichten nicht überlaſſen; es hält ſie feſt
für ſeine Verwaltungsbehörden. Zugleich aber werden nun die Codes
erlaſſen. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe ein geſetzliches Recht enthalten.
Kann die Verwaltungsbehörde auch das Recht der Codes angreifen
und darüber außerhalb der Gerichte entſcheiden, ſo ſind die bürgerlichen
Rechte faſt direkt illuſoriſch. Dennoch iſt eine beſtändige Berührung
der Verwaltung mit dem Rechte der Codes unvermeidlich. Die Unter-
werfung der Verwaltungsakte unter die jurisdiction des tribunaux will
man trotzdem nicht zugeben; die Unabhängigkeit der Gerichte darf man
nicht angreifen. Der Widerſpruch zwiſchen beiden Principien iſt klar;
das franzöſiſche Recht muß ihn löſen, ſoll es nicht das eine Rechts-
gebiet direkt dem andern opfern. Aus dieſen Elementen nun entſpringt
das eigenthümliche Syſtem des franzöſiſchen Rechts, das man ſo ſelten
richtig beurtheilt hat, und in welchem ſelbſt die Franzoſen nicht ganz
klar ſehen. Daſſelbe beruht auf der Aufſtellung dreier Gruppen von
Verhältniſſen, von denen die zweite in den gewöhnlichen franzöſiſchen
Darſtellungen nicht zur Erſcheinung kommt: die jurisprudence du
contentieux administratif,
der jurisprudence de la compétence, und
der jurisprudence du conflit.


[176]

Das contentieux administratif umfaßt nämlich die Geſammtheit
derjenigen Rechtsverhältniſſe, in welchen die Verwaltung mit dem
„Privatintereſſe“ in Streit geräth, und welche deßhalb der Ent-
ſcheidung der Gerichte entzogen und der Entſcheidung der Verwaltungs-
behörden übergeben ſind. Eine ſcharfe Beſtimmung dieſer Rechtsverhält-
niſſe gibt es nicht; die ganze franzöſiſche Literatur iſt ſich darüber
einig, daß es vergeblich iſt, ſie objektiv begränzen zu wollen. Doch
ſind gewiſſe Gebiete unzweifelhaft als Gebiete der Verwaltung an-
erkannt (ſ. oben). In dieſem contentieux administratif, ſo weit es
als ſolches anerkannt iſt
, iſt nun auch das Privatrecht der Ent-
ſcheidung der Adminiſtrativbehörden unterworfen und damit bei Ver-
letzungen deſſelben nur das Beſchwerderecht zugelaſſen, was dadurch
gemildert iſt, daß dieß Beſchwerderecht hier vollſtändig Form und Norm
einer Klage, und der Proceß den ganzen Inſtanzenzug der Gerichte bis
zum Conseil d’État angenommen hat. In dem Gebiete des unzweifel-
haften contentieux administratif iſt daher der Competenzconflikt
durchaus ausgeſchloſſen, ſelbſt da, wo die Akten der Verwaltungsbeamten
geradezu gegen ein Geſetz und ſelbſt gegen die Codes gehen. Hier
gibt es nun einen Competenzſtreit, obgleich es dem Princip nach auch
einen Competenzconflikt geben ſollte.


Die eigentliche compétence dagegen umfaßt alle Fälle, in welchen
das einzelne Amt ſeine Zuſtändigkeit auch außerhalb der contentieux
überſchreitet. Wo dieß behauptet wird, iſt natürlich auch in Frankreich
von einer Competenzklage gar keine Rede, ſondern einfach von einer
Oppoſition gegen dieſelbe Ueberſchreitung, welche durch einen recours bis
an den Conseil d’État gehen kann. Die Grundlage iſt hier aber nicht
die Scheidung des contentieux vom droit civil (oder die Admini-
ſtrativ- von den Juſtizſachen (ſ. unten), ſondern die Natur der Com-
petenz ſelbſt; es iſt vielmehr die Beſchwerde hier wie ſie ſein ſoll: le
moyen général de maintenir en toutes manières, entre toutes autori-
tés, l’ordre constitutionnel des compétences et des jurisdictions
Natür-
lich iſt dabei die Form und der Inſtanzenzug ganz derſelbe wie bei
dem contentieux, und das iſt der Grund, weßhalb die franzöſiſche
jurisprudence administrative dieſes eigentliche und wahre Gebiet des
Competenzſtreites gar nicht zu unterſcheiden vermag; es fällt ihm
mit dem contentieux zuſammen, das auf dieſe Weiſe den wahren Com-
petenzſtreit mit dem Competenzconflikt in den ſogenannten Adminiſtrativ-
ſachen verſchmolzen hat.


Damit bleibt aber ein drittes Gebiet. Es kann in vielen Fällen
zweifelhaft ſein und iſt es auch, ob der Akt der Verwaltung dem
contentieux angehört oder nicht, und dieſer Zweifel kann ſowohl von
[177] dem Einzelnen als von den Behörden ſelbſt angeregt werden. Da ſich
nun der alte Grundſatz erhielt, daß die Verwaltungsakte „unter keiner
Bedingung“ der gerichtlichen Entſcheidung zu unterziehen ſeien, ſo hielten
es die Verwaltungsbehörden für ihre Pflicht, gegen jeden Akt der
Gerichte, der irgendwie Verwaltungsthätigkeiten beurtheilen wollte, ſich
zu opponiren. Andererſeits beſtanden die Gerichte darauf, über das-
jenige zu entſcheiden, was ein geſetzliches Recht enthielt und nicht aus-
drücklich ihrer Entſcheidung als Gegenſtand des contentieux entzogen
war. Da man nun vergeblich verſuchte, dieſe Gränze äußerlich feſt-
zuſtellen, ſo ward der Streit zwiſchen Gericht und Verwaltung über
ihre Competenz in jedem einzelnen Falle möglich, wo dieſe Gränze
zwiſchen contentieux und droit civil et criminel fraglich ward, oder
in welchem es ſich um das Verhältniß des Verwaltungsaktes
zum poſitiven Geſetze handelte
, ſo weit das contentieux nicht
unbeſtritten die Sache der Verwaltung übergab. Und die Geſammtheit
dieſer Fälle bildet den conflit.


So einfach nun dieſer Begriff an ſich iſt, ſo unmöglich iſt es,
ſeine Gränze zu beſtimmen; denn die Vorausſetzung wäre, daß man
entweder jeden Fall, in welchem ein Widerſpruch eines Verwaltungs-
akts mit einem Geſetze behauptet wird, den Gerichten zur Annahme
oder zur Abweiſung überließe, und das verſtattet der hiſtoriſche Grund-
ſatz des franzöſiſchen Verwaltungsrechts wie geſagt nicht; oder daß
man die Gränzen des contentieux, der Adminiſtrativſachen, hinreichend
beſtimmte, und das verbietet die Natur derſelben. Es iſt daher von
jeher unmöglich geweſen, die Fälle des conflit zu beſtimmen, und die
franzöſiſche jurisprudence du conflit liefert daher durch eine mehr als
ſechzigjährige, fruchtloſe Arbeit den Beweis, daß jeder Verſuch, die
Gränze zwiſchen Competenzſtreit und Competenzconflikt
auf die Unterſcheidung zwiſchen Adminiſtrativ- und Juſtiz-
ſachen zurückzuführen, eine hoffnungsloſe
iſt. Daher ſehen wir
denn auch in Frankreich ſofort mit Beginn dieſes Jahrhunderts das
Beſtreben eintreten, ſtatt der Unterſcheidung des conflit vom con-
tentieux
vielmehr das Organ zu conſtituiren, welches in jedem
einzelnen Falle über die Competenz von Gericht und Verwaltung zu
entſcheiden hat. Bei dieſem Streben, verbunden mit einer höchſt ſcharf-
ſinnigen Theorie, der wir in Deutſchland auch nichts entfernt Aehnliches
zur Seite zu ſtellen haben, ſind zwei gleichſam herrſchende Geſichts-
punkte hervorgetreten. Erſtlich haben ſich unter jenen Fällen, in denen
die Competenz von Gericht und Verwaltung zweifelhaft iſt, gewiſſe
Fälle anerkannter Weiſe ausgeſchieden, in denen die Competenz des
Gerichts entſchieden zugeſtanden wird; dahin gehören namentlich die
Stein, die Verwaltungslehre. I. 12
[178] Fälle, in welchen es ſich um Verbrechen der Beamteten handelt, zum
Theil diejenigen, in welchen es ſich um Vergehen handelt (conflits en
matière criminelle
und en matière correctionnelle). — Zweitens hat
man den tiefen Unterſchied zwiſchen contentieux und conflit darin aner-
kannt, daß die höchſte entſcheidende Behörde, der Conseil d’État, eine
eigene Sektion pour le contentieux, und eine zweite Sektion pour
les conflits
hat. Die erſte Sektion entſcheidet daher die Competenz-
ſtreitigkeiten, die zweite entſcheidet über den conflit, indem ſie die Zu-
ſtändigkeit entweder der administration oder der tribunaux formell
ausſpricht. Die große Wichtigkeit der Sache und die hohe, in Deutſch-
land nur zum Theil nachgeahmte Vortrefflichkeit des Beſchwerde-
verfahrens haben nun über das ganze Verfahren beim conflit eine
ſelbſtändige jurisprudence geſchaffen, welche hier natürlich nicht mit-
getheilt werden kann. Es möge nur zum Schluſſe bemerkt werden,
daß das Hauptgeſetz über den conflit die Ordonnanz vom 1. Juni 1828
iſt, dem ein Bericht von Cormenin zu Grunde liegt. Es ward ſpäter ein
eigener Geſetzentwurf darüber ausgearbeitet (1835), aber den Kammern
nicht vorgelegt. Man fühlte vollkommen das höchſt Unvollſtändige in
dem beſtehenden Rechte; aber man glaubte und glaubt noch immer,
daß es gelingen werde, durch eine ſcharfe geſetzliche Trennung der
contentieux zu einer Regelung des conflit zu gelangen. Man hat
daher wieder in der Conſtitution von 1848 den Satz aufgenommen,
daß die conflits d’attributions entre l’autorité administrative et l’au-
torité judiciaire
definitiv geregelt werden ſollen (a. 89). Ein Reglement
vom 26. Oktober 1848 hat ein Tribunal dafür eingeſetzt; ein Geſetz
vom 4. Februar 1850 hat die Ordnung und das Verfahren deſſelben
geregelt; aber das décret organique de Conseil d’État vom 25. Januar
1852 hat demſelben in Art. 17, die Entſcheidung des conflit zurückgegeben
und dieſen Conseil d’État in ſeinen zwei eben erwähnten Sektionen wieder
zum Competenzgerichtshof von Frankreich gemacht. Aber im höchſten Grade
für den Begriff der franzöſiſchen Verwaltung bezeichnend iſt dabei der
Grundſatz: „le Conseil d’État n’admet pas que les tribunaux puissent
éléver le conflit contre l’administration.
“ „La vérité est,“
ſagt Bou-
latignier, „qu’en instituant le conflit, on a eu surtout en vue de
protéger l’autorité administrative contre les empiètements de l’autorité
judiciaire.
— Das heißt alſo, wenn einmal ein geſetzliches Recht durch
einen Verwaltungsakt verletzt, aber trotzdem aus irgend einem Grunde
nur eine Beſchwerde erhoben iſt, wo eine Klage unbedingt hätte ſtatt-
finden ſollen, ſo hat dennoch nur die Verwaltungsbehörde zu ent-
ſcheiden
; es wird Gericht durch das Erheben der Beſchwerde. Es
iſt natürlich vollkommen unmöglich, in dieſem Zuſtande noch ein auf
[179] dem Begriff des Geſetzes und der Verordnung beruhendes Competenz-
recht durchzuführen. Es iſt nicht einmal der Grundſatz feſtgehalten,
daß man es nach den äußern Merkmalen der Sache beſtimme; es iſt
die Sanction der Herrſchaft der Verwaltung über das
Recht
, der Unfreiheit des bürgerlichen Rechts gegenüber dem Ver-
waltungskörper. Frankreichs Competenzrecht iſt ſeinem Weſen nach
einer der großen Faktoren ſeiner innern Unterwerfung unter die all-
gewaltige Staatsgewalt; ſeiner äußern Form nach der entſcheidende Be-
weis, daß man auf Grundlage der Unterſcheidung von Juſtiz- und
Adminiſtrativſachen nicht zu einem verfaſſungsmäßigen Competenzrecht
gelangen kann.


Dennoch hat das franzöſiſche Recht wenigſtens zum Theil in
Deutſchland Platz gegriffen.


3) Competenzſtreit und Competenzconflikt im deutſch-franzöſiſchen Rechte
Deutſchlands.

Wenn es uns gelungen iſt, uns über den Unterſchied von Geſetz
und Verordnung einerſeits, und über Adminiſtrativ- und Juſtizſachen,
ſowie über Klag- und Beſchwerderecht andererſeits klar auszuſprechen,
ſo wird es jetzt kaum mehr ſchwierig ſein, die Behauptung durchzuführen,
daß auch im Competenzrecht die einzelnen deutſchen Rechte ſich in durch-
greifender Unklarheit befinden, während es ein gemeinſames deutſches
Recht eben nicht gibt. Grund und Inhalt dieſes Verhältniſſes ſind in
der inneren Geſchichte des deutſchen Rechts gegeben. Wir dürfen uns
dabei auf früher Geſagtes beziehen.


Mit dem vorigen Jahrhundert geht in Deutſchland die Theilnahme
der Vertretung an dem Staatswillen und damit der Begriff und das
Recht des Geſetzes unter; Verordnung und Geſetz ſind identiſch. Es
iſt für die richtige Beurtheilung des deutſchen öffentlichen Rechts wohl
feſtzuhalten, daß es in ganz Deutſchland nicht einmal ein Recht gibt,
welches dem Enregistrement der Parlemente in Frankreich oder dem
Lit de justice zur Seite geſtanden hätte. Der Wille des Souverains
iſt hier auch formell allein herrſchend. Dabei erhielt ſich jedoch der,
durch das eifrige und höchſt einſeitige Studium des Römiſchen Rechts
getragene Gedanke, daß die Gerichte das Geſetz zu handhaben befugt
ſind. Da es nun aber keinen beſtimmten Begriff des Geſetzes gibt, ſo
iſt die Competenz der Gerichte, wo immer ſie mit dem Willen des Souve-
rains zu thun hat, an und für ſich zweifelhaft, und im Grunde nur
durch die Zuſtimmung des letzteren denkbar. Das ganze Gebiet der
Regierungsthätigkeit ſchied ſich daher von der richterlichen Zuſtändigkeit
von ſelbſt aus; es ward Princip, daß nur da, wo der Einzelne mit
[180] dem Einzelnen Streit hatte, das Gericht zuſtändig ſei. Der Gedanke
des franzöſiſchen droit administratif tritt daher in Deutſchland, aber
in noch roherer Form auf. Nur auf einem Punkte erhielt ſich die ge-
richtliche Competenz, wenigſtens als theoretiſcher Anſpruch der Gerichte;
das iſt da, wo die öffentlichen Rechte auf Grund eines Privatrechts-
titels beſeſſen werden. Der Unterſchied der Auffaſſung des vorigen und
des gegenwärtigen Jahrhunderts beſteht darin, daß nicht die einzelnen
Akte der Regierungsgewalt, ſondern dieſe Gewalt an ſich, der Beſitz
derſelben titulo dominii, das „Hoheitsrecht“ und ſeine Ausdehnung
gegenüber der Grundherrlichkeit Gegenſtand des Streits über die Com-
petenz ward. Die Gerichte forderten es für ſich, die Landesherrn ver-
weigerten es. Auf dieſer Grundlage bleibt aber der Gedanke leben-
dig, daß die Gerichte auch gegenüber der Thätigkeit der Regierung
irgend eine Competenz haben müſſen. Und da nun dieſe Gränze der
Competenz an dem Unterſchied zwiſchen geſetzlichem und verordnungs-
mäßigem Recht keinen Anhaltspunkt fand, da dieſer Unterſchied eben
nicht exiſtirte, ſo kam man dazu, dieſelbe an einzelnen Sachen
beſtimmen zu wollen. Das hatte den guten Sinn, daß allerdings die
Ausdehnung der Hoheitsrechte in den verſchiedenen Staaten ſehr ver-
ſchieden war, und daher überhaupt die Competenz ſelbſt kaum principiell,
ſondern nur der örtlichen Geſtalt des öffentlichen Rechts nach verſchieden
war. So war der Gedanke des Unterſchiedes zwiſchen Juſtiz- und
Adminiſtrativſachen Grundlage für die Gränze des Klag- und Beſchwerde-
rechts, und für die Competenz der Gerichte und der Verwaltungsbehör-
den. Und man kann im Allgemeinen ſagen, daß der Streit zwiſchen
beiden bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts weder theoretiſch noch
praktiſch entſchieden war.


Mit dem Beginne dieſes Jahrhunderts treten nun die Verfaſſungen,
mit ihnen der Begriff des Geſetzes gegenüber dem der Verordnung auf.
Jetzt war ſcheinbar die Frage nach der Competenz zwiſchen Gericht und
Adminiſtration erledigt. Allein die Verfaſſungen ſelbſt hatten einen ganz
andern Charakter als in Frankreich. Nicht die volonté générale oder
die souveraineté de la nation, ſondern die Landesherren gaben die
Verfaſſungen. Der Wille der höchſten Regierungsgewalt war daher die
eigentlich rechtbildende Kraft im öffentlichen Recht; das ganze öffentliche
Recht ging — bis auf die neueſie Zeit — ſowohl in Verfaſſung als in
Verwaltung aus derſelben Quelle hervor, aus der die Verordnungen
erfloſſen. Das Gefühl dieſes Verhältniſſes iſt allenthalben lebendig;
der Proceß und die Kraft der innern Staatsbildung ruht nach wie
vor im Königthum und die Volksvertretung bildet nur ein Moment an
derſelben. Die Folge iſt, daß ein Hineingreifen der Gerichte in dieſen
[181] Proceß — abgeſehen von der formellen Frage — als im Widerſpruch
mit dem Leben jener Zeit erſcheint. Die Regierung muß ſich frei
bewegen können
; die Geſetze ſind theils nicht fertig, theils ſteht ihr
Begriff nicht einmal feſt; jeder Akt der Regierung kann daher, ſo weit
es ſich eben um das Verhältniß der einzelnen Lebensſphäre zum öffent-
lichen Recht handelt, auch nur von der verordnenden Gewalt richtig
beurtheilt werden, oder, die Competenz der Gerichte iſt für
Regierungshandlungen ausgeſchloſſen
. Das iſt der Grund-
zug des öffentlichen Rechts im Beginne der Verfaſſungsbildung.


Dieſes Princip gewinnt nun eine doppelte Geſtalt.


Die erſte Form deſſelben beſteht einfach in der Annahme der
franzöſiſchen Idee des contentieux. Sie war den deutſchen Juriſten
ſehr verſtändlich, weil ſie die Möglichkeit fanden, ihren früheren Begriff
der Juſtiz- und Adminiſtrativſachen darauf anzuwenden, den Regierun-
gen aber, weil ſie dadurch grundſätzlich ihre Verwaltungsthätigkeit den
Gerichten entzogen. So wurde der Begriff und das Recht der franzöſi-
ſchen Adminiſtrativjuſtiz von einigen Verfaſſungen unmittelbar aus
Frankreich recipirt, und zu einem ſyſtematiſchen Theile des öffentlichen
Rechts in der Geſetzgebung verarbeitet. An der Spitze dieſer Richtung
ſtand und ſteht bekanntlich Bayern, das Form und Inhalt der juris-
diction administrative
zu einer ſelbſtändigen Geſetzgebung erhob und ganz
nach franzöſiſchem Muſter die Fälle der Verwaltungsgerichtbarkeit aus-
drücklich bezeichnete und von der gerichtlichen Competenz ausſchied. (Siehe
Pötzl, Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 153, Verwaltungsrecht §. 16—18,
höchſt klar und einfach zuſammengefaßt in §. 55, weitläufiger bei Moy,
Bayeriſches Verfaſſungsrecht I.) Das Geſetz vom 28. Mai 1850 behält
dieſelbe Baſis; es ſind die Begriffe des bejahenden und verneinenden
Conflikts aufgeführt und ein Competenzgerichtshof eingeſetzt, der ſich
vom franzöſiſchen Conseil d’État weſentlich dadurch unterſcheidet, daß
Mitglieder des oberſten Gerichtshofes hinzugezogen werden. Die freiere
Auffaſſung des deutſchen Rechts zeigt ſich darin, daß der conflit négatif
von jeder Partei, alſo auch gegen die Adminiſtration, erhoben werden
kann; zweitens aber in dem wichtigen Satz, daß die, am Ende doch
nie ganz vermeidliche Frage nach der Rechtsgültigkeit der Geſetze und
Verordnungen zwar den Gerichten genommen, aber dafür der Volks-
vertretung übergeben wird
, wie in der preußiſchen Verfaſſung §. 106
(freilich nur in Beziehung auf Verordnungen) und ſpezieller in dem
hannöveriſchen Geſetze vom 1. Auguſt 1855, III. §. 4, wo den Kammern,
ganz richtig, keine einſeitige Entſcheidung, ſondern nur „Anträge“ geſtattet
ſind, wenn die verfaſſungsmäßige Mitwirkung der Stände in Zweifel
kommt. Stubenrauch, Gutachten (Verhandlungen des vierten deutſchen
[182] Juriſtentages S. 210) erklärt ſich, unter Berufung auf die conſtante Praxis
der belgiſchen Gerichte, gleichfalls für dieſe Auffaſſung; es iſt aber nicht ab-
zuſehen, wie damit in den Fällen geholfen werden ſoll, wo ein Rechtsſtreit
zwiſchen Privaten vorliegt; die allgemeine Rechtsgültigkeit der öffent-
lichen Akte ſoll ja überhaupt nicht vom Gerichte entſchieden werden,
ſondern nur ihre Anwendung auf den beſtimmten Fall (ſiehe unten.)


Die zweite, viel einfachere Form iſt nun die, welche nicht die
einzelnen Sätze, wohl aber den Grundgedanken des franzöſiſchen Rechts
aufnimmt, und ganz einfach ausſpricht, daß alle Streitigkeiten, welche
ſich auf das öffentliche Recht beziehen, Adminiſtrativſachen,
und damit der Competenz der Gerichte durchaus entzogen ſind; nur
mit dem Unterſchiede, daß in einigen Staaten diejenigen Streitigkeiten,
welche aus den verfaſſungsmäßigen Rechten entſtehen, einem
eigenen Staatsgerichtshofe überwieſen werden; das iſt namentlich in
Württemberg, der Heimath der ſtreng juriſtiſchen Verantwortlichkeits-
doctrin, ſcharf durchgeführt (ſ. Mohl, Württemb. Staatsrecht I, Kap.
IV). In andern Staaten wird jener Satz in ſeiner nackten Schärfe
hingeſtellt, namentlich in Preußen, wo ihn die beiden Cabinetsordres
vom 27. Oktober 1820 und vom 4. Februar 1823 ſehr klar definirten,
ſo daß derſelbe in dem zweiten bis fünften Jahrzehent als ein Grund-
ſatz des gemeinen deutſchen Staatsrechts von einzelnen Rechtslehrern
aufgeſtellt ward (Maurenbrecher §. 185, während ſchon Klüber
§. 366 ſich dagegen erklärt, jedoch ohne den Unterſchied von Geſetz
und Verordnung oder von Klage und Beſchwerde vor Augen zu haben).
Die conſtitutionelle Richtung, Aretin, Pölitz u. A. kommen auch
zu keiner Klarheit, da auch ihnen neben der Unmöglichkeit, dem Gericht
ein Urtheil über Verordnungen zuzugeſtehen, die Nothwendigkeit, das
Gericht bei geſetzlichem Recht walten zu laſſen, doch einleuchtet. Auf
dieſem Standpunkt erhält ſich die ſpätere und auch noch die gegenwär-
tige Theorie; wir führen als Ausdruck der hier waltenden Unfertigkeit
der Vorſtellungen nur Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 454 an: „Da
die Gerichte ihrem Begriffe nach nur da competent ſein können, wo die
Beurtheilung einer Sache nach rechtlichen Geſichtspunkten (?) in Frage
und möglich iſt, ſo erhellet, daß die Competenz derſelben in allen eigent-
lichen (?) Regierungs- und Adminiſtrativſachen ausgeſchloſſen iſt
— d. h. wo „nicht die Rechtlichkeit, ſondern die Zweckmäßigkeit dieſer
Verfügungen in Frage ſteht.“ In den Fällen aber, wo dieſe Gränze
zweifelhaft wird, ſoll „nach gemeinem Rechte den Gerichten die Compe-
tenz, über ihre Competenz zu entſcheiden, zuſtehen.“ Es leuchtet ein,
daß der erſte Satz eine Gränze unmöglich macht, und daß der zweite
die Regierung mit allen ihren Thätigkeiten, alſo auch mit ihrer ganzen
[183] Verfügungsgewalt unter das Gericht ſtellt, obgleich der erſte einen
Theil derſelben ausſchließt. Man ſieht deutlich das Ringen nach einem
andern als dem auch hier noch zum Grunde liegenden Standpunkt der
Unterſcheidung von Juſtiz- und Adminiſtrativſachen; dieſelben Grundſätze
treten mit all ihren verworrenen Conſequenzen in einer Reihe von Ver-
faſſungen ein. Princip iſt: „Die Verfügungen aller Verwaltungsbehörden
und Beamteten innerhalb des demſelben angewieſenen, von der
Rechtspflege getrennten Wirkungskreiſes gehören nicht zur Compe-
tenz der Gerichte
.“ (Braunſchweiger Landesordnung 1832, §. 195;
hannövr. Geſetz vom 5. September 1850.) Da natürlich damit nichts
gewonnen war, weil eben die Frage offen blieb, was denn innerhalb
des verwaltungsmäßigen Wirkungskreiſes liege, ſo griff man zu dem
franzöſiſchen Auskunftsmittel, einen eigenen Competenzconfliktshof einzu-
ſetzen (Sachſen, Altenburg, Braunſchweig, Waldeck, Preußen, Olden-
burg, Reuß, Coburg-Gotha; ſiehe auch Zöpfl, Staatsrecht §. 454).
Die Organiſation dieſes Gerichtshofes iſt durchſchnittlich auf eine Beizie-
hung von Gerichtsbehörden gebaut, und unterſcheidet ſich dadurch aller-
dings weſentlich von dem franzöſiſchen Princip. Allein die Hauptfrage
iſt damit nicht erledigt, und deßhalb blüht in der Literatur auch jetzt
noch wie vor hundert Jahren die alte Frage, was denn Juſtiz und
Adminiſtration ſei. Denn es handelt ſich jetzt natürlich darum, nach
welchen Grundſätzen eben dieſer Competenzgerichtshof zu
entſcheiden habe, ob
etwas den Gerichten oder den Verwaltungs-
behörden angehöre oder nicht; und auf dieſe Frage hat weder das Ge-
ſetz noch die Theorie eine Antwort, wenn man nicht die verzweifelten
Verſuche, Juſtiz- und Adminiſtrativſachen objektiv zu ſcheiden, als eine
ſolche betrachten will.


Es iſt daher kaum zweifelhaft, daß die deutſche Rechtsbildung
durch ihren, allerdings durch den Gang der Verfaſſungsbildung wohl
begründeten Anſchluß an die franzöſiſche Auffaſſung des contentieux
und des conflit nicht zu einem Abſchluß gediehen iſt und auch nicht
gedeihen kann
. Der franzöſiſche Grundgedanke paßt für Frankreich,
aber nicht für Deutſchland. Wir müſſen in unſerer Weiſe unſer Recht
bilden. Wir müſſen die bisherige Richtung aufgeben, und die uns
eigenthümliche einſchlagen, und wir können das um ſo mehr, als bereits
die Grundlinien derſelben ſogar in mehreren Verfaſſungen ausgeſprochen,
die dann freilich — wir müſſen hinzufügen ohne klares Bewußtſein —
in direktem Widerſpruche mit dem obigen Rechte des franzöſiſchen Com-
petenzſtreites ſtehen.


Mitten unter jener franzöſiſchen Geſtaltung der Scheidung von
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen, und ganz friedlich neben dem Satze,
[184] daß die „eigentlichen“ Verwaltungsakte der Competenz der Gerichte ent-
zogen ſind und ſein müſſen, und daß im ſtreitigen Falle der Competenz-
gerichtshof zu entſcheiden habe, wer competent ſei, erhält ſich nämlich im
deutſchen Rechtsleben der engliſche Grundſatz, daß der Einzelne ſein Recht
immer bei Gericht müſſe verfolgen können, wenn überhaupt von einer
rechtlichen Freiheit die Rede ſein ſolle. Dieſen Grundſatz erkennen nicht
bloß einzelne Verfaſſungen ausdrücklich an (Württemb. Verfaſſungs-
recht §. 95; Königreich Sachſen §. 99; Schwarzburg-Rudolſtadt
1849, §. 175; Kurheſſen §. 35; Oldenburg 1852, Art. 48: „Jedem,
der ſich durch einen Akt der Verwaltung in ſeinem Recht verletzt glaubt,
ſteht der Rechtsweg offen“), ſondern die deutſche Theorie ſagt: „In
andern Staaten wird dieß als nach gemeinem Recht ſelbſtverſtändlich
betrachtet.“ (Zöpfl §. 453.) Nur darf der Gang der Verwaltung nicht
geſtört werden; d. h. jeder iſt zunächſt zum Gehorſam verpflichtet. (Sachſen
§. 49, Schwarzburg-Sonderhauſen 1849, §. 176, u. a. m.;
ſiehe oben vom verfaſſungsmäßigen Gehorſam.) Hier nun liegt der
Widerſpruch klar genug zu Tage. Der Rechtsweg iſt unbedingt und
principiell offen erklärt im Verhältniß des Einzelnen zu den „Akten der
Verwaltung,“ während er dennoch für die „Akte der eigentlichen Ver-
waltung“ ebenſo unbedingt und principiell ausgeſchloſſen iſt. Es kann
kein Zweifel ſein, daß dieſer Widerſpruch, der ſonſt ganz unlösbar
wäre, einen tiefern Grund hat, der beide Sätze zugleich als voll-
kommen richtig und „ſelbſtverſtändlich“ erſcheinen läßt. Und hier nun
iſt es, wo wir das Gebiet des wahren Competenzconflikts, der Grund-
lage unſeres deutſchen Rechts begegnen, indem wir weder mit dem eng-
liſchen Recht die Frage durch Confundirung der Gerichts- und Verwal-
tungsbehörden, noch mit dem franzöſiſchen und franzöſiſch-deutſchen Recht
durch die äußerliche Scheidung von Juſtiz- und Adminiſtrativſachen löſen,
ſondern durch die Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung, und die
Beziehung der gerichtlichen Competenz auf das erſte, der amtlichen auf
das zweite zum Grunde legen. Die zuletzt angeführten Sätze zeigen
uns, daß dieſer Begriff der gerichtlichen und adminiſtrativen Competenz
im deutſchen Recht vorhanden iſt und nur nach ſeinem Ausdruck ſucht.
Wir wollen verſuchen, denſelben zu formuliren.


4) Der deutſche Begriff und Inhalt des ſogen. Competenzconfliktes.

Indem wir nunmehr auf die Darſtellung der beiden Grundbegriffe
von Competenzſtreit und Competenzconflikt verweiſen, faſſen wir dieſelbe
noch einmal kurz zuſammen, um dann den Inhalt und die Form des
Competenzconfliktes in ſeiner wahren Bedeutung anzuſchließen, und wie
[185] wir hoffen, denſelben für Deutſchland zu beſeitigen, wie ihn auch Eng-
land nicht anerkennt.


Nur müſſen wir aufs neue darauf hinweiſen, daß alle derartige Be-
ſtrebungen fruchtlos ſind, ſo lange man nicht über den formellen Unter-
ſchied von Geſetz und Verordnung theoretiſch und juriſtiſch einig iſt.


Darnach nun ergeben ſich folgende einfache Grundſätze:


a) Der Inhalt einer Verordnung an ſich, ſowie das Verhält-
niß einer Verfügung zu einer Verordnung kann niemals zur
Competenz eines Gerichtes gehören. Es gibt kein Klagrecht gegen Ver-
ordnungen und Verfügungen, ſondern nur ein Beſchwerderecht. Das
iſt auch als der Sinn der Beſtimmungen der oben angeführten Ver-
faſſungen anzuſehen, nach welchen die „eigentlichen“ Verwaltungsakte
der gerichtlichen Competenz entzogen ſind. So wie man unter den
eigentlichen Verwaltungsakten die Verordnungen außerhalb ihrer
Beziehung zu den Geſetzen
denkt, iſt jene Beſtimmung klar und
richtig. Im deutſchen Rechte mangelt hier nur, wie geſagt, eine aus-
reichende geſetzliche Beſtimmung über das Verfahren bei der Beſchwerde.
Das ſollen wir von den Franzoſen lernen.


b) So wie dagegen das Verhältniß der Verordnung oder Verfügung
zu einem Geſetze in Frage kommt, iſt das Gericht competent, und
nicht mehr die Verwaltungsbehörde. Das bedeuten jene Stellen aus
dem öffentlichen Recht, welche das „Klagrecht gegen jeden Verwaltungs-
akt“ verfaſſungsmäßig zugeſtehen.


Es folgt daraus, daß es, wie ſchon geſagt, überhaupt keinen Unter-
ſchied zwiſchen Juſtiz- und Adminiſtrativſachen gibt noch geben kann,
ſondern daß jede wie immer geartete Verfügung und Verordnung ſo-
wohl
Gegenſtand der Beſchwerde, als der Klage ſein kann. — Damit
iſt aber die Cumulirung beider natürlich ausgeſchloſſen, da ich das, wo-
mit die betreffende Verfügung in Widerſpruch ſtehen ſoll, nicht zugleich
als Geſetz und als Verordnung betrachten kann.


Das ſind nun die einfachen Grundſätze, an welche ſich der eigent-
liche Competenzconflikt anſchließt. Und zwar beſteht derſelbe zuerſt
im Competenzurtheil, und zweitens im Competenzrecht.


a) Das Competenzurtheil.

Das Competenzurtheil beruht darauf, daß bei Klage oder Beſchwerde
der Fall als möglich geſetzt werden muß, daß ſich ſowohl der Einzelne
Klag- oder Beſchwerdeführer über die Natur des öffentlichen Willens-
aktes irrt, und zweitens daß ſich auch das betreffende Organ darüber
irren kann. Beide Fälle ſind wohl zu unterſcheiden.


a) Der Einzelne kann nämlich eine gerichtliche Klage erheben, wo
[186] er nur zu einer Beſchwerde berechtigt war, indem er als Klaggrund
überhaupt kein durch die Verordnung verletztes Geſetz anführt. Hier
iſt die Abweiſung klar. Er kann aber auch eine Beſchwerde vor der
Behörde einbringen, wo eine Klage begründet geweſen wäre, indem er
ſich in der Beſchwerde nicht auf den Widerſpruch der Verordnung mit
einer andern Verordnung, ſondern direkt mit einem Geſetze beruft, oder
beide Berufungen cumulirt. Hier muß die Competenz als prorogirt
angeſehen und die Behörde als competent an der Stelle des Gerichts
anerkannt werden. Die weſentliche Frage iſt dabei indeß die, ob das
Erkenntniß der Verwaltungsbehörde das Recht einer res judicata hat, ſo
daß eine Appellation von dem Ausſpruch der höchſten Verwaltungs-
inſtanz an die Gerichte damit ausgeſchloſſen iſt. Es wird nun faſt
allenthalben angenommen, daß eine ſolche Appellation (von dem Urtheil
in einer Adminiſtrativſache, wie man ſagt) an das Gericht (alſo der
Uebergang zu einem Juſtizverfahren ſelbſt bei Juſtizſachen, in denen
ein adminiſtratives Urtheil erfloſſen iſt) nicht zuläſſig iſt. Strenge
genommen müßte man ſagen, daß wenn der Akt des Einzelnen die
Form eines Geſuches hatte, kein Beſcheid der Adminiſtrativbehörde
eine Rechtskraft haben könne, während bei förmlicher Beſchwerde-
führung der Beſchwerdeführer als compromittirend angeſehen werden
kann. Da aber Geſuch und Beſchwerde äußerlich nicht gut zu trennen
ſind, ſo muß im öffentlichen Intereſſe gefordert werden, daß die ange-
brachte Beſchwerde die Competenz der Verwaltungsbehörde feſtſtellt,
wenn nicht der Beſchwerdeführer ſich den gerichtlichen Weg wegen der
Verletzung des Geſetzes ausdrücklich vorbehält. In dieſem Falle
kann der Erlaß der Behörde keine Rechtskraft gewinnen, und der ge-
richtliche Weg kann auf den Beſcheid derſelben ſtets ergriffen werden.


Dieſe Grundſätze gelten ſowohl bei dem ſogenannten poſitiven als
dem negativen Competenzconflikt; je nachdem der Akt oder die Unter-
laſſung deſſelben Gegenſtand der Klage — bei Widerſpruch mit einem
Geſetz — oder der Beſchwerde — bei Widerſpruch mit einer Verordnung
— wird. Hier iſt keine weitere Schwierigkeit denkbar.


b) Es kann aber auch das Gericht ſich irren, und eine Verord-
nung als ein Geſetz behandeln, nachdem auf Grundlage derſelben eine
Klage eingereicht iſt, während die Verwaltungsbehörde dem öffentlichen
Akte die Natur einer Verordnung vindicirt, und daher das Verordnungs-
recht darauf anwenden, das iſt, die Freiheit für ſich in Anſpruch nehmen
will, die beſtehende Verordnung nach ihrem Ermeſſen zu ändern. (Siehe
oben.) Hier ſind zwei Fälle möglich, von denen der letzte dem Folgen-
den gehört.


Iſt nämlich im Sinne der Verordnung durch den Akt einer Behörde
[187] dem Einzelnen ein Privatrecht wirklich erworben, ſo kann dieß
nicht mehr durch eine ändernde Verfügung aufgehoben werden, weil
hier das Mandatsrecht eintritt, und mithin die Verordnung dem bürger-
lichen Geſetze gegenüber tritt, wobei das Klagrecht unzweifelhaft iſt.
Das nun iſt der Punkt, wo ſich eben die franzöſiſchen Grundſätze des
contentieux und des conflit deutlich herausſtellen. Im franzöſiſchen
Recht nämlich hat in den Fällen des contentieux die Verwaltungsbehörde
auch die Competenz über den privatrechtlichen Inhalt ihrer Verwaltungs-
akte, wie z. B. bei Lieferungsverträgen u. ſ. w., und der conflit entſteht
eben dann, wenn das Gericht über dieſe bürgerlichen Conſequenzen
eine Klage annimmt, während über das öffentliche Recht und Geſetz
gar keine Klage angenommen werden darf. (Siehe oben.) Die Auf-
ſtellung der Adminiſtrativſachen verewigt dieſen Widerſpruch. Das
deutſche Recht iſt ſich, wie wir oben geſehen, hier nicht klar. Dennoch
iſt kein anderer Grundſatz als der obige denkbar. Man muß daher
ſagen, daß inſoweit auf Grundlage des Eigenthums-, Verkehrs- und
Erbrechts im bürgerlichen (gemeinen) Recht das Gericht Recht ſpricht
über den Inhalt einer Verordnung, daſſelbe auch über Verordnungen
competent iſt, was im Grunde nur eine Anwendung des allgemeinen
Begriffes des Klagrechts iſt.


Weſentlich anders iſt der zweite Fall, der der Frage nach richter-
licher Competenz im weitern Sinn angehört.


b) Das richterliche Competenzrecht über die Geſetzesqualität.

Alle obigen Punkte ſind nämlich einfach, ſo lange Geſetz und Ver-
ordnung objektiv und klar geſchieden ſind. Allein es kann der Fall ein-
treten, daß wo der Einzelne bei Gerichte klagt, die Geſetzesqualität
des betreffenden Willensaktes von der Staatsgewalt geläugnet, und auf
dieſe Negation das Recht zur Vornahme der beklagten Verordnung oder
Verfügung begründet wird. Und hier tritt daher die Frage ein, ob
ein Gericht über die geſetzliche Natur des öffentlichen Willens eine
Entſcheidung zu treffen competent, und welches das Recht dieſer Ent-
ſcheidung ſei.


Dieß iſt nun der Fall, den wir den eigentlichen Competenz-
conflikt
nennen möchten. Denn in der That handelt es ſich hier um
die Zuſtändigkeit nicht etwa der Gerichte gegenüber der Verwaltung,
ſondern der Gerichte gegenüber der Geſetzgebung. Die Competenz
gegenüber der erſteren iſt dann ſelbſtverſtändlich gegeben, wenn ſie
gegenüber der zweiten feſtſteht. Die Frage iſt eine ernſte, und eben
darum kann ſie auch in einfacher und klarer Weiſe erledigt werden.
Nur iſt man gezwungen, hier auf die eigenthümlichen Verhältniſſe
[188] Deutſchlands einzugehen und die Aufgabe zu löſen, feſte und klare
Begriffe auf unfertige Uebergangszuſtände anzuwenden. Zu dem Ende
müſſen die in Frage kommenden Punkte einzeln betrachtet werden.


I. Das Objekt der Entſcheidung des Gerichts.


a) Da es ganz unzweifelhaft die Aufgabe des Gerichts iſt, das
Geſetz in ſeiner Anwendung auf den einzelnen Fall zur Anwendung zu
bringen, ſo kann es vernünftiger Weiſe kein Zweifel ſein, daß das
Gericht einen Akt als Geſetz anerkennen muß, um ihn eben anwenden
zu können. Das iſt daher im Grunde auch gar nicht die Frage. Die
Frage iſt vielmehr die, ob dieſe Anerkennung nur auf Grundlage ſeiner
eigenen Ueberzeugung geſchehen darf, oder ob das Gericht einen öffent-
lichen Akt auf Grundlage des Befehles irgend einer außergerichtlichen
Gewalt anzuerkennen verpflichtet iſt. Ganz offenbar würde die letzte
Behauptung einen ganz unlösbaren Widerſpruch mit dem Begriffe des
Geſetzes enthalten. Denn das Geſetz kommt eben nur zu Stande durch
das Zuſammenwirken aller drei Faktoren: Staatsoberhaupt, Geſetzgebung
und Verwaltung im weitern Sinn; eine Verpflichtung, einen öffentlichen
Willen als Geſetz anzuerkennen, weil einer dieſer Faktoren es befiehlt,
iſt abſolut widerſprechend. Darüber kann kein Zweifel ſein.


b) Iſt das der Fall, ſo muß auch das Gericht competent ſein zu
beurtheilen, ob die Formen in denen der öffentliche Akt erſcheint, den
Beweis enthalten, daß alle drei Faktoren wirklich in der verfaſſungs-
mäßigen Weiſe gewirkt haben. Sind nun verfaſſungsmäßige Formen
von einem Geſetze vorgeſchrieben, welche dieſen formellen Beweis geben,
ſo läßt es ſich ferner gar nicht denken, wie ein Gericht ſollte funktioniren
können, ohne zu beurtheilen, ob die vorliegenden Formen eines
öffentlichen Willensaktes mit den geſetzlichen Formen übereinſtimmen;
z. B. ob der Mitunterzeichner wirklich Miniſter geweſen oder nicht. Man
muß dabei nur einfach feſthalten, daß jener Zweifel an dieſem Recht
des Gerichts gar nicht gedacht werden kann, ohne eben den Unterſchied
zwiſchen Geſetz und Verordnung aufzuheben; und daß derſelbe eben
deßhalb, wie wir ſogleich ſehen werden, auch nur da entſtehen konnte,
wo dieſer Unterſchied ſelbſt nicht klar war, in Deutſchland. Weder Eng-
land noch Frankreich ahnen, möchten wir ſagen, daß es darüber
einen Streit geben kann.


c) Allerdings aber kann nun durch ein Geſetz wieder dem Ge-
richte das ihm vermöge ſeiner natürlichen Competenz zuſtehende Recht
abgeſprochen werden. Das kann aber nur geſchehen, indem gewiſſe
Fälle der Competenz des Gerichts überhaupt entzogen ſind, und das
ſind eben die franzöſiſchen Fälle der Adminiſtrativſachen. Da in dieſen
Fällen das Gericht überhaupt keine Competenz hat, ſo kann es auch
[189] nicht zuſtändig ſein zu unterſuchen, ob in ihnen ein Verwaltungsakt
mit einem Geſetz in Widerſpruch tritt. Und da nun die Frage, ob der
einzelne bei dem Gericht als Klage angebrachte Fall zu dieſen Fällen
gehört oder nicht, geſetzlich dem Competenzgerichtshofe zu überweiſen
iſt, ſo gehört überhaupt die Unterſuchung über ein in Frage ſtehendes
Geſetz, ſo lange es eine Adminiſtrativjuſtiz gibt, erſt dann dem Gericht,
wenn der Competenzgerichtshof die Competenz des Gerichts ausgeſprochen,
oder den Fall für eine Juſtizſache erklärt hat.


d) Es folgt aus dieſen Sätzen der tiefe Widerſpruch, der überhaupt
in der Aufſtellung einer geſetzlichen Unterſcheidung zwiſchen Adminiſtrativ-
und Juſtizſachen, und der Competenz eines Competenzgerichtshofes liegt,
und der ſchon an ſich beides auf immer beſeitigen müßte. Wenn näm-
lich bei formell gültiger Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung in
einer Adminiſtrativſache die Frage entſteht, ob der öffentliche Akt, mit
welchem der betreffende Akt der Behörde nach der Behauptung des Be-
ſchwerdeführers in Widerſpruch ſteht, ein Geſetz ſei oder nur eine Ver-
ordnung, ſo hat die adminiſtrative Behörde offenbar das Recht, welches
man dem Gerichte abſprechen will
, nämlich über die Geſetzes-
qualität jenes öffentlichen Aktes zu entſcheiden; oder, es hat die admini-
ſtrative Behörde die Competenz, die man dem Gerichte verweigert. Es
leuchtet ein, daß dieß der ganzen Natur des Staatsorganismus ent-
ſchieden widerſpricht. Ginge man aber gar ſo weit zu ſagen, daß die
adminiſtrative Behörde über dieſe Frage ihrerſeits nicht zu entſcheiden
hätte, ſo würde der Widerſpruch ein noch viel größerer ſein. Denn in
dieſem Falle müßte man ſagen, daß auch da, wo die Handlung eines
Organes mit einem Geſetze in Widerſpruch ſteht, die höhere Behörde
ſich nicht an die Geſetze ſondern nur an die adminiſtrative Zweck-
mäßigkeit, oder an den Inhalt der Verordnung zu binden, d. h. alſo,
das Geſetz der Verordnung zu unterwerfen hätte. Damit iſt in allen
Adminiſtrativſachen die Geſetzlichkeit grundſätzlich aufgehoben, und das
Umgekehrte des verfaſſungsmäßigen Rechts, die rechtliche Herrſchaft der
Verwaltung über die Geſetzgebung ſanktionirt. Denn, ſagt man in
Erwiederung deſſen, daß ſich auch die Adminiſtrativbehörde in ihren
Entſcheidungen an das Geſetz zu binden hat, ſoweit ein ſolches exiſtirt,
ſo muß man wiederum die Conſequenz für unabweisbar erklären, daß
ſie da, wo die Geſetzesqualität ihrer Meinung nach zweifelhaft iſt, auch
über dieſelbe ihrerſeits zu entſcheiden hat, und dann erhält ſie ja
eben die Competenz, welche man dem Gerichte verweigert; das iſt eben
der Fall des obigen Widerſpruches. Wollte man endlich ſagen, daß in
denjenigen Fällen der geſetzlich anerkannten Adminiſtrativjuſtiz, in welchen
es ſich um das Verhältniß eines Aktes der Verwaltung zu einem Geſetze
[190] handelt, die Sache von der Adminiſtrativbehörde eben darum den Ge-
richten zugewieſen werden ſollte, ſo iſt gerade dadurch der Begriff
der Adminiſtrativjuſtiz ſelbſt aufgehoben
. Denn auch wir
fordern ja nicht, daß die Gerichte entſcheiden ſollen, wo eine Verfügung
mit einer Verordnung in Widerſpruch tritt, wie das in England der
Fall iſt, ſondern hier ſollen eben die Behörden entſcheiden und der
Gang und das Recht der Beſchwerde inne gehalten werden; nur da,
wo ein Verwaltungsakt mit einem Geſetz in Widerſpruch tritt, entſteht
die Competenz des Gerichts. Will man nun das Recht der Behörden,
über Verordnungen und Verfügungen zu entſcheiden, Adminiſtrativjuſtiz
nennen, ſo ſoll man ſich nur vergegenwärtigen, daß das keine Juſtiz
iſt. Will man die Sachen, welche Gegenſtand dieſer ſogenannten
Juſtiz ſein können, als Adminiſtrativſachen bezeichnen, ſo ſoll man ſich
erinnern, daß alle Sachen in das Gebiet der Verordnungen und Ver-
fügungen fallen können, und es daher keine Adminiſtrativſachen gibt.
Jede wie immer geartete Unterſcheidung auf dieſem Gebiet erzeugt daher
unlösbare Widerſprüche, die man zwar gewaltſam, aber niemals orga-
niſch zur Löſung bringen kann.


e) Sagt man nun endlich, es ſolle der Competenzgerichtshof ent
ſcheiden, ob im vorliegenden Falle der Akt, auf welchen ſich die Klage
beruft, ein Geſetz ſei oder nicht, ſo entſteht der Widerſpruch, daß man
dem Competenzgerichtshofe ein Recht gibt, welches dem Gerichte zuſteht,
aber in der Weiſe, daß das Organ, gegen welches die Klage erhoben
wird — der amtliche Organismus — entweder wie in Frankreich im
Conseil d’État allein, oder wie in Deutſchland in Verbindung mit
dem Gerichte über ſein eigenes Recht entſcheidet, und nicht wie das
Gericht über das Recht eines Dritten. — Jedenfalls indem man es
thut, hebt man immer den Unterſchied von Adminiſtrativ- und Juſtiz-
ſachen auf, um deſſentwillen man gerade den Competenzgerichtshof ein-
geſetzt hat; denn wenn der letztere ſich für das Daſein eines Geſetzes
entſcheidet, wird eben dadurch das Gericht competent, bei der Verordnung
die Behörde. Man mag daher die Frage ſtellen wie man will, nie
kann jener Unterſchied aufrecht gehalten werden.


Dieß alles gilt nun, wo der Unterſchied von Geſetz und Verordnung
formell feſtſteht. Eine andere Geſtalt ſcheint die Frage zu gewinnen,
wenn dieſe formelle Unterſcheidung nicht beſtimmt iſt. Das iſt bekannt-
lich im deutſchen Rechte der Fall, wo die Grundlage des Begriffes vom
Geſetz auf dem Rechte der Volksvertretung beruht, an gewiſſen Akten
des Staatswillens Theil zu nehmen, oder gar, um die Verwirrung voll-
ſtändig zu machen, ſo lautet: „die Geſetze welche Freiheit und Eigenthum
betreffen, dürfen nur unter Zuſtimmung der Stände erlaſſen werden“
[191] — ſo daß es auch „Geſetze“ gibt, die ohne dieſe Zuſtimmung zu Stande
kommen. Hier muß man daher fragen, ob ein Urtheil des Gerichts
auch in dieſem Falle Geſetz und Verordnung zu unterſcheiden das
Recht hat.


Wir müſſen nun unſererſeits geſtehen, daß wir gar keinen Grund
ſehen, dem Gericht die Entſcheidung in dieſem Falle abzuſprechen.
Allerdings aber iſt die Frage ſelbſt in dieſem Uebergangsſtadium eine
viel ernſtere, denn ſie iſt eine doppelte.


Erſtlich handelt es ſich darum, ob das Gericht über die Gränze
zu entſcheiden habe, innerhalb deren die geſetzgebende Gewalt vom
Staatsoberhaupt ohne Zuziehung der Vertretung ausgeübt werden kann.
Hält man feſt, daß das Gericht nicht überhaupt über dieſe Gränze in
ſeinem Urtheil zu entſcheiden hat (ſiehe unten), ſo iſt kein Grund vor-
handen, die Competenz des Gerichts, die Geſetzesqualität als Ent-
ſcheidungsgrund
anzunehmen oder zu verwerfen, zu bezweifeln.
Denn eine Thätigkeit des Gerichts ohne Geſetz iſt undenkbar; ſoll nun
ein öffentlicher Akt ein Geſetz dadurch werden, daß das Staatsoberhaupt
ihn einſeitig dafür erklärt, ſo iſt damit ausgeſprochen, daß die Gränze
zwiſchen Geſetz und Verordnung eben nicht mehr in der Verfaſſung,
ſondern in dem Willen desjenigen liegt, der, indem er die Verfaſſung
gab, eben der Gültigkeit ſeines Willens jene objektiven verfaſſungs-
mäßigen Bedingungen vorſchrieb: ein Widerſpruch, der am letzten Orte
in der Aufhebung der Competenz des Gerichts nichts anders iſt, als die
Auflöſung der Verfaſſung ſelbſt. Es iſt daher eine Ausſchließung der
Competenz des Gerichtes auch hier gar nicht denkbar. Allerdings hat
das eine Reihe von großen Uebelſtänden und Verwicklungen zur Folge,
die ſelbſt durch die folgenden Grundſätze nicht beſeitigt werden können.
Allein es iſt durchaus falſch, den Grund derſelben in der Competenz
der Gerichte ſuchen, und ihre Folgen durch Beſchränkung der letztern
heben zu wollen. Die Urſache iſt keine andere als der Mangel im
verfaſſungsmäßigen Begriff des Geſetzes ſelbſt
; dieſen zu
beſeitigen, iſt niemandem gegeben als der Verfaſſung ſelbſt, und die
leere Klage, daß ein Uebergangsſtadium etwas Unvollſtändiges enthalte
und darum Uebelſtände erzeuge, iſt im Grunde unverſtändig; ſie hat
nur Werth, wenn ſie den Weg und das Mittel der Abhülfe bietet.


II. Der Inhalt der Entſcheidung des Gerichts.


Steht es demnach feſt, daß das Gericht unbedingt competent iſt,
bei jeder Klage über einen Privat- wie über einen Verwaltungsakt ſich
darüber zu entſcheiden, ob der angezogene öffentliche Akt ein Geſetz
oder eine bloße Verordnung iſt, ſo müſſen wir jetzt eine zweite Seite
der Sache betrachten.


[192]

Man hat nämlich den ganzen Standpunkt dieſer Competenz aus
weiter gehenden Gründen beſtritten, und zwar nicht ſo ſehr aus dem
begrifflichen Weſen des Gerichts, als vielmehr aus der Natur ſeiner
organiſchen Funktion im Geſammtleben des Staats. Es iſt nothwendig
die Zweifel genau zu erwägen.


Man hat nämlich geſagt, daß ein ſolches Recht des Gerichts nicht
bloß die Verwaltung, ſondern den geſammten rechtlichen Zuſtand unſicher
mache. Und zwar darum, weil das Gericht ſelbſt einerſeits an ſeine
Urtheile nicht gebunden iſt, und daher der Fall eintreten könne, daß
daſſelbe Geſetz einmal als ſolches anerkannt, das anderemal als ſolches
nicht anerkannt werde. Dieſe Möglichkeit, die theils im Weſen des
Inſtanzenzuges liege, theils auch in der vollen Unabhängigkeit der Ge-
richte gleicher Inſtanzen neben einander, müſſe zur völligen Auflöſung
des geſetzlichen Rechts führen. Die Entſcheidung über das Vorhanden-
ſein eines Geſetzes ſei daher im Widerſpruch mit der organiſchen Funktion
des Gerichts, und ſeine Competenz müſſe daher da aufhören, wo dieſe
Geſetzesqualität beſtritten wird.


Man hat ferner geſagt, daß durch eine ſolche Competenz des Ge-
richts nicht bloß die Qualität und das Recht der ganzen Geſetzgebung,
ſondern auch das Verordnungsrecht, und damit die geſammte Thätigkeit
der Verwaltung gefährdet erſcheine. Denn die Möglichkeit, daß das
Gericht eine Verordnung im Namen eines Geſetzes für ungültig erkläre,
bedrohe den Gehorſam, und damit den Staat ſelber.


Dieſe Erwägungen nun beruhen auf einem durchgreifenden Miß-
verſtändniß über den Inhalt desjenigen, worüber das Gericht
zu entſcheiden hat
. Und es iſt von ganz entſcheidender Bedeutung,
ſich dieß ſo klar und beſtimmt zu formuliren als möglich. Denn vielleicht
ſind es gerade die Befürchtungen, welche dem einfachen von uns auf-
geſtellten Klagrecht ſeinen Eingang in die Praxis verwehren.


In der That nämlich hat das Gericht niemals weder die Ge-
ſetzesqualität noch die Gültigkeit
eines öffentlichen Aktes als
ſolchen zum Gegenſtand und Inhalt ſeiner Entſcheidung zu machen;
das Urtheil eines Gerichts kann niemals das Geſetz und die Ver-
ordnung als ſolche betreffen
. Daher kann auch das Gericht
niemals auf den Gehorſam der Staatsbürger gegenüber der voll-
ziehenden Gewalt einen unmittelbaren Einfluß haben; das Gericht iſt
im Gegentheil verpflichtet, den Ungehorſam ſelbſt gegen ungeſetzliche
Verordnungen zu beſtrafen, ſobald derſelbe den paſſiven Widerſtand
überſchreitet. Die Nichtanerkennung der Geſetzlichkeit einer Verordnung
oder der Geſetzesqualität eines öffentlichen Akts, indem dieſelbe nicht
einmal für den einzelnen fraglichen Fall die Verpflichtung zum Gehorſam
[193] aufhebt, thut dieß noch weniger im Allgemeinen; es kann daher
die Competenz des Gerichts, die Geſetzesqualität zum Zwecke ſeines
richterlichen Urtheils über das Klagobjekt zu beſtimmen, niemals den
Gang der Verwaltung ſtören, und es iſt daher nur ganz conſequent,
wenn die Verfaſſungen, welche das Klagrecht gegen jeden Verwaltungs-
akt zulaſſen, hinzufügen, daß dadurch der „freie Gang der Verwaltung
nicht gehindert werden dürfe.“ (Königreich Sachſen §. 49. Braun-
ſchweig
§. 195 u. a. m. Zöpfl §. 453.)


Es iſt mithin auch durchaus falſch, wenn man meint, die Gerichte
hätten das Recht ein Urtheil darüber zu fällen, ob eine Behörde zum
Erlaß einer Verordnung berechtigt ſei oder nicht. Das gehört eben
ſo wenig zu ihrer Competenz, als die Frage, ob eine Verfügung eine
zweckmäßige Ausführung des Geſetzes enthalte; Englands Grundſätze
ſind in dieſer Beziehung durchaus falſch (ſiehe oben) und nur durch
die dort noch beſtehende Verſchmelzung von Juſtiz und Adminiſtration
erklärlich. Allerdings wäre jede Selbſtthätigkeit und Tüchtigkeit der
Verwaltung geradezu unmöglich, wenn die Gerichte ein ſolches, dem
organiſchen Leben des Staats direkt widerſprechendes Recht haben
ſollten.


Es folgt mithin der wichtige Satz, daß jeder Ausſpruch eines
Gerichts über die Geſetzesqualität eines öffentlichen Akts überhaupt und
über das Verhältniß einer Verordnung zum Geſetz niemals eine weitere
Gültigkeit hat, als für den einzelnen Fall, in welchem derſelbe
erlaſſen wird. Der entſcheidende Ausſpruch, daß eine Verordnung ge-
ſetzwidrig ſei, macht ſie weder objektiv und allgemein geſetzwidrig, noch
bindet derſelbe das Gericht für den nächſten Fall einer Klage gegen die-
ſelbe Verordnung, in welchem ſogar daſſelbe Gericht die Geſetzmäßigkeit
derſelben anerkennen kann. Es folgt ſchon aus dieſer Möglichkeit, daß
niemals über das Recht des Geſetzes oder der Verordnung an ſich vom
Gericht geurtheilt werden kann und darf, da allerdings damit alle
Ordnung untergraben wäre. Es folgt aber ebenfalls aus dem Obigen,
daß die geforderte Competenz des Gerichts niemals etwas Bedenkliches
weder für das geſetzliche Recht noch für die Thätigkeit der Verwaltung
hat noch haben kann, und daß alle Darſtellungen geradezu falſch ſind,
welche behaupten, daß durch eine ſolche Competenz das Gericht über
Geſetzgebung und Verwaltung geſtellt werden, ſondern das wahre
Verhältniß iſt folgendes.


Das Gericht hat nämlich zum Inhalt ſeines Urtheils niemals etwas
anderes zu machen, als den betreffenden Streitfall. Es kann daher
ſeinen Ausſpruch ſowohl über die Geſetzesqualität eines öffentlichen
Aktes als über das Verhältniß zwiſchen Verordnung und Geſetz zwar
Stein, die Verwaltungslehre. I. 13
[194]als Entſcheidungsgrund, aber nie als Urtheil publiciren. Jedes
Urtheil eines Gerichts, das die Gültigkeit oder Geſetzmäßigkeit eines
öffentlichen Akts als ſolchen zum Inhalt hat, muß an und für ſich
als nichtig anerkannt werden, weil das Gericht hier ſeine Com-
petenz überſchritten hat. Und dieſe Ueberſchreitung der Competenz kann
das Staatsoberhaupt als Inhaber der Organiſationsgewalt ausſprechen.
So lange dagegen das Gericht mit ſeinem Ausſpruch über jene Punkte
innerhalb der Entſcheidungsgründe bleibt, iſt es in ſeiner organiſchen
Competenz, und in ſolcher unantaſtbar. Dieſe Competenz erſcheint eben
deßhalb ſchon dann überſchritten, wenn das Gericht eine Klage an-
nimmt, deren Petitum auf die Ungültigkeitserklärung eines öffent-
lichen Aktes lautet. Es hat eine ſolche Klage angebrachtermaßen ab-
zuweiſen, wogegen jede öffentlich rechtliche Darlegung, aus welcher
dieſe Ungültigkeit als Klagfundament erfolgt, ganz die Natur eines
civilproceſſualiſchen Beweiſes hat. Das Urtheil des Gerichts kann daher
nur auf die rechtliche Unverbindlichkeit des Einzelnen in dem einzel-
nen
beklagten Falle, beziehungsweiſe auf die Haftung des vollziehenden
Organes für den angerichteten Schaden gegen den Kläger lauten; der
Ausſpruch des Gerichts über die Geſetzesqualität kann nie etwas
anderes ſein, als die Motivirung ſeines Urtheils auf die eingereichte
Klage.


Faßt man nun dieß zuſammen, ſo ergibt ſich auch die Harmonie
der aufgeſtellten Grundſätze mit dem Princip der verfaſſungsmäßigen
Verwaltung, aus welchem das ganze Competenzrecht nach allen Seiten
hin ſich entwickelt hat.


Die Funktion des Gerichtes im bürgerlichen Leben beſteht in der
Beſtimmung des geſetzlichen Rechts für den einzelnen Streitfall; die
Funktion des Gerichts im Staatsleben kann keine größere ſein,
aber ſie darf auch keine geringere ſein. Das Gericht hat auch
für den Fall, in welchem die Vollziehung mit dem Einzelnen in Conflikt
kommt, das geſetzliche Recht für dieſen einzelnen Fall auszuſprechen,
und ſich im Uebrigen weder um die Principien der Verwaltung, noch
um die Folgen des Gehorſams zu kümmern. Die Gewalt, mit welcher
dieſe Competenz des Gerichts daher die Aktion der Vollziehung auf die
beſtehenden Geſetze zurückführt und die Harmonie beider ſichert, liegt
daher niemals in dem einzelnen Urtheil, ſondern in der Wahr-
ſcheinlichkeit, daß in einem gleichen Falle ein gleiches Urtheil zu
gewärtigen iſt, und die Vollziehung daher in jedem gleichen Falle einer
gleichen, wenn auch immer nur einzelnen Verurtheilung gewärtig ſein
muß. Während daher die Verantwortlichkeit die Harmonie zwiſchen
dem Geiſte der Geſetze und der Verordnungen im Ganzen herſtellt,
[195] erzeugt die gerichtliche Competenz dieſe Harmonie für alle einzelnen
Fälle
. Und die wahre Verfaſſungsmäßigkeit der Verwaltung muß
daher, unter völliger Beſeitigung des Unterſchiedes zwiſchen Adminiſtra-
tiv- und Juſtizſachen, auf dem grundſätzlich durchgeführten Unterſchiede
zwiſchen Klag- und Beſchwerderecht, und der entſchiedenen Competenz
des Gerichtes über die Geſetzesqualität öffentlicher Akte beruhen. Das
kann aber wiederum nur dann ohne Streit- und Competenzconflikt
durchgeführt werden, wenn der formelle Begriff des Geſetzes ver-
faſſungsmäßig anerkannt iſt. Mit dieſer Anerkennung iſt dann auch
der Competenzconflikt aufgehoben, und das harmoniſche Zuſammenwirken
aller Organe dauernd geſichert.


Wir glauben, daß der Werth der obigen Darſtellung gegenüber den be-
kannten Theorien von Biſchof, Stahl u. A. weſentlich darin liegt, den In-
halt des richterlichen Urtheils auf den poſitiven Inhalt des einzelnen Rechts-
falles zurückgeführt und das Urtheil über Geſetz und Verordnung an ſich definitiv
ausgeſchloſſen zu haben; denn die ganze entgegenſtehende Theorie beruht eigentlich
auf dieſem Punkte, während ebenſo die der gerichtlichen Competenz günſtige
Meinung ihrerſeits immer die allgemeine Competenz ſtatt der einzelnen fordert.
Wir ſtimmen daher vollkommen mit Gneiſt: „Soll der Richter auch über die
Frage zu befinden haben, ob ein Geſetz verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen?“
(Gutachten für den vierten deutſchen Juriſtentag, 1863) überein; nur antworten
wir nicht einfach mit Ja, ſondern wir ſagen „in ſeinen Entſcheidungs-
gründen ja
, in ſeinem Urtheil nein.“ Es würde unſere Aufgabe über-
ſchreiten, hier die Kritik der einzelnen Literatur durchzugehen. Man vergleiche
im Allgemeinen Gneiſt a. a. O.; Verhandlungen des vierten deutſchen
Juriſtentages (Gutachten von Stubenrauch und von Jacques), wo die
eigentliche Frage dadurch unklar wird, daß man ſie auf das Recht der „Prüfung“
von Geſetz und Verordnung bezieht, ein Recht, welches natürlich gar nicht
zweifelhaft ſein kann, während das, worauf es ankommt, die Frage iſt, welche
Bedeutung das von Gneiſt ausgeſprochene Reſultat der Prüfung für die
Gültigkeit beider hat — ein Punkt, der nicht zur Erledigung gelangt iſt.
Namentlich Jacques iſt darüber gänzlich unklar; doch ſieht man, daß er viel
Gefühl für die Verfaſſungsmäßigkeit des Verwaltungsrechts beſitzt. S. 256.
Zachariä (Deutſches Staatsrecht II. §. 177), Zöpfl (Deutſches Staatsrecht
II. §. 451. und a. m. O. — So viel, glauben wir, wird indeſſen einleuchtend
ſein, daß die entſcheidende Beantwortung dieſer Frage nur in einer allgemein
organiſchen Auffaſſung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts gegeben werden
kann, und daß endlich der Grund der Unklarheit in der deutſchen Literatur in
der Unfertigkeit des deutſchen geltenden Staatsrechts liegt. Nur hier kann die
rechte Löſung, die Erhebung über den engliſchen und die Befreiung von dem
franzöſiſchen Standpunkt gefunden werden.


[196]
Dritte Abtheilung.
Das Polizeirecht. (Das Zwangsrecht.)

I. Begriff und Natur des Zwangsrechts.

Die dritte Form der Regierungsgewalt iſt die Polizeigewalt. Wir
haben ſie bezeichnet als diejenige Gewalt, vermöge deren die einzelne
Perſönlichkeit gezwungen iſt, dem Willen des Staats ſich im einzelnen
Falle gemäß zu verhalten. Die Polizei erſcheint daher in ihren einzelnen
Thätigkeiten als Zwang gegen den Einzelnen. Der Zwang iſt aber
ein äußerliches Beſtimmen der Sphäre einer perſönlichen Selbſtändigkeit.
Er tritt daher in Gegenſatz zur freien Selbſtbeſtimmung, und dieß Ver-
hältniß, als ein auf den höheren organiſchen Gründen des Geſammt-
lebens beruhendes, erſcheint als ein Recht der Regierungsgewalt; dieß
Recht iſt das Zwangsrecht.


Es iſt nun durchaus nicht nothwendig, ein eigenes Organ für die
Ausübung der Polizeigewalt, Polizeiminiſterium oder Polizeidiener zu
denken, um zum Begriffe der Polizeigewalt und des Polizeirechts zu
gelangen. Jedes Organ der Regierung hat eine gewiſſe Polizeigewalt
und ein gewiſſes Zwangsrecht. Um ſo nothwendiger iſt es, das letztere
als einen weſentlichen Theil der vollziehenden Gewalt überhaupt ſeinem
allgemeinen Inhalt nach zu beſtimmen.


Der Zwang iſt zunächſt ein Akt, der äußerlich in das Leben des
Einzelnen eingreift. Er erſcheint daher auf den erſten Blick als die
einfache und rohe Negation des Rechts. Es iſt deßhalb ferner natürlich,
daß man ihn nicht bloß fürchtet, ſondern auch geneigt iſt, in ihm den
Gegner der freien Selbſtbeſtimmung überhaupt zu ſehen. Die Polizei
als Trägerin des Zwangsrechts iſt daher, namentlich in den unent-
wickelten und unklaren Zuſtänden des deutſchen öffentlichen Rechts, faſt
immer als Feind der öffentlichen Freiheit erſchienen. Der hiſtoriſche
Grund dafür iſt leicht erkennbar. In der Zeit, wo es keine verfaſſungs-
mäßige Geſetzgebung gab, ſondern geſetzgebende und vollziehende Gewalt
in Einem individuellen Willen vereint waren, mußte jedes Recht dem
einfachen Akte der vollziehenden Gewalt ſich unterwerfen, womit der
Wille derſelben eben durch jene Verſchmelzung zugleich Geſetz und Recht
war. Es genügte daher für jede Gewalt und jeden Zwang, nachzu-
weiſen, daß ſie im Namen der Staatsgewalt auftraten, um vollkommen
berechtigt zu ſein, jedes Rechtsverhältniß zu vernichten. Die Polizei-
gewalt erſchien daher nicht bloß als über jedes geſetzliche Recht erhaben
und ohne innere und äußere Gränzen, ſondern ſie war es auch rechtlich
[197] in der That; daher denn jene geheime und offene Abneigung gegen die
Polizeigewalt, gegen welche weder Recht noch Geſetz ſchützten, und daher
denn auch jener Zuſtand, in welchem man in dem Kampfe gegen die
Polizei einen Kampf für die ſtaatsbürgerliche Freiheit zu beſtehen glaubte
und zum Theil wirklich beſtand. Daß dabei ein richtiges Verſtändniß
der Polizei nicht entſtehen konnte, iſt einleuchtend.


Erſt mit dem Auftreten der ſelbſtändigen Geſetzgebung in der Ver-
faſſung tritt das geſetzliche und erworbene Recht dem Rechte der Re-
gierungsgewalten überhaupt und mithin auch dem Recht der Polizei
ſelbſtändig gegenüber; es gibt eine rechtliche Gränze, welche der Zwang
nicht überſchreiten darf, und dieſe Gränze iſt das Zwangsrecht. Den-
noch iſt bei aller Einfachheit des Grundbegriffes der Inhalt deſſelben
keinesweges ſo einfach.


Wir müſſen dabei bemerken, daß bei einem faſt vollſtändigen Mangel
an eingehender Literatur und bei nur theilweiſe ausgebildeter Geſetz-
gebung über das Zwangsrecht die Natur der Sache die Hauptquelle der
folgenden Darſtellung ſein muß.


Das Zwangsrecht iſt demnach ſeinem Begriffe nach das Recht,
welches die Gränze der äußerlichen Anwendung der Gewalt gegenüber
dem Einzelwillen beſtimmt, wo es ſich um die Unterwerfung des letzteren
unter den Staatswillen handelt.


Und da nun das Organ, welches dieſen Zwang ausübt, die Polizei
heißt, ſo nennen wir dieß Zwangsrecht im eigentlichſten und ſtrengſten
Sinne des Wortes das eigentliche Polizeirecht. Der Zwang er-
ſcheint daher als die letzte Aktion der vollziehenden Gewalt, und zwar
da, wo dieſelbe als Staatswille dem Einzelwillen in wirklicher That
entgegentritt, und das Zeichen der hohen Geſittung im Staatsleben
iſt es, daß auch hier, wo die materielle Gewalt in Bewegung kommt,
von einem Rechte geredet werden kann und muß. In der That iſt die
Erſcheinung des Rechts ſelbſt auf dieſem Punkte die Erſcheinung der
geiſtigen Herrſchaft über die äußere Gewalt; das Recht des Zwanges
iſt der Prüfſtein der bürgerlichen Freiheit im Staatsleben, und in
dieſem Sinne verdient daſſelbe höchſte Beachtung.


Wir haben bisher vermieden, uns über den Begriff der Polizei auszu-
ſprechen, und werden auch hier nicht näher in denſelben eingehen. Gerade
weil er ſo vollſtändig unklar iſt, bedarf es einer genauen Darlegung des Ver-
hältniſſes desjenigen Gebietes, wohin derſelbe gehört, nämlich der inneren
Verwaltung. Dennoch iſt es nothwendig, wenigſtens die elementare Begriffs-
beſtimmung ſchon hier zu geben.


Das Wort Polizei hat drei Bedeutungen.


Im allgemeinſten Sinne iſt die Polizei gleichbedeutend genommen mit der
[198] ganzen inneren Verwaltung überhaupt, ſo daß Polizeirecht und Polizeiwiſſen-
ſchaft identiſch werden mit Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre — eine
Verwirrung, welche zu den größten Unklarheiten führt, und ohne deren Be-
ſeitigung an ein Verſtändniß des Staatslebens nicht gedacht werden kann. Geht
doch die Unſicherheit in dieſem Gebiete ſo weit, um nur zwei ſchlagende Bei-
ſpiele anzuführen, daß Mohl, der drei Bände über Polizeiwiſſenſchaft geſchrieben,
dieſelben Gegenſtände in ſeinem Württembergiſchen Staatsrecht wieder als
Verwaltungsrecht gegenüber dem Verfaſſungsrecht aufführt, während Mayer
ein Buch über Verwaltungsrecht ſchreibt, in welchem ſelbſt der Ausdruck Polizei
ſorgfältig vermieden iſt, als ob man ohne Polizei verwalten könne. Wir
ſchweigen hier von der vollkommenen Unmöglichkeit, ſich Rechenſchaft davon ab-
zulegen, was ſeit hundert Jahren die deutſche Staatsrechtslehre unter der
„Polizeihoheit“ gedacht hat. Es iſt klar, daß die Erledigung der ganzen Frage
erſt in der Lehre von der inneren Verwaltung gegeben werden kann, auf die
wir hier verweiſen. Natürlich denken wir nicht daran, den Ausdruck Polizei
und Polizeirecht im obigen Sinne zu gebrauchen.


Im engeren Sinne bedeutet das Wort Polizei einen Theil der Theorie
und, wie wir ausdrücklich hinzufügen, auch einen großen Theil der Geſetz-
gebung, dasjenige Gebiet der inneren Verwaltung, welches wir die Sicher-
heitspolizei
nennen. Die Theorie unterſcheidet dann die Wohlfahrts- und
Sicherheitspolizei, und umfaßt mit beiden Begriffen eigentlich die Verwaltungs-
lehre, wodurch dann z. B. die Bildungsanſtalten als polizeiliche Wohlfahrts-
anſtalten zu Tage kommen. Es iſt nutzlos, hier auf dieſe Vorſtellungen ein-
zugehen, und kaum nöthig, zu bemerken, daß der Sinn, in welchem wir den
Ausdruck Polizei und Polizeigewalt gebrauchen, ſich keineswegs bloß auf die
Sicherheitspolizei erſtreckt, ſondern das ganze Staatsleben umfaßt, aber in
demſelben nur Ein Moment zum Inhalt hat, nämlich den Zwang, den jedes
Geſetz und jede Verordnung fordert, möge ſie nun zur Sicherheitspolizei oder
zu irgend etwas anderem gehören.


Für uns iſt daher die Polizei nichts als die zwingende Gewalt für
ſich gedacht
, mag ſie erſcheinen, wo ſie will. Sie iſt ein Moment der Voll-
ziehung, aber ein ſelbſtändiges, und durchdringt den ganzen Staat und ſein
Leben wie die letztere, erſcheint jedoch nur dann, wo der thätige Wille des
Einzelnen mit dem thätigen Willen des Staats in Widerſpruch tritt. Der
organiſche Zuſammenhang dieſes Moments mit dem Ganzen, denken wir, iſt
klar. Und in dieſem Sinn iſt das Polizeirecht eben nichts anderes, als das
Zwangsrecht der Organe, welche den Zwang ausüben. Das iſt der Inhalt
des Folgenden.


Von den Philoſophen hat wohl nur Fichte in ſeinem Naturrecht die
Frage nach dem Zwangsrecht ernſtlich behandelt, nachdem Hobbes in ſeinem
Cives und Leviathan das imperium und jus gladii als Grundlage des
Staatsbegriffes ſelbſt anerkannt. (NaturrechtI. S. 141 ff.) Ihm iſt der
Zwang aber eigentlich nicht das, was wir den Zwang nennen, ſondern viel-
mehr die Anwendung jeder äußeren Gewalt zum Schutze des Urrechts, alſo
auch von Seiten der Einzelnen gegen Einzelne. (Deſſen Begriff der Polizei
[199]II. 140.) Wir werden in der Verwaltungslehre darauf zurückkommen. Doch
dürfen wir ſchon hier zur Aufklärung über die Geſchichte dieſes Begriffes und
ſein Verhältniß zur Verwaltungslehre einige Bemerkungen hinzufügen.


Ohne Zweifel beſteht nämlich der Gang der theoretiſchen Entwicklung darin,
daß die „Polizei“ urſprünglich nicht bloß das materielle Gebiet, ſondern ſogar
die höhere Idee der Verwaltung ausdrückte, wovon ſich dann allmählig die
eigentliche Polizei als Sicherheitspolizei ablöst, in unſrer Zeit jedoch noch
immer beides zugleich bedeutet, was auch nicht eher beſſer werden wird, als
bis wir den Begriff einer ſelbſtändigen Verwaltungslehre anerkannt haben
werden. Natürlich iſt unter dieſen Umſtänden von einem klaren Verſtändniß
des Polizeirechts keine Rede, da es bald Zwangsrecht, bald Verwaltungs-
recht, bald beides zugleich bedeutet.


Die urſprüngliche Auffaſſung, wie wir ſie bei Seckendorf finden, kommt
eigentlich weder zu der beſtimmten Frage nach dem Princip der Verwaltung,
noch zu der Gränze ihres Rechts, ſondern ſetzt einfach, daß die „Mittel der
Handhabung hauptſächlich und insgemein in dem obrigkeitlichen Zwang und
rechtmäßiger Gewalt, welche nach göttlicher und aller Völker Ordnung und
Recht, derſelben zukommen, und zu Vollſtreckung ihres Amts unabänderlich
gehört,“ beſtehen (Thl. II. Kap. X.). Die Gränze des Rechts bleibt dabei
natürlich unentwickelt, und der Regent, beziehungsweiſe die Obrigkeit, be-
ſtimmt allein, was zur Handhabung ihrer Aufgabe „unabſonderlich“ gehört.
Es iſt das der Standpunkt der Vermiſchung des göttlichen und des fürſtlichen
Rechts, den uns der Ausdruck „Obrigkeit“ bezeichnet, der dem 16. und 17.
Jahrhundert eigenthümlich iſt, und der den Begriff der Polizei noch gar nicht
kennt. Dieſer erſcheint erſt im folgenden Jahrhundert.


Der Kampf der ſtändiſchen Autonomie gegen die ſtaatliche Gewalt des
Fürſtenthums erzeugt nun den Verſuch, jene unabſonderlichen Handhabungs-
mittel der Regierung auf einen feſten Rechtsboden zurückzuführen, und damit
in dem Begriff der Polizei die erſte Frage nach der Polizeigewalt. Die Polizei
ſelbſt erſchien als ein ſelbſtändiges Hoheitsrecht des Staats neben den andern
Hoheitsrechten, und jetzt ſtrebte man, die rechtlichen Gränzen dieſer Hoheit,
wie die der andern, zu finden. Die natur der Sache machte das natürlich
unmöglich. Die Lehrer des allgemeinen, wie namentlich die des deutſchen
Staatsrechts, denen beide Principien, das der Verwaltung und das der indi-
viduellen Selbſtändigkeit, gleichmäßig klar waren, ohne daß ſie ſie in Harmonie
zu bringen wußten, umgingen die eigentliche Frage, indem ſie beide zugleich
aufſtellten, den Begriff und die Aufgabe der Polizeigewalt ganz allgemein
definirten, und es nun jedem überließen, ſich in Betreff der praktiſchen Gränze
ſelbſt zurecht zu finden. So Pütter a. a. O. Gönner §. 328 und 363.
Klüber §. 383 ff. Zachariä Kap. II. §. 161 („die rechtlichen Gränzen der
Polizeigewalt ſind im Allgemeinen die nämlichen, welche für die Staatsgewalt
überhaupt aufgeſtellt wurden“). Maurenbrecher §. 188 und 195 („in den
Zwecken der Polizei liegt die natürliche Gränze der Polizeigewalt“), wörtlich
wie Berg, Polizeirecht I. 88 („die Polizei darf nie weiter gehen, als ihr eigen-
thümlicher Zweck erfordert“). — Eine ganz andere Geſtalt bekam die Frage, als
[200] die neue organiſche Geſtalt des Staats den Begriff eines beſonderen Hoheits-
rechts verwiſchte, und die Staatslehre als Staatsrecht das Recht der Polizei
auf die Verfaſſung zurückführte. Jetzt ſchied ſich die Frage nach dem Recht des
einzelnen Falles der Anwendung der Polizeigewalt, die man ſchon als Admini-
ſtrativgewalt aufzufaſſen begann, von der Frage nach dem Princip für jene
Gewalt. Jene nun erſchien gegenüber der immer beſtimmteren Ordnung der
Verwaltungsorgane und des damit entſtehenden objektiven Rechts für ihre Com-
petenz als ganz beſtimmtes Rechtsgebiet des Competenzrechts, bei welcher
dann freilich auf das abſtrakte Princip wenig Rückſicht genommen wurde. Dieſe
dagegen trat zunächſt auf als ein faſt allgemeiner Verſuch, die bürgerliche Frei-
heit gegen die Polizeigewalt zu ſchützen. Dieſer Verſuch beginnt ſchon im
vorigen Jahrhundert namentlich in dem Streben, das Gebiet der Rechtspflege
von dem der Polizeigewalt unabhängig zu machen; namentlich Hohenthals
Liber de politia, 1776 (8.); beſſer, gründlicher und ausführlicher Fiſchers
Lehrbegriff ſämmtlicher Cameral- und Polizeirechte (1785), und Moſer, Grund-
ſätze von der Polizei. Mit Berg fängt dagegen der Verſuch an, das Recht
der Polizei nicht bloß zu beſchreiben, ſondern es auf das Princip der Verwal-
tung zurückzuführen, und dabei zugleich auf die in der Natur der Sache liegenden
Gefahren aufmerkſam zu machen. Wir können nicht umhin, auf die ſchöne
Stelle S. 87. 88. hinzuweiſen; beſſeres iſt eigentlich von keinem folgenden
geſagt worden: „Das Recht der Polizei iſt allein auf der Beförderung des
Staatszweckes gegründet. Wenn Plane der Herrſchſucht oder des Eigennutzes
unter dem Vorwande der Polizei durchgeſetzt, wenn allein zum Vortheile oder
zur Bequemlichkeit der Regenten Rechte der Unterthanen gekränkt, Eingriffe in
ihr Eigenthum unternommen, Laſten auferlegt, Dienſte erzwungen werden
ſollen, ſo iſt das wohlthätigſte Hoheitsrecht in das drückendſte Unrecht offenbar
ausgeartet. Hier, wo der Reize und Gelegenheiten zu willkürlicher Aus-
dehnung dieſer Gränze ſo viele ſind, iſt doppelte Vorſicht nothwendig“ (1799).
— Dieſe Gedanken ſind in den vielfachſten Variationen ſpäter theils mit mög-
lichſter rationeller Begründung aus dem Weſen der Aufgabe der Staatsverwal-
tung, wie von Lotz (über den Begriff der Polizei und den Umfang der Staats-
polizeigewalt, 1807), Emmermann (über Polizei, ihren Begriff und ihr
eigenthümliches Verfahren, 1811), und in neuerer Zeit wieder von Mohl
(Polizeiwiſſenſchaft I. §. 5 ff. u. a. m.) durchgeführt, während eine zweite Rich-
tung, an deren Spitze Rotteck ſtand, es für ihre Aufgabe hielt, die Polizei-
gewalt als ſolche als eine Gegnerin der ſtaatsbürgerlichen Freiheit zu bekämpfen,
die falſche Anwendung derſelben mit der richtigen verſchmelzend. Ein Haupt-
grund war dabei, daß man nach dem Vorgange des vorigen Jahrhunderts
noch immer die ganze Verwaltung als Polizei bezeichnete, was leider durch
Mohls Verwechslungen nur befeſtigt ward; oder gar wie v. Moy die
Polizei allein auf das „geſellige Leben“ bezog (Bayeriſches Verwaltungsrecht
I. 120), oder wie Zimmermann (Deutſche Polizei im 19. Jahrhundert) die
unbequeme Beobachtung des bürgerlichen Lebens zu ſehr in den Vordergrund
drängte. — Man muß nun hoffen, daß die Verſuche, eine durchgreifende,
objektiv rechtliche Gränze zu ziehen, wo ſich eben keine ziehen läßt, zu Ende
[201] ſind, und daß die Angſt der Freiheit vor der Polizei dem tiefern Verſtändniß
der Verwaltung weichen wird.


II. Das Princip des Zwangsrechts.

Das Princip des Zwangsrechts entſteht nun, indem die beiden
Elemente deſſelben ihr durch das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Frei-
heit gefordertes Verhältniß empfangen. Und indem dieß Verhältniß
zum Gegenſtand der Geſetzgebung wird, entſteht das verfaſſungsmäßige
Zwangsrecht.


Jene beiden Elemente ſind, wie ſchon erwähnt, die Nothwendigkeit,
den ſelbſtherrlichen Willen des Staats auch gegen den Willen des Ein-
zelnen zur Verwirklichung zu bringen, und die Forderung, dieſem Willen
ſeine Selbſtändigkeit ſo weit zu erhalten, als es der Wille des Staats
zuläßt. Das erſte, der Wille des Staats, indem er durch einzelne Per-
ſönlichkeiten ausgeübt wird, empfängt eben dadurch das Element der ſub-
jektiven Willkür, und die Selbſtändigkeit und Freiheit des Einzelnen iſt
gerade, gegenüber einer ſolchen Ausübung des Zwangsrechts des Staats,
in Gefahr, nicht mehr dem Willen des letzteren, ſondern dem des ob-
jektiven zwingenden Organs ſich unterwerfen zu müſſen. Es iſt nun
die Aufgabe des Rechts für die vollziehende Gewalt, die Freiheit des
Einzelnen gegen dieſe Möglichkeit zu ſchützen, und die Geſammtheit der
Beſtimmungen, welche auf dieſe Weiſe die zwingende That der einzelnen
vollziehenden Organe auf den wirklichen Inhalt des Staatswillens zurück-
führen, und damit den Einzelnen gegen die Willkür und den Zufall des
Zwanges ſchützen, bilden das verfaſſungsmäßige Zwangs- oder
Polizeirecht
, als dritten Theil des verfaſſungsmäßigen Rechts der
vollziehenden Gewalt.


Dieß verfaſſungsmäßige Zwangsrecht iſt nun zwar in keinem Staate
Gegenſtand einer ſyſtematiſchen Geſetzgebung geworden. Allein dennoch
beruht es auf einigen ſehr einfachen Grundſätzen, welche, wenn auch
oft zum Theil verkannt, niemals ganz verſchwunden ſind, und die jetzt
in manchen einzelnen Punkten Gegenſtand eingehender Geſetze geworden,
und auch da, wo dieß nicht geſchehen, im Weſentlichen als geltendes
Zwangsrecht als anerkannt zu betrachten ſind. Nur haben dieſe Grund-
ſätze in den einzelnen Staaten eine verſchiedene Geſtalt, welche wieder
mit den Principien des Klag- und Competenzrechts innig zuſammen-
hängt. Sie laſſen ſich auf folgende Punkte zurückführen.


1) Jede Ausübung des polizeilichen Zwanges hat zu ihrer erſten
Vorausſetzung, daß in demſelben die Gewalt des Staates und nicht
die eines Einzelnen gegen den Einzelnen auftritt. Es iſt daher das
erſte Recht des Einzelnen, im Falle des Zwanges ſich dieſe Gewißheit
[202] ſchaffen zu können. Dieſe nun kann nur in den Formen beſtehen, in
welchen die Perſonen, die den Zwang ausüben, entweder einen all-
gemeinen Auftrag
nachweiſen, und zwar durch ein Symbol ihrer
Gewalt, oder einen ſpeziellen durch ein Dokument. Die Natur
der Sache hat beide Punkte mehr als die Geſetzgebung beſtimmt.


Dieſem Principe entſprechen zwei Verpflichtungen. Die erſte beſteht
darin, daß die Organe der Polizei das Symbol ihrer polizeilichen Ge-
walt auch wirklich bei ſich führen und vorzeigen müſſen, wobei es zweck-
mäßig iſt, die Beſtimmung dieſes Symbols geſetzlich vorzuſchreiben.
Es iſt nicht möglich, dem Einzelnen eine Verpflichtung zum Gehorſam
gegen ein Individuum aufzuerlegen, das ohne dieß Symbol einen Zwang
ausüben will; man muß im Gegentheil das Recht des materiellen Wider-
ſtandes ſo lange einräumen, als daſſelbe nicht vorgezeigt wird. Dagegen
würde das Recht der Verificirung des Symbols von Seiten des Einzelnen
jeden Zwang illuſoriſch machen. Der Staat hat kein Mittel, den Be-
trug auf dieſem Punkte gänzlich zu beſeitigen; der Einzelne muß die
Gefahr des möglichen Falſums tragen, da ſie geringer iſt als die Gefahr
der Auflöſung der vollziehenden Thätigkeit durch das Recht des Einzelnen,
einen Beweis für die Richtigkeit des Symbols zu fordern, ehe er gehorcht.


Die zweite Verpflichtung der vollziehenden Gewalt beſteht darin,
da wo es ſich um die Vollziehung eines, bis dahin in irgend einer
amtlichen Verhandlung begriffenen
Ausſpruches eines öffent-
lichen Organs handelt, dieſe Vollziehung durch ein amtliches Doku-
ment
zu befehlen, und in dieſem amtlichen Dokumente die Gründe,
die Art und das Maß des vollziehenden Zwanges aufzuzeichnen. Dieſe
Verpflichtung iſt im Gebiete der Verwaltung der Finanzen und der
Rechtspflege wohl in allen Staaten ausdrücklich anerkannt. Sie kann
nur zweifelhaft werden im Gebiete der innern Verwaltung, da hier
nicht immer eine förmliche Verhandlung vorausgehen kann, z. B. wenn
der Einzelne in Gefahrsfällen eine Leiſtung zu machen oder etwas zu
bieten hat, oder in den Fällen der Sicherheitspolizei, wo es ſich um
Verhaftungen handelt. Man muß daher bei dem Satze ſtehen bleiben,
daß ein Vollziehungsdokument von der betreffenden Behörde nur da
nothwendig iſt, wo ſich der Zwang auf eine bereits vorhandene und
dem Einzelnen bekannte Verhandlung bezieht, während in allen andern
Fällen der Beweis durch das amtliche Polizeiſymbol ausreicht.


In dieſen Fällen nun, wo ein ſolches Dokument den Zwang nicht
beſtimmt und beſtimmen kann, muß mithin ein anderes Princip ein-
treten, welches das Recht des Einzelnen gegen die Willkür des Organs
ſchützt. Dieß nun iſt in folgender Weiſe zu denken und auch in den
meiſten Geſetzgebungen in den einzelnen Punkten bereits aufgeſtellt.


[203]

2) So lange der Befehl des vollziehenden Organs oder der Zwang
deſſelben ſich nur auf wirthſchaftliche Verhältniſſe bezieht, läßt ſich die
Sicherung des Rechts des Individuums gegenüber jenem Organ nur
denken in der Form einer Klage, welche nach geleiſtetem Gehorſam
auf Schadenserſatz geführt wird, da in keinem Falle der Gehorſam durch
die Meinung, daß der Zwang ein unrechtlicher ſei, beſeitigt werden kann.


So wie dagegen der Zwang gegen die Freiheit der Perſon
ſelbſt
geht, ſo tritt das höchſte Element der perſönlichen Selbſtändig-
keit mit dem Willen des Staats in Widerſpruch. Hier iſt es die Auf-
gabe, dieſe Beſchränkung der perſönlichen Freiheit in derjenigen Form zu
beſtimmen, welche, indem ſie die wirkliche Vollziehung ſichert, zugleich
die rechtliche Selbſtändigkeit des Individuums ſo wenig als möglich
beſchränkt.


Dazu nun gibt es zwei Wege.


Der erſte Weg iſt die Annahme der Bürgſchaft ſtatt der Verhaftung
oder kurz das Cautionsrecht. Das Cautions- oder Bürgſchaftsrecht
beruht darauf, daß es bei der Vollziehung eines Geſetzes ſich nicht grund-
ſätzlich um die Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen des Staats
handelt, ſondern nur um die Gewißheit, daß dieſer Wille überhaupt
vollzogen werde, und daß die Freiheit der Perſon als das höchſte Gut
des Einzelnen eben darum ſo lange unangetaſtet bleiben müſſe, als es
ein anderes Mittel gibt, jene Vollziehung zu ſichern. Dieß Mittel
beſteht nun in der Sicherung der Vollziehung durch die Hingabe eines
wirthſchaftlichen Gutes an die vollziehende Gewalt, deſſen Verluſt durch
ſeinen Werth dem Maße der Strafe, welche möglicher Weiſe ausgeſprochen
werden könnte, entſpricht. Die Caution iſt der Akt, durch welchen ein
ſolcher Werth als Objekt der Vollziehung der polizeilichen Gewalt ge-
ſichert wird. Das Recht, an der Stelle der perſönlichen Verhaftung
eine Caution ſtellen zu dürfen, iſt daher die Anerkennung der ſtaats-
bürgerlichen Freiheit gegenüber der Zwangsgewalt des Staats; allein
ſo natürlich ſie in geringern Fällen iſt, ſo unmöglich iſt ſie in andern
Fällen. Es muß daher geſetzlich die Grundlage feſtſtehen, auf der ſie
zugelaſſen oder abgewieſen werden ſoll.


Der zweite Weg beſteht darin, daß die Polizeigewalt, wo die Ver-
haftung wirklich eintreten muß, den Einzelnen ſofort dem Organe des
Staats, welches das Recht verwaltet, dem Gerichte, übergeben muß.
Mit dem richterlichen Urtheil und Verfahren tritt der Einzelne in den
geſetzlichen Proceß, und der Moment der ſubjektiven Willkür verſchwindet.
Weſentlich iſt natürlich die geſetzliche Beſtimmung der Zeit, welche
zwiſchen der Verhaftung und der Uebergabe an den Richter liegen muß;
denn Zeit und Form bilden hier den Inhalt des Rechts der ſtaats-
[204] bürgerlichen Freiheit und ihrer Gränze gegenüber dem Zwange und
ſeinem Recht.


Dieß ſind nun die allgemeinen Grundſätze, auf denen das Zwangs-
recht beruht. Es iſt einleuchtend, daß ihre größere oder geringere Aus-
bildung auf dem Grade beruht, in welchem die ſtaatsbürgerliche Per-
ſönlichkeit gegenüber dem Staatswillen als ſelbſtändig erſcheint. Und
darum iſt, abgeſehen von Art und Maß des Zwanges, das Princip
des Zwangsrechts ein ſo bezeichnendes Element des öffentlichen Rechts
der verſchiedenen Staaten, und ſo verſchieden geartet.


So ſchwierig es auch iſt, bei dem Mangel an poſitiver Geſetzgebung oder
Literatur hier ein vollſtändiges oder auch nur richtiges Bild des Princips für
das Zwangsrecht in den einzelnen Staaten zu geben, ſo wollen wir es doch
verſuchen, in der Hoffnung, daß der Verſuch bald tüchtigere Ausführungen
finden möge.


Es muß dabei feſtgehalten werden, daß das ganze Zwangsrecht nur als
eine Conſequenz des Rechts der Klage gegen Verwaltungsakte betrachtet werden
kann, und daher von ihm ſeine Geſtalt empfängt. — Wir bemerken ferner,
daß wir an dieſem Orte das Recht der perſönlichen Verhaftung bei Wechſel-
recht
und bei ſtrafrechtlichem Verfahren nicht genauer unterſuchen, weil
das den betreffenden Darſtellungen überlaſſen bleiben muß. Es handelt ſich
daher für uns nur darum, das Princip des verfaſſungsmäßigen Zwangsrechts
in ſeiner gegenwärtigen Geſtalt im Allgemeinen zu charakteriſiren.


Man kann in dieſer Beziehung, abgeſehen von dem Rechte der Verhaf-
tung, zwei Syſteme unterſcheiden, das engliſche und das continentale.


Das engliſche Syſtem iſt am beſten in folgenden Worten bezeichnet:
„Der Grundzug der engliſchen Verwaltung iſt, daß die adminiſtrative Gewalt
die Geſetze in Beziehung auf Privatperſonen nur ausführen kann nach vor-
hergegangenem richterlichen Spruch
, außer in dem Falle, wenn ſie
ſich bei der Entſcheidung der Verwaltung beruhigen“ (Cod. 351; bei GneiſtI.
S. 305). Indeſſen iſt dieſer Satz natürlich nur da zuläſſig, wo eine Verhand-
lung ſtattgefunden (ſiehe oben). Wo aber die Polizeigewalt auf eigene Ver-
antwortung eintreten muß, da dreht ſich das Princip um, und der Einzelne
muß gehorchen, aber er hat die Regreßklage gegen die vollziehenden Organe,
und dieſe müſſen ihr Recht zur Anwendung des Zwanges vor dem Gerichte
beweiſen (ſiehe oben GneiſtII. §. 34). — Das engliſche Syſtem der Cau-
tionen iſt genau dargeſtellt bei GneiſtII. S. 211 ff.: „Die Abwägung —
der Höhe der Caution, die Zahl und Gültigkeit der Bürgen wird dem Er-
meſſen des Friedensrichters überlaſſen.“ Es iſt dann Sache des letzteren, die
Art und das Maß des von ihm angewendeten Zwanges bei vorkommender
Klage vor Gericht zu rechtfertigen, wenn der Gezwungene ſich bei dem angewen-
deten Zwange nicht beruhigt. (GneiſtII. §. 73, und über die Constables
§. 76.)


Das franzöſiſche Syſtem beruht darauf, daß bei jedem Akte der voll-
ziehenden Gewalt, in welchem eine Verhandlung vorausgeht mit procès verbal,
[205] die Exekution nur auf Grundlage eines Dokuments ſtattfinden kann, das bei
Gericht ein jugement, bei der Jurisdiktion ein arrêt iſt. Das ganze Syſtem
der Cautionen iſt unbekannt. Wo dagegen eine Verhandlung nicht voraus-
gegangen iſt, tritt das Princip der jurisdiction administrative ein. Das
Organ der Verwaltung erzwingt den Gehorſam, und iſt daher nicht, wie in
England, dem Gericht, ſondern nur den Adminiſtrativbehörden verantwortlich.
Die ganze Frage nach dem Zwangsrechte iſt grundſätzlich den Gerichten ent-
gegen, ſelbſt da, wo der Zwang ein Recht verletzt. Es muß dabei bemerkt
werden, daß der franzöſiſche Begriff der „Police“ eben ſo unklar iſt, wie der
deutſche, indem er theoretiſch eben ſo gut eine ganz unbeſtimmte Menge aus
der Verwaltung im Allgemeinen, als die bloße Sicherheitspolizei enthält. Die
contrainte par corps gehört nur der gerichtlichen zwangsmäßigen Vollziehung.


Was endlich Deutſchland betrifft, ſo iſt es ſchwer, hier von einem
Syſtem zu ſprechen, da faſt alle Theorien und alle Geſetze bei den Punkten,
wo ſie vom Zwange ſprechen, nicht die Polizeigewalt als ſolche, ſondern die
Sicherheitspolizei im Auge haben. So viel uns bekannt, gibt es daher gar
keine Beſtimmung darüber, wenn der Zwang nur auf Grundlage eines Dokuments,
und mithin nur ſoweit dieß Dokument reicht, eintreten darf. Im Allgemeinen
iſt bei den älteren Staatsrechtslehrern von dem Zwangsrechte gar keine Rede,
wie bei Klüber und Maurenbrecher; die neueren, wie ZachariäII. §. 161
(„bei entſtandenen oder zu beſorgenden Gefahren iſt die Anwendung von
Zwangsmitteln gerechtfertigt (?“); Mayer, Verwaltungsrecht S. 456 („das
Recht auf Polizeiverordnungen ſteht in der Mitte (?) des Geſetzes in der Aus-
führung“) ſprechen entweder höchſt unbeſtimmt, oder wie Zöpfl, gar nicht
darüber. Die Geſetzgebungen ſind ſehr peremtoriſch: Württembergiſches
Polizeiſtrafgeſetzbuch Art. 1 geſtattet ausdrücklich „die Anwendung weiterer, zur
Erreichung des Zweckes geeigneter Zwangsmaßregeln.“ (Mohl, Württember-
giſches Staatsrecht II. 211.) Das preußiſche Geſetz vom 11. Mai 1850
ſagt: „Jede Polizeibehörde iſt berechtigt, ihre polizeilichen Verfügungen durch
Anwendung der geſetzlichen Zwangsmittel durchzuſetzen.“ RönneII. §. 52.
In dieſem Sinne hat ſich der Grundgedanke ausgebildet, der im Princip ganz
richtig iſt, deſſen Ausführung aber freilich von einer beſtimmten Auffaſſung über
das Weſen von Klag- und Beſchwerderecht abhängt, daß das Zwangsrecht der
vollziehenden Gewalt ein unbedingtes ſei, ſoweit die Anwendung deſſelben
nicht mit den Geſetzen in Widerſpruch tritt. In dieſem Falle wird die Er-
ſatzklage
wenigſtens von einigen Verfaſſern eingeräumt; ſo Bayern (Pötzl,
Verfaſſungsrecht §. 151—153). Dabei entſteht dann wieder die Frage nach der
Competenz, und dadurch, daß dieſe ſo unentſchieden iſt, wird das Zwangsrecht
ſelbſt ſo unbeſtimmt (ſiehe oben namentlich Preußen). Dieſe Uebelſtände werden
jedoch in vieler Beziehung wieder ausgeglichen durch gute Beſtimmungen über die
folgenden Punkte.


III. Die Form des Zwanges.

Das was wir die Form des Zwanges nennen, wird dadurch ein
Gegenſtand des Rechts der vollziehenden Gewalt, daß dieſelbe in drei
[206] verſchiedene Momente zerfällt, welche ſelbſtändig daſtehen, und deren
jeder wieder ſein eigenes Recht hat. Wir meinen den Befehl, die
Drohung und die wirkliche Ausführung.


Was den Befehl betrifft, ſo muß man feſthalten, daß jedem
Organe das Recht zum Befehle zuſteht, wie jeder Einzelne zum Ge-
horſam verpflichtet iſt; die Incompetenz zum erſten gibt kein Recht zum
aktiven Ungehorſam, ſondern hier hilft das Klag- und Erſatzrecht aus.
Nur iſt ein Befehl alsdann als Dokument abzufaſſen, wenn der-
ſelbe ſich auf bereits in Verhandlung begriffene Gegenſtände bezieht.
Die Befehle der vollziehenden Gewalt in Beziehung auf die reine Voll-
ziehung erſcheinen aber meiſtens als Verwaltungsverordnungen, und
fallen damit unter das Recht derſelben.


Das Recht zur Drohung mit den beſtimmten Folgen liegt un-
zweifelhaft im Recht des Befehls; jedoch kann dieß Recht, ſo lange es
nur aus der Natur des Organs und nicht aus einem beſtimmten Geſetze
folgt, nicht weiter gehen, als bis zur Bezeichnung der Folgen, welche
der Vollzug des Befehls an ſich mit ſich bringen wird. Da nun ein
ſolcher Befehl entweder eine Leiſtung oder eine Handlung oder Unter-
laſſung des Einzelnen enthalten muß, ſo kann auch eine Drohung nur
die Erklärung enthalten, daß man die Leiſtung entweder unmittelbar
durch Exekution, oder mittelbar, indem die Behörde die Leiſtung auf
Koſten des Betreffenden machen werde, erzielen werde; oder daß man
die Handlung durch Gewalt erzwingen müſſe. Die Androhung einer
Strafe neben jenen Drohungen kann nicht in der Competenz der
befehlenden Gewalt liegen, wenn dieſelbe nicht vermöge eines eigenen
Geſetzes das Recht zum Erlaß von Strafandrohungen als geſetzliche
Erweiterung ihrer Competenz empfangen hat. Man muß daher über
das Recht zur Drohung nicht im Allgemeinen reden. Die Competenz
zur Drohung polizeilicher Folgen ſteht jeder Behörde zu, innerhalb
ihrer Aufgaben; das Recht zur Strafandrohung im Gegentheil
nur dann, wenn daſſelbe ausdrücklich der Behörde verliehen iſt. Entſteht
ein Streit, ob der Behörde das Recht zu einer von ihr ausgeſprochenen
Strafandrohung zuſteht oder nicht, ſo hat auch hier der Einzelne ganz
nach ſeinem Ermeſſen den Weg der Klage oder den der Beſchwerde,
und das Verfahren iſt eben ſo in den früher aufgeſtellten Sätzen geregelt.


Das Recht des Vollzugs endlich ſteht natürlich derſelben Behörde
zu, welche das Recht zum Befehl hatte. Nur in dem Falle entſteht eine
Frage, wo mit der polizeilichen Drohung zugleich die Strafandrohung
ausgeſprochen, und die Behörde zur letzteren competent war. Offenbar
müßte grundſätzlich über die Anwendung der Strafe das Gericht allein
competent ſein, während die polizeiliche Drohung durch die Behörde
[207] ſelbſt ausgeführt wird. Es leuchtet aber ein, daß die praktiſche Durch-
führung dieſes Grundſatzes auf die größten Schwierigkeiten ſtößt, die
in gar keinem Verhältniß zu dem erreichten Reſultate ſtehen. Daher
muß man aus Zweckmäßigkeitsgründen demſelben Organe, welches die
Competenz zur Strafandrohung hat, auch die Competenz zur Fällung
und Vollziehung des polizeilichen Strafurtheils geben, und in
den meiſten Staaten hat ſich dieß auch von ſelbſt gemacht, und zwar
um ſo nothwendiger, als die Vollziehung der polizeilichen Drohung die
Thatſache der Uebertretung, auf welche die polizeiliche Beſtrafung folgen
ſoll, ohnehin amtlich feſtſtellt.


Um ſich über die große Maſſe von Anſichten, die auf dieſem Gebiete theils
aufgeſtellt, theils nicht zu einem definitiven Reſultate gelangt ſind, klar zu
werden, muß man die Hauptpunkte wohl unterſcheiden. Denn in der That iſt
hier der Punkt, wo die perſönliche Selbſtändigkeit mit dem perſönlichen Willen
des vollziehenden Organs in Gegenſatz geräth, und wo daher die Schärfe der
Gränzbeſtimmung doppelten Werth hat.


Erſtlich ſollte jedes Polizeigeſetz — was, ſo viel wir ſehen, nirgends
der Fall iſt — den Grundſatz feſthalten, daß allenthalben, wo eine Vollziehung
auf einen in Verhandlung geweſenen Fall folgt, niemals ein bloßer Befehl des
vollziehenden Organs, ſondern nur ein Vollziehungsdokument der Voll-
ziehung durch Zwang zum Grunde gelegt werden müßte. Das Dokument
müßte alsdann Art und Maß des Zwangs ſeinerſeits enthalten, ſo daß hier
jede Möglichkeit der Willkür beſeitigt, und eben durch den Inhalt des Dokuments
die Grundlage für die Frage gegeben werde, ob der Zwang ſeine Gränzen
überſchritten habe oder nicht.


Es iſt dabei zu bemerken, daß dieß allein richtige Verfahren in Finanz-
und Gerichtsverwaltung bereits wirklich beſteht; es iſt gar kein Grund vor-
handen, es nicht auch für die innere Verwaltung grundſätzlich durchzuführen.


Wo dagegen ein Befehl eines Verwaltungsorganes ohne ſolche Verhand-
lung erſcheint, da muß allerdings das Recht der Strafandrohung auf der ge-
ſetzlichen Competenz zur Erlaſſung derſelben beruhen, und darüber ſind alle
einig. Die Frage iſt nur, unter welchen Bedingungen das Geſetz den
Behörden dieſe Competenz verleihen ſoll. Mohl, der in ſeiner Polizei-
wiſſenſchaft
I. 40 ff. ſich in einer höchſt verſtändigen Weiſe über die ganze
Frage ausſpricht, und namentlich von der, wir möchten ſagen, üblich gewor-
denen Angſt, „daß die Beſtrafung wegen Uebertretung eines Polizeigeſetzes nur
von den Gerichten ſollte ausgeſprochen werden können, wegen der ſchützenden
Formen der Gerichte und der größeren Unparteilichkeit derſelben“ frei iſt —
„denn warum ſollte die richtende Polizeibehörde parteiiſch und ungerecht geſtimmt
ſein, da es ſich ja nicht von Privatangelegenheiten — ſondern von Erfüllung
einer Amtspflicht handelt?“ — hat doch dieſe Frage nicht unterſucht. Wir
meinen, daß das Recht der Strafandrohung allenthalben eintreten müſſe, wo
der Schaden, den der Ungehorſam erzeugt, nicht nach Geld ſchätzbar, und eine
[208] amtliche Ausführung auf Koſten des Betreffenden nicht thunlich iſt. Aehnlich
denkt ſich wohl das preußiſche Geſetz vom 11. Mai 1850 die Sache (§. 20):
„Wer es unterläßt, dasjenige zu thun, was ihm von der Polizeibehörde in
Ausübung ihrer Befugniß geboten iſt, hat zu gewärtigen, daß es auf ſeine
Koſten
zur Ausführung gebracht werde, vorbehältlich der etwa verwirkten
Strafen und der Verpflichtung zum Schadenserſatze.“ Siehe bei RönneII.
§. 52 die daran ſich ſchließenden Verordnungen. Ebenſo das neue Bayeriſche
Polizeiſtrafgeſetzbuch I. §. 28, wo noch der Anſpruch auf Schadenserſatz dem
Betreffenden vorbehalten iſt (§. 20).


Wo endlich ein förmliches Polizeiſtrafgeſetzbuch beſteht, da iſt ohnehin
ein förmliches Geſetz vorhanden, welches ein Maximum und Minimum der
Strafe ſetzt, die durch die Polizei angedroht werden kann. Hier kann daher
das Recht zur Strafandrohung nicht zweifelhaft ſein; dagegen muß man feſt-
halten, daß eben mit einem ſolchen Geſetzbuche das ganze Zwangsverfahren
auch dem Rechte der reinen Vollziehung entzogen, und zu einem Gegenſtande
der Rechtspflege geworden iſt, und mithin nicht mehr hierher gehört.
Das Verhältniß, das daraus entſteht, muß nun in folgender Weiſe betrachtet
werden.


Sowie ein Polizeirecht einer Behörde das Recht der Strafandrohung gibt,
ſo iſt die wirklich ausgeſprochene Strafandrohung ein geſetzliches Recht,
und keine Verordnung, und es iſt daher conſequent, daß ein förmliches Ver-
fahren über den betreffenden Fall eingeleitet wird. Damit entſteht eine ſelb-
ſtändige Kategorie des Unrechts, die Polizeiübertretungen, deren Ge-
ſetzbuch eben das Polizeiſtrafgeſetz iſt. Auf dieſem Standpunkt ſteht die ganze
Police correctionnelle in Frankreich, dem unſere deutſchen Polizeirechte nach-
gebildet ſind. Etwas wunderlich klingt dabei im Bayeriſchen Polizeiſtraf-
geſetzbuch
der Art. 39: „Keine Verordnung darf mit Geſetzen, keine orts-,
diſtrikts- oder oberpolizeiliche Vorſchrift mit Geſetzen, mit den über denſelben
Gegenſtand zuläſſigen Verordnungen oder mit competenzmäßigen Vorſchriften
einer höheren Behörde im Widerſpruch ſtehen“ — natürlich nicht; die Frage iſt
nur, ob Klage oder Beſchwerde in beiden Fällen eintreten, und welche Be-
hörde daher competent iſt oder ſein ſollte? Einfacher wäre die Sache geweſen,
wenn das Geſetzbuch geſagt hätte: „Nicht bloß die Entſchädigung wegen Ueber-
ſchreitung des Polizeirechts (Pötzl, Verwaltungsrecht §. 138), ſondern jeder
Akt
der Polizeigewalt kann vor dem ordentlichen Gericht belangt werden, wenn
die Partei meint, daß er mit einem Geſetze in Widerſpruch ſteht; wo dagegen
ein Widerſpruch mit einer Verordnung angenommen wird, tritt der Weg der
Beſchwerde ein; bei der Frage dagegen, ob ein Akt der Polizei in die Beſtim-
mungen des Polizeiſtrafgeſetzbuches falle, iſt eben die Polizeibehörde ſelbſt die
erſte gerichtliche Inſtanz. Die Competenz für die Anwendung des Zwanges
iſt übrigens namentlich in der Finanzverwaltung in den meiſten Staaten ohnehin
ſehr genau beſtimmt, und hier muß angenommen werden, daß der Befehl durch
einfache Hinweiſung auf die ordnungsmäßig erlaſſenen Vollzugsverordnungen
den Charakter und Inhalt eines Vollzugsdokumentes erhält.


[209]
IV. Das Maß des Zwanges. Polizeiſtrafen.

Das Recht des Maßes für die Anwendung des Zwanges entſteht
dadurch, daß an ſich der Wille des Staates abſolut iſt, und daher
keinem Einzelwillen das Recht zugeſtehen kann, ſich ihm zu widerſetzen.
An ſich hat daher die Zwangsgewalt gar kein Maß, und damit iſt
grundſätzlich der Satz feſtgeſtellt, daß das Organ, welches den Zwang
ausübt, auch einſeitig über ſein Maß zu urtheilen berechtigt iſt, ſobald
der Zwang als ſolcher einmal als begründet erſcheint.


Es iſt klar, daß dieſer Grundſatz wieder die höchſte Gefährdung
des Einzelrechts enthält, die man ſich denken kann. Sobald daher die
individuelle Rechtsſphäre des Einzelnen einmal anerkannt iſt, ſo tritt
eine Bewegung ein, welche jenem abſoluten Zwangsrecht der vollziehen-
den Organe eine geſetzliche Gränze zu ſetzen beſtrebt iſt. Da nun aber
der Zwang ſelbſt doch nur ein Mittel für den Verwaltungszweck iſt, ſo
ändert ſich das Maß des Zwanges je nach der Natur und der Wichtigkeit
jenes Zweckes; und ſo entſtehen eine Reihe von Geſetzgebungen oder Ver-
ordnungen, welche zum Inhalte haben, neben der Form des Zwanges
namentlich das Maß deſſelben für die einzelnen Verwaltungsgebiete zu
beſtimmen. Dieſe nun gruppiren ſich ſelbſtverſtändlich nach den drei
großen Verwaltungsgebieten: den Finanzen, dem Gericht, und der innern
Verwaltung.


Die Lehre von der Vollziehung würde daher hier, um vollſtändig
zu ſein, in dieſe Gebiete ſpeziell eingehen müſſen. Unſere Aufgabe kann
es nur ſein, dieſelben ihrem Charakter nach zu beſtimmen.


Das Maß des Zwanges in der Finanzverwaltung iſt in den Ver-
ordnungen über die Steuerexekution, in den Regulativen für die Zoll-
und Finanzwache, und zum Theil in den Monopolsordnungen gegeben,
und gehört in die Finanzwiſſenſchaft.


Das Maß des Zwanges beim bürgerlichen Verfahren iſt die Exe-
kutionsordnung und was dahin gehört; beim ſtrafrechtlichen Verfahren
im Criminalproceß; die Lehre vom Verfahren enthält bekanntlich das
Genauere.


In der innern Verwaltung dagegen nimmt das Maß einen andern
Charakter an. Hier erſcheint die Verpflichtung des Einzelnen durch die
Verordnung der zuſtändigen Behörde beſtimmt, und das Recht auf den
Erlaß dieſer Verordnung iſt eben das Regierungsrecht, das man Polizei-
recht nennt. Der Gehorſam des Einzelnen gegen dieſe Verordnungen
wird nun dadurch erzwungen, daß die Nichtbefolgung derſelben als Ueber-
tretung betrachtet und mit einer Strafe bedroht iſt. Das iſt die ſo-
genannte Polizeiſtrafe. Die Polizeiſtrafe iſt daher nichts anderes als
Stein, die Verwaltungslehre. I. 14
[210] ein Zwangsmittel, und die Höhe der Polizeiſtrafe enthält das Maß
des Zwanges
, zu welchem die verordnende Behörde geſetzlich competent
iſt. Das Polizeiſtrafgeſetzbuch iſt daher im Grunde kein Strafrecht,
ſondern ein Zwangsrecht, für welches ein geſetzliches Maß und ein
gerichtliches Verfahren beſtimmt iſt. Ein Polizeigeſetzbuch enthält daher
ſtets zwei Theile; den allgemeinen, der Zwangsmaß und Zwangsver-
fahren an ſich beſtimmt, und den beſonderen, der die Fälle beſtimmt,
in welchen die innere Verwaltung den Gehorſam fordert und den Zwang
vorſchreibt, der die Form und den Namen, aber nicht das Weſen einer
„Strafe“ enthält. Der Inhalt eines Polizei(ſtraf)geſetzes umfaßt eben
darum alle Gebiete der Verwaltung; es iſt die, durch die ganze Ver-
waltung hindurch gehende Polizei, der Schutz gegen die Verletzung
jedes Verwaltungsgebietes durch den Einzelnen, der die Strafe nur als
Zwangsmittel auffaßt. Wir werden daher dieſem Polizeirecht in der
innern Verwaltung auf jedem Punkte wieder begegnen.


Ganz anders dagegen iſt das Verhältniß, wo die Thätigkeit des
Einzelnen, der ſich dem Willen der Vollziehung entgegenſtellt, nicht
mehr eine äußerlich definirbare, ſondern als eine ganz freie betrachtet
werden muß. Hier ſteigt mit der Möglichkeit und dem Maße des Wider-
ſtandes des Einzelnen gegen den Staatswillen auch das Recht des Staats,
ſeinen Willen zur Geltung zu bringen. Es iſt das ein Verhalten, in
welchem die an ſich unendliche That und Kraft der einzelnen Perſön-
lichkeit gegen die des Staats auftritt, und hier gibt es daher gar
kein Maß
des Zwanges mehr. Der Staat muß bei offener Wider-
ſetzlichkeit das Aeußerſte thun, um den Einzelnen ſich zu unterwerfen.
Darüber iſt kein Zweifel. Allein auch hier tritt nicht der Staat, ſon-
dern das einzelne Organ auf, und dieß kann ſich irren. Daher muß
es, wenn es auch kein Maß gibt für den einzelnen Fall, doch ein
Princip geben, nach welchem die wirkliche Anwendung des Zwanges
beurtheilt werden kann. Und dieß Princip iſt ſo einfach, daß es nicht
einmal einer geſetzlichen Regelung bedarf.


Jedes Organ hat nämlich nicht bloß das Recht, ſondern es hat
die Pflicht, den Willen des Staats gegen jeden äußern Widerſtand
zu verwirklichen. In dieſer Pflicht liegt das Recht auf jeden Zwang
und jede Gewalt, welche als unabweisbare Bedingung der Erfüllung
des Staatswillens erſcheint. Das Geſetz kann daher in ſolchem Falle
allerdings die Mittel vorſchreiben, welcher ſich die Gewalt zu bedienen
hat, und die Verwaltung kann dem Organ dieſe Mittel ſelbſt in Händen
geben; namentlich die Waffen. Allein ſie kann nie vorher genau oder
gar geſetzlich beſtimmen, wie weit die Anwendung der Mittel gehen
ſoll. Hier kann ſtatt der Form nur das Princip entſcheiden. Die
[211] Anwendung dieſer Mittel erſcheint nämlich gebunden und bedingt durch die
Natur und das Maß des Widerſtandes, den die Vollziehung findet.
Sie darf daher niemals weiter gehen gegenüber dem Einzelnen, als
daß ſie ihren Zweck, den Gehorſam des Einzelnen erreicht; jede Ge-
walt, welche nach erzieltem Gehorſam ausgeübt wird, iſt an und für
ſich eine Rechtsverletzung. Aber ſie darf auch nie kleiner ſein, als
der Widerſtand, den ſie findet; denn am Ende erſcheint doch in ihr
der Wille des Staats, der unbedingt als der herrſchende gegenüber dem
Einzelnen gelten muß. Je nach dem Maße des Widerſtandes muß da-
her das Maß der rein polizeilichen Zwangsmittel in jedem einzelnen
Falle bemeſſen werden. Es iſt daher Sache des Einzelnen, dieſe Gränze
der polizeilichen Gewalt durch ſein eigenes Verhalten ſelbſt zu be-
ſtimmen
. Das aber leuchtet ein, daß das Recht auf Anwendung der
Gewaltmittel von Seite der Polizei an ſich ganz unabhängig iſt von
dem Gegenſtande, um den es ſich handelt; bei dem alleruntergeordnetſten
Gegenſtande kann die Polizei bei offener Widerſetzlichkeit des Einzelnen
bis zur äußerſten Gewalt vorgehen, ja ſelbſt bis zur Tödtung. Denn
indem der Einzelne durch Gewalt ſich dem allgemeinen Willen wider-
ſetzt, hebt er ſelber das Recht für ſich auf, und die Gewalt wird Recht.
Die aber iſt ihrem eigenen Weſen nach maßlos.


Die deutſchen Polizeiſtrafgeſetze, wie namentlich das neueſte bayeriſche vom
10. Nov. 1861, hatten im Grunde nur die Aufgabe gehabt, für das an ſich
als nothwendig erkannte Zwangsrecht ein Maß zu ſetzen, und enthalten daher
weſentlich in ihren Paragraphen die Feſtſtellung der Größe der Strafgewalt,
mit welcher die Verwaltungsbehörden in den einzelnen Fällen die Befolgung ihrer
Vorſchriften erzwingen, während die bye laws in England daſſelbe Recht geben,
zum Theil ohne es zu beſchränken. — Die Anwendung von Waffengewalt
iſt nur in einzelnen Staaten genauer erörtert. Das engliſche Princip iſt, daß
das Gericht darüber entſcheidet; offenbar iſt das Entſcheidungsfundament die
Frage, ob bei einem an ſich geſetzlichen Zwange die Anwendung der Waffe
als unabweisbare Bedingung der Vollziehung erſcheint; iſt der Zwang
ungeſetzlich, ſo iſt ſie ohnehin ein Verbrechen. In Deutſchland hat die Geſetz-
gebung dieß den Gerichten nicht überlaſſen, ſondern das Recht der Waffe zu
einem Theile der Inſtruktionen für die mit Waffen verſehenen Organe
gemacht; namentlich in Preußen zum Theil ſehr genau, RönneI. §. 52. —
Ueber den Belagerungszuſtand ſiehe oben.


Faßt man nun das bisher Geſagte zuſammen, ſo ergibt ſich, wie
wir es anfangs bezeichneten, daß das Recht der vollziehenden Gewalt
nicht etwa ein einfaches Recht, ſondern vielmehr ein großartiges, oft
verfaſſungsmäßig beſtimmtes, immer aber hochwichtiges Syſtem von
Rechtsverhältniſſen
iſt, das ſelbſtändig neben dem Rechte der
Geſetzgebung daſteht, und das auf allen ſeinen Punkten von einem
[212] und demſelben höheren Princip durchdrungen und belebt iſt, nicht etwa
einen Gegenſatz zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung zu ſanktioniren,
ſondern vielmehr durch alle ſeine Grundſätze und Beſtimmungen das
harmoniſche Verhalten beider zu einander in ihrer gemein-
ſamen Thätigkeit zu erzwingen und zu ſichern
.


Drittes Gebiet.
Das bürgerliche Verwaltungsrecht.


Nachdem wir ſomit das ganze Syſtem des Rechts der vollziehenden
Gewalt und ſein organiſches Verhältniß zur Geſetzgebung dargeſtellt,
bleibt nun ein großes Gebiet übrig, das einer eingehenden und genauen
Darſtellung bedürfte, um in ſeiner ganzen Bedeutung erkannt zu werden.
Es iſt nicht möglich, dieſe hier zu geben. Dennoch kann jenes Syſtem
von öffentlichen Rechten niemals als ein vollſtändiges gelten, ſo lange
dieß letztere Gebiet nicht von demſelben geſchieden und ſelbſtändig hin-
geſtellt iſt.


Wir ſind auch hier in der Lage, alte und wohlbekannte Thatſachen
in einer andern als der gewöhnlichen Form darſtellen zu müſſen. Aber
es iſt nicht zu vermeiden, wenn wir für die Verwaltungslehre den
Boden ebnen wollen.


Das bürgerliche Verwaltungsrecht knüpft ſich in leicht verſtändlicher
Weiſe an alles Frühere, das wir hier zur Unterſcheidung als das
ſtaatliche Verwaltungsrecht bezeichnen. Nur muß man Weſen und
Inhalt deſſelben etwas genauer beſtimmen.


Auf allen Punkten des Lebens erſcheint immer der Grundſatz, daß
jeder Einzelne einen Theil ſeiner freien Selbſtbeſtimmung opfern muß,
um das Leben und die Wirkſamkeit des Ganzen möglich zu machen.
Denn dieſe Wirkſamkeit des Ganzen iſt auch für das Individuum die
erſte und unabweisbare Bedingung ſeiner eigenen Entwicklung. Das
Opfer an Selbſtbeſtimmung bringt der Einzelne daher am letzten Orte
ſich ſelbſt. Das iſt die tiefere Grundlage der Harmonie zwiſchen
öffentlicher Ordnung und Freiheit, zwiſchen Staatsrecht und Bürgerrecht.


Ueber Maß und Art dieſes Opfers — über die Beſchränkung der
individuellen Freiheit als Lebensbedingung des Staats — entſcheidet
nun der Staat ſelbſt; denn nur die Gemeinſchaft vermag es, ihre eige-
nen Aufgaben und Mittel zu beſtimmen.


Allein die Lebensverhältniſſe, auf welche ſich dieſe Unterordnung
des Einzelnen und ſeiner an ſich abſoluten Freiheit unter das Leben
und den Willen des Staats bezieht, ſind doppelter Natur.


[213]

Einerſeits iſt der Einzelne ein Glied des Ganzen; und es iſt kein
Zweifel, daß dadurch die Selbſtändigkeit deſſelben beſchränkt wird. Die
Geſammtheit der dadurch entſtehenden Rechtsverhältniſſe nennt man das
öffentliche Recht.


Andererſeits iſt er eine ſelbſtändige Perſönlichkeit, und tritt als
ſolche in Verkehr mit der andern einzelnen Perſönlichkeit. In dieſem
Verkehre nun erſcheint grundſätzlich der freie Wille der beiden Perſön-
lichkeiten als allein beſtimmend für ihr gegenſeitiges Verhältniß. Dieſe
Selbſtbeſtimmung erzeugt das gegenſeitig für ſie geltende Recht; und
dieß Recht, indem er ſeinen Inhalt eben aus dieſem Willen der freien
Staatsbürger empfängt, nennen wir das bürgerliche Recht.


Nun aber ſind dieſe beiden Lebensgebiete nicht ſtreng geſchieden.
Sie greifen vielmehr auf allen Punkten in einander. Das Leben des
Staats hat an und für ſich den Verkehr und die Verträge der Einzelnen
zu ſeinem Inhalt. Das kommt dadurch zur Erſcheinung, daß dieſe an
ſich freien Akte des Einzelverkehrs wieder in mannigfachſter Weiſe in
die Lebensverhältniſſe Dritter hineingreifen, die an demſelben keinen
Theil genommen. Dieſe Dritten können daher durch die Handlungen
der Einzelnen in ihren Verhältniſſen beſtimmt und gefährdet werden,
ohne ihre Zuſtimmung, ja ohne ihr Wiſſen. Die Gränzen dieſer Ein-
wirkung laſſen ſich nicht einfach bemeſſen. Sie ſind vielmehr Thatſachen
des Geſammtlebens; und die an ſich ganz freie und ſelbſtändige Hand-
lung der Einzelnen innerhalb des rein bürgerlichen Rechts empfängt
dadurch ein zweites inwohnendes Element, durch welches ſie ſelbſt in
einer, näher zu beſtimmenden Vollziehung als Glied und Theil des
Lebens der menſchlichen Einheit der erſten Forderung unterliegen,
welche dem Einzelnen überhaupt entgegentritt — der Modifikation der
individuellen Selbſtbeſtimmung und Freiheit nach den Anforderungen
des Lebens der Gemeinſchaft.


So entſtehen wiederum auch innerhalb der an ſich ganz freien
Lebensſphäre des Individuums in ſeinem Verkehre mit dem andern zwei
weſentlich verſchiedene Grundverhältniſſe. Das eine behält jenen Cha-
rakter der vollen und unbeſchränkten perſönlichen Selbſtbeſtimmung; das
andere dagegen erſcheint, obwohl es ebenfalls aus derſelben hervorgeht,
dennoch auf allen Punkten beſtimmt und begränzt durch die in ihm
liegende Möglichkeit, auf die Lebensverhältniſſe Dritter unmittelbar ein-
zuwirken. Dem entſprechend zeigt nun auch das bürgerliche Recht zwei
große Gebiete. Einerſeits iſt es das Recht, deſſen Inhalt nur von
dem Willen des Einzelnen im Einzelverkehr geſetzt iſt; andererſeits iſt es
das Recht, welches aus jener Berührung des letztern mit dem Leben
der Geſammtheit und aus den Beſchränkungen erzeugt wird, welche das
[214] letztere dem erſtern im Intereſſe des Gemeinrechts auferlegt. Das erſte
Recht verdient den Namen des reinen bürgerlichen Rechts. Da aber
nun im Allgemeinen die Geſammtheit der concreten Thätigkeiten des
Staats, durch welche derſelbe mit ſeinen Geſetzen oder mit ihrer Voll-
ziehung dieß Gemeinwohl fördert oder ſchützt, die Verwaltung genannt
wird, ſo nennen wir die letztere Gruppe von Rechtsbeſtimmungen, weil
ſie die Geſammtheit der Modifikationen des reinen bürgerlichen Rechts
durch die Anwendung des höchſten Princips der Verwaltung enthalten,
am beſten das bürgerliche Verwaltungsrecht.


Dieſe beiden Seiten des bürgerlichen Rechts ſind nun nicht bloß
in ihrer Definition, ſondern auch in ihrem Principe ſehr weſentlich von
einander verſchieden.


Das reine bürgerliche Recht nämlich beruht auf dem Weſen der
vollkommenen freien Selbſtbeſtimmung der Einzelnen. Es iſt daher in
allen ſeinen Punkten nichts als die Conſequenz des Begriffes der ſelbſt-
thätigen und unverletzlichen Perſönlichkeit in ihrer Berührung mit der
äußern Lebensſphäre der andern Perſönlichkeit; und zwar ſo, daß dieſe
Conſequenz durch die Geſammtheit aller Lebensverhältniſſe der Einzelnen
durchgeführt wird. Eben darum, weil dieſe Grundlage, die ſelbſtändige
Thätigkeit der Einzelnen eine unveränderlich im Weſen der Perſönlichkeit
ſelbſt liegende iſt, haben alle dieſe daraus folgenden Rechtsſätze, oder
das rein bürgerliche Recht, das Princip der Unveränderlichkeit zu
allen Zeiten und bei allen Völkern gehabt. Alle Grundſätze, welche
dieſen Charakter tragen, bilden eben das rein bürgerliche Recht in
allen Geſetzgebungen. Und wegen ihrer an ſich ſo einfachen Grund-
lage laſſen ſie ſich auch auf zwei ſehr einfache, oberſte Rechtsſätze zurück-
führen, ſo daß alle Beſtimmungen, welcher Art ſie auch im rein bürger-
lichen Rechte ſein mögen, immer nur als Folgerungen und ſpezielle
Anwendung jener unveränderlichen Rechtsſätze erſcheinen. Dieſe nun
ſind die Unverletzlichkeit der geſammten äußern Lebensſphäre der einen
Perſönlichkeit durch den andern Einzelnen, die man auch einfach als
das Princip des Eigenthumsrechts bezeichnen kann, und zweitens die
Unverletzlichkeit des gültig abgeſchloſſenen Vertrages durch den Einzel-
willen, das Princip des Verkehrsrechts. Es iſt Aufgabe der Rechts-
wiſſenſchaft, dieſe einfachen oberſten Rechtsprincipien zu einem Syſtem
von Rechtsſätzen zu entwickeln; hier muß es genügen, ſie in ihrem ſelbſt-
bedingten Inhalt hingeſtellt zu haben.


Weſentlich anders iſt dagegen das höchſte Princip desjenigen Rechts,
welches wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet haben. Die
Beſchränkungen der freien Individualität nicht bloß in ihrem Verhält-
niß zum Staate, ſondern auch in ihrem Verhältniß zur andern freien
[215] einzelnen Perſönlichkeit gehen wie geſagt, aus dem Geſammtleben hervor.
Dieß Geſammtleben aber iſt ein ſowohl innerlich als äußerlich bedingtes,
und daher auch in ſeinen Forderungen an das Einzelleben wechſelndes.
Es iſt nicht nothwendig, das genauer zu begründen. Es genügt wohl,
darauf hinzuweiſen, daß dieſe Verſchiedenheit unter den Staaten theils
auf den Landesverhältniſſen, theils auf der Volksbildung, theils endlich
auf den Berührungen mit andern Staaten in Krieg und Frieden beruhen.
Je nachdem dieſe verſchieden ſind, oder in der Zeitfolge der hiſtoriſchen
Entwicklung eines Volkes wechſeln, werden natürlich auch die Forderungen
wechſeln oder verſchieden ſein, welche das Staatsleben an den an ſich
freien Verkehr der Einzelnen unter einander ſtellen muß. Oder, da
dieſe Forderungen als aus der gegebenen Natur des Staats hervor-
gehend, zum geltenden Rechte für die einzelnen Staatsangehörigen wer-
den, ſo wird dieß Recht, das ja eben das bürgerliche Verwaltungsrecht
iſt, principiell als ein in Zeit und Land veränderliches erſcheinen.
Es iſt dann Sache der Wiſſenſchaft der Rechtsgeſchichte, die hiſtoriſchen
Gründe der Veränderung dieſes Rechts nachzuweiſen, während die Kunde
der Rechtsgeſchichte bloß die Thatſache dieſer Veränderungen conſtatirt.


Das ſind die beiden großen Seiten desjenigen Rechtsgebietes, das
wir als das bürgerliche Recht bezeichnen. Es läßt ſich aber auch ſchon
hier angeben, welches der weſentliche Inhalt des bürgerlichen Verwal-
tungsrechts gegenüber dem reinen bürgerlichen Rechte ſein muß. Das
erſtere will das letztere keinesweges aufheben; es tritt erſt da ein, wo
die Beziehungen zwiſchen Einzelnen ihren Einfluß auf Dritte, und zwar
als bedingend und beſtimmend für den Willen und die Lebensverhält-
niſſe derſelben äußern. Denn eben indem dieſelben den Kreis des
Einzellebens verlaſſen, werden ſie zu Thatſachen des Geſammtlebens
und fallen unter das Recht des Staats. Das bürgerliche Verwaltungs-
recht hat daher keine andern Gebiete als das reine bürgerliche Recht;
es bezieht ſich auch nur auf die Selbſtändigkeit der Perſönlichkeit in
ihrem Verkehr mit andern. Aber es beſtimmt zuerſt, wann eine Per-
ſönlichkeit ſelbſtändig iſt, und wie weit die Einheit der Familie dieſe
Selbſtändigkeit modificirt; und zweitens beſtimmt es, unter welchen
Formen ein Verkehrsakt für Dritte Gültigkeit hat — d. i. wenn ein
Rechtsverhältniß der Einzelnen unter einander für jeden Dritten als
Recht gelten ſoll. Alle Beſtimmungen des bürgerlichen Verwaltungs-
rechts laſſen ſich auf dieſe beiden Gebiete leicht zurückführen; und ſo
bildet das bürgerliche Verwaltungsrecht ſchon ſeinem Principe nach
nicht ein von dem reinen bürgerlichen Rechte geſchiedenes Ganze, ſondern
es iſt vielmehr als die im Intereſſe des Gemeinwohls geſetzte
Form als Bedingung der einzelnen Verkehrsakte
mit dem
[216] letztern aufs Innigſte und faſt auf allen Punkten verſchmolzen. Wie
ſollte auch eine äußere Scheidung hier möglich ſein, wo die innere Ver-
ſchmelzung der Principien, des Einzellebens und des Geſammtlebens,
eine innere, organiſche Einheit in Idee und Wirklichkeit bilden?


Indeſſen zeigen nun die Geſetzgebungen des bürgerlichen Rechts,
daß jene Unterſcheidung zwar dem Gefühle der Geſetzgebung ſehr klar
war, daß aber ein wiſſenſchaftlich erkannter Unterſchied niemals exiſtirt
hat. Das bürgerliche Recht hat beide Principien zu einer untrennbaren
Einheit in der bürgerlichen Geſetzgebung verflochten, und ſelbſt die
Theorie aller Zeiten hat den Unterſchied nicht hervorgehoben. Und
dennoch ergibt ſich aus dem Obigen eine Conſequenz, welche wir hier
nur andeuten können, welche aber beſtimmt iſt, namentlich der Rechts-
geſchichte und ihrem Studium eine ganz andere als die bisherige Richtung
zu geben. Das reine bürgerliche Recht hat gar keine Geſchichte und
kann keine haben, ſondern alle Rechtsgeſchichte, ſo fern ſie nicht eine
Geſchichte der Rechtsgeſetzgebung als ſolche, d. i. die Akte iſt, durch
welche die Geſetze zu Stande kommen, kann überhaupt nur den Wechſel
und die Entwicklung des bürgerlichen Verwaltungsrechts
im bürgerlichen Rechte zum Inhalt haben
. Nur das, was
im Namen des gegebenen ſtaatlichen Zuſtandes an dem abſoluten Recht
der Perſönlichkeit modificirt wird, wechſelt, nicht dieß Recht ſelbſt. Der
Grundſatz, daß die Perſönlichkeit unverletzlich und ſelbſtbeſtimmt, daß
das Eigenthum heilig iſt; der Grundſatz, daß ein Vertrag gültig iſt,
hat keine Geſchichte, wohl aber die Grundſätze darüber, was eine Per-
ſönlichkeit, was ein Eigenthum ſein kann und unter welchen Bedingungen
ein Vertrag gültig wird. Und die Begründung dieſes Wechſels, die
Zurückführung deſſelben auf die in Volk, Land und Staat liegenden
wirkenden Kräfte, die ihn erzeugen, werden aus der Geſchichtskunde des
Rechts die Wiſſenſchaft der Rechtsgeſchichte machen. Dieſes bürgerliche
Verwaltungsrecht nun durchzieht allerdings als immanenter Theil das
ganze bürgerliche Recht; aber dennoch erſcheint es in zwei weſentlich
verſchiedenen Formen, die wir hier hervorheben müſſen, weil ſie den
Uebergang zur Lehre von der innern Verwaltung bilden. Einerſeits
nämlich iſt daſſelbe mit dem reinen bürgerlichen Rechte zu einem untrenn-
baren Ganzen verſchmolzen, wie z. B. bei den Beſtimmungen über die
Mündigkeit, über die Dauer der Verjährung, über das Beſitzrecht u. ſ. w.
Andererſeits dagegen wird es, wo ſeine Wichtigkeit ſtärker hervortritt,
zu einem Gegenſtand eines eignen Verwaltungsorganes, und
dann faßt man wohl alle auf das letztere bezüglichen Rechtsſätze als
ein ſelbſtändiges Ganze, als ein eigenes Rechtsgebiet zuſammen, ohne
ſich recht klar zu ſein, wohin daſſelbe denn nun eben als Ganzes
[217] gehören ſoll. Dahin gehören namentlich das Vormundſchaftsweſen, das
Grundbuchsweſen und das Handels- und Wechſelrecht. Es möge hier
nur bemerkt werden, daß hier im Grunde kein neues Verhältniß in der
Sache ſelbſt auftritt, ſondern daß das Ueberwiegen der Beſtimmungen
des bürgerlichen Verwaltungsrechts zwar eine ſelbſtändige Verwaltung
deſſelben motivirt, aber keinesweges die Geltung des reinen bürgerlichen
Rechtes hier ausſchließt. Daher die Erſcheinung, daß dieſe Gebiete
immer eine doppelte Darſtellung erfahren, was zur Unklarheit über die
Sache ſelbſt nicht wenig beiträgt; einmal erſcheinen ſie in der Lehre
von den Pandekten und dem bürgerlichen Recht, zum zweitenmale als
ſogenannte Lehre von der nicht ſtreitigen Gerichtsbarkeit. Es iſt nun
einleuchtend, daß dieß nicht eigentlich falſch, ſondern unklar gedacht iſt. Wir
müſſen jedoch für unſre Arbeit hier auf den folgenden Theil verweiſen.
Denn dieſes ganze Gebiet gehört nicht mehr dem allgemeinen Begriffe der
Verwaltung und ihrem Recht, ſondern vielmehr dem innern Verwaltungs-
recht an, von welchem demgemäß nur bei der letztern die Rede ſein kann.


Dagegen haben wir ſchon hier den Begriff und das Weſen des
bürgerlichen Verwaltungsrechts als Theil des allgemeinen Verwaltungs-
rechts neben Verordnungs-, Competenz- und Polizeirecht darum hinſtellen
müſſen, weil eine Reihe der wichtigſten Beſtimmungen deſſelben nicht
aus der innern Verwaltung, ſondern aus der Finanzverwaltung einer-
ſeits, und aus der Juſtizverwaltung andererſeits fließen. Was die
erſten betrifft, ſo gehören dahin namentlich diejenigen Beſtimmungen
über das Eigenthum, welche ſich auf den Fiscus beziehen, und theils
das dominium, theils die jura fisci, namentlich im Gebiete der Regalien
und der Monopole betreffen. Schon auf dieſem Gebiete hat die ſtrengere
deutſche Wiſſenſchaft dieſen Theil des bürgerlichen Rechts aus dem
letztern aus der Verſchmelzung ausgeſchieden, in welcher derſelbe noch
in den Pandekten und der ſpätern Legalmethode vorkommt, um ſie der
Finanzwiſſenſchaft zu überweiſen, und zwar als das bürgerliche Ver-
waltungsrecht der Finanzen. Noch klarer iſt die Summe von Modi-
fikationen des reinen bürgerlichen Rechts durch die Bedürfniſſe der
Rechtspflege. Der ganze bürgerliche Proceß, der ja nichts anderes iſt
als eine geordnete Verwaltungsmaßregel für die Verwaltung der Rechts-
pflege, iſt durchdrungen von lauter Beſtimmungen, nach denen das reine
an ſich unzweifelhafte bürgerliche Recht des Einzelnen im Namen des
Geſammtintereſſes aufgehoben und für verfallen erklärt wird, wenn er
nicht in der Form der Vertretung eines gewiſſen Rechts ſich den Vor-
ſchriften der Verwaltung des Rechts fügt, und zweitens von Beſtimmun-
gen, welche im Namen deſſelben öffentlichen Intereſſes eine Verſchiedenheit
in dieſen Formen einführen, die nur durch die Verſchiedenheit des
[218] Objekts und nicht durch die des Rechts bedingt iſt. Wir heben als die
ſchlagendſten Beiſpiele des erſten Punktes nur die Contumacialurtheile,
als die des zweiten nur die ſummariſchen und die Wechſelproceſſe hervor.
Die Auffaſſung dieſes Rechts von dem obigen Geſichtspunkte wird zwar
nicht den Inhalt deſſelben ändern, aber ſie wird die unabweisbare Be-
dingung dafür ſein, alle dieſe Erſcheinungen des Rechtslebens in ihrem
wahren organiſchen Zuſammenhange zu verſtehen. Und in dieſem Sinne
ſagen wir, daß der Begriff des bürgerlichen Verwaltungsrechts ein nicht
bloß der innern, ſondern der geſammten Verwaltung angehöriger iſt;
daß er in jedem Gebiete der Verwaltung wieder erſcheint; daß er daher
an ſich ein ſelbſtändiges Ganzes in der Rechtswelt bezeichnet, und als
ſolcher dem Rechte der vollziehenden Gewalt als ſelbſtändiger Begriff
coordinirt iſt. Die Lehre von der innern Verwaltung hat daher bei dem
innern Verwaltungsrecht denſelben wieder aufzunehmen, und im Ein-
zelnen weiter zu verfolgen.


Wenn nun auf dieſe Weiſe der Begriff des bürgerlichen Ver-
waltungsrechts an ſich feſtſteht, ſo kann man zum Schluſſe fragen,
worin denn das Moment der Vollziehung beſteht, das dieſem
Rechte eigen iſt. Dieß Moment iſt einfach, aber von einer um ſo
größern Wichtigkeit, als es zugleich das äußerliche Merkmal der
Unterſcheidung des bürgerlichen Verwaltungsrechts im weiteſten Sinne
von dem reinen Verwaltungsrecht enthält. Die Verwirklichung deſſelben
beſteht nämlich einfach in dem negativen Satze, daß es durch den
Willen der einzelnen Betheiligten für die zwiſchen ihnen obwaltenden
Verhältniſſe nicht geändert werden kann, obwohl dieſe Verhält-
niſſe an ſich ihrem eigenen bürgerlichen Leben angehören. Alles das-
jenige daher, was im Verkehrsakte zwiſchen den Einzelnen von den Ein-
zelnen durch gemeinſame Willensbeſtimmung geändert werden kann, iſt
reines bürgerliches Recht; was nicht geändert werden kann, iſt
bürgerliches Verwaltungsrecht — wie z. B. der Vertrag; daß ein im
Grundbuch eingetragener Poſten durch einfachen mutuus consensus
ſeine Priorität verlieren ſolle — oder daß ein Akt eines Minorennen
als der eines Majorennen gelten oder daß ein Contumazurtheil nicht
gelten ſolle u. ſ. w. Das bürgerliche Verwaltungsrecht vollzieht ſich
hier durch den Rechtsſatz, daß ein ſolcher Vertrag ipso jure nullus iſt;
der Wille der Einzelnen, der die Aufhebung des bürgerlichen Ver-
waltungsrechts für ein Verkehrsverhältniß zum Inhalt hat, iſt recht-
lich überhaupt kein
Wille, ſondern nur pſychologiſch. Und dieſe
Vollziehung iſt für ein Rechtsgebiet, das einen immanenten Theil des
ganzen Rechtslebens bildet, in der That die einzig mögliche; ſie entſpricht
dem Verhältniß zwiſchen Einzelnen und Staat, und ſchließt dadurch,
[219] daß ſie den Gegenſatz des Einzelwillens gegen das Geſammtintereſſe
dadurch aufhebt, daß ſie den erſtern überhaupt nicht als ſolchen aner-
kennt, jeden beſondern Vollziehungsakt aus. Sie enthält daher nicht,
wie das Recht der vollziehenden Gewalt, die Gränze für die Thätig-
keit
des Staats gegenüber der freien einzelnen Perſönlichkeit und damit
die ſchwierige Aufgabe, die Harmonie zwiſchen Vollziehung und Geſetz
auf jedem Punkte wieder herzuſtellen, ſondern ſie enthält umgekehrt die
Gränze für den Einzelwillen gegenüber den Bedingungen und
Forderungen des Geſammtlebens, jenſeits deren es nicht eine Voll-
ſtreckung des Staatswillens an dem Einzelwillen, alſo keine eigentliche
Vollziehung, ſondern vielmehr überhaupt rechtlich keinen Einzel-
willen mehr gibt
. Und damit ſchließt in naturgemäßer Weiſe die
Lehre vom Rechte der vollziehenden Gewalt, als auf dem Punkte, wo
mit dem Recht auch die Vollziehung ſelbſt aufhört.


Wir haben dem Obigen hier nichts hinzuzufügen, als daß der gänzliche
Mangel an einer Unterſcheidung desjenigen, was im bürgerlichen Rechte der
Verwaltung gehört, von dem eigentlich bürgerlichen Rechte nicht eher gehoben
werden wird, als bis unſere Rechtsphiloſophie auch den Inhalt des Rechts
kennt, und unſere Juriſten den Sinn für das öffentliche Recht bekommen, der
die Engländer und Franzoſen ſo hoch ſtellt. Hat doch der römiſche Satz: jus
publicum est, quod pactis privatorum mutari non potest,
niemals zu der
Bemerkung Anlaß gegeben, daß ja doch auch im bürgerlichen Rechte ſehr viele
und große Dinge vorhanden ſind, die nach dieſer von den Juriſten einſtimmig
anerkannten Definition ein jus publicum ſind. — Doch iſt es nutzlos, hier
mit wenig Worten ſo viele Fragen erledigen zu wollen. Wenn aber die
deutſche Rechtswiſſenſchaft ſie zu bearbeiten beginnt, dann wird eine neue Epoche
für ſie anfangen!


Uebergang zur innern Verwaltungslehre.
Das innere Verwaltungsrecht.


Nachdem wir ſo die Elemente des Rechts der vollziehenden Gewalt
in ihren verſchiedenen Seiten dargelegt, wird es nunmehr möglich ſein,
Inhalt und Bedeutung des von uns im obigen ſchon mehrfach bezeich-
neten Begriffes zu beſtimmen, der gerade durch beſtändige Verſchmelzung
mit den bisherigen Begriffen höchſt unklar geworden, und der dadurch
die Aufſtellung und Begränzung eines Begriffes des Verwaltungsrechts
überhaupt beinahe unmöglich gemacht hat. Wir meinen den, vom Ver-
waltungsrecht wohl zu ſcheidenden Begriff des innern Verwaltungs-
rechts
. Eine kleine Wiederholung iſt hier ſchwer zu vermeiden; aber
das Folgende muß zugleich als Baſis der Unterſcheidung dieſes ganzen
[220] Theiles von dem Inhalte der eigentlichen Verwaltungslehre betrachtet
werden.


Wir haben innerhalb der vollziehenden Gewalt die Regierung
als die vollziehende Gewalt bezeichnet, inſofern man die letztere als
mit poſitiven und beſtimmten Aufgaben der Thätigkeit der Staatsgewalt
beſchäftigt denkt. Dem Begriffe der Regierung entſprach der Begriff der
Verwaltung im Allgemeinen in dem Sinn, daß wir dieſe Regierung
Verwaltung nennen, ſobald wir jene Aufgaben in die Gebiete der
Staatswirthſchaft, der Rechtspflege und des Innern theilen. Das
Recht der Regierung entſtand, indem wir uns dieſe praktiſche Thätig-
keit im Allgemeinen dem ſelbſtändigen Rechte anderer Elemente gegenüber
in ihre drei Grundformen, die Verordnungs-, Organiſations- und Zwangs-
gewalt auflösten, ohne eine Unterſcheidung durch das Objekt, auf
welche dieſe drei Gewalten angewendet werden, hinzuzuſetzen. Das
Regierungsrecht oder das Verwaltungsrecht im allgemeinen Sinne, wie
wir es dargelegt, iſt daher das in allen Formen und Gebieten des
Staatslebens gültige Recht der vollziehenden Gewalt, oder das Recht
der letztern, inſofern es allen Theilen der Vollziehung gemeinſam
und gleich
iſt. Hier iſt daher von demjenigen Rechte, welches man das
Verwaltungsrecht im eigentlichen Sinne nennen kann, noch keine Rede.


Nun haben wir als die drei großen Gebiete der Verwaltung im
Allgemeinen die Staatswirthſchaft, die Rechtspflege und das Innere
anerkannt. Außer dieſen drei Gebieten gibt es kein viertes. Alle drei
haben nun die obigen allgemeinen Grundſätze des Regierungsrechts mit
einander gemein. Alle drei haben ihre Verordnungs-, ihre Organiſations-
und ihre Polizeigewalt, und alle Rechtsſätze, die aus der Natur dieſer
drei Gewalten folgten, gelten daher für alle drei Gebiete. Das bisher
Dargeſtellte bildet daher den allgemeinen Theil der drei beſondern
Gebiete und Geſtaltungen des Verwaltungsrechts.


Offenbar nämlich hat jedes dieſer Gebiete wieder ſein beſonderes
Leben. Jedes derſelben beſteht aus einer Reihe von großen, ſyſtematiſch
zuſammenhängenden, und doch von einem eigenthümlichen Princip be-
herrſchten Aufgaben. In jedem dieſer Gebiete entwickelt ſich daher eben
an dieſen Aufgaben zuerſt ein eigenes Syſtem von Verordnungen und
Verfügungen einerſeits, von Geſetzen andererſeits eine eigene Organiſation
mit eigenen Anſtalten und Zuſtändigkeiten von Behörden, Verwaltungs-
körpern und Vereinen, ein eigenes Polizei- und Exekutionsrecht; oder,
jedes jener drei Gebiete hat ſein eigenes Verwaltungsrecht.


Dieſes Verwaltungsrecht jener Gebiete entſteht nun, indem die
Verordnungs-, Organiſations- und Polizeigewalt die ſpezielle Aufgabe
eines jeden jener Gebiete in Berührung mit dem ſelbſtändigen
[221] Rechte einzelner Perſönlichkeiten bringt und ſie vollzieht. Es ergibt ſich
daraus der für das richtige Verſtändniß jenes Ausdrucks wichtige Satz,
daß das Verwaltungs recht keinesweges identiſch iſt mit der Verwaltung
der einzelnen Gebiete, ſondern vielmehr nur diejenigen Theile der letztern
umfaßt, welche durch Beziehung zu andern Rechtsſubjekten ein Recht
der drei vollziehenden Gewalten innerhalb jener Gebiete erzeugen, wäh-
rend daneben ein zweiter nicht minder wichtiger Theil ſteht, der mit
dem Rechte formell gar nichts zu ſchaffen hat, ſondern nur die Be-
ſtimmungen über die Thätigkeit der Verwaltung in Beziehung auf ihre
Objekte enthält. Man kann die Sache vielleicht am beſten klar machen,
wenn man dieß letztere die Ordnung der Verwaltung nennt, die wieder
für dauernde Thätigkeiten in den Anſtalten, für einzelne in den Maß-
regeln derſelben erſcheint. Die Ordnung der Verwaltung erzeugt daher
das Recht derſelben, ſobald und inſofern ſie mit einem ſelbſtändigen
Rechtsſubjekt zu thun hat; aber ſie enthält nicht immer ein Recht, weil
Anſtalten und Maßregeln eben ſo oft nur den Ausdruck des Willens
der vollziehenden Gewalt für ſich bilden, ohne mit dem Rechte der
Perſönlichkeit in Berührung zu treten. Das Recht der Verwaltung muß
daher als immanenter Theil der Verwaltung angeſehen werden; es
kann in der That gar kein, von der Ordnung der Verwaltung getrenntes
Recht der Verwaltung gedacht werden; es gibt kein Verwaltungsrecht
im engern Sinn für ſich, ſondern es iſt ein Theil der Verwaltungs-
lehre, und verhält ſich zu der letztern, wie das Recht der vollziehenden
Gewalt zum organiſchen Weſen des letztern.


In dieſem Sinne reden wir nun von einer Staatswirthſchaftslehre
und dem Rechte der Staatswirthſchaft in Ausgaben und Einnahmen;
von Verordnungen und Organiſationen, von Geſetzen, Anſtalten und
Maßregeln der Staatswirthſchaft, welche bei den organiſchen Theilen
der Staatswirthſchaft erſcheinen und von ihr bedingt ſind. Man nennt
das Recht inſofern es innerhalb der Staatswirthſchaft als erſtem Ge-
biete der Verwaltung ſelbſtändig gedacht wird — obgleich es nicht wohl
ſelbſtändig dargeſtellt werden kann — das Recht des Fiskus, des Aerars,
das Steuerrecht, das Staatsſchuldenrecht u. ſ. w.


Das Recht der Verwaltung des Rechts oder der Rechtspflege iſt
dagegen zu einem, im Rechte ſelbſtändig daſtehenden Ganzen geworden;
es iſt kein anderes als das Recht des Proceſſes. Man muß ſich daran
gewöhnen, die Proceſſe aller Zeiten und Formen als Verwaltungs-
ordnungen, und das Proceßrecht als einen Theil des Verwaltungsrechts
anzuſehen, in welchem wieder die Verordnung neben dem Geſetz, die
Organiſation neben der Competenz und die Polizei neben der Exekution
erſcheint.


[222]

Damit nun, glauben wir, ſind die Begriffe von Verwaltungslehre
und Verwaltungsrecht für das letzte Gebiet der Verwaltung des Innern,
nunmehr leicht und ſcharf zu bezeichnen. Die Lehre von der innern
Verwaltung enthält die Principien, die großen Gebiete und die Ord-
nungen, mit welchen der Staat die Bedingungen der individuellen Ent-
wicklung herſtellt; das innere Verwaltungsrecht iſt die Geſammtheit der
Rechtsverhältniſſe, inſofern dieſelben aus der Geſammtheit jener Thätig-
keit der innern Verwaltung hervorgehen. Oder: die innere Verwaltungs-
lehre zeigt uns, wie die drei Gewalten der Regierung im Namen jenes
Princips auf das geſammte Leben des einzelnen Staatsbürgers und
ſeine individuelle Entwicklung angewendet werden ſollen; das innere
Verwaltungsrecht zeigt uns, welche Rechtsverhältniſſe aus dieſer An-
wendung jener drei Gewalten in jedem einzelnen Gebiete der innern
Verwaltung entſtehen.


Es ergibt ſich damit, daß wir mit der Lehre vom Recht und vom
Organismus der vollziehenden Gewalt über die innere Verwaltung und
das innere Verwaltungsrecht noch gar nichts wiſſen, als das Weſen
der Rechte und Kräfte, welche in dem letztern erſt ihre Anwendung
finden ſollen. Es ſind das vielmehr zwei große Gebiete für ſich, die
niemals verwechſelt werden dürfen, und die mit einander nur in dem
Zuſammenhange des Allgemeinen mit dem Beſondern ſtehen.


Natürlich wird dieſer Gedanke erſt mit der Durchführung der Ver-
waltungslehre des Innern ſeine vollſtändige Klarheit empfangen. Aber
ſchon das Angeführte wird, wie wir glauben, genügen, um nicht bloß
die Scheidung ſelbſt zu vollziehen, ſondern auch die Beurtheilung der
bisherigen Verwirrung möglich zu machen. —


[[223]]

Zweiter Theil.
Der Organismus der vollziehenden Gewalt.


Allgemeine Grundlagen.


Es war die Aufgabe der Einleitung, das Weſen der vollziehenden
Gewalt im Staate darzuſtellen. Der erſte Theil der Lehre von dieſer
vollziehenden Gewalt ſollte dann unter dem Titel des Rechts der voll-
ziehenden Gewalt das Verhältniß derſelben zu den übrigen Organen
des Staats darlegen. Der folgende zweite Theil hat nun zur Aufgabe,
dieſes innerhalb ſeines Rechts ſelbſtändige Gebiet in ſeiner eigenen innern
Geſtaltung und Ordnung darzuſtellen.


Während daher das Recht auf dem Geiſte der vollziehenden Ge-
walt begründet war, bildet der Organismus den Körper dieſer Gewalt.
In ihm ſtellt ſich derſelbe auch äußerlich als ein Ganzes dar. Dadurch
allerdings fordert und empfängt er auch in dieſen ſeinen innern Ver-
hältniſſen ſeine Gränzen, und in ihnen ſein Recht. Organismus und
Recht müſſen daher weder als ein Gegenſatz, noch als ein Getrenntes
gedacht werden; wir haben den Ausdruck Recht nur für den erſten Theil
gebraucht, weil hier das Recht das Verhalten der vollziehenden Gewalt
zum Ganzen beſtimmt und enthält, während im folgenden Theil das
Recht nur noch das Verhalten der einzelnen Organe innerhalb
des Organismus zu einander bezeichnet.


Dieſe Lehre vom Organismus nun wird zuerſt das Weſen deſſelben
beſtimmen, und zwar indem aus dem Begriff und Weſen des einzelnen
Organes ſich die großen Arten und Gruppen, und aus dieſen wieder
ihr organiſches Verhältniß als ein Ganzes herausbildet. Dann werden,
wenn auf dieſe Weiſe das Ganze dieſes Organismus dargelegt iſt, die ein-
zelnen Gebiete deſſelben wieder für ſich in ihrem Inhalt entwickelt werden.


Auch hier nun müſſen wir auf den Grundgedanken zurückkommen, der
dieß ganze Werk beherrſcht. Iſt einmal der Staat die höchſte Form des per-
ſönlichen Lebens, ſo muß man denſelben auch nicht mehr als einen zufälligen,
je nach den Verhältniſſen auch in ſeinen organiſchen Grundlagen wechſelnden
[224] betrachten. Wir müſſen die Ueberzeugung ausſprechen, daß Weſen und Geſtalt
jenes ganzen Organismus, wie die der einzelnen Hauptorgane unabänder-
lich
für den Staat ſind, wie Knochenbau und Nervenſyſtem, Muskeln und
Gefäßſyſtem für den Körper des Menſchen. Die unendlichen Verſchiedenheiten
der Staatenbildung beſtehen auch hier nicht darin, daß jene Grundformen vor-
handen ſind oder nicht, ſondern nur darin, daß ſie ſich je nach der Individua-
lität des Staats anders geſtalten. Liegt doch auch die Tiefe der Individualität
des Menſchen nicht in dem Mangel oder dem Mehr der Grundorgane; und
doch iſt ſie wahrlich reich und mächtig genug innerhalb des unabänderlich
Gleichen! Gewiß aber wird die Wiſſenſchaft nicht weſentlich weiter kommen,
wenn ſie ſich nicht endlich einigt über das weſentlich Gleiche!


I.
Der Organismus als Gegenſtand der Wiſſenſchaft. Aufgabe
der letztern
.


Das einzelne Organ der vollziehenden Gewalt, dieſer Grundbegriff
des Folgenden entſteht nun, indem dieſelbe ſich den gegebenen, wirk-
lichen Lebensverhältniſſen zuwendet, und in ihnen den Willen des Staats
verwirklichen will. Dieſe Lebensverhältniſſe ſind nun äußerlich und
innerlich unendlich verſchieden. Sie ſind theils reine perſönliche Ver-
hältniſſe, theils rein natürliche Zuſtände, theils Thatſachen, welche
aus dem Zuſammenwirken beider hervorgehen. Immer aber bilden ſie
ein Gebiet, welches dem perſönlichen Begriffe des Staates ſelbſtändig
gegenüber ſteht; ſie ſind, als Ganzes zuſammengefaßt, das natürliche
Daſein des Staates. Der Begriff des Lebens iſt auch hier der große,
aus dem Weſen der Staatsperſönlichkeit hervorgehende Proceß, durch
welchen er dieß natürliche Daſein ſeinem geiſtigen Leben unterwirft.
Die Beſonderheiten des erſtern fordern eine ſelbſtändige, für dieſe Be-
ſonderheiten beſtimmte Erſcheinung des letztern; und diejenige Erſcheinung,
welche der perſönliche Staat ſelbſtändig für die Bewältigung des ein-
zelnen Lebensverhältniſſes ſeines äußern Daſeins beſtimmt, iſt das
einzelne Organ der vollziehenden Gewalt.


Dieß einzelne Organ bezeichnet uns daher einen doppelten Inhalt.
Zuerſt enthält es, und iſt es der Träger des allgemeinen Staatswillens;
dann enthält es die Geſammtheit der wirklichen, äußern Lebensverhält-
niſſe, in denen es erſcheint und für deren Beherrſchung im Sinne des
Staats es beſtimmt iſt. Daraus entſtehen die beiden Verhältniſſe,
welche den Inhalt des einzelnen Organes bilden, ſeine Selbſtändigkeit,
und ſeine Einheit mit einem ganzen Organismus. Beide Geſichtspunkte
ſind für das Leben des Organismus entſcheidend.


[225]

Aus dem erſtern nämlich ergibt ſich, daß jedes Organ der voll-
ziehenden Gewalt irgend ein Maß jener drei Gewalten beſitzen muß;
und dieß Maß bildet nun ſein Recht, welches Recht in Beziehung auf
ſeine Begränzung ſowohl gegenüber andern Organen als gegenüber
ſachlicher Verhältniſſe die Competenz deſſelben heißt. Der Inhalt
der Competenz eines jeden Organes iſt daher das Maß der drei Ge-
walten, welches demſelben zukommt.


Dieſes Maß kann nun natürlich kein willkürliches oder zufälliges
ſein. Mag jenes Organ ſein, welches es will, ſo wird daſſelbe ſtets
als durch die äußerliche Aufgabe deſſelben bedingt erſcheinen; es muß
in Art und Umfang den Verhältniſſen entſprechen, in denen es thätig
ſein ſoll; oder, das Recht des Organes muß mit den Aufgaben deſſelben
in Harmonie ſtehen; oder, es muß ein ſo großes Maß von jeder jener
drei Gewalten als ſein Recht beſitzen, als für die praktiſche Erfüllung
derſelben nothwendig iſt. Das heißt, Geſtalt, Umfang und Recht
jedes Organes ſind durch ſeine Aufgabe gegeben; die Aufgabe ſelbſt
iſt die wahre Quelle der Zuſtändigkeit des Organes
.


Dieſe Aufgabe und ihr Inhalt iſt es nun, welche das zweite
Lebenselement jedes Organs, ſeine Selbſtändigkeit erzeugt. Offenbar
kann der Staat niemals die Gränze des Rechts der Organe genau
und vollkommen erſchöpfend beſtimmen; es muß vielmehr jedes Organ,
ſei es welches es wolle, ſelbſt mitarbeitend jene Gränze ſich ſetzen, und
für jene Gewalten ſich ſelbſt bis zu einem gewiſſen Grade ſeine Compe-
tenz ſchaffen. Um das zu können, ohne gegen die Ordnung des Staats
und den Geiſt ſeiner Geſetze zu verſtoßen, muß es in ſeiner Wirkſam-
keit ſich eben des Ganzen und der allgemeinern Aufgabe des Staats
ſtets bewußt ſein; es muß, indem es ſich ſelbſt ſein Gebiet zum Theil
ordnet, zum Theil ſchafft, ſich in ſeiner organiſchen Verbindung mit dem
innern und äußern Leben wiſſen und fühlen, und in dieſem Sinne die
Eigenthümlichkeiten der äußern Welt dem Willen des Staats auch da
unterwerfen und harmoniſch einordnen, wo der letztere ſie nicht beſonders
beachtet oder verſtanden hat. Das Recht und die Competenz des ein-
zelnen Organes erſcheinen daher zwar immer als äußere Gränzen des
letztern, aber es muß in ſich dennoch ein ſelbſtändiges eigenthümliches
Leben durch ſeine eigne Thätigkeit, die geiſtige wie die materielle, ent-
wickeln; es muß ſtatt eines mechaniſchen, ein lebendiges Glied des
großen Ganzen ſein, ein ſelbſtändiger Körper, mit eigenem Geiſte
begabt; und erſt dieß höhere, individuelle Weſen jedes Organes iſt es,
welches ein wiſſenſchaftliches Verſtändniß möglich macht und uns von
einer Wiſſenſchaft des Verwaltungsorganismus reden läßt. Denn die
Aufgabe dieſer Wiſſenſchaft beſteht nunmehr nicht bloß darin, die durch
Stein, die Verwaltungslehre. I. 15
[226] Recht und Competenz gegebene äußere Ordnung, die Vertheilung der
drei großen Gewalten an die einzelnen Organe oder den ſchematiſcher.
Organismus der Verwaltung darzuſtellen, ſondern vielmehr die Grund-
lagen und Kräfte zu erkennen, welche eben jenes innere Leben jedes
Organes beſtimmen und beherrſchen. Und daß es ſolche große, auch
in dem unterſten Organe der vollziehenden Gewalt lebendige harmoniſche
Kräfte gibt, das nun wird ſich ſofort in der Entwicklung des Weſens
dieſes Geſammforganismus im Allgemeinen, und dann in den einzelnen
Hauptformen deſſelben zeigen.


Wir werden für unſere Geſammtauffaſſung auch in der Lehre vom Organismus
nicht viel benützen können von demjenigen, was bisher darüber geſagt worden
iſt. Die Philoſophie des Staats läßt uns vollkommen im Stich, und ſinkt zur
bloßen Wohlmeinung herab, weil ſie den Gedanken nirgends erfaßt hat, daß
die gegebene natürliche Welt durch ihre Aufgaben die Baſis der Organiſation
des Staats iſt, und die abſtrakte Idee der Freiheit es nicht weiter bringt, als
bis zur freien Geſetzgebung, nicht aber zur freien Verwaltung. Die Lehren
vom poſitiven Staatsrecht ſchließen ſich natürlich an die gegebene praktiſche
Ordnung, und bringen, während ſie das Einzelne genau erörtern, ſchon von
vorhinein eine Gleichgültigkeit gegen den Organismus des Staats an ſich mit,
der jeden Verſuch, durch ſie zur allgemein gültigen Auffaſſung und Grundlage
der Vergleichung zu gelangen, als total nutzlos erſcheinen läßt. Das, was
man die „Politik“ genannt hat, iſt entweder, wie bei Dahlmann, ein
Streben, die Grundzüge der Verfaſſung zu finden, oder wie bei Pölitz, ein
Streben, die Zweckmäßigkeit der Verwaltung aufzuſuchen, oder wie bei Mal-
chus
nur der Verſuch, den Organismus des Amts feſtzuſtellen. Die Ency-
clopädien der Staatswiſſenſchaft, wie die von Zachariä (Vierzig Bücher), Schön,
Mohl, bringen es nicht dahin, den Organismus der Verwaltung zu entwickeln,
weil ſie eben keinen einfachen Begriff der That des Staats haben. Es bleibt
daher nichts übrig, als auf eigenem Wege und ſoweit es ſich um allgemeine
Begriffe handelt, mit beſtändigem Kampfe gegen die bisherige Theorie nach
unſerem Ziele zu ſtreben. Möge man im Namen der Wiſſenſchaft entſchuldigen,
wenn wir auch künftig nicht im Stande ſind, Gelehrſamkeit für Wiſſenſchaft,
und die Gleichgültigkeit gegen Begriffe für ein Recht der letzteren zu halten.


II.
Die drei Grundformen des Organismus der vollziehenden
Gewalt: Staatsverwaltung, Selbſtverwaltung und
Vereinsweſen.


Es iſt kein Zweifel, daß da der Organismus der vollziehenden
Gewalt ein Organismus des Staats iſt, zunächſt und vor allem das Weſen
des Staats über die Grundlagen dieſes Organismus entſcheiden wird.


[227]

Wenn nun die zur individuellen Perſönlichkeit erhobene Gemein-
ſchaft des menſchlichen Lebens, die wir den Staat nennen, an ſich eine
einfache wäre, ſo würde auch jener Organismus ſelbſt ein einfacher
ſein. Er könnte allerdings, wie jeder Organismus, ſehr verſchiedene
Glieder haben, da dieſe durch die gegebene Natur der äußern Aufgaben
beſtimmt ſind. Allein es könnte für dieſe Glieder keine weſentlich ver-
ſchiedene Grundformen geben.


Das aber iſt eben das höhere Weſen der Staatsperſönlichkeit, daß
ſie die perſönliche Einheit aller Formen des perſönlichen Lebens iſt.
Jede dieſer Formen bildet zwar einen Theil derſelben; jede dieſer Formen
aber iſt dennoch zugleich wieder ſelbſtändig: denn allen kommt das
Weſen der Perſönlichkeit, die Selbſtbeſtimmung, zu. Der Staat kann
daher nie dieſe Selbſtändigkeit der in ihm enthaltenen Formen des per-
ſönlichen Lebens aufheben; er kann es nicht in ſeinem Willen, der Ge-
ſetzgebung; er kann es auch nicht in ſeiner That, der vollziehenden Ge-
walt. Die vollziehende Gewalt, in welcher Form ſie auch im Einzelnen
erſcheinen und entwickelt ſein mag, hat daher als Grundlage ihres
Organismus nicht etwa bloß, wie man gewöhnlich annimmt, nur die
einheitliche Staatsperſönlichkeit, ſondern ſie hat ſelbſt ſo viele Grund-
formen, als es Grundformen des perſönlichen Lebens im Staate ſelbſt
gibt. Und erſt dadurch wird die höhere Natur und das organiſche
Weſen dieſes Organismus klar werden.


Offenbar iſt nämlich der Staat zunächſt ein rein perſönliches an ſich
ſelbſtändiges Individuum, deſſen reine und abſolut perſönliche Selbſt-
beſtimmung in der Staatsgewalt funktionirt und ihr eigenes Recht hat.
Die erſte Grundform des Staatsorganismus iſt daher diejenige, welche
wir als den vollziehenden Organismus dieſer reinen Staatsgewalt
bezeichnen. Die Entwicklung dieſes Organismus entſteht, wie wir ſehen
werden, durch die organiſchen Berührungen deſſelben mit den andern
Grundformen, und erſcheint in den Staatswürden und dem Staats-
rathe, welche eben nur jenes rein perſönliche Element des Staats erfüllen
und vertreten.


Zweitens erſcheint der Staat dann als die perſönliche Einheit aller
ſeiner Lebensverhältniſſe, inſofern ſie die Verſchiedenheit und Beſonder-
heit des wirklichen Lebens, des perſönlichen wie des natürlichen, in ſich
aufnimmt und als Einheit zuſammenfaßt. Wir nennen den Staat in
dieſem Sinne die Regierung, und in Beziehung auf die praktiſchen
einzelnen Aufgaben die daraus entſtehen, die Verwaltung. Der perſön-
liche Organismus der vollziehenden Gewalt, der den Willen des Staats in
Regierung und Verwaltung auf allen jenen Punkten des wirklichen Lebens
zu verwirklichen hat, iſt der Amtsorganismus, der wieder in der
[228] Regierung als Miniſterialſyſtem, in der eigentlichen Verwaltung als
Behördenſyſtem erſcheint, und als großer und ſelbſtändiger Organismus
ſich weſentlich an den wirklichen Lebensverhältniſſen entwickelt.


Drittens aber enthält der Staat die einzelne ſelbſtändige Per-
ſönlichkeit des Staatsbürgers. Das Recht des Staatsbürgers, das den
Ausdruck ſeiner Selbſtbeſtimmung enthält, an dem Willen des Staats
Theil zu nehmen, iſt in der Verfaſſung organiſirt. Allein der Wille
des Staats erſcheint, wie die Lehre von der Vollziehung gezeigt hat,
nicht bloß im Geſetze, ſondern er wird, wenn auch nur innerhalb der
Geſetze, ſelbſtthätig in der Vollziehung. Es muß daher auch ein Orga-
nismus dieſer ſelbſtthätigen Vollziehung erſcheinen, inſofern dieſelbe als
Aufgabe des Staatsbürgerthums innerhalb des Staats auftritt. Dieſer
Organismus, aus demſelben dauernden Princip hervorgehend, welches
die Verfaſſung geſchaffen, muß daher auch ein dauernder ſein. Er muß
mithin auch ſeinerſeits an dauernde Aufgaben anſchließen, muß dauernde
Formen haben, und dauernd die Einzelnen in die Verwaltung als
mitwirkende Organe aufnehmen. Dieſe dauernden Formen, welche den
ſelbſtändigen Organismus der Einzelperſönlichkeiten in der Verwaltung
enthalten, nennen wir die Verwaltungskörper, und den Organis-
mus ſelbſt mit ſeiner Ordnung und ſeinem Rechte die Selbſtver-
waltung
, deren wichtigſte Grundform wieder die Gemeinde iſt. Das
iſt die dritte Form des Vollzugsorganismus.


Die Selbſtthätigkeit der Einzelperſönlichkeit als Glied der Staats-
perſönlichkeit iſt aber damit nicht erſchöpft. In der Selbſtverwaltung
iſt der Einzelne noch immer ein Organ eines ihm gegebenen Zweckes.
Die höchſte Form der Theilnahme an der Thätigkeit des Staates iſt
aber die, wo die Einzelnen die im Staate und ſeinem Weſen liegenden
Aufgaben ſich durch freien Beſchluß ſelber ſetzen, und mit frei geſchaffener
Organiſation ſelber verwirklichen. Dieſe letzte Form iſt der Verein.
Der Verein iſt, obwohl er ſich ſeine Zwecke ſelber ſetzt, dennoch nur
ein organiſches Glied des Verwaltungsorganismus; denn die Zwecke
müſſen Zwecke des Staats ſein, und werden ſogar regelmäßig ſchon durch
die Geſetzgebung feſtgeſetzt, und die Organiſation ſelbſt muß ſich grund-
ſätzlich der Regierung und Verwaltung unterordnen. Das Vereins-
weſen bildet auf dieſe Weiſe das letzte, freieſte, aber auch zufälligſte
Glied der vollziehenden Gewalt, ein ſelbſtändiger eigenthümlicher Orga-
nismus, deſſen hohe Bedeutung in dem Grade für die Verwaltung
ſteigt, in welchem die freie ſelbſtändige Einzelperſönlichkeit von der
Staatsgewalt auch in der Verfaſſung anerkannt wird.


Auf dieſe Weiſe entſtehen vier Grundformen des Verwaltungs-
organismus, deren jede der zum Organismus erhobene Ausdruck einer
[229] ſelbſtändigen Lebensform der Perſönlichkeit iſt. Andere gibt es nicht;
alle Organe der Verwaltung und alle Thätigkeiten derſelben laſſen
ſich nur auf dieſe Grundformen zurückführen. Eben deßhalb aber hat
jede dieſer Grundformen auch ihr eigenes Recht und ihre eigene
Geſchichte. Denn der Kern, aus welchem heraus ſie ſich entwickeln, iſt
eben ein ſelbſtändiger. Er hat ſein eigenes Leben und wirkt für ſich
ſelber und durch ſich ſelber. Und die nächſte Aufgabe des Folgen-
den iſt es nun allerdings, jeden dieſer ſelbſtändigen Organismen mit
ſeinen Eigenthümlichkeiten und den Elementen ſeiner Entwicklung darzu-
ſtellen. Das iſt ein ebenſo reiches als wichtiges Gebiet; des Stoffes
iſt, wie der Vorarbeiten, dafür genug vorhanden; aber mit dieſer Auf-
gabe iſt ein weſentlicher Punkt — im Grunde der entſcheidende —
nicht gelöst.


Trotz ihrer Selbſtändigkeit und Beſonderheit ſind ſie dennoch immer
nur Organe Einer und derſelben Gewalt, und Glieder des Staats.
Sie bilden eben zuſammen erſt die Verwaltung im weiteſten Sinne.
Sie ſind nothwendig, denn ſie beruhen auf dauernden Grundlagen,
und jeder Staat und jede Zeit hat daher ſowohl Organe des Staats
als der Regierungsgewalt, ſowohl Körperſchaften als Vereine. Nichts
wäre, auch hiſtoriſch, verkehrter, als zu glauben, daß etwa nur in
unſerer Zeit alle dieſe Organismen vorhanden ſind; ſie ſind eben abſo-
lute
Organe des Staats und ſeiner Verwaltung. Nur ſind ſie in
den verſchiedenen Zeiten einerſeits in ſehr verſchiedenem Grade entwickelt,
und auch in einem ſehr verſchiedenen Verhältniß zu einander geweſen.
Es iſt kein Zweifel, daß das organiſche Geſetz, welches ſie in einander
greifen und in harmoniſcher Einheit für die allgemeine Idee des Staats
wirken läßt, erſt langſam zur vollen Geltung gediehen iſt. Es genügt
daher nicht jene Organe einſeitig für ſich darzuſtellen. Wir bedürfen
daneben der klaren Einſicht in das Syſtem derſelben, und in das Princip,
welches dieß Syſtem und ſeine Entwicklung beherrſcht, und wenigſtens
einer Anleitung über die Geſchichte der Bildung ihres gemeinſamen und
gegenſeitigen Verhaltens.


Die obige Auffaſſung, welche den Organismus der vollziehenden Gewalt
in Amtsweſen, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen ſetzt, darf fordern, daß
man, ehe man über ſie urtheilt, wenigſtens den gegenwärtigen Zuſtand des
hierher gehörigen Theiles des Staatsrechts ins Auge faſſe, und ſich die Frage
beantworte, ob es möglich ſei, auf der Grundlage deſſelben auch nur entfernt
ſich ein Bild vom wirklichen organiſchen Zuſtande des Staats im Ganzen
zu machen, wobei der Werth der Bearbeitung jedes einzelnen Theiles nicht in
Abrede geſtellt werden ſoll, obwohl natürlich bei dem Mangel alles Verſtändniſſes
der organiſchen Einheit auch das Bild jedes Gliedes derſelben ernſtlichſt leiden muß.


[230]

Es iſt dabei unſere Pflicht, ſtatt einer Kritik vielmehr den Zuſtand gänz-
licher Verworrenheit auf dieſem Gebiete hiſtoriſch zu erklären. Denn das deutſche
wiſſenſchaftliche Staatsrecht ſteht auch hier hinter der Gegenwart, und unſer
Troſt muß ſein, daß die übrigen Völker der Welt gar keines, oder das, was
ſie haben, nur durch Deutſche beſitzen.


In der That gibt es weder eine engliſche, noch eine franzöſiſche Behand-
lung des Staatsrechts, in welchem der Organismus der vollziehenden Gewalt
auch nur annähernd als eine Einheit betrachtet wäre. Wir können daher die
Zuſtände, aber nicht die Wiſſenſchaft im Ganzen vergleichen, ſo werthvoll auch
das Einzelne namentlich in der franzöſiſchen Literatur gegenüber der deut-
ſchen iſt.


Was dagegen die letztere betrifft, ſo zeigt ſie allerdings auch kaum einen
Verſuch, ein vollſtändiges Syſtem des Organismus aufzuſtellen, ſoweit es ſich
um das ſogenannte deutſche Staatsrecht handelt. Erſt in den Landesrechten
tritt daſſelbe, wenn auch nicht als Syſtem, ſo doch als richtig empfundene
Anordnung der Gebiete auf. Der Grund iſt der hiſtoriſche Gang der Dinge.


Mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts löst ſich die neue Anſchauung des
Staatsrechts von der alten ab. Wir können als Repräſentanten der letzteren
unzweifelhaft Pütter betrachten, als die der erſteren Häberlin und Gönner.
Das alte Jus publicum Imp. R. v. Pütter hatte nur zur Aufgabe, die Trümmer
des Rechts des alten Kaiſerthums gegenüber den deutſchen Reichsſtänden juriſtiſch
zu formuliren. Dabei konnte natürlich von der Idee eines Verwaltungs-
organismus gar keine Rede ſein; der Ausdruck des Verhältniſſes beider zu
einander war der bekannte Begriff der lehensherrlichen „Hoheitsrechte“, welche
die Gränzen der Staatsgewalt juriſtiſch beſtimmen ſollten. Mit Häberlin er-
ſcheint zum erſtenmale die Vorſtellung von einem verfaſſungsmäßigen Organismus
als Grundlage des Staatsrechts, und es iſt ſehr zu bedauern, daß man dieſen,
in ſeiner Zeit ſo hochſtehenden Mann ſpäter ſo wenig beachtet hat, während
man jede franzöſiſche Broſchüre ſorgfältigſt erwog und citirte. Gönner iſt
dagegen in ſeinem deutſchen Staatsrecht derjenige, der zum erſtenmale (1805)
Verfaſſung und Verwaltung ſchied (Conſtitutionsrecht und Regierungsrecht), und
dadurch zu dem Widerſpruch den Grund legte, an dem alle ſeine Nachfolger
kranken, auf Deutſchland den Begriff eines Staates anwenden, und das öffent-
liche Recht Deutſchlands nach der Kategorie des Staatsbegriffes auffaſſen und
darſtellen zu wollen. Damit war eigentlich jede poſitive Staatsrechtslehre
unmöglich. Denn die Grundverhältniſſe des Staats erſchienen gar nicht im
ſogenannten deutſchen Staate, namentlich nicht der ganze Staatsorganismus;
Deutſchland hatte weder Beamtete, noch Gemeinden, und wenn man daher
die Organiſation, wie Gönner, im Namen des Mangels alles poſitiven Rechts
ganz wegließ, ſo nahmen andere ſie im Namen des Staatsbegriffs wieder auf,
jeder wie und ſo viel es ihm gutdünkte, ohne zu ſehen, daß es eben keine
deutſche Verwaltungsorganiſation gibt. Dadurch war nun jedwede Einheit der
Auffaſſung geradezu unmöglich, denn das direkt Entgegengeſetzte war ganz
gleichberechtigt. Und ſo iſt es gekommen, daß es vollſtändig unmöglich iſt, zu
ſagen, was ſich die deutſche Staatslehre unter dem Organismus des Staats
[231] denkt, vor allem aber die durchgreifende Zufälligkeit auch in der andern An-
ordnung des dahin gehörigen Stoffes. Das „deutſche“ Staatsrecht hatte nämlich
weder Beamtete, noch Gemeinden, noch Vereine, da dieſe alle dem Territorial-
ſtaatsrechte angehörten. Dennoch ließ ſich nicht füglich von einer Staatslehre
ohne dieſe Kategorien reden. Nun hätte man noch zur Noth aus der Verglei-
chung der territorialen Rechte eine Art von deutſchem gemeinem Staatsrecht
machen können; allein namentlich bei der Selbſtverwaltung war gerade hier
der Unterſchied ſo groß, daß ein Reſultat ſchwer oder gar nicht zu erzielen
war. Mit den Staatsdienern und ihren Rechten ging es noch eher, weil die
ganze Auffaſſung doch zuletzt auf dem einſeitigen Gegenſatz zwiſchen Fürſten
und Volk beruhte; allein da der deutſche Bund kein Staat, die deutſchen
Bundesſtaaten aber in ihrer Verfaſſung und Verwaltung ſo tief verſchieden
waren, ſo ließ ſich die völligſte Freiheit — oder Zufälligkeit — in der orga-
niſchen Auffaſſung um ſo leichter erklären, als die junge Staatswiſſenſchaft
auch keinen Begriff für die Verwaltung hatte, und ſie vielmehr nur als ein
Conglomerat aus den einzelnen „Hoheitsrechten“ auffaßte. Für den Gedanken
vollends, den Organismus des Staats als die Einheit von Amt, Selbſtver-
waltung und Vereinsweſen zu betrachten, war gar kein Raum. Das Streben
ging vielmehr dahin, Fürſtenthum und Freiheit als Gegenſätze zu erfaſſen;
während man ſich daher über die Stellung des Beamtenthums ziemlich leicht
verſtändigte, wußte man mit dem Gemeindeweſen nirgends hin; dagegen traten
die „Landſchaften“ ziemlich unbedingt in die Verfaſſung, die Körperſchaften
in die Verwaltung, und das Vereinsweſen fällt, wenn es vorkommt, einfach
unter die Sicherheitspolizei. Aber auch das war durchaus nicht gleichartig
anerkannt. Daß Klüber dem deutſchen inneren Staatsrecht den Begriff der
aus dem vorigen Jahrhundert ihm noch vorſchwebenden verſchiedenen „Hoheits-
rechte“ zum Grunde legte, iſt bekannt. Von einem Syſtem iſt bei ihm
keine Rede; das ganze Gemeindeweſen hat bei ihm, bei dem überhaupt das
Territorialſtaatsrecht noch nicht zum Bewußtſein gekommen iſt, auch noch gar
keinen Platz; es geſchieht deſſelben nur beiläufig Erwähnung, wie §. 259
u. m. a. O. Vom Vereinsweſen ſpricht er gar nicht; er kennt nur ver-
botene Verbindungen. Maurenbrecher, der gleichfalls im Staatsrecht noch
den Begriff der Verwaltung nicht kennt, führt zwar zuerſt das Territorial-
ſtaatsrecht ſelbſtändig auf, und ſtellt in Bd. V. die Beamten (Kap. III.) neben
die Gemeinde (Kap. IV.). Körperſchaften und Vereine fehlen. Zachariä (Deut-
ſches Staats- und Bundesrecht), der gar die Geſetzgebung als Theil der Regie-
rung hinſtellt, hat das Amtsweſen unter Regierung, das Gemeindeweſen und
Vereinsrecht unter Verfaſſung; Zöpfl dagegen theilt alles, ohne Syſtem,
in Abſchnitte; der 18. Abſchnitt iſt das Gemeindeweſen, der 19. die innere
Verwaltung; dieſe hat wieder eine Reihe von Hoheiten, und es gelingt ihm,
innerhalb derſelben eine „Amtshoheit“ ausfindig zu machen, unter welche
er das Amtsweſen ſtellt! — In der conſtitutionellen Staatsrechtslehre, wie bei
Aretin, gibt es noch keine Vereine; die Gemeinden dagegen erſcheinen als
eine „Gewähr der Verfaſſung.“ Bülau (Die Behörden im Staats- und Ge-
meindeweſen), und Zachariä (Vierzig Bücher) haben bekanntlich überhaupt
[232] kein Syſtem, ſondern eben ſo viel Abſchnitte, als ſie gerade haben. Malchus
(Politik der innern Verwaltung) beſchäftigt ſich nur mit dem Amtsorganismus.
Bei Mohl (Württembergiſches Staatsrecht) finden wir die erſte ſyſtematiſche
Grundlage; er hat den Gönner’ſchen Gedanken zu einer organiſchen Trennung
von Verfaſſung und Verwaltung ausgebildet, und richtig unter Verwaltung
die Miniſterien und die Gemeinden zuerſt als „Organismus“ zuſammengefaßt.
Es iſt zu bedauern, daß er ſeine Gedanken nicht feſtgehalten, denn in ſeiner
Encyclopädie iſt wieder die alte Unklarheit; die Gemeinde iſt hier ganz ver-
ſchwunden. Pötzl (Die Gemeinden in der Verfaſſung unter der Kategorie juri-
ſtiſche Perſonen, die Beamten dagegen in der Verwaltung), Weiß (Heſſiſches
Staatsrecht), und Milhauſer (Sächſiſches Staatsrecht), Pfiſter (Badiſches
Staatsrecht) ſtellen ſich mit Klüber und Bülau auf den alten Standpunkt, gar
keine allgemeinen Kategorien anzunehmen, ſondern einfach Beamten und Ge-
meinden neben einander zu ſtellen. Vom Vereinsweſen iſt bei den meiſten gar
nicht, bei einigen nur ganz beiläufig die Rede. Es wäre leicht, aber nutzlos,
die Aufzählung zu vermehren. Das Obige wird genügen, um den Beweis zu
liefern, daß wir ohne alles Syſtem ſind. Doch läßt ſich dabei eine nicht
unwichtige Bemerkung nicht unterdrücken. Während das Gemeindeweſen früher
gar nicht berückſichtigt ward, hat es, namentlich durch die Entwicklung des
Territorialſtaatsrechts, das daſſelbe in den größten Theil ſeiner Verfaſſungen
aufgenommen, eine bedeutende Anerkennung gefunden. Das Vereinsweſen hat
dagegen noch ſo gut als gar keine öffentlich rechtliche Natur. In dem erſten
liegt jedenfalls ein Fortſchritt; aber er iſt ein halber, ſo lange nicht das letzte
hinzu kommt. Und es iſt nicht möglich, den Staatsbegriff organiſch zu ent-
wickeln, ehe man alle drei Seiten des vollziehenden Organismus als Einheit
neben den beſchließenden geſtellt haben wird.


III.
Die wirkenden Elemente der organiſchen Geſtaltung der voll-
ziehenden Gewalt oder der Verwaltung im weitern Sinn.


a) Weſen und Gegenſätze derſelben.

Das, was wir das Syſtem des Organismus nennen, iſt nun
ſeinem allgemeinſten Begriffe nach diejenige Ordnung aller einzelnen
Organe unter einander, vermöge deren ſie als Gemeinſchaft ihre große
Aufgabe erfüllen, und den einheitlichen, als Ganzes zuſammenwirkenden
Körper des Staats in ſeiner vollziehenden Gewalt bilden.


Dieſe Einheit iſt nun zuerſt eine rein mechaniſche. Sie erſcheint
in demjenigen Verhalten der einzelnen Theile zu einander, vermöge
welcher die Aktion jedes Organs ſtets als Aktion des Staats ſelbſt
auftritt. Das ſubjektive Moment, das in der Thätigkeit der einzelnen
[233] Organe dadurch gegeben iſt, daß ſie eben von einzelnen Menſchen ge-
leitet werden, muß ſo viel als möglich verſchwinden; denn es iſt der
Staat ſelbſt, der vollzieht. Dieſem Ziele dient nun das erſte Princip
des Organismus, das wir als die Hierarchie der Vollzugsorgane
ganz entſprechend zu bezeichnen pflegen. Dieß Princip drückt dasjenige
Verhältniß aus, vermöge deſſen jedes einzelne Organ wieder unter
einem andern ſteht, und in ſeiner Thätigkeit theils von dieſem über-
wacht wird, theils von ihm unmittelbar abhängig iſt, ſo daß die Com-
petenz keines einzelnen Organes jemals als eine getrennte, ſondern viel-
mehr ſtets als in der eines höheren Organes enthaltene erſcheint. Es
kann dieſe Hierarchie theils in der ſachlichen, theils in der örtlichen
Gränze der Competenz erſcheinen; ſie vollzieht ſich andererſeits theils
darin, daß das niedere Organ dem höheren gegenüber verantwortlich
iſt, indem das letztere mit Reviſionen und Inſpektionen innerhalb des
Amtsweſens, und mit dem Rechte der Beſtätigung der Akte bei den
Verwaltungskörpern im Verein die Aktion der Glieder des Ganzen auf
die einheitliche Thätigkeit des letzteren zurückführt — theils darin, daß
bei dem von uns früher dargeſtellten Weg der Beſchwerdeführung die
höheren Organe das Recht haben, darüber zu entſcheiden, ob ſie die
Aktion des untern Organes durch ihre Beſtätigung und Abweiſung der
Beſchwerden als die ihrigen, und mithin als die des Staatsorganismus
im Ganzen erklären können. Es iſt wahr, daß der Mechanismus, der
hier zum Syſtem der Hierarchie wird, weſentlich noch in der Form
liegt, und daß zuletzt der tiefere Grund das Princip der perſönlichen
Einheit der Staatsthätigkeit iſt. Allein dennoch muß man feſthalten,
daß hier das äußerliche, mechaniſche Moment vorwaltet. Es iſt unent-
behrlich, aber es gewinnt ſeinen rechten Inhalt für den geſammten
Organismus dennoch erſt dann, wenn das zweite, höhere Princip zur
Entwicklung gelangt.


Dieß zweite Princip des Organismus entſteht dann, wenn man
die vier oben geſetzten Grundformen des Organismus auf die beiden
einfachen Faktoren reducirt, aus welchen ſie entſprungen ſind. Offenbar
nämlich ſind die Organiſation der Staatsgewalt und die der Regierungs-
gewalt, das Amtsweſen, nur zwei Formen derſelben Potenz, nämlich
der individuellen Perſönlichkeit des Staats; die Organismen der Selbſt-
verwaltung und der Vereine beruhen dagegen gemeinſam auf der, inner-
halb des Staats wieder als ſelbſtbeſtimmt und frei geſetzten einzelnen
Perſönlichkeit. Für beide Grundlagen, den Staat wie den Einzelnen,
gilt nur das Weſen aller Perſönlichkeit, die Selbſtbeſtimmung; es folgt,
daß auch beide großen Organismen, welche aus ihnen entſtehen, dieſe
Selbſtbeſtimmung als ihr eigenſtes Lebensprincip feſthalten. Nun aber
[234] fordert das Weſen des Staats, daß ſich der Einzelne überhaupt, und
daß ſich mithin auch die Organismen, welche die Theilnahme des Ein-
zelnen an der Staatsthätigkeit enthalten, die Verwaltungskörper und
die Vereine, dem Staate unterordnen. Den Staat als ſolchen aber
vertritt der Regierungsorganismus, das Amtsweſen, auf allen Gebieten
der praktiſchen Thätigkeit. Damit treten ſich nun die beiden großen
Formen alles perſönlichen Lebens, die allgemeine und die Einzelperſön-
lichkeit entgegen, und während es kein Zweifel iſt, daß jede derſelben
ihren eigenen Organismus in der Verwaltung hat und haben ſoll, ent-
ſteht dagegen die Frage, ob und in wie weit eine Unterordnung der
einen Klaſſe von Organiſationen unter die andere ſtattfinden kann und muß.


Der naturgemäße Gang, der in ſolchen Gegenſätzen ſtets erſcheint,
iſt auch hier aufgetreten. Die erſte Bewegung, welche bei jeder Er-
ſcheinung weſentlich verſchiedener Kräfte ſtattfindet, iſt die Scheidung
beider, und die Entwicklung des Gegenſatzes. Und dieß iſt auch hier ein-
getreten, und nicht etwa bloß als ein vorübergehender hiſtoriſcher Zuſtand.
Es iſt vielmehr die Grundlage ſelbſt ſchon ein Gegenſatz, und ſo lange
es daher jene Organismen geben wird, ſo lange wird auch dieſer Gegen-
ſatz lebendig bleiben. Immer haben Selbſtverwaltung und Vereine
die Aktion des Regierungsorganismus ſo weit als möglich von ſich ge-
wieſen, immer hat die Regierungsgewalt andererſeits getrachtet, ſich
dieſelben entweder unmittelbar einzuverleiben oder doch ſie direkt ſich
unterordnen, und immer wird das bis zu einem gewiſſen Grade ge-
ſchehen. Und es iſt nicht bloß unvermeidlich, daß das geſchehe, ſondern
dieſer Gegenſatz in abſtrakter Form gedacht, iſt vielmehr ſelbſt ein noth-
wendiges und organiſches Element des Geſammtlebens, und jeder Staat
muß als gefährdet erſcheinen, wo derſelbe vollkommen verſchwunden iſt.
Denn in der That vertreten beide Grundformen des Organismus nicht
etwa bloß ihren eigenen Antheil an der vollziehenden Gewalt, indem
ſie ſich ſelbſt gegenüber dem andern vertheidigen; und eben ſo wenig
handelt es ſich bloß um den Werth der Maßregeln oder die Wichtigkeit
der Intereſſen, welche beide einander gegenüber zur Geltung bringen,
und die in der Selbſtändigkeit der Organe, durch welche ſie vertreten
werden, ihre eigene Selbſtändigkeit erkennen. Sie ſind vielmehr beide,
wie wir ſchon geſagt, Ausdrücke der beiden großen Elemente des menſch-
lichen Lebens überhaupt, des Ganzen und des Einzelnen, und das
Recht, welches jene Organe fordern und vertheidigen, iſt damit identiſch
mit der Exiſtenz dieſer ihrer eigenen Grundlage. Nicht daher daß jener
Gegenſatz da iſt, iſt ein Uebelſtand, und nicht ihn als ſolchen zu ver-
nichten, iſt die wahre Aufgabe, ſondern es kommt vielmehr darauf an,
jene Elemente in ihr harmoniſches Verhältniß zu einander zu ſtellen.
[235] Und dasjenige Princip nun, nach welchem jene beiden Grundformen in
ihrer Selbſtändigkeit zur Einheit gebracht werden, nennen wir nun das
Princip der verfaſſungsmäßigen Hierarchie.


b) Die beiden Principien der verfaſſungsmäßigen Harmonie zwiſchen
der ſtaatlichen und der freien Verwaltung.

Die verfaſſungsmäßige Hierarchie hat daher zu ihrer Vorausſetzung
die bereits gegebene Organiſation ſowohl des Amtsweſens als der Körper-
ſchaften und Vereine; ihre Aufgabe iſt es nun, das Verhältniß zu
beſtimmen, in welchem dieſe Organe als Einheit zu einander ſtehen, um
den Staat ſelbſt als einheitliche Perſönlichkeit erſcheinen zu laſſen.


Die erſte Bedingung dieſer Forderung iſt nun die, daß die Ge-
ſammtheit aller Organe in ihren wirklichen Thätigkeiten dem höchſten
Willen in der Regierungsgewalt, alſo dem Miniſterium untergeordnet
ſein müſſen. In der That nämlich ſteht die vollziehende Gewalt als
ſolche, und mithin alle jene Organe derſelben, als Vollziehung der Ge-
ſetzgebung da. Sie haben daher nirgends eine ihnen eigene geſetz-
gebende
Gewalt; eine ſolche würde ſie dem Organe der Geſetzgebung
coordiniren, und damit die perſönliche Einheit des Staatslebens ſelber
aufheben. Man muß daher davon ausgehen, daß ſowohl die Regierung
als die Selbſtverwaltung nur eine Verordnungsgewalt beſitzen,
deren Weſen es iſt, das bereits beſtehende Geſetz für die wirklichen
Lebensverhältniſſe in ſeiner Ausführung weiter zu entwickeln, unter
Umſtänden auch zu erſetzen; niemals aber kann das Recht weder der
Regierung noch der Verwaltungskörper ſo weit gehen, ihren Willen dem
Willen der Geſetzgebung zu coordiniren, geſchweige denn entgegen zu
ſetzen. Das, was wir die Verfaſſung der Verwaltungskörper nennen,
iſt daher nur im uneigentlichen Sinn eine Verfaſſung; es iſt nur eine
verfaſſungsmäßige Organiſation der örtlichen Regierungsgewalt, nament-
lich des Rechts der Verordnungsgewalt. Es folgt aus dieſem, unten
weiter zu entwickelnden Satze, daß die Thätigkeit auch dieſer Körper
dem Verordnungsrecht, und mithin der Verantwortlichkeit gegenüber der
geſetzgebenden Gewalt unterliegt, denn auch für ſie hat dieß organiſche
Princip der Verantwortlichkeit die Aufgabe, die Harmonie zwiſchen der
Geſetzgebung und der Vollziehung herzuſtellen. Iſt das aber der Fall,
ſo muß, wie die Geſetzgebung eine Einheit iſt, auch die Vollziehung
als Einheit erſcheinen; und ſo entſteht die erſte Forderung der ver-
faſſungsmäßigen Organiſation, daß auch die Thätigkeit dieſer an ſich
ſelbſtändigen Körper, und natürlich auch die des Vereinsweſens, dem
Willen der höchſten vollziehenden Gewalt untergeordnet ſein muß. Dieſe
[236] Forderung iſt die unbedingte Vorausſetzung für die Verwirklichung des
Grundſatzes, auf welchem die Harmonie eines jeden Staates beruht, in
welchem Geſetzgebung und Vollziehung ſelbſtändig neben einander ſtehen.


Diejenige organiſche Thätigkeit des Staats nun, welche dieſe Funk-
tion vollzieht, nennen wir die Oberaufſicht. Es gibt daher keine
Oberaufſicht innerhalb des eigentlichen Staatsorganismus, ſondern nur
eine Oberaufſicht der höchſten Behörden über die Selbſtverwaltung. Und
in dieſem Sinn bildet ſie das erſte große Element der organiſchen Ein-
heit beider Organismen.


Die zweite Forderung, die Selbſtändigkeit der Organe der Selbſt-
verwaltung, iſt damit nicht aufgehoben, ſondern findet an jener erſten
nur ihre Gränze, und zwar in einer principiell ſehr einfachen Weiſe.
Diejenigen Geſetze, welche die für ein ganzes Reich gleichartigen
Lebensverhältniſſe regeln, können der örtlichen Selbſtthätigkeit der
Selbſtverwaltung, alſo der Vollziehung durch die Verwaltungskörper
nicht übergeben werden, ſondern ſind ihrer Natur gemäß Aufgabe
der Regierungsgewalt; was allerdings nicht eine Vollziehung durch die
Organe der erſtern als Mandatare der letztern, wohl aber als ſelb-
ſtändige, mit Verordnungs-, Organiſations- und Polizeirecht ausgerüſtete
Organe ausſchließt. Bei denjenigen Lebensverhältniſſen dagegen, welche
ein ſelbſtändiges örtliches Leben erzeugen, iſt das Vollziehungsrecht jener
Körper demjenigen der höchſten Regierungsgewalt nur negativ unter-
geordnet, d. i. in der Form der Beſtätigung derjenigen Akte, welche
allgemeine Grundſätze oder Geſetze örtlich zur Vollziehung bringen. Die
Form, in welcher dieſer Grundſatz zur äußern Geltung kommt, beſteht
darin, daß die Verantwortlichkeit — die Herſtellung der Harmonie
zwiſchen Geſetzgebung und Verwaltung — niemals auf dieſe Verwal-
tungskörper als ſolche, ſondern immer auf die höchſte Regierungsgewalt,
das Miniſterium fällt; ohne dieſes Princip iſt eine Verantwortlichkeit
überhaupt nicht ausführbar, und damit würde die Scheidung der Ver-
waltungskörper vom Staate zu ſelbſtändigen Staaten ausgeſprochen, die
Verordnungsgewalt dieſer Körper würde zur Geſetzgebung, die Auflöſung
des Staatsverbandes wäre grundſätzlich vorhanden, und die Einheit
deſſelben nur noch eine formelle. Auf keinem Punkte des orga-
niſchen Staatslebens iſt daher das Princip der miniſteriellen Verant-
wortlichkeit wichtiger als hier; denn hier iſt es nicht bloß das Princip
der abſtrakten Harmonie zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung, ſondern
es iſt zugleich die Verwirklichung der organiſchen Einheit zwiſchen Staat
und Staatstheilen, zwiſchen Regierung und Verwaltungskörpern, zwiſchen
der allgemeinen und der einzelnen Perſönlichkeit. Jeder Zweifel an
dieſer Forderung wird daher nothwendig in ſeiner letzten Conſequenz
[237] zum [Zweifel] an der wahren Exiſtenz des Staats ſelbſt, und jede Un-
klarheit über die Sache ſelbſt führt unbedingt zu der Frage, ob
die Einheit des Staats eines Beſtandes auf die Dauer fähig iſt oder
nicht. Je kräftiger ſich daher die bürgerliche Freiheit entwickelt, und
in der Selbſtverwaltung und den Vereinen auch in der Verwaltung
ihre Organe findet, um ſo beſtimmter muß der Staat für dieß Ver-
hältniß die an ſich einfachen Grundſätze feſthalten: jede Verordnungs-,
Organiſations- und Polizeigewalt der Verwaltungskörper und Vereine
ſteht unter der Gewalt der ſtaatlichen Regierung, und kann daher von
dieſer negativ beſchränkt werden; jeder Verwaltungskörper und Verein
hat die organiſche Verpflichtung, die Geſetze des Staats zu vollziehen,
und kann dazu von der vollziehenden Gewalt angehalten werden; dafür
aber hat die Regierungsgewalt die Verantwortung gegenüber der Geſetz-
gebung, daß dieſe Körper und Vereine die Geſetze ebenſo gut vollziehen,
als die Regierungsorgane ſelbſt. Das ſind die Baſen der Harmonie
zwiſchen Regierung und Selbſtverwaltung.


Und hier nun entſteht die ſchwierigſte Seite der Frage. Es iſt die
Frage nach der Gränze, innerhalb welcher dieſe ſelbſtändigen Körper
das Verordnungs-, Organiſations- und Zwangsrecht in der Weiſe be-
ſitzen, daß die Staatsregierung daſſelbe nur negativ beſchränken kann —
oder wie man gewöhnlich ſagt, nach der Gränze der Selbſtverwaltung
gegenüber der Staatsverwaltung.


Wenn auch das obige Princip feſtſteht, daß es in einem organi-
ſchen Staate eine abſolute, d. i. von der Geſetzgebung und mithin
von der Regierung ganz unabhängige Verwaltung für gar keinen Theil
der letzteren geben kann, weil die Verantwortlichkeit und damit die Ge-
ſetzgebung ſelbſt da aufhören würde, wo dieſe volle Unabhängigkeit be-
gänne, ſo wird dennoch jene Gränze im Einzelnen ſtets eine zweifelhafte
bleiben. In einem formellen Streite würde die Entſcheidung zuletzt auf
lauter einzelne Fälle hinauslaufen, und damit die einheitliche Regierung
ſelbſt allmählich in Verwirrung gerathen. So lange nun die Geſetz-
gebung und Vollziehung nicht geſchieden, und alſo von einem ſelb-
ſtändigen Recht der letzteren nicht die Rede iſt, wird jene Frage ſtets
und nothwendig einſeitig von dem Staatsoberhaupt als perſönlichem
Inhaber der beiden Gewalten entſchieden werden müſſen. Es gibt hier
kein anderes Mittel. In dieſem Proceſſe der Entſcheidung wird dann
ſtets die Selbſtändigkeit der Verwaltungskörper dem Willen der centralen
Gewalt unbedingt unterliegen, und die freie Verwaltung der Einheit
derſelben geopfert werden. So wie die Geſetzgebung dagegen ſelbſtändig
wird, wird es zugleich nothwendig, daß jene Gränze durch dieſe geſetz-
gebende Gewalt ſelbſt gezogen werde. Eine ſolche Geſetzgebung nun,
[238] welche Inhalt und Form der, den Verwaltungskörpern überlaſſenen
freien Verwaltung und mithin auch die Linie beſtimmt, innerhalb welcher
die letztere ſelbſtthätig wirkt, pflegt man eine neue Verfaſſung dieſer
Selbſtverwaltungskörper zu nennen, weil ſie naturgemäß zugleich die
Formen der Theilnahme der Staatsbürger an der, jenen Körpern über-
laſſenen Vollziehungsgewalt enthält. In dieſem Sinne ſpricht man von
einer Landes- und Gemeindeverfaſſung. Den Landes- und Ge-
meindeverfaſſungen entſpricht das Vereinsrecht. Dieſe Verfaſſungen
und Rechte enthalten daher die Gränze der Geſetzgebung gegenüber den
Verwaltungskörpern, und bilden in dieſem Sinne einen formellen Theil
der Staatsverfaſſung, obwohl ſie in Wahrheit nur das verfaſſungs-
mäßige Princip für die Einheit im Organismus der vollziehenden
Gewalt ſind. Sie ſind daher in der That organiſatoriſche Geſetze, und
bilden das weſentlichſte Gebiet für die unmittelbare Anwendung der
Organiſationsgewalt der geſetzgebenden Körper. Sie ſind an ſich ſo
nothwendige Elemente für das freie Staatsbürgerthum, daß ſie, wo
die Verfaſſung noch nicht gegeben iſt, in der Form des hiſtoriſchen Rechts
entſtehen und ſich erhalten; aber ſo lange das Recht der Selbſtverwal-
tung nur auf der hiſtoriſchen Entwicklung beruht, muß es ſtets im
Gegenſatz zur Staatsgewalt erſcheinen, denn der Rechtsgrund der Selb-
ſtändigkeit iſt hier zunächſt immer nur die Thatſache dieſes Rechts; erſt
mit der verfaſſungsmäßigen Ordnung des Staats tritt die Nothwendig-
keit deſſelben als rechtbildend auf, und macht einen organiſchen Theil
der Verfaſſung aus demſelben. Niemals aber kann der Inhalt dieſes
Rechts eine völlige Unabhängigkeit jener Körper vom Organismus der
vollziehenden Gewalt enthalten.


c) Die Individualität des ſtaatlichen Organismus.

Auf dieſe Weiſe formuliren ſich nun die großen Principien für den
Organismus der vollziehenden Gewalt mit beſonderer Beziehung auf
den Unterſchied zwiſchen der im obigen Sinne geſchiedenen ſtaatlichen
und freien Verwaltung in den folgenden Sätzen:


Die Organismen der freien Verwaltung haben eben ſowohl wie
die der Staatsverwaltung nur den im Geſetze gegebenen Willen des
Staats zu vollziehen; ſie haben deßhalb niemals eine geſetzgebende,
ſondern nur eine verordnende Gewalt.


Sie bilden daher mit den Organismen der Staatsverwaltung eine
Einheit, damit vermöge dieſer Einheit durch die Anwendung der Rechts-
ſätze des Regierungsrechts auch für ihre vollziehenden Thätigkeiten die
Harmonie zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung erhalten werden können.


[239]

Die Form in der das geſchieht, beſteht theils darin, daß ſie ſelbſt
als vollziehende Organe der Verordnungsgewalt der Regierung auftreten
und damit dem Amtsweſen gehören, theils darin, daß das ihnen zu-
ſtehende eigene Verordnungsrecht die Genehmigung der höchſten voll-
ziehenden Gewalt fordert, theils darin, daß auch da, wo dieß nicht
der Fall iſt, die letztere das Recht des Verbotes gegen ihre Thätig-
keit beſitzt.


Die ſomit geſetzte Selbſtändigkeit der freien Verwaltung gegenüber
der ſtaatlichen wird durch die von der Geſetzgebung gegebene Anerken-
nung zu einem Theile der Verfaſſung. Die Rechte der höchſten voll-
ziehenden Gewalt aber über die Organe der freien Verwaltung erſcheinen
ihrerſeits als organiſch nothwendig, weil ſie ſelbſt wieder die Voraus-
ſetzung der Verantwortlichkeit bilden, dieſe aber die unbedingte Voraus-
ſetzung des harmoniſchen Staatslebens iſt.


Denkt man ſich nun dieſe Principien ausgebildet und ausgeſprochen
für die Geſammtheit der wirklichen Verwaltungsorgane eines Staats,
und mithin ſpeziell entwickelt für das praktiſche Verhalten zwiſchen den
Organen des Amtsweſens in der Selbſtverwaltung und im Vereine, ſo
entſteht das, was wir das Syſtem des Organismus in einem
Staate nennen.


Die concrete Geſtalt eines ſolchen Syſtems hängt nun einerſeits
von den concreten, meiſt hiſtoriſch gebildeten Zuſtänden und Verhält-
niſſen der Selbſtverwaltungskörper ab, theils auch von der Auffaſſung,
welche bei der verfaſſungsmäßigen Ordnung der Rechte der letzteren im
Einzelnen obwaltete. So gleichmäßig daher auch die Principien ſind,
welche für den Organismus gelten, ſo höchſt verſchieden iſt die wirkliche
Geſtalt deſſelben in den verſchiedenen Ländern. Dieſe Verſchiedenheit gilt
nicht etwa bloß für die einzelnen Sätze und Rechte in dieſer Organi-
ſation, ſondern ſie beruht vielmehr auf der Geſammtauffaſſung des Ver-
haltens zwiſchen der Regierungsgewalt und den Formen der freien Ver-
waltung. Und in dieſer Geſammtauffaſſung beſteht dasjenige, was
man den Charakter des Verwaltungsorganismus eines Reiches nennen
kann. Dieſer Charakter beſteht nicht in einzelnen für den Organismus
ſelbſt gültigen Sätzen und Geſetzen, ſondern vielmehr in derjenigen all-
gemeinen Richtung, welche entweder die Organe der freien, oder die der
ſtaatlichen Verwaltung als die Hauptſache betrachtet, und mithin das
Maß der ſelbſtändigen Thätigkeit der einen oder der andern ſo weit als
möglich zu erweitern und in dieſer Erweiterung den Kern der Entwick-
lung des Staatslebens anzuerkennen trachtet. Man kann ſchon hier im
Allgemeinen ſagen, daß Englands Charakter in dieſer Beziehung den
Schwerpunkt in die freie Verwaltung, Frankreich dagegen ihn in die
[240] ſtaatliche Verwaltung legt, während die deutſche Staatenbildung den
großartigen Verſuch enthält, das Verhältniß beider Elemente ſyſte-
matiſch zu einer, beide in ihrem Weſen anerkennenden Harmonie zu
bringen.


Der Werth einer ſolchen ſehr allgemeinen Redensart beſteht nun
wiederum darin, daß ſie uns den innern Zuſammenhang aller der ein-
zelnen
Grundſätze und Beſtimmungen, welche über Amtsweſen, Selbſt-
verwaltung und Verein in den verſchiedenen Staaten gelten, zu erklären
trachtet. Geht man nämlich alle dieſe einzelnen Geſetzgebungen und
Ordnungen durch, ſo findet man eine ſehr große Verſchiedenheit, nicht
bloß in den einzelnen Beſtimmungen, ſondern eben ſo ſehr in dem
ganzen Geiſte, welcher die Geſammtordnung der einzelnen Organismen
beherrſcht. Das Amtsweſen iſt anders, indem man es für ſich betrachtet,
das Gemeindeweſen iſt anders, und das Vereinsweſen iſt anders. Man
kann nun jedes dieſer Organe recht wohl für ſich darſtellen, und jedes
für ſich verſtehen. Allein man kann ſie durchaus nicht vergleichen,
ſo lange man nicht den Gedanken feſthält, das das Recht und die
Ordnung aller einzelnen Organe unter einander dadurch in Verbindung
ſtehen, daß ſie gegenſeitig von dem allgemeinen Princip des Organis-
mus bedingt werden. Indem wir daher die Eigenthümlichkeit jener
Organiſationen in Folgendem hervorheben, werden wir ſtets auf das
Gemeinſame zurückblicken, und ſo auch im Einzelnen dasjenige zu finden
trachten, was eben das Weſen dieſer Erſcheinungen in ihrer Gemein-
ſchaft bildet, die in der Geſammtheit der Organiſation erſcheinende In-
dividualität der Staatsperſönlichkeit
.


Dieſe Individualität nun gewinnt eine neue und tiefere Grund-
lage, indem man ſie ſelbſt als das Ergebniß einer andern, im tiefſten
Weſen des Staatslebens wirkende Kraft erkennt. Auch hier kann das
Letztere gar nicht verſtanden werden, ohne die Einwirkungen der ver-
ſchiedenen geſellſchaftlichen Ordnungen auf den Staat zu erkennen. In
der That iſt jene Individualität ſelber nichts anderes, als die geſell-
ſchaftliche Geſtalt des Vollziehungsorganismus. Das Weſen derſelben
wird daher durch den Ueberblick über die Geſchichte dieſes Verhältniſſes
vielleicht am beſten verſtändlich werden.


Es iſt hier der Ort, einen Ausdruck feſtzuſtellen, deſſen große Wichtigkeit
ſchon aus dem Obigen klar ſein wird, und deſſen Unbeſtimmtheit wiederum nur
hiſtoriſch, und zum Theil durch Vergleichung mit andern Staaten überwunden
werden kann. Das iſt die oberaufſehende Gewalt.


Es gibt nämlich keine oberaufſehende Gewalt und keine Oberaufſicht inner-
halb des amtlichen Staatsorganismus. Es iſt nicht bloß gegen allen
Sprachgebrauch, daß die höhere Behörde gegen die niedere eine Oberaufſicht
[241] übt; es iſt im Gegentheil kein Zweifel, daß eine Oberaufſicht eine Selb-
ſtändigkeit
des Willens und der Thätigkeit desjenigen zur Vorausſetzung hat,
über den ſie geübt wird. So lange das untere Organ von dem oberen durchaus
in Willen und That abhängig iſt, und nur dasjenige thun darf, was das letztere
befiehlt, kann man von Beobachtung, Unterſuchung, Inſpektion, aber nicht von
Oberaufſicht reden. Die Oberaufſicht kann daher nur im Staate vorkommen,
wo Gebiete der Verwaltung mit freiem und ſelbſtändigem Willen ihrer eigenen
Organe verwaltet werden, und wo demnach die innere Einheit der Thätigkeit
dieſer Theile mit dem Ganzen als nothwendig geſetzt iſt. Das nun iſt nur der
Fall mit den beiden Formen der freien Verwaltung gegenüber der ſtaatlichen,
oder in dem Verhältniß von Selbſtverwaltung und Vereinsweſen gegenüber dem
Regierungsorganismus des Staats. Und es iſt daher die Oberaufſicht mit
ihren beiden Seiten, dem Verbote und der Genehmigung, das organiſche Princip
und Recht, durch welches die Freiheit der Formen der freien Verwaltung in
verfaſſungsmäßige Harmonie mit dem einheitlichen Leben des ganzen Staats
gebracht wird. Die Oberaufſicht iſt daher nicht bloß eine zweckmäßige und nütz-
liche und noch weniger eine ſtatiſtiſche oder ſicherheitspolizeiliche Thätigkeit, ſondern
ſie muß als eine organiſche, durch den Begriff des Staats ſelbſt, als ihm
inwohnend gegebene, dauernde Funktion betrachtet werden. Ihr Weſen iſt
dabei nicht ein poſitiv verordnendes, ſondern es iſt rein negativ. Sie hat
nur zu hindern, daß die Organe der freien Verwaltung nicht die, in ihrem
Rechte gegebene Gränze ihres Antheils an den drei Regierungsgewalten über-
ſchreiten, oder die Erfüllung der Geſetze innerhalb derſelben unterlaſſen. Man
kann dabei alsdann von einer eigenen „Gewalt“ reden, wenn man eben jede
Funktion des Staates eine „Gewalt“ nennen will, was gewiß höchſt unzweck-
mäßig iſt und nur zur weiteren Verwirrung Anlaß gibt. Man kann ſogar
von einem „Hoheitsrecht der Oberaufſicht“ reden, wenn man ſich nicht ent-
ſchließen kann, einen organiſchen Staatsbegriff anzuerkennen. Will man aber
wiſſenſchaftlich von der Oberaufſicht reden, ſo kann man unter ihr nur den
verfaſſungsmäßigen Proceß verſtehen, durch welchen die höchſte Regierungs-
gewalt die Harmonie zwiſchen der Funktion der freien Verwaltung und dem
Geſammtleben des Staats herſtellt; und die Rechte der Oberaufſicht ſind
dann die geſetzlichen Beſtimmungen über die Mittel, vermöge deren dieſe
Oberaufſicht ausgeübt wird. Dieſe Mittel bilden dann einen Theil der Ver-
faſſung der Selbſtverwaltungskörper, und können ſomit als Theil der Staats-
verfaſſung betrachtet werden. Im Allgemeinen aber correſpondiren ſie dem
Begriffe des Gehorſams, und bilden, um die Sache nunmehr mit einem Worte
in ihrem Verhältniß zu der bisherigen Darſtellung hinzuſtellen, das Recht
und die Form des verfaſſungsmäßigen Gehorſams der Selbſt-
verwaltung
.


Daraus ergibt ſich, daß die Oberaufſicht in ihrer Anerkennung als ſelb-
ſtändiger Theil des öffentlichen Rechts und in ihrer juriſtiſchen Ausbildung von
der Selbſtändigkeit der Selbſtverwaltung abhängt. Und damit
wird es klar, weßhalb man eigentlich nur in Deutſchland von einer ober-
aufſehenden Gewalt geredet hat und redet, während Begriff und Wort ſowohl
Stein, die Verwaltungslehre. I. 16
[242] England als Frankreich gänzlich unbekannt ſind, während die Sache ſelbſt
als eine an ſich nothwendige eben ſowohl in England als in Frankreich vor-
handen iſt, nur daß ſich jene Funktion des Staatslebens, die wir mit dieſem
Namen bezeichnen, dort in ganz andern Formen und Rechtsverhältniſſen
äußert. Es iſt das wieder einer von den Punkten, auf welchen das, was
man die Vergleichung nennt, ſich auf einen allerdings höheren als den ge-
wöhnlichen Standpunkt ſtellen, und die Individualität des einzelnen Staates
erfaſſen muß.


In England macht nämlich das Syſtem des Klagrechts die (deutſche)
Oberaufſicht ganz unmöglich. Da nämlich, wie wir gezeigt haben, jeder Akt
einer Behörde, alſo auch das Einſchreiten gegen die Selbſtverwaltung und das
Vereinsweſen ſtets als auf einem gerichtlichen Urtheil beruhend angeſehen wird,
ſo kann jene Funktion der Herſtellung der Harmonie zwiſchen dem beſtehenden
Recht und der Thätigkeit der Gemeinden und Vereine nur vermöge einer
Klage eines Verletzten gegen die Organe der letzteren und eines gerichtlichen
Urtheils erfolgen. Ohne ein ſolches hat die höhere Behörde gegenüber der
Selbſtverwaltung gar kein Recht. Die ſpontane Aktion der Oberaufſicht in
Verbot und Genehmigung gibt es nicht; es iſt Sache der Organe der freien
Verwaltung, ſo zu handeln, daß ſie nicht gerichtlich verurtheilt werden kann;
es iſt Sache der Einzelnen, ſich ein ungerechtes Verfahren gefallen zu laſſen
oder nicht. Das writ of certiorari ſowie das Mandamus ſind Akte nicht der
Oberaufſicht, ſondern der Inſpektion gegen den amtlichen Friedensrichter. —
Dieß Syſtem hat zwar gewiſſe Vorzüge, namentlich den, daß die Geſetzlichkeit
in den Handlungen der freien Verwaltungsorgane nicht von der höheren Be-
hörde ſondern von dem Einzelnen abhängig gemacht wird; allein es iſt klar,
daß ſeine Mängel bei weitem überwiegen. Denn die Begründung jener Geſetz-
lichkeit nur auf den Einzelnen hat mehr Geld, Zeit und Verſtändniß des
letzteren zur Vorausſetzung, als derſelbe jemals haben kann. Es ſichert das
Individuum, aber nicht das Ganze, und bildet den Kern in der Mangelhaftig-
keit des engliſchen Selfgovernment.


In Frankreich macht umgekehrt die Aufhebung des Klagerechts und
die an ſeine Stelle tretende Justice administrative das ausſchließliche Syſtem
des adminiſtrativen Beſchwerderechts auch gegen Ungeſetzlichkeiten der Organe
der freien Verwaltung die deutſche Oberaufſicht unmöglich. Denn dieſe Organe
ſind eben wie wir ſehen werden, weſentlich nur amtliche Organe; die Con-
ſequenz iſt, daß ſie derjenigen Selbſtändigkeit entbehren, welche die Vorausſetzung
der Oberaufſicht bilden. Die geſammte Thätigkeit des Organismus vom Staats-
oberhaupt bis zum Maire bildet ein Ganzes, und daher entſteht hier kein
verfaſſungsmäßiger Gehorſam, ſondern einfach ein amtlicher, der eben die
Oberaufſicht ausſchließt und an ſeine Stelle das Staatsdienerrecht ſetzt. Die Un-
geſetzlichkeit in der Thätigkeit der (amtlichen) Organe der Selbſtverwaltung kann
daher von dem verletzten Einzelnen nur auf dem Wege der Jurisdiction ad-
ministrative
gerügt, und vom Conseil d’État am letzten Orte entſchieden
werden; der Körper des amtlichen Organismus iſt zugleich das herrſchende
Element in der freien Verwaltung.


[243]

Es gibt daher nur in Deutſchland eine Oberaufſicht im wahren Sinn des
Wortes: aber auch hier hat ſie ihre Geſchichte; denn ſie hat faktiſch ganz anders
funktionirt im vorigen Jahrhundert als im gegenwärtigen, und da das deutſche
Staatsrecht dieſen Unterſchied nicht begriffen hat, ſo ſind wir auch zu keinem
organiſchen Verſtändniß derſelben gelangt.


Der Charakter des öffentlichen Rechtszuſtandes im vorigen Jahrhundert
war die Selbſtändigkeit der Körper der Selbſtverwaltung auf Grundlage des
hiſtoriſchen Rechts. Die Entwicklung der Staatsidee forderte eine neue Unter-
werfung dieſer Körper und ihrer Aktion unter die höchſte Staatsgewalt. Für
dieſe Unterwerfung bedurfte man eines Rechtstitels. Da derſelbe im poſitiven
Recht nicht vorhanden war, ſo mußte man auch hier in die Idee des Staats
zurückgehen, und ſo entſtand der Begriff der, mit dem Weſen des Staats ge-
gebenen oberaufſehenden Gewalt, vermöge deren die höchſte Staatsgewalt
die Thätigkeit der Selbſtverwaltung ſich unterwarf. Die innere Nothwendigkeit
der organiſchen Einheit des Staatslebens erzeugte ſomit jenen Begriff und jenes
Recht; aber die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Regierung machte es un-
möglich, eine Gränze dafür zu finden. Daher ſehen wir jene „Gewalt“ in
Deutſchland als einen immanenten Begriff der Staatsgewalt erſcheinen, aber
ohne daß man hätte ſagen können, was er eigentlich enthalte. Nur das ſtand
feſt, daß vermöge deſſelben die höchſte Staatsgewalt nicht etwa bloß die einzelnen
Akte der Selbſtverwaltung, ſondern das Recht auf Selbſtverwaltung
ſelbſt
ihrer Genehmigung unterzog, und zwar als Beſtätigung der Privilegien,
Stadtrechte, Zunftrechte u. ſ. w., wobei ſie unbedenklich auch Aenderungen
in dieſen Beſtimmungen vornahm, wenn es ihr gutdünkte. Das alte Recht
der Oberaufſicht iſt daher im Grunde zugleich ein Theil der Geſetzgebung
für das öffentliche Recht, namentlich aber ein Ausfluß der Organiſationsgewalt;
und es wird einleuchten, weßhalb die Regierungen damit ſo feſt an dieſem ſo-
genannten jus supremae inspectionis feſthielten, während die Gränzen des-
ſelben Gegenſtand beſtändiger Discuſſion waren. Pütter hat in ſeiner Literatur
des Deutſchen Staatsrechts (III, 300 ff.) die betreffende Literatur geſammelt;
ſie verdiente wohl eine eingehende Darſtellung vom obigen Standpunkt, denn
es lag nur zu nahe, dieß Recht mit der Aufgabe der Sicherheitspolizei zu
verbinden und vermöge deſſelben ſich in alle Verhältniſſe nicht bloß der Selbſt-
verwaltung ſondern auch des Privatlebens zu miſchen. Das Oberaufſichtsrecht
ward dadurch ein Recht der Polizei; und damit begann dann jener Widerwille
gegen daſſelbe, der eine wiſſenſchaftliche Auffaſſung beinahe unmöglich gemacht
hat. Schon Berg (Polizeirecht IV, 391) ſagt: „die Polizei darf bei Aus-
übung ihres wichtigen Aufſichtsamtes nie das Thun und Laſſen im In-
nern der Familie
ausforſchen, nie den Hausfrieden brechen und das Haus-
recht verletzen.“ Als nun mit unſerem Jahrhundert die Selbſtverwaltungskörper
— vom Vereinsweſen iſt noch keine Rede — eine verfaſſungsmäßige Selbſt-
verwaltung erhalten, entſteht die Frage, was eigentlich jetzt die Oberaufſicht iſt.
Und hier ſieht man gleich anfangs die richtige Auffaſſung durchbrechen; aber
ſie iſt unfähig Stand zu halten, weil die Vorausſetzung aller Oberaufſicht, das
Verſtändniß der Gemeinden als ein Theil des Organismus fehlt. Bei Klüber
[244] (§. 358 ff.) erſcheint ſie als Correlat der geſetzgebenden und vollziehenden Gewalt,
und iſt in der That nichts anderes, als die Präventivjuſtiz der Sicherheits-
polizei, indem ſie nur im Verhältniß zur Thätigkeit der Einzelnen gedacht wird,
noch ganz im Sinne des vorigen Jahrhunderts. Merkwürdig, daß er doch
ſchon die Beſtätigung und Genehmigung von Privatgeſellſchaften und Anſtalten
hineinbringt. Von Selbſtverwaltung iſt hier noch keine Rede. Gönner hat ſie
als eine Art der Hoheitsrechte aufgefaßt (§. 284 ff.), iſt aber wohl der erſte, der
ſie als eine Art Statiſtik definirt; daneben gibt er zu, daß ſie dem Landesherrn
auch über die Landſtände und ihre Adminiſtration zuſteht, ohne das weiter
auszuführen. Damit war ein Grund gelegt; aber er kam nicht zur Entwicklung.
Maurenbrecher (§. 177 ff.) ſieht allerdings in derſelben die „Obervormundſchaft
der Gemeinden“ und die „Beaufſichtigung aller Korporationen und Stiftungen“
allein nur vom polizeilichen Standpunkte; Zachariä (Staats- und Bundes-
recht, §. 165) hat wieder die Gemeinden und Korporationen ganz weggelaſſen,
und findet nichts anderes darin, als die einfache „Befugniß reſp. Verpflichtung
des Regenten, von allem was im Bereiche des Staats vorgeht, Kenntniß
zu nehmen,“ womit der wahre Inhalt verſchwindet, ſo daß Schmitthenner mit
Recht zu der Conſequenz kam, es gebe „gar keine beſondere Staatsgewalt der
Oberaufſicht,“ theils weil hier von keiner Gewalt die Rede ſein könne, theils
weil alles was dahin gezählt werde, der Geſetzgebung oder der Executive an-
gehöre. Zöpfl hält ſich trotzdem auf dem Standpunkt der ſtatiſtiſchen Auf-
faſſung, verſchmolzen mit der ſicherheitspolizeilichen (I. §. 276). Man ſieht deutlich
beiden an, daß ſie eigentlich nicht recht wiſſen, was ſie mit dieſer „Gewalt“
anfangen ſollen; ſie können ſie weder entbehren noch begreifen. Dazu kam, daß
einige Territorialſtaatslehrer, Weiß, Milhauſer u. andere, von dieſer Gewalt
gar nicht reden, andere wie Mohl (I, 206) in höchſt unbeſtimmter Weiſe, andere
wie Rönne (I, §. 52) in ſo inniger Verſchmelzung mit dem amtlichen Disciplinar-
recht der Inſpektion und der Aufgabe der Sicherheitspolizei, daß der Kern der
Sache vollſtändig verloren geht; von einem harmoniſchen, die Verfaſſungsmäßig-
keit der Selbſtverwaltung geſtaltenden Verhältniß iſt keine Rede; der Begriff hat
ſich mit ſeinem wahren Gegenſtande aufgelöst, und ſo wird es erklärlich, daß
er in neuern Staatslehren, ſowohl dem philoſophiſchen (wie in Fichte’s Ethik)
als in den poſitiven Staatswiſſenſchaften (wie Schön und Mohl’s Encyclopädie)
unbemerkt verſchwunden iſt, während andererſeits natürlich die Auffaſſung, welche
in der Selbſtverwaltung nicht etwa ein Organ der Verwaltung ſondern eine
Garantie der Verfaſſung ſucht, wie Aretin, ſie geradezu verneinen muß. —
Dieß iſt der gegenwärtige Zuſtand der Theorie. Es iſt vollkommen unklar und
unſicher, und nicht beſſer dadurch geworden, daß Gneiſts Meiſterwerk für Eng-
land nicht zu der Frage gelangte, welche Organe die Funktion der Oberaufſicht
da vollziehen, wo ſie, dem Weſen des Staats an ſich immanent, unter dieſem
Namen nicht erſcheinen kann.


Wir glauben nun, daß Weſen und Stellung des deutſchen Begriffs der
Oberaufſicht mit dem organiſchen Begriffe der Selbſtverwaltung in der obigen
Weiſe ihre dauernde Bedeutung im Staatsrecht behalten werden.


[245]

IV.
Die geſchichtlichen Grundlagen der Entwicklung des
Verwaltungsſyſtems.


Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, nachdem wir jene Formen der
Organiſation geſchieden haben, jede derſelben für ſich ihre eigenthümliche
Geſchichte hat. Wir werden dieſe Sondergeſchichte bei der Darſtellung
jedes Theiles darlegen. Allein alle dieſe Seiten der hiſtoriſchen Ent-
wicklung haben eine gemeinſchaftliche Baſis, wie ſie im Grunde einen
gemeinſchaftlichen Verlauf haben. Und es iſt nothwendig, dieſelbe
vorauszuſenden.


Das Verhältniß der Geſellſchaftsordnungen zum Staate beſteht
darin, daß jede Ordnung ihrer Natur nach die Staatsgewalt für ſich
zu gewinnen und ihren Häuptern zu übertragen trachtet, um vermöge der
Staatsgewalt ihre geſellſchaftliche Herrſchaft theils zu heiligen, theils
zu ſichern. Das erſte Gebiet, in der dieß erſcheint, iſt natürlich die Ver-
faſſung; jede Verfaſſung iſt die organiſche Form der Theilnahme der
Geſellſchaft an der Bildung des Staatswillens oder der Geſetzgebung.
Das zweite iſt die Verwaltung. Jede geſellſchaftliche Ordnung hat ihre
Verwaltung; und zwar erſcheint ſie hier zweifach wirkend, weil ſie einer-
ſeits das Objekt der Staatsthätigkeit iſt, und andererſeits auch des in
den Regierungsgewalten liegenden Staatswillens ſich zu bemächtigen
trachtet. Der Staat aber als individuelle Perſönlichkeit ſteht dieſem
Einfluſſe der Geſellſchaftsordnungen gegenüber, er ſelbſt als der ſtets
gleiche und einheitliche in dem Wechſel der ſocialen Umgeſtaltungen.
Die Bewegung dieſer beiden großen Elemente bildet den Kampf, der
das innere Leben der Staaten ausfüllt; er iſt ganz identiſch mit dem
Gegenſatz zwiſchen Staat und Einzelnen, denn es gibt keinen abſtrakten
Staatsbürger, ſondern jeder iſt Glied ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung.
Das Princip und Syſtem des Organismus der Staatsgewalt findet
daher ſeinen Ausdruck gleichfalls nicht in einem abſtrakten Verhalten
beider, ſondern in dem Gepräge, welches die geltende geſellſchaftliche
Ordnung der Ordnung und dem Recht der Selbſtverwaltung und dem
Vereinsweſen gibt. Und dieß nun ſtellt ſich als Grundlage der Ent-
wicklung jenes Charakters dar, den wir oben bezeichnet haben.


Im Anfange der Staatsbildung erſcheint die Geſchlechtsordnung
gegenüber dem Königthum. In der Geſchlechtsordnung iſt das König-
thum noch ohne eigene Rechte, der noch inhaltsloſe Staat. Das Leben
des Staats liegt ganz in den Geſchlechtern; die Häupter der Geſchlechter
[246] ſind Prieſter und Richter; der Staat hat weder ein Objekt, noch einen
Organismus der Verwaltung. Dennoch ſteht ſchon damals das König-
thum ſelbſtändig da; es hat ſchon damals die höchſte Würde des Staats
zu vertreten, und an dieſe höchſten Ehrenrechte des Königs ſchließt ſich
ſpäter das organiſche Königthum an.


Die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung beginnt mit der Zeit, wo nach
der Auflöſung der Geſchlechtsverbände als Grundlage der Gemein-
ſchaft ſich die Lebensberufe ſondern, und Waffen und Gottesdienſt als
die höhern Berufe ſich von der Arbeit als dem niedern ſcheiden. Sie
gewinnt ihre feſte Geſtalt, indem auch ſie ſich mit dem Grundbeſitze
verbindet. Sie erzeugt damit den Grundſatz, daß die Aufgaben des
öffentlichen Lebens und ſeine Rechte an den Grundbeſitz geknüpft ſind,
und daher den Charakter eines Privatrechts annehmen. Die Aufgabe
der Verwaltung und die Gewalten derſelben erſcheinen daher als Eigen-
thum des Beſitzers. Damit ſchließen ſie das ſtaatliche Element, das
ſich im Königthum allmählig entwickelt, nicht bloß thaſächlich, ſondern
auf Grundlage eines beſtimmten Rechtstitels aus. Das Königthum
ſeinerſeits beginnt auf ſeinem Grundbeſitz und für ſeine Regalien ein
Syſtem von Organen einzuſetzen, welche in dem Könige perſönlich ihren
Herrn finden; ſie ſind zwar „Amtleute“ im alten Sinn des Wortes,
aber weder Beamtete noch Obrigkeiten. Sie ſind die Verwalter des Königs
und ſeiner Rechte. So ſehen wir jetzt zwei formell ganz gleiche Or-
ganiſationen entſtehen; das eine die auf dem Rechte des ſouveränen
Grundbeſitzes beruhende Ordnung der verwaltenden Gewalten, das
zweite die Ordnung der königlichen Verwaltung. Es iſt noch von einer
Selbſtverwaltung keine Rede, und zwar darum nicht, weil die könig-
liche Verwaltung noch gar nicht den Anſpruch macht, die grundherrliche
Verwaltung ſich unterzuordnen. Es iſt eigentlich auch noch von einer
ſtaatlichen Verwaltung nicht die Rede, weil die königliche Verwaltung ſich
anfänglich nur auf die königlichen Beſitzungen bezieht, und ihr Recht
nicht aus der Idee des Staats, ſondern aus demſelben Rechtstitel
wie die grundherrliche, dem Eigenthumsrecht des Landesherrn herleitet.
Es iſt daher noch gar kein Geſammtorganismus vorhanden, ſondern
ein vielfach verſchiedenes, verwirrtes und ſtreitiges Nebeneinander beider
Grundformen, deren Verhältniß noch unklarer dadurch wird, daß die
Könige die wahren Verwaltungsaufgaben, Gericht, Regalien und andere,
verlehnen, das iſt, ihnen den Charakter des Eigenthumsrechts geben.
Dennoch iſt in beiden Elementen ein weſentlich verſchiedener Kern
vorhanden, der ſchon mit dem 13. Jahrhundert zur Geltung kommt,
und in den erſten Beſtrebungen der königlichen Macht, ihre Amtleute
über das ganze Land auszubreiten, ihre erſte Erſcheinung findet. Zu
[247] einem beſtimmten Inhalt kommt jedoch dieſer Unterſchied erſt durch die
ſtaatliche Geſtaltung der Einheit der ſtändiſchen Grundherrlichkeit in den
Landſtänden.


Die Landſtände ihrerſeits ſind keine urſprüngliche Erſcheinung.
Sie entſtehen vielmehr aus dem Bewußtſein, daß das ſich entwickelnde
gemeinſchaftliche Leben eigenthümliche Aufgaben habe, welche durch die
grundherrliche Verwaltung der örtlichen Souveränetät nicht mehr voll-
zogen werden kann, weil ſie gleichmäßig das ganze Land umfaſſen.
Das Organ für die Vollziehung dieſer gemeinſchaftlichen und gleich-
artigen Aufgaben iſt naturgemäß das Königthum; der Organismus
derſelben naturgemäß der Organismus, den das Königthum um ſich
ſammelt und bildet. Jetzt entſtehen daher zwei, und zwar auch dem
Rechtstitel nach weſentlich verſchiedene Organiſationen. Die eine iſt die
der Grundherrlichkeit, die unter den verſchiedenſten Namen ſtets dieſelbe
iſt. Sie beruht auf dem lehensrechtlichen Titel des Eigenthums an den
Verwaltungsgewalten; aber ſie beſteht aus eben ſo vielen ſelbſtändigen
Körpern, als es ſelbſtherrliche Grundherrlichkeiten gibt. Jeder dieſer
örtlichen Verwaltungsorganismen, die faſt immer nicht bloß alle Ge-
walten, ſondern auch alle Gebiete der Verwaltung enthalten, Steuer,
Gericht und Polizei, iſt durch die örtliche Gränze der Lehensherrſchaft
begränzt; alle Aufgaben, welche über dieſe Gränze hinausgehen, ſind
rechtlich außerhalb der Competenz derſelben. Die andere Organiſation
iſt die Organiſation der jungen königlichen Gewalt. Sie umfaßt, ohne
daß das geſetzlich ausgeſprochen wäre, das ganze Reich. Sie beruht
nicht auf einem ſpeziellen Rechtstitel, ſondern auf der Natur der ſich
entwickelnden Staatsidee. Sie hat daher grundſätzlich keine Gränzen
nach außen; ſie kann aber im Grunde auch keine inneren, rechtlichen,
anerkennen. Denn die Idee des Staats in ihrer Einfachheit umfaßt
und enthält alle Theile und Gebiete gleichmäßig. Sie iſt eben deßhalb
der grundherrlichen Verwaltung ganz fremd; ſie hängt nur vom Könige
ab; ſie iſt ſein organiſirter perſönlicher Wille; und indem die Geſammt-
heit als ſolche nur vom Könige vertreten iſt, iſt ſie ſchon jetzt der
Organismus der vollziehenden Gewalt des Staates
.


Zwiſchen dieſen beiden Organiſationen exiſtirt nun keine rechtlich
beſtimmte Gränze, wohl aber ein tiefer Gegenſatz des Rechtsprincips.
Der Staat ſelbſt ſcheint in zwei Geſtalten zugleich da zu ſein; wer ſoll
entſcheiden, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Die Entſcheidung
wäre bald gegeben, wenn der Begriff von Geſetz und Verordnung klar
geweſen wäre. Allein die Geſetzgebung war nur zum Theil in den
Händen der Landtage; das Königthum vollzog nicht bloß die Beſchlüſſe
derſelben, ſondern es gab ſeinen eigenen Verordnungen Geſetzeskraft,
[248] und in den meiſten Fällen war es nothwendig, in vielen gut, daß es
das that. Es gab daher keine Scheidung der geſetzgebenden und voll-
ziehenden Gewalt. Das königliche Amtsweſen begann daher natur-
gemäß, für ſeine Verordnungen das Recht des Geſetzes in Anſpruch zu
nehmen und Gehorſam im Namen des Staats zu fordern, auch da,
wo die örtliche Verwaltung ihr den Rechtstitel des lehenherrlichen Be-
ſitzesrechts entgegenſtellte. Die öffentliche Gewalt der letzteren wird
mehr und mehr als ein bloßes Privatrecht aufgefaßt, das ſich dem
Rechte des Staats unterordnen müſſe. Das Recht der Staatsgewalt
aber findet ſeine formalen Quellen theils in dem bibliſchen Begriffe der
von Gott verordneten Obrigkeit, theils in dem römiſchen Recht und der
römiſchen Idee des Imperium. Im Namen dieſer Ideen beginnt ſie
den Kampf mit der örtlichen Verwaltung; und in dieſem Kampfe ſiegt
ſie. Nur iſt die Form ihres Sieges und ihrer Herrſchaft eine eigen-
thümliche. Sie läßt faſt allenthalben der örtlichen Verwaltung ihre
alten Formen und Namen, aber ſie nimmt den Inhalt der Verwaltung
in ſich auf, ſo weit ſie mit der letztern in Berührung kommt. So weit
dagegen eine ſolche Berührung nicht ſtattfindet, namentlich in den Ver-
hältniſſen der einzelnen Angelegenheiten jener Grundherrlichkeiten zum
Grundherrn, da beſteht das alte Verhältniß fort. So erſcheint der alte,
doppelte Zuſtand in einer neuen Form. Alle Geſammtaufgaben
hat der königliche Organismus zu den ſeinigen gemacht, und daher die
Organe der Regierung nicht mehr neben, ſondern über die Organe der
Grundherrlichkeit geſtellt; dennoch iſt das Rechtsprincip der letzteren ge-
wahrt; das Recht auf die grundherrliche Verwaltung beſteht fort, aber
nur ſo weit es nicht in Widerſtreit kommt mit dem der königlichen.
Der Staat wird nur noch durch das königliche Amt verwaltet; die Ver-
waltung der Grundherrn iſt zu einer Verwaltung der grundherrlichen
Laſten geworden und die Verwaltungsorgane derſelben nehmen den
Charakter der ſtaatlichen Beamteten für alles dasjenige an, was nicht
die bürgerlichen Berechtigungen des Grundherrn betrifft. Der Sieg der
Staatsgewalt iſt entſchieden.


Die Ständeordnung hat auf dieſe Weiſe im 18. Jahrhundert alle
ihre ſtaatlichen Rechte ſowohl in Geſetzgebung als Verwaltung verloren.
Sie beſteht nur noch in ihren alten Formen. Darin lag ihre Schwäche
und ihr innerer Widerſpruch. Neben und in ihr entwickelte ſich die
neue Geſtalt der Geſellſchaft, die auf dem Grundſatz der gleichen Be-
rechtigung aller Staatsbürger beruht. Sie ſetzt das Princip der freien
Perſönlichkeit dem Principe des Standesrechts, den gewerblichen Beſitz
dem Grundbeſitz gegenüber. Sie betrachtet den Staat als eine auf dem
Willen aller Einzelnen ruhende Einheit. Sie fordert daher, daß der
[249] Wille aller Einzelnen in allen Formen des Staatslebens zur Geltung
komme. Sie fordert es zuerſt in der Geſetzgebung und begründet die
Idee der Verfaſſung; ſie fordert es aber auch in der Verwaltung. Und
hier entſteht nun eine Entwicklung, welche wir zu beachten haben. Sie
erklärt uns einerſeits den Unterſchied zwiſchen den verſchiedenen Völkern
Europas, andererſeits die Gleichartigkeit in ihrem Organismus.


Indem die neue Geſellſchaftsordnung den Staatswillen als das
herrſchende Element und die Gleichheit der Staatsbürger als ſeine Baſis
ſetzt, fordert ſie das Aufgehen jeder Form der vollziehenden Gewalt
in die Staatsgewalt. Sie negirt daher definitiv den Rechtstitel,
auf welchem die örtliche Verwaltung der alten Grundherrlichkeit beſtan-
den. Es gibt für ſie überhaupt kein Einzelrecht, keinen privatrechtlichen
Anſpruch auf ein öffentliches Recht. Jede öffentliche Gewalt iſt nur
Staatsgewalt. Das geſammte Syſtem der grundherrlichen Verwaltungs-
organe iſt damit principiell aufgehoben; aber mit ihm auch die prin-
cipielle Berechtigung der Theile des Staats auf die Beſonderheit ihrer
Verwaltung. Der ganze Staat iſt nichts als das Geſetz; es gibt keine
Selbſtändigkeit der Vollziehung auch für die Staatsgewalt, geſchweige
denn für die örtliche Verwaltung; es gibt nur noch einen mechaniſchen
Organismus, der den Willen des Geſetzes gleichförmig allenthalben
vollzieht. Das Recht des freien Staatsbürgers iſt daher für die Voll-
ziehung ausgeſchloſſen; es gibt nur noch Freiheit in der Geſetzgebung
und Gehorſam in der Verwaltung. Das iſt der erſte noch einſeitige
Standpunkt der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Sein Organismus iſt
klar und einfach. Es iſt das Aufgehen jedes Organs der Verwaltung
in dem centralen Miniſterialſyſtem.


Das Entſtehen des Miniſterialſyſtems mit dem Anfange unſeres
Jahrhunderts iſt daher die logiſche Conſequenz des definitiven Sieges
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die ſtändiſche Welt. Es folgt
der verfaſſungsmäßigen Ordnung der geſetzgebenden Gewalt mit faſt
mathematiſcher Gewißheit und verbreitet ſich mit ihr über ganz Europa.
Sein Weſen beſteht nicht in der Gewalt, welche die Miniſter haben,
ſondern in der Unterordnung derſelben unter die Geſetzgebung und in
der Verrichtung der örtlich ſelbſtändigen Verwaltung. Das iſt ſeine
organiſche Berechtigung; aber damit iſt es auch erſchöpft.


Denn jene Gleichheit der Staatsbürger iſt in Wahrheit nur das
eine Moment im Staatsbürgerthum. Die Beſonderheit der Lebens-
verhältniſſe iſt das zweite. Es iſt von dem Einzelnen ganz untrennbar.
Mit der Anerkennung des freien Staatsbürgerthums iſt daher die Aner-
kennung ſeiner beſonderen Lebensverhältniſſe gegeben. Wie daher das
Gleiche in Allem durch die Organe des Staats zur Geltung gelangt
[250] in Geſetzgebung und Verwaltung, ſo will auch das Beſondere un-
bedingt eine ſolche Geltung und mit der Geltung einen ſelbſtändigen
Organismus. Es iſt natürlich, daß ſich dieſer an dasjenige anſchließt,
was jene Beſonderheit begründet und immer aufs neue erzeugt. Das
iſt das örtliche Leben. Die Verhältniſſe deſſelben fordern daher einen
Organismus, der es auch in der Verwaltung vertritt. Das ſind die
Verwaltungskörper. Sie müſſen aber ihr Recht vom Staatswillen
empfangen; ſie müſſen ein Organ des letztern und darum durch ihn
geſchaffen ſein in Verfaſſung und Verwaltung. So entſtehen die neuen
Verwaltungskörper, die Verwaltungskörper der adminiſtrativen Reflexion,
als organiſcher Theil der vollziehenden Gewalt. Es iſt die erſte, höchſt
unklare Idee der verfaſſungsmäßigen Selbſtverwaltung.


In der That aber ſind ſie doch nicht ſelbſtändig; ihre Selbſtändig-
keit iſt ein Schein. Ihre Aufgaben ſind ihnen geſetzlich gegeben; ihre
Exiſtenz beruht daher nicht in ihnen ſelber, ſondern in der organiſiren-
den Verordnung; ſie ſind im Grunde nur Amtskörper in anderer Form.
Sind nun dieſe Aufgaben in der Wirklichkeit nur durch eine ſolche Ver-
ordnung vorhanden? Nein, ſie ſind vielmehr durch die, über jeder
Geſetzgebung ſtehenden natürlichen Verhältniſſe geſetzt. Wann werden
daher jene Organe der örtlichen Verwaltung dem Weſen und dem höhern
Bedürfniß derſelben entſprechen? Wenn ihr Rechtstitel ſelbſt ein ge-
gebener iſt. Das aber war der Fall bei den alten, aus der ſtändiſchen
Zeit überkommenen Organismen der Selbſtverwaltung. Und ſo geſchah
nun das, was wir als die zweite Richtung in dieſer Epoche bezeichnen
können. Die alten Verwaltungskörper ſtellten ihren hiſtoriſchen An-
ſpruch auf eigene Verwaltung, ihr geſchichtliches Recht, dem Miniſterial-
ſyſtem entgegen, und forderten im Namen dieſes Rechts, was man im
Namen der höhern Natur der Sache ihnen hätte geben müſſen, ein Recht
auf Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten nicht bloß als Organe
der centralen Gewalt, ſondern als ſelbſtändige Organe. Und an
dieſe Forderung lehnte ſich nun eine zweite, die gleichzeitig entſtand.
Allerdings war die geſetzgebende Gewalt von der vollziehenden getrennt,
aber ſie hatte noch keinesweges allenthalben die ihr gebührende Stellung
eingenommen. Der Kampf mit dem abſoluten Königthum war durch-
aus nicht beendet. Das Volk ſuchte daher nach Anhaltspunkten, um
ein Gegengewicht gegen die Macht deſſelben zu finden. Das konnte nur
geſchehen, indem es dem Miniſterialſyſtem ein Syſtem freier und ſelbſtän-
diger Verwaltungskörper gegenüber ſtellte. Es griff daher ohne Weiteres
nach den hiſtoriſchen Verwaltungskörpern; es nahm ſie in ſeine Ver-
faſſungen auf; es betrachtete die Rechte derſelben als Schutzmauern
gegen die Macht der Staatsgewalt, und ſo entſtand der Begriff, den
[251] wir eigentlich ſuchen, die Umgeſtaltung der ſtändiſchen, unverantwort-
lichen Verwaltungskörper, der Landſchaften und Gemeinden, in die
neuen Körper der verfaſſungsmäßigen Selbſtverwaltung.


Auf dieſe Weiſe ſehen wir die Scheidung der beiden großen, durch
die ſtändiſche Epoche geſetzten Verwaltungsorganismen einerſeits ſanktio-
nirt, andererſeits aber in die Gemeinſchaft des öffentlichen Lebens ver-
ſchmolzen. Erſt jetzt kann man von einem einheitlichen Organismus
der vollziehenden Gewalt reden, denn erſt jetzt iſt das Princip der
ſelbſtthätigen individuellen Perſönlichkeit in die Ordnung des thätigen
Staatslebens aufgenommen. An dieſen wichtigen Proceß, den wir
unten genauer darzuſtellen haben, ſchließt ſich nun das letzte Glied des
Organismus, das Vereinsweſen.


Indem wir auf die Darſtellung des Vereinsweſens weiter unten
verweiſen, wollen wir hier nur den Zuſammenhang hervorheben. Die
Grundlage des Vereinsweſens iſt nicht ſo ſehr das abſtrakte Princip
der Selbſtverwaltung, ſondern vielmehr diejenige Erſcheinung in der
nunmehr zur Herrſchaft gelangten ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, welche
die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft als den Gegenſatz der Claſſen bezeich-
net. Die gewaltige Aufgabe, welche durch dieſen Gegenſatz in das
öffentliche Leben hinein tritt, entzieht ſich der ſtaatlichen Organiſation
faſt gänzlich. Hier kann nur die Selbſtthätigkeit der Geſellſchaft ſelber
helfen. Und ſo kann man ſchon hier ſagen, daß das eigentliche Ver-
einsweſen ſich als letzter und jüngſter Organismus an die Entſtehung
der Selbſtverwaltung anſchließt, ein Organismus, dem die ebenſo große
als ſchwere Aufgabe überwieſen iſt, durch das ſelbſtthätige Eingreifen
des Volkes in die Gegenſätze und Gefahren der ſtaatsbürgerlichen Claſſen-
unterſchiede die hohe Idee des Staats auch in der Geſellſchaft zu ver-
wirklichen.


Das ſind die Grundzüge der Geſchichte des Organismus. Die
Epochen derſelben ſind aber nicht etwa bloß Zeiträume, welche ſpurlos
vorüber gegangen ſind. Im Gegentheil hat jede dieſer Epochen der
Folgezeit ihr eigenthümliches Moment dauernd hinterlaſſen. Und zur
Geſammtanſchauung des durch die Arbeit der Geſchichte entſtandenen
Organismus, wie er jetzt vorliegt, wird es beitragen, wenn wir dieſe
Ergebniſſe noch einmal kurz zuſammenfaſſen.


Aus der Geſchlechtsordnung ſtammt das Königthum mit ſeinen
Würden und den Attributen ſeiner Vertretung der höchſten Staats-
perſönlichkeit, wie aus ihm das Princip der Erblichkeit der Krone und
das Privatfürſtenrecht in der Verfaſſung ſtammt.


Aus der Lehensepoche der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung ſtammt
das hiſtoriſche Recht der Selbſtverwaltungskörper und meiſtens auch
[252] die Beſtimmung des Umfangs und ſelbſt der Individualität dieſer
Körper.


Aus der eigentlich ſtändiſchen Zeit, der Zeit der Landtage und ihres
erſten Kampfes mit der einen Staatsgewalt ſtammt die Grundlage der
Trennung von Geſetzgebung und Verwaltung und das doppelte Syſtem
des Verwaltungsorganismus, das der örtlichen und das der königlichen
Verwaltung.


Aus der Zeit des Sieges des Königthums über die ſtändiſche Ord-
nung ſtammt die Einheit der Verwaltung und ihr Recht gegenüber
jeder nur hiſtoriſchen Bildung, ein Recht das zum Theil auf der Ver-
ſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung im Könige ruht, das
aber die organiſche Einheit der letzteren vorbereitet und bedingt hat.
Zugleich begründet ſich in dieſer Epoche die höhere Idee des Amts,
aus welcher ſpäter der Staatsdienſt entſpringt.


Aus der Zeit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſtammt einerſeits
die vollſtändige Organiſirung der Einheit der Verwaltung im Miniſterial-
ſyſtem, andererſeits die Entwicklung des eigentlichen Begriffes der Selbſt-
verwaltung und ihrer Aufnahme in die Staatsverfaſſung.


Aus der Zeit der Entwicklung der Claſſenunterſchiede in dieſer
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung endlich ſtammt das Vereins-
weſen als letztes Glied des Organismus der freien Verwaltung.


Jedes Land Europas hat dieſe Epochen durchgemacht. Jedes
Land hat daher alle jene Elemente nicht bloß im allgemeinen in
ſeinen Organismus aufgenommen, ſondern ihnen allen ihre Stellung
und ihren Einfluß angewieſen. Die Individualität der Länder
in Beziehung auf ihre Verwaltung beruht deßhalb nur in dem ver-
ſchiedenen Grade, in welchem die verſchiedenen Geſellſchaftsordnungen
noch in ihnen enthalten ſind, und dieſe Individualität findet ihren Aus-
druck dem entſprechend in der rechtlichen Stellung, welche in jedem Lande
das Amt, die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen haben. Jeder
Unterſchied läßt ſich, ſoweit er nicht auf ganz natürlichen Gründen be-
ruht, auf die nationale Geltung dieſer Geſellſchaftsordnungen zurück-
führen. Die Wiſſenſchaft des Verwaltungsorganismus, nachdem ſie
das an ſich geſetzte Weſen der einzelnen Organe feſtgeſtellt, hat daher
zu ihrer zweiten ebenſo weſentlichen Aufgabe, dieſe Verbindung zwiſchen
Geſellſchaft und Verwaltung als Baſis der Individualität der Staaten
darzulegen.


Und dafür ſoll das Folgende ein erſter Verſuch ſein. Es iſt das
zugleich ſein Werth und die Entſchuldigung für das Maß, in welchem
er hinter ſeinem Ziele zurückbleiben wird.


[253]

V.
England, Frankreich und Deutſchland.


Und jetzt möge es uns geſtattet ſein, auf Grundlage der obigen
Bemerkungen eine Charakteriſtik eben jener Individualität des Organis-
mus für England, Frankreich und Deutſchland zu verſuchen.


Englands Eigenthümlichkeit beruht auf der Thatſache, daß die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar geſiegt, aber es keinesweges zur Allein-
herrſchaft gebracht hat. Im Gegentheil iſt England bekanntlich das
Land, in welchem die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung noch in voller An-
erkennung neben der freien ſteht. So iſt eine Grundlage des Volks-
rechts entſtanden, wie ſie nirgends beſteht. Das Königthum iſt zwar
principiell das Haupt des Staats; allein der Wille des Staats iſt ge-
geben von dem harmoniſchen Zuſammenwirken der beiden Geſellſchafts-
ordnungen, die im Oberhaus und im Unterhaus vertreten ſind. Die
Abweſenheit des Streites zwiſchen beiden iſt es, welche ſie dem König-
thum gegenüber allmächtig macht; die freie Entwicklung der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft legt den Schwerpunkt der innern Thätigkeit in die
Selbſtverwaltung, und durch das Zuſammenwirken beider Momente
entſteht der Zuſtand, der Englands Organismus charakteriſirt. Der
perſönliche Staat iſt nicht wie auf dem Continent, zur Entwicklung ge-
diehen; er regiert nicht und hat daher auch keinen Amtsorganismus
wie hier. Der Amtsorganismus vertritt nicht ein ſelbſtändiges Etwas
außerhalb der Volksvertretung und ihrem Willen, es gibt keine, durch
die höhere Idee des Staats begründete, in der Natur der Sache liegende
Verwaltung; es kann ſich der Amtsorganismus weder zu ſeinem höheren
ethiſchen Bewußtſein erheben, noch auch an das Königthum anſchließen,
ſondern die Organe der vollziehenden Staatsgewalt ſind materiell die
Mandatare der Volksvertretung und ihres Willens, wenn ſie auch
formell im Namen des Königs handeln; eine ſelbſtändige Funktion des
Staats als ſolchen gibt es dieſem Willen gegenüber nicht; es gibt
eigentlich kein rechtes Amt und keinen rechten Amtsorganismus. Die
vollſtändige Herrſchaft der Volksvertretung, beruhend auf der Einigkeit
der ſtändiſchen und ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hat hier vielmehr
jenes merkwürdige Syſtem geſchaffen, das wir mit ſo vieler Mühe ver-
ſtehen, weil auch wir ſo viel Mühe haben, uns in andere Geſtaltungen
zu verſetzen. Der Lebensproceß des engliſchen Staats beruht auf drei
Momenten. Das erſte iſt die Geſetzgebung, das zweite iſt die Selbſt-
verwaltung, das dritte iſt die richterliche Funktion. Die Bewegung
zwiſchen ihnen, und damit das Weſen des engliſchen Organismus, durch
[254] welchen ſie ſich vollzieht, iſt folgende. Die Geſammtheit der Thätig-
keiten der Regierung iſt, da ihr ſelbſt grundſätzlich keine ſelbſtändige
Funktion geſtattet iſt, nur die Vollziehung der Geſetze. Wo kein Ge-
ſetz iſt, da iſt auch keine Regierung. Wo daher Intereſſen ſind, welche
durch kein Geſetz geordnet werden, da muß ſich das Volk ſelbſt helfen;
jedes Eingreifen auch im höchſten Intereſſe des Ganzen von Seiten
eines Organes der Regierung iſt ungeſetzlich. Die Selbſtverwaltung hat
daher im Grunde den Charakter einer Erfüllung der Funktion der Ge-
ſetzgebung durch die freie Thätigkeit der Einzelnen. Die Aufgabe dieſes
Staatslebens beſteht daher darin, wo möglich für alles was ſeinem
Weſen nach der Regierung gehört, Geſetze zu geben, und dann vermöge
des Gerichts die Organe der vollziehenden Gewalt dazu anzuhalten,
daß ſie dieſe Geſetze auch wirklich vollziehen und ſie nie überſchreiten.
Was nicht durch ein Geſetz befohlen iſt, geht die Regierung nichts an;
die Selbſtverwaltung kann ſich nicht bloß ſelbſt helfen, ſondern es wäre
ungeſetzlich, wenn die Regierung ſelbſtthätig eingriffe. Was aber
gegen das Geſetz geſchieht, geht die Regierung eben ſo wenig an; denn
es iſt Sache deſſen, der ſich verletzt fühlt, das Organ der vollziehenden
Gewalt zu verklagen und ſich Recht zu ſchaffen. So iſt das, was wir
die Regierung nennen, in England eigentlich gar nicht vorhanden;
Geiſt und Form derſelben ſind, wie wir es unten im Einzelnen ſehen
werden, ſo weſentlich von denen des Continents verſchieden, daß wir
uns in einen ganz andern, von fremden Geſetzen beherrſchten Organis-
mus verſetzt fühlen; ſelbſt unſere Namen paſſen nicht; es gibt keine
Miniſterien und keine Behörden, kein Staatsdienerrecht und keine
Oberaufſicht dort, ſondern nur gerichtlich geſchützte Ausführung der
Geſetze und Selbſthülfe für die Intereſſen durch die Selbſtverwaltung.
Wir müſſen hier mit wahrer Hochachtung Gneiſts Werk nennen; er
iſt es, der den innern Zuſammenhang dieſes Zuſtandes, die Unſelbſt-
ſtändigkeit der Regierung gegenüber dem geſetzgebenden Körper und
die Funktion der Selbſtverwaltung und des Gerichts, mit den großen
Faktoren der Rechtsbildung im ganzen Staatsleben der geſellſchaft-
lichen Ordnungen, zuerſt und in erſchöpfender Weiſe verſtanden hat.
Ohne ihn wird man künftig England ſchwerlich kennen lernen, niemals
zu beſchreiben und zu verſtehen im Stande ſein. Es iſt ſchwer ihn
zu benützen, denn man kann faſt nur ihn benützen. Wenn ſolche
Arbeiten für alle Länder Europas dereinſt vorliegen, wird man ſehen,
wie weit wir jetzt noch von der höchſten Löſung unſerer Aufgaben ent-
fernt ſind.


Ob nun dieſer Zuſtand bei allen großen Vorzügen, die er hat, ein
wirklich guter iſt, iſt eine andere Frage. Wir müſſen behaupten, daß
[255] ſein Mangel auf dem Mangel der ſelbſtändigen Funktion der Regierung
beruht. Dieſelbe aber iſt ein organiſches Element, und kann daher
auf die Dauer nicht ohne Nachtheil unterdrückt werden. Die Zukunft
Englands liegt in der Beſchränkung der Herrſchaft, welche die Geſetz-
gebung über die Verwaltung ausübt, formell in der Herſtellung eines
Beamtenſtandes, nicht über, ſondern neben der Geſetzgebung und
Selbſtverwaltung. Und das was wir in Gneiſts Werk am höchſten
ſchätzen, iſt das richtige Verſtändniß dieſes Punktes in Englands ſtaat-
licher Individualität.


Frankreich zeigt uns dagegen ein ganz anderes Bild. In
Frankreich iſt die Thatſache und das Verſtändniß der ſtändiſchen Geſell-
ſchaftsordnung vollkommen unterdrückt; es leidet daran, daß die Reſte
dieſer Ordnung grundſätzlich rechtlos ſind. Die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaftsordnung herrſcht allein; ſie muß daher auch das Princip, von
welchem ſie ausgeht, zum alleinherrſchenden nicht bloß für die Geſell-
ſchaft, ſondern auch für den Organismus des Staats machen. Dieß
Princip nun iſt die Gleichheit. Die Gleichheit aber iſt eine Abſtraktion;
das wirkliche Leben erſcheint vielmehr in beſtändig ungleichen Bildungen,
geſellſchaftlich und wirthſchaftlich. Der Staat und ſeine Regierung, als
Vertreter der Gleichheit, haben daher die erſte und große, niemals
ruhende Funktion, dieſe Gleichheit auf allen Punkten zu erhalten und
herzuſtellen. Der Organismus des Staats, als Ausdruck dieſer Funktion,
wird dadurch von zwei großen Grundſätzen in ſeiner ganzen Geſtaltung
beherrſcht. Er darf keine wahre Selbſtverwaltung zulaſſen, denn ſie
würde nicht bloß die Beſonderheit in allen Gebieten des Lebens er-
zeugen und conſolidiren, ſondern das Recht der Selbſtverwaltung wäre
eben der Rechtstitel der Verſchiedenheiten; mit ihr würde die letztere
ein anerkanntes Element des öffentlichen Rechts ſein; an ſie würden
ſich die geſellſchaftlichen Unterſchiede wieder zur Selbſtthätigkeit heraus-
arbeiten; ſie wäre die Grundlage einer zweiten Welt in der franzöſiſchen;
ſie iſt, wie einmal der Charakter des franzöſiſchen Staats iſt, in Frank-
reich unmöglich. Die Folge für den Organismus iſt die ausſchließende
Herrſchaft des Amtsweſens im Ganzen wie im Einzelnen der Regierung;
die Funktion der letzteren iſt hier im Gegenſatz zu England nicht bloß
ſelbſtändig, ſondern auch ganz allgemein; ſie iſt allein die Trägerin des
öffentlichen Intereſſes; ſie iſt die Verwaltung. Daher kann ſie ſich auch
in dieſen Aktionen nicht dem Gerichte unterwerfen; ſie läugnet dem
Gerichte ſein Recht, ihre Aktion ſelbſt dann zu beurtheilen, wenn ſie
gegen das Geſetz verſtößt; ſie unterwirft ſich zwar dem Geſetze, aber
ſie interpretirt es allein für ſich ſelbſt. Frankreichs ganzer Orga-
nismus iſt daher ein Organismus des Amtsweſens; aber in dieſem
[256] Amtsweſen iſt das Amt wieder kein ethiſcher, ſondern nur ein organiſcher
Faktor, und der Mangel des Staatsdienerrechts zeigt uns auf dem
entſcheidenden Punkte die Herrſchaft des Ganzen oder des Einzelnen,
der Einheit oder des Beſondern. Es iſt der Sieg der perſönlichen
Staatsidee auf Grundlage des Princips der geſellſchaftlichen Gleichheit;
eine gewaltige Macht, aber auch eine gewaltige Gefahr, wie jede große
Einſeitigkeit.


Dennoch haben wir unendlich viel gelernt und zu lernen von Frank-
reich; unſer Fehler beſtand nur darin, daß wir zu viel von ihm an-
nahmen. Freilich forderten das die Dinge bisher; jetzt ſcheint ſich die
Geſtalt und der Gang derſelben zu ändern.


Betrachten wir nun Deutſchland, ſo iſt es nicht zu verkennen,
daß es in der That beide Geſtaltungen zu vereinen trachtet. Es hat nicht
bloß eine Regierung, es erkennt ſie auch als ſolche an; d. i. es will,
daß ſie ſelbſtthätig wirke und neben der Geſetzgebung eine ſelbſtändige
Stellung ſich erhalte. Es hat aber auch eine Selbſtverwaltung und
jetzt ſogar ein Vereinsweſen, und nicht als ein dem Leben der Ge-
meinſchaft fremdes, ſondern als einen organiſchen Theil derſelben. Es
hat die Selbſtverwaltung in ſeine Verfaſſungen aufge-
nommen
; das iſt das Bezeichnende für die Individualität Deutſch-
lands im Allgemeinen. Aber, und das iſt wieder charakteriſtiſch, ſein
unmittelbares Gefühl und ſelbſt ſeine Geſetzgebungen ſind viel weiter
als ſeine Wiſſenſchaft. Es iſt das natürlich, wenn man will; aber es
iſt ſchwer dadurch zum rechten Verſtändniß zu gelangen. Dazu kommt,
daß die beiden großen Faktoren, die einheitliche Regierung oder das
Element des perſönlichen Staats, und die freie Verwaltung gerade
ſo wie die Geſetzgebung, das iſt alſo die ganze Staatenbildung, in
ſo eigenthümlicher Weiſe vertheilt ſind. Das ganze Deutſchland hat
zwar ein Streben zur Einheit, das aber nicht ſo mächtig iſt, als das
Streben ſeiner Theile nach Selbſtändigkeit, ſo daß es im Ganzen
die völligſte Auflöſung der einheitlichen Staatsidee in die Selbſtver-
waltung der einzelnen Staaten zeigt, während in dem letzteren gerade
das Umgekehrte erſcheint, die Herrſchaft der örtlichen Staatsgewalt
über die Formen und Rechte der freien Verwaltung, jedoch ohne zum
eigentlichen Siege zu gelangen. Daher iſt dieß Deutſchland ſo ſchwer
zu verſtehen; freilich, da es der Sitz des höheren Verſtändniſſes über-
haupt iſt, wäre die ganze Welt leicht verſtändlich, wenn Deutſchland
es wäre.


Unſere Aufgabe iſt es nun, dieſe Individualität in den Formationen
und der Stellung der einzelnen Organe, die dem Begriff des Staats
inwohnen und daher auch die Grundlage aller Individualität bilden,
[257] zu verfolgen. Es iſt ſchwer, das überhaupt zu verſuchen, unmöglich,
es mit einem erſten Verſuche zu erreichen.


Die Frage, welche wir hier aufgeſtellt, iſt weder eine philoſophiſche, noch
eine ſtaatsrechtliche. Sie iſt in erſter Linie eine geſellſchaftliche. Es ſcheint,
daß wir viele Jahre, vielleicht ein paar Generationen gebrauchen werden, um
den Satz gehörig zu würdigen und in unſerer Wiſſenſchaft zum Durchbruch zu
bringen, daß nicht bloß die Verfaſſung, ſondern auch die Verwaltung weſentlich
durch die geſellſchaftliche Ordnung bedingt und zum Theil beherrſcht werden. Es
iſt eine bekannte Sache, daß die Deutſchen auch in der Wiſſenſchaft das Neue
nur dann raſch und gerne annehmen, wenn es von Fremden kommt. Gegen
das Deutſche verhält ſich jeder Deutſche faſt grundſätzlich negativ, und es iſt
ein Charakterzug, der uns von den Engländern und Franzoſen unterſcheidet,
daß wir das Unſerige entweder zu klein oder zu groß machen. Dennoch wird
die Zeit kommen, wo wir endlich unſere bisherige Behandlungsweiſe des Staats-
rechts und ſeiner Geſchichte als eine ſehr untergeordnete, eine bloße Sammlung
von Thatſachen betrachten, und zu der Erkenntniß gelangen werden, daß dieſe
Thatſachen ſelbſt Ergebniſſe organiſch wirkender Kräfte ſind, und daß die
Wiſſenſchaft darin beſtehen muß, in den Thatſachen, die wir ſammeln, die
in ihnen wirkenden organiſchen Geſetze zu begreifen. Wollen wir überhaupt
den Rang im geiſtigen Leben behaupten, den wir noch beſitzen, ſo müſſen wir
dieſem Ziele zuſtreben; aber es iſt Zeit, denn ſchon jetzt ſind uns namentlich
die Franzoſen darin voraus, und jener gewiſſe Hochmuth, mit dem manche auf
ihren Mangel an „Gründlichkeit“ herabſehen, dürfte vor einer höheren Betrach-
tung keinen Stand halten. Die neueren Staatsrechtslehrer, namentlich Zacha-
riä
und Zöpfl, haben keine Ahnung davon, daß man die Staatswiſſenſchaft
organiſch begreifen müſſe; auch R. Mohl hat ſich offenbar unfähig bewieſen, zu
erkennen, warum es ſich eigentlich handelt, und etwas zu verſtehen, das nicht
in dem bekannten breitgetretenen, hergebrachten Wege der Behandlung liegt. Es
wird aber nicht auf die Dauer nützen, einfach zu ignoriren, daß die Verbin-
dung der geſellſchaftlichen Kräfte und der Verfaſſung und Verwaltung bereits
in meiner Geſchichte der ſocialen Bewegung dargelegt, und in meiner fran-
zöſiſchen Rechtsgeſchichte bis in die erſte Rechtsbildung Frankreichs zurück ver-
folgt iſt. Gneiſt hat ſeinerſeits gezeigt, welche großartigen Dinge man leiſten
kann, wenn man — abgeſehen von jedem ſchulmeiſterlichen Kleben an einer be-
ſtimmte Ausdrucksweiſe — das innere Leben eines Volkes gleichſam mitten in
ſeinem Herzen, in den gewaltigen Kräften erfaßt, die es beherrſchen. Auf
dieſem Wege werden wir weiter kommen, oder wir laufen Gefahr, ernſtlichſt
zurückzugehen. Es läßt ſich nicht bezweifeln, daß wir im Grunde zwar breiter
geworden, aber geiſtig in Staatsrecht und Rechtsgeſchichte nicht
einen Schritt weiter gekommen ſind, als zu Klübers und Eich-
horns Zeit
. Das iſt eine ſehr ernſte Sache!


Möge man es dem Verfaſſer verzeihen, daß er hier einmal auf dieſen,
auch ihn perſönlich berührenden Punkt gekommen iſt. Es gehört in Deutſchland
viel Muth dazu, etwas wirklich Neues zur Geltung bringen zu wollen.


Stein, die Verwaltungslehre. I. 17
[258]

Die einzelnen großen Organismen der vollziehenden Gewalt.


Die Aufgabe des Folgenden iſt es nun, die einzelnen großen Orga-
nismen der vollziehenden Gewalt für ſich darzuſtellen, wie ſie in dem
Bisherigen angedeutet ſind. Wir müſſen dabei von dem Satze aus-
gehen, daß dieſe Organismen durch den Begriff und das Weſen des
Staats abſolut gegeben ſind, und daher in jedem Staate vorkommen.
Der Unterſchied der Staaten beruht nun auf dem Maße ihrer Ent-
wicklung und dem öffentlich rechtlichen Verhältniß derſelben zu einander.
Sie ſind daher die unabweisbaren Grundlagen jeder Vergleichung; die
Richtigkeit derſelben hat ihr Kriterium äußerlich darin, daß es gar kein
Verhältniß des praktiſchen Lebens der Vollziehung gibt, das ſich nicht
in einfacher und natürlicher Weiſe in die folgenden Grundbegriffe —
den Knochenbau der Verwaltung — gleichſam von ſelbſt einreiht. Wir
müſſen immer darauf zurückkommen, daß jedermann es für etwas ſehr
Unverſtändiges halten würde, eine willkürliche oder zufällig wechſelnde
Eintheilung etwa in den Naturwiſſenſchaften zu ſetzen; wie iſt es dann
denkbar, daß während man doch von Begriff und Natur der Staaten
redet, bei dieſen nicht eine eben ſo feſte Grundlage ihres Lebens vor-
handen ſein ſollte? Und ſo ſtellen wir die folgenden Kategorien als die
allgemein gültigen auf, und werden verſuchen, ihnen durch Hinweiſung
auf die ſocialen Entwicklungen ihren Inhalt zu geben.


Der erſte Organismus entſteht, indem ich die höchſte perſönliche
Form des Staates, das Staatsoberhaupt, als ſelbſtändiges Haupt der
vollziehenden Gewalt denke, und enthält die beiden Organismen der
Staatswürden und des Staatsrathes neben dem Staatsoberhaupt.


Der zweite Organismus iſt der der Regierungsgewalt, und er-
ſcheint im Amtsweſen, welches wieder die beiden Grundformen des
Miniſterial- und des Behördenſyſtems zeigt.


Der dritte Organismus iſt der, den wir als den der Selbſtver-
waltung bezeichnen, und der in drei Grundformen zerfällt, die Land-
ſchaft
, die Gemeinden und die Körperſchaften.


Der vierte Organismus iſt endlich der des Vereinsweſens
mit ſeinem eigenthümlichen Syſteme, das unten dargeſtellt wird.


Alle dieſe Organismen ſind nun beſtändig thätig. Sie wirken
zwar jeder zunächſt in ſeiner Weiſe, aber dennoch immer im innigſten
Zuſammenhange mit einander. So bilden ſie in ihrer eigenthümlichen
Thätigkeit das Leben des Staats. Aber ſie ſind hier, in der Lehre
von der Vollziehung noch ohne ihr beſtimmtes Objekt gedacht; ſie ſind
die Organismen der Kraft des Staats, die Organe ſeiner That
[259] an ſich. Erſt die Lehre von der eigentlichen Verwaltung zeigt ſie uns
in derjenigen Form und unter denjenigen Namen, in denen ſie wirk-
lich
, d. h. in den concreten Gebieten der Verwaltung im engern Sinn
auftreten. Die Lehre vom Organismus der vollziehenden Gewalt ent-
hält daher nur dasjenige, was alle dieſe Organe unter allen Formen
und Namen mit einander gemein haben. Und wir dürfen daher noch-
mals darauf hinweiſen, daß das Folgende den allgemeinen Theil ſo-
wohl
für die Finanzverwaltung als für die Rechtspflege, als endlich
für die innere Verwaltung darbietet.


Erſtes Gebiet.
Die perſönliche Staatsgewalt und ihre Organe.


I. Organiſcher Inhalt der perſönlichen Staatsgewalt in der Verwaltung.


Um die Staatsgewalt und den ihr eigenthümlichen Organismus
im Geſammtorganismus der vollziehenden Gewalt ſcheiden und ſelb-
ſtändig behandeln zu können, muß man das Weſen der Perſönlichkeit
als Grundlage des Staatsbegriffes anerkennen.


Das Staatsoberhaupt hat jedem Akte des Staats, ſowohl in der
Geſetzgebung als in der Verwaltung, durch ſeine perſönliche Zuſtimmung
die Natur und das Recht eines Aktes des perſönlichen Staats beizu-
legen. Man kann dieſe Funktion als eine bloß formelle betrachten. Es
iſt klar, daß das einſeitig und darum falſch iſt. Was in dem pſycho-
logiſch geſetzten Weſen aller Perſönlichkeit nur noch an ſich gegeben iſt,
erſcheint als eine, mit einem ſelbſtändigen Organe verſehene Funktion
im Staatsbegriff: denn das iſt eben die Natur dieſer höchſten Form des
perſönlichen Lebens. Der höchſte und endliche Beſchluß eines Menſchen,
etwas zu wollen und zu thun, faßt immer noch einmal die Geſammt-
heit aller Verhältniſſe und Gründe als ein Ganzes ins Auge; es erhebt
ſich der Menſch in ſeinem letzten Beſchließen über alle Einzelheiten und
Gegenſätze der Erwägung; er beſtimmt ſich ſelbſt durch ſich ſelbſt; in
dieſem letzten Beſchluſſe muß er eben darum aus ſich ſelbſt heraus ſeine
Selbſtbeſtimmung finden. Das Organ, welches dieß im Staate vollzieht,
iſt das Staatsoberhaupt.


In dem mächtigen Organismus der Staatsperſönlichkeit aber fordern
die beiden Momente, welche in jenem Akte liegen, wieder ſelbſtändige
Organe. Der Staat erſcheint zuerſt als die höchſte Form der Perſön-
lichkeit, die organiſirte Würde des Staats; dann erſcheint er in ſeiner
organiſchen Beziehung zum Staatswillen, indem er bei ſeinem höchſten
[260] Beſchluſſe denſelben in ſich aufnimmt und ſeiner höchſtperſönlichen Ent-
ſcheidung zum Grunde legt. Derjenige Organismus, der das erſte Mo-
ment ſelbſtändig vertritt, wird durch die Reichswürden und Hofämter
gebildet; das Organ, durch welches der Staat ſeiner ſelbſtändigen höchſt-
perſönlichen Entſcheidung ſeine eigene Erwägung zum Grund legt, iſt
der Staatsrath. Im Syſteme der höchſten Würden und in der Auf-
gabe des Staatsrathes ſehen wir daher den Staat als ſolchen auf-
treten und thätig. Und beide zuſammen bilden daher den Organismus
der perſönlichen Staatsgewalt in ihrer Scheidung und Selbſtändigkeit
gegenüber der Geſetzgebung und der Regierung.


Es leuchtet nun ein, daß allerdings beide Momente zwar im Be-
griffe der Perſönlichkeit an ſich liegen, und daß daher auch beide im
Organismus jedes Staats vorhanden ſind. Eine äußere Selbſtändig-
keit und eine klar beſtimmte Stellung derſelben iſt indeſſen erſt dann
denkbar, wenn die geſetzgebende Gewalt von der Verwaltung ſich ge-
trennt hat und der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung feſtſteht.
So lange Geſetzgebung und Vollziehung in der Perſon des Monarchen
vereint ſind, haben ſowohl die Würden als der Staatsrath den Charakter
des Amtes, und namentlich der letztere iſt dann von dem, dem Mini-
ſterium entſprechenden, höchſten Verwaltungsorgane gar nicht zu trennen.
Eben weil dieſe Selbſtändigkeit der Geſetzgebung noch keineswegs allent-
halben ganz durchgeführt, iſt auch die organiſche Stellung beider noch
ſowohl in Theorie als in Praxis namentlich in Deutſchland vielfach
unklar. Es iſt aber kein Zweifel, daß nach der Natur der Sache die
ganze Entwicklung bald dahin kommen wird, ſie in ihren leicht verſtänd-
lichen organiſchen Funktionen als natürliche Glieder des Organismus
der höchſten Gewalt anzuerkennen.


Jedes von ihnen hat nun aber allerdings ſowohl ſeine eigene Be-
deutung als ſeine eigene Geſchichte.


II. Erſtes organiſches Element der perſönlichen Staatsgewalt. Die Staats-
würden. Die Krone. Die Hofämter.


Es iſt nicht richtig, daß man das Weſen und das Syſtem der
höchſten Würden in Staatsrecht und Staatswiſſenſchaft ſo ſehr vernach-
läſſigt, als man es bisher gethan.


In der That muß man, um die Bedeutung deſſelben richtig zu
ſchätzen, ihre eigentliche und wahre Natur zum Grunde legen. Ihrem
rechten Weſen nach erſcheinen ſie nämlich nur dann und da, wo der
Staat in der Perſon ſeines Staatsoberhaupts nicht als eine thätige
Perſönlichkeit, ſondern ſelbſt nur als die höchſte individuelle Form des
[261] perſönlichen Lebens, als die höchſte Würde auftritt. Alles was öffent-
liche Ehre heißt, iſt dann in der Staatsperſönlichkeit vereinigt. Oeffent-
liche Ehre aber iſt theils mit den öffentlichen Funktionen verbunden,
theils ein ſelbſtändiges Gut. In ſofern dieß ſelbſtändige Gut im Be-
ſitze einer Perſönlichkeit iſt, heißt es Würde. Die Würde des Staats
kann daher ſo gut wie die Funktionen deſſelben an einzelne Perſönlich-
keiten vertheilt ſein. Dieſe Vertheilung bildet dann das Syſtem der
höchſten Würden. Das Weſen dieſer Würden beſteht dann darin, daß
ſie nicht etwas bedeuten durch das was ſie thun, ſondern durch das
was ſie ſind. Das unmittelbare Gefühl verſteht den Unterſchied ſogleich;
die Abſtraktion ſchwerer, weil der Gedanke nie das Seiende, ſondern
ſtets nur den Lebensproceß deſſelben erfaßt. Das gilt auch von jenem
eigenthümlichen und doch ſo einfachen Organismus.


Höchſte Staatswürden hat es gegeben, ſo lange es Staaten gab.
Allein ihre Bedeutung und Stellung war eine ſehr verſchiedene. Doch
läßt ſich dieſe Verſchiedenheit leicht auf einige einfache Sätze zurückführen.
Sie bilden mit der Grundlage der Geſchichte der Würden zugleich das
Verſtändniß ihrer gegenwärtigen Stellung.


Da wo die Perſönlichkeit des Staats ganz in die Perſönlichkeit
des Staatsoberhauptes aufgeht, iſt die Würde unbedingt von dem Willen
des Herrn abhängig und daher auch mit dieſem Willen verbunden.
Sie iſt daher keine wahre Würde, denn dieſe enthält ſtets das ſelb-
ſtändige Recht auf dieſelbe; ſie iſt nur eine Ehre. Jeder Dienſt des
Fürſten iſt eine Ehre, und es gibt keine Ehre außer dem Dienſte. Das
Syſtem der Ehren erſcheint hier daher identiſch mit dem Syſteme des
königlichen Dienſtes. Unſer Begriff der Würden iſt hier nicht anwend-
bar. Die Deſpotie kann große Ehren haben und verleihen, aber keine
Würden.


Eben ſo wenig gibt es Würden, wo die ganze Staatsgewalt ſtatt
in dem Individuum des Monarchen, in der Gemeinſchaft des Volkes
beruht. Auch hier gibt es nichts, was außerhalb des Willens des Volkes,
der geſetzgebenden Gewalt, ſtände. Auch hier hat niemand an und für
ſich ein Recht auf eine öffentliche Ehre; dieſelbe kommt nur da zur Er-
ſcheinung, wo die Republik den Einzelnen mit einer Funktion beauf-
tragt, dauert nur für die Funktion und bezeichnet nichts als dieſelbe.
Auch die Republik hat Ehren, aber keine Würden.


Die Würde entſteht daher erſt da, wo ein Recht auf eine öffent-
liche Ehre als ein ſelbſtändiges erſcheint, das ſowohl unabhängig von
einem perſönlichen Dienſte wie unter der Deſpotie, alſo unabhängig von
der rein vollziehenden Gewalt, als auch unabhängig von einer geſetzlich
übertragenen öffentlichen Funktion, alſo unabhängig von der Geſetz-
[262] gebung, vorhanden iſt. Die Würde kann daher in ihrem wahren Sinn
erſt da ſtattfinden, wo die Staatsgewalt ſelbſt ſich über die geſetzgebende
und vollziehende Gewalt ſelbſtändig erhebt. Das iſt erſt der Fall im
Königthum. Erſt das Königthum hat daher neben dem Syſtem der
Ehren, die es verleiht, ein Syſtem der Würden, die mit ſelbſtändigem
Rechte daſtehen.


Wo das der Fall iſt, nehmen beide gegenſeitig etwas von ihrem
Charakter an. Die Ehre wird eine Würde, indem die einmal verliehene
wenigſtens in gewiſſen Formen von der Willkür des Verleihenden nicht
wieder genommen werden darf, die Würde wird zur Ehre, indem mit
ihr eine Funktion verbunden erſcheint. Das entwickelt ſich langſam
und in verſchiedenen Ländern verſchieden, dennoch aber ſtets mit dem-
ſelben Grundcharakter.


Und hier iſt es nun, wo Würden und Ehren mit dem Staats-
organismus und namentlich auch mit der vollziehenden Gewalt zu-
ſammenhängen.


In der reinen Geſchlechtsordnung iſt ſowenig die Ehre als die
Würde im Staate ſchon beſtimmt ausgebildet. Die rein individuelle
Beziehung zum Könige gibt noch beides zugleich. Das Gefolge des
Königs iſt der Träger beider. Aber die Würde neben dem Könige zu
ſtehen, kann nicht ohne die Ehre der Tapferkeit gedacht werden. Der
Dienſt des Königs an ſich iſt noch ehrenlos, weil er eben nur ein per-
ſönlicher Dienſt iſt. Der Staat hat noch keinen Inhalt, und darum
noch keine Würde oder Ehre zu vergeben.


Erſt die ſtändiſche Ordnung iſt die Quelle der Würde und der
Ehre, und zwar der ſtaatlichen. Das Staatsleben erſcheint hier in der
doppelten Geſtalt, welche den ſtändiſchen Staat eben charakteriſirt. Es
bilden ſich einerſeits auf Grundlage der Grundherrlichkeit die örtlichen
Landeseinheiten als örtliche Staatenbildungen, andererſeits die könig-
liche Staatsgewalt, welche die Einheit des Staats und ſeines Lebens
vertritt. Beide gehen eine Zeit lang neben einander; beide entwickeln
daher auch bekanntlich ganz analoge Organiſationen, in denen die großen
Staatsfunktionen einzelnen Perſönlichkeiten übertragen werden, die dann
der höchſten Ehre genießen, ohne daß man ſchon den Begriff der Würde
darauf anwenden könnte. Dieſe Funktionen mit ihrer Ehre werden nun
zuerſt in den ſtändiſchen Körperſchaften zu ſelbſtändigen Rechten, indem
ſie ſich mit dem Grundbeſitz verbinden. Die Funktion und die Ehre iſt
mit der beſtimmten Grundherrſchaft gegeben, und wird mit ihr verlehnt
und verliehen. Die Funktionen und Ehren im Dienſt des Königthums
dagegen ſind noch immer rein perſönliche; es iſt der Beginn der Amts-
ehre, die im Königsdienſte den Staatsdienſt entſtehen läßt. Das eine
[263] empfängt ſeinen Charakter erſt da, wo es dem Königthum gelingt, die
Stände und die Grundherrlichkeiten allmählig ihrer ſtaatlichen Funktion
zu berauben und die königlichen Organe an die Stelle oder doch an die
Spitze der ſtändiſchen zu ſtellen. Die ſtaatliche Verwaltung beſeitigt
ſomit allmählig die ſtändiſche, der königliche Wille allmählig die ſtän-
diſche Geſetzgebung. Aber während der ſtaatliche Organismus dem ſtän-
diſchen ſeinen Inhalt nimmt, denkt er eigentlich nicht daran, ihm auch
das formelle Recht zu nehmen. Die Funktionen der ſtändiſchen Organe
gehen daher auf den königlichen Organismus über, und die ſtaatliche
Ehre des Amts mit ihnen; aber das Recht auf die Funktionen, freilich
nur als abſtraktes, bleibt denen, welche es beſitzen, mit dem Beſitze,
durch welches ſie das Recht hatten. So iſt nun eine neue Geſtaltung
da; ein dauerndes, ſelbſt vom Könige unabhängiges Recht auf eine
ſolche Ehre, ohne eigentlich ſtaatliche Funktion und doch mit einer ſtaat-
lichen Stellung; ein Angehören an den König, und doch kein Recht des
letzteren über jene ſtändiſch begründete Stellung; ein Verhältniß, das
man in der Wirklichkeit leicht verſteht, das aber in der reinen Theorie
ſchwer zu bezeichnen iſt. Und dieſe Stellung, welche vermöge des Reſtes
einer geſchichtlichen Ordnung ein Recht auf Ehre ohne Funktion, eine
Vertretung des Staats ohne Thätigkeit gibt, iſt die Würde.


Alle Würden ſind daher aus der ſtändiſchen Ordnung entſtanden.
Allein das Königthum hat ſie nicht bloß als Thatſachen angenommen,
ſondern zugleich den organiſchen Werth derſelben wohl erkannt. Es
begriff, daß die Würden es ſind, welche das an ſich abſtrakte Weſen
des Königthums mit einem Inhalt erfüllen. Es begann daher nicht
bloß die geſchichtlichen Würden mit ſich organiſch zu verbinden, ſondern
auch ein neues Syſtem dieſer Würden in den Orden und Titeln zu
ſchaffen. Der Proceß, der beide mit einander verſchmilzt, iſt von großem
Intereſſe; doch muß ſeine Darſtellung ſelbſtändig geſchehen. Es gehört
dem innerſten Leben des Staats an.


Natürlich nun waren dieſe Syſteme ſehr verſchieden in den ver-
ſchiedenen Ländern. Der Grund dieſer Verſchiedenheit lag theils in
dem Unterſchiede, der zwiſchen der Bildung der ſtändiſchen Ordnungen
und ihren Grundherrlichkeiten beſtand, theils auch in der ſehr verſchie-
denen Entwicklung der königlichen Macht, theils auch zuweilen in ganz
ſubjektiven Auffaſſungen der Fürſten. Immer aber war im Grunde
das Verhältniß zum Staate nicht klar. Denn ſo lange der König gleich-
zeitig Inhaber der Geſetzgebung und Vollziehung war, und das was
wir die Staatsgewalt genannt, daher noch einen an ſich ganz unbe-
gränzten Inhalt hatte, mußte die Würde auch noch immer einen un-
beſtimmten Antheil an dieſer Staatsgewalt bedeuten. Es blieb daher
[264] noch ein Proceß in der Geſchichte der Würden übrig, derjenige, der ſie
principiell von jeder eigentlichen Funktion trennt, und ſie eben als
dasjenige hinſtellt, was ſie jetzt ſind, als die reinen Würden des
Staats.


Dieſer Proceß entſteht nun da, wo die Geſetzgebung ſich vom König-
thum trennt und ſelbſtändig organiſirt daſteht, während die Vollziehung
gleichfalls ihren Organismus findet. In dieſer neuen, verfaſſungs-
mäßigen Ordnung ſteht das Königthum allerdings über beiden, aber es
ſteht allein. Es iſt daher jetzt naturgemäß, daß es ſeine Stellung mit
allen den Würden umgibt, die eben der Erhabenheit der Staatsidee
zukommen, während andererſeits dieſe Würden als ſolche jedes Recht
auf Antheil an der Geſetzgebung und Verwaltung verlieren. So ergänzt
ſich jetzt das verfaſſungsmäßige Königthum in dieſer Ordnung der Dinge.
Es iſt der Kriegsherr, als Inhaber der Heeresgewalt; es iſt die ſank-
tionirende geſetzgebende und vollziehende Gewalt im Staatsrath, und
es iſt in der Mitte der höchſten Würden die Krone.


Es iſt nun demgemäß ziemlich einerlei, ob man die Würden zur
Verfaſſung oder zur Vollziehung rechnet; ſie ſind eben mit dem König-
thum innigſt verſchmolzen, und erſcheinen allenthalben, wo daſſelbe
auftritt. Sie ſind gleichſam der organiſirte Körper der höchſten Ehre
des Staats. Sie ſind das Königthum als „Krone.“ Allein dieſer
Körper hat dennoch je nach den Ländern eine verſchiedene Individualität.


Die obigen Andeutungen über die hiſtoriſche Entwicklung der Würden
und ihres Verhältniſſes zur königlichen Macht laſſen uns nämlich einen
allgemeinen Grundſatz aufſtellen, der uns dieſe verſchiedene Bedeutung
der Würden in einfacher Weiſe erklärt. Je mehr nämlich die ſtändiſchen
Elemente verſchwunden ſind, um ſo mehr iſt zwar nicht das Syſtem
der Würden an ſich, wohl aber das Princip des ſelbſtändigen Rechts
auf dieſe Würden oder die Erblichkeit derſelben verſchwunden, und alle
Würden werden, wie unter der Herrſchaft des abſoluten Königthums,
verleihbar und verliehen. Wo dagegen die ſtändiſchen Unterſchiede und
das Recht und die Stellung des großen Grundbeſitzes als Grundherr-
lichkeit einerſeits, das Recht der Landſchaften als ſelbſtändiger Verwal-
tungskörper andererſeits ſich noch erhalten, da ſehen wir noch die erb-
lichen
Würden als Syſtem gelten, und zwar theils als Reichswürden,
theils als Landeswürden; neben den erblichen dagegen, welche die
alte Selbſtändigkeit der Landestheile repräſentiren, das Syſtem der ver-
liehenen Würden, welche das Königthum gibt. Es iſt dabei nicht zu
überſehen, daß die Titel und Namen dieſer Würden für dieſelben von
Bedeutung ſind und oft für das unmittelbare Gefühl des Volkes einen
großen Werth erlangen, indem ſie den formalen Ausdruck gewiſſer alter
[265] Rechte und zum Theil bloß hiſtoriſcher Erinnerungen enthalten, welche
meiſtens nur den allgemeinen Zuſammenhang der Gegenwart mit
der Vergangenheit, zuweilen aber auch ganz beſtimmte Richtungen und
Rechtsanſprüche bedeuten, an denen ſelbſt die Maſſe unter Umſtänden
hängen kann.


Demgemäß kann man das Würdenſyſtem bei den drei großen Kultur-
völkern in folgender Weiſe charakteriſiren.


In England organiſiren ſich nach langem Kampfe die Elemente
der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſo, daß beide in
zwei ſelbſtändigen Körpern — Oberhaus und Unterhaus — Geſetzgebung
und Verwaltung theilen, und dem Königthum wie in der Geſchlechter-
ordnung nur die abſtrakte Idee des Staats übrig laſſen. Die Selb-
ſtändigkeit der Länder verſchwindet in dieſer Einheit aller ſtändiſchen
und ſtaatsbürgerlichen Elemente, da mit ihr jeder Gegenſatz zwiſchen
Königthum und Geſellſchaft aufgehoben iſt in der völligen Herrſchaft
der letzteren über das ganze Staatsleben, und ſo gibt es hier mit dem
Mangel der Länder und Landſtände auch keine Landeswürden. Die
gänzliche Aufhebung jeder eigentlichen Funktion des ſelbſtändigen König-
thums, welche die geſellſchaftlichen Körper an ſich genommen, läßt da-
mit auch das Auftreten ſelbſtändiger, von dieſer geſellſchaftlichen Herr-
ſchaft unabhängiger, nur vom Königthum geſetzter Hof- und Staats-
würden nicht zu; auch dieſe fallen der geſellſchaftlichen Herrſchaft, die
das Parlament ausübt, unbedingt zu, und ſo entſteht das Princip,
das dieſe Verhältniſſe in England charakteriſirt und ſie für den Continent
ſo oft unverſtändlich macht. Die höchſten Würden ſind zugleich die
höchſten Aemter, wie im Geſchlechterkönigthum. Dieſe höchſten Aemter
behalten aber den Namen der Würden; ſie nehmen den Namen der
Miniſter nicht an, wodurch das höchſte Amtsſyſtem in England von
dem des Continents ſo verſchieden zu ſein ſcheint. Sie dürfen eben
deßhalb auch das Princip der Erblichkeit dieſer Würden nicht anerkennen,
weil die Aemter mit den Parteien wechſeln. Das Königthum iſt daher
ſtets mit ſeinen höchſten Aemtern als Syſtem ſeiner Hof- und Staats-
würden umgeben, ſo daß es hier kein Syſtem ſelbſtändiger Würden-
träger gibt. Das engliſche Staatsleben hat für dieſen Mangel ſich
einen Erſatz geſucht, und ihn gefunden in den königlichen Orden,
namentlich dem Hoſenbandorden. Die ganze Stellung dieſes Ordens
iſt in England eben darum ſo weſentlich — wir möchten ſagen ſeinem
Inhalt nach — verſchieden von allen übrigen Orden der Welt; denn
die Organiſation des Hoſenbandordens iſt ein, wenn auch ſehr unvoll-
kommener und ohne die obigen Vorausſetzungen unverſtändlicher Erſatz
für das Bedürfniß nach dem Reichs- und Hofwürdenſyſtem. Wir können
[266] hiefür nur im Allgemeinen auf Gneiſts meiſterhafte hiſtoriſche Ent-
wicklung in ſeinem erſten Bande verweiſen.


Weſentlich anders iſt der Gang der Dinge in Frankreich. Vor
der Revolution hatte das Königthum wie auf dem ganzen Continent
Reichs- und Hofwürden, die aber namentlich ſeit Ludwig XIV. ganz
verſchmolzen erſcheinen, und erbliche Landeswürden. Namentlich die
erſtern waren zu einem höchſt ausgebreiteten Syſtem entwickelt, und
die Bedürfniſſe der Finanzen erzeugten eine Uebertragung dieſer Würden
auf die gewerbliche Welt in den ſogenannten Offices du Roi, welche
in nichts andrem beſtanden als in dem Recht eines Gewerbes, ſich den
Namen eines Hofgewerbes beizulegen, die dann vom übrigen Conti-
nent bald nachgeahmt wurden. Die Revolution, indem ſie das König-
thum ſtürzte, vernichtete natürlich das ganze Syſtem der Würden, und
ließ alles was dahin gehörte, in das Aemterſyſtem aufgehen. Der
wieder auftretende perſönliche Staat mit Napoleon erkannte, daß er als
ſolcher der Würden bedürfe. Der Kaiſer ſchuf durch Geſetze, was die
Geſchichte durch den natürlichen Entwicklungsgang erzeugt hatte. Er
errichtete das Syſtem der Reichswürden, das im Weſentlichen beibe-
halten iſt. Aber die völlige Vernichtung der ſtändiſchen Bildungen und
der landſtändiſchen Selbſtändigkeit prägte dieſem Syſtem der dignitaires
de l’Empire
ihren Charakter auf, der ſie von dem engliſchen wie von
dem deutſchen unterſcheidet. Sie waren nicht erblich, ſondern ernannt,
wenn auch auf Lebenszeit, und ſie waren nur Reichs- oder Hofwürden;
Landeswürden gab es nicht und konnte es nicht geben. Das unterſchied
ſie von dem deutſchen Syſtem. Dabei waren ſie ohne alle amtliche
Competenz, nur Ausdruck der Würde der Krone gegenüber dem thätigen
Beamtenthum, und jeder Einfluß einer Volksvertretung von ihnen da-
mit grundſätzlich ausgeſchloſſen; das unterſchied ſie vom engliſchen
Syſtem. Das ganze Würdenſyſtem trägt hier den Charakter des Ver-
ſuchs über die Art und Weiſe, wie man die Reichswürden dazu be-
nutzen kann, die Krone wieder aus der rein geſellſchaftlichen Herrſchaft,
der Volksſouveränetät, herauszuheben und ſelbſtändig hinzuſtellen. Da-
her haben auch die Beſetzungen dieſer Würdenſtellen einen andern Cha-
rakter. Ihnen liegt — eben weil ſie Erblichkeit ausſchließen, der An-
ſpruch eines Verdienſtes zum Grunde, ohne daß ſie doch ſelbſt für eine
Leiſtung beſtimmt wären. Daher erſcheinen ſie auch nicht im öffentlichen
Recht, ſondern nur im Staatshandbuche.


Das Würdenſyſtem Deutſchlands hat ſich nach dem Untergange
des deutſchen Reiches auf der Grundlage der eigentlichen öffentlichen
Würde erhalten. Die deutſchen Staaten, welche die Selbſtändigkeit der
Länder mehr oder weniger, das Princip des adelichen Standesthums
[267] aber unbedingt anerkannten, haben theils ihr früheres Syſtem einfach
beibehalten, wie Oeſterreich, und die Reichswürden und Landeswürden
förmlich anerkannt, theils ſie geſetzlich eingerichtet oder Beſtehendes durch
förmliche Geſetze ſanktionirt. Die Würden ſind daher theils erblich,
und dann müſſen ſie als Reichswürden betrachtet werden, theils ſind
ſie verleihbar, und dann ſoll man ſie als Hofwürden betrachten,
wozu namentlich das Syſtem der Kammerherren gehört, theils ſind ſie
erbliche Landeswürden. Der oft gebrauchte Ausdruck Kron-
würden iſt an ſich ganz richtig, da er eben den weſentlichen Unterſchied
zwiſchen Krone und Hof feſthält; nur muß man dabei nie überſehen,
daß die Kronwürden ſelbſt wieder theils Reichs- theils Hofwürden ſind,
bei denen die Erblichkeit den Grund der Geltung des Princips der
ſtändiſchen Geſellſchaft bedeutet, die ſich daſſelbe auch in den Verfaſſungen
hat erhalten können. Manche dieſer früheren Landeswürden ſind all-
mählig zu hohen Amtsfunktionen erhoben, und bilden dann eigentlich
keine Würden mehr, ſondern es tritt hier die alte Würde an die Stelle
des amtlichen Ranges, und nur der Name erinnert noch an die frühere
Bedeutung. Jedes einzelne Land hat dabei wieder ſein Syſtem; doch
iſt der Unterſchied hier ſtets mehr ein formeller, während das Weſen
der Sache gleich iſt. Gemeinſam iſt allen der Mangel jeder Competenz
für ſtaatliche Funktionen, und das Recht auf die Symbole dieſer Wür-
den, ſo wie darauf, ſie als Umgebung der Krone mit dem ihnen ge-
bührenden Platz und Rang zu tragen.


An dieß Syſtem der Würden ſchließt ſich nun das Syſtem der
Stellen für den Hofdienſt, die man uneigentlich auch wohl die Hof-
ämter
nennt. Das Weſen des Hofdienſtes beſteht darin, daß durch
ihn die Funktionen vollzogen werden, welche nicht mehr für die Krone,
ſondern für den Hof nothwendig ſind. Durch die darin liegende un-
mittelbare Beziehung zur Perſon des Souverains reicht der Hofdienſt
mit ſeiner Spitze in die Hofwürden hinein, während die unterſten Stufen
zu rein wirthſchaftlichen Dienſtverhältniſſen werden. Die Ordnung des
Hofdienſtes iſt daher eine rein perſönliche Angelegenheit des Fürſten,
das Element der fürſtlichen Würde iſt aber auch hier nicht ganz aus-
geſchloſſen, ſondern erſcheint in dem beſondern Gerichtsſtande für die-
jenigen Verhältniſſe, welche den Hofdienſt ſelber betreffen. Es leuchtet
ein, daß auch hier von einer amtlichen Stellung keine Rede iſt.


In dieſer Weiſe bilden Würden und Hofdienſt gleichſam den ſelb-
ſtändigen, von ſeiner Thätigkeit getrennt gedachten Staat, der in Krone
und Hof für ſich daſteht und in dieſen ſeinen Organen einen ſelbſtän-
digen Theil des Staatsorganismus ausmacht. — Für unſre ſpezielle
Aufgabe wäre nun alles erreicht, wenn durch die obige Darſtellung die
[268] ſelbſtändige Behandlung dieſes Gebietes und ſeine definitive Scheidung
vom Amtsweſen feſtgeſtellt wäre. Daß der Gegenſtand übrigens an
ſich ein, tief in die Elemente der organiſchen Staatsbildung eingreifen-
des Intereſſe hat, wird wohl keiner Nachweiſung bedürfen.


Das Syſtem Englands bei Gneiſt (im ganzen erſten Bande, erſten Theil).
Wir machen namentlich auf §. 42 aufmerkſam. Nur hat Gneiſt, wie es aller-
dings durch die Geſchichte Englands begründet war, die Würde und das Amt
nicht durchgreifend geſchieden. Ueber Frankreichs Syſtem kennen wir kein eigenes
Werk, und müſſen einfach auf die Almanacs royaux und impériaux ver-
weiſen. Der innere Zuſammenhang mit der geſellſchaftlichen Bewegung, die
Errichtung des Ordens der Ehrenlegion 19. Mai 1802 (comme récompense
militaire elle fit merveille, comme organisation de la nation elle ne pro-
duisit rien),
die Herſtellung der donations, der erblichen Titel, die vollſtändige
Adelsordnung der loi organique vom 1. März 1808 („J’ai créé différents
titres impériaux pour mettre les institutions de la France en harmonie
avec celles de l’Europe“ Nap.
) iſt entwickelt in Stein, Geſchichte der ſocialen
Bewegung I. S. 280 ff. Für das deutſche Syſtem ſind die Angaben der be-
treffenden Werke vor unſerem Jahrhundert in Pütters Literatur III. 120.
129, und Klübers Literatur §. 911 und 997 geſammelt. Eine ſpezielle
Darſtellung der Reichswürden und Erbämter der einzelnen deutſchen Staaten
hat Biſinger (vgl. Darſtellung der Staatsreform der europäiſchen Monarchien
und Republiken 1818) gegeben. Die öſterreichiſchen Erbämter §. 56
und S. 187. Die preußiſchenib. S. 191, und in Rönne (Preußiſches
Staatsrecht §. 39), wo die Unterſcheidung von Hofchargen und Hof- und
Erbämtern bezeichnend iſt; jene enthalten in den oberſten Hofchargen die
Reichswürden der Krone, die Ober-Hofchargen, die höchſten Kronwürden; die
ſogenannten Hof- und Erbämter ſind ſtändiſche Würden. In Bayern errichtete
die Conſtitution von 1808 vier beſondere Reichskronämter, deren beſondere
Rechte in der Verfaſſungsurkunde von 1818 genauer beſtimmt wurden. Ganz
ähnlich in Württemberg (Juni 1808), und in Hannover und Braun-
ſchweig. Siehe Biſinger a. a. O. und Klüber, Bundesrecht §. 495. —
Die neueren Bearbeitungen des Staatsrechts haben ſich mit dem Gegenſtand
theils gar nicht, theils in höchſt ungenügender Weiſe beſchäftigt. Zachariä
(Staatsrecht II. 134) mißverſteht die ganze Inſtitution, und hält die Würden
wirklich für Erbämter, die erblich ſind. Maurenbrecher entgeht der Frage,
indem er nur vom alten Reich ſpricht (§. 77). Pözl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht
137) nimmt das Inſtitut als bloße Aemter des Hofſtabes, alſo ganz als Hof-
würden. Ebenſo Mohl (Württembergiſches Staatsrecht I. §. 46—48). Mil-
hauſer
(Sächſiſches Staatsrecht) ſpricht gar nicht davon. Weiß (Heſſiſches
Staatsrecht §. 52) faßt gleichfalls nur den Standpunkt des Hofſtaats und
der Hoferbämter auf. Die conſtitutionelle Richtung des Staatsrechts, an
der Spitze Aretin, hat ſich mit dem ganzen Gegenſtand überhaupt nicht beſchäf-
tigt, da er mit der eigentlichen Verfaſſung nichts zu thun hatte. So iſt hier
noch das meiſte, und nicht bloß hiſtoriſche, zu thun.


[269]

III. Zweites organiſches Element der Staatsgewalt. Der Staatsrath.


Man kann im Allgemeinen die Behauptung aufſtellen, daß das
richtige Verſtändniß des Staatsrathes und ſeiner Aufgabe das Kriterium
für das Verſtändniß derjenigen Organiſation des Staats iſt, welche
aus dem verfaſſungsmäßigen Leben deſſelben hervorgeht. Bei gar keinem
Organe des Staats iſt die klare Unterſcheidung der Begriffe und Ge-
walten wichtiger, als beim Staatsrath. Und gerade die Unklarheit,
die darüber namentlich in Deutſchland herrſcht, muß uns zu möglichſt
genauer Beſtimmung deſſelben veranlaſſen.


Die Grundlage des Verſtändniſſes iſt die Unterſcheidung zwiſchen
Geſetzgebung, Vollziehung und Staatsoberhaupt.


In der ſtändiſchen Epoche, wo Geſetzgebung und Vollziehung in
zwei großen, rechtlich und faktiſch getrennten Organismen vor ſich gehen,
dem Organismus der ſtändiſchen Selbſtverwaltung und der königlichen
Staatsverwaltung, bildet das Königthum aus den Häuptern ſeiner
Verwaltung ſich einen Rath, der naturgemäß aus den Spitzen der
höchſten königlichen Verwaltung beſteht, der ſein Recht und ſeine Auf-
gabe nur aus dem perſönlichen Willen des Monarchen empfängt, der
keine geſetzliche Stellung hat, und daher auch nur inſoweit und nur
dann dem Könige ſeinen Rath gibt, wenn und wie dieſer es perſönlich
wünſcht. Es iſt ein rein königlicher Rath. Der Begriff des Staats-
raths iſt auf dieſe ganze Zeit nicht anwendbar. Das gleiche gilt von
der folgenden Epoche, in der das Königthum allmählig die großen
ſtändiſchen Körper und ihre Rechte in ſich aufnimmt und die Einheit
des Staats über die Selbſtändigkeit der Theile ſiegt. Hier war es
wieder ebenſo naturgemäß, daß das Königthum die Häupter dieſer
ſtändiſchen Selbſtändigkeit, das was wir oben die Haupt-, Reichs- und
Landeswürden genannt haben, mit in jenen Rath aufnahm, der all-
mählig allein über alle Reichsangelegenheiten zu entſcheiden hatte.
Natürlich aber war es gleichfalls, daß bei dem Streben der letztern
nach Selbſtändigkeit die wirkliche Theilnahme von Seiten der Landes-
würdenträger nur eine unbequeme ſein konnte und daher mehr und
mehr zu einer bloßen Form ward, die oft nur in dem Titel beſtand.
Regel ward es daher, daß die Fürſten dieſe Würdenträger nur bei be-
ſonderen Gelegenheiten beriefen, ſich die Berufung perſönlich vorbe-
hielten und die Berathung wirklich entſcheidender Maßregeln nur mit
den Spitzen ihrer amtlichen Organe, den Häuptern der Vollziehung,
vornahmen. Als nun endlich mit dem achtzehnten Jahrhundert auch
die letzten Spuren einer Theilnahme des Volkes an der Geſetzgebung
verſchwinden, und damit jeder Unterſchied zwiſchen Geſetzgebung und
[270] Vollziehung in dem ſubjektiven, ſouveränen Willen der Fürſten unter-
geht, da wird dieſer Rath der urſprünglich nur vollziehenden Spitzen
der königlichen Organe, indem er dem Könige als der Quelle aller Ge-
ſetzesbildung beſtändig zur Seite ſteht, auch das naturgemäß berathende
Organ für die Geſetzgebung überhaupt. Es iſt die einzige Form, in
welcher der königliche Wille die eigne ſubjektive, als Staatswille geltende
Selſtbeſtimmung mit einem fremden Rathe umgibt. Dieſer Rath hat
verſchiedene Namen, aber bedeutet immer daſſelbe; es iſt der Privy
Council
in England, Conseil d’État in Frankreich, Geheimerrath in
Deutſchland. Auch iſt dieſer Rath natürlich ſehr verſchieden zuſammen-
geſetzt; namentlich erſcheint die Verſchiedenheit darin, daß bald das
fürſtliche Haus in demſelben aufgenommen iſt, bald nicht. Das Weſent-
liche aber beſteht darin, daß ſeine Funktion zugleich die des Miniſter-
raths und die des heutigen Staatsrathes umfaßt, und das iſt es was
in ſo vielen Beziehungen die gegenwärtige Stellung des letztern unklar
gemacht hat, und zum Theil darum unklar machen mußte, weil nament-
lich in Deutſchland durch die unfertige Trennung von Geſetzgebung und
Verordnung einerſeits und durch die Kleinheit der Reichsſtaaten anderer-
ſeits nicht einmal eine formelle Unterſcheidung möglich war. Wir müſſen
die genauere Darſtellung dieſer Verhältniſſe der Rechtsgeſchichte über-
weiſen. Uns darf es nur darauf ankommen, Weſen und organiſche
Stellung des Staatsraths in der neueren Zeit zu beſtimmen. Wir be-
zeichnen dieſelbe kurz als den verfaſſungsmäßigen Staatsrath,
und wollen verſuchen, die naturgemäße Funktion deſſelben aus dem
organiſchen Staatsbegriff zu entwickeln; das wird auch der einzige Weg
ſein, zur Klarheit über die beſtehenden Einrichtungen und ihre geſetzliche
Ordnung zu gelangen.


So wie nämlich durch die Anerkennung des ſelbſtändigen geſetz-
gebenden Körpers der Volksvertretung die geſetzgebende Gewalt von der
vollziehenden ſich trennt, löst ſich auch die Vollziehung, inſofern ſie mit
den einzelnen Aufgaben des Staatslebens zu thun hat, als Regierung
vom Staatsoberhaupt los und empfängt ihren Organismus im Mi-
niſterialſyſtem. Damit entſtehen zwei neue und eigenthümliche Ver-
hältniſſe.


Zuerſt tritt das Staatsoberhaupt ſelbſtändig als gleichzeitiges Haupt
beider Funktionen über beide. Es hat zuletzt immer dem Geſetze und
der Verordnung ſeine höchſte Sanktion zu geben. Es hat daher, und
das iſt ſeine große organiſche Funktion, gerade in ſeiner Sanktion am
letzten Orte die Harmonie beider auszuſprechen; es muß in der letztern
das volle Bewußtſein nicht etwa bloß des Bedürfniſſes der Verwaltung
oder des Willens der Volksvertretung, ſondern des höchſten Verhaltens
[271] beider zu einander
haben. Seine Sanktion iſt daher der Akt, in
welchem Geſetzgebung und Verwaltung mit einander in untrennbarer
Einheit verſchmolzen ſind. Es iſt daher naturgemäß, daß auch dieſer
höchſte Akt des perſönlichen Staatslebens ein wohlerwogener ſei; es iſt
ſogar nothwendig, daß er unter Umſtänden von fachkundigen Männern
berathen werde; es iſt endlich natürlich, daß eine ſolche Berathung
weder von den Organen der Geſetzgebung, noch von denen der Ver-
waltung, ſondern von einem von beiden ganz unabhängigen Körper
dem perſönlichen Beſchluß des Staatsoberhaupts voraufgehe. Das iſt
nothwendig, bevor ein Geſetz der geſetzgebenden Gewalt vorgelegt wird;
es iſt aber auch nothwendig, bevor eine die ganze Verwaltung berührende
Verordnung erlaſſen wird; es iſt am meiſten nothwendig, wo bei un-
vollſtändiger Ausbildung der Geſetzgebung Verordnungen erlaſſen werden,
welche die Stelle der Geſetze vertreten. Und das Organ nun, welches
zur Aufgabe hat, eben jene höchſt perſönlichen und doch wieder das ge-
ſammte Staatsleben umfaſſenden Funktionen des Staatsoberhaupts, die
Bildung der Geſetzesentwürfe, die Sanktionirung der beſchloſſenen Ge-
ſetze, und den Erlaß allgemeiner Verordnungen nach beſtimmten Grund-
ſätzen zu berathen und dem Staatsoberhaupt einen beſtimmten perſön-
lichen Beſchluß anzuempfehlen, iſt eben der Staatsrath.


Die Stellung des Staatsraths iſt daher, wie ſich aus dem Obigen
ergibt, eine durchaus organiſche, ſo wie die verfaſſungsmäßige Ordnung
des Staates und mit ihr die wahre Stellung des Monarchen feſtſtehen.
Es kann ein verfaſſungsmäßiger Staat eines Staatsrathes gar nicht
entbehren, und kann ihn im Grunde auch keinesweges mit der Funktion
des Geſammtminiſteriums erſetzen. Denn die Miniſter ſind doch nur
die Organe der einzelnen Verwaltungsgebiete, und treten eben wegen
ihrer individuellen Verantwortlichkeit auch nur als ſolche auf. Wo es
ſich um die höchſte Einheit der Staatsaktionen handelt, können ſie zwar
mit entſcheiden, aber nicht allein entſcheiden. Und daraus ergibt ſich
denn auch der Werth des Staatsraths, und mit ihm die Grundlage
ſeiner geſchichtlichen Geſtaltung in den verſchiedenen Ländern. Da näm-
lich, wo die geſetzgebende Gewalt die Herrſchaft über die vollziehende
übt, wie in England, iſt der Staatsrath ohne Selbſtändigkeit wie die
Krone ſelbſt, und vollſtändig vom Miniſterrath verdrängt; nur äußere
Gründe der Zweckmäßigkeit erhalten ihn als adminiſtrative Behörde.
Da, wo die vollziehende Gewalt mächtiger iſt als die geſetzgebende,
wird er naturgemäß das Hauptorgan der ganzen Verwaltung, und er-
ſcheint vorzugsweiſe als der berathende und richtende Körper über das
Verordnungsweſen, wie in Frankreich. Da endlich, wo Geſetzgebung und
Vollziehung beide gleichberechtigt ſind, empfängt er erſt ſeine wahre
[272] Stellung als Rath des Staatsoberhaupts in allen, der
Sanktion deſſelben unterliegenden Angelegenheiten
ſowohl
der Geſetzgebung als der Verwaltung; und das iſt in der That das
Weſen ſeiner Stellung, ſoweit ſie in Deutſchland ſich auszubilden im
Begriff iſt.


Auf dieſer Grundlage nun iſt auch dasjenige leicht verſtändlich,
was man wohl als die einzelnen Attributionen des Staatsraths
bezeichnet hat; d. i. ſeine Funktionen im organiſchen Leben der Ver-
faſſung. Man hat dabei die berathende von der entſcheidenden unter-
ſchieden, und die letztere nach dem Vorgange Frankreichs namentlich in
der Adminiſtrativjuſtiz als Competenzconfliktshof gefunden. Die Unter-
ſcheidung iſt in gewiſſem Sinne ganz richtig. Der Umfang der Berathung
iſt ſchon in dem Weſen des Staatsraths gegeben; was aber die ent-
ſcheidende Gewalt des Staatsrathes, wie ſie in ſeiner Natur liegt, an-
betrifft, ſo muß man wohl folgende Geſichtspunkte unterſcheiden. Die
Entſcheidung über eine ſtreitige Competenz iſt, ſoweit es ſich um
das durch die Thätigkeit eines Verwaltungsorganes verletzte Recht eines
Einzelnen handelt, überhaupt Sache der Klage oder des Gerichts;
wenn dagegen die Competenz zweier Miniſterien ohne Beziehung auf
ein Einzelrecht fraglich wird, iſt die Vorlage an den Staatsrath und
das Recht der Entſcheidung durch denſelben nichts anderes, als die
Uebertragung der Organiſationsgewalt des Regenten an den Staatsrath.
Es iſt aber gewiß zweckmäßig, daß dieß Recht dem Staatsrathe, der ja
die Organiſationsverordnungen zu berathen hat, übertragen werde.
Ebenſo iſt es naturgemäß, daß die Verordnungen über den Belagerungs-
zuſtand nur nach Anhörung des Staatsraths erlaſſen werden. Das
Recht des Staatsraths dagegen, zu entſcheiden, ob ein Staatsdiener ge-
richtlich verfolgt werden dürfe oder nicht, ſteht mit dem Principe des
Klagrechts in unlösbarem Widerſpruch. Fraglich kann dagegen erſcheinen,
ob jede Beſchwerde den Staatsrath als dritte und letzte Inſtanz
fordern ſolle. Wir müſſen uns entſchieden dafür ausſprechen; denn
hier liegt im Grunde immer die Frage vor, in welchem Verhältniß
eine Verfügung zu einer Verordnung ſtehe, und dieſe Frage muß an
letzter Stelle ſtets die höchſte verordnende Gewalt, das Staatsoberhaupt,
entſcheiden können, und das Organ, auf deſſen Rath dieſe Entſcheidung
erfolgt, ſollte eben nie zuletzt daſſelbe ſein, gegen deſſen Verfahren die
Beſchwerde erhoben ward, das einzelne Miniſterium. In der That hat
das Recht des franzöſiſchen Conseil d’État dieß vollkommen richtig und
ſcharf beſtimmt, nur mit dem Unterſchiede, daß derſelbe zugleich über
Klagrecht entſcheidet. Im Weſentlichen kann man nun ſagen, daß die
Organiſationen des Staatsrathes auf dem Continent faſt alle auf dieſem
[273] Boden ſtehen; die Abweichungen im Einzelnen ſind nicht von großer
Bedeutung, und je länger und je feſter das Princip der verfaſſungs-
mäßigen Verwaltung ſich herausarbeitet, um ſo klarer wird dieß richtige
Inſtitut ſeine Stellung finden.


Was nun ſchließlich die Zuſammenſetzung und Organiſation
des Staatsrathes betrifft, ſo gelten für die erſtere zwei Grundſätze:
erſtlich, daß der König die Mitglieder deſſelben frei wählt; zweitens
daß die Miniſter in den Berathungen zugegen ſein können. Die Form
und das Recht dieſes letztern Punktes iſt wieder verſchieden; jedenfalls
müſſen ſie eine entſcheidende und nicht bloß berathende Stimme haben.
Die Organiſation des Staatsrathes dagegen iſt durchaus davon
abhängig, ob man ihn als das Haupt der verordnenden Gewalt, oder
bloß als Rath des Monarchen betrachtet. Im erſten Falle muß er
die ganze Verwaltung umfaſſen, und die Eintheilung in Sektionen,
welche dem Gebiete der letztern entſprechen, iſt nach franzöſiſchem Muſter
die Folge dieſes Grundſatzes; im zweiten Falle wird er ſtets ein ein-
heitliches Collegium bilden. Die poſitiven Geſetze über die Bildung,
Competenz und Organiſation des Staatsrathes müſſen von dieſen Stand-
punkten aus betrachtet werden; es iſt ein eigenes Studium, jeden
Staatsrath aus den obigen Geſichtspunkten in ſeiner Entſtehung und
ſeiner Geſchichte zu verfolgen.


Schließlich iſt das ſogenannte Geheime Cabinet gar nicht als
ein verfaſſungsmäßiges, ſondern rein als ein zum perſönlichen Dienſte
des Monarchen beſtimmtes Hofamt zu betrachten, ſoweit es nicht, wie
in einigen Staaten, gewiſſermaßen der Staatsrath in Militärſachen iſt.


Der Charakter des Staatsraths, wie er ſich auf dieſer Grundlage in den
Hauptſtaaten ausgebildet hat, iſt nun im Weſentlichen folgender.


England.


In England iſt der Sieg der geſellſchaftlichen Elemente über die Krone
formell ſchon ſeit Wilhelm III., materiell eigentlich erſt ſeit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts definitiv entſchieden. Die Vertreter der geſellſchaftlichen
Herrſchaft über die Staatsgewalt, die herrſchende Partei in den Häuſern, läßt
daher eine von ihr unabhängige vollziehende Gewalt nicht zu, und es entſteht
dort daher das Verhältniß, welches den engliſchen Staatsrath, das Council, ſo
weſentlich vom Staatsrath auf dem Continent unterſcheidet. Die Krone hat
nämlich hier materiell gar nicht jene Selbſtändigkeit gegenüber der Geſetzgebung
oder Verwaltung, welche ihre Sanktion noch als einen freien perſönlichen Ent-
ſchluß erſcheinen läßt. In England iſt die vollziehende Gewalt vollſtändig von
der geſetzgebenden beherrſcht, und ein von der letztern und ihrer Parteiregierung
unabhängiger, die Krone in ihrer Selbſtändigkeit unterſtützender Staatsrath
außerhalb der Miniſterien iſt hier daher gar nicht denkbar. Es erſcheint dieſer
Stein, die Verwaltungslehre. I. 18
[274] engliſche Staatsrath daher nur noch als ein rein formeller, und das engliſche
Council beſteht aus zwei weſentlich verſchiedenen Elementen. Das erſte iſt ge-
bildet auf Grundlage des formellen Rechts der höheren ſtändiſchen Klaſſe, an
den Berathungen der Krone Theil zu nehmen, und umfaßt daher eine Menge
von Perſonen; allein dieſe ſind ohne Einfluß, und haben wie die „Geheimen
Räthe“ nur den Titel ohne Funktion. Der zweite, der eigentliche Staatsrath,
beſteht dagegen aus der Krone ſelbſt und nur aus den Miniſtern, und iſt das
Haupt der Organiſations-, Verordnungs- und Polizeigewalt. So iſt derſelbe
nicht ein für ſich beſtehendes, mit eigener Zuſtändigkeit verſehenes Organ, ſon-
dern eigentlich der Miniſterrath, nur daß die Krone grundſätzlich ſelbſt, und
nicht durch eine Vertretung eines Miniſterpräſidenten in ihm erſcheint; der
Miniſterrath hat hier keine eigentliche Organiſation, indem er mit dem Privy
Council
zuſammenfällt. Dieſe Stellung iſt das, was das engliſche Staatsrecht
den „King in Council“ gegenüber dem „King in Parliament“ nennt — die
vollziehende Gewalt mit allen ihren Attributen gegenüber der geſetzgebenden,
aber freilich ſo, daß die Organe der vollziehenden Gewalt, die Miniſter, doch
im Grunde nur Organe der herrſchenden Partei in der geſetzgebenden ſind.
Dennoch hat auch hier die höhere Natur der Sache gewirkt und wirkt noch
immer. Die Nothwendigkeit einer ſelbſtändigen Berathung der Verhältniſſe der
Verwaltung vor ihrer unmittelbaren Vollziehung kann nämlich auch durch das
ſtrengſte Princip der Parteiherrſchaft und durch die entſchiedenſte Abhängigkeit
der Exekutive von der Legislative nicht beſeitigt werden. Da nun das engliſche
Staatsleben es einerſeits nicht zu einem Miniſterialſyſtem gebracht hat, ſondern
noch immer an der Bildung deſſelben arbeitet und wohl noch lange arbeiten
wird, andererſeits aber der Krone nicht das Recht gegeben iſt, ſich mit einem
ſelbſtändigen Staatsrathe außerhalb des Miniſterrathes zu umgeben, ſo mußte
man ein wunderliches Zwitterding machen. Man mußte den Miniſterrath mit
höchſten berathenden Organen über diejenigen Gebiete der Verwaltung ver-
mehren, für welche kein eigentliches Miniſterium vorhanden war, und die deß-
halb im Grunde die Funktion des Staatsraths übernahmen, nur daß ſie nicht
einen Staatsrath der Krone, ſondern einen Staatsrath des Miniſterrathes
bilden. Vielfach hat hier neben der Natur der Sache auch wohl das Beiſpiel
Frankreichs eingewirkt. Das Council hat ſich dadurch zu einem Körper erwei-
tert, der das Haupt nicht bloß der vollziehenden Gewalt im Allgemeinen, ſon-
dern auch der einzelnen Verwaltungszweige iſt, indem es die in den hiſtoriſchen
Staatsſekretariaten nicht vertretenen Gebiete der Verwaltung als eigene Abthei-
lungen in ſich aufnahm. So finden wir drei permanente Committees des Privy
Council
: das Committee for trade and foreign plantations, aus welchem ſich
das Handelsminiſterium gebildet hat, das judicial Committee, das noch eine
höchſt unklare Bildung iſt, und die Elemente eines Competenzgerichtes enthält,
ſowie die eines Juſtizminiſteriums, und das Committee for education, das ſich
gleichfalls zum Unterrichtsminiſterium herauszubilden beſtimmt iſt. Es leuchtet
zwar ein, daß dieß mehr die Vorbildung des Miniſterialſyſtems, als die eines
eigentlichen Staatsrathes iſt; aber auch in England muß aus dem erſteren
allmählig der letztere hervorgehen. Jedenfalls iſt dieſer ganze Zuſtand ein,
[275] organiſch betrachtet, höchſt unvollkommener; die Herrſchaft der legislativen Parteien
über die Verwaltung würde ſchon lange das Reich verderbt haben, wenn überhaupt
die Verwaltung in demſelben Maße unter dem Amtsweſen ſtünde, wie auf dem
Continent. Allein da die Selbſtverwaltung den beinahe wichtigſten und größten
Theil der Vollziehung der Geſetze den Organen des Selfgovernment überlaſſen
hat, ſo wird jene Gefahr damit paralyſirt, und nur damit. Und in dieſem
Sinne iſt das Selfgovernment Englands die Aegide gegen die Mißverwaltung,
ſein köſtlichſter Schatz, und von ſo weſentlich anderer Bedeutung, als auf dem
Continent. Wir werden dieſe Gedanken unten bei dem Miniſterialſyſtem und
der Selbſtverwaltung wieder aufzunehmen haben. Zu dem, was Gneiſt gerade
über das Privy Council und ſeine Verhältniſſe geſagt hat, dürfte ſich wenig
hinzuſetzen laſſen.


Frankreich.


Ein ganz anderes Bild zeigt uns Frankreich mit ſeinem Conseil d’État.
Derſelbe iſt mit ſeiner ganzen Auffaſſung und Funktion um ſo wichtiger, als
er den Bildungen des übrigen Europa’s zum Muſter gedient hat, und auch
werth iſt, das Muſter zu ſein. Wir haben ſchon früher bemerkt, daß der
Charakter der franzöſiſchen Verfaſſungsmäßigkeit ſeine Verwaltung in dem
Conseil d’État gipfelt. Es iſt nur merkwürdig, daß bei der faſt allgemeinen
Nachahmung des Conseil d’État in den deutſchen Staatsräthen die ganze
deutſche Literatur ſich nirgends die Mühe gegeben hat, das Weſen deſſelben zu
unterſuchen, mit Ausnahme von Mohl (Literaturgeſchichte II.), der aber die
Sache von einem ganz untergeordneten, referirenden Geſichtspunkt betrachtet,
und namentlich nicht dahin gelangt, zu erkennen, daß der Conseil d’État des
vorigen Jahrhunderts einen ſo weſentlich verſchiedenen Charakter von dem
gegenwärtigen hat, geſchweige daß er die hiſtoriſchen Gründe ſeiner Geſchichte
erkannt hätte.


Wir haben ſchon früher darauf hingewieſen, daß der franzöſiſche Staat
ſich vorzugsweiſe vermöge der Centraliſation ſeiner Verwaltung gebildet hat.
So abſolutiſtiſch auch das Königthum ſein mochte, dieß Bewußtſein von der
großen — in Frankreich geradezu ſtaatbildenden Funktion der Verwaltung hat
daſſelbe nie verlaſſen, und man kann mit Recht Heinrich IV. als den Begründer
dieſer Idee, und Sully als ihren erſten Vertreter anſehen. Die Gewalt der
Thatſache, daß die Verwaltung ganz auf dem Königthum ruhe, und das mit
dem 17. Jahrhundert rückhaltslos hervortretende Streben, die Geſetzgebung
von derſelben auszuſchließen, erzeugte die Nothwendigkeit, ein Centralorgan
dieſer Verwaltung unmittelbar unter dem Könige zu ſchaffen, deſſen Aufgabe
es ſein ſollte, nicht mehr die einzelnen Gebiete der Verwaltung, ſondern die
Verwaltung als Ganzes zu leiten. So entſtand der alte Conseil d’État, der
ſeine eigene Geſchichte hat, noch ehe die Revolution ihn ſo gründlich modificirte,
ohne ihn jemals dauernd beſeitigen zu können. (Siehe Répertoire de Juris-
prudence
von 1784, v. Conseil d’État.) Er bildete einen Körper unmittelbar
unter dem König, und war das höchſte Organ für die ganze, in der Perſon
des Monarchen vereinigte geſetzgebende und verordnende Gewalt. Das organiſirende
[276] Geſchick der Franzoſen gab ihm ſchon im 17. Jahrhundert ſeine Geſtalt; die
definitive Ordnung gab ihm das Edikt vom 3. Januar 1673. Darnach
hatte er ſchon damals vier Sektionen, den eigentlichen Conseil d’État, der das
Miniſterium des königlichen Hauſes, des Kriegs und des Aeußern vertrat, das
Conseil des dépêches, als Miniſterium der Finanzen, wenigſtens zum Theil, und
Miniſterium des Innern, das Conseil des finances als Verwaltung der Domänen,
und das Conseil des parties, das im Grunde das Juſtizminiſterium war, und ſchon
damals die jurisdiction administrative in höchſter Inſtanz entſchied. Zugleich
wurde der Garde des sceaux als Präſident erklärt, 21 ordentliche und
12 außerordentliche Räthe ernannt. Der König behielt ſich den Vorſitz vor. Die
mächtige und rückſichtsloſe Entwicklung der Adminiſtration brachte dieſelbe nun
alsbald in Conflikt mit den ordentlichen Gerichten. Sie waren es, zu denen
das beſtehende Recht ſeine Zuflucht ſuchte; und die Berechtigten waren im
Allgemeinen gewiß, durch die Gerichte geſchützt zu werden. Die Verwaltung
dagegen, oft mit Recht, oft mit Unrecht, mußte dieß Recht brechen; ihr Organ
war der Conseil d’État, aber in der letzten Abtheilung, dem Conseil des
parties.
Dieſe Abtheilung fing daher ſchon im vorigen Jahrhundert an, den
Grundſatz durchzuführen, daß in Streitigkeiten zwiſchen Staat und Einzelnen
— oder über das eigentliche droit administratif — nicht die Gerichte, ſondern
nur der Conseil d’État Recht ſprechen, ja daß derſelbe ſogar die urtheilende
Thätigkeit der Gerichte ſeiner Oberaufſicht unterziehen könne und ſolle. Dem
traten die Gerichte allerdings entſchieden entgegen, vor allen die Parlamente,
und dieß Verhältniß iſt es auch, gegen das Montesqieu in ſeinem Esprit
des Lois VI. Ch.
6 kämpft: „C’est encore un grand inconvénient dans la
monarchie, que les ministres du prince jugent eux-mêmes les affaires
contentieuses“
u. ſ. w., wozu Helvetius die, die ganze franzöſiſche Auf-
faſſung ſchon vor der Revolution ſo bezeichnende Note machte: „Les ministres
sont faits pour décider les affaires quand il y a embarras, et non pour
les juger quand il y a contestation.“
Daß dieſe Oppoſition nicht viel nützen
konnte, lag allerdings auf der Hand; um aber dieſem Verwaltungsgerichtshofe
zugleich die Form der Gerichte zu geben, erſchienen die berühmten Ordonnanzen
von d’Agueſſeau, welche zuerſt den adminiſtrativen Proceß ordneten,
und damit eigentlich erſt dem Conseil d’État den Charakter der Willkür
nahmen, unter dem er bis dahin gelitten. Seit dieſer Zeit iſt derſelbe ein
förmliches Organ der Verwaltung, und bleibt es bis zur Revolution.


Mit der Revolution tritt nun die Scheidung zwiſchen Geſetz und Voll-
ziehung ein, und das Königthum empfängt als Chef de l’administration ſeine
Stellung über beide. Daß die Revolution an nichts weniger dachte, als an
die Aufhebung der Macht der Verwaltung, haben wir ſchon geſagt. So lange
daher das Königthum anerkannt blieb, blieb auch der unter dieſen Verhältniſſen
ganz natürliche Grundſatz, daß der Conseil d’État der eigentliche Rath des Königs,
der ſelbſtändigen Verwaltung ſein müſſe. Nur war vorauszuſehen, daß ſeine Exiſtenz
als eigenes Organ von der Exiſtenz des Königthums abhängig ſein werde; ſeine
Bedeutung hing von jetzt an einfach von dem Verhältniß ab, in welchem der König
noch gegenüber dem, der Legislative unterworfenen Miniſterrath eine Selbſtändigkeit
[277] erhalten könne. Mit dieſer geht er, als eigentlicher Ausdruck derſelben, raſch
zu Grunde, und der Miniſterrath, als das Organ der Herrſchaft der Geſetz-
gebung über die Verwaltung, tritt an ſeine Stelle. Das Dekret vom 19. Aug.
1790, und die Geſetze vom 11. September, 4. Oktober und 1. December 1790
nahmen ihm ſtückweiſe ſeine Rechte, und das Geſetz vom 25. Mai 1791 hob
ihn einfach auf und verſchmolz ihn mit dem Conseil des Ministres. Das
war ganz conſequent; das Geſetz vom 21. Fruct. III. gab dem Miniſterconſeil
ſogar die Competenzconflikte; die ſelbſtändige, perſönliche Staatsgewalt war
vollſtändig untergegangen.


Der 18. Brumaire brach die Herrſchaft der Legislative, nunmehr umgekehrt,
um die Exekutive zur Herrſchaft zu bringen. Das Regiment Napoleons be-
ginnt; mit ihm wird ſofort der Conseil d’État wieder in’s Leben gerufen.
Und jetzt beginnt für denſelben eine neue Epoche. Sie beginnt ſogleich mit
dem Recht des Conseil d’État: „De rédiger les projets des lois et les règle-
ments d’administration
politique, et de résoudre les difficultés qui s’élèvent
en matière administrative.“
(Constitution an VIII. Art. 52.) Er iſt damit
das Organ des Staatsoberhaupts und der Regierung zugleich; er ſteht prin-
cipiell an der Spitze derſelben; er umfaßt das ganze Gebiet der Verwaltung,
während die Miniſterien nur die einzelnen Theile derſelben enthalten. Er iſt
aber zugleich das über das ganze Verwaltungsrecht entſcheidende Organ; nach
dem Arrêté constituant vom 5. Niv. VIII. werden ihm alle Fälle der Inter-
pretation der Verwaltungsgeſetze, alle Verwaltungsrechtspflege und alle Conflikte
übertragen; das Sénatus-consulte vom 18. Fruct. X. theilt ihn in Sektionen:
eine Ordonnanz vom 9. April 1803 fügte das Inſtitut der Auditeurs hinzu;
eine andere vom 11. Juni 1806 überwies ihm die affaires de haute police
administrative
(das oberſte Verordnungsrecht), kurz, er iſt das Organ der
höchſten Verwaltung und zugleich eine école pratique du gouvernement et
de l’administration.
Seine Bedeutung verdunkelt ganz die Reſte der geſetz-
gebenden Körper; er iſt der eigentliche Rath des Herrſchers. Dieſe höchſte Stufe
verliert er freilich mit der Reſtauration. Das Weſen derſelben war doch am
Ende der Wiedererwerb der geſetzgebenden Rechte für die Volksvertretung; aber
eben deßhalb überdauert der Conseil d’État den neuen Zuſtand. Man hatte
das klare Bewußtſein, daß man ihn ſelbſt nicht entbehren könne; man nahm
ihm nur den Theil der Rechte, der zu weit in die Geſetzgebung eingriff; aber
im Grunde fand er jetzt an dem Königthum ſeinen Halt und ſeine wahre
Stellung. Von jetzt an iſt er das Organ der Berathung für alle Aktionen
des Königthums, und zugleich das Haupt der Verwaltung. Die Julirevolution
änderte an dieſer Poſition nichts; ſie war dem franzöſiſchen Volke vollkommen
verſtändlich. Nur die gerichtliche Thätigkeit mußte man mit den Forderungen
der neuen Zeit etwas mehr in Harmonie bringen, obwohl es Niemandem einfiel,
die Competenz deſſelben auch in wirklichen Rechtsſachen zu beſtreiten. In dieſem
Sinne gaben die Ordonnanz vom 2. Februar 1831 die Oeffentlichkeit der
Sitzungen, die Ordonnanz vom 12. März 1831 errichtete die Plaidoirie, das
mündliche Verfahren mit der Staatsanwaltſchaft. Die folgenden Ordonnanzen
vom 18. Sept. 1839 und 19. Juni 1840 entwickelten die Inſtitution weiter;
[278] im Weſen ward auch ſpäter nichts geändert. Und dieſe Baſis iſt im Grunde
auch gegenwärtig noch dieſelbe; nur iſt der Geiſt der Stellung ein anderer.


Nachdem nämlich das Geſetz vom 3. März 1849 mitten unter der Republik
den Conseil d’État erhalten, gab das Dekret vom 25. Januar 1852 demſelben
ſeine gegenwärtige Organiſation. Sie iſt nicht neu; ſie iſt nur die vollſtän-
dige Entwicklung der bisherigen Grundlagen; aber freilich iſt der ganze Conseil
d’État
jetzt ſo eingerichtet, daß er im Grunde zugleich das Hauptorgan für
die Berathung der ganzen eigentlichen Geſetzgebung iſt
. Er iſt
darauf angelegt, die Volksvertretung ſo viel als möglich für die Geſetzgebung
wenigſtens materiell überflüſſig zu machen, indem er die Körperſchaft
ſeiner Mitglieder ſehr vermehrt, und die Verhandlungen über die Geſetzentwürfe
zu einem formell höchſt ausgebildeten Akte erhebt. Es iſt das nicht der letzte
Punkt, durch welchen die verfaſſungsmäßige Freiheit untergraben wird; denn
der Conseil d’État iſt zugleich die höchſte adminiſtrative Behörde, der Richter
über das adminiſtrative Recht, und der vorberathende Körper über alle Geſetze.
Der Conseil d’État gehört daher zum Syſtem der ſcheinbaren Freiheit, welche
das neue Kaiſerthum gebracht hat; und es läßt ſich ſchon jetzt ſagen, daß er
bei einer neuen Ordnung der Dinge dieſe Stellung nicht in dem Umfange be-
halten, ſondern wieder zur bloßen höchſten adminiſtrativen Behörde werden
wird. In Beziehung auf die Verwaltung aber iſt ſeine Aufgabe ganz die der
früheren Zeit; er iſt der große Verwaltungsrath der vollziehenden Gewalt in
allen Gebieten der Regierung, unabhängig von den Miniſtern, die nur be-
rathende Stimme in ihm haben, und als das Organ der höchſten ſelbſtändigen
Staatsgewalt aus dem Contakt mit der Volksvertretung gerückt, während er
der Initiative in der Geſetzgebung den ganzen Nachdruck ſeiner Berathung gibt.
Seine ſechs Abtheilungen ſind: 1) législation, justice et affaires étrangères;
2) contentieux; 3) intérieur, instruction publique et cultes; 4) travaux
publics, commerce et agriculture; 5) guerre et marine; 6) finances.
Jede
dieſer Sektionen hat ihre beſonderen Aufgaben; die wichtigeren Angelegenheiten
der Verwaltung werden aber vor die assemblée générale gebracht; jede Sektion
entſcheidet in ihrem Reſſort alle Fälle der justice administrative oder der Be-
ſchwerden; ein Reglement vom 30. Januar 1852 hat das Verfahren dabei
genau geordnet, das übrigens im Weſentlichen das alte iſt. Die Zahl der
Räthe beträgt 40—50 ordentliche, 15 allgemeine Mitglieder, und 20 außer-
ordentliche; außerdem für die Reviſionen 40 Maîtres des requêtes und 40
Auditeurs. Der Kaiſer und die Mitglieder ſeiner Familie, die derſelbe be-
ſtimmt, gehören ihm an. Die Geſetzentwürfe, die in ihm ausgearbeitet ſind,
werden von drei Räthen desConseil d’État in den beiden geſetzgebenden
Körpern vertreten. So iſt er ſelber eine gewaltige Macht, und in der That
iſt er der Träger der Regierungsgewalt. Der durchgreifende Unter-
ſchied zwiſchen ihm und den Staatsräthen des übrigen Europa’s beſteht darin,
daß durch die mächtige Thätigkeit dieſes ganz in der Hand des Souveräns
befindlichen Körpers das ganze übrige Beamtenthum ſeiner geiſtigen Selbſt-
thätigkeit beraubt wird. Durch den Conseil d’État iſt der untere Beamtete
nur noch Maſchine; er bedarf einer höheren Bildung nicht; der Conseil d’État
[279] beräth, entſcheidet, urtheilt für ihn; er iſt die Centraliſation des amtlichen Be-
wußtſeins und Geiſtes. Dieß geht ſo weit, daß er ſich das Conseil des
Ministres
ganz untergeordnet hat; die Miniſter haben in ihm eine berathende
Stimme, und nicht einmal die Aufgabe, die Geſetzesentwürfe vor den Kammern
zu vertreten. Daher konnte Napoleon den Miniſtern ihre Verantwortlichkeit
nehmen — denn ſie ſind in der That nur noch die Exekutive; das Element
des ſelbſtändigen Willens iſt von ihnen getrennt und ruht in dem unverant-
wortlichen
Conseil d’État. Er iſt damit die organiſche Durchführung der
Unabhängigkeit der Vollziehung von der Geſetzgebung, und die Spitze des
napoleoniſchen Syſtems, die unmöglich wäre, wenn ſie nicht den Ausdruck der
adminiſtrativen Individualität Frankreichs bildete.


Deutſchland.


Was nun die Stellung des Staatsraths in Deutſchland betrifft, ſo iſt ſie
darum ſo ſchwierig zu bezeichnen, weil ſie theils ſehr verſchieden, und theils
noch in der Entwicklung begriffen iſt. Im Allgemeinen aber hängt dieſe Ent-
wicklung auf das Engſte einerſeits mit dem franzöſiſchen Vorbilde, und anderer-
ſeits mit der verfaſſungsmäßigen Ordnung des öffentlichen Rechts überhaupt
zuſammen, und in dieſem Sinne müſſen wir ſagen, daß eigentlich jeder Staat
mit ſeiner Verfaſſung zugleich ſeine eigene Geſchichte des Staatsrathes hat.


So lange nämlich noch kein eigentlich geſetzgebender Körper vorhanden, und
der Monarch zugleich die Quelle der Geſetzgebung und Vollziehung iſt, iſt der
Staatsrath eigentlich das berathende Organ für Geſetzgebung und Verordnung
zugleich, und erſcheint daher nur als eine Erweiterung des Miniſterrathes, der
übrigens auf die eigentliche Verwaltung keinen Einfluß nimmt. So wie die
Verfaſſungen entſtehen, ſcheiden ſich naturgemäß Staatsrath und Miniſterrath,
und der erſtere wird das berathende Organ für den perſönlichen Willen des
Monarchen, wobei ihm aber nach dem Vorbilde des Conseil d’État auch die
höchſten Entſcheidungen der, von Frankreich nach Deutſchland übertragenen
Verwaltungsſtreitigkeiten überlaſſen werden. Damit wird er denn nun auch
ein Theil der Verfaſſung, und empfängt ſeine verfaſſungsmäßige Wirkſam-
keit; die Formen deſſelben ſind jedoch meiſt verſchieden, was zum großen Theil
von dem Umfange der Staaten abhängt. Dagegen beruht der tiefere Unterſchied
zwiſchen dem deutſchen Staatsrath und dem franzöſiſchen darauf, daß er mit
ſeinen Funktionen nirgends darauf berechnet iſt, weder die Selbſtthätigkeit und
damit die verfaſſungsmäßige Verantwortlichkeit der Miniſter zu beſeitigen, noch
auch die geiſtige Selbſtändigkeit des Beamtenthums zu vernichten und in ſich
das höhere adminiſtrative Bewußtſein ausſchließlich zu centraliſiren. Während
der franzöſiſche Conseil d’État die wiſſenſchaftliche Bildung des Beamteten über-
flüſſig, und den letzteren nur zum Werkzeug des centralen Körpers macht, er-
hält der deutſche Staatsrath dieſelbe vielmehr lebendig; und das Kriterium
dieſes ſo tief verſchiedenen Geiſtes beider, im äußerlichen Organismus oft ſo ſehr
ähnlichen Bildungen — namentlich Bayern und Preußen — beſteht darin, daß
die Miniſter entſcheidende Stimme behalten, und daher auch die Geſetzes-
entwürfe in den Kammern ſelbſt vertreten, weßhalb ſie auch als Geſammt-
[280] miniſterium eine Funktion haben, was in Frankreich ſeit Napoleon III.nicht
mehr möglich iſt. Auf dieſer Grundlage müſſen die einzelnen Staatsräthe dar-
geſtellt werden. Wir können ſie nur kurz charakteriſiren.


Der Staatsrath entwickelt ſich zuerſt mit den franzöſiſchen Verfaſſungen
in Süddeutſchland. Bayern ſchied ihn zuerſt als ſelbſtändige, berathende und
richterliche Behörde in Adminiſtrativſachen vom Miniſterium als Geheimen
Rath
(Organiſches Edikt vom 4. Juli 1808), der nachher zum eigentlichen
Staatsrath ward (Verordnung vom 2. Juli und Edikt vom 3. Mai 1817).
Seine Organiſation und Attributionen ſind dann genauer geregelt durch In-
ſtruktion vom 9. Januar 1821 und Verordnung vom 18. Nov. 1825. Das
Charakteriſtiſche für den bayeriſchen Staatsrath iſt, daß er nicht eigentlich die
franzöſiſchen Sektionen, ſondern den Unterſchied zwiſchen der berathenden
und erkennenden Thätigkeit hervorhob, jene als Rath der Krone, dieſe als
höchſter Verwaltungshof. (Siehe Pötzl, Bayeriſches Verwaltungsrecht §. 51
bis 54.) Im Weſentlichen gleichartig iſt der Geheime Rath in Württem-
berg
mit der Verfaſſung von 1819, Kap. IV, §. 54 ff., wo es für die Sache
bezeichnend iſt, daß der §. 54 ihn „ſeiner Hauptbeſtimmung nach als bloß be-
rathende Behörde“ ſetzt, was ſeiner conſtitutionellen Idee entſpricht, während §. 60
ihm auch die entſcheidenden Funktionen gibt. (Mohl, württ. Staatsrecht II. 51.)
Neben dieſen ſtreng conſtitutionellen Staatsräthen ſehen wir nun gleichzeitig den
Miniſterrath ausſchließlich funktioniren, wie in Kurheſſen (Organ. Verwaltungs-
recht, 1821, §. 10), oder aber dem Könige das unbeſtimmte Recht gegeben, einen
Staatsrath zu bilden, wie im Königreich Sachſen 1831, §. 41: „Es kann ein
Staatsrath gebildet werden, zu welchem außer den Miniſterien diejenigen Perſonen
gezogen werden, welche der König geeignet findet“ — was zwar nur die Beibehal-
tung des früheren Rechts war (Malchus, Pol. der innern Verwaltung I. S. 91;
Weiß ſpricht gar nicht davon), aber jedenfalls die Unſicherheit über die eigent-
liche Natur des Staatsrathes deutlich zeigt. In anderen Staaten ſprechen die
Verfaſſungen gar nicht vom Staatsrath, wie in Baden, Naſſau, Weimar u. a.
Hier iſt die Stellung deſſelben offenbar als ein Recht der Organiſationsgewalt
der Krone unberührt angenommen, womit zuſammenhängt, daß in mancher
Verfaſſung ja auch von den Miniſtern keine Rede iſt (ſ. unten), wie im Groß-
herzogthum Heſſen durch Verordnung vom 28. Mai 1821. In den verfaſſungs-
loſen Staaten, Preußen und Oeſterreich, war der Staatsrath eben das vom
Monarchen ausſchließlich eingeſetzte Organ ſeiner perſönlichen Berathung, doch
hatte namentlich Preußen ſchon den Staatsrath mit ſieben Abtheilungen, je
aus fünf Mitgliedern und unter dem Präſidium des Königs oder des Staats-
kanzlers ganz nach dem Muſter des Conseil d’État eingerichtet — natürlich
ohne alle Oeffentlichkeit und ohne ein objektiv gültiges Verfahren (Verordnung
vom 20. Mai 1817). Mit der Entwicklung der Verfaſſungen in beiden Ländern
tritt dann dieſer Staatsrath als ſelbſtändiges Organ in ſeine natürliche Funk-
tion, während in den kleineren Staaten theils das Miniſterium als Staatsrath
fungirt, wie in Oldenburg, Verfaſſung von 1849, Abſchnitt II.;Braun-
ſchweig
, Geſetz vom 1. Mai 1851, oder eigene Verordnungen ihn herſtellen,
wie in Hannover, Verordnung vom 26. Januar 1856; Naſſau, Geſetz vom
[281] 24. Juli 1854. In Preußen iſt derſelbe auf Grundlage des früheren Rechts
namentlich durch die Verordnung vom 6. Januar 1848 in ſeiner berathenden
Stellung ſchärfer begränzt, und nach franzöſiſchem Muſter der Competenz-
Gerichtshof
aus ihm durch Geſetz vom 8. April 1857 gebildet worden.
RönneI. §. 56. — In Oeſterreich ſchließt ſich der Staatsrath als das,
was er ſein ſoll, als berathendes Organ des Kaiſers an die ganze Reichs-
verfaſſung. Statut vom 26. Februar 1861.


Ueber den Staatsrath in andern Ländern hat Malchus (Politik der in-
nern Verwaltung I. §. 18 ff.) eine ſehr gute Darſtellung gegeben, die das Weſen
des Staatsraths zwar im Allgemeinen richtig erfaßt, jedoch mehr den Charakter
einer controlirenden Stelle über den Miniſterien, eine Art Kabinet darin ſieht.
Neuere Beſtimmungen in Brachelli, Verwaltungsbehörden in Europa (Jahrbuch
für Geſetzkunde und Statiſtik S. 170 ff.). Unbedeutend iſt Bülau (Behörden
S. 153). So gut wie gar nichts enthalten Zöpfl und Zachariä.


Zweites Gebiet.
Der Organismus der Regierung oder das Amtsweſen.


I. Das Amt an ſich.


1) Der organiſche Begriff des Amts.

Es iſt eine gewöhnliche Vorſtellung, das Amtsweſen und ſeinen
Organismus als identiſch mit dem Organismus des thätigen Staats,
oder wie man zu ſagen pflegt, mit der Staatsgewalt ſelbſt aufzufaſſen.
Indem wir ihn aber von den andern drei Grundformen des ſtaatlichen
Organismus, der perſönlichen Staatsgewalt, der Selbſtverwaltung und
dem Vereinsweſen ganz beſtimmt unterſcheiden, müſſen wir das Weſen
deſſelben im Voraus genauer bezeichnen.


Die Regierung iſt die Staatsgewalt, inſofern dieſelbe die praktiſchen
Aufgaben der vollziehenden Gewalt zur Verwirklichung bringt. Der
Ausdruck „Verwaltung“ bezeichnet uns ganz daſſelbe, nur mit der Neben-
bedeutung, daß hier die Regierung in ihrer einzelnen praktiſchen Thätig-
keit gedacht wird. Regieren heißt Grundſätze, Verwalten heißt Vorſchriften
ausführen. Eben darum iſt es zweckmäßig, wenn man vom Regieren
redet, wo es ſich um das Gemeinſchaftliche in allen einzelnen Theilen
der Verwaltung handelt. Bei dem Organismus im Allgemeinen legen
wir daher den Begriff der Regierung, bei dem Organismus im Ein-
zelnen den Begriff der Verwaltung zum Grunde.


Indem auf dieſe Weiſe die Staatsgewalt in der Regierung den
einzelnen Lebensaufgaben der Gemeinſchaft gegenüber tritt, die als ſelb-
ſtändige aus dem Leben der Gemeinſchaft hervorgehen, bedarf ſie eines
[282] beſtimmten Organs, das dieſer Aufgabe entſprechen muß, um ſie löſen
zu können. Die Vielheit und Beſonderheit dieſer Organe liegt daher
nicht im Begriffe der Regierung, ſondern im Begriffe und dem Weſen
dieſer Aufgaben. Dennoch ſind alle auf dieſe Weiſe entſtehenden
Organe der Regierung wieder gleichartig; ſie haben in aller Verſchieden-
heit und Beſonderheit immer den einheitlichen Willen des Staats zu
vertreten. Und aus dem Zuſammenwirken dieſer beiden Elemente
ergibt ſich nun das, was wir als das einzelne Organ der Regierung
bezeichneten.


Da, wo die Aufgabe des Staats eine einzelne und der Sache nach
vorübergehende iſt, kann die Regierung die Vollziehung ihres Willens
durch einen Auftrag an einen Einzelnen oder an Mehrere erwirken
(Commiſſion). Mit der Erfüllung des Auftrages iſt dann das Verhält-
niß zwiſchen dem Staat und ſeinem Mandatar zu Ende. Die Rechte,
welche den Inhalt dieſes Mandats bilden, ſind alsdann durch die Natur
des Objekts bedingt, eben ſo die Dauer des Mandats. Die Thätigkeit
des Mandators iſt in ſolchem Falle durch genaue Vorſchriften (In-
ſtruktionen) beſtimmt. Es iſt die privatrechtliche Form eines öffentlich-
rechtlichen Verhältniſſes. Der Auftrag gehört daher nicht in den Orga-
nismus der Regierung, ſondern nur in ihre wirkliche Thätigkeit.


Da, wo dieſe Aufgabe eine dauernde iſt, kann ſie wiederum der-
artig beſchaffen ſein, daß ſie nur der mechaniſchen Thätigkeit des per-
ſönlichen Staatslebens angehört, und nicht die Vollziehung des Staats-
willens, ſondern nur die Herſtellung der rein äußerlichen Bedingungen
dieſer Vollziehung betrifft. Dieß Verhältniß nennen wir den Dienſt
— nicht des Staates, ſondern den Dienſt im Staate oder genauer
in der Regierung, und die betreffenden Perſonen begreifen wir als
das Dienſt- oder Hülfsperſonal. Ein ſolcher Dienſt beginnt ſchon
an der höchſten Stelle des Staatslebens bei dem Staatsoberhaupt, und
erſcheint dann auf allen Stufen des Staatsorganismus bis zum unterſten
Hülfsperſonal der Regierung. Der höchſte Dienſt nimmt dabei die For-
men des Amts und oft die Ehren und Rechte der Staatswürden an;
aber in allen Geſtalten unterſcheidet er ſich vom Amtsweſen dadurch,
daß er nie eine ſelbſtändige Bethätigung des Staatswillens, ſondern
nur den perſönlichen Dienſt eines Organes des letzteren enthält. Er
beruht nicht auf den inneren Forderungen, ſondern auf den äußeren
Bedürfniſſen, und keine äußere Ehre und keine Höhe des Entgeltes kann
dieſen Charakter ändern. Daraus geht auch das Rechtsprincip dieſes
Dienſtweſens hervor. Es erzeugt daſſelbe nie ein Verhalten zur Regie-
rungsgewalt als ſolcher, ſondern nur zu derjenigen Perſon in der Re-
gierung, welche den Dienſt fordert und beſtellt. Einen Antheil an den
[283] Gewalten der Regierung kann der Dienſt niemals erzeugen; daher ent-
ſteht aus ihm auch niemals ein Amtsrecht.


Da aber, wo die dauernde und gleichartige Aufgabe der Regierung
durch ein dauerndes, ſeinem Weſen nach gleichartiges Lebensverhältniß
in der menſchlichen Gemeinſchaft gegeben iſt, bedarf die Regierung eines
dauernden Organes, welches den an ſich ſtets gleichartigen Willen des
Staats in dem Wechſel der äußeren Zuſtände vollzieht. Sie muß dieſes
Organ als einen Theil ihrer ſelbſt erkennen; ſie beſteht eben ſelbſt nur
aus ſolchen Organen, da ſie ja für dieſe Lebensverhältniſſe vorhanden
iſt. Indem ſie dieſes Organ als einen Theil ihrer ſelbſt ſetzt, muß ſie
ihm natürlich auch die drei Gewalten übertragen, die ſie enthält; ein
ſolches Organ iſt undenkbar ohne eine Verordnungs-, Organiſations-
und Polizeigewalt. Wie aber das Organ ſelbſt, ſo iſt ſelbſtverſtändlich
Maß und Art dieſer drei Gewalten eben durch die Natur jenes Lebens-
verhältniſſes bedingt, in welchem es den Willen des Staats zu voll-
ziehen hat. Und da das erſtere niemals ganz gleich iſt, ſondern wechſelt,
ſo muß ein ſolches Organ kraft ſeiner innern, organiſchen Verbindung
mit der Regierung ſich beſtändig die Gränzen jener Gewalten in ſo
weit ſelbſt ſetzen, und ſich ſomit ſein eigenes Recht durch eigene Ver-
antwortlichkeit erzeugen und nehmen. Um das zu können, muß es das
Bewußtſein von dem Willen der Regierung im Ganzen haben, und
andererſeits die Fähigkeit beſitzen, die Anwendung des allgemeinen
Willens auf den einzelnen Fall richtig zu bemeſſen. Ein ſolches Organ
iſt das Amt.


Es ergibt ſich daraus, daß die Regierung oder Verwaltung über-
haupt nur aus Aemtern beſteht, und daß der Amtsorganismus zugleich in
der organiſchen Geſammtheit der Staatsaufgaben, und dem wirklichen,
für dieſelben beſtimmten und in ihnen praktiſch-thätigen Körper der
Regierung oder ſtaatlichen Verwaltung gegeben iſt. In dieſem Sinne
ſagen wir, daß der Regierungsorganismus uns als Amtsorganis-
mus
erſcheint; und die Geſammtheit der Grundſätze und Rechte, welche
für dieſen Amtsorganismus der Regierung gelten, nennen wir mit einem
Worte das Amtsweſen.


Die Lehre vom Amtsweſen hat demnach einen doppelten Inhalt,
den wir hier als das Syſtem des Amtsweſens oder als die Darſtel-
lung des Amtsorganismus, und als das Recht deſſelben oder das
Staatsdienſtrecht bezeichnen. Beide Theile haben eine weſentlich
verſchiedene Grundlage. Das erſte beruht auf dem Gegenſatz zwiſchen
dem einheitlichen Leben des Staats und der Beſonderheit der einzelnen
Lebensverhältniſſe; das zweite auf dem Gegenſatz zwiſchen der organiſchen
Natur des einzelnen Amts und der Selbſtändigkeit der Perſönlichkeit,
[284] welche es vertritt, oder dem Beamteten. So verſchieden auch beide
Theile ſind, ſo beruhen ſie doch auf dem gemeinſchaftlichen Weſen des
Amts, und obwohl daher jeder Theil ſeine Geſchichte hat, ſo iſt es
dennoch weſentlich, den Entwicklungsgang für beide gemeinſchaftlich bis
zu dem Punkte zu verfolgen, auf welchem ſie erſt ihre rechte Eigenthüm-
lichkeit entfalten, der Gegenwart mit ihrer ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaftsordnung.


2) Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung und Vergleichung
des Amtsweſens in England, Frankreich und Deutſchland
.

a) Das ethiſche Weſen des Amts.

Die hiſtoriſche Entwicklung des Amtsweſens muß als ein ſelb-
ſtändiges Gebiet in der Geſchichte des innern Staatslebens betrachtet
werden. In der That hat es ſeine eigenthümlichen Grundlagen und
Ausgangspunkte.


Das Amtsweſen als die organiſche Verkörperung der Regierung
hat zu ſeiner Vorausſetzung die Selbſtändigkeit der perſönlichen Staats-
idee, zu ſeinem Inhalte das Aufnehmen des geſammten praktiſchen Lebens
in dieſelbe und ihre Thätigkeit. Es kann daher nicht gedacht werden,
ohne daß ſich der perſönliche Staat ſelbſtändig von der Gemeinſchaft
trennt, und ſich mit dem Bewußtſein ſeines perſönlichen Weſens und
ſeiner, ihm eigenthümlichen hohen Funktion erfüllt. Denn das Amts-
weſen hat zuletzt in dieſem organiſch ausgebildeten Bewußtſein Form
und Quelle ſeines Rechts und ſeiner Kraft.


Darum muß die große ſtaatliche und in höherem Sinne ethiſche
Funktion des Amtsweſens in der Gemeinſchaft voraufgeſendet werden.
Es iſt das um ſo wichtiger, als es ſich hier eben nicht bloß um eine
theoretiſche Erklärung des Amtsbegriffes handelt, ſondern vielmehr um
die Feſtſtellung einer großen ſittlichen Thatſache. Es iſt nicht der letzte
Mangel in unſern Staatswiſſenſchaften, daß dieſelbe fehlt. Vielleicht
hat kein Theil des geſammten Staatslebens eine ſo ernſte und ſchwierige
Aufgabe, als gerade das Amt unſerer Zeit. Daß es dieſelbe erfülle,
dafür kann ihm keineswegs bloß das Recht oder der Entgelt der Amts-
führung genügen. Es bedarf das Amt einer höheren Erhebung. Nicht
wenig wäre gewonnen, wenn es uns gelänge, dafür einen Beitrag zu
liefern, und neben dem rein objektiven und juriſtiſchen Standpunkt einen
edleren, ſittlichen, das Amt wahrhaft belebenden und erwärmenden zur
Geltung zu bringen. Denn es wird deſſen bedürfen, und durch ihn
erſt ſeine große Miſſion im Geſammtleben erfüllen.


[285]

Dazu aber muß man einen Schritt mit uns in das Weſen des
Staatslebens hineingehen. Es iſt unmöglich, das Amt in ſeiner Be-
deutung darzulegen, wenn man nicht die beſtimmt formulirten Elemente
aufſtellt, in denen es ſich bewegt.


Das Leben des Staats iſt nicht das Leben der Geſellſchaft, und
eben ſo wenig iſt es das Leben der Volkswirthſchaft. Es iſt ſelbſt nur
ein weſentliches Element der Menſchheit. Es enthält vielmehr nur
Geſellſchaft und Volkswirthſchaft, aber es beherrſcht ſie nicht ganz mit
ſeinem Willen. Die Geſellſchaftsordnungen und die Volkswirthſchaft
haben Geſetze, welche nicht weniger unabänderlich ſind, wie die der Natur.
Beide leben zunächſt für ſich; aber ſie greifen auf allen Punkten in
einander. Das Moment, welches ſie verbindet, iſt der Beſitz, und die
lebendige Bewegung, welche der Beſitz erzeugt, nennen wir das Intereſſe.


Ohne den Begriff und die Macht des Intereſſes iſt das Weſen und
die organiſche Funktion des Amtes nicht zu verſtehen.


Die Geſellſchaftslehre zeigt uns nämlich, daß die Verfaſſung eines
Staates die Form iſt, in welcher die gegebene Geſellſchaftsordnung den
Willen des Staats ſich unterordnet. Das iſt das naturgemäße und
darum unwandelbare Geſetz der Verfaſſungsbildung. Allein an dieſe
Herrſchaft der Geſellſchaft über die Staatsordnung knüpft ſich ſofort das
zweite Geſetz, das die Geſellſchaftslehre darlegt, das natürliche Streben
nämlich, vermöge der Herrſchaft über den Staat das Intereſſe der
herrſchenden Klaſſe durch die Staatsgewalt zur Verwirklichung zu bringen.


Nun iſt es das innerſte Weſen des Staats, als die höchſte Form
des perſönlichen Lebens, ſeine eigene Vollendung niemals in der höchſten
Entwicklung eines Theiles der Gemeinſchaft, alſo auch nicht in der einer
herrſchenden Geſellſchaftsklaſſe zu finden. Der Staat muß vielmehr be-
ſtändig die Entwicklung der Gemeinſchaft als eines Ganzen vertreten.
Auch die niedere und beherrſchte Klaſſe aber gehört nun dieſem Ganzen,
ja ſie bildet die größere Maſſe dieſes Ganzen. Und es ergibt ſich da-
her, daß er die Intereſſen der niederen beherrſchten Geſellſchaftsklaſſe
in dem Maße mehr vertritt, in welchem ſie durch die herrſchende Klaſſe
mehr unterworfen und gefährdet ſind. Das iſt in der Theorie nun
zwar leicht aufgeſtellt, aber im wirklichen Leben iſt das eine höchſt
ernſte und ſchwierige Sache. Denn es enthalten jene Sätze nicht allein
einen furchtbaren Kampf um die Intereſſen, in welchen der Staat ſtets
auf der Seite des ſchwächeren Theiles ſteht, ſondern ſie zeigen uns eben
auf Grundlage des Obigen ein zweites Verhältniß, welches eben erſt
recht das Weſen des Amts beſtimmt. Der Staat iſt nämlich wie ge-
ſagt, in ſeiner Verfaſſung von der Geſellſchaftsordnung abhängig; anderer-
ſeits iſt das Amtsweſen deſſelben Staats wieder von der auf dieſe Weiſe
[286] organiſirten Staatsgewalt bedingt. Das Amtsweſen hat daher die ernſte
Aufgabe, die wahre und reine Staatsidee innerhalb des Staats gegen
diejenigen Elemente zu vertreten, welche gleichfalls innerhalb des Staats
die Gewalt und das Recht deſſelben für ihre Intereſſen ausbeuten wollen.
Das iſt das ſchwerſte von allem, und hier iſt es, wo ſich die eigentlich
ſittliche Kraft des Amtes zu entwickeln hat, und wo zugleich der Kern
der Geſchichte des Amtsweſens liegt.


Offenbar iſt nämlich die erſte Bedingung für dieſe Stellung und
Funktion des Amtsweſens die, daß jene Staatsidee nicht in der Ord-
nung der Geſellſchaft aufgehe, ſondern einen ſelbſtändigen Ausdruck
finde, ein Daſein, in welchem der Staat unabhängig und ſelbſtändig
über dieſer Geſellſchaft ſtehe, und daher auch von ihren Intereſſen nicht
beherrſcht werde. Das kann nun nur geſchehen, indem der Staat durch
das erbliche Königthum vertreten iſt. Das erbliche Königthum erſcheint
daher als ein abſolutes Moment des Staats, und wird es ſein, ſo
lange bis einmal die Sonderintereſſen in der Welt ſich freiwillig und
allgemein dem Geſammtintereſſe unterordnen. Das iſt das organiſche
Weſen des Königthums und ſeiner Unabhängigkeit von jeder andern
Gewalt. Und daraus folgt dann der erſte Satz für die Geſchichte des
Amtsweſens, daß es erſt mit dem Königthum entſteht, und daß ſeine
Bildung und ſein Recht mit dem Königthum ſtets auf das Engſte ver-
bunden ſind. Dieſe Verbindung mit dem Königthum iſt eben deßhalb
nicht bloß eine formale, ſondern ſie iſt eine höchſt innige. Denn beide
haben dieſelbe Aufgabe; das Königthum vertritt das Princip, das
Amtsweſen vertritt die Ausführung im Einzelnen: ſie bilden zuſammen
Einen großen Körper, deſſen Seele das Bewußtſein iſt, daß beide als
Eins die großen Bedingungen der Geſammtentwicklung gegenüber den
beſonderen Rechten und Intereſſen der herrſchenden Klaſſen im Allge-
meinen und ſpezieller Verhältniſſe im Beſondern zu vertreten haben.
Das Königthum iſt dem Amtsweſen daher noch mehr, als es dem Heer-
weſen iſt. Es iſt nicht bloß das perſönliche Haupt des großen Orga-
nismus, ſondern iſt der perſonificirte Ausdruck der Staatsidee, des Ge-
meinwohls ſelber, im Namen deſſen jedes Amt in ſeiner Weiſe funktionirt.
Das Amt bedarf des Königthums nicht bloß organiſch, ſondern es
bedarf deſſelben ethiſch; es bedarf deſſelben, um an ihm die Macht zu
haben, welche es in ſeinem Kampfe gegen die Sonderintereſſen hält
und trägt, und indem das Amt im Namen des Königs handelt, will
es damit keineswegs bloß ſagen, daß es im Namen der Staatsgewalt,
ſondern daß es zugleich im Namen des Gemeinwohls, im Namen der
ſittlichen Idee des Staates das thut, was ſeines Amts iſt. Und daher
darf ſich niemand wundern, daß bei keinem Theile eines Volkes die
[287] monarchiſche Geſinnung ſo tief wurzelt, als im Beamtenſtande. Kein
Beamteter kann ſich damit genügen laſſen, bloß den trockenen Buch-
ſtaben des Geſetzes zu vollziehen. Wäre er nichts als das, ſo wäre er
eben nur Mandatar der Gewalt, welche das Geſetz gibt; dieſe Gewalt
aber iſt einerſeits vorwiegend der Ausdruck der herrſchenden Intereſſen,
andererſeits hat ſie ſelbſt keineswegs alles mit wörtlichem Geſetze belegt.
Das Amt muß daher in vielen Dingen, und faſt immer in den kleinen
Fragen, welche am innigſten mit dem Leben des Volks in Berührung
ſtehen, im Geiſte des Staats handeln. Dazu bedarf es eines Namens,
eines Organes, eines Rechts, das dieſen Geiſt des Staats ihm und
dem Volke verkörpert; und das iſt der König. Und es iſt daher ein
tiefes Mißverſtändniß der organiſchen Idee des Staates, jene innige
Beziehung des Amtsweſens zum Königthum nicht zu wollen oder gar
anzugreifen. Wo das Amtsweſen ſich innerlich vom Königthum trennt,
da iſt nicht bloß Desorganiſation, da iſt eine tiefe, oft unheilbare Krank-
heit im innerſten Weſen des Staats vorhanden, und die Herrſchaft der
Sonderintereſſen nahe bevorſtehend.


b) Die Elemente ſeiner Geſchichte.

Auf dieſer Grundlage beruht nun auch die Geſchichte des Amts-
weſens im Ganzen, und indem wir jedem Theile des Amtsweſens wieder
ſeine Geſchichte vindiciren, können wir eben für das Ganze nunmehr
jene Grundzüge auch leicht bezeichnen.


Das Amtsweſen entwickelt ſich aus dem königlichen Dienſte in der
Zeit, in welcher das Königthum ſich an die Spitze der Geſammt-
intereſſen des Volkslebens ſtellt, und der königliche Dienſt ſcheidet damit
zwei Elemente, den eigentlichen Dienſt des Königthums und das Amt.
Nur muß man dieſe Gränze eben ſo wenig ſcharf ziehen wollen, als
man das Geſammtintereſſe von dem Sonderintereſſe ſcharf trennen kann.
Dennoch hat dieſe Sache ein feſtes Kriterium. So wie in der ſtändiſchen
Ordnung der dritte Stand als der noch recht- und machtloſe auftritt,
ſchließt er ſich als das Bürgerthum ſofort an das Königthum. Damit
zuerſt erhält das letztere gleichſam eine Subſtanz für ſeine allgemeine
Stellung, und die königlichen Dienſte, welche Recht und Intereſſe des
dritten Standes im Namen des Königs vertreten, bilden den Kern des
urſprünglichen Beamtenſtandes. Dieſer Anfang iſt noch ſehr unklar und
ungleichmäßig. Er gewinnt erſt Geſtalt, wo mit den Landſtänden die
königliche Aufgabe eine beſtimmtere wird. Der königliche Dienſt hat
jetzt dieſen Ständen gegenüber ſchon die Idee des Staats zu vertreten;
die Scheidung zwiſchen den Organen der Geſellſchaftsordnung und der
Regierung bildet ſich aus; es ſind mit den Ständen und den königlichen
[288] Räthen oder Abgeordneten ſchon zwei Syſteme der Staatsgewalt vor-
handen; jedes derſelben hat ſeinen Boden und ſein Recht und Ziel,
und der Kampf zwiſchen beiden beginnt.


In dieſem Kampfe wird nun das Königthum gezwungen, ſeine
ihm eigenthümliche Macht, das Amtsweſen, allmählig zu einem ein-
heitlichen Ganzen zu organiſiren. Es breitet ſich durch daſſelbe nach
allen Seiten hin aus und nimmt das ganze Leben des Volkes in ſich
auf. Je weiter es aber geht, um ſo hartnäckiger wird der Widerſtand
der herrſchenden Klaſſe. In dem Gefühle, daß es ſich hier nicht um
einzelne Rechte, ſondern um die ganze ſtändiſche Herrſchaft handelt,
wird jeder Punkt dieſes Rechtes von der letzteren auf das Aeußerſte
vertheidigt. Und hier zeigt es ſich nun, daß es ſich dabei nicht etwa
um Macht gegen Macht, ſondern um Princip gegen Princip handelt.
In der That nämlich treten die Diener des Königthums zunächſt nur
als Vertreter des perſönlichen Willens gegen das hiſtoriſche Recht der
Stände auf. Das aber kann nicht genügen; ſie bedürfen eines eigenen
Rechtstitels, um dem an ſich unzweifelhaften Rechtstitel der ſtändiſchen
Herren ein Gegengewicht zu geben. Das Aufſtellen dieſes Rechtstitels
iſt eine der wichtigſten Erſcheinungen im Staatsleben Europa’s. Er iſt
nicht plötzlich entſtanden, und auch nicht objektiv formulirt; aber er hat
dem Theile der königlichen Gewalt, welche eben mit dem allgemeinen
Intereſſe zu thun hat, erſt das Weſen des Amts gegeben. Die nun
entſtehende Beamtenwelt nahm ihn theils aus dem römiſchen Recht,
das dem Königthum das jus imperii gab, theils aus der Bibel, welche
die Obrigkeit als eine göttliche Ordnung anerkennt. Das erſte gab dem
Rechtstitel die Form, das zweite gab ihm den ethiſchen Inhalt. Der
Diener des Königs erhob ſich dadurch über das Stadium des bloßen
Dienſtes; er trat gleichſam in den Dienſt einer Idee; das Königthum
war ihm das perſonificirte Haupt derſelben, das Recht des Königthums
nicht ſo ſehr ein perſönliches Recht des Königs, als ein Recht der Staats-
idee; beide, Königthum und Amtsweſen, ſchöpfen ihr Recht aus der-
ſelben Quelle; und das iſt es, wodurch allmählig aus dem Diener des
Königs ein Beamteter wird. Den Wendepunkt aber bezeichnet das Auf-
treten des Wortes: „Obrigkeit.“ Der Begriff der Obrigkeit iſt mit dem
des bloßen Dienſtes unvereinbar: es iſt kein organiſcher, ſondern ein
ethiſcher Begriff. Das Fundament des Amtsweſens iſt gelegt. Wir
können ſagen, daß die erſte Epoche vollendet iſt. Es iſt das Ende des
ſechzehnten, der Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts.


In der That iſt aber dieſe Epoche nur der Anfang der Entwicklung.
Zwar iſt das Rechtsprincip des Beamtenweſens klar, aber es iſt weder
faktiſch noch rechtlich anerkannt. Die Idee des Staats, die in ihm
[289] lebendig iſt, ſtrebt nach allgemeiner Geltung. Den Ausdruck derſelben
bildet das Königthum. Das Königthum als ſolches nimmt alſo, nach-
dem es jetzt das organiſche Haupt des Staates iſt, die Staatsgewalt
in die Hand, und beginnt den Kampf mit dem Ständethum. Bei dem
tiefen Gegenſatze des Rechtstitels, dem geſellſchaftlichen und dem ſtaat-
lichen, iſt eine Vereinbarung nicht möglich. Es handelt ſich einfach um
Unterwerfung. Die Frage nach dem Königthum wird zur Machtfrage
des Königs. Und hier iſt es nun, wo das junge und kräftige Amts-
weſen dem Königthum mit ſeiner ganzen Kraft zur Seite ſteht. Es iſt
durchdrungen von dem Bewußtſein, daß nur die Einheit aller Organe
des Königthums zum Siege führen kann. Es unterwirft ſich daher
ſelbſt dem perſönlichen Willen des Königs; es läßt ſich organiſiren; es
lernt gehorchen. Der Gehorſam des Amts gegen das höhere Amt,
der Gehorſam, aller Aemter gegen den Willen des Königs wird als
erſte und abſolute Bedingung in dem Kampfe der Staatsidee mit dem
geſellſchaftlichen Recht anerkannt. Dabei freilich beginnt der Keim der
Selbſtändigkeit, welcher in der Idee der Obrigkeit liegt, zu verſchwinden;
die theoretiſchen Fragen, wie weit der Gehorſam gehe, wenn das König-
thum befiehlt, und die urſprünglich ſo viele Gemüther beſchäftigt, werden
unmerklich zur Seite geſchoben und als eine, das Weſen der Sache
nicht mehr berührende Caſuiſtik angeſehen; die Hauptſache iſt Gehorſam
gegen das Königthum, um Gehorſam vom ganzen Volke fordern zu
können. Mit dieſem Princip und der aus ihm entſtehenden Disciplin
ſiegt das Königthum. Es verdrängt zuerſt die geſellſchaftlichen Körper
aus der Geſetzgebung, indem die Landtage ſeit dem Beginne des acht-
zehnten Jahrhunderts verſchwinden; es verdrängt dieſelbe weiter aus
allen Gebieten der Verwaltung und ſetzt die Herrſchaft der Diener des
Königs an die Stelle der körperſchaftlichen Organe. Jede Oppoſition
dagegen iſt Oppoſition nicht bloß gegen den König, ſondern gegen das
göttliche Recht, gegen die Staatsidee und ihre Miſſion; ſie iſt es im
Ganzen, ſie iſt es im Einzelnen. Der perſönliche individuelle Gehorſam
gegen den König, die Auflöſung der Rechtstitel gegenüber dem König-
thum durchdringt allmählig vom Beamtenthum aus die ganze Nation;
Individuen ſowohl als Körperſchaften nehmen ihn zuerſt als Thatſache,
dann als eine Pflicht an, und gipfeln dieſen Proceß in der Idee des
Ruhmes des Gehorſams; der Staat iſt allmächtig, die Geſellſchafts-
ordnung iſt willen- und rechtlos, und der König iſt wirklich der
Staat
. Nie war ein Wort wahrer, als dieſes. Es gibt nichts, das
nicht dem perſönlichen Staate perſönlich angehörte. Die Machtfrage iſt
entſchieden, die Rechtsfrage iſt nicht mehr Gegenſtand des Zweifels,
es iſt die Epoche der ſouveränen königlichen Gewalt.


Stein, die Verwaltungslehre. I. 19
[290]

In dieſer Epoche nimmt auch Recht und Thätigkeit des Amtsweſens
eine andere Geſtalt an. Schon im ſiebenzehnten Jahrhundert hat die
entſtehende Rechtsphiloſophie die vage Vorſtellung von einem göttlichen
Rechte überwunden, und nach Gründen des Rechts und nach Zwecken
des Staats geſucht. Die Anſchauungen, die ſich um dieß Streben
kryſtalliſiren, legen ſchon jetzt die Idee des Gemeinwohls, die salus
publica
zum Grunde; die Regeln, nach welchen es erzielt werden ſoll,
empfangen in ihrer Geſammtheit ihre Namen nach der Staatskunſt der
Alten; die Politik ſoll die Aufgabe der königlichen Organe ſein. An
dieſen Namen ſchließt ſich der der Polizei. Bei der Polizei fängt die
innere Thätigkeit der Monarchie an; die Polizei iſt kein juriſtiſcher,
auch kein ethiſcher Begriff, ſondern er iſt ein ſtaatswiſſenſchaftlicher.
Er bezeichnet die Aufgabe des Königthums im Innern; er iſt die
Thätigkeit des Staats in ſeinen Organen. Und wie der Staat ſelbſt,
ſo hat auch er die Allgewalt, weil er die allgemeine Aufgabe ausſpricht;
er iſt das Kriterium dieſer Epoche, und in der Polizeiherrſchaft beſteht
die erſte Form einer wirklichen, das Ganze umfaſſenden und im indi-
viduellen Willen des Königs concentrirten Regierung.


In dieſer Epoche nun hat ſich während der Vernichtung der geſell-
ſchaftlichen Gewalten nur Eins erhalten. Das iſt das Bewußtſein der
einzelnen freien Perſönlichkeit. Sie iſt als ſolche von dem Principe
des polizeilichen Gehorſams zwar unterdrückt, aber nicht zerſtört. Sie
beginnt ſich Bahn zu brechen, und zwar zuerſt in den Philoſophien
des achtzehnten Jahrhunderts. Mit der Revolution gewinnt ſie feſten
Boden und Geſtalt; in der Induſtrie gewinnt ſie die ihr entſprechende
Form des Beſitzes; und ſo tritt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung
ins Leben, welche das gegenwärtige Jahrhundert beherrſcht. Sie erzeugt
ſofort auch eine neue Geſtaltung des Amtsbegriffes mit der neuen Idee
des Staates, die aus ihr hervorgeht.


Die Grundlage dieſer Epoche, die freie Perſönlichkeit, fordert zuerſt
und vor allem die Gleichheit Aller gegenüber dem Staate, aber auch
das Recht jedes Einzelnen, den Willen des Staates ſeinerſeits mit zu be-
ſtimmen. Das philoſophiſche Princip der Gleichheit aller Staatsbürger
wird zum juriſtiſch-adminiſtrativen Princip der Gleichheit ihrer Intereſſen.
Die Gleichheit der Intereſſen fordert aber, daß der Träger dieſer Gleich-
heit, der Staat, auch auf jedem Punkte berechtigt und verpflichtet ſei,
dieſe Gleichheit zu wahren. Damit geht der entſcheidende Proceß vor
ſich, durch welchen die Organe des Staats das ausſchließliche Recht
empfangen, die Regierung und Verwaltung als ein Ganzes in die Hand
zu nehmen. Es gibt keine andere Quelle eines öffentlichen Rechts und
einer öffentlichen Funktion mehr, als den Staat; jede Verbindung einer
[291] ſolchen Funktion mit dem bloßen Beſitze iſt beſeitigt; das geſammte Leben
des Staats iſt Ein großes, organiſches Ganze, und jedes Organ iſt
jetzt ein Amt des Staats; der alte Gegenſatz zwiſchen dem ſtändiſchen
Recht und dem Amte iſt daher verſchwunden; an die Stelle des Begriffes
der Hoheitsrechte tritt der Begriff und das Recht der Regierung.


Allein dieſe Regierung hat zu ihrem Gegengewicht jetzt zwar nicht
mehr die ſtändiſchen Körperſchaften, wohl aber die Geſammtheit des
Volkes in der Volksvertretung. Die Volksvertretung iſt jetzt die geſetz-
gebende Gewalt, und an den Unterſchied beider knüpft ſich eine Orga-
niſation von Rechtsverhältniſſen, welche wir unter dem Ausdruck der
Verantwortlichkeit zuſammenfaßten. Die verantwortliche Regierung
ihrerſeits iſt vorhanden im Amtsweſen. Die Verantwortlichkeit, als die
ethiſche und juriſtiſche Verpflichtung, in den einzelnen Funktionen der
Staatsorgane den Geiſt der Geſetze zu verwirklichen, gibt den einzelnen
Organen ein neues Element. Sie dienen jetzt, da die Staatsgewalt
die geſellſchaftlichen Körper bewältigt hat, nicht mehr dem Bedürfniſſe
der erſteren nach Macht, und ſind daher auch nicht mehr unbedingt an
den individuellen Willen ihres Hauptes gebunden. Sie ſtehen jetzt
gegenüber einem organiſch gebildeten Staatswillen; ſie ſind Organe
deſſelben und ihm verantwortlich. Und dieſe Verantwortlichkeit iſt es,
welche jedem dieſer Organe eine gewiſſe Selbſtändigkeit verleiht; denn
der Staat, dem ſie dienen, erſchöpft ſich nicht mehr wie einſt in Einer
Perſon und ihrem Willen. Dieß Verhältniß bezeichnen wir mit einem
Worte: es iſt die Verfaſſungsmäßigkeit. Und das Staatsorgan, auf
der Verfaſſungsmäßigkeit ruhend, iſt jetzt erſt das Amt im gegen-
wärtigen Sinn des Wortes.


So ſtehen jetzt der Begriff und das Recht des Amts auf der
Grundlage des Staatsbegriffes; mit der Entwicklung des Staatslebens
aber entwickelt ſich auch der äußere Organismus des Amtes, frei von
den Hemmniſſen der ſtändiſchen Rechte. Erſt jetzt erſcheint dieſe Orga-
niſation als eine auf der dauernden Natur des Staates beruhende,
und daher einerſeits ſelbſt dauernde, andererſeits eben darum auch
allenthalben gleichartige. Nicht mehr die Bedürfniſſe und Beſtrebungen
des Königthums nach ſeinem ſpeziellen Rechte gegenüber den ſtändiſchen
Rechten beſtimmen die Eintheilungen und den Zuſammenhang jenes
Organismus, ſondern die Ordnung der wirklichen großen Lebensverhält-
niſſe; das Amtsweſen erſcheint daher jetzt als ein Syſtem, und will
als ſolches betrachtet werden. Das Syſtematiſche iſt charakteriſtiſch für
dieſe Epoche, denn es geht aus der an ſich ewig organiſchen Einheit
des wirklichen Lebens hervor, an das es ſich anſchließt. Andererſeits
ſchließt das Amt die freie Selbſtthätigkeit des Staatsbürgerthums auch
[292] in der Regierung nicht aus. Es nimmt im Gegentheil die Selbſt-
verwaltung und das Vereinsweſen als gleichberechtigte Organismen an,
und ſo reiht es ſich in das Gefüge des Ganzen als ein ſelbſtändiges
Gebiet, das nicht mehr mit der Staatsidee gleich und ausſchließlich be-
rechtigt iſt, ſich für den Körper derſelben zu erklären, wohl aber be-
rufen, auf allen Punkten im Namen der Staatsidee das Geſammt-
intereſſe gegenüber dem Sonderintereſſe zu vertreten. Das nun hat hier
eine andere Bedeutung als in früherer Zeit. Die geſetzgebende Gewalt
ihrerſeits iſt eben ſo wenig der ganze Staat, als es die vollziehende
iſt. Gebildet aus dem Volke, vertritt ſie naturgemäß den Willen, aber
auch die Intereſſen und Auffaſſungen der Parteien und Richtungen im
Volksleben. Eben darum hat ſie das Recht, verſchiedene Anſichten
zu haben und zur Geltung zu bringen; es entſpricht ihrer Natur, daß
ſie in ihrer Arbeit nur formell zur Einheit gelangt, und daß das
Princip dieſer Einheit nicht die Ueberzeugung, ſondern das mechaniſche
Moment der Zahl iſt. Das Recht der Majorität muß nothwendig und
unter allen Umſtänden das Recht der Ueberzeugung erſetzen. Die Re-
gierung dagegen, indem ſie jetzt den Staat als perſönliche Einheit ver-
tritt, darf ihre eigene Thätigkeit nicht als eine bloß formelle Einheit
ſetzen. Sie muß innerlich eins ſein, um in dem Kampfe individueller
Anſichten der Volksvertretung das wirkliche Leben des Staats als ein
weſentliches und perſönliches vertreten zu können. Das iſt der Punkt,
auf welchem ſie in die Verfaſſung hineintritt, und auf dem die Macht der-
ſelben beruht. Und darum ſehen wir nun in dem geſammten Organismus
des Staatsamtes dieſe Forderung eine der großen Grundlagen des ganzen
Rechtes des Amtsweſens bilden, während andererſeits das Recht der freien
Perſönlichkeit auch im Beamteten ſich Geltung verſchafft. Das Amtsweſen
iſt daher jetzt kein einfaches Ganze mehr; es iſt aus dem Zuſammenwirken
der verſchiedenen obigen Elemente entſtanden, und ſeine Betrachtung bildet
daher jetzt ein ſelbſtändiges, hochwichtiges Gebiet der Staatswiſſenſchaft.


Dieß ſind nun die allgemeinen ethiſchen und hiſtoriſchen Grund-
lagen des Amtsweſens; aus ihnen iſt dasjenige hervorgegangen, was
wir das ſtaatsrechtliche Weſen des Amts nennen müſſen, und das wir
um ſo mehr hier zu bezeichnen haben, als es zu denjenigen Theilen
gehört, in welchen ſich die Individualität der großen Staatsbildungen
in erſter Reihe charakteriſirt.


c) Das ſtaatsrechtliche Weſen des Amts. Das Amt in England, Frankreich
und Deutſchland.

Iſt nun auf dieſe Weiſe das Amt nicht bloß formell und mecha-
niſch, ſondern ſeinem inneren Weſen nach ein lebendiges und ſelbſtändiges
[293] Glied des Staats, ſo muß es auch dieſen Staat innerhalb ſeines
Kreiſes vertreten. Es muß zu dem Ende das Recht der Regierungs-
gewalt für ſein beſtimmtes Lebensgebiet ausüben, d. i. es muß die Ver-
ordnungs-, Organiſations- und Polizeigewalt für ſeine ſpezielle Aufgabe
beſitzen; und dieß Recht auf dieſe, durch die Aufgabe des Amtes ſelbſt
gegebene Maß jener Gewalten nennen wir die Competenz des
Amtes. Dieſe Competenz wird aber aus einer bloß formalen zu einer
organiſchen, wie wir ſchon bei der Darſtellung der Competenz geſagt
haben, daß es der Organiſation nicht möglich iſt, alle Fälle und Ver-
hältniſſe der Competenz im Vorhinein zu beſtimmen; das Amt hat das
Recht, ſich ſeine Competenz ſelbſt zu ſetzen, unter amtlicher und privater
Verantwortlichkeit für die Ueberſchreitung derſelben. Gerade darin be-
ſteht die Theilnahme an der vollziehenden Gewalt und die Erhebung
über Mandat und Dienſt; es gibt kein Staatsrecht eines Amtes ohne
dieſes Recht deſſelben. Aus demſelben Grunde iſt das Amt ein dauern-
des
. Es iſt mit dem Satze gegeben, daß die Löſung einer Aufgabe
nicht von der Willkür der Organiſationsgewalt abhängt, ſondern vom
Staatsbegriff ſelbſt geſetzt iſt. Die Organiſation kann Namen und
Competenz, aber nicht die Nothwendigkeit des Amtes ändern; es iſt ein
organiſcher Theil des Staats. Und wie daraus wieder die Nothwendig-
keit des Berufes für den Dienſt des Staats hervorgeht, ſo erzeugt
daſſelbe andererſeits das Recht der Staatsdiener, das eben dadurch
nicht mehr ein bürgerliches, ſondern ein öffentliches Recht iſt. Deßhalb
kann es keinen wahren Staatsdienſt geben, ohne daß das Recht der
Staatsdiener den Charakter und die Stellung eines Theiles des öffent-
lichen Rechts habe. Gerade darin, daß dieſe Rechtsverhältniſſe jeder
Privatwillkür entrückt ſind, erſcheint die ſtaatliche Funktion des Amts,
durch welche es den ganzen Staat innerhalb ſeiner Competenz vertritt;
durch dieß öffentliche Recht erſt empfängt es das charakteriſtiſche Moment
der Regierung, die Selbſtändigkeit, welche die Vollziehung gegenüber der
Geſetzgebung fordern muß, und die ſich in der äußerlich begränzten,
innerlich freien Benutzung der drei Gewalten zeigt. Das Kriterium
des Verſtändniſſes des Amts liegt daher darin, daß das Recht deſſelben
einen ſelbſtändigen Theil der Verfaſſung bilde. Denn eben dieſe Selb-
ſtändigkeit des Amtsrechts drückt in der That diejenige der Verwaltung
gegenüber der Geſetzgebung aus, die das Weſen jeder Verfaſſung und
den Inhalt des Staatslebens bildet. Und ſo kann man jetzt ſagen,
daß das ſtaatsrechtliche Weſen des Amtes die Aufnahme deſſelben in
das verfaſſungsmäßige Staatsrecht bilde.


Gerade auf dieſem Punkte ſind nun die drei großen Culturvölker
weſentlich verſchieden geartet.


[294]

Es leuchtet ein aus dem Obigen, daß die allgemeine Vorausſetzung
des wahren Amtes in der Selbſtändigkeit der Vollziehung und Regierung
gegenüber der Geſetzgebung, aber andererſeits auch in dem organiſchen
Proceß liegt, der beide Elemente wieder in Harmonie bringt. Nirgends
erſcheinen dieſe Grundlagen des verfaſſungsmäßigen Staatslebens ſo
greifbar, als im Amt. Sein Recht iſt in Wahrheit das Maß des
letztern.


Daraus ergibt ſich, weßhalb es in England eigentlich kein Amt
im wahren Sinne des Wortes gibt noch geben kann. Denn in Eng-
land hat die Verwaltung, vor allem die des Innern, gar keine Selbſt-
thätigkeit gegenüber der Geſetzgebung. Sie hat grundſätzlich kein Recht
als das, die gegebenen Geſetze zu vollziehen; ja ihre einzelne Vollziehung
iſt ſelbſt immer nur die Exekution eines Richterſpruches, und die Ver-
antwortlichkeit des Beamteten iſt nur eine juriſtiſche; ſie iſt keine ethiſche,
und kann es nicht ſein. Es gibt daher in England keinen Beamten-
ſtand; es gibt keinen Beruf für das Amt; es gibt nicht einmal ein
Richteramt, ſondern die Geſchwornengerichte ſind in der That die
Aufhebung des ſelbſtändigen ethiſchen Beamtenſtandes im Richterthum.
Es gibt daher auch kein Amtsrecht; es gibt zwar Herkommen, das man
hält, aber kein Geſetz, das man halten muß. Weſentlich wirkt dazu
die Selbſtverwaltung. Sie hat ihrerſeits die Geſetzgebung zwar über
ſich, aber nichts anderes. Sie gehorcht nur dem Geſetz, niemals dem
Geſammtintereſſe als ſolchen, ſoweit es nicht ihr eigenes iſt. Das Ge-
ſammtintereſſe hat eben kein Organ für ſich; es iſt niemanden außerhalb
den Volksvertretern die ſittliche Pflicht auferlegt, daſſelbe zu verſtehen
und zu vertreten. Daher iſt der Beamtenſtand, wenn man von ihm
überhaupt reden will, ein höchſt unvollkommener in England; vielleicht
der unvollkommenſte in ganz Europa, und nur die Tüchtigkeit des In-
dividuums iſt der Schutz gegen all das Uebel, das daraus entſteht.
England beginnt das zu begreifen; man ſieht deutlich das Ringen nach
der Herſtellung des wahren Beamtenthums; aber es wird noch viel ſich
mühen und viel im Einzelnen leiden, ehe es dahin gelangt.


Und wieder iſt Frankreich das Gegentheil. In Frankreich iſt
die Verwaltung nicht bloß eine große, ſondern ſie iſt eine zu große
Macht. Sie iſt ein innerlich feſtgeſchloſſenes Ganze; ſie läßt nicht ein-
mal das Geſetz in ihre Thätigkeiten hineingreifen; ſie entſcheidet mit
grundſätzlicher Ausſchließung des Gerichts nur ſelbſt, und ganz einſeitig
über den Beamteten. Der Einfluß der Geſetzgebung auf das Einzelne
in der Verwaltung exiſtirt daher nicht; da wo die Ausführung beginnt,
beginnt auch der Grundſatz, daß der einzelne Beamte nur dem höheren
Organe verantwortlich iſt. Die Folge iſt, daß zwar für die Regierung
[295] als Totalität, nicht aber für den Beamteten das verfaſſungsmäßige
Recht gilt. Er iſt nichts, als das einfach ausführende Organ der
höhern Stellen. Er hat daher keine Selbſtändigkeit und keine Selbſt-
thätigkeit, und er kann keine haben; ſeine höchſte Gewalt iſt nicht mehr
das Geſetz, ſondern der Ausſpruch des Conseil d’État. Daher kennt
er auch keinen Beruf und keine individuelle ethiſche Aufgabe; er iſt
ein nur gehorchendes Organ, und braucht nichts zu verſtehen, als
eben den Gehorſam. Eine öffentlich rechtliche Selbſtändigkeit deſſelben
gegenüber der höheren Behörde iſt daher hier undenkbar; er kann gar
kein ſtaatliches Recht haben; er iſt nur ein dienendes Glied des Ganzen.
Und das liegt ſo tief im Weſen der ganzen franzöſiſchen Staatsbildung,
daß, wie wir geſehen, ſelbſt die Revolution es nicht zu ändern ver-
mocht hat.


Auf dieſem Punkt nun iſt es, wo Deutſchland entſchieden über
England wie über Frankreich ſteht. Es hat, wir möchten ſagen, von
jeher das lebendige Bewußtſein von dem wahren Weſen des Amts ge-
habt, und hat in gleicher Weiſe dieß Bewußtſein zum Recht ausge-
bildet. Nur in Deutſchland fordert das Volk, daß der Beamtete mehr
vertrete, als den bloß dienenden Gehorſam, wie in Frankreich, und daß
er mehr verſtehe, als ein Urtheil zu fällen, wie in England. Er ſoll
die wahren, höchſten Intereſſen des Lebens in ſich tragen; er ſoll ſie
verwirklichen, ſelbſt gegenüber der höheren Behörde. Er iſt in Deutſch-
land der örtlich erſcheinende, örtlich thätige Staat; er iſt nicht bloß
eine Macht, er iſt eine ſittliche, er wird dadurch eine ſittigende Potenz.
Er iſt im wahren, noch unverfälſchten Volksbewußtſein der natürliche
Vertreter des gemeinſam Guten und Nothwendigen, er iſt ſittlich den
Untergebenen verantwortlich, daß das Wahre und das Beſte geſchehe.
Daher iſt er auch der Träger der Bildung, und muß ſelbſt gebildet
ſein; es widerſpricht dem deutſchen Volksbewußtſein, daß der Beamtete
nichts anderes ſei und nichts anderes verſtehe und zu würdigen wiſſe,
als der Bürger. Seine Ehre beſteht darin, daß er den Muth einer
Meinung auf die Gefahr ſeiner Stellung habe; ſein Lohn zum großen
Theil in dem Bewußtſein, das eine ſolche Ehre gibt. Es iſt darum
der Mühe werth, in Deutſchland ein Beamter zu ſein; es iſt dadurch
erklärlich, daß das Beamtenthum einen Beruf hat und einen Stand
bildet; es iſt nothwendig, daß es zu dem Ende ein ſelbſtändiges öffent-
liches Recht beſitze. Das Amtsweſen iſt dadurch in Deutſchland nicht
bloß ein feſter Organismus, ſondern auch ein ſelbſtändiges Gebiet des
öffentlichen Rechts. Es iſt das ſchon früher geweſen; keine Umgeſtaltung
des Staatsorganismus hat das je ändern können und wollen; im
Gegentheil hat ſich aus allen Umwälzungen nur der Gedanke heraus-
[296] gebildet, daß das Amt in Organismus und Recht ein Theil der
Verfaſſung
ſein, und daß die Geſetzgebung dieſe Standespflichten
und Standesrechte der Beamteten nach allen Seiten hin aufrecht zu
halten habe. Die Theorie hat das nicht geſchaffen; aber man muß ihr
zur Ehre nachſagen, daß ſie es verſtanden, gefördert und gefeſtigt hat.
Und einen großen Schatz beſitzt Deutſchland in dieſer ſeiner, ihm eigen-
thümlichen und hoffentlich unverlierbaren Idee des Beamtenthums.


Dasjenige nun, was wir den Inhalt des Amtsweſens nennen,
wird erſt auf der Grundlage dieſer großen, wenn auch allgemeinen
Thatſachen recht klar werden. Denn in der That ſind alle einzelnen
Sätze des Folgenden doch nur die Conſequenzen jener Elemente; aus
ihnen haben ſie ſich gebildet, und auf ſie müſſen ſie zurückgeführt
werden. Unſere Darſtellung kann natürlich daher nur einen erſten
Verſuch bilden.


Das engliſche Amtsweſen hat in der That noch niemand verſtanden als
Gneiſt; ſelbſt Vincke in ſeiner Darſtellung der inneren Verfaſſung Großbrit-
tanniens hat kaum Andeutungen. Die übrigen Deutſchen, die mehr beiläufig
auf die Sache kommen, ſehen eigentlich nicht viel mehr darin, als entweder das
Recht der gerichtlichen Verantwortlichkeit des Beamteten, oder die Selbſtwahl
deſſelben, wobei noch in der Regel der Friedensrichter ganz mißverſtanden und
als ein Beamteter der Selbſtverwaltung angeſehen wird. Erſt Gneiſt hat das
wahre Weſen der Sache erfaßt, denn er iſt der Erſte, der es mit deutſchem
Leben in Vergleichung zu bringen die Kraft hatte. Es bleibt uns nichts übrig,
als auf ſein Werk und namentlich den Schluß des erſten Bandes hinzuweiſen.


Es iſt ſehr bezeichnend für Frankreich, daß es trotz der großen Ausbildung
des droit administratif keine Darſtellung des Amtsweſens und des Amtsrechts
hat. Die franzöſiſche Sprache hat eigentlich auch kein Wort für Amt und Be-
amteten, denn es entſpricht weder der Ausdruck Magistrature, das dem Wort
Obrigkeit am nächſten kommt, noch fonctionnaire, noch employé. Es gibt daher
auch keine Geſetzgebung über das Staatsdienerrecht; die betreffenden übrigens
ſehr reichhaltigen Geſetze beziehen ſich nur auf die Organiſation und die Com-
petenz. Frankreichs Amtsweſen kann überhaupt nur in inniger Verbindung mit
dem ganzen Verwaltungsrecht verſtanden werden. Einen Verſuch, den Geiſt des
Amtsweſens in Frankreich und ſeine Geſchichte darzuſtellen, enthält die ſchöne
Abhandlung von Barante, Questions constitutionnelles (1849) Ch. IV. des
emplois publics.
Das gegenwärtige Recht iſt mit großer Klarheit aufgeſtellt
in Block, Dictionnaire de l’Administration v. fonctionnaires.


Daß dagegen in Deutſchland das Amt Gegenſtand einer großen und ein-
gehenden Literatur geworden, liegt ſchon in dem deutſchen Weſen deſſelben.
Und es iſt ſelbſt bei untergeordneten Arbeiten auf dieſem Gebiete merkwürdig,
wie groß die Uebereinſtimmung in der Grundauffaſſung, in Philoſophie und
Staatsrecht iſt, ſo lange und ſo weit beide ſich überhaupt mit dem Gegenſtande
beſchäftigen.


[297]

Schon im ſiebzehnten Jahrhundert, und zwar gerade zu der Zeit, wo das
Recht des Volkes auf Theilnahme an der Geſetzgebung untergeht, ſehen wir
neben dem allgemeinen Begriff der „Obrigkeit“ auch das klare Bewußtſein von
der ganzen Stellung in dem Rechte des Amts entſtehen. Es löst ſich vom
bloßen königlichen Dienſte los, nicht aber vom Königthum; es trägt das Be-
wußtſein in ſich, die Aufgabe und damit das Recht des Staats zu vertreten.
Es erzeugt daher ſchon damals eine ſelbſtändige Literatur im Staatsrecht und
dieſe nimmt gleich anfangs dieſelbe Grundlage wie die gegenwärtige. Im Grunde
genommen haben wir noch immer keine beſſere Definition, und brauchen eigentlich
auch keine, als die, welche Myler ab Ehrenbach, Hyparchaeologia 1678,
gibt (I, 5.): Magistratus sive officialis etc. Praefectus societatis cui a Maje-
state, aut ab eo qui publica regendi potestate pollet, sub certo salario
concesso est potestas de negotiis Reipublicae cognoscendi, judicandi etc. —
ad utilitatem regendae Reipublicae, ut ipsum imperantem in oneribus rei-
publicae sublevet“
— da iſt der ganze Begriff des Amts, und weſentlich ſeine
Vertretung der Funktion des Staats deutlich ausgeſprochen. Moſer hatte die
ſchwierigere Aufgabe, in dem „Landesdiener“ das Amt ſeinem Weſen nach durch
„ſeine Pflichten gegen das Land“ vom fürſtlichen Diener zu unterſcheiden; aber
der Gedanke war derſelbe. Das Bewußtſein von der Sache ſtand ſo feſt, daß
das Preußiſche Allgemeine Landrecht (II, 10) ihm zuerſt geſetzlichen Ausdruck gab.
Die folgenden Zeiten haben am Weſen der Sache nichts geändert, im Grunde
nur gebeſſert. Zwar begriff die Rechtsphiloſophie nichts von der Sache; die
einen, wie Kant, Herbart und neueſtens Rößler, kamen gar nicht in den Staat
hinein, die andern wie Hegel kamen nicht aus ihm heraus, ſo daß namentlich
der letztere vom Amt nichts begreift, als daß es eine Arbeitstheilung ſei (Rechts-
philoſophie §. 290 ff.). Dagegen haben Stahl (Rechtsphiloſophie Bd. II,
11. Abtheil. Staatsämter) und in neueſter Zeit Fichte (Syſtem der Ethik, II,
11. Abtheil. §. 139) das höhere ethiſche Element in der Philoſophie wieder zur Gel-
tung gebracht, indem ſie den Begriff von Beruf und Stand auf das Amtsweſen
anwenden. Nur war ihnen die deutſche Geſetzgebung lange voraufgegangen. Wie
tief und richtig namentlich die preußiſche Geſetzgebung unter Stein die Sache
erfaßt, zeigt vor allem der Eingang zur Verordnung vom 16. Dec. 1808. Nach
ihm ſollen „die Beamten nicht wie bisher todte Werkzeuge in der Hand
der Fürſten
ſein, welche ohne eignen Willen die Befehle derſelben ausführen,
ſondern ſelbſtthätig und ſelbſtändig mit voller Verantwortlichkeit
die Geſchäfte beſorgen;“ ihr eigentlichſtes Weſen beruht darnach in der Verpflich-
tung „zur Arbeit für den Staat im Sinne des Königs.“ Man muß ge-
ſtehen, daß dieſe Geſetze die Theorie weit überholten; ſie haben ihr aber eine
geiſtige Auffaſſung über das Weſen des Beamtenſtandes beigebracht, welche
namentlich in Preußen dauernd geltend geblieben iſt. Siehe Perthes, Staats-
dienſt in Preußen, S. 30 ff. Dieſer Erſcheinung entſpricht im ſüddeutſchen Staats-
leben die Thatſache, daß gleich mit dem Entſtehen der Verfaſſungen das Staats-
dienerrecht und Amtsweſen in die Verfaſſungsurkunden unmittelbar aufgenommen
werden. Das Staatsdienerrecht iſt förmlich ein immanenter Theil der Ver-
faſſungen, und neben den Beſtimmungen der Verfaſſung beſtehen faſt in allen
[298] Ländern noch eigene Geſetze über den geſammten Staatsdienſt und ſeine Rechte,
die mit einer Uebereinſtimmung abgefaßt ſind, welche bei der tiefgreifenden Ver-
ſchiedenheit des Verfaſſungsrechts und namentlich bei der Unklarheit über die
Verwaltungsjuſtiz nur aus dem von uns bezeichneten Grundzug in der ganzen
deutſchen Auffaſſung erklärt werden können. Es iſt auch dem entſprechend der
Begriff und ſeine Geſchichte ſo genau unterſucht und ſo feſtgeſtellt, daß wir
wohl auf dieſen Theil des Staatsrechts vorzugsweiſe ſtolz ſein dürfen, wenn
gleich die obenbezeichnete Unbeſtimmtheit über Klag- und Beſchwerderecht in dem
einzigen Punkt der Haftung der Beamteten noch etwas unentſchieden läßt. Der
alte Grundgedanke aber, daß das Amt ein Beruf, und das Amtsrecht daher
ein öffentliches Recht eines Berufes und nicht ein einfaches Befehlsrecht
eines Organs gegenüber dem andern ſei, zieht ſich mit großer Beſtimmtheit
herrſchend durch alle Darſtellungen hindurch. Wir wollen daher nicht damit
rechten, daß namentlich in den deutſchen Staatsrechten das ganze Gebiet keine
ſyſtematiſche Stellung gefunden hat, und trotz Mohl und Pötzl, die es allein
richtig unter den Organismus ſtellen, auch noch in den Territorialrechten nicht;
die Bearbeitungen ſelbſt ſind unabhängig davon. Schon Bülau (Behörden
S. 85 ff.) bringt die Staatsbeamten unter die Behörden, gibt übrigens eine
ſehr gute Darſtellung des ganzen Weſens und des Rechts des Amts, auf die
Begriffe von Beruf und Amt geſtützt; die conſtitutionellen Staatslehrer laſſen
ſie ganz weg, wie Aretin; andere wie Mohl (Encyklopädie S. 244) ſehen nur
das Staatsdienerrecht, wie denn überhaupt das letztere den Hauptausdruck der
Auffaſſung aus hiſtoriſchen Gründen bildete; aber eine irgendwie weſentliche Ver-
ſchiedenheit der Auffaſſung kommt nicht vor; der einzige Haller (Reſtauration
des Staatsweſens I. 513, und II. 241) fällt in die rohe Vorſtellung des un-
freien Dienſtes zurück — eine Richtung, die auch nicht einmal die Romantik zu
acceptiren wagte. Wir dürfen daher hier verweiſen auf Zöpfl (Deutſches
Staatsrecht II. §. 514 ff.) der ſehr klar in den Begriffen und ſehr juriſtiſch
gründlich in der Ausführung iſt, neben ihm auf Zachariä (Deutſches
Staatsrecht II. 133 f.), der mit freiem Blick die Frage auffaßt. Der letztere
hat ſpeziell die Zuſammenſtellung der Geſetze, welche theils in der Verfaſſungs-
urkunde, theils in einzelnen Geſetzen über den Staatsdienſt erlaſſen ſind (S.
22. 23.), genau aufgeführt. Wir möchten hier nicht abſchreiben.


II. Das Syſtem des amtlichen Organismus.
Weſen und Princip deſſelben. Die beiden Kategorien.


Das Syſtem des amtlichen Organismus entſteht, wenn das Weſen
des Amts an ſich feſtſteht, dadurch, daß die Summe der einzelnen an
ſich unendlich verſchiedenen Aufgaben, welche die Regierung durch ihre
amtlichen Organe löst, wieder als eine Einheit erſcheint und die Organe
als ſolche funktioniren. Es enthält daher in ſeiner Entwicklung die
beiden Sätze, daß einerſeits keine wahre Staatsaufgabe ohne ihr
[299] eigenthümliches Amt mit der ihm entſprechenden Competenz bleiben darf,
und daß andererſeits dennoch in allen dieſen Aemtern derſelbe Wille
thätig ſein muß. Das Syſtem in dieſem Organismus iſt daher an ſich
ein nothwendiges Element des Staats.


Allein das wirkliche, geltende Syſtem, die wirkliche Vertheilung
der Aemter, ſowie ihr Zuſammenhang unter einander, ſcheinen den-
noch etwas zu ſein, für welches man keine allgemeinen, durchgreifend
geltenden Grundſätze aufſtellen kann. Denn einerſeits geht daſſelbe aus
der freien Organiſationsgewalt des Staatsoberhaupts hervor, anderer-
ſeits wird es auf allen Punkten durch die Zweckmäßigkeit beherrſcht,
und dieſe wird in jedem Staate etwas anderes fordern. Das Syſtem
des amtlichen Organismus erſcheint daher überhaupt nicht als ein
Gegenſtand der Wiſſenſchaft, ſondern nur der Statiſtik, oder aber der
Darſtellung des einzelnen poſitiven Staatsrechts. Und ſo iſt es gekommen,
daß bisher — mit der Ausnahme einer kurzen Epoche, die wir unten
charakteriſiren — die ganze Frage nach dem amtlichen Organismus
überhaupt aus den Lehren des Staats und des Staatsrechts verbannt
geblieben iſt.


Dennoch wäre es wohl wunderbar, wenn in einem ſo ſtrenge ge-
gliederten organiſchen Leben, wie dem des Staats, ein ſo unendlich
wichtiges Gebiet, wie das des Staatsorganismus, nicht auf beſtimmten
und erkennbaren Geſetzen und Gründen beruhen ſollte. Denn daſſelbe
enthält ja doch die Ordnung des Staatslebens und die Vertheilung ſeiner
Kräfte, und damit eine der weſentlichſten Bedingungen ſeiner geſammten
Wirkſamkeit. Iſt es denkbar, daß hier Willkür und Zufall walten ſollte?


In der That nun auch iſt das nicht der Fall. Die Aufgabe des
Folgenden iſt es, auch den Amtsorganismus als Gegenſtand wiſſen-
ſchaftlichen Verſtändniſſes zu erfaſſen, und ihn damit der allgemeinen
Staatslehre als einen keinesweges unwichtigen Theil zu vindiciren.
Freilich muß man auch dabei die gegebenen Thatſachen einen Augenblick
von dem Standpunkt der Urſachen betrachten, welche ſie erzeugt haben.


Der Amtsorganismus hat den Staat zu verwalten; der Staat
muß denſelben für dieſen Zweck erzeugen. Es wird daher im Allge-
meinen kein Zweifel ſein können, daß der geltende Amtsorganismus im
Ganzen — in der inneren und äußeren Geſtaltung, die er uns zeigt
— von der concreten Geſtaltung des Staatslebens ſelbſt abhängt.


Nun iſt dieſes letztere ein ganz anderes unter der Geſellſchaftsordnung
der Geſchlechter, der Stände und der freien Staatsbürger. Und es
iſt natürlich, daß demgemäß auch das Syſtem des geltenden Organismus
erſtlich für jene drei Grundverhältniſſe verſchieden, zweitens aber für
jedes einzelne derſelben in den einzelnen Staaten gleich ſein wird. Und
[300] dem iſt ſo, und es iſt die Entwicklung dieſes organiſirenden Principes,
welches den wiſſenſchaftlichen Inhalt des Syſtems des Regierungs-
organismus bildet. Von ihm aus iſt der Charakter jedes Staates und
jeder Zeit zu beſtimmen.


Offenbar nun hat die Staatsform der Geſchlechtsordnung keinen
Regierungsorganismus, und kann keinen haben. In der ſtändiſchen
Epoche dagegen iſt das Objekt der Verwaltung in der Wirklichkeit die
Summe der Beſitzthümer und der Rechte, welche das Königthum als
Vertreter des Staats beſitzt. Der Organismus ſeiner öffentlichen Thätig-
keit iſt daher durch die Zahl und den Umfang, der Name der Organe
durch die wirthſchaftliche oder adminiſtrative Natur der Objekte gegeben.
Man kann mit einem Worte ſagen, daß das Syſtem der Regalien die
Grundlage des Syſtems des Regierungsorganismus bildet; die vor-
liegenden Verhältniſſe des einzelnen Landes haben das dann im Einzelnen
geſtaltet; aber es iſt kein Zweifel, daß das Studium der Verwaltungs-
organe einen weſentlichen Beitrag zum Studium dieſes Rechtsgebietes
abgebe. Als dann mit dem Siege des Königthums die Selbſtändigkeit
der Grundherrſchaft und die Theilnahme des Volkes an der Geſetzgebung
verſchwindet, nimmt der Organismus einen höchſt centralen Charakter
an, und gipfelt in einem geheimen Cabinet und erſten Miniſter, ohne
daß eine andere Regel als der Wille des Fürſten maßgebend wäre,
während die Gebiete der eigentlichen Verwaltung ganz ihre frühere
Ordnung behalten. Erſt mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und der
Verfaſſung wird das anders.


Das innere Staatsleben unter der Verfaſſung nämlich wird von
zwei einfachen Grundſätzen beherrſcht, die auch in dem Organismus
durchgreifen. Das ſind die Gleichartigkeit und Einheit der Verwaltung
einerſeits, und die Verantwortlichkeit der Verwaltung gegenüber der
Geſetzgebung andererſeits. Die große Aufgabe der neuen Staatenbildung,
wie ſie mit der Epoche der Verfaſſungen entſtanden ſind, war es nun,
einen Organismus zu beſtimmen, der beiden Aufgaben zugleich zu ent-
ſprechen im Stande war. Es war klar, daß der frühere Organismus
dieſe Fähigkeit nicht beſaß; er geht deßhalb unter, ſowie die Ver-
faſſungen auftreten, und an ſeine Stelle tritt mit dem letztern ein
Syſtem, das in zwei großen Grundformen jene zwei Grundforderungen
der neuen Ordnung verwirklicht. Dieſe beiden Grundformen ſind das
Miniſterialſyſtem und das Behördenſyſtem. Der Charakter
des Miniſterialſyſtems iſt auf allen Punkten bedingt durch das Princip,
daß die Ordnung der Regierung die Verantwortlichkeit möglich
machen müſſe; das Behördenſyſtem dagegen hat die Aufgabe, unter
dem Miniſterialſyſtem die Gleichartigkeit und Einheit der eigentlichen
[301] Verwaltung in den örtlich und ſachlich verſchiedenſten Verhältniſſen
herzuſtellen. Wir müſſen daher ſagen, daß Miniſterial- und Behörden-
ſyſtem die nothwendigen Grundformen für die verfaſſungsmäßige Re-
gierung ſind; denn nur ſie entſprechen den Forderungen derſelben. Aber
freilich konnte ſich dabei keine Gleichförmigkeit des Organismus in allen
Ländern herſtellen. War die Verfaſſungsmäßigkeit eine verſchiedene, ſo
ward es natürlich auch der Organismus. Der innere cauſale Zu-
ſammenhang zwiſchen beiden hat nun wieder die Individualität der
erſteren in den Grundzügen des letzteren bedingt, und ſo ſehen wir bei
weſentlicher Gleichartigkeit dennoch tiefgehende Verſchiedenheiten, die am
letztern Orte doch erſt in der gemeinen Betrachtung der beiden einzelnen
Organe auftreten.


Es muß uns verſtattet ſein, ehe wir weiter gehen, den Charakter des Regie-
rungsorganismus der drei großen Kulturſtaaten hier zu bezeichnen. Es gehört
nicht bloß zum Verſtändniß derſelben, und man muß geſtehen, daß man ohne
dieſen Knochenbau der ganzen Verwaltung im Grunde gar kein klares Bild von
dem inneren Leben dieſer Staaten hat, ſondern es fehlt auch unſeres Wiſſens
bisher jeder Verſuch, eine Vergleichung aufzuſtellen. In der That iſt ſie aller-
dings unmöglich, ohne daß man den Organismus in ſeinem inneren Zuſammen-
hange mit den wirkenden Kräften des Staatslebens auffaßt. Wir haben aus-
gezeichnete Arbeiten für einzelne Länder, aber das Verhältniß derſelben zu ein-
ander und die Möglichkeit, ihren Charakter einfach zu formuliren, fehlt uns.


England. Der ſtreng durchgeführte Unterſchied des ſtändiſchen Lebens
einerſeits und die mächtige Thätigkeit der Selbſtverwaltung andererſeits haben,
wie ſchon öfter bemerkt, weder den völligen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft, noch die allgemeine Macht der Regierung entſtehen laſſen. England hat
daher weder ein eigentliches Miniſterial- und Behördenſyſtem, noch kann es
ein ſolches haben; beide ſind auf engliſchem Boden undenkbar. Die engliſchen
Miniſter ſind in der That Miniſter der Hoheitsrechte; zum Theil ſind
ſie noch im Stadium des Collegialſyſtems (ſ. unten). Eben ſo wenig hat Eng-
land Behörden im eigentlichen Sinne, ſondern nur Obrigkeiten. Es iſt daher
auch in England der Organismus niemals Gegenſtand einer ſelbſtändigen
Geſetzgebung geworden, ſondern nur ſtückweiſe entſtanden, und die Organe ſind
nur aus dem Bedürfniß, nicht aus dem Princip hervorgegangen. Dem ent-
ſpricht die Thatſache, daß England auch keine Verwaltungseintheilung, ſondern
nur eine Gerichtseintheilung hat, da die Funktion des Staates nur in der
Vollziehung gerichtlicher Urtheile beſteht, während die innere Verwaltung der
Selbſtverwaltung angehört. Der ganze engliſche Organismus iſt der Ausdruck
des Satzes, daß in England ſtatt des Staates die geſellſchaftliche Klaſſe herrſcht.
Dennoch ſind die Elemente des Miniſterialſyſtems, ſowie der Behörden da,
wenn auch höchſt unklar entwickelt (ſ. unten), und es läßt ſich nicht läugnen,
daß ſich allmählig der Regierungsorganismus mit Selbſtthätigkeit aus dem bis-
herigen Zuſtande zu entwickeln im Begriffe iſt. Aber ſo lange die „Amtsgentry“
[302] und das unbeſoldete Friedensrichteramt beſtehen, iſt an einen Organismus mit
Miniſterial- und Behördenſyſtem nicht zu denken.


Frankreich. Der ganze Organismus Frankreichs iſt ſeinerſeits die höchſt
einſeitige, aber in ihrer Art gewaltige Conſequenz des Satzes, daß die Ver-
waltung der Geſetzgebung zu gehorchen, und für dieſen Gehorſam ihr Verant-
wortlichkeit zu leiſten ſchuldig iſt. Daraus ergeben ſich zwei Grundſätze, welche
den ganzen franzöſiſchen Organismus beherrſchen, und die von den Bildungen im
ganzen übrigen Europa zum Theil als Muſter angenommen ſind. Der erſte iſt der,
daß die Verwaltung in all’ ihren wirklichen Thätigkeiten in dem Willen einer
einzelnen Perſönlichkeit zuſammengefaßt ſein muß, damit eine Verantwortlichkeit
möglich ſei; das iſt der Miniſter. Der zweite iſt, daß, um dieſe Verant-
wortlichkeit nicht zu umgehen, alle andern Regierungsorgane demſelben un-
bedingt gehorchen müſſen; und ſo entſteht das ſtreng gegliederte, rein auf die
Vollziehung berechnete Behördenſyſtem in Frankreich, deſſen Kategorien
Préfet, Sous-Préfet und Maire im ganzen Reich unbedingt gleichartig in Form
und Recht ſind. Die Strenge des Geſetzes hat hier die Selbſtändigkeit aller
Objekte deſſelben definitiv aufgehoben; wie der Wille Eins iſt, ſo iſt auch die
That Eins; es gibt keine Macht neben beiden, und jede Autonomie iſt ein un-
lösbarer Widerſpruch mit der franzöſiſchen Staatsidee. Allerdings haben dadurch
die franzöſiſchen Miniſter, wie die Behörden, einen ganz andern Charakter,
als in England und Deutſchland; ſie ſind eben nur Vollzugsorgane. Die
Folgen im Einzelnen werden ſich zeigen, wenn wir zu denſelben gelangen.


Deutſchland mit ſeinen eigenthümlichen Lebensverhältniſſen zeigt uns
ein ganz anderes, vielverwirrtes Bild; hier hat der Organismus der Regierung
nicht bloß im Ganzen, ſondern in jedem Staate wieder ſeine eigene Geſchichte.
Wir können hier nur dieſelbe mit wenig Worten charakteriſiren; vielleicht, daß
wir den Anſtoß zu tiefer gehenden Studien damit geben.


Dieſe Geſchichte wird nun auf allen Punkten beherrſcht durch das Geſetz
des innigen Zuſammenhanges zwiſchen Verfaſſung und Verwaltungsorganismus
einerſeits, andererſeits aber durch die neu entſtehende Frage nach der Möglich-
keit und der Geſtalt der Selbſtverwaltung gegenüber der Staatsgewalt.


Aus dem erſten Elemente geht eine neue Reihe von Erſcheinungen hervor,
die wir ſehr kurz charakteriſiren können. Allenthalben nämlich, wo Verfaſſungen
entſtehen, entſtehen auch eigentliche Miniſterien; und zwar theils mit der Ver-
faſſung als Theil derſelben, theils neben ihr als Ausfluß der Organiſations-
gewalt des Staatsoberhaupts. Dieſe Miniſterien finden ihre Heimath zunächſt
in den verfaſſungsfreundlichen Staaten des Südens, Bayern, Württemberg,
Baden, und treten endlich auch in Preußen, zuletzt definitiv ſeit 1848 in Oeſter-
reich auf. Allein hergenommen aus franzöſiſchem Vorbild, begleitet den Namen
und das Inſtitut deſſelben eine gewiſſe Atmoſphäre der allgewaltigen Regie-
rungsgewalt, gegen welche ſich die ſtaatsbürgerliche Freiheit ſträubt. Man will
allerdings einen verantwortlichen Miniſter, aber man will ihm doch nicht die
ganze Verwaltung in die Hände geben. Man fühlt, daß die franzöſiſchen Ideen
eine völlige Unſelbſtändigkeit aller öffentlich rechtlichen Beſonderheiten erzeugen,
und kann ſie dennoch weder entbehren, noch auch gegenüber dem hiſtoriſchen
[303] Rechte ihre Gränze finden. So entſteht aus dieſem zweiten Elemente die Frage,
welche Deutſchland ganz eigenthümlich iſt, und welche weder in England, noch
in Frankreich jemals hat aufgeworfen werden können, obgleich die deutſche
Literatur ſie als eine abſolut organiſche auffaßte, die Frage nach dem ſogenannten
Real- und Provinzialſyſtem, die wir noch immer nicht ganz überwunden haben.


Als nämlich mit dem Entſtehen der Verfaſſungen zugleich der Kampf gegen
dieſelben, und die Nothwendigkeit für die Regierungen in allen Staaten, ſich
eine den Bedürfniſſen entſprechende Organiſation zu geben, allgemein ward,
bemächtigte ſich nach dem Pariſer Frieden die Theorie der Frage, und es ent-
ſtand eine Menge von Schriften, welche ſpeziell die Politik der Organiſation
zum Gegenſtande hatte. Die Zeit, der dieſe Literatur angehört, dauerte nicht
lange. Zachariäs vierzig Bücher (1820), und Ancillons Staatswiſſenſchaft
(1820) nahmen ſie zwar auf, allein da ſie vorwiegend eine Frage der Zweck-
mäßigkeit zu enthalten ſchien, behandelten ſie ſie mehr beiläufig; Pölitz
und die Folgenden laſſen ſie ſchon ganz fallen. Dagegen entſtand eine Reihe
von ſpeziell für dieſes Gebiet beſtimmten Fachſchriften, in deren Reihe Butte
in ſeinem Buche: „Ueber das organiſirende Princip im Staate und der
Standpunkt der Kunſt des Organiſirens im heutigen Europa“ (Berlin 1822)
wohl den erſten Rang einnahm, bis ihn Malchus in ſeiner „Politik der
innern Staatsverwaltung oder Darſtellung des Organismus der Behörden
für dieſelbe“ (zwei Bände, 1823) bei weitem an Fachkunde und Gelehrſamkeit
übertraf. Zu derſelben Gruppe gehören noch namentlich v. Koch-Sternfeld
(Hiſtoriſch ſtaatsökonomiſche Anſichten von den Elementen des deutſchen Staats-
organismus, 1822), und A. Kurz (Verſuch einer Entwicklung der Grundſätze,
nach welchen die Zweckmäßigkeit des Staatsorganismus in conſtitutionellen
Ländern zu beurtheilen iſt, 1821), und die ganz praktiſche Darſtellung von
v. Kronberg (Encyklopädie und Methodologie der praktiſchen Staatslehre).
Später verſchwindet dieſe Richtung, da unterdeſſen die Regierungen mit ihren
Organiſationen ziemlich fertig wurden. Aber Eins blieb übrig, und das war
der Satz, den Malchus in folgenden Worten formulirt, die wir aufnehmen,
weil ſie eben zugleich den tiefen Unterſchied zwiſchen Deutſchland, Frankreich und
England, und die Geſtalt der Dinge in jener Zeit und zum Theil ja auch in der
unſrigen bezeichnen. „Es ſind,“ ſagt der Verfaſſer, „vorzüglich zwei Syſteme,
die bei einer jeden Organiſation zur Grundlage dienen, nämlich das Provin-
zialſyſtem
, in welchem eine jede Provinz mit beſonderen Einrichtungen
und Behörden
, nicht ſelten mit einer beſonderen Verfaſſung und be-
ſonderen Geſetzen ein für ſich abgeſchloſſenes Ganzes bildet — ſodann das
Realſyſtem, in welchem für den ganzen Staat eine gleiche Verfaſſung
ſtattfindet, die Verwaltung aber nach Normen, die für den ganzen Staat
die nämlichen ſind
, und durch Behörden, deren organiſche Einrichtungen in
allen Theilen eine vollkommen uniforme Bildung haben, geführt wird.“
Ganz offenbar iſt das Provinzialſyſtem im obigen Sinne das Syſtem des
früheren Jahrhunderts, und macht jede Verantwortlichkeit und damit jede
Verfaſſung faſt unmöglich, während das Realſyſtem gar nichts anderes iſt, als
eben das franzöſiſche Univerſalſyſtem. Aber da nun die neuen verfaſſungsmäßigen
[304] Eintheilungen der deutſchen Staaten die Gebietstheile derſelben „Provinzen“
nannten, während andererſeits der Ausdruck „Länder“ in jener Definition
gar nicht untergebracht werden konnte, ſo war ſchon durch die Ausdrücke ſelbſt
ſofort die Confuſion fertig, die bereits Malchus ſelbſt beklagt (S. 6, Anm. 1).
Dazu kam, daß alle Gründe für das Provinzialſyſtem in der obigen Bezeich-
nung zugleich Angriffe auf die verfaſſungsmäßige Miniſterordnungen waren,
und dadurch ſchon unmöglich wurden, während man doch andererſeits auch nicht
verkennen konnte, daß die in jenem Provinzialſyſtem angedeutete Selbſtändig-
keit wirklich höheren Bedürfniſſen entſprach; man ahnte, daß in ihm die Selbſt-
verwaltung verdeckt ſei, und fürchtete ſich, die letztere durch principielle An-
erkennung des Realſyſtems principiell zu verurtheilen. So kam man auch
ſpäter zu keinem Reſultat, und ließ lieber die Sache ganz liegen. Dennoch
haben ſich dieſe Ausdrücke erhalten, und das hat zur Unklarheit nicht wenig
beigetragen; denn wenn auch die neueren Staatslehrer, wie Zachariä, Zöpfl,
Bluntſchli u. A. ſchweigend darüber weggehen, ſo haben ſie doch nichts anderes
an die Stelle geſetzt, und jede Beſchäftigung mit der Frage fällt, wie wir
neuerdings in Gerſtners „Grundlehren der Staatsverwaltung“ ſehen, wieder
in jene Bezeichnungen zurück. Es wird nun aber klar ſein, weßhalb eine
Menge Gründe für und wider beide Formen zu gar keinem Reſultate führten,
da man ſich dabei auf einem ganz falſchen Boden bewegte. Man wollte die
Selbſtverwaltung vertheidigen, ohne das Miniſterialſyſtem aufzuheben, und
indem man dafür den obigen Begriff des Provinzialſyſtems beibehielt, kam
man mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, und mehr noch mit den Verfaſſungen, welche
mit dem Miniſterialſyſtem das Provinzialſyſtem unbedingt vernichteten, wäh-
rend ſie zugleich in den Landſchafts- und noch weit mehr in den Gemeinde-
ordnungen die Selbſtverwaltung anerkannten. In dieſer Verwirrung iſt nur
dadurch zu helfen, daß man eben jene Begriffe als Ausdruck nicht etwa zweier
entgegengeſetzter Syſteme, ſondern zweier Epochen der Organiſation anerkennt,
was ſie auch wirklich ſind, und einfach den ſtaatlichen Organismus und die
Selbſtverwaltung neben einander ſtellt. In der That iſt der durchgreifende
Charakter der deutſchen Verwaltungsorganiſation gegenüber Frankreich und
England eben dieſe Coordinirung beider Grundformen, während Frankreich
die Selbſtverwaltung der ſtaatlichen, England die ſtaatliche Verwaltung der Selbſt-
verwaltung unterordnet. Und daher iſt denn auch nur in Deutſchland ein wahres
Behördenſyſtem innerhalb des ſtaatlichen Organismus als zweites Glied des-
ſelben neben dem Miniſterialſyſtem vorhanden, während es in England gar nicht,
und in Frankreich nur als eine Ausdehnung des Miniſterialſyſtems exiſtirt. Das
dürfte im Weſentlichen der Charakter des Organismus dieſer drei Länder ſein,
und von ihm aus eine Vergleichung mit den übrigen nicht ſchwierig werden.


1) Das Miniſterialſyſtem.
Organiſche Bedeutung deſſelben.

Wenn wir nun dem Obigen zufolge das Miniſterialſyſtem von
dem Behördenſyſtem unterſcheiden als die erſte Form des amtlichen
[305] Organismus, ſo müſſen wir nunmehr dieſe Unterſcheidung durch die
Natur der ſpeziellen Funktion begründen, welches dieſer Theil des großen
ſtaatlichen Organismus hat, und welche ſelbſt wieder der weiteren Ein-
theilung und dem Rechte derſelben zum Grunde liegt.


Wenn die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die Selbſtändigkeit der
ſtändiſchen Rechte dem einheitlichen Willen des Staats unterordnet und
die Gleichheit der Thätigkeit des letztern auf allen Punkten durchführt,
ſo muß es einen Organismus geben, welcher allen Hauptgebieten der
Verwaltung im weiteſten Sinne dieſelbe perſönliche und einheitliche Form
gibt, die der Staat in ſeiner Verwaltung als Ganzes hat, während
ein zweiter Organismus dieſe Verwaltung mit den wechſelnden Beſonder-
heiten in Harmonie bringt. Jener erſte Organismus hat daher zur
Aufgabe, die möglichſt einfachen und gleichförmigen Grundſätze und
Regeln feſtzuſtellen, welche in der örtlichen und beſondern Thätigkeit
der Verwaltung durchzuführen ſind, er wird dieſe Aufgabe durch zwei
Thätigkeiten löſen, erſtens durch maßgebende Beſtimmung jener Regeln
und Grundſätze für die beſondere Verwaltung in der Form allgemein
gültiger Verordnungen, zweitens durch die Entſcheidungen der einzelnen
Fragen, welche durch die wirklichen Lebensverhältniſſe an den Mittel-
punkt der ganzen Verwaltung herankommen. Während daher der zweite
Organismus, das Behördenſyſtem, den weſentlichen Willen des Staats
beſtändig in ſeinen Verſchiedenheiten und Beſonderheiten auflöst, muß
der erſte beſtändig die Einheit wieder herſtellen. Und da nun dieſe Ein-
heit ſtets der Wille des Staats in der Form des Geſetzes iſt, ſo iſt
dieſer erſte Organismus derjenige, deſſen Aufgabe es iſt, beſtändig das
Geſetz mit ſeinen feſtſtehenden einheitlichen Beſtimmungen, und wo dieſe
mangeln, den Geiſt des Geſetzes zu verwirklichen. Das Miniſterialſyſtem
iſt daher derjenige Organismus, der der Träger des ſelbſtändigen
Willens des Geſetzes im Leben des Staats iſt, während das Behörden-
ſyſtem vielmehr die gegebenen Verhältniſſe des wirklichen Lebens ſeiner-
ſeits zur Geltung bringt und die möglichen Modifikationen des objektiven
Geſetzes zu vertreten hat. Eben dadurch iſt auch der ganze Organis-
mus, den wir als Miniſterialſyſtem bezeichnen, wie in ſeiner Funktion
ſo auch in den äußeren Formen ſeiner Thätigkeit weſentlich verſchieden
von dem Behördenſyſtem. Denn das Miniſterialſyſtem iſt niemals eine
ausführende, ſondern ſtets nur eine befehlende und entſcheidende Gewalt;
ſeine Thätigkeit beſteht in den Beſchlüſſen, mit welchen es die Thätig-
keit des Behördenſyſtems leitet; und eben dadurch iſt nur durch das
Miniſterialſyſtem die Verantwortlichkeit und der Inhalt derſelben im
verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrecht möglich. Denn es iſt offenbar, daß
durch die Unterſcheidung der Leitung und der materiellen Ausführung,
Stein, die Verwaltungslehre. I. 20
[306] welche in Miniſterial- und Behördenſyſtem gegeben ſind, das wahre
Objekt der Verantwortlichkeit nicht auf dem Akt der Ausführung
als ſolchem, ſondern auf dem Befehl als der Verordnung beruht;
denn dieſe ſoll den Geiſt der Geſetze enthalten, während jene das was
wir die Natur der Dinge nennen möchten, vertreten ſoll. Auf dieſen
Punkten beruht die organiſche Stellung des Miniſterialſyſtems als
eines ſelbſtändigen Theiles des Amtsorganismus.


In gleicher Weiſe aber gehen aus dieſer Stellung diejenigen
Elemente hervor, welche ihrerſeits den inneren Organismus des
Miniſterialſyſtems charakteriſiren. Man muß davon ausgehen, daß die-
ſelben nicht etwa willkürlich gemacht ſind, ſondern daß ſie wirklichen
Anforderungen der Aufgaben entſprechen, die jener Organismus durch
ſeine Stellung zu löſen hat. Eben deßhalb iſt es auch ganz natürlich,
daß die Grundzüge des Miniſterialſyſtems in allen Ländern mit Aus-
nahme Englands weſentlich gleichartig ſind; es iſt in der That nicht ſo
ſehr die Reflektion als die einfache Wirkung der Natur des organiſchen
Staatslebens in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, welche dieß Reſultat
durch ſich ſelbſt hervorgebracht hat und ſtets unter gleichen Umſtänden
in gleicher Weiſe hervorbringen wird. Jene Grundlagen des Miniſterial-
ſyſtems aber ſind erſtlich das einzelne Miniſterium mit ſeinem Orga-
nismus, zweitens die Eintheilung der Verwaltung in Miniſterien,
welche die Beſonderheit der Verwaltungsaufgaben vertritt, und drittens
die Einheit unter den Miniſtern, welche wir in der Form des Geſammt-
miniſteriums bezeichnen. Allerdings erſcheinen auch hier charakteriſtiſche
Verſchiedenheiten; aber überblickt man die europäiſchen Zuſtände, ſo iſt
es kein Zweifel, daß wir hier mit den großen Grundformen einer ganzen
Epoche der Geſchichte der Verwaltung zu thun haben, mit derjenigen
Epoche, welche eben auf dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
über die ſtändiſche Herrſchaft beruht.


a) Das einzelne Miniſterium. Das alte Collegialſyſtem. Weſen des Miniſteriums.
Elemente ſeiner Organiſation. Miniſterrecht.

Derjenige Organismus im Staate, den wir das einzelne Mini-
ſterium nennen, iſt am meiſten das charakteriſtiſche Kennzeichen der ver-
faſſungsmäßigen Verwaltung, und eben deßhalb im Großen und Ganzen
ebenſo leicht von den früheren Grundformen zu unterſcheiden. als es
leicht in ſeiner Funktion, ſeiner daraus entſtehenden Organiſation und
ſeinem Rechte zu charakteriſiren iſt.


Die Vollziehung an ſich fordert allerdings für jedes einzelne
Lebensgebiet ſtets einen eigenen Organismus und hat einen ſolchen
ſtets gehabt. Allein dieſe Lebensgebiete ſind für den Staat eben nicht
[307] bloß in Umfang und Inhalt, ſondern ihrem ganzen Charakter nach ſo
tief verſchieden, daß wir den entſprechenden Unterſchied auch in der
Formation der Spitze der Verwaltungsorgane wieder finden. Faſt in
ganz Europa war dieſer, für ein einzelnes Verwaltungsgebiet beſtimmte
Organismus früher ein Körper von Räthen mit einem Präſidenten an
der Spitze, eine Ordnung, welche wir mit einem Worte als das
Collegialſyſtem bezeichnen, während er gegenwärtig als ein eigent-
liches Miniſterium erſcheint. Das Weſentliche des Unterſchiedes beider
liegt nicht in ihrer Form, ſondern in dem Principe der Verwaltung
ſelber, und ihres Verhältniſſes zur geſetzgebenden Gewalt.


1) So lange nämlich die geſetzgebende Gewalt nicht ſelbſtändig
neben der vollziehenden ſteht, iſt allerdings dem Principe nach die
Perſon des Fürſten als Inhaber der Staatsgewalt zugleich der Träger
der Geſetzgebung, und der Unterſchied zwiſchen Verordnung und Geſetz
iſt ein rein formeller, da jede Verordnung als Ausfluß des Willens
des Geſetzgebers erſcheint. Allein in Wirklichkeit wird, namentlich für
die einzelnen Verwaltungsgebiete, die Geſetzgebung doch durch die
höchſten Organe der Verwaltung ausgeübt, welche Vorſchlag und Durch-
führung des Geſetzes in Händen haben. Jeder höchſte Verwaltungs-
organismus erſcheint daher damals zugleich als ein Organ für die Ge-
ſetzgebung innerhalb ſeiner Competenz, und ſeine Entſcheidungen haben
dadurch zugleich den Charakter eines richterlichen Ausſpruches. Dadurch
nun wird es nothwendig, aus dieſen Verwaltungsorganen berathende
Organe für die zu erlaſſenden Geſetze, Verordnungen und Entſcheidungen
für den perſönlichen Willen des Fürſten zu machen. Ein ſolches Organ
aber iſt ohne Werth und Wirkung, wenn jedes Glied deſſelben nichts
iſt als ein Organ der Ausführung. Es muß vielmehr eine gewiſſe
Selbſtändigkeit beſitzen; es geht ein Theil des Rechts der Volksver-
tretung auf die Aufrechthaltung einer freien ſubjektiven Anſchauung auf
daſſelbe über; jedes Glied iſt dem andern ganz gleichberechtigt, und
trägt, weil es die beſondern Verhältniſſe ſeines ſpeziellen Gebietes per-
ſönlich bei dem Fürſten als Geſetzgeber vertritt, auch einen Theil der
perſönlichen Verantwortlichkeit für ſeine Meinung. Daß es dieſe Ver-
antwortlichkeit nur dem Fürſten gegenüber hat, ändert das Weſen der-
ſelben nicht. Dazu kommt, daß in der ſtändiſchen Epoche die ſtändiſchen
Rechte als ſolche eine Vertretung fordern, welche damit zu der Aufgabe
des einzelnen Mitglieds der höchſten Verwaltungsorgane wird; durch
alles dieß gewinnt das letztere einen ganz ſpecifiſchen Charakter. Jedes
Mitglied iſt neben ſeiner rein vollziehenden Funktion zugleich ein Rath
des Fürſten, und zwar für die geſetzgeberiſche Thätigkeit; dieſe Räthe
ſind, jeder für ſich, ſelbſtändig; zuſammengefaßt durch die Gemeinſchaft
[308] des Gegenſtandes ihrer zugleich geſetzgeberiſchen, richterlichen und voll-
ziehenden Thätigkeit bilden ſie ein Collegium; die Ordnung des
Collegiums beruht auf der Selbſtändigkeit ſeiner Räthe; das Votum
jedes Rathes iſt gleich dem eines andern, und hat das Recht, als
ſolches gehört zu werden; die Leitung des Collegiums iſt eben deßhalb
nur eine formelle; es hat daher einen Präſidenten, aber dieſer
Präſident iſt nur der erſte unter den gleichen, und das auf dieſe Weiſe
entſtehende Syſtem der Verwaltungsthätigkeit, in der eben Geſetzgebung
und Verwaltung ununterſcheidbar gemiſcht ſind, nennen wir das
Collegialſyſtem.


2) Das Collegialſyſtem mit der Selbſtändigkeit der Räthe und
ihrem eigenen Votum, dem Präſidenten und der Präſidialleitung iſt
daher die charakteriſtiſche Form der Epoche, welche noch Geſetzgebung
und Verwaltung verſchmolzen hat und nur die individuelle Verant-
wortung gegenüber der Perſon des Fürſten kennt. Es iſt klar, daß
die Nützlichkeitsgründe hier gar keinen Raum haben. Naturgemäß hat
es ſich entwickelt; es herrſcht in Gemäßheit der ganzen Organiſation
der Staatsgewalt im vorigen Jahrhundert, und iſt ebenſo naturgemäß
mit dem Auftreten der verfaſſungsmäßigen Verwaltung trotz vieler
Aehnlichkeit in den Formen in das weſentlich verſchiedene Miniſterial-
ſyſtem übergegangen.


3) So wie nämlich durch die Scheidung der Geſetzgebung von der
Verwaltung Geſetz und Verordnung ſich trennen, und die Verwaltung
als Ganzes vermöge der Verantwortlichkeit in Harmonie mit der Geſetz-
gebung gebracht wird, ſo muß auch das beſtimmte, einzelne Verwaltungs-
gebiet als ein Ganzes daſtehen, und die Thätigkeit der Organe als
eine, einem perſönlichen Willen unterworfene Einheit erſcheinen. Ohne
eine ſolche Einheit iſt die Idee einer Verantwortlichkeit ein leeres Nichts.
Sie erzeugt daher ein ganz neues Verhalten der höchſten Organe für
jedes Verwaltungsgebiet. Sie faßt zuerſt das letztere in Einer Perſön-
lichkeit zuſammen, welche die Funktion hat, den einheitlichen Willen des
Geſetzes in allen einzelnen Theilen des an ſich als gleichartig geſetzten
Gebietes zur Geltung zu bringen, und der eben für dieſe Geſetzmäßig-
keit der letzteren die perſönliche Verantwortung trägt; dieſe Perſönlich-
keit iſt der Miniſter. Der Miniſter muß daher nothwendig erſtens die
wirkliche Thätigkeit ſeiner Verwaltung kennen, zweitens muß er darüber
entſcheiden. Es muß daher das Verwaltungsgebiet des Miniſters formell
eben ſo getheilt ſein wie unter dem Collegialſyſtem; aber die einzelnen
Abtheilungen ſtehen nicht mehr unter den früheren Räthen, ſondern
unter Referenten. Es iſt natürlich gleichgültig, welchen Namen ſie
haben. Das Weſentliche liegt in der qualitativ verſchiedenen Thätigkeit.
[309] Der Rath hat ſich eine individuelle Ueberzeugung nicht bloß zu bilden,
ſondern ſie auch ſelbſtändig zu vertreten, da im Grunde nur der Fürſt
perſönlich entſcheidet; der Referent hat keine Entſcheidung, ſondern nur
eine Anſicht aufzuſtellen, und die Entſcheidung gehört dem Miniſter.
Er muß ihm daher die Elemente der Entſcheidung vorlegen; dieſe ſind
erſtlich die Thatſachen, und zweitens ein Antrag. Der Vortrag des
Referenten wird daher ſtets den Charakter eines Berichtes haben, während
der Vortrag des Rathes ein begründetes Urtheil iſt. Die Selbſtthätig-
keit des Rathes iſt daher größer; aber die Einheit der Aktion kann nur
auf dem Referate beruhen. Die Geſammtheit der Referenten für den
Miniſter und unter ihm bildet das Miniſterium. Daß jeder Referent
wieder ein eigenes Organ für ſeine Thätigkeit, ſein Bureau, hat,
verſteht ſich. Wie es genannt wird, iſt einerlei. Die Sektion iſt
eine Geſammtheit von Referenten oder Bureaus mit gleichartigem Ge-
biet. Sie iſt eigentlich die Form, in welcher ſich das Collegialſyſtem
im Miniſterialſyſtem wiederholt, denn der Sektionschef hat nichts zu
entſcheiden, ſondern die Referate berathen zu laſſen. Hier ſind in der
Ausführung verſchiedene Modalitäten möglich und vorhanden. Sie
ändern das Weſen der Sache nicht. Das Miniſterium iſt in allen
Staaten Europas grundſätzlich gleichgeſtaltet.


4) Das Recht des Miniſteriums, vertreten in dem Rechte des
Miniſters, iſt nun demgemäß nichts anderes als der Ausdruck ſeiner
organiſchen Funktion im geſammten Organismus. Es erſcheint daher
in zwei Grundformen.


Zuerſt beruht die organiſche Stellung des Miniſteriums darauf,
das entſcheidende Organ für die Vollziehung überhaupt zu ſein. Es
muß daher das Recht in Anſpruch nehmen, daß jeder Akt der Voll-
ziehung als von ihm ausgehend geſetzt werde. Es kann daher im
Miniſterialſyſtem gar kein Gebiet des wirklichen Staatslebens geben,
das nicht in irgend einer Weiſe unter irgend einem Miniſterium ſtünde,
nur mit Ausnahme der Organe der Staatsgewalt. Ohne die ſtrenge
Durchführung dieſes Grundſatzes iſt keine Durchführung der Verant-
wortlichkeit denkbar.


So einfach dieſer Grundſatz für den Regierungsorganismus oder
das Amtsweſen iſt, ſo ſchwierig und bedeutungsvoll wird derſelbe für
die Thätigkeit der Selbſtverwaltung und der Vereine. Beiden ſteht,
wie wir ſehen werden, ein Recht der ſelbſtändigen vollziehenden Thätig-
keit zu. Dieſelbe greift auf allen Punkten gleichſam mitten in die Funktion
der Regierung hinein. Es ſind verhältnißmäßig nur ſehr wenige Ge-
biete der letzteren, die nicht durch Landſchaft, Gemeinde und Vereine
beſtimmt werden. Das Princip der freien Perſönlichkeit fordert dieſe
[310] Selbſtändigkeit; das Princip der Verantwortlichkeit dagegen fordert die
Abhängigkeit; die volle Selbſtändigkeit derſelben auch innerhalb der
geſetzlich beſtimmten Gränzen würde jede Verantwortlichkeit in ſehr
wichtigen Fällen aufheben; ſie würde dieſelbe grundſätzlich auf das
Amtsweſen beſchränken, und ſtatt einer wahren Verantwortlichkeit im
Sinne der Verfaſſung nur eine ſtreng adminiſtrative, nur auf
eigentliche Amtshandlungen bezügliche erzeugen. Die Selbſtverwaltung
und das Vereinsweſen aber wären damit für den auf ſie entfallenden
Theil der Vollziehung ganz unverantwortlich.


Die verfaſſungsmäßige Entwicklung des neueren Staates hat
dieß gefühlt. Es ward nothwendig, beide Principien zur gemeinſchaft-
lichen Geltung zu bringen. Das geſchah, indem man einerſeits das
Recht dieſer Körper der Genehmigung unterwarf, andererſeits es
unter die Oberaufſicht ſtellte. So entſtand dasjenige, was wir als
das Princip des öffentlichen Rechts der Selbſtverwaltung und
des Vereinsweſens erkennen, die Regelung ihrer ſelbſtändigen Thätigkeit
innerhalb der Geſammtthätigkeit des Staatsorganismus. Die Dar-
ſtellung dieſes Rechts bildet eben den Inhalt der folgenden Abſchnitte.
Klar iſt aber ſchon hier, daß das Miniſterialſyſtem ohne die Anerkennung
der beiden Rechte der Genehmigung und der Oberaufſicht gegenüber den
Formen der freien Verwaltung kein Syſtem der Regierung, ſondern
nur ein Syſtem des Amtsorganismus in der Regierung eines Staates
iſt, und daß ohne ſie dem Lebensprincip der verfaſſungsmäßigen Ver-
waltung die Spitze genommen wird. Wie nun dieſe Gränze des Rechts
der Miniſterien im Einzelnen zu beſtimmen iſt, gehört wie geſagt den
folgenden Darſtellungen.


Zweitens beſteht die organiſche Funktion des Miniſteriums darin,
in die Thätigkeit der Vollziehung die Einheit des Staatswillens hin-
einzubringen. Daraus geht die eigentliche Stellung deſſelben im Amts-
organismus hervor. Das Miniſterium hat nichts auszuführen,
ſondern es hat nur zu verordnen. Die ausführenden Organe bilden
ein Syſtem für ſich, das wir das Behördenſyſtem nennen. Die Be-
hörden ſind ihrer Natur nach in der Lage, in dem allgemeinen Staats-
willen die, durch die concreten Verhältniſſe motivirten Modifikationen
zur Geltung zu bringen. Das Miniſterium iſt dasjenige Organ, welches
in dieſer Verſchiedenheit der behördlichen Thätigkeit die Einheit der
Verwaltung herzuſtellen und zu erhalten hat. Dieß geſchieht weſentlich
durch die Ausübung der Verordnungsgewalt in allen ihren Formen.
Das Miniſterium iſt daher der eigentliche Träger der Verordnungs-
gewalt, während die Organiſationsgewalt meiſt durch das Staatsober-
haupt, die Polizeigewalt meiſt durch die Behörden ausgeübt wird.
[311] Daher iſt es das zweite organiſche Recht des Miniſteriums, daß keine
Verordnung ohne Zuſtimmung des Miniſteriums erlaſſen werden darf.
Dieſes Recht erſcheint gegenüber der Staatsgewalt und ihrem Recht
auf Verordnung in der Form der Gegenzeichnung, gegenüber den
freien Verwaltungskörpern in der Form der Genehmigung. Inner-
halb des eigenen miniſteriellen Verwaltungskörpers kann man die Ver-
ordnungen
, welche an die Geſammtheit der Staatsbürger gerichtet
ſind, von den Erläſſen, welche an die Regierungsorgane über ihre
Thätigkeiten und Anfragen ergehen, unterſcheiden. Alle dieſe Formen
der verordnenden Gewalt bezeichnen zugleich die Thätigkeiten des Mini-
ſteriums im organiſchen Leben der Vollziehung. Seine Stellung in
der Geſetzgebung gehört der Verfaſſung, und beruht einerſeits auf dem
Rechte der Einbringung von Geſetzen, andererſeits auf der ethiſchen
Verpflichtung, die bei höherem verfaſſungsmäßigen Leben zu einer
politiſchen Nothwendigkeit wird, die Stellung des Miniſters aufzugeben,
wenn zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung ein unausgleichbarer
Unterſchied der Auffaſſung beſteht. Hier beginnt ein anderes Gebiet
von Grundſätzen und Erſcheinungen.


b) Eintheilung in die einzelnen Miniſterien.

Die Eintheilung des geſammten Gebietes der Verwaltung in ein-
zelne Miniſterien erſcheint auf den erſten Blick als eine theils zufällige,
theils von reinen Nützlichkeitsgründen beherrſchte. Dennoch iſt auch ſie
auf das Engſte mit der organiſchen Geſtaltung der vollziehenden Ge-
walt verwebt und von großer Bedeutung.


Da das Weſen der verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeit es fordert,
daß in der Vollziehung gar kein Theil gänzlich außerhalb irgend eines
Miniſteriums ſtehe, ſo bildet die Geſammtheit der Miniſterien zugleich
die Geſammtheit des wirklich thätigen Organismus des Staatslebens,
und die Eintheilung in die einzelnen Miniſterien muß daher als die
Geſtalt der Vollziehung betrachtet werden.


Demnach leuchtet es ein, daß dieſe erſt dann zu einer ſyſtema-
tiſchen, von höheren Bedeutungen beſtimmten Ordnung gelangen kann,
wenn die vollziehende Gewalt ſich von der geſetzgebenden getrennt hat
und ſelbſtändig daſteht. Erſt dann können die in ihr liegenden Ele-
mente zu ihrer Geltung gelangen. Und ſo iſt es auch hiſtoriſch geweſen.


So lange nämlich in der ſtändiſchen Verwaltung ſich Königthum
und ſtändiſches Recht gegenüber ſtehen, und der Staat in Geſetzgebung
und Verwaltung zwiſchen beiden getheilt iſt, wird überhaupt die ver-
waltende Thätigkeit des Königthums theils eine ſehr verſchiedene ſein,
theils wird die Ordnung derſelben weſentlich, wie ſchon erwähnt, auf
[312] dem Syſtem der Collegien und der Räthe beruhen, die zwar zuſammen
einen Körper bilden, aber von denen jeder perſönlich unter dem Landes-
herrn ſteht. Hier iſt eine organiſche Eintheilung ſchon an und für ſich
nicht möglich. Andererſeits hängt die Vertheilung der wirklichen Ge-
ſchäfte vom Landesherrn ſelbſt ab; er wird ſie nach den gegebenen An-
läſſen oder nach ſeiner Willkür einrichten. Sie wird daher ſtets zu-
fällig oder willkürlich ſein.


Eben ſo wenig wird hier eine feſte Ordnung entſtehen, wo die
Epoche des ſouveränen Fürſtenthums eintritt. Daſſelbe kennt keine
Miniſterien, ſondern nur Diener der Krone. Die abſolute Natur dieſer
Epoche drängt vielmehr zur Aufſtellung eines oberſten, eines Premier-
miniſters, der alle Geſchäfte in ſeiner Hand vereinigt. Die hiſtoriſche
Eintheilung der Länder greift dann ihrerſeits auch in der Verwaltung
durch, und ſtatt einer Ordnung nach den Aufgaben wird die Ordnung
nach den Provinzen die Grundlage der Vertheilung der Geſchäfte wer-
den, ſo daß auch hier nur von einer hiſtoriſchen Geſtalt und nicht von
einem ſyſtematiſchen Ganzen die Rede ſein kann.


Erſt mit der verfaſſungsmäßigen Verwaltung tritt die organiſche
Eintheilung der vollziehenden Gewalt als ein nothwendiges Correlat
derſelben auf. Die Nothwendigkeit, für alles was im Namen des Staats
geſchieht, perſönlich einſtehen zu müſſen, erzwingt den Grundſatz, das
Gleichartige, das von einem und demſelben Willen beherrſcht werden
kann, als ein ſelbſtändiges Ganze zuſammen zu faſſen. Hier muß da-
her das geſammte Gebiet des wirklichen Lebens in ſeine gleichartigen
Grundverhältniſſe aufgelöst und jedes derſelben als ein ſelbſtändiger
Zweig des Staatslebens hingeſtellt werden. Dieſe Eintheilung hat hier
daher einen weſentlich andern Charakter als in den früheren Epochen.
Sie iſt nicht mehr eine Sache der Zweckmäßigkeit; ſie iſt eine noth-
wendige Bedingung der verfaſſungsmäßigen Verwaltung; ſie iſt zur
unabweisbaren Conſequenz des Princips der Verantwortlichkeit geworden,
und die ſyſtematiſche Eintheilung der Miniſterien wird dadurch zu einem
Grundſatz für die Verwirklichung einer jeden Verfaſſung.


Es folgt daraus, daß ſie ſich mit derſelben auch in gleichem Schritte
verwirklicht; und auf dieſem Grundſatz beruht die Geſchichte derſelben.
Das erklärt, warum in England, wo die Verfaſſung und die geſetzgebende
Gewalt nur erſt ſehr langſam gegenüber der Selbſtverwaltung zur Gel-
tung gelangt iſt, das Miniſterialſyſtem noch in ſo vielen weſentlichen
Punkten höchſt unklar erſcheint; es erklärt, weßhalb in Frankreich mit
der Revolution die fertige Eintheilung der Miniſterien in ihren, für das
übrige Europa gültigen Grundformen gleichzeitig auftritt. Es erklärt
endlich auch die beſonderen Verhältniſſe der deutſchen Staaten und ihre
[313] Unklarheit, welche von der Unklarheit der Theorie über dieſe Frage
begleitet iſt. Von ihm aus laſſen ſich dann ferner die Elemente der
wirklichen Eintheilung beſtimmen. Und hier erſt gewinnt die letztere
ihre Bedeutung.


Zuerſt nämlich zeigt ſie uns in ihren Grundformen die weſent-
lichſten Lebensverhältniſſe des Staats; es iſt das Leben deſſelben ſelbſt,
in der Eintheilung in Miniſterien wieder gegeben. Sie führt uns ferner
darauf, wie und weßhalb neue Miniſterien entſtehen, und welches die
Berechtigung und Bedeutung der Herſtellung eines neuen Miniſteriums
ſein muß. Sie zeigt uns endlich die Grundſätze, welche über die im
Einzelnen ſchwierigſte Frage, die Frage nach den natürlichen Gränzen
der einzelnen Miniſterien gegen einander, zu entſcheiden haben.


Was nun den erſten Punkt, die nothwendigen Miniſterien
betrifft, ſo erſcheinen als die Grundverhältniſſe des ſtaatlichen Lebens
und demnach als die nothwendigen Miniſterien fünf Gebiete: das Ver-
hältniß des einzelnen Staates zu dem Geſammtleben der Staaten, die
Waffenmacht, die Staatswirthſchaft, die Rechtspflege, und endlich die
innere Verwaltung. Dieſen fünf Gebieten entſprechen die fünf Haupt-
miniſterien, ohne welche ein Miniſterialſyſtem nicht gedacht werden kann.
Ja man kann ſo weit gehen, zu ſagen, daß ein Staat, deſſen Größe
nicht einmal die Aufſtellung dieſer fünf Miniſterien geſtattet, gar kein
Staat im Sinne unſerer Zeit genannt werden kann. In der That
ſind jene Verhältniſſe ſo ſpezifiſch verſchieden, daß es nicht möglich iſt,
eine parlamentariſche Verantwortlichkeit für mehr als eines derſelben zu
übernehmen.


Dagegen iſt mit dieſen fünf Gebieten — zu denen ein ſechstes durch
die Scheidung der militäriſchen Macht in Land- und Seemacht hinzu-
kommen kann, was aber nur die Zahl und nicht das Syſtem ändert —
die Entwicklung nicht abgeſchloſſen.


Zunächſt entſteht für die Reiche, welche Colonien haben, ein Mini-
ſterium der Colonien. Ein ſolches Miniſterium iſt vielmehr eine Ver-
waltungsbehörde im höchſten Style, als ein wahres Miniſterium. Die
Volksvertretung der Colonien kann aus örtlichen Gründen niemals mit
der eigenen Volksvertretung zuſammengefaßt werden; eine wahre Ver-
antwortlichkeit iſt daher hier ſchwer möglich, weil ein Urtheil über die
Verhältniſſe ſo entfernter Länder ſchwer denkbar iſt. Die Verwaltung
der Colonien wird daher ihr Haupt in den Colonien ſelbſt haben, und
entweder ſich zu einem parlamentariſchen Syſtem entwickeln oder in die
Kategorie einer behördlichen Verwaltung hinabſinken. Jeder dritte Zuſtand
muß als Uebergangszuſtand betrachtet werden. In der Reihe der parla-
mentariſchen Miniſter wird ein Colonialminiſter niemals dauernd auftreten.


[314]

Dagegen iſt das Gebiet der innern Verwaltung allerdings der Ent-
wicklung fähig, und zwar iſt es das Einzige, aus welchem ſich unſere
Miniſterien entwickeln können. In der That nämlich iſt zwar das Princip
der innern Verwaltung immer daſſelbe, und deßhalb kann dieſelbe als
Ein Gebiet betrachtet werden; aber die Lebensverhältniſſe, auf welche es
Anwendung findet, ſind ſo verſchieden, daß bei großen Staaten jedes der-
ſelben durch Ein Miniſterium vertreten werden kann. Und hier zeigt es ſich
vielleicht am deutlichſten, wie die organiſche Natur der Sache — die wir
in der Wiſſenſchaft ja nur als Syſtem darſtellen — wirkſam wird. Das
Gebiet der innern Verwaltung umfaßt das perſönliche, das geiſtige, das
volkswirthſchaftliche und das geſellſchaftliche Leben des Volkes. Jedes dieſer
Gebiete iſt fähig, ein eigenes Miniſterium zu empfangen. Die Verwaltung
der perſönlichen Lebensverhältniſſe hat das Polizeiminiſterium, das Mini-
ſterium der Sicherheit oder der Ordnung, die der geiſtigen das
Miniſterium für Kultus und Unterricht, das wir daher das Miniſterium
der Berufe nennen möchten, die der Volkswirthſchaft das ſogenannte
Handelsminiſterium oder das Miniſterium der Volkswirthſchaft,
das was wir zunächſt als das Uebrige bezeichnen, das eigentliche Mini-
ſterium des Innern, das Miniſterium der Verwaltung im engſten
Sinne
oder das Miniſterium der Geſellſchaftsordnung. Dieſe
vier Miniſterien ſind innerhalb der innern Verwaltung möglich; aber
ſie ſind nicht nothwendig. Ob ſie entſtehen und wie viele von ihnen,
hängt meiſtens von der innern Entwicklung des Staates ab, und daher
finden wir dem entſprechend in dieſen Miniſterien einen beſtändigen
Wechſel, während die übrigen Miniſterien ſich unverändert erhalten.
Ohne allen Zweifel beruht nun das Theilen des allgemeinen Mini-
ſteriums des Innern in jene Miniſterien nicht darauf, daß man die
Geſchäfte als ſolche ihres Umfanges wegen theilen will, ſondern viel-
mehr auf dem Bewußtſein von demjenigen, was zu ihrer Vollziehung
erforderlich iſt. Die wahre Bedingung der Löſung dieſer verſchiedenen
Verwaltungsaufgaben beruht aber darauf, daß man erkennt, wie jedes
jener Lebensgebiete wieder eigene Geſetze ſeiner Entwicklung und Be-
wegung hat, welche zu kennen nicht bloß im Allgemeinen gut iſt, ſondern
deren tiefes Verſtändniß als nothwendige Bedingung der guten Ver-
waltung überhaupt erſcheint. So wie dieß klar iſt, wird man es noth-
wendig finden, jeder dieſer Gruppen von Lebensverhältniſſen und Auf-
gaben der Verwaltung als einem von eigenthümlichen Geſetzen beherrſch-
ten Ganzen, einen eigenen Verwaltungskörper mit eigenem Miniſterium
zu geben. Und ſo kann man ſagen, daß jene Eintheilung der innern
Verwaltung mit der Entwicklung der Staatswiſſenſchaften gleichen Schritt
hält, von ihr bedingt wird, und gleichſam den praktiſchen Ausdruck des
[315] theoretiſchen Verſtändniſſes des Staatslebens bildet. — Es iſt gar nicht
nöthig, daß dazu gerade eine beſtimmte Theorie angenommen zu werden
brauchte. Die Sache an ſich, auch nur zum allgemeinen Bewußtſein
gebracht, erzeugt durch ihre eigene inwohnende Kraft ſchon ihre ent-
ſprechenden Organismen.


Es wird demnach eine der Aufgaben der Darſtellung der wirklichen
innern Verwaltung ſein, dieſes bei den Hauptzweigen weiter nachzu-
weiſen. Wir finden aber in demſelben Satze den Grundgedanken für
die Erledigung der letztern Frage, welche die Eintheilung der Miniſterien
betrifft, nämlich der Beſtimmung der Competenz der einzelnen Mini-
ſterien gegen einander.


Dieſe Beſtimmung des Umfanges der einzelnen Miniſterien muß
aus zwei Geſichtspunkten betrachtet werden, dem hiſtoriſchen und dem
rationellen. Und die Geſchichte zeigt auch hier die allmählige Entwick-
lung des letzteren aus dem erſteren, während andererſeits die thatſäch-
lichen Verſchiedenheiten die in dieſer Beziehung unter den einzelnen
Staaten beſtehen, nichts ſind, als der Ausdruck des Stadiums, in
welchem der Kampf zwiſchen dem hiſtoriſchen und dem rationellen Princip
ſich für den Augenblick befindet.


Hiſtoriſch iſt der Umfang der einzelnen Miniſterien ziemlich zufällig,
indem die Geſchäfte vom Fürſten der einen oder andern Abtheilung zu-
gewieſen worden ſind. Im Allgemeinen gilt jedoch der Satz, daß ur-
ſprünglich nur drei große Funktionen beſtanden, Aeußeres, Krieg und
Finanzen, während Rechtspflege und Inneres der ſtändiſchen Selbſt-
verwaltung überlaſſen blieb. Der allgemeine Gang der Entwicklung
beſteht nun darin, daß die neuentſtehenden Miniſterien in der Lage
ſind, den alten Miniſterien ihre Gebiete allmählig zu entreißen, und ſo
ſich ihr Gebiet zu ſchaffen. Die Rechtspflege und das Innere haben
dabei ſehr leicht ſich abgeſondert; die Schwierigkeit entſtand erſt, als
aus dem Miniſterium des Innern neue Miniſterien ſich bildeten. Durch
das Auftreten derſelben kamen natürlich einerſeits unter dieſen Verwal-
tungsminiſterien die Gebiete der Verwaltung des Innern, andererſeits
auch die Gebiete des Finanzminiſteriums in Frage. Im Einzelnen iſt
die Organiſation daher eine ziemlich verſchiedene. Indem wir hier kurz
die Punkte bezeichnen, auf die es ankommt, ſoll damit nur der Aus-
gangspunkt zur Vergleichung für das Folgende gegeben werden.


Man wird zu dem Ende praktiſch am beſten die Miniſterien, welche
ſich in das Gebiet der innern Verwaltung theilen, mit dem Geſammt-
ausdruck „Verwaltungsminiſterien“ bezeichnen, und ſie ſo den
obigen Miniſterien entgegen ſtellen.


Die erſte Frage iſt dabei die, ob das Gebiet der alten Regalien,
[316] ſofern ſie in neuerer Zeit noch dieſen Namen verdienen, dem Finanz-
miniſterium oder dem Verwaltungsminiſterium zufallen ſoll. Zu dieſen
Regalien iſt in neuerer Zeit noch das Eiſenbahn- und Telegraphen-
weſen hinzugekommen. Es iſt kein Zweifel, daß mit dem Wegfallen
der Urſache, das ſie in die Finanzverwaltung hinüberſchob, und vermöge
deſſen ſie als Quelle der Einnahme betrachtet wurden, jeder haltbare
Grund, ſie als Gebiete der Staatswirthſchaft zu betrachten, wegfallen
muß. Alle dieſe Regalien gehören jetzt ihrem Weſen nach dem Mini-
ſterium der Verwaltung, und innerhalb deſſelben dem volkswirthſchaft-
lichen Miniſterium, da ſie ſich auf die Bedingungen der volkswirth-
ſchaftlichen Entwicklung beziehen. Dazu gehören daher nicht bloß das
Poſt-, Münz-, Eiſenbahn- und Telegraphenweſen, ſondern auch die
Verwaltung der Zettelbanken. Die Verbindung der Verwaltung
der letzteren mit dem Finanzminiſterium hat nur einen hiſtoriſchen Grund,
und iſt jetzt viel mehr eine Gefahr für den Kredit der Noten, als ein
Vortheil für das Bankweſen.


Die zweite Frage betrifft das Verhältniß der Verwaltungsmini-
ſterien, der Polizei, der geiſtigen Angelegenheiten, der Volkswirthſchaft
und des Innern im engern Sinne. Erſter Grundſatz iſt hier, daß die
Trennung dieſer Miniſterien überhaupt nur von dem Geſichtspunkte
der Zweckmäßigkeit beurtheilt werden muß; je nach den gegebenen Ver-
hältniſſen kann jeder Staat ſie trennen oder verbinden, wie es ihm
angemeſſen iſt. Sind ſie aber getrennt, ſo handelt es ſich darum,
was ihnen nach der Natur der Sache zukommt; denn die richtige Be-
ſtimmung ihres Umfanges wird dann eine der Bedingungen ihrer guten
Verwaltung.


Zuerſt muß man ſagen, daß ein eigenes Polizeiminiſterium nur
in großen Staaten zweckmäßig iſt. Die Aufgabe des Polizeiminiſteriums,
der öffentliche Schutz, erſcheint in zwei Gebieten. Einerſeits ſoll es die
Sicherung der Bevölkerung herſtellen, und das kann allerdings weſent-
lich durch die Körper der Selbſtverwaltung erzielt werden; andererſeits
ſoll es den Staat gegen den Einzelnen ſichern, und das iſt da, wo
es nöthig iſt, allerdings eine ſelbſtändige Aufgabe. Nöthig aber erſcheint
dieß immer da, wo die gegebene Verfaſſung mit Neubildungen in der
Geſellſchaft in Gegenſatz tritt; denn die letzteren pflegen ſich in der
Regel zuerſt als Verſuche Einzelner zum Umſturz des Beſtehenden zu
äußern. Ein eigenes Polizeiminiſterium wird daher der Regel nach in
dem Grade zweckmäßiger, in welchem die Verfaſſung durch ſociale oder
nationale Bewegungen gefährdet erſcheint, während es um ſo über-
flüſſiger iſt, je gleichartiger die Verhältniſſe eines Staates in dieſer
Beziehung erſcheinen. In dieſem Falle gehört ſein Gebiet unter das
[317] Miniſterium des Innern, und zwar theils als Aufgabe der Staats-
verwaltung, theils als Aufgabe der Selbſtverwaltung.


Das Miniſterium der geiſtigen Angelegenheiten wird wieder in das
des Kultus und das des Unterrichts getheilt werden können. Es iſt
beſſer, beide zuſammen zu faſſen, weil es zu große Uebelſtände hat,
namentlich die Volksſchule den Geiſtlichen unterzuordnen, was bis zu
einem gewiſſen Grade nie vermieden werden kann noch ſoll, während
man das Miniſterium der Schule dem Miniſterium der Kirche gleich-
ſtellt. Ohne eine Verbindung beider in Einem Miniſterium wird man
hier ſchwerlich je zu einem harmoniſchen Abſchluß gelangen.


Am unbeſtimmteſten weil am weitgreifendſten iſt ohne Zweifel das
Miniſterium der Volkswirthſchaft. Daſſelbe hat nicht bloß Handel, Ge-
werbe und Schifffahrt, ſondern auch die Bedingungen derſelben zu ver-
walten. Zu dieſen gehört ein Theil des Unterrichtsweſens und ein
Theil der Selbſtverwaltung. Und hier läßt ſich daher im Einzelnen
gar keine allgemein gültige Gränze ziehen. Nur das muß feſtſtehen,
daß da, wo der Unterricht als Mittel für einen volkswirthſchaftlichen
Zweck offen ausgeſprochen wird, dieß Gebiet dem Miniſterium der
Volkswirthſchaft angehört, und ebenſo daß die ſpezielle volkswirthſchaft-
liche Thätigkeit der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens gleichfalls
demſelben Miniſterium unterſtehen muß. Das Einzelne kann erſt bei
der Volkswirthſchaftspflege dargelegt werden.


Bei dieſer Eintheilung nun entſteht die Frage, welche Gebiete dem
Miniſterium des Innern übrig bleiben, wenn man nicht, wie es zum
Theil geſchieht, einen Theil der volkswirthſchaftlichen Verwaltung eigent-
lich nur darum dieſem Miniſterium vorbehält, weil man dem volks-
wirthſchaftlichen Miniſterium eben nicht ſein ganzes naturgemäßes Ge-
biet einräumt? Was iſt ein Miniſterium des Innern, wenn es nicht
eben ein Miniſterium der Volkswirthſchaft bleibt, gleichviel ob es ſo
heißt oder nicht?


Es iſt kaum ein Zweifel, daß durch die Entwicklung der Stellung
und Aufgaben des volkswirthſchaftlichen Miniſteriums, dem naturgemäß
das ganze Gebiet der Volkswirthſchaft angehört und mit der Zeit über-
wieſen werden wird und muß, dem ſpeziell ſogenannten Miniſterium
des Innern nur ein, und freilich das höchſte Gebiet der Verwaltung
zuſtehen kann, und das iſt das Gebiet der geſellſchaftlichen Ver-
waltung. Wir ſcheiden dieß große Gebiet in zwei Haupttheile.


Der erſte Theil umfaßt die Geſammtheit aller Formen der freien
Verwaltung, die Körper der Selbſtverwaltung ſowohl als das ganze
Vereinsweſen, ſo weit daſſelbe nicht dem volkswirthſchaftlichen Leben
angehört. Alle dieſe Formen ſind im höhern Sinne des Wortes
[318] Organe des geſellſchaftlichen Lebens des Staates, und ſtehen daher unter
demjenigen Miniſterium, welches die organiſche Aufgabe des Staats
gegenüber dei geſellſchaftlichen Ordnung durchzuführen hat, dem Mini-
ſterium des Innern.


Der zweite Theil bezieht ſich dagegen auf die, im Volksleben ſelbſt
erſcheinenden Ordnungen und Gegenſätze der Geſellſchaft. Das Mini-
ſterium des Innern iſt das Miniſterium der ſocialen Fragen
und Aufgaben, die nach dem Charakter unſerer Zeit ſchon in den
nächſten fünfzig Jahren alle volkswirthſchaftlichen und geiſtigen Ver-
waltungsangelegenheiten in ſich aufzunehmen und nach ihren eigenthüm-
lichen Principien zu verarbeiten beſtimmt ſind. Wie dieſe Fragen ſelbſt,
ſo ſteht auch dieß Miniſterium über den beiden andern, inſofern es
jeder einzelnen Thätigkeit derſelben ihre ſociale Richtung geben wird.
Daß dieß bisher nicht formell anerkannt und ausgeſprochen iſt, liegt
eben darin, daß die ſociale Geſellſchaftsordnung ſich in unſerer Zeit erſt
langſam und noch ſehr unſicher aus der ſtaatsbürgerlichen entwickelt;
und dennoch trägt die entſtehende Scheidung zwiſchen dem Miniſterium
der Volkswirthſchaft und des Innern ſchon den Charakter dieſer Stellung
des letzteren an ſich. Während nämlich vom erſteren in der Volkswirth-
ſchaft alle einzelnen und ſelbſtändigen Intereſſen und die Bedingungen
ihrer Entwicklung übergeben werden, behält man als ſelbſtverſtändlich
dem Innern die Verwaltung der Formen der Selbſtverwaltung, der
Körperſchaften mit ihrem ſtändiſchen Element und der Vereine mit ihrer
ſocialen Richtung vor; ihm gehört das ganze Bevölkerungsweſen als
natürliche Baſis der perſönlichen Entwicklung, das Armen- und Hülfs-
weſen, die Agrarverfaſſung mit ihren Beziehungen zur Klaſſenbildung,
und die ſtändiſchen Geſellſchaftsformen des Adels und der Rangver-
hältniſſe nebſt ihren Beſitzverhältniſſen, den Majoraten und Fideicom-
miſſen, als Verwaltung der höchſten Klaſſe. Ihm gehört aus demſelben
Grunde principiell die Verwaltung der Polizei, da in unſerer Zeit die
Gefahren der öffentlichen Ordnung nicht mehr in dem Gegenſatz der
Geſellſchaft zur Verfaſſung, ſondern in dem Gegenſatz der geſellſchaft-
lichen Elemente zu einander beſtehen. Und ſo wird ſich das Miniſterium
des Innern, das ſchon jetzt ſeinem Inhalte nach das ſociale Gebiet
ausſchließlich beherrſcht, allmählig neben dem volkswirthſchaftlichen Mini-
ſterium zum geſellſchaftlichen Miniſterium durch ſich ſelbſt entwickeln.


c) Das Geſammtminiſterium und ſeine Organiſation.

Das Geſammtminiſterium, ſeine Funktion und ſeine Organiſation
beruht nun darauf, daß die Verwaltung ihrem Weſen nach ein Ganzes
bleibt, obgleich die einzelnen Hauptgebiete derſelben in den Miniſterien
[319] als ſelbſtändige perſönliche Organismen auftreten. Dieſe Einheit der
Verwaltung hat nun die Beziehungen jedes Zweiges derſelben zu allen
übrigen zu ihrem Inhalte; und das Geſammtminiſterium iſt dasjenige
Organ, welches eben dieſe Gemeinſamkeit der Verwaltung in allen ihren
Zweigen zum Ausdruck bringt.


Das Geſammtminiſterium iſt daher dem Staatsrathe in ſeiner
organiſchen Stellung ſo nahe verwandt, daß es erklärlich erſcheint,
wenn der Staatsrath wie in England im Miniſterrath untergeht, oder
mit ihm denſelben Namen hat, wie in Schweden und Norwegen, oder
neben ihm eigentlich ganz verſchwindet, wie in Württemberg und andern
Staaten. In der That gehört die ganze Schärfe des adminiſtrativen
Bewußtſeins der franzöſiſchen Organiſation dazu, um den trotzdem ſo
tiefgehenden Unterſchied beider Organe nicht bloß zu fühlen, ſondern
auch ganz beſtimmt geſetzlich zu formuliren. Es iſt kein Zweifel, daß
ein ſolcher beſteht, und es iſt nicht ſo gar ſchwer, ihn zu beſtimmen.


Das Geſammtminiſterium iſt dasjenige Organ, in welchem die
Bedürfniſſe und Forderungen jedes einzelnen Miniſteriums mit den
gegebenen Verhältniſſen der übrigen Miniſterien ſich ausgleichen. Im
Miniſterrathe wird zunächſt immer nur die Anſicht oder Auffaſſung
Eines Miniſteriums im Verhältniß zu den Bedingungen und Folgen
erwogen, welche dieſelbe in den übrigen Miniſterien finden; die An-
nahme der Anträge Eines Miniſteriums bedeutet daher, daß die Ge-
ſammtheit der Regierung dieſelben zu den ihrigen macht, und ſie als
ſolche der ſelbſtändigen Staatsgewalt vorlegt. Dieſe hat noch immer
die perſönliche Entſcheidung; damit die letztere aber nicht als ſubjektiver
Wille, ſondern als wohlerwogener Beſchluß erſcheine, wird ſie vom
Staatsrathe motivirt. Der Regel nach wird daher der Miniſterrath
als Geſammtminiſterium vorzugsweiſe auf dem Boden der praktiſchen,
der Staatsrath auf dem der theoretiſchen Wahrheit ſtehen. Der Miniſter-
rath wird der Vertreter des gegenwärtigen Zuſtandes, der Staatsrath
der Vertreter derjenigen Principien ſein, welche auch die ferne Zukunft
umfaſſen. Der Miniſterrath wird dem Leben des Volkes, der Staats-
rath der Idee des Staates mehr Rechnung tragen. Es iſt nichts nutz-
loſer, als die Frage, welches von beiden wichtiger iſt; das wahrhaft
Wichtige iſt, daß man ſie beide in ihrer Nothwendigkeit anerkenne, und
ein glücklicher Zuſtand iſt der, wo beide in Harmonie handeln.


Aus allem dieſem aber wird es nun begreiflich ſein, wie es zugeht, daß
man über Begriff und Competenz des Geſammtminiſteriums ſich ſelten
klar iſt, und eben deßwegen eine Reihe von Competenzbeſtimmungen
getroffen hat, welche in den verſchiedenen Staaten mannigfach verſchieden
ſind. Lehrreich für die innere Entwicklung dieſer Staaten wird die
[320] Darſtellung dieſer Verſchiedenheit jedoch erſt dann, wenn man eben
die hiſtoriſche Entwicklung des Geſammtminiſteriums und des Staats-
rathes den gegebenen Geſetzen zum Grunde legt. Namentlich iſt ohne
eine Vergleichung mit England und Frankreich hier nur wenig zu ge-
winnen.


Wir haben die bisherige Darſtellung nicht mit einzelnen Noten unterbrechen
wollen, weil auch hier der wahre Werth derſelben in dem allgemeinen Geſichts-
punkte liegt, an den ſie ſich anſchließen, und weil das geltende Recht und die
wirkliche Organiſation der obigen drei Hauptfragen doch zuletzt von dem Ge-
ſammtcharakter der miniſteriellen Organiſation und des ganzen Verfaſſungs-
lebens jedes Staates wieder beſtimmt wird. Wir faſſen daher im Folgen-
den als Ganzes zuſammen, was als Einzelnes jenen einzelnen Theilen zugleich
angehört.


Was zunächſt die Literatur betrifft, ſo läßt es ſich kaum verkennen, daß
die Staatsrechtslehrer keinen allgemeinen Geſichtspunkt für das Verſtändniß des
Miniſterial- und Behördenſyſtems gefunden, und die ganze Organiſation daher
als eine Sache der Staatsſtatiſtik betrachtet haben. Das iſt durch die immer
größere und für ihre Zwecke höchſt wichtige Ausbildung der Staatshand-
bücher
namentlich in neuerer Zeit noch mehr gefördert, vorzüglich da, wo die
letzteren nach franzöſiſchem Syſteme neben den Behörden auch die Competenz
derſelben mit aufführen, was als ein weſentlicher Fortſchritt betrachtet werden
muß. In den zwanziger Jahren, wo dieſelben zum Theil gar nicht, zum Theil
höchſt unvollſtändig und als bloße Nomenclatur exiſtirten, und wo die deutſchen
Staaten ſelbſt in der Organiſirung begriffen waren, ſehen wir dagegen noch die
Frage ernſthaft und von höheren Geſichtspunkten aufgefaßt. Namentlich bleibt
das Werk von Malchus ein dauerndes Denkmal deutſchen Fleißes. Das was
er im großen Maßſtab gegeben, hat Brachelli in der angeführten Abhand-
lung für die neueſte Zeit verfolgt. Aus dem ſtatiſtiſchen Standpunkt iſt dabei
nur die Frage nach dem Provinzial- und Realſyſteme als das allgemeine Mo-
ment herausgetreten, was ſelbſt von Malchus (Politik der innern Ver-
waltung
I. S. 5 und 7) nur auf einzelne Gründe der Zweckmäßigkeit zurück-
geführt wird, ſtatt tiefer auf das organiſche Weſen der Sache einzugehen; ein
Standpunkt, den in neueſter Zeit, wenn auch mit viel geiſtreicherer Behandlung,
Gerſtner (Grundlehren der Staatsverwaltung, Kap. XI.) einnimmt,
und der noch neuerdings wieder von Bluntſchli in ſeinem Allgemeinen
Staatsrecht (I. 68 ff.) gründlich mißverſtanden worden, der auch nicht das Weſen
der Selbſtverwaltung gegenüber dem Miniſterialſyſtem begriffen hat, während
wie ſchon erwähnt die allgemeinen Staatsrechtslehrer lieber die ganze Frage
fallen laſſen. Pölitz ging eigentlich vorauf in jener ſtillen Beſeitigung mit
ſeiner Abhandlung „Grundriß für encyclopädiſche Vorträge“ (S. 188), froh, hier
wie immer eine einleuchtende Kategorie ſtatt eines organiſchen Begriffes ge-
wonnen zu haben. Bülau (Behörden S. 39 ff.) iſt geiſtreich in ſeinen einzelnen
Bemerkungen, während Zachariä (40 Bücher, Bd. II.) geiſtreich über das
Ganze redet, und Mohl (Encyclopädie, S. 664 ff.) ſo kurz iſt, daß man nichts zu
[321] fordern berechtigt iſt. Der Ernſt, mit welchem daneben ſchon Klüber §. 345
ſtatt allgemeiner Phraſen die einzelnen Geſetze nach Malchus Vorgange über
die Organiſation in die deutſche Staatsrechtslehre aufnimmt, was Zachariä
(Deutſches Staats- und Bundesrecht II, S. 5 ff.) noch vollſtändiger fortſetzt, und der
alsdann in den Territorialſtaatsrechten, wie bei Mohl, Weiß, Milhauſer,
Pötzl, Moy
und zuletzt Rönne die Frage zu einer concret ſtaatsrechtlichen
macht, läßt für dieſes Gebiet nur nach einer allgemeinen Seite der Betrachtung
einen Werth, und das iſt die Vergleichung des Miniſterialſyſtems der großen
Staaten; denn in der That muß daſſelbe auf ſeinem innerſten Zuſammenhang
mit dem ganzen Organismus zurückgeführt werden.


England zuerſt zeigt uns, daß das Miniſterialſyſtem dem Geſetze unter-
liegt, daß es im Ganzen wie im Einzelnen ſeine Ausbildung nur durch die
völlige Gültigkeit der Herrſchaft der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft empfangen
kann. England hat zunächſt kein eigentliches Miniſterialſyſtem, und eben ſo iſt
das Recht der Miniſter als einzelner keineswegs daſſelbe wie auf dem Continent.
Gneiſt hat uns dabei wieder nichts übrig gelaſſen, als auf ihn zu verweiſen.
England hat nicht einmal den Namen des Miniſters. Der König iſt allerdings
das Haupt der ganzen Verwaltung, aber die letzte iſt nicht ſelbſtändig gegen-
über der Geſetzgebung, und die Thätigkeit derſelben als bloße Ausführung iſt
eben daher auch grundſätzlich entweder nur eine Verwaltung der Hoheits-
rechte
oder ein Collegialſyſtem. Das was wir ein Geſammtminiſterium
nennen, beſteht daher im continentalen Sinn nicht. Die eigentlichen Miniſter
als Verwalter der Hoheitsrechte ſind der Lord Privy Seal, der First Lord
of the Exchequer,
der Chancellor of the Treasury, und der Lord Kanzler.
Höchſte Verwaltungsbehörden, eigentliche Verwaltungsminiſter ſind die ſoge-
nannten Staatsſecretäre des Innern, des Aeußern, der Colonien und des
Krieges. Als Collegialverwaltungen beſtehen dann theils als Theile des Privy
Council
das Judicial Committee, das unſer Juſtizminiſterium, und das Com-
mittee for Education,
das unſer Unterrichtsminiſterium in der Form des alten
Collegialſyſtems vertritt, theils aber ſelbſtändig namentlich für alle die volks-
wirthſchaftlichen Intereſſen betreffenden Gebiete in dem Board of trade nebſt
ſechs andern Commissions, und der Ecclesiastical Commission. Von einem
Syſtem der Miniſterien und der Behörden iſt dabei offenbar keine Rede. Eben
ſo wenig kann ein, dem continentalen Leben entſprechendes Verordnungsrecht
der Chefs dieſer Behörden vorhanden ſein; das Verhältniß derſelben beſteht viel
mehr darin, daß dieſe Verordnungen Sache der Privy Council ſind. Es iſt
offenbar, daß dieſer Zuſtand ein geradezu unerträglicher wäre, wenn nicht die
Selbſtverwaltung und die individuelle Tüchtigkeit des Volksſtammes das Ganze
wieder ausgliche. Schon das obige zeigt ferner, daß von einem eigentlichen Be-
amtenſtande gleichfalls keine Rede ſein kann. England iſt daher eine ganz ex-
ceptionelle Bildung, und zeigt uns einen Zuſtand, in welchem gute Principien
beſtändig mit ſchlechten Einrichtungen zu kämpfen, und die Uebelſtände derſelben
zu überwinden haben. Man ſoll daher nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel
von England annehmen.


Was Frankreich betrifft, ſo iſt ſein Organismus ſo einfach und durch-
Stein, die Verwaltungslehre. I. 21
[322] ſichtig, und das Bedingtſein durch den ganzen Gang des Staatslebens ſo klar,
daß es ſchon allein dadurch wenigſtens für die Formen deſſelben zum Vorbild
der deutſchen Zuſtände geworden iſt. Frankreich hat ſchon vor der Revolution
Miniſter; aber ſie ſind nur noch Einrichtungen der Zweckmäßigkeit, nicht orga-
niſche Geſtaltungen, und wechſeln daher beſtändig. Erſt mit der Revolution
werden ſie nicht bloß zur Grundform des Verwaltungsorganismus, ſondern jede
andere höchſte Spitze wird definitiv neben ihnen ausgeſchloſſen. Zugleich wird
ihr organiſches Verhältniß feſtgeſtellt. Sie ſind die höchſten vollziehenden Or-
gane, die ganze Verwaltung wird in ſechs Miniſterien eingetheilt, ſie bilden den
Miniſterrath und ſind dem geſetzgebenden Körper verantwortlich, werden aber
vom Könige ernannt. Das ſind die einfachen Principien des Geſetzes vom
25. Mai 1791, welches das Organiſationsgeſetz für das Miniſterialſyſtem iſt. Im
Grunde ſind die Elemente deſſelben bis auf den heutigen Tag geblieben. Zwar
nahm die Assemblée législative nach dem 10. Auguſt 1791 dem Könige das Recht
der Ernennung, und die Convention nationale hob ſie ganz auf, um jeden
Widerſtand und jede Selbſtändigkeit der Vollziehung und Verordnung gegenüber
der Geſetzgebung zu vernichten; allein ſchon die Conſtitution von 1795 ſtellte die
Miniſter wieder her, und von jetzt an bleiben ſie. Aber ſchon unter dem erſten
Kaiſerreich verlieren ſie die innige Verbindung mit dem Leben der Geſetzgebung,
und es ſtellen ſich die Grundſätze feſt, welche auch gegenwärtig gelten. Sie
verlieren die ſelbſtändige Verordnungsgewalt, und mit ihr die
Verantwortlichkeit; die erſtere geht von dem Miniſter auf den Souverain zurück,
und die berathende Behörde dafür wird der Conseil d’État; der Miniſter iſt
jetzt nur noch die rein ausführende Behörde und Napoleon I. ſetzte daher auch
ſtatt der alten ſechs Miniſter zwölfe ein. Von jetzt an iſt die Stellung der
Miniſter bedingt durch das Maß der Rechte, welche der geſetzgebende Körper
ausübt. Es war ganz conſequent, daß mit der Herſtellung der Kammern
unter der Reſtauration auch die alten ſieben Miniſterien hergeſtellt, und vermöge
des Princips der Verantwortlichkeit auch das Verordnungsrecht wieder über-
nommen ward; die Julirevolution brach die Bewegung, welche ihnen zu viel Rechte
geben wollte, und das Syſtem der verfaſſungsmäßigen Miniſterien gilt unbe-
ſtritten. Bezeichnend für die innere Entwicklung iſt nur, daß das Miniſterium
des Innern aus ſich in den dreißiger Jahren das Ministère du commerce
(1831) und das Ministère des travaux publics (1839) entwickelt. So bleibt
es bis zum Jahr 1848. Die Conſtitution vom 4. November 1848 gab zwar dem
Präſidenten das Recht die Miniſter zu ernennen, behielt aber der geſetzgebenden
Gewalt das Recht vor, die Zahl und die Competenz derſelben zu beſtimmen.
Es iſt, als hätten die Franzoſen dieß aus den deutſchen Conſtitutionen ent-
nommen. Natürlich ward dieſer ganze Organismus mit dem zweiten Kaiſerreich
wieder auf den Standpunkt des erſten zurückgeworfen, deſſen Grundſätze ſich
hier wiederholen: erſtlich Vermehrung der Zahl auf nenn, und Freiheit des
Kaiſers mehrere zu errichten; zweitens Unterordnung der Verordnungsgewalt
unter den Conseil d’État;drittens dem entſprechend Aufhebung der miniſte-
riellen Verantwortlichkeit. Weſen und Stellung der Miniſter unter dem gegen-
wärtigen Regime drückt mit kurzen Worten Laferrière in ſeinem Droit
[323] administratif
am bezeichnendſten aus I. 2. (Ministres) — les Ministres ne
réfléchissent pas auprès du président une majorité politique, ils ne forment
point son conseil nécessaire, ils ne sont que les chefs des départements
administratiß“
— und da ſie zugleich keine Verantwortlichkeit haben, ſo ſind
ſie in der That gar keine Miniſter im verfaſſungsmäßigen Sinne mehr. Es iſt
mit vollſtändiger Gewißheit vorherzuſagen, daß die freiere Geſtaltung der fran-
zöſiſchen Verfaſſung den Miniſtern ihre Selbſtändigkeit und damit auch ihre
Verantwortlichkeit wieder geben wird. Nirgend ſind die Wirkungen der allge-
meinen Geſetze, welche das Staatsleben beherrſchen, ſtärker, aber auch klarer
erkennbar, als eben in Frankreich.


In Deutſchland ſehen wir dagegen eine Vielgeſtaltigkeit dieſes Organis-
mus, die man, um ſie zu verſtehen, allerdings auf zwei Gründe zurückführen
muß. Der erſte iſt die ſehr verſchiedene Größe der Staaten, welche für den
größten Theil der deutſchen Bundesſtaaten vielleicht das Princip, gewiß aber
nicht die organiſche Eintheilung des Miniſteralſyſtems möglich macht, und man
muß ſagen, daß eine Gemeinſchaft, welche nicht einmal die fünf Hauptminiſterien
erzeugen und beſchäftigen kann, vor der Wiſſenſchaft nicht den Charakter eines
Staats, ſondern nur den einer ſonverainen Landſchaft haben kann. Alle dahin
gehörigen Beſonderheiten und unklaren Organismen der kleineren Territorien
übergehen wir daher als Uebergangsbildungen. Der zweite Grund aber iſt das
Verhalten der verfaſſungsmäßigen Verwaltung; und hier wird die Geſchichte der
Verfaſſungen zur Geſchichte der Miniſterialſyſteme.


Offenbar muß man nämlich in Deutſchland zwiſchen zwei Principien, die in
der Organiſation geltend geworden und namentlich im Miniſterialſyſtem zum
Ausdruck gekommen ſind, wohl unterſcheiden, und dieſelben zeichnen ſich auch
äußerlich ſehr beſtimmt neben einander ab. Wir möchten das erſte das rein
adminiſtrative, das zweite das verfaſſungsmäßige nennen. Das erſte
ſtammt aus der Napoleoniſchen Zeit, das zweite iſt Deutſchland eigenthümlich,
wenn es auch in vieler Beziehung ein Reflex der Auffaſſungen der franzöſiſchen
Revolution war. Das erſte beginnt ſchon mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts,
und geht ſeinen Weg unbekümmert um Verfaſſung oder Verfaſſungsloſigkeit;
das zweite dagegen ſchließt ſich an das Entſtehen der Verfaſſungen, und bildet
die Form, in welcher die Verfaſſungsmäßigkeit ihre Anerkennung auch in der
Verwaltung findet. Der Charakter des erſten beſteht darin, daß es das
ganze Beamtenſyſtem, namentlich aber die höchſten Stellen nach den Forde-
rungen der centralen Bureaukratie ordnet, wozu die Miniſterialordnung eine
höchſt paſſende Organiſation darbot; das zweite dagegen legt die Möglichkeit
der Verantwortlichkeit zum Grunde und macht dadurch die Elemente der Orga-
niſation zu einem Theile der Verfaſſung ſelbſt. Das erſte entſteht daher rein
durch Verordnungen, das zweite durch Geſetze. Beide Grundformen laufen nun
eine Zeit lang parallel neben einander, dem eigenthümlich deutſchen Verhältniß
entſprechend, nach welchem ein Theil Deutſchlands, namentlich der Süden
verfaſſungsmäßig gebildet iſt, ein Theil dagegen nicht. Allmählig aber ſiegt
das verfaſſungsmäßige Princip und damit wird die Organiſation auch in die
Geſetzgebungen unmittelbar aufgenommen, um mit der verfaſſungsmäßigen
[324] Feſtigkeit der Organe auch die Verfaſſungsmäßigkeit der Verwaltung ſichern zu
können, bis mit dem Jahre 1848 dieß Princip definitiv in Oeſterreich und
Preußen ſiegt, und damit die Grundlagen allenthalben bei übrigens wechſelnden
Formen gleichartig geworden ſind. Das iſt der Gang der Geſchichte in dieſem
Gebiete ſeit den letzten fünfzig Jahren. Die Literatur hat den Wechſel der
Organiſation weſentlich nur als Zweckmäßigkeitsfrage aufgefaßt. Der Gegenſtand
bedarf noch einer wahrhaft hiſtoriſchen Erforſchung. Wir können nur wenige
Andeutungen geben.


Die große Organiſationsperiode beginnt im Süden und im Norden aller-
dings gleichzeitig, aber freilich aus beiden obigen Geſichtspunkten zugleich.


Im Jahre 1808 ſchließt im Süden Bayern an ſeine erſte, noch ganz
franzöſiſche Conſtitution von 1808 (Protocoll 3.) das organiſche Edikt vom
24. Juli 1808, während im Norden Preußen mit der Verordnung vom 16.
und 26. December 1808 eine Reihe von Verordnungen eröffnet, welche den
Organismus ſeines ganzen Syſtemes feſtſtellen: Verordnung vom 27. Oktober
und 1. November 1810, 24. April 1812, 30. Juni 1814, 30. April und 16.
December 1815, Staatsrath durch Verordnung vom 20. März 1817, Staats-
miniſterium vom 3. November 1817. Trotz des Mangels einer Volksvertretung
war dennoch in Preußen wenigſtens im Anfange der Geiſt ein ſehr freiſinniger,
in welchem dieſe Organiſation unternommen wurde (vgl. Rönne II. 48); ſpäter
ändert ſich freilich der Gang der Dinge. Oeſterreich änderte unterdeſſen gar
nichts. Baden war mit ſeiner Organiſation eigentlich ſchon voraufgegangen,
allein ſie betraf mehr das Behördenſyſtem 1803. Sein Miniſterialſyſtem ſchließt
ſich gerade wie in Bayern erſt an die Verfaſſung; die Verordnung von 1821
organiſirte das Staatsminiſterium, und erſt das Geſetz vom 23. December 1844
den Staatsrath. Württemberg nahm dagegen, nachdem es mit Bayern und
Baden gleichzeitig im erſten Jahrzehent ſein Behördenſyſtem umorganiſirt (Mohl
Staatsrecht I. 13 ff.) und der König den Geheimen Rath 1816, die höchſten
Gerichte 1817 und an demſelben Tage 18. November die oberſten Staats-
behörden organiſirt, den ganzen Organismus in ſeine Verfaſſung auf (§. 54 ff.).
Die nördlichen Staaten folgen dann ſucceſſive je nach Maßgabe des Eintretens
in das Verfaſſungsleben. Kurheſſen (Verordnung 29. Juni 1821), Groß-
herzogthum Heſſen namentlich ſeit 1820 (ſiehe Weiß §. 20. 21 f.), König-
reich Sachſen
(Miniſterialdepartement eingeſetzt durch Verordnung 7. Nov.
1831), Hannover, wo nach den Organiſationen der Behörden in den zwanziger
Jahren die höchſten Staatsbehörden (Departementsminiſterien 14. November
1837, Staatsrath den 21. Januar 1839) auf Grundlage der Verfaſſungsurkunde
von 1833, Kap. VIII, organiſirt wurden. Endlich folgten auch Oeſterreich und
Preußen, in jenen ſeit 1848, in dieſem ſeit der Verfaſſung vom 31. Januar
1850 (Protocoll IV, VI, VII, IX, ſiehe RönneII. Abtheilung II). Im
Großen und Ganzen liegen dabei immer die fünf Miniſterien zu Grunde; nur
das Miniſterium des Innern iſt in mehrere Theile getheilt, und hier iſt man
noch zu keinem gemeinſchaftlichen Reſultat gelangt. — Wir glauben hier auf
das Einzelne nicht weiter eingehen zu ſollen, um ſo weniger als wir der
eigentlichen Verwaltungslehre den Organismus der Verwaltung des Innern,
[325] auf den es uns ankommt, werden zu Grunde legen müſſen. Es ſchien uns
hier nur unſere Aufgabe, die leitenden Geſichtspunkte anzudeuten, welche der
Betrachtung des Organismus erſt ihre Bedeutung geben können.


2) Das Behördenſyſtem.

a) Organiſches Weſen deſſelben.

Gegenüber dem Miniſterialſyſtem im engeren Sinne verſtehen wir
unter Behörden die Geſammtheit aller derjenigen amtlichen Organe,
welche die Aufgabe eines Miniſteriums örtlich als dauernde Organe
deſſelben zu vollziehen haben.


Es ergibt ſich daraus, daß die Geſammtheit der Behörden erſt den
eigentlichen Körper der vollziehenden oder Verwaltungsgewalt bildet.
In ihnen berührt der Wille des Staats das wirkliche Leben des Volkes;
ſie ſind die eigentlichen Träger ſeiner Thätigkeit, und die großen Prin-
cipien der Verwaltung verkörpern ſich in ihren Händen zu wirklichen
Verwaltungsakten. So unwichtig daher auch die einzelne Behörde ſein
mag, ſo unendlich wichtig iſt dagegen das Syſtem derſelben.


Es leuchtet ein, daß der Charakter, den dieß Syſtem hat, auf das
Innigſte mit dem ganzen Gange der ſtaatlichen Entwicklung verbunden
ſein muß. Die Entwicklung dieſes Charakters des Behördenthums hängt
daher einerſeits mit dem Volkscharakter, andererſeits mit der geſellſchaft-
lichen Bewegung unzertrennlich zuſammen. Derſelbe iſt ein anderer
in der ſtändiſchen Epoche, und ein anderer in unſerer Zeit der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft. Das Verhältniß des Behördenthums zum
Begriff und zum Zuſtand der vollziehenden Gewalt iſt in ſeinen Grund-
zügen folgendes.


In der ſtändiſchen Epoche iſt nämlich die Verwaltung und mit ihr
die ganze vollziehende Gewalt nur in den Behörden da. Die
höchſten Organe, welche die Stelle der Miniſter vertreten, ſind nur die
Räthe der Krone, welche die Befehle derſelben an die Behörden erlaſſen.
Sie bilden mit ihnen zuſammen kein organiſches Ganzes, kein Mini-
ſterium. Jede Behörde wird dadurch zu einer unmittelbaren wenn auch
örtlichen Vertretung des Staatsoberhaupts; durch ſie iſt der König auf
jedem Punkte des Reiches gegenwärtig und als König thätig. Das
iſt es, was den Behörden jene ideale Stellung gibt, die nirgends beſſer
als mit dem Worte der „Obrigkeit“ bezeichnet iſt, und deren ſtaatliches
Recht auf dem Satze beruht, daß dieſe Obrigkeit als Stellvertreter des
Königthums ſelbſt die „von Gott verordnete Obrigkeit“ iſt. In dieſem
Sinne ſind in der ſtändiſchen Epoche alle Obrigkeiten gleich, und der
Begriff des Amts bezeichnet nur noch dasjenige, was die Obrigkeit zu
[326] thun hat, ihre Funktion im Namen des Landesherrn. Conſequent er-
ſcheinen dabei die Beamteten als Diener des Königs, der die Quelle
ihrer Gewalt iſt. Aus demſelben Verhältniß geht dann auch die Com-
petenz des Amts hervor. Als Vertreter des Königs hat die örtliche
obrigkeitliche Behörde naturgemäß urſprünglich alle Funktionen und
Rechte des Königthums zu vertreten; der Amtmann (bailli, sénéchal,
justice of peace
) umfaßt mit ſeiner Competenz nicht bloß alle auf
Finanzen, Gericht und Inneres bezüglichen königlichen Rechte und Auf-
gaben, ſondern meiſtens auch noch das Militärweſen, Rekrutirung u. ſ. w.
Die Gränze dieſes Rechts der Behörde liegt hier daher nicht in dem
Begriff der einzelnen Verwaltungszweige, ſondern in demjenigen Recht,
welches ſich die ſtändiſchen Körperſchaften gegenüber dem Königthum
und ſeiner Obrigkeit noch als Selbſtverwaltung erhalten haben. Ein
Syſtem der obrigkeitlichen Behörden gibt es daher nicht, ſondern nur
eine Vertheilung derſelben nach den hiſtoriſch gebildeten Landesgebieten;
und natürlich iſt dann wieder je nach den Formen und Rechten der
ſtändiſchen Selbſtverwaltung die ganze Stellung, Name, Symbol und
Recht der einzelnen Obrigkeiten in Land und Gemeinde höchſt ver-
ſchieden; nur der Charakter iſt allenthalben gleich, im Uebrigen bieten
die Behörden ein buntes und faſt regelloſes Bild, das in jedem Reiche,
und meiſt wieder in den einzelnen Theilen des Reiches höchſt verſchieden
erſcheint.


Das ganze Verhältniß nun wird weſentlich anders, ſowie die
ſtändiſche Geſellſchaftsordnung ihre Stellung in Verfaſſung und Ver-
waltung verliert, und es iſt klar, daß demgemäß auch das wahre
Weſen der Behörde eben in dem Grade zur Geltung gelangt, in
welchem dieß der Fall iſt. Die Verſchiedenheit der Staaten Europas
in Beziehung auf das Behördenthum beruht weſentlich auf dieſem
Punkte; erſt mit der neuen Geſellſchaft tritt daſſelbe in ſeine neue
organiſche Stellung.


Sowie nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft mit ihrem Princip
der allgemeinen und unbegränzten Gültigkeit des Staatswillens er-
ſcheint, wird auch die Vollziehung des letzteren eine allgemeine und
durch kein ſtändiſches Recht mehr begränzte. Daraus ergibt ſich die
Nothwendigkeit, mit dem Syſteme der Behörden als dem Organismus
dieſer Vollziehung zunächſt örtlich den ganzen Staat zu umfaſſen.
Der Gegenſatz zwiſchen den ſtändiſchen und den Staatsbehörden ver-
ſchwindet, und das amtliche Behördenthum iſt jetzt auf allen Punkten
das Organ des Geſetzes. Die Trennung der Verwaltung von der
Geſetzgebung hat aber zur weitern Folge, daß den Behörden das ſelb-
ſtändige Verordnungsrecht, das bei der Verſchmelzung beider Funktionen
[327] auch bei ihnen den Charakter des Rechts auf Geſetzgebung hatte,
verloren geht; ſie haben es von jetzt an nur noch im Namen eines
Geſetzes, und werden dafür verantwortlich. Die Harmonie zwiſchen
Geſetzgebung und Verwaltung endlich, welche in dem Weſen der
miniſteriellen Verantwortlichkeit ausgeſprochen iſt, erzeugt ein drittes
Verhältniß des Behördenweſens, welches wir das organiſche nennen
können. Daſſelbe fordert erſtlich einen unbedingten amtlichen Gehor-
ſam der Behörden gegen die Weiſungen der höchſten vollziehenden
Organe, des Miniſteriums, weil nur durch einen ſolchen Gehor-
ſam das letztere die Verantwortlichkeit auf ſich nehmen kann; und
zweitens eine Organiſation derſelben, welche dieſen Gehorſam auch
möglich macht. Dieſe letztere nun iſt es, welche das eigentliche
Kennzeichen des Behördenſyſtems der verfaſſungsmäßigen Verwaltung
bildet. Die Funktion des Miniſterialſyſtems in dem von uns ange-
gebenen Sinn iſt, wie wir geſehen, die Aufſtellung und Durch-
führung der leitenden Principien der Geſetzesvollziehung im Allge-
meinen; die Funktion der einzelnen Behörde iſt die ganz ſpezielle örtliche
Durchführung derſelben. Die abſolute Gleichmäßigkeit der letzteren
iſt natürlich auf allen Punkten unmöglich; ebenſo unmöglich iſt eine
ausreichende Beurtheilung des nothwendigen Maßes der Modifikation
in der Ausführung durch die örtlichen Verhältniſſe von Seiten des
Miniſteriums. Die Forderung der verfaſſungsmäßigen Verwaltung
erzeugt daher jenes charakteriſtiſche Merkmal in der Organiſation der
Behörden, welches wir die Mittelbehörden nennen. In der ſtän-
diſchen Epoche gibt es keine Mittelbehörden; und dieſe ſind auch nicht
aus Gründen bloß äußerlicher Zweckmäßigkeit entſtanden. Sie ſind
vielmehr dasjenige Organ, welches — es läßt ſich das eben nicht
ſchärfer definiren — die Gleichmäßigkeit in der Durchführung der Ge-
ſetze dadurch zu erhalten haben, daß ſie ein gewiſſes Gebiet gleich-
artiger örtlicher Verhältniſſe zuſammenfaſſen, und in die örtlich ver-
ſchiedene Thätigkeit der Behörden dieſe Gleichartigkeit hineinbringen.
Die Behörde iſt dadurch im engeren Sinne jetzt die untere als Lokal-
ortsbehörde; die Mittelbehörde unter verſchiedenen Namen umfaßt
größere Landesgebiete. Auf dem Verhältniß dieſer beiden Elemente
des Behördenweſens beruht dann das, was wir das Syſtem der
Behörden nennen.


Dieß Syſtem der Behörden muß demnach von zwei Geſichtspunkten
betrachtet werden, von denen man ſagen kann, daß die bisherige Theorie
den erſten nicht unterſucht hat, weil er zu einfach, und den zweiten,
weil er zu mannigfaltig und ſcheinbar zu zufällig erſchien. Dennoch gelten
auch hier durchgreifende Grundſätze. Wir können den erſten als das
[328] Gebiet der organiſchen, den zweiten als das Gebiet der natürlichen
Faktoren des Behördenſyſtems bezeichnen.


Wenn es gelänge, die Betrachtung und das Studium des Behördenthums
über den gewöhnlichen ſtatiſtiſchen Standpunkt zu erheben, in welchem gerade
hier jede wiſſenſchaftliche Unterſuchung zu Grunde geht, ſo würde für das Ver-
ſtändniß des Lebens der Staaten nicht bloß im Ganzen, ſondern auch im Ein-
zelnen wohl ſehr viel gewonnen ſein. Daß ſich die deutſche Literatur ſeit
Bülau (1836) mit der ganzen Frage gar nicht mehr beſchäftigt hat, und ſich,
wo ſie daran herankommt, faſt direkt feindſelig zu dem Behördenthum ver-
hält, hat zwar einen ſehr guten Grund, aber nicht immer ſehr gute Folgen.
Jedenfalls iſt es nothwendig, ſich darüber Rechenſchaft abzulegen. Erſt dann
kann dieß hiſtoriſch recht wohl erklärliche, aber an ſich ganz verkehrte Verhältniß
beſſer werden. Und es möge uns hier geſtattet ſein, dazu durch Erklärung
jenes Verhältniſſes, und dann durch Charakteriſirung des Behördenweſens in
den großen Staaten das Unſrige beizutragen.


Offenbar ſind die Behörden diejenigen Organe, welche nicht bloß im
Allgemeinen in das wirkliche Leben am tiefſten eingreifen, ſondern welche gerade
dadurch das, was alles ſich entwickelnde Staatsleben am meiſten charakteriſirt,
den Gegenſatz zwiſchen Staat und Einzelnen, zwiſchen Herrſchaft des erſteren,
und Freiheit des letzteren, auch am ſchärfſten zum Bewußtſein bringen. Der
Kampf der ſtaatsbürgerlichen Entwicklung findet daher an den Behörden ſein
eigentlich concretes Gegengewicht; hier iſt die Reibung am ſtärkſten, und hier
daher auch gegenſeitiges Verſtändniß am ſeltenſten. Iſt das ſchon zwiſchen
Einzelnen und Behörden der Fall, ſo wird es noch weit mehr ausgeprägt, wo
die bürgerliche Freiheit ſich zur Selbſtverwaltung erhebt, und damit ein dem
Behördenweſen analoges, aber dennoch auf einer ganz andern Grundlage
ſtehendes Organ der Vollziehung erſchafft. Hier beginnt das eigentliche Gebiet
des Streites; beide, Behörde und Selbſtverwaltung, haben dieſelbe Aufgabe,
die örtliche Verwirklichung der Staatsidee; beide haben an ſich daſſelbe Recht;
beide ſtreben, beſtändig ſich gegenſeitig einander unterzuordnen, und nicht etwa
aus Herrſchſucht oder Haß, ſondern weil beide auf demſelben Gebiete direkt
entgegengeſetzte Lebensprincipien — oder doch Formen derſelben — zu vertreten
haben, die Behörde, indem ſie die allgemeinen Bedingungen des Geſammtlebens,
ſei es als Geſetz, ſei es als Forderung der Verwaltung gegenüber dem örtlichen
Leben — die Selbſtverwaltung, indem ſie umgekehrt die örtlichen Lebensgeſtal-
tungen und ihre Intereſſen gegenüber dem Geſammtleben vertritt. Und daher
können wir unbedenklich ſagen, daß ſich das Behördenthum zur Selbſt-
verwaltung verhält, wie das Miniſterialſyſtem zur Volksver-
tretung
. Beide ergänzen ſich und bedingen ſich gegenſeitig. Man kann, ja
man muß das Eine aus dem Andern kennen lernen, man wird nie den
Charakter eines Staates verſtehen, ſo lange man nicht neben der höchſten Ver-
waltung auch das Behördenthum als Ganzes aufgefaßt hat. Der einzig mög-
liche Maßſtab für das Letztere aber iſt das Verhältniß der Behörde zur
Selbſtverwaltung
, alſo namentlich zur Gemeinde. Und wir wollen ver-
ſuchen, das Behördenthum von dieſem Geſichtspunkt aus zu charakteriſiren.


[329]

Wir haben ſchon geſagt, daß England gar kein Behördenſyſtem im
Sinne des Continents hat
; die engliſche Behörde, die Justice of peace,
iſt formell nur ein Gericht, materiell dagegen zugleich Polizeibeamter, aber
keine Verwaltungsbehörde, und kaum ein Amt. — Das iſt es, weßhalb das
innere Leben Englands dem Deutſchen ſo ſchwer verſtändlich iſt. Die örtliche
Verwaltung iſt in der That ganz der Selbſtverwaltung überlaſſen; die Staats-
verwaltung hat weder das Recht, noch die Zeit, ſich mit derſelben abzugeben;
es iſt Sache des Einzelnen, ſich durch ihre Gemeinde ſelber zu helfen. Es
exiſtirt daher allerdings kein Gegenſatz gegen das Behördenthum; aber es
exiſtirt auch der ſpezifiſche Einfluß deſſelben nicht. Der Mangel des Behörden-
thums bringt in der örtlichen Verwaltung daſſelbe zu Wege, was der Mangel
einer ſelbſtändigen höchſten Verwaltung im ganzen Staatsleben zeigt — die
Rechtloſigkeit der Minorität. In ihr beſteht die Gefahr für England.
Das, was in England als Behörde erſcheint, iſt daher nur der örtliche
Organismus des Gerichts
, welches das Geſetz zugleich vollzieht, ohne
jedoch etwas thun zu dürfen, was über das Geſetz hinausgeht. Dieſer örtliche
Organismus iſt der Friedensrichter, der mit ſeinem Sheriff, ſeinen Clercs
und ſeinen Constablers die richterliche und vollziehende Behörde bildet; einen
andern gibt es nicht. Jede wirkliche örtliche Verwaltung liegt ganz in
den Händen der Selbſtverwaltungskörper. Das iſt der Charakter Englands in
dieſer Beziehung. Er erhält ſich auch in den Mittelbehörden (ſ. unten). Auf
ihm beruht auch die ganze, ſo höchſt untergeordnete Stellung des Beamten-
ſtandes; auf ihm im Grunde jenes inſtinktmäßige Streben nach dem „Friedens-
richter,“ welcher eine Zeit lang in Deutſchland ſo ſtark war. Nur mißverſtand
man die Sache, als Feuerbach dafür kämpfte; denn nach dem engliſchen Frie-
densrichter, den nicht einmal Vincke verſtand, ſuchend, war man dem fran-
zöſiſchen in die Hände gefallen, und Feuerbach und mit ihm alles Für und
Wider mühten ſich ab, durch Nachweiſung des proceſſualiſchen Werthes das
Inſtitut zu beurtheilen, während der Inſtinkt dem deutſchen Volke ſagte, daß
der Friedensrichter, den man haben wollte, in der That nicht ein billiger und
bequemer Schiedsrichter von jedenfalls zweifelhaftem proceſſualiſchem Werthe,
ſondern vielmehr der Ausdruck der Selbſtändigkeit der Selbſtverwaltung gegen-
über dem damals örtlich noch allein herrſchenden Behördenthum ſei. Wir
können nach dem, was Gneiſt über England geſagt, nichts mehr hinzufügen.
Unſer Standpunkt iſt jetzt ein höherer. Nur die Vergleichung des Behörden-
thums auf dem Continent kann uns weiter bringen.


In der That muß man ſagen, daß, während England kein Behördenthum
hat, weil die Selbſtverwaltung es überflüſſig macht, Frankreich darum keines
beſitzt, weil es ſeinerſeits die Selbſtverwaltung überflüſſig gemacht hat. Es
läßt ſich denn doch im Grunde keine Behörde denken ohne eine gewiſſe Selb-
ſtändigkeit, ohne ein Element der alten Obrigkeit, ohne den Nebengedanken,
daß man in ihr nicht bloß den Diener eines andern Willens, ſondern dem
Staate ſelbſt gegenüberſtehe. Das nun iſt in Frankreich unmöglich, weil die
Adminiſtration nur noch von den Behörden „vollzogen“ wird, und zwar
dadurch, daß dieſem Willen der Adminiſtration nirgends ein dritter, ſelbſt-
[330] thätiger Körper entgegentritt, mit welchem ſich die Behörde auf gleichem Gebiete
abzufinden hat. Da die Selbſtverwaltung keine Rechte beſitzt, kann natürlich
auch der Maire keine beſitzen. Er hat nirgends zu fürchten, daß er in ſeiner
Funktion vor einem andern Forum belangt wird, als demjenigen, welcher ihm
eben dieſe Funktion beſtimmt hat; er iſt daher an jedem Orte allerdings die
Verwaltung, aber er iſt nicht der Staat. Er iſt keine magistrature, ſondern
nur ein fonctionnaire. Eben darum gibt es auch keine Varietät des Behörden-
weſens in Frankreich; es iſt nur der Ausdruck eines und deſſelben Gedankens,
des amtlichen Gehorſams, nicht des amtlichen Rechts. Und obwohl wir vielfach
die Formen dieſer Sache in Deutſchland aufgenommen haben, ſo verſtehen wir
ſie Gottlob doch nie ſo recht; denn wir haben den Geiſt derſelben nicht recipirt.
Das deutſche Behördenweſen iſt ein weſentlich anderes, als das engliſche, aber
es iſt noch tiefer verſchieden von dem franzöſiſchen.


Das deutſche Behördenweſen iſt nämlich hiſtoriſch zunächſt die ſtaatliche
Geſtaltung der ſtändiſchen Selbſtverwaltung, die gutsherrliche Behörde, auf-
genommen und veredelt durch die ſtaatliche Verwaltung. Die deutſche Behörde
hat niemals ganz das Gefühl verloren, daß die Selbſtverwaltung ſelbſtändige
Rechte habe, wie die franzöſiſche; aber ſie iſt auch nie auf die bloß richterliche
und ſchutzpolizeiliche Funktion beſchränkt geworden, wie die engliſche. Sie iſt
durch die Entwicklung des Verfaſſungslebens unſeres Jahrhunderts das ge-
worden, was ſie ſein ſoll, das örtliche Staatsamt. Vortrefflich ſagt
Pötzl (Bayeriſches Verwaltungsrecht I. S. 7): „Bei der Bezeichnung „Behörde“
iſt die Rückſicht auf die Gegenſtände und Befugniſſe, die einem Organe an-
gehören, bei der Bezeichnung „Amt“ dagegen die auf die Pflichten entſcheidend.“
Sie iſt Träger der Autorität des Staats auch gegenüber der Majorität; ſie
hat das Recht, es in allen Gebieten des Staatslebens zu ſein. Sie iſt das noch
immer nicht in dem Grade und in der Klarheit, wie ſie es ſein ſollte; aber
ſie iſt es ihrem Weſen nach. Sie hat in den deutſchen Staaten ſehr verſchiedene
Namen und Formen; ſie iſt theils direkt vom Staate eingeſetzt, theils iſt ſie
nur eine Umwandlung der gutsherrlichen Verwalter; aber nirgends iſt ſie zu-
gelaſſen, ohne diejenigen Bedingungen erfüllt zu haben, welche das deutſche
Recht mit dem deutſchen Beamtenthum verbindet. Sie iſt daher nicht die Be-
herrſcherin der Selbſtverwaltung, wie in Frankreich, und auch nicht ein für
die Thätigkeit deſſelben indifferenter Organismus, wie in England, der nur
dann funktionirt, wenn Geſetz und Sicherheit in Gefahr kommen, ſondern ſie
iſt die Vermittlung zwiſchen Staat und Geſellſchaft. Sie ſchließt ſich daher
viel freier an die beſonderen Verhältniſſe der letzteren an; ſie läßt, ohne daß
ihrem Weſen Eintrag geſchähe, Verſchiedenheiten in Namen und ſelbſt in der
Competenz zu, die weder in Frankreich, noch in England denkbar ſind. Sie
zwingt daher die Darſtellung allerdings, wenn ſie genau ſein will, ſtets ſich
an die ſtatiſtiſche Ordnung jedes einzelnen Staates anzuſchließen; aber ſie hat
dennoch ein weſentliches Kriterium, das ſie von Frankreich und England
definitiv unterſcheidet. Die deutſche unterſte Behörde iſt nämlich niemals eine
Gemeindebehörde, wie der Maire, ſondern hat ſtets eine örtliche Competenz
der Verwaltung für eine Anzahl von Gemeinden; und das iſt es, was
[331] ihr ihre natürliche Stellung als Vertreterin der inneren Verwaltung erhält,
denn dadurch erſt wird die freiere Selbſtthätigkeit des Gemeindeweſens möglich.
Es iſt vom höchſten Intereſſe, von dieſem Standpunkt aus die Geſchichte der
Behördenorganiſation zu verfolgen, die mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts
in Süddeutſchland, mit dem Jahre 1808 in Preußen, mit den Jahren 1816
bis 1820 in den übrigen Staaten, und mit dem Jahre 1848 in Oeſterreich in
die gegenwärtige Cpoche tritt. Wir müſſen das genaueren Unterſuchungen
überlaſſen. Wohl aber werden wir auf ein zweites Moment eingehen müſſen,
das weſentlich zum obigen Bilde gehört, und das iſt das Syſtem der Mittel-
behörden
.


b) Die Elemente der inneren Organiſation des Behördenſyſtems.

Derſelbe Proceß, der durch die Herſtellung der Einheit in der
ganzen Verwaltung den Behörden der früheren Zeit ihre Selbſtändigkeit
genommen, hat nun auch das Princip aufgeſtellt, welches ihre innere
Organiſation in jeder verfaſſungsmäßigen Verwaltung beſtimmen muß.
Da die Behörde die örtliche Ausführung der vollziehenden Thätigkeit
hat, ſo muß ſie ſo eingerichtet ſein, daß ſie dieſe einzelne Ausführung
in vollſter Harmonie mit der Abſicht der vollziehenden Gewalt voll-
bringt, und dadurch dem Principe der Verantwortlichkeit gleichſam
ſeinen materiellen Boden gibt. Aus dieſer allgemeinen Forderung er-
geben ſich die folgenden Grundſätze.


Zuerſt entſteht daraus die Nothwendigkeit, daß jedes Miniſterium
ſein Behördenſyſtem habe. Dieſer einfache Satz hat eine Reihe
hochwichtiger Folgen, in denen eigentlich der Kern für die Bildung des
Behördenſyſtems beſteht. Es folgt nämlich daraus zuerſt, daß jedes
Miniſterium auch ſeine adminiſtrative Landeseintheilung habe; das
Zuſammentreffen derſelben mit einem andern iſt zwar wünſchenswerth,
aber nicht nothwendig. Namentlich werden dieſe Landeseintheilungen
oft weſentlich differiren für das Miniſterium des Krieges, der Finanzen
und des Innern, während dieß mit dem Juſtizminiſterium ſehr oft die-
ſelbe Eintheilung annimmt. Das wird faſt in allen Geographien gänz-
lich überſehen, und das ſtaatliche Bild, welches ſie geben, iſt dadurch
ſtets ein unvollkommenes. Zweitens folgt, daß die Behörden des
einen Miniſteriums nicht die Funktionen des andern vollziehen dürfen,
ohne das Princip der Verantwortlichkeit aufzuheben. Sehr einfach iſt
dieſer Satz in dem Verhältniß aller übrigen Miniſterien; ſchwierig er-
ſcheint er nur zwiſchen dem Innern und der Juſtizpflege. Die Forderung
der „Trennung von Juſtiz und Adminiſtration,“ deren Bedeutung wir
bereits früher für den Begriff der verfaſſungsmäßigen Verwaltung dargelegt
haben, findet hier auch ſeinen formellen Ausdruck, als Vorausſetzung
[332] für die Uebernahme der Verantwortlichkeit von Seiten des Miniſteriums
für die einzelnen Thätigkeiten der beiderſeitigen Behörden.


Am wichtigſten aber iſt die dritte Folge, daß das Miniſterium ſich
das Syſtem ſeiner Mittelbehörden entwickeln, und ſich über die
Funktion deſſelben klar ſein muß. Es iſt ſehr leicht die Nothwendigkeit
von Mittelbehörden anzuerkennen, aber ſehr ſchwer zu ſagen, was ſie
eigentlich zu thun haben. Daher beſteht gerade auf dieſem Gebiet die
größte Verſchiedenheit und der größte Wechſel. Es iſt eine eigene
Arbeit, in dieſer Beziehung eine Vergleichung durchzuführen. Wir be-
merken dabei, daß hier verſchiedene Geſichtspunkte in Frage kommen.
Der erſte iſt der, daß jedes Miniſterium ſein Syſtem von Mittel-
behörden mit der ihm entſprechenden Landeseintheilung haben wird. Dieß
iſt ſehr einfach, ſo lange man die fünf Hauptminiſterien aufſtellt. So
wie man aber wieder aus dem Innern die vier Verwaltungsminiſterien
Polizei, Unterricht, Volkswirthſchaft und Inneres macht, wird die
Sache ſehr verwickelt. Hier erſcheint in den meiſten Fällen als Grund-
lage des Syſtems der Mittelbehörden die Combination wenigſtens der
drei letzten Verwaltungsbehörden in Einem Körper, jedoch in der Weiſe,
daß dieſer Körper durch Beiziehung eigends dazu beſtimmter Organe
und Herſtellung einer eigenen Abtheilung eine Mittelbehörde für jedes
jener Verwaltungsgebiete des Innern bildet, ſo daß hier die politiſche
Landeseintheilung für alle zuſammenfällt, und der Zuſammenhang
jener vier Funktionen in dem Zuſammenhange der betreffenden Ab-
theilungen ausgedrückt iſt. — Der zweite Geſichtspunkt betrifft die
Competenz dieſer Mittelbehörden. Sie iſt grundſätzlich und für alle
Behörden eine oberaufſehende, und eine in zweiter Inſtanz entſcheidende.
Die Grundlage dafür bildet das Gerichtsweſen, das bekanntlich über-
haupt das Behördenſyſtem unter dem Titel des Inſtanzenzuges
zuerſt bei ſich ausgebildet hat. Der Begriff der Inſtanz kann nicht
den Sinn der höheren Bildung oder des richtigeren Verſtändniſſes des
Geſetzes haben, denn ſie wäre ſonſt ein unlösbarer Widerſpruch mit
der Funktion der Ortsgerichte. Sie bedeutet vielmehr, daß auch im
Recht die Rechtsbildung wie das ganze übrige menſchliche Leben theils
örtlich, theils ſtaatlich vor ſich geht, und daß daher die Verwaltung
des Rechts von einem, dem rechtsbildenden Körper entſprechenden
Syſteme von Organen vertreten werden muß. Die zweite Inſtanz iſt
das Organ für das Landesrecht, während die erſte die für das Orts-
recht, die dritte die für das Reichsrecht iſt. In der That iſt das auch
hiſtoriſch der Gang der Inſtanzenbildung. Dem haben ſich die übrigen
Behördenſyſteme angeſchloſſen, und die Forderung, daß es auch in der
Verwaltung wie in der Juſtiz drei „Inſtanzen“ geben müſſe, iſt demnach
[333] nichts anderes, als die Anerkennung des organiſchen Satzes, daß
auch im Staatsleben Ort, Land und Reich das öffentliche Recht bilden.
Man muß daher als Princip der Competenz jeder wahren Mittelbehörde
ſowohl für die Oberaufſicht als für die Entſcheidung die Ausdehnung
über ein Land ſetzen; jede weitere Mittelbehörde erſcheint als überflüſſig,
weil ſie keinem wirklich beſondern Verhältniß des Lebens entſpricht.
Wie daneben im Einzelnen nun Name und Zuſtändigkeit der einzelnen
Mittelbehörde beſtimmt werden ſoll, muß als Sache der Organiſations-
gewalt erſcheinen.


Dieſe aber wird nun, indem gerade die Mittelbehörde auf dieſen
gegebenen Verhältniſſen beruht, ſich an die großen Thatſachen des wirk-
lichen Lebens anſchließen. Und hier erſcheint nun der zweite organiſche
Faktor, das natürliche Element, das in dem Organismus des Behörden-
ſyſtems mit ſeiner Macht hineingreift.


Wir können im Allgemeinen ſagen, daß die deutſche Literatur die Frage
nach der eigentlich organiſchen Bedeutung, und damit nach dem richtigen
Organismus der Mittelbehörden und dem ſich an dieſelben anſchließenden
Inſtanzenzug ſeit den 30ger Jahren fallen gelaſſen hat. Es beruht das zum
Theil auf einer gewiſſen Hoffnungsloſigkeit, in der Frage nach dem Beſchwerde-
recht und der Adminiſtrativjuſtiz weiter zu kommen, welche natürlich weſentlich
von den Mittelbehörden abhängt, theils wohl auch darauf, daß der Organismus
derſelben ziemlich allgemein feſtſteht, und man formell an ihm nichts mehr zu
ändern hat. Dennoch iſt und bleibt dieſelbe eine dauernd wichtige, und wird
ſofort ein neues Leben bekommen, wenn man erſt über Selbſtverwaltung und
Klagerecht einigermaßen einig ſein wird. Es möge daher hier geſtattet ſein,
dieſelbe etwas genauer zu betrachten.


Man muß die Mittelbehörden überhaupt von zwei Standpunkten auf-
faſſen. Den erſten können wir den adminiſtrativen und damit formellen nennen;
der zweite ſchließt ſich an Weſen und Thätigkeit der Selbſtverwaltung. Der
erſte gehört Frankreich, der zweite iſt Deutſchland eigenthümlich. England hat
keine Mittelbehörde im continentalen Sinne. Das was die Stelle derſelben
dort vertritt, ſind die Petty und die Quarterly Sessions der Friedensrichter,
jene etwa mit der Kreis-, dieſe mit der Provinz- oder Departemental-Organi-
ſation äußerlich vergleichbar. Nur ſind beide keine Behörden, mit dem amtlichen
Rechte eines Verwaltungsorganes ausgerüſtet, ſondern ſie ſind Gerichtsinſtanzen,
bei denen freilich auch jene Adminiſtration und Juſtiz innig verſchmolzen ſind.
Die Thätigkeit der inneren Verwaltung und ſelbſt die der Finanzverwaltung
beruht auf der Selbſtverwaltung und ihren Körpern, und die Friedensrichter
haben die letzteren nur gerichtlich zu verurtheilen, wenn ſie ein Verwaltungs-
geſetz nicht ausführen. Die Mittelbehörden ſtammen formell aus Frankreich
und ſind bekannt genug. Was ſie ſind und ſollen, kann allerdings nur
durch die Auffaſſung der ganzen franzöſiſchen Adminiſtration richtig verſtanden
werden.


[334]

Wir haben als den Charakter der letzteren bereits früher die Alleinherrſchaft
der amtlichen Verwaltungsbehörden bezeichnet, welche die Selbſtändigkeit der
örtlichen Verwaltung ganz in ſich aufnimmt, und die völlige Gleichheit der
geſammten Verwaltung herſtellen will. Dennoch läßt ſich eine gewiſſe Gleich-
artigkeit örtlich gegebener Verhältniſſe nicht wegläugnen, welche wieder eine be-
ſondere Geſtalt der Vollziehung bedingt. Sie machte eine Auflöſung des ganzen
Reiches in lauter einzelne Gemeinden nicht möglich; aus ihr ging die Einthei-
lung in Departements hervor, welche dann wieder in Arrondissements, und
dieſe in Cantons zerfielen. Dieſer Eintheilung entſpricht das Syſtem der
Behörden, des Préfet, des Souspréfet und des Maire. Das organiſche Syſtem
ihrer Thätigkeit war damit klar genug. Ueber alles das, was das Departement
im Ganzen, alſo als gleichartig für alle Theile betrifft, hat die Préfecture,
über das, was für das Arrondissement gilt, die Souspréfecture, und für die
Commune die Mairie zu entſcheiden. Es iſt das eine formell ganz richtiger
und durchſichtiger Organismus für den Unterſchied zwiſchen dem Allgemeinen
und dem Beſonderen; aber Thätigkeit, Aufgabe und Stellung aller dieſer drei
Organe iſt innerlich die gleiche; denn es hat jener Organismus doch nur die
alleinige Herrſchaft des Willens der amtlichen Verwaltung zu vollziehen, die,
wenn ſie auch die örtliche Berathung in dem Syſteme der Conseils hinzuzieht
(ſ. unten), doch dem örtlichen Leben keine ſelbſtändige Berechtigung einräumt.
Das Objekt der Thätigkeit dieſes Syſtems der Behörden iſt daher nie die
Funktion der Selbſtverwaltungskörper, ſondern eben nur die ſtreng amtliche
Vollziehung des höheren Befehls, über den am Ende nie das Gericht, ſondern
zuletzt der Conseil d’État entſcheidet. Für den amtlichen Organismus,
ſo weit man ihn für ſich betrachtet, gibt es daher in der That keine beſſere
Form, und der Franzoſe würde daher unſere deutſche Auffaſſung gar nicht recht
verſtehen. Es erklärt ſich daraus die Erſcheinung, daß die deutſchen Staaten
dieſelbe Grundform für ihr Behördenſyſtem ſeit Beginn dieſes Jahrhunderts ſo
gut als ausnahmslos annahmen. Wir ſehen nur auf einem weſentlichen Punkte
einen Unterſchied, und dieſer gibt dem ganzen deutſchen Syſteme einen durchaus
andern Charakter bei äußerlich formeller Gleichheit.


Die deutſchen Staaten haben nämlich niemals das Gemeindehaupt als
bloßen Beamteten betrachtet. Deutſchland kennt keinen Maire. Die unterſte
Behörde iſt daher ſchon ſelbſt eine Art Mittelbehörde; der unterſte
Verwaltungskreis, der Bezirk oder Diſtrikt, iſt eine Einheit von ſelbſtändigen
Verwaltungskörpern, und das unterſte Organ, der Bezirkshauptmann als Amt-
mann, wird dadurch nicht bloß ein einfaches Vollzugsorgan, ſondern er regiert
ſchon, indem er eine Mehrzahl von Verwaltungskörpern verwaltet. Dieſe unterſte
örtliche Behörde, gleichviel unter welchem Namen, gewinnt dadurch einerſeits
eine Gewalt, welche viel größer iſt, als die des Maire, und eine Selbſtändig-
keit in ſeinen Funktionen, welche in Frankreich unmöglich iſt. Die Folge davon
war das, was die deutſche Verwaltung gegenüber der franzöſiſchen ſo charak-
teriſtiſch kennzeichnet, und was man doch nie recht verſtanden hat. Einer-
ſeits
griff die unterſte Behörde, der Amtmann, Landrath oder Bezirkshaupt-
mann beſtändig in die freie Bewegung der Selbſtverwaltung der Gemeinden
[335] hinein, und ſo entſtanden beſtändige Reibungen, die natürlich noch größer
wurden, wo dieſe Selbſtverwaltung noch immer, wie in Bayern und Preußen,
mit der alten Grundherrlichkeit ſo enge zuſammenhängt, und deßhalb nach dem
Muſter des vorigen Jahrhunderts ſich jeder amtlichen Verwaltung principiell
und thatſächlich opponirt — etwas, was in der Mairie undenkbar iſt. An-
dererſeits
aber hatte man dadurch in Deutſchland faktiſch in den drei Kate-
gorien: Provinz, Kreis und Bezirk (Département, Arrondissement und
Canton) nicht drei Stufen, ſondern drei Mittelbehörden, da die Ge-
meinde im Grunde die unterſte Stufe war. Daraus folgte, daß der praktiſche
Gang der geſchäftlichen Erledigungen ein unnöthig ſchleppender ward, und daß
die Fragen, und mehr noch die Beſchwerden über die unterſte Mittelbehörde,
den Amtmann, oder Landrath, oder Bezirkshauptmann, drei Inſtanzen durch-
laufen mußten, ehe ſie zum Miniſterium kommen, wodurch im Grunde jedesmal
vier Inſtanzen herauskommen. Dieſe beiden Gründe zuſammenwirkend ſind
es, welche einen gewiſſen Antagonismus gegen das deutſche Behördenſyſtem er-
zeugt haben, der ſich als die bekannte ſpezifiſche Klage der Vielregiererei,
der Vielſchreiberei und ſelbſt der Büreaukratie erzeugt haben. Dazu
kam der Grundſatz, daß die ganze Competenz und Thätigkeit dieſer Mittel-
behörden, wie namentlich in Preußen, nur durch die Inſtruktionen der Mini-
ſterien beſtimmt ward; ſchon ſeit der großen Inſtruktion für die Regie-
rungen
von 1817 beginnt die Strenge der Büreaukratie ſich ernſthaft fühlbar
zu machen, und ſich von ihnen auf die Thätigkeit der Landräthe auszudehnen.
(Rönne, Preußiſches Staatsrecht II. S. 167 ff. und 174.) Man wird jetzt
begreifen, weßhalb dieſe Klage nur in Deutſchland entſtehen konnte, während
Frankreich ſie nicht kennt; denn in der That regiert der Verwaltungsorganismus
Frankreichs nicht zu viel, ſondern allein, aber in einfacherer Weiſe, und namentlich
nicht im Gegenſatze zur Selbſtverwaltung, die ſich in Deutſchland durch das
obige Syſtem mehr geengt und gedrückt, als wirklich beinträchtigt fühlte. Dieſem
Gefühle hat vielleicht niemand beſſeren Ausdruck gegeben, als Bülau (Be-
hörden 1836), deſſen Abſchnitt „Mittelbehörden“ S. 202 vielleicht der bedeu-
tendſte Theil des ganzen Werkes iſt. Man wird von dem obigen Geſichtspunkte
aus auch nunmehr verſtehen, wenn Bülau ſich im Allgemeinen ſo entſchieden
gegen das Syſtem der Mittelbehörden erklärt, und dieß mit dem Satze be-
gründet: „Es iſt die Summe alles Staatsrechts, aller Staatsweisheit, aller
Staatswirthſchaft und aller Finanzkunſt, daß der Staat nichts thun ſoll, was
er nicht ſeiner Beſtimmung nach thun muß — und überall lieber zu wenig,
als zu viel“ S. 205. „Dieſe Behörden,“ ſagt er weiter, „werden immer nur
Durchgangspoſten ſein. Das alte Sprichwort von dem Kaiſer gilt auch vom
Staate. Es iſt für das Volk beſſer, wenn ſeine Behörden zu wenig, als
wenn ſie zu viel Zeit haben
— denn die Geſchäfte werden vermehrt, aber
es wird dadurch kein Geſchäft weniger, ſondern viele werden verdoppelt, werden
von zwei Behörden betrieben“ S. 211. Es iſt kein Zweifel, daß er im Grunde
ganz Recht hat, wenn er auch zu weit geht, und bis zur Verurtheilung aller
Unterbehörden gelangt. „Die Endentſcheidung wird immer vom Miniſterium
erfolgen. Entweder iſt dieß geeignet, eine ſolche zu fällen; wozu bedarf es
[336] denn da einer Unterbehörde? Oder es iſt es nicht. Damit wäre zu viel (?),
folglich nichts bewieſen.“ Jedenfalls drückt er den Geiſt des Kampfes aus, den
die in dem Gemeindeleben entſtehende Selbſtverwaltung mit dem Behördenthum
begonnen hatte. Malchus (Politik der innern Verwaltung I. §. 32—35)
hält ſich viel objektiver und gibt eine ſehr lichtvolle Darſtellung des poſitiven
Organismus in mehreren Staaten. Die ſpätere Literatur faßt die Sache auf
Grundlage der Juſtizverwaltung auf, um ſo mehr, als faſt allenthalben die
franzöſiſche Adminiſtrativjuſtiz geſetzlich fortbeſtand; ſie will drei Inſtanzen;
ſie formulirt dabei auch die beſonderen Funktionen derſelben, und zwar theo-
retiſch ſehr richtig, ohne jedoch das eigenthümliche Verhältniß zur Selbſtver-
waltung hervorzuheben. Als Ausdruck dieſer Auffaſſung führen wir Pötzl
(Bayeriſches Verwaltungsrecht §. 4) an; er drückt mit den kürzeſten Worten den
ganzen Standpunkt unſerer Gegenwart aus: „Die Behörden eines und deſſelben
Zweiges ſind in der Regel in drei Abſtufungen über und unter einander geſtellt,
einerſeits, damit ein Inſtanzenzug für die Unterthanen geſichert ſei, und
andererſeits, weil erſt auf dieſe Weiſe die genauere Sonderung der verſchie-
denen Thätigkeiten
, die bei der Verwaltung wirklich in Betracht kommen,
Leitung, Controle und wirklicher Vollzug zu ermöglichen iſt. Die unteren Be-
hörden (Diſtrikts-, Bezirks-, reſp. Lokalbehörden) ſind die eigentlichen Vollzugs-
organe; die mittleren controliren und überwachen den Vollzug, die oberſten
ordnen an und leiten.“ Das iſt mehr ſchön, als klar; denn eine Leitung iſt
ohne Controle oder Ueberwachung nicht zu denken; wird die Leitung daher durch
die oberſte Behörde erzielt, wozu die mittlere? Wird ſie es nicht, wozu die
oberſte? — In der That gibt es hier kein anderes organiſches Princip, als
den Unterſchied zwiſchen Staat, Land und Ort; das ſind drei praktiſch erfaßbare
Dinge, und fordern ihre eigenen Organe; ihr Recht auf die letzteren beſteht in
der Thatſache der Beſonderheit ihrer natürlichen Verhältniſſe. Jedes Mehr iſt
ein Uebel; denn jedes Organ, das man ſchafft, will etwas thun, und da das
Thun des unterſten Organs ſchon die Leitung der Selbſtverwaltung betrifft, ſo
muß jedes überflüſſige Mittelorgan nur eine Belaſtung des letzteren werden.
Daher dürfen wir als Charakterzug unſerer Zeit und als den praktiſchen Erfolg
des theoretiſchen Kampfes den Satz hinſtellen, daß man die Mittelbehörden ſo
viel als möglich verringert
, und namentlich zwiſchen der Landes- oder
Provinzialregierung und der Ortsbehörde im obigen Sinne — als
Einheit von Gemeinden — jede Mittelbehörde beſeitigt oder beſeitigen
ſollte. In dieſem Sinne hat man in Oeſterreich mit großem Rechte und ohne
den geringſten Nachtheil die Kreishauptmannſchaften definitiv aufgehoben, und
den Bezirk unmittelbar unter die Landesregierung geſtellt; in Preußen hat man
dagegen trotz alles Kampfes die ganz nutzloſe, nur die Büreaukratie vermeh-
rende Inſtitution des Oberpräſidenten beibehalten (ſiehe RönneII. §. 239
bis 241), deren Funktion neben den Regierungen gar nicht zu definiren iſt. Die
ſchließliche Geſtaltung dieſes für das innere Leben der Staaten ſo wichtigen
Punktes aber kann erſt dann kommen, wenn man die unterſte Behörde als das
Regierungsorgan für die Selbſtverwaltungskörper der unterſten
Verwaltungsgebiete
(der Bezirke, oder Diſtrikte, oder Amtmannſchaften,
[337] oder wie man ſie ſonſt nennen will) anerkennt, und ihnen ihre amtliche
Funktion in dieſem Sinne und Geiſte beſtimmen wird.


Jedenfalls iſt das, glauben wir, damit einleuchtend, daß man in Deutſch-
land ſich den Behördenorganismus gar nicht mehr ohne das Verhältniß zur
Selbſtverwaltung denken kann und ſoll, während er in Frankreich allein auf
den Momenten der Vollziehung beruht. Darin liegt der Charakter beider Länder
in dieſer Beziehung.


c) Die Elemente der äußern Geſtalt des Behördenſyſtems. Land und Volk.

Das was wir die äußere Geſtalt des Behördenſyſtems nennen,
entſteht nun, indem das Behördenſyſtem durch ſeine Aufgabe, die Voll-
ziehung örtlich und ſachlich zur Ausführung zu bringen, über das ganze
Gebiet eines Reiches vertheilt wird. Es iſt natürlich, daß dieſe Ver-
theilung zunächſt als eine rein geographiſche erſcheine. Dieſe Landes-
eintheilung zum Zwecke der Ordnung des Behördenſyſtems und ſeiner
Competenz nennen wir nun gewöhnlich die politiſche Landeseintheilung,
und ihre Darſtellung die politiſche Geographie.


Gewöhnlich nun bleibt die Darſtellung des Behördenſyſtems bei
dieſer einfachen Thatſache ſtehen, und für viele Zwecke genügt das auch.
Allein es iſt keine Frage, daß die Wiſſenſchaft hier weiter gehen kann
und ſoll.


Offenbar iſt es nicht das Land als ſolches, welches die Verwaltung
und mit ihr das Behördenſyſtem nothwendig macht. Es iſt vielmehr
das Leben der Menſchheit in dieſem Lande. Die Geſetze, welche dieſes
Leben beherrſchen, haben aber zunächſt eine faktiſche gemeinſame Grund-
lage. Die Mannigfaltigkeit und Größe dieſes Lebens ſteigt naturgemäß
mit der Zahl der Menſchen, mit ihr daher auch die Aufgabe und
Thätigkeit der Verwaltung. Die erſte Regel für dieß natürliche Element
in der Entwicklung des Behördenſyſtems, auf die obigen Sätze zurück-
geführt, heißt daher: die Entwicklung des Behördenſyſtems ſteht immer
im gleichen Verhältniß zu der örtlichen Dichtigkeit der Be-
völkerung
.


Da nun dieſe Dichtigkeit der Bevölkerung wieder auf das Engſte
mit der Formation des Landes zuſammenhängt, und wenigſtens zum
großen Theile von Ebene, Flüſſen, Meer und Gebirge bedingt wird,
ſo erſcheint äußerlich das Behördenſyſtem im innigen Anſchluſſe an die
geographiſche Geſtalt des Landes. Der Charakter des einen erzeugt da-
mit den Charakter des andern, und in dieſem Sinn kann man ſagen,
daß jedes Land ſein individuelles Syſtem von Behörden habe.


Um dieß genauer zu verfolgen, müßte die Wiſſenſchaft für jedes
Land die folgenden Geſichtspunkte nicht bloß nach ihrem allgemeinen
Stein, die Verwaltungslehre. I. 22
[338] Werthe, ſondern in ihren thatſächlichen Verhältniſſen unterſuchen, denn
in der That würde eine eingehende Statiſtik hier ganz neue Ordnungen
der Lebensverhältniſſe klar machen.


Zuerſt iſt es gewiß, daß ſich nicht bloß die Zahl, ſondern auch
die Arten und die Eintheilungen der Behörden vermehren, je
dichter die Bevölkerung iſt, während andererſeits die Trennung der
Funktionen in demſelben Grade wächst, in welchem die Zahl zunimmt.
Das Umgekehrte iſt der Fall bei der Abnahme der Dichtigkeit der Be-
völkerung. Daher hat namentlich die große Frage nach der Trennung
der Juſtiz von der Adminiſtration die größte Schwierigkeit der Löſung
nicht ſo ſehr in der Sache ſelbſt, als vielmehr in dem Mangel dieſer
Dichtigkeit der Bevölkerung; was an ſich ganz richtig iſt, kann durch
dieſes Element ſo unzweckmäßig in der Ausführung werden, daß es
dadurch unrichtig wird. Man hat daher bei der Verſchmelzung der
beiden Gebiete der Verwaltung wohl zu unterſcheiden zwiſchen der-
jenigen, welche auf den Grundlagen der ſtändiſchen Ordnung, und
derjenigen, welche auf den Bedingungen einer billigen und guten Ver-
waltung beruht.


Zweitens empfängt das Syſtem der Behörden durch die Ver-
theilung jener Bevölkerung auch ſeine äußere Geſtalt. Die Grundlage
bildet hier den Unterſchied zwiſchen Stadt und Land. Die Stadt iſt
im Sinne der Verwaltung vor allen Dingen die ſtärkſte Anhäufung
der Bevölkerung und damit die Concentrirung aller ihrer Lebensver-
hältniſſe auf einem beſtimmten Punkte, der zugleich das ganze wirth-
ſchaftliche und geiſtige Leben des Landes von ſich abhängig macht. Es
folgt daraus zuerſt, daß in den herrſchenden Städten die Mittelpunkte
des Verwaltungsorganismus ſich feſtſetzen, und damit den Begriff der
Hauptſtadt bilden, ein Begriff, der nur einen adminiſtrativen Sinn
hat. Dann erzeugt die Stadt an und für ſich ganz andere allgemeine
Lebensverhältniſſe wie das flache Land, und damit auch Verwaltungs-
aufgaben und Organe, welche das Land nicht fordert; ein Verhältniß,
auf welchem der weſentliche Unterſchied zwiſchen Stadt- und Land-
gemeindeordnung beruht. Daher die Regel, daß in einem Lande über-
haupt die Verwaltung und ihr Organismus — im weiteſten Sinne
genommen — in dem Grade mehr ausgebildet ſind, in welchem das
ſtädtiſche Leben mehr vorherrſcht. Daraus ergibt ſich drittens, daß
die Stadt die Heimath der Bildung des eigentlichen Verwaltungs-
rechts
und der adminiſtrativen Theorie iſt; denn das ſtädtiſche Leben
zwingt die Verwaltung, die unendliche Verſchiedenheit der einzelnen
Lebensbeziehungen zu combiniren und allgemeine Grundſätze aufzu-
ſtellen, die ſich dann allmählig zur Wiſſenſchaft der Verwaltung
[339] geſtalten. Die Städte erzeugen daher mit der Verwaltungslehre ferner
auch die geſetzlichen Bedingungen für den Eintritt in die Staatsämter;
von ihnen geht geographiſch mit der centralen adminiſtrativen Organi-
ſation die theoretiſche Bildung aus, und zwar iſt es naturgemäß, daß
beide zunächſt den Handelsſtraßen als den Verbindungswegen zwiſchen
den Städten folgen; die geſchichtliche Ausbreitung der Stadtrechte
liefert dafür den unzweifelhaften Beweis. Dabei bilden die Flüſſe
keine Gränze, ſondern ſie haben durchaus den Charakter und damit
den Einfluß von Handelsſtraßen, ſoweit ſie eben ſchiffbar ſind. Die
Organiſation der Verwaltung geſtaltet ſich durch dieſen Einfluß inner-
halb der Schiffbarkeit allmählig immer gleichartiger, und in dieſem
Sinne kann man den Grundſatz aufſtellen, daß ein Flußgebiet die
urſprüngliche Grundlage des Verwaltungsgebietes iſt. Dann aber
entwickelt ſich mit dem zunehmenden Handel das Wegeweſen, zuletzt
die Eiſenbahnen; der Einfluß des Fluſſes verſchwindet, und an ſeine
Stelle tritt die Concentrirung des Verkehrs überhaupt, der weil er
ſelbſt ſeinem Weſen nach immer der gleiche iſt, auch immer eine weſent-
lich gleiche Ordnung des Verwaltungslebens erzeugt, die Unterſchiede
mehr und mehr verſchwinden macht und nur noch die ganz allgemeinen
Einflüſſe von Ebene und Gebirge dadurch beſtehen läßt, daß das
eigentliche Element aller Verwaltungsthätigkeit und ihrer organiſchen
Entwicklung, die Dichtigkeit der Bevölkerung, welche auf der Frucht-
barkeit beruht, in ſeiner Verſchiedenheit beſtehen bleibt. Einen eigen-
thümlichen Platz nehmen dabei die Seeſtädte ein. Die Lebens- und
Verkehrsverhältniſſe der Seeſtädte entwickeln immer zwei weſentlich ver-
ſchiedene Seiten in ihrer Stellung zum Geſammtleben. Einerſeits
bilden ſie den Knotenpunkt für das Zuſammenlaufen der Handelslinien,
welche aus dem Innern kommen; andererſeits bilden ihre Beziehungen
zum Seeleben und zu fremden Staaten weſentlich andere Verhältniſſe
aus, die eine eigene Verwaltungsthätigkeit und damit eigene Organe
fordern. Jede Seeſtadt ſtrebt deßhalb darnach, ſoviel als möglich
einen ſelbſtändigen Verwaltungskörper zu bilden, und ſich wenigſtens
in Bezug auf Handels- und Schifffahrtsverhältniſſe vom übrigen Lande
zu ſcheiden, während ſie ſelbſt naturgemäß den Sitz der Verwaltungs-
organe für die Seeverwaltung in allen ihren Zweigen abgeben. Wenn
es daher verkehrt iſt, ſie in allen Beziehungen der Verwaltung abzu-
ſcheiden, ſo iſt es allerdings auch verkehrt, ihnen in ihrem ſelbſtändigen
Lebensgebiet nicht ihre nothwendige Selbſtändigkeit zu geben. Immer
aber wird bei Seeſtaaten der Mittelpunkt der ganzen Verwaltung ſtets
nach dem Haupthafenplatz fallen, und damit der Regel nach das Intereſſe
des Seehandels oft genug das der andern volkswirthſchaftlichen Gebiete
[340] ſich unterordnen. Wie und bis zu welchem Grade dieß alles geſchieht,
darüber entſcheidet die geographiſche Geſtalt des Landes; Natur und
perſönliches Leben gehen auch hier Hand in Hand.


Anders geſtaltet ſich das alles in gebirgigen Ländern. Hier iſt
die Dichtigkeit der Bevölkerung niemals eine große, und daher die
Ausbildung der Verwaltungsaufgaben, mithin auch die des Verwaltungs-
organismus, eine einfachere. Wie das Leben ſelbſt, hat hier die Ver-
waltung den Charakter des Oertlichen. Sie muß ihre Aufgabe nach
den enger begränzten Verhältniſſen richten; viele derſelben fallen ohnehin
fort; die Forderungen, welche ſie ſtellt, werden durch die natürlichen
Hinderniſſe des Bodens modificirt, und im Allgemeinen hat der Orga-
nismus der Verwaltung hier daher viel weniger Organe nöthig, während
zugleich in denſelben viel mehr Aufgaben verbunden ſind. Das letztere
iſt wieder dadurch möglich, daß der einzelne Bewohner, ſelbſt örtlich
auf ſich angewieſen, theils weniger vom Geſammtleben berührt wird,
theils ſich ſelber zu helfen verſteht. Und eben darum wieder iſt auch
das Maß, in welchem der Organismus der Verwaltung eingreift, hier
weit geringer; das Amt verliert ſelbſt da, wo es zu vollziehen hat,
einen Theil ſeiner exekutiven Gewalt, und wie das Verſtändniß des
Geſammtlebens bei dem Einzelnen geringer iſt, ſo bedarf es bei dem
Organe der Verwaltung hier auch nicht ſo ſehr der theoretiſchen Bildung,
als der Fähigkeit, die Individuen richtig zu behandeln; wie denn auch
dort die letztere weit höher geſchätzt wird, und der Einfluß des Organes
weit mehr mit dieſer als mit jener ſteigt. Dabei ſind die Arten der
Gebirge je nach ihrem Verhältniß zur Produktion wieder ſehr verſchieden,
und zwar je nachdem ſie ſich zur Urproduktion (Bergbau) oder zu
den einzelnen Arten der landwirthſchaftlichen Produktion mehr eignen.
Die Produktionskarte iſt neben der Höhenkarte die Baſis der Vertheilung
der Verwaltungsorgane.


Daß nun endlich, wenn Gebirge und Ebene zuſammentreffen, im
Allgemeinen die Ebene das Gebirge beherrſcht, bedarf keiner weiteren
Entwicklung. Es möge nur noch bemerkt werden, daß die Funktion
eines Verwaltungsorganes naturgemäß ſelten einen Bergrücken über-
ſteigt, während ſie in auslaufenden Thälern bis zum Ende derſelben
ſich zu erſtrecken pflegt.


Während auf dieſe Weiſe der Begriff des Lebens mit den an ſich
gegebenen Aufgaben der Verwaltung den Organismus in ſeiner innern
Eintheilung, das Land mit ſeinen örtlichen Verhältniſſen denſelben in
ſeiner äußern Vertheilung bedingt, iſt der Einfluß des Volkes nur
ſehr allgemein zu faſſen. Wenn wir unter dem Begriffe der Geſittung
in Beziehung auf die Verwaltung etwas Beſtimmtes verſtehen wollen,
[341] ſo kann es nur das ſein, daß dieſelbe das Maß bezeichnet, in welchem
die organiſche Wechſelwirkung zwiſchen dem Geſammtleben und dem
Einzelleben, und das harmoniſche Bedingtſein des einen durch das
andere zum allgemeinen Bewußtſein gelangt iſt. Es ergibt ſich daraus
der eben ſo allgemeine Satz, daß mit dem Fortſchritte der Geſittung
nothwendig einerſeits die Ausbildung der Verwaltung und ihres Organis-
mus an ſich, andererſeits die Willigkeit der Einzelnen wächst, der Ver-
waltung theils zu folgen, theils aber ihr ſelbſtthätig zu Hülfe zu kommen.
Daraus ergibt ſich dann, daß bei freigebornen Völkern die Entwicklung
der freien Formen der Selbſtverwaltung — der Vereine — und ihre
Ausdehnung in dem Grade ſteigen, in welchem die allgemeine Geſittung
ſteigt; naturgemäß wieder in demſelben Verhältniß, in welchem die
Dichtigkeit der Bevölkerung zunimmt. Dieß nun in einzelnen Ländern
genauer zu verfolgen, iſt eine eben ſo wichtige als anziehende Aufgabe,
bei deren Löſung nur zu beachten iſt, daß jede Darſtellung um ſo
werthloſer wird, je allgemeiner die Redensarten ſind, und je unbe-
ſtimmter die Beziehung auf die ganz concreten Verhältniſſe gerade der
Verwaltung und ihrer Zweige und Aufgaben gelaſſen wird.


Dieß nun ſind die objektiven Potenzen, welche auf die Bildung
des Verwaltungsorganismus Einfluß nehmen. Aus ihrem Zuſammen-
wirken mit den perſönlichen Elementen der ſtaatlichen und der Selbſt-
verwaltung geht nun das poſitive Syſtem des Verwaltungsorganismus
hervor.


Es iſt als ein großer Fortſchritt feſtzuſtellen, daß in neueſter Zeit dem
natürlichen Elemente, namentlich dem Lande, ſein ungemeiner Einfluß auf die
Staatsbildung überhaupt und wenigſtens beziehungsweiſe auch auf die Ver-
waltung vindicirt worden iſt. Hier hat Riehl in ſeiner geſchmackvollen Art
der Behandlung eigentlich ſeinen rechten Nutzen gehabt; die Theorie hat ihm
dafür dauernd dankbar zu ſein; wenn er auch nicht zu ſtrengen Reſultaten
gelangt, ſo hat er doch gezeigt, wie der natürliche Sinn für die Formulirung
derſelben geachtet werden muß. Während Mohl, Mayer, Zachariä, ſelbſt der
ängſtlich poſitive Baumſtark es noch nicht verſtanden, dem Lande ſein Recht
einzuräumen, hat Gerſtner in ſeinen „Grundlehren der Staatsverwaltung“
den „Staat in ſeinen Naturbeziehungen“ (Kap. VII.) aufgenommen, und in
eben ſo umſichtiger als geſchmackvoller Weiſe die letzteren in ihren organiſchen
Verhältniſſen zur Verwaltung dargeſtellt; entſchieden der Glanzpunkt des gründ-
lich und doch anziehend gearbeiteten Werkes. Nur iſt auch hier das ſpezifiſche
Eingreifen in die einzelnen Verhältniſſe der Verwaltung zu ſehr überragt von
dem allgemeinen Verhältniß zur Staatenbildung. Wie ſehr wäre es zu wün-
ſchen, daß künftig jede poſitive Verwaltungskunde zugleich in dieſem Sinn eine
Verwaltungsgeographie und Kulturſtatiſtik mit in ſich aufnähme!


[342]

III. Das Staatsdieuerrecht.


1) Begriff und Weſen.

Das Staatsdienerrecht bildet den zweiten Theil in dem Gebiete
des ſtaatlichen Verwaltungsorganismus. Es entſteht, indem das ein-
zelne Amt mit ſeinem Amtsrecht und ſeiner Amtsgewalt durch eine
einzelne Perſönlichkeit ſelbſtändig vertreten wird. Dadurch empfängt
dieß einzelne Amt erſt ein individuelles, perſönliches Leben; es tritt
aus dem abſtrakten Begriffe heraus und verkörpert ſich in der Perſon
des Beamteten. Amt und Beamteter verhalten ſich daher wie Be-
griff und Wirklichkeit, wie Seele und Körper; es kann keines ohne das
andere als thätig gedacht werden; jedes ſetzt das andere voraus, und
bei allen obigen Darſtellungen iſt daher auch jedes Amt als durch ſeine
Beamteten vertreten angenommen.


Dennoch iſt der Beamtete auch im Amt eine ſelbſtändige Perſön-
lichkeit. Die bisherige Entwicklung des Begriffes des Organismus der
vollziehenden oder Verwaltungsgewalt hat nun zwar das organiſche
Verhältniß des Amts an ſich, ſeinem abſtrakten Weſen und Begriffe
nach, zum Organismus des Staats dargelegt, allein es bleibt dieß
zweite Moment, die individuelle Perſönlichkeit des Beamteten, daneben
beſtehen. Und nun nennen wir die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe,
welche für die individuelle Perſönlichkeit des Beamteten durch die Ueber-
nahme des Amts entſtehen, das Staatsdienerrecht.


Das Staatsdienerrecht iſt daher ein Rechtsverhältniß nicht zwiſchen
Amt und Staat, ſondern zwiſchen dem Beamteten und dem Staate.
Der Inhalt des Staatsdienerrechts entſteht aus denjenigen Verhält-
niſſen, welche die Verwaltung des einzelnen Amts durch die einzelne
Perſönlichkeit erzeugt. Dieſe Verwaltung des einzelnen Amts durch die
einzelne Perſönlichkeit nennen wir den Staatsdienſt. Das Staats-
dienerrecht iſt daher die Summe von Rechtsverhältniſſen, welche für
den Staatsdiener durch den Staatsdienſt entſtehen.


Das Staatsdienerrecht iſt daher nicht bloß ein wichtiger Theil der
organiſchen Verwaltung, ſondern in gewiſſer Weiſe die Spitze derſelben.
Denn daſſelbe bezeichnet die Art und das Maß, in welcher die Ver-
waltung die individuelle Perſönlichkeit des Beamteten in ſich aufnimmt,
und ſeine perſönliche Selbſtändigkeit dem Willen des Staats unterwirft;
andererſeits die Gränze und den Inhalt der perſönlichen Selbſtändigkeit
des Beamteten dem Staatswillen gegenüber. Nun iſt aber eben dieſe
perſönliche Hingabe des Beamteten an die Funktion des Amts die erſte
und weſentliche Bedingung der Ausführung des Staatswillens, oder
[343] der wirklichen Verwaltung im Einzelnen. Das Staatsdienerrecht ent-
hält daher dieſe Bedingung als ein Syſtem von Rechten, das damit
über der individuellen Willkür erhaben iſt und der Vollziehung ſelbſt,
dem Staatsdienſt im Ganzen wie im Einzelnen ſeine objektive, recht-
liche Sicherung gibt. Das Staatsdienerrecht bildet ſomit gleichſam den
Schlußſtein des Organismus und zugleich das letzte Merkmal der Auf-
faſſung des Weſens des Amts. Und es ergibt ſich damit, daß wie dieß
letztere auch das erſtere ſeine tiefgehende Geſchichte hat, die voll von Ein-
ſeitigkeiten in der Auffaſſung im Einzelnen iſt, während ſie im Ganzen
nur den allgemeinen Gang der Entwicklung der Staatsidee repräſentirt.


2) Das Princip des Staatsdienerrechts.

Das Princip des Staatsdienerrechts enthält den Grundgedanken
der Auffaſſung des Staatsdienerverhältniſſes, inſofern aus ihm das
rechtliche Verhalten des perſönlichen Staatsdieners zum Staate in ſeinen
einzelnen Punkten hervorgeht. Es iſt daher innig mit der Entwicklung
der Staatsidee verflochten. Dieſe aber iſt weſentlich in dem Verhalten
des Staats zur Geſellſchaftsordnung gegeben. Und das herrſchende
Princip des Staatsdienerrechts kann daher auch nur in dem letzteren
gefunden werden.


In der That iſt der durchgreifende Unterſchied des Staatsdiener-
rechts unſeres Jahrhunderts von dem der verfloſſenen Epoche nur der
Ausdruck der beiden großen Geſellſchaftsordnungen, welche ſich mit dem
Anfange unſeres Jahrhunderts auch äußerlich von einander trennen,
das Recht des Staats und die Idee deſſelben auf allen Punkten be-
herrſchend.


In der ſtändiſchen Geſellſchaft ſehen wir, wie geſagt, zwei große
Geſtaltungen der Verwaltung einander theils ſcharf getrennt, theils
feindlich gegenüber ſtehen, die ſtändiſche und die königliche. Die Idee
des Staats hat ſich noch nicht als die allgemeine über die Sonderrechte
der erſteren erhoben. Die Verwaltung der königlichen Rechte und An-
gelegenheiten iſt Sache des Königs; ſie erſcheint als ſein perſönliches
Recht, und er iſt darüber conſequent niemandem Rechenſchaft ſchuldig.
Es iſt daher natürlich, daß die Verwalter dieſer Rechte die Stellung
perſönlicher Diener oder Beauftragter des Königs haben; es gibt durch-
aus keine andere Formel, welche im Sinne eines Privatrechts dieß Ver-
hältniß anders als durch den Begriff des Mandats bezeichnen könnte.
Allerdings liegt gleich Anfangs, vom Beginne des Amts an, ein höheres
ethiſches Element in dieſem Verhältniß. Das Entſtehen des Amts iſt,
wir möchten ſagen, von dem Gefühle begleitet, daß Begriff und Inhalt
[344] des Privatrechts, namentlich des Mandats, mit der durch das Weſen
deſſelben gegebenen und berechtigten individuellen Willkür denn doch in
einem tiefen Widerſpruche ſtehen. Man mühte ſich ab, in jenem prin-
cipiell privatrechtlichen Verhältniß ein Moment zu finden, welches jener
Willkür des Mandanten, des Königs, eine Gränze ſetzt; aber da man
nach der ſtreng juriſtiſchen Bildung in allen innern Staatsangelegen-
heiten bei der juriſtiſchen Formulirung ſtehen blieb, ſo behielt das Recht
des Beamteten immer den Charakter eines Dienſtvertrages zwiſchen
Königthum und Beamten, der alle Rechtsfragen beherrſcht. Der Be-
amtete iſt und bleibt ein perſönlicher Diener des Königs, der ihn wie
jeden andern Mandatar, beliebig anſtellen und entlaſſen kann, und
der dem perſönlichen, individuellen Willen des Königs unbedingt ge-
horchen muß.


Erſt mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und ihres
ſtaatsrechtlichen Princips ändert ſich auch principiell das Weſen des
Amts und damit der Grundgedanke für das Staatsdienerrecht. Der
Gegenſatz zwiſchen dem Rechte der königlichen und der ſtändiſchen Ver-
waltung verſchwindet; es gibt nur noch eine Verwaltung des Staats,
und der Beamtete iſt damit Diener des Staats. In dieſem Ver-
hältniß wird das Recht dieſes Staatsdieners ſeinen Inhalt nicht mehr
aus dem individuellen und willkürlichen Willen des Staatsoberhaupts,
ſondern vielmehr aus dem Weſen des Amts empfangen. Und dieß
wird dadurch die wahre Quelle desjenigen Rechts, welches wir das
Staatsdienerrecht nennen. Ja man kann ſagen, daß das Streben, dieß
Staatsdienerrecht ſo genau und klar als möglich darzuſtellen, der wich-
tigſte Anlaß zum Verſtändniß des Weſens des Amts werden mußte;
denn in der That müſſen ſelbſt die poſitiven Geſetze über das erſtere
ihren Grund und ja zum großen Theil auch ihre Interpretation in
dieſem Weſen des Amts finden. Wirklich wendet ſich auch mit dem
Auftreten des obigen Grundſatzes die Theorie dem Staatsdienerrechte
zu. Allein eine Reihe von Gründen haben es bewirkt, daß die Theorie
noch vorwaltend bei dem Standpunkte des poſitiven Rechtes ſtehen blieb;
zum Theil weil man dem Weſen des Amts nicht die Kraft zutraute,
eine Grundlage des poſitiven Rechtes zu bilden; dennoch iſt das Verhält-
niß klar, und wir werden es auf ſeine einfachſten Elemente zurückführen.


Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt die Schöpferin des eigentlichen
Amts, indem ſie das allgemeine Intereſſe ſelbſtändig neben und über
das Einzelintereſſe ſtellt, und das Amt zum ſelbſtändigen und dauernden
Organ des erſteren macht. Soll das Amt dieſe Stellung erfüllen, ſo
muß es zwei Dinge leiſten. Es muß erſtlich die genaue Kunde und
das richtige Verſtändniß der allgemeinen Intereſſen enthalten, und es
[345] muß zweitens fähig ſein, den Sonderintereſſen unabhängig gegenüber
zu treten. Das erſte fordert, daß der Beamtete ſich mit ſeiner ganzen
ſittlichen und geiſtigen Kraft dauernd den Aufgaben des Amts widme;
er muß perſönlich auf das verzichten, was er als Beamteter zu be-
kämpfen hat, das eigene Intereſſe; er muß ſich ganz mit ſeiner ganzen
geiſtigen und phyſiſchen Arbeitskraft dieſer Idee des Geſammtintereſſes,
dem Principe der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hingeben; und ſo wird
aus dieſem Hingeben ſtatt eines Dienſtes, der einem höhern Willen
folgt, ein Beruf, der einer höhern Idee dient. In der That hat
daher die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erſt das Amt geadelt, indem es
aus ihm einen ſittlichen Beruf gemacht hat; erſt in ihr gibt es wahre
Beamtete; ſie hat das ethiſche Element in das Amt gelegt, und aus
demſelben ſind nun alle diejenigen Folgen entſtanden und zu einem
förmlichen Syſtem von Rechten geworden, welche wir das Staatsdiener-
recht nennen, und das die ſtändiſche Ordnung nicht nur nicht kannte,
ſondern gar nicht kennen konnte.


Dadurch nun iſt das Staatsdienerrecht aus einem bloßen Gebiete
der Rechtskunde zu einem Gegenſtand der Rechtswiſſenſchaft geworden.
Das Princip dieſes Rechts iſt der Grundſatz, daß der Beamtete die in
jenem Weſen des Amts liegende Selbſtändigkeit als ſein perſönliches
Recht
haben muß, und daß der Inhalt dieſes Rechts daher einerſeits
in dem Rechte auf diejenigen Bedingungen der Selbſtändigkeit beſteht,
ohne welche dieſelben für ein perſönliches Leben nicht denkbar iſt, anderer-
ſeits aber in dem Rechte des Staats, von dem Beamteten dasjenige
zu fordern, was dieſer ethiſche Beruf ſelbſt an perſönlichen Fähigkeiten
und Leiſtungen vorausſetzt, um durch den Beamteten in der Führung
ſeines Amtes erfüllt zu werden. Denn der Staat, und mithin ſein
Vertreter, das Staatsoberhaupt, iſt für das Amt ſeinem Begriffe nach
der Träger eben jener ethiſchen Idee, welche den Inhalt des amtlichen
Berufes bildet. Und indem nun die wirthſchaftliche Bedingung dieſer
unabhängigen Berufserfüllung eine von dem Einzelnen unabhängige,
ſelbſtändige, wirthſchaftliche Stellung des Amts — ein berufsmäßiges,
feſtes Einkommen, das nicht mehr durch einzelne Erwerbsakte, ſondern
durch die Erfüllung des Berufes ſelber gewonnen wird (der Gehalt) —
iſt, empfängt der Beruf des Amts den Charakter des Standes. Das
Beamtenthum iſt daher ein Stand, und zwar im höheren, ausge-
prägten Sinne des Wortes, und die natürlichen Rechte des Beamten
erſcheinen daher als Standesrechte, d. h. als Rechte, welche nicht
mehr auf individuellem Verhalten und perſönlicher Anſchauung, ſondern
auf dem organiſchen und dauernden Weſen des Amts beruhen. In
der That liegt die nothwendige Selbſtändigkeit des Beamteten weſentlich
[346] darin, daß ſeine individuellen Rechte den Charakter von Standesrechten
haben; ſie ſind ein Gemeingut aller Beamteten, und obwohl dem Grade
und Umfang nach, doch dem Weſen nach nicht verſchieden; jede Siche-
rung derſelben iſt eine Sicherung des ganzen Beamtenſtandes, jede
Bedrohung des Rechts eines Einzelnen iſt eine Bedrohung des Rechts
aller Beamteten, eine Gefährdung des für alle gültigen Rechtsprincips,
und damit im Grunde eine Erſchütterung des Princips der Verwaltung
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt. Daher iſt es gekommen,
daß mit der verfaſſungsmäßigen Verwaltung die Frage nach dem Rechte
der Beamteten zu einer ſo wichtigen und allgemeinen, und daß die
Beſtimmung dieſes Rechts ein Theil der Verfaſſungen geworden iſt,
während das frühere Jahrhundert weder daran dachte noch daran denken
konnte. Daher ferner hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft auch jenem
ethiſchen Element im Staatsdienerthum ſeinen Ausdruck in einem ge-
meinſamen Standesbewußtſein gegeben, das wiederum die Forderung
an den einzelnen Beamteten erzeugt, ſein individuelles Leben der Würde
des Standes, dem er angehört, gemäß zu erhalten, und dieſe For-
derung, in dem Weſen der Sache liegend, hat ſich ſelbſt zu einem eigenen
Rechtsverhältniß (dem Disciplinarrechte) geſtaltet. Daher iſt die natür-
liche Forderung, daß der Staatsdiener als Vertreter der höheren In-
tereſſen eine höhere Bildung haben müſſe, welche ihm eben Verſtändniß
und Vertretung derſelben möglich macht, zu einer geſetzlich ausgeſprochenen
Bedingung geworden, und daher iſt die Frage nach der Entlaſſung der
Beamteten eine ſo ernſte, weil ſie in dem Rechte der Entlaſſung die
Frage enthält, wer über das Daſein und den Mangel der berufs-
mäßigen
, von jeder perſönlichen Willkür unabhängigen Amtsführung
zu entſcheiden habe. In dieſem Sinne iſt es, daß wir von einem
Syſtem des Staatsdienerrechts geſprochen haben, das ſich innerlich
conſequent aus Einem Grundgedanken entwickelt; und in dieſem Sinne
muß auch dieß Syſtem als ein organiſcher Theil der Verwaltung und
des Verwaltungsrechts betrachtet werden.


Demgemäß zerfällt die Darſtellung dieſes Rechts in drei Theile. Die
Anſtellung der Staatsdiener enthält die berufsmäßigen Bedingungen
der Uebernahme des Amts; die Pflichten enthalten das Verhältniß
des Staatsdieners als Theil des Staats und als Glied eines Standes;
die Rechte endlich enthalten die Bedingungen der perſönlichen und wirth-
ſchaftlichen Selbſtändigkeit des Beamteten in ſeinem Amte und vermöge
deſſelben.


In dieſem innigen Zuſammenhang der Staatsidee und des Staats-
dienerthums iſt es nun klar, daß dieß Recht des letzteren nicht bloß ein
ſehr verſchiedenes in den verſchiedenen Ländern Europas iſt, ſodnern
[347] daß dieſe Verſchiedenheit ſelber wieder ihren tiefern Grund in der orga-
niſchen Stellung der Staatsidee ſelber hat. Die Vergleichung des Staats-
dienerrechts iſt gerade darum ſo belehrend, weil ſie eben gar nicht ohne
ein Zurückgehen auf die tieferen Unterſchiede des Staatslebens möglich
iſt. Wir können hier nur bemerken, daß auf dieſem Gebiete nur noch
ein erſter großer Verſuch von Gneiſt vorliegt. Im Uebrigen iſt noch
alles zu ſchaffen.


Vielleicht gibt es gar keinen Theil des öffentlichen Rechts, in welchem der
Unterſchied zwiſchen den drei großen Kulturvölkern, den wir auch hier als Aus-
gangspunkt weiterer Vergleichung zum Grunde legen, ſo ſchlagend hervortritt,
als gerade im Gebiete des Staatsdienerrechts. England hat eigentlich gar kein
Staatsdienerrecht, Frankreich hat nur Staatsdienerverpflichtungen, und erſt
Deutſchland iſt die Heimath eines organiſch geſtalteten und ethiſch ſo hoch
ſtehenden Beamtenthums, daß daſſelbe, wie wir unbedenklich zur Ehre dieſes
ſo vielfach angegriffenen Standes behaupten, mit keinem andern der Welt zu
vergleichen iſt.


In England iſt der Beamtete unter der Herrſchaft des Gegenſatzes zwiſchen
der königlichen und Selbſtverwaltung, der als Reſt der ſtändiſchen Epoche übrig
geblieben iſt, der Form nach Diener nicht des Staats, ſondern des Königs,
dem Inhalte nach Diener der herrſchenden Partei. Es gibt daher keine Staats-
diener im deutſchen Sinne des Worts, und ſelbſt die engliſche Sprache iſt
unfähig, das Wort „Beamteter“ zu überſetzen. Es gibt daher in England auch
keinen Beruf zum Amt, keine Vorbildung, kein Staatsdienerrecht. Den tiefen
organiſchen Mangel des engliſchen Staatslebens, der darin liegt, hat das
engliſche Volk allerdings durch die Entwicklung der Selbſtverwaltung und der
edlen Eigenſchaften, auf welchen dieſelbe beruht, ausgeglichen; aber es hat die
üblen Folgen deſſelben innerhalb der Gebiete, in welchem die organiſche Natur
des Staatslebens ein Amt nothwendig fordert, natürlich nicht ausgleichen
können. Die eigentliche Amtsverwaltung iſt daher hier eben ſo ſchlecht, als
die Selbſtverwaltung gut iſt; und das hat für das übrige Europa die Meinung
erzeugt, als könne man überhaupt das Amt durch die Selbſtverwaltung er-
ſetzen. Dennoch macht ſich auch in England das Bedürfniß nach einem organi-
ſchen Staatsdienerrecht geltend, und es wird die Zeit kommen, wo ſelbſt die
Intereſſen der Parteiherrſchaft ſich dieſer Forderung beugen werden (ſ. unten).


In Frankreich iſt der Beamtete theils durch den Charakter des Volkes,
theils aber auch durch das Princip der ſtrengen, individuellen, adminiſtrativen
Verantwortlichkeit der Miniſter nichts als der Diener der Verwaltung. Die
letztere ſtellt die Forderung des unbedingten amtlichen Gehorſams, welcher dem
Amt ſeine Selbſtändigkeit gegenüber der höheren Gewalt principiell abſpricht,
und die Natur des Volkscharakters macht die Erfüllung dieſer Forderung in
allen einzelnen Aemtern möglich. Nirgends iſt daher die Befolgung der Be-
fehle, die ſpezielle Amtsführung, beſſer und verſtändiger, als in Frankreich;
aber nirgends iſt auch die Abhängigkeit der einzelnen Beamteten von einem ſolchen
Befehle, ohne Rückſicht auf ſeinen adminiſtrativen Werth, größer, als hier.
[348] Daraus entſteht das Verhältniß, welches das franzöſiſche Beamtenthum charak-
teriſirt. Die Geſammtheit der Staatsdiener iſt eine viel größere Macht und
hat eine viel größere Selbſtändigkeit, als irgendwo in der Welt; aber der ein-
zelne Staatsdiener hat gar kein Recht und keine Selbſtändigkeit. Das ethiſche
Element iſt hier aus jedem einzelnen Amt in das des bloßen intelligenten Ge-
horſams aufgegangen, und mit ihm das Staatsdienerrecht. Nur die Verwal-
tung als Ganzes, die Adminiſtration als ſolche hat ſich daſſelbe erhalten. Der
Beamtete iſt daher auch in Frankreich nicht das, was er in Deutſchland iſt,
ſondern nur ein „Angeſtellter“, ein „employé“, oder ein „Ausübender“, ein
„fonctionnaire“, und die geltenden Beſtimmungen ſind eben darum auch viel-
mehr Ausflüſſe der Bedingungen einer zweckmäßigen Amtsführung, als der
Selbſtändigkeit der amtlichen Stellung. Der Mangel an Selbſtverwaltung hat
dieß Syſtem zum allgemein geltenden gemacht, und die meiſten Uebelſtände und
Vorzüge des franzöſiſchen Lebens beruhen auf dieſem Punkte.


Nur in den deutſchen Staaten gibt es Beamtete, und daher gibt es auch
hier allein ein Staatsdienerrecht, das keineswegs bloß in den Geſetzen über die
Verhältniſſe der Staatsdiener erſchöpft iſt. Das deutſche Volk hat aus ſich
ſelbſt den Gedanken gebildet, daß die von „Gott eingeſetzte Obrigkeit“ einen
ethiſchen Beruf habe. Es hat daher dem Staatsdiener von jeher nicht bloß eine
gewiſſe Selbſtändigkeit vindicirt, ſondern auch von ihm eine berufsmäßige Bil-
dung gefordert. Es hat ihn weſentlich für ſeine Amtsführung verantwortlich
gemacht, und ihm daher auch ein Recht gegenüber der höchſten Gewalt ge-
geben. Dadurch gibt es nur in den deutſchen Ländern einen Beamten ſtand,
und mit ihm eine perſönliche Ehre des Beamten, die ein Ausfluß der alleinigen
Anſchauung von der Bedeutung des Amts iſt. Dieß allgemeine Princip iſt erſt
in unſerem Jahrhundert zu einem förmlichen Rechtsſyſtem geworden, dem, ob-
wohl es noch nicht in allen Staaten bis zu einem objektiv gültigen Staats-
dienſtgeſetze gediehen iſt, dennoch eine allgemeine und ziemlich gleichartige Gel-
tung in der Praxis nicht abzuſprechen iſt. Dieß Rechtsſyſtem bildet den Inhalt
einer großen und trefflichen Literatur, wie weder England, noch Frankreich
etwas Aehnliches aufzuweiſen haben, und welche ſich theils an eine treffliche
Geſetzgebung anſchließt, theils dieſelbe erzeugt hat und erzeugt. Es iſt in
Deutſchland nicht mehr möglich, mit wenig Worten dieß wichtige Gebiet er-
ſchöpfen zu wollen. Wir haben unſere Aufgabe deßhalb im Folgenden dahin
beſchränkt, nicht etwa eine vollſtändige Lehre des Staatsdienerrechts, ſondern
nur die leitenden Geſichtspunkte aufſtellen zu wollen, von welchen dieß Gebiet
beherrſcht wird. Zu dem Ende dürfen wir uns geſtatten, einige Andeutungen
über dieſe Arbeiten, deren Inhalt jedem Juriſten ohnehin geläufig iſt, auszu-
ſprechen.


Während man einerſeits vollkommen anerkennen muß, daß die Idee eines
Berufes und des auf demſelben ruhenden Rechts ſchon ſeit Jahrhunderten von
der deutſchen Literatur theils direkt, theils mittelbar anerkannt wird, wie es
die bei Pütter (Literatur des deutſchen Staatsrechts III. S. 316 ff.) und in
der Fortſetzung von Klüber (S. 295) aufgezeichneten Schriften genugſam be-
weiſen, und wie es die nicht minder reichhaltige Literatur unſeres Jahrhunderts,
[349] die eigentlich mit Gönners Schrift: „Der Staatsdienſt, aus dem Geſichts-
punkte des Rechts und der Nationalökonomie betrachtet“ (1808) beginnt, auf’s
Neue darthut — man vergleiche namentlich Malchus (Politik der innern Ver-
waltung I. 14 ff.), wo jene Idee ſehr beſtimmt in den Vordergrund tritt,
und die Anſichten über das Recht der Beamten den höheren Stellen gegenüber
und ſelbſt ſchon in der Auffaſſung des Gehaltes beſtimmt; Perthes (der
Staatsdienſt in Preußen, ein Beitrag zum deutſchen Staatsrecht, 1836), und
unter den deutſchen Staatsrechtslehrern neben Klüber das, was Zachariä
und Zöpfl ſagen a. a. O. — hat andererſeits die innere Entwicklung des
öffentlichen Rechts der Frage im neueſten Jahrhundert doch eine gewiſſe, ein-
ſeitig juriſtiſche Richtung gegeben, die zu eng mit dem ganzen Staatsleben zu-
ſammenhängt, als daß wir ſie nicht hervorheben ſollten.


Man kann nämlich recht wohl in Literatur, wie in Geſetzgebung unter-
ſcheiden zwiſchen dem verfaſſungsmäßigen und dem adminiſtrativen Staatsrecht.
Das letztere enthält eigentlich weſentlich die neue Organiſation des Staats-
dienſtes, wie dieſelbe mit dem Beginne unſeres Jahrhunderts nothwendig wird.
Sie beginnt ſyſtematiſch erſt in Bayern mit der Landeshauptpragmatik vom
1. Januar 1805, und wird fortgeſetzt in Preußen ſeit 1808 (vergl. oben).
Dieſe Organiſationen unterſcheiden ſich weſentlich von denen der franzöſiſchen
Revolution dadurch, daß auch bei ihnen immer ein Recht des Staatsdieners
in Beziehung auf Amt und Gehalt anerkannt wird — Verhältniſſe, die für
ſich in den meiſten Staaten ſchon während des 18. Jahrhunderts auf dem
Wege der Geſetzgebung geordnet waren. Allein ein Recht des Staatsdieners
gegenüber dem höheren Befehle ward in ihnen natürlich nicht aufgeſtellt,
während doch die ganze Literatur eine ſolche Gränze des Gehorſams anerkannte,
obwohl man ſich über dieſelbe nicht einigte. Als aber die Verfaſſungen auf-
traten, und der Begriff der verfaſſungsmäßigen Verwaltung mehr oder weniger
klar zur Geltung kam, da ſtellte ſich heraus, daß der Beamtete jetzt eine neue
Stellung bekommen hatte. War er früher nur das Organ der Vollziehung ge-
weſen, ſo war er jetzt, wie die Vollziehung ſelbſt, dem verfaſſungsmäßigen
Geſetze unterworfen; hatte er früher in der abſtrakten Idee ſeiner ethiſchen,
berufsmäßigen Stellung die Gränze ſeines Gehorſams gegenüber der höheren
vollziehenden Gewalt gefunden, ſo fand er ſie jetzt formell in dem Wortlaute
der Verfaſſung, und es konnte daher jetzt der Fall vorkommen, daß er, dem
höheren Befehle nach, ſeiner formellen Pflicht gehorſam, dem Geſetze ungehorſam
werden konnte, und umgekehrt. Theoretiſch war dabei die Antwort bald fertig;
der Beamtete ſoll dem Geſetze und der Verfaſſung gehorchen, ſonſt wird er per-
ſönlich verantwortlich. Allein das Organ der höheren Vollziehung war dabei
zugleich daſſelbe, welches ihn abſetzen oder ſuſpendiren konnte; der Gehorſam
gegen die Verfaſſung bedrohte daher principiell ſeine berufsmäßige Exiſtenz,
und dennoch konnte man wieder nicht läugnen, daß die Unabſetzbarkeit der
Beamteten nicht allein manche rein adminiſtrative Bedenken habe, ſondern auch
geradezu das höchſte Princip der verfaſſungsmäßigen Verwaltung, die Verant-
wortlichkeit der Regierungsorgane, unmöglich mache. Die Schwierigkeit, die
in dieſer Frage liegt, iſt wohl klar genug. Sie iſt es eben deßhalb, welche
[350] die meiſte Kraft und die ſchärfſten juriſtiſchen Unterſuchungen an ſich gezogen
hat, und das iſt es, was der Staatsdienerliteratur unſeres Jahrhunderts einen
vorwiegend juriſtiſchen Charakter gegeben hat, indem man das Recht auf
das Amt
mit möglichſter juriſtiſcher Genauigkeit beſtimmen wollte. Das Ge-
fühl jenes Widerſpruches, der noch unausgetragen in den Verhältniſſen lag,
zeigte in der That, daß die Abſetzbarkeit der Beamteten die Verfaſſung, die
Unabſetzbarkeit die Verwaltung ernſtlich bedrohe, und daß daher eine beſtimmte
Rechtsordnung gerade auf dieſem Gebiete einen weſentlichen Theil des ver-
faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts ausmache. Daher denn die Erſcheinung,
daß in den deutſchen Staaten das Staatsdienerrecht als ein Theil der Ver-
faſſungen
anerkannt und mit ſeinen Hauptgränzen in dieſelben aufgenommen
wird, während die genauere Ausführung dieſes Rechts entweder als ſelbſtändige
Beilage zur Verfaſſung, wie in Bayern (Edikt vom 28. Mai 1818); Gotha
(Beilage V. zum Staatsgrundgeſetz); oder auf Grundlage der Verfaſſung an
ein eigenes Geſetz verwieſen wird — wie in Baden (Verfaſſung §. 24 und
Dienſtpragmatik vom 22. Auguſt 1818); Sachſen (Verfaſſung §. 44, Staats-
dienergeſetz vom 7. März 1835); Hannover (Verfaſſung von 1848, §. 105
und 108, Staatsdienergeſetz vom 8. Mai 1852); Preußen (Verfaſſung von
1850, Art. 117) — ohne daß das Staatsdienergeſetz bis jetzt erſchienen wäre
(RönneII. §. 290) — oder unmittelbar in der Verfaſſung ſelbſt beſtimmt wird,
wie in Württemberg (Verf. §. 43), Kurheſſen (§. 54 ff.) und andern.
Vergl. Zachariä, Deutſches Staatsrecht §. 133. Andere Staaten dagegen
haben ein ſolches Recht noch inmer nicht geſetzlich formulirt und halten ſich an den
hergebrachten Uſus. Offenbar nun iſt es, daß man mit juriſtiſchen Definitionen
hier nicht auslangt. Viel weiter als Malchus in ſeiner Politik der innern
Verwaltung (I. 15) iſt die Theorie noch jetzt kaum, wenn er ſagt: „Die Frage
über das rechtliche Verhältniß der Staatsdiener zum Staat hat eben ſo häufig
theoretiſche Erörterungen veranlaßt, als auch, beſonders in neueren Zeiten, in
den meiſten Staaten die Geſetzgebung in Anſpruch genommen, jedoch ohne daß
aus den erſteren übereinſtimmende Grundſätze hervorgegangen ſind, oder daß
in den letzteren die Fragen, die ſich herausſtellen, nach gleichen Anſichten ent-
ſchieden wären.“ Er ſelbſt ſagt merkwürdigerweiſe gar nichts darüber; Klüber
dagegen führt als Quelle des „Rechts zwiſchen Staat und Staatsbeamten“
Dienſtvertrag, Staatsdienergeſetz, und drittens die Natur des gegen-
ſeitigen Verhältniſſes auf, ohne dieſe Natur zu beſtimmen (§. 482). Erſt in der
neueſten Zeit kommt man, wie Zachariä und Zöpfl zeigen, der Wahrheit
näher, indem man das Recht des Staatsdienſtes auf das Weſen des Berufes
zurückführt; und in der That gibt es, wo nicht ganz poſitive Beſtimmungen
vorliegen, keinen andern Standpunkt. Unter der zum Theil in’s Caſuiſtiſche
gehenden Unterſuchung der obigen Rechtsfrage iſt nun die Auffaſſung des Staats-
dienerrechts in ſeiner Totalität faſt verloren gegangen, und die übrigen Seiten
deſſelben viel zu wenig beachtet. In der That aber muß man feſthalten, daß
ſie innerlich zuſammengehören und ſich gegenſeitig erklären; der Standpunkt
des reinen Gegenſatzes zwiſchen den beiden Rechtsſubjekten, Staat und Diener,
iſt nicht mehr ausreichend; er iſt ein nothwendiger, aber er iſt nur ein Moment
[351] an dem Ganzen, und es iſt der Fortſchritt in dieſer Frage nur dann geſichert,
wenn man die Summe der Rechtsverhältniſſe als ein organiſches, ſich auf
allen Punkten bedingendes Ganze auffaßt.


3) Das Syſtem des Staatsdienerrechts.

a) Die Anſtellung der Beamteten.

Die Grundſätze welche für die Anſtellung der Beamteten gelten,
ſind höchſt bezeichnend für die ganze Stellung der Verwaltung und zu-
gleich für die Auffaſſung des Amts, und ſchon hier zeigt ſich der durch-
greifende Unterſchied in dem öffentlichen Recht der Staatsbildung in
den drei großen Kulturvölkern.


Der erſte und einfachſte Grundſatz, den natürlich ſchon die Stände-
ordnung anerkennt, iſt der, daß die Anſtellung eines jeden Beamteten
vom Staatsoberhaupt erfolgt. Dieſer an ſich einfache Grundſatz wird
nun zwar nicht der Form, wohl aber dem Inhalte nach weſentlich im
Miniſterialſyſteme modificirt. Indem daſſelbe nämlich in der verfaſſungs-
mäßigen Verwaltung der Perſönlichkeit des Miniſters die Verantwort-
lichkeit für die Vollziehung des Geſetzes in den einzelnen Funktionen
der Beamteten zuſchreibt, dieſe Vollziehung aber natürlich vorzüglich
von der Perſönlichkeit des Beamteten abhängt, erſcheint die Anſtellung
des letzteren als eine Uebernahme der Verantwortlichkeit für die per-
ſönliche Befähigung des Angeſtellten, und kann daher nicht ohne Mit-
wirkung, muß vielmehr in den meiſten Fällen direkt auf Vorſchlag des
Miniſters geſchehen. Dieß Princip muß als erſte Grundlage des An-
ſtellungsrechts in der verfaſſungsmäßigen Verwaltung anerkannt werden,
und gilt daher auch gleichmäßig in Frankreich, England und Deutſchland.
Nur ſind die Modalitäten ſeiner Anwendung weſentlich verſchieden.


Das Princip der allgemeinen, auf jeden Akt der Verwaltung
ausgedehnten Verantwortlichkeit des Miniſters erzeugt in Frankreich den
Grundſatz, daß derſelbe bei ſeinem Vorſchlage an gar keine geſetzlichen
Bedingungen der Fähigkeit zur Führung des Amtes gebunden iſt. Die
Ordnung der Univerſitäten und ihre Examina ſind daher vorhanden,
aber ſie geben kein Recht darauf, daß für die Anſtellung nur diejenigen
in Betracht kommen können, welche dieſe Studien gemacht haben. Nur
in dem einen Gebiete der Rechtspflege iſt dafür eine Ausnahme, die
ihrerſeits auf dem Vorhandenſein der Geſetzbücher beruht. Im Gebiete
der übrigen Verwaltung gibt es keine. Vom Heerweſen iſt hier natür-
lich keine Rede.


In England dagegen hat die Verantwortlichkeit der Miniſter und
mit ihr die Anſtellung der Staatsdiener wieder einen ganz andern
[352] Charakter. Die Verwaltung iſt hier wie die Geſetzgebung nichts als eine
Parteiherrſchaft. Es folgt daraus, daß die Bedingungen der Anſtellung
gleichfalls nicht in perſönlichen Fähigkeiten, ſondern in dem Angehören
an die Partei liegen müſſen. Die Uebernahme der Verwaltung enthält
die Verpflichtung, dieſelbe im Geiſte der Partei zu leiten, und damit
die weitere, auch nur ſolche anzuſtellen, welche mit der Partei gehen.
Aus dieſem an ſich einfachen Grundſatz iſt aber die Frage entſtanden,
welche in der verfaſſungsmäßigen Verwaltung in vieler Beziehung die
ſchwierigſte iſt. Ein völliger Wechſel aller Beamteten würde die Ver-
waltung vernichten. Es muß daher jene Verpflichtung des Miniſters
gegen die Partei ihre Gränze haben, d. h. es muß nur ein beſtimmter
Theil der Beamteten als Organe der Partetregierung betrachtet werden,
und mithin mit dem Miniſterium wechſeln. In England hat man dieſe
Frage nicht grundſätzlich, wie in Deutſchland, ſondern durch die gege-
benen Verhältniſſe entſcheiden laſſen. Da nämlich das ganze Syſtem
der Mittelbehörden faktiſch der Selbſtverwaltung angehört, ſo iſt das-
ſelbe von dieſem Wechſel der Parteiregierung ausgeſchloſſen. Innerhalb
des eigentlichen Beamtenſyſtems aber hat ſich eine Gruppe von Amts-
ſtellen gebildet, welche unbedingt in ihrer Beſetzung der Parteiver-
waltung angehören, die Gruppe der ſogenannten Patronage, welche
ungefähr ſechzig Stellen umfaßt. Die übrigen Aemter fallen nur ſo
weit unter die perſönliche Anſtellung und Entlaſſung der Miniſter, als
ſie in ihrer Amtsführung überhaupt in die Lage kommen, die Grundſätze
einer Parteiverwaltung anzuerkennen und zur Ausführung zu bringen.
Aber auch bei denen, die von dieſem Falle ausgeſchloſſen ſind, beſtimmt
die Partei durch ihren Führer die Beſetzung. Es iſt hier alſo von
irgend welchen objektiven Bedingungen gar keine Rede, und die amtliche
Verwaltung iſt daher ſo ſchlecht als möglich. Ohne das Syſtem der
Selbſtverwaltung wäre Englands Adminiſtration ſchlechter als die ab-
ſolut willkürliche Rußlands.


Das Syſtem der Anſtellung in Deutſchland dagegen beruht vor
allen Dingen auf dem großen Principe der berufsmäßigen Bildung,
welches tief im Weſen des deutſchen Beamtenſtandes liegt. Der erſte
und durchgreifende Grundſatz für alle Anſtellung iſt daher die Forderung
einer Nachweiſung dieſer Bildung durch das Syſtem der Univerſitäts-
lehre und der Staatsprüfung. Das Beſtehen der letzteren gibt das
Anrecht vor jedem, der es nicht beſtanden; die Gränze für die wirkliche
Anſtellung liegt in dieſer Anſtellungsfähigkeit. Allerdings iſt dieſer Grund-
ſatz entſtanden bei der Rechtspflege; von ihr iſt derſelbe aber allmählig
auf alle Gebiete der Verwaltung übergegangen, und darf als ein orga-
niſches Element der Staatsverwaltung betrachtet werden, an dem für
[353] alle Zeiten feſtgehalten werden wird. Aus ihm geht dann auch der
Charakter des Rechts hervor, das der Beamtete durch die Anſtellung
erwirbt, und das eben damit ein ganz anderes iſt, als in Frankreich und
England. Es hat daſſelbe aber auch die Baſis für die Entſcheidung
der Frage abgegeben, welchen Einfluß die adminiſtrative verfaſſungs-
mäßige Verantwortlichkeit auf die Anſtellung haben kann. Zuerſt
verbietet es natürlich, über die Gränze der berufsmäßigen Bildung in
der Wahl des Anzuſtellenden hinauszugehen; dann aber, indem es das
Amt eben zum Berufe macht, ſetzt es der individuellen wie der Partei-
auffaſſung die rechte Gränze, indem es die berufsmäßige Fähigkeit zur
Grundlage der Anſtellung, und aus der Innehaltung dieſes Grund-
ſatzes eine gemeinſame Angelegenheit des ganzen Beamtenſtandes macht.
Obwohl dieſe Principien weder allenthalben geſetzlich normirt, noch auch
vollkommen ausnahmslos innegehalten werden, ſo kann man ſie doch
als geltendes deutſches Anſtellungsrecht anſehen, und wir dürfen hoffen,
daß daſſelbe niemals in ſeiner heilſamen Geltung erſchüttert werden möge!


Die Preußiſche Geſetzgebung iſt die erſte, welche die obigen Grundſätze im
Allgemeinen Landrecht (II. 5. 10. §. 70. 71.) zu einem öffentlich rechtlichen und
allgemein gültigen Grundſatz erhoben und die Staatsprüfung als Bedingung
der Anſtellung principiell gefordert hat. Die übrigen Staaten ſind dieſem
Vorgange allmählig nachgefolgt; in den meiſten deutſchen Verwaltungen iſt
derſelbe durch eigene Geſetze ſtrenge geregelt, und zum Theil in ganz einzelne
Fragen hinübergeführt. (S. Rönne, Preußiſches Staatsrecht §. 293 ff.) Der
Streit, ob die Prüfung an ſich gut oder vom Uebel ſei, iſt übrigens ſchon
im vorigen Jahrhundert von Moſer (Landeshoheit in Regierungsſachen S. 158)
angeregt, und dürfte jetzt wohl als ein entſchiedener anzuſehen ſein. In Würt-
temberg hat ſogar die Verfaſſungsurkunde §. 74 ausdrücklich geſagt: „Niemand
kann ein Staatsamt erhalten, ohne zuvor geſetzmäßig geprüft und für tüchtig
erkannt zu ſein.“ Merkwürdig, daß Zöpfl die ganze ſo wichtige Frage über-
haupt nicht berührt, während Zachariä in II. §. 136 ſich mit Recht mit
Seuffert (Verhältniß des Staates und der Diener des Staates §. 56) für
den „vollen Nutzen“ der Examina erklärt, deren nähere Beſtimmungen in den
territorialen Prüfungsordnungen enthalten ſind. Die Verhältniſſe Englands
ſind von Gneiſt (I. 382 und 589) genau dargelegt. Sie haben endlich dahin
geführt, daß man die unabweisbare Nothwendigkeit der berufsmäßigen Bildung
anerkennt, und es beginnt ſich dort ein Syſtem zu bilden, das dem Deutſchen
in Betreff der Prüfungen entſpricht, während es allerdings durch den Mangel
einer organiſchen Univerſitätsbildung ein höchſt unvollkommenes bleibt, und
daher ſelbſt wieder als praktiſch nutzlos in Frage geſtellt wird. Schon im
Jahre 1861 ſagte ein engliſcher Miniſter im Parlament wörtlich: „That the
numbers of „employés“ in the various departments of civil service
were utterly incompetent to discharge the service of their poste, that they
were often grossly ignorant, some times absolutely stupid, occasionally

Stein, die Verwaltungslehre. I. 23
[354]thoroughly worthless,“ und in dieſe Klage ſtimmte das ganze Volk ein. Es
wurden darauf Commiſſionen mit dem Auftrage zu einer Unterſuchung und
Examen mit dem Recht auf Ausweiſung der Unfähigen ernannt (die ſog. pass
examination
). Zugleich aber führte man förmliche Anſtellungsexamina (com-
petitive examination
) ein und zwar für jede Stelle. Da aber keine geordnete
Univerſitätsbildung vorherging, ſo verwirrten ſich die Urtheile, namentlich, da
durch die Prüfung die Neuangeſtellten den früheren Beamten gewiſſermaßen
voranſtanden (the unused acquirements became a source of discontent
for the possessor
). Mit Recht trat daher die Anſicht auf, daß es falſch ſei,
für alle Stellen jene competitive examination mit dem Recht einzuführen,
daß jeder dieſelbe machen könne of whatever ranks and whatever antecedents;
aber zu der Erkenntniß, daß die Bedingung eines vernünftigen Princips für das
Examen und ſeine Berechtigung eben in den wohlorganiſirten Univerſitätsſtudien
liege, iſt man noch nicht gekommen. Dennoch wird man dahin gelangen müſſen.


Wir dürfen die übrigen Bedingungen der Anſtellung, Ehrenhaftigkeit,
Volljährigkeit u. ſ. w. der ſpeziellen Darſtellung des Staatsdienerrechts über-
laſſen. Die Unterſcheidung zwiſchen den Stellen, deren Beſetzung dem Staats-
oberhaupt vorbehalten iſt, und die der Miniſter perſönlich ernennen kann, iſt
im Grunde eine Sache der Zweckmäßigkeit, allerdings unter der Vorausſetzung,
daß jede Stelle, welche ein berathendes Votum in irgend einem Zweige der
Verwaltung hat, unbedingt dem Staatsoberhaupt vorbehalten ſein muß.


b) Die Amtspflicht.

Die Amtspflicht entſteht, indem die Anſtellung den Einzelnen mit
ſeinem Willen und ſeiner Thätigkeit zu einem Organ der Verwaltung
und mithin das Aufgeben der perſönlichen Selbſtändigkeit zur Pflicht des
Beamteten macht. Die höhere Auffaſſung des Staatsdienſtes fordert,
daß man dieſe Pflicht in zwei große Gruppen theile, die ſtandes-
mäßige
und die amtsmäßige.


Die ſtandesmäßige Amtspflicht beruht eben darauf, daß das Amt
ein Beruf und die Geſammtheit der Beamteten daher ein Stand iſt,
der eine ſelbſtändige hohe ethiſche Aufgabe als Ganzes zu vertreten hat.
Das Eintreten in dieſen Stand fordert, daß der einzelne Beamtete ſein
individuelles Leben der Ehre und Würde ſeines Standes gemäß führe;
das Angehören an den Stand macht dieſe Pflicht aus einer bloß ſub-
jektiven zu einer öffentlichen, und ihre Erfüllung zu einer Bedingung
der Bekleidung des Amts. — Es wird aus dem Frühern klar ſein,
daß dieſe ſtandesmäßige Amtspflicht nur in Deutſchland ſich zu einem
poſitiven Recht entwickeln konnte, gemäß welchem der unehrenhafte und
unſittliche Lebenswandel des Beamteten ihn zur Amtsführung unwürdig
macht, abgeſehen von den wirklichen Vergehen und Verbrechen, die zur
Entſetzung führen.


[355]

Die amtsmäßige Pflicht des Beamteten dagegen erſcheint zuerſt
einfach als die Pflicht des amtlichen Gehorſams. Betrachtet man
dieſen indeß näher, ſo entwickeln ſich drei Verhältniſſe, die mit einander
in ſehr ernſte Conflikte treten können. Das erſte iſt die Pflicht, das
Amt nach der Aufgabe deſſelben und den Inſtruktionen wirklich zu ver-
walten; das zweite iſt die Pflicht, den Anordnungen der höheren Stellen
Folge zu leiſten; das dritte iſt die Pflicht, das Princip der Verfaſſungs-
mäßigkeit der Verwaltung in der Amtsführung und den eigentlich amt-
lichen Gehorſam feſtzuhalten. Darüber kann kein Zweifel ſein, daß
die Amtspflicht alle dieſe drei Momente umfaßt. Die Frage über In-
halt und Weſen der Amtspflicht entſteht erſt da, wo dieſe drei Momente
derſelben unter einander in Widerſpruch treten. Dieß geſchieht in zwei
Hauptfällen. Erſtlich da, wo der Befehl der höheren Stelle einen Ge-
horſam für Funktionen verlangt, welche über die Competenz des Amts
hinausgehen; zweitens da, wo dieſer Befehl einen Gehorſam verlangt,
der mit den Grundſätzen der verfaſſungsmäßigen Verwaltung in Wider-
ſpruch tritt. Der dritte Fall, daß der Befehl etwas fordert, was gegen
das bürgerliche Recht überhaupt ſtreitet, erſcheint dagegen als ein durch
ſich ſelbſt erledigter; denn da ein ſolcher Befehl ſeinem Inhalt nach
überhaupt kein amtlicher iſt, ſondern nur der Ausdruck des rein per-
ſönlichen Willens des höheren Beamteten, ſo fällt damit die Pflicht
zum Gehorſam ohnehin weg; und das iſt es, was z. B. die Regierungs-
inſtruktion vom 23. Oktober 1817 (Preußen) ſagen will, wenn es darin
ausdrücklich heißt: „Niemals können die Regierungen etwas verfügen,
was einem ausdrücklichen Geſetze zuwiderläuft;“ d. h. wenn ſie es thun,
ſo iſt es eben keine Verfügung einer Regierung, ſondern der ſubjektive
Wille der Perſon des höheren Beamteten.


Was nun den erſten Fall betrifft, ſo enthält die eigentliche Amts-
pflicht keine Verpflichtung zum Gehorſam außerhalb der unzweifelhaften
Zuſtändigkeit des Amts, wohl aber erſcheint der Beamtete mehr als
irgend ein anderer Staatsbürger verpflichtet, einen Auftrag der höheren
Behörde zu übernehmen, ſofern derſelbe nicht mit der eigentlichen Amts-
pflicht collidirt. Natürlich findet dazu kein Zwang ſtatt, und vorkom-
menden Falles muß die Erlaubniß der höheren Stelle eingeholt werden;
aber wo auch das Amt nicht zur Uebernahme eines ſolchen Auftrages
nöthigt, da erſcheint die Nöthigung eine berufsmäßige, und die Ab-
weiſung ein Verſtoß gegen den Beruf. Etwas anderes iſt es, wenn
ein ſolcher Auftrag eine dauernde Funktion werden ſoll. Hier muß ſie
organiſch mit dem Amt als Erweiterung ſeiner Competenz verbunden
werden. Wo jedoch der Auftrag nur eine ſpezielle Verwendung des
Beamteten für ein beſtimmtes Gebiet ſeiner amtlichen Funktion iſt,
[356] beginnt wieder der amtliche Gehorſam. Sollte darüber zwiſchen der
niederen und höheren Stelle ein Streit entſtehen, ſo kann eben nur
das höchſte Organ der Organiſationsgewalt, der Staatsrath, entſcheiden;
denn in der That iſt auch das nur eine andere Form des Competenz-
confliktes.


Während dieſe beiden Fälle in jeder Ordnung der Verwaltung vor-
kommen können, kann der zweite Fall nur bei der Entwicklung der
verfaſſungsmäßigen Verwaltung eintreten. Die Entſcheidung deſſelben
iſt verſchieden, je nachdem es ſich um die Form des Befehls, oder um
den Inhalt deſſelben handelt. Iſt eine geſetzmäßige Form vorge-
ſchrieben, ſo iſt der amtliche Gehorſam an das Vorhandenſein dieſer
Form gebunden, ſelbſt da wo der Inhalt ein ganz verfaſſungsmäßiger
iſt. Jedoch hat der Beamtete ſofort der höheren Stelle Veranlaſſung
zu geben, die nothwendige Aenderung dieſer Form vorzunehmen. Be-
folgt er den formell unrichtigen Befehl, ſo thut er es auf eigene Ver-
antwortlichkeit, die übrigens der Regel nach nur gegenüber dem Ein-
zelnen, der ſich auf den Mangel an der Gültigkeit der Vorſchrift berufen
kann, in Frage kommen wird. Was den Widerſpruch im Inhalt der
Verordnung und den Beſtimmungen der verfaſſungsmäßigen Verwal-
tung betrifft, ſo iſt das Recht des Gehorſams nach dem ganzen Cha-
rakter der letzteren weſentlich verſchieden. In England iſt eine ſolche
unverfaſſungsmäßige Verordnung überhaupt keine Verordnung, und der
Beamtete, der ſie vollzieht, thut es daher ganz auf ſeine perſönliche
Verantwortlichkeit. In Frankreich tritt, wo die Form gewahrt iſt, die
Pflicht des Gehorſams ein, da der Miniſter die Verantwortlichkeit für
die einzelnen Handlungen, die in Folge ſeiner Verordnung geſchehen,
perſönlich zu tragen hat, und im ſtreitigen Falle der Conseil d’État
entſcheidet, ſelbſt wo es ſich um Geſetze handelt. Das erſte ſchützt die
Verfaſſung gegen die Verwaltung auf die Gefahr der letzteren, das
zweite die Verwaltung auf die Gefahr der Verfaſſung. In Deutſchland
iſt man eben deßhalb unſicher geworden; doch iſt die Meinung die rich-
tige, daß der einzelne Beamtete durch einfachen Ungehorſam ſeine Einzel-
anſicht nicht zur Geltung bringen darf. Seine erſte Pflicht iſt die,
die höhere Stelle auf den Widerſpruch der Verordnung mit der Ver-
faſſung hinzuweiſen, eventuell die höchſte Stelle davon in Kenntniß zu
ſetzen. Beharrt dieſe auf dem Befehl, ſo bleibt dem Beamteten nichts
übrig, als ſeine augenblickliche Stelle ſeinem Lebensberufe zu opfern,
und das Amt niederzulegen. Es iſt klar, daß da, wo er gegen die
Rechtlichkeit der Verordnung zwar remonſtrirt, aber dennoch dieſelbe
amtlich befolgt, einen Theil der Verantwortlichkeit mit übernimmt,
und ſich durch ſeine bloßen Remonſtrationen nicht ganz befreit. Das
[357] liegt eben im höheren ethiſchen Weſen des Amtes. Die völlige Ent-
laſtung von derſelben würde in der That das Amt wieder auf den
Standpunkt eines bloßen Auftrages zurückwerfen. Ohne die Anerken-
nung der ſtandesmäßigen Selbſtändigkeit des amtlichen Lebensberufes
und ſeiner ethiſchen Conſequenzen, die eben in der theilweiſen Ueber-
nahme der Verantwortlichkeit erſcheinen, wird man hier nie zu einem
rechten Abſchluſſe gelangen.


Die Amtspflicht enthält nun noch eine dritte Verpflichtung, welche
aber im Allgemeinen ſchwer oder gar nicht zu definiren iſt, während ſie
in jedem einzelnen Falle ſehr deutlich erſcheint. Sie beſteht darin, ſich
das Verſtändniß der Geſetze und Verordnungen zu erwerben, und
zwar in dem Sinne, daß der einzelne Beamtete in den einzelnen Funk-
tionen auch dann, wenn ſie nicht ausdrücklich vorgeſchrieben ſind, den
Geiſt der Vorſchrift mit den gegebenen Verhältniſſen in Harmonie zu
bringen verſtehe. Man nennt dieſe Fähigkeit in ihrem Erſcheinen als
perſönliches Verhalten die Conduite, als Beurtheilung der Verhält-
niſſe und der richtigen Maßregeln den Takt. Beide ſind natürlich für
eine gute Verwaltung von hoher Wichtigkeit; aber man kann ſie nur
mittelbar hervorrufen. Die beiden Wege ſind einerſeits die möglichſte
Oeffentlichkeit der Funktionen der Verwaltung, und die geheimen
Conduitenliſten. Die letzteren entſtehen da, wo die erſtere fehlt,
und entwickeln ſich in dem Grade, in welchem die perſönliche Verant-
wortlichkeit des Miniſters die Form und berufsmäßige Verantwortlich-
keit des einzelnen Beamteten abſorbirt. Es leuchtet ein, daß dieſelben
um ſo nachtheiliger wirken müſſen, je weniger es zu vermeiden iſt, daß
ihre Angaben neben den Thatſachen auch ein individuelles Urtheil ent-
halten, und daß über ſie der Betreffende nicht gehört werden könne.
Sie verſchwinden daher von ſelbſt mit der Oeffentlichkeit. Damit iſt
natürlich ein amtliches Urtheil über die Amtsführung durchaus nicht
ausgeſchloſſen.


Der amtliche Gehorſam hat ſeine Geſchichte, und jedenfalls bildet er ein
weſentliches Moment in der Geſchichte der Staatsbildung. Die Gränze zwiſchen
ihm und dem abſoluten Gehorſam beginnt bei dem Kampf zwiſchen der einheit-
lichen Staatsidee und dem ſtändiſchen Rechte der Verwaltung, und empfängt
ihren erſten ethiſchen Inhalt durch die Anwendung der amtlichen Gewalt auf
kirchliche Fragen, ihren theoretiſchen durch die Anwendung der Vertragstheorie
auf die Entwicklung des Staatsrechts und die Idee der königlichen Gewalt.
Die Formel: „daß man Gott mehr gehorchen ſolle, als den Menſchen,“ be-
zeichnet den Punkt, wo der kirchliche und der ſtaatliche Gehorſam auch im Amt ſich
berühren. Mit dem Siege der ſtaatlichen Einheit verſchwindet jene Gränze;
das 18. Jahrhundert, namentlich auf dem Continent, zum Theil aber auch in
England (Walpole), iſt die Epoche des unbedingten Gehorfams gegen das
[358] Königthum, in welcher nur einzelne theoretiſche Beſtrebungen die Selbſtändigkeit
des Amts zu erhalten trachten, namentlich in Deutſchland, wie Moſer (Landes-
hoheit), während andere, wie Gönner (Staatsdienſt S. 209), und Haller
wieder den unbedingten Gehorſam predigen. Das 19. Jahrhundert macht
dagegen aus der Frage die des verfaſſungsmäßigen Gehorſams, in welchem
die Entſcheidung über jene, tief im ſittlichen Weſen der Staats- und Einzel-
perſönlichkeit liegenden Gränze den Formen der Verfaſſung und den juriſtiſchen
Grundſätzen der Verantwortlichkeit zugeſchoben wird, ohne daß man doch
wenigſtens in Deutſchland zu dem Bewußtſein gelangte, die Sache auf dieſem
Wege bis auf den Grund erledigt zu haben, geſchweige denn, daß man ge-
ſetzlich zum formellen Abſchluß gekommen wäre. Hier wird nur die höhere ſitt-
liche Idee des Amtes ausreichen. Unter den einzelnen Darſtellungen iſt ſehr
gut die von Könne (II. §. 295) und Zachariä (Staats- und Bundesrecht II.
§. 137); Zöpfl hat (II. §. 518. 519) namentlich die Straf- und Disciplinar-
gewalt über die Staatsdiener ſehr genau behandelt. Die beſte Darſtellung der
ganzen Literatur, ſowohl der deutſchen als nichtdeutſchen, über die Frage, und
zugleich die einzige, welche das hiſtoriſche Moment in derſelben feſtgehalten hat,
iſt ohne Zweifel die von R. v. Mohl in ſeiner Geſchichte der Staatswiſſen-
ſchaften I. S. 320—334 (Literatur über den bloß verfaſſungsmäßigen Gehorſam).


c) Das Recht des Beamteten.

Das Recht des Beamteten, oft das Staatsdienerrecht im eigent-
lichen Sinne genannt, entſteht, indem innerhalb des Amts die Perſön-
lichkeit des Beamteten gegenüber der Perſönlichkeit des Staats als ſelb-
ſtändige erſcheint, und umfaßt daher das Recht aller aus der Uebernahme
des Amts entſtehenden perſönlichen Lebensverhältniſſe des Beamteten.


Auf den erſten Blick erſcheint dieß Recht als ein vertragsmäßiges,
das durch die Anſtellung begründet wird. Allein dieſe Auffaſſung reicht
nicht nur praktiſch nicht aus, da die wichtigſten Punkte des Staats-
dienerrechts, die geſellſchaftlichen und Disciplinarrechte, in dem Vertrage
gar nicht enthalten ſind, und die Frage nach dem Recht auf das Amt
nicht von ihr entſchieden werden kann, ſondern ſie iſt an und für ſich
einſeitig. Denn nicht der ſpeziell auf die einzelnen Punkte des Staats-
dienerrechts gerichtete Wille des Contrahenten, ſondern das organiſche
Weſen des Amts bedingt und ſetzt den Inhalt des Staatsdienerrechts,
ſo zwar, daß einzelne Theile deſſelben auch formell durch einen ſolchen
Vertrag gar nicht geändert werden könnten, ſelbſt wenn die Contra-
henten darüber einig wären, wie das Recht des Staatsdieners auf die
geſellſchaftliche Ehre des Amts oder das Recht des Staats auf Aus-
übung der Disciplinargewalt. Es muß daher das Recht des Staats-
dieners und die ihm entſprechende Verpflichtung des Staats als ein
organiſcher Theil des öffentlichen Rechts, der unbedingt durch die
[359] Thatſache der Anſtellung für den Beamteten perſönlich erworben wird,
wie das Wahlrecht durch die Staatsangehörigkeit, oder etwa die körper-
liche Unverletzlichkeit durch die Geburt, erkannt werden. Der Staat
kann dieſe weſentlichen Verpflichtungen, die die Natur des Amts als
ein Recht des Beamteten fordert, gar nicht ändern. Er kann ihnen
höchſtens ein beſonderes Maß im einzelnen Falle geben, und nur wo
dieß der Fall iſt, nimmt das Recht des Staatsdieners den Charakter
eines bürgerlichen Rechts an, und kann daher auch nur in dieſer Be-
ziehung wie ein bürgerliches Recht vor dem bürgerlichen Gericht verfolgt
werden.


In dieſem Sinne muß man nun nicht, wie es gewöhnlich geſchieht,
das geſammte Staatsdienerrecht als ein gleichartiges betrachten, ſondern
man muß unterſcheiden zwiſchen dem Recht auf das Amt im Ganzen,
dem Rechte auf die einzelnen aus dem Amt entſpringenden perſönlichen
Lebensverhältniſſe, und dem Rechte, welche aus den einzelnen
Handlungen des Staatsdieners entſtehen.


Da zuerſt der Staatsdienſt ein Lebensberuf und kein Geſchäft
iſt, ſo iſt die Anſtellung auch kein Vertrag, ſondern eine Berufung,
und kann mithin auch weder als ein einſeitig vom Staate oder dem
Staatsdiener lösbares, noch auch als ein unbedingt privatrechtlich
gültiges Verhältniß betrachtet werden. Das Weſen des Amts ſchließt
daher ſowohl die einſeitige Entlaſſung von Seiten des Staats, als den
einſeitigen Austritt des Staatsdieners aus. Jede Anſtellung auf
Kündigung begründet deßhalb keine amtliche Stellung; jede amtliche
Stellung iſt ihrer Natur nach eine Anſtellung für das ganze Leben.
In dieſem Sinne hat der Beamtete ein Recht auf das Amt. Die
Entfernung vom Amte hat mithin das Wegfallen derjenigen Bedingungen
zur Vorausſetzung, welche die Anſtellung ſelbſt vorausſetzte, der perſön-
lichen Fähigkeit zur berufsmäßigen Amtsführung. Die Entſcheidung dar-
über ob dieſe Fähigkeit da iſt oder nicht, kann eben darum, weil das Amt
als Beruf zum Stande geworden iſt, nur durch ein ſtandesmäßiges,
d. h. für den ganzen Stand gleichmäßig berufenes Organ entſchieden
werden, und nie durch eine einzelne Perſönlichkeit. Als ſolches iſt die
Spitze der ſelbſtändigen Organiſationsgewalt, der Staatsrath, das
natürlich beſtimmte Organ, vor welchem die Entlaſſung zu verhandeln
iſt; und welche ſie ebenſo wohl dem Beamteten verweigern, als ſie aus-
ſprechen kann; denn wenn der Beamtete ein Recht auf ſein Amt hat,
ſo hat conſequent auch das Amt ein Recht auf den Beamteten. Das
iſt durch das Weſen des ſtandesmäßigen Berufes gegeben. — Dieſes
ſind die Grundſätze welche das Princip der Unabſetzbarkeit des Be-
amteten bilden.


[360]

Neben dieſem Princip hat nun die Verantwortlichkeit im Miniſterial-
ſyſtem, welche aus der verfaſſungsmäßigen Verwaltung hervorgeht, das
Recht der höchſten Verwaltungsbehörde erzeugt, einſeitig die wirkliche
Amtsführung des Beamteten zu ſiſtiren, und zwar als Verſetzung
(Verfügbarkeit, Disponibilität) aus allgemeinen organiſatoriſchen,
oder als Suspenſion aus perſönlichen Gründen. Es iſt ohne dieß
Recht keine Verantwortlichkeit möglich; dagegen iſt kein Grund vor-
handen, weßhalb nicht gegen ſolche Maßregeln ein Recurs der betreffenden
Beamteten an den Staatsrath zugelaſſen werden ſollte. Ebenſo muß
eine Verſetzung vollkommen frei ſtehen, jedoch unter der Voraus-
ſetzung, daß ſie weder die amtliche noch die wirthſchaftliche Stellung
des Beamteten beeinträchtigt. Endlich hebt die Verantwortlichkeit den
Grundſatz der Beförderung nach dem Dienſtalter als objektiv gültigen
auf; ſeine natürliche Geltung wird ihm ohnehin durch die Natur der
Sache werden.


Das zweite Gebiet des Staatsdienerrechts umfaßt die perſönlichen
Lebensverhältniſſe des Staatsdieners, und zerfällt daher in die zwei Gruppen
des geſellſchaftlichen und des wirthſchaftlichen Staatsdienerrechts.


Das geſellſchaftliche Staatsdienerrecht enthält das perſönliche
Recht des Beamteten auf die ſtandesmäßige Ehre des Amts über-
haupt, die dem Einzelnen gegenüber zur Geltung kommt, und zweitens
auf den Rang des Amts oder das Maß und die Form der Ehre,
welche dem einzelnen Amt in der Hierarchie der Aemter zuſteht, ſowie
auf die Symbole deſſelben. Das Geſetz, welches dieß letztere normirt,
iſt die Rangordnung. Sie hat ihre Geſchichte. Erſt in der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft waren alle Elemente derſelben als Modalitäten
derſelben Grundlage der bürgerlichen Gleichheit ſtatt der ſtändiſchen
und der amtlichen Ordnungen der Geſellſchaft in eine und dieſelbe
Rangordnung hineinzufügen, was natürlich nur auf einer gemein-
ſchaftlichen Baſis geſchehen konnte. Als dieſe nahm man nun in
einigen Ländern die mechaniſche Hierarchie des Militärweſens, indem
alle geſellſchaftlichen Unterſchiede auf militäriſche Grade reducirt wur-
den, in anderen die wirthſchaftlichen Unterſchiede der Diäten (Diäten-
klaſſen). Der letzte Theil der Verwaltungslehre hat zu ſeiner Aufgabe,
dieß genauer darzulegen. Das geſellſchaftliche Recht des Staatsdieners
iſt in dieſem Sinne ein unbeſtrittenes.


Das wirthſchaftliche Staatsdienerrecht beruht darauf, daß die
Erfüllung des Lebensberufes ohne Rückſicht auf die einzelnen Thätig-
keiten des Beamteten demſelben eine, ſeiner geſellſchaftlichen Stellung
entſprechende wirthſchaftliche Exiſtenz ſichern muß. Dieſe Exiſtenz wird
ihm geboten durch das Gehalt. Die Geſchichte des Gehalts geht
[361] gleichen Schritt mit der Geſchichte des Amts; der wirthſchaftliche Körper
folgt gleichſam der Entwicklung der ſtaatlichen Seele. In der ſtändi-
ſchen Epoche gibt es kein Gehalt; daſſelbe beginnt erſt da, wo der
Beamtete ſich der einheitlichen Staatsgewalt unterordnet, hält mit dieſer
Unterordnung gleichen Schritt, und tritt mit der verſchiedenen Ent-
wicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und der organiſchen Ver-
waltung ganz in die Verpflichtung des Staats über. Das Weſen der
ſelbſtändigen Perſönlichkeit des Staats gegenüber den einzelnen Per-
ſönlichkeiten der Staatsangehörigen nimmt jeder einzelnen Leiſtung der
Beamteten den Charakter einer wirthſchaftlichen Leiſtung, deren Werth
ihm perſönlich in der Gebühr gezahlt ward. Alle Thätigkeiten aller
Beamteten ſind jetzt Eins, und der wirthſchaftliche Unterhalt der Beamte-
ten erſcheint daher ſeinerſeits als Eine große, organiſch nach der Bedeutung
des Amts vertheilte — ſyſtematiſirte — Leiſtung des Staats für ſeinen
eignen Organismus, das Syſtem der Gehalte. Die verfaſſungsmäßige
Verwaltung enthält damit in der Bewilligung dieſer Ausgabe den
Antheil, den die Volksvertretung an der Organiſationsgewalt
der Verwaltung hat; und ſo greifen jetzt dieſe Elemente in einander.


An das Gehalt ſchließt ſich das Ruhegehalt, das Recht und
das Syſtem der Penſionen. Das Ruhegehalt iſt ſeinem Weſen nach
der Ueberſchuß des wirthſchaftlichen Lebens des Beamteten, den der
Staat ihm ſichert für die Zeit, wo die perſönlichen Kräfte der Amts-
führung nicht mehr entſprechen. Das Princip des Ruhegehaltes beruht
darauf, daß die Erfüllung des Lebensberufes die Fähigkeit haben muß,
einen ſolchen Ueberſchuß zu erzeugen, während die Standesmäßigkeit
denſelben nicht von der zufälligen wirthſchaftlichen Berechnung und
Sparſamkeit des einzelnen Beamteten abhängig bleiben läßt. Die Auf-
faſſung der Anſtellung des Beamteten als eines Vertrages kann nur
ſchwer das Gehalt, niemals das Ruhegehalt als eine principiell dem
Staate obliegende Verpflichtung erklären. In ihm erſcheint das höhere
Weſen des Amts in ſeiner concreteſten wirthſchaftlichen Form. Es iſt
eben deßhalb ein immanenter Theil des organiſchen wirthſchaftlichen
Staatsdienerrechts in allen Staaten Europas geworden.


Das dritte Gebiet des Staatsdienerrechts, das ſich auf die ein-
zelnen Handlungen
des Beamteten bezieht, zerfällt wieder in drei
Theile.


Jede Handlung des Beamteten, die nicht im Wirkungskreis des
Amts liegt, iſt keine amtliche, ſondern eine Privathandlung, und fällt
daher unter das Privat- oder bürgerliche Strafrecht. Es iſt durchaus
kein Grund, hier wieder ein beſonderes Recht, oder einen beſondern
Gerichtsſtand einzuführen oder feſtzuhalten. Der letztere gehörte den
[362] Principien der ſtändiſchen Verwaltungsepoche, und iſt mit dieſer beſeitigt.
Die Frage, ob ein Strafrechtsfall unter das Disciplinar- oder das
bürgerliche Strafrecht gehört, muß einfach nach dem Inhalte des Straf-
geſetzes entſchieden werden. Die weiteren Folgen liegen in der Natur
des amtlichen Berufes.


Diejenigen Handlungen des Beamteten, welche, obwohl ſie kein
Recht verletzen, dennoch die Frage entſtehen laſſen, ob die Voraus-
ſetzungen der berufsmäßigen Amtsführung bei dem Beamteten vor-
handen ſind, erzeugen das Disciplinarverfahren; und die Maß-
regeln, welche den Beamteten dahin bringen ſollen, die Harmonie
ſeines perſönlichen Lebens mit der berufsmäßigen Würde und der
amtsmäßigen Geſchäftsthätigkeit herzuſtellen, bilden das Disciplinar-
recht
. Die Einrichtung des erſteren iſt ſtets eine Frage der Zweck-
mäßigkeit; nur muß die Möglichkeit gewahrt werden, daß der Beſchuldigte
gehört werden kann. Die Gränze des zweiten gegenüber dem eigentlich
geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Staatsdienerrecht beginnt da, wo
ein erworbenes Recht in Frage kommt; das Disciplinarrecht hat ſeine
höchſte Spitze in der Suspenſion; es kann keinen Theil des eigent-
lichen Amtsrechts umfaſſen.


Das Verhältniß des Beamteten zum Staate begründet in Be-
ziehung auf die einzelnen Handlungen des erſteren endlich das Haf-
tungsrecht
des Staats für die Thätigkeiten des Beamteten. Es iſt
einleuchtend, daß der Staat für alle diejenigen Handlungen haften
muß, welche der Beamtete vermöge ſeiner Competenz vollzieht. Es iſt
eben ſo klar, daß er nicht zu haften hat, wenn der Beamtete ſeine
Competenz überſchreitet, ſelbſt dann nicht, wenn er im Namen des
Staats verfährt, als es klar iſt, daß der Staat haftet für dasjenige,
was der Beamtete im Namen ſeiner Competenz vollbringt. Der ein-
fache, hier durchgreifende Satz lautet demnach dahin, daß in den Fällen,
wo der Beamtete ſeine Competenz überſchreitet, der Einzelne durch eine
ſolche Ueberſchreitung gegen den Beamten ein Privatklagrecht gewinnt,
und daß im ſtreitigen Falle der Staatsrath zu entſcheiden hat, ob die
fragliche Handlung zur Competenz gerechnet werden ſoll oder nicht, —
daß aber die Haftung des Staats durch zuſtändige Handlungen des
Beamteten wieder den Regreß des Staats gegen den letzteren offen
ſtellt, ſobald die Form oder das Maß der Handlung mit der Abſicht
des Staats im Widerſpruch ſtanden. Die Gränze liegt im letzteren Falle
in der Unterſcheidung zwiſchen der rechtlichen Natur einerſeits, und der
Form und dem Maße andererſeits; denn der Begriff der Zuſtändigkeit
hebt zwiſchen Beamteten und Staat die Haftung für die erſtern eben
auf, und läßt ſie nur für die letztern beginnen.


[363]

Dieß nun ſind die Grundlagen für den erſten großen Organismus
der verwaltenden That, das Amtsweſen und den Staatsdienſt. Ein
zweites nicht minder wichtiges Gebiet eröffnet ſich uns in der Selbſt-
verwaltung.


Das neuere deutſche Staatsrecht iſt in Beziehung auf die obigen Fragen
zu dem Satze gekommen, den wir nach Zöpfl (§. 521) aufnehmen: „Allgemein
iſt in deutſchen Verfaſſungsurkunden als Grundſatz anerkannt, daß kein Staats-
diener ſeines Amtes willkürlich entſetzt werden kann.“ Die Erklärung des
Ausdrucks „willkürlich“ iſt „nicht ohne Urtheil und Recht.“ Sehr genau und
auf hiſtoriſcher Grundlage Zachariä, Deutſches Staatsrecht II. §. 143 ff.
Man vergleiche dazu Malchus, Innere Politik I. S. 19. Das Haftungsrecht
ſiehe Zöpfl §. 520; Zachariä §. 137 ff. Ueber Preußen ſpeziell RönneII.
§. 303 ff. Das franzöſiſche Haftungsrecht bezeichnet Laferrière(Droit
administratif I. Ch. II.): „Dans les fonctions publiques la responsabilité
du supérieur n’absorbe pas celle de l’inférieur; chacun répond de ses faits;
chaque fonctionnaire est responsable en ce qui concerne des actes de
l’administration — ils ne pourront se couvrir des ordres inconstitutionnels ou
des instructions illégales de leur supérieurs
.“
Das wäre ſehr ſchön; nur
urtheilt darüber in Frankreich nicht das Gericht, ſondern der Conseil d’État,
der ſelbſt ein amtliches Organ iſt (ſ. oben unter Klagrecht und Conseil d’État).
In der That kann man nicht verkennen, daß gerade auf dieſem Gebiete die
Theorie höchſt entſcheidend und günſtig gewirkt hat. Das öffentliche Recht hat
durch ſie vielleicht auf keinem Punkte ſo ſehr den Charakter des Territorialen
verloren und den des gemeingültigen Rechts dafür gewonnen; ein Ergebniß,
das wir nur mit Freuden begrüßen können.


Drittes Gebiet.
Die Selbſtverwaltung und ihr Organismus.


I. Der allgemeine Begriff der Selbſtverwaltung.


Neben dem erſten großen Organismus der Verwaltung, dem amt-
lichen, ſteht nun, denſelben faſt allenthalben berührend, beſtimmend und
zum Theil erſetzend und verdrängend, der zweite Organismus der
Selbſtverwaltung.


Die Neuheit des Ausdrucks in eigenthümlicher Verbindung mit
dem Alter der Sache hat es bisher nicht zu einem rechten Verſtändniß
des erſteren kommen laſſen. Die meiſten Menſchen dürften ſich unter
der Selbſtverwaltung nicht einen Organismus, ſondern vielmehr ein
unklar vorgeſtelltes Princip denken, und zwar dasjenige, was wir als
das Princip der freien Verwaltung bezeichnet haben, nach welchem dem
Staatsbürgerthum ein Antheil an der Thätigkeit der vollziehenden
[364] Gewalt gegeben iſt. Eben ſo liegt die Verwechslung mit dem Begriff
und Inhalt der verfaſſungsmäßigen Verwaltung nahe. Es iſt kein
Zweifel, daß die Selbſtverwaltung beiden Begriffen angehört. Aber
man muß ſich gewöhnen die Vorſtellung der Identität derſelben zu
beſeitigen. Die Selbſtverwaltung iſt nicht das praktiſch durchgeführte
Princip der freien Verwaltung, das weit über ſie hinausgeht, ſondern
ſie iſt vielmehr ein ganz ſelbſtändiger Organismus der voll-
ziehenden Gewalt
. Und das Princip, auf welchem ſie beruht, iſt
folgendes.


Das wirkliche Leben hat in jedem Staate einen doppelten Inhalt.
Es erſcheint einerſeits als ein ganz gleichartiges und allgemeines,
andererſeits in einer ganz örtlichen, äußerlich begränzten Geſtalt.
Innerhalb dieſer örtlichen Gränzen liegen eine Reihe von Momenten,
welche für die Aufgabe des Staats an ſich und für die Möglichkeit
ihrer Vollziehung entſcheidend werden, ſo daß die letztere nur dann
ihrem Zwecke ganz entſprechen kann, wenn ſie dieſe örtlichen Momente
zu ihrer vollen Geltung innerhalb des allgemeinen Princips gelangen
läßt, wie dieß ſchon oben hervorgehoben wurde.


Indem nun der Organismus der einheitlichen und auf allen
Punkten gleichen Staatsverwaltung dieſe örtlichen Beſonderheiten in ſich
aufnimmt und anerkennt, entſteht das, was wir das örtliche Syſtem
des Amtsorganismus, oder das Behördenſyſtem genannt haben. Indem
aber die freie Verwaltung das Princip der thätigen Theilnahme der
einzelnen Staatsbürger an dieſer örtlichen Geſtalt der Verwaltung zur
Geltung bringt, entſteht das, was wir die Selbſtverwaltung nennen.
Die Selbſtverwaltung iſt daher die Theilnahme des Staatsbürgerthums
an der örtlichen Verwaltung, die als ein ſelbſtändiger Ver-
waltungsorganismus
mit eigenem Inhalt, eigener Funktion und
eigenem Rechte ausgerüſtet auftritt.


Die Selbſtverwaltung beruht daher auf zwei weſentlich verſchiedenen
Momenten. Einmal auf dem immer gleichen Princip des freien Staats-
bürgerthums, aus welchem das Recht auf ſelbſtthätige Theilnahme des
Einzelnen an der Verwaltung hervorgeht; dann auf der Thatſache
der örtlichen, unendlich verſchiedenen Lebensverhältniſſe, welche jenes
Princip erſt zu einem Organismus entfalten. Die Selbſtverwaltung
aller Zeiten und Länder iſt daher ihrem Weſen nach gleich, ihrer
Geſtalt nach unendlich verſchieden — ſo verſchieden, daß man lieber
dieſe poſitive Geſtalt derſelben ganz weggelaſſen, und ſie nur noch in
ihrem abſtrakten Weſen, dem der freien Verwaltung, geſucht hat, womit
freilich jeder eigene Begriff derſelben verſchwand. Dieſe Unbeſtimmtheit
des Weſens der Selbſtverwaltung hat es wieder verurſacht, daß man
[365] eine ganz beſtimmte, wenn auch eine höchſt großartige Form derſelben,
die engliſche, als die eigentliche Selbſtverwaltung betrachtet und be-
zeichnet hat, und dadurch zu der Vorſtellung gekommen iſt, als ob
einerſeits kein anderes Volk eine Selbſtverwaltung habe, andererſeits
die höchſte Entwicklung der letzteren nur in der Form Englands beſtehen
könne. Geht man aber einen Schritt weiter, ſo erkennt man leicht,
daß jener Begriff nicht bloß ein viel allgemeinerer, ſondern vielmehr ein
organiſcher iſt. Es iſt vielmehr wahr, daß jedes Land und jede Zeit
ſeine Art und ſein Recht dieſer Selbſtverwaltung hat. Aber alle dieſe
höchſt verſchiedenen Formen haben dennoch zunächſt ganz gleichartige
Grundlagen, auf welche man alle jene Beſonderheiten zurückführen muß,
um ſie verſtehen zu können. Dieſe nun aufzuſtellen iſt unſere erſte
Aufgabe. Und erſt daran können wir dann das Bild desjenigen an-
ſchließen, was wir die Individualität in der Selbſtverwaltung nennen.
Dieſe aber gehört zu den reichſten und intereſſanteſten Gebieten der
Staatswiſſenſchaft. Vielleicht, daß es dem Folgenden Gelingt, ihr ihren
Platz in der letztern dauernd zu gewinnen.


II. Das organiſche Weſen der Selbſtverwaltung.


Will man die Selbſtverwaltung in dem oben aufgeſtellten Sinne
und in ihrer Individualität verſtehen, ſo muß man allerdings ſich
wieder das geſammte Bild des organiſchen Staatslebens vergegenwärti-
gen. Denn das Weſen derſelben und ihre allgemein gültigen Grund-
lagen gehören eben nicht einer einzelnen Inſtitution, ſondern dem Begriffe
des Staats ſelber an.


Wir haben im Staate den Willen deſſelben von ſeiner That
geſchieden, und diejenige Organiſation, durch welche der erſtere unter
Mitwirkung der Staatsbürger zum Geſetze wird, die Verfaſſung genannt.
Wir haben aber in dem Begriffe der That wieder den auf die äußere
Vollziehung gerichteten Willen von dieſer wirklichen thatſächlichen Aus-
führung unterſcheiden müſſen. Wir haben dieſen Willen der That als
die Verordnung bezeichnet, gegenüber dem Geſetze, als dem reinen
Willen. Wir haben das Weſen der Verordnung darin geſetzt, daß ſie
die gegebenen Verhältniſſe des wirklichen Lebens in den Willen des
Geſetzes aufnimmt und ſie mit dem letzten vermittelt. Die Verordnung
iſt die vollziehende Gewalt als Wille; und eben dieſer Wille, der das
individuelle Leben der Staatsbürger erfaßt und beſtimmt, erſcheint zu-
nächſt als ſelbſtändig perſönlicher in der Organiſation der Regierung,
dem Amtsorganismus, wie auch die wirkliche Vollziehung zunächſt von
ihr ausgeht. So wie aber das Princip des Staatsbürgerthums in der
[366] Verfaſſung den Staatsbürger zur Theilnahme am Willen des Staats
zuläßt, ſo wird eine ſolche Theilnahme auch an der wirklichen Thätigkeit
des Staats als die einfache Folgerung deſſelben Princips erſcheinen.
Dieſe Theilnahme an der Verwaltung macht aus derſelben die freie
Verwaltung; inſofern ſie ſich aber auf örtlich oder ſachlich begränzte
und damit dauernde, in der Natur des Staats ſelbſt liegende Auf-
gaben der letzteren bezieht, heißt ſie Selbſtverwaltung. Und da nun
die That des Staats ſelbſt wieder theils als Wille, theils als wirkliche
Ausführung erſcheint, ſo zerfällt dieſe Selbſtverwaltung in zwei Grund-
formen. Sie kann erſtlich ſich bloß auf die Bildung des, der Voll-
ziehung zu Grunde liegenden Willens beziehen, und ſie kann zugleich
die Ausführung mit umfaſſen. Denjenigen Organismus nun, vermöge
deſſen das Staatsbürgerthum an jener Bildung des vollziehenden
Willens Theil nimmt, nennen wir die Vertretung; denjenigen da-
gegen, vermöge deſſen zugleich die wirkliche Ausführung der Theilnahme
des Staatsbürgerthums örtlich zuſteht, nennen wir die (eigentliche)
Selbſtverwaltung
. Das Weſen aller Vertretung beſteht daher in
der Theilnahme an der Verordnungsgewalt, das Weſen aller
eigentlichen Selbſtverwaltung in der Theilnahme an der Ausführung,
alſo ſpeziell an der Organiſations- und Polizeigewalt. Beide
zugleich erfüllen den Begriff der Selbſtverwaltung mit ſeinem concreten
Inhalt. Wir können daher von einer Selbſtverwaltung im weiteſten
Sinne reden, welche die Vertretungen mit umfaßt, und von der eigent-
lichen Selbſtverwaltung, die nur in den Selbſtverwaltungskörpern
erſcheint. Es iſt die Aufgabe des Folgenden, dieß genauer zu ent-
wickeln. Mit dieſen Grundformen aber und mit allen aus ihnen ſich
ergebenden weiteren Bildungen erſcheint die Selbſtverwaltung ſtets als
ein organiſcher Theil des Staatslebens. Und als ſolcher fordert ſie
eine vorläufige Beachtung.


Das Obige iſt, wie jede reine wiſſenſchaftliche Definition, allerdings
ſehr einfach. Allein ſchon in ihm ſelber liegen die Elemente der unend-
lichen Vielfältigkeit, die das wirkliche Leben gerade in dieſem Gebiete
weit mehr noch als in der amtlichen Organiſation entwickelt.


Wir haben gezeigt, daß die Verordnungsgewalt die Organiſation
und die Polizei umfaßt; die Ausführung beider enthält daher umgekehrt
auch eine gewiſſe Verordnungsgewalt. Es iſt daher ſchon dem Weſen
der Sache nach denkbar, daß die Vertretungen neben ihrer eigentlichen
Aufgabe auch einen Theil der beiden andern enthalten können. Es
iſt auch möglich, daß einige Vertretungsformen es enthalten, andere
nicht. Es iſt möglich, daß jede Vertretungsform zugleich Selbſtver-
waltung iſt. Es iſt möglich, daß eine höchſt verſchiedene Gränze für
[367] das Maß geſteckt iſt, in welchem beide ihre verſchiedene Gewalten
ausüben. So einfach daher die Grundformen der Selbſtverwaltung
ſind, ſo unendlich mannigfach können ihre concreten Geſtalten ſein.
Die obigen beiden Grundbegriffe haben daher vor der Hand nur den
Werth, die allgemeinſte Grundlage für das wahre Verſtändniß jener
verſchiedenen Geſtaltungen der Selbſtverwaltung zu bieten.


So wenig aber nun, wie ſie ſelbſt zufällig und willkürlich ſind,
ſo wenig werden wohl auch rein zufällige und willkürliche Motive jene
concrete Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens der Selbſtverwaltung
beherrſchen. Die hohe Wichtigkeit der letzteren, die ja doch am Ende die
Idee und das Recht des freien Staatsbürgerthums erſt verwirklicht,
zwingt uns anzunehmen, daß auch jene Mannigfaltigkeit von beſtimmten
Geſetzen beherrſcht, und daß daher die wirkliche Geſtalt der Selbſt-
verwaltung das organiſche Ergebniß der Einwirkung beſtimmter, nach-
weisbarer und mit dem Weſen des Staats und des perſönlichen Lebens
innig zuſammenhängender Faktoren iſt. Und in der That gewinnt auch
hier die reine Wiſſenſchaft ihren faßbaren Inhalt erſt an dieſen Be-
obachtungen.


Offenbar nämlich enthält jede Form der Selbſtverwaltung eine
Beſchränkung der Gewalt des perſönlichen Staats, des Amtsweſens
und der Regierung. Sie iſt daher die Anerkennung des freien Staats-
bürgerthums durch die letztere; aber ſie iſt es gerade auf dem Punkte,
wo jene Beſchränkung am lebhafteſten gefühlt werden muß. Denn in
ihr gibt ſie einen Theil ihrer Gewalt denjenigen, über welche ſie die-
ſelbe auszuüben beſtimmt iſt, und mit dieſem Theil verleiht ſie dem
Staatsbürgerthum erſt das, was wir ſeinen concreten Inhalt nennen
möchten, einen Antheil am wirklichen Leben des Staats. Das Maß
und die Art, in welcher demgemäß Vertretungen und Selbſtverwaltungen
ſtattfinden, ſind daher nichts anderes, als das Maß und der Inhalt
des freien Staatsbürgerthums; und es ergibt ſich daher, daß die ganze
Geſtalt der Selbſtverwaltung der Ausdruck des Staatsbürger-
thums
iſt, und mithin von der fortſchreitenden Entwicklung deſſelben
abhängt. Die Selbſtverwaltung iſt daher nicht ein nothwendiges In-
ſtitut, wie das Amt, ſondern ein freies Organ in der Perſönlichkeit
des Staats; ſie iſt ihrem Princip nach die Conſequenz der ſtaats-
bürgerlichen Freiheit, während ſie in ihrer Form den Ausdruck des
Verſtändniſſes der Aufgaben bildet, die der Staat zu vollziehen hat,
und die Fähigkeit der Selbſtthätigkeit ſeiner Bürger, ſie wirklich zu
vollziehen.


Eben daraus ergibt ſich nun der allgemeine Standpunkt für die
Betrachtung der wirklichen Formen der Selbſtverwaltung. Während
[368] nämlich der Amtsorganismus durch die im Begriffe des Geſammtlebens
liegenden, unabänderlichen Aufgaben des Staats als ein feſtgeſchloſſenes,
im Weſentlichen immer gleiches Ganze gegeben iſt, wird die Selbſt-
verwaltung nicht bloß im Princip, ſondern auch in ihren Formen je
nach der Zeit wie nach den verſchiedenen Völkern eine beſtändig wech-
ſelnde und verſchiedene ſein. Während daher ferner in dem Amts-
organismus die Individualität der einzelnen großen Völker ſich in den
Formen zeigt, welche die feſten Elemente des Amtsorganismus durch
Natur und Menſchen annehmen, bewegt ſich im Gebiete der Selbſt-
verwaltung die Individualität ganz frei; die Selbſtverwaltung iſt
eben das wahre Gebiet der Individualität des Staats-
lebens
. Die Vergleichung auf dem Felde der Selbſtverwaltung verſetzt
uns daher auch bei den verſchiedenen Völkern gleichſam in eine neue
Welt; es iſt ein ganz anderes Leben das ſich uns öffnet, wenn wir
von Deutſchland nach Frankreich, von Frankreich nach England gehen,
und wieder anders in andern Ländern. Hier iſt es, wo ſich der wahre
Reichthum der ſtaatlichen Schöpfung aufſchließt; hier iſt es aber auch,
wo man jedes ſtaatliche Daſein erſt recht zu verſtehen hat, denn hier
iſt es, wo ſich die beiden großen Potenzen deſſelben, die Perſönlichkeit
des Staats und die der Einzelnen, fördern, beſchränken, gegenſeitig
bekämpfen oder verſtehen. Eine unmittelbare Vergleichung iſt hier nicht
ausführbar, wie bei dem Amt; ſie iſt nur möglich durch das Feſthalten
der im Weſen der Selbſtverwaltung liegenden Grundbegriffe, der
Vertretung und der Selbſtverwaltung, und durch die feſten Grundformen,
in denen beide erſcheinen. Die Frage, die wir daher mit dem Folgenden
zu ſtellen haben, iſt keine geringere als die, ob man das folgende
Syſtem der Selbſtverwaltung und ihrer principiellen Rechte als Baſis
für die ganze Lehre und jede dahin gehörende Vergleichung annehmen
kann oder nicht. Es iſt für die Wiſſenſchaft wenigſtens das gewiß,
daß man ſich einmal über dieſe Grundbegriffe einigen muß, ſoll nicht
im endloſen Reden über unklare Vorſtellungen oder im Anhäufen
unverarbeiteten Materials der wiſſenſchaftlichen Arbeit die wahre An-
ſchauung des Lebens verloren gehen.


Wir wollen verſuchen, dabei ſo beſtimmt zu ſein als es möglich iſt.


III. Die beiden Grundbegriffe der Selbſtverwaltung, die Vertretungen und
die Selbſtverwaltungskörper, ihre Rechtsprincipien und ihre Grundformen.


a) Die allgemeinen Rechtsprincipien der Selbſtverwaltung.

Das Recht der Selbſtverwaltung entſteht, ſowie dieſelbe in einem
beſtimmten Organe auftritt; es enthält das Maß des Antheils, den
[369] dieß Organ an den drei Gewalten der Regierung beſitzt. Die Aufgabe
dieſes Rechts iſt es, die Funktion der Selbſtverwaltung und ihrer
Organe im Staate als eine ſelbſtändige hinzuſtellen, und damit der-
ſelben erſt ſtatt eines abſtrakten Princips einen feſten, ihr angehörigen
Körper zu geben. Die Lehre von dieſem Rechte muß daher, wenn die
Selbſtverwaltung ein für alle ſtaatlichen Individualitäten gültiger Be-
griff ſein ſoll, auf Kategorien beruhen, welche ihrerſeits für alle
Formen der Selbſtverwaltung Gültigkeit haben. Und in ſofern ſprechen
wir von einem Recht der Selbſtverwaltung im Allgemeinen, welches
für Vertretungen und Selbſtverwaltungskörper zugleich gilt.


Dieß Recht nun kann nur durch die Natur der Sache gegeben
werden; es erſcheint daher auch nur als ein Princip; ſeine Anwendung
und Ausführung findet es erſt in den beiden großen concreten Formen.
Dennoch iſt dieß Princip von höchſter Wichtigkeit, weil es eben jene
Natur der Selbſtverwaltung erſt klar erſcheinen läßt.


Die Selbſtverwaltung iſt nämlich, wie ſchon ihr Name zeigt, nur
eine Form der Verwaltung. Sie kann daher niemals Geſetze geben.
Sie iſt nichts als eine beſondere Geſtaltung der vollziehenden Gewalt.
Es folgt daher, daß die Freiheit der Selbſtverwaltung nicht etwa eine
Freiheit oder Selbſtändigkeit gegenüber dem Geſetze ſein kann; im
Gegentheil iſt jede Selbſtverwaltung dem Geſetze Gehorſam ſchuldig,
wie die Einzelnen, aus denen ſie ſelbſt beſteht. Es folgt ferner, daß
ſie auch für die Geſetzmäßigkeit ihrer Thätigkeit, ſei dieß nun eine
Berathung oder eine wirkliche Vollziehung, haftet, und zwar der
vollziehenden Gewalt im Allgemeinen ſo gut als dem Einzelnen. Sie
iſt daher, als Organ dieſer vollziehenden Gewalt, ſo gut wie das Amt,
eben ſowohl dem Klagrecht als dem Beſchwerderecht unterworfen,
ſo gut in ihren Beſchlüſſen als in ihrer Thätigkeit. Es folgt aber
ferner, daß ſie aus demſelben Grunde auch dem amtlichen Befehle der
höheren Stelle Gehorſam zu leiſten hat, ſo gut wie der Einzelne;
es verſteht ſich, daß auch auf ihren Gehorſam der Begriff und das
Recht der Verfaſſungsmäßigkeit in vollem Maße Anwendung findet,
und daß jedes Organ der Selbſtverwaltung daher das Recht des paſſiven
Widerſtandes hat, während das eigene Klag- und Beſchwerderecht nur
von der eigentlichen Selbſtverwaltung und ihren Körpern ausgeübt
werden können.


Während ſie auf dieſe Weiſe allerdings ganz wie die vollziehende
Gewalt ſelbſt dem verfaſſungsmäßigen Rechte des Geſetzes unterworfen
iſt, beſitzt ſie andererſeits das Recht der erſtern, alſo namentlich einen
Antheil an der Verordnungsgewalt. Dieſer Antheil ſcheint auf den
erſten Blick ganz unbeſtimmt zu ſein; es ſcheint ſogar, er könne ſo
Stein, die Verwaltungslehre. I. 24
[370] weit gehen, daß dieſelbe wenigſtens für gewiſſe Gebiete dieſe Verord-
nungsgewalt allein, alſo mit Ausſchließung der Regierung beſitzen
könne. Das iſt nicht der Fall. Das Weſen des verfaſſungsmäßigen
Staates fordert die Verantwortlichkeit der Verwaltung gegenüber der
Geſetzgebung. Der ganz unabhängige Beſitz irgend einer Verordnungs-
gewalt von Seiten irgend einer Form der Selbſtverwaltung würde
dieſe Verantwortlichkeit aufheben, und damit die Verfaſſung ſelbſt un-
möglich machen. Da, wo Geſetz und Verordnung noch nicht getrennt
ſind, würde ein ſolches Recht die Selbſtverwaltung geradezu ſouverän
machen; und es hat ſie gerade in Deutſchland bei den Landſchaften,
Gemeinden und Körperſchaften bekanntlich wirklich ſouverän gemacht.
Die Verordnungs-, Organiſations- und Polizeigewalt der Selbſtver-
waltungskörper muß daher ſtets der Regierung untergeordnet ſein; die
Form, in welcher dieſe Unterordnung zur Erſcheinung kommt, iſt eben
die oberaufſehende Gewalt (ſ. unten) und dieſe Gewalt iſt daher
eine organiſche Nothwendigkeit für jeden Staat, der ſie als
Genehmigung, Verbot und Controle ausübt. Daher wird es noth-
wendig, daß Form und Maß dieſes Antheils an der Regierungsgewalt
für die Selbſtverwaltung möglichſt genau beſtimmt werde, und die-
jenigen geſetzlichen Beſtimmungen nun, welche dieſe Gränze für ihre
Verordnungsgewalt feſtſetzen, nennen wir das ſtaatliche Recht der
Selbſtverwaltungsorgane, das wiederum nicht bloß bei den Vertretungen
und Selbſtverwaltungskörpern, ſondern auch in den verſchiedenen Län-
dern ſehr verſchieden iſt.


Endlich iſt es klar, daß eine Selbſtverwaltung ohne eine geordnete
Theilnahme der einzelnen Staatsbürger nicht denkbar iſt. Auch dieſe
muß rechtlich beſtimmt werden, und iſt es in der That. Und diejenige
rechtliche Ordnung nun, nach welcher die Bildung der Organe der
Selbſtverwaltung aus den Staatskörpern geſchieht, nennen wir das
innere Recht oder die Verfaſſung der Selbſtverwaltungsorgane.


Das ſind die Grundbegriffe des allgemeinen Rechts der Selbſt-
verwaltung; dieſelben nehmen nun ihren beſtimmten Inhalt erſt an,
wenn man Vertretung und Selbſtverwaltungskörper und ihre ſo weſent-
lich verſchiedenen Funktionen ſcheidet.


b) Die Vertretungen. Die Principien ihres Rechts und die Grundformen
derſelben. Die Räthe und die Kammern.

1) Die Grundlage aller Vertretung iſt zunächſt das Verhältniß,
in welchem die Regierung in Bezug auf eine Verordnung den Rath
und die Anſichten derjenigen hören will, auf welche die betreffenden
[371] Verordnungen Bezug haben. Es iſt, wie bei dem Amte, nothwendig,
hier zu unterſcheiden. Wenn eine ſolche Anſicht bloß von Einzelnen
ausgeht, welche zu dem Zwecke ohne Aufforderung der Regierung zu-
ſammentreten, ſo entſteht eine Verſammlung, welche ein Geſuch,
oder eine Petition einreichen könne, ohne in irgend einer direkten Be-
ziehung weder zu Geſetzgebung noch zu Verwaltung zu ſtehen. Das
Recht auf ſolche, den Charakter ſubjektiver Meinungen enthaltenden
Kundgebungen iſt das Verſammlungs- und Petitionsrecht, und
gehört ins Verfaſſungsrecht. Wenn dagegen die Regierung, um einen
Beſchluß zu faſſen, ſich mit den Sachkundigen in Verbindung ſetzt, ſo
entſteht ein Gutachten, oder wenn das Objekt ein allgemeiner Zu-
ſtand iſt, eine Enquete, die beide nur Mittel der Verwaltung ſind, und
daher kein Recht haben und keines erzeugen. — Wenn die Regierung
für einzelne Zweige der Verwaltung einzelne Perſonen zur regel-
mäßigen
Begutachtung ihrer Pläne und Entwürfe bei ihren einzelnen
Organen anſtellt, ſo entſteht ein neues Organ mit beſtimmten amt-
lichen Rechten und Pflichten, und daher auch gewöhnlich mit Gehalt
und Beſtallung. Alles das iſt keine Selbſtverwaltung oder Vertretung.


Die Vertretung entſteht dagegen erſt da, wo zum Zwecke der
Begutachtung der Verordnungen für ein beſtimmtes und dauerndes
Gebiet der Verwaltung ein Organ aus der Zahl derjenigen Perſonen
gebildet wird, welche vermöge ihrer Fähigkeiten oder Intereſſen die
Objekte der Verwaltung und die aus der Natur derſelben entſtehenden
Aufgaben der letzteren zu beurtheilen im Stande ſind.


So wie ein ſolches dauerndes Organ geſchaffen wird, ſo muß es
mit einem Rechte verſehen ſein, das ihm ſowohl ſeine Funktion inner-
halb der Regierungsthätigkeit ſichert, als es ſeine Bildung ordnet und
feſtſtellt. Oder es muß ein ſtaatliches und ein inneres Recht
haben. Die einfachen und allgemein gültigen Principien dieſes Rechts
ſind folgende.


2) Das ſtaatliche Recht aller Vertretung beruht auf zwei Punkten.
Erſtlich muß eine jede Vertretung das Recht haben, in allen auf
ihr Objekt bezüglichen Regierungsthätigkeiten gehört zu werden. Dabei
können gewiſſe Punkte zwar ausgeſchloſſen ſein, allein es iſt das weder
weiſe, noch auf die Dauer aufrecht zu halten, wenn dieſe Punkte von
entſcheidender Wichtigkeit ſind. Denn entweder wird die Vertretung an
dem Bewußtſein zu Grunde gehen, daß ihr die Hauptſachen entzogen
ſind, während ſie doch die moraliſche Verantwortlichkeit für dieſelben
theilt; oder ſie wird vermöge deſſelben Bewußtſeins mehr fordern, als
ihrem eigenen Weſen entſpricht. Es iſt aber im abſoluten Widerſpruch
mit der Natur einer Vertretung, über eine Vorlage einen Beſchluß
[372] zu faſſen; denn ſie würde dadurch aus einem Organe der Verwaltung
zu einem Organe der Geſetzgebung werden. Ob ſie dagegen ſelbſtändige
Anträge einbringen darf, ſei es auf Verwaltung, ſei es auf Geſetz-
gebung bezüglich, kann verſchieden beſtimmt ſein; natürlich iſt es,
dieſelben zu geſtatten, aber nur in Beziehung auf die beſondern Auf-
gaben, für welche die Vertretungen beſtimmt ſind. Das Recht der
Anträge iſt derjenige Theil des ſtaatlichen Rechts der Vertretungen, mit
welchem ſie der Geſetzgebung angehören können, wenn es ſich um zu
erlaſſende Geſetze handelt; handelt es ſich dagegen um Verordnungen,
welche für beſtimmte Zuſtände und Intereſſen erforderlich ſcheinen, ſo
fällt dieſelbe Thätigkeit wieder unter die Verwaltung im wirklichen
Sinne. Man ſieht, daß auch hier das wirkliche Leben die ſtrengen
Unterſcheidungen der Wiſſenſchaft allerdings kennt, aber nicht äußerlich
durchführt; hier wie allenthalben beſteht der Reichthum deſſelben nicht
darin, daß es mehr enthält, als die letztere, ſondern nur darin, daß
es die in dieſer geſchiedenen Elemente in unendlicher Vielfältigkeit
verbindet.


Das zweite nothwendige Element des ſtaatlichen Rechts der Ver-
tretungen beſteht darin, daß dieſelben einem beſtimmten Amt zu geord-
net, oder unter geordnet ſein müſſen. Es iſt im Allegemeinen feſtzuhal-
ten, daß eine Ordnung ſolcher Vertretungsorgane ohne eine geſetzliche
Verbindung mit einem amtlichen Organe nicht denkbar iſt. In der
That geht die Thätigkeit jeder Vertretung immer auf den Einfluß der
Betheiligten auf die Ausübung der Verordnungsgewalt, und daher
muß dieſelbe mit dem Organe verbunden ſein, welches eben dieſe Ge-
walt ausübt. Dieß Verhältniß ſelbſt iſt aber, wie ſchon angedeutet,
ein zweifaches, und daraus ergeben ſich die beiden Grundformen der
Vertretung überhaupt. Man möge mir auch hier verſtatten, zwei be-
kannte Ausdrücke an beſtimmte Definitionen zu fixiren; die Klarheit
kann nur dadurch gewinnen, daß man ſich auf dieſe Weiſe über den
Sinn der Worte einigt. Jene beiden Grundformen nun nennen wir
die Räthe und die Kammern.


3) Räthe.


Unter Rath (Handelsrath, Sanitätsrath, Unterrichtsrath ꝛc.) ver-
ſtehen wir eine Vertretung, welche als berathender Organismus nicht
amtlicher Perſonen einem Amte beigegeben iſt, und daher ihre Anſicht
über alle Verordnungen, welche daſſelbe erläßt, oder über die Zuſtände,
welche dieſe Verordnungen nöthig machen, geſetzlich abzugeben hat. Ein
„Rath“ kann daher nur auf Aufforderung, oder in direkter Beziehung
auf die Thätigkeit einer amtlichen Stelle funktioniren; die Räthe fügen
ſich naturgemäß in den Organismus des Amts, und haben die Gränze
[373] ihrer Competenz an der Competenz des letzteren. Immer aber muß
der Rath, ſoll er ſeinen Charakter als Vertretung nicht verlieren, aus
Perſonen beſtehen, welche nicht dem Amte gehören, dem er beigeordnet
iſt; niemals kann er ſelbſt eine vollziehende Gewalt haben. Es kann
daher ſo viele Räthe geben als es amtliche Stellen gibt und ſie werden
in der Regel um ſo heilſamer wirken, je unabhängiger ſie ſind. Es
iſt ein reines Vorurtheil, in ihnen eine Begränzung der vollziehenden
und verordnenden Gewalt zu ſehen; im Gegentheil werden ſie die Ver-
antwortlichkeit der letzteren erleichtern und ihre einzelne poſitive Thätig-
keit mit den praktiſchen Anſichten des wirklichen Lebens erfüllen. Da-
gegen werden ſolche Räthe in dem Grade überflüſſiger und ſogar
unrichtig, in welchem es ſich um die Ausführung handelt, wie z. B.
bei der Sicherheitspolizei. Der Regel nach werden die Räthe unmit-
telbar von der Regierung ernannt. Man muß dieß Princip entſchie-
den als das Richtige
erkennen. Denn jede Wahl der Rathe
würde, wie es natürlich iſt, doch immer nur die Majorität und in
den meiſten Fällen die gezählte ſtatt der gewogenen in den Rath
bringen; die Regierung aber ſoll auch die Minorität hören, und das
einzige Mittel dafür iſt ihre Ernennung. Dagegen iſt es zweckmäßig,
eine ſolche Ernennung ſtets nur auf eine gewiſſe Zeit vorzunehmen.
Auf dieſe Weiſe bilden die Räthe ein höchſt wichtiges Complement des
freien Organismus der Verwaltung.


Die Möglichkeit nun, den Räthen neben ihrer rein berathenden
Aufgabe auch noch eine beſchließende und gar eine exekutive zu
geben, bildet aus denſelben zugleich eigentliche Selbſtverwaltungskörper
und zeigt den Uebergang zu der zweiten Grundform an. Wir werden
unten ſehen, wie höchſt verſchieden das Syſtem der Räthe in den
verſchiedenen Ländern ſich geſtaltet hat.


4) Kammern.


Mit dem an ſich höchſt unbeſtimmten Ausdruck „Kammern“ be-
zeichnen wir nunmehr diejenige Form der Vertretung, welcher nicht
etwa wie die Räthe einem Amte beigegeben, ſondern nur einem Amte
untergeordnet ſind, und daher eine freie, ſelbſtändige Thätigkeit
beſitzen. Ihr Objekt iſt eben deßhalb auch nicht wie bei den Räthen
die verordnende Thätigkeit eines beſtimmten Amtes an ſich, ſondern
es iſt daſſelbe vielmehr, wie ſie ſelber, gleichfalls ein ſelbſtändiges.
Damit aber iſt es auch ein beſchränktes. Und das iſt der Grund,
weßhalb die Kammern zu ihrem Gebiete immer die beſtimmten und
begränzteren volkswirthſchaftlichen Intereſſen haben. Sie
ſind das wahre Organ der Intereſſenvertretung. Es iſt nichts
verkehrter, als die Volksvertretung mit der Intereſſenvertretung zu
[374] verwechſeln, und ſo die natürlichen und unauslöſchbaren Gegenſätze der
Intereſſen, welche eben in dem Begriffe des Staats in harmoniſcher Ein-
heit aufgehoben ſind, in der Volksvertretung wieder herzuſtellen. Eine
Intereſſenvertretung iſt nur da kein Widerſpruch, wo durch die Thä-
tigkeit des Staats nicht mehr das Ganze, ſondern eben die beſtimmten
Intereſſen berührt werden, und das iſt der Fall gerade in dem Gebiete
der Verordnungen. Nur für die Verwaltung gibt es daher eine Intereſſen-
vertretung, nicht für die Geſetzgebung, und dieſe wieder findet ſtatt
in den Kammern. Es iſt daher ganz naturgemäß, daß während es
Räthe für alle Theile der Verwaltung gibt, Kammern nur für die Volks-
wirthſchaft vorkommen können. Damit iſt denn auch die naturgemäße
Stellung derſelben gegeben. Sie ſind niemanden beigeordnet, ſondern
dem Miniſterium für Volkswirthſchaft untergeordnet. Sie müſſen aus
der Wahl der Betheiligten hervorgehen, nicht aus der Ernennung.
Sie müſſen ſich ihre Thätigkeit im Weſentlichen ſelbſt beſtimmen. Sie
müſſen Ein Hauptrecht und Eine Hauptpflicht haben. Sie müſſen
über die Verordnungen gehört werden, welche über die von ihnen
vertretenen Intereſſen entſcheiden, und ſie müſſen die Intereſſen und
Zuſtände kennen, die ſie vertreten. In dem erſten Falle haben ſie
der betreffenden Anforderung Folge zu leiſten, im zweiten Falle aber
haben ſie ſich durch eigene Thätigkeit, Organe und Mittel dieſe
Kenntniſſe zu verſchaffen. Im erſten Falle gleichen ſie daher den
Räthen, und ſind rein berathende Körper, im zweiten Falle gleichen
ſie den Selbſtverwaltungskörpern und ſind verwaltende Organe. Auf
dieſen Punkten beruht das, was wir das ſtaatliche Recht — die
Grundſätze für ihr Verhalten zum Amt und zu den von ihnen vertre-
tenen Intereſſen, und das innere Recht, — die Grundſätze, nach
welchen ihre Wahl geſchieht und ihre Geſchäftsordnung ſich beſtimmt,
nennen. Sie bezeichnen daher im Allgemeinen die Epoche, in welcher das
ſtändiſche Leben ſeine Vertretung in den Volksvertretungen verliert, und
die volkswirthſchaftlichen Beſonderheiten dennoch das Bedürfniß einer
beſonderen körperſchaftlichen Bildung beibehalten. Sie ſind die Reduci-
rung der alten Innungen auf das Princip der Gleichheit des volks-
wirthſchaftlichen Lebens und ſtellen demnach die Trennung deſſelben
vom allgemeinen Staatsleben vor. Sie erſcheinen daher auch nicht
bloß in der Hauptform der Handelskammern, ſondern es kommen
faſt allenthalben noch einige andere Formen derſelben daneben vor,
was zum Theil ein ſehr lebendiges Bild gibt. Auch ſind ihre Funk-
tionen keineswegs immer gleich. Am leichteſten verſtändlich ſind ſie
natürlich im Gebiete der inneren Verwaltung. Geht man aber einen
Schritt weiter, ſo findet man genau dieſelbe Selbſtverwaltungsform
[375] mit ganz entſprechenden Funktionen auch in der Finanzwirthſchaft und
der Rechtspflege. In der Finanzwirthſchaft haben wir zum Theil
(bei den Einkommenſteuern) und werden wir dereinſt haben (namentlich
bei den direkten Steuern in ihrer Vertheilung) Steuerkammern,
die jetzt nur Commiſſionen heißen, aber wahre Kammern ſind. In der
Rechtspflege ſind die Handelsgerichte Gerichtskammern, und die Ge-
ſchwornen ſind in der That nichts anderes als Kammern für die
Selbſtverwaltung der Rechtspflege. Im Innern ſind z. B. die Armen-
verwaltungen dem Weſen nach Armenkammern; andere Beiſpiele ließen
ſich leicht aufführen. Nur muß man ſtatt der gewöhnlichen Bezeichnung
und Auffaſſung der Kammern eben die allgemeinere, durch das Weſen
der freien Verwaltung gegebene Grundform ſetzen, und alle dieſe in
ſich gleichartigen Erſcheinungen auf die Natur und das allgemeine Recht
derſelben reduciren.


Offenbar nun bilden dieſe Kammern wieder den Uebergang zu der
zweiten großen Grundform der Selbſtverwaltung, den Selbſtver-
waltungskörpern
.


c) Die Selbſtverwaltungskörper. Die Principien ihres Rechts und ihre Grund-
formen: Landſchaft, Gemeinde und Körperſchaft.

1) Eine ganz andere Reihe von Verhältniſſen entſteht nun da, wo
der Inhalt des Rechts der Selbſtverwaltung nicht mehr die Theilnahme
an der Verordnungsgewalt der Regierung, ſondern zugleich an der
Organiſations- und Polizeigewalt, alſo an der Ausführung der Verord-
nungen, oder eben an der Regierungsgewalt überhaupt iſt.


Mit Recht wird man erſt hier, wo alle Elemente der Regierung
zum Inhalt der Selbſtthätigkeit der Staatsangehörigen werden, von
einer Selbſtverwaltung im eigentlichen Sinne reden, und es iſt daher
leicht erklärlich, daß man das, was wir die Vertretungen und ihre
Grundformen genannt haben, gar nicht als Selbſtverwaltung zu be-
trachten pflegt, da in dem Begriffe der Verwaltung ſchon eine wirkliche
Thätigkeit zu liegen ſcheint. Dennoch wird man in der hier aufgeſtell-
ten eigentlichen Selbſtverwaltung nicht die einzige, ſondern nur die
höchſte Form derſelben erkennen müſſen; denn die Theilnahme an der
Verordnungsgewalt als ſolche bleibt immer eine Form der Selbſtver-
verwaltung, und nur das Zuſammenfaſſen aller dieſer Elemente gibt
ein vollkommenes Bild des neueren ſtaatlichen Lebens; das zeigt ſich
nun genauer im Begriffe der Selbſtverwaltungskörper.


Während nämlich die Räthe an der verordnenden Thätigkeit über-
haupt, alſo ohne eine örtliche Begränzung Theil nehmen, die Kammern
[376] dagegen nur die ſpeziellen Intereſſen und innern Aufgaben vertreten,
erſcheint die örtliche Einheit des wirklichen Lebens, welche alle
Lebensverhältniſſe aber örtlich begränzt und daher auch örtlich geſtaltet,
wieder als ein ſelbſtändiges Element der verwaltenden Thätigkeit und
damit als ein Gegenſtand der Selbſtverwaltung. Die letztere iſt daher
die örtliche Regierung, inſofern die allgemeine Regierung durch die
Orts- und Landesverhältniſſe Modifikationen empfängt; vermöge dieſer
örtlichen Einheit iſt ſie ein äußerlich beſtimmtes, vermöge der innern
ſtaatlichen Natur ein innerlich organiſirtes Ganzes, und in dieſem
Sinne nennen wir das Ganze einen Selbſtverwaltungskörper.


Dieſe Selbſtverwaltungskörper haben nun, wie es ſich ſchon aus
dem Obigen ergibt, eine viel ſelbſtändigere Natur wie die Vertretungen.
Mit der äußeren Gränze, welche ſie beſitzen, kommt ihre Geſtalt, mit
dem Theil des Regierungsrechts, welches ſie ausüben, ihr organiſches
Verhältniß zum Staatsorganismus nothwendig in weit beſtimmterer
Weiſe zur Erſcheinung. Daher ſind auch dieſe Selbſtverwaltungskörper
die Träger des eigentlichen Rechts der Selbſtverwaltung; ſie haben
ihr eigenes Recht, und hängen nicht mehr von dem Ermeſſen und der
Zweckmäßigkeit ab, ſondern ſind mit der örtlichen Lebensgeſtaltung
ſelbſt gegeben. Wir werden daher hier mit dem Unterſcheiden des
ſtaatlichen und des innern Rechts eigentlich erſt ganz concrete Rechts-
gebiete ſcheiden können.


2) Das ſtaatliche Recht der Selbſtverwaltungskörper ergibt ſich
in ſeinen, für alle drei Grundformen deſſelben gemeinſam gültigen
Princpien aus der obigen Natur derſelben.


Das erſte dieſer Principien folgt aus dem Satze, daß dieſe
Körper, indem ſie die Organiſation und Polizei auf Grundlage ihrer
eigenen Verordnungsgewalt wirklich ausüben, auch die erſte Bedin-
gung jeder wirklichen That beſitzen müſſen; das iſt, um wirklich han-
deln zu können, müſſen ſie als Perſönlichkeiten anerkannt ſein.
So entſteht hier bei ihnen juriſtiſch und hiſtoriſch zuerſt der Begriff
der ſogenannten juriſtiſchen Perſönlichkeit; die Selbſtverwaltungs-
körper ſind daher die höchſte Form dieſer juriſtiſchen Perſönlichkeit. Wir
werden unten bei dem Vereinsweſen dieſen Begriff in ſeiner weitern
Entwicklung zu verfolgen haben, der gewöhnlich ſo höchſt einſeitig und
unorganiſch aufgefaßt wird. Hier dürfen wir uns mit dem allgemeinen
Grundſatze begnügen, daß jeder Selbſtverwaltungskörper ſich am erſten
und weſentlichſten dadurch von den Vertretungen unterſcheidet, daß er
eine juriſtiſche Perſönlichkeit mit allen daraus folgenden Rechten und
Funktionen iſt, was die Vertretungen weder ſind noch ſein können; ſie
ſind eben nur Organismen des Wollens und Wiſſens, aber nicht der
[377] That. Das iſt ſo nothwendig, daß die Anerkennung der einzelnen
Rechte der juriſtiſchen Perſönlichkeit mit der Anerkennung als Selbſt-
verwaltungskörper bereits gegeben ſind. Ob nun aber dieſe juriſtiſche
Perſönlichkeit neben ihrer wirthſchaftlichen und adminiſtrativen Natur
auch die ſtaatlichen Rechte der individuellen Theilnahme an der Geſetz-
gebung hat, iſt wieder nach der Verfaſſung verſchieden. Schon hier
beginnt die Mannichfaltigkeit der Rechtsbildungen in dieſem Gebiete.


Das zweite Princip iſt, daß dieſe Selbſtverwaltungskörper, indem
ſie einen Theil der Regierungsgewalt durch ihren eigenen Willen und That
verwalten, auch damit einen Theil des Organismus der ganzen Regierung
bilden; das iſt, daß weder ihre Verordnungs-, noch ihre Organiſations-,
noch ihre Polizeigewalt ſelbſtherrlich ſind, ſondern ſtets unter dem Rechte
des Verbots und der Genehmigung, das iſt unter der oberaufſehenden
Gewalt ſtehen, die aber erſt durch ſie ihren Inhalt empfängt. Hier
nun ſind wieder die verſchiedenſten Formen und Bildungen möglich,
theils in dem Punkte, wo dieſe Oberaufſicht beginnt, theils in dem
Punkte, wo der Selbſtverwaltungskörper den Charakter der ſelbſtän-
digen Verwaltung verliert und zu einem bloßen Organ der Regierungs-
gewalt wird. Wir werden unten ſehen, wie ſich grade dadurch nament-
lich das Gemeindeweſen der großen Länder Europas unterſcheidet —
ſo tief, daß das eine Land das andere nicht mehr verſteht, und dennoch
nur Unterſchiede innerhalb deſſelben Princips. So viel aber leuchtet ein,
daß es gar keine Thätigkeit dieſer Körper geben kann, welche nicht dem
verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechte, damit alſo nicht bloß dem höch-
ſten, wenn auch verantwortlichen Willen der Regierung, ſondern auch dem
Klag- und Beſchwerderecht unterworfen wäre. In der That muß die
Regierung, wenn auch nicht verantwortlich ſein für das, was dieſe
Körper thun, ſo doch für das, was ſie nicht hätten thun oder laſſen
ſollen, ſo weit es das öffentliche Intereſſe betrifft, und dafür ſteht ihr
immer das Recht des Verbots zu; dem Einzelnen gegenüber iſt es
das Klagrecht, das die Geſetzmäßigkeit herſtellt. Sie ſind dem Staat
gegenüber Unterthanen, dem Einzelnen gegenüber amt-
liche Organe
.


3) Das innere Recht dieſer Körper nun iſt inſofern der Ausdruck
des Weſens der Selbſtverwaltung, als daſſelbe die Geſammtheit der
Ordnungen beſtimmt, nach welchen die Einzelnen an dieſem perſönlichen
Leben derſelben Theil nehmen. Die Perſönlichkeit dieſer Körper erzeugt
dabei zuerſt den Satz, daß dieſelben dem Staate analoge Bildungen
entwickeln, und daher eine Verfaſſung mit Geſetzgebung, eine Verwal-
tung mit Regierung und Amt, und endlich ein perſönliches Oberhaupt
haben. Dieſe Grundformen der allgemeinen Perſönlichkeit, das Ich,
[378] der Wille und die That ſind daher unbedingt in dem Selbſtverwal-
tungskörper vorhanden; aber ſie ſind, wie wir ſehen werden, ſehr ver-
ſchieden entwickelt, und müſſen unter den verſchiedenſten Namen auf-
geſucht werden. Dennoch iſt ihre Funktion ſtets im Weſentlichen gleich.
Dieſer Organismus nun iſt dadurch ein freier, daß die Mitglieder
der Selbſtverwaltungskörper ſich jene Organe ſelbſt wählen, und
daher auch dieſelben von ſich ſelbſt abhängig und ſich ſelber verant-
wortlich machen. Nur iſt hier der Unterſchied noch weit größer wie in
den organiſchen Grundformen, was bei der Aufzählung der Haupt-
formen dieſer Körper von ſelbſt verſtändlich wird.


4) Die drei Grundformen dieſer Selbſtverwaltungskörper ſind nun
bekannt genug, und ſollen in ihrer Beſonderheit unten genauer ent-
wickelt werden. Es muß uns daher genügen ſie hier mit wenig Worten
zu charakteriſiren, um nur die Vergleichung der Hauptländer einerſeits,
und den Unterſchied von den Vertretungen andererſeits recht verſtänd-
lich zu machen.


Die erſte Grundform iſt das Land und die Landſchaft. Wir
gebrauchen zunächſt dieſen allgemeinen Namen, weil er den Gegenſtand
am beſten bezeichnet. Es iſt dieſelbe, die auf der theils hiſtoriſchen,
theils natürlichen Gleichartigkeit der Bedingungen und Ordnungen des
geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Lebens entſtandene Gemeinſchaft
gewiſſer theils ſocialer, theils volkswirthſchaftlicher Thatſachen, Intereſſen
und Aufgaben, welche als Objekt der Thätigkeit der Selbſtverwaltung
den Organismus der Landſchaft oder der Landſtände erzeugen.


Die zweite Grundform iſt dagegen die Gemeinde, welche eben
auf der örtlichen Geſtalt und Gemeinſchaft aller Intereſſen ihrer An-
gehörigen beruht, und durch die Verwaltung derſelben den Hauptkörper
der Selbſtverwaltung bildet.


Die dritte Grundform endlich iſt das was wir die Corporation
nennen; ſie entſteht, wo für einen beſtimmten öffentlichen Zweck ein
beſtimmtes Vermögen geſetzt und verwaltet wird.


Alle dieſe Formen haben nun allerdings wieder in den verſchiedenen
Ländern Nebenformen, Uebergangsbildungen, Unterarten; das ſtaatliche
wie das innere Recht derſelben iſt ſehr verſchieden, ſowohl in Princip
als in Ausdehnung; die Stellung, welche ſie einnehmen, iſt deßhalb
zum Theil kaum vergleichbar; dennoch iſt es kein Zweifel, daß wir alle
dahin gehörigen Erſcheinungen auf jene drei Grundformen zurück zu
führen haben.


Der Gegenſtand wird es nun wohl auch hier verzeihlich machen,
wenn wir die bisher dargelegten Elemente in einem Schema dar-
ſtellen, an welches ſich dann wie an ein feſtes Knochenſyſtem die reiche
[379] Lebendigkeit der wirklichen Geſtaltungen anſchließen wird. Dieß Schema
iſt folgendes:


Auf dieſer Grundlage nun werden wir ſogleich zur Vergleichung
übergehen. Allein es wird dennoch die Fragen, die hier entſtehen, er-
klären, wenn wir die hiſtoriſche allgemeine Entwicklung Europas vor-
ausſenden, um daran den Charakter der einzelnen Länder anzuſchließen.


Es iſt bekannt, daß es, abgeſehen von allgemeinen Phraſen, wiſſenſchaftlich
gar keinen Begriff der Selbſtverwaltung gegeben hat, weder in der Rechts-
philoſophie, noch in der Geſchichte, noch in der conſtitutionellen Staatslehre,
noch in dem poſitiven Staatsrecht, noch in der Politik, bis ihm Gneiſt ſeinen
Boden gewonnen hat. Es wird nun darauf ankommen, nachdem über England
nach dieſem ſo hochbedeutenden Manne wenig mehr zu ſagen bleibt, ob es
möglich ſein wird, einen allgemeineren organiſchen Begriff, der zugleich der
Vergleichung dienen kann, durchzuführen. Ob wir ihn richtig hinſtellen, mag
immerhin bezweifelt werden; ganz gewiß iſt nur, daß ohne ihn künftig keine,
den Anforderungen unſerer Zeit entſprechende Staatslehre möglich ſein wird.


IV. Elemente der allgemeinen Geſchichte der Selbſtverwaltung. Weſen
und Bedeutung des hiſtoriſchen Rechts derſelben.


Allerdings beruht die Selbſtverwaltung wie die ſtaatliche Verwal-
tung auf dem Weſen der Perſönlichkeit und des Staatslebens. Allein
wie jene hat ſie ſelbſt doch nur wie ſchon erwähnt eine beſtimmte orga-
niſche Funktion im Staate zu erfüllen. Sie iſt in dieſem Sinne ein
ethiſches Element in demſelben. Ihr poſitives Recht, ihre Geſtalt und
ihre Geſchichte hängen daher von dieſer Funktion ab; wir dürfen ſie
daher wiederholen.


Die Idee der freien Verwaltung fordert eine Theilnahme des Staats-
bürgerthums an der Vollziehung des Staatswillens. Dem abſtrakten
Principe gemäß ſoll der freie Staat dieſe Theilnahme geſetzlich auf der
Grundlage der obigen organiſchen Elemente ausbilden und herſtellen,
ſo daß die Selbſtverwaltung ein geſetzlicher, verfaſſungsmäßig beſtehender
Organismus wäre. Allein die innere perſönliche Einheit der Staats-
gewalt iſt zu mächtig, um aus ſich heraus dem Beſonderen eine dauernde
Berechtigung auch in der Verwaltung zuzuerkennen, oder ſie nicht faktiſch
[380] zu beſeitigen, auch wo ſie formell beſteht. Die Selbſtverwaltung und
das in ihr enthaltene Element des freien Staatsbürgerthums wird daher,
der Natur des ganzen Staatsorganismus nach, zu einem bloßen Schein,
der freien Verwaltung, wenn ſie durch nichts anderes geſetzt iſt als
durch den geſetzlich formulirten Willen des Staats. Sie iſt nichts,
wenn ſie auf nichts anderem beruht, als auf ihrer verfaſſungsmäßigen
Formulirung. Das entſcheidende Beiſpiel dafür iſt Frankreichs Selbſt-
verwaltung. Das Princip derſelben beruht auf den obigen Sätzen.


Und hier iſt es nun, wo der von uns aufgeſtellte Unterſchied in
dem allgemeinen Begriffe der Selbſtverwaltung der Unterſchied von Ver-
tretungen und Selbſtverwaltungskörpern, gleich anfangs von großer
Bedeutung, und die Grundlage der Geſchichte wird.


Alle Vertretungen haben nämlich das mit einander gemein, daß
das Bedürfniß nach ihnen und ihrer Thätigkeit ſowohl in der Form der
Räthe, als in der der Kammern, immer weſentlich vom Staate und
ſeiner Regierung ſelbſt ausgeht. Sie entſtehen daher nur da, wo die
Regierung ſelbſt ſie wünſcht, um eine Baſis für ihre verordnende Ge-
walt zu haben. Sie empfangen damit ihr Recht und ihre Aufgabe
auch von der Regierung ſelbſt, welche den Punkt bezeichnet, auf welchen
ſie wirken ſollen. Dazu kommt, daß dieſelben keine Theilnahme an der
wirklichen ausführenden Thätigkeit haben. Der Regierung bleibt damit
das Recht und die Möglichkeit, die Funktion dieſer Organe ſo zu be-
ſtimmen, daß ein Widerſpruch mit ihrem Willen und ihrer Thätigkeit
nicht eintreten kann. Außerdem erſcheinen dieſe Organe der Selbſtver-
waltung doch nur als Mittel für die Aufgaben der Regierung, und
ihre ganze Exiſtenz fällt, wenn kein Geſetz da iſt, das ſie hervorgerufen,
unter die Organiſationsgewalt; exiſtirt dagegen auch ein Geſetz, ſo wird
es doch immer von der Regierung abhangen, wie weit ſie die Meinungen
jener Organe für ihre wirkliche Thätigkeit gebrauchen will oder nicht,
denn nur ſie, und nicht jene ſind verantwortlich.


Es ergibt ſich daraus, daß in dem Gebiete der Vertretungen ein
Kampf zwiſchen dem Staate und der Selbſtverwaltung nicht ſtattfinden
kann, und daß daher auch die geſchichtliche Entwicklung der erſteren ſich
unmittelbar an die Entwicklung des Regierungsſyſtems anſchließt. Sie
ſtehen, ob auch anderer Natur, doch auf demſelben Rechtsboden mit
dem amtlichen Organismus; ſie ſind dann, wie ſchon bemerkt, nur im
weiten Sinne Theile der Selbſtverwaltung, inſofern ſie eben nicht ſelbſt
verwalten, ſondern nur eine Form der Theilnahme des Staatsbürger-
thums an der wirklichen Verwaltung des Staats enthalten. In ihnen
kommt, wie man ſagen kann, zwar der adminiſtrative Werth, aber
nicht das politiſche Weſen der Selbſtverwaltung zur Geltung. Dieß
[381] geſchieht erſt in den Selbſtverwaltungskörpern, und mit gutem Recht
hat man daher auch in ihnen eigentlich die Selbſtverwaltung gefunden;
in ihnen liegt der Schwerpunkt der Geſchichte und der Individualität
des Staats. Und zwar deßhalb, weil ſie nicht auf der Zweckmäßigkeit
oder Intelligenz, ſondern auf einem ſelbſtändigen Fundamente im Or-
ganismus des Staats ſtehen.


Soll nämlich die Selbſtverwaltung eine Wirklichkeit ſein, ſo muß
ſie auf einem Grunde beruhen, der weder für die Regierung, noch ſelbſt
für die Verfaſſung als ein willkürlich antaſtbarer daſteht. Dieſer Grund
iſt weder die Idee der Verwaltung, die beſtritten, noch die Zweckmäßig-
keit, die verſchieden verſtanden werden kann. Es iſt kein anderer als
der des geſchichtlich gewordenen Rechts auf die Selbſtverwaltung, mit
welchem die hiſtoriſchen Verwaltungskörper als ſelbſtändige der ſelbſtän-
digen einheitlichen Perſönlichkeit des Staats in ſeiner einheitlichen Ver-
waltung zur Seite treten. Es kann daher keine wahre Selbſtverwaltung
geben und gibt keine ohne hiſtoriſch gebildete und anerkannte
Rechte
der örtlichen Verwaltungskörper. Dieſe Rechte ſind dann die feſte
Gränze, hinter der ſich die Einzelnen gleichſam ſammeln, um ihre Theil-
nahme an der Verwaltung des Staats im Namen jenes Rechts und
für ihre beſondern Verhältniſſe zu bethätigen. Man kann ſolche Körper
nicht ſchaffen, ſondern nur die gewordenen anerkennen. Die geſetzlich
geſchaffenen behalten nothwendig den Charakter der Gewalt, die ſie
erzeugt; ſie ſind nur dem Namen nach Körper der Selbſtverwaltung,
in der Wirklichkeit ſind ſie Amtsgebiete.


Das hiſtoriſche Recht der Selbſtverwaltungskörper, der Länder,
Gemeinden und Corporationen erſcheint daher nicht bloß als eine That-
ſache, ſondern es erſcheint als ein ethiſches Element des Staatslebens,
welches die objektiv geſicherte Stellung der Selbſtverwaltung erzeugt und
erhält, die ohne ſie auf die Dauer machtlos wäre. Daher ſtammt
eigentlich der Name des hiſtoriſchen Rechts; überhaupt nur die Selbſt-
verwaltung läßt den Begriff des hiſtoriſchen Rechts zu; es iſt mit dem-
ſelben, als einem Recht auf einen Rechtszuſtand auf Grundlage geſchicht-
lich gegebener Thatſachen, für alle andern Rechtsgebiete gar keine Vor-
ſtellung zu verbinden. Und darum fordert und beſitzt das auf dieſe
Weiſe gegebene hiſtoriſche Recht an und für ſich eine Macht, welche
keineswegs bloß auf der Macht des Geſetzes beruht. Es fordert mit
gutem Sinne eine Achtung, die nicht bloß durch ſeinen Inhalt, ſondern
vielmehr durch dieſe ſeine höhere ethiſche Bedeutung und Funktion be-
dingt iſt. Es hat die Fähigkeit in ſich, ſelbſt der Verfaſſungsbildung
als gleichberechtigter Faktor zur Seite zu treten, und darf von ſich
ſagen, daß die Achtung vor ihm eine ſelbſtbedingte Grundlage der
[382] geſunden Staatsordnung iſt. Denn es hat ſeinen Grund in den höhern
Forderungen des geiſtigen Lebens und iſt damit der Ausdruck des auf
ſich ſelbſt ruhenden Rechts auf die Selbſtverwaltung.


Allein dennoch ſind dieſe Körper organiſche Theile des Staats.
Sie werden daher in das allgemeine Leben deſſelben, und insbeſondere
in die Verwaltung mit hineingezogen. Das perſönlich einheitliche Leben
des Staats findet an ihnen einen Widerſtand, den es zu negiren ſtrebt.
So entſteht ein Kampf zwiſchen beiden Elementen. Dieſer Kampf hat
ſeinen beſondern Verlauf wieder nach den drei Grundformen, Land,
Gemeinde und Corporation. Jede derſelben hat ihre eigene Geſchichte.
Aber ſie behalten dennoch etwas Gemeinſames; ſie haben eine gemein-
ſame Geſchichte, in welche ſich die Verhältniſſe der beſonderen Geſchichte
hineinfügen. Und in dieſer tritt wieder die Geſchichte der Geſellſchaft
mit entſcheidender Bedeutung auf. Die ganze Epoche der Geſchlechter-
ordnung erſcheint gar nicht in dieſer Geſchichte. In ihr ſind Staat
und Geſellſchaft noch in keinem Gegenſatz, und eine Selbſtverwaltung
exiſtirt nicht, weil es noch keine eigentliche Verwaltung gibt. Erſt mit
der ſtändiſchen Bildung beginnt jene Geſchichte; dennoch hat die Ge-
ſchlechterordnung das Bewußtſein hinterlaſſen, daß die Selbſtändigkeit
der Verwaltung aller eigenen Angelegenheiten nicht etwa ein beſon-
deres Recht, ſondern der natürliche Zuſtand der Verwaltung ſei. Durch
ſie war daher der Satz feſtgeſtellt, daß ein Unterſchied zwiſchen Selbſt-
verwaltung und Staatsverwaltung niemals aus der Geſellſchaft, ſon-
dern nur aus dem Auftreten der perſönlichen Idee des Staats hervor-
gehen könne. Und darauf beruht die ganze Geſchichte der Verwaltungs-
organiſation, ſpeziell aber die der Selbſtverwaltung.


Das Lehensweſen, als die ſtaatliche Form der ſtändiſchen Ordnung
beginnt mit dem Satze, daß jeder freie Beſitz das Recht habe, ſich ſelbſt
zu verwalten, ſo weit es eine Verwaltung gab. Alle Reiche beſtanden
daher aus lauter ſelbſtändigen Verwaltungskörpern; jeder derſelben hatte
das unzweifelhafte, vom Königthume anerkannte Recht, innerhalb ſeiner
Gränzen alle Aufgaben der Verwaltung, ſo weit ſie da waren, durch
ſich ſelbſt zu vollziehen. Das ward nicht geändert durch das Auftreten
der (ſtädtiſchen) Gemeinden; auch dieſe waren freie Verwaltungskörper,
und ihre Privilegien waren eben Anerkennung dieſer Selbſtändigkeit,
keine Schöpfung derſelben. Dieſelbe Selbſtändigkeit erſcheint da, wo
der Beruf der geſellſchaftlichen Stände, des Wehrſtandes, des geiſtlichen
Standes, des bürgerlichen Standes ſich innerlich ordnet. Obwohl dieſe
Stände die Funktionen der Staatsverwaltung vollziehen, beſtimmen ſie
dennoch ihre eigene Organiſationen und Rechte. Der Staat ſteht, im
Königthume ausgedrückt, nicht bloß ſelbſtändig und geſchieden neben
[383] ihnen; er hat ſeine eigenen Aufgaben, welche aber noch in die Sphäre
jener Selbſtverwaltung nicht hineingreifen. Es iſt die Periode der
Herrſchaft der Selbſtverwaltung.


Die zweite Periode beginnt, wo dieſe ſelbſtändigen einzelnen Körper
ſich allmählig zu einem gemeinſamen Leben vereinigen. In dieſer Ver-
einigung liegt einerſeits der Keim der ſtaatlichen Entwicklung, dann
aber auch der Grund der Bildung eines neuen Organs der Selbſtver-
waltung, der Landſchaft. Während das Königthum allmählig die
Beziehungen und den Streit jener ſelbſtändigen Körper ſeiner einheit-
lichen Thätigkeit in Finanzen, Gericht und Polizei unterwirft, entſteht
in der Landſchaft der Begriff der Landesangelegenheiten. Dieſe
Landesangelegenheiten, verwaltet durch die Landtage, ſind ihrem Um-
fange nach weſentlich unbeſtimmt; denn am Ende beſteht jedes Reich
aus lauter Ländern, und die Gränze zwiſchen Reichs- und Landesſachen
iſt nirgends zu ziehen. Damit aber verſchwindet auch die Gränze zwiſchen
dem Gebiete der Selbſtverwaltung und der ſtaatlichen Verwaltung, und
hier wie immer entſteht der Kampf zwiſchen den Organen, wo die prin-
cipiellen Gränzen ihres Rechts unſicher werden. Jetzt beginnt nun eine
Zeit, die bei aller Verſchiedenheit im Einzelnen dennoch in ganz Europa
denſelben Charakter hat. Die Organe der ſtaatlichen Verwaltung be-
kämpfen, untergraben und vernichten zuerſt die Selbſtverwaltung der
Landtage im Namen des Königthums und des Reiches, dann greifen
ſie entſcheidend auch in die innere Verwaltung der einzelnen Körper
hinein, indem ſie die oberaufſehende Gewalt zu einer wirklichen Ver-
waltungsgewalt machen, die Gränze zwiſchen Geſetzgebung und Verord-
nung aufheben, und ſo die geſammte Verwaltung der Reiche ſich unter-
werfen. Die oberaufſehende Gewalt nämlich wird zu demjenigen Rechts-
titel, vermöge deſſen die Organe der letzteren erſt die einzelnen Thätigkeiten
der erſteren ſich unterordnen, und die Berechtigung fordern, ſie zu ver-
bieten oder zuzulaſſen, dann aber das Recht der körperſchaftlichen Selbſt-
verwaltung überhaupt in Frage ziehen, daſſelbe von der landesherrlichen
Bewilligung abhängig machen, und ſo im Ganzen wie im Einzelnen
ſich an die Stelle der letzteren ſetzen. Es wird durch dieſen Proceß
eigentlich die Form der Selbſtverwaltung und das äußerliche Neben-
einanderſtehen der beiden Organiſationen nicht viel geändert; im Gegen-
theil bleiben für die Organe der Selbſtverwaltung ſogar die Namen
und die nominellen Rechte und Ordnungen beſtehen, wie dieſelben auch
ihre Würde und ihre Symbole behalten; allein weſentlich geändert iſt
das Syſtem des Verwaltungsrechts, indem die Competenz jener Organe
entweder geradezu vernichtet, oder doch derjenigen der landesherrlichen
Behörden ganz unterworfen wird. Bei alledem wird das Princip der
[384] Selbſtverwaltung, das hiſtoriſche Recht, nicht angegriffen. Die Achtung
vor demſelben bleibt und die edleren Grundſätze der Reformen halten
daran feſt, dieß hiſtoriſche Recht mit dem unabweisbar gewordenen Be-
dürfniß der wahren Verwaltung zu vereinigen. Allein die Träger dieſer
hiſtoriſchen Rechte widerſetzen ſich dieſer, bei aller Verderbtheit der Hof-
wirthſchaft dennoch vom Königthum im ganzen achtzehnten Jahrhundert
ernſtlichſt vertretenen Richtung. Sie gebrauchen das große Princip des
hiſtoriſchen Rechts, nicht mehr um das ethiſche Princip der Selbſtver-
waltung gegen die amtliche Verwaltung zur Geltung zu bringen, ſon-
dern um ihre geſellſchaftlichen Vorrechte gegen die Entwicklung der neuen
ſocialen Forderungen, ja gegen die unbedingten adminiſtrativen Bedürf-
niſſe des Staats ſelbſt rückſichtslos zu vertheidigen. Da iſt es, als ob
die Staatsidee im Zorn ihre Gewalt zuſammenfaßte; in Preußen, in
Oeſterreich, in Rußland, ja in Skandinavien und ſogar in einem
ſchwachen Verſuch in Frankreich tritt das Königthum jener Verderbniß
der Selbſtverwaltung entgegen, und zertritt ſie offen, aber zugleich das
Recht der Selbſtverwaltung ſelbſt brechend. Das geſchieht im achtzehnten
Jahrhundert. Nur in England unterliegt das Königthum, und erſcheint
die Thatſache, welche eben England auszeichnet, daß hier die Geſetz-
gebung ſelbſt zur Verwaltung wird. Im übrigen Europa verſchwindet
mit der Selbſtändigkeit des erſteren das Recht des Bürgerthums auf
die letztere. Die Länder, Gemeinden und Corporationen müſſen ſich
beugen; das Königthum greift auf allen Punkten in ihr hiſtoriſches
Recht, ja in den Grundſatz deſſelben ein; die Idee der Selbſtverwal-
tung wird den einen ein Spott, den andern ein Gegenſtand der Ver-
folgung; ſie ſelbſt, da ſie ihre edlere Natur an die Sonderintereſſen
ihrer Vertreter verloren hat, iſt machtlos, und die ſtaatliche Verwaltung
ſteht als Sieger auf den Trümmern der hiſtoriſchen Ordnung der Selbſt-
verwaltung im Namen der Entwicklung der höchſten Geſammtintereſſen,
die Rechte der Sonderintereſſen rückſichtlos vernichtend. Das iſt die
Zeit, die wir als den aufgeklärten Deſpotismus bezeichnen; nicht
wegen ſeiner Zwecke und Mittel, ſondern wegen der grundſätzlichen
Negation des hiſtoriſchen Rechts der Selbſtverwaltung. Die höchſte und
gränzenloſeſte Form deſſelben entſteht aber in der franzöſiſchen Revo-
lution. Der weſentliche Unterſchied derſelben von den königlichen Re-
formen im übrigen Europa des achtzehnten Jahrhunderts beſteht darin,
daß ſie die Selbſtverwaltung und mit ihr die Selbſtändigkeit des Indi-
viduums nicht thatſächlich, ſondern principiell und in der Wurzel ver-
nichtete, indem ſie das Princip der hiſtoriſch berechtigten Verwaltungs-
körper ſelbſt aufhob, und an die Stelle derſelben Amtskörper ſetzte.
Einen Augenblick lang war es die Frage in Europa, ob dieß franzöſiſche
[385] Princip das europäiſche werden ſolle. Und ob man es nun aner-
kennen mag oder nicht — es war Deutſchland, das damals durch
ein wunderbares und doch ſo einfach natürliches Zuſammenwirken
von Staat, Poeſie, Wiſſenſchaft und Volksgeiſt die Idee des hiſtori-
ſchen Rechts und mit ihr das große Princip der Selbſtverwaltung ge-
rettet hat. Noch immer hat man dieſe Epoche der Romantik und der
hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht ganz verſtanden. Sie kann erſt klar werden
mit dem Inhalt der Lehre von der Selbſtverwaltung, die in Deutſchland
für Europa erhalten wurde. Durch Deutſchland überdauerte ihr
Princip die napoleoniſche Zeit, und iſt jetzt ein Grundſtein der orga-
niſchen Geſtaltung des Verwaltungsorganismus geworden, der nicht
wieder verloren gehen wird.


Mit dem gegenwärtigen Jahrhundert hat nun die Selbſtverwaltung
auf dieſer Baſis eine feſte Geſtalt gewonnen. Allein wie die großen
bewegenden Elemente der Selbſtverwaltung, die geſellſchaftliche Ordnung
und die Entwicklung der Staatsidee, ihrerſeits tief verſchieden ſind
auf gleicher Grundlage in den verſchiedenen Landen Europas, ſo iſt
nun auch die Selbſtverwaltung eine weſentlich verſchiedene. Wir haben
ſchon geſagt, daß die Individualität der Staaten ſich vielmehr gerade
in der Selbſtverwaltung, als in irgend einem andern Theile des Lebens
zeigt. Wir wollen den Verſuch machen, ſie hier darzulegen. Allerdings
beruht der Kern derſelben dabei in dem Selbſtverwaltungskörper; aber wir
dürfen Umfang und Thätigkeit der erſteren niemals durch die letzteren
erſchöpfen wollen. Sie bildet ein Ganzes, zu welchem das Verhältniß
der Vertretungen nothwendig hinzugehört, denn es iſt aus denſelben
Elementen mit dem Verwaltungskörper entſtanden, und man wird daher
niemals ein Bild von dieſem hochwichtigen Theile des europäiſchen
Lebens haben, ohne die Vertretungen und die Körper in ihrem orga-
niſchen Ineinandergreifen zu erfaſſen. Das iſt die Aufgabe des Fol-
genden; an ſie ſchließt ſich dann die Charakteriſtik der einzelnen
Selbſtverwaltungskörper. Beide aber müſſen auf die oben aufgeſtellten
allgemeinen, und daher für alle Formationen gültigen Kategorien zurück-
geführt werden.


V. Die drei großen Culturſtaaten.


a) Die Selbſtverwaltung Englands.

Wir ſind gewohnt, England als die eigentliche Heimath der Selbſt-
verwaltung anzuſehen, und mit Recht. Auch der Name ſtammt aus
England. An England lernen wir gerade in der Selbſtverwaltung,
was ein großes Volk vermag, indem es ſich ſelber für ſeine eigene
Stein, die Verwaltungslehre. I. 25
[386] Verwaltung verantwortlich macht. Wir lernen aber auch an ihm, wo die
Gränze desjenigen iſt, was dieſe Selbſtverwaltung leiſten kann. Wir
bewundern es vielleicht nach der einen Seite hin noch immer nicht ge-
nug, denn wir vermögen es noch immer nicht ihm in der ſtaatlichen
Energie der Einzelnen gleich zu thun; wir bewundern es aber gewiß
nach einer andern Seite hin zu viel, denn wir ſind auch hier geneigt,
das Eigene, Große und Gute neben dem Fremden gering zu achten.
Wir müſſen daher, von der Selbſtverwaltung redend, den Verſuch
machen, nicht bloß ein vollſtändiges Bild derſelben zu entwerfen, ſon-
dern auch die große Mannigfaltigkeit ſeiner Theile auf einfache und für
ganz Europa gemeingültige Grundlagen zurückzuführen, und ſo England
nicht mehr bloß durch England, ſondern durch die Staatenbildungs-
geſetze zu verſtehen, welche die menſchliche Welt ewig beherrſchen werden.


Die innere Geſchichte Englands ſetzen wir als bekannt voraus.


Der innere Entwicklungsgang dieſer Geſchichte hat nun dem König-
thum niemals dieſelbe Macht verliehen, die es auf dem Continent hatte.
Geſetz und Verordnung ſind niemals verſchmolzen, ſondern das Volk
hat ſich ſelbſt ſeine Geſetze gegeben. Es möge uns dabei die Thatſache
genügen, daß dem ſo iſt. Aus dieſer Thatſache geht nun das erſte
große Princip des engliſchen Staatslebens hervor, das früher oft ge-
trübt, doch ſeit hundert Jahren in ganz unzweifelhafter Geltung beſteht,
daß nämlich die Staatsgewalt nur zu denjenigen Thätigkeiten ein Recht
hat, welche auf einem formellen Geſetze, oder dem common law be-
ruhen. Die ſtaatliche Verwaltung hat nur die Ausführung der Geſetze
zu vollbringen und zu verantworten. Daraus folgt, daß dieſelbe im
Namen der abſtrakten Staatsidee, ihrer Lebensbedingungen und Forde-
rungen, niemanden zu etwas auf dem Verwaltungswege zwingen kann,
wozu derſelbe nicht auf dem Wege der Geſetzgebung gezwungen iſt. Die
Verwaltung exiſtirt daher nur ſo weit, als ſie Geſetzgebung iſt,
und die Ausführung jedes Verwaltungsaktes gegen den Einzelnen iſt
daher im Grunde die Execution eines, auf ein ſolches Geſetz geſtützten
richterlichen Urtheils.


Daraus nun folgt, daß wo immer ſich allgemeine Bedürfniſſe zeigen,
dieſelben niemals durch Regierungsbehörden erfüllt werden können und
dürfen, wenn nicht die Geſetzgebung darüber geſprochen hat. Sollen
ſie daher dennoch erfüllt werden, ſo müſſen die Einzelnen ſelbſtthätig
die Funktionen übernehmen, welche im Begriffe der Regierung liegen,
wenn ſie nicht wollen, daß ſie ganz unterbleiben. Sie müſſen die ge-
ſammte Regierungsgewalt örtlich übernehmen, damit ſie überhaupt aus-
geübt werde. Sie ſind daher nicht ein Complement der Regierung und
ihres Amtsorganismus, ſondern ſie ſind dieſe örtliche Regierung
[387] ſelbſt
. Sie ſind es aber auch nicht etwa aus ganz freien Stücken.
Sondern wenn das Parlament ein Geſetz über die inneren Angelegen-
heiten erlaſſen hat, ſo muß es auch befolgt werden; das iſt, es kann
jeder Einzelne gegen jeden Selbſtverwaltungskörper eine civilrechtliche
Klage anſtellen wegen Nichtbefolgung des Verwaltungsgeſetzes. Die
Einzelnen müſſen daher die örtliche Regierung übernehmen; ſie können
mit dem gewöhnlichen Klagrecht dazu gezwungen werden, die örtliche
Regierung zu ſein
. Und die Geſammtheit der daraus entſtehenden
Funktionen und Organismen nennen wir das Selfgovernment, die
eigentliche Selbſtverwaltung Englands.


Wie daher die engliſche Selbſtverwaltung von dieſer Seite kein
Princip, ſondern eine Conſequenz iſt, ſo iſt ſie es auch von der anderen.
Da die Geſetzgebung in England zugleich die ganze Verwaltung be-
ſtimmt, und ſich auch das Verordnungsrecht vorbehält, ſie ſelbſt aber
wieder aus den Wahlen der Einzelnen hervorgeht, ſo iſt es natürlich,
daß dieſe Einzelnen ſtreben, auf dieſe Willensbeſtimmungen des Parla-
ments auch in Beziehung auf die Verwaltung einen unmittelbaren Ein-
fluß zu gewinnen. Der Weg dazu iſt die Verſammlung und die
Petition
. Das Verſammlungs- und Petitionsrecht in ſeiner voll-
kommen freien und großartigen Anwendung in England iſt eben daher
im Grunde ein organiſcher Theil der Selbſtverwaltung. Die Geſetz-
gebung iſt nicht gezwungen, nicht einmal verpflichtet, auf die Bedürfniſſe
des Lebens der Bevölkerung Rückſicht zu nehmen, wenn ſie nicht will.
Dennoch hat ſie allein das Recht, durch ihre Geſetze den Bedürfniſſen
abzuhelfen. Eine Regierung, welche das lebendige und verantwortliche
Haupt der inneren Verwaltung wäre, und welche daher ihrerſeits die
Verpflichtung fühlte, jene Bedürfniſſe zum Ausdrucke und zur Geltung
zu bringen, gibt es nicht. Die Regierung hat eben wie ſchon früher
geſagt, keine Behörden im continentalen Sinne; dafür aber kann auch
niemand ſie verantwortlich machen, wenn die Dinge ſchlecht gehen, und
niemand thut es. Wenn daher den Anforderungen der Verwaltung
Genüge geſchehen ſoll, ſoweit dieſelben über den Kreis der örtlichen
Selbſtverwaltungskörper hinausgehen, ſo müſſen ſich wieder die Ein-
zelnen ſelbſt darum kümmern, und als Ganzes ſolche Bedürfniſſe aus-
ſprechen; ſie ſind eben ſich ſelber verantwortlich. Die Form, in der
das geſchieht, iſt eben die Verſammlung und die Petition. Verſamm-
lungen, Vereine, Petitionen ſind daher in England ganz etwas anderes
als auf dem Continent. Sie ſind organiſche Faktoren der Ver-
waltung
. Sie ſind die Organe, welche auf dem Continent theils durch
Räthe und Kammern, theils durch die Behörden erſetzt ſind; ſie ſind
das Mittel, die Geſetzgebung — nicht wie auf dem Continent die
[388]Regierung — über die Zuſtände und Bedürfniſſe aufzuklären, und
die Initiative in der Bildung der Verwaltungsgeſetzgebung zu ergreifen,
da es für dieſe Dinge kein anderes berechtigtes Organ gibt, als den
Einzelnen. Der Gedanke, daß Verſammlungen, Vereine und Petitionen
einer Regierung Oppoſition machen und eine Art von adminiſtrativer
Anklage enthalten — ein Gedanke aus dem die eigentliche Oppoſition
gegen jenes Recht hervorgeht — exiſtirt in England nicht. Sie
ſind nur im Verhältniß zum Parlament als höchſter Verwaltungskörper
für das Verwaltungsrecht zu denken. Sie ſind daher die Formen der
„Vertretung“ in England; ohne ſie iſt eine große und gefährliche Lücke
im Syſtem des engliſchen Lebens; ſie ſind nicht etwa bloß ein Recht
des freien Staatsbürgers, ſondern eine Nothwendigkeit des Staats-
lebens; ohne ſie iſt die Verwaltung in England gar nicht denkbar, da
die Regierung ſowohl als die Selbſtverwaltungen nur das thun, was
die Geſetzgebung vorſchreibt, dieſe aber aus dem Einzelnen hervorgeht.
Während der Continent ſie durch die Thätigkeit der Behörden und durch
die Verantwortlichkeit derſelben erſetzt, daß nichts Nothwendiges unter-
bleibe, ſind ſie in England geradezu unerſetzlich, und müſſen daher mit
dem Parlamente zugleich als ein organiſches Glied der Selbſtverwaltung
im weiteſten Sinne betrachtet werden.


So erſcheint auch die Selbſtverwaltung Englands in denſelben
zwei großen Funktionen und Organen, welche durch das Weſen der Selbſt-
verwaltung überhaupt gegeben ſind, den Vertretungen und den Selbſt-
verwaltungskörpern. Allein die erſteren ſind dennoch mit dem Ver-
ſammlungs-, Vereins- und Petitionsrecht der Einzelnen und dem Ver-
waltungs- oder eigentlich Verordnungsrecht des Parlaments, die der
Geſetzgebung, nicht ganz erſchöpft.


Wir haben ſchon bemerkt, daß die Räthe und die Kammern ein
amtliches Element in ſich haben, obgleich ſie vermöge ihrer Zuſammen-
ſetzung der Selbſtverwaltung angehören; denn ſie ſind beide aus unab-
hängigen Mitgliedern zuſammengeſetzt. Wo daher das engliſche Staats-
leben mit ſeiner unſelbſtändigen Staatsverwaltung dennoch allmählig
gewiſſe große Geſammtaufgaben der Verwaltung nicht mehr bloß den
Selbſtverwaltungskörpern überlaſſen konnte, da griff es, um das Amt
und mit dem Amte die Selbſtändigkeit der Verwaltung zu vermeiden, zu
dem Syſtem, die höchſte Adminiſtration der Reichsangelegenheiten des
Inneren ſtatt wie auf dem Continent einem Miniſterium, vielmehr
einem Rathe anzuvertrauen. So entſtand das, für England eigen-
thümliche, und dennoch ſeiner ganzen Individualität entſprechende Ver-
hältniß, nach welchem wir eine Reihe höchſter Räthe an der Stelle der
Miniſterien entſtehen ſehen, welche die Form der Selbſtverwaltung, den
[389] Inhalt der amtlichen Verwaltung haben. Sie unterſcheiden ſich weſent-
lich von den Räthen des Continents dadurch, daß ſie nicht etwa einem
amtlichen Organe untergeordnet, ſondern eigentlich ſelbſt das amtliche
Organ ſind, und daher ſelbſt für gewiſſe Gebiete die höchſten Stellen
bilden. Es iſt das Ganze im Grunde nichts anderes, als das Collegial-
weſen, das den verfaſſungsmäßigen Miniſtern auf dem Continent vor-
aufging (ſ. oben). Sie ſind ſelbſt wieder theils Unterabtheilungen des
Staatsrathes, theils ſelbſtändige Räthe. Gneiſt hat uns zuerſt ein klares
Bild von dieſen Verhältniſſen gegeben. Wir werden ſie ſogleich aufführen.


Während nun auf dieſe Weiſe das erſte Element der Selbſtver-
waltung, die Vertretungen, eine höchſt eigenthümliche Geſtalt haben,
iſt dieß nicht weniger der Fall mit dem zweiten Element, den Selbſt-
verwaltungskörpern
.


Allerdings ſehen wir auch hier die drei Grundformen herrſchend
hervortreten. Allein nicht bloß daß das, was wir die Landſchaft nennen,
in der County Englands und in dem Friedensgericht als Bezirk der
Selbſtverwaltung eine ganz andere Geſtalt haben, auch die Gemeinde
iſt eine andere, während endlich die Körperſchaft eine weit größere
Selbſtändigkeit hat als auf dem Continent. Wir haben das ſpezielle
Verhältniß derſelben unten darzuſtellen. Es wird aber von nicht geringem
Intereſſe ſein, den allgemeinen Charakter dieſer Körper ſchon hier als
einen weſentlichen Beitrag zur Individualität Englands zu bezeichnen.


Die Selbſtverwaltungskörper in England ſind nämlich nicht wie
in Frankreich aus dem Gedanken einer zweckmäßigen Organiſation für
die Zwecke der ſtaatlichen Verwaltung entſprungen, und beruhen auch
nicht wie in Deutſchland in ihrem Umfang und Inhalt auf dem hiſto-
riſchen Recht auf Selbſtverwaltung. Sondern, da die Staatsverwaltung
für die innere Verwaltung nichts thut und rechtlich nichts thun darf,
dennoch aber die Verwaltungsgeſetze einerſeits befolgt werden müſſen,
andererſeits die Bedürfniſſe nicht abzuweiſen ſind, ſo haben ſich dieſe
Selbſtverwaltungskörper weſentlich an die Aufgaben der örtlichen Ver-
waltung ſelbſt
angeſchloſſen, und beſtehen daher nicht ſo ſehr als
örtlich, ſondern vielmehr als ſachlich berechtigte Organe; d. h. es
ſind lauter ſelbſtändige Selbſtverwaltungsorgane entſtanden, die nicht
zuſammen eine organiſche Einheit bilden, wie die Gemeinde in Deutſch-
land, ſondern für jede Aufgabe hat ſich innerhalb der rein örtlichen,
territorialen Gränzen von Landſchaft und Gemeinde ein eigenes Organ
durch Wahlen gebildet, welches aber deßhalb auch nicht an eine Gemeinde,
oder an die County gebunden iſt, ſondern vielmehr ſeinen Wirkungskreis
nach dem Bedarf der Verhältniſſe entweder bei dieſen ſtehen bleibt,
oder die ganze Landſchaft umfaßt, ohne daß dieſe Organe wieder unter
[390] einem gemeinſchaftlichen Haupt ſtänden, und als Vollzugsorgane einer
Geſammtberathung erſchienen, wie etwa die Magiſtrate unſerer Städte.
Das Recht zur Bildung dieſer Organe beruht ferner nicht etwa auf
einem Geſetze oder auf einer hiſtoriſchen Thatſache, wie bei Stadt und
Land des Continents, ſondern auf dem hiſtoriſch gültigen Princip, daß
die Mittel für die Erfüllung jener Thätigkeit durch Selbſtbeſteurung
aufgebracht werden. Daraus entſteht der, für die ganze Selbſtverwal-
tung Englands gültige Grundſatz, daß jeder Verwaltungsaufgabe
eine eigene Steuer
entſpricht, und daß jeder Selbſtverwaltungs-
körper wieder als ein eigener Steuerkörper erſcheint. Steuer
und Selbſtverwaltung ſind daher in England gar nicht zu trennen;
das Steuerſyſtem iſt zugleich das innere Verwaltungsſyſtem, und das
Recht zur Theilnahme an der Wahl der Verwaltungskörper beruht auf
der Verpflichtung, für ihre Thätigkeit beizutragen. Es iſt klar, daß
dadurch die innere Selbſtverwaltung ein viel größeres Maaß von Selb-
ſtändigkeit hat, als auf dem Continent: allein es iſt keine andere Ge-
währ für die tüchtige Verwaltung ſelbſt vorhanden, als die lebendige
Theilnahme und Tüchtigkeit der Wähler ſelbſt. Darin beruht ihr Werth
und darin auch ihre Gefahr.


Faßt man nun dieß zuſammen, ſo ſieht man wie die Selbſtver-
waltung in England nicht bloß eine eigenthümliche Geſtalt darbietet,
ſondern auch einen ganz anderen Proceß zeigt wie auf dem Continent.
Vortrefflich hat dieß Toqueville in ſeiner Démocratie de l’Amérique
dargeſtellt, indem er das Weſen der nordamerikaniſchen Selbſtverwaltung
an die engliſche anſchließt I. 93 ff. Die Thätigkeit der Selbſtverwaltung
beruht hier nicht auf Befehl, Gebot und Genehmigung, ſondern ſie iſt
eine Vollziehung eines Geſetzes, und ſteht unter dem Klagrecht; ſie iſt
keine amtliche, ſondern eine perſönliche; ſie geſchieht ohne Behörden, aber
ſie iſt dafür auch nur vom örtlichen Intereſſe beherrſcht. Die ſchemati-
ſchen Grundzüge dieſer Selbſtverwaltung wären demnach etwa folgende:

[391]
b) Die Selbſtverwaltung Frankreichs.

Wenn unſere allgemeine Bemerkung richtig war, daß die Indivi-
dualität der Staatenbildung gerade in der Selbſtverwaltung am deut-
lichſten hervortritt, ſo muß der Unterſchied zwiſchen der Selbſtverwaltung
Frankreichs und Englands in Form wie in Charakter ein ungemeiner
ſein. Denn mit Recht nimmt man an, daß keine zwei Staaten der
Welt tiefer von einander verſchieden ſind als dieſe beiden.


Und dieß nun iſt in der That der Fall. Indem wir die frühere
Geſchichte Frankreichs dabei zur Seite laſſen, und nur im Allgemeinen
erinnern, daß dieſelbe in Beziehung auf den Charakter der Verwaltung
von der gegenwärtigen gar nicht ſo weſentlich abweicht, wollen wir
dieſen Charakter der Verwaltung nach der Revolution und ſpeziell ihr
Verhältniß zur Selbſtverwaltung kurz ins Gedächtniß rufen.


Die Revolution, wie bekannt, brach in Paris aus, nicht in
Frankreich. Sie war der Ausdruck eines großen, aber abſtrakten
Princips. Sie brachte daher ſeit ihrer Geburt jenen Haß gegen die
Thatſachen und ihre Beſonderheiten mit ſich, den der Gedanke um ſo
ſchwerer überwindet, je größer er iſt. Der Kampf mit dieſen That-
ſachen aber ſollte dem revolutionären Princip nicht erſpart werden. Es
iſt aber ſehr nothwendig, ſich über das klar zu ſein, was wir hier als
die Thatſachen bezeichnen, welche der Revolution entgegentraten.


Dieſe Thatſachen waren nichts anderes, als die Macht und die
Intereſſen der hiſtoriſchen Zuſtände im Innern Frankreichs, die recht-
liche und faktiſche Herrſchaft des Adels auf dem flachen Lande, und der
Zünfte und Innungen in den Städten. Die letzteren hatten unter
Turgots Miniſterium ihren erſten Kampf zu beſtehen, und ſiegten; ſie
vernichteten mit dem Edikt von 1776 über die Gewerbefreiheit auch
den Miniſter, der ſie im Namen der phyſiokratiſchen Theorie durchführen
wollte. Die erſteren waren bis zur Revolution gar nicht angegriffen.
Das Princip der Freiheit und Gleichheit hob nun beide allerdings
grundſätzlich auf, und die Nacht des vierten Auguſts 1789 ſprach dieſe
grundſätzliche Aufhebung aus. Allein daß damit erſt der Anfang
der geſellſchaftlichen Umgeſtaltung gegeben ſei, darüber war ſich alles
klar. Bei aller Anerkennung der Freiheit blieb die materielle und
zum Theil auch traditionelle Macht in den ſtändiſchen Elementen,
dem Adel, der Geiſtlichkeit, den ſtädtiſchen Patriziern. Hätte das
Princip der Freiheit die Selbſtverwaltung in Frankreich
erzeugt, wie ſie in England beſtand, ſo wäre es eben ſelbſt
vor der Hand ein Princip geblieben
. Das fühlte man ſchon
mit vollkommener Deutlichkeit im Jahre 1789, mehr noch im Jahre 1790.
[392] Man wußte in Paris ſehr gut, daß wenn man die Ausführung
der Geſetze in die Hände der Communen und Departemente legte,
dieſe Ausführung durch die Intereſſen und die Macht der Theilnehmer
an der Selbſtverwaltung niemals mit den Geſetzen in Harmonie ſein
würden. Es ließ ſich ſogar mit aller Beſtimmtheit vorher berechnen,
daß in einzelnen Theilen Frankreichs dieſe Selbſtverwaltung, wenn
man ihr eine entſcheidende Stimme gab, gerade das Gegentheil von den
erlaſſenen Geſetzen hervorbringen werde. Und dieſe Auffaſſung gewann
nur zu ſehr ihre volle Beſtätigung, als die Erhebungen im Süden
Frankreichs, in der Vendée, und namentlich als die Verſuche der
Gironde, Frankreich gegen Paris ins Feld zu führen, mit Schwert
und Feuer unterdrückt werden mußten. Die Selbſtverwaltung wäre
eine Organiſirung und Legaliſirung des Vernichtungskampfes des hiſto-
riſchen Rechtes gegen das geſetzliche geworden; die Aufſtellung beſchließen-
der Selbſtverwaltungskörper hätte eben ſo viel Feſtungen der dem
Untergange geweihten geſellſchaftlichen Ordnungen der früheren Jahr-
hunderte geſchaffen; die Geſetze der Pariſer Volksvertretung wären
durch die örtlichen Volksvertretungen in ihrer ganzen Verwirklichung
vernichtet worden, denn der Charakter der letzteren und namentlich der
Landſchaft, den Ausdruck und die Geltung der ſocialen Elemente zu
bilden, iſt ein unabänderlicher.


Es blieb daher nur Eins übrig, und dieß Eine große Princip iſt
es, das uns die ganze innere Verwaltung Frankreichs, ihr Syſtem und
ihr Recht im Einzelnen wie im Ganzen erklärt: die geſetzgebende Ge-
walt mußte die Ausführung ihrer Geſetze ſelbſt in die Hand
nehmen
. Sie mußte aus ſich ſelbſt eine Verwaltung erzeugen, die
nicht einmal verpflichtet war, dem örtlichen Gerichte Rede zu ſtehen,
ſondern die auch im Einzelnen, auch für die einzelnen Handlungen der
ausführenden Organe nur dem geſetzgebenden Körper verantwortlich
war. Nur durch dieſe grundſätzliche Beſeitigung jeder praktiſchen Be-
rechtigung der örtlichen Selbſtverwaltung war eine Sicherheit für die
wirkliche und rückſichtsloſe Ausführung der neuen Geſetze zu gewinnen.
Wie das Geſetz, ſo mußte auch die Verwaltung rückſichtslos gegen jede
Selbſtändigkeit vorgehen; wie jenes, ſo mußte dieſe vom Mittelpunkt
aus alleinherrſchend Frankreich ordnen, und das verfaſſungsmäßige
Leben mußte ſeine Sicherung allein in der Unterwerfung der oberſten
Spitzen der Verwaltung unter die Geſetzgebung finden, die wieder ohne
eine Unterwerfung aller Verwaltungsorgane unter die erſteren nicht
denkbar war.


Auf dieſe Weiſe erzeugte die Despotie des abſtrakten Princips
eine gleiche Despotie der Vollziehung. Die Selbſtverwaltung war in
[393] unſerem Sinne geradezu unmöglich; ja, ſchon im Jahre 1790 führten
die Geſetze vom 16 — 20. Auguſt, wie ſchon oben erwähnt, den Ge-
danken durch, daß die vollziehende Gewalt nicht einmal bei Verletzun-
gen des bürgerlichen Rechts auf dem Wege der Klage vor den Gerich-
ten, ſondern nur auf dem Wege der Beſchwerde vor ihren eigenen
höheren Stellen, dem Miniſter und dem Conseil d’État belangt werden
konnten. In der That, wohin wäre die Revolution gelangt, hätte
man bei den Confiskationen und Hinrichtungen durch die Commiſſäre
erſt vor dem Gerichte einen Proceß führen müſſen — was hätten die
Aſſignaten bedeutet, wenn die Titel des Beſitzes der Nationalgüter ge-
richtlich hätten konſtatirt werden ſollen?


Dennoch ließ ſich andererſeits die zweite Anwendung des Princips
der Freiheit, die grundſätzliche Theilnahme des Staatsbürgers auch an
der vollziehenden Gewalt nicht beſtreiten. Es wäre ein zu ſchreiender
Widerſpruch geweſen, jedem Staatsbürger durch freie Wahl volle Be-
theiligung an der Geſetzgebung zu verleihen, und daneben die Verwal-
tung als eine, von jeder ſolchen Betheiligung ausgeſchloſſene Potenz
hinzuſtellen. Auch dieß Gefühl war lebendig genug, um ſeine volle
und grundſätzliche Anerkennung zu finden. Es kam daher jetzt nur
darauf an, einen Mittelweg zu finden, einen Weg, auf welchem man
die volle und freie Selbſtthätigkeit der Verwaltung erhalten und dennoch
dem Staatsbürgerthum einen Antheil an derſelben geben könne. Dieſer
Mittelweg mußte der ganzen Selbſtverwaltung Frankreichs ihren Cha-
rakter geben. Und man hat ihn gefunden, indem man an die Stelle
der eigentlichen Selbſtverwaltung das ächt franzöſiſche Syſtem der
Conseils geſtellt hat.


Es iſt ganz nothwendig, ſich über das Weſen dieſer, das ganze
Verwaltungsſyſtem Frankreichs durchdringenden Conseils klar zu ſein;
denn in ihnen beruht eigentlich die Individualität des franzöſiſchen
Verwaltungsorganismus, ſie ſind das Beiſpiel für viele ähnliche Inſti-
tute, das Muſter für viel Gutes auf dem übrigen Continent geworden,
während derſelbe neben ihnen noch ſeine eigenthümliche Selbſtverwal-
tung beibehalten hat. Sie bilden die zweite große Grundformation der
Selbſtverwaltung überhaupt, und werden es thun für alle Zeiten.


Der Begriff der franzöſiſchen Conseils enthält nämlich zuerſt eine,
auf ganz oder doch theilweiſe freier Wahl beruhende Organiſation eines
vorzugsweiſe berathenden Körpers an der Seite eines voll-
ziehenden amtlichen Organes
. Das Conseil kann auch in ge-
wiſſen Punkten eine beſchließende Gewalt haben; allein erſtlich ſind dieſe
Punkte ſtets ſehr untergeordneter Natur, andererſeits ſteht jeder Beſchluß
wieder unter Verbot und Genehmigung der höheren Behörde. Der
[394] Begriff der franzöſiſchen Conseils iſt daher der eigentlich organiſche
Ausdruck der Selbſtverwaltung in Frankreich; indem er die freie Be-
theiligung des Einzelnen durch Wahl und Wählbarkeit an der Voll-
ziehung zuläßt, hemmt er dennoch dieſe Vollziehung durch das Verwal-
tungsorgan nicht, da er nur den Rath zu geben hat. Auf dieſen Rath
aber hat er ein geſetzliches Recht; in dieſem geſetzlichen Rechte ruht
ſeine Selbſtändigkeit; aber mit dem Rathe iſt auch das Recht faſt
immer erſchöpft; die Differenz, welche zwiſchen der bloß berathenden
und vollziehenden Gewalt liegt, füllt, müſſen wir ſagen, der Gedanke
aus, daß ein vernünftiger Rath von der betreffenden Behörde gewiß
gehört werden wird, während andererſeits da, wo die wirkliche Voll-
ziehung dieſem Organe verliehen wurde, auch die Verantwortlichkeit der
Vollziehung gegenüber der Geſetzgebung aufhören müßte. Von dieſen
Sätzen aus liegt nun die Conſequenz nahe, daß ein ſolcher Nath, eben
weil er nirgends ſtört, auch allenthalben ſehr heilſam wirken und
das Gefühl der Selbſtverwaltung auf allen Punkten anerkennen
muß. Es iſt daher leicht verſtändlich, daß man allerdings zuerſt das
Syſtem der Conseils an die Stelle der Selbſtverwaltungskörper ſetzte
und ſtatt der Landſchaften, Kreiſe und Gemeinden drei Arten von
Conseils aufſtellte, welche neben den Behörden, dem Préfet, sous-préfet
und Maire hingeſtellt, den Organismus der eigentlichen Selbſtverwal-
tung in innigſter Verſchmelzung mit der Behörde bilden; daß man
dann den Gedanken feſthielt, auch die Verwaltung als Ganzes unter
einen ſolchen Rath zu ſtellen und ſo den Conseil d’État ſchuf; und
daß man endlich auch den Funktionen der einzelnen Verwaltungs-
zweige
gleichartige Conseils zur Seite gab, gleichſam ein Collegial-
ſyſtem neben dem Miniſterialſyſtem. So iſt allmählig — denn dieſe
letzte Gruppe der Conseils hat ſich erſt langſam ausgebildet und iſt
zum Theil noch immer in weiterer Fortbildung begriffen — ein, die
ganze Adminiſtration umfaſſendes und durchdringendes organiſches Syſtem
von Conseils entſtanden; und dieſes Syſtem vonConseilsiſt die
franzöſiſche Selbſtverwaltung
.


Es iſt daraus nun zuerſt klar, daß neben einem ſolchen Princip
und Syſtem das Verſammlungs-, Vereins- und Petitionsrecht als
Element der Selbſtverwaltung faſt verſchwinden muß, obwohl ſie for-
mell in allen Conſtitutionen und zuletzt noch in der Conſtitution von
1852 Art. 43 aufrecht gehalten ſind (ſ. oben). Die formelle Selbſtän-
digkeit der franzöſiſchen Adminiſtration, die ſich nicht einmal den Ge-
richten unterwirft, kann ſich noch viel weniger den Volksverſammlungen
unterwerfen. Die Verantwortlichkeit der Miniſter aber iſt ja ohnehin
durch ihre Gewalt über die ganze Verwaltung begründet und durch die
[395] Volksvertretung möglich gemacht; und die Intereſſen aller Einzelnen
ſind in den, alle bureaux begleitenden Conseils ja ausreichend ver-
treten. Eine Verſammlungs- und Petitionsgewalt in adminiſtrativen
Dingen, in England natürlich und ſogar nothwendig, erſcheint in
Frankreich unorganiſch und gefährlich; es iſt daſſelbe an und für ſich
ein Widerſpruch mit dem ganzen Syſtem der Verwaltung; es kann
daher faktiſch auch nie mit einem Anklageakt gegen das Miniſterium auf-
treten, und da dieſer der Volksvertretung vorbehalten iſt, ſo iſt in der
That kein Raum da für daſſelbe. An dieſe Auffaſſung muß man ſich
gewöhnen; Verſammlungen und Petitionen ſind in Frankreich nicht in
engliſcher und deutſcher Weiſe denkbar; ſie ſind im Widerſpruch nicht
gerade mit dem Rechte der Regierung, ſondern mit dem Syſtem und
Princip der Verwaltung, und ihre wirkliche Ausübung erſcheint daher
immer nur als ein Geſuch im beſtimmten Intereſſe einzelner Angele-
genheiten und wird auch als ſolches behandelt.


Dagegen mußte bei dieſer Identificirung des Syſtems der Conseils
mit der Selbſtverwaltung allerdings die Frage beantwortet werden, in
welchem Verhältniß denn nun das Recht dieſer Conseils zu dem der
Staatsbeamteten ſtehe. Und hier nun zeigt ſich der Unterſchied der
Vertretungen von den Selbſtverwaltungskörpern ſchlagend in einer
Form, in der man ihn vielleicht am wenigſten erwartet. Das klare
und praktiſche Verſtändniß der Franzoſen hat ſie nämlich gleich bei der
Begründung des Syſtems der Conseils dahin geführt, das Recht der-
jenigen Conseils, welche an der Stelle der Selbſtverwaltungskörper fun-
giren, weſentlich anders zu formuliren als das Recht derjenigen, welche
nur Vertretungen ſind. Die letzteren haben überhaupt nur Gutachten
zu geben, und zwar, wie es natürlich iſt, in den in ihrer Organiſation
ihnen vorgeſchriebenen Fällen; ils sont appellés à donner avis. Die-
jenigen Conseils dagegen, welche der örtlichen Verwaltung bei-
gegeben ſind, nehmen gleich anfangs den Charakter von Selbſtverwal-
tungskörpern an; es iſt unmöglich, ſie als bloß berathende Organe
hinzuſtellen; ſie müſſen, um ihrer Idee zu entſprechen, irgend eine
freie Selbſtthätigkeit beſitzen; demnach dürfen ſie dieſelbe weder über
die ganze örtliche Verwaltung ausdehnen, noch dürfen ſie die Vollzie-
hung in Händen haben, die dem amtlichen Organe ausſchließlich bleiben
ſoll. Und ſo entſteht jenes eigenthümliche Syſtem für das Recht aller
derjenigen Conseils, welche nicht mehr Räthe, ſondern eigentlich Selbſt-
verwaltungskörper ſind. Dieß Recht iſt nämlich für alle dieſe Con-
seils
vom Conseil d’État bis zum Conseil municipal herab in drei
feſte Kategorien zuſammengefaßt. Jeder dieſer Conseils hat das Recht,
in einzelnen, möglichſt ſcharf beſtimmten Fällen zu entſcheidenil
[396] décide, arrête;
er hat in einer zweiten Gruppe von Fällen das Recht,
zu berathen, il delibère; er hat in einer dritten Gruppe nur das
Recht zu begutachten, il donne avis. Das ſind die drei Kategorien,
welche das Verhältniß dieſer Klaſſe von Conseils zum Amt beſtimmen.
Der Unterſchied derſelben von der erſten Klaſſe iſt, denken wir, klar
genug. Erſt dieſer Unterſchied wird es recht verſtändlich machen, wenn
wir die franzöſiſchen Conseils als Formen der Selbſtverwaltung be-
zeichneten; und dieſer Grundgedanke der ganzen franzöſiſchen Verwaltung
des Innern, die demnach kaum den Namen der Selbſtverwaltung ver-
dient, iſt wohl nirgends ſo einfach und rückhaltslos, und von allen
ſubjektiven Wünſchen und Beſtrebungen ausgeſprochen, als von Lafer-
rière
in ſeiner C. d. Droit public et administratif, P. II. Dr. adm.
L. II. Ch. I.
Er faßt ganz richtig die geſammte örtliche Verwaltung als
eine „administration départementale“ auf, wie ſie durch das Dekret vom
22. Dec. 1789 begründet ward, und im Weſentlichen ſich bis jetzt er-
halten hat. Département, Arrondissement und Commune ſind ihm
ein „être collectif, qui renferme un directoire et un conseil, et c’est
là que réside toute la valeur de l’institution; il y a séparation de
l’action et de la délibération;
il y a deux autorités qui la représen-
tent — et le principe constitutionnel de l’administration était posé par
la division naturelle entre l’action et la délibération
,“
das iſt der
wahre Geiſt der franzöſiſchen Selbſtverwaltung. Das Dekret von 1789
hatte in freierer Auffaſſung auch die Action einem gewählten Körper
gegeben; die Conſtitution von 1795 verſchmolz beide in Eins; erſt die
Conſtitution von 1799 „repousse le vicieux dans ces deux organisa-
tions,“
macht die Action zum Staatsamt und organiſirt die délibéra-
tion
ſelbſtändig. Daraus entſteht dann jenes Syſtem der Conseils,
und mit ihm hat die Selbſtverwaltung Frankreichs ihre definitive
Grundlage empfangen.


Da wir nun dieſe zweite Gruppe der Conseils unter beiden Selbſt-
verwaltungskörpern genauer bezeichnen müſſen, ſo mag uns hier ver-
ſtattet ſein, das Syſtem der Conseils der erſten Gruppe, welche wir
als Vertretungen bezeichnen, im Einzelnen aufzuführen.


Man kann dabei drei Klaſſen unterſcheiden.


Die Conseils, welche der militäriſchen Verwaltung angehören,
dürften wohl als rein amtliche Räthe bezeichnet werden; wir glauben
ſie hier übergehen zu können. Es ſind die Conseils de guerre (Kriegs-
gericht), dann die Conseils d’amirauté (ſeit 1824) und Conseil de
travaux
(ſeit 1831 für die Flottenlieferungen), ſowie das Conseil
d’administration
für die Militärlieferungen.


Die zweite Klaſſe beſteht aus den feſten, regelmäßig fungirenden
[397] Räthen, die den beſtimmten amtlichen Organen in der Verwaltung
zur Seite ſtehen. Dahin gehören:


Das Conseil impérial de l’instruction publique, welches an die
Stelle des alten Conseil de l’Université als Unterrichtsrath getreten iſt
und ſeine Organiſation durch das Geſetz vom 15. März 1850 empfan-
gen hat; das Dekret vom 5. Decbr. 1850 hat ſeine Competenz noch
genauer beſtimmt.


Conseil d’hygiène publique, reorganiſirt durch Dekret vom 15. Decbr.
1851; das frühere Conseil de salubrité, eingeſetzt 1802.


Conseil général des Mines ſeit an II aus der agence des Mines
entſtanden, ſeit 30. Vendemiaire an IV unter dem obigen Namen, Or-
ganiſation durch Dekret vom 18. Novbr. 1810.


Conseil général des Ponts et chaussées ſeit Dekret vom 7. Fructi-
dor an XII. (Art. 15.)


Conseil supérieur du Commerce, de l’Agriculture et de l’Industrie
ſtatt des früheren Conseil supérieur du Commerce, welches ſeine Or-
ganiſation durch die Ordonnanz vom 20. April 1831 empfangen hatte,
nunmehr durch Dekret vom 2. Febr. 1853 geregelt — Reichshandelsrath.


Conseil des haras als permanente Commiſſion neben dem Ministère
de l’agriculture
für die Pferdezucht, Décr. org. 7 Juin 1852.


Conseil des bâtiments civils ſeit 1791 eingeführt, manchem Wechſel
in ſeiner Organiſation unterworfen, und in zwei Theile getheilt für
geiſtliche und weltliche Bauten; letzte definitive Organiſation ſeit 1838;
ſeit 1852 iſt es für weltliche Bauten dem Ministère d’État, für geiſt-
liche dem Ministère des cultes zugetheilt.


Die dritte Klaſſe beſteht aus denjenigen Conseils, welche theils
nur für örtliche Verwaltungszwecke gebildet werden, theils vorüber-
gehend ſind. Sie erſcheinen deßhalb auch oft als Commissions, Räthe,
welche nur für eine beſtimmte Frage gebildet werden; ſie vertheilen ſich
zum Theil über ganz Frankreich, und bilden gleichſam die Erfüllung
des ganzen Syſtems. Dahin gehören namentlich:


Die Conseils généraux du Commerce et des Manufactures, die
in ihrem Urſprung bis zur Zeit Colberts zurückgehen, örtliche Handels-
räthe, die erſte Form der Handelskammern. Man hat ſie, obwohl ſie
wenig benützt werden, doch beſtehen laſſen; ſie ſind neu organiſirt
durch Ordonnanz vom 29. April 1831 und durch die Dekrete vom
1. Februar 1850 und 9. April 1851, bis man ſie in dem Conseil su-
périeur du Commerce
centraliſirte.


Chambres consultatives d’agriculture, eingerichtet durch Dekret vom
25. März 1852 in jedem Arrondiſſement.


Chambres consultatives des arts et manufactures, errichtet ſchon
[398] durch Geſetz vom 22. Germinal an XI für die Fabrikſtädte; ihre Er-
richtung hat manche Modifikationen erlebt; die rechtliche Baſis iſt
Art. 618 und 619 des Code du Com. Die letzten Organiſationen
ſind vom Jahre 1848 und 1852.


Chambres de Commerce, entſtanden aus Handelsvereinen und
Corporationen; ſchon 1650 organiſch eingerichtet, verſchieden in den
verſchiedenen Landestheilen geordnet, verſchwanden ſie mit der ganzen
ſtändiſchen Selbſtverwaltung, 13 an der Zahl, im Jahr 1789. Erſt
im Jahr XI werden ſie durch Arrêté vom 3. Nivoſe hergeſtellt, und
nach einigen Umgeſtaltungen definitiv in ihrer gegenwärtigen Geſtalt
durch Dekret vom 3. September 1851 und 30. Auguſt 1852 geregelt.


Conseils de Prud’hommes, das bekannte Organ für die Streitig-
keiten zwiſchen Arbeitern und Herren, neugeordnet ſeit Geſetz vom
14. Mai 1851.


Conseil de fabrique, ein Gemeinderath für die Kirchenangelegen-
heiten (fabrica ecclesiae), ſehr alt, und durch eine Reihe neuer Dekrete
in einzelnen Punkten beſtimmt; — und die Commissions des hôpitaux,
Hoſpitalräthe, unter Vorſitz des Maire für die Verwaltung der
Hoſpitäler.


Conseil départemental de l’instruction publique neben dem Préfet,
ſtatt der alten conseils académiques (Geſetz vom 15. März 1850).


Conseils sanitaires, örtliche Geſundheitsräthe, theils aus Behörden,
theils aus Aerzten beſtehend.


Es iſt möglich, daß uns dabei ein oder anderes Conseil entgan-
gen iſt, allein im Weſentlichen dürfte das Obige das Syſtem der
Conseils darlegen. Wir werden dieß Syſtem ohnehin bei der eigent-
lichen Verwaltung genauer unterſuchen müſſen. Das Angeführte dürfte
aber genügen, um das Syſtem der franzöſiſchen Selbſtverwaltung zu
zeigen. Das ſchematiſche Bild derſelben würde daher unter Feſthaltung
des Begriffs der Conseils folgendes ſein:

[399]
c) Die Selbſtverwaltung Deutſchlands.

Vielleicht in keinem Lande wird ſo viel von Selbſtverwaltung ge-
ſprochen, und die Verwirklichung derſelben ſo ſehr als ein Ziel der
Beſtrebungen hingeſtellt, als in Deutſchland. Und dennoch iſt gerade
in Deutſchland die Selbſtverwaltung keinesweges ſo unvollkommen und
ſo unfrei, wie man darnach meinen ſollte. Der Grund jener Erſchei-
nung aber liegt allerdings tiefer. Während Englands Selbſtverwaltung
von jeder Staatsverwaltung frei iſt und als ſich ſelber verantwortlich
daſteht, während Frankreichs Selbſtverwaltung zum eigentlichen Ver-
walten gar nicht gelangt, ſondern bei dem bloßen Rathe ſtehen bleibt,
iſt Deutſchlands Selbſtverwaltung diejenige, welche mit der ſtaatlichen
Verwaltung auf allen Punkten in beſtändiger Berührung ſteht, und
daher auf allen Punkten ihr eigenthümliches Princip mit dem der
letzteren in Berührung und Gegenſatz bringt. Deutſchland iſt daher
die Heimath eben dieſes Gefühles der tiefen Verſchiedenheit beider Arten
der Verwaltung, das andererſeits wieder eben ſo ſehr durchdrungen iſt
von dem Bewußtſein, daß beide ihrem höhern Weſen nach eine har-
moniſche Einheit bilden ſollen und zuletzt auch bilden. Daher die Un-
klarheit darüber, die ſo weit geht, daß man in der Philoſophie ſo wenig
als im Staatsrecht auch nur den Begriff und Namen der Selbſtver-
waltung findet, während in der Wirklichkeit die Selbſtverwaltung nir-
gends organiſcher entwickelt iſt als in Deutſchland. Wir haben alles
von der wahren Selbſtverwaltung, nur nicht das Bewußtſein derſelben.


Dieſer Zuſtand hängt nun einerſeits mit der Geſchichte, anderer-
ſeits mit den gegebenen Zuſtänden aufs Engſte zuſammen. Man muß
nie vergeſſen, daß die letzteren in Beziehung auf den Organismus der
Verwaltung überhaupt, alſo auch in Beziehung auf die Selbſtverwaltung,
durch die ſo höchſt verſchiedene Größe der einzelnen Staaten ein Bild
darbieten, wie es nie da geweſen iſt. Schon dieſe räumliche Verſchie-
denheit zwingt die Organiſationen, ſehr verſchieden zu ſein; die Beſon-
derheiten liegen aber auch in der großen Verſchiedenheit des Bildungs-
proceſſes der Staaten ſelbſt; und ſo müſſen wir uns darauf gefaßt
machen; bei großer, durchgreifender Gleichheit in allen Grundlagen eine
eben ſo große Unähnlichkeit in Formen und Rechten zu finden. Dadurch
wird es ungemein ſchwer, ein klares Bild herzuſtellen; ja es wäre das
geradezu unmöglich, wenn nicht im Großen und Ganzen der Charakter
aller dieſer Staatenbildungen dennoch derſelbe bliebe.


Dieſen Charakter ſetzen wir nun in ſpezieller Beziehung zur Selbſt-
verwaltung, in der Anerkennung des hiſtoriſchen Rechts als
Grundlage der Selbſtverwaltung
. So weit das hiſtoriſche
[400] Recht Geltung hat oder fordert, ſehen wir auf allen Punkten ein
Streben, das engliſche Princip der Selbſtverwaltung zur Geltung
zu bringen. Da wo die Forderungen dieſes Rechts ihre Gränze finden,
tritt dagegen das franzöſiſche Princip auf. Und ſo bildet die Selbſt-
verwaltung Deutſchlands eine äußere und innere Verſchmelzung dieſer
beiden großen Principien, welche am Ende die höchſte und vollendetſte
Geſtalt des inneren Staatslebens erzeugen wird, wenn das deutſche
Individuum, ſtaatlich noch ſehr unfertig, dereinſt ſich vollſtändig ent-
wickelt haben wird.


Wir wollen mit kurzen Zügen dieſe Grundlage des deutſchen
Charakters der Selbſtverwaltung bezeichnen. Den Gang der Geſchichte
ſetzen wir dabei als bekannt voraus.


Aus der allmähligen Auflöſung des Kaiſerthums ging Deutſchland
als eine Unzahl von kleinen, höchſt zerriſſenen und verſchieden gearteten
ſtaatlichen Formationen hervor. Jeder dieſer kleinen Körper hatte ſich
während des Mittelalters allmählig zu einem ſelbſtändigen Ganzen
gebildet, und ein eigenes ſtaatliches Leben mit einer Art von Ver-
faſſung, Verwaltung und Oberhaupt entwickelt. Die ganz kleinen
unmittelbaren Reichsſtände waren zwar in der That nur ſouveräne
Gemeinden, und die Beſitzungen der reichsunmittelbaren Grafen und
Ritter waren nicht einmal Gemeinden, ſondern ſchon zu Gutsherr-
ſchaften herabgeſunken; allein das Princip der Selbſtändigkeit galt für
ſie eben ſo unbezweifelt, wie für die großen Staaten.


Als nun mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts die neuen Staaten-
bildungen begannen, mußten ſich dieſe kleinen Körper den großen unter-
werfen. Der Proceß der Aufhebung ihrer Selbſtändigkeit beruhte aber
nicht, wie in Frankreich die Vernichtung der provinziellen Selbſtändigkeit,
auf einer höheren Rechtsanſchauung, welche mit oder ohne Grund für
ſich die Berechtigung in Anſpruch nahm, das beſtehende Recht im Namen
einer höheren Idee zu vernichten, ſondern ſie war einfach eine äußere
Unterwerfung zum Zwecke der Machtbildung. Es war daher auch
ganz natürlich, daß man von dem gegebenen Rechte nur ſo viel
aufhob, als nöthig war, um dieſe Machtbildung zu verwirklichen.
Und da nun die Formen und der Inhalt der inneren Verwaltung
der letzteren nicht widerſprachen, ſo erkannte man das hiſtoriſche Recht
auf die bisherigen Verwaltungsformen in allem Weſentlichen als fort-
beſtehend an und nahm daher dieſe Körper zugleich mit dem Recht auf
die eigene Verwaltung in die neueren Staatenbildungen auf. Es war
das um ſo verſtändlicher, als derſelbe Grundſatz eigentlich von jeher
in Deutſchland bei den Staatenbildungen aller Jahrhunderte gegolten
hatte. Sie waren in den bei weiten meiſten Fällen nur auf Erbrecht
[401] der regierenden Häuſer begründet geweſen. Der neue Landesherr ſuc-
cedirte daher einfach in das Recht des alten, und die Lande, indem ſie
ſich unterwarfen, ſtellten daher ſtets die ganz ſelbſtverſtändliche, von
keinem Succeſſor jemals bezweifelte Forderung auf, daß er die alten
Landesrechte und Verfaſſungen unangetaſtet laſſen ſolle. Schon vor
den napoleoniſchen Kriegen zeigten daher die einzelnen Staaten ein
buntes Bild der inneren Verwaltung; man fand deßhalb nichts beſon-
ders darin, bei der neuen Ordnung der Dinge wenigſtens das Princip
anzuerkennen, daß jeder Theil ſich auch künftig nach ſeinem eigenen Rechte
verwalten dürfe. Nur war dieſe bis dahin ſouveräne Verwaltung der
Landſchaften, Städte, Herrſchaften, Bisthümer u. ſ. w. jetzt eine Ver-
waltung innerhalb einer Staatsverwaltung; ſie war aus einer
Staatsverwaltung formell zu einer Selbſtverwaltung geworden,
während ſie ihrer inneren Ordnung nach ſich ganz gleich blieb.


Offenbar nun war das ein tiefer Widerſpruch mit den Ideen,
welche denn doch der neuen Staatsbildung, oft geradezu gegen den
Willen der Landesherren, zu Grunde lagen. Jene hiſtoriſchen Formen
der Selbſtverwaltung der Landestheile beruhten ganz und gar auf dem
ſtändiſchen Princip, und waren eben dadurch theils unendlich verſchieden,
ſo daß eine Gleichartigkeit nicht zu erzielen war, theils waren ſie unzweck-
mäßig gegenüber den Anforderungen der neueren Zeit, theils erzeugten
ſie offenbare Ungerechtigkeiten. Es konnte daher nicht fehlen, daß in der
Verwirrung, welche durch ſtarres Aufrechthalten der alten örtlichen
Lebensformen in jede Staatsverwaltung gekommen wäre, der Gedanke
und die Nothwendigkeit einer wirklich ſtaatlichen Verwaltung ſich un-
widerſtehlich Bahn brachen. Frankreichs Macht und Herrlichkeit in
ſeiner gewaltigen, centraliſirten Verwaltung zeigte, von welcher ent-
ſcheidenden Bedeutung gerade eine ſolche Einheit und Gleichheit in der
Verwaltung ſein müſſe. Es war dem glänzenden Beiſpiel ſowenig zu
widerſtehen als dem ſteigenden inneren Bedürfniß. Wir haben geſehen,
wie das letztere ſich Luft ſchaffte in der bereits im erſten Jahrzehent
beginnenden gründlichen Umgeſtaltung der Staatsverwaltung. So wie
ſie auftritt, entſteht nun die zweite Frage, wie ſich dieſelbe mit ihrem
einheitlichen Princip zu jenem hiſtoriſchen Rechte der örtlichen Selbſt-
verwaltung zu verhalten habe. Und hier bildete ſich nun der Grundſatz
aus, der auch gegenwärtig noch das ganze Gebiet dieſer Erſcheinungen
beherrſcht. Man griff wieder dazu, die Form zu ändern, aber das
Princip ſtehen zu laſſen. Man ließ daher den örtlichen, hiſto-
riſch gebildeten Einheiten und Körpern, den Gemeinden, Landestheilen
und ſelbſt den Corporationen das Recht, eine Selbſtverwaltung zu be-
ſitzen, aber man ordnete dieſe Selbſtverwaltung nach ziemlich einheitlichen
Stein, die Verwaltungslehre. I. 26
[402] und gleichartigen Grundſätzen. Und hier nun zeigt ſich, indem man
die drei Grundformen der Selbſtverwaltungskörper neben einander
ſtellt, eine im höchſten Grade merkwürdige und Deutſchland ganz eigen-
thümliche Erſcheinung, die unter allen Dingen vielleicht ihm am meiſten
ſeine Individualität erhalten hat, und es für Fremde ſo ſchwer ver-
ſtändlich macht, während dieſelbe dennoch nur die einfache Folge der
geſellſchaftlichen Ordnungen iſt, die in ihrem Verhalten zu einander
noch zu keinem Abſchluſſe gediehen ſind. Die Landſchaften bekamen
ihre Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtändiſchen Gliederung der
Geſellſchaft, und hießen daher Stände; die ſtädtiſchen Gemeinden
bekamen die Ordnung ihrer Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtaats-
bürgerlichen Gleichheit als Heimath des freien Beſitzes, und ſo entſtan-
den die Gemeindeverfaſſungen, die in der That nur Städtever-
faſſungen waren; die ländlichen Gemeinden, die zum großen Theil noch
Herrſchaften, und ſogar ohne einen freien Bauernſtand waren, konn-
ten
gar keine ſolche Gemeindeverfaſſungen bekommen, und wurden
daher nach wie vor durch ein in den verſchiedenen Ländern höchſt ver-
ſchieden geſtaltetes Zuſammenwirken von Gutsherrlichkeit und Amt ver-
waltet; die Corporationen aber nahm der Staat meiſt in ſich auf,
und machte ſie aus ſelbſtändigen Körperſchaften zu Staatsanſtalten,
indem er entweder ihr Vermögen einzog oder ſie unter die ausgedehn-
teſte Oberaufſicht ſtellte. So war jetzt die Selbſtverwaltung in ver-
änderter, höchſt verwickelter Weiſe geſtaltet. Es war der unfertigſte
Zuſtand den man ſich denken konnte. Denn nicht nur, daß dieſe Selbſt-
verwaltung in jedem Lande ganz anders war, es war zugleich klar,
daß die ſogenannten „Stände“ eigentlich gar keine Selbſtverwaltungs-
körper mehr waren, ſondern vielmehr die Funktionen der Volksver-
tretung, die Theilnahme an der Geſetzgebung, vollziehen mußten, wäh-
rend der Glanz, der die ſtädtiſchen Gemeindeordnungen umgab, den
Widerſpruch des Mangels einer Landgemeindeordnung nur um ſo greller
hervortreten ließ. Es war auf allen Punkten ein Stadium des Ueber-
ganges. Aber in dieſem Stadium ſtand dennoch der Grundſatz feſt,
daß Landſchaft, Gemeinde und Corporation ein — wie immer zu for-
mulirendes, aber ihnen unentziehbares — Recht auf Theilnahme an
der Verwaltung hätten, alſo die Körper der Selbſtverwaltung
ſein müßten.


Auf der andern Seite bildete ſich nun zugleich die Staatsidee
weiter aus. Die franzöſiſchen, organiſirenden Principien der Ver-
waltung gelangten leicht zu Anerkennung, die amtliche Verwaltung
entwickelte ihr Miniſterial- und ihr Behördeſyſtem. Beide Syſteme ſtanden
in beſtändiger Berührung mit jenen Organen der Selbſtverwaltung.
[403] Die Frage nach der Gränze des Rechts beider trat auf jedem Punkte
des Organismus auf. Beide werden durch höhere Anſchauungen ge-
tragen; jene berufen ſich auf die Idee des Rechts, dieſe auf die Idee
der freien Perſönlichkeit. Der Kampf beginnt. Sein Ende war leicht
vorherzuſehen, wenn auch ſchwer zu berechnen. Die neue Zeit machte
aus den Ständen eine Reichsverfaſſung; ſie erhob den abhängigen
Bauer zum freien Grundbeſitzer durch die Ablöſung, und gab damit
dem flachen Lande die erſte Bedingung der Gemeindeordnung; aber ſie
vernichtete keinesweges die Idee des organiſchen Staates. Sie hielt
dieſelbe nicht bloß aufrecht; ſie bildete ſie vielmehr noch weiter aus.
Sie ſchritt daher auf beiden Gebieten ziemlich gleichmäßig vorwärts;
und ſo gelangte ſie dahin, durch Ausgleichung der hiſtoriſchen Beſonder-
heiten in den Selbſtverwaltungskörpern ein Syſtem der Selbſt-
verwaltung
zu ſchaffen, welches auf dem Grundſatz beruht, daß auf
jedem Punkte der ganzen Verwaltung ſich das amtliche Syſtem und
das Selbſtverwaltungsſyſtem berühren und ſo weit möglich in Gemein-
ſchaft
wirken ſollen.


Natürlich entſtanden daraus eine Reihe von neuen und eigen-
thümlichen Verhältniſſen, welche in der Art weder in England noch
in Frankreich vorkommen, und die man nothwendig klar hervorheben
muß, um einerſeits die Individualität des deutſchen Staatslebens zu
verſtehen, und andererſeits eine Vorſtellung zu beſeitigen, als ob die
Grundformen des deutſchen Lebens auch die der Begriffe von ſtaatlicher
und von Selbſtverwaltung überhaupt ſeien. Mit der Beſeitigung dieſer
Vorſtellung wird erſt die deutſche Staatslehre ihre volle Entwicklung
erreichen.


Die erſte große, uns eigenthümliche Thatſache iſt die, daß die
Volksvertretungen, meiſtens auf Grundlage der alten Landſchaften
gebildet und daher an ein gewiſſes Maß der Verwaltung gewöhnt,
auch nach engliſchem Princip als geſetzgebender Körper in die Ver-
waltung einzugreifen ſtrebten, während das Miniſterialſyſtem ſie davon
ſo weit als möglich nach franzöſiſchem Muſter abhielt. In gleicher
Weiſe begann auch in den Gemeinden ein ſolcher Kampf zwiſchen
Behörden und Gemeindeorganen. Daraus entſtand die Vorſtellung,
die Deutſchland eigenthümlich iſt, als ſeien überhaupt Geſetzgebung und
Staatsverwaltung einerſeits, Behördenthum und Selbſtverwaltung
andererſeits zwei feindliche Potenzen, und als müſſe man es als einen
Fortſchritt zur Freiheit anſehen, wenn die ſtaatliche Verwaltung der
Selbſtverwaltung ſo viel als möglich untergeordnet werde. Andere
Elemente wirkten daneben in gleichem Sinne thätig mit. Man formu-
lirte ſogar die Gegenſätze als Autonomie und Bureaukratie, ohne
[404] natürlich damit weiter zu kommen, da man im Grunde weder das
engliſche noch das franzöſiſche Princip in ſeiner Reinheit anerkennen
wollte, ja es ſogar meiſtens nicht einmal konnte. Es iſt eine nutzloſe
Frage, wie viel Schuld an der gegenſeitigen Entfremdung von beiden
Seiten getragen ward. Auch iſt es nicht unſere Sache, hier weitere
Unterſuchungen anzuſtellen. Gewiß iſt nur, daß dieſer Gegenſatz nicht
ausgetragen iſt, und auch nicht ausgetragen werden wird, bis die
wahre Idee der ſtaatlichen Verwaltung und ihrer großen, nur durch
ſie zu vollziehenden Funktion vollſtändig anerkannt ſein wird.


Die zweite Thatſache iſt die, daß die ſtaatliche Verwaltung neben
den Verwaltungskörpern das Syſtem der Räthe nach franzöſiſchem
Vorgang aufnahm. Aber freilich konnte daſſelbe hier um ſo weniger
entwickelt werden, als die Beamteten ſelbſt in Deutſchland eine all-
gemeine und tüchtige Bildung genießen, und daher nur für ganz
beſtimmte, fachmänniſche Fragen wirklich eines eigenen Rathes be-
durften. Wir ſehen daher auch in Deutſchland ſolche Räthe, aber
nur für ganz ſpezielle Verhältniſſe, namentlich für das Geſundheits-
weſen und das Unterrichtsweſen entſtehen, jedoch ohne Gleichartigkeit
in den verſchiedenen Staaten. Dagegen iſt das Syſtem der Handels-
kammern
ziemlich allgemein ausgebildet, während die Vertretung der
Agrikultur meiſt auf dem Vereinsweſen beruht.


Die dritte Thatſache endlich iſt das faſt vollſtändige faktiſche Ver-
ſchwinden des Verſammlungs- und Petitionsrechts, auch da wo es
anerkannt und unbeſtritten feſtſteht. In der That iſt für daſſelbe bei
der großen Ausbildung der Selbſtverwaltung gar kein rechter Raum
übrig, da alle Fragen durch die Organe der letztern ohnehin auf ord-
nungsmäßigem Wege erledigt werden können. Daher werden jene
Rechte auch weſentlich als politiſche angeſehen, und als ſolche theils
gefordert, theils bekämpft. Es iſt mit Sicherheit anzunehmen, daß
dieſelben auch künftig in allen adminiſtrativen Angelegenheiten nur eine
höchſt untergeordnete Rolle ſpielen werden.


Dagegen erklärt ſich viertens durch dieß, auf allen Punkten vor-
handene Zuſammenwirken des amtlichen Syſtems mit der Selbſtver-
waltung das Princip, daß die letztere dem erſteren Gehorſam zu
leiſten und ſich ſeiner Oberaufſicht unterzuordnen hat, während anderer-
ſeits der Mangel an der Ausbildung des Klagerechts und die Ueber-
tragung der franzöſiſchen justice administrative als die eigentliche Ge-
fährdung des Princips der Selbſtverwaltung in Deutſchland angeſehen
werden muß. Andererſeits wird aber hier nie das engliſche Princip
in ſeiner Reinheit mit ſeiner vollen Indifferenz der Miniſter gegen die
Verwaltungszuſtände dieſer Körper durchgreifen, da der Grundſatz der
[405] adminiſtrativen Verantwortlichkeit des Miniſterialſyſtems nicht auf-
gegeben werden wird.


Endlich muß zum Schluß hervorgehoben werden, daß alle dieſe
Grundſätze wieder in jedem Staate eine andere Geſtalt angenommen
haben; das ganze Syſtem iſt in den kleinen Staaten gar nicht anwend-
bar, in den mittleren ſehr verſchieden, und in Preußen und Oeſterreich
noch unfertig. Das wird ſich bei den einzelnen Verwaltungskörpern
unten zeigen.


Das ſchematiſche Bild für Deutſchland iſt daher im Weſentlichen
folgendes:

VI. Die Selbſtverwaltungskörper.


Indem wir die Darſtellung der verſchiedenen Vertretungsformen
der Darſtellung des Verwaltungsorganismus der einzelnen Länder füg-
lich überlaſſen, da dieſelben dem größten Theil nach auf der Organi-
ſationsgewalt und ihren Anſichten über Zweckmäßigkeit und Bedürfniß
beſtimmter Verhältniſſe beruhen, wenden wir uns nunmehr auf Grund-
lage der obigen Sätze den eigentlichen Körpern der Selbſtverwaltung
zu, nicht bloß weil ſie, wenn auch in verſchiedenen Formen dennoch
immer die feſten Elemente derſelben ſind, ſondern zugleich aus einem
anderen, tiefer liegenden Grunde.


Wir ſind bei unſerem ganzen Werke von der Ueberzeugung aus-
gegangen, daß wenn Begriff und Inhalt des Staats das erſte große
[406] Element der organiſchen Verwaltungsbildung ſind, die geſellſchaftlichen
Faktoren unbedingt das zweite bilden. Wir werden zwar immer Defi-
nition und Syſtem der Verwaltung, niemals aber die wirkliche Geſtalt
und die lebendige Wirkſamkeit derſelben in der wirklichen Welt erfaſſen,
ſo lange wir nicht jenen Faktor gehörig würdigen. Faſt nirgends aber
erſcheint derſelbe ſo entſcheidend und tiefgreifend, als gerade in den
Selbſtverwaltungskörpern. In ihnen berührt ſich in wunderbarer
Mannichfaltigkeit das Princip des Staatslebens und das Intereſſe und
die Gewalt der geſellſchaftlichen Mächte; ſie ſind, wie ſie oben da-
ſtehen, das Reſultat beider zugleich; alles Unbeſtimmte was Namen und
Funktion derſelben mit ſich bringt, verwandelt ſich in klare faßbare
Faktoren, wenn man die ſocialen Elemente gehörig zu beachten ver-
ſteht, und namentlich die große Verwirrung der Begriffe und die noch
größere Verſchiedenheit der wirklichen Zuſtände und Rechtsordnungen
in Deutſchland werden klar, indem man gerade bei den Selbſtverwal-
tungskörpern die Grundformen der Geſellſchaft und ihre Wirkungen
betrachtet. Wie wir das nun ſchon im Allgemeinen bei den einzelnen
Ländern betrachtet haben, ſo werden wir es bei den folgenden einzelnen
Formen ihrer Selbſtverwaltung genauer beſtätigt finden. Dabei kann
das Folgende keinen Anſpruch darauf machen, eine materielle Voll-
ſtändigkeit zu bieten. Es kann hier eben nur der Grundgedanke ausge-
ſprochen und in den Haupterſcheinungen durchgeführt werden. Wir haben
dabei allerdings mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß wir dieſe großen
Thatſachen nur erſt zur Anerkennung bringen, ja daß wir den orga-
niſchen Begriff der Selbſtverwaltung überhaupt erſt in den Begriff der
Verwaltung einbürgern müſſen. Wir wiſſen auch recht wohl, daß die
ganze geſchichtliche Auffaſſung damit am Ende ein neues Element auf-
nehmen muß, ohne daß wir doch das Recht hätten weiter zu gehen als
bis zur Feſtſtellung der allgemeinen Grundlagen. Aber vielleicht, daß
dennoch die Einfachheit der herrſchenden Thatſachen ſich Geltung ver-
ſchaffen wird.


Eben wegen jenes inneren Zuſammenhanges mit dem Gange der
geſellſchaftlichen Entwicklung wird auch die Darſtellung der Selbſtver-
waltungskörper ihre gegenwärtigen Grundformen als hiſtoriſche, aus
dem Staats- und Volksleben ſich herausbildende Erſcheinungen zu er-
faſſen haben. Sie ſind ein wichtiges Stück der inneren pragmatiſchen
Geſchichte des Lebens Europas.


A.Die Landſchaft.

Das was wir die Landſchaft nennen, iſt der umfangreichſte aber
auch der unbeſtimmteſte und dem Wechſel der Organiſation am ſtärkſten
[407] unterworfene Körper der Staatsverwaltung. Der Gang ſeiner Geſchichte
beruht auf der Natur der beiden Faktoren, welche ſie ſelbſt erzeugt
haben, und die wir auch hier als das natürliche und das perſönliche
(ſociale) Element bezeichnen.


Die gegebene Grundlage der Landſchaft iſt einerſeits das natür-
liche Element das Land, inſofern es ein natürlich begränztes, mit den
wirthſchaftlichen Verhältniſſen in allen ſeinen Theilen ſich bedingendes
Ganze iſt; andererſeits das perſönliche Element der Stämme, die
Gleichartigkeit und Gemeinſchaft, welche ſich durch Sprache, Sitte und
Gebräuche erzeugt, an die ſich dann auch die Bildung des Gewohn-
heitsrechts anſchließt.


Allein ſo einfach und klar der Begriff beider Elemente iſt, ſo wenig
iſt es möglich, eine beſtimmte Gränze für beide feſtzuſtellen. Die Be-
wegung des Volkslebens, welche den Einzelnen in das Ganze hinein-
zieht, verallgemeinert die Bedingungen und Grundverhältniſſe des Ge-
ſammtlebens, und verſchmilzt Land und Stamm zwar langſam aber
unwiderſtehlich mit Reich und Volk. Und es iſt daher einleuchtend,
daß die Selbſtändigkeit von Land und Stamm ſo wie alles was ſich
an dieſelbe anſchließt, ihrerſeits in dem Maaße verſchwindet, in welchem
die Bewegung des geſammten Volkslebens eine größere Gemeinſchaft
und Einheit des Ganzen hervorbringt.


Andererſeits läßt es ſich nicht läugnen, daß unter gewiſſen Ver-
hältniſſen jene Selbſtändigkeit wieder niemals ganz verſchwinden kann.
Denn die Staatenbildung in Europa hat vielfach Landesverhältniſſe
zuſammengefaßt, welche durch ihre Natur eine Berechtigung dauernder
Selbſtändigkeit haben. Das aber hängt dann nicht vom Begriffe der
Sache, ſondern von den gegebenen Verhältniſſen ab; und ſo ergibt ſich,
daß hier eine große und zum Theil ſehr zufällige Verſchiedenheit ob-
waltet, indem auch die auf jener Selbſtändigkeit von Land und Stamm
beruhende Verſchiedenheit in einigen Reichen, freilich unter Mitwirkung
geſchichtlicher Entwicklung, ganz verwiſcht iſt, während ſie in anderen
ſich klar und feſt erhalten hat. Man muß deßhalb davon ausgehen,
daß in dieſer Beziehung jedes Land ſeine eigene Geſtalt und Entwick-
lung hat; dennoch iſt auch wieder ein Gemeinſames vorhanden, das
freilich, wenn man es für ganz Europa darſtellen will, nur langſam
ſeine feſte Form für die neueſte Zeit annimmt. Die entſcheidenden
Punkte aber ſind folgende.


Wir können auch hier die zwei Epochen ſcheiden, welche uns die
Zeit der Herrſchaft der zwei große Geſellſchaftsformen, der ſtändiſchen
und der ſtaatsbürgerlichen, bezeichnen. In jeder derſelben hat die Land-
ſchaft einen anderen Charakter.


[408]

Aus Land und Stämmen nämlich entwickelt ſich zunächſt ein gleich-
artiges und gemeinſames Leben, aus dem dann zuerſt ein gemeinſames
Rechtsleben hervorgeht, das die gemeinſame Rechtspflege, das Landes-
recht und die Landesgerichte erzeugt, deren weitere Entwicklung die
Rechtsgeſchichte verfolgt. Dieß Landesrecht iſt ſtets der erſte poſitive
Inhalt der Selbſtändigkeit der Verwaltung; aber der Begriff der Selbſt-
verwaltung beginnt doch erſt da, wo die einheitliche Staatsgewalt in
der Geſtalt des Königthums dieſen Gemeinſchaften Laſten auferlegt,
namentlich zuerſt Kriegslaſten. Die Nothwendigkeit der gerechten Ver-
theilung derſelben erzeugt die Bildung eines Körpers, der indem er
dieſe Vertheilung übernimmt, aus der Geſammtheit der Verpflichteten
beſteht. Das aber ſind nur die Grundherren. Und ſo entſteht ein
Organ, das aus der Geſammtheit der Grundherren gebildet, zunächſt
die Selbſtverwaltung der Landeslaſten enthält. An die Bewilligung
dieſer Landesbeiträge für das Königthum ſchließen ſich dann zwei Dinge.
Zuerſt das Recht, Beſchwerden und Vorſchläge bei der entſtehenden
Staasverwaltung über den ganzen Inhalt der Regierung zu machen;
dann die natürliche Folge, daß gewiſſe gemeinſchaftliche Angelegenheiten
des Landes, welche das Reich noch gar nicht in ſeine Verwaltung ein-
gezogen hat, oder ſie ohne Zuſtimmung der Grundherren gar nicht
hineinziehen kann, weil ſie zunächſt die Privatrechte der Grundherren
betreffen, von jenem Landesorgan ſelbſtändig in die Hand genommen
werden. So wird durch die regelmäßige Wiederkehr jener Forderungen
des Staats und dieſer Landesangelegenheiten die Thätigkeit jenes Or-
ganes eine dauernde. Es ſelbſt empfängt den Namen des Landtages;
inſofern es für jene Aufgaben ein verwaltendes Organ bildet, heißt es
Landſchaft; inſofern es aber aus der ſtändiſchen Geſchäftsordnung
hervorgeht, nennt man es die Landſtände.


Auf dieſe Weiſe nun bildet, um den allgemeinen Ausdruck bei-
zubehalten die Landſchaft aus dem Lehensweſen hervorgehend, ein
ſelbſtändiges Ganze, das wenn auch mit manchen nicht unweſentlichen
Verſchiedenheiten dennoch in ganz Europa denſelben Charakter hat. Und
wir müſſen dieſelbe formuliren, um die gegenwärtige eigenthümliche
Geſtalt der Landſchaft richtig zu würdigen.


Allenthalben nämlich war dieſe Landſchaft nicht bloß ein Körper,
ſondern ſie war in der That neben dem Königthum der einzige Körper
des öffentlichen Rechts. Sie iſt das zweite große ſtaatenbildende Ele-
ment in Europa. Aber während das Königthum mit ſeiner Idee, ſeinen
Anſprüchen und ſeinen Organen den ſelbſtändigen und perſönlichen
Staat vertritt, iſt die Landſchaft die natürliche Vertreterin des Volkes
und ſeiner Selbſtändigkeit, wenn auch auf Grundlage der damaligen
[409] geſellſchaftlichen Zuſtände. Sie erſcheint daher als ein in ſeinen Grund-
lagen vollſtändig angelegter Organismus der Selbſtverwaltung, und
dieſe Grundlagen ſind um ſo wichtiger, weil ſich an ſie eigentlich die
übrigen Selbſtverwaltungskörper und das ganze gegenwärtige Recht der
Landſchaften in ihrer ſo verſchiedenen Geſtalt in Europa anſchließt.


Die Landſchaft der Lehensepoche erſcheint nämlich zuerſt als ein
Verfaſſungs- und dann als ein Verwaltungsorganismus im weiteren
Sinne des Wortes. In beiden Organismen iſt ſie aber nicht der Staat,
und will es auch nicht ſein, ſondern ſie iſt nur die große Form, in der
ſich die Theilnahme des Staatsbürgerthums in ſeiner damaligen Geſtalt
am Staatsleben Geltung verſchafft. Und damit iſt auch ſchon das
Element ihrer Umgeſtaltung angedeutet. Daſſelbe liegt neben der Ent-
wicklung der perſönlichen Staatsidee eben in dem Staatsbürgerthum
und ſeiner neuen Ordnung.


Als Organismus der Verfaſſung im Lehensweſen beruht die
Landſchaft wie geſagt auf dem lehensrechtlichen Grundſatz, daß die
Staatsrechte zum Eigenthum des Grundherren geworden ſind, und daß
daher der Wille des Staats nur dann Geſetze geben kann, welche jene
Rechte berühren, wenn die Grundherren als Inhaber derſelben ihre
Zuſtimmung dazu gegeben haben. Das Princip des Privatrechtstitels
an den öffentlichen Rechten macht eine einſeitige Verfügung des Landes-
herrn über die letzteren unmöglich; es iſt eine Rechtsforderung der Be-
ſitzer, bei allen darauf bezüglichen Geſetzen gehört zu werden; dieſe
Rechtsforderung gibt der Landſchaft ihre natürliche Stellung als Ver-
tretung des Volkes; und ſo iſt auf Baſis jenes hiſtoriſch erworbenen
Rechtstitels das große Princip gerettet, daß die für das ganze Volk
gültigen Geſetze nur unter Zuſtimmung des ganzen Volkes gegeben
werden können. In den Landſchaften liegt daher zu allernächſt der
Grundſtein der Verfaſſung.


Eben ſo allerdings der der Verwaltung. Das Königthum konnte
ſo wenig ſeine wirkliche Thätigkeit über die grundherrlichen Gränzen
ausdehnen, als ſeinen geſetzgeberiſchen Willen. Das Zuſammenleben
aber erzeugte innerhalb des Landes denn doch gewiſſe allgemeine, gemein-
ſame Lebensverhältniſſe, welche einer gemeinſamen Ordnung bedurften.
Für dieſe gab es nur ein Organ, das hier eingreifen konnte, und das
war eben die Gemeinſchaft der Grundherren ſelbſt. Eine neue, und
höchſt beachtenswerthe Bildung ſchließt ſich daher an jene Forderungen.
Zuerſt muß die Landſchaft, da ſie jetzt nicht bloß berathen und be-
ſchließen, ſondern in ihrer Verwaltung auch handeln ſoll, ein ſelb-
ſtändiger perſönlicher Organismus werden. Sie muß eine Executive
aufſtellen, und dieſelbe organiſiren. Sie bedarf eines Hauptes, ſie
[410] bedarf der Organe und Aemter. So entſtehen die Stellen und Funk-
tionen der Vorſteher der Landſchaft, die zugleich die Vorſitzenden der
Landtage ſind, die Landmarſchälle, oder wie ſie ſonſt heißen, mit den
ſtändiſchen Aemtern, die ihm neben- und untergeordnet ſind, und
dem ſtaatlichen Amtsorganismus in Ordnung und Recht entſprechen.
Dann entwickelt ſich die eigentliche Verwaltung der Landſchaft, welche
theils vom Landmarſchall, theils vom Ausſchuß, theils vom ganzen
Landtag beſorgt wird. Und zwar iſt es gar kein Zweifel, daß wir hier
die drei großen Gebiete der Verwaltung wieder zu unterſcheiden haben.


Zuerſt ſehen wir das Finanzweſen auftreten. Es bedarf keiner
Erklärung, daß die Landſchaft zwei finanzielle Funktionen zugleich hat.
Zuerſt muß ſie die, für die etwaigen Zwecke der inneren Verwaltung
nothwendigen Gelder innerhalb ihrer eigenen Stände aufbringen, und
bildet ſo den erſten großen Körper der finanziellen Selbſtverwaltung.
Dann aber muß ſie auch die vom Königthum im Namen des Ganzen,
des Staats geforderten Laſten geben. So entwickelt ſie das große
Princip der Steuerbewilligung. Es gibt daher urſprünglich nur eine
Steuerbewilligung der Landſchaft, niemals eine des Reiches. Es iſt
kein größerer Widerſpruch, als wenn man ſich in jenen Zeiten eine Reichs-
ſteuerbewilligung denkt. Niemand hatte das Recht, für einen anderen
Gelder zu bewilligen; eben ſo wenig war es denkbar, daß ein Landtag
für den anderen Gelder geben, oder ſie für den Landesherrn beſchließen
könne. Das was das Land gab, war Gabe der Landſchaft, nicht des
Reiches. Es war dann Sache des Landtages, dieſe Gabe zu vertheilen,
und Sache des Vorſtandes, ſie einzuholen; aber die Landſchaft war
und blieb dabei ſelbſtändig. Das alles beruhte ſeinerſeits nicht auf
einem ſtaatlichen, ſondern auf dem Privatrechtstitel des Eigenthums-
rechts; aber er erzeugte den Grundſatz, der dann in edlerer Form auf-
tritt, daß jede Steuer an den Staat der Zuſtimmung deſſen bedarf,
der ſie zu zahlen hat. Das Steuerbewilligungsrecht unſerer Zeit iſt
daher ein weſentlich anderes als das der ſtändiſchen Epoche; aber dieſes
hat jenem ſeine rechtliche Baſis gegeben, wenn auch die principielle eine
viel höhere iſt. Eben darum iſt auch die innere Geſtalt des provinziellen
Steuerbewilligungsrechts eine ſo weſentlich verſchiedene von der früheren.
Aehnlich verhält es ſich mit dem zweiten Gebiete.


Die Landſchaft iſt nämlich zweitens der erſte große Körper der
Rechtspflege. Wir haben den Unterſchied zwiſchen Landes- und
Reichsrecht bereits früher bezeichnet. Nur muß man ſich unter dem
Landesrecht etwas anderes für die Zeit der ſtändiſchen Geſellſchaft denken
als für die gegenwärtige, und wir dürfen darauf aufmerkſam machen,
wie leicht man den ſpecifiſchen Begriff des ſtändiſchen Landrechts
[411] mißverſteht. Das ſtändiſche Landrecht iſt nämlich dasjenige, deſſen Sub-
jekte
die ſtändiſchen, alſo nach ſtändiſchem Rechte gleichen Perſön-
lichkeiten (pares) ſind. Es gibt daher urſprünglich kein Landrecht für
die Landesangehörigen als ſolche, ſondern nur für Landſtände.
Jedes Landrecht iſt eben deßhalb urſprünglich nur denkbar als ein
judicium parium, und über das Recht dieſer ſtändiſch-ſelbſtändigen Per-
ſönlichkeiten. Für die abhängigen Perſonen, die Unfreien im weiteſten
Sinn des Wortes, gibt es kein Landrecht in jener Zeit; ſie haben ihr
Ortsrecht, und werden nach dieſem gerichtet. Die Begriffe und Rechte
von höherer und niederer Inſtanz ſind daher auf Ortsvorſtand und
Landtag urſprünglich gar nicht anwendbar, ſondern wie Freiheit und
Unfreiheit zwei ſpecifiſch verſchiedene Ordnungen des Lebens ſind, ſo
ſind auch die Rechte beider ſpecifiſch verſchieden. Es iſt daher feſtzu-
halten, daß Begriff und Recht der Appellation erſt durch das Auf-
treten des perſönlichen Staatsorganismus entſtehen; das Landrecht iſt
ein abgeſchloſſenes Ganzes, und hat daher auch ſein ſelbſtändiges Organ,
das Gericht der Gleichen, und dieſes Gericht iſt eben der Landtag.
Dennoch lag der Keim der Einſchaltung dieſes Organes ſchon im Keim
des letzteren; wir werden ſehen wie er zur Entwicklung kommt.


Endlich iſt die Landſchaft auch der Körper der innern Verwal-
tung
. Nur muß man hier unterſcheiden, denn hier iſt zugleich der
Punkt, wo auf Grundlage des geltenden Rechts die perſönliche Staats-
gewalt die Selbſtändigkeit jenes Organes allmählig untergräbt. Das
Gebiet der Verwaltung enthält eigentlich das ganze Geſammtleben des
Volkes. Der perſönliche, im Landesherrn vertretene Staat iſt doch im
Grunde die perſönliche Einheit deſſelben. Der Landesherr nahm daher
auch gleich anfangs innerhalb dieſes weiten Gebietes gewiſſe Aufgaben
und Rechte, als dem Staate angehörig, in Anſpruch. So entſtanden
die Hoheitsrechte. Kein Begriff war unklarer als dieſer. Der
Zweifel, wie weit die Hoheitsrechte gegenüber der innern Verwaltung
der Landtage gehen, begann daher ſofort und entſchied ſich in den ver-
ſchiedenen Ländern verſchieden. Dennoch zeigten ſich allgemein drei
Grundſätze durchgreifend. Der erſte iſt, daß der Landfrieden (die
Sicherheitspolizei) unter allen Umſtänden eine Sache und ſeine Herſtellung
mithin ein Recht des Landesherrn ſei. Dieſen Grundſatz hat namentlich
das Karolingiſche Comitat zur Geltung gebracht, und er iſt einer der
wichtigſten Faktoren in der ganzen Organiſation der innern Verwaltung
Europas geworden. Der zweite Grundſatz iſt, daß alle landſchaftliche
Verwaltungsaufgaben, welche mit Ausgaben verbunden ſind, als
Sache der Selbſtverwaltung der Landſchaft anerkannt werden, weil nur
dieſe die Aufgaben bewilligen und decken kann, während drittens der
[412] Landesherr alles für ein Hoheitsrecht erklärt, was auf eine oder die
andere Weiſe dem Fiscus eine Einnahme bringen kann. Dieſer
letzte Grundſatz greift dann bekanntlich auch in der Selbſtverwaltung
der Finanzen und des Gerichts durch, indem der Landesherr die indirekten
Beſteuerungsformen einführt, und die Gerichtsbußen für ſich in Anſpruch
nimmt. Es iſt klar, daß hier ſehr wichtige Fragen unentſchieden bleiben,
allein im Weſen iſt dennoch die Sache ſchon beſtimmt organiſirt. Der
allgemeine Satz, daß die ſtändiſche Welt neben dem Königthum als
eine ſelbſtändige Ordnung daſteht, erſcheint daher in den beiden großen
Bildungen des landesherrlichen Organismus und der Landſchaft. Sie
iſt eigentlich noch keine Selbſtverwaltung, denn dieſe ſetzt eine Unter-
ordnung unter die Staatsregierung; ſie iſt vielmehr eine zweite ſelb-
ſtändige Verwaltung neben den Anfängen des letzteren in allen Ge-
bieten des Geſammtlebens.


Dieß nun ſind die Grundlagen der erſten großen Epoche. Und
jetzt beginnt der Kampf beider Elemente, den wir ſchon früher beſchrie-
ben haben. In ſpezieller Anwendung auf die obigen Grundverhältniſſe
der Landſchaft beſteht er darin, daß zuerſt das Verfaſſungsrecht der-
ſelben aufgehoben wird, und der landesherrliche Wille ohne landſchaft-
liche Zuſtimmung Geſetz iſt. Dann ſchiebt die landesherrliche Regie-
rung das landſchaftliche Steuerbewilligungsrecht zur Seite; dann macht
es das Landgericht zu einer zweiten Inſtanz und ſtellt es ſo weit es
möglich iſt unter ſein — das Reichsgericht — als höchſte Inſtanz, was
aber nur ſehr unvollkommen gelingt, da die ſtändiſchen Unterſchiede
und mit ihnen der Grund eines ſelbſtändigen Landesgerichts ſich noch
immer erhalten. Endlich nimmt die landesherrliche Regierung, ohne-
hin Inhaberin der Polizei, unter dem Titel derſelben alle Aufgaben der
innern Verwaltung an ſich, und daher ſtammt dann die für alle Klar-
heit in der Verwaltungslehre ſo verderbliche Verwechslung von Polizei
und Verwaltung, von der wir ſpäter genug zu reden haben werden.
Mit allen dieſen Thatſachen iſt nun die alte Landſchaft nur noch ein
leeres Schema ihrer früheren Aufgabe. Ihre Formen bleiben, aber
ihre Rechte gehören ſchon alle dem Staate. Noch gibt es Landtage,
Landmarſchälle, Landesgerichte, Landesbeamten, Landeswürden; aber
ſie enthalten nur noch eine Erinnerung an das alte Recht. Aber frei-
lich iſt es gerade dieſe Erinnerung, welche, namentlich in Deutſchland,
von ſehr hoher Bedeutung geworden iſt. Denn in ihr lebt das Recht
auf Theilnahme der Völker an der Geſetzgebung und Verwaltung fort,
in der Form des hiſtoriſchen Rechts; und in dieſem Sinne werden wir
ihm wieder begegnen.


In dieſen Zuſtand tritt nun mit dem 18. Jahrhundert der Sieg
[413] der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ein. Die wahre Bedeutung dieſes
Sieges, dem alten Zuſtande gegenüber, liegt nun darin, daß die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft das Recht auf die hiſtoriſche Theilnahme
an Geſetzgebung und Verwaltung zu einem principiellen, mit dem
Weſen der Perſönlichkeit gegebenen erhebt. Die Staaten erkennen dieß
Recht an, und es entſtehen die Verfaſſungen und die neuen Organi-
ſationen der Staatsgewalt. Auch für die Regierung greift jenes Princip
der Theilnahme des Volkes durch; es entſteht die Vorſtellung von der
Selbſtverwaltung. Und jetzt iſt die Frage gegeben, welche Bedeutung
die alte Landſchaft in dieſer neuen Ordnung der Dinge hat und haben
könne? Wie weit und in welcher Form ſie fähig iſt, auch in der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft fortzuleben?


Hier nun muß man auf Grundlage der bisherigen Funktionen der
Landſchaft weſentlich unterſcheiden. Das Princip der verfaſſungsmäßigen
Geſetzgebung iſt, daß ein Geſetz als Geſammtwillen auch nur durch
den Willen der Geſammtheit gebildet werden kann, ohne Rückſicht auf
ſeinen Inhalt und die Verpflichtungen, die es auferlegt. Daraus folgt
der organiſche Grundſatz, daß keine Landſchaft mehr ein Recht
auf ſelbſtändige Theilnahme an der Geſetzgebung
haben
kann. Die Geſetzgebung geht von ihr über auf den geſetzgebenden
Körper der Volksvertretung. Die Landſchaft daher, mag ſie nun be-
ſtehen wie ſie will, exiſtirt damit nur noch als ein Verwaltungs-
körper
, und mit dieſem Satze reiht ſie ſich ein in denjenigen Staats-
organismus, den die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erzeugt. Das iſt
ihre organiſche Stellung in der neuen Zeit. Sie beſteht, inſofern wir
von ganz Europa ſprechen, nur noch als Selbſtverwaltungskörper.


In dieſer Beziehung nun erſcheint allerdings ein Moment, welches
gleichfalls als ein europäiſches betrachtet werden kann. Die Aufgaben
der Staatsverwaltung fangen an, ſo wichtig und umfangreich zu wer-
den, daß ſie eines kleinen Gebietes bedürfen, um überſehen und aus-
geführt zu werden. Der Schwerpunkt der Verwaltung beginnt daher
von den größern Körpern ſich den etwas kleineren zuzuneigen; es wird
dadurch unthunlich, die Landſchaft für ſich allein darzuſtellen. Man
kann dieß Verhältniß nicht beſſer bezeichnen, als indem man die eine
Landſchaft in ihrer adminiſtrativen Seite als eine Einheit des Syſtems
der Gemeinden bezeichnet. Sie iſt aus ihrer Selbſtändigkeit heraus-
getreten und ein Glied eines Ganzen geworden, und gewiſſe Wieder-
holungen ſind daher in der Darſtellung unvermeidlich. Namentlich
aber iſt dieß bei den einzelnen Ländern nothwendig. Dieſe aber ſind
gerade in demjenigen, was wir die Landſchaft nennen, ſo gründlich
und weſentlich verſchieden, daß es wohl kein Gebiet gibt, in welchem
[414] die Individualität der Staatsbildung ſo prägnant erſchiene als hier.
Wir werden uns aber wieder auf England, Frankreich und Deutſchland,
als die Träger der drei Grundformen dieſes Organismus, zu beſchränken
haben.


1) England. Die alteCounty,derSheriffund dieCoroners,die neue
Countyund dieQuarterly Sessions.

England iſt mit wenigen Ausnahmen ein gleichmäßig ebenes Land.
Jeder ſeiner Theile iſt auf allen Punkten zugänglich. Die Flüſſe im
Innern, das Meer an der Küſte verbinden alle Gebiete deſſelben. Es
hat daher keine Länder. Aus demſelben Grunde hat auch jeder ſieg-
reiche Stoß, der es von außen her getroffen, ſtets das ganze Land
gleichmäßig unterworfen. Die Stammesverſchiedenheit iſt für den bei
weitem größten und wichtigſten Theil, das eigentliche England, niemals
dauernd geweſen, und hat ſich daher auch in den kleinern Theilen, ſelbſt in
Schottland und Irland, geſchweige denn in Wales, nicht zu einer ſelb-
ſtändigen Geſellſchaftsordnung entwickeln, und deßhalb ſich namentlich
in den herrſchenden Claſſen nicht erhalten können. England erſcheint
uns daher, in tiefer Verſchiedenheit von allen Staaten des Continents,
als ein Ganzes, vom Anfange ſeiner Geſchichte bis auf den heutigen
Tag. Und das, für andere Dinge entſcheidend, iſt es nicht weniger
für die Geſtaltung der Selbſtverwaltung im Allgemeinen, ſo wie der
Landſchaft insbeſondere geworden.


England beſitzt daher niemals Landſchaften im continentalen Sinn;
ſo wenig in der ſtändiſchen als in der ſtaatsbürgerlichen Epoche. Gleich
von Anfang an iſt das ganze, einheitliche Reich in ſeinem Könige ver-
treten; die däniſchen Landſchaften (Königreiche) verſchwinden, ohne andere
Spuren als die Namen zurückzulaſſen, und die Eroberung Wilhelms
vollendet die Nivellirung jeder ſtaatlichen Bildung in den einzelnen
Landestheilen. Es gibt daher nirgends ſelbſtändige Landtage, nirgends
eine eigene, von dem Ganzen ſtreng abgeſchiedene Rechtsbildung, nir-
gends ein Privateigenthum der Stände, nirgends die Frage, in welchem
Verhältniß dieſe Stände mit ihren Beſchlüſſen zum herrſchenden Körper
des ganzen Reiches ſtehen. Es iſt von Anfang gar kein Zweifel, daß
das Recht, die Steuergewalt und die Reichsverwaltung nur vom Mittel-
punkte des Staats ausgehen. Dieſe ſelbſt beſteht gleich anfangs aus
dem Könige, aber nicht in der Mitte dieſer oder jener Herren, welche
ihm lehnstreu ſind, ſondern der geſammten Ritterſchaft. Die Curie
iſt der Reichshof, in dem alle Barone ſitzen; ſie ſind nicht in
hundert landſchaftliche Körper getheilt, ſondern die Stände bilden ein
ungetrenntes Ganze wie das Reich, und dieſe Stände ſind eben das
[415] Parlament. Das iſt es, worauf der tiefe Unterſchied Englands vom
Continente beruht.


Es folgt daraus zuerſt, daß dieſe Geſammtheit der Stände dem
Königthum gegenüber natürlich dieſelben Rechte in Anſpruch nimmt,
dieſelben Principien vertheidigt, welche auf dem Continent die ein-
zelnen Landſchaften vertreten. Das Princip der parlamentariſchen Geſetz-
gebung in England iſt daher bis auf den heutigen Tag ein ſo weſent-
lich verſchiedenes von dem continentalen, daß man ſie nie ohne weiteres
verſchmelzen ſollte. Englands parlamentariſche Rechte ſind ſtändiſche
Rechte. Ihre Baſis iſt die privatrechtliche Unmöglichkeit, über das
Eigenthum des Einzelnen ohne ſeine Zuſtimmung zu verfügen, nicht
die abſtrakte Idee der freien Perſönlichkeit. In England beruht die
Verfaſſung und ihr Recht nicht auf der idealen Auffaſſung des Staats-
begriffes, ſondern auf dem concreten, mit Recht begabten Individuum.
Daraus nun folgt wieder, daß das Parlament zwar ein Geſetz erlaſſen,
daß es aber ſelbſt ſo wenig als der König die Steuern ausſchreiben
kann, die für die Vollziehung des Geſetzes nothwendig ſind, wenn dieſe
eine örtliche iſt. Es iſt Sache des örtlichen Ganzen, das zu thun.
Daß es geſchehe, dafür haftet eben das örtliche Ganze; das Mittel,
die Haftung herzuſtellen, iſt die Privatklage. Einen Verwaltungsorga-
nismus, der dafür ſorgt und dafür verantwortlich iſt, gibt es eben
nicht. Von dieſem Geſichtspunkt muß das ganze innere Leben des
Reichs betrachtet werden.


Offenbar nämlich iſt die erſte Bedingung für alles, was in dieſem
Sinne Verwaltung heißt, daß es ſolche örtliche, für die wirkliche Voll-
ziehung der Parlamentsbeſchlüſſe verantwortliche und klagbare Körper
gebe. Dieſe Körper enſtehen auf dem Continent meiſt auf Grund der
Grundherrlichkeit. Eine Grundherrlichkeit in England gibt es wieder
nicht. Es gibt zwar Grundherren, welche ihre Hinterſaſſen auf ihren
großen Gütern haben, allein die letztern ſind bei aller wirthſchaftlichen
Abhängigkeit ſtaatlich frei; der Grundherr beſitzt vermöge ſeines Be-
ſitzes kein einziges ſtaatliches Hoheitsrecht als Eigenthum; d. i. es exi-
ſtirt keine Grundherrlichkeit. Der freie Bauernſtand ſteht feſt im
ganzen Reich. Jene Körper, die verantwortlichen Organe für die Voll-
ziehung der Geſetze, ſind daher keine Landſchaften, ſondern ſie ſind von
Anfang an Verwaltungsbezirke. In dieſem Verwaltungsbezirk
hat das Königthum nur Eine Aufgabe, die ihm ausſchließlich zukommt;
das iſt die Innehaltung des Friedens. Im Uebrigen hat es keine
Gewalt. Aber es muß fordern, daß durch ein Gericht die wirkliche Voll-
ziehung der Geſetze möglich gemacht werde; es muß ſogar unter Um-
ſtänden ſelbſt klagen; es muß das Geſetz durch Klage zur Verwirklichung
[416] bringen. Dazu bedarf es gleichfalls eines Organes. Endlich muß, da
eben die Geſetze für dieſe Körper gelten ſollen, dieſer Körper ſelbſt das
Organ für die Herſtellung des Parlaments ſein; er iſt der natürliche
Wahlkörper. Es iſt dieſer Verwaltungskörper daher die Grundlage der
ganzen innern Geſetzgebung und Verwaltung. Er iſt es daher auch,
der durch Steuern die Mittel zur wirklichen Vollziehung der Geſetze
herzuſtellen hat; er iſt daher der erſte Körper der Selbſtbeſteuerung.
Zugleich hat er innerhalb ſeiner Sphäre keine beſonderen Rechte der
ſtändiſchen Gliederung anzuerkennen; das Ständeweſen iſt bereits im
Parlamente vorhanden; das Parlament iſt in Wahrheit die Landſchaft,
ſo weit es ſich um ſtändiſche Unterſchiede handelt; da wo die Verwal-
tung beginnt, und mit ihr die Gleichheit, verſchwindet in England die
Landſchaft, und ein ſtaatlicher Körper tritt ein. Dieſer ſtaatliche Körper
iſt nun die alte germaniſche Grafſchaft, die Shire, die dann County
heißt; der Vertreter des Königthums und das Haupt des Friedens, der
Comes Stellvertreter, iſt der Shyre-grefa, der Sheriff; der Anwalt des
Geſetzes iſt der Coroner. Das iſt die Grundlage der Organiſation, die
der continentalen Landſchaft entſpricht, weſentlich von ihr verſchieden,
dennoch gleichartig. Die Angehörigen der Shires oder Counties aber,
verpflichtet und eventuell angehalten von Sheriff und Coroners, die Ge-
ſetze des Parlaments auch in den Dingen zu vollziehen, wo dieſelben
mit Auflagen verbunden ſind, müſſen ſich, um der Klage zu entgehen,
ſelbſt beſteuern. So entſtehen die Grafſchaftsſteuern, die County
rates,
die materielle, urſprünglich alleinige Baſis der wirklichen örtlichen
Verwaltung. Sie ſind wie die Verwaltung ſelbſt, ungemein einfach.
Aber da ſie ein privatrechtliches Objekt des Einzelvermögens haben, ſo
müſſen ſie beſchloſſen und vertheilt werden von denen, welche ſie zu zahlen
haben. So entſteht der Grundſatz, daß dieſe Selbſtverwaltung ihre
Rechtsordnung an den Beſitz und die Steuerfähigkeit knüpft;
nicht wie auf dem Continent an ſtändiſche Unterſchiede. Auf dieſe Weiſe
bildet die Geſammtheit der Steuerzahler innerhalb der County die
County Court, die Selbſtverwaltungskörper der Juſtiz- und Finanz-
verwaltung, aus dem ſich zugleich die Vollziehung der adminiſtrativen
Geſetze ergibt. Das ſind die urſprünglichen Grundlagen der Selbſtver-
waltung in den größern Körpern in England; das ſtaatliche und das
freie Element ſind hier klar geſchieden und klar vertreten. Die perſön-
liche Freiheit dieſer Landſchaft iſt dabei vertreten durch das alte könig-
liche Organ, den Sheriff; ſeine Rechte ſind eigentlich die der Landſchaft
als County.


Dieß Verhältniß nun ändert ſich allmählig in dem Maße, in
welchem die Aufgaben der Verwaltung des Innern beſtimmter heraus-
[417] treten. Für dieſe iſt auch in England die County ein zu großer Bezirk.
Sie hätte nur als höchſtes verordnendes oder oberaufſehendes Organ
wirken können; allein beide Rechte beſaß nur die Volksvertretung im
Parlament. Für die wirkliche Vollziehung mußte ſowohl die Staats-
gewalt als das Volk ſich einen kleineren Körper ſuchen. Dagegen mußte
andererſeits das Rechtsleben ſich einheitlicher geſtalten, und die Wehr-
verfaſſung, die bisher nur auf der County beruhte, gleichfalls der eigent-
lichen Staatsverwaltung überwieſen werden. Dieſer Proceß, welcher
der engliſchen Landſchaft eigentlich ihre ganze alte Bedeutung in der
Selbſtverwaltung bis auf Einen Punkt nimmt, zeigt ſich am klarſten
eben in den Rechten des Sheriffs. „Er hat ſeine ordentliche Strafgerichts-
barkeit ſchon durch die Magna Charta, ſeine Civilgerichtsbarkeit durch
die Entfaltung der Reichsgerichte, ſeine Militärgewalten durch die Lord-
lieutenants, und ſeine Polizeigewalten durch die Friedensrichter verloren“
(Gneiſt II, 25.) — und mit ihm die Grafſchaft. Der Schwerpunkt der
Selbſtverwaltung fällt von da an aus der County in das Syſtem der
Gemeinden, das an der Armenſteuer ſogar das entſcheidende Princip
für die Selbſtbeſteuerung aufſtellt, und die alte County rate ſich unter-
ordnet. Auch die, in Deutſchland ſo wichtig gewordene ſociale Funktion
der Landſchaft hat die County nicht, weil die ſtändiſchen Unterſchiede
ihre volle Vertretung im Parlament finden; eben ſo wenig kann das
Organ der Grafſchaft in dem Sinne eines franzöſiſchen Conſeils fun-
giren, da ſie nicht einem Amte wie der Präfektur unterſteht. Die
Schwierigkeit, darnach die Stellung der County im Organismus der
Selbſtverwaltung noch zu beſtimmen, und das ganz entſchiedene Ueber-
gewicht, welche das Friedensrichterthum über den alten Sheriff — dem
zum Landmarſchall nur ein Landtag von wirklichen Ständen fehlte —
gewinnt, hat auch Gneiſt beſtimmt, das ganze engliſche Selfgovern-
ment nur als Communalverfaſſung aufzufaſſen. Dennoch behält die
County auch in der Selbſtverwaltung der neuern Zeit ihre ſpecifiſche
Funktion. Sie iſt ein weſentlicher Körper in der Selbſtver-
waltung der Rechtspflege
geblieben, und das iſt nur dann zu
überſehen, wenn man die Rechtspflege nicht eben ſo gut als Finanzen
und Inneres als Gegenſtand der Selbſtverwaltung auffaßt. Von dieſem
Standpunkt aus aber gewinnt die County nicht bloß eine klare, ſondern
auch eine den continentalen Landſchaften analoge Stellung. Sie iſt
das Landesgericht der Selbſtverwaltung. Durch dieſe ihre
Aufgabe wird nun die ganze Organiſation der County, ihre Beſtim-
mung und ihre Funktion leicht verſtändlich. Wir müſſen für alles
Einzelne hier auf Gneiſt verweiſen; es wird wohl für lange Zeit nie-
mand etwas dem hinzuzubringen vermögen, was er uns gewonnen.
Stein, die Verwaltungslehre. I. 27
[418] Im Ganzen aber iſt das Bild der County, für ſich gedacht und ge-
ſchieden in Organismus und Funktion von dem Gemeindeſyſtem, dem
die innere Verwaltung unter der örtlichen Rechtspflege zufällt, folgendes.


Die Aufgabe der County als Landesgericht iſt eine doppelte. „Die
heutige Grafſchaft iſt ein aus zwei Syſtemen zuſammengeſetztes Com-
munalweſen, in welchem die incorporirten Städte eine zuſammengeſetzte
Bildung von Kreispolizei- und Ortsgemeindeverfaſſung (ſ. unten) dar-
ſtellen.“


Die County iſt nämlich zuerſt der Selbſtverwaltungskörper des
Landesrechts, und zwar nach dem Untergang der alten County
Court
(des hiſtoriſchen Landesgerichts) und der Bedeutung des Sheriffs
(Gneiſt Cap. III.) für das bürgerliche Recht in den Quarterly sessions
der Friedensrichter, welche wieder eine original jurisdiction (Landes-
gericht als erſte Inſtanz) und eine appellate jurisdiction (Landesgericht
als zweite Inſtanz) enthält. Die Petty und die Special sessions der
Friedensrichter gehören ſchon dem Gemeindeſyſtem an. Für das Straf-
recht treten die Grundſätze der Geſchworenenverfaſſung ein, die ſowohl
für die Aſſiſen als für die Quarter sessions gelten, und für welche die
alte County die Grundlage bildet. (Gneiſt Cap. V.)


Die County iſt aber zweitens der Selbſtverwaltungskörper des
Verwaltungsrechts in zweiter Inſtanz. Das heißt, da die Ver-
waltungsakte der Behörde — der Friedensrichter — nur Vollziehungen
des geltenden Rechts ſind, ſo kann die Verwirklichung des Verwaltungs-
rechts überhaupt nur in dem Wege eines Recurſes geſchehen, und das
Organ, welches über dieſe Akte bei ſolchen Verwaltungsklagen ent-
ſcheidet, iſt dann eben die County. Nur muß man dabei eben den
Satz feſthalten, daß es ſich im Verwaltungsrecht jedesmal nur um das
Klagrecht handelt, welches in England das Recht und die Thätigkeit
der oberaufſehenden Behörde vertritt. Die Unterſcheidung zwiſchen bür-
gerlichem und Verwaltungsrecht, und mithin die zwiſchen jenen beiden
Funktionen exiſtirt formell nicht, ſondern muß in der Sache ſelbſt ge-
ſucht werden.


Dieſe landesgerichtliche Aufgabe der engliſchen Landſchaft, der
County gegenüber dem Syſteme der Gemeinde, iſt nun bei weitem
überwiegend. Dennoch hat dieſelbe auch einen Theil der wirklichen Ver-
waltung, und hier iſt es, wo ſie ſich den continentalen und namentlich
den deutſchen Landſtänden in ihrer Thätigkeit nähert, wenn auch das
ſociale Element faſt ganz verſchwunden iſt. Es iſt bei der engliſchen
County ſogar dieſelbe Unbeſtimmtheit der Gränze für die Punkte vor-
handen, in denen ſie noch eigentliche Verwaltungsrechte ausübt. Sie
ſind hier wie dort im Grunde Reſte des frühern Rechts, und ſchließen
[419] ſich zum Theil an den Beſitz des Landeseigenthums an. Wir müſſen,
um nicht in neue Wiederholungen zu verfallen, für alles Einzelne auf
Gneiſt II, §. 60. verweiſen und führen nur die Hauptkategorien an,
unter welchen das Recht der Verwaltung der County, ſo weit es er-
halten iſt, aufzufaſſen iſt.


Das Organ der County zunächſt beſteht in der Verſammlung der
Friedensrichter, den Quarter sessions, und das iſt der Grund, weßhalb
man allerdings formell die County in das Communalſyſtem mit Gneiſt
hineinrechnen kann, obwohl ſie in Urſprung und Bedeutung ein ſelb-
ſtändiges Glied der Selbſtverwaltung iſt. Das urſprüngliche Organ
war der Sheriff und der Coroner. Jetzt beſitzt die Quarter session
ihren Kreisſekretär, den Clerk of the Rules, ihren County Treasurer
nebſt einer Anzahl untergeordneter Landſchaftsbeamten für die Land-
ſchaftsfinanzen, und einige eigentliche Verwaltungsbeamten, nament-
lich die Inſpektoren für Wege, Irrenhäuſer u. ſ. w.


Das Recht der Quarterly sessions und der County geht zunächſt
dahin, eigene Verordnungen zu erlaſſen, die urſprünglich der ganzen
Thätigkeit der County gehörten, ſpäter aber zum Theil in das Syſtem
der Gemeinden gefallen, und damit den Special sessions überwieſen
ſind. In dieſem Sinne nennt Gneiſt ſie „die ordentliche Kreispolizei-
behörde in allen Angelegenheiten der Strafjuſtiz und Polizei.“ Sie
haben endlich ſogar ganz beſtimmte wirkliche Verwaltungsaufgaben,
und dieſe ſind denen der deutſchen Landtage ſehr analog. Sie haben
die Verwaltung des Landſchaftsvermögens, der County stocks, deren
Handhabung dem Clerk of the peace übertragen iſt; ſie haben nament-
lich einen weſentlichen Theil des Wege- und Brückenweſens, ſo weit ſie
auf der County rate beruhen, die ganze Verwaltung des Gefängniß-
weſens, ſo wie der Irrenhäuſer, und eine Mitwirkung bei den Inſti-
tutionen des Hülfsweſens, der Sparkaſſen und Alterskaſſen und ähnlicher
Anſtalten. Endlich greift die Landſchaft durch ihre Quarter sessions
ein in die Thätigkeit des ganzen Syſtems der Gemeinden; nur iſt hier
die Trennung eigentlich auf kein Princip zurückzuführen, ſondern hat
ſich hiſtoriſch gebildet, und auch das Steuerſyſtem zeigt uns daſſelbe
Verhältniß zwiſchen County rate, poor rate u. ſ. w. Gneiſt hat die
einzelnen Punkte in §. 60 genauer bezeichnet. Es ſcheint nicht als ob
hier weſentliche Veränderungen wahrſcheinlich wären, auch dann nicht,
wenn die amtliche Seite des Syſtems der Gemeinden ſich noch viel mehr
ausbilden ſollte. Nur läßt ſich keine rechte ſociale Selbſtändigkeit der
County auffinden, die den Landſchaften in Deutſchland entſpräche,
wenn es gleich kein Zweifel ſcheint, daß die County der Hauptkörper
der angelſächſiſchen Selbſtverwaltung iſt, während der Friedensrichter
[420] der normanniſch-ſtaatlichen Formation angehört. Die wahre Bedeu-
tung der engliſchen Selbſtverwaltung liegt daher auch hier in dem
Syſtem der Gemeinden, an deren Spitze der Friedensrichter ſteht, und
zu denen wir unten gelangen.


Ganz anders, und kaum noch eine Landſchaft zu nennen, iſt das,
was in Frankreich dieſelbe ſeit der Revolution vertritt.


2) Frankreich. DasDépartement,dasConseil de préfectureund das
Conseil général.

Wir dürfen hier die alte Landſchaft Frankreichs als eine hiſtoriſch
gänzlich verſchwundene Erſcheinung übergehen. Es genügt wohl, zu
bemerken, daß dieſe allerdings im vollen Sinne des Wortes eine Land-
ſchaft war. Sie hatte nicht bloß eine ſelbſtändige Geſetzgebung für
ihre eigenen Angelegenheiten in ihren Ständen, den États, ſondern ſie
verwaltete auch das ganze Finanzweſen, ſo weit es nicht auf Hoheits-
rechten beruhte, und war namentlich in jenen États das Organ der
Steuerbewilligung der ſtändiſchen Epoche, die ſich bekanntlich nur auf
die direkten Steuern bezog. Sie hatte außerdem ihre eigene Organi-
ſation, ihre eigenen Beamteten, ihre eigene Rechtsbildung in dem droit
coutumier,
unter dem man bekanntlich nicht etwa ein Gewohnheitsrecht,
ſondern eben das Landesrecht gegenüber dem Reichsrecht zu verſtehen
hat, ihre eigene Rechtsverwaltung, zwar nicht in Jury’s, wohl aber
in den Landesparlamenten, die einander gegenüber ganz ſelbſtändig
waren, und einen ſehr weſentlichen Theil der innern Verwaltung.
Sie waren daher bei der faſt unbedingten Abhängigkeit der übrigen
Lebensverhältniſſe des Staats vom Centrum des letztern der Sitz der
Selbſtändigkeit; in ihnen ſtellte ſich das hiſtoriſche Recht dem königlichen
entgegen; an ſie wagte ſich das ſonſt allmächtige Königthum nicht;
durch ſie lebte die Vorſtellung der ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit fort,
die ſich in dem Rechte der Parlamente, einer königlichen Verordnung die
Gültigkeit der Geſetze durch Eintragung in die Parlamentsbücher zu
verleihen, oft dem königlichen Willen gegenüber ſehr beſtimmt äußerte;
ſie waren im Ganzen der Ausdruck des germaniſchen Princips im
franzöſiſchen Staatsleben, das erſt die Revolution dem romaniſchen
einer centralen Despotie geopfert hat. So haben die Landſchaften
ſelbſt unter Ludwig dem XIV. und XV. beſtanden, und noch unter
Ludwig XVI. kurz vor der Revolution einen Kampf mit dem König-
thum gekämpft, in dem ſie zuletzt Sieger blieben. Das war die Zeit
Meaupou’s und der Verbannung des Pariſer Parlaments nach Orleans.
In dieſem Sinne forderte auch Necker, und in Deutſchland Benzenberg
(Preußens Geldhaushalt S. 51) ſolche landſchaftliche oder kreisähnliche
[421] Selbſtverwaltungskörper, allerdings auf Grundlage der États. Aber
die franzöſiſche Revolution hat alle germaniſchen Elemente Frankreichs
vielleicht für immer vernichtet, jede Selbſtändigkeit eines Theils unter
die Herrſchaft des Ganzen begraben, und jeder ſocialen Verſchieden-
heit ihre objektiven Berechtigungen genommen. Seit 1790 gibt es in
Frankreich keine Landſchaften mehr. Die Länder verſchwinden, und an
ihre Stelle treten die adminiſtrativen Eintheilungen; die États hören
auf mit dem Adel, ſelbſt der tiers état iſt nur noch eine hiſtoriſche
Erſcheinung, und die Assemblée nationale tritt an ihre Stelle. Vor
allem aber verſchwindet die alte Selbſtverwaltung. Wir haben ſchon
oben die hohe Bedeutung der Staatsverwaltung und ihre admini-
ſtrative Souveränetät bezeichnet. Die letztere iſt allerdings begründet
durch die Geſchichte des Königthums; aber ſie empfängt doch erſt ihre
volle Entwicklung durch die Herrſchaft des volonté générale. Sie läßt
keine zweite Verwaltung neben ſich zu, und kann es nicht, ſoll anders
die neue Ordnung der Dinge im innern Leben Frankreichs ſiegen, und
dennoch eine Verantwortlichkeit möglich ſein. Wo iſt da Raum für
das, was wir eine Landſchaft nennen?


Dennoch iſt das Princip der Theilnahme des Einzelnen im öffent-
lichen Willen ſo beſtimmt in der ganzen franzöſiſchen Revolution aus-
geſprochen, daß es auch in der Verwaltung ſeine Geltung verlangt.
Nur kann man die letztere um dieſer Theilnahme willen, nicht die Ge-
walt der Verwaltung in die Hände der Einzelnen geben. Es bleibt
daher nichts übrig, als dieſe Theilnahme, oder die Selbſtverwaltung
überhaupt und ſpeziell die der Landſchaft, an das Behördenſyſtem als
Syſtem von Räthen anzuſchließen. Und ſo iſt die ganze Selbſtverwal-
tung und ſpeziell das franzöſiſche Departement entſtanden. Nur kann
man es in ſeiner Organiſation von dem Gemeindeſyſtem gar nicht
trennen. Wir haben dieſen Grundſatz ſchon oben in ſeinem Verhältniß
zum ganzen Charakter der franzöſiſchen innern Verwaltung bezeichnet;
wir verweiſen hier nochmals auf Laferrière, Droit administr. L. II. 1.
Ch.
3. Schon das Dekret vom 22. Dec. 1789 ſagt: L’État est
un; les départements ne sont que des sections du même tout; une
administration uniforme doit les embrasser tous dans un régime
commun.“
— Das ging ſo weit, daß das Departement im Anfang
nicht einmal ein eigenes Budget hatte; die Convention centraliſirte
auch die Departementalabgaben „et le principe d’unité et d’indivisi-
bilité se formulait en cette manière par ces mots: „Un État, un
budget.“
Bis dann die unabweisbare Gewalt der Dinge wenigſtens
die délibération von der action trennt und ſo auf zwei Organismen die
Ordnung auch des Departements erbaut. Das Geſetz, welches dieſe
[422] Organiſation aus dieſen Principien heraus beſtimmte, und daher bis auf
den heutigen Tag keine weſentlichen Aenderungen erfahren hat, iſt das
Geſetz vom 28. Pluvioſe an VIII. Nirgends iſt die Idee dieſes Geſetzes
und jener ganzen Organiſation klarer ausgeſprochen, als in dem Bericht
des Staatsraths Röderer. Wir fügen die betreffende Stelle hier an.
Er ſagt:


Dans l’administration locale, qu’il faut distinguer de l’admi-
nistration générale, comme on distingue les administrateurs des
ministres,
on reconnait trois services distincts: 1) l’administration
proprement dite, 2) les jugemens qui se rendent d’office en
matière de contributions, et qui consistent dans les différentes réparti-
tions qui se font entre les masses et les individues, 3) le jugement
du contentieux dans toutes les parties de l’administration. Le
projet sépare ces trois fonctions. Il remet la première à un
seul magistrat dans chaque degré du pouvoir administratif, savoir:
au Préfet, au Sous-Préfet, et au Maire. Il remet la seconde à
des Conseils de département, à des Conseils d’arrondissement com-
munaux et aux répartiteurs municipaux dont l’existence est con-
servée. Il remet la troisième à un Conseil de préfecture. Ces
dispositions sont fondées sur deux principes: qu’administrer est
le fait d’une seul homme, et juger le fait de plusieurs.“


Obwohl nun bei der Annahme des Geſetzes einige nicht unweſent-
liche Modifikationen durchgingen, ſo blieb doch das Ganze beſtehen.
Das Departement hat damit ſeine eigene Selbſtändigkeit ſo gut als
ganz verloren. Es hat nur noch eine Exiſtenz der organiſchen Zweck-
mäßigkeit, es iſt ein adminiſtrativer Begriff und bietet uns nur eine
ſpezielle Anwendung der ganzen Organiſation Frankreichs. Wir können
ſie ſehr kurz bezeichnen, denn klar und durchſichtig iſt, was die franzö-
ſiſche Geſetzgebung ſeit jener Zeit geſchaffen hat.


Das Département, für ſich als ſelbſtändiges Organ betrachtet,
beſteht aus drei Elementen, dem Préfet, dem Conseil de préfecture und
dem Conseil général. Das Arrondissement gehört bereits dem Syſteme
der Gemeinden.


Der Préfet iſt im Behördenſyſteme Frankreichs das eigentliche
Haupt deſſelben. Seine Funktion iſt der Ausdruck der Funktionen,
welche dem Amtsweſen in Frankreich gegeben ſind, und die Stellung,
welche die Räthe zu ihm einnehmen, bezeichnet daher auch die Stellung
der Selbſtverwaltung überhaupt. Er beſitzt die verwaltende — die
oberaufſehende — und die richterliche Gewalt. Als verwaltendes Organ
hat er das Recht der Verordnung und zwar für alle drei Gebiete der
Verwaltung. Als oberaufſehende Gewalt hat er die Genehmigung für
[423] die Beſchlüſſe der Gemeinden und die Controle ihrer Thätigkeit. Als
richterliche Gewalt endlich iſt er die erſte Inſtanz in der Jurisdiction
administrative
und contentieuse. Bis 1852 war er in allen dieſen
Beziehungen vornehmlich das Organ der Miniſter; das Dekret vom
27. März 1852 hat ihn von den Miniſtern etwas unabhängiger, dafür
aber ihn perſönlich mächtiger und verantwortlicher gegenüber dem Staats-
oberhaupt gemacht; die Decentraliſation iſt in der That nichts als eine
ſchärfere Unterwerfung des Préfet unter den perſönlichen Willen des
Monarchen, die weitere Ausführung des Grundſatzes, der ſchon in der
Aufhebung der perſönlichen Verantwortlichkeit der Miniſter und der
Uebertragung derſelben an den Kaiſer ausgedrückt iſt. Neben dem Préfet
ſtehen nur zwei Rathskörper mit weſentlich verſchiedenen Aufgaben.


Das Conseil de préfecture war urſprünglich als Verwaltungs-
gericht aufgefaßt, und bildete damit den Ausdruck der ſelbſtändigen
Departemental- oder Landſchaftsverwaltung. (S. oben.) Es hat dieſen
Charakter nie ganz verloren; man hat 1841, 1846 und endlich wieder
1848 daran ändern wollen, ohne etwas Weſentliches zu erzielen. Auch
jetzt iſt man im Grunde noch über das Geſetz vom 28. Pluvioſe an VIII
nicht hinaus. Der Kern der Frage über das Conseil liegt in Frank-
reich nicht in dem Streben, demſelben eine neue Stellung zu geben,
ſondern vielmehr in der Competenzbeſtimmung, in der jurisdiction ad-
ministrative,
gegenüber dem Conseil d’État. Die Frage hat, obwohl
ſie für Frankreich von großer Wichtigkeit iſt, keine allgemeinere Bedeu-
tung. Das Verhältniß aber, in welchem der Conseil de préfecture
zum Préfet ſteht, beruht auf folgenden Punkten.


Jeder Präfektur iſt ein ſolches Conseil beigegeben; ſeit dem Dekret
vom 28. März 1852 in vier Mitgliedern. Dieſe haben theils als Be-
amtete, theils aber als Räthe zu fungiren; dennoch ſind ſie, obwohl
ſie vom Staatsoberhaupt ſchon gleich anfangs ernannt worden ſind
(Geſetz vom 28. Pluvioſe an VIII, Art. 18), doch keine wahren Beamteten,
denn ſie dürfen alle Nebengeſchäfte betreiben, die ihnen nicht ausdrücklich
unterſagt ſind. Als Beamtete ſind ſie weſentlich die erſte Inſtanz der justice
administrative
und zwar in ſieben ziemlich beſtimmten Fällen. Dieſe
Funktion iſt dadurch von denen der eigentlichen Behörden verſchieden,
daß ſie nicht dem Präfekten referiren, ſondern hier ſelbſt entſcheiden.
Dagegen ſtehen ſie als eigentliche Räthe neben dem Préfet gleichfalls
in einer Reihe von Fällen, wo das Conseil ſeinen Avis gibt, ohne daß
der Préfet daran gebunden wäre. Man findet ſchon hier die Unter-
ſcheidung zwiſchen délibérer und donner avis; denn in manchen Fällen
iſt der Préfetverpflichtet, das Gutachten des Conseil einzuholen,
in manchen ſteht es ihm bloß frei. Im erſten Fall heißt es: der „Préfet
[424] statue en Conseil de préfecture.“
Dahin gehören namentlich gewiſſe
Steuerfragen und Verhältniſſe der Gemeinden. Doch ſind auch hier
dieſe Fälle ſehr ſchwer zu beſtimmen, da eigentlich ein Princip fehlt,
und die Zweckmäßigkeit der Organiſation maßgebend geworden iſt.
Neben dieſem Conseil, das demnach mehr den Vertretungen angehört,
ſteht nun das zweite, das den Ausdruck der eigentlichen Selbſtverwal-
tung bildet, ſo weit es eine ſolche in Frankreich gibt.


Das iſt das Conseil général. Das Conseil général iſt eigent-
lich das Organ der Selbſtverwaltung in der Steuerverfaſſung
Frankreichs, und zwar für die Departements. Die gegenwärtige Ord-
nung und Aufgabe derſelben beruht auf den Geſetzen vom 22. Juni
1833, vom 10. Mai 1838 und endlich auf dem Dekret vom 2. Febr. 1852.
Das Conseil général wird nicht wie das Conseil de Préfecture vom
Staatsoberhaupt ernannt, ſondern auf derſelben Grundlage wie das
Corps législatif von dem Departement kantonsweiſe gewählt; doch
dürfen nicht mehr als 30 Mitglieder darin ſein. Ihre Wahl gilt auf
neun Jahre. Das Conseil wird vom Préfet berufen und geſchloſſen.
Seine Aufgaben zeigen uns, da hier das Vertretungsverhältniß zum Be-
amtenthum wegfällt, die darin früher erwähnten Kategorien; er hat
das Recht zu beſchließen, aber nur über die Contributions directes
entre les arrondissements;
er hat das Recht zu berathen, und
zwar iſt der Gegenſtand dieſer Berathung das budget du département,
welches der Préfet vorlegt, das Conseil beräth und der Kaiſer ſanktionirt.
Hier iſt die Selbſtverwaltung der Aufgaben der innern Verwaltung
enthalten; denn natürlich iſt jenes Budget eben nichts als der Aus-
druck der Ausgaben, welcher durch die ſpezielle Departementsverwaltung
gefordert werden. Aber das Verhältniß dieſer landſchaftlich berathenden
Rechte zum Staatsorganismus iſt wieder verſchieden, indem die Beſtä-
tigung keineswegs immer von demſelben Organ gegeben werden kann.
Der Kaiſer beſtätigt das Budget; die Miniſter beſtätigen die Be-
ſchlüſſe über Wegeweſen des Departements, Gefängnißweſen, öffent-
liche Bauten, ſowohl des Departements als der Communes. Der
Préfet endlich kann einſeitig eine Reihe von kleinen Anträgen beſtätigen,
welche aus der Berathung des Conseil hervorgehen. Das Conseil hat
endlich zu begutachten über gewiſſe einzelne Punkte der innern
Departementsverwaltung, welche ihm vom Préfet vorgelegt werden.


Faßt man nun das Geſagte zuſammen, ſo erſcheint die franzöſiſche
Landſchaft in Aufgabe und Organiſation als der letzte Reſt der Selb-
ſtändigkeit der Selbſtverwaltung, der noch dieſen Namen führen kann.
Préfet, Conseil de préfecture und Conseil général bilden ein Ganzes,
in welchem nicht etwa wie in Deutſchland die Organe der Selbſt-
[425] verwaltung dem Organismus des Staats ſelbſtändig gegenüber ſtehen,
ſondern vielmehr nur eine Vertheilung der amtlichen Funktion ent-
halten. Namentlich die Conseils généraux ſind eigentlich nur gewählte
amtliche Organe, ſoweit ſie entſcheidende Stimme haben, und gewählte
Räthe der Regierung für Landſchaftsangelegenheiten, ſoweit ſie berathen
und begutachten. Dennoch erſcheinen ſie als Formen der Selbſtverwal-
tungskörper, denn das Departement iſt die geſetzliche Landſchaft, und
jene Funktionen beruhen auf Geſetzen und nicht auf dem Willen der
Regierung. Dagegen haben ſie weder vollziehende Gewalt, noch Ver-
ordnungsgewalt, noch Steuergewalt, noch eine bürgerlich gerichtliche;
nur für den Verwaltungsproceß ſind die Conseils de préfecture ſelb-
ſtändige Organe, aber doch nur erſte Inſtanzen. Ebenſo wenig ſind
dieſelben Ausdrücke ſelbſtändiger ſocialer Bildungen. Sie laſſen den
Antheil des Volkes an der örtlichen Verwaltung nur als Conſequenz
eines Princips, und nicht als Ausübung eines Rechts zu, und daher
ſind ſie ſowohl wie die folgende Form des Gemeindeweſens kurz geſagt
das, was wir als die romaniſche Form der Selbſtverwaltung
gegenüber der germaniſchen
bezeichnen. Dieſe nun hat ihren
reinſten Ausdruck erſt in Deutſchland gefunden.


3) Deutſchland. Die deutſche Landſchaft, die ſtändiſchen Ver-
faſſungen und die Provinzialſtände
.

Obwohl der Gang der Dinge und der Mangel an vergleichender
Wiſſenſchaft der Rechtsbildung die natürliche Auffaſſung des deutſchen
Landſchaftsweſens ſehr verwirrt hat, ſo ſind dennoch die Grundlagen
deſſelben ſo einfach und durchgreifend, daß über ihre Richtigkeit und
Bedeutung kein Zweifel ſein kann. In der That iſt Deutſchland die
Heimath des eigentlichen Landſchaftsweſens; hier hat es noch die beiden
Charaktere, welche es auszeichnen; es iſt zugleich ein adminiſtrativer
und ein ſocialer Körper der Selbſtverwaltung. Nur muß man dabei
einen etwas ungewöhnlichen Weg der Auffaſſung einſchlagen.


Wir ſetzen die Geſchichte der deutſchen Landſchaft bis zum Anfange
dieſes Jahrhunderts als bekannt voraus. Mit den neuen Staaten-
bildungen in Deutſchland empfängt ſie ihre gegenwärtige Geſtalt.


Als dieſe neue Staatenbildung beginnt, und die alten Reichskörper
in die neuen Bundeskörper aufgenommen werden, ſehen wir zwei
große Thatſachen lebendig an der Schwelle unſeres Jahrhunderts vor
uns ſtehen.


Die erſte dieſer Thatſachen iſt das alte hiſtoriſche Recht der Land-
ſtände, unvernichtet, wenn auch verdeckt durch die landesherrliche Macht.
Dieß Recht iſt weſentlich die Anerkennung der verfaſſungsmäßigen
[426] Geſetzgebung und Verwaltung, nur nicht auf Grund des Staatsbürger-
thums, ſondern auf Grund der ſtändiſchen Landesrechte. Jedes Land
hat ſeinen hiſtoriſch verfaſſungsmäßig berechtigten Landtag, ſeine hiſto-
riſche Rechtsbildung und ſein Gericht, und ſeine Landesverwaltung.


Die zweite Thatſache iſt der Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
mit ihrer ſtaatlichen Gleichheit der Einzelnen, und die ſich daran an-
ſchließende Nothwendigkeit einer einheitlichen Staatsgewalt und ihrer
rationellen Organiſation in Miniſterial- und Behördenſyſtem. Es ſind
zwei Lebensalter der Weltgeſchichte, die ſich hier berühren, und zwei
Principien des Staatsrechts, die ſich gegenüber ſtehen. Das erſte iſt
außerhalb Deutſchlands vertreten von England, das zweite von Frank-
reich. Beide aber finden in den Zuſtänden und Gedanken, welche
Deutſchland bewegen, gleich mächtige Vertretung.


Der Weg, auf welchem die Vereinigung beider hergeſtellt wird, iſt
nun durch daſſelbe Element gegeben, welches die zweite der obigen That-
ſachen ergänzt, die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft. Dieſe fordert vor allen
Dingen Theilnahme an der Geſetzgebung und verfaſſungsmäßige Ver-
waltung. Die neuen Staatenbildungen Deutſchlands, die nicht auf
einem großen Princip beruhen, wie Frankreich, ſondern durch das
Streben nach äußerer Macht entſtanden ſind, können ſich deßhalb auch
einem ſolchen Princip nicht in die Arme werfen, und rein ſtaatsbürger-
liche Verfaſſungen geben. Man ſieht z. B. aus Malchus (innere
Politik I. S. 135), wie unſicher ſelbſt die Urtheile freiſinniger und
hochgebildeter Staatskundiger noch über eine ſolche Inſtitution höchſter
örtlicher Selbſtverwaltung ſind. Er nennt ſie „eine eigenthümliche Ein-
richtung in einer kleinen Anzahl von Staaten“ und ſcheidet ſie ſtrenge
von „Departementalräthen“ in Frankreich, den Centralcongregationen
in Mailand und den deutſchen Landesausſchüſſen, ohne zu ſagen, worin
der weſentliche Unterſchied beſteht. Die deutſchen Verfaſſungen aber
greifen dabei mit richtigem Takte zu dem Mittel, welches der ganzen
Geſchichte des deutſchen Staatsrechts ſeinen Charakter ſeit fünfzig Jahren
gegeben hat. Sie erhalten die alte Landſchaft, und geben ihr das neue
Recht der ſtaatsbürgerlichen Verfaſſung. Sie behalten die alte Form,
und genügen damit der erſten Thatſache, die ſtändiſch zuſammengeſtellten
Landſchaften; ſie verleihen dem ſtändiſchen Körper die Rechte der ſtaats-
bürgerlichen Volksvertretung, und genügen damit dem zweiten Element.
Und das Ergebniß dieſer Auffaſſung iſt die landſtändiſche Verfaſſung,
ihr entſcheidender Ausdruck der Art. 13 der deutſchen Bundesakte: „In
allen deutſchen Staaten wird eine landſtändiſche Verfaſſung ſtattfinden“
— Dieſe aber iſt nach der Schlußakte Art. 55 „eine innere Landes-
angelegenheit, und es bleibt dem Fürſten überlaſſen, dieſelbe mit
[427] Berückſichtigung der früheren geſetzlich beſtandenen ſtändiſchen Rechte
als der gegenwärtig beſtehenden Verhältniſſe zu ordnen.“


Es war ſchon vor fünfzig Jahren allen Denkenden klar, daß dieſer
eigenthümliche Verſuch, die Landſchaften zur Volksvertretung zu machen,
nur ein Uebergangsſtadium bilden könne. Denn dieſe Landſchaften hatten
einen Antheil an der Geſetzgebung, ohne eine Volksvertretung zu ſein,
und einen Antheil an der Verwaltung, ohne die Verantwortlichkeit
durchführen zu können. Dieſe wunderliche und höchſt verſchieden ge-
ſtaltete Ordnung nannte man nun mit einem Geſammtnamen die land-
ſtändiſchen oder ſtändiſchen Verfaſſungen. Sie ſelbſt aber waren
in den einzelnen Staaten höchſt ungleichartig. Man kann ſie nicht
darſtellen, ohne Verfaſſung und Verwaltung zu verſchmelzen, wie ja
in der That Geſetz und Verordnung damals verſchmolzen waren. Auch
gibt es hier keine Einheit. Man muß Gruppen bilden, die ſich ſehr
weſentlich unterſcheiden.


Die beiden großen Staaten, Oeſterreich und Preußen, blieben vor
der Hand auf dem Standpunkte des vorigen Jahrhunderts, indem ſie
weder eine ſtaatsbürgerliche, noch eine ſtändiſche Verfaſſung gaben.
Sie ließen aber dabei beide das Princip der Landſchaften beſtehen;
Namen und Ehrenrechte waren noch die alten, aber eine Theilnahme
an Geſetzgebung und Verwaltung ward nicht verliehen. Preußen ge-
langte jedoch durch das Geſetz vom 3. Juli 1823 zur Herſtellung der
Provinzialſtände. Die Provinzialſtände ſind dadurch eine feſte
Kategorie im Staatsrecht geworden. Sie ſind die Form, in welcher
die Landſchaft als Selbſtverwaltungskörper in den ſtaatlichen
Organismus eingereiht worden
. Und hier ſieht man wieder die
Zweitheilung des deutſchen Weſens. Ihre Funktion iſt die franzöſiſche
des Conseil général, nur ausgedehnt über „alle Geſetze, welche die
Provinz angehen.“ Ihre Organiſation iſt dagegen die deutſche, auf
Grundlage der ſtändiſchen Unterſchiede. Wie es den Conseils généraux
ausdrücklich verboten iſt, mit einander zu verkehren (Geſ. vom 10. Juli
1833, Art. 14), oder ſich über Dinge zu äußern, welche nicht in ihrer
ſtrengen Competenz liegen (ebendaſ. Art. 16. 17), ſo auch den „Provin-
zialſtänden“ Preußens. (RönneI. §. 6. 7.) Dagegen haben ſie nicht
die Steuervertheilung, wohl aber das Recht, daß „ihren Beſchlüſſen die
Communalangelegenheiten der Provinz unter königlicher Genehmigung
überlaſſen werden.“ Es war offenbar: dieſe Organiſation war der
Verſuch, die Landſchaft als reine Organe der Selbſtverwaltung hin-
zuſtellen, und damit ſich für das Bedürfniß nach einer Verfaſſung, einer
Theilnahme des Volkes an der Geſetzgebung, abzufinden. Auf dieſem
Standpunkt bleibt Preußen ſtehen; aber auch für die Selbſtverwaltung
[428] genügen jene Provinzialſtände in keiner Weiſe, denn der Gegenſtand
derſelben iſt weſentlich nur das ſtändiſche Eigenthum; das Element der
Berathung für die Verordnungsgewalt herrſcht vor; es iſt eine ent-
ſchieden unvollkommene. Oeſterreich gab auch das nicht. Es blieb ganz
bei dem alten Syſtem.


An dieſe beiden großen Staaten ſchließt ſich nun die zweite große
Gruppe, namentlich die nördlichen Bundesſtaaten, welche einfach gar
keine Verfaſſung gaben, und auch den Reſten der alten Landſchaften
keine ſelbſtändige Stellung geben wollten, nicht einmal für die Selbſt-
verwaltung, geſchweige denn für die Geſetzgebung. Hier beſtand daher
der alte Zuſtand fort; nur der Staat war beſſer organiſirt; von einem
Rechte des Volkes war keine Rede; in den meiſten derſelben ward ſogar
nicht einmal das Syſtem der Gemeinden reformirt. Eine durchgreifende
Aenderung war hier mit der Zeit unvermeidlich.


Die dritte Gruppe endlich beſtand aus denjenigen Staaten, welche
wirkliche Verfaſſungen gebildet hatten, Bayern, Württemberg, Baden,
Naſſau, Sachſen-Weimar. In dieſen Verfaſſungen war das alte land-
ſchaftliche Recht anerkannt und in der Form der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft ausgeführt; allein die Grundlage bildete der ſtändiſche Orga-
nismus, wenn gleich der ſtaatsbürgerlichen Wahl daneben ihr Recht
zugeſtanden war. Hier war daher die Landſchaft zur Verfaſſung ge-
worden.


Das war der Zuſtand bis 1830. Die Bewegung dieſes Jahres
änderte ihn weſentlich. Die meiſten deutſchen Staaten der zweiten
Gruppe bekamen jetzt Verfaſſungen. Aber dieſe Verfaſſungen ſchieden
ſich ſofort nach den beiden andern Gruppen. Einige Staaten bildeten
ihre Verfaſſungen auf Grundlagen des Staatsbürgerthums nach dem
Muſter der dritten Gruppe. Einige dagegen gelangten nur dahin, die
alten Stände mit den früheren ſtreng provinziell geſchiedenen Rechten,
aber weſentlicher Modifikation ihrer Organiſation zu bilden. Oeſterreich
und Preußen verweigerten jede Fortbildung. So gab es jetzt bis 1848
Staaten mit Verfaſſungen, und Staaten mit Landſchaften und Land-
tagen. Damit war die Verwirrung auch der theoretiſchen Begriffe
unausbleiblich, in denen trotz der Beibehaltung des Namens der Land-
tage jede klare Vorſtellung von denſelben zu Crunde ging. Es war
natürlich, daß man die ſtändiſchen Landtagsrechte als Verfaſſungsrecht
auffaßte, und bei der tiefen Verſchiedenheit zwiſchen beiden den wahren
Begriff des letzteren verlor, während es keine Vergleichung des ſo Ver-
ſchiedenen geben konnte, und die Lehre vom „conſtitutionellen Staats-
recht“ außerhalb der Wirklichkeit ſtand. Das war um ſo mehr der
Fall, als bei der Kleinheit der meiſten deutſchen Staaten die Volks-
[429] vertretung doch im Grunde nur als eine Landſchaftsvertretung erſchien,
und für einen landſchaftlichen Körper neben ihm gar kein Platz da
war. Die „Landſchaft“ ging daher als Begriff verloren; es entſtand
ſtatt ihrer der der „Provinzialſtände“ nach preußiſchem Muſter, während
ſie faktiſch in einer ganzen Reihe von Verfaſſungen vorhanden war;
zugleich hielt man noch immer wunderlicher Weiſe den Ausdruck der
„landſtändiſchen Verfaſſung“ als Geſammtbegriff für alle wirklichen
Verfaſſungen auf Grundlage des Staatsbürgerthums feſt, während man
gleichzeitig über die Worte „conſtitutionelle“ oder „parlamentariſche“
Verfaſſung viel herumſtritt, ohne zu einem Reſultat zu gelangen, da
man hartnäckig dabei beharrte, die ſtaatsbürgerliche Volksvertretung
fortwährend „die Stände“ zu nennen (vergl. z. B. Zachariä, deutſches
Staats- und Bundesrecht II. §. 158) und im Namen des Rechts auf eine
„landſtändiſche Verfaſſung“ eine wirklich ſtaatsbürgerliche forderte. Dieſe
Verhältniſſe klärten ſich nun wenigſtens nach einer Seite hin mit dem
Jahre 1848. Die Umgeſtaltungen dieſes und der folgenden Jahre
haben bei allen ſonſtigen Verſchiedenheiten in der Geſchichte der Ver-
faſſungen Einen gemeinſchaftlichen Charakter. Sie haben aus den
früheren ſtändiſchen Verfaſſungen nunmehr ſtaatsbürgerliche Verfaſſungen
gemacht, indem ſie das Princip der Wahl aus den Staatsbürgern, der
Verantwortlichkeit für die Miniſterien, und die Unterſcheidung zwiſchen
Geſetz und Verordnung ziemlich durchgreifend zur Geltung brachten.
Und damit war nun auch die Zeit gekommen, wo die Frage nach der
Geſtalt der Landſchaften ihre definitive Geſtalt gewinnen mußte. Hier
iſt nun allerdings zu unterſcheiden.


Die kleinen Staaten können gar keine Landſchaften neben ihrer
verfaſſungsmäßigen Vertretung haben, da ſie ſelbſt ihrem Umfange und
ihrer Funktion nach eben nur Landſchaften ſind. Eben deßhalb hat
ſich bei ihnen in ihren Verfaſſungen das landſchaftliche Element in der
Bildung nicht bloß der erſten, ſondern meiſtens auch der zweiten Kam-
mer, wo dieſelben neben einander beſtehen, ſonſt in der Bildung der
Volksvertretung ſelbſt erhalten. Das erſcheint theils darin, daß ſtän-
diſche Elemente dauernd Sitz und Stimme in der Volksvertretung haben,
theils darin, daß in der letzteren als Wahlkörper hiſtoriſche Gemeinden
zum Grunde gelegt werden (wie namentlich hannöveriſches Landes-
verfaſſungsgeſetz
§. 91), theils darin, daß ein eigener Landtags-
ausſchuß
errichtet iſt, wie in Oldenburg (Staatsgrundgeſetz Art. 185).
In andern iſt dagegen auch dieß ſtändiſche Element verſchwunden, wie
in Coburg, Waldeck u. a., ſo daß dieſe Länder ſtaatsbürgerliche Grund-
lagen für ihre Landesverfaſſungen beſitzen. Auf die freien Städte findet
natürlich der obige Begriff überhaupt keine Anwendung.


[430]

Die mittleren Staaten haben unter Vorgang der ſüdlichen
Staaten überhaupt ſtaatsbürgerliche Verfaſſungen. Die letzteren haben
das landſchaftliche Element gleich anfangs beſeitigt, indem ſie es in die
erſte Kammer aufnahmen, meiſtens auf Grundlage der alten ſtandes-
herrlichen Rechte. Darin beſteht denn auch der Unterſchied zwiſchen
ihnen und dem Vorbilde, aus welchem dieſe „Conſtitutionen“ herſtam-
men, der franzöſiſchen Verfaſſung. Dennoch blieb das Bedürfniß, der
Vertretung des Volkes auch an der Verwaltung einen Antheil zu geben.
Da nun dieſe Staaten für die Bildung eigener Landſchaften zu klein
waren, ſo mußten ſie eine innere Eintheilung von Vertretung hervor-
rufen, welche zuweilen unter dem Namen von Landſchaften (Hannover)
oder Kreiſen (Bayern) im Grunde nur Complexe von Gemeinden waren,
bei denen aber theils nach dem franzöſiſchen, theils nach preußiſchem
Muſter keine wahre Landſchaft, ſondern nur eine Vertretung an der
Seite der höchſten örtlichen Behörde ſtattfindet. Wir nehmen dieſe
Formationen daher unbedenklich unter das folgende Gebiet auf. Wenn
daneben Oldenburg (Staatsgrundgeſetz Art. 199) noch eigene Provin-
ziallandtage fortführt, ſo hat das vorzugsweiſe ſeinen Grund in geo-
graphiſchen Verhältniſſen.


In Preußen ſehen wir dagegen den Kampf ganz deutlich, den
die Landſchaft mit der Idee und dem Rechte der ſtaatsbürgerlichen Ver-
faſſung kämpft; hier iſt nächſt Oeſterreich das Weſen der Landſchaft
am deutlichſten ausgeprägt. Aus dem Verſprechen einer Nationalreprä-
ſentation (Ed. v. 27. Okt. 1810) waren nur bis 1823 die Provinzial-
landſtände hervorgegangen. Aus ihnen ging dann der „Vereinigte Land-
tag“ vom 3. December 1847 hervor. Der tiefere Grund, weßhalb er
dem Volke nicht entſprach, beſtand eben in dem Weſen der Landſchaft.
Sie iſt ein ſocialer Körper, und erſt in zweiter Reihe ein politiſcher.
Die gegebene Geſellſchaftsordnung aber forderte eine ſtaatsbürgerliche
Verfaſſung. Dieſe nun ward 1850 gegeben. Und jetzt entſtand die
Frage, ob es darnach noch eine Landſchaft, das iſt einen auf ſtändiſcher
ſocialer Selbſtändigkeit gebauten Selbſtverwaltungskörper geben könne
oder nicht. Die Verfaſſung war ſich dieſer Frage ſehr wohl bewußt. Sie
entſchied ſie zwar, und hob die alte Landſchaft auf (Verfaſſungsurkunde
Art. 105 und Geſetz vom 11. März 1850), allein das preußiſche Ver-
faſſungsleben war nicht kräftig genug, ſeinen eigenen Gedanken durch-
zuführen. Die Einführung der neuen Provinzial- und Bezirksordnung
vom 11. März 1850 ward durch königl. Erlaß vom 19. Juni 1852
ſiſtirt, und durch Geſetz vom 24. Mai 1853 der Art. 105 aufgehoben,
und die früheren Geſetze über die Kreis- und Provinzialverfaſſungen
wieder in Kraft geſetzt. Demgemäß beruht, wie Rönne I. §. 109 ſehr
[431] treffend ſagt, „die Verfaſſung des preußiſchen Staates gegenwärtig,
was die allgemeine Vertretung der ganzen Nation anbelangt, auf
dem Repräſentativſyſtem, was dagegen die Vertretung der den ganzen
Staat bildenden Provinzen und Kreiſe anbelangt, auf rein ſtän-
diſcher Grundlage.“


Der weſentliche Unterſchied dieſer gegenwärtigen Zuſtände Preußens
von Oeſterreich beſteht nun darin, daß dieſe Provinzen und Kreiſe meiſt
keine großen hiſtoriſch ſelbſtändigen Körper, ſondern weſentlich admini-
ſtrative Gebiete ſind. Die Folge davon iſt, daß das ſtändiſche Element
einen unmittelbaren Einfluß in die Verwaltung hat, der ihm in unſerer
Zeit nicht zukommt. Die innere Berechtigung zu dieſer preußiſchen Form
der Landſchaft iſt nicht die große, unbezweifelte hiſtoriſche Thatſache der
Selbſtändigkeit dieſer Körper, ſondern das abſtrakte ſtändiſche Princip.
Und darum läßt ſich mit Beſtimmtheit vorher ſagen, daß dieſe Form
der Landſchaft verſchwinden, und einer örtlichen Vertretung Platz ma-
chen wird.


Nur Oeſterreich hat daher noch wahre Landſchaften. Seine Kron-
länder ſind wirkliche Länder, und die Beſonderheit der Landesverfaſſungen,
die eine gewiß glückliche Miſchung von ſtändiſchen und ſtaatsbürgerlichen
Elementen enthalten, neben einem auf rein ſtaatsbürgerlicher Baſis
errichteten Abgeordnetenhauſe, entſprach daher den gegebenen Verhält-
niſſen. Es iſt Sache der Verfaſſungslehre, dieß genauer darzuſtellen.
Aber es iſt in unſern Augen von der allerhöchſten Bedeutung, daß dieß
Princip auf dieſe Weiſe von Oeſterreich gewahrt iſt. Denn wenn je
eine deutſche Einheit werden ſoll, ſo kann ſie nur auf einer ähnlichen
Grundlage entſtehen, auf welcher wie in der Schweiz und Nordamerika,
jeder Staat ſeine Verfaſſung als Landesverfaſſung innerhalb einer
geſammten Vertretung der ganzen Nation aufrecht hält.


Man erkennt aus dem Obigen, daß während England und Frank-
reich mit ihrer „Landſchaft“ jedes in ſeiner Weiſe abgeſchloſſen haben,
Deutſchland erſt dann damit fertig ſein wird, wenn es neben ſeiner
nicht abgeſchloſſenen ſocialen Frage über die kaum noch begonnene ſtaat-
liche zu einem Reſultate gedeihen wird.


B.Das Gemeindeweſen.

1) Der Begriff der örtlichen Selbſtverwaltung. Ihr Syſtem.
Die Ortsgemeinde. Die Verwaltungsgemeinde. Der Kreis
.

Die zweite große Grundform der Selbſtverwaltung iſt diejenige,
welche wir im Allgemeinen als das Gemeindeweſen bezeichnen.


So einfach und beſtimmt dieſer Begriff auch manchen erſcheinen
[432] mag, und ſo unzweifelhaft derſelbe auch in manchen Geſetzgebungen
für einzelne Staaten in Umfang und Recht feſtgeſtellt iſt, ſo gewiß iſt
es andererſeits, daß derſelbe immer der unbeſtimmteſte und unklarſte
in der ganzen Staatswiſſenſchaft iſt, ſowie man ſich auf einen etwas
höheren Standpunkt ſtellt, und ihm damit die Fähigkeit geben will,
nicht bloß die Formen des Gemeindeweſens von Deutſchland, ſondern
auch die der übrigen Völker und Reiche, und nicht bloß die unſerer
Gegenwart, ſondern auch die der vergangenen Zeiten zu umfaſſen. Die
Beſtimmung des Gemeindeweſens in dieſem höhern Sinne iſt daher in
der ganzen Staatswiſſenſchaft auch noch gar nicht verſucht worden,
und zwar ebenſo wenig in der Rechtsgeſchichte, als in der Rechtsphilo-
ſophie, oder der höhern Publiciſtik. Eben daher wird ſich auch die ernſte
Thatſache erklären, daß die Geſetzgebungen zunächſt Deutſchlands, die
im Allgemeinen mit den Verfaſſungen, mit Strafrecht, bürgerlichen und
Proceßrecht, ja mit Handels- und Wechſelrecht fertig geworden ſind,
noch immer kein vollſtändiges Geſetz über Gemeindeweſen beſitzen, und
daß die Darſtellungen des poſitiven Verwaltungs- und Verfaſſungsrechts
Ausdruck und Inhalt des Gemeinderechts mit einer Freiheit gebrauchen,
die an Willkür gränzt. Wenn das einerſeits überhaupt an dem Mangel
einer wiſſenſchaftlichen Beſtimmung der Selbſtverwaltung liegt, ſo liegt
es andererſeits eben ſo ſehr in dem Weſen der Gemeinde ſelbſt, und
deßhalb dürfen wir für das Folgende zugleich auf Nachſicht und Auf-
merkſamkeit rechnen.


Eben darum iſt vielleicht nirgends der Begriff wichtiger als gerade
hier. Denn aus ihm muß ſich nicht bloß der feſte Inhalt deſſelben,
ſondern auch Grund und Sinn der Unbeſtimmtheit erklären, welche
weſentlich mit dem Begriffe und dem Inhalt der Gemeinde verbunden iſt.


Die Gemeinde entſteht nun da, wo die Geſammtheit der Staats-
aufgaben in örtlicher Begränzung durch einen Organismus der Selbſt-
verwaltung vollzogen werden.


Der allgemeine Begriff für die Gemeinde iſt daher der der ört-
lichen Selbſtverwaltung
; von ihm aus muß das Weſen und Recht
der Gemeinde erklärt werden.


Dieſe örtliche Selbſtverwaltung hat nun in allen ihren Formen zu
ihrer Grundlage den Werth und die Macht, welche die Ortsverhältniſſe
über das Leben des Individuums beſitzen. Dieſe Ortsverhältniſſe ver-
wachſen mit der Exiſtenz der Einzelnen; ſie bedingen ſein Leben und
ſeine Thätigkeit auf allen Punkten; ſie fordern daher auch in den Maß-
regeln der Verwaltung ihre naturgemäße Geltung. Oft auch ſchließen
ſich an ſie große und wichtige Rechte des Einzelnen, welche theils Ge-
genſtand, theils Faktoren der Verwaltung werden. Das Ortsleben iſt
[433] daher eine Macht, und zwar eine ſolche, welche niemand beſſer zu
würdigen verſteht, als der Einzelne, der ihm angehört. Und inſofern
nun die dem Orte Angehörigen an der Verwaltung der Ortsverhältniſſe
Theil nehmen, reden wir von der örtlichen Selbſtverwaltung.


Dieſe örtliche Selbſtverwaltung iſt nun, wie ihre materielle Grund-
lage, dem Staate gegenüber ſelbſtändig. Die Anerkennung dieſer Selb-
ſtändigkeit von Seiten des Staats macht ſie zuerſt zu einer juriſtiſchen
Perſönlichkeit. Indem ſie eine juriſtiſche Perſönlichkeit iſt, hat ſie ein
Recht; dieß Recht iſt ein öffentliches, weil es für die öffentliche Thätig-
keit der Verwaltung da iſt. Der Inhalt dieſes Rechts aber, gegeben
durch das Weſen jeder allgemeinen Perſönlichkeit, iſt ein doppelter.
Einerſeits iſt es das Recht, nach welchem dieſe Perſönlichkeit ihren
Willen beſtimmt, alſo im weitern Sinn das Recht der Verfaſſung;
andererſeits das Recht, nach welchem ſie denſelben ausführt, alſo das
Recht der Verwaltung. Das öffentliche Recht jedes Körpers der ört-
lichen Selbſtverwaltung iſt daher ſein Verfaſſungs- und ſein Ver-
waltungsrecht
.


Mit Verfaſſung und Verwaltung aber ſteht dieſer Körper noch
immer da als Glied der großen Staatsperſönlichkeit. Er hat einen
Theil des Lebens der letzteren zu erfüllen, und die Beſtimmung dieſes
ihm angehörigen Theiles iſt von hoher Wichtigkeit. Denn am Ende
beſteht die ganze Perſönlichkeit des Staats aus lauter ſolchen Körpern
der Selbſtverwaltung; ſeine Kraft, ſeine Freiheit, ja die materielle
Vollziehung ſeines Willens liegt ſtets in dieſen Körpern; der Staat
muß daher das Verhältniß ſeiner einheitlichen Gewalt gegenüber dem
ſelbſtändigen Leben dieſer Körper feſtſtellen. Dieſe Feſtſtellung erſcheint
als ein Recht, und zwar als ein Gebiet des öffentlichen Rechts. Setzt
man nun das Recht für Verfaſſung und Verwaltung jenes Körpers als
ein inneres öffentliches Recht, ſo kann man dieß letztere Recht, das
Recht gegenüber dem Staate, als das äußere öffentliche Recht jener
Körper bezeichnen.


Dieß äußere Recht nun enthält offenbar weſentlich nur Ein Gebiet,
und die Beſtimmung dieſes Gebietes beruht auf Einem Grundſatz, deſſen
klares Verſtändniß für das Ganze entſcheidend wird. Schon der Begriff
jener Körper an und für ſich zeigt, daß dieſelben mit der Verfaſſung
des Staats gar nichts zu thun haben, ſondern nur Organe der
vollziehenden Gewalt
, alſo nur Verwaltungskörper ſind. Sie
können daher niemals Antheil an dem Rechte der Geſetzgebung beſitzen;
ſie können nur, wie jedes Organ der Verwaltung, ein gewiſſes Maß
der Verordnungs-, Organiſations- und Polizeigewalt haben. Wenn
daher von der Verfaſſung dieſer Körper die Rede iſt, ſo kann ſich
Stein, die Verwaltungslehre. I. 28
[434] dieſelbe immer nur auf die Formen beziehen, in welchen dieſer Körper
jene drei Gewalten der vollziehenden Gewalt ausübt. Allerdings kann
man im uneigentlichen Sinn von einer „Verfaſſung“ dieſer Körper
reden, inſofern jene Formen für die Ausübung der drei Gewalten durch
die geſetzgebende Gewalt beſtimmt ſind, und dieſes ſo beſtimmte Recht
als das verfaſſungsmäßige Recht der örtlichen Selbſtverwaltung be-
zeichnen. Allein es leuchtet ein, daß dieß Recht dennoch nur ein ver-
faſſungsmäßiges Verwaltungsrecht iſt, kein eigentliches Verfaſſungsrecht.
Im Grunde iſt es dabei gleichgültig, ob man daſſelbe in dieſem Sinne
als Theil der Verfaſſung aufſtellt, oder nicht; denn es iſt eben eine
geſetzliche Ordnung, und hat damit Recht und Bedeutung eines jeden
Geſetzes. Dieſe Fragen haben überhaupt, wie ſich unten ergeben wird,
nur einen hiſtoriſchen Werth; freilich iſt dieſe hiſtoriſche Wichtigkeit keine
geringe, und ſchon das zunächſt Folgende wird die Gründe dieſer Be-
deutung im Allgemeinen bezeichnen. Zunächſt aber muß der Inhalt
jenes innern, wie des äußeren Rechts der örtlichen Selbſtverwaltung etwas
genauer beſtimmt werden.


Die Natur derſelben fordert nämlich, daß ſie alle Gebiete des
Geſammtlebens in ihrer örtlichen Geſtalt umfaſſe. Dieſe Gebiete ſind
daher dieſelben, die der Staat enthält. Es folgt, daß der Begriff der
örtlichen Selbſtverwaltung demgemäß in die drei Hauptformen der
Verwaltung überhaupt, die Wirthſchaft, das Gericht und die innere
Verwaltung mit all ihren Zweigen zerfalle. Oder, jeder örtliche Selbſt-
verwaltungskörper hat eine eigene Finanzwirthſchaft, eine Rechtspflege,
und die vier Hauptarten der innern Verwaltung, Polizei, Unterrichts-
weſen, Volkswirthſchaftspflege und geſellſchaftliche Aufgaben. Je nach
der Größe des örtlichen Körpers werden dieſe Verwaltungsgebiete durch
abgeſonderte Organe, oder durch ein für mehrere oder alle gemeinſames
Organ vertreten ſein; immer aber fordern ſie wieder einen ſelbſtändigen
Organismus, der in ſeinem Weſen dem Staatsorganismus analog iſt,
und daher oft den Namen, immer aber den Charakter von Behörden
annimmt. Es ergibt ſich demgemäß, daß der örtliche Selbſtverwaltungs-
körper principiell ein Staat im Kleinen iſt; er beſitzt alle Elemente
des Staats, und das iſt es, was ihn von dem behördlichen Körper
unterſcheidet, denn jede Behörde hat zwar auch eine örtliche, aber grund-
ſätzlich immer nur Eine Verwaltungsaufgabe; die Selbſtverwaltung hat
dagegen grundſätzlich alle, wenn auch oft nur im Keime angedeutet. —
Ebenſo iſt die letztere, erzeugt durch die gegebenen dauernden Verhält-
niſſe ihres Gebietes, ſelbſt eine dauernde; und mit beiden Punkten
unterſcheidet ſie ſich vom Verein, der mit der Behörde die Beſchränkung
auf einen beſtimmten öffentlichen Zweck gemein hat, aber nicht dauernd
[435] iſt, während er wie die Selbſtverwaltung die freie Theilnahme an
der öffentlichen Thätigkeit beſitzt, aber nicht örtlich beſchränkt, ſondern
nur ſachlich auf ſeinen ſpeziellen Zweck angewieſen iſt. Die örtliche
Selbſtverwaltung iſt daher ein ſpecifiſches Element im Organismus des
Staats; ſie muß als ein organiſch gefordertes betrachtet werden, und
erſcheint daher immer mit ihrer Funktion im Staatsleben. Es gibt
weder einen Staat, noch eine Zeit, die ganz ohne die örtliche Selbſt-
verwaltung wäre.


Auf dieſe Weiſe iſt die örtliche Selbſtverwaltung ein organiſcher
Begriff des Staatsrechts. Er iſt zugleich die allgemeine Kategorie,
welche den Begriff der Gemeinde enthält. Aber er iſt weiter als dieſer,
und der größte Theil der Unbeſtimmtheit über das Weſen der Gemeinde
rührt daher, daß man jene örtliche Selbſtverwaltung ohne weiteres als
identiſch mit der Gemeinde auffaßte, und daher für die höheren Orga-
nismen, die demſelben Begriffe angehören, die richtige Stellung verlor.


Offenbar ſind nämlich in jener örtlichen Selbſtverwaltung drei ſehr
verſchiedene Momente enthalten.


Zuerſt muß ſie als örtliche ein beſtimmtes Gebiet haben. Da
die Gränze und die Bildung dieſes Gebietes auf den Bedürfniſſen des
öffentlichen Lebens, oder auch auf hiſtoriſchen Thatſachen beruhen, ſo
kann daſſelbe nicht bloß groß und klein ſein, ſondern es kann auch
aus verſchiedenen ſelbſtändigen Theilen beſtehen, welche dann wieder
als ein Ganzes für gewiſſe allgemeine Zwecke zuſammentreten. Das
örtliche Gebiet nennen wir nun den Körper der Selbſtverwaltung.
Der Körper der Selbſtverwaltung beruht daher auf den örtlich klein-
ſten
Körpern, und bildet als Einheit der letzteren ein Syſtem
derſelben.


Dann müſſen dieſe Körper als Organe des Staatslebens einen
Organismus beſitzen, ſowohl für ihren Willen als für ihre Thätigkeit.
Das iſt, ſie müſſen eine Verfaſſung und eine Verwaltung haben. Und
da nun dieſelben ein Syſtem von Körpern bilden, ſo ergibt ſich, daß
denſelben auch ein Syſtem von Organiſationen entſprechen wird, in
welchen der kleinſte Körper etwas anders organiſirt ſein wird, als die
Gemeinſchaft derſelben.


Endlich ſtehen dieſe Körper in organiſchem Zuſammenhang mit
dem Staate, deſſen Verwaltungsorganismus ſie angehören. Dieſer
Zuſammenhang kann nicht bloß ein verſchiedener ſein zu verſchiedenen
Zeiten, ſondern er muß es ſtets ſein für die kleineren und größeren
Körper. Dann natürlich werden die Intereſſen der Geſammtheit der
erſtern den Intereſſen des Staats um ſo näher ſtehen, je größer dieſe
Geſammtheit iſt; ſie verlieren damit in demſelben Grade den Charakter
[436] des örtlichen, und müſſen mithin in engerer Verbindung mit der eigent-
lichen Staatsverwaltung ſtehen.


Nennt man nun mit dem gewöhnlichen Ausdruck den örtlichen
Selbſtverwaltungskörper an ſich die Gemeinde, ſo zeigt es ſich, daß
man niemals von der Gemeinde und dem Gemeindeweſen im All-
gemeinen reden ſollte. Denn in der That iſt dieſes Gemeindeweſen
ſtets ein Syſtem von Gemeinden im weiteſten Sinne des Wortes,
und in dieſem Syſtem hat jedes Glied deſſelben nicht bloß ſeine eigene
Gränzen, ſondern auch ſeine eigenen Aufgaben und ſeine, denſelben
entſprechende Verfaſſung und Verwaltung.


So zeigen ſich hier die Elemente einer reichen Vielgeſtaltigkeit. Um
dieſelbe nun auf ihre feſten Grundlagen zurückzuführen, wollen wir ſie
gleich mit den anerkannten Bezeichnungen feſtſtellen.


Die örtliche Selbſtverwaltung, welche nur auf der örtlichen
Gemeinſchaft des Lebens beruht, aber eben deßhalb auch alle Staats-
aufgaben in ihrer kleinſten Geſtalt umfaßt, nennen wir die Orts-
gemeinde
, oder die eigentliche Gemeinde.


Die örtliche Selbſtverwaltung dagegen, welche auf beſtimmten
Staatsaufgaben beruht, welche innerhalb beſtimmter örtlicher Gränzen
zu vollziehen ſind, nennen wir am beſten die Verwaltungsgemeinde.
Sie kann wieder entweder ganz einzelne Aufgaben haben, und empfängt
dann den Namen nach dieſen Aufgaben; ſo die Steuergemeinde, die
Kirchengemeinde, die Schulgemeinde, die Armengemeinde u. ſ. w. Wir
werden dieſe Kategorie am beſten die eigentliche Verwaltungsgemeinde
nennen. Sie kann aber auch ſchon für gemeinſchaftliche Angelegenheiten
der Ortsgemeinden beſtimmt ſein, und namentlich das Verhältniß
zwiſchen den Ortsgemeinden und den ſpeziellen Verwaltungsgemeinden
zu vermitteln haben, und dann nennen wir ſie die Kreisgemeinde
oder den Kreis.


Innerhalb dieſer Grundformen der örtlichen Selbſtverwaltung nun
kann eine Reihe der verſchiedenſten Zuſammenſtellungen ſtattfinden,
welche der wirklichen Geſtalt deſſelben ihre ſo reiche Mannigfaltig-
keit geben.


Es kann nämlich wieder die Ortsgemeinde ſo groß ſein, daß ſie
mit der (ſpeziellen) Verwaltungsgemeinde zuſammenfällt, und daher
mit ihr eine und dieſelbe Verfaſſung und Verwaltung hat. Wo dagegen
dieß nicht der Fall iſt, da wird die Ortsgemeinde natürlich die Auf-
gaben der Verwaltungsgemeinden nicht enthalten, und daher auch an
Wichtigkeit bedeutend verlieren. Es kann aber auch die Ortsgemeinde
ſo groß ſein, daß ſie ſich wieder in beſtimmte Verwaltungsgemeinden
auflöst, ſo daß ſie ſelbſt den Charakter einer Kreisgemeinde oder eines
[437] Kreiſes annimmt, dennoch aber Gemeinde bleibt, und mithin Kreis-
angelegenheiten mit einer Gemeindeverfaſſung verwaltet. Es kann ferner
ſein, daß ein Theil der Verwaltungsaufgaben (Kirche, Schule, Wege-
weſen ꝛc.) durch ſelbſtändige Verwaltungsgemeinden, ein anderer Theil
durch die Ortsgemeinden verwaltet wird. Es kann endlich ſein, daß
dieſe Verwaltungsaufgaben durch den Kreis und ſeine Gemeinde zum
Theil verwaltet werden, zum Theil durch die Verwaltungsgemeinde,
zum Theil durch die Ortsgemeinde. In jedem Falle aber muß eine
beſtimmte Vertheilung dieſer Aufgaben an dieſe drei Grundformen
der örtlichen Selbſtverwaltung ſtattfinden, welche wieder für die Ver-
faſſung derſelben entſcheidend wird. Und indem ſomit dieſe Verſchieden-
heit der Gemeinden doch wieder ein Ganzes bildet, ſprechen wir von
einem Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung, als von einem
Syſtem des Gemeindeweſens im weiteren Sinne.


Dieß Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung iſt nun in jedem
Staate der Welt ſchon ſeinen Formen nach verſchieden. Und zwar
darum, weil die örtlichen Lebensverhältniſſe derſelben, die der Bildung
jenes Syſtems zum Grunde liegen, ſelbſt wieder verſchieden ſind. Es
iſt ein eigenes Studium, dieſe Geſtalt auch nur in ihren Grundzügen
darzuſtellen. Reichhaltiger und individueller wird aber dieſelbe, indem
man die zwei Elemente hinzufügt, welche einerſeits für die äußere,
andererſeits für die innere Ordnung dieſes Syſtems entſcheidend wirken,
und aus welchen eigentlich erſt der Begriff des Gemeindeweſens
hervorgeht.


2) Der amtliche Organismus und die geſellſchaftliche Ordnung
in der örtlichen Selbſtverwaltung
.

Das Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung, in der obigen Weiſe
begründet, umfaßt nun, wie man ſieht, den ganzen Staat. Indem es
für jeden Theil deſſelben gilt, gilt es eben zugleich für das Ganze.
Es iſt derjenige Organismus, der das Staatsbürgerthum auf jedem
Punkte der wirklichen Thätigkeit der Regierung mit erſcheinen, mit ein-
greifen läßt. Eben darum aber erſcheint daſſelbe auch beſtimmt von
den beiden großen Faktoren des Geſammtlebens, einerſeits der perſön-
lichen Ordnung des Staats, andererſeits der geſellſchaftlichen Ordnung
der Staatsbürger. Der erſte Faktor entſcheidet über die ſyſtematiſche
Ordnung, der zweite über die innere Verfaſſung der Selbſtverwaltung.
Und das iſt es, wodurch die letztere jenen Charakter der Individualität
erhält, der es in den Staaten Europas ſo ſehr auszeichnet.


[438]
a) Verhältniß zur Staatsverwaltung.

Zuerſt nämlich ſteht dieſes Syſtem auf allen Punkten neben dem
erſten großen organiſchen Syſtem des Staats, dem Organismus der
Regierung oder dem Amtsorganismus. Beide umfaſſen daſſelbe Gebiet,
beide haben dieſelben Aufgaben; beide fordern mit Recht im Namen
des Staats Antheil an allem, was für und durch den Staat geſchehen
ſoll. Dennoch beruhen beide auf zwei verſchiedenen Principien, ver-
treten zwei verſchiedene Grunderſcheinungen, und ſelbſt verſchieden ge-
artet, funktioniren beide in weſentlich verſchiedener Weiſe. Der Staats-
organismus im engeren Sinne iſt die Vertretung der einheitlichen per-
ſönlichen Idee im Staatsleben; er hat die Identität der Intereſſen
deſſelben zu verwirklichen, und den einheitlichen Willen des perſönlichen
Staats durch die Verſchiedenheiten ſeines Lebens durchzuführen. Der
Organismus der Selbſtverwaltung iſt dagegen das Organ der beſondern
Lebensverhältniſſe und ihrer Intereſſen. Beide Organismen können
nicht getrennt ſein, ſo wenig wie das Allgemeine und das Beſondere;
beide werden aber nie ganz identiſch werden. Sie werden daher ſtets
in inniger Verbindung, und dennoch ſtets von verſchiedenem Stand-
punkt aus wirken. Es iſt faſt unvermeidlich, daß dabei ſich nicht ein
Gegenſatz beider entwickle, der um ſo ſchärfer wird, je perſönlicher die
Beziehungen werden. Es iſt eben ſo ſehr in der Natur der Sache
gelegen, daß der Staatsorganismus zuletzt ſtets als der herrſchende
Theil auftritt, als ſich aus der durch ihn vollzogenen Unterwerfung
der Sonderintereſſen unter die allgemeinen eine gewiſſe Abneigung von
Seiten der Selbſtverwaltung gegen die Staatsverwaltung bildet, die,
ſo oft ſie im Einzelnen berechtigt ſein mag, im Ganzen immer in dem
Grade mehr unberechtigt iſt, je kräftiger überhaupt das Verfaſſungs-
leben entwickelt iſt. In jedem Falle aber leuchtet ein, daß ſomit jenes
Syſtem der Selbſtverwaltung zunächſt ohne ſeine äußeren, formellen
Beziehungen zum amtlichen Organismus der Behörden nicht gedacht
werden kann. Sie greifen nicht bloß in ihren Thätigkeiten, ſondern
auch in ihren Organen ſo tief in einander hinein, daß man, wie wir
denn auch bei dem Behördenſyſtem bereits bemerkten, den örtlichen
Verwaltungsorganismus ſtets zugleich als einen behördlichen und als
einen Selbſtverwaltungsorganismus betrachten muß.


Gerade in dieſer Beziehung nun, in der Ordnung des Organis-
mus, der ſich für die Verwaltung durch das Ineinandergreifen von
ſtaatlicher und Selbſtverwaltung ergibt, ſind die Staaten Europas
weſentlich verſchieden. Wir wollen verſuchen, dieſe Verſchiedenheiten
auf beſtimmte Kategorien zurückzuführen.


[439]

Die eigentliche Staatsverwaltung kann nämlich die örtliche Ver-
waltung ganz dem Syſteme der Selbſtverwaltungskörper überlaſſen,
und in dieſem Falle nur mit ihren Organen dafür ſorgen, daß die
letzteren den geſetzlichen Staatswillen auch wirklich vollziehen, indem ſie
ſie auf gerichtlichem Wege dazu zwingt, ohne ſelbſtändig einzugreifen.
Hier gibt es daher eigentlich nur ein Behördenſyſtem für das Gericht,
und dieß Gericht muß ſich mit ſeiner Competenz demgemäß ſtreng an
die örtliche Competenz des Syſtems der Selbſtverwaltung und ihrer
Körper anſchließen, während die örtliche Verwaltung ganz in den Hän-
den des Gemeindeſyſtems liegt. Das iſt das engliſch-nordamerikaniſche
Syſtem.


Die Staatsverwaltung kann aber zweitens die örtliche Verwaltung
ſich vorbehalten, und der Selbſtverwaltung ihren Antheil nur in der
Form von Rath und Beſchluß in den örtlichen Angelegenheiten belaſſen,
während jede wirkliche Vollziehung bei ihr bleibt. In dieſem Falle
wird der ganze Organismus der Selbſtverwaltung ſich an den Behör-
denorganismus anſchließen, und das Haupt der Selbſtverwaltungs-
körper ſelbſt nichts als ein behördliches Organ ſein. Die Competenz
des Gerichts wird dadurch gleichgültig gegen die Körper der Selbſtver-
waltung, und ſteht ſelbſtändig da. Das iſt das franzöſiſch-belgiſche
Syſtem.


Endlich kann die Staatsverwaltung die Selbſtverwaltungskörper
für gewiſſe Aufgaben als wirkliche Amtskörper anerkennen, für gewiſſe
Funktionen ſie ganz ausſchließen, für gewiſſe andere dagegen ſie in der
Form von Vertretungen bei den Behörden zulaſſen. Hier iſt im Ein-
zelnen natürlich eine große Mannigfaltigkeit in der Vertheilung jener
Rechte und Aufgaben möglich. Den Ausdruck derſelben bilden zwei
Dinge. Erſtlich die förmliche Anerkennung der Selbſtverwaltungs-
körper als behördliches Organ mit Amtsgewalt für beſtimmte ad-
miniſtrative Aufgaben, zweitens der Antheil, den die Staatsgewalt
an der Ernennung des Hauptes dieſes Selbſtverwaltungskörpers nimmt.
Will man dafür die bezeichnenden Ausdrücke, ſo kann man ſie in fol-
gender Weiſe feſtſtellen, und es wäre ſehr viel gewonnen, wenn
man ſich über dieſelben einmal für allemal einigte. Wir würden den
Theil, den ein Körper der Selbſtverwaltung als Behörde und mit
amtlichem Rechte im Namen der Regierung übernimmt, wo ſie alſo
als wirkliche Behörde funktionirt, den amtlichen Wirkungskreis
deſſelben (in Oeſterreich der „übertragene Wirkungskreis“) nennen; den-
jenigen Theil dagegen, den ſie vermöge des Rechts auf Selbſtverwal-
tung ausübt, als den freien Wirkungskreis (in Oeſterreich der
„natürliche Wirkungskreis“) bezeichnen. Das Weſen des amtlichen
[440] Wirkungskreiſes beruht dann auf zwei Momenten. Erſtlich darauf,
daß die Organe, welche ihn vollziehen, die gewählten Organe der
Selbſtverwaltung ſind; zweitens darauf, daß dieſe Organe für dieſen
Wirkungskreis nicht ihrem Selbſtverwaltungskörper, ſondern der höchſten
Behörde verantwortlich ſind. Das erſte Moment vertritt das freie
Element, das zweite das amtliche. England hat in ſeinen Selbſtver-
waltungskörpern gar keinen amtlichen, ſondern nur einen freien Wir-
kungskreis; Frankreich hat in demſelben keinen freien, ſondern nur einen
amtlichen Wirkungskreis, nur die deutſche Selbſtverwaltung hat beide
zu vereinigen verſtanden. Dem entſpricht das Verhältniß zum Haupte
der Selbſtverwaltungskörper. Die Regierung kann ohne allen Einfluß
auf die Wahl deſſelben ſein, wie in England; ſie kann daſſelbe über-
haupt nicht wählen laſſen, ſondern es ſelbſt ernennen, wie in Frank-
reich; und ſie kann daſſelbe zwar wählen laſſen, aber ſich überhaupt,
oder doch für gewiſſe Selbſtverwaltungskörper die Beſtätigung vor-
behalten, wie in Deutſchland. Daß beide Grundformen des Verhält-
niſſes zur Staatsgewalt ſtets mit einander correſpondiren werden, iſt
klar; und eben darauf beruht es, daß wir gerade im Syſteme der
Selbſtverwaltung den Ausdruck der Individualität des inneren Staats-
lebens in ſo hohem Maße ausgedrückt finden.


b) Verhältniß zu den geſellſchaftlichen Grundlagen.

So muß das Syſtem der Selbſtverwaltung zunächſt mit dem
Organismus der Regierung in gegenſeitig bedingter Verbindung gedacht
werden. Aber andererſeits iſt jeder dieſer Körper der Selbſtverwaltung
ein ſelbſtändiges Ganze mit eigenem Willen und eigener That; er iſt
das, was wir eine juriſtiſche Perſönlichkeit nennen. Als ſolche bedarf
er einer eigenen Verfaſſung und Verwaltung. Verfaſſung und Ver-
waltung aber ſind mehr als bloße Ordnung der Organe. Sie ſind
ſtets der Ausdruck des geſellſchaftlichen Lebens und ſeiner Grundver-
hältniſſe. Es iſt daher nicht möglich, ſich die Verfaſſung und Verwal-
tung jener Körper zu denken, ohne auf die ſocialen Ordnungen des
Volkslebens zurückzukommen. Es iſt nicht möglich, ſich dieſelbe als eine
gleichartige zu denken in der Epoche der Geſchlechterordnung, der ſtän-
diſchen Ordnung und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung, und ſie iſt auch
weit entfernt, dieſelbe geweſen zu ſein. Aber wie die geſellſchaftlichen
Neubildungen nicht ohne Kampf der Grundſätze und Intereſſen im
Ganzen vor ſich gehen, ſo gehen ſie auch in den einzelnen Theilen des
Ganzen nicht ruhig vorüber. Während daher das Syſtem der Selbſt-
verwaltung in dem Verhältniß zum Staat und ſeiner Organiſation
[441] ſeine äußere Geſchichte hat, hat es im Verhältniß zur ſocialen Bewe-
gung das, was wir ſeine innere Geſchichte nennen. Und dieſe iſt nicht
bloß eine ſtoffreiche, ſondern auch eine lehrreiche. Wenn wir überhaupt
von der Individualität der Staaten reden, ſo ruht dieſelbe gewiß
weſentlich in ihrer ſocialen Individualität. Die aber, die am meiſten
herrſchend und fühlbar, wo ſich die Individuen berühren, herrſcht vor
allem in der Ordnung der Verfaſſung und Verwaltung des Syſtems
der Selbſtverwaltungskörper. Und wie wir daher für das Verhältniß
der letzteren zum Staate gewiſſe allgemeine Kategorien für die Redu-
cirung der verſchiedenen Zuſtände auf gleichartige Grundlagen verſucht
haben, ſo läßt ſich daſſelbe auch für den Einfluß anſtreben, den die
ſociale Ordnung auf das Verfaſſungs- und Verwaltungsleben der Selbſt-
verwaltung ausüben. Dieſe Kategorien aber, zunächſt als hiſtoriſche
Thatſachen erſcheinend, werden zu wiſſenſchaftlichen Begriffen, indem
wir ihren innern cauſalen Zuſammenhang mit dem Weſen jener geſell-
ſchaftlichen Ordnungen feſtſtellen.


Wir dürfen dabei die drei Grundformen der geſellſchaftlichen Ord-
nung, die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche
Ordnung als bekannt vorausſetzen. In der erſten iſt der Grundbeſitz
das herrſchende Element, in der zweiten der Beruf, in der dritten die
ſelbſtthätige Perſönlichkeit. In der erſten wirkt daher das unbewegliche,
in der zweiten das geiſtige, in der dritten das gewerbliche Capital.
Die Uebergänge und Verbindungen dürfen wir nicht genauer hervorheben.


Die Verfaſſung und Verwaltung der Selbſtverwaltung beruht
demgemäß in der Geſchlechterordnung ſtets auf den Grundbeſitzern.
Ihre Einheit, als örtliches Ganze, nennen wir die Dorfſchaft. Ihr
Mitglied iſt der freie Bauer auf freier Hufe. Ihre Verfaſſung iſt die
gleiche Berechtigung aller freien Bauern, die ſich das Haupt ſelbſt
wählen, denn niemand hat ein Vorrecht vor dem andern. Ihre Ver-
waltung beruht darauf, daß ſie ſich die Aufgaben, die ſie vollziehen
will, entweder ſelbſt ſetzt, oder ſie doch ſelbſt vollzieht. Allein die
Mittel für dieſe Verwaltung müſſen, wie jeder Beſchluß der Dorfſchaft,
durch die Grundbeſitzer aufgebracht werden. Daraus folgt zwar einer-
ſeits das Recht der Selbſtbeſteuerung, andererſeits aber auch das
Princip, nach welchem der Nichtbeſitzer von der Verfaſſung ausgeſchloſſen
iſt. Die Dorfſchaft iſt nur die Gemeinde der bäuerlichen Grundbeſitzer,
die Dorfgemeinde.


Aus dieſer Dorfgemeinde wird ſich nun die Verwaltungsgemeinde
der Geſchlechterordnung dadurch entwickeln, daß durch das Fortſchreiten
des Verkehrs ſich Aufgaben bilden, für welche die Dorfgemeinde zu
klein iſt. Es liegt in der Natur der Sache, daß die erſte dieſer
[442] Aufgaben der Cultus iſt. So entſteht die Kirchengemeinde. Die
Kirchengemeinde aber iſt ſchon weſentlich von der Dorfgemeinde ver-
ſchieden. In ihr iſt bereits das ſtändiſche Element des geiſtlichen
Berufes in das Dorf aufgenommen. Es fordert mit vollem Recht Theil-
nahme an der Verwaltung, ſo weit die kirchliche Aufgabe reicht. So
entſteht für dieſe Gemeinde eine Verfaſſung, die bereits zwei Elemente
hat, das Element des reinen Grundbeſitzes, und das der Vertretung
der Kirche. Es iſt der Uebergang von der Geſchlechterordnung zur
Ständeordnung im Gemeindeweſen, und mit ihm der Beginn des
Syſtems des Gemeindeweſens; denn die Kirchengemeinde wird meiſtens
eine Anzahl Dorfgemeinden umfaſſen, und dadurch Intereſſen, For-
derungen und Principien in das Gemeindeleben hineinbringen, welche
das letztere nicht verſteht. Daraus bildet ſich dann naturgemäß eine
neue Thatſache. An die Kirchengemeinde ſchließen ſich alsbald die Ver-
waltungsaufgaben, welche überhaupt auf geiſtiger Grundlage beruhen,
namentlich das Schulweſen und das Armenweſen. Und ſo wird
aus der Kirchengemeinde zugleich die Schul- und die Armengemeinde,
beide in ihrer Verfaſſung mit dem Princip, daß der geiſtliche Beruf
in ihnen vertreten ſein muß, in ihrer Verwaltung dagegen mit dem
Grundſatz, daß nur die wirklich Steuerzahlenden Mitglieder ſind. Es
iſt die erſte Bildung eines Syſtems der Gemeinden.


Die zweite große Aufgabe iſt dann die Rechtspflege. Natürlich
genügt für ſie die Dorfſchaft nicht. Zwar iſt ſie für ſich ſelbſt ein
Rechtskörper, und verwaltet urſprünglich ihr Recht für ihre Mitglieder
ſelber. Allein für die Rechtsfragen zwiſchen den Gliedern verſchiedener
Dorfſchaften untereinander muß ſich ein neues, gemeinſchaftliches Organ
bilden. Dieß kann verſchieden ſein. Aber wie bei der Kirche das
Element des Berufes in die größere Gemeinde eintritt, ſo auch bei der
Rechtspflege. Hier wird das Richteramt zum Berufe, und dieſer Beruf
ſchließt ſich naturgemäß an die Staatsgewalt, welche ihm die Kraft
zur Ausübung ſeiner Pflichten gibt. So entſtehen die Gerichtsgemein-
den; die Verfaſſung derſelben iſt in der ganzen germaniſchen Welt
gleichartig
. Sie beſteht aus zwei Elementen, gerade wie die Kirchen-
gemeinde. Das eine iſt die Vertretung des bäuerlichen Grundbeſitzes,
der Schöffe; das zweite iſt die Vertretung des berufsmäßigen Richter-
amts, der königliche Beamtete. Es iſt ein zweites Syſtem der
Gemeinde, auch hier durch die Verbindung des ſtändiſchen Elements
mit dem Geſchlechterelement, entſtanden.


Die dritte große Aufgabe iſt ſehr unbeſtimmt. Sie umfaßt alle
Gebiete der innern Verwaltung; es läßt ſich nicht feſtſtellen, was ihr
alles angehören kann. Aber was ihr namentlich zuerſt angehören muß,
[443] iſt klar; das iſt das Communikationsweſen, das mehrere Dorf-
ſchaften zugleich umfaßt. An daſſelbe ſchließt ſich daher eine Verfaſſung,
welche wieder auf den Steuernden beruht, aber zu ihrem Haupte direkt
oder indirekt den Fachkundigen hat, der entweder leitet, oder doch
die Oberaufſicht führt, und eine Verwaltung, welche zuerſt in Natural-
leiſtungen, dann in Geldleiſtungen erſcheint. Dieſe Verwaltung muß
ein Syſtem ſein, indem ſie Pflichten und Leiſtungen nach beſtimmten
Grundſätzen zu vertheilen hat; nach ihrem Beiſpiel können andere Auf-
gaben in gleicher Weiſe entſtehen, und ſo erzeugt ſich das, was wir
im engeren Sinne die Verwaltungsgemeinde nennen, dasjenige
Syſtem der Gemeinde, welches weſentlich die volkswirthſchaftlichen
Aufgaben durch Selbſtverwaltung zu vollziehen hat.


So wie nun dieſe Aufgaben ſich entwickeln und ihre Selbſtver-
waltungen durch die Einheiten der Dorfgemeinden erzeugen, ſo muß
die Staatsverwaltung hinzutreten, denn die Intereſſen, um die es ſich hier
handelt, gewinnen ſo ſehr an Umfang und Bedeutung, daß ſie Geſammt-
intereſſen werden. Sie beginnt daher theils Verwaltungsgeſetze zu geben,
theils leitende Behörden aufzuſtellen. Selbſtverwaltung und Staats-
verwaltung berühren ſich, und aus dem Zuſammenwirken beider entſteht
ein Syſtem, das wir eben die innere Verwaltung im Allgemeinen nennen.


Dieſes ganze Syſtem hat nun, wie man ſieht, Eine Vorausſetzung.
Es iſt die, daß die freie Bauernſchaft ungebrochen fortbeſteht. Es kann
nur gedacht werden, wo die Beiträge für jene Verwaltungszwecke auf
dem freien Willen der Einzelnen beruhen, und die Beſchlüſſe daher auch
nur durch die freie Verſammlung der Beſitzenden gefaßt werden. Die
Ortsgemeinde iſt mit ihrer örtlichen Selbſtändigkeit dabei durchaus nicht
ausgeſchloſſen; ſie lebt in der Verwaltungsgemeinde fort; ſie muß ſogar
fortleben, denn die letztere, nur für einen ganz beſtimmten Zweck ent-
ſtanden, hat auch nur dieſe ganz beſtimmten Aufgaben. Sie kümmert
ſich um die Sachen der Ortsgemeinde an ſich nicht; dieſelbe bleibt für
alles, was nicht der einen Verwaltungsgemeinde angehört, ganz ſelb-
ſtändig. Nur ſind die Ortsgemeinden nicht verſchieden. Es kann
hier keinen Unterſchied zwiſchen Stadt und Land geben, denn in Stadt
und Land iſt der Beſitzer ein gleich freier Mann. Das ſtändiſche Element
erſcheint nicht in der Form des herrſchenden Beſitzers, ſondern nur in
der des Berufes. Und ſo ſteht dieß Syſtem da auf Grundlage des
Princips, daß jedes ſeiner Theile einen ſelbſtändigen Selbſtver-
waltungskörper bildet
.


Es iſt kein Zweifel, daß wir hier auf Grundlage der ſocialen
Zuſtände nichts anderes, als das engliſch-nordamerikaniſche Syſtem
geſchildert haben.


[444]

Ein ganz anderer Zuſtand zeigt ſich uns da, wo die altgermaniſche
Dorfſchaft mit ihren freien Bauerngeſchlechtern ſich nicht erhält, ſondern
an ihre Stelle der Begriff und die Macht der Herrſchaft tritt.


Die Herrſchaft entſteht aus der Dorfſchaft da, wo das freie Eigen
des Bauern unfrei wird, und der Beſitz, und mit dem Beſitze die
Rechte, und mit dem Rechte die Verpflichtungen auf den Herrn des
Grundes und Bodens übergehen. Die Herrſchaft aber iſt dadurch, daß
ſie eben dieſe Rechte und Pflichten mit dem Grund und Boden empfängt,
in der That ſelbſt nichts anderes als eine Ortsgemeinde, und muß
daher — und ohne das iſt ihre ganze Stellung nicht zu verſtehen, als
der Körper der lehnsrechtlichen Selbſtverwaltung betrach-
tet werden
. Nur iſt dieſe Selbſtverwaltung allerdings weſentlich
anders geſtaltet, als bei der Dorfſchaft. Denn ſie iſt keine Selbſtver-
waltung, die auf der freien Selbſtbeſtimmung des Verwalteten beruht,
ſondern ſie iſt nur eine Selbſtverwaltung im Gegenſatze zur Staats-
verwaltung. Sie iſt diejenige Geſtalt der örtlichen Verwaltung, in
welcher dieſelbe auf dem Willen des einzigen Beſitzers, und damit
auf dem Rechte deſſelben beruht. Sie nimmt daher dem Staate gegen-
über daſſelbe Recht in Anſpruch, das die Dorfſchaft für ſich fordert;
aber dem Einzelnen gegenüber fordert ſie weit mehr Recht, als die Ge-
meinſchaft der freien Bauern. Denn ſie iſt nicht bloß Grundherrin,
ſondern ſie iſt zugleich auf Grundlage ihres Beſitzes das Organ der
Gemeinſchaft der Ortſchaften. Sie iſt daher zugleich Ortsgemeinde und
Verwaltungsgemeinde, und die Rechte der Verwaltungsgemeinde in
geiſtigen, juriſtiſchen und adminiſtrativen Aufgaben und dem entſprechend
auch die Rechte der Selbſtbeſteuerung für alle dieſe Zwecke ſind Rechte
des herrſchaftlichen Beſitzers; der herrſchaftliche Beſitzer iſt damit zugleich
Inhaber der berufsmäßigen Funktion; er bildet einen Stand für ſich,
aber freilich keinen Stand auf der ethiſchen Baſis ſeines Berufs, ſon-
dern auf der juriſtiſchen ſeines Beſitztitels. Sein Recht auf Selbſtver-
waltung erſcheint daher in der That nur noch als das negative Recht
der Selbſtverwaltung der Gemeinde, als das Recht auf Abweiſung
jedes Antheils der Gemeindeglieder einerſeits, und der Staatsverwal-
tung andererſeits an der herrſchaftlichen Verwaltung. Es iſt die
unfreie Form der Selbſtverwaltung.


Gegen dieſe unfreie Form erhebt ſich nun ein doppelter Kampf.
Einerſeits iſt ſie im Widerſpruch mit dem Weſen und der Beſtimmung
des Staats, und das Königthum, das dieſen Staat vertritt, nimmt
ſofort dieſen Kampf auf, indem es das Amtsweſen organiſirt, und die
herrſchaftliche Verwaltung der behördlichen unterwirft. Dieſer Kampf,
anſchließend an die Forderungen, welche ſich allmählig in der Staats-
[445] verwaltung bilden, erzeugt das, was wir die Amtsgemeinde nennen,
diejenige Form der örtlichen Verwaltung, in welcher an die Stelle des
Grundherrn und ſeiner adminiſtrativen Rechte die Behörde tritt, an
die Ortsgemeinden anſchließend, und aus ihren Verwaltungsgemeinden
zum Zwecke der Staatsverwaltung bildend, in denen dann freilich das
Element der Selbſtverwaltung oft neben jenen faſt ganz verſchwindet.
Andererſeits iſt die Herrſchaft im Gegenſatz zur freien einzelnen Perſön-
lichkeit. Dieſe, ſich anſchließend an die freie Form des Beſitzes, dem
gewerblichen Beſitz, trennt ſich äußerlich von der Herrſchaft und bildet
ſelbſtändige Gemeinden neben der Herrſchaft. Dieſe, auf dem gewerb-
lichen Beſitz beruhende Gemeinde iſt die Stadt. So entſteht der Unter-
ſchied zwiſchen Stadt und Land; jene frei, aber nicht wie die Dorf-
ſchaft auf dem Grundbeſitz ausſchließlich beruhend; dieſe unfrei, alle
Formen der Herrſchaft umfaſſend. Damit iſt die örtliche Selbſtver-
waltung in zwei weſentlich verſchiedene Syſteme getheilt; über beiden,
beide in aller Weiſe negirend und bekämpfend, ſteht die Staatsver-
waltung; durch alle hindurch aber zieht ſich die Bewegung, von der
auch die Stadt nur eine beſtimmte Erſcheinung iſt, die Bewegung nach
der Verwirklichung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und der Geltung
der einzelnen freien Perſönlichkeit. Und mit dieſer letzteren muß nun,
indem ſie den Unterſchied zwiſchen Stadt und Land principiell eben ſo
beſtimmt negirt als das Eingreifen der Staatsgewalt, eine neue Geſtalt
der örtlichen Selbſtverwaltung ausgehen. Dieſe aber, begründet auf
dem Begriff des Staatsbürgerthums und ſeiner Geltung in der Ge-
meinde, nennen wir das eigentliche Gemeindeweſen.


Es iſt kein Zweifel, daß wir hier die Elemente des gemeinſchaft-
lichen Zuſtandes auf dem Continent angedeutet haben, aus welchem
ſich die Ordnung der Selbſtverwaltung und das Syſtem deſſelben in
unſerem Jahrhundert entwickelt haben. Nur ſind hier die einzelnen
Staaten weſentlich verſchieden; denn das Staatsbürgerthum hat das
Element der Herrſchaft und der Dorfſchaft, der Stadt und des Landes
keineswegs gleichmäßig bewältigt. Es mag daher dieſer Theil der Ge-
ſchichte wohl einer beſondern Betrachtung werth erſcheinen. Er iſt es,
der uns auf die gegenwärtigen Zuſtände hinüberführt.


3) Die Elemente der ſocialen Geſchichte der örtlichen Selbſt-
verwaltung
.

1) Wenn auch die ſocialen Bewegungen Europas ſtets die ganzen
Völker erfaſſen, ſo gilt dennoch auch für ſie der Grundſatz, daß dieſelben
anfänglich weſentlich in örtlicher Geſtalt auftraten. Erſt in unſerm
[446] Jahrhundert haben ſich auch dieſe Erſcheinungen centraliſirt, und wenn
auch nicht die Gewalt, ſo hat doch die Klarheit der Bewegungen dadurch
unendlich gewonnen. Um ſo nothwendiger iſt es, dieſelbe in ihrer
geſchichtlichen Wiege, den Körpern der örtlichen Selbſtverwaltung, genauer
zu beachten. Auch unſer eigenes Vaterland wird uns dadurch in ent-
ſcheidenden Punkten erſt recht verſtändlich.


Jene große Bewegung, die wir den Uebergang von der ſtändiſchen
zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nennen, iſt nun natürlich theils ihrem
Umfange, theils ihrem nationalen Inhalt nach eine unendlich vielgeſtal-
tige. Vor allem aber hat jede einzelne Gemeinde gerade in dieſer Be-
ziehung wieder ihre eigene an Ereigniſſen und Kämpfen reiche Geſchichte.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft der europäiſchen Völker macht in den
Marken der Gemeinden einen höchſt wichtigen Theil ihrer Erfahrungen,
Leiden und Gegenſätze durch, und gelangt eben dadurch in einer ſchon
geläuterten Geſtalt in das gegenwärtige Jahrhundert. Das hohe Inter-
eſſe, welches die Geſchichte der bedeutenden einzelnen Gemeinden ſeit dem
dreizehnten Jahrhundert bietet, beruht eben darauf, daß man in ihnen
die großen europäiſchen Faktoren im Kampfe ſieht, und daß ein Stück
des eigenen Lebens in ihnen vollzogen wird. Dieſe Geſchichte iſt daher
eine geradezu unerſchöpfliche. Dennoch kann keine eingehende Darſtellung
der Selbſtverwaltung ihrer entbehren, und zwar um ſo weniger, als der
gegenwärtige Zuſtand des Gemeindeweſens in Europa, ſelbſt in ſeinen
allgemeinſten Grundzügen, auf dem Gange dieſer Entwicklung beruht.


Es muß daher der Verſuch gemacht werden, diejenigen entſcheiden-
den Momente aufzuſtellen, welche all jenem Reichthum von einzelnen
Erſcheinungen und Rechtsbildungen zum Grunde liegen und den natio-
nalen Charakter des Gemeindeweſens in den drei Kulturvölkern beſtimmt
haben. Auf dieſe Grundformen werden ſich dann die Verhältniſſe der
übrigen Länder und Völker ohne große Schwierigkeit zurückführen laſſen.


2) Zur Zeit der Völkerwanderung ſtehen ſich in dem hiſtoriſch bekann-
ten Europa zwei große Geſtaltungen der örtlichen Verwaltung gegenüber.
Die eine iſt die der römiſchen Welt, die wir als das Municipal-
ſyſtem
bezeichnen können. Das Municipalſyſtem beruht darauf, daß
die örtliche Verwaltung durch einen Amtsorganismus vollzogen wird,
deſſen Träger aber keine eigentlichen Staatsbeamteten ſind, ſondern
entweder gewählte oder vom Staate zeitlich ernannte Perſonen, welche
die örtliche Verwaltung führen, jedoch ohne alle Verantwortlichkeit
gegenüber dem Verwaltungskörper, und ohne ein ſelbſtändiges Recht
der Verwaltung. Der Verwaltungskörper ſelbſt, das Municipium, iſt
ein Verwaltungsbezirk; die Verwaltung ſelbſt liegt ganz in den Händen
der obern Beamteten. Von einer verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeit
[447] derſelben iſt keine Rede; Selbſtverwaltung iſt mithin eben ſo wenig
vorhanden, als Gemeindeweſen. Die zweite Geſtalt iſt die des germa-
niſchen Dorfes und der Dorfſchaft mit ihrem an die Geſchlechter
vertheilten freien Grundbeſitz. Wir haben den Charakter derſelben bereits
oben bezeichnet, und das was in ihm als Verwaltung gelten mag,
aufgeſtellt.


Der Rhein und die Donau ſcheiden dieſe beiden großen Grund-
formen auf dem Continent bis zur Völkerwanderung. Die Vernichtung
des römiſchen Reiches wirft ſie durch einander. In die Municipien
kommen germaniſche Elemente hinein, in die Dörfer ſowohl der germa-
niſchen Länder als der neueroberten Länder wurden die romaniſchen
Elemente aufgenommen. Das alte Weſen und Recht beider war damit
gebrochen; das alte beſtand nicht mehr, das neue war noch nicht
erſchienen; von einer Gemeinde konnte noch keine Rede ſein.


Die Geſtalt und Ordnung, welche dieſe neue Bildung annahm,
beſtimmte ſich zuerſt natürlich nach der allgemeinen Stellung jener
beiden großen Elemente. Die Germanen waren als Sieger die Herren;
die Romanen hatten nur den Herrn gewechſelt. Eine unmittelbare
Verſchmelzung fand nicht ſtatt. Das Recht der römiſchen Herrſchaft war
auf die Sieger übergegangen; aber ſie verſtanden den römiſchen, auf
der rein amtlichen Verwaltung ruhenden Staat nicht; ſie hatten in der
Heimath ein öffentliches Recht nur in ſeiner innigſten Verbindung mit
dem Recht auf den Grundbeſitz gekannt; ſie konnten ſich auch jetzt nur
die Herrſchaft als Eigenthum am Grund und Boden denken. Das übrige,
die Selbſtverwaltung der Grundbeſitzer, verſtand ſich von ſelbſt. Daraus
ging die Geſtalt des innern Lebens hervor, welche wir als das Mittel-
alter bezeichnen. Ihr Princip iſt das beinahe völlige Verſchwinden der
Staatsverwaltung, und das ausſchließliche Recht des freien Grundbeſitzes
zur Selbſtverwaltung auf eigenem Grund und Boden, und zwar nach
dem Falle der Karolingiſchen Dynaſtie für alle Gebiete der Verwal-
tung, Finanzen, Rechtspflege und Inneres, ſo weit davon die Rede
ſein konnte. Da nun aber namentlich in den eroberten Ländern dieſer
Grund und Boden an die einzelnen Krieger vertheilt war, ſo entſtand
ein Verhältniß, deſſen Grundlage der Satz war, daß nur derjenige
Grund und Boden ein vollkommen freier ſei, der nicht von einem andern
Einzelnen, ſondern nur vom Landesherrn dem Beſitzer verliehen war.
Grundſätzlich ſchloß das Alle, die auf verliehenem Grund und Boden
ſaßen, von der alten Theilnahme an der Verwaltung aus, die ja auf
dem urſprünglich freien Beſitz beruhte. Dieſer Grundſatz verhielt ſich
zunächſt ganz gleichgültig gegen die volle perſönliche Freiheit der Beſitzer;
er konnte vollſtändig perſönlich frei, und doch unfähig ſein, an der
[448] Verwaltung Theil zu nehmen, weil ſein Beſitz unfrei war. Die Ge-
ſammtheit des freien Grundbeſitzes, der auf dieſe Weiſe viele unfreie
Beſitzungen und unfreie aber auch freie Perſönlichkeiten umfaßte, hieß
daher nun Herrſchaft; und man kann das Recht auf Selbſtverwaltung
der eigenen Herrſchaft, das ſomit aus dem Recht auf den eigenen Grund
und Boden für den Herrn entſtand, mit einem paſſenden Worte die
Grundherrlichkeit nennen.


Neben den Herrſchaften, meiſt aber freilich nur in den Stammſitzen
der Romanen, blieben nur noch die alten Dörfer beſtehen, die auf
dem Princip der Geſchlechterordnung und des urſprünglich gemeinſamen
Beſitzes beruhten. Die allmählig eintretende Auftheilung dieſes gemein-
ſamen Beſitzes erzeugt als Grundform der inneren Dorfſchaften die
freie Hufe; der gemeinſame Beſitz erhält ſich nur noch in der Gemeinde-
weide und dem Gemeindewald. Dennoch behielt das neue Dorf im
Weſentlichen ſeinen Charakter; nur geht die urſprüngliche Autorität der
Geſchlechterhäupter auf die Beſitzer der Hufen über, und die kleinen
Beſitzer, die Köthner und Inſaſſen (Inſten) ordnen ſich ohne Widerſtand
der Hufe unter. Die Nothwendigkeit, allmählig die gemeinſamen
Angelegenheiten einer regelmäßigen Berathung und Thätigkeit zu unter-
ziehen, entwickelte die Elemente der Selbſtverwaltung in denſelben, und
es entſtanden feſte Organe dieſer Selbſtverwaltung, deren Spitze der
Schultheiß, deren Umfang zunächſt Gericht und Polizei war. In dieſem
Sinne iſt das Dorf jetzt als Körper der Selbſtverwaltung eine Dorf-
ſchaft
, wie wir ſie oben bereits bezeichnet haben.


Da nun das Königthum noch ſelbſt ſo gut als gar keine Verwal-
tung hat, ſo treten ſich in allen öffentlichen Dingen dieſe beiden Grund-
formen der Herrſchaft und der Dorfſchaft gegenüber. Beide ſind Selbſt-
verwaltungskörper, da die Staatsverwaltung noch fehlt. Allein es
leuchtet ein, daß die Grundherrlichkeit die Selbſtverwaltung zu einem
perſönlichen Rechte der Grundherrn macht, das wiederum, indem es
auf dem Eigenthumsrechte an Grund und Boden beruht, gleichfalls den
Charakter ſeiner Rechtsquelle, des Privatrechts, annimmt. Die herr-
ſchaftliche Selbſtverwaltung ſchließt daher mit dieſem Rechtstitel aller-
dings das Eingreifen der langſam entſtehenden landesherrlichen Ver-
waltung aus, aber auf demſelben Rechte ſich gründend verweigert ſie
auch jedem Inſaſſen auf dem ihr irgendwie angehörigen Grund und
Boden ein Recht auf Theilnahme an der herrſchaftlichen Verwaltung.
In der That wäre eine ſolche Theilnahme nicht bloß eine Beſchränkung
des öffentlichen Rechts des Grundherrn, ſondern zugleich ein Eingriff
in das Eigenthumsrecht an Grund und Boden geweſen, da ſich
das eine ohne das andere gar nicht denken ließ. Die dorfſchaftliche
[449] Selbſtverwaltung ſchließt ihrerſeits gleichfalls jeden Nichtbeſitzer aus, und
läßt nur die Hufenbeſitzer zur Verwaltung zu; aber für dieſe exiſtirt aller-
dings das Recht gemeinſamen Beſchluſſes und gemeinſamer Wahl. Da-
gegen beſaß die Dorfſchaft wieder keine Gränze ihres Rechts gegenüber
der entſtehenden landesherrlichen Verwaltung, da ſie eigentlich gar keinen
objektiv gültigen Rechtstitel hatte. Es hing nur von der letztern ab,
wie weit ſie greifen wollte und konnte. Faßt man das zuſammen, ſo
muß man ſagen, daß die erſte Form der Selbſtverwaltung des Mittel-
alters, die Herrſchaft, zwar das Moment der Selbſtändigkeit beſitzt, aber
nicht das der Freiheit; die zweite Form, die Dorfſchaft, hat zwar das
Moment der Freiheit, aber nicht das der Selbſtändigkeit. Beide, weſent-
lich verſchieden, ſtehen daher mit einander in Widerſpruch, und jene
Momente mußten alsbald zum Kampfe gelangen. Dieſer Kampf ſelbſt
aber war nichts anderes, als der Kampf des Reſtes der freien Geſchlechter-
ordnung, welche in den Dorfſchaften herrſchte, mit den Anfängen der
Ständeordnung, welche die Grundherrlichkeit bildete. Der Begriff der
Gemeinde im heutigen Sinn fehlt noch beiden.


Jener Kampf beginnt nun hiſtoriſch faſt ſchon unter Karl dem
Großen. Am Ende der Karolingiſchen Dynaſtie iſt ſeine erſte Epoche
erledigt. In allen romaniſchen Staaten unterwirft die Herrſchaft die
Dorfſchaft; das Princip der Grundherrlichkeit greift durch, und der
letzte Reſt freier Verwaltung verſchwindet in der adminiſtrativen Sou-
veränetät der Grundherren. Die Gründe dafür liegen weſentlich in dem
Vorherrſchen des an Unfreiheit gewöhnten romaniſchen kleinen Grund-
beſitzes; der zieht die germaniſche vereinzelte freie Hufe mit hinab,
und mit dem zehnten Jahrhundert iſt das ganze Land eine unendliche
Vielheit von kleinen ſouveränen Herrſchaften. In den germaniſchen
Staaten wird ein ähnlicher Erfolg erzielt, aber theils ſpäter, theils auf
anderem Wege. Es iſt ein unendlich weitläuftiger, wichtiger und nur in
einzelnen Theilen gehörig aufgeklärter Theil der inneren Geſchichte des
Continents, den wir hier berühren. Doch ſtehen die großen hiſtoriſchen
Thatſachen ziemlich feſt, und ſie ſind es, welche den Gang der Geſchichte
der Selbſtverwaltung oder vielmehr des Ueberganges der dorfſchaftlichen
Selbſtverwaltung an die Grundherrlichkeit und ihre Verwaltung erklären.
Man kann ſie alle auf zwei große Gruppen zurückführen.


Die erſte beſteht in der einfachen Unterwerfung der einzelnen freien
Bauern und Dorfſchaften unter die Grundherrlichkeit. Sie iſt in hun-
dert verſchiedenen Formen geſchehen; aber es läßt ſich trotz dem nicht
verkennen, daß ſie in den bei weitem meiſten Fällen doch dieſelbe
Grundlage hat. Sie beſteht nämlich nur ſelten darin, daß die Dorf-
ſchaft oder Hufe direkt unfrei wird, ſondern meiſtens beginnt ſie damit,
Stein, die Verwaltungslehre. I. 29
[450] daß der Grundherr als urſprünglich kein rechtlich bevorzugter, ſondern
nur ein mächtigerer Nachbar der Hufe oder des ganzen Dorfes, gerade
die Selbſtverwaltung der Dorfſchaft für ſich gewinnt, und die Form,
in welcher dieſer Uebergang der Selbſtverwaltungsrechte von dem freien
Bauernſtande an den herrſchaftlichen Grundbeſitzer ſtattfindet, iſt das
zu Lehen geben. Die Akte, durch welche die Bauern ſich als Vaſallen
der Gutsherren erkennen, ſind im Grunde urſprünglich nur Uebertra-
gungen der Selbſtverwaltungsrechte des Bauernſtandes an die Herren,
keine Eigenthumsübertragungen, und die Lehensabgaben in recognitio-
nem dominii
ſind nur Symbole dieſer Verwaltungsrechte der Herrſchaft.
Auch gewinnt der Lehensherr des Dorfes damit nicht die Verwaltung
der Ortsgemeinde, ſondern die der Verwaltungsgemeinde; oder, wie wir
ſagen würden, die Grundherrlichkeit wird eben die Verwaltungs-
gemeinde
. In der Grundherrſchaft ſind daher principiell zwei
Syſteme der Selbſtverwaltung, die eigentlich grundherrliche, welche auf
dem urſprünglichen Eigenthum an Grund und Boden beruht, und die
bäuerliche, welche durch Lehenserkennung entſteht und daher auch
anfänglich die Ortsgemeinde als Dorfſchaft ruhig fortbeſtehen läßt, nur
die eigentliche Verwaltungsgemeinde bildend. Der Lehensherr hat daher
die großen Funktionen, aus welchen die letzteren entſtehen, das Kirchen-
und Schulweſen, die Rechtspflege und das Communicationsweſen zu
verwalten. Er iſt Kirchenpatron, er iſt Gerichtsherr, und iſt Herr der
Wege, wodurch das peagium, die Mauth, entſteht. Dieſe Entwicklung
knüpft bekanntlich an den karolingiſchen Grafen an; die Aufgaben des
Comes ſind eben die der Verwaltungsgemeinden, und das Aufgeben zu
Lehen iſt daher in ſehr vielen — vielleicht in allen — Fällen nichts
anderes, als die feierliche Anerkennung eines Gutsherrn als erblichen
Grafen und Haupt der Verwaltung. Die urſprüngliche Lehensherrſchaft
iſt daher noch keineswegs unfrei; die Selbſtverwaltung bleibt an ſich
beſtehen; aber die Häupter derſelben ſind nicht mehr gewählte, ſondern
erbliche Inhaber der Gewalt der Verwaltung.


Allein dieſer Zuſtand konnte nicht dauernd bleiben. Der Lehens-
herr hatte dieſe Gewalt für ſeine Hinterſaſſen ſchon urſprünglich, für
die freien Bauern durch Lehensübertragung als eine erbliche bekommen.
Sie verſchmolz daher mit ſeinem Grundbeſitz ſelbſt; ſie ward ſein Pri-
vatrecht
. Die Gränze dieſer Gewalt aber, noch jetzt ſchwer zu defi-
niren, war damals undefinirbar; mit ihr das Recht, die Laſten der
Verwaltung zu vertheilen. So geht die Selbſtbeſteuerung der Dorfſchaft
auf den Gutsherrn über. Damit iſt er nicht mehr das Haupt der Orts-
und Verwaltungsgemeinde, er iſt der Herr derſelben. Dieſes Princip
gewinnt nun ſeine formelle Anerkennung mit dem Auftreten der
[451] Landſchaften. Die Landſchaften ſind die Selbſtverwaltungskörper der
Länder; der Verluſt der Rechte auf die Selbſtverwaltung auch bei
den freien Bauern macht ihn unfähig, an der „Landſchaft“ Theil zu
nehmen; er kann niemals Landſtand werden; er iſt überhaupt kein
Stand mehr; er hat auch in der Auffaſſung des Abendlandes die Fähig-
keit verloren, als gleichberechtigt dem Grundherrn zur Seite zu treten.
Damit iſt ſeine Freiheit untergegangen; der Begriff und das Recht
der Selbſtverwaltung iſt vom Grundbeſitz getrennt, und das freie
Gemeindeweſen in der Dorfſchaft wie in der Grundherrlichkeit unmöglich
geworden.


Sollte beides zurückkehren, ſo mußte ſich eine ganz neue Geſtaltung
der Dinge jener Ordnung der ſtändiſchen Herrſchaft an die Seite ſtellen.
Es mußten ſich Gemeinſchaften auf einer anderen Grundlage als der
des Grundbeſitzes bilden. Dieſe wirthſchaftliche Grundlage war aber
der gewerbliche Beſitz. Die Gemeinſchaft, welche durch den gewerb-
lichen Beſitz erzeugt wird, iſt die Stadt. Und ſo geſchah es, daß die
Städte begannen, mit dem ihnen eigenthümlichen Element in das innere
Leben Europas einzugreifen.


3) Der gewerbliche Beſitz iſt ſeinem Weſen nach die eigentlich indi-
viduelle Form des Beſitzes. In Capital und Arbeit ſchließt er ſich
unbedingt an das Individuum an; daſſelbe erzeugt mit dem zweiten
das erſte; es begegnet hier keiner producirenden Naturkraft, der es ſich
beugen muß, von der es abhängig iſt. Erſt im gewerblichen Capital
kann man ſagen, daß die Perſönlichkeit iſt, was ſie hat. Wo daher
immer das gewerbliche Capital entſteht, entſteht mit ihm ein Leben, das
auf der Selbſtbeſtimmung der einzelnen Perſönlichkeit beruht. Beide
erzeugen ſich unbedingt gegenſeitig. Die Ordnung der menſchlichen Ge-
meinſchaft aber, welche auf dieſem Weſen des gewerblichen Capitals
beruht, nennen wir die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft.


Offenbar ſteht dieſelbe in tiefem Gegenſatze zur ſtändiſchen Geſell-
ſchaft. Sie hat zu ihrer Grundlage nicht das hiſtoriſche Recht auf den
Beſitz, ſondern die Arbeit der freien Perſönlichkeit. Sie hat das Gebiet
ihrer Intereſſen nicht in dem, was ſie ſchon hat, ſondern in dem, was
ſie erwerben will. Sie fordert daher weſentlich andere Bedingungen
ihrer Entwicklung als der Grund und Boden und die ſtändiſche Herr-
ſchaft. Sie kennt dieſe Bedingungen ſelbſt, und muß ſie ſich ſelbſt geben.
Das aber heißt eben ſich verwalten. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft
hat daher zum nächſten Zweck ihrer Verwaltung die Bedingungen des
gewerblichen Erwerbes. Sie kann und will dieſe Bedingungen nicht
aus fremden Händen empfangen, nicht einmal von der Nation unmit-
telbar, viel weniger von der Willkür eines Herrn. Noch weniger kann
[452] ſie das Erworbene dem Herrn überlaſſen. Sie muß in Beſitz und Ver-
waltung frei ſein.


So wie daher der gewerbliche Beſitz auftritt, entſteht eine tiefe
Spaltung in der ganzen menſchlichen Geſellſchaft. Es geht eine Ahnung
durch ganz Europa, daß eine neue Geſtalt der Dinge beginnt. Die
Grundherrlichkeit hält zunächſt, der jungen gewerblichen Welt gegenüber,
feſt an ihrem Recht auf den Grund und Boden, auf dem das Gewerbe
betrieben wird, an ihrem Rechte der herrſchaftlichen Verwaltung über
die Menſchen, die es betreiben, an ihrem Rechte auf den Gewinn, den
ſie damit machen. Die gewerbliche Welt erkennt, daß es ſich hier nicht
um ein Mehr oder Weniger, ſondern um ihre ganze Exiſtenz handelt;
zu tief iſt die Verſchiedenheit des Princips. Sie muß ſich daher ſam-
meln und ordnen, um dem Stoße zu begegnen, der von jener Seite
kommt. Sie bildet ſich zu Gemeinſchaften; ſie fängt an zu berathen;
ſie ordnet ſich zu waffenfähigen Gilden und Zünften; ſie gibt ſich
Häupter; ſie lernt gehorchen im Namen ihrer Intereſſen; ſie weigert ſich
dem Grundherrn Folge zu leiſten; ſie läugnet das Recht ſeiner Ver-
waltung in Dingen, die er ſelbſt nicht erzeugt hat; ſie greift zu den
Waffen gegen ſeine Bewaffneten; ſie bietet auch Geld für das zweifel-
hafte oder unzweifelhafte Recht, das er noch beſitzen mag; ſie fordert
Freiheit mit dem Schwerte und mit Gold; der Kampf entbrennt; die
Stadt, die Heimath des gewerblichen Capitals, ſteht auf gegen den
Grundherrn, den Beſitzer des unbeweglichen Capitals; ſie ſiegt; ſie
erobert die Stadt; ſie macht ſie zu einer Burg ihrer Intereſſen nach
Außen, zu einem Organismus der Verwaltung derſelben im Innern;
dieſe, beruhend auf dem Weſen des an ſich freien gewerblichen Capitals,
muß ſelbſt frei ſein — ſie muß auf der gleichen Theilnahme Aller an
der allgemeinen Gewalt beſtehen; ſo wird die Stadt ein Verwaltungs-
körper der jungen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, äußerlich in ihrer ört-
lichen Gränze, dem Weichbilde, ſelbſtändig, innerlich frei; und ſo entſteht
die Gemeinde neben der Herrſchaft.


Es iſt eine weitläuftige Geſchichte, zu erzählen, wie das alles im
Einzelnen ſich geſtaltet und zugetragen hat; aber das Weſentliche daran
iſt gleichartig im ganzen Europa. Die Gemeinde und das Gemeinde-
weſen haben ihre Heimath nur in den Städten. Die Dorfſchaft, ſo
weit es noch eine ſolche gibt, enthält die Gemeinde der Reſte der
Geſchlechterordnung; die Herrſchaft die Gemeinde der ſtändiſchen Ord-
nung; aber beides ſind keine wahren Gemeinden, denn beiden fehlt das
Princip der ſtaatsbürgerlichen Gemeinde, das Gemeindebürgerthum und
die daran ſich ſchließenden Rechte deſſelben. Die Städte ſind es, welche
mit der Selbſtverwaltung die bürgerliche Freiheit gerettet haben. Sie
[453] waren daher auch berufen, in der neuen Ordnung der Dinge an der
Spitze der Selbſtverwaltung zu ſtehen.


Man kann nun die Epoche des Entſtehens des Städteweſens als
den erſten Abſchnitt in der Geſchichte des europäiſchen Gemeindeweſens.
betrachten. Obwohl die Ablöſung der Städte theils von der Herrſchaft,
theils von dem Landesherrn nur langſam, und oft niemals ganz voll-
ſtändig vor ſich geht, ſo hat ſie dennoch allenthalben im Weſentlichen
denſelben Inhalt. Sie enthält das Recht der Wahl der ſtädtiſchen
Obrigkeit aus der Mitte der Bürger, das Recht der Vertretung der
Bürgerſchaft durch gewählte Männer, und das Recht der Selbſtverwal-
tung in allen drei Verwaltungsgebieten, Finanzen, Rechtspflege und
Polizei. Das Maß dieſes Rechts iſt allerdings ſehr verſchieden; oft
hat die Herrſchaft, oft der Landesherr als Herrſchaft noch gewiſſe finan-
zielle oder gerichtliche Rechte, ja ſogar polizeiliche Gewalt; oft hat die
Stadt dieſe Rechte gleich anfangs als ihr Eigenthum erworben; oft
kauft ſie ſie allmählig ab; oft bleibt ein Theil deſſelben bis ins neun-
zehnte Jahrhundert; und daher die Verſchiedenheit des Umfangs der
Berechtigung der Städte. Allein in der Sache ſind alle Stadtrechte
gleichartig. Eben ſo iſt eine nicht minder große Verſchiedenheit in den
ſtädtiſchen Verfaſſungen, das iſt in den Ordnungen, nach welchen die
Organe der Selbſtverwaltung von den Gemeindebürgern gewählt werden
und in dem gegenſeitigen Rechte dieſer Organe; aber in dem Rechte auf
die Wahl ſelbſt ſind alle Städte gleich. Und das iſt es nun, wodurch
die zweite Epoche begründet wird.


Wir können dieſe Epoche des ſtädtiſchen Gemeindeweſens, die etwa
mit dem vierzehnten Jahrhundert beginnt, die ſtändiſche Epoche deſſelben
nennen. Ihre Grundlagen ſind ebenfalls einfach und gleichartig.


4) Die Herrſchaft und die Dorfſchaft, die beiden Formen des Gemeinde-
weſens auf dem Lande, haben das mit einander gemein, daß ſie beide
auf dem Grundbeſitz beruhen; aber die Herrſchaft iſt nicht bloß der bei
weitem mächtigere Grundbeſitz, ſondern ſie hat auch ihre Verwaltungs-
rechte als ihr Eigenthum erworben, und kann daher ihre Macht ganz
nach ihren Intereſſen verwenden. Faſt im ganzen mittleren Europa
ſind nun die Dorfſchaften, wo ſie die Eroberungsepoche überſtanden
haben, zerſtreut und vereinzelt. Sie ſind daher haltlos gegenüber der
Herrſchaft. Dieſe beginnt theils mit Gewalt, theils mit Liſt die Dorf-
ſchaften ſich zu unterwerfen. Dieſe Unterwerfung der Dorfſchaften ge-
ſchieht, wo nicht rohe Gewalt durchgreift, in der Form der Auftragung
zu Lehen, wie wir ſchon erwähnt; ſie beſteht darin, daß das Recht auf
die Funktionen der Verwaltung von der Bauernſchaft auf die Guts-
herrſchaft übergeht. Der Gutsherr gewinnt das Recht, die Rechtspflege
[454] in dem Dorfe zu handhaben, die Polizei zu verwalten, ja ſelbſt die
bäuerlichen Laſten aufzuerlegen. Der Regel nach bleibt die Form der
bäuerlichen Selbſtverwaltung, indem die Dorfſchaft den Schultheiß
wählt, und ſelbſt Vertreter an ſeine Seite ſetzt; allein dieſes Organ hat
kein Recht zu einem ſelbſtändigen Willen, ſondern wird zu einer bloß
ausführenden Gewalt für den Gutsherrn, deſſen Vertreter der Amtmann
iſt. Aber noch iſt der Unterſchied zwiſchen der Herrſchaft und der Dorf-
ſchaft ein großer. Die Hinterſaſſen der Herrſchaft ſitzen auf dem guts-
herrlichen Grunde, und haben daher gar keinen eigenen Beſitz; weil ſie
keinen Beſitz haben, ſind ſie auch grundſätzlich unfähig, an einer öffent-
lichen Verwaltung Theil zu nehmen, und mit ihrem Beſitz ganz in der
Hand ihres Herrn; ſie ſind unfrei. Die Dorfſchaft iſt dagegen mit
ihrem Beſitze urſprünglich frei, und ihre Unterwerfung unter den Grund-
herrn daher ein freiwilliges, die Rechte des letztern oft ſehr eng beſchränkt,
das Recht der Bauernſchaft ein großes. Die Herrſchaft, indem ſie auf
dieſe Weiſe die Dorfſchaft und ihre eigene Grundherrlichkeit zuſammen
umfaßt, beſteht daher aus zwei weſentlich verſchiedenen Elementen, die
aber dennoch in dem Gutsherrn zuſammengefaßt ſind; es ſind gleichſam
zwei Verwaltungsſyſteme in Einer Perſon vereinigt. In dieſer Ver-
bindung des Entgegengeſetzten konnte ein innerer Kampf nicht ausbleiben.
Das Intereſſe der Grundherren drängte ſie, die urſprünglich freie Bauern-
ſchaft den Grundholden gleich zu ſtellen, und ihre Selbſtverwaltung in
die Willkür ihrer Amtmänner und Vögte aufzuheben. Die Bauernſchaft,
indolent und unfähig zum Widerſtand, gibt langſam nach; ein Recht
nach dem andern, eine Entſcheidung nach der andern fällt dem Guts-
herrn zu; dieſer beginnt dann auch in das Abgabenweſen einzugreifen;
er legt Steuern und Laſten aller Art auf, und die Unfreien gelten
alsbald als Beiſpiel für die Freien. Noch aber lebt in den Bauern-
ſchaften die Erinnerung an ihre alte Freiheit, an das Recht der Selbſt-
verwaltung; ſie machen es geltend, ſie klagen, ſie wehren ſich; aber in
ihrer Vereinzelung unterliegen ſie. Dennoch bleibt der unterdrückte Zorn
lebendig; als endlich die Willkür zu groß wird, erhebt ſich, faſt in ganz
Europa, der Bauernſtand gegen die Herrſchaft, und es entſtehen die
Bauernkriege. Dieſe Bauernkriege ſind nichts anderes als der Waffen-
kampf der Dorfſchaften gegen die Herrſchaften, des letzten Reſtes der
Geſchlechterordnung gegen die ſtändiſche Ordnung, die ſich mit den herr-
ſchenden Geſchlechtern verbunden hat. Aber dieſer Waffenkampf iſt
hoffnungslos, denn er erſcheint nirgends gleichzeitig und auch nicht
gleichartig. Die Erhebung hängt eben davon ab, ob die einzelnen
Gutsherren gegen die Bauernſchaften mehr oder weniger hart geweſen;
bei den Bauernſchaften geht das Bewußtſein der gemeinſamen Sache
[455] nicht weiter, als die Unterdrückung ſelbſt; die Länder, in denen die
Dorfſchaften ihre Rechte erhalten konnten, blieben der Erhebung fern;
die Grundholden endlich ſtehen zweifelhaft zur Seite, weil ſie wiſſen,
daß ſie das Recht nie gehabt haben, für welches die Bauernſchaften
aufſtehen; die herrſchenden Geſchlechter endlich halten als ſtändiſche
Körperſchaft zuſammen, und haben das Uebergewicht der Waffenbildung
und des Beſitzes; und ſo geſchieht es, daß in allen Ländern Europas,
mit der einzigen Ausnahme der Schweiz, die Dorfſchaft von der Herr-
ſchaft gänzlich beſiegt wird. Das war das Ende aller Bauernkriege,
von der Jacquerie Frankreichs bis zum deutſchen Bauernkrieg. Und
mit dieſem Ende war das Ende der Dorfſchaft ſelbſt gegeben. Der
letzte Reſt der Selbſtverwaltung, die letzten ſelbſtändigen Rechte wurden
genommen und in die herrſchaftliche Verwaltung verſchmolzen. Es gab
keine Dorfſchaft mehr, ſondern nur noch Herrſchaften, ſelbſt wo jene
noch blieben, wie in den Nord- und Oſtſeeländern, waren ſie künftig
ohne Bedeutung. Und damit ſtanden ſich jetzt die beiden großen Grund-
formen der örtlichen Selbſtverwaltung, die Herrſchaft und die Stadt,
einander ohne Zwiſchenglied gegenüber. Dieſer Zuſtand iſt die Grund-
lage jener zweiten Epoche des ſtädtiſchen Gemeindeweſens und ſeiner
Rechtsbildung.


5) So verſchieden auch jene beiden Elemente, Stadt und Herrſchaft
waren, ſo war dennoch eine Gemeinſchaft beider in öffentlichen Ange-
legenheiten nothwendig. Das Organ dieſer Gemeinſchaft war der Land-
tag. Das Auftreten der Städte in den Angelegenheiten des Landes
hatte daher zur Bedingung, daß ſie ſelbſt als Stand erſchienen. Das
war eigentlich ein Widerſpruch mit ihrem eigenſten Weſen, das auf
der freien ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beruhte. Allein es war eine
unabweisbare Bedingung ihrer Stellung im Staate. So entſtand
das, was die Zeit ſeit dem 14. Jahrhundert charakteriſirt. Die Städte
bilden den dritten Stand; das gewerbliche Capital nimmt einen
ſtändiſchen Charakter an. Die Folgen davon konnten nicht ausbleiben;
ſie beherrſchten dieſe ganze Epoche, die wir eben deßhalb die Epoche
des ſtändiſchen Städteweſens nennen möchten. Zuerſt gibt die
ſtändiſche oder landſchaftliche Stellung der Städte ihnen und ihrer
Selbſtverwaltung die Selbſtändigkeit, welche die Herrſchaft hat; jede
Stadt wird zunächſt für ihre Angelegenheiten, gegenüber der Staats-
gewalt, eine unabhängige Körperſchaft, und als ſolche von derſelben
anerkannt. Zweitens aber tritt das Princip der ſtändiſchen Ordnung
nunmehr auch von außen her über die Mauern der Städte hinweg in
das gewerbliche Leben ſelbſt hinein, und verkehrt das innerſte Weſen
deſſelben. Die Hauptformen des Gewerbes werden aus wirthſchaftlichen
[456] Arten der Unternehmungen ſelbſt ſtändiſche Körperſchaften. Die Zünfte
und Innungen verlieren ihren Charakter. Sie waren früher die Grund-
lagen der Ordnung des gewerblichen Betriebes, und wurden dadurch
allerdings allmählig zu Grundlagen der Rechte, mit denen das Gewerbe
an der ſtädtiſchen Verwaltung Theil nahm. Jetzt tritt das Moment
des wirthſchaftlichen Intereſſes hinzu, und erzeugt die Ausſchließlichkeit
der Innungsgenoſſen, und die ſtändiſchen Vorrechte, Abtheilungen und
Ordnungen für Meiſter, Geſellen und Burſche. Jedes Gewerbe bildet
innerhalb der Stadt ſelbſt wieder einen Stand; die innere lebendige Gegen-
ſeitigkeit der verſchiedenen Zweige des gewerblichen Lebens verſchwindet;
damit geht der Einfluß derſelben auf die Verwaltung ſelbſt allmählig
verloren; die ſtädtiſchen, verfaſſungsmäßigen Organe der Verwaltung
ſcheiden ſich von dem Gemeindebürgerthum ab, und betrachten ihrer-
ſeits die Verwaltung als ihr beſonderes Recht; ſie finden Formen, durch
welche ſie dieſelbe innerhalb eines abgeſchloſſenen Kreiſes ſich ſelber er-
halten; die Ausſchließlichkeit greift in allen Organen durch, und es er-
ſcheint jetzt auch im Gemeindeweſen der eigenthümliche Proceß des geſell-
ſchaftlichen Lebens, den wir die Rückbildung nennen möchten.
Wie die ſtändiſche Ordnung, die doch auf dem geiſtigen Element des
Berufes beruht, dieſes Element damals ſelbſt in der Kirche verliert,
und ſich zu einer Geſchlechterordnung umgeſtaltet, indem die Geburt an
die Stelle der Fähigkeit tritt, ſo fällt ſogar das Gewerbeweſen in dieſe
Rückbildung, und macht den freien wirthſchaftlichen Erwerb zu einem
Geſchlechterrecht, um ſo mehr die Verwaltung der Gemeinde, die Stellen
der Magiſtrate und der Verordneten. Ja das Gemeindebürgerthum
wird auf den Grundbeſitz und die Abſtammung baſirt, ſtatt auf die
perſönliche Erwerbsfähigkeit, und die Stadt als Ganzes, durch das
Durchgreifen dieſer Principien ihrer Entwicklungsfähigkeit beraubt und
allenthalben ſtillſtehend, ſchließt ſich wieder gegen das Land ab, und
bildet ſomit allmählig auch nach Innen, wie bisher nach Außen, eine
ſtändiſche Corporation. Es war das keine glückliche Zeit. Das Einzige,
was ſich die Städte damals allerdings gewonnen haben, und was,
wenn auch nicht in der Form, ſo doch in ſeinem Princip, günſtig fort-
gewirkt hat, war das hiſtoriſch gewordene Recht auf ihre Selbſtver-
waltung; es blieb trotz aller Erſtarrung des gewerblichen Lebens in den
entſtehenden ſtändiſchen und Geſchlechterrechten deſſelben der Satz, daß
das Landesfürſtenthum dieſe Selbſtverwaltung anerkennen müſſe. An
dieſen Satz knüpft ſich wenigſtens in Deutſchland die neue Ordnung
des Gemeindeweſens, und damit jene unklare oder vielmehr einſeitige
Geſtalt der Auffaſſung von der Selbſtverwaltung, die wir hier mit dem
19. Jahrhundert entſtehen ſehen. Dagegen aber geht mit der Freiheit
[457] des ſtädtiſchen Lebens auch die letzte Hoffnung auf die beſſere Geſtaltung
der ländlichen Verwaltung zu Grunde. Hier iſt und bleibt die Herr-
ſchaft die Grundform. Die letzten Reſte der Selbſtverwaltung aus der
Epoche der Dorfſchaften verſchwinden, und man kann jetzt den Namen
einer Gemeinde auf das Land gar nicht mehr anwenden. Es gibt nur
noch ſtädtiſche Gemeinden. Dieſe aber erheben ſich namentlich in Deutſch-
land durch die klägliche Einheitsloſigkeit und das Untergehen des Kaiſer-
thums zu ſouveränen Reichsſtänden; die Städte ſelbſt, namentlich nach
dem Vorbilde des ewig unorganiſchen Lebens Italiens, werden ſelbſt
zu Herrſchaften, und vernichten ihrerſeits nicht minder wie die Grund-
herren jede Spur der freien Selbſtverwaltung ihrer Territorien. Da-
her denn die Tradition, daß Stadt und Land in der Gemeindebildung
ſo weſentlich verſchieden ſeien, eine Tradition, die ſich übrigens nur
in Mitteleuropa erhalten hat. England kannte ſie von jeher nicht, da
hier der Gegenſatz zwiſchen Dorfſchaft und Herrſchaft nie zur Geltung
gelangte, und das Kirchſpiel ſchon früh als Grundform der Gemeinde
auftritt, Stadt und Land ununterſchieden umfaſſend, während Frank-
reich mit ſeiner Revolution den Unterſchied gewaltſam in den des Ver-
waltungsbezirkes aufhob. Obwohl nun dieß erſt dem Folgenden ange-
hört, ſo iſt doch ſchon hier ſo viel klar, daß das Gemeindeweſen in
jedem Lande eine eigenthümliche Geſtalt bekommt; ſo verſchieden in
Form und Princip, daß man wirklich Mühe hat, das Gleichartige feſt-
zuſtellen. Und dieß wird nun im 18. Jahrhundert durch das Auftreten
der Staatsgewalt noch mehr gefördert.


6) Der Sieg des Königthums über die Landſtände bezog ſich aller-
dings zunächſt nur auf das eingreifen deſſelben in die Reichsangelegen-
heiten, ſpeziell auf diejenige Form dieſes Eingreifens, welche durch die
Bewilligung der Steuer hervorgebracht ward. Die landesherrliche Ge-
walt nahm zuerſt die Geſetzgebung an ſich. Allein die raſchere Ent-
wicklung des Geſammtlebens erzeugte neue, für alle Stände gültige
Verhältniſſe und Intereſſen. Die Landſchaften ſelbſt waren, zum Theil
auch darum, weil jeder Stand noch immer ausſchließlich an ſeinen In-
tereſſen feſthielt, nicht fähig, jene neu entſtehenden Intereſſen des Ganzen
zu beurtheilen, noch weniger ſie zu verwalten. Die Landesverwaltung
als Ganzes fällt an den immer mächtiger werdenden Amtsorganismus.
Dieſer Amtsorganismus läugnet nun zwar nicht das Recht der ſtädti-
ſchen Gemeinden und Corporationen auf ihre Selbſtverwaltung; allein
in dem Gefühle, für das Ganze zu ſorgen, hält er dieß Recht nicht
für ein organiſches, an ſich nothwendiges, ſondern für ein Vorrecht, ein
Privilegium. Daraus entſteht der Satz, daß dieſe Privilegien beſtätigt
werden müſſen; daraus der zweite, daß ſie, wie jede Ausnahme von
[458] der Regel, ſtreng zu interpretiren ſind. So beginnt eine allmählige,
theils faktiſche, theils principielle Beſchränkung der Selbſtverwaltung
der Stadtgemeinden. Es entſteht der Grundſatz, daß die vollziehende
Gewalt für die Landesgeſetze nicht durch die Gemeindeorgane, ſondern
nur durch die amtlichen Organe ausgeübt werden könne; das Amts-
weſen ſchiebt ſich in das ſtädtiſche Weſen hinein; die Organe der ſtädti-
ſchen Verwaltung nehmen ſelbſt Namen und Charakter eines Amtes an,
und die Summen aller Rechte, welche der bürgerlichen Freiheit übrig
bleiben, erſcheinen als ſtädtiſche Freiheiten. Dieſe ſtädtiſchen Frei-
heiten bezeichnen daher das, auf ſtändiſcher Grundlage erworbene Maß
der Selbſtändigkeit des Gemeinderechts gegenüber dem Amt. Und ſchon
daraus iſt es klar, daß dieſes Gemeinderecht ein höchſt verſchiedenes iſt.
Namentlich in Deutſchland geht es von der vollen Souveränetät der
Reichsſtädte bis zu den Rechten der kleinſten Marktflecken hinab; eine
Gleichheit iſt auf dem Continent im Einzelnen nirgends zu finden.
Und dennoch iſt die Selbſtverwaltung in ihrer allgemeinſten Grundlage
dieſelbe, und die letztere iſt mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts
leicht zu bezeichnen.


Das geſammte Gebiet der Selbſtverwaltung hat jetzt drei Organe.
Die Landſchaft, die Stadtgemeinde und die Landgemeinde. Die erſte
iſt — wenigſtens ihrem Rechte nach — zugleich oder eigentlich vorzugs-
weiſe die Volksvertretung der ſtändiſchen Welt, das Organ der freien
Geſetzgebung, und hat mit der Verwaltung wenig zu thun. Die letzte
iſt eigentlich keine Gemeinde, ſondern vielmehr eine Herrſchaft, in welcher
alle öffentlichen Rechte Eigenthum des Herrn, alle öffentlichen Aufgaben
Pflichten deſſelben ſind, und in welcher daher auch von einer Selbſt-
beſteuerung keine Rede iſt. Nur die Stadtgemeinde iſt die Gemeinde,
der eigentliche Selbſtverwaltungskörper jener Zeit; aber auch er iſt inner-
lich zerriſſen, äußerlich der Amtsgewalt in den meiſten Fällen unter-
worfen.


In dieſen Zuſtand kommt nun das, was wir das Syſtem der
Selbſtverwaltung genannt haben, nicht durch die Natur der letzteren,
ſondern durch die Regierung hinein. Indem ſie nämlich alle Selbſt-
verwaltungskörper in ſich aufnimmt, ſetzte ſie ihre Organe als die Ver-
tretung der, über jene Körper hinausgehenden Intereſſen; ſie ver-
waltet die gemeinſamen Gemeindeverhältniſſe
, und die
Verwaltungsgemeinden verſchwinden daher, indem an ihre Stelle faſt
ausnahmslos die Verwaltungsbezirke treten, in denen die amt-
liche Verwaltung die Selbſtverwaltung ausſchließt. Die Selbſtverwal-
tung iſt daher, nachdem die Landſchaft zu einem bloßen Namen herab-
geſunken iſt, nur noch als Selbſtverwaltung der Ortsgemeinden
[459] vorhanden. Und dieſes iſt faſt in allen germaniſchen Ländern der Fall;
während noch dazu dieſe Selbſtverwaltung der Ortsgemeinden eine
auf allen Punkten von den Verwaltungsbezirken begränzte und unter-
drückte iſt.


Aus dieſem Zuſtand erklärt es ſich nun, daß man namentlich in
Deutſchland bis auf den heutigen Tag die Vorſtellung von Ortsge-
meinde und Selbſtverwaltung identificirt
, und dem Gedanken
ſchwer zugänglich iſt, daß die Verwaltungsbezirke und Kreiſe eben ſo
gut Körper der Selbſtverwaltung ſind und ſein ſollen, als die Orts-
gemeinde. Das iſt auch ein weſentlicher Grund, weßhalb wir ſo viele
Schwierigkeit fanden, Englands Verhältniſſe richtig zu verſtehen. Denn
während vermöge des obigen Ganges der Dinge in Deutſchland die
Ortsgemeinde die Hauptſache im Syſteme der Selbſtverwaltung
geworden iſt, und die Verwaltungsgemeinde wie der Kreis uns vor-
zugsweiſe als Amtsbezirke erſcheinen, iſt vielmehr in England gerade
die Verwaltungsgemeinde die Hauptſache und das wahre
Organ der Selbſtverwaltung; die Ortsgemeinde dagegen iſt ein ganz
untergeordneter Punkt in dem Syſtem des engliſchen Selfgovernment.
Das nun iſt allerdings von entſcheidender Bedeutung. Denn gerade
dadurch fällt in England die örtliche Verwaltung, die ſtets vorzugsweiſe
in der Verwaltungsgemeinde liegt, in die Selbſtverwaltung, während
ſie in Deutſchland überwiegend ins Amt fällt. Ohne dieſen weſentlichen
Unterſchied kann man beide Syſteme niemals richtig würdigen. Aber
erſt unſer Jahrhundert hat nun die Selbſtverwaltung auf dem Con-
tinent wieder hergeſtellt. Wir wollen die Elemente ihrer heutigen
Geſtalt hier folgen laſſen.


4) Princip, Syſtem und Recht der Selbſtverwaltung und des
Gemeindeweſens im neunzehnten Jahrhundert
.

Indem wir zu dem Folgenden übergehen, müſſen wir bemerken,
daß der deutſche Continent mit ſeiner Bildung der Selbſtverwaltung
noch nicht fertig iſt, während der franzöſiſche den ihm eigenthümlichen
Grundgedanken bereits ſeit einem halben Jahrhundert faſt ohne irgend
eine Veränderung feſthält. In der That liegt das Leben der Selbſt-
verwaltung daher auch nur in Deutſchland, und wie alles im Werden
Begriffene iſt es noch in vielen Punkten unklar. Es kann daher nur
darauf ankommen, hier die leitenden Gedanken aufzuſtellen.


Wir haben ſchon oben darauf hingewieſen, wie bereits im 18.
Jahrhundert ſich die Idee der ſelbſtändigen Perſönlichkeit Bahn bricht.
Die Form des ganzen Staatslebens, namentlich aber die Formen der
[460] Selbſtverwaltung genügen ihr nicht. Die Umwälzung des Staatsrechts,
die mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eintritt, erſcheint
daher ſofort auch im Gebiete der Selbſtverwaltung. Eine neue Zeit
beginnt für dieſelbe. Ihr allgemeiner Charakter iſt die Beſtimmung
der Ordnung und des Rechts der örtlichen Verwaltung durch die Kräfte
und die Forderungen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung. Das
gilt für alle Staaten und Länder Europas.


Allein dieſe neue Geſellſchaftsordnung iſt nun mit unſerem Jahr-
hundert, obwohl im Allgemeinen ſiegreich, dennoch keineswegs gleich-
mäßig ausgebildet. Sie erſcheint vielmehr als eine ſehr verſchiedene.
Die Folge davon aber iſt die wichtige Thatſache, daß auch Princip,
Syſtem und Recht der Selbſtverwaltung in jedem Lande Europas eine
verſchiedene Geſtalt haben. Allerdings muß man hier zuerſt die äußere
Eintheilung und Geſtalt der Selbſtverwaltung von dem innern Orga-
nismus derſelben wohl unterſcheiden. Die Beſonderheit dieſer Geſtal-
tung liegt nämlich äußerlich in denſelben natürlichen Verhältniſſen
des Landes, welche wir bei dem Behördenſyſtem bereits dargeſtellt
haben. Es iſt gar nicht möglich, daß Land- und Seeſtaaten, daß
ebene und gebirgige Länder, daß Länder mit dichter und dünner Be-
völkerung dieſelbe Geſtalt der Selbſtverwaltung beſitzen könnten, und
„Land und Leute“ ſind daher nicht etwa bloß intereſſante ethiſche, ge-
ſellſchaftliche und hauswirthſchaftliche Elemente, welche man mit dem Auge
eines Touriſten betrachten und dann mit ihrer geiſtreichen Beſchreibung
erſchöpfen kann. Sie ſind vielmehr höchſt concrete Faktoren der Verwal-
tung, und haben, auf das Tiefſte eingreifend, dem innern praktiſchen
Leben des Staats im Allgemeinen, namentlich aber der äußern Organi-
ſation der Selbſtverwaltung ihre Geſtalt gegeben. Man wird vielleicht ein
Land und ſein inneres Leben kennen, ohne dieſe organiſchen Verhältniſſe zu
würdigen, aber man wird ſie ohne das nie verſtehen. Doch dürfen
wir uns auch für den Organismus der Selbſtverwaltung auf dasjenige
beziehen, was wir bei dem Behördenſyſtem bereits über das Verhalten
jener Elemente zur Configuration des Gemeindeweſens geſagt haben.


Während nun ſo die äußere Geſtalt der Selbſtverwaltung durch dieſe
natürlichen Bedingungen beſtimmt wird, liegt die Beſonderheit der in-
nern
Organiſation der Selbſtverwaltung vielmehr in dem Verhältniß
der ſtaatsbürgerlichen zur ſtändiſchen Geſellſchaft. Und hiefür muß die
Wiſſenſchaft die allgemein gültigen Geſetze aufſtellen, während die Lehre
vom geltenden öffentlichen Recht aus ihm die wirklich gegebene Ge-
ſtalt finden und entwickeln muß.


Wir haben daher hier die Aufgabe, auf dieſer Grundlage die
Elemente der Vergleichung zwiſchen den verſchiedenen Formen
[461] der Selbſtverwaltung aufzuſtellen. Wir werden in ihnen den eigent-
lichen Inhalt des Charakters unſeres Jahrhunderts in dieſer Beziehung
zu ſuchen, und an ihnen die gegebenen Zuſtände zu meſſen haben.
Dieſelben können wir bezeichnen als das Princip, das Syſtem und
das Recht der Selbſtverwaltung oder des Gemeindeweſens in ſeinem
höhern Sinn.


Das Princip der Organiſation und des Rechts dieſes Gemeinde-
weſens iſt bedingt davon, ob die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ganz oder
zum Theil zur Herrſchaft gediehen iſt. Der Hauptausdruck dieſer That-
ſache im Syſteme der Selbſtverwaltung beſteht in dem Charakter der
Ortsgemeinde, und namentlich in dem Unterſchied zwiſchen Stadt
und Land
. Der Unterſchied zwiſchen Stadt und Land iſt der Unter-
ſchied zwiſchen dem gewerblichen und dem Grundbeſitz im Allgemeinen,
zwiſchen Gemeinde und Herrſchaft im Beſondern. Er iſt überhaupt
nur da möglich, wo die beiden großen Formen des Beſitzes noch unver-
mittelt neben einander ſtehen, und wo daher noch das alte Syſtem der
herrſchaftlichen Rechte fortbeſteht. Er verſchwindet dagegen, wo die
ſtändiſchen Unterſchiede nicht mehr als Unterſchiede des öffentlichen Rechts
auftreten. Die erſte Bedingung iſt dabei die, daß der kleine Grund-
beſitz nur überhaupt erſt einmal frei ſei; der große Proceß der Grund-
entlaſtung iſt hier von der höchſten Wichtigkeit geworden; ohne ihn iſt
überhaupt keine Landgemeindeordnung denkbar. Nur iſt derſelbe in
ſehr verſchiedener Weiſe geſchehen, und die Grundlage großer Verſchie-
denheiten geworden.


Das Syſtem der Selbſtverwaltung hat, während das Princip
derſelben in der Verſchmelzung von Stadt und Land zur Gemeinde
überhaupt ſeinen Ausdruck findet, ſeinen Schwerpunkt in der Organi-
ſirung desjenigen, was wir die Verwaltungsgemeinde genannt
haben. Ihrem Weſen nach fordert die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die
Selbſtverwaltung auch in der Verwaltungsgemeinde. Allein während
ſie in dem Unterſchiede von Stadt und Land auf die ſocialen Unter-
ſchiede der Stände und ihrer öffentlichen Rechte trifft, trifft ſie in der
Verwaltungsgemeinde auf die Gewalt und den Organismus des Be-
hördenſyſtems
. Daſſelbe verhält ſich ſeiner Natur nach abweiſend
gegen die Selbſtverwaltung, theils mit Recht, theils mit Unrecht. Es
fordert für ſich, während es im Grunde die Ortsgemeinde und ihre
lokalen Rechte und Thätigkeiten mit einer gewiſſen Gleichgültigkeit be-
trachtet, gerade die Aufgabe der Verwaltungsgemeinde als ſein eigen-
thümliches Gebiet, während andererſeits das Princip der Selbverwal-
tung gerade in denjenigen Gebieten, welche wir Verwaltungsgemeinden
genannt haben, am bedeutſamſten ſein würde. Und hier entſteht
[462] daher die zweite große Frage über das Weſen der Selbſtverwaltung im
Organismus des Staats, die Frage nach dem Verhältniß derſelben
zum Syſteme des Amtsweſens und nach ihrer Fähigkeit und Be-
rechtigung, die amtliche Thätigkeit durch die des Staatsbürgerthums
zu erſetzen. Auf dieſe Weiſe nun charakteriſirt ſich das Syſtem der
Selbſtverwaltung an dem Maße, in welchem dieſelbe in den Verwal-
tungsgemeinden
zugelaſſen oder ausgeſchloſſen iſt.


Das dritte Element iſt nun das Recht der Selbſtverwaltung.
Das erſte Gebiet dieſes Rechts iſt unzweifelhaft das Verfaſſungs-
recht
dieſer Selbſtverwaltungskörper. Wir bezeichnen auch damit die-
jenige Ordnung, nach welcher die einzelnen Mitglieder dieſer Körper
zur Theilnahme an der Selbſtverwaltung berufen ſind. Es liegt nahe,
daß dieſes Verfaſſungsrecht ſtets aus dem Princip der Selbſtverwaltung
hervorgehen wird, aber freilich muß es ein anderes für die Ortsgemeinde,
für die Verwaltungsgemeinde und für den Kreis ſein. Das Folgende
wird zeigen, wie tief die Verſchiedenheit auch auf dieſem Gebiete zwiſchen
den Ländern Europas begründet iſt.


Das zweite Gebiet jenes Rechts iſt nun das Verwaltungsrecht.
Dieß Recht hat nun keinen andern Ausdruck und kein anderes Maß,
als das der Selbſtbeſteuerung. Die Steuer iſt auch hier etwas
anderes als die bloße Abgabe. Sie iſt auch in der Selbſtverwaltung
das Mittel für einen Zweck. Sie drückt daher, indem mit dem Recht
auf dieſe Selbſtbeſteuerung zugleich das Recht auf die durch die Stände
bedingte wirkliche Verwaltung gegeben iſt, überhaupt das Recht der
Selbſtverwaltung auf ihren Antheil an der Verwaltung

des Staats oder das Verhältniß der erſteren zur zweiten aus. Das
Recht der Selbſtbeſteuerung iſt daher keinesweges nur ein Recht, für
die Angehörigen eine Steuer auszuſchreiben. Es iſt vielmehr als eine
Pflicht anzuſehen, gewiſſe Gebiete des öffentlichen Lebens ſelbſt zu ver-
walten. Es iſt daher kein Princip, ſondern es iſt vielmehr eine Con-
ſequenz. Es unterſcheidet ſich damit weſentlich von der Steuerbewilligung
im Staate, denn es bewilligt nicht etwa Steuern für eine ſtaatliche
Verwaltung, ſondern für das von den Steuerzahlenden ſelbſt eingeſetzte
Organ der verwaltenden Thätigkeit. Es folgt daraus, daß es ein großer
Unterſchied iſt zwiſchen der Selbſtbeſteuerung in der Ortsgemeinde und
in der Verwaltungsgemeinde. Während nämlich jene ein ganz nahe
liegendes und faſt unabweisbares Recht der Selbſtverwaltung iſt, zeigt
dieſes im Gegentheil die höchſte Entwicklung der letzteren an, und führt
uns zu der Frage nach der wahren und letzten Gränze derſelben gegen-
über der Staatsverwaltung.


Das ſind nun die allgemeinen Grundlagen, auf welchen ſich die
[463] Selbſtverwaltung unſeres Jahrhunderts bewegt. Es iſt klar, daß hier
höchſt verſchiedene Geſtaltungen eintreten können; es iſt gewiß, daß
dieſelben auch vorhanden ſind. Wir wollen nun nach den obigen Kate-
gorien verſuchen, ein Bild der drei Grundformen der europäiſchen ört-
lichen Selbſtverwaltung in England, Frankreich und Deutſchland zu
entwerfen.


5) Die Grundformen der europäiſchen örtlichen Selbſtverwaltung.

Wir dürfen für die nachfolgende kurze Charakteriſtik wohl einige
Bemerkungen vorausſchicken, da dieſelbe allerdings nicht an die ge-
wöhnliche Auffaſſung anzuknüpfen hat.


Zuerſt erinnern wir, daß wir die Landſchaften von der örtlichen
Selbſtverwaltung geſchieden haben, weil ſie uns, wenn auch in der
Form vieles ähnliche mit der letzteren beſitzend, doch in der Sache ſich
weſentlich von derſelben trennen. Wir dürfen uns daher an das oben
Geſagte hier anſchließen.


Wir dürfen ferner darauf hinweiſen, daß der Name des Gemeinde-
weſens
nur deßhalb von uns beibehalten wird, weil man ihn in
Deutſchland gewöhnt iſt. Aber es wird ſchon aus dem Bisherigen her-
vorgegangen ſein, daß nichts verkehrter iſt, als die deutſche Auffaſſung
der Gemeinde der Lehre von der Selbſtverwaltung, auch der örtlichen,
zu Grunde zu legen. Die deutſche Bezeichnung, wie der deutſche Begriff
ſind vorwiegend hiſtoriſcher Natur, und es iſt daher ein Verſtändniß
der Selbſtverwaltung faſt unmöglich, wenn man ihn als einen für
Europa, oder auch für die Sache an ſich gültigen erkennen wollte.


Wir glauben endlich das Weſen der örtlichen Selbſtverwaltung im
Princip, Syſtem und innerem Recht in der Hauptſache zu erſchöpfen,
wenn wir die drei großen Grundformen derſelben in England, Frank-
reich und Deutſchland hinzeichnen. Es iſt ganz unmöglich, hier für das
Einzelne zu genügen. Aber unſere Aufgabe ſoll es eben ſein, die lei-
tenden Principien der Vergleichung feſtzuſtellen.


Wir müſſen endlich einen letzten Punkt hervorheben. Auch an die
Selbſtverwaltung ſchließt ſich die Frage nach der verfaſſungsmäßi-
gen Verwaltung
, nach den Organen und Grundſätzen, durch welche
jene allerdings an ſich ſelbſtändige Thätigkeit der Selbſtverwaltungs-
körper mit dem geltenden Recht in Harmonie gebracht wird. Dieſe
Frage nun kann natürlich nicht mehr einſeitig aus dem Weſen und
Recht dieſer Körper beantwortet werden. Ihre Beantwortung, die ver-
faſſungsmäßige Verwaltung der Selbſtverwaltungskörper, ergibt ſich
aus dem Leben und Recht des geſammten Staats. Wir haben jenes
[464] Recht ſchon oben in Verantwortlichkeit, Klag- und Beſchwerderecht, und
Petitionsrecht dargelegt. Das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht der
Selbſtverwaltung hat ſich daher einfach an jene Grundſätze anzuſchließen.
Es iſt nichts anderes als daſſelbe; aber es iſt die Erfüllung jenes Be-
griffes in dieſem ſo wichtigen Gebiete.


Auf dieſer Grundlage ſoll nun die örtliche Selbſtverwaltung jener
drei Kulturvölker nach ihrem Princip, ihrem Syſtem, und ihrem innern
Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht charakteriſirt werden.


a) Englands Communalweſen.

Es iſt wohl ſehr ſchwer, nach dem Vorgange eines Mannes wie
Gneiſt noch etwas über Englands örtliche Selbſtverwaltung zu ſagen.
Selten iſt ein Volk mit ſeinem innern Leben ſo klar und erſchöpfend
dargelegt, wie hier. Es bleibt uns daher wenig anderes übrig, als
auf den reichen Stoff unſere vergleichenden Kategorien anzuwenden,
und für alles Einzelne auf Gneiſts Werk ſelbſt zu verweiſen.


Wir haben den Ausdruck „Communalweſen“ oben gebraucht, ob-
gleich er vielleicht nicht ganz entſpricht. Wir dürfen nur in Deutſchland
nie vergeſſen, daß wir ſelbſt in einer ganz beſtimmten Form der Selbſt-
verwaltung leben, und daß wir noch gar nicht gewöhnt ſind, über die
engen Gränzen unſerer Heimath hinaus die ſtaatlichen Dinge mit ob-
jektivem Auge zu betrachten. Englands örtliche Selbſtverwaltung aber,
mag man ſie nun ſo oder anders Selfgovernment, Gemeindeweſen
oder wie immer nennen, iſt weſentlich verſchieden ſowohl von Frankreich,
als von Deutſchland, und das iſt der Grund, weßhalb man es bisher
ſo wenig gekannt hat. Die Dinge dort paßten nicht in die herkömmliche
Auffaſſung der Deutſchen. Und doch läßt ſich jener Unterſchied ſo leicht
und beſtimmt formuliren. Während nämlich das franzöſiſche Syſtem
der Selbſtverwaltung auf dem Princip der Vertretung in den Conseils
beruht, das deutſche dagegen auf der Selbſtändigkeit der Ortsgemeinde,
beruht das engliſche darauf, daß dasjenige, was wir die Verwaltungs-
gemeinde
genannt haben, zum eigentlichen Mittelpunkt des Self-
government geworden iſt. Auf dieſer Grundlage iſt die örtliche Selbſt-
verwaltung Englands für uns um ſo leichter darzuſtellen, als wir das
Recht in Anſpruch nehmen können, und bei dem Reichthum des vor-
liegenden Stoffes auch müſſen, das, was Gneiſt gegeben hat, als be-
kannt vorauszuſetzen.


Das Princip der engliſchen Selbſtverwaltung beruht im Allgemeinen
darauf, daß weder die däniſche, noch die normanniſche Eroberung den
Stamm der freien Bauern vernichten, oder auch nur in der Mehrzahl
von den Grundherren abhängig machen konnte. Der freie mittlere
[465] Grundbeſitz blieb daher das herrſchende Element in den engliſchen ſo-
cialen Zuſtänden. Die normänniſche Eroberung zweitens hatte einen
ganz andern Charakter als die germaniſche Eroberung der römiſchen
Welt. Sie vermochte nicht, das unterworfene Volk unfrei zu machen;
ſie zwang daher den erobernden Stamm, auch nach der Eroberung noch
eine feſtgeſchloſſene Maſſe zu bilden, um dem einheimiſchen Volke nicht
zu unterliegen. Eine Trennung der Baronien vom Königthum, ein
Zurückfallen der Souveränetät der letzteren an die erſteren, eine Ver-
ſchmelzung der freiherrlichen Grundbeſitzer mit den Hoheitsrechten, wie
wir ſie auf dem Continent finden, kurz, der Begriff und das Recht der
Herrſchaft entſteht in England gar nicht. Es gibt keine ſtaatliche
Unfreiheit des Bauernſtandes, wenn auch viel wirthſchaftliche Unfreiheit
im Einzelnen vorkommt. Die herrſchende Klaſſe herrſcht daher aller-
dings über den Staat, aber ſie hat die beherrſchte nicht unfrei gemacht.
Das iſt es nun, was dem innern Leben Englands bis auf den heutigen
Tag ſeinen Charakter, und der örtlichen Selbſtverwaltung ihr Princip
gegeben hat. Das urſprüngliche Recht der Geſchlechterordnung, das Recht
der freien Hufe in der Dorfſchaft, erhält ſich. Es fehlt daher in Eng-
land jener ſo tief greifende Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, der die
geſellſchaftliche Geſchichte des Continents beherrſcht. In England braucht
ſich das entſtehende Staatsbürgerthum vor der Gewalt der Grundherrlich-
keit nicht in die Stadt zu flüchten. Es braucht nicht jenen ungeheuren
Kampf des Städteweſens mit den Grundherren aufzunehmen, der das
Mittelalter dieſſeits des Kanals beherrſcht. Das „Städteweſen des
Mittelalters,“ das man aus Mangel an Kenntniß der engliſchen und
ſkandinaviſchen Geſchichte als den Geſammtzuſtand Europas im Mittel-
alter bezeichnet hat, exiſtirt gar nicht, weder in England noch in Skan-
dinavien. Wohl gab es, wie wir ſehen werden, und gibt es noch
Städte auch in dieſen Ländern. Aber die Stadt iſt keine ſociale Kate-
gorie des Volkslebens, und daher ſind die continentalen Rechtsbegriffe
und Thatſachen, welche wir als den „dritten Stand“ zuſammenfaſſen,
weder in England, noch in Skandinavien vorhanden. Ein „tiers état“
hat dort nie exiſtirt, und konnte nicht exiſtiren; denn ſeine Voraus-
ſetzung iſt der ſociale Unterſchied zwiſchen Herrſchaft und Stadt, zwiſchen
Grundbeſitz und gewerblichem Beſitz. Erſt wenn wir in der deutſchen
Wiſſenſchaft ſo weit ſein werden, anzuerkennen, daß unſere gewöhnliche
Auffaſſung nicht viel weiter reicht, als bis an die Gränzen des deut-
ſchen Lebens, und daß wir als erſte Vorausſetzung alles Fortſchrittes
die principielle Verallgemeinerung unſerer deutſchen Begriffe für ganz
Europa beſeitigen müſſen, werden wir jene Verhältniſſe ſo einfach und
verſtändlich finden, wie ſie es in der That ſind. England aber iſt
Stein, die Verwaltungslehre. I. 30
[466] das Muſterbild der Zuſtände, die gerade auf dieſem Punkte von den
unſern ſo weſentlich verſchieden ſind. Und das daraus folgende Princip
der örtlichen Selbſtverwaltung ergibt ſich damit faſt von ſelbſt. Da
nämlich die alte Grundlage der Geſchlechterordnung, der freie Grund-
beſitz ſich erhält, ſo wird er zur Grundlage aller Selbſtverwal-
tung
. Das Princip derſelben ſowohl unter dem angloſächſiſchen als
dem normänniſchen Syſtem iſt der Satz, daß jeder freie Grundbeſitz
das Anrecht zur Theilnahme an der Selbſtverwaltung gibt. Das iſt
die „visible profitable propriety;“ dieſer Ausdruck iſt die juriſtiſche
Formulirung eines geſellſchaftlichen Begriffes. Das engliſche Princip
kann daher keinen Körper der Selbſtverwaltung auf Grundlage eines
Werthbeſitzes oder eines Einkommens begründen; es vermag nicht, als
Baſis derſelben die Steuerpflicht, den Steuercenſus, anzunehmen; es
will eben einen Grundbeſitz, und jeder Grundbeſitz, gleichviel, ob in
Stadt oder Land, gibt an und für ſich das Recht auf Selbſtverwaltung.
Allerdings muß ſich dieſer Grundſatz in den Städten etwas modificiren;
aber er geht nie ſo weit, daß das bloße Einkommen den Beſitz erſetzte,
ſondern auch in den Städten iſt die Bedingung der Theilnahme an der
Selbſtverwaltung die Anſäſſigkeit; das bearing scot und paying lot
iſt der Ausdruck der durch wirkliche, materielle Anſäſſigkeit gegebenen
Berechtigung und Verpflichtung in dem Selfgovernment. Daraus
folgt dann das zweite herrſchende Princip für die letzteren. Wie das
Recht, ſo iſt auch die Pflicht mit dieſer Anſäſſigkeit verbunden. Alle
Laſten der Selbſtverwaltung beruhen nicht wie auf dem Continent auf
jenem, der reinen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft angehörigen Begriffe
des Einkommens, ſondern auf dem Grundbeſitze. Die Steuern des
Selfgovernment ſind deßhalb ſtets direkte Steuern, auf der propriety
umgelegt; ſie ſind aber, wie die alte Dorfſchaft, zugleich urſprüngliche
Steuern, das heißt, ſie erſcheinen nicht wie die franzöſiſche Selbſtbe-
ſteuerung, nur als Anſchluß an die direkte Staatsſteuer, als centimes
additionnels
oder Zuſchläge, ſondern die Grundbeſitzer ſtellen für dieſe
Selbſtverwaltungsſteuer ihren eigenen, ſelbſtbeſchloſſenen Steuerfuß
auf; wie ihre Verwaltung, ſo iſt auch ihr Steuerſyſtem eine ganz ſelb-
ſtändige Finanzwirthſchaft neb [...]n den Staatsfinanzen. Dieſe Grundſätze,
auf derſelben Grundlage in ganz England beruhend, ſind daher auch
gleichmäßig gültig für alle Theile Englands. Allerdings iſt ein Unter-
ſchied zwiſchen Stadt und Land, und ſogar ein Unterſchied zwiſchen
dem Gemeindebürgerthum in Stadt und Land; allein dieſe Unterſchiede
enthalten nicht etwa ein verſchiedenes Princip, ſondern ſie ſind nur
Verſchiedenheiten in demſelben Princip. Und daraus entſteht nun das-
jenige, was wir das Syſtem des engliſchen Selfgovernment nennen.


[467]

Bei dieſem Syſtem muß man zuerſt davon ausgehen, daß der
deutſche, und noch mehr der franzöſiſche Begriff der „Gemeinde“ für
England gar nicht exiſtirt. Schon Gneiſt hat vollkommen richtig ſich
wohl gehütet, den Begriff der Gemeinde als allgemeine Kategorie für
Englands Selbſtverwaltung anzuwenden. In der That iſt die Grund-
lage der engliſchen Selbſtverwaltung nicht eine Gemeinde im deutſchen
Sinne, welche in örtlicher Begrenzung alle Aufgaben des Staats durch
ihre Organe vollzieht, und die wir daher Ortsgemeinden nennen.
Auch England hat ſeine Ortsgemeinden, wie wir gleich ſehen werden;
aber während dieſelben in Frankreich nur ein organiſches Glied jener
Selbſtverwaltung, in Deutſchland der faſt ausſchließliche Sitz derſelben
ſind, ſind ſie in England ganz untergeordnete Erſcheinungen. Die
Grundlage des engliſchen Selfgovernment iſt vielmehr ſtatt der Orts-
gemeinde dasjenige, was wir die Verwaltungsgemeinde nennen
müſſen, an welche ſich dann der amtliche Körper des Kreiſes anſchließt.
Durch dieſe beiden Elemente wird das Syſtem der engliſchen örtlichen
Selbſtverwaltung gebildet.


Wir dürfen daher hier den Begriff der Verwaltungsgemeinde ge-
nauer beſtimmen, da er die Grundlage der Individualität des engliſchen
Selfgovernment iſt.


Unter Verwaltungsgemeinde verſtehen wir eine örtlich begränzte
Gemeinſchaft, welche einen ſelbſtändigen Organismus für Verfaſſung
und Verwaltung, aber nur eine, ganz beſtimmte und von der Re-
gierung anerkannte Verwaltungsaufgabe zu vollziehen hat. Die
Verwaltungsgemeinde iſt daher gegen die Ortsgemeinde ziemlich gleich-
gültig. Sie kann größer, ſie kann kleiner ſein; ſie kann bloß eine
Stadt, ſie kann auch mehrere, ſie kann Stadt und Land umfaſſen.
Immer aber muß ſie für ihre ſpezielle Aufgabe ihren eigenen Organis-
mus haben, und indem ſie in jener Aufgabe eine Aufgabe des Staats
erfüllt, muß ſie auch der Staatsverwaltung in gewiſſer Weiſe unter-
geordnet ſein, damit die örtliche Vollziehung der erſteren nicht die Gleich-
artigkeit der letzteren vernichte. Es kann daher ſo viele Verwaltungs-
gemeinden geben, als es Aufgaben der Verwaltung gibt, und jede
derſelben kann verſchiedene äußere Gränzen und innere Principien haben.
Ob und in wie weit das letztere der Fall iſt, wird allerdings von der
Gleichartigkeit der geſellſchaftlichen Zuſtände abhängen. Immer aber
muß die Verwaltungsgemeinde ein Glied eines großen Verwaltungs-
ganzen bilden; und dieß größere Ganze nennen wir den Kreis. In
dem Kreiſe wird dann nothwendig die Staatsverwaltung das vor-
wiegende Element ſein; in ihm kommt die Einheit des Staatslebens
zum Ausdruck, und er iſt daher gar nicht denkbar, ohne daß er einen
[468]Amtskörper bilde, an deſſen Spitze ein amtliches Organ ſteht,
deſſen Funktion dann im Weſen des Staats liegt. Nun kann das
Verhältniß beider Elemente zu einander, des Kreiſes und der Verwal-
tungsgemeinde, ſehr verſchieden ſein. Immer aber wird der Organismus
beider darauf beruhen, daß die Organe der Verwaltungsgemeinde ge-
wählt
, das Organ des Kreiſes dagegen eingeſetzt iſt. Wird das
Haupt der Verwaltungsgemeinde eben ſo eingeſetzt wie das des Kreiſes,
ſo ſinkt dieſelbe zu einem bloß berathenden Körper herab, wie in
Frankreich; wird dagegen das Haupt des Kreiſes gewählt, wie das der
Verwaltungsgemeinde, ſo wird die letztere ſouverän, wie früher in
Deutſchland. Und das beruht darauf, daß dieſes Haupt die ausführende
Gewalt, und damit auch die Verantwortlichkeit für die wirkliche Voll-
ziehung hat. Die Wahl des Kreishauptmanns macht jede Verantwort-
lichkeit der Regierung gegen die Volksvertretung unmöglich, und löst
damit zuletzt die Regierung ſelbſt auf. Das ſind, ſo ſcheint es, ſehr
einfache Sätze.


Englands örtliche Selbſtverwaltung iſt nun durch und durch der
Ausdruck dieſes Syſtems von Verwaltungsgemeinde und Kreisordnung,
und darin liegt ſeine Individualität gegenüber Frankreich und Deutſch-
land. In dieſen Punkten ſind alle Vorzüge und Nachtheile der eng-
liſchen Verwaltung gegeben, aber auch die Schwierigkeit, es vom con-
tinentalen Standpunkt aus richtig zu verſtehen. Denn das Syſtem der
Verwaltungsgemeinden hat alle örtliche Verwaltung und ſelbſt die
Beſteuerung, durch welche ſie geſchieht, in die Hände der Gemeinde-
angehörigen gelegt, und deßhalb nennen wir die engliſche Selbſt-
verwaltung eben das Selfgovernment. Auf demſelben Grunde
beruht es, daß dieß Selfgovernment nicht plötzlich entſtanden iſt, ſo
wenig wie die Aufgaben der Verwaltung. Es hat ſich langſam und
ſtückweiſe mit dieſen entwickelt; es iſt in ſeiner Geſchichte in der That
die Geſchichte der engliſchen Verwaltung ſelbſt. Die erſtere
iſt ohne die letztere überhaupt gar nicht darzuſtellen und zu verſtehen;
und der glänzendſte Beweis dafür iſt gewiß Gneiſts Werk, in welchem
die Communalverfaſſung vollkommen richtig nicht als eine Verfaſſung
für ſich, ſondern als eine Conſequenz der entſtehenden Bedürfniſſe der
Verwaltungsaufgaben erſcheint. Wir aber können ihr nichts hinzufügen.
Nur den Organismus, wie er ſich geſtaltet, wollen wir kurz bezeichnen.


Das Entſtehen der engliſchen Verwaltungsgemeinde beruht nämlich
darauf, daß das engliſche Parlament zum Theil den Charakter einer
landſchaftlichen Ständeverſammlung hat, und als ſolche nicht die hiſto-
riſchen Rechte der Einzelnen ſeinem Willen unterwirft, ſondern nur das
Geſetz für die Verwaltung gibt, und jetzt die beſtehenden Ortſchaften
[469] dafür gerichtlich verantwortlich macht, daß dieß Geſetz auch wirklich
ausgeführt wird. Das Organ nun, welches dieſe örtliche Ausführung
des Geſetzes vollzieht, iſt die Verwaltungsgemeinde; das Organ, welches
als Gericht die Vollziehung des Geſetzes ſichert, iſt der Friedensrichter.
Auf dieſen beiden Grundlagen beruht das engliſche Selfgovernment.


Es iſt wohl kaum zweifelhaft, daß dieſes Selfgovernment ſich in
zwei großen Perioden oder Grundformen entwickelt, die man als die
angelſächſiſche und die normanniſche bezeichnen kann, und deren Schei-
dung weſentlich in dem Auftreten der Armenverwaltung liegen. Die alte
angelſächſiſche Ordnung beruht auf dem Begriff und Recht der Dorf-
ſchaft und der Landſchaft, Tithings und County. Das Tithing iſt im
Grunde die bäuerliche Gemeinde, ganz im deutſchen Sinne. Sie hat,
wie dieſe, alle Aufgaben der örtlichen Verwaltung, ſo weit es damals
eine ſolche gibt, und der Vereinigungspunkt derſelben iſt eben die County
mit Sheriff und Coroner. An dieſe Grundlage aber ſchließt ſich gleich
anfangs eine zweite Art der Gemeinde an, die Kirchſpielsgemeinde,
deren Aufgabe die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten iſt, und
die in der Vestry ihre eigene Gemeindeverſammlung, in den Church
wardens
ihre eigene Organe, und in der Church rate ihr eigenes
Steuerſyſtem hat. Es iſt die erſte Verwaltungsgemeinde in England;
aber ſie iſt mit dem continentalen Kirchſpiel ſehr analog, nur darin
von ihm weſentlich verſchieden, daß ſie ein ſelbſtändiges Gemeindebürger-
thum in dem beſitzenden Bauernſtande hat, welcher ein Patronat einer
Herrſchaft nicht entſtehen läßt. Aus dieſer Kirchſpielsgemeinde entſteht
nun die Grundform der Verwaltungsgemeinde in England, die Armen-
gemeinde
. Dieſelbe wird zu einem förmlich anerkannten Organe der
Armenverwaltung unter Eliſabeth; ſie fängt an, alle Verwaltungsauf-
gaben, ſo weit ſie nicht der Landſchaft gehören, dadurch ſich unterzu-
ordnen, daß die Armenlaſt mit jedem Jahre eine ſchwerere wird, und
daher die Armengemeinde gezwungen iſt, einerſeits die Armenſteuer,
die poor rate, ſo genau und rationell als möglich einzurichten, anderer-
ſeits ſie auf das Zweckmäßigſte zu verwalten. Es war daher ganz
natürlich, daß man die Armenſteuer allmählig als die Hauptſteuer für
die geſammte Selbſtbeſteuerung anerkannte und die Steuern für die
übrigen Selbſtverwaltungskörper einfach an ſie anſchloß. Dadurch ge-
wann die Selbſtverwaltung ihre eigentliche Feſtigkeit und Ordnung; es
war mit dem Steuerfuß der poor rate der Fuß aller örtlichen Steuern
gegeben, und zuletzt ließen ſich die übrigen Aufgaben auch leicht ordnen.
Jedoch dauerte es nun längere Zeit bis dieſe Verwaltungsaufgaben
der innern Verwaltung ſich bildeten und begränzten, und es war natür-
lich, daß einige dieſer Verwaltungsaufgaben der County, andere dem
[470] Friedensrichter, und nur ein Theil derſelben eigenen Verwaltungs-
gemeinden zufiel. Allmählig aber entſtand das Bedürfniß, hier eine
feſte Ordnung zu ſchaffen. So lange die Verwaltungsaufgaben noch
ganz beſtimmte Anſtalten zu ihrem Objekt hatten, war die Sache ein-
fach. Gefängniſſe, Irrenhäuſer, Straßen, Wege, Brücken, öffentliche
Gebäude geben, ſelbſt begränzt, auch leicht eine Gränze für die Ver-
theilung ihrer Verwaltung. Als aber mit dem Ende des vorigen Jahr-
hunderts die Erkenntniß kommt, daß die Bedingungen der Entwicklung
in allgemeinen Verhältniſſen, und die Aufgabe der Verwaltung daher
in einer beſtändigen Thätigkeit liegt, genügt die alte Ordnung nicht
mehr. Es muß, um uns ſo auszudrücken, das Verwalten und nicht
die ſpezielle Verwaltung zur Pflicht gemacht werden. Um das zu kön-
nen, muß ein neuer Organismus geſchaffen werden. Dieß geſchieht
nun durch die Public Health Act und die Local Management Act.
Beide haben weſentlich alle öffentlichen Gemeindezuſtände zum Gegen-
ſtand der Selbſtverwaltung gemacht, namentlich das Geſundheits- und
Verkehrsweſen; man konnte in dieſem Sinne von Sanitäts- und Wege-
oder Straßengemeinden reden. Dabei war es nun natürlich, daß ſich
die Organiſation dieſer Gemeinden zunächſt an die Ortsgemeinde an-
ſchloß. Allein die Organe derſelben ſind dennoch anders geſtellt, wie
im deutſchen Gemeindeweſen. Sie ſind ſelbſtändige Verwaltungskörper
für ſelbſtändige Aufgaben, und bilden daher kein Glied des Gemeinde-
körpers, auch da nicht, wo ſie mit ihm identiſch ſind. Ihr ſpecifiſcher
Name iſt „Board“ oder „Commission“ und ihre adminiſtrative Selb-
ſtändigkeit beſteht darin, daß ſie ſich ſelbſt ihre vollziehenden Organe
als ihre Beamteten wählen und einſetzen, daher aber auch in ihren
Funktionen unmittelbar unter dem Home Secretary, dem Miniſter des
Innern, ſtehen. Grundlage aber der Selbſtverwaltung bleibt dabei
immer, daß die Verpflichtung zur verwaltenden Thätigkeit auf der
Gemeinſchaft der Grundbeſitzer ruht, daß dieſe die Steuern, und faſt
ausſchließlich nach der poor rate aufbringen, und daher den Board
oder die Commissioners ſelbſt wählen. Auf dieſe Weiſe bildet ſich ein
Syſtem der Verwaltungsgemeinden, welches wir in folgenden Grund-
formen bezeichnen können.


Die älteſte Verwaltungsgemeinde iſt die Kirchſpielsgemeinde,
die parish, deren Grundlage die Kirchſpielsverſammlung oder open
vestry
aus allen Steuerzahlenden für die Church rate, eingetheilt in
ſechs Claſſen, beſteht, die ſich eine Vertretung wählen und ihre voll-
ziehenden Organe in den Church wardens, den Kirchenvorſtehern, haben.


Aus ihr hervorging die Armengemeinde, die in vielen Stellen
mit dem Kirchſpiel und zum Theil auch mit der Kirchſpielsverſammlung
[471] zuſammenfällt, aber eine ganz ſelbſtändige Organiſation hat. Aus
dieſen einzelnen Kirchſpielsarmengemeinden ſind dann die Kreisarmen-
gemeinden
, die Unions, mit ihren Organen, den Guardians und
Overseers, entſtanden; beide haben ihre eigene Verfaſſung und Ver-
waltung, deren genauere Darſtellung jedoch ohne das ganze Armenweſen
nicht gegeben werden kann.


Neben dieſen beſtehen nun die oben erwähnten Formationen, die
man als die modernen Verwaltungsgemeinden bezeichnen kann,
in den Boards und Commissions für alle inneren Angelegenheiten der
Verwaltung, namentlich wie geſagt für Sanitäts- und Communi-
cationsweſen.


Das iſt das Syſtem der Verwaltungsgemeinden. Dieſes Syſtem
iſt nun in eigenthümlicher Weiſe zuſammengefaßt in dem Amte der
Justice of the Peace, dem Haupte der Kreisgemeinde.


Der urſprüngliche Gedanke des Friedensrichteramts iſt kein anderer
als Aufſtellung eines Amtes für die Erhaltung des Friedens. Er iſt
daher urſprünglich einerſeits das Organ der Sicherheitspolizei, anderer-
ſeits aber iſt er auch das Gericht über alle Unterlaſſungen im Gebiete
der Aufgaben der Verwaltungsgemeinde. Er hat daher einen doppelten
Charakter. Er geht einerſeits aus den Elementen der Selbſtverwaltung
hervor, auf der andern Seite iſt er ein Beamteter. Der Ausdruck und
die Verbindung beider Elemente in der Perſon des Friedensrichters
beſteht nun darin, daß der Friedensrichter allerdings vom Könige er-
nannt, aber aus der Claſſe der größeren Grundbeſitzer, der gentry,
genommen wird. Er iſt mit ſeinem öffentlichen Recht ein Beamteter,
und fungirt im Namen des Staats, aber mit ſeinem privaten Leben
iſt er ein Privatmann; er hat kein Gehalt und keinen Rang, und
haftet als reiner Privatmann mit privater Verantwortlichkeit für alle
ſeine Thätigkeiten und Unterlaſſungen. Er verwaltet daher nichts, als
die Sicherheitspolizei, aber er richtet über alle Verwaltung der Organe
der Verwaltungsgemeinden, indem er auf ſie das geltende Recht an-
wendet. Aber auch das thut er nicht als Einzelner, ſondern bei Straf-
juſtiz und Polizei tritt die Selbſtverwaltung der Rechtspflege im Ge-
ſchwornengericht auf. Gerade aber jenes, im Friedensrichterthum liegende
Element der Selbſtverwaltung hat demſelben wieder eine Organiſation
gegeben, welche, wie alle Verwaltungsorganiſation in England, nicht
ſyſtematiſch entſtanden iſt und daher auch nicht ſyſtematiſch dargeſtellt
werden kann, ſondern ſich an die Verhältniſſe anſchließt, und den
Uebergang zur Landſchaft bildet, welche in den Quarter Sessions auch
als ein friedensrichterlicher Organismus erſcheint. Dieſe Uebergänge
vom einzelnen Friedensrichterthum zur County beſtehen in den Petty und
[472]Special Sessions. Das ſind Sitzungen von zwei oder mehreren Friedens-
richtern innerhalb der County, für deren Competenz kein beſtimmtes
Princip angegeben werden kann. Die Special Sessions namentlich be-
ziehen ſich jedoch auf adminiſtrative Akte, nach Gneiſt (II. §. 53) vor-
waltend auf Ernennungen von amtlichem Perſonal. Sie enthalten
Verwaltungsfunktionen, welche ſich auf mehrere Verwaltungsgemein-
den erſtrecken, ohne daß man dabei die Aufgabe einer Landſchaft zum
Grunde legen könnte.


So nun greifen in England die Verwaltungsgemeinde, der frie-
densrichterliche Kreis als Bezirk, und die Landſchaft in einander; und
es wird jetzt wohl klar ſein, daß für die Ortsgemeinde nicht viel
Raum mehr da iſt, weil alle Thätigkeiten der örtlichen Selbſtver-
waltung bereits in den obigen Organen erſchöpft ſind. Dennoch beſtehen
dieſe Ortsgemeinden fort, und die größte Schwierigkeit in der Dar-
ſtellung des Organismus der Selbſtverwaltung liegt eben deßhalb darin,
für jene Ortsgemeinden noch ein eigenes Lebensgebiet aufzuſtellen. Und
hier müſſen wir für England nun einen Begriff herbeiziehen, und auf
Grund deſſelben den Verſuch machen, die ſo ſehr ſchwierigen Verhält-
niſſe, um welche es ſich gerade bei der engliſchen Ortsgemeinde handelt,
auf möglichſt einfache Form zurückzuführen. Es wird dabei von großem
Nutzen ſein, die continentalen Begriffe zur Vergleichung ſtets gegen-
wärtig zu halten.


Der erſte Grundſatz für das engliſche Ortsgemeindeweſen iſt, daß
es gar keine ländlichen Ortsgemeinden als Landgemeinden
gibt, ſondern nur Stadtgemeinden. Das nun beruht darauf, daß
alle Funktionen der Gemeinde, wie bereits geſagt, in den Verwaltungs-
gemeinden und der Kreisverwaltung aufgegangen ſind. Als bloßer
Selbſtverwaltungskörper iſt die Landgemeinde namentlich dadurch über-
flüſſig, daß Kirchen- und Armenangelegenheiten in der parish erledigt
werden, während die Communicationsmittel und das Sanitätsweſen
wieder ihre Verwaltung haben. So weit daher eine Gemeinde nur
durch den Titel der Selbſtverwaltung motivirt erſcheint, iſt ſie eben in
England überhaupt nicht motivirt. Es kann daher gar keine Local-
gemeinde geben; der Begriff und das Recht derſelben fehlt in England
gänzlich.


Wenn es nun trotz dieſer Sätze dennoch in England Stadt-
gemeinden
gibt, und zwar als die einzige Form der Ortsgemeinden,
ſo ſind wohl zwei Dinge klar. Erſtlich wird dieſe Stadtgemeinde nur
ſehr untergeordnete Aufgaben haben, inſofern ſie eine andere Form der
Selbſtverwaltung bedeuten ſoll als die Verwaltungsgemeinde. Zwei-
tens
aber wird ihr Entſtehungs- und Rechtstitel nicht mehr, wie bei
[473] der Selbſtverwaltung der Verwaltungsgemeinde in England, auf dem
organiſchen Weſen und Recht der Selbſtverwaltung beruhen, denn aus
dieſem kann eben nur eine Verwaltungsgemeinde hervorgehen, ſondern
es muß ein ſpecifiſch anderer Rechtstitel vorhanden ſein. Dieſer wieder
kann nur in dem hiſtoriſchen Rechte der ſtädtiſchen Selbſtverwaltungs-
körper beſtehen. Und dieß iſt in der That der Fall. Die ſtädtiſche
Gemeinde in England iſt nur ein hiſtoriſcher Körper der Selbſtver-
waltung; ihre geſchichtliche Selbſtändigkeit beruht ganz einfach auf der
Thatſache der Entſtehung des ſtädtiſchen Lebens, welches ſogar in dem
Rechte der boroughs auf die Wahl ins Unterhaus die Elemente eines
dritten Standes zeigt. Allein dieſer dritte Stand kommt nicht zur
Entwicklung, weil das Princip des freien Staatsbürgerthums auf dem
Lande eben ſo gut gilt, als in der Stadt. Dieß Princip, für ganz
England geltend, hat zwar eine Reihe ſehr ernſthafter Kämpfe zu be-
ſtehen, aber es ſiegt endlich ganz allgemein. Aus ihm geht dann die
Selbſtverwaltung in den Verwaltungsgemeinden hervor, welche wir
eben als das Weſen des engliſchen Selfgovernment bezeichnet haben.
Ihm ſind daher die Städte ſowohl als das flache Land unterworfen.
Demnach ſind die erſteren hiſtoriſch ſelbſtändige Körper der Selbſtver-
waltung. So entſteht dann die Frage, in welchem Verhältniß dieſe
hiſtoriſche Selbſtverwaltung der ſtädtiſchen Körper zu dem organiſchen
Princip und Recht der Verwaltungsgemeinden in England ſteht. Und
die Beſtimmung dieſes Rechts bildet eben das, was wir die Verfaſſung
der engliſchen Stadtgemeinde nennen.


Dieſe Verfaſſung nun, deren Inhalt und Geſchichte bei Gneiſt ſo
vortrefflich dargeſtellt ſind, beruht auf folgenden Punkten.


Erſtlich haben die Städte als Grundlage ihrer hiſtoriſchen Selb-
ſtändigkeit ein eigenes Vermögen, und es verſteht ſich von ſelbſt,
daß ſie für dieß ihr Vermögen und die Verwaltung deſſelben nothwendig
einen eigenen Körper haben müſſen. Auf Grundlage deſſelben bilden
ſie juriſtiſche Perſönlichkeiten, oder wie dieſe in England genannt wer-
den, Corporations, und die Anerkennung dieſer ihrer Selbſtändigkeit
und Selbſtverwaltung iſt der act of incorporation, das Stadtrecht
in England, welches dann natürlich auch die Grundlagen der freien
Verwaltung mit Wahl und Vertretung mit den Elementen von Burge-
meiſter, Magiſtrat und Gemeinderath enthalten. Dieſe heißen Mayor,
Aldermen
und Common Council. Das Recht zur Theilnahme an
Wahl und Wählbarkeit iſt dabei natürlich in der Stadt principiell kein
anderes als in Verwaltungsgemeinde und Kreis; nur der anſäßige
Bürger, paying scot und bearing lot, beſitzt beide. Es iſt in dieſem
Punkte gar kein weſentlicher Unterſchied zwiſchen der Stadtgemeinde
[474] Englands und der deutſchen. Derſelbe liegt vielmehr in dem zweiten
Punkte.


Zweitens nämlich muß nun die Frage entſtehen, in welchem
Verhältniß dieſe incorporated boroughs zu dem Syſteme der Ver-
waltungsgemeinde ſtehen. Und hier iſt natürlich eine langdauernde,
von vielen theils örtlichen, theils juriſtiſchen Momenten beſtimmte Ver-
ſchiedenheit dieſer Stadtgemeinden vorhanden geweſen, bis nach viel-
fachen Geſetzen und Kämpfen endlich die letzte Städteordnung von 1835
(An Act to provide for the regulation of Municipal in England and
Wales, publ. 9. Sept. 1835)
dieſen Verhältniſſen eine ziemlich beſtimmte
Geſtalt gegeben hat. Wir können dieſelbe auf zwei Hauptpunkte zu-
rückführen.


Zuerſt haben alle Städte, welche unter dieſen Akt fallen, ihr
eigenes Vermögen zu verwalten; das iſt die Grundlage des hiſtoriſchen
Rechts, durch welche es eben noch Ortsgemeinden in England gibt.


Zweitens haben dieſelben nun einen Theil an der Funktion der
Verwaltungsgemeinden, und hiefür gibt es ein doppeltes Verhältniß.


Zunächſt erſcheinen ſie als örtliche Vollziehungskörper für die Ver-
waltungsgemeinde, gerade wie in Deutſchland, indem ſie für den ört-
lichen Körper der Stadt
theils das Sanitäts- und Verkehrsweſen,
Straßen, Beleuchtung, Reinigung, Häfen u. ſ. w., theils aber auch die
örtliche Sicherheitspolizei und zwar meiſtens durch einen Polizei-
ausſchuß des Magiſtrats, der als Watch Committee funktionirt und
die Gemeindewächter anſtellt, verwalten.


Dann aber erſcheinen ſie bei großen Städten als ſelbſtändige
Verwaltungskreiſe, indem ſie ſelbſt als friedensrichterliche Kreiſe
auftreten; das Friedensrichteramt erſcheint bei ihnen aber als eine
Commission of the peace, und gehört damit unter das ſtädtiſche Be-
amtenthum. Nach Gneiſt waren bis 1839 139 Städte ſolche Friedens-
richterkreiſe. Jedoch ſind dieſe ſtädtiſchen Friedensgerichte nicht compe-
tent für Strafjuſtiz; für dieſe bleibt nach wie vor die Landſchaft mit
den Quarter Sessions competent. Ebenſo bilden ſich in dieſen Städten
die andern Verwaltungsgemeinden als Local Boards und Commissions,
namentlich für Sanitätsangelegenheiten; die Stadt iſt für ſie nur die
örtliche Zuſtändigkeit, und ſelbſt da, wo ſie aus den ſtädtiſchen Organen
gebildet werden, machen ſie keinen Theil der ſtädtiſchen Verwaltung in
unſerem Sinne aus, ſondern ſtehen unmittelbar unter dem Home Secre-
tariat.
Daneben aber haben dieſelben für das bürgerliche Recht ein
eigenes Stadtgericht, welches durch den Recorder, Stadtrichter, ver-
waltet wird. Dieſer Recorder aber, der die Civiljurisdiction des
Friedensrichters für das Stadtgebiet beſitzt, iſt eben deßhalb gerade
[475] wie der erſtere kein ſtädtiſcher, ſondern ein königlicher Beamteter, darf
deßhalb auch weder Mitglied des Common Council ſein noch die Stadt
im Parlament vertreten; das Element der Selbſtverwaltung erſcheint
aber wieder darin, daß er ſein Gehalt nicht vom Staat, ſondern von
der Gemeinde bekommt. — Für alle dieſe Funktionen hat nun der
Körper der Stadt das Recht, die bye laws, ſtädtiſche Verordnungen
mit Strafandrohung bis 30 Thaler oder einen Monat Gefängniß zu
erlaſſen, und in der Commission of the peace gerade wie ein Friedens-
richter durch ihren Polizeirichter entſcheiden zu laſſen; ſie hat ihren
ſtädtiſchen Clerk of the peace, ihren ſtädtiſchen Coroner und ſtädtiſche
Detentionshäuſer, welche ſie ſelbſt verwalten. Die ſtädtiſchen Watch
Committees
ſind die ſtädtiſche Ortspolizei, welche das Recht haben, In-
ſtruktionen für die Conſtablers mit bindender Kraft als „Regulations“
zu geben, die mithin als die polizeilichen bye laws (ſtädtiſche Polizei-
ordnungen) erſcheinen. (Gneiſt I, S. 488. 528. 547.) Auf dieſe Weiſe
bildet die Stadt allerdings eine Gemeinde im deutſchen Sinne des
Wortes. Allein im Grunde iſt die ſtädtiſche Gemeindeordnung Englands
durch nur eine Modifikation der Ordnung der Verwaltungs-
gemeinde
; dieſe bleibt mit ihren Grundlagen das herrſchende Element
in der engliſchen Selbſtverwaltung; und das Gemeindeweſen Englands
zeigt daher ſeinen Charakter gegenüber dem deutſchen weſentlich darin,
daß er ſich nicht an den Ort und ſeine Bedürfniſſe, ſondern an die
Verwaltungsaufgabe und ihre Forderungen anſchließt, daß es dieſe
Aufgaben auch in der Städteverfaſſung unter bürgerlicher Haftbarkeit
durchführt; daß es zu dem Ende ſich ſelbſt nach eigenem Steuerfuß
beſteuert, und das Recht auf ſeinen Antheil an der wirklichen Ver-
waltung nicht wie auf dem Continent auf ein Geſetz zurückführt, welches
ihm dieſes Recht verfaſſungsmäßig verliehen, ſondern vielmehr auf die
Pflicht, nach bürgerlichen Grundſätzen zu haften, wenn die Verwal-
tungsaufgaben nicht erfüllt ſind. Es iſt nicht ſchwer, den durchgreifen-
den Unterſchied ſich zu vergegenwärtigen. Doch wird er erſt unten bei
der Darſtellung der deutſchen Verhältniſſe recht anſchaulich werden.
Gewiß ſcheint jedoch ſchon hier der Satz, daß die natürliche Löſung
des deutſchen Streites über die Landgemeindeordnungen nicht in der
Landgemeinde, ſondern eben in der Herſtellung von engliſchen Verwal-
tungsgemeinden zu ſuchen iſt, an welche ſich dann die Stadtgemeinden
leicht anſchließen.


Auf dieſen Grundlagen nun beruht das Syſtem der örtlichen
Selbſtverwaltung Englands. Es iſt in ihm das Geheimniß der Stärke,
aber freilich auch das der Schwäche Englands enthalten, und beides
läßt ſich jetzt wohl ziemlich beſtimmt formuliren. Englands Selbſt-
[476] verwaltung iſt durch und durch, und namentlich in der Wahl ihrer Organe
von jedem Einfluß des Staats unabhängig und die ganze Controle
ihrer Thätigkeit ſteht nur dem Gemeindekörper ſelbſt zu. Es iſt kein
Zweifel, daß darin allerdings die Elemente der Herrſchaft der Sonder-
intereſſen über das Geſammtintereſſe, der Ausbreitung der Indolenz,
die gerade in örtlichen Lebensverhältniſſen ſich ſo leicht erzeugt, gegeben
ſind, ohne doch nur auf dem Continent in der ſittlichen und amtlichen
Funktion, in der Thätigkeit und Kraft der Staatsorgane ihr Gegen-
gewicht zu finden. Aber hier iſt auch der Punkt, wo ſich das ganze
Verwaltungsleben Englands von dem des Continents am beſtimmteſten
trennt. Englands Volk traut ſich ſelber die Kraft zu, jene Ge-
fahren der örtlichen Selbſtverwaltung durch ſich ſelbſt, ohne die Hülfe
des ſelbſtthätigen Organes der Geſammtintereſſen, der Staatsgewalt,
zu überwinden; und es hat dieſe Kraft. Es iſt in jedem Einzelnen
weit genug in ſeiner bürgerlichen Bildung, um dieſer Staatsgewalt
und ihrer eigenthümlichen Funktion in ſeiner Selbſtverwaltung entbehren
zu können. Ohne das Volk Englands wäre die letztere ein Verderben
für den Staat; aber darum iſt ſie in Organismus und Recht zuletzt
auch nur durch die Natur dieſes Volkes begreiflich, wie ſie durch eben
dieſe erſt ihren Segen entfaltet.


b) Frankreichs Municipalweſen.

Obwohl der gegenwärtige Organismus der örtlichen Selbſtverwal-
tung in Frankreich, ſein Recht und ſeine äußere Geſtalt wie der ganze
Staat durch die plötzlichen und durchgreifenden Bewegungen der Revo-
lution empfangen hat, ſo muß man ſich doch wohl hüten, zu glauben, daß
auf irgend einem Punkte die neue Ordnung der Dinge ohne inneren und
organiſchen Zuſammenhang mit der früheren Entwicklung geſtanden wären.
In aller tiefen Verſchiedenheit lebt doch der gemeinſame Kern der Indivi-
dualität Frankreichs. Es kommt darauf an, ſie auch hier wiederzufinden.


Vor der Revolution war der Zuſtand des Gemeindeweſens in
Frankreich dem des deutſchen Reichs ſehr ähnlich. Auf der einen Seite
war die alte Dorfſchaft faſt allenthalben in der Herrſchaft untergegangen,
und der Herr war Inhaber der geſammten örtlichen Verwaltung, die
daher zwar gegenüber dem Staate als Selbſtverwaltung erſchien, aber
gegenüber den Angehörigen der Herrſchaft, den frühern Bauern und
den alten Leibeigenen in der That eine örtliche Deſpotie in Abgaben,
Rechtspflege und Polizei war. Auf der andern Seite hatte das gewerb-
liche Leben die Stadtgemeinde gegründet, und durch dieſelbe den dritten
Stand. Hier gab es principiell eine Selbſtverwaltung, aber in der
Wirklichkeit war ſie eben ſo wie in Deutſchland bereits in die Hände
[477] der Zünfte, Innungen und anderer Vorrechte gefallen. Die Landſchaft
war im Parlament des einzelnen Landes vertreten. Dieſer Geſtaltung
der Dinge ſtand nun, wie wir bereits oben geſehen, die mächtige könig-
liche Verwaltung gegenüber als eine für ſich abgeſchloſſene Welt, mit
eigenen Principien, eigener Geſetzgebung und eigenem Gericht. Sie
war ſchon damals das eigentliche Frankreich.


Jetzt kam die Revolution. Sie brachte ihrerſeits allerdings die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zur Herrſchaft; aber gerade die Gewalt,
mit der ſie das vollbrachte, zwang ſie, die Verwaltung nicht etwa
machtlos zu machen, ſondern ihr noch mehr Macht zu geben als ſie je
gehabt. Allerdings unterwarf ſie dieſe Verwaltung als Ganzes der
Volksvertretung, fordernd, daß ſie nichts ſein ſolle, als der Ausdruck
des Willens der letztern; aber im Einzelnen mußte ſie dieſe Verwaltung
um ſo freier gewähren laſſen, je rückſichtsloſer ſie das Princip der
adminiſtrativen Verantwortlichkeit gegen dieſelbe durchführte. Bei der
furchtbaren Schnelligkeit, mit welcher die neuen Ideen nicht bloß etwa
die Staatsverfaſſung, ſondern auch die Beſitzverhältniſſe angriffen und
umgeſtalteten, ſo weit eben die letzten die Grundlagen der ſtändiſchen
Unterſchiede und Rechte bildeten, konnte man die Selbſtverwaltung
geradezu unmöglich auf die freie Zuſtimmung der Beſitzenden begründen.
Man hätte, wenn man den letztern eine Selbſtbeſtimmung oder gar
ein eigenes, unter eigener örtlicher Wahl ſtehendes Organ und dieſem
Organ eine geſetzlich begründete vollziehende Gewalt verliehen oder be-
laſſen hätte, die Gefahr laufen müſſen, daß die Hälfte Frankreichs dem
Willen der geſetzgebenden Verſammlungen nicht gehorcht, und in dieſer
örtlichen Selbſtverwaltung namentlich auf dem flachen Lande das ſtän-
diſche Element wieder zur vollen Geltung gebracht hätte. Die neue
Ordnung der Dinge war daher nur um Einen Preis durchzuſetzen;
man mußte das alte Recht der königlichen Verwaltung in der revolu-
tionären Staatsordnung grundſätzlich nicht bloß durchführen, ſondern
man mußte es zum Princip der Verwaltung machen. Man mußte die
neuen Verwaltungen, um ſie vor dem Einfluß der ſtändiſchen Unter-
ſchiede ſicher zu ſtellen, überhaupt der Bevölkerung ſo weit thunlich
entziehen. Die Revolution herrſchte im Gebiete des Geiſtes durch ihre
Ideen; im Gebiete des wirklichen Lebens konnte ſie nur durch die Macht
der örtlichen Verwaltung durchgeführt werden. Und ſo geſchah es, daß
die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft eben weil ſie durch die Vernichtung des
Rechts der ſtändiſchen Geſellſchaft zur Herrſchaft gelangte, dieſe Herr-
ſchaft auch nur durch Aufgeben ihres eigenen Rechts an die ſtaatlichen
Verwaltungsorgane erhalten konnte; denn jede Herrſchaft erhält ſich nur
durch die Mittel, welche ſie ſelbſt erzeugt haben.


[478]

Auf dieſe Weiſe iſt der tiefe, das ganze franzöſiſche Staatsleben
durchziehende Widerſpruch entſtanden, der es in ſo beſtimmter Weiſe
neben England und Deutſchland charakteriſirt. Es iſt das Land, in
welchem die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft herrſcht, ohne eine ihr ent-
ſprechende Selbſtverwaltung zu beſitzen
, ja in welchem die
Negation der letzteren als eine Bedingung der Herrſchaft der erſteren
erſcheint. Die franzöſiſche Revolution hat den ſocialen Inhalt der ört-
lichen Selbſtverwaltung total geändert, aber die Beziehung derſelben
zur Regierung beſtehen laſſen. Wir dürfen hier auf das verweiſen,
was wir bereits oben als den Geiſt der franzöſiſchen Selbſtverwaltung
bezeichnet haben, die Scheidung der Action, welche dem Beamtenthum
gehört, von der Deliberation, welche den Inhalt der franzöſiſchen Selbſt-
verwaltung bildet. Sie iſt dadurch nicht das Rechtsleben einer orga-
niſchen Entwicklung, ſondern der formelle Ausdruck eines abſtrakten
Princips geworden. Sie iſt ein Mechanismus, ſtatt ein Organismus
zu ſein. Sie iſt unfähig, die Beſonderheiten des wirklichen Lebens zur
Einheit zu geſtalten, ohne ſie zu zerſtören. Ihre örtliche Selbſtverwal-
tung beſteht nicht aus Rechtskörpern, ſondern aus Staatsanſtalten.


Eben deßhalb iſt dieſelbe zwar durchſichtig und klar genug, aber
ſie iſt kein lebenvolles Ganze. Jede Selbſtändigkeit des Theiles iſt der
Einheit zum Opfer gebracht; jeder Theil iſt ein mechaniſches Glied, und
die Darſtellung dieſer eigenthümlichen Verbindung vom freien Staats-
bürgerthum und herrſchender Staatsgewalt iſt daher, ſo wie man leitende
Prinzipien einmal erkannt hat, ſehr leicht auf ihre allgemein gültigen
Formeln auch in der örtlichen Selbſtverwaltung zurückzuführen.


Dieſe Principien ſind nun folgende. Die völlige Herrſchaft der
ſtaatsbürgerlichen Gleichheit macht den Gedanken eines hiſtoriſchen, dem
Willen der Geſetzgebung gegenüber ſelbſtändigen Rechts, und damit
einen auf dieſem Recht gebauten Unterſchied von Stadt und Land
unmöglich. Aus derſelben Quelle ſtammt der Grundſatz, daß Grund-
beſitz und gewerblicher Beſitz durchaus gleichartig ſeien, und mithin die
Theilbarkeit des erſtern jeden Unterſchied zwiſchen beiden, ſo fern der-
ſelbe noch den Elementen der ſtändiſchen Welt Vorſchub leiſten konnte,
vernichten müſſe. Stadt und Land bedeuten daher weder hiſtoriſch noch
ſocial verſchiedene Verwaltungskörper; ſie verſchwinden beide in dem
gemeinſamen Begriff eines Verwaltungsgebietes.


Sind ſie nun auf dieſe Weiſe weſentlich adminiſtrative Eintheilungen,
ſo iſt auch ihr Syſtem ein höchſt einfaches. Daſſelbe entſteht aus einer
adminiſtrativen Auftheilung der Departements, in denen man ſchon
ſelbſt kaum die Spuren der Landſchaft wiederfindet, in ein Syſtem von
in einander geſchachtelten Gebieten, welche die Grundbegriffe der örtlichen
[479] Verwaltung überhaupt, den Kreis und die Gemeinde nur in rein
adminiſtrativen Formen wiedergeben. Der Kreis iſt in Frankreich das
Arrondissement; die Ortsgemeinde iſt die Commune. Die Verwaltungs-
gemeinde mit den Aufgaben der Adminiſtration durch ſelbſtgewählte
Körper zu vollziehen und ſo die örtliche Selbſtverwaltung in die Hände
der Bürger zu legen, iſt durch die Geſchichte Frankreichs für die innere
Verwaltung unmöglich; ſie exiſtirt in kaum erkennbarer Form nur noch
für das Steuerweſen als Conseil général und d’Arrondissement, wäh-
rend der Canton mit ſeinem juge de paix nur eine Andeutung derſelben
für die Rechtspflege enthalten, weßhalb die Franzoſen über Werth und
Bedeutung des Cantons ſich auch durchaus nicht recht klar ſind, und
der damit ſo ganz in den Hintergrund tritt, daß man ſeiner nur bei-
läufig zu erwähnen pflegt.


Dieſem äußeren Syſteme entſpricht nun das innere, das Verhältniß
dieſer Selbſtverwaltungskörper zur Staatsverwaltung. Dieß innere
Syſtem hatte dem Obigen gemäß die Aufgabe, beide Elemente zu
vereinigen, und in dieſen Körpern einerſeits die Verwaltung des Staats,
andererſeits die freie Berechtigung des Staatsbürgerthums zur Geltung
zu bringen. Die franzöſiſche Staatsbildung löste dieſe Aufgabe auf
einem ſehr einfachen Wege, den wir ſchon bezeichnet haben, und der
das geſammte Verfaſſungsrecht jener Körper ausdrückt. Sie vertrat die
Macht der Staatsverwaltung dadurch, daß dieß vollziehende Organ
dieſer Körper unter keiner Bedingung von der Staatsbürgerſchaft ge-
wählt werden kann, ſondern von dem Haupte der vollziehenden Gewalt,
dem Kaiſer, eingeſetzt werden muß. Zweitens vertrat ſie dieſelbe dadurch,
daß dieſe ſo eingeſetzten Spitzen der örtlichen Verwaltungskörper unter
einander im dienſtlich-hierarchiſchen Verhältniß ſtehen, der Maire unter
dem Sous-Préfet, der Sous-Préfet unter dem Préfet, dieſer unter dem
Miniſter. Dadurch iſt aber keineswegs ein bloß hierarchiſches und for-
melles Verhältniß geſetzt, wie das zum Theil in den deutſchen Gemeinden
der Fall iſt. Dadurch nämlich, daß Maire und Sous-Préfet unter dem
Préfet ſtehen und dadurch in Wahrheit Beamtete ſind, ſind ſie auch
jeder andern als der amtlichen Verantwortlichkeit entzogen
.
Sie ſind nicht eigentliche Mitglieder der Gemeinde- und Kreisräthe,
ſondern ſie ſind das amtliche Haupt derſelben. Sie ſind daher nicht
den Räthen verantwortlich dafür, daß ſie ihre Beſchlüſſe überhaupt,
oder daß ſie ſie richtig vollziehen, ſondern ihre Verantwortlichkeit beſteht
nur gegenüber der höhern Behörde. Sie ſind daher nicht etwa
rechtlich verpflichtet, dieſe Beſchlüſſe wirklich auszuführen, ſondern ſie
ſind als Beamtete im Gegentheil verpflichtet, ſie nicht auszuführen,
wenn ſie fürchten, daß dieſelben mit ihren amtlichen Pflichten collidiren.
[480] Sie ſtehen deßhalb unter dem droit administratif und in letzter Inſtanz
unter dem Conseil d’État, nicht aber unter dem droit communal.
Zwiſchen der exekutiven Spitze und dem beſchließenden und berathenden
Körper der Selbſtverwaltung liegt daher dieſelbe Kluft, derſelbe Unter-
ſchied, dieſelbe Entfremdung, wie zwiſchen Staat und Individuum über-
haupt. Von einer Privatklage und bürgerlichen Verantwortlichkeit der-
ſelben iſt natürlich keine Rede; ſie gehören einer ſtaatlich ganz anderen
Welt, als die Räthe, deren Häupter ſie ſind. Das iſt das erſte Ele-
ment der örtlichen Selbſtverwaltung in Frankreich.


Das zweite Element derſelben, das an ſich freie Staatsbürgerthum,
tritt nun dem entſprechend nur in der Weiſe auf, die wir ſchon oben
bezeichnet haben. Es organiſirt ſich nur in Rathskörpern, den
Conseils des franzöſiſchen Syſtems. Die Funktionen dieſes Syſtems von
Conseils ſind gleichfalls ſchon angegeben. Die Conseils haben das Recht
zu beſchließen (décider), zu berathen (délibérer) und zu begutachten
(donner avis). Der Unterſchied zwiſchen dem Arrondissement und der
Commune beſteht nur darin, daß die Objekte dieſer Rechte etwas ver-
ſchieden ſind; und die Beſtimmung dieſer Objekte bildet dann eigentlich
die Verfaſſung der örtlichen Selbſtverwaltung.


1) Im Arrondissement zunächſt ſteht der Sous-Préfet an der Spitze.
„Il relève immédiatement du préfet, et ne peut se mettre en rapport
avec l’autorité centrale que lorsqu’il y est provoqué exceptionnelle-
ment par cette autorité.“
Er iſt daher gar nichts als ein Beamteter.
Aber er hat an ſeiner Seite den Conseil d’Arrondissement und das
Verhältniß beider iſt im Weſentlichen Folgendes.


Zuerſt ſteht der Sous-Préfet an der Spitze aller Maires als der
Ortsbehörden. Mit ihnen hat er die ordentliche Verwaltung des Rekru-
tirungsweſens, die letzte Entſcheidung in örtlichen direkten Steuerſachen,
ſein Gutachten in indirekten Steuerfragen; er hat die Oberaufſicht über
alle Communalkaſſen, über die Geldverwaltung der Maires, ſein Gut-
achten über alle, zur höhern Entſcheidung vorbereiteten Communalfragen.
Im Innern des Arrondissement iſt er Oberpolizeirichter, im Weſent-
lichen wie der Justice of the Peace in England. Er hat daher die
amtliche Gewalt, wo er es für gut findet, ein arrêté zu erlaſſen, gegen
welches aber keine Privatklage, ſondern nur die Beſchwerde an den
Préfet erhoben werden kann. Endlich iſt er Oberinſpektor aller öffent-
lichen Anſtalten ſeines Arrondissement, des Wegeweſens, der Irren-
häuſer, und Mitglied der nicht katholiſchen Kirchengemeinden, denen er
beizuwohnen hat.


Das Conseil d’Arrondissement, der Kreisrath, ſteht neben dem
Sous-Préfet. Es iſt der Form nach allerdings ein ſelbſtändiger Körper.
[481] Es ſoll nach dem Geſetz vom 28. Pluvioſe an VIII (17. Febr. 1800)
aus elf Mitgliedern beſtehen, deren weſentliche Aufgabe es war, die
Steuerangelegenheiten des Kreiſes zu ordnen. Jenes Geſetz trug große
Sorge, daß dieſer Rath nicht etwa zu einem wirklichen Selbſtverwal-
tungskörper werden möge. Zuerſt gab es der Regierung die Ernennung
der elf Räthe, dann ſollte der Rath nur einmal jährlich zuſammen-
treten, und ſeine Sitzung nur 15 Tage dauern. So weit er nicht mit
den Steuern des Staats zu thun hatte, ſollte er nur „exprimer son
opinion sur l’état et les besoins de l’arrondissement, et l’adresser
au Préfet.“
Eine eigene Kreisſteuer durch centimes additionnels beſaß
jedoch das Arrondissement nicht, die fiel unter das Departement. Das
ganze Inſtitut ſchien daher in der That ziemlich überflüſſig. Allerdings
gaben die Geſetze vom 22. Juni 1833 und 10. Mai 1838 dem Arron-
dissement
das Recht, die Conseillers ſelbſt zu wählen, aber ihre Funk-
tionen wurden nicht erweitert, ſo daß man im Jahre 1848 ſie lieber
ganz aufhob und den alten Canton an ihre Stelle ſetzte. Allein im
Grunde blieb das eine ſo rein formelle Aenderung, daß dieſe Beſtim-
mung nie zur Ausführung kam. Das Geſetz vom 7. Juli 1852 hat
ſie definitiv rehabilitirt, aber freilich ihren Charakter nicht geändert.


Der Rath wird demnach aus den Cantons als Wahlkörper gewählt,
jedesmal auf 6 Jahre. Seine Funktion iſt eine doppelte. Er ent-
ſcheidet
, aber nur über die Repartition der direkten Steuern unter den
Communen; dabei hat er ſelbſt die Vorſchriften des Conseil général zu
befolgen. Er beräth über die Reclamationen, die aus dieſer Repartition
entſtehen können. Er gibt ſein Gutachten über gewiſſe Punkte des
Wegeweſens, Häfen, Brücken, Märkte ꝛc., und kann endlich an den
Préfet durch ſeinen Präſidenten ſeine Anſichten über die Bedürfniſſe des
Kreiſes richten. — Das iſt ſeine Stellung; er iſt daher im Grunde nur
Verwaltungsgemeinde für die direkten Staatsſteuern, und zugleich für
das ganze Steuerweſen ein Steuerrath, aber als ſolche iſt er allerdings
von großem praktiſchem Nutzen, da er vorzüglich die Uebel des ſtabilen
Kataſters ausgleicht. Eine eigentliche Selbſtverwaltung findet natürlich
nicht ſtatt.


2) Der Canton war ſeiner urſprünglichen Idee nach wohl die eigent-
liche Kreisgemeinde. Allein die Nothwendigkeit einer allgewaltigen Ver-
waltung ließ ihn dem Amtsorganismus in Sous-Préfet und Maire gegen-
über zu mächtig erſcheinen, denn in der That war und iſt der Canton
das einzige Organ im ganzen Organismus Frankreichs, das keine Be-
amteten an ſeiner Spitze hat. Seine Funktionen werden daher faſt auf
nichts reducirt; er iſt nur noch eine Einheit von Gemeinden, die keinen
andern Zweck hat, als die Wahlen für den Conseil général und den
Stein, die Verwaltungslehre. I. 31
[482]Conseil d’Arrondissement vorzunehmen. Nur einmal in der ganzen
Geſchichte Frankreichs ſehen wir einen Verſuch, durch Entwicklung des
Canton der Selbſtverwaltung einen ſelbſtändigen Körper zu geben; es
iſt das die Conſtitution von 1848, welche einen Conseil de Canton an
die Stelle des im Grunde ganz amtlichen und höchſt beſchränkten Conseil
d’Arrondissement
ſetzen wollte, was aber niemals praktiſch ward. Der
Gedanke, ein von der Adminiſtration unabhängiges Organ aufſtellen
zu wollen, iſt eben mit der ganzen franzöſiſchen Entwicklung zu ſehr
im Widerſpruch, als daß er Erfolg haben könnte. Die Idee der Ver-
waltungsgemeinde in Frankreich erhielt ſich nur noch in dem franzöſiſchen
Juge de paix, den bereits das Geſetz vom 24. Auguſt 1790 einſetzte,
und deſſen Competenz der Canton iſt. Urſprünglich ward derſelbe ge-
wählt; aber ſchon Napoleon ſetzte die Ernennung an die Stelle der
Wahl durch Senatusconſult vom 16. Thermidor an X, und ſeit 1814
hat die Regierung jede Beſchränkung in dieſer Ernennung beſeitigt.
Wir fügen über die Competenz der franzöſiſchen Friedensrichter hier
nichts hinzu, da wir als bekannt vorausſetzen, daß derſelbe kaum eine
Aehnlichkeit mit dem engliſchen hat, und im Grunde nichts anderes iſt,
als ein urſprünglich der Wahl und damit der Selbſtverwaltung, und
dann der Ernennung und damit dem Amtsorganismus angehöriges
ſchiedsrichterliches Organ, deſſen Weſen und Werth rein in die Politik
der Rechtspflege fällt. Jedenfalls iſt er der entſcheidende Beweis, daß
in Frankreich keine Selbſtverwaltung möglich iſt. Wird ſie dort je
möglich werden? Die Organiſation der Ortsgemeinde gibt darauf die
entſcheidende Antwort.


3) Die Commune und der Maire.


Offenbar ſind die bisherigen Formen der örtlichen Selbſtverwaltung
in Frankreich nicht der Art, daß ſie dem Bedürfniß nach freier Theil-
nahme der Völker an der Vollziehung, das der Theilnahme an der
Bildung der Geſetze entſprochen hätte, genügen konnten. Das einzige
Gebiet, in welchem die große Frage noch einmal aufgeworfen werden
konnte, war das der Ortsgemeinde, der Commune.


In der That hat daher auch die Verfaſſung der Commune in
Frankreich ihre eigene Geſchichte. Der Verfaſſer hat verſucht ſie in ihren
Grundzügen darzuſtellen und ſie mit der Entwicklung der Geſellſchafts-
ordnung in Verbindung zu bringen. (Die Municipalverfaſſung Frank-
reichs. 1842. Franzöſiſch: De la Constitution de la Commune en
France par L. Stein. Traduit de l’allemand par M. S. E. V. le Grand.

1859.) Dieſe Geſchichte beginnt natürlich mit dem Entſtehen der com-
munalen Bewegung, welche der Verfaſſer bereits in ſeiner franzöſiſchen
Rechtsgeſchichte (Theil 3) zum Theil dargelegt hat. Die Geſchichte des
[483] franzöſiſchen Gemeindeweſens hat übrigens eine große und zum Theil
ausgezeichnete Literatur, die ihren Gegenſtand weit geiſtreicher und ein-
heitlicher behandelt als die Deutſchen den ihrigen. Es iſt nicht unſere
Sache, an dieſem Orte darauf einzugehen. Hier möge es mit Hin-
weiſung auf dieſe Schrift verſtattet ſein, den Gang der Dinge ſo kurz
als möglich zu charakteriſiren, um den gegenwärtigen Zuſtand, wie ihn
namentlich der Artikel: Organisation Communale im Dict. de l’administ.
von Block ſehr detaillirt aufführt, ohne ſich weiter auf den hiſtoriſchen
Bildungsproceß einzulaſſen, in ſeinem inneren Zuſammenhange mit dem
Obigen aufzufaſſen.


Es war bei den Bewegungen der franzöſiſchen Revolution auf den
erſten Blick klar, daß gerade in der Verfaſſung der Ortsgemeinde der
Gegenſatz der Principien, welche Frankreich bewegten, am deutlichſten
heraustreten mußte. Daher dann die leicht verſtändliche Erſcheinung,
daß jeder große Abſchnitt in jener Bewegung auch ſein eigenes Muni-
cipalrecht erzeugte, während die übrigen Organe ſich im Weſentlichen
gleich blieben. Die erſte Form war das Municipalrecht von 1789.
Es iſt die Gemeindeverfaſſung des noch jungfräulichen Gedankens der
Freiheit, und daher die freieſte Gemeindeordnung der ganzen franzöſiſchen
Geſchichte. Noch hat das Volk Vertrauen zu ſeiner Freiheit und zur
Kraft derſelben, ſich durch ſich ſelbſt erhalten zu können. Die Gemeinde
wählt ihren geſammten Vorſtand; dieſer beſteht aus dem Maire,
dem Bureau und dem Conseil (Bürgermeiſter, Magiſtrat und Gemeinde-
rath). Allerdings behält ſich die Staatsverwaltung die Polizei vor,
jedoch, da der Maire ſie ausübt, iſt ſie in der That faktiſch eine Ge-
meindepolizei. Die Auflöſung der centralen Gewalt, die den erſten
Bewegungen der Revolution folgte, hatte ihrerſeits natürlich zur Folge,
daß die ganze Verwaltung der Ortsgemeinde eine thatſächlich ganz
unabhängige ward. Und hier war es nun, wo allerdings die Gefahr
für die Herrſchaft der revolutionären Principien eine große ward. Die
Selbſtändigkeit der Commune bedrohte die Freiheit der Geſetzgebung.
Das Weiterſchreiten der Revolution erzeugte daher, was unter dieſen
Umſtänden nicht ausbleiben konnte. Die Schreckensregierung erſchien
auch in der Communalverfaſſung als Deſpotie der Freiheit. Statt der
municipalen Organe der Verfaſſung traten die Commissaires der Re-
gierung auf, und in den blutigen Stürmen von 1793 und 1794 ging
das geſetzliche Maß unter der Gewaltherrſchaft der Pariſer Principien zu
Grunde, bis endlich unter dem Direktorium die Mittelklaſſe unter dem
Wahlſpruch des Bedürfniſſes nach „Ordnung“ wieder ihre Herrſchaft
gewinnt. Daraus nun geht das Gemeinderecht von 1795 hervor. Dieß
Gemeinderecht iſt im Grunde nur die Organiſirung der Gemeinde-
[484] unfreiheit, die geſetzliche Unterwerfung unter die Ortsbehörde, die an die
Stelle der ungeſetzlichen tritt, welche bisher geherrſcht hatte. Mehr
wollte die kaum zur Beſinnung kommende Bourgeoiſie vor der Hand
nicht. Die neue Gemeindeordnung ſtellt daher zwei Principien auf,
von denen das erſte beibehalten wird, während nur im zweiten noch
eine weitere Entwicklung ſtattfindet. Zuerſt iſt der Maire, bisher der
bürgerliche Vorſtand der Gemeinde, von jetzt an ein von der Regierung
ernannter Beamteter, und das iſt er geblieben. Er iſt der Inhaber
und Träger des Elementes der Action, wie wir es früher ſchon bezeichnet
haben. „Il est chargé seul de l’administration active, et par conséquent
il nomme à tous les emplois communales, lorsqu’il n’y a pas une loi
spéciale sur une autre mode de nomination; il révoque les titulaires.“
(Laferrière Droit administr. L. II. T. II. Ch. III.)
— Er hat daher keine
Verantwortlichkeit gegenüber der Gemeinde, ſo wenig als irgend ein anderer
Beamteter. Er fällt nicht unter das Gemeinderecht, ſondern unter die
justice administrative. Dann aber wird ihm ein Gemeinderath
an die Seite geſtellt, der die örtlichen Angelegenheiten zu verwalten hat.
Aber dieſer Körper, den man ſchon damals die Municipalité nennt, wird
durch einen eigenen Commissaire du Gouvernement bewacht; das
Gouvernement behält ſich das Recht der Genehmigung und des Ver-
botes jedes Akts der Municipalité vor; es ſind ſchon hier die Grund-
lagen der ganzen Municipalverfaſſung aufs Deutlichſte ſichtbar, die
dann unter Napoleon ihre definitive Geſtalt erhalten. Das napoleoni-
ſche Gemeindegeſetz iſt vom Februar 1800. Der Grundzug dieſes Ge-
ſetzes iſt die, nunmehr ganz klar durchgeführte Scheidung der beiden
Elemente, der ſtaatlichen und der bürgerlichen. Der Maire iſt jetzt eine
Ortsbehörde im vollen Sinne des Wortes und das perſönlich der Re-
gierung verantwortliche Haupt der Verwaltung; neben ihm ſteht der
Gemeinderath, der Conseil municipal, der von jetzt an die Form der
Theilnahme des Bürgerthums an der Gemeindeverwaltung bildet. Das
Charakteriſtiſche iſt, daß damit definitiv in der franzöſiſchen
Municipalverfaſſung dasjenige verſchwindet, was wir den
Magiſtrat nennen
. An ſeine Stelle treten die Adjoints du Maire.
Das bedeutet, daß das Gemeindebürgerthum definitiv von der Theil-
nahme an der vollziehenden Gewalt auch innerhalb der Commune aus-
geſchloſſen iſt; die Adjoints werden von der Regierung ernannt wie der
Maire; es gibt von da an in Frankreich kein Gemeindeamt mehr,
ſondern nur noch Gemeinderäthe
neben der ſtaatlichen Orts-
behörde; ja die letztere empfängt ſogar eine amtliche Uniform; ſelbſt in
der äußeren Form iſt die Scheidung entſchieden, und von jetzt an hat
nur noch der Gemeinderath eine Geſchichte. Dieſe nun iſt einfach, aber
[485] in ihr ſehen wir auch für Frankreich den Satz beſtätigt, daß die Ge-
ſchichte der Gemeinde ſtets das Gegenbild der Verfaſſungsgeſchichte des
Staats bildet.


Napoleon, vor allen Dingen jeder Selbſtändigkeit abhold, ließ der
Gemeinde auch nicht einmal das Recht, jenen machtloſen Gemeinderath
zu wählen. In den Städten über 5000 Einwohner ernannte ſie der
Kaiſer, in den kleineren der Préfet. Allerdings ward darin eine leichte
Modifikation im Jahre 1802 vorgenommen. Allein im Weſentlichen
blieb die Sache dieſelbe. Die Gemeinde war damit nichts als ein amt-
licher Körper mit dem Conseil municipal als Vertretung; die Selbſt-
verwaltung war ganz aus Frankreich verſchwunden
. Die
Reſtauration fühlte ſich ihrerſeits nicht berufen, dieß Verhältniß zu
ändern. Sie behielt einfach die napoleoniſche Gemeindeverfaſſung bei;
ja ſie verſuchte ſogar, die ſtändiſchen Elemente in dieſelbe der Form
nach zurückzuführen. Freilich blieb das ohne Erfolg; aber ohne Erfolg
blieben auch die Beſtrebungen, wenigſtens den Gemeinderath und ſeine
Wahl der Bürgerſchaft zurückzugeben. Am 9. März 1828 antwortete
die Kammer auf die Thronrede vom 15. Februar: Pour asseoir sur
la véritable base l’édifice de vos libertés, Votre coeur paternel,
Sire, nous rendra ces institutions municipales, monuments de nos
anciennes franchises qui rappelle à la mémoire de Vos peuples ce
qu’ils doivent à Vos ancêtres.“
Es blieb umſonſt. Da kam die
Revolution des Jahres 1830. Es war die Revolution der mittleren
Claſſe gegen die andrängende Herrſchaft der ſtändiſchen Welt. Sie ſiegte;
in ihrem Gefolge mußte der Gedanke aufs Neue lebendig werden, daß
die Theilnahme des Bürgerthums am Staatsleben ohne eine Theilnahme
an der Gemeindeverwaltung keine vollſtändige ſei. Das Julikönigthum
mußte nachgeben. Es mußte ſich bequemen eine neue Gemeindeordnung
zu erlaſſen. Aber wenn es das Haupt der bürgerlichen Mittelclaſſe
war, ſo war es nicht weniger das Haupt der ſpecifiſchen franzöſiſchen
Verwaltung. Es fand daher die Gränze der Freiheit, welche es der
erſtern in der Gemeinde gab, in den Forderungen, die es der zweiten
zugeſtehen mußte. Und durch das Zuſammenwirken beider entſtand nun
die Grundlage der heutigen Municipalverfaſſung Frankreichs, die aus
den drei Punkten beſteht, welche als Reſultat der geſammten bisherigen
Entwicklung betrachtet werden kann. Erſtlich bleibt der Maire Be-
amteter; zweitens gibt es auch jetzt noch keinen Magiſtrat, keine
Gemeindebeamteten, ſondern die Stelle derſelben wird vertreten durch
die amtlichen Adjoints;drittens aber wird der Conseil municipal
von der Gemeinde gewählt. Das ſind die Grundſätze, welche zuerſt
das Geſetz vom 21. März 1831, dann das Geſetz vom 18—22. Juli
[486] 1837 durchführen. Die Baſis der Wahl iſt hier wie im Staate der
Cenſus, das charakteriſtiſche Merkmal der Herrſchaft der Bourgeoiſie.
Das erſte Geſetz von 1831 kann man als die Grundlage der Gemeinde-
verfaſſung, das zweite von 1837 als die Grundlage der Gemeinde-
verwaltung bezeichnen. Dieſe Grundzüge ſind bis auf den heutigen
Tag geblieben. Mit ihm iſt das Weſen der örtlichen Selbſtverwaltung
gegeben, und es iſt nicht ſchwer, das Einzelne in dieſem Rahmen anzu-
ordnen. Wir wollen verſuchen die beiden Hauptſeiten des Gemeinde-
lebens, das Verhältniß derſelben zur Regierung und das Verhältniß
zur wirklichen Verwaltung demgemäß kurz hervorzuheben.


Was das erſtere betrifft, ſo iſt es ein doppeltes, das Verhältniß
des Maire und das des Conseil municipal, welche zuſammen das Corps
municipal
bilden. Der vom Kaiſer bei größeren und vom Préfet bei
kleineren Communen ernannte Maire iſt zuerſt das Haupt der Commune;
il représente la communauté dans tous les actes qui la concernent,
il gérit les biens, il gérante ses intérêts, il pourvoit à sa police
locale
— außerdem aber iſt er Beamteter im Staatsorganismus: il est
agent du Gouvernement, officier de l’état civil, officier de police
judiciaire (Cod. d’Inst. civ. art. 9, 11—15, 50), juge de police (Cod.
d’Inst. civ. art. 166—171)
und juge administratif. Seine Entſchei-
dungen ſind daher arrêtés;er, und nicht die Gemeinde beſitzt das
Recht, Polizeiverordnungen zu erlaſſen, das ihm das Geſetz vom 18. Juli
1837 verliehen hat. Gegen dieſe arrêtés gibt es nicht wie in England
Klagen, ſondern nur Beſchwerden beim Préfet, in zweiter Inſtanz beim
Miniſter, in gewiſſen Fällen ſogar beim Conseil d’État. Der amtliche
Charakter des Maire iſt daher ein ganz unzweifelhafter, und durch ihn
iſt daher auch die ganze vollziehende Gewalt der Gemeinde, die Ver-
ordnungs-, Organiſations- und Polizeigewalt, in den Händen des Amts.
Die Adjoints des Maire ſind amtliche Magiſtratsräthe, deren ſpezielle
Beziehungen durch das Geſetz vom 5. Mai 1855 genau feſtgeſtellt ſind.
Auf dieſer Baſis iſt der Gemeinderath und ſeine Funktion leicht zu ver-
ſtehen. Der Conseil municipalentſcheidet über die Verwaltung des
Eigenthums der Commune; er beräth einerſeits das Gemeindebudget,
namentlich auch die Zuſchläge, welche endgültig erſt vom Préfet ent-
ſchieden werden, und zweitens namentlich die Communicationsangelegen-
heiten innerhalb der Gemeindegränze; er begutachtet endlich die
Verwaltung der öffentlichen Gemeindeanſtalten, und zwar ihre wirth-
ſchaftliche wie ihre eigentliche Verwaltung. In dieſen Grundſätzen des
Geſetzes von 1837 iſt nichts geändert worden. Seine Sitzungen ſind
nicht öffentlich, und der Maire hat das Recht, jede Verhandlung,
die nicht genau in ſeine Competenz fällt, für nichtig zu erklären. Das
[487] Geſetz vom 8. Mai 1855 hat hier ſehr ſcharfe Controle ausgeübt. Nur
Paris und Lyon ſind etwas freier. Das iſt das, was man in Frank-
reich Gemeindeverfaſſung nennt, und weßhalb die franzöſiſche Sprache
das Wort Selbſtverwaltung nicht einmal überſetzen kann. Und daraus
ergibt ſich dann auch das zweite Verhältniß. Damit nicht etwa außer-
halb
der Gemeinde eine Selbſtverwaltung durch Verwaltungsgemeinden
entſtehe, ſind alle örtlichen Verwaltungsgebiete nicht wie in England
ſelbſtändig, ſondern Theil der Gemeinde. Die Ortsgemeinde iſt
die Einheit der Aufgaben der Verwaltungsgemeinde. Dahin gehört
namentlich die kirchliche Verwaltung mit den Kirchen und Kirchhöfen,
die Schule, die freilich eigentlich nur unter dem Maire ſteht, die Com-
municationsmittel
, ſo weit ſie innerhalb der Commune liegen.
Das Armenweſen dagegen iſt unter den Bureaux de bienfaisance
wieder eine Staatsanſtalt, deren leitende Organe vom Préfet ernannt
werden, gerade wie die Krankenhäuſer; die Ordnung derſelben iſt durch
die Geſetze vom 31. Oktober 1821 und 8. Februar 1823 feſtgeſtellt.
Die ganze Summe der Rechte der Selbſtverwaltung iſt ſomit auf ihrem
eigenſten Gebiete der eigenen Thätigkeit des Staatsbürgerthums genommen
und von der erſteren iſt auch der örtlichen Selbſtverwaltung nichts übrig
geblieben, das an ſie erinnerte, als das Recht des Beſchluſſes über die
Verwaltung des Privateigenthums der Gemeinde, welcher ſelbſt noch
wieder unter der unbeſchränkten Genehmigung der amtlichen Stelle ſteht!


c) Deutſchlands Gemeindeweſen.

Vielleicht bei keinem Theile der ganzen Staatslehre entbehren wir
in der deutſchen Wiſſenſchaft ſo ſehr den freien, über die örtlichen
Gränzen und die innern Beſonderheiten des eigentlich deutſchen Rechts
hinausgehenden Blick, als in dem Gebiete, welches wir das deutſche
Gemeindeweſen nennen. Bei aller Sorgfalt, mit welcher auch einzelne
Theile dieſes Gebietes behandelt ſind, und bei allem Eifer für eine
freie Entwicklung deſſelben müſſen wir daher geſtehen, daß die Lehre
vom Gemeinderecht in der deutſchen Staatsrechtslehre der unvollkommenſte
und unklarſte Theil der letzteren, ja faſt ganz ohne freien innern Zu-
ſammenhang mit dem Leben des Volks aufgefaßt iſt, weßhalb denn
auch nirgends ein auch nur annähernd richtiges Bild deſſelben gegeben
iſt. Die ganze Gemeindelehre der deutſchen Theorie iſt in der That
nichts als die Darſtellung des ſtädtiſchen Gemeinderechts, und zwar auch
nur, ſo weit die verſchiedenen Stadtrechte unter einander und mit
dem Landgemeinderecht übereinſtimmen. Die einzelnen örtlichen Ver-
faſſungs- und Verwaltungsordnungen der Gemeinden ſind zwar trefflich
genug dargeſtellt; allein eine Reihe von Gründen, die ſich aus dem
[488] Folgenden ergeben werden, haben uns nicht zum Bewußtſein des deut-
ſchen gegenwärtig gültigen Rechts der Selbſtverwaltung gelangen laſſen.
Und dennoch iſt daſſelbe nicht bloß viel reicher wie das franzöſiſche und
ſelbſt das engliſche, ſondern in vieler Beziehung auch weiter fortge-
ſchritten. Nirgends iſt Deutſchland individueller geſtaltet als in ſeiner
örtlichen Selbſtverwaltung; aber nirgends iſt es auch unfertiger.
Und das erſcheint am beſten, indem man die Verhältniſſe deſſelben
zuerſt auf die drei obigen Kategorien zurückführt, den Kreis, die Ver-
waltungsgemeinde und die Ortsgemeinde, und dann das ſtaatliche und
das geſellſchaftliche Element in ſeinem Einfluß auf die Verfaſſung und
Verwaltung derſelben beſtimmt. Während darnach Englands örtliche
Selbſtverwaltung ihren Schwerpunkt in der Verwaltungsgemeinde und
ihrer juriſtiſchen und adminiſtrativen Selbſtändigkeit hat, Frankreich
dagegen die Verwaltungsgemeinde faſt ganz beſeitigt, und die örtliche
Selbſtverwaltung nur noch in der Beſchlußfähigkeit der örtlichen Räthe
erhält, liegt in Deutſchland das Hauptgewicht der örtlichen Selbſtver-
waltung in der Ortsgemeinde. Während ferner in England das Ge-
meindebürgerthum auf dem Grundbeſitze ruht, in Frankreich auf der
ſtaatsſteuerbaren Perſönlichkeit, erſcheinen dagegen in Deutſchland noch
ſtreng geſchieden die großen Gruppen und Rechte des ſtändiſchen und
des ſtaatsbürgerlichen Gemeindebürgerthums. Während daher England
keinen weſentlichen Unterſchied zwiſchen Stadt- und Landgemeinde an-
erkennt, und Frankreich gar keinen, iſt der Unterſchied beider eins der
großen Principien des deutſchen Gemeindeweſens, denn die Stadt er-
ſcheint als die Gemeinde der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, das Land
als die Gemeinde der Reſte der Geſchlechts- und ſtändiſchen Ordnung.
Während daher England zwiſchen ſeiner örtlichen Selbſtverwaltung und
der Staatsverwaltung kein anderes Mittelglied hat, als das des bür-
gerlichen und criminellen Gerichts, und Frankreich mit der unterſten
Stufe der Selbſtverwaltung, der Gemeinden, auch alle Mittelſtufen
einfach in den mechaniſchen Amtsorganismus des Departements auf-
nimmt, hat Deutſchlands örtliche Selbſtverwaltung höchſt eigenthümliche
Mittelorgane, die in den bei weitem meiſten Fällen nur dazu beſtimmt
ſind, dem von der Ortsgemeinde bewältigten, aber von ihm abgeſchie-
denen ſtändiſchen Elemente einen ſelbſtändigen Antheil an der Selbſt-
verwaltung zu geben. Eben dieſe ſtrenge Verbindung mit dem örtlichen
Recht und der örtlichen Geſtalt der deutſchen Selbſtverwaltung, die
meiſt auf geſchichtlichen Gründen beruht, hat es ſchließlich bewirkt, daß
in Deutſchland, trotz ſeines Princips der Selbſtverwaltung doch keine
Entwicklung der Verwaltungsgemeinde ſtattgefunden hat; während die-
ſelbe in England ganz ſelbſtändig dem Selfgovernment überlaſſen, in
[489] Frankreich aber als Funktion der amtlichen Organe mit dem Syſteme
der Conseils in zum Theil höchſt zweckmäßiger Weiſe verbunden iſt,
erſcheint ſie in Deutſchland faſt ausſchließlich als Aufgabe der ſtaatlichen
Verwaltung. So iſt dieſe örtliche Selbſtverwaltung Deutſchlands eine
höchſt individuelle Geſtaltung der letzteren. Die Elemente nun, welche
ſie dazu gemacht haben, ſind hiſtoriſche. Aber dieſe Elemente ſind
wieder in den verſchiedenen Ländern höchſt verſchieden geſtaltet. Ein
kräftiges einheitliches Leben hat es in Deutſchland trotz aller Phraſen
niemals gegeben. Jene Beſonderheiten der einzelnen Länder haben ſich
daher vollkommen frei entwickeln können. Jeder Staat in Deutſchland
erſcheint daher wieder mit ſeinem Syſtem der örtlichen Selbſtverwal-
tung. Jeder Staat hat wieder beſondere Geſetze, oft auch beſondere
Principien, oft beſondere Namen für das Gleiche, oft gleiche Namen
für das Ungleiche. Dennoch iſt die Grundlage eine gemeinſchaftliche
und gleichartige; alle dieſe Namen, Geſtaltungen und Rechte ſind zuletzt
doch Kinder Einer Mutter, und das Gefühl, daß ein gemeinſames Ge-
ſchick alle beherrſcht und gemeinſame Thatſachen allen zum Grunde
liegen, hat dieß Volk auch in ſeiner größten Zerfahrenheit und Unklar-
heit niemals verlaſſen. Und ſo muß die Wiſſenſchaft denn allerdings
und mit vollem Rechte den Begriff einer deutſchen örtlichen Selbſt-
verwaltung zum Grunde legen, und dabei verſuchen, die mannichfachen
Unterſchiede auf gemeinſame Kategorien und Thatſachen zurückzuführen.
Das iſt das Ziel des folgenden Verſuches.


Zu dem Ende iſt es nothwendig, die Elemente der örtlichen Selbſt-
verwaltung des vorigen Jahrhunderts, die in Deutſchland noch viel
mehr als in Frankreich die Grundlage des gegenwärtigen Rechts bilden,
ins Auge zu faſſen.


Auch in Deutſchland ſtand im vorigen Jahrhundert das Syſtem
der ſtändiſchen Selbſtverwaltung dem Syſteme der ſtaatlichen Verwal-
tung gegenüber, wie wir es ſchon früher bezeichnet haben. Nur war
ein großer Theil Deutſchlands eben nichts anderes, als eine Menge zur
Souveränetät gelangter Ortsgemeinden, theils adliche Herrſchaften, theils
geiſtliche Beſitzungen, theils Städte. Jede dieſer unmittelbaren Orts-
gemeinden hat ihre eigene Verfaſſung; ſie kommen vor der Hand für die
Staatenbildung nicht in Betracht. Die größeren Territorien dagegen zeigen
uns unter verſchiedenen Namen im Grunde dieſelben Kategorien. Der ſtaat-
liche Organismus erſcheint in Landesregierung und Amtmannſchaft, der
Selbſtverwaltungsorganismus in der Landſchaft, der Stadtgemeinde und
der Herrſchaft. Ordnung und Recht der letzteren, obwohl vielfach von der
amtlichen Verwaltung durchbrochen, ſind dennoch hiſtoriſch unzweifelhaft.
Es iſt das Bild der ausgeprägten ſtändiſchen Selbſtverwaltung.


[490]

In dieſen Zuſtand tritt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft des neun-
zehnten Jahrhunderts zunächſt als Princip hinein. Sie wird nicht zur
alleinherrſchenden Thatſache wie in Frankreich; ſie iſt nur eine, wenn
auch gewaltige Forderung der lebendigen Zeit. Es iſt nicht möglich,
ſie ganz abzuweiſen, ohne die edelſten Elemente der Entwicklung zu
vernichten; es iſt nicht möglich, ſie zur vollen Geltung gelangen zu
laſſen, ohne das Recht und den Beſitz der ſtändiſchen Elemente wie in
Frankreich gewaltthätig zu brechen. Dennoch iſt ein Fortſchritt noth-
wendig. Er geſchieht, indem eine Ordnung gefunden wird, welche in
Verfaſſung und Verwaltung beide Elemente in eigenthümlicher Weiſe
verſchmilzt, und damit ein Syſtem der Selbſtverwaltung erſchafft, das
auf den erſten Blick als Uebergangszuſtand erſcheint. Die Grundzüge
dieſes Zuſtandes ſind bei aller formellen Verſchiedenheit ſich weſentlich
in allen deutſchen Staaten gleich; doch iſt zwiſchen Norden und Süden
der Unterſchied am deutlichſten bemerkbar. Nur müſſen wir, um das
ganze Syſtem klar zu machen, einige bereits früher berührte Punkte
wiederholen.


In der That nämlich iſt in Deutſchland zwar der Gedanke einer
conſtitutionellen Verfaſſung auf Grundlage des Staatsbürgerthums
weit genug fortgeſchritten, aber es fehlt ihm der materielle Körper, das
gewerbliche Kapital. Es wird für das innere Recht Deutſchlands ent-
ſcheidend, daß die Hauptform des Beſitzes noch immer der Grundbeſitz
iſt. Das Deutſchland des Anfanges unſeres Jahrhunderts iſt bekanntlich
gar nicht zu vergleichen mit dem gegenwärtigen. Handel und Induſtrie
liegen darnieder, das Gewerbe iſt unfrei; die perſönliche Thätigkeit iſt
von engſten Schranken umgeben; alles was der Reichthum an materieller
und geiſtiger Macht geben kann, iſt daher in den Händen der Grund-
herren. Eine Beſeitigung ihrer Herrſchaft, ja eine Zurückſchiebung der-
ſelben iſt kaum denkbar. Das iſt daher die thatſächliche Grundlage,
auf welcher die neuen Verfaſſungen entſtehen. Die gegebenen Verhält-
niſſe machen es faſt unmöglich, etwas anderes zu thun, als die alten
Landſtände ins Leben zu rufen, und ihnen die Rechte der ſtaats-
bürgerlichen Volksvertretung zu übertragen
. So beruhen
dieſelben in ihrer Zuſammenſetzung auf dem ſtändiſchen, in ihren Rechten
auf dem ſtaatsbürgerlichen Princip. Doch beſteht dabei der Unterſchied,
daß im Norden das erſte Element, im Süden das zweite vorwiegt.
Allein im Süden wie im Norden entſteht nun die Frage nach dem
Verhältniß des neuen Staatsbürgerthums zu der örtlichen Verwal-
tung. In der landſtändiſchen Verfaſſung muß dieß Staatsbürgerthum
dem ſtändiſchen Elemente um ſo mehr unterliegen, als das letztere faſt
allenthalben mit der Staatsverwaltung in engſte Verbindung tritt. Es
[491] iſt noch mächtig genug, ſich und ſeine Intereſſen die letztern unterzu-
ordnen, und es iſt keine Hoffnung, ohne gewaltſame Bewegungen hier
dem ſtaatsbürgerlichen Princip ſeine Geltung zu verſchaffen. Daraus
entſteht dann nun die Richtung, welche für das ganze Leben der deut-
ſchen Selbſtverwaltung entſcheidend geworden iſt. Mit richtigem Takt
erkannte daſſelbe, daß die eigentliche Heimath der jungen ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft die Stadt ſei. Der Gedanke, die Verwaltung für
die erſtere zu gewinnen, mußte daher conſequent zu dem Streben führen,
die Verfaſſung und Verwaltung der letzteren auf Grundlage des Staats-
bürgerthums, ohne Zulaſſung der ſtändiſchen Unterſchiede, ihrer Rechte
und Forderungen zu errichten. Die Städte hatten ja ohnehin ſo gut
wie die Landſchaften das Recht ihrer eigenen hiſtoriſchen Verfaſſung; ſie
waren in Deutſchland wie in Frankreich der dritte Stand, nur mit dem
allerdings weſentlichen Unterſchiede, daß in Frankreich der tiers état
gleich beim Beginne der Revolution das Staatsbürgerthum bedeutet,
während in Deutſchland der dritte Stand nur als die Geſammtheit der
Städte, und das Recht derſelben als das Recht auf örtliche Selbſtver-
waltung auftritt. Aber dieß Recht hatten ſie eben behalten; man
konnte es ihnen um ſo weniger nehmen, als viele Städte ja jetzt erſt
Theile eines Staats wurden. Hier war es daher, wo die Ideen, die
Forderungen und die Formen des Staatsbürgerthums zuerſt Wurzel
ſchlugen. Mit dem Anfange des Jahrhunderts tritt daher der Gedanke
auf, daß die Städte die eigentlichen Gemeinden ſeien, weil
ſie in der That die einzigen ſtaatsbürgerlichen Gemeinden ſein
konnten. Daran ſchloß ſich eine Reihe von Erſcheinungen, die ent-
ſcheidend einwirkten. Das Gemeinderecht ward faſt identiſch mit dem
ſtädtiſchen Recht. Die Stadtgemeinden wurden die Heimath der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft, wie ſie die Heimath des gewerblichen Beſitzes
waren; da in der landſtändiſchen Verfaſſung die Gleichheit der Staats-
bürger nicht zur Geltung kommen konnte, ſo warf ſich die geiſtige und
materielle Bewegung mit um ſo größerer Entſchiedenheit auf die ſtäd-
tiſche Verfaſſung; das ſtädtiſche Leben ward für Theorie und Praxis
das Vorbild des künftigen Staatslebens, und die alte, durchaus ein-
ſeitige Ariſtoteliſche Vorſtellung, als ſei die Gemeinde das Vorbild des
Staats, gewann plötzlich die allgemeinſte Anerkennung, obgleich das
Vaterland der Selbſtverwaltung, England, die Stadtgemeinde durchaus
nicht als Baſis der letzteren betrachtete. Man kannte aber England
nicht, und bewegte ſich auf dem engern deutſchen Lebensgebiet. Daher
denn kam es, daß, was nur in Deutſchland möglich war, die Gemeinde-
verfaſſung als ein organiſches Glied der Staatsverfaſſung betrachtet,
und in den meiſten Verfaſſungsurkunden daher auch wirklich mit auf-
[492] genommen ward; die Gemeindeverfaſſung ſollte eben das Vorbild des
Sieges der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die noch herrſchenden
Reſte der ſtändiſchen ſein. Daher kam es endlich, daß die preußiſche
Städteordnung von 1808 nicht bloß ganz Deutſchland als etwas hoch-
bedeutendes erſchien, ſondern auch wirklich hochbedeutend war. Sie
war eben die erſte verfaſſungsmäßige Anerkennung der Rechte und Ord-
nungen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Norden Deutſchlands; es
war der erſte Sieg, den ſie, in Verbindung mit der ihr entſprechenden
Gewerbefreiheit, im öffentlichen Rechte erfochten, gleichſam eine verfaſ-
ſungsmäßige Burg gegenüber den ſtändiſchen Ordnungen und der Amts-
gewalt, welche im innigen Vereine nach innen das ganze übrige Staats-
leben beherrſchten. Um dieſe Verfaſſung erhob ſich nun der Kampf beider
Elemente; man fühlte, daß man bei ihr als einem Anfange nicht ſtehen
bleiben könne; die Principien, die für ſie galten, mußten entweder zu
Grunde gehen, oder allgemein werden. Es iſt das dreizehnte und vier-
zehnte Jahrhundert des Städteweſens, nur in einer andern Form; und
es iſt verzeihlich, daß man darüber alle andern Gebiete und Formen
der Selbſtverwaltung vergaß, obwohl nichts verkehrter war, als die
Stadtverfaſſung überhaupt mit der Gemeindeverfaſſung zu identificiren.


Denn während in den Städten allerdings der ſtaatsbürgerliche
Begriff der Gemeinde zur Geltung gelangte, blieb das Land in ſeiner
alten Verfaſſung. Die Geſchichte der Landgemeinde iſt neben der der
Stadtgemeinde noch nicht geſchrieben. Ihre Elemente ſind in Deutſch-
land zu eigenthümlich, als daß wir ſie hier nicht beſonders darlegen
ſollten.


Wir haben früher die beiden hiſtoriſchen Begriffe von Dorfſchaft
und Herrſchaft aufgeſtellt. Beide Begriffe bleiben von entſcheidender
Wichtigkeit, aber ſie müſſen gerade auf dem Lande mit dem dritten
großen Faktor in Verbindung gebracht werden, dem Amtskörper.
Schon im Beginne dieſes Jahrhunderts gibt es keine reine Dorfſchaft
und keine reine Herrſchaft mehr. Der amtliche Organismus des Staats
hat ſich über beide ausgebreitet. Er hat auf allen Punkten diejenigen
Verwaltungsaufgaben, welche ſich über eine Mehrheit von Dorf- oder
Herrſchaften ausdehnen, in ſeinen Bereich gezogen. Indem er die rein
örtliche Competenz jener Körper anerkannte, hat er ſie auf das Aeußerſte
beſchränkt, und ſich zum Organ jeder allgemeinen Verwaltungsange-
legenheit gemacht. Während daher in England die freien Grundbeſitzer
die Verwaltungsgemeinden mit Selbſtbeſteuerung ſchufen, tritt in Deutſch-
land das Amt an die Stelle der Verwaltungsgemeinde,
und damit die Staatsbeſteuerung an die Stelle der Selbſt-
beſteuerung
. Das iſt von höchſter Bedeutung geworden, und hat
[493] bis jetzt nicht günſtig gewirkt. Denn dieß Recht des Amtskörpers nimmt
gerade den kleineren Gemeinden, deren örtliche Thätigkeit eine höchſt
untergeordnete iſt, im Grunde jede wirkliche Selbſtverwaltung; die
letztere ſinkt, ſelbſt wo eine Dorfſchaft oder Herrſchaft ſie beſitzt, faſt
zu einem leeren Wort herab, da keine bedeutende Angelegenheit inner-
halb ihrer örtlichen Competenz ausgetragen werden kann, und daher
dem Amte anheim fällt. Die erſte, die Verwaltung des flachen Landes
beherrſchende Thatſache beſteht deßhalb darin, daß die erſtere durch den
Amtskörper der Selbſtverwaltung ohne Rückſicht auf die Gemeinde-
ordnung von Dorfſchaft und Herrſchaft in allen irgend wichtigen Dingen
entzogen iſt, mögen jene eine freie oder unfreie ſein. Und dennoch
hatte dieß Verhältniß ſeinen ſehr guten Grund. Denn die Verhältniſſe
der Dorfſchaften und Herrſchaften waren innerlich und äußerlich ſo
verſchieden, daß hier von einer Gemeindeordnung im Grunde gar nicht
füglich die Rede ſein konnte. Durch die neue deutſche Staatenbildung
war nämlich in die Kategorien der Herrſchaften ein zweites Element
hineingebracht. Das waren die Standesherrſchaften, die bis zum
Untergang des deutſchen Reiches ſouverän, jetzt Theile der neuen Staaten
geworden waren. In dieſen war nicht einmal eine völlige Unterordnung
unter den Amtskörper recht möglich, viel weniger eine Gemeindever-
faſſung nach dem Muſter der ſtädtiſchen Ordnung, in welcher der früher
ſouveräne Standesherr jetzt auf gleiche Stufe mit dem unfreien, noch
zehentpflichtigen Interſaſſen geſtellt worden wäre. Es erſchienen ſomit
jetzt neben dem ſtädtiſchen Gemeindekörper noch drei weſentlich verſchie-
den geartete Körper auf dem flachen Lande. Der erſte war die Dorf-
ſchaft
mit freien Bauern allerdings zu einer Gemeindebildung fähig,
aber materiell zu klein und geiſtig zu beſchränkt, um eine ſolche recht
möglich zu machen. Der zweite war die Herrſchaft, welche zwar ein
Verwaltungskörper, nicht aber eine Gemeinde war, denn die Rechte der
Verwaltung gehörten nicht den Inſaſſen, ſondern dem Herrn, der ja
Grundeigenthümer des Ganzen war; die Inſaſſen, in den meiſten
Fällen noch zu lehensrechtlichen Frohnden und Zehnten an den Herrn
verpflichtet, waren keine Gemeindebürger, und konnten es auch nicht
ſein, ſo lange ihr Grundbeſitz ihnen nicht frei angehörte. Der dritte
war die Standesherrſchaft, welche meiſtens einen größeren Com-
plex umfaßte, und ihrerſeits wieder aus Dorfſchaften und Herrſchaften
zugleich beſtand. Dieſe verſchiedenen Formen, meiſt auch örtlich in ein-
ander und durch einander geſchoben, bedurften nun aber für ihre ge-
meinſamen Angelegenheiten eines gemeinſamen Verwaltungskörpers;
und dieſer Verwaltungskörper war eben das Amt. Das deutſche Amt
unterſcheidet ſich daher weſentlich von dem engliſchen und franzöſiſchen;
[494] das erſte, der Friedensrichter, iſt wie geſagt, eine Sicherheitspolizei-
behörde und ein Gericht, das zweite das Arrondiſſement, ein Körper
für ihm gleichartige, aber untergeordnete Amtskörper, die Communes,
das deutſche dagegen ein amtliches Verwaltungsgebiet mit lauter örtlich
ſelbſtändigen, aber eng begränzten und wie gezeigt, durchaus verſchieden
gearteten Selbſtverwaltungskörpern. Daſſelbe bildet demnach das zweite
Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung, dasjenige, was man die länd-
liche Selbſtverwaltung nennen kann; es ſteht neben dem erſten, der
Stadtgemeinde; jenes der Träger der Reſte der Geſchlechter- und Stände-
ordnung, dieſe der Verwaltungsorganismus der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft; dabei iſt die Einheit der erſteren überhaupt nicht einmal mehr
ein Selbſtverwaltungskörper, ſondern ein Amt. In dieſem Zuſtande iſt
nun offenbar von einem Gemeindeweſen nur in einem ſehr unbeſtimmten
Sinne die Rede; es wird nunmehr erklärlich, wie der Begriff der Ge-
meinde ſich faſt allenthalben mit der Stadtgemeinde zu identificiren
vermochte. Aber eben ſo klar iſt es, daß dieſe Verhältniſſe nicht dauern
konnten. Die große ſtaatsbürgerliche Bewegung, kaum in den Städten
zu eigener Verfaſſungsform kryſtalliſirt, mußte nothwendig jene Ordnun-
gen des flachen Landes allmählig durchdringen, und wirkliche Gemeinde-
bildungen daſelbſt erzeugen. Und ſo entſteht die Bewegung, welche wir
als die Bildung der Landgemeinde und der Kreisgemeinde be-
zeichnen, und in der wir die wahre, aber von der Theorie gegenüber
der bereits im Weſentlichen fertigen Stadtgemeinde nur zu wenig be-
achtete Geſchichte der Entwicklung der örtlichen Selbſtverwaltung und
des ſyſtematiſchen Gemeindeweſens zu ſuchen haben. Der Inhalt dieſer
Geſchichte iſt das Streben, die Grundſätze der Stadtgemeinde für die
Landgemeinde zur Geltung und dadurch die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft
auch im Gebiete des Grundbeſitzes und der hiſtoriſchen Rechte der
ſtändiſchen Ordnung zum Siege zu bringen. Dem treten die Intereſſen
des erſteren und die Principien des letzteren entgegen. So entſpinnt
ſich ein Kampf, der noch weit davon entfernt iſt, ausgetragen zu ſein,
und in welchem daher der gegenwärtige Zuſtand der deutſchen örtlichen
Selbſtverwaltung als eine beſtimmte Entwicklungsepoche angeſehen wer-
den muß. Dieſer Kampf hat in jedem Lande ſeine eigene Geſtalt, die
theils von der materiellen Macht der ſtändiſchen Elemente, theils auch
von dem Geiſte der Regierung beſtimmt iſt. Es iſt ſehr ſchwer, ſie im
Einzelnen wiederzugeben; es würde das eine ſehr weitläufige Arbeit
werden. Aber die Grundzüge des ganzen Ganges der Dinge ſind eben
ſo klar als gleichartig; man wird ihre Richtigkeit am beſten erkennen,
wenn man die Ordnung des Gemeindeweſens der einzelnen Länder da-
mit zuſammenhält. Sie beſtehen in Folgendem.


[495]

Der erſte Moment in dieſer Entwicklung iſt das Verhältniß der
Verfaſſungen der neuen deutſchen Staaten zu dem allgemeinen Be-
griff der Gemeinde in den Rechten des Gemeindeweſens. Allerdings
hatte der deutſche Bund nach Form und Inhalt dem Bedürfniß nach
einer ſtaatsbürgerlichen Verfaſſung nur durch das Verſprechen von
„landſtändiſchen Verfaſſungen“ entſprochen. Allein die Natur der Sache
machte ſie da, wo ſie exiſtirten, bald zu eigentlichen Verfaſſungen; das
ſtaatsbürgerliche Element beſiegte allenthalben das ſtändiſche, und die
natürliche Folge war daher, daß dieſe Verfaſſungen allenthalben die
Einführung des ſtaatsbürgerlichen Gemeindeweſens, und zwar als die
natürliche Grundlage ihres eigenen Beſtandes, vorſchrieben. Mit Aus-
nahme der preußiſchen Stadtordnung von 1808 ſind daher die neuen
Gemeindeordnungen alle erſt mit den Verfaſſungen ſelbſt be-
gründet
, und nur Ausführungen der Grundſätze der Verfaſſungs-
urkunden über das Gemeinderecht. Die Gemeindeordnungen gruppiren
ſich daher wie die Verfaſſungsurkunden zuerſt um das Jahr 1820.
Unter allen iſt das württembergiſche Gemeindeweſen ausgezeichnet.
Die Verfaſſungsurkunde ſprach den theoretiſchen Satz zuerſt aus, daß
„die Gemeinde die Grundlage des Staats ſei“ (§. 62); die Elemente
des Rechts waren erſtlich, daß die Gemeinde ihre Rechte durch ſelbſt-
gewählte Vertreter auf Grundlage der Geſetze zu verwalten, dann daß
der Staat die Oberaufſicht habe (§. 65). Das Verwaltungsedikt vom
1. März 1822 beſtimmte dann nach langem Kampfe, welches die Rechte
der Regierung gegenüber der Gemeinde ſeien, namentlich die Punkte,
in welchen die Genehmigung der Regierungsbehörden nothwendig ſei.“
(Mohl, Württemb. Verwaltungsrecht II, S. 131. ff.) Großh. Heſſen,
Verfaſſungsurkunde §. 45. Coburg, Verfaſſung von 1821, Th. IV.
Bayern hat bekanntlich ſeine Gemeindeverfaſſung durch das Edikt vom
17. Mai 1818 geordnet, und in ſeiner Verfaſſung von 1818 darauf
als ein fertiges hinweiſen können, während Coburg a. a. O. nur das
Verſprechen einer Gemeindeordnung gab. Dann kommt das Jahr 1830,
wo entweder ſelbſtändige Gemeindeverfaſſungen gegeben werden, da die
alte Verfaſſung beſtehen bleibt, wie in Baden, Geſetz 31. Dec. 1831,
oder als die Gemeindeordnung in ihren Grundſätzen unmittelbar in der
Verfaſſungsurkunde erſchienen, wie in Kurheſſen, Verfaſſung 1831,
Abſchnitt IV, oder gar vollſtändig wie in Sachſen-Altenburg,
Abtheil. III,Braunſchweig, Capitel III,Hannover, Capitel IV,
Sachſen-Meiningen, §. 19. — oder wo endlich, wie im Königreich
Sachſen und Bayern (1834) ganz ſelbſtändige Gemeindeordnungen
erlaſſen werden — (nach dieſen Angaben iſt ZöpflII, §. 422. 1. zu
berichtigen) — theils um das Jahr 1848, wo wir mit den Verfaſſungen
[496] zugleich Gemeindeordnungen entſtehen ſehen, wie in Oeſterreich, Preußen,
Oldenburg, — oder weſentliche Aenderungen derſelben erſcheinen, über
deren Bedeutung wir ſogleich zu reden haben werden. Die Bedeutung
dieſer Thatſache liegt nun darin, daß die Gemeindeordnungen damit
gleich anfangs als Ausdruck derſelben Richtung auftreten, welche die
Verfaſſung ſelbſt erringt — das Vorwärtsſchreiten der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft. Durch den Anſchluß der Gemeindeordnungen an die Ver-
faſſungen entſtehen daher in ganz Deutſchland zwei ganz allgemeine
Arten von Gemeinderechten, das hiſtoriſche und das verfaſſungsmäßige.
Das erſte hat ſeinen Sitz im Norden, das zweite im Süden; das Jahr
1830 iſt der Zeitpunkt, wo der Sieg des letzteren über das erſtere ent-
ſchieden wird; faſt nur Preußen und Oeſterreich weigern ihren Ländern
mit der Verfaſſung zugleich die neue Gemeindeordnung, bis mit 1848
auch dieſe Hauptſtaaten beides zugleich geben. Und ſo iſt das geſammte
Gemeinderecht jetzt wenigſtens dem Princip nach ein verfaſſungsmäßiges.


Aber zunächſt allerdings auch nur dem Princip nach. Denn wäh-
rend das Gemeinderecht in den Städten ſehr leicht durchgeführt werden
konnte, tritt auf dem flachen Lande die herrſchaftliche Abhängigkeit des
Bauern in Zehent, Frohn und Obereigenthum mit ſeinen Dienſtbar-
keiten ihm entgegen. Das Gemeinderecht der neuen Zeit iſt nicht denkbar
ohne die perſönliche Unabhängigkeit des einen Gemeindegliedes von dem
andern. Die aber beſteht hier nicht; der Gutsherr iſt noch immer
wirklicher Herr; ſein Recht iſt unbeſtritten; ihm gegenüber tritt das
Princip der freien Gemeindebildung, und jetzt beginnt jene merkwürdige
Bewegung, welche eigentlich als die entſcheidende für das innere Leben
Deutſchlands angeſehen werden muß. So lange jene perſönliche, wenn
auch nur noch in wirthſchaftlicher Form beſtehende Abhängigkeit des
Bauern vom Herrn exiſtirt, iſt ein Gemeinderecht unmöglich. Ihre Be-
ſeitigung iſt die erſte Bedingung des letzteren; ſelbſt die Verfaſſung
kann ohne die letztere nicht für die Gemeinde durchgeführt werden.
Dieſe Beſeitigung aber iſt die Grundentlaſtung. Es iſt unmöglich,
die Grundentlaſtung ohne das Gemeinderecht erklären zu wollen — das
einzige, was wir dem ſo fleißigen Werke Judeichs vorwerfen möchten
— und es iſt unmöglich, die Gemeindeverhältniſſe und namentlich die
Langſamkeit in der Entſtehung der Landgemeindeordnungen ohne den
Mangel der Grundentlaſtung zu verſtehen, weßhalb die Darſtellungen
des deutſchen Staatsrechts, wie Zachariä und Zöpfl, für dieſe innere
Entwicklungsgeſchichte deſſelben gänzlich unbrauchbar ſind. So wie ein-
mal der Grundſatz ausgeſprochen war, daß die Gemeinde überhaupt
auf Grund der Selbſtverwaltung geordnet ſein ſolle, mußte die Frage
nach der Grundentlaſtung für die Landgemeinde unabweisbar in den
[497] Vordergrund treten. Denn die Grundentlaſtung iſt es erſt, welche
das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Landgemeinde
geſchaffen hat
. Daher denn die ganz naturgemäße Erſcheinung, daß
die Grundentlaſtung mit der Verfaſſungsbildung gleichen Schritt hält,
aber freilich in der Weiſe, wie es ſich nunmehr von ſelbſt verſteht, daß
ſie erſt zur wirklichen Ausführung gelangt, wo die Volksvertretung
den Charakter der Ständeordnung verliert und eine ſtaatsbürgerliche
(repräſentative ſagt man, als ob die Stände nicht eben ſo gut etwas
repräſentirten) wird. Erſt durch ſie iſt dann die oben bezeichnete Be-
wegung — bis auf Einen Punkt — abgeſchloſſen, welche die Principien
der Stadtgemeinde in den Landgemeinden zur Geltung bringen will.
Die Unterſchiede in der Grundentlaſtung werden dadurch zum Ausdruck der
Anerkennung des ſtaatsbürgerlichen Princips für die länd-
lichen Verhältniſſe in dem Grundbeſitz
. Dadurch gewinnt
die Darſtellung des letztern Geſtalt; und es liegt, nahe die Lehre von
den Reallaſten als die weitere Erfüllung deſſelben Verhältniſſes zu
erkennen. Offenbar hätte Friedlieb in ſeiner „Rechtstheorie der Real-
laſten,“ die Judeich in ſeiner Grundentlaſtung mit großem Unrecht nicht
benützt hat, durch die Verbindung derſelben mit der Geſchichte der
Landgemeinde viel mehr gewonnen als durch die juriſtiſche Unterſuchung
der Geßler’ſchen Theorie und der Frage nach Dinglichkeit oder Nicht-
dinglichkeit, obwohl übrigens die ſchöne Arbeit jedenfalls als ein weſent-
licher Fortſchritt in der freieren, hiſtoriſchen Auffaſſung anzuſehen iſt;
denn es iſt kein Zweifel, daß Landgemeinde, Grundentlaſtung und Real-
laſt künftig ihre wahre Erklärung nur durch die Entwicklungsgeſchichte
des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft innerhalb des Grund-
beſitzes finden werden. Zunächſt aber ergibt ſich, daß die Geſchichte
der Grundentlaſtung dieſelben Hauptepochen hat, wie die der Verfaſſun-
gen und Landgemeindeordnungen. Wir müſſen die Darſtellung derſelben
in die innere Verwaltungslehre verweiſen, und bemerken nur hier, daß
die meiſten Staaten die Grundentlaſtung im Princip nach 1820 und
1830 anerkennen, aber erſt nach 1848 wirklich ausführen — eine den
obigen Folgen vollkommen entſprechende Thatſache. Das was ſie her-
vorruft, iſt aber das ſelbſtändige Gemeindebürgerthum der Land-
gemeinde; und damit ſcheint jetzt durch die Aufhebung des Unterſchiedes
zwiſchen Land- und Stadtgemeinde das Gemeindeweſen Deutſchlands
in juriſtiſcher und ſocialer Beziehung ein gleichartiges geworden zu ſein.


Dennoch war das nicht der Fall. Die Freiheit der Verwaltung,
welche die Stadtgemeinden genoſſen, einerſeits, und die geſellſchaftliche
Gleichſtellung aller Gemeindekörper andererſeits, hatten die alte Ariſto-
teliſche Idee, daß der Staat eine Einheit von Gemeinden ſei, zu einem
Stein, die Verwaltungslehre. I. 32
[498] ſtaatsrechtlichen Princip erhoben. Aus dieſem Princip ging dann der
Satz hervor, daß jeder Staatsangehörige „Mitglied irgend einer Ge-
meinde ſein müſſe,“ wobei man ſich aber, ohne es genau zu definiren,
die Ortsgemeinde dachte. Natürlich bedeutete dieſer Satz ferner, daß
dieſe Mitglieder auch weſentlich gleich in Rechten und Pflichten ſein
müßten, und daß ſie bei der Vertheilung der Gemeindelaſten ſich die
Majorität ihrer Mitbürger zu unterwerfen haben. Das war in der
Stadtgemeinde eben ſo einfach als natürlich. Allein in einer großen
Zahl der Landgemeinden war die Sache anders. Hier war ein ſo großes
materielles Mißverhältniß zwiſchen den kleinen, eben erſt von der Ab-
hängigkeit befreiten, und zum größten Theil noch unter der Grundent-
laſtung ſtehenden Bauern und dem frühern Gutsherrn, deſſen Grund-
beſitz in vielen Fällen der Geſammtheit aller bäuerlichen Grundſtücke
gleichkam, daß eine Gleichheit der Rechte und Pflichten bei der ſo über-
wiegenden Ungleichheit des Beſitzes ein Unding erſchien, um ſo mehr,
als die Majorität der kleinen, nur zu geringen Leiſtungen verpflichteten
Beſitzer den großen Beſitzer leicht mit unverhältnißmäßigen Laſten
drücken konnte. Es mußte daher die Frage entſtehen, ob wirklich das
Princip der bürgerlichen Gleichheit — das Grundprincip der Gemeinde-
ordnung, anwendbar ſei. Dieſe Frage formulirte ſich alsbald in der
Frage nach dem Eintritt der Großgrundbeſitzer in die Land-
gemeinde
, welcher die letzteren die Forderung entgegenſetzten, für ihre
Beſitzungen lieber eine eigene Gemeinde neben der bäuerlichen bilden zu
wollen. So natürlich dieſe Forderung von der einen Seite war, ſo
tief war der Widerſpruch derſelben mit dem Grundſatz der ſtaatsbürger-
lichen Gleichheit auf der andern Seite. Mit ihr ſchien die eben ſo mühe-
voll errungene Gemeindefreiheit wieder auf den alten Standpunkt zu-
rückgeführt, und eine Scheidung, wenn auch nicht mehr einer herrſchenden
und beherrſchten, ſo doch einer höheren und niederen Klaſſe auf dem
Lande verfaſſungsmäßig feſtgeſtellt, während derſelbe in den Städten
definitiv überwunden war. Dazu kam endlich das dritte der bereits
erwähnten Elemente. Die Standesherrſchaften waren zu groß,
um ihrer Selbſtändigkeit als Verwaltungskörper ohne weiteres auch
nach Einführung der Grundentlaſtung beraubt werden zu können. Das
waren Verhältniſſe, die man weder in Frankreich noch in England fand,
und die eine einfache Verwirklichung der Idee des Landgemeindeweſens
mit lauter gleichen Gemeinden ſo gut als unthunlich machten. Nament-
lich war das Verhältniß der Standesherrſchaften ein unklares. Die Ein-
verleibung derſelben in die neuen Staatenbildungen war allerdings
undenkbar ohne eine Aufhebung ihrer Souveränetät; allein die Ver-
waltungsrechte über ihre Angehörigen bildeten dennoch ein Rechtsgebiet,
[499] deſſen Selbſtändigkeit nicht bezweifelt, und die demſelben um ſo weniger
ohne weiteres genommen werden konnte, als ſie meiſtens mit bedeu-
tenden Einnahmen für dieſelben verbunden waren. Das Princip der
franzöſiſchen Revolution brach hier allerdings Bahn, indem die Rhein-
bundsakte Art. 27 den Grundſatz aufſtellte, daß ihre Rechte als Privat-
rechte angeſehen werden ſollten; das deutſche Rechtsbewußtſein jedoch
erzeugte daneben den Satz, daß ihre künftigen Verhältniſſe durch eigene
Geſetze zu regeln ſeien. Dieß nun geſchah, meiſtens aber vor der
Entwicklung der Landgemeindeordnungen und der Grundentlaſtungen.
So entſtand hier eine neue, eigenthümliche Gruppe von Rechtsverhält-
niſſen, welche ſich den Landgemeindeordnungen um ſo weniger einfach
unterwerfen konnten, als dieſelben als jura quaesita der Standesherren
erſchienen, die der neuen Geſetzgebung gegenüber als begründete Privat-
rechte daſtanden. Unter dieſen Gegenſätzen war es klar, daß bei aller
Einfachheit des Princips des Gemeindeweſens und ſeiner vollen Geltung
in den Städten die wirkliche Geſtalt deſſelben auf dem Lande keines-
wegs eine gleichartige werden konnte. Um jene Widerſprüche, die ja
im Grunde Gegenſätze der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft waren, zu heben, mußte ein neuer Weg eingeſchlagen werden.


Zunächſt wird es ſich nun aus dem Obigen erklären, wie es ge-
kommen, daß trotz der Anerkennung des Princips der Gemeindeſelbſt-
verwaltung und der verhältnißmäßig raſch entſtehenden Stadtgemeinde-
ordnungen die Landgemeindeordnungen ſo langſam entſtanden ſind. Es
iſt ferner die zweite, wichtige Thatſache damit erklärt, daß die ländliche
Selbſtverwaltung in jedem Staate verſchieden iſt, denn die Ordnung
und Einführung derſelben hing theils wie ſchon geſagt von dem Stande
der Grundentlaſtung, theils von der Vertheilung und Größe des ehe-
maligen herrſchaftlichen oder Großgrundbeſitzers, theils von dem Vorhan-
denſein und den während der Neubildung der Bundesſtaaten anerkann-
ten Rechten der Standesherren ab, theils endlich waren viele deutſche
Staaten ſelber im Grunde nur ſouverän gebliebene Standesherrſchaften.
Eine unmittelbare Vergleichung mit Frankreich und England war nicht
möglich; ein deutſches Landgemeindeweſen war vor der Hand nicht
denkbar.


Dennoch lag der natürliche Ausweg nahe, um aus dieſen Gegen-
ſätzen herauszukommen, und die Natur der Dinge hat denſelben weit
mehr angebahnt als das theoretiſche Verſtändniß. Da Deutſchlands
ländliche Selbſtverwaltung noch immer in ſeiner ſchließlichen Bildung
begriffen iſt, ſo ſcheint es uns von doppelter Wichtigkeit, denſelben zu
bezeichnen.


Offenbar lag der erſte und bedeutendſte Widerſpruch in dieſer
[500] Entwicklung in der Deutſchland eigenthümlichen Vorſtellung, welche die
Selbſtverwaltung mit der Ortsgemeinde identificirt
. Wir
haben geſehen, daß weder England noch Frankreich ihre Selbſtverwal-
tung auf die Ortsgemeinde begränzen. In Deutſchland war das da-
durch entſtanden, daß bei der großen Macht und der rechtlichen Selb-
ſtändigkeit der Grundherren die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung
überhaupt nur in den Städten zu rechter Geltung gelangt war, wäh-
rend andererſeits die über das Weichbild der Städte hinausgehenden
Angelegenheiten gerade wegen der ſo tief greifenden ſocialen Unterſchiede
zwiſchen Stadt und Land von keinem für beide gemeinſchaftlichen
Organe der Selbſtverwaltung verwaltet werden konnten. Dadurch war
es gekommen, daß dasjenige, was wir als den Inhalt der Verwaltungs-
gemeinden in England bezeichnen, in ganz Deutſchland durch die Amts-
körper
vollzogen ward, die in der früher angegebenen Weiſe ſich eben
dadurch eines jeden Theiles der Gemeindeverwaltung bemächtigten, der
mehr als das Weichbild der Ortsgemeinde umfaßte. Auch das Auftreten
der Stadtgemeinden und die mit ihnen entſtehende Selbſtverwaltung
der Städte, die ſich — wenigſtens allmählig und in gewiſſen Haupt-
punkten (ſ. unten) — von der Amtsverwaltung unabhängig machten,
änderte daran nichts weſentliches für das flache Land, da namentlich
bei kleinern Städten alle wichtigeren Verwaltungsaufgaben ſtets Städte
und Land zugleich umfaßten. Das „Gemeinderecht“ erſchien daher zu-
nächſt als die Unabhängigkeit vom Amt und der amtlichen Verwaltung;
es war vorzugsweiſe die negative Seite der Selbſtverwaltung, und
konnte ſich damit genügen laſſen, ſo lange die weitere Entwicklung der
letzteren nicht den Begriff der Verwaltungsgemeinde erzeugte. So wie
aber mit der allmählig entſtehenden Unabhängigkeit des kleinen Grund-
beſitzes das Bedürfniß nach allgemeiner Theilnahme an der Verwaltung
entſteht, tritt die Nothwendigkeit ein, eine Form zu finden, in welcher
jene verſchiedenartigen Gemeindegeſtaltungen, da man ihre innere Ver-
faſſung nicht ändern konnte, in einen gemeinſamen größeren Körper
der Selbſtverwaltung zuſammentreten. Und hier wäre nun das eng-
liſche Syſtem der eigentlichen Verwaltungsgemeinden dasjenige geweſen,
welches dem deutſchen Weſen ohne allen Zweifel am beſten entſprochen
hätte. Allein dem ſtand ein anderes entgegen. Die Verwaltungs-
gemeinde iſt nicht ausführbar, ohne daß ſich dieſelbe wie in England
auch ſelbſt für ihren Verwaltungszweck beſteuert. Die amtliche Ver-
waltung, welche bis dahin jede allgemeine Staatsaufgabe vollzogen,
hatte eben deßhalb auch die ganze Beſteuerung für ſolche Zwecke ſchon
lange zu Staatsſteuern gemacht. Man hätte daher mit den admini-
ſtrativen Aufgaben auch die darauf bezüglichen Steuern dem Staate
[501] wieder entnehmen müſſen. Das erſchien unthunlich. Eine eigentliche
Verwaltungsgemeinde als organiſch ſelbſtändiges Glied der Selbſtver-
waltung kam daher nirgends zu Stande, denn auch die Aemter oppo-
nirten ſich, zum Theil ſogar mit der offen ausgeſprochenen Behauptung,
daß die Gemeinden „nicht fähig ſeien,“ wichtigere Verwaltungsaufgaben
zu leiten. Es war damit gewiß, daß innerhalb der Ortsgemeinde,
namentlich der ländlichen, die Löſung der Frage nicht zu finden war.
Man mußte über ſie hinausgehen. So blieb nur Eins übrig, um die
örtliche Selbſtverwaltung auch auf dem Lande möglich zu machen. Das
war die Uebertragung der alten Landſchaften ihrer Bildungen und ihrer
Rechte auf eine Gemeinſchaft der Gemeinden, oder die Bildung von
ſtändiſchen Kreisgemeinden. Dieſe ſtändiſchen Kreisgemeinden
hatten naturgemäß zu ihrem Subſtrat nicht die einzelnen Staatsbürger
in den einzelnen Gemeinden, wie in England, und auch nicht bloß die
Gemeinden als ſolche, wie das Arrondiſſement und der Canton, ſondern
die Gemeinden und die Reſte der ſtändiſchen Verwaltungskörper, die
ſtändiſchen Herrſchaften; und eben darum erſcheinen ſie auch nicht als
Gemeinden im ſtaatsbürgerlichen Sinne des Wortes, ſondern als
Kreisſtände, oder was im Weſen daſſelbe, und nur der Form nach
verſchieden iſt, als Provinzialſtände. Auf dieſe Weiſe bildete ſich
das zweite große Element in der deutſchen örtlichen Selbſtverwaltung,
den Uebergang von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im
Gemeindeweſen vertretend; aber auch damit iſt das Bild nicht einmal
in ſeinen Grundzügen fertig. Denn bei aller Beſchränkung der ört-
lichen Selbſtverwaltung auf den Begriff und die Gränzen der Orts-
gemeinde gab es dennoch eine Form, in welcher wir, ganz wie in
England, die reine Verwaltungsgemeinde auftreten ſehen. Das iſt die
Kirchengemeinde. Sie umfaßt eine, meiſt hiſtoriſch beſtimmte Anzahl
von Ortsgemeinden; ſie hat ihre eigene Verfaſſung und Verwaltung,
aber auch dieſe iſt mannigfach eine ſtändiſche durch das herrſchaftliche
Kirchenpatronat, und andererſeits entwickelt ſich aus ihr nicht wie in
England eine Reihe von Verwaltungsgemeinden, ſondern ſie bleibt
ganz auf die Kirche beſchränkt, hauptſächlich weil die beiden großen
Aufgaben, die ſich an das Kirchenweſen und ſeine Verwaltung in
natürlicher Weiſe anſchließen, das Armenweſen und das Schulweſen,
wieder zur Sache der Ortsgemeinden werden, wozu dann wieder die
noch ganz ſtändiſchen, zum Theil höchſt engherzigen Begriffe der Zunft-
rechte und der Heimathsrechte mit der großen Beſchränkung der Frei-
zügigkeit mitwirken. Viel hat natürlich zu dieſer vom übrigen Gemeinde-
weſen zum Theil ſcharf geſchiedenen Stellung der Kirchengemeinde auch
die Verſchiedenheit der Confeſſion beigetragen, welche eine Verſchmelzung
[502] der bürgerlichen (oder „politiſchen“) Gemeinden geradezu unmöglich machte,
ſo ſehr, daß auch in Frankreich und Oeſterreich die Kirchengemeinden
der evangeliſchen Bekenntniſſe durchaus ſelbſtändige Verwaltungskörper
ſind, an welche ſich dann oft die Schulgemeinden anſchloſſen, was ſtets
von örtlichen Verhältniſſen bedingt iſt. Faßt man nun aber das
Obige zuſammen, ſo ſieht man hier ein vielgeſtaltiges Bild zunächſt
innerhalb des Begriffes der ländlichen Selbſtverwaltung entſtehen. Und
zu dieſer Vielgeſtaltigkeit kommt nun zum Schluſſe noch Eins hinzu,
was wiederum auf der Unfähigkeit der Verhältniſſe, engliſche Verwal-
tungsgemeinden zu erzeugen, beruht.


Allerdings war nämlich für das ſtädtiſche Leben das allgemeine
Princip des Gemeinderechts zur Geltung gekommen. Allein es gibt
gerade in Deutſchland eine Menge ſehr kleiner Städte und Ortſchaften,
die in engbegränztem Weichbild dennoch eine zum Theil ſogar geſchicht-
lich berühmte Selbſtändigkeit haben, aber bei weitem nicht groß genug
waren, um für Verwaltungsaufgaben zu genügen, die irgend eine aus-
gedehntere Bedeutung haben. Da mit den Landgemeinden hier keine
Gemeinſchaft aus den oben erwähnten Gründen zu erzielen war, ſo
konnten auch dieſe Verwaltungsaufgaben dieſen ſtädtiſchen Gemeinden
nicht füglich überlaſſen werden, und die Amtskörper mußten trotz der
Gemeindeverfaſſung und des Rechts der Selbſtverwaltung die eigentliche
Verwaltung weiter leiten. Dieß Verhältniß geſtaltete ſich nun, zum
Theil nach dem franzöſiſchen Vorgange der Claſſificirung der Städte für
die Steuervertheilung, zu jener Deutſchland ganz eigenthümlichen Er-
ſcheinung, nach welcher das Maß der ſtädtiſchen Selbſtverwal-
tung von der Größe der Gemeinde abhängig
gemacht, oder
Klaſſen der ſtädtiſchen Gemeinderechte gebildet werden — nach dem all-
gemeinen Grundſatze, daß der Antheil an der Verwaltung mit dem
Umfange der Städte ſteigt und fällt, natürlich in der Weiſe, daß
das Amt im umgekehrten Verhältniß eine um ſo größere Gewalt
hat, je kleiner
die Ortsgemeinde iſt. Es iſt falſch, dieß den Regie-
rungen zum Vorwurf zu machen; es ging vielmehr einfach aus dem
Mangel an Verwaltungsgemeinden hervor, durch welche England jenem
ſonſt allerdings kaum zu vermeidenden Mißverhältniß entgangen iſt,
und wird auch nicht anders werden, bis dieſe Organiſationen ins Leben
treten. Als Minimum der Rechte der Gemeinde gilt dabei die Ver-
waltung des eigenen Vermögens und die Ortspolizei; mit dem Umfange
wächst das Gebiet der Verwaltungsaufgaben, bis dieſelben in den
großen Hauptſtädten allerdings zur völligen Selbſtverwaltung ſich er-
heben. Der größte Uebelſtand aber iſt dabei, daß auch die Mittel-
organe der örtlichen Selbſtverwaltung, die Kreis- und Landtage, es
[503] nur zu einem, dem franzöſiſchen Syſteme entſprechenden berathenden
Antheil an der Selbſtverwaltung bringen, und nicht wie die engliſchen
Gemeinden zum wirklichen Selbſtverwalten, während das Amt dadurch
noch immer das wahre Haupt der örtlichen Verwaltung iſt. Es kommt
dazu, daß in vielen Theilen Deutſchlands namentlich die kleinen Ge-
meinden und unter ihnen vorzugsweiſe die Landgemeinden wirklich in
der allgemeinen Bildung und in dem Verſtändniß adminiſtrativer Auf-
gaben zu weit zurück waren, um ihnen unbedenklich allgemeinere In-
tereſſen in die Hände geben zu können. Trotz aller Bewegung im Ge-
meindeweſen iſt daher die örtliche Selbſtverwaltung in Deutſchland noch
eine höchſt unfertige. Es drängt ſich bei Betrachtung derſelben die
Ueberzeugung auf, daß überhaupt die Selbſtverwaltung und vor allem
die örtliche, eine von denjenigen Organiſationen iſt, welche ſich durch
Geſetze zwar hindern und ordnen, aber nicht plötzlich erzeugen laſſen.
Sie hat ihre, tief im Volksleben liegenden Vorausſetzungen, ohne
welche ſie ein leeres Wort bleibt. Es will uns ſcheinen, als müßten
zwei Dinge erſt ein Menſchenalter hindurch ihre ſegensreichen Folgen
entwickelt haben, ehe wir in Deutſchland zu einer rechten, durchgear-
beiteten und vollſtändigen Selbſtverwaltung reif ſein werden. Das
ſind die Befreiungen des Grundbeſitzes von den ſtändiſchen Laſten in
der Grundentlaſtung, und die Befreiung des gewerblichen Lebens
von den ſtändiſchen Vorrechten in der Gewerbefreiheit. Erſt durch
ſie wird die örtliche Selbſtverwaltung eine volle Wahrheit werden. Und
von dieſem Standpunkt aus ſagen wir, daß der gegenwärtige Zuſtand
derſelben, oder das deutſche Gemeindeweſen in der That nur als eine
Uebergangsbildung betrachtet werden kann.


Zum Schluſſe wollen wir nunmehr die Hauptkategorien deſſelben
in den Staaten Deutſchlands nach den bisher aufgeſtellten Geſichts-
punkten aufſtellen, indem wir bemerken, daß eine weitere Durchführung
aus den obigen Gründen in der That nur für dieſe einzelnen Staaten
geſchehen kann, und geſchehen ſollte. Denn hier iſt faſt noch alles
zu thun, da Sammlungen wie Weiske’s Gemeindegeſetze weder voll-
ſtändig ſind, noch auch die Beziehungen der Ortsgemeinde zur Kreis-
und Provinzialverwaltung aufzunehmen verſtanden haben, und die
territorialen Staatsrechte von Mohl, Moy, Pötzl und ſelbſt Rönne
natürlich dem inneren Zuſammenhang des deutſchen Lebens nur ſehr
wenig Raum geben können. Wir können auch nur die Hauptſtaaten
anführen; ſie werden übrigens in den Grundformen ihres Selbſtver-
waltungsorganismus leicht auf die obigen Elemente zurückgeführt werden
können, und das erſcheint uns als die Hauptſache. Das Beſte muß
ſtets dem ſpeziellen Studium überlaſſen bleiben.


[504]

Preußen. Das Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung in Preußen iſt, wie
es ſcheint, mitten in ſeiner Entwicklung gebrochen, und die Einführung der Prin-
cipien der Stadtgemeindeordnung auf die Landgemeinde einerſeits, und die Kreis-
und Provinzialgemeinde andererſeits durch Art. 105 der Verfaſſung von 1850,
und die Gemeindeordnung vom 11. März 1850, vermöge des königlichen Erlaſſes
vom 19. Juni 1852, der die Einführung derſelben ſiſtirte, wieder auf die
Geltung der ſtändiſchen Elemente zurückgeworfen. Das preußiſche Syſtem der
örtlichen Selbſtverwaltung zeigt uns daher gegenwärtig den früheren Zuſtand,
der ein großes hiſtoriſches Intereſſe hat, und zugleich das Bild Deutſchlands
mit ſeiner ganzen Zerfahrenheit darbietet. Jede Kategorie der örtlichen Selbſt-
verwaltung hat darnach ihre eigene Gruppe von Geſetzen, und das preußiſche
Gemeindeweſen iſt in der That jetzt weſentlich nur in dem Streben vorhanden,
aus allen dieſen verſchiedenen Arten zu einer einheitlichen Gemeindeordnung zu
gelangen. Das Syſtem, wie es gegenwärtig gilt, iſt folgendes:


A. Die Ortsgemeinde. Die Ortsgemeinden zerfallen in Stadt-
gemeinden, Landgemeinden
und Herrſchaften, bei denen wieder die
Gutsherrſchaften von den Standesherrſchaften zu unterſcheiden ſind,
indem die Landgemeinde in der That nur eine Dorfgemeinde iſt, von der die
Herrſchaft nicht bloß getrennt, ſondern auch mit weſentlich verſchiedenen Rechten
begabt erſcheint, indem der Gutsherr der Inhaber der niederen, der Standes-
herr noch immer der Inhaber der höheren adminiſtrativen Rechte iſt; namentlich
hat er das ſtändiſche Patronatrecht über Kirchen, Schulen und milde Stiftungen,
was ſchon an und für ſich ſowohl die engliſche Verwaltungsgemeinde, als die
franzöſiſche Amtsgemeinde unmöglich macht. Die Stadtgemeinden haben nicht
weniger als vier verſchiedene Gemeindeordnungen (Gemeindeordnung vom
30. Mai 1853 für die ſechs öſtlichen Provinzen, vom 31. Mai 1853 für die
Städte von Vorpommern und Rügen, vom 19. März 1856 für Weſtphalen,
vom 15. Mai 1856 für die Rheinprovinz). Die Landgemeinden haben drei
„Verfaſſungen“ (vom 14. April 1856 für die öſtlichen Provinzen, vom 19. März
1856 für Weſtphalen, und vom 15. März 1856 für die Rheinprovinz). Für
die Verwaltungsrechte der Standesherrſchaften gilt noch immer die Inſtruktion
vom 30. Mai 1820. Eine wahre unerſchöpfliche Quelle für das Studium
der ſocialen Bewegung und ihrer Erſcheinungen in Verfaſſung und Verwaltung
im Norden Deutſchlands, welche durch die folgenden Punkte noch reichhaltiger
gemacht wird! Die Verhältniſſe der Grundentlaſtung und der Herſtellung eines
freien Bauernſtandes, ſoweit Preußen überhaupt zu demſelben durch Befreiung
des Grundeigenthums hat gelangen können, vortrefflich bei RönneII, 370.
Man ſieht auch hier deutlich, wie der Begriff und das Recht der Landgemeinde
ohne die Verhältniſſe der Gutsherrſchaft und der bäuerlichen Laſten niemals
ganz klar gemacht werden kann.


B. Die mittleren Organe der örtlichen Selbſtverwaltung.
Dieſe mittleren Organe ſind doppelt, ſie beſtehen aus den ſogenannten Com-
munal-Landſtänden
, und den Kreisſtänden. Die erſteren ſind nur in
einem Theile des Reichs eingeführt; ihre Aufgabe war, diejenigen Verhältniſſe
zu berathen, welche nur auf die Communalverhältniſſe Bezug haben. Da aber
[505] daſſelbe auch von den Kreis- und Provinzialſtänden geſchieht, ſo erſcheinen ſie
in der That als ganz überflüſſig. Ihre Grundlage iſt jedoch bezeichnend für
das Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung, denn ſie bilden die erſte Form, in
welcher neben der ſtaatsbürgerlichen Stadtgemeinde die ſtändiſchen Elemente, und
zwar in rein ſtändiſcher Form wieder auftraten, da ſie gebildet werden nach
den drei Ständen: Gutsbeſitzer, Städte und Bauernſtand. „Gegenſtände des
ſpeziellen Intereſſes eines Standes können durch die Mitglieder dieſes
Standes
ohne die Zuziehung der übrigen Stände verhandelt werden.“ (§. 15
der Verordnung von 1825.) Das eigentliche Mittelorgan wird jedoch durch die
Kreisſtände gebildet. Sie ſind beſtimmt, die Gemeinſamkeit der Orts-
gemeinde zu vertreten. Sie erſcheinen eben dadurch, indem ſie auf dieſe Weiſe
die ſtändiſche Gemeinde neben der ſtaatsbürgerlichen in ſich aufnehmen, ſelbſt
als eine ſtändiſche Körperſchaft. Im Weſentlichen ſind ſie daher ganz gleich-
artig organiſirt; ſie beſtehen aus den Vertretern der Herrſchaften (Ritterguts-
beſitzer und Großgrundbeſitzer), der Städte und der Landgemeinden. Ihre Be-
fugniſſe ſind übrigens mehr dem franzöſiſchen, als dem deutſchen Weſen ent-
nommen, während ihre Zuſammenſetzung ſich umgekehrt verhält. Sie haben
nämlich ſelbſt nichts zu verwalten, als ihr eigenes Bermögen; im Uebrigen
haben ſie Beſchluß zu faſſen, wo es ſich um gewiſſe — nicht genau beſtimmte
Ausgaben handelt, und Gutachten in allen allgemeinen Communalangelegen-
heiten zu geben. Nur in einem weſentlichen Punkte ſehen wir das Princip der
deutſchen Selbſtverwaltung durchgreifen; das iſt die Berechtigung, den Kandidaten
des Landraths Stellen vorzuſchlagen, die übrigens nur in einigen Provinzen
dem ganzen Kreisſtand, in anderen ausſchließlich dem Rittergutsbeſitzer zuſteht
— ein mißlungener Verſuch, eine gentry herzuſtellen, welche ohne Verwal-
tungsgemeinde nicht gedacht werden kann. Dieſe aber wird gerade durch die
Kreisſtände offenbar faſt unmöglich. Der Wirkungskreis der letzteren iſt ohnehin
dem amtlichen Landrath gegenüber weſentlich nur conſultativ; ganz ähnlich ſteht
das letzte Organ der örtlichen Selbſtverwaltung da.


C. Die Provinzialſtände müſſen auch in Preußen nicht etwa mit
Rönne und Anderen als Glieder der „Volksvertretung“ betrachtet werden, was
ſie eben nicht ſind. Sie ſind vielmehr nichts anderes, als das höchſte Organ
der örtlichen Selbſtverwaltung, und zwar ſind ſie, nach den Gegenſtänden, mit
denen ſie zu thun haben, im Grunde ſtändiſch geordnete Verwaltungs-
gemeinden
, jedoch mit dem franzöſiſchen Rechte der adminiſtrativen Be-
rathung
neben der Regierung über allgemeine Angelegenheiten der Provinz.
Die Provinzialſtände zeigen uns die ſtändiſche Ordnung in ihrer vollen Ge-
ſtalt; charakteriſtiſch iſt, daß der Stand des Adels in ihnen ohne Rückſicht auf
die Größe des Beſitzes ſtets die größte Zahl von Stimmen ſtellt. In Schleſien,
Sachſen, Weſtphalen und Rheinprovinz ſtehen ſogar die Standesherren als vierter
Stand wieder neben den andern Ständen. Die Verwaltungsbefugniſſe beziehen
ſich auf ganz beſtimmte, einzelne Angelegenheiten; namentlich die Armenverwaltung,
Irren- und Taubſtummenanſtalten, zum Theil auf Wegeweſen (Poſen und Preußen),
jedoch nur, ſoweit ein eigener „Fond“ dazu vorhanden iſt, Feuerverſicherung
und einige andere örtliche Verhältniſſe. (Geſetz vom 5. Juni 1821, Art. III.)


[506]

Dieß ſind die Grundzüge des preußiſchen Syſtems der örtlichen Selbſt-
verwaltung, für die wir im Allgemeinen auf Rönnes vortreffliches Werk ver-
weiſen. Es iſt wichtig, weil es in der That der Ausdruck der geſammten Auf-
faſſung der letzteren in Deutſchland bietet, und zeigt uns auf allen Punkten
zwei Hauptthatſachen, welche eben die letztere überall charakteriſiren. Die erſte
iſt, daß das Syſtem der ſelbſtändigen Ortsgemeinden das Syſtem der
mittleren und oberen Organe der örtlichen Selbſtverwaltung
bedingt
; das zweite iſt, daß in dieſem Syſtem durch das Wegfallen der Ver-
waltungsgemeinden die eigentliche Selbſtverwaltung in dem Kreiſe der Orts-
gemeinden liegt, und eben dadurch weder jetzt von großer Bedeutung iſt, noch
auch es jemals werden kann, ſelbſt dann nicht, wenn die ſtändiſche Orts-
gemeinde einmal gänzlich beſeitigt ſein ſollte — was übrigens bei dem höchſt
beſchränkten Standpunkt, den die preußiſche Grundentlaſtung einnimmt, ſo lange
nicht möglich ſein wird, bis das freie öſterreichiſche Princip in Preußen zur
Anwendung kommt. Möge man in Preußen nie vergeſſen, daß die wahre Baſis
der örtlichen Selbſtverwaltung nicht in der einfachen Negation der ſtändiſchen
Rechte, ſondern weſentlich in der Herſtellung eines vollkommen freien, bäuer-
lichen Grundbeſitzes liegt!


Wir wollen jetzt zur Vergleichung einige andere Syſteme der örtlichen
Selbſtverwaltung hinzufügen.


Bayern. Bayern iſt das erſte Land, welches die ſtändiſchen und ſtaats-
bürgerlichen Elemente ſeiner Bevölkerung theils in ſocialer, theils aber in
adminiſtrativer Beziehung geſetzlich regelte. Daraus ging dann das erſte
Syſtem ſeiner örtlichen Selbſtverwaltung hervor, welches auf den verſchiedenen
Edikten von 1818 beruhte. In ihm war der Unterſchied zwiſchen den ſtändiſchen
und ſtaatsbürgerlichen Körpern der Selbſtverwaltung noch ſehr ſcharf beſtimmt.
Erſt mit dem Jahre 1848 trat der mächtige Proceß der Grundentlaſtung nach-
drücklich in Thätigkeit, und damit zugleich eine Bewegung, welche mit einer
faſt vollſtändigen Auflöſung der herrſchaftlichen Landgemeinde mit den gutsherr-
lichen Rechten begonnen hat, und mit der Beſeitigung auch der ſtandesherrlichen
Verwaltungsrechte ſeiner Zeit enden wird. Das nun hat für das zweite,
gegenwärtig geltende Syſtem entſcheidend gewirkt, indem daſſelbe nunmehr ein
eigenes Mittelorgan der örtlichen Selbſtverwaltung in den Diſtriktsgemeinden
erzeugt, und damit die gegenwärtige Epoche zu einer feſten Geſtalt gebracht
hat. Dieß Syſtem iſt folgendes.


A.Ortsgemeinden. Die Ortsgemeinden zeigen auch hier die beiden
Gruppen, die ſtaatsbürgerliche in den Stadt- und Landgemeinden, und
die ſtändiſche in den Guts- und Standesherrſchaften. Die erſteren ſind
hier jedoch wieder in drei Klaſſen getheilt, die ſich durch ein verſchiedenes
Maß der Selbſtverwaltung unterſcheiden; die ganze Abtheilung der Land-
gemeinden iſt ihrerſeits im Grunde nichts anderes, als die vierte Klaſſe der
Stadtgemeinden, mit noch geringerem Recht. Die ſtändiſchen Gemeinden haben
ihre Selbſtändigkeit weſentlich in Ortspolizei und Gerichtsbarkeit. In der
Pfalz gilt das franzöſiſche Municipalſyſtem. Es iſt auf den erſten Blick klar,
daß wir in dieſem Syſtem nur einen Uebergangszuſtand vor uns haben, der
[507] im Grunde ſchon durch die Verfaſſung des Mittelorgans angebahnt erſcheint.
Siehe Pötzl, Verfaſſungsrecht. Von den Ortsgemeinden §. 94 ff. Von den
gutsherrlichen Rechten §. 61 ff. Die Ortsgemeinden erſcheinen ſelbſt als
Gutsherren §. 97.


B.Mittelorgan. Die Diſtriktsgemeinde. Die Diſtriktsgemeinde
iſt die Einheit dieſer Ortsgemeinden, dem preußiſchen Communal- und Kreistage
entſprechend. Höchſt bezeichnend iſt es, daß die „unmittelbaren Städte“ — der
Reſt der ſtändiſchen Stadtgemeinde — in dieſen Diſtriktsgemeinden nicht mit
vertreten ſind, ſondern nur in den Kreisgemeinden erſcheinen. Sie beſtand
ſchon vor 1848, aber nicht als Corporation; das Geſetz vom 28. Mai 1852
hat ſie zu dauernden Körperſchaften gemacht. Ihre Compoſition zeigt auf
ſtändiſcher Grundlage doch ſchon die Geltung ſtaatsbürgerlicher Anſchauung;
ſie hat die drei in Preußen offen anerkannten Stände vermieden, aber dennoch
wird ſie gebildet aus den Gemeinden, den höchſtbeſteuerten Grundbeſitzern, und
aus einer dritten Kategorie, in welcher wir die Kategorie der Standesherr-
ſchaften verdeckt ſehen. Das Recht dieſer Diſtriktsgemeinde iſt ein ſehr eng
beſchränktes; ſie hat nur ihr Vermögen ſelbſt zu verwalten, und ſonſt nur
Gutachten zu geben. Sie iſt daher durchaus nicht geeignet, die Selbſtverwal-
tung der Ortsgemeinden zu entwickeln; doch ſehen wir in dem Diſtriktsaus-
ſchuſſe, der ſtändig wirkt, ein weſentliches Element des Fortſchrittes, obwohl
merkwürdigerweiſe von einer Theilnahme an den Gemeindeangelegenheiten keine
Rede iſt. (Pötzl, Verfaſſung §. 113.)


C. Das Hauptorgan der örtlichen Selbſtverwaltung iſt die ſogenannte
Kreisgemeinde, die nichts anderes iſt, als eine — noch unklare — For-
mation der Provinziallandtage. Sie bildet aus den Diſtriktsgemeinden, den
unmittelbaren Städten, den höchſtbeſteuerten Grundbeſitzern, drei Vertretern der
Pfarrer und einem Abgeordneten der Univerſität durch Wahl den Landrath,
der neben der Verwaltung des Vermögens des Kreiſes ein eigenthümlich rich-
terliches Organ für die Gemeindeſtreitigkeiten bildet. Daneben iſt er berathen-
des
Organ für Kreisangelegenheiten. — Man ſieht auch in dieſem bayeriſchen
Syſtem keine rechte Selbſtverwaltung; das Amt iſt und bleibt das Hauptorgan
der wirklichen Verwaltung für alle, mehrere Gemeinden umfaſſenden Aufgaben.
(Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 123 ff.)


Württemberg. Württemberg iſt zu klein, um für die örtliche Selbſt-
verwaltung alle drei Organe enthalten zu können. Es hat daher zwiſchen
Ortsgemeinde und Volksvertretung nur ein Zwiſchenorgan. Die Orts-
gemeinde
beſtand nach dem Edikt von 1822 aus den beiden Gruppen der
ſtaatsbürgerlichen Gemeinden, Stadt- und Landgemeinden, von denen die erſteren
wieder in drei Klaſſen getheilt ſind, während der Unterſchied zwiſchen dieſen
Klaſſen ſowohl, wie zwiſchen Stadt und Land ein ſehr geringer, nur auf die
Competenz bezüglicher iſt — und den ſtändiſchen Gemeinden, den Standes-
herrſchaften, die aber durch das Geſetz vom 6. Juli 1849, welches alle Güter
in die Gemeinden einverleibte und die Patrimonialjurisdiktion aufhob, faſt ver-
ſchwunden ſind. Das Mittelorgan iſt die ſogenannte Amtskörperſchaft,
welche eben die urſprüngliche Einheit der beiden Arten der Gemeinden war
[508] (die „Verbindung von Stadt und Amt“), und theils berathende, theils beſchlie-
ßende Stimme in den gewöhnlichen gemeinſamen Ortsangelegenheiten hat.


Hannover. Die örtliche Selbſtverwaltung Hannovers hat dagegen in
weit höherem Maße das Princip der ſtändiſchen Ordnung als Grundlage, ob-
gleich ſie darin im Grunde weder mehr noch weniger wirkliche Verwaltungs-
rechte hat. Auch hier iſt der Charakter des Uebergangsſtadiums klar. Nach
dem Geſetze vom 28. April 1859 ſoll jedes Grundſtück Theil einer Gemeinde
ſein, wenn es nicht davon als größeres Gut ausgenommen iſt. Wir ſehen daher
die ſtaatsbürgerlichen Gemeinden in Stadt- und Landgemeinde (Geſetz vom
24. Juni 1858 und 28. April 1859) und die herrſchaftliche Gemeinde noch neben
einander. Das iſt das Syſtem der Ortsgemeinde. Die mittleren Organe
ſind die Amtsverſammlungen, ganz den württembergiſchen Amtskörper-
ſchaften analog, aus den Vertretern der Gemeinden und Herrſchaften gebildet,
und mit berathender Stimme für gemeinſame Angelegenheiten. Das höchſte
Organ ſind die Provinziallandſchaften, die ihrerſeits, wie die preußiſchen,
nach den Landſchaften verſchieden ſind, im Weſentlichen aber übereinſtimmend
aus Abgeordneten der drei Stände: Gutsherren, Bürgerſtand und Bauernſtand,
gebildet werden. Man erkennt in dieſen Formationen deutlich die beiden großen
ſocialen Ordnungen, wie ſie ihre eigenen Wahlordnungen enthalten, und während
ſie in den Ortsgemeinden die ſtaatsbürgerliche Grundlage durchführen, in den
mittleren und höchſten Organen das ſtändiſche Princip vertreten, während der
Landtag beide Ordnungen verſchmilzt.


Königreich Sachſen. Die Ortsgemeinde im Königreich Sachſen
iſt, wie faſt allenthalben, ſtaatsbürgerlich und ſtändiſch; die Stadt- und Land-
gemeinde zeigt wieder eine Reihe von Klaſſen mit hier nicht unweſentlich ver-
ſchiedenen, meiſt hiſtoriſch begründeten Rechten, während die Gutsherrſchaft
daneben die örtliche Verwaltung der Polizei und der öffentlichen Angelegenheiten
hat. (Allgemeine Städteordnung vom 2. Februar 1832. Landgemeindeordnung
vom 7. November 1838.) Die Gemeinden haben wieder das Recht, Lokal-
ſtatuten zu machen. Zwar wird hervorgehoben, daß die Aufgabe des Geſetzes
die Befreiung der Gemeinden ſei, aber die Unterordnung unter das Amt
iſt ſehr ſtrenge, wie ſchon das Recht der Beſtätigung der Wahlen zeigt. (Mil-
hauſer
Sächſiſches Staatsrecht S. 252.) Die Provinzialſtände ſind im
Grunde die obigen Amtskörperſchaften, das mittlere Organ der Selbſtverwal-
tung; ſie haben das Beſondere, daß ſie rein ſtändiſcher Natur ſind, und nur
die Herrſchaften und die Städte zulaſſen. (Milhauſer §. 96 ff.)


Baden. Ortsgemeinden: Stadt- und Landgemeinde, und Standes-
herrſchaften; mittleres Organ, die Kreisverſammlungen, ſeit 1849 ein-
geführt.


Kurheſſen. Durch das Geſetz vom 1. Dec. 1853 iſt das ſtaatsbürger-
liche Princip für die Ortsgemeinde faſt ganz durchgeführt; mittleres Organ
iſt der Bezirksrath, der jedoch wieder theils aus Standesherren und Ritter-
gutsbeſitzern, theils aus den Höchſtbeſteuerten, theils aus den Stadtgemeinden,
theils aus den Landgemeinden hervorgeht. Auch die Verſchmelzung der Ord-
nungen und Beginn des Ueberganges. — Dem Kurfürſtenthum faſt ganz gleich
[509] iſt das Großherzogthum Heſſen in ſeiner Gemeindeverfaſſung und Bezirks-
räthen ſeit 1852 und 1853. — Aehnlich, jedoch auf freierer Baſis, Gemeinde-
und Bezirksausſchuß in Sachſen-Weimar, Gemeindeordnung von 1854;
Naſſau, Geſetz vom 24. Juli 1854, wo die Gutsherrſchaften ſchon ganz ver-
ſchwinden; Braunſchweig Ortsgemeinde und Amtsrath (Gemeindeverfaſſung
vom 19. März 1850). Eigenthümlich iſt das Verhältniß in Oldenburg
geordnet, wo nach der Gemeindeordnung vom 1. Juli 1855 die Städte erſter
und zweiter Klaſſe dadurch verſchieden ſind, daß die erſten unmittelbar unter
der Regierung, die letzteren mit den Landgemeinden unter den Aemtern ſtehen,
während ſich wieder die Theile der Gemeinden als Ortsgemeinden conſtituiren,
und die Landgemeinden in Bauernſchaften zuſammentreten. Die Provinzial-
räthe in Lübeck und Birkenfeld ſind örtliche Volksvertretungen.


Das bisher Angeführte ſoll natürlich nichts erſchöpfen. Aber wenn es
einerſeits zeigt, daß der Inhalt der Selbſtverwaltung auch bei den freieſten
Gemeindeverfaſſungen faſt nirgends über die Gemeindegränze hinausgeht, und
dieſelbe daher noch ſehr weit unter dem engliſchen Selfgovernment ſteht, wäh-
rend das Beamtenthum doch immer das eigentlich verwaltende Organ bleibt,
ſo iſt es andererſeits auch gewiß, daß wir im Großen und Ganzen den Charakter
einer Uebergangsepoche vor uns haben, aus der wir nur durch die völlige Frei-
heit der Bauernbeſitzungen und durch die Einführung des engliſchen Princips
der Verwaltungsgemeinden, dieſes Kerns der wahren Selbſtverwaltung, der
allein nicht im Widerſpruch mit den ſtändiſchen Elementen ſteht, überwinden
werden.


C.Corporationen und Stiftungen.

1) Allgemeiner Charakter beider.

Wir müſſen als letzte Form der Organiſation der Selbſtverwaltung
die Corporationen und Stiftungen aufführen, die ein, wenn auch nicht
ſehr großes, ſo doch in vieler Beziehung ſehr wichtiges Gebiet betreffen.


Corporationen und Stiftungen entſtehen da, wo für einen einzelnen
ganz beſtimmten öffentlichen Zweck ein beſtimmtes Vermögen ausgeſetzt
und ausſchließlich durch eigen dafür beſtimmte Organe nach beſtimmten
Regeln verwaltet wird.


Die Corporationen und Stiftungen bilden den Uebergang von der
eigentlichen Selbſtverwaltung im Gemeindeweſen zum Vereinsweſen,
indem in ihnen wie bei dem Verein der Zweck, der durch die Mittel
erreicht werden ſoll, durch den freien Willen der Einzelnen geſetzt wird,
während die Ordnung der Verwendung der Mittel gleichfalls durch
dieſen Willen beſtimmt iſt. Allein ſie gehören dennoch der Selbſtver-
waltung an, da die Auflöſung der einmal beſtehenden Körper eben ſo
wenig wie die einmal angeordnete Verwaltung von dem Willen der
an dieſer Verwaltung Betheiligten abhängt. Und das haben ſie mit
[510] der Selbſtverwaltung überhaupt gemein. Sie ſind daher, einmal be-
ſtehend, dauernde Organe der öffentlichen Verwaltung, und müſſen mit
ihrem eigenthümlichen Organismus ſo wie mit ihrem Rechte ſtets in
derſelben erſcheinen.


Corporationen und Stiftungen haben viel Gemeinſames, aber auch
viel Verſchiedenes. Wegen ihrer Beſchränkung auf ganz einzelne Zwecke
und wegen ihrer zum Theil ganz zufälligen inneren Ordnung beachtet
man ſie wenig. Dennoch ſind ſie ein immanentes Moment der freien
Verwaltung, und für den ganzen Gang der letztern wichtig genug, um
ſie hier in denjenigen Punkten aufzuführen, in denen ſie als ein orga-
niſches Element des Geſammtlebens, und deßhalb zu allen Zeiten und
bei allen Völkern erſcheinen. Nur muß man dabei eben ſo ſtrenge
wieder beide in ihrem Weſen wie in ihrer Geſchichte unterſcheiden.


Alle Corporationen und Stiftungen im weiteſten Sinne des Wortes
haben das mit einander gemein, daß ſie eine, über der Willkür der
Einzelnen ſtehende, objektiv beſtimmte Organiſation ihrer Verwaltung
haben, die man in analoger Weiſe wie bei der Selbſtverwaltung der
Gemeinde ihre Verfaſſung nennen kann. Eben ſo haben beide eine
gleichfalls objektiv beſtimmte Ordnung der Thätigkeit ihrer ſo beſtimmten
Organe, die man wohl entſprechend als ihre Verwaltung bezeichnen
darf. Beide ſind endlich nur denkbar, indem die ihnen zu Gebote
ſtehenden Mittel für einen öffentlichen Zweck verwendet werden; das iſt,
indem ihre Verwendung eine im Weſen und im Gebiete der inneren
Staatsverwaltung liegende Aufgabe erfüllt. Dadurch erſtlich, und zwei-
tens dadurch, daß ſie mit ihrer Verfaſſung und Verwaltung einen ganz
ſelbſtändigen, außerhalb des Staatswillens ſtehenden, aber dennoch der
Staatsfunktion angehörenden Organismus bilden, gehören ſie dem
öffentlichen Rechte des Staats ſelber. Sie können nur beſtehen, indem
der Staat ſie als ſolche förmlich anerkennt. Der Grund und die
Nothwendigkeit dieſer Anerkennung ſchließt daher den Satz in ſich, daß
ſie mit ihrer Verfaſſung und Verwaltung mit dem Staatsleben und
ſeiner Entwicklung, und zwar mit den großen Principien der Verfaſſung
und Verwaltung des Staats nicht im Widerſpruch ſtehen dürfen. Da
nun aber die innere Organiſation ſolcher Corporationen und Stiftungen
ſtets in einer beſtimmten Zeit, alſo in einer beſtimmt gegebenen Ent-
wicklungsſtufe des Geſammtlebens entſteht und daher dieſer ihrer Zeit
entſprechend gebildet, aber mit dieſer ſo beſtimmten Ordnung auch als
für alle Zeiten bleibend anerkannt wird, ſo leuchtet es ein, daß,
wenn auch Jahrhunderte darüber weggehen, dennoch zu irgend einer
Epoche und in irgend einer Form der Fall eintreten kann und wird,
in welchem das formell anerkannte Recht ſolcher Körperſchaften mit den
[511] Principien und Thätigkeiten der Staatsordnung in Widerſpruch geräth.
Dieſer Widerſpruch tritt dann um ſo ſchärfer hervor, wenn die Aner-
kennung der einmal gegebenen Ordnung derſelben von Seite des Staats
auch formell eine unbegränzte, alſo dem Wortlaute nach für alle Zeiten
gültige iſt. In der That iſt in dieſem Falle nicht bloß ein Gegenſatz
zwiſchen dem Rechte und der Ordnung dieſer Körperſchaften und dem
Staate, ſondern für den Staat ſelber vorhanden, da das von ihm ge-
ſetzte Recht mit dem von ihm geforderten Rechte in Widerſpruch ſteht.
Und es iſt offenbar, daß dieſe Verhältniſſe, wie ſie auf dem innerſten
Weſen beider, der Körperſchaften wie des Staats beruhen, auch nur
durch die Betrachtung der höhern Natur beider gelöst werden können.


Dieſe Löſung liegt nun aber in nichts anderem, als in dem ſchon
oben angedeuteten Unterſchiede zwiſchen Corporationen und Stiftungen.


2) Corporationen und ihre Verwaltung.

Die Corporationen gehören der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung;
aber ſie müſſen als eine ganz beſtimmte Erſcheinung derſelben betrachtet
werden, die bei aller Zufälligkeit und Verſchiedenheit im Einzelnen
dennoch in ganz Europa dieſelbe letzte Grundlage darbietet. Eine Cor-
poration entſteht immer auf der Baſis eines gemeinſamen Berufes,
der durch die äußeren Lebensverhältniſſe ſo lange gefährdet oder einer
größeren Entwicklung unfähig erſcheint, als die Berufsgenoſſen vereinzelt
ſich zu ihrem Berufe bilden, oder ihn vereinzelt ausüben wollen. Die
Corporation iſt daher zunächſt ein Verein der Berufsgenoſſen; aber wie
der Beruf ſelbſt, ſeinem Weſen nach, ein dauerndes und organiſches
Moment des Geſammtlebens iſt, das nicht von der Willkür Einzelner
abhängt, ſo ergibt es ſich bei dem Verein ſelbſt ſogleich, daß derſelbe
ein dauernder, auf beſtimmten, dem Weſen des beſtimmten Berufes
entſprechenden und mithin für den Einzelnen unantaſtbaren Ordnungen
beruhen muß. Dieſe Ordnungen entwickeln ſich naturgemäß langſam
aus der Funktion des Berufes ſelbſt; aber einmal entwickelt verſchmelzen
ſie mit dem Berufe ſo innig, daß man ſie ſchwer oder gar nicht mehr
von ihm trennen kann. So wie nun dieſe Ordnungen feſtſtehen, ſo
bildet ſich dem entſprechend auch ein Organismus innerhalb der Berufs-
genoſſen, welcher eben ſo feſt und dauernd wie jene Regeln ſelbſt die
Vollziehung des Berufes bewacht und ordnet. Naturgemäß ſchließt ſich
die ſo entſtehende Berufsgenoſſenſchaft dann von der übrigen Gemein-
ſchaft immer zunächſt in Beziehung auf ihren Beruf und ſeine Voll-
ziehung ab, da ſie den Grundſatz feſthalten muß, daß ſie, die ihr ganzes
Leben und ihre ganze Kraft dazu hergibt den Beruf zu vollziehen, auch
[512] am beſten, ja ausſchließlich fähig ſei, die Aufgaben des eigenen Berufes
zu beurtheilen. Die Berufsgenoſſenſchaft erhebt ſich dadurch zur aus-
ſchließlichen Herrſchaft über die Erfüllung ihres Berufes in der menſch-
lichen Gemeinſchaft; und wo immer eine Herrſchaft entſteht, da muß
ſie ſich einen ihr eigenthümlichen Beſitz ſchaffen, der die wirthſchaft-
lichen Bedingungen ihrer Thätigkeit darbietet. Mit dieſem Beſitze, der
nun in der ſtändiſchen Epoche natürlich nur ein Grundbeſitz iſt, entſteht
für die Berufsgenoſſenſchaft eine neue Stellung. Der Grundbeſitz iſt
die Baſis der Theilnahme am öffentlichen Recht des Staats, an der
Vertretung in den Ständen. Die Berufsgenoſſenſchaft wird daher ein
Glied der Stände oder des Landtages, und dieſer Eintritt in den
Landtag enthält die ſtaatliche Anerkennung derſelben und ihrer ganzen
inneren Ordnung; mit derſelben wird aus dem Verein der Berufs-
genoſſen das, was wir eine Corporation nennen. So tritt die
Corporation auf als ein anerkanntes Glied der ſtändiſchen Verfaſſung,
und nimmt damit das Recht der ſtändiſchen Selbſtändigkeit nicht bloß
für ihren Beſitz, ſondern auch für ihre innere Ordnung in Anſpruch.
Durch die Corporation wird die ganze Berufserfüllung eine ſtändiſche,
und die Abſchließung derſelben vom Einfluß des Staats zu einem Prinzip
des öffentlichen Rechts. Das nun iſt der Punkt, auf welchem bei höherer
Entwicklung des Staatslebens der Widerſtreit mit dem Staate nicht
ausbleiben kann. Der Inhalt der Berufsthätigkeit gehört ſeinem Weſen
nach unzweifelhaft dem Geſammtleben des Volkes; der Staat aber iſt
die perſönliche Einheit dieſes Geſammtlebens. Je höher die Entwicklung
des Staats ſteht, um ſo mehr muß daher auch derſelbe den Werth
einer tüchtigen Berufserfüllung anerkennen und die Verantwortlichkeit
für denſelben übernehmen. Seinem Streben, dies zu thun, ſteht aber
das Recht der ſelbſtändigen Corporation mit der meiſt ſtreng geordneten
und ausdrücklich anerkannten Selbſtverwaltung ihrer Intereſſen und
ihrer Berufspflichten entgegen. In dieſem Gegenſatze erſcheint nun in
den meiſten Fällen ein Ausweg, den eben derſelbe Fortſchritt des
Geſammtlebens bietet, der jenen Gegenſatz ſelber erzeugt. Die Corpo-
rationen als ganz ſelbſtändige Körperſchaften ſind auf ſich ſelbſt und
mithin auch auf ihren eigenen Beſitz angewieſen. Derſelbe genügt all-
mählig den wachſenden Anforderungen an den Beruf nicht. Es muß
daher der Staat aus ſeinen Mitteln Beiträge leiſten. Für dieſe Bei-
träge fordert er dann die Theilnahme an der bisher ſtrenge von ihm
abgeſchiedenen Verwaltung der Corporation, und zwar in dem Maaße
mehr, je mehr er ſelbſt beitragen muß. Dieſe Theilnahme aber wird
naturgemäß allmählig eine Umgeſtaltung der Corporation ſelbſt. Sie
wird, indem der Staat den Haupttheil der Mittel hergibt, auch ihrem
[513] Hauptinhalte nach aus einer Corporation eine Staatsanſtalt. Das
letztere iſt zunächſt die materielle Folge des erſtern; vom höheren Stand-
punkt aber iſt es vielmehr ein organiſcher Entwicklungsproceß. Denn
in der That kann nur im Staate die Verwaltung der höchſten allge-
meinen Intereſſen des Geſammtlebens liegen, und die Abſcheidung vom
Staate iſt durch die Individualiſirung der erſtern eine Gefährdung des
letztern. Auf dieſem Punkte nun fragt es ſich, ob und in wie weit
noch von einer Selbſtverwaltung der Corporation die Rede ſein
kann. Und dieſe Frage kann nicht einfach beantwortet werden. Man
muß vielmehr hier zuerſt die Arten der Corporation, und dann das
Weſen der Stiftungen und ihr Verhältniß zur Corporation unterſcheiden.


Der oben bezeichnete allgemeine Gang der Dinge erklärt es näm-
lich, daß der Ausdruck und die Principien des corporativen Rechts auf
verſchiedene Dinge in der ſtändiſchen Welt Anwendung finden, die zum
Theil nur ſehr uneigentlich den Namen einer Corporation führen.
Zuerſt gehören dahin diejenigen Formationen der ſtändiſchen Welt,
welche wir als die ritterſchaftlichen oder Adelscorporationen be-
zeichnen müſſen, und die im Grunde nur Vereine zu gewiſſen ſtän-
diſchen Zwecken, oft mit, oft ohne eigenen Grundbeſitz ſind, als ſolche
aber in der ſtändiſchen Verfaſſung einen beſtimmten Platz haben. Bei
dieſen iſt natürlich von einer Berufsgenoſſenſchaft nicht die Rede, und
man muß ſie daher auch nur als Corporationen im uneigentlichen Sinne
betrachten. Sie haben aus demſelben Grunde mit der Verwaltung des
Staats nichts zu thun, ſondern auf Grundlage ihres Grundbeſitzes und
zuweilen auch der noch erhaltenen Anerkennung ihrer landſtändiſchen
Rechte erſcheinen ſie in der Verfaſſung mit dem Rechte zur Wahl der
Volksvertreter, zuweilen mit Virilſtimmen, da wo das ſtändiſche Element
der Verfaſſung noch erhalten iſt. Von einer Selbſtverwaltung iſt bei
ihnen daher auch nur dann die Rede, wenn ſie zufällig ein beſtimmtes
eigenes Vermögen haben; das aber nimmt eben dadurch, indem es für
ganz beſtimmte Zwecke verwendet wird, den Charakter einer Stiftung
an, und fällt damit unter die Grundſätze, welche für die Verwaltung
derſelben gelten. So verſchwindet dieſe erſte Form der Corporationen
mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Ein ähnliches
Schickſal hat die zweite Form, die wir als die ſtädtiſche Form der
Corporationen, die gewerblichen Corporationen, bezeichnen müſſen.
Die Gründe, weßhalb, und die Ordnung, in welcher ſich dieſe Gewerbe
zu ſelbſtändigen Corporationen ausgebildet haben, ſind bekannt und
gehören der Geſchichte des ſtädtiſchen Lebens. Meiſtens aber haben
dieſelben zwei Hauptzwecke zugleich gehabt, und ihr Schickſal iſt je nach
dieſen Zwecken ein verſchiedenes. Der erſte war der, das Gewerbe ſelbſt
Stein, die Verwaltungslehre. I. 33
[514] zu ordnen; daraus wurden ſie zu derjenigen Form, in welcher das
Gewerbe in die ſtädtiſche Verfaſſung hineintrat. In letzter Beziehung
verſchwinden ſie natürlich mit dem neuen Gemeinderecht; in erſterer
Beziehung erhalten ſie ſich bis zum Eintreten der Gewerbefreiheit; in
beiden aber verſchwinden ſie mit dem Eintreten der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft. Ihr zweiter Zweck war dagegen ſchon urſprünglich ein
anderer, in der Begränzung und Ausführung vielfach modificirter, im
Princip dagegen beſtändig gleichartiger. Es war der einer gegenſeitigen
Unterſtützung der Gewerbsgenoſſen. Dieſer Zweck erzeugte einen eigenen
Beſitz, bald ein Haus, bald ein Grundſtück, meiſt eine „Lade“, immer
aber irgend ein Objekt einer wirthſchaftlichen Selbſtverwaltung. Natür-
lich blieb dieſes Element auch noch in der Epoche der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft; aber durch das allein waren jene Corporationen nicht mehr,
was ſie geweſen; ſie verſchwanden als ſolche und wurden, gerade wie
die Adelscorporationen, zu Stiftungen. Die dritte Form dagegen bildet
die eigentliche Corporation, die wir als die Berufscorporation
bezeichnen. Eine eigentliche Corporation nennen wir ſie, weil das Objekt
ihrer Selbſtverwaltung den Organismus und die Thätigkeit einer Berufs-
erfüllung, mithin ein wirklich allgemeines und auch in der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft dauerndes Element betrifft. Ihr Inhalt iſt eben
deßhalb ein doppelter: erſtlich allerdings ihr Beſitz und deſſen Verwal-
tung, dann aber die Erfüllung des Berufes durch die Berufsmitglieder.
Und hier iſt es nun, wo man auch in unſerer Zeit noch von eigent-
lichen Corporationen und ihrer Selbſtverwaltung reden kann, und wo
daher Staat und Selbſtverwaltung ſich berühren, ſich durchdringen, oft
aber zum Gegenſatze kommen. Um hier die Gränze zu ziehen, muß man
unterſcheiden, und zwar zwiſchen dem Beſitz und dem Berufe.


Der Corporationsbeſitz nämlich hat faſt immer eine zweifache Wid-
mung. Erſtlich iſt er für die berufsmäßigen Aufgaben der Corporation
beſtimmt; zweitens erſcheint er als beſondere, mit dem Berufe zuſam-
menhängende Stiftung. Wo das letzte der Fall iſt, da treten natürlich
die Rechte und Verhältniſſe der Stiftungen ein. Wo dagegen das erſte
der Fall iſt, da geſchieht, was wir oben bezeichnet haben. Es liegt im
unbezweifelten Weſen des Staats, die Ordnung, in welcher ein Beruf
überhaupt erfüllt werden ſoll, zu beſtimmen. Es kann kein Recht geben,
das ihm dieſes Recht abſolut entzöge. Nicht einmal das eigene Geſetz
des Staats nimmt es ihm, noch weniger die Anerkennung des Rechts
der Selbſtverwaltung einer Corporation. Denn dieſe Anerkennung iſt
nicht das Zuſprechen eines Privatrechts, wie bei der Stiftung, ſondern
die Beſtimmung über die Vollziehung einer Funktion, welche im Begriffe
der Gemeinſchaft der Menſchen liegt. In jener Anerkennung ſteht nicht
[515] eine einzelne Perſönlichkeit einer andern einzelnen, ſondern der allge-
meinen Perſönlichkeit entgegen, und es wird daher von der Corporation
niemals ein Privatrecht auf die beſtimmte Ordnung in der Vollziehung
und Selbſtverwaltung ihres Berufes gewonnen. Das Weſen des Staats
fordert daher, daß der Staat auch die Verwendung des Beſitzes der
Corporation für ihre Berufserfüllung zu allen Zeiten nach ſeinem Willen
beſtimme; ſelbſt in dem Falle, wo die corporativen Mittel ohne Staats-
hülfe für den Beruf ausreichen, um ſo entſchiedener, wo der Staat
dieſe Mittel ergänzen muß. Es kann daher kein Zweifel ſein, daß die
Funktion der Corporationen in Bezug auf die Selbſtverwaltung des
Berufes im Grunde die Uebertragung einer ſtaatlichen Zuſtändig-
keit
auf die Organe der Corporation enthalten, daß dieß, wenn auch
nicht klar empfunden und noch weniger geſagt, ſchon als bei der Grün-
dung der Corporation gedacht angenommen werden muß, und daß daher
das Geſetz des Staates trotz der geſetzlichen Anerkennung der corpora-
tiven Selbſtverwaltung die letztere in jedem Augenblick eben ſo gut
ändern kann, wie jedes andere Geſetz über die ſtaatliche Organiſation.
An dieſes Rechtsprincip der corporativen Selbſtverwaltung ſchließt ſich
allerdings das zweite, politiſche Princip, daß es naturgemäß iſt, dieſe
Verwaltung, wenn auch im Namen des Staats, doch immer durch die
Organe der Corporation vollziehen zu laſſen, welche Weſen und
Aufgabe des Berufes natürlich am beſten kennen. Und man muß daher
im Ganzen das organiſche Verhältniß der corporativen Selbſtverwaltung
nunmehr dahin beſtimmen, daß es nur noch Corporationen des
Berufes
gibt, und daß in der Selbſtverwaltung derſelben der Staat
naturgemäß die geſetzgebende, die Corporation die vollziehende
Gewalt
im weiteſten Sinne des Wortes, alſo die organiſatoriſche,
die Verordnungs- und die Polizeigewalt für alle die Vollziehung
des Geſetzes über die Berufserfüllung betreffenden Verhältniſſe habe.


Im Großen und Ganzen iſt dieſer aus der Natur der Sache ſich
ergebende Grundſatz nun auch der, den wohl ſo ziemlich alle Geſetz-
gebungen und Verwaltungen faktiſch und rechtlich anerkannt haben und
durchführen. Nur iſt es ſehr ſchwer ein rechtbegründetes Urtheil dar-
über zu haben, weil überhaupt das Weſen der Corporationen noch keiner
wiſſenſchaftlichen Unterſuchung unterworfen iſt, und eben daher das
Material mit Ausnahme eines Gebietes, der Univerſitäten, faſt gänzlich
fehlt. Dennoch dürfte die Stellung derſelben kaum weſentlich von dieſer
organiſchen Stellung dieſes Gebietes der Selbſtverwaltung abweichen.
Ein ganz anderes Verhältniß dagegen tritt bei den Stiftungen ein,
in welchen das Moment der Verwaltung dem Einzelwillen gegenüber
faſt ganz verſchwindet und der erſtern nur noch ein Recht der Ober-
[516] aufſicht bleibt. Man muß zu dem Ende das Weſen der Stiftungen ſo
ſcharf als möglich, namentlich den Corporationen gegenüber, beſtimmen,
da man im gewöhnlichen Leben oft beide ganz verwechſelt, und die
Theorie hier gänzlich ſchweigt.


Es iſt eine gewiſſe Schwierigkeit, die im Laufe der hiſtoriſchen Entwick-
lung liegt, über den Begriff der Corporationen einig und klar zu ſein; der
Ausdruck hat im gewöhnlichen Sprachgebrauch zwei weſentlich verſchiedene Be-
deutungen. Zuerſt verſteht man unter Corporation eine ſogenannte juriſtiſche
Perſönlichkeit überhaupt; dann erſt denkt man ſich den eigentlichen Verwaltungs-
zweck hinzu. Dadurch kommt man leicht dazu, jede juriſtiſche Perſönlichkeit
eine Corporation zu nennen, indem man das Recht einer ſolchen juriſtiſchen
Perſönlichkeit eben als das Recht eine Corporation zu ſein bezeichnet. Man
begreift daher im Allgemeinen auch alle Körper der örtlichen Selbſtverwaltung,
namentlich der Gemeinden, unter dem Begriff der Corporation, und indem
man das thut, iſt offenbar der ſpecifiſche Begriff derſelben verflüchtigt. Daher
kommt dann die an ſich merkwürdige Erſcheinung, daß wir in der allgemeinen
deutſchen Staatsrechtslehre, wie bei Zachariä, Zöpfl, Klüber u. ſ. w. gar
nichts über Corporationen finden, und ſelbſt in den territorialen Staatsrechten
erſcheinen ſie bei einigen gar nicht, wie bei Milhauſer (Sachſen), Weiß
(Heſſen), Schweizer (Sachſen-Weimar), Pfiſter (Baden), während Rönne
ſie ganz mit den Vereinen, inſofern dieſelben juriſtiſche Perſönlichkeiten ſind,
verwechſelt (I. 100), woran freilich die Verfaſſung von 1850 Schuld iſt, die
unter „Corporationsrechten“ geradezu nur die Rechte der juriſtiſchen Perſönlichkeit
verſteht (Art. 31); dennoch iſt der Unterſchied klar genug. Eine Corporation
iſt allerdings eine juriſtiſche Perſönlichkeit, aber eine ſolche, die ein eigenes Ver-
mögen für einen beſtimmten Verwaltungszweck beſitzt, ohne daß dieß Vermögen
ein gemeinſchaftliches Eigenthum ihrer Mitglieder wäre. Das erſte unterſcheidet
ſie ſehr klar von der juriſtiſchen Perſönlichkeit der Gemeinde, das zweite von
der der Vereine. Aber gerade dieſe ihre Natur hat ſie, mit dem Uebergange
der Verwaltung an die Staatsgewalt, faſt ganz aufgelöst, ſo daß ſie nur noch
in wenigen Erſcheinungen daſtehen, nachdem auch die gewerblichen Corporationen
der Zünfte und Innungen vor der Gewerbefreiheit verſchwunden ſind. Die
Corporationen haben ſich dadurch auf ihr eigenthümliches Gebiet zurückgezogen;
ſie erſcheinen nur noch als Corporationen des geiſtigen Berufes, der Kirche und
der Wiſſenſchaft. Sie müſſen daher jetzt als die Selbſtverwaltungsge-
meinden des geiſtigen Lebens
betrachtet werden. In dieſem Sinne hat
es eine Bedeutung, ſie nicht zu reinen Staatsanſtalten werden zu laſſen, na-
mentlich in Deutſchland und Frankreich, wo die Selbſtverwaltung noch ſo un-
vollkommen entwickelt iſt. Das nun, was dieſe Corporationen davor bisher
geſchützt hat, iſt das ſtändiſche Princip. In Frankreich lebt das ſtändiſche
Element nur noch in der Selbſtändigkeit der Kirche und der Begriff der „Cor-
poration“ iſt daher durch wiſſenſchaftliche Selbſtverwaltungskörper gar nicht
vertreten, wohl aber durch die Confréries und Congrégations réligieuses,
welche die einzigen Corporationen in Frankreich bilden. In England iſt die
[517] Corporation der Sache nach in Kirche und Univerſität enthalten, und in einigen
formalen Reſten der alten Zünfte, die aber keinen adminiſtrativen Inhalt mehr
haben, ſondern nur noch als geſellige Vereine höheren Ranges fungiren. Der
Ausdruck „to-incorporate“ und „corporation“ bedeutet aber in England nicht
das, was wir unter Corporation verſtehen, ſondern nichts anderes, als die
geſetzliche Anerkennung der juriſtiſchen Perſönlichkeit, und findet daher nur auf
die Gemeinden und auf das Vereinsweſen Anwendung (Gneiſt I, §. 124). In
Deutſchland iſt man wie geſagt auch in den Geſetzen nicht klar, geſchweige denn
in der Theorie; denn es kommt wohl vor, daß wie in der kurheſſiſchen Ver-
faſſung (Abſ. V) die Ueberſchrift „von ritterſchaftlichen Körperſchaften“ lautet,
ohne daß von Körperſchaften überhaupt die Rede wäre. In Preußen ſind
nach der allgemeinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 die Reſte der
alten Innungen noch als „Corporation“ förmlich anerkannt, und auch mit den
entſprechenden Rechten in Betreff des Betriebes (Oberaufſicht über gewiſſe Ge-
werbeverhältniſſe u. ſ. w.) ausgerüſtet (RönneII, §. 409 ff.). Daneben ſtehen
die kirchlichen Corporationen. In Bayern ſind nur die Univerſitäten, die
öffentlichen Religionsgeſellſchaften und die Gemeinden als Corporationen anerkannt
(Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 86). — Wenn einmal das organiſche Weſen und
die Beſonderheit der Corporationen anerkannt ſein wird, wird man auch im
Stande ſein, mehr darüber zu ſagen; bis jetzt fehlt ſelbſt das Material, mit
Ausnahme der Univerſitäten und ihrer Rechte.


3) Die Stiftungen und ihre Verwaltung.

Eine Stiftung entſteht, wenn ein Vermögen beſtimmt wird, das
für die Verwirklichung eines an ſich allgemeinen Zweckes in einer ein-
zelnen Perſon oder in ganz begränzten Verhältniſſen dauernd verwendet
werden ſoll. Jede Stiftung hat daher beide Momente, das allgemeine
der Verwaltungsaufgabe, und das individuelle des Stifters und ſeines
perſönlichen Willens in ſich. Durch das erſte gehört ſie der Staats-
verwaltung, durch das zweite dem Leben der perſönlichen Willkür; ſie
iſt ſtets die Erfüllung des Staatszweckes nach der willkürlichen Meinung
des Einzelnen. Das Recht der Stiftungen beſtimmt ſich mithin nach
beiden Elementen zugleich. Daſſelbe fordert zuerſt die Anerkennung
des Staats, welche die Erklärung enthält, daß Zweck und Verwendung
des geſtifteten Vermögens mit dem Staatszwecke nicht im Widerſpruche
ſtehen. Das Vermögen der Stiftung verliert dadurch den Charakter
des Privateigenthums, und wird ein Theil des öffentlichen Gutes. Es
folgt, daß, wenn der Staat die Stiftung nicht anerkennt, das Ver-
mögen wieder Privateigenthum wird, und dem Erbrecht anheimfällt,
oder herrenloſes Gut wird. Es folgt ferner, daß der Staat das Recht
hat, die Stiftung ſelbſt aufzuheben, wenn ſie mit den Zwecken ſeiner
Verwaltung in offenen Widerſpruch tritt. Allein ſo lange ſie beſteht,
[518] iſt die Verwendung derſelben in der Form gegeben, in welcher der
Stiftende ſie gewollt hat; an dieſer kann der Staat nichts ändern,
und man wird ſie darum, da ihr Zweck ſtets im Gebiete der Staats-
verwaltung ſelber liegt, eine Staatsverwaltung nennen. Es folgt dar-
aus, daß im Falle die von der Stiftung geforderten Organe ihrer Ver-
waltung nicht mehr gefunden werden können, der Staat nicht das Recht
gewinnt, darum die Stiftung aufzuheben, ſondern er muß ſie vielmehr
als eine hereditas jacens betrachten, und ſie unter eine Vermögens-
verwaltung ſtellen, welche in ihrer Thätigkeit genau den Vorſchriften
der Stiftung gemäß zu verfahren hat. Die Oberaufſicht, welche die
Staatsverwaltung über die Verwaltung der Stiftungen hat, iſt eben
darum nie etwas anderes, als eine Form der Obervormundſchaft,
und die ſtiftungsmäßigen Organe der Verwaltung ſind daher ganz nach
dem Rechte der Vormünder zu behandeln. In zweifelhaften Fällen,
in denen es ſich bei der Verwendung der Stiftung um die Gränze der
Berechtigung der Organe dieſer Stiftungsverwaltung handelt, muß
daher auch das Vormundſchaftsrecht entſcheidend ſein, und die Befugniß
der Organe der Verwaltung nach dieſem Rechte ausgedehnt, die Ent-
ſcheidung darüber aber der oberſten vormundſchaftlichen Behörde über-
geben werden.


Dieſer letzte Satz erleidet nur da eine Aenderung, wo die Stif-
tungen nicht von eigends eingeſetzten Organen, ſondern von einer Cor-
poration verwaltet werden. In dieſem Falle erſcheinen die Stiftungen
als dem Berufe angehörig, welche die Corporation ſelbſt verwaltet,
und die Aenderung in der Organiſation des Berufes, welche von der
Geſetzgebung beſtimmt wird, muß daher auch als eine in der Stiftung
ſelbſt enthaltene und für ſie zuläſſige angeſehen werden. Die höchſte
leitende Gewalt iſt in dieſem Falle auch nicht mehr die obervormund-
ſchaftliche Behörde, ſondern das Miniſterium der Berufe, das
Miniſterium des Cultus und Unterrichts, ſelbſt in dem Falle, wo, wie
bei den Hoſpitälern, die Ausübung der Stiftung eine ſociale Bedeu-
tung hat, und daher mit dem Miniſterium der ſocialen Fragen, dem
Innern, in Verbindung ſteht. — Es verſteht ſich dabei, daß die Stif-
tungsurkunde in jedem Falle maßgebend ſein muß; es wäre wohl eine
der Wiſſenſchaft der Verwaltung würdige Aufgabe, auf Grundlage
dieſer Urkunden einmal den hiſtoriſch entſtandenen und gegebenen Orga-
nismus wie die Vertheilung der Stiftungen in irgend einem Lande mit
voller Vollſtändigkeit und wiſſenſchaftlicher Beherrſchung darzuſtellen.
Das ſo gewonnene Bild würde nicht bloß großen hiſtoriſchen Werth
haben, ſondern es würde uns auch zeigen, nach welchen Richtungen
und in welchen Formen das Individuum in den verſchiedenen Epochen
[519] die Aufgaben der Verwaltung auffaßt, und namentlich die nächſten
Bedürfniſſe derſelben verſteht, um ſo mehr, als wir derartige Arbeiten
gänzlich entbehren.


Wir glauben, daß trotz der großen Verſchiedenheit der Stiftungen in Be-
ziehung auf ihre innere und äußere Ordnung, doch gewiſſe gleichmäßige Grund-
ſätze bei ihnen durchgreifen werden. Nur fehlt uns dafür ſo gut als alles
Material; denn bei einem ſolchen Gegenſtande iſt wenig Stoff ſo gut als gar
keiner. Wir müſſen deßhalb hier zuerſt die Hoffnung und den Wunſch aus-
ſprechen, die uns bei dem Vereinsweſen in noch viel höherem Maße lebendig
werden, daß die große, theils adminiſtrative, theils nationalökonomiſche Wichtig-
keit der Sache beim deutſchen Bunde eine Inſtitution hervorrufen möge,
welche die genaue Statiſtik dieſes ganzen Gebiets zu pflegen hätte, wie ſie
England für einen Theil ſeiner Vereine bereits beſitzt. Wir ſind überzeugt,
daß man derſelben auf die Dauer nicht wird entbehren können; möchten dieſe
wenigen Worte dazu beitragen, auch die Staatsrechtslehrer Deutſchlands für
einen Wunſch zu gewinnen, den alle Nationalökonomen und Statiſtiker ohnehin
mit uns theilen werden. In den bisherigen allgemeinen Bearbeitungen ſowohl
des öffentlichen Rechts als der Verwaltungslehre hat ſich nur Mayer (Grund-
ſätze des Verwaltungsrechts
, 1862, §. 78) mit den „Stiftungsſachen“
etwas genauer beſchäftigt, allerdings mit zu vorwiegender Berückſichtigung geiſt-
licher Stiftungen. Für Baden gilt Spohn, Grundzüge der rechtlichen Stel-
lung und adminiſtrativen Behandlung der Stiftungen in Baden (Magazin für
Rechtspflege IV, 110.) Das Recht der bayeriſchen Stiftungen iſt ſehr klar
und gut bei Pötzl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 88 u. §. 118); die Ver-
waltung derſelben von Mayerhofer, Theoretiſch-praktiſches Handbuch zur
Verwaltung des Stiftungs- und Communalvermögens in Bayern, 2. Aufl.
1843. Ueber die Oberaufſicht über die Verwaltung der Stiftungen in Bayern
ſiehe Pötzl (Bayeriſches Verwaltungsrecht S. 42). Rönne hat merk-
würdigerweiſe gar nichts. — Ueber Württembergs Stiftungsweſen Ro-
bert Mohl
(Württembergiſches Staatsrecht II, §. 204), der jedoch die Stif-
tungen nur als zum Armenweſen gehörig auffaßt, was jedenfalls zu eng iſt.
— Für Familienſtipendien in Bayern Verordnung vom 30. Oktober
1807 und 1812. Den Grundgedanken für alles deutſche Stiftungsweſen
ſpricht wohl der Reichsdeputationshauptſchluß 1803, §. 65 aus: „Fromme
und milde Stiftungen ſind zu conſerviren wie jedes Privateigenthum, doch ſo,
daß ſie der landesherrlichen Aufſicht und Leitung untergeben bleiben.“ — Vgl.
ZöpflI, §. 104. Jedenfalls wird das Stiftungsweſen zwar dem Princip
nach ſtets dem Organismus der Selbſtverwaltung angehören müſſen, während
die einzelnen Stiftungen allerdings unter die einzelnen Zweige der inneren
Verwaltung, und zwar entweder unter das Bildungs- oder unter das Hülfs-
und Armenweſen fallen, was für die Statiſtik derſelben maßgebend ſein wird.
Ueber das Stiftungsweſen und ſein Recht in England, namentlich über die
Oberaufſicht des Staats und das Recht der Corporationen, ſich ſelbſt bye laws
zu geben, ſiehe GneiſtII, §. 125 u. unten.


[520]

Viertes Gebiet.
Das Vereinsweſen.


I. Die Begriffe von Berein und Verbindung.


Der vierte große Organismus, durch welchen das Geſammtleben
die Aufgaben vollzieht, welche im Begriffe der Verwaltung liegen, iſt
das Vereinsweſen.


Das Vereinsweſen iſt gegenüber den beiden andern Organismen,
der ſtaatlichen Verwaltung und der Selbſtverwaltung, bei weitem der
jüngſte Theil. Es iſt in ſeinem wahren Inhalt in der That erſt in
unſerem Jahrhundert entſtanden, und niemand vermag noch die Gränze
deſſelben zu beſtimmen. Um ſo wichtiger iſt es, gerade in der Unbe-
ſtimmtheit, die über daſſelbe herrſcht, und gegenüber der großen Macht,
welche es ſchon jetzt entfaltet und die vorausſichtlich noch viel größer
zu werden beſtimmt iſt, das eigentliche Weſen deſſelben und die abſo-
luten Principien ſeiner Organiſation feſtzuſtellen. Dieß nun wird aller-
dings zu gleicher Zeit ſchwieriger und leichter dadurch, daß gerade das
Vereinsweſen, und namentlich als Theil der Verwaltungslehre, aller
Vorarbeiten entbehrt, und die Wiſſenſchaft hier daher ein ganz neues
Gebiet zu erobern hat.


Zu dieſem Zwecke iſt es nothwendig, zuerſt den Begriff des Vereins-
weſens, und damit ſeinen weſentlichen Unterſchied von der ſtaatlichen
wie von der Selbſtverwaltung feſtzuſtellen. Dann laſſen ſich die Elemente
der Geſchichte deſſelben anreihen, um von ihnen aus den gegenwärtigen
Standpunkt deſſelben zu beſtimmen, und daran wird ſich dann Princip
und Syſtem des Vereinsweſens und Vereinsrechts leicht anſchließen.


I. Wir nennen allerdings im gewöhnlichen Leben jede Verbindung
Mehrerer, in welcher ſie für einen gemeinſchaftlich beſtimmten Zweck
gewiſſe Mittel und Thätigkeiten hingeben, einen Verein. In dieſem
Sinn gehört der Verein jedoch nicht in die Verwaltungslehre. Ein
Verein im Sinne der Verwaltung entſteht erſt dann, wenn der Zweck,
für welchen ſich die Einzelnen verbinden, ein ſtaatlicher Zweck iſt,
wenn die Leiſtungen der einzelnen Theilnehmer nach freier Vereinbarung
dauernd geordnet, und die Theilnahme der letzteren an der Geſammt-
thätigkeit eine principiell anerkannte und freie iſt. Der Verein iſt damit
durch ſeinen Zweck ein Theil des Verwaltungsorganismus, durch die
Rechte der Mitglieder die freieſte Form des letzteren; gebildet durch den
ſelbſtbeſtimmten Willen Aller, wird er durch dieſen Willen Aller ge-
leitet; er beruht daher auf dem Grundſatz der ſtaatlichen Entwicklung,
[521] des Fortſchrittes aller Einzelnen durch die gemeinſchaftliche Kraft, und
das beſtimmt ſein Verhältniß zur Idee des Staats im Allgemeinen,
und zur Verwaltung deſſelben im Beſonderen. Er wirkt durch den
Grundſatz der gleichen Berechtigung aller Mitglieder innerhalb des
Vereins, und das beſtimmt ſein Verhältniß zur geſellſchaftlichen Ord-
nung. Der Verein, ſeinem Begriffe nach, kann ſich daher zwar nur
Zwecke des Staats, aber er kann dafür dieſe Zwecke in allen Formen,
auf jedem Punkte, in jeder Ausdehnung ſetzen; er muß zweitens ſeine
innere Ordnung auf Grundlage der gleichen Berechtigung der Mitglieder
aufſtellen, aber auf dieſer Grundlage kann er ſie dafür geſtalten, wie
er will. Es ſind daher unendlich viele Vereine in unbeſtimmbarer Zahl
von Ordnungen denkbar; aber dennoch haben alle in den obigen Prin-
cipien ihre gemeinſamen Grundlagen. Und nun nennen wir die Ge-
ſammtheit aller Vereinsbildungen, aller ihrer Thätigkeiten, ihrer Ver-
hältniſſe zur Staatsverwaltung und ihrer inneren Ordnungen das
Vereinsweſen. Das Vereinsweſen unterſcheidet ſich daher als ſelb-
ſtändiges Gebiet der Verwaltung von der ſtaatlichen Verwaltung und
ihrem Organismus dadurch, daß es nicht durch die Idee des perſön-
lichen Staats gegeben iſt und daß es daher in Organismus, Funktion
und Verantwortlichkeit auch nicht vom Verfaſſungs- oder Verwaltungs-
organismus des Staats abhängt. Seine Organe haben damit ferner
nicht den Charakter der Beamteten, und die Dauer des einzelnen Ver-
eins hängt nicht wie beim Staate von dem Zwecke ab, ſondern liegt
trotz des Zweckes und ſeiner dauernden Forderung in der freien Be-
ſtimmung ſeiner eigenen Mitglieder. Der Verein kann daher weder im
Ganzen noch im Einzelnen die ſtaatliche Verwaltung erſetzen oder über-
flüſſig machen; der ſtaatliche Organismus, indem er ſich an die dauern-
den Zwecke des Staats anſchließt, muß auch in der höchſten Entwick-
lung des Vereinsweſens im Weſentlichen derſelbe bleiben. Das Ver-
einsweſen erſcheint daher gerade wegen ſeines eigenen Hauptmomentes,
der vollen Freiheit aller in ihm Verbundenen, nie als ein Stellver-
treter des Staats, ſondern ſchon dem formalen Organismus nach nur
als eine Erfüllung der ſtaatlichen Ordnung. Es bringt in daſſelbe
nichts, das nicht ſchon im formalen Begriffe des Staats läge, aber es
bringt in dieſen formalen Inhalt die freie Bethätigung des individuellen
Lebens, die Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit der individuellen An-
ſchauungen und Beſtrebungen, die Vervielfältigung der ſtaatlichen Ver-
waltungskraft durch die Vereinigung vieler Einzelner für einen be-
ſtimmten Zweck hinein. Das Vereinsweſen wird damit zu der wahren
und lebendigen Vermittlung zwiſchen dem mechaniſchen Organismus
des Staats und der freien Geſtaltung der ſtaatsbürgerlichen Thätigkeit;
[522] indem es mit dem erſten Zwecke die ſelbſtgewählte Form vereinigt, hebt
es den Gegenſatz auf zwiſchen dem außerhalb des Einzelnen daſtehenden
Staat und dem freien Individuum; indem es das letztere ſich ſelbſt
ſeine Aufgabe für die Gemeinſchaft wählen und vollziehen läßt, ver-
ſchmelzt es auch innerhalb der Verwaltung die Idee der ſelbſtherrlichen
Perſönlichkeit des Staats mit der des freien Staatsbürgerthums, und
ſo bildet es, wenn auch nicht ein nothwendiges und organiſches Glied
des perſönlichen Staats, ſo doch ein nothwendiges und organiſches
Glied des Geſammtlebens der Perſönlichkeiten, in welchem der Staat
ſelbſt wieder nur ein Moment, das Moment der perſönlichen Einheit
dieſer Geſammtheit iſt. Das Vereinsleben iſt daher dasjenige Gebiet,
in welchem die höchſte Idee der thätigen Gemeinſchaft, und mithin
ſpeciell in Beziehung auf die Verwaltung die höchſte Idee der Verwal-
tung ihren Ausgangspunkt findet, indem es die beiden Pole, den per-
ſönlichen Staat und die einzelne freie Perſönlichkeit organiſch vereinigt;
durch daſſelbe erſt verſchwindet auch der theoretiſche Gegenſatz, der in
beiden für ſich beſtehenden Begriffen liegt; es iſt das Gebiet der prak-
tiſchen Anwendung der Vertragstheorie auf das Staatsleben, die weder
durch den reinen Begriff des vertragsmäßigen Staats mit Rouſſeau,
noch durch den reinen Begriff des abſolut ſelbſtbedingten Ich mit Fichte
zur Erſcheinung kommen und der natürlichen Auffaſſung von Staat
und Einzelnen genügen will; und ſo iſt das Vereinsweſen gerade da-
durch nicht ſo ſehr die letzte und höchſte Form, ſondern der letzte Schluß-
ſtein in der Entwicklung des thätigen Staatsbegriffs. So lange man
daſſelbe nicht verſtanden hat, wird demnach ſowohl der Staat als die
individuelle Freiheit nicht harmoniſch verſtanden werden können, und
der Mangel dieſes Begriffes iſt der Hauptgrund, weßhalb die Rechts-
philoſophie mit ihrer theoretiſchen Staatslehre immer, am meiſten aber
in unſerer Zeit, außerhalb des wirklichen Lebens geſtanden hat. Man
kann von jetzt an überhaupt keinen Staatsbegriff mehr entwickeln ohne
den Begriff der Verwaltung, den Begriff der Verwaltung aber nicht
mehr ohne den Begriff des Vereinsweſens.


II. Während aber ſo das Vereinsweſen die Idee des Staats und
ſeiner Thätigkeit mit Freiheit erfüllt, iſt andererſeits die Idee des
Staats eine eben ſo abſolute Bedingung für die Idee des Vereinsweſens.
Denn das Vereinsweſen trägt in ſich gleichfalls, dem einſeitigen Be-
griffe des Staats analog, einen Widerſpruch oder Mangel in ſich.
Während der reine Staatsbegriff nur ſich als ſelbſtbedingte Perſönlich-
keit zum Inhalt hat, hat der Vereinsbegriff weſentlich neben dem, dem
Weſen des Staats angehörigen, alſo innerhalb der Verwaltung liegen-
den Zwecke die volle Freiheit der individuellen Selbſtbeſtimmung für
[523] dieſen Zweck zum Inhalt. Der Zweck iſt daher ein beſtimmter und
dauernder; er muß nach dem Begriffe des Staats und ſeiner Ver-
waltung erfüllt werden; das Mittel, die Verbindung der Einzelnen
zum Verein, iſt dagegen frei; ſie kann den Zweck einſeitig, ſie kann
ihn nur für kurze Zeit, ſie kann ihn gar nicht erfüllen. Der Verein
genügt dem Staatszwecke allein nicht; das Vereinsweſen genügt der
Geſammtheit der Staatsaufgaben oder der Verwaltung nicht. Es iſt
ein gänzliches Mißkennen des Weſens der Verwaltung wie des Staats,
zu glauben, daß für die Aufgaben des letzteren daher jemals das Ver-
einsweſen die Stelle und Aufgabe des Staats und ſeines amtlichen
Organismus erſetzen, und daß ſich daher mit dem Fortſchritte der
Freiheit die ſtaatliche Verwaltung jemals in die Verwaltung durch das
Vereinsweſen auflöſen könne. Im Gegentheil iſt es das Weſen der
ſtaatlichen Verwaltung, dem Vereinsweſen die beiden Elemente zu geben,
die nie im Begriffe des Vereins, ſondern höchſtens in der individuellen
und mithin zufälligen Tüchtigkeit der Vereinsmitglieder liegen, das
dauernde Feſthalten an der Aufgabe, und die Unterordnung der perſön-
lichen oder beſonderen Vereinsintereſſen unter das Bedürfniß und die
allgemeinen Bedingungen des Geſammtlebens. Damit erfüllt wieder
der Staat das Vereinsweſen mit den ihm eigenthümlichen, von ihm
untrennbaren, und doch dem Geſammtleben unentbehrlichen Elementen;
und eben in dieſem Sinne verſtehen wir es, wenn wir in dem Ver-
einsweſen wohl die harmoniſche Erfüllung aber nicht den Erſatz der
perſönlichen Staatsidee erkennen. Dieß gegenſeitige Verhältniß aber
iſt um ſo wichtiger, als auf ihm die großen Grundſätze beruhen, welche
das Vereinsrecht bilden, zu dem wir ſogleich gelangen.


Eben ſo beſtimmt wie von der ſtaatlichen Verwaltung ſcheidet ſich
das Vereinsweſen von der Selbſtverwaltung. Nicht darum, weil es
eine freiere Form iſt, denn der Begriff der freien Verwaltung enthält
nicht wie wir gezeigt haben, einen ſelbſtändigen, von der ſtaatlichen
Verwaltung getrennten Organismus, ſondern bezeichnet nur die orga-
niſche Betheiligung der freien Staatsbürger an den Thätigkeiten der
Verwaltung in allen drei Grundformen. Sondern der Unterſchied
zwiſchen Selbſtverwaltung und Vereinsweſen liegt theils in dem Orga-
nismus ſelbſt, theils in dem Umfange ſeiner Aufgabe. Die Selbſt-
verwaltung hat, wie die ſtaatliche Verwaltung, eine dauernde, an ſich
eine beſtändige und regelmäßige Thätigkeit erfordernde Aufgabe; ſie
kann daher eben ſo wenig wie die ſtaatliche Thätigkeit ſich von dem
freien Willen der Einzelnen abhängig machen, und da ſie die örtliche
Verwirklichung der Bedingungen des Geſammtlebens enthält, hat ſie
die weitere Aufgabe, jede Herrſchaft eines beſonderen Intereſſes über
[524] das Ganze auch in ihrem Gebiete fern zu halten. In dieſer Beziehung
unterſcheidet ſich die Selbſtverwaltung vom Vereinsweſen principiell
genau ſo, wie die ſtaatliche, wenn auch das Folgende viele objektive
Berührungen zwiſchen Selbſtverwaltung und Verein begründet, die
zwiſchen Staat und Verein ſeltener zur Erſcheinung gelangen. Eben
ſo beſtimmt, aber vielleicht klarer, iſt der Unterſchied in Beziehung auf
die Aufgaben beider Organismen ſelbſt. Während nämlich die Selbſt-
verwaltung alle Staatsaufgaben umfaßt, ſo weit ſie nur eine örtliche
Vollziehung bedingen, und die Selbſtverwaltungskörper daher dem amt-
lichen Organismus in ihrer örtlichen Gränze entſprechen, hat ein Verein
immer nur Eine, ganz beſtimmte, zwar von ihm ſelbſt geſetzte, aber
auch durch ihn nicht willkürlich zu erweiternde Aufgabe. Dieſe Aufgabe
eines Vereins wird nun zwar in vielen Fällen eine örtliche Gränze
haben; aber dieſe örtliche Begränzung des Vereinszweckes liegt nicht,
wie bei der Selbſtverwaltung, im Weſen des Vereins, ſondern nur in
ſeinem eigenen Willen; dem Weſen des Vereins nach iſt jeder Vereins-
zweck ein örtlich unbegränzter, ſo daß, wenn er nicht ſelbſt ſeine
örtliche Gränze ſich ausdrücklich geſetzt hat, dieſelbe als für ihn nicht
vorhanden angeſehen werden muß. Und dieſe beiden Momente ſind
ihrerſeits wieder ganz weſentlich für die organiſche Stellung des Ver-
einsweſens. Denn aus dem erſten Punkt folgt dadurch, daß er ſich
auf beſtimmte örtliche Verhältniſſe beziehen kann, ſeine einzelne Be-
deutung; aus dem zweiten Punkte ſeine allgemeine Macht. Er kann
die geſammelte Kraft aller Einzelnen auf ein ganz beſtimmt gegebenes
örtliches Verhältniß hinlenken, und dadurch einen Einfluß auf die
Selbſtverwaltung gewinnen, der größer iſt als die Kraft, welche die
Organe der Selbſtverwaltung ihm entgegenzuſetzen haben. Er kann
daher für ſeine Vereinszwecke die Herrſchaft in der Selbſtverwaltung
gewinnen, das heißt, einen beſtimmten einzelnen Zweck zur Hauptauf-
gabe der Selbſtverwaltung machen. Es iſt möglich, daß das im ein-
zelnen Falle ſehr nützlich iſt; es iſt aber dem Princip nach eine Störung
des organiſchen Lebens der Verwaltung, und hier iſt der Punkt, wo
die Staatsgewalt die Selbſtverwaltung vor der einſeitigen Beherrſchung
durch das Vereinsweſen zu ſchützen, und damit die Harmonie zwiſchen
den großen Organen der Verwaltung aufrecht zu halten hat. Faßt
man nun dieſe verſchiedenen Verhältniſſe zuſammen, ſo ergibt ſich wieder
eine Reihe von organiſchen Beziehungen, einerſeits der Staatsgewalt
zum Vereinsweſen als ſolchen, andererſeits der Mitglieder zum Verein als
Ganzen; und die Geſammtheit dieſer Beziehungen zu einer feſten rechtlichen
Ordnung erhoben, und auf jene tieferen Unterſchiede des Weſens von
der ſtaatlichen und Selbſtverwaltung baſirt, bildet das Vereinsrecht.


[525]

III. Neben dem Vereinsweſen ſteht nun eine zweite Erſcheinung, welche
bei ganz gleichen Formen einen weſentlich andern Charakter hat, und
daher auch einem ganz andern Recht unterliegt. Das iſt das Verbin-
dungsweſen
. Die Verbindung iſt diejenige Art des Vereins, deren
Zweck eine Umgeſtaltung nicht mehr der Verwaltung, ſondern der Ver-
faſſung
des Staats iſt. Ihre Aufgabe iſt es, durch die ihr zu Gebote
ſtehenden Mittel eine von ihr ſelbſt geſetzte Aenderung in der ver-
faſſungsmäßigen Ordnung des Staats hervorzurufen. Die Verbindung
tritt dadurch in einen principiellen Gegenſatz mit den Grundprincipien
des Verfaſſungsrechts. Ihre Tendenz iſt es, durch die Thätigkeit des-
jenigen Theiles der Geſammtheit, welcher ihr angehört als Mitglieder,
das Recht und die Ordnung der Gemeinſchaft zu beſtimmen; ſie will
daher, gleichviel in welcher Intention, eine Herrſchaft eines Theiles
über Alle, eine Unterwerfung des Staatswillens unter den Willen der
Einzelnen, welche der Verbindung angehören. Das iſt ein abſoluter
Widerſpruch im Princip ſelbſt, eine direkte Negation des Staats, der
die perſönliche Einheit Aller iſt. Jede Verbindung iſt daher an und
für ſich im Widerſpruche mit der Staatsidee, und tritt dadurch in
Widerſpruch mit ſich ſelbſt; denn ſie erlaubt nicht, daß neben ihr eine
andere Verbindung eine andere Auffaſſung der Staatsverfaſſung mit
denſelben Mitteln wie ſie verfolge, und ihr wird daher für Andere
daſſelbe zum Unrecht, was ſie für ſich als Recht anerkennt. Dieſer,
ſchon im Begriffe der Verbindung liegende unlösbare Widerſpruch er-
ſcheint nun ſtets in den Mitteln, vermöge deren ſie ihre Zwecke zu
erreichen trachtet. Denn ſie will die Aenderung der Staatsordnung
mit Gewalt in irgend einer Form erzielen; ſie macht daher die äußere
Gewalt zum bildenden Element der Verfaſſung, und tritt damit nicht
bloß ſelbſt als äußerer Feind des Staats auf, ſondern negirt auch das
innere organiſche Princip aller perſönlichen Entwicklung, in welcher die
gegebenen Ordnungen ſtets die Erzeugniſſe geiſtig wirkender Elemente
ſind und ſein ſollen. Die Verbindung kennt ihrerſeits dieß wider-
ſprechende Verhältniß zwiſchen ſich und dem Staate recht wohl; ſie
weiß, daß ſie geradezu ein innerer und zugleich ein äußerer Feind des
beſtehenden Staats iſt, und daß ihre wirkliche Thätigkeit nichts iſt, als
ein organiſirtes Verbrechen. Denn gewiß iſt es das erſte Princip aller
Verbindungen, ſich dem Staate und ſeiner Gewalt zu entziehen; jede
Verbindung iſt grundſätzlich eine geheime Verbindung.


Ihr zweites Princip iſt ein zweiter Widerſpruch mit dem Weſen
des Vereins und der freien Staatsentwicklung, ja mit ſich ſelber; es
iſt der Grundſatz des unbedingten Gehorſams der Glieder gegen
die Leiter des Ganzen. Der unbedingte Gehorſam gehört qualitativ
[526] dem Verbindungsweſen an; ohne ihn kann die Verbindung nicht be-
ſtehen, weil nur er die Vernichtung des, durch den Eintritt in die Ver-
bindung ſelbſt verletzten Rechtsgefühls des Einzelnen als Grundlage
des Beſtehens der Verbindung enthält, und zugleich die Hoffnung auf
den Erfolg ſtatt in die ewig aber ruhig wirkende Kraft der Dinge,
vielmehr in die willkürlich und gewaltſam wirkende Anſtrengung ein-
zelner Individuen verlegt. Mit den obigen beiden Grundſätzen iſt dann
ein dritter verbunden, der Grundſatz, daß die Gleichheit des Rechtes
der Mitglieder
, die das Weſen des Vereins bildet, in den Verbin-
dungen aufgehoben iſt, und an ihre Stelle eine ſtrenge Unterordnung
deſſelben unter einander tritt. Durch dieſen Grundſatz erfüllt ſich der
Widerſpruch der Verbindung auch in der ſocialen Sphäre; die freie
Perſönlichkeit verſchwindet, und an ihre Stelle tritt ein Werkzeug für
einen über ihr ſtehenden unbedingten Willen. Alle dieſe Momente zu-
ſammen machen aus der Verbindung an ſich einen abſoluten Feind der
ſtaatlichen Rechtsordnung, und zwar ganz abgeſehen davon, ob der
ſpezielle Zweck der Verbindung nicht ſchon für ſich betrachtet ein Ver-
brechen enthält, was in der Regel in der Weiſe der Fall iſt, daß die
Vollziehung eines auf die Staatsordnung bezüglichen Verbrechens,
Mord, Aufruhr, Hochverrath, als Mittel für den letzten Zweck der
Verbindung in dieſem Zweck ſelbſt direkt, oder durch die Verpflichtung
zum unbegränzten Gehorſam indirekt aufgenommen iſt. Das recht-
liche Verhältniß der Verbindung im Gegenſatz zum Vereinsweſen ergibt
ſich daher einfach dahin, daß während das letztere als eine organiſche
Erfüllung der freien Verwaltung daſteht, das Verbindungsweſen als
ein organiſirter Feind dieſer Freiheit ſchon an und für ſich, faſt aus-
nahmslos aber auch durch den verbrecheriſchen nächſten oder entfernteren
Zweck Gegenſtand der polizeilichen Thätigkeit der Sicherheitspolizei wird.
Eine Verbindung kann daher nur unbedingt verboten werden,
und die Theilnahme an Verbindungen nur unbedingt ſtrafbar ſein.
Das Kriterium aber für den Unterſchied zwiſchen Vereinen und Ver-
bindungen liegt in den obigen drei Punkten. Jede Vereinigung, die
ſich und ihre Thätigkeit geheim hält, die einen unbedingten Gehorſam
fordert und die eine Unter- oder Oberordnung ihrer Mitglieder durch-
führt, iſt ganz abgeſehen von ihrem Zwecke, eine Verbindung; und
dieſe Verbindung wird durch ihre Zwecke zum Verbrechen. Das Recht
der Verbindungen iſt daher Verbot, ſicherheitspolizeiliche Verfolgung und
Beſtrafung. Es kann damit im Vereinsweſen von den Verbindungen nicht
mehr die Rede ſein, ſie gehören einem ganz andern Gebiete der Staatslehre.


Es iſt ſehr charakteriſtiſch für unſere ganze ſtaatswiſſenſchaftliche Philoſophie,
daß ſie nirgends auch nur zu dem Verſuche gelangt iſt, das Vereinsweſen in
[527] den organiſchen Begriff des Staats aufzunehmen, obwohl ſie ſo viel von dem
Begriffe der „Gemeinde“ und dem der „Geſellſchaft“ redet. Der Grund liegt
eben darin, daß zum wiſſenſchaftlichen Begriffe des Vereins der Begriff und
das Weſen der einzelnen Perſönlichkeit gegenüber der Mehrheit gehört, wäh-
rend man mit dem Begriff der Gemeinſchaft hier nicht weiter gelangt, und daß
andererſeits der Begriff der „Staatsverwaltung“ ein vollkommen klarer ſein muß,
da an ihm erſt der Verein ſeinen objektiven Inhalt und ſein Syſtem empfängt.
Das Vereinsweſen iſt unter allen Theilen des Staatsrechts ohne allen Zweifel
derjenige, der uns am deutlichſten beweist, daß die bisherige perſönlichkeitsloſe
Anſchauung des Staatsbegriffes nicht genügt. Der franzöſiſche Begriff der
Aſſociation hat auf dem Gebiete der Staatswiſſenſchaften nicht durchſchlagen
können, weil man keinen rechten Begriff der Verwaltung hatte, der aus ihm
das Vereinsweſen gemacht hätte. So blieb er in der ſocialen Sphäre ſtecken
(ſ. z. B. J. H. Fichte, Ethik II, §. 97), wozu die noch enge und unent-
wickelte Auffaſſung des Verfaſſers, der die franzöſiſchen Anſchauungen über
das Aſſociationsweſen zuerſt in Deutſchland in ſeinem Socialismus und Commu-
nismus, und ſpäter in ſeiner Geſchichte der ſocialen Bewegung bekannt machte,
viel beigetragen hat. Ich geſtehe, daß auch mir erſt durch den Begriff der
Verwaltung der Begriff des Vereins aus dem der Aſſociation klar geworden.
Es wird auch Andern ſo geſchehen.


II. Hiſtoriſche Entwicklung des Vereinsweſens und des Vereinsrechts.


Hält man den oben aufgeſtellten Begriff des Vereinsweſens feſt,
ſo ergeben ſich die Grundlagen für die Geſchichte der Vereine in ihrer
äußern und inneren Geſtaltung, eine Geſchichte, von der wir nur in
ſehr einzelnen Punkten die Bruchſtücke beſitzen, die aber nirgends zu
einem lebendigen Ganzen verarbeitet iſt. Und dennoch bildet das Ver-
einsweſen in ſeinen verſchiedenen Formen einen hochwichtigen Theil des
Geſammtlebens, namentlich in der germaniſchen Welt. Denn die orien-
taliſche Welt macht durch die abſolute Herrſchaft des Staats den Verein
der freien Staatsbürger unmöglich, die alte Welt macht ihn durch die
Selbſtherrſchaft des Staatsbürgerthums und ihren Mangel an Verwal-
tung überflüſſig; erſt in der germaniſchen Welt kann das Vereinsweſen
entſtehen. Und das Folgende ſoll die Elemente der Entwicklung deſſelben
als Grundlage des Verſtändniſſes unſerer Gegenwart und wenigſtens
unſerer nächſten Zukunft darbieten.


Alles Vereinsweſen nämlich beruht, da es die Gemeinſchaft Gleich-
berechtigter für einen gemeinſamen Zweck organiſirt, ſelbſt auf dem
Princip der bürgerlichen Gleichheit. Wo immer daher ein Vereinsweſen
entſteht, wird es ſtets nur in den Elementen dieſer bürgerlichen Gleich-
heit, und damit in den Elementen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
ordnung ſeine Entwicklung finden. Das Bedürfniß der Vereinigung
[528] liegt nämlich allerdings im Weſen der Perſönlichkeit überhaupt; die
Vereine beginnen daher ſchon mit der Geſchlechterordnung; allein da die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft unbedingt mit der Entwicklung der freien
individuellen Perſönlichkeit und des gewerblichen Beſitzes im Gegenſatz
zum Grundbeſitze überhaupt verbunden iſt, ſo erzeugt erſt das Entſtehen
des gewerblichen Beſitzes das Vereinsweſen als allgemeine Form des
Geſammtlebens, ſchreitet Hand in Hand mit demſelben vorwärts, und
findet ſeine Vollendung erſt in der Herrſchaft der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaftsordnung, das iſt, in unſerem Jahrhundert. Die Entwicklung
des Vereinsweſens in unſerem Jahrhundert iſt daher kein zufälliges,
ſondern ein organiſches Verhältniß; es iſt zugleich mit ſeiner materiellen
Baſis, dieſem gewerblichen Beſitze, in unwiderſtehlicher Entwicklung
begriffen, und verbreitet ſich damit auch über den Grundbeſitz in dem
Maße, in welchem die rationelle Landwirthſchaft den Grund und Boden
als ein gewerbliches Capital behandeln lernt, während es andererſeits
die ſtändiſchen Elemente durch den Werth ergreift, den der gewerbliche
Verdienſt auch für dieſe hat. Allein andererſeits nimmt das Vereins-
weſen eben dadurch auch die geſellſchaftlichen Elemente der Zeit in ſich
auf, in der es entſteht. Die Menſchen, die den Verein bilden, die
Zwecke, für die er gebildet wird, ſind nicht bloß freie Perſönlichkeiten
und Zwecke, ſondern ſie gehören auch ihrer geſellſchaftlichen Epoche
an. Mit den geſellſchaftlichen Unterſchieden kommen daher auch die ge-
ſellſchaftlichen Gegenſätze und Intereſſen in das Vereinsleben ſelbſt
hinein; daſſelbe wird je nach der Zeit, in der und für welche es da iſt,
reicher, tiefer, aber auch einſeitiger; es entwickelt ſich durch das Zu-
ſammenwirken des abſtrakten reinen Weſens des Vereins und der geſell-
ſchaftlichen Faktoren jenes Etwas, das wir den Charakter des Vereins-
weſens einer beſtimmten Epoche nennen, und das uns ſeinen Inhalt
nur zeigt, indem wir es auf die ſocialen Zuſtände und Gegenſätze zu-
rückführen. Das iſt nicht ſchwer, indem wir die großen Grundformen
der geſellſchaftlichen Welt vor Augen haben; es iſt aber der einzige
Weg des wahren Verſtändniſſes dieſer wichtigen Erſcheinungen, und läßt
uns zugleich einen ſehr ernſten Blick in die Zukunft thun, deſſen Trag-
weite ſchwerlich ſchon jetzt jemand verkennen wird. Denn es zeigt ſich
allenthalben, daß die Vereine ſtets allmählig die Gegenſätze in der ge-
ſellſchaftlichen Welt zum organiſchen Ausdruck gebracht haben und auch
künftig bringen werden; darin liegt die einzige, aber auch die wahre
Gefahr des Vereinsweſens; und wo dieſe Gegenſätze wie in der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft namentlich in dem Maße des Beſitzes und in
der Hoffnung wurzeln, durch die Staatsgewalt dieſe wirthſchaftliche
Claſſenordnung und damit auch die geſellſchaftliche ändern zu können,
[529] da wird mancher ernſte Gedanke über dasjenige wach werden müſſen,
was aus dem kaum noch im erſten Aufblühen begriffenen Vereins-
weſen unſerer Gegenwart ſich noch entwickeln kann und wird. Denn
die einzelnen Menſchen leiſten auch da, wo ſie ihre ganze Kraft ge-
brauchen, nur ein Verſchwindendes, und werden nie den Gang der
Dinge, das Leben der großen Organismen der Welt ändern; aber eben
dieß Leben hat ſeine Geſetze, die wir verſtehen können, und nach dieſen
Geſetzen hat es nie geruht und wird es nie ruhen. Wer vermag in
der dunklen Ferne die Geſtaltungen der Welt zu erkennen, die ſich dem
Blicke der Wiſſenſchaft, ja des Glaubens entziehen?


Betrachten wir indeß zunächſt den bisherigen Gang der Geſchichte,
ſo ergeben ſich folgende Grundzüge.


Die erſte Form der Vereine tritt auf in der erſten Form der Ge-
ſellſchaft, der Geſchlechterordnung. Hier iſt ſie zuerſt bloße Waffen-
bruderſchaft, die ſich ſelbſt Ordnungen gibt, Zwecke vorſchreibt, Thaten
vollbringt; die griechiſchen Hetärien ſind die erſte Spur derſelben; in
der römiſchen Welt ſind ſie ohne Zweifel bei den Plebejern vorhanden
geweſen, wenn auch mehr zu politiſchen Zwecken, als Verbindungen
gegen die Patrizier und die Geſchlechterherrſchaft; die alten Germanen
zeigen uns hiſtoriſche Spuren genug, zum Theil in den Gefolgen der Kö-
nige; in der nordiſchen Welt treten ſie, der geſchichtlichen Zeit näher gerückt,
ſogar ganz deutlich hervor in manchen ſehr concreten Geſtaltungen, wie
den Jomsvikingern, dem Gefolge Canuts des Großen mit ſeinem Vither-
lagsrecht, den Gefolgen, die als Heere in das Reich Karls des Großen,
oder als Auswanderer nach Island zogen. Aus dieſer Waffenbruder-
ſchaft wird dann erſt in der zweiten Epoche die Gilde. Die Gilde iſt
eine Waffenbruderſchaft, die aber ſchon ein ganz neues Element in ſich
aufgenommen hat. Man kann die Gilde nicht verſtehen aus den bloß
hiſtoriſchen Dokumenten. Ihre Grundlage iſt vielmehr bereits der ge-
werbliche Beſitz
, der in den jungen Städten, gegenüber den Ge-
ſchlechtern, die als Grundherren die Städte umgeben, ſich zu Waffen-
bruderſchaften, zu Schutz und Trotz ordnet; ſie iſt die ſtädtiſche, ja
genauer die gewerbliche Waffenbruderſchaft. Eben darum aber nimmt
ſie ſofort das gewerbliche Moment in ſich auf, und bildet ſich allmählig
zu einem gewerblichen Verein, der Beſtimmungen über die Ordnung
des Gewerbsbetriebes, über die innere Ordnung der gewerblichen Unter-
nehmungen, Meiſterſchaft, Geſellen und Lehrlinge enthält, und daneben
das natürliche Element der wirthſchaftlichen Hülfe für die Gildegenoſſen
in der wirthſchaftlichen Noth ausbildet, wenn auch nur zuerſt für
Leichengelage und die Meiſterſchaft, doch allmählig übergehend zu einer
Organiſation der Hülfe für die Geſellen und Burſchen auf der Wanderung
Stein, die Verwaltungslehre. I. 34
[530] und in der Krankheit. Daraus entſpringen dann große, ganze Län-
der umfaſſende, aber im Grunde ziemlich inhaltsloſe Geſtaltungen
des Vereinslebens, namentlich für die Geſellen der einzelnen Gewerbe,
unter denen die Maurer ſich am längſten und bedeutſamſten erhalten
haben. Dennoch ſind es dieſe Vereine, welche das örtliche Band der
Gemeinde durchbrechen, und ſchon damals ſich als ganz ſelbſtändig
neben das Gemeindeweſen hinſtellen; ſchon im Beginne der gewerblichen
Welt ſcheiden ſich ſo die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen. Das
Princip der Waffenbruderſchaft indeſſen erzeugt, ſelbſtändig fortwirkend,
ähnliche Geſtaltungen auch unter den Grundbeſitzern, an einigen Orten
wie in Dithmarſchen ſogar die Stellung der eigentlichen Gemeinde ganz
überragend, und die Grundlage der Verfaſſung bildend, in andern Ge-
genden, wie in Weſtphalen, ſich zu einer geheimen Verbindung für die
Strafrechtsverwaltung organiſirend, und in die Vehmgerichte ſogar die
großen Grundherren aufnehmend; in ihrer letzten formloſen, aber den-
noch ethiſchen Geſtalt ſich zur „Ritterſchaft“ erweiternd, die dann wieder,
indem ſie aus dem Unbeſtimmten der Ritterlichkeit heraus ſich entweder
die Poeſie in den Minneſängern zum ſpeziellen Vereinszweck nimmt,
oder in den Ritterorden die Kirche und ihren Kampf, in jenen ſich in
die Entwicklung der Kunſt überhaupt auflöst, in dieſen aber durch den
erworbenen oder eroberten Grundbeſitz in die ſtändiſche Ordnung und
damit in die Verfaſſung übergeht. Trotz dem verliert ſich das Element
der Waffenbruderſchaft als ſolches nicht; es erhält ſich namentlich in
den ſtudentiſchen Verbindungen, den „Nationen“ und „Burſen“; es
überdauert ſogar das vorige Jahrhundert und erſcheint in unſerer Zeit
wieder in den Turnvereinen, mit den ihnen verwandten Schützen- und
Geſangvereinen, die, eine edlere, jugendkräftige Geſtaltung des alten
Lebens, immerhin reich an guten Erfolgen im Kleinen und Einzelnen,
reicher aber an großen Anregungen für die Geſammtentwicklung des
geiſtigen, phyſiſchen und ſtaatlichen Fortſchrittes erſcheinen. So hat
ſich jenes erſte Element hier erhalten und geſtaltet.


Die eigentliche Gilde dagegen, einmal dem wirthſchaftlichen Leben
und ſeinem materiellen Intereſſe zugewendet, ſinkt allmählig in daſſelbe
hinab. Die einzelnen Gewerbe, mit der Entwicklung der Städte zu
ſtark werden, um nur noch Glieder der alten Gilde zu ſein, welche
ſie alle ohne Unterſchied umfaßte, ſcheiden ſich aus und werden ſelb-
ſtändig. Sie ſind und bleiben zwar anfangs noch Vereine, aber dieſe
Vereine ſind ſchon ſo mächtig, daß ſie in der ſtädtiſchen Welt ſelbſtändig
etwas bedeuten. Sie werden daher jetzt, das alte Princip beibehaltend,
zu Waffenbruderſchaften der Gewerbsgenoſſen, aber als ſolche wollen
ſie von einer Herrſchaft der Gemeinde über ihre Gewerbsverhältniſſe
[531] nichts mehr wiſſen; ſie machen ſich zu dauernden Organen ihrer Ge-
werbsangelegenheiten, und zwingen jeden Gewerbsgenoſſen, nicht bloß
beizutreten, ſondern auch ſich den Beſchlüſſen der Geſammtheit des Ge-
werbes zu unterwerfen. So verlieren ſie das, was aus ihnen eigent-
lich einen Verein machte; ſie ſind jetzt vielmehr eine Corporation
mit dauernder Organiſation, anerkannten Rechten und geordneter Thätig-
keit; ſie werden zu den Organen der Gewerbeverwaltung, und ſo
entſtehen die Zünfte und Innungen. Das nun ſind ſchon keine Vereine
mehr, ſondern Körperſchaften der Selbſtverwaltung Das Vereinsweſen
ſchließt ab, das Princip der Ausſchließlichkeit greift Platz, die freie Be-
wegung des Individuums geht verloren, und der Reſt der eigentlichen
Gilde iſt verſchwunden, um dann wieder in einer neuen, aber groß-
artigeren Form aufzuerſtehen.


Die Zeit nämlich, in welcher aus der gewerblichen Gilde die Cor-
poration der Zünfte und Innungen wird, iſt dieſelbe, in welcher das
Princip der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung zum vollen Siege gelangt,
indem es auch die Städte, und in den Städten ſelbſt die geiſtige und
die gewerbliche Arbeit in die ſtändiſche Form der Körperſchaft hinein
zwängt. Die erſten Anfänge der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung,
die in dem jungen urſprünglichen Stadtbürgerthum und ſeinem Gewerbe
gegeben waren, ſcheinen jetzt verloren. Die alten Elemente der Bildung
der neuen Welt ſcheinen erſchöpft; es muß ein neues auftreten, und
das wird zugleich der Beginn einer neuen Epoche für das Vereinsweſen
werden.


Dieſes neue Element iſt nun das große Capital und ſeine Wir-
kung. Mit der Entdeckung Amerikas gewinnt der Handel, ganz abge-
ſehen von ſeinen Objekten, ſeinem inneren Organismus nach eine andere
Geſtalt. Da die Schiffe auf der transatlantiſchen Fahrt jetzt Jahre
lang wegbleiben und große Riſikos laufen, ſo muß das Capital, welches
einen ſolchen Handel betreibt, in dem Grade wachſen, in welchem es
die transatlantiſche Handelsbewegung in ſich aufnimmt. Solchem Unter-
nehmen iſt bald auch der Reichſte nicht mehr gewachſen. Es bleibt
nur Eins übrig, das iſt die Verbindung von großen Capitalien. Allein
zugleich tritt ein zweites hinzu. Die Regierungen ſehen eben in jenem
Handel aus einer Reihe von Gründen, deren Kenntniß wir hier vor-
ausſetzen dürfen, eine weſentliche Quelle des Reichthums und der Macht
ihrer Staaten. Sie begrüßen daher die Bildung ſolcher Gemeinſchaften;
ſie thun mehr, ſie geben ihnen direkte Unterſtützungen, und da ſie kein
Geld beſitzen, ſo geben ſie ihnen wenigſtens, was ſie haben, eine Reihe
öffentlicher Vorrechte. Damit wird aus jenen Societäten etwas anderes
als eine bloß wirthſchaftliche Unternehmung. Sie werden vielmehr
[532] öffentliche Inſtitute, die halb auf dem Princip des freien Vereins, halb
auf dem der Verwaltung beruhen. Das ſind die großen Handels-
Compagnien
, die im 17. und 18. Jahrhundert entſtehen, und ſo
viele und große Dinge durchgeführt haben. Sie ſind die herrſchende
Geſtalt des Vereinsweſens in dieſer Zeit. An ſie ſchließt ſich eine
zweite, die mit ihnen auf das Engſte zuſammenhängt. Das ſind die
neu entſtehenden großen Geld- und Creditinſtitute, die Banken, die
zugleich zu Finanzorganen werden. Handelscompagnien und Banken
zeigen uns das Vereinsweſen auf einem Gebiet, wo es bisher fremd
geweſen. Beide ſind unfähig, ſich an eine beſtimmte Stadt, an einen
beſtimmten Ort anzuſchließen. Sie ſind die erſte Geſtalt volkswirth-
ſchaftlicher
Vereine, in ihrem Umfange wie in ihrem Zwecke ſich über
die Intereſſen ganzer Reiche verbreitend. Sie müſſen daher auch eine
Form erzeugen, in welcher ſie jedes Capital in ſich aufnehmen können;
ſie dürfen nicht, wie die Zunft und Innung, ſich auf einzelne Perſonen
beſchränken; ſie bedürfen wo möglich des geſammten volkswirthſchaft-
lichen Capitals, und die Form, in der ſie daſſelbe in ihr Vereinsweſen
herbei ziehen, iſt die Actie. Mit der Actie tritt ein ganz neues Ele-
ment in das Vereinsleben. Durch ſie wird einerſeits der Verein frei,
das heißt, er fordert gar keine Art von Bedingungen mehr für die
Mitglieder, als die Zahlung des Kaufpreiſes der Actie, und damit
tritt das Vereinsweſen durch ſie zum erſtenmale definitiv über die
Gränze der ſtändiſchen Unterſchiede hinaus, nur noch den gewerblichen
Beſitz, das Werthcapital, als maßgebend anerkennend. Es iſt der erſte
gewaltige Sieg des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über das
Ständethum, der erſte und zugleich großartige Beweis, was das ge-
werbliche Capital durch ſeine Vereinigung vermag, und zwar nicht bloß
in der wirthſchaftlichen, ſondern auch in der gewerblichen Welt. Aber
dieß ganze Vereinsweſen bewegt ſich noch immer innerhalb des Gebietes
der großen Capitalien und Handelsunternehmungen, der Verein ſelbſt
hat nicht die freie Selbſtbeſtimmung, die das Weſen des Vereins aus-
macht; ſeine Vereinsform ruht auf den ihm bewilligten Vorrechten;
ſein Gebiet erſtreckt ſich nicht über das ganze Volksleben; es iſt der
erſte, aber noch ganz vereinzelte Verſuch; erſt das folgende Jahrhundert
konnte das, was hier begonnen war, zur vollen Entwicklung bringen.


Unterdeſſen erzeugt die ſich immer kräftiger entwickelnde ſtaatsbür-
gerliche Geſellſchaft neue Principien über öffentliches Recht und Ver-
faſſungen, die aber mit der beſtehenden öffentlichen Ordnung im direkten
Gegenſatze ſtehen. Dieſer Gegenſatz verbittert ſich; der Kampf naht;
und das Vorgefühl dieſes Kampfes bringt die Geſinnungsgenoſſen immer
näher an einander. Naturgemäß werden die letzteren als Feinde der
[533] Verfaſſung angeſehen und verfolgt; um ihrerſeits dieſen Verfolgungen
gegenüber Kraft zu gewinnen, vereinigen ſie ſich zu geheimen Geſell-
ſchaften, und ſo entſteht hier zum erſtenmale eine neue Geſtalt des
Vereinsweſens, die geheime Verbindung. Auch dieſe erhalten ſich,
und erhalten zugleich ihren urſprünglichen Charakter, indem ſie den-
ſelben im folgenden Jahrhundert noch erweitern. Die geheime Ver-
bindung wird die Form, in welcher die Gegenſätze in Beziehung auf
die Verfaſſung und auf die Geſellſchaftsordnung ſich conſolidiren. Sie
verkehren das Weſen des Vereins in ſein Gegentheil; anſtatt durch die
Vereinigung der Kräfte eine Förderung der Entwicklung zu wollen, wollen
ſie einen Umſturz derſelben; anſtatt durch vereinigte Kraft die Elemente
und die Ausbildung der freien Lebensverhältniſſe zu fördern, wollen
ſie mit roher Gewalt ihren Ideen den Sieg verſchaffen. In dem Be-
wußtſein, durch dieß Princip mit dem Weſen der ganzen Staats- und
Geſellſchaftsordnung in Widerſtreit zu ſtehen, müſſen ſie ſich ſelbſt und
ihre Thätigkeit verbergen; ſie werden geheime Vereine, und als ſolche
fallen ſie gleich anfangs unter die Thätigkeit der Sicherheitspolizei. Sie
haben von da die Bedeutung einer Gefahr, aber nicht die eines för-
dernden Elements; ſie dienen dazu, die Widerſprüche, die ſich in der
ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Welt zeigen, kennen zu lernen, aber
nicht ſie zu bewältigen. Und damit treten ſie aus dem ganzen Gebiete
des Vereinsweſens hinaus, während ſich das letztere in großartiger
Weiſe mit dem neunzehnten Jahrhundert zu entfalten beginnt.


Das neunzehnte Jahrhundert iſt die Epoche der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft, welche eben zunächſt die wiſſenſchaftliche Entwicklung in
dem Gebiete des gewerblichen Kapitals, und dann die nicht minder
wichtige geiſtige Bildung jedes einzelnen Staatsbürgers als die Grund-
lage des Geſammtlebens und als ihren eigenen eigentlichen Zweck ſetzt.
Die Staatsgewalt ihrerſeits erkennt, daß in dieſen Elementen der Keim
und das Ziel ihrer eigenen Kraft liege. Sie begrüßt daher jede Be-
wegung, welche hier fördernd eingreift, auf allen Punkten, und reicht
ihr gerne ihre Hand. Die Geſellſchaft ſelbſt aber kommt, nachdem der
äußere Friede hergeſtellt, bald zu der Erkenntniß, daß gerade hier die
wichtigſte Bedingung des Fortſchrittes in der freien und offenen Ver-
einigung der Kräfte der Einzelnen beruhe. Dieß Bewußtſein durch-
dringt, wie jede große ihrer Zeit entſprechende Wahrheit, das ganze
Volk, und jede Richtung deſſelben nimmt daſſelbe in ſich auf, während
andererſeits die organiſche Aufgabe der Staatsverwaltung auch für ſich
daſſelbe als ihr letztes Ziel anerkennt. Damit nun iſt der Satz gegeben,
der dem neuen Vereinsweſen das geſammte Gebiet des innern Staats-
lebens öffnet. Indem die Staaten die Grundlagen ihrer Macht und
[534] ihres Fortſchrittes nicht mehr bloß in ihrer autokratiſchen Herrſchaft und
auch nicht in der Feſtigkeit der ſtändiſchen Unterſchiede finden, ſondern
in der Entwicklung jedes einzelnen Staatsbürgers, nehmen ſie jede
Kraft, welche dieſe fördert, gerne auf, und bereiten ihr ſelbſt den Weg.
Darum iſt, wie wir ſchon geſagt haben, die Epoche der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft die Epoche des Vereinsweſens, und der Charakter
dieſes Verhältniſſes läßt ſich nunmehr auch ziemlich leicht und klar
beſtimmen. Dieſer nun liegt wohl in folgenden Punkten.


Zuerſt verbreitet ſich das Vereinsweſen mit der ihm eigenthüm-
lichen Geſtaltung der vereinigten Kräfte über alle Gebiete der Ver-
waltung
. Es gibt gar keinen Theil derſelben, in welchem das Ver-
einsweſen nicht auf eine oder die andere Weiſe erſchiene; denn in der
That iſt ja das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, daß ſie vom
Staate ſeinem Begriffe nach die Verwirklichung derſelben Aufgaben
fordert, die ſie ſelbſt ihren geſellſchaftlichen Intereſſen nach wünſchen
muß. Wie nun dieſe Aufgaben der Staatsverwaltung ihre Verſchieden-
heiten zu einem organiſchen Syſteme geſtalten, ſo ergibt auch die, mit
jenen gleichen Schritt haltende Mannichfaltigkeit der Vereine ein inner-
lich durchſichtiges Syſtem, nur mit dem Unterſchiede, daß jenes durch
die Organe und Thätigkeiten der Verwaltung erfüllt ſein muß, während
dieſes durch die Vereine und ihre Bewegung nur erfüllt ſein kann.
In dieſem Sinne kann man dann zwar von einem Organismus des
Vereinsweſens reden; nur iſt dieſer Organismus hier nicht ein perſön-
licher, ſondern ein objektiver; das iſt, die Ausfüllung und Verwirklichung
der einzelnen Theile des Syſtems beruhen nicht auf einem gegebenen
Willen wie der Organismus der amtlichen Verwaltung und ſogar der
Selbſtverwaltung, ſondern auf dem freien Beſchluſſe des Einzelnen, und
ſind daher nicht objektiv gewiß, ſondern nur wünſchenswerth. Aber
auch ſo bilden die Vereine, ſelbſt in unvollkommener Entwicklung, einen
weſentlichen Theil des geſammten Verwaltungsorganismus, und ſtellen
ſich in würdiger Weiſe neben den Organismus der Selbſtverwaltung.
Denn wie das Gemeindeweſen örtlich das ganze Land umfaßt, ſo um-
faßt das Vereinsweſen ſachlich die ganze Verwaltung; die Vereine treten
aus der Entfremdung von der Verwaltungsgewalt, in der ſie ſich noch
im Anfange dieſes Jahrhunderts befinden, mehr und mehr heraus, und
verſchmelzen mit derſelben, anfangs mit einer gewiſſen Scheu und Un-
beholfenheit, in der das Gefühl einer traditionellen Feindſchaft noch
eine Zeit lang ſich erhält, bis endlich die Identität der Intereſſen ſich
Bahn bricht und beide gemeinſam vorgehen. Und da ergibt ſich dann
dasjenige, was wohl am meiſten gerade den gegenwärtigen Standpunkt
des Vereinsweſens in dieſer Beziehung charakteriſirt. In dieſem gegen-
[535] ſeitigen Verhältniß nämlich erkennt die Staatsgewalt, die ihrer Natur
nach dennoch höher ſteht als die Einzelnen, noch eher und beſſer den
Werth des Vereinsweſens, als das Vereinsweſen die Nothwendigkeit
der Staatsgewalt. Und daraus geht dann das zweite charakteriſtiſche
Element des Vereinsweſens hervor.


Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt, wie wir gezeigt, ihrem Weſen
nach die Grundlage der eigentlichen Verfaſſung. Aber in dieß ver-
faſſungsmäßige Leben wird noch eine Zeit lang die Tradition des alten
Gegenſatzes zwiſchen Staat und Freiheit erhalten. Die Freiheit hat
die Staatsgewalt im achtzehnten Jahrhundert fürchten gelernt, und
kann dieß im neunzehnten noch nicht vergeſſen. Es ſchließt ſich daran
die Vorſtellung, daß die möglichſte Entwicklung der Freiheit in der
möglichſten Entfernung von der Staatsgewalt beſtehe; daß die Bethei-
ligung der Staatsgewalt ſtets einen Keim der Unſelbſtändigkeit in das-
jenige hineintrage, womit ſie zu thun habe, und daß es daher die
Aufgabe jeder Selbſtthätigkeit des Bürgerthums ſei, die ſtaatliche Gewalt
ſo viel als möglich von ſich ferne zu halten. Dieſe Vorſtellung erſcheint
auch im Vereinsweſen. Der Staat kann die mächtige Geſtaltung der
letzteren nicht als etwas außerhalb ſeines Wirkungskreiſes beſtehendes
zulaſſen; gerade die Gemeinſamkeit in dem letzten Ziele, verſtanden oder
nicht verſtanden, gibt dem Staate Anlaß und Recht, ſich in ſeiner
Weiſe an dem Vereinsweſen zu betheiligen. Die noch immer ſehr ab-
ſtrakte Idee der Freiheit des eigentlich noch ſehr jungen Staatsbürger-
thums geht dagegen von der Vorſtellung aus, daß das Vereinsweſen
die eigentlich freie und damit höchſte Form der Verwaltung ſei.
Sie ſtellt zum Theil die Forderung ganz offen auf, daß das letzte Ziel
der Entwicklung des Vereinsweſens eben in der Herrſchaft der Vereine
der Staatsbürger zunächſt über die Staatsgewalt ſelber ſei. Dem ent-
gegen tritt der Staat mit der in ſeinem Weſen liegenden Forderung,
alle Elemente des Geſammtlebens ſich unterzuordnen, namentlich aber
ſeine Verfaſſung nicht durch die Verbindung Einzelner ändern zu laſſen.
So entſteht ein Gegenſatz zwiſchen Staatsgewalt und Vereinsweſen, der
im Grunde ein Ausdruck des Gegenſatzes zwiſchen der neuen, noch nicht
zur Herrſchaft gelangten ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und der Staats-
gewalt iſt. In dieſem Gegenſatze verlieren die Vereine ihren natürlichen
Boden. Sie beginnen ſtatt der Verwaltung die Verfaſſung zu ihrem
Ziel zu ſetzen, und ſtatt der öffentlichen Aufgaben die Ordnung der
Organe, welche ſie leiten, die Volksvertretungen und ihr Recht durch
ihre Macht ändern zu wollen. Das iſt die Zeit der politiſchen
Vereine
. Der Widerſpruch, der in ihnen liegt, erzeugt damit eine
ziemlich allgemeine Abneigung der Regierungen gegen das Vereinsweſen
[536] überhaupt; die Vereine werden als etwas an und für ſich Bedenkliches
angeſehen, und der Name „Verein“ identificirt ſich mit dem politiſchen
Vereinsweſen überhaupt. Doch geht dabei die wahre Idee der Vereine
nicht zu Grunde. Während das politiſche Leben ſie bekämpft, erzeugt
das volkswirthſchaftliche Princip der Aſſociation ſie aufs neue auf einem
andern Gebiete wieder, und der Unterſchied beider erſcheint auch in dem
Namen, indem man dieſe Richtung die Bildung der Geſellſchaften
nennt. Während daher das Vereinsweſen im obigen Sinne ernſtlichſt
bekämpft wird, entwickelt ſich das Geſellſchaftsweſen zu einer ſteigenden
Blüthe; die Volkswirthſchaft wird der Boden dieſer neuen mächtigen Ge-
ſtaltung der Vereine, und das um ſo entſchiedener, als hier die wahre
Aufgabe der letzteren, das Gebiet der Verwaltung, wiedergefunden wird.
Ja, während die Regierungen dem Vereinsweſen im obigen Sinne auf
allen Punkten engſte Gränzen ziehen, helfen und fördern ſie das Geſell-
ſchaftsweſen, ſo viel ſie vermögen. Das iſt der Charakter der Jahre, welche
mit der Julirevolution beginnen. Es iſt ſeit dieſer Zeit unmöglich, die
Verwaltung der Länder darzuſtellen, ohne dieſem Theile des Vereins-
weſens ſich mit allem Ernſte zuzuwenden. Allein gerade aus der raſchen
Entwicklung dieſer volkswirthſchaftlichen Welt entſteht nun ein zweites
Element. Die Gegenſätze der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beruhen
allerdings nicht mehr, wie die der ſtändiſchen, auf Vorrechten und Un-
freiheiten; wohl aber erzeugt der gewerbliche Beſitz das, was wir den
ſocialen Gegenſatz der Klaſſen genannt haben. Dieſes rein ſocialen
Gegenſatzes bemächtigt ſich nun auch das Vereinsweſen, und zwar im
guten, wie im üblen Sinne. Es entſtehen mit ihm zwei zum Theil
ganz neue Richtungen des Vereinsweſens, die unſere Gegenwart als
ſolche charakteriſiren. Die eine Richtung iſt die edlere; ſie will den
niedern Klaſſen durch die vereinte Kraft der höhern helfen, und die
freie Klaſſenbewegung herſtellen; es iſt das weite und ſo unendlich
wichtige Gebiet der Hülfsvereine aller Art, welche hier erſcheinen.
Die zweite Richtung iſt dagegen die, welche die geſonderten und oft
entgegengeſetzten Intereſſen von Kapital und Arbeit zum Ausdruck bringt,
und zur Organiſirung dieſer beiden, noch immer nicht ganz vermittelten
Elemente in ihrem gegenſeitigen Kampfe wird. Die Hauptform dieſer
Richtung bilden die Arbeitervereine. Mit beiden tritt das, bis
dahin faſt allein herrſchende Element des Geſellſchaftsweſens aus dem
engen Kreiſe der Erwerbsvereine hinaus, und man kann wieder von
einem wahren Vereinsweſen reden. Aber damit wird auch die Regierung
wieder gezwungen, demſelben auch außerhalb der politiſchen Vereine
ihre Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Es entſteht eine neue Gruppe von
Beſtrebungen und Ordnungen, von Geſetzen und Verboten; und während
[537] der Staat gegenüber den politiſchen Vereinen ſtrafend, gegenüber den
Geſellſchaften fördernd und ordnend auftritt, tritt er gegenüber den
Klaſſenvereinen verbietend und vorbeugend auf. So bildet ſich durch
das Zuſammenwirken aller dieſer Elemente einerſeits ein wirkliches
Vereinsweſen, andererſeits eine Vereinsgeſetzgebung; nur noch
die Wiſſenſchaft iſt in Beziehung auf beides im Rückſtande, denn noch
ſind die Begriffe und Rechte keinesweges geklärt, und der höhere Be-
griff, der Begriff der freien Verwaltung fehlt, während das Vereins-
recht in lauter einzelne Vereinsrechte zerſpalten erſcheint. Dennoch dürfen
wir ſchon jetzt von demſelben als einem Ganzen reden, und es iſt die
Aufgabe des Folgenden, dafür die Grundlagen zu entwerfen.


Das ſind nun die allgemeinen Elemente der Geſchichte des Ver-
einsweſens; an ſie ſchließen ſich die Grundlagen der Geſchichte des
Vereinsrechts an. Es würde von hohem Werthe für das Verſtändniß
der inneren Geſchichte Europas ſein, wenn die Theorie und namentlich
die Rechtsgeſchichte auf dieſelben etwas mehr Rückſicht nehmen wollte.
Die Elemente derſelben ſcheiden ſich darnach leicht in drei große Epochen.


Die erſte Epoche iſt das Vereinsrecht der ſtändiſchen Geſellſchafts-
ordnung. Dieß Vereinsrecht zerfällt wieder in zwei große Gruppen.
Die erſte bezieht ſich auf rein ſtändiſche Vereine, ritterſchaftliche oder
Städtevereine, welche durch die lehensherrliche Stellung ihrer Mitglieder
den Charakter von öffentlichen Bündniſſen und Verträgen annehmen,
obgleich ſie in der That nur Vereine ſind. Die zweite Gruppe dagegen
iſt durch die Elemente der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in dieſer Epoche
gebildet, und zerfällt in zwei Theile und Formen. Die erſte Form iſt
diejenige, welche innerhalb des eigentlichen Gewerbebetriebs vorkommt,
und in den Formen von Statuten der Innungen und Zünfte auf-
tritt. Die zweite Form dagegen bedeutet vielmehr die erſten Geſell-
ſchaften, die großen und kleinen Handelscompagnien, und erſcheint in
der Form der Privilegien.


Die zweite Epoche beginnt mit der Mitte des vorigen Jahrhun-
derts. Sie fängt an mit der Vereinsbildung, welche ſich dem beſtehenden
öffentlichen Recht entgegenſtellt und darum eine geheime iſt, mit den
Verbindungen. Gegen dieſe entſteht ſofort der Kampf der beſtehenden
Staatsgewalt in den ſtrengen Verboten und Beſtrafungen; eine ganze
Verbindungsgeſetzgebung entwickelt ſich, deren tiefer Grund aber aller-
dings in der Geſammtheit der öffentlichen Zuſtände liegt. So wie
dagegen die Verfaſſungen entſtehen, treten jene Beſtrebungen in ihren
wichtigſten Erſcheinungen an die Oeffentlichkeit als öffentliche Ver-
eine
und Verſammlungen; und an dieſe ſchließt ſich das zweite Gebiet
des Vereinsrechts. Neben beiden erzeugt das gewerbliche Leben die
[538] Aſſociation in allen Formen, welche wieder das Geſellſchaftsrecht
hervorrufen.


Die dritte Epoche iſt diejenige, welche die ſocialen Klaſſenvereine
hervorruft. Hier berührt das Vereinsweſen das Verwaltungsrecht in
innigerer Weiſe, und die Nothwendigkeit, ein allgemeines Vereinsrecht
zu ſchaffen, wird klar, ohne doch zum Durchbruche zu gelangen. Mitten
in dieſer Epoche ſtehen wir, an den einzelnen großen Theilen jenes
Gebietes arbeitend.


Dieſe drei Grundformen haben nun, wie das Verwaltungsrecht
überhaupt, wieder ihre ſpezielle Geſtalt in England, Frankreich und
Deutſchland.


In England hat die Freiheit der Selbſtverwaltung weder das
polizeiliche Element des Verbotes und der Beſtrafung der Verbindungen,
noch der Unterdrückung der politiſchen Vereine zugelaſſen. Daher aber
hat auch das ganze Gebiet der volkswirthſchaftlichen Vereine als ſolches
vom Staate keine Hülfe zu gewärtigen, ſondern es iſt jeder Verein auf
ſich ſelbſt angewieſen, und weder das Bedürfniß, noch das Element
eines allgemeinen Vereinsrechts entſtanden. Das engliſche Vereinsrecht
iſt nichts als die Summe des Einzelrechts aller einzelnen
Vereine
, mit ſehr wenigen Ausnahmen.


In Frankreich hat ſich dagegen das Vereinsrecht in zwei große
Gruppen getheilt. Die Selbſtändigkeit der Staatsverwaltung, welche,
wie wir geſehen, das ganze franzöſiſche Leben durchzieht, hat ein ſelb-
ſtändiges Eingreifen des Vereinslebens in die Verwaltung eben ſo wenig
zugelaſſen, als ſie demſelben ein eigenes Verwaltungsrecht gegeben hat.
Daher hat das franzöſiſche Vereinsrecht nur auf zwei Punkten ſeine
Ausbildung gefunden; hier aber iſt es daher auch deſto weiter gelangt.
Der erſte Punkt iſt das polizeiliche Verbots- und Ueberwachungs-
recht
aller politiſchen Vereine; der zweite iſt das bürgerliche Recht
der Erwerbsgeſellſchaften
. In beiden iſt es zum Muſter für
Deutſchland geworden.


In Deutſchland endlich hat ſich die langſame Entwicklung des
öffentlichen Rechts zunächſt an die Vereinspolizei Frankreichs
angeſchloſſen; allein die neueren Zuſtände haben dennoch hier allmählig
die Grundſätze der freieren Bewegung zugelaſſen. Zweitens hat Deutſch-
land auch das franzöſiſche bürgerliche Recht der Erwerbsgeſellſchaften
in ſeinem Handelsgeſetzbuche recipirt, ohne es eigentlich recht zu Ende
zu bringen. Denn es läßt ſich nicht verkennen, daß der deutſche Stand-
punkt hier ein höherer iſt, als der ſtreng civilrechtliche Frankreichs. Im
deutſchen Vereinsrecht, ſogar ſchon im deutſchen Handelsgeſetzbuch ſind
die organiſchen Elemente der Vereinsverwaltung im Weſentlichen, wenn
[539] auch noch einſeitig auf Erwerbsgeſellſchaften berechnet, feſtgeſtellt. Viele
Anzeichen deuten darauf hin, daß die Zeit nicht mehr fern iſt, wo wir
daran gehen werden, eine Vereinsgeſetzgebung in derſelben
Weiſe zu machen, wie wir eine Gemeindegeſetzgebung haben
.
Nur werden wir zu dem Ende die noch immer nicht beſeitigte Vorſtellung
aufgeben müſſen, als handle es ſich bei Vereinen um politiſche Körper
und politiſche Rechte. Das Vereinsweſen iſt ein Organismus
in der Verwaltung, wie die Gemeinde und das Amt
. Das
iſt der wahre und einzige Standpunkt, von welchem aus daſſelbe allein
richtig verſtanden und organiſirt werden kann, und zu dem Ende wird
es nothwendig, den Elementen des Vereinsrechts ein Syſtem des
Vereinsweſens
vorauszuſenden, einen Rahmen, in welchen jeder
Staat den Zuſtand und die Mängel ſeines Vereinsweſens hinein-
fügen kann.


Zur Geſchichte des Vereinsrechts.


England. Bei der Beurtheilung des engliſchen Vereinsrechts im Allge-
meinen muß man davon ausgehen, daß England für das ganze Gebiet der
politiſchen Vereine und geheimen Verbindungen überhaupt kein Recht und
Geſetz
hat. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß allen Engländern das unbeſchränkte
Recht zu Verſammlungen, Petitionen und Vereinen zuſteht, da die Selbſtver-
waltung Englands das Princip der freien Thätigkeit des Einzelnen iſt. Der
Staat kümmert ſich um dieſe Thätigkeit des Einzelnen ſo lange nicht, bis die-
ſelbe nicht ein beſtehendes Recht durch äußere Handlungen wirklich verletzt. Das
Wollen fällt nicht unter das Recht des engliſchen Staats, und die Thätigkeit
erſt dann, wenn ſie mit dem geltenden Recht in Colliſion geräth. Das Recht der
Vereine wird daher in England einzig durch die Statuten jedes einzelnen
Vereins gebildet, und zwar durch den Akt der Genehmigung deſſelben, den wir unten
beſonders herausheben. Allerdings war dieſe Genehmigung eine freie, und hat erſt
in neueſter Zeit ihre definitive Geſtalt empfangen. Allein dieſe Genehmigungen
erſcheinen doch als Anerkennung der juriſtiſchen Perſönlichkeit, als „incorporation,“
und es iſt kein Zweifel, daß damit das Recht der Corporations als Grundlage des
Rechts der Vereine betrachtet werden muß, ſo weit ſie eben incorporirt ſind. Dieſe
allgemeinen Rechte aber ſind erſtlich das perſönliche Erwerbs- und Erbrecht,
zweitens die Wahl der eigenen Mitglieder und Beamteten, drittens das
Recht der bye-laws, als der Vollziehungsverordnungen innerhalb des Vereins.
Dagegen hat die Regierung eben ſo gewiß auch das allgemeine Recht der
„Viſitation“ oder Oberaufſicht über die Vereine wie über die Corporationen und
Stiftungen. Es iſt daher principiell ſehr wenig Verſchiedenheit zwiſchen dem
continentalen und dem engliſchen Vereinsrecht. Die folgende Darſtellung wird
zeigen, daß ſich die feſten Kategorien deſſelben auf England ſehr wohl anwenden
laſſen. Ueber einzelne Arten von Vereinen, wie namentlich über die Friendly
societies
und die Law societies beſtehen ſogar beſondere Geſetze. GneiſtII,
[540] §. 49 und 125, und das letzte Geſetz über die Friendly societies 23. 24 Vict.
58 (6. Aug. 1860). — Ueber die Geſchichte der Clubbs, deren Namen und
Einrichtung aus England ſtammt (urſprünglich Leſekabinete, deren Mitglieder
aus der niederen Klaſſe kommen), aus denen dann discutirende Geſellſchaften
werden (voriges Jahrhundert), die öffentlichen Meetings, die zuerſt 1769 auf-
traten, und im Jahr 1795 zuerſt ſtrenge verboten werden, wenn ſie nicht fünf
Tage vorher dem Friedensrichter angezeigt ſind, der ſie aber ohne weiteres auf-
löſen kann (36 G. III, 8. 1) bis 1799 alle Verſammlungen direkt unterſagt
werden (39 G. III, 79), ſiehe Buckle, History of Civilisation I, 422.


Frankreich. Während England arm iſt an Geſetzgebung, iſt Frankreich
dagegen ſehr reich. Dieſe franzöſiſche Geſetzgebung iſt aber um ſo wichtiger,
als ſie mit ihrer Klarheit, aber freilich auch mit ihrer Einſeitigkeit die deutſche
Geſetzgebung faſt durchgreifend beherrſcht hat.


Den franzöſiſchen Standpunkt überhaupt drückt gewiß Laferrière (Droit
adm. I, sect. III.
) am beſten aus. Er faßt das ganze Vereinsrecht auf als
eine polizeiliche Anſtalt „pour comprimer les troubles politiques et les sédi-
tions intérieures.“
Die Conſtitution von 1791 gab im P. I. die von ihr aus
über ganz Deutſchland ſich verbreitende Formel des Verſammlungsrechts, die
man ſo oft mit dem Vereinsrecht verwechſelt hat. Die Bürger haben: la liberté
de s’assembler paisiblement et sans armes en satisfaisant aux lois de police.

Das Dekret vom 29. September 1791 verbot ſchon die geheimen Verbindungen
und die „affiliations.“ Daraus und aus mehreren ſpätern Verordnungen iſt
nun das gegenwärtige Syſtem des franzöſiſchen Vereinsrechts entſtanden, deſſen
Grundzüge die folgenden ſind.


Der allgemeine juriſtiſche Begriff des Vereins iſt in Frankreich ausgedrückt
in dem Wort Association. Dieſe Associations haben nun drei Hauptformen, und
jede dieſer Formen hat wieder ihr eigens Recht.


Die erſte Form iſt diejenige, welche man mit dem allgemeinen Ausdruck
der Coalition bezeichnet. Jede Coalition iſt ſchon an und für ſich etwas
Verbotenes; ſie entſpricht unſerer „Verbindung.“ Das Princip des Verbindungs-
rechts iſt theils ein ſtrafrechtliches, theils ein polizeirechtliches. Strafrechtlich
iſt jede Verbindung, deren Zweck ein Verbrechen iſt; ſie heißt Complott; vor-
züglich wird der Ausdruck allerdings auf Hochverrath bezogen. Grundlage des
Rechts derſelben iſt der Code pénal, Art. 89. — Polizeirechtlich dagegen
iſt, ganz abgeſehen von dem Zweck, dieß Grundſatz, daß jede geheime Ver-
bindung verboten iſt. Iſt das Geheimhalten Grundſatz der Verbindung, ſo iſt
ſie an und für ſich als Vergehen zu betrachten (Code pénal, Art. 291—294).
Iſt eine ſolche Verbindung aber ſtärker als zwanzig Perſonen, ſo bedarf ſie
der ausdrücklichen Genehmigung, und iſt ſtrafbar, wenn ſie ohne eine ſolche
irgend eine Handlung vornimmt. Die geheimen Verbindungen der Republikaner
benützten dieſe Beſtimmung, um ſich in lauter kleine Abtheilungen von weniger
als zwanzig Perſonen zu theilen, und ſo das Geſetz zu umgehen. In Folge
deſſen erſchien das ſeiner Zeit vielbeſprochene Geſetz von 11. April 1834, nach
welchem die Anwendbarkeit des Code pénal auch auf diejenigen Verbindungen
ausgedehnt würde, welche aus Sectionen mit weniger als 20 Perſonen beſtanden.
[541] Dieſe Grundſätze ſind in allem Weſentlichen beſtätigt durch die beiden Dekrete vom
28. Juli 1848 und vom 25. März 1852. Grundſatz iſt, daß erſtens die Führer
ſolcher Verbindungen mit der doppelten Strafe belegt, und zweitens, daß dieſe
Strafe (100—200 Franken Buße, 6 Monat bis 2 Jahre Gefängniß und Verluſt
der bürgerlichen Rechte auf 1—5 Jahre) ganz unabhängig von der Beſtrafung
des Zweckes der Verbindung gegeben wird. — Offenbar iſt mit dieſem Theile
des Vereinsrechts auch die Klaſſenverbindung getroffen; denn die Coalitions
des ouvriers
bedürfen keines beſonderen Verbotes mehr, indem ſie der Ge-
nehmigung bedürfen und ohne dieſelbe ſtrafbar ſind. Dennoch ſind dieſelben
wieder in letzterer Zeit ſo mächtig geworden, daß in dieſem Jahre ein neuer
Geſetzentwurf über die coalitions eingebracht iſt, der am 19. Februar in den
corps législatif geleitet ward. Die Berichte ſowohl von Cernadet als von
Ollivier ſind höchſt belehrend, und zugleich mit vergleichenden Bemerkungen über
die Geſchichte der engliſchen Geſetzgebung verſehen; Deutſchlands Geſetzgebung
hat man eben ſo wenig als Deutſchlands Induſtrie der Mühe werth gehalten.
Da die ganze Coalitionsgeſetzgebung überhaupt der höhern Sicherheitspolizei
gehört, ſo glauben wir hier nicht weiter auf ſie eingehen zu müſſen und verweiſen
auf den entſprechenden Theil des folgenden Werkes.


Die zweite Form der Associations iſt nur die der eigentlichen Erwerbs-
geſellſchaften, welche, wie die Coalitions unter den Code pénal, ſo ihrerſeits
unter den Code de commerce fallen. Wir ſetzen als bekannt voraus, daß
man dieſelben als sociétés bezeichnet. Der Code de commerce bezeichnet den
franzöſiſchen Standpunkt ſehr genau in Art. 18: „Le contrat de société se
règle par le droit civil, par les lois particulières an commerce, et par les
conventions des particuliers.“
Derſelbe überſieht dabei ebenſo wie das deutſche
Handelsgeſetzbuch, daß der zweite entſcheidende Faktor, das Verwaltungsrecht,
hier weggelaſſen iſt. Die Grundvorſtellung, obwohl keine richtige, iſt dadurch die,
daß das Recht der Erwerbsgeſellſchaften ein Theil des bürgerlichen Rechts ſei.
Wir dürfen ſchon hier hinzufügen, daß die drei Arten société en nom collectif,
société en commandite
und société anonyme weſentlich aus den Zwecken
dieſer sociétés hervorgehen, und nicht eben, wie Einige meinen möchten, im
Begriff des Vereins liegen. Es iſt für unſere Jurisprudenz weſentlich,
ſich von dieſer Vorſtellung los zu machen, und ſich gegenwärtig zu halten, daß
mit den Arten des Code de commerce nicht etwa das Vereinsweſen auch nur
annähernd erſchöpft iſt. Wir werden unten oft genug Gelegenheit haben, dar-
auf zurückzukommen. Ueber die neuere Geſetzgebung vgl. Auerbach, Geſell-
ſchaftsweſen
Buch IV, 1. 2.


Die dritte Form iſt nun die, welche wir im Allgemeinen am beſten als
Hülfsvereine bezeichnen können. Dieſe ſind in Frankreich das eigentliche
Gebiet der Verwaltungsvereine, und die eine Art derſelben iſt daher auch ganz
zu Staatsanſtalten geworden. Das ſind die sociétés de secours mutuels, an
welche ſich die Caisses d’épargne und Caisses de retraite als Staatsinſtitute
anſchließen. Dieſe Vereine haben dann eine eigene, ſpeziell für ihre Zwecke
berechnete Geſetzgebung, während die Eiſenbahngeſellſchaften, Creditgeſellſchaften
u. ſ. w. auf den allgemeinen Grundſätzen des Code de commerce beruhen. Es
[542] verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß innerhalb dieſes Rahmens wieder die Statuten
jedes Vereins ein eigenes Recht deſſelben bilden.


Deutſchland.


Die Geſchichte des Vereinsrechts in Deutſchland iſt noch zu ſchreiben. Wir
ſehen in derſelben allerdings die obigen Grundzüge, aber theils in unklarer
Form, theils ſehr verſchieden in den verſchiedenen Ländern. Wir wollen daher
verſuchen, den Charakter dieſer Rechtsbildung im Allgemeinen zu bezeichnen.


Dieſelbe zerfällt in zwei große Gruppen, von denen wieder jede ihre be-
ſondere Verhältniſſe hat.


Die erſte Gruppe iſt das allgemeine deutſche Vereinsrecht; und
dieß Vereinsrecht umfaßt die beiden erſten, unter Frankreich angegebenen
Arten, aber in eigenthümlicher Weiſe; das politiſche Vereinsrecht und das
gewerbliche.


Das politiſche Vereinsrecht in Deutſchland beginnt bereits mit einem
ſehr lebhaften und ernſten Kampf gegen die geheimen Verbindungen aller
Art, nicht bloß politiſche, ſondern auch religiöſe und ſociale. Es iſt darüber
eine ganze Literatur entſtanden, welche von Klüber (Literatur §. 1079) auf-
geführt iſt. Die Geſetzgebungen und die Theorien waren ſich über die Noth-
wendigkeit des Verbotes ſchon im vorigen Jahrhundert einig. Preußiſches
Landrecht II, 13. 13, und 20. §. 184, Oeſterreichiſches Strafgeſetz II, 37—51,
Kant, Rechtsphiloſophie 186. In Klüber (Oeff. Recht §. 360 n. g.) eine
Sammlung aller hierauf bezüglichen Geſetze. Man ſieht übrigens aus der ganzen
Behandlungsweiſe, daß der Begriff des Vereinsweſens damals in den politiſchen
Vereinen erſchöpft war; nur Oeſterreich machte, bei allem Haß gegen die
letzteren, eine rühmliche Ausnahme, indem es die wirthſchaftlichen Vereine
principiell als wünſchenswerth erklärte. (Hofkanzleidekret 3. Jan. 1817.) Siehe
überhaupt über die Geſchichte der Oeſterreichiſchen Vereinsgeſetzgebung M. v.
Stubenrauch, Statiſtiſche Darſtellung des Vereinsweſens im Kaiſerthum
Oeſterreich 1857 (Einl. S. 1—7). Jene Grundſätze gelten ſchon in den ein-
zelnen Bundesſtaaten, bis ſich nach der Julirevolution das geheime Verbindungs-
weſen und die Bildung politiſcher Vereine über ganz Deutſchland zu erſtrecken
begannen. Das rief den Bundesbeſchluß vom 5. Juli 1832 hervor, der
alle politiſchen Vereine, die Bildung und die Abzeichen derſelben unbedingt für
ſtrafbar erklärte (ZöpflII, §. 402). Auf dieſem Standpunkt iſt das deutſche
Bundesrecht geblieben. Die Grundrechte des deutſchen Volkes ſahen auch
noch in dem Vereinsrecht im Weſentlichen nichts anderes als ein politiſches
Recht, und beſtimmten daher in Art. 8 als allgemeine Principien des Vereins-
rechts, das Recht ſich ohne Erlaubniß zu verſammeln, jedoch mit dem Rechte
der Regierung, ſie eventuell zu verbieten, und das Recht Vereine zu bilden, „das
durch keine vorbeugende Maßregel beſchränkt werden darf.“ Die Bedeutung
dieſer Grundſätze beſtand darin, daß ſie wenigſtens in viele deutſche Territorial-
rechte übergingen. Preußiſche Verfaſſung 1850, Oldenburg 1852,
Schwarzburg-Sondershauſen Geſetz v. 2. Aug. 1852, Coburg-Gotha
1852, Reuß 1852 und andere; der Bundesbeſchluß vom 13. Juli 1854 in
Betreff des Vereinsweſens iſt in vielen Staaten gar nicht verkündet worden.
[543] Jedenfalls war für das Vereinsweſen damit nicht viel gewonnen, da ſich
unterdeſſen die Erwerbsgeſellſchaften immer gewaltiger ausbildeten und Dimen-
ſionen annahmen, welche weit über die Gränzen der einzelnen Staaten hinaus-
gingen. Hier ward daher allmählig eine deutſche Rechtsbildung nothwendig,
und ſie erſchien auch, wenn gleich ſpät und weſentlich unvollkommen. Es iſt
von großer Bedeutung, ſich die Unfertigkeit deſſen, was in dieſer Beziehung
geſchehen iſt, wohl gegenwärtig zu halten.


Jene Verſchmelzung der volkswirthſchaftlichen Zuſtände Deutſchlands, theils
auch durch den Zollverein verwirklicht, forderte nun eine eigene Verkehrsgeſetz-
gebung, und endlich kam als erſter und wichtigſter Theil derſelben das deutſche
Handelsgeſetzbuch zu Stande. Es iſt bekannt, wie eng ſich daſſelbe an Frank-
reichs Code de Commerce anſchloß. Mit ihm theilte es die Aufgabe, das
Vereinsrecht der Erwerbsgeſellſchaften zu ordnen, und ſo entſtanden die bekannten
Abſchnitte von den offenen, den Commanditgeſellſchaften, den Commanditgeſell-
ſchaften auf Aktien und den offenen Geſellſchaften, über die wir unten noch
einige Worte ſagen müſſen. Das war recht gut; aber ein eben ſo wichtiger
Theil hatte dennoch keine geſetzliche Ordnung gefunden. Das waren diejenigen
Vereine, welche ihre Wirkſamkeit über ganz Deutſchland ausbreiten, ohne einer
deutſchen Geſetzgebung unterworfen zu ſein, namentlich die Banken, die Kredit-
vereine, die Verſicherungsgeſellſchaften und endlich die gegenſeitigen Geſell-
ſchaften.


Das allgemeine deutſche Vereinsrecht muß daher als ein weſentlich unfer-
tiges betrachtet werden. Es iſt wieder ſo geworden, daß in den wichtigſten
Theilen die Territorialgeſetzgebung zur Hauptſache geworden iſt. Dieſes nun
bildet damit die zweite Gruppe.


Dieſe zweite Gruppe des deutſchen Vereinsrechts iſt eben deßhalb ſehr
verſchieden geartet. Im Allgemeinen iſt es der unfertigſte Theil des ganzen
deutſchen öffentlichen Rechts. Nur einige Staaten haben wirkliche Vereins-
geſetze; aber in der That ſind dieſelben faſt ausſchließlich auf die politiſch-poli-
zeiliche Seite der Sache berechnet; ein Vereinsrecht im Sinne der folgenden
Darſtellung läßt ſich auf dieſelben nicht begründen. Ebenſo iſt die bisherige
Theorie nicht auf die Frage in dieſer Richtung eingegangen. Man vgl. Preuß.
Verordnung vom 11. März 1850; RönneI, §. 100; Bayeriſches Geſetz vom
26. Februar 1850; Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 29, und Verwaltungsrecht §. 103;
Württemberg: Mohl §. 44, Polizeiwiſſenſchaft I, 14 ff. Mayer in ſeinem
Verwaltungsrecht hat geradezu das ganze Vereinsweſen bei Seite liegen laſſen.
Das umfaſſendſte Werk: Auerbach, das Geſellſchaftsweſen in juriſtiſcher
und volkswirthſchaftlicher Hinſicht (1861), hat ſich ſtrenge an das Handelsgeſetzbuch
gehalten, und iſt damit zu einem, allerdings ſcharf eingehenden, Commentar
deſſelben geworden, ohne zu dem weitern Begriff des Vereinsweſens zu ge-
langen, und daher die Fragen zu erwägen, die im Folgenden aufgeſtellt worden
ſind. Eine Anzeige von dieſem Werk als Studien über Vereinsweſen, un-
vollendet und weſentlich nur zur Anregung beſtimmt, von dem Verfaſſer in
Haimerl’s Oeſterreichiſcher Vierteljahrsſchrift 1862.


[544]

III. Syſtem des Vereinsweſens.


So wie man nun auf Grundlage der hiſtoriſchen Entwicklung davon
ausgeht, daß die Vereine mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft nicht mehr bloß vereinzelte Erſcheinungen ſind, oder mit der herr-
ſchenden Staatsordnung in Gegenſatz ſtehen, ſondern vielmehr vermöge
des Weſens der Geſellſchaftsordnung als ein naturgemäß entſtehender,
und die ganze Staatsverwaltung durchdringender, nothwendiger Organis-
mus der freien Verwaltung erſcheinen müſſen, ſo kann auch die Lehre
vom Vereinsweſen nicht mehr bei der Beobachtung einzelner Vereine
ſtehen bleiben. Sie muß ſich vielmehr jetzt ſelbſt über den ſtatiſtiſch
gegebenen Zuſtand des Vereinsweſens erheben; ſie muß daſſelbe in ſeine
organiſche Verbindung mit der Verwaltung bringen und daher ſtatt der
einfachen Thatſachen ein feſtes Princip für dieſelben feſtſtellen.


Allerdings entſteht jeder einzelne Verein zunächſt aus ſeinem eigenen,
einzelnen Zweck. Allein dieſer Zweck iſt ſtets zu gleicher Zeit ein Zweck
der Verwaltung. Allerdings hat jeder Verein ſeinem Weſen nach das
Recht, ſich ſeine innere Ordnung ſelbſt zu geben. Allein dieſe innere
Ordnung wird ihrerſeits ſtets durch den Zweck bedingt. Dem Principe
nach muß daher das Vereinsweſen, als ein Organismus für die Zwecke
der Verwaltung, von dem Syſteme der Verwaltung aus wiſſenſchaftlich
dargeſtellt werden, wie die einzelnen Vereine wieder von den Forde-
rungen der Verwaltung bedingt und beherrſcht erſcheinen. Man muß
demgemäß die in einem beſtimmten Lande zu einer beſtimmten Zeit
ſtatiſtiſch gegebenen Vereine wohl unterſcheiden von demjenigen, was
wir als das Syſtem des Vereinsweſens im obigen Sinne bezeich-
nen. Das Syſtem des Vereinsweſens muß davon ausgehen, daß, da
in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft der Verein als eine an ſich noth-
wendige, organiſche Form der Verwaltung erſcheint, das Nichtvorhanden-
ſein von Vereinen für die Verwaltungszwecke als ein zufälliger Mangel
betrachtet werden muß, den die höhere Entwicklung der freien Verwaltung
über kurz oder lang ausgleichen wird. Es muß geſetzt werden, daß dieß
Syſtem mithin nicht in der Summe und der Richtung der Vereine,
ſondern vielmehr in dem Weſen des höchſten Zieles derſelben, der Ver-
waltung ſelbſt zu finden iſt. Und es muß daher das Syſtem der Vereine
an ſich in dem Syſteme der Verwaltungsaufgaben geſucht werden.


In der That läßt ſich auch nur auf dieſem Wege zu einem, alle
Formen und Aufgaben des Vereinsweſens zu allen Zeiten umfaſſenden
Syſteme des letzteren gelangen, immer freilich unter der Vorausſetzung,
daß daſſelbe in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, als in ſeiner eigent-
lichen Heimath, gedacht wird.


[545]

In dieſem Sinne theilen ſich nun die Verwaltungsaufgaben in
drei große Gebiete. Dieſelben beziehen ſich auf das Leben und die körper-
liche und geiſtige Entwicklung der Perſönlichkeit, auf das volks-
wirthſchaftliche
Leben und auf die geſellſchaftlichen Zuſtände.
Und dieſe Grundverhältniſſe, welche die ganze Verwaltung organiſch
umfaſſen und erſchöpfen, erſcheinen daher auch als die Grundlagen des
Syſtems der Vereine. Wir müſſen die Geſammtheit aller Vereine dar-
nach in drei große Gruppen theilen, die wir hier nach ihrem höchſten
Zwecke als die Bildungsvereine, die Erwerbsvereine und die
Hülfsvereine bezeichnen wollen.


Dieſe ſehr einfache Grundlage empfängt nun ihre Mannigfaltigkeit
durch zwei Momente. Zuerſt iſt jeder jener allgemeinen Zwecke wieder
eine Geſammtheit von einzelnen Zwecken, die eine beſtimmte Geſtalt
annehmen; dann aber ſtehen eben jene drei großen Kategorien nicht
eben ſtreng geſchieden neben einander, ſondern ſie greifen ſo tief in
einander, daß der eine Zweck wieder bald als Mittel für den andern
erſcheint, bald mit ihm faſt untrennbar verſchmilzt, ſo daß ein und
derſelbe Verein oft zweien, ja zuweilen allen drei Kategorien angehört,
und daher nicht ſtrenge nach ſeinem letzten Erfolge, ſondern nach ſeinem
nächſten Zwecke in das Syſtem aufgenommen werden muß. Man wird
daher, um hier überhaupt noch eine feſte Ordnung durchführen zu können,
die genauere Beſtimmung dieſes nächſten und eigentlichen Vereinszweckes
hinzufügen müſſen. Denn in der That hat jede Bildung einen wirth-
ſchaftlichen und geſellſchaftlichen Erfolg, jeder wirthſchaftliche einen geſell-
ſchaftlichen und geiſtigen, und ſo weiter. Dieſer an ſich nothwendige
Erfolg liegt daher auch in dem Zwecke des Vereins. Aber dies iſt
immer mit dem weſentlichen Unterſchiede der Fall, daß dieſer entfernte
Erfolg nur durch die Thätigkeit des Vereins vorbereitet, und ſeine Ver-
wirklichung dem Einzelnen ſelbſt überlaſſen wird. Daher muß man
ſagen, daß die Natur des Vereins nur nach demjenigen beſtimmt werden
kann, was er ſelbſt unmittelbar leiſtet; und nach dieſem Geſichtspunkte
ordnen ſich nun die Vereine in folgendes einfache Syſtem.


I. Die erſte große Klaſſe der Vereine iſt die der Bildungsver-
eine
. Die Arten dieſer Bildungsvereine beſtimmen ſich nach den Ge-
bieten des Unterrichts- und Bildungsweſens überhaupt. 1) Die erſte
Art bezieht ſich auf den Unterricht und umfaßt alle auf das Volks-
ſchulweſen bezüglichen Vereine. Dieſe erſcheinen wieder in den zwei
Hauptgruppen, den Schulvereinen aller Art, die natürlich mit ihrer
Ausdehnung und Bedeutung im umgekehrten Verhältniß zu dem Schul-
weſen des Staats ſtehen, indem ſie um ſo wichtiger werden, je weniger
entwickelt daſſelbe iſt, während ſie faſt verſchwinden, wo dieſes eine
Stein, die Verwaltungslehre. I. 35
[546] hohe Ausbildung hat (England — der Continent) — und den Lehrer-
vereinen
. Die Lehrervereine haben wiederum einen ſpecifiſchen Cha-
rakter. Sie entſtehen da, wo das Lehrerweſen ſich im Namen der
Selbſtändigkeit ſeiner Aufgabe als eine ſelbſtändige Gemeinſchaft zu fühlen,
und ſeine Berufsthätigkeit einerſeits, ſeine wirthſchaftliche Stellung anderer-
ſeits als eine gemeinſchaftliche Angelegenheit zu erkennen und zu ver-
treten beginnt. Die Lehrervereine gehören daher zu jener Bewegung, in
deren Anfang wir ſtehen, und deren Ende wir noch nicht abſehen, welche
das ſtändiſche Element in das Vereinsweſen hineinbringen, indem ſie
in der Vereinigung nicht bloß ein Mittel für das beſſere Verſtändniß
und die Erfüllung ihres Berufes, ſondern zugleich diejenige Form ſuchen,
durch welche dieſer Beruf als ſolcher eine geſellſchaftliche Macht gewin-
nen und ausüben will. Wir werden in unſeren Gruppen der Vereine
dieſe, allerdings im Weſen des Berufes liegende Tendenz beobachten.
Sie iſt der Weg, auf welchem das berufliche Princip in der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft ſeine Geltung zu finden beſtimmt iſt — ein
neuer und großer Beweis dafür, daß keine einzelne Ordnung der Geſell-
ſchaft ſich allein genügt, ſondern daß die Vollendung der Geſellſchaft
in der ſummariſchen Verſchmelzung aller drei Formen gegeben iſt. Aber
hier wie immer iſt die Verwaltungslehre ohne die Wiſſenſchaft der Ge-
ſellſchaft nicht zu verſtehen.


2) Die zweite Art der Bildungsvereine bezieht ſich auf die Fach-
bildung
, ſowohl die gelehrte als die techniſche. Die Fachbildung iſt
aber ihrem Inhalt wie ihrer Form nach durch ihre eigene Natur eine
ſo beſtimmt gegebene, daß das Vereinsweſen hier weſentlich den Charakter
einer Anſtalt annimmt, die nach beſtimmten, der Willkür eines Ver-
eines entzogenen Regeln funktioniren muß und daher ſtets dem Staate
und ſeiner Verwaltung ſich unterordnet. Das Vereinsweſen kann hier
nur dazu dienen, die Mittel für die Fachbildung herzugeben und an
der Verwaltung ſelbſt Theil zu nehmen; es kann niemals über ſeinen
Zweck ſelbſtändig entſcheiden. Nur bei denjenigen Vereinen, welche die
durch die Fachbildung gewonnene Entwicklung fördern wollen (Kunſt-
verein), oder bei denen, in welchen die Ausübung und ſelbſt die Gewin-
nung der Fachbildung als ein Mittel ſicherer Geſelligkeit erſcheint
(Geſang-, Muſikvereine), iſt noch ein eigentliches, ſich ſelbſt beſtimmendes
Vereinsweſen denkbar.


3) Die dritte Art der Bildungsvereine bezieht ſich auf die allge-
meine Bildung
. Der Umfang und Zweck und damit der Name
derſelben iſt natürlich ganz unbeſtimmt. Dennoch ſcheiden ſich leicht
zwei Gruppen. Die erſte Gruppe hat es mit der eigentlich geiſtigen
Ausbildung, die zweite mit dem religiöſen Leben zu thun. Eben wegen
[547] der großen Macht, die das geiſtige Leben überhaupt ausübt, haben alle
dahin zielenden Vereine eine hohe Wichtigkeit und gerathen unter allen
am leichteſten in offenen oder geheimen Gegenſatz mit den Forderungen
des Staats. Während ſie daher im Uebrigen dem Vereinsweſen über-
haupt angehören, iſt bei ihnen ſehr leicht eine Neigung vorhanden, ihren
Zweck und ihre Mittel geheim zu halten, indem das Geheimniß als der
letzte Schutz für alles erſcheint, was mit dem höheren Zwecke in Wider-
ſpruch ſteht. Darum gehören gerade dieſe Vereine zu denjenigen, bei
denen das Princip der Oeffentlichkeit auf das Beſtimmteſte aufrecht
gehalten werden muß. Gefahr und Segen liegen nirgends ſo nahe
neben einander als in dieſer Art.


II. Einen weſentlich verſchiedenen Charakter hat die zweite große
Klaſſe der Vereine, die volkswirthſchaftlichen Vereine. Dieſe
Klaſſe wird aus allen denjenigen Vereinen gebildet, welche durch die
Verbindung der in ihnen enthaltenen Kräfte eine Vermehrung des Volks-
wohlſtandes zum Zweck haben. Dieſer Zweck kann wieder theils mittel-
bar, theils unmittelbar erreicht werden, und darnach zerfällt dieſe ganze
Klaſſe in zwei große Theile. Der erſte Theil umfaßt alle diejenigen
Vereine, welche die Herſtellung der, in der einzelnen gewerblichen Per-
ſönlichkeit liegenden Bedingungen des gewerblichen Erwerbes zum
Zwecke haben; der zweite Theil beſteht aus denjenigen, deren Zweck in
einem wirklichen Erwerbe ihrer Mitglieder vermöge des Vereins
beſtehen. Beide Gruppen ſind ſehr weſentlich verſchieden.


A. Die erſte Gruppe dieſer Klaſſe nennen wir am beſten die ge-
werblichen Bildungsvereine
. Alle perſönlichen Bedingungen des
individuellen Erwerbes beſtehen am letzten Orte immer in einer geiſtigen
Bildung. Dieſe aber kann wieder doppelter Natur ſein, und darnach
erſcheinen dieſe gewerblichen Bildungsvereine wieder in zwei Haupt-
richtungen.


1) Die erſte Unterart derſelben iſt diejenige, welche die allgemeine
techniſche Vorbildung zum Inhalt haben, inſofern dieſelbe jeder gewerb-
lichen Thätigkeit zum Grunde liegt; auf dieſem Gebiete berühren ſich
dem letzten Zwecke nach die Fachbildungs- und ſogar die Unterrichts-
vereine mit den gewerblichen Bildungsvereinen, und die Gränze liegt
hier nicht im Zwecke, ſondern vielmehr in der Beſtimmung der Indivi-
duen, für welche der Verein thätig iſt, und durch deren Lebensverhält-
niſſe beſondere Regeln für die Thätigkeit des Vereins nothwendig werden.
Die Erkenntniß der Nothwendigkeit dieſer Zwecke bewirkt dann, daß
die Staatsverwaltung die Erreichung derſelben nicht auf die Dauer von
dem zufälligen Entſtehen oder Plane eines Vereins abhängig machen
kann; ſie iſt vielmehr beſtrebt, alsbald eine dauernde und feſtgeordnete
[548]Anſtalt daraus zu machen, und die Verpflichtung für die gewerb-
lichen Berufsgenoſſen auszuſprechen, für einen ſolchen Zweck dauernde
Mittel, Thätigkeiten und Organe aufzuſtellen, und zwar theils indem
ſie die Gemeinde dazu verpflichtet und damit ſolche Anſtalten zu Ge-
meindeanſtalten macht, theils indem ſie die Berufsgenoſſen nöthigt, ſich
dauernd für dieſe Aufgaben zu organiſiren. So verlieren dieſelben
allmählig den Charakter von Vereinen; das Vereinsweſen, ſofern es
hier noch fortbeſteht, empfängt dagegen ſeinen eigenthümlichen Platz
dadurch wieder, daß es die auf dieſe Weiſe entſtandene öffentliche Anſtalt
in ihrer Weiſe in einzelnen Punkten fördert und weiter bringt; und
erſt wenn das geſchehen iſt, daß jene Zwecke zu feſtorganiſirten öffent-
lichen Anſtalten geworden ſind, die durch Vereinsbeſtrebungen ihre volle
Entwicklung im Allgemeinen empfangen haben, iſt die richtige Grund-
lage gefunden, in der das Dauernde, die Sache ſelbſt, durch den blei-
benden Organismus, den Staat, gegeben, und die freie wechſelnde
Entwicklung durch den freien Verein geſetzt iſt. So geſtaltet ſich auf
dieſem Punkte die Verbindung zwiſchen Staatsverwaltung und Vereins-
weſen, die den Charakter unſerer Zeit bildet. Die Hauptformen dieſer
Organiſation ſind die Gewerbeſchulen aller Art, Sonntagsſchulen,
Zeichenſchulen, Muſterſchulen für einzelne Gewerbe, und ähnliche Inſti-
tutionen, die von einzelnen Unternehmungen und Fabriken ausgehend,
hier zum Theil den Charakter des Hülfsweſens annehmen; ſie bilden
zuſammengenommen eine Reihe der wichtigſten Erſcheinungen unſerer
Gegenwart, bei denen zunächſt der Mangel einer ausreichenden Statiſtik
am meiſten zu beklagen iſt.


2) Die zweite Unterart dagegen bleibt innerhalb des Gebiets des
eigentlichen Vereinsweſens, indem hier der Verein nicht für die Ent-
wicklung dritter, ſondern für die der Mitglieder ſelbſt gebildet wird.
Das hat ſeinerſeits zur Vorausſetzung, daß an demſelben nur ſelbſtän-
dige Perſonen Theil nehmen, die ſich zur Aufgabe ſetzen, ſich ſelber
durch eigene Mittel und Anſtrengungen die Bedingungen weiterer Bil-
dung weſentlich innerhalb des Kreiſes ihrer gewerblichen Thätigkeit zu
ſchaffen. Dieſe Vereine werden aber ſtets nach zwei Richtungen hin
von ihrem eigentlichen Zwecke abgezogen, ſo daß meiſtens die geiſtige
Aufgabe alsbald als eine ganz untergeordnete daſteht. Zuerſt haben
ſie eine große, in der Natur der Sache liegende Neigung, in die Ver-
einsform der bloßen Geſelligkeit zu fallen, ſo daß der Zweck ſolcher
Vereine weſentlich eine geſellige Unterhaltung wird, und ſelbſt diejenigen
Thätigkeiten, welche ſpeziell auf Bildung abzielen, Charakter und Inhalt
einer veredelten Unterhaltung annehmen. Sehr ſelten geht dieß den
umgekehrten Weg, und zwar naturgemäß weſentlich nur da, wo die
[549] höhere Bildung des gewerblichen Berufes ſowohl von Seiten des Staats
als von Seiten der Selbſtverwaltung ganz ſich ſelbſt überlaſſen iſt.
Ein Hauptbeiſpiel dafür ſind die Mechanics Institutions in England.
Auf dem Continente, wo für das Lernen auch der Erwachſenen in den
höheren Unterrichtsanſtalten ſo viel geſchieht, waltet dagegen der Cha-
rakter der Unterhaltung vor, und das Vereinsweſen hat für die letztern
die große Bedeutung, ſie ſelber zu veredeln und Sitte und Maaß in
ſie hinein zu bringen. Ganz anders geſtalten ſich die Dinge, wo das
zweite Moment in dieſe Vereine hineintritt.


Das zweite Moment iſt auch hier das geſellſchaftliche Bewußtſein,
daß die gewerbliche Arbeit ein Beruf ſei, und als Beruf ein gewiſſes,
wenn auch ſehr verſchieden formulirtes, gemeinſames Intereſſe für
alle Berufsgenoſſen habe. Dieſes Bewußtſein bringt dann zwei weſent-
lich verſchiedene Arten von Vereinen und von Vereinsthätigkeiten hervor,
von denen die erſte auf dem Elemente des Kapitals und ſeiner
Intereſſen, die zweite auf dem Elemente der Arbeit beruht.


3) Aus dem gewerblichen Kapitale zunächſt gehen alle diejenigen
Vereine hervor, welche einerſeits die höhere Bildung der gewerblichen
Unternehmer als ſolche durch einen Verein bezwecken, und die wir nicht
beſſer als mit dem allgemeinen Namen der Gewerbevereine bezeich-
nen können, weil ſie eben von der Erkenntniß getragen ſind, daß alle
Arten der Gewerbe von den Ergebniſſen der höheren techniſchen Bildung
einen Vortheil haben. Naturgemäß aber ſind dieſe Vereine zugleich
der Boden, auf welchem die allgemein im Weſen des gewerblichen
Kapitals liegenden Intereſſen zur Beſprechung und zum Verſtändniß
gelangen. Ihre Aufgabe als Vereine geht dabei allerdings nicht weiter,
als die Hervorrufung oder Klärung von ſubjektiven Ueberzeugungen der
einzelnen Mitglieder; ſie wirken aber durch die Gleichartigkeit ihrer
Mittel ſtets ausgleichend und gemeinſam, und ergeben dadurch ſtets
gemeinſame Erfolge, wenn auch dieſelben weſentlich vom Umfange der
Vereine und zum großen Theil von einzelnen Perſönlichkeiten abhängig
ſind. Wie nun der Begriff der gewerblichen Unternehmung ſich all-
mählig in beſtimmte Gebiete mit eigenen Vorausſetzungen auflöst, ſo
geſtaltet ſich auch hier ein förmliches, je nach den gegebenen Verhält-
niſſen höchſt verſchieden ausgebildetes Syſtem von ſolchen Vereinen,
die auf Grundlage gemeinſamer, aber ſpeziell gewerblicher Bildung alle
einzelnen Hauptarten der Produktion umfaſſen; Vereine der Urpro-
ducenten (Bergwerke), Vereine der Landwirthe, Vereine der Forſtwirthe,
Vereine der einzelnen Zweige der Induſtriellen, in den verſchiedenſten
Gruppirungen. Die Kenntniß und Beobachtung derſelben und ihrer
Thätigkeit wird mehr und mehr ein unentbehrliches Element des
[550] Verſtändniſſes unſerer Gegenwart, um ſo mehr als ſie ſelbſt zum Theil
großartige Organiſationen entwickeln und dadurch eine bedeutſame Macht
gewinnen. Die Zeit wird kommen, wo keine Staatslehre ohne eine
Darſtellung auch dieſer Vereine gedacht werden kann. — Dagegen bleibt
ihnen immer das Moment der Zufälligkeit, da ſie am Ende ſich jeden
Augenblick auflöſen und nun unbedingt über ihre Thätigkeit verfügen
können, und andererſeits ſind ſie naturgemäß nur der Ausdruck beſon-
derer Intereſſen und Richtungen. Dennoch iſt ihre Subſtanz, das ge-
werbliche und induſtrielle Leben, namentlich in der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft ein unbedingtes Element des Staatslebens, und mithin
eine unbedingte, dauernde und daher nach feſten Grundſätzen zu voll-
ziehende Aufgabe der Staatsverwaltung. So wie daher der Staat
erkannt hat, daß er dieſe Aufgabe als eine organiſche betrachten muß,
ſo muß er zugleich fordern, daß dauernde und feſtgeordnete Organe für
dieſelbe ſeiner vollziehenden Thätigkeit zur Seite ſtehen. Daraus dann
geht jener Organismus hervor, den wir oben bei den Behörden als das
Syſtem der berathenden Organe aufgeſtellt haben, und das wir
ſpeziell für die gewerblichen Unternehmungen als den Uebergang vom
Vereinsweſen zur öffentlichen Organiſation der verfaſſungsmäßigen Ver-
waltung bildend, als die Handels- und Gewerbekammern be-
zeichnen. In den Handels- und Gewerbekammern aller Art iſt ſomit
der Punkt gegeben, auf welchem die Vereine und das Weſen und Recht
derſelben wieder den Charakter und die Stellung von ſtaatlichen Organen
annehmen; die Gewerbevereine aller Art werden dadurch auf das ihnen
eigenthümliche Gebiet zurückgeworfen, und ſtellen ſich als Vereinsweſen
neben die gewerblichen Vertretungen, die in jenem gegeben ſind. Aber
auch dieß Verhältniß iſt in den verſchiedenen Ländern wieder ſehr ver-
ſchieden, und bietet ein reiches und für die wichtigſten Fragen höchſt
lehrreiches Bild dar, das wohl einer genaueren Darſtellung werth wäre.


4) Nicht minder bedeutſam, wenn auch nach einer ganz anderen
Richtung, iſt nun die zweite Unterart, diejenige Gruppe von Vereinen,
welche auf dem Elemente der Arbeit und ihrer beſonderen Stellung
in der Induſtrie beruht. Wir können dieſe Vereine am beſten mit einem
Worte als Arbeitervereine bezeichnen.


Das Weſen der Arbeitervereine beſteht darin, die perſönliche Arbeit
und zwar in der gewerblichen Welt als ein ſelbſtändiges Element mit
eigenthümlichen Grundlagen und damit auch eigenthümlichen geſellſchaft-
lichen Forderungen zur Geltung zu bringen. Die Arbeitervereine ſind
es, welche den tiefen geſellſchaftlichen Gegenſatz der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft zum äußeren Ausdruck bringen. Man kann ihre Bedeutung
ohne das Weſen dieſes Gegenſatzes nicht verſtehen. Allerdings nämlich
[551] beruht die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung auf dem Princip der
Gleichheit der Perſönlichkeit. Allein dieſe Gleichheit erſcheint in der
wirklichen Welt als das gleiche Recht auf den wirthſchaftlichen Erwerb.
Der wirthſchaftliche Erwerb beruht ſeinerſeits auf ganz beſtimmten Be-
dingungen, die das bloße Princip des perſönlichen Lebens nicht ändert.
Die herrſchende unter dieſen Bedingungen iſt die Größe des Kapitals.
Der Unterſchied in der Größe des Kapitals erzeugt daher unabweisbar
einen Unterſchied unter den Perſönlichkeiten. Der Weg, auf welchem
dieſer Unterſchied entſteht, gehört der ſelbſtändigen Geſellſchaftslehre;
wir haben denſelben, und mit ihm den gegenſeitigen Einfluß von Gut
und geiſtiger Entwicklung, von der ſcharfen Begränzung des erſteren
und der unendlichen Bewegung der letzteren als bekannt vorauszuſetzen.
Iſt der Unterſchied in der wirklichen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aber
einmal geſetzt, ſo iſt auch der Widerſpruch mit dem abſtrakten Principe
derſelben unläugbar; die Gleichheit iſt keine wirkliche mehr; an ihrer
Stelle erſcheinen zwei Klaſſen, die Klaſſe der Kapitaliſten und die Klaſſe
der Arbeiter. Beide ſtehen aber nicht etwa einfach neben einander wie
ein ruhender Unterſchied. Im Gegentheil bringt es die Natur der ge-
werblichen Thätigkeit mit ſich, daß die Arbeit und mit ihr die Klaſſe
der Arbeiter von dem Kapital und mit ihm von den Beſitzern deſſelben
abhängig ſei. Dieſe Abhängigkeit nun iſt es, welche von den erſteren
bekämpft wird. Der Kampf gegen dieſelbe iſt wie jeder entſtehende
geſellſchaftliche Kampf im Anfange ein roher und ganz unverſtändiger;
es herrſcht die Vorſtellung, als ob die Arbeit in dem Kapital einen
unbedingten Feind habe, und als könne man den Widerſpruch der Sache
ſelbſt durch die Vernichtung der Erſcheinung dieſes Widerſpruches, durch
die einfache Vernichtung des Kapitals ſelbſt aufheben. Dieſe Vorſtellung
gewinnt Leben in den erſten Arbeitervereinen, die wir kennen, den
communiſtiſchen Arbeitervereinen der franzöſiſchen Revolution. Es wird
jetzt einleuchten, weßhalb dieſe Vereine das Kapital als ſolches auf-
heben, und mit ihm ſeine unwiderſtehliche Macht, Unterſchiede zu erzeugen,
definitiv beſeitigen wollen. Die Gütergemeinſchaft iſt in der That nun
die Negation des Kapitals als Grundlage der Ungleichheit in der prin-
cipiell gleichen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Die Geſchichte dieſer
Erſcheinungen haben wir anderswo dargelegt. Obwohl dieſelben nur
vorübergehen, ſo erhält ſich dennoch das Bewußtſein der Sache. Mit
dem vollſtändigen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in den drei-
ßiger Jahren unſeres Jahrhunderts tritt daſſelbe wieder ins Leben,
aber erſt mit dem Ende des fünften Jahrzehnts gewinnt es Geſtalt
theils in England, theils in Frankreich, theils in Deutſchland. Man
kann ſagen, daß mit dieſer Zeit die erſte Epoche überwunden iſt; die
[552] Arbeitervereine wollen nicht mehr den einfachen Communismus, ſondern
ſie wollen vielmehr irgend ein in ſehr verſchiedener Weiſe formulirtes
Verhältniß, in welchem ihre Arbeit ihnen zu einem Kapitale helfen ſoll.
Es iſt auch die Reihe von Vorſtellungen, durch welche ſie dieß Ziel zu
erreichen trachten, von uns genau dargelegt. Ganz offenbar liegt nun
all dieſen Erſcheinungen, von denen wir in dieſem Augenblick ein
ſchwaches und an Theorie und Mißverſtand gleich ſehr kränkelndes Nach-
bild erleben, ein gemeinſamer Gedanke zum Grunde. Bei ihnen iſt
nämlich weder die Bildung noch das Kapital eigentlicher Zweck, ſondern
nur ein Mittel, und zwar das Mittel für die Gleichſtellung der
kapitalloſen Arbeit mit dem Kapitale. Solche Beſtrebungen, welche in
ſich einen unlösbaren Widerſpruch tragen, da ſie die abſolute Gleichheit
des als abſolut verſchieden Erkannten fordern, bedürfen irgendwo eines
ethiſchen Haltpunktes, um nicht geradezu in ſich ſelbſt zuſammen zu
fallen. Und dieſen ethiſchen Haltpunkt ſuchen nun dieſe Arbeitervereine
darin, daß ſie, da ſie weder die Nothwendigkeit des Kapitals noch die
Unvermeidlichkeit ſeiner verſchiedenen Vertheilung und damit auch nicht
die materiell unabweisbare Ungleichheit in der principiellen Gleichheit
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft erkennen können, in der immer klarer
werdenden Richtung, aus der Arbeiterklaſſe einen Arbeiterſtand
zu bilden. Ihr — zum Theil ihnen ſelbſt unbewußtes — Streben geht
dahin, die Arbeiter als eine ſelbſtändige Gemeinſchaft hinzuſtellen, welche
eine große organiſche, ihr eigenthümliche Funktion zu verrichten haben.
Das Bewußtſein von der Nothwendigkeit und der Bedeutung dieſer
Funktion erſcheint ihnen als ein Beruf der Arbeiter; und die Gemein-
ſchaft der Arbeiter wird dadurch zu einem Stande in der Geſellſchaft.
Die Folge dieſer Auffaſſung iſt freilich zunächſt die, daß die Arbeiter
ſich eine Reihe von Standesintereſſen formuliren, und daß ſie mit ver-
einter Kraft dieſe Standesintereſſen zu verwirklichen trachten. Es iſt
von großem Intereſſe, dieſe Erſcheinungen von dieſem Standpunkt aus
zu verfolgen. Denn in der That geht die Spitze aller dieſer Intereſſen
und Beſtrebungen nicht dahin, für die Arbeiter als Arbeiter zu ſorgen,
und die Arbeit zum wirklichen Stande zu erheben, ſondern vielmehr
dahin, irgend eine Form zu finden, in welcher den Arbeitern das erfor-
derliche Kapital gegeben werden könne, damit ſie aus dem Stande der
Arbeiter heraustreten, und in die Klaſſe der Unternehmer gelangen.
Die Hervorhebung der ethiſchen Seite der Arbeit, ihres Berufes, dient
nur dazu, um jene Anſprüche ethiſch zu legaliſiren; die Arbeitervereine
haben nicht die Hebung der Arbeit an ſich zum Zweck, ſondern nur die
Sammlung der Kräfte der Arbeiter, um jenes Ziel zu erreichen, und
da es nicht möglich iſt, das Kapital des Unternehmers durch die freie
[553] Zuſtimmung deſſelben von ihm zu erobern, ſo wendet ſich naturgemäß
jene geſellſchaftliche Richtung auf die Staatsgewalt, und ſtrebt eine
Verfaſſung zu erzeugen, welche die Klaſſe der Arbeiter und damit ihre
eigenthümlichen Intereſſen durch den Staat zur wirthſchaftlichen Herr-
ſchaft bringen könne. Dieß nun kann offenbar nur auf einem Wege
geſchehen; es muß der Organismus der geſetzgebenden Gewalt auf das
allgemeine, von dem Beſitze ganz unabhängige Stimmrecht zurückgeführt
werden. Die Conſequenzen für die Intereſſen der Arbeiter liegen nahe;
es iſt nicht unſere Aufgabe hier, dieſelben weiter zu verfolgen. Allein
der Charakter der Arbeitervereine iſt damit, wie es ſcheint, klar. Wenn
ſie auch viele rein wirthſchaftliche Nebenaufgaben haben, und ſelbſt
allerlei Theorie hinzufügen, ſo bilden ſie dennoch das Gebiet, wo das
Vereinsweſen für gewerbliche Bildung in das geſellſchaft-
liche
hinüber geht. Und für uns muß es genügen, ſie in dieſem Sinne
zu betrachten. Die einzelnen Erſcheinungen in dieſer Richtung fordern
dann allerdings eine beſondere Beachtung und Darſtellung. Wir mußten
uns darauf beſchränken, dieſen ganzen Zweig des Vereinsweſens zunächſt
nur einmal mit dem Syſtem deſſelben in organiſche Verbindung zu
bringen.


Dieſe Vereine nun, oder, um die beiden Formen dieſer erſten
Gruppe der volkswirthſchaftlichen Vereine mit Einem Worte zu bezeich-
nen, die gewerblichen Bildungsvereine des Kapitals und die der Arbeit,
bilden auf dieſe Weiſe ein großes und mächtiges Syſtem von Vereinen,
die allerdings weſentlich verſchiedene Richtungen und Aufgaben zeigen,
aber dennoch ein wichtiges Element trotz ihrer inneren Gegenſätze ge-
meinſam haben. Sie ſind es nämlich, welche die gewerbliche Thätigkeit
zu einer geiſtig geltenden Macht für das ganze Staatsleben erheben,
und die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft eigentlich erſt geiſtig organiſirt
haben. Sie haben Kapital und Arbeit mit der Wiſſenſchaft verſchmol-
zen, und große geiſtige Kräfte aus der letzteren ſich und ihren Zwecken
dienſtbar gemacht. Sie haben der Ueberzeugung den Weg gebahnt,
daß Gewerbe und Verkehr etwas anderes und höheres ſind, als bloße
Mittel des Erwerbes. Indem ſie den innigen Zuſammenhang des
Erwerbes mit den höchſten phyſiologiſchen und philoſophiſchen Geſetzen
des Daſeins anbahnten, und die Naturlehre, die Chemie, die Mathe-
matik, die Geſchichte und in der Geſtalt der Geſellſchaftswiſſenſchaft
auch die Ethik in ihren Kreis zogen, haben ſie für die erwerbende
Thätigkeit durch eigenes geiſtiges Streben und durch Verſchmelzung mit
der geiſtigen Arbeit der Theorie gethan, was in der ſtändiſchen Ord-
nung die unmittelbare Theilnahme am Staatsleben für den Grund-
beſitz gethan hat; ſie haben die erwerbende Arbeit in allen Formen
[554] geadelt. Sie ſind daher nicht bloß eine beſtimmte Reihe von Erſchei-
nungen in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung; ſie ſind vielmehr
die höchſte Geſtalt ihrer Bethätigung, und ihnen gebührt das Verdienſt,
das ethiſche Element des Berufes für die gewerbliche Welt nicht bloß
im Allgemeinen gerettet, ſondern es vielmehr zu einem organiſchen,
ſelbſtwirkenden Element derſelben gemacht zu haben. Sie ſtehen daher
nicht auf der allgemeinen Stufe der Vereine für das geiſtige Leben,
deren Ziel die Perſönlichkeit als ſolche iſt, ſondern ſie gehören ſpecifiſch
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft an. Und das iſt es, was ſie in
ihrem Weſen, und dadurch auch in ihrem Rechte von der folgenden,
ihrem Umfang und ihrer praktiſchen Bedeutung ſie weit überragenden,
ihrem ethiſchen Moment nach aber allerdings ihnen untergeordneten
Gruppe unterſcheidet.


B. Dieſe zweite Gruppe der volkswirthſchaftlichen Vereine beſteht
nun aus den Erwerbsvereinen, die man wohl im engeren Sinne
des Wortes als Geſellſchaften, und deren wirthſchaftliche und recht-
liche Verhältniſſe man als Geſellſchaftsweſen bezeichnet hat. Es
iſt hier durchaus nothwendig, zuerſt die bürgerlich rechtlichen Geſell-
ſchaften von den öffentlich rechtlichen zu unterſcheiden; erſt dann wird
man das Verhältniß zur Verwaltungslehre richtig würdigen. Man
muß zu dem Ende den allgemeinen Begriff der Geſellſchaft in juri-
ſtiſchem Sinne voraufſtellen, und dann die bürgerliche und die öffentliche
in ihm beſtimmen. Denn der Begriff und das Recht des Vereins
kommt nur den letzteren zu, wie wir unten genauer darlegen werden.


1) Der juriſtiſche Begriff der Geſellſchaft entſteht da, wo
einzelne Perſönlichkeiten zum Zwecke eines gemeinſamen Unternehmens
aus ihren Werth-, Güter- oder perſönlichen Kapitalien vertragsmäßig
Ein gemeinſames Kapital bilden, um den Unternehmungsgewinn
nach Maßgabe ihres hergegebenen Kapitals zu theilen. Jede Geſellſchaft
erſcheint daher juriſtiſch nach Außen, dritten Perſönlichkeiten gegen-
über, als Eine wirthſchaftliche Perſönlichkeit, und erzeugt dadurch an
und für ſich zwei Rechtsverhältniſſe. Das erſte Rechtsverhältniß iſt
das dieſer wirthſchaftlichen Einheit (Perſönlichkeit) im Verhältniß zu
Dritten; das zweite iſt das Rechtsverhältniß der Mitglieder oder Geſell-
ſchafter zur Geſellſchaft als Einheit. Man kann das erſte kurz das
äußere, das zweite das innere Recht der Geſellſchaft im juriſtiſchen
Sinne nennen.


2) Dieſer vertragsmäßig formulirte Zweck, einen gemeinſchaftlichen,
und durch die Vereinigung vergrößerten Unternehmungsgewinn zu er-
zielen, kann nun natürlich in allen Fällen auftreten, in denen über-
haupt eine Verwerthung wirthſchaftlicher Thätigkeit denkbar iſt. Die
[555] Geſammtheit dieſer Fälle aber ſcheidet ſich in zwei große, an ſich ſehr
beſtimmte Gruppen. Die erſte Gruppe entſteht da, wo die wirthſchaft-
liche Produktion einfach durch das volkswirthſchaftliche Bedürf-
niß
und das aus ihm hervorgehende Geſetz der Produktivität erzeugt
und bedingt erſcheint. Jede denkbare Produktion kann ſomit Gegenſtand
einer vertragsmäßigen Geſellſchaft werden; ja die letzteren werden ſich
ſogar in dem Grade entwickeln, in welchem die Produktivität dem
Größengeſetz der Kapitalien mehr unterliegt. — Die zweite Gruppe
entſteht dagegen da, wo die Aufgaben der Verwaltung eine
wirthſchaftliche Produktion irgend einer Art nothwendig machen. Die
Thätigkeiten der Verwaltung ſind ihrerſeits nicht auf einen Unterneh-
mungsgewinn berechnet; das was ſie zu produciren haben, iſt nicht
ein reiner Ueberſchuß des verwendeten Kapitals, ſondern ihre wahre
Produktion iſt die Herſtellung der Bedingungen der Produktivität
für die einzelnen Wirthſchaften. Dennoch kann auch eine wirthſchaft-
liche Leiſtung der Verwaltung ſehr gut und ſehr oft ohne irgendwie
ihrem eigentlichen Zwecke, der allgemeinen volkswirthſchaftlichen Pro-
duktivität zu ſchaden, einen ſolchen privatwirthſchaftlichen Unterneh-
mungsgewinn erzeugen. Daher dann kann eine ſolche wirthſchaftliche
Leiſtung der Verwaltung zugleich ein Gegenſtand der Privatproduktion
werden, und das wird in vielen Fällen bei weitem richtiger ſein, als
wenn die Verwaltung ſelbſt ihre Produktion beſorgt, da die Einzel-
produktion der Regel nach billiger iſt als die durch den Staat, aus
Gründen, die wir hier vorausſetzen dürfen. Indem nun auf dieſe
Weiſe wirthſchaftliche Produktionen, welche die Verwaltung für die
Vollziehung ihrer Aufgaben fordert, und die daher wie dieſe Aufgaben
ſelbſt dauernder Natur ſind, durch eine vertragsmäßige Geſellſchaft
erzeugt werden, empfängt die letztere einen anderen Charakter. Ihrem
Weſen nach kann die letztere nur für einen Unternehmungsgewinn, und
damit für das wirthſchaftliche Intereſſe ihrer Mitglieder arbeiten. Die
Verwaltung aber ſtellt dieß Einzelintereſſe unbedingt unter das Ge-
ſammtintereſſe. Die Vollziehung einer Verwaltungsaufgabe durch eine
ſolche Geſellſchaft erzeugt daher ſtets einen Gegenſatz des öffentlichen
und des Einzelintereſſes, der durch möglichſt beſtimmte Begränzung der
Rechte der Geſellſchaft und durch eine niemals ganz ruhende Thätigkeit
der Verwaltung in Beziehung auf die Leiſtungen der letzteren aus-
geglichen werden kann. Dadurch entſteht für die juriſtiſche Geſellſchaft
in dieſer Verbindung mit der Verwaltung ein drittes bisher nicht vor-
handenes Rechtsverhältniß; das iſt das Verhältniß zur Verwaltung,
ihren Verordnungen und Organen, das die ganze Leiſtung dieſer
zweiten Art der Vertragsgeſellſchaft durchzieht, und das ſowohl in dem
[556] äußeren wie in dem inneren Recht derſelben zur Geltung kommt. Und
nun können wir die erſte Art der Geſellſchaften im allgemeinen Sinn, deren
Vereinigung aus der reinen volkswirthſchaftlichen Produktivität hervorgeht
und durch reine volkswirthſchaftliche Produktion den gemeinſamen Ge-
winn erzielen will, die bürgerliche, oder zweckmäßiger die Handels-
geſellſchaften
nennen; die zweite Art dagegen um ihres ſie beherr-
ſchenden Zweckes willen die öffentlichen Geſellſchaften, welche
zugleich das Weſen und das Recht der Vereine enthalten.


Auf dieſe Weiſe unterſcheiden wir für die Verwaltungslehre im
allgemeinen oder juriſtiſchen Begriffe der Geſellſchaft jene zwei Grund-
formen derſelben, deren Weſen zuletzt die Grundlage ihres Rechtsſyſtemes
werden wird. Dieß aber iſt weſentlich verſchieden für beide Gruppen.


3) Die Handelsgeſellſchaften, die römiſche societas, ſind nämlich
in ihrem Zwecke abſolut frei, wie und inſoweit überhaupt die einzelne
Perſönlichkeit mit ihrem Zwecke frei iſt. Wenn daher hier eine ſyſte-
matiſche Eintheilung gefordert wird, die immerhin ein volkswirthſchaft-
liches Intereſſe hat, ſo kann ſie nur dadurch gegeben werden, daß man
die Eintheilung der einzelnen Arten der Unternehmungen zum Grunde
legt. Es wird demnach Societäten geben für Urproduktion, für Land-
und Forſtwirthſchaft, für Gewerbe, für Handel, für Induſtriezweige,
und am Ende für den freien oder geiſtigen Erwerb. Die Gränze zwi-
ſchen dieſen Privatgeſellſchaften und den gewerblichen Bildungsvereinen,
die natürlich genau in dieſelben einzelnen Arten zerfallen, beſteht einfach
darin, daß die erſteren nur zum Zwecke des Gewinnes ihrer socii
errichtet und thätig ſind, und daher nur eine andere Form des Einzel-
intereſſes enthalten. Wie ſich das Recht derſelben geſtaltet, wird unten
bezeichnet werden.


4) Die öffentlichen Geſellſchaften dagegen, die wir allein
unter die eigentlichen Vereine zählen können, ſtehen auf einem ganz
anderen Standpunkt. Da ſie nur Leiſtungen der Verwaltung zu voll-
ziehen haben, wenn auch rein zum Zwecke des Privatgewinnes ihrer
Theilnehmer, ſo können ſie nicht wie die Privatgeſellſchaften durch den
bloßen Willen ihrer Mitglieder entſtehen, ſondern ſie müſſen durch die
beſtimmten Bedürfniſſe der Verwaltung hervorgerufen werden. Sie
haben daher in ſich kein Moment, durch welches ſie ſich zum Syſtem
entwickeln könnten, ſondern ſie erſcheinen nur im Syſteme der Ver-
waltung
und ihrer Aufgaben. Und auch hier erfüllen ſie dieſes
Syſtem keineswegs ganz. Sondern ſie können nur da auftreten, wo
die Verwaltung eine dauernde Aufgabe durch eine dauernde wirthſchaft-
liche Unternehmung vollziehen will. Aber ſelbſt in dieſem Falle iſt das
Auftreten einer öffentlichen Geſellſchaft nur dann möglich, wenn die
[557] Verwaltung aus Gründen die in den gegebenen Verhältniſſen liegen,
die Herſtellung einer ſolchen Leiſtung beſſer durch Privatthätigkeit als
durch Staatsthätigkeit zu erreichen glaubt. Immer aber muß die Ver-
waltung der Geſellſchaft die Bedingungen, Formen und Gränzen ihrer
Leiſtungen und ihrer Forderungen im Geiſte der Geſammtentwicklung
vorſchreiben, und vor allem dieſe Leiſtungen ſelbſt ſo beſtimmen, daß
ſie den Charakter der Staatsaufgabe, das Element des Dauernden, in
ſich aufnehmen. Dieſe Leiſtung wird aber dadurch etwas anderes als
eine einfache wirthſchaftliche Produktion; ſie wird eine öffentliche
Anſtalt
, und die Verwaltung dieſer Anſtalt, auch wenn ſie in den
Händen der öffentlichen Geſellſchaft bleibt, hat damit Inhalt und Natur
einer öffentlichen Verwaltung, die Organe der Geſellſchaft werden
öffentliche Verwaltungsorgane, ihr Recht wird zu einem Theile des
Verwaltungsrechts, und die Stellung ihrer Mitglieder beſteht grund-
ſätzlich nur noch darin, vermöge der Vollziehung einer ſolchen Ver-
waltungsaufgabe, für welche ſie das wirthſchaftliche Kapital hergegeben
haben, einen wirthſchaftlichen Unternehmungsgewinn zu erzielen. Dieß
ſind die Grundlagen des Verhältniſſes, aus welchem dann die einzelnen
Punkte durch das Geſellſchaftsrecht als ein, wie man ſieht, ſehr
weſentlicher Theil des Vereinsrechts beſtimmt werden. Man kann nun
im Allgemeinen ſagen, daß die öffentlichen Geſellſchaften in dieſem
Sinne nur in zwei Hauptarten beſtehen, indem die Verwaltungen
nur auf zwei Gebieten ihre Aufgaben durch wirthſchaftliche Leiſtungen
von Privatunternehmungen dauernd vollziehen laſſen. Die erſte Form
bezieht ſich auf die Verkehrsanſtalten, namentlich Eiſenbahnen und
Dampfſchifffahrt; die zweite Form bezieht ſich auf den Werthumlauf,
namentlich die Creditanſtalten im weiteſten Sinne. Obwohl früher auch
andere Gebiete, wie die Poſt, der Handel, die Finanzmonopole, in
gleicher Weiſe Gegenſtand der Unternehmungen ſolcher öffentlichen Ge-
ſellſchaften waren, ſo hat die Verwaltung dieſe Aufgaben doch allmählig
an ſich gezogen, und es iſt kein Zweifel, daß die Zeit gar nicht ſo
fern iſt, wo auch die beſtehenden öffentlichen Geſellſchaften aufgehoben,
und an ihre Stelle eigentliche Verwaltungsorgane treten werden. Denn
im Grunde iſt der tiefe Widerſpruch des gleich ſehr berechtigten Einzel-
und des Geſammtintereſſes hier niemals ganz zu löſen, und die Ver-
waltungen warten nur der Zeit, wo ſie die wirthſchaftlichen Berech-
tigungen der Geſellſchaften abzulöſen, und die Staatsverwaltungen
ganz an ihre Stelle ſetzen können.


III. An dieſe Gruppe anſchließend gelangen wir zu der dritten
Hauptklaſſe der Vereine, den geſellſchaftlichen Vereinen, die,
obwohl ſie in ihrem wichtigſten Theile zugleich als Geſellſchaften im
[558] obigen Sinne erſcheinen, dennoch auf eigenthümlichen Grundlagen
beruhen.


Wir müſſen unter den geſellſchaftlichen Vereinen zunächſt zwei
große Richtungen unterſcheiden. Die erſte können wir als die geſelli-
gen
Vereine bezeichnen, die zweite erſt enthält die eigentlich ge-
ſellſchaftlichen
Vereine.


A. Die geſelligen Vereine ſind diejenigen, welche auf Grund-
lage gleichartiger geſellſchaftlicher Stellung und Bildung eine geſellige
Unterhaltung ſuchen. Im weiteren Sinne erſchienen eine Menge von
Vereinen, namentlich auch die Bildungsvereine, zugleich als geſellige
Vereine, indem ſie in ihren Zuſammenkünften die Bildung mit der
Geſelligkeit, das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Es iſt
gerade hier auch oft zweifelhaft, welche von beiden Aufgaben als die
urſprüngliche, und welche als die vorwiegende angeſehen werden kann.
Daneben dann beſtehen andere, die aber nur die reine Geſelligkeit zum
Zweck haben. Zu jenen gehören bekanntlich die Leſevereine, Geſang-
vereine, Turnvereine, Schützenvereine u. ſ. w. Dieſe haben die ver-
ſchiedenſten Namen, und kommen in dem verſchiedenſten Umfang vor.
Es iſt übrigens immerhin bezeichnend, daß die größeren geſelligen Ver-
eine faſt nirgends mehr auf der ausſchließlichen Baſis der Unterhaltung
beruhen, ja ſich faſt gar nicht mehr auf derſelben bilden. Beinahe
immer erſcheint die Bildung als der Hauptzweck, und zwar um ſo vor-
wiegender, je größer dieſe Vereine ſind, während die reine Geſelligkeit,
indem ſie in unſerer Zeit mehr und mehr einen individuellen tieferen
Inhalt gewinnt, nur noch ganz kleine Kreiſe zu vereinigen verſteht.
Es iſt das ohne Zweifel ein Fortſchritt. Aber indem das geſellige
Moment in die Bildungsvereine hineintritt, hat es zugleich das geſell-
ſchaftliche Element in demſelben zur Geltung gebracht. Die Geſelligkeit
iſt nicht denkbar, ohne eine im Weſentlichen gleichartige geſellſchaft-
liche Stellung
. Sowohl die rein geſelligen als die geſelligen Bil-
dungsvereine bezeichnen daher die Hauptformen der geſellſchaftlichen
Unterſchiede, und nähren und entwickeln dieſelben; an ſie ſchließen ſich
diejenigen geſellſchaftlichen Gegenſätze an, welche das individuelle Leben
berühren; ſie haben es ſelten oder nie mit den großen geſellſchaftlichen
Fragen zu thun, indem ſie ſich grundſätzlich der Aufnahme jedes, nicht
der gemeinſamen geſellſchaftlichen Stellung angehörenden Elementes
enthalten, wohl aber tragen ſie die kleinern geſellſchaftlichen Unterſchiede
aus, indem ſie eben in ihrem Kreiſe den Werth dieſer Unterſchiede
theils auf ihr richtiges Maß zurückführen, theils ganz verſchwinden
laſſen. Sie ſind es daher, welche die Berufs- und Standesdifferenzen
in dem allgemeinen Begriff der perſönlichen Bildung aufgehen
[559] laſſen, und welche zugleich die Heimath der geſelligen Sitte werden,
indem ſie die Beobachtung der gebildeten Sitte als eine geiſtige Be-
dingung der Zulaſſung des Einzelnen fordern. Ihre Wirkung iſt daher
trotz ihrer äußeren Unſcheinbarkeit eine große; ſie iſt zwar vorwiegend
eine negative, indem ſie die Unſitte ausſchließt; aber ſie zeigt auch
gerade hier, daß jede geſellſchaftliche Ordnung ſelbſt in dieſen ſcheinbar
ganz zufälligen Formationen die Trägerin eines höhern ethiſchen Mo-
mentes iſt. Und man ſoll daher auch dieſes Gebiet, obgleich es das
von der Verwaltung entfernteſte iſt, keinesweges als ein unbedeutendes
betrachten.


Allerdings iſt die zweite große Richtung, die der eigentlich geſell-
ſchaftlichen Vereine, von einem ganz anderen, und wenigſtens äußerlich
weit mächtigeren Einfluß.


B. Wir verſtehen unter den geſellſchaftlichen Vereinen
(im engeren Sinne) diejenigen, welche aus den organiſchen Gegenſätzen
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung hervorgehen, und ſich die
Löſung derſelben als ihre Aufgabe geſtellt haben.


Dieſe Gegenſätze nun beruhen, wie die Lehre von der Geſellſchaft
und ihren Klaſſen zeigt, auf den Verhältniſſen des Beſitzes. Die große,
die ganze ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft durchziehende Scheidung iſt die
zwiſchen den Beſitzenden und den Nichtbeſitzenden. In dieſer Scheidung
liegt der eigentliche Widerſpruch dieſer, auf dem abſtrakten Principe der
Gleichheit beruhenden Geſellſchaftsordnung. Mit dieſem Widerſpruche
entſtehen die Gefahren, welche derſelben eigenthümlich ſind. Dieſe Ge-
fahren ſind Gefahren der Geſammtheit, aber ſie berühren auch den
Einzelnen aufs Tiefſte. Sie fordern daher, daß einerſeits der Staat
ſich mit ſeiner Gewalt derſelben annehme und die geſellſchaftlichen
Verhältniſſe zu einem Gegenſtande der Verwaltung mache; andererſeits
veranlaſſen ſie die Einzelnen, aus freiem Beſchluſſe das Ihrige zu thun.
So entſtehen die geſellſchaftlichen Vereine, deren gemeinſamer Zweck es
iſt, durch die Thätigkeit der höheren beſitzenden Klaſſe auf wirthſchaft-
lichem Gebiete die nichtbeſitzende Klaſſe in ihrer geſellſchaftlichen Stellung
zu fördern, und damit den Gegenſatz zwiſchen dieſen Klaſſen aus-
zugleichen.


Eben nun wegen des innigen, ſchon im Begriff der Verfaſſungs-
bildung durch die Geſellſchaftsordnung gegebenen Zuſammenhanges
zwiſchen dem Staat und jenem geſellſchaftlichen Gegenſatz leuchtet es
ein, daß die Staatsverwaltung dem in Entſtehen und Umfang doch
immer zufälligen Vereinsweſen jene Aufgabe nicht allein überlaſſen
kann. Unter allen Arten der Vereine haben daher gerade die geſell-
ſchaftlichen Vereine am meiſten den Charakter von Verwaltungsanſtalten;
[560] und dieß zeigt ſich deutlich, ſo wie man auf die einzelnen Gruppen
derſelben eingeht.


Die geſellſchaftlichen Vereine zerfallen nämlich durch die Natur der
wirthſchaftlichen Zuſtände, auf welche ſie wirken, in zwei große Gruppen,
die wir am kürzeſten als Armenvereine und Hülfsvereine be-
zeichnen. Nur muß man auch hier feſthalten, daß dieſe Unterſcheidung
in den einzelnen Unterarten des wirklichen Lebens nicht als eine ſtrenge
durchgeführt werden, ſondern vielmehr nur den Geſichtspunkt abgeben
kann, nach welchem man ſie betrachten muß.


1) Die erſte Gruppe der Armenvereine beſteht aus der Ge-
ſammtheit derjenigen Vereine, welche die Einzelnen in der Verarmung
durch freiwillige, vermöge des Vereins geordnete und vertheilte Unter-
ſtützungen vor perſönlicher Noth bewahren. Das Verhältniß dieſer
Armenvereine iſt darum kein einfaches, weil jene ſittliche Verpflichtung
des Beſitzes von jeher als eine abſolute erſchienen iſt. Man bezeichnet
die Geſammtheit der Ordnungen, Anſtalten und Thätigkeiten, mit
welchen der Beſitz der Armuth hilft, als das Armenweſen. Das
Armenweſen erſcheint zuerſt als Aufgabe der Kirche; dann wird es
Sache der Corporationen und Stiftungen; namentlich in der ſtändiſchen
Ordnung mit dem Entſtehen der ſtaatsbürgerlichen Ordnung wird es
zuerſt Sache der Gemeinden und bleibt damit eine Aufgabe der Selbſt-
verwaltung; als allgemeine Erſcheinung der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaftsordnung wird es dann Gegenſtand der Staatsgeſetzgebung und
Verwaltung, und fügt ſich durch alle dieſe Dinge ſo innig in die ganze
Verwaltung hinein, daß es als organiſche Aufgabe der Verwaltung
erſcheinend, dem eigentlichen Vereinsweſen immer nur einen kleinen
Raum übrig läßt. In der That haben daher die Armenvereine im
Allgemeinen keine große Bedeutung; ſie erſcheinen als ſolche faſt nur
auf einem Punkte, wo ſie aber um ſo größere Dienſte leiſten, als ſie,
dort auftretend, keine dauernde Verpflichtung mit ſich bringen. Das
iſt in den Fällen, wo aus irgend einer Urſache eine plötzliche und
örtliche Noth entſteht, und die Verarmung als Folge beſtimmter
Ereigniſſe, mithin als eine vorübergehende angeſehen werden muß.
Solche Fälle fordern eine außerordentliche, und zwar eine allgemeine
Anſtrengung des Beſitzes; und es iſt die Aufgabe des Vereins, theils
dieſe Anſtrengung deſſelben hervorzurufen, theils ſie zu ordnen, theils
ſie richtig zu verwenden. Dabei können ſolche Vereine in ganz ver-
ſchiedener Weiſe jene Beiträge für ihren beſtimmten Zweck gewinnen.
Sie können ſie ſammeln; ſie können ſie von dem Staate erbitten; ſie
können ſie auch durch wirkliche Leiſtungen erwerben — Lotterien, Auf-
führungen, Publikationen u. ſ. w., ohne daß dadurch der Charakter der
[561] Vereine geändert würde. Im Allgemeinen aber kann man ſagen, daß
die dauernden Armenvereine ſtets den Charakter der Selbſtverwaltung
und zwar theils der kirchlichen, theils der Gemeindeverwaltung, eben
durch ihre Dauer empfangen. Es iſt das Feſthalten an dieſem Satze
um ſo wichtiger, als nur auf dieſem Wege eine organiſche Scheidung
zwiſchen ihnen und den Hülfsvereinen möglich iſt. Dieſe erſcheint aber
von größter Wichtigkeit, weil ſie mit dem ganzen Weſen der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft aufs Innigſte zuſammenhängt.


Während nämlich das Armenweſen den Zuſtand zur Vorausſetzung
hat, in welchem der Einzelne durch eigene Kraft ſich eben nicht helfen
kann, tritt das Hülfsweſen überall da ein, wo bei vorhandener Kraft
zur Selbſthülfe nur die wirthſchaftlichen Bedingungen derſelben — im
weiteſten Sinne — fehlen. Das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
fordert, daß jeder Einzelne ſeine gleiche geſellſchaftliche Geltung durch
ſich ſelbſt
gewinne. Die geſellſchaftliche Hülfe für die niedere Klaſſe
kann daher grundſätzlich nicht darin beſtehen, daß dem Einzelnen ge-
geben werde, was er nicht beſitzt, ſondern daß es ihm möglich gemacht
werde, zu erwerben, was ihm helfen kann. Und die Geſammtheit
aller Vereine, welche dieß zu ihrer Aufgabe machen, nennen wir die
Hülfsvereine.


2) Die Hülfsvereine bilden damit einen eben ſo großen als wich-
tigen Faktor im geſellſchaftlichen ſowohl, als im ſtaatlichen Organismus.
Sie können zwar den großen Gegenſatz, der in der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft liegt, nicht unmittelbar löſen, wohl aber können ſie ſeine
Löſung organiſch vorbereiten. Denn die Geſellſchaftslehre zeigt uns,
daß jene Löſung darin liegt, daß die höhere Klaſſe der Geſellſchaft
freiwillig ihre Kräfte und Mittel verwende, um der niederen, nicht be-
ſitzenden Klaſſe die Bedingungen zur Hebung im Einzelnen zu ver-
ſchaffen. Das Vereinsweſen der Hülfsvereine erſcheint uns als der
feſte Organismus dieſer Aufgabe. Mit ihm hat dieſe ſociale Geſtaltung
den naturgemäßen Weg eingeſchlagen, durch welche ſie ihre innere Har-
monie herſtellen kann; und in dieſem Sinne kann man ſchon jetzt ſagen,
daß die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ihre zweite Epoche begonnen hat,
den poſitiven Theil ihrer Geltung, die ſociale Richtung und Aufgabe.


Natürlich iſt nun auf dieſer Grundlage das Gebiet der Hülfsver-
eine ein ſehr großes, und es iſt darum nothwendig, ein Syſtem für
daſſelbe aufzuſtellen. Dieß Syſtem ſchließt ſich eigentlich an die Grund-
verhältniſſe des menſchlichen Lebens an; denn die Hülfe begleitet in der
Geſtalt der Vereine die Einzelnen von der Wiege bis zum Grabe. Man
kann nun wohl als Hauptformen dieſer Vereine folgende aufſtellen.


a) Die erſte Gruppe derſelben iſt diejenige, in welcher der Verein
Stein, die Verwaltungslehre. I. 36
[562] die Familie vertritt. Das Streben nach Erwerb entzieht die Eltern
den Kindern, und nimmt daher den letzteren die allererſte Bedingung
einer perſönlichen Entwicklung, die leibliche und geiſtige Pflege der
erſten Kindheit. Hier tritt das Vereinsweſen auf und zwar in doppelter
Weiſe. Zuerſt übernimmt das Vereinsweſen die Sorge für die ganz
elternloſe Kindheit in den Waiſenvereinen, die übrigens ſich im
Grunde nur an die öffentlichen Waiſenverſorgungsanſtalten anſchließen
können, aber auf dieſe Weiſe ſehr nützlich wirken. Dann entſtehen
zweitens die Kinderhülfsvereine, die Krippenvereine, welche für die
erſte Kindheit, und die Warteſchulenvereine, welche für die Zeit
der erſten Erziehung ſorgen. Bei den letzten Vereinen iſt es noch mehr
die Zeit und die perſönliche Thätigkeit, welche die höheren Klaſſen her-
geben, als die Geldmittel; denn in der That kann nur jenes die Fa-
milie erſetzen. Jenſeits der Gränze der Kindheit tritt eine andere
Kategorie von Vereinen ſorgend für die Kinder der niederen Klaſſe auf;
das ſind alle Vereine für Bildung des Volkes, und zwar inſofern
dieſelben den Zweck haben, die Mittel darzubieten, um dieſe Bildung
auch denen zugänglich zu machen, welche zu unbemittelt ſind, um den
Preis der Bildung zu zahlen. Hier verſchmelzen daher Bildungsvereine
und Hülfsvereine zu einem Ganzen, eine Verſchmelzung, die ſich in
dem folgenden Gebiete in anderer Weiſe wiederholt. Dieß Gebiet iſt
das der Krankenvereine. Die Krankenvereine haben eine zweifache
Grundform. Entweder ſie ſind Vereine der höheren Klaſſe für die
Pflege und Unterſtützung der niederen Klaſſe in Krankheiten, die ja die
Erwerbsfähigkeit vernichten oder hemmen, und dann gehören ſie den
Armenvereinen bis zu einem gewiſſen Grade; oder ſie beſtehen aus
einem Vereine der Mitglieder der nichtbeſitzenden oder doch erwerbenden
Klaſſe ſelbſt, die ſich durch gemeinſchaftliche Beiträge den Unterhalt
während einer Krankheit ſichern wollen, und dann ſind ſie den Spar-
vereinen verwandt. Dennoch iſt es kein Zweifel, daß in beiden Fällen
der eigentlich ſociale Charakter überwiegt. Ein ganz ähnliches gilt von
der Klaſſe von Vereinen, die wir als die Unterhaltsvereine be-
zeichnen können. Auch dieſe theilen ſich in zwei Gruppen. Theils er-
ſcheinen ſie als Unterſtützungsvereine der beſitzenden Klaſſen, welche die
Unterhaltsmittel den Nichtbeſitzenden hingeben, Suppe, Feuerung, zum
Theil auch Wohnungen (cités ouvrières), bald ganz umſonſt, bald zu
geringem Preiſe; theils erſcheinen ſie als gegenſeitige Vereine innerhalb
der nichtbeſitzenden Klaſſe ſelbſt, als die ſogenannten Conſumvereine,
bei denen der Verein eine Unternehmung iſt, welche den Handelsgewinn
in der Verminderung des Preiſes an ſeine Mitglieder verkauft, wobei
aber auch wieder die direkte Unterſtützung der Beſitzenden faſt immer
[563] nothwendig wird. Bei der letzteren Klaſſe dieſer Art von Vereinen, den
ſogenannten Todtenkaſſen, tritt ſchon das Element der Sparvereine und
der Kapitalsbildung ſo deutlich in den Vordergrund, daß wir ſie ohne
weiteres den letzteren zuzählen; denn ſie haben es bei dem Sterben
mit nichts anderem zu thun, als mit der Deckung der Koſten, welche
der Tod verurſacht.


b) So iſt ſchon dieſe erſte Gruppe der Hülfsvereine ein Syſtem
für ſich. Einfacher, aber darum nicht weniger wichtig und einflußreich,
iſt die zweite Gruppe, das Vereinsweſen für die Kapitalsbildung.


Man kann dieſe Gruppe in drei Hauptrichtungen theilen, die durch
die verſchiedene Form, in welcher ein Kapital der Nichtbeſitzenden ge-
bildet werden kann, begründet ſind.


1) Die erſte Form wird gebildet durch die Sparvereine. Die
Aufgabe derſelben iſt zuerſt die, das Sparen im Kleinen zu ermöglichen,
dann die höhere, durch die Verzinſung kleiner Erſparungen das Sparen
hervorzurufen. Das erſte geſchieht durch die Sammlungsvereine,
Kreuzervereine, Pfennigvereine ꝛc., welche eben nur den kleinſten Be-
trag vor dem nutzloſen Verzehrtwerden bewahren ſollen; das zweite
durch die Sparkaſſen. Die Sparvereine ſind als freie Vereine ent-
ſtanden, und zwar theils auf Anregung, theils durch direkte Unter-
ſtützung der beſitzenden Klaſſe. Nachdem ihre Fähigkeit, durch ihre
eigenen Mittel zu beſtehen, bewieſen iſt, haben ſie allmählig den Cha-
rakter von Vereinen verloren, und ſind zu öffentlichen Anſtalten ge-
worden, die ſich mit der Zeit mit der örtlichen Selbſtverwaltung ver-
ſchmelzen werden. Es iſt nicht nöthig, die hohe Bedeutung derſelben
hier zu erörtern; ſie ſind in kurzer Zeit ein dauernder Organismus der
geſellſchaftlichen Verwaltung geworden, und man kann ſich einen Zu-
ſtand ſchon jetzt gar nicht mehr denken, in welchem ſie fehlen ſollten.
Faſt eben ſo bedeutſam iſt die zweite Form.


2) Dieſe Form bezeichnen wir kurz als die Kapitalsverſiche-
rungen
. Das Weſen der Kapitalsverſicherungen beſteht darin, daß
die Kapitalbildung bei ihnen nicht wie bei den Sparvereinen eine Sache
der Sammlung, ſondern eine ſelbſtändige, eigenthümliche Art der Un-
ternehmung
iſt; denn ſie beruht auf einer wahrſcheinlichen Berechnung
des Ergebniſſes einer regelmäßigen Einzahlung für den Verſicherten,
bei welcher derſelbe ebenſo gut etwas verlieren als gewinnen kann,
deren letztes Reſultat aber dennoch immer die Bildung irgend eines
Kapitals für den Verſicherten iſt. Jede einzelne Kapitalsverſicherung
iſt daher eine Unternehmung; aber die Verſicherung ſelbſt kann auch
wieder eine Unternehmung ſein, und zwar ſowohl ein Verein aller
Verſicherten zur Gegenſeitigkeit, deſſen Princip es dann iſt, die Sicherheit
[564] der aus der Verſicherung entſtandenen Anſprüche jedes Einzelnen in
der Haftung aller Uebrigen zu ſuchen, als ein Kapitalsunternehmen,
bei welchem ein beſtimmtes geſellſchaftliches Kapital dieſe Haftung über-
nimmt. Im letzteren Falle wird der Hülfsverein zugleich eine Erwerbs-
geſellſchaft, und ſteht damit unter den Regeln, welche für dieſe gelten.
Es iſt nutzlos, zu ſtreiten, wohin man ihn alsdann rechnen ſoll; ohne
allen Zweifel iſt ſein Hauptzweck ſtets das ſociale Element der Kapitals-
bildung, und ſeinem eigentlichen Weſen nach muß er daher den Hülfs-
vereinen zugezählt werden.


3) Ganz daſſelbe gilt von der dritten Form, die wir als die Ge-
fahrverſicherungen
bezeichnen. Nur gehören dieſe letzteren, wie
zum Theil ſchon die Kapitalsverſicherungen, keineswegs immer der nicht
beſitzenden Klaſſe an; ſie haben vielmehr ihre ſociale Aufgabe in jeder
Klaſſe der Geſellſchaft, und während jene das Kapital als die Grund-
lage der ſocialen Stellung des Einzelnen bilden, ſollen dieſe dieß
Kapital erhalten. Die Gefahrverſicherungen unterſcheiden ſich daher
von den Kapitalverſicherungen darin, daß ſie ihr Gebiet da ſuchen, wo
ein Kapital ſchon vorhanden iſt; ſie ſind daher die Form der Hülfs-
vereine weſentlich für die beſitzende Klaſſe, und zwar in dem weiteſten
Sinne des Wortes, daß ſie ſich in der nichtbeſitzenden Klaſſe zugleich
an die wenig Beſitzenden anſchließen. Ihr Werth und ihre Wirkung
in nationalökonomiſcher Hinſicht darf als anerkannt vorausgeſetzt werden;
in ſocialer Hinſicht haben ſie zur Aufgabe das Zurückfallen des Ein-
zelnen in eine niedere ſociale Stellung durch den zufälligen Verluſt
ſeines Kapitals zu hindern. Sie ſelbſt aber können wieder gegenſeitige
oder Kapitalsunternehmungen ſein; die allgemeine Nothwendigkeit des
Schutzes des Kapitals gegen zufälligen Verluſt macht ſie aber zu ſo
nothwendigen Inſtituten, daß unter allen Hülfsvereinen am meiſten
den Charakter von Anſtalten der Staatsverwaltung annehmen, und
zum Theil ſogar direkt als ſolche auftreten. Sie bilden daher nach
dieſer Seite die Gränze des Vereinsweſens, wie die folgenden nach
einer andern Seite.


c) Die dritte große Gruppe der Hülfsvereine können wir mit einem
Worte als die ſocialen Kreditvereine bezeichnen. Das Weſen
derſelben, und ihr Unterſchied von den früher erwähnten, die im Gegen-
ſatze zu denſelben Kapitals-Kreditvereine heißen können, beſteht darin,
daß dieſe die Grundlage ihres Kredits in irgend einem bei dem Kredit-
nehmer vorhandenen Kapitale ſetzen, während die ſocialen Kreditvereine
die Aufgaben haben, den Kredit zu geben, wo nur ein perſönliches
Kapital
vorhanden iſt. Ihre Stellung im ſocialen Organismus be-
ſteht mithin darin, dem Elemente der perſönlichen, aber kapitalloſen
[565] Tüchtigkeit das zweite Element, das Kapital, darzubieten, und die
freie Entwicklung deſſelben damit von der Herrſchaft des fremden Kapitals
und ſeiner beſonderen Intereſſen unabhängig zu machen. Die Wichtig-
keit dieſer großen Funktion ſteigt in dem Grade, in welchem das Kapital
ſelbſt zu einer herrſchenden Bedingung für das wirthſchaftliche Unter-
nehmen, die Ausdehnung und der Erfolg des letzteren aber zu einer
Bedingung für die geſellſchaftliche Stellung des Einzelnen wird. In
dem Gebiete dieſer Aufgabe liegt daher die eigentliche Löſung des Ge-
genſatzes der Klaſſen in der induſtriellen Geſellſchaft, die wir die ſtaats-
bürgerliche nennen, weil ſie die Idee der Gleichheit als Grundlage hat.
Denn nirgends wird jener Gegenſatz ſo tief gefühlt, als da, wo die
perſönlichen, oft mit ſchwerer Arbeit gewonnenen Elemente der geſell-
ſchaftlichen Geltung vorhanden ſind, und nur das Kapital denſelben
noch fehlt, ohne daß die höchſte individuelle Tüchtigkeit daſſelbe er-
reichen könnte. Es iſt aber ganz unmöglich, dieß Kapital entweder
vom Staate, oder von Einzelnen zu fordern; es kann abſolut kein
Kapital, ſeiner eigenſten Natur nach, hergegeben werden, wenn es nicht
einen Verdienſt macht, der ſtets im umgekehrten Verhältniß zu ſeiner
Sicherheit ſteht. Die ſocialen Kreditvereine ſind daher nothwendig
Unternehmungen, und zwar ſolche, die bei einem zunächſt rein
wirthſchaftlichen Zweck einen ſocialen Gedanken erfüllen. In dem letz-
teren Momente nun liegt es, daß ſie faſt nur auf Gegenſeitigkeit be-
ruhen können und ſollen, und zwar theils aus wirthſchaftlichen Gründen
darum, weil der Gewinn gerade bei dieſem ſocialen Kredit naturgemäß
immer der größte iſt, und da dieſer Gewinn den Kreditgebern zufällt,
die Kreditnehmer ſelbſt zugleich Kreditgeber ſein müſſen, wenn ſie eben
den Vortheil des Kredits mit dem des Darlehens verbinden, und ſo mit
ihrem kleinen Kredit ein größeres Kapital zu erwerben ſtreben, — theils
auch vom höheren geſellſchaftlichen Standpunkte, weil die Gegenſeitig-
keit allein die Unabhängigkeit des Kreditnehmers vom Kreditgeber, der
Arbeit vom Kapitale begründet. Mit Recht ſehen wir daher in dieſem
Vereine die höchſte Erſcheinung der ſocialen Vereine, diejenige, in
welcher die Selbſthülfe die wirthſchaftliche Unabhängigkeit durch freie
Vereinigung der Kräfte überwindet; eine Erſcheinung, welche dazu be-
ſtimmt iſt, die großartigſten Reſultate auf einem reichen, und im Grunde
noch wenig bekannten Gebiete zu gewinnen! —


Dieß nun ſind die Grundlagen des Syſtems des Vereinsweſens, die Haupt-
kategorien ſeiner Arten und Geſtaltungen. Es dürften wohl ſo ziemlich alle
denkbaren Vereine in die obige Klaſſifikation fallen, und jeder einzelne Verein
ſeine naturgemäße Stellung in derſelben finden. Von hoher Wichtigkeit wäre
es, wenn ſich nunmehr die Statiſtik des Vereinsweſens ernſthaft bemächtigen
[566] wollte. Denn wenn wir oben behauptet haben, daß daſſelbe einen mächtigen
und höchſt großartigen Organismus bildet, der das ganze Staatsleben durch-
zieht, und ſeinerſeits die Verwaltung mit ſeiner Thätigkeit und ſeiner Kraft
theils ſchon wirklich erfüllt, theils zu erfüllen beſtimmt iſt, ſo wird ſchon das
obige Syſtem den entſcheidenden Beweis dafür liefern. Was aber die Statiſtik
des Vereinsweſens als eines Ganzen betrifft, ſo iſt uns kein anderes Werk dar-
über bekannt, als die ſtatiſtiſche Darſtellung des Vereinsweſens im Kai-
ſerthum Oeſterreich
von Dr. M. v. Stubenrauch (1857), das zugleich
die Geſchichte der Vereinsgeſetzgebung in Oeſterreich enthält. Wir hoffen, daß
dieß höchſt reichhaltige Werk bald Nachfolger finden möge.


IV. Das Vereinsrecht.


Wir betreten mit dem Vereinsrecht das letzte Gebiet des Rechts
der vollziehenden Gewalt, und das letzte der freien Verwaltung. In-
dem wir ſeinen Inhalt darzulegen beginnen, können wir uns nicht ver-
hehlen, daß wir hier mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben,
wie bei dem Begriffe und dem Syſteme der Selbſtverwaltung im All-
gemeinen, des Gemeindeweſens oder der örtlichen Selbſtverwaltung im
Beſonderen.


Es wird nämlich auch hier unvermeidlich ſein, der Lehre vom
Vereinsrecht eine eingehende Begriffsbeſtimmung deſſen, was wir im
Sinne des öffentlichen Rechts einen Verein nennen, voraus zu ſenden.
Das Vereinsrecht ſelbſt enthält, wie alles Recht, nur die Anerkennung
der perſönlichen Selbſtändigkeit des Vereins im Ganzen und in allen
ſeinen einzelnen Lebensverhältniſſen. Es iſt daher undenkbar ohne
eine ſcharfe Scheidung deſſen, was wir einen Verein nennen, von den
ähnlichen Formen des Geſammtlebens; oder vielmehr das Vereinsrecht
iſt auch hier eben nur dieſe rechtliche Anerkennung jenes ſelbſtändig ſich
von den verwandten Geſtaltungen ſcheidenden Begriffs des Vereins.
Dieſe Unterſcheidung iſt daher an und für ſich die Grundlage und zu-
gleich die Erklärung alles deſſen, was wir Vereinsrecht nennen. Die
Wahrheit dieſes Vereinsrechtes wird, bei dem großen Mangel an jeder
durchgreifenden Geſetzgebung und bei der Verwirrung der Gränzen in
dem beſtehenden Recht, eben vor allem auf dem richtigen Verſtändniß
jenes Weſens des Vereins beruhen, und in ſeiner Harmonie mit dem-
ſelben ſeine wahre Geltung finden. Und wenn wir deßhalb ſagen müſſen,
daß wir weder eine ausreichende Geſetzgebung noch eine genügende
Theorie vom Vereinsrecht beſitzen, ſo beruht das zuvörderſt auf dem
Mangel eines ſcharfen und genügenden Begriffs vom Weſen des Vereins.
Es wird ſich auch hier wieder das eigentliche Weſen des Rechts und
ſeiner Wiſſenſchaft bewähren, daß beide uns — faſt unerbittlich —
[567] zwingen, die Sache genau zu kennen und zu beſtimmen, ehe wir über
ihr Recht reden. Und ſo iſt allerdings die folgende Entwicklung des
Begriffs vom Verein für uns ſo maßgebend für die ganze Lehre vom
Vereinsrecht, daß wir glauben müſſen, die Richtigkeit eben dieſes Be-
griffes ſei durchaus entſcheidend für alles, was wir als den rechtlichen
Inhalt des Vereinsweſens weiter hinzuzufügen haben.


Eben darum wird man wohl zugeben, daß wir bei dieſer Lehre
vom Vereinsrecht die Begründung des Begriffes etwas umfaſſender auf-
ſtellen. Wir verſtatten uns, in dieſem Sinne eine allgemeine Ein-
leitung
dem Syſteme des Vereinsrechts vorauszuſenden. Die Auf-
gabe des erſteren ſoll es eben ſein, aus dem ſpecifiſchen Begriffe des
Vereins die allgemeinen Principien des Vereinsrechts zu entwickeln,
während der letztere das innere Leben des Vereins und die Rechtsver-
hältniſſe ſeiner Organe, ſo wie ſein Verhältniß zum Staate im Ein-
zelnen aus dem übrigen Theile darzulegen hat.


Allgemeine Einleitung in das Vereinsrecht.

1) Begriff des Vereins. Unterſchied von Geſellſchaft und Verein.

Es bedarf keines Beweiſes, daß das, was wir Verein nennen,
zunächſt eine beſtimmte Form eines allgemeinen Begriffes iſt. Dieſer
Begriff iſt der der Vereinigung im allgemeinſten Sinn des Wortes.
Es bedarf hier ferner keiner Nachweiſung, daß die Vereinigung der
Perſönlichkeiten zu gemeinſamem Wollen und Thun durch das Weſen
des perſönlichen Lebens überhaupt gegeben iſt. Allein dieſe Vereinigung
iſt unter höchſt verſchiedenen Formen möglich; und eine dieſer Formen
iſt der Verein. Es kommt mithin darauf an, in der Entwicklung dieſer
Vereinigung diejenige Form zu bezeichnen, welche wir den Verein nennen.


Indem ferner jede Berührung von Perſönlichkeiten Recht erzeugt,
ſo folgt, daß auch jede Vereinigung Rechte enthält, und ſelbſt dieſes
Recht der Vereinigung im weiteſten Sinn wird ſtets ein gewiſſes Maß
des Aufgebens der einzelnen Selbſtändigkeit der vereinten Perſönlichkeiten
an die von ihnen geſetzte Gemeinſchaft enthalten. Hat nun die letztere
verſchiedene Geſtalten, ſo wird jede derſelben ſich dieß Maß als aus
ihrer Natur folgend ſelber ſetzen; und ſo wird es ſo viele Grundformen
des Rechts der Vereinigung geben, als es Grundformen der letztern
ſelbſt gibt. So ſchließt ſich der Begriff des Vereinsrechts an den Be-
griff des Vereins ſelber an, und wird durch ihn bedingt und geſetzt,
und das erſtere fordert daher den letztern als ſeine unbedingte Voraus-
ſetzung.


[568]

Die Formen der Gemeinſchaft des Einzelnen, welche wir als Ver-
einigung bezeichnen, unterſcheiden ſich nun weſentlich von denjenigen,
welche wir als Einheiten aufſtellen. Das Weſen der Vereinigung
nämlich beruht darauf, daß es im freien Willen der Einzelnen beruht,
ob ſie Theil daran nehmen wollen oder nicht, während das Weſen der
perſönlichen Einheiten den Einzelnen auch gegen ſeinen eigenen Willen
als Glied einer ſolchen Einheit ſetzt. Dieſe perſönlichen Einheiten ſind
die Familie, die Körper der Selbſtverwaltung und des Staats. Sie
ſind, wie alle Perſönlichkeit, durch ſich ſelbſt. Jede andere im ſtaat-
lichen Leben erſcheinende Gemeinſchaft iſt dagegen eine Vereinigung, in-
dem ſie auf dem freien Willen der Einzelnen beruht. Nur iſt dieſe Ge-
meinſchaft eine ſehr verſchiedene.


Die erſte und einfachſte Vereinigung Mehrerer zu einem gemein-
ſamen Wollen und Thun iſt der Vertrag im Sinne des bürgerlichen
Rechts. Das Weſen des Vertrages beſteht darin, einen beſtimmten
wirthſchaftlichen Proceß zum Inhalt des gemeinſamen Willens zu machen.
Das Objekt des Vertrages iſt ſtets ein Verkehrsakt; der Inhalt des Ver-
trages iſt die Beſtimmung der gegenſeitigen wirthſchaftlichen Leiſtungen.
Der Vertrag, an ſein Objekt gebunden, liegt daher wie das letztere im
Gebiete der Einzelwirthſchaft, und hat mit dem Verkehrsakt, auf welchen
er ſich bezieht, ſein Ende. Er ruht damit ganz in dem Willen der
Contrahenten, und hat keine Beziehung auf Leben und Recht Dritter,
als diejenige, welche der Dritte ſelbſtändig zugeſteht. Von einer Selb-
ſtändigkeit des Vertrags außerhalb des Willens der Contrahenten iſt
keine Rede; Aufhebung, Aenderung, Erneuerung, Bedingung, liegen
vielmehr ganz in ihrem Willen. Der Vertrag erſcheint daher allerdings
als eine Vereinigung, aber als die untergeordnetſte, unſelbſtändigſte
Form derſelben, die an einen einzelnen Akt gebunden, mit ihm und
ſeinem Objekt ſofort ſich auflöst. Sein Recht iſt das Vertragsrecht.


Die zweite höhere Form der Vereinigung iſt diejenige, bei welcher
das Objekt des gemeinſamen Willens ein dauerndes iſt. Die dauernde
Natur dieſes Objekts ruft eine neue Reihe neuer Verhältniſſe ins Leben.
Das erſte dieſer Verhältniſſe iſt, daß mit der Dauer des Vertragsobjekts
auch eine dauernde Leiſtung der Contrahenten geſetzt ſein muß. Dieſe
dauernde Leiſtung kann wieder eine beſtimmte, auf ein beſtimmtes Maß
von Leiſtungen oder Werthen zurückgeführte, oder ſie kann eine unbe-
ſtimmte, das iſt rein von den Bedingungen des gemeinſamen Zweckes
abhängige ſein; es kann auch ſein, daß einige Contrahenten eine be-
ſtimmte, einige eine unbeſtimmte Leiſtung übernehmen. Die unbeſtimmte
Leiſtung umfaßt dann ſtets das ganze wirthſchaftliche Leben des Con-
trahenten. Das zweite Verhältniß, das aus der Natur der Dauer
[569] des Zweckes entſpringt, gibt aber der Vereinigung als ſolcher einen
andern Charakter. Vermöge jener Dauer erſcheint nämlich der Werth
der Leiſtung des einen Contrahenten von der wirklichen Leiſtung des
andern Contrahenten abhängig, und die Aufrechthaltung der einmal
eingegangenen Vereinigung von Seiten jedes Einzelnen wird dadurch,
als natürliche und wirthſchaftliche Vorausſetzung der Vereinigung ſelber,
zur Bedingung, und damit zum rechtlich angenommenen Inhalt der
Vereinigung. In ihr iſt daher der Wille des einzelnen Contrahenten
nicht mehr freier Herr über ſeinen Antheil an der Vereinigung ſelbſt.
Nur die Vereinigung aller Willen kann in Beziehung auf die Leiſtungen
und Verhältniſſe der Vereinigung maßgebend werden. Es iſt damit
ſchon etwas erzeugt, was zwar nicht über dem Willen aller Einzelnen,
wohl aber über dem Willen des Einzelnen ſteht; eine Form des perſön-
lichen Lebens, welche ein, wenn auch nur durch den Zweck begränztes,
aber innerhalb dieſes Zweckes dennoch ſelbſtändiges Daſein hat, welche
vermöge dieſes ſelbſtändigen Daſeins Wille und Thätigkeit beſitzt, und
welche vermöge dieſes ſelbſtändigen Wollens und Thuns den Einzel-
willen als ihren Inhalt betrachtet, das iſt, Rechte und Pflichten für
den Einzelnen ohne ſein perſönliches Zuthun, wenn auch nur in Be-
ziehung auf das belaſtende Objekt der Vereinigung, erwerben und ver-
lieren kann. Hier iſt daher eine andere höhere Geſtalt der Gemeinſchaft;
und dieſe Vereinigung mit einem dauernden Zwecke und den daraus
entſpringenden Rechten und Pflichten des einzelnen Mitgliedes nennen
wir eine Geſellſchaft.


Es ergibt ſich daraus, daß man, während man einen Vertrag nur
über das ſchließen kann, was bereits im Vermögen des Einzelnen im
weiteſten Sinn iſt, eine Geſellſchaft auch über alle anderen Dinge
eingehen kann. In der Geſellſchaft erſcheint allerdings wieder der Ver-
trag als derjenige Akt, welcher das Maß und die Art der Leiſtungen
und Rechte des Einzelnen beſtimmt; aber die Geſellſchaft iſt kein Ver-
trag
, ſondern ſchon eine, wenn auch eng begränzte, ſelbſtändige Ge-
meinſchaft. Darum ſchließt man zwar einen Vertrag, aber man errichtet
eine Geſellſchaft. Sie handelt innerhalb ihres Zweckes als perſönliche
Einheit; ſie wird als ſolche anerkannt, und dieſe Anerkennung heißt in
der wirthſchaftlichen Welt die Firma. Aber ihr Begriff und Recht geht
weit über das wirthſchaftliche Leben hinaus; es gibt gar keinen Zweck
des Lebens, für welchen man nicht eine Geſellſchaft ſchließen könnte,
und eben deßhalb iſt auch der Begriff der Geſellſchaft in dieſem Sinne
der allgemeine, dem ſich der Begriff des Bereins als eine beſtimmte
Art von Geſellſchaften unterordnet. Daher kommt denn die Verwirrung
in dem Namen beider; im gewöhnlichen Leben werden beide Ausdrücke
[570] ununterſchieden gebraucht; man nennt unbedenklich Vereine Geſellſchaften
und umgekehrt, und an ſich iſt das nicht falſch. Allein man ſollte um
der Klarheit willen dieſe willkürlichen Bezeichnungen aufgeben. Der
folgende Begriff des Vereins wird zeigen, daß wir mit Recht das Ge-
biet der Geſellſchaften auf diejenigen Vereinigungen beziehen, welche
einen wirthſchaftlichen Zweck haben. Im Grunde entſpricht dieſer
Begriff auch dem Sprachgebrauch; namentlich ſcheint uns das Handels-
geſetzbuch ganz dieſe Auffaſſung zur Geltung gebracht zu haben, indem
es, von Geſellſchaften redend, immer nur an wirthſchaftliche Geſellſchaften
denkt. Wir werden daher den Ausdruck feſthalten, um ſo mehr als
auch die politiſchen Geſetze, ſo weit ſie exiſtiren, vorzugsweiſe bei „Ver-
einen“ ſchon ſtaatliche Zwecke hinzudenken, wie ſich unten zeigen wird.


Trotz dieſer Beſchränkung des Begriffes von Geſellſchaften auf die
wirthſchaftlichen Vereinigungen, erſcheinen dennoch höchſt weſentliche
Modifikationen in demſelben, die wieder, aus der Natur des Objekts
hervorgehend, das Verhältniß der Mitglieder beſtimmen.


Zuerſt kann die Geſellſchaft bloß in einer Vereinigung des Ver-
mögens Einzelner mit der Unternehmung Dritter beſtehen, ſo daß ſie
eine Vereinigung eines Kapitals mit einer Unternehmung iſt; das iſt
die ſtille Geſellſchaft. Dann kann ſie in der Vereinigung der geſammten
Wirthſchaft für ein ſelbſtändiges Unternehmen beſtehen; das iſt die offene
Geſellſchaft. Dann kann ſie in der Verſchmelzung beider Arten beſtehen,
indem für ein drittes, ſelbſtändiges Unternehmen einige Mitglieder mit
ihrem ganzen Vermögen, einige nur mit einem beſtimmten Antheil ein-
treten, und das iſt die Commanditgeſellſchaft. Die Commanditgeſell-
ſchaft unterſcheidet ſich von der ſtillen Geſellſchaft dadurch, daß ſie nur
dann als Geſellſchaft denkbar iſt, wenn der Zweck der Geſellſchaft nicht
ein bereits beſtehender, ſondern ein durch die Theilnehmer neu und
ſelbſtändig geſetzter iſt. Die Commandite kann allerdings ein bereits
beſtehendes Unternehmen übernehmen, aber ſie wird als Geſellſchaft deſſen
Eigenthümerin, während bei der ſtillen Geſellſchaft der frühere Herr
des Unternehmers Eigenthümer bleibt, und das Weſen einer ſolchen
Geſellſchaft nur in der Abhängigkeit der Verzinſung des eingelegten
Kapitals von dem Gewinne des Geſchäfts beſteht. Das deutſche Han-
delsgeſetzbuch iſt in ſeiner Auffaſſung der Commandite vollkommen un-
klar, ſo wie in ſeiner Auffaſſung des Weſens der ſtillen Geſellſchaft.
Es hat den Kern der Sache nicht zu erfaſſen gewußt, indem es
das, worauf es ankommt, das Eigenthum am Unternehmen, nicht ſelb-
ſtändig aufgefaßt hat. Mit Recht hat man daher auch der ſtillen Ge-
ſellſchaft des Handelsgeſetzbuches die Lebensfähigkeit abgeſprochen, in der
Weiſe, in der ſie aufgeſtellt iſt; denn es wird jedem unmöglich bleiben,
[571] eine ſcharfe Gränze zwiſchen der Commandite und der ſtillen Geſellſchaft
zu ziehen, wie ſie dort eingeführt ſind. Dennoch gibt es kein Recht
ohne eine ſolche ſcharfe Gränze, und dieſe beſteht einzig und allein
darin, daß die Commandite nur dann als Form der Geſellſchaft ver-
ſtändlich iſt, wenn durch den Commanditenvertrag das Geſchäft der
Commandite zum Eigenthum der Geſellſchafter erklärt
wird
. Und erſt dadurch wird das Folgende klar.


Eine ſolche Commandite kann nun die Antheile, welche der Einzelne
für das Kapital des neuen Unternehmens hergibt, entweder in der Form
einer einfachen Summe, oder in der Form einer Aktieneinzahlung leiſten,
und daher ſeinen Antheil als bloße Buchforderung auf Grundlage des
Geſellſchaftsvertrages, oder in der Form von Aktien darſtellen. Es iſt
das für den Begriff einer ſelbſtändigen gemeinſchaftlichen Unterneh-
mung auf Antheile ganz gleichgültig, und rein eine Frage der Zweck-
mäßigkeit. Von dieſem Standpunkt aus muß das Recht der Comman-
ditgeſellſchaft auf Aktien, das das Handelsgeſetzbuch eingeführt hat, als
ein in jeder Beziehung verkehrtes betrachtet werden. Denn dadurch ver-
ſchwindet das Einzige, was die Aktien im volkswirthſchaftlichen Leben
als zuläſſig erſcheinen läßt, indem ſie ihnen einen annähernd feſten
Maßſtab des Werthes gibt, die Beziehung auf ein feſtes, ihr eigenthüm-
liches Kapital. Dieſer größte Fehler im deutſchen Handelsgeſetzbuch iſt
wiederum nur erklärlich durch die Unklarheit über den weſentlichen
Unterſchied zwiſchen ſtiller und Commanditgeſellſchaft, und wir halten
es für unmöglich, daß eine Regierung ſolche Commanditgeſellſchaften
auf Aktien jemals genehmigen wird, ohne ſie zu förmlichen Aktiengeſell-
ſchaften zu machen. Doch können wir hier nicht darauf weiter eingehen.
So viel leuchtet aber jedenfalls ein, daß die Aktie für den Begriff einer
ſelbſtändigen Geſellſchaft unweſentlich iſt; die Rechte derſelben beruhen eben
auf dieſer wirthſchaftlichen Selbſtändigkeit, und die letztere bedingt nun
die folgenden Grundſätze, die für jede ſolche Geſellſchaft Gültigkeit haben.


Indem nämlich in dieſer eigentlichen Handelsgeſellſchaft, wie
wir dieſelbe nennen, gleichviel ob ſie durch das Hergeben des ganzen
Vermögens einiger und einzelner Summen anderer, oder bloß durch
das letztere entſteht, das Geſchäft ſich ſelbſtändig von den Unterneh-
mungen der Betheiligten trennt, und als ſelbſtändiges Geſammt-
geſchäft daſteht, muß dieß ſelbſtändige Geſchäft auch eine ſelbſtändige
Leitung
haben. In dieſer Leitung muß jeder Theilnehmer einen
gewiſſen Antheil an der Thätigkeit des Ganzen beſitzen, die letztere aber
von einem ſelbſtändigen Organe vollzogen werden. So entſteht mit der
eigentlichen Handelsgeſellſchaft zuerſt ein ſelbſtändiger Organis-
mus
, der von den Theilnehmern getrennt, eben der Organismus der
[572] Geſellſchaft als ſolcher iſt. Dieſer Organismus, in ſeinen einzelnen
Thätigkeiten bereits von den übrigen Mitgliedern geſchieden, muß dennoch
den Willen derſelben im Allgemeinen befolgen. Dieſer Wille muß daher
wieder ſelbſtändig zur Erſcheinung gelangen. Auf dieſe Weiſe ſehen wir
hier gleichſam vor uns die erſten Elemente der allgemeinen Perſönlichkeit
entſtehen. Es ſind zwei Willen da; der Wille der Geſammtheit, und der
Wille des vollziehenden Organs, des Vorſtandes. Jetzt müſſen beide unter
Aufrechthaltung ihrer Selbſtändigkeit in Harmonie gebracht werden. Damit
entwickelt ſich ein neues Leben, ein neues Recht und neue Rechtsbegriffe.
Jeder dieſer Willen hat ſeine Rechtsſphäre; das Verhältniß beider
zu einander
muß daher in dem, die Geſellſchaft bildenden Vertrag
beſtimmt ſein; dieſer Vertrag muß einerſeits das Recht der Vollziehung
enthalten, ſelbſtändig im Namen der Geſellſchaft zu handeln; andererſeits
das Recht der Mitglieder, auf jenen Willen wieder Einfluß zu nehmen.
Es muß ferner ein Recht da ſein, nach welchem das vollziehende Organ
aus der Geſellſchaft gebildet wird, und eine Funktion, durch welche die
wirkliche Thätigkeit des erſteren zur Kenntniß des letzteren gebracht
wird. Alles das muß in dem Geſellſchaftsvertrage enthalten ſein; und
indem durch dieſen Vertrag ſomit ein Unternehmen und ein Wille
außerhalb des Einzelnen aufgeſtellt wird, kann auch der Einzelne dieſen
Vertrag nicht mehr einſeitig ändern. Der Vertrag iſt jetzt das ſelb-
ſtändige Recht der ſelbſtändigen Gemeinſchaft gegenüber ihren Mit-
gliedern, und ändert mit dieſem Weſen auch ſeinen Namen. Aus dem
bloßen Geſellſchaftsvertrage werden Statuten. Es iſt die erſte, noch
unfertige Form der allgemeinen Perſönlichkeit, die ſich in der
eigentlichen Handelsgeſellſchaft conſtituirt hat.


Auf dieſe Weiſe entwickelt ſich aus dem an ſich ganz unbeſtimmten
Begriff der Vereinigung bereits eine feſte Geſtalt; man ſieht deutlich,
wie ſich die Formationen des Geſammtlebens bilden. Schon iſt ein
ſelbſtändiges Weſen, über dem Einzelnen ſtehend, mit eigenem Organis-
mus begabt, erzeugt; ſchon iſt ein Wille da, der zugleich Einzelwille
und allgemeiner Wille iſt; aber dennoch liegt der Kern der Sache, das
Objekt des Willens, noch im Einzelleben. Auf dieſem Punkte iſt es,
wo ſich der Verein von der Geſellſchaft ſcheidet.


Die dritte, und wohl auch höhere Form der Vereinigung entſteht
nämlich da, wo der Zweck, den ſich dieſelbe ſetzt, nicht mehr inner-
halb der Lebensſphäre ihrer einzelnen Mitglieder ſich vollzieht, ſondern
wo derſelbe eine der großen, das Geſammtleben der Menſchheit umfaſſende
Aufgaben des Staatslebens enthält. Eine jede Geſellſchaft, welche
ſich als ihren Zweck eine Staatsaufgabe ſetzt, nennen wir einen Verein.


Die Einfachheit dieſes Begriffes wird nun zwar dadurch geſtört,
[573] daß die Erfüllung einer ſolchen Staatsaufgabe wieder recht wohl zur
Quelle eines wirthſchaftlichen Ertrages werden, und der Verein daher
zu ſeinem nächſten Zweck eben einen ſolchen Ertrag vermöge der Er-
füllung eines ſtaatlichen Zweckes haben kann, wie z. B. bei Eiſenbahnen.
In ſolchen Fällen iſt der Verein zugleich eine Geſellſchaft. In dieſem
doppelten Inhalte tritt dann allerdings ein Gegenſatz zwiſchen beiden
Zwecken des Vereins, dem ſtaatlichen und dem privaten ein; jedoch iſt
das Vereinsweſen ſtets der entſcheidende Moment, dem ſich das eigent-
liche Geſellſchaftsweſen unterwerfen muß, da der Staatszweck dem
Einzelzweck vorgeht. Dieſe Punkte werden ihrerſeits von Bedeutung für
das Recht dieſer Arten von Vereine, namentlich in Beziehung auf ihre
Verwaltung. Im Ganzen jedoch haben alle Vereine mit gleichem Weſen
das gleiche Recht; und dieß Recht liegt in ihrer Aufgabe.


Da nämlich der Zweck des Staats, den der Verein zu verwirk-
lichen trachtet, ſeiner Natur nach ein dauernder und ein an ſich ſelb-
ſtändiger, außerhalb des Willens der Vereinsglieder beſtehender iſt, ſo
folgt, daß jeder Verein ſo gut wie die Handelsgeſellſchaft einen eigenen
Organismus der Verfaſſung und Verwaltung haben muß. Jeder
Verein fordert daher dieſelben Rechtsverhältniſſe, welche wir ſo eben bei
der eigentlichen Geſellſchaft bezeichnet haben. Allein das iſt für den
Verein nicht genügend. Der Zweck des Vereins iſt zugleich ein Zweck
des Staats. Das Leben und die Thätigkeit des Vereins ſind daher
mit dem Staate in enger Verbindung. Der Organismus des Vereins
iſt ein Theil des Organismus der Vollziehung im weiteſten Sinne des
Wortes, die Thätigkeit deſſelben ein Theil der Verwaltung. Der Staat
muß daher in Art und Umfang ſeiner Theilnahme an dem Vereinsleben
ein ganz anderes Maß anlegen, als bei der Geſellſchaft. Während für
dieſe das Einzelintereſſe maßgebend wird, wird für jene das Geſammt-
intereſſe entſcheidend. Während es der Geſellſchaft genügt, wenn ſie
nicht gegen die beſtehenden Geſetze verſtößt, muß für den Verein ge-
fordert werden, daß er mit den Principien der Regierung harmonire.
Während die letztere ſich daher um die Geſellſchaften nicht anders kümmert,
als wenn ſie durch dieſelben verletzt wird, muß ſie bei dem Verein da-
für ſorgen, daß er im Geiſte der allgemeinen Grundſätze der Verwal-
tung thätig ſei. Daher berühren ſich Regierung und Vereinsweſen in
vielfacher Weiſe, während Geſellſchaften und Regierung ſich fern ſtehen.
Die völlige Ungebundenheit der letzteren iſt für das Vereinsweſen nicht
möglich. Eben daher aber auch die Vorſtellung, als ob gerade das
Vereinsweſen und nicht das Geſellſchaftsweſen das Gebiet der freien
Bewegung des Staatsbürgerthums ſei, was für die Verwaltung auch
ganz richtig iſt. Und daher wieder die Erſcheinung, die dieſen Sätzen
[574] entſpricht, daß die Geſetzgebung über Geſellſchaftsweſen im Gebiete des
Privatrechts, die über Vereinsweſen im Gebiete des öffentlichen Rechts
liegt. Allerdings trägt dazu das Auftreten der ſogenannten „politiſchen“
Vereine viel bei. Wir finden nirgends einen Verſuch, die politiſchen
Vereine gegenüber den nichtpolitiſchen zu definiren, ſo wichtig auch die
Sache in einigen Geſetzgebungen erſcheint. Denn wenn z. B. das öſter-
reichiſche Vereinsgeſetz vom 26. November 1852 ſagt: „die Bildung von
Vereinen, welche ſich Zwecke vorſetzen, die in den Bereich der Geſetz-
gebung oder der öffentlichen Verwaltung fallen, iſt unterſagt,“ ſo iſt
damit keine Definition gegeben; denn jeder Verein hat es mit ſolchen
Zwecken zu thun. Es gibt nur eine durchgreifende Unterſcheidung.
Politiſche Vereine können nur die ſein, welche die Aenderung der be-
ſtehenden Verfaſſung oder des Organismus der vollziehenden Gewalt
durch ihre Thätigkeit herbeiführen wollen. Nichtpolitiſche Vereine haben
die Erfüllung einer Verwaltungsaufgabe im engern Sinne zum In-
halt, und können wieder reine Vereine ſein, wie z. B. Armenvereine, oder
zugleich Geſellſchaften. Hält man dieß feſt, ſo iſt es klar, daß dadurch
auch wieder ein verſchiedenes Verhältniß des Vereins zur Regierung
bedingt wird. Wir werden daſſelbe ſpäter charakteriſiren. Hier iſt zu-
nächſt gewiß, daß, obwohl Verein und Geſellſchaft in der Form ganz
gleichartig ſind, dennoch eben durch die verſchiedene Beziehung zum
Staate auch das Vereinsrecht ein verſchiedenes vom Geſellſchaftsrecht
ſein wird. Und wir können daher ſchon hier ſagen, daß wir unſerer-
ſeits, indem wir vom Vereinsweſen reden, das ganze Geſellſchaftsrecht
der Lehre vom Handelsrecht überweiſen.


Somit haben wir für den Verein eine feſte Gränzbeſtimmung ge-
funden, welche wir dem Vereinsrecht zum Grunde legen. Es bleibt
uns aber ein zweites Gebiet, ohne welches, obgleich es nicht unbedingt
dem Vereinsweſen gehört, daſſelbe dennoch ſtets unvollendet bleiben
würde. Das iſt die Lehre von der juriſtiſchen Perſönlichkeit.


Es kann uns hier allerdings nicht einfallen, eine irgendwie eingehende
Kritik der beſtehenden Geſetzgebung oder der Literatur über das Geſellſchafts-
weſen zu geben. Wir wollen daher auch nur zwei Punkte anführen, die das
Verhältniß unſerer Auffaſſung vielleicht klar machen werden. Wir müſſen daran
feſthalten, daß man die Namen der eigentlichen Handelsgeſellſchaft oder Comman-
dite nur auf diejenigen gewerblichen Vereinigungen anwenden darf, welche ein,
nicht mehr wie bei der ſtillen oder offenen Geſellſchaft neuen oder alten Styls
einem Einzelnen, ſondern eben der Vereinigung ſelbſt gehöriges Unter-
nehmen zur Grundlage haben; eine Vorſtellungsweiſe, welche dem Handels-
geſetzbuch fehlt, und der Grund ſeiner zum Theil ganz unpraktiſchen Beſtim-
mungen iſt. Leider hat auch Auerbach, der ſonſt ſehr genau und ſehr ge-
wandt die Sache von allen Seiten betrachtet, dieſen Unterſchied nicht erkannt,
[575] wenn er ihn auch ſehr lebhaft gefühlt hat, da er trotz des Handelsgeſetzbuches
ſofort in die franzöſiſche Terminologie zurückgeht. — Zweitens darf man nicht
vergeſſen, daß das Handelsgeſetzbuch einen Begriff des Vereins allerdings
weder hat, noch haben wollte, ſondern nur von den Geſellſchaften redet, wodurch
es ſich ſtreng auf den franzöſiſchen Standpunkt ſtellt, daß es aber dennoch in ſeinen
praktiſchen Ausführungen in das Gebiet des Vereinsweſens hineingeht, indem
es nicht bloß nach dem Vorgange des Code de commerce (Art. 37) für
jede Aktiengeſellſchaft die Genehmigung fordert, ſondern auch allgemeine Vor-
ſchriften für die Verfaſſung und Verwaltung der Aktienvereine, namentlich aber
für die Organiſation derſelben aufſtellt, was wieder ganz geeignet war, das
Vereinsweſen mit dem Geſellſchaftsweſen in verwirrende Verſchmelzung zu
bringen, da trotzdem das Handelsgeſetzbuch das ganze Gebiet ſowohl der Gegen-
ſeitigkeits- als Beitragsvereine wieder wegläßt (ſ. unten), und in die Verwal-
tungsvorſchriften für die Aktienvereine tiefer hineingreift, als ſein ganz bürgerlich
rechtlicher Standpunkt es verſtattete. So groß daher der Vortheil iſt, den wir
für das Geſellſchaftsrecht in mancher Beziehung durch dieß Geſetz gewonnen
haben, ſo ungewiß iſt derſelbe für andere Seiten der Sache, und am meiſten
für das rechte Verſtändniß des Vereinsweſens. Genügen kann und ſoll das-
ſelbe jedenfalls weder im Princip, noch in der Ausführung für das letztere.
Das iſt für das Folgende nicht zu überſehen.


2) Die juriſtiſche Perſönlichkeit.

Indem wir hier von der juriſtiſchen Perſönlichkeit reden, geben wir
von vornherein die Abſicht auf, in eine Kritik der ſo abweichenden An-
ſichten der Theorie einzugehen. Wir geſtehen, daß es ſich für uns vor
allen Dingen um den Standpunkt handelt, den man bei dieſer Begriffs-
beſtimmung einnimmt und daß wir die bisherigen Beſtrebungen, zu
einer Uebereinſtimmung in der letztern zu kommen, gerade darum für ſo
ergebnißlos halten, weil man ſich nicht über den Ausgangspunkt der
Frage gemeine Rechenſchaft abgelegt. Uns ſcheint, daß man ſich bisher
Mühe gegeben hat, die Definition der juriſtiſchen Perſönlichkeiten aus
den Thatſachen zu bilden, welche man als juriſtiſche Perſönlichkeiten
anſah; in dieſem falſchen Zirkel war kein feſter Begriff möglich, und
nie wird ein ſolcher möglich werden. Wir gehen im Gegentheil davon
aus, daß man für jenen vielbeſtrittenen Begriff doch zuerſt einen allge-
meineren als Grundlage haben, die juriſtiſche Perſönlichkeit als eine be-
ſondere Beſtimmung derſelben aus ihr entwickeln, und damit zum Objekt
des Streites und der Verſtändigung mithin nicht mehr die fertige De-
finition, ſondern das Verfahren machen muß, zu welches man zu ihm
gelangte. In der That kann man auf jedem andern Wege zwar zu
ſehr viel Streit, aber nur zu wenig feſten Reſultaten gelangen. Die
bisherige Theorie der juriſtiſchen Perſönlichkeit beweist das zur Genüge.
[576] Wir gehen deßhalb in der Hoffnung an dieſe Aufgabe, vorerſt nur ein-
mal für die richtige Methode Eingang zu gewinnen. Die Diskuſſion
über Definitionen iſt von jeher Sache der Caſuiſtik, die organiſche Ent-
wicklung derſelben aber Sache der Wiſſenſchaft geweſen.


Wir werden zu dem Ende den Begriff, die Formen, und die An-
erkennung der juriſtiſchen Perſönlichkeit ſcheiden.


a) Begriff der juriſtiſchen Perſönlichkeit.

Die juriſtiſche Perſönlichkeit iſt die letzte und höchſte Geſtalt der
Vereinigung, die mit dem Vertrage beginnt, dann zur ſtillen und offenen
Geſellſchaft wird, dann zur eigentlichen Handelsgeſellſchaft und ihrem
ſelbſtändigen Unternehmen mit ſelbſtändiger Verwaltung und Verfaſſung
wird, und endlich im Verein der Form der Geſellſchaft einen dauernden
Staatszweck gibt. In dieſem Verein liegt bei genauerer Betrachtung
noch etwas Unfertiges. Er ſelbſt iſt und bleibt eine freie Gemeinſchaft,
aus welcher der Einzelne ſtets ausſcheiden kann, und deſſen Vermögen
daher auch den wechſelnden Verhältniſſen ſeiner Theilnehmer unterworfen
iſt. Der Zweck des Vereins iſt dagegen ein Staatszweck, und daher
ſeinem Weſen nach ein ſtets gleicher und dauernder. Die beſte Ver-
faſſung und Verwaltung des Vereins kann dieſen Widerſpruch deſſelben
nicht löſen; der Staatszweck iſt und bleibt im Verein ſtets, wenn auch
nicht von der Thätigkeit, ſo doch von der Theilnahme der Mitglieder
abhängig. Der Staat kann allerdings dieſen Widerſpruch dadurch
vermeiden, daß er den betreffenden Staatszweck durch ſeine eigenen Organe
vollziehen läßt. Allein damit verliert er wieder die Vortheile, welche
die Betheiligung der freien Einzelnen und ihres Vermögens an der Ver-
wirklichung des Staatszweckes mit ſich bringt. Es muß daher ein neues
Princip entſtehen, welches dem Verein die Dauer des Staats-
zweckes verleiht
, ohne ihm die Freiheit der Selbſtverwaltung zu
nehmen. Dieß Princip geht dahin, dem Verein ein Daſein zu geben,
welches dem des Staates, deſſen Zwecke er erfüllt, gleichartig iſt; das
iſt, ihn als eine Perſönlichkeit anzuerkennen, und ihn damit zu
einem dauernden Theile ſeines eigenen Lebens zu machen. Um die Be-
deutung dieſes letzten Punktes feſtzuſtellen, muß nun allerdings hier
eine Bemerkung vorausgehen.


Da nämlich die Erhebung des Vereins zur juriſtiſchen Perſönlich-
keit auf der Natur ſeiner Aufgabe, eines dauernden Staatszweckes, be-
ruht, ſo ergibt ſich zuerſt, daß weder jeder Verein eine juriſtiſche Per-
ſönlichkeit zu ſein braucht, noch auch daß die juriſtiſchen Perſönlichkeiten
nur als Vereine beſtehen. Im Gegentheil iſt der Begriff der juriſtiſchen
Perſönlichkeit durch den dauernden Staatszweck überhaupt bedingt, und
[577] entſteht immer, wo ein ſolcher dauernder Zweck durch eigene, nicht vom
Staate ſelbſt gegebene Organe und Mittel erreicht wird. Jede Ge-
meinſchaft, welche für eine dauernde Staatsaufgabe ſelbſtändige Mittel
durch ſelbſtändige Organe verwendet, iſt fähig, zu einer juriſtiſchen Per-
ſönlichkeit durch die Anerkennung des Staats zu werden. Man muß
daher nicht Verein und juriſtiſche Perſönlichkeit identificiren, ſondern
vielmehr von einem, in verſchiedenen Formen erſcheinenden Syſtem der
juriſtiſchen Perſönlichkeiten ſprechen, in denen das Vereinsweſen erſt
ſeinen Platz zu finden hat.


b) Die Form der juriſtiſchen Perſönlichkeit. Die wirthſchaftliche,
die verwaltungsrechtliche
und die ſtaatliche Perſönlichkeit.

Die Verſchiedenheit der Formen der juriſtiſchen Perſönlichkeit ent-
ſteht dadurch, daß die Aufgabe des Staats, um derentwillen die Ver-
einigung Mehrerer die Natur und das Recht der ſelbſtändigen Perſön-
lichkeit vom Staate empfängt, ſelbſt eine weſentlich verſchiedene iſt.
Dieſe Aufgabe liegt nämlich theils im Gebiete des Einzellebens, theils
im Gebiete der Verwaltung, theils im Gebiete der Verfaſſung. Und
ſo entſtehen drei Grundformen der juriſtiſchen Perſönlichkeit, welche auf
alle wirklichen juriſtiſchen Perſönlichkeiten Anwendung finden. Nur muß
man dabei feſthalten, daß es im Gebiete der juriſtiſchen Perſönlichkeiten
wie in allen andern Lebensgebieten höhere und niedere Formen
gibt. Es wäre nur wunderbar, wenn dieſer Unterſchied, allenthalben
durchgreifend, nicht auch hier gelten ſollte.


Die unterſte Form der juriſtiſchen Perſönlichkeit entſteht da, wo
eine wirthſchaftliche Einheit durch irgend ein Ereigniß ihr perſönliches
Haupt verloren hat, und die Perſönlichkeit jener Einheit nun durch eine,
vom Staate eingeſetzte Vertretung für die rein wirthſchaftlichen Verhält-
niſſe jener Einheit hergeſtellt wird. Das geſchieht bei der hereditas
jacens,
der cura bonorum absentis, furiosi, und der Maſſencuratel.
Dieſe juriſtiſche Perſönlichkeit iſt eine privatrechtliche; das Recht des
Vertreters beſteht hier nicht in einem Rechte gegenüber den Mitgliedern,
ſondern gegenüber einzelnen Dritten. Dennoch bildet dieß Verhältniß
der Form nach eine juriſtiſche Perſönlichkeit, weil Entſtehung, Ordnung
und Aufhören derſelben nicht von den Betheiligten, ſondern nur vom
Staate geſetzt werden können, dem Inhalt nach, weil der perſönliche
Wille des Vertreters als identiſch mit denen der wirthſchaftlichen Einheit
geſetzt iſt. Das Entſtehen derſelben erſcheint als eine Bedingung für
die Funktion des Gerichts, ſie iſt daher die juriſtiſche Perſönlichkeit
der Rechtspflege.


Stein, die Verwaltungslehre. I. 37
[578]

Ein ganz anderes Verhältniß tritt da ein, wo ſich eine Gemein-
ſchaft bildet, welche entweder durch die Art und Weiſe, wie ſie ihre
Mittel aufbringt, oder bloß durch den Zweck, den ſie ſich ſetzt, oder
durch beides zugleich in die Aufgaben und Thätigkeiten der innern
Verwaltung hineingreift. Sowie dieß geſchieht, wird aus einer ſolchen
Gemeinſchaft offenbar ein — weiteres oder entfernteres — Glied der
Verwaltung
ſelbſt. Als ſolches kann ſie nicht mehr bloß auf dem
Willen ihrer Mitglieder beruhen, da die Theilnahme an der wirklichen
Verwaltung von dieſer ſelbſt mitbeſtimmt werden muß. Die Gemein-
ſchaft iſt alsdann, und zwar zunächſt gleichviel ob der Zweck der Er-
werb der Mitglieder iſt, der durch eine öffentliche Funktion erzielt
werden ſoll, oder ob die Mitglieder gar nichts erwerben, oder gar noch
durch Beiträge von dem Ihrigen hergeben, ein Organ der Verwaltung,
ein ſelbſtändiger Wille innerhalb derſelben, ein einheitlicher Körper,
deſſen Leben ein Theil des Staatslebens iſt. Daher muß ſie als
juriſtiſche Perſönlichkeit die Selbſtändigkeit ihres, nicht erſt im Willen
der Mitglieder, ſondern im Begriffe des Staats ſelbſt liegenden Zweckes
zur Geltung bringen. Sie empfängt daher die juriſtiſche Perſönlichkeit;
aber ſie hat keine ſtaatsbürgerlichen Rechte, wie der einzelne
Staatsbürger, ſondern ſie hat nur die Rechte der vollziehenden Gewalt
innerhalb ihrer Lebensſphäre. Sie iſt daher eine adminiſtrative
juriſtiſche Perſönlichkeit, die juriſtiſche Perſönlichkeit der Verwaltung.


Natürlich ergibt ſich daraus zugleich das Princip, welches das Recht
dieſer Form der juriſtiſchen Perſönlichkeit erzeugt und bedingt. Der
Antheil, den der Staat an derſelben nimmt, wird ſtets zunächſt davon
abhängen, ob der Zweck derſelben eine Aufgabe der Verwaltung ent-
hält (Eiſenbahnen, Banken ꝛc.) oder ob und wie weit nur die
Mittel
in das Gebiet der Verwaltungsthätigkeit fallen (Beiträge,
Aktien). Je mehr das erſte der Fall iſt, um ſo größer wird natürlich
der Inhalt der Rechte dieſer juriſtiſchen Perſönlichkeit, und um ſo leb-
hafter die Betheiligung der Staatsverwaltung; wo das letzte der Fall
iſt, wird dagegen nur die Sicherung öffentlicher Intereſſen die Aufgabe
der letzteren ſein. Das nun gehört in die Lehre vom innern Verwal-
tungsrecht. Aber alle hier einſchlagenden Modifikationen ändern doch
nicht das Weſen dieſer zweiten Grundform der adminiſtrativen juriſtiſchen
Perſönlichkeit.


Die dritte Grundform iſt die, welche dann entſteht, wenn der juri-
ſtiſchen Perſönlichkeit das Recht des Staatsbürgerthums, das iſt, ein
organiſch beſtimmter Antheil an der Bildung des Staatswillens gegeben
wird; oder, wenn einer ſolchen Perſönlichkeit das Recht der Wahl oder
der Wählbarkeit
für die Vertretungsformen des Volkes gegeben iſt.
[579] Das iſt früher nur den Körperſchaften der Selbſtverwaltung verliehen
geweſen; wir behaupten, daß die Zeit kommt, wo es auch zum Theil
in den höheren Formen des adminiſtrativen Vereinsweſens als ein weſent-
licher Beſtandtheil ihres Rechts anerkannt werden wird. Man könnte
dieſe Grundform die politiſch- oder ſtaatlich-juriſtiſche Perſön-
lichkeit
nennen.


Vergleicht man dieſe drei Formen, ſo iſt es klar, daß das Maß
und der Inhalt der Rechte, welche ſie beſitzen, ein ſehr verſchiedener iſt.
Man kann im Allgemeinen ſagen, daß die privatrechtliche Perſönlichkeit
gar kein öffentliches Recht enthält, die adminiſtrative nur ein beſtimmtes
Maß der drei Regierungsgewalten und zwar nur in Beziehung auf
ihren ſpeziellen Zweck, alſo eine gewiſſe verordnende, organiſirende und
polizeiliche Gewalt, die politiſche dagegen ein beſtimmtes Recht für
Theilnahme an allen öffentlichen Angelegenheiten.


Wenden wir nun dieſe Unterſcheidungen auf die Begriffe von Ge-
ſellſchaften und Vereine an, ſo ergibt ſich zuerſt, daß die Geſellſchaften
niemals juriſtiſche Perſönlichkeiten ſind, wenn ſie nicht vermöge ihres
Vereinszweckes (Creditanſtalten ꝛc.) oder wegen ihrer Mittel (Aktien) in
das Gebiet der Vereine gehören, und daher ſelbſt nur noch als Form
der Vereine auftreten.


Was dagegen die Vereine betrifft, ſo ſind dieſelben nothwendig
adminiſtrative juriſtiſche Perſönlichkeiten, und können, wie geſagt, auch
politiſche ſein. Damit treten ſie alsdann den Körpern der Selbſtver-
waltung, namentlich den Corporationen ſo nahe, daß man ſie vielfach,
wie theils die Geſetzgebungen ſelbſt, theils auch die Theorie, geradezu
mit den Corporationen verſchmolzen hat, da allerdings auch die letzteren
keinesweges immer politiſche, ſondern oft nur adminiſtrative Perſönlich-
keiten ſind. Dennoch iſt dieſe Verſchmelzung nicht richtig. Ein Selbſt-
verwaltungskörper, ſei es eine Gemeinde, eine Corporation oder eine
Stiftung, iſt eine Perſönlichkeit, welche ganz gleichgültig iſt gegen das
Vorhandenſein von Perſonen, welche ihre Mitglieder ſind; ſie würden
fortbeſtehen, auch wenn gar keine Perſonen ihnen angehörten; bei einem
Verein iſt das nicht denkbar. Bei einer Corporation iſt ferner die
Grundlage ihres Entſtehens ein Beruf, bei einer Stiftung ein ſelb-
ſtändiges Vermögen, bei einem Verein dagegen der freie Wille der Mit-
glieder. Daher iſt die Grundlage der Thätigkeit des Vereins ſtets die
Generalverſammlung des letzteren, während bei Corporationen und Stif-
tungen das Hauptorgan ſtets in der Leitung liegt. Während daher
ein Verein, der zur juriſtiſchen Perſönlichkeit erhoben iſt, dieſe perſön-
liche Form des Lebens und ihren Inhalt mit dieſen Körpern der Selbſt-
verwaltung gemein hat, iſt derſelbe in ſeiner Verfaſſung weſentlich von
[580] ihnen verſchieden. Daß ein Verein, der nicht zur juriſtiſchen Perſön-
lichkeit erhoben iſt, natürlich überhaupt nicht das Weſen einer Corpo-
ration theilt, iſt wohl ohnehin klar. Es handelt ſich bei der Verglei-
chung daher nur um Vereine, welche juriſtiſche Perſönlichkeiten geworden
ſind. Von dieſen nun kann man ſagen, daß ſie Corporationen
mit einer Vereinsverfaſſung
ſind, welchen die freie Mitglied-
ſchaft zum Grunde liegt, ſowohl in Beziehung auf den Eintritt und
den Austritt als auf die Wahl der Organe, was wiederum natürlich
nicht ohne Einfluß auf die Verwaltung bleibt. Dadurch nun wird es
nothwendig, einen Blick auf den letzten Punkt, den Inhalt des Begriffs
der juriſtiſchen Perſönlichkeit zu werfen.


c) Inhalt der juriſtiſchen Perſönlichkeit.

Unter dem Inhalt der juriſtiſchen Perſönlichkeit verſtehen wir die
Rechte, welche die Anerkennung einer Vereinigung als ſolcher derſelben
verleiht, und welche, ſoll anders der Begriff der juriſtiſchen Perſönlich-
keit nicht doch wieder ein leeres Wort ſein, nicht ohnehin durch das
bloße Weſen der Vereinigung ſelbſt entſtehen können. Zugleich werden
dieſe Punkte natürlich nicht bloß für die Vereine, ſondern für jede
juriſtiſche Perſönlichkeit gelten, und auf das Vereinsweſen nur ihre ſpe-
zielle Anwendung finden.


Uns ſcheinen dieſe Rechte in folgenden vier Punkten zu beſtehen,
bei denen wir den Unterſchied zwiſchen ihnen und dem bürgerlich recht-
lichen Verhältniß herausheben.


Während nämlich erſtens die privatrechtliche Einheit durch den
übereinſtimmenden Willen der Mitglieder, alſo durch Vertrag, ent-
ſtehen
kann, kann die juriſtiſche Perſönlichkeit nur durch die ihr ent-
ſprechende höchſte Form der juriſtiſchen Perſönlichkeit, den Staat, erzeugt
werden. Der Staat erzeugt zwar nicht die Einheit der Vereinten, wohl
aber gibt er ihr durch ſeinen Willen die perſönliche Natur, die indivi-
duelle Selbſtändigkeit, und damit die beiden folgenden, aus ihr ſich
ergebenden Rechte.


Während daher zweitens der privatrechtliche Verein nicht an den
Vereinsvertrag gebunden iſt, ſondern denſelben in jedem Augenblicke
ändern kann, und zwar ſowohl in Beziehung auf die Verfaſſung und
Organiſirung, als in Beziehung auf die Verwaltung, iſt die Einheit
der juriſtiſchen Perſönlichkeit nicht dem einfachen Beſchluſſe ihrer
Mitglieder, ſelbſt nicht dem einſtimmigen, geſchweige dem der Majorität
unterworfen. Die Mitglieder können weder durch ihren Beſchluß den
einmal eingegangenen Vereinsvertrag ändern, noch auch Verfaſſung,
Organiſation und Verwaltung durch ihren Willen anders beſtimmen,
[581] als der Vereinsvertrag es einmal geſetzt hat. Und zwar darum nicht,
weil das innere Recht der juriſtiſchen Perſönlichkeit nichts anderes iſt,
als eben die Wirklichkeit des abſtrakten Begriffes der hier erzeugten
Perſönlichkeit. Die von dem Willen der Glieder unabhängige innere
Ordnung iſt daher eben die Erſcheinung, das äußere Daſein der Per-
ſönlichkeit der Einheit gegenüber den Mitgliedern, welche die Theile bilden.
Es folgt daraus, daß eine ſolche Aenderung des innern Weſens dieſer
ſelbſtändigen Perſönlichkeit, oder ihres innern Rechts, nur unter Zu-
ſtimmung desjenigen perſönlichen Willens geſchehen kann, der überhaupt
die juriſtiſche Perſönlichkeit erzeugt hat, des Staats. Das Recht des
Staats iſt ſeinerſeits wieder die Conſequenz von dem organiſchen Zu-
ſammenhang des Grundes der Vereinigung oder des Zweckes mit dem
Leben des Staats, und bildet daher auch die Grundſätze, welche für
die Genehmigung ſelbſt gelten werden.


Während drittens jede Privatgemeinſchaft in jedem Augenblick
ſich durch den Willen ihrer Mitglieder auflöſen kann, erhält die juri-
ſtiſche Perſönlichkeit ihr Leben unabhängig von dem individuellen Willen
der Mitglieder und kann daher nur unter Zuſtimmung des Staats auf-
gelöst werden. Auch dafür liegen die Gründe in dem Obigen. Daß
in den meiſten Statuten die Auflöſung den Vereinsmitgliedern ſelbſt
überlaſſen bleibt, ändert dieſen dritten oberſten Rechtsgrundſatz der juri-
ſtiſchen Perſönlichkeit durchaus nicht, und zwar darum nicht, weil ein
ſolches Recht bei der Mehrheit der letzteren überhaupt nicht ſtattfindet,
wie bei den Gemeinden und Stiftungen; eben darum erſcheint bei
Vereinen mit juriſtiſcher Perſönlichkeit dieß Recht eben durch die Sta-
tuten gegeben, und der Verein als juriſtiſche Perſönlichkeit würde dem-
nach dieß Recht ohne eine ſolche Genehmigung in den Statuten nicht
beſitzen, während es bei andern Vereinen ohne Zweifel, auch ohne in
den Statuten enthalten zu ſein, ihm zuſteht. Daher denn auch der
ganz rationelle Grundſatz, daß in allen ſolchen Statuten die Bedin-
gungen
der Auflöſung enthalten ſein müſſen; das bedeutet zugleich,
daß die Gemeinſchaft der Mitglieder auch einſtimmig die Formen nicht
ändern darf, unter denen ſich die Einheit auflöst.


Endlich enthält die juriſtiſche Perſönlichkeit die Anerkennung des
Rechts auf Annahme von Erbſchaften, Geſchenken, Vermächtniſſen.
Obgleich es auf den erſten Blick ſcheint, daß dieß Recht auch in dem
Weſen eines Vereins, ja ſchon in dem einer Geſellſchaft liege, ſo iſt
das doch nicht der Fall. Eine Geſellſchaft und ein Verein ſind nämlich
trotz ihrer an ſich perſönlichen Organiſation doch nur Mittel für be-
ſtimmte Zwecke; ſie haben im Grunde außerhalb dieſer Zwecke kein
Daſein; ſie wären nicht ohne den Zweck entſtanden, und müſſen daher
[582] conſequent mit dem Zwecke, ja ſchon mit ſeiner Erreichung zu Grunde
gehen. Sie ſind daher nur da, indem ſie thätig ſind. Das höhere
Weſen der Perſönlichkeit dagegen enthält ein Daſein, welches unab-
hängig von der Thätigkeit, durch ſich ſelbſt iſt, und daher auch weder
bloß ein Mittel für etwas anderes ſein noch mit der Thätigkeit auf-
hören kann. Dieß abſtrakte Weſen der Perſönlichkeit zeigt ſich nun
rechtlich in dem Satze, daß während eine Vereinigung nur beſitzen
kann um zu gebrauchen, weil ſie nur haben ſoll um zu benützen,
und alles zu ihrem Zweck benützen muß, eine juriſtiſche Perſönlichkeit
beſitzen kann um zu beſitzen, an ſich ganz unabhängig von ihrem Zwecke.
Sie kann daher auch ohne ihr eigenes Zuthun und ohne ihre Thätig-
keit erwerben; und da der reine Beſitz im obigen Sinne niemals
nachgewieſen werden kann, indem auch die Perſönlichkeit faktiſch nur
beſitzt um zu gebrauchen, ſo erſcheint jenes perſönliche Element in dem
Satze, daß die juriſtiſche Perſönlichkeit das Recht hat, Güter zu er-
werben ohne eine Vereinsthätigkeit auszuüben; und das geſchieht in der
testamenti factio. Das Teſtament hat zur Grundlage den Uebergang
des Vermögens von einer Perſönlichkeit zur andern; die Verwendung
des übergegangenen Vermögens iſt Sache der Lebendigen. Es iſt daher
Teſtament und Vermächtniß ohne eine ſelbſtändige Perſönlichkeit ein
Widerſpruch ſchon darum, weil bei einer bloßen Erbſchaft dieſelbe ohne
Eigenthümer wäre.


Etwas anderes iſt nun wohl das Recht Immobilien zu erwerben,
das in der Regel erſt durch die Verleihung der juriſtiſchen Perſönlich-
keit an einen Verein gewonnen wird. Dieſer Grundſatz beruht auf
den Principien der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung, nach welchen der
Grundbeſitz an und für ſich ſtaatliche Rechte gab, und die Zulaſſung
zum Erwerb von Grundbeſitz daher den Eintritt in die Verfaſſung ent-
hielt. So lange das der Fall war, war es natürlich, daß dieſer Er-
werb von Immobilien nur unter Genehmigung des Staats vorkommen
konnte. Dieſe Vorſtellung iſt auch auf unſere Zeit übergegangen; nur
hat ſie ihren früheren Boden verloren, und muß jetzt als eine Frage
der Zweckmäßigkeit angeſehen werden. Und hier iſt allerdings die Sache
fraglich, da viele Geſellſchaften jetzt auch für rein gewerbliche Zwecke
Grundbeſitz gebrauchen, ohne daß dieſe Zwecke gerade dauernd oder
wichtig genug wären, um die Verleihung der juriſtiſchen Perſönlichkeit
zu motiviren. Offenbar bedeutet jener Punkt in unſerer Zeit etwas
anderes. Er deutet auf die Frage hin, ob und unter welchen Bedin-
gungen die juriſtiſchen Perſönlichkeiten, alſo auch die Vereine ſtaatliche
Rechte bekommen, namentlich Wahlfähigkeit und Wählbarkeit, wenn
dieſe Rechte an einen Grundbeſitz oder einen Steuercenſus geknüpft
[583] werden, und der Verein ſolchen Beſitz hat oder ſolche Steuern zahlt.
Wir machen nur darauf aufmerkſam, daß dieſer Punkt im Vereinsrecht
ſo wenig als in den Wahlrechten bisher erledigt iſt, und doch nament-
lich da fraglich erſcheinen muß, wo Selbſtverwaltungskörper, die ja doch
auch zunächſt nur adminiſtrative Perſönlichkeiten ſind, durch ihre Ord-
nungen mit jenen Rechten zu ſtaatlichen Perſönlichkeiten erhoben werden.
Allerdings wird man ſagen, daß ihnen dieſe politiſche Qualität mehr
zukommt, weil ſie kein Einzelintereſſe vertreten; allein wenn das von
den Gemeinden wahr iſt, ſo iſt es doch nicht wahr von Corporationen
oder gar von Stiftungen. Hier iſt eine Lücke, die mit der Entwicklung
des Vereinsweſens immer fühlbarer werden wird, und deren Erfüllung
tief in das Verfaſſungsleben der Zukunft hineingreift.


Es ſcheint uns außerhalb unſerer Aufgabe zu liegen, uns hier weiter auf den
Begriff der juriſtiſchen Perſönlichkeit und die Kritik der betreffenden Auffaſſungen
einzulaſſen. Wir werden ohnehin unten bei der Genehmigung der Vereine genauer
darauf zurückkommen. Im Uebrigen verweiſen wir auf die geſchmackvolle und
gründliche Darſtellung der Frage und zum Theil der Literatur bei Auerbach
(Geſellſchaftsweſen Kap. VII.). Der Unterſchied zwiſchen adminiſtrativer und
politiſcher Perſönlichkeit entging ihm, wie jedem, der ſich an einen Standpunkt
des Privatrechts, ſtatt an den des öffentlichen Rechts anſchließt. Wir werden
denſelben jedoch nicht entbehren können.


3) Begriff des Vereinsrechts und Inhalt deſſelben.

Aus der obigen Entwicklung des Begriffs vom Verein ergibt ſich
nun der Begriff des Vereinsrechts dahin, daß daſſelbe die Geſammtheit
aller Rechte enthält, welche durch die Verhältniſſe des Vereins gebildet
werden. Dieſe letzteren aber ſcheiden ſich in zwei große Gruppen, und
das Vereinsrecht hat daher zwei große Abtheilungen.


Die erſte Gruppe wird gebildet durch die Geſammtheit der Ver-
hältniſſe, welche zwiſchen dem Verein als Einheit und ſeinen Mitgliedern
ſtattfinden. Wir nennen dieß Recht des Vereins das innere Ver-
einsrecht
.


Die zweite Gruppe wird gebildet durch die Geſammtheit der Ver-
hältniſſe zwiſchen dem Verein als ſelbſtändiger Einheit und dem Staate.
Auf ihnen beruht dasjenige, was wir kurz das öffentliche Vereins-
recht
nennen.


Die Aufgabe des innern Vereinsrechts iſt es, das Verhalten zwiſchen
der Einheit und den Mitgliedern, die Grundſätze nach welchen ſich die
Einheit derſelben bildet und nach welchen ſie thätig iſt, zu ordnen.
Das innere Vereinsrecht iſt daher im Weſentlichen dem Rechte der
[584] Geſellſchaften gleich, und weicht von demſelben nur ſo weit ab, als der
öffentliche Zweck des Vereins es fordert.


Die Aufgabe des öffentlichen Vereinsrechts dagegen entſteht aus
dem Weſen des Vereins, vermöge deſſen derſelbe nicht mehr eine Form
der Geſellſchaft, ſondern ein Organ der Verwaltung und mithin des
Staates iſt. Dieß iſt daher das Gebiet, in welchem das Vereinsrecht
ſich in Princip und Inhalt vom Geſellſchaftsrecht ſcheidet. Im Princip
dadurch, daß daſſelbe nicht mehr einfach der Majorität ſeiner Mitglieder
unterliegt, ſondern nur unter Zuſtimmung des Staats geändert werden
kann; im Inhalt dadurch, daß die wirkliche Thätigkeit des Vereins
durch die Forderungen der Verwaltung beſtimmt wird, zum Theil nur
unter ihrer direkten Mitwirkung geſchehen kann, zum Theil ſogar das
Recht der amtlichen Verwaltung annimmt. In dieſem Sinne müſſen
wir das Vereinsrecht als ein vom Geſellſchaftsrecht geſchiedenes ſelb-
ſtändiges Rechtsgebiet betrachten, das dann allerdings auch das Geſell-
ſchaftsrecht da in ſich aufnimmt, wo die Geſellſchaft zugleich ein Verein iſt.


Der Inhalt des Vereinsrechts zerfällt nun in zwei Theile, und
zwar nach demſelben Princip, wie das Recht der Selbſtverwaltungs-
körper. Daſſelbe beſteht zuerſt in dem Verfaſſungsrecht als der
Geſammtheit von Beſtimmungen, nach welchen die organiſche Einheit
der Mitglieder gebildet wird; dann aus dem Verwaltungsrecht,
welches wieder die Organiſation der Vereine und ihre wirkliche
Verwaltung enthält. Dieſer Inhalt iſt ſowohl für das innere als für
das öffentliche Vereinsrecht gegeben, und bietet die Grundverhältniſſe,
auf welche alle Verſchiedenheiten der Vereinsrechte zurückgeführt werden
müſſen.


Denn ſo einfach dieſe Grundbegriffe des Vereinsrechts ſind, ſo
verſchieden ſind die wirklichen Rechte der Vereine. Und zwar ſind ſie
es in doppelter Beziehung.


Zuerſt ſtehen die Vereine unter demſelben Geſetze, wie alle leben-
digen Weſen. Auch ſie zeigen in innerer Ausbildung und äußerem
Umfang die verſchiedenſten Grade der Entwicklung. Wie die Geſell-
ſchaften von der, kaum noch als Geſellſchaft erkennbaren Form der
ſtillen Geſellſchaft zu den größten Handelscompagnien hinaufſteigen, ſo
beginnen auch die Vereine bei den unterſten Formen des Lebens, und
gehen von da bis zu den gewaltigſten, ganze Länder und Völker um-
faſſenden Erſcheinungen, wie die großen Banken, Eiſenbahnvereine und
andere. Es iſt daher natürlich unmöglich, daß alle Formen und Organe
des Vereinsweſens und Vereinsrechts bei allen gleichmäßig ausgebildet
ſein ſollten. Im Gegentheil ſind in den unterſten Stufen dieſer Ent-
wicklung ganze Theile des Vereinsorganismus und ſeines Rechts gar
[585] nicht ausgebildet, oft nur leiſe angedeutet. Allein angedeutet, dem
Keime nach vorhanden ſind ſie immer, und es iſt daher immer, wenn
auch nur in leichten Zügen, der Punkt bezeichnet, wo das öffentliche
Recht des Vereinsweſens ſeine Anwendung auf dieſelben findet. So
kann es keinen Verein geben, ohne einen Vorſtand, eine Generalver-
ſammlung und eine Art der Einnahme nebſt der Verwaltung derſelben.
In den untern Formen der Geſellſchaft iſt das nicht der Fall, und das
iſt der äußerlich entſcheidende Unterſchied zwiſchen beiden; denn die obigen
Kategorien können auf die offene und ſtille Geſellſchaft überhaupt nicht
angewendet werden, während ſie in einem Verein niemals fehlen dürfen.
Darin zeigt ſich vor allem die Macht, welche die höhere Natur des
Vereinszweckes über das Recht des Vereins gegenüber der reinen Ge-
ſellſchaft und ihrer Zwecke ausübt; und dem entſpricht es, daß auch
das öffentliche Recht der Oberaufſicht, das bei reinen Geſellſchaften nicht
angewendet werden kann, bei den Vereinen nicht fehlen darf, ſelbſt
wenn ſie noch ſo unbedeutend ſein mögen. Dieſen Sätzen entſpricht
nun die folgende Regel für die innere Ausbildung des Vereins, welche
man der Beurtheilung derſelben zum Grunde legen kann. Die innere
Ausbildung eines Vereins erſcheint nämlich nicht darin, daß eine weſent-
liche Funktion in demſelben fehlt, ſondern darin, daß die einzelnen
Funktionen des Vereins in dem Grade mehr einzelnen, geſchiedenen
Organen zugetheilt werden, in welchem der Verein ſelbſt höher ſteht.
Und je mehr dieß der Fall iſt, deſto klarer wird auch das Recht dieſer
einzelnen Funktionen. Dieſe Punkte ſind bei der Beurtheilung der Ver-
einsrechte ſtets zum Grunde zu legen.


Zweitens aber zeigt uns das wirkliche Vereinsrecht eine Unterſchei-
dung, ohne welche es geradezu unthunlich wäre, von demſelben als
einem Theile des Rechts der vollziehenden Gewalt zu ſprechen. Das
iſt der Unterſchied zwiſchen dem allgemeinen und dem beſondern
Vereinsrecht
. Das allgemeine Vereinsrecht iſt dasjenige, was aus
dem allen Vereinen gemeinſamen Weſen des Vereins als ſolchem hervor-
geht, denjenigen Grundſätzen des innern und öffentlichen Vereinsrechts,
welches damit für alle Vereine gelten. Das beſondere Vereinsrecht ent-
hält dagegen diejenigen Beſtimmungen des öffentlichen Vereinsrechts,
welche durch das Verhältniß des Vereinszweckes zu der Staatsverwaltung
geboten erſcheinen. Das beſondere Vereinsrecht iſt daher ein ganz ver-
ſchiedenes für jede Art der Vereine, oft auch ein verſchiedenes für die
einzelnen Vereine derſelben Art, wie z. B. für Eiſenbahngeſellſchaften,
Banken, Creditvereine u. a. Während ſomit das allgemeine Vereins-
recht aus dem Weſen des Vereins an ſich entſteht, entſteht das beſondere
Vereinsrecht aus dem Weſen des Verwaltungszweiges, mit dem
[586] der einzelne Verein zu thun hat, und beſtimmt ſich nach den Grund-
ſätzen, die für dieſen angenommen werden. Daher kann man allerdings
das allgemeine Vereinsrecht recht wohl als Theil der Lehre von der
vollziehenden Gewalt aufſtellen, aber das beſondere Vereinsrecht kann
ſeinen natürlichen Platz erſt bei der Lehre von der eigentlichen Verwal-
tung finden, als ein Organ für die Zwecke derſelben und beſtimmt durch
dieſe Zwecke. Und ſo wird die Lehre von den beſondern Vereinsrechten
den Uebergang von der vollziehenden Gewalt zu der eigentlichen Ver-
waltungslehre bilden.


Auf dieſen Grundlagen wollen wir verſuchen, das Syſtem des Ver-
einsrecht als letzten Theil unſerer Darſtellung der vollziehenden Gewalt
und ihres Organismus nun hier anzuſchließen.


Die obigen, im Begriffe des Vereins und ſeinem Unterſchiede vom Begriffe
der Geſellſchaft liegenden Kategorien haben ihren Ausdruck ohne Zuthun der
Theorie in dem natürlichen Entwicklungsgange des poſitiven Vereinsrechts
gefunden. Das Recht der Geſellſchaften bildet einen natürlichen Theil des
Handelsrechts, und fällt mit dem letzteren dem großen Gebiete des bürger-
lichen Rechts im weiteſten Sinne zu. Das Geſellſchaftsrecht wird vom Ver-
einsrecht inſoweit unbedingt in ſich aufgenommen, als eben eine Geſellſchaft
zum Vereine wird. Das innere Vereinsrecht hat ſich faſt ohne alles Zuthun
der Geſetzgebung durch das Vereinsleben ſelber gebildet und zeigt ſich in der
weſentlichen, ſpontan entſtandenen Uebereinſtimmung der einzelnen Vereinsrechte
in den Statuten. Das öffentliche Vereinsrecht dagegen bildet einen Gegenſtand
eigener Geſetzgebung, die nur dadurch unklar erſcheint, daß dieſe Geſetzgebung,
faſt ohne alle Beziehung auf das innere Vereinsrecht und rein mit dem Ver-
hältniß deſſelben zum öffentlichen Vereinsrecht beſchäftigt, gewöhnlich ganz
allgemein das „Vereinsrecht“ und „Vereinsgeſetz“ genannt wird. Die ſelbſtän-
dige Entwicklung dieſer drei Richtungen iſt bereits, jede in ihrem Felde, ſo
weit gediehen, daß man mit Recht die Frage aufwerfen kann, ob es zweckmäßig
ſei, noch allgemeine Geſetze über das Vereinsweſen als Ganzes zu geben.
Wir glauben das kaum. Unſerer Meinung iſt hier der Punkt, wo die Wiſſen-
ſchaft ihre Aufgabe zu ſuchen hat. Sie iſt es, welche die zerſtreuten Gebiete
ſammeln, und das Einzelne durch das Ganze erläutern und fördern ſoll. Und
hier iſt allerdings noch Vieles zu thun, während im Einzelnen nur wenige
Theile ohne ihr entſprechendes Recht daſtehen dürften.


Syſtem des Vereinsrechts.
Begriff und Inhalt deſſelben.

Das Weſen des allgemeinen Vereinsrechts läßt ſich daher jetzt
einfach dahin beſtimmen, daß es die Geſammtheit von Rechtsſätzen iſt,
welche vermöge des Weſens des Staats und des Staatsbürgerthums
als gültig für jede Erhebung einer vertragsmäßigen Vereinigung zum
[587]Vereine gegeben ſind, und zwar ohne Rückſicht darauf, ob ſie im
Vereinsvertrage ausdrücklich beſchloſſen wurden oder nicht.


Allgemein nennen wir, wie geſagt, dieſen erſten Theil des Vereins-
rechts, weil er eben wieder ohne Rückſicht auf den ſpeziellen Zweck des
einzelnen Vereins bloß durch das Vereintſein als ſolches für einen öffent-
lichen Zweck, alſo für alle Vereine ohne Unterſchied entſteht; das allge-
meine Vereinsrecht iſt zugleich das allgemein gültige Recht der Vereine.


Dieß allgemeine Vereinsrecht zerfällt nun in zwei Gebiete. Der
Verein als eine vertragsmäßig gebildete, perſönliche Einheit wird näm-
lich zuerſt zu einer ſelbſtändigen Einheit gegenüber den gleichfalls ſelb-
ſtändigen Mitgliedern, die ihn bilden; zweitens erſcheint er als Einheit
innerhalb der Einheit der höchſten allgemeinen Perſönlichkeit, des Staates.
Wie nun das Recht ſich immer bildet und ordnet aus der Berührung der
Perſönlichkeiten, ſo zerfällt das allgemeine Vereinsrecht zuerſt in das Gebiet
der Rechtsverhältniſſe zwiſchen dem Verein und ſeinen Mitgliedern — und
dieß Gebiet werden wir das innere Vereinsrecht nennen — und in das
Gebiet der Rechtsverhältniſſe zwiſchen dem Verein und dem Staate, und
dieß Gebiet nennen wir das Gebiet des öffentlichen Vereinsrechts.


Jeder Verein hat daher ein inneres und ein öffentliches Vereins-
recht. Das Princip beider Rechtsgebiete iſt ein weſentlich verſchiedenes.
Das innere Vereinsrecht hat die Ordnung und Freiheit im Vereine ſelbſt
zu vertreten; das öffentliche Vereinsrecht ſoll dagegen die Harmonie
zwiſchen dem Vereine als Glied der Staatsverwaltung im allgemeinſten
Sinn mit den Geſammtintereſſen des Staats herſtellen. Das innere
Vereinsrecht iſt daher die Anwendung der Grundſätze des Staats-
bürgerthums in ſeiner organiſchen Freiheit
auf das Vereins-
leben, das öffentliche Vereinsrecht dagegen iſt nichts anderes als das
Mittel, die Principien und Forderungen der verfaſſungsmäßigen
Staatsverwaltung auch für das Vereinsweſen
als einen Theil
der letzteren möglich zu machen. Obwohl verſchieden in Inhalt und
Zweck, gehören dennoch beide innerlich zuſammen; erſt in ihrer Har-
monie, in der keines das andere ſtört, iſt die Vollendung des Vereins-
rechts denkbar. Beide aber, das innere wie das öffentliche Vereinsrecht,
bilden wieder ein ganzes Rechtsſyſtem, deſſen einzelne Punkte ſich als
Ergebniſſe aus dem Weſen der Sache ergeben.


Erſter Theil.
Das innere Vereinsrecht. Syſtem deſſelben.

Das innere Vereinsrecht beruht nun zunächſt allerdings auf dem
an ſich vollkommen freien Vertrage der Mitglieder, und ſcheint daher
[588] mit Form und Inhalt ganz von dem ſubjektiven und zufälligen Willen
derſelben abzuhangen. Aber ſchon hier zeigt es ſich, daß jede Gemein-
ſchaft Grundverhältniſſe und damit Rechtsſätze für ihr eigenes Leben
hat, welche der Wille ihrer Mitglieder darum nicht willkürlich ändern
kann, weil ſie durch das immanente Weſen der perſönlichen Einheit
ſelbſtändig gefordert werden.


Jeder Verein iſt nämlich vor allen Dingen eine perſönliche Einheit.
Als ſolche hat er einen Willen, er hat einen Organismus, der den
Willen vollzieht, und er hat eine wirkliche Thätigkeit. Jeder Vereins-
vertrag muß daher die Formen beſtimmen, in welchen dieſer Geſammt-
wille ſich bildet, und das nennen wir die Verfaſſung des Vereins;
er muß Organe haben, welche die perſönliche Einheit der Verbundenen
vertreten und den Willen zur Ausführung bringen, und das nennen
wir ſeinen Organismus; und er muß endlich eine beſtimmte Thätig-
keit
ſetzen, welche der verfaſſungsmäßige Wille durch den Organismus
vollzieht, und das nennen wir die Verwaltung des Vereins.


Verfaſſung, Organismus und Verwaltung des Vereins bilden dem-
nach zuſammengenommen die innere Vereinsordnung.


Dieſe innere Vereinsordnung wird nun zum innern Vereins-
recht
, indem die Aufrechthaltung dieſer Ordnung von jedem Mitgliede
gefordert, eventuell durch Klage und Beſchwerde jedes Mitgliedes auf
jedem Punkte zur vollen Geltung kommen kann. Denn das iſt ja
der Unterſchied zwiſchen Verein und Verbindung, daß in dem erſteren
das einzelne Mitglied ſelbſtändig an dem Leben und Wollen des
Vereins mitwirkt, während in der Verbindung der Einzelne nur das
gehorchende Glied der vereint eingeſetzten Organe der Einheit iſt.
Das allgemeinſte Princip des innern Vereinsrechts beſteht demnach
darin, daß durch den Vertrag, der den Verein und die innere Vereins-
ordnung bildet, dem einzelnen Mitgliede niemals dieſe freie Theilnahme
an den Funktionen dieſer Ordnung genommen werden darf. Und die
einzelnen Sätze dieſes inneren Vereinsrechts enthalten daher nichts an-
deres, als die organiſchen Beſtimmungen über die Art und Weiſe, wie
dieſe Theilnahme der Mitglieder mit den nothwendigen Bedingungen
und Elementen der Ordnung in harmoniſche Verbindung gebracht wer-
den können.


Das innere Vereinsrecht beſteht daher aus dem allgemeinen Ver-
faſſungsrecht, dem Organiſationsrecht und dem Verwaltungsrecht des
Vereinsweſens. Jeder dieſer Theile entwickelt ſich wieder zu einem
ſelbſtändigen Ganzen; nur gilt hier, was wir bereits oben geſagt haben,
daß nämlich nur die großen Vereine alle die Momente ſelbſtändig ent-
wickeln und in eigenen Organen vertreten, die im Folgenden erſcheinen,
[589] während bei den kleineren dieſelben zuſammenfallen. Dagegen gilt jedoch
der Grundſatz, daß in jedem Verein, groß oder klein, jene drei Haupt-
momente vorhanden und deutlich geſchieden ſein müſſen und geſchieden
ſind. Und in dieſer Gemeinſchaft beſteht eben das allgemeine Recht
des Vereinsweſens.


1) Das allgemeine Verfaſſungsrecht des Vereinsweſens.
Mitgliedſchaft und Generalverſammlung
.

Das allgemeine Verfaſſungsrecht des Vereinsweſens enthält die
Principien und Beſtimmungen, nach welchen der Verein als perſönliche
Einheit ſeinen Willen beſtimmt. Dieß kann nur, nach dem Weſen der-
ſelben, durch Betheiligung ſeiner Mitglieder geſchehen; der Beſchluß des
Vereins iſt nothwendig ein Beſchluß der Gemeinſchaft ſeiner Mitglieder.
Das Verfaſſungsrecht des Vereinsweſens enthält daher in allen Vereinen
das Recht der Mitgliedſchaft, und das Recht der Gemeinſchaft der
Mitglieder, welche wir die Generalverſammlung nennen.


a) Die Mitgliedſchaft.

Das Recht der Mitgliedſchaft enthält wieder das Recht des Ein-
tritts
, das Recht der Mitglieder im engeren Sinn, oder das Recht
auf Theilnahme an dem Willen der Gemeinſchaft, und das Recht des
Austrittes.


Es gibt keine allgemeine Form für das Recht des Eintritts in die
Vereine. Wie der Verein in ſeinem Entſtehen ſelbſt auf dem freien
Beſchluß der Vereinten beruht, ſo muß auch Art und Weiſe, wie er
neue Mitglieder aufnimmt, ganz auf dieſem Beſchluſſe beruhen. Nur
das iſt allgemein feſtzuhalten, daß der Akt des Eintritts in der Weiſe
geſchehen muß, daß er vermöge ſeiner Form die Uebernahme der Ver-
pflichtungen der Mitgliedſchaft von Seiten der Mitglieder conſtatirt.
Daher kommt es, daß dieſer Akt ein verſchiedener iſt, je nachdem es ſich
um einen Beitrags-, einen Gegenſeitigkeits- oder einen Erwerbsverein
handelt; er kann von dem ſtrengſten Scrutinium aller Mitglieder über
das aufzunehmende Mitglied bis zu einem rein wirthſchaftlichen Akt,
von dem kein einziges Mitglied und ſelbſt der Verein als Ganzes nichts
weiß — wie beim Kauf von Aktien — gehen.


Dagegen iſt das Recht der erworbenen Mitgliedſchaft ein grund-
ſätzlich für das ganze Vereinsweſen gleiches. Es beſteht in einem
Antheile an dem Geſammtwillen des Vereins, das iſt an ſeinem Organe,
der Generalverſammlung. Das Weſen des Vereins fordert, daß es
keinen Verein gebe, in welchem das Mitglied nicht das Recht hätte, an
[590] der Generalverſammlung und zwar mit beſchließender Stimme Theil zu
nehmen. Dennoch bringt auch die Grundlage aller Verſchiedenheit in
der perſönlichen Welt, das Maß des Beſitzes, eine Verſchiedenheit in
dem Maße des Rechts hervor. In denjenigen Vereinen nämlich, welche
auf der Verſchiedenheit der wirthſchaftlichen Leiſtungen der Mitglieder
beruhen, kann eine gewiſſe Größe der Verpflichtung und Leiſtung als
Vorausſetzung der vollen Mitgliedſchaft betrachtet werden. Das wider-
ſpricht dem Weſen des Vereins nicht; nur muß dieſe Größe nicht ſo
groß bemeſſen ſein, daß nicht jedes Mitglied ſie leicht erreichen könnte.
Dagegen ſollte auch der geringſte Antheil wenigſtens einen berathenden
Antheil an der Generalverſammlung ſichern. Die faktiſche Herrſchaft,
welche das größere Vermögen ohnehin über das kleinere ausübt, ſollte
nie ſo weit gehen, daß ſie die Theilnahme der letzteren ganz ausſchließt.
Praktiſch iſt die Frage bekanntlich bei den Aktiengeſellſchaften. Es iſt
kein Zweifel, daß hier eine Gleichheit der Stimmberechtigung bei un-
gleicher Leiſtung und Haftung einen Widerſpruch enthält, der zur Herr-
ſchaft der kleineren Haftungen über die größeren führen, und damit die
größere Kapitalskraft von dem Eintritt in einen Verein abhalten würde,
in welchem ſie grundſätzlich als die beherrſchte aufträte. Daher hat die
Aktiengeſellſchaft zum Begriffe einer Mitgliedſchaft geführt, welche beide
Elemente vereinigt, indem ſie das Stimmrecht — oder das Recht der
Mitgliedſchaft — in einem gewiſſen Verhältniß zum Aktienbeſitze wachſen
läßt. Die Frage iſt nutzlos, ob dieß auch bei andern Formen des
Vereins richtig wäre; und zwar darum, weil bei ihnen das feſte Maß
der Verſchiedenheit der Betheiligung fehlt, das bei der Aktie vorhanden
iſt und das als die Vorausſetzung eines feſten, von jeder Willkür freien
Maßes im Unterſchiede der Stimmberechtigung geſetzt werden muß. So
hat ſich im Vereinsweſen die Harmonie zwiſchen dem Princip der Gleich-
heit und der Ungleichheit feſtgeſtellt. — Die letzte und gleichfalls als
allgemein gültig zu betrachtende Conſequenz des obigen Begriffes iſt nun
die, daß die völlige Gleichheit da wieder eintritt, wo die Verſchiedenheit
des Beſitzes verſchwindet, nämlich da, wo das Recht auf der perſön-
lichen
Leiſtung beruht. Allenthalben, wo perſönliche Leiſtungen dem
Verein zum Grunde liegen, muß die Gleichheit des Stimmrechts gelten;
und ſelbſt in den Erwerbsgeſellſchaften beginnt die Gleichheit wieder da,
wo die perſönliche Leiſtung wieder zur Hauptſache wird, und erſcheint
in dem gleichen Recht aller Mitglieder auf Wählbarkeit zu den Stel-
lungen im Vereinsorganismus. Von dieſen Principien kann ſich kein
Vereinsrecht entfernen.


Der dritte Punkt im Rechte der Mitgliedſchaft beſteht endlich in
der Freiheit des Austrittes. Das Recht auf den unbeſchränkten
[591] Austritt kann durch den Vereinsvertrag nie aufgehoben werden. Es
verſteht ſich, daß die erworbenen privatrechtlichen Rechte und Ver-
bindlichkeiten dabei nicht geändert werden. Die Form des Austrittes
iſt wie die des Eintrittes von der Art des Vereins abhängig; für ſie
gibt es keine allgemeine Regel.


b) Die Generalverſammlung.

Das iſt ſomit das erſte Gebiet des allgemeinen Verfaſſungsrechts der
Vereine. Das zweite beſteht in dem Recht der Generalverſammlung.


Das Recht der Generalverſammlung zerfällt in zwei Theile: das
Recht auf eine Generalverſammlung, und das Recht der General-
verſammlung.


Die Generalverſammlung iſt als die Form, in welcher das einzelne
Mitglied an der Selbſtbeſtimmung des Vereins Theil nimmt, ein noth-
wendiges
Element des Vereins. Es kann gar keinen Verein ohne
Generalverſammlung geben. Eben darum muß auch der Zeitpunkt der-
ſelben objektiv beſtimmt ſein. Die Natur der Dinge bringt es mit ſich,
daß ſie mindeſtens jährlich einmal abgehalten werden muß. Das ſind
ganz allgemein gültige Principien, welche auf dem Weſen der freien
Perſönlichkeit des Mitgliedes beruhen.


Allein aus den praktiſchen Lebensverhältniſſen des letzteren im Ver-
hältniß zum Verein, der nur Einen, und noch dazu entweder ganz oder
principiell öffentlichen, alſo außerhalb des Einzellebens liegenden Zweck
hat, geht nun die zweite Thatſache hervor, daß das Mitglied ſich nur
wenig um den Verein zu kümmern im Stande iſt. Der Antheil der
Generalverſammlung an der Thätigkeit des Vereins kann daher ſtets
nur ein höchſt beſchränkter ſein. Es iſt ein Widerſpruch, viele Aufgaben
für die Generalverſammlung feſtzuſtellen. Dagegen iſt es nicht minder
mit dem Weſen des Vereins im Widerſpruch, irgend etwas dem Be-
ſchluſſe der Generalverſammlung entziehen zu wollen. Aus dem Zu-
ſammenwirken beider Momente hat ſich das Rechtsgebiet der General-
verſammlung allmählig principiell, und auch bei den einzelnen Vereinen
ziemlich beſtimmt ſchon jetzt herausgebildet. Daſſelbe erſcheint in drei
Punkten, und dieſe Punkte bilden das, was wir die organiſche Funk-
tion der Generalverſammlung in dem Vereinsweſen nennen können,
das iſt, ohne welche eine Generalverſammlung nicht ſein kann. Die
erſte Funktion iſt die Wahl der Organe, welche die Generalverſamm-
lung vertreten; die zweite Funktion beruht auf dem Rechte, jede Frage,
über die ſie beſchließen will, zum Gegenſtande der Berathung und Be-
ſchlußfaſſung zu machen, oder das Recht der Mitglieder, jeden Antrag
in die Generalverſammlung zu bringen; die dritte beſteht in
[592] dem Rechte, über gewiſſe Punkte nur durch die Generalverſammlung
beſchließen zu dürfen. Dieſe letztern Punkte, obwohl wieder verſchieden
in den einzelnen Vereinen, laſſen ſich dennoch in drei Gebiete zuſammen-
faſſen, welche grundſätzlich als Recht des Beſchluſſes der Generalver-
ſammlung anerkannt werden müſſen. Das erſte iſt die Aenderung des
Vereinsvertrages — der Statuten; das zweite iſt die Auflöſung des
Vereins; das dritte enthält ſolche Beſchlüſſe oder Maßregeln, welche
einen weſentlichen und dauernden Einfluß auf die Bedingungen der
Thätigkeit des Vereins haben. Beſtimmt der Vereinsvertrag an ſich
nichts über das Recht der Generalverſammlung, ſo muß als Recht gelten,
daß alle oben angeführten Punkte auch ohne Statuten der General-
verſammlung gehören; nur der letzte Punkt iſt dann der Vereinsver-
tretung übertragen, und ſeinem Ermeſſen überlaſſen, was er der General-
verſammlung vorlegen will, was nicht.


Es ergibt ſich daraus endlich, daß das Recht der Auflöſung des
Vereins
als Ganzes ein weſentliches Moment der Verfaſſung jedes
Vereins bildet. Kein Verein hat an ſich die abſolute Dauer in ſich;
er iſt eben nur eine vertragsmäßige Einheit. Er kann daher aufgelöst
werden durch freien Beſchluß ſeiner Mitglieder, oder durch das Weg-
fallen ſeiner Bedingungen. Im letztern Falle gehört die Auflöſung des
Vereins zum öffentlichen Rechte deſſelben, von welchem unten die Rede
iſt. Dieß gilt allerdings nur ſoweit, als der Verein nicht zur juriſtiſchen
Perſönlichkeit erhoben iſt. Iſt das der Fall, ſo muß der Regierung
das Recht eingeräumt werden, zu der Auflöſung ihre Zuſtimmung zu
geben, eventuell die Bedingungen vorzuſchreiben, unter denen dieſelbe
geſchehen kann. Denn was der Verein ſelbſt einſeitig nicht hat ſchaffen
können, das kann er auch nicht einſeitig aufheben.


Dieß nun ſind die Grundſätze des allgemeinen Verfaſſungsrechts
des Vereinsweſens. Ihr Verhältniß zum poſitiven Vereinsrecht, nament-
lich zu dem einzelnen Vereinsvertrag — den Statuten — beruht darauf,
daß ſie die Quelle der Interpretation des letzteren ſind; daß ſie aber eine
Gränze ihres Rechts auf dem Punkte finden, wo der beſondere Zweck
des Vereins wieder als Modifikation der einzelnen Beſtimmungen auf-
tritt. Weſentlich daſſelbe gilt von dem Folgenden.


Die obigen, an ſich einfachen Grundſätze über die Grundlagen der Ver-
faſſung der Vereine haben ihre weitere, zum Theil ſogar ſehr detaillirte Ent-
wicklung empfangen durch zwei Momente.


Das erſte iſt die öffentlich-rechtliche Vereinsgeſetzgebung, welche im Intereſſe
der Verwaltung eine Reihe von einzelnen Vorſchriften aufgeſtellt hat, die
übrigens natürlich nicht in das innere, ſondern eben in das öffentliche Ver-
einsrecht hineingehören, und die daher unten zu bezeichnen ſind.


[593]

Das zweite Moment aber beſteht hier, wie für die folgenden Theile, in
der Anwendung dieſer Grundſätze des allgemeinen Vereinsrechts auf die Aktien-
vereine
. Hier iſt es zuerſt, wo wir der Aktie als Element des Vereins-
weſens begegnen, und daher ihren großen Einfluß auf das Recht deſſelben
charakteriſiren müſſen, der zum Theil ſo weit geht, daß man, wie Jolly und
zum Theil ſogar Auerbach, über den Aktienvereinen alle anderen Vereine ver-
gißt. Die Aktie nämlich hat in den Verein das Element des bürgerlichen
Rechts
hineingebracht, indem ſie den organiſchen Anſpruch des Einzelnen auf
Theilnahme an dem Verein zu einem Privatanſpruch, das öffentliche Intereſſe
deſſelben an den letzteren zu einem wirthſchaftlichen Einzelintereſſe allenthalben
da gemacht hat, wo ſie aufgetreten iſt. Sie hat daher die Anwendung aller
Grundſätze, welche für die Geſellſchaften mit voller Berechtigung gültig ſein
müſſen, auch auf die Vereine übertragen. Durch ſie iſt die Theilnahme an
dem öffentlichen Zwecke des Vereins zu einer Theilnahme an einem gemein-
ſchaftlichen Geſchäfte geworden; und allerdings, ſo weit ſie auftritt, mit gutem
Rechte. Der Unterſchied des Aktionärs vom Vereinsmitgliede erſcheint dabei
weſentlich in drei Punkten, welche für Mitgliedſchaft und Generalverſamm-
lung entſcheidend werden. Zuerſt in dem nur bei Aktien möglichen Grundſatz,
daß das Recht der vollen Mitgliedſchaft von einer gewiſſen Anzahl von Aktien
abhängt; zweitens in der nur bei Aktien denkbaren Stellvertretung; drit-
tens
in der Frage, wie groß die Majorität für gewiſſe Beſchlüſſe ſein müſſe.
Alle dieſe Fragen und ſogar die Verſchiedenheit der Beſtimmungen über die-
ſelben, wie ſie in den einzelnen Statuten vorkommen, laſſen ſich deßhalb nicht
auf das Vereinsrecht im Allgemeinen, ſondern nur auf Aktiengeſellſchaften an-
wenden, welche durch ihren Zweck zugleich Vereine ſind. Für alle andern
Vereine gelten ſie nicht, und bilden daher auch kein allgemeines Vereinsrecht.
Daher denn auch das natürliche Verhältniß, daß die Vereinsgeſetze der einzelnen
Staaten hierauf keine Rückſicht nehmen, wenn ſie nicht, wie das preußiſche
Geſetz
vom 9. Nov. 1843, ſpeziell für Aktiengeſellſchaften gegeben und als
Vorläufer des Handelsgeſetzbuches zu betrachten ſind. Das öſterreichiſche
Vereinsgeſetz von 1852 bezieht ſogar die Beſtimmungen des §. 12. g. aus-
drücklich nur auf Aktienvereine. Ueber das engliſche Recht vergl. Güter-
bock
, die engliſchen Aktiengeſetze von 1856 und 1857. Das deutſche Recht
iſt namentlich von Auerbach (Geſellſchaftsweſen §. 92) ſehr gut und gründlich
dargeſtellt, jedoch ausſchließlich nur für die Verfaſſung von Aktiengeſellſchaften
auf Grundlage des Handelsgeſetzbuches. Freilich müſſen wir hinzufügen, daß
Statuten reiner Vereine ſehr wenig darüber enthalten, und auch wenig Ver-
anlaſſung haben, über die obigen allgemeinen Grundſätze hinauszugehen.


2) Die allgemeinen Elemente des Vereinsorganismus.

a) Die Vertretungsorgane. Der Vorſtand. Der Verwaltungsrath. Der Reviſions-
ausſchuß.

Wie in der Verfaſſung, ſo hat auch in ſeinem Organismus das
Vereinsweſen gewiſſe auf der Natur des Vereins ſelbſt ruhende Punkte,
Stein, die Verwaltungslehre. I. 38
[594] welche demſelben in allen Formen zum Grunde liegen, und auf welche
die beſondern Verhältniſſe jedes Vereins wieder zurückgeführt werden
müſſen. Sie ſcheiden ſich wenigſtens dem Princip nach in zwei Arten;
wo ſie nicht auch äußerlich als ſolche geſchieden ſind, ſind ſie nicht eigent-
lich verſchieden, ſondern ihre Funktionen ſind nur den vorhandenen Or-
ganen übertragen. Dieſe beiden Arten ſind die Vertretungsorgane
und die Vollziehungsorgane.


Die Vertretungsorgane ſind der Vorſtand, der Verwaltungs-
rath
und der Reviſionsausſchuß. Der Name dieſer einzelnen
Organe iſt verſchieden; in der Sache ſelbſt ſind ſie gleich.


I. Die Nothwendigkeit eines Vorſtandes für jeden Verein iſt
nichts anderes als der Ausdruck der Thatſache, daß jeder Verein eine
individuelle Perſönlichkeit iſt. Dieß Moment der individuellen Perſön-
lichkeit iſt es, welches der Vorſtand vertritt. Wie im Staate, hat der
Vorſtand auch im Verein keine andern Rechte und Pflichten als die-
jenigen, welche aus jener Funktion entſtehen. Dieſer Grundſatz, nach
welchem er den Vorſitz führt, und die Generalverſammlung und den
Verwaltungsrath leitet, drückt eben daſſelbe aus. Daß dieß Verhältniß
ſich bei kleinen Vereinen dadurch ändert, daß der Präſident zugleich die
Direktion hat, namentlich bei Hülfs- und ſonſtigen Unterſtützungsver-
einen, ändert den Charakter der Vorſtandſchaft nicht. Der Vorſtand
iſt als ſolcher für nichts verantwortlich; wird er es, ſo wird er es nur
als Direktor. Seine wirkliche Verantwortlichkeit iſt ſtets nur die eines
jeden andern Verwaltungsrathes.


II. Ein dem Vereinsweſen ganz eigenthümliches Organ, und da-
mit auch ganz eigenthümliche Rechtsverhältniſſe treten mit dem Ver-
waltungsrath
(Aufſichtsrath, in Frankreich und England auch Direk-
tion genannt) ein.


Man muß auch bei dem Verwaltungsrath davon ausgehen, daß
er in ſeinem Weſen und ſeinem Rechte nur durch das Weſen des Ver-
eins verſtanden und beſtimmt werden kann. Es iſt das aber unendlich
belehrend, weil es das Gegenbild von wichtigen öffentlich rechtlichen
Verhältniſſen darbietet.


Es iſt jedem Verein unmöglich durch ſeine Generalverſammlung
ſowohl alle für ſeine Rechte und Thätigkeiten nothwendigen Beſchlüſſe
zu faſſen, als auch die Thätigkeit ſeiner vollziehenden Organe zu con-
troliren. Dasjenige, was wir oben als das nothwendige Recht der
Generalverſammlung bezeichnet haben, erfüllt keineswegs die ganze Auf-
gabe des Vereinslebens. Der Verein bedarf daher eines Organs, welches
in allen der Generalverſammlung nicht vorbehaltenen Fällen die letztere
als ihr Mandatar vertritt, und welches andererſeits die Ausführung
[595] des Vereinsvertrages (der Statuten) oder der einzelnen Beſchlüſſe des
Vereins leitet und überwacht.


Je größer und örtlich zerſtreuter der Verein iſt (Aktiengeſellſchaften)
um ſo größer wird das Bedürfniß ſein, dieſem Organe die Vertretung
der Generalverſammlung in den Beſchlußfaſſungen zu übertragen, oder
je enger wird das Minimum der Rechte beſchränkt ſein, welche die letztere
ſich ſtatutenmäßig vorbehält. Je regelmäßiger die Thätigkeit iſt, welche
der Vereinszweck beanſprucht, und je unmittelbarer dieſelbe mit dem
öffentlichen Leben zuſammenhängt, um ſo ausgedehnter muß die Be-
fugniß dieſes Organes werden, die Controle über die ausführenden
Organe des Vereins zu handhaben. In dem Maße und der Form dieſer
Funktionen iſt daher allerdings ein weſentlicher Unterſchied; in dem
Weſen derſelben nicht. Das Organ ſteht dadurch gleichſam zwiſchen
Generalverſammlung und ausführendem Organ oder Direktion; es hat
immer und nothwendig einen Theil der geſetzgebenden Gewalt der erſteren,
immer und nothwendig die ganze vollziehende Gewalt gegenüber der
letzteren; und dieß Organ mit dieſen principiell ganz gleichen, dem Um-
fange nach dagegen ſo ſehr verſchiedenen Rechten nennen wir den Ver-
waltungsrath
.


Allerdings haben nun namentlich die wichtigern Vereine in ihrem
Vereinsvertrag verſucht, den Inhalt des Rechts dieſes Verwaltungsrathes
genauer zu beſtimmen. Allein theils iſt keine Uebereinſtimmung darin,
theils mangelt bei kleineren Vereinen ſehr oft jede Beſtimmung. Es iſt
daher kein Zweifel, daß wir feſter und allgemein gültiger Principien
bedürfen, um das Recht des Verwaltungsrathes ſo genau als möglich
zu beſtimmen. Die Entwicklung des Vereinslebens wird und muß auch
hier mit der Zeit eine ſelbſtändige Vereinsjurisprudenz erzeugen, zu
welcher das Folgende einen Grund zu legen verſuchen mag.


Offenbar muß die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe des Verwal-
tungsrathes dem Obigen gemäß von zwei Geſichtspunkten betrachtet
werden. Der erſte iſt die Berechtigung deſſelben, welche durch Maß
und Gränze ſeiner Funktionen entſteht; der zweite iſt die Haftung,
welche durch das Ueberſchreiten der erſteren, der Berechtigung, für ihn
gilt. Beide können in ihrer allgemeinen Geltung auf nichts anderes
zurückgeführt werden, als auf die Natur der organiſchen Funktion des
Verwaltungsrathes ſelbſt.


Der erſte Grundſatz nun, der ſich aus dieſer letzteren ergibt, be-
ſteht darin, daß in allen den Punkten, in welchen der Vereinsvertrag
den Beſchluß der Generalverſammlung nicht vorbehalten hat, oder in
welchen er nicht ſelbſt Beſtimmungen enthält, oder in welchen endlich
nicht ein einzelner Beſchluß der Generalverſammlung vorliegt, der
[596] Verwaltungsrath das Recht der Generalverſammlung zur Be-
ſchlußfaſſung beſitzt
. Es iſt nicht nothwendig, daß ihm dieß Recht
eigens übertragen ſei; es liegt daſſelbe in ſeiner Stellung überhaupt.
Es folgt daraus, daß in allen dieſen Fällen der Verwaltungsrath auch
keine andere Haftung hat, als diejenige, welche die Generalver-
ſammlung ſelbſt übernehmen würde. Es folgt aber aus demſelben Grunde,
daß er vermöge eines ſolchen Beſchluſſes innerhalb der obigen Gränze
den Verein unmittelbar verpflichtet, wie es ein gültiger Beſchluß der
Generalverſammlung ſelbſt thun würde. Es folgt weiter, daß in dieſen
Fällen eben deßhalb auch keine rechtliche Verantwortlichkeit des Ver-
waltungsrathes gegenüber der Generalverſammlung ſtattfindet. Die
letztere hat nicht einmal das Recht, den Beſchluß des Verwaltungs-
rathes einfach aufzuheben, ſondern derſelbe gilt für ſie als wäre er
ihr eigener Beſchluß, und muß daher durch einen andern eigenen Be-
ſchluß wieder beſeitigt werden. Ferner iſt gewiß, daß ſelbſt bei wirklich
eintretendem Schaden keine Haftung des Verwaltungsrathes gegenüber
dem Verein eintreten kann. Der Verwaltungsrath iſt hier der Verein
ſelber; das iſt ſein Recht.


Dieß Recht erſcheint dagegen andererſeits als die Pflicht des Ver-
waltungsrathes, in allen dieſen Fällen auch wirklich einen Beſchluß
zu faſſen. Er haftet allerdings nicht dafür, daß der Beſchluß ein zweck-
mäßiger ſei; wohl aber haftet er für den Schaden, der dem Verein
dadurch entſteht, daß zur gehörigen Zeit überhaupt kein Beſchluß ge-
faßt wurde. Die Garantie dafür, daß der wirklich gefaßte Beſchluß
mit den Intereſſen des Vereins harmonire, liegt darin, daß die Mit-
glieder des Verwaltungsrathes ſelbſt Mitglieder des Vereins ſind. Eine
weitere Gewähr hat der Verein objektiv hier nicht; dafür wird der Ver-
waltungsrath von der Generalverſammlung gewählt, und die freie Wahl
iſt eben aus den obigen Gründen ein abſolut weſentliches Element der
Ordnung des Vereinsweſens. Dagegen muß der Verwaltungsrath wieder
das Recht haben, den von ihm zu faſſenden Beſchluß erſt der General-
verſammlung vorzulegen, wenn er zweifelhaft iſt, entweder über ſein
Recht ihn zu faſſen, oder über das richtige Ziel deſſelben. Seine Ver-
pflichtung und Haftung bleibt dabei jedoch dahin beſtehen, daß bis
zur Beſchlußfaſſung durch die Generalverſammlung nichts unterbleibe,
was durch die Verhältniſſe des Vereins als unmittelbar nothwendig
geboten erſcheint. Er wird daher durch die Verweiſung einer Beſchluß-
faſſung an die Generalverſammlung nicht ſeiner Haftung erledigt, ſo
weit ſie durch das Unterbleiben ſeiner Beſchlußfaſſung bedingt war;
denn das Recht erzeugt die Pflicht und dieſe die Haftung.


Dieß nun iſt das erſte, an ſich ziemlich einfache Gebiet des Rechts
[597] des Verwaltungsrathes. Schwieriger iſt das zweite; doch ſind am Ende
auch hier die letzten Principien ſehr klar und durchgreifend.


Da nämlich die Gränze für jenes Recht des Verwaltungsrathes,
die Beſchlußfaſſung an der Stelle der Generalverſammlung auszuüben,
niemals für alle Fälle ganz genau beſtimmt werden kann, ſo kann die
Frage entſtehen, was Rechtens iſt, wenn dieſe Gränze zweifelhaft
erſcheint. Dieſe Frage kann aber entweder von der Generalverſamm-
lung ſelbſt, oder von der Direktion, oder von Dritten erhoben werden.


Offenbar kann nun nicht die Generalverſammlung, geſchweige denn
ein Dritter oder die Direktion einſeitig darüber entſcheiden, ob der Ver-
waltungsrath in einem gegebenen Falle zu dem ſtreitigen Beſchluſſe be-
rechtigt war oder nicht. Das Recht der Generalverſammlung geht nur
dahin, für die Zukunft den Vereinsvertrag in denjenigen Ausdrücken zu
ändern, in welchen der Zweifel ſelbſt entſtehen konnte. Eben ſo wenig
kann die Regierung ihre Auffaſſung der betreffenden Ausdrücke als
maßgebend aufſtellen; denn ihre Genehmigung, welche den Vereinsver-
trag zu Statuten macht, hat eben nicht eine Erklärung des erſteren,
ſondern nur die Anerkennung des Vereins als ſolchen zum Inhalt.
Wenn daher ein Streit entſteht, ſo kann nur das Gericht zwiſchen
Generalverſammlung und Verwaltungsrath entſcheiden, ob dem letztern
das Recht zu dem fraglichen Akte zugeſtanden oder nicht. Das aber
muß um ſo beſtimmter feſtgehalten werden, als die daraus entſtehende
Haftung des Verwaltungsrathes nicht eine unbedingte für alle Folgen
ſeiner Thätigkeit ſein kann, ſelbſt da, wo ſeine Beſchlüſſe auf Grund-
lage der Statuten als incompetent anerkannt wurden. Denn auch hier
kann der Verwaltungsrath, der bona fide gehandelt, nur für dasjenige
in Haftung gezogen werden, was er durch grobe Fahrläſſigkeit ver-
ſchuldet. Die Natur des Vereinsweſens, namentlich die Schwierigkeit,
die Generalverſammlung oft zu berufen, fordert es, daß der Verwal-
tungsrath im Intereſſe des Vereinszweckes unklare Beſtimmungen oder
zweifelhafte Fälle der Competenz zwiſchen ihm und der Generalverſamm-
lung ſo lange zu Gunſten ſeiner eigenen Berechtigung — freilich auch
ſeiner eigenen Verpflichtung auslege, als ein entſchiedenes Auftreten
deſſelben an und für ſich nützlich erſcheint. Eine ſtrenge Haftung würde
in ſolchen Fällen viel größere Nachtheile durch grundſätzliche Lähmung
der Thätigkeit des Verwaltungsrathes zur Folge haben, als eine
minder ſtrenge.


Dieſe Grundſätze gelten nun auch für das Verhältniß des Vereins
zu Dritten; auch für ſie kann nur das Gericht entſcheiden, das letztere
muß aber auch für ſie anerkennen, daß der etwaige Schaden, den ſie
durch die Ueberſchreitung der Competenz von Seiten des Verwaltungs-
[598] rathes erleiden und der z. B. einen Vertrag ungültig macht, weil nach
gerichtlichem Ausſpruch derſelbe von der Generalverſammlung hätte
ratificirt oder dem Verwaltungsrath hätte aufgetragen werden ſollen,
nur in dem Falle dem Verwaltungsrath zur Laſt zu legen iſt, wo eine
lata culpa in der Ueberſchreitung ſeiner Vollmacht vorliegt. Die culpa
levis
genügt nicht, dem Verwaltungsrathe die Haftung zuzuſchreiben.


Was endlich die ausführenden Organe des Vereins betrifft, ſo iſt
es kein Zweifel, daß dieſelben dem Beſchluſſe des Verwaltungsraths zu
gehorchen haben, ſelbſt da, wo es ihm ſcheint, als habe derſelbe ſeine
Competenz überſchritten. In Beziehung auf ihre Vollziehung des be-
treffenden Beſchluſſes des Verwaltungsrathes übernimmt in dieſen Fällen
der Verwaltungsrath die Haftung ſowohl gegenüber der Generalver-
ſammlung als gegenüber Dritten. Weſentlich anders iſt dagegen das
Verhältniß, wo den ausführenden Organen nicht mehr das Competenz-
verhältniß des Verwaltungsrathes gegenüber der Generalverſammlung,
ſondern gegenüber dem Vereinsvertrage ſelbſt, den Statuten, durch
einen Beſchluß des erſteren überſchritten ſcheint. Hier kann die unbe-
dingte Pflicht des Gehorſams nicht mehr eintreten, ſchon darum nicht,
weil die Statuten neben dem Vereinsvertrage auch das öffentliche Recht
des Vereins enthalten. Im Gegentheil ſind die Angeſtellten des Vereins
ihrerſeits verpflichtet, nichts zu thun, was im direkten Widerſpruch mit
den Statuten ſteht, und haften der Generalverſammlung und Dritten
für den Schaden, der aus einer ſolchen Folgſamkeit entſteht. Die
Rechtsverhältniſſe, die ſich daraus ergeben, ſind in ihrer Grundlage
folgende. Die ausführenden Organe (Direktion und Angeſtellte) haben
in allen den Fällen, wo ein Beſchluß des Verwaltungsrathes im Wider-
ſpruch mit den Statuten, oder auch mit den allgemeinen Geſetzen des
Staats (man denke nur an Bank- und Eiſenbahngeſellſchaften oder an
gewiſſe Bildungsvereine) ſteht, dem Verwaltungsrathe ihre Nichtfolg-
ſamkeit zu erklären und zu motiviren. Beharrt der Verwaltungsrath
auf ſeinem Beſchluſſe, und die Direktion auf dem ihrigen, ſo muß der
Verwaltungsrath von ſeinem Rechte Gebrauch machen, die Angeſtellten
zu entlaſſen oder zu ſuſpendiren. Er darf darüber nicht zweifelhaft
bleiben; denn thut er es nicht, indem er der Oppoſition der Direktion
nachgibt, und hätte dieſe in ihrer Meinung über die Befehle des Ver-
waltungsrathes Unrecht, ſo haftet der Verwaltungsrath wieder für die
Folgen der Nichtbefolgung eines Befehls, den die Direktion irrthümlich
für rechtsunzuläſſig angeſehen, da ihm in Entlaſſung und Suſpenſion
das Mittel gegeben war, ſeinen Befehl durchzuſetzen. Der Verwal-
tungsrath hat alsdann durch neue Organe ſeinen Beſchluß wirklich
durchzuführen. Die entlaſſenen oder ſuſpendirten Organe dagegen haben
[599] das Recht, Entlaſſung oder Suſpendirung in dieſem Falle als unrecht-
mäßig anzugreifen. Sie können das durch Berufung auf die General-
verſammlung; allein ſie ſind an den Beſchluß derſelben nicht gebunden.
Ihr Recht iſt es, ſich an das Gericht zu wenden, und den ihnen durch
Entlaſſung oder Suſpenſion widerrechtlich vom Verwaltungsrath zuge-
fügten Schaden durch Klage gegen den Verwaltungsrath anzubringen.
Es iſt kein Zweifel, daß in dieſem Falle der letztere haftet. Wohl
aber wird man unterſcheiden müſſen. Iſt die Direktion ungehorſam in
Berufung auf ſtaatliche Geſetze, welche mit dem Beſchluſſe des Verwal-
tungsrathes in Widerſpruch ſtehen, ſo haftet der letztere auch für leichtes
Verſchulden, denn er iſt vor allen Dingen verpflichtet, dieſe Geſetze zu
kennen und ſtrenge zu befolgen. Berufen ſich dagegen die ausführenden
Organe in ihrer Weigerung des Gehorſams bloß auf Statuten oder
Generalverſammlungsbeſchlüſſe, ſo haftet der Verwaltungsrath nur für
ſchweres Verſchulden, denn es iſt ſeine Verpflichtung, ſeinerſeits bei dem-
ſelben eine Auslegung eintreten zu laſſen, welche im Intereſſe des
Vereins liegt. — Der dritte Fall iſt endlich der, wo die Direktion ſich
in ihrer Weigerung auf den Ausſpruch des Vertreters der Regierung
beruft. Es iſt kein Zweifel, daß derſelbe die Vollziehung jedes Be-
ſchluſſes überhaupt ſiſtiren kann. Thut er es in Folge einer ſolchen
Berufung der Direktion, ſo folgt, daß die letztere ihre Verantwortlich-
keit verliert, und dieſe auf die Staatsverwaltung übergeht. Thut er
es nicht, ſo iſt ſeine Meinung zwar ein Grund für oder gegen die
Aufrechthaltung des Beſchluſſes des Verwaltungsrathes, nicht aber
eine Entſcheidung darüber. Die Frage, ob er verpflichtet iſt, einen
Ausſpruch zu thun, muß in allen den Fällen unbedingt bejaht werden,
in denen der Beſchluß nach der Auffaſſung der Direktion mit dem
ſtaatlichen Geſetz im Widerſpruch ſteht; er iſt ohne allen Zweifel das
Organ der Verwaltung über den Inhalt ihres Willens. Aber auch in
den Fällen muß dieſe Verpflichtung als vorhanden anerkannt werden,
in denen es ſich bloß um einen Widerſpruch zwiſchen dem Beſchluſſe
des Verwaltungsrathes und den Statuten oder einem Beſchluſſe der
Generalverſammlung handelt. Denn das geſammte Vereinsleben iſt
ein organiſcher Theil der Verwaltung im weiteren Sinne des Wortes,
der Zweck des Vereins iſt an und für ſich nach dem Begriffe des
Vereins ein öffentlicher, und der angeregte Widerſpruch iſt daher ſtets
eine Angelegenheit der Verwaltung, in welcher ſie wenigſtens für ſich
einen klaren, demgemäß auch auszuſprechenden Standpunkt einzunehmen
hat. Nur daß, wie geſagt, eine entſcheidende Stimme des Vertreters
der Regierung nur als Siſtirung des Beſchluſſes auftritt. Geſchieht
das, ſo kann auch weder eine Entlaſſung noch Suſpenſion der Angeſtellten
[600] eintreten. Dagegen bleibt es wieder dem Verwaltungsrathe unbe-
nommen, in ſolchem Falle die Regierung für ihren Befehl in An-
ſpruch zu nehmen, wenn ſie glaubt, derſelbe ſtehe im Widerſpruch mit
den Statuten oder Geſetzen. Hier entſcheidet dann das Gericht, ganz
wie in den Fällen des Rechtsſtreites wegen Amtshandlungen.


Alle dieſe Fälle und Fragen nun beruhen auf dem Verhältniß, in
welchem der Verwaltungsrath das Recht der Generalverſammlung ver-
tritt. Ein zweites Gebiet tritt da ein, wo er nur die vollziehende
Gewalt
für eine Beſtimmung der Statuten oder einen beſtimmten Be-
ſchluß der Generalverſammlung iſt. Die oben erwähnten Punkte ent-
halten daher das Recht der geſetzgebenden Gewalt des Verwaltungs-
rathes; das folgende iſt das Recht ſeiner verordnenden Gewalt.


Es wird ſich dabei ſogleich ergeben, daß dieß Recht mit dem Rechte
ſeiner geſetzgebenden Gewalt in den wichtigſten, jedoch keineswegs in
allen Fällen identiſch iſt.


Als vollziehende Gewalt hat der Verwaltungsrath für den Verein
die drei Gewalten des erſteren, die Verordnungs-, die Organiſations-
und die Polizeigewalt des Vereins für die Vereinsthätigkeiten.
Und eben darin beſteht die Selbſtverwaltung des Vereinsweſens, daß
dieſe Gewalten durch das eigene Organ des Vereins ausgeübt werden.


Es muß dabei feſtgehalten werden, daß es für die Sache ſelbſt
vollkommen gleichgültig iſt, ob dieſe Gewalten formell in dem einzelnen
Vereinsvertrag entwickelt ſind oder nicht. Dem Weſen des Vereins nach
ſind ſie wenigſtens im Keime in allen Vereinen enthalten. Ebenſo iſt
es unwichtig, ob, wie bei ganz kleinen Vereinen, die Rechte und Pflichten
des Verwaltungsrathes dem Vorſtande übertragen ſind. Im erſten Falle
iſt nur der Umfang der Anwendungen verſchieden, im zweiten nur das
Organ; die Sache ſelbſt bleibt dieſelbe.


Das allgemeine Princip des Rechts der vollziehenden Gewalt des
Verwaltungsrathes beſteht nun ohne Zweifel darin, daß er durch ſeine
Beſchlüſſe jene drei Gewalten innerhalb des Gebietes der Vereins-
thätigkeiten ſoweit ausübt, als die erſteren nicht mit den Statuten, den
Beſchlüſſen der Generalverſammlung und den ſtaatlichen Geſetzen in
Widerſpruch treten. Der Beſchluß des Verwaltungsrathes hat end-
gültig
über alle Mittel und Wege zu entſcheiden, welche durch die
Vollziehung der Aufgaben des Vereins bedingt ſind.


Namentlich hat derſelbe das Recht der Anſtellung, Entlaſſung und
Suſpenſion aller Angeſtellten des Vereins. Sind die Rechte der letzteren
durch einen Vertrag beſtimmt, ſo haftet der Verwaltungsrath für die
Erfüllung dieſes Vertrages, aber nur als Mandatar des Vereins; nicht
perſönlich. Die perſönliche Haftung kann nur dann eintreten, wenn
[601] die Entlaſſung oder Suſpenſion wegen Nichtausführung widerrechtlicher
Beſchlüſſe des Verwaltungsrathes von demſelben verfügt wird.


Neben dieſem Rechte hat der Verwaltungsrath das der Disciplin
über die Angeſtellten. Das Disciplinarrecht deſſelben erſcheint als eine
Bedingung der richtigen Vollziehung der Vereinsthätigkeiten, und muß
daher dem Verwaltungsrathe zuſtehen, ganz gleichgültig dagegen, ob es
ausdrücklich verliehen ward oder nicht. Es folgt daraus, daß die Ent-
ſcheidungen über Disciplinarvergehen der Angeſtellten bis zur Suſpenſion,
ja bis zur Entlaſſung führen können, ſelbſt wenn dieſe Fälle im An-
ſtellungsvertrage nicht ausdrücklich vorgeſehen ſind. Das Recht der An-
geſtellten iſt dabei unbezweifelt, auch in dieſem Falle eine gerichtliche
Entſcheidung zu erwirken; nur wird das Klagfundament des An-
ſtellungsvertrages im Falle eines Vergehens gegen die Ordnung der Ge-
ſellſchaft nicht berückſichtigt werden können, ſondern nur die Frage, ob
die Disciplinarvergehen wirklich der Art waren, die Entlaſſung zu
motiviren.


Dieſen Rechten des Verwaltungsrathes gegenüber ſteht die Pflicht
deſſelben, für die ordnungsmäßige Thätigkeit der Angeſtellten dem
Vereine ſelbſt zu haften. Es iſt aber von großer Wichtigkeit, dieſe
Haftungspflicht, ſoll ſie nicht entweder eine inhaltsloſe, oder eine uner-
füllbare werden, auf ein möglichſt einfaches Princip zurückzuführen.


Offenbar ſind die Verwaltungsräthe keine Angeſtellten des Vereins.
Indem ſie ihre Stellung einnehmen, wird daher für ſie nicht voraus-
geſetzt, weder daß ſie eigentliche Fachkunde haben, noch auch daß ſie
ihre ganze Kraft auf ihre Thätigkeit im Vereine verwenden können.
Ihre Haftung für die Thätigkeit der Angeſtellten des Vereins muß
daher auf ein beſtimmtes Maß zurückgeführt werden, und dieſes Maß
liegt in den obigen Sätzen.


Zuerſt können die Verwaltungsräthe niemals für alle diejenigen
Thätigkeiten im Verein [haften], welche eine beſondere Fachkenntniß
oder Geſchicklichkeit vorausſetzen. Die Gränze ihrer Haſtung kann
hier nur in demjenigen liegen, was ein gebildeter und aufmerkſamer
Mann überhaupt durch Theilnahme an einer ſolchen Verwaltung zu
erkennen und zu beurtheilen im Stande iſt. Das Richtige und Vor-
theilhafte, was hier geſchieht, wird im Gebiete der Fachthätigkeit nie
dem Verwaltungsrathe zu Gute kommen, aber die Fehler der Aus-
führung berühren ihn auch erſt dann, wenn ſie in ihren Conſequenzen
für die Vereinsthätigkeit auch dem dritten aufmerkſamen Beobachter zur
Erſcheinung gelangen. Und auch hier kann nur höchſt ſelten eine per-
ſönliche Haftung eintreten, weil die Gränze dieſer Verpflichtung, alſo
die Gränze einer ſpeziellen und der allgemeinen Bildung faſt unnach-
[602] weisbar iſt, und weil andererſeits gerade hier ein Irrthum keine per-
ſönliche Verantwortlichkeit zu erzeugen im Stande iſt. Es gibt daher
kein anderes Mittel, die letztere zur Geltung zu bringen, als die ganz
allgemeinen Erklärungen der Generalverſammlung über das Vertrauen
zur Thätigkeit des Verwaltungsrathes. Das Maß liegt in der Sache
ſelbſt. Fordert die Generalverſammlung zu viel von ihrem Verwaltungs-
rathe, ſo läuft ſie Gefahr, entweder gar keine Wahl mehr durchzuſetzen,
da Niemand ſolche Stellungen mehr annehmen wird, oder Verwaltungs-
räthe einzuſetzen, welche in die fachmänniſche Thätigkeit ſo weit ein-
greifen, daß die Verantwortlichkeit der Direktion dadurch unmöglich
wird. Fordert die Generalverſammlung zu wenig, ſo hat ſie ſelbſt die
Folgen zu tragen. Die rechtliche Haſtung kann daher hier nie bei der
Sache, ſondern nur bei der Form der vollziehenden Thätigkeit beginnen.


Dann aber kann ſelbſt das obige Maß der Verantwortlichkeit nur
aufgefaßt werden im Verhältniß zu der Zeit, welche der Verwaltungs-
rath den allgemeinen Angelegenheiten des Vereins widmet, und der,
welche ſie fordern. Dieſe Zeit, welche der Verwaltungsrath für den
Verein hergibt, wird ihrerſeits wieder bedingt erſcheinen durch den Werth,
welche ſeine Thätigkeit für ihn hat. Es kann als individuelle Aus-
nahme gelten, daß ein Verwaltungsrath bloß der Sache wegen ſeine
Thätigkeit ausübt; in jedem Falle liegt ein auf die Dauer unhalt-
barer Widerſpruch darin, die Thätigkeit deſſelben bei Erwerbsgeſell-
ſchaften zum Nutzen der Vereinsmitglieder zu fordern, ohne ihm einen
Erſatz dafür zu bieten. Dieſer kann je nach der Natur des Vereins
ſehr verſchieden ſein; naturgemäß und als Grundlage des Verhältniſſes der
Thätigkeit und damit der Verantwortlichkeit des Verwaltungsrathes muß
der Grundſatz gelten, daß die Thätigkeit und die Verantwortlichkeit mit
der Höhe des Erſatzes ſteigen müſſen, welchen der Verein für die
erſtere gibt, während mit dem letzteren beide bis zur leeren Förmlichkeit
verſchwinden werden. Denn es iſt ein Unding, Leiſtungen auf die
Dauer für wirthſchaftliche Vortheile Dritter zu fordern und, wo man
ſelbſt nichts dafür leiſten, ſondern nur den Nutzen der Leiſtungen Anderer
genießen will, mehr als eine leere Form und ein entſchiedenes Abweiſen
jeder wie immer gearteten Verantwortlichkeit, ſelbſt der ganz allgemeinen
moraliſchen, zu erwarten.


Dieß nun ſind die allgemeinen Grundſätze für das Recht des Ver-
waltungsrathes. In jedem Verein werden dieſelben allerdings mehr
oder weniger eingreifende Modifikationen erleiden; im Weſentlichen aber
können ſie ſo wenig geändert werden, wie die Natur des Vereins
ſelbſt. Man muß daher dieſe allgemeinen Grundſätze als die Grundlage
der Interpretation der gegebenen einzelnen Statuten anerkennen, die
[603] allerdings da, wo im einzelnen Falle ein Streit entſteht, maßgebend
werden.


III. Der Reviſionsausſchuß hat die Funktion, die ziffermäßigen
Angaben der Rechnungsablage zu prüfen. Er vertritt daſſelbe im Ver-
einsweſen, was die Controlsbehörden im Staat. Seine Befugniß iſt
in Beziehung auf die Unterſuchung unbeſchränkt, und eben ſo ſein
Recht, in Gemäßheit der von ihm gefundenen Ergebniſſe Ausſtellungen
und Anträge zu machen. Die Generalverſammlung hat unzweifelhaft
das Recht, auch dann einen Reviſionsausſchuß einzuſetzen, wenn der-
ſelbe ſtatutenmäßig nicht feſtgeſtellt iſt. Eben ſo läßt es ſich nicht be-
ſtreiten, daß die Generalverſammlung auch für einzelne Theile der
Vereinsthätigkeit beſondere Reviſionsausſchüſſe beſtellen kann. Ueber
das Recht der Unterſuchung geht das Recht des Reviſionsausſchuſſes
nicht hinaus; er kann weder befehlen noch verbieten, ſondern nur ſeine
Anträge ſtellen. In den meiſten Fällen iſt der gewöhnliche Reviſions-
ausſchuß nichts als eine Formalität, die ſich regelmäßig nur auf die
ziffermäßige Richtigkeit der Rechnungsablage bezieht. Man muß über-
haupt ſeine Wirkſamkeit nicht in demjenigen ſuchen, was er thut, ſondern
was er vertritt und was er verhindert. Er vertritt das Recht der
Generalverſammlung, ſich durch ein eigenes Organ eine thatſächliche
Gewißheit über die Behauptungen des Verwaltungsrathes zu verſchaffen;
er verhindert, daß große Formfehler durch lange Zeitdauer hindurch
unverbeſſerlich werden. Deßhalb hat er ſeinerſeits gar keine rechtliche
Haftung, anders als wenn er wiſſentlich falſche Angaben macht; er
haftet nicht einmal für culpa lata. Ein weſentlich anderes Verhältniß
tritt ein, wenn eine eigene Reviſion für beſtimmte Zwecke angeordnet
wird. Hier wird ein förmliches Mandat ertheilt, nicht mehr eine or-
ganiſche Funktion, und hier werden daher auch die Grundſätze des
Mandats zur Geltung kommen müſſen.


Wir ſind auf die Natur und die rechtliche Stellung des Verwaltungsrathes
etwas genauer eingegangen, weil das Recht deſſelben unſeres Wiſſens noch gar
nicht Gegenſtand ſpezieller Unterſuchung geweſen iſt, und dennoch mit der
Größe und Wichtigkeit des Vereinsweſens täglich an Bedeutung wächst. Das
preußiſche Geſetz vom 9. Nov. 1843 ſpricht nur von einem „Vorſtand;“ das
Handelsgeſetzbuch iſt bekanntlich auch nicht viel klarer; doch braucht ſchon das
preußiſche Geſetz §. 20 den Ausdruck: „Die Vorſteher ſind — für ihre
Perſon einem Dritten nur verpflichtet, wenn ſie den Beſtimmungen des Geſetzes
zuwider handeln.“ Sind das Präſidenten, Verwaltungsräthe, oder Direk-
toren, oder alle gleichmäßig? Es iſt gewiß, daß dem Geſetzgeber dieſe Unter-
ſchiede noch nicht klar waren. Im Allgemeinen iſt auch wohl hier kein Zweifel,
daß der Verwaltungsrath ſeine Entwicklung und ſeine Selbſtändigkeit erſt den
Aktiengeſellſchaften verdankt. Der Verwaltungsrath iſt urſprünglich wohl nur
[604] als oberaufſehendes Organ gedacht worden, indem man alle eigentlichen Be-
ſchlüſſe und Geſchäfte der Direktion übergab. Allmählig aber zeigte es ſich,
daß dieſe Geſchäfte, namentlich in ihrer rechtlichen Seite, oft ſehr eingehender
Erwägung bedurften, welche man den auf techniſche Thätigkeiten berechneten
Direktionen nicht zumuthen konnte. Dazu kam dann die mit der Ausbreitung
der Geſchäfte ſteigende Nothwendigkeit einer ausgebreiteten Sachkunde, und das
Streben der Direktionen, wenigſtens einen Theil der großen Verantwortlichkeit
bei großen Unternehmungen von ſich abzuwälzen; endlich ſogar der natürliche
Wunſch der Regierungen, nicht bloß auf fachmänniſche Direktoren angewieſen
zu ſein, ſowie der eben ſo berechtigte der Aktionäre, auf die wirkliche Verwal-
tung der Geſchäfte einen Einfluß durch Männer ihres Vertrauens, namentlich
durch höchſt betheiligte Aktionäre auszuüben. Aus allen dieſen Elementen iſt
die Stellung des Verwaltungsrathes zuſammengeſetzt, und eben deßhalb bei
großer formeller Gleichheit dennoch in Wirklichkeit bei den einzelnen Vereinen
höchſt verſchieden. Es hat ſich daraus der ziemlich feſtſtehende Grundſatz ge-
bildet, die Stellung und Thätigkeit des Verwaltungsrathes ſich gleichſam durch
ſich ſelber bilden zu laſſen; und das geſchieht in der That. Die Geſetzgebungen
ſind in dieſen Beziehungen ſehr unbedeutend. Das Handelsgeſetzbuch iſt ſich
über die Natur des Verwaltungsrathes offenbar eben ſo wenig klar geworden,
als über den Unterſchied zwiſchen Verein und Geſellſchaft überhaupt. Es hat
die gonze Frage durchaus aus dem Geſichtspunkte des geſchäftlichen Nutzens
aufgefaßt, und daher bekanntlich in Art. 225 und 226 die Einſetzung des-
ſelben als ganz fakultativ, und zwar eigentlich als einen dauernden Reviſions-
ausſchuß aufgefaßt, während es in §. 209. 7. ſich eben ſo unbeſtimmt über den
„Vorſtand“ ausſpricht; der §. 231 zeigt, daß der Verwaltungsrath im Grunde
auch wieder mit dem Vorſtand identiſch genommen, und wieder neben den Auf-
ſichtsrath geſtellt iſt. Die Verhandlungen über die Sache zeigen, daß man
nicht recht wußte, ob man ſich auf die Sache einlaſſen ſolle oder nicht (Nürn-
berger Protokoll S. 390 f.). Dieſe Unſicherheit beruht eben darauf, daß man
nicht ſah, wie die eigentliche Handelsgeſellſchaft eben durch die Aktie aus einer
Geſellſchaft ein Verein geworden iſt. Ein Verein aber muß den Verwaltungs-
rath nicht mehr als einen „ſchwerfälligen Apparat,“ ſondern als ein nothwen-
diges Organ auffaſſen. In dieſem Sinn fordert auch das öſterreichiſche
Vereinsgeſetz
von 1852, Art. 13, geradezu einen eigenen Ausſchuß neben
der Direktion. Es iſt kein Zweifel, daß die Rechtslehre, welche ſich an
das Handelsgeſetzbuch anſchließen wird, die privatrechtlichen Verhältniſſe des
Verwaltungsrathes noch viel weiter entwickeln wird, als dieß bisher geſchehen
iſt; aber erſt die Bildung einer Theorie des Vereinsweſens und einer Verwal-
tungslehre wird die eigentliche Natur des Verwaltungsrathes zur rechten Gel-
tung bringen. Auerbach hat demſelben bereits eine freilich ſtrenge, an das
Handelsgeſetzbuch anſchließende Betrachtung gewidmet, ohne jedoch die von uns
angeregten Punkte in’s Auge zu faſſen (Geſellſchaftsweſen §. 93). Stuben-
rauch
(Handbuch des Handelsrechts §. 126. 127) nimmt ihn faſt ganz als
Reviſionsausſchuß. Die territorialen Verwaltungslehrer ſprechen noch gar nicht
davon, indem ſie überhaupt nur das öffentliche Recht des Vereinsweſens
[605] in’s Auge faſſen. Selbſt Rönne und Pötzl gelangen nicht weiter. Trotzdem
iſt die Natur der Sache ſchon mächtig genug geweſen, eine faſt durchgreifende
Uebereinſtimmung in den Grundſätzen der Vereinsſtatuten und der wirklichen
Rechte der Verwaltungsräthe hervorzurufen, und wir glauben eben die Grund-
lagen derſelben angegeben zu haben.


b) Die Vollziehungsorgane. Die Direktion. Die Bedienſteten.

Die Vollziehungsorgane unterſcheiden ſich principiell von dem Ver-
tretungsorgane dadurch, daß ſie niemals das Recht und die Aufgabe
haben, den Willen des Vereins reſp. der Generalverſammlung durch
ihre Beſchlüſſe zu erſetzen, ſondern nur den bereits beſtimmten Willen
derſelben wirklich auszuführen. In den kleinen Vereinen der unterſten
Ordnungen fallen ſie mit dem Präſidenten oder Vorſtand vielfach zu-
ſammen, bald ganz, bald zum Theil. In dem größern Verein ſcheiden
ſie ſich jedoch in einem ſelbſtändigen Organismus von ihm ab. Es iſt
dieſe Selbſtändigkeit aber nicht etwas Zufälliges. Man muß im Gegen-
theil als Grundſatz für das Vereinsweſen feſthalten, daß die Zweck-
mäßigkeit
eines eignen Vollziehungsorganismus durch den Umfang
eines Vereins bedingt wird, daß aber die Nothwendigkeit deſſelben
ohne Rückſicht auf dieſen Umfang eintritt, ſobald die Verwirklichung
des Vereinszweckes ſachkundige Bildung vorausſetzt.


Man wird nun wohl das Richtige treffen, wenn man ſagt, daß
alle diejenigen Organe der Vollziehung in einem Verein, für deren Thätig-
keit keine fachkundige Bildung nothwendig iſt, die Bedienſteten der
Vereine ſind, während diejenigen, welche eine fachkundige Bildung haben
müſſen, die Direktion bilden. — Es kann daher ein Verein mit
vielen Dienern ohne Direktion, und mit einer Direktion und nur ſehr
wenig Dienern gedacht werden. Immer aber müſſen die Diener der
Direktion untergeordnet werden.


Inſofern eine Direktion und Bedienſtete dauernd dem Verein
gehören, kann man wieder von den Angeſtellten des Vereins im
Gegenſatz zu den bloßen Vereinsdienern reden, welche für vorüber-
gehende Thätigkeiten aufgenommen werden. Die letzteren ſtehen in einem
reinen Lohnverhältniſſe. Die erſteren dagegen bilden einen Körper, der
eine gewiſſe Gemeinſamkeit hat, die doch näher zu betrachten iſt.


Offenbar nämlich tritt hier wieder der Unterſchied zwiſchen Geſell-
ſchaft und Verein in den Vordergrund. Eine Geſellſchaft iſt kein Theil
des Staatslebens, denn ihr Zweck liegt ganz im Einzelleben. Die Per-
ſonen, deren ſie bedarf, ſind daher mit ihren Funktionen in gar keinem
Verhältniß zum öffentlichen Leben. Sie ſind keine Angeſtellten. Sie
ſind einfach in einem Lohnverhältniß zur Geſellſchaft und fallen alle
[606] unter die rein bürgerlichen Grundſätze des Privatrechts; ſowie aber
die Geſellſchaft ſich zum Verein erhebt, ſei es unmittelbar durch ihren
Zweck, ſei es durch ihre Kapitalsbildung vermöge der Aktie, ſo tritt
ein zweites Verhältniß ein. Jene Diener der geſellſchaftlichen Vereine
treten in eine beſtimmte Beziehung zum Staat in ſeiner Verwaltung,
und jetzt erſt, bei dem Vereinsweſen im Gegenſatz zum Geſellſchafts-
weſen, kann man von Angeſtellten und ihrem Rechte reden.


Die Angeſtellten des Vereinsweſens haben nämlich alle bis zu einem
gewiſſen Grade öffentliche Zwecke zu vollziehen, da jeder Vereinszweck
ein öffentlicher iſt. Ja es kann in manchen Fällen die amtliche Polizei
und ſelbſt ein Theil der Verordnungsgewalt auf ſie übertragen werden,
wie bei Eiſenbahnen, Bergwerken u. ſ. w. Dennoch ſind ſie niemals
Beamtete. Und zwar darum nicht, weil die Uebernahme eines Dienſtes
kein Lebensberuf, ſondern ein wirthſchaftlicher Erwerb iſt. Der Zweck
des Vereins kann an und für ſich das geiſtige Leben keiner Perſönlichkeit
ausfüllen, weil alles was mit ihm zuſammenhängt und geiſtiges Intereſſe
erweckt, eben außerhalb des eigentlichen Vereinszwecks liegt, während
der Staatszweck, deſſen Organ auch der unterſte Beamtete iſt, durch
ſeine Unendlichkeit den Dienſt zum Berufe macht. Daher hat der
Vereinsdienſt niemals den Charakter der öffentlichen Ehre, wie das
Amt; und es würde das Weſen der Vereine ändern, wenn dieß anders
und dem Vereinsangeſtellten ein öffentlicher Rang gegeben würde. Das
ganze Verhältniß iſt daher nicht das ethiſche des Beamtenthums,
ſondern das wirthſchaftliche des Mandats. Und dieſer Geſichts-
punkt wirkt entſcheidend für das ganze Rechtsverhältniß der Angeſtellten
im Vereinsweſen.


Geht man davon aus, ſo charakteriſirt ſich auch der Unterſchied der
Direktion und der Angeſtellten in den Rechtsverhältniſſen, welche zwiſchen
ihnen und dem Vereine entſtehen.


a) Die Direktion.

Die Mitglieder der Direktion bekommen ihre Anſtellung ſo gut wie
die Bedienſteten durch einen Vertrag; allein es iſt weder nöthig noch
möglich, in dem Dienſtvertrage die Aufgaben der Direktion genau zu
beſtimmen. Jeder ſolcher Vertrag enthält im Gegentheil die Voraus-
ſetzung, daß der Direktor, als Fachmann, ſelbſt die fachmäßig noth-
wendigen Aufgaben kennen muß. Die Annahme einer Stellung als
Direktor macht denſelben daher an und für ſich dafür verantwortlich,
daß er ſich ſelbſt im Geiſte des Vereinszwecks und ſeiner fachmänniſchen
Bedürfniſſe ſeine ſpeziellen Aufgaben beſtimmen werde; deßhalb haftet
der Direktor dafür perſönlich, daß er dieß thue, ſowie für den Schaden,
[607] den der Verein durch die Nachläßigkeit deſſelben leidet. Eben ſo haftet
der Direktor perſönlich für jeden Schaden, der im Dienſt durch Mangel
an Thätigkeit von ſeiner Seite geſchieht. Dieſer Haftung entſprechen
zwei Pflichten. Zuerſt muß er den ganzen Zuſtand des Vereins
genau kennen; ihn kann niemals die Unkenntniß gegebener Verhältniſſe
ſeiner Verantwortlichkeit entheben, wenn es überhaupt möglich war, die
betreffende Kenntniß bei gehörigem Aufwande aller Mittel ſich zu ver-
ſchaffen. Schon das Unterlaſſen von Befehlen und Maßregeln, welche
eine ſolche Kenntniß hervorbringen, macht ihn perſönlich für jeden da-
durch entſtandenen Schaden verantwortlich, nicht bloß wenn ſie durch
die Vorſicht eines homo diligens, ſondern auch dann, wenn ſie durch
fachmänniſche Kenntniß bedingt war. — Zweitens muß der Direktor
die beſtehenden Geſetze und Vorſchriften des Staats gleich-
falls genau kennen. Er iſt perſönlich in Verantwortlichkeit und Haftung
dafür, daß die Thätigkeit des Vereins ihnen gemäß geſchehe, und ihn
entſchuldigt die Unkenntniß niemals. — Es folgt drittens aus ſeiner
ganzen Stellung, daß er den Verwaltungsrath beſtändig in Kenntniß
von dem ganzen Gange des Geſchäfts erhalte. Wenn der Verwaltungs-
rath einen Beſchluß faßt, der durch Unkenntniß der Verhältniſſe von
ſeiner Seite, oder gar durch eine mangelhafte — um ſo mehr natürlich
durch eine falſche Darſtellung der Sachlage vom Direktor hervorgerufen
ward, ſo hat der Verwaltungsrath keine Verantwortung, ſondern die
ganze Haftung fällt dem Direktor zu, ſo weit nicht bei gewöhnlicher Vor-
ſicht eines gebildeten Mannes ein Mißtrauen gegen die Ausſprüche des
Direktors von Seiten des Verwaltungsrathes hatte entſtehen müſſen.


Eine ſehr wichtige Frage iſt endlich die, ob der Direktor für die
ſchädlichen Folgen ſeiner eigenen Unkenntniß haftet, das iſt, ob er
dafür verantwortlich iſt, daß er wirklich alle für ſeine Funktion noth-
wendigen Fachkenntniſſe habe, ſo daß jeder Schade, welcher dem
Verein aus Mangel an Fachkenntniſſen entſpringt, den Direktor zum
Erſatze verpflichtet.


Man muß dieſe Frage in folgender Weiſe beantworten. Da die
natürliche Stellung der Direktion die vollſte Fachkenntniß vorausſetzt,
und da der Verwaltungsrath, der den Direktor anſtellt, weder verpflichtet
ſein kann noch verpflichtet iſt, dieſe Fachkenntniß zu haben oder auch
nur beurtheilen zu können, ſo iſt die Annahme der Stellung von Seite
des Direktors der Erklärung gleich zu achten, daß er wirklich jene Fach-
kenntniſſe in einem für den Verein ausreichenden Maße beſitze, und damit
iſt die perſönliche Haftung des Direktors für jeden Nachtheil gegeben, der
aus dieſem Mangel entſpringt. Allein das zweite Element der tüchtigen
Geſchäftsführung kann ein Direktor weder verſprechen noch auch für
[608] den Verein und ſeine ſpeziellen Verhältniſſe überhaupt beſitzen, ſondern
er muß ſich dieſelben erſt erwerben. Das iſt die Erfahrung. Es folgt
daraus der Rechtsſatz, daß die Haftung des Direktors da aufhört, wo
die Bedingung der Vermeidung eines Nachtheiles nicht mehr in dem
vollen Beſitze der Fachkenntniſſe, ſondern der Erfahrung lag. Der
Beweis, daß das letztere der Fall iſt, befreit den Direktor von der
Verbindlichkeit zum Schadenserſatze.


Dieſen ernſten, ſelten gehörig gewürdigten rechtlichen Verpflich-
tungen des Direktors gegenüber ſtehen nun die entſprechenden Rechte
deſſelben. Der Umfang dieſer Rechte iſt gegeben durch den Umfang
der materiellen Bedingungen zur Ausübung ſeiner fachmäßigen
Thätigkeit. Sie ſcheiden ſich in die Rechte der Direktion an ſich, in
die Rechte der Direktion im Verhältniß zum Verwaltungsrath und in
die Rechte deſſelben über die Bedienſteten des Vereins. Die Rechte der
Direktion an ſich entſtehen da, wo im Laufe der Vereinsthätigkeit
plötzliche Ereigniſſe eintreten, bei denen eingreifende Maßregeln, die
ſonſt dem Verwaltungsrathe zum Beſchluſſe vorzulegen waren, noth-
wendig werden. Hier muß das Recht der Direktion anerkannt werden,
aus eigner Gewalt alle diejenigen Maßregeln und Thätigkeiten anzu-
ordnen, welche nach fachmänniſchen Grundſätzen erforderlich erſcheinen,
um eine Gefahr zu beſeitigen. Für alle dieſe Maßregeln hat der
Direktor nur dann Verantwortlichkeit, wenn er ſie unterläßt. Der
Bericht an den Verwaltungsrath iſt dabei ſelbſtverſtanden. Anders iſt
der Fall, wenn es ſich um einen unter plötzlichen Umſtänden zu er-
zielenden Gewinn handelt, und zwar durch Maßregeln, welche regel-
mäßig der Verwaltungsrath zu beſchließen hat. Hier trifft den Di-
rektor keine Haftung, wenn er ſie unterläßt; nimmt er ſie vor, ſo
muß von Fall zu Fall entſchieden werden, ob die Haftung eintreten
kann, wobei natürlich die bona fides ſtets für das Wegfallen der Haf-
tung bei einer ſonſt erfahrungsmäßig richtigen Maßnahme entſcheiden
wird. — Alle ſolche Maßregeln ſind aber natürlich dem Verwaltungs-
rathe zum Beſchluſſe demnächſt vorzulegen.


Das Recht der Direktion gegenüber dem Verwaltungsrathe
beſteht zunächſt in der unbedingt nothwendigen Theilnahme an den
Sitzungen deſſelben, und zwar mit berathender Stimme. Das bedarf
keiner Erörterung aus der Natur der Sache. Das zweite Recht iſt
das auf Stellung beſtimmter Anträge, und zwar nöthigenfalls mit der
Erklärung, daß die Direktion die Haftung dem Verwaltungsrath zu-
ſchiebt, wenn er die Anträge nicht genehmigt. Dieſelbe Berechtigung
hat die Direktion bei jedem Beſchluß des Verwaltungsrathes über
fachmänniſche Fragen, die von dem letzteren ausgehen; eben ſo bei
[609] Beſchlüſſen, welche die öffentlich rechtlichen Verhältniſſe betreffen. Hier
nun entſteht die Frage nach der Verpflichtung der Direktion, einem
Beſchluſſe des Verwaltungsrathes zu gehorchen, der nach ihrer An-
ſicht den fachmänniſchen Grundſätzen oder dem öffentlichen Recht
wiederſpricht. Wir haben dieſer Rechtsverhältniſſe ſchon bei dem
Verwaltungsrathe erwähnt. Es kann kaum zweifelhaft ſein, daß
die Direktion im erſten Fall trotz ihrer entgegenſtehenden Ueber-
zeugung dem Beſchluſſe des Verwaltungsrathes zu gehorchen, jedoch
unter Darlegung aller Gegengründe ſich vor jeder Haftung ſicher
zu ſtellen hat. Im zweiten Falle dagegen hat die Direktion die
Pflicht, den Gehorſam zu verweigern, und iſt dem Gerichte ſelbſt
dann für den Gehorſam gegen das Geſetz verantwortlich, wenn der
Verwaltungsrath ſeinerſeits erklärt hätte, die Verantwortung für ſich
übernehmen zu wollen. An dieſe beiden Fälle ſchließt ſich der dritte,
wo nämlich der Beſchluß des Verwaltungsrathes gegen die Statuten
oder gegen einen Beſchluß der Generalverſammlung zu gehen ſcheint.
In dieſem Falle hat die Direktion, wenn es ihre zur Gewißheit ge-
wordene Ueberzeugung iſt, daß der Beſchluß im Widerſpruch mit Statut
oder Generalverſammlung ſteht, allerdings den Gehorſam zu verweigern,
aber auf die Gefahr hin, daß eine gerichtliche Entſcheidung ihre Auf-
faſſung als irrthümlich anerkennt, und ſie daher ſelbſt die Folgen tragen
muß. Dieſe Folgen ſind nun, wenn der Verwaltungsrath ſeinerſeits
nicht nachgibt, die Suſpenſion oder Entlaſſung aus dem Dienſte. Gegen
beides kann dann die Direktion entweder bei der Generalverſammlung
oder bei dem Gerichte klaghaft werden. Der Ungehorſam im erſten
Falle werde die Aufhebung des Dienſtverhältniſſes rechtfertigen; im
zweiten Falle wäre umgekehrt dieſe Auffaſſung ungerechtfertigt; im
dritten muß von Fall zu Fall entſchieden werden.


Endlich kann es nicht zweifelhaft ſein, daß der Verwaltungsrath
die Disciplinargewalt über den Direktor ausübt, welche bis zur Auf-
hebung des Dienſtverhältniſſes geht, wenn die fachmänniſche und die
organiſche, leitende Thätigkeit des Direktors unter ſeiner Lebensweiſe
leidet. Auch hier kann der Direktor gerichtlich auf Schadenserſatz
klagen; alsdann treten die gewöhnlichen Formen des bürgerlichen Pro-
ceſſes ein. Eine weitere Frage iſt es, ob der Verwaltungsrath unbe-
dingt
das Recht zur Suſpenſion des Direktors habe. Dieſe Frage
iſt im Allgemeinen zu bejahen; zweifelhaft kann dieß nur in dem Falle
ſein, wo die Suſpenſion wegen Gehorſamsverweigerung eintrat, weil
das öffentliche Recht mit dem Beſchluſſe des Verwaltungsraths im
Widerſpruch ſtand. Da die Aufhebung des Anſtellungsvertrages unter
dieſer Bedingung gar nicht hätte ſtipulirt werden können, ſo kann ſie
Stein, die Verwaltungslehre. I. 39
[610] auch nicht die Folge einer ſolchen Bedingung ſein. Dennoch hat daher
der Verwaltungsrath auch hier das Recht der Suſpenſion, und zwar
darum, weil die Frage, ob die Forderung des Verwaltungsrathes mit
den beſtehenden Geſetzen in Widerſpruch ſteht oder nicht, eben noch
nicht entſchieden iſt; denn der letztere behauptet das Gegentheil, und
ſpricht ſich ſpäter das Gericht für denſelben aus, ſo wird dadurch die
urſprüngliche Gehorſamsweigerung zu einem formellen Ungehorſam, der
die gänzliche Entlaſſung bedingt.


Dieß ſind die Grundzüge des Rechts der Direktion gegenüber dem
Verwaltungsrath. Einfacher iſt das dritte Rechtsgebiet, das Recht
gegenüber den Bedienſteten des Vereins. Hier muß als erſter
Grundſatz gelten, daß die Verantwortlichkeit und Haftung des Direktors
das Recht deſſelben erzeugt, daß kein Bedienſteter, der eine fachmänniſche
Bildung braucht und alſo zum eigentlichen Direktionskörper gehört,
ohne Zuſtimmung der Direktion, kein anderer Bedienſteter ohne
Wiſſen
derſelben angeſtellt werden darf, aus naheliegenden Gründen.
Der zweite Grundſatz iſt, daß die Direktion unbedingte Vollmacht
zur Suſpenſion jedes Angeſtellten, aber niemals ein Recht zur Ent-
laſſung deſſelben ohne den Verwaltungsrath habe. Die Diener da-
gegen muß die Direktion aufnehmen und entlaſſen können, wie ſie für
nöthig findet. Ueber die Scheidung zwiſchen Dienern und Angeſtellten
muß in zweifelhaften Fällen die Natur des Vereinszweckes entſcheiden.


b) Die Bedienſteten.

Die Grundlage des Rechtsverhältniſſes der Bedienſteten iſt ſtets
eine doppelte. Zuerſt der Anſtellungsvertrag; dann die Natur der
Sache. Die letztere wird ſtets über den Inhalt der Rechte und
Verpflichtungen, der erſtere über das Maß derſelben entſcheiden
müſſen.


Die Natur der Sache bringt das Recht der Direktion mit ſich, die
Thätigkeit der Bedienſteten je nach ihrem Bedürfniß zu verwenden, und
die letzteren haben ſich unbedingt verwenden zu laſſen, wenn ihr Be-
ſtallungsvertrag nicht beſondere Beſtimmungen enthält. Jedoch kann
jeder Bedienſtete eine irgendwie fachmänniſche Thätigkeit fordern;
die nicht fachmänniſche braucht er nur freiwillig anzunehmen. Die Ord-
nung ſeiner Thätigkeit beſtimmt die Direktion. Die Verweigerung des
Gehorſams iſt die unmittelbare Aufhebung des Vertrages; doch haftet
unzweifelhaft der Beſtellte für den Schaden, den ſein Ungehorſam her-
vorruft. Im Uebrigen iſt das bürgerliche Recht des Dienſtverhältniſſes
für das Verhältniß der Angeſtellten maßgebend.


Dennoch iſt eine Gemeinſamkeit unter dieſen Angeſtellten vorhanden,
[611] welche über das Privatrecht hinausgeht. Nur äußert ſich dieſe Gemein-
ſamkeit wieder auf eigenthümliche Weiſe, indem der Verein für ſeine
Angeſtellten wieder Vereine erzeugt, die weſentlich in der Form von
Hülfsvereinen (Penſionsvereine, Krankenvereine u. ſ. w.) auftreten. Der
Verein hat das Recht, den Beitritt zu dieſen Vereinen zu einer der
Bedingungen der Anſtellung zu machen. Es iſt Sache des einzelnen
Vereins darüber zu entſcheiden in wie weit dieß zweckmäßig iſt. Meiſtens
leiden dieſe Vereine an der, durch die geringe Zahl ihrer Mitglieder
bedingten Unſicherheit der Beitragsquote; dagegen haben ſie die gute
Wirkung, daß ſie den Werth der Theilnahme an dem Dienſt des Ver-
eins, und damit den Eifer in dieſen Dienſten erhöhen; namentlich die
Penſionsvereine. Die Frage, ob der Verein dieſe Penſionsvereine direkt
unterſtützen ſoll, hängt dann von der Natur des betreffenden Vereins ab.


Auch der obige Theil des Vereinsrechts iſt ſo gut als gar nicht bearbeitet.
Das Handelsgeſetzbuch hat den Unterſchied zwiſchen Vorſtand und Direktion
nicht aufgenommen, was nur dadurch erklärt werden kann, daß es auch hier
wieder den Unterſchied zwiſchen der einfachen Geſellſchaft und dem Vereine nicht
feſthält. Die Vorſtellung, daß die eigentliche Direktion nur in einem „techniſch
gebildeten Beamteten“ der Geſellſchaft beſtehe (Nürnberger Protokoll S. 1057),
iſt durchaus einſeitig. Schon bei einigermaßen bedeutenderen Geſellſchaften
und Vereinen ſcheiden ſich Verwaltungsrath und vollziehende Gewalt auf das
Beſtimmteſte, und die letztere in den Händen der Direktion umfaßt das ganze
Leben des Vereins. Es iſt daher nicht richtig, wenn auch Auerbach und
Stubenrauch bloß bei der commerciellen Geſchäftsführung der Direktion
ſtehen bleiben, und ſie mit dem Handelsgeſetzbuch als ganz gleichbedeutend mit
dem Vorſtand nehmen. Was für kleine Geſellſchaften paſſen mag, wird ver-
kehrt, ja unmöglich für größere. Aber auch das öſterreichiſche Vereins-
geſetz
Art. 13 läßt es ganz unbeſtimmt, was es ſich unter der Direktion denkt.


3) Das allgemeine Verwaltungsrecht des Vereinsweſens. Die
Beitragsvereine. Die Gegenſeitigkeitsvereine. Die Erwerbs-
vereine
.

Indem wir den Organismus des Vereinsweſens und ſein Recht
ſelbſtändig behandelt haben, obwohl es als Recht der vollziehenden Ge-
walt des Vereins eigentlich dem Verwaltungsrecht deſſelben angehört,
bleibt uns für das eigentliche Verwaltungsrecht nur ein Gebiet übrig,
das kaum mehr als Formen enthält, in welche erſt die ſpätere Dar-
ſtellung einen Inhalt hinein bringt.


Die Verwaltung des Vereins iſt auch hier die wirkliche, aus dem
Zweck des Vereins hervorgehende und durch ſeine Organe vollzogene
Thätigkeit des Vereins. Da es nun das Weſen des Vereins iſt, daß
[612] jeder Verein ſeinen eigenen individuellen Zweck hat, ſo gibt es auch
keine für alle Zwecke gleichartige Verwaltung und mithin
kein allgemeines Verwaltungs-, ſondern nur ein allgemeines
Vollziehungsrecht des Vereinsweſens, das eben in dem Organismus und
ſeinem Recht oben dargeſtellt iſt.


Nur auf einem Punkte gewinnt die Verwaltung aller der in Zweck
und Umfang ſo unendlich verſchiedenen Vereine eine gewiſſe innere und
äußere Gleichartigkeit und dieſe muß hier bezeichnet werden, weil auf
ihr das öffentliche Verwaltungsrecht des Vereinsweſens in ſeinem wich-
tigſten Theile beruht.


Allen Vereinen iſt es nämlich gemein, daß ſie für ihre, wie immer
gearteten Zwecke, der Mittel bedürfen. Dieſer einfache Satz erzeugt die
erſte rechtliche Grundlage aller Vereinsverwaltung, daß der Eintritt
in den Verein die privatrechtliche Verbindlichkeit der Eingetretenen
ſetzt, die Mittel für den Vereinszweck auch geben zu wollen, ſei es durch
Leiſtungen, ſei es durch Zahlungen. Die erſte Funktion jedes wie immer
organiſirten Vereins iſt es daher, dieſe Mittel von den Mitgliedern zu
ſchaffen; und es iſt kein Zweifel, daß den Verwaltungsorganen damit
das Recht gegeben iſt, die Leiſtungen und Zahlungen der Mitglieder
auf Grundlage ihres Beitritts gerichtlich zu erzwingen.


Die Conſequenz jedoch, welche ſich daraus ergibt, gibt ihrerſeits
dieſem allgemeinſten Verwaltungsrecht erſt Geſtalt und Inhalt.


Keine Verpflichtung iſt nämlich eine rechtlich gültige, wenn ſie nicht
eine beſtimmte iſt. Jeder Verein iſt daher ein rechtlich ungültiger, wenn
nicht jene Verpflichtung der Mitglieder ſchon in dem Vereinsvertrag als
eine beſtimmt formulirte erſcheint. Der Eintritt in einen Verein,
der dieſes nicht feſtgeſtellt hätte, würde als ein juriſtiſch zu gar nichts
verbindender anerkannt werden. Es folgt daher, daß die erſte Thätig-
keit und damit das erſte Recht der Verwaltung, das auf Beſchaffung
der Mittel gerichtete, ſich ſelbſt nach den Grundformen geſtalten muß,
in welchen die Verpflichtungen der Einzelnen zur Vereinsleiſtung er-
ſcheinen.


Dieſe Grundformen ſind ihrerſeits wieder weſentlich verſchieden nach
der wirthſchaftlichen Seite des Zweckes, den ſich der Verein ſtellt.


Wo nämlich der Verein ſeinen Zweck durch Hingabe der von ihm
geſammelten Mittel erzielen will, wie namentlich bei den Hülfsvereinen ꝛc.,
da erſcheint die Leiſtung des Mitgliedes als ein Beitrag, und wir
können alle ſolche Vereine ohne Unterſcheidung ihrer Zwecke Beitrags-
vereine
nennen.


Wo dagegen der Verein ſeinen Zweck durch gegenſeitige Verpflichtung
zu Hülfe- oder ſonſtigen Leiſtungen erreichen will, da nennen wir dieſe
[613] Leiſtung des Mitgliedes an den Verein eine Prämie, und die Vereine
ſelbſt, die auf Prämien gebaut ſind, Gegenſeitigkeitsvereine.


Wo dagegen endlich ein Verein ſeinen Zweck durch Bildung eines
großen Geſammtkapitals und durch die Vortheile verwirklichen will,
welche das Größengeſetz der Kapitalien den Theilnehmern an dem Ver-
ein vermöge der Größe ſeines Vereinskapitals bringt, da beſteht auch
die Leiſtung des Mitgliedes in der Hingabe eines Kapitals, als eines
Antheils am Vereinskapital, und der Verein iſt ein Kapitals- oder
Antheilsverein, den wir um ſeines letzten Zweckes am liebſten eine
Erwerbsgeſellſchaft nennen. Dieſe kann wieder eine offene, eine
Commandite oder eine Aktiengeſellſchaft ſein, je nach Form und Größe
des Antheils der Mitglieder an dem Vereinskapital.


Andere Arten gibt es nicht. Die angeführten Arten aber be-
zeichnen die drei Grundformen der wirthſchaftlichen Einnahmen der Ver-
eine, und allerdings hat jede dieſer Grundformen, noch ganz abgeſehen
von der durch den ſpeziellen Zweck geſetzten Verwendung oder Ausgabe
des Vereins, ihre eigenthümlichen Beſtimmungen.


Bei den Beitragsvereinen muß nämlich als Recht gelten, daß
die Verweigerung der Leiſtung des Beitrages an und für ſich als Aus-
tritt aus dem Verein angeſehen wird. Ein einmal geleiſteter Beitrag
kann auch dann nicht zurückgefordert werden, wenn das Mitglied gleich
nach der Zahlung austritt, und pro rata der Zeit, in der es ausge-
treten iſt, ſeinen Beitrag zurückfordern will, denn der Beitrag iſt für
eine Wirthſchaftsperiode des Vereins, und nicht für die Intereſſen des
Mitgliedes beſtimmt. Die Formen der Mahnung und Abrechnung kann
der Verein ſelbſt beſtimmen; doch tritt ſchon hier das öffentliche Ver-
waltungsrecht maßgebend ein.


Anders iſt es bei den Gegenſeitigkeitsvereinen. Bei dieſen
iſt der Eintritt in den Verein, ganz abgeſehen von den perſönlichen
Motiven und dem nächſten Zweck des Vereins, ein ganz beſtimmtes
wirthſchaftliches Geſchäft. Der Eintritt des Einzelnen enthält die
Verpflichtung zu einer Leiſtung gegen die auf gewiſſe Fälle berechnete
Verpflichtung einer Gegenleiſtung aller Mitglieder des Vereins für
jedes Mitglied. Und hier tritt zuerſt eigentlich eine Verwaltung der
wirthſchaftlichen Verhältniſſe des Vereins auf, während bei den Bei-
tragsvereinen die Organe des Vereins nur Verwendungen und Verrech-
nungen haben. Dieſe Verwaltung des Vereins beſteht nun darin, zu-
erſt
das genaue Maß der Verpflichtungen des Einzelnen an die Ge-
ſammtheit und das genaue Maß der Rechte, welche derſelbe dafür an
die Geſammtheit erwirbt, feſtzuſtellen; dann die Erfüllung dieſer gegen-
ſeitigen Verpflichtungen von beiden Seiten zu ſichern, und endlich
[614] den etwaigen Ueberſchuß oder den Ausfall an die Mitglieder zu ver-
theilen.


Die erſte dieſer Aufgaben wird immer auf einer Wahrſcheinlich-
keitsrechnung beruhen, deren Anſtellung und Begründung die erſte Pflicht
der Verwaltung iſt. Die zweite iſt die Eintreibung und Auszahlung
der gegenſeitigen Verpflichtungen; die dritte endlich muß als Erhöhung
oder Verminderung der Leiſtung des einzelnen Mitgliedes zur Erſchei-
nung gelangen. Es ergibt ſich daraus das Princip der Verwaltung
der Gegenſeitigkeitsvereine, welches dem Zwecke derſelben entſpricht. Die
Verwaltung derſelben ſoll ſo eingerichtet ſein, daß ſie die möglichſt großen
Leiſtungen des Vereins an ſeine Mitglieder gegen die möglichſt geringen
Leiſtungen der Mitglieder an den Verein erzielen ſoll. Damit aber
hier die individuellen Auffaſſungen in der Verwaltung ſelbſt nicht das
richtige Maß gefährden, muß das durch Wiſſenſchaft und Erfahrung
feſtgeſtellte Maß beider Verpflichtungen zum Recht für beide Theile,
das Mitglied und den Verein gemacht, und dem erſteren gegen ſeine
auf dieſem Wege objektiv beſtimmten Leiſtungen ein rechtlicher Anſpruch
auf eine gleichfalls objektiv beſtimmte Gegenleiſtung von Seiten des
ganzen Vereins gegeben werden. Die Vereinsverwaltung hat demgemäß
die Aufgabe, durch richtige Bemeſſung der erſteren Leiſtung für alle
Mitglieder den Verein zur Leiſtung gegen das einzelne Mitglied fähig
zu machen. Es kann hier daher nicht mehr einen Eintritt als Mitglied
im Allgemeinen geben, ſondern jeder Eintritt erſcheint als ein ganz be-
ſtimmt formulirter Vertrag zwiſchen Mitglied und Verein, und die
ausführende Verwaltung hat zu ihrer weſentlichen Aufgabe, eben dieſe
Verträge einerſeits zu ſchließen, andererſeits zur Vollziehung zu bringen.
Es liegt daher in der Natur dieſer Gegenſeitigkeitsvereine, gleichviel ob
ſie eine rein wirthſchaftliche oder zugleich eine ſociale Tendenz haben,
daß ſich hier bereits die vollziehenden von den vertretenden Organen
ſondern, und eine Direktion neben dem Verwaltungsrath entſteht. Die
Aufgabe der erſteren wird es dann, eben auf Grund ihrer kaufmän-
niſchen Erfahrung und Kenntniſſe jene Verträge zu ſchließen. Die
Baſis der Thätigkeit der Direktion wird hier mithin die Berechnung
der Prämien, die Aufgabe der Bedienſteten die Erhebung derſelben und
die Auszahlungen in den vertragsmäßigen Fällen ſein. Hier nun greift
bereits das öffentliche Recht der Vereinsarten in viel beſtimmterer Weiſe
ein, wie bei den Beitragsvereinen, wie wir oben ſehen werden.


Die dritte Grundform, die Erwerbsgeſellſchaften in ihren
drei Formen, ſcheint nun principiell ganz den Beſtimmungen des Ver-
einsvertrages über die Verpflichtungen der Mitglieder gegen den Verein
und umgekehrt des Vereins gegen die Mitglieder unterworfen zu ſein.
[615] Dennoch iſt gerade das Gegentheil der Fall. Die ganze Verwaltung
der Leiſtungen der Einzelnen an den Verein und der Rechte des Vereins
gegen ſeine Mitglieder iſt ſowohl bei den offenen Geſellſchaften, als bei
den Commanditen, als endlich namentlich bei den Aktienvereinen Gegen-
ſtand öffentlicher Geſetzgebung geworden, und daher der Beſtimmung
des Vereinsvertrages faſt ganz entzogen. Die innere Verwaltung iſt
daher hier faſt auf jedem Punkte eine öffentliche, und der Unterſchied
zwiſchen dieſen Vereinen und den öffentlichen unter der Staatsverwal-
tung ſtehenden Anſtalten beſteht faſt nur noch in der Freiheit des Ein-
tritts der Mitglieder, im Rechte der Wahl des Verwaltungsorganismus
und der freien Diskuſſion über die wirkliche Verwaltung, nicht aber in
dem Rechte der Geſellſchaften, ſich nach eigenem Ermeſſen ſelbſt Geſetze
zu geben. In der That iſt in dieſen Geſetzen nur noch das Entſtehen
und die Auflöſung, und auch nicht einmal die letztere mehr, ganz in
den Willen der Mitglieder geſtellt; auf allen andern Punkten haben
ſie nur noch die wirkliche Ausführung unter den vom Staate ihnen
geſetzten rechtlichen Bedingungen. Wir werden den ganz richtigen Grund
dieſes Verhältniſſes unten darlegen. Es zeigt ſich aber, daß innerhalb
dieſer Gruppe von Vereinen die einzelnen Abtheilungen wieder ihre
eigenen Grundſätze der Verwaltung haben, die ſich ſpäter zu einem
vollſtändigen Körper von Geſetzen und Rechtsbeſtimmungen entwickeln.
Und ſo erſcheint ſchon hier auch das Vereinsverwaltungsrecht als
ein in ſeinem allgemeinen Theile weitläuftig und doch organiſch ent-
wickeltes Ganze; es iſt klar, daß es keine Verwaltungswiſſenſchaft
künftig geben kann, ohne daſſelbe in ſich aufgenommen und verarbeitet
zu haben.


Wir glauben hier die Bemerkung nicht unterlaſſen zu dürfen, daß wir in
dieſem allgemeinen Vereinsrecht namentlich das Aktienrecht nicht behandeln wer-
den, weil es kein Theil der vollziehenden Organe, ſondern ein Gebiet des eigent-
lichen Verwaltungsrechts iſt, und zwar desjenigen, das es mit der Werthordnung
zu thun hat. Die bisherige Darſtellung des Aktienrechts hat ſich übrigens gerade
mit dem öffentlichen Aktienrecht nur wenig beſchäftigt, und nur die privatrecht-
liche Seite hervorgehoben, weßhalb in jenem Punkte noch faſt alles zu thun iſt.
Das Handelsgeſetzbuch hat ganz conſequent alle Beitragsvereine weggelaſſen;
unbegreiflich bleibt es, weßhalb es ſich auf die Gegenſeitigkeitsvereine nicht ein-
gelaſſen hat, die ja doch auch als Geſellſchaften fungiren. Auerbach hat ihnen
in ſeinem Geſellſchaftsweſen einen, wenn auch nur ſehr kurzen Abſchnitt ge-
widmet (Band III. Seite 3). Warum hat er bei ſeiner Darſtellung der Aktien
und ihres Rechts auf die Literatur der Inhaberpapiere, namentlich auf Ungers
Schrift, gar keine Rückſicht genommen?


[616]
Zweiter Theil.
Das öffentliche Vereinsrecht. Begriff.

Während das innere Vereinsrecht dasjenige Recht iſt, welches für
den Verein durch das Weſen deſſelben als geltend angeſehen werden
muß, entſteht wie geſagt das Gebiet des öffentlichen Vereinsrechts da-
durch, daß der Verein zugleich ein organiſcher Theil des Staats, und
damit des Geſammtlebens des Volkes iſt. Inſofern dieß der Fall iſt,
muß der Wille der den Vereinsvertrag Schließenden durch dieſe orga-
niſche Natur des Staats bedingt und beſchränkt erſcheinen; innerhalb
dieſer Verhältniſſe kann er nicht mehr als das Recht des Vereins be-
ſtimmend gelten, ſondern ordnet ſich den Forderungen des Staats unter.
Und die Geſammtheit der Beſtimmungen welche dadurch für den Verein
und ſein Recht entſtehen, nennen wir das öffentliche Vereinsrecht.


Auch hier nun müſſen wir von einem allgemeinen öffentlichen
Vereinsrecht gegenüber dem beſondern reden. Das erſtere iſt dasjenige,
welches ohne Rückſicht auf den beſtimmten Zweck der einzelnen Vereins-
arten oder gar der einzelnen Vereine bloß dadurch entſteht, daß ein
Zweck des Staats durch eine ſelbſtändige Vereinigung von Perſönlich-
keiten und nicht mehr durch Organe des Staats erfüllt wird. Das
beſondere öffentliche Vereinsrecht dagegen enthält diejenigen Beſtim-
mungen, welche wieder durch die Natur der beſtimmten Vereinszwecke
für den Verein geſetzt werden. Und da nun die organiſche Lehre von
den Staatsaufgaben und ihrer Erfüllung die innere Verwaltung und
das innere Verwaltungsrecht bildet, ſo wird das beſondere öffentliche
Vereinsrecht erſt in der innern Verwaltungslehre erſcheinen können.


Dieß allgemeine öffentliche Vereinsrecht, die Verhältniſſe des Ver-
eins zum Staate umfaſſend, muß daher in denſelben Grundformen
erſcheinen, wie das Leben des Vereins überhaupt. Denn es iſt ja das
Recht dieſes Lebens ein Verhältniß zum Staate. Demgemäß wird das
allgemeine öffentliche Vereinsrecht zerfallen in das öffentliche Verfaſſungs-
recht, das öffentliche Organiſationsrecht und das öffentliche Verwaltungs-
recht. Alle dieſe Rechtsbeſtimmungen werden gemeinſam zu ihrer Grund-
lage die rechtliche Feſtſtellung der Bedingungen haben, unter welchen der
Staat und der Verein ſich berühren und harmoniſch bewegen, während
das innere Recht nur die Bedingungen ſetzte, unter welchen der Verein
überhaupt beſtehen kann.


Alle jene einzelnen Beſtimmungen und Sätze des öffentlichen Ver-
einsrechts beruhen nun, trotz ihrer Vielſeitigkeit, dennoch auf einem
gemeinſamen Princip. Wir nennen daſſelbe kurz das Princip der recht-
[617] lichen Freiheit des Vereinsweſens
. Dieß Princip iſt der Grund-
ſatz, daß die Staatsgewalt im Vereinsweſen nicht etwa eine feindliche
oder auch nur ihr indifferente Gewalt, ſondern vielmehr einen orga-
niſchen Theil ihres eigenen Lebens ſehen ſoll, ohne deſſen volle und
lebendige Entwicklung das Ganze nicht zur Vollendung gelangen kann.
Die Staatsverwaltung ſoll daher nicht bloß im Allgemeinen die Blüthe
des Vereinsweſens fördern, ſondern ſie ſoll zugleich nach den einzelnen
Seiten des öffentlichen Rechts ſo wenig als möglich auf den Verein
Einfluß nehmen; das erſte und allgemeinſte Princip des öffentlichen
Vereinsrechts muß das ſein, nur negativ gegen alle diejenigen Mo-
mente
im Verein aufzutreten, welche entweder das öffentliche Wohl
oder das Recht des Einzelnen gefährden. Dadurch entſteht dann der
Charakter des öffentlichen Vereinsrechts überhaupt.


Es iſt ein ganz beſtimmter und verſchiedener für die Verfaſſung
und für die Verwaltung des Vereins. Im Verfaſſungsrecht ſichert der
Staat die Freiheit des Mitgliedes gegen den Verein als Ganzes, und
den Staat gegen den Zweck des Vereins; im Verwaltungsrecht ſichert
er die Mitglieder einerſeits und die Gemeinſchaft anderſeits gegen die
wirkliche Thätigkeit des Vereins. Aus der Anwendung dieſer Principien
auf das innere Vereinsrecht und ſein Syſtem hat ſich dasjenige gebildet,
was wir nunmehr das Syſtem des öffentlichen Vereinsrechts
nennen können.


1) Das öffentliche Verfaſſungsrecht der Vereine.

a) Begriff der Genehmigung des Vereins.

Es iſt ſehr leicht das Weſen und den Begriff des öffentlichen Ver-
faſſungsrechts des Vereins zu beſtimmen. Es iſt dagegen durchaus nicht
ſo einfach, dieſen Begriff in ſeiner richtigen Anwendung feſtzuſtellen.
Und wir werden hier wieder in die Lage kommen, das Rechtsſyſtem
auf eine Reihe von Unterſcheidungen im Weſen der Vereinigungen
zurückzuführen, welche man nicht gemacht hat, und demnach nicht
wird entbehren können, will man anders zu einem endgültigen Reſultate
gelangen.


Der Begriff des öffentlichen Verfaſſungsrechts der Vereine kann
nicht anders beſtimmt werden, als indem man die Vorſtellung einmal
für allemal aufgibt, als ſei jede Rechtsbeſtimmung über das Vereins-
weſen vorzugsweiſe unfreier Natur, und als ſtehe es daher im Belieben
einer Regierung, ſolche Beſtimmungen überhaupt zu treffen oder nicht.
Das Studium des öffentlichen Rechts hört ſofort auf, ſeinen Ernſt zu
verlieren, wenn man die Freiheit des letzteren und das Ziel des
[618] Vereinsrechts in einem Zuſtand finden will, in welchem die Regierung
ohne allen Einfluß auf das letztere iſt. Das kann kein Verſtändiger
denken. Dennoch hat auch jene Auffaſſung ihren Grund. Man muß
Anlaß und Inhalt des Wirkens vor Augen haben, um über den Gegen-
ſtand entſcheiden zu können.


Der Verein iſt nämlich diejenige Vereinigung, welche die Er-
füllung irgend eines öffentlichen Zweckes zum Gegenſtande ihrer Thätig-
keit hat. Der Verein iſt daher ein allerdings höchſt freier, aber er iſt
ſtets eine Form und ein Glied der Selbſtverwaltung. Er gehört damit
dem Organismus des Staatslebens. Es iſt damit aber zugleich der Satz
gegeben, daß der letztere, indem er den Verein als einen Theil ſeiner
ſelbſt betrachtet, eben in ſeiner eigenen Natur die Bedingungen haben,
und demgemäß auch ſetzen muß, unter welchen dieß der Fall iſt, das
iſt, unter denen der Verein ſich als ſeinen Theil erklärt. Es iſt nicht
denkbar, daß dieſer Theil dem Ganzen, dem Staate, in ſeiner Organi-
ſation die Bedingungen einſeitig vorſchreiben dürfe, mit denen der
letztere dieſen Theil aufzunehmen hat; das ſcheint unzweifelhaft. Es
muß dem Staate das Recht zuſtehen, darüber zu entſcheiden, ob er den
Verein in ſich als ein mitarbeitendes Organ für ſeine Zwecke gebrauchen
kann oder nicht. Hat die Vereinigung keine ſolche Staatszwecke, ſo iſt
ſie eben kein Verein, hat ſie ſie aber, ſo muß ſie ſich in Zweck und
Thätigkeit in Harmonie mit der Regierung ſetzen, und darüber kann
nur die letztere faktiſch entſcheiden, weil ſie das Staatsleben kennt, und
ſie muß rechtlich darüber entſcheiden können, weil ſie ſonſt für die wirk-
liche Verwaltung keine Verantwortlichkeit übernehmen kann. Das alles
iſt wohl ſehr klar.


Andererſeits iſt der Verein die freieſte Form der Betheiligung der
einzelnen Staatskörper an der Verwaltung. Das iſt ſein Weſen.
Wenn nun der Staat wieder über dieſe Form entſcheiden ſoll, ſo ver-
liert ſie gerade das, was ihre eigenſte Natur ausmacht, die Selbſt-
beſtimmung über ihre Organiſation. Andererſeits iſt nicht jede Vereini-
gung ein Verein. Geſetzt, man gäbe dem Staate das Recht, über die
Bildung eines Vereins zu entſcheiden, kann er vernünftiger Weiſe damit
auch das Recht haben, über die Bildung jeder Vereinigung, namentlich
über die jeder Geſellſchaft zu beſtimmen? Hat er das letztere Recht nicht,
wer ſoll die Gränze zwiſchen demſelben und dem erſteren beſtimmen?
Und ſoll der Staat ſie beſtimmen, iſt es da möglich, daß er nicht am
Ende doch bei jeder Vereinigung unter jenem Titel ſeine Zuſtimmung
fordert? Iſt aber das wieder der Fall, muß man da nicht ſagen,
daß es beſſer wäre, ihm das Recht der Zuſtimmung auch für die Bil-
dung von wirklichen Vereinen zu nehmen, damit der unvermeidliche
[619] Mißbrauch dieſes Rechts nicht die Bildung der freien Selbſtverwaltung
der Staatsbürger gefährde?


Dieß nun ſind die beiden Gegenſätze, von welchen ſeit Jahrzehnten
die Frage über das Vereinsrecht ausgeht, und um welche es ſich be-
wegt. Hält man ſie in der obigen Form ganz einfach neben einander,
ſo ſieht man, daß eigentlich gar keine Vereinigung derſelben möglich iſt,
ſondern jeder Punkt in der einen Auffaſſung in direktem Widerſpruch
mit der anderen ſteht. Und in der That iſt dieſer unvermittelte Gegen-
ſatz ſo ziemlich der Zuſtand der allgemeinen Auffaſſung des Vereins-
weſens. Man verliert das richtige Urtheil ſo weit, daß man entweder
grundſätzlich den Standpunkt feſthält, daß gar keine innerlich geregelte
Vereinigung mehr ohne Erlaubniß der Behörde ſtattfinden kann, indem
jeder Verein, der „Geſellſchaftsregeln“ hat, der „Bewilligung“ bedarf,
wie im öſterreichiſchen Vereinsgeſetz von 1852, oder daß man in den
entgegengeſetzten Fehler verfällt, und den Grundſatz aufſtellt: „Die
Deutſchen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieſes Recht ſoll durch
keine vorbeugende Maßregel beſchränkt werden“ (Reichsverfaſ-
ſung
von 1849; ebenſo Oldenburg. Verfaſſung 1852 §. 51 und
andere; ZöpflII. §. 294), was natürlich vollſtändig unausführbar
iſt; man denke nur an Aktienvereine. Es nützt auch nicht viel, wenn
man hinzuſetzt: „die den Strafgeſetzen nicht zuwider laufen“ (Preußiſche
Verfaſſung 1850, §. 90), oder „der Sittlichkeit“ (wie Coburg 1852,
§. 49), wie der Begriff der Aktie zeigt. Noch weniger, wenn man die
Sache ganz umgeht, wie das Handelsgeſetzbuch auf ſeiner Grundlage
gethan. Hier liegt offenbar eine nicht gelöste Frage.


Dieſelbe hat nun zu vielem und natürlich ſehr lebhaftem Streit
über die ſogenannte Staatsgenehmigung der Vereine Anlaß gegeben.
Wir laſſen uns auf dieſen Streit darum nicht ein, weil wir ihn in der
Weiſe, wie er geführt wird, für einen durchaus ergebnißloſen halten
müſſen. Und den Grund dieſer Behauptung wird man ſogleich ſehen.


Wir müſſen nämlich unſererſeits von der Ueberzeugung ausgehen,
daß man, ehe man ſich über Werth oder Unwerth der Genehmigung
äußert, vor allen Dingen über den Inhalt des Begriffs des öffentlichen
Verfaſſungsrechts des Vereinsweſens einig ſein muß. Um das zu können,
muß man aber allerdings davon ausgehen, daß der Verein ſelbſt nur
ein Stadium oder eine ganz beſtimmte Form innerhalb des allgemeinen
Begriffs der Vereinigung iſt, und man wird zugeben, daß alle Un-
klarheit daher kommt, weil man beſtändig alle dieſe Formen als
gleichbedeutend anſieht, während ſie, ſelbſt weſentlich verſchieden,
auch ein ganz weſentlich verſchiedenes Recht für ſich erzeugen;
das Vereinsrecht iſt daher ſelbſt nur ein ganz beſtimmter Theil dieſes
[620] Rechts, und jede Verwechslung des einen mit dem andern kann nur
zur Ergebnißloſigkeit führen.


Wir werden nun dadurch gezwungen, das ganze Syſtem des Ver-
einigungsrechts
aufzuführen, um das Vereinsrecht klar zu machen.


Die Formen der Vereinigung ſind: die Vereinigung überhaupt, der
Vertrag, die Geſellſchaft, der Verein, die juriſtiſche Perſönlichkeit.


Die Vereinigung an ſich hat gar kein Recht; ſie iſt abſolut
frei. Der Vertrag ſteht unter dem (bürgerlichen) Privatrecht. Die
Geſellſchaft ſteht unter dem bürgerlichen Verwaltungsrecht (Handels-
recht). Der Verein ſteht unter dem Recht der vollziehenden Gewalt, als
Organ derſelben. Die juriſtiſche Perſönlichkeit ſteht unter dem
Recht der Geſetzgebung, als höchſtem Willen des perſönlichen Daſeins.


Daraus folgt, daß die Vereinigung Einzelner an ſich vorhanden
iſt durch die bloße Thatſache der Uebereinſtimmung des Willens der
Einzelnen; der Vertrag gilt durch den (proceſſualen) Beweis; die Ge-
ſellſchaft durch die, vom Handelsrecht vorgeſchriebene Form ihrer Bil-
dung; der Verein durch Genehmigung; die juriſtiſche Perſönlichkeit
durch geſetzliche Anerkennung.


Es leuchtet ein, daß dieß durchaus verſchiedene Verhältniſſe ſind,
und zwar ſpeziell in Beziehung auf den Antheil, den das Recht, und
namentlich das Recht der Regierung daran hat. Mit dem Vertrag
als Form der Vereinigung hat ſie gar nichts zu thun; bei der Geſell-
ſchaft hat ſie nur zu ſorgen, daß ſie die verwaltungsrechtlichen Formen
ihrer Bildung beobachte; bei dem Vereine muß ſie ſelbſtthätig die Ge-
nehmigung geben und kann ſie daher auch verweigern; die Bildung der
juriſtiſchen Perſönlichkeit muß ſie dem Geſetz überlaſſen.


Denkt man ſich nun einen Zuſtand, in welchem alle dieſe Unter-
ſcheidungen wegfallen, und man mit dem Ausdruck „Verein“ ſowohl
Geſellſchaft als Verein und juriſtiſche Perſönlichkeit bezeichnet, und dann
fragt, ob „Genehmigung“ immer gut, nothwendig, oder ein Zeichen
freier Verwaltung ſei, — was muß die Folge ſein? Ohne Zweifel eine
allgemeine Verwirrung der Begriffe und eine abſolut endloſe Diskuſſion
über dieſe Genehmigung, ihren Werth oder Unwerth — eben weil ſie
ſelbſt wieder drei ganz verſchiedene Akte für drei ganz verſchiedene Dinge
bezeichnet.


Wir glauben nun ſagen zu müſſen, daß ſich ſowohl die Geſetz-
gebung als die Literatur mehr oder weniger in dieſer Verwirrung be-
finden. Wir ſtellen deßhalb jetzt als Grundlage des Vereinsrechts den
einfachen Satz auf: das öffentliche Recht des Vereins hat natürlich mit
der Vereinigung im Allgemeinen und mit dem Vertrage, aber auch mit
der Geſellſchaft gar nichts zu thun, und eben ſo wenig mit der juriſtiſchen
[621] Perſönlichkeit, ſondern enthält die Beſtimmungen, unter welchen die
Genehmigung der Vereine von Seiten der Regierung ge-
geben wird
. Dieſe Beſtimmungen bilden das Recht der Genehmigung,
und der Inhalt dieſes Rechts, ſowie ſein Unterſchied von dem Rechte
der Geſellſchaften und der juriſtiſchen Perſönlichkeit, wird demgemäß von
dem Begriffe und Weſen dieſe Genehmigung bedingt werden.


Wir wollen verſuchen, dieß darzulegen.


b) Das Recht der Genehmigung. England, Frankreich, Deutſchland.

Das Recht der Genehmigung geht nur aus dem Weſen deſſelben her-
vor, welches ſeinerſeits auf dem Weſen des Vereins beruht. Die Genehmi-
gung iſt nämlich die Anerkennung einer Vereinigung als eines Organes
der freien Selbſtverwaltung für einen beſtimmten Zweck der Verwaltung.
Daß ſie damit nothwendig iſt für für den letzteren, iſt klar; ein Verein
ohne eine Genehmigung iſt aber ſo wenig denkbar, als etwa eine Ge-
meinde ohne Anerkennung. Sie enthält nämlich die dreifache Erklä-
rung, daß erſtlich der Zweck des Vereins in Harmonie ſteht mit den
Aufgaben des Staats, daß zweitens die innere Ordnung des Vereins
nicht in Widerſpruch ſteht mit dem Rechte der Staatsbürger, und
drittens daß die im Vereinsvertrage liegenden Thätigkeiten nicht in
Widerſpruch ſtehen mit den Forderungen der Verwaltung.


Es ergibt ſich aus dieſem Inhalt der Genehmigung die Erledigung
der Hauptfrage, welche bei dem Vereinsweſen ſtets aufgeworfen wird,
der Frage nach dem Verhältniß derſelben zur bürgerlichen Freiheit, und
der Meinung, als ſtehe dieß Recht der Genehmigung mit der letzteren
in Widerſpruch.


Jede Genehmigung, mag ſie in was immer für einer Form auf-
treten (ſ. unten), iſt rein negativ; das iſt, ſie iſt nicht die Erlaubniß,
neue Vereine bilden zu dürfen, ſondern die Erklärung, daß das innere
Recht des Vereins mit dem öffentlichen Recht nicht in Widerſpruch
ſtehe. Die Staatsbürger empfangen daher nicht etwa erſt durch die
Regierung das Recht, Vereine zu bilden, was allerdings eine ent-
ſchiedene Begränzung des ſtaatsbürgerlichen Rechts wäre, ſondern ſie
haben nur für den Verein, den ſie bilden, jene Erklärung zu erwarten,
um denſelben ins Leben treten zu laſſen. Dieſe Genehmigung iſt ferner
wie geſagt weder für Vereinigungen, noch Verträge, noch für die Bildung
von Geſellſchaften nothwendig, ſondern tritt erſt ein, wo ein öffentlicher
Zweck der Vereinigung eintritt. Das Recht auf Bildungen von Geſell-
ſchaften unterliegt daher der Erlaubniß und Genehmigung überhaupt
nicht; hier iſt die völligſte Freiheit ohnehin gegeben. Nur wenn man
[622] den Fehler begeht, die Geſellſchaften als Vereine zu bezeichnen, wird
das Recht der Geſellſchaftsbildung unfrei; und eben deßhalb iſt der
obige Unterſchied von ſo großer Wichtigkeit. Nur dann, wenn eine Ge-
ſellſchaft auf Aktien gegründet wird, entſteht auch für ſie der Begriff
und das Recht der Genehmigung. Aber es iſt der Unterſchied zwiſchen
einer Aktiengeſellſchaft und einem Verein auch hier durchgreifend. Bei
einer Aktiengeſellſchaft muß man nämlich davon ausgehen, daß der
Zweck der Geſellſchaft überhaupt keiner Genehmigung unterliegt, ſondern
nur das Mittel, ſie zu Stande zu bringen, oder die Ausgabe von
Aktien. Dieſe Unterſcheidung iſt praktiſch von großer Wichtigkeit;
denn die Negierung kann eine ſolche Geſellſchaft in dem Falle nicht
mehr hindern
, wo ſie etwa ihre Aktien aufgeben, und an deren
Stelle Antheilsurkunden ausgeben, oder ſich als franzöſiſche Commandite
conſtituiren wollte; denn über den Zweck hat ſie kein Genehmigungs-
recht. Dieß iſt auch das franzöſiſche Recht, das durch das Handels-
geſetzbuch im Grunde, wenn auch nicht in der Form anerkannt iſt.
Die Anerkennung der Qualität der juriſtiſchen Perſönlichkeit liegt über-
haupt nicht im Begriff der Genehmigung, ſondern des Geſetzes. Es
iſt daher ein Widerſpruch zwiſchen der Freiheit der Vereinigung und
dem Rechte der Vereinsbildung nicht vorhanden, ſo wie man beide
auf ihr richtiges Maß zurückführt. Das Recht der Genehmigung aber
iſt demnach dasjenige Rechtsverhältniß, nach welchem vermöge der-
ſelben die Abſicht, den beſtimmten Verein zu bilden, als nach dem be-
ſtehenden öffentlichen Recht zuläſſig erklärt, und damit Bildung und
Thätigkeit des Vereins von da an nur von dem Willen ſeiner Mit-
glieder abhängig gemacht wird.


Da nun aber dieſe Thätigkeit des Vereins abhängig iſt eben von
dem objektiv formulirten Vereinsvertrag oder den Statuten, ſo iſt es
klar, daß jene Genehmigung die Statuten zu ihrem Inhalt hat, und
daher nothwendig eben als Erklärung über die Statuten,
alſo das Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht des Vereins erſcheinen
muß. Dieſe Nothwendigkeit nun iſt es, welche die Formen der Ge-
nehmigung erzeugt; denn in der That enthalten ja die Statuten für
den Staat die Bedingungen, unter welchen die Thätigkeit des Vereins
als Theil der Verwaltung angeſehen werden kann. Jene Formen aber
ſind zweifach.


Der Staat kann nämlich geſetzlich diejenigen Punkte bezeichnen,
welche er als abſolut nothwendige Bedingungen für das richtige Ver-
hältniß der Vereine zur Verwaltung, und mithin als allgemeine Be-
dingung für die Genehmigung der Vereine anerkennt. Er kann aber
zweitens das nicht thun, ſondern ſich bei jedem einzelnen Verein vor-
[623] behalten darüber zu entſcheiden, ob die Bedingungen in ſeinen Statuten
vorhanden ſind oder nicht. Er kann endlich drittens dieſe Bedingungen
für gewiſſe Arten von Vereine vorſchreiben, für andere nicht, in welchem
Falle er ſich für alle übrigen Vereine die Genehmigung frei vorbehält.
Es iſt natürlich, daß in dieſen Punkten eigentlich das Verhältniß zwiſchen
Regierung und Vereinsweſen entſchieden wird. Und hier erſcheinen nun
jene drei Verhältniſſe in den drei großen Ländern als Grundlage ihres
Vereinsrechts.


In England gab es urſprünglich kein ſolches Geſetz über die
allgemein nothwendigen Bedingungen der Bildung eines Vereins, ſondern
jedes Statut ward ein ſelbſtändiger Gegenſtand der geſetzgebenden Ge-
walt. Dadurch entſtand nun wieder eine Verwirrung, indem das Parla-
ment bei Bewilligung der Statuten theils als verordnende, theils als
geſetzgebende Gewalt handelte, und die Genehmigung der Statuten
daher zugleich den Charakter der Anerkennung als „Corporation“, das
iſt als juriſtiſche Perſönlichkeit, und der bloßen adminiſtrativen Genehmi-
gung hat, wodurch der Unterſchied zwiſchen Verein und juriſtiſcher Per-
ſönlichkeit verſchwand, und die Genehmigung nur die geſetzliche und ad-
miniſtrative Anerkennung derjenigen Rechte ward, welche in den Statuten
ſelbſt enthalten ſind. Dieß war ein ſehr einfacher Grundſatz. Allein
die Erfahrung hat bald gelehrt, daß derſelbe nicht ausreicht. Und wieder
iſt es die Aktie, durch welche in das einfache engliſche Rechtsprincip die
Entwicklung hineingekommen iſt. Die Mannichfaltigkeit und die Größe
der auf Aktien gebauten Geſellſchaften und Vereine haben es nämlich
nothwendig gemacht, durch eine gewiſſe Gleichartigkeit des innern Rechts
der Verfaſſung und Verwaltung dieſer Vereinigungen dem Aktienweſen
eine feſte Baſis zu geben. Die engliſche Vereinsgeſetzgebung iſt, bei
dem außerordentlichen Aufſchwung, den gerade in England das Aktien-
weſen genommen, daher ſchon ſeit mehreren Jahren in einer beſtändigen
Bewegung, in der man das entſchiedene Beſtreben hervortreten ſieht,
das Vereinsweſen, ſo weit es volkswirthſchaftliche Intereſſen betrifft,
der ſtaatlichen Aufſicht wo möglich im vollſten Umfange zu unterwerfen.
Die engliſche Vereinsgeſetzgebung iſt deßhalb vorzugsweiſe eine Geſetz-
gebung über Geſellſchaften
; das politiſche und adminiſtrative
Element hat mit derſelben gar nichts zu thun, ſondern es handelt ſich
beinahe ausſchließlich um die Sicherung des Publikums gegenüber den
Erwerbsgeſellſchaften im Allgemeinen und den Aktiengeſellſchaften im
Beſondern, weßhalb man nicht ohne Grund ſagen kann, daß es eigent-
lich gar keine Vereinsgeſetzgebung in England gibt, obgleich formell die
Geſetzgebung gar keinen Unterſchied macht. Den erſten Anlauf zu einer
ſolchen allgemeinen Geſetzgebung nahm das Geſetz vom 5. September
[624] 1844; nach ihr folgten die Joint Stock Companies Acts von 1856—57.
S. Güterbogk, die engliſche Aktiengeſetzgebung von 1856 und 57,
vorzüglich aber C. Schwebemayer, das Aktien-, Geſellſchafts-, Bank-
und Verſicherungsweſen in England. Berlin 1857. S. 78 die Ueber-
ſetzung der Akte von 1844; über die Bankgeſellſchaften iſt die Arbeit
vortrefflich; die Bank Charter Act vom 19. Juli 1844 ib. S. 93.
Die Joint Stock Companies Acts vom 14. Juli 1856 im Auszuge
S. 20 ff. In neueſter Zeit iſt die ganze Geſetzgebung wieder in der
Akte vom 7. Auguſt 1862 (25. 26. Vict. c. 89) in einer ausführlichen
Codification zuſammengefaßt. Dieſe Akte unterſcheidet ſich von den
Beſtimmungen des deutſchen Handelsgeſetzbuches weſentlich dadurch, daß
ſie die Gründung aller Geſellſchaften von mehr als 20 Perſonen
„zum Betriebe irgend eines Geſchäfts“ von der Regiſtrirung abhängig
macht und ſehr ſtrenge Polizeimaßregeln einführt. Die ganze Akte be-
ſteht aus 9 Theilen. Der dritte handelt „von der Geſchäftsführung
und Verwaltung der Geſellſchaften und Vereine.“ Die Akte ſchreibt
vor, daß jede ſich bildende Geſellſchaft eine Eingabe (Memorandum)
über Zweck, Mittel und Mitglieder machen muß (I. 10), ihre Statuten
müſſen gedruckt werden und werden amtlich aufbewahrt (I. 16. 17),
jede Geſellſchaft muß ein Mitgliederregiſter haben, welches in ihrem
Bureau aufliegt, und kann (gegen 1 Shill.) auch von jedem Nichtmit-
gliede täglich eingeſehen werden (I. 32). Das ganze Geſetz iſt offenbar
nicht gegen das Vereins- und Geſellſchaftsweſen, ſondern gegen den
Aktienſchwindel aufgeſtellt, und dabei viel ſtrenger, als irgend ein
deutſches, ſelbſt als das preußiſche, geſchweige denn das ſehr nach-
ſichtige, ja geradezu unvollkommene Handelsgeſetzbuch. Auerbach
(Geſetzweſen §. 74) hat die Sache gerade in dieſer Beziehung ſehr leicht
genommen.


In Frankreich gibt es gleichfalls kein allgemeines Geſetz wie in
Deutſchland. Das Genehmigungsrecht zerfällt hier zunächſt in zwei
große Theile. Der erſte Theil bezieht ſich auf die Aktiengeſellſchaften,
und iſt als das Recht der Société anonyme im Code de commerce
enthalten; der zweite Theil umfaßt dagegen die eigentlichen Vereine.
Für dieſe nun muß man, dem ganzen Geiſte der franzöſiſchen Geſetz-
gebung entſprechend, zwei Arten der Genehmigung unterſcheiden, die
erſte dieſer Arten können wir die polizeiliche nennen, die zweite iſt
die adminiſtrative. Die polizeiliche Genehmigung iſt nicht etwa aus
dem adminiſtrativen Geſichtspunkte hervorgegangen, ſondern ſieht in
jedem Verein eine Macht, welche als eine politiſche auftritt und auf-
treten kann. Daraus iſt der allgemeine Grundſatz hervorgegangen, daß
jede Vereinigung überhaupt von zwanzig Perſonen, die regelmäßig
[625] zu irgend einem Zweck zuſammenkommen, „dont le but sera de se
réunir tous les jours ou certains jours marqués pour s’occuper
d’objets religieux, politiques ou autres,
nur unter denjenigen Be-
dingungen beſtehen ſoll, welche die Regierung paſſend findet — „ne
pourra se former qu’avec l’agrément de gouvernement et sous les
conditions qu’il plaira à l’autorité publique d’imposer à la société.“
Code pénal, Art.
291. Damit iſt allerdings nicht bloß das Princip
der Genehmigung, ſondern auch die volle Freiheit der Verwaltung, die
Bedingungen des Vereins in Verfaſſung und Verwaltung feſtzuſtellen,
gegeben; hier iſt daher, ganz im Geiſte des franzöſiſchen droit admini-
stratif,
die ſtaatsbürgerliche Freiheit dem Rechte der Regierung geopfert,
und zwar nicht bloß für Vereine, ſondern auch für jede Geſellſchaft
und Vereinigung. Frankreich hat damit die Genehmigung von den
Vereinen auf die Vereinigungen ausgedehnt, und ſie zum Princip des
öffentlichen Rechts derſelben gemacht. Innerhalb dieſes allgemeinen
Princips haben nur gewiſſe Gruppen der Vereine wieder ihr eigenen
Geſetzgebungen über die Bedingungen, unter denen jene Autoriſation
gewährt werden kann; namentlich die Congrégations, die Sociétés des
secours mutuels,
die Banken und andere, welche dann unter das be-
ſondere Vereinsrecht fallen. Auch hier iſt daher das Recht der Geneh-
migung ein ſelbſtändiges.


Zwiſchen England und Frankreich ſteht nun die Vereinsrechtsbil-
dung Deutſchlands im Allgemeinen, und ſpeziell das Genehmigungs-
recht. Obwohl hier zuerſt wieder die Verſchiedenheit auch dieſes Rechts
in den einzelnen Staaten uns entgegentritt, ſo daß es eines eigenen
Studiums bedarf, um es auch nur kennen zu lernen, ſo ſehen wir
dennoch eine gewiſſe Gleichartigkeit in Auffaſſung und Durchführung
hervortreten, ſtark genug bezeichnet, um den charakteriſtiſchen Unterſchied
von England ſowohl wie von Frankreich hervorheben zu können.


Man kann nämlich ſagen, daß wir nur in Deutſchland ein eigenes
Genehmigungsrecht der Vereine beſitzen, in dem Sinne, daß die Be-
dingungen in Verfaſſung und Verwaltung der Vereine, welche als Vor-
ausſetzungen der Genehmigung gefordert werden, und andererſeits die
Formen, in welchen um die Genehmigung eingeſchritten werden muß,
geſetzlich beſtimmt ſind. Es iſt dadurch ein förmliches Syſtem des Ge-
nehmigungsrechts möglich geworden, das, wenn auch höchſt unvollſtändig,
doch die Keime weiterer Entwicklung in ſich trägt, und es iſt nur zu
wünſchen, daß die Wiſſenſchaft ſich der Sache in etwas eingehenderer
Weiſe annehme, als dieß bisher geſchehen iſt.


Die allgemeine Grundlage iſt, daß nur in der deutſchen Geſetz-
gebung zunächſt zwiſchen dem Geſellſchafts- und dem Vereinsweſen unter-
Stein, die Verwaltungslehre. I. 40
[626] ſchieden wird. Die Quelle des Rechts der erſteren iſt jetzt das deutſche
Handelsgeſetzbuch, die Quelle des letzteren ſind die Vereinsgeſetze im engern
Sinne, die aber freilich in vielen Staaten noch fehlen. Neben dieſen
beiden Hauptgruppen ſteht nun die dritte, die beſondern Geſellſchafts-
und Vereinsrechte, die wie in Frankreich theils eigene Geſellſchaftsgeſetze
haben, wie die Eiſenbahnen, theils auf eigenen, den Charakter von Ge-
ſetzen annehmenden Statuten beruhen, wie die Banken, theils aber ſich
nur auf Aktiengeſellſchaften als ſolche beziehen. In einigen Staaten
ſind dieſe Geſetze geſchieden, wie in Preußen (Geſetz für Eiſenbahn-
unternehmungen
vom 3. November 1838, für Aktiengeſell-
ſchaften
vom 9. November 1843). Namentlich das Geſetz über Aktien-
geſellſchaften iſt mit der oben citirten engliſchen Geſetzgebung gar nicht
zu vergleichen; die Beſtimmungen deſſelben ſind höchſt einfach; von einem
Eingehen auf die Natur der Aktien, auf die Elemente der Organiſation
(ſtatt deſſen ſagt Art. 19 einfach, daß „die Geſchäfte der Geſellſchaft
von einem nach Vorſchrift des Statuts beſtellten Vorſtand verwaltet
werden müſſen“) und den übrigen Punkten iſt gar keine Rede; man
ſieht, daß dieſe ganze Geſetzgebung nur ein erſter Anfang iſt. Der
Unterſchied von Geſellſchaft und Verein exiſtirt hier nicht; natürlich iſt
die landesherrliche Genehmigung, jedoch eben nur für Aktiengeſellſchaften,
vorbehalten. In andern Staaten ſind eigene Vereinsgeſetze, wie in
Bayern, Baden u. a., in einigen ſind die verſchiedenen Elemente zu-
ſammengefaßt in Ein Geſetz, wie in Oeſterreich (Vereinsgeſetz von 1852).
Nach dieſen Grundlagen hat auch die Genehmigung ihr beſonderes Recht,
und man kann hier ein allgemeines Genehmigungsrecht neben dem
beſondern, das ſich namentlich auf Eiſenbahnen und Aktien bezieht,
aufſtellen.


Das allgemeine Genehmigungsrecht hat nur zwei Hauptformen, die
aber im Grunde nur in Einem Punkte differiren. Dieſer Punkt beſteht
in der Beantwortung der Frage, ob für einen Verein eine formelle
Genehmigung nothwendig iſt, um als Verein auftreten zu können, oder
ob die Genehmigung angenommen wird, wenn ſie nicht verweigert wird,
alſo ob die Anzeige genügt, und der Regierung überlaſſen bleibt, ein
Verbot auszuſprechen, wenn ſie es für begründet hält. Man kann
demnach das Anzeigerecht von dem eigentlichen Genehmigungs-
recht
unterſcheiden. Demgemäß kann man im deutſchen Vereinsrecht
zwei Arten von Vereinen unterſcheiden, die in dieſer Weiſe weder in
England noch in Frankreich vorkommen, die freieren Vereine, bei
denen die Anzeige genügt, und die Regierung ſich im Weitern ſelbſt
um den Gang des Vereins zu kümmern hat, und die genehmigten
Vereine
, bei welchen der Verein als Vorausſetzung ſeiner Exiſtenz
[627] gewiſſe Bedingungen in ſeinem Vertrage, den Statuten, erfüllen muß,
ehe er ins Leben treten darf. Dieſe Verhältniſſe und Rechte beider Arten
variiren jedoch bedeutend in den einzelnen Staaten.


Das Anzeigerecht enthält nur die Verpflichtung zur Anzeige des
gebildeten Vereins, und zwar von Gründung, Vorſtand und Satzungen;
meiſtens binnen drei Tagen. Etwas unverſtändlich iſt dabei die Frage,
ob ein Verein Satzungen oder Statuten haben ſolle, oder nicht. Es
ſcheint ein unlösbarer Widerſpruch, einen Verein ohne alle Statuten
zu denken, wie Pötzl (bayeriſche Verfaſſung §. 29. n. 12) anzunehmen
ſcheint. Mit Recht ſagt Rönne (preußiſches Staatsrecht I. §. 100.
n. 7. Seite 396), daß jeder Verein nach dem preußiſchen Recht ver-
pflichtet
ſei, Statuten zu haben. Wenn der letztere hinzuſetzt: für
Vereine „welche eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten be-
zwecken,“ ſo iſt das ſelbſtverſtändlich, denn ſonſt iſt es eben nur eine
Geſellſchaft oder eine Vereinigung.


Die Pflicht des Vereins, auch die Vornahme einzelner Akte, nament-
lich die Sitzungen des Verwaltungsrathes und der Generalverſammlung
anzuzeigen, gehört in den zweiten Theil.


Die Folge der bloßen Anzeige iſt nun keine andere als die, der
Staatsverwaltung die Möglichkeit zu geben, das Ihrige zu thun. So
wie ſie geſchehen, tritt die regelmäßige Thätigkeit des Vereins ein, und
es bleibt der erſteren überlaſſen, gegen die letztere einzuſchreiten, wenn
ſie mit dem Geſetze oder dem Verwaltungsrecht in Widerſpruch tritt.
Nur muß dabei ein Grundſatz feſtgehalten werden. Jeder Verein muß
im Stande ſein, zu jeder Zeit in einer oder anderer Weiſe alle ſeine
Mitglieder
nachweiſen zu können, da die Verfolgung des Rechts
gegen den Verein dieß zur Vorausſetzung hat. Hat der Verein ſelbſt
kein Mittel dazu, ſo muß er ſich gefallen laſſen, daß ihm die Staats-
verwaltung daſſelbe vorſchreibt; und dabei kann die letztere, aber nach
dem in ihrem polizeilichen Recht liegenden Ermeſſen, ſich mit der per-
ſönlich dokumentirten Erklärung der ihr bekannten Mitglieder, für die
übrigen und ihre etwaigen Verpflichtungen haften zu wollen, begnügen
laſſen; ſie kann es aber auch nicht, und in dieſem Falle hat ſie das
Recht, die Thätigkeit des Vereins bis zu dem gelieferten Nachweis zu
ſuſpendiren. Das iſt offenbar auch der Sinn der Bemerkungen bei
RönneI. §. 100.


An dieſes an ſich vollkommen freie Princip der Anzeige ſchließt
ſich aber ſogleich als Corollar das Syſtem der Genehmigung an. Und
zwar bedeutet dieſe eigentliche Genehmigung den Grundſatz, daß die
Gültigkeit der Statuten und damit die Exiſtenz des Vereins ſelbſt
bei gewiſſen Gruppen von Vereinen davon abhängig gemacht wird, daß
[628] dieſelben diejenigen Grundſätze enthalten, welche die Regierung als orga-
niſche Bedingungen der Vereinsthätigkeit anerkennt. Der Grund dieſer,
die volle Freiheit der Vereinsbildung allerdings beſchränkenden Grund-
ſätze liegt in dem oben bereits bezeichneten Weſen der Vereine, mit dem
ſie tief und oft faſt unwiderſtehlich — man denke nur an Banken und
Eiſenbahnen — in das Leben des Staats und der Einzelnen hinein-
greifen. Die einzelnen Geſetzgebungen haben deßhalb Verſuche gemacht,
dieß Syſtem der Genehmigungen neben dem der bloßen Anzeige möglichſt
beſtimmt zu formuliren. Hier nun iſt das Syſtem des geltenden Rechts
ein verſchiedenes. In Preußen ſteht allerdings der Grundſatz für
Aktiengeſellſchaften feſt, im Uebrigen aber iſt es bis jetzt zu keinem Ver-
einsgeſetze gekommen, wie der Art. 30 der Verfaſſungsurkunde es in
Ausſicht geſtellt hat. (Rönne a. a. O.) In Bayern iſt im Vereins-
geſetze von 1850 der Grundſatz aufgenommen, daß die Geſellſchaften
mit Aktien und Verkehrsvereine denjenigen Beſtimmungen der Genehmi-
gung unterworfen ſein ſollen, welche künftige Geſetze darüber aufſtellen
werden. (Pötzl, Verfaſſung a. a. O.) In Oeſterreich dagegen iſt das
Anzeigerecht ganz in das Genehmigungsrecht aufgegangen, und jeder
Verein nur unter Genehmigung zugelaſſen, während die Bedingungen
dieſer Genehmigung als Inhalt der Statuten ſpeziell aufgeführt werden.
(Vereinsgeſetz vom 26. November 1852.) Dieſes Princip kann nur als
Uebergangsſtadium betrachtet werden, wie das ganze Geſetz, das in §. 3
die Bildung von Vereinen „welche ſich Zwecke vorſetzen, die in den Be-
reich der Geſetzgebung oder der öffentlichen Verwaltung fallen,“ unter-
ſagt, wobei offenbar politiſche Vereine gedacht ſind. Eben ſo iſt die
Bezeichnung, daß für alle Vereine, „die nach einer Geſellſchaftsregel
in der Art eingegangen werden, daß der Eintritt in den Verein ohne
Beſchränkung auf die urſprünglichen Theilnehmer Jedermann geſtattet
iſt,“ die Genehmigung nothwendig wird, eben ſo unklar, als die Be-
ſtimmung des §. 2, wornach beſondere Vereine für öffentliche Zwecke
„insbeſondere“ eine Bewilligung brauchen. (Stubenrauch, öſter-
reichiſche Verwaltungsgeſetzkunde 3. Auflage, §. 188.) Im Uebrigen
zeichnet ſich das öſterreichiſche Vereinsgeſetz durch genaue Angabe der Formen
aus, unter denen die Genehmigung eingeholt werden muß, namentlich
durch genaue Bezeichnung deſſen, was als Inhalt der Statuten ange-
geben ſein muß, um dieſe Bewilligung zu erhalten (§. 9). Den Unter-
ſchied zwiſchen politiſchen und nicht politiſchen Vereinen braucht damit
die öſterreichiſche Geſetzgebung ſo wenig, wie die franzöſiſche. Die badiſche
Geſetzgebung ſteht dagegen auf dem Standpunkt der bayeriſchen, indem
ſie zugleich den Bundesbeſchluß vom 13. Juli 1854 über Arbeiterver-
eine mit ſocialen und politiſchen Tendenzen als Verbindungen erklärt
[629] und verbietet (Verordnung vom 20. Januar 1855), wogegen das Ver-
einsgeſetz vom 14. Februar 1851 die übrigen nicht verbotenen Vereine
ſelbſt jeder Genehmigung entzieht, und ſie nur zur Anzeige verpflichtet,
binnen drei Tagen, wenn ſie Vorſteher und Satzungen haben. Jedoch
hat Art. 25 davon, ebenſo wie in Bayern, die Klaſſe der zu geneh-
migenden Vereine wieder ausgenommen, ſo daß auch hier der Unter-
ſchied zwiſchen den freien und genehmigten Vereinen, wie ihn die Natur
der Sache fordert, wieder erſcheint. Ganz ähnlich iſt es in Württem-
berg
(Mohl, Verfaſſungsrecht 374). Es iſt kein Zweifel, daß auch
Oeſterreich zu dieſem Syſteme übergehen wird. Wenn Auerbach (Geſetz-
weſen §. 73. 74.) ſich ſo entſchieden gegen das Princip der Genehmigung
erklärt, nach dem Vorgange mehrerer, wie Jolly und Treitſchke, ſo
glauben wir, daß dieſer Auffaſſung wohl nur der Mangel an Unter-
ſcheidung zwiſchen genehmigten und freien Vereinen zum Grunde liegt,
da er von der Genehmigung als allgemeinem Princip ſpricht; vielleicht
auch die Vorſtellung, daß die Genehmigung irgend eine Art von Zu-
ſtimmung oder Billigung enthalte, während ſie in der That nur die
Erklärung ſein ſoll, daß die Vereinsſtatuten formell dem Staate und
dem Publikum die gehörige Sicherheit bieten; gewiß aber die Unklarheit
über Begriff und Inhalt der juriſtiſchen Perſönlichkeit, von der wir gleich
reden werden. (Siehe namentlich S. 298.) Es wäre, bei der innigen Be-
rührung, in welcher das ſtaatliche und volkswirthſchaftliche Leben Deutſch-
lands ſteht, gewiß ſehr nahe liegend, nicht bloß deutſche Vereinsverbote,
ſondern auch einmal eine deutſche Vereinsgeſetzgebung zu beſitzen!


c) Die juriſtiſche Perſönlichkeit als Moment des Vereinsweſens.

Blickt man nunmehr zurück auf den Begriff des Vereins und das
Weſen der Genehmigung, ſo muß man allerdings fragen, ob ein ſolcher
genehmigter Verein nicht zugleich eine juriſtiſche Perſönlichkeit ſei, und
ob alſo die Genehmigung ihm nicht den Charakter und das Recht der
letzteren gebe. Eigentlich muß man ſagen, daß ſich die Theorie über
dieſe Frage nicht ausgeſprochen hat, indem ſie zwar viele Unterſuchungen
über die erſtere, aber ſehr wenige über die letztere bietet. Eben ſo ſind
die Geſetze im höchſten Grade unklar und verſchieden, die Sache ſelbſt
erſcheint aber wohl zweifelhaft; denn wenn die Genehmigung keine Er-
laubniß ſondern nur eine Anerkennung der Harmonie der betreffenden
Beſtimmungen der Statuten und des Verwaltungsrechts iſt, ſo wird
ſie auch kein eigenes Recht verleihen, und mithin keine juriſtiſche Per-
ſönlichkeit creiren können, während andererſeits das Weſen des Vereins
ohne allen Zweifel ein ſelbſtändig organiſirtes Leben der Gemeinſchaft
[630] der Vereinsglieder ſchafft, dem man die Natur, die Funktion und das
Recht der Perſönlichkeit ſchwerlich abſprechen kann. Es iſt daher erklär-
lich, daß man darüber nicht klar iſt.


Offenbar nun beruht dieß darauf, daß man den Begriff der juri-
ſtiſchen Perſönlichkeit als einen innerlich gleichartigen betrachtet, und
daher, indem man den genehmigten Verein als juriſtiſche Perſönlichkeit
hinſtellt, in den Zweifel gerathen muß, ob er mit der Genehmigung
alle Rechte, welche allen Arten der juriſtiſchen Perſönlichkeit zukommen,
erwirbt, und mithin den größten Selbſtverwaltungskörpern, ja dem
Staate gleichartig wird. Daß das letztere nicht füglich denkbar iſt,
leuchtet ein. Es bleibt daher nur ein und zwar im Weſen der juriſti-
ſchen Perſönlichkeit ſelbſt liegender Ausweg. Wir müſſen der Anſicht
ſein, daß die formelle Genehmigung eines Vereins denſelben zu einer
adminiſtrativen, nicht aber zu einer ſtaatlichen juriſtiſchen Per-
ſönlichkeit mache, während die Erhebung zur ſtaatlichen Perſönlichkeit
mit dem Rechte der Theilnahme an Volksvertretung und Verwaltung
nur durch ein förmliches Geſetz erfolgen kann.


Es folgt daraus, daß die Genehmigung dem Verein alle Rechte
der juriſtiſchen Perſönlichkeit, namentlich das Recht zum Erwerb von
Immobilien und die testamenti factio gibt. Es iſt nicht füglich thun-
lich, das letztere zu bezweifeln. Nur kann man in dieſem Rechte eben
kein ſtaatliches, ſondern nur ein bürgerliches Recht ſehen. Erkennt man
dieſen Unterſchied, ſo löst ſich die Frage ſehr leicht; ohne denſelben aber
iſt es nicht möglich, zu einem Abſchluß zu gelangen. Und der Mangel
dieſer Unterſcheidung liegt auch der höchſt unfertigen Beſtimmung der
betreffenden Geſetzgebungen zum Grunde.


In England bezeichnet die Incorporation nämlich genau die Er-
hebung zur adminiſtrativen Perſönlichkeit, namentlich durch das Recht
der durch einen (adminiſtrativen) Parlamentsbeſchluß genehmigten Ver-
eine, ſich ſelbſt bye laws zu geben, und zwar mit gerichtlicher Geltung,
welche die Beſchlüſſe der freien Vereine nicht beſitzen. (Siehe Gneiſt
a. a. O.) In Frankreich hat die Macht der Verwaltung einerſeits und
die völlige Vernichtung des ſtändiſchen Princips die ſtändiſche Corpora-
tion mit ſtaatlichem Rechte überhaupt verſchwinden laſſen; damit iſt der
Begriff der juriſtiſchen Perſönlichkeit auf den der wirthſchaftlichen redu-
cirt und dadurch ganz verſchwunden. Er erhält ſich nur noch im Ge-
biete der Kirche, und findet daher auch im Gebiete des Vereinsweſens
keine Anwendung; alle Vereine ſind ſich gleich; das Recht der admini-
ſtrativen Perſönlichkeit exiſtirt hier daher nicht als Begriff, ſondern nur
noch in den einzelnen adminiſtrativen Rechten, welche mit der Auto-
riſation verliehen werden. In Deutſchland dagegen hat ſich der Begriff
[631] der ſtaatlichen juriſtiſchen Perſönlichkeit aus der ſtändiſchen Epoche in
den Selbſtverwaltungskörpern erhalten, zum Theil traditionell ohne feſten
juriſtiſchen Begriff, zum Theil in geſetzlicher Anerkennung als Corpora-
tionen, wie im preußiſchen Landrecht II. §. 25. (Siehe RönneI.
§. 100. n. 1. Seite 401), zum Theil, wie in Bayern, nur auf kirch-
liche Körper, Stiftungen und Univerſitäten beſchränkt. (Pötzl, Verfaſ-
ſungsrecht, Buch III.) Hier hatte daher allerdings die Frage eine Be-
deutung, ob die Genehmigung den Vereinen das Recht der Corporationen,
und damit das volle Recht der juriſtiſchen Perſönlichkeit gebe oder nicht.
In Preußen iſt darüber ein eigenes Geſetz in Ausſicht geſtellt, aber
bisher nicht erſchienen; in Oeſterreich, Baiern, Württemberg hat man
die Frage gar nicht berührt, ſondern wie in Frankreich die Rechte der
Genehmigung nicht auf jenen Begriff, ſondern auf die einzelnen Be-
ſtimmungen der Statuten begründet; wenn in Baden nach Dietz (die
Gewerbe im Großherzogthum Baden, S. 267) „die einfache Beſtätigung
ſchon die Verleihung der Körperſchaft in ſich ſchließt,“ ſo kann damit eben
nur die adminiſtrative Perſönlichkeit gemeint ſein. Es geht ſchon aus
dieſen kurzen Andeutungen hervor, daß ein Vereinsrecht nicht füglich
gegeben werden und unſern Vorſtellungen genügen kann, ohne zugleich
den Begriff und das Recht der juriſtiſchen Perſönlichkeit zu definiren;
es wird in dieſem Falle nicht mehr genügen, mit dem Handelsgeſetzbuch
dieſe Beſtimmungen der territorialen Geſetzgebung auf die Dauer zn
überlaſſen. Neben Auerbach a. a. O. vergleiche über dieſe und die
früheren Fragen einen nicht ganz zum Abſchluß gediehenen Aufſatz von
Schäffle, deutſche Vierteljahrſchrift 1856. Heft 4.


2) Das öffentliche Verwaltungsrecht des Bereinsweſens.
Begriff und Princip.

Das öffentliche Verwaltungsrecht des Vereins, nicht minder be-
deutſam wie das öffentliche Verfaſſungsrecht deſſelben, entſteht, indem
die Thätigkeit des Vereins als einer ſelbſtändig handelnden Perſönlichkeit
gegenüber der Perſönlichkeit des Staats und den Rechten und Pflichten
ſeiner Verwaltung gedacht wird. Daſſelbe enthält demgemäß die Ge-
ſammtheit derjenigen Grundſätze und Beſtimmungen, nach welchen jene
Thätigkeit des Vereins durch die Thätigkeit und Rechte der Staats-
verwaltung beſtimmt wird.


Der Umfang und ſogar das Daſein dieſes Rechts erſcheint nun
gleich anfangs im Widerſpruche mit dem Weſen des Vereins, in ganz
ähnlicher Weiſe wie das öffentliche Verfaſſungsrecht deſſelben. Der Ver-
ein iſt das Organ der freien Selbſtverwaltung; die Unterwerfung unter
[632] die Staatsverwaltung ſcheint ihm dieß Element der Freiheit zu nehmen;
die Natur des Vereins ſcheint daher jedem öffentlichen Verwaltungsrecht
deſſelben zu widerſprechen, und die Zukunft des Vereinsweſens in der
gänzlichen Beſeitigung deſſelben wie in der der Genehmigung zu liegen;
und ſo haben ſich auch manche die Entwicklung des Vereinsweſens der
Zukunft gedacht, als höchſten und freieſten Abſchluß der Selbſtverwaltung.


Um ſo wichtiger iſt es, hier das Princip dieſes Verwaltungs-
rechts in möglichſt beſtimmter Weiſe zu formuliren. Denn die einzelnen
Thätigkeiten deſſelben laſſen ſich theils gar nicht, theils nicht ſcharf be-
ſtimmt aufführen. Sollen ſie ihren Zweck erreichen ohne dem Weſen
des Vereins zu widerſprechen, ſo müſſen ſie von einem einfachen Princip
beherrſcht ſein. Dieß aber kann nur dann gefunden werden, wenn
man auch hier ſtatt der allgemeinen Ausdrücke wieder beſtimmte Begriffe
zum Grunde legt.


Das erſte, was hier zu thun iſt, iſt gerade in dieſem Gebiet die
ſtrenge Scheidung von Geſellſchaft und Verein. Die Geſellſchaft iſt eine
Vereinigung für einen Privatzweck und Privatintereſſen. Es iſt durch-
aus keine Sache des Staats, ſich um die Angelegenheiten des Einzelnen
direkt zu kümmern, gleichviel ob ſie als Individuen oder als Gemein-
ſchaft verfolgt werden, ob ſie günſtig oder nicht günſtig auf den Ein-
zelnen wirken. So weit es ſich daher nur um Privatthätigkeiten für
Privatzwecke handelt, gibt es gar kein öffentliches Verwaltungs-
recht
der Vereinigungen. Keine Art der Geſellſchaften ſteht an ſich
unter irgend einem andern adminiſtrativen Recht, als jeder Einzelne.
Es iſt durchaus kein Grund denkbar, weßhalb für eine Geſellſchaft
andere Grundſätze in irgend einer Weiſe gelten ſollten, als für den Ein-
zelnen, wenn er denſelben Zweck mit ſeinen eigenen Mitteln verfolgt.
Daß eine große Menge von Thätigkeiten des Einzelnen der Polizei
unterliegen, iſt gewiß; die Verwaltungslehre hat das nachzuweiſen.
Die Geſellſchaften unterſtehen genau denſelben Rechten, aber keinen
andern. Es hat daher die Verwaltung weder das Recht, eine Ober-
aufſicht auszuüben, noch auch ein Verbot einzulegen. Die Geſellſchaften
ſind frei wie das Individuum. Nur in Einem Falle gibt es hiefür
eine Ausnahme. Das iſt, wenn der Staat einer Geſellſchaft Unter-
ſtützungen verleiht. Aber in dieſem Falle iſt das Recht des Staats
ſeinerſeits nicht durch das Weſen der Geſellſchaft, ſondern durch die Natur
ſeiner Unterſtützung zur Theilnahme an der geſellſchaftlichen Verwal-
tung bedingt.


Wenn man daher unter dem Verein zugleich die Geſellſchaft ver-
ſteht, wie das bisher immer geſchieht, ſo iſt überhaupt kein Princip
für das öffentliche Verwaltungsrecht deſſelben möglich.


[633]

Denn während die Geſellſchaft von aller Theilnahme der öffent-
lichen Verwaltung frei ſein muß, iſt dieß bei dem Verein nicht möglich
und auch nicht weiſe. Der Verein hat einen öffentlichen Zweck; er iſt
daher mit ſeinem Recht und Leben ſelbſt ein Theil, ein Organ der Ver-
waltung; ſeine Aufgabe, ſeine Thätigkeit ſind der der Verwaltung analog,
ja ſie ſind oft geradezu ihre Stellvertreter. Die Harmonie zwiſchen Ver-
ein und Verwaltung iſt daher ein Element der innern Harmonie der
Verwaltung ſelbſt. Eine völlige Scheidung zwiſchen Verein und Ver-
waltung iſt daher undenkbar; mit dem Weſen und Begriff des Vereins
iſt ein öffentliches Verwaltungsrecht unmittelbar gegeben.


Nur muß auch hier wieder zwiſchen den verſchiedenen Verhältniſſen
unterſchieden werden, um zu einem einfachen Syſtem und Princip des
Verwaltungsrechts zu gelangen.


Da wo das Mittel, die wirthſchaftlichen Bedingungen der Geſell-
ſchaften oder der Vereine aufzubringen, in den Aktien gegeben iſt, wird,
ganz abgeſehen von dem Zweck, die Aktie als ſolche Gegenſtand der
adminiſtrativen Thätigkeit der Verwaltung, und es entſteht das öffent-
liche Aktienrecht
, welches wohl von dem bürgerlichen Aktienrecht zu
unterſcheiden iſt, und weder auf den Begriffen von Geſellſchaft oder
Verein, ſondern auf dem Weſen der Aktie in ihrem Verhältniß zur
wirthſchaftlichen Werthordnung beruht. Man wird daher das öffent-
liche Aktienrecht überhaupt nicht als einen Theil des Vereinsrechts,
ſondern als einen Theil des Verwaltungsrechts zu betrachten haben,
und es daher auch unter der Kategorie der Verwaltung der Werth-
ordnung darſtellen müſſen.


Da ferner, wo der Staat einem Vereine um ſeines Zwecks willen
eine Hülfe gewährt, wie bei den Garantieen der Eiſenbahnen, hat auch
im Verein der Staat einen unmittelbaren Antheil an der Verwaltung
deſſelben. Aber auch dieſer Antheil iſt kein Verwaltungsrecht des
Vereinsweſens, obgleich derſelbe unendlich viel tiefer greift, als das
letztere jemals gehen kann. Hier erſcheint in der That der Staat nicht
als Staat, ſondern als Geſellſchafter. Er hat ſpezielle, ganz fiskaliſche
Intereſſen zu vertreten und vertritt ſie. Er kann befehlen und ver-
bieten, aber er kann es nie wie ein Gebender dem Empfangenden,
nicht wie ein Höherer dem Niederen. In dem Augenblicke, wo der
Verein der Unterſtützung nicht mehr bedarf, hört auch jener Antheil an
der Verwaltung des Vereins auf. Und darum iſt er Ausdruck nicht
eines ſtaatsrechtlichen, ſondern eines privatrechtlichen Verhältniſſes.


Das öffentliche Verwaltungsrecht des Vereinsweſens hat es dagegen
nur mit dem Vereinszwecke in ſeiner Vollziehung zu thun. Und das
Princip deſſelben iſt für dieß ſein eigentliches Gebiet ein ſehr einfaches.


[634]

Indem nämlich der Verein ein Körper der freien Verwaltung
eines Staatszweckes iſt, ſo hat die Regierung dem Verein nie zu be-
fehlen, was er als Verein thun ſoll, ſondern er hat nur die Intereſſen
der Staatsverwaltung einerſeits und des Publikums andererſeits gegen
dieſe Thätigkeit da zu ſchützen, wo ſie entweder die Geſetze verletzt, oder
wo der Einzelne ſich ſelbſt gegen dieſelben nicht zu ſchützen vermag.
Die Regierung hat nicht einmal zu befehlen, daß der Verein ſeinen
Zweck erfülle — ob und wie weit er das will, iſt Sache des Vereins
ſelbſt — ſondern ſie hat nur die Aufgabe, dafür zu ſorgen, daß wenn
er ſeinen Zweck erfüllt, dieß in geſetzlicher und die Geſammtintereſſen nicht
verletzender Weiſe geſchehe. Nur wenn der Verein gegen beſondere Rechte
beſondere Verpflichtungen übernimmt, kann der Staat ihn zur Innehaltung
dieſer Verpflichtungen anhalten. Aber das Recht zum Zwange hat
er ſelbſt in dieſem Falle nur dann, wenn eine öffentliche Gefahr aus
der Nichtbeachtung hervorgehen würde. Sonſt bleibt ihm kein anderer
als ein privatrechtlicher Anſpruch gegen den Verein. Das Princip des
öffentlichen Verwaltungsrechts iſt und bleibt ein negatives. Aber als
negatives iſt es ein entſcheidender Moment im Vereinsrecht, und dieß
Recht des Staats enthält daher auch das Recht auf alle Bedingungen
und Thätigkeiten, durch welche derſelbe jene Aufgabe gegenüber dem
Vereinsweſen erfüllen kann.


Dieſe Bedingungen — die Beſtandtheile des öffentlichen Verwal-
tungsrechts — ſind folgende:


Zuerſt muß der Staat Organe beſitzen, durch welche er ſeine
Rechte ausübt.


Zweitens muß er die Thätigkeit des Vereins kennen, und damit
auch über die Vereine ein Oberaufſichtsrecht haben.


Drittens muß er das Recht haben, die Vereinsthätigkeit zu ſuſpen-
diren, zu ſchließen oder ganz zu verbieten.


Auch dieſe Rechte erſcheinen nun in den einzelnen Vereinsarten,
und ſelbſt in dem einzelnen Vereine, in oft ſehr verſchiedener Geſtalt;
aber ſie ſind immer dieſelben. Und im Grunde hat auch die ſtrengſte
Bureaukratie wohl nie mehr als dieſe Rechte über das Vereinsweſen
beanſprucht, wenn auch die Gränzen oft ſehr weit vorgeſchoben wurden.


a) Die Organe.

Die Organe, durch welche die Verwaltung ihr öffentliches Recht
in Beziehung auf die Thätigkeit der Vereine ausübt, ſind doppelter
Natur. Sie ſtehen entweder im Organismus des Vereins ſelbſt da, als
die Vereinscommiſſäre; oder ſie erſcheinen nur als die gewöhnlichen
[635] amtlichen Organe der Verwaltung, die wieder die höhere oder die
niedere, örtliche und temporäre Oberaufſicht ausüben. Funktion und
Verhältniß beider ſind weſentlich verſchieden.


1) Das Vereinscommiſſariat.

Das Vereinscommiſſariat iſt dasjenige Organ, durch welches die
Staatsverwaltung an der Thätigkeit der Organe der Vereinsvertretung
unmittelbar Theil nimmt, alſo an der Thätigkeit des Verwaltungs-
rathes. Der Vereinscommiſſär hat daher grundſätzlich keine andere
Funktion, als die Harmonie des vom Staate anerkannten Zweckes und
der vom Vereine ſelbſt geſetzten Ordnung ſeiner Thätigkeit zu ſichern.
Und daraus gehen auch die einzelnen Funktionen deſſelben hervor.


Es ergibt ſich zuerſt daraus, daß die Staatsverwaltung das Recht
hat, bei genehmigten Vereinen dem Verwaltungsrathe, wenn ſie es für
nöthig hält, einen Abgeordneten beizugeben, ohne Rückſicht darauf, ob
dieſes Recht im Vereinsvertrage oder den Statuten ausgeſprochen iſt oder
nicht. Es folgt aber zweitens, daß das Recht des Commiſſärs zwar
nicht auf eine Theilnahme an der Abſtimmung geht; jedoch muß ihm
dagegen das Recht zuſtehen, in ordnungsmäßiger Weiſe die Vereins-
organe darauf aufmerkſam zu machen, daß ſie gegen das Geſetz
handeln; ebenſo wenig iſt ihm das Recht abzuſprechen, darauf hinzu-
weiſen, wenn ſie gegen die Statuten etwas unternehmen. Das
letztere ſetzt aber eben die Genehmigung voraus; bei freien Vereinen
kann der Commiſſär nur dann jenes Recht beanſpruchen, wenn etwas
Ungeſetzliches vor ſich geht. Das Recht auf die Siſtirung der Be-
ſchlüſſe oder der wirklichen Vereinsthätigkeit hat der Commiſſär im All-
gemeinen nur dann, wenn er ausdrücklich dazu beauftragt iſt. Iſt
er das nicht, ſo iſt es Sache des Vereins, ſelbſt zu entſcheiden, ob er
ſich unmittelbar dem Ausſpruche des Commiſſärs unterwerfen, oder die
Folgen ſeines Vorgehens gegen die Erklärung des letztern auf ſich
nehmen will. Es muß aber angenommen werden, daß die amtliche
perſönliche Erklärung des Commiſſärs, er habe zur Siſtirung von Be-
ſchluß oder Thätigkeit die Vollmacht, ohne weitern Beweis für gültig
anerkannt werden muß; in dieſem Falle hat der Commiſſär die Ver-
antwortlichkeit für ſeine Behauptung perſönlich zu tragen; der Verein
aber muß ſich demſelben fügen, natürlich unbeſchadet weiterer Schritte.


Weſentlich anders geſtaltet ſich das Verhältniß, wenn die Theil-
nahme der Staatsverwaltung an der Thätigkeit der Vereinsorgane aus-
drücklich in den Statuten feſtgeſtellt iſt. In dieſem Falle muß ange-
nommen werden, daß zu jeder Verſammlung der Organe der Vereins-
vertretung der Vereinscommiſſär förmlich eingeladen werden muß, ſelbſt
[636] wenn die Statuten dieß nicht ausdrücklich beſtimmen, da ohne dieſes die
ganze Theilnahme illuſoriſch werden könnte. Es iſt ferner anzunehmer,
daß in dieſem Falle der Commiſſär das Recht der Theilnahme an der
Debatte
hat, natürlich ohne Recht zur Abſtimmung. Endlich iſt es
anzunehmen, daß allenthalben, wo es ſich um privatrechtliche Verpflich-
tungen handelt, welche vermöge der Statuten oder der Conceſſion dem
Staate durch die Vereinsvertretung erwachſen, das Stillſchweigen des
Vertreters der Staatsverwaltung nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen
als Zuſtimmung der letzteren gilt, und der Beſchluß damit auch für ſie
gültig und rechtsverbindlich wird, während dem Vertreter der Staats-
gewalt aus demſelben Grunde das Recht der Siſtirung des Beſchluſſes
unbedingt zuſteht, auch wenn er weder gegen Geſetz noch gegen Statuten
verſtößt. Das Feſthalten dieſes Standpunktes iſt von großer Wichtig-
keit für die Rechtsverhältniſſe des Vereinslebens.


2) Die adminiſtrativen Organe.

Während das Vereinscommiſſariat es demnach nur mit der Ver-
tretung der Vereine zu thun hat, unterſteht die wirkliche Thätigkeit der-
ſelben im Allgemeinen den Behörden im Weſentlichen in derſelben
Weiſe, wie die öffentliche Thätigkeit jedes Einzelnen. Es liegt in dem
oben aufgeſtellten Begriff des Vereinsverwaltungsrechts, daß es ſich
dabei nur um polizeiliche Organe handeln kann, ſoweit nicht ſpezielle
Verpflichtungen von Seiten der Geſellſchaften vorliegen. Der Regel
nach wird daher auch die örtliche Polizeibehörde für jeden einzelnen Akt
die zuſtändige ſein. Dieſer Behörde ſtehen dann alle Rechte zu, welche
im öffentlichen Verwaltungsrecht des Vereins liegen, und die wir gleich
näher angeben werden. Der Gehorſam des Vereins unterliegt denſelben
Grundſätzen, wie der der Einzelnen. Fraglich kann dabei nur Ein
Punkt werden, der nämlich, wo von Seiten der Behörden Forderungen
gemacht oder Befehle erlaſſen werden, deren Befolgung bei techniſchen
Betrieben von Seiten der techniſchen Direktion aus fachmänniſchen
Gründen beanſtandet werden. In dieſem Falle muß unterſchieden werden.
Wenn die techniſche Direktion in der behördlichen Anordnung eine un-
mittelbare Gefahr
erkennt, ſo kann ſie nicht ſchuldig erachtet werden,
dieſe Anordnung wirklich auszuführen. Doch müſſen die vollziehenden
Organe des Vereins ihre Weigerung des Gehorſams mit fachmänniſchen
Gründen belegen und für die Richtigkeit derſelben haften. Die Unmög-
lichkeit, die Abſichten der Staatsverwaltung in einem ſolchen Falle zu
vollziehen, hat alsdann die rechtliche Bedeutung eines natürlichen Hinder-
niſſes. Offenbar iſt dagegen ein bloßer Befehl der Vertretungsorgane
des Vereins, und ſelbſt ein Beſchluß der Generalverſammlung, nicht
[637] ausreichend, um die Weigerung des Gehorſams gegenüber der Behörde
zu begründen. Ebenſo wenig kann es dafür genügen, wenn eine An-
ordnung der oberaufſehenden Behörden bloß den wirthſchaftlichen Erwerb
des Vereins ins Stocken bringen würde, wie wenn einem Agenten
einer Verſicherungsgeſellſchaft ſeine Agentur ſuſpendirt, oder der Direktion
der Befehl ertheilt würde, nicht mehr nach ihren Tarifſätzen zu ver-
ſichern. Hier muß ohne Zweifel Gehorſam gefordert werden; dagegen
haftet die oberaufſehende Behörde für den daraus erwachſenden Schaden.


b) Das Oberaufſichtsrecht.

Indem wir von dem Oberaufſichtsrecht bei den Vereinen reden,
iſt es nothwendig, daſſelbe genauer zu bezeichnen. Denn es iſt, obwohl
mit dem Oberaufſichtsrechte über die Selbſtverwaltungskörper eng ver-
wandt, dennoch keineswegs mit demſelben identiſch. Der Unterſchied
aber liegt in dem Weſen der Vereine ſelbſt.


Während nämlich das Oberaufſichtsrecht bei den Selbſtverwaltungs-
körpern das Recht der Regierung bedeutet, einerſeits den erſteren als
ihren Organen etwas unmittelbar befehlen zu dürfen, während anderer-
ſeits gewiſſe Beſchlüſſe derſelben ohne die Zuſtimmung der Regierung
nicht als vollſtändig gültig angeſehen werden, iſt beides bei dem Ver-
hältniß zwiſchen Verein und Regierung nicht der Fall. Die Vereine
ſind eben darum die freieſte Form der Selbſtverwaltung, womit die Re-
gierung als oberes Organ mit ihrer Thätigkeit und ihrem Willen gar
nichts zu thun hat. Das Recht der Oberaufſicht iſt daher gegenüber
dem Verein kein anderes, als das allgemeine im Begriff der Sicher-
heitspolizei
liegende Recht der Regierung, einerſeits von den Ver-
hältniſſen des perſönlichen Lebens Kenntniß zu nehmen, andererſeits
negativ einzugreifen, wo daſſelbe der Geſammtheit gefährlich werden
könnte. Nur iſt dieß Recht bei den Vereinen ſehr viel weiter ausge-
bildet. Da die Vereine wie die Geſellſchaften eine viel größere Macht
für ihre Zwecke entwickeln als die Einzelnen, ſowohl dem Staat als
dem Publikum gegenüber, ſo muß auch jene Oberaufſicht hier eine
weitergehende ſein. Und indem dieſelbe auf dieſe Weiſe mit der Selb-
ſtändigkeit der Vereine in Gegenſatz tritt, entſteht das Recht der Ober-
aufſicht (ſ. oben S. 240 ff.).


Dieß Rech enthält demnach zwei Theile. Zuerſt das Recht auf
Kenntnißnahme von der Thätigkeit und den Zuſtänden des Vereins,
und zweitens das Recht, jene Thätigkeit nöthigenfalls polizeilich zu
verbieten. In dieſem Rechte ſtehen wieder Geſellſchaften und Vereine
in allem Weſentlichen gleich, indem ſie eben gemeinſam jenen Charakter
[638] der größern Gewalt haben, welche der Vereinigung innewohnt. Das
Oberaufſichtsrecht iſt aber dennoch kein einfaches, ſondern erſcheint in
mehreren Momenten; und dieſe müſſen für ſich dargelegt werden, weil
es natürlich iſt, daß in den Gränzen dieſes Rechts des Staats anderer-
ſeits die Freiheit und Selbſtändigkeit des Vereinsweſens gegeben iſt.


Das Recht der Kenntnißnahme oder der Ueberwachung erſcheint
nämlich in zwei Formen; der eigentlich polizeilichen Ueberwachung,
und dem Princip der Oeffentlichkeit. Das Recht des polizeilichen
Verbots zeigt uns die Modifikationen der Suſpendirung, der
Schließung und der Aufhebung des Vereins.


Der Begriff der Oberaufſicht, wie er gewöhnlich aufgefaßt wird, zeigt ſich
namentlich im Vereinsweſen als ein ganz unklarer. Man kann ſich bei der-
ſelben im Allgemeinen gar nichts Concretes vorſtellen, obgleich man das Ge-
fühl hat, daß allerdings etwas ſehr Beſtimmtes damit gemeint iſt. Das
franzöſiſche Recht hat dieſen Begriff des deutſchen überhaupt nicht, da es
die Selbſtändigkeit der Selbſtverwaltung und der Vereine nicht kennt, und die
surveillance iſt rein äußerlich polizeilicher Natur. Auch in England findet
man ihn nicht, weil hier nicht die Regierung, ſondern nur das Gericht, und
der Beamtete nur in Folge eines Rechtsſpruches einſchreiten kann. Die sur-
vey
iſt die techniſche Polizei, die natürlich auch bei Vereinen eintritt,
wo ſie techniſche Anſtalten haben, wie bei dem Einzelnen. Der Verein als
Ganzes unterliegt der Oberaufſicht an ſich nicht. Abgeſehen von den Erwerbs-
geſellſchaften, auf welche ſich die oben angeführte Geſetzgebung, ſowie das
neueſte Geſetz von 1862 bezieht, und die um des wirthſchaftlichen Intereſſes
willen genau überwacht werden — alle Joint Stock Compagnies ſtehen unter
einem eigenen registrar, der ihre Statiſtik führt — iſt in Beziehung auf
Vereine nur bei beſtimmten Arten, namentlich bei den friendly societies, eine
eigene geſetzliche Behörde (Commission) zu dem Zwecke eingeſetzt, und dieſe
übt allerdings eine ziemlich vollſtändige Oberaufſicht aus. Jedoch erſcheint dieß
wieder als ein Theil des beſonderen Vereinsrechts, und gehört damit in die
Verwaltungslehre. Nur das deutſche Vereinsrecht hat die Vereine als ſolche
geſetzlich der Oberaufſicht unterworfen.


1) Die Ueberwachung der Vereine.

Die Ueberwachung der Vereine iſt im Allgemeinen diejenige Thä-
tigkeit der Behörden, durch welche ſie die Thätigkeit der Vereine zur
Kenntniß nimmt, um die Gewißheit zu haben, daß von denſelben
nichts dem Geſammtintereſſe Schädliches ausgeht. Man muß bei dieſer
Ueberwachung drei Formen derſelben ſcheiden. Sie iſt eine allgemein
polizeiliche, eine ſtatiſtiſche und eine techniſche. Ihr entſpricht
die Pflicht der Vereine, dasjenige zu thun und zu leiſten, wodurch
jene Kenntnißnahme möglich wird, während die rechtliche Gränze
[639] derſelben in dem Satze gegeben iſt, daß der Staat nicht mehr fordern
darf, als was das allgemeine Intereſſe als zu wiſſen nothwendig er-
ſcheinen läßt.


Die polizeiliche Kenntnißnahme und Ueberwachung bezieht ſich
weſentlich auf die einzelnen Akte des Vereinslebens. Die Polizei hat
nicht bloß das Recht, die Statuten und Beſchlüſſe des Vereins ſich mit-
theilen zu laſſen, ſowie die Zahl, und da wo der Verein auf perſön-
lichen Leiſtungen beruht, auch die Namen der Mitglieder von der Ver-
einsleitung, ſondern auch jede Auskunft über den Zweck des Vereins
zu fordern. Aus demſelben Grunde muß der Polizei das Recht zu-
ſtehen, die Verſammlungen und Sitzungen des Vereins durch Abgeord-
nete zu beſchicken. Es verſteht ſich, daß dieſe Abgeordneten nicht wie
das Vereinskommiſſariat, an der Debatte Theil nehmen, ſondern
höchſtens bei ungeſetzlichen Vorgängen ein Verbot einlegen können. Die
Verpflichtungen, die Generalverſammlungen anzuzeigen, fällt ſchon
unter die Pflicht, jede Verſammlung als ſolche anzugeben.


Die ſtatiſtiſche Ueberwachung der Vereine beruht auf dem Werth,
den ſtatiſtiſche Angaben aller einzelnen Thatſachen für die geſammte
Beurtheilung öffentlicher Zuſtände im Ganzen, und damit für die ver-
ordnende Thätigkeit der Regierung, eventuell für die Geſetzgebung ſelbſt
haben. Dieſer Werth iſt nun allerdings ſehr verſchieden nach den ver-
ſchiedenen Arten der Vereine; daher iſt auch der Umfang der Verpflichtung,
ſtatiſtiſche Angaben mitzutheilen, durchaus keine gleiche. Auch hier kann
man im Allgemeinen zwiſchen dem wirthſchaftlichen und dem öffentlich
rechtlichen Moment ſcheiden. Das Recht, ſtatiſtiſche Angaben zu fordern,
kann an ſich allerdings nicht auf das erſtere angewendet werden, da
die Einnahmen und Ausgaben private Angelegenheiten der Vereinsmit-
glieder ſind, und nur der Zweck dem Staate angehört. Allein da, wo
dieſe Einnahmen und Ausgaben den Aufgaben der geſellſchaftlichen Ver-
waltung angehören, alſo namentlich dem Armen- und Hülfsweſen, oder
der Werthordnung, alſo dem Creditweſen, wird das Verhältniß beider
zu einer Bedingung der guten Verwaltung, und die Vereine haben hier
dieſelbe Pflicht, wie die Geſellſchaften, der Staatsverwaltung auf Ver-
langen ihre wirthſchaftlichen Verhältniſſe mittheilen zu müſſen. Daraus
ergibt ſich allerdings, daß die darauf bezüglichen Anordnungen zwar
aus der Verordnungsgewalt hervorgehen können, daß es aber weit ratio-
neller iſt, für die betreffenden Gruppen eigene Vereinsgeſetze zu erlaſſen,
welche dann bei der Bildung der Vereine und bei der Genehmigung
ihrer Statuten maßgebend werden. Soweit dieß der Fall iſt, gehört
das Einzelne unter das eigentliche Verwaltungsrecht, wie die betreffenden
Vereinsgeſetze über Sparkaſſen, Verſicherungsgeſellſchaften, Banken u. ſ. w.


[640]

Die techniſche Oberaufſicht der Vereine hat natürlich nur da
einen Sinn, wo die Aufgabe des Vereins durch techniſche Betriebsmittel
erreicht werden muß. Im Allgemeinen ſtehen die Vereine in dieſer Be-
ziehung gerade ſo wie die Geſellſchaften unter den allgemeinen Vor-
ſchriften der techniſchen Sicherheitspolizei, und ein eigenes Vereinsrecht
iſt dabei nicht nothwendig, weil die Verhältniſſe der Haftung ganz die-
ſelben bei Vereinen und Geſellſchaften wie bei Privaten ſind. Nur bei
gewiſſen großen, namentlich auf die Communikation bezüglichen Unter-
nehmungen finden beſondere Vorſchriften ſtatt, die aber mehr der Größe
und Wichtigkeit des Betriebes, als dem Weſen des Vereins angehören.


Dieſe drei Punkte bilden nun den Inhalt der ſtaatlichen Ueber-
wachung. Reben ihr ſteht das zweite Princip, das eigentlich erſt die
Erfüllung des Obigen abgibt.


2) Das Princip der Oeffentlichkeit.

Die Sicherung der einzelnen Staatsbürger gegen die Thätigkeit
des Vereins ſoll nun zwar dem Einzelnen als ſolchem überlaſſen bleiben;
allein die Staatsverwaltung muß ihm die erſte, für ihn als Individuum
unerreichbare Bedingung dafür geben, und das iſt die Möglichkeit, das
Wirken des Vereins kennen zu lernen. Daraus entſteht das zweite
große Princip alles öffentlichen Verwaltungsrechts des Vereinsweſens,
dem alle Vereine unterſtehen, das Princip der Oeffentlichkeit.


Die Oeffentlichkeit des Vereinsweſens bedeutet nicht die Verpflich-
tung des Vereins, der Staatsverwaltung über ſeine Thätigkeit
und ſeinen Zuſtand Rechenſchaft abzulegen, ſondern vielmehr die Pflicht,
dieſe Rechenſchaft ſo einzurichten, daß auch die Nichtmitglieder des
Vereins ſich über den Verein diejenigen Kenntniſſe verſchaffen können,
welche dieſelben in dem Falle brauchen, wo ſie mit dem Vereine in
Berührung treten. Als dieſe Punkte müſſen angeführt werden: die
Angabe des Sitzes der Verwaltung, der Name mindeſtens des höchſten
vollziehenden Organs, und die Geldgebahrung. Eine genauere Beſtim-
mung der anzugebenden Punkte iſt nicht thunlich, wenn ſie für alle
Arten der Vereine gelten ſoll. Dagegen iſt es wichtig, einen Zeitraum
zu beſtimmen, innerhalb deſſen eine ſolche Veröffentlichung ſtattfinden
ſoll. Das Natürliche iſt, daß dabei als allgemeine Regel angenommen
werde, daß der Bericht des Vorſtandes an die Generalverſammlung
einige Zeit vor derſelben publicirt werde. Es wird kaum immer möglich
ſein, die vollſtändige Veröffentlichung eines ſolchen Berichtes von allen
Vereinen zu fordern; jedenfalls aber muß die Einſicht in die Rechnungs-
bücher öffentlich möglich gemacht werden.


Die Staatsverwaltung hat demnach das Recht, jeden Verein zu
[641] dieſem Minimum von Oeffentlichkeit zu zwingen. Unterläßt der Verein
dieſelbe, ſo muß angenommen werden, daß die Staatsverwaltung ihrer-
ſeits das Recht hat, dieſe Veröffentlichung auf Koſten des Vereins vor-
zunehmen. Weigert ſich der Verein die Materialien dazu zu bieten, ſo
kann ohne Zweifel die zeitweilige Schließung des Vereins und die amt-
liche Unterſuchung der Vereinsakten vorgenommen werden, und es bleibt
dann der Staatsverwaltung überlaſſen, die weiteren Schritte nach Er-
meſſen einzuleiten.


Es iſt wohl ſchon hieraus klar, daß die Frage, wie viel außer
jenen allgemeinen Punkten noch von Seiten eines Vereins veröffentlicht
werden ſoll, nur nach der Art und dem Umfang des einzelnen
Vereins beſtimmt werden kann. In der Feſtſtellung dieſer Punkte
müſſen aber zwei Faktoren zuſammen wirken, die Forderungen der
Staatsverwaltung im öffentlichen Intereſſe, und das eigene Intereſſe
des Vereins. Es kann natürlich von höchſter Wichtigkeit gerade für
das letztere ſein, daß dieſe Veröffentlichungen ſo ausführlich als möglich
gemacht werden. Eben daraus ergibt ſich ein Rechtsſatz, der der Pflicht
auf Oeffentlichkeit entſpricht. Wo nämlich die Geſchäftsgebahrung eines
Vereins im Einzelnen dargelegt wird, da muß eine wiſſentlich
falſche
Darſtellung als ein Vergehen betrachtet werden, deſſen Inhalt
ein Verſuch zum Betrug iſt; nur grobe Fahrläßigkeit in der Dar-
ſtellung iſt als eine Gefährdung der allgemeinen Intereſſen eine ſchwere
Uebertretung. Die Verantwortlichkeit dafür fällt natürlich, ſo weit ſie
auf fachmänniſcher Kunde der Verhältniſſe beruht, dem Vollziehungs-
organe des Vereins, ſo weit ſie auf die übrigen Verhältniſſe Bezug hat,
den Vertretungsorganen zu. Es iſt kein Zweifel, daß das Recht der
Anklage ſowohl der Staatsverwaltung als den einzelnen Mitgliedern
des Vereins zuſteht; es kann aber eben ſo gewiß auch die Anklage durch
Dritte in der Weiſe bewirkt werden, daß ſie die betreffenden Anzeigen
zum Zwecke weiterer Verfolgung der Staatsanwaltſchaft, beziehungs-
weiſe der competenten Behörde übergeben. Der Verein als ſolcher kann
jedoch dafür keine Verantwortlichkeit oder Haftung übernehmen.


Das poſitive Vereinsrecht hat das Princip der Oeffentlichkeit eigentlich nir-
gends ausgeſprochen; es iſt daſſelbe durch die Natur der Sache weit mehr, als
durch beſondere Vorſchriften zur Geltung gelangt, und auch hier iſt es wieder
die Aktie und das mit ihr verbundene allgemeine Intereſſe des Publikums,
welches ohne Zuthun der Regierungen jenes ſo heilſame Princip zur Geltung
gebracht hat. Die ſtatiſtiſche Ueberwachung iſt leider noch immer keine Regel
geworden, und das macht das Urtheil über das Vereinsweſen ſo ſehr ſchwierig.
Nur in einzelnen Staaten ſind einzelne Gruppen von Vereinen zu ſtatiſtiſcher
Mittheilung geſetzlich verpflichtet, wie die friendly societies in England (c. 63,
Stein, die Verwaltungslehre. I. 41
[642]Vict. 18. 19). Es wäre ſehr zu wünſchen, daß in dieſer Beziehung eine ſyſtema-
tiſche Ausbildung der Geſetzgebung ſtattfände; es ſollte keine Vereinsgeſetzgebung
gemacht werden, ohne darüber genaue und zweckmäßige Vorſchriften zu geben.
Während über die polizeiliche Ueberwachung ſehr ausführliche Geſetze und In-
ſtruktionen vorhanden ſind, fehlen dieſelben gänzlich über die ſtatiſtiſche. Auch
jene iſt wieder ſehr verſchieden. In Preußen und Oeſterreich iſt dieſelbe ſtrenge.
(Rönne, preußiſches Staatsrecht §. 100; Stubenrauch, öſterreichiſche Ver-
waltungsgeſetzkunde a. a. O.) In Baden und Bayern dagegen ſehr frei, ebenſo
in Württemberg. (Dietz a. a. O.; Pötzl, Verwaltungsrecht §. 103; Mohl,
württembergiſches Staatsrecht §. 76.) Der Grund des erſteren Standpunkts
liegt offenbar nicht in der Auffaſſung des Vereinsweſens an ſich, ſondern viel-
mehr in den Bedenken gegen das Verſammlungsrecht der politiſchen Vereine.


3) Suſpendirung, Schließung und Verbot des Vereins.

Das Recht der Suſpendirung, Schließung und des Verbots der
Vereine folgt aus dem Rechte der Oberaufſicht, die ohne jenes Recht
nur eine Formalität wäre. Hier wird der Unterſchied zwiſchen Verein
und Geſellſchaften wieder entſcheidend, indem der öffentliche Zweck der
erſteren der Regierung Rechte verleiht, welche der Privatzweck der letztern
als unmotivirt erſcheinen läßt.


Die Suſpenſion der Conſtituirung muß auf geſchehene Anzeige
eintreten, wenn der Vereinsvertrag weſentliche Punkte der Verfaſſung,
Organiſation oder Verwaltung des Vereins außer Acht läßt. Die Er-
klärung der Staatsverwaltung wird in dieſem Falle dahin lauten, daß
der Vereinsvertrag in dieſen genau anzugebenden Punkten zu vervoll-
ſtändig [...]n ſei, und daß darüber eine zweite Anzeige gewärtigt werde.
Die Conſtituirung hat auf dieſe Erklärung nicht zu warten; es iſt Sache
der Staatsverwaltung, ſie ſo bald als nöthig zu erlaſſen; geſchieht ſie
aber, ſo iſt allerdings von dem Augenblicke der Uebergabe an den
Verein derſelbe ſuſpendirt. Es iſt wieder Sache des Vereins, ſich ſelbſt
zu überlegen, ob er mit der Conſtituirung nicht lieber warten, oder
eine ſolche Erklärung ſich von der Behörde einholen will, ehe er ſich
conſtituirt. Thut er das letztere, ſo iſt allerdings die Verwaltung ver-
pflichtet, eine Zulaſſungserklärung zu geben; die Bedeutung derſelben
aber bezieht ſich dann allerdings nur noch auf den Vereinsvertrag und
auf die ſtrenge aus demſelben erfolgenden Thätigkeiten. Die Weige-
rung der Verwaltung, eine ſolche Erklärung zu geben, enthält nicht
eine Suſpenſion der Conſtituirung, die nur durch eine ausdrücklich dahin
lautende Erklärung geſchehen kann. Der Verein kann — ſtets unter
Vorausſetzung, daß er keiner Genehmigung bedarf — auf die Gefahr
der perſönlichen und ſolidariſchen Haftung ſeiner einzelnen Mitglieder
hin ſich conſtituiren und thätig werden.


[643]

Ein zweites ſelbſtändiges Verhältniß iſt das der Schließung des
Vereins.


Die Schließung des Vereins hat zur Vorausſetzung, daß keine
Suſpenſion deſſelben wegen mangelnder Organiſation und kein Verbot
wegen des Vereinszweckes eingetreten iſt. Sie kann nur ſtattfinden,
wo der Verein bereits conſtituirt und in Thätigkeit iſt, und bezieht ſich
nur auf die Fortſetzung derſelben. Sie entſteht da, wo bei ausreichender
Organiſation und bei formell ganz zuläßigem Zwecke der Verein und
ſeine verfaſſungsmäßige Organiſation zur Erreichung von Zwecken ge-
braucht wird, welche außerhalb des Vereins liegen. Sie kann ſogar
unzweifelhaft ſchon da eintreten, wo eine dringende Gefahr eintritt,
daß ein ſolcher Mißbrauch geſchehen könne.


Die Schließung des Vereins läßt daher den Verein beſtehen. Sie
hebt weder den Vereinsvertrag, noch die in Gemäßheit deſſelben einge-
ſetzten Organe, noch die Rechtsverbindlichkeiten, noch die Haftungen auf.
Sie kann daher grundſätzlich auch immer nur eine zeitweilige ſein.
Mit der Aufhebung der Schließung des Vereins treten daher auch alle
Organe deſſelben wieder in Thätigkeit. Es iſt kein Zweifel, daß die
Polizeigewalt das Recht auf Schließung eines jeden Vereins hat; jedoch
ſtehen dagegen alle Rechtsmittel zu Gebote, welche gegen die Polizei-
gewalt oben dargelegt ſind.


Die Schließung des Vereins kann endlich eine partielle ſein,
und ſich nur auf eine beſtimmte Verſammlung der Mitglieder erſtrecken,
oder aber eine allgemeine, die ſich auch auf die geſammte Thätigkeit
des Organismus der Verfaſſung bezieht. In jedem Falle kann dabei
die Führung der rein wirthſchaftlichen Angelegenheiten des Vereins fort-
gehen, jedoch nur ſo weit, als es ſich darum handelt, bereits beſtehende
Verpflichtungen zu erfüllen. Neue Verpflichtungen, auch rein wirth-
ſchaftlicher Natur, können in dieſem Falle nur unter Geſtattung der
polizeilichen Gewalt eingegangen werden.


Die Rechtsfrage, ob der Austritt von Mitgliedern während der
Schließung des Vereins zuläßig iſt, muß unter der Vorausſetzung bejaht
werden, daß dieſer Austritt die Verfolgung derſelben wegen etwa ein-
gegangener Verbindlichkeiten, reſp. Beſtrafungen möglich läßt. Selbſt
die Vorſtände des Vereins können erklären, daß ſie ihre Thätigkeiten
niederlegen; jedoch müſſen ſie für die Folgen der in ihrer ſtatuten-
mäßigen Verwaltungsdauer vorgekommenen Thätigkeiten haften. Jeden-
falls ſind ſie verpflichtet, während der Schließung diejenigen Vereins-
handlungen vorzunehmen, wozu ſie von der Behörde aufgefordert werden.
Wollen ſie es nicht, ſo müſſen ſie zulaſſen, daß die Behörde wie bei
einer hereditas jacens einen Curator beſtellt. Wenn die Schließung
[644] aufgehoben iſt, treten ohne beſonderen Beſchluß alle Organe ſofort
wieder in ihre ſtatutenmäßige Thätigkeit und Verpflichtungen ein.


Das letzte Verhältniß iſt nur das des Verbotes eines Vereins,
dem die polizeiliche Auflöſung entſpricht.


Das Verbot eines Vereins kann nur ausgeſprochen werden, weil
der Zweck eines Vereins dem Staatszwecke widerſpricht. Es kann
ebendeßhalb gegen dieſes Verbot keine Berufung an ein Gericht ſtatt-
finden, da kein Gericht über den Staatszweck, ſondern nur über die
Geſetze des Staats zu entſcheiden hat. Nur in Einem Falle kann ein
Verbot auch wegen der Organiſirung des Vereins gedacht werden; dann
nämlich, wenn der Verein ſich ſtatutenmäßig zum organiſchen Gliede
eines außerhalb des eigenen Staates ſtehenden Vereins macht. Der
Grund eines ſolchen Verbots beruht unter allen Umſtänden darauf,
daß die Gewähr für die Innehaltung aller Verpflichtungen des Vereins
ſowohl gegenüber dem Staate als dem Einzelnen darin beſteht, daß
der Verein als juriſtiſche Perſönlichkeit mit ſeinem Willen und Thun
dem Urtheilſpruche und der Vollziehung des einheimiſchen Gerichts
unterliegen muß, während der einheimiſche Verein als Glied eines aus-
wärtigen nicht mehr als ſelbſtbeſtimmte Perſönlichkeit, ſondern nur als
Organ des dem Staate fremden und ihm nicht haftenden Willens er-
ſcheint. Schwierig kann dieſe Frage nur da werden, wo ein einheimiſcher
Verein, ſtatt ein untergeordnetes Glied eines größeren auswärtigen
Vereins zu ſein, unter formeller Aufrechthaltung ſeiner Selbſtändigkeit
in Verbindung mit einem fremden ſteht, die zum Theil ſo weit
gehen kann, daß es zweifelhaft wird, ob er noch ein ſelbſtändiger Verein
iſt oder nicht. Hiefür läßt ſich, da das Vereinsweſen ſo unendlich viele
Formen und Zwecke hat, nichts für alle Fälle beſtimmtes ſagen, da
ſogar die Aufſtellung eines eigenen Vereinsorganismus die formelle
Selbſtändigkeit mit einer unzweifelhaften materiellen Unterordnung ver-
binden kann. Man muß daher zu dem Schluſſe kommen, daß die
Staatsverwaltung in allen dieſen Fällen das Recht hat, eine genaue
Darlegung des Sachverhältniſſes unter ſolidariſcher Haftung der Vor-
ſtandsmitglieder für die Vollſtändigkeit und Richtigkeit ihrer Angaben
zu fordern, und dann von Fall zu Fall zu entſcheiden. Dieſe Ent-
ſcheidung kann auf Auflöſung des Vereins lauten, und zwar dann,
wenn der Vereinszweck ohne jene Verbindung mit dem fremden Vereine
nicht verwirklicht werden kann; und zwar darum, weil in dieſem Falle
ſich dieſe Verbindung ſicher von ſelbſt wieder herſtellen wird. Sie kann
aber auch auf Abbrechen der Verbindung lauten, welche dann nach
der Natur des Vereins zu erzielen iſt.


Es ergibt ſich daraus, daß das Verbot eines Vereines vor der
[645] Conſtituirung, die Auflöſung deſſelben nach der letzteren eintreten kann.
Jenes entſpricht der Suſpendirung, dieſes der Schließung. Die Auf-
löſung des Vereins hat daher auch keineswegs die Aufhebung der be-
reits eingegangen Verbindlichkeiten, und zwar weder der Vereinsorgane
gegen den Verein, noch des Vereins gegen Dritte zur Folge; im Gegen-
theil müſſen dieſelben erſt alle auf dem bürgerlichen Rechtswege wie
bei einer Concursmaſſe abgewickelt werden. Zu dem Ende kann ein
Curator beſtellt werden, wenn man nicht die wirthſchaftlichen Ange-
ſtellten des Vereins dazu benutzen kann und will, wobei dann alle
Grundſätze der Curatel eintreten.


Während dieſe Grundſätze für den Verein gelten, läßt ſich eine
Anwendung derſelben auf Geſellſchaften nicht denken, ſelbſt da nicht,
wo dieſelben auf Aktien gegründet ſind. Hier hat der Staat vielmehr
im Intereſſe des Publikums andere Pflichten. Er muß bei Aktiengeſell-
ſchaften, welche durch ihre Verwaltung Gefahr erzeugen, daß das
Intereſſe des Publikums ernſtlich beeinträchtigt werde, entweder ſchon in
den Statuten die Beſtimmungen feſtſetzen, unter denen die Auflöſung
der Geſellſchaft geſchehen muß, und die ſich namentlich an ein gewiſſes
Maß des Verluſtes des Unternehmungskapitals anſchließen, oder er
muß dieſe wirthſchaftliche Auflöſung ſelbſt in die Hand nehmen, und
als obervormundſchaftliche Behörde dieſelbe leiten. Hier iſt das Gebiet,
in welchem wieder das Handelsrecht als das Verwaltungsrecht des Ge-
ſellſchaftsweſens eintritt, und wo die Lehre des Handelsrechts beginnt.


Die Vereinsgeſetze haben faſt durchgehend nicht das Verhältniß des Ver-
bots der Vereine im Ganzen im Auge, ſondern vielmehr nur die Schließungen
der einzelnen Verſammlungen derſelben, was mit dem Geſichtspunkt der polizei-
lichen Ueberwachung der politiſchen Vereine eng zuſammenhängt (ſ. oben). Die
meiſten Vereinsgeſetzgebungen verbieten ausdrücklich jede Verbindung der Ver-
eine unter einander, was natürlich wieder nur auf politiſche Vereine bezogen
werden kann, da es bei nicht politiſchen keinen Grund hat, und zum Theil
gar nicht ausführbar iſt, für die meiſten Geſellſchaften aber ein direkter Wider-
ſpruch mit ihrer Aufgabe wäre. In England exiſtiren ſolche Verbote natürlich
nicht; hier ſind dagegen die Beſtimmungen über die Auflöſung der Geſell-
ſchaften
genau normirt, indem die Winding-up-Acts in den Geſellſchafts-
geſetzen aufgenommen ſind (ſ. GneiſtII, §. 125). In Frankreich iſt das
Verbot der Affiliation ſchon in der Conſtitution von 1791 und in dem all-
gemeinen Geſetze vom 10. April 1834 enthalten. Uebrigens iſt, ſo viel wir
ſehen, nur in Frankreich das Recht des Verbots mit Rückſicht auf den Unter-
ſchied zwiſchen Geſellſchaft und Verein klar durchgeführt. Schon das Dekret
vom 16. Auguſt 1790 gab der police municipale das Recht der surveillance,
aber nur auf politiſche Vereine. Nach der jurisprudence administrative hat
die Polizei daher auch jetzt nur das Recht dieſer surveillance und eventuell
[646] des Verbots bei réunions publiques, allein nicht bei réunions des action-
naires
und bei associations de bienfaisance; dieſe Grundſätze ſind neuerdings
beſtätigt durch Dekret vom 25. März 1852, welches die geheimen Verbindungen
direkt verbietet. Die franzöſiſche Jurisprudenz iſt ausführlich dargelegt bei
Laferrière (Droit admin. P. I. S. III. p. 439 sq.). Es wäre ſehr wün-
ſchenswerth, daß die deutſche Geſetzgebung und Theorie dieſelben Geſichtspunkte
zur Geltung brächte. In Oeſterreich hat das Vereinsgeſetz von 1852
die Verbindungen der Vereine ſtrenge verboten. Ueber Preußen ſ. Rönne
a. a. O.; über Bayern Pötzl daſ. Was das Handelsgeſetzbuch in ſeinen Be-
ſtimmungen über die Auflöſung von Geſellſchaften betrifft, ſo dürfen wir hier
verweiſen auf Auerbach (Geſellſchaftsweſen Bd. III. Kap. XIV.), und Stuben-
rauch
(Handbuch des Handelsrechts S. 318. zu §. 131 und 132 des Handels-
geſetzbuches). Das preußiſche Geſetz vom 9. April 1843 bezieht ſich nur auf
die Auflöſung von Aktiengeſellſchaften, §. 282.


Das beſondere Vereinsrecht.

Während nun das bisher dargeſtellte Allgemeine Vereinsrecht auf
dem, allen Arten des Vereins gemeinſamen Weſen des Vereins und
des Staats beruht, entſteht das, was wir das beſondere Vereins-
recht
nennen, durch die beſondern Verhältniſſe jedes einzelnen Vereins,
und enthält daher die Formulirung und Beſtimmung derjenigen Modifika-
tionen des allgemeinen Vereinsrechts, welche entweder durch den Zweck
oder den Umfang oder ſonſtige äußere Verhältniſſe des einzelnen Vereins
geboten erſcheinen.


Das beſondere Vereinsrecht wird daher ſtets in den Statuten,
oder dem Vereinsvertrage des einzelnen Vereins gegeben ſein, und
es kann daher keine wiſſenſchaftliche Darſtellung deſſelben geben. Das
Verhältniß des bisher dargelegten allgemeinen Vereinsrechts zu dem be-
ſonderen beſteht nun darin, daß das erſtere als die Quelle der Inter-
pretation des letzteren gelten muß, wo die Beſtimmungen von Vertrag
oder Statut nicht ausreichen.


Die ſelbſtändige Aufſtellung der Kategorie eines beſonderen Ver-
einsrechts hat daher nur nach einer ganz beſtimmten Seite hin einen
Sinn, und dieſer iſt folgender.


Die Darſtellung des Syſtems der Vereine hat gezeigt, daß die
Vereine ſich nach den Aufgaben der inneren Staatsverwaltung ſcheiden.
Denkt man ſich nun, daß eine und dieſelbe Aufgabe der letzteren durch
eine Mehrheit von einzelnen Vereinen erfüllt werden ſoll, ſo wird die
ſpezielle Natur dieſer Staatsaufgabe wieder als gemeinſamer Zweck
aller dahin gehörigen Vereine erſcheinen. Und es iſt klar, daß daher
auch die Gleichartigkeit dieſes Zweckes für alle ſolche Vereine eine
[647] gewiſſe, durch denſelben bedingte Gleichartigkeit des Verfaſſungs- und
Verwaltungsrecht dieſer Vereine erzeugen muß.


Eben ſo haben wir im Gebiete der inneren Verwaltung des Ver-
einsweſens drei Grundformen aufgeſtellt, in welchen die Vereine ſich die
Mittel ihrer Thätigkeit erſchaffen, die Beitrags-, die Gegenſeitigkeits-
und die auf Antheilen beruhenden Erwerbsvereine bezeichnet, womit
gleichfalls eine ſolche Gleichartigkeit der Lebensverhältniſſe der Vereine
ohne Rückſicht auf ihre ſpeziellen Zwecke gegeben iſt.


Wir würden deßhalb das beſondere Vereinsrecht dasjenige Ver-
einsrecht nennen können, welches für die einzelnen Arten oder Gruppen
der Vereine dasjenige dem einzelnen dahin gehörigen Vereine demnach
gemeinſame Recht beſtimmt, welches entweder durch die Natur des be-
ſtimmten Staatszwecks gefordert wird (z. B. Eiſenbahnen, Dampfſchiff-
fahrtsgeſellſchaften), oder welches aus der Natur der wirthſchaftlichen
Mittel derſelben hervorgeht (z. B. Aktienrecht).


Da nun aber dem Obigen gemäß dieß Recht aus dem Weſen des
Staatszweckes hervorgeht, ſo bildet die Entwicklung dieſes letztern offen-
bar die Grundlage für Inhalt und Verſtändniß des erſteren. Es kann
daher auch nicht anders als im Anſchluſſe und gleichſam als Con-
ſequenz deſſelben in geeigneter Weiſe dargeſtellt werden, oder, es bildet
dieß beſondere Vereinsrecht nicht mehr einen Theil der vollziehenden
Gewalt, ſondern einen Theil der Verwaltungslehre, und wird daher
bei den betreffenden Abtheilungen derſelben erſt in ſeinem rechten Um-
fang und Inhalt unterſucht werden können. Man würde es nur dann
ohne Nachtheil aus dieſer Verbindung herausreißen und es gleichſam
als zweiten Theil der Vereinslehre darſtellen können, wenn wir bereits
eine ausreichende, organiſche Verwaltungslehre beſäßen. Bis dahin
müſſen wir daher für das allerdings hochwichtige und weitgreifende Ge-
biet auf die letztere verweiſen; und in dieſem Sinne können wir ſagen,
daß das beſondere Vereinsrecht den Uebergang von der Lehre von der
vollziehenden Gewalt im Staate zur Lehre von der innern Verwaltung
bildet.

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TextGrid Repository (2025). Stein, Lorenz von. Die Verwaltungslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn4j.0