[][][][][][][[I]]
RÖMISCHE
GESCHICHTE


ERSTER BAND.
BIS ZUR SCHLACHT VON PYDNA.

LEIPZIG: ,
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1854.

[[II]][[III]]

MEINEM FREUNDE
MORIZ HAUPT
IN BERLIN.


[[IV]][[V]]

INHALT.



  • ERSTES BUCH.
  • Bis zur Abschaffung des römischen Königthums.
  • KAPITEL I.
  • Seite
  • Einleitung 3
  • KAPITEL II.
  • Die ältesten Einwanderungen in Italien 7
  • KAPITEL III.
  • Die Ansiedlungen der Latiner 22
  • KAPITEL IV.
  • Die Anfänge Roms 30
  • KAPITEL V.
  • Roms Hegemonie in Latium 38
  • KAPITEL VI.
  • Die ursprüngliche Verfassung Roms 49
  • KAPITEL VII.
  • Die Nichtbürger und die reformirte Verfassung 64
  • KAPITEL VIII.
  • Die umbrisch-sabellischen Stämme. Anfänge der Samniten 74
  • KAPITEL IX.
  • Die Etrusker 79
  • KAPITEL X.
  • Seite
  • Die Hellenen und Punier in Italien. Seeherrschaft der Tusker und
    Karthager 88
  • KAPITEL XI.
  • Recht und Gericht 102
  • KAPITEL XII.
  • Religion 111
  • KAPITEL XIII.
  • Ackerbau, Gewerbe und Handel 122
  • KAPITEL XIV.
  • Maſs und Schrift 136
  • KAPITEL XV.
  • Die Kunst 146
  • ZWEITES BUCH.
  • Von der Abschaffung des römischen König-
    thums bis zur Einigung Italiens.
  • KAPITEL I.
  • Aenderung der Verfassung. Beschränkung der Magistratsgewalt 157
  • KAPITEL II.
  • Das Volkstribunat und die Decemvirn 170
  • KAPITEL III.
  • Die Ausgleichung der Stände 187
  • KAPITEL IV.
  • Sturz der etruskischen Macht. Die Kelten 203
  • KAPITEL V.
  • Die Unterwerfung der Latiner und Campaner unter Rom 220
  • KAPITEL VI.
  • Die Italiker gegen Rom 232
  • KAPITEL VII.
  • König Pyrrhos gegen Rom 252
  • KAPITEL VIII.
  • Innere Verhältnisse 285
  • DRITTES BUCH.
  • Von der Einigung Italiens bis auf die Unterwer-
    fung Karthagos und der griechischen Staaten.
  • Seite
  • KAPITEL I.
  • Karthago 309
  • KAPITEL II.
  • Der erste Krieg mit Karthago 330
  • KAPITEL III.
  • Die Ausdehnung Italiens bis an seine natürlichen Grenzen 363
  • KAPITEL IV.
  • Hamilkar und Hannibal 379
  • KAPITEL V.
  • Der hannibalische Krieg bis zur Schlacht bei Cannae 406
  • KAPITEL VI.
  • Der hannibalische Krieg von Cannae bis Zama 431
  • KAPITEL VII.
  • Der Westen vom hannibalischen Frieden bis zum Ende der dritten Periode 484
  • KAPITEL VIII.
  • Die östlichen Staaten und der zweite makedonische Krieg 501
  • KAPITEL IX.
  • Der Krieg gegen Antiochos von Asien 540
  • KAPITEL X.
  • Der dritte makedonische Krieg 571
  • KAPITEL XI.
  • Die Verfassung und die inneren Verhältnisse 601
[][[1]]

ERSTES BUCH.


Bis zur Abschaffung des römischen Königthums.


τὰ παλαιότερα σαφῶς μὲν εὑϱεῖν διὰ χϱόνου
πλῆϑος ἀδύνατα ἦν˙ ἐϰ δὲ τεϰμηϱίων ν ἐπὶ
μαϰϱότατον σϰοποῦντί μοι πιστεῦσαι ξυμβαί-
νει οὐ μεγάλα νομίζω γενέσϑαι, οὔτε ϰατὰ τοὺς
πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.

Thukyd.

Röm. Gesch. I. 1
[[2]][[3]]

KAPITEL I.



Einleitung.


Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das
tief einschneidend in die Erdfeste den gröſsten Busen des
Oceans bildet und bald durch Inseln oder vorspringende Land-
festen verengt, bald wieder sich in beträchtlicher Breite aus-
dehnend die drei Theile der alten Welt scheidet und verbindet,
siedelten in alten Zeiten Völkerstämme sich an, welche, ethnogra-
phisch und sprachgeschichtlich betrachtet verschiedenen Racen
angehörig, historisch ein Ganzes ausmachen, ein Völkersystem,
dessen Civilisationsgeschichte, wenn gleich sie in ihren Anfängen
anknüpft an einen andern Gesichts- und Geschichtskreis, dennoch,
wie die Stämme den Ufern des Mittelmeers sich nähern, sie alle
in sich aufgenommen und einen eigenthümlichen Gang in Grün-
dung, Blüthe und Untergang verfolgt hat. Diese Culturgeschichte
der Umwohner des Mittelmeers, die man nicht passend als die
Geschichte der alten Welt zu bezeichnen pflegt, führt in drei
groſsen Entwicklungsstadien uns die Geschichte vor der Aegypter,
der Hellenen und der Italiker, welche an den östlichen Cultur-
kreis anknüpfen durch die Phoeniker, das Volk der Vermittlung.
Jene drei Nationen gelangten jede auf ihren eigenen Bahnen
zu einer eigenthümlichen und groſsartigen Civilisation und
haben in mannigfaltigster Wechselbeziehung zu einander alle
Elemente der Menschennatur scharf und reich durchgearbeitet
und entwickelt, bis auch dieser Kreis erfüllt war und neue
Völkerschaften, die bis dahin das Gebiet der Mittelmeerstaaten
1*
[4]ERSTES BUCH. KAPITEL I.
nur wie die Wellen den Strand umspült hatten, sich über
beide Ufer ergossen und indem sie die Südküste geschichtlich
trennten von der nördlichen, den Schwerpunkt der Civilisation
verlegten vom Mittelmeer an den atlantischen Ocean. So
scheidet sich die alte Geschichte von der neuen nicht bloſs
zufällig und chronologisch, sondern es beginnt mit dieser die
Gestaltung eines neuen Culturkreises, der in mehreren seiner
Entwicklungsepochen wohl anschlieſst an die untergehende
oder untergegangene Civilisation der Mittelmeerstaaten wie diese
an die orientalische, aber auch wie diese bestimmt war eine
eigene Bahn zu durchmessen und Völkerglück und Völkerleid
im vollen Maſse zu erproben: die Epochen der Entwicklung,
der Vollkraft und des Alters, die beglückende Mühe des
Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuſs
erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch
dereinst das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten
Befriedigung des erreichten Zieles. Aber nur ein vorläufiges
ist dieses Ziel; das groſsartigste Civilisationssystem hat seine
Peripherie und kann sie erfüllen, nimmer aber das Geschlecht
der Menschen, dem so wie es am Ziele zu stehen scheint
die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in höherem Sinne
neu gestellt wird.


Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Acts jenes
groſsen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der
westlicheren unter den beiden Halbinseln, die vom nördlichen
Continent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird
gebildet durch die Kette der Apenninen, welche an die west-
lichen Ausläufer des Alpenstockes anknüpfend und zwischen
dem schmalen östlichen und dem breiteren westlichen Becken
des Mittelmeers in südöstlicher Richtung streichend zu dem
Gebirgsstock der Abruzzen ansteigt und mit ihm hart an die
Ostküste hinantritt; nicht in steiler Kette die beiden Hälften
scheidend, sondern breit durch das Land gelagert und nament-
lich in den Abruzzen vielfache durch mäſsige Pässe verbun-
dene Hochebenen einschlieſsend. Die nördlich zwischen dieser
Bergkette und den Alpen sich ausdehnenden flachen Niede-
rungen gehören geographisch und bis in sehr späte Zeit auch
historisch nicht zu dem südlichen Hügelland, dessen Geschichte
uns hier beschäftigt; erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde
das Küstenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das
Pothal definitiv zu Italien gezogen. Den südlichen Theil durch-
schneidet der Länge nach eine Bergreihe, die von den Abruzzen
[5]EINLEITUNG.
auslaufend gegen Süden zieht, anfangs ungetheilt und von be-
trächtlicher Höhe, dann nach einer Einsattlung, die eine Hügel-
landschaft bildet, sich spaltet und einen flachen Höhenzug
gegen Südosten, eine steilere Kette gegen Süden entsendend
mit der Bildung zweier schmaler Halbinseln abschlieſst. An
diesen gleichfalls breit gelagerten und oft zur Hochebene sich
erweiternden Bergzug lehnt sich an der östlichen Küste ein
ebenes nördlich von dem Bergstock der Abruzzen geschlosse-
nes Vorland, welches nur der einförmige Garganus inselartig
unterbricht, von schwach entwickelter Küstenbildung und von
wenigen Flüssen durchschnitten; an der Südküste zwischen
den beiden Halbinseln eine reiche Stromniederung mit wenigen
Häfen; an der Westküste ein breites von bedeutenden Strö-
men, namentlich der Tiber durchschnittenes, von den Fluthen
und den zahlreichen Vulcanen in mannigfaltigster Thal- und
Hügel-, Hafen- und Inselbildung entwickeltes Gebiet, das all-
mählich gegen Süden sich verflacht und mit der gesegneten
campanischen Ebene abschlieſst. Die italische Halbinsel theilt
mit der griechischen die gemäſsigte Temperatur und die ge-
sunde Luft auf den mäſsig hohen Bergen und im Ganzen
auch in den Thälern und Ebenen. In der Küstenentwicklung
steht sie ihr nach; namentlich fehlt das inselreiche Meer, das
die Hellenen zur seefahrenden Nation gemacht hat. Dagegen
ist Italien dem Nachbar überlegen durch die reichen Fluſs-
ebenen und die fruchtbaren oder kräuterreichen Bergabhänge,
wie der Ackerbau und die Viehzucht ihrer bedarf; es ist ein
schönes Land, das die Thätigkeit des Menschen anstrengt und
belohnt und dem unruhigen wie dem ruhigen Streben Wege
in die Ferne oder auch friedlichen Gewinn daheim in gleicher
Weise darbietet.


Es ist die Geschichte Italiens, die hier erzählt werden
soll, nicht die Geschichte der Stadt Rom. Wenn auch nach
formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde von Rom es war, die
die Herrschaft erst über Italien, dann über die Welt gewann,
so läſst sich doch dies im höheren geschichtlichen Sinne
keineswegs behaupten und erscheint das, was man die Be-
zwingung Italiens durch die Römer zu nennen gewohnt ist,
vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesammten
Stammes der Italiker, von dem die Römer wohl der gewal-
tigste, aber doch nur ein Zweig sind. — Die italische Ge-
schichte zerfällt in zwei Hauptabschnitte: in die innere Ge-
schichte Italiens bis zu seiner Vereinigung unter der Führung
[6]ERSTES BUCH. KAPITEL I.
des latinischen Stammes und in die Geschichte der itali-
schen Weltherrschaft. Wir werden also darzustellen haben
des italischen Volksstammes Ansiedlung auf der Halbinsel; die
Gefährdung seiner nationalen und politischen Existenz und
seine theilweise Unterjochung durch Völker andrer Herkunft
und älterer Civilisation, durch Griechen und Etrusker; die
Auflehnung der Italiker gegen die Fremdlinge und deren Ver-
nichtung oder Unterwerfung; endlich die Kämpfe der beiden
italischen Hauptstämme, der Latiner und der Samniten um
die Hegemonie auf der Halbinsel und den Sieg der Latiner
am Ende des fünften Jahrhunderts der Stadt. Es wird dies
den Inhalt der beiden ersten Bücher bilden. Den zweiten
Abschnitt eröffnen die punischen Kriege; er umfaſst die reis-
send schnelle Ausdehnung des Römerreichs bis an und über
seine natürlichen Grenzen, den langen Statusquo der römi-
schen Kaiserzeit und das Zusammenstürzen des gewaltigen
Reiches. Dies wird im dritten und den folgenden Büchern
erzählt werden.


[[7]]

KAPITEL II.



Die ältesten Einwanderungen in Italien.


Keine Kunde, ja nicht einmal eine Sage erzählt von der
ersten Einwanderung des Menschengeschlechts in Italien; viel-
mehr war im Alterthum der Glaube allgemein, daſs dort wie
überall die erste Bevölkerung dem Boden selbst entsprossen
sei. Die Entscheidung über den Ursprung der verschiedenen
Racen und deren genetische Beziehungen zu den verschiedenen
Klimaten bleibt billig dem Naturforscher überlassen; geschicht-
lich ist es weder möglich noch wichtig festzustellen, ob die
älteste Bevölkerung Italiens autochthon war oder eingewandert.
Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob die Reihenfolge
der Einwanderungen in das schon besetzte Land zu erkennen
und zu scheiden, um das Ringen der Nationalitäten um Besitz
und Macht so weit möglich rückwärts zu verfolgen. Wir unter-
scheiden in Italien ohne Mühe die Völkerstämme, welche in
historischer Zeit eingewandert sind, wie die Hellenen, und die-
jenigen, die ihre Nationalität so verändert haben, daſs der
primitive Charakter derselben dadurch für uns unerkennbar
geworden ist, wie zum Beispiel die Brettier und die Bewohner
der sabinischen Landschaft; von denjenigen Völkern, bei denen
keines von beiden der Fall ist, muſs die Forschung ausgehen
um die Elemente der ältesten Geschichte, die Stämme zu er-
kennen. Wären wir dabei einzig angewiesen auf den wirren
Wust der Völkernamen und der zerrütteten angeblich geschicht-
lichen Ueberlieferung, welche aus wenigen brauchbaren Notizen
civilisirter Reisender und einer Masse meistens geringhaltiger
[8]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
Sagen, gewöhnlich ohne Sinn für Sage wie für Geschichte
zusammengesetzt und conventionell fixirt ist, so müſste man
die Aufgabe als eine hoffnungslose abweisen. Allein noch
flieſst auch für uns eine Quelle der Ueberlieferung, welche
zwar auch nur Bruchstücke, aber doch authentische gewährt;
es sind dies die einheimischen Sprachen der in Italien seit
unvordenklicher Zeit ansässigen Stämme. Ihnen, die mit dem
Volke selbst geworden sind, war der Stempel des Werdens zu
tief eingeprägt um durch die nachfolgende Cultur gänzlich ver-
wischt zu werden. Ist von den italischen Sprachen auch nur
eine vollständig bekannt, so sind doch von mehreren anderen
hinreichende Ueberreste erhalten um der Geschichtsforschung
einen Anhalt zu gewähren über die Stammverschiedenheit oder
Stammverwandschaft und deren Grade zwischen den einzelnen
Sprachen und Völkern. — So lehrt uns die Sprachforschung
drei italische Urstämme unterscheiden, den iapygischen, den
etruskischen und den italischen, wie wir ihn nennen wollen,
von welchen der letztere in zwei Hauptzweige sich spaltet:
das latinische Idiom und dasjenige, dem die Dialekte der
Umbrer, Marser, Volsker und Samniten angehören.


Von dem iapygischen Stamm haben wir nur geringe
Kunde. Im äuſsersten Südosten Italiens, auf der messapischen
oder calabrischen Halbinsel sind Inschriften in ziemlicher An-
zahl gefunden worden, deren Sprache wesentliche Verschieden-
heit von allen andern italischen und eine gewisse Analogie mit
den griechischen Dialekten zeigt, zum Beispiel in dem Gebrauch
der aspirirten Consonanten und dem Vermeiden der Buch-
staben m und t im Auslaut. Sie sind nicht enträthselt und
es ist kaum zu hoffen, daſs dies dereinst gelingen wird *.
Daſs der Dialekt dem indogermanischen angehört, scheinen die
Genitivformen aihi und ihi, entsprechend dem sanskritischen
asya, dem griechischen οιο, anzudeuten. Unzweifelhaft ge-
hören diese Trümmer dem Idiom der Iapyger an, welche auch
die Ueberlieferung mit groſser Bestimmtheit von den latini-
schen und samnitischen Stämmen unterscheidet; glaubwürdige
Angaben und zahlreiche Spuren führen dahin, daſs die gleiche
Sprache und der gleiche Stamm auch in Apulien ursprünglich
seſshaft war. Bemerkenswerth ist die auffallende Leichtigkeit,
mit der diese Nation sich hellenisirt: Apulien, noch in Timaeos
[9]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
Zeit (um 400 Roms) von barbarischen Iapygern bewohnt, ist
im sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne daſs irgend eine
directe Colonisirung von Griechenland aus dort stattgefunden
hätte, eine durchaus griechische Landschaft geworden, und
selbst bei dem rohen Volke der Messapier zeigen sich viel-
fache Ansätze zu einer analogen Entwickelung. — Was wir
von diesem Volke jetzt wissen, genügt wohl um dasselbe von
den übrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber
um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache
und diesem Volk in der groſsen indogermanischen Familie
zukommt, der doch auch die Iapyger wahrscheinlich angehör-
ten. Diese Lücke ist indeſs nicht sehr empfindlich; denn nur
weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Be-
ginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volks-
stamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Natio-
nalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation
paſst wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische
Lage wahrscheinlich gemacht wird, daſs dies die ältesten Ein-
wanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind.
Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker
alle zu Lande erfolgt; zumal in Italien, dessen Küste zur See
nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deſshalb
noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war.
Kamen aber die frühesten Ansiedler über den Apennin, so
kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre
Entstehung erschlieſst, auch der Geschichtsforscher die Ver-
muthung wagen, dass die am weitesten nach Süden geschobe-
nen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und
eben hier am äuſsersten südöstlichen Saume begegnen wir
der iapygischen Nation.


Die Mitte der Halbinsel ist, so weit unsere zuverlässige
Ueberlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder
vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in
dem indogermanischen Volksstamm sich mit gröſserer Sicher-
heit bestimmen läſst als dies bei der iapygischen Nation der
Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heiſsen,
da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel wesent-
lich beruht; es theilt sich in die beiden Stämme der Latiner
und der Umbrer mit den südlichen Ausläufern der letzteren,
den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher
Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die
sprachliche Analyse dieser drei Idiome hat gezeigt, dass sie
[10]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
zusammen ein Glied sind in der indogermanischen Sprachen-
kette und daſs die Epoche, in der sich eine Einheit bildeten,
eine verhältniſsmäſsig späte ist. Im Lautsystem erscheint bei
ihnen der eigenthümliche Spirant f, worin sie übereinstimmen
mit den Etruskern, aber sich scharf scheiden von allen helle-
nischen und hellenobarbarischen Stämmen so wie vom San-
skrit selbst. Die Aspiraten dagegen sind den Italikern ursprüng-
lich fremd, während sie von den Griechen und die härteren
davon auch von den Etruskern festgehalten wurden, und werden
bei jenen vertreten durch eines ihrer Elemente, sei es durch
die Media, sei es durch den Hauch allein f oder h. Die fei-
neren Hauchlaute s, w, j, die die Griechen so weit möglich
beseitigen, sind in den italischen Sprachen wenig beschädigt
erhalten, ja hie und da noch weiter entwickelt worden. Das
Zurückziehen des Accents und die dadurch hervorgerufene
Zerstörung der Endungen haben die Italiker zwar mit einigen
griechischen Stämmen und mit den Etruskern gemein, jedoch
in stärkerem Grad als jene, in geringerem als diese; die un-
mäſsige Zerstörung der Endungen im Umbrischen ist sicher
nicht in dem ursprünglichen Sprachgeist begründet, sondern
späterer tuskischer Einfluſs, der sich in derselben Richtung
wenn gleich schwächer auch in Rom geltend gemacht hat.
Kurze Vocale fallen bei den italischen Sprachen deshalb im
Auslaut regelmäſsig, lange häufig ab; die schlieſsenden Con-
sonanten sind dagegen im Lateinischen und mehr noch im
Samnitischen mit Zähigkeit festgehalten worden, während das
Umbrische auch diese fallen läſst. Damit hängt es zusammen,
daſs die Medialbildung in den italischen Sprachen nur geringe
Spuren zurückgelassen hat und dafür ein eigenthümliches durch
Anfügung von r gebildetes Passiv an die Stelle tritt; ferner
dass der grösste Theil der Tempora durch Zusammensetzungen
mit den Wurzeln es und fu gebildet wird, während den Grie-
chen neben dem Augment die reichere Ablautung den Gebrauch
der Hülfszeitwörter grossentheils erspart. Während die ita-
lischen Sprachen wie der aeolische Dialekt auf den Dual ver-
zichteten, haben sie den Ablativ, der den Griechen verloren
ging, durchgängig, grossentheils auch den Locativ erhalten.
Die strenge Logik der Italiker scheint keinen Grund gefunden
zu haben den Begriff der Mehrheit in den der Zweiheit und
der Vielheit zu spalten; während man die in den Beugungen
sich ausdrückenden Wortbeziehungen mit groſser Schärfe fest-
hielt. Eigenthümlich italisch und selbst dem Sanskrit fremd
[11]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst
irgendwo durchgeführte Substantivirung der Zeitwörter. —
Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausge-
wählten Beispiele genügen um die Individualität des italischen
Sprachstamms jedem andern indogermanischen gegenüber dar-
zuthun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geogra-
phisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grie-
che und der Italiker sind Brüder, der Kelte und der Slave
ihnen Vettern. Diese wesentliche Einheit aller italischen wie
aller griechischen Dialekte und Stämme muſs früh und klar
den beiden groſsen Nationen aufgegangen sein; denn wir fin-
den in der römischen Sprache ein uraltes Wort räthselhaften
Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeich-
net, ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Ὀπιϰός,
die von allen den Griechen in älterer Zeit bekannten latini-
schen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern
oder Etruskern gebraucht wird. — Innerhalb des italischen
Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen be-
stimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten.
Wo der Römer q, sagt der Samnite und der Umbrer namentlich
im Fürwort p, so pis für quis; ganz ähnlich wie sich auch sonst
noch verwandte Sprachen scheiden, wie z. B. dem Keltischen
in der Bretagne und Wales p, dem Galischen und Irischen k eigen
ist. In den Vocalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen
und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen
in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben;
womit verwandt ist, daſs in der Zusammensetzung der Römer
den sonst so streng bewahrten Grundvocal abschwächt, was
nicht geschieht in den verwandten Sprachen. Der Genitiv der
Wörter auf a ist in diesen wie bei den Griechen as, bei den
Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf
us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern
ei; der Locativ tritt bei diesen im Sprachbewuſstsein mehr
und mehr zurück, während er in den anderen italischen Dia-
lekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus
ist nur im Lateinischen erhalten. Der umbrisch-samnitische
Infinitiv auf um ist den Römern fremd; während das oskisch-
umbrische von der Wurzel es gebildete Futur nach griechi-
scher Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Römern fast, viel-
leicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des
einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo
(ama-bo
). In vielen dieser Unterschiede, z. B. in den Casus-
[12]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
formen sind die Unterschiede indeſs nur vorhanden für die
beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zu-
sammenfallen und je mehr überhaupt die Forschung eindringt
in die Kunde der neben dem Latein stehenden italischen
Sprachen, desto deutlicher erscheinen sie als eng unter sich
wie dem Latein verwandt. Wenn auch unsre Kunde selbst
des umbrischen und des samnitischen oder oskischen Dialekts
noch äuſserst lückenhaft ist, wenn andere Dialekte gar in zu
geringen Trümmern auf uns gekommen sind, um sie in ihrer
Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten danach
mit Sicherheit und Genauigkeit zu classificiren — so der vols-
kische und der marsische; andere, wie der sabinische, bis auf
geringe als dialektische Eigenthümlichkeiten im provinzialen La-
tein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind, so läſst doch
die Combination der sprachlichen und der historischen That-
sachen daran keinen Zweifel, daſs diese sämmtlichen Dialekte
dem umbrisch-samnitischen Zweig des groſsen italischen Stam-
mes angehört haben. Wenn also die italische Sprache neben der
griechischen selbstständig steht, so verhalten sich in jener die
lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie
die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten
des Oskischen und Umbrischen und der verwandten Dialekte
etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sicilien
und in Sparta. — Jede dieser Spracherscheinungen ist Er-
gebniſs und Zeugniſs eines historischen Ereignisses; es läſst sich
daraus mit vollkommener Sicherheit erschlieſsen, daſs aus dem
gemeinschaftlichen Mutterschoſs der Völker und der Sprachen
ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der
Italiker gemeinschaftlich in sich schloſs; daſs aus diesem als-
dann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den
westlichen und östlichen Stamm, der östliche alsdann wieder
in Umbrer und Osker aus einander gingen. Wo und wann
diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht
lehren und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen
diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühe-
sten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung statt-
fanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenni-
nen führte. — Dagegen kann uns die Vergleichung der Spra-
chen, richtig und vorsichtig behandelt, ein annäherndes Bild
desjenigen Culturgrades gewähren, auf dem das Volk sich be-
fand als jene Trennungen eintraten, und damit die Anfänge
der Geschichte, welche nichts ist als die Entwicklung der
[13]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
Civilisation. Denn es ist namentlich in der Bildungsepoche
die Sprache das treue Bild und Organ des erreichten Cultur-
grades; die groſsen technischen und sittlichen Revolutionen
sind darin wie in einem Archiv aufbewahrt, aus dessen Acten
die Zukunft nicht versäumen wird für jene Zeiten zu schöpfen,
aus welchen alle directe Ueberlieferung verstummt ist. Wäh-
rend die jetzt getrennten indogermanischen Völker einen gleich-
sprachigen Stamm bildeten, erreichten sie einen gewissen Cul-
turgrad und einen diesem angemessenen Wortschatz, den als
gemeinsame Ausstattung in conventionell festgestelltem Ge-
brauch alle Einzelvölker übernahmen um auf der gegebenen
Grundlage selbstständig ihn weiter zu gestalten. Wir finden
in diesem Wortschatz nicht blos die einfachsten Bezeichnungen
des Seins, der Thätigkeiten, der Wahrnehmungen, wie sum,
do, pater,
das heiſst den ursprünglichen Wiederhall des
Eindrucks, den die Auſsenwelt auf die Brust des Menschen
macht, sondern auch eine Anzahl Culturwörter nicht bloſs ihren
Wurzeln nach, sondern in der gewohnheitsmäſsig ausgeprägten
Form, welche Gemeingut des indogermanischen Stammes und
weder aus gleichmäſsiger Entwicklung noch aus späterer
Uebersiedelung erklärbar sind. So besitzen wir Zeugnisse für
die Entwicklung des Hirtenlebens in dieser fernen Epoche
in den unabänderlich fixirten Namen der zahmen Thiere:
sanskritisch gâus ist lateinisch bos, griechisch βοῦς; avis
ist lateinisch ovis, griechisch ὄϊς; sanskritisch açvas, latei-
nisch equus, griechisch ἳππος; sanskritisch hañsas, latei-
nisch anser, griechisch χήν sanskritisch âtis, griechisch νῆσσα,
lateinisch anas; ebenso sind pecus, taurus, canis sans-
kritische Wörter. Ferner für den Gebrauch der Wagen:
sanskritisch jugam ist lateinisch iugum, griechisch ζνγόν,
deutsch Joch; sanskritisch akshas (Achse und Karren), latei-
nisch axis, griechisch ἂξων, ἅμ-αξα; für den des Sil-
bers und Kupfers: argentum aes kehren wieder im
Sanskrit und hatten doch schwerlich eigene Namen, ehe man
sie zu scheiden und zu brauchen verstand, wie denn auch sans-
kritisch asis, lateinisch ensis auf Gebrauch von Metallwaffen
hindeutet. So giebt es Zeugniſs für die uralte Nutzung des
Salzes, sanskritisch saras, lateinisch sal, griechisch ἅλς; für
den Häuser- und Hüttenbau, sanskritisch dam(as), lateinisch
domus, griechisch δόμος; sanskritisch vêças, lateinisch vicus,
griechisch οἶϰος. Selbst die Elemente der Religion und der
Wissenschaft zeigen Spuren ursprünglicher Gemeinschaft; die
[14]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, êkaça-
tam
, lateinisch centum, griechisch ἑ-ϰατόν, gothisch hund);
der Mond heiſst in allen Sprachen davon, daſs man nach ihm
die Zeit miſst (mensis), und nicht blos der Begriff der
Gottheit (sanskritisch dêvas, lateinisch deus, griechisch ϑεός)
gehört zum ältesten Volksgut, sondern auch manche der älte-
sten Naturbilder und Natursagen; wie denn der griechische
Uranos der Varunas, der Zeus oder Iovis pater, Diespiter der
Djâus pitâ der Veden, der Hermeias ursprünglich Sâramêyas,
der Rasche, von dem Namen der Götterhündin Saramâ metrony-
misch gebildet ist, und zum Beispiel die griechische Sage von
dem Raub der Rinder des Helios, die wohl mit der römischen
Cacussage zusammenhängt, ihre sinnvolle Naturerklärung erst
in der indischen Mythologie findet, ebenso die Erinnyenbilder
in ihrem altersgrauen räthselhaften Geheimniſs mit den älte-
sten Hellenen aus dem Osten eingewandert zu sein scheinen.
Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem wohler-
worbenen Eigen jeder Nation in Sitte und Sprache vollkommen
durchzuführen bleibt einer Zeit vorbehalten, wo die Geschicht-
schreibung ihre groſsartige Aufgabe tiefer als es die unsrige thut
erfassen und es auch hier verschmähen wird ‚in Ketten zu reden‘.


Wenn die Aufgabe den Culturgrad zu bestimmen, den
die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten,
mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so
ist es dagegen speciell Aufgabe der italischen Geschichte zu
ermitteln, so weit es möglich ist, auf welchem Stande die
graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker
sich von einander schieden. Denn die Verwandtschaft der
Griechen und der Lateiner in Sprache und Sitte, welche ent-
schieden eine engere ist als die beider Nationen mit den
Kelten oder Slaven, ja selbst als die mit den ihnen noch am
nächsten stehenden Germanen, läſst daran keinen Zweifel,
daſs nicht die Stammväter der Griechen und die der Italiker
jede für sich aus der Heimath entlassen worden sind, sondern
daſs sie ursprünglich eine graecoitalische Nation gebildet haben.
Es ist keine überflüssige Arbeit, wenn wir fragen, wie weit in
dieser Epoche die Nation gelangt war; wir gewinnen damit
den Anfangspunkt der italischen Civilisation, den Ausgangs-
punkt der nationalen Geschichte. — Alle Spuren deuten da-
hin, daſs, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hir-
tenleben führten und die Halmfrucht vielleicht sammelten und
aſsen, nicht aber bauten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht
[15]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
sogar schon ein wein- und ölbauendes Volk waren. Zwar
liegt der Uebergang von der Hirtenwirthschaft zum Ackerbau
so nah, daſs er bei allen indogermanischen Völkern eingetre-
ten ist, ohne daſs ein historischer Zusammenhang zum Beispiel
des indischen und des slavischen Ackerbaus anzunehmen wäre.
Allein in Hinsicht auf die Stammväter der Griechen und der
Italiker läſst ein solcher Zusammenhang sich nicht abweisen.
Dafür zeugt die Sprache: ager ἀγϱός; aro aratrum ἀϱόω
ἂϱοτϱον; ligo
neben λαχαίνω; hortus χόϱτος; hordeum
ϰϱιϑή; cicer ϰέγχϱος; milium μελίνη; vinum οἶνος; oliva
ἐλαία,
und ebenso das Zusammentreffen des griechischen und
italischen Ackerbaus in der Form des Pfluges, der auf alt-
attischen und römischen Denkmälern ganz gleichgebildet vor-
kommt, wie in der Wahl der ältesten Kornarten: Hirse, Gerste,
Spelt, und in der Bereitungsart: puls πόλτος, pinso πτίσσω,
mola μύλη;
denn das Backen ist jüngeren Ursprungs und
wird auch deshalb im römischen Ritual statt des Brotes stets
der Teig oder Brei gebraucht. Wie alt der Weinbau in Ita-
lien ist, beweist die Benennung der Landschaft Οἰνωτϱία, die
bis zu den ältesten griechischen Anlandern hinaufzureichen
scheint. Daſs auch die Germanen in unmittelbarem Zusam-
menhang mit dieser Entwicklung standen, wie die Ausdrücke
Acker, aran (pflügen, mundartlich eren), Rechen neben ligo,
Garten neben hortus zu verstehen geben, kann hier nur ange-
deutet werden. Erwähnenswerth ist es dagegen, daſs die san-
skritischen Bezeichnungen für die Gegenstände des Ackerbaus
denen der westlichen Völker nicht gleichartig sind; agras ist
bei den Indern überhaupt Gebiet, Flur, aritram ist Ruder
und Schiff, venas das Anmuthige überhaupt, namentlich auch
von Getränken, — man sieht, daſs die Wurzeln schon vor
der Trennung bestanden, aber die bestimmten Beziehungen
des Bewirthschaftens, des Aufwühlens, des anmuthigen Tran-
kes erst später hinzutraten. Ob der durch das Feststellen
dieser Bezeichnungen charakterisirte Fortschritt des Stammes
stattfand, während er in den südkaukasischen Gegenden in
Armenien ansässig war, wo Gerste und Spelt, der Weinstock
und der Apfelbaum und andere älteste Culturpflanzen einhei-
misch sein sollen, sind Fragen, auf die schwerlich eine sichere
Antwort sich geben läſst. Sicher aber ist der Ackerbau für
die graecoitalische wie ja für alle anderen Nationen auch der
Keim und der Kern ihres Volks- und Privatlebens geworden
und als solcher im Volksbewuſstsein geblieben, wie Religion
[16]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
und Sage, Gesetz und Sitte um die Wette bekunden. Das
Haus und der feste Heerd, den der Ackerbauer sich gründet
anstatt der leichten Hütte und der unsteten Feuerstelle des
Hirten, werden im geistigen Gebiete dargestellt und idealisirt
in der Göttin Vesta oder Ἑστία, fast der einzigen, die beiden
Nationen von Haus aus gemein ist. Eine der ältesten itali-
schen Stammsagen legt dem König Italus, oder, wie die Italiker
gesprochen haben müssen, Vitalus oder Vitulus die Ueber-
führung des Volkes vom Hirtenleben zum Ackerbau bei und
knüpft sinnig die ursprünglich italische Gesetzgebung daran;
nur eine andere Wendung davon ist es, wenn die samnitische
Stammsage zum Führer der Urcolonien den Ackerstier macht
oder wenn die ältesten latinischen Volksnamen das Volk be-
zeichnen als Schnitter (Siculi, auch wohl Sicani) oder als
Feldarbeiter (Opsci). Es gehört zum sagenwidrigen Charakter
der sogenannten römischen Ursprungssage, daſs darin ein
Hirten- und Jägervolk auftritt, das dennoch Städte gründet. —
Wie der Ackerbau selbst beruhen auch die Bestimmungen der
Flächenmaſse und die Weise der Limitation bei beiden Völ-
kern auf gleicher Grundlage; wie denn das Bauen des Bodens
ohne eine wenn gleich rohe Vermessung desselben nicht ge-
dacht werden kann. Der oskische und umbrische Vorsus von
100 Fuſs ins Gevierte entspricht genau dem griechischen
Plethron; es darf danach, so wie nach dem Stehenbleiben der
Zahlwörter bei Hundert angenommen werden, daſs das durch
die Natur selbst dem Menschen angegebene Decimalsystem
auch das älteste graecoitalische und das künstlichere duodeci-
male späteren Ursprungs ist. Daſs der römische Fuſs, der
einzige unter den italischen, den wir genau kennen, um ein
Geringes kleiner als der griechische (\frac{24}{25} desselben ist 1 rö-
mischer Fuſs) ist, erklärt sich daraus, daſs die mathematisch
genaue Bestimmung des Fuſses unzweifelhaft einer viel spä-
teren Epoche angehört. Das Princip der Limitation ist ein-
fach; der Feldmesser orientirt sich nach einer der Himmels-
gegenden und zieht also zuerst zwei Linien von Norden nach
Süden und von Osten nach Westen, in deren Schneidepunkt
(templum, τέμενος von τέμνω) er steht, alsdann in gewissen
festen Abständen den Hauptschneidelinien parallele Linien, wo-
durch eine Reihe rechtwinklichter Grundstücke entsteht, deren
Ecken die Grenzpfähle (termini, in sicilischen Inschriften τέϱ-
μονες,
gewöhnlich ὅϱοι) bezeichnen. Diese Limitationsweise,
die wohl auch etruskisch, aber schwerlich etruskischen Ur-
[17]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
sprungs ist, finden wir bei den Römern, Umbrern, Samniten,
aber auch in sehr alten Urkunden der tarentinischen Herakleo-
ten, die sie wahrscheinlich eben so wenig von den Italikern
entlehnt haben, als diese sie von den Tarentinern, sondern
es ist altes Gemeingut. Eigenthümlich römisch und charak-
teristisch ist die eigensinnige Ausbildung des quadratischen
Princips, wonach man selbst wo Fluſs und Meer eine natür-
liche Grenze machten, diese nicht gelten lieſs, sondern mit
dem letzten vollen Quadrat das zum Eigen vertheilte Land
abschloſs. — Das griechische Haus, wie Homer es kennt, ist
im Wesentlichen dasselbe, das in Italien beständig festgehalten
ward; das wesentliche Stück und ursprünglich der ganze in-
nere Wohnraum des lateinischen Hauses ist das Atrium mit
dem Ehebett, dem Hausaltar und dem Heerd, dessen Rauch
die Decke schwärzt — daher der Name — und durch ein
Loch in derselben abzieht; ihm gleicht durchaus das home-
rische Megaron mit Hausaltar und Heerd und schwarzberusster
Decke. Ebenso ist es im Schiffbau; navis erscheint schon im
sanskritischen ndus in gleicher Geltung, ebenso Ruder (aritram,
ἐϱετμός, remus, triresmis
); während die Bezeichnungen für
Segel (velum von vehere), Mast (malus der Baum) und Raa (an-
tenna
, das ist ἄνα-tenda, supertensa) italischen Ursprungs sind,
also, wenn diese Spuren nicht trügen, die Graecoitaliker wohl
Ruderbarken hatten, aber keine Segelschiffe. Die uralte italische
Sitte, daſs die Bauern gemeinschaftlich ihr Mittagsmahl hielten,
deren Ursprung der Mythus an die Einführung des Ackerbaus
anknüpft, vergleicht Aristoteles mit den kretischen Syssitien.
Ebenso ist die Kleidung beider Völker wesentlich identisch,
denn die Tunica entspricht völlig dem Chiton und die Toga
ist nichts als ein bauschigeres Ilimation; ja selbst in dem so
veränderlichen Waffenwesen ist wenigstens der Name der
Hauptwaffe jener Zeit, der Lanze (lancea λόγχη) wahrschein-
lich bei beiden Völkern ein Erbstück der graecoitalischen Epoche.
So geht bei den Griechen und Italikern in Sprache und Sitte
zurück auf dieselben Elemente alles was die materiellen Grund-
lagen der menschlichen Existenz betrifft; die ältesten Aufga-
ben, die die Erde an den Menschen stellt, sind einstmals von
beiden Völkern, als sie noch eine Nation ausmachten, gemein-
schaftlich gelöst worden.


Anders ist es in dem geistigen Gebiet. Die groſse Auf-
gabe des Menschen, mit sich selbst, mit seines Gleichen und
mit dem Ganzen in bewuſster Harmonie zu leben, läſst so
Röm. Gesch. I. 2
[18]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
viele Lösungen zu als es Provinzen giebt in unsers Vaters
Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiel-
len, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich
scheiden, und wo auch zwischen Hellenen und Italikern jene
tiefe innerliche Differenz sich offenbart, deren Nachwirkung
noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat,
Kunst und Religion sind von beiden Völkern so eigenthüm-
lich, so durchaus national entwickelt worden, daſs die gemein-
schaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fuſsten,
dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz ent-
zogen ist. Jenes hellenische Wesen, das den Staat dem Men-
schen, dem Einzelnen das Ganze aufopfert, dessen politische
Entwicklung besteht in einer Lösung erst der nationalen
Einheit, dann sogar der Gewalt der Gemeinde, dessen reli-
giöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und
dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem
Spiel der nackten Knaben und die Gedanken freigab; und jenes
römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die
Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht
der Götter bannte, das die keusche Verhüllung des Körpers
schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem wer anders
sein wollte als die Genossen ein schlechter Bürger hieſs, in
dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der
einzige nicht verpönte hohe Gedanke — wer vermag diese
scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ur-
sprüngliche Einheit, die sie beide umschloſs und beide vor-
bereitete und erzeugte? Es wäre thörichte Vermessenheit,
diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeu-
tungen soll es versucht werden die Anfänge der italischen
Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu
bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht
Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.


Alles was man das patriarchalische Element im Staate nen-
nen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben
Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und
ehrbare Gestaltung des geschlechtlichen Lebens, welche dem
Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau
schwer ahndet; und welche in der hohen Stellung der Mutter
innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider
Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen
ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtlose
Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väter-
[19]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
lichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; die
sittliche Unterthänigkeit hat erst in Italien sich entwickelt zur
rechtlichen Knechtschaft. Auf dem Hause beruht das Ge-
schlecht, das heiſst die Gemeinschaft der Nachkommen des-
selben Stammvaters. Daſs das Geschlechterwesen bei den
Griechen wie bei den Italikern die Grundlage des öffentlichen
Lebens war, ist unzweifelhaft; allein während in Griechenland
die Zustände früh verschwanden, in denen die Aleuaden, die
Herakliden, die Alkmaeoniden das staatliche Leben beherrsch-
ten, ward in Italien das gesammte Privatrecht auf das Recht
der Geschlechter aufgebaut und was in der patriarchalischen
Epoche natürlich und sittlich gegolten hatte, durch Gesetz
und Recht scharf und hart festgestellt. Der Gang der Ent-
wicklung spiegelt sich in den Namen. In den älteren grie-
chischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjectivisch
zum Eigennamen hinzu, während umgekehrt noch die römi-
schen Gelehrten es wuſsten, daſs ihre Vorfahren ursprünglich
nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in
Griechenland der adjectivische Geschlechtsname früh verschwin-
det, wird er bei den Italikern und zwar nicht bloſs bei den Rö-
mern zum Hauptnamen, so daſs der eigentliche Individualname,
das Praenomen daneben zurücktritt. Ja es ist als sollte die
geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die
Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen
Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen
Fülle der griechischen Eigennamen, uns wie im Bilde zeigen,
wie dort die Nivellirung, hier die freie Entwicklung der Per-
sönlichkeit im Wesen der Nation lag. — So mag man sich
für jene graecoitalische Periode ein Zusammenleben in Fami-
liengemeinden unter Stammhäuptern denken, das allerdings
schon die Anfänge der Rechtsbildung enthielt, aber in dem
von den späteren Politien, der römischen wie der hellenischen
noch kaum die Keime sich finden. Gericht, Buſse, Vergeltung
(crimen, ϰϱίνειυ; poena, ποίνη; talio, ταλάω τῆλναι) sind
graecoitalische Begriffe; das strenge Schuldrecht, nach dem
der Schuldner für die Zahlung des Empfangenen mit sei-
nem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den
tarentinischen Herakleoten gemeinsam; die ‚Gesetze des Kö-
nigs Italus‘, die noch in Aristoteles Zeit angewendet wurden,
mögen diese alten Institutionen bezeichnen. Eine gewisse
Verfassung, das Regiment des Stammhauptes, ein Rath der
Alten, Versammlungen der waffenfähigen Freien werden nicht
2*
[20]ERSTES BUCH. KAPITEL II.
gefehlt haben; aber alle eigentlich politischen Institutionen sind
in Normen wie in Namen italischen Ursprungs und lassen sich
nicht über die Scheidung der Stämme hinaus verfolgen. — Nicht
anders ist es in der Religion. Nur wenige Grundgedanken und
Göttergestalten der beiden Völker gehören zu ihrem gemein-
samen Erbgut; so die Hestia oder Vesta, der Begriff des hei-
ligen abgegrenzten Raumes (templum, τέμενος), der Glaube an
die schattenhafte Fortdauer der Verstorbenen; von dem alten
Gemeinschatz der symbolisirten und personificirten Naturan-
schauungen ward hüben und drüben nur wenig bewahrt.
Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern
selbst die groſsen Gegensätze sich schieden, welche die graeco-
italische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammenge-
halten hatte, so schied sich auch jetzt in der Religion Begriff
und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen
waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am
Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, daſs die
Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Heerde zu-
sammentreibe; der Grieche vergaſs es, daſs die Kühe eigentlich
die Wolken waren, und machte aus dem bloſs für einen Zweck
gestalteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten
und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen
rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen;
wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das
glänzende Auge der Tochter des Zeus Athenaea — aber so
mächtig waren ihm die Gestalten, daſs er bald in ihnen nichts
sah als vom Glanz der Naturkraft strahlende und getragene
Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit ge-
staltete. Anders, nicht schwächer offenbarte sich die innige
Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt
und es nicht litt, daſs die Form ihn verdunkelte. Wie der
Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt,
so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist An-
schauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt
er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen
wie dem Baum, dem Staat wie der Vorrathskammer (penates)
ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist
zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet;
dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Iuno,
dem Gehöfte der Gott der Einfriedigung (Herculus oder Her-
cules
von hercere, nicht von Ἡϱαϰλῆς), der Grenze der Ter-
minus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Ver-
[21]AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
tumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in
den Handlungen der einzelne Moment der Thätigkeit vergei-
stigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann
angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens,
Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Ein-
fahrens, Aufspeicherns und des Oeffnens der Scheuer; und in
ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische
Ereigniſs mit heiligem Leben ausgestattet. Je gröſsere Kreise
indeſs die Abstraction beschreibt, desto höher steigt der Gott
und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Iupiter und Iuno
die Abstractionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Ceres
die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea dia die
göttliche, Dea bona oder bei den Samniten Dea cupra die
gute Gottheit. Diese Götter konnten freilich nicht sich ver-
mählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten
nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des
Nektars. Wie den Griechen alles concret und körperlich erschien,
so konnte der Römer nur abstracte vollkommen durchsichtige
Formeln brauchen und konnte eben deſshalb nicht beginnen mit
dem alten Sagenschatz der Urzeit, den er nicht mehr verstand.
Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes
die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstractionen
des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen
Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die
Freiheit, hier die Nothwendigkeit. Jene führt zum Mythus und
zur Cultfigur und damit zur Poesie und zur Bildnerei; aber das
tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung
und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der Glaube an die ei-
genen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation.
Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide
vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener
schmähen weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand
wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden
lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Entschlossen
gab der Italiker die Willkür auf um der Freiheit willen und lernte
dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen ver-
stände. Mochte der Einzelne bei dieser Unterthänigkeit verder-
ben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern:
er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl wie der
Grieche es nie gekannt hat und errang die nationale Einheit,
die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und
über den ganzen Erdkreis die Botmäſsigkeit in die Hand legte.


[[22]]

KAPITEL III.



Die Ansiedlungen der Latiner.


Der Zug des umbrisch-sabellischen Stammes auf dem
mittleren Bergrücken Italiens in der Richtung von Norden
nach Süden läſst sich noch deutlich verfolgen; ja die letzten
Phasen desselben gehören der vollkommen historischen Zeit
an. Weniger kenntlich ist der Weg, den die latinische Wan-
derung einschlug. Vermuthlich zog sie in ähnlicher Richtung
an der Westküste entlang, wohl lange bevor die ersten sabel-
lischen Stämme aufbrachen; der Strom überfluthet die Höhen
erst wenn die Niederungen schon eingenommen sind und
nur wenn die latinischen Stämme schon vorher an der Küste
saſsen, erklärt es sich, daſs die Sabeller sich mit den rauheren
Gebirgen begnügten und erst von diesen aus wo es anging
sich zwischen die latinischen Völker drängten. — Daſs vom
linken Ufer der Tiber bis an die volskischen Berge ein latini-
scher Stamm wohnte, ist allbekannt; diese Berge selbst aber,
welche bei der ersten Einwanderung, als noch die Ebenen
von Latium und Campanien offen standen, verschmäht worden
zu sein scheinen, waren, wie die volskischen Inschriften
zeigen, von einem den Sabellern näher als den Latinern ver-
wandten Stamm besetzt. Dagegen wohnten in Campanien vor
der griechischen und samnitischen Einwanderung wahrschein-
lich Latiner; denn die italischen Namen Novla oder Nola
(Neustadt), Campani Capua, Volturnus (von volvere wie
Iuturna von iuvare), Opsci (Arbeiter) sind nachweislich älter
als der samnitische Einfall und beweisen, daſs, als Kumae
[23]ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
von den Griechen gegründet ward, ein italischer und wahr-
scheinlich latinischer Stamm, die Ausoner Campanien inne
hatten. Auch die Urbewohner der später von den Lucanern
und Brettiern bewohnten Landschaften, die eigentlichen Itali
(Bewohner des Rinderlandes) werden von den besten Beobach-
tern nicht dem iapygischen, sondern dem italischen Stamm
zugezählt; es ist nichts im Wege sie dem latinischen Stamm
beizuzählen, obwohl die frühe vor dem Beginn der staatlichen
Entwicklung Italiens erfolgte Hellenisirung dieser Gegenden
und deren spätere Ueberfluthung durch samnitische Schwärme
die Spuren der älteren Nationalität gänzlich verwischt hat.
Den gleichfalls verschollenen Stamm der Siculer setzen sehr
alte Sagen in Beziehung zu Rom; so erzählt der älteste ita-
lische Geschichtschreiber Antiochos von Syrakus, daſs zum
König Morges von Italien (d. h. der brettischen Halbinsel)
ein Mann Namens Sikelos auf flüchtigem Fuſs aus Rom ge-
kommen sei, und es scheinen diese Erzählungen zu beruhen
auf der von den Berichterstattern wahrgenommenen Stammes-
gleichheit der Siculer, deren es noch zu Thukydides Zeit in
Italien gab, und der Latiner. Die auffallende Verwandtschaft
einzelner dialektischer Eigenthümlichkeiten des sicilischen
Griechisch mit dem Lateinischen (μοῖτον mutuum; πατάνη
patina; ϰάϱϰαϱον carcer) erklärt sich zwar wohl nicht aus der
alten Sprachgleichheit der Siculer und Römer, sondern aus den
Handelsverbindungen zwischen Rom und den sicilischen Grie-
chen; glaublich ist es indeſs nach allen Spuren, daſs nicht
bloſs die latinische, sondern auch die campanische und lucani-
sche Landschaft, das eigentliche Italia zwischen den Buchten
von Tarent und Laos und die östliche Hälfte von Sicilien in
alter Zeit von verschiedenen Stämmen der latinischen Nation
bewohnt waren. — Die Schicksale dieser Stämme waren sehr
ungleich. Die in Sicilien, Groſsgriechenland und Campanien
angesiedelten kamen mit den Griechen in Berührung in einer
Epoche, wo sie deren Waffen und deren Civilisation Widerstand
zu leisten nicht vermochten und wurden entweder völlig helle-
nisiert, wie namentlich in Sicilien, oder doch so geschwächt,
daſs sie der frischen Kraft der sabinischen Stämme ohne
sonderliche Gegenwehr unterlagen. So sind die Siculer, die
Italer und Morgeten, die Ausoner nicht dazu gekommen eine
thätige Rolle in der Geschichte der Halbinsel zu spielen. —
Anders war es in Latium, wo griechische Colonien nicht ge-
gründet worden sind und es den Einwohnern nach harten
[24]ERSTES BUCH. KAPITEL III.
Kämpfen gelang sich gegen die Sabiner wie gegen die nörd-
lichen Nachbarn zu behaupten. Werfen wir einen Blick auf
die Landschaft, die wie keine andere in die Geschicke der
alten Welt einzugreifen bestimmt war.


Schon in urältester Zeit ist die Ebene von Latium der
Schauplatz der groſsartigsten Naturkämpfe gewesen, während
des Wassers langsam bildende Kraft und gewaltige Vulcane
Schicht über Schicht schoben desjenigen Bodens, auf dem
entschieden werden sollte, welchem Volk die Herrschaft der
Erde gehöre. Eingeschlossen im Osten von den Bergen
der Sabiner und Aequer, die dem Apennin angehören; im
Süden von dem bis zu 4000 Fuss Höhe ansteigenden volski-
schen Gebirg, welches von dem Hauptstock des Apennin durch
das alte Gebiet der Herniker, die Hochebene des Sacco (Trerus,
Nebenfluſs des Liris), getrennt ist und von dieser aus sich
westlichziehend mit dem Vorgebirg von Terracina abschlieſst;
im Westen von dem Meer, das an diesem Gestade nur wenige
und geringe Häfen bildet; im Norden in das weite etrurische
Hügelland sich verlaufend, breitet eine weite Ebene sich aus,
durchflossen von dem Tiberis, dem ‚Bergstrom‘, der aus den
umbrischen, und dem Anio, der von den sabinischen Bergen
herkommt. Inselartig steigen in der Fläche auf theils die
steilen Kalkfelsen des Soracte im Nordosten, des circaeischen
Vorgebirgs im Südwesten, so wie der ähnliche obwohl niedri-
gere Höhenzug des Ianiculum bei Rom; theils vulcanische Er-
hebungen, deren erloschene Krater zu Seen geworden und
zum Theil es noch sind; die bedeutendste unter diesen ist
das Albanergebirg, das nach allen Seiten frei zwischen den
Volskergebirgen und dem Tiberfluss aus der Ebene empor-
ragt. — Das eigentliche Latium ist indeſs nur ein kleiner
Theil dieses Gebietes. Alles Land nördlich von der Tiber ist
den Latinern ein fremdes, ja sogar ein feindliches Gebiet, mit
dessen Bewohnern ein ewiges Bündniſs, ein Landfriede nicht
möglich war und die Waffenruhe stets auf bestimmte Zeit ab-
geschlossen worden zu sein scheint. Die Feststellung der
Tibergrenze gegen Norden ist uralt und wird von der Sage
auf die Fehde zwischen den Aeneaden und dem König Mezen-
tius zurückgeführt. Die flachen und sumpfigen Strecken süd-
lich vom Albanergebirg finden wir in den Händen der umbrisch-
sabellischen Stämme, der Rutuler und Volsker; schon Ardea
und Velitrae sind nicht mehr ursprünglich latinische Städte.
Nur der mittlere Theil, zwischen der Tiber, dem Apennin, den
[25]ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
Albanerbergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deut-
schen Quadratmeilen, wenig gröſser als der jetzige Canton
Zürich, ist das eigentliche Latium, die ‚breite Ebene‘ *, wie sie
von den Höhen des Monte Cavo dem Auge sich darstellt. Die
Landschaft ist eben, aber nicht flach; mit Ausnahme des san-
digen und zum Theil von der Tiber aufgeschwemmten Meeres-
strandes wird die Fläche unterbrochen durch mäſsig hohe oft
ziemlich steile Tuffhügel und tiefe Erdspalten und stets wech-
selnde Steigungen und Senkungen des Bodens, zwischen denen
sich im Winter jene Lachen bilden, deren Verdunsten in der
Sommerhitze, namentlich wegen der darin faulenden organi-
schen Substanzen, die böse fieberschwangere Luft entwickelt,
welche in alter wie in neuer Zeit im Sommer die Landschaft
verpestet. Es ist ein Irrthum, daſs diese Miasmen erst durch
den Verfall des Ackerbaus entstanden seien, wie ihn das Miſs-
regiment des letzten Jahrhunderts der Republik und das heu-
tige erzeugt haben; ihre Ursache liegt vielmehr in dem man-
gelnden Gefäll des Wassers und wirkt noch heute wie vor
Jahrtausenden. Wahr ist es indeſs, obwohl noch nicht voll-
ständig erklärt, daſs bis auf einen gewissen Grad die böse
Luft sich bannen läſst durch die Intensität der Bodencultur;
wovon zum Theil die Ursache darin liegen wird, daſs die
Bearbeitung der Oberfläche das Austrocknen der stehenden
Wässer beschleunigt. Immer bleibt die Entstehung einer dich-
ten ackerbauenden Bevölkerung in Gegenden, die jetzt keine
gesunde Bevölkerung gedeihen lassen und in denen der Rei-
sende nicht gern die Nacht verweilt, wie die latinische Ebene
und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine für
uns befremdliche Thatsache; man muſs sich erinnern, daſs
auf einer niedrigeren Culturstufe das Volk überhaupt einen
schärferen Blick hat für das, was die Natur erheischt, und eine
gröſsere Fügsamkeit gegen ihre Gebote, vielleicht auch physisch
eine elastischere Natur, die dem Boden sich innig anschmiegt.
In Sardinien wird unter ganz ähnlichen physischen Verhält-
nissen der Ackerbau noch heut zu Tage betrieben; die böse
Luft ist wohl vorhanden, allein der Bauer entzieht sich ihren
Einflüssen durch Vorsicht in Kleidung, Nahrung und Wahl
der Tagesstunden. In der That schützt vor der Aria cattiva
nichts so sicher als das Tragen der Thiervlieſse und das
[26]ERSTES BUCH. KAPITEL III.
lodernde Feuer; woraus sich erklärt, weſshalb der römische
Landmann beständig in schwere Wollstoffe gekleidet ging und
das Feuer auf seinem Heerd nicht erlöschen lieſs. Im Uebri-
gen ist der Boden dem Ackerbau günstig; er ist leicht mit
Hacke und Karst zu bearbeiten und auch ohne Düngung er-
tragsfähig, ohne nach italienischem Maſsstab auffallend ergiebig
zu sein; der Weizen giebt durchschnittlich etwa das fünfte Korn *.
An gutem Wasser ist kein Ueberfluſs; um so höher und hei-
liger hielt die Bevölkerung jede frische Quelle. Die natürlichen
Festen der latinischen Ebene sind theils die Höhen von Tibur
und Praeneste auf den letzten Ausläufern der Sabinerberge,
theils und besonders die Burg Latiums, das Albanergebirg,
das die gesundeste Luft, die frischesten Quellen und die ge-
sichertste Lage den Ansiedlern darbot. Dorthin führen auch
die ältesten geschichtlichen Spuren. Hier lag auſser andern
uralten Ansiedlungen, wie Tusculum und Aricia, vor allem
Alba selbst, die Metropole von ganz Latium, dessen sämmt-
liche Städte als seine Colonien gelten wie alle Latiner als
albanischen Heimathrechts. In seiner nächsten Umgegend,
obwohl nicht in der Stadt selbst, sind die altnationalen Bun-
desstätten Latiums, die Dingstätte am Quell der Ferentina bei
Marino und der Tempel des ‚latinischen Gottes‘ (Iupiter La-
tiaris
) auf dem Monte Cavo, wo alljährlich an einem vom
Vorstand festgesetzten Tage das latinische Bundesfest gefeiert
ward. Dort begegnen wir einem der groſsartigsten Bauwerke,
das Italien aufzuweisen hat, dem gewaltigen in den harten
[27]ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
Fels gebrochenen unterirdischen Kanal, durch den die schöne
Bergebene von Aricia trocken gelegt ist; obwohl es dem Egois-
mus der römischen Sage gefallen hat diesen Bau als Episode
in die Belagerung von Veii einzuflechten, wird es doch kaum
einem Zweifel unterliegen, daſs er, der der Stadt Aricia ver-
muthlich den Namen gab *, weit älter und ein Werk derje-
nigen Epoche ist, wo Alba die Hauptstadt Latiums nicht blos
hieſs, sondern war.


Daſs mit der ersten Ansiedlung des latinischen Stammes
in diesem Gebiete keineswegs die Gründung von umwallten
Städten verbunden war, bedarf keines Beweises; wenn auch
sei es durch die erste Ansiedlung sei es durch spätere Thei-
lung die Geschlechtsgenossen regelmäſsig zugleich zu einer
Markgenossenschaft zusammentreten mochten, so wohnte doch
unzweifelhaft jeder auf dem Land, das er pflügte und seine
Grenze wie seine Wehr war zunächst der Hofzaun. Doch
konnte es an festen localen Mittelpunkten nicht fehlen; nicht
so sehr weil der gemeinschaftliche Versammlungsplatz doch
wohl regelmäſsig derselbe war, sondern weil das Bedürfniſs
der Vertheidigung es schlechterdings erforderte irgendwo in
der Feldmark einen Hügel oder eine künstliche Burg einzu-
richten, wo die Bauern sich und ihr Vieh vor dem Einfall
des Feindes bergen konnten. Diese Plätze, die natürlich auch
zugleich die heiligen Stätten der Markgenossen einschlossen
und die wir uns übrigens als regelmäſsig unbewohnt oder
schwach bewohnt zu denken haben, begegnen uns unter den
Namen der ‚Berge‘ (montes) und ‚Bauten‘ (pagi von pangere),
der ‚Burgen‘ (arces von arcere) und ‚Ringe‘ (urbes von urvus,
curvus, orbis
) und sie sind die Grundlage der vorstädtischen
Gauverfassung in Italien geworden, welche in denjenigen itali-
schen Landschaften, die zum städtischen Zusammensiedeln erst
spät und zum Theil noch bis auf den heutigen Tag nicht voll-
ständig gelangt sind, wie im Marserland und in den kleinen
Gauen der Abruzzen, noch einigermaſsen deutlich sich erken-
nen läſst. Die Landschaft der Aequiculer, die noch in der
Kaiserzeit nicht in Ringmauern, sondern in unzähligen offenen
Weilern wohnten, zeigt eine Menge alterthümlicher Mauerringe,
die als ‚verödete Städte‘ mit einzelnen Tempeln das Staunen
der römischen wie der heutigen Archäologen erregten, von
denen jene ihre ‚Urbewohner‘ (aborigines), diese ihre Pelasger
[28]ERSTES BUCH. KAPITEL III.
hier unterbringen zu können meinten. Gewiſs richtiger wird
man in diesen Anlagen keineswegs Stadtmauern erkennen,
sondern Zufluchtstätten der Markgenossen, wie sie in älterer
Zeit ohne Zweifel in ganz Italien wenn gleich in weniger
kunstvoller Weise sich fanden. Daſs in derselben Epoche,
wo die zu städtischen Ansiedlungen übergegangenen Stämme
ihren Städten steinerne Ringmauern gaben, auch die Land-
schaften, die in offenen Weilern zu wohnen fortfuhren, die
Erdwälle und Pfahlwerke ihrer Festungen durch Steinbauten
ersetzten, ist natürlich; als dann in der spätern Zeit des ge-
sicherten Landfriedens man solcher Festungen nicht mehr
bedurfte, wurden diese Zufluchtsstätten verlassen und bald
den späteren Generationen ein Räthsel. — In der römi-
schen Mark findet sich eine andere Spur dieser ältesten Ge-
schlechtergaue in den uralten Pagi, aus denen man später
die Landtribus gestaltet hat. Daſs es alte Familienbezirke
sind, wird uns von der Ansiedlung der Claudier am Anio be-
richtet und geht ebenso sicher für die übrigen Districte aus
den Namen hervor, welche sämmtlich entweder für uns gänz-
lich verschollenen Geschlechtern entlehnt sind (so den Camilii,
Galerii, Lemonii, Pupinii, Voltinii
) oder den ältesten römi-
schen Patricierfamilien, den Aemilii, Cornelii, Fabii, Horatii,
Menenii, Papirii, Poplilii, Romilii, Sergii, Veturii.
Es ist
bemerkenswerth, daſs alle Namen gentilicisch gebildet sind
und unter den Geschlechtern kein einziges derjenigen erscheint,
die erst später nach Rom eingebürgert wurden, namentlich
keines der albischen; so daſs wir in diesem Verzeichniss wohl
berechtigt sind die bedeutendsten unter den seit Menschen-
gedenken in der römischen Mark, lange ehe sie die römische
hieſs, angesiedelten Geschlechter zu erkennen.


Zunächst stand jeder Gau, zugleich Geschlechts- und
Markgenossenschaft, für sich allein als politische Einheit; al-
lein natürlich schlossen sich zu gröſserer gemeinschaftlicher
Sicherheit mehrere Gaue zusammen zu Eidgenossenschaften,
und es ist dies der erste Keim zu den Städtebünden, deren
weitere Entwicklung den Inhalt der italischen Geschichte bis
zur Erreichung der nationalen Einheit ausfüllt. — An der
Spitze eines bedeutenden Gemeinbundes dieser Art erscheint
in sehr früher Zeit Alba; das Verzeichniſs der ‚albischen
Völker‘, die unter diesem Namen bis in späte Zeit am latini-
schen Bundesfest theilnahmen, ist vielleicht die älteste urkund-
liche Ueberlieferung der italischen Geschichte. Es nennt zuerst
[29]ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
Alba selbst, dann dreiſsig gröſstentheils für uns vollständig
verschollene Flecken, die sogenannten albanischen Colonien, von
denen unter den sonst bekannten die meisten zwischen Alba und
Praeneste (so Aesula, Bola, Pedum, Vitellia, Toleria) und zwi-
schen Alba und Antium (so Corioli, Longula, Pollusca) gelegen
sind; doch erscheint merkwürdiger Weise darunter auch Fi-
denae, das zwischen Tiber und Anio 11 Miglien über Rom
hinaus liegt, ja vielleicht auch das noch weiter entfernte
Horta. — Eine zweite Verbrüderung ist diejenige, deren Bun-
desstätte der Hain der Diana in Aricia war; ihm gehörten
nach Cato bei Stiftung des Heiligthums an die Gemeinden Tus-
culum, Aricia, Lanuvium, Laurentum, ferner Pometia, Ardea,
die Rutuler, Cora und Tibur; das hohe Alter dieses Verzeich-
nisses, welches theils sabellische, theils latinische Stämme in
politischer Conföderation zeigt, bezeugt die Erwähnung des
früh zerstörten Suessa Pometia. — An der Spitze eines ähn-
lichen Bundes, dem vielleicht Lavicum und Nomentum ange-
hörten, mag Gabii gestanden haben, einstmals der nächste
und gefährlichste Gegner Roms, gegen den die Burg Sucusa
gebaut ward zwischen Palatin und Esquilin. Es wäre ver-
geblich die Kreise genauer abgrenzen zu wollen; ohne Zweifel
waren auch die Bünde selbst wandelbar und schloſs der ein-
zelne Gau sich bald da, bald dort an oder versuchte sich
auch auf eigene Hand zu behaupten. ‚Gröſsere und kleinere
Völkergemeinden umschlossen die neue Stadt, sagt Strabon
von dem neu gegründeten Rom, von denen einige auch in
unabhängigen Dörfern wohnten, keinem gemeinsamen Stamm
unterthan‘. — Daſs alle diese Bünde sich wieder als Stamm-
und Bundesgenossen in der latinischen Conföderation zusam-
menfanden, als die ‚alten Latiner‘ (prisci Latini) im Gegen-
satz der später auſserhalb Latium angesiedelten latinischen
Gemeinden, ist sehr wahrscheinlich, obgleich sich natürlich
nicht ausmachen läſst, wie weit das Recht und die Macht
dieser obersten Bundesgemeinde reichte. Daſs Alba als Haupt-
und Muttergemeinde galt, ist gewiſs, und bloſs in diesem Sinn
wird Rom auch als albanische Colonie bezeichnet.


[[30]]

KAPITEL IV.



Die Anfänge Roms.


Etwa vier deutsche Meilen von der Mündung des Tiber-
flusses aufwärts erheben sich an beiden Ufern desselben
mäſsige Hügel, höhere auf dem rechten, niedrigere auf dem
linken; auf den letzteren liegt Rom. Die Stätte ist minder
gesund und minder fruchtbar als die der meisten alten La-
tinerstädte; der Weinstock und der Fruchtbaum gedeihen nicht
wohl in der nächsten Umgebung und es ist Mangel an aus-
giebigen Quellen — denn weder der sonst treffliche Born der
Camenen vor dem capenischen Thor noch der später im Tul-
lianum gefaſste capitolinische Brunnen sind wasserreich. Dazu
kommen die häufigen Ueberschwemmungen des Flusses, der bei
sehr geringem Gefäll die reichlich ihm in der Regenzeit zuströ-
menden Bergwasser nicht schnell dem Meer zuzuführen vermag
und die zwischen den Hügeln sich öffnenden Thäler und Nie-
derungen überstaut und versumpft, um die Lage für den An-
siedler keineswegs lockend zu machen. Schon in alter Zeit ist
es ausgesprochen worden, daſs auf diesen ungesunden und
unfruchtbaren Fleck nicht die erste naturgemäſse Ansiedlung
der einwandernden Bauern sich gelenkt haben könne, sondern
daſs die Noth oder vielmehr irgend ein eigenthümlicher Grund
die Anlage dieser Stadt veranlaſst haben müsse. Diesen Grund
sucht die einheimische Sage in der Anlage der Stadt durch
Ausgetretene von Alba unter Führung der albanischen Fürsten-
söhne Romulus und Remus; eine Legende, die zwar viel älter
erfunden und viel naiver gebildet ist als die hellenisirende
[31]ERSTES BUCH. KAPITEL IV.
Aeneasfabel, der aber dennoch geschichtlich kaum eine gröſsere
Bedeutung beigelegt werden darf. Wie verhältniſsmäſsig späten
Ursprungs selbst der Name Romulus ist, beweist der Umstand,
daſs der ältere Name des Stammes urkundlich nicht Romani
war, sondern Ramnes und erst später mit einer der ältern
Sprachperiode geläufigen, sonst aber innerhalb des Lateini-
schen nicht mehr vorkommenden Umlautung in Romaneis oder
Romani überging; so daſs der Name Roma oder Rama viel-
leicht ursprünglich die Wald- oder Buschstadt bezeichnet. Die
Geschichte kann keinenfalls in jener Legende etwas anderes
erkennen als einen alten Versuch die seltsame Entstehung
des Orts an einer so wenig dem Ackerbau günstigen Stätte zu
erklären und zugleich den Ursprung Roms an die allgemeine
Metropole Latiums anzuknüpfen.


Machen wir uns frei von dem, was Geschichte zu sein
vorgiebt, und erwägen wir die natürlichen Verhältnisse der
Localität, so führen diese auf eine ganz andere Vermuthung.
Die Tiber ist Latiums natürliche Handelsstraſse, ihre Mündung
an dem hafenarmen Strande der nothwendige Ankerplatz der
Seefahrer; es ist ferner der Fluſs seit uralter Zeit die Grenz-
wehr des latinischen Stammes gegen die nördlichen Nachbarn.
Zum Grenzkastell und zum Emporium für die Fluſs- und
Seeschifffahrt der latinischen Landschaft eignet kein Platz sich
besser als Rom, das gegen Seeräuber gröſseren Schutz bot
als die unmittelbar an der Küste gelegenen Orte und bei dem
damaligen Stande der Schifffahrt dem Seefahrer nicht minder
bequem gelegen war wie dem Fluſsschiffer und das die Vortheile
einer festen Lage und der unmittelbaren Nachbarschaft des Flus-
ses vereinigte. In der That sprechen hiefür zahlreiche Spuren,
die von ganz anderem Gewicht sind als der Inhalt historisirter
Novelletten. Man erwäge die Grenzen des ältesten römischen
Stadtgebietes. Gegen Osten liegen die Städte Antemnae, Fidenae
Collatia, Gabii in nächster Nähe, zum Theil keine deutsche
Meile vor den spätern Thoren der Stadt; gegen Süden grenzte
sie an der spätern latinischen und appischen Straſse mit Tus-
culum und Alba, wir wissen nicht genau wo, aber schwerlich
in viel weiterer Entfernung; gegen Südwesten war die Grenze
zwischen Rom und Lavinium schon am sechsten Miglienstein.
Während so landeinwärts überall Rom in die möglichst
engen Schranken zurückgewiesen ist, dehnt es sich an beiden
Ufern der Tiber gegen das Meer hin aus, bis an welches die
ältesten uns bekannten Traditionen das römische Stadtgebiet
[32]ANFAENGE ROMS.
erstrecken; am rechten Ufer besaſs Rom hier die durch die
Salinen wichtigen ‚sieben Gaue‘, an dem gesicherten linken den
römischen Peiraeeus, die Stadt an der ‚Mündung‘ (Ostia), seit
unvordenklichen Zeiten römische Bürgercolonie, das heiſst
römische Vorstadt. Es kann das nicht Zufall sein; eine Ge-
meinde mit dieser Hauptstadt und diesem Gebiet muſs ge-
gründet worden sein als Entrepot für den latinischen See-
und Fluſshandel und maritime Grenzfestung Latiums. Daher
jene uralten Beziehungen zu Caere, das für die Etrusker war
was für Latium Rom und dessen nächster Nachbar; daher die
Brücke über den Fluſs und der Brückenkopf am andern Ufer,
das Ianiculum; daher die Galeere als städtisches Wappen.
Wahrscheinlich hängt es auch hiermit zusammen, daſs Rom
in Latium so früh eine Sonderstellung einnimmt; keine Spur
deutet darauf hin, daſs Rom zu irgend einer Zeit einer der
latinischen Sondergenossenschaften als Glied angehört habe.
Auch die Sage versäumt nicht es zu bezeichnen, daſs diese
Gemeinde, obwohl albanischen Ursprungs, doch von Haus
aus keineswegs Glied der albanischen Eidgenossenschaft ist,
sondern stellt dieser das römische Gemeinwesen als ebenbür-
tig zur Seite, in welcher Hinsicht die alten Traditionen über
das in Rom bestehende Asylrecht für Flüchtige aus den um-
liegenden Gemeinden und über das den Römern mit den
Bürgern der Nachbarstaaten in ältester Zeit mangelnde Conu-
bium Aufmerksamkeit verdienen. Daher endlich der bemer-
kenswerthe Gegensatz, in dem Rom von Haus aus zu den
übrigen latinischen Städten steht durch die Centralisirung der
Einwohnerschaft und die rasche und kräftige Entwicklung
städtischen Lebens. Wir sind gewohnt uns Rom als einen
ausschlieſslich ackerbauenden und dem Meer fremden Staat
vorzustellen; aber es ist nicht zufällig, daſs Rom zuerst unter
allen Staaten der Italiker eigenes Geld schlug und daſs es in
unglaublich früher Zeit mit überseeischen Handelsstaaten Ver-
träge abschloſs. Die nationale Sitte in offenen Dörfern zu
wohnen und die gemeinschaftliche Burg nur zu Festen und
Versammlungen oder im Nothfall zu benutzen ist in Rom wahr-
scheinlich viel früher beschränkt worden als in den andern
Gemeinden von Latium. Nicht als ob der Römer seinen
Bauerhof selbst zu bestellen oder ihn als sein rechtes Heim
zu betrachten aufgehört hätte; aber schon die böse Luft der
Campagna muſste es mit sich bringen, daſs er so weit es
anging auf den luftigeren und gesunderen Stadthügeln seine
[33]ANFAENGE ROMS.
Wohnung nahm; und neben dem Bauer muſs eine zahlreiche
nicht agricole Bevölkerung von Fremden und Einheimischen
dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Be-
völkerung des römischen Gebietes, das höchstens zu 5½
Quadratmeilen zum Theil sumpfigen und sandigen Bodens
angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadt-
verfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte,
also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich
auf diese Art einigermaſsen.


So mag Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt,
eher die jüngste Stadt in Latium sein als die älteste; bevor
das Land einigermaſsen bebaut und das albanische Gebirg so
wie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen bedeckt
war, konnte eine derartige Anlage nicht entstehen. Wie sie
entstanden ist: ob durch Beschluſs der latinischen Eidgenos-
senschaft, ob durch den genialen Blick eines verschollenen
Städtegründers, ob durch die natürliche Entwicklung des Ver-
kehrs — wer wagt das zu bestimmen? Daſs die Aera, die
von der Gründung der Stadt datirt, von einem willkürlich
fixirten Jahre ausgeht so gut wie die, die von Erschaffung
der Welt an rechnet, ist anerkannt; aber es muſs nicht min-
der zugestanden werden, daſs auch von dem Jahre abgesehen
die Stadtgründung selbst keineswegs als Anfangspunct der rö-
mischen Geschichte gelten kann. Rom ist nicht an einem
Tage gebaut worden. Die Sage zwar bringt die Anlage des
ersten Mauerringes in Zusammenhang mit der Entstehung der
römischen Gemeinde; allein die Geschichte muſs es als mög-
lich, ja als wahrscheinlich bezeichnen, daſs bevor die Mauern
auf dem Capitol und dem Palatin entstanden, schon eine
römische Gemeinde existirte, und daſs ein Theil der Ge-
schlechtergaue der römischen Mark auf diesen Hügeln ihre
Heiligthümer und Zufluchtsstätten lange Zeit fanden, ehe die
Schifffahrt und die Grenzvertheidigung diesen Platz für Latium
wichtig machten. Eine Ueberlieferung aus diesen urältesten
Zeiten mag das ‚Wolſsfest‘ sein, das das Geschlecht der Fabier
am palatinischen Hügel beging *; ein Bauern- und Hirten-
fest, das wie kein anderes die schlichten Späſse patriarcha-
lischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug unter allen
Röm. Gesch. I. 3
[34]ERSTES BUCH. KAPITEL IV.
heidnischen Festen sich am längsten im christlichen Rom be-
hauptet hat. Wie die Stammgemeinden, die ursprünglich um die
sieben Hügel an der Tiber den Pflug und das Schwert geführt
haben, zur Einigung gelangten, wissen wir nicht; nur hat sich in
der Eintheilung der ältesten römischen Bürgerschaft die Spur er-
halten, daſs diese selbst eine Eidgenossenschaft ist und aus drei
verbündeten Gemeinden besteht, den Ramnern, Titiern und Lu-
cerern, von denen jede ein Drittheil der Feldmark besitzt und
in der Bürgerwehr wie im Rath der Alten gleichmäſsig ver-
treten ist, nicht minder im Sacralwesen, wo die sechs Jung-
frauen der Vesta, die drei hohen Priester des Iupiter, Mars,
Quirinus sich wahrscheinlich auf diese Dreitheilung beziehen.
Die zweite dieser Gemeinden wird einstimmig aus der Sabina
abgeleitet; unzweifelhaft auf Grund einer ächten und glaub-
würdigen Ueberlieferung der ‚titischen Genossenschaft‘, die bei
dem Eintritt dieser Gemeinde in die Eidgenossenschaft zur
Bewahrung ihres nationalen Sonderrituals gestiftet zu sein be-
hauptete. In der That finden sich Spuren solchen uralten
sabinischen Nationalcults in Rom; so namentlich des Maurs
oder Mars und des Semo Sancus neben dem gleichgeltenden
latinischen Dius Fidius. Daſs die Ramnes mit den Romani
identisch sind, ward schon bemerkt; über die Herkunft der
Luceres ist nichts zu sagen als daſs nichts im Wege steht sie
gleich den Ramnern für eine latinische Gemeinde zu erklären.
Man hat mit diesen drei Elementen, in die die älteste römi-
sche Bürgerschaft zerfiel, den heillosesten Unfug getrieben;
die unverständige Meinung, daſs die römische Nation ein
Mischvolk sei, knüpft hier an und bemüht sich in verschie-
denartiger Weise die drei grossen italischen Racen als com-
ponirende Elemente des ältesten Rom darzustellen und das
Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und
seine Religion rein und volksthümlich entwickelt hat, in ein
wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und
leider sogar pelasgischer Elemente zu verwandeln. Daran ist
schwerlich mehr Wahres, als daſs in einer sehr fernen Zeit,
als der latinische und der sabellische Stamm ohne Frage in
Sprache und Sitte sich noch keineswegs so scharf gegenüber-
standen wie später der Römer und der Samnite, eine sabel-
lische Gemeinde in einen latinischen Gauverband eintrat und
in dieser mit Ausnahme einzelner im Ritual fortgepflanzter
Nationalinstitutionen sich vollständig latinisirte; ganz ähnlich
wie einige Jahrhunderte später die sabinische Geschlechts-
[35]ANFAENGE ROMS.
genossenschaft des Attus Clauzus oder Appius Claudius mit
ihren Clienten nach Rom übersiedelte, eine Mark am rechten
Ufer des Anio angewiesen erhielt und in Sprache und Natio-
nalität schnell sich verschmolz mit der römischen Gemeinde.
Jene Latinisirung der Titier selbst beweist am besten, was
schon der Name der Gemeinschaft und das innerhalb dersel-
ben den Ramnern zustehende Rangvorrecht anzeigen, daſs
trotz jener Dreitheilung die Eidgenossenschaft nie etwas an-
deres war noch sein wollte als ein Theil der latinischen Nation,
in dem die Ramner waren was Alba in der albischen, und
daſs man sehr mit Unrecht Gewicht gelegt hat auf den Unter-
schied der Ramner und der Titier und beider von den Luce-
rern, deren Vereinigung man sich viel mehr als die Zusammen-
ziehung dreier stammgleicher oder stammverwandter Bauer-
schaften zu denken hat denn als die Vereinigung dreier we-
sentlich ungleicher Völkerschaften. Wenden wir lieber den
Blick auf das städtische Gemeinwesen in Rom, dessen mer-
cantile und strategische Machtentwicklung zu verfolgen bei
weitem wichtiger und ausführbarer ist als das unfruchtbare
Geschäft unbedeutende und wenig verschiedene Gemeinden
der Urzeit chemisch zu analysiren. Jene Entwicklung kön-
nen wir noch einigermaſsen erkennen in den Ueberlieferungen
über die allmählig entstandenen Umwallungen und Verschan-
zungen der Stadt Rom, deren Anlage mit der Entwicklung
des römischen Gemeinwesens zu städtischer Bedeutung noth-
wendig Hand in Hand gegangen sein muſs.


Dass die drei verschiedenen Gemeinden, aus denen die
älteste römische entstanden ist, jemals auf den sieben Hügeln
getrennte Umwallungen eingenommen haben, ist eine Sage,
die zu historisiren man in alter und neuer Zeit umsonst be-
müht gewesen ist und die der verständige Forscher dahin
stellen wird, wo die Schlacht am Palatin und das anmuthige
Mährchen von der Tarpeia ihren Platz finden. Wohl aber
besteht ein wirklicher und sehr bestimmter Gegensatz zwischen
der Befestigung des Capitols und der Umwallung der Stadt.
Das Capitolium ist dem Namen wie der Sache nach die Akra
der Römer; daſs die Befestigung dieser Burg zurückweist in
die Zeit, wo es noch gar in dieser Gegend eine städtische
Ansiedlung nicht gab, zeigt die bis in späte Zeit festgehaltene
Weise, nach der auf dieser Doppelspitze Privatwohnungen
nicht standen, vielleicht nicht stehen durften: der Raum zwi-
schen den beiden Höhen, das Heiligthum des schlimmen Iu-
3*
[36]ERSTES BUCH. KAPITEL IV.
piter (Ve-diovis), das sogenannte Asyl war mit Wald bedeckt
und offenbar ursprünglich bestimmt die Bauern mit ihren
Heerden aufzunehmen, wenn Ueberschwemmung oder Krieg
sie von der Ebene vertrieb. Ganz ähnliche uralte Zufluchts-
stätten sind noch heutzutage in dem Hügellande der Ost-
schweiz auf mehreren Bergspitzen zu erkennen. Die städ-
tische Ansiedlung muſste demnach, in Rom wie überall, nicht
innerhalb, sondern unterhalb der Burg beginnen und als sie
bedeutend genug ward um Schutz durch Wall und Graben zu
erheischen, entstand auſserhalb des Capitols die erste eigent-
liche Stadt, an welche dann wieder Vorstädte und, indem auch
diese aufblühten und Schutz bedurften, neue Umwallungen
an die erste sich anschlossen wie in den Marschen ein
Deich an den andern, bis eine Reihe solcher einzelner Mauer-
ringe um die Burg herum gelagert war. Das Andenken hieran
bewahrte das Fest der sieben Berge (septimontium), das man
zu feiern fortfuhr als jene alten Befestigungen längst nicht
mehr bestanden. Die ‚sieben Ringe‘ sind der Cermalus und
der Palatinus, das heisst die beiden Abhänge des später Pa-
latin genannten Hügels gegen Capitol und Aventin; die Velia,
der den Palatin mit dem Esquilin verbindende später durch
die kaiserlichen Bauten fast ganz verschwundene Hügelrücken;
der Oppius, Cispius und Fagutal, die drei Spitzen des Esqui-
lin; endlich die Sucusa oder Subura, die in der Niederung
zwischen dem Capitol, dem Esquilin und dem Palatin ange-
legte künstliche Festung. Augenscheinlich sind diese Umwal-
lungen nicht auf einmal entstanden. Die älteste Anlage um-
faſste nach glaubwürdigen Zeugnissen nur den palatinischen
Hügel in dem weiteren Sinn, wo der Cermalus und die Velia
dazu gehören; dies ist die alte Roma quadrata, so genannt
von der viereckigen Form dieses Hügels, welche die ältesten
Heiligthümer, das strohgedeckte Haus des Romulus, das Kö-
nigshaus, den Vestatempel einschlieſst, und deren Thore und
Mauern zum Theil noch in der Kaiserzeit sichtbar waren.
Namentlich die Thore am Cermalus Porta Romana und Porta
Mugonia werden oft erwähnt und noch Tacitus beschreibt
genau den Zug des Walles am palatinischen Hügel vom Ende
des Cermalus bis zum Anfang der Velia. Es war dies und
blieb für alle Zeiten der vornehmste Stadttheil und bildete
später den ersten servianischen Bezirk. Hieran schloſs sich
zuerst die Ansiedlung auf den Carinen, der äuſsersten Spitze
des Esquilin, mit der Festung gegen die Gabiner im Thal der
[37]ANFAENGE ROMS.
Subura; woraus darum später das zweite servianische Quar-
tier gebildet ward. Damals waren die Esquiliae (welcher Name
eigentlich gebraucht die Carinen ausschliesst), wie der Name
sagt, Vorstadt (exquiliae, wie inquilinus). Daſs nach dieser
Seite sich die Stadt erweiterte, erklärt sich einfach daraus,
daſs man auf dem Höhenzuge blieb, den Palatin und Velia
bezeichneten, und sowohl die isolirten Berge vermied als die
sumpfigen und ganz schutzlosen Zwischenthäler. Später zog
man dann auch die ‚Vorstadt‘ zur Stadt und es schlossen
sich dann an jene wieder offene Vorstädte an; nament-
lich die gezwungenen Ansiedler werden nicht das Recht
gehabt haben sich Wall und Graben zu errichten, und sehr
bezeichnend ist es in dieser Hinsicht, dass das ‚Tuskerquar-
tier‘ (vicus Tuscus) in der Niederung zwischen Stadt- und
Burgmauer angelegt ist. Der Gegensatz zwischen Stadt und
Burg blieb bestehen, bis der groſsartige Wallbau, der dem
König Servius Tullius zugeschrieben wird, die Burg, die innere
und äussere Stadt und die offenen Vorstädte mit einem ein-
zigen grossen Mauerring umgab. Aber ehe dieses gewaltige
Werk angegriffen ward, war Roms Stellung zu der umliegen-
den Landschaft ohne Zweifel gänzlich umgewandelt. Wie die
Periode, in der der Ackersmann auf dem Palatin wie auf an-
dern Hügeln Latiums den Pflug führte und nur die in ge-
wöhnlichen Zeiten verlassene Zufluchtstätte auf dem Capitol
einen Anfang festerer Ansiedlung darbot, der ältesten handel-
und thatenlosen Epoche des latinischen Stammes entspricht;
wie dann später die aufblühende Ansiedlung auf dem Palatin
und in den ‚sieben Ringen‘ zusammenfällt mit der Besetzung
der Tibermündungen durch die römische Gemeinde und über-
haupt mit dem Fortschritt der Latiner zu regerem und freieren
Verkehr, zu städtischer Gesittung und wohl auch zu festerer
politischer Einigung in den Einzelstaaten wie in den Eidge-
nossenschaften, so wird die Gründung einer einheitlichen Groſs-
stadt, der servianische Wall zusammenhängen mit jener Epoche,
in der die Stadt Rom um die Herrschaft über die latinische
Eidgenossenschaft zu ringen und endlich sie zu erringen ver-
mochte.


[[38]]

KAPITEL V.



Roms Hegemonie in Latium.


Mit dem Aufblühen des Landes und der steigenden Cultur
nahmen die Fehden, die der tapfere und leidenschaftliche
italische Stamm unter sich zu führen pflegte, nothwendig
einen andern Charakter an. Die Ueberlieferung schweigt; von
jenen ersten Zügen und Raufereien, in denen der Charakter der
Völker hervorzutreten beginnt, wie in den Spielen und Fahr-
ten des Knaben der Sinn des Mannes, hat uns kein ita-
lischer Homer ein Abbild aufbewahrt, und was wir aus den
spätern Verhältnissen ahnen oder muthmaſsen, ist dürftig und
farblos. An die Stelle des Raubens trat allmählig die Erobe-
rung, an die Stelle der Fehde der Krieg; politische Mächte
begannen sich zu gestalten, schwächere Staaten muſsten den
stärkeren gegenüber sich verstehen zur Ergebung mit Land
und Leuten oder doch zum Eintritt in die Clientel. So ent-
standen einerseits die latinischen Eidgenossenschaften, die auf
dem letzteren Princip beruhend aus einer oder einigen füh-
renden und einer Anzahl minder mächtiger Gemeinden be-
standen, andrerseits der römische Einheitsstaat, der hiezu im
scharfen Gegensatz nicht durch Bündnisse den Staat erwei-
terte, sondern geradezu durch Reunion, indem die Mark der
Eroberten zur römischen geschlagen, sie selbst nach Rom über-
gesiedelt und ihren Göttern in Rom eine neue Heimath ge-
gründet wurde. Wie eng und nothwendig die Gebietserweite-
rung und die Ansiedlung der Bezwungenen in Rom zusammen-
hing, beweist besser als alle einzelne Erzählungen aus der
[39]ROMS HEGEMONIE IN LATIUM.
Sagenzeit der Satz des römischen Staatsrechts, daſs nur wer
die Grenzen des Gebiets erweitert habe, die Stadtmauer (das
Pomerium) vorschieben dürfe. So weit die Macht der Römer
reichte, duldeten sie in dieser Zeit keinen politischen Mittel-
punkt auſser der eigenen Hauptstadt. Am merkwürdigsten in
dieser Hinsicht ist die Behandlung von Ostia, wo man die
factische Entstehung einer Stadt zwar nicht hindern konnte
noch wollte, aber dem Gemeinwesen jede politische Selbst-
ständigkeit entzog und den dort Angesiedelten kein eigenes
Bürgerrecht gab, sondern nur das römische ihnen lieſs, wenn
sie es hatten. In ganz ähnlicher Weise wurden die eroberten
Städte zu Dörfern gemacht und den nicht weggeführten Be-
wohnern so gut wie den nach Rom übergesiedelten das römi-
sche Schutzrecht aufgezwungen, einzelne auch wohl mit dem
Bürgerrecht, das heiſst dem Patriciat beschenkt. Da die Tiber-
mündung wahrscheinlich durch die friedliche Entwicklung des
latinischen Verkehrs für Rom gewonnen ward — Ficana zwi-
schen Rom und Ostia ist wohl nie eine selbstständige Ge-
meinde gewesen — so sind die zuerst durch die römischen
Waffen errungenen Gebiete vermuthlich die an der obern
Tiber und zwischen der Tiber und dem Anio gelegenen Ge-
meinden Antemnae, Crustumerium, Ficulnea, Medullia, Caenina,
Corniculum, Cameria, Collatia gewesen, die unmittelbar auf
Rom drückten und in frühester Zeit, wahrscheinlich schon vor
Albas Zerstörung, ihre Selbsständigkeit einbüſsten. In dieser
Gegend erscheint später als selbstständige Gemeinde nur No-
mentum, das vielleicht durch Bündniſs mit Rom seine Frei-
heit rettete; um den Besitz von Fidenae, den Brückenkopf der
Etrusker am linken Ufer der Tiber, kämpften Latiner und
Etrusker, das heiſst Römer und Veienter mit wechselndem
Erfolg. Gegen Gabii, das die Ebene zwischen dem Anio und
den Albanerbergen inne hatte, stand der Kampf lange Zeit im
Gleichgewicht; die Burg, die unter dem Palatin zum Schutz
der Vorstadt gegen die Ueberfälle der nur 12000 Schritt ent-
fernt wohnenden Gabiner erbaut ward, ist schon erwähnt
worden und bis in späte Zeit hinab galt das gabinische Ge-
wand als gleichbedeutend mit dem Kriegskleid und der gabi-
nische Boden als Prototyp des feindlichen Landes. So stand
Rom, dessen Gebiet hiedurch auf etwa 9 Quadratmeilen gebracht
war, als Stadt den Dorfschaften, als Einheit den Bünden, als
seegewaltig den Landgemeinden gegenüber und mochte dem
unausbleiblichen Zusammenstoſs mit dem mächtigsten der la-
[40]ERSTES BUCH. KAPITEL V.
tinischen Bünde, dem der albischen Orte mit jener Sicherheit
entgegensehen, die die politisch und militärisch geschlossene
Macht zum ebenbürtigen Gegner der scheinbar überlegenen
Ligue macht.


Erfolgt ist der Zusammenstoſs; Alba ward von römischen
Schaaren erobert und zerstört, die albische Mark mit der römi-
schen vereinigt, die Einwohner theils am Fuſse des Berges in
Bovillae angesiedelt, theils nach Rom verpflanzt. Noch in der
Kaiserzeit kannte man die von Alba nach Rom übergesiedel-
ten vornehmen Geschlechter, darunter die der Iulier, Servilier,
Quinctilier, Cloelier, Geganier, Curiatier, Metilier; sie hatten
ohne Zweifel ihre albischen Familienheiligthümer bewahrt, wie
denn der Geschlechtcult der Iulier in Bovillae in der Kaiser-
zeit wieder zu groſsem Ansehen sich erhob. Wie der Zu-
sammenstoſs entstand und wie er entschieden ward, ist nicht
bekannt; der Kampf der drei römischen gegen die drei albi-
schen Brüder ist nichts als eine factische Bezeichnung eines
Zwistes zweier gleich mächtiger und eng verwandter Stämme.
Mehr als die Kriegsgeschichten vermissen wir genaue Berichte
über die Folgen dieses tiefgreifenden Ereignisses. Nur so viel
ist bezeugt und beglaubigt, daſs, während Alba selbst zerstört
ward, Rom als einen Theil des Eroberten die Hegemonie in
Anspruch nahm über die bis dahin von Alba abhängigen Ort-
schaften und sie erlangte, und dass hieraus unter Benutzung
der alten Tradition, daſs Alba die Urheimath des latinischen
Stammes sei, vor allen Dingen aber durch die Macht und das
Glück der römischen Waffen allmählig die Hegemonie Roms
über ganz Latium erwachsen ist. Indem man formell und
sacral den alten albischen Bund bestehen lieſs mit seiner
Versammlung der dreiſsig Gemeinden und seinem Bundesfest,
wurden doch, in ähnlicher Art wie in der englischen Verfas-
sung, die verfallenen Communen entweder ganz beseitigt oder
doch aus der Liste der stimmberechtigten Ortschaften gestri-
chen; so scheint es erklärt werden zu müssen, daſs der Verein,
obgleich die Versammlung nach wie vor aus dreiſsig Gliedern
bestand, doch schlieſslich sieben und vierzig Gemeinden in
sich schloſs. Auf diesem Wege gelang es die ganze latinische
Landschaft und einen nicht unbeträchtlichen Theil der südlich
und östlich angrenzenden Stämme in dem Bunde zu vereinigen,
dessen bleibende Hegemonie Rom mehr als selbstständiger
Sonderstaat, denn als Bundesglied führte. Es versteht sich,
daſs man daneben nicht versäumte abgefallene oder ver-
[41]ROMS HEGEMONIE IN LATIUM.
kümmerte Gemeinden der römischen unmittelbar einzuver-
leiben.


Wie nach Albas Fall einerseits das römische Gebiet, andrer-
seits der latinische Bund allmählig ausgebreitet ward, können
wir nicht mehr verfolgen. Der Glanz dieser ungemeinen Erfolge
ruht auf der Königszeit, vor allem auf dem königlichen Hause
der Tarquinier wie ein fernes Abendroth, in dem die Umrisse
verschwimmen; in der uns überlieferten conventionellen Erzäh-
lung dieser Kriege dürften wenige einzelne Ereignisse, wie
etwa die Einnahme von Suessa in der pomptinischen Ebene,
einen historischen Kern enthalten, während die umständliche
Fassung überall und meistens der Inhalt selbst keinen Glau-
ben verdient. Möglich scheint es dagegen das Resultat dieser
römisch-latinischen Fehden genauer zu bezeichnen und von
der Ausdehnung der latinischen Eidgenossenschaft so wie von
ihrer Stellung gegen Rom am Schluſs der Königszeit eine
deutliche Vorstellung zu gewinnen. — Wie weit das Gebiet
der latinischen Eidgenossenschaft um das Ende der Königs-
zeit reichte, läſst sich mit ziemlicher Sicherheit bestimmen
nach den beiden ältesten römischen Urkunden, von denen wir
Kenntniss haben: dem Handels- und Schifffahrtsvertrag, den
die Consuln Lucius Iunius Brutus und Marcus Horatius bald
nach Vertreibung der Könige (nach der später üblichen Rech-
nung im J. 245 der Stadt) mit Karthago abschlossen, und
aus einem wenig jüngeren Verzeichniſs der latinischen Städte,
das wahrscheinlich der Erneuerung des Bündnisses zwischen
Rom und Latium durch Spurius Cassius (261 d. St.) angehört.
Nach dem ersten verpflichten sich die Karthager im latinischen
Lande keine Festung anzulegen und den Latinern, die Roms
Oberhoheit anerkennen, namentlich den Seestädten Laurentum,
Ardea, Antium, Circeii, Tarracina keinen Schaden zuzufügen;
sollte indess eine latinische Stadt die Anerkennung der Ober-
hoheit Roms verweigern, so sollen die Karthager dieselbe un-
gehindert bekriegen dürfen, vorausgesetzt daſs sie nicht über
Nacht auf dem Lande zubringen und unter der Bedingung,
wenn sie eine Stadt erobern sollten, statt sie zu schleifen sie
den Römern auszuliefern. — Das zweite Verzeichniss zählt
als die dreissig Städte, die damals den Bund bildeten, fol-
gende auf, von denen nur sieben (Pedum, Toleria, Corioli und
die vier zuletzt genannten) zu den dreiſsig alten albischen Ge-
meinden gehören: zwischen Tiberis und Anio Nomentum;
zwischen dem Anio und dem Albanergebirg: Tibur, Gabii,
[42]ERSTES BUCH. KAPITEL V.
Scaptia, Lavici, Pedum, Praeneste, auch wohl Toleria; am
Albanergebirg Corbio, Tusculum, Bovillae, Aricia, Corioli, La-
nuvium; an der latinischen Küste Tellenae, Laurentum, Lavi-
nium; im Gebiet der Rutuler Ardea; in der volskischen Ebene
Velitrae, Satricum, Circeii; am westlichen Abhang der Volsker-
berge Cora, Norba, Setia; unbestimmter Lage Tricria, Carna,
Bubetum, Caruentum, Foretum, Querquetula. — Von Rechts-
wegen erstreckte sich also die latinische Eidgenossenschaft
schon damals bis nach Tarracina, also bis an die Grenze des
spätern Latium, das die Volsker und Rutuler einschlieſst; eine
politische Grenze, deren Feststellung dieser Epoche angehört.
Allein daſs factisch ein Theil der Bundesgemeinden sich dem
latinischen Bund wenn sie konnten entzogen, deutet der Ver-
trag mit Karthago sehr verständlich an, indem er solchen ab-
trünnigen Gemeinden den Bundesschutz entzieht; und nament-
lich die stammfremden Rutuler und Volsker scheinen sehr
häufig der römischen Hegemonie abgesagt zu haben. Es kann
darum nicht befremden, daſs, während der Friedensvertrag
den Zustand darstellt, den die Römer als den normalen und
rechtmäſsigen betrachteten, das zweite Verzeichniſs, das den
factischen Bestand der Eidgenossenschaft in einem bestimmten
Jahr angiebt, die beiden wichtigen Volskerstädte Antium und
Tarracina ausläſst, von denen die erste nach der Erzählung
der Annalisten in eben dem Jahre, wo das Bündniſs erneuert
ward, mit den Römern Krieg führte. Ein dritter wohl aus
ähnlichen Quellen geschöpfter Bericht lautet dahin, daſs zu
der Zeit des ältern Tarquinius die Eidgenossenschaft alle la-
tinischen und die beiden Volskerstädte Ecetra und Antium in
sich begriffen habe. In der That scheint das Gebiet der
Rutuler und noch mehr das der Volsker der beständige Kriegs-
schauplatz gewesen zu sein, auf dem die Herrschaft über
kräftige und widerstrebende Gemeinden durch die Waffen
stets aufs neue gewonnen werden muſste. In der späteren
etwas besser beglaubigten Geschichte finden wir die volski-
schen Orte, namentlich Velitrae, Norba, Circeii, Satricum,
Antium regelmäſsig im Kampf mit den Latinern und nur vor-
übergehend und gezwungen als Glieder der Eidgenossenschaft;
offenbar in denselben Kreis gehört die Zerstörung der reichen
Volskerstadt Suessa Pometia. Ueber das entfernte Tarracina
mag nun gar die römische Hegemonie regelmäſsig in bloſsen
Prätensionen bestanden haben. — Was die östlichen und
nördlichen Nachbarn Roms anlangt, so stand die Landschaft
[43]ROMS HEGEMONIE IN LATIUM.
der Herniker wenigstens zeitweise in Vertrag mit der latini-
schen, ohne daſs doch die hernikischen Gemeinden unmittel-
bar eingetreten wären in den Latinerbund. Mit den Aequern,
Sabinern und Etruskern fehlte es an Fehden nicht, allein zu
dauernden Eroberungen scheinen dieselben nicht geführt zu
haben, am wenigsten gegen die mächtigen Etrusker; selbst
von Fidenae, das auf der latinischen Seite der Tiber 6000
Schritt von Rom lag, gewannen die Römer nicht so festen
Besitz, daſs nicht in Zeiten der Schwäche die Veienter wieder
versucht hätten sich ihrer alten Offensivbasis wieder zu be-
mächtigen. Dagegen scheint das eigentliche Latium, wenn
auch einzelne Gemeinden, wie zum Beispiel Lavici und be-
sonders Gabii, gelegentlich der römischen Botmäſsigkeit sich
entzogen, doch im Allgemeinen nach Alba's Fall ohne vielen
Widerstand sich der römischen Hegemonie gefügt und treu
daran festgehalten zu haben; begreiflich genug, denn nur mit
und durch Rom, die zu Lande wie zur See mächtigste latini-
sche Gemeinde, konnten die Latiner ihre Küsten gegen Kar-
thager, Hellenen und Etrusker, ihre Grenzen gegen die mächt-
tigen Nachbarn sichern und die Herrschaft über die halb
unterworfenen Volsker aufrecht erhalten. Die Einigung des
latinischen Stammes unter römischer Hegemonie ist das histo-
rische Ergebniſs der römischen Königszeit.


Die Form der römischen Hegemonie über Latium war im
Ganzen die eines gleichen Bündnisses zwischen der römischen
Gemeinde einer- und der latinischen Eidgenossenschaft andrer-
seits, wodurch ein ewiger Landfrieden in der ganzen Mark
und ein ewiges Bündniſs für den Angriff wie für die Verthei-
digung festgestellt ward. ‚Friede soll sein zwischen den Rö-
mern und allen Gemeinden der Latiner, so lange Himmel und
Erde bestehen; sie sollen nicht Krieg führen unter einander
noch Feinde ins Land rufen noch Feinden den Durchzug
gestatten; dem Angegriffenen soll Hülfe geleistet werden mit
gesammter Hand und gleichmäſsig vertheilt werden, was ge-
wonnen ist im gemeinschaftlichen Krieg.‘ Die festgesetzte
Rechtsgleichheit im Handel und Wandel, im Creditverkehr wie
im Erbrecht, verflocht die Interessen der schon durch die
gleiche Sprache und Sitte verbundenen Gemeinden noch durch
die tausendfachen Beziehungen des Geschäftsverkehrs und es
ward damit etwas Aehnliches erreicht wie in unserer Zeit
durch die Beseitigung der Zollschranken. Allerdings blieb
jeder Gemeinde formell ihr eigenes Recht; bis auf den Bun-
[44]ERSTES BUCH. KAPITEL V.
desgenossenkrieg war das latinische Recht mit dem römischen
nicht nothwendig identisch und wir finden zum Beispiel, daſs
die Klagbarkeit der Verlöbnisse, die in Rom früh abgeschafft
ward, in den latinischen Gemeinden bestehen blieb. Allein
die einfache und rein volksthümliche Entwickelung des la-
tinischen Rechtes und das Bestreben die Rechtsgleichheit
möglichst festzuhalten führten denn doch dahin, daſs das Pri-
vatrecht in Inhalt und Form wesentlich dasselbe war in ganz
Latium. Am schärfsten tritt diese Rechtsgleichheit hervor in
den Bestimmungen über den Verlust und den Wiedergewinn
der Freiheit des einzelnen Bürgers. Nach einem alten ehr-
würdigen Rechtssatz des latinischen Stammes konnte kein
Bürger in dem Staat, wo er frei gewesen war, Knecht werden
oder innerhalb dessen das Bürgerrecht einbüſsen; sollte er
zur Strafe die Freiheit, und was dasselbe war, das Bürger-
recht verlieren, so muſste er ausgeschieden werden aus dem
Staat, um bei Fremden in die Knechtschaft einzutreten. Die-
sen Rechtssatz erstreckte man jetzt auf das gesammte Bundes-
gebiet; kein Glied eines der Bundesstaaten sollte als Knecht
leben können innerhalb der gesammten Eidgenossenschaft.
Anwendungen davon sind die Bestimmung des zweiten Ver-
trags zwischen Rom und Karthago, daſs der von den Kartha-
gern gefangene römische Bundesgenosse frei sein solle, so wie
er einen römischen Hafen betrete, und die später in die zwölf
Tafeln aufgenommene Bestimmung, daſs der zahlungsunfähige
Schuldner, wenn der Gläubiger ihn verkaufen wolle, verkauft
werden müsse jenseit der Tibergrenze, das heiſst auſserhalb
des Bundesgebietes. Eine ächte Ehe war allerdings zwischen
Bürgern verschiedener Gemeinden an sich nicht möglich, doch
ist es nicht unwahrscheinlich, daſs nach altem Herkommen
zwischen den römischen und einzelnen latinischen Patriciaten,
das heiſst Vollbürgerschaften, das Recht der Zwischenheirathen
bestand. Die politischen Rechte konnte selbstverständlich jeder
nur da ausüben, wo er eingebürgert war, und streng ward
darauf gehalten, daſs Niemand Bürger zweier Gemeinden sein
könne, durch jedes neu gewonnene Bürgerrecht sollte das bisher
bestehende von selbst aufgehoben sein. Sonach befanden sich
in jeder eidgenössischen Gemeinde die Angehörigen der übri-
gen eidgenössischen Communen wesentlich in dem Verhältniſs,
welches zur Zeit des Zwölftafelrechts die Plebejer in Rom
gegen die Patricier einnahmen; oder, nach heutiger Termino-
logie, es bestand neben den besondern Bürgerrechten der ein-
[45]ROMS HEGEMONIE IN LATIUM.
zelnen Gemeinden ein allgemeines eidgenössisches Niederlas-
sungsrecht. Daſs dies wesentlich zum Vortheil der Hauptstadt
ausschlug, die allein in Latium städtischen Verkehr, städtischen
Erwerb, städtische Genüsse darzubieten hatte, und daſs die
Zahl der römischen Insassen sich reiſsend schnell vermehrte,
seit die latinische Landschaft im ewigen Frieden mit Rom
lebte, ist begreiflich. — In Verfassung und Verwaltung blieb
nicht bloſs die einzelne Gemeinde selbstständig und souverain,
so weit nicht die Bundespflichten eingriffen, sondern, was mehr
bedeutet, es blieb dem Bunde der dreiſsig Gemeinden als sol-
chem die Autonomie gegen Rom; ja es wird versichert und
ist nicht unwahrscheinlich, daſs Albas Stellung zu den abhän-
gigen Orten eine mehr überlegene gewesen sei als die Roms zu
den latinischen Gemeinden und daſs die letzteren durch Albas
Sturz die Autonomie erlangt hätten. Es scheint glaublich,
daſs Alba im Bundesrath den Vorsitz führte, während Rom
die latinischen Abgeordneten selbstständig rathschlagen lieſs
am Quell der Ferentina, unter Vorsitz wie es scheint eines
aus der Mitte der Versammlung gewählten Beamten; ja es war
sogar, offenbar zur Festigung des Bundes, in dem Vertrag
zwischen Rom und Latium den Römern jedes Sonderbündniſs
mit einzelnen Bundesstaaten untersagt worden. Mehr ein Ehren-
recht war es, daſs bei dem latinischen Bundesfest anstatt
der albischen jetzt als deren Rechtsnachfolger die römischen
Magistrate den Vorsitz führten und daſs für Rom und Latium
das Opfer dargebracht ward wie früher für Alba und die albi-
schen Völker; womit es auch zusammenhängt, daſs neben dem
alten Bundesheiligthum auf der Stätte von Alba ein zweites in
Rom gegründet ward, der Tempel der Diana auf dem Aventin,
so daſs theils auf römischen Boden für Rom und Latium,
theils auf latinischem für Latium und Rom geopfert ward. —
Auch im Kriegswesen ward das Gleichgewicht beider Theile
festgehalten. Das Bundesheer ward gebildet aus den römischen
Truppen und aus dem durch die Contingente der einzelnen
Gemeinden gebildeten latinischen Heer; wie das die spätere
Weise des Aufgebots lehrt und für die ältere Zeit zum Beispiel
die Erzählung, daſs, während König Tullus Veii belagerte, der
Zuzug der Tusculaner auf dem Oppius, der der Anagniner
auf dem Cispius aufgestellt war zur Verstärkung der städti-
schen Besatzung. Wenn dem Bericht, daſs König Tarquinius
jeden Manipel halb aus Römern, halb aus Latinern gebildet
habe, wirklich eine ächte Kunde zu Grunde liegt, so kann
[46]ERSTES BUCH. KAPITEL V.
man darin nur einen vorübergehenden Versuch erkennen die
Bundescontingente in eine einheitliche Armee zu verwandeln
und die latinischen Gemeinden in Rom aufgehen zu lassen.
Das Obercommando sollte wechseln zwischen Rom und Latium,
so daſs nur in den Jahren, wo Rom den Befehlshaber stellte,
die latinischen Zuzüge vor den Thoren Roms erschienen und
am Thor den erwählten Befehlshaber durch Zuruf als ihren
Feldherrn begrüſsten, wenn die vom latinischen Bundesrath
dazu beauftragten Römer sich aus der Beobachtung des Vögel-
flugs der Zufriedenheit der Götter mit der getroffenen Wahl ver-
sichert hatten. Ebenso wurde, was im Bundeskrieg an Land
und Gut gewonnen war, zu gleichen Theilen zwischen Rom und
Latium getheilt. Während sonach in allen inneren Beziehun-
gen mit eifersüchtiger Strenge gehalten ward auf die strengste
Gleichheit in Rechten und Pflichten, trat die römisch-latinische
Föderation gegen auſsen auf als Einheit. Nach dem römischen
Staatsrecht widerstreitet es dem Begriff des ‚gleichen Bünd-
nisses‘ nicht, daſs dasselbe dem Einzelstaate jeden Separatver-
trag mit dem Ausland untersagt und den Entscheid über Krieg,
Frieden und Vertrag ausschlieſslich in die Hände eines der Ver-
bündeten giebt; ganz so weit indeſs ging das latinische Bünd-
niſs nicht zu Gunsten Roms. Es war weder Rom noch Latium
darin untersagt auf eigene Hand einen Angriffskrieg zu beginnen,
wo dann freilich auch den Verbündeten nicht oblag Zuzug
zu leisten. Indeſs wenn einmal sei es nach Bundesschluſs,
sei es im Fall eines Vertheidigungskrieges ein Bundeskrieg
begonnen hatte, so lag dessen Leitung und Beendigung
unbeschränkt in der Hand des Bundesfeldherrn; und daſs
im Frieden Rom für die ganze latinische Landschaft Verträge
abschloſs, beweist der Handelstractat mit Karthago. Ob in
solchem Fall, um denselben rechtlich bindend für die ganze
Genossenschaft zu machen, noch ein Beschluſs des latinischen
Bundesraths nothwendig war oder Rom kraft seiner Hegemonie
ein für allemal im gewöhnlichen Verkehr die Eidgenossenschaft
dem Ausland gegenüber vertrat, können wir nicht mehr aus-
machen; eine factische Hegemonie hat Rom unzweifelhaft be-
ständig besessen und behauptet, wie es ja denn auch eben in
diesem Vertrag eine Botmäſsigkeit über die latinischen Staaten
in Anspruch nimmt.


So war Rom durch die Gunst der Götter und die Kraft
der Bürger aus einer regsamen Handels- und Landstadt die
mächtige Hauptstadt einer blühenden Landschaft geworden.
[47]ROMS HEGEMONIE IN LATIUM.
Mit den reicher strömenden Mitteln, mit den steigenden An-
forderungen, mit dem erweiterten politischen Horizont muſste
auch der Charakter der Stadt sich ändern. Hatte bisher der
Römer sich begnügt die Hügel unter der Burg, wie sich einer
nach dem andern mit Gebäuden füllte, nothdürftig zu ver-
schanzen; war der Brückenkopf auf dem andern Ufer isolirt,
die Brücke wehrlos und deshalb zum schleunigsten Abbrechen
eingerichtet gewesen, so verlangte die Hauptstadt von Latium
ein anderes in sich geschlossenes Vertheidigungssystem. Es
ward also, angeblich unter der Regierung des Königs Servius
Tullius, Brücke, Stadt und Burg mit einem Wall eingeschlos-
sen, der eine zusammenhängende und gesicherte Vertheidi-
gungslinie darbot. Der Wall begann am Fluſs bei der subli-
cischen Holzbrücke, welche über den natürlichen Brücken-
pfeiler, die Tiberinsel hinüberführte auf das Castell des Iani-
culum, so daſs der südliche Zugang zu der Brücke sich inner-
halb der Ringmauern befand. Von da lief er zum Capitol,
dessen vom Palatin abgewendete Mauer einen Theil des Stadt-
walles bildete, umfaſste alsdann den ganzen Raum des Quiri-
nal, Viminal und Esquilin, wo ein mächtiger Erddamm den
Mangel der natürlichen Böschung ersetzte, ferner den Caelius
und den Aventin, wo er wiederum an den Fluſs anstieſs. So
war nicht bloſs die Altstadt auf dem Palatin und die Neu-
stadt auf den Carinen in den Mauerring gezogen, sondern
auch die Vorstädte, die auf dem Esquilin, an den Abhängen
des Palatin, auf dem Caelius und sonst entstanden waren,
ja sogar die beiden von Häusern frei gelassenen bewaldeten
Spitzen, der Burghügel und der Aventin. Die unbrauchbaren und
der Ansiedlung hinderlichen Mauern der bisherigen Stadt lieſs
man verfallen; die Burg aber mit ihrem Felsenbrunnen, dem
sorgfältig gefaſsten ‚Quellhaus‘ (tullianum), blieb nach wie
vor ein besonderes Castell, das noch nach Eroberung der Stadt ver-
theidigungsfähig war. — Aber das Werk war nicht vollständig,
so lange der mit schwerer Mühe geschirmte Boden nicht auch
dem Flusse abgewonnen war, dessen Wasser das Thal zwi-
schen dem Palatin und dem Capitol beständig füllte, so daſs
hier eine regelmäſsige Fähre bestand, und das Thal zwischen
dem Capitol und der Velia so wie das zwischen Palatin und
Aventin versumpfte. Die aus prachtvollen Quadern zusammen-
gefügten unterirdischen Abzugsgräben, wie sie noch heute stehen
und wie die Späteren sie als ein Wunderwerk des königlichen
Rom anstaunten, dürften eher der folgenden Epoche angehören,
[48]ERSTES BUCH. KAPITEL V.
da Travertin dabei verwendet ist und vielfach von Neubauten
daran in der republikanischen Zeit erzählt wird; allein die
Anlage selbst gehört ohne allen Zweifel in diese Epoche. So
ward es möglich an den entsumpften oder trocken gelegten
Stellen die öffentlichen Plätze zu gewinnen, deren man be-
durfte. Der Versammlungsplatz, der bis dahin auf dem capi-
tolinischen Platze auf der Burg sich befunden hatte, ward
nun verlegt auf die Fläche, die von der Burg gegen die Stadt
sich senkte (comitium) und dehnte von dort sich aus längs
des Palatin in der Richtung gegen die Velia, wo zu beiden
Seiten des neuen römischen Marktes (forum Romanum) Reihen
von Kaufläden entstanden. In dem Thal zwischen Aventin
und Palatin ward für die Rennspiele der Raum abgesteckt —
der Circus; unmittelbar am Flusse ward der Rindermarkt an-
gelegt und bald entstand hier eines der am dichtesten bevöl-
kerten Quartiere. Auf allen Spitzen erhoben sich Tempel und
Heiligthümer, vor allem auf dem Aventin das Bundesheiligthum
der Diana und auf der Höhe der Burg der weithin sichtbare
Tempel des Vaters Diovis, der seinem Volk all diese Herrlich-
keit gewährt hatte und nun wie die Römer über die umlie-
genden Nationen, so mit ihnen über die unterworfenen Götter
der Besiegten triumphirte.


[[49]]

KAPITEL VI.



Die ursprüngliche Verfassung Roms.


Vater und Mutter, Söhne und Töchter, Hof und Woh-
nung, Knechte und Geräth — das sind die natürlichen Ele-
mente, aus denen überall, wo nicht durch die Polygamie die
Mutter als solche verschwindet, das Hauswesen besteht. Darin
aber scheiden sich die Völker höherer Culturfähigkeit, daſs
diese natürlichen Gegensätze flacher oder tiefer, mehr sittlich
oder mehr rechtlich aufgefaſst und durchgearbeitet werden.
Keines kommt dem römischen gleich an schlichter, aber un-
erbittlicher Durchführung der von der Natur selbst vorgezeich-
neten Rechtsverhältnisse.


Die Familie, das heiſst der durch den Tod seines Vaters
in eigene Gewalt gelangte freie Mann mit der feierlich von
den Priestern ihm zu Gemeinschaft des Wassers und des
Feuers durch das heilige Salzmehl (durch Confarreatio) ange-
trauten Ehefrau, mit den Söhnen und deren rechten Frauen
und Kindern und den unverheiratheten Töchtern nebst allem
diesen zufallenden Hab und Gut ist eine Einheit, von der die
Kinder der Töchter ausgeschlossen sind, da sie entweder,
wenn sie eheliche sind, der Familie des Mannes angehören,
oder, wenn auſser der Ehe erzeugt, in gar keiner Familie
stehen. Diese Familie wird geleitet und gelenkt durch den
einen allmächtigen Willen des Vaters. Nicht als ob Weib
und Kinder nur um seinetwillen da wären wie die Unter-
thanen in dem absoluten Staat nur existiren für den König;
auch die Frau und die Kinder sind Inhaber eigener Rechte.
Röm. Gesch. I. 4
[50]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
Aber die Einheit des Hauses verlangt, daſs sie alle vertreten
werden durch einen einheitlichen Repräsentanten, den Haus-
vater und Herrn. Die unumschränkte und keinem auf der
Erde verantwortliche Macht des Hausherrn ist unabänderlich
und unzerstörbar so lange er lebt; nicht das Alter, nicht der
Wahnsinn desselben, ja nicht einmal sein eigener freier Wille
vermögen bei seinen Lebzeiten die Macht zu lösen, auſser
wenn die Tochter durch eine rechte Ehe aus der Hand des
Vaters übergeht in die Hand des Mannes und aus ihrem Ge-
schlecht und Gottesschutz in das Geschlecht und den Gottes-
schutz des Mannes eintretend, ihm nun unterthan wird, wie
sie es bisher ihrem Vater war. Immer trennt noch eine
ungeheure Kluft den Sclaven und den Haussohn, die Habe
und die Glieder der Familie; jene sind bloſs unterthan der
Gewalt, diese haben eigenen Antheil daran, nur daſs deren
Ausübung ruht so lange der Vater lebt, oder, wie die Römer
dies fassen, die Sclaven sind Sachen, die Haussöhne Personen.
Zwar hat dies zunächst zur Folge, daſs bei Lebzeiten des
Hausherrn wohl der Knecht von ihm sich lösen kann, wenn
der Herr will, aber nicht der Sohn; denn die Sache zur
Person zu erheben, wo die natürliche Bedingung der Willens-
fähigkeit vorhanden ist, ist möglich, nicht aber zur Person zu
machen wer schon Person ist — und darum ist die Manu-
mission des Sclaven so alt wie der Eigenthumsprozess, die
Emancipation des Sohnes aber erst durch eigenthümliche
Umwege in weit späterer Zeit möglich geworden. Wenn in-
deſs der Hausherr stirbt, so ändert dies gar nichts in der
Lage des Knechts; wogegen die Söhne jetzt von selbst als
Hausherren auftreten und nun ihrerseits über die Frauen und
Kinder und das Vermögen die bisher vom Vater geübten
Rechte erlangen. So lange der Hausherr lebt, ist ihm gegen-
über alles rechtlos was zur Familie gehört, der Stier und der
Sclave, aber nicht minder Weib und Kind. Er hat das Recht
und die Pflicht über die Seinigen die richterliche Gewalt zu
üben und nach Ermessen an Leib und Leben zu strafen.
Was die Seinigen erwerben, sei es durch eigene Arbeit oder
fremde Gabe, wird Eigenthum des Vaters wie der Verdienst
des Knechts; so lange der Vater lebt, können die unterthäni-
gen Personen kein Vermögen haben, daher auch nicht ver-
äuſsern noch vererben. Ja der Vater kann wie den Sclaven
so auch den Sohn einem Dritten zum Eigenthum übertragen;
ist der Käufer ein Fremder, so wird der Sohn sein Knecht,
[51]URSPRÜNGLICHE VERFASSUNG ROMS.
ist er ein Römer, so wird der Sohn, da er als Römer nicht
Knecht eines Römers werden kann, seinem Käufer an Knecht-
tes Statt und fällt von selbst zurück in die väterliche Gewalt,
so wie die Gewalt des Käufers über ihn gelöst ist. Diese
unerbittliche Consequenz, welche die väterliche und eheherr-
liche Gewalt in ein wahres Eigenthumsrecht umwandelte,
unterlag gar keinen Rechtsbeschränkungen; nur die Religion
sprach für einige der ärgsten Fälle einen Bannfluch aus,
dessen Execution indeſs den Göttern zukam, nicht der irdi-
schen Gerechtigkeit. So wurde der verwünscht, der seine
Ehefrau oder den verheiratheten Sohn verkaufte; und in ähn-
licher Weise wurde es durchgesetzt, daſs bei der Ausübung
der häuslichen Gerichtsbarkeit der Vater und mehr noch der
Ehemann den Spruch über Kind und Frau nicht fällen durfte,
ohne vorher die nächsten Blutsverwandten, sowohl die seini-
gen wie die der Frau, zugezogen und befragt zu haben. —
So mächtig war die Einheit der Familie, daſs selbst der Tod
des Hausherrn sie nicht vollständig löste. Die durch denselben
selbstständig gewordenen Descendenten betrachten sich noch
in vieler Hinsicht als eine Einheit, wovon bei der Erbfolge
und in manchen andern Beziehungen Gebrauch gemacht wird,
vor allen Dingen aber für die Stellung der Wittwe und der
unverheiratheten Töchter. Da nach älterer römischer Ansicht
das Weib nicht fähig ist weder über Andere noch über sich
die Gewalt zu haben, so bleibt die Gewalt über sie oder, wie
sie hier mit milderem Ausdruck heiſst, die Hut (tutela) bei
der Familie nach wie vor, nur dass diese statt des verstor-
benen Hausherrn jetzt ausgeübt wird durch die Gesammtheit
der nächsten männlichen Familienglieder, regelmäſsig also über
die Mutter durch die Söhne, über die Schwestern durch die
Brüder. In diesem Sinne dauerte die einmal gegründete Fa-
milie unverändert fort, bis sie ausstarb; nur muſste freilich
von Generation zu Generation factisch das Band sich lockern
und die Möglichkeit des Nachweises der ursprünglichen Ein-
heit allmählig verschwinden. Hierauf und hierauf allein beruht
der Unterschied der Familie und des Geschlechts, oder nach
römischem Ausdruck der Agnaten und Gentilen. Beide be-
zeichnen den Mannsstamm; die Familie aber umfaſst nur die-
jenigen Individuen, welche von Generation zu Generation
aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem gemein-
schaftlichen Stammherrn nachzuweisen vermögen, das Ge-
schlecht dagegen auch diejenigen, welche bloſs die Abstammung
4 *
[52]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
selbst von einem gemeinschaftlichen Ahnherrn darthun können,
aber nicht mehr vollständig die Zwischenglieder, also nicht den
Grad. Sehr klar spricht sich das in den römischen Namen
aus; wenn es heiſst: ‚Marcus, Sohn des Marcus, Enkel des
Marcus und so weiter, der Marcier‘, so reicht die Familie so
weit, als die Ascendenten individuell bezeichnet werden und
wo dies aufhört, tritt ergänzend ein das Geschlecht, die Ab-
stammung von dem gemeinschaftlichen Urahn, der auf alle
seine Nachkommen den Namen der Marcuskinder vererbt hat.


Neben diesen streng geschlossenen unter der Gewalt
eines lebenden Herrn vereinigten oder aus der Auflösung
solcher Häuser hervorgegangenen Familien- und Geschlechts-
einheiten standen die freien Leute, die entweder als Gäste
für kürzere oder längere, auch wohl für Lebenszeit im Hause
verweilten, oder die früher als Knechte darin gelebt hatten
und von dem Herrn mit der Freiheit waren beschenkt worden.
Dies Verhältniſs war nicht, wie das des Herrn zum Sclaven
oder des Vaters zum Sohne, ein rechtliches; der Gast wie der
Freigelassene war Familienhaupt und erkannte keinen über
sich als Herrn. Wohl aber forderte die Sitte, theils daſs der
Hausherr die ihm zugewandten Leute schütze und vertrete,
theils daſs sie den Hausherrn ehrten gleich dem Vater und
ihm willig gehorchten; davon heiſst er der Ehrenvater (pa-
tronus
wie matrona, die der Mutter gleich zu ehrende Frau),
sie die Hörigen (clientes von cluere). Der Vater kann rechtlich
nicht klagen gegen den Sohn noch der Sohn gegen den Vater;
zwischen Patron und Clienten verbietet die Klage die Sitte,
welche dem Patron die Schutzpflicht, dem Clienten Ehrerbie-
tung befiehlt. Regelmäſsige vermögensrechtliche Folgen hat
dies Verhältniſs nicht; wohl aber werden in allen auſser-
ordentlichen Fällen, die den Patron zu Ehren- oder Nothaus-
gaben zwingen, die Clienten zur Beisteuer aufgefordert, und
ebenso natürlich ist es, daſs wenn der Gast oder der Frei-
gelassene starb ohne eigene Erben, seine Habe dem Schutz-
herrn zufiel, der nach den Seinigen ihm der Nächste war.


Auf diesem römischen Hause beruht der römische Staat
sowohl den Elementen als der Form nach. Die Volksgemeinde
entstand aus der wie immer erfolgten Zusammenfügung jener
alten Geschlechtsgenossenschaften der Romilier, Voltinier, Fa-
bier und so ferner, das römische Gebiet aus den vereinigten
Marken dieser Geschlechter. Römischer Bürger war, wer
einem jener Geschlechter angehörte; deſshalb nannten sich
[53]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
die Vollbürger die ‚Descendenten‘ (patricii), nämlich irgend
eines jener Patriarchen, auf die der einzelne Geschlechtsgau sich
zurückführte. Jede innerhalb dieses Kreises in den üblichen
Formen abgeschlossene Ehe galt als ächte römische und be-
gründete für die Kinder das Bürgerrecht; wogegen davon aus-
geschlossen erschien, wer in unrechter Ehe oder auſser der
Ehe erzeugt war. Die Rechte des Hausherrn blieben bestehen,
ohne daſs der Staat sich in deren Ausübung einmischte, und
die Geschlechter wurden mit allen in ihnen zusammengescho-
benen Familien dem Staat wie sie bestanden einverleibt; allein
dem Staate gegenüber galt die Stellung in der Familie nicht,
so daſs in politischen Pflichten und Rechten der Haussohn
neben, im Hause unter dem Vater stand. Die Stellung der
Schutzbefohlenen änderte sich natürlich dahin, daſs die Gäste,
die Freigelassenen, die Clienten eines jeden Schutzherrn um
seinetwillen in der ganzen Gemeinde geduldet wurden; zwar
blieben sie zunächst angewiesen auf den Schutz derjenigen
Familie, der sie angehörten, aber es konnte nicht ausbleiben,
daſs sie bald auch ohne Vermittlung ihres Patrons Recht an-
sprachen und erhielten. Um so mehr galt dies von den Gästen
und Schutzbefohlenen der Gesammtschaft, namentlich den an
sie von andern Gemeinden geschickten Boten. So bestand der
Staat wie das Haus aus den eigenen und den zugewandten
Leuten, den Bürgern und den Insassen.


Wie die Elemente des Staates die auf der Familie ruhen-
den Geschlechter sind, so ist auch die Form der Staatsge-
meinschaft im Kleinen wie im Grossen der Familie nachge-
bildet. Dem Hause giebt die Natur selbst den Vater, mit dem
dasselbe entsteht und vergeht. In der Volksgemeinde aber,
die unvergänglich bestehen soll, findet sich kein natürlicher
Herr, wenigstens in der römischen nicht, die aus freien und
gleichen Bauern bestand und keines Adels von Gottes Gnaden
sich zu rühmen vermochte. Darum setzt sie aus ihrer Mitte
sich einen Herrn (rex) und Gebieter (dictator), einen Meister
des Volkes (magister populi), welcher der Herr im Hause der
römischen Gemeinde ist, wie denn auch neben oder in seiner
Wohnung der ewig flammende Heerd der Vesta und die wohl-
versperrte Vorrathskammer der Penaten zu finden sind — sie
alle die sichtbare Einheit des obersten Hauses darstellend,
das ganz Rom einschloſs. Des Königs Amt beginnt mit der
Wahl; aber Treue und Gehorsam ist die Gemeinde dem König
erst schuldig, wenn er die Versammlung der waffenfähigen
[54]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
Freien zusammenberufen und sie förmlich in Pflicht genom-
men hat. Alsdann hat er ganz die Macht in der Gemeinde,
die im Hause dem Hausvater zukommt, und herrscht wie die-
ser auf Lebenszeit. Er verkehrt mit den Göttern der Ge-
meinde, die er befragt und befriedigt (auspicia publica). Die
Verträge, die er abschlieſst im Namen der Gemeinde mit
Fremden, sind verpflichtend für das ganze Volk, obwohl sonst
kein Gemeindeglied durch einen Vertrag mit dem Nichtmitglied
der Gemeinschaft gebunden wird. Sein Gebot (imperium) ist
allmächtig im Frieden wie im Kriege, weſshalb die Boten (li-
ctores,
von licereladen) mit Beilen und Ruthen ihm überall
voranschreiten, wo er in amtlicher Function auftritt. Er sitzt
zu Gericht in allen privaten und criminellen Rechtshändeln,
und entscheidet unbedingt über Leben und Tod wie über die
Freiheit, so daſs er den Bürger dem Mitbürger an Knechtes
Statt zusprechen oder auch den Verkauf desselben in die
wirkliche Sclaverei, also ins Ausland anordnen kann; der Be-
rufung an das Volk um Begnadigung nach gefälltem Bluturtheil
stattzugeben ist er berechtigt, jedoch nicht verpflichtet. Er
bietet das Volk zum Kriege auf und er selbst oder wen er
mit seiner Macht bekleidet, befehligt das Heer. Wie der
Hausherr im Hause nicht der mächtigste ist, sondern der
allein mächtige, so ist auch der König nicht der erste, son-
dern der einzige Machthaber im Staate; er mag um sich die
Uebung der Macht zu erleichtern, einzelne Befugnisse Andern
übertragen, den Befehl im Kriege, die Entscheidung der min-
der wichtigen Prozesse, die Aufspürung der Verbrechen, aber
jede Amtsgewalt neben der königlichen ist aus dieser abge-
leitet und jeder Beamte nur durch den König und so lange
dieser will im Amt. Alle die Beamten der ältesten Zeit, die
‚Spürer des argen Mordes‘ (quaestores paricidii), die
Abthei-
lungsführer (tribuni, von tribus Theil) des Fussvolks (milites
das heiſst die Tausendgänger) und der Reiterei (celeres), der
während der Abwesenheit des Königs im Felde ernannte Stadt-
vogt (praefectus urbi) sind nichts als königliche Commissarien
und keineswegs Magistrate im spätern Sinn. Eine äuſsere
rechtliche Schranke hat die Königsgewalt nicht und kann sie
nicht haben; im Staate ist er so wenig einem Richter verant-
wortlich wie der Hausherr im Hause. Nur der Tod beendigt
seine Macht; hat er sich nicht selbst einen Nachfolger ernannt,
was ihm rechtlich nicht bloſs freigestanden haben muſs, son-
dern wohl im Kreise seiner Pflichten lag, so tritt der Rath
[55]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
der Alten ungerufen zusammen und bezeichnet, wir wissen
nicht ob durch Loos oder Wahl, einen ‚Zwischenkönig‘ (in-
terrex
), der indeſs nur fünf Tage im Amte bleiben und das
Volk sich nicht verpflichten darf. Dieser kann, da er in un-
gebotenem Ding, also mangelhaft ernannt ist, selbst den König
nicht ernennen, sondern ernennt einen zweiten Zwischenkönig
auf andere fünf Tage, der nun den neuen König bezeichnet,
ohne daſs nach der richtigen Ansicht eine formelle Einwir-
kung des Senats oder gar des Volkes auf die Wahl des Kö-
nigs angenommen werden dürfte — der König wird von sei-
nem Vorgänger oder im Nothfall vom Zwischenkönig ernannt
wie später vom Consul der Dictator. So wird ‚der hohe
Göttersegen, unter dem die berühmte Roma gegründet ist‚‘
von dem ersten königlichen Empfänger in stetiger Folge auf
die Nachfolger übertragen und die Einheit des Staats trotz
des Wechsels der Machthaber unveränderlich bewahrt. Diese
Einheit des römischen Volkes, die im religiösen Gebiet der
römische Diovis darstellt, repräsentirt rechtlich der Fürst und
darum ist auch seine Tracht die des höchsten Gottes; den
Elfenbeinstab mit dem Adler, die rothe Schminke des Gesichts,
den goldenen Eichenkranz führen der römische Gott wie der
römische König in gleicher Weise. Aber man würde sehr
irren darum aus der römischen Verfassung eine Theokratie
zu machen; nicht der Gott des Volkes ist der König sondern
viel eher der Eigenthümer des Staats. Darum weiſs man auch
nichts von besonderer göttlicher Begnadigung eines Geschlech-
tes oder von irgend einem geheimniſsvollen Zauber, danach
der König von anderem Stoff wäre als andre Menschen; die
edle Abkunft, die Verwandtschaft mit frühern Regenten ist
eine Empfehlung, aber keine Bedingung. Der König ist eben
nur ein gewöhnlicher Bürger, den Verdienst oder Glück, vor
allem aber die Nothwendigkeit daſs Einer Herr sein müsse
in jedem Hause, zum Herrn gesetzt haben über seines Glei-
chen, den Bauer über Bauern, den Krieger über Krieger. Wie
der Sohn dem Vater unbedingt gehorcht und doch sich nicht
geringer achtet als den Vater, so unterwirft sich der Bürger
dem Gebieter. Darin liegt die sittliche und factische Begren-
zung der Königsgewalt. Der König konnte zwar, auch ohne
gerade das Landrecht zu brechen, viel Unbilliges thun; er
konnte den Mitstreitern ihren Antheil an der Beute schmälern,
er konnte übermäſsige Frohnden auflegen oder sonst durch
Auflagen unbillig eingreifen in das Eigenthum des Bürgers;
[56]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
aber wenn er es that, so vergaſs er, daſs seine Machtfülle
nicht von Gott kam, sondern unter Gottes Zustimmung von
dem Volke, das er vertrat, und wer schützte ihn, wenn dieses
wieder des Eides vergaſs, den es ihm geschworen, und wenn
sich gegen ihn die Waffen kehrten, mit denen man ihm bei
seinem Antritt gehuldigt hatte? Die rechtliche Beschränkung
aber der Königsgewalt lag darin, daſs er das Gesetz nur zu
üben, nicht zu ändern befugt war, jede Abweichung vom Ge-
setze vielmehr entweder von der Volksversammlung im Voraus
gutgeheiſsen sein muſste oder ein illegaler und tyrannischer
Act war, dem rechtliche Folgen nicht entsprangen. So ist sitt-
lich und rechtlich die römische Königsgewalt im tiefsten Grunde
verschieden von der heutigen Souveränetät und überhaupt im
modernen Leben so wenig vom römischen Hause wie vom
römischen Staat ein entsprechendes Abbild vorhanden.


Die mächtigste äuſsere Schranke, welche Herkommen und
Sitte der absoluten Gewalt entgegenstellten, ist in dem Satze
ausgesprochen, daſs es weder dem Hausvater noch dem König
ziemt sich in wichtigen Fällen zu entscheiden, ohne anderer
Männer Rath vernommen zu haben. So ist die eheherr-
liche und väterliche Gewalt umgrenzt worden durch den Fa-
milienrath und noch weit schärfer ausgeprägt besteht für den
König wie überhaupt für die gesammte römische Magistratur
aller Epochen die Regel, daſs in wichtigen Fällen vor Fassung
des Beschlusses die Freunde, das ist für den König der Rath
der Alten um ihre Meinung befragt werden müssen, so daſs
dieser einen bestimmenden Einfluſs auf die wichtigen Landes-
angelegenheiten gewann, ohne daſs doch die Unbeschränktheit
der Königsgewalt dadurch rechtlich aufgehoben wurde. — Der
Rath der Aelteren, der senatus ist der römische Staatsrath,
mit dem der König alle Angelegenheiten zu berathen hat, die
nicht richterlicher oder militärischer Natur sind. Er ist kei-
neswegs bloſs die Versammlung dieser oder jener Freunde
des Königs, die zuzuziehen dem König beliebt hat, sondern
eine dauernde politische Institution, in der sogar ein gewisser
Repräsentativcharakter in der ältesten Zeit unverkennbar her-
vortritt. Als die Geschlechtergaue zusammentraten und sich
einen gemeinschaftlichen König ernannten, scheint jedes Ge-
schlecht durch seinen Aeltesten vertreten worden zu sein, der
gewissermaſsen den Patriarchen des Geschlechts repräsentirte
und darum ‚Ascendent‘ (pater) genannt ward; diese
Aeltesten,
die ‚Ascendenten‘ (patres) bildeten den ursprünglichen
Senat.
[57]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
Hieraus erklärt sich, weſshalb der einmal ernannte Rathsherr
es auf Lebenszeit blieb und vielleicht selbst der König ihm
diese Stellung nicht entziehen konnte. Es erklärt sich ferner
daraus, daſs die Zahl der Rathsherrnstellen eine feste und
der Zahl der dem Staate angehörigen Geschlechtsgenossen-
schaften gleiche blieb, so daſs mit der Einbürgerung neuer
Gemeinden, die wieder gleich der römischen aus Geschlechts-
genossenschaften bestanden, die Vermehrung der Senatssitze
als staatsrechtliche Nothwendigkeit verbunden war. Indeſs
besteht diese Repräsentation der Geschlechter durch den Senat
mehr der Absicht nach, als zu Rechte; denn es steht dem
König die freie und unbeschränkte Auswahl der Senatoren zu,
so daſs es sogar nur von ihm abhängt auch Nichtbürgern
Sitz im Rathe einzuräumen, womit nicht gesagt, aber auch
nicht verneint werden soll, daſs dies schon in der Königszeit
geschah. Freilich kam diesen die Bezeichnung als ‚Aelteste‘
nicht zu; später finden wir für sie die Benennung der ‚Zu-
geschriebenen‘ (conscripti). Anfangs, als noch die Individua-
lität der Geschlechter im Volke lebendig war, mag es wenig-
stens als Regel festgehalten sein, daſs wenn ein Senator starb,
der König den an seine Stelle berief, der ihm in der Ge-
schlechtsgenossenschaft als Aeltester gefolgt sein würde; allein
mit der steigenden Verschmelzung und inneren Einigung der
Volksgemeinde ging wohl auch factisch die Auswahl der Raths-
herren ins freie Ermessen des Königs über und nur das er-
schien als Miſsbrauch, daſs der König erledigte Stellen unbe-
setzt lieſs. — Dennoch sicherte die Lebenslänglichkeit der
Rathsherrnstellen und ihre Gründung auf die wesentlichen
Elemente des römischen Staates dem Senat eine ganz andere
Bedeutung als sie einer bloſsen Vereinigung von königlichen
Vertrauten hätte zukommen können; ja wie von dem Rath
der Aeltesten die erste Königswahl ausgegangen war, so ruhten
auch auf ihnen, wenn der König ohne ernannten Nachfolger
gestorben, die Auspicien des Staates, das heiſst der Be-
griff der Staatseinheit und versammelten sie sich in diesem
Fall ungeladen zur Vornahme der Neuwahl; nur daſs dann
freilich die etwa im Senat befindlichen Nichtbürger ausschei-
den und bloſs die Patricier wählen. — Dem König gegenüber
beschränken allerdings die Rechte der Senatoren sich einfach
darauf Rath zu ertheilen, wenn sie gefragt werden. Der Kö-
nig beruft den Rath, wann es ihm beliebt und legt die Fragen
ihm vor; kein Rathsherr darf ungefragt seine Meinung sagen,
[58]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
noch weniger der Rath sich ungeladen versammeln. Der
Rathschlag ist kein Befehl; der König kann es unterlassen
ihm zu folgen, ohne daſs dem Senat ein Mittel zustände
seiner ‚Autorität‘ praktische Geltung zu verschaffen. ‚Ich habe
euch gewählt, spricht der König zu den Rathsherren, nicht
dass ihr mich leitet sondern um euch zu gebieten‘. — Indeſs
factisch galt es unzweifelhaft als schnöder Miſsbrauch der
Königsgewalt, wenn bei wichtigen Dingen die Befragung des
Senats unterblieb. So mag er mitgewirkt haben bei der
Auflage von Frohnden und auſserordentlichen Leistungen
überhaupt, bei der Verfügung über das eroberte Gebiet und
sonst; ferner überall, wo es nothwendig war die Landesge-
meinde zu befragen, so bei der Arrogation, bei der Aufnahme
in die Bürgerschaft und bei der Erklärung eines Angriffskrie-
ges. War die römische Gemeinde von einem Nachbar geschä-
digt und die Sühne verweigert worden, so rief der Fetialis
die Götter an zu Zeugen der Unbill und schloſs mit den
Worten: ‚darüber aber wollen wir Alten Rath pflegen daheim,
wie wir zu unserem Rechte kommen‘, worauf denn der König
nach gehaltener Berathschlagung mit den Vätern die Sache
an die Gemeinde brachte; nur wenn diese und der Rath ein-
verstanden waren, galt der Krieg als ein gerechter, in dem
der Segen der Götter mit Fug erwartet werden konnte.


Die Bürgerschaft zerfiel in drei ‚Theile‘ (tribus; wie tota
umbrisch und oskisch die Gemeinde heiſst). Diese Theile waren
die Ramner oder eigentlichen Römer, die Titier und die Lucerer,
von denen jeder ehedem eine eigene Gemeinde gebildet haben
muſs; jeder Theil zerfiel wieder in zehn ‚Pflegschaften‘ (curia wohl
mit curare oder coerare, ϰοίϱανος verwandt), deren jeder ein
‚Pfleger‘ (curio,) ihnen allen ein ‚Oberpfleger‘ (curio maximus)
vorstand; die ‚Theile‘ hatten so viel wir wissen besondere Vor-
stände nicht. Die Curie ist die unterste Eintheilung der Bür-
gerschaft; rechtlich bestehen in derselben keine Unterabtheilun-
gen, sondern es stehen sämmtliche Curialen, ohne Unterschied
der im Hause ihnen zukommenden Stellung, in der Curie sich
gleich. Wenn dennoch auf jede Curie zehn Geschlechtsgenos-
senschaften gezählt werden, so kann man dies nur beziehen
auf den ältesten factischen Bestand etwa der Ramnes, welcher
übertragen ward auf die beiden zutretenden Gemeinden; hundert
Geschlechtsgenossenschaften einer jeden hielt man fest als idea-
len Normalbestand eines jeden der drei ‚Theile‘, den die drei-
hundert Patriarchen im Rath der Alten und ebenso im Heer die
[59]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
dreihundert Reiter, die dreitausend Fuſssoldaten im Ganzen
repräsentirten, ohne dass im Einzelnen die Rathsherrn- oder
Ritterstelle dem Geschlecht entsprochen oder der factische
Bestand der Geschlechter wirklich dreihundert gewesen wäre.
Wie die Geschlechtsgenossenschaften selbst zugleich Markge-
nossenschaften waren, scheinen auch die Curien und die
Tribus zugleich Eintheilung der Bürger und der Feldmark
gewesen zu sein; unter den wenigen Curiennamen, die wir
kennen, finden sich theils gentilicische Bezeichnungen, zum
Beispiel Titia, theils locale, zum Beispiel Veliensis. Standes-
vorzüge innerhalb der Bürgerschaften bestanden nicht. Aller-
dings behaupteten die Ramner, als der älteste Theil der Ge-
meinde, überall wo die ‚Theile‘ auftraten, die erste Stelle und
ebenso unterschied man von den ‚Altbürgern‘ (maiores gentes),
das heiſst denjenigen Geschlechtern, deren Aufnahme in die
Bürgerschaft nicht mehr nachzuweisen war, die ‚Neubürger‘
(minores gentes), deren Reception, wie zum Beispiel die der
albischen Geschlechter, auf ein noch bekanntes Ereigniſs zu-
rückgeführt werden konnte. Allein rechtliche Folgen knüpften
sich keine an diesen thatsächlichen Unterschied; der Neubür-
ger stand politisch dem Altbürger völlig gleich und wie dieser
dem Nichtbürger schroff gegenüber. — Die Bürgerschaft hatte
allein das Recht und die Pflicht die Waffen zu tragen; sie ist
die ‚Kriegerschaft‘ (populus, populari brandschatzen; popa
der Schlächter), und ‚Lanzenmänner‘ (quirites) heiſst sie der
König, wenn er zu ihnen redet. Zum Angriffsheere, der ‚Lese‘
(legio) stellt jeder Theil gleich viel Reiter (celeres) und Fuſs-
volk, von jenen hundert (centuria), von diesen tausend (milites
von mille und ire), so daſs drei Centurien der Reiter, drei
Tausendschaften der Fuſsgänger, jene unter dem Abtheilungs-
führer der Reiter (tribunus celerum), diese unter denen der
Fussgänger (tribuni militum) das Kriegsheer bilden. Bei der
steigenden Zahl und Kraft des Staates ward es möglich die
Reiterei zu verdoppeln, so daſs seitdem jeder Theil zwei
Centurien stellte; ob zugleich eine entsprechende Vermehrung
des Fuſsvolks stattfand, wissen wir nicht. — Wenn die Bür-
gerschaft sich versammelte, erschienen bei der ‚Zusammen-
kunft‘ (com-itia) alle Gemeindeglieder mit Ausnahme der Wei-
ber und der noch nicht waffenfähigen Kinder und traten nicht
in den militärischen Abtheilungen, sondern nach Curien zu-
sammen. Sie traten zusammen nicht wann es ihnen beliebte
noch zu gesetzten Fristen, sondern wenn der König die Bürger
[60]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
lud (calare, comitia calata); nicht um zu reden, sondern um
zu hören, nicht um zu fragen, sondern um zu antworten.
Niemand spricht in der Versammlung als der König oder
wem er das Wort freiwillig giebt; die Rede des Volkes ist
einfache Antwort auf die Frage, ohne Debatte, ohne Bedin-
gung, ohne Begründung, ohne Fragtheilung. Im ordentlichen
Lauf der Dinge besteht die Theilnahme des Volkes am Regi-
ment darin freiwillig sich zu verpflichten. So thut der König,
nachdem er sein Amt angetreten hat, an die versammelten
Curien die Frage, ob sie ihm treu und gehorsam sein und
ihn selbst wie seine Diener, die Spürer (quaestores) und Boten
(lictores) in hergebrachter Weise anerkennen wollen; eine
Frage, die unzweifelhaft ebenso wenig verneint werden durfte
als die ihr ganz ähnliche Huldigung in der Erbmonarchie
verweigert werden darf. Eine ähnliche Ansprache (lex,
von λέγειν) oder Anfrage (rogatio) richtet der König an das
Volk in allen auſserordentlichen Fällen, wo etwas geschehen
sollte, das der gewöhnlichen Rechtsconsequenz zuwider lief;
und hier durfte ebenso unzweifelhaft die Frage bejaht wie
verneint werden. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann jeder
unbeschränkt sein Eigenthum weggeben an wen er will, allein
nur in der Art, daſs er dasselbe sofort aufgiebt; daſs das
Eigenthum vorläufig ihm bleibe und bei seinem Tode auf
einen Andern übergehe, ist rechtlich unmöglich — es sei
denn, daſs ihm das Volk solches gestatte; was hier nicht
bloſs die in Curien versammelte, sondern auch die zum Kampf
sich ordnende Bürgerschaft bewilligen konnte. Dies ist der
Ursprung der Testamente. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann
der freie Mann das unveräuſserliche Gut der Freiheit nicht
verlieren noch weggeben, und darum auch, wer keinem Haus-
herrn unterthan ist, sich nicht einem andern an Sohnes Statt
unterwerfen — es sei denn, daſs ihm das Volk solches ge-
statte. Dies ist die Adrogation. Im gewöhnlichen Rechtslauf
kann das Bürgerrecht nur gewonnen werden durch die Geburt
und nicht verloren werden — es sei denn, daſs das Volk den
Patriciat verleihe oder dessen Aufgeben gestatte, was beides
unzweifelhaft ohne Curienbeschluſs vor der Kaiserzeit nicht
gültig geschehen konnte. Im gewöhnlichen Rechtslauf trifft
den todeswürdigen Verbrecher, nachdem der König oder sein
Stellvertreter nach Urtheil und Recht den Spruch gethan,
unerbittlich die Todesstrafe, da der König wie jeder andere
Richter nicht begnadigen kann — es sei denn, daſs der zum
[61]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
Tode verurtheilte Bürger die Gnade des Volkes anrufe und
der Richter ihm die Betretung des Gnadenweges gestatte.
Dies ist der Anfang der Provocation, die darum auch vor-
zugsweise nicht dem leugnenden Verbrecher gestattet wird,
der überwiesen ist, sondern dem geständigen, der Milderungs-
gründe geltend macht. Im gewöhnlichen Rechtslauf darf der
mit einem Nachbarstaat geschlossene ewige Vertrag nicht ge-
brochen werden — es sei denn, daſs wegen zugefügter Unbill
das Volk es gestatte. Daher muſste das Volk nothwendig be-
fragt werden, wenn ein Angriffskrieg beabsichtigt wird, nicht
aber bei dem Vertheidigungskrieg, wo der andere Staat den
Vertrag bricht, noch auch beim Abschluſs des Friedens; doch
richtete sich jene Frage, wie es scheint, nicht an die Ver-
sammlung der Curien, sondern an das Heer. So wird endlich
überhaupt, wenn der König eine Neuerung beabsichtigt, eine
Aenderung des bestehenden gemeinen Rechtes, es nothwendig
das Volk zu befragen; und insofern ist das Recht der Gesetz-
gebung von Alters her ein Recht der Gemeinde, nicht des
Königs. Es war, wie Sallust sagt, die königliche Gewalt un-
umschränkt und durch Gesetze gebunden (imperium legitimum);
unumschränkt, insofern sein Gebot unbedingt vollzogen werden
muſste, gebunden, insofern ein dem Herkommen zuwiderlau-
fendes und nicht von dem wahren Souverain, dem Volke gut-
geheiſsenes Gebot keine rechtlichen Folgen erzeugte und zum
Beispiel der widerrechtlich vom König zum Patricier erklärte
Mann nach wie vor Plebejer blieb. Also war die älteste rö-
mische Verfassung gewissermaſsen die umgekehrte constitu-
tionelle Monarchie. Wie in dieser der König gilt als der In-
haber und Träger der Machtfülle und darum die Gnadenacte
von ihm ausgehen, während die Ausübung der Rechte des
Staates den Vertretern des Volkes zusteht, so war die römi-
sche Volksgemeinde ungefähr was in England der König ist,
während alle Ausübung und Verwaltung dem Vorsteher der-
selben zustand.


Die Staatsverwaltung war sehr einfach. Die öffentlichen
Leistungen, wie Frohnden und Kriegsdienst, trug im Allge-
meinen derjenige, den sie eben nach herkömmlicher Reihen-
folge trafen mit Leib und Gut; wenn eine Entschädigung ge-
geben ward, so gewährte sie der District oder wer nicht
dienen wollte oder konnte, nicht aber der Staat. Die Lasten
des Krieges trafen also die Staatskasse zunächst nicht; woher
denn auch regelmäſsige directe Steuern für die Bürgerschaft
[62]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
nicht bestanden. Die ansässigen Metöken scheinen ein Schutz-
geld erlegt zu haben (aerarii); auſserdem flossen in die Staats-
kasse die uralten Hafenzölle und die Einnahme von den Do-
mänen, namentlich das Weidegeld (scriptura) von dem auf
die Gemeinweide aufgetriebenen Vieh und die Fruchtquote
(vectigalia), die vom Ackerland des Staats die Pächter abzu-
geben hatten; ferner der Kriegsgewinn an Land und Beute,
der nicht Eigenthum des Königs war, sondern Eigenthum des
Staats. Reichten in auſserordentlichen Fällen diese Einkünfte
nicht aus, so ward eine Umlage (tributum) ausgeschrieben,
die als gezwungene Anleihe betrachtet und in besseren Zeit-
läuften zurückgezahlt ward; ob dieselbe erhoben ward von den
Ansässigen, mochten sie Bürger sein oder nicht, oder, wie es
wahrscheinlicher ist, von den Bürgern als solchen, läſst sich
nicht entscheiden. Daſs der König die Finanzen leitete, ver-
steht sich von selbst; wie weit er herkömmlich beschränkt war,
ist nicht wohl mehr auszumachen, das Volk indeſs ist unzwei-
felhaft hierbei nie gefragt worden, wogegen bei Auflage des
Tributum und Vertheilung des im Kriege gewonnenen Acker-
landes es wohl Sitte war den Senat zu befragen. Einnahmen
hatte der König als solcher nicht; das Amt war eine Ehre,
kein nutzbares Gut und selbst von regelmäſsigen Ehrengaben
ist nicht die Rede. Dagegen finden sich Spuren, daſs das
letzte Königsgeschlecht, das der Tarquinier, von Haus aus
reich war und ausgedehnte Ländereien besaſs.


So regierte sich die römische Gemeinde, ein freies Volk,
das zu gehorchen verstand, in klarer Absagung von allem
mystischen Priesterschwindel, in unbedingter Gleichheit vor
dem Gesetz und unter sich, in scharfer Ausprägung der
eigenen Nationalität, während zugleich — es wird dies so-
gleich dargestellt werden — dem Verkehr mit dem Auslande
groſsherzig die Thore weit aufgethan wurden. Diese Ver-
fassung ist weder gemacht noch entlehnt, sondern erwachsen
in und mit dem römischen Volke; es mag sein, daſs, wie
der Purpurmantel und der Elfenbeinstab sicher den Grie-
chen — nicht den Etruskern — entlehnt wurden, man auch
die vierundzwanzig Lictoren vom Ausland herübergenommen
hat, aber wie wenig und wie unbedeutend das Geborgte ist
im römischen Staatsrecht, beweist die durchgängige Bezeich-
nung aller seiner Begriffe mit Wörtern latinischer Prägung.
Diese Verfassung ist es, die die Grundgedanken des römischen
Staats für alle Zeiten thatsächlich festgestellt hat; denn trotz
[63]URSPRUENGLICHE VERFASSUNG ROMS.
der wandelnden Formen steht es fest, so lange es eine rö-
mische Gemeinde giebt, daſs der Beamte unbedingt befiehlt,
daſs der Rath der Alten die höchste Autorität im Staate ist
und daſs jede Ausnahmsbestimmung der Sanctionirung des
Souverains bedarf, das heiſst der Volksgemeinde.


[[64]]

KAPITEL VII.



Die Nichtbürger und die reformirte Verfassung.


Neben der Bürgerschaft standen die Nichtbürger, die
‚Hörigen‘ (clientes), wie man sie nannte als die Zugewandten
der einzelnen Bürgerhäuser, oder die ‚Menge‘ (plebes, von
pleo, plenus), wie sie negativ hieſsen mit Hinblick auf die
mangelnden politischen Rechte. Während den Fremden, der
nirgends einen Anhalt im Staat besaſs, zu vertreiben und zu
berauben Jedem freistand, genossen diese Zugewandten mittel-
bar und unmittelbar vollen Rechtsschutz und alle Vortheile
des Gastrechts, wogegen wie die persönlichen Leistungen der
Bürger sie nicht trafen, so auch sie an den Rechten der
Bürgerschaft keinen Theil hatten. Daſs wir sie dennoch in
gewissen Beziehungen zu den Curien finden, ist nicht zu ver-
wundern; da ursprünglich der Client regelmäſsig einem be-
stimmten Patron sich anschloſs, ist es natürlich, daſs man
diesen beim Gottesdienst und bei Festlichkeiten zulieſs mit
seinen Gästen, die aber natürlich darum weder in der Legion
noch in den Comitien standen. Dagegen in privatrechtlicher
Hinsicht bestanden seit uralter Zeit die liberalsten Grundsätze.
Das römische Recht weiſs weder von Erbgutsqualität noch
von Geschlossenheit der Liegenschaften und gestattet eines-
theils jedem dispositionsfähigen Mann bei seinen Lebzeiten
vollkommen unbeschränkte Verfügung über sein Vermögen,
andrerseits jedem, der überhaupt zum Verkehr mit römischen
Bürgern durch das Gastrecht befugt war, selbst dem Fremden
und dem Clienten, das unbeschränkte Recht bewegliches und
[65]NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
unbewegliches Gut in Rom zu erwerben. Es ist eben Rom
eine Handelsstadt gewesen, die den Anfang ihrer Bedeutung
dem internationalen Verkehr verdankte und das Niederlas-
sungsrecht mit groſsartiger Freisinnigkeit jedem Kinde un-
gleicher Ehe, jedem freigelassenen Knecht, ja jedem nach
Rom auf die Dauer übersiedelnden und sich in den Schutz
eines römischen Hauses begebenden Fremden gewährte.


Anfänglich waren also die Bürger in der That die Schutz-
herren, die Nichtbürger die Geschützten; allein wie in allen
Gemeinden, die ihr Bürgerrecht schlieſsen, ward es bald schwer
und wurde immer schwerer dieses rechtliche Verhältniſs mit
dem factischen Zustand in Harmonie zu erhalten. Das Auf-
blühen des Verkehrs, das durch das latinische Bündniſs ge-
währleistete Niederlassungsrecht aller Latiner in der Haupt-
stadt, die mit dem Wohlstand steigende Zahl der Freilassungen
muſsten schon im Frieden die Zahl der Nichtbürger unver-
hältniſsmäſsig vermehren. Es kam dazu nach Ueberwindung
der umliegenden Gemeinden der gröſsere Theil der Bevölke-
rung der Nachbarstädte, welcher, mochte er nun gezwungen
nach Rom übersiedelnd dort eintreten in die Clientel oder
in seiner alten zum Dorf herabgesetzten Heimath verbleiben,
immer sein eigenes Bürgerrecht mit römischem Metökenrecht
vertauschte. Dazu lastete der Krieg ausschlieſslich auf den
Altbürgern und lichtete beständig die Reihen der patricischen
Nachkommenschaft, während die Insassen den Erfolg der
Siege theilten, ohne mit ihrem Blute dafür zu bezahlen. —
Unter solchen Verhältnissen ist es fast befremdlich, daſs der
römische Patriciat nicht noch viel schneller zusammenschwand
als es in der That der Fall war. Daſs er noch längere Zeit
eine zahlreiche Gemeinde blieb, davon ist der Grund wohl
weniger zu suchen in der Verleihung des römischen Bürger-
rechts an einzelne ansehnliche auswärtige Geschlechter, die
freiwillig oder nach der Ueberwindung ihrer Stadt das römische
Bürgerrecht empfingen — denn diese Verleihungen scheinen
von Anfang an sparsam erfolgt und immer seltener geworden
zu sein, je mehr das römische Bürgerrecht im Preise stieg.
Von gröſserer Bedeutung war vermuthlich die Einführung der
Civilehe, wonach das von patricischen als Eheleute wenn auch
ohne Confarreation zusammenlebenden Aeltern erzeugte Kind
volles Bürgerrecht erwarb so gut wie das in confarreirter Ehe
erzeugte; es ist wenigstens wahrscheinlich, daſs die schon vor
den zwölf Tafeln in Rom bestehende, aber doch gewiſs nicht
Röm. Gesch. I. 5
[66]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
ursprüngliche Civilehe eben eingeführt ward um das Zusam-
menschwinden des Patriciats zu hemmen. Es ist sogar nicht
unglaublich, daſs alle in ungleicher oder auſser der Ehe von
patricischen Müttern erzeugten Kinder in späterer Zeit gleich-
falls in die Bürgerschaft eintraten. — Wenn so die Zahl der
Insassen in beständigem und keiner Minderung unterliegenden
Wachsen begriffen war, während die der Bürger sich im besten
Fall nicht vermindern mochte, muſste gleichzeitig auch die
Stellung der Insassen unmerklich einen anderen und freieren
Charakter annehmen. Die Nichtbürger waren nicht mehr
bloſs entlassene Knechte und schutzbedürftige Fremde; es
gehörten dazu die ehemaligen Bürgerschaften der im Krieg
unterlegenen latinischen Gemeinden und vor allen Dingen die
latinischen Ansiedler, die nicht durch Gunst des Königs oder
eines anderen Bürgers, sondern nach Bundesrecht in Rom
lebten. Vermögensrechtlich unbeschränkt gewannen sie Geld
und Gut in der neuen Heimath, und vererbten gleich dem
Bürger ihren Hof auf Kinder und Kindeskinder. Die drückende
Abhängigkeit von den einzelnen Bürgerhäusern lockerte sich
allmählig. Stand der befreite Knecht, der eingewanderte
Fremde auch noch ganz isolirt im Staat, so galt dies schon
nicht mehr von seinen Kindern, noch weniger von den Enkeln
und die Beziehungen zu dem Patron traten damit von selbst
immer mehr zurück. War in älterer Zeit der Client aus-
schlieſslich für den Rechtsschutz angewiesen auf die Vermitt-
lung des Patrons, so muſste, je mehr der Staat sich consoli-
dirte und folgeweise die Bedeutung der Geschlechtsvereine
und der Häuser sank, desto häufiger auch ohne Vermittlung
des Patrons vom König dem einzelnen Clienten Rechtsfolge
und Abhülfe der Unbill gewährt werden; es ist sehr wahr-
scheinlich, daſs eine groſse Zahl der Nichtbürger, namentlich
die Mitglieder der aufgelösten latinischen Gemeinden dies da-
durch bewerkstelligten, daſs sie sich geradezu in die Clientel
des Königs begaben und also nur dem einen Herrn dienten,
dem wenn gleich in anderer Art auch die Bürger gehorchten.
Dem König, dessen Herrschaft über die Bürger denn doch
am Ende abhing von dem guten Willen der Gehorchenden,
muſste es willkommen sein, in diesen seinen eigenen Schutz-
leuten eine ihm näher verpflichtete Genossenschaft zu bilden,
deren Geschenke und Erbschaften seinen Schatz füllten, deren
Frohnden er kraft eigenen Rechts in Anspruch nehmen
konnte, und die er stets bereit fand sich um den Beschützer
[67]NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
als Gefolge zu schaaren. — So erwuchs neben der Bürger-
schaft eine zweite römische Gemeinde, aus den Clienten ent-
stand die Plebs. Dieser Namenwechsel ist charakteristisch;
rechtlich ist kein Unterschied zwischen dem Clienten und
dem Plebejer, dem Hörigen und dem Manne aus dem Volk,
factisch aber ein sehr bedeutender, indem jene Bezeichnung
das Schutzverhältniſs zu einem der politisch berechtigten Ge-
meindeglieder, diese bloſs den Mangel der politischen Rechte
hervorhebt. Wie das Gefühl der besonderen Abhängigkeit
zurücktrat, drängte das der politischen Zurücksetzung den
freien Insassen sich auf; und nur die über allen gleichmäſsig
waltende Herrschaft des Königs verhinderte das Ausbrechen
des politischen Kampfes zwischen der berechtigten und der
rechtlosen Gemeinde.


Der erste Schritt zur Verschmelzung der beiden Volks-
theile geschah indeſs schwerlich auf dem Wege der Revolu-
tion, den jener Gegensatz vorzuzeichnen schien. Die Ver-
fassungsreform, die ihren Namen trägt vom König Servius
Tullius, liegt zwar ihrem geschichtlichen Ursprung nach in
demselben Dunkel wie alle Ereignisse einer Epoche, die wir
nicht kennen durch historische Ueberlieferung, sondern nur
durch Rückschlüsse aus den späteren Institutionen; aber ihr
Wesen zeugt dafür, daſs nicht die Plebejer sie gefordert haben
können, denen die neue Verfassung nur Pflichten, nicht Rechte
gab, sondern daſs sie entweder der Weisheit eines der römi-
schen Könige ihren Ursprung verdankt oder dem Drängen der
Bürgerschaft auf Befreiung von dem auschlieſslichen Kriegs-
dienst und auf Zuziehung der Nichtbürger zu dem Aufgebot.
Es wurde durch die servianische Verfassung die Dienstpflicht
und die damit zusammenhängende Verpflichtung dem Staat
im Nothfall vorzuschieſsen (das Tributum) statt auf die Bür-
gerschaft als solche gelegt auf die Grundbesitzer, die ‚Ansäs-
sigen‘ (adsidui) oder ‚Begüterten‘ (locupletes), mochten sie
Bürger oder bloſs Insassen sein; die Heeresfolge wurde aus
einer persönlichen zu einer Reallast. Im Einzelnen war die
Ordnung folgende. Pflichtig zum Dienst war jeder ansässige
Mann vom achtzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr mit
Einschluſs der Hauskinder ansässiger Väter, ohne Unterschied
der Geburt; so daſs selbst der entlassene Knecht zu dienen
hatte, wenn er ausnahmsweise zu Grundbesitz gelangt war.
Wie es mit den Fremden gehalten ward, die römischen Grund-
besitz inne hatten, wissen wir nicht; wahrscheinlich bestand
5 *
[68]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
eine Einrichtung, nach der kein Ausländer römischen Grund-
besitz erwerben durfte ohne factisch nach Rom überzusiedeln
und dort unter die Insassen, also unter die Kriegspflichtigen
einzutreten. Nach der Gröſse der Grundstücke wurde die
kriegspflichtige Mannschaft eingetheilt in fünf ‚Ladungen‘
(classes, ϰλήσεις oder ϰλάσεις; wie βάσις altlateinisch bas-
sis
), von denen indeſs nur die Pflichtigen der ersten Ladung
oder die Vollhufener in vollständiger Rüstung erscheinen
muſsten und insofern vorzugsweise als die zum Kriegsdienst
Berufenen (classici) galten, während von den vier folgenden
Reihen der kleineren Grundbesitzer, den Besitzern von Drei
Vierteln, Hälften, Vierteln und Achteln einer ganzen Bauer-
stelle, zwar auch die Erfüllung der Dienstpflicht, nicht aber
die volle Armirung verlangt ward. Nach der damaligen Ver-
theilung des Bodens waren fast die Hälfte der Bauerstellen
Vollhufen, während die Dreiviertel-, Halb- und Viertelhufener
jede knapp, die Achtelhufner reichlich ein Achtel der Ansäs-
sigen ausmachten; weſshalb festgesetzt ward, daſs für das
Fuſsvolk auf achtzig Vollhufner je zwanzig der drei folgenden
und achtundzwanzig der letzten Reihe ausgehoben werden
sollten. Während hier auf den politischen Unterschied keine
Rücksicht genommen ward, verfuhr man dagegen bei der Bil-
dung der Reiterei so, daſs die bestehende Bürgercavallerie
beibehalten, daneben aber eine doppelt so starke Truppe hin-
zugefügt ward, die ganz oder doch gröſstentheils aus Nicht-
bürgern bestand. Der Grund dieser Abweichung ist wohl
darin zu suchen, daſs man damals die Infanterieabtheilungen
für jeden Feldzug neu formirte und nach der Heimkehr entlieſs,
dagegen in den Abtheilungen der Cavallerie Rosse wie Män-
ner aus militärischen Rücksichten auch im Frieden zusammen-
gehalten wurden und regelmäſsige Uebungen hielten, die als
Festlichkeiten der römischen Ritterschaft bis in die späteste
Zeit fortbestanden. So ist es gekommen, daſs das erste Drittel
der Rittercenturien auch in dieser sonst principiell den Unter-
schied zwischen Bürgern und Nichtbürgern nicht berücksich-
tigenden Verfassung ausschlieſslich den Bürgern verblieb; nicht
politische, sondern militärische Gründe haben diese Anomalie
hervorgerufen. Zur Reiterei nahm man die vermögendsten
und ansehnlichsten Grundbesitzer unter Bürgern und Nicht-
bürgern, und es scheint schon früh, vielleicht von Anfang an
ein gewisses Ackermaſs als zum Reiterdienst verpflichtend ge-
golten zu haben; doch bestanden daneben eine Anzahl Frei-
[69]NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
stellen, indem die unverheiratheten Frauen, die unmündigen
Knaben und die kinderlosen Greise, welche Grundbesitz hatten,
angehalten wurden anstatt des eigenen Dienstes einzelnen Rei-
tern für das Pferd und dessen Fütterung zu sorgen. Im Ganzen
kam auf neun Fuſssoldaten ein Reiter; doch wurden beim
effectiven Dienst die Reiter mehr geschont. — Die nicht an-
sässigen Leute (‚Kinderzeuger‘, proletarii) hatten zum Heere
die Werk- und Spielleute zu stellen so wie eine Anzahl Er-
satzmänner (zugegebene Leute, adcensi), die unbewaffnet
(velati) mit dem Heer zogen und im Felde, wo Lücken ent-
standen, mit den Waffen der Kranken und Gefallenen mit in
die Reihe gestellt wurden.


Zum Behuf der Aushebung wurde Stadt und Weichbild
eingetheilt in vier ‚Theile‘ (tribus), wodurch die alte Drei-
theilung wenigstens in ihrer localen Bedeutung beseitigt ward:
den palatinischen, der den Hügel gleiches Namens mit der
Velia in sich schloſs; den der Subúra, dem der District dieses
Namens, die Carinen und der Caelius angehörten; den esqui-
linischen; und den collinischen, den der Quirinal und Vi-
minal, die ‚Hügel‘ im Gegensatz der ‚Berge‘ des Capitol und
Palatin, bildeten. Die Ordnung ist der alten aus der allmä-
lichen Entstehung der Stadt hervorgegangenen Rangfolge der
Quartiere entlehnt; der erste District begreift die Altstadt, der
zweite die ältere Neustadt, der dritte die alte viel später um-
mauerte ‚Vorstadt‘, der vierte endlich das erst durch den
servianischen Wall zur Stadt gezogene Quartier. Auſserhalb
der Mauern wird zu jedem District der anliegende Landbezirk
gehört haben, wie denn Ostia zur Palatina zählt; daſs die vier
Districte ungefähr gleiche Mannszahl hatten, ergiebt sich aus
ihrer gleichmäſsigen Anziehung bei der Aushebung. Ueber-
haupt hat diese Eintheilung, die zunächst auf den Boden al-
lein und nur folgeweise auf die Besitzer sich bezog, einen
ganz äuſserlichen Charakter und namentlich ist ihr niemals eine
religiöse Bedeutung zugekommen; denn daſs in jedem Stadt-
district sechs Kapellen der räthselhaften Argei sich befanden,
macht dieselben ebenso wenig zu sacralen Districten als es die
Gassen dadurch wurden, daſs in jeder ein Larenaltar errichtet
ward. — Jeder dieser vier Aushebungsdistricte hatte den vier-
ten Theil wie der ganzen Mannschaft, so jeder einzelnen mi-
litärischen Abtheilung zu stellen, so daſs jede Legion und jede
Centurie gleich viel Conscribirte aus jedem Bezirk zählte; of-
fenbar um, wie diese Institution hauptsächlich bestimmt war
[70]ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
den Unterschied zwischen Bürgern und Insassen im Heer auf-
zuheben, so auch im Einzelnen alle Gegensätze gentilicischer
und localer Natur in der Einheit des römischen Volkes auf-
gehen zu machen.


Militärisch wurde die waffenfähige Mannschaft geschieden
in ein erstes und zweites Aufgebot, von denen jene, die ‚Jün-
geren‘ vom achtzehnten bis zum fünfundvierzigsten Jahre, vor-
wiegend zum Felddienst verwandt wurden, während die ‚Ael-
teren‘ die Mauern daheim schirmten. Die militärische Einheit
bildete in der Infanterie die Legion, eine vollständig hellenisch
gereihte und gerüstete Phalanx von dreitausend Mann, die
sechs Glieder hoch eine Fronte von fünfhundert Schwergerü-
steten bildeten; wozu dann noch zwölfhundert ‚Ungerüstete‘
(velites, wie velati) kamen. Die vier ersten Glieder jeder
Phalanx bildeten die vollgerüsteten Hopliten der ersten Klasse
oder der Vollhufner, im fünften und sechsten standen die
minder gerüsteten Bauern der zweiten und dritten Klasse; die
beiden letzten Klassen bildeten die Leichtbewaffneten. Für
die leichte Ausfüllung zufälliger Lücken, die der Phalanx so
verderblich sind, war gesorgt. Es dienten also in jeder Le-
gion 42 Centurien oder 4200 Mann, davon 3000 Hopliten,
2000 der ersten, je 500 der beiden folgenden Klassen, ferner
1200 Velites, davon 500 der vierten, 700 der fünften Klasse;
aus jedem Aushebungsbezirk enthielt die Legion 1050, die Cen-
turie 25 Mann. Regelmäſsig rückten zwei Legionen aus, während
zwei andere daheim den Besatzungsdienst versahen; wodurch
also der Normalbestand des Fuſsvolks auf vier Legionen oder
16800 Mann kamen, 80 Centurien der ersten, je 20 der drei
folgenden, 28 der letzten Klasse; ungerechnet die beiden Cen-
turien Ersatzmannschaft so wie die der Werk- und die der
Spielleute. Zu allen diesen kam die Reiterei, welche aus
1800 Pferden bestand, davon ein Drittel der alten Bürger-
schaft reservirt blieb; beim Auszug pflegten indeſs nur drei
Centurien jeder Legion beigegeben zu werden. Der Normal-
bestand des römischen Heeres ersten und zweiten Aufgebots
stieg sonach nahe an 20000 Mann; welche Zahl dem Effec-
tivbestand der römischen Waffenfähigen, wie er war zur Zeit
der Einführung dieser neuen Organisation, unzweifelhaft im
Allgemeinen entsprochen haben wird. Bei steigender Bevöl-
kerung wurde nicht die Zahl der Centurien vermehrt, sondern
man verstärkte durch zugegebene Leute die einzelnen Abthei-
lungen, ohne doch die Grundzahl ganz fallen zu lassen; wie
[71]NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
denn solche überzählige Mitglieder in allen römischen Corpora-
tionen von geschlossener Zahl häufig vorkamen.


Mit dieser neuen Heeresordnung Hand in Hand ging die
sorg[f]ältigere Beaufsichtigung des Grundbesitzes von Seiten des
Staats. Es wurde entweder jetzt vorgeschrieben oder doch
sorgfältiger bestimmt, daſs ein Erdbuch angelegt werden solle,
in dem die einzelnen Grundbesitzer ihre Aecker mit dem Zu-
behör, den Gerechtigkeiten, den Knechten, den Zug- und
Lastthieren verzeichnen lassen sollten. Jede Veräuſserung,
die nicht offenkundig und vor Zeugen geschah, wurde für
nichtig erklärt und eine Revision der Grundbesitzregister,
die zugleich Aushebungsrolle waren, in angemessenen Zwi-
schenräumen vorgeschrieben. So sind aus der servianischen
Kriegsordnung die Mancipation und der Census hervorge-
gangen.


Augenscheinlich ist diese ganze Institution nicht zunächst
zu politischen Zwecken eingerichtet, sondern rein im militäri-
schen Interesse, um die Schlagfertigkeit der Bürgerschaft durch
Beiziehung der Insassen zu steigern. Weitere Anwendung
ward für jetzt nicht davon gemacht; obwohl es nicht fehlen
konnte, daſs factisch mit der Theilnahme an der Waffenpflicht
die Stellung der Einwohnerschaft sich änderte. Wer Soldat
ist, muſs auch Offizier werden können, so lange der Staat
nicht faul ist; ohne Frage konnten in Rom jetzt auch Ple-
bejer zu Centurionen und Kriegstribunen ernannt werden und
hiemit war ihnen sogar der Eintritt in den Rath, dem recht-
lich ohnehin nichts im Wege stand, doch wohl auch factisch
eröffnet. Blieb nun auch die bisherige Bürgerschaft nach wie
vor im Sonderbesitz der politischen Rechte, so muſste doch,
was bisher dem Bürgerheer, nicht der Curienversammlung zu-
gestanden hatte, jetzt mit Nothwendigkeit übergehen auf die
versammelten Centurien der Bürger und der Insassen, so daſs
also jetzt diese es sind, die zu den Testamenten der Soldaten
vor der Schlacht ihr Vollwort geben und die der König vor
dem Beginn eines Angriffskrieges um ihre Einwilligung zu
befragen hat. Es ist wichtig der späteren Entwicklung wegen
diese Ansätze zur Betheiligung der Centurien an den öffent-
lichen Angelegenheiten zu bezeichnen; allein es kann nicht
geleugnet werden, daſs der Erwerb dieser Rechte durch die
Centurien mehr folgeweise eintrat, als zunächst beabsichtigt
war und daſs nach wie vor der servianischen Reform die
Curienversammlung als die eigentliche Bürgergemeinde galt,
[72]ERSTES BUCH. KAPITEL VII.
deren Huldigung das ganze Volk dem König verpflichtete.
Neben diesen Vollbürgern standen die Insassen oder, wie sie
auch heiſsen, die ‚Bürger ohne Stimmrecht‘ (cives sine suffra-
gio
), die theilnehmen an den öffentlichen Lasten, der Heeres-
folge und der Steuer (daher municipes); wogegen das Schutz-
geld für sie wegfiel und dies fortan nur noch von den auſser
den Tribus stehenden, das heiſst den nichtansässigen Metöken
(aerarii) erlegt ward. — Hatte man somit bisher nur zwei
Klassen der Gemeindeglieder: Bürger und Schutzverwandte
unterschieden, so stellten jetzt sich drei politische Klassen
fest der Activ-, Passiv- und Schutzbürger; Kategorien, die viele
Jahrhunderte hindurch das römische Staatsrecht beherrschten.
Die für militärische Zwecke geschaffene Form auch für poli-
tische Reformen zu benutzen war indeſs einer spätern Epoche
aufbehalten.


Wann und wie diese Reform stattfand, darüber sind nur
Vermuthungen möglich. Sie setzt die vier Quartiere voraus,
das heiſst die servianische Mauer muſste gezogen sein, bevor
die Reform stattfand. Aber auch das Stadtgebiet muſste schon
seine ursprüngliche Grenze beträchtlich überschritten haben,
wenn es 8000 volle und ebensoviel Theilhufener oder Hufener-
söhne und auſserdem eine Anzahl gröſserer Landgutsbesitzer
oder deren Söhne stellen konnte. Wir kennen zwar den
Flächenraum der vollen römischen Bauernstelle nicht, allein
es wird nicht möglich sein sie unter 20 Morgen anzusetzen;
rechnen wir als Minimum 10000 Vollhufen, so würden diese
einen Flächenraum von 9 deutschen Quadratmeilen Ackerland
voraussetzen, wonach, wenn man Brachland und Weide, Häu-
serraum und Dünen noch so mäſsig in Ansatz bringt, das Ge-
biet zu der Zeit, wo diese Reform durchgeführt ward, minde-
stens eine Ausdehnung von 20 Quadratmeilen, wahrscheinlich
aber eine noch beträchtlichere gehabt haben muſs. Folgt
man der Ueberlieferung, so müſste man gar eine Zahl von
84000 ansässigen und waffenfähigen Bürgern annehmen; denn
so viel soll Servius bei dem ersten Census gezählt haben.
Indeſs daſs diese Zahl fabelhaft ist, zeigt ein Blick auf die
Karte; offenbar ist sie entstanden, indem die 16800 Waffen-
fähigen des Normalstandes der Infanterie nach einem durch-
schnittlichen die Familie zu 5 Köpfen ansetzenden Ueberschlag
eine Zahl von 84000 freien Activ- und Passivbürgern zu er-
geben schien. Aber auch nach jenen mäſsigeren Sätzen ist bei
einem Gebiet von etwa 16000 Hufen mit einer Bevölkerung
[73]NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
von nahe an 20000 Waffenfähigen und mindestens der drei-
fachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grund-
sässigen Leuten und Knechten nothwendig anzunehmen, daſs
nicht bloſs die Gegend zwischen Tiber und Anio gewonnen,
sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die
servianische Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch
die Sage übereinstimmt. Wie das ursprüngliche Zahlverhältniſs
der Patricier und Plebejer im Heere sich gestellt hat, ist nicht
zu ermitteln; nach den Reitern darf es nicht beurtheilt werden,
da wohl feststeht, daſs in den sechs ersten Centurien kein
Plebejer, nicht aber, daſs in den zwölf minderen kein Patri-
cier dienen durfte. — Im Allgemeinen aber ist es einleuch-
tend einerseits, daſs diese servianische Institution nicht her-
vorgegangen ist aus dem Ständekampf, sondern daſs sie den
Stempel eines reformirenden Gesetzgebers an sich trägt gleich
der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos; andrer-
seits daſs sie entstanden ist unter griechischem Einfluſs. Ein-
zelne Analogien können trügen, wie zum Beispiel, daſs auch
in Korinth die Ritterpferde auf die Wittwen und Waisen an-
gewiesen wurden; aber die Entlehnung der Rüstung wie der
Stellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher kein
zufälliges Zusammentreten, und ebenso wenig zufällig ist es,
daſs das wichtigste Wort in dieser reformirten Verfassung,
classis ein griechisches Lehnwort ist. Erwägen wir nun,
daſs eben im zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen
Staaten in Unteritalien von der reinen Geschlechterverfassung
fortschritten zu einer modificirten, die das Schwergewicht in
die Hände der Besitzenden legte, so werden wir ohne Be-
denken hierin den Anstoſs erkennen, der in Rom die servia-
nische Reform hervorrief, eine im Wesentlichen auf demselben
Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monar-
chische Form des römischen Staats in etwas abweichende
Bahnen gelenkte Verfassungsänderung.


[[74]]

KAPITEL VIII.



Die umbrisch-sabellischen Stämme. Anfänge der
Samniten
.


Später als die Latiner scheint die Wanderung der um-
brischen Stämme begonnen zu haben, die gleich der latini-
schen sich südwärts bewegte, jedoch mehr in der Mitte der
Halbinsel und gegen die östliche Küste zu sich hielt. Es ist
peinlich davon zu reden; denn die Kunde davon kommt zu
uns wie der Klang der Glocken aus der im Meer versunkenen
Stadt. Das Volk der Umbrer dehnt noch Herodotos bis an die
Alpen aus und es ist nicht unwahrscheinlich, daſs sie in äl-
tester Zeit ganz Norditalien inne hatten, bis wo im Osten die
illyrischen Stämme begannen, im Westen die Ligurer, von de-
ren Kämpfen mit den Umbrern es Sagen giebt, und auf deren
Ausdehnung in ältester Zeit gegen Süden zu einzelne Namen,
zum Beispiel der der Insel Ilva (Elba) verglichen mit den ligu-
rischen Ilvates vielleicht einen Schluſs gestatten. Dieser Epoche
der umbrischen Gröſse mögen die offenbar italischen Namen
der ältesten Ansiedlungen im Pothal Hatria (Schwarzstadt)
und Spina (Dornstadt) so wie die zahlreichen umbrischen
Spuren in Südetrurien (Fluſs Umbro, Camars alter Name von
Clusium, Castrum Amerinum) ihren Ursprung verdanken.
Ganz besonders gilt dies von dem südlichsten Strich zwischen
dem ciminischen Wald (unterhalb Viterbo) und der Tiber. In
Falerii ward nach Strabons Zeugniſs eine andere Sprache ge-
redet als die etruskische und der Localcult zeigt sabellische
Spuren; in denselben Kreis gehören die uralten, auch sacralen
[75]ANFAENGE DER SAMNITEN.
Beziehungen zwischen Caere und Rom. Es ist sogar wahr-
scheinlich, daſs noch nach der tuskischen Eroberung umbri-
sche Bevölkerung sich hier gehalten hat und daſs die schnelle
Latinisirung dieser Gegend im Vergleich mit dem eigentlichen
Etrurien damit in Verbindung steht. Daſs von Norden und
Westen her die Umbrer nach harten Kämpfen zurückgedrängt
wurden in das enge Bergland zwischen den beiden Armen des
Apennin, das sie später inne haben, bezeichnet schon ihre
geographische Lage so deutlich wie heutzutage die der Be-
wohner Graubündens und die der Basken ihre ähnlichen Schick-
sale andeutet; auch die Sage weiſs zu berichten, daſs die
Tusker den Umbrern dreihundert Städte entrissen haben, und
was mehr ist, in den Nationalgebeten der umbrischen Igu-
viner, die wir noch besitzen, werden nebst anderen Stämmen
vor allem die Tursker als Landesfeinde verwünscht. — Wie
sie von Norden zurückgedrängt werden, dringen die Umbrer
vor gegen Süden, im Allgemeinen sich haltend auf dem Ge-
birgszug, da sie die Ebenen schon von den latinischen Stäm-
men besetzt fanden, jedoch ohne Zweifel das Gebiet ihrer
Stammverwandten oft betretend und beschränkend und um
so leichter sich mit ihnen vermischend, als der Gegensatz in
Sprache und Weise damals noch bei weitem nicht so scharf
ausgeprägt sein konnte wie wir später ihn finden. In diesen
Kreis gehört was die Sage zu erzählen weiſs von dem Ein-
dringen der Sabiner in Latium und ihren Kämpfen mit den
Römern; ähnliche Erscheinungen mögen sich längs der gan-
zen Westküste wiederholt haben. Im Ganzen behaupteten die
Sabiner sich in den Bergen, so in der von ihnen seitdem be-
nannten Landschaft neben Latium, auch in dem Volskerland;
vermuthlich weil die latinische Bevölkerung hier fehlte oder
doch minder dicht war; während andrerseits die wohl bevöl-
kerten Ebenen besser Widerstand zu leisten vermochten, ohne
indeſs das Eindringen einzelner Genossenschaften, wie der
Titier und später der Claudier in Rom, ganz abwehren zu
können oder zu wollen. So mischten sich hier die Stämme
hüben und drüben, woraus sich erklärt, weſshalb die Volsker
mit den Latinern in zahlreichen Beziehungen stehen und
dieser Strich wie die Sabina sich so früh und so schnell
latinisiren konnten. — Der Hauptstock des umbrischen Stam-
mes aber warf sich aus der Sabina östlich in die Gebirge der
Abruzzen und das südlich an diese sich anschlieſsende Hügel-
land; sie besetzten auch hier wie an der Westküste die ber-
[76]ERSTES BUCH. KAPITEL VIII.
gigen Striche, deren dünne Bevölkerung den Einwanderern
wich oder sich unterwarf, während dagegen in dem ebenen
apulischen Küstenland, unter steten Fehden namentlich an der
Nordgrenze um Luceria und Arpi, doch im Ganzen die alte
einheimische Bevölkerung der Iapyger sich behauptete. Wann
diese Wanderungen stattfanden, läſst sich natürlich nicht be-
stimmen; vermuthlich aber doch um die Zeit wo die Könige
über Rom herrschten. Die Sage erzählt, daſs die Sabiner,
gedrängt von den Umbrern, einen Lenz gelobten, das heiſst
schwuren die in dem Kriegsjahre geborenen Söhne und Töch-
ter, nachdem sie erwachsen wären, auszusenden, um den Göt-
tern der Heimath auswärts neue Sitze zu gründen. Den einen
Schwarm führte der Stier des Mars; das wurden die Safiner
oder Samniten, die zuerst sich festsetzten auf den Bergen am
Sagrusfluſs und in späterer Zeit von da aus die schöne Ebene
östlich vom Matesegebirg an den Quellen des Tifernus besetz-
ten, und im alten wie im neuen Gebiet ihre Dingstätte, dort
bei Agnone, hier bei Boiano gelegen, von dem Stier, der sie
leitete, Bovianum nannten. Einen zweiten Haufen führte der
Specht des Mars: das wurden die Picenter, das Spechtvolk,
das die heutige anconitanische Mark gewann; einen dritten
der Wolf (hirpus) in die Gegend von Benevent: das wurden
die Hirpiner. In ähnlicher Weise zweigten von dem gemein-
schaftlichen Stamm sich die übrigen kleinen Völkerschaften
ab: die Praetuttier, bei Teramo; die Vestiner, am Gran Sasso;
die Marruciner, bei Chieti; die Frentraner an der apulischen
Grenze; die Paeligner, am Majellagebirg; die Marser endlich
am Fucinersee, die mit den Volskern und den Latinern sich
berührten. In ihnen allen blieb das Gefühl der Verwandt-
schaft und der Herkunft aus dem Sabinerlande lebendig, wie
es denn in jenen Sagen deutlich sich ausspricht. Während
die Umbrer im ungleichen Kampf erlagen und die westlichen
Ausläufer des gleichen Stammes mit der latinischen oder hel-
lenischen Bevölkerung verschmolzen, gediehen die sabellischen
Stämme in der Abgeschlossenheit des fernen Gebirgslandes,
gleich entrückt dem Anstoſs der Etrusker, der Latiner und
der Griechen. Städtisches Leben entwickelte bei ihnen sich
nicht oder nur in geringem Grad; für den Handelsverkehr
lagen sie zu fern und dem Bedürfniſs der Vertheidigung ge-
nügten die Bergspitzen und die Schutzburgen, während die
Bauern wohnen blieben in den offenen Weilern oder auch
wo Wald und Quell oder Wiese einem Jeden gefiel. In den
[77]ANFAENGE DER SAMNITEN.
Abruzzen scheint die scharfe Sonderung der Bergthäler eine
strenge Abgeschlossenheit der einzelnen Cantone hervorgerufen
zu haben, sowohl unter sich wie gegen das Ausland; woher
es kommt, daſs diese Bergcantone in geringem Zusammen-
hang unter sich und in völliger Isolirung gegen das übrige
Italien verharrt und trotz der Tapferkeit ihrer Bewohner we-
niger als irgend ein anderer Theil der italischen Nation in
die Entwicklung der Geschichte der Halbinsel eingegriffen
haben. Dagegen ist das Volk Samniten in dem östlichen Stamm
der Italiker ebenso entschieden der Höhepunkt der politischen
Entwicklung wie in dem westlichen das latinische. Seit früher
Zeit, vielleicht von der ersten Einwanderung an umschloſs ein
festes politisches Band diese Nation und gab ihr die Kraft
später mit Rom um den ersten Platz in Italien in ebenbür-
tigem Kampf zu ringen. Wie das Band geknüpft ward, wissen
wir ebenso wenig als wir die Organisation dieser Einigung
nachweisen können; das aber ist klar, daſs darin keine ein-
zelne Gemeinde überwog und noch weniger ein städtischer
Mittelpunkt den samnitischen Stamm zusammenhielt wie Rom
den latinischen, sondern daſs die Kraft des Landes in den
einzelnen Bauerschaften, die Gewalt in der aus ihren Vertre-
tern gebildeten Versammlung liegt, die erforderlichen Falls
den Bundesfeldherrn ernannte. Damit hängt es zusammen,
daſs die Politik dieser Eidgenossenschaft nicht aggressiv ist,
sondern sich beschränkt auf die Vertheidigung der Grenzen;
nur im Einheitsstaat ist die Kraft so concentrirt, die Leiden-
schaft so mächtig, daſs die Erweiterung der Grenzen plan-
mäſsig verfolgt wird. Was die Römer gewannen, erwarb der
Staat; was die Samniten besetzten, das eroberten freiwillige
Schaaren, die auf Landraub ausgingen und von der Heimath
im Glück wie im Unglück preisgegeben waren. Die ganze
Geschichte der beiden Völker ist vorgezeichnet in ihrem dia-
metral auseinander gehenden Colonisationssystem. Doch gehö-
ren die Eroberungen, welche die Samniten im südlichen und
südwestlichen Italien machten, erst einer späteren Periode an;
in der Epoche, während die Könige in Rom herrschten, schei-
nen die Samniten selbst erst die Sitze sich gewonnen zu haben,
in denen wir später sie finden. Als ein einzelnes Ereigniſs
aus dem Kreise dieser Völkerbewegungen ist der Ueberfall von
Kyme durch Tyrrhener vom obern Meer, Umbrer und Dau-
nier im Jahre der Stadt 234 (Ol. 64) zu erwähnen; es mö-
gen sich, wenn man den allerdings sehr romantisch gefärbten
[78]ERSTES BUCH. KAPITEL VIII.
Nachrichten trauen darf, hier, wie das bei solchen Zügen zu
geschehen pflegt, die Drängenden und die Gedrängten zu einem
Heer vereinigt zu haben, die Etrusker mit ihren umbrischen
Feinden, mit diesen die von ihnen südwärts gedrängten Ia-
pyger. Indeſs das Unternehmen scheiterte; für diesmal gelang
es noch der überlegenen hellenischen Kriegskunst und der
Tapferkeit des Tyrannen Aristodemos den Sturm der Barbaren
von der schönen Seestadt abzuschlagen.


[[79]]

KAPITEL IX.



Die Etrusker.


Im schärfsten Gegensatz zu den latinischen und den sa-
bellischen Italikern wie zu den Griechen steht das Volk der
Etrusker. Schon der Körperbau unterschied die beiden Na-
tionen; statt des schlanken Ebenmaſses der Griechen und
Italiker zeigen die Bildwerke der Etrusker nur kurze stäm-
mige Figuren mit groſsem Kopf und dicken Armen. Was wir
wissen von den Sitten und Gebräuchen dieser Nation, läſst
gleichfalls auf eine tiefe und ursprüngliche Verschiedenheit
von den griechisch-italischen Stämmen schlieſsen; so nament-
lich die Religion, die bei den Tuskern einen trüben phan-
tastischen Charakter trägt und im geheimniſsvollen Zahlenspiel
und wüsten und grausamen Anschauungen und Gebräuchen
sich gefällt, gleich weit entfernt von dem klaren Rationalismus
der Römer und dem menschlich heiteren hellenischen Bilder-
dienst. Was hier angedeutet wird, das bestätigt das wich-
tigste Document der Nationalität, die Sprache, deren auf uns
gekommene Reste, so zahlreich sie sind und so manchen An-
halt sie für die Entzifferungsversuche darbieten, dennoch so
vollkommen isolirt stehen, daſs es bis jetzt nicht einmal ge-
lungen ist den Platz des Etruskischen in der Klassificirung
der Sprachen mit Sicherheit zu bestimmen, geschweige denn
die Ueberreste zu deuten. Deutlich unterscheiden wir zwei
Sprachperioden. In der älteren ist die Vokalisirung voll-
ständig durchgeführt und das Zusammenstoſsen zweier Kon-
[80]ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
sonanten fast ohne Ausnahme vermieden *. Dieses weiche
klangvolle Idiom ward allmählich durch Abwerfen der vocali-
schen und consonantischen Endungen und durch Abschwächen
oder Ausstoſsen der Vocale in eine unerträglich harte und
rauhe Sprache verwandelt **; so machte man zum Beispiel
ramϑa aus ramuϑaf, Tarchnaf aus Tarquinius, Menrva aus
Minerva, Menle, Pultuke, Elchfentre aus Menelaos, Polydeukes,
Alexandros. Wie dumpf und rauh die Aussprache war, zeigt
am deutlichsten, daſs o und u, b und p, c und g, d und t
den Etruskern schon in sehr früher Zeit zusammenfielen,
während sich wie im Lateinischen und in den rauheren grie-
chischen Dialekten der Accent auf die Anfangssylbe zurückzog.
Aehnlich erging es mit den aspirirten Consonanten; während
die Italiker sie wegwarfen mit Ausnahme des aspirirten b oder
des f und die Griechen umgekehrt mit Ausnahme dieses
Lautes die übrigen ϑ φ χ beibehielten, lieſsen die Etrusker
den weichsten und lieblichsten, das φ gänzlich auſser in Lehn-
wörtern fallen und bedienten sich dagegen der übrigen drei in
ungemeiner Ausdehnung, selbst wo sie nicht hingehörten, wie
zum Beispiel Thetis ihnen Thethis, Telephus Thelaphe, Odysseus
Utuze oder Uthuze heiſst. Von den wenigen Wörtern und
Endungen, deren Bedeutung ermittelt ist, entfernen die mei-
sten sich weit von allen griechisch-italischen Analogien; so
die Endung al zur Bezeichnung der Abstammung, häufig als
Metronymikon, wie zum Beispiel Canial auf einer zwiespra-
chigen Inschrift von Chiusi übersetzt wird durch Cainia natus;
die Endung sa bei Frauennamen zur Bezeichnung des Ge-
schlechts, in das sie eingeheirathet haben: Lecnesa zum Bei-
spiel Gattin eines Licinius; die Namensendung enna, wie zum
Beispiel Vivenna, Spurinna den römischen Vibius oder Vibie-
nus
und Spurius zu entsprechen scheinen; clan mit dem Ca-
sus clensi ist Sohn; seχ Tochter; ril Jahr; der Gott Hermes
ist Turms, Aphrodite Turan, Hephaestos Sethlans, Bakchos
Fufluns, Helios und Eos Usil. Neben diesen fremdartigen
Formen und Lauten finden sich allerdings einzelne Analogien
zwischen dem Etruskischen und dem Latein; aber manches
[81]DIE ETRUSKER.
davon könnte aus Latium nach Etrurien gekommen sein, wie
die Götternamen Minerva, Lasa, Neptunus, die entschieden
italischen Ursprungs sind, oder wenigstens in romanisirten
Formen uns überliefert sein, wie zum Beispiel der Name der
etruskischen Göttin Voltumna mit lateinischer Endung. Siche-
rer deuten allerdings einzelne Spuren wenigstens auf indoger-
manischen Ursprung; wie namentlich mi im Anfang vieler
älterer Inschriften sicher ἐμί, εἰμί ist und die Genitivform
consonantischer Stämme veneruf, rafuvuf im Lateinischen
genau sich wiederfindet und der alten sanskritischen Endung
as entspricht. Ebenso hängt der Name des etruskischen Zeus
Tina oder Tinia wohl ebenso mit dem sanskritischen dina=
Tag zusammen, wie Záv mit dem gleichbedeutenden diwan.
Aber mag auch, wie allerdings wahrscheinlich ist, die etruski-
sche Sprache dem indogermanischen Stamm angehören, so
steht sie doch von den sämmtlichen griechisch-italischen Idio-
men ebenso weit ab wie die Sprache der Kelten und der
Slaven; und so klang sie auch den Römern: ‚tuskisch und
gallisch‘ sind Barbarensprachen, ‚oskisch und volskisch‘ Bauern-
mundarten. Ebenso wenig wie dem griechisch-italischen ist
es gelungen die tuskische Sprache irgend einem andern be-
kannten Sprachstamm anzuschlieſsen; bis jetzt wenigstens sind
sämmtliche Sprachen in dieser Beziehung bald mit der ein-
fachen, bald mit der peinlichen Frage, aber immer vergeblich
befragt worden. Mit dem Baskischen, an das sich der geogra-
phischen Lage nach noch am ersten denken lieſse, haben ent-
scheidende Analogien sich nicht herausgestellt; ebenso wenig
deuten die geringen Reste der ligurischen Sprache in Orts-
und Personennamen auf Zusammenhang mit den Tuskern.
Selbst die verschollene Nation, die auf den Inseln des tuski-
schen Meeres, namenlich auf Sardinien, jene räthselhaften
Grabthürme (Nurhagen genannt) zu tausenden aufgeführt hat,
kann nicht die etruskische gewesen sein, da in deren Gebiet
kein einziges gleichartiges Gebäude vorkommt. Die Etrusker,
sagt schon Dionysios, stehen keinem Volke gleich an Sprache
und Sitte; und weiter haben auch wir nichts zu sagen.


Ebenso wenig läſst sich bestimmen, von wo die Etrusker
nach Italien eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel
verloren, da diese Wanderung auf jeden Fall der Kinderzeit
des Volkes angehört und dessen geschichtliche Entwicklung in
Italien beginnt und endet. Indeſs ist kaum eine Frage eifri-
ger verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der
Röm. Gesch. I. 6
[82]ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Archäologen vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder
wiſsbar noch wissenswerth ist, ‚nach der Mutter der Hekabe‘,
wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutend-
sten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja un-
mittelbar am Meer keine einzige namhafte Stadt auſser Popu-
lonia, von der wir aber eben sicher wissen, daſs sie zu den
alten Zwölfstädten nicht gehörte; da ferner in geschichtlicher
Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so
sind sie wahrscheinlich zu Lande von Norden oder Westen
her in die Halbinsel eingewandert; wie denn auch die niedere
Culturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwan-
derung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine
Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker
gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen
Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. — Mit
dieser einfachen und naturgemäſsen Auffassung aber in grellen
Widerspruch tritt eine sehr alte schon bei Herodotos vorkom-
mende Erzählung, daſs die Etrusker aus Asien ausgewanderte
Lyder seien, die in zahllosen Wandelungen und Steigerungen
bei den Späteren wiederkehrt, wenn gleich verständige For-
scher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen
erklärten und darauf hinwiesen, daſs in Religion, Gesetz, Sitte
und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die
mindeste Aehnlichkeit sich vorfinde. Es ist möglich, daſs ein
vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien ge-
langt ist und an dessen Abenteuer diese Mährchen anknüpfen;
wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem
bloſsen Quiproquo. Die italischen Etrusker hieſsen theils nach
ihrem Archegeten Ras-ennae mit der oben erwähnten gentili-
cischen Endung, mit welchem Namen die Raet-i allerdings
zusammenhängen könnten; theils und gewöhnlicher Turs-
ennae
, denn diese Form scheint der griechischen Τυϱσ-ηνοί,
Τϱ̓ϱ̔υηνοί, der umbrischen Turs-ci, der römischen Tusci
Etrusci
zu Grunde zu liegen. Die zufällige Namensähnlich-
keit dieser Tursenner und des lydischen Volkes der Τοϱ̓ϱ̔-
ηβοί oder auch wohl Τυϱ̓ϱ̔-ηνοί, so genannt von der Stadt
Τύϱ̓ϱ̔α, scheint in der That die einzige Grundlage jener durch ihr
hohes Alter nicht besser gewordenen Hypothese und des gan-
zen babylonischen Thurmes darauf aufgeführter Geschichtsklit-
terungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piraten-
wesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und
endlich noch — zuerst nachweislich thut es Thukydides —
[83]DIE ETRUSKER.
die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht mit dem
auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk
der Pelasger zusammenbrachte, entstand eine der heillosesten
Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener
bezeichnen bald die lydischen Torrheber — so in den älte-
sten Quellen, wie in den homerischen Hymnen; bald als
Tyrrhener-Pelasger oder auch bloſs Tyrrhener die pelasgische
Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne daſs die
letzteren mit diesen oder jenen in der Abstammung und im
Verkehr jemals etwas gemein gehabt hätten.


Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestim-
men, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren
und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Daſs sie vor
der groſsen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich
vom Padus saſsen, östlich an der Etsch grenzend mit den
Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit
den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornämlich zeugt dafür
der rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius Zeit die
Bewohner der rätischen Alpen (Graubündten und Tirol) rede-
ten, so wie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua.
Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses
mischten sich Etrusker und Umbrer, jene als der herrschende,
diese als der ältere Stamm, der die alten Kaufstädte Hatria
und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und
Ravenna tuskischer Gründung scheinen. Es hat lange ge-
währt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zu-
sammenhängt, daſs auf dem rechten Ufer desselben das etrus-
kische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen
hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch ist im Ganzen
dieses nordetruskische Gebiet zu rasch von einer Nation an
die andere gelangt, als daſs eine dauerhafte Volksentwick-
lung hier sich hätte gestalten können. — Weit wichtiger für
die Geschichte wurde die groſse Ansiedlung der Tusker in
dem Lande, das noch heute ihren Namen trägt. Mögen
auch Umbrer oder Ligurer hier einstmals gewohnt haben, so
sind doch ihre Spuren durch die etruskische Occupation
und Civilisation vollständig vertilgt worden. In diesem Gebiet,
das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom
Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität
ihre bleibende Stätte gefunden und mit groſser Zähigkeit bis
in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des
eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet
6*
[84]ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
von da nordwärts bis zur Mündung der Macra und dem
Apennin war streitiges Grenzland, bald ligurisch, bald etrus-
kisch, ohne daſs gröſsere Ansiedlungen daselbst gediehen.
Die Südgrenze bildete anfangs wahrscheinlich der ciminische
Wald, eine Hügelkette südlich von Viterbo, späterhin der
Tiberstrom; es ward schon oben erwähnt, daſs das Gebiet
zwischen dem ciminischen Gebirg und der Tiber mit den
Städten Sutrium und Nepete, Falerii, Veii, Caere erst ge-
raume Zeit später als die nördlicheren Districte, möglicher-
weise erst im zweiten Jahrhundert Roms von den Etruskern
eingenommen zu sein scheint und daſs die ursprüngliche ita-
lische Bevölkerung sich hier, namentlich in Falerii, wenn auch
in abhängigem Verhältniſs behauptete. — Seitdem der Tiber-
strom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und Latium
bildete, mag hier im Ganzen ein friedliches Verhältniſs ein-
getreten sein und eine wesentliche Grenzverschiebung nicht
stattgefunden haben, am wenigsten gegen die Latiner. So
lebendig in den Römern das Gefühl lebte, daſs der Etrusker
ihnen fremd, der Latiner ihr Landsmann war, so scheinen
sie doch vom rechten Ufer her weit weniger Ueberfall und
Gefahr befürchtet zu haben als zum Beispiel von den Stam-
mesverwandten in Gabii und Alba; ganz natürlich, denn dort
schützte die Naturgrenze des breiten Stromes und die fried-
liche Politik des caeritischen Handelsstaates, welcher den
Römern den Besitz der beiden Ufer der Tibermündung nicht
bestritten zu haben scheint. Ueberall kam es den Römern
zu Statten, daſs keine der mächtigeren etruskischen Städte
unmittelbar am Fluſs lag wie am latinischen Ufer Rom. Die-
jenige, die der Tiber am nächsten war, die der Veienter ge-
rieth natürlich am häufigsten mit Rom und Latium in Con-
flicte, namentlich um den Besitz von Fidenae, welches den
Veientern auf dem linken Tiberufer, ähnlich wie auf dem
rechten den Römern das Ianiculum, als eine Art Brückenkopf
diente und bald in den Händen der Albaner und nach Albas
Fall der Römer, bald in denen der Etrusker sich befand.
Schwankender sind die Spuren von Kämpfen mit den Caeri-
ten; so die alte Sage von den Siegen des Königs Mezentius
von Caere über die Latiner, die ihm Wein zinsen muſsten.
— Daſs die Etrusker, namentlich als die Kelten sie aus dem
Norden zu drängen begannen, sich südwärts geworfen hätten,
wäre an sich begreiflich; doch ist es einerseits sehr zweifel-
haft, ob die keltische Invasion in die Lombardei schon dieser
[85]DIE ETRUSKER.
Periode angehört, andrerseits sind die Spuren des Vordringens
der Etrusker über die Tiber hinaus auf dem Landweg keines-
wegs sicher. In dem groſsen Barbarenheer, das im Jahre der
Stadt 234 unter den Mauern von Kumae vernichtet ward,
werden die Etrusker an erster Stelle genannt; indeſs selbst
wenn man diese Nachricht als durchaus glaubwürdig ansieht,
betrifft sie mehr einen Plünderungs- als einen Eroberungszug,
und was die Hauptsache ist, wir finden in geschichtlicher
Zeit südwärts von der Tiber keine etruskische Bevölkerung
mit Ausnahme der campanischen Ansiedlungen, die wahr-
scheinlich nicht auf dem Landweg gegründet sind. — Was
die Uebersiedlungen etruskischer Gemeinschaften nach Rom an-
langt, so findet sich ein vereinzelter aus tuskischen Annalen
gezogener Bericht, daſs die Ueberreste einer tuskischen Schaar,
welche Caelius Vivenna von Volsinii und nach dessen Untergang
der treue Genosse desselben Mastarna geführt habe, unter die-
sem nach Rom gezogen und dort auf dem caelischen Berge an-
gesiedelt worden sei; wir dürfen die Nachricht für zuverlässig
halten, wenn gleich der Zusatz, daſs dieser Mastarna in Rom
König geworden sei unter dem Namen Servius Tullius, gewiſs
nichts ist als eine unwahrscheinliche Vermuthung solcher Ar-
chäologen, die mit dem Sagenparallelismus sich abgaben. Auf
eine ähnliche Ansiedlung deutet das ‚Tuskerquartier‘ unter
dem Palatin; beide Plätze, der caelische Berg wie das Tus-
kerquartier liegen auſserhalb der vorservianischen Stadtmauer,
was auf eine abhängige Stellung der Angesiedelten schlieſsen
läſst. — Daſs das jüngste Königsgeschlecht, das über die
Römer geherrscht hat, das der Tarquinier aus Etrurien ent-
sprossen ist, leidet kaum einen Zweifel, sei es nun aus
Tarquinii, sei es aus Caere, wo das Familiengrab der Tarch-
nas vor kurzem aufgefunden worden ist; auch der Name
Tanaquil oder Tanchvil ist in Etrurien gemein. Allein mit
dieser vereinzelten Thatsache, daſs zuletzt ein Geschlecht tus-
kischer Abkunft in Rom geherrscht hat, ist wenig zu machen
bei dem völligen Untergang der geschichtlichen Kette der Er-
eignisse; denn die überlieferte Erzählung, wonach Tarquinius
der Sohn eines aus Korinth nach Tarquinii übergesiedelten
Griechen und in Rom als Metoeke eingewandert sei, ist weder
Geschichte noch Sage, und wenn ein gesunder Kern darin
liegt, so kann es nur der sein, daſs die Herrschaft eines
Mannes tuskischer Herkunft über Rom keineswegs als eine
Herrschaft der Tusker oder einer tuskischen Gemeinde über
[86]ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Rom, aber freilich auch nicht umgekehrt als die Herrschaft
Roms über Südetrurien gefaſst werden kann. In der That
ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgend
qin ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tar-
euinier spielt in Latium, nicht in Etrurien und so weit wir
sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom
weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen
Einfluſs geübt oder gar die ebenmäſsige Entwicklung des rö-
mischen Staats und der latinischen Bündnisse unterbrochen.
Von den Seefahrten der Tusker und ihrer Meer- und Küsten-
herrschaft wird im folgenden Kapitel gesprochen werden.


Die tuskische Verfassung beruht gleich der latinischen
auf der Stadtgemeinde. Die frühe Richtung der Nation auf
Schifffahrt, Handel und Industrie scheint der Entwicklung
städtischer Gemeinwesen förderlich gewesen zu sein; unter
allen italischen Städten wird Caere am frühesten in den grie-
chischen Berichten genannt. Im Ganzen finden wir die Etru-
sker minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und
Sabeller; der unitalischen Sitte mit Söldnern zu fechten be-
gegnet man hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Ge-
meinden muſs in den allgemeinen Grundzügen Aehnlichkeit
mit der römischen gehabt haben: Könige oder Lucumonen
herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche
Machtfülle besaſsen wie die römischen; Vornehme und Ge-
ringe standen sich schroff gegenüber; für die Aehnlichkeit
der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensy-
stems, nur daſs be den Etruskern die Abstammung von
mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römi-
schen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen
zu sein. Sie umschloſs nicht die gesammte Nation, sondern
es waren die nördlichen und die campanischen Etrusker zu
eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Ge-
meinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde be-
stand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich
für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen
Oberpriester anerkannten, aber doch im Wesentlichen gleich-
berechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Theil wenig-
stens so mächtig, daſs weder eine Hegemonie sich bilden
noch die Centralgewalt zur Consolidirung gelangen konnte.
Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den
übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere
Ueberlieferung nur Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist
[87]DIE ETRUSKER.
indeſs ebenso selten, daſs die Etrusker wirklich gemeinschaft-
lich handeln als das Umgekehrte selten ist bei den latinischen
Eidgenossenschaften; die Kriege führt regelmäſsig eine ein-
zelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie kann ins
Interesse zieht, und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg
beschlossen wird, so schlieſsen sich dennoch sehr häufig ein-
zelne Stände aus — es scheint von Haus aus an einer festen
und gebietenden Oberleitung zu fehlen.


[[88]]

KAPITEL X.



Die Hellenen und Punier in Italien. Seeherrschaft
der Tusker und Karthager
.


Die älteste griechische Urkunde, die homerischen Ge-
sänge wissen in ihren alten Theilen von Italien und Sicilien
nichts Bestimmtes zu berichten. Ihr Horizont reicht nicht
hinaus über das östliche Becken des Mittelmeers. Aus dem
Westland mochten verirrte Schiffer die erste Nachricht von
der Existenz desselben, den Namen der Siculer und etwa
noch Kunde von Meeresstrudeln und feuerspeienden Inseln
heimgebracht haben; Mährchenerzähler und Dichter füllten
sodann die leeren Räume mit ihren luftigen Gestalten. Aber
schon als die hesiodische Theogonie entstand, scheint das
ganze Gestade Italiens den Hellenen bekannt gewesen zu sein
und nicht viel später mögen sie begonnen haben sich dort
anzusiedeln.


Daſs die ältesten hellenischen Einwanderer des Westens
aus Kleinasien gekommen sind, wo zuerst bei den Griechen
der überseeische Handel aufblühte, darf nicht bezweifelt wer-
den. Deutlicher als Sagen und Namengleichheit zeugt dafür
das Gewichtsystem, das in Groſsgriechenland nicht dem in
Attika und im Peloponnes vor Solon gebräuchlichen, sondern
dem persischen folgt; denn in Kyme und den achaeischen
Staaten ist der doppelte Golddareikos, in Rhegion, Zankle,
Himera, Naxos der persische Silberdareikos die Münzeinheit.
— Für die älteste namhafte Ansiedlung im Westland galt
offenbar schon dem Thukydides Kyme; gewiſs mit Recht.
[89]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
Allerdings lag dem griechischen Schiffer mancher Landungsplatz
näher; allein keiner bot dieselbe Sicherheit vor den Stürmen
und vor den Barbaren wie die Insel Ischia, auf der die Stadt
ursprünglich lag; ja selbst als man es wagte von da nach
dem Festland überzusiedeln leitete dieselbe Rücksicht nicht
nach der bequemsten Stelle, sondern nach der steilen, aber
geschützten Felsklippe. Hieraus erklärt sich auch, weſshalb
der Name der Opiker, den zunächst die in der campanischen
Landschaft heimischen Italiker führten, bei den Griechen
auf sämmtliche Italiker übertragen ward; es war dies der
erste Stamm derselben, mit dem sie in dauernde Berührung
traten. — Es waren kleinasiatische Kaufleute, die hier zuerst
sich ansiedelten; denn es ist nicht zu bezweifeln, daſs diese
Niederlassung ursprünglich eine Handelsfactorei und nicht des
Ackerbaus, sondern des Verkehrs wegen angelegt war. Erst
in einer beträchtlich spätern Zeit begann die eigentliche Co-
lonisirung des Westens, die auf massenhafte Einwanderung
gegründet und auf die Bildung ackerbauender Staaten gerichtet
war; insofern ist es, wenn auch die Zahl auf ungefährer
Schätzung beruhen mag, doch im Wesentlichen richtig, daſs
Kyme dreihundert Jahr älter ist als Sybaris, das heiſst daſs
in der überseeischen Einwanderung ins Westland der grie-
chische Kaufmann dem griechischen Ackerbauer um drei Jahr-
hunderte vorangegangen ist. Daſs die agricole Colonisation
Unteritaliens in die ersten zwanzig Olympiaden oder ins erste
Jahrhundert der Stadt fällt — so die Gründung von Rhegion
01. 8, 3 um die Zeit der Erbauung Roms, die von Sybaris
01. 14, 2 oder 23 der Stadt, die von Tarent 01. 18, 1 oder
46 der Stadt — ist sicher überliefert und das erste chronolo-
gisch fixirte Ereigniſs der Geschichte Italiens.


Die Geschichte der italischen und sicilischen Griechen
ist zwar kein Theil der italischen; die hellenischen Colonisten
des Westens blieben stets im engsten Zusammenhang mit der
Heimath und hatten Theil an den Nationalfesten und Rechten
der Hellenen. Doch ist es auch für Italien wichtig den ver-
schiedenen Charakter der griechischen Ansiedlungen daselbst
zu bezeichnen und wenigstens gewisse Grundzüge hervorzu-
heben, die den verschiedenartigen Einfluſs der griechischen
Colonisirung auf Italien wesentlich bedingen. — Unter allen
griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am mei-
sten geschlossene war diejenige, die den achäischen Städte-
bund hervorrief, welchen die Städte Siris, Pandosia, Metabus
[90]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia
und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina, Pyxus oder
Buxentum bildeten. Diese Colonisten gehörten, im Groſsen
und Ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der
an seinem eigenthümlichen von dem dorischen, dem er sonst
am nächsten verwandt ist, zum Beispiel durch den Mangel
des h sich unterscheidenden Dialekt so wie nicht minder an-
statt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren
Alphabets an der altnationalen hellenischen Schreibweise be-
ständig festhielt und seine besondere Nationalität den Barbaren
wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündi-
schen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer
läſst sich anwenden, was Polybios von der achaeischen Sym-
machie im Peloponnes sagt: ‚nicht allein in eidgenössischer
und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie
bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Maſse
und Münzen so wie derselben Vorsteher, Rathmänner und
Richter‘. — Dieser achaeische Städtebund war eine eigent-
liche Colonisation. Die Städte waren ohne Häfen — nur
Kroton hatte eine leidliche Rhede — und ohne Eigenhandel;
der Sybarite rühmte sich zu ergrauen zwischen den Brücken
seiner Lagunenstadt und Kauf und Verkauf besorgten ihm
Milesier und Etrusker. Dagegen besaſsen die Griechen hier
nicht bloſs die Küstensäume, sondern herrschten von Meer
zu Meer in dem Wein- und Rinderland (Οἰνωτϱία, Ἰταλία)
oder der ‚groſsen Hellas‘; die eingeborne ackerbauende Be-
völkerung muſste in Clientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen
wirthschaften und zinsen. Sybaris — seiner Zeit die gröſste
Stadt Italiens — gebot über vier barbarische Stämme und
fünf und zwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer
Laos und Poseidonia gründen; die überschwänglich fruchtbaren
Niederungen des Krathis und des Bradanos warfen den städti-
schen Herren überreichen Ertrag ab — hier hat vielleicht
zuerst eine regelmäſsige Getreideausfuhr stattgefunden. Von der
hohen Blüthe, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer
Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns
gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer, ihre Mün-
zen von strenger alterthümlich schöner Arbeit; überhaupt die
frühesten Denkmäler italischer Kunst und Schrift, von denen
die ältesten nicht nach Ol. 50 oder 174 der Stadt entstanden
sein können. Diese Münzen zeigen, daſs die Achaeer des
Westens nicht bloſs theilnahmen an der eben um diese Zeit im
[91]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
Mutterlande herrlich sich entwickelnden Bildnerkunst, sondern
in der Technik demselben wohl gar überlegen waren; denn statt
der dicken oft nur einseitig geprägten und regelmäſsig schrift-
losen Silberstücke, welche um diese Zeit in dem eigentlichen
Griechenland wie bei den italischen Dorern üblich waren, schlu-
gen die italischen Achaeer mit groſser und selbstständiger Ge-
schicklichkeit aus zwei gleichartigen theils erhaben theils vertieft
geschnittenen Stempeln groſse dünne stets mit Aufschrift ver-
sehene Silbermünzen, deren sorgfältig vor der Falschmünzerei
jener Zeit — Plattirung geringen Metalls mit dünnen Silber-
blättern — sich schützende Prägweise den wohlgeordneten
Culturstaat verräth. — Dennoch trug diese schnelle Blüthe
keine Frucht; in der mühelosen weder durch kräftige Gegen-
wehr der Eingebornen noch durch eigene schwere Arbeit auf
die Probe gestellten Existenz versagte sogar den Griechen früh
die Spannkraft des Körpers und des Geistes. Keiner der
glänzenden Namen der griechischen Kunst und Litteratur ver-
herrlicht die italischen Achaeer, während Sicilien deren un-
zählige, auch in Italien das chalkidische Rhegion den Ibykos,
das dorische Tarent den Archytas nennen kann; bei diesem
Volk, wo stets sich am Heerde der Spieſs drehte, gedieh
nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen lieſs die
strenge Oligarchie nicht aufkommen, die in den einzelnen
Gemeinden sich abgeschlossen und im Nothfall an der Cen-
tralgewalt einen sicheren Rückhalt hatte; dagegen waren eben
diese aristokratischen Elemente nicht minder gefährlich, vor
allem wenn sie in den verschiedenen Gemeinden unter ein-
ander sich verbündeten und sich gegenseitig aushalfen. Am
bekanntesten ist die durch den Namen des Pythagoras be-
zeichnete solidarische Verbindung der ‚Freunde‘, welche die
herrschende Klasse ‚gleich den Göttern zu verehren‘, die die-
nende ‚gleich den Thieren zu unterwerfen‘ theoretisch und
praktisch einschärfte, und dadurch eine furchtbare Reaction
hervorrief, welche mit der Vernichtung der pythagorischen
‚Freunde‘ und mit der Erneuerung der alten Bundesverfas-
sung endigte. Allein rasende Parteifehden, sociale Miſsstände
aller Art, praktische Anwendung unpraktischer Staatsphilosophie,
kurz alle Uebel der entsittlichten Civilisation hörten nicht auf
in den achaeischen Gemeinden zu wüthen, bis ihre politische
Macht darüber zusammenbrach. — Es ist nicht zu verwun-
dern, daſs für die Civilisation Italiens die daselbst angesiedelten
Achaeer minder einfluſsreich gewesen sind als die übrigen
[92]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
griechischen Niederlassungen. Ueber die politischen Grenzen
hinaus ihren Einfluſs zu erstrecken lag diesen Ackerbauern
ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets ver-
knechteten sie die Eingebornen und zertraten die Keime einer
nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch voll-
ständige Hellenisirung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist
in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das grie-
chische Wesen, das sonst allen politischen Miſsgeschicken zum
Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wuſste, schneller, spur-
und ruhmloser verschwunden als in irgend einem andern Ge-
biet, während aus den Trümmern der eingebornen Italiker
und der Achaeer und den späteren Einwanderern sabellischer
Herkunft zwiesprachige Mischvölker hervorgegangen sind, die
denn auch zu keinem rechten Gedeihen gelangten. Indeſs
diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode.


Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren
die Niederlassungen der übrigen Griechen, die im Allgemeinen
als Handelsemporien bezeichnet werden können, wie sie denn
auch ganz abweichend von den achaeischen durchgängig an
den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt sind. Es
gehören dahin die sogenannten chalkidischen Colonien, in
Italien Kyme, mit seiner Tochterstadt Neapolis, und Rhegion,
in Sicilien Zankle, später Messana, Naxos, Katana, Himera,
ferner die dorischen, wozu in Sicilien Syrakus, Gela, Akragas,
in Italien nur Taras oder Tarentum gehören mit dessen Ko-
lonie Herakleia; auſserdem die Stadt der Lokrer mit den
Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende
dieser Periode gegründete Phokierstadt Vele oder Velia (Elea).
Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche der Gründungen
waren mannichfaltig verschieden; die chalkidischen Kolonien,
die ältesten unter allen, sprachen den weichen ionischen Dia-
lekt *, während in Tarent und Syrakus der dorische vorwal-
tete. Indeſs eine gewisse Gemeinschaft, wenigstens im Gegen-
satz zu den Achaeern, läſst sich nicht verkennen; so in dem
allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch des jüngeren grie-
chischen Alphabets ** und selbst in dem Dorismus der Sprache,
[93]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
der auch in die chalkidischen Städte früh eindrang. — Die
glänzendste Rolle unter diesen Staaten, so weit sie Italien
angehören, fiel den Tarentinern zu. Der vortreffliche Hafen,
der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt
zum natürlichen Entrepot des süditalischen Handels, ja sogar
eines Theiles des Verkehrs auf dem adriatischen Meer; denn vor
dem Aufblühen Brundisiums in römischer Zeit war Sipus der
südlichste nennenswerthe Stapelort an der Ostküste und die
Schiffer von Epidamnos und Apollonia zogen es häufig vor
in Tarent zu löschen — Hydrus (Otranto) scheint in den
Händen der Tarentiner gewesen zu sein. Der reiche Fisch-
fang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der
vortrefflichen Schafwolle so wie deren Färbung mit dem Saft
der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wett-
eifern konnte — beide Industrien hieher eingebürgert aus
dem kleinasiatischen Miletos — beschäftigten Tausende von
Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhan-
del hinzu; die nirgends im griechischen Italien in solcher
Menge und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen
tarentinischen Münzen sind noch heute redende Beweise des
ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. — Aller-
dings gehört die gröſste Blüthe Tarents erst der folgenden
Periode an. Erst nach Sybaris Untergang, mit dem in dessen
Blüthezeit Tarent gewetteifert hatte, erhob sich dies zum ersten
Rang unter den italischen Hellenen. Namentlich nachdem in
Folge einer furchtbaren Niederlage der Tarentiner durch die
lapyger (Ol. 76, 3, 280 der Stadt), der schwersten, die bis
dahin ein Griechenheer von Barbaren erlitten hatte, die ur-
sprüngliche aristokratische Verfassung in die vollständigste
Demokratie übergegangen war, entfaltete sich hier die ganze
Gewalt des Volksgeistes bald in groſsartigster Erhebung, bald
in schandbarem Leichtsinn und kindischer Schwindelei. Ein
eigenthümlich reges Leben herrschte in diesem italischen
Athen, das unter seiner Schiffer-, Fischer- und Fabrikanten-
bevölkerung viel Reiche, aber wenig Vornehme zählte; es ist
bezeichnend, daſs in dieser Stadt, wo alles belacht und ver-
lacht ward, die travestirte Tragödie erfunden worden ist. —
Im Verhältniſs zu den Italikern scheinen die Tarentiner nicht
darauf ausgegangen zu sein ihr Gebiet wesentlich zu erwei-
tern; ihr Landheer bestand seit der Demokratisirung des Staats
nicht mehr aus Bürgern, sondern aus gemietheten Söldnern,
und die Kriegsmacht des Staates lag hauptsächlich in der
[94]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
Flotte, die gestützt auf die starke Handelsmarine die bedeu-
tendste groſsgriechische Seemacht ward. Es ist sonach er-
klärlich, daſs auf die Tarentiner zurückgeht, was sich von
griechischer Civilisation im Südosten Italiens vorfindet; indeſs
fallen davon in diese Zeit nur die ersten Anfänge. Der Helle-
nismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche.


Bescheidener war die Blüthe der griechischen Städte am
Vesuv, der Kymaeer, die von der fruchtbaren Insel Aenaria
auf das Festland hinübergingen und auf einem natürlich festen
Hügel hart am Meere sich niederlieſsen, von wo aus der Hafen-
platz Dikaearchia, die Städte Parthenope und Neapolis ge-
gründet wurden. Wir wissen wenig von der älteren Geschichte
dieser campanischen Griechen; doch ist es klar, daſs sie nicht
erobernd und unterdrückend gegen die Eingebornen auftraten,
sondern von ihrem engen Bezirk aus mit ihnen friedlich han-
delten und verkehrten und dadurch, indem sie sich eine ge-
deihliche Existenz schufen, zugleich die wichtigste Stelle ein-
nahmen unter den Missionären der griechischen Civilisation
in Italien. Sie lebten nach den Gesetzen des Charondas, die
den lokrischen des Zaleukos — dem ältesten griechischen
Gesetzbuch — im Ganzen wie im Einzelnen sehr ähnlich ge-
wesen zu sein scheinen, in einer demokratischen jedoch durch
hohen Census gemäſsigten Verfassung, welche die Macht in
die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rathes von tau-
send Mitgliedern legte; eine Verfassung, die sich bewährte
und im Ganzen von diesen Städten Tyrannis wie Pöbelregi-
ment fernhielt. — Von ähnlicher Art mag die jüngste der
gröſsern italischen Colonien, die um 01. 61, der Stadt 217
gegründete Niederlassung der Phokier Velia gewesen sein, nur
daſs dies kühne Schiffergeschlecht weniger mit den nächsten
Anwohnern in den lucanischen Gebirgen verkehrte als zur
See mit den Küstenbewohnern des tyrrhenischen Meeres; ver-
schiedene Spuren deuten auf einen alten und freundlichen
Verkehr mit den Latinern an der Tiber.


Indeſs den kühnen hellenischen Schiffern und Kaufleuten
fehlte es nicht an einer concurrirenden und rivalisirenden
Nation. Um ganz Sicilien herum, erzählt Thukydides, hatten,
ehe die Griechen dorthin kamen oder wenigstens ehe sie dort
in gröſserer Anzahl sich festsetzten, die Poener auf den Land-
spitzen und Inselchen ihre Factoreien gegründet, des Handels
wegen mit den Eingebornen, nicht um Land zu gewinnen.
Daſs dieselben auch in Unteritalien vor den Griechen gehaust
[95]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
haben, dafür fehlt es an jedem Beweis; vielmehr ist es glaub-
lich überliefert, daſs von den civilisirten Nationen des Ostens
zuerst die Phokier es gewesen sind welche durch die ‚Spalte‘
(ϱ̔ήγιον) einfuhren in die Westsee. Die beiden Nationen, von
denen die Poener wahrscheinlich von Africa, die Griechen von
Italien herüberkamen, stieſsen bald auf einander in Sicilien,
um dessen Besitz sie Jahrhunderte lang rangen, ohne daſs es
der einen oder der andern gelungen wäre den Rivalen voll-
ständig zu verdrängen. Die Griechen bemächtigten sich zuerst
der nordöstlichen Spitze, wo die ältesten chalkidischen Colo-
nien Himera, Zankle, Naxos angelegt wurden; der dorischen
Einwanderung gelang es geraume Zeit hernach die gröſsere
östliche Hälfte der Insel zu gewinnen, wo die kaufmännischen
Etablissements der Poener einer energischen Kolonisationspoli-
tik erlagen und Syrakus, Gela, Akragas entstanden. Allein
der Nordwesten blieb im Besitz der Punier, mit den wichtigen
Häfen Soloeis und Panormos an der Nordküste, Motye an der
Africa zugewandten Spitze. Karthagos Macht, deren kräftiger
Aufschwung um die Mitte des zweiten Jahrhunderts fällt, kam
den sicilischen Poenern zu Hülfe und der Strom der griechi-
schen Einwanderung stockte nach der Anlegung von Akragas
(174 der Stadt). Bestimmter und energischer ergriff und ver-
folgte die führende Macht der punischen Nation seitdem den
Gedanken wenigstens in den Meeren westlich von Sardi-
nien und Sicilien sich nicht von den Griechen vertreiben zu
lassen, wie früher die Poener aus dem ausschlieſslichen Besitz
der ganzen Westsee, dem Besitz der beiden Verbindungs-
straſsen zwischen dem westlichen und dem östlichen Becken
und dem Monopol der Handelsvermittlung zwischen Orient
und Occident verdrängt worden waren. Schon um Kyros Zeit,
um 200 der Stadt eroberte der karthagische Feldherr Malchus
einen groſsen Theil Sardiniens, das um die Zeit der Vertrei-
bung der römischen Könige im unbestrittenen Besitz Karthagos
sich befindet.


So consolidirt sich im südlichen Italien und im östlichen
Sicilien die hellenische, in Westsicilien und auf Sardinien die
punische Nation, beide jetzt nicht mehr sich beschränkend auf
die Anlage von Handelsfactoreien, sondern städtegründend und
länderbeherrschend. Aber indem zugleich ihre Rivalität sich
immer schärfer feststellt, scheint eben dies veranlaſst zu haben,
daſs das mittlere und nördliche Italien nicht colonisirt ward,
sondern unter dem Schutz jener Rivalität die einheimischen
[96]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
Nationen unabhängig blieben und eine eigene Handelspolitik
verfolgen konnten.


Als die Kaufleute aus dem Osten zuerst einfuhren in die
Westsee, trafen sie nirgends auf Segelschiffe; die Ruderbarken
der Eingebornen drohten keine Gefahr und ungehindert konn-
ten sich die Fremden auf den Inseln und Landspitzen ansie-
deln. So die Poener in Sicilien; so gleichfalls die Hellenen
längs der ganzen italischen Westküste. Spuren dieser ältesten
Fahrten sind die griechischen Namen der Insel Aethalia (Ilva,
Elba), die nächst Aenaria zu den am frühesten von Griechen
besetzten Plätzen zu gehören scheint, und vielleicht auch des
Hafenplatzes Telamon in Etrurien. Eben daraus erklärt sich
die frühe Localisirung der Odysseussagen und anderer Heim-
fahrten troischer Helden an den campanischen Gestaden; wenn
bei Formiae und Caieta die Laestrygonen hausen, wenn das
isolirte Vorgebirg von Tarracina schon bei Skylax das Grab
des Elpenor heiſst, wenn schon bei Hesiodos Odysseus mit
der Kirke zwei Söhne erzeugt, den Agrios das heiſst den Wil-
den und den Latinos, die ‚im innersten Winkel der heiligen
Inseln‘ die Tyrsener beherrschen, wenn den troischen Aeneas
der König Latinus in Laurentum freundlich empfängt, so sind
das alte Schiffermährchen kymaeischer und phokischer See-
fahrer, welche der lieben Heimath auf der tyrrhenischen See
gedachten. — Daſs die Küstenbewohner, wenn die Gelegenheit
sich bot, die fremden Schiffer überfielen und plünderten, ver-
steht sich von selbst und spricht sich auch in diesen Sagen
so wie in der Wahl der ältesten Ansiedlungsplätze deutlich
aus. In diesem Verkehr mag Aethalia, die ‚Feuerinsel‘ mit
ihren reichen Kupfer- und besonders Eisengruben die erste
Rolle gespielt und hier sich der Verkehr wie der Land- und
Seeraub concentrirt haben; um so mehr als das Schmelzen
der Metalle auf der kleinen und nicht waldreichen Insel ohne
Verkehr mit dem Festland nicht geschehen konnte. Auch die
Silbergruben von Populonia auf der Elba gegenüberliegenden
Landspitze waren vielleicht schon den Griechen bekannt und
von ihnen in Betrieb genommen. Hier zuerst scheinen die
Küstenbewohner, lernend von den Fremden, anstatt ihrer
Flöſse und Ruderbarken Segelschiffe gebaut zu haben. Bald
wurden sie gefährliche Mitbewerber auf dem neu gewon-
nenen Element: Aethalia und Populonia muſste verlassen
werden und die reichen Gruben wurden nun von den Etru-
skern ausgebeutet. Aber schon beschränkten die Etrusker sich
[97]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
nicht mehr auf ihre eigenen Gewässer. Sie gesellten sich die
Volsker zu, die in Clientelverhältniſs zu ihnen traten und
deren Waldungen in der pomptinischen Ebene den Etruskern
die Kiele ihrer Seeschiffe lieferten; dem Seeraub der Antiaten
hat erst die römische Herrschaft ein Ende gemacht und nicht
umsonst heiſst das Gestade der südlichen Volsker den griechi-
schen Schiffern das der Laestrygonen. Auch in das campa-
nische Meer gelangten die Etrusker früh, wo sie die hohe
Landspitze von Sorrent, mit dem noch steileren hafenlosen
Felsen von Capri eine rechte Corsarenwarte besetzten um
nach beiden Meeren hin den Küstenfahrern aufzupassen. Zu-
gleich scheinen sie von hier aus ins Binnenland von Cam-
panien eingedrungen zu sein und sollen dort einen eigenen
Zwölfstädtebund gegründet haben; wovon wenigstens so viel
geschichtlich ist, daſs etruskisch redende Gemeinden im cam-
panischen Binnenland entstanden und bis in späte Zeit sich dort
erhielten. Zwar behaupteten sich die Griechen am Vesuv; allein
die bescheidenen Grenzen, innerhalb deren sie hier sich hiel-
ten, dürfen wohl auf die Hemmung durch die etruskische
Macht zurückgeführt werden.


Gemildert, aber nicht aufgehoben erscheint derselbe Gegen-
satz in dem südlichen Etrurien und in Latium so wie an den
Mündungen des Padus, wo die edlere italische Nationalität eine
mildere Gesittung erzeugte und dem Fremden ein gastlicherer
Empfang bereitet war, ohne daſs doch griechische Colonien
hier geduldet worden wären. Schon jene Sagen setzen sehr
bezeichnend den ‚wilden Tyrrhener‘ dem Latiner entgegen
und die unwirthliche Küste der Volsker dem friedlichen lau-
rentischen Gestade. Die groſsen Handelsstädte, die in sehr
früher Zeit hier entstanden, Spina und Hatria am Po, Rom
an der Tiber, Caere in Etrurien sind, nach den italischen
Namen wie nach der Lage in einiger Entfernung von der
Küste zu schlieſsen, sicher italische, nicht griechische Grün-
dungen; dennoch finden wir sie seit alter Zeit in Verbindung
mit den Hellenen. Der Verkehr mit dem Apolloheiligthum in
Delphi, mit dem kumanischen Orakel ist verwebt in die äl-
teste caeritische und römische Ueberlieferung; ja von Spina
und Caere ist es gewiſs, daſs in Delphi ihnen wie anderen in
regelmäſsigem Verkehr mit dem Heiligthum stehenden Ge-
meinden eigene Schatzhäuser erbaut waren. Der erste unter
allen Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte, war
der tuskische König Arimnos, vielleicht Herr von Ariminum.
Röm. Gesch. I. 7
[98]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
Vor allem merkwürdig aber ist die Stellung von Caere, das
nicht wie Rom und Spina durch seine Lage von der Natur
zum Emporium bestimmt ist; sein Hafen ist schlecht und
Gruben giebt es nicht in der Nähe. Aber dort bestand eine
Art von Freihafen für die Griechen wie für die Poener, wovon
die drei caeritischen Hafenstädte: zwei griechische Pyrgi (bei
S. Severa) und Alsion (bei Palo) einerseits, ‚die punische‘
(Punicum, bei S. Marinella) andrerseits das Andenken bewahrt
haben. Ja Caere selbst führt seinen zweiten Namen Agylla
nicht, wie man meint, von den Pelasgern, sondern von den
Puniern; denn im Punischen heiſst dies die ‚Rundstadt‘, wie
eben Caere vom Ufer aus gesehen sich darstellt. ‚Die Caeri-
ten, sagt Strabon, galten viel bei den Hellenen wegen ihrer
Tapferkeit und Gerechtigkeit und weil sie, so mächtig sie
waren, doch des Raubes sich enthielten‘; nicht des Seeraubes,
der in jener Zeit vom Seehandel untrennbar war, sondern der
Beraubung der hellenischen Gäste in Alsion und Pyrgi. Es
schlieſst dies übrigens nicht aus, vielmehr ist nicht daran zu
zweifeln, daſs diese drei Hafenplätze den fremden Schiffern
wohl geöffnet, aber wenigstens in der späteren Zeit nicht mehr
im Besitz der Fremden waren; mögen die Mauern von Pyrgi
auch von Griechen erbaut sein, wie die sehr eigenthümliche
von der Architektur der caeritischen und überhaupt der etru-
skischen Stadtmauern wesentlich abweichende Bauart der-
selben anzudeuten scheint, so ward die Stadt doch, so wie
die Caeriten zu eigener Macht gelangten, von der Metro-
pole in Besitz genommen. Fortan ward in Caere und ebenso
in den Städten gleicher Stellung der fremde Schiffer wohl ge-
duldet; allein daneben erblühte ein eigener Handel, der unter
dem Schutz der etruskischen Piraterie, gleichsam einer rohen
Navigationsacte, bald den der Fremden in diesen Gewässern
überflügeln mochte. So wurden diese Städte, wo die Italiker
friedlich schalteten und den fremden Kaufmann duldeten, vor
allen reich und mächtig und wie für die hellenischen Waaren
so auch für die Keime der hellenischen Civilisation die rech-
ten Stapelplätze.


Es muſsten die Etrusker und in minderem Grade die
ihnen hier sich anschlieſsenden Latiner wohl mächtig werden
zur See im Handel wie im Krieg. Sie hatten am westlichen
Meer den groſsen italischen Freihafen inne, am östlichen die
Pomündungen und ihre Lagunenstadt, das Venedig jener
Zeit; von Meer zu Meer wohnend beherrschten sie die Land-
[99]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
straſse, die seit alter Zeit beide Meere verband; im Süden
waren sie vorgedrungen in die reichen Ebenen von Capua
und Nola. Sie besaſsen die wichtigsten italischen Ausfuhr-
artikel, das Eisen von Ilva, das Kupfer von Campanien und
Volaterrae, das Silber von Populonia, ja den Bernstein, dessen
uralte Straſse von der Ostsee ans Mittelmeer bei Hatria führte
und dessen Heimath darum auch nach der griechischen Sage
die Pomündung ist. Es konnte nicht fehlen, daſs aus ihren
Kapern bald eine mächtige Kriegsflotte ward und unter deren
Schutz ihre Kauffahrer beide Meere beherrschten; mit Grund
nannte darum der Grieche das westliche das Meer der Tusker,
das östliche das Meer des tuskischen Hatria. So entwickelte sich
jene wilde etruskische Corsarenwirthschaft, welche den Namen
der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen machte — der
Enterhaken gilt für eine tuskische Erfindung —; aber auch
jener ausgedehnte Handel, in Folge dessen in Sybaris der
etruskische und der milesische Kaufmann concurrirten; und
aus beiden entsprang der maſs- und sinnlose Luxus, in dem
daheim die Etrusker sich gefielen. Den friedlichen Ver-
kehr der Etrusker mit den Griechen schon in dieser Zeit be-
zeugen namentlich die Silbermünzen, die etwa vom Jahre 200
der Stadt an Populonia geschlagen hat; sie sind nicht den
groſsgriechischen nachgeahmt, sondern attische Didrachmen,
wie sie damals in Attika und Sicilien gangbar waren. Daſs
dieser Verkehr die Befehdung der Griechen, namentlich der
nächstwohnenden nicht ausschloſs, leuchtet ein; unverkennbar
ist die etruskische Politik, die römische und caeritische nicht
minder als die des eigentlichen Etrurien von Haus aus darauf
ausgegangen die Ansiedlung der Griechen in Italien zu hem-
men und sie von den italischen Meeren mehr oder minder
vollständig auszuschlieſsen.


Trafen also die Etrusker, Latiner und Karthager zusam-
men in demselben Interesse und demselben politischen Ziel, so
konnte daſs sie sich verbündeten, um so weniger fehlen, als
jede Nation einzeln dem gewaltigen Aufschwung der helleni-
schen kaum hätte Widerstand leisten können. Darum schlossen
Etrurien und Karthago in früher Zeit einen Tractat, der nicht
bloſs die Waareneinfuhr und die Rechtsfolge regelte, sondern
auch ein Kriegsbündniſs (συμμαχία) einschloſs. Daſs Rom
nebst Latium wenn auch nicht unbedingt sich diesem anschloſs,
doch im Ganzen eine ähnliche Politik verfolgte, ist bei den
engen Beziehungen zwischen Rom und Caere und dem Han-
7*
[100]ERSTES BUCH. KAPITEL X.
delsbündniſs zwischen Rom und Karthago nicht zu bezweifeln.
In Folge dessen hinderten die Italiker die Besetzung Sardi-
niens und der Nordküste Siciliens durch die Karthager nicht;
und beide machten gemeinschaftliche Sache gegen jeden, der
sie im Alleinbesitz ihrer Meere bedrohte. Wirklich gelang es
die Griechen zu hemmen, jedoch nicht ohne Ausnahme. Zwar
in dem unwirthlichen Ostmeer finden wir keine altgriechische
Colonie an der italischen noch nördlich von Schwarzkerkyra
an der illyrischen Küste; allein im Westmeer wuſsten dennoch
die kühnen Rhodier und Phokaeer Fuſs zu fassen. Jene setz-
ten sich gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts der Stadt
auf den liparischen Inseln fest, und trotz der Anstrengungen
der tuskischen ‚Seeräuber‘, die Jahr aus Jahr ein die Insel
bedrohten, gelang es ihnen sich zu behaupten; ja es leidet
wohl keinen Zweifel, daſs von hier aus an das Pyrenäengebirg
eine Kolonie geführt ward, Rhoda, jetzt Rosas. Sogar bis nach
Saguntum scheint eine griechische Kolonie geführt zu sein, die
von Zakynthiern und Ardeaten gestiftet sein soll. — Folgen-
reicher noch war der kühne Widerstand der kleinasiatischen
Phokaeer. Sie, die zuerst den Griechen die Westsee erschlos-
sen hatten und deren Ansiedlungen unter den sicilischen
Elymern ‚aus troischer Zeit‘ vielleicht sogar älter sind als die
Besetzung der Insel durch die Punier, sie waren nicht gemeint
vor den Barbaren aus diesen Gewässern zu weichen und grün-
deten um die Mitte des zweiten Jahrhunderts der Stadt, ver-
muthlich ehe Karthago übermächtig geworden war und ehe
jene tuskisch-punische Allianz sich festgestellt hatte, die west-
lichste der groſsen Griechenstädte, Massalia an der Küste der
Kelten. Die Stadt gedieh trotz ihrer Isolirung und monopo-
lisirte bald den Handel von den Pyrenäen bis nach Nizza.
Ein zweiter Versuch war nicht minder kühn, aber der Erfolg
minder glücklich. Andere Phokaeer siedelten sich Caere gegen-
über an in Alalia (Aleria) auf Corsica; sie zu vertreiben er-
schien die vereinigte Flotte der Etrusker und Karthager. In
einer groſsen Schlacht — einer der ältesten Seeschlachten,
die die Geschichte nennt — um das Jahr 217 der Stadt
siegten die Phokaeer mit sechzig Schiffen über die doppelt so
starken Feinde oder schrieben sich wenigstens den Sieg zu;
denn dem Erfolg nach war der Sieg einer Niederlage gleich.
Die Phokaeer gaben Corsica auf und zogen sich zurück an die
süditalische Küste, wo sie Velia gründeten; Corsica mit den
Städten Alalia und Nikaea ward tuskischer Besitz und die
[101]DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
Eingebornen zinsten dort seitdem ihren Herren Pech, Wachs
und Honig. Charakteristisch ist es für die Stellung der Cae-
riten, daſs sie die phokaeischen Gefangenen auf dem Markt
von Caere steinigten und alsdann, um den Frevel zu sühnen,
den delphischen Apoll beschickten. — In welchem Verhältniſs
die Italiker zu den Poenern standen, vermögen wir genauer
nicht zu bestimmen; vermuthlich suchte man sie von den
östlichen Gewässern und von Spanien fernzuhalten, auf das
Karthago früh den Blick geworfen hatte. Wir finden wenig-
stens, daſs den Römern in ihrem Vertrag mit Karthago der
Besuch der spanischen Küste nicht so erleichtert ward wie
der von Africa, Sardinien und Sicilien. Daſs Tarraco eine
tuskische Gründung sei, und daſs die Etrusker eine Kolonie
nach den canarischen Inseln hätten senden wollen, aber von
den Karthagern daran verhindert worden seien; daſs die Ar-
deaten sich in Saguntum angesiedelt; daſs ein punischer
Schiffer, der das römische ihm in den atlantischen Ocean
nachsteuernde Fahrzeug mit Aufopferung seines eigenen Schif-
fes auf eine Sandbank geführt habe, deſshalb von seiner Ge-
meinde belohnt worden sei, sind Erzählungen, deren Glaub-
würdigkeit nicht auſser Zweifel ist, die aber, auch wenn sie
erfunden sein sollten, für die Rivalität auch unter den ver-
bündeten Flaggen bezeichnend sind. — Was die östlichen
Gewässer anlangt, so war es natürlich den Karthagern nicht
möglich die auch im adriatischen Meer mächtigen Etrusker
davon auszuschlieſsen; dagegen den Latinern untersagte der
Vertrag mit Karthago die Beschiffung der Gewässer östlich vom
Kap Bon und ebenso ein Vertrag mit Tarent, den wir wohl
schon in diese Zeit setzen dürfen, ihnen die Fahrt östlich vom
lakinischen Vorgebirge.


[[102]]

KAPITEL XI.



Recht und Gericht.


Das Volksleben in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit
anschaulich zu machen vermag die Geschichte nicht allein;
es muſs ihr genügen die Entwicklung der Gesammtheit dar-
zustellen und das Schaffen und Handeln, das Denken und
Dichten des Einzelnen, so sehr auch diese von dem Zuge des
Volksgeistes beherrscht werden, bei Seite zu lassen oder doch
nur in den allgemeinsten Umrissen anzudeuten. Dies letztere
hier und eben für diese älteste geschichtlich so gut wie ver-
schollene Zeit wenigstens zu versuchen schien deſswegen noth-
wendig, weil die tiefe Kluft, die unser Denken und Empfinden
von dem der alten Culturvölker trennt, sich auf diesem Gebiet
allein einigermaſsen zum Bewuſstsein bringen läſst. Unsere
Ueberlieferung mit ihren verwirrten Völkernamen und getrübten
Sagen ist wie die dürren Blätter, von denen wir mühsam
begreifen, daſs sie einst grün gewesen sind; statt die uner-
quickliche Rede durch diese säuseln zu lassen und die Schnitzel
der Menschheit, die Choner und Oenotrer, die Siculer und
Pelasger zu classificiren wird es sich besser schicken zu fra-
gen, wie denn das reale Volksleben des alten Italien im Rechts-
verkehr, das ideale in der Religion sich ausgeprägt haben, wie
man gewirthschaftet und gehandelt hat, woher die Schrift den
Völkern kam und die weiteren Elemente der Bildung. So
dürftig auch hier unser Wissen ist, schon für das römische
Volk, mehr noch für das der Sabeller und das etruskische, so
wird doch selbst die geringe und lückenvolle Kunde dem Leser
[103]RECHT UND GERICHT.
statt des Namens eine Anschauung oder doch eine Ahnung
gewähren.


Vom Rechtswesen ist nur für die römische Gemeinde
eine Ueberlieferung auf uns gekommen. — Gericht oder ‚Ge-
bot‘ (ius) hält der König an den Sprechtagen (dies fasti) auf
dem Marktplatz, sitzend auf dem ‚Herrenstuhl‘ (sella curulis);
ihm zur Seite stehen seine Boten, vor ihm die Parteien. In-
deſs die Herrenmacht des Hausvaters und der Familie be-
stand daneben fort auch nach Bildung der römischen Gemeinde,
unbedingt für die Frauen, deren rechter Richter entweder der
Vater oder der Ehemann oder in deren Ermangelung die Fa-
milie ist, beschränkt für die Männer, die nur in dem Haus-
vater einen zweiten Herrn neben dem König über sich er-
kennen; in allen Fällen aber concurrirt mit der Familien- die
königliche Gerichtsbarkeit. — Regelmäſsig schreitet der Staat
von sich aus nur ein, wenn der gemeine Frieden gebrochen
ist, also vor allen Dingen im Fall des Landesverraths oder
der Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der ge-
waltsamen Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber
auch der arge Mörder (paricida), der Brandstifter, der falsche
Zeuge, ferner wer die Ernte durch bösen Zauber bespricht
oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Götter und des
Volkes überlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie
brechen den gemeinen Frieden und werden deſshalb dem Hoch-
verräther gleich geachtet. Den Prozeſs eröffnet und leitet der
König und fällt das Urtheil, nachdem er mit den zugezogenen
Rathmännern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei,
nachdem er den Prozeſs eröffnet hat, die weitere Verhandlung
und die Urtheilsfällung an Stellvertreter zu übertragen, die
regelmäſsig aus dem Rath genommen werden. Auſserordent-
liche Stellvertreter der Art sind die Commissarien zur Aburthei-
lung der Empörung (duoviri perduellionis). Ständige Stellver-
treter scheinen die ‚Mordspürer‘ (quaestores paricidii) gewesen
zu sein, denen zunächst wohl die Aufspürung und Verhaftung
der Mörder, also eine gewisse polizeiliche Thätigkeit oblag.
Untersuchungshaft ist Regel, doch kann auch der Angeklagte
gegen Bürgschaft entlassen werden. Folterung zur Erzwingung
des Geständnisses kommt nur vor für Sclaven. Wer über-
wiesen ist den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, büſst
immer mit dem Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig,
so wird der falsche Zeuge vom Burgfelsen gestürzt, der Ernte-
dieb aufgeknüpft, der Brandstifter verbrannt. Begnadigen kann
[104]ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
der König nicht, sondern nur das Volk; der König aber kann
dem Verurtheilten die Betretung des Gnadenweges (provoca-
tio
) gestatten oder verweigern. — Buſsen an den Staat wegen
Ordnungswidrigkeit und Polizeivergehen verhängt der König
nach Ermessen; sie bestehen in einer bestimmten Zahl (daher
der Name multa) von Rindern oder Schafen. Auch Ruthen-
hiebe zu erkennen steht in der Hand des Königs. — In allen
übrigen Fällen, wo nur der Einzelne, nicht der gemeine Frie-
den verletzt war, schreitet der Staat nur ein auf Anrufen des
Verletzten, welcher seinen Spruch (lex) dem König vorträgt
(daher lege agere und die ‚Sprechtage‘); der König kann
wieder entweder selbst die Sache untersuchen oder sie in
seinem Namen durch einen Stellvertreter abmachen lassen.
Als die regelmäſsige Form der Sühnung eines solchen Unrechts
galt der Vergleich zwischen dem Verletzer und dem Verletzten;
der Staat trat nur ergänzend ein, wenn der Dieb den Be-
stohlenen, der Schädiger den Geschädigten nicht zufrieden-
stellte durch eine ausreichende Sühne (poena), wenn Jemand
sein Eigenthum vorenthalten oder seine gerechte Forderung
nicht erfüllt ward. Was in dieser Epoche als ausreichende
Sühne des Diebstahls galt, läſst sich nicht bestimmen; natürlich
schätzte der Geschädigte, doch stand wohl seit ältester Zeit dem
Richter das Recht der Ermäſsigung zu. Von dem auf frischer
That ergriffenen Diebe forderte der Verletzte billig Schwereres
als von dem später entdeckten, da die Erbitterung, welche
eben zu sühnen ist, gegen jenen stärker ist als gegen diesen.
Erschien das Verbrechen minderer Sühne unfähig oder war
der Dieb nicht im Stande die Schätzung zu erlegen, so
ward er vom Richter dem Bestohlenen als eigener Mann zu-
gesprochen. — Bei Schädigung (iniuria) des Körpers wie der
Sachen muſste in den leichteren Fällen der Verletzte wohl
unbedingt Sühne nehmen; ging dagegen durch dieselbe ein
Glied verloren, so konnte der Verstümmelte Auge um Auge
fordern und Zahn um Zahn. — Das Eigenthum ruht überall
direct oder indirect auf der Zutheilung einzelner Sachen an
einzelne Bürger durch den Staat, am bestimmtesten bei dem
Grundeigenthum, welches herrührt von Ausweisung einzelner
Stücke Landes an den einzelnen Bürger aus der gemeinen
Mark. Dasselbe geht frei von Hand zu Hand, jedoch so, daſs
beim Kauf und Tausch immer Zug um Zug geleistet wird und
Kauf auf Credit keine Klage giebt, aber auch kein Eigenthum
überträgt. Seit das Kupfer anstatt der Schafe und Rinder der
[105]RECHT UND GERICHT.
regelmäſsige Werthmesser geworden war, bestand die Form
des Kaufes also darin, daſs der Käufer dem Verkäufer die
festgesetzten Kupferpfunde vor Zeugen auf der Wage zuwägt
und dieser ihm gleichzeitig die gekaufte Sache in die Hand
giebt (mancipare); dafür daſs er Eigenthümer sei, muſs der
Verkäufer einstehen und büſst im entgegenstehenden Fall dem
Käufer ähnlich wie wenn er die Sache ihm entwendet hätte.
Wem sein Eigenthum widerrechtlich entzogen oder vorent-
halten wird, der zeigt die ‚Vergewaltigung‘ dem König an
(vindiciae), worauf ihm dieser nach untersuchter Sache zu
seinem Rechte verhilft. — Heilig wie das Eigenthum ist auch
das Darlehen, welches gleichfalls durch Zuwägen des Kupfers
unter Verpflichtung (nexus) der Rückgabe vor Zeugen einge-
gangen und ebenso wieder aufgelöst wird; der Schuldner
haftet für Kapital und Zins, welcher für das Jahr den zwölften
Theil des Kapitals (uncia; 8½ Procent) zu betragen pflegte.
Die übrigen Verträge waren in dieser Zeit wohl noch nicht
klagbar, mit Ausnahme des Verlöbnisses, wobei der Vater,
wenn er die versprochene Braut nicht giebt, dem Bräutigam
dafür Sühne und Ersatz zu leisten hat. Anstatt der Verpfän-
dung, die das Recht nicht kannte, diente ein Vertrag, der
dem Gläubiger sofort das Eigenthum an dem Unterpfand gab
und ihn verpflichtete im Fall der Rückzahlung des Darlehns
das Eigenthum dem Schuldner zurückzuübertragen. — Ward
der Staat angerufen um über das streitige Eigenthum zu ent-
scheiden oder die Zahlung der Forderung zu vermitteln, so
kam es darauf an, ob das Sachverhältniſs erst festzustellen
war oder schon klar vorlag, welches letztere bei Eigenthums-
klagen nicht wohl denkbar war, dagegen bei Darlehnsklagen
nach den geltenden Rechtsnormen mittelst der Zeugen leicht
bewerkstelligt werden konnte. Die Feststellung des Sachverhält-
nisses geschah in Form einer Wette (sponsio), wobei jede Partei
für den Fall des Unterliegens einen Einsatz machte: bei wich-
tigen Sachen von mehr als zehn Rindern Werth einen von fünf
Rindern, bei geringeren einen von fünf Schafen; der Einsatz
der unterliegenden Partei fiel den Priestern zu zum Behuf
der öffentlichen Opfer. Wer also verurtheilt war und ohne
den Spruch zu erfüllen dreiſsig Tage hatte verstreichen lassen;
ferner wessen Leistungspflicht von Anfang an feststand, also
regelmäſsig der Schuldner, wofern er nicht Zeugen für die
Rückzahlung hatte, unterlag dem Executionsverfahren ‚durch
Handanlegung‘ (manus iniectio), indem ihn der Kläger packte
[106]ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
wo er ihn fand und ihn vor Gericht stellte, nicht um sich zu
vertheidigen, sondern um die anerkannte Schuld zu erfüllen.
Zwar ein Dritter konnte für ihn auftreten und diese Gewalt-
that als unbefugte bezeichnen (vindex), worauf dann das Ver-
fahren sistirt ward; allein diese Vertretung machte den Ver-
treter persönlich verantwortlich, weſshalb auch für ansässige
Leute nur andre Ansässige Vertreter sein konnten. Trat weder
Erfüllung noch Vertretung ein, so sprach der König den
Schuldner dem Gläubiger so zu, daſs er ihn abführen und
halten konnte gleich einem Sclaven. Waren alsdann sechzig
Tage verstrichen und war während derselben der Schuldner
dreimal auf dem Markt ausgestellt und ausgerufen worden, ob
Jemand seiner sich erbarme, und dies alles ohne Erfolg ge-
blieben, so hatten die Gläubiger das Recht ihn zu tödten und
sich in seine Leiche zu theilen, oder auch ihn mit seinen Kin-
dern und seiner Habe als Sclaven in die Fremde zu verkaufen,
oder auch ihn bei sich an Sclaven Statt zu halten; denn freilich
konnte er, so lange er im Kreis der römischen Gemeinde blieb,
nach römischem Recht nicht vollständig Sclave werden. — So
ward Habe und Gut eines Jeden von der römischen Gemeinde
gegen den Dieb und Schädiger sowohl wie gegen den unbefug-
ten Besitzer und den zahlungsunfähigen Schuldner mit unnach-
sichtlicher Strenge geschirmt. — Ebenso schirmte man das
Gut der Unmündigen und der Wahnsinnigen, indem man die
nächsten Erben zu der Hut desselben berief, und nicht min-
der das Gut der Weiber, die gleichsam als lebenslänglich un-
mündig betrachtet wurden. Nach dem Tode fällt das Gut
den nächsten Erben zu, wobei alle Gleichberechtigten, auch
die Weiber gleiche Theile erhalten. Dispensiren von der
gesetzlichen Erbfolge kann allerdings nur die Volksversamm-
lung, wobei auch der an dem Vermögen haftenden Sacral-
pflichten wegen das Gutachten der Priester einzuholen ist;
indeſs scheinen solche Dispensationen früh sehr häufig ge-
worden zu sein und im Entstehungsfall konnte bei der voll-
kommen freien Disposition, die einem Jeden über sein Ver-
mögen bei seinen Lebzeiten zustand, diesem Mangel dadurch
einigermaſsen abgeholfen werden, daſs man sein Gesammtver-
mögen einem Freund übertrug, der dasselbe nach dem Tode
dem Willen des Verstorbenen gemäſs vertheilte.


Nach diesem Rechte lebten in Rom die Bürger und die
Schutzverwandten, zwischen denen, so weit wir sehen von
Anfang an, die vollständigste rechtliche Gleichheit bestand.
[107]RECHT UND GERICHT.
Der Fremde dagegen, sofern er sich nicht einem römischen
Schutzherrn ergeben hat und also als Schutzverwandter lebt,
ist rechtlos, er wie seine Habe; was der römische Bürger ihm
abnimmt, das ist ebenso recht erworben wie die am Meeres-
ufer aufgelesene herrenlose Muschel. Nur das Grundstück, das
auſserhalb der römischen Grenze liegt, kann der römische
Bürger wohl factisch gewinnen, aber nicht im Rechtssinn als
dessen Eigenthümer gelten; denn die Grenze der Gemeinde
verrücken kann nur die Gemeinde. Anders ist es im Kriege;
was der Soldat gewinnt, der unter dem Heerbann ficht, be-
wegliches wie unbewegliches Gut, fällt nicht ihm zu, sondern
dem Staat, und hier hängt es denn auch von diesem ab die
Grenze vorzuschieben oder zurückzunehmen. — Ausnahmen
von diesen allgemeinen Regeln entstehen durch besondere
Staatsverträge, die den Mitgliedern fremder Gemeinden ge-
wisse Rechte in Rom sichern. Vor allem wichtig in dieser
Hinsicht ist das ewige Bündniſs zwischen Rom und Latium,
das alle Verträge zwischen Römern und Latinern für rechts-
gültig erklärte und zugleich für diese einen beschleunigten Civil-
prozeſs verordnete vor geschwornen ‚Wiederschaffern‘ (recipe-
ratores
), welche, da sie gegen den sonstigen römischen Ge-
brauch, einem Richter die Entscheidung zu übertragen, immer
in der Mehrheit und in ungleicher Zahl sitzen, wohl als ein
aus Richtern beider Nationen und einem Obmann zusammen-
gesetztes Handels- und Meſsgericht zu denken sind. Sie ur-
theilen am Ort des abgeschlossenen Vertrages und müssen
spätestens in zehn Tagen den Prozeſs beendigt haben. Ob
die vollkommene Rechtsgleichheit zwischen Römern und La-
tinern, namentlich das gegenseitige Erbrecht schon dieser
Epoche angehört, ist ungewiſs. Die Formen, in denen der
Verkehr zwischen Römern und Latinern sich bewegte, wa-
ren natürlich die allgemeinen, in denen auch Patricier und
Plebejer mit einander verkehrten; denn die Mancipation und
das Nexum sind ursprünglich gar keine Formalacte, sondern
der prägnante Ausdruck der Rechtsbegriffe, deren Herrschaft
reichte wenigstens so weit man lateinisch sprach. — In anderer
Weise und anderen Formen ward der Verkehr mit dem ei-
gentlichen Ausland vermittelt. Der Vertrag mit Karthago setzte
fest, daſs der römische Kaufmann, der an einen Karthager
verkaufen wolle im karthagischen Sicilien, in Sardinien und
Africa, dabei den karthagischen Staatsherold und den Staats-
schreiber zuziehen müsse, in welchem Falle ihm die karthagische
[108]ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
Gemeinde gutstehe für die Zahlung seiner Forderung. Aehn-
liche Verträge müssen mit den Caeriten und andern befreun-
deten Völkern bestanden haben und die Grundlage geworden
sein des internationalen Privatrechts (ius gentium), das sich
in Rom allmählich neben dem Landrecht entwickelte. Eine
Spur dieser Rechtsbildung ist das merkwürdige Mutuum, der
‚Wandel‘ (von mutare, wie dividuus); eine Form des Dar-
lehns, die nicht wie das Nexum auf einer ausdrücklich vor
Zeugen abgegebenen bindenden Erklärung des Schuldners be-
ruht, sondern auf dem bloſsen Uebergang des Geldes aus einer
Hand in die andere und die so offenbar dem Verkehr mit
Fremden entsprungen ist wie das Nexum dem einheimischen
Geschäftsverkehr. Es ist darum charakteristisch, daſs das
Wort als μοῖτον im sicilischen Griechisch wiederkehrt; wahr-
scheinlich als Lehnwort aus dem Lateinischen, in Folge des
häufigen Verkehrs der latinischen Schiffer auf der Insel. Eben
dahin gehört der Uebergang des lateinischen carcer in die
sicilische Landessprache (ϰάϱϰαϱον), während das verwandte
ergastulum umgekehrt von ἐϱγαστής lateinisch gebildet ist.
Haft und Zwangsarbeit sind ja die Folgen des nicht bezahlten
Darlehns in allen alten Rechten.


Werfen wir noch einen Blick zurück auf die Gesammt-
heit dieser Institutionen, die im Wesentlichen entnommen sind
der ältesten etwa ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung
des Königthums veranstalteten Aufzeichnung des römischen
Gewohnheitsrechts und deren Bestehen schon in der Königszeit
sich wohl für einzelne Puncte, aber nicht im Ganzen bezwei-
feln läſst, so erkennen wir darin das Recht eines weit vor-
geschrittenen ebenso liberalen als consequenten Handelsstaats.
Hier ist keine Spur von jenem ältesten Zustand, den die ger-
manischen Institutionen uns darstellen, wo die Staatsgewalt
noch ringt mit der Autorität der kleineren im Volke aufgegan-
genen Geschlechts- oder Gaugenossenschaften; keine Rechts-
allianz innerhalb des Staates zur Ergänzung der unvollkom-
menen Staatshülfe durch gegenseitigen Schutz und Trutz;
keine ernstliche Spur der Blutrache oder des die Verfügung
des Einzelnen beschränkenden Familieneigenthums. Derglei-
chen muſs wohl einmal auch bei den Italikern bestanden
haben; es mag in einzelnen Institutionen des Sacralrechts,
zum Beispiel in dem Sühnbock, den der unfreiwillige Todt-
schläger den nächsten Verwandten des Getödteten zu geben
verpflichtet war, davon eine Spur sich finden; allein schon
[109]RECHT UND GERICHT.
für die älteste Periode Roms, die wir in Gedanken erfassen
können, ist dies ein längst überwundener Standpunkt. Zwar
ist das Geschlecht, die Familie in der römischen Gemeinde
nicht vernichtet; aber die ideelle wie die reale Allmacht des
Staates ist durch sie ebenso wenig beschränkt als durch die
Freiheit, die der Staat dem Bürger gewährt und gewähr-
leistet. Der letzte Rechtsgrund ist überall der Staat — die
Freiheit ist nur ein anderer Ausdruck für das Bürgerrecht im
weitesten Sinn, alles Eigenthum beruht auf ausdrücklicher
oder stillschweigender Uebertragung von der Gemeinde auf
den Einzelnen. Scharf und klar ist das Gebiet des Staates
und der Bürger geschieden: die Vergehen gegen den Staat,
welche unmittelbar das Gericht des Staates herbeirufen und
immer Lebensstrafe nach sich ziehen; die Vergehen gegen
den Mitbürger oder den Gast, welche zunächst durch Ver-
gleich und Sühne oder Befriedigung des Verletzten abgethan
und niemals mit dem Leben gebüſst werden, sondern höch-
stens mit dem Verlust der Freiheit. Hand in Hand gehen
die gröſste Liberalität in Gestattung des Verkehrs und das
strengste Executionssystem; ganz wie heutzutage in Handels-
staaten die allgemeine Wechselfähigkeit und der strengste Wech-
selprozeſs zusammen auftreten. Der Bürger und der Schutz-
genosse stehen sich im Verkehr vollkommen gleich; Staatsver-
träge gestatten umfassende Rechtsgleichheit auch dem Gast;
die Frauen sind im Recht mit den Männern völlig in eine
Linie gestellt, obwohl sie im Handeln beschränkt sind; ja der
kaum erwachsene Knabe bekommt sogleich das umfassendste
Dispositionsrecht über sein Vermögen. Wer überhaupt ver-
fügen kann, ist in seinem Kreise so souverain, wie der Staat
herrscht über alle. Höchst charakteristisch ist das Creditsystem:
ein Bodencredit existirt nicht, sondern anstatt der Hypothekar-
schuld tritt sofort ein womit heutzutage das Hypothekarver-
fahren schlieſst, der Uebergang des Eigenthums vom Schuldner
auf dem Gläubiger; dagegen ist der persönliche Credit in der
umfassendsten, um nicht zu sagen ausschweifendsten Weise
garantirt, indem der Gläubiger befugt ist den zahlungsunfähigen
Schuldner dem Diebe gleich zu behandeln und jedem Gläubiger
dasjenige, was Shylock sich von seinem Todfeind halb zum Spott
ausbedingt, hier in vollkommenem legislatorischen Ernst vom
Gesetzgeber eingeräumt, ja der Punct wegen des Zuvielabschnei-
dens von ihm sorgfältiger verclausulirt wird als es der Jude
that. Man konnte es nicht deutlicher aussprechen, daſs man
[110]ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
zugleich unabhängige und nicht verschuldete Bauernwesen
und kaufmännischen Credit herzustellen, alles Scheineigen-
thum aber wie alle Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu
unterdrücken beabsichtigte. Nimmt man dazu das früh aner-
kannte Niederlassungsrecht sämmtlicher Latiner und die gleich-
falls früh ausgesprochene Gültigkeit der Civilehe, so wird man
erkennen, daſs dieser Staat, der das Höchste von seinen
Bürgern verlangte und den Begriff der Unterthänigkeit des
Einzelnen steigerte wie keiner vor oder nach ihm, dies nur
that und nur thun konnte, weil er die Schranken des Ver-
kehrs selber niederwarf und die Freiheit ebenso sehr in
dieser Richtung entfesselte, wie er in jener sie beschränkte.
Ueberall steht neben der unbedingten Willkür die ungemes-
sene Strenge; wie der unvertretene Fremde dem gehetzten
Wild, so steht der Gast dem Bürger gleich; Eigenthum und
Forderung sind so allmächtig, daſs dem Armen nirgends eine
Rettung, nirgends eine menschliche und billige Berücksich-
tigung sich zeigt; es ist als fände das Recht eine Freude
daran überall die schärfsten Spitzen zu bezeichnen, die äuſser-
sten Consequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbe-
griffs gewaltsam dem blödesten Verstande aufzudrängen. Die
poetische Form, die gemüthliche Anschaulichkeit, die in den
germanischen Rechtsordnungen anmuthig walten, sind dem
Römer fremd; in seinem Recht ist alles klar und knapp, kein
Symbol angewandt, keine Institution zu viel. Es ist nicht
grausam; alles Nöthige wird vollzogen ohne Umstände, auch
die Todesstrafe; daſs der Freie nicht gefoltert werden kann,
ist ein Ursatz des römischen Rechts, den zu gewinnen andre
Völker Jahrtausende haben ringen müssen. Aber es ist schreck-
lich, dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich
nicht allzusehr gemildert denken darf durch eine humane
Praxis; denn es ist ja Volksrecht — schrecklicher als die
Bleidächer und die Marterkammern jenes lebendige Begräbniſs,
das der Arme in dem Schuldthurm jedes vermögenden Mannes
klaffen sah. Aber darin eben ist die Gröſse Roms beschlossen
und begründet, daſs das Volk solche Rechte sich selber gesetzt
und solches Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsätze
der Freiheit und der Botmäſsigkeit, des Eigenthums und der
Rechtsfolge unverfälscht und ungemildert walteten und heute
noch walten.


[[111]]

KAPITEL XII.



Religion.


Es ward schon früher angedeutet, daſs die römische
Götterwelt hervorgegangen ist aus der Wiederspiegelung der
römischen Gemeinde in einem höheren und geistigeren An-
schauungskreise, in dem sich mit peinlicher Genauigkeit das
Kleine wie das Groſse wiederholte. Zahllos und ewig wech-
selnd war die Schaar der Götter, wie der Kreis der irdischen
Dinge fluthet im ewigen Kommen und Gehen; der Staat und
der Gau, die Zunft und das Geschlecht, jeder Bürger, jeder
Ort und Gegenstand, ja jede Handlung hatte darin sein Ge-
genbild, das mit dem irdischen Begleiter kam, bestand und
verging. Wie der irdische Kreis der römischen Gemeinde
abgeschlossen war gegen die übrigen Staaten, so standen auch
die römischen Götter den fremden schroff gegenüber und die
beiden Kreise wurden in der Regel gleichmäſsig erweitert;
wenn aus der eroberten Stadt die Bürger übersiedelten nach
Rom, so lud man auch die Götter ein dort eine neue Stätte
sich zu bereiten, ja man unterschied wie die Altbürger und
die Insassen so die ‚einheimischen‘ (indigetes) und die ‚neu-
sässigen‘ (novensides) Götter. — Wie Jedermann die ihm
eigen zukommenden oder die gerade ihn angehenden Götter
verehrte, so die Gemeinde als solche die ihrigen. Es bezog
sich demnach der älteste öffentliche Cult vor allem auf die
drei Götter, die das Volk nach den drei Curien darstellten,
und auf die Gottheit des römischen Heerdes. Jene drei sind
der römische Vater Iovis, der vornehmste unter allen als Ver-
[112]ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
treter der Ramner; der von den Sabinern entlehnte Mars,
der mit den Titiern nach Rom kam; endlich der Quirinus,
der von der geschlossenen Gemeinde der römischen Speer-
träger (quirites) den Namen hat, weſshalb auch später, als
man die Zahl der Bezirke schloſs, der letzte nach ihm ge-
nannt ward. Diesen drei Göttern waren auſserhalb der Stadt
— der vorservianischen nämlich — heilige Stätten gewidmet;
dem Iovis natürlich die Burg, dem Mars die Ebene zwischen
der Burg und dem Fluſs, dem Quirinus der nach ihm be-
nannte Hügel. Dagegen der Gottheit des römischen Heerdes,
der Vesta war wie billig unmittelbar neben oder vielmehr in
dem Hause des Königs, in dem ältesten und vornehmsten
Theil der Stadt am Palatin, die Stätte bereitet, an welche die
‚Vorrathskammer‘ (penates) sich anschloſs. Diesen vier Gott-
heiten wurden seit ältester Zeit ständige Diener vom Staate
bestellt: jenen Dreien jedem ein ‚Zünder‘ (flamen) zum Dar-
bringen der Brandopfer, während sechs keusche Jungfrauen,
gleichsam als die Haustöchter des römischen Volkes, zum
Dienste der Vesta genommen wurden und das heilsame Feuer
des gemeinen Heerdes, den Bürgern zum Exempel und Wahr-
zeichen, stets lodernd unterhielten. Es war dieser häuslich-
öffentliche Cult der heiligste aller römischen, wie er denn
auch unter allen heidnischen Gottesdiensten zuletzt dem Chri-
stenthum in Rom erlegen ist. — Natürlich beschränkte sich
indeſs schon die älteste Verehrung keineswegs auf diejenigen
Gottheiten, die den römischen Staat unmittelbar darstellten;
auch andern Abstractionen wurde eine eigene Verehrung ge-
widmet, deren Ursprung zum Theil über Roms Entstehung
hinaufreichen mag und deren Begehung im Namen des Volkes
einzelnen Genossenschaften oder Geschlechtern oblag. Dahin
gehören die zwölf ‚Springer‘ (salii) aus der Altstadt und die
zwölf Springer aus der Vorstadt, die im März den Waffentanz
aufführten und dazu sangen; ferner die zwölf ‚Ackerbrüder‘
(fratres arvales), welche die ‚schaffende Göttin‘ im Mai anriefen
für das Gedeihen der Saaten. Diese drei nicht gentilicischen sind
unter allen Priestercollegien die vornehmsten. Ihnen schlieſst
die titische Brüderschaft sich an, die den Sondercult der zweiten
römischen Tribus zu bewahren und zu besorgen hat. Minder an-
gesehen waren die Geschlechtsgottesdienste, bei denen zugleich
das Volk sich betheiligt. So das ‚Wolfsfest‘ (lupercalia), das für
die Beschirmung der Heerden dem ‚günstigen Gotte‘ (Faunus)
von dem uralten Fabiergeschlecht und dem nach Albas Fall
[113]RELIGION.
ihnen zugegebenen Quinctiliern im Monat Februar gefeiert
ward; ein rechtes Hirtencarneval, bei dem die Wolfswehrer
(‚luperci‘) nackt mit dem Bocksfell umgürtet herumsprangen
und die Leute mit Riemen klatschten. Ebenso lag der Dienst
des ‚Beschlieſsers‘ Hercules, der den eingefriedigten Bauerhof
schirmte, den Geschlechtern der Potitier und Pinarier ob, und
so war unzweifelhaft noch bei zahlreichen andern gentilicischen
Culten zugleich die Gemeinde mit vertreten und betheiligt. —
Zu diesem ältesten Gottesdienst der römischen Gemeinde traten
allmählich neue Verehrungen hinzu; so der Diana, der der
Aventin angewiesen ward, als der Repräsentantin der latini-
schen Eidgenossenschaft, für die aber eben darum ein besondrer
römischer Priester nicht bestellt ward; und zahlreicher an-
derer Götterbegriffe, denen in bestimmter Weise durch allge-
meine Feier oder durch besonders zu ihrem Dienst bestimmte
Geschlechter oder Genossenschaften zu huldigen die Gemeinde
sich gewöhnte, einzelnen auch wohl einen eigenen Zünder
bestellte, so daſs deren zuletzt fünfzehn gezählt wurden. Aber
sorgfältig unterschied man darunter jene drei Altzünder (fla-
mines maiores
), die bis in die späteste Zeit nur aus den
Altbürgern genommen werden konnten, ebenso wie die drei
alten Genossenschaften der palatinischen und quirinalischen
Salier und der Arvalen stets den Vorrang vor allen übrigen
Priestercollegien behaupteten. — Während also den Kreis der
Götter zu vermehren nur von der Vorstellung der Menschen
abhing, blieben doch die abgeschiedenen Geister streng von
ihnen ausgeschlossen. Zwar glaubte man auch an deren Fort-
leben und brachten ihnen Speise und Trank; allein sie hausten
in den Räumen der Tiefe, während die Götter droben walte-
ten, und keine Brücke führte aus der unteren in die obere
Welt. Der griechische Heroencult ist den Römern völlig fremd
und wie jung und schlecht die Romulussage erfunden ist,
zeigt schon die ganz unrömische Verwandlung desselben in
den Quirinus. Numa, der älteste und ehrwürdigste Name in
der römischen Sage, ist nie als Gott in Rom verehrt worden
wie Theseus in Athen.


Die Verehrung der Götter geschieht unmittelbar, so daſs
der Anrufende selber redet zu dem Gott, die Gemeinde natür-
lich durch den Mund des Königs wie die Curie durch den
des Curio und die Ritterschaft durch den des Anführers der
Reiter; kein Symboldienst und keine Priestervermittlung soll
diese ursprüngliche und einfache Beziehung verdecken und
Röm. Gesch. I. 8
[114]ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
verdunkeln. Des Bildes bedarf der Gott nicht noch einer be-
sonderen Behausung, denn das Abbild des Gottes findet sich
ja ohnehin in der irdischen Welt und eben dort ist seine
Stätte (templum); doch ist freilich die Bilderverehrung und
die damit zusammenhängende Errichtung eigener Gotteshäuser
(aediculae) schon früh nach griechischem Muster eingedrungen.
— In Hinsicht auf die Priester hat zwar der Staat dafür ge-
sorgt, daſs die nothwendigen und stehenden Leistungen an die
Götter der Gemeinde durch bestimmte ständige Diener beschafft
werden und ähnliche Anordnungen kann für sich auch der
Bürger treffen; das hebt indeſs nicht auf, daſs regelmäſsig
jeder, der König wie der Bürger mit den Göttern selber ver-
kehrt und es versucht ihren Willen zu erforschen und zu be-
stimmen. Allein es ist dies freilich nicht leicht. Der Gott
hat seine eigene Weise zu sprechen, die nur dem kundigen
Manne verständlich ist; ja wer es recht versteht, der weiſs
den Willen des Gottes auch zu bestimmen, sogar im Nothfall
ihn zu überlisten oder zu zwingen, wie denn diese Auffassung
des Gottes als eines praktischen Hülfsinstrumentes für die Er-
reichung sehr concreter irdischer Zwecke durch die Richtung
des Italikers auf das Faſsliche und Reelle nothwendig gegeben
und noch heutzutage dem italienischen Volkscharakter tief ein-
geprägt ist. Darum ist es natürlich, daſs der Verehrer des
Gottes regelmäſsig Sachverständige zuzieht und deren Rath
vernimmt; und hieraus sind die religiösen Genossenschaften
hervorgegangen, die auf die politische Entwickelung weit be-
deutender eingewirkt haben als die Einzelpriester und die
Priesterschaften. Mit diesen sind sie oft verwechselt worden,
allein mit Unrecht. Den Priesterschaften liegt die Verehrung
einer bestimmten Gottheit ob, diesen Genossenschaften aber
die Bewahrung der Tradition für die gottesdienstlichen Ver-
richtungen, deren rechte Vollziehung eine gewisse Kunde vor-
aussetzte und für deren rechte Ueberlieferung zu sorgen im
Interesse des Staates lag. Diese geschlossenen sich selbst,
natürlich aus den Bürgern, ergänzenden Genossenschaften sind
dadurch die Depositare der Kunstfertigkeiten und Wissenschaften
geworden. Dahin gehören die zwanzig Staatsboten (fetiales),
das zahlreichste aller dieser Collegien, bestimmt, bevor es Ar-
chive gab, das Andenken an die Verträge der Gemeinde mit
den benachbarten zu bewahren und wenn das Bundesrecht ver-
letzt war, darüber gutachtlich zu entscheiden, nöthigenfalls den
Sühneversuch und die Kriegserklärung zu besorgen; vor allem
[115]RELIGION.
aber die drei ansehnlichsten Genossenschaften der Brücken-
bauer, der Vögelschauer und der Orakelbewahrer. Die beiden
Orakelbewahrer (duoviri sacris faciundis) erforschten in
zweifelhaften Fällen, wenn es eines gottesdienstlichen Actes
bedurfte und man doch nicht wuſste, welchem Gott und wie
er zu beschaffen sei, den Willen der Gottheit aus den Orakel-
büchern; die sechs Auguren verstanden die Sprache der Götter
aus dem Flug der Vögel zu deuten, welche Auslegungskunst
sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches
System gebracht ward; endlich die fünf Brückenbauer (‚pontifi-
ces‘
) hatten zunächst die ebenso heilige als politisch wichtige
Aufgabe den Bau und das Abbrechen der Tiberbrücke zu leiten.
Es waren die römischen Ingenieure, die das Geheimniſs der
Maſse und Zahlen verstanden; woher ihnen auch die Pflicht
zukam den Kalender des Staats zu führen, dem Volke Neu-
und Vollmond abzurufen und dafür zu sorgen, daſs jede got-
tesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage vor
sich gehe; und da sie also vor allen andern den Ueberblick
über den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch wo es nöthig
war, bei Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage,
ob die Verfügung nicht irgendwie verstoſse gegen das gött-
liche Recht, und ging von ihnen die Feststellung und Bekannt-
machung der allgemeinen exoterischen Sacralvorschriften aus,
die unter dem Namen der Königsgesetze bekannt sind. So
gewannen sie, und unter ihnen wieder ihr ‚Aeltester‘ (pontifex
maximus
) die allgemeine Oberaufsicht über den römischen
Gottesdienst und was damit zusammenhing — und was hing
nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichnen als den Inbe-
griff ihres Wissens ‚die Kunde göttlicher und menschlicher
Dinge‘; und in der That sind die Anfänge der Geschichtsauf-
zeichnung wie des Rechtes im Schoſs dieser Genossenschaft
entstanden. Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Ka-
lender und das Jahrzeitbuch anknüpft, muſste auch die Kunde
des Prozesses und der Rechtssätze, da nach der Einrichtung
der römischen Gerichte in diesen selbst eine Ueberlieferung
nicht entstehen konnte, in dem Collegium der Pontifices tradi-
tionell werden, das über Gerichtstage und religiöse Rechtsfragen
ein Gutachten zu geben allein competent war. Selbst eine
gewisse polizeiliche Gewalt und die Ausübung des Hausrechts
der römischen Gemeinde über ihre Töchter, die Vestalinnen,
waren unter den Attributionen dieser Genossenschaft. — Aber
wie hochansehnlich immer auch diese Genossenschaften waren
8*
[116]ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
und wie wichtige und umfassende Befugnisse sie zugetheilt
erhielten, nie vergaſs man, und am wenigsten bei den am
höchsten gestellten, daſs sie Sachverständige waren und nicht
zu befehlen, sondern Rath zu ertheilen, die Antwort der Götter
nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die ertheilte dem Fra-
ger auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester
nicht bloſs im Rang dem König nach, sondern er darf unge-
fragt nicht einmal seinen Rath ertheilen; dem König steht es
zu zu bestimmen, ob und wann er die Vögel beobachten will
und der Vögelschauer steht nur dabei und verdollmetscht ihm,
wenn es nöthig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso
kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das
Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommen-
den es von ihm begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat
man trotz aller Frömmigkeit festgehalten an dem Grundsatz,
daſs in dem Staat die Priesterschaft in vollkommener Macht-
losigkeit zu verbleiben und von allem Befehlen ausgeschlossen
dem geringsten Beamten gleich jedem andern Bürger Gehor-
sam zu leisten hat.


Worin der römische Götterdienst bestand, läſst sich im
Allgemeinen schon erkennen aus den Namen der Priester und
Priesterschaften. Die Gottesverehrung, hervorgegangen aus
dem freudigen Behagen des Menschen am Irdischen und nur
in untergeordneter Weise aus der Furcht vor den Naturkräf-
ten, ist durchgängig Aeuſserung der Freude: Lieder und Ge-
sänge, Spiele und Tänze sind der Inhalt der meisten römi-
schen gottesdienstlichen Gebräuche, vor allem aber natürlich
die Schmäuse, namentlich wenn ein Stück Vieh geschlachtet
worden ist; das Schwein als der gewöhnliche Festbraten ist
auch den Göttern das gefälligste Opfer. Menschenopfer sind
den Römern, wenigstens so weit unser Blick reicht, fremd
geblieben, auſser wo in Zeiten höchster Noth Verzweiflung
und Aberglaube im Gräuel Rettung suchten. Wohl aber suchte
man das verwirkte Unheil von dem Menschen auf andere
Wesen abzulenken; so bot wer absichtslos unschuldiges Blut
vergossen hatte, für sich einen Bock dar, und ähnlich flehte
man zum Vater Tiberis, der jährlich seine Opfer erheischte,
sich anstatt der Häupter der Menschen genügen zu lassen an
dreiſsig Zwiebelhäuptern, die man in den Fluſs versenkte.
Geheimniſskrämerei und das sittenlose Mysterienwesen ist dem
italischen Cultus gänzlich fremd und verträgt sich nicht mit
dessen menschlich heiterem und klarem Wesen. Dagegen
[117]RELIGION.
benutzten die Priester, namentlich die Pontifices die Furcht
vor den Göttern dazu um die sittlichen Verpflichtungen einzu-
schärfen, besonders diejenigen, welche im Rechtsweg sich nicht
ausreichend geltend machen lieſsen. So stand auf Abpflügen des
Grenzrains, auf nächtlichen Diebstahl der Feldfrüchte auf dem
Halm, auf das Vergreifen an der Person des Königs auſser
der bürgerlichen Strafe noch der Bannfluch der betreffenden
Gottheit. Aber auch in Fällen, wo die Gemeinde nicht ein-
griff, wie wenn der Mann die Ehefrau, der Vater den verhei-
ratheten Sohn verkaufte; wenn der Sohn oder die Schnur den
Vater oder Schwiegervater schlug; wenn der Schutzvater sei-
nem Gast oder zugewandten Mann das Treuwort brach, mochte
wer das geübt wohl vor dem bürgerlichen Rechte straffrei
ausgehen, aber der göttliche Fluch lastete fortan auf seinem
Haupte. Nicht als wäre ein also Verwünschter (sacer) und
dem Gott Heimgefallener vogelfrei gewesen; eine solche aller
bürgerlichen Ordnung zuwiderlaufende Acht ist in Rom nur
ausnahmsweise während der politischen Kämpfe als Schärfung
des Bannfluchs vorgekommen und folgt auch gar nicht aus
jenem Fluch, dessen Ausführung nicht der bürgerlichen Ge-
richtsbarkeit, geschweige denn dem einzelnen Bürger, auch
nicht den machtlosen Priestern, sondern einzig den Göttern
selber zusteht. Aber der fromme Volksglaube, auf dem dieser
Bannfluch fuſst, wird in älterer Zeit mächtig gewesen sein
selbst über leichtsinnige und böse Naturen.


Also war und wirkte die römische Religion, in ihrer
reinen und ungehemmten durchaus volksthümlichen Entwick-
lung. Es thut ihrem nationalen Charakter keinen Eintrag,
daſs seit ältester Zeit Weisen und Wesen der Gottesverehrung
vom Auslande her herübergenommen wurden; so wenig als
die Schenkung des Bürgerrechts an einzelne Fremde den rö-
mischen Staat denationalisirt hat. Daſs man von Alters her
mit den Latinern die Götter tauschte wie die Waaren, ver-
steht sich; bemerkenswerther ist die Uebersiedlung von nicht
stammverwandten Göttern und Gottesverehrungen. Ob der-
gleichen aus Etrurien entlehnt worden sind, ist zweifelhaft;
denn die Lasen, die ältere Bezeichnung der Genien (von
lascivus) und die Minerva, die Göttin des Gedächtnisses (mens,
menervare
), welche man wohl als ursprünglich etruskisch zu
bezeichnen pflegt, sind vielmehr in Latium heimisch. Sicher
ist es auf jeden Fall, und paſst auch wohl zu allem was wir
sonst wissen vom römischen Verkehr, daſs früher und ausge-
[118]ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
dehnter als irgend ein anderer ausländischer der griechische
Cult in Rom Berücksichtigung fand. Den ältesten Anlaſs
gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der römischen
Götter beschränkte sich auf Ja und Nein; während seit ural-
ter Zeit die redseligeren Griechengötter Rathschläge ertheilten
zur Abwendung des Unheils. Solche Rathschläge in Vorrath
zu haben waren die Römer schon gar früh bemüht, und
Abschriften der Blätter der kymaeischen Sibylle waren deſs-
halb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde
aus Campanien, zu deren rechter Benutzung das Collegium
der Orakelbewahrer, das dritte unter den drei höchsten, von
der Gemeinde bestellt ward, auch von derselben zwei griechi-
sche Sclaven zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuchs an-
geschafft wurden. Ebenso geht die Befragung des delphischen
Apollon durch rathsuchende Römer in ferne Zeit zurück, wie
dies die älteste römische Form des Namens Aperta, der Er-
öffner, eine etymogologisirende Entstellung des dorischen
Apellon, eben durch ihre Barbarei verräth. Auch die Schiffer-
götter, Kastor und Polydeukes oder römisch Pollux, ferner die
Heilgötter, Asklapios oder Aesculapius, wurden aus nahelie-
genden Gründen den Römern früh bekannt, wenn gleich
deren öffentliche Verehrung erst später begann; eher möchte
der Name des Festes der ‚guten Göttin‘ (bona dea) Damium,
entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον, in diese
Epoche zurückreichen. — Indessen sind diese einzelnen
Entlehnungen aus dem Ausland von geringer Bedeutung und
ebenso unbedeutend und verschollen die Trümmer des Na-
tursymbolismus der Urzeit, wie etwa die Sage von den
Rindern des Cacus eines sein mag; im Groſsen und Gan-
zen ist die römische Religion eine organische Schöpfung
des Volkes, bei dem wir sie finden, dem sie die Begriffe
zwar verkörpert, aber dennoch in vollständiger Durchsichtig-
keit darstellte. Den Dichter freilich und den Künstler konnten
diese Götter nicht begeistern wie die griechischen mit ihrer
freien und persönlichen Existenz und ihrem eigenen Charakter
und Schicksal, und der oberflächlichen Betrachtung mochte
jene durchsichtige Welt flach erscheinen, wie die Tiefe des
klaren Stroms das Auge täuscht. Aber wie die Christen des
ersten Jahrhunderts frömmer waren als Raphael und seine
Zeitgenossen, so liegt auch in dem geistigen und dem Bilder-
wesen abgewandten römischen Cult eine tiefere Frömmigkeit
als in dem sinnlichen Treiben der Griechen.


[119]RELIGION.

Die sabellische und umbrische Gottesverehrung beruht,
nach dem Wenigen zu schlieſsen das wir davon wissen, auf
ganz gleichen Grundanschauungen wie die latinische mit local
verschiedener Färbung und Gestaltung. Daſs sie abwich von
der latinischen, zeigt am bestimmtesten die Gründung einer
eigenen Genossenschaft in Rom zur Bewahrung der sabinischen
Gebräuche; aber eben sie giebt ein belehrendes Beispiel worin
der Unterschied bestand. Die Vogelschau war beiden Stämmen
die regelmäſsige Weise der Götterbefragung; aber die Titier
schauten nach andern Vögeln als die rammischen Auguren.
Ueberall wo wir vergleichen können, zeigen sich ähnliche
Verhältnisse; die Fassung der Götter als Abstractionen des
Irdischen und ihre unpersönliche Natur sind beiden Stämmen
gemein, Ausdruck und Ritual verschieden. Daſs dem dama-
ligen Cultus diese Abweichungen gewichtig erschienen, ist be-
greiflich; wir vermögen den charakteristischen Unterschied,
wenn einer bestand, nicht mehr zu erfassen.


Aber in den Trümmern, die vom etruskischen Sacral-
wesen auf uns gekommen sind, begegnet uns ein anderer
Geist. Es herrscht in ihnen eine düstere und dennoch lang-
weilige Mystik, Zahlenspiel und Zeichendeuterei und jene feier-
liche Inthronisirung des reinen Aberwitzes, die zu allen Zeiten
ihr Publicum findet. Wir kennen zwar den etruskischen Cult
bei weitem nicht in solcher Vollständigkeit und Reinheit wie
den latinischen, aber mag die spätere Grübelei auch manches
erst hineingetragen haben und mögen auch gerade die düstern
und phantastischen, von dem latinischen Cult am meisten sich
entfernenden Sätze uns vorzugsweise überliefert sein, wie denn
in der That beides nicht wohl zu bezweifeln ist, so bleibt
immer noch genug übrig um die Mystik und Barbarei dieses
Cultes als im innersten Wesen des etruskischen Volkes begrün-
det zu bezeichnen. — Der etruskischen Religionsphilosophie
ist die Welt endlich. Die Welt mit ihren Göttern wird, wie
sie entstanden ist, so wieder vergehen nach Ablauf eines be-
stimmten Zeitraums, dessen Abschnitte die Saecula sind; über
ihr walten die verhüllten Götter, die der etruskische Iupiter
selber befragt. So suchte man dort nach dem Urgrund des
Seins trotz den modernen Philosophen. Die etruskischen
Götter selbst in ihrem charakteristischen Unterschied von den
latinischen sind weniger bekannt; aber bestimmt treten unter
ihnen die bösen und schadenfrohen in den Vordergrund, wie
denn auch der Cult grausam ist und namentlich das Opfern
[120]ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
der Gefangenen einschlieſst — so schlachtete man in Caere
die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Römer.
Statt der stillen in den Räumen der Tiefe friedlich schaltenden
Welt der abgeschiedenen ‚guten Geister‘, wie die Latiner sie
sich dachten, erscheint hier eine wahre Hölle, in die die
armen Seelen zur Peinigung durch Schlägel und Schlangen ab-
geholt werden von dem Todtenführer, einer wilden halbthieri-
schen Greisengestalt mit Flügeln und einem groſsen Hammer;
einer Gestalt, die man später in Rom bei den Kampfspielen
verwandte um den Mann zu costumiren, der die Leichen der
Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit
diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, daſs es
sogar eine Erlösung daraus giebt, die nach gewissen geheim-
niſsvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen
Götter. Es ist merkwürdig, daſs um ihre Unterwelt zu be-
völkern, die Etrusker früh von den Griechen deren finsterste
Vorstellungen entlehnten, wie denn die acheruntische Lehre
und der Charun eine groſse Rolle in der etruskischen Weis-
heit spielen. — Aber vor allen Dingen beschäftigt den Etru-
sker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Römer ver-
nahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Götter; allein
ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und er-
kannte nur im Allgemeinen, ob die Handlung Glück oder
Unglück bringen werde. Störungen im Laufe der Natur gal-
ten ihm als unglückbringend und hemmten die Handlung, so
Blitz und Donner die Volksversammlung, und man suchte
sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Miſsgeburt schleunigst
getödtet ward. Aber jenseit der Tiber begnügte man sich
damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und
aus den Eingeweiden der Opferthiere dem gläubigen Mann
seine Zukunft bis ins Einzelne heraus und je seltsamer
die Göttersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder,
desto sicherer gab er an, was es verkünde und wie man das
Unheil etwa abwenden könne. So entstand die Blitzlehre, die
Haruspicin, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der
ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Ver-
standes, namentlich die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von
Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann
bei Tarquinii war ausgepflügt worden, Tages genannt — man
sollte meinen, er sei eigens erfunden um das zugleich kindische
und altersschwache Treiben zu persiffliren — also Tages hatte
sie zuerst den Etruskern verrathen und war dann sogleich ge-
[121]RELIGION.
storben. Seine Schüler und Nachfolger lehrten, welche Götter
Blitze zu schleudern pflegten; wie man am Quartier des Him-
mels und an der Farbe den Blitz eines jeden Gottes erkenne;
ob der Blitz einen dauernden Zustand andeute oder ein ein-
zelnes Ereigniſs und wenn dieses, ob dasselbe ein bestimmt
datirtes sei oder durch Kunst sich vorschieben lasse bis zu
einer gewissen Grenze; wie man den eingeschlagenen Blitz
bestatte oder den drohenden einzuschlagen zwinge, und der-
gleichen wundersame Künste mehr, denen man gelegentlich
die Sportulirungsgelüste anmerkt. Wie tief dies alles dem
römischen Wesen widerstand, zeigt, daſs, selbst als man später
in Rom es benutzte, doch nie ein Versuch gemacht ward es
einzubürgern; in dieser Epoche genügten den Römern wohl
noch die einheimischen und die griechischen Orakel. Sie
hatten nichts gemein mit einander, die italische Religion des
freudigen Vertrauens und die etruskische der bangen Furcht.


[[122]]

KAPITEL XIII.



Ackerbau, Gewerbe und Handel.


Ackerbau und Handel sind so innig verwachsen mit der
Verfassung und der äuſseren Geschichte der Staaten, daſs
schon bei deren Schilderung vielfach auf dieselben Rücksicht
genommen werden muſste. Es soll hier versucht werden
anknüpfend an jene einzelnen Betrachtungen die italische,
namentlich die römische Oekonomie zusammenfassend und
ergänzend zu schildern.


Der Feldbau ist der Grundpfeiler aller italischen Staaten
gewesen, der sabellischen und etruskischen nicht minder als
der latinischen. Daſs der Uebergang von der Weide- zur
Ackerwirthschaft jenseit der Einwanderung der Italiker in die
Halbinsel fällt, ward schon bemerkt. Der Ackerbau bestand
in Italien lange, ehe man das Eisen schmelzen lernte; denn
der heilige Pflug, mit dem man die Furche zog um darauf
den Mauerring zu errichten, in welchem die Bauern Schutz
finden sollten vor dem feindlichen Ueberfall, hatte eine
kupferne Schaar. — Daſs namentlich in Rom, über dessen
agrarische Verhältnisse sich allein mit einiger Bestimmtheit
sprechen läſst, nicht bloſs der Schwerpunct des Staates ur-
sprünglich in der Bauerschaft lag, sondern auch dahin gear-
beitet ward die Gesammtheit der Ansässigen immer festzu-
halten als den Kern der Gemeinde, zeigt am klarsten die
servianische Reform, welche nur hervorgerufen sein kann
durch das Miſsverhältniſs, daſs im Laufe der Zeit ein groſser
Theil des römischen Grundbesitzes in die Hände von Nicht-
[123]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
bürgern gelangt war und daſs also die Rechte und Pflichten
der Bürgerschaft nicht mehr auf der Ansässigkeit ruhten. Die
reformirte Verfassung beseitigte diese Gefahr nicht bloſs für
einmal, sondern für alle Folgezeit, indem sie die Gemeinde-
glieder ohne Rücksicht auf ihre politische Stellung ein für
allemal schied in ‚Ansässige‘ und ‚Kindererzieler‘ und auf
jene die gemeinen Lasten legte, denen die gemeinen Rechte
im natürlichen Lauf der Entwicklung nachfolgen muſsten.
Auch die ganze Kriegs- und Eroberungspolitik der Römer
war ebenso wie die Verfassung basirt auf die Ansässigkeit;
wie im Staat der ansässige Mann allein galt, so hatte der
Krieg den Zweck den noch nicht ansässigen Leuten Besitz
zu verschaffen. Nicht Kriegscontribution oder festen Zins
legte man der überwundenen Gemeinde auf, sondern die Ab-
tretung eines Theils, gewöhnlich eines Drittels, ihrer Feld-
mark, wo dann regelmäſsig römische Bauerhöfe entstanden.
Viele Völker haben gesiegt und erobert wie die Römer; aber
keines hat gleich ihnen den gewonnenen Boden also im
Schweiſse seines Angesichts sich zu eigen gemacht und was
die Lanze gewonnen hatte, mit der Pflugschaar zum zweiten-
mal erworben. Was der Krieg gewinnt, kann der Krieg wie-
der entreiſsen, aber nicht also die Eroberung, die der Pflüger
macht; die Römer haben viele Schlachten verloren, aber kaum
je bei dem Frieden römischen Boden abgetreten. — Dieser
energisch colonisirenden Eroberungspolitik zur Seite geht das
strengste politische Centralisirungssystem; die neuen Ansied-
lungen wurden nicht selbstständige Gemeinden, das heiſst vor-
läufig Clienten und künftig Rivale, sondern es wuchs die rö-
mische Stadtgemeinde um so viel ansässige Bürger, als Land-
loose neu waren ausgelegt worden. Selbst wo es factisch
unvermeidlich war eine städtische Ansiedlung zu gestatten,
wie zum Beispiel an dem Hafenplatz der Tibermündung,
ging man hiervon nicht ab; schon dieser Zeit gehört der ge-
niale Gedanke der Bürgercolonie, das heiſst einer factischen
Stadtgemeinde, die rechtlich unselbstständig ist und willenlos
in der Hauptstadt aufgeht; die im Staate steht wie im Ver-
mögen des Vaters das Peculium des Sohnes. In der Beherr-
schung der Erde liegt die Kraft des Mannes und des Staates;
die Gröſse Roms ist gebaut auf die ausgedehnteste und un-
mittelbarste Herrschaft der Bürger über den Boden und auf
die geschlossene Einheit dieser also festgegründeten Bauer-
schaft.


[124]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.

Die Theilung des Ackerlandes vermögen wir nicht mehr ge-
nau zu erkennen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs in ältester
Zeit die gesammte Mark gemeinschaftlich bestellt ward, wie denn
Zusammenwohnen und Wirthschaften der Theilbesitzer bis in
die späteste Zeit in Rom sehr häufig vorkam; dieser Zeit mag
das älteste Maſs des ‚Sondereigenthums‘ (heredium von herus),
von 2 Iugeren (2 preuſsische Morgen) angehören, welches
das Gartenland gewesen sein wird, das der Einzelne mit
seinen Händen bestellte. In dieser Epoche bestand also die
Hauptmasse des Sondergutes nicht in Grundbesitz, sondern
in Sclaven und Vieh, von wo sich die uralte Bezeichnung des
Privatvermögens als ‚Sclaven- und Viehbestand‘ (familia pecu-
niaque
) herschreibt, sowie die Feststellung der Form der Eigen-
thumsübertragung durch Kupfer und Wage, die eigentlich für
Immobilien nicht paſst. Indeſs wenigstens schon bei Einfüh-
rung der servianischen Verfassung finden wir den gemeinen
Acker aufgetheilt und nur die Weide, namentlich die Schaf-
weide im ungetheilten Besitze der Gemeinde gelassen. Welches
Ackermaſs jetzt als Vollhufe galt, ist zwar nicht gelungen zu
bestimmen; indeſs geht aus dem Organismus der servianischen
Verfassung mit Bestimmtheit hervor, daſs die mittleren Bauer-
stellen, die einer Familie zu thun und zu leben gaben und
das Halten von Ackervieh so wie die Anwendung des Pfluges
gestatteten, die durchschnittliche Masse ausmachten, so daſs
weder eine übermäſsige Zerstückelung des Grundbesitzes statt-
fand noch auch die gröſseren Grundbesitzer ein schädliches
Uebergewicht gewannen. Die herkömmliche Nutzungsweise
der groſsen Güter ist in dieser Zeit, wo eine ausgedehnte
Weidewirthschaft wohl nur auf der Gemeinweide stattfand, die
Verpachtung in kleinen Parzellen gegen Abgabe eines Theils,
in späterer Zeit nicht selten bis zu vier Fünfteln der gewon-
nenen Früchte; wie sie noch jetzt in Italien allgemein ist.
Die Pächter waren theils zugewandte Leute, theils Knechte
des Grundherrn, die der Herkunft nach sich jenen im Ganzen
ebenbürtig fühlen mochten; etruskische, sabinische und volski-
sche Kriegsgefangene und deren Descendenz müssen in dieser
Epoche die Hauptmasse der römischen Sclavenschaft gebildet
haben. Das Verhältniſs zwischen dem freien Pächter und dem
Verpächter, das sogenannte Precarium, beruhte weniger auf
dem Recht, als auf Treue und Glauben; es bestand kein
Rechtsmittel weder um den Pächter im Besitz zu schützen
noch um dem Verpächter zu seiner Fruchtquote zu verhelfen,
[125]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
und jederzeit konnte der Pächter die Pacht aufgeben oder
der Verpächter den Pächter ausweisen. Aus dieser Art der
Bewirthschaftung erklärt sich, weſshalb aus den reichen Guts-
besitzern in Rom ein Land-, kein Stadtadel entstanden ist;
denn sie fesselte, da die verderbliche Institution der Mittels-
männer den Römern fremd blieb, den Gutsherrn fast nicht
weniger an den Grundbesitz als den Pächter. Sein Haus war
der Bauernhof; in der Stadt hatte er nur ein Quartier, seine
Geschäfte zu besorgen und während der heiſsen Zeit dort die
Villeggiatur zu halten. Ferner ist es bemerkenswerth, daſs
durch diese Institution auch ein groſser Theil der nicht an-
sässigen Leute, der Clienten, Freigelassenen und Knechte
factisch Haus und Hof empfing und verwaltete; wodurch die
Unsittlichkeit und Gefährlichkeit dieser abhängigen Verhält-
nisse wesentlich gemildert ward. Der römische Knecht hatte
zwar nicht rechtlich, aber in der Regel doch thatsächlich Land
und Vieh, Weib und Kinder wie der Gutsherr und die Mög-
lichkeit sich frei zu arbeiten lag ihm nicht fern. Dann aber
fand sich in dieser ackerbauenden und eigenthumslosen Be-
völkerung das rechte Material für die römische Colonisations-
politik, welche ohne dies nimmermehr gelingen konnte; denn
es baut nicht wer da will den Acker mit eigener Hand und
der Staat kann wohl dem Landmann Land verleihen, aber
nicht dem Handwerker den Muth und die Kraft geben um die
Pflugschaar zu führen. Sonach war der groſse Grundbesitz,
der verhältniſsmäſsig eben so vielen Familien eine wenn auch
geringere Existenz verschaffte wie der mittlere und kleine,
keineswegs der Vermehrung der Bürgerschaft hinderlich und
für den Staat vom wesentlichsten Nutzen, indem ihm in den
verhältniſsmäſsig hoch und frei gestellten Herrn die natür-
lichen Leiter und Regierer der Gemeinde erwuchsen, in den
Pächtern die Pflanzschule für seine Colonien. — Daſs bei der
freien Theilbarkeit des Eigenthums es an Insten und Garten-
besitzern nicht fehlen konnte, bei denen der Karst an die
Stelle des Pfluges trat, versteht sich von selbst. Die allzu-
groſse Zerstückelung des Bodens zu verhüten bediente man
sich nicht einer Beschränkung der freien Disposition durch einen
gesetzlichen Machtspruch, sondern zum Theil der Ausführung
von Colonisten, welche regelmäſsig die Gründung einer Anzahl
neuer Vollhufen zur Folge hatte und häufig wohl auch die Ein-
ziehung einer Anzahl Instenstellen veranlaſste; theils überlieſs
man die Beschränkung der Bodentheilung der Gewohnheit und
[126]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.
der Einsicht des Volkes, und mit Grund; denn daſs die Landloose
regelmäſsig zusammenblieben, beweisen ihre feststehenden Indi-
vidualnamen. Sehr häufig blieben die Miterben in ungetheiltem
Besitz des Erbguts; doch sorgte schon das älteste Recht dafür,
daſs diese Gemeinschaft zu jeder Zeit von jedem Theilhaber
beliebig aufgelöst und die factische Auftheilung durchgeführt
werden könne. Es ist gut, wenn Brüder friedlich zusammen-
wohnen; aber sie dazu zu nöthigen ist dem liberalen Geiste
des römischen Rechts fremd. Gegen schlechte Wirthschafter
sicherte man die Anerben nicht durch Feststellung der Erb-
gutsqualität der Grundstücke, sondern dadurch, daſs man
ihnen, jedoch nur wenn ererbtes Vermögen leichtsinnig ver-
schleudert ward, gestattete den Verschwender vom Gericht für
wahnsinnig erklären und also unter Vormundschaft stellen zu
lassen. Den Frauen war überdies das eigene Verfügungsrecht
im Wesentlichen entzogen; wenn sie sich verheiratheten, gab
man ihnen regelmäſsig einen Geschlechtsgenossen zum Mann,
damit das Gut zusammenbliebe. Auſserdem hatten eine Reihe
Sacralvorschriften zum Zweck die Pflege und den Schutz des
Acker- und Weinbaus, zum Beispiel das Verbot von unbe-
schnittenen Reben gewonnenen Wein den Göttern darzubrin-
gen. — Der Ueberschuldung des Grundbesitzes beugte das
Recht dadurch vor, daſs es den Uebergang desselben vom
Schuldner auf den Gläubiger in jeder möglichen Weise theils
geradezu vorschrieb — so bei der Hypothekarschuld — theils,
wie beim einfachen Darlehen, durch ein strenges Executionsver-
fahren sehr erleichterte; doch bewährte sich das letztere Mittel
nur unvollkommen. — Was die Weise der Production selbst
betrifft, so genügen für den gegenwärtigen Zweck darüber wenige
Andeutungen. Die Feldbestellung beschränkte sich vorzugsweise
auf den Korn-, das heiſst den Speltbau; die Pflege des Wein-
stocks ist wohl auch früh aufgekommen, aber doch verhältniſs-
mäſsig, wenigstens in Latium, bedeutend jünger. Das Getreide
war die regelmäſsige Nahrung; eine selbstständige Viehwirthschaft
zur Gewinnung des Fleisches oder der Milch bestand schwer-
lich in groſsem Umfang, wenn man nicht das auf die gemeine
Weide aufgetriebene Kleinvieh dahin rechnen will. Sonst hielt
man im Allgemeinen das Vieh nur zur Bestellung des Bodens,
den Stier, auch die Kuh zum Pflügen, Pferde, Esel und Maul-
thiere zum Tragen der Lasten. Daſs Schweine und Geflügel,
besonders Gänse daneben gehalten und der Gartenbau nicht
vernachlässigt ward, bedarf kaum der Bemerkung. Im Ganzen
[127]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
ward der Ackerbau, bei aller in seinem Wesen liegenden
Stabilität, doch intensiv und intelligent getrieben; die gemüth-
liche Anhänglichkeit an die ererbte Scholle und an die mit ihr
überkommene Weise der Bestellung ist dem praktischen Italiener
fremd. So mag namentlich das Berieselungssystem schon früh
eingeführt sein und mit den ersten Anfängen der römischen
Wissenschaft finden wir gleich eine theoretische Behandlung des
Ackerbaus. Für den Römer, auch für den reichen, galt es, sagt
Cato, als das höchste Lob ein guter Bauer zu heiſsen.


Daſs der Ackerbau in Rom wohl das erste und ausge-
dehnteste Gewerbe war, daneben aber andere Zweige der In-
dustrie nicht gefehlt haben, folgt schon aus der frühen Ent-
wicklung des städtischen Lebens in diesem Emporium der
Latiner, und in der That werden unter den Institutionen des
Königs Numa, das heiſst unter den seit unvordenklicher Zeit
in Rom bestehenden Einrichtungen acht Handwerkerzünfte
aufgezählt: der Flötenbläser, der Goldschmiede, der Kupfer-
schmiede, der Zimmerleute, der Walker, der Färber, der
Töpfer, der Schuster — womit wohl in der That für die
älteste Zeit, wo man das Brotbacken und die gewerbmäſsige
Arzneikunst noch nicht kannte und die Frauen des Hauses
die Wolle zu den Kleidern selber spannen, der Kreis der auf
Bestellung für fremde Rechnung arbeitenden Gewerke im
Wesentlichen erschöpft sein wird. Für das städtische Leben
Roms und seine Stellung zu der latinischen Landschaft müssen
diese Gewerkschaften in der ältesten Periode von groſser Be-
deutung gewesen sein, die nicht abgemessen werden darf nach
den späteren durch die Masse der für den Herrn oder auf
seine Rechnung arbeitenden Handwerkersclaven und die stei-
gende Einfuhr von Luxuswaaren gedrückten Verhältnissen des
römischen Handwerks. Vom Waffenrecht indeſs blieben diese
Industriellen durchgängig ausgeschlossen, auſser insofern aus
den Zimmerleuten, den Kupferschmieden und gewissen Klassen
der Musikanten eigene militärisch organisirte Abtheilungen dem
Heer beigegeben wurden, und in Folge dessen behielten die
Gewerke eine politisch untergeordnete Stellung. Die Einrich-
tung der Zünfte hatte ohne Zweifel denselben Zweck wie die
der auch im Namen ihnen gleichenden Priestergemeinschaften;
die Sachverständigen thaten sich zusammen, um die Tradition
fester und sicherer zu bewahren. Daſs unkundige Leute in
irgend einer Weise ferngehalten wurden, ist wahrscheinlich;
doch finden sich keine Spuren weder monopolistischer Ten-
[128]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.
denzen noch dagegen angewandter Schutzmittel — freilich
sind über keine Seite des römischen Volkslebens die Nach-
richten so völlig versiegt wie über die Gewerke.


Daſs der italische Handel sich in der ältesten Epoche auf den
Verkehr der Italiker unter einander beschränkt hat, versteht sich
von selbst. Das hohe Alter der römischen Messen (mercatus),
die wohl zu unterscheiden sind von den gewöhnlichen Wochen-
märkten (nundinae), beweist die sehr früh, nämlich vor dem
Abkommen des k, dafür in der römischen Schrift festgestellte
Abkürzung; sie mögen sich ursprünglich nicht, wie es später
üblich war, an die Spiele angeschlossen haben, sondern stan-
den wohl in Verbindung mit der Festfeier in dem Bundes-
tempel auf dem Aventin, wozu jedes Jahr am 13. August die
Latiner nach Rom kamen und diese Gelegenheit zugleich be-
nutzten zu Erledigung der Prozesse und zum Einkauf ihres
Bedarfs. Aehnliche und vielleicht noch gröſsere Bedeutung
hatte für Etrurien die jährliche Landesversammlung am Tem-
pel der Voltumna (vielleicht bei Montefiascone) im Gebiet von
Volsinii, welche zugleich als Messe diente und auch von rö-
mischen Kaufleuten regelmäſsig besucht ward. Aber die be-
deutendste unter allen italischen Messen war die, welche am
Soracte im Hain der Feronia abgehalten ward, in einer Lage,
wie sie nicht günstiger zu finden war für den Waarentausch
unter den drei groſsen Nationen. Der hohe einzeln stehende
Berg, der wie von der Natur selbst mitten in die Tiberebene
den Wanderern zum Ziel hingestellt erscheint, liegt an der
Grenzscheide der etruskischen und sabinischen Landschaft, zu
welcher letzteren er meistens gehört zu haben scheint, und
ist auch von Latium und Umbrien aus mit Leichtigkeit zu
erreichen; regelmäſsig erschienen hier die römischen Kauf-
leute und Verletzungen derselben führten manchen Hader mit
den Sabinern herbei. — Ohne Zweifel handelte und tauschte
man auf diesen Messen lange bevor das erste griechische oder
phoenikische Schiff in die Westsee eingefahren war; man half
sich aus mit Korn und Wein und das kupferarme Latium
bezog hier seinen Bedarf von den reichen Metallschätzen
Etruriens, wofür man gewöhnlich wohl mit Sclaven bezahlte,
deren uralter Export auf das rechte Tiberufer schon erwähnt
ist. Dieser vorhellenischen Epoche des italischen Verkehrs
dürfte, wie später zu zeigen sein wird, die Feststellung der
Zahlzeichen italischer Erfindung und des italischen Duodecimal-
systems angehören und in diesen Bildungen die ältesten Spu-
[129]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
ren des sich noch selbst überlassenen Internationalverkehrs
der italischen Völker vorliegen.


In welcher Art der griechische und der punische Verkehr
auf die unabhängig gebliebenen Italiker einwirkte, wurde im
Allgemeinen schon früher bezeichnet. Fast ganz unberührt
von ihm blieben die sabellischen Stämme, die nur einen ge-
ringen und unwirthlichen Küstensaum inne hatten und was
ihnen von den fremden Nationen zukam, wie zum Beispiel
das Alphabet, nur durch tuskische oder latinische Vermittlung
empfingen; woher denn auch der Mangel städtischer Entwick-
lung bei ihnen rührt. Auch Tarents Verkehr mit den Apulern
und Messapiern scheint in dieser Epoche noch gering gewesen
zu sein. Anders an der Westküste, wo in Campanien Griechen
und Italiker friedlich neben einander wohnten, in Latium und
noch mehr in Etrurien ein ausgedehnter und regelmäſsiger
Waarentausch stattfand. Was die ältesten Einfuhrartikel waren,
läſst sich theils aus den Fundstücken schlieſsen, die uralte
caeritische Gräber ergeben haben, theils aus Spuren, die in
der Sprache und den Institutionen der Römer bewahrt sind,
theils und vorzugsweise aus den Anregungen, die das italische
Gewerbe empfing; denn natürlich kaufte man längere Zeit
die fremden Manufacte, ehe man sie nachzuahmen begann.
Wir können zwar nicht die Grenze bestimmen, welche die
Handwerke vor der Scheidung der Stämme und dann in der
Periode erreichten, wo Italien sich selbst überlassen war; es
mag dahin gestellt bleiben, in wie weit die italischen Walker,
Färber, Gerber und Töpfer von Griechenland oder Phönicien
aus den Anstoſs empfangen oder selbstständig sich entwickelt
haben. Aber sicher kann das Gewerk der Goldschmiede, das
seit unvordenklicher Zeit in Rom bestand, nicht aufgekommen
sein, bevor der überseeische Handel begonnen und in einiger
Ausdehnung Goldschmuck unter den Bewohnern der Halbinsel
vertrieben hatte. So finden wir denn auch in den ältesten
Grabkammern von Caere und Vulci Goldplatten mit eingestem-
pelten geflügelten Löwen und ähnlichen Ornamenten babyloni-
scher Fabrik. Es mag über das einzelne Fundstück gestritten
werden, ob es vom Ausland eingeführt oder einheimische
Nachahmung ist; im Ganzen leidet es keinen Zweifel, daſs in
ältester Zeit an der ganzen Westküste Metallwaaren vom Osten
her eingeführt wurden. Es wird sich später, wo von der
Kunst die Rede sein wird, noch deutlicher zeigen, daſs
die Architektur wie die Plastik in Thon und Metall daselbst
Röm. Gesch. I. 9
[130]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.
in sehr früher Zeit durch griechischen Einfluſs eine mächtige
Anregung empfangen haben, das heiſst daſs die ältesten Werk-
zeuge und die ältesten Muster aus Griechenland gekommen
sind. Einfuhrartikel waren ferner andere Schmucksachen und
Zierrath, wie zum Beispiel Glas- und Bernsteinperlen, welche
letztere freilich auch auf dem Landweg bezogen sein könnten,
Strauſseneier mit gemalten oder eingeschnitzten Sphinxen und
Greifen, und Gefäſse von bläulichem Schmelzglas oder grün-
lichem Thon, nach Material und Stiel wie nach den einge-
drückten Hieroglyphen zu schlieſsen ägyptischen Ursprungs,
in jene Grabkammern mit eingelegt waren; ferner Salben, wie
die dort gefundenen Salbgefäſse von orientalischem Alabaster
— darunter mehrere als Isis geformte — zeigen; Purpur,
Elfenbein und Weihrauch, wie deren uralte Lehnnamen (pur-
pura
= ποϱφύας; scipio = σϰίπων, σϰῆπτϱον, auch wohl
ebur = ἐλέφας; thus = τὸ ϑύος) anzeigen. Ob das Zu-
sammentreffen der Namen für Oel (oleum = ἔλαιον), Wein
(vinum = οἶνος), Flachs (linum = λίνον) aus der alten
Stamm- und Sprachgleichheit sich erklärt oder ob auch diese
Bezeichnungen im Lateinischen den Griechen entlehnt sind,
läſst sich schwer entscheiden; sicher aber sind Spuren des
Verkehrs die auf die Mahlzeiten sich beziehenden Wörter
amphora neben ἀμφοϱεύς und die Kuchennamen lucuns
γλυϰοῦς, placenta πλαϰοῦς, turunda τυϱοῦς, wo die charak-
teristische Bildung aus dem Accusativ Beachtung verdient.
Während diese Wörter aus Griechenland nach Rom gewandert
sind, hat das lateinische patina als πατάνη im sikelischen
Griechisch Aufnahme gefunden. Der barbarische Charakter,
den all diese Verstümmelungen tragen, ist der schlagendste
Beweis ihres hohen Alters, wie denn auch das purpurne Kö-
nigsgewand und der Gebrauch des Weihrauchs beim Opfer in
ganz Italien seit der ältesten Zeit verbreitet gefunden wird.
Auch das attische und kerkyraeische Luxusgeschirr wird früh
von den Italikern gekauft worden sein, wenn gleich die Sitte
den Todten solche Gefäſse mitzugeben erst in der folgenden
Periode aufgekommen zu sein scheint. — Wenn sonach das
älteste Italien so gut wie das kaiserliche Rom seine Luxus-
waaren aus dem Osten bezog, bevor es nach den von
dort empfangenen Mustern selbst zu fabriciren versuchte, so
hatte es zum Austausch nichts zu bieten als seine Rohpro-
ducte, also vor allen Dingen sein Kupfer, Silber und Eisen,
dann Sclaven und Schiffsbauholz, den Bernstein von der Ostsee
[131]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
und, wenn etwa im Ausland Miſsernte eingetreten war, sein
Getreide.


Aus diesem Stande des Waarenbedarfs und der dagegen
anzubietenden Aequivalente ist schon früher erklärt worden,
warum sich der italische Handel in Latium und in Etrurien
so verschiedenartig gestaltete. Alle hauptsächlichen Ausfuhr-
artikel mangelten den Latinern, so daſs sie durchaus einen
Passivhandel führten; wogegen die tuskische Handelsbilanz in
Caere wie in Populonia, in Capua wie in Spina sich noth-
wendig günstiger stellen muſste. Daher der schnell entwickelte
Wohlstand dieser Gegenden und ihre mächtige Handelsstel-
lung; während Latium vorwiegend eine ackerbauende Land-
schaft bleibt. Es wiederholt sich dies in allen einzelnen Be-
ziehungen: die ältesten nach griechischer Art, nur mit ungrie-
chischer Verschwendung gebauten und ausgestatteten Gräber
finden sich in Caere, während die latinische Landschaft kein
einziges Luxusgrab aus älterer Zeit aufweist und hier wie bei
den Sabellern ein einfacher Rasen die Leiche eines Jeden be-
deckte. Die ältesten Münzen, den groſsgriechischen der Zeit
nach wenig nachstehend, gehören Etrurien, namentlich Popu-
lonia; Latium hat in der ganzen Königszeit mit Kupfer nach
dem Gewicht sich beholfen und selbst die fremden Münzen
nicht eingeführt, denn nur äuſserst selten haben dergleichen,
wie zum Beispiel eine von Poseidonia, dort sich gefunden. In
Architektur, Plastik und Toreutik wirkten dieselben Anregungen
auf Etrurien und auf Latium, aber nur dort kommt ihnen
überall das Kapital entgegen und erzeugt ausgedehnten Betrieb
und gesteigerte Technik. Es waren wohl im Ganzen dieselben
Waaren, die man in Latium und Etrurien kaufte, verkaufte
und fabricirte; aber in der Intensität des Verkehrs stand
die südliche Landschaft weit zurück hinter dem nördlichen
Nachbar.


Ein nicht minder bemerkenswerther Unterschied des Ver-
kehrs der Latiner und Etrusker liegt in dem verschiedenen
Handelszug. Ueber den ältesten Handel der Etrusker im
adriatischen Meer können wir kaum etwas angeben als die
Vermuthung, daſs er von Spina und Hatria vorzugsweise nach
Kerkyra gegangen sei. Daſs die westlichen Etrusker sich
dreist in die östlichen Meere wagten und nicht bloſs mit Si-
cilien, sondern auch mit dem eigentlichen Griechenland ver-
kehrten, ward schon gesagt. Auf alten Verkehr mit Attika
deuten nicht bloſs die attischen Thongefäſse, die in den jün-
9*
[132]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.
geren etruskischen Gräbern so zahlreich sind und zu andern
Zwecken als zum Gräberschmuck, wie bemerkt, wohl schon in
dieser Epoche eingeführt wurden, während umgekehrt die
tyrrhenischen Erzleuchter und Goldschalen früh in Attika ein
gesuchter Artikel wurden, sondern bestimmter noch die Mün-
zen. Die Silberstücke von Populonia, fast vollwichtige Di-
drachmen nach solonischem Fuſs und sehr verwandt den
ältesten syrakusanischen Münzen, ehe dort die leichten Tetra-
drachmen aufkamen, sind nachgeprägt einem uralten einerseits
mit dem Gorgoneion gestempelten, andrerseits bloſs mit einem
eingeschlagenen Quadrat versehenen Silberstück, das sich in
Athen und an der alten Bernsteinstraſse im Posenschen ge-
funden hat, und das wahrscheinlich im eigentlichen Griechen-
land geschlagen ist. Daſs auſserdem und seit der Entwick-
lung der karthagisch-etruskischen Seeallianz vielleicht vorzugs-
weise die Etrusker mit den Karthagern verkehrten, ward
gleichfalls schon erwähnt; es ist beachtenswerth, daſs in den
ältesten Gräbern von Caere auſser einheimischem Bronze- und
Silbergeräth vorwiegend orientalische Waaren sich gefunden
haben, welche allerdings auch von griechischen Kaufleuten
herrühren können, wahrscheinlicher aber doch von punischen
Handelsmännern eingeführt wurden. Indeſs darf diesem pu-
nischen Verkehr nicht zu viel Bedeutung beigelegt und na-
mentlich nicht übersehen werden, daſs das Alphabet wie alle
sonstigen Anregungen und Befruchtungen der einheimischen
Cultur von den Griechen, nicht von den Phöniciern nach
Etrurien gebracht sind. — Nach einer andern Richtung weist
der latinische Verkehr. So wenig Gelegenheit wir auch haben
Vergleichungen der römischen und der etruskischen Reception
hellenischer Elemente anzustellen, so zeigen sie doch, wo sie
möglich sind, eine vollständige Unabhängigkeit beider von ein-
ander und es läſst sich sogar noch erkennen, daſs ein anderer
griechischer Stamm auf die Etrusker, ein anderer auf die La-
tiner einwirkte. Am evidentesten tritt dies hervor im Alpha-
bet; das nach Etrurien gelangte griechische ist wesentlich
verschieden von dem den Latinern mitgetheilten und während
jenes so primitiv ist, daſs dessen Heimath sich nicht mehr
ausmachen läſst, zeigt dieses genau die Zeichen und Formen,
deren die chalkidischen und dorischen Colonien Italiens und
Siciliens sich bedienten. Aber auch in einzelnen Wörtern
wiederholt sich dieselbe Erscheinung: der römische Pollux,
der tuskische Pultuke sind selbstständige Corruptionen des
[133]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
griechischen Polydeukes; der tuskische Utuze oder Uthuze ist
aus Odysseus gebildet, der römische Ulixes entspricht genau
der in Sicilien üblichen Namensform; ebenso der tuskische
Aivas der altgriechischen Form dieses Namens, der römische
Aiax einer wohl auch sikelischen Nebenform; der römische
Aperta, später Apollo, ist entstanden aus dem dorischen
Apellon, der tuskische Apulu aus Apollon. So deuten Sprache
und Schrift Latiums auf den Zug des latinischen Handels zu
den Kumanern und den Sikelioten; und eben dahin führt
jede andere Spur, die aus so ferner Zeit uns geblieben ist:
die in Latium gefundene Münze von Poseidonia; der Getreide-
kauf bei Miſsernten in Rom bei den Volskern, Kumanern und
Sikelioten, daneben freilich auch wie begreiflich bei den
Etruskern; vor allen Dingen aber das Verhältniſs des latini-
schen Geld- und Creditwesens zu dem sicilischen. Wie die
locale dorisch-chalkidische Bezeichnung der Silbermünze νό-
μος, das sicilische Maſs ἡμίνα waren in gleicher Bedeutung
nach Latium übergingen, so waren umgekehrt die italischen
Gewichtbezeichnungen libra, triens, quadrans, sextans, uncia,
die beim Gebrauch des Kupfers nach dem Gewicht an Geldes
Statt dienten, in den corrupten und hybriden Formen λίτϱα,
τϱιᾶς, τετϱᾶς, ἑξᾶς, οὐγϰία schon im dritten Jahrhundert der
Stadt in Sicilien in den gemeinen Sprachgebrauch eingedrungen.
Damit zu vergleichen ist das schon erwähnte Vorkommen
des römischen Handelsdarlehns, des mutuum in der sicili-
schen Landessprache. Ja es ist dieser Verkehr so bedeutend
gewesen, daſs das sicilische Gewicht- und Geldsystem allein
unter allen griechischen zu dem italischen Kupfersystem in
ein festes Verhältniſs gesetzt ward, indem man drei halbe
sicilische Minen gleich zwei römischen Pfunden setzte und
dann nach dem conventionellen Werthverhältniſs des Kupfers
zum Silber von 125: 1, später von 250: 1 eine der halben
Mine Kupfer an Werth entsprechende Silberlitra schlug. Es
kann danach nicht bezweifelt werden, daſs die italischen
Kupferbarren im sicilischen Verkehr zahlreich circulirten.
Während also alles sich vereinigt um den regen Handel der
Latiner mit den kumanischen und noch mehr mit den sici-
lischen Griechen zu documentiren, finden sich für den Ver-
kehr mit anderen Völkern so gut wie gar keine Beweise.
Der Vertrag mit Karthago beweist zwar, daſs römische Schiffe
bis nach Africa und Sardinien kamen, allein daſs er haupt-
sächlich der unter punischer Herrschaft stehenden Sikelioten
[134]ERSTES BUCH. KAPITEL XIII.
wegen von Rom abgeschlossen ist, zeigt die nur für Sici-
lien den römischen Kaufleuten darin zugesicherte vollstän-
dige Rechtsgleichheit; das Ostmeer aber war den Römern
vertragsmäſsig geschlossen. — Fragen wir schlieſslich, wie
dieser Handel geführt ward, ob von italischen Kaufleuten in
der Fremde oder von fremden Kaufleuten in Italien, so
scheinen, wenigstens was Latium anlangt, all die eben
angeführten Spuren für die erstere Annahme zu entspre-
chen. Es ist kaum denkbar, daſs jene latinischen Be-
zeichnungen des Geldsurrogats und des Handelsdarlehns da-
durch in allgemeinen Gebrauch auf der sicilischen Insel
kommen konnten, daſs sicilische Kaufleute nach Ostia gingen
und Kupfer einhandelten gegen Schmuck. Entscheidend ist
aber, daſs der Vertrag mit Karthago wohl dem römischen
Kaufmann im karthagischen Gebiet Rechtsgleichheit oder doch
gewisse Vergünstigungen stipulirt, aber keineswegs dem kar-
thagischen auf römischem Gebiet die Reciprocität. Es soll
natürlich nicht behauptet werden, daſs dem karthagischen
Unterthan und dem befreundeten Griechen der römische
Hafen geradezu verschlossen gewesen wäre. Aber es ist
nur eine consequente Entwicklung der italischen Handels-
politik, daſs man so weit es anging den Handel mit eigenen
Schiffen führte und durch Staatsverträge darauf hinwirkte;
daſs man andrerseits sich dies gefallen lieſs, zeigt nicht min-
der die Einträglichkeit dieses Verkehrs für die Griechen und
Punier wie die achtunggebietende Stellung der italischen See-
mächte. — Was endlich die Personen und Stände anlangt,
durch die dieser Handel in Italien geführt ward, so hat sich
auffallender Weise in Rom nie ein eigener höherer Kauf-
mannsstand entwickelt. Der Grund ist, daſs der Groſshandel
von Anfang an sich in den Händen der groſsen Grundbesitzer
befunden hat — eine Annahme, die nicht so seltsam ist, wie
sie scheint. Daſs in einer von mehreren schiffbaren Flüssen
durchschnittenen Landschaft der groſse Grundbesitzer, der
von seinen Pächtern in Fruchtquoten bezahlt wird, früh in
den Besitz von Barken gelangte, ist natürlich und beglaubigt;
der überseeische Eigenhandel muſste also um so mehr ihm
zufallen, als der groſse Grundbesitzer allein die Schiffe und
in den Früchten die Ausfuhrartikel besaſs. In der That ist
der Gegensatz zwischen Land- und Geldaristokratie den Rö-
mern der älteren Zeit nicht bekannt; die groſsen Grundbe-
sitzer sind immer zugleich die Speculanten und die Capita-
[135]ACKERBAU, GEWERBE UND HANDEL.
listen. Bei einem sehr intensiven Handel wäre allerdings diese
Vereinigung nicht durchzuführen gewesen; allein wie die bis-
herige Darstellung zeigt, fand ein solcher in Rom wohl relativ
statt, insofern der Handel der latinischen Landschaft sich hier
concentrirte, allein im Wesentlichen ward Rom keineswegs
eine Handelsstadt wie Caere oder Tarent, sondern war und
blieb der Mittelpunkt einer ackerbauenden Gemeinde.


[[136]]

KAPITEL XIV.



Maſs und Schrift.


Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die
Welt; durch die Kunst des Schreibens hört die Erkenntniſs
des Menschen auf so vergänglich zu sein wie er selbst ist;
sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm versagte,
Allmacht und Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und
Pflicht den Völkern auch auf diesen Bahnen zu folgen.


Um messen zu können, müssen vor allen Dingen die Be-
griffe der zeitlichen und räumlichen Einheit und des aus gleichen
Theilen bestehenden Ganzen, das heiſst die Zahl und das Zah-
lensystem entwickelt werden. Für jenen Begriff bietet die Natur
als nächste Anhaltspunkte für die Zeit die Wiederkehr der
Sonne und des Mondes oder Tag und Monat, für den Raum
die Länge des Mannesfuſses, der leichter miſst als der Arm,
für das Gewicht die mit ausgestrecktem Arm auf der Hand
schwebend zu haltende Last oder das Pfund (libra, das Schwe-
bende, wie librare zeigt). Zur Fixirung des aus gleichen
Theilen bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand
mit ihren fünf oder die Hände mit ihren zehn Fingern, und
hierauf beruht das Decimalsystem, welches als das älteste und
sämmtlichen Indogermanen ursprüngliche durch die Sprache
sich ausweist. Diese Elemente des Zählens und Messens,
deren Feststellung weit über die Trennung der Stämme zu-
rückreicht, sind von den Italikern lange Zeit im Wesentlichen
unverändert festgehalten worden; es ist dies die Epoche, in
der I, V und X, ohne Zweifel Nachbildungen des Fingers, der
[137]MASS UND SCHRIFT.
offenen Hand und der beiden Hände und die ältesten und
einzig nationalen aller italischen Schriftzeichen, irgendwo auf
der Halbinsel erfunden wurden und sich zu allen auf ihr an-
gesiedelten Stämmen verbreiteten. Decimale Raummaſse, wie
diese Zeichen sie überall voraussetzen, können wir indeſs nur
nachweisen bei dem Stamm, der am ungetrübtesten seine
alterthümlichen Gewohnheiten bewahrte, in dem oskischen
und umbrischen Vorsus, einem Flächenmaſs von hundert Fuſs
ins Gevierte gleich dem griechischen Plethron. Das älteste
römische Zeitmaſs, das wir kennen, ist gleichfalls decimal:
das zehnmonatliche Jahr, welches nichts ist als eine Anwen-
dung des Decimalsystems auf die uralte Rechnung nach Mond-
monaten. Der Tag blieb sehr lange die kleinste Einheit
— die Eintheilung in Stunden ist erst durch die alexandrini-
schen Sonnenuhren festgestellt worden — und es erklärt sich
daher, daſs späterhin der Anfang des Tages von den Römern
auf die Mitternacht, von den Sabellern und Etruskern auf
Mittag festgesetzt wurde. Sonnenauf- und Untergang, später
auch Mittag und die Mittzeiten zwischen Morgen und Mittag,
Mittag und Abend wurden nach unmittelbarer Beobachtung
abgerufen. Wie viele Tage auf den Mondmonat gingen, be-
stimmte man nicht durch Rechnung, sondern gleichfalls durch
unmittelbare Beobachtung; den Neumond rief der Priester
öffentlich aus (kalendae, Ausrufetag), worauf dann das erste
Viertel (nonae) und acht Tage nach diesem der Vollmond
(idus, vielleicht Scheidetag) folgten; die Zwischentage zwischen
Voll- und Neumond zählte man nach uralter über die Scheidung
der Stämme zurückgehender Sitte nicht von dem letztverflosse-
nen Epochentag vor-, sondern von dem nächstfolgenden rück-
wärts. Dieser Mondmonat war also der synodische von der mitt-
leren Dauer von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten, statt dessen
man der Kürze wegen einen ‚Kreis‘ (annus) von zehn Monaten
setzte *; alleindie astronomische Einheit blieb immer der Monat
und es war nicht einmal möglich bei jenem zehnmonatlichen
Jahr den Monaten Individualnamen zu geben. Es bedarf keiner
Bemerkung, daſs man daneben die Jahreszeiten unterschied und
nach diesen die Feste normirte; für die Rechnung indeſs diente
lange bloſs der Mondmonat und der Tag.


[138]ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.

Diese ursprüngliche Meſsweise wurde verändert durch
eine merkwürdige Reform, die in dem Zeit- wie in dem Raum-
maſs das Duodecimalsystem feststellend offenbar national ita-
lisch und vor der hellenischen Einwirkung durchgeführt ist.
Ausgegangen ist diese Reform von der Zeit, indem man beo-
bachtet hatte, daſs ungefähr nach zwölf Mondmonaten oder
ungefähr 355 Tagen die Jahreszeiten ihren Kreislauf vollendet
hatten. So gewann man ein wenn auch unvollkommenes Son-
nenjahr, in dem die Monate nun auch individuell bezeichnet
werden konnten — so in Rom der erste als der des Mars,
die drei folgenden als die des Sprossens, Reifens und Ge-
deihens, die sechs nächsten mit ihren Zahlen, endlich die
zwei letzten als die Monate der Oeffnung und der Reinigung.
Daſs nur ein einziger Monat nach dem Namen eines Gottes
benannt ist und zwar nach dem sabinischen Gott der Titier,
legt die Frage nahe, ob diese Einrichtung etwa sabinischen
Ursprungs sein sollte. Diese Namen hatten indeſs nur locale
Geltung; fast jede Gemeinde in Latium hatte ihre eigenen
Monatsnamen und öfters auch abweichende Fristen, wie zum
Beispiel in dem uralten Kalender von Alba Monate von 36
und von 16 Tagen vorkommen, wo also nicht die Neumonde,
sondern Feste oder andere Termine die Grenze der Monate
bezeichneten. Die Mängel dieses Sonnenjahrs glich man eini-
germaſsen aus theils durch Einschaltung eines ‚Arbeitmonats‘
(mercedonius), nach dem Princip daſs 20 Sonnenjahre einer
bestimmten Zahl (wahrscheinlich 247) Mondmonaten entspre-
chen müſsten, theils durch die Beibehaltung der auf sichere
Beobachtung sich gründenden Rechnung nach Mondumläufen
für alle Fälle, wo es auf genaue Zeitbestimmung ankam. Um
endlich auch eine Jahreszählung zu gewinnen, ward an einem
bestimmten Monatstag in einem öffentlichen Gebäude — in
Rom an den Iden des September im Tempel des capitolini-
schen Jupiter — ein Nagel eingeschlagen. — Im Anschluſs
hieran ward nun auch für das Flächenmaſs eine aus dem
Decimal- und Duodecimalsystem zusammengesetzte Einheit von
120 Fuſs ins Geviert (actus) festgestellt und ebenso im Li-
nienmaſs der ‚Fuſs‘, im Gewichtsystem das ‚Gewicht‘ oder das
‚Kupfer‘ (libra, as) in zwölf Zwölftel (unciae) und dieses
Zwölftel wieder in zweimal zwölf Stückchen (scripula) einge-
theilt; im Körpermaſs mögen ähnliche Festsetzungen verschol-
len sein. Dies in den Namen wie in den Verhältnissen ab-
solut ungriechische System finden wir in Latium wie in Etru-
[139]MASS UND SCHRIFT.
rien, wo zum Beispiel die Zwölfzahl in den Zwölfstädtebünden
und die Rechnung nach Idus und Nonen wie die Sitte der
Jahresnägel ebenso vorkommen wie in Rom; wie denn überall
Rechnung und Messung leicht die Volksgrenzen überschreiten.
Daſs es auf einmal und durch bewuſste Schöpfung entstanden
ist, zeigt die innere Geschlossenheit des Systems; Ort und
Zeit sind nicht mehr zu ermitteln, obwohl mehr auf latinischen
Ursprung deutet als auf etruskischen und für das Entstehen
dieser Einrichtung vor der Erfindung der Schreibekunst die
Sitte der Jahresnägel spricht. Daſs der Anfang der etruski-
schen Volksaera, wie es scheint, ins Jahr 1044 vor Christi
gesetzt wird, verdient Beachtung, obwohl man hier wie bei allen
Weltaeren beim Anfang der wirklichen Rechnung eine durch
Speculation gewonnene Anzahl Jahre als verflossen angesetzt
haben wird, so daſs diese Zahl nicht berechtigt den Anfang
der etruskischen Cultur so hoch hinaufzurücken.


Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg
an die italische Westküste eröffnet hatte, war dies nicht ohne
Einfluſs auf das dort übliche Maſssystem. Zwar die Zeitmes-
sung wie das Flächenmaſs blieben unberührt von dem grie-
chischen System; allein das Längenmaſs, das Gewicht und
vor allem das Körpermaſs, das heiſst diejenigen Bestimmun-
gen, ohne welche Handel und Wandel unmöglich ist, empfan-
den den griechischen Einfluſs. Der römische Fuſs, der später
freilich um ein Geringes kleiner war als der griechische, aber
damals entweder wirklich noch gleich war oder doch gleich
geachtet ward, wurde neben seiner römischen Eintheilung in
zwölf Zwölftel auch nach griechischer Art in vier Hand- und
sechzehn Fingerbreiten getheilt; ferner wurde das römische
Gewicht in ein festes Verhältniſs zu dem attischen gesetzt,
welches in ganz Sicilien herrschte, nicht aber in Kyme — ein
bedeutsamer Beweis, daſs der latinische Verkehr vorzugsweise
nach der Insel sich zog; vier römische Pfund wurden gleich
drei attischen Minen oder vielmehr zwei römische Pfund gleich
drei halben Minen (Kupferlitren) gesetzt. Das seltsamste und
buntscheckigste Bild aber bieten die römischen Körpermaſse
theils in den Namen, die aus den griechischen entweder durch
Verderbniſs (amphora, modius nach μέδιμνος, congius aus
χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Uebersetzung (acetabulum
von ὀξύβαφον) entstanden sind, während umgekehrt ξέστης
Corruption von sextarius ist; theils in den Verhältnissen.
Die gewöhnlichsten Maſse sind identisch, für Flüssigkeiten der
[140]ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden
letzteren auch für trockene Waaren; die römische Amphora
ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und
steht zugleich im festen Verhältniſs zu dem griechischen Me-
tretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1.
Lebendig und deutlich ist noch für den, der solche Schrift
zu lesen versteht, in diesen Namen und Zahlen die ganze
Regsamkeit und Bedeutung jenes sicilisch-latinischen Verkehrs
geschrieben. — Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht
auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet,
als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der
drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50, 100 und 1000 zu gestalten.
In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das
Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie
gewöhnlich das Ziffersystem beider Völker ins Gleiche, indem
das römische im Wesentlichen in Etrurien angenommen ward.


Jünger als die Meſskunst ist die Kunst der Lautschrift.
Wie schwierig die erste Individualisirung der in so mannich-
faltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muſs,
beweist am besten die Thatsache, daſs für alle Staaten des an-
tiken Civilisationsgebietes der Mittelmeerstaaten nur ein einziges
Alphabet erfunden worden ist, das von den Erfindern auf die
übrigen Völker übertragen ward. Es sind zwei Epochen zu
unterscheiden in dieser bedeutsamen Schöpfung des Menschen-
geistes. Die semitische Sprache, in der der Vocal untergeord-
neter Natur ist und kein Wort beginnen kann, erleichtert eben
deſshalb die Individualisirung der Consonanten; weſshalb denn
auch hier bei dem regen Schiffervolk der Phoeniker das älteste
Alphabet erfunden worden ist, in dem aber die Vocale noch
mangeln. Den Griechen war es vorbehalten diese zuzufügen,
oder, wie Euripides seinen Palamedes sagen läſst:


Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fügt' ich lautlos' und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.


Dies Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht wor-
den, zwar in sehr früher Zeit, aber dennoch nachdem das
Alphabet schon in Griechenland eine bedeutende Entwicklung
durchlaufen hatte und schon mehrfache Reformen eingetreten
waren, namentlich die Hinzufügung von drei neuen Buchstaben
ξ φ χ und die Abänderung der Zeichen für γ λ ι *. Auch
[141]MASS UND SCHRIFT.
das ist schon bemerkt worden, daſs zwei verschiedene grie-
chische Alphabete nach Italien gelangt sind; das eine mit
doppeltem s (Sigma s und San sch) und einfachem k und
mit der älteren Form des r P nach Etrurien, das zweite
mit einfachem s und doppeltem k (Kappa k und Koppa q)
und der jüngeren Form des r R nach Latium. Die älteste
etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet
sich wie die Schlange sich ringelt, die jüngere schreibt in abge-
setzten Parallelzeilen von rechts nach links, der Römer dagegen
auch in parallelen Linien, aber von links nach rechts. Ueber
die Herkunft des etruskischen Alphabets läſst sich mit Be-
stimmtheit nur sagen, daſs es von Kerkyra und Korinth nicht,
auch nicht von den sikelischen Dorern entlehnt ist; am mei-
sten für sich hat die Herleitung des Alphabets aus dem alt-
attischen, das früher als irgend ein anderes der griechischen
Alphabete das Koppa fallen gelassen zu haben scheint. Ebenso
wenig läſst sich mit Bestimmtheit entscheiden, ob das tuski-
sche Alphabet von Spina oder von Caere aus sich über Etru-
rien verbreitet hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit für das letzte
uralte Entrepot des Handels und der Civilisation spricht. —
Dagegen liegt die Ableitung des lateinischen Alphabets von
dem der kumanischen und sikelischen Griechen offenkundig
vor; ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, daſs hier nicht bloſs
wie in Etrurien eine einmalige Reception stattgefunden hat,
sondern daſs in Folge des lebhaften Verkehrs der Latiner in
Sicilien sie längere Zeit sich mit dem dort üblichen Alphabet
im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben
folgten. So finden wir zum Beispiel, daſs die älteren Formen
Σ und [M] den Römern nicht unbekannt waren, aber die
jüngeren [S] und [M] dieselben im gemeinen Gebrauch ersetz-
ten; was sich nur erklären läſst durch eine dauernde Ausglei-
chung beider Alphabete. Deſshalb ist es auch bedenklich aus
dem verhältniſsmäſsig jüngeren Charakter desjenigen griechi-
schen Alphabets, das nach Rom gelangt ist, in Vergleichung
mit dem nach Etrurien gebrachten den Schluſs zu ziehen,
daſs in Etrurien früher geschrieben worden ist als in Rom.
— Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buch-
stabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie
die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht
ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäſs aus einem der älte-
sten vor Erfindung des Bogens gebauten Gräber von Caere,
worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien
[142]ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
kam, verzeichnet ist, daneben ein daraus gebildetes etruskisches
Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar; offenbar eine
heilige Reliquie der Einführung und Acclimatisirung der Buch-
stabenschrift in Etrurien.


Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets
ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf itali-
schem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hiedurch fällt
ein Lichtstrahl in den italischen Binnenverkehr, der noch weit
mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit
den Fremden. In der ältesten Epoche des etruskischen Al-
phabets, in der man sich im Wesentlichen des eingeführten
Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch dessel-
ben sich auf die Etrusker am Po und in Toscana beschränkt
zu haben; Verzweigungen dieses Alphabets sind alsdann, offen-
bar von Hatria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab
bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später
sogar zu den Kelten an und in, ja jenseit der Alpen gelangt,
so daſs die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und
Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer
Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf
die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung
des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu schei-
den wuſste, und auf die Einführung eines neuen Buchstaben
f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen
mangelte. Diese Reform ist offenbar entstanden bei den west-
lichen Etruskern und hat, während sie sich jenseit des Apennin
nicht verbreitete, dagegen bei sämmtlichen sabellischen Stämmen,
zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert, wo das Alphabet
denn wieder bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno
und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen
Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Theil
verloren, anderswo wieder neue Vocale und Consonanten ent-
wickelt hat. Diese Reform des Alphabets ist nicht bloſs so
alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern
beträchtlich älter, da das erwähnte in einem derselben ge-
fundene Syllabarium das reformirte Alphabet bereits in einer
wesentlich modificirten und modernisirten Gestalt giebt; und
da das reformirte selbst wieder gegen das primitive gehalten
relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurück-
gehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangt ist.
— Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Al-
phabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat
[143]MASS UND SCHRIFT.
sich dagegen das latinische Alphabet auf Latium beschränkt
und im Ganzen mit geringen Veränderungen sich behauptet;
nur fielen γ ϰ und ζ σ allmählich lautlich zusammen, wovon
dann die Folge war, daſs je eins der homophonen Zeichen
(ϰ ζ) aus der Schrift verschwand. Diese waren nachweislich
schon beseitigt, als man die zwölf Tafeln niederschrieb; wer
nun erwägt, daſs in den ältesten Abkürzungen der Unterschied
von γ c und ϰ k noch regelmäſsig durchgeführt ward — wie
denn C· Gaius, CN· Gnaeus ist, K· Kaeso, Kalendae, MERK·
merkatus — daſs also der Zeitraum, wo die Laute in der
Aussprache zusammenfielen, und vor diesem wieder der Zeit-
raum, in dem die Abkürzungen sich fixirten, weit jenseit der
Entstehung der zwölf Tafeln liegt; daſs endlich zwischen der
Einführung der Schrift und der Feststellung eines conventio-
nellen Abkürzungssystems nothwendig eine bedeutende Frist
liegen muſs, der wird wie für Etrurien so für Latium den
Anfang der Schreibkunst in eine Epoche hinaufrücken, die
dem Anfang der beglaubigten ägyptischen Zeitrechnung oder
dem Anfang der Siriusperiode, dem Jahre 1322 vor Christi
Geburt näher liegt als dem Jahre 776, mit dem in Griechen-
land die Olympiadenchronologie beginnt. Für das hohe Alter
der Schreibekunst in Rom sprechen auch sonst zahlreiche und
deutliche Spuren. Die Existenz von Urkunden aus der Königs-
zeit ist hinreichend beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen
Gabii und Rom, den der König Tarquinius (schwerlich indeſs
der letzte) abschloſs und der, geschrieben auf dem Fell des
dabei geopferten Stiers, in dem an Alterthümern reichen wahr-
scheinlich dem gallischen Brande entgangenen Tempel des
Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des Bündnisses,
das König Servius Tullius mit Latium abschloſs, und das noch
Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem
Aventin sah, freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hülfe
eines latinischen Exemplars hergestellten Copie, denn daſs
man in der Königszeit schon in Metall grub, ist nicht wahr-
scheinlich. Aber schon damals ritzte man (exarare, scribere
verwandt mit scrobes) * oder malte (linere, daher littera) auf
Blätter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, album),
später auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen
waren die heiligen Urkunden der Samniten wie der anagnini-
schen Priesterschaft geschrieben, ebenso die ältesten im Tem-
[144]ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
pel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Capitol
bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate, die Vor-
läufer der städtischen Chronik. Es wird kaum noch nöthig
sein zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura),
an die Anrede im Senat ‚Väter und Zugeschriebene‘ (patres
conscripti
), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Ge-
schlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalen-
ders. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal
der Mangel an Documenten hat uns die Kunde der ältesten
römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der
späteren Historiker die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten
und ihre Verkehrtheit nach Schilderung von Motiven und Cha-
rakteren, nach Schlachtberichten und Revolutionserzählungen
in der Tradition zu suchen, und darüber das zu verkennen,
was sie dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verwei-
gert haben würde.


Werfen wir noch einen Blick zurück auf die also bezeich-
nete Geschichte der italischen Schrift, so ist vor allem bemer-
kenswerth die schwache und indirecte Einwirkung des helle-
nischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den west-
licheren Völkern. Daſs jene das Alphabet von den Etruskern,
nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich
daraus, daſs sie das Alphabet erhielten ehe sie den Zug auf
dem Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Sam-
niten also schon bei ihrer Entlassung aus dem Mutterlande das
Alphabet mit sich nahmen. Andererseits enthält diese Ge-
schichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die An-
nahme, welche die spätere der etruskischen Mystik und Alter-
thumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und
welche die neuere und neueste Forschung geduldig wieder-
holt, daſs die römische Civilisation ihren Keim und ihren Kern
aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müſste hier
vor allem eine Spur davon sich zeigen; aber gerade umge-
kehrt findet sich in Latium der Keim der Schreibkunst grie-
chisch, der Entwicklung national; selbst das den Römern so
wünschenswerthe Zeichen f ward nicht aufgenommen, ja wo
Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr
die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen
für 50 entlehnt haben. — Es ist ferner charakteristisch, daſs
in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen
Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht,
gegen welche dann späterhin bei den meisten wiederum eine
[145]MASS UND SCHRIFT.
Reaction eintritt. Die feineren Lautverschiedenheiten, nament-
lich der Mediae und ihrer Tenues, der Sibilanten und einzelner
Vocale wurden von den Einführern des Alphabets, gebildeten
und zweier Sprachen mächtigen Leuten, wohl empfunden, aber
die nachlässige Gewöhnung, wohl auch der allmählich stok-
kende Verkehr mit den Griechen führte mit der Zeit eine
Verschleifung und Verdumpfung der feineren Lautverschieden-
heiten herbei. So sind die Mediae in den sämmtlichen etru-
skischen Dialekten untergegangen, während die Umbrer γ d,
die Samniten d, die Römer γ einbüſsten und diesen auch d
mit r zu verschmelzen drohte; doch kam es dazu nicht und
auch jene Verluste ersetzten die letzten beiden Völker später
wieder durch neu gebildete Zeichen. Ebenso fielen den Etru-
skern schon früh o und u zusammen und auch bei den La-
teinern zeigen sich Ansätze derselben Verderbniſs; doch drang
sie hier nicht durch und selbst unter den sabellischen Stäm-
men, die das Alphabet schon ohne o empfangen hatten, er-
setzte der samnitische später das mangelnde Zeichen. Es
ist charakteristisch, daſs diese Lautzerstörung, von denen
namentlich die erste ganz und gar ungriechisch ist, augen-
scheinlich von Etrurien ausgeht, und daſs sie nicht eintritt
oder wieder aufgehoben wird, wo wie in Latium und später
in Samnium der griechische Einfluſs den etruskischen über-
wiegt. Fast das Umgekehrte zeigt sich bei den Sibilanten;
denn während der Etrusker die drei Zeichen z s sch festhält,
der Umbrer zwar das letzte wegwirft, aber dafür zwei neue
Sibilanten entwickelt, beschränkt sich der Samnite auf s und
z gleich dem Griechen, der Römer sogar auf s allein. Indeſs
wir greifen hier vor; dieser Epoche gehört nur die ursprüng-
lich reine Aufnahme und die allmähliche Trübung des grie-
chischen Lautsystems an, während die Reaction dagegen in
die folgende Epoche und mit den Anfängen des Einflusses
der griechischen Litteratur auf Latium und Samnium zusam-
menfällt.


Röm. Gesch. I. 10
[[146]]

KAPITEL XV.



Die Kunst.


Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang
die Weise; insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik.
Allein zu den poetisch vorzugsweise begabten Nationen gehört
und gehörte die italienische keineswegs; es fehlt dem Italiener
die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht das Menschliche
zu idealisiren und das Leblose zu vermenschlichen ebenso
wie der rechte Sinn für Melodie. Darum bringt er es in der
lyrischen und epischen wie in der höheren dramatischen Dicht-
kunst und nicht minder in der Musik selten über Fertigkeiten.
Sein scharfer Blick und seine anmuthige Gewandtheit lassen
ihm die Causerie und Anekdote in der Art von Horatius und
Boccaccio, den launigen Liebes- und Liederscherz, wie Catullus
und die besten der heutigen Volkslieder ihn zeigen, die nie-
dere Komödie und die Posse, vor allem aber die Rhetorik
und die Schauspielkunst leicht gelingen; und selbst die höch-
sten in Italien gelungenen Leistungen, göttliche Gedichte wie
Dante's Commedia und Geschichtbücher wie Sallustius und
Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer im
Verstande mehr als im Herzen wurzelnden, mehr rhetorischen
als naiven Leidenschaft getragen. — Eigentliche Sagenbildung
ist dem Italiker fremd. Seine Götter sind Begriffe, welche
zu rechter persönlicher Gestaltung überhaupt nicht und am
wenigsten in der frischen Urzeit gediehen und keine Lebens-
geschichte mit Liebesfahrten und Kämpfen entwickelten; die
[147]DIE KUNST.
Menschen, auch die gröſsten und herrlichsten, blieben ihm
doch immer Sterbliche und steigerten sich nicht wie in Grie-
chenland in sehnsüchtiger Erinnerung und liebevoller Pflege
der Ueberlieferung im Geiste der Menge zu göttergleichen
Heroen. So konnte ein Epos nicht entstehen und zur Ge-
schichte war es noch zu früh. — Daſs Lieder nicht fehlten
und gejubelt und gesungen ward, versteht sich. Von den
religiösen Litaneien, die in diesem Kreise zuerst sich fixirten
und die schon den Philologen der augusteischen Zeit als die
ältesten Denkmäler der lateinischen Sprache galten, ist eine
auf uns gekommen in dem Lied der römischen Arvalbrüder,
das wohl auch hier eine Stelle verdient mit der freilich nicht
in allen Stücken gesicherten Uebersetzung:


Enos, Lases, iuvate!
Ne veluerve, Marmar, sins incurrere in pleores!
Satur furere, Mars!
Limen sali!
Sta berber!
Semunis alternis advocapit conctos!
Enos, Marmor, iuvato!
Triumpe! triumpe! triumpe! triumpe! triumpe!
*

  • an die Götter
    • Uns, Lasen, helfet!
    • Nicht die böse Seuche, Mars Mars, laſs einstürmen auf mehrere!
    • Satt sei des Wüthens, Mars!
  • an die einzel-
    nen Brüder
    • Auf die Schwelle springe!
    • Steh ab vom Hüpfen!
  • an alle Brüder
    • Den Semonen, erst ihr, dann ihr, rufet zu, allen!
  • an den Gott
    • Uns, Mars Mars, hilf!
  • an die einzel-
    nen Brüder
    • Juble! juble! juble! juble! juble!

Aus solchen noch wenig fixirten Weisen, wie sie etwa
auch schon vor der Scheidung der Stämme vorgekommen sein
mögen, entwickelte sich ein eigenthümlich italischer Rhythmus,
der sogenannte saturnische Vers, der auf Wechselgesang be-
rechnet und vom Accent beherrscht ist, was übrigens beides
auch in dem Liede der Ackerbrüder schon hervortritt. Das
folgende freilich einer bedeutend späteren Zeit angehörende
Gedicht mag davon eine Vorstellung geben:


10*
[148]ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
Quod ré suá difeidens — ásperé afleicta

Paréns timéns heic vóvit — vólo hóc solúto

Decumá factá poloúcta — leibereis lubéntes

Donú danúnt ⏑ Hérco͡lei — máxsumé ⏑ mére͡to

Semól te͡ oránt se vóti — crébro cón⏑démnes


⏑ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏓ ‖ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏑

Was, Miſsgeschick befürchtend — schwer betroffnem Wohlstand,

Besorgt der Ahn gelobte, — deſs Gelöbniſs eintraf,

Zu Weih' und Schmaus den Zehnten — bringen gern die Kinder

Dem Hercoles zur Gabe — dar, dem hochverdienten;

Sie flehn zugleich dich an, daſs — oft du sie erhörest.

Solche Lieder muſs man sich, wie es scheint, von zwei
Sängern, die in jeder Zeile bei dem Einschnitt wechseln, zur
Flöte vorgetragen denken; beim Festbraten und bei der Wein-
lese, beim Spiel und am Todtenbette. Daſs aus diesem
Wechsellied bei dem eigenthümlichen mimischen Geschick des
Italieners und seiner Lust an Geberdenspiel und Verkleidung
sich sehr bald die Anfänge eines Schauspiels entwickelten, ist
begreiflich; es ist nicht unmöglich, daſs schon in dieser Zeit
sich die stehenden Charaktermasken feststellten, die wir später
bei Latinern und Samniten finden und die den improvisiren-
den Komödianten die Durchführung der Rolle so wesentlich
erleichtern; wie zum Beispiel Maccus der Harlekin, Bucco der
Vielfraſs, Papus der gute Papa, der weise Dossennus, die
man artig mit den beiden Bedienten, dem Pantalon und dem
Doctor der italienischen Pulcinellkomödie verglichen hat.


Wie es gleichzeitig in Etrurien stand, läſst sich noch
viel weniger bestimmen. Daſs auch diesem Volk die poetische
Begabung fehlte und noch in viel höherem Maſse als den Ita-
likern, ist nach dem allgemeinen Charakter der Nation nicht
unwahrscheinlich und wohl mag man auch dafür geltend
machen, daſs Etrurien in der römischen Litteratur fast keinen
anderen namhaften Vertreter hat als den Volaterraner Persius,
das rechte Ideal eines hoffärtigen und mattherzigen der Poe-
sie beflissenen Jungen. Schauspielertrieb herrschte auch hier;
die Fescenninen, im südlichen Etrurien heimisch, scheinen im
Wesentlichen von der italischen Volkskomödie sich nur durch
gröſsere Unbändigkeit unterschieden zu haben. Aber neben
diesen frischen und ehrlichen Späſsen kam in Etrurien früh
eine stumme Pantomime mit Tanz und Gesang auf, welche
[149]DIE KUNST.
von den tuskischen Histrionen und Subulonen zur Profession
gemacht und bald ein in jeder Beziehung gemeines Gewerbe
wurde, das um geringen Lohn und keine Ehre auch in Rom
schon früh mit seinen Vorstellungen auftrat. Auch mag in
Etrurien schon in alter Zeit der Grund gelegt sein zu der
geistlosen Ansammlung gelehrten, namentlich theologischen und
astrologischen Plunders, durch den die Tusker in einer späteren
gesunkenen Epoche, wo der allgemeine Verfall die Zopfgelehr-
samkeit zur Blüthe brachte, mit den Juden und Chaldäern die
Ehre theilten als Urquell göttlicher Weisheit angestaunt zu
werden.


Die hellenische Mittheilung beschränkte auf diesem Ge-
biet sich vermuthlich darauf aus dem reichen griechischen
Sagenschatz den Fremden zu erzählen — wie denn in der
That die altrömischen Corruptionen des Kyklops (Cocles), Lao-
medon (Alumentus), Ganymedes (Catamitus), Neilos (Melus)
von dem Eindruck solcher Erzählungen zeugen und ohne sie
die bereitwillige Aufnahme der griechischen Bildwerke mit
ihren auf dem poetischen Schatz ruhenden Darstellungen nicht
begreiflich sein würde.


Mächtiger trat der griechische Einfluſs auf in der Bau- und
Bildkunst. So wenig zu bezweifeln steht, daſs schon vor der
hellenischen Einwanderung in Italien gebaut und Mauern ge-
fügt wurden, so hat es doch groſse Wahrscheinlichkeit, daſs
die älteren Bauten regelmäſsig Holz- oder Erdwälle waren und
daſs die Steinconstruction erst in Aufnahme kam durch das
Beispiel und die besseren Werkzeuge der Griechen, von denen
die Italiker wohl sicher erst den Gebrauch des Eisens lernten
und jedenfalls das Richtmaſs (groma aus γνώμων γνῶμα)
erhielten. Alle ältesten italischen Steinbauten zeigen die auf-
fallendste Aehnlichkeit mit den ältesten griechischen. Die
uralten Gräber von Caere und Alsion, die vor Erfindung des
Bogens gebaut sind, ersetzen denselben durch über einander
geschobene allmählich einspringende und mit einem groſsen
Deckstein geschlossene Steinlagen, ganz wie in den Thesauren
von Orchomenos. Der Emissar des Albanersees hat die gröſste
Aehnlichkeit mit dem des kopaischen. Die kyklopischen Ring-
mauern, die bald ganz roh aus groſsen unbearbeiteten Stein-
blöcken mit dazwischen eingeschobenen kleineren Steinen,
bald polygon aus in einander greifenden vieleckig zugehaue-
nen Steinblöcken, bald quadratisch in horizontalen Lagen
geschichtet sind und sich in Italien, vorzugsweise in Etrurien,
[150]ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
Latium, Umbrien und der Sabina finden, sind zwar zum
groſsen Theil wahrscheinlich erst in viel späterer Zeit, einige
sicher erst im siebenten Jahrhundert der Stadt errichtet; allein
die Aehnlichkeit namentlich des künstlichen polygonen Baus
mit griechischem Mauerbau kann schwerlich für zufällig ge-
halten werden, während die einfacheren und minder soliden
beiden andern Arten sich eher als selbstständig betrachten
lassen. In der That ist es in Etrurien wieder Pyrgi, das
nebst den zwei nicht sehr weit entlegenen Orten Cosa und
Satunia allein polygone Mauern hat, deren erste Anlage zumal
bei dem bedeutsamen Namen wohl ebenso sicher den Griechen
zugeschrieben werden kann wie die der Mauern von Tirynth.
Caere selbst und die Masse der übrigen etruskischen Städte
sind nicht im polygonen Stil ummauert. Dagegen beherrscht
derselbe Latium und das dahinter liegende Binnenland. Daſs
solche Bauten hier vorkommen, dagegen an der Ostküste, die
den Griechen ferner lag, und im Süden, der ihnen im Ganzen
unterworfen war, sie sich nicht oder doch wenigstens nicht
häufig finden, zeigt eben wieder recht deutlich, daſs die An-
regung zu diesen Bauwerken nicht von den in Italien ange-
siedelten, sondern von den an der Westküste mit den freien
Italikern verkehrenden Griechen kam, aber auch, daſs diese An-
regung weit intensiver auf Latium wirkte als auf Etrurien. —
Ob die lebendige Aneignung dieser dem energischen und rea-
listischen italischen Wesen so congenialen Architektur so weit
ging, daſs der Bogen in Italien erfunden und von da den
Hellenen mitgetheilt ward, läſst sich nicht mehr entscheiden;
denn auch zugegeben, daſs die groſsen hydraulischen Anlagen
der Römer, die Hauptkloake und das Brunnenhaus (tullianum)
am Capitol wirklich die ältesten aller noch erhaltenen Bogen
sind, so können wir, denen so zahlreiche Aktenstücke fehlen,
unmöglich auf die vorhandenen Trümmer hin den Griechen
den Besitz des Bogens in älterer Zeit absprechen, und noch
weniger läſst sich entscheiden, ob man früher in Latium oder
in Etrurien Bogen gebaut hat.


Auch der Tempel, der in der Kaiserzeit der tuscanische
heiſst, wie der des capitolinischen Iupiter in Rom, ist im
Wesentlichen der griechische, das heiſst ein viereckiger oder
runder ganz oder zum Theil von Säulengängen eingefaſster
ummauerter und gedeckter Raum, ursprünglich ein Holz-,
kein Steinbau; nur daſs die Elemente, die zum Beispiel in
dem dorischen Kapitäl und der ionischen Basis getrennt vor-
[151]DIE KUNST.
kommen, hier noch vereinigt erscheinen; die Stile hatten
sich also noch nicht bestimmt geschieden, als diese Ueber-
lieferung stattfand. Das Originelle dabei, namentlich das
spitze weit vorspringende Dach, mochte man dem italischen
strohgedeckten Hause entnehmen, dessen Form, wie albanische
Aschenkisten sie zeigen, dazu recht wohl stimmt; immer vor-
ausgesetzt, was sich schwer wird erweisen lassen, daſs nicht
in jener Zeit auch das griechische Wohn- und Gotteshaus
noch ein spitzes Dach hatte. — Unter den bildenden Künsten
ist die Plastik in Stein durch den Mangel eines geeigneten
Materials sehr zurückgehalten worden; den Marmor von Luna
und Carrara kannte man noch nicht. Dagegen die Metall- und
Thonarbeiten sind in Etrurien, theils in Folge der Thonlager
und Silber- und Kupfergruben des Landes, theils durch den
dort hinströmenden Reichthum früh angeregt worden und
haben eine groſse Entwicklung erlangt. Daſs die tyrrheni-
schen Goldschalen selbst in Attika geschätzt wurden, begreift,
wer den reichen und zierlichen Goldschmuck der südetruski-
schen Gräber gesehen hat; woneben freilich die rohe Arbeit
der Münzen von Populonia auffällt. In noch viel gröſserem
Maſsstab entwickelte sich unter den günstigen Localverhält-
nissen der Kupferguſs; selbst an die Verfertigung groſser Erz-
figuren, von Kolossalstatuen bis zu funfzig Fuſs Höhe wagte
sich der etruskische Künstler, und die capitolinische Wölfin
so wie einzelne Geräthstücke, Helme und Leuchter aus etru-
skischen Gräbern gehören zu den schönsten Werken des alten
strengen Kunststils. Die Thonarbeit endlich, die besonders in
Veii geblüht zu haben scheint, schuf nicht bloſs gröſsere Thon-
figuren und Statuen, sondern entwickelte auch eine eigen-
thümliche Ornamentik, welche Dächer, Giebel und Wände mit
Aufsätzen und Reliefplatten von gebrannter Erde schmückte. Die
Steinschneidekunst scheint nicht zu den ältesten Kunstzweigen
Italiens zu gehören; sie schlieſst sich in Etrurien, wo sie allein
früher aufgekommen ist, an die ursprünglich ägyptische Skara-
baeenform an. — Ebenbürtig neben der bildenden, wenn nicht
ihr überlegen erscheint endlich die zeichnende Kunst, sowohl
die Linienzeichnung, welche in Latium besonders die kupfernen
Putzkästchen, in Etrurien vornämlich die Rückseiten der kupfer-
nen Handspiegel durch ihre zierlichen Umrisse schmückte, als
die monochromatische Malerei, deren Meisterwerke selbst in
der Kaiserzeit in Caere, Rom, Lavinium, Ardea bewundert
wurden und deren handwerkmäſsige Leistungen die ausge-
[152]ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
malten Grabkammern Südetruriens noch heute zeigen. — Daſs
die Uebung und Steigerung dieser verschiedenen Kunstformen
groſsentheils erst den folgenden Perioden angehört und von
den auf uns gekommenen latinischen und etruskischen Kunst-
werken nur ein kleiner Theil während der römischen Königs-
herrschaft entstanden ist, kann nicht bezweifelt werden; allein
die Anregung zu all diesen Kunstrichtungen und Gewerken
ist offenbar in einer Zeit erfolgt, wo die griechische Kunst
noch sehr starr und unentwickelt war und mag der Zeit der
Einführung des Alphabets nicht gar fern stehen. Deſshalb
gehören sie geschichtlich betrachtet in diese Periode.


Versuchen wir geschichtliche Resultate aus diesen Archi-
ven uralter Kunstüberlieferung und Kunstübung zu gewinnen,
so ist zunächst offenbar, daſs die italische Kunst ebenso wie
italisches Maſs und italische Schrift nicht unter punischem,
sondern ausschlieſslich unter hellenischem Einfluſs sich ent-
wickelt hat; es ist nicht eine einzige unter den italischen
Kunstrichtungen, die nicht ihr bestimmtes Musterbild fände
in der altgriechischen Kunst, und insofern hat die Sage ganz
Recht, wenn sie die Einführung der Thonbildnerei in Italien
zurückführt auf die drei griechischen Künstler: den ‚Ordner‘,
‚Zeichner‘ und ‚Bildner‘, Diopos, Eucheir und Eugrammos,
obwohl es mehr als zweifelhaft ist, daſs diese Kunst zunächst
von Korinth und zunächst nach Tarquinii kam. Von unmit-
telbarer Nachahmung orientalischer Kunstformen findet sich
ebenso wenig eine Spur als von einer selbstständig entwickel-
ten Kunstform; selbst die Skarabaeen sind auch in Griechen-
land in sehr früher Zeit nachgeschnitten worden, wie zum
Beispiel ein solcher Käferstein mit sehr alter griechischer In-
schrift sich in Aegina gefunden hat, und können also den
Etruskern recht wohl durch die Griechen zugekommen sein.
Von dem Punier mochte man kaufen; man lernte nur von
dem Griechen. — Von wo die Kunst den Etruskern und
Latinern kam, ist begreiflich noch schwerer zu bestimmen als
die Heimath der Alphabete; doch ist eine verschiedene Her-
leitung auch hier wahrscheinlich, da es sich sonst schwer be-
greifen lieſse, warum zum Beispiel die Zeichnung auf Metall
in Latium auf andere Gegenstände angewandt ward als in
Etrurien und warum die Steinschneidekunst und die Wand-
malereien in Grabkammern sich auf Etrurien beschränkten.
Bemerkenswerth ist es, daſs von den drei Kunstformen, die
in Griechenland nur in sehr beschränkter, in Etrurien dagegen
[153]DIE KUNST.
in groſser Ausdehnung geübt wurden, dem Skarabaeenschnitt,
der Spiegelzeichnung und der Grabmalerei. die bis jetzt be-
kannten griechischen Beispiele ausschlieſslich nach Athen oder
Aegina führen; so daſs uns hier abermals wie bei den Mün-
zen und dem Alphabet die etruskischen Spuren nach Attika
weisen. Für Latium dagegen sind die Spuren minder be-
stimmt; doch weist nach Campanien die Thatsache, daſs unter
den Münzen die der südlicheren latinischen Städte bei weitem
die schönsten sind, und dahin so wie nach Sicilien die nicht
unwahrscheinliche Vermuthung, daſs der Verfertiger der be-
rühmten praenestinischen Cista Novios Plautius ein in Rom
ansässiger Campaner, und daſs Damophilos, der mit Gorgasos
den uralten Cerestempel in Rom mit bemalten Thonfiguren
schmückte, vielleicht der Lehrer des Zeuxis, Demophilos von
Himera (um 300 Roms) gewesen ist. — Vergleichen wir die
Art, wie sich die Stämme verhielten zu der griechischen Kunst,
so bemerken wir ähnliche Verschiedenheiten, wie sie die Ge-
schichte des Alphabets ergab. Die Sabeller blieben, so viel
wir sehen, so gut wie ganz unberührt von derselben, auſser
insofern von der praktischen Architektur das Nothwendigste
mittelbar auch auf sie überging; nur die Volsker gingen weiter
und bildeten auch in Thon. In Latium und Etrurien ward
die Kunst gepflegt, aber in wesentlich anderer Art. Ueberall
wo wir vergleichen können, sind die etruskischen Kunstwerke
den latinischen an Masse und Pracht ebenso überlegen als
sie zurückstehen in Geist und Schönheit, und wieder in Etru-
rien ist es vorzugsweise der südliche Theil, in dem die rei-
chen Kunstschätze von Caere, Tarquinii, Volci sich finden,
während der nördliche weit zurücksteht und zum Beispiel die
nördlichste Stadt Volaterrae, mit dem gröſsten Gebiet unter
allen etruskischen, von allen auch der griechischen Kunst am
fernsten steht. Die herrlichsten italischen Gemälde bewunderte
man in Ardea und Lanuvium, demnächst in Rom und Caere;
aber die Kunst des Pinsels zu verschwenden an den Wän-
den des Todtengemaches war nicht Sitte in Latium, son-
dern nur in Etrurien, vorzugsweise im mittleren; nördlich
von Chiusi hat sich kein ausgemaltes Grab gefunden. Der
Kupferguſs ward in Etrurien weit schwunghafter betrieben als
in Latium; aber welches etruskische Werk reicht an die capi-
tolinische Wölfin? und als später die Sitte der gegossenen
Kupfermünzen aufkam, entstanden die schönsten Formen im
südlichen Latium, leidliche in Rom und Umbrien, während
[154]ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
die des nördlichen Etrurien fast bildlos und barbarisch sind.
Die Zahl der etruskischen Spiegel überwiegt weitaus die
der latinischen und besonders praenestinischen Schmuckkäst-
chen; unter diesen wie unter jenen giebt es schöne Arbei-
ten, allein von dem schönsten Werk der letzteren Gattung,
der ficoronischen Cista, konnte mit Recht gesagt werden, daſs
kaum ein zweites Erzeugniſs der Graphik des Alterthums vor-
handen ist, welches so wie dieses den Stempel einer in Schön-
heit und Charakteristik vollendeten und noch vollkommen rei-
nen und ernsten Kunst an sich trüge, und dieses Werk ist
nach ausdrücklicher Angabe in Rom gezeichnet. So ist es
überall, wo wir vergleichen können; und wo wir es nicht
können, zum Beispiel bei den Silbermünzen und dem Gold-
schmuck, rührt dies daher, daſs man in Latium eben jene
nicht brauchte und diesen dem Todten mit ins Grab zu legen
erst die Sitte, dann das Gesetz verbot. Es ist eine gewisse
barbarische Ueberschwänglichkeit in der Art wie im Stil, die
den etruskischen Kunstwerken ihren eigenthümlichen Charakter
giebt und den latinischen völlig fremd ist. Was in Griechen-
land einzelner Scherz und flüchtige Skizze ist, wird in Etru-
rien stehende Sitte und sorgfältiges Kunstwerk; während dort
auf leichtem Material und in mäſsigen Verhältnissen gearbeitet
wird, liebt es die etruskische Kunst die Pracht und Gröſse
ihrer Werke renommistisch hervorzuheben; wo sie nachbildet,
muſs sie übertreiben: das Strenge wird ihr hart, das Anmu-
thige weichlich, das Schreckliche zum Scheusal, die Ueppig-
keit zur Zote, und immer deutlicher tritt dies hervor, je selbst-
ständiger sie sich gestaltet. Daſs die etruskische Kunst auch
nach Latium und namentlich nach Rom hinübergegriffen hat,
leidet keinen Zweifel; es ist nichts natürlicher, als daſs man
in Rom bei dem Bau der ersten Gotteshäuser etruskische Ar-
beiter zuzog und die ersten thönernen Kunstwerke derselben,
wie die Bildsäule des capitolinischen Iupiter und das Vierge-
spann auf dem Dach seines Tempels, in Veii bestellte. Allein
daneben gab es eine eigenthümliche von der etruskischen un-
abhängige Kunst in Latium, die in weit vollkommnerer Weise,
wenn auch mit beschränkteren Mitteln ihren griechischen Vor-
bildern nacheiferte; und wie man sich auch sträuben mag, so
gut wie man lange aufgehört hat die griechische Kunst aus der
etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch entschlieſsen
müssen den Etruskern in der Geschichte der italischen Kunst
den letzten Platz statt des ersten anzuweisen.


[[155]]

ZWEITES BUCH.
Von der Abschaffung des römischen Königthums
bis zur Einigung Italiens.


— δεῖ οὐϰ ἐϰπλήττειν τὸν συγγραφέα τερατευ-
όμενον διὰ τῆς ἱστοϱίας τοὺς ἐντυγχάνοντας.

Polyb.

[[156]][[157]]

KAPITEL I.



Aenderung der Verfassung. Beschränkung der
Magistratsgewalt
.


Der strenge Begriff der Einheit und Allgewalt des Staa-
tes, dieser Schwerpunct der italischen Verfassungen, legte in
die Hände des einzigen auf Lebenszeit ernannten Vorstehers
der Gemeinde eine furchtbare Gewalt, die wohl der Landesfeind
empfand, aber nicht minder schwer der Bürger. Miſsbrauch
und Druck konnte nicht ausbleiben, und hiervon die nothwen-
dige Folge waren Bestrebungen jene Gewalt zu beschränken;
aber das ist das Groſsartige in diesen römischen Reformversu-
chen und Revolutionen, daſs man nie unternimmt weder die
Omnipotenz des Staates zu beschränken noch auch nur sie ent-
sprechender Organe zu berauben, daſs man nie die sogenann-
ten natürlichen Rechte des Einzelnen gegen die Gemeinde
geltend zu machen versucht, sondern daſs der ganze Sturm
sich richtet gegen die Form der Gemeindevertretung durch
den Willen eines Einzigen. Nicht Begrenzung der Staats-,
sondern Begrenzung der Beamtenmacht ist der Ruf der römi-
schen Fortschrittspartei von den Zeiten der Tarquinier bis auf
die der Gracchen; und auch dabei vergiſst man nie, daſs das
Volk regiert werden soll und nicht regieren.


Dieser Kampf bewegt sich innerhalb der Bürgerschaft.
Ihm zur Seite entwickelt sich eine andere Bewegung: der
Ruf der Nichtbürger um politische Gleichberechtigung. Dahin
gehören die Agitationen der Plebejer, der Latiner, der Itali-
ker, der Freigelassenen, welche alle, mochten sie Bürger ge-
[158]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
nannt werden wie die Plebejer und die Freigelassenen, oder
nicht, wie die Latiner [und] die Italiker, politische Gleichheit
entbehrten und forderten.


Ein dritter Gegensatz ist noch allgemeinerer Art: der
der Vermögenden und der aus dem Besitz gedrängten oder
verarmenden Besitzer. Die rechtlichen und politischen Verhält-
nisse Roms veranlaſsten die Entstehung zahlreicher Bauer-
wirthschaften theils kleiner Eigenthümer, die von der Gnade
des Capital-, theils kleiner Zeitpächter, die von der Gnade des
Grundherrn abhingen, und beraubten vielfach Einzelne wie
ganze Gemeinden des Grundbesitzes, ohne die persönliche
Freiheit anzugreifen. Dadurch ward das ackerbauende Prole-
tariat schon früh so mächtig, daſs es wesentlich in die Schick-
sale der Gemeinde eingreifen konnte. Das städtische Prole-
tariat gewann erst in weit späterer Zeit politische Bedeutung.


In diesen Gegensätzen bewegte sich die innere Geschichte
Roms und vermuthlich nicht minder die uns gänzlich verlorene
der übrigen italischen Gemeinden. Die politische Bewegung
innerhalb der vollberechtigten Bürgerschaft, der Krieg der
Ausgeschlossenen und der Ausschlieſsenden, die socialen Con-
flicte der Besitzenden und der Besitzlosen, so mannichfaltig
sie sich durchkreuzen und in einander schlingen und oft selt-
same Allianzen herbeiführen, sind dennoch wesentlich und von
Grund aus verschieden. Da die servianische Reform, welche
den Insassen in militärischer Hinsicht dem Bürger gleichstellt,
mehr als eine administrative Maſsregel erscheint denn als her-
vorgegangen aus politischen Parteitendenzen, so darf als der
erste dieser Gegensätze, der zu inneren Krisen und Verfas-
sungsänderungen führte, derjenige betrachtet werden, der auf
die Beschränkung der Magistratur hinarbeitet und dessen frühe-
ster Erfolg besteht in der Abschaffung der Lebenslänglichkeit
der Gemeindevorsteherschaft, das heiſst in der Abschaffung
des Königthums. Wie nothwendig diese durch die natürliche
Entwicklung der Dinge gegeben war, dafür ist der schlagend-
ste Beweis, daſs dieselbe Verfassungsänderung, wie wir sie in
Rom finden, in allen italischen, ja auch in den griechischen
Staaten in analoger Weise vor sich gegangen ist. Daſs die
latinischen Städte, ehe sie in die römische Gemeinde auf-
gingen, gleich dieser von zwei jährlich ernannten Vorstehern,
Dictatoren oder Prätoren genannt, regiert wurden, beweist die
spätere latinische Municipalverfassung; ja daſs schon Alba bei
seinem Fall unter jährigen Königen stand, behaupteten die
[159]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
römischen Alterthumsforscher oder schlossen es vielmehr aus
dem als Priesteramt bis in die späteste Zeit fortgeführten Amt
des albanischen Dictator. Bei den Sabellern, Etruskern und
Apulern finden wir gleichfalls in späterer Zeit die alten lebens-
länglichen Regenten verschwunden. Für den lucanischen Gau
ist es bezeugt, daſs er im Frieden sich demokratisch regierte
und nur für den Krieg die Magistrate einen König, das heiſst
einen dem römischen Dictator ähnlichen Beamten bestellten;
die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von Capua
und Pompeii, gehorchten einem jährlich wechselnden ‚Gemein-
debesorger‘ (medix tuticus) und ähnliche Institutionen mögen
wir auch bei den übrigen Volks- und Stadtgemeinden Italiens
voraussetzen. Die Bestellung zweier höchster Beamten mit
concurrirender Gewalt, der ‚Collegen‘ (consules, wie exsules,
insula
), wie wir sie in Rom und den übrigen Städten La-
tiums finden, darf dagegen als eine eigenthümlich latinische
Ordnung betrachtet werden. Zu dieser seltsamen Institution,
die nicht den Beamten zusammen, sondern jedem ganz die
höchste Macht übertrug, wird überhaupt sich kaum in einem
andern gröſsern Staate eine Parallele finden; doch hat sie im
Ganzen genommen sich praktisch bewährt und ist später von
den Römern bei allen Magistraturen fast ohne Ausnahme bei-
behalten worden.


So einfach die Ursache dieser Veränderung ist, so man-
nichfaltig mochten die Anlässe sein; man mochte nach dem
Tode des lebenslänglichen Herrn beschlieſsen keinen solchen
wieder zu erwählen, wie nach Romulus Tode der römische
Senat versucht haben soll; oder der Herr mochte freiwillig
abdanken, was König Servius Tullius angeblich beabsichtigte;
oder das Volk mochte gegen einen Tyrannen aufstehen und ihn
vertreiben, wie dies das Ende des römischen Königthums war.
Denn mag die Geschichte der Vertreibung des letzten Tarquinius,
‚des Uebermüthigen‘, auch noch so sehr in historische Anekdo-
ten ein- und zur historischen Novelle ausgesponnen sein, so ist
doch an den Grundzügen nicht zu zweifeln. Daſs der König
es unterlieſs den Senat zu befragen und zu ergänzen, daſs er
Todesurtheile und Confiscationen ohne Zuziehung der Rath-
männer aussprach, daſs er den Bürgern Kriegsarbeit und
Handdienste über die Gebühr ansann, bezeichnet die Ueber-
lieferung in glaublicher Weise als die Ursachen der Empörung;
von der Erbitterung des Volkes zeugt das förmliche Gelöbniſs,
das dasselbe ablegte, fortan keinen König mehr zu dulden und
[160]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
der blinde Haſs, der seitdem an den Namen des Königs sich
anknüpfte, vor allem aber die Verfügung, daſs der ‚Opfer-
könig‘, den man creiren zu müssen glaubte, damit nicht die
Götter den gewohnten Vermittler vermiſsten, kein weiteres
Amt bekleiden könne und also dieser zwar der erste, aber
auch der ohnmächtigste aller römischen Beamten ward. Nicht
bloſs aber wurde das Königthum abgeschafft, sondern zugleich
auch der König verbannt mit seinem ganzen Geschlecht —
ein Beweis, welche Geschlossenheit damals noch die gentilici-
schen Verbindungen hatten; dies Gesetz beantragte der Reiter-
führer Lucius Iunius Brutus, als der nach dem König oberste
Beamte, und so trug die Revolution von ihm den Namen.
Das Geschlecht der Tarquinier siedelte darauf über nach
Caere, wo ihr Geschlechtsgrab kürzlich aufgedeckt worden ist.
— Dies ist alles, was historisch über dies wichtige Ereigniſs
als sicher angesehen werden kann, an welches die älteste
römische Jahreszählung anzuknüpfen pflegte. Daſs in einer
groſsen weitherrschenden Gemeinde wie die römische die
königliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Gene-
rationen bei demselben Geschlechte gewesen, widerstandsfähiger
und der Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten,
ist begreiflich; aber auf eine Einmischung auswärtiger Staaten
in denselben deutet keine Spur und der groſse Krieg mit
Etrurien, der übrigens wohl nur durch chronologische Con-
fusion in den römischen Jahresbüchern so nahe an die Ver-
treibung der Tarquinier gerückt ist, kann nicht als eine Inter-
vention Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeinträchtigten
Landsmannes angesehen werden aus dem sehr zureichenden
Grunde, daſs die Etrusker trotz des vollständigsten Sieges doch
das römische Königthum keineswegs wieder hergestellt noch
auch nur die Tarquinier zurückgeführt haben.


Sind wir über den historischen Zusammenhang dieses
wichtigen Ereignisses im Dunkeln, so liegt dagegen zum Glücke
klarer vor, worin die Verfassungsänderung bestand. Die Kö-
nigsgewalt ward keineswegs abgeschafft, wie schon das beweist,
daſs in der Vacanz nach wie vor der ‚Zwischenkönig‘ ernannt
ward; im Gegentheil setzte man alles daran sie wesentlich
festzuhalten in ihrer ungeschmälerten Fülle. Die Aufgabe die
absolute Gewalt zugleich rechtlich festzuhalten und factisch zu
beschränken ist in ächt römischer Weise ebenso scharf als
einfach gelöst worden theils durch die Begrenzung der Zeit-
dauer, theils durch die Einsetzung zweier gleich berechtigter
[161]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
und gleich absoluter Herren. Die zeitliche Begrenzung ist aus-
nahmlos; die regelmäſsigen Beamten treten nach einem Jahr,
die auſserordentlichen nach höchstens sechs Monaten vom Amte
ab. Das Princip der Collegialität, das dem Volke versinnlicht
ward durch die Theilung der vierundzwanzig königlichen Lic-
toren unter die beiden Consuln, gilt nur für die ordentlichen
Beamten, von denen das Machtwort eines jeden zwar in der
Regel entschied gleich dem des Königs, aber dennoch durch
das Machtwort des gleichberechtigten Collegen nothwendig,
jedoch durch sich selbst, nicht durch eine controlirende Auto-
rität vernichtet ward. — Ganz unbeschränkt ging indeſs doch
die königliche Gewalt nicht über auf die Consuln. Hatte im
Criminalprozeſs so wie bei Buſsen und Leibesstrafen bisher
dem König nicht bloſs Untersuchung und Entscheidung der
Sache zugestanden, sondern auch die Entscheidung darüber,
ob der Verurtheilte den Gnadenweg betreten dürfe oder nicht,
so bestimmte jetzt das valerische Gesetz (J. 245 Roms), daſs
der Consul der Provocation des Verurtheilten stattgeben
müsse, wenn er auf Todes- oder Leibesstrafe nicht nach
Kriegsrecht erkannt habe; was durch ein späteres Gesetz
(unbestimmter Zeit, aber vor dem Jahre 303 erlassen) auf
schwere Vermögensbuſsen ausgedehnt ward. Zum Zeichen
dessen legten die consularischen Lictoren, wo der Consul
als Richter, nicht als Feldherr auftrat, die Beile ab, die
sie bisher kraft des ihrem Herrn zustehenden Blutbannes
geführt hatten. Es ist bezeichnend, daſs dem Beamten, der
der Provocation nicht ihren Lauf lieſs, das Gesetz nichts an-
deres drohte als die Infamie, die nach damaligen Verhältnis-
sen im Wesentlichen nichts war als eine sittliche Makel und
höchstens zur Folge hatte, daſs das Zeugniſs des Ehrlosen
nicht mehr galt. Man drohte nicht mehr, weil man nicht
mehr drohen konnte, ohne der Königsgewalt eine wenn auch
erst nachfolgende Controle zu bestellen und damit ihren Cha-
rakter als der absoluten und unverantwortlichen Machtvoll-
kommenheit zu beschränken; was der Beamte gethan hat,
mag nichtig sein, aber auch für die nichtige Amtshandlung
giebt es keinen Strafrichter. — Eine in der Tendenz ähnliche
Beschränkung fand statt in der Civilgerichtsbarkeit; denn wahr-
scheinlich gehört die Verwandlung des Rechtes der Beamten,
nach festgestellter Sache einem Privatmann die Untersuchung
des Sachverhalts zu übertragen, in eine Pflicht dieser Epoche
an. Vermuthlich ward dies erreicht durch eine allgemeine
Röm. Gesch. I. 11
[162]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
Feststellung des Rechtes der Consuln ihr Imperium an Stell-
vertreter oder Nachfolger zu übertragen. Hatte dem König
die Ernennung von Stellvertretern unbeschränkt frei, aber nie
für ihn ein Zwang dazu bestanden, so scheint dem Consul
von Haus aus das Mandiren für bestimmte Fälle vorgeschrie-
ben zu sein, namentlich auſser bei dem Civilprozeſs auch für
die Verwaltung des Staatsschatzes. So wurden die beiden Poli-
zeiherren (quaestores), die auch der König schon zu ernennen
pflegte, jetzt gesetzlich ständige vom Consul ernannte und
natürlich mit dem Consul selbst abtretende Beamten und ver-
einigten die Verwaltung der Schatzkammer mit ihren bisherigen
Functionen. Auſser diesen Fällen aber, wo die Mandirung
der Gewalt gesetzlich vorgeschrieben war, ward die willkür-
liche Ernennung von Stellvertretern beschränkt theils auf das
militärische Imperium, welches derselben nicht entrathen konnte,
theils auf den Fall, wo der Consul durch dieselbe zugleich seine
und seines Collegen Gewalt suspendirte, auf die Ernennung
eines mit voller königlicher Macht ausgestatteten einzigen Ge-
meindehauptes, des Dictator. — Das Recht den Nachfolger
zu ernennen, das der König unbeschränkt geübt hatte, ward
dem Gemeindevorsteher auch jetzt keineswegs entzogen; aber
er wurde verpflichtet denjenigen zu ernennen, den die Ge-
meinde ihm bezeichnet haben würde; so daſs der Consul bei
diesem Act zwar immer eine ganz andere Stellung behielt als
die eines Wahldirigenten ist, und er zum Beispiel einzelne Can-
didaten zurückweisen und die auf sie gefallenen Stimmen nicht
beachten, anfangs vielleicht sogar die Wahl auf eine von ihm
entworfene Candidatenliste beschränken konnte, dennoch aber
die Ernennung des Beamten von jetzt an formell von dem
Vorgänger, materiell aber von der Gemeinde ausging. — Alle
diese Beschränkungen der Gewalt kamen indeſs nur zur An-
wendung gegen den ordentlichen Magistrat. Gegen den Dic-
tator galt die Provocation nur wie gegen den König, wenn er
freiwillig ihr wich; so wie er ernannt war, wurden alle übrigen
Beamten von Rechtswegen machtlos und ihm völlig unterthan;
sehr wahrscheinlich unterschied sich der Absicht nach seine
Gewalt von der königlichen überall nur durch die zeitliche
Begrenzung und dadurch, daſs der Dictator als auſserordent-
licher Beamter sich keinen Nachfolger ernannte. — Im Ganzen
also blieben auch die Consuln, wie es die Könige gewesen
waren, oberste Verwalter, Richter (iudices) und Feldherren
(praetores) und auch in religiöser Hinsicht war es nicht der
[163]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
Opferkönig, der nur damit der Name vorhanden sei ernannt
ward, sondern der Consul, der für die Gemeinde betete und
opferte und in ihrem Namen den Willen der Götter mit Hülfe
der Sachverständigen erforschte. Für den Nothfall hielt man
sich überdieſs die Möglichkeit offen die volle unumschränkte
Königsgewalt ohne vorherige Befragung der Gemeinde jeden
Augenblick wieder ins Leben zu rufen mit Beseitigung der
durch die Collegialität und durch die Specialrestrictionen ge-
zogenen Schranken; weſshalb denn auch dem Dictator gleich
dem König die vier und zwanzig Weibel mit Ruthen und
Beilen vorauſschritten.


So gewann durch die Aenderung der Verfassung die Ge-
meinde die wichtigsten Rechte: das Recht die Gemeindevor-
steher jährlich zu bezeichnen und über Tod und Leben des
Bürgers in letzter Instanz zu entscheiden. Aber es konnte das
unmöglich diejenige Gemeinde sein, die auch nach Einführung
der servianischen Militärreform noch als die rechte Bürgerver-
sammlung gesetzlich betrachtet ward, obwohl sie thatsächlich
schon zum Adelstande geworden war. Die Kraft des Volkes
war bei der ‚Menge‘, welche ‚achtbare Leute‘ (nobiles, Gen-
tlemen) in groſser Zahl in sich schloſs. Daſs diese Menge
aus der Gemeindeversammlung ausgeschlossen war, obwohl
sie die gemeinen Lasten mit trug, mochte ertragen werden,
so lange die Gemeindeversammlung selbst im Wesentlichen
nicht eingriff in den Gang der Staatsmaschine und so lange
die Königsgewalt eben durch ihre hohe und freie Stellung
den Bürgern nicht viel weniger fürchterlich war als den In-
sassen und somit in der Nation die Rechtsgleichheit sich er-
hielt. Allein als die Gemeinde selbst zu regelmäſsigen Wahlen
und Entscheidungen berufen und der Vorsteher factisch aus
ihrem Herrn zum befristeten Auftragnehmer herabgedrückt
ward, konnte dies Verhältniſs nicht aufrecht erhalten werden;
am wenigsten bei der Neugestaltung des Staates an dem Mor-
gen einer Revolution, die nur durch Zusammenwirken der
Patricier und der Insassen durchgesetzt werden konnte. Somit
war eine Transaction unvermeidlich. Die Patricier behielten
das Imperium wie den Verkehr mit den Göttern, das heiſst
den Inbegriff der weltlichen wie der geistlichen Aemter und
ihre Versammlung sowohl das Huldigungsrecht oder vielmehr
die Huldigungspflicht als auch die bisher von ihr ausgeübte
Befugniſs von den Gesetzen zu dispensiren, so weit diese
privatrechtlicher Natur war. Alle politischen Befugnisse, so-
11*
[164]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
wohl die Provocation in dem Criminalverfahren, das ja wesent-
lich politischer Prozeſs war, als die Ernennung der Magistrate
und die Annahme oder Verwerfung der Gesetze, wurden auf
das versammelte Aufgebot der Waffenpflichtigen übertragen oder
ihm neu erworben, so daſs die Centurien zu den gemeinen
Lasten jetzt auch die gemeinen Rechte empfingen. Damit
gelangten die geringen Anfänge der servianischen Verfassung,
wie namentlich das dem Heer überwiesene Zustimmungsrecht
bei der Erklärung eines Angriffskrieges, zu einer solchen Ent-
wicklung, daſs die Curien durch die Centurienversammlung
völlig und auf immer verdunkelt wurden und man sich ge-
wöhnte das souveraine Volk in der letzteren zu erblicken.
Den Geschlechtern wurde in dieser nur insoweit ein Vorrecht
verliehen, als ihren sechs Rittercenturien das Recht des Vor-
stimmens blieb; denn es ist kaum zu bezweifeln, daſs sie
erst später dies an die zwölf plebejischen Rittercenturien
abgeben muſsten. Debatte fand nicht statt auſser wenn
der Magistrat freiwillig selbst sprach oder Andere sprechen
hieſs, nur daſs bei der Provocation natürlich beide Theile
gehört werden muſsten; die einfache Majorität der Centurien
entschied.


Aber nicht unbeschränkt erwarben die Centurien diese
wichtigen Rechte; die Altbürgerschaft war noch zu mächtig
um sich so auf einen Schlag das Heft aus den Händen win-
den zu lassen. Nur bei der Provocation, die ja nichts anderes
war als die Frage, ob das Urtheil des Beamten vollzogen oder
vernichtet werden solle, entschieden die Centurien unbedingt;
in allen übrigen Fällen, bei den Wahlen wie bei den Abstim-
mungen unterlag ihr Beschluſs dem Gutachten des Adels, der
denselben billigte oder cassirte. An die Curienversammlung
zwar ging diese Begutachtung nicht; es schien eine staats-
rechtliche Unmöglichkeit den Beschluſs des Volkes abermals
dem Volke vorzulegen. Allein nichts stand im Wege darüber
das Gutachten (auctoritas) der adlichen Senatoren einzuziehen
und die Magistrate an dessen Befolgung zu binden. Seit der
Zeit erscheint der Senat in doppelter Stellung und Thätigkeit.
Die Plebejer, die seit der servianischen Verfassung durch Be-
kleidung von Offizierstellen in der Bürgerwehr einen factischen
Anspruch auf den Eintritt in den Senat erworben hatten,
konnte man natürlich jetzt um so weniger aus demselben
verdrängen; es hat sich sogar eine alte Ueberlieferung er-
halten, daſs nach Vertreibung der Könige von den drei-
[165]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
hundert Rathsgliedern hundert vier und sechzig ‚Zugeschrie-
bene‘ (conscripti), also Plebejer waren. Allein man unter-
schied von nun an die allgemeinen Senatsversammlungen,
in denen der Senat (patres [et] conscripti) als Staatsrath
fungirte und die einzubringenden Gesetze, die Candidaten-
listen, die Verwaltungsfragen mit den Magistraten berieth,
und die Sonderversammlungen der patricischen Senatoren
(patres), in denen der Adelssenat seine verfassungsmäſsigen
Rechte der Wahl des Interrex und der Bestätigung oder
Verwerfung der von den Centurien beliebten Wahlen und
Gesetze ausübte.


Weiter ging, wie es scheint, die unmittelbare Aenderung
der Verfassung nicht. Daſs die Vertreibung der Tarquinier nicht,
wie die kläglichen Berichte sie darstellen, das Werk eines von
Mitleid und Freiheitsenthusiasmus berauschten Volkes war, son-
dern das Werk zweier groſser politischer Parteien, die wie die
englischen Tories und Whigs 1688 durch die gemeinsame Gefahr,
das Gemeinwesen in die Willkürregierung eines Herren ver-
wandelt zu sehen, einen Augenblick vereinigt wurden, um den
Staat zu retten und dann sofort wieder sich zu entzweien —
das kann nur verkennen, wer entweder die Thatsachen nicht
kennt oder nicht weiſs, was ein Gemeinwesen ist. Solche
Transactionen beschränken zu allen Zeiten sich auf das ge-
ringste Maſs gegenseitiger durch mühsames Abdingen gewon-
nener Concessionen, und lassen die Zukunft entscheiden, wie
im Einzelnen das Schwergewicht der constitutiven Elemente
sich stellt und wie sie in einander greifen oder gegen einander
wirken. Also war es ohne Zweifel auch in Rom. So tief-
greifend die unmittelbaren Neuerungen dieser Verfassungs-
reform waren, so waren doch die mittelbaren noch weit um-
fassender und vielleicht gewaltiger, als selbst ihre Urheber sie
ahnten.


Dies war die Zeit, wo um es mit einem Worte zu sagen,
die römische Bürgerschaft in dem späteren Sinne des Wortes
entstand. Hatten die adlichen Geschlechter längst aufgehört
als Inbegriff der Gemeinde zu gelten, so waren doch auch
die Plebejer bisher wenig mehr als Insassen gewesen, welche
man wohl zu Steuern und Lasten mit heranzog, die aber
dennoch in den Augen des Gesetzes im Wesentlichen als ge-
duldete Leute erschienen und deren Kreis gegen Gäste und
Fremde scharf abzustecken kaum nöthig scheinen mochte.
Es ward dies anders, nicht so sehr durch die steigende Be-
[166]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
deutung der Centurien, die ja doch im Wesentlichen nur die
Ansässigen umschlossen, als durch das Provocationsrecht, das
das Haupt und den Rücken auch des ärmsten Bürgers vor
dem allgewaltigen Herrn des Volkes schützte. Es ist kein
Zweifel, daſs theils die festere Regulirung des Niederlassungs-
rechtes sowohl den latinischen Eidgenossen als andern Staa-
ten gegenüber eben hierdurch hervorgerufen ward, theils die
scharfe und stolze Abgrenzung der cives Romani gegen das
Ausland im Sinn und Geist des Volkes auf diese Zeit
zurückgeht. Der Gegensatz zwischen Patriciern und Ple-
bejern war ein städtischer, der zwischen Römern und
Fremden ein politischer; das Gefühl der staatlichen Ein-
heit, der beginnenden Groſsmacht war mit diesem in die
Herzen der Nation gepflanzt, um jene kleinlichen Differenzen
erst zu untergraben und sodann im allmächtigen Strom mit
sich fortzureiſsen.


Dies war die Zeit, wo Gesetz und Verordnung sich schie-
den. Begründet zwar liegt der Gegensatz in dem innersten
Wesen des römischen Staates; denn auch die römische Königs-
gewalt stand unter, nicht über dem Landrecht. Allein die
tiefe und praktische Ehrfurcht, welche die Römer wie jedes
andere politisch fähige Volk vor dem Princip der Autorität
hegten, erzeugte den merkwürdigen Satz des römischen Staats-
und Privatrechts, daſs jeder nicht auf ein Gesetz gegründete
Befehl des Beamten zwar während der Dauer seines Amtes
gelte, aber mit diesem wegfalle. Es ist einleuchtend, daſs
hiebei, so lange die Vorsteher auf Lebenszeit ernannt wurden,
der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung praktisch
fast verschwinden muſste und die legislative Thätigkeit der
Gemeindeversammlung keine Entwicklung gewinnen konnte.
Umgekehrt erhielt sie einen weiten Spielraum, als die Vor-
steher jährlich wechselnde wurden, und es war jetzt keines-
wegs ohne praktische Bedeutung, daſs, wenn der Consul bei
der Entscheidung eines Prozesses eine rechtliche Nullität be-
ging, sein Nachfolger eine neue Instruction der Sache an-
ordnen konnte.


Dies war endlich die Zeit, wo die bürgerliche und die
militärische Gewalt sich von einander sonderten. Dort herrscht
das Gesetz, hier die Beile; dort waren die constitutionellen
Beschränkungen der Provocation und der regulirten Mandirung
maſsgebend, hier schaltete der Feldherr unumschränkt wie der
König. Es stellte sich fest, daſs der Feldherr und das Heer
[167]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
als solche die eigentliche Stadt regelmäſsig nicht betreten
durften. Daſs organische und auf die Dauer wirksame Be-
stimmungen nur unter der Herrschaft der bürgerlichen Gewalt
getroffen werden könnten, lag im Geiste der Verfassung, und
wenn auch gelegentlich ein Beamter diesen Satz nicht respec-
tirte und im Lager eine Volksversammlung berief, so war ein
solcher Beschluſs zwar nicht rechtlich nichtig, allein die Sitte
miſsbilligte dieses Verfahren und es unterblieb bald als wäre
es verboten. Jener Gegensatz der Quiriten und Soldaten
wurzelte allmählich fest und fester in den Gemüthern der
Bürger.


Ein bürgerliches Gemeinwesen ward also begründet durch
die Aenderung der Verfassung, deren tiefgreifende Bedeutung
man verkennt, wenn man darin bloſs eine Veränderung in
der Dauer der höchsten Magistratur sieht, und nicht minder
verkennt, wenn man sie bezeichnet als einen Sieg des Patri-
ciats über die Plebejer und die königliche Gewalt. Es ist
zwar vollkommen richtig, daſs durch die neue Verfassung zu-
nächst das Patriciat ans Regiment kam. Wohl war der König
Patricier wie der Consul, aber jener war durch seine Aus-
nahmestellung über Patricier nicht minder wie über Plebejer
hinausgerückt und konnte leicht in den Fall kommen sich
vorzugsweise auf die Menge gegen den Adel zu stützen. Da-
gegen der Consul, der nie vergessen konnte, daſs er dem
adlichen Mitbürger, dem er heute befahl, morgen werde ge-
horchen müssen; dessen Gewalt stets durch den Collegen
gelähmt und leicht durch die Dictatur suspendirt werden
konnte, stand keineswegs auſserhalb seines Standes. Was
aber noch wichtiger ist, es fehlte ihm das erste Element die
politischen Angelegenheiten zu leiten und zu entscheiden, die
Zeit. Der Vorsteher eines Gemeinwesens, welche Machtfülle
ihm immer eingeräumt werde, wird die politische Leitung
der Dinge nie in die Hand bekommen, wenn er nicht auf
längere Frist bestellt ist; denn Stabilität ist die erste und
nothwendigste Bedingung des Regiments. Das ist der Grund,
weſshalb der Staatsrath, der wie früher dem König so jetzt
dem Consul zur Seite stand, sofort mit der Abschaffung des
Königthums die gesammte executive Gewalt erwarb, und der
Consul, obwohl rechtlich von dem Rathe unabhängig wie der
König, doch thatsächlich herabsank zum präsidirenden und
ausführenden Chef der Rathsversammlung, der die laufenden
Geschäfte besorgte, die Prozesse entschied und in den Krie-
[168]ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
gen das Commando führte, aber in allen Angelegenheiten
entscheidender und dauernder Bedeutung abhing vom Senat.
So wurde bei wichtigen Staatsverträgen, bei der Erweiterung
der Gemeinde und überhaupt bei jedem Act, dessen Folgen
sich über das Amtsjahr erstrecken sollten, die Befragung des
Senats unvermeidlich. Nirgends aber griff er so entschieden
ein wie in die Leitung der Finanzen, die er sehr früh voll-
ständig den Consuln entzog und nicht einmal dem sonst
unbeschränkten Dictator darauf Einfluſs verstattete. Die Ge-
meindekasse sollten die Consuln nicht selber verwalten, son-
dern die zwei von ihnen bezeichneten Quästoren, die natür-
lich noch weit mehr als die Consuln vom Senat abhängig
waren. Die Verwaltung und eventuelle Auftheilung des Ge-
meinlandes regulirte der Senat. Was endlich die Wahl in
den Senat betrifft, so scheint zwar, wie schon bemerkt ward,
dem Eintritt des Plebejers in denselben zu keiner Zeit ein
rechtliches Hinderniſs entgegengestanden zu haben und eine
Anzahl angesehener Plebejer unmittelbar nach der Revolution
in den Senat eingeschrieben worden zu sein; allein es ist
leicht begreiflich, daſs es anderen als den Gliedern der Pa-
tricier- und der angesehenen Plebejerfamilien jetzt bei weitem
schwerer war als in der Königszeit Sitz in der Rathsver-
sammlung zu erhalten und daſs die innehabenden Familien
eifersüchtig über den Besitz der Rathsherrnstellen wachten. —
Allein mochten auch im Hinblick auf diese Dinge die Mit-
lebenden meinen, daſs die Revolution den Plebejern nur
schwerere Ketten gebracht habe, so muſs doch die unpar-
teiische Geschichte anders urtheilen. Die Patricier gewannen
allerdings das Regiment, aber nicht von der Gemeinde, son-
dern vom König; was die Gemeinde errang, das ging dage-
gen dem Patriciat verloren. Was die Patricier erwarben, war
praktisch fühlbarer und handgreiflicher; was die Gemeinde
gewann, mochte nicht einer von tausend zu schätzen wissen,
aber in ihm lag die Bürgschaft der Zukunft. Die Gemeinde
war bisher politisch nichts gewesen; indem sie jetzt etwas
ward, war die Altbürgerschaft überwunden; es ist die erste
Bresche, nicht die Besetzung des letzten Postens, die den
Fall der Festung entscheidet. Darum datirte das römische
Volk mit Recht seine politische Existenz von dem Gesetze
des Reiterführers Lucius Iunius Brutus. — Innerhalb der
Gemeinde lag fortan das Schwergewicht der Macht in denen,
welchen die ältere Verfassung die politischen Bürden vorzugs-
[169]AENDERUNG DER VERFASSUNG.
weise aufgelegt hatte, in den Ansässigen, und zwar weder in
den groſsen Gutsbesitzern noch in den Instenleuten, sondern
in dem mittleren Bauernstand, wobei die Aelteren noch inso-
fern bevorzugt waren, als sie, obgleich minder zahlreich, doch
ebenso viel Stimmabtheilungen besetzten wie die Jugend. Die
künftige souveraine Staatsgewalt war schon jetzt scharf und
deutlich bezeichnet.


[[170]]

KAPITEL II.



Das Volkstribunat und die Decemvirn.


Die Altbürgerschaft war durch die neue Gemeindeordnung
in den vollen Besitz der politischen Macht auf gesetzlichem
Wege gelangt. Herrschend durch die zu ihrer Dienerin herab-
gedrückte Magistratur, Inhaberin des engeren Raths und aller
Aemter und Priesterthümer, ausgerüstet mit der ausschlieſs-
lichen Kunde der göttlichen und menschlichen Dinge und mit
der ganzen Routine politischer Praxis, stimmangebend in der
groſsen Wahlversammlung und einfluſsreich in der Gemeinde
durch den starken Anhang fügsamer und den einzelnen Fa-
milien anhänglicher Leute, endlich befugt jeden Gemeinde-
beschluſs zu prüfen und zu cassiren, konnten die Patricier die
factische Herrschaft noch auf lange Zeit sich bewahren, eben
weil sie rechtzeitig auf die gesetzliche Alleingewalt verzichtet
hatten. Zwar muſsten die Plebejer ihre politische Zurücksetzung
schwer empfinden; allein von der rein politischen Opposition
hatte der Adel unzweifelhaft zunächst nicht viel zu besorgen,
wenn er es verstand die Menge, die nichts verlangt als gerechte
Verwaltung und Schutz der materiellen Interessen, dem politi-
schen Kampfe fern zu halten. In der That finden wir in der
ersten Zeit nach Vertreibung der Könige verschiedene Maſs-
regeln, welche bestimmt waren oder doch bestimmt schienen
den gemeinen Mann für das Adelsregiment von der ökonomi-
schen Seite zu gewinnen: die Hafenzölle wurden herabgesetzt,
bei hohem Stand der Kornpreise groſse Quantitäten Getreide
für Rechnung des Staats aufgekauft und der Salzhandel zum
[171]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Staatsmonopol gemacht, um den Bürgern Korn und Salz zu
billigen Preisen abgeben zu können. Allein im Wesentlichen
ist gerade umgekehrt mit der Verfassungsänderung in den
finanziellen und ökonomischen Verhältnissen Roms eine Revo-
lution eingeleitet, deren Tendenz hinausgeht auf die Zerstö-
rung der Mittelklassen, namentlich des mittleren und kleinen
Grundbesitzes und auf die Entwicklung einerseits einer Herr-
schaft der Grund- und Geldherren, andrerseits eines acker-
bauenden Proletariats.


Schon die Minderung der Hafenzölle, obwohl im Allge-
meinen eine populäre Maſsregel, kam vorzugsweise dem Groſs-
handel zu Gute. Wichtiger noch war die Ausdehnung der
finanziellen Geschäfte des Aerars auf solche Unternehmungen,
die regelmäſsig von Privaten betrieben werden. Es führte dies
in Verbindung mit der geringen Zahl und dem schnellen
Wechsel der römischen Beamten zu einem System der indi-
recten Finanzverwaltung, das in seiner Entwicklung für den
römischen Staat so folgenreich wie verderblich geworden ist
und dessen Keime wahrscheinlich hier, namentlich in dem
Salzmonopol zu suchen sind. Der Staat gab nach und nach
alle seine indirecten Hebungen und alle complicirteren Zah-
lungen und Verrichtungen in die Hände von Mittelsmännern,
die eine Abschlagssumme gaben oder empfingen und dann
für ihre Rechnung wirthschafteten. Natürlich konnten nur
bedeutende Capitalisten und, da der Staat streng auf ding-
liche Sicherheit sah, hauptsächlich nur groſse Grundbesitzer
sich hierbei betheiligen und so erwuchs eine Klasse von
Steuerpächtern und Lieferanten, die in dem reiſsend schnellen
Wachsthum ihrer Opulenz, in der Gewalt über den Staat dem
sie zu dienen schienen und in dem widersinnigen und sterilen
Fundament ihrer Geldherrschaft den heutigen Börsenspeculan-
ten vollkommen vergleichbar sind. — Aber zunächst und am
empfindlichsten offenbarte sich die veränderte Richtung der
finanziellen Verwaltung in der Behandlung der Staatsdomänen,
die geradezu hinarbeitete auf die materielle und moralische
Vernichtung der Mittelklassen. Die Nutzung der gemeinen
Weide stand nach dem Buchstaben des Rechts dem Bürger
zu, das heiſst dem Patricier; denn auch jetzt hatten die Ple-
bejer keineswegs Rechtsgleichheit erlangt, sondern nur ge-
wisse besonders ertheilte Rechte, wozu dieses nicht gehörte.
Daſs die Könige indeſs, die frei über die Gemeinweide dispo-
nirten, auch dem Plebejer darauf Weiderecht gestatten konnten
[172]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
und gestattet haben, versteht sich; aber ebenso deutlich ist
es, daſs der Senat, seit er die finanzielle Verwaltung an sich
gerissen hatte, es nicht unter seiner Würde hielt die Gemein-
weide zunächst für sich, das heiſst für die Adlichen und für
die reichen in den Senat aufgenommenen Plebejer in An-
spruch zu nehmen und den kleinen Ackerbesitzer, der eben
die Weide am nöthigsten brauchte, in dem Mitgenuſs zu beein-
trächtigen. Es war ferner bisher ein Hutgeld erlegt worden,
das in den gemeinen Seckel fiel; die patricischen Quästoren
erhoben dasselbe säumig und nachsichtig und lieſsen allmäh-
lig es ganz schwinden. Bisher hatte man, namentlich wenn
durch Eroberung neue Domänen gewonnen worden, regel-
mäſsige Landauslegungen angeordnet, bei der alle ärmeren Bür-
ger und Insassen berücksichtigt wurden. Diese Assignationen
wagte man zwar nicht ganz zu unterlassen und noch weniger
sie zu Gunsten der Reichen vorzunehmen; allein sie wurden
seltener und karger und an ihre Stelle trat das verderbliche
Occupationssystem, das heiſst die Ueberlassung der Domänen-
güter nicht zum Eigenthum oder zur Pacht, sondern zu un-
entgeltlicher jederzeit widerruflicher Sondernutzung an privi-
legirte Personen. So traf den mittleren und kleinen Grund-
besitz ein dreifacher Schlag: die gemeinen Bürgernutzungen
gingen ihm verloren; die Steuerlast stieg dadurch daſs das
Hutgeld nicht mehr ordentlich in die gemeine Kasse floſs;
und die Landauslegungen stockten, die für das agricole Pro-
letariat einen dauernden Abzugskanal gebildet hatten, etwa
wie heutzutage ein groſsartiges und fest regulirtes Emigrations-
system es thun würde. Die schweren zum Theil unglücklichen
Kriege, die dadurch herbeigeführten unerschwinglichen Kriegs-
steuern und Frohnden thaten das Uebrige, um den Besitzer
entweder geradezu vom Hof zu bringen und ihn zum Knecht,
wenn auch nicht zum Sclaven seines Schuldherrn zu machen,
oder, was wohl das Gewöhnlichste wie das Verderblichste war,
ihn durch Ueberschuldung thatsächlich zum Zeitpächter seines
Gläubigers herabzudrücken. Die Capitalisten, denen hier ein
neues Gebiet einträglicher und mühe- und gefahrloser Specu-
lation sich eröffnete, lieſsen wohl regelmäſsig dem Bauer,
dessen Person und Gut das Schuldrecht ihnen in die Hände
gab, den Namen des Eigenthümers und den factischen Besitz;
allein mochte damit für den Einzelnen der äuſserste Ruin
abgewandt sein, so drohte dagegen diese precäre von der
Gnade des Gläubigers jederzeit abhängige Stellung des Bauern
[173]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
bei der derselbe alle Lasten des Eigenthums trug, den ganzen
Bauernstand zu demoralisiren und politisch zu vernichten. Die
Absicht des Gesetzgebers, als er statt der hypothekarischen
Schuld den sofortigen Uebergang des Eigenthums auf den
Gläubiger anordnete, der Ueberschuldung zuvorzukommen und
die Lasten des Staats den reellen Inhabern des Grundes und
Bodens aufzuwälzen, ward umgangen durch das strenge per-
sönliche Creditsystem, das für Kaufleute sehr zweckmäſsig
sein mochte, die Bauern aber ruinirte. Hatten die bäuer-
lichen Verhältnisse bei der freien Theilbarkeit des Bodens
schon immer gedroht ein überschuldetes Ackerbauproletariat
zu entwickeln, so muſste unter solchen Verhältnissen, wo alle
Lasten stiegen, alle Abhülfen sich versperrten, die Noth und
die Hoffnungslosigkeit unter der ackerbauenden Mittelklasse
mit entsetzlicher Raschheit um sich greifen.


Der Gegensatz der Reichen und Armen, der aus diesen
Verhältnissen hervorging, fällt keineswegs zusammen mit dem
der Geschlechter und Plebejer. War auch der bei weitem
gröſste Theil der Patricier reich begütert, so fehlte es doch
natürlich auch unter den Plebejern nicht an reichen und an-
sehnlichen Familien, und da der Senat, der schon damals
wohl zur gröſseren Hälfte aus Plebejern bestand, selbst mit
Ausschlieſsung der patricischen Magistrate die finanzielle Ober-
leitung an sich genommen hatte, so ist es begreiflich, daſs
alle jene ökonomischen Vortheile, zu denen die politischen
Vorrechte des Adels miſsbraucht wurden, den Reichen insge-
sammt zu Gute kamen und der Druck auf dem gemeinen
Mann um so schwerer lastete, da durch den Eintritt in den
Senat die tüchtigsten und widerstandsfähigsten Personen aus
der Klasse der Unterdrückten übertraten in die der Unter-
drücker. — Hiedurch aber ward die politische Stellung des
Adels unhaltbar. Hätte er es über sich vermocht gerecht zu
regieren und den Mittelstand geschützt, wie es Einzelne aus
seiner Mitte versuchten, ohne bei der gedrückten Stellung der
Magistratur damit durchdringen zu können, so konnte er sich
noch lange im Alleinbesitz der Aemter behaupten. Hätte er
es vermocht die reichen und ansehnlichen Plebejer zu voller
Rechtsgleichheit zuzulassen, etwa an den Eintritt in den Senat
die Gewinnung des Patriciats zu knüpfen, so mochten beide
noch lange ungestraft regieren und speculiren. Allein die Eng-
herzigkeit und Kurzsichtigkeit, welche die eigentlichen und
unverlierbaren Privilegien alles ächten Junkerthums sind, ver-
[174]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
leugneten sich auch in Rom nicht und zerrissen die mächtige
Gemeinde in nutz-, ziel- und ruhmlosem Hader.


Der politischen Revolution folgte also alsbald eine sociale,
die der blinde Egoismus der neuen Machthaber muthwillig
heraufbeschwor. Jene setzen die zurechtgemachten Annalen
ins Jahr 244, diese in die Jahre 259 und 260; doch ist der
Zwischenraum unzweifelhaft bedeutend länger gewesen. Die
strenge Uebung des Schuldrechts — so lautet die Erzählung
— erregte die Erbitterung der ganzen Bauerschaft. Als im
Jahre 259 für einen gefahrvollen Krieg die Aushebung veran-
staltet ward, weigerte sich die pflichtige Mannschaft dem Ge-
bot zu folgen, so daſs der Consul Publius Servilius die Anwen-
dung der Schuldgesetze vorläufig suspendirte und sowohl die
schon in Schuldhaft sitzenden Leute zu entlassen befahl als
auch den weiteren Lauf der Verhaftungen hemmte. Die Bauern
stellten sich und halfen den Sieg erfechten. Heimgekehrt
vom Schlachtfeld brachte der Friede, den sie erfochten hatten,
ihnen ihren Kerker und ihre Ketten wieder; mit erbarmungs-
loser Strenge wandte der zweite Consul Appius Claudius die
Creditgesetze an und der College, den die Soldaten anriefen,
wagte nicht sich zu widersetzen. Es schien, als sei die Col-
legialität nicht zum Schutz des Volkes eingeführt, sondern zur
Erleichterung des Treubruchs und der Despotie; indeſs man
litt was nicht zu ändern war. Als aber im folgenden Jahr
sich der Krieg erneuerte, galt das Wort des Consuls nicht
mehr. Erst dem ernannten Dictator Manius Valerius fügten
sich die Bauern, theils aus Scheu vor der höhern Amtsgewalt,
theils im Vertrauen auf seinen populären Sinn — die Valerier
waren eines jener alten Adelsgeschlechter, denen das Regiment
ein Recht und eine Ehre, nicht eine Pfründe dünkte. Der
Sieg war wieder bei den römischen Feldzeichen; aber als die
Sieger heimkamen und der Dictator seine Reformvorschläge
dem Senat vorlegte, scheiterten sie an dem hartnäckigen
Widerstand des Senats. Noch stand das Heer beisammen,
wie üblich, vor den Thoren der Stadt; als die Nachricht hin-
auskam, verlieſs es den Feldherrn und seine Lagerstatt und
zog, geführt von den Legionscommandanten, den plebejischen
Kriegstribunen, in militärischer Ordnung in die Gegend von
Crustumeria zwischen Tiber und Anio, wo es einen Hügel
besetzte und Miene machte in diesem fruchtbarsten Theil
des römischen Stadtgebiets eine neue Plebejerstadt zu
gründen. Dieser Abmarsch, bei dem die Verzagten und
[175]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Gleichgültigen durch den Corpsgeist und die geschlossene
militärische Organisation waren fortgerissen worden, lieſs dem
Senat keine Wahl als nachzugeben, zumal da auch den hart-
näckigsten Pressern jetzt auf eine handgreifliche Art demon-
strirt worden war, daſs ein solcher Bürgerkrieg auch mit
ökonomischem Ruin enden müsse. Der Dictator vermittelte
das Verträgniſs; die Bürger kehrten zurück in die Stadt-
mauern; die äuſserliche Einheit ward wiederhergestellt. Das
Volk nannte den Manius Valerius seitdem ‚den Groſsen‘ (ma-
ximus
) und den Berg jenseit des Anio ‚den heiligen‘; es lag
etwas Gewaltiges und Erhebendes in dieser ohne feste Lei-
tung unter den zufällig gegebenen Feldherrn von der Menge
selbst begonnenen und ohne Blutvergieſsen durchgeführten
Revolution, an die das Volk gern und stolz sich erinnerte.
Empfunden wurden ihre Folgen durch viele Jahrhunderte;
ihr entsprang das Volkstribunat.


Auſser den transitorischen Bestimmungen, namentlich zur
Abstellung der drückendsten Schuldnoth und zur Versorgung
einer Anzahl Landleute durch Gründung verschiedener Colo-
nien, brachte der Dictator verfassungsmäſsig ein Gesetz durch,
welches er überdies noch, ohne Zweifel um den Bürgern
wegen ihres gebrochenen Fahneneides Amnestie zu sichern,
von jedem einzelnen Gemeindeglied beschwören und sodann
in einem Gotteshause niederlegen lieſs unter Aufsicht und
Verwahrung zweier besonders dazu aus der Plebs bestellter
Beamten, der beiden ‚Hausherren‘ (aediles). Dies Gesetz
stellte den zwei patricischen Consuln fünf plebejische Tribunen
zur Seite als eine von der consularischen völlig unabhängige
und ihr coordinirte Gewalt, welche indeſs gegen das militäri-
sche Imperium, das heiſst gegen das der Dictatoren durchaus
und gegen das der Consuln auſserhalb der Stadt, unwirksam
ward. Doch fand keineswegs eine Theilung der Gewalten
statt. Das Imperium, das Recht zu befehlen blieb den Con-
suln ungeschmälert; dagegen erhielten die Tribunen theils das
Recht jeden von einem Beamten erlassenen Befehl, durch den
der betroffene Bürger sich verletzt hielt, durch ihren eingeleg-
ten Protest zu vernichten, theils die Befugniſs Criminalurtheile
unbeschränkt auszusprechen und dieselben, wenn Provocation
eingelegt ward, vor dem versammelten Volke zu vertheidigen;
woran sich dann sehr bald das Recht der Tribunen anschloſs
überhaupt zum Volk zu reden und Beschluſsfassung zu be-
wirken. Kraft des ersten Rechtes konnten sie dem Militär-
[176]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
pflichtigen es möglich machen sich straflos der Aushebung zu
entziehen, die Haft des verurtheilten Schuldners und die Unter-
suchungshaft verhindern oder aufheben und was dessen mehr
war. Damit auch nicht diese Rechtshülfe durch Entfernung der
Helfer vereitelt [werden könne], war ferner verordnet, daſs der
Tribun keine Nacht auſserhalb der Stadt zubringen dürfe und
Tag und Nacht seine Thüre offen stehen müsse. Aber daſs der
Richter seinen Spruch that, der Senat seinen Beschluſs faſste,
die Centurien abstimmten, konnten sie nicht wehren. — Kraft
ihres Richteramts konnten sie jeden Bürger, selbst den Consul
im Amte, durch ihre Boten vor sich laden, ihn, wenn er sich
weigerte, greifen lassen, ihn in Untersuchungshaft setzen oder
Bürgschaftstellung ihm gestatten und alsdann auf Tod oder Geld-
buſsen erkennen. Zu diesem Zweck standen die beiden zugleich
bestellten Aedilen des Volkes den Tribunen als Diener und
Gehülfen zur Seite, ebenso die Zehnmänner für Prozeſssachen
(iudices decemviri, später decemviri litibus iudicandis); die
Competenz der letzteren ist nicht bekannt, die Aedilen hatten
die Iudication gleich den Tribunen, vorzugsweise führten sie die
geringeren mit Buſsen sühnbaren Sachen. Da den Tribunen
das militärische Imperium fehlte, ohne das die Centurien nicht
versammelt werden konnten, und da es doch schlechterdings
nothwendig schien jene bei der Vertheidigung ihrer Urtheile vor
dem Volk in Folge eingelegter Provocation von den patricischen
Beamten unabhängig zu machen, so ward eine neue Abstim-
mungsweise für sie eingeführt, nach den Quartieren. Die vier
bisherigen Quartiere, die Stadt und Land umfaſsten, taugten in-
deſs dazu nicht, da sie zu groſs waren und die Zahl gerade; man
theilte deſshalb das Gebiet in ein und zwanzig neue Districte,
von denen die ersten vier die alten jetzt auf die nächste Umge-
bung der Stadt beschränkten waren, sechzehn andere gebildet
wurden aus dem Landgebiet mit Zugrundelegung der Ge-
schlechtergaue des ältesten römischen Ackers, die letzte end-
lich, die crustuminische, ihren Namen erhielt von dem Orte,
nach den die Plebejer ausgezogen waren. Die Stimmenden in
den Centurien wie in den Tribus waren im Wesentlichen
dieselben, die Gesammtheit der ansässigen Leute; aber der
Unterschied des groſsen und des kleinen Grundbesitzes so
wie das Vorstimmrecht des Adels fiel in den letzteren weg
und die hier präsidirenden Tribunen gaben der Versammlung
noch bestimmter einen oppositionellen Charakter. — Da so-
mit die Tribunen im peinlichen Prozeſs als Vertheidiger ihres
[177]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Urtheils vor dem Volke zu sprechen hatten, lag es nahe, daſs
sie auch zu andern Zwecken Versammlungen des Volkes an-
setzten und zu ihm sprachen oder sprechen lieſsen; welches
Recht durch das icilische Gesetz (262) ihnen noch besonders
gewährleistet und jedem, der dem Tribun ins Wort falle
oder das Volk auseinandergehen heiſse, eine schwere Strafe
gedroht ward. Daſs demnach dem Tribun nicht wohl gewehrt
werden konnte auch andere Beschlüsse als die Bestätigung
seiner Urtheilssprüche zum Antrag und zur Abstimmung zu
bringen, leuchtet ein; gültige Volksschlüsse waren derartige
‚Beliebungen der Menge‘ (plebi scita) zwar eigentlich nicht,
allein da der Unterschied denn doch mehr formaler Natur
war, ward wenigstens von plebejischer Seite die Gültig-
keit dieser Schlüsse als autonomischer Festsetzungen der Ge-
meinde sofort in Anspruch genommen und zum Beispiel das
icilische Gesetz auf diesem Wege durchgesetzt. — So waren
die Tribunen des Volkes bestellt dem Einzelnen zu Schirm
und Schutz, allen zur Leitung und Führung, versehen mit un-
beschränkter richterlicher Gewalt im peinlichen Verfahren um
also ihrem Befehl Nachdruck geben zu können, endlich selbst
persönlich für unverletzlich (sacrosancti) erklärt, indem das
Volk Mann für Mann für sich und seine Kinder geschworen
hatte den Tribun zu vertheidigen und wer sich an ihm ver-
griff, nicht bloſs den Göttern verfallen galt, sondern auch bei
den Menschen als vogelfrei und geächtet.


Die tribunicische Gewalt ist gewissermaſsen das Gegen-
bild der consularischen. Der jährliche Wechsel und die Un-
absetzbarkeit sind beiden Magistraturen gemein; ebenso die
eigenthümliche Collegialität, die in jedes einzelnen Beamten
Hand die volle Machtfülle legt und bei Collisionen das Nein
dem Ja vorgehen läſst — weſshalb, wo der Tribun verbietet,
das Verbot des Einzelnen trotz des Widerspruchs der Collegen
genügt, wo er dagegen anklagt, er durch jeden seiner Colle-
gen gehemmt werden kann. Consuln und Tribunen haben
volle und concurrirende Criminaljurisdiction; wie jenen die
beiden Quästoren, stehen diesen die beiden Aedilen hierin
zur Seite. Jene sind nothwendig Patricier, gewählt von den
wesentlich plebejischen Centurien; diese nothwendig Plebejer,
gewählt von den patricischen Curien. Jene haben die vollere
Macht, diese die unumschränktere, denn ihrem Verbot und
ihrem Gericht fügt sich der Consul, nicht aber dem Consul
sich der Tribun. So steht die positive und die negirende Macht,
Röm. Gesch. I. 12
[178]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
das Befehlen und Verbieten in der schärfsten und schroffsten
Weise gesetzlich sich gegenüber; der Hader war geschlichtet,
indem die Zwietracht der Reichen und der Armen gesetzlich
festgestellt und geordnet ward.


Aber was war erreicht damit, daſs man die Einheit der
Gemeinde brach, daſs auf den Wink eines einzigen dieser fünf
zu Magistraten erhobenen Oppositionschefs die Verwaltung im
gefährlichsten Augenblick zum Stocken gebracht werden konnte,
daſs man die Kriminalrechtspflege, indem man alle Beamte
dazu concurrirend bevollmächtigte, gleichsam gesetzlich aus
dem Recht in die Politik verwies und sie für alle Zeiten ver-
darb? Waren die Plebejer der politischen Gleichstellung, die
Armen der billigen Rechtspflege und der zweckmäſsigen Fi-
nanzverwaltung dadurch näher gerückt? — Ohne Zweifel war
das Tribunat eine mächtige Waffe in der Hand der Plebejer,
als sie die Zulassung zu den Magistraturen begehrten; aber
es war dies seine eigentliche Bestimmung keineswegs, es ist
den reichen Grund- und Capitalherren, nicht dem politisch
privilegirten Stande abgerungen und sollte nicht den plebeji-
schen Senatoren die Aemter verschaffen, sondern dem gemeinen
Mann billigen Rechtsschutz sichern. Diesen Zweck hat es nicht
erfüllt. Der Tribun mochte einzelnen Unbilden, einzelnen
schreienden Härten steuern; aber der Fehler lag nicht im
Unrecht, das man Recht hieſs, sondern im Rechte, welches
ungerecht war, und wie konnte der Tribun die ordentliche
Rechtspflege regelmäſsig hemmen? Hätte er es gekonnt, so
war damit noch wenig geholfen, wenn nicht die Quellen der
Verarmung verstopft wurden, die verkehrte Besteuerung, das
schlechte Creditsystem, die heillose Occupation der Domänen.
Aber hieran wagte man sich nicht, offenbar weil die reichen
Plebejer selbst an diesen Miſsbräuchen kein minderes Interesse
hatten als die Patricier. So gründete man diese Magistratur,
deren handgreiflicher Beistand dem gemeinen Mann einleuch-
tete und die doch die nothwendige ökonomische Reform un-
möglich durchsetzen konnte. Sie ist seltsam und kein Beweis
politischer Weisheit, sondern ein schlechtes Compromiſs zwi-
schen dem reichen Adel und der führerlosen Menge. Man
hat gesagt, das Volkstribunat habe Rom vor der Tyrannis be-
wahrt. Wäre es wahr, so würde es wenig bedeuten; die
Aenderung der Staatsform ist an sich für ein Volk kein Unheil,
und für das römische war es vielmehr ein Unglück, daſs die
Monarchie zu spät eingeführt ward nach Erschöpfung der
[179]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
physischen und geistigen Kräfte der Nation. Es ist aber nicht
einmal richtig; wie schon das beweist, daſs die italischen
Staaten ebenso regelmäſsig ohne Tyrannen geblieben sind wie
sie in den hellenischen regelmäſsig aufstanden. Der Grund
liegt einfach darin, daſs die Tyrannis überall die Folge des
allgemeinen Stimmrechts ist und daſs die Italiker länger als
die Griechen die nicht grundsässigen Bürger von den Gemein-
deversammlungen ausschlossen; als Rom hiervon abging, blieb
auch die Monarchie nicht aus, ja knüpfte eben an an das
tribunicische Amt. Daſs das Volkstribunat auch genützt hat,
indem es der Opposition gesetzliche Bahnen wies und manche
Verkehrtheit abwehrte, wird Niemand verkennen; aber ebenso
wenig, daſs wo es sich nützlich erwies, es für ganz andere
Dinge gebraucht ward als wofür man es begründet hatte. Das
verwegene Experiment den Führern der Opposition ein ver-
fassungsmäſsiges Veto einzuräumen und die Macht es rück-
sichtslos geltend zu machen, bleibt ein Nothbehelf, durch den
der Staat politisch desorganisirt und die socialen Miſsstände
durch ewige Palliative ziellos hingeschleppt wurden.


Der somit organisirte Bürgerkrieg ging seinen Gang. Wie
zur Schlacht standen die Parteien sich gegenüber, jede unter
ihren Führern; Beschränkung der consularischen, Erweiterung
der tribunicischen Gewalt ward auf der einen, die Vernich-
tung des Tribunats auf der andern Seite angestrebt; die ge-
setzlich straflos gemachte Insubordination, die Weigerung sich
zur Landesvertheidigung zu stellen waren die Waffen der Ple-
bejer, denen die Junker Gewalt und Einverständnisse mit den
Landesfeinden, gelegentlich auch den Dolch des Meuchelmör-
ders entgegensetzten; auf den Straſsen kam es zum Handge-
menge und hüben und drüben vergriff man sich an der Hei-
ligkeit der Magistratspersonen. Es zeigt von dem starken
Bürgersinn im Volk, nicht daſs es diese Verfassung sich gab,
sondern daſs es sie ertrug und die Gemeinde trotz der hef-
tigsten Krämpfe dennoch zusammenhielt. Das bekannteste
Ereigniſs aus diesen Ständekämpfen ist die Geschichte des
Gaius Marcius, eines tapferen Adlichen, der von Corioli's Er-
stürmung den Beinamen trug. Er soll im Jahr 263, erbittert
über die Weigerung der Centurien ihm das Consulat zu über-
tragen, beantragt haben, wie Einige sagen, die Einstellung der
Getreideverkäufe aus den Staatsmagazinen, bis das hungernde
Volk auf das Tribunat verzichte; wie Andere berichten, gera-
dezu die Abschaffung des Tribunats. Angeklagt von den Tri-
12*
[180]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
bunen auf Leib und Leben, habe er die Stadt verlassen, in-
deſs nur um zurückzukehren an der Spitze eines volskischen
Heeres; jedoch im Begriff seine Vaterstadt für den Landes-
feind zu erobern habe das ernste Wort der Mutter sein Ge-
wissen gerührt und also sei von ihm der erste Verrath durch
einen zweiten gesühnt worden und beide durch den Tod. Wie
viel darin wahr ist, läſst sich nicht entscheiden; aber die Er-
zählung, aus der die naive Impertinenz der römischen Anna-
listen eine vaterländische Glorie gemacht hat, öffnet den Ein-
blick in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser
ständischen Kämpfe. Aehnlich ist der Ueberfall des Capitols
durch eine Schaar politischer Flüchtlinge, geführt von Appius
Herdonius im Jahr 297; sie riefen die Sclaven zu den Waf-
fen und erst nach heiſsem Kampf und mit Hülfe der her-
beigeeilten Tusculaner ward die römische Bürgerwehr der
catilinarischen Bande Meister. Denselben Charakter fanati-
scher Erbitterung tragen andere Ereignisse dieser Zeit, deren
geschichtliche Bedeutung in den lügenseligen Stammsagen sich
nicht mehr erfassen läſst; so das Uebergewicht des fabischen
Geschlechtes, das von 269 bis 275 den einen Consul stellte,
und die Reaction dagegen, ihre Auswanderung aus Rom und
ihre Vernichtung durch die Etrusker an der Cremera (277).
Vielleicht hängt es mit diesem Hader zusammen, daſs das bis
dahin dem Magistrat zuständige Vorschlagsrecht der Nach-
folger wenigstens für den einen Consul wegfiel (um 273).
Noch gehässiger war die Ermordung des Volkstribuns Gnaeus
Genucius, der es gewagt hatte zwei Consulare zur Rechen-
schaft zu ziehen und der am Morgen des zu der Anklage
bestimmten Tages todt im Bette gefunden ward (281); die
unmittelbare Folge davon war das publilische Gesetz (283),
welches zwar nur als Gemeindebeliebung durchging, aber
dessen Anfechtung der Adel nicht wagte. Dadurch ging
die Wahl der Tribunen von den Curien über auf die Tri-
bus und es schwand damit die letzte versöhnliche Bestim-
mung, welche die Verfassung noch enthielt. — Folgenrei-
cher aber und einsichtiger angelegt als alle diese Partei-
manöver war der Versuch des Spurius Cassius dem wirklichen
Uebel abzuhelfen durch einen directen Angriff auf die finan-
zielle Omnipotenz der Reichen. Er war Patricier und keiner
that es in seinem Stande an Rang und Ruhm ihm zuvor;
nach zwei Triumphen, im dritten Consulat (268) beantragte
er eine Auftheilung des Gemeinlandes in der Volksversamm-
[181]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
lung, das heiſst er versuchte die Domänenverwaltung dem
Senat zu entreiſsen. Er mochte meinen, daſs die Auszeich-
nung seiner Persönlichkeit, die Gerechtigkeit und Weisheit
der Maſsregel durchschlagen könne selbst in diesen Wogen
der Leidenschaftlichkeit und der Schwäche; allein es miſslang.
Der Adel erhob sich wie ein Mann; die reichen Plebejer tra-
ten auf seine Seite; der gemeine Mann war miſsvergnügt,
weil Spurius Cassius, wie Bundesrecht und Billigkeit gebot,
auch den latinischen Eidgenossen bei der Assignation ihr Theil
geben wollte. Cassius muſste sterben; es ist etwas Wahres
in der Anklage, daſs er königliche Gewalt sich angemaſst habe,
denn freilich versuchte er gleich den Königen gegen seinen
Stand die Gemeinfreien zu schirmen. Sein Gesetz ging mit
ihm ins Grab, aber das Gespenst desselben stand seitdem den
Reichen unaufhörlich vor Augen und wieder und wieder stand
es auf gegen sie, bis unter den Kämpfen darüber das Ge-
meinwesen zu Grunde ging.


Da ward noch ein Versuch gemacht die tribunicische
Gewalt in der Weise zu beseitigen, daſs dem gemeinen Mann
die Rechtsgleichheit auf einem geregelteren und wirksameren
Wege gesichert ward. Der Volkstribun Gaius Terentilius
Arsa beantragte die Ernennung einer Commission von fünf
Männern zur Entwerfung eines gemeinen Landrechtes, an
das die Consuln künftighin in ihrer richterlichen Gewalt ge-
bunden sein sollten. Zehn Jahre vergingen, ehe dieser An-
trag zur Ausführung kam — Jahre des heiſsesten Stände-
kampfes, welche überdieſs vielfach bewegt waren durch Kriege
und innere Unruhen; mit gleicher Hartnäckigkeit hinderte die
Regierungspartei die Durchbringung des Gesetzes und ernannte
die Gemeinde wieder und wieder dieselben Männer zu Tribu-
nen. Man versuchte durch andere Concessionen den Angriff
zu beseitigen; im Jahre 297 ward die Vermehrung der Tri-
bunen von fünf auf zehn bewilligt — freilich ein zweifelhafter
Gewinn —; im folgenden Jahre durch ein icilisches Plebiscit,
das aufgenommen ward unter die beschworenen Privilegien
der Gemeinde, der Aventin, bisher Tempelhain und unbe-
wohnt, unter die ärmeren Bürger zu Bauplätzen erblichen
Besitzes aufgetheilt. Die Gemeinde nahm was ihr geboten
ward, allein sie hörte nicht auf das Landrecht zu fordern.
Endlich im Jahr 300 kam ein Vergleich zu Stande; die Abfas-
sung eines Landrechts ward beschlossen und vorläufig eine Ge-
sandtschaft nach Griechenland geschickt um die solonischen und
[182]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
andere griechische Gesetze heimzubringen. Endlich im Jahr
303 wurden ‚Zehnmänner zur Abfassung des Landrechts‘ aus
dem Adel gewählt, welche zugleich als höchste Beamte anstatt
der Consuln fungirten (decemviri consulari imperio legibus
scribundis
); das Volkstribunat so wie das Provocationsrecht
wurden suspendirt und die Zehnmänner nur verpflichtet die
beschworenen Freiheiten der Gemeinde nicht anzutasten. —
Erwägt man diese Maſsregeln in ihrem Zusammenhang, so
kann kaum ein anderer Zweck ihnen untergelegt werden als die
Beschränkung der consularischen Gewalt durch das geschrie-
bene Gesetz an die Stelle der tribunicischen Hülfe zu setzen.
Von beiden Seiten muſste man sich überzeugt haben, daſs es
so nicht bleiben konnte wie es war, und die Anarchie in
Permanenz erklären wohl die Gemeinde zu Grunde richtete,
aber in der That dabei ein reeller Erfolg für Niemand heraus-
kam. Ernsthafte Leute muſsten einsehen, daſs das Eingreifen
der Tribunen in die Administration so wie ihre Iudication
schlechterdings schädlich waren und der einzige wirkliche
Gewinn, den das Tribunat dem gemeinen Mann gebracht hatte,
der Schutz gegen parteiische Rechtspflege war, indem es als
eine Art Cassationsgericht die Willkür des Magistrats be-
schränkte. Ohne Zweifel ward, als die Plebejer ein geschrie-
benes Landrecht begehrten, von den Patriciern erwiedert, daſs
dann der tribunicische Rechtschutz überflüssig werde; und
hierauf scheint von beiden Seiten nachgegeben zu sein. Es
ist nicht klar und vielleicht überhaupt nie bestimmt ausge-
sprochen worden, wie es werden sollte nach Abfassung des
Landrechts; die Absicht aber war vermuthlich, daſs die Zehn-
männer bei ihrem Rücktritt dem Volke vorschlagen sollten
auf die tribuniscische Gewalt zu verzichten und die jetzt nicht
mehr nach Willkür, sondern nach geschriebenem Recht urthei-
lenden Consuln gewähren zu lassen.


Der Plan, wenn er bestand, war weise; es kam darauf
an, ob die leidenschaftlich erbitterten Gemüther hüben und
drüben diesen friedlichen Austrag annehmen würden. Die
Decemvirn des Jahres 303 brachten ihr Gesetz vor das Volk
und von diesem bestätigt wurde dasselbe, in zehn Erztafeln
eingegraben, auf dem Markt an der Rednerbühne vor dem
Rathhaus angeschlagen. Da indeſs noch ein Nachtrag erfor-
derlich schien, so ernannte man auf das Jahr 304 wieder
Zehnmänner, die noch zwei Tafeln hinzufügten; so entstand
das erste und einzige römische Landrecht, das Gesetz der
[183]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
zwölf Tafeln. Daſs dasselbe Neuerungen, abgesehen von po-
lizeilichen und bloſsen Zweckmäſsigkeitsbestimmungen, im
Ganzen nicht enthalten konnte, leuchtet ein. Selbst zur Mil-
derung der Schuldgesetze geschah nichts anderes als daſs ein
— wahrscheinlich sehr niedriges — Zinsmaximum (8⅓ Pro-
cent) verordnet und der Wucherer mit schwerer Strafe — cha-
rakteristisch genug mit einer weit schwereren als der Dieb —
bedroht ward; der strenge Schuldprozeſs ward wenigstens in
seinen Hauptzügen nicht geändert. Aenderungen der ständi-
schen Rechte waren begreiflicher Weise noch weniger beab-
sichtigt; der Unterschied zwischen Ansässigen und Nichtan-
sässigen, die Ungültigkeit der Ehe zwischen Adlichen und
Bürgerlichen wurden vielmehr aufs Neue im Stadtrecht bestä-
tigt, ebenso zur Beschränkung der Beamtenwillkür und zum
Schutz des Bürgers ausdrücklich vorgeschrieben, daſs das
spätere Gesetz durchaus dem früheren vorgehen und daſs kein
Volksschluſs gegen einen einzelnen Bürger erlassen werden
solle. Am bemerkenswerthesten ist die Ausschlieſsung der
Provocation in Capitalsachen an die Tributcomitien, während
die an die Centurien gewährleistet ward; was sich nur dadurch
erklärt, daſs die Abschaffung der tribunicischen Gewalt und
folglich auch der tribunicischen Criminalprozesse beabsichtigt
war. Die wesentliche politische Bedeutung lag weit weniger
in dem Inhalt des Weisthums als in der jetzt förmlich fest-
gestellten Verpflichtung der Consuln, nach diesen Prozeſsfor-
men und diesen Rechtsregeln Recht zu sprechen, und in der
öffentlichen Aufstellung des Gesetzbuchs, wodurch die Rechts-
verwaltung der Controle der Publicität unterworfen und der
Consul genöthigt ward allen gleiches und wahrhaft gemeines
Recht zu sprechen.


So war das Stadtrecht vollendet; es blieb den Zehnmännern
nur noch übrig die beiden letzten Tafeln zu publiciren und
alsdann der ordentlichen Magistratur Platz zu machen. Sie
zögerten indeſs; unter dem Vorwande, daſs das Gesetz noch
immer nicht fertig sei, führten sie selbst nach Verlauf des
Amtsjahres ihr Amt weiter, was nach römischem Staatsrecht
möglich war, da auch der auf Zeit bestellte Beamte erst durch
Niederlegung des Amtes Beamter zu sein aufhörte. Was
der Grund davon war, ist schwer zu sagen; wahrscheinlich
fürchtete die Regierungspartei, daſs beim Wiedereintreten der
Consuln die Erneuerung auch des tribunicischen Collegiums
gefordert werden würde, und wartete wenigstens auf einen
[184]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
günstigen Moment zur Erneuerung des Consulats ohne die
Beschränkungen der valerischen Gesetze. Die gemäſsigte Partei
der Aristokratie, die Valerier und Horatier an ihrer Spitze,
versuchte, heiſst es, im Senat die Abdankung der Decemvirn
zu erzwingen; allein das Haupt der Zehnmänner Appius Clau-
dius, ein leidenschaftlicher Vorfechter der strengen Adelspartei,
gewann bei dem gröſseren Theil der Senatoren das Uebergewicht,
und auch das Volk fügte sich. Die Aushebung eines doppelten
Heeres ward ohne Widerspruch vollzogen und der Krieg gegen
die Volsker wie gegen die Sabiner begonnen. Allein die Re-
volution gährte in den Gemüthern; zum Ausbruch brachte sie
die Ermordung des ehemaligen Volkstribuns Lucius Siccius
Dentatus, des tapfersten Mannes in Rom, der in hundert und
zwanzig Schlachten gefochten und fünf und vierzig ehrenvolle
Narben aufzuzeigen hatte, und der jetzt im Lager umgebracht
gefunden ward, ermordet wie es hieſs auf Anstiften der Zehn-
männer; ferner der ungerechte Wahrspruch des Appius in dem
Freiheitsprozeſs gegen die Tochter des Centurionen Lucius Vir-
ginius, die Braut des ehemaligen Volkstribuns Lucius Icilius,
welcher Spruch den Vater zwang seiner Tochter selbst auf
offenem Markt das Messer in die Brust zu stoſsen, um sie
der Schande zu entreiſsen. Während das Volk erstarrt ob
der unerhörten That die Leiche des schönen Mädchens um-
stand, befahl der Decemvir seinen Bütteln den Vater und als-
dann den Bräutigam vor seinen Stuhl zu führen und ihm, von
dessen Spruch keine Berufung galt, sofort Rede zu stehen
wegen ihrer Auflehnung gegen seine Gewalt. Nun war das
Maſs voll. Während der Senat zittert und schwankt, erschei-
nen der Vater und der Bräutigam mit zahlreichen Zeugen der
furchtbaren That in den beiden Lagern; die Heere verlassen
ihre Führer, sie ziehen in kriegerischer Ordnung durch die
Stadt und abermals auf den heiligen Berg, wo sie abermals
ihre Tribunen sich ernennen. Immer noch weigern die De-
cemvirn die Niederlegung ihrer Gewalt; da erscheint das
Heer mit seinen Tribunen in der Stadt und lagert sich auf
dem Aventin. Jetzt endlich, wo der Bürgerkrieg schon da
war und der Straſsenkampf stündlich beginnen konnte, jetzt
entsagen die Zehnmänner ihrer usurpirten und entehrten Ge-
walt und Lucius Valerius und Marcus Horatius vermitteln einen
zweiten Vergleich, durch den das Volkstribunat wieder her-
gestellt wurde. Die Anklagen gegen die Decemvirn endigten
damit, daſs die beiden schuldigsten, Appius Claudius und
[185]VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Spurius Oppius im Gefängniſs sich das Leben nahmen, die
acht andern ins Exil gingen und der Staat ihr Vermögen ein-
zog. Weitere gerichtliche Verfolgungen hemmte der kluge und
gemäſsigte Volkstribun Marcus Duilius durch rechtzeitigen Ge-
brauch seines Veto.


So lautet die Erzählung, die wie gewöhnlich die Anlässe
ausmalt und die Ursachen zurücktreten läſst. Es sind nicht
die einzelnen Schandthaten der Zehnmänner, die die Erneue-
rung der tribunicischen Gewalt provocirten. Die Plebejer büſs-
ten durch deren Untergang die einzige ihnen zugängliche
politische Stellung ein und es ist begreiflich, daſs es den
Führern mit dem Verzicht auf dieselbe vielleicht niemals Ernst
war, daſs sie wenigstens die erste Gelegenheit ergriffen um
dem Volke darzuthun, daſs der todte Buchstabe keineswegs
dem tribunicischen Arm vergleichbar sei. Der Uebermuth des
Adels, der seltsamer Weise zu den Zehnmännern seine eifrig-
sten Vorfechter ausgelesen hatte, kam ihnen auf halbem Wege
entgegen und so zerriſs der Unverstand der Parteien wie
Spinneweben den Einigungsplan. — Der neue Vergleich fiel
wie natürlich durchaus zu Gunsten der Plebejer aus und be-
schränkte in empfindlicher Weise die Gewalt des Adels. Daſs
das dem Adel abgedrungene Stadtrecht, dessen beide letz-
ten Tafeln nachträglich publicirt wurden, in dem Vergleich
festgehalten und die Consuln danach zu richten verpflich-
tet wurden, versteht sich von selbst. Dadurch verloren
allerdings die Tribus die Gerichtsbarkeit in Capitalsachen;
allein zum reichlichen Ersatz dafür ward verordnet, daſs
künftig jeder Magistrat, also auch der Dictator bei seiner
Ernennung verpflichtet werden müsse, der Provocation statt-
zugeben; wer dem zuwider einen Beamten ernannte, büſste
mit dem Kopfe und galt als vogelfrei. Den Tribunen blieb in
dem Recht auf Geldbuſsen unbeschränkt zu erkennen und
diesen Spruch an die Tributcomitien zu bringen ein ausrei-
chendes Mittel die bürgerliche Existenz ihres Gegners zu ver-
nichten. Neu war es, daſs den Tribunen und ihren Comitien
Einfluſs eingeräumt ward auf die Administration und die Fi-
nanzen. Die Verwaltung der Kriegskasse ward den Consuln
abgenommen und zweien Zahlmeistern (quaestores) übertragen,
die von den Tribunen in ihren Comitien, jedoch aus dem
Adel ernannt wurden; dies waren die ersten ‚Gemeindebelie-
bungen‘, denen unbestrittene Rechtskraft zukam und um deren
willen deſshalb auch den Tribunen das Recht der Vogelschau
[186]ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
gewährt ward. Folgenreicher noch war es, daſs den Tribunen
eine berathende Stimme im Senat eingeräumt und, damit keine
Unterschiebung oder Verfälschung von Senatsschlüssen statt-
finde, den Aedilen deren Aufbewahrung überwiesen ward.
Zwar in den Saal des Senats die Tribunen zuzulassen schien
dem Senat unter seiner Würde; es wurde ihnen eine Bank
an die Thüre gesetzt um von da aus den Verhandlungen zu
folgen. Allein man konnte es nicht wehren, daſs die Tribunen
jetzt einschritten gegen einen ihnen miſsfälligen Senatsbeschluſs
und daſs sich, wenn auch erst allmählich, der neue Grundsatz
feststellte, daſs jede Beschluſsfassung des Senats oder der
Volksversammlung durch Einschreiten eines Tribuns gehemmt
ward. So endigte dieser Kampf, der begonnen war um die
tribunicische Gewalt zu beseitigen, mit der definitiven Vollen-
dung ihres Cassirungsrechts sowohl einzelner Administrations-
acte auf Anrufen des Beschwerten als auch jeder Beschluſs-
nahme der constitutiven Staatsgewalten nach dem Ermessen
des Tribuns. Mit den heiligsten Eiden und allem was die
Religion Ehrfürchtiges darbot wurde sowohl die Person der
Tribunen als die ununterbrochene Dauer und die Vollzählig-
keit des Collegiums gesichert. Es ist seitdem nie wieder in
Rom ein Versuch gemacht worden diese Magistratur aufzuheben.


[[187]]

KAPITEL III.



Die Ausgleichung der Stände.


Die tribunicischen Bewegungen scheinen vorzugsweise
aus den socialen, nicht aus den politischen Miſsverhältnissen
hervorgegangen zu sein und es ist guter Grund vorhanden
zu der Annahme, daſs ein Theil der vermögenden in den
Senat aufgenommenen Plebejer denselben nicht minder ent-
gegen war als die Patricier; denn auch sie waren Privilegirte
und wenn sie auch wieder in anderer Beziehung sich zurück-
gesetzt fanden, so mochte es ihnen doch keineswegs an der
Zeit scheinen ihre Ansprüche auf Theilnahme an den Aemtern
geltend zu machen, während der ganze Senat in seiner finan-
ziellen Sondermacht bedroht war. So erklärt es sich, daſs
während der ersten fünfzig Jahre der Republik kein Schritt
geschah, der direct auf politische Ausgleichung der Stände
hinzielte. — Allein wie unhaltbar diese Allianz der Patricier
und der mit ihnen haltenden reichen Plebejer war, leuchtet
ein. Ohne Zweifel hat ein Theil der vornehmen plebejischen
Familien von Haus aus der Bewegungspartei sich angeschlos-
sen, theils aus Billigkeitsgefühl gegen ihre Standesgenossen,
theils in Folge des natürlichen Bundes aller Zurückgesetzten,
theils endlich weil sie begriffen, daſs Concessionen an die
Menge unvermeidlich waren und daſs sie, richtig benutzt, der
plebejischen Aristokratie das entscheidende Gewicht im Staate
geben und die politische Gleichheit zur Folge haben würden.
Wenn die vornehmen Plebejer an die Spitze ihres Standes
traten, so hielten sie in dem Tribunat den Bürgerkrieg ge-
[188]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
setzlich in der Hand und konnten mit dem socialen Nothstand
die Schlachten schlagen, um dem Adel die Friedensbedingun-
gen zu dictiren und als Vermittler zwischen beiden Parteien
mühelos für sich den Zutritt zu den Aemtern zu erzwingen. —
Ein solcher Wendepunkt in der Stellung der vornehmen Plebejer
trat ein nach dem Sturz des Decemvirats. Es war jetzt voll-
kommen klar geworden, daſs das Volkstribunat sich nicht besei-
tigen lieſs; die plebejische Aristokratie konnte nichts Besseres
thun als sich dieses mächtigen Hebels zu bemächtigen zur
Beseitigung der politischen Zurücksetzung ihres Standes.


Wie wehrlos der Adel der vereinigten Plebs gegenüber-
stand, zeigt nichts so augenscheinlich, als daſs die beiden
Fundamentalsätze der exclusiven Partei, die Ungültigkeit der
Ehe zwischen Adlichen und Bürgerlichen und die Unfähigkeit
der Bürgerlichen zur Bekleidung eines Amtes, kaum vier Jahre
nach der Decemviralrevolution und auf den ersten Streich
fielen. Im Jahre 309 wurde bestimmt durch das canuleiische
Gesetz, daſs die Ehe zwischen Adlichen und Bürgerlichen als
eine rechte römische gelten und die daraus erzeugten Kinder
dem Stande des Vaters folgen sollten; und es wurde ferner
durchgesetzt, daſs statt der Consuln Kriegstribune mit consu-
larischer Gewalt ernannt werden sollten, zu welchem Amt
nach altem Recht jeder dienstpflichtige Römer wählbar war.
— Damit waren die Adelsprivilegien in der That gesetzlich
beseitigt, und wenn der römische Adel seines Namens werth
gewesen wäre, hätte er jetzt den Kampf aufgeben müssen.
Allein wenn auch ein vernünftiger und gesetzlicher Widerstand
fortan unmöglich war, so bot sich doch noch ein weites Feld
für die ohnmächtige und tückische Opposition der kleinen Mittel,
der Schikanen, der Kniffe, und indem der Adel es nicht ver-
schmähte auf solchem Wege seine Ehre und seine Staatsklug-
heit zu compromittiren, konnte er sich rühmen den Bürger-
krieg noch ein Jahrhundert verlängert und dem gemeinen
Mann Concessionen verschafft zu haben, zu welcher die rö-
mische Aristokratie, wenn sie sich aufrichtig hätte einigen
können, nicht leicht gezwungen worden wäre. — Die Mittel,
deren der Adel sich bediente, waren so mannichfach wie die
politische Kümmerlichkeit überhaupt. Man gab in der Sache
nach, versagte aber in kränkender Weise den Bürgerlichen
den ehrenvollen Namen des Consulats und die Zulassung zur
Ehre des Triumphes. Statt ein für allemal zu entscheiden,
räumte man, was man einräumen muſste, nur für die näch-
[189]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
sten Wahlen ein; jährlich erneuerte sich der eitle Kampf, ob
patricische Consuln oder aus beiden Ständen Kriegstribunen
mit gleicher Gewalt ernannt werden sollten und unter den
Waffen des Adels erwies sich diese, den Gegner durch Er-
müdung und Langeweile zu überwinden, keineswegs als die
unwirksamste. Man zersplitterte die bis dahin ungetheilte
höchste Gewalt, um die unvermeidliche Niederlage durch Ver-
mehrung der Angriffspuncte in die Länge zu ziehen. So wurde
die Feststellung des Budgets und der Bürger- und Steuer-
listen, welche bisher durch die Consuln oder durch von ihnen
ernannte Stellvertreter besorgt worden war, schon im Jahre
311 zweien von den Centurien aus dem Adel ernannten
Schätzern (censores) übertragen; doch hatte dieses Amt ur-
sprünglich keineswegs die hohe Bedeutung und die moralische
Suprematie, die im Verlauf der Zeit ihm beigelegt worden ist.
Ebenso wurde im Jahre 333 den Consuln die Ernennung ihrer
beiden Quästoren entzogen; offenbar in der Absicht, da die
Plebs von dem höchsten Amte einmal nicht mehr auszuschlie-
ſsen war, diesem Amt selbst seine finanzielle Macht zu ent-
ziehen und durch die Censoren und Quästoren das Budget
und die Staatskasse in der Hand des Adels festzuhalten. Der
letztere Plan indeſs gelang nur halb, da die Plebejer alsbald
durchsetzten, daſs die Quästoren aus beiden Ständen gewählt
werden könnten. — Geradezu die plebejischen Rechte anzu-
greifen wagte man kaum; und wo es geschah, zeigt sich der
Angriff mehr als ein Act impotenter Rache denn als ein
politisches Beginnen. So namentlich der Proceſs gegen Mae-
lius. Spurius Maelius, ein reicher Plebejer, verkaufte während
schwerer Theurung (316) Getreide zu solchen Preisen, daſs
er den patricischen Magazinvorsteher (praefectus annonae)
Gaius Minucius beschämte und beschimpfte. Dieser beschul-
digte ihn des Strebens nach der königlichen Gewalt; mit
welchem Recht, können wir freilich nicht entscheiden, allein
kaum glaublich ist es, daſs ein Mann, der nicht einmal das
Tribunat bekleidet hatte, ernstlich an die Tyrannis gedacht
haben sollte. Indeſs man nahm die Sache ernsthaft. Titus
Quinctius Capitolinus, der zum sechsten Mal Consul war, er-
nannte den achtzigjährigen Lucius Quinctius Cincinnatus zum
Dictator ohne Provocation, in offener Auflehnung gegen die
beschworenen Gesetze. Maelius, vorgeladen, machte Miene
sich dem Befehl zu entziehen; da erschlug ihn der Reiter-
führer des Dictators, Gaius Servilius Ahala mit eigener Hand.
[190]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
Sein Haus ward niedergerissen, das Getreide aus seinen Spei-
chern dem Volke umsonst vertheilt, und die seinen Tod zu
rächen drohten heimlich über die Seite gebracht. Dieser
schändliche Justizmord, eine Schande mehr noch für das
leichtgläubige und blinde Volk als für die tückische Junker-
partei, ging ungestraft hin; aber wenn diese gehofft hatte
damit das Provocationsrecht zu untergraben, so hatte sie um-
sonst die Gesetze verletzt und umsonst unschuldiges Blut ver-
gossen. — Besser indeſs als alle übrigen Mittel dienten dem
Adel Wahlintriguen und Pfaffentrug. Wie arg jene gewesen sein
müssen, zeigt am besten, daſs schon 322 es nöthig schien
ein eigenes Gesetz gegen Wahlumtriebe zu erlassen, das natür-
lich nichts half. Konnte man auf die Stimmberechtigten nicht
wirken durch Corruption oder Drohung, so thaten die Wahl-
directoren das Uebrige und lieſsen zum Beispiel so viele ple-
bejische Candidaten zu, daſs die Stimmen der Opposition sich
zersplitterten, oder lieſsen diejenigen weg, die die Majorität
zu wählen beabsichtigte. Ward trotz alle dem eine solche
Wahl durchgesetzt, so wurden die Priester befragt, ob nicht
eine Nichtigkeit in der Vogelschau oder den sonstigen religiö-
sen Ceremonien bei dieser Wahl vorgekommen seien; welche
diese alsdann zu entdecken nicht ermangelten. Unbekümmert
um die Folgen und uneingedenk des weisen Beispiels der
Ahnen lieſs man den Satz sich feststellen, daſs den priester-
lichen Sachverständigen-Collegien das Recht zukomme jeden
Staatsact, Gesetz oder Wahl wegen Verletzung religiöser Er-
fordernisse zu cassiren. Auf diesem Wege wurde es möglich,
daſs, nachdem die Wählbarkeit der Plebejer als Grundsatz
schon im Jahre 309 gesetzlich festgestellt worden war und
seitdem gesetzlich anerkannt blieb, dennoch nicht vor dem
Jahre 345 eine plebejische Wahl zur Quästur und nicht vor
dem Jahre 354 eine plebejische Wahl zum consularischen
Kriegstribunat durchgesetzt wurde. Es zeigte sich, daſs die
principielle Abschaffung der Adelsprivilegien durch gesetzliche
Anordnungen der plebejischen Aristokratie noch keineswegs
wirklich gleiche Stellung gab mit dem Adel. In den Comitien
entschieden die Stimmen des Mittelstandes, der sich nicht be-
rufen fand die vornehmen Nichtadlichen vorzugsweise auf den
Schild zu heben, so lange seine eigenen Anliegen von der
plebejischen nicht minder wie von der patricischen Aristokratie
zurückgewiesen wurden.


Die socialen Fragen hatten während dieser politischen
[191]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
Kämpfe im Ganzen geruht oder waren doch mit geringer
Energie verhandelt worden. Seitdem die plebejische Aristo-
kratie des Tribunats sich zu ihren Zwecken bemächtigt hatte,
war weder von der Domänenangelegenheit noch von dem
Creditwesen ernstlich die Rede gewesen; obwohl es weder
fehlte an neu gewonnenen Ländereien noch an verarmenden
oder verarmten Bauern. Einzelne Assignationen, namentlich
in neu gewonnenen Grenzgebieten, erfolgten wohl, so des ar-
deatischen Gebietes 312, des lavicanischen 336, des veienti-
schen 361, jedoch mehr aus militärischen Gründen als um
dem Bauer zu helfen und keineswegs in ausreichendem Um-
fang. Wohl machten einzelne Tribunen den Versuch das Ge-
setz des Cassius wieder aufzunehmen; so stellten Spurius
Maecilius und Spurius Metilius im Jahre 337 den Antrag auf
Auftheilung sämmtlicher Staatsländereien — allein sie schei-
terten, charakteristisch genug für die damalige Situation, an
dem Widerstand ihrer eigenen Collegen, das heiſst der plebe-
jischen Aristokratie. Auch unter den Patriciern versuchten
einzelne der gemeinen Noth zu helfen; allein mit nicht bes-
serem Erfolge wie einst Spurius Cassius. Patricier wie dieser
und wie dieser ausgezeichnet durch Kriegsruhm und persön-
liche Tapferkeit trat Marcus Manlius, der Retter der Burg
während der gallischen Belagerung, als Vorkämpfer auf für die
unterdrückten Leute, mit denen die Kriegskameradschaft und
der bittere Haſs gegen seinen Rivalen, den gefeierten Feld-
herrn und optimatischen Parteiführer Marcus Furius Camillus
ihn verband. Als ein tapferer Offizier ins Schuldgefängniſs
abgeführt werden sollte, trat Manlius für ihn ein und löste
ihn aus mit seinem Gelde; zugleich bot er seine Grundstücke
zum Verkauf aus, laut erklärend, daſs so lange er noch einen
Fuſs breit Landes besitze, solche Unbill nicht vorkommen solle.
Das war mehr als genug um die ganze Regimentspartei, Pa-
tricier wie Plebejer, gegen den gefährlichen Neuerer zu ver-
einigen. Der Hochverrathsprozeſs, die Anschuldigung der
beabsichtigten Erneuerung des Königthums wirkte mit jenem
tückischen Zauber stereotyp gewordener Parteiphrasen auf
die blinde Menge; sie selbst verurtheilte ihn zum Tode und
nichts trug sein Ruhm ihm ein als daſs man das Volk zum
Blutgericht an einem Ort versammelte, von wo die Stimmen-
den den Burgfelsen nicht erblickten, den stummen Mahner an
die Rettung des Vaterlandes aus der höchsten Gefahr durch
die Hand desselben Mannes, welchen man jetzt dem Henker
[192]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
überlieferte (370). — Während also die Reformversuche im
Keim erstickt wurden, wurde das Miſsverhältniſs immer schreien-
der durch die bedeutende Erweiterung der Domanialbesitzungen
in Folge der glücklichen Kriege, und andrerseits griff die Ueber-
schuldung und Verarmung immer weiter in der Bauernschaft
um sich, namentlich in Folge des schweren veientischen Krie-
ges (348-358) und der Einäscherung der Hauptstadt bei dem
gallischen Ueberfall (364). Zwar als es in dem veientischen
Kriege nothwendig wurde die Dienstzeit der Soldaten zu ver-
längern und sie statt nur für den Sommer auch den Winter
hindurch unter den Waffen zu halten, und als die Bauernschaft,
die vollständige Zerrüttung ihrer ökonomischen Lage voraus-
sehend, im Begriff war ihre Einwilligung zu der Kriegserklä-
rung zu verweigern, entschloſs sich der Senat zu einer wich-
tigen Concession: er übernahm den Sold, den bisher die
Districte durch Umlage aufgebracht hatten, auf die Staatskasse,
das heiſst auf den Ertrag der indirecten Abgaben und der
Domänen (348). Nur für den Fall, daſs die Staatskasse au-
genblicklich leer sei, wurde des Soldes wegen eine allgemeine
Umlage (tributum) ausgeschrieben, die indeſs als gezwungene
Anleihe betrachtet und von der Staatskasse späterhin zurück-
gezahlt ward. Die Einrichtung war billig und weise; allein
da das wesentliche Fundament, eine reelle Verwerthung der
Domänen zum Besten der Staatskasse, ihr nicht gegeben
ward, so kamen zu der vermehrten Last des Dienstes noch
häufige Umlagen, die den kleinen Mann darum nicht weniger
ruinirten, daſs sie officiell nicht als Steuern, sondern als Vor-
schüsse betrachtet wurden.


Unter solchen Umständen, wo die plebejische Aristokratie
sich durch den Widerstand des Adels und die Gleichgültigkeit
der Gemeinde thatsächlich von der politischen Gleichberech-
tigung ausgeschlossen sah und die leidende Bauerschaft der
geschlossenen Aristokratie ohnmächtig gegenüberstand, lag es
nahe ein Compromiſs zu versuchen. Dies waren die licinisch-
sextischen Gesetze, die einerseits mit Beseitigung des Consu-
lartribunats den Grundsatz feststellten, daſs wenigstens der
eine Consul Plebejer sein müsse und den Plebejern ferner den
Zutritt zu dem einen der drei groſsen Priestercollegien, dem auf
zehn Mitglieder vermehrten der Orakelbewahrer (decemviri
sacris faciundis
) eröffneten; andrerseits theils für die Occupa-
tion des Domaniallandes ein Maximum von 500 Iugern (= 494
preuſsische Morgen) für jeden Bürger feststellten, theils den
[193]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
Schuldnern durch Abzug der gezahlten Zinsen vom Capital
und Anordnung von Rückzahlungsfristen Erleichterung schaff-
ten. Vergeblich boten die Patricier gegen diese Gesetzvor-
schläge ihre letzten Mittel auf; selbst die Dictatur und der
alte Kriegsheld Camillus vermochten nur ihre Durchbringung
zu verzögern, nicht sie abzuwenden. Gern hätte auch das
Volk die Vorschläge getheilt; was lag ihm am Consulat, wenn
nur die Schuldenlast erleichtert und das Gemeinland frei ward!
Aber umsonst war die plebejische Nobilität nicht popular; sie
faſste die Gesetze in eine einzige Rogation zusammen und sie
gingen endlich nach lang-, angeblich elfjährigem Kampfe durch
im Jahre 387. Zwar das unverbesserliche Junkerthum verleug-
nete sich auch hier nicht; auch jetzt suchte man noch durch
ein politisches Kipp- und Wippsystem einige Trümmer der
alten Vorrechte zu bergen. Unter dem Vorwande, daſs das
Recht ausschlieſslich dem Adel bekannt sei, ward von dem
Consulat, als dies den Plebejern eröffnet ward, die Rechts-
pflege getrennt und dafür ein eigener dritter Consul oder,
wie er gewöhnlich heiſst, ein Praetor bestellt. Ebenso er-
hielten die Marktaufsicht und die damit verbundenen Polizei-
gerichte zwei neu ernannte Aedilen, die von ihrer ständigen
Gerichtsbarkeit zum Unterschied von den plebejischen die
Gerichtsstuhl-Aedilen (aediles curules) genannt wurden. Allein
die curulische Aedilität ward sofort den Plebejern zugänglich,
so wie dagegen umgekehrt die bisher plebejische den Patri-
ciern; im Jahre 415 ward die Censur, im Jahre 417 die
Praetur den Plebejern geöffnet. Es hatten sich jetzt die ehe-
maligen Vorrechte des Geschlechtsadels bei der Aemterbewer-
bung in Zurücksetzungen verwandelt; denn während der Ple-
bejer jedes Amt bekleiden konnte, waren die Geschlechter
ausgeschlossen vom Tribunat und von der zweiten Censor-
und Consulstelle. In den ersten Decennien nach dem licinisch-
sextischen Gesetze ist dasselbe freilich noch mehrere Male
übertreten worden durch Ernennung zweier patricischer Con-
suln; allein auch dies finden wir seit dem Jahre 411 nicht
wieder. Ebenso wenig änderte es an der Sache, wenn noch
einmal ein patricischer Augur in der Wahl eines plebejischen
Dictators (427) geheime ungeweihten Augen verborgene Mängel
fand. Das Recht endlich der patricischen Senatoren den Be-
schluſs der Centurien zu bestätigen oder zu verwerfen, das
sie auszuüben freilich wohl selten gewagt hatten, wurde ihnen
durch das publilische Gesetz von 415, von dem das maenische
Röm. Gesch. I. 13
[194]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
von 416 wohl nicht verschieden ist, in der Art entzogen, daſs
sie jeden Beschluſs der Centurien im Voraus zu bestätigen
angewiesen wurden. — Länger behaupteten begreiflicher Weise
die Geschlechter ihre religiösen Vorrechte; ja an manche der-
selben, die ohne politische Bedeutung waren, wie namentlich
an ihre ausschlieſsliche Wählbarkeit zu den drei höchsten
Flaminaten und dem sacerdotalen Königthum, hat man nie-
mals gerührt. Dagegen waren die beiden Collegien der Pon-
tifices und der Auspices, an welche die Kunde des Rechtes
und ein bedeutender Einfluſs auf die Comitien sich knüpfte, zu
wichtig als daſs diese Sonderbesitz der Patricier hätten bleiben
können; das ogulnische Gesetz vom Jahre 454 erklärte auch
die Plebejer für wählbar in dieselben, und seitdem ist überall
nicht mehr die Rede von dem Hader der Geschlechter und
der Gemeinen, der so lange den Staat bewegt und so zweck-
los das öffentliche Leben zerrüttet und vergiftet hatte. In
der That aber hörte der Geschlechtsadel in Rom auf eine
politische Institution zu sein schon mit den licinisch-sextischen
Gesetzen: seine späteren Widerspenstigkeiten sind nichts als
gleichgültige Umtriebe schmollender Junker. Mit Recht weihte
Marcus Furius Camillus nach dem Durchgang jener Rogation
deſswegen der Eintracht ein Heiligthum, auf einer über der
alten Malstatt der Bürgerschaft, dem Comitium erhöheten Flä-
che am Fuſse des Capitols, wo der Senat häufig zusammenzu-
treten pflegte; dieser Platz hieſs seitdem der Eintrachtsplatz.
Es war die letzte öffentliche Handlung des alten Vorkämpfers
der Adelspartei und eine seiner schönsten, die religiöse Weihe
der Ausgleichung und Sühnung des nur zu lange fortgespon-
nenen Zwistes.


Ein anderer Gegensatz tieferer Begründung und ernst-
licherer Bedeutung befestigte sich nur um so mehr, seitdem
die Adelsprivilegien beseitigt waren. Die reichen und ange-
sehenen Familien, die factisch das Regiment ausschlieſslich in
Händen hatten und social immer mehr zu einem eigenen
scharf abgeschlossenen Stande erwuchsen, standen in den
Interessen wie in den Ansichten bestimmt entgegen sowohl
der mittleren und kleinen Bauerschaft als der nicht mit Grund-
besitz ansässigen Menge, welche letztere jetzt zuerst in der
politischen Geschichte hervorzutreten beginnt. Diese Gegensätze
aufheben zu wollen konnte einem praktischen Staatsmann nicht
einfallen; wohl aber war es eine wichtige Aufgabe, ja die erste
von allen, den Mittelstand zu conserviren und dem entgegen-
[195]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
zuwirken, daſs die Bürgerschaft sich auflöse in Aristokratie
und Proletariat, wovon die unvermeidliche Folge die Despotie
in dieser oder jener Form gewesen sein würde. In der That
wurde von den Behörden in der Epoche nach dem licinisch-
sextischen Gesetz mit gröſserer Energie als zu irgend einer ande-
ren Zeit vor- oder nachher darauf hingearbeitet den ansässigen
Mittelstand zu schützen. Die Vorschriften in Betreff der Domä-
nenoccupation wurden mit Strenge gehandhabt; es ist charak-
teristisch für die Stellung der plebejischen Aristokratie, daſs
einer der Urheber des neuen Ackergesetzes, Gaius Licinius,
selbst unter den ersten wegen Ueberschreitung des Acker-
maximum Verurtheilten sich befand. Ebenso suchte man dem
Creditwesen aufzuhelfen. Die Wuchergesetze, die schon die
zwölf Tafeln aufgestellt hatten, wurden erneuert und allmäh-
lich geschärft, so daſs das Zinsmaximum successiv von 12
(im Jahre 397) auf 6 von Hundert (im Jahre 407) ermäſsigt
und endlich (Jahr 412) das Zinsnehmen ganz verboten ward.
Die letztere Thorheit scheint sich bald von selbst aufgehoben
zu haben; factisch blieb es wohl bei dem Maximum von 12
vom Hundert, das nach den Geldverhältnissen des Alterthums
überhaupt ungefähr sein mochte was heute die Maxima von
fünf oder sechs vom Hundert. Strafklagen gegen notorische
Wucherer wurden häufig vor das Volk gebracht und fanden
bereitwilliges Gehör; im Jahre 402 wurde eine Schuldentil-
gungscommission niedergesetzt und 407 gesetzliche Terminzah-
lungen angeordnet. Wichtiger noch war die Aenderung des
Schuldprozesses durch das poetelische Gesetz (428 oder 441),
nach welchem theils jeder Schuldner, der seine Zahlungsfähig-
keit eidlich erhärtete, durch Abtretung seines Vermögens seine
persönliche Freiheit sich rettete, theils das bisherige kurze
Executivverfahren bei der Darlehnsschuld abgeschafft ward. —
Daſs alle diese Mittel nicht genügen konnten, leuchtet ein;
wie groſs in der That noch die Schuldenlast blieb, zeigt die
Emeute vom Jahre 467, wo das Volk, nachdem es über neue
Erleichterungen in der Schuldzahlung nicht hatte mit der Ge-
genpartei sich einigen können, hinauszog auf das Ianiculum
und erst ein rechtzeitiger Angriff der äuſseren Feinde der
Gemeinde den Frieden wiedergab. Indeſs ist es sehr unge-
recht, wenn man diesen ernstlichen Versuchen der Verarmung
des Mittelstandes zu steuern ihre Unzulänglichkeit entgegen-
hält; die Anwendung partialer und palliativer Mittel gegen
radicale Leiden für nutzlos zu erklären, weil sie nur zum
13*
[196]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
Theil helfen, ist zwar eines der Evangelien, das der Einfalt
von der Niederträchtigkeit nie ohne Erfolg gepredigt wird,
aber darum nicht minder unverständig. Eher lieſse sich um-
gekehrt fragen, ob nicht die schlechte Demagogie sich damals
schon dieser Angelegenheit bemächtigt gehabt, und ob es wirk-
lich so gewaltsamer und gefährlicher Mittel bedurft habe wie zum
Beispiel die Kürzung der gezahlten Zinsen am Capital ist. Unsere
Acten reichen nicht aus, um hier über Recht und Unrecht zu
entscheiden; allein klar genug erkennen wir, daſs der ansäs-
sige Mittelstand immer noch in einer bedrohten und bedenk-
lichen ökonomischen Lage sich befand. Eine wirksamere
Abhülfe, als Prohibitivgesetze und Moratorien sie gewähren
konnten, brachten ihm, wie es scheint, die politischen Erfolge
der Gemeinde und die allmählich sich befestigende Herrschaft
der Römer über Italien. Die vielen und groſsen Colonien,
die zu deren Sicherung gegründet werden muſsten und von
denen die Hauptmasse im fünften Jahrhundert ausgeführt
wurde, verschafften dem ackerbauenden Proletariat theils
eigene Bauerstellen, theils durch den Abfluſs auch den Zu-
rückbleibenden Erleichterung daheim. Die Occupationen der
Vornehmen warfen sich mehr auf die groſsen neugewonnenen
Landstriche; die Reichthümer, die in Folge der Siege und
des Besitzes nach Rom strömten, müssen den Zinsfuſs herab-
gedrückt haben; die steigende Bevölkerung der Hauptstadt
kam dem Ackerbauer in ganz Latium zu Gute; ein weises
Incorporationssystem vereinigte eine Anzahl angrenzender früher
unterthäniger Gemeinden mit der römischen und verstärkte
dadurch namentlich den Mittelstand; endlich brachten die
herrlichen Siege und die gewaltigen Erfolge die Factionen
zum Schweigen, und wenn der Nothstand der Mittelklasse
auch keineswegs beseitigt, noch weniger seine Quellen ver-
stopft wurden, so leidet es doch keinen Zweifel, daſs am
Schlusse dieser Periode der römische Mittelstand im Ganzen
in einer weit minder gedrückten Lage sich befand als in dem
ersten Jahrhundert nach Vertreibung der Könige.


Die Verfassung und Verwaltung ward durch diese stän-
dischen Kämpfe im Wesentlichen nicht geändert. Der legale
Souverain blieb nach wie vor die Bürgerschaft in ihren or-
dentlichen Versammlungen; nur wurde gesetzlich festgestellt,
daſs, abgesehen von den ein für allemal den Centurien über-
wiesenen Entscheidungen, namentlich den Wahlen der Consuln
und Censoren, die Abstimmung nach Districten ebenso gültig
[197]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
sein solle wie die nach Centurien, was angeblich schon das
valerische Gesetz von 305, sicher das publilische von 415
und das hortensische von 467 verordneten. Eine wesentliche
Neuerung lag hierin nicht, da im Ganzen dieselben Individuen
in beiden Versammlungen stimmberechtigt waren. Von weit
gröſserer Bedeutung war es, daſs gegen das Ende dieser Pe-
riode die uralte Bedingung des Stimmrechts, die Ansässigkeit
in Frage gestellt zu werden anfing. Der erste, der hieran
rüttelte, war Appius Claudius, der kühnste Neuerer, den die
römische Geschichte kennt. Er legte, ohne den Senat oder
das Volk zu fragen, in seiner Censur 442 die Bürgerliste so
an, daſs der nicht grundsässige Mann in die Tribus, die ihm
gefiel, und alsdann nach seinem Vermögen in die entspre-
chende Centurie aufgenommen ward. Allein diese Aenderung
griff zu sehr dem Geiste der Zeit vor um vollständig Bestand
zu haben. Einer der nächsten Nachfolger des Appius, der
berühmte Besieger der Samniten Quintus Fabius Rullianus
übernahm es in seiner Censur 449 sie zwar nicht ganz zu
beseitigen, aber doch in solche Grenzen einzuschlieſsen, daſs
die Macht in den Händen der Grundsässigen und Vermögen-
den blieb. Er wies die nicht grundsässigen Leute und ebenso
die grundsässigen Freigelassenen der drei letzten Klassen
sämmtlich in die vier städtischen Tribus, die jetzt aus den
ersten im Range die letzten wurden; so daſs seitdem in den
Districtsversammlungen die sämmtlichen ansässigen freigebor-
nen Leute nebst den ansässigen Freigelassenen der beiden
ersten Klassen die ländlichen Districte allein inne hatten. Die
Zahl dieser Landtribus, ursprünglich 17, stieg allmählich, bis sie
jedoch erst in der folgenden Periode auf 31 festgestellt ward,
In den Centurien wurden die nicht ansässigen Freigeborenen
geduldet, dagegen die Freigelassenen, mit Ausnahme der An-
sässigen der beiden ersten Klassen, des Stimmrechts beraubt.
Auf diese Weise ward dafür gesorgt, daſs in den Tributcomi-
tien die Ansässigen überwogen, in den Centuriatcomitien, für
die bei dem entschiedenen Uebergewicht der Vermögenden
geringere Vorsichtsmaſsregeln ausreichten, wenigstens die Frei-
gelassenen nicht schaden konnten. Durch diese weise und
gemäſsigte Festsetzung, wegen deren das Volk ihrem Urheber
den Namen des Groſsen verlieh, ward einerseits die Kriegs-
pflicht wie billig auch den nicht ansässigen Bürgern aufgelegt,
andrerseits der steigenden Macht der gewesenen Sclaven ein
Riegel vorgeschoben, welcher in einem Staat, der Sclaverei
[198]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
zuläſst, unerläſsliches Bedürfniſs ist. Ein eigenthümliches
strenges Sittengericht, das allmählich an die Schatzung und
die Aufnahme der Bürgerliste sich anknüpfte, schloſs überdieſs
aus den Reihen der Bürgerschaft alle notorisch unwürdigen
Individuen aus und wahrte der Bürgerehre ihre volle sittliche
und politische Reinheit. — Was die Competenz der Comitien
anlangt, so zeigt diese die Tendenz sich allmählich, aber sehr
langsam zu erweitern. Schon die Vermehrung der vom Volk
gewählten Magistrate gehört gewissermaſsen hierher; bezeich-
nend ist, daſs seit 392 die Kriegstribune einer Legion, seit
443 je vier in jeder der vier ersten Legionen nicht mehr
vom Feldherrn, sondern von der Bürgerschaft ernannt wurden.
In die Administration griff während dieser Periode die Bür-
gerschaft im Ganzen nicht ein; nur das Recht der Kriegser-
klärung wurde von ihr, wie billig, mit Nachdruck festgehalten
und namentlich auch für den Fall festgestellt, wo ein anstatt
des Friedens auf eine Reihe von Jahren abgeschlossener Waf-
fenstillstand ablief und zu entscheiden stand, ob der Krieg
factisch wieder beginnen solle (327). Sonst ward eine Ver-
waltungsfrage nur an das Volk gebracht, wenn entweder der
höchste Beamte mit dem Senat in Collision gerieth und sich
an das Volk wandte — so als den Führern der Volkspartei
unter dem Adel Lucius Valerius und Marcus Horatius im Jahre
305 und dem ersten plebejischen Dictator Gaius Marcius Ru-
tilus im Jahre 398 vom Senat die verdienten Triumphe nicht
zugestanden wurden; ferner als der Senat gegen den Willen
des Consulartribuns die Auslieferung des pflichtvergessenen
Gesandten an die Gallier im Jahre 364 beschloſs — es war
dies der erste Fall, wo ein Senatsbeschluſs vom Volke cassirt
ward und schwer hat ihn die Gemeinde gebüſst. Oder Senat
und Beamte einigten sich in schwierigen und gehässigen Fragen
dem Volk die Entscheidung anheimzugeben; so zuerst, als
Caere, nachdem ihm das Volk den Krieg erklärt hatte, ehe
dies er wirklich begann, um Frieden bat (401), wo der Senat
Bedenken trug den Volksschluſs ohne Weiteres aufzuheben;
und später als der Senat den demüthig von den Samniten
erbetenen Frieden abzuschlagen wünschte, aber die Gehässig-
keit der Erklärung scheuend sie dem Volke überlieſs (436).
Erst gegen das Ende dieser Periode finden wir eine bedeu-
tend erweiterte Competenz der Districtversammlung auch in
Verwaltungsangelegenheiten, namentlich eine Befragung der-
selben bei Friedensschlüssen und Bündnissen; es ist wahr-
[199]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
scheinlich, daſs diese zurückzuführen ist auf das hortensische
Gesetz von 467. — Indeſs darf man bei diesen der Form
nach demokratischen Erweiterungen der Competenz der Bür-
gerversammlungen nicht vergessen, daſs in der That der prak-
tische Einfluſs derselben auf die Staatsangelegenheiten mehr
und mehr zu schwinden begann. Abgesehen davon, daſs die
Abhängigkeit der Debatte von der Willfährigkeit des Vorsitzenden
und die Unzulässigkeit der Amendementsstellung diesen Ver-
sammlungen einen wesentlichen Theil ihrer Bedeutung raubte,
ist wohl zu erwägen, daſs mit der Erweiterung der römischen
Grenzen diese Urversammlungen ihren rechten Boden verloren.
Eine Versammlung der Grundsässigen des Weichbildes konnte
recht wohl in genügender Vollzähligkeit sich zusammenfinden
und recht wohl wissen was sie wollte, auch ohne zu discutiren;
eine Versammlung der Staatsbürger dagegen war, von einzel-
nen auſserordentlichen Fällen abgesehen, in ihrer Zusammen-
setzung wie in ihrer Entscheidung wesentlich theils den in
der Hauptstadt domicilirten Bürgern in die Hände gegeben,
theils vom Zufall abhängig. Die Stimmordnung nach Distric-
ten oder Centurien arbeitete diesem Uebelstand zwar einiger-
maſsen, aber keineswegs genügend entgegen. Es ist daher
vollkommen erklärlich, daſs die Comitien, die in den beiden
ersten Jahrhunderten der Republik eine groſse und praktische
Wichtigkeit haben, allmählich beginnen ein reines Werkzeug
in der Hand des vorsitzenden Beamten zu werden; freilich
ein sehr gefährliches, da der zum Vorsitz berufenen Beamten
so viele waren und jeder Beschluſs der Gemeinde galt als der
legale Ausdruck des Volkswillens in letzter Instanz. Indeſs
für jetzt machte sich diese beginnende Zerrüttung der Ver-
fassung hauptsächlich nur insofern geltend, als die Comitien
nicht leicht störend eingriffen in das Regiment des Senats.


Denn in der That war es der Senat, der die Gemeinde
regierte, und fast ohne Widerstand seit der Ausgleichung der
Stände. Seine Zusammensetzung selbst war eine andere ge-
worden durch das ovinische Gesetz, das etwa um die Mitte
dieser Periode zu fallen scheint; dasselbe übertrug anstatt der
Consuln den Censoren die Auswahl der Senatoren, indem es
sie zugleich anwies die gewesenen Beamten vorzugsweise zu
berücksichtigen und nur aus besonderen Gründen einen sol-
chen Expectanten auszuschlieſsen. So ruhte der Senat im
Wesentlichen nicht mehr auf der Willkür eines Beamten, son-
dern indirect auf der Wahl durch das Volk. Andrerseits
[200]ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
kam dazu die folgenreiche Veränderung der Stellung des Se-
nats zu dem Volkstribunat. Die Volkstribunen erhielten, wir
wissen nicht genau wann, aber ohne Zweifel in dieser Epoche
der Ausgleichung der Stände, im Senat gleiche Rechte mit
den Consuln. Nicht bloſs ward ihnen statt des Sitzes auf
einer Bank an der Thür ihr Platz im Senat selbst angewiesen
gleich und neben den übrigen Beamten und erwarben sie wie
diese das Recht bei den Verhandlungen das Wort zu ergreifen,
sondern es ward ihnen auch gestattet den Senat zu versam-
meln, zu befragen und einen Beschluſs desselben zu bewirken
— das unterscheidende Vorrecht der höchsten Magistratur,
das von den ordentlichen Beamten nur den Consuln und den
ihnen gleichstehenden Praetoren zustand. Zwar das Stimm-
recht im Senat empfingen die Tribunen nicht; aber es war
dies keine Zurücksetzung, sondern allgemeiner Grundsatz des
römischen Staatsrechts, daſs sämmtlichen functionirenden Beam-
ten während ihres Amtsjahrs nur eine berathende Stimme im
Staatsrathe zukam und den Rath nur gab, wer zur That nicht
befugt war. Der politische Erfolg dieser weisen Maſsregel
war, daſs der höchsten Executivstelle des Consuln- und Prae-
torencollegiums eine zweite in dem tribunicischen Collegium
zur Seite gestellt ward und das letztere seinen ursprünglichen
Charakter der als Behörde constituirten Opposition verlor, in-
dem man es in die Regierung hineinzog. Es war die mil-
deste Form das Volkstribunat, das seit der Ausgleichung der
Stände eigentlich zwecklos geworden war, thatsächlich zu
absorbiren. Immer zwar blieben die verfassungsmäſsigen
Rechte der einzelnen Volkstribunen eine schneidende und
gefährliche Waffe; aber man paralysirte sie von Seite der
Regierung regelmäſsig durch sich selbst. Von einer colle-
gialischen Opposition des Tribunats gegen die Regierung ist
schlechterdings nicht mehr die Rede; vielmehr ward das
Tribunat eines der gewöhnlichsten und brauchbarsten Organe
der Regierung um das Volk zu [bestimmen] und Ausschrei-
tungen der Beamten zu hemmen. — Formell erweiterte
die Competenz des Senats sich kaum; die bescheidenen For-
men blieben dieselben wie früher. Allein materiell um-
faſste seine Gewalt die gesammte höhere Centralverwaltung
und die Gesetzgebung; die Beamten waren nichts anderes als
Präsidenten seiner Sitzungen und Ausführer seiner Beschlüsse
und die Gemeinde beschloſs regelmäſsig erst auf das Gutachten
des Senates hin. Nur in die Besorgung der laufenden Ange-
[201]AUSGLEICHUNG DER STAENDE.
legenheiten und in die richterliche und militärische Leitung
mischte der Senat sich nicht ein; es war zu viel politischer
Sinn und Tact in der römischen Aristokratie um aus der
Leitung des Staats eine Bevormundung des Beamten und das
Werkzeug zur Maschine machen zu wollen. Ebenso lieſs man
den Wahlen ihren freien Lauf; man hütete sich einzugreifen
in die Privilegien der Bürgerschaft und schuf nicht durch
verletzende Neuerungen Ambition und Opposition. Wohl aber
sicherte der Senat, soweit es anging, sich auch Einfluſs auf
die Ernennung der Beamten; wozu ihm theils diejenigen
Mittel dienten, die verfassungsmäſsig den Beamten selbst zu-
standen, wie denn namentlich die Ernennung des Dictators
anfing factisch vom Senat auszugehen, theils das wichtige Recht
den vom Volke gewählten Beamten das Commando zu verlän-
gern, wozu früher ein Volksbeschluſs erforderlich war, das in-
deſs schon im Jahre 447 und später regelmäſsig vom Senate
geübt ward. — So war es der Senat, der factisch in Rom re-
gierte, und das strenge Urtheil der Geschichte muſs es aner-
kennen, daſs diese Körperschaft ihre groſse Aufgabe zeitig
begriffen und würdig erfüllt hat. Berufen nicht durch den
eitlen Zufall der Geburt, sondern durch die freie Wahl der
Nation; bestätigt von fünf zu fünf Jahren durch das strenge
Sittengericht der ehrwürdigsten Männer; auf Lebenszeit im
Amte und nicht abhängig von dem Ablauf des Mandats oder
von der schwankenden Meinung des Volkes; in sich einig
und geschlossen seit der Ausgleichung der Stände; alles in
sich schlieſsend was das Volk besaſs von politischer Intelligenz
und praktischer Staatskunde; unumschränkt verfügend in allen
finanziellen Fragen und in der Leitung der auswärtigen Poli-
tik; die Executive vollkommen beherrschend durch deren kurze
Dauer und durch die dem Senat nach der Beseitigung des
ständischen Haders dienstbar gewordene tribunicische Inter-
cession, war der römische Senat der edelste Ausdruck der
Nation und in Consequenz und Staatsklugheit, in Einigkeit und
Vaterlandsliebe, in Machtfülle und sicherem Muth die erste poli-
tische Körperschaft aller Zeiten — eine ‚Versammlung von Kö-
nigen‘, die es verstand mit republikanischer Hingebung despo-
tische Energie zu verbinden. Nie ist ein Staat nach auſsen fester
und würdiger vertreten worden als Rom in seiner guten Zeit
durch seinen Senat. In der inneren Verwaltung ist es aller-
dings nicht zu verkennen, daſs die im Senat vorzugsweise
vertretene Geld- und Grundaristokratie ihre Sonderinteressen
[202]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
parteiisch zu wahren bedacht war und daſs die Klugheit und
die Energie der Körperschaft hier häufig nicht zum Heil des
Staates gebraucht worden sind. Indeſs der groſse in schweren
Kämpfen festgestellte Grundsatz, daſs jeder römische Bürger
gleich vor dem Gesetz sei in Rechten und Pflichten, und die
daraus sich ergebende Eröffnung der politischen Laufbahn,
das heiſst des Eintritts in den Senat für Jedermann erhielten
neben dem Glanz der militärischen und politischen Erfolge
die staatliche und nationale Eintracht und nahmen dem Unter-
schied der Stände jene Erbitterung und Gehässigkeit, die den
Kampf der Patricier und Plebejer bezeichnen; und da die
glückliche Wendung der äuſsern Politik es mit sich brachte,
daſs länger als ein Jahrhundert die Reichen Spielraum für
sich fanden ohne den Mittelstand unterdrücken zu müssen,
so hat das römische Volk in seinem Senat längere Zeit, als
es einem Volke verstattet zu sein pflegt, das groſsartigste aller
Menschenwerke durchzuführen vermocht, eine weise und glück-
liche Selbstregierung.


[[203]]

KAPITEL IV.



Sturz der etruskischen Macht. Die Kelten.


Nachdem die Entwicklung der römischen Verfassung wäh-
rend der zwei ersten Jahrhunderte der Republik dargestellt
ist, ruft uns die äuſsere Geschichte Roms und Italiens wieder
zurück in den Anfang dieser Epoche. Um diese Zeit, als die
Tarquinier aus Rom vertrieben wurden, stand die etruskische
Macht auf ihrem Höhepunct. Die Herrschaft auf der tyrrhe-
nischen See besaſsen unbestritten die Tusker und die mit
ihnen eng verbündeten Karthager. Wenn auch Massalia unter
steten und schweren Kämpfen sich behauptete, so war dagegen
Corsica tuskisch und ebenso die Häfen Campaniens und der
volskischen Landschaft, während die Söhne des karthagischen
Feldherrn Mago durch die vollständige Eroberung Sardiniens
(um 260) die Gröſse zugleich ihres Hauses und ihrer Stadt be-
gründeten und in Sicilien die Phoenikier während der inneren
Fehden der hellenischen Colonien ihren Besitzstand ohne we-
sentliche Anfechtung behaupteten. Nicht minder beherrschten
die tuskischen Schiffe das adriatische Meer und selbst in den
östlichen Gewässern waren ihre Kaper gefürchtet. — Auch
zu Lande schien ihre Macht im Steigen. Den Besitz der la-
tinischen Landschaft zu gewinnen war für Etrurien, das von
den volskischen Städten in seiner Clientel und von seinen
campanischen Besitzungen allein durch die Latiner geschie-
den war, von der entscheidendsten Wichtigkeit. Bisher hatte
das feste Bollwerk der römischen Macht Latium ausrei-
chend beschirmt und die Tibergrenze mit Erfolg gegen Etru-
[204]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
rien behauptet. Allein als der gesammte tuskische Bund, die
Verwirrung und die Schwäche des römischen Staats nach der
Vertreibung der Tarquinier benutzend, jetzt unter dem König
Larth Porsena von Clusium seinen Angriff mächtiger als zuvor
erneuerte, fand er nicht ferner den gewohnten Widerstand;
Rom capitulirte und trat im Frieden (angeblich 246) nicht
bloſs alle Besitzungen am rechten Tiberufer an die nächst-
liegenden tuskischen Gemeinden ab und gab also die aus-
schlieſsliche Herrschaft über den Strom auf, sondern lieferte
auch dem Sieger seine sämmtlichen Waffen aus und verpflich-
tete sich fortan des Eisens nur zur Pflugschaar sich zu be-
dienen. Es schien, als könne die Einigung Italiens unter
tuskischer Suprematie nicht mehr fern sein.


Allein die Gefahr, welche die Coalition der etruskischen
und karthagischen Nation über die Griechen wie die Italiker
gebracht hatte, ward glücklich beschworen durch die enge
Verbündung der durch Stammverwandtschaft wie durch die
gemeinsame Gefahr auf einander angewiesenen Völker. Zu-
nächst fand das etruskische Heer, das nach Roms Fall in
Latium eingedrungen war und vor den Mauern von Aricia
stand, hier die Grenze seiner Siegesbahn durch die rechtzei-
tige Hülfe der Kymaeer, die den Latinern zu Hülfe eilten
(247). Wir wissen nicht, wie der Kampf endigte und nament-
lich nicht, ob es Rom gelang sich sofort des verderblichen
und schimpflichen Friedens zu entledigen; gewiſs ist nur,
daſs die Tusker auch diesmal auf dem linken Tiberufer auf
längere Zeit sich zu behaupten nicht vermochten.


Aber die hellenische Nation ward bald zu einem ent-
scheidenderen Kampf gegen die Barbaren des Westens wie
des Ostens genöthigt. Es war um die Zeit der Perserkriege.
Die Stellung der Tyrier zu dem Groſskönig führte auch Kar-
thago in die Bahnen der persischen Politik — wie denn selbst
ein Bündniſs zwischen den Karthagern und Xerxes glaubwür-
dig überliefert ist — und mit den Karthagern die Etrusker.
Es war eine der groſsartigsten politischen Combinationen, die
gleichzeitig die asiatischen Schaaren auf Griechenland, die
punischen auf Sicilien warf, um mit einem Schlag die Freiheit
und die Civilisation vom Angesicht der Erde zu vertilgen. Der
Sieg blieb den Hellenen. Die Schlacht bei Salamis (274 der
Stadt) rettete und rächte sie im Osten; und an demselben
Tag — so wird erzählt — besiegten die Herren von Syra-
kus und Akragas, Gelon und Theron das ungeheure Heer des
[205]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
karthagischen Feldherrn Hamilkar Magos Sohn bei Himera
so vollständig, daſs der Krieg damit zu Ende war, und die
Poener, die damals noch keineswegs den Plan verfolgten Si-
cilien für sich zu erobern, mit dem, was sie dort besaſsen,
sich begnügend, zurückkehrten zu ihrer bisherigen defensi-
ven Politik. Noch sind von den groſsen Silberstücken erhalten,
welche für diesen Feldzug aus dem Schmuck der Gemahlin
Gelons Damareta und andrer edler Syrakusanerinnen geschlagen
wurden, und die späteste Zeit gedachte dankbar des milden
und tapferen Königs und des herrlichen von Simonides ge-
feierten Sieges. — Gleichzeitig melden die römischen Annalen
einen heftigen Krieg gegen die Veienter (271-280). Die
Römer erlitten zwar schwere Niederlagen; im Andenken ge-
blieben ist der Untergang des fabischen Geschlechts (277)
an der Cremera, das freiwillig an die Grenze zur Vertheidi-
gung einer gefährdeten Stellung übergesiedelt war. Allein im
Ganzen entschied doch für sie der Erfolg, indem sie in dem
Waffenstillstand auf 400 Monate, der anstatt Friedens den
Krieg beendigte, Fidenae und den am rechten Tiberufer ab-
getretenen District wieder gewannen. Es ist nicht auszu-
machen, wie weit dieser Kampf zwischen Latium und Etru-
rien zusammenhängt mit denen zwischen den Griechen und
den Poenern und Persern; aber mögen die Römer im Bunde
oder nicht gestanden haben mit den Siegern von Salamis und
Himera, gewiſs ist es, daſs wenigstens die Interessen zusammen-
trafen und daſs die nächste Folge der Demüthigung Karthagos
der Sturz der Seeherrschaft ihrer etruskischen Verbündeten war.
Schon Anaxilas, der Herr von Rhegion und Zankle, hatte ihren
Kapern die sicilische Meerenge durch eine stehende Flotte
gesperrt (272); entscheidend war der groſse Seesieg, den die
Kymaeer und Hieron von Syrakus bei Kyme (282) über die
tyrrhenische Flotte errangen, der die Karthager vergeblich
Hülfe zu bringen versuchten. Das ist der Sieg, welchen Pin-
daros in der ersten pythischen Ode feiert, und noch ist der
Etruskerhelm vorhanden, den Hieron nach Olympia sandte
mit der Aufschrift: ‚Hieron des Deinomenes Sohn und die
Syrakosier dem Zeus Tyrrhenergut von Kyme‘ * — Von jetzt
an sind es nicht mehr die Karthager und die Etrusker, die
die erste Rolle in der tyrrhenischen See spielen, sondern im
[206]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
obern Meer die Massalioten, im unteren die Syrakusaner, und
namentlich die letzteren beschränkten mehr und mehr das
etruskische Corsarenwesen. Schon Hieron hatte nach dem Siege
bei Kyme die Insel Aenaria (Ischia) besetzt und damit die
Verbindung zwischen den campanischen und den nördlichen
Etruskern unterbrochen; um das Jahr 302 wurde von Syra-
kus, um der tuskischen Piraterie gründlich zu steuern, eine
eigene Expedition ausgesandt, die die Insel Corsica und die
etruskische Küste verheerte und die Insel Aethalia (Elba) be-
setzte. Ward man auch nicht völlig Herr über die etruskisch-
karthagische Piraterie — wie wir denn namentlich wissen,
daſs das Kaperwesen in Antium fortdauerte bis in den Anfang
des fünften Jahrhunderts der Stadt —, so war doch das
mächtige Syrakus ein starkes Bollwerk gegen die verbündeten
Tusker und Poener. Einen Augenblick schien es, als müsse
die syrakusische Macht gebrochen werden durch die attischen
Galeeren, deren Zug gegen Syrakus im Laufe des peloponne-
sischen Krieges (339-341) die Etrusker, die alten Handels-
freunde der Athener, mit drei Funfzigrudrern unterstützten.
Allein der Sieg blieb, wie bekannt, im Westen wie im Osten
den Dorern, und Syrakus ward nach dem schmählichen Schei-
tern der attischen Expedition unbestritten die erste griechische
Seemacht, so daſs die Männer, die dort an der Spitze des
Staates standen, auf die Herrschaft über Sicilien und Unter-
italien und über beide Meere Italiens hinzustreben begannen;
wogegen andrerseits die Karthager, die ihre Herrschaft in
Sicilien ernstlicher als bisher bedroht sahen, auch auf ihrer
Seite die Ueberwältigung der Syrakusaner und die Unterwer-
fung der ganzen Insel zum Ziel ihrer Politik nehmen muſsten
und nahmen. Der Verfall der sicilischen Mittelstaaten, die Stei-
gerung der karthagischen Macht auf der Insel, die auſserdem aus
diesen Kämpfen hervorgingen, können hier nicht erzählt werden;
was Etrurien anlangt, so trafen dies die empfindlichsten Schläge
von Dionysios, dem neuen Herrn von Syrakus. Er führte
zahlreiche Colonien in die adriatische See, wo er Ankon, Nu-
mana, Hatria an der italischen, die Inseln Lissos und Issa an
der illyrischen Küste besetzte (um 367), ja durch die Erstür-
mung und Plünderung der reichen caeritischen Hafenstadt
Pyrgi (369) griff er die etruskische Macht in ihrem innersten
Kern an. Sie hat sich nicht wieder erholt; und als nach
Dionysios Tode die inneren Unruhen in Syrakus den Kartha-
gern freiere Bahn machten und deren Flotte wieder im tyrrhe-
[207]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
nischen Meer das Uebergewicht bekam, das sie seitdem mit
kurzen Unterbrechungen behauptete, lastete dieses nicht minder
schwer auf den Etruskern wie auf den Griechen; so daſs so-
gar, als um 446 Agathokles von Syrakus zum Krieg mit Kar-
thago rüstete, achtzehn tuskische Kriegsschiffe zu ihm stieſsen.
Die Etrusker mochten für Corsica fürchten, das sie wahrschein-
lich behaupteten; die alte tuskisch-punische Symmachie, die
noch zu Aristoteles Zeit (370-432) bestand, war jedenfalls
gesprengt, aber auch die etruskische Seeherrschaft zu Ende.


Dieser rasche und verhängniſsvolle Glückswechsel würde
unerklärlich sein, wenn nicht die Etrusker zu eben der Zeit,
wo die sicilischen Griechen sie zur See angriffen, sich zu
Lande von allen Seiten her schwer bedrängt gesehen hätten.
Kaum war ihre campanische Niederlassung durch die Folgen
des Treffens bei Kyme vom Mutterlande abgeschnitten worden,
als sie auch sich nicht mehr im Stande sah den Angriffen
der sabellischen Bergvölker zu widerstehen. Ihre Hauptstadt
Capua fiel 331 und die tuskische Bevölkerung ward hier bald
nach der Eroberung von den Samniten verjagt oder ausge-
rottet. Auch die campanischen Griechen, vereinzelt und ge-
schwächt, hatten schwer zu leiden; Kyme selbst ward 335
von den Sabellern erobert. Dennoch behaupteten sich diese,
namentlich in Neapolis, vielleicht mit Hülfe der Syrakusaner,
während der etruskische Name in Campanien ausgelöscht ward
und aus der Geschichte spurlos verschwindet; kaum daſs ein-
zelne etruskische Gemeinden eine kümmerliche und verlorene
Existenz sich dort fristeten. — Noch folgenreichere Ereignisse
traten um dieselbe Zeit im nördlichen Italien ein und be-
schränkten das etruskische Gebiet auf diejenigen engen Gren-
zen, die seitdem die Grenzen Etruriens blieben. Eine neue
Nation pochte an die Pforten der Alpen: es waren die Kelten;
und der erste Andrang traf die Etrusker.


Die keltische, auch galatische oder gallische Nation hat
von der gemeinschaftlichen Mutter eine andere Ausstattung
empfangen als die italischen, germanischen und hellenischen
Schwestern. Es fehlt ihr bei manchen tüchtigen und noch
mehr glänzenden Eigenschaften die tiefe sittliche und staat-
liche Anlage, auf welche alles Gute und Groſse in der mensch-
lichen Entwicklung sich gründet. Es galt, sagt Cicero, als
schimpflich für den freien Kelten das Feld mit eigenen Hän-
den zu bestellen. Dem Ackerbau zogen sie das Hirtenleben
vor und trieben selbst in den fruchtbaren Poebenen vorzugs-
[208]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
weise die Schweinezucht, von dem Fleisch ihrer Heerden sich
nährend und in den Eichenwäldern mit ihnen Tag und Nacht
verweilend. Die Anhänglichkeit an die eigene Scholle, wie sie
den Italikern und den Germanen eigen ist, fehlt bei den Kel-
ten; wogegen das Zusammenleben in Städten und Flecken
ihnen willkommen ist und diese bei ihnen früher, wie es
scheint, als in Italien Ausdehnung und Bedeutung gewonnen
haben. Ihre bürgerliche Verfassung ist unvollkommen; nicht
bloſs wird die nationale Einheit nur durch ein schwaches
Band vertreten, was ja in gleicher Weise von allen alten Na-
tionen gilt, sondern es mangelt auch in den einzelnen Ge-
meinden an Eintracht und festem Regiment, an ernstem Bür-
gersinn und folgerechtem Streben. Die einzige Ordnung, der
sie sich schicken, ist die militärische, in der die Bande der
Disciplin dem Einzelnen die schwere Mühe abnehmen sich
selber zu bezwingen. ‚Die hervorstechenden Eigenschaften der
keltischen Race — sagt ihr Geschichtsschreiber Thierry —
sind die persönliche Tapferkeit, in der sie es allen (?)
Völkern zuvorthun; ein freier, stürmischer, jedem Eindruck
zugänglicher Sinn; viel Intelligenz, aber daneben die äuſserste
Beweglichkeit, Mangel an Ausdauer, Widerstreben gegen Zucht
und Ordnung, Prahlsucht und ewige Zwietracht, die Folge der
grenzenlosen Eitelkeit‘. Kürzer sagt ungefähr dasselbe der
alte Cato: ‚ auf zwei Dinge geben die Kelten viel: auf das
Fechten und auf den Esprit‘. Solche Eigenschaften guter
Soldaten und schlechter Bürger erklären die geschichtliche
Thatsache, daſs die Kelten alle Staaten erschüttert und keinen
gegründet haben. Ueberall finden wir sie bereit zu wandern,
das heiſst zu marschiren; dem Grundstück die bewegliche
Habe vorziehend, allem andern aber das Gold; das Waffen-
werk betreibend als organisirtes Raubwesen oder gar als Hand-
werk um Lohn. Es sind die rechten Lanzknechte des Alter-
thums, wie die Bilder und Beschreibungen sie uns darstellen:
groſse, nicht sehnige Körper, mit zottigem Haupthaar und
langem Schnauzbart — recht im Gegensatz zu Griechen und
Römern, die das Haupt und die Oberlippe stets schoren —,
in bunten gestickten Gewändern, die beim Kampf nicht selten
abgeworfen wurden, mit dem breiten Goldring um den Hals,
unbehelmt und ohne Wurfwaffen jeder Art, aber dafür mit un-
geheurem Schild nebst dem langen schlechtgestählten Schwert,
dem Dolch und der Lanze, alle diese Waffen mit Gold
geziert, wie sie denn die Metalle nicht ungeschickt zu bear-
[209]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
beiten verstanden. Zum Renommiren dient alles, selbst
die Wunde, die oft hernach erweitert wird der breiteren
Narbe zu Liebe. Gewöhnlich fechten sie zu Fuſs, einzelne
Schwärme aber auch zu Pferde, wo dann jedem Freien
zwei gleichfalls berittene Knappen folgen; Streitwagen finden
sich früh wie bei den Libyern und den Hellenen in ältester
Zeit. Mancher Zug erinnert an das Ritterwesen des Mittel-
alters; am meisten die den Römern und Griechen fremde
Sitte des Zweikampfes, zu dem sie nicht bloſs im Kriege den
einzelnen Feind herausforderten, nachdem sie ihn zuvor mit
Worten und Geberden verhöhnt hatten; auch im Frieden
fochten sie gegen einander auf Leben und Tod in glänzender
Rüstung, und daſs die Zechgelage hernach nicht fehlten, ver-
steht sich. So führten sie unter eigener oder fremder Fahne
ein unstetes Soldatenleben, das sie von Irland und Spanien
bis nach Kleinasien zerstreute unter steten Kämpfen und
Heldenthaten; aber was sie auch begannen, es zerrann wie
der Schnee im Frühling und nirgends ist ein groſser Staat,
nirgends eine eigene Cultur von ihnen geschaffen worden.


So schildern uns die Alten diese Nation; über ihre Her-
kunft läſst sich nur muthmaſsen. Demselben Schoſs ent-
sprungen, aus dem auch die hellenischen, italischen und ger-
manischen Völkerschaften hervorgingen, sind die Kelten ohne
Zweifel gleich diesen aus dem östlichen Mutterland in Europa
eingerückt, wo sie in frühester Zeit das Westmeer erreichten
und in dem heutigen Frankreich ihre Hauptsitze begründeten,
gegen Norden hin sich übersiedelnd auf die britannischen
Inseln, gegen Süden die Pyrenäen überschreitend und mit
den iberischen Völkerschaften um den Besitz der Halbinsel
ringend. An den Alpen indeſs führte ihre erste groſse Wan-
derung sie vorbei und erst von den westlichen Ländern aus
begannen sie in kleineren Massen und in entgegengesetzter
Richtung jene Züge, die sie über die Alpen und den Haemus,
ja über den Bosporus führten und durch die sie das Schrek-
ken der sämmtlichen civilisirten Nationen des Alterthums durch
manche Jahrhunderte geworden sind, bis Cäsars Siege und
die von Augustus geordnete Grenzvertheidigung ihre Macht
brachen. — Die einheimische Wandersage, die hauptsächlich
Livius uns erhalten hat, berichtet von diesen Zügen folgender-
maſsen *. Die gallische Eidgenossenschaft, an deren Spitze
Röm. Gesch. I. 14
[210]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
damals wie noch zu Cäsars Zeit der Gau der Bituriger (um
Bourges) stand, habe unter dem König Ambiatus zwei groſse
Heeresschwärme entsendet, geführt von den beiden Neffen des
Königs; davon sei der eine Sigovesus über den Rhein in der
Richtung auf den Schwarzwald zu vorgedrungen, der zweite
Bellovesus über die graischen Alpen (den kleinen St. Bern-
hard) in das Pothal hinabgestiegen. Von jenem stamme die
gallische Niederlassung an der mittleren Donau, von diesem die
älteste keltische Ansiedlung in der heutigen Lombardei, der
Gau der Insubrer mit dem Hauptort Mediolanum. Bald sei
ein zweiter Schwarm gefolgt, der den Gau der Cenomanen
mit den Städten Brixia (Brescia) und Verona begründet habe.
— Unaufhörlich strömte es fortan über die Alpen in das schöne
ebene Land und die keltischen Stämme sammt den von ihnen
aufgetriebenen und fortgerissenen ligurischen entrissen den
Etruskern einen Platz nach dem andern, bis das ganze linke
Poufer in ihren Händen war. Nach dem Fall der reichen
etruskischen Stadt Melpum (vermuthlich in der Gegend von
Mailand), zu deren Bezwingung sich die schon im Pothal an-
sässigen Kelten mit neugekommenen Stämmen vereinigt hatten
(358?), gingen diese letzteren hinüber auf das rechte Ufer
des Flusses und begannen die Umbrer und Etrusker in ihren
uralten Sitzen zu bedrängen. Es waren dies die Boier, die
angeblich auf einer andern Straſse, über den pöninischen Berg
(groſser St. Bernhard) in Italien eingedrungen waren und sich
nun ansiedelten in der heutigen Romagna, wo die alte Etru-
skerstadt Felsina, von den neuen Herren Bononia umgenannt,
ihre Hauptstadt wurde; endlich die Senonen, der letzte gröſsere
Keltenstamm, der diesseit der Alpen, an der Küste von Rimini
bis Ancona sich angesiedelt hat.


*


[211]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.

Diese schweren Bedrängnisse an der Nordgrenze erklären
allein, aber auch vollständig das plötzliche Sinken der eben
noch so gewaltig in Latium und Campanien und auf beiden
Meeren sich entwickelnden etruskischen Macht. Der Verlust
der Seeherrschaft, die Bewältigung der campanischen Etrusker
gehört eben derselben Epoche an, wo die Insubrer und Ce-
nomanen am Po sich niederlieſsen; und eben in diese Zeit
fällt auch die Wiedererhebung der durch Porsena wenige Jahr-
zehende zuvor aufs tiefste gedemüthigten und fast geknechte-
ten römischen Bürgerschaft. Im Waffenstillstand mit Veii von
280 hatte sie das Verlorene wieder gewonnen und war im We-
sentlichen der Zustand wiederhergestellt, wie er zu der Zeit
der Könige zwischen beiden Nationen bestanden hatte. Als
er ablief im Jahre 309, begannen zwar die Kriege aufs neue;
aber es waren Grenzgefechte und Beutezüge, die für beide
Theile ohne wesentliches Resultat verliefen. Etrurien stand
noch zu mächtig da, als daſs Rom einen ernstlichen Angriff
hätte unternehmen können. Erst der Abfall der Fidenaten,
die die römische Besatzung vertrieben, die Gesandten ermor-
deten und sich dem König der Veienter Lars Tolumnius unter-
warfen, veranlaſste einen bedeutenderen Krieg, welcher glück-
lich für die Römer ablief: der König Tolumnius fiel im Ge-
fecht von der Hand des römischen Consuls Aulus Cornelius
Cossus (326?), Fidenae ward genommen und 329 ein neuer
Waffenstillstand auf 200 Monate abgeschlossen. Während des-
selben steigerte sich Etruriens Bedrängniſs mehr und mehr;
schon bedrohten die Kelten das Gebiet am rechten Ufer des
Po und als nun jener Waffenstillstand Ende 346 abgelaufen
war, entschlossen sich die Römer auch ihrerseits zu einem
Eroberungskrieg gegen Etrurien, der nicht mehr bloſs gegen,
sondern um Veii geführt ward. Die Geschichte des Krieges
gegen die Veienter, Capenaten und Falisker und der Belage-
rung Veiis, die gleich der troianischen zehn Jahre gewährt
haben soll, ist wenig beglaubigt. Die Sage und Dichtung hat
sich dieser Ereignisse bemächtigt, und mit Recht; denn ge-
kämpft ward hier mit bis dahin unerhörter Anstrengung um
einen bis dahin unerhörten Kampfpreis. Es war das erste Mal,
daſs ein römisches Heer Sommer und Winter, Jahr aus Jahr
ein im Felde blieb, bis das vorgesteckte Ziel erreicht war;
das erste Mal, daſs die Gemeinde den Krieg aus Staatsmitteln
zu führen unternahm. Aber es war auch das erste Mal, daſs
die Römer es versuchten sich eine stammfremde Nation zu
14*
[212]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
unterwerfen und ihre Waffen hinübertrugen über die alte
Grenze der latinischen Landschaft. Indeſs die Kräfte waren
nicht gleich. Die Römer fanden Unterstützung bei den Lati-
nern und Hernikern, denen der Sturz des gefürchteten Lan-
desfeindes fast nicht minder Genugthuung und Förderung ge-
währte als den Römern selbst; während Veii von seiner Nation
verlassen dastand und nur die nächsten Städte, Capena, Fa-
lerii, auch Tarquinii ihm Zuzug leisteten — innere Parteiun-
gen, namentlich die Opposition, auf die das von den Veientern
beibehaltene oder wiederhergestellte Königsregiment bei den
aristokratischen Regierungen der übrigen Städte traf, sollen
nebst den gallischen Angriffen jene Unthätigkeit der übrigen
Etrusker herbeigeführt haben. Trotzdem war die Belage-
rung der groſsen und festen Stadt eine Riesenaufgabe, deren
Lösung unmöglich gewesen wäre, wenn die etruskische Nation
ihre Schuldigkeit gethan hätte; vereinzelt und verlassen unter-
lag die Stadt (358) nach tapferer Gegenwehr dem ausharren-
den Heldengeist des Marcus Furius Camillus, welcher zuerst
seinem Volke die glänzende und gefährliche Bahn der aus-
ländischen Eroberungen aufthat. Von dem Jubel, den der
groſse Erfolg in Rom erregte, ist ein Nachklang die bis in
späte Zeit fortgepflanzte Sitte die römischen Festspiele zu
beschlieſsen mit dem ‚Veienterverkauf‘, wobei der ärgste alte
Krüppel, den man auftreiben konnte, im Purpurmantel und
Goldschmuck den Beschluſs machte als ‚König der Veienter‘.
Die Stadt ward zerstört, der Boden verwünscht zu ewiger Oede.
Falerii und Capena eilten Frieden zu machen; das mächtige
Volsinii, das in bundesmäſsiger Halbheit während Veiis Agonie
geruht hatte und nach der Einnahme zu den Waffen griff, be-
quemte nach wenigen Jahren (363) sich gleichfalls zum Frieden.
Es mag eine wehmüthige Sage sein, daſs die beiden Vormauern
der etruskischen Nation, Melpum und Veii an demselben Tage
jenes den Kelten, dieses den Römern unterlagen; aber es liegt
in ihr auf jeden Fall eine tiefe geschichtliche Wahrheit. Es
war der Fall der beiden Festen unter jenem Doppelangriff
der Anfang des Endes der groſsen etruskischen Nation.


Indeſs einen Augenblick schien es, als sollten die beiden
Völkerschaften, durch deren Zusammenwirken Etrurien sich
in seiner Existenz bedroht sah, vielmehr unter einander sich
aufreiben und als solle auch Roms neu aufblühende Macht von
den fremden Barbaren zertreten werden. Diese Wendung der
Dinge, die dem natürlichen Lauf der Politik widersprach, be-
[213]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
schworen über die Römer ihre eigene Uebermüthigkeit und
Kurzsichtigkeit. — Die keltischen Schaaren, die nach Melpums
Fall über den Fluſs gesetzt waren, überflutheten mit reiſsender
Geschwindigkeit das nördliche Italien, nicht bloſs das offene
Gebiet am rechten Ufer des Padus und längs des adriatischen
Meeres, sondern sogar auch das eigentliche Etrurien diesseit
des Apennin. Das im Herzen Etruriens gelegene Clusium
(Chiusi an der Grenze von Toscana und dem Kirchenstaat)
ward belagert von den Senonen (363). So gedemüthigt waren
die Etrusker, daſs die tuskische Stadt die Zerstörer Veiis um
Hülfe anrief. Es wäre vielleicht eine weise Politik gewesen
dieselbe zu gewähren und zugleich die Gallier durch die
Waffen und die Etrusker durch den gewährten Schutz in
Abhängigkeit von Rom zu bringen; allein eine solche weit-
blickende Intervention, die die Römer genöthigt haben würde
einen ernsten Kampf an der tuskischen Grenze zu beginnen,
lag noch nicht im Horizont ihrer damaligen Politik. So blieb
nichts übrig als sich jeder Einmischung zu enthalten; allein
thörichter Weise schlug man die Hülfstruppen ab und schickte
Gesandte. Noch thörichter meinten diese den Kelten durch
groſse Worte imponiren und, als dies fehlschlug, gegen Bar-
baren ungestraft das Völkerrecht verletzen zu können, indem
sie an einem Gefecht theilnahmen und der eine von ihnen
darin einen gallischen Befehlshaber vom Pferde stach. Die
Barbaren, die einsichtiger, gemäſsigter und rechtlicher ver-
fuhren als die Römer, begnügten sich von diesen durch
Gesandte die nothwendige Genugthuung zu heischen. Allein
in Rom überwog das Mitleid gegen die Landsleute die Ge-
rechtigkeit gegen die Fremden; die Genugthuung ward ver-
weigert, ja nach einigen Berichten ernannte man die tapfern
Vorkämpfer für das Vaterland sogar zu Consulartribunen für
das Jahr 364, das in den römischen Annalen so verhängniſs-
voll werden sollte. Da brach der Brennus, das heiſst der
Heerkönig der Gallier die Belagerung von Clusium ab und
der ganze Keltenschwarm — die Zahl wird auf 170,000 Köpfe
angegeben — wandte sich gegen Rom. Solche Züge in un-
bekannte und ferne Gegenden waren den Galliern geläufig,
die als bewaffnete Auswandererschaaren marschirten unbe-
kümmert um Deckung und Rückzug; in Rom aber ahnte man
offenbar nicht das Gefährliche eines also schnellen und rück-
sichtslosen Angriffs. Erst als die Gallier die Tiber überschrit-
ten hatten und keine drei deutschen Meilen mehr von den
[214]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
Thoren entfernt am Bache Allia standen, am 18. Juli 364
vertrat ihnen eine römische Heeresmacht den Weg. Auch
jetzt noch ging man, nicht wie gegen ein Heer, sondern
wie gegen Räuber, übermüthig und tolldreist in den Kampf
unter unerprobten Feldherrn — Camillus hatte in Folge
des Ständehaders von den Geschäften sich zurückgezogen.
Waren es doch Wilde, gegen die man fechten sollte; was
bedurfte es des Lagers, der Sicherung des Rückzugs? Die
Niederlage blieb nicht aus; sie war nicht bloſs vollständig,
sondern die wilde Flucht der Römer, die zwischen sich und
die nachsetzenden Barbaren den Fluſs zu bringen eilten,
führte den gröſseren Theil des geschlagenen Heeres auf
das rechte Tiberufer und nach Veii, womit man ohne alle
Noth die Hauptstadt preisgab. Die geringe dort zurückgeblie-
bene oder dorthin geflüchtete Mannschaft reichte nicht aus
um die Mauern zu besetzen und drei Tage nach der Schlacht
zogen die Sieger in Rom ein durch die offenen Thore. Hätten
sie es am ersten gethan, wie sie es konnten, so war Rom
verloren. Jetzt gewann man Zeit die Heiligthümer zu flüchten
oder zu vergraben und, was wichtiger war, die Burg zu be-
setzen und nothdürftig mit Lebensmitteln zu versehen. Was
die Waffen nicht tragen konnte, lieſs man in der Stadt —
man hatte kein Brot für alle. Die Menge der Wehrlosen ver-
lief sich in die Nachbarstädte; aber mancher, vor allem eine
Anzahl angesehener Greise mochten den Untergang der Stadt
nicht überleben und erwarteten in ihren Häusern den Tod
durch das Schwert der Barbaren. Sie kamen, mordeten und
plünderten was an Menschen und Gut sich vorfand und zün-
deten schlieſslich vor den Augen der römischen Besatzung auf
dem Capitol die Stadt an allen Ecken an. Aber die Belagerungs-
kunst verstanden sie nicht; es blieb ihnen nichts übrig als
die Blokade des steilen Burgfelsens, die schwierig war, da die
Lebensmittel für den groſsen Heeresschwarm nur durch be-
waffnete nicht selten von den latinischen Bürgerschaften, na-
mentlich von den Ardeaten mit Muth und Glück zurückge-
schlagene Streifpartien sich herbeischaffen lieſsen. Dennoch
harrten sie mit einer unter ihren Verhältnissen beispiellosen
Energie sieben Monate unter dem Felsen aus und schon be-
gannen der Besatzung, die der Ueberrumpelung in einer
dunklen Nacht nur durch das Schnattern der heiligen Gänse
im capitolinischen Tempel und das zufällige Erwachen des
tapfern Marcus Manlius entgangen war, die Lebensmittel auf
[215]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
die Neige zu gehen, als ein Einfall der Veneter in das neu
gewonnene senonische Gebiet am Padus den Kelten gemeldet
ward und sie bewog das gebotene Lösegeld anzunehmen. Das
höhnische Hinwerfen des gallischen Schwertes, daſs es auf-
gewogen werde vom römischen Golde, bezeichnete sehr richtig
die Lage der Dinge. Das Eisen der Barbaren hatte gesiegt,
aber sie verkauften ihren Sieg und gaben ihn damit verloren.
— Die fürchterliche Katastrophe der Niederlage und des Bran-
des, der 18. Juli und der Bach der Allia, der Platz wo die
Heiligthümer vergraben gewesen und wo die Ueberrumpelung
der Burg war abgeschlagen worden — all die Einzelheiten
dieses unerhörten Ereignisses gingen über von der Erinne-
rung der Zeitgenossen in die Phantasie der Nachwelt und noch
wir begreifen es kaum, daſs wirklich schon zwei Jahrtausende
verflossen sind, seit jene welthistorischen Gänse sich wachsamer
bewiesen als die aufgestellten Posten. Und doch — mochten
die Römer fortan datiren nach der Aera der Eroberung der
Stadt, mochte diese Begebenheit wiederhallen in der ganzen
damaligen civilisirten Welt und ihren Weg finden bis in die grie-
chischen Annalen: die Schlacht an der Allia mit ihren Folgen
ist dennoch kaum den folgenreichen geschichtlichen Begeben-
heiten beizuzählen. Sie ändert eben nichts in den politischen
Verhältnissen. Wie die Gallier wieder abgezogen sind mit
ihrem Golde, das nur eine spät und schlecht erfundene Sage
den Sieger von Veii wieder zurückbringen läſst nach Rom; wie
die Flüchtigen sich wieder heimgefunden haben, der wahn-
sinnige Gedanke einiger mattherzigen Klugheitspolitiker die
Bürgerschaft nach Veii überzusiedeln durch Camillus hoch-
herzige Gegenrede beseitigt ist, die Häuser eilig und unor-
dentlich — die engen und krummen Straſsen schreiben von
dieser Zeit sich her — sich aus den Trümmern erheben, steht
auch Rom wieder da in seiner alten gebietenden Stellung;
ja es ist nicht unwahrscheinlich, daſs dieses Ereigniſs dem
Gegensatz zwischen Etrurien und Rom seine Schärfe zu neh-
men und mehr noch zwischen Latium und Rom die alten
Bande der Einigkeit fester zu knüpfen wesentlich beigetragen
hat. Der Kampf der Gallier und der Römer ist, ungleich dem
zwischen Rom und Etrurien oder Rom und Samnium, nicht ein
Zusammenstoſsen zweier politischer Mächte, die einander be-
dingen und bestimmen; er ist den Naturkatastrophen vergleich-
bar, nach denen der Organismus, wenn er nicht zerstört wird,
sofort wieder sich ins Gleiche setzt. Die Gallier sind noch
[216]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
oft wiedergekehrt nach Latium; so im Jahre 387, wo Ca-
millus sie bei Alba schlug — der letzte Sieg des greisen Hel-
den; der siebenmal consularischer Kriegstribun, fünfmal Dic-
tator gewesen war; im Jahre 393, wo der Dictator Titus
Quinctius Pennus ihnen gegenüber 3000 Schritte von der
Stadt an der Aniobrücke lagerte, ehe es aber zum Kampf ge-
kommen war, der gallische Schwarm nach Campanien abzog;
im Jahre 394, wo der Dictator Quintus Servilius Ahala vor
dem collinischen Thor mit den aus Campanien heimkehrenden
Schaaren stritt; im Jahre 396, wo ihnen der Dictator Gaius
Sulpicius Peticus eine nachdrückliche Niederlage beibrachte;
im Jahre 404, wo sie sogar den Winter über auf dem Alba-
nerberg campirten und sich mit den griechischen Piraten an
der Küste um den Raub schlugen, bis Lucius Furius Camillus
im folgenden Jahre sie vertrieb — ein Ereigniſs, von dem der
Zeitgenosse Aristoteles (370-432) in Athen vernahm. Allein
diese Raubzüge, so schreckhaft und beschwerlich sie waren,
waren mehr Unglücksfälle als geschichtliche Ereignisse und
das wesentlichste Resultat derselben war, daſs die Römer sich
selbst und dem Auslande in immer weiteren Kreisen als das
Bollwerk der civilisirten Nationen gegen den Anstoſs der ge-
fürchteten Barbaren erschienen — eine Auffassung, die ihre
spätere Weltstellung mehr als man meint gefördert hat.


Die Tusker, die den gallischen Ueberfall genutzt hat-
ten um Veii zu berennen, hatten nichts ausgerichtet, da sie
mit ungenügenden Kräften erschienen waren; jetzt traf sie
der schwere Arm Latiums. Nach wiederholten Niederlagen
blieb das ganze südliche Etrurien bis zu den ciminischen
Hügeln in den Händen der Römer, welche in den Gebieten
von Veii, Capena und Falerii vier neue Bürgerbezirke einrich-
teten (367) und die Nordgrenze sicherten durch die Anlage
der Festungen Sutrium (371) und Nepete (381). Mit raschen
Schritten ging dieser fruchtbare und mit römischen Colonisten
bedeckte Landstrich der vollständigen Romanisirung entgegen.
Um 396 versuchten die nächstliegenden etruskischen Städte
Tarquinii, Caere, Falerii sich gegen die römischen Uebergriffe
aufzulehnen. Wie tief die Erbitterung war, die dieselben in
Etrurien erweckt hatten, zeigt die Niedermetzelung der sämmt-
lichen römischen Gefangenen, dreihundert und sieben an der
Zahl, auf dem Marktplatz von Tarquinii nach dem ersten
Feldzug; allein es war die Erbitterung der Ohnmacht. Im
Frieden (403) muſste Caere, das als den Römern zunächst
[217]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
gelegen am schwersten büſste, die halbe Landmark an Rom
abtreten und mit dem geschmälerten Gebiet, das ihm blieb
aus dem etruskischen Bunde aus und in ein abhängiges Ver-
hältniſs zu Rom eintreten. Die Caeriten erhielten das römi-
sche Bürgerrecht ohne Stimm- und Ehrenrechte (civitas sine
suffragio
); was im Resultat darauf hinauslief, daſs die Ge-
meinde ihre eigene Verwaltung unter selbstgewählten Beamten
und ihr Landrecht behielt, aber ihre Selbstständigkeit nach
auſsen hin verlor, so daſs die römischen Kriege und Bündnisse
für sie mit galten und Aushebung und Steuern die Caeriten
trafen gleich den römischen Bürgern. Diese Form der Unter-
werfung, durch welche der bisher selbstständige Staat verwan-
delt wurde in eine unfreie, aber sich selbst verwaltende Ge-
meinde, wurde hier zuerst und seitdem häufig bei entlegneren
Eroberungen angewendet statt der bisher üblichen Weise den
Besiegten den unbedingten Eintritt in das römische Bürgerrecht,
aufzuzwingen; offenbar weil es angemessen schien das römische
Bürgerrecht, das ja ein Stadtbürgerrecht war, nicht über ge-
wisse enge Grenzen auszudehnen, die um diese Zeit im Norden
und im Süden erreicht schienen. Nicht lange nachher (411)
trat auch Falerii aus dem etruskischen Bunde aus und in
ewigen Bund mit Rom; damit war ganz Südetrurien in der
einen oder andern Form der römischen Suprematie unter-
worfen. Tarquinii und wohl das nördliche Etrurien überhaupt
begnügte man sich durch einen Friedensvertrag auf 400 Mo-
nate für lange Zeit zu fesseln (403).


Auch im nördlichen Italien ordneten sich allmählich die
durch und gegen einander stürmenden Völker wieder in
dauernder Weise und in festere Grenzen. Die Züge über
die Alpen hörten auf, zum Theil wohl in Folge der verzwei-
felten Vertheidigung der Etrusker in ihrer beschränkteren
Heimath und der ernstlichen Gegenwehr der mächtigen Rö-
mer, zum Theil wohl auch in Folge uns unbekannter Verän-
derungen im Norden der Alpen. Zwischen Alpen und Apen-
ninen bis hinab zu den Abruzzen waren die Kelten im All-
gemeinen die herrschende Nation und namentlich die Herren
des ebenen Landes und der reichen Weiden; aber ihre An-
siedlungspolitik war schlaff und oberflächlich und ihre Herr-
schaft wurzelte nicht tief in dem neu gewonnenen Lande,
das ausschlieſslich zu besitzen sie keineswegs bedacht waren.
Auſser den Völkerschaften in den Alpen, über deren Herkunft
wir ungenügend unterrichtet sind, blieben die Etrusker oder,
[218]ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
wie sie hier heiſsen die Raeter, sitzen in dem heutigen Grau-
bündten und Tirol, ebenso die Umbrer in den Thälern des
Apennin. Den nordöstlichen Theil des Pothals behielten die
anderssprachigen Veneter im Besitz; in den westlichen Ber-
gen behaupteten sich ligurische Stämme, die bis Pisa und
Arezzo hinab wohnten und das eigentliche Keltenland von
Etrurien schieden. Nur in dem mittleren Flachland hausten
die Kelten, nördlich vom Po die Insubrer und Cenomanen,
südlich die Boier, an der adriatischen Küste von Ariminum
bis Ankon, in dem sogenannten ‚Gallierland‘ (ager Gallicus)
die Senonen, kleinerer Völkerschaften zu geschweigen. Aber
selbst hier müssen die etruskischen Ansiedlungen zum Theil
wenigstens fortbestanden haben, etwa wie Ephesos und Milet
unter persischer Oberherrlichkeit. Mantua wenigstens, das
durch seine Insellage geschützt war, blieb bis in die Kaiserzeit
eine tuskische Stadt und auch in Hatria am Po, wo zahl-
reiche Vasenfunde gemacht sind, scheint das etruskische We-
sen fortbestanden zu haben; noch Skylax, der um 400 Italien
bereiste, nennt die Gegend von Hatria und Spina tuskisches
Land. Nur so erklärt sich auch, wie etruskische Corsaren
bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein das adriatische Meer
unsicher machen konnten, und weſshalb nicht bloſs Dionysios
von Syrakus die Küsten desselben mit Colonien bedeckte,
sondern selbst Athen noch um 429, wie eine kürzlich ent-
deckte merkwürdige Urkunde lehrt, die Anlage einer Colonie
im adriatischen Meer zum Schutz der Kauffahrer gegen die
tyrrhenischen Kaper beschloſs. — Aber mochte hier mehr
oder weniger von etruskischem Wesen sich behaupten, es
waren das einzelne Trümmer und Splitter der früheren Macht-
entwicklung; der etruskischen Nation kam nicht mehr zu Gute,
was hier im friedlichen Verkehr oder im Seekrieg von Einzelnen
noch etwa erreicht ward. Dagegen gingen wahrscheinlich von
diesen halbfreien Etruskern die Anfänge derjenigen Civilisation
aus, die wir späterhin bei den Kelten und überhaupt den Alpen-
völkern finden. Schon die Ansiedlung der Keltenschwärme
selbst, der ‚Trümmer des Heeres‘, wie Skylax sie nennt, in den
lombardischen Ebenen gehört hierher; aber auch die Anfänge
der Handwerke und Künste und das Alphabet sind den lom-
bardischen Kelten, ja den Alpenvölkern bis in die heutige
Steiermark hinein von den Etruskern aus zugekommen.


Während also die Besitzungen in Campanien wie nörd-
lich vom Apennin und südlich vom ciminischen Walde den
[219]STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
Etruskern verloren gingen, gelang es ihnen in den also be-
schränkten Grenzen sich zu behaupten und, wenn die Zeiten
der Macht und des Aufstrebens auch vorüber waren, minde-
stens der Segnungen des Friedens und des Wohllebens sich
zu erfreuen. So weit unsere dürftige Kunde von den inneren
Zuständen der Nation reicht, finden wir aristokratische Ten-
denzen vorwiegend, in ähnlicher Weise wie gleichzeitig in
Rom, aber schroffer und verderblicher. Die Abschaffung des
Königthums, die um die Zeit der Belagerung Veiis schon in
allen Städten Etruriens durchgeführt gewesen zu sein scheint,
rief in den einzelnen Städten ein Patricierregiment hervor,
das durch das lose eidgenossenschaftliche Band sich nur wenig
beschränkt sah. Selten nur gelang es selbst zur Landesver-
theidigung alle etruskischen Städte zu vereinigen und Volsi-
niis nominelle Hegemonie hält nicht den entferntesten Ver-
gleich aus mit der gewaltigen Kraft, die durch Roms Führung
die latinische Nation empfing. Der Kampf gegen die aus-
schlieſsliche staatliche Berechtigung der Altbürger, der auch
den römischen Staat politisch und ökonomisch hätte ver-
derben müssen, wenn nicht die äuſseren Erfolge es möglich
gemacht hätten die Ansprüche der Plebejer wenigstens mate-
riell auf Kosten fremder Völker zu befriedigen und dem Ehr-
geiz andere Bahnen zu öffnen — dieser Kampf gegen die
Geschlechterherrschaft muſs Etrurien staatlich, ökonomisch
und sittlich zu Grunde gerichtet haben. Ungeheure Vermögen,
namentlich an Grundbesitz, concentrirten sich in den Händen
von wenigen Adlichen, während die Massen verarmten; die
socialen Umwälzungen, die hieraus entstanden, erhöhten die
Noth, der sie abhelfen sollten, und bei der Ohnmacht der
Centralgewalt blieb zuletzt den bedrängten Aristokraten, zum
Beispiel in Arretium 453, in Volsinii 488 nichts übrig als
die Römer zur Hülfe zu rufen, die denn zwar der Unordnung,
aber zugleich auch der Unabhängigkeit ein Ende machten.
Die Kraft des Volkes war gebrochen seit dem Tage von Veii
und Melpum; es wurden wohl einige Male noch ernstliche
Versuche gemacht sich der römischen Oberherrschaft zu ent-
ziehen, aber wenn es geschah, kam die Anregung dazu den
Etruskern von auſsen, von einem andern italischen Stamm,
den Samniten.


[[220]]

KAPITEL V.



Die Unterwerfung der Latiner und Campaner
unter Rom
.


Das groſse Werk der römischen Königszeit, Roms Herr-
schaft über Latium in Form der Hegemonie, ward nicht we-
sentlich erschüttert durch die Aenderung der Verfassung. Es
mag sein, daſs der Bund auf kurze Zeit dadurch in Schwan-
ken gerieth; darauf deutet die Sage von der Regillerschlacht,
die der Dictator oder Consul Aulus Postumius Albus (255?
258?) mit Hülfe der Dioskuren über die Latiner gewonnen
haben soll, und sicherer die Bundeserneuerung von 261, ein
Werk des Spurius Cassius. Daſs aber die alten Verhältnisse
im Wesentlichen fortbestanden, zeigt die Folge; und in der
That mahnte die gewaltige Machtentwicklung Etruriens, die
stetigen Angriffe von Veii und Fidenae aus, den latinischen
Stamm gebieterisch zur Einigkeit, welche, wie Rom einmal
stand, nur möglich war mit Anerkennung seiner Oberherr-
lichkeit. Latium fügte sich, und der einigen Nation gelang
es nicht bloſs sich der Etrusker zu erwehren, sondern auch
die alten Landesfeinde, die Aequer am obern Anio und die
Volsker am Meer um Antium und Tarracina, allmählich zu bän-
digen. Die mit diesen Völkern sich jährlich erneuernden
Fehden, die in unsern Annalen so berichtet werden, daſs der
unbedeutendste Streifzug von dem folgenreichen Kriege kaum
unterschieden und der historische Zusammenhang gänzlich bei
Seite gelassen wird, sollen hier nicht erzählt werden; es ge-
nügt hinzuweisen auf die dauernden Erfolge. Deutlich erken-
[221]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
nen wir, daſs es den Römern und Latinern vor allem darauf
ankam die Aequer von den Volskern zu trennen und der Com-
municationen Herr zu werden; zu diesem Ende wurden die
ältesten Bundesfestungen oder sogenannten latinischen Colonien
angelegt, Cora, Norba (angeblich 262), Signia (angeblich ver-
stärkt 259), welche alle auf den Verbindungspunkten liegen.
Vollständiger noch ward der Zweck erreicht durch den Beitritt
der Herniker zu dem Bunde der Latiner und Römer (268),
welcher die Volsker vollständig isolirte und dem Bunde eine
Vormauer gewährte gegen die südlich und östlich wohnenden
sabellischen Stämme; es ist begreiflich, weſshalb dem kleinen
Volk volle Gleichheit mit den beiden andern in Rath und
Beuteantheil zugestanden ward. Die schwächeren Aequer
waren seitdem wenig gefährlich; es genügte von Zeit zu Zeit
einen Plünderzug gegen sie zu unternehmen. Ernstlicher wi-
derstanden die Volsker, denen der Bund durch allmählich vor-
geschobene Festungen langsam den Boden abgewann. Velitrae
war schon 260 als Vormauer für Latium gegründet worden;
es folgten Suessa Pometia, Ardea (312) und merkwürdig genug
Circeii (361), das, so lange Antium und Tarracina noch frei
waren, nur zu Wasser mit Latium in Verbindung gestanden
haben kann. Antium zu besetzen ward oft versucht und ge-
lang auch vorübergehend 287; aber 295 machte die Stadt
sich wieder frei und führte einen siebzigjährigen Krieg gegen
Rom, bis sie bald nach dem gallischen Brande (365) sich an
Marcus Furius Camillus ergab. Damit war der feste Besitz
des pomptinischen Gebietes gewonnen, das gesichert ward
durch die Anlage der Festung Setia (371, verstärkt 375) und
396 in Ackerloose und in Bürgerbezirke vertheilt ward. Seit-
dem haben die Volsker wohl noch sich empört, aber keine
Kriege mehr gegen Rom geführt. — Ueber das Verhältniſs der
sabinischen Landschaft ist wenig bekannt; der Verlauf der
Ereignisse zeigt, daſs dieselbe früh von Rom abhängig ward
— schon in den Samniterkriegen marschiren die römischen
Heere durch die Sabina stets wie durch friedliches Land —
und daſs sie früh, viel früher zum Beispiel als der volskische
District, sich romanisirt hat. Es hängt dies, und vermuthlich
ebenso die geringe Theilnahme der Sabiner an dem verzwei-
felten Widerstand der Aequer und Volsker, wohl damit zu-
sammen, daſs eben um diese Zeit die von dort ausgehenden
Schaaren sich über Unteritalien ergossen; da die campani-
schen Fluren stärker lockten als die römische Ebene und
[222]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
selbst die Heimath, mögen die Römer das halb verlassene
Land ohne vielen Widerstand besetzt haben.


Aber je entschiednere Erfolge der Bund der Römer, Latiner
und Herniker gegen die Etrusker, Aequer, Volsker und Sabiner
errang, desto mehr entwich aus ihm die Eintracht. Zum Theil
lag die Ursache in den Uebergriffen des führenden Staates.
Die Festungen, auf deren Anlage jene Erfolge wesentlich be-
ruhten, sollten Bundesfestungen sein, das heiſst neue Gemein-
den, die gleich den übrigen latinischen Städten in die Eidge-
nossenschaft der Latiner eintraten und deren Besatzung und
Bevölkerung gebildet ward aus Aussendlingen der sämmtlichen
Bundesgenossen; allein in der Ausführung waren die meisten,
nicht selten alle Ansiedler römische Bürger, die mit Aufgebung
ihres römischen Bürgerrechts in die neue Stadt zogen, wo-
durch sich die Römer zugleich die vorwiegende Anhänglich-
keit dieser neuen Bundesglieder und den wesentlichen mate-
riellen Vortheil der Eroberungen zuwandten. Dazu kamen
einzelne gehässige Ungerechtigkeiten; so der schmähliche
Schiedsspruch zwischen Aricinern und Ardeaten 308, wo-
durch die Römer, angerufen zu compromissarischer Entschei-
dung über ein zwischen den beiden Gemeinden streitiges
Grenzgebiet, dasselbe für sich nahmen, und die noch schänd-
lichere Ausnutzung des durch diesen Spruch in Ardea ent-
standenen Haders, wo das Volk zu den Volskern sich schlagen
wollte, während der Adel an Rom festhielt, zur Aussendung
römischer Colonisten in die reiche Stadt, denen die Lände-
reien der Anhänger der antirömischen Partei ausgetheilt wur-
den (312). Hauptsächlich indeſs war die Ursache, weſshalb
der Bund sich innerlich auflöste, eben die Niederwerfung der
gemeinschaftlichen Feinde; die Schonung von der einen, die
Hingebung von der andern Seite hatte ein Ende, seitdem man
gegenseitig des andern nicht mehr bedurfte. Der Hader kam
zuerst zum Ausbruch bei der schlieſslichen Auftheilung des
pomptinischen Gebiets; bald standen die bisherigen Ver-
bündeten gegen einander im Felde. Schon hatten latinische
Freiwillige in groſser Anzahl an dem letzten Verzweiflungs-
kampf der Volsker Theil genommen; jetzt muſsten Praeneste
(372-374), Tusculum (373), Tibur (394. 400) mit den Waf-
fen bezwungen werden, ja die Tiburtiner scheuten sich sogar
nicht mit den eben einmal wieder einrückenden gallischen
Schaaren gemeinschaftliche Sache gegen Rom zu machen.
Zum allgemeinen Aufstand kam es indeſs nicht und mit
[223]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
leichter Mühe bemeisterte Rom die einzelnen Städte; Tuscu-
lum ward sogar genöthigt sein Gemeinwesen aufzugeben und
in den römischen Bürgerverband einzutreten — der erste
Fall der Incorporation einer ganzen Bürgerschaft in die rö-
mische ohne Schleifung der Stadt. Bald nachher geschah
dasselbe mit Satricum. Ernster war der Kampf gegen die Her-
niker (392-396), in dem der erste plebejische Consul Gaius
Genucius fiel; allein auch hier siegten die Römer und diese
Niederlage bewog die Latiner das Bündniſs mit Rom zu er-
neuern (396). Allein mit gutem Willem folgten sie nicht
mehr den römischen Fahnen; ihre Reisläufer fochten zahl-
reich in den Heeren, die gegen Rom im Felde standen, und
der Beschluſs der latinischen Bundesversammlung im Jahre
405 den Römern den Zuzug zu weigern zeigte, was beim
Ausbruch eines ernstlichen Kampfes bevorstand. Und daſs
ein solcher sich vorbereitete, war klar. Unaufhaltsam näherten
sich die römischen Legionen dem Liris; schon 397 ward
glücklich gekämpft mit den Privernaten, 409 mit den Aurun-
kern, denen Sora am Liris entrissen ward. Schon standen
die römischen Heere an der Grenze der Samniten und das
Freundschaftsbündniſs, das im Jahre 400 die beiden tapfersten
und mächtigsten italischen Nationen mit einander schlossen,
war das sichere Vorzeichen des herannahenden Kampfes um
die Oberherrschaft Italiens.


In einer Hinsicht wenigstens war es ein gleicher Kampf.
Daſs die phalangitische Ordnung des römischen Heeres, die
in der servianischen Zeit von den unteritalischen Griechen
entlehnt worden war, in der Zeit des Pyrrhos nicht mehr be-
stand, ist ausgemacht. Es ist in der Zwischenzeit die ge-
schlossene Reihe der schwergerüsteten Lanzenträger aufgelöst
worden in kleinere und beweglichere Abtheilungen, die Lanze
selbst beschränkt worden auf einen Theil der Truppe; dafür
tritt ein der eigenthümliche schwere Wurfspeer, das viereckige
oder runde halb von Eisen halb von Holz gemachte Pilum,
und das Schwert gewinnt grössere Bedeutung, von geringeren
Aenderungen zu schweigen. Einzelne dieser Veränderungen
scheinen von den gegen das Ende des vierten Jahrhunderts ge-
führten gallischen Kriegen herzurühren; es wird ferner berich-
tet, daſs die Römer ihre neuen Waffen entlehnt hätten von
den Samniten. Schwerlich wird es sich bestimmt entscheiden
lassen, wann und wie diese neue Militärorganisation statt-
gefunden hat, die für die Machtentwicklung Roms von der
[224]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
tiefsten Bedeutung gewesen ist; allein es leidet keinen Zweifel,
einestheils daſs die Samniten auch in der Stellung und Be-
waffnung den Römern gleichartiger gegenüberstanden als die
Etrusker und die Gallier, anderntheils daſs die neue Heer-
ordnung im Wesentlichen schon bestand als die samnitischen
Kriege begannen.


Die samnitische Nation, die als man in Rom die Tar-
quinier austrieb ohne Zweifel schon seit längerer Zeit im Be-
sitz des zwischen der apulischen und der campanischen Ebene
aufsteigenden und beide beherrschenden Hügellandes gewesen
war, war auf der einen Seite durch die Daunier — Arpis
Macht und Blüthe fällt in diese Zeit — auf der andern durch
die Griechen und Etrusker bisher an weiterem Vordringen
gehindert worden. Aber der Sturz der etruskischen Macht
um das Ende des dritten, das Sinken der griechischen Colo-
nien im Laufe des vierten Jahrhunderts machten ihnen Luft
nach Süden und nach Westen und ein samnitischer Schwarm
nach dem andern machte fortan sich Bahn bis an, ja über
das Meer. Zuerst erschienen sie in der Ebene am Golf, wo
der Name der Campaner vernommen wird seit dem Anfang
des vierten Jahrhunderts; die Etrusker werden erdrückt, die
Griechen beschränkt, jenen Capua (331), diesen Kyme (335)
entrissen. Um dieselbe Zeit, vielleicht schon früher zeigen
sich in Groſsgriechenland die Lucaner, die im Anfang des
vierten Jahrhunderts mit Terinaeern und Thurinern im Kampf
liegen und geraume Zeit vor 364 in dem griechischen Laos
sich festsetzten. Um diese Zeit betrug ihr Aufgebot 30000
Mann zu Fuſs und 4000 Reiter. Gegen das Ende des vierten
Jahrhunderts wird der Name der Brettier zuerst gehört, die
ungleich den andern Stämmen nicht als Colonie, sondern im
Kampf von den Lucanern sich losgemacht und mit vielen
fremdartigen Elementen sich gemischt hatten. Umsonst such-
ten die Griechen sich des Andranges der Barbaren zu er-
wehren; der achaeische Städtebund ward 361 reconstituirt
und festgesetzt, daſs wenn von den Lucanern eine der ver-
bündeten Städte angegriffen werde, alle Zuzug leisten und die
Führer der nicht erschienenen Heerhaufen Todesstrafe leiden
sollten. Aber selbst die Einigkeit half nicht mehr, da der
Herr von Syrakus, der ältere Dionysios mit den Italikern gegen
seine Landsleute gemeinschaftliche Sache machte. Während
Dionysios sie von der See verdrängte, ward von den Italikern
eine Stadt nach der andern besetzt oder zerstört und nur
[225]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
wenigen, wie zum Beispiel Neapel, gelang es mühsam und
durch Verträge mit den barbarischen Nachbarn sich in be-
scheidener Wohlfahrt zu behaupten. In unglaublich kurzer Zeit
war der blühende Städtering zerstört oder verödet. Nur Ta-
rent, geschützt durch seine entferntere Lage und durch seine
in steten Kämpfen mit den Messapiern unterhaltene Schlag-
fertigkeit blieb unabhängig und mächtig, wenn gleich auch
diese Stadt beständig mit den Lucanern um ihre Existenz zu
fechten hatte und genöthigt war in der griechischen Heimath
Bündnisse und Söldner zu suchen. — Um die Zeit, wo Veii
und Antium römisch wurden, hatten die samnitischen Schaa-
ren bereits ganz Unteritalien inne mit Ausnahme weniger grie-
chischer Pflanzstädte ohne Zusammenhang unter sich, und der
apulisch-messapischen Küste. Der um 400 abgefaſste Reise-
bericht des Griechen Skylax setzt die eigentlichen Samniten
mit ihren ‚fünf Zungen‘ von einem Meer zum andern an, da-
neben die Campaner, im Süden von Paestum bis Thurii die
Lucaner, unter denen hier wie öfter die Brettier mitbegriffen
sind. In der That, wer mit einander vergleicht, was die bei-
den groſsen Nationen Italiens, die latinische und die samniti-
sche, errungen hatten, bevor sie sich berührten, dem erscheint
die Eroberungsbahn der letzteren bei weitem ausgedehnter
und glänzender als die der Römer. Aber der Charakter der
Eroberungen war ein wesentlich verschiedener. Von dem
festen städtischen Mittelpunct aus, den Latium in Rom besaſs,
dehnt sich die Herrschaft dieses Stammes langsam aus nach
allen Seiten, zwar in verhältniſsmäſsig engen Grenzen, aber
festen Fuſs fassend wo sie hintritt, durch Gründung von festen
Städten römischer Art mit abhängigem Bundesrecht oder durch
Romanisirung des eroberten Gebiets. Anders in Samnium.
Es giebt hier keine einzelne führende Gemeinde und darum
auch keine Eroberungspolitik. Daher erfüllen die samnitischen
Schaaren einen unverhältniſsmäſsig weiten Raum, den sie ganz
sich eigen zu machen keineswegs bedacht sind; die gröſsern
Griechenstädte, Thurii, Kroton, Metapont, Heraklea, Rhegion,
Neapel bestehen fort, wenn gleich geschwächt und öfters ab-
hängig, ja selbst auf dem platten Lande und in den kleineren
Städten werden die Hellenen geduldet und Kyme zum Bei-
spiel, Posidonia, Laos, Hipponion blieben, wie Skylax und die
Münzen lehren, auch unter samnitischer Herrschaft noch Grie-
chenstädte. So entstanden gemischte Bevölkerungen, wie denn
namentlich die zwiesprachigen Brettier auſser samnitischen
Röm. Gesch. I. 15
[226]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
auch hellenische Elemente und selbst wohl Ueberreste der
alten Autochthonen in sich aufnahmen; aber auch in Lucanien
und Campanien müssen in minderem Grade ähnliche Mischun-
gen stattgefunden haben. Der gefährliche Zauber der hel-
lenischen Cultur muſste nothwendig einwirken auf die samni-
tische Nation, namentlich in Campanien, wo Neapel früh mit
den Einwanderern sich auf freundlichen Verkehr stellte und
wo der Himmel selbst die Barbaren humanisirte. Capua,
Nola, Nuceria, Teanum, obwohl rein samnitischer Bevölke-
rung, nahmen griechische Weise und griechische Stadtverfas-
sung an; wie denn auch in der That die heimische Gauver-
fassung unter den neuen Verhältnissen unmöglich fortbestehen
konnte. Die campanischen Samnitenstädte begannen Münzen
zu schlagen, zum Theil mit griechischer Aufschrift; Capua
ward durch Handel und Ackerbau der Gröſse nach die zweite
Stadt Italiens, die erste an Ueppigkeit und Reichthum. Das-
selbe gilt in minderem Grade von den Lucanern und Brettiern.
Die Gräberfunde in all diesen Gegenden beweisen, wie die
griechische Kunst daselbst mit barbarischem Luxus gepflegt
ward; der reiche Gold- und Bernsteinschmuck, das pracht-
volle gemalte Geschirr, wie wir sie jetzt den Häusern der
Todten entheben, lassen ahnen, wie weit man hier schon sich
entfernt hatte von der alten Sitte der Väter. Andere Spuren
bewahrt die Schrift; die altnationale aus dem Norden mitge-
brachte ward von den Lucanern und Brettiern aufgegeben
und mit der griechischen vertauscht, während in Campanien
das nationale Alphabet und wohl auch die Sprache unter dem
bildenden Einfluſs der griechischen sich selbstständig entwik-
kelte zu gröſserer Klarheit und Feinheit. Wir treffen selbst auf
einzelne Spuren des Einflusses griechischer Philosophie. — Nur
das eigentliche Samnitenland blieb unberührt von diesen Neue-
rungen, die, so schön und natürlich sie sein mochten, doch
mächtig dazu beitrugen immer mehr das Band der nationalen
Einheit zu lockern, das von Haus aus schon ein loses war.
Denn während Rom mit aller Energie darauf hinarbeitete die
von da ausgehenden Gründungen an die Heimath zu ketten,
scheint bei dem samnitischen Stamm jeder Schwarm, der sich
neue Sitze gesucht und gefunden hatte, fortan selbstständig
seinen Weg gegangen zu sein. So war die Eroberung von
Caere, Veii, Antium für die Römer eine wirkliche Machter-
weiterung, aber die Gründung der campanischen Samniten-
städte, der lucanischen und brettischen Eidgenossenschaft
[227]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
schwächte vielmehr das Mutterland. Durch den Einfluſs des
hellenischen Wesens, dem Rom in dieser Zeit entging, kam
ein tiefer Riſs in den samnitischen Stamm. Die gesitteten ‚Phil-
hellenen‘ Campaniens gewöhnten sich vor den rauheren Stäm-
men der Berge gleich den Hellenen selbst zu zittern; diese, die
eigentlichen Samniten hörten nicht auf in Campanien einzu-
dringen und die entarteten älteren Ansiedler zu beunruhigen.
Rom war ein geschlossener Staat, der über die Kraft von
ganz Latium verfügte; die Unterthanen mochten murren, aber
sie gehorchten. Der samnitische Stamm war zerfahren und
zersplittert und die Eidgenossenschaft im eigentlichen Samnium
hatte sich zwar die Sitten und die Tapferkeit der Väter unge-
schmälert bewahrt, war aber auch mit den übrigen samniti-
schen Völker- und Bürgerschaften völlig darüber zerfallen.


In der That war es dieser Zwist zwischen den Samniten
der Ebene und den Samniten der Gebirge, der die Römer
über den Liris führte. Die Sidiciner in Teanum, die Cam-
paner in Capua suchten gegen die eigenen Landsleute, die
mit immer neuen Schwärmen ihr Gebiet brandschatzten und
darin sich festzusetzten drohten, Hülfe bei den Römern (411).
Das begehrte Bündniſs ward verweigert. Darauf bot die cam-
panische Gesandtschaft die Unterwerfung ihrer Landschaft unter
die Oberherrlichkeit Roms an und solcher Lockung vermoch-
ten die Römer nicht zu widerstehen. Römische Gesandte
gingen zu den Samniten ihnen den neuen Erwerb anzuzeigen
und sie aufzufordern das Gebiet der befreundeten Macht zu
respectiren. Wie die Ereignisse weiter verliefen, ist im Ein-
zelnen nicht mehr zu ermitteln *; wir sehen nur, daſs zwi-
schen Rom und Samnium, sei es nach einem Feldzug, sei
15*
[228]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
es ohne vorhergehenden Krieg, ein Abkommen zu Stande
kam, wodurch die Römer freie Hand erhielten gegen Capua,
die Samniten gegen Teanum und die Volsker am obern Liris.
Daſs die Samniten sich dazu verstanden, erklärt sich aus den
gewaltigen Anstrengungen, die eben um diese Zeit die Taren-
tiner gegen die Uebergriffe der Italiker machten; aber auch
die Römer hatten guten Grund sich mit den Samniten so
schnell wie möglich abzufinden, denn die Latiner, beunruhigt
durch die Ausbreitung der römischen Macht in ihrem Rücken,
gingen von unwilliger und saumseliger Bundesgenossenschaft
über zu offenem Angriff. Alle ursprünglich latinischen Städte,
selbst die in den römischen Bürgerverband aufgenommenen
Tusculaner, erklärten sich gegen Rom, mit einziger Ausnahme
der Laurenter, während dagegen die römischen Colonien in
Latium mit Ausnahme von Velitrae sämmtlich festhielten an
dem römischen Bündniſs. Daſs die Campaner ungeachtet der
eben erst freiwillig den Römern angetragenen Unterwerfung
dennoch der römischen Herrschaft sich nur unwillig fügten
und trotz des Widerstandes der an dem Vertrag mit Rom fest-
haltenden Optimatenpartei die Menge gemeinschaftliche Sache
*
[229]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
machte mit der latinischen Eidgenossenschaft, daſs nicht minder
die Volsker einen letzten Versuch machten sich bei diesem An-
laſs der römischen Herrschaft zu entziehen, ist begreiflich. Die
Lage der Römer war bedenklich; die Legionen, die über den
Liris gegangen waren und Campanien besetzt hatten, waren
durch den Aufstand der Latiner und Volsker von der Hei-
math abgeschnitten und nur ein entscheidender Sieg konnte
sie retten. Bei Trifanum (zwischen Minturnae, Suessa und
Sinuessa) lieferte der Consul Titus Manlius Imperiosus
Torquatus die entscheidende Schlacht gegen die vereinigten
Latiner und Campaner; sie ward vollständig gewonnen (414),
worauf in den beiden folgenden Jahren die einzelnen Städte
der Latiner und Volsker, die noch Widerstand leisteten, durch
Capitulation oder Sturm bezwungen und die ganze Landschaft
zur Unterwerfung gebracht ward. — Der Sieg war vollständig;
er ward benutzt zur Auflösung des latinischen Bundes. Ein
Theil der latinischen Städte: Lanuvium, Aricia, Nomentum,
Pedum verloren ihre Selbstständigkeit und traten gleich Tus-
culum und Satricum in den römischen Bürgerverband, womit
*
[230]ZWEITES BUCH. KAPITEL V.
die Errichtung zweier neuer Bürgerbezirke (422) zusammen-
hängt. Velitrae's Mauern wurden niedergerissen, der Senat
in Masse ausgewiesen und im römischen Etrurien internirt,
die Stadt wahrscheinlich als unterthänige Gemeinde nach cae-
ritischem Recht constituirt. Den übrigen latinischen Städten
wurden die Gebiete geschmälert und die gewonnenen Aecker
an römische Bürger vertheilt (414). Das Sonderbündniſs Roms
mit einer jeden einzelnen Stadt ward erneuert, wenn gleich
unter nachtheiligeren Bedingungen — namentlich wurde ihnen
der Anspruch auf einen Beutetheil entzogen —; der Bund selbst
aber in seiner Gesammtheit nicht wiederhergestellt. Die neuen
Colonien Antium (416) und Tarracina (425), die nicht als
selbstständige Staaten latinischen Rechts, sondern als römische
Bürgergemeinden gegründet wurden, sicherten den Besitz der
Landschaft und schlossen vor allem die Latiner vom Meere
aus, über das Rom mit kluger Eifersucht wachte. Keine ab-
hängige Gemeinde, nicht einmal die Bürgercolonien durften
Kriegsschiffe halten; die Schnäbel der antiatischen Galeeren
führte man nach Rom die Rednerbühne auf dem Markt damit
zu schmücken. — In gleicher Weise, wenn auch in andern
Formen ward in dem südlichen volskischen und dem campa-
nischen Gebiet die römische Herrschaft durchgeführt und be-
festigt. Capua, Kyme, Fundi, Formiae und eine Anzahl klei-
nerer Städte wurden abhängige römische Gemeinden caeriti-
schen Rechts; ebenso Privernum, dessen Bürger, unterstützt
von dem kühnen fundanischen Parteigänger Vitruvius Vaccus
die Ehre hatten für die latinische Freiheit den letzten Kampf
zu kämpfen — er endigte mit der Erstürmung der Stadt
(425) und der Hinrichtung des Vaccus im römischen Kerker.
Das wichtige Capua zu sichern nährte man die Spaltung zwi-
schen dem Adel und der Gemeinde; jener erhielt in jeder
Hinsicht eine Sonderstellung, einen eigenen Gerichtsstand,
eigene Versammlungsplätze, ja die Anweisung beträchtlicher
Pensionen — sechzehnhundert je von jährlich 450 Drachmen
— auf die campanische Gemeindekasse. Die Verfassung ward
einige Jahre später (436) im römischen Interesse revidirt und
ein ständiger Commissar von Rom dorthin abgeordnet. End-
lich und hauptsächlich war man darauf bedacht auch eine
eigene römische Bevölkerung in diesen Gegenden emporzu-
bringen, weſshalb man von den im Krieg gewonnenen Län-
dereien namentlich im privernatischen und im falernischen
Gebiet so zahlreiche Ackerloose an römische Bürger austheilte,
[231]UNTERWERFUNG DER LATINER UND CAMPANER.
daſs wenige Jahre nachher (436) dort zwei neue Bürgerbezirke
errichtet werden konnten. Die Anlegung zweier Festungen
als Colonien latinischen Rechts sicherte schlieſslich das neu
gewonnene Land. Es waren dies Cales (420) mitten in der
campanischen Ebene, von wo aus Teanum und Capua beo-
bachtet werden konnten, und Fregellae (426), das den Ueber-
gang über den Liris sicherte. Beide Colonien waren unge-
wöhnlich stark und gelangten schnell zur Blüthe, trotz der
Hindernisse, welche die Sidiciner der Gründung von Cales,
die Samniten der von Fregellae in den Weg legten. Auch
nach Sora ward eine römische Besatzung verlegt, worüber die
Samniten, denen dieser Bezirk überlassen ward, sich mit
Grund, aber vergeblich beschwerten. Ungeirrt ging Rom sei-
nem Ziel entgegen, seine energische und groſsartige Staats-
kunst mehr als auf dem Schlachtfelde offenbarend in der
Sicherung der gewonnenen Stellungen, die es politisch und
militärisch mit einem unzerreiſsbaren Netze zu umflechten
und allmählich sich einzuverleiben verstand. — Daſs die Sam-
niten das bedrohliche Vorschreiten der Römer nicht gern sahen,
versteht sich; aber die ernstliche Gegenwehr ward versäumt.
Zwar Teanum scheinen sie nach dem Vertrag mit Rom ge-
wonnen und stark besetzt zu haben; denn während die Stadt
früher Hülfe gegen Samnium in Capua und Rom nachsucht,
erscheint sie in den späteren Kämpfen als die Vormauer der
samnitischen Macht gegen Westen. Auch am obern Liris
breiteten sie sich aus, aber nach ihrer Weise mehr erobernd
und zerstörend, als auf die Dauer sich festsetzend. So zer-
störten sie die Volskerstadt Fregellae, wodurch nur die Anlage
der römischen Colonie daselbst erleichtert ward, und schreck-
ten zwei andere Volskerstädte Fabrateria (Falvaterra) und Luca
(unbekannter Lage) so, daſs dieselben, Capuas Beispiel fol-
gend sich (424) den Römern zu eigen gaben. Die samnitische
Eidgenossenschaft gestattete, daſs die römische Eroberung Cam-
paniens eine vollständige Thatsache war, bevor sie sich ernst-
lich derselben widersetzte; wovon der Grund allerdings zum
Theil zu suchen ist in den gleichzeitigen Fehden der samniti-
schen Nation mit den italischen Hellenen, aber zum Theil auch
in der schlaffen und zerfahrenen Politik der Eidgenossenschaft.


[[232]]

KAPITEL VI.



Die Italiker gegen Rom.


Während die Römer am Liris und Volturnus fochten, be-
wegten den Südosten der Halbinsel andere Kämpfe. Die
reiche tarentinische Kaufmannsrepublik, immer ernstlicher
bedroht von den lucanischen und messapischen Haufen und
ihren eigenen Schwertern mit Recht miſstrauend, gewann für
gute Worte und besseres Geld die Bandenführer der Heimath.
Der Spartanerkönig Archidamos, der mit einem starken Haufen
den Stammgenossen zu Hülfe gekommen war, erlag an dem-
selben Tage, wo Philipp bei Chaeroneia siegte, den Lucanern
(416 der Stadt, 338 vor Christus); wie die frommen Griechen
meinten, zur Strafe dafür, daſs er und seine Leute neunzehn
Jahre früher theilgenommen hatten an der Plünderung des
delphischen Heiligthums. Seinen Platz nahm ein mächtigerer
Feldhauptmann ein, Alexander der Molosser, Bruder der Olym-
pias, der Mutter Alexanders des Groſsen. Mit den mitgebrach-
ten Schaaren wuſste er unter seinen Fahnen zu vereinigen
die Zuzüge der Griechenstädte, namentlich der Tarentiner und
Metapontiner, die Poediculer (um Rubi, jetzt Ruvo), die gleich
den Griechen sich von der sabellischen Nation bedroht sahen,
ja sogar die lucanischen Verbannten selbst, deren beträcht-
liche Zahl auf heftige innere Unruhen in dieser Eidgenossen-
schaft schlieſsen läſst. So sah er sich bald dem Feinde über-
legen. Consentia (Cosenza), der Bundessitz, wie es scheint,
der in Groſsgriechenland angesiedelten Sabeller, fiel in seine
Hände. Umsonst kommen die Samniten den Lucanern zu
[233]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
Hülfe; Alexander schlägt ihre vereinigte Streitmacht bei Pae-
stum, er bezwingt die Daunier um Sipontum, die Messapier
auf der östlichen Halbinsel; schon gebietet er von Meer zu
Meer und ist im Begriff den Römern die Hand zu reichen
und mit ihnen gemeinschaftlich die Samniten in ihren Stamm-
sitzen anzugreifen. Aber die tarentiner Kaufleute erschraken
vor so unerwarteten und unerwünschten Erfolgen; es kam
zum Krieg zwischen dem Feldhauptmann, der als gedungener
Söldner erschienen war und nun sich anlieſs, als wolle er in
Italien ein westhellenisches Reich begründen gleich wie sein
Neffe im fernen Osten. Alexander verlor den Muth nicht;
er entriſs den Tarentinern Herakleia, stellte Thurii wieder
her und scheint die übrigen italischen Griechen aufgerufen
zu haben sich unter seinem Schutz gegen die Tarentiner zu
vereinigen, indem er zugleich zwischen ihnen und den sabel-
lischen Völkerschaften zu vermitteln suchte. Allein seine groſs-
artigen Entwürfe fanden nur schwache Unterstützung bei den
entarteten und entmuthigten Griechen und der nothgedrungene
Parteiwechsel entfremdete ihm seinen bisherigen lucanischen
Anhang; bei Pandosia fiel er von der Hand eines lucanischen
Emigrirten (422) *. Mit seinem Tode kehrten im Wesentlichen
die alten Zustände wieder zurück. Die griechischen Städte
sahen sich wiederum vereinzelt und überall im Nachtheil; dar-
auf angewiesen sich so gut es gehen mochte zu schützen durch
Vertrag oder Tributzahlung oder auch durch auswärtige Hülfe,
wie zum Beispiel Kroton um 430 mit Hülfe von Syrakus die Bret-
tier zurückschlug. Die samnitischen Stämme erhielten aufs Neue
das Uebergewicht und konnten, unbekümmert um die Griechen,
wieder ihre Blicke gegen Latium und Campanien wenden.


Hier aber war in der kurzen Zwischenzeit ein ungeheurer
Umschwung eingetreten. Die latinische Eidgenossenschaft war
gesprengt und zertrümmert, der letzte Widerstand der Volsker
gebrochen, die schönste Landschaft der Halbinsel im unbe-
strittenen und wohlbefestigten Besitz der Römer, die zweite
Stadt Italiens in römischer Clientel. Während die Griechen
und die Samniten mit einander rangen, hatte Rom fast unbe-
[234]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
stritten sich emporgeschwungen zu einer Machtstellung, die
zu erschüttern kein einzelnes Volk der Halbinsel die Kraft
besaſs. Zwar drohte die Gefahr römischer Unterjochung
ihnen allein und man mochte noch ihr entgehen, wenn die
schwächeren Völker gegen Rom sich vereinigten. Aber die
Klarheit, der Muth, die Hingebung, wie eine solche Coalition
unzähliger bisher groſsentheils feindlich oder doch sich fremd
gegenüberstehender Volks- und Stadtgemeinden sie erforderte,
fanden sich erst, als es schon zu spät war.


Nach dem Sturz der etruskischen Macht, nach der Schwä-
chung der griechischen Republiken war nächst Rom unzweifel-
haft die bedeutendste Macht in Italien die samnitische Eidge-
nossenschaft und zugleich war sie es, die von den römischen
Uebergriffen am nächsten und unmittelbarsten bedroht war.
Ihr also kam es zu in dem Kampf um die Freiheit und Na-
tionalität, den die Italiker gegen Rom zu führen hatten, die
erste Stelle und die schwerste Last zu übernehmen. Sie durfte
rechnen auf den Beistand der kleineren sabellischen Völker-
schaften, der Vestiner, Frentaner, Marruciner und anderer
kleinerer Gaue, die in bäuerlicher Abgeschiedenheit zwischen
ihren Bergen wohnten, aber nicht taub waren, wenn der Auf-
ruf eines verwandten Stammes sie mahnte zur Vertheidigung
der gemeinsamen Güter unter die Waffen zu treten. Die Marser
dagegen scheinen als die nächsten Nachbarn der Römer im Gan-
zen neutral geblieben zu sein; die Apuler, die alten und erbit-
terten Gegner der Sabeller, waren die natürlichen Verbünde-
ten der Römer. Um die mächtigeren, aber in sich zerrissenen
Lucaner und Brettier zu gewinnen muſsten die in ihren Gren-
zen eingeschlossenen Griechenstädte zweiten und dritten Ranges
preisgegeben werden; wogegen die Samniten zählen konnten
auf die Beihülfe Tarents und der campanischen Griechen.
Daſs auch die fernen Etrusker, wenn ein erster Erfolg er-
rungen war, dem Bunde sich anschlieſsen würden, lieſs sich
erwarten, und selbst ein Aufstand in Latium und dem Volsker-
land lag nicht auſser der Berechnung. Vor allen Dingen aber
muſsten die Samniten, die italischen Aetoler, in denen die
nationale Kraft noch ungebrochen lebte, vertrauen auf die
eigene Kraft, auf die Ausdauer im ungleichen Kampf, welche
den übrigen Völkern Zeit gab zu edler Scham, zu gefaſster
Ueberlegung, zum Sammeln der Kräfte; ein einziger glück-
licher Erfolg konnte alsdann die Kriegs- und Aufruhrsflammen
rings um Rom entzünden. Die Geschichte darf dem edlen
[235]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
Volke das Zeugniſs nicht versagen, daſs es seine Pflicht be-
griffen und gethan hat.


Mehrere Jahre schon währte der Hader zwischen Rom
und Samnium in Folge der beständigen Uebergriffe, die die
Römer sich am Liris erlaubten und unter denen die Grün-
dung von Fregellae 426 der letzte und wichtigste war. Zum
Ausbruch des Kampfes aber gaben die Veranlassung die cam-
panischen Griechen. Die Zwillingsstädte Palaeo- und Neopolis,
die eine politische Einheit gebildet und auch die griechischen
Inseln im Golf beherrscht zu haben scheinen, waren inner-
halb des römischen Gebiets die einzigen noch nicht unter-
worfenen Gemeinden. Die Tarentiner und Samniten, unter-
richtet von dem Plane der Römer sich dieser Städte zu
bemächtigen, beschlossen ihnen zuvorzukommen. Allein die
Tarentiner waren nicht so wohl zu fern als zu schlaff um
diesen Plan auszuführen; wogegen die Samniten in der That
eine starke Besatzung nach Palaeopolis hineinwarfen. Sofort
erklärten die Römer dem Namen nach den Palaeopolitanern,
in der That den Samniten den Krieg (427). Nachdem die
Belagerung eine Weile gewährt hatte, wurden Unterhandlun-
gen angeknüpft zwischen den Römern und den campanischen
Griechen, die des gestörten Handels und der fremden Be-
satzung müde waren. Die Römer, deren ganzes Bestreben
darauf gerichtet war die Staaten zweiten und dritten Ranges
durch Sonderverträge von der Coalition, deren Bildung bevor-
stand, fernzuhalten und die überhaupt durch ihre Diplomatie
eben so sehr wie durch ihre Legionen ihre Absichten durch-
zusetzen gewohnt waren, beeilten sich den Griechen die gün-
stigsten Bedingungen zu bieten: volle Rechtsgleichheit und
Befreiung vom Militärdienst, gleiches Bündniſs und ewigen
Frieden. Darauf hin ward, nachdem die Palaeopolitaner sich
der Besatzung durch List entledigt hatten, der Vertrag abge-
schlossen (428). Die sabellischen Städte südlich vom Vol-
turnus, Nola, Nuceria, Herculaneum, Pompeii, hielten zwar
wenigstens im Anfang des Krieges mit Samnium; allein theils
ihre sehr ausgesetzte Lage, theils die Machinationen der Rö-
mer, welche die optimatische Partei in diesen Städten durch
alle Hebel der List und des Eigennutzes auf ihre Seite zu
ziehen versuchten und die an Capuas Vorgang einen mäch-
tigen Fürsprecher fanden, bewirkten, daſs diese Städte nach
dem Fall von Palaeopolis sich entweder für Rom erklärten
oder doch neutral blieben. Ein wichtigerer Erfolg gelang den
[236]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
Römern in Lucanien, dessen Bewohner seit längerer Zeit in
heftigem innerem Hader lebten. Das Volk war auch hier mit
richtigem Instinct für den Anschluſs an die Samniten; da aber
das Bündniſs mit den Samniten auch Frieden mit Tarent nach
sich zog und ein groſser Theil der regierenden Herren nicht
gemeint war die einträglichen Plünderungszüge einzustellen, so
gelang es den Römern mit den Lucanern ein Bündniſs abzu-
schlieſsen, das unschätzbar war, weil dadurch den Tarentinern
zu schaffen gemacht wurde und also Rom seine ganze Macht
gegen Samnium verwenden konnte. Mochte auch die nationale
Partei in Lucanien unter dem Einfluſs Tarents vorübergehend
ans Ruder gelangen, so hielten jedenfalls die Parteien in dem
Volke sich so die Wage, daſs dasselbe während des ersten und
entscheidenden Abschnittes des groſsen samnitischen Krieges in
denselben nicht wesentlich zu Gunsten der Samniten eingriff.
In Folge dessen verhielt auch Tarent sich leidend, wozu frei-
lich auch die sikelischen Angelegenheiten und die Schlaffheit
und Fahrigkeit der tarentiner Demagogie das Ihrige beitrugen.


So stand Samnium nach allen Seiten hin allein; kaum
daſs einige der östlichen Bergdistricte ihm Zuzug sandten. Mit
dem Jahre 428 begann der Krieg im samnitischen Lande selbst;
einige Städte an der campanischen Grenze, Rufrium (zwischen
Venafrum und Teanum) und Allifae wurden von den Römern
besetzt. In den folgenden Jahren durchzogen die römischen
Heere fechtend und plündernd Samnium bis in das vestinische
Gebiet hinein, ja bis nach Apulien, wo man sie mit offenen
Armen empfing, überall im entschiedensten Vortheil. Der
Muth der Samniten war gebrochen; sie sandten die römischen
Gefangenen zurück und mit ihnen die Leiche des Führers
der Kriegspartei Brutulus Papius, welcher den römischen Hen-
kern zuvorgekommen war, als die samnitische Volksgemeinde
beschloſs durch seine Auslieferung Frieden und leidliche Be-
dingungen vom Feinde zu erkaufen. Demüthig bat man um
Frieden; er ward verweigert (432). Da rüsteten sich die Samni-
ten unter ihrem neuen Feldherrn Gavius Pontius zur äuſsersten
und verzweifelten Gegenwehr. Das römische Heer, das unter
den beiden Consuln des folgenden Jahres (433) Spurius Po-
stumius und Titus Veturius bei Calatia (zwischen Caserta
und Maddaloni) gelagert war, erhielt die Nachricht und die
Aussage zahlreicher Gefangenen bestätigte sie, daſs die Sam-
niten Luceria eng eingeschlossen hielten und die wichtige
Stadt, an der der Besitz Apuliens hing, in groſser Gefahr
[237]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
schwebe. Eilig brach man auf. Wollte man zur rechten Zeit
anlangen, so konnte kein andrer Weg eingeschlagen werden
als mitten durch das feindliche Gebiet, da wo später als Fort-
setzung der appischen Straſse die römische Chaussee von Ca-
pua über Benevent nach Apulien angelegt ward. Dieser Weg
führte zwischen den heutigen Orten Arpaja und Montesarchio *
durch einen feuchten Wiesengrund, der rings von hohen und
steilen Waldhügeln umschlossen und nur zugänglich war durch
tiefe Einschnitte beim Ein- und beim Austritt. Hier hatten
die Samniten verdeckt sich aufgestellt. Die Römer, ohne
Hinderniſs in das Thal eingetreten, fanden den Ausweg durch
Verhaue gesperrt und stark besetzt; zurückmarschirend zeigte
sich der Eingang in ähnlicher Weise geschlossen und gleich-
zeitig krönten die Bergränder rings im Kreise sich mit den
samnitischen Cohorten. Zu spät begriffen sie, daſs sie sich
durch eine Kriegslist hatten täuschen lassen und daſs die
Samniten nicht bei Luceria sie erwarteten, sondern an dem
verhängniſsvollen Paſs von Caudium. Man schlug sich, aber
ohne Hoffnung auf Erfolg und ohne ernstliches Ziel; das rö-
mische Heer, die gesammte active Streitmacht mit den beiden
höchstcommandirenden Feldherren, war gänzlich unfähig zu
manövriren und ohne Kampf vollständig überwunden. Die
römischen Generale boten die Capitulation an; der samnitische
Feldherr konnte nichts besseres thun als sie annehmen und
das ganze Heer gefangen nehmen — nur thörichte Rhetorik
läſst ihm die Wahl bloſs zwischen Entlassung und Nieder-
metzelung der römischen Armee —, worauf ihm dann der
Weg nach Campanien und Latium offen stand und unter den
damaligen Verhältnissen, wo der gröſste Theil der Latiner ihn
mit offenen Armen empfangen haben würde, Roms politische
Existenz ernstlich gefährdet war. Allein statt diesen Weg
einzuschlagen und eine Militärconvention zu schlieſsen, dachte
Gavius Pontius durch einen billigen Frieden gleich den ganzen
Hader beendigen zu können; sei es daſs er die unverständige
Friedenssehnsucht der Eidgenossen theilte, der das Jahr zuvor
Brutulus Papius zum Opfer gefallen war, sei es daſs er nicht
im Stande war der kriegesmüden Partei es zu wehren, die
[238]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
den beispiellosen Sieg ihm verdarb. Die gestellten Bedin-
gungen waren mäſsig genug: Rom solle die vertragswidrig
angelegten Festungen — Cales und Fregellae — schleifen
und den gleichen Bund mit Samnium erneuern. Für die
Ausführung bürgte der Eid der commandirenden Feldherren
und aller Stabsoffiziere, ferner sechshundert aus der römischen
Reiterei erlesene Geiſseln. Auf diese Bedingungen hin ward
das römische Heer entlassen, unverletzt, aber entehrt; denn
das siegestrunkene samnitische Heer erlieſs den gehaſsten
Feinden nicht die schimpfliche Form der Waffenstreckung
und des Abzugs unter den Galgen durch. — Allein der römi-
sche Senat, unbekümmert um den Eid der Offiziere und um
das Schicksal der Geiſseln, cassirte den Vertrag und begnügte
sich diejenigen, die ihn abgeschlossen hatten, als persönlich
für dessen Erfüllung verantwortlich dem Feinde auszuliefern.
Es kann der unparteiischen Geschichte wenig darauf ankom-
men, ob die römische Advocaten- und Pfaffencasuistik hiebei
den Buchstaben des Rechts gewahrt oder ob der römische
Senat diesen durch seinen Beschluſs verletzt hat; menschlich
und politisch betrachtet trifft die Römer hier kein Tadel. Es
ist sehr gleichgültig, ob nach formellem römischem Staatsrecht
der commandirende General befugt war ohne vorbehaltene Ra-
tification der Bürgerschaft Frieden zu schlieſsen; dem Geiste und
der Uebung der Verfassung nach stand es vollkommen fest, daſs
jeder nicht rein militärische Vertrag zur Competenz der bürger-
lichen Gewalten gehörte. Es war ein gröſserer Fehler des sam-
nitischen Feldherrn den römischen die Wahl zu stellen zwischen
Rettung ihres Heeres und Ueberschreitung ihrer Vollmacht,
als der römischen, daſs sie nicht die Seelengröſse hatten die
letztere Anmuthung unbedingt zurückzuweisen. Daſs der rö-
mische Senat einen solchen Vertrag nicht annahm, war recht
und nothwendig. Kein groſses Volk giebt was es besitzt anders
hin als unter dem Druck der Nothwendigkeit; alle Abtretungs-
verträge sind Anerkenntnisse einer solchen, nicht sittliche Ver-
pflichtungen. Wenn jedes Volk mit Recht seine Ehre darein
setzt schimpfliche Verträge mit den Waffen zu zerreiſsen, wie
kann ihm dann die Ehre gebieten an einem solchen Vertrage,
zu dem ein unglücklicher Feldherr moralisch genöthigt wor-
den ist, geduldig festzuhalten, wenn die Schande brennt und
die Kraft ungebrochen dasteht?


So brachte der Friedensvertrag von Caudium nicht die
Ruhe, die man thöricht gehofft hatte, sondern nur Krieg und
[239]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
wieder Krieg, mit gesteigerter Erbitterung auf beiden Seiten
durch die verscherzte Gelegenheit, das gebrochene feierliche
Wort, die geschändete Waffenehre, die preisgegebenen Kame-
raden. Die ausgelieferten römischen Offiziere wurden von den
Samniten nicht angenommen, theils weil sie zu groſs dachten
um an diesen Unglücklichen ihre Rache zu üben, theils weil
sie damit den Römern würden zugestanden haben, daſs das
Bündniſs nur die Schwörenden verpflichtet habe, nicht den
römischen Staat. Hochherzig verschonten sie sogar die Geis-
seln, deren Leben nach Kriegsrecht verwirkt war, und wand-
ten sich vielmehr sogleich zum Waffenkampf. Luceria ward
besetzt, Fregellae überfallen und erstürmt (434), bevor die
Römer die aufgelöste Armee wieder reorganisirt hatten; was
man hätte erreichen können, zeigt der Uebertritt der Satricaner
zu den Samniten. Aber Rom war nur augenblicklich gelähmt,
nicht geschwächt; voll Scham und Erbitterung bot man dort
auf, was man an Mannschaft und Mitteln vermochte und stellte
den erprobtesten Führer Lucius Papirius Cursor, gleich aus-
gezeichnet als Soldat wie als Feldherr, an die Spitze des neu
gebildeten Heeres. Dasselbe theilte sich; die eine Hälfte zog
durch die Sabina und das adriatische Littoral vor Luceria, die
andere eben dahin durch Samnium selbst, indem sie das
samnitische Heer unter glücklichen Gefechten vor sich her
trieb. Man traf wieder zusammen unter den Mauern von
Luceria, dessen Belagerung um so eifriger betrieben ward,
als dort die römischen Reiter gefangen saſsen; die Apuler,
namentlich die Arpaner leisteten den Römern wichtigen Bei-
stand, vorzüglich durch Beischaffung der Zufuhr. Nachdem
die Samniten zum Entsatz der Stadt eine Schlacht geliefert
und verloren hatten, ergab sich Luceria den Römern (435).
Papirius genoſs die doppelte Freude die verloren gegebenen
Kameraden zu befreien und die Galgen von Caudium der
samnitischen Besatzung von Luceria zu vergelten. In den
folgenden Jahren (435-437) ward der Krieg nicht so sehr
in Samnium geführt * als in dem apulischen und frentanischen
Gebiet, wo theils die samnitischen Verbündeten gezüchtigt wur-
den, theils Rom neue Bundesverträge abschloſs mit den apu-
lischen Teanensern und den Canusinern; gleichzeitig ward
Satricum zur Botmäſsigkeit zurückgebracht und schwer für
[240]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
seinen Abfall bestraft. Alsdann zog der Krieg sich nach Cam-
panien, wo die Römer die Grenzstadt gegen Samnium Saticula
(vielleicht S. Agata de' Goti) eroberten (438). Die Samniten
zogen die Nuceriner (438) und bald darauf die Nolaner auf
ihre Seite; am obern Liris vertrieben die Soraner selbst die
römische Besatzung (439); eine Erhebung der Ausoner berei-
tete sich vor und bedrohte das wichtige Cales. Selbst in Ca-
pua regten sich lebhaft die antirömisch Gesinnten; ein samni-
tisches Heer rückte in Campanien ein und lagerte vor der
Stadt, in der Hoffnung durch seine Nähe der Nationalpartei
das Uebergewicht zu geben (440). Allein Sora ward von den
Römern wieder genommen, nachdem die samnitische Entsatz-
armee geschlagen war (440). Die Bewegungen unter den
Ausonern wurden mit grausamer Strenge unterdrückt, ehe
der Aufstand recht zum Ausbruch kam und gleichzeitig ein
Dictator eigends ernannt um die politischen Prozesse gegen
die Führer der samnitischen Partei in Capua einzuleiten und
abzuurtheilen, so daſs die namhaftesten derselben dem römi-
schen Henker zu entgehen freiwillig den Tod nahmen (440).
Das samnitische Heer vor Capua ward geschlagen und zum
Abzug aus Campanien gezwungen; die Römer, dem Feinde
auf den Fersen folgend, überschritten den Matese und lager-
ten im Winter 440 vor der Hauptstadt Samniums Bovianum.
So ward Nola von selbst gewonnen (441); die Römer waren
einsichtig genug durch den günstigsten dem neapolitanischen
ähnlichen Bundesvertrag die Stadt für immer von der samni-
tischen Partei zu trennen. Endlich (441) fiel auch Fregellae,
das die Samniten im achten Jahre inne hatten; zweihundert
der Bürger, die vornehmsten der nationalen Partei, wurden
nach Rom geführt und dort zum warnenden Beispiel für die
überall sich regenden Patrioten auf offenem Markte enthaup-
tet. — Hiemit war Apulien und Campanien in den Händen
der Römer. Zur endlichen Sicherstellung und bleibenden
Beherrschung des eroberten Gebietes wurden in den Jahren
440 bis 442 neue Festungen gegründet: Luceria in Apulien,
wohin seiner isolirten und ausgesetzten Lage wegen eine halbe
Legion als bleibende Besatzung gesandt ward, ferner Pontiae
(die Ponzainseln) zur Sicherung der campanischen Gewässer,
Saticula an der campanisch-samnitischen Grenze als Vormauer
gegen Samnium, endlich Interamna (bei Monte Cassino) und
Suessa Aurunca (Sessa) auf der Straſse von Rom nach Capua.
Besatzungen kamen auſserdem nach Calatia, Sora und nach
[241]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
anderen militärisch wichtigen Plätzen. Die Chaussirung der
groſsen Militärstraſse von Rom nach Capua, die der Censor
Appius Claudius 442 veranstaltete, vollendete die Sicherung
Campaniens. Immer vollständiger entwickelten sich die Ab-
sichten der Römer; es galt die Unterwerfung Italiens, das von
Jahr zu Jahr durch das römische Festungs- und Straſsennetz
enger umstrickt ward. Von beiden Seiten schon waren die
Samniten von den Römern umsponnen; schon schnitt die Li-
nie von Rom nach Luceria Nord- und Süditalien von einander
ab, wie einst die Festungen Cora und Norba die Volsker und
Aequer trennten; wie damals auf die Herniker, stützte Rom sich
jetzt auf die Arpaner. Die Italiker muſsten erkennen, daſs
es um ihrer aller Freiheit geschehen war, wenn Samnium
unterlag, und daſs es hohe Zeit war dem tapfern Bergvolk,
das nun schon funfzehn Jahre allein den ungleichen Kampf
gegen die Römer kämpfte, endlich zu Hülfe zu kommen.


Die nächsten Bundesgenossen der Samniten wären die Ta-
rentiner gewesen; allein deren unstete, übermüthige und kurz-
sichtige Demagogenpolitik lieſs sie da sich betheiligen, wo sie
nichts zu schaffen hatten, und da ausbleiben, wo ihr nächstes
Interesse sie hinrief. Nach der caudinischen Katastrophe hat-
ten sie, als die Römer und Samniten sich in Apulien gegen-
über standen, Gesandte dorthin geschickt, die beiden Parteien
geboten die Waffen niederzulegen (434). Die Samniten zeigten
sich bereit, allein die Römer antworteten durch die Ausstek-
kung des Zeichens zur Schlacht und so kehrten die Gesandten
unverrichteter Sache wieder heim. Vernünftiger Weise konnte
jene Gesandtschaft nichts sein als die Einleitung zu einer
Kriegserklärung gegen Rom; allein die tarentiner Regierung
war schwach genug ihrem übermüthigen Gebot keine weitere
Folge zu geben, wobei freilich auch mitwirkte, daſs die
immer noch fortwährende lucanische Fehde ihr die unmittel-
bare Betheiligung am Kampf sehr schwierig gemacht haben
würde. Lieber unterstützte man gegen Agathokles von Syra-
kus, der früher in tarentinischen Diensten gestanden hatte
und in Ungnade war entlassen worden, die oligarchische
Städtepartei in Sicilien und sandte dem Beispiel Spartas fol-
gend eine Flotte nach der Insel, die in der campanischen
See bessere Dienste gethan haben würde (440). — Energi-
scher handelten die nord- und mittelitalischen Völker, die
namentlich durch die Anlegung der Festung Luceria aufge-
rüttelt worden zu sein scheinen. Zuerst (443) schlugen die
Röm. Gesch. I. 16
[242]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
Etrusker los, deren Friedensvertrag von 403 schon einige
Jahre früher zu Ende gegangen war. Die römische Grenz-
festung Sutrium hatte eine zweijährige Belagerung auszuhalten
und in den heftigen Gefechten, die unter ihren Mauern ge-
liefert wurden, zogen die Römer anfänglich in der Regel den
Kürzeren. Allein der Consul des Jahres 444 Quintus Fabius
Rullianus, ein in den Samnitenkriegen erprobter Führer, stellte
nicht bloſs im römischen Etrurien das Uebergewicht der rö-
mischen Waffen wieder her, sondern drang kühn ein in das
eigentliche durch die Verschiedenheit der Sprache und die
geringen Communicationen den Römern fast unbekannt ge-
bliebene etrurische Land. Der Zug über den noch von keinem
römischen Heer überschrittenen ciminischen Wald und die
Plünderung des reichen lange von Kriegsnoth verschont ge-
bliebenen Gebiets brachte ganz Etrurien in Waffen, und die
tollkühne Expedition, die der Senat zu spät dem verwegenen
Führer verboten hatte, erregte groſse Furcht in Rom, wo man
eilte neue Legionen zu bilden. Allein ein rechtzeitiger und
entscheidender Sieg des Rullianus, die lange im Andenken des
Volkes fortlebende Schlacht am vadimonischen See, machte aus
dem unvorsichtigen Beginnen eine gefeierte Heldenthat und
brach den Widerstand der Etrusker. Ungleich den Samniten,
die seit achtzehn Jahren den ungleichen Kampf fochten, be-
quemten sich schon nach der ersten Niederlage drei der
mächtigsten etruskischen Städte, Perusia, Cortona und Arre-
tium zu einem Sonderfrieden auf dreiſsig (444) und, nach-
dem im folgenden Jahre die Römer noch einmal bei Perusia
die übrigen Etrusker besiegt hatten, auch die Tarquinienser
zu einem Frieden auf vierzig Jahre (446); worauf auch die
übrigen Städte vom Kampfe abstanden und in Etrurien Waf-
fenruhe eintrat. — Während dieser Ereignisse hatte der Krieg
auch in Samnium nicht geruht. Nachdem der Feldzug von
443 sich gleich den bisherigen auf die Belagerung und Er-
stürmung einzelner samnitischer Plätze beschränkt hatte, nahm
im folgenden Jahre in Folge der etruskischen Diversion der
Krieg eine für die Samniten günstige Wendung. Rullianus
gefährliche Lage und die Gerüchte über seine Vernichtung
veranlaſsten die Samniten zu neuen Anstrengungen; der römi-
sche Consul Gaius Marcius Rutilus wurde von ihnen besiegt
und selber schwer verwundet. Aber der Umschwung der
Dinge in Etrurien zerstörte die aufleuchtenden Hoffnungen
der Samniten. Wieder trat Lucius Papirius gegen sie an die
[243]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
Spitze der römischen Truppen und siegte in einer groſsen
und entscheidenden Schlacht (445), zu der die Samniten ihre
letzten Kräfte angestrengt hatten; der Kern ihrer Armee, die
Buntröcke mit den Gold-, die Weiſsröcke mit den Silberschil-
den wurde hier aufgerieben und die glänzende Rüstung der-
selben schmückte seitdem bei festlichen Gelegenheiten die
Budenreihen längs des römischen Marktes. Immer höher
stieg die Noth, immer hoffnungsloser ward der Kampf. Im
folgenden Jahre (446) legten die Etrusker die Waffen nieder
und zugleich ergab sich die letzte Stadt Campaniens, die noch
zu den Samniten hielt, Nuceria, nachdem die Römer sie zu
Wasser und zu Lande gleichzeitig angegriffen hatten, unter gün-
stigen Bedingungen den Römern. Zwar fanden die Samniten
neue Bundesgenossen an den Umbrern im nördlichen, an den
Marsern und Paelignern im mittleren Italien, ja selbst von
den Hernikern traten zahlreiche Freiwillige in die Reihen der
Samniten; allein was hätte entscheidend sein können gegen
Rom, wenn die Etrusker noch unter Waffen gestanden hätten,
vermehrte jetzt bloſs die Erfolge des endlichen Sieges, ohne
denselben ernstlich zu erschweren. Den Umbrern, die Miene
machten, einen Zug nach Rom zu unternehmen, verlegte Rul-
lianus an der obern Tiber mit der Armee von Samnium den
Weg, was die geschwächten Samniten zu hindern auſser Stande
waren; darauf zerstreute sich der umbrische Landsturm. Der
Krieg zog sich alsdann wieder nach Mittelitalien. Die Paeligner
wurden besiegt, ebenso die Marser; wenn gleich die übrigen
sabellischen Stämme noch dem Namen nach Feinde der Römer
blieben, stand doch allmählich Samnium thatsächlich allein. Wäh-
rend die römischen Heere dort standen und dessen Burgen bra-
chen, fielen die Anagniner, die wegen der unter den samnitischen
Gefangenen vorgefundenen hernikischen Freiwilligen von den
Römern zur Rede gestellt worden waren, offen ab von Rom
(448) und schnitten das römische Heer, in dessen Rücken
sie standen, von Latium ab. Die Lage war gefährlich; noch
einmal war den Samniten das Kriegsglück günstig; Sora und
Calatia fielen ihnen in die Hände. Allein die Anagniner, im
Stich gelassen von den übrigen Hernikern, unterlagen schnell
den von Rom ausgesandten Truppen und rechtzeitig machten
diese dem in Samnium stehenden Heere Luft; es war eben
alles verloren. Die Samniten baten um Frieden, indeſs ver-
geblich; noch konnte man sich nicht einigen. Erst der Feld-
zug von 449 brachte die Entscheidung. Die beiden römischen
16*
[244]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
Consularheere drangen, Tiberius Minucius und nach dessen
Fall Marcus Fulvius von Campanien aus durch die Bergpässe,
Lucius Postumius vom adriatischen Meer am Biferno hinauf,
in Samnium ein, um sich vor der Hauptstadt des Landes,
Bovianum, die Hand zu reichen; nach einem entscheiden-
den Sieg und nach der Gefangennahme der samnitischen
Feldherrn Statius Gellius erstürmten die beiden römischen
Heere Bovianum. Der Fall des Hauptwaffenplatzes der Land-
schaft machte dem zweiundzwanzigjährigen Krieg ein Ende.
Die samnitischen Besatzungen wurden aus Sora und Arpinum
zurückgezogen und von den Samniten Gesandte nach Rom
geschickt den Frieden zu erbitten; ihrem Beispiel folgten die
sabellischen Stämme, die Marser, Marruciner, Paeligner, Fren-
taner, Vestiner, Picenter. Die Bedingungen, die Rom ge-
währte, waren leidlich; Gebietsabtretungen wurden zwar zum
Theil vorgeschrieben, zum Beispiel den Paelignern, allein sehr
bedeutend scheinen sie nicht gewesen zu sein und es ward
das gleiche Bündniſs zwischen diesen Staaten und den Römern
erneuert (450). — Vermuthlich um dieselbe Zeit und wohl in
Folge des samnitischen Friedens ward auch Friede gemacht
zwischen Rom und Tarent. Unmittelbar zwar hatten beide
Städte nicht gegen einander gefochten. Roms Bundesgenossen,
die Lucaner, machten den Tarentinern und den mit diesen
verbündeten Sallentinern während der letzten Jahre des sam-
nitischen Krieges, als die Römer überall im Vortheil und die
Samniten in ihre Berge eingeschlossen waren, so viel zu schaf-
fen, daſs die Tarentiner nicht bloſs dem Untergang der Sam-
niten zusehen, sondern endlich trotz der mit Alexander ge-
machten unerfreulichen Erfahrungen sich entschlieſsen muſsten
zu ihrem eigenen Schutz einen spartanischen Prinzen Kleony-
mos herbeizurufen. Dieser, mit den mitgebrachten fünftausend
Söldnern eine eben so starke in Italien angeworbene Schaar
vereinigend und die Zuzüge der Messapier, der kleineren
Griechenstädte und vor allem das tarentinische Bürgerheer,
zweiundzwanzigtausend Mann stark, an sich ziehend zwang
die Lucaner mit Tarent Frieden zu machen und eine samni-
tisch gesinnte Regierung einzusetzen, wogegen ihnen Metapont
aufgeopfert ward. Noch standen die Samniten unter Waffen,
als dies geschah; nichts hinderte den Spartaner ihnen zu
Hülfe zu kommen und das Gewicht seines starken Heeres und
seiner Kriegskunst für die Freiheit der italischen Städte und
Völker in die Wagschale zu werfen. Allein er war kein
[245]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
Alexander oder Pyrrhos, sondern ein gewöhnlicher Freibeuter.
Er beeilte sich nicht einen Krieg zu beginnen, bei dem mehr
Schläge zu erwarten standen als Beute, sondern machte lieber
mit den Lucanern gemeinschaftliche Sache gegen Metapont und
lieſs es sich wohl sein in der Stadt, während er redete von
einem Zug gegen Agathokles von Syrakus und von der Be-
freiung der sicilischen Griechen. Endlich, als der Widerstand
der Samniten gebrochen war und die römischen Heere schon
anfingen sich im Südosten der Halbinsel zu zeigen und zum
Beispiel 447 das sallentinische Gebiet plündernd durchzogen,
ging der spartanische Condottier mit seinen Söldnern zu Schiff
und überrumpelte die Insel Kerkyra, die vortrefflich gelegen
war um von dort aus gegen Griechenland und Italien Piraten-
züge zu unternehmen. So von ihrem Feldherrn im Stich ge-
lassen und zugleich ihrer Bundesgenossen im mittleren Ita-
lien beraubt, blieb den Tarentinern so wie den mit ihnen
verbündeten Italikern, Lucanern und Sallentinern nichts übrig
als mit Rom ein Abkommen nachzusuchen, das auf leidliche
Bedingungen gewährt worden zu sein scheint. Bald nachher
(451) ward sogar ein Einfall des Kleonymos, der im sallen-
tinischen Gebiet gelandet war und Uria belagerte, von den
Einwohnern mit römischer Hülfe abgeschlagen.


Roms Sieg war vollständig; es galt ihn zu nutzen. Daſs
den Samniten, den Tarentinern und den ferner wohnenden
Völkerschaften überhaupt so mäſsige Bedingungen gestellt
wurden, war nicht Siegergroſsmuth, die die Römer nicht
kannten, sondern weise und klare Berechnung. Für jetzt
galt es vor allem in Mittelitalien die Stellungen noch fester
zu sichern und die Sprengung der nördlichen und südlichen
Italiker vollständig durchzuführen. Anagnia ward gezwungen
in das Unterthänigkeitsverhältniſs (civitas sine suffragio) ein-
zutreten; man bedauerte in Rom, daſs die übrigen Städte der
Herniker Aletrium, Verulae, Ferentinum nicht gleichfalls ab-
gefallen waren und jeder Vorwand fehlte ihnen das römische
Bürgerrecht aufzunöthigen, nachdem sie die Zumuthung frei-
willig ihre Freiheit mit demselben zu vertauschen höflich ab-
gelehnt hatten. Dagegen ward Arpinum unterthänig, Frusino
verlor ein Drittel seines Gebiets; am obern Liris ward neben
Fregellae Sora, die schon früher mit Besatzung belegte Volsker-
stadt, jetzt auf die Dauer in eine Festung verwandelt und eine
Legion von 4000 Mann dahin gelegt. So war das alte Volsker-
gebiet vollständig unterworfen und ging seiner Romanisirung
[246]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
mit raschen Schritten entgegen. In die Landschaft welche
Samnium und Etrurien scheidet, wurden zwei Militärstraſsen
hineingeführt und durch neue Festungen gesichert. Die nörd-
liche, aus der später die flaminische wurde, deckte die Tiber-
linie; sie führte durch das mit Rom verbündete Ocriculum
nach Narnia, wie die Römer die alte umbrische Feste Nequi-
num nannten, als sie dort eine Militärcolonie anlegten (455).
Die südliche, die spätere valerische, lief an den Fucinersee
über Carsioli und Alba, welche beiden Plätze gleichfalls Colo-
nien erhielten (451-453), namentlich das wichtige Alba, der
Schlüssel zum Marserland, eine Besatzung von 6000 Mann.
Die kleinen Völkerschaften, in deren Gebiet diese Anlagen statt-
fanden, setzten sich zur Wehre, aber die Umbrer, die in Nequi-
num sich hartnäckig vertheidigten, die Aequer, die Alba, die
Marser, die Carsioli überfielen, konnten Rom freilich nicht auf-
halten in seinem Gang und nicht verhindern, daſs jene beiden
groſsen Riegel sich zwischen Samnium und Etrurien schoben.


Die hochherzige samnitische Nation begriff es, daſs ein
solcher Friede verderblicher war als der verderblichste Krieg
und was mehr ist, sie handelte danach. Noch standen in
Etrurien einzelne Gemeinden gegen Rom im Felde und kurze
Waffenstillstände wechselten mit heftigen, aber erfolglosen Ge-
fechten, während auch die Gallier sich nach langer Waffen-
ruhe wieder anfingen zu regen; noch war ganz Mittelitalien
in Gährung und zum Theil in offenem Aufstand; noch waren
die Festungen in der Anlage begriffen, der Weg zwischen
Etrurien und Samnium noch nicht völlig gesperrt. Vielleicht
war es noch nicht zu spät die Freiheit zu retten; aber man
durfte nicht säumen, die Schwierigkeit der Aufgabe stieg, die
Mittel der Abwehr sanken mit jedem Jahre. Nach kaum fünf-
jähriger Friedensruhe begann die samnitische Eidgenossenschaft
im Jahre 456 aufs Neue den Kampf, indem sie zuerst sich
mit aller Macht auf die Lucaner warfen und diese zum An-
schluſs an Samnium nöthigten; vielleicht um Tarent Luft zu
machen und es mit zum Krieg heranzuziehen. Natürlich er-
klärten die Römer sofort den Krieg, auf den man in Samnium
gefaſst war; es bezeichnet die Stimmung, daſs die samnitische
Regierung den römischen Gesandten die Anzeige machte, sie sei
nicht im Stande für ihre Unverletzlichkeit ihnen zu bürgen,
wenn sie samnitisches Gebiet beträten. — Der Krieg begann
also von neuem und wieder durchzogen die römischen Truppen
Samnium, während ein zweites Heer in Etrurien focht (456);
[247]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
die Lucaner wurden zum Frieden gezwungen und lucanische
Geiſseln nach Rom geführt. Das folgende Jahr konnten beide
Consuln nach Samnium sich wenden; Rullianus siegte bei Tifer-
num, sein treuer Waffengefährte Publius Decius Mus bei Male-
ventum und fünf Monate hindurch lagerten zwei römische Heere
in Feindesland. Die Ursache war, daſs die tuskischen Staaten
sich bereit zeigten mit Rom einen Sonderfrieden zu schlieſsen;
welchen abzuwenden die Samniten das Aeuſserste aufboten.
Der samnitische Feldherr Gellius Egnatius bot endlich den
Etruskern an in ihrem eigenen Lande ihnen Hülfe zu brin-
gen; und diese Zusicherung bewog den tuskischen Bundes-
rath auszuharren und noch einmal die Entscheidung der
Waffen anzurufen. Samnium machte die gewaltigsten Anstreng-
ungen um drei Heere zugleich ins Feld zu stellen, das eine
bestimmt zur Vertheidigung des eigenen Gebiets, das zweite
zum Einfall in Campanien, das dritte und stärkste nach Etru-
rien; und wirklich zog im Jahre 458 das letztere, geführt
von Egnatius selbst, durch das marsische und das umbrische
Gebiet, deren Bewohner im Einverständniſs waren, in Etrurien
ein, wo die Städte mit wenigen Ausnahmen gegen Rom sich
erhoben und ihre Zuzüge sandten, während sie zugleich gal-
lische Söldnerschaaren anwarben. Die Römer hinderten den
Abmarsch nicht; sie nahmen in diesem Sommer einige feste
Plätze in Samnium und brachen den Einfluſs der samniti-
schen Partei in Lucanien. Als man aber den kühnen und
klugen Marsch des samnitischen Heeres erfuhr, ward auch
in Rom jeder Nerv angespannt, Freigelassene und Verheira-
thete in Cohorten formirt — man fühlte hüben und drüben,
daſs die Entscheidung bevorstand. Das Jahr 458 jedoch ver-
ging, wie es scheint, mit Rüstungen und Märschen. Für das
folgende (459) stellten die Römer ihre beiden besten Gene-
rale, Publius Decius Mus und den hochbejahrten Quintus Fa-
bius Rullianus an die Spitze der Armee von Etrurien, welche
mit allen in Campanien irgend entbehrlichen Truppen verstärkt
ward und wenigstens 60000 Mann, darunter über ein Drittel
römische Vollbürger zählte; auſserdem ward eine zwiefache
Reserve gebildet, die erste bei Falerii, die zweite unter den
Mauern der Hauptstadt. Der Sammelplatz der Verbündeten
war Umbrien, wo die Straſsen aus dem gallischen, etruskischen
und sabellischen Gebiet zusammenliefen; dorthin wandten sich
die Consuln, indem sie mit der Hauptmacht an den beiden
Ufern der Tiber hinauf marschirten, während zugleich die
[248]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
erste Reserve eine Bewegung gegen Etrurien machte, um wo
möglich die etruskischen Truppen von dem Platz der Entschei-
dung abzurufen zur Vertheidigung der Heimath. Die erste
Begegnung lief nicht glücklich für die Römer ab; ihre Vorhut
ward in dem Gebiet von Chiusi geschlagen von den vereinig-
ten Galliern und Samniten. Aber jene Diversion erreichte
ihren Zweck; minder hochherzig als die Samniten, die durch
die Trümmer ihrer Städte hindurchgezogen waren um auf der
rechten Wahlstatt nicht zu fehlen, entfernte sich auf die Nach-
richt von dem Einfall der römischen Reserve in Etrurien ein
groſser Theil der etruskischen Contingente von der Bundes-
armee, und die Reihen derselben waren sehr gelichtet, als es
am östlichen Abhang des Apennin bei Sentinum zur entschei-
denden Schlacht kam. Dennoch war es ein heiſser Tag. Auf
dem rechten Flügel der Römer stand zwischen Rullianus bei-
den Legionen und dem samnitischen Heer die Schlacht lange
Zeit ohne Entscheidung; auf dem linken, den Publius Decius
befehligte, wurde die römische Reiterei durch die gallischen
Streitwagen in Verwirrung gebracht und schon begannen die
Legionen zu weichen. Da rief der Consul den Priester Marcus
Livius heran und hieſs ihn zugleich das Haupt des römischen
Feldherrn und das feindliche Heer den unterirdischen Göttern
weihen; und alsdann in den dichtesten Haufen der Gallier
sich stürzend suchte und fand er den Tod. Diese helden-
müthige Verzweiflung des hohen Mannes, des geliebten Feld-
herrn war nicht vergeblich. Die fliehenden Soldaten standen
wieder, die Tapfersten griffen von Neuem an um den Führer
zu rächen oder mit ihm zu sterben; und eben im rechten
Augenblick erschien der Consular Lucius Scipio auf Rullianus
Befehl mit der Reserve auf dem gefährdeten linken Flügel.
Die vortreffliche campanische Reiterei, die den Galliern in die
Flanke und den Rücken fiel, gab hier den Ausschlag; die
Gallier flohen und endlich wichen auch die Samniten, deren
Feldherr Egnatius am Thore des Lagers fiel. Neuntausend
Römer bedeckten die Wahlstatt; aber der theuer erkaufte Sieg
war solchen Opfers werth. Das Bundesheer löste sich auf
und damit der Bund selbst; Umbrien blieb in römischer Ge-
walt, die Gallier verliefen sich, der Ueberrest der Samniten,
noch immer in geschlossener Ordnung, zog durch die Abruz-
zen ab in die Heimath. Campanien, das die Samniten wäh-
rend des etruskischen Krieges überschwemmt hatten, ward
ihnen mit leichter Mühe wieder entrissen. Etrurien bat im
[249]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
folgenden Jahre (460) um Frieden, den Volsinii, Perusia, Ar-
retium und wohl überhaupt alle dem Bunde gegen Rom bei-
getretene Städte auf vierzig Jahre abschlieſsen muſsten. Aber
die Samniten dachten anders; sie rüsteten sich zur hoffnungs-
losen Gegenwehr mit jenem Muth freier Leute, der das Glück
zwar nicht zwingen, aber beschämen kann. Als im Jahre 460
die beiden Consularheere in Samnium einrückten, stieſsen sie
überall auf den erbittersten Widerstand; ja Marcus Atilius erlitt
eine Schlappe bei Luceria und die Samniten konnten in Cam-
panien eindringen und das Gebiet der römischen Colonie
Interamna am Liris verwüsten. Im Jahre darauf lieferte Lu-
cius Papirius Cursor, der Sohn des Helden des ersten samni-
tischen Krieges, bei Aquilonia eine groſse Feldschlacht gegen
das samnitische Heer, dessen Kern, die 16000 Weiſsröcke, mit
heiligem Eide geschworen hatten den Tod der Flucht vorzu-
ziehen. Indeſs das unerbittliche Schicksal fragt nicht nach
Schwüren und verzweifeltem Flehen; der Römer siegte und
stürmte die Festen, in die die Samniten sich und ihre Habe
geflüchtet hatten. Mit beispielloser Ausdauer hielten sich die
Eidgenossen in ihren Bergen und Burgen und erfochten noch
manchen Vortheil im Einzelnen während der letzten Jahre
des verzweifelten Krieges; des alten Rullianus erprobter Arm
ward noch einmal (462) gegen sie aufgeboten und Gavius
Pontius, vielleicht der Sohn des Siegers von Caudium, erfocht
noch für sein Volk einen letzten Sieg, den die Römer niedrig
genug an ihm rächten, indem sie ihn, als er später gefangen
ward, im Kerker hinrichten lieſsen (463). Aber nichts regte
sich in Italien; denn der Krieg, den Falerii 461 begann, ver-
dient kaum diesen Namen. Wohl mochte man in Samnium
sehnsüchtig die Blicke wenden nach Tarent, das allein noch
im Stande war Hülfe zu gewähren; aber sie blieb aus. — Die
nächste Ursache der Unthätigkeit Tarents war — auſser der
Parteinahme der Lucaner für Rom seit 456 — ohne Zweifel die
Furcht vor Agathokles, der eben damals auf dem Gipfel seiner
Macht stand und anfing sich gegen Italien zu wenden. Nach-
dem Kleonymos durch Demetrios den Belagerer von Kerkyra
vertrieben war, setzte dort um 455 Agathokles sich fest und
bedrohte vom adriatischen wie vom ionischen Meere her die
Tarentiner. Diese Furcht war allerdings zum Theil beseitigt,
seit Kerkyra im Jahre 459 an König Pyrrhos von Epeiros ab-
getreten war; allein die kerkyraeischen Angelegenheiten fuhren
fort die Tarentiner zu beschäftigen, wie sie denn im Jahre 464
[250]ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
den König Pyrrhos im Besitz der Insel gegen Demetrios schützen
halfen, und ebenso hörte Agathokles nicht auf durch seine itali-
sche Politik den Tarentinern Sorge zu machen. Als er starb (465)
und mit ihm die Macht der Syrakusaner in Italien zu Grunde
ging, war es zu spät; Samnium, des siebenunddreiſsigjährigen
Kampfes müde, hatte das Jahr vorher (464) mit dem römi-
schen Consul Manius Curius Dentatus Friede geschlossen und
der Form nach den Bund mit Rom erneuert. Auch diesmal
wurden wie im Frieden von 450 keine schimpflichen Bedin-
gungen gestellt und Samnium seiner äuſseren Unabhängigkeit
nicht beraubt; nicht einmal Gebietsabtretungen scheinen statt-
gefunden zu haben. Die römische Staatsklugheit zog es vor
auf dem bisher eingehaltenen Wege fortzuschreiten und, ehe
man ging an die unmittelbare Eroberung des Binnenlandes,
zunächst das campanische und adriatische Littoral fest an
Rom zu knüpfen. Campanien zwar war längst unterthänig;
allein die weitblickende römische Politik fand es nöthig zur
Sicherung der campanischen Küste dort zwei Strandfestungen
anzulegen, Minturnae und Sinuessa (459), deren neue Bürger-
schaften nach dem feststehenden Grundsatz in das volle römi-
sche Bürgerrecht eintraten und kein auch nur der Form nach
selbstständiges Gemeinwesen bilden durften. Energischer noch
ward die Ausdehnung der römischen Herrschaft in Mittelita-
lien betrieben. Hier wurde den sämmtlichen Sabinern nach
kurzer und ohnmächtiger Gegenwehr das römische Untertha-
nenrecht aufgenöthigt (464) und in den Abruzzen nicht weit
von der Küste die starke Festung Hatria angelegt (465), wo-
durch die über Carsioli und Alba gezogene militärische Linie
bis nah an das adriatische Meer geführt war. Aber die wich-
tigste Gründung von allen war die von Venusia (463), wohin
die unerhörte Zahl von 20000 Colonisten geführt ward; die
Stadt, in einer ungemein festen Stellung an der Markscheide
von Samnium, Apulien und Lucanien, auf der groſsen Straſse
zwischen Tarent und Samnium gegründet, war bestimmt als
Zwingburg für die umwohnenden Völkerschaften und vor allen
Dingen zur Unterbrechung der Verbindung zwischen den bei-
den mächtigsten Feinden Roms im südlichen Italien. So er-
streckte sich, als die samnitischen Kriege zu Ende gingen,
das geschlossene römische Gebiet nordwärts bis zum cimini-
schen Walde, östlich bis an die Abruzzen, südlich bis nach
Capua, während die beiden vorgeschobenen Posten, Luceria
und Venusia, gegen Osten und Süden auf den Verbindungs-
[251]DIE ITALIKER GEGEN ROM.
linien der Gegner angelegt dieselben nach allen Richtungen
hin isolirten. Rom war nicht mehr bloſs die erste, sondern
bereits die herrschende Macht auf der Halbinsel, als gegen
das Ende des fünften Jahrhunderts der Stadt diejenigen Na-
tionen, welche die Gunst der Götter und die eigene Tüchtig-
keit im Gebiet der alten Civilisation zu den Führern erhoben
hatte, begannen sich einander näher zu rücken im Rath und
auf dem Schlachtfelde und die Sieger der übrigen sich fertig
machten zu dem letzten und entscheidenden Wettkampf.


[[252]]

KAPITEL VII.



König Pyrrhos gegen Rom.


In der Zeit der unbestrittenen Weltherrschaft Roms pfleg-
ten die Griechen ihre römischen Herren damit zu ärgern, daſs
sie als die Ursache der römischen Gröſse das Fieber bezeich-
neten, an welchem Alexander von Makedonien den 11. Juni
431 in Babylon verschied. Da es nicht allzu tröstlich war
das Geschehene zu überdenken, verweilte man nicht ungern
mit den Gedanken bei dem, was hätte kommen mögen, wenn
der groſse König, wie es seine Absicht gewesen sein soll als
er starb, sich gegen Westen gewendet und mit seiner Flotte
den Karthagern das Meer, mit seinen Phalangen den Römern
die Erde streitig gemacht haben würde. An Schiffen und
Soldaten wenigstens fehlte es ihm nicht und der Autokrat, der
damit versehen ist, wird Gründe zur Kriegführung nicht ver-
missen. Es war des griechischen Königs würdig die Sikelioten
gegen Karthago, die Tarentiner gegen Rom zu schützen und
dem Piratenwesen auf beiden Meeren ein Ende zu machen;
die italischen Gesandtschaften, die in Babylon neben zahllosen
andern erschienen, der Brettier, Lucaner, Etrusker, ja der
Römer selbst boten Gelegenheit genug die Verhältnisse der
Halbinsel kennen zu lernen und Beziehungen dort anzu-
knüpfen. Karthago mit seinen vielfachen Verbindungen im
Orient muſste den Blick des gewaltigen Mannes nothwendig
auf sich ziehen, und wohl lag es in Alexanders Sinn die no-
minelle Herrschaft des Perserkönigs über die tyrische Kolonie
in eine wirkliche umzuwandeln; was die Karthager besorgten,
[253]KOENIG PYRRHOS.
beweist der punische Spion in der unmittelbaren Umgebung
Alexanders. Indeſs mochten dies Träume oder Pläne sein,
der König starb ohne mit den Angelegenheiten des Westens
sich beschäftigt zu haben* und mit ihm gingen jene Gedan-
ken zu Grabe. Nur wenige kurze Jahre hatte ein griechischer
Mann die ganze intellectuelle Kraft des hellenischen Wesens,
die ganze materielle Fülle des Ostens vereinigt in seiner Hand
gehalten; mit seinem Tode ging zwar das Werk seines Le-
bens, die Gründung des Hellenismus im Orient keineswegs
zu Grunde, wohl aber ward es fortgeführt in anderer Weise,
durch die Spaltung des bisher vereinigten Reiches und unter
stetem Hader der verschiedenen aus diesen Trümmern sich
bildenden Staaten. Bei solchen Verhältnissen konnten weder
die griechischen noch die asiatisch-ägyptischen Staaten daran
denken im Occident festen Fuſs zu fassen und gegen die
Römer oder die Karthager sich zu wenden. Das östliche und
das westliche Staatensystem bestanden neben einander ohne
politisch in einander zu greifen; und namentlich Rom blieb
den Verwicklungen der Diadochenperiode wesentlich fremd.
Nur Beziehungen ökonomischer Art stellten sich fest; wie
denn zum Beispiel Rhodos, der erste Vertreter einer neutra-
len Handelspolitik in Griechenland und daher der allgemeine
Vermittler des Verkehrs in einer Zeit ewiger Kriege, um das
Jahr 448 einen Vertrag mit Rom abschloſs, natürlich einen
Handelstractat, wie er begreiflich ist zwischen einem Kauf-
mannsvolk und den Herren der caeritischen und campanischen
Küste. Nicht anderer Art ist auch die Söldnerlieferung, die
von dem allgemeinen Werbeplatz der damaligen Zeit, von
Hellas aus nach Italien und namentlich nach Tarent ging.
Die politischen Beziehungen, zum Beispiel zwischen Tarent
und dessen Mutterstadt Sparta wirkten hiebei nur in sehr
untergeordneter Weise mit; im Ganzen waren diese Söldner-
werbungen nichts als Geschäfte und Sparta, obwohl es regel-
[254]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
mäſsig den Tarentinern ihre Hauptleute lieferte, trat mit den
Italikern darum so wenig in Fehde wie im nordamerikanischen
Freiheitskrieg die deutschen Staaten mit der Union, deren
Gegnern sie ihre Unterthanen verkauften.


Nichts anderes als ein abenteuernder Kriegshauptmann
war auch König Pyrrhos von Epeiros; er war darum nicht
minder ein Glücksritter, daſs er seinen Stammbaum zurück-
führte auf Aeakos und Achilleus und daſs er, wäre er fried-
licher gesinnt gewesen, als ‚König‘ über ein kleines Bergvolk
unter makedonischer Oberherrlichkeit oder auch allenfalls in
isolirter Freiheit hätte leben und sterben können. Man hat
ihn wohl verglichen mit Alexander von Makedonien; und al-
lerdings, die Gründung eines westhellenischen Reiches, dessen
Kern Epeiros, Groſsgriechenland, Sicilien gebildet hätten, das
die beiden italischen Meere beherrscht und Rom wie Karthago
in die Reihe der barbarischen Grenzvölker des hellenistischen
Staatensystems, der Kelten und Inder gedrängt haben würde
— dieser Gedanke ist wohl groſs und kühn wie derjenige,
der den makedonischen König über den Hellespont führte.
Aber nicht bloſs der verschiedene Ausgang unterscheidet den
östlichen und den westlichen Heerzug. Alexander konnte mit
seiner makedonischen Armee, deren Stab namentlich vorzüg-
lich war, dem Groſskönig vollkommen die Spitze bieten; aber
der König von Epeiros, das neben Makedonien stand etwa
wie Baiern neben Preuſsen, erhielt eine nennenswerthe Armee
nur durch Söldner und durch Bündnisse, die auf zufälligen
politischen Combinationen beruhten. Alexander trat im Perser-
reich auf als Eroberer, Pyrrhos in Italien als Feldherr einer
Coalition von Secundärstaaten; Alexander hinterlieſs sein Reich
vollkommen gesichert durch die unbedingte Unterthänigkeit
Griechenlands und das starke unter Antipater zurückbleibende
Heer, Pyrrhos bürgte für die Integrität seines eigenen Gebie-
tes nichts als das Wort eines zweifelhaften Nachbarn. Der
Schwerpunct der Reiches konnte für beide Eroberer nicht
mehr die Heimath sein, wenn die Pläne gelangen; allein eher
noch war es ausführbar den Sitz der makedonischen Militär-
monarchie nach Babylon zu verlegen als in Tarent oder Syra-
kus eine Soldatendynastie zu gründen. Die Demokratie der grie-
chischen Republiken, so sehr sie eine ewige Agonie war, lieſs
sich nun einmal nicht in die straffen Formen des Militärstaats
zurückzwingen; Philipp wuſste wohl, warum er die griechi-
schen Republiken seinem Reich nicht einverleibte. Im Orient
[255]KOENIG PYRRHOS.
war ein nationaler Widerstand nicht zu erwarten; herrschende
und dienende Stämme lebten dort seit langem neben einander
und der Wechsel des Despoten war der Masse der Bevölke-
rung gleichgültig oder gar erwünscht. Im Occident konnten
die Römer, die Samniten, die Karthager auch überwunden
werden; aber kein Eroberer mochte die Italiker in ägypti-
sche Fellahs verwandeln oder aus den römischen Bauern Zins-
pflichtige der hellenischen Barone machen. Was man auch ins
Auge faſst, die eigene Macht, die Bundesgenossen, die Kräfte
der Gegner — überall erscheint der Plan des Makedoniers
als eine ausführbare, der des Epeiroten als eine unmögliche
Unternehmung; jener als die Vollziehung einer groſsen ge-
schichtlichen Aufgabe, dieser als ein merkwürdiger Fehlgriff;
jener als die Grundlegung zu einem neuen Staatensystem und
einer neuen Culturepoche, dieser als eine geschichtliche Epi-
sode. Alexanders Werk überlebte ihn, obwohl der Schöpfer
zur Unzeit starb; Pyrrhos sah mit eigenen Augen das Schei-
tern aller seiner Pläne, ehe der Tod ihn abrief. Sie beide
waren kühne und groſse Naturen, aber Pyrrhos nur der erste
Feldherr, Alexander vor allem der genialste Staatsmann seiner
Zeit; und wenn es die Einsicht in das Mögliche und Unmög-
liche ist, die den Helden vom Abenteurer scheidet, so muſs
Pyrrhos diesen zugezählt und darf seinem gröſseren Verwand-
ten so wenig zur Seite gestellt werden wie etwa der Connetable
von Bourbon Ludwig dem Elften. — Und dennoch knüpft sich
ein wunderbarer Zauber an den Namen des Epeiroten, eine
eigene Theilnahme, die allerdings zum Theil der ritterlichen
und liebenswürdigen Persönlichkeit desselben gilt, aber mehr
noch dem Umstand, daſs er der erste Grieche ist, der den
Römern im Kampfe gegenübertritt. Mit ihm beginnen jene
Beziehungen zwischen Rom und Hellas, auf denen die ganze
spätere Entfaltung der antiken Civilisation und ein wesent-
licher Theil der modernen beruht. Der Kampf zwischen Pha-
langen und Cohorten, zwischen der Söldnerarmee und der
Landwehr, zwischen dem Heerkönigthum und dem Senatoren-
regiment, zwischen dem individuellen Talent und der nationa-
len Kraft — dieser Kampf zwischen Rom und dem Hellenis-
mus ward zuerst durchgefochten in den Schlachten zwischen
Pyrrhos und den römischen Feldherren; und wenn auch die
unterliegende Partei noch oft nachher appellirt hat an neue
Entscheidung der Waffen, so hat doch jeder spätere Schlacht-
tag das Urtheil nur bestätigt. Wenn aber hier die Griechen
[256]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
unterliegen, so ist ihr Uebergewicht nicht minder entschieden
in jedem anderen nicht politischen Wettkampf und eben schon
diese Kämpfe lassen es ahnen, daſs der Sieg Roms über die
Hellenen ein anderer sein wird als der über Gallier und Pu-
nier, und daſs der Zauber erst zu wirken beginnt, wenn die
Lanze zersplittert und Helm und Schild bei Seite gelegt ist.


König Pyrrhos war der Sohn des Aeakides, des Herrn
der Molotter (um Janina), welcher, von Alexander geschont als
Verwandter und getreuer Lehnsmann, nach dessen Tode in
den Strudel der makedonischen Familienpolitik hineingerissen
ward und darin zuerst sein Reich und dann das Leben ver-
lor (441). Sein damals sechsjähriger Sohn ward von dem
Herrn der illyrischen Taulantier Glaukias gerettet und im Laufe
der Kämpfe um Makedoniens Besitz noch ein Knabe von De-
metrios dem Belagerer wieder zurückgeführt in sein ange-
stammtes Fürstenthum (447), um es nach wenigen Jahren
durch den Einfluſs der Gegenpartei wieder einzubüſsen (um
452) und als landflüchtiger Fürstensohn im Gefolge der make-
donischen Generale sein Lagerleben zu beginnen. Bald machte
seine Persönlichkeit sich geltend. Unter Antigonos machte er
dessen letzte Feldzüge mit; der alte Marschall Alexanders hatte
seine Freude an dem geborenen Soldaten, dem nach dem Ur-
theil des ergrauten Feldherrn nur die Jahre fehlten um der
erste Kriegsmann der Zeit zu sein. Die unglückliche Schlacht
bei Ipsos brachte ihn als Geiſsel nach Alexandrien an den
Hof der Lagiden, wo er durch sein kühnes und derbes Wesen,
seinen alles nicht Militärische gründlich verachtenden Soldaten-
sinn nicht minder des staatsklugen Ptolemaeos Lagos Sohn
Aufmerksamkeit auf sich zog als durch seine männliche Schön-
heit, der das wilde Antlitz, der gewaltige Tritt keinen Eintrag
that, die der königlichen Damen. Eben damals gründete der
kühne Demetrios sich wieder einmal ein neues Reich, diesmal
in Makedonien; natürlich in der Absicht von dort aus die
Alexandermonarchie zu erneuern. Es galt ihn niederzuhalten,
ihm daheim zu schaffen zu machen; und der Lagide, der
solche Feuerseelen, wie der epeirotische Jüngling eine war,
vortrefflich für seine feine Politik zu nutzen verstand, that
nicht bloſs seiner Gemahlin der Königin Berenike einen Ge-
fallen, sondern förderte auch seine eigenen Zwecke, indem er
dem jungen Fürsten seine Stieftochter, die Prinzessin Antigone
zur Gemahlin gab und dem geliebten ‚Sohn‘ zur Rückkehr in
die Heimath seinen Beistand und seinen mächtigen Einfluſs
[257]KOENIG PYRRHOS.
lieh (458). Zurückgekehrt in sein väterliches Reich fiel ihm
bald alles zu; die tapfern Epeiroten, die Albanesen des Al-
terthums, hingen mit angestammter Treue und frischer Begei-
sterung an dem muthigen Jüngling, dem ‚Adler‘, wie sie ihn
hieſsen. In den Wirren, die nach Kassanders Tod (457) um
die makedonische Thronfolge geführt wurden, erweiterte der
Epeirote sein Gebiet; nach und nach gewann er das Küsten-
land mit den wichtigen Handelsstädten Apollonia und Epidam-
nos, die Inseln Lissos und Kerkyra, ja selbst einen Theil des
makedonischen Gebiets, und widerstand mit weit geringeren
Streitkräften dem König Demetrios zur Bewunderung der Make-
donier selbst. Ja als Demetrios durch seine eigene Thorheit
in Makedonien vom Thron gestürzt war, trug man dort dem
ritterlichen Gegner, dem Verwandten der Alexandriden den-
selben freiwillig an (467). In der That, keiner war würdiger
als Pyrrhos das königliche Diadem Philipps und Alexanders
zu tragen. In einer tief versunkenen Zeit, in der Fürstlich-
keit und Niederträchtigkeit gleichbedeutend zu werden began-
nen, leuchtete hell Pyrrhos persönlich unbefleckter und sitten-
reiner Charakter. Wie die freien Bauern des makedonischen
Stammlandes, obwohl gemindert und verarmt, sich doch fern
hielten von dem Verfall der Sitten und der Tapferkeit, den
das Diadochenregiment in Griechenland und Asien herbei-
führte, schien eben Pyrrhos recht eigentlich zu ihrem König
gemacht, er der gleich Alexander in seinem Haus, im Freun-
deskreise allen menschlichen Beziehungen sein Herz offen hielt
und das in Makedonien so verhaſste orientalische Sultanwesen
stets von sich abwehrte; er der gleich Alexander anerkannt der
erste Taktiker seiner Zeit war. Aber jenes seltsam überspannte
makedonische Nationalgefühl, das den elendesten makedonischen
Herrn dem tüchtigsten Fremden vorzog, jene Widerspenstig-
keit gegen jeden nicht makedonischen Führer, welcher der
gröſste Feldherr aus Alexanders Schule, der Kardianer Eume-
nes erlegen war, bereitete auch der Herrschaft des epeiroti-
schen Fürsten ein schnelles Ende. Pyrrhos, der die Herr-
schaft über Makedonien mit dem Willen der Makedonier nicht
führen konnte und zu schwach, vielleicht auch zu hochherzig
war sich dem Volke gegen seinen Willen aufzudringen, über-
lieſs schon nach siebenmonatlicher Herrschaft das Land seiner
einheimischen Miſsregierung und ging heim zu seinen treuen
Epeiroten (467). Aber der Mann, der Alexanders Krone ge-
tragen hatte, der Schwager des Demetrios, der Schwiegersohn
Röm. Gesch. I. 17
[258]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
des Lagiden und des Agathokles von Syrakus, der hochgebil-
dete Strategiker, der Memoiren und wissenschaftliche Abhand-
lungen über die Kriegskunst schrieb, konnte unmöglich sein
Leben darüber beschlieſsen, daſs er die Rechnungen des kö-
niglichen Viehverwalters durchsah und jährlich von seinen
braven Epeiroten die landüblichen Geschenke an Rindern und
Schafen entgegennahm, um sich alsdann am Altar des Zeus von
ihnen den Eid der Treue erneuern zu lassen und selbst den
Eid auf die Gesetze zu wiederholen und dem allen zu mehrerer
Bekräftigung mit ihnen die Nacht hindurch zu zechen. War
kein Platz für ihn auf dem makedonischen Thron, so war
überhaupt in der Heimath seines Bleibens nicht; er konnte der
erste sein und also nicht der zweite. So wandten sich seine
Blicke in die Weite. Die Könige, die um Makedoniens Besitz
haderten, obwohl sonst in nichts einig, waren gern bereit
gemeinschaftlich zu helfen, daſs der gefährliche Nebenbuhler
freiwillig ausscheide; und daſs die treuen Epeiroten ihm fol-
gen würden, wohin er sie führte, dessen war er gewiſs. Eben
damals stellten die italischen Verhältnisse sich so, daſs jetzt
wiederum als ausführbar erscheinen konnte, was vierzig Jahre
früher Pyrrhos Verwandter, seines Vaters Vetter Alexander
von Epeiros und eben erst sein Schwiegervater Agathokles
beabsichtigt hatten; und so entschloſs sich Pyrrhos auf seine
makedonischen Pläne zu verzichten und im Westen eine neue
Herrschaft für sich und für die hellenische Nation zu be-
gründen.


Die Waffenruhe, die der Friede mit Samnium 464 für
Italien herbeigeführt hatte, war von kurzer Dauer; der Anstoſs
zur Bildung einer neuen Ligue gegen die römische Uebermacht
kam diesmal von den Lucanern. Dieser Völkerschaft, deren
Parteinahme für Rom die Tarentiner während der samniti-
schen Kriege gelähmt und zu deren Entscheidung wesentlich
beigetragen hatte, waren dafür von den Römern die Griechen-
städte in ihrem Gebiet preisgegeben worden und sie waren
nach dem Frieden beschäftigt in Gemeinschaft mit den Bret-
tiern eine nach der andern zu bezwingen. Die Thuriner,
wiederholt angegriffen von dem Feldherrn der Lucaner Ste-
nius Statilius und aufs Aeuſserste bedrängt, wandten sich um
Hülfe nach Rom, ganz wie einst die Campaner gegen die
Samniten und ohne Zweifel um den gleichen Preis ihrer Frei-
heit und Selbstständigkeit. Da durch Venusias Anlage für
Rom die Unterstützung der Lucaner entbehrlich geworden
[259]KOENIG PYRRHOS.
war, gewährten die Römer das Begehren der Thuriner und
geboten ihren Bundesfreunden von der Stadt, die sich den
Römern ergeben habe, abzulassen. Die Lucaner und Brettier,
also von den mächtigeren Verbündeten betrogen um den An-
theil an der gemeinschaftlichen Beute, knüpften Verhandlungen
an mit der samnitisch-tarentinischen Partei, um eine neue
Coalition der Italiker zu Stande zu bringen; als die Römer
sie durch eine Gesandtschaft warnen lieſsen, setzten sie die
Gesandten gefangen und begannen den Krieg gegen Rom mit
einem neuen Angriff auf Thurii (um 469), indem sie zugleich
nicht bloſs die Samniten und die Tarentiner, sondern auch
die Norditaliker, die Etrusker, Umbrer, Galler aufriefen mit
ihnen zum Freiheitskampf sich zu vereinigen. In der That
erhob sich der etruskische Bund und warb zahlreiche gallische
Söldner; das römische Heer, das der Praetor Lucius Caecilius
den treugebliebenen Arretinern zu Hülfe führte, ward unter
den Mauern dieser Stadt von den senonischen Söldnern der
Etrusker vernichtet, der Feldherr selbst fiel mit 13000 seiner
Leute (470). Die römischen Gesandten, welche bei den noch
dem Namen nach zu Roms Bundesgenossen zählenden Senonen
über die Stellung von Reisläufern gegen Rom Klage führen
und die unentgeltliche Rückgabe der Gefangenen begehren
sollten, wurden erschlagen auf Befehl des Senonenhäuptlings
Britomaris, der den Tod seines Vaters an den Römern zu
rächen hatte, und in Folge dessen ergriffen die Senonen offen
Partei für die Etrusker. Ganz Norditalien, Etrusker, Umbrer,
Gallier, stand somit gegen Rom in Waffen; es konnten groſse
Erfolge gewonnen werden, wenn auch die südlichen Land-
schaften den Augenblick ergriffen und sich gegen Rom erklär-
ten. In der That scheinen die immer für die Freiheit einzu-
stehen willigen Samniten den Krieg erklärt zu haben; aber
geschwächt und von allen Seiten eingeschlossen wie sie waren,
konnten sie dem Bunde wenig nützen, und Tarent zauderte nach
seiner Gewohnheit. Während unter den Gegnern Bündnisse ver-
handelt, Subsidientractate festgesetzt, Söldner zusammengebracht
wurden, handelten die Römer und lieſsen zunächst die Senonen
es empfinden, wie gefährlich es sei die Römer zu besiegen.
Der Consul Publius Cornelius Dolabella rückte mit einem star-
ken Heer in ihr Gebiet; was nicht über die Klinge sprang,
ward aus dem Lande ausgetrieben — bei einem Hirtenvolk
läſst sich das begreifen — und dieser Stamm ausgestrichen
aus der Reihe der italischen Nationen (471); es ist nicht un-
17*
[260]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
wahrscheinlich, daſs diese aus Italien vertriebenen Senonen
die gallischen Schwärme bilden halfen, die bald nachher das
Donaugebiet, Makedonien, Griechenland, Kleinasien über-
schwemmen. Die nächsten Nachbarn und Stammgenossen
der Senonen, die Boier, erschreckt und erbittert durch die
furchtbar schnell sich vollendende Katastrophe, vereinigten sich
augenblicklich mit den Etruskern, die noch den Krieg fort-
führten und deren senonische Söldner jetzt gegen die Römer
nicht mehr als Miethlinge, sondern als verzweifelte Rächer
der Heimath fochten. Das gesammte etruskisch-gallische Heer
zog gegen Rom; allein beim Uebergang über die Tiber in
der Nähe des vadimonischen Sees wurden sie von den Rö-
mern vollständig geschlagen (471) und nachdem sie das Jahr
darauf noch einmal bei Populonia mit nicht besserem Erfolg
eine Feldschlacht gewagt hatten, lieſsen die Boier ihre Bun-
desgenossen im Stich und schlossen für sich mit den Römern
Frieden (472). So war das gefährlichste Glied der Ligue,
das Galliervolk, einzeln überwunden, ehe noch der Bund sich
zusammenfand. Rom erhielt dadurch freie Hand gegen Unter-
italien, wo in den Jahren 469-471 der Kampf nicht ernst-
lich geführt worden war und die schwache römische Armee
Mühe gehabt hatte sich in Thurii gegen die Lucaner und
Brettier zu behaupten. Jetzt (472) erschien der Consul Gaius
Fabricius Luscinus mit einem starken Heer vor Thurii, be-
freite die Stadt, schlug die Lucaner in einem groſsen Treffen
und nahm ihren Feldherrn Statilius gefangen. Die kleineren
nicht dorischen Griechenstädte, die in den Römern ihre Ret-
ter erkannten, fielen ihnen überall freiwillig zu; römische
Besatzungen blieben zurück in den wichtigsten Plätzen, na-
mentlich in Lokri, Kroton, Thurii und Rhegion, auf welche
letztere Stadt auch die Karthager Absichten zu haben schienen.
Ueberall war Rom im entschiedensten Vortheil. Die Vernich-
tung der Senonen hatte den Römern eine bedeutende Strecke
des adriatischen Littorals in die Hände gegeben; man eilte
sich dessen zu bemächtigen, ohne Zweifel in Hinblick auf die
unter der Asche glimmende Fehde mit Tarent und die schon
drohende Invasion der Epeiroten. Es ward (um 471) eine
Bürgercolonie geführt nach dem Hafenplatz Sena (Sinigaglia), der
ehemaligen Hauptstadt des senonischen Bezirks und gleichzeitig
segelte eine römische Flotte aus dem tyrrhenischen Meer in
die östlichen Gewässer, offenbar um im adriatischen Meer zu
stationiren und dort die römischen Besitzungen zu decken.


[261]KOENIG PYRRHOS.

Die Tarentiner hatten bisher sich ruhig verhalten und
seit dem Vertrag von 450 mit Rom in Frieden gelebt. Sie
hatten der langen Agonie der Samniten, der raschen Vernich-
tung der Senonen zugesehen, sich die Gründung von Venusia,
Hadria, Sena, die Besetzung von Thurii und Rhegion gefallen
lassen ohne Einspruch zu thun. Aber als jetzt die römische
Flotte auf ihrer Fahrt vom tyrrhenischen ins adriatische Meer
in die tarentinischen Gewässer gelangte und im Hafen der
befreundeten Stadt vor Anker ging, schwoll die langgehegte Er-
bitterung endlich über; die uralten Verträge, die den römischen
Kriegsschiffen untersagten östlich vom lakinischen Vorgebirg zu
fahren (s. S. 101), kamen in der Ekklesia zur Sprache; wüthend
stürzte der Haufe über die römischen Kriegsschiffe her, die
unversehens überfallen nach heftigem Kampf unterlagen; fünf
Schiffe wurden genommen und deren Mannschaft hingerichtet
oder in die Knechtschaft verkauft, der römische Admiral selbst
war in dem Kampf gefallen. Nur der souveraine Unverstand
und die souveraine Gewissenlosigkeit der Pöbelherrschaft er-
klärt diese schmachvollen Vorgänge. Jene Verträge gehörten
einer Zeit an, die längst überschritten und verschollen war;
es ist einleuchtend, daſs sie wenigstens seit der Gründung
von Hadria und Sena schlechterdings keinen Sinn mehr hatten
und daſs die Römer im guten Glauben an den Schutz der
Verträge in den Golf einfuhren — lag es doch gar sehr in
ihrem Interesse, wie der weitere Verlauf der Dinge zeigt, den
Tarentinern durchaus keinen Grund zur Kriegserklärung dar-
zubieten. Wollte Tarent den Krieg an Rom erklären, so that
es damit bloſs was längst hätte geschehen sollen; und wenn
man vorzog statt des wirklichen Grundes sich auf Vertrags-
bruch und dergleichen Vorwände in der Kriegserklärung zu
stützen, so lieſs sich dagegen weiter nichts sagen, da ja die
Diplomatie zu allen Zeiten es unter ihrer Würde erachtet
hat das Einfache einfach zu sagen. Allein daſs man, statt
den Admiral zur Umkehr aufzufordern, die Flotte mit gewaff-
neter Hand ungewarnt überfiel, war eine Thorheit nicht min-
der als eine Barbarei, eine jener entsetzlichen Barbareien der
Civilisation, wo die Gesittung plötzlich das Steuerruder ver-
liert und die nackte Gemeinheit vor uns hintritt gleichsam
um zu warnen vor dem kindischen Glauben an den Fort-
schritt der Menschheit. — Und als wäre damit noch nicht
genug gethan, überfielen nach dieser Heldenthat die Tarentiner
Thurii, dessen römische Besatzung überrumpelt ward und
[262]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
capitulirte (im Winter 47⅔), und bestraften die Thuriner,
dieselben die von Tarent stets den Lucanern vertragsmäſsig
preisgegeben und dadurch gewaltsam zur Ergebung an Rom
gedrängt worden waren, schwer für ihren Abfall von der
hellenischen Partei zu den Barbaren.


Die Barbaren verfuhren indeſs mit einer Mäſsigung, die
bei solcher Macht und nach solchen Kränkungen Bewunderung
erregt. Es lag im Interesse Roms die tarentinische Neutrali-
tät so lange wie möglich gelten zu lassen, und die leitenden
Männer im Senat verwarfen deſshalb den Antrag, den eine
Minorität in begreiflicher Erbitterung gestellt hatte, den Taren-
tinern sofort den Krieg zu erklären. Vielmehr ward ihnen
ein Vergleich angeboten unter den mäſsigsten Bedingungen,
die sich mit Roms Ehre vertrugen: Entlassung der Gefange-
nen, Rückgabe von Thurii, Auslieferung der Urheber des Ueber-
falls der Flotte. Die Tarentiner konnten, ohne ihrer Unab-
hängigkeit etwas zu vergeben, diese Bedingungen eingehen
und bei der geringen Kriegslust der reichen Kaufstadt durfte
man in Rom mit Recht annehmen, daſs ein Abkommen noch
möglich sei. Mit diesen Vorschlägen ging eine römische Ge-
sandtschaft nach Tarent (473), während gleichzeitig ihren
Worten Nachdruck zu geben ein römisches Heer unter dem
Consul Lucius Aemilius in Samnium einrückte. Allein auch
dieser Versuch den Frieden zu erhalten scheiterte an der Un-
botmäſsigkeit des städtischen Pöbels, der sich mit beliebter
griechischer Ungezogenheit sogar an der Person der Gesandten
in unwürdiger Weise vergriff. Nun rückte der Consul zwar
ein in das tarentinische Gebiet, aber noch einmal bot er auf
dieselben Bedingungen den Frieden, bevor er die Feindselig-
keiten begann. Als auch dies vergeblich war, begann er zwar die
Aecker und Landhäuser zu verwüsten und schlug die städtischen
Milizen, aber die vornehmeren Gefangenen wurden ohne Löse-
geld entlassen und man gab die Hoffnung nicht auf, daſs der
Kriegsdruck in der Stadt der aristokratischen Partei das Ueber-
gewicht geben und damit den Frieden herbeiführen werde.
Die Römer boten alles auf die Tarentiner nicht aufs Aeuſserste
zu treiben; womit sie sie nothwendig dem Epeiroten in die
Arme geworfen hätten, dessen Absichten auf Italien kein Ge-
heimniſs mehr waren. Schon war eine tarentinische Gesandt-
schaft zu Pyrrhos gegangen und unverrichteter Sache zurück-
gekehrt; der König hatte mehr begehrt als sie zu bewilligen
Vollmacht hatte. Man muſste sich entscheiden. Daſs die Bür-
[263]KOENIG PYRRHOS.
gerwehr vor den Römern nur wegzulaufen verstand, davon
hatte man sich sattsam überzeugt; es blieb nur die Wahl
zwischen Frieden mit Rom und Vertrag mit Pyrrhos auf jede
dem König gutdünkende Bedingung, das heiſst die Wahl zwi-
schen Unterwerfung unter die römische Obermacht oder unter
die Tyrannis eines griechischen Soldaten. Die Parteien hielten
sich fast in der Stadt die Wage; endlich setzte die demago-
gische, die trotz Roms anscheinender Mäſsigung die Rache
für die den Römern zugefügten Schändlichkeiten fürchtete, es
durch, daſs man mit Pyrrhos abschloſs. Er erhielt den Ober-
befehl über die Truppen der Tarentiner und der übrigen
gegen Rom unter Waffen stehenden Italioten; ferner das Recht
Besatzung in Tarent zu halten. Daſs Tarent die Kriegskosten
trug, versteht sich von selbst. Pyrrhos versprach dagegen in
Italien nicht länger als nöthig zu bleiben, vermuthlich unter
dem stillschweigenden Vorbehalt über diese Nothwendigkeit
nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Während die taren-
tinischen Gesandten — ohne Zweifel die Häupter der Kriegs-
partei — in Epeiros abwesend waren, schlug indeſs in der
von den Römern bedrängten Stadt die Stimmung um; schon
war der Oberbefehl dem Agis, einem römisch Gesinnten über-
tragen, als die Rückkehr der Gesandten mit dem abgeschlos-
senen Tractat in Begleitung von Pyrrhos vertrautem Minister
Kineas die Kriegspartei wieder ans Ruder brachte. Endlich
ward dem kläglichen Schwanken ein Ende gemacht, indem
eine festere Hand die Zügel faſste. Noch im Herbst 473 lan-
dete Pyrrhos General Milon mit 3000 Epeiroten, besetzte die
Citadelle der Stadt und erlöste die Bürger von dem lästigen
Postendienst; Aemilius räumte darauf das Gebiet von Tarent
und nahm Winterquartiere in Apulien. Mit der Hauptmacht
erschien der König selbst in Tarent zu Anfang des Jahres
474 nach einer stürmischen Ueberfahrt, die zahlreiche Opfer
kostete. Ihm folgte ein buntgemischtes Heer, theils bestehend
aus den Haustruppen, den Molottern, Thesprotiern, Chao-
nern, Ambrakioten, theils aus dem makedonischen Fuſsvolk
und der thessalischen Reiterei, die König Ptolemaeos von Ma-
kedonien vertragsmäſsig ihm überlassen, theils aus aetolischen,
akarnanischen, athamanischen Söldnern; im Ganzen zählte
man 20000 Phalangiten, 2000 Bogenschützen, 500 Schleuderer,
3000 Reiter und 20 Elephanten, also nicht viel weniger als
dasjenige Heer betragen hatte, mit dem Alexander funfzig Jahre
zuvor den Hellespont überschritt. In Italien indeſs standen
[264]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
die Angelegenheiten der Coalition nicht zum besten; nirgends
in ganz Unteritalien hielt dieselbe das Feld und auch in Ober-
italien hatten die Etrusker, die allein noch in Waffen standen,
in dem letzten Feldzug (473) nichts als Niederlagen erlitten.
Die Wirklichkeit bildete einen unerfreulichen Gegensatz zu den
groſsen Worten der Verbündeten, die dem König erklärt hat-
ten 350000 Mann zu Fuſs und 20000 Reiter ins Feld stellen
zu können; das Heer, dessen Oberbefehl man Pyrrhos über-
tragen, war eben noch erst zu schaffen, wozu vorläufig haupt-
sächlich nur Tarents eigene Hülfsquellen zu Gebot standen.
Der König befahl die Anwerbung eines italischen Söldnerheers
mit tarentinischem Gelde und hob die dienstfähigen Leute aus
der Bürgerschaft zum Kriegsdienst aus, unter Androhung der
Todesstrafe gegen die Säumigen. Natürlich erregte dies Ver-
fahren die gröſste Unzufriedenheit; es war unerträglich, daſs
man nun doch fechten muſste, während man gedacht hatte
den Sieg wie eine andere Waare für gutes Geld sich zu kau-
fen. Jetzt gab der Erfolg bei Allen der Friedenspartei Recht
und Verbindungen wurden sogar mit Rom angeknüpft oder
schienen angeknüpft zu werden. Pyrrhos, auf solchen Wider-
stand vorbereitet, behandelte die Stadt fortan wie eine eroberte;
die Soldaten wurden in die Häuser einquartirt, die Volksver-
sammlungen und die zahlreichen Kränzchen (συσσίτια) sus-
pendirt, das Theater geschlossen, die Promenaden gesperrt
und die Thore mit epeirotischen Wachen besetzt. Eine Anzahl
der führenden Männer wurden als Geiſseln über das Meer
gesandt; andere entzogen sich dem gleichen Schicksal durch
die Flucht nach Rom. Diese strengen, aber nicht grausamen
Maſsregeln waren nothwendig, da es schlechterdings unmöglich
war sich in irgend einem Sinn auf die Tarentiner zu verlas-
sen; erst jetzt konnte der König, gestützt auf den Besitz der
wichtigen Stadt, die Operationen im Felde beginnen.


Auch in Rom wuſste man sehr wohl, welchem Kampfe
man entgegenging. Vor allem galt es die Treue der Bundes-
genossen, das heiſst der Unterthanen zu sichern; die unzu-
verlässigen Städte erhielten Besatzung und wo es nothwendig
schien, wurden die Führer der Partei der Unabhängigkeit fest-
gesetzt oder hingerichtet, so zum Beispiel eine Anzahl Glieder
des praenestinischen Senats. Für den Krieg wurden groſse
Anstrengungen gemacht; es ward eine Kriegssteuer ausge-
schrieben, von allen Unterthanen und Bundesgenossen das
volle Contingent eingemahnt, ja man rief die eigentlich von
[265]KOENIG PYRRHOS.
der Dienstpflicht befreiten Proletarier unter die Waffen. Ein
römisches Heer blieb als Reserve in Rom, während ein zwei-
tes unter dem Consul Tiberius Coruncanius in Etrurien ein-
rückte und Volsinii und Volci zu Paaren trieb. Vor allem
aber kam es darauf an dem König entgegenzutreten ehe Un-
teritalien unter seinen Fahnen sich vereinigte. Man zählte
zum Theil auf die römischen Besatzungen in den Griechen-
städten; allein die Meuterei der in Rhegion liegenden Truppe
— es waren 800 Campaner und 400 Sidiciner unter einem
campanischen Hauptmann Decius — entriſs den Römern diese
wichtige Stadt ohne sie doch Pyrrhos in die Hände zu geben.
Wenn einerseits bei diesem Militäraufstand der Nationalhaſs
der Campaner gegen die Römer unzweifelhaft mitwirkte, so
konnte andrerseits Pyrrhos, der zu Schirm und Schutz der
Hellenen über das Meer gekommen war, unmöglich die Trup-
pen in den Bund aufnehmen, welche ihre rheginischen Wirthe
in den Häusern niedergemacht hatten; und so blieben sie für
sich, im engen Bunde mit ihren Stamm- und Frevelgenossen,
den Mamertinern, das heiſst den campanischen Söldnern des
Agathokles, die das gegenüberliegende Messana in ähnlicher
Weise gewonnen hatten, und brandschatzten und verheerten
auf ihre eigene Rechnung die umliegenden Griechenstädte,
so Kroton, wo sie die römische Besatzung niedermachten, und
Kaulonia, das sie zerstörten. Dagegen gelang es den Römern
durch ein schwaches Corps, das an der lucanischen Grenze
sich aufstellte, und durch die Besatzung von Venusia die Lu-
caner und Samniten an der Vereinigung mit Pyrrhos zu hin-
dern, während die Hauptmacht, wie es scheint vier Legionen,
also mit der entsprechenden Zahl von Bundestruppen minde-
stens 60000 Mann stark, unter dem Consul Publius Laevinus
gegen Pyrrhos marschirte, der zur Deckung der tarentinischen
Colonie Herakleia zwischen dieser Stadt und Pandosia * mit
seinen eigenen und den tarentinischen Truppen sich aufgestellt
hatte (474). Die Römer, die unter Deckung ihrer Reiterei den
Uebergang über den Siris erzwangen, eröffneten die Schlacht
mit einem hitzigen Reiterangriff, bei dem sie siegten, nach-
dem der König, der seine Reiter selber führte, vom Pferde ge-
stürzt und die Seinigen dadurch in Unordnung gerathen waren.
Indeſs Pyrrhos stellte sich an die Spitze des Fuſsvolks und
[266]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
von neuem begann ein entscheidenderer Kampf. Siebenmal tra-
fen die Legionen und die Phalanx im Choc auf einander und
immer noch stand der Kampf. Da fiel Megakles, einer der
besten Offiziere des Königs, und weil er an diesem heiſsen
Tage die Rüstung des Königs trug, glaubte das Heer zum
zweiten Mal, daſs der König gefallen sei; die Reihen wurden
unsicher, schon meinte Laevinus den Sieg in der Hand zu
haben und warf seine sämmtliche Reiterei den Griechen in
die Flanke. Aber Pyrrhos, entblöſsten Hauptes durch die
Reihen des Fuſsvolks schreitend, belebte aufs Neue den Muth
der Seinigen; gegen die Reiter wurden die bis dahin zurück-
gehaltenen Elephanten vorgeführt. Die Pferde scheuten vor
ihnen, die Reiter wuſsten den gewaltigen Thieren nicht bei-
zukommen und wandten sich zur Flucht; die fliehenden Reiter,
die nachsetzenden Elephanten lösten endlich auch die ge-
schlossenen Glieder des römischen Fuſsvolks und die Elephan-
ten im Verein mit der trefflichen thessalischen Reiterei richteten
ein groſses Blutbad unter den Flüchtenden an. Hätte nicht ein
tapferer römischer Soldat, Gaius Minucius, der erste Hastat der
vierten Legion, einen der Elephanten verwundet und dadurch
die verfolgenden Truppen in Verwirrung gebracht, so wäre
das römische Heer aufgerieben worden; so gelang es den
Rest der römischen Truppen über den Siris zurückzuführen.
Indeſs der Verlust war groſs; 7000 Römer wurden todt oder
wund von den Siegern auf der Wahlstatt gefunden, 2000
gefangen eingebracht; die Römer selbst gaben wohl mit Ein-
schluſs der vom Schlachtfeld zurückgebrachten Verwundeten
ihren Verlust an auf 15000 Mann. Aber auch Pyrrhos Heer
hatte nicht viel weniger gelitten; gegen 4000 seiner besten
Soldaten bedeckten das Schlachtfeld und mehrere seiner tüch-
tigsten Offiziere waren gefallen. Erwägend, daſs sein Verlust
hauptsächlich auf die altgedienten Leute traf, die bei weitem
schwerer zu ersetzen waren als die römische Landwehr, und
daſs er den Sieg nur der Ueberraschung durch den Elephan-
tenangriff verdankte, die sich nicht oft wiederholen lieſs, mochte
der König wohl diesen Sieg einer Niederlage vergleichen,
wenn er auch nicht so thöricht war, wie die römischen Poe-
ten später erfanden, dies auszusprechen in der Aufschrift des
von ihm in Tarent aufgestellten Weihgeschenks. — Zunächst
indeſs war es ein unschätzbarer Erfolg, der nicht bloſs Pyrrhos
Feldherrnruhm glänzend bewährte, sondern auch den hinsie-
chenden Bund der Italioten wenn irgend etwas zur Einigung
[267]KOENIG PYRRHOS.
und zu energischen Anstrengungen aufrufen konnte. Lucanien
war für die Römer verloren; Laevinus zog die dort stehenden
Truppen an sich und ging nach Apulien. Die Brettier, Lu-
caner, Samniten vereinigten sich ungehindert mit Pyrrhos.
Mit Ausnahme von Rhegion, das unter dem Druck der campa-
nischen Meuterer schmachtete, fielen die Griechenstädte sämmt-
lich dem König zu, ja Lokri lieferte ihm freiwillig die römische
Besatzung aus; von ihm waren sie überzeugt, und mit Recht,
daſs er sie den Italikern nicht preisgeben werde. So war
bald ganz Unteritalien mit Ausnahme von Venusia den Rö-
mern verloren; aber weiter wirkte der Sieg nicht. Den am
Siris Gefangenen, deren tapfere Haltung der ritterliche Kö-
nig durch die ehrenvollste Behandlung vergalt, bot er nach
griechischer Sitte an in sein Heer einzutreten; allein er er-
fuhr, daſs er nicht mit Söldnern focht, sondern mit einem
Volke. Nicht einer, weder Römer noch Bundesgenosse, nahm
bei ihm Dienste.


Pyrrhos bot den Römern Frieden an. Er traute seinem
Siege nicht und hoffte durchsetzen zu können, daſs die grie-
chischen Städte in Italien frei würden und zwischen ihnen
und Rom eine Reihe Staaten zweiten und dritten Ranges sich
bilde als abhängige Verbündete der neuen griechischen Macht;
denn darauf gingen seine Forderungen: Entlassung aller griechi-
schen Städte — also namentlich der campanischen und lucani-
schen — aus der römischen Botmäſsigkeit und Rückgabe des
den Samniten, Dauniern, Lucanern, Brettiern abgenommenen
Gebiets, das heiſst namentlich Aufgabe von Luceria und Venusia.
Konnte ein weiterer Kampf mit Rom auch schwerlich vermieden
werden, so war es doch wünschenswerth diesen erst zu begin-
nen, wenn die westlichen Hellenen unter einem Herrn vereinigt,
Sicilien gewonnen, vielleicht Africa erobert war. — Mit solchen
Instructionen begab sich Pyrrhos vertrauter Minister, der
Thessalier Kineas nach Rom. Der gewandte Unterhändler,
den seine Zeitgenossen dem Demosthenes verglichen, so weit
sich dem Staatsmann der Rhetor, dem Volksführer der Her-
rendiener vergleichen läſst, hatte Auftrag die Achtung, die der
Sieger von Herakleia für seine Besiegten in der That empfand,
auf alle Weise zur Schau zu tragen, den Wunsch des Königs
selber nach Rom zu kommen zu erkennen zu geben, durch die
im Munde des Feindes so wohlklingende Lob- und durch ernste
Schmeichelrede, gelegentlich auch durch wohlangebrachte Ge-
schenke die Gemüther zu des Königs Gunsten zu stimmen,
[268]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
kurz alle Künste der Cabinetspolitik, wie sie an den Höfen
von Alexandria und Antiochia erprobt waren, gegen die Rö-
mer zu versuchen. Der Senat schwankte; manchen erschien
es der Klugheit gemäſs einen Schritt zurück zu thun, abzu-
warten, bis der gefährliche Gegner sich weiter verwickelt ha-
ben oder nicht mehr sein würde. Indeſs der Altcensor Appius
Claudius (Censor 442, Consul 447. 458), der wegen Alters
und Blindheit sich von den Staatsgeschäften zurückgezogen
hatte, aber in diesem entscheidenden Augenblick sich in den
Senat führen lieſs, hauchte die ungebrochene Energie einer
gewaltigen Natur mit seinen Flammenworten dem jüngeren
Geschlecht in die Seele. Man antwortete dem König das
stolze Wort, das hier zuerst vernommen und seitdem Staats-
grundsatz ward, daſs Rom nicht unterhandle, so lange aus-
wärtige Truppen auf italischem Gebiet ständen, und das Wort
wahr zu machen, wies man den Gesandten sofort aus der
Stadt. Der Zweck der Sendung war verfehlt und der ge-
wandte Diplomat, statt mit seiner Redekunst Effect zu machen,
hatte vielmehr sich selber imponiren lassen durch diesen männ-
lichen Ernst nach so schwerer Niederlage — er erklärte da-
heim, daſs in dieser Stadt jeder Bürger ihm erschienen sei
wie ein König; freilich, der Hofmann hatte ein freies Volk zu
Gesicht bekommen. — Pyrrhos, der während dieser Ver-
handlungen in Campanien eingerückt war, brach auf die Nach-
richt von ihrem Ausgang sogleich auf gegen Rom, um den
Etruskern die Hand zu reichen, die Bundesgenossen Roms
zu erschüttern, die Stadt selber zu bedrohen. Aber die Rö-
mer lieſsen sich so wenig schrecken wie gewinnen. Auf den
Ruf des Heroldes ‚sich einschreiben zu lassen an die Stelle
der Gefallenen‘ hatte die junge Mannschaft sich gleich nach
der Schlacht von Herakleia zur Aushebung schaarenweise her-
beigedrängt; mit den beiden neugebildeten Legionen und dem
aus Lucanien zurückgezogenen Corps war Laevinus stärker
als vorher und folgte dem Marsch des Königs. Er vermochte
Capua zu decken und einen Versuch des Gegners mit Neapel Ver-
bindungen anzuknüpfen zu vereiteln; so straff war die Haltung
der Römer, daſs auſser den unteritalischen Griechen kein nam-
hafter Bundesstaat es wagte vom römischen Bündniſs abzufallen.
Da wandte Pyrrhos sich durch die reiche Landschaft, deren
blühenden Zustand er bewunderte, Fregellae überrumpelnd
und den Uebergang über den Liris erzwingend, gegen Rom
selbst. Der Weg ward ihm nicht verlegt; er gelangte bis Anag-
[269]KOENIG PYRRHOS.
nia, 40000 Schritte von Rom, ja Spätere lassen ihn gleich
Hannibal von Praeneste aus die römischen Mauern und Zinnen
erblicken. Aber überall schlossen ihm die Städte Latiums die
Thore; Laevinus folgte von Campanien aus langsam nach,
während von Norden der Consul Tiberius Coruncanius, der mit
den Etruskern durch einen rechtzeitigen Friedensschluſs sich
abgefunden hatte, auch seinerseits die etruskische Armee
heranführte und in Rom selbst die Reserve unter dem Dic-
tator Gnaeus Domitius Calvinus sich zum Kampfe fertig machte.
Dagegen war nichts auszurichten; dem König blieb nichts
übrig als umzukehren und nachdem er eine Zeitlang in Cam-
panien den vereinigten Heeren der beiden Consuln unthätig
gegenübergestanden hatte, auch von dort abzuziehen und seine
Truppen für den Winter in die befreundeten Städte zu ver-
theilen; er selbst nahm Winterquartier in Tarent. Hierauf
stellten auch die Römer ihre Operationen ein; das Heer be-
zog Standquartiere bei Firmum im Picenischen, wo auf Befehl
des Senats die am Siris geschlagenen Legionen den Winter
hindurch zur Strafe unter Zelten campirten.


So endigte der Feldzug des Jahres 474. Der Sondervertrag
Etruriens im entscheidenden Augenblick und des Königs un-
vermutheter Rückzug, der die hochgespannten Hoffnungen der
italischen Bundesgenossen gänzlich täuschte, wogen zum
groſsen Theil den Eindruck des Sieges von Herakleia auf.
Die Italiker beschwerten sich über die Lasten des Krieges,
namentlich über die schlechte Mannszucht der bei ihnen ein-
quartirten Söldner, und der König, müde des kleinlichen Ge-
zänks und des unpolitischen wie unmilitärischen Gehabens
seiner Bundesgenossen, fing an zu ahnen, daſs die Aufgabe,
die ihm zugefallen war, trotz aller taktischen Erfolge politisch
unlösbar sein möge. Die Ankunft einer römischen Gesandt-
schaft, dreier Consulare, darunter der Sieger von Thurii Ga-
ius Fabricius, lieſs einen Augenblick wieder bei ihm die Frie-
denshoffnungen erwachen; allein es zeigte sich bald, daſs sie
nur Vollmacht hatten wegen Lösung oder Auswechselung der
Gefangenen zu unterhandeln. Pyrrhos schlug diese Forderung
ab, allein er entlieſs sämmtliche Gefangene zur Feier der Sa-
turnalien auf ihr Ehrenwort; daſs sie es hielten und daſs der
römische Gesandte einen Bestechungsversuch abwies, hat man
in der Folgezeit in unschicklichster Weise gefeiert. — Mit
dem Frühjahr 475 ergriff Pyrrhos abermals die Offensive und
rückte in Apulien ein, wohin das römische Heer ihm entge-
[270]ZWEITES BUCH. KAPTEL VII.
genkam. Es blieb dem König nichts übrig als eine zweite
Schlacht zu liefern, in der Hoffnung durch einen entschei-
denden Sieg die römische Symmachie in diesen Landschaften
zu erschüttern. Bei Ausculum (Ascoli di Puglia) trafen beide
Heere auf einander. Unter Pyrrhos Fahnen fochten auſser
seinen epeirotischen und makedonischen Truppen die itali-
schen Söldner, die Bürgerwehr — die sogenannten Weiſs-
schilder — von Tarent, und die verbündeten Lucaner, Bret-
tier und Samniten, zusammen 70000 Mann zu Fuſs, davon
16000 Griechen und Epeiroten, über 8000 Reiter und 19
Elephanten. Mit den Römern standen an diesem Tage die
Latiner, Campaner, Volsker, Sabiner, Umbrer, Marruciner,
Paeligner, Frentaner und Arpaner; auch sie zählten über
70000 Mann zu Fuſs, darunter 20000 römische Bürger und
8000 Reiter. Beide Theile hatten in ihrem Heerwesen Aen-
derungen vorgenommen. Pyrrhos, mit scharfem Soldatenblick
die Vorzüge der Manipularordnung erkennend, hatte auf den
Flügeln die lange Fronte seiner Phalangen vertauscht mit einer
der Cohortenstellung nachgebildeten unterbrochenen Aufstellung
in Fähnlein, indem er, vielleicht nicht minder aus politischen wie
aus militärischen Gründen, zwischen die Abtheilungen seiner
eigenen Leute die tarentinischen und samnitischen Cohorten
einschob; im Mitteltreffen allein stand die epeirotische Phalanx
in geschlossener Reihe. Die Römer führten zur Abwehr der
Elephanten eine Art Streitwagen heran, aus denen Feuerbecken
an eisernen Stangen hervorragten und auf denen bewegliche
zum Herablassen eingerichtete Masten mit Eisenstacheln be-
festigt waren — gewissermaſsen das Vorbild der Enterbrücken,
die im ersten punischen Krieg eine so groſse Rolle spielen
sollten. — Nach dem griechischen Schlachtbericht, der minder
parteiisch scheint als der uns auch vorliegende römische,
waren die Griechen am ersten Tage im Nachtheil, da es
ihnen nicht gelang an den schroffen und sumpfigen Fluſs-
ufern, wo sie gezwungen wurden das Gefecht anzunehmen,
ihre Linie zu entwickeln noch Reiterei und Elephanten ins
Gefecht zu bringen. Am zweiten Tage kam dagegen Pyrrhos
den Römern in der Besetzung des durchschnittenen Terrains
zuvor und erreichte so ohne Verlust die Ebene, wo er seine
Phalanx ungestört entfaltete. Vergeblich stürzten sich die
Römer verzweifelten Muths mit ihren Schwertern auf die
Sarissen; die Phalanx stand unerschütterlich jedem Angriff
in der Fronte, bis endlich der Ansturm der Elephanten auch
[271]KOENIG PYRRHOS.
diese Schlacht entschied, nachdem deren zahlreiche Bedeckung
die Bemannung der römischen Streitwagen durch Pfeile und
Schleudersteine vertrieben und der Bespannung die Stränge
zerschnitten hatte. Das Weichen der Bedeckungsmannschaft
der römischen Wagen gab das Signal zur allgemeinen Flucht,
die indeſs nicht sehr zahlreiche Opfer kostete, da das nahe
Lager die Verfolgten aufnahm. Daſs während des Haupttref-
fens ein von der römischen Hauptmacht abgesondertes arpa-
nisches Corps das schwach besetzte epeirotische Lager ange-
griffen und in Brand gesteckt habe, meldet nur der römische
Schlachtbericht; wenn es aber auch richtig ist, so haben doch
die Römer auf alle Fälle mit Unrecht behauptet, daſs die
Schlacht unentschieden geblieben sei. Beide Berichte stimmen
vielmehr darin überein, daſs das römische Heer über den Fluſs
zurückging und Pyrrhos im Besitz des Schlachtfeldes blieb. Die
Zahl der Gefallenen war nach dem griechischen Bericht auf
römischer Seite 6000, auf griechischer 3505 *; unter den Ver-
wundeten war der König selbst, dem ein Wurfspieſs den Arm
durchbohrt hatte, während er wie immer im dichtesten Ge-
tümmel kämpfte. Wohl war es ein Sieg, den Pyrrhos erfoch-
ten hatte, aber es waren unfruchtbare Lorbeeren; ein Sieg
der dem König als Feldherrn wie als Soldaten Ehre machte,
aber seine politischen Zwecke nicht förderte. Er bedurfte
eines glänzenden Erfolges, der das römische Heer auflöste
und den schwankenden Bundesgenossen die Gelegenheit und
den Anstoſs zum Parteiwechsel gab; jetzt wo die römische
Armee und die römische Eidgenossenschaft ungebrochen blie-
ben und das griechische Heer, das nichts war ohne seinen
Feldherrn, durch dessen Verwundung angefesselt stillstand,
blieb ihm nichts übrig als den Feldzug verloren zu geben und
in die Winterquartiere zu gehen, die der König in Tarent
nahm, die Römer diesmal in Apulien. Immer deutlicher offen-
barte es sich, daſs militärisch die Hülfsquellen des Königs den
römischen ebenso nachstanden wie politisch die lose und wi-
derspenstige Coalition den Vergleich nicht aushielt mit der
festgegründeten römischen Symmachie. Wohl konnte das
[272]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
Ueberraschende und Gewaltige in der griechischen Kriegfüh-
rung, das Genie des Feldherrn noch einen Sieg mehr erfech-
ten wie die von Herakleia und Ausculum, aber mit jedem
neuen Siege vernutzten sich die Mittel und es war klar, daſs
die Römer sich als die Stärkeren fühlten und den endlichen Sieg
mit muthiger Geduld erharrten. Dieser Krieg war nicht das
feine Kunstspiel, wie es die griechischen Fürsten verstanden;
an der vollen und gewaltigen Energie der Landwehr zer-
schellten alle strategischen Combinationen. Pyrrhos fühlte
wie die Dinge standen; überdrüſsig seiner Siege und seine
Bundesgenossen verachtend ertrug er ungeduldig was die mi-
litärische Ehre ihm vorschrieb, Italien nicht zu verlassen, be-
vor er seine Schutzbefohlenen vor den Barbaren gesichert
haben würde, und gern ergriff er einen Vorwand das lästige
Gebot zu umgehen. Diesen boten ihm bald die sicilischen
Angelegenheiten.


Nach Agathokles Tode (465) fehlte es den sicilischen
Griechen an einer leitenden Macht. Während in den ein-
zelnen hellenischen Städten unfähige Demagogen und unfähige
Tyrannen einander ablösten, dehnten die Karthager, die alten
Herren der Westspitze, ihre Herrschaft ungestört aus und nach-
dem Akragas ihnen erlegen war, glaubten sie die Zeit gekom-
men das seit Jahrhunderten standhaft verfolgte Ziel endlich
erreichen und die ganze Insel unter ihre Botmäſsigkeit brin-
gen zu können; sie wandten sich zum Angriff auf Syrakus.
Die Stadt, die einst mit ihren Heeren und Flotten Karthago
den Besitz der Insel streitig gemacht hatte, war durch den
inneren Hader und die Schwäche des Regiments so weit ge-
bracht, daſs sie ihre Rettung suchen muſste in dem Schutz
ihrer Mauern und in auswärtiger Hülfe; und Niemand konnte
diese gewähren als König Pyrrhos. Er, der Tochtermann des
Agathokles; sein Sohn und Agathokles Enkel, der damals
sechzehnjährige Alexander waren die natürlichen Erben der
hochfliegenden Pläne des Herren von Syrakus; und wenn es
mit der Freiheit doch zu Ende war, konnte Syrakus dafür
Entschädigung finden als Hauptstadt eines westhellenischen Rei-
ches. So trugen die Syrakusaner gleich den Tarentinern und
unter ähnlichen Bedingungen dem König Pyrrhos freiwillig die
Herrschaft entgegen (um 475) und durch eine seltene Fügung
der Dinge schien sich alles zu vereinigen zum Gelingen der
groſsartigen, zunächst auf den Besitz von Tarent und Syrakus
gebauten Pläne des Epeirotenkönigs. — Freilich war die
[273]KOENIG PYRRHOS.
nächste Folge von dieser Vereinigung der italischen und sici-
lischen Griechen unter eine Hand, daſs auch die Gegner sich
enger zusammenschlossen. Karthago und Rom verwandelten
ihre alten Handelsverträge jetzt in ein Offensiv- und Defensiv-
bündniſs gegen Pyrrhos (475), dessen Bedingungen dahin lau-
teten, daſs, wenn Pyrrhos römisches oder karthagisches Gebiet
betrete, der nicht angegriffene Theil dem angegriffenen auf
dessen Gebiet Zuzug leisten und die Hülfstruppen selbst be-
solden solle; daſs in solchem Fall Karthago die Transport-
schiffe zu stellen und auch mit der Kriegsflotte den Römern
beizustehen sich verpflichte, doch solle deren Bemannung
nicht gehalten sein zu Lande für die Römer zu fechten; daſs
endlich beide Staaten sich das Wort gäben keinen Sonder-
frieden mit Pyrrhos zu schlieſsen. Der Zweck des Vertrages
war auf römischer Seite einen Angriff auf Tarent möglich zu
machen und Pyrrhos von der Heimath abzuschneiden, was
ohne Mitwirkung der punischen Flotte nicht ausführbar war; auf
Seiten der Karthager den König in Italien festzuhalten, um ihre
Absichten auf Syrakus ungestört ins Werk setzen zu können *.
Es lag also im Interesse beider Mächte zunächst sich des
Meeres zwischen Italien und Sicilien zu versichern. Eine
starke karthagische Flotte von 120 Segeln unter dem Admi-
ral Mago ging von Ostia, wohin Mago sich begeben zu haben
scheint um jenen Vertrag abzuschlieſsen, nach der sicilischen
Meerenge. Die Mamertiner, die für ihre Frevel gegen die
griechische Bevölkerung Messanas die gerechte Strafe erwar-
tete, wenn Pyrrhos in Sicilien und Italien ans Regiment kam,
schlossen sich eng an an die Römer und Karthager und sicher-
ten diesen die sicilische Seite des Passes. Gern hätten die
Verbündeten auch Rhegion auf der gegenüberliegenden Küste
gehabt; allein verzeihen konnte Rom der campanischen Be-
satzung unmöglich und ein Versuch der vereinigten Römer
und Karthager sich der Stadt mit gewaffneter Hand zu be-
mächtigen schlug fehl. Von dort segelte die karthagische
Flotte nach Syrakus und blockirte die Stadt von der Seeseite,
Röm. Gesch. I. 18
[274]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
während gleichzeitig ein starkes punisches Heer die Belage-
rung zu Lande begann (476). Es war hohe Zeit, daſs Pyrrhos
in Syrakus erschien; aber freilich standen in Italien die An-
gelegenheiten keineswegs so, daſs er und seine Truppen dort
entbehrt werden konnten. Die beiden Consuln des Jahres
476, Gaius Fabricius Luscinus und Quintus Aemilius Papus,
beide erprobte Generale, hatten den neuen Feldzug kräftig
begonnen und trotz der Niederlagen, die die Römer erlitten
hatten, waren nicht sie es, sondern die Sieger, die sich er-
mattet fühlten und den Frieden herbeiwünschten. Pyrrhos
machte noch einen Versuch ein leidliches Abkommen zu er-
langen. Der Consul Fabricius hatte dem König einen Elen-
den zugesandt, der ihm den Antrag gemacht gegen gute Be-
zahlung den König zu vergiften. Zum Dank gab der König
nicht bloſs alle römischen Gefangenen ohne Lösegeld frei,
sondern er fühlte sich so hingerissen von dem Edelsinn seiner
tapfern Gegner, daſs er zur Belohnung ihnen einen ungemein
billigen und günstigen Frieden selber antrug. Kineas scheint
noch einmal nach Rom gegangen zu sein und Karthago ernst-
lich gefürchtet zu haben, daſs sich Rom zum Frieden bequeme.
Indeſs der Senat blieb fest und wiederholte seine frühere
Antwort. Wollte der König nicht Syrakus den Karthagern in
die Hände fallen und damit seinen groſsen Plan sich zerstö-
ren lassen, so blieb ihm nichts andres übrig als seine itali-
schen Bundesgenossen preiszugeben und sich vorläufig auf den
Besitz der wichtigsten Hafenplätze, namentlich von Tarent und
Lokri zu beschränken. Vergebens beschworen ihn die Lucaner
und Samniten sie nicht im Stich zu lassen; vergebens forderten
die Tarentiner ihn auf entweder seiner Feldherrnpflicht nach-
zukommen oder die Stadt ihnen zurückzugeben. Den Klagen
und Vorwürfen setzte der König gute Worte oder derbe Ab-
weisung entgegen; Milon blieb in Tarent zurück, des Königs
Sohn Alexander in Lokri und mit der Hauptmacht schiffte
noch im Frühjahr 476 sich Pyrrhos in Tarent nach Syrakus
ein, wo er trotz der karthagischen Flotte glücklich landete.


Durch Pyrrhos Abzug erhielten die Römer freie Hand in
Italien, wo Niemand ihnen auf offenem Felde zu widerstehen
wagte und die Gegner überall sich einschlossen in ihre Festen
oder in ihre Wälder. Indeſs der Kampf ging nicht so schnell
zu Ende, wie man wohl gehofft haben mochte, woran theils
die Natur dieses Gebirgs- und Belagerungskrieges Schuld war,
theils aber wohl auch die Erschöpfung der Römer, von deren
[275]KOENIG PYRRHOS.
Verlusten das Sinken der Bürgerrolle von 473 auf 479 um
17000 Köpfe zeugt. Noch im Jahre 476 gelang es dem Con-
sul Gaius Fabricius die bedeutendste tarentinische Pflanzstadt
Herakleia zu einem Sonderfrieden zu bringen, der unter den
günstigsten Bedingungen gewährt ward. Im Feldzug von 477
schlug man sich in Samnium herum, wo ein leichtsinnig unter-
nommener Angriff auf die verschanzten Höhen den Römern
viele Leute kostete, und wandte sich alsdann nach dem süd-
lichen Italien, wo die Lucaner und Brettier geschlagen wurden.
Ein Versuch Kroton zu überrumpeln miſslang, indem Milon
von Tarent aus den Römern zuvorkam; die epeirotische Be-
satzung machte sogar einen glücklichen Ausfall gegen das be-
lagernde Heer. Indeſs gelang es endlich dem Consul dennoch
dieselbe durch eine Kriegslist zum Abmarsch zu bestimmen
und der unvertheidigten Stadt sich zu bemächtigen (477).
Wichtiger war es, daſs die Lokrenser, die früher die römi-
sche Besatzung dem König ausgeliefert hatten, jetzt den Ver-
rath durch Verrath sühnend die epeirotische erschlugen; womit
die ganze Südküste in den Händen der Römer war mit Aus-
nahme von Rhegion und Tarent. Die Belagerung dieser Stadt
ward nicht einmal versucht; abgesehen davon, daſs in dem
durch Philipp von Makedonien und Demetrios den Belagerer
umgeschaffenen Festungskrieg die Römer gegen einen erfah-
renen und entschlossenen griechischen Commandanten im ent-
schiedensten Nachtheil waren, bedurfte es dazu einer starken
Flotte, und Karthagos Angelegenheiten standen in Sicilien
durchaus nicht so, daſs es diese hätte gewähren können. —
Pyrrhos Landung auf der Insel hatte mit einem Schlage die
Lage der Dinge verändert. Er hatte die Belagerung von Sy-
rakus sofort aufgehoben, alle freien Griechenstädte in kurzer
Zeit in seiner Hand vereinigt und als Haupt der sikeliotischen
Conföderation den Karthagern ihre sämmtlichen Besitzungen
entrissen bis auf Lilybaeon, wo sie und ebenso die Mamertiner
in Messana mit Mühe sich zu behaupten vermochten durch die
Hülfe ihrer damals auf dem Mittelmeer unbeschränkt herr-
schenden Seemacht. Unter solchen Umständen wäre in Ge-
mäſsheit des Vertrags von 475 viel eher Rom im Fall gewesen
den Karthagern auf Sicilien Beistand zu leisten als Karthago
mit seiner Flotte den Römern Tarent erobern zu helfen; über-
haupt aber war man eben von keiner Seite sehr geneigt dem
Bundesgenossen die Macht zu sichern oder gar zu erweitern.
Karthago hatte den Römern die Hülfe erst angeboten, als die
18*
[276]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
wesentliche Gefahr vorüber war; diese ihrerseits hatten nichts
gethan den Abzug des Königs aus Italien, den Sturz der kar-
thagischen Macht in Sicilien zu verhindern. Ja in offener
Verletzung der Verträge hatte Karthago dem König einen
Sonderfrieden angetragen, worin sie sich begnügten mit dem
Besitz von Lilybaeon und dem König Geld und Kriegsschiffe
zur Verfügung stellten, natürlich zur Ueberfahrt nach Italien
und zur Erneuerung des Krieges gegen Rom. Indeſs es war
einleuchtend, daſs mit dem Besitz von Lilybaeon und der
Entfernung des Königs die Stellung der Karthager auf der
Insel ungefähr dieselbe gewesen wäre wie vor Pyrrhos Lan-
dung; das verlorene Gebiet war leicht wieder gewonnen. So
schlug Pyrrhos den nach zwei Seiten hin perfiden Antrag aus
und beschäftigte sich mit der Ausrüstung einer Kriegsflotte.
Nur Unverstand und Kurzsichtigkeit haben dies später geta-
delt; es war vielmehr schlechterdings nothwendig und mit
den Mitteln der Insel leicht durchzuführen. Abgesehen davon,
daſs der Herr von Ambrakia, Tarent und Syrakus nicht ohne
Seemacht sein konnte, bedurfte er der Flotte um Lilybaeon zu
erobern, um Tarent zu schützen, um Karthago daheim anzu-
greifen, wie es Agathokles, Regulus, Scipio vor- und nachher
mit so groſsem Erfolg gethan. Nie stand Pyrrhos seinem
Ziele näher als im Sommer 478, wo er Karthago gedemüthigt
vor sich sah, Sicilien beherrschte und mit Tarents Besitz einen
festen Fuſs in Italien behauptete, und wo die neugeschaffene
Flotte, die alle diese Erfolge zusammenknüpfen, sichern und
steigern sollte, zur Abfahrt fertig im Hafen von Syrakus lag.


Die wesentliche Schwäche von Pyrrhos Stellung beruhte
auf seiner fehlerhaften inneren Politik. Er regierte Sicilien
wie er Ptolemaeos hatte in Aegypten herrschen sehen; er
respectirte die Gemeindeverfassungen nicht, setzte seine Ver-
trauten zu Amtleuten über die Städte wann und auf so lange
es ihm gefiel, gab zu Richtern anstatt der einheimischen Ge-
schworenen seine Hofleute, sprach Confiscationen, Verbannun-
gen, Todesurtheile nach Gutdünken aus, selbst über diejenigen,
die seine Ueberkunft nach Sicilien am lebhaftesten betrieben
hatten, legte Besatzungen in die Städte und beherrschte Sici-
lien nicht als der Führer des Nationalbundes, sondern als
König. Mochte er dabei nach orientalisch-hellenistischen Be-
griffen sich ein guter und weiser Regent zu sein dünken, so
ertrugen doch die Griechen mit aller Ungeduld einer in langer
Freiheitsagonie aller Zucht entwöhnten Nation diese Verpflan-
[277]KOENIG PYRRHOS.
zung des Diadochensystems nach Syrakus; sehr bald schien das
karthagische Joch dem thörichten Volk erträglicher als das
neue Soldatenregiment. Die bedeutendsten Städte knüpften
mit den Karthagern, ja mit den Mamertinern Verbindungen
an; ein starkes karthagisches Heer wagte wieder sich auf der
Insel zu zeigen und überall von den Griechen unterstützt,
machte es reiſsende Fortschritte. Zwar war in der Schlacht,
die Pyrrhos ihm lieferte, das Glück wie immer mit dem ‚Adler‘;
allein es hatte sich bei dieser Gelegenheit offenbart, wie die
Stimmung auf der Insel war und was kommen konnte, wenn
der König sich entfernte. — Zu diesem ersten und wesent-
lichsten Fehler beging Pyrrhos einen zweiten; er ging mit der
Flotte statt nach Lilybaeon nach Tarent. Augenscheinlich muſste
er, eben bei der Gährung in den Gemüthern der Sikelioten,
vor allen Dingen erst von dieser Insel die Karthager ganz
verdrängt und damit den Unzufriedenen den Rückhalt abge-
schnitten haben, ehe er nach Italien sich wenden konnte;
hier war nichts zu versäumen, denn Tarent war ihm sicher
genug und an den übrigen Bundesgenossen, nachdem sie ein-
mal aufgegeben waren, jetzt wenig gelegen. Es ist begreiflich,
daſs sein Soldatensinn ihn trieb den nicht sehr ehrenvollen
Abzug vom Jahre 476 durch eine glänzende Wiederkehr aus-
zutilgen und daſs ihm das Herz blutete, wenn er die Klagen
der Lucaner und Samniten vernahm. Allein Aufgaben, wie
sie Pyrrhos sich gestellt hatte, können nur gelöst werden von
eisernen Naturen, die das Mitleid und selbst das Ehrgefühl
zu beherrschen vermögen; und eine solche war Pyrrhos nicht.


Die verhängniſsvolle Einschiffung fand statt gegen das
Ende des Jahres 478. Unterwegs hatte die neue syrakusani-
sche Flotte mit der karthagischen ein heftiges Gefecht zu be-
stehen, worin jene eine beträchtliche Anzahl Schiffe einbüſste.
Die Kunde von diesem ersten Unfall genügte zum Sturz des
sikeliotischen Reiches; auf sie hin weigerten alle Städte dem
König Geld und Truppen und der glänzende Staat brach
zusammen so schnell wie er entstanden war, theils weil
der König selbst die Treue und Liebe, auf der jeder Staat
ruht, in den Herzen seiner Unterthanen untergraben hatte,
theils weil es dem Volk an der Hingebung fehlte zur Rettung
der Nationalität auf kurze Zeit der Freiheit zu entsagen. Da-
mit war Pyrrhos Unternehmen gescheitert, der Plan seines
Lebens ohne Aussicht dahin; er ist fortan ein Abenteurer, der
es fühlt was er gewesen und was er jetzt ist, der den Krieg
[278]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
nicht mehr als Mittel zum Zwecke führt, sondern um im
wilden Würfelspiel sich zu betäuben und wo möglich im
Schlachtgetümmel einen Soldatentod zu finden. An der ita-
lischen Küste angelangt begann der König mit einem Versuch
sich Rhegions zu bemächtigen; aber die Campaner erwehrten
sich seiner mit Hülfe der Mamertiner und der König ward in
dem hitzigen Gefecht vor der Stadt selbst verwundet, indem
er einen feindlichen Offizier vom Pferde hieb. Dagegen über-
rumpelte er Lokri, dessen Einwohner die Niedermetzelung der
epeirotischen Besatzung schwer büſsten, und plünderte den
reichen Schatz des Persephonetempels daselbst, um seine leere
Kasse zu füllen. So gelangte er nach Tarent, angeblich mit
20000 Mann zu Fuſs und 3000 Reitern. Aber es waren nicht
mehr die erprobten Veteranen von vordem und nicht mehr be-
grüſsten die Italiker in ihnen ihre Retter; das Vertrauen und die
Hoffnung, damit man den König fünf Jahre zuvor empfing, waren
gewichen, den Verbündeten Geld und Mannschaft ausgegangen.
Den schwer bedrängten Samniten, in deren Gebiet die Römer
478/9 überwintert hatten, zu Hülfe rückte der König im Frühjahr
479 ins Feld und zwang bei Benevent auf dem arusinischen
Felde den Consul Manius Curius zur Schlacht, bevor er sich
mit seinem von Lucanien heranrückenden Collegen vereinigen
konnte. Aber ein Versuch durch einen Nachtmarsch den
Römern ein Corps in die Flanke zu werfen schlug fehl, da
dasselbe sich in den Wäldern verirrte; und nach heftigem
Kampf in der Ebene entschieden auch hier wieder die Ele-
phanten die Schlacht, aber diesmal für die Römer, indem sie,
von den zur Bedeckung des Lagers aufgestellten Schützen in
Verwirrung gebracht, auf ihre eigenen Leute sich warfen. Die
Sieger besetzten das Lager; 1300 Gefangene fielen in ihre
Hände und vier Elephanten — die ersten, die Rom sah,
auſserdem eine unermeſsliche Beute, aus deren Erlös später
in Rom eine gewaltige Wasserleitung gebaut ward. Ohne Geld
und ohne Truppen um das Feld zu halten sandte Pyrrhos an
seine Verbündeten, die ihm zur Ausrüstung nach Italien ge-
steuert hatten, die Könige von Makedonien und Asien; aber man
fürchtete ihn auch in der Heimath nicht mehr und schlug die
Bitte ab. Verzweifelnd an dem Erfolg gegen Rom und er-
bittert durch diese Weigerungen lieſs Pyrrhos Besatzung in
Tarent und ging selber noch im selben Jahre (479) heim
nach Griechenland, wo dem verzweifelten Spieler eher noch
sich eine Aussicht bot als bei dem stetigen und gemessenen
[279]KOENIG PYRRHOS.
Gang der italischen Verhältnisse. In der That gewann er
nicht bloſs schnell zurück was von seinem Reiche war abge-
rissen worden, sondern er griff noch einmal und nicht ohne
Erfolg nach der makedonischen Krone. Allein an Antigonos
Gonatas ruhiger und umsichtiger Politik und mehr noch an
seinem eigenen Ungestüm und der Unfähigkeit den stolzen
Sinn zu zähmen scheiterten seine letzten Pläne; er gewann
noch Schlachten, aber keinen Erfolg mehr und verlor Herr-
schaft und Leben in einem elenden Straſsengefecht im pelo-
ponnesischen Argos (482).


In Italien ist der Kampf zu Ende mit der Schlacht bei
Benevent; langsam verenden die letzten Zuckungen der itali-
schen Nationalpartei. Zwar so lange der Held, dessen mäch-
tiger Arm es gewagt hatte dem Schicksal in die Zügel zu
fallen, noch unter den Lebenden war, hielt er, wenn gleich
abwesend, gegen Rom die feste Burg von Tarent. Mochte
auch die tarentinische Friedenspartei nach des Königs Ent-
fernung in der Stadt die Oberhand gewinnen, Milon, der für
Pyrrhos darin den Befehl führte, wies ihre Anmuthungen ab
und lieſs die römisch gesinnten Städter in dem Castell, das
sie im Gebiet von Tarent sich errichtet hatten, auf ihre eigene
Hand Frieden schlieſsen mit Rom, wie es ihnen beliebte, ohne
darum seine Thore zu öffnen. Aber als Pyrrhos todt war und
Milon die Bürgerschaft im Begriff sah die Stadt auszuliefern
an die Karthager, die schon mit einer Flotte im Hafen lagen,
zog er es vor dem römischen Consul Lucius Papirius die Burg
zu übergeben (482) und damit für sich und die Seinigen
freien Abzug zu erkaufen — ein ungeheurer Glücksfall für
die Römer, denn nach den Erfahrungen, die Philipp vor Pe-
rinth und Byzanz, Demetrios vor Rhodos, Pyrrhos vor Lily-
baeon gemacht hatten, lieſs sich bezweifeln, ob die damalige
Strategik überhaupt im Stande war eine regelmäſsig befestigte
und von der See her zugängliche Stadt zur Uebergabe zu
zwingen; und was hätte kommen mögen, wenn die Punier in
Tarent sich gegen die Römer hielten wie in Lilybaeon gegen
die Griechen! Nachdem die Uebergabe geschehen war, fuhren
die Karthager heim unter dem Vorgeben, daſs sie den Römern
hätten zur Hülfe kommen wollen; was sie nachher, als eine
römische Gesandtschaft Beschwerde zu führen in Karthago
erschien, mit feierlichen Eiden zu bekräftigen sich nicht
scheuten. Die Tarentiner erhielten, vermuthlich durch Ver-
mittelung ihrer Emigrirten, die Autonomie zurück; aber Waf-
[280]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
fen und Schiffe muſsten ausgeliefert und die Mauern nieder-
gerissen werden. In demselben Jahre unterwarfen sich endlich
auch die Samniten, Lucaner und Brettier, welche letztere die
Hälfte des einträglichen und für den Schiffbau wichtigen Si-
lawaldes abtreten muſsten. Es versteht sich, daſs alle diese
Staaten unter der Form eines ewigen Bündnisses, wobei die
Römer die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten sich vor-
behielten, ihre politische Selbstständigkeit nach auſsen hin
verloren und factisch Unterthanen der Römer wurden. —
Endlich traf auch die seit zehn Jahren in Rhegion hausende
Bande die wohlverdiente Strafe für den Mord der rheginischen
Bürger und der Besatzung von Kroton; es war wieder Rom,
das die Rache für die Hellenen übernahm, unter Beistand des
neuen Herrn von Syrakus Hieron, der nicht bloſs Zuzug und
Lebensmittel sandte, sondern auch gleichzeitig auf die Schuld-
genossen der rheginischen Besatzung, die Mamertiner einen
Angriff machte. Trotz des hartnäckigsten Widerstandes der
Meuterer wurde Rhegion nach langer Belagerung genommen
(484), was von der Besatzung übrig war, in Rom auf offenem
Markte gestäupt und enthauptet, die alten Einwohner aber so
viel möglich in ihr Vermögen wieder eingewiesen. So war im
Jahre 484 ganz Italien zur Ruhe und zur Unterthänigkeit ge-
bracht. Nur die Samniten, die hartnäckigsten Gegner Roms,
setzten trotz des officiellen Friedensschlusses noch als ‚Räu-
ber‘ den Kampf fort, so daſs sogar im Jahre 485 man
noch einmal beide Consuln gegen sie schicken muſste. Aber
auch der hochherzigste Volksmuth, die tapferste Verzweif-
lung gehen einmal zu Ende; Schwert und Galgen brachten
endlich auch den samnitischen Bergen den Frieden. —
Zur Sicherung dieser ungeheuren Erwerbungen wurde wie-
derum eine Reihe von Colonien angelegt: in Lucanien Pae-
stum und Cosa (481), als Zwingburgen für Samnium Bene-
ventum (486) und Aesernia (um 491), als Vorposten ge-
gen die Gallier Ariminum (486), in Picenum Firmum (um
490) und die Bürgercolonie Castrum novum; die Colonisirung
des wichtigen Hafenplatzes Brundisium, der Tarent zu ersetzen
bestimmt war, wurde vorbereitet. Die Gründung dieser Co-
lonien erforderte noch einige Kriege mit den kleinen Völker-
schaften, deren Gebiet durch diese Anlagen geschmälert ward,
den Picentern (485. 486), von denen eine Anzahl in die Ge-
gend von Salernum verpflanzt ward, den Sallentinern (487.
488), den umbrischen Sassinaten (487. 488), welche letzte
[281]KOENIG PYRRHOS.
nach der Austreibung der Senonen das Gebiet von Ariminum
besetzt zu haben scheinen. Der Zweck dieser Gründungen
war theils die Sicherung des adriatischen Littorals, haupt-
sächlich wohl gegen Makedonien und Epeiros, womit es auch
zusammenhängt, daſs mit Apollonia, einer der griechischen Han-
delsstädte im epeirotischen Gebiet Vertrag und Bündniſs gemacht
ward; theils die Sicherung Unteritaliens, wo hauptsächlich
das Binnenland besetzt ward, während man die minder ge-
fährdete Südküste gleich der campanischen durch Begünstigung
der griechischen Städte, namentlich von Rhegion, Lokri, Thurii,
Herakleia für Rom zu sichern sich begnügte. Zu demselben
Zweck wurden ferner noch seit 487 vier neue Beamte ernannt,
die Flottenquästoren (quaestores classici), deren Aufgabe theils
die Sicherung der Küste und die Bildung einer Kriegsmarine
war, theils die Erhebung der Einkünfte von den neu gewon-
nenen Domänen und die Oberaufsicht über den von den
neuen Bundesgenossen zu leistenden Zuzug. Von diesen vier
Quästoren hatte der erste seinen Sitz in dem vornehmsten
Hafen Roms, in Ostia; der zweite residirte in Cales und beauf-
sichtigte die Häfen von Misenum und Brundisium; der dritte
die wichtige Seestation Ariminum; der Sitz des vierten ist
nicht bekannt. — Diesen militärischen Maſsregeln zur Siche-
rung der Herrschaft über Italien ging zur Seite die sorgfäl-
tigste Ueberwachung und Fortbildung der politischen Institu-
tionen. Die römische Vollbürgerschaft ward erweitert durch
die Aufnahme der den Römern nah verwandten und damals
wohl schon im Wesentlichen latinisirten Sabiner, nachdem
deren Treue in dem letzten Krieg sich erprobt hatte (486).
In ähnlicher Weise scheinen um dieselbe Zeit eine Anzahl
Gemeinden im südlichen Latium aus dem Unterthanen- in
das Bürgerverhältniſs eingetreten zu sein, so daſs seitdem
auſser dem altrömischen das ehemalige sabinische Gebiet
und ein groſser Theil der Gemeinden Latiums so wie eine
Anzahl italischer Küstenstädte eine Bürgerbevölkerung hatten.
Ihnen zunächst standen die latinischen Gemeinden, unter
denen noch einige wenige altlatinische sich befanden, wäh-
rend bei weitem die gröſsere Zahl bestand aus den von Rom
aus gegründeten und durch ganz Italien zerstreuten Festungen.
Daſs diese durch Sprach-, Rechts- und Sittengemeinschaft an
Rom geknüpften Gemeinden, die kleinen Tyrannen der um-
liegenden Landschaft, an Rom hielten wie die Vorposten an
der Hauptarmee, ist begreiflich. Durch die Latinerstädte ward
[282]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
Italien von Rom beherrscht, während jenen selbst nicht bloſs
groſse materielle und politische Vortheile aus ihrer Stellung
zu Rom zuflossen, sondern auch einem jeden ihrer Bürger
die zwischen Rom und Latium bestehende Freizügigkeit die
Gewinnung des Bürgerrechts in der herrschenden Gemeinde
möglich machte. Freilich nachdem der Zweck erreicht war,
verspürten es auch die Latiner, daſs Rom ihrer nicht mehr
so wie bisher bedurfte; es wird im folgenden Buch darzu-
stellen sein, wie für die seit 486, daſs heiſst seit der voll-
ständigen Unterwerfung Italiens, gegründeten Städte das freie
Zugrecht beschränkt ward. — Neben den beiden Klassen der
herrschenden Nation, den römischen Vollbürgern und den La-
tinern, standen die Unterthanen, theils als Communen römi-
scher Bürger ohne Stimmrecht, wie zum Beispiel Caere und
Capua, theils als Bundesstaaten mit vertragsmäſsig festge-
stellten mehr oder minder geschmälerten Rechten. Für die
Treue dieser Unterthanen bürgte im Wesentlichen allerdings
die Furcht; allein der Senat war zu staatsklug sich allein
darauf zu verlassen. Es ward von Rom aus dafür gesorgt,
daſs in jeder Stadt eine römische Partei entstand. Zu dem
Ende wurde das demokratische Regiment wo es bestand
geändert und die vermöglichen und angesehenen Leute, die
zu gewinnen oder zu schrecken waren, überall ans Ruder
gebracht. Ein merkwürdiges Exempel in dieser Art ward
489 an Volsinii statuirt. Die Partei der Altbürger, die
in Volsinii ähnlich wie in Rom auf gesetzlichem Wege
ihre Sonderrechte eingebüſst haben muſs, wandte sich
nach Rom um Wiederherstellung der alten Verfassung; wor-
auf die Bürgerschaft, hievon in Kunde gesetzt, die Landesver-
räther zur gerechten Strafe zog. Allein der römische Senat
nahm Partei für die Altbürger und da die Bürgerschaft sich
nicht gutwillig fügte, wurden Truppen gesandt um die in an-
erkannter Wirksamkeit stehende Verfassung von Volsinii zu
zerreiſsen. Die Zerstörung der alten Hauptstadt Etruriens
bewies den Italikern, daſs sie nicht bloſs die politische Selbst-
ständigkeit eingebüſst hatten, sondern auch die communale.
— In welchem numerischen Verhältniſs diese vier politischen
Klassen der Bewohner Italiens zu einander standen, ist nicht
mehr auch nur annähernd zu ermitteln *; wohl aber erkennen
[283]KOENIG PYRRHOS.
wir, daſs Rom die doppelte Klippe vermied die militärischen
Kräfte seiner Bundesgenossen und Unterthanen entweder un-
genutzt zu lassen oder sie so zu nutzen, daſs die herrschende
Gemeinde von den beherrschten abhängig ward. Im Ganzen
pflegte bei jedem römischen Heer die Zahl der Bürger und die
der Bundesgenossen gleich zu sein, wo denn allerdings wohl
jene bei der Aushebung stärker in Anspruch genommen wer-
den muſsten. Unter den Bundesgenossen wurden die latini-
schen Gemeinden vorzugsweise angezogen, damit die herr-
schende Nation überall im Heer das Uebergewicht habe. Die
kostspieligsten Dienstgattungen wurden dagegen vorzugsweise
den Unterthanen überwiesen; so lag die Unterhaltung und Be-
mannung der Kriegsmarine vorwiegend den griechischen Städten
*
[284]ZWEITES BUCH. KAPITEL VII.
ob und zur Reiterei pflegten die Bundesgenossen in stärkerem
— in späterer Zeit in dreifach stärkerem — Verhältniſs als
die Römer beigezogen zu werden. Mit allen Mitteln ward
dahin gewirkt, daſs die Bundestruppen nicht dazu gelangten
als gröſsere militärische Einheiten unter einheimischen Füh-
rern den Römern gefährlich werden zu können; die einzelnen
Zuzüge wurden deſshalb nicht in besondere Corps vereinigt,
sondern in kleineren Abtheilungen den römischen Legionen
attachirt und die Abtheilungscommandanten von den Römern
bestellt, zu den höheren Offizierstellen aber ausschlieſslich
Römer genommen. — So die einzelnen Städte und Gaue
Italiens durch ebenso künstlich wie groſsartig geschlungene
Ketten vereinigend vermochte es die römische Gemeinde
als Herrin von Italien eine Groſsmacht zu werden, die
ebenbürtig eintrat in das System der Staaten des Mittel-
meers, aus denen die letzten Kriege eine Reihe von Mittel-
staaten, namentlich Tarent, Samnium und Lucanien, ausge-
strichen hatten. Gleichsam die officielle Anerkennung empfing
Rom in seiner neuen Stellung durch die beiden feierlichen
Gesandtschaften, die im Jahre 481 von Alexandreia nach Rom
und wieder von Rom nach Alexandreia gingen, und wenn sie
auch zunächst nur die Handelsbeziehungen regelten, doch ohne
Zweifel schon eine politische Verbündung vorbereiteten. Wie
Karthago mit der ägyptischen Regierung um Kyrene rang, mit
der römischen um Sicilien bald ringen sollte, so stritt Make-
donien mit jener um den bestimmenden Einfluſs in Griechen-
land, mit dieser demnächst um die Herrschaft der adriatischen
Küsten; es konnte nicht fehlen, daſs die neuen Kämpfe, die
allerseits sich vorbereiteten, in einander eingriffen und daſs
Rom nach Ueberwindung Italiens in den weiten Kreis hinein-
gezogen ward, den des groſsen Alexanders Siege und Entwürfe
seinen Nachfolgern zum Tummelplatz abgesteckt hatten.


[[285]]

KAPITEL VIII.



Innere Verhältnisse.


Wenn von der Entwicklung der Verfassungen, von den
Völkerkämpfen um Herrschaft oder Freiheit, wie sie Italien
und insbesondere Rom von der Verbannung des tarquinischen
Geschlechts bis zur Ueberwältigung der Samniten und der
italischen Griechen bewegten, sich der Blick wendet zu den
stilleren Kreisen des menschlichen Daseins, die die Geschichte
doch auch beherrscht und durchdringt, so begegnet ihm auch
hier überall die Nachwirkung der groſsartigen Ereignisse, durch
welche die Fesseln des Geschlechterregiments gesprengt wur-
den und eine reiche Fülle nationaler Bildungen untergehen
muſste um ein Volk zu bereichern. Darf auch der Geschicht-
schreiber es nicht einmal versuchen den groſsen Gang der
Ereignisse in die grenzenlose Mannichfaltigkeit der individuel-
len Gestaltung hinein zu verfolgen, so überschreitet er doch
seine Aufgabe nicht, wenn er aus der zertrümmerten Ueber-
lieferung einzelne Bruchstücke ergreifend hindeutet auf die
wichtigsten Aenderungen, die in dieser Epoche im italischen
Volksleben stattgefunden haben. Wenn dabei noch mehr als
früher das römische in den Vordergrund tritt, so ist dies
nicht bloſs in den zufälligen Lücken unsrer Ueberlieferung
begründet; vielmehr ist es eine wesentliche Folge der verän-
derten politischen Stellung Roms, daſs die latinische Nationali-
tät die übrigen italischen zu verdunkeln beginnt. Unter Latiums
Einfluſs beginnen die Nachbarländer, das südliche Etrurien, die
Sabina, das Volskerland, ja selbst Campanien sich in dieser
[286]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Epoche zu romanisiren, wovon der fast gänzliche Mangel von
Sprachdenkmälern der alten Landesdialecte und das Vorkom-
men sehr alter römischer Inschriften in diesen Gegenden
Zeugniſs ablegt. Die zahlreichen Einzelassignationen und Co-
lonialgründungen in ganz Italien sind nicht bloſs militärisch,
sondern auch sprachlich und national die vorgeschobenen Po-
sten des latinischen Stammes. Zwar war die Latinisirung
Italiens schwerlich schon damals Ziel der römischen Politik;
es ist im Gegentheil viel wahrscheinlicher, daſs man den Ge-
gensatz gegen die übrigen Nationalitäten absichtlich aufrecht
hielt und es scheint zum Beispiel die Einführung des Lateini-
schen in den officiellen Sprachgebrauch den von Rom ab-
hängigen Gemeinden keineswegs unbedingt gestattet gewesen
zu sein. Indeſs konnte es nicht fehlen, daſs nicht mit dem
latinischen Volke auch dessen Sprache und Sitte in Italien
zunächst das Principat gewann und anfing die übrigen itali-
schen Nationalitäten zu untergraben. — Gleichzeitig wurden
dieselben angegriffen von einer anderen Seite und mit einem
anders begründeten Uebergewicht durch den Hellenismus. Es
war dies die Epoche, wo das Griechenthum seiner geistigen
Ueberlegenheit über die übrigen Nationen anfing sich bewuſst
zu werden und nach allen Seiten hin Propaganda zu machen.
Auch Italien blieb davon nicht unberührt. Die merkwürdigste
Erscheinung in dieser Art bietet Apulien, das seit dem fünften
Jahrhundert Roms allmählich seine barbarische Mundart ab-
legte und sich im Stillen hellenisirte. Es erfolgte dies ähn-
lich wie in Makedonien und Epeiros nicht durch Colonisirung,
sondern durch Civilisirung, die mit dem tarentinischen Land-
handel Hand in Hand gegangen zu sein scheint — wenigstens
erklärt es sich bei dieser Annahme, daſs die den Tarentinern
befreundeten Landschaften der Poediculer und Daunier die
Hellenisirung vollständiger durchführten als die Tarent näher
wohnenden, aber beständig mit ihm hadernden Sallentiner,
und daſs die am frühesten graecisirten Städte, zum Beispiel
Arpi nicht an der Küste gelegen waren. Daſs auf Apulien
das griechische Wesen stärkeren Einfluſs übte als irgendwo
sonst, erklärt sich theils aus seiner Lage, theils aus der ge-
ringen Entwicklung einer eigenen nationalen Bildung, theils
wohl auch aus seiner dem griechischen Stamm minder fremd
als die übrigen italischen gegenüberstehenden Nationalität.
Indeſs einzeln steht diese Erscheinung keineswegs; vielmehr ist
schon früher (S. 226) darauf aufmerksam gemacht worden,
[287]INNERE VERHAELTNISSE.
daſs die südlichen sabellischen Stämme, obwohl sie im Verein
mit den syrakusanischen Tyrannen zunächst das hellenische
Wesen in Groſsgriechenland verdarben und knickten, doch
zugleich durch die Berührung und Mischung mit den Griechen
theils griechische Sprache neben der einheimischen annahmen,
wie die Brettier und Nolaner, theils wenigstens griechische
Schrift und griechische Sitte, wie die Lucaner und ein Theil
der Campaner. Sogar das entfernte Etrurien zeigt die Ansätze
einer verwandten Entwicklung in den bemerkenswerthen dieser
Epoche angehörenden Vasenfunden (S. 131), in denen es mit
Campanien und Lucanien rivalisirt; und wenn auch Latium
und Samnium dem Hellenismus ferner geblieben sind, so fehlt
es doch auch hier nicht an Spuren des beginnenden und immer
steigenden Einflusses griechischer Bildung. In allen Zweigen
der römischen Entwicklung dieser Epoche, in Gesetzgebung
und Münzwesen, in der Religion, ja in der Bildung der Stamm-
sage begegnen wir griechischen Spuren; namentlich seit dem
Anfang des fünften Jahrhunderts aber, das heiſst seit der
Eroberung Campaniens scheint der griechische Einfluſs sich
in weiteren Kreisen geltend gemacht zu haben. In diese Zeit
fällt die Einrichtung der auch sprachlich merkwürdigen Graeco-
stasis, einer Tribüne auf dem römischen Markt für die vor-
nehmen griechischen Fremden, zunächst die Massalioten (S.
293). Die Jahrbücher weisen schon als Beinamen vornehmer
Römer die griechischen Namen Philippos oder römisch Pili-
pus, Philo, Sophos, Hypsaeos. Griechische Sitten dringen
ein; so der nicht italische Gebrauch Inschriften zur Ehre des
Todten auf dem Grabmal anzubringen, wovon die Grabschrift
des Lucius Scipio Consul 456 das älteste uns bekannte Bei-
spiel ist; so die gleichfalls den Italikern fremde Weise ohne
Staatsbeschluſs an öffentlichen Orten Ehrendenkmäler den Vor-
fahren zu errichten, womit der groſse Neuerer Appius Claudius
den Anfang machte, als er in dem neuen Tempel der Bellona
Erzschilder mit den Bildern und den Elogien seiner Vorfah-
ren aufhängte (442); so das Darbringen der Palmzweige bei
dem Triumph, das zuerst 461 vorkam. Charakteristisch ist
die Errichtung der Bildsäulen des tapfersten und des weisesten
Griechen auf dem römischen Markt, die während der sam-
nitischen Kriege auf Geheiſs des pythischen Apollon stattfand;
man wählte den Pythagoras und den Alkibiades, jener der
Heiland, dieser der Hannibal der Westhellenen. Wie verbrei-
tet die Kenntniſs des Griechischen schon im fünften Jahr-
[288]ZWEITES BUCH KAPITEL VIII.
hundert unter den vornehmen Römern war, beweisen die Ge-
sandtschaften der Römer nach Tarent, wo der Redner der
Römer wenn auch nicht im reinsten Griechisch doch ohne
Dollmetsch sprach, und des Kineas nach Rom. Die Wahrheit
des Berichts, daſs in älteren Zeiten die römischen Vornehmen
ihre Kinder in Etrurien erziehen lieſsen, mag dahingestellt
bleiben* das aber leidet kaum einen Zweifel, daſs seit dem
fünften Jahrhundert die jungen Römer, die sich den Staats-
geschäften widmeten, durchgängig die Kunde der damaligen
Welt- und Diplomatensprache sich erwarben. — So schritt
auf dem geistigen Gebiet der Hellenismus ebenso unaufhaltsam
vorwärts wie der Römer arbeitete die Erde sich unterthänig
zu machen und die kleineren Nationalitäten, wie die samni-
tische, keltische, etruskische, verloren von zwei Seiten her
bedrängt immer mehr an Ausdehnung wie an innerer Kraft.


Ueber die Entwicklung der Rechtsgrundsätze und der
Rechtspflege in der römischen Gemeinde ist wenig zu sagen,
da die wesentlichen Grundlagen beibehalten wurden, wie sie
in der Königszeit sich festgestellt hatten, die Veränderungen
aber mit der Beschränkung der Beamtengewalt und den Stän-
dekämpfen eng zusammenhängen und in deren Darstellung
schon angedeutet worden sind. Vor allem gehört hierher die
Aufzeichnung des Landrechts und die Verpflichtung der recht-
sprechenden Beamten auf den geschriebenen Buchstaben anstatt
des schwerer zu ermittelnden Herkommens (S. 303. 304). Daſs
das wesentlich Neue hiebei eben die Aufzeichnung des Weis-
thums war, ward gleichfalls schon bemerkt (S.183); doch leidet
es keinen Zweifel, daſs nicht wenige Bestimmungen neu waren
und den Zweck hatten nützliche Institutionen zu begründen
oder Miſsstände zu heben. Dahin gehören wohl ohne Zweifel
die Polizeigesetze, welche die Begräbniſsgelage und die Klag-
weiber verbieten und der Verschwendung bei Bestattungen
in dem Gebrauch von Purpurtüchern, Flötenbläsern und der-
gleichen eine Grenze setzten — zugleich merkwürdige Zeugnisse
[289]INNERE VERHAELTNISSE.
für den hohen Culturstand, den die römische Nation damals
schon erreicht hatte. Eben dahin sind verschiedene Bestim-
mungen zu rechnen, die den solonischen Gesetzen geradezu
nachgebildet sind: die Sicherung des freien Associationsrechts
und der Autonomie der so entstandenen Vereine; die Vorschrift
über die Grenzstreifen, die das Abpflügen erschwerte; die Mil-
derung der Strafe des Diebstahls, indem der nicht auf frischer
That ertappte Dieb sich fortan lösen konnte durch Leistung des
doppelten Ersatzes. Die furchtbar absolute väterliche Gewalt
wurde beschränkt durch die Vorschrift, daſs der dreimal vom
Vater verkaufte Sohn nicht mehr in dessen Gewalt zurück-
fallen, sondern fortan frei sein solle; woran später durch eine
streng genommen dem Geist des römischen Rechts zuwider-
laufende Rechtsdeduction die Möglichkeit angeknüpft ward,
daſs sich der Vater freiwillig der Herrschaft über den Sohn
begebe durch Emancipation. Das Schuldrecht ward in ähn-
lichem Sinn, jedoch erst über ein Jahrhundert nachher, durch
das poetelische Gesetz gemildert (S. 195). Die freie Bestim-
mung endlich über das Vermögen, die dem Herrn desselben bei
Lebzeiten schon nach ältestem römischem Recht zugestanden
hatte, aber für den Todesfall bisher geknüpft gewesen war
an die Einwilligung der Gemeinde, wurde auch von dieser
Schranke befreit, indem das Zwölftafelgesetz den Privattesta-
menten dieselbe Kraft beilegte, welche den in den Curien
bestätigten zukam; es war dies ein wichtiger Schritt zur
Sprengung der Geschlechtsgenossenschaften und zur völligen
Durchführung der Individualfreiheit im Vermögensrecht. —
Durchgreifendere Aenderungen als das Recht selbst erlitt die
politisch wichtigere und überhaupt veränderlichere Rechts-
pflegeordnung. In dem Civilverfahren, welches indeſs nach
den Begriffen dieser Zeit die meisten gegen Mitbürger began-
genen Verbrechen einschloſs, wurde die wohl schon früher
übliche Theilung des Verfahrens in Feststellung der Rechts-
frage vor dem Magistrat (ius) und Entscheidung derselben
durch einen vom Magistrat ernannten Privatmann (iudicium)
mit Abschaffung des Königthums gesetzliche Vorschrift (S.161);
und dieser Trennung hat das römische Privatrecht seine logi-
sche und praktische Schärfe und Bestimmtheit zu verdanken*.
Röm. Gesch. I. 19
[290]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Ferner ward die im Eigenthumsprozeſs bisher der unbeding-
ten Willkür des Beamten anheimgegebene Entscheidung über
den Besitzstand allmählich rechtlichen Regeln unterworfen und
neben dem Eigenthums- das Besitzrecht festgestellt, wodurch
abermals die Magistratsgewalt einen wichtigen Theil ihrer
Macht einbüſste. Gleichzeitig ward das römische Criminal-
verfahren geordnet, indem das Volksgericht, die bisherige
Gnaden- zur rechtlich gesicherten Appellationsinstanz ward.
War der Angeklagte vom Beamten verurtheilt und berief sich
auf das Volk, so wurde in drei Gemeindeversammlungen die
Sache verhandelt, indem der urtheilende Beamte seinen Spruch
rechtfertigte und so der Sache nach als öffentlicher Ankläger
auftrat; im vierten Termin erst fand die Umfrage (anquisitio)
statt, indem das Volk das Urtheil bestätigte oder verwarf.
Milderung war nicht gestattet. Indem also theils das Crimi-
nalurtheil letzter Instanz gefunden ward in denselben Formen
und von denselben Organen, die für die Gesetzgebung be-
standen, und den Stempel seines Ursprungs aus dem Gnaden-
verfahren niemals verleugnete, theils die aus den Ständekäm-
pfen hervorgegangene concurrirende Jurisdiction erster Instanz
sämmtlicher höherer Magistrate in Criminalprozessen (S. 176)
den Mangel einer festen Instructionsbehörde nach sich zog, ward
das römische Criminalverfahren vollständig grundsatzlos und
zerrüttet und auf gesetzlichem Wege zum Spielball und Werk-
zeug der politischen Parteien herabgewürdigt; was um so
weniger entschuldigt werden kann, als dies Verfahren zwar
vorzugsweise für eigentliche politische Verbrechen eingeführt,
aber doch auch für andere, zum Beispiel Mord und Wucher
anwendbar war. Dazu kam die Schwerfälligkeit jenes Ver-
*
[291]INNERE VERHAELTNISSE.
fahrens, welche mit verschuldet hat, daſs man sich gewöhnte
ein summarisches Criminal- oder vielmehr Polizeiverfahren
gegen Sclaven und geringe Leute neben jenem förmlichen zu
dulden. Auch hier überschritt der leidenschaftliche Streit um
die politischen Prozesse die natürlichen Grenzen und führte
Institutionen herbei, die wesentlich dazu beigetragen haben
die Römer allmählich von der Idee einer festen sittlichen
Rechtsordnung zu entwöhnen.


Noch weniger sind wir im Stande die Weiterbildung der
römischen Religionsvorstellungen in dieser Epoche zu verfolgen,
die im Allgemeinen einfach festhielt an der einfachen Fröm-
migkeit der Ahnen, gleich weit entfernt vom Aber- wie vom
Unglauben. Die Beziehungen zum Ausland bestehen fort in
der alten Weise. Der delphische Apoll wird beschickt wie
es üblich ist bei allen unter dem Einfluſs griechischer Cultur
stehenden Völkern und erhält nach besonderen Erfolgen, wie
nach der Eroberung von Veii den Zehnten der Beute (360);
ja es wird ihm ein Tempel in der Stadt gebaut (323, er-
neuert 401) und ebenso gegen das Ende dieser Periode dem
von Epidauros im Peloponnes erbetenen und feierlich nach
Rom geführten Asklapios oder Acsculap (463). Einzeln wird
in schweren Zeitläuften Klage vernommen über das Eindringen
ausländischen Aberglaubens, vermuthlich etruskischer Haruspi-
cin (so 326); wo aber dann die Polizei nicht ermangelt ein
billiges Einsehen zu thun. In Etrurien dagegen wird, wäh-
rend die Nation in politischer Nichtigkeit und träger Opu-
lenz stockte und verdarb, der stumpfsinnige Fatalismus, die
wüste und sinnlose Mystik, die Zeichendeuterei und das Bettel-
prophetenwesen sich allmählich zu jener Höhe entwickelt ha-
ben, auf der wir sie später dort finden. — In dem Priester-
wesen traten unsers Wissens durchgreifende Veränderungen
nicht ein. Unter den üblen Folgen des Ständehaders ist es
schon angeführt worden, daſs man den Collegien der Sach-
verständigen einen gröſseren Einfluſs einzuräumen begann und
sich ihrer bediente um politische Acte zu cassiren (S.190), wo-
durch theils der Glaube im Volke erschüttert, theils den Pfaf-
fen ein sehr schädlicher Einfluſs auf die öffentlichen Geschäfte
zugestanden ward.


Daſs der Ackerbau, namentlich der mittlere Grundbesitz
auch in dieser Periode die Grundlage aller politischen und
socialen Verhältnisse des römischen Staates blieb, bedarf kei-
ner Bemerkung; in dem blühenden Zustand der römischen
19*
[292]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Bauerwirthschaften erkannte Pyrrhos scharfer Blick den Grund
des politischen und militärischen Uebergewichts der Römer.
Aus den römischen Bauern bestand die Volksversammlung wie
das Heer und sie waren es, die in die Colonien geführt mit
dem Pfluge sicherten, was sie mit dem Schwert gewonnen
hatten. Die Geschichte dieses Standes ist die innere Ge-
schichte Roms; es ist schon dargestellt worden, welche ge-
fährliche Krisen dessen Verschuldung im dritten und vierten
Jahrhundert herbeiführte, bis mit den entscheidenden politi-
schen Erfolgen Roms theils die Assignationen, Colonisirungen
und Incorporationen den Bauernstand wieder vermehrten, theils
das Sinken des Zinsfuſses und die steigende städtische Entwick-
lung der Hauptstadt dem latinischen Ackerbauer durch billiges
Geld und hohe Kornpreise aufhalfen. — Freilich vermehrte
neben der ansässigen Bevölkerung sich auch die nichtbe-
sitzende und vermuthlich in noch stärkerem Verhältniſs. Schon
im fünften Jahrhundert waren die Fleischerscharren am Markte
den Läden der Geldwechsler gewichen und zog sich zu bei-
den Seiten desselben eine Reihe glänzender Kaufhallen hin.
Es konnte nicht fehlen, daſs in einer Stadt wie Rom auch
städtischer Luxus allmählich erblühte und die Zahl der diesem
dienstbaren Leute schnell anwuchs; namentlich durch die
steigende Zahl der Sclaven, wovon die sehr ernsthafte Sclaven-
verschwörung des Jahres 335 Zeugniſs giebt, und die dadurch
veranlaſste Vermehrung der Freigelassenen, die unbequem zu
werden anfing, wie man schlieſsen kann aus der im Jahre
397 auf die Freilassungen gelegten Steuer von 5 Procent des
Werthes der Sclaven und aus der Beschränkung der politi-
schen Rechte der Freigelassenen durch die Censur des Jahres
450. Nur wenige derselben werden dem Ackerbau sich ge-
widmet haben; die gröſsere Menge betrieb Gewerbe und Han-
del in Rom für eigene Rechnung und für die ihrer Patrone,
denn regelmäſsig hatte der Freilasser einen Antheil, oft
die Hälfte von dem Gewinn der von ihm entlassenen Leute
sich ausbedungen und häufig überdies gab der Patron ihnen
Capital in ihr Geschäft; so daſs bei den Geschäften des Frei-
gelassenen der Patron in nicht viel anderer Weise betheiligt
war als bei denen, die der Sclave für Rechnung seines Herrn
betrieb. Wenn sich also die städtische und industrielle Be-
triebsamkeit vermehrte, so floſs doch durch die eigenthümliche
Stellung der Sclaven und Freigelassenen ein guter Theil des
Gewinns aus dem kleinen Gewerb und Handel in die Kasse
[293]INNERE VERHAELTNISSE.
der Groſsen; und dies in Verbindung mit den vom Staat ins
Leben gerufenen Lieferungs- und Unternehmungsgesellschaften
war der hauptsächliche Grund, daſs neben dem Bauernstande
in der römischen Gemeinde niemals eine Klasse unabhängiger
Industrieller aufkam. Durch welche Umstände und Manipula-
tionen die groſsen Grundbesitzer in Rom auch die Capitalher-
ren wurden und die Hypothekardarlehen wie den Groſshandel
und die Lieferungen und Arbeiten für den Staat in die Hände
bekamen, ist schon früher (S.134. 171) bezeichnet worden.


Ueber den Verkehr der Völker im Innern und mit dem
Ausland flieſsen uns die Quellen sehr spärlich. Im Allgemei-
nen zeugt von der steigenden Regsamkeit desselben der Ueber-
gang der Italiker vom Tausch- zum Geldsystem, der in diese
Epoche gehört. Während der ersten drei Jahrhunderte der
Stadt ward in Italien, abgesehen von den griechischen Colo-
nien, eigene Münze nicht geschlagen, mit einziger Ausnahme
von Populonia und vielleicht einigen benachbarten tuskischen
Städten, die aus dem in ihren Gruben gewonnenen Silber
attische Didrachmen prägten; die Latiner und vermuthlich
auch die Sabeller betrieben ihren Verkehr hauptsächlich mit-
telst des Kupfers, das als allgemein geltende Waare nach dem
Gewicht genommen ward. Es lag somit in der Natur der Ver-
hältnisse, daſs die Mittelitaliker, als sie sich entschlossen nach
griechischem Vorbild eine Münze einzuführen, zwar in allem
Uebrigen an griechische Muster sich anschlossen, aber statt
des Silbers Kupfer zu ihrem Münzmetall erwählten und als
Münzeinheit die bisherige Wertheinheit, das Kupferpfund an-
nahmen; womit es zusammenhing, daſs man die Münzen goſs
statt sie zu prägen, denn kein Stempel hätte ausgereicht für
so groſse und schwere Stücke. Daſs man von Anfang an
nicht vollwichtig münzte, ist begreiflich, da der Staat nur auf
diesem Wege die verhältniſsmäſsig wohl bedeutenden Herstel-
lungskosten decken und das Einschmelzen der Landesmünze
verhindern konnte. — Geschichtlich bemerkenswerth ist es,
daſs diese Neuerung in Italien höchst wahrscheinlich von Rom
ausgegangen ist und zwar eben von den Decemvirn, die in
der solonischen Gesetzgebung das Vorbild auch zur Regulirung
des Münzwesens fanden, und daſs sie von Rom aus sich ver-
breitete über eine Anzahl latinischer, etruskischer, umbrischer
und ostitalischer Gemeinden; zum deutlichen Beweise der
überlegenen Stellung, die Rom schon seit dem Anfang des
vierten Jahrhunderts in Italien behauptete. Indeſs darf dies
[294]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
nicht so verstanden werden, als sei ein und derselbe Münz-
fuſs in all diesen Städten eingeführt worden; vielmehr ist
derselbe durchaus örtlich und so auch wohl das Gebiet einer
jeden Münze vorwiegend cantonal gewesen. Trotz dieser localen
Verschiedenheiten lassen sich die mittel- und norditalischen
Kupfermünzfüſse in drei Gruppen zusammenfassen, innerhalb
welcher die Münzen im gemeinen Verkehr als gleichartig behan-
delt zu sein scheinen: die Münzen der nördlich vom ciminischen
Walde gelegenen etruskischen und der umbrischen Städte, die
Münzen von Rom und Latium und die des östlichen Littorals;
letztere finden wir in ein bestimmtes Verhältniſs gesetzt zu
den Silbermünzen, die im südlichen Italien seit alter Zeit
gangbar waren und deren Fuſs sich auch die italischen Ein-
wanderer, zum Beispiel die Brettier, Lucaner, Nolaner, ja die
latinischen Colonien daselbst wie Cales und Suessa und sogar
die Römer selbst für ihre unteritalischen Besitzungen aneig-
neten. Danach wird auch der italische Binnenhandel in die-
selben Gebiete zerfallen sein, welche unter sich verkehrten
gleich fremden Völkern; daſs in Samnium eine Landesmünze
völlig fehlt, ist bezeichnend für die geringere Entwicklung des
Verkehrs in diesen Bergdistricten. In der That scheinen die
früher sehr engen Handelsverbindungen zwischen Latium und
den campanischen Griechen durch die samnitische Einwande-
rung in Campanien merklich gestört worden zu sein, wovon eine
Spur sein möchte die Weigerung der Samniten in Capua und
Cumae in der Hungersnoth von 343 den Römern ferner mit
campanischem Getreide auszuhelfen; während andrerseits viel-
fache Spuren dahin führen, daſs der groſsgriechische, nament-
lich der tarentinische Handel die ganze Ostküste Italiens be-
herrschte. — Als indeſs gegen das Ende dieser Epoche Italien
sich unter römischer Herrschaft vereinigt fand, muſste die
staatliche Einigung auch jene commerciellen Scheidewände
nothwendig beseitigen, während andrerseits die energische
Politik der Römer den Unterthanen das Münzrecht unmöglich
ferner zugestehen konnte und endlich der Eintritt der römisch-
italischen Eidgenossenschaft in das hellenistische Staatensystem
dazu nöthigte mit der nationalen auch die mercantile Isolirung
aufzugeben. In Folge dessen wurden 485 sämmtliche Münzstät-
ten in Italien auf die Prägung von Scheidemünze beschränkt
mit Ausnahme der römischen, in dieser aber ein gemeines ita-
lisches Courant geschlagen, das beruhte auf dem Gleichgewicht
der beiden bisher gangbaren Münzmetalle und dessen Silber-
[295]INNERE VERHAELTNISSE.
stück zugleich der gangbarsten griechischen Münzeinheit, der
attischen Drachme im gemeinen Verkehr gleichgesetzt wer-
den konnte, obwohl es um ein Geringes leichter war. Hielt
man daneben auch anfangs noch das Kupferstück in der Art
fest, daſs es dem nominell entsprechenden Silberstück auch
reell im Metallwerth gleichkam, so erlangte doch factisch sehr
schnell das Silber die Oberhand in ganz Italien und nament-
lich in Latium, wo einzelne Städte wie zum Beispiel Signia
schon vor 485 einen Versuch gemacht hatten das Silbergeld
bei sich einzuführen. Die aus dem Lager des Pyrrhos, aus
Samnium und Tarent heimgebrachten Schätze, die reichen
Einnahmequellen, welche die Eroberung Italiens geschaffen
hatte, machten es möglich das neue Geldstück sofort in groſsen
Massen zu schlagen; und wie der Sieg über Pyrrhos und
Tarent und die römische Gesandtschaft nach Alexandreia dem
griechischen Staatsmann dieser Zeit zu denken geben mochten,
so mochte auch der einsichtige griechische Kaufmann wohl
nachdenklich werden, wenn ihm diese neuen römischen Drach-
men in die Hände kamen, deren flaches, unkünstlerisches und
einförmiges Gepräge sie von den gleichzeitigen wunderschönen
Münzen des Pyrrhos und der Sikelioten nicht minder unter-
schied als ihre rechtliche, gleichmäſsige und gewissenhafte
Behandlung in Schrot und Korn.


Was den überseeischen Verkehr angelangt, so ist aller Grund
anzunehmen, daſs die früher (S. 131) bezeichneten sicilisch-lati-
nischen, etruskisch-attischen und adriatisch-tarentinischen Han-
delsbeziehungen auch in dieser Epoche fortbestanden. Daſs die
Einfuhr der Luxuswaaren zunahm, ist erklärlich; einigermaſsen
verfolgen können wir dies an der Einfuhr des gemalten Thon-
geschirrs, das vorzugsweise aus Attika, daneben aus Kerkyra
und Sicilien nach Italien kam und in den Gegenden der hel-
lenischen Halbcultur, namentlich in Lucanien, Campanien und
Etrurien mit barbarischer Verschwendung zur Ausschmückung
der Grabkammern verwandt wurde, während die strenge
römische Zucht wie das schlichte samnitische Wesen diesen
thörichten Luxus nicht bei sich aufkommen lieſsen. Die Ge-
fäſse ältesten Stils, die in Italien sich gefunden haben, dürfen
in die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts der Stadt (Ol.
70-80) gesetzt werden, während die zahlreicheren des stren-
gen Stils der ersten, die des vollendet schönen Stils der zwei-
ten Hälfte des vierten angehören, und die an Zahl, Pracht
und Gröſse immer zunehmende Masse der übrigen gewöhn-
[296]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
licher Arbeit im Ganzen dem folgenden Jahrhundert beizulegen
sein wird. — Bei der Weise dieser Zeit den Seehandel mit
armirten Schiffen zu treiben und der engen Verbindung des
Seekrieges oder der Piraterie und des überseeischen Handels
hing der letztere wesentlich vom Stand der Kriegsmarine ab.
Ganz vernachlässigt ward diese von den Römern zu keiner
Zeit; Latium lieferte ihnen zum Schiffbau die schönsten Tan-
nen und Fichten, welche die gerühmten unteritalischen weit
übertrafen und die Docks in Rom beweisen allein schon, daſs
man nicht daran dachte die Flotte eingehen zu lassen. In
der That ward das Weihgeschenk aus der veientischen Beute
auf einem römischen Kriegsschiff nach Delphi gesandt (360);
die Griechenstädte, die eintraten in die römische Symmachie
(zuerst Neapel 428), zur Stellung von Kriegsschiffen verpflich-
tet; im samnitischen Kriege durch Volksschluſs eine Flotte
gegen Nuceria gerüstet (443); ja eine römische Flotte von
25 Schiffen ging nach Corsica ab um dort eine Stadt zu
gründen (vor 446), was indeſs nicht zur Ausführung kam.
Daſs die römischen Städte am tyrrhenischen Meer, namentlich
Antium (römische Colonie seit 416) ihren Handel mit bewaff-
neten Schiffen und also auch gelegentlich das Piratengewerbe
betrieben, beweisen die Beschwerden, welche Alexander der
Groſse († 431) und Demetrios der Belagerer († 471) über
antiatische Seeräuber in Rom geführt haben sollen (S. 253); auch
der ‚tyrrhenische Corsar‘ Postumius, den Timoleon um 415 auf-
brachte, könnte ein Antiate gewesen sein. Es steht demnach
vollkommen fest, daſs Rom niemals seinen alten Traditionen (S.
32) untreu geworden ist und niemals so thöricht war bloſs Con-
tinentalmacht sein zu wollen; wie es denn auch auf die Siche-
rung der Küsten und Häfen Italiens die gröſste Sorgfalt ver-
wandte. Indeſs war es begreiflich, daſs während der schwe-
ren und langjährigen Landkriege des vierten und fünften
Jahrhunderts die Flotte allmählich verfiel oder doch in ihrer
Entwicklung mit der steigenden Macht Roms keineswegs
Schritt hielt. Dafür zeugt die Plünderung der latinischen
Küste durch eine vermuthlich sicilische Kriegsflotte im Jahre
405 und deutlicher noch der wahrscheinlich 406* abgeschlos-
sene zweite Vertrag mit Karthago und Tyros. Durch diesen
wurden die römischen Schiffer beschränkt auf die Fahrt nach
[297]INNERE VERHAELTNISSE.
dem karthagischen Sicilien und nach dem Hafen von Kar-
thago selbst, während es ihnen untersagt ward nicht bloſs in
das östliche Meer zu schiffen, sondern auch Sardinien und
die punischen Besitzungen in Spanien zu betreten, welche der
erste Vertrag den Römern theils ausdrücklich geöffnet, theils
wenigstens nicht geschlossen hatte. Sehr klar erscheint hier
die veränderte Lage der Dinge im mittelländischen Meer.
Hier rang nach dem Sturz der etruskischen Marine Karthago
mit den Syrakusanern um die Herrschaft der See und errang
sie trotz der vorübergehenden Erfolge des Dionysios (348-
389), des Agathokles (437-465) und des Pyrrhos (476-478).
Die Römer, von den Landkriegen in Anspruch genommen und in
ihrer eigenen Heimath von den griechischen Flotten heimgesucht,
fügten sich zur See der Suprematie der Karthager und erkannten
deren Prohibitivsystem an, indem sie sich von den Productions-
plätzen, Spanien und dem Orient ausschlieſsen lieſsen und haupt-
sächlich nur ihre alte und wichtige Handelsverbindung mit Sici-
lien sich bewahrten; es mochte dies der einzige Weg sein zu
verhindern, daſs nicht wie im Jahre vor dem Abschluſs des Ver-
trages Latium zugleich von dem gallischen Land- und dem griechi-
schen Seeraub heimgesucht ward (S. 216). Mit Massalia bestand
daneben das alte enge Freundschaftsverhältniſs fort. In ihrem
Thesauros in Delphi ward das römische Weihgeschenk nach Veiis
Eroberung aufgestellt und nach der gallischen Eroberung ward
für die römischen Abgebrannten in Massalia gesammelt, wobei
die Stadtkasse voranging — der römische Senat vergalt dies durch
Gewährung von Handelsbegünstigungen und eines Ehrenplatzes
neben der Senatorentribüne bei der Feier der Spiele auf dem
Markt, der schon erwähnten Graecostasis. — Daſs die groſsen
Erfolge in den italischen Kriegen und namentlich die Besetzung
der adriatischen Küste auch die maritime Stellung Roms we-
sentlich verändern muſsten, versteht sich; der mit Rhodos
um 448 geschlossene Vertrag ist dafür ein vereinzelter Beweis.
Wie deutlich man in Karthago wie in Rom begriff, welche Fol-
gen sich knüpfen muſsten an die Unterwerfung der griechischen
Städte in Süditalien unter die Herrschaft Roms, beweist schon
die geringe Willfährigkeit, die die beiden groſsen Städte sich be-
zeigten, als der König Pyrrhos sie zu einer Allianz zwang, aber
deutlicher noch die Versuche der Karthager sich selber in Rhe-
gion oder in Tarent festzusetzen, andrerseits die gleichzeitige
Ernennung der römischen Flottenquaestoren und die Besetzung
von Brundisium unmittelbar nach der Beendigung des Krieges.


[298]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.

Den bauenden und bildenden Künsten scheint die gegen-
wärtige Epoche minder günstig gewesen zu sein, als die Kö-
nigszeit, in der die jugendliche hellenische Kunst ein frisches
Volk stetig und übermächtig anregte, und die nachfolgenden
Perioden, in denen man die griechischen Kunstwerke erst zu
plündern, dann zu schätzen und endlich nachzubilden begann.
Der Verfall Groſsgriechenlands und Siciliens und die Ver-
drängung der griechischen Schiffe vom tyrrhenischen Meer
durch Etrusker und Karthager schwächten den griechischen
Einfluſs überall; aber auch innere Verhältnisse scheinen mit-
gewirkt zu haben. In Etrurien mochte der politische und
geistige Verfall des Volkes vielleicht zunächst den Luxus der
Kunst steigern, aber zugleich was an ihr noch edel war zu
Grunde richten. Die früher bezeichnete Richtung der etruski-
schen Kunst auf das Imponirende durch Kostbarkeit, Sonder-
barkeit oder Gröſse, überhaupt die massenhafte und hand-
werksmäſsige Production von Kunstsachen gehört vorzugsweise
in diese Epoche, wenn sie auch schon von vorn herein im
etruskischen Wesen begründet ist. Wie weit dieselbe ging, be-
weist auſser den Gräberfunden zum Beispiel die Angabe, daſs
in Volsinii, dem tuskischen Delphi, zweitausend eherne Sta-
tuen aufgestellt waren. Daſs der Geist aus der Kunst ent-
wichen war, beweist das strenge Festhalten des einmal über-
lieferten Stils in den älteren Kunstzweigen und die elende
Behandlung der später aufgekommenen, namentlich der Bild-
hauerei in Stein und des Kupfergusses in der Anwendung auf
die Münzen. Nicht minder charakteristisch ist die massen-
hafte Einführung der gemalten Gefäſse aus Attika neben den
ganz einzelnen durchaus miſslungenen Versuchen sie nachzu-
machen. Es ist kaum zu bezweifeln, daſs wenn diese Sitte
in Etrurien im ersten Jahrhundert und nicht im dritten auf-
gekommen wäre, man es wenigstens zu einer leidlichen Nach-
bildung gebracht haben würde ähnlich wie im Erzguſs und in
der Zeichnung auf Metall; jetzt aber fand man es bequemer
zu kaufen als zu formen, passiv aufzunehmen statt selbstthätig
zu reproduciren. Daſs auch die Abtrennung der südlichen
Städte, in denen die Kunst wohl ihre geschicktesten Vertreter
gefunden hatte, von dem mehr barbarischen Norden und die
zeitige Romanisirung der Gegend von Caere und Veii hiebei
wesentlich mitgewirkt hat, ist nicht zu bezweifeln. — Was
den sabellischen Stamm anlangt, so haben diejenigen seiner
Zweige, die mit den Griechen in die engste Verbindung tra-
[299]INNERE VERHAELTNISSE.
ten, im Wesentlichen die hellenische Kunst bei sich adoptirt;
was in Campanien und im Brettierlande gefertigt ist, steht
regelmäſsig im Niveau der gleichzeitigen griechischen Arbeiten.
Geringer hat der Einfluſs hellenischer Kunst die Lucaner er-
griffen und bei den Samniten finden wir nirgends ihre Spuren.
— Daſs in Latium die griechische Kunst, wenn auch in be-
schränktem Umfang, doch mit Geist und Frische gepflegt ward
und vorzügliche Kunstwerke, die capitolinische Wölfin von Erz,
die ficoronische Cista, die bemalten Thonbildwerke, die der
Lehrer des Zeuxis für Rom arbeitete, die gefeierten ardeati-
schen Gemälde in dieser Epoche hier entstanden, ward schon
bei der vorigen berührt (S. 153). Rom indeſs scheint, wenig-
stens nach den Assen zu schlieſsen, in dieser Hinsicht von
andern latinischen Städten weit übertroffen worden zu sein;
und überall war wohl daselbst die Königszeit, namentlich die
Epoche der groſsen Eroberungen, der Kunst günstiger als die
ersten zwei Jahrhunderte der Republik. Den sparsamen Vätern
der Stadt wie den schanzenden Bürgern werden Luxusbauten
wie die Tempel auf dem Capitol und Aventin und der groſse
Circus vermuthlich ein Gräuel gewesen sein und es ist be-
merkenswerth, daſs das bedeutendste Bauwerk der republika-
nischen Zeit vor den Samnitenkriegen, der Cerestempel am
Circus, ein Muster des nationalen oder sogenannten tuscani-
schen Stils, herrührt von Spurius Cassius (261), der in mehr
als einer Hinsicht in die Traditionen der Königszeit wieder
einlenkte. — Erst mit der entschiedenen Herrschaft über Ita-
lien und dem glänzenden Zustand der römischen Finanzen
änderten sich auch hierin die Dinge. Es begann jenes groſs-
artige System öffentlicher Bauten zu gemeinnützigen Zwecken,
namentlich der Wasserleitungen in der Stadt, der Militär-
straſsen auf der Halbinsel. Appius Claudius war es, der in
seiner epochemachenden Censur (442) das veraltete Bauern-
system des Sparschatzsammelns bei Seite warf und seine Mit-
bürger die öffentlichen Mittel in würdiger Weise gebrauchen
lehrte. Ihm verdankt Rom die erste Wasserleitung, Italien
die erste groſse Chaussee. Bald folgten ähnliche Anlagen in
gleichem Sinn. Erwähnung verdient die Entwässerung des
Thals von Rieti, indem dem Velino, wo er oberhalb Terni
sich in die Nera stürzt, das breitere Bett geöffnet ward, durch
das er heute noch flieſst; ein Werk des Manius Curius, der
nach der Besiegung der Sabiner (464) in jenem schönen Thal
eine Ansiedlung armer Bürger begründete. In der That, solche
[300]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Werke rechtfertigten die Siege und verdunkelten in den Au-
gen auch verständiger Leute die zwecklose Herrlichkeit der
hellenischen Tempel. Nun fing auch die neue Hauptstadt Ita-
liens an sich mit Kunstwerken zu schmücken; die Bildsäulen
der gefeierten Männer der Vorzeit, der Könige, der Helden
der frühesten republikanischen Zeit, des griechischen Doll-
metsch der solonischen Gesetze wurden auf dem Markte aufge-
stellt; das kolossale Erzbild des Jupiter, das Spurius Carvilius
aus der samnitischen Beute gegossen, sah man bis vom alba-
nischen Berge; die Wandmalereien, die Gaius Fabius in dem
452 dedicirten Tempel der Salus auf dem Quirinal ausführte,
erwarben in Zeichnung und Färbung noch das Lob der Kunst-
richter der augusteischen Zeit. Die Straſsen wurden verziert
mit den besten Stücken der Beute; Volsinii — so wollte man
wissen — sei der Krieg gemacht worden seiner Erzbilder
wegen. Das Plündern der Tempel indeſs ging erst in späterer
Zeit an. Daſs die Künstler und die Käufer begannen sich
aus Campanien, ja vielleicht schon aus weiterer Ferne nach
Latium und Rom zu ziehen, ist natürlich; ein einzelner Be-
weis ist die ficoronische Cista, die von einem vermuthlich cam-
panischen Künstler des fünften Jahrhunderts in Rom verfer-
tigt und nach Praeneste verkauft ward.


Ueber den Fortschritt, den die Sprache von den Tar-
quiniern bis auf die Zeit des Pyrrhoskrieges gemacht hat, ist
es fast vermessen zu reden, da es uns, abgesehen von den
stark modernisirten Bruchstücken der Zwölftafeln und einigen
kleinen Ueberresten aus dem fünften Jahrhundert, an allen
Documenten aus dieser Periode fehlt. Was wir haben, zeigt
viel gröſsere Unterschiede von dem Arvalliede als von den
Denkmälern der folgenden Zeit und es mag wohl übertrieben
sein, wenn erzählt wird, daſs die römischen Gelehrten im
Anfang des siebenten Jahrhunderts Mühe hatten Urkunden
des dritten zu verstehen; auſser einer Anzahl veralteter Wör-
ter und schroffer Verbindungen, namentlich mittelst Weglas-
sung des unbestimmten Subjects, stoſsen wir auf wesentliche
Schwierigkeiten nicht. Bemerkenswerth ist, daſs im Laufe des
fünften Jahrhunderts eine Reaction im römischen Lautsystem
sich geltend macht, indem der verlorene g-Laut wieder her-
gestellt wird, o und u, die zusammenzufallen drohten, wieder
schärfer geschieden werden; gleichzeitig tritt vielfältig r an
die Stelle von s. Diese Aenderungen stehen zum Theil wenig-
stens in Zusammenhang mit der steigenden von Griechenland
[301]INNERE VERHAELTNISSE.
bestimmten Civilisation, die wieder dringt auf weichere und
mannichfaltigere Laute. — Eher noch läſst sich einiges er-
kennen über die Anfänge der Wissenschaft und der Litteratur.
Zwar in den exacten Wissenschaften haben es die Römer nie
weit gebracht; selbst in dem Theil des Militärwesens, der
mathematische Kenntnisse voraussetzt, wie in der Befestigung,
dem Festungskrieg, dem Maschinenbau, ja sogar im Schlagen
des Lagers sind die Römer durchaus Schüler der Griechen
gewesen und geblieben; das kunstmäſsige Lagerabstecken
lernten sie zunächst von ihrem groſsen Gegner Pyrrhos. Die
Unfähigkeit der Römer auf diesem Gebiet zeigt sich in der
Regulirung des Kalenders, die die Decemvirn versuchten. Sie
wollten den damaligen attischen vormetonischen Kalender, der
auf der Gleichsetzung von 99 Mondmonaten (zu 29 Tagen
12 Stunden) und 8 Sonnenjahren (zu 365 Tagen 6 Stunden)
beruhte und in acht Jahren 90 Tage einschaltete, bei sich
einführen und hieſsen jedes andere Jahr einen Monat abwech-
selnd von 22 und 23 Tagen einschalten; allein man setzte
aus irgend einem Versehen den Mondmonat um zwei Stun-
den länger an, wodurch natürlich der Kalender bald in die
ärgste Verwirrung gerieth und man genöthigt war gelegentlich
einen Schaltmonat ausfallen zu lassen. Die Theilung des Tages
nach Stunden blieb den Römern unbekannt bis auf den An-
fang der folgenden Periode (491), wo eine für Sicilien be-
stimmte Sonnenuhr auf dem römischen Markt aufgestellt ward
und der griechische Name (hora) den Römern geläufig zu
werden anfing; bis dahin richtete man sich nach dem Stande
der Sonne. — Bedeutendere und eigenthümlichere Leistungen
begegnen uns auf anderen geistigen Gebieten, namentlich auf
dem der Rechtswissenschaft und der Geschichte. Das von
den Zehnmännern aufgezeichnete Stadtrecht ist wohl das
älteste römische Schriftstück, das den Namen eines Buches
verdient. Nicht viel jünger mag der Kern der sogenannten
königlichen Gesetze sein, das heiſst gewisser vorzugsweise
sacraler Vorschriften, die auf Herkommen beruhten und wahr-
scheinlich von dem Collegium der Pontifices, das selbst zur
Gesetzgebung nicht, wohl aber zur Gesetzweisung befugt war,
unter der Form königlicher Verordnungen zu allgemeiner
Kunde gebracht wurden. Ueberhaupt sind vermuthlich schon
seit dem Anfang dieser Periode die wichtigeren Gesetze und
öffentlichen Beschlüsse regelmäſsig schriftlich verzeichnet wor-
den; wozu den Anstoſs wohl die Bestellung einer Privilegien-
[302]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
lage der Gemeinde unter Hut der Aedilen gab (260; S. 175).
Damit bildete sich der eigenthümliche römische Curialstil, der
der heutigen englischen Gerichtssprache gleicht an langathmigen
Perioden, endloser Aufzählung der Einzelheiten und feststehen-
den Formeln und Wendungen und sich dem Eingeweihten
durch Schärfe und Bestimmtheit empfiehlt, während der Laie
je nach Art und Laune mit Ehrfurcht, Ungeduld oder Aerger
nichts verstehend zuhört. — Während also die Masse der
geschriebenen Gesetze und Urkunden sich mehrte, stellten
auch die Grundlagen einer eigentlichen Rechtswissenschaft
sich fest. Sowohl den jährlich wechselnden Beamten als den
aus der Menge herausgegriffenen Geschwornen war es Be-
dürfniſs an Gewährsmänner (auctores) sich wenden zu kön-
nen, welche den Rechtsgang kannten und nach Präcedentien
oder in deren Ermangelung nach Gründen eine Entscheidung
an die Hand zu geben wuſsten. Die Pontifices, die es ge-
wohnt waren sowohl wegen der Gerichtstage als wegen aller
auf die Götterverehrung bezüglichen Bedenken und Rechtsacte
vom Volke angegangen zu werden, gaben auch in anderen
Rechtspuncten auf Verlangen Rathschläge und Gutachten ab
und entwickelten so im Schoſs ihres Collegiums die Tradition,
die dem römischen Privatrecht zu Grunde liegt, vor allem die
Formeln der rechten Klage für jeden einzelnen Fall. Ein
Spiegel, der all diese Klagen zusammenfaſste, nebst einem
Kalender, der die Gerichtstage angab, wurde vom Censor
Appius Claudius oder von dessen Schreiber Gnaeus Flavius
dem Volk bekannt gemacht. Indeſs dieser Versuch eine ihrer
selbst noch nicht bewuſste Wissenschaft zu formuliren steht
für lange Zeit gänzlich vereinzelt da. Daſs die Kunde des Rech-
tes und die Rechtweisung schon jetzt ein Mittel war dem Volk
sich zu empfehlen und zu Staatsämtern zu gelangen, ist be-
greiflich, wenn auch die Erzählung, daſs der erste plebejische
Pontifex Publius Sempronius Sophus (Consul 449) und der erste
plebejische Oberpontifex Tiberius Coruncanius (Consul 473)
ihre Ehrenämter der Rechtskenntniſs verdankten, wohl eher
Muthmaſsung Späterer ist als Ueberlieferung. — Die Anfänge
einer gleichzeitigen Geschichtschreibung gehen vermuthlich
zurück auf die Beseitigung der lebenslänglichen Regenten;
seit diese jährlich wechselten, wird man ein Jahrbuch (liber
annalis
) gehabt haben, das zunächst Magistratsverzeichniſs
war, aber allmählich auch andere Notizen aufnehmen muſste
und dessen Führung natürlich den Maſs- und Schriftgelehrten,
[303]INNERE VERHAELTNISSE.
das heiſst den Pontifices oblag. Daſs die auf uns gekomme-
nen Fasten wohl lückenhaft und interpolirt sind, aber vom
Anfang dieser Periode an im Kerne ächt, läſst sich nicht be-
zweifeln; und von einzelnen Notizen kann dasselbe gelten.
Allein daſs eine regelmäſsige Aufzeichnung der Jahresbegeben-
heiten erst viel später begonnen hat, oder wenn sie früher
begonnen hat, im gallischen Brande untergegangen ist, zeigen
vielfache Spuren; so wissen wir, daſs die älteste in der Stadt-
chronik nach Beobachtung angegebene Sonnenfinsterniſs die
ist vom Jahre 350 kurz vor dem gallischen Brande, daſs die
gesühnten Prodigien sich erst seit Pyrrhos Zeit regelmäſsig
verzeichnet finden, und daſs die Censuszahlen erst seit dem
Anfang des fünften Jahrhundert anfangen glaublich zu lauten
(S. 72. 282). Es ist sehr wahrscheinlich, daſs im Schoſse
des Collegiums, dem die Führung des Jahrbuchs oder der
Stadtchronik oblag, ein Menschenalter etwa nach dem galli-
schen Brande ein Versuch gemacht worden ist die zu Anfang
fehlende Geschichte der Königszeit wieder herzustellen und
den dürftigen Notizen aus den ersten Zeiten der Republik
eine tapfere Verbesserung angedeihen zu lassen. Wie man
dabei verfuhr, vermögen wir natürlich nicht zu bestimmen.
Familiensagen der adlichen Geschlechter und Historisirung der
Anfänge alter Volksinstitutionen lieferten wohl einen Theil des
Materials, wie zum Beispiel die Fabiergeschichten öfters er-
scheinen und die schöne Erzählung von den Horatiern und
Curiatiern die Entstehung der Provocation zu veranschaulichen
bestimmt ist. Küstererzählungen nach Art derjenigen, aus
denen die Mirabilia Urbis erwuchsen, erkennt man in den
Geschichtchen vom heiligen Feigenbaum und andern, die an
bestimmte Plätze und Reliquien anknüpfen. Bemerkenswerth
ist das Bestreben den Ursprung der Stadt an den troischen
Kreis, den der Staatsverfassung an die pythagoreische Ur-
weisheit anzulehnen; jene hat der an der latinischen Küste
weit früher localisirten Odysseussage die vom Aeneas substituirt,
diese die ächt nationalen Gestalten des Königs Numa und der
weisen Egeria durch die Einmischung eines politisirenden und
philosophirenden Ausländers getrübt. Diese hellenisirende
Tendenz der conventionellen Urgeschichte Roms macht es
wahrscheinlich, daſs sie nicht vor der zweiten Hälfte des vier-
ten Jahrhunderts entstanden ist; jünger ist sie indeſs auch
nicht, denn schon Timaeos (402 - 498) ward die römische
Nostensage in Latium ungefähr ebenso berichtet wie wir sie
[304]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
kennen und die erste nachweisliche diplomatische Berührung
zwischen Rom und dem griechischen Osten ist die Verwen-
dung des Senats für die stammverwandten Ilier (472). —
Von einer Litteratur auſser derjenigen, die in den Gesetz-
urkunden und der Stadtchronik enthalten ist, läſst sich kaum
reden. Daſs in einem Staat wie der römische war die Kunst
der Rede früh groſses Gewicht erlangte, ist natürlich; die
Sitte den Verstorbenen bei der Bestattung Gedächtniſsreden
zu halten geht weit zurück, und an italienischer Vehemenz
und Eloquenz wird es dabei nicht gefehlt haben. Loblieder
auf berühmte Männer wurden wohl bei Schmäusen zur Flöte
recitirt, ebenso Todtenklagen am Sterbebett und Festlieder
bei Processionen; aber von dem freiwillig und ungeboten her-
vorsprudelnden Liederquell, wie ihn die Griechen und die
Deutschen besitzen, findet sich keine Spur weder im alten
noch im neuen Rom. Nur Spottlieder gedeihen, so daſs die
zwölf Tafeln ein Verbot aufnahmen gegen das Absingen solcher
vor den Thüren der Beikommenden, und ebenso die improvisirte
Charakterkomödie, deren schon gedacht ward (S. 148). Die Büh-
nenspiele, welche in Rom zuerst 390 und seitdem oft von
etruskischen Schauspielern gegeben wurden, waren Tänze zur
Flöte ohne Dialog, also wohl eine Art Ballet, dessen Erfindung
für die Richtung des etruskischen Wesens bezeichnend ist.
— Von den Werken dieser groſsen Zeit ist in Thaten und
Gründungen viel auf die Nachwelt gekommen; Aufzeichnungen
sind in ihr wenige entstanden und so gut wie nichts ist uns
übrig geblieben; nichts aber, das ehrwürdiger und zugleich
charakteristischer wäre als die Grabschrift des Lucius Scipio,
der im Jahre 456 Consul war und mitfocht in der entschei-
denden Schlacht von Sentinum (S. 248). Wir lesen auf dem
schönen Sarkophag in edlem dorischem Stil, der noch vor acht-
zig Jahren den Staub des Besiegers der Samniten einschloſs:


Cornéliús Lucius — Scipió Barbátus
Gnaivód patré prognálus — fórlis vir sapiénsque
Quoiús fórma virtu — lei parisuma fúit
Consól censór aidilis — quei fuit apúd vos
Taurásiá Cisaúna — Sámnió cépit
Subigit omné Loucánam — ópsidésque abdoúcit.

⏑ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏓ ‖ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏑
Cornelius Lucius — Scipio Barbatus
Des Vaters Gnaevus Sohn, ein — Mann von Kraft und Weisheit,
Deſs Wohlgestalt war seiner — Tugend angemessen,
[305]INNERE VERHAELTNISSE.
Der Consul, Censor war bei — euch wie auch Aedilis
Taurasia, Cisauna, — Samnium bezwang er,
Nimmt ganz Lucanien ein und — führet weg die Geiſseln
*.


Die Grabschrift des adlichen und tüchtigen, schönen und klu-
gen Mannes mag uns wohl gelten für die ganze Reihe von
Staatsmännern und Kriegern, die mitgebaut haben an der
Gröſse des römischen Staats. Es ist wohl nicht bloſs Schuld
der Ueberlieferung, daſs sie alle so gleichartig erscheinen und
ein bestimmtes individuelles Bild uns nirgends entgegentritt
— die einzige Ausnahme ist der wunderbare Appius Claudius,
der im Staat die Schranken der Ansässigkeit als der unerläſs-
lichen Qualification des vollen Staatsbürgerrechts zersprengt,
der das alte Finanzsystem bricht, von dem die römischen
Wasserleitungen und Chausseen, die römische Jurisprudenz,
Eloquenz, Poesie und Grammatik datiren — seines Klagspie-
gels ist schon gedacht, aber auch aufgezeichnete Reden, pytha-
goreische Sprüche, Veränderungen in der Orthographie wer-
den ihm beigelegt —, der als Mann den Gesetzen und Ge-
bräuchen in seiner Amtsführung und seinem Lebenswandel
keck und ungezogen entgegentritt als wäre er ein Athener,
und dann sein öffentliches Leben damit beschlieſst, daſs er
als blinder Greis den Pyrrhos im Senat überwindet und Roms
vollendete Herrschaft über Italien zuerst förmlich und feier-
lich in der entscheidenden Stunde ausspricht. Aber den ge-
nialen Mann blendeten die Götter wegen seiner vorzeitigen
Weisheit. Es ist nicht nöthig und nicht wünschenswerth, daſs
ein Bürger die übrigen verdunkle; weder durch reicheres
Silbergeräth als das einzige Salzfaſs ist, das auf dem Tische
jedes guten Bürgerhauses sich findet, noch durch künst-
lichen Erzbeschlag der Hausthür, noch durch ungemeine
Weisheit und Trefflichkeit. Jene Ausschreitungen straft der
Censor; und für diese ist kein Raum in der Verfassung. Diese
Zeit gehört nicht dem Einzelnen an; die Bürger müssen sich
alle gleichen, damit jeder einem König gleich sei. Es ist der
eine unbewegliche politische Gedanke, der sie beherrscht, von
Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzend im Senat, bei
dessen Verhandlungen die Söhne vornehmer Familien schon
als Knaben hinzugezogen werden, um sogleich in die groſsen
Röm. Gesch. I. 20
[306]ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
leitenden Ideen sich hineinzuleben, die sie einst auf den
Stühlen ihrer Väter und Ahnen zu vertreten bestimmt sind.
Also ward Italien der römischen Bürgerschaft unterthan. Aber
auch der Nike folgt ihre Nemesis. Rom kommt es auf keinen
Menschen an, weder auf den Soldaten noch auf den Consul,
und die Eigenartigkeit des menschlichen Wesens wird erdrückt
in dieser starren Gemeinschaft. Rom ist groſs geworden wie
kein anderer Staat, aber es hat seine Gröſse theuer bezahlt
mit der Aufopferung der anmuthigen Mannichfaltigkeit, der
bequemen Läſslichkeit, der innerlichen Freiheit des helleni-
schen Lebens.


[[307]]

DRITTES BUCH.



Von der Einigung Italiens bis auf die Unterwerfung
Karthagos und der griechischen Staaten.


arduum res gestas scribere.

Sallustius.


20*
[[308]][[309]]

KAPITEL I.



Karthago.


Der Völker- und Culturkreis des semitischen Stammes
ist ein wesentlich anderer als derjenige, dem die Römer und
Griechen angehören. Der Schwerpunct liegt für jene im Osten,
für diese am Mittelmeer, und wie auch Krieg und Wande-
rung die Grenze verschoben und die Stämme durch einander
warfen, immer schied und scheidet ein tiefes Gefühl der
Fremdartigkeit die indogermanischen Völker von den aramaei-
schen, arabischen, israelitischen Nationen. Dies gilt auch von
demjenigen semitischen Volke, das mehr als irgend ein anderes
gegen Westen sich ausgebreitet hat, von den Phoenikiern oder
Puniern. Ihre Heimath ist der schmale Küstenstreif zwischen
Kleinasien, dem syrischen Hochland und Aegypten, die Ebene
genannt, das heiſst Chanaan, oder das Dattelpalmenland, das
heiſst Phoenike. Das Land ist wohl geeignet zum Ackerbau;
aber vor allen Dingen sind die vortrefflichen Häfen und der
Reichthum an Holz und Metallen dem Handel günstig, der
hier, wo das überreiche östliche Festland hinantritt an die
weithin sich ausbreitende insel- und hafenreiche mittellän-
dische See, vielleicht zuerst in seiner ganzen Groſsartigkeit
dem Menschen aufgegangen ist. Was Muth, Scharfsinn und
Begeisterung vermögen, haben die Phoenikier aufgeboten um
dem Handel und was daraus folgt, der Schifffahrt, Fabrica-
tion, Colonisirung die volle Entwicklung zu geben und Osten
und Westen zu vermitteln. In unglaublich früher Zeit finden
wir sie in Cypern und Aegypten, in Griechenland und Sicilien,
[310]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
in Africa und Spanien, ja sogar auf dem atlantischen Meer
und der Nordsee; durch ihre Hände gehen das Gold und die
Perlen des Ostens, der tyrische Purpur, das Elfenbein und
die Löwenfelle aus dem inneren Africa, der arabische Weih-
rauch, das Linnen Aegyptens, Griechenlands Thongeschirr und
edle Weine, das cyprische Kupfer, das spanische Silber, das
englische Zinn, das Eisen von Elba. Jedem Volke bringen
die phoenikischen Schiffer, was es brauchen kann oder doch
kaufen mag und überall kommen sie herum, um doch immer
wieder zurückzukehren zu der engen Heimath, an der ihr
Herz hängt. Die Phoenikier haben wohl ein Recht in der
Geschichte genannt zu werden neben der hellenischen und
der latinischen Nation; aber auch an ihnen und vielleicht an
ihnen am meisten bewährt es sich, daſs das Alterthum die
Kräfte der Völker einseitig entwickelte. Ihre religiösen Vor-
stellungen sind formlos und unschön und ihr Gottesdienst
schien Lüsternheit und Grausamkeit mehr zu wecken als zu
bändigen bestimmt. In der Kunst sind sie, so weit wir sehen,
nicht einmal den Italikern, geschweige denn den Griechen
ebenbürtig und selbst in der Wissenschaft scheinen sie mehr
das praktisch Brauchbare aufgenommen und verarbeitet, als
schöpferisch sie weiter gebildet zu haben — entlehnten sie
doch allem Anschein nach die Lautschrift von Aegypten, Maſs
und Gewicht von Babylon und eben daher die Anregungen
zu ihrer kunstreichen Industrie. Manchen wichtigen Keim
der Civilisation haben sie mit ihren Waaren vertrieben; aber
die Kraft die bildungsfähigen Völker, mit denen sie sich be-
rührten, zu civilisiren und sich zu assimiliren, wie sie die
Hellenen, auch die Italiker besitzen, fehlt gänzlich den Pu-
niern. Selbst der staatsbildende Trieb ist in ihr Gemüth
nicht so gepflanzt, wie er überall bei den Indogermanen uns
begegnet. Während der höchsten Blüthe von Sidon und
Tyros ist das phoenikische Land der ewige Zankapfel der
am Euphrat und am Nil herrschenden Mächte und bald den
Assyriern, bald den Aegyptern unterthan. Mit der halben
Macht hätten hellenische Städte sich unabhängig gemacht;
aber die vorsichtigen sidonischen Männer berechneten, daſs
die Sperrung der Karavanenstraſsen nach dem Osten oder
der ägyptischen Häfen ihnen weit höher zu stehen komme
als der schwerste Tribut und zahlten darum prompt ihre
Steuern, wie es fiel nach Ninive oder nach Memphis, und
fochten sogar, wenn es nicht anders sein konnte, mit ihren
[311]KARTHAGO.
Schiffen die Schlachten der Könige mit. — Wie die Phoe-
nikier daheim den Druck der Herren gelassen ertrugen,
waren sie auch drauſsen keineswegs geneigt die friedlichen
Bahnen der kaufmännischen mit der Eroberungspolitik zu
vertauschen. Ihre Colonien sind Factoreien; es liegt ihnen
mehr daran den Eingebornen Waaren abzunehmen und zu
bringen als weite Gebiete in fernen Ländern zu erwerben
und daselbst die schwere und langsame Arbeit der Colonisi-
rung durchzuführen. Selbst mit ihren Concurrenten vermeiden
sie den Krieg; aus Aegypten, Griechenland, Italien, dem öst-
lichen Sicilien lassen sie fast ohne Widerstand sich verdrän-
gen und in den groſsen Seeschlachten, die in früher Zeit um
die Herrschaft im westlichen Mittelmeer geliefert worden sind,
bei Alalia (217) und Kyme (282) sind es die Etrusker, nicht
die Phoenikier, die die Schwere des Kampfes gegen die Grie-
chen tragen. Ist die Concurrenz einmal nicht zu vermeiden,
so gleicht man sich aus so gut es gehen will; es ist nie von
den Phoenikiern ein Versuch gemacht worden Caere oder
Massalia zu erobern. Noch weniger natürlich sind die Phoeni-
kier zum Angriffskrieg geneigt. Das einzige Mal, wo sie in der
ältern Zeit offensiv auf dem Kampfplatz erscheinen, in der
groſsen sicilischen Expedition der africanischen Phoenikier,
welche mit der Niederlage bei Himera durch Gelon von
Syrakus endigte (274), sind sie nur als gehorsame Unter-
thanen des Groſskönigs und um der Theilnahme an dem
Feldzug gegen die östlichen Hellenen auszuweichen, gegen
die Hellenen des Westens ausgerückt; wie denn ihre syrischen
Stammgenossen in der That in demselben Jahr sich mit den
Persern bei Salamis muſsten schlagen lassen. — Es ist das
nicht Feigheit; die Seefahrt in unbekannten Gewässern und
mit bewaffneten Schiffen fordert tapfere Herzen, und daſs diese
unter den Phoenikiern zu finden waren, haben sie oft bewie-
sen. Es ist der Mangel an Bürgersinn, der bei dem lebendig-
sten Stammgefühl, bei der treuesten Anhänglichkeit an die
Vaterstadt doch das eigenste Wesen der Phoenikier bezeich-
net. Die Freiheit lockte sie nicht und es gelüstete sie nicht
nach der Herrschaft; ‚ruhig lebten sie, sagt das Buch der
Richter, nach der Weise der Sidonier, sicher und wohlgemuth
und im Besitz von Reichthum‘.


Unter allen phoenikischen Ansiedlungen gediehen keine
schneller und sicherer als die von den Tyriern und Sidoniern
an der Südküste Spaniens und an der nordafrikanischen ge-
[312]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
gründeten, in welche Gegenden weder der Arm des Groſs-
königs noch die gefährliche Rivalität der griechischen See-
fahrer reichte, die Eingebornen aber den Fremdlingen gegen-
überstanden wie in America die Indianer den Europäern.
Unter den zahlreichen und blühenden phoenikischen Städten
an diesen Gestaden ragte vor allen hervor die ‚Neustadt‘,
Karthada oder, wie die Occidentalen sie nennen, Karchedon
oder Karthago. Nicht die früheste Niederlassung der Phoe-
nikier in dieser Gegend und ursprünglich vielleicht schutzbe-
fohlene Stadt des nahen Utica, der ältesten Phoenikierstadt
in Libyen, überflügelte sie bald ihre Nachbarn, ja die Heimath
selbst durch die unvergleichlich günstige Lage und die rege
Thätigkeit ihrer Bewohner. Gelegen unfern der (ehemaligen)
Mündung des Bagradas (Medscherda), der die reichste Getrei-
delandschaft Nordafricas durchströmt, auf einer fruchtbaren
noch heute mit Landhäusern besetzten und mit Oliven- und
Orangenwäldern bedeckten Anschwellung des Bodens, der gegen
die Ebene sanft sich abdacht und an der Seeseite als meer-
umflossenes Vorgebirg endigt, inmitten des groſsen Hafens
von Nordafrica, des Golfes von Tunis, da wo dies schöne
Bassin den besten Ankergrund für groſse Schiffe und hart am
Strande das trefflichste Quellwasser darbietet, ist dieser Platz
für Ackerbau und Handel und die Vermittlung beider so gün-
stig gelegen, daſs nicht bloſs die erste phoenikische Kaufstadt
daselbst entstand, sondern auch in der römischen Zeit Kar-
thago, kaum wiederhergestellt, die dritte Stadt des Kaiser-
reiches wurde und noch heute unter nicht günstigen Verhält-
nissen dort eine blühende Stadt von hundertundfunfzigtausend
Einwohnern besteht. Die agricole, mercantile, industrielle
Blüthe einer Stadt in solcher Lage und mit solchen Bewoh-
nern ist begreiflich; eher fordert die Frage eine Antwort, auf
welchem Weg diese Ansiedlung zu einer politischen Machtent-
wicklung gelangte, wie sie keine andere phoenikische Stadt
besessen hat.


Daſs der phoenikische Stamm seinen Charakter auch in
Karthago nicht verleugnete, dafür fehlt es keineswegs an Be-
weisen. Karthago bezahlte bis in die Zeiten seiner Blüthe
hinab für den Boden, den die Stadt einnahm, Grundzins an
die einheimischen Berbern, den Stamm der Maxitaner oder
Maziken; und obwohl das Meer und die Wüste die Stadt hin-
reichend schützten vor jedem Angriff der östlichen Mächte,
scheint Karthago doch die Herrschaft des Groſskönigs wenn
[313]KARTHAGO.
auch nur dem Namen nach anerkannt zu haben, um sich die
Handelsverbindungen mit Tyros und dem Osten zu sichern.
— Aber bei allem guten Willen sich zu fügen und zu schmie-
gen traten doch Verhältnisse ein, die diese Phoenikier in eine
energischere Politik drängten. Vor dem Strom der hellenischen
Wanderung, der sich unaufhaltsam gegen Westen ergoſs, der
die Phoenikier schon aus dem eigentlichen Griechenland und
von Italien verdrängt hatte und eben sich anschickte in Sici-
lien, in Spanien, ja in Libyen selbst das Gleiche zu thun,
muſsten die Phoenikier doch irgendwo Stand halten, wenn
sie nicht gänzlich sich wollten vernichten lassen; hier, wo sie
mit griechischen Kaufleuten und nicht mit dem Groſskönig
zu thun hatten, genügte es nicht sich zu unterwerfen um
gegen Schoſs und Zins Handel und Industrie in alter Weise
fortzuführen. Schon waren Massalia und Kyrene gegründet;
schon das ganze östliche Sicilien in den Händen der Grie-
chen; es war für die Phoenikier die höchste Zeit zu ernst-
l[i]cher Gegenwehr. Die Karthager nahmen sie auf; in langen
und hartnäckigen Kriegen setzten sie dem Vordrängen der
Kyenaeer eine Grenze und der Hellenismus vermochte nicht
sich jenseit der Wüste von Tripolis festzusetzen. Mit kartha-
gisch[e]r Hülfe erwehrten ferner die phoenikischen Ansiedler
auf de[r] westlichen Spitze Siciliens sich der Griechen und be-
gaben [s]ich gern und freiwillig in die Clientel der mächtigsten
punisch[en] Stadt des Westens. Diese wichtigen Erfolge, die
ins zweit[e] Jahrhundert der Stadt fallen und die den südwest-
lichen Th[eil] des Mittelmeers den Phoenikiern retteten, gaben
der Stadt, [d]ie sie erfochten hatte, von selbst die Hegemonie
der Nation [u]nd zugleich eine veränderte politische Stellung.
Karthago wa[r] nicht mehr eine bloſse Kaufstadt; sie zielte
nach der Her[s]chaft über Libyen und über einen Theil des
Mittelmeers, w[eil] sie es muſste. Wesentlich trug wahrschein-
lich bei zu die[sen] Erfolgen das Aufkommen der Söldnerei,
die in Griechenla[nd] etwa um die Mitte des vierten Jahrhun-
derts der Stadt [in] Uebung kam, bei den Orientalen aber,
namentlich bei de[n] Karern weit älter ist und vielleicht eben
bei den Phoenikiern [b]egann. Durch das ausländische Werb-
system ward der Kri[eg] zu einer groſsartigen Geldspeculation,
die eben recht im Sin[ne] des phoenikischen Wesens ist.


Fassen wir zuerst [die] neue Stellung ins Auge, die Kar-
thago in Africa einzuneh[me]n sich anschickte, indem man an-
fing auszugehen auf Grun[db]esitz und Herrschaft. Die kartha-
[314]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
gischen Kaufleute entledigten sich des Bodenzinses, den sie
bisher den Einheimischen hatten entrichten müssen, was wie
es scheint erst um das Jahr 300 Roms durchgesetzt ward.
Dadurch ward eine eigene Ackerwirthschaft möglich. Von jeher
hatten die Phoenikier es sich angelegen sein lassen ihre Capi-
talien auch in Grundbesitz anzulegen und den Feldbau in groſsem
Maſsstab zu betreiben durch Sclaven oder gedungene Arbeiter;
wie denn ein groſser Theil der Israeliten in dieser Art den
tyrischen Kaufherren um Tagelohn dienstbar war. Jetzt konn-
ten die Karthager unbeschränkt den reichen libyschen Boden
ausbeuten durch ein System, das dem der Plantagenbesitzer
verwandt ist; gefesselte Sclaven bestellten das Land — wir
finden, daſs einzelne Bürger deren bis zwanzigtausend besaſsen.
Man ging weiter. Die ackerbauenden Dörfer der Umgegend —
der Ackerbau scheint bei den Libyern sehr früh und wahr-
scheinlich schon vor der phoenikischen Ansiedlung, vermuth-
lich von Aegypten aus, eingeführt zu sein — wurden mit
Waffengewalt unterworfen und die freien libyschen Bauern
umgewandelt in Fellahs, die ihren Herren den vierten Thei[l]
der Bodenfrüchte als Tribut entrichteten und zur Bildu[n]g
eines eigenen karthagischen Heeres einem regelmäſsigen [R]e-
krutirungssystem unterworfen wurden. Mit den schweife [...]en
Hirtenstämmen (νόμαδες) an den Grenzen währten die F[eh]den
beständig; indeſs sicherte eine verschanzte Postenket[te] das
befriedete Gebiet und langsam wurden jene zurückgedr[än]gt in
die Wüsten und Berge oder gezwungen die karthagisc[he] Ober-
herrschaft anzuerkennen, Tribut zu zahlen und Zuzu zu stel-
len. Um die Zeit des ersten punischen Krieges [w]ard ihre
groſse Stadt Theveste (Tebessa, an den Quelle[n] des Med-
scherda) von den Karthagern erobert. Dies sin[d], die Städte
und Stämme (ἕϑνη) der Unterthanen‘, die in [de]n karthagi-
schen Staatsverträgen erscheinen; jenes die unf[rei]en libyschen
Dörfer, dieses die unterthänigen Nomaden. — Hiezu kam
endlich die Herrschaft Karthagos über die ü[bri]gen Phoenikier
in Africa oder die sogenannten Libyphoeniki[er] zu denen theils
die von Karthago aus an die ganze afric[ani]sche Nord- und
einen Theil der Nordwestküste geführten kle[in]eren Ansiedlungen
gehörten, die nicht unbedeutend gewese[n s]ein können, da auf
einmal 30000 solcher Colonisten allein [am] atlantischen Meer
angesiedelt wurden, theils die beson[der]s an der Küste der
heutigen Provinz Constantine und de [...] [...]eylik von Tunis zahl-
reich begründeten altphoenikischen [Nie]derlassungen, zum Bei-
[315]KARTHAGO.
spiel Hippo, später regius zugenannt (Bona), Hadrumetum
(Susa), Kleinleptis (südlich von Susa) — die zweite Stadt der
africanischen Phoenikier —, Thapsos (ebendaselbst), Groſsleptis
(bei Tripoli). Wie es gekommen ist, daſs sich all diese
Städte unter karthagische Botmäſsigkeit begaben, ob freiwillig,
etwa um sich zu schirmen vor den Angriffen der Kyrenaeer
und Numidier, oder gezwungen, ist nicht mehr nachzuweisen;
sicher aber ist, daſs sie als Unterthanen der Karthager selbst
in officiellen Actenstücken bezeichnet werden, ihre Mauern
hatten niederreiſsen müssen und Steuer und Zuzug nach Kar-
thago zu leisten hatten. Indeſs waren sie nicht der Rekruti-
rung noch der Grundsteuer unterworfen, sondern leisteten ein
Bestimmtes an Mannschaft und Geld, Kleinleptis zum Beispiel
jährlich die ungeheure Summe von 365 Talenten (547500 Thlr.
preuſsisch); ferner lebten sie nach gleichem Recht mit den
Karthagern und konnten also zum Beispiel mit ihnen in gleiche
Ehe treten *. Einzig Utica hatte seine Mauern und seine Selbst-
ständigkeit bewahrt, wohl weniger durch seine Macht als durch
die Pietät der Karthager gegen ihre alten Beschützer; wie
denn die Phoenikier für solche Verhältnisse eine merkwürdige
von der griechischen Gleichgültigkeit wesentlich abstechende
Ehrfurcht hegten. Selbst im auswärtigen Verkehr sind es
stets ‚Karthago und Utica‘, die zusammen festsetzen und ver-
sprechen; was natürlich nicht ausschlieſst, daſs die weit wich-
tigere Neustadt der That nach auch über Utica die Hegemonie
[316]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
behauptete. — So ward aus der tyrischen Factorei die Haupt-
stadt eines mächtigen nordafricanischen Reiches, das von der
tripolitanischen Wüste sich erstreckte bis zum atlantischen
Meer, im westlichen Theil (Marocco und Algier) zwar mit zum
Theil oberflächlicher Besetzung der Küstensäume sich begnü-
gend, aber in dem reicheren östlichen, den heutigen Districten
von Constantine und Tunis, auch das Binnenland beherr-
schend und seine Grenze beständig weiter gegen Süden vor-
schiebend; die Karthager waren, wie ein alter Schriftsteller
bezeichnend sagt, aus Tyriern Libyer geworden. Die phoeni-
kische Civilisation herrschte in Libyen ähnlich wie in Klein-
asien und Syrien die griechische nach den Zügen Alexanders,
wenn auch nicht mit gleicher Gewalt. An den Höfen der
Nomadenscheiks ward phoenikisch gesprochen und geschrieben
und die civilisirteren einheimischen Stämme nahmen für ihre
Sprache das phoenikische Alphabet an *. Sie vollständig zu
phoenikisiren lag indeſs weder im Geiste der Nation noch in
der Politik Karthagos. — Die Epoche, in der diese Umwand-
lung Karthagos in die Hauptstadt von Libyen stattgefunden
hat, läſst sich um so weniger bestimmen, als die Veränderung
ohne Zweifel stufenweise erfolgt ist. Der eben erwähnte
Schriftsteller nennt als den Reformator der Nation den Hanno;
wenn dies derselbe ist, der zur Zeit des ersten Krieges mit
Rom lebte, so kann er nur als Vollender des neuen Systems
angesehen werden, dessen Durchführung vermuthlich das vierte
und fünfte Jahrhundert Roms ausgefüllt hat. — Zu allem die-
sem kam endlich das Sinken der groſsen phoenikischen Städte
in der Heimath, von Sidon und besonders von Tyros, dessen
Blüthe theils in Folge innerer Bewegungen, theils durch die
Drangsale von auſsen, namentlich die Belagerungen durch
Salmanassar im ersten, Nabukodrossor im zweiten, Alexander
im fünften Jahrhundert Roms zu Grunde gerichtet ward. Die
edlen Geschlechter und die alten Firmen von Tyros siedelten
groſsentheils über nach der gesicherten und blühenden Tochter-
stadt und brachten dorthin ihre Intelligenz, ihre Capitalien
und ihre Traditionen. Als die Phoenikier mit Rom in Be-
[317]KARTHAGO.
rührung kamen, war Karthago ebenso entschieden die erste
punische Stadt, wie Rom die erste der latinischen Gemeinden.


Aber die Herrschaft über Libyen war nur die eine Hälfte
der karthagischen Macht; ihre See- und Colonialherrschaft
hatte gleichzeitig nicht minder gewaltig sich entwickelt. —
In Spanien war der Hauptplatz der Phoenikier die uralte
tyrische Ansiedlung in Gades (Cadiz); auſserdem besaſsen sie
eine Kette von Factoreien westlich und östlich davon und im
Innern das Gebiet der Silbergruben, so daſs sie etwa das
heutige Andalusien und Granada oder doch wenigstens die
Küste davon inne hatten. Das Binnenland den einheimischen
kriegerischen Nationen abzugewinnen war man nicht bemüht;
man begnügte sich mit dem Besitz der Bergwerke und der
Stationen für den Handel und für den Fisch- und Muschel-
fang und hatte Mühe auch nur hier sich gegen die anwoh-
nenden Stämme zu behaupten. Es ist wahrscheinlich, daſs
diese Besitzungen nicht eigentlich karthagisch waren, sondern
tyrisch, und Gades nicht mitzählte unter den tributpflichtigen
Städten Karthagos; doch stand es wie alle westlichen Phoe-
nikier thatsächlich unter karthagischer Hegemonie, wie die
von Karthago den Gaditanern gegen die Eingebornen gesandte
Hülfe und die Anlegung karthagischer Handelsniederlassungen
westlich von Gades beweist. — Ebusus und die Balearen
wurden dagegen von den Karthagern selbst in früher Zeit
besetzt, theils der Fischereien wegen, theils als Vorposten
gegen die Massalioten, mit denen von hier aus die heftigsten
Kämpfe geführt wurden. Ebenso setzten die Karthager schon
am Ende des zweiten Jahrhunderts Roms sich fest auf Sar-
dinien, welches ganz in derselben Art wie Libyen von ihnen
ausgebeutet ward. Während die Eingebornen sich in dem
gebirgigen Innern der Insel der Verknechtung zur Feldscla-
verei entzogen wie die Numidier in Africa an dem Saum der
Wüste, wurden nach Caralis (Cagliari) und andern wichtigen
Puncten phoenikische Colonien geführt und die fruchtbaren
Küstenlandschaften durch eingeführte libysche Ackerbauer ver-
werthet. — In Sicilien endlich war zwar die Straſse von Messana
und die gröſsere westliche Hälfte der Insel in früher Zeit den
Griechen in die Hände gefallen; allein die Phoenikier behaup-
teten sich mit Hülfe der Karthager theils auf den kleineren In-
seln in der Nähe, den Aegaten, Melite, Gaulos, Kossyra, unter
denen namentlich die Ansiedlung auf Malta reich und blühend
war, auf der sicilischen Ost- und theils Nordostküste, wo sie von
[318]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
Motye, später von Lilybaeon aus die Verbindung mit Africa,
von Panormos und Soloeis aus die mit Sardinien unterhielten.
Das Innere der Insel blieb in dem Besitz der eingebornen
Elymer, Sikaner und Sikeler. Es hatte sich, nachdem das
weitere Vordringen der Griechen gebrochen war, ein verhält-
niſsmäſsig friedlicher Zustand auf der Insel hergestellt, den
selbst die von den Persern veranlaſste Heerfahrt der Kartha-
ger gegen ihre griechischen Nachbarn auf der Insel (274)
nicht auf die Dauer unterbrach und der im Ganzen fortbe-
stand bis auf die attische Expedition nach Sicilien (339-341).
Die beiden rivalisirenden Nationen bequemten sich einander
zu dulden und beschränkten sich im Wesentlichen jede auf
ihr Gebiet. Es ist sehr wahrscheinlich, daſs die Karthager
ihren sicilischen Unterthanen, auf deren Treue so viel ankam
und die es nicht weise war den Unterschied der punischen
Herrschaft und der griechischen Freiheit allzu schneidend
fühlen zu lassen, eine freiere Bewegung gestatteten als den
libyschen und sardischen; wenigstens finden wir, daſs dieselben
gröſserer Freiheiten im Handel mit dem Ausland genossen
und ihren inneren Verkehr nicht mit dem karthagischen Zei-
chen-, sondern nach griechischer Weise mit Metallgeld betrie-
ben. — Alle diese Niederlassungen und Besitzungen waren
an sich wichtig genug; allein noch von weit gröſserer Bedeu-
tung insofern, als sie die Pfeiler der karthagischen Seeherr-
schaft waren. Durch den Besitz von Südspanien, der Balea-
ren, Sardiniens, des westlichen Sicilien und Melites in Ver-
bindung mit der Verhinderung hellenischer Colonisirungen
sowohl an der spanischen Ostküste als auf Corsica und in
der Gegend der Syrten machten die Herren der nordafricani-
schen Küste ihre See zu einer geschlossenen und monopolisirten
die westliche Meerenge. Das tyrrhenische und gallische Meer
zwar muſsten die Phoenikier mit andern Nationen theilen;
allein es war dies allenfalls zu ertragen, so lange die Etrusker
und die Griechen sich hier das Gleichgewicht hielten; ja mit
den ersteren als den minder gefährlichen Nebenbuhlern trat
Karthago sogar in Bündniſs gegen die Griechen. — Indeſs als
nach dem Sturz der etruskischen Macht, den wie es zu gehen
pflegt bei derartigen Nothbündnissen, Karthago wohl schwer-
lich mit aller Macht abzuwenden bestrebt gewesen war, und
nach der Vereitelung der groſsen Entwürfe des Alkibiades
Syrakus unbestritten dastand als die erste griechische See-
macht, konnte jenes Gleichgewichtssystem nicht länger Bestand
[319]KARTHAGO.
haben. Wie die Herren von Syrakus nach der Herrschaft
über Sicilien und Unteritalien und zugleich über das tyrrhe-
nische und adriatische Meer zu streben anfingen, wurden auch
die Karthager gewaltsam getrieben zu einer energischeren Po-
litik. Das nächste Ergebniſs der langen und hartnäckigen
Kämpfe zwischen ihnen und ihrem ebenso mächtigen als
schändlichen Gegner Dionysios von Syrakus (348-389) war
die Vernichtung oder Schwächung der sicilischen Mittelstaaten,
die im Interesse beider Parteien lag, und die Theilung der
Insel zwischen den Syrakusanern und den Karthagern. Die
blühendsten Städte der Insel: Selinus, Himera, Akragas, Gela,
Messana, wurden im Verlauf dieser heillosen Kämpfe von den
Karthagern von Grund aus zerstört; nicht ungern sah Diony-
sios, wie das Hellenenthum hier zu Grunde ging oder doch
geknickt ward, um sodann gestützt auf die fremden aus
Italien, Gallien und Spanien angeworbenen Söldner die ver-
ödeten oder mit Militärcolonien belegten Landschaften um so
sicherer zu beherrschen. Der Friede, der nach des karthagi-
schen Feldherrn Mago Sieg bei Kronion 371 abgeschlossen
ward und den Karthagern die griechischen Städte Thermae
(das alte Himera), Egesta, Herakleia Minoa, Selinus und ei-
nen Theil des Gebietes von Akragas bis an den Halykos unter-
warf, galt den beiden um den Besitz der Insel ringenden
Mächten nur als ein vorläufiges Abkommen; immer von neuem
wiederholten sich beiderseits die Versuche den Nebenbuhler
ganz zu verdrängen. Viermal waren die Karthager Herren
von ganz Sicilien bis auf Syrakus und scheiterten an dessen
festen Mauern (360 unter Dionysios dem Aelteren; 410 unter
Timoleon; 445 unter Agathokles; 476 unter Pyrrhos); fast
ebenso oft schienen die Syrakusaner unter tüchtigen Führern,
wie der ältere Dionysios, Agathokles und Pyrrhos waren, ihrer-
seits dem Erfolg ebenso nahe. Mehr und mehr aber neigte
sich das Uebergewicht auf die Seite Karthagos, von deren
Seite regelmäſsig der Angriff ausging und die, wenn sie auch
nicht mit römischer Stetigkeit den Plan verfolgten ihre Gegner
von der Insel zu verdrängen, doch mit weit gröſserer Plan-
mäſsigkeit und Energie den Angriff betrieben als die von Par-
teien zerrissene und abgehetzte Griechenstadt die Vertheidi-
gung. Mit Recht durften die Phoenikier erwarten, daſs nicht
immer eine Pest oder ein fremder Condottier die Beute ihnen
entreiſsen würde; und vorläufig war wenigstens zur See der
Kampf schon entschieden. Pyrrhos Versuch die syrakusani-
[320]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
sche Flotte wieder herzustellen war der letzte; nachdem dieser
gescheitert war, beherrschte die karthagische Flotte ohne Ne-
benbuhler das ganze westliche Mittelmeer; und ihre Versuche
Syrakus, Rhegion, Tarent zu besetzen zeigten, was sie ver-
mochte und wohin sie zielte. Hand in Hand damit ging das
Bestreben den Seehandel dieser Gegend immer mehr sowohl
dem Ausland wie den eigenen Unterthanen gegenüber zu mo-
nopolisiren; wovon ein einzelnes zufällig erhaltenes Zeugniſs
ist, daſs Karthago den römischen Handelsschiffen die spani-
schen, sardinischen und die libyschen Häfen durch den Ver-
trag vom Jahre 245 freigab, dagegen durch den vom Jahre 406
ihnen jene mit Ausnahme des eigenen karthagischen schloſs.


Die Verfassung Karthagos bezeichnet Aristoteles, der etwa
funfzig Jahre vor dem Anfang des ersten punischen Krieges
starb, als übergegangen aus der monarchischen in eine Ari-
stokratie oder in eine zur Oligarchie sich neigende Demokratie;
denn mit beiden Namen benennt er sie. Die Leitung der
Geschäfte stand zunächst bei dem Rath der Alten, welcher
gleich der spartanischen Gerusia bestand aus den beiden jähr-
lich von der Bürgerschaft ernannten Königen und achtund-
zwanzig Gerusiasten, die auch wie es scheint Jahr für Jahr
von der Bürgerschaft erwählt wurden. Dieser Rath ist es,
der im Wesentlichen die Staatsgeschäfte erledigt, zum Beispiel
die Einleitungen zum Kriege trifft, die Aushebungen und Wer-
bungen anordnet, den Feldherrn ernennt und ihm eine An-
zahl Gerusiasten beiordnet, aus denen regelmäſsig die Unter-
befehlshaber genommen werden; an ihn werden die Depeschen
adressirt. Ob neben diesem kleinen Rath noch ein groſser
stand, ist zweifelhaft; auf keinen Fall hatte er viel zu bedeu-
ten. Ebensowenig scheint den Königen ein besonderer Ein-
fluſs zugestanden zu haben; hauptsächlich functionirten sie
als Oberrichter, wie sie nicht selten auch heiſsen (Schofeten,
praetores). Gröſser war die Gewalt des Feldherrn; Isokrates,
Aristoteles älterer Zeitgenosse, sagt, daſs die Karthager sich
daheim oligarchisch, im Felde aber monarchisch regierten und
so mag sein Amt mit Recht von römischen Schriftstellern
als Dictatur bezeichnet werden, obgleich die ihm beigegebe-
nen Gerusiasten thatsächlich wenigstens seine Macht beschrän-
ken muſsten und ebenso die den Römern unbekannte Re-
chenschaft, die ihn nach Niederlegung des Amtes erwartete.
Eine feste Zeitgrenze bestand für das Amt des Feldherrn nicht
und es ist derselbe also schon deſshalb vom Jahrkönig un-
[321]KARTHAGO.
zweifelhaft verschieden gewesen, von dem ihn auch Aristoteles
ausdrücklich unterscheidet; doch war die Vereinigung mehre-
rer Aemter in einer Person bei den Karthagern üblich und
so kann es nicht befremden, daſs oft derselbe Mann zugleich
als Feldherr und als Schofet erscheint. — Aber über der
Gerusia und über den Beamten stand die Körperschaft der
Hundertundvier-, kürzer Hundertmänner oder der Richter,
das Hauptbollwerk der karthagischen Oligarchie. In der ur-
sprünglichen karthagischen Verfassung fand sie sich nicht,
sondern sie war hervorgegangen gleich dem spartanischen
Ephorat aus der aristokratischen Opposition gegen die monar-
chischen Elemente derselben. Bei der Käuflichkeit der Aemter
und der geringen Mitgliederzahl der höchsten Behörde drohte
eine einzige durch Reichthum und Kriegsruhm vor allen her-
vorleuchtende Familie, das Geschlecht des Barkas die Verwal-
tung in Krieg und Frieden und die Rechtspflege in ihren
Händen zu vereinigen; dies führte ungefähr um die Zeit
der Decemvirn zu einer Aenderung der Verfassung und zur
Einsetzung dieser neuen Behörde. Wir wissen, daſs die
Bekleidung der Quästur ein Anrecht gab zum Eintritt in die
Richterschaft, daſs aber dennoch der Candidat einer Wahl
unterlag durch gewisse sich selbst ergänzende Fünfmänner-
schaften; ferner daſs die Richter, obwohl sie rechtlich ver-
muthlich von Jahr zu Jahr gewählt wurden, doch thatsächlich
längere Zeit, ja lebenslänglich im Amt blieben, weſshalb sie
bei den Römern und Griechen gewöhnlich Senatoren genannt
werden. So dunkel das Einzelne ist, so klar erkennt man
das Wesen der Behörde als einer auf aristokratischer Coopta-
tion beruhenden Vertretung der Oligarchie; wovon eine verein-
zelte, aber charakteristische Spur ist, daſs in Karthago neben
dem gemeinen Bürger- ein eigenes Richterbad bestand. Zunächst
waren sie bestimmt zu fungiren als politische Geschworne,
die namentlich die Feldherren, aber ohne Zweifel vorkommen-
den Falls auch die Schofeten und Gerusiasten nach Nieder-
legung ihres Amtes zur Verantwortung zogen und nach Gut-
dünken, oft in rücksichtslos grausamer Weise, selbst mit dem
Tode bestraften. Natürlich ging hier wie überall, wo die Ver-
waltungsbehörden unter Controle einer andern Körperschaft
gestellt werden, der Schwerpunct der Macht über von der
controlirten auf die controlirende Behörde; und es begreift
sich leicht, theils daſs die letztere allenthalben in die Verwal-
tung eingriff, wie denn zum Beispiel die Gerusia wichtige
Röm. Gesch. I. 21
[322]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
Depeschen erst den Richtern vorlegt und dann dem Volke,
theils daſs die Furcht vor der regelmäſsig nach dem Erfolg
abgemessenen Controle daheim in Rath und That den kartha-
gischen Staatsmann wie den Feldherrn lähmte. — Die kar-
thagische Bürgerschaft scheint, wenn auch nicht wie in Sparta
ausdrücklich auf die passive Assistenz bei den Staatshandlun-
gen beschränkt, doch thatsächlich dabei nur in einem sehr
geringen Grade von Einfluſs gewesen zu sein. Bei den Wah-
len in die Gerusia war ein offenkundiges Bestechungssystem
Regel; bei der Ernennung eines Feldherrn wurde das Volk
zwar befragt, aber wohl erst wenn durch Vorschlag der Ge-
rusia der Sache nach die Ernennung erfolgt war; und in an-
deren Fragen ging man nur an das Volk, wenn die Gerusia
es für gut fand oder sich nicht einigen konnte. Volksgerichte
kannte man in Karthago nicht. Die Machtlosigkeit der Bür-
gerschaft ward wahrscheinlich wesentlich durch ihre politische
Organisirung bedingt; die karthagischen Tischgenossenschaften,
die hiebei erwähnt und den spartanischen Pheiditien verglichen
werden, mögen oligarchisch geleitete Zünfte gewesen sein.
Sogar ein Gegensatz zwischen ‚Stadtbürgern‘ und ‚Handarbei-
tern‘ wird erwähnt, der auf eine sehr niedrige, vielleicht recht-
lose Stellung der letzteren schlieſsen läſst. — Fassen wir die
einzelnen Momente zusammen, so erscheint die karthagische
Verfassung als ein Capitalistenregiment, wie es begreiflich ist
bei einer Bürgergemeinde ohne ansässigen Mittelstand, die
einerseits aus einer besitzlosen von der Hand in den Mund
lebenden städtischen Menge bestand, andrerseits aus Groſs-
händlern, Plantagenbesitzern und vornehmen Vögten. Das
System die heruntergekommenen Herren auf Kosten der Un-
terthanen zu bereichern, indem sie ausgesendet werden als
Schatzungsbeamte und Frohnvögte in die abhängigen Gemein-
den, dieses unfehlbare Kennzeichen einer verrotteten städti-
schen Oligarchie, fehlt auch in Karthago nicht; Aristoteles
bezeichnet es als die wesentliche Ursache der Dauerhaftigkeit
und Stabilität der karthagischen Verfassung. Es ist wohl be-
zeugt, daſs in Karthago weder von oben noch von unten
jemals eine nennenswerthe Revolution stattgefunden hatte
und daſs die demokratische Opposition noch zur Zeit des
ersten punischen Krieges völlig machtlos war, indem sich die
Menge begnügte mit den in Form der Wahlbestechungen
und sonst ihr zufallenden nutzbaren Rechten der Herr-
schaft und führerlos blieb in Folge der materiellen Vortheile
[323]KARTHAGO.
die die regierende Partei allen ehrgeizigen oder bedrängten
Vornehmen zu bieten im Stande war. — In finanzieller Hin-
sicht behauptet Karthago in jeder Beziehung unter allen Staa-
ten des Alterthums den ersten Platz. Zur Zeit des pelopon-
nesischen Krieges war diese phoenikische Stadt nach dem
Zeugniſs des ersten Geschichtsschreibers der Griechen allen
hellenischen Staaten finanziell überlegen und werden ihre
Einkünfte denen des Groſskönigs verglichen; Polybios nennt
sie die reichste Stadt der Welt. Von der Intelligenz der kar-
thagischen Landwirthschaft, welche Feldherren und Staats-
männer dort wie später in Rom wissenschaftlich zu betreiben
und zu lehren nicht verschmähten, legt ein Zeugniſs ab, daſs
der römische Senat in späterer Zeit den Italikern den puni-
schen Feldbau officiell als Muster empfahl; und nicht minder
sind die Römer die Schüler der Phoenikier geworden in der
Ausbeutung der Unterthanen, durch welche die Grundrente ‚des
besten Theils von Europa‘ und der reichen zum Theil, zum
Beispiel in der Byzakitis und an der kleinen Syrte, hun-
dertfältige Frucht tragenden nordafricanischen Landschaft für
die Karthager gewonnen ward. Der Handel, der in Karthago
von jeher als ehrenhaftes Gewerbe galt, und die auf Grund
des Handels aufblühende Rhederei und Fabrication brachte
schon im natürlichen Laufe der Dinge den dortigen Ansied-
lern jährlich goldene Ernten, und es ist früher schon bezeich-
net worden, wie man durch ausgedehnte und immer gestei-
gerte Monopolisirung nicht bloſs aus dem Aus-, sondern auch
aus dem Inland allen Handel des westlichen Mittelmeers und
den ganzen Zwischenhandel zwischen dem Westen und Osten
mehr und mehr in diesem einzigen Hafen zu concentriren
verstand. Wenn es schlechterdings unmöglich ist von der
Capitalmasse sich eine Vorstellung zu machen, die in diesem
London des Alterthums zusammenströmte, so kann wenigstens
von den öffentlichen Einnahmequellen einigermaſsen einen Be-
griff geben, daſs trotz des kostspieligen Systems, nach dem Kar-
thago sein Kriegswesen organisirt hatte, und trotz der sorg- und
treulosen Verwaltung des Staatsguts dennoch die Beisteuern
der Unterthanen und die Zollgefälle die Ausgaben vollständig
deckten und von den Bürgern directe Steuern nicht erhoben
wurden; ja daſs noch nach dem zweiten punischen Kriege,
als die Macht des Staates schon gebrochen war, die laufenden
Ausgaben und eine jährliche Kriegssteuer von 300000 Thalern
ohne Steuerausschreibung bloſs durch eine einigermaſsen gere-
21*
[324]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
gelte Finanzwirthschaft gedeckt werden und man vierzehn Jahre
nach dem Frieden zur sofortigen Erlegung der noch übrigen
sechs und dreiſsig Termine sich erbieten konnte. Aber es ist
nicht bloſs die Summe der Einkünfte, in der sich die Ueberle-
genheit der karthagischen Finanzwirthschaft ausspricht; auch die
ökonomischen Grundsätze einer späteren und vorgeschrittneren
Zeit finden wir hier allein unter allen bedeutenderen Staaten
des Alterthums: es ist von ausländischen Staatsanleihen die
Rede und im Geldsystem finden wir neben Goldmünzen ein
dem Stoff nach werthloses Zeichengeld, welches sonst dem
Alterthum völlig fremd ist. In der That, wenn der Staat eine
Speculation wäre, nie hätte einer glänzender seine Aufgabe
gelöst als Karthago.


Vergleichen wir die Macht der Karthager und der Römer.
Beides waren Ackerbaustaaten; aber in Karthago herrschte der
groſse Grundbesitz, die Gutswirthschaft, das Sclavensystem,
während in Rom die Masse der Bürgerschaft selbst das Feld
baute. Die Mehrzahl der Bevölkerung war also in Rom be-
sitzend, das ist conservativ, in Karthago besitzlos und dem
Golde der Reichen wie dem Reformruf der Demagogen zu-
gänglich. — Beider Verfassung war aristokratisch; wie der
Senat in Rom regierten die Richter in Karthago. Allein wäh-
rend der römische Senat jeder Tüchtigkeit sich öffnete und
im besten Sinn die Nation vertrat, durfte er dem Volke ver-
trauen und brauchte die Beamten nicht zu fürchten. Der
karthagische Senat dagegen beruhte auf einer eifersüchtigen
Controle der Verwaltung durch die Regierung und vertrat aus-
schlieſslich die vornehmen Familien; sein Wesen war das Miſs-
trauen nach oben wie nach unten und so konnte er weder
sicher sein, daſs das Volk ihm folgte wohin es geführt ward,
noch unbesorgt vor Usurpationen der Beamten. Daher der
feste Gang der römischen Politik, die im Unglück keinen
Schritt zurückwich und die Gunst des Glückes nicht ver-
scherzte durch Fahrlässigkeit und Halbheit; während die Kar-
thager vom Kampf abstanden, wo eine letzte Anstrengung viel-
leicht alles gerettet hätte, und der groſsen nationalen Aufgaben
überdrüssig oder vergessen den halb fertigen Bau einstürzen
lieſsen, um nach wenigen Jahren von vorn zu beginnen. Da-
her ist der tüchtige Beamte in Rom regelmäſsig im Einver-
ständniſs mit seiner Regierung, in Karthago häufig in ent-
schiedener Fehde mit den Herren daheim und gedrängt sich
ihnen verfassungswidrig zu widersetzen oder gemeinschaftliche
[325]KARTHAGO.
Sache zu machen mit der opponirenden Reformpartei. Deren
Macht war im Steigen in Rom wie in Karthago, aber weit schneller
stieg sie hier. Schon während des zweiten punischen Krieges hat-
ten die Volksversammlungen einen andern Charakter angenom-
men und waren sie es, die im Staate entschieden; man vernimmt
die für eine beginnende Herrschaft der städtischen Menge be-
zeichnende Klage, daſs in Karthago die Buben die Revolutionen
machen helfen. Nach Beendigung des hannibalischen Krieges
ward auf Hannibals Vorschlag sogar durchgesetzt, daſs kein
Mitglied des Raths der Hundert zwei Jahre nach einander im
Amt sein könne und damit die volle Demokratie eingeführt,
die allerdings nach der Lage der Dinge allein Karthago zu
retten im Stande war. Allein diese Verfassungsänderung trat
erst ein, als es zu spät und durch Schuld der verrotte-
ten Oligarchie der Staat schon verloren war. — Karthago
wie Rom beherrschten ihre Stammgenossen und zahlreiche
stammfremde Gemeinden. Aber Rom nahm allmählich ei-
nen District nach dem andern in sein Bürgerrecht auf und
eröffnete den latinischen Gemeinden gesetzlich den Zutritt;
Karthago schloſs sich vollständig ab und lieſs den abhängigen
Districten nicht einmal die Hoffnung auf dereinstige Gleich-
stellung. Rom gönnte den stammverwandten Gemeinden
Antheil an den Früchten des Sieges, namentlich den gewon-
nenen Domänen und suchte in den übrigen unterthänigen
Staaten durch materielle Begünstigung der Vornehmen und
Reichen wenigstens eine Partei in das Interesse Roms zu
ziehen. Karthago behielt nicht bloſs für sich, was die Siege
einbrachten, sondern entriſs sogar den am besten gestellten
stammverwandten Städten die Handelsfreiheit. Rom nahm
auch den am schlechtesten gestellten unterworfenen Gemein-
den die Selbstständigkeit nicht ganz und legte keiner eine
feste Steuer auf; Karthago sandte überall hin seine Vögte
und belastete selbst die altphoenikischen Städte mit schwerem
Zins, während die unterworfenen Stämme factisch als Staats-
sclaven behandelt wurden. So war im karthagischen Staats-
verband nicht eine einzige Gemeinde mit Ausnahme von Utica,
die nicht durch den Sturz Karthagos politisch und materiell
gewonnen haben würde; in dem römischen nicht eine ein-
zige, die nicht viel wagte durch die Auflehnung gegen ein
Regiment, das die materiellen Interessen sorgfältig schonte
und die politische Opposition wenigstens nirgends durch äus-
serste Maſsregeln herausforderte zum Kampf. Wenn die kar-
[326]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
thagischen Staatsmänner meinten die phoenikischen Unter-
thanen durch die gröſsere Furcht vor den empörten Libyern,
die sämmtlichen Besitzenden durch das Zeichengeld an das
karthagische Interesse knüpfen zu können, so übertrugen
sie einen kaufmännischen Calcul dahin wo er nicht hingehört;
die Erfahrung bewies, daſs die römische Symmachie trotz ihrer
scheinbar loseren Fügung gegen Pyrrhos zusammenhielt wie
eine Mauer aus Felsenstücken, die karthagische dagegen wie
Spinneweben zerriſs, so wie ein feindliches Heer den africa-
nischen Boden betrat. So geschah es bei den Landungen
von Agathokles und von Regulus und ebenso im Söldner-
krieg; von dem Geiste, der in Africa herrschte, mag Zeugniſs
ablegen, daſs die libyschen Frauen den Söldnern freiwillig ihren
Schmuck steuerten zum Kriege gegen Karthago. — Finanziell
waren die karthagischen Staatseinkünfte ohne Zweifel den
römischen weit überlegen; allein dies glich zum Theil sich wie-
der aus dadurch, daſs die Quellen der karthagischen Finanzen,
Tribute und Zölle, eben wenn man sie am nöthigsten brauchte,
weit eher versiegten als die römischen, und daſs die kartha-
gische Kriegführung bei weitem kostspieliger war als die rö-
mische. — Die militärischen Hülfsmittel der Römer und Kar-
thager waren sehr verschieden, jedoch in vieler Beziehung
nicht ungleich abgewogen. Die karthagische Bürgerschaft be-
trug noch bei Eroberung der Stadt 700000 Köpfe mit Ein-
schluſs der Frauen und Kinder* und mochte am Ende des
fünften Jahrhunderts wenigstens ebenso zahlreich sein; sie
vermochte im fünften Jahrhundert im Nothfall ein Bürgerheer
von 40000 Hopliten auf die Beine zu bringen. Ein ebenso
starkes Bürgerheer hatte Rom schon im Anfang des fünften
Jahrhunderts unter gleichen Verhältnissen ins Feld geschickt;
seit den groſsen Erweiterungen des Bürgergebiets im Laufe
des fünften Jahrhunderts muſste die Zahl der waffenfähigen
[327]KARTHAGO.
Vollbürger mindestens sich verdoppelt haben. Aber weit mehr
noch als der Zahl der Waffenfähigen nach war Rom in dem
Effectivstand des Bürgermilitärs überlegen. So sehr die kar-
thagische Regierung auch es sich angelegen sein lieſs die
Bürger zum Waffendienst zu bestimmen, so konnte sie doch
weder dem Handwerker und Fabrikarbeiter den kräftigen Kör-
per des Landmanns geben noch die unüberwindliche Scheu
der Phoenikier vor dem Kriegswerk überwinden. Im fünften
Jahrhundert focht in den sicilischen Heeren noch eine ‚heilige
Schaar‘ von 2500 Karthagern als Garde des Feldherrn; im
sechsten findet sich in den karthagischen Heeren, zum Bei-
spiel in dem spanischen, mit Ausnahme der Offiziere nicht
ein einziger Karthager. Daſs dagegen die römischen Bauern
keineswegs bloſs in den Musterrollen, sondern auch auf den
Schlachtfeldern standen, ist bekannt. Aehnlich stand es mit
den Stammverwandten der beiden Gemeinden; während die
Latiner den Römern nicht mindere Dienste leisteten als ihre
Bürgertruppen, waren die Libyphoenikier ebenso wenig kriegs-
tüchtig wie die Karthager und begreiflicher Weise noch weit
weniger kriegslustig, und so verschwinden auch sie aus den
Heeren, indem die zuzugpflichtigen Städte ihre Verbindlichkeit
vermuthlich mit Geld abkauften. In dem eben erwähnten
spanischen Heer von etwa 15000 Mann bestand nur eine
einzige Reiterschaar von 450 Mann und auch diese nur zum
Theil aus Libyphoenikiern. Den Kern der karthagischen Ar-
meen bildeten die Libyer, aus deren Rekruten sich unter
tüchtigen Offizieren ein gutes Fuſsvolk bilden lieſs und deren
leichte Reiterei eine unübertroffene Truppe bildete. Dazu
kamen die Mannschaften der mehr oder minder abhängigen
Völkerschaften Libyens und Spaniens und die berühmten
Schleuderer von den Balearen, deren Stellung zwischen Bun-
descontingenten und Söldnerschaaren die Mitte gehalten zu
haben scheint; endlich im Nothfall die im Ausland angewor-
bene Soldatesca. Der Zahl nach konnte ein solches Heer ohne
Mühe fast auf jede beliebige Stärke gebracht werden und auch
an Tüchtigkeit der Offiziere, an Waffenkunde und Muth fähig
sein mit dem römischen sich zu messen; allein nicht bloſs
verstrich, wenn Söldner angenommen werden muſsten, ehe
dieselben bereit standen eine gefährlich lange Zeit, während
die römische Miliz jeden Augenblick auszuziehen im Stande
war, sondern, was die Hauptsache ist, während die punischen
Heere nichts zusammenhielt als die Fahnenehre und der Vor-
[328]DRITTES BUCH. KAPITEL I.
theil, fanden sich die römischen durch alles vereinigt,
was sie an das gemeinsame Vaterland band. Dem karthagi-
schen Offizier gewöhnlichen Schlages galten seine Söldner, ja
selbst die libyschen Bauern ungefähr so viel wie heute im
Krieg die Kanonenkugeln gelten; daher Schändlichkeiten wie
zum Beispiel der Verrath der libyschen Truppen durch ihren
Feldherrn Himilko 358, der einen gefährlichen Aufstand der
Libyer zur Folge hatte, und daher jener zum Sprichwort ge-
wordene Ruf der ‚punischen Treue‘, der den Karthagern nicht
wenig geschadet hat. Alles Unheil, welches Fellah- und Söld-
nerheere über einen Staat bringen können, hat Karthago in
vollem Maſse erfahren und mehr als einmal seine bezahlten
Knechte gefährlicher erfunden als seine Feinde. — Die Män-
gel dieses Heerwesens, die die karthagische Regierung nicht
verkennen konnte, suchte man allerdings auf jede Weise zu
ersetzen. Man hielt auf gefüllte Kassen und gefüllte Zeug-
häuser, um jederzeit Söldner ausstatten zu können. Man
wandte groſse Sorgfalt auf das, was bei den Alten die heu-
tige Artillerie vertrat: den Maschinenbau, in welcher Waffe
wir die Karthager den Sikelioten regelmäſsig überlegen finden,
und die Elephanten, seit diese im Krieg gebraucht wurden
und die älteren bei den Libyern nationalen Streitwagen ver-
drängt hatten; zwischen den Mauern Karthagos waren Stal-
lungen für 300 Elephanten angelegt. Die abhängigen Städte
zu befestigen konnte man freilich nicht wagen und muſste es
geschehen lassen, daſs jedes in Africa gelandete feindliche
Heer mit dem offenen Lande auch die Städte und Flecken
gewann; recht im Gegensatz zu Italien, wo die meisten unter-
worfenen Städte ihre Mauern behalten hatten und eine Kette
römischer Festungen die ganze Halbinsel beherrschte. Dagegen
für die Befestigung der Hauptstadt bot man auf, was Geld
und Kunst vermochten; und mehrere Male rettete den Staat
nichts als die Stärke der Mauern der Hauptstadt, während
Rom politisch und militärisch so gesichert war, daſs es eine
förmliche Belagerung niemals erfahren hat. Endlich das Haupt-
bollwerk des Staats war die Kriegsmarine, auf die man die
gröſste Sorgfalt verwandte. Im Bau wie in der Führung der
Schiffe waren die Karthager den Griechen überlegen; in Kar-
thago zuerst baute man Schiffe mit mehr als drei Reihen von
Ruderbänken und die karthagischen Kriegsfahrzeuge, in dieser
Zeit meistens Fünfrudrer, waren in der Regel bessere Segler
als die griechischen, die Ruderer, sämmtlich Staatssclaven, die
[329]KARTHAGO.
nicht von den Galeeren kamen, vortrefflich eingeschult und
die Kapitäne gewandt und furchtlos. In dieser Beziehung war
Karthago entschieden den Römern überlegen, die mit den
wenigen Schiffen der verbündeten Griechen und den weni-
geren eigenen nicht im Stande waren sich in der offenen
See auch nur zu zeigen gegen die Flotte, die damals unbe-
stritten das westliche Meer beherrschte. — Fassen wir schlieſs-
lich zusammen, was die Vergleichung der Mittel der beiden
groſsen Mächte ergiebt, so rechtfertigt sich wohl das Urtheil
eines einsichtigen und unparteiischen Griechen, daſs Karthago
und Rom, da der Kampf zwischen ihnen begann, im Allge-
meinen einander gewachsen waren; allein wir können nicht
unterlassen hinzuzufügen, daſs Karthago wohl aufgeboten hatte,
was Geist und Reichthum vermochten, um statt der natür-
lichen Mittel zum Angriff und zur Vertheidigung andere zu
finden; aber daſs es nicht im Stande gewesen war die Grund-
mängel eines eigenen Landheers und einer auf eigenen Füſsen
stehenden Symmachie in irgend ausreichender Weise zu er-
setzen. Daſs Rom nur in Italien, Karthago nur in Libyen
ernstlich angegriffen werden konnte, lieſs sich nicht verken-
nen; und ebenso wenig, daſs Karthago auf die Dauer einem
solchen Angriff nicht entgehen konnte. Die Flotten waren in
jener Zeit der Kindheit der Schifffahrt noch nicht bleibendes
Erbgut der Nationen, sondern lieſsen sich herstellen, wo es
Bäume, Eisen und Wasser gab; daſs selbst mächtige See-
staaten nicht im Stande waren den schwächeren Feinden die
Landung zu wehren, war einleuchtend und in Africa selbst
mehrfach erprobt. Seit Agathokles den Weg dorthin gezeigt
hatte, konnte auch ein römischer General ihn finden, und
während in Italien mit dem Einrücken einer punischen Inva-
sionsarmee der Krieg begann, war er in Libyen mit dem Ein-
rücken einer römischen zu Ende und verwandelte sich in eine
Belagerung, in der der hartnäckigste Heldenmuth, wenn nicht
besondere Zufälle eintraten, doch endlich unterliegen muſste.


[[330]]

KAPITEL II.



Der erste Krieg mit Karthago.


Seit mehr als einem Jahrhundert verheerten die Kriege
zwischen den Karthagern und den syrakusanischen Herren
die schöne sicilische Insel. Von beiden Seiten ward der Krieg
geführt einerseits mit politischem Propagandismus, indem Kar-
thago Verbindungen unterhielt mit der aristokratisch-republi-
kanischen Opposition in Syrakus, die syrakusanischen Dyna-
sten mit der Nationalpartei in den Karthago zinspflichtig
gewordenen Griechenstädten; andrerseits mit Söldnerheeren,
mit welchen Timoleon und Agathokles ebensowohl ihre Schlach-
ten schlugen wie die punischen Feldherren. Und wie man
auf beiden Seiten mit gleichen Mitteln focht, ward auch auf
beiden Seiten mit gleicher in der occidentalischen Geschichte
beispielloser Ehr- und Treulosigkeit gestritten. Die schwächere
Partei waren die Syrakusier. Noch im Frieden von 440 hatte
Karthago sich beschränkt auf das Drittel der Insel westlich
von Herakleia Minoa und Himera und hatte ausdrücklich
die Hegemonie der Syrakusier über sämmtliche östliche Städte
anerkannt. Pyrrhos Vertreibung aus Sicilien und Italien (479)
lieſs Akragas und überhaupt die bei weitem gröſsere Hälfte
der Insel in Karthagos Händen; die Syrakusier besaſsen nichts
mehr als die Südostspitze der Insel (Heloros, Neeton, Akrae,
Leontion, Megara) und Tauromenion. In der zweiten grossen
Stadt an der Ostküste, in Messana hatte eine fremdländische
Soldatenschaar sich festgesetzt und behauptete die Stadt, un-
abhängig von den Syrakusiern wie von den Karthagern. Sie
[331]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
waren von Campanien gekommen, wo bei den dort angesie-
delten Sabellern ein wüstes Wesen eingerissen war, das aus
Campanien im vierten und fünften Jahrhundert machte, was
später Aetolien, Kreta, Lakonien waren: den allgemeinen
Werbeplatz für die söldnersuchenden Fürsten und Städte.
Die von den campanischen Griechen dort ins Leben gerufene
Halbcultur, die barbarische Ueppigkeit des Lebens in Capua
und den übrigen campanischen Städten, wo man keinen statt-
lichen Schmaus mehr hielt, ohne daſs die Gäste durch Fechter-
spiele auf Leben und Tod während des Mahles ergötzt wur-
den, die politische Ohnmacht, zu der die römische Herrschaft
sie verurtheilte, ohne ihnen doch durch ein straffes Regiment
die Verfügung über sich selbst vollständig zu entziehen —
alles dies trieb die campanische Jugend schaarenweise unter
die Fahnen der Werbeoffiziere; und es versteht sich, dass der
leichtsinnige und gewissenlose Selbstverkauf hier wie überall
die Entfremdung von der Heimath, die Gewöhnung an Gewalt-
thätigkeit und Soldatenunfug und die Gleichgültigkeit gegen
den Treubruch im Gefolge hatte. Warum eine Söldnerschaar
sich der ihrer Hut anvertrauten Stadt nicht für sich selbst
bemächtigen solle, vorausgesetzt nur daſs sie dieselbe zu be-
haupten im Stande war, leuchtete den Campanern nicht ein
— hatten doch die Samniten in Capua selbst, die Lucaner in
einer Reihe griechischer Städte ihre Herrschaft in nicht viel
ehrenhafterer Weise begründet. Nirgends luden die politi-
schen Verhältnisse mehr zu solchen Unternehmungen ein als
in Sicilien; schon die während des peloponnesischen Krieges
nach Sicilien gelangten campanischen Hauptleute hatten in
Entella und Aetna in solcher Art sich eingenistet. Etwa um
das Jahr 470 setzte ein campanischer Trupp, der früher unter
Agathokles gedient hatte und nach dessen Tode (465) das
Räuberhandwerk auf eigene Rechnung trieb, sich fest in Messa-
na, der zweiten Stadt des griechischen Siciliens und dem Haupt-
sitz der antisyrakusanischen Partei in dem noch von Griechen
beherrschten Theile der Insel. Die Bürger wurden erschlagen
oder vertrieben, die Frauen und Kinder und die Häuser der-
selben unter die Soldaten vertheilt und die neuen Herren der
Stadt oder wie sie sich nannten, die Mamertiner wurden bald
die dritte Macht der Insel, deren nordöstlichen Theil sie
in den wüsten Zeiten nach Agathokles Tode sich unterwarfen.
Die Karthager sahen nicht ungern diese Ereignisse, durch
welche die Syrakusier die wichtigste unterthänige Stadt ver-
[332]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
loren und einen neuen und mächtigen Gegner in nächster
Nähe erhielten; mit karthagischer Hülfe behaupteten die Ma-
mertiner sich gegen Pyrrhos und der unzeitige Abzug des
Königs gab ihnen ihre ganze Macht zurück. — Es ziemt der
Historie weder den treulosen Frevel zu entschuldigen, durch
den sie der Herrschaft sich bemächtigten, noch zu vergessen,
daſs der Gott, der die Sünde der Väter straft bis ins vierte
Glied, nicht der Gott der Geschichte ist. Wer sich berufen
fühlt die Sünden Anderer zu richten, mag die Menschen ver-
dammen; für Sicilien konnte es heilbringend sein, daſs hier
eine streitkräftige und der Insel eigene Macht sich zu bilden
anfing, die schon bis achttausend Mann ins Feld zu stellen
vermochte und die allmählich sich in den Stand setzte, den
Kampf, dem die trotz der ewigen Kriege sich immer mehr
der Waffen entwöhnenden Hellenen nicht mehr gewachsen
waren, zu rechter Zeit gegen die Ausländer mit eigenen
Kräften aufzunehmen.


Zunächst indeſs kam es anders. Ein junger syrakusani-
scher Offizier, der durch seine Abstammung aus dem Ge-
schlechte Gelons und durch seine engen verwandtschaftlichen
Beziehungen zum König Pyrrhos ebenso sehr wie durch die
Auszeichnung, mit der er in dessen Feldzügen gefochten hatte,
die Blicke seiner Mitbürger wie die der syrakusanischen Sol-
datesca auf sich gelenkt hatte, Hieron, des Hierokles Sohn,
ward durch eine militärische Wahl an die Spitze des mit den
Bürgern hadernden Heeres gerufen (479/80 Roms, Ol. 126, 2).
Durch seine kluge Verwaltung, sein adliches Wesen und seinen
mäſsigen Sinn gewann er schnell sich die Herzen der syra-
kusanischen, des schändlichsten Despotenunfugs gewohnten
Bürgerschaft und überhaupt der sicilischen Griechen. Er ent-
ledigte sich, freilich auf treulose Weise, des unbotmäſsigen
Söldnerheeres, regenerirte die Bürgermiliz nnd versuchte, an-
fangs mit dem Titel als Feldherr, später als König, mit den
Bürgertruppen und frischen und lenksameren Geworbenen
die tief gesunkene hellenische Macht wieder herzustellen. Mit
den Karthagern, die im Einverständniss mit den Griechen den
König Pyrrhos von der Insel vertrieben hatten, war damals
Friede; die nächsten Feinde der Syrakusier waren die Ma-
mertiner, die Stammgenossen der verhassten, vor kurzem aus-
gerotteten Söldner, die Mörder ihrer griechischen Wirthe, die
Schmälerer des syrakusanischen Gebiets, die Zwingherren und
Brandschatzer einer Menge kleinerer griechischen Städte. Im
[333]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
Bunde mit den Römern, die eben um diese Zeit gegen die
Bundes-, Stamm- und Frevelgenossen der Mamertiner, die
Campaner in Rhegion ihre Legionen schickten (483), wandte
Hieron sich gegen Messana. Durch einen groſsen Sieg, nach
welchem Hieron zum König der Sikelioten ausgerufen ward
(484), gelang es die Mamertiner in ihre Stadt einzuschlieſsen
und nachdem die Belagerung einige Jahre gewährt hatte,
sahen die Mamertiner sich aufs Aeuſserste gebracht und un-
fähig die Stadt gegen Hieron länger mit eigenen Kräften zu
behaupten. Daſs eine Uebergabe auf Bedingungen nicht mög-
lich war und das Henkerbeil, das die rheginischen Campaner
in Rom getroffen hatte, eben so sicher in Syrakus der mes-
sanischen wartete, leuchtete ein; die einzige Rettung war die
Auslieferung der Stadt an die Karthager oder an die Römer,
denen beiden hinreichend gelegen sein muſste an der Erobe-
rung des wichtigen Platzes, um über alle anderen Bedenken
hinwegzusehen. Ob es vortheilhafter sei den Puniern oder
den Herren Italiens sich zu ergeben, war zweifelhaft; nach
langem Schwanken entschied sich endlich die Majorität der
campanischen Bürgerschaft, den Besitz der meerbeherrschen-
den Festung den Römern anzutragen.


Es war ein weltgeschichtlicher Moment von der tiefsten
Bedeutung, als die Boten der Mamertiner im römischen Senat
erschienen. Zwar was alles an dem Ueberschreiten des schma-
len Meerarmes hing, konnte damals Niemand ahnen; aber
jedem der rathschlagenden Väter der Stadt muſste das offen-
bar sein, daſs an diese Entscheidung, wie sie immer ausfiel,
ganz andere und wichtigere Folgen sich knüpfen muſsten als
an irgend einen der bisher vom Senat gefaſsten Beschlüsse.
Strenge und rechtliche Männer freilich mochten fragen, wie
es möglich sei überhaupt zu schwanken über das, was zu
thun sei, und also nicht bloſs das Bündniſs mit Hieron zu
brechen, sondern nachdem eben erst die rheginischen Cam-
paner mit gerechter Härte von den Römern bestraft worden
waren, jetzt ihre nicht weniger schuldigen sicilischen Helfers-
helfer zum Bündniſs und zur Freundschaft von Staatswegen
zuzulassen und sie der verdienten Strafe zu entziehen. Man
gab damit ein Aergerniſs, das nicht bloſs den Gegnern Stoff
zu Declamationen liefern, sondern auch sittliche Gemüther
ernstlich empören muſste. Allein wohl mochte auch der
Staatsmann, dem die politische Moral keineswegs bloſs eine
Phrase war, zurückfragen, wie man römische Bürger, die den
[334]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Fahneneid gebrochen und römische Bundesgenossen hinter-
listig gemordet hatten, gleichstellen könne mit Fremden, die
wohl auch gefrevelt hätten gegen Fremde, aber wo jenen zu
Richtern, diesen zu Rächern die Römer Niemand bestellt habe.
Hätte es sich nur darum gehandelt, ob die Syrakusaner oder
die Mamertiner in Messana geboten, so konnte Rom allerdings
sich diese wie jene gefallen lassen. Rom strebte nach dem
Besitz Italiens, wie Karthago nach dem Siciliens; schwerlich
gingen beider Mächte Pläne damals weiter. Allein eben darin
lag es begründet, daſs jede an ihrer Grenze eine Mittelmacht
zu haben und zu halten wünschte — so die Karthager Tarent,
die Römer Syrakus und Messana; und daſs sie, als dies un-
möglich geworden war, die Grenzplätze lieber sich als der
andern Groſsmacht gönnten. Wie Karthago in Italien ver-
sucht hatte, als Rhegion und Tarent von den Römern in Be-
sitz genommen werden sollten, diese Städte für sich zu ge-
winnen und nur durch Zufall daran gehindert worden war,
so bot jetzt in Sicilien sich für Rom die Gelegenheit dar, die
Stadt Messana in seine Symmachie zu ziehen; schlug man
sie aus, so durfte man nicht erwarten, daſs die Stadt selbst-
ständig blieb oder syrakusanisch war, sondern man warf sie
den Puniern in die Arme. War es gerechtfertigt die Gelegen-
heit entschlüpfen zu lassen, die sicher so nicht wieder kehrte,
sich des natürlichen Brückenkopfs zwischen Italien und Sici-
lien zu bemächtigen und ihn durch eine tapfere und aus
guten Gründen zuverlässige Besatzung zu sichern; gerecht-
fertigt mit dem Verzicht auf Messana die Herrschaft über den
letzten freien Paſs zwischen der Ost- und Westsee und die
Handelsfreiheit Italiens aufzuopfern? Zwar lieſsen sich gegen
die Besetzung Messanas auch ernsthaftere Bedenken geltend
machen als die der Gefühlspolitik waren. Daſs sie zu einem
Kriege mit Karthago führen muſste, war das geringste der-
selben; so ernst ein solcher war, Rom hatte ihn nicht zu
fürchten. Aber wichtiger war es, daſs man mit dem Ueber-
schreiten der See abwich von der bisherigen rein italischen
und rein continentalen Politik; man gab das System auf,
durch welches die Väter Roms Gröſse gegründet hatten, um
ein neues zu beginnen, dessen Resultate vorherzusagen Nie-
mand vermochte. Es war einer der Augenblicke, wo die Be-
rechnung aufhört und wo der Glaube an den eigenen Stern
und an den Stern des Vaterlandes allein den Muth giebt die
Hand zu fassen, die aus dem Dunkel der Zukunft winkt, und
[335]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
ihr zu folgen es weiſs keiner wohin. Nach langer ernster
Berathung über den Antrag der Consuln die Legionen den
Mamertinern zu Hülfe zu führen kam der Senat zu keinem
entscheidenden Beschluſs, sondern verwies die Sache an das
Volk. In diesem lebte das frische Gefühl der durch eigene
Kraft gegründeten Groſsmacht. Die Eroberung Italiens gab
den Römern wie die Griechenlands den Makedoniern, wie die
Schlesiens den Preuſsen den Muth, eine neue politische Bahn
zu betreten; formell motivirt ward die Unterstützung der Ma-
mertiner durch die Schutzherrschaft, die Rom über sämmtliche
Italiker ansprach. Auf Antrag der Consuln beschloſs die
Bürgerschaft den überseeischen Italikern Hülfe zu senden (489).


Man bereitete sich also zum Kriege, erwartend, wie die
beiden zunächst betroffenen und beide bisher dem Namen
nach mit Rom verbündeten sicilischen Mächte die Invasion
der Römer auf die Insel aufnehmen würden. Hieron
hatte Grund genug die an ihn ergangene Aufforderung der
Römer, gegen ihre neuen Bundesgenossen in Messana die
Feindseligkeiten einzustellen, ebenso zu behandeln, wie die
Samniten und die Lucaner in gleichem Falle die Besetzung
von Capua und Thurii aufgenommen hatten und den Römern
mit einer Kriegserklärung zu antworten; blieb er indeſs
allein, so war ein solcher Krieg eine Thorheit und von seiner
vorsichtigen und gemäſsigten Politik konnte man erwarten,
daſs er sich fügen werde, wenn Karthago sich ruhig verhielt.
Unmöglich schien es nicht. Eine römische Gesandtschaft ging
jetzt (489), sieben Jahre nach dem Versuch der punischen
Flotte sich Tarents zu bemächtigen, nach Karthago, um Auf-
klärung wegen dieser Vorgänge zu verlangen; man erinnerte
sich nicht ohne Grund jetzt plötzlich wieder der halb verges-
senen Beschwerden — es schien nicht überflüssig unter an-
deren Kriegsvorbereitungen auch die papierene Rüstkammer
mit Kriegsgründen zu füllen und für die künftigen Manifeste
sich, wie die Römer es pflegten, die Rolle des angegriffenen
Theils zu reserviren. Wenigstens das konnte man mit vollem
Rechte sagen, daſs die beiderseitigen Unternehmungen auf
Tarent und auf Messana der Absicht und dem Rechtsgrund
nach vollkommen gleich standen und nur der zufällige Erfolg
den Unterschied machte. Karthago vermied den offenen
Bruch. Die Gesandten brachten nach Rom die Desavouirung
des karthagischen Admirals zurück, der den Versuch auf Ta-
rent gemacht hatte, nebst den erforderlichen falschen Eiden.
[336]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Die Gegenbeschuldigungen, die natürlich nicht fehlten, waren
gemäſsigt gehalten und vermieden es sogar die beabsichtigte
sicilische Invasion als Kriegsgrund zu bezeichnen, obwohl sie
es war; denn wie Rom die italischen, so betrachtete Karthago
die sicilischen Angelegenheiten als innere, in die eine unab-
hängige Macht keinen Eingriff gestatten kann, und war ent-
schlossen hienach zu handeln. Die punische Politik indeſs ging
einen leiseren Gang als der der offenen Kriegsdrohung war. Als
in Rom die Vorbereitungen zum Kriege endlich so weit gedie-
hen waren, daſs die Flotte, gebildet aus den Kriegsschiffen von
Neapel, Tarent, Velia und Lokri, und die Vorhut des römischen
Landheeres unter dem Kriegstribun Gaius Claudius in Rhegion
erschienen (Frühling 490), kam ihnen von Messana die uner-
wartete Botschaft, daſs die Karthager im Einverständniſs mit
der antirömischen Partei in Messana als neutrale Macht einen
Frieden zwischen Hieron und den Mamertinern vermittelt
hätten und die Belagerung also aufgehoben sei; daſs ferner
im Hafen von Messana eine karthagische Flotte, in der Burg
karthagische Besatzung liege, beide unter dem Befehl des
Admiral Hanno. Die vom karthagischen Einfluſs beherrschte
mamertinische Bürgerschaft lieſs unter verbindlichem Dank
für die schleunig gewährte Bundeshülfe den römischen Be-
fehlshabern anzeigen, daſs man sich freue derselben nicht
mehr zu bedürfen. Es schien fast, als hätten die Römer vor
Messana sich ebenso nutzlos compromittirt wie die Karthager
vor Tarent. Indeſs der gewandte und verwegene Offizier, der
die römische Vorhut befehligte, schiffte nichts desto weniger
seine Truppen ein. Die Karthager wiesen die römischen
Schiffe zurück und brachten sogar einige derselben auf, die
der karthagische Admiral, eingedenk der strengen Befehle
keine Veranlassung zum Ausbruch der Feindseligkeiten zu
geben, den guten Freunden jenseit der Meerenge zurück-
sandte. Aber Claudius lieſs sich nicht abschrecken und bei
einem zweiten Versuch gelang die Ueberfahrt. Kaum gelandet
berief er die Bürgerschaft zur Versammlung und auf seinen
Wunsch erschien in derselben gleichfalls der Admiral, noch
immer wähnend den offenen Bruch vermeiden zu können.
Allein in der Versammlung selbst bemächtigten die Römer
sich seiner Person und Hanno sowie die schwache und führer-
lose punische Besatzung auf der Burg waren kleinmüthig ge-
nug jener an seine Truppen den Befehl zum Abzug zu geben,
diese dem Befehl des gefangenen Feldherrn nachzukommen
[337]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
und mit ihm die Stadt zu räumen. So war der Brückenkopf
der Insel in den Händen der Römer. Die karthagischen Be-
hörden, mit Recht erzürnt über die Thorheit und Schwäche
ihres Feldherrn, lieſsen ihn hinrichten und beschlossen den
Krieg. Vor allem galt es den verlorenen Platz wieder zu ge-
winnen. Eine starke karthagische Flotte, geführt von Hanno
Hannibals Sohn, erschien auf der Höhe von Messana; während
die Flotte die Meerenge sperrte, begann die von ihr ans Land
gesetzte karthagische Armee die Belagerung von der Nordseite.
Hieron, der nur auf das Losschlagen der Karthager gewartet
hatte um den Krieg gegen Rom zu beginnen, führte sein
kaum zurückgezogenes Heer wieder gegen Messana und über-
nahm den Angriff auf die Südseite der Stadt. — Allein mitt-
lerweile war auch der römische Consul Appius Claudius Cau-
dex mit dem Hauptheer in Rhegion erschienen und in einer
dunkeln Nacht gelang die Ueberfahrt trotz der karthagischen
Flotte. Kühnheit und Glück waren mit den Römern; die
Verbündeten, nicht gefaſst auf einen Angriff des gesammten
römischen Heeres und daher nicht vereinigt, wurden von den
aus der Stadt ausrückenden römischen Legionen einzeln ge-
schlagen und damit die Belagerung aufgehoben. Den Sommer
über behauptete das römische Heer das Feld und machte sogar
einen Versuch auf Syrakus; allein nachdem dieser gescheitert
war und auch die Belagerung von Echetla (an der Grenze der
Gebiete von Syrakus und Karthago) mit Verlust hatte aufge-
geben werden müssen, kehrte das römische Heer zurück nach
Messana und von da unter Zurücklassung einer starken Be-
satzung nach Italien. Die Erfolge dieses ersten auſseritalischen
Feldzugs der Römer mögen daheim der Erwartung nicht ganz
entsprochen haben, da der Consul nicht triumphirte; indeſs
konnte das kräftige Auftreten der Römer in Sicilien nicht
verfehlen auf die Griechen daselbst groſsen Eindruck zu ma-
chen. Als dann im folgenden Jahre beide Consuln und ein
doppelt so starkes Heer ungehindert die Insel betraten, als der
eine derselben, Marcus Valerius Maximus, seitdem von diesem
Feldzug ‘der von Messana’ (Messalla) genannt, einen glänzenden
Sieg über die verbündeten Karthager und Syrakusaner erfocht
und das punische Heer seitdem nicht mehr gegen die Römer
das Feld zu halten wagte, da fielen nicht bloſs eine Menge
kleinerer griechischer Städte den Römern zu, sondern Hieron
selbst verlieſs die karthagische Partei und machte Friede und
Bündniſs mit den Römern (491). Er folgte einer richtigen
Röm. Gesch. I. 22
[338]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Politik, indem er, so wie sich gezeigt hatte, daſs es den Rö-
mern Ernst war mit dem Einschreiten in Sicilien, sich sofort
ihnen anschloſs, als es noch Zeit war den Frieden ohne Abtre-
tungen und Opfer zu erkaufen. Die sicilischen Mittelstaaten,
Syrakus und Messana, die eine eigene Politik nicht durch-
führen konnten und nur zwischen römischer und karthagischer
Hegemonie zu wählen hatten, muſsten jedenfalls die erstere
vorziehen, da die Römer damals sehr wahrscheinlich noch
nicht die Insel für sich zu erobern, sondern nur sie Karthago
zu entreiſsen beabsichtigten, und auf alle Fälle von Rom eine
leidliche Behandlung und Schutz der Handelsfreiheit zu er-
warten war anstatt des karthagischen Tyrannisir- und Mono-
polisirsystems. Hieron blieb seitdem der wichtigste, stand-
hafteste und geachtetste Bundesgenosse der Römer auf der
Insel. — Für die Römer war hiermit das nächste Ziel erreicht.
Durch das Doppelbündniſs mit Messana und Syrakus war die
Landung auf der Insel und die bis dahin sehr schwierige Unter-
haltung der Heere gesichert. Seit die Ostküste der Insel in
den Händen der Römer war, verlor der bisher bedenkliche
und unberechenbare Krieg einen groſsen Theil seines wag-
lichen Charakters und machte zunächst nicht viel gröſsere
Schwierigkeiten als die Kriege in Samnium und Etrurien.
Die zwei Legionen, die man für das nächste Jahr (492) nach
der Insel hinübersandte, reichten aus, um im Einverständniſs
mit den sicilischen Griechen die Karthager überall in die
Festungen zurückzutreiben. Der Oberbefehlshaber der Kar-
thager, Hannibal Gisgons Sohn, warf mit dem Kern seiner
Truppen sich in Akragas, um diese wichtigste karthagische
Landstadt aufs Aeuſserste zu vertheidigen. Unfähig die feste
Stadt zu stürmen, blokirten die Römer sie mit verschanzten
Linien und einem doppelten Lager; die Eingeschlossenen,
die bis 50000 Köpfe zählten, litten bald Mangel am Noth-
wendigen. Zum Entsatz landete der karthagische Admiral
Hanno bei Herakleia und schnitt seinerseits der römischen
Belagerungsarmee die Zufuhr ab. Auf beiden Seiten war die
Noth groſs; man entschloſs sich endlich zu einer Schlacht,
um aus den Bedrängnissen und der Ungewiſsheit herauszu-
kommen. In dieser zeigte sich die numidische Reiterei eben
so sehr der römischen überlegen wie der punischen Infante-
rie das römische Fuſsvolk; das letztere entschied für Rom den
Sieg, allein die Verluste auch der Römer waren sehr beträcht-
lich und der Erfolg der gewonnenen Schlacht ward zum Theil
[339]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
dadurch verscherzt, daſs es nach der Schlacht der belagerten Armee
während der Verwirrung und der Ermüdung der Sieger gelang
aus der Stadt zu entkommen und die Flotte zu erreichen.
Dennoch war der Sieg von Bedeutung; Akragas fiel dadurch
in die Hände der Römer und damit war die ganze Insel in
ihrer Gewalt mit Ausnahme der Seefestungen, in denen der
karthagische Feldherr Hamilkar, Hannos Nachfolger im Ober-
befehl, sich bis an die Zähne verschanzte und weder durch
Gewalt noch durch Hunger zu vertreiben war. Der Krieg
hörte auf der Insel auf; nur durch Landungen und durch
Ausfälle aus den Festungen ward er fortgesetzt in einer für
die Römer äuſserst nachtheiligen und beschwerlichen Weise.


In der That empfanden die Römer erst jetzt die wirk-
lichen Schwierigkeiten des Krieges. Die karthagische Flotte
beherrschte die See und hielt nicht bloſs die sicilischen Kü-
stenstädte im Gehorsam und mit allem Nothwendigen ver-
sehen, sondern bedrohte auch Italien mit einer Landung,
weſswegen schon 492 dort eine consularische Armee hatte
zurückbleiben müssen. Zwar zu einer gröſseren Invasion
kam es nicht; allein wohl landeten kleinere karthagische Ab-
theilungen an den italischen Küsten und brandschatzten die
Bundesgenossen und was schlimmer als alles Uebrige war,
der Handel Roms und seiner Bundesgenossen war völlig ge-
lähmt; es brauchte nicht lange so fortzugehen, um Caere,
Ostia, Neapel, Tarent, Syrakus vollständig zu Grunde zu
richten, während die Karthager über die Contributionssummen
und den reichen Kaperfang die ausbleibenden sicilischen Tri-
bute leicht verschmerzten. Die Römer erfuhren jetzt, was
Dionysios, Agathokles und Pyrrhos erfahren hatten, daſs es
ebenso leicht war die Karthager aus dem Felde zu schlagen
als schwierig sie zu überwinden, und daſs alles darauf ankam
eine Flotte zu schaffen. Man sah es ein und beschloſs eine
römische Flotte von hundert fünf und zwanzig Dreideckern
herzustellen. Die Ausführung indeſs dieses energischen Be-
schlusses war nicht leicht. Zwar die aus den Rhetorschulen
stammende Darstellung, die glauben machen möchte, als hätten
damals zuerst die Römer die Ruder ins Wasser getaucht, ist
eine kindische Phrase; Italiens Handelsmarine muſste um
diese Zeit sehr ausgedehnt sein und auch an italischen
Kriegsschiffen fehlte es keineswegs. Aber es waren dies
Kriegsbarken und Dreidecker, wie sie in früherer Zeit üblich
gewesen waren; Fünfdecker, die nach dem neueren besonders
22*
[340]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
von Karthago ausgehenden Systeme des Seekrieges fast aus-
schlieſslich in der Linie verwendet wurden, hatte man in Ita-
lien noch nicht gebaut. Die Maſsregel der Römer war also
ungefähr der Art, wie wenn jetzt ein Seestaat von Fregatten
und Kuttern übergehen wollte zum Bau von Linien-
schiffen; und eben wie man heute in solchem Fall wo
möglich ein fremdes Linienschiff zum Muster nehmen würde,
überwiesen auch die Römer ihren Schiffsbaumeistern eine ge-
strandete karthagische Pentere als Modell. Ohne Zweifel hät-
ten die Römer, wenn sie gewollt hätten, mit Hülfe der Syra-
kusaner und Massalioten schneller zum Ziele gelangen können;
allein ihre Staatsmänner waren zu einsichtig um Italien durch
eine nichtitalische Flotte vertheidigen zu wollen. Dagegen
wurden die italischen Bundesgenossen stark angezogen sowohl
für die Schiffsoffiziere, die man gröſstentheils aus der ita-
lischen Handelsmarine genommen haben wird, als für die Ma-
trosen, deren Name (socii navales) beweist, daſs sie eine
Zeitlang ausschlieſslich von den Bundesgenossen gestellt wurden;
daneben wurden später Sclaven verwandt, die der Staat und
die reicheren Familien stellten, bald auch die ärmere Klasse
der Bürger. Unter solchen Verhältnissen und wenn man theils
den damaligen verhältniſsmäſsig niedrigen Stand des Schiff-
baus, theils die römische Energie wie billig in Anschlag bringt,
wird es begreiflich, daſs die Römer die Aufgabe, an der Na-
poleon gescheitert ist, eine Continental- in eine Seemacht um-
zuwandeln, innerhalb eines Jahres lösten und ihre Flotte von
hundert und zwanzig Segeln in der That im Frühjahr 494
von Stapel lief. Freilich konnte weder Geld noch Energie
bewirken, daſs dieselbe der karthagischen an Zahl und Segel-
tüchtigkeit gleichkam; und es muſste dies um so bedenklicher
erscheinen, als die Seetaktik dieser Zeit vorwiegend im Ma-
növriren bestand. Es kam zwar im Seegefecht auch häufig
vor, daſs Schwergerüstete und Bogenschützen vom Verdeck
herab fochten, oder daſs Wurfmaschinen von demselben aus
arbeiteten, allein der gewöhnliche und eigentlich entscheidende
Kampf bestand im Uebersegeln der feindlichen Schiffe, zu
welchem Zwecke die Vordertheile mit schweren Eisenschnäbeln
versehen waren; die kämpfenden Schiffe pflegten einander
zu umkreisen, bis dem einen oder dem andern der Stoſs ge-
lang, der gewöhnlich entschied. Deſshalb befanden sich unter
der Bemannung eines gewöhnlichen griechischen Dreideckers
von etwa 200 Mann nur etwa 10 Soldaten, dagegen 170
[341]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
Ruderer, 50 bis 60 für jedes Deck; die des Fünfdeckers
zählte etwa 300 Ruderer, und Soldaten nach Verhältniss. —
Man kam auf den glücklichen Gedanken, das was den römi-
schen Schiffen bei ihren ungeübten Schiffsoffizieren und Ruder-
mannschaften an Manövrirfähigkeit nothwendig abgehen muſste,
dadurch zu ersetzen, daſs man den Soldaten im Seegefecht
wiederum eine bedeutendere Rolle zutheilte. Man erfand eine
fliegende Brücke, die auf dem Vordertheil des Schiffes so be-
festigt ward, daſs sie nach vorne wie nach beiden Seiten hin
niedergelassen werden konnte; sie war zu beiden Seiten mit
Brustwehren versehen und hatte Raum für zwei Mann in der
Fronte. Wenn das feindliche Schiff zum Stoſs auf das römi-
sche heransegelte oder, nachdem der Stoſs vermieden war,
demselben zur Seite lag, ward die Brücke auf dessen Verdeck
niedergelassen und darin mittelst eines eisernen Stachels be-
festigt; wodurch nicht bloſs das Niedersegeln verhindert ward,
sondern die Schiffssoldaten über die Brücke auf das feindliche
Verdeck hinübergehen und dasselbe wie im Landgefecht er-
stürmen konnten. Eine eigene Schiffsmiliz ward nicht gebil-
det, sondern nach Bedürfniſs die Landtruppen zu diesem
Schiffsdienst verwandt; es kommt vor, daſs in einer groſsen
Seeschlacht, wo freilich die römische Flotte zugleich die Lan-
dungsarmee an Bord hat, bis 120 Legionarier auf den
einzelnen Schiffen fechten. — So schufen sich die Römer
eine Flotte, die der karthagischen gewachsen war. Diejenigen
irren, die aus dem römischen Flottenbau ein Feenmährchen
machen, und verfehlen überdieſs ihren Zweck; man muſs be-
greifen um zu bewundern. Der Flottenbau der Römer war
eben gar nichts als ein groſsartiges Nationalwerk, wo durch
Einsicht in das Nöthige und Mögliche, durch geniale Erfind-
samkeit, durch Energie in Entschluſs und Ausführung das
Vaterland aus einer Lage gerissen ward, die übler war als sie
zunächst schien.


Der Anfang indeſs war den Römern nicht günstig. Der
römische Admiral, der Consul Gnaeus Cornelius Scipio, der mit
den ersten 17 segelfertigen Fahrzeugen nach Messana in See
gegangen war (494), meinte auf der Fahrt Lipara durch einen
Handstreich wegnehmen zu können. Allein eine Abtheilung
der bei Panormos stationirten karthagischen Flotte sperrte
den Hafen der Insel, in dem die römischen Schiffe vor Anker
gegangen waren, und nahm die ganze Escadre mit dem Con-
sul ohne Kampf gefangen. Indeſs dies schreckte die Haupt-
[342]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
flotte nicht ab, sowie die Vorbereitungen beendigt waren,
gleichfalls nach Messana unter Segel zu gehen. Auf der Fahrt
längs der italischen Küste traf sie auf ein schwächeres kar-
thagisches Recognoscirungsgeschwader, dem sie das Glück
hatte einen den ersten römischen mehr als aufwiegenden
Verlust zuzufügen und traf so glücklich und siegreich im Ha-
fen von Messana ein, wo der zweite Consul Gaius Duilius das
Commando an der Stelle seines gefangenen Collegen über-
nahm. An der Landspitze von Mylae nordwestlich von Mes-
sana traf die karthagische Flotte, die unter Hannibal von Pan-
ormos herankam, auf die römische, welche hier ihre erste
gröſsere Probe bestand. Die Karthager, in den schlecht segeln-
den und unbehülflichen römischen Schiffen eine leichte Beute
erblickend, stürzten sich in aufgelöster Linie auf dieselben;
aber die neu erfundenen Enterbrücken bewährten sich voll-
kommen. Die römischen Schiffe fesselten und stürmten die
feindlichen, wie sie einzeln heransegelten; es war ihnen weder
von vorn, noch von den Seiten beizukommen, ohne daſs die
gefährlichen Brücken sich niedersenkten auf das feindliche
Verdeck. Als die Schlacht zu Ende war, waren gegen funfzig
karthagische Schiffe, fast die Hälfte ihrer Flotte, von den Rö-
mern versenkt oder genommen, unter den letztern das Admi-
ralschiff Hannibals, einst das des Königs Pyrrhos. Der Gewinn
war groſs; noch gröſser der moralische Eindruck. Rom war
plötzlich eine Seemacht geworden und hatte die Mittel in der
Hand, den Krieg, der endlos sich hinausspinnen zu sollen
und dem italischen Handel den Ruin zu drohen schien, ener-
gisch zu Ende zu führen.


Es gab dazu einen doppelten Weg. Man konnte ent-
weder Karthago auf den italischen Inseln angreifen und ihm
die Küstenfestungen Siciliens und Sardiniens eine nach der
andern entreiſsen, was durch gut combinirte Operationen zu
Lande und zur See ausführbar war; war dies durchgesetzt,
so konnte entweder mit Karthago auf Grund der Abtre-
tung dieser Inseln Friede geschlossen oder, wenn dies miſs-
lang oder nicht genügte, der zweite Act des Krieges nach Africa
verlegt werden. Oder man konnte die Inseln vernachlässigen
und sich gleich mit aller Macht auf Afrika werfen, nicht in
Agathokles abenteuernder Art die Schiffe hinter sich verbren-
nend und alles setzend auf den Sieg eines verzweifelten Hau-
fens, sondern die Verbindungen der africanischen Invasions-
armee mit Italien deckend durch eine starke Flotte; in die-
[343]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
sem Falle lieſs sich entweder von der Bestürzung der
Feinde nach den ersten Erfolgen ein mäſsiger Frie-
de erwarten oder, wenn man wollte, mit äuſserster Ge-
walt der Feind zu vollständiger Ergebung nöthigen. — Man
wählte zunächst den ersten Operationsplan. Im Jahre nach
der Schlacht von Mylae (495) erstürmte der Consul Lucius Sci-
pio den Hafen Aleria auf Corsica — wir besitzen noch den
Grabstein des Feldherrn, der dieser That gedenkt — und
machte aus Corsica eine Seestation gegen Sardinien. Ein
Versuch sich in Olbia auf der Nordküste dieser Insel fest-
zusetzen miſslang indeſs, da es der Flotte an Landungstruppen
fehlte. Im folgenden Jahre (496) ward er zwar mit besserem
Erfolg wiederholt und die offenen Flecken an der Küste ge-
plündert; aber zu einer bleibenden Festsetzung der Römer
kam es nicht. Ebenso wenig kam man in Sicilien vorwärts.
Hamilkar führte energisch und geschickt den Krieg nicht
bloſs zu Lande und zur See, sondern auch mit der politischen
Propaganda; von den zahllosen kleinen Landstädten fielen
jährlich einige von den Römern ab und muſsten den Puniern
mühsam wieder entrissen werden, und in den Küstenfestungen
behaupteten die Karthager sich unangefochten, namentlich in
ihrem Hauptquartier Panormos und in ihrem neuen Waffen-
platz Drepana, wohin der leichteren Seevertheidigung wegen
Hamilkar die Bewohner des Eryx übergesiedelt hatte. Ein
zweites groſses Seetreffen am tyndarischen Vorgebirg (497),
in dem beide Theile sich den Sieg zuschrieben, änderte nichts
in der Lage der Dinge. In dieser Weise kam man nicht vom
Fleck, mochte die Schuld nun liegen an den Verhältnissen
oder an dem getheilten und schnell wechselnden Oberbefehl
der römischen Truppen, der die concentrirte Gesammtleitung
einer Reihe kleinerer Operationen ungemein erschwerte. Mitt-
lerweile litt, wenn auch die Brandschatzung der italischen
Küsten aufgehört hatte, doch der italische Handel nicht viel
weniger als vor dem Flottenbau; müde des erfolglosen Ganges
der Operationen und ungeduldig dem Kriege ein Ziel zu set-
zen beschloſs der Senat das System zu ändern und Karthago
in Africa anzugreifen. Im Frühjahr 498 ging eine Flotte von
330 Linienschiffen unter Segel nach der libyschen Küste; an
der Mündung des Himeraflusses am südlichen Ufer Siciliens
nahm sie das Landungsheer an Bord: es waren vier Legionen
unter der Führung der beiden Consuln Marcus Atilius Regulus
und Lucius Manlius Vulso, beides erprobter Generale. Der
[344]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
karthagische Admiral lieſs es geschehen, daſs die feindlichen
Truppen sich einschifften; aber auf der weiteren Fahrt nach
Africa fanden die Römer die feindliche Flotte auf der Höhe
von Eknomos in Schlachtordnung aufgestellt, um die Heimath
vor der Invasion zu decken. Nicht leicht haben gröſsere
Massen zur See gefochten als in dieser Schlacht gegen ein-
ander standen. Die römische Flotte von 330 Segeln zählte
wenigstens 100000 Mann an Schiffsbemannung auſser der et-
wa 40000 Mann starken Landungsarmee; die karthagische
von 350 Schiffen trug an Bemannung mindestens die gleiche
Zahl, so daſs gegen dreimalhunderttausend Menschen an die-
sem Tage aufgeboten waren, um zwischen den beiden mäch-
tigen Bürgerschaften zu entscheiden. Die Punier standen in
einfacher weitausgedehnter Linie, mit dem linken Flügel ge-
lehnt an die sicilische Küste. Die Römer ordneten sich ins
Dreieck, die Admiralschiffe der beiden Consuln an der Spitze,
in schräger Linie rechts und links neben ihnen das erste und
zweite Geschwader, endlich das dritte mit den zum Transport
der Kavallerie gebauten Fahrzeugen am Schlepptau in der
Linie, die das Dreieck schloſs. Also segelten sie dichtge-
schlossen auf den Feind. Langsamer folgte ein viertes in Re-
serve gestelltes Geschwader. Der keilförmige Angriff durch-
brach ohne Mühe die karthagische Linie, da das zunächst
angegriffene Centrum derselben absichtlich zurückwich. Die
Schlacht löste sich auf in drei gesonderte Treffen. Während
die Admirale mit den beiden auf ihren Flügeln aufgestellten
Geschwadern dem karthagischen Centrum nachsetzten und mit
ihm handgemein wurden, schwenkte der linke an der Küste
aufgestellte Flügel der Karthager auf das dritte römische Ge-
schwader ein, welches durch die Schleppschiffe gehindert
ward den beiden vorderen zu folgen, und drängte dasselbe in
heftigem und überlegenem Angriff gegen das Ufer; gleichzeitig
wurde die römische Reserve von dem rechten karthagischen
Flügel auf der hohen See umgangen und von hinten ange-
fallen. Indeſs das erste dieser drei Treffen war bald zu
Ende; die Schiffe des karthagischen Mitteltreffens, offenbar
viel schwächer als die beiden gegen sie fechtenden römischen
Geschwader, suchten das Weite. Mittlerweile hatten die bei-
den andern Abtheilungen der Römer einen harten Stand gegen
den überlegenen Feind; allein im Nahgefecht kamen die ge-
fürchteten Enterbrücken ihnen zu Statten und mit deren Hülfe
gelang es sich so lange zu halten, bis die beiden Admirale
[345]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
mit ihren Schiffen herankommen konnten. Dadurch erhielt
die römische Reserve Luft und nachdem auch der zweite
Kampf zum Vortheil der Römer entschieden war, fielen alle
noch seefähigen römischen Schiffe dem hartnäckig seinen
Vortheil verfolgenden karthagischen linken Flügel in den
Rücken, so daſs dieser umzingelt und fast ganz genommen
ward. Im Uebrigen war der Verlust ungefähr gleich. Von
der römischen Flotte waren 24 Segel versenkt, von der kar-
thagischen 30 versenkt, 64 genommen. Die karthagische
Flotte gab trotz des beträchtlichen Verlustes es nicht auf
Afrika zu decken und ging zu diesem Ende zurück an den
Golf von Karthago, wo sie die Landung erwartete und eine
zweite Schlacht zu liefern gedachte. Allein die Römer lande-
ten auf der Halbinsel statt an der westlichen Seite, die den
Golf bilden hilft, vielmehr an der östlichen, wo die Bai von
Clupea ihnen einen fast bei allen Winden Schutz bietenden
geräumigen Hafen und die Stadt, hart am Meere auf einem
schildförmig aus der Ebene aufsteigenden Hügel gelegen, eine
vortreffliche Hafenfestung darbot. Ungehindert vom Feinde
schifften sie die Truppen aus und setzten sich auf dem Hügel
fest; in kurzer Zeit war ein verschanztes Schiffslager errichtet
und das Landheer konnte seine Operationen beginnen. Die
römischen Truppen durchstreiften und brandschatzten das
Land; bis 20000 Sclaven konnten nach Rom geführt werden.
Durch die ungeheuersten Glücksfälle war der kühne Plan auf
den ersten Wurf und mit geringen Opfern gelungen; man
schien am Ziele zu stehen. Wie sicher die Römer sich fühl-
ten, beweist der Beschluſs des Senats, daſs der gröſste Theil
der Flotte und die Hälfte der Armee nach Italien zurück-
geführt werden solle; Marcus Regulus blieb allein in Africa mit
40 Schiffen, 15000 Mann zu Fuſs und 500 Reitern. Es
schien indeſs die Zuversicht nicht übertrieben. Die kartha-
gische Armee, die entmuthigt sich nicht in die Ebene wagte,
erlitt erst recht eine Schlappe in den waldigen Defileen, in
denen sie ihre beiden besten Waffen, die Reiterei und die
Elephanten nicht verwenden konnte. Die Städte ergaben sich
in Masse, die Numidier standen auf und überschwemmten
weithin das offene Land. Regulus konnte hoffen den nächsten
Feldzug zu beginnen mit der Belagerung der Hauptstadt, zu
welchem Ende er dicht bei derselben, in Tunes sein Winter-
lager aufschlug. Der Karthager Muth war gebrochen; sie
baten um Frieden. — Allein die Bedingungen, die der Consul
[346]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
stellte: nicht bloſs Abtretung von Sicilien und Sardinien, son-
dern Eingehung eines ungleichen Bündnisses mit Rom, wel-
ches die Karthager verpflichtet hätte auf eine eigene Kriegs-
marine zu verzichten und zu den römischen Kriegen Schiffe
zu stellen — diese Bedingungen, welche Karthago Neapel
und Tarent gleichgestellt haben würden, konnten nicht ange-
nommen werden, so lange noch ein punisches Heer im Felde,
eine punische Flotte auf der See, und die Hauptstadt uner-
schüttert stand. Die gewaltige Begeisterung, wie sie auch in
der tiefsten Versunkenheit in den orientalischen Völkern bei
dem Herannahen äuſserster Gefahren abermals groſsartig auf-
zuflammen pflegt, diese Energie der höchsten Noth trieb die
Karthager zu Anstrengungen, wie man sie den Budenleuten
nicht zugetraut haben mochte. Hamilkar, der in Sicilien den
kleinen Krieg gegen die Römer so erfolgreich geführt hatte,
erschien in Libyen mit der Elite der sicilischen Truppen, die
für die neuausgehobene Mannschaft einen trefflichen Kern
gab; die Verbindungen und das Gold der Karthager führten
ihnen ferner die trefflichen numidischen Reiter schaarenweise
zu und ebenso zahlreiche griechische Söldner, darunter den
gefeierten Hauptmann Xanthippos von Sparta, dessen Organi-
sirungstalent und strategische Einsicht seinen neuen Dienst-
herren von groſsem Nutzen war *. Während also im Lauf des
Winters die Karthager ihre Vorbereitungen trafen, stand der
römische Feldherr unthätig bei Tunes. Mochte er nicht ah-
nen, welcher Sturm sich über seinem Haupt zusammenzog
oder mochte militärisches Ehrgefühl ihm zu thun verbieten,
was seine Lage erheischte — statt zu verzichten auf eine
Belagerung, die er doch nicht im Stande war auch nur zu
versuchen, und sich einzuschlieſsen in die Burg von Clupea,
blieb er mit einer Handvoll Leute stehen vor den Mauern der
feindlichen Hauptstadt, sogar seine Rückzugslinie zu dem
Schifflager zu sichern versäumend, und versäumend sich zu
schaffen, was ihm vor allen Dingen fehlte und was durch
[347]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
Verhandlungen mit den aufständischen Stämmen der Numidier
so leicht zu erreichen war, eine gute leichte Reiterei. Muth-
willig brachte er sich und sein Heer also in dieselbe Lage,
in die einst Agathokles auf seinem verzweifelten Abenteurer-
zug sich befunden hatte. Als das Frühjahr kam (499), hatten
sich die Dinge schon so verändert, daſs jetzt die Karthager
es waren, die zuerst ins Feld rückten und den Römern eine
Schlacht anboten; natürlich, denn es lag alles daran mit dem
Heer des Regulus fertig zu werden, ehe von Italien Verstär-
kung kommen konnte. Aus demselben Grunde hätten die
Römer zögern sollen; allein im Vertrauen auf ihre Unüber-
windlichkeit im offenen Felde nahmen sie sofort die Schlacht
an trotz ihrer geringeren Stärke — denn obwohl die Zahl des
Fuſsvolks auf beiden Seiten ungefähr dieselbe war, gaben
doch den Karthagern die 4000 Reiter und 100 Elephanten
ein entschiedenes Uebergewicht — und trotz des ungünstigen
Terrains, wozu die Karthager sich ein weites Blachfeld, ver-
muthlich unweit Tunes, ausersehen hatten. Xanthippos, der
an diesem Tage die Karthager commandirte, warf zunächst
seine Reiterei auf die feindliche, die wie gewöhnlich die bei-
den Flügel der Schlachtlinie besetzt hatte; die wenigen römi-
schen Schwadronen zerstoben im Nu vor den feindlichen
Cavalleriemassen und das römische Fuſsvolk sah sich von
denselben überflügelt und umschwärmt. Nichts destoweniger
standen die Legionen unerschüttert und versuchten einen An-
griff auf die feindliche Linie; allein die Masse derselben war
gedeckt durch die Elephantenreihe, welche den rechten Flügel
und das Centrum der Römer hemmten, während es dem lin-
ken römischen gelang an den Elephanten vorbeimarschirend
die Söldnerinfanterie auf dem rechten feindlichen zu errei-
chen und vollständig zu werfen. Allein eben dieser Erfolg
zerriſs die römische Linie. Die Hauptmasse, von vorn von
den Elephanten, von den Seiten und im Rücken von der Rei-
terei angegriffen, formirte sich zwar ins Viereck und verthei-
digte sich heldenmüthig, allein endlich wurden doch die ge-
schlossenen Massen gesprengt und aufgerieben. Der siegreiche
linke Flügel traf auf das intacte karthagische Centrum, wo
die libysche Infanterie ihm gleiches Schicksal bereitete. Bei
der Beschaffenheit des Terrains und der Ueberzahl der feind-
lichen Reiterei ward niedergehauen oder gefangen, was in
diesen Massen gefochten hatte; nur zweitausend Mann, ver-
muthlich vorzugsweise die zu Anfang zersprengten leichten
[348]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Truppen und Reiter, gewannen, während die römischen Legio-
nen sich niedermachen lieſsen, so viel Vorsprung um mit Noth
Clupea zu erreichen. Unter den wenigen Gefangenen war der
Consul selbst, der in Karthago starb; seine Familie, in der Mei-
nung daſs er von den Karthagern nicht nach Kriegsgebrauch be-
handelt worden sei, nahm an zwei edlen karthagischen Gefange-
nen die empörendste Rache, bis es selbst die Sclaven erbarmte
und auf deren Anzeige die Tribunen der Schändlichkeit steuer-
ten *. — Wie die Schreckenspost nach Rom gelangte, war die
erste Sorge natürlich gerichtet auf die Rettung der in Clupea
eingeschlossenen Mannschaft. Eine römische Flotte von 350
Segeln lief sofort aus und nach einem schönen Sieg am her-
maeischen Vorgebirg, bei welchem die Karthager 114 Schiffe
einbüſsten, gelangte sie nach Clupea eben zur rechten Zeit
um die dort verschanzten Trümmer der geschlagenen Armee
aus ihrer Bedrängniſs zu befreien. Wäre sie gesandt worden,
ehe die Katastrophe eintrat, so hätte sie die Niederlage in
einen Sieg verwandeln mögen, der wahrscheinlich den puni-
schen Kriegen ein Ende gemacht haben würde. So vollständig
aber hatten jetzt die Römer den Kopf verloren, daſs sie nach
einem glücklichen Gefecht vor Clupea sämmtliche Truppen
auf die Schiffe setzten und heimsegelten, freiwillig den wich-
tigen und leicht zu vertheidigenden Platz räumend, der ihnen
die Möglichkeit der Landung in Africa sicherte, und der Rache
der Karthager ihre zahlreichen africanischen Bundesgenossen
schutzlos preisgebend. Die Karthager versäumten die Gelegen-
heit nicht ihre leeren Kassen zu füllen und den Unterthanen
die Folgen der Untreue deutlich zu machen. Eine auſser-
ordentliche Contribution von 1000 Talenten Silber (1½ Mill.
Thlr.) und 20000 Rindern ward ausgeschrieben und in sämmt-
lichen abgefallenen Gemeinden die Scheiks ans Kreuz geschla-
gen — es sollen ihrer dreitausend gewesen sein und dieses
entsetzliche Wüthen der karthagischen Beamten wesentlich den
Grund gelegt haben zu der einige Jahre später in Africa aus-
[349]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
gebrochenen Revolution. Endlich als wollte wie früher das
Glück, so jetzt das Unglück den Römern das Maſs füllen,
gingen in einem schweren Sturm auf der Rückfahrt der Flotte
drei Viertheile der römischen Schiffe mit der Mannschaft zu
Grunde; nur achtzig gelangten in den Hafen (Juli 499). Die
Capitäne hatten das Unheil wohl vorausgesagt, aber die im-
provisirten römischen Admirale hatten die Fahrt einmal also
befohlen.


Nach so ungeheuren Erfolgen konnten die Karthager die
lange eingestellte Offensive wiederum ergreifen. Hasdrubal
Hannos Sohn landete in Lilybaeon mit einem starken Heer,
das besonders durch die ungeheure Elephantenmasse — es
waren ihrer 140 — in den Stand gesetzt wurde gegen die
Römer das Feld zu halten; die letzte Schlacht hatte gezeigt,
wie es möglich war den Mangel guten Fuſsvolks durch Ele-
phanten und Reiterei einigermaſsen zu ersetzen. Auch die
Römer nahmen den sicilischen Krieg von neuem auf; die
Vernichtung des Landungsheeres hatte, wie die freiwillige
Räumung von Clupea beweist, im römischen Senat sofort
wieder der Partei die Oberhand gegeben, die den africani-
schen Krieg nicht wollte und sich begnügte die Inseln all-
mählich zu unterwerfen. Allein auch hiezu bedurfte man
einer Flotte; und da diejenige zerstört war, mit der man bei
Mylae, bei Eknomos und am hermaeischen Vorgebirge gesiegt
hatte, baute man eine neue. Auf einmal wurde zu zweihun-
dert und zwanzig neuen Kriegsschiffen der Kiel gelegt — nie
hatte man bisher gleichzeitig so viele zu bauen unternommen
— und in der unglaublich kurzen Zeit von drei Monaten
standen sie sämmtlich segelfertig. Im Frühjahr 500 erschien
die römische Flotte, dreihundert gröſstentheils neue Schiffe
zählend, an der sicilischen Nordküste; durch einen glücklichen
Angriff von der Seeseite ward Panormos erobert, die bedeu-
tendste Stadt des karthagischen Siciliens und ebenso die klei-
neren Plätze Solus, Kephaloedion, Tyndaris, so daſs am gan-
zen nördlichen Gestade der Insel nur noch Thermae den
Karthagern verblieb. Panormos ward seitdem eine der Haupt-
stationen der Römer auf Sicilien. Der Landkrieg daselbst
stockte indeſs; die beiden Armeen standen vor Lilybaeon ein-
ander gegenüber, ohne daſs die römischen Befehlshaber, die
der Elephantenmasse nicht beizukommen wuſsten, eine Haupt-
schlacht zu erzwingen versucht hätten. — Im folgenden Jahr
(501) zogen die Consuln es vor statt die sichern Vortheile in
[350]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Sicilien zu verfolgen eine Expedition nach Africa zu machen,
nicht um zu landen, sondern um die Küstenstädte zu plün-
dern. Ungehindert kamen sie damit zu Stande; allein nach-
dem sie schon in den schwierigen und ihren Piloten unbe-
kannten Gewässern der kleinen Syrte auf die Untiefen auf-
gelaufen und mit Mühe wieder losgekommen waren, traf die
Flotte zwischen Sicilien und Italien ein Sturm, der über 150
römische Schiffe kostete; und auch diesmal hatten die Piloten,
trotz ihrer Vorstellungen und Bitten den Weg längs der Küste
zu wählen, auf Befehl der Consuln von Panormos gerades
Weges durch das offene Meer nach Ostia zu steuern müssen.
— Da ergriff der Kleinmuth die Väter der Stadt; sie be-
schlossen die Kriegsflotte abzuschaffen bis auf 60 Segel und
den Seekrieg auf die Küstenvertheidigung und die Geleitung
der Transporte zu beschränken. Zum Glück nahm eben jetzt
der stockende Landkrieg auf Sicilien eine günstigere Wendung.
Nachdem im Jahre 502 Thermae, der letzte Punct, den die
Karthager an der Nordküste besaſsen, und die wichtige Insel
Lipara den Römern in die Hände gefallen waren, erfocht im
Jahre darauf der Consul Gaius Caecilius Metellus unter den
Mauern von Panormos einen glänzenden Sieg über das Ele-
phantenheer (Sommer 503). Die unvorsichtig vorgeführten
Thiere wurden von den im Stadtgraben aufgestellten leichten
Truppen der Römer geworfen und stürzten theils in den
Graben hinab, theils zurück auf ihre eigenen Leute, die in
wilder Verwirrung mit den Elephanten zugleich sich zum
Strande drängten, um von den punischen Schiffen aufgenom-
men zu werden. 120 Elephanten wurden gefangen und das
punische Heer, dessen Stärke auf den Thieren beruhte, muſste
sich wiederum in die Festungen einschlieſsen. Es blieb, nach-
dem auch, noch der Eryx den Römern in die Hände gefallen
war (505), auf der Insel nichts mehr den Karthagern als Dre-
pana und Lilybaeon. Karthago bot zum zweitenmal den Frie-
den an; allein der Sieg des Metellus und die Ermattung des
Feindes gab der energischeren Partei im Senat die Oberhand.
Der Friede ward zurückgewiesen und beschlossen die Belage-
rung der beiden sicilischen Städte ernsthaft anzugreifen und
zu diesem Ende wiederum eine Flotte von 200 Segeln in
See gehen zu lassen. Es war die erste groſse und regel-
rechte Belagerung, die Rom unternahm, und eine der hart-
näckigsten die die Geschichte kennt. Die Römer eröffneten
sie mit einem wichtigen Erfolg: ihrer Flotte gelang es sich
[351]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
in den Hafen von Lilybaeon zu legen und die Stadt von der
Seeseite zu blokiren. Indeſs vollständig die See zu sperren
vermochte man nicht, so sehr die Römer durch Versenkungen
und Pallisaden bemüht waren den Hafen zu schlieſsen. Trotz
dessen und trotz der sorgfältigsten Bewachung unterhielten
gewandte und der Untiefen und Fahrwässer genau kundige
Schnellsegler eine regelmäſsige Verbindung zwischen den Be-
lagerten in der Stadt und der karthagischen Flotte im Hafen
von Drepana; ja nachdem die Belagerung einige Zeit gewährt
hatte, glückte es einer karthagischen Flotte von 50 Segeln
in den Hafen einzufahren, Lebensmittel in Menge und Ver-
stärkung von 10000 Mann in die Stadt zu werfen und unan-
gefochten wieder heim zu kehren. Nicht viel glücklicher war
die belagernde Landarmee. Man begann mit regelrechtem
Angriff; die Maschinen wurden errichtet und in kurzer Zeit
hatten die Batterien sechs Mauerthürme eingeworfen; die
Bresche schien bald practicabel. Allein der tüchtige karthagi-
sche Befehlshaber Himilko vereitelte diesen Angriff, indem auf
seine Anordnung hinter der Bresche sich ein zweiter Wall erhob.
Ein Versuch der Römer mit der Besatzung ein Einverständniſs
anzuknüpfen ward ebenso noch zur rechten Zeit vereitelt und
endlich, nachdem die Belagerer einen ersten Ausfall abge-
schlagen hatten, gelang es den Karthagern während einer
stürmischen Nacht die römische Maschinenreihe zu verbrennen.
Die Römer gaben hierauf die Vorbereitungen zum Sturm auf
und begnügten sich die Stadt zu Wasser und zu Lande zu
blokiren. Freilich waren die Aussichten auf Erfolg sehr fern,
so lange man nicht im Stande war den feindlichen Schiffen
den Eingang gänzlich abzuschneiden; und einen nicht viel
leichteren Stand als in der Stadt die Belagerten hatte das
Landheer der Belagerer, welchem die Zufuhren durch die
starke und verwegene leichte Reiterei der Karthager häufig
abgefangen wurden und das die Seuchen, die in der unge-
sunden Gegend einheimisch sind, zu decimiren begannen.
Indeſs die Eroberung Lilybaeons war wichtig genug, um ge-
duldig bei der mühseligen Arbeit auszuharren, die denn doch
mit der Zeit den gewünschten Erfolg verhieſs. Allein dem
neuen Consul Publius Claudius schien die Aufgabe Lilybaeon
zu blokiren zu gering; es gefiel ihm besser wieder einmal
den Operationsplan zu ändern und mit seinen zahlreichen
neu bemannten Schiffen die karthagische in dem nahen Hafen
von Drepana verweilende Flotte unversehens zu überfallen.
[352]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
Um Mitternacht fuhr er ab mit dem ganzen Blokadegeschwa-
der, das Freiwillige aus den Legionen an Bord genommen
hatte; in guter Ordnung segelnd, den rechten Flügel am
Lande, den linken in der hohen See, erreichte er glücklich mit
Sonnenaufgang den Hafen von Drepana. Der punische Admi-
ral Atarbas, obwohl überrascht, verlor die Besonnenheit
nicht und lieſs sich nicht in den Hafen einschlieſsen, sondern
wie die römischen Schiffe in den nach Süden sichelförmig
sich öffnenden Hafen an der Landseite einfuhren, zog er an
der noch freien Seeseite seine Schiffe aus dem Hafen heraus
und stellte sie auſserhalb desselben in Linie. Dem römischen
Admiral blieb nichts übrig als die vordersten Schiffe möglichst
schnell aus dem Hafen zurückzunehmen und das Gleiche zu
thun, allein über dieser rückgängigen Bewegung verlor er die
freie Wahl seiner Aufstellung und muſste die Schlacht anneh-
men in einer Linie, die theils von der feindlichen um fünf
Schiffe überflügelt war, da es an Zeit gebrach die Schiffe
wieder aus dem Hafen vollständig zu entwickeln, theils so
dicht an die Küste gedrängt war, daſs seine Fahrzeuge weder
zurückweichen noch hinter der Linie hinsegelnd sich unter
einander zu Hülfe kommen konnten. Die Schlacht war nicht
bloſs verloren, ehe sie begann, sondern die römische Flotte
so vollständig umstrickt, daſs sie fast ganz den Feinden in
die Hände fiel. Zwar der Consul entkam, indem er zuerst
davon floh; aber 93 römische Schiffe, mehr als drei Viertel
der Blokadeflotte, mit dem Kern der römischen Legionen an
Bord fielen den Puniern in die Hände. Es war der erste
und einzige groſse Seesieg, den die Karthager über die Rö-
mer erfochten haben. Lilybaeon war der That nach von der
Seeseite befreit, denn wenn auch die Trümmer der römischen
Flotte den Hafen wieder erreichten, so war diese doch jetzt
viel zu schwach um den nie ganz geschlossenen Hafen ernst-
lich zu versperren und konnte vor dem Angriff der karthagi-
schen Schiffe sich selbst nur retten durch den Beistand des
Landheers; die mühsamen Erfolge des aufreibenden Festungs-
krieges waren plötzlich vereitelt durch die eine Unvorsichtigkeit
eines unerfahrenen und frevelhaft leichtsinnigen Offiziers. Was
dessen Uebermuth noch an Kriegsschiffen den Römern ge-
lassen hatte, ging kurz darauf zu Grunde durch den Unver-
stand seines Collegen. Der zweite Consul Lucius Iunius Pul-
lus, der den Auftrag erhalten hatte die für das Heer in
Lilybaeon bestimmten Transporte in Syrakus zu verladen und
[353]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
die Transportflotte längs der südlichen Küste der Insel mit der
zweiten römischen Flotte von 120 Kriegsschiffen zu convoyiren,
beging den Fehler seine Schiffe zu theilen und den ersten Trans-
port allein abgehen zu lassen und erst später mit dem zweiten
zu folgen. Als der karthagische Unterbefehlshaber Karthalo,
der mit hundert auserlesenen Schiffen die römische Flotte im
Hafen von Lilybaeon blokirte, von der Abfahrt der römischen
Transportflotte vernahm, wandte er sich nach der Südküste
der Insel und indem er sich zwischen die beiden römischen
Geschwader legte, schnitt er sie von einander ab und zwang
sie an den unwirthlichen Gestaden von Gela und Kamarina in
zwei schlechten Nothhäfen sich zu bergen. Die Angriffe der
Karthager wurden freilich von den Römern tapfer zurückge-
wiesen mit Hülfe der Strandbatterien, die hier wie überall an
der Küste schon seit längerer Zeit errichtet waren; allein da
für die Römer an eine Vereinigung und Fortsetzung der Fahrt
nicht zu denken war, konnte Karthalo den nächsten Sturm
abwarten, dem er auf der hohen See mit seinen unbeschwerten
und gut geführten Schiffen leicht entging, während die beiden
Flotten auf ihren schlechten Rheden vollständig vernichtet
wurden. Die Mannschaft und die Ladung gelang es den Rö-
mern indeſs gröſstentheils zu retten (505).


Der römische Senat war rathlos. Der Krieg währte nun
ins funfzehnte Jahr und von dem Ziele schien man weiter
ab zu sein im funfzehnten als im ersten. Vier groſse Flotten
waren in diesem Krieg zu Grunde gegangen, drei davon mit
römischen Heeren am Bord; ein viertes ausgesuchtes Land-
heer hatte der Feind in Libyen vernichtet, ungerechnet die
zahllosen Opfer, die die kleinen Gefechte zur See, die in Si-
cilien die Schlachten und mehr noch der Postenkrieg und die
Seuchen gefordert hatten. Welche Zahl von Menschenleben
der Krieg wegraffte, ist daraus zu erkennen, daſs die Bür-
gerrolle bloſs von 502 auf 507 um den sechsten Theil der
Gesammtzahl, etwa 40000 Köpfe sank; wozu man noch rechnen
muſs die Verluste der Bundesgenossen, die die ganze Schwere
des Seekriegs traf und daneben der Landkrieg mindestens
in gleichem Verhältniſs wie die Römer. Von den finanziellen
Verlusten ist es nicht möglich sich eine Vorstellung zu machen;
aber sowohl die unmittelbare Einbuſse an Schiffen und Mate-
rial als die mittelbare durch die Lähmung des Handels müssen
ungeheuer gewesen sein. Allein schlimmer als dies alles war
die Abnutzung aller Mittel, durch die man den Krieg hatte
Röm. Gesch. I. 23
[354]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
endigen wollen. Man hatte eine Landung in Africa mit fri-
schen Kräften, im vollen Lauf der Siege versucht und war
völlig gescheitert. Man hatte Sicilien Stadt um Stadt zu erstür-
men unternommen; die geringeren Plätze waren gefallen, aber
die beiden gewaltigen Seeburgen standen unbezwinglicher als
je zuvor. Was sollte man beginnen? In der That, der Klein-
muth behielt gewissermaſsen Recht. Die Väter der Stadt ver-
zagten; sie lieſsen die Sachen eben gehen wie sie gehen
mochten, wohl wissend, daſs ein ziel- und endlos sich hin-
spinnender Krieg für Italien verderblicher war als die An-
strengung des letzten Mannes und des letzten Silberstücks,
aber ohne den Muth und die Zuversicht zu dem Volk und zu
dem Glück um zu den alten nutzlos vergeudeten neue Opfer
zu fordern. Man schaffte die Flotte ab; höchstens beförderte
man die Kaperei und stellte den Capitänen, die auf ihre ei-
gene Hand dieselbe zu wagen bereit waren, zu diesem Behuf
Kriegsschiffe des Staates zur Verfügung. Der Landkrieg ward
dem Namen nach fortgeführt, weil man eben nicht anders
konnte; allein man begnügte sich die sicilischen Festungen
zu beobachten und was man besaſs nothdürftig zu behaupten,
was ohne Hülfe der Flotte ein sehr zahlreiches Heer und
äuſserst kostspielige Anstalten erforderte. — Wenn jemals,
so war jetzt die Zeit gekommen, wo Karthago den gewaltigen
Gegner zu demüthigen im Stande war. Daſs auch dort die
Erschöpfung der Kräfte gefühlt ward, versteht sich; allein wie
die Sachen standen, konnten die punischen Finanzen unmöglich
so im Verfall sein, daſs die Karthager den Krieg, der ihnen
hauptsächlich nur Geld kostete, nicht hätten offensiv und nach-
drücklich fortführen können. Allein die karthagische Regierung
war eben nicht energisch, sondern schwach und lässig, wenn
nicht ein leichter und sicherer Gewinn oder die äuſserste
Noth sie trieb. Froh der römischen Flotte los zu sein lieſs
man thöricht auch die eigene verfallen und fing an nach dem
Beispiel der Feinde sich zu Lande und zur See auf den klei-
nen Krieg in und um Sicilien zu beschränken.


So folgten sechs thatenlose Kriegsjahre (506-511), die
ruhmlosesten, welche die römische Geschichte kennt und ruhm-
los auch für das Volk der Karthager. Indeſs ein Mann von diesen
dachte und handelte anders als seine Nation. Hamilkar Bar-
kas, ein junger vielversprechender Offizier, hatte den Oberbe-
fehl der sicilischen Truppen übernommen. Woran es seinem
Staate fehlte, war eine zuverlässige und krieggeübte Infanterie;
[355]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
es begriffen das viele, aber Hamilkar allein faſste den Plan
sie zu schaffen. Er wuſste wohl, daſs man von Karthago aus
ihn nicht unterstützen, daſs man kein punisches, nicht einmal
ein libysches Heer ihm zusenden, sondern mit seinen Söld-
nern ihn fechten lassen werde; daſs er höchstens erwarten
könne die Erlaubniſs zu erhalten das Vaterland auf eigene
Faust zu retten, vorausgesetzt daſs es nichts koste. Allein er
kannte auch sich und die Menschen. An Karthago lag seinen
Söldnern freilich nichts; aber der ächte Feldherr vermag es
den Soldaten an die Stelle des Vaterlandes seine eigene Per-
sönlichkeit zu setzen, und ein solcher war der junge General.
Nachdem er die Seinigen im Postenkrieg vor Drepana und
Lilybaeon hinreichend geübt und sie gewöhnt hatte dem Le-
gionar ins Auge zu sehen, setzte er sich mit ihnen auf dem
Berge Eirkte (Monte Pellegrino bei Palermo), der gleich einer
Festung das umliegende Land beherrschte. Seine Söldner
richteten hier häuslich sich ein mit ihren Frauen und Kin-
dern; von hier aus lieſs er das platte Land durchstreifen, wäh-
rend Kaper die italische Küste bis Kyme brandschatzten und
ernährte seine Leute reichlich, ohne von den Karthagern Geld
zu begehren; zur See mit Drepana die Verbindung unterhal-
tend bedrohte er in nächster Nähe das wichtige Panormos
mit Ueberrumpelung. Nicht bloſs vermochten die Römer nicht
ihn von seinem Felsen zu vertreiben, sondern nachdem an der
Eirkte der Kampf eine Weile gewährt hatte, besetzte Hamilkar
auch die Stadt auf dem Eryx, von wo aus die Römer Drepana
beunruhigten. Den Felsengipfel mit dem Tempel der Aphro-
dite behielten die Römer in Händen, die das schlimmste Raub-
gesindel, das sich ihnen zugedrängt hatte, keltische Ueber-
läufer aus dem karthagischen Heer auf diesen verlorenen
Posten stellten; Hamilkar belagerte sie, die die Zeit dazu be-
nutzten den Tempel zu plündern und Schändlichkeiten aller Art
zu verüben, von seiner Stadt aus, die auf der halben Höhe
des Berges lag, unbekümmert um die von der Ebene her ihrer-
seits ihn blokirenden Römer, da er zur See mit der Flotte
und der Besatzung von Drepana die Verbindung sich offen
hielt. — Es schien der Krieg eine immer ungünstigere Wen-
dung für die Römer zu nehmen. In dem sicilischen Krieg
kam der Staat um sein Geld und seine Soldaten wie die Feld-
herren um ihre Ehre; es war schon klar, daſs dem Hamilkar
kein römischer General gewachsen war und die Zeit lieſs sich
berechnen, wo auch der karthagische Söldner sich dreist würde
23*
[356]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
messen können mit dem Legionar. Immer verwegener zeigten
sich die Kaper Hamilkars an der italischen Küste — schon
hatte gegen eine dort gelandete karthagische Streifpartei ein
Praetor ausrücken müssen. Noch einige Jahre, so that Ha-
milkar von Sicilien aus mit der Flotte, was später auf dem
Landweg von Spanien aus sein Sohn unternahm. — Indeſs
der römische Senat verharrte in seiner Unthätigkeit; die Par-
tei der Kleinmüthigen hatte einmal in ihm die Mehrzahl. Da
entschlossen sich eine Anzahl einsichtiger und hochherziger
Männer den Staat auch ohne Regierungsbeschluſs zu retten
und dem heillosen sicilischen Krieg ein Ende zu machen.
Die glücklichen Corsarenfahrten hatten wenn nicht den Muth
der Nation gehoben, doch in engeren Kreisen die Energie
und die Hoffnung geweckt; man hatte sich schon in die Ge-
schwader zusammengethan, Hippo an der africanischen Küste
niedergebrannt, den Karthagern vor Panormos ein glückliches
Seegefecht geliefert. Durch Privatunterzeichnung, wie sie auch
wohl in Athen, aber nie in so groſsartiger Weise vorgekom-
men ist, stellten die vermögenden und patriotisch gesinnten
Römer eine Kriegsflotte her, deren Kern die für den Kaper-
dienst gebauten Schiffe und die darin geübten Mannschaften
abgaben und die überhaupt weit sorgfältiger hergestellt wurde
als dies bisher bei dem Staatsbau geschehen war. Diese unge-
heure Anstrengung, daſs eine Anzahl Bürger im zweiundzwan-
zigsten Jahre eines schweren Krieges zweihundert Linienschiffe
mit einer Bemannung von 60000 Matrosen freiwillig dem
Staate darboten, steht vielleicht ohne Beispiel da in den Anna-
len der Geschichte. Der Consul Gaius Lutatius Catulus, dem
die Ehre zu Theil ward diese Flotte in die sicilische See zu
führen, fand fast keinen Gegner; die paar karthagischen Schiffe,
mit denen Hamilkar seine Corsarenzüge gemacht, verschwan-
den vor der Uebermacht und fast ohne Widerstand besetzten
die Römer die Häfen von Lilybaeon und Drepana, dessen Be-
lagerung zu Wasser und zu Lande jetzt energisch begonnen
ward. Karthago war vollständig überrumpelt; selbst die bei-
den Festungen, schwach verproviantirt, schwebten in groſser
Gefahr. Man rüstete in Karthago eine Flotte, aber so eilig
man that, ging doch das Jahr zu Ende, ohne daſs in Sicilien
karthagische Segel sich gezeigt hätten. Als endlich im Früh-
jahr 513 die zusammengerafften Schiffe auf der Höhe von
Drepana erschienen, geschah es in der Hoffnung ungestört lan-
den, die Vorräthe ausschiffen und die für ein Seegefecht er-
[357]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
forderlichen Truppen an Bord nehmen zu können — es war
mehr eine Transport- als eine Kriegsflotte. Allein die römi-
sche verlegte ihr den Weg und zwang sie, da sie von der
heiligen Insel (jetzt Maritima) nach Drepana segeln wollte,
bei der kleinen Insel Aegusa (Favignano) die Schlacht anzu-
nehmen (10. März 513). Der Ausgang war keinen Augenblick
zweifelhaft; die römische Flotte gut gebaut und bemannt und
von dem tapfern Catulus trotz seiner vor Drepana erhaltenen
Wunde vortrefflich geführt, warf im ersten Anlauf die schwer-
beladenen schlecht und schwach bemannten Schiffe der Feinde;
funfzig wurden versenkt, mit siebzig eroberten fuhr der sieg-
reiche Consul ein in den Hafen von Lilybaeon. Die letzte
groſse Anstrengung der römischen Patrioten hatte Frucht ge-
tragen; sie gab den Sieg und mit ihm den Frieden. — Die
Karthager kreuzigten zunächst den unglücklichen Admiral, was
die Sache nicht anders machte, und schickten alsdann dem
sicilischen Feldherrn unbeschränkte Vollmacht den Frieden zu
schlieſsen. Hamilkar, der seine achtjährige Heldenarbeit
durch fremde Fehler vernichtet sah, war hochherzig genug
weder seine Soldatenehre noch sein Volk noch seine Entwürfe
aufzugeben. Sicilien freilich war nicht zu halten, seit die
Römer die See beherrschten; und daſs die Karthager, die
ihre leere Kasse vergeblich durch ein Staatsanlehen in Aegyp-
ten zu füllen versucht hatten, auch nur einen Versuch noch
machen würden, die römische Flotte zu überwältigen, lieſs
sich nicht erwarten. Er gab also Sicilien auf. Dagegen ward
die Selbstständigkeit und Integrität des karthagischen Staats
und Gebiets ausdrücklich anerkannt in der üblichen Form,
daſs weder Rom mit der karthagischen noch Karthago mit
der römischen Symmachie, das heiſst mit den unterthänigen
und abhängigen Gemeinden in Sonderbündniſs treten oder Krieg
beginnen noch in diesem Gebiet Hoheitsrechte ausüben oder
Werbungen vornehmen dürfe*. Was die Nebenbedingungen
anlangt, so verstand sich die unentgeltliche Rückgabe der
römischen Gefangenen und die Zahlung einer Kriegscontribu-
tion von selbst; dagegen die Forderungen des Catulus, daſs
Hamilkar die Waffen und die römischen Ueberläufer ausliefern
[358]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
solle, wies der Karthager entschlossen zurück, und mit Erfolg.
Catulus verzichtete auf das zweite Begehren und gewährte den
Puniern freien Abzug aus Sicilien gegen das mäſsige Löse-
geld von 18 Denaren (4⅔ Thlr.) für den Mann. — Man
konnte in Karthago mit diesen Bedingungen zufrieden sein,
wenn die Fortführung des Krieges einmal unmöglich war oder
schien. Es kann sein, daſs der natürliche Wunsch dem Vaterland
mit dem Triumph auch den Frieden zu bringen, die Erinne-
rung an Regulus und den wechselvollen Gang des Krieges, die
Erwägung, daſs ein patriotischer Aufschwung, wie er zuletzt den
Sieg entschieden hatte, sich nicht gebieten noch wiederholen
läſst, vielleicht selbst Hamilkars Persönlichkeit mithalfen den
römischen Feldherrn zur Nachgiebigkeit zu bestimmen. Gewiſs
ist es, daſs man in Rom mit dem Friedensentwurf unzufrie-
den war und die Volksversammlung, ohne Zweifel unter dem
Einfluſs der Patrioten, die letzte Schiffrüstung durchgesetzt
hatten, anfänglich die Ratification verweigerte. In welchem
Sinne dies geschah, wissen wir nicht und vermögen nicht zu
entscheiden, ob die Opposition gegen den Entwurf in der
That den Frieden nur verwarf um dem Feinde die Bedingun-
gen zu steigern, oder ob sie sich erinnerte, daſs Regulus
von Karthargo den Verzicht auf die politische Unabhängigkeit
gefordert hatte und entschlossen war den Krieg fortzuführen,
bis man an diesem Ziel stand. Erfolgte die Weigerung in
dem ersteren Sinne, so war sie vermuthlich fehlerhaft; gegen
Siciliens Gewinn verschwand jedes andere Zugeständniſs und
es war bei Hamilkars Entschlossenheit und erfinderischem
Geist sehr gewagt die Sicherung des Hauptgewinns an Neben-
zwecke zu setzen. Lag der Weigerung die Absicht zu Grunde
den Krieg zu endigen erst mit der politischen Vernichtung
Karthagos, so zeigt sie politischen Tact, der die kommen-
den Dinge ahnte; aber freilich hing alles davon ab, ob
Roms Kräfte jetzt ausreichten den Zug des Regulus zu er-
neuern und soviel nachzusetzen als erforderlich war um nicht
bloſs den Muth, sondern die Mauern der mächtigen Phoeni-
kierstadt zu brechen; und wer wagt es diese Frage in einem
oder dem andern Sinn zu beantworten? — Schlieſslich über-
trug man die Erledigung der wichtigen Frage einer Commis-
sion, die in Sicilien an Ort und Stelle entscheiden sollte. Sie
bestätigten im Wesentlichen den Entwurf; nur ward die für
die Kriegskosten von Karthago zu zahlende Summe erhöht auf
3200 Talente (fast 5 Mill. Thlr.), davon ein Drittel gleich,
[359]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
der Rest in zehn Jahreszielern zu entrichten. Wenn auſser
der Abtretung von Sicilien auch noch die der Inseln zwischen
Italien und Sicilien in den definitiven Tractat aufgenommen
ward, so kann hierin nur eine redactionelle Veränderung ge-
funden werden; denn daſs Karthago, wenn es Sicilien hin-
gab, sich die längst von römischen Schiffen besetzte Insel Li-
para nicht konnte vorbehalten wollen, versteht sich, und daſs
man absichtlich eine zweideutige Bestimmung in den Vertrag
gesetzt habe, ist ein unwürdiger und unwahrscheinlicher Ver-
dacht. — So war man endlich einig. Der unbesiegte Feld-
herr einer überwundenen Nation stieg herab von seinen lang-
vertheidigten Bergen und übergab den neuen Herren der Insel
die Festungen, die Karthago seit wenigstens vierhundert Jahren
in ununterbrochenem Besitz gehabt und von deren Mauern alle
Stürme der Hellenen erfolglos abgeprallt waren. Der Westen
hatte Frieden (513).


Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Kampfe,
welcher die römische Grenze vorrückte über den Meerring,
der die Halbinsel einfaſst. Er ist einer der längsten und
schwersten, welchen die Römer geführt haben; die Soldaten,
welche fochten in der entscheidenen Schlacht, waren zum
guten Theil, als er begann, noch nicht geboren. Dennoch
und trotz der unvergleichlich groſsartigen Momente, die er
darbietet, ist kaum ein anderer Krieg zu nennen, den die
Römer so schlecht und so unsicher geführt haben, militärisch
sowohl wie politisch. Es konnte das kaum anders sein; er
steht inmitten eines Wechsels der politischen Systeme, zwi-
schen der nicht mehr ausreichenden italischen Politik und der
noch nicht gefundenen des Groſsstaats. Der römische Senat
und das römische Kriegswesen waren unübertrefflich organisirt
für die rein italische Politik. Die Kriege, welche diese ver-
anlaſste, waren reine Continentalkriege und ruhten stets auf
der in der Mitte der Halbinsel gelegenen Hauptstadt als der
letzten Operationsbasis und demnächst auf der römischen
Festungskette. Die Aufgaben waren vorzugsweise taktisch,
nicht strategisch; Märsche und Operationen zählten nur an
zweiter, an erster Stelle die Schlachten; der Festungskrieg
war in der Kindheit; die See und der Seekrieg kamen kaum
einmal beiläufig in Betracht. Es ist begreiflich, zumal wenn
man nicht vergiſst, daſs in den damaligen Schlachten beim
Mangel der Artillerie wesentlich immer das Handgemenge ent-
schied, daſs eine Rathversammlung diese Operationen zu diri-
[360]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
giren und wer eben Bürgermeister war die Truppen zu be-
fehligen im Stande war. Auf einen Schlag war das alles
umgewandelt. Das Schlachtfeld dehnte sich aus in unabseh-
bare Ferne, in unbekannte Landstriche eines andern Erdtheils
hinein und hinaus über weite Meeresflächen; jede Welle war
dem Feinde eine Straſse, von jedem Hafen aus konnte man
seinen Anmarsch erwarten. Die Belagerung der festen Plätze,
namentlich der Küstenfestungen, an der die ersten Taktiker
Griechenlands so oft gescheitert waren, hatten die Römer jetzt
zum ersten Mal zu versuchen. Man kam nicht mehr aus mit
dem Landheer und mit dem Bürgermilizwesen. Es galt eine
Flotte zu schaffen und was schwieriger war, sie zu gebrauchen,
es galt die wahren Angriffs- und Vertheidigungspuncte zu finden,
die Massen zu vereinigen und zu richten, auf lange Zeit und
weite Ferne die Züge zu berechnen und in einander zu pas-
sen; geschah dies nicht, so konnte der taktisch weit schwä-
chere Feind gar leicht den Stärkeren besiegen. Ist es ein
Wunder, daſs die Zügel eines solchen Regiments der Rath-
versammlung und den commandirenden Bürgermeistern ent-
schlüpften? — Offenbar wuſste man beim Beginn des Krieges
nicht was man begann; erst im Laufe des Kampfes drängten
die Unzulänglichkeiten des römischen Systems eine nach der
anderen sich auf: der Mangel einer Seemacht, das Fehlen ei-
ner festen militärischen Leitung, die Unfähigkeit der Feld-
herren, die vollständige Unbrauchbarkeit der Admirale. Zum
Theil half man ihnen ab durch Energie und durch Glück; so
dem Mangel einer Flotte. Aber auch diese gewaltige Schöp-
fung war ein groſsartiger Nothbehelf und ist es zu allen Zei-
ten geblieben. Man bildete eine römische Flotte, aber man
nationalisirte sie nur dem Namen nach und behandelte sie
stets stiefmütterlich: der Schiffsdienst blieb gering geschätzt
neben dem hochgeehrten Dienst in den Legionen, die See-
offiziere waren groſsentheils italische Griechen, die Bemannung
Unterthanen oder gar Sclaven und Gesindel. Der italische
Bauer war und blieb wasserscheu; unter den drei Dingen,
die Cato in seinem Leben bereute, war das eine, daſs er ein
Schiff genommen habe, wo er zu Fuſs habe gehen können.
Es lag dies zum Theil wohl in der Natur der Sache, da die
Schiffe Rudergaleeren waren und der Ruderdienst kaum gea-
delt werden kann; allein die Offiziere wenigstens hätte man
heben, ferner eigene Schiffssoldaten bilden können. Man hätte
den Impuls der Nation benutzend allmählich darauf ausgehen
[361]ERSTER PUNISCHER KRIEG.
sollen eine nicht bloſs durch die Zahl, sondern durch Segel-
fähigkeit und Routine bedeutende Seemacht herzustellen, wozu
in dem Kaperwesen während des langen Krieges die Gelegen-
heit nahe genug lag; allein es geschah von der Regierung
nichts der Art. — Dennoch ist das römische Flottenwesen in
seiner unbehülflichen Groſsartigkeit noch die genialste Schöp-
fung dieses Krieges und hat wie im Anfang so zuletzt für
Rom den Ausschlag gegeben. Viel schwieriger zu überwinden
waren diejenigen Mängel, die sich ohne Aenderung der Ver-
fassung nicht beseitigen lieſsen. Daſs der Senat je nach dem
Stande der in ihm streitenden Parteien von einem System
der Kriegführung zum andern absprang und so unglaubliche
Fehler beging wie die Räumung von Clupea und die mehr-
malige Einziehung der Flotte waren; daſs der Feldherr des
einen Jahres sicilische Städte belagerte und sein Nachfolger,
statt dieselben zur Uebergabe zu zwingen, die africanische
Küste brandschatzte oder ein Seetreffen zu liefern für gut
fand; daſs überhaupt der Oberbefehl jährlich von Rechts we-
gen wechselte — das alles lieſs sich nicht abstellen, ohne
Verfassungsfragen anzuregen, die schwieriger zu lösen waren
als der Flottenbau, aber freilich ebenso wenig vereinigen mit
den Forderungen eines solchen Krieges. Vor allen Dingen
aber lieſs sich das nicht beseitigen, daſs Niemand in die neue
Kriegführung sich zu finden wuſste, weder der Senat noch
die Feldherren. Regulus Feldzug ist ein Beispiel davon, wie
seltsam man befangen war in dem Gedanken, daſs die takti-
sche Ueberlegenheit alles entscheide. Es giebt nicht leicht
einen Feldherrn, dem das Glück so die Erfolge in den Schoſs
geworfen hat; er stand im Jahre 498 genau da wo funfzig
Jahre später Scipio, nur daſs ihm kein Hannibal und keine
erprobte feindliche Armee gegenüberstand. Allein der Senat
zog die halbe Armee zurück, so wie man sich von der takti-
schen Ueberlegenheit der Römer überzeugt hatte; im blinden
Vertrauen auf diese blieb der Feldherr stehen wo er eben
stand, um strategisch, und nahm er die Schlacht an wo man
sie ihm anbot, um auch taktisch sich überwinden zu lassen.
Es war dies um so bezeichnender, als Regulus in seiner Art
ein tüchtiger und erprobter Feldherr war. Eben die Bauern-
manier, durch die Etrurien und Samnium waren gewonnen wor-
den, war die Ursache der Niederlage in der Ebene von Tunes.
Der Satz war irrig geworden, daſs jeder Bürgersmann gut
genug sei zum General; in dem neuen Kriegssystem konnte
[362]DRITTES BUCH. KAPITEL II.
man nur Feldherren brauchen von militärischer Schule und
militärischem Blick, und freilich war das nicht jeder Bürger-
meister. Noch viel ärger aber war es, daſs man das Ober-
commando der Flotte als eine Dependenz des Oberbefehls der
Landarmee behandelte und der erste beste Stadtvorsteher
meinte nicht bloſs General, sondern auch Admiral spielen zu
können. An den schlimmsten Niederlagen, die Rom in diesem
Krieg erlitten hat, sind nicht die Stürme schuld und noch
weniger die Karthager, sondern der anmaſsliche Unverstand
seiner Bürgeradmirale. — Rom hat endlich gesiegt, aber es
war ein halber Sieg — es kam das sonst nicht vor, daſs
man sich mit weit geringerem begnügte als zu Anfang gefor-
dert, ja geboten worden war; und wenn Rom siegte, so ver-
dankt es diesen Sieg zwar auch der Gunst der Götter und
der Energie seiner Bürger, aber mehr als beiden den die
Mängel der römischen Kriegführung noch weit übertreffenden
Fehlern seiner Feinde.


[[363]]

KAPITEL III.



Die Ausdehnung Italiens bis an seine natürlichen
Grenzen
.


Das Italien, über welches seit der Besiegung des Königs
Pyrrhos Rom die Herrschaft ohne Widerspruch im In- oder
im Ausland behauptete, bezeichnete zunächst die mehr oder
minder eng verwandten Stämme der Latiner, Sabeller, Etru-
sker und italischen Griechen als eine nationale Einheit, die
zuerst und vornämlich sich als solche zusammengefunden zu
haben scheint in der gemeinschaftlichen Abwehr der Kelten.
Deren Gebiet ist der eigentliche Gegensatz zu dem italischen
Lande und bis in sehr späte Zeit hinab galten selbst Sena
Gallica (Sinigaglia) und Ariminum (Rimini) als auſseritalische
Städte; die geographische Scheide zwischen beiden bildete der
Apennin, und Italien endete damals westlich am Macrafluſs bei
Spezzia, östlich am Aesis oberhalb Ancona. Die Römer adop-
tirten diesen Begriff der italischen Nation und steigerten ihn,
indem sie den Anspruch erhoben und durchfochten unter den
italischen Gemeinden die führende zu sein, von dem der na-
tionalen zu dem der politischen Einheit*; und als solcher
[364]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
hat er in den einmal festgestellten Grenzen mehrere Jahrhun-
derte sich unverrückt behauptet. Indeſs die römische Herrschaft
beschränkte sich auf diese Grenzen nicht. Sie wurden zuerst
überschritten, als die Republik alte und neue Unbill zu rächen
die keltischen Senonen politisch vernichtete (471) und in
deren ehemaligem Gebiet die Grenzfestungen Sena (um 471)
und Ariminum (486) angelegt, die hie und da etwa zurück-
bleibenden keltischen Haufen nicht in die italische Eidge-
nossenschaft aufgenommen, sondern als zinspflichtige Unter-
thanen behandelt wurden. Jetzt, wo die Africaner besiegt
und zurückgedrängt waren, machte eine neue umfassendere
politische Idee sich geltend. Italien, wie es damals ver-
standen ward, war und blieb die herrschende Gemeinschaft;
allein die natürliche Beschaffenheit der Halbinsel erforderte
es, daſs man zu Lande die Grenze bis an die Alpen vor-
schob und beide Meere im Westen und Osten sich unter-
warf, und dies ins Werk zu setzen fand die Regierung der
römischen Gemeinde schnell ihre ganze Thatkraft und Sicher-
heit wieder.


Zunächst in der Westsee, die für Italien bei weitem
wichtiger ist als das adriatische Meer, war die wichtigste Stel-
lung gewonnen durch den so eben beendigten Krieg mit den
Africanern, die groſse fruchtbare und hafenreiche Insel Sici-
lien. Von den drei Mächten, die bisher in den Besitz der
Insel sich getheilt hatten, den Mamertinern, Syrakusanern
und Karthagern war die erste schon zu Anfang des Krieges
als Glied der italischen Nation anerkannt worden und hatte
mit dem Verlust ihrer politischen Selbstständigkeit sich die
communale Selbstverwaltung, die Freiheit vom Tribut und
die Theilnahme an den gemeinen Rechten der italischen Eid-
genossenschaft erkauft. Syrakus behielt seine bisherige Stel-
lung als unabhängige Mittelmacht, die mit den übrigen unab-
hängigen Staaten in selbstständige Beziehungen zu treten
befugt war; eine Gebietserweiterung ward ihm nicht zu Theil.
Hieron mochte zufrieden sein, daſs der Krieg der beiden
Groſsmächte nicht mit dem Sturz der einen oder der andern
geendigt hatte, und wir finden ihn darauf bedacht, so viel
seine Mittel und die Klugheit es ihm erlaubten, den Kartha-
gern in ihren gefährlichen Krisen nach dem Friedensschluss
mit Rom beizustehen, namentlich durch bedeutende Kornsen-
dungen. Was endlich das bisher karthagische Gebiet, das
heiſst den bei weitem gröſsten Theil der Insel anlangt, so
[365]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
behielten die Römer dafür das von Karthago befolgte System
unverändert bei. Die Einwohner blieben ausgeschlossen aus
der herrschenden Eidgenossenschaft und nicht einmal Colo-
nien wurden dort hingesandt; dagegen hatten die Siculer
fortan ihre Zehnten, wenn auch geringere, nach Rom zu zah-
len statt wie bisher nach Karthago. Sie verloren das Waffen-
recht und stellten nicht einmal Zuzug zum römischen Heere;
in den festen Plätzen blieb römische Besatzung, welche zu
commandiren und den ganzen District zu leiten jährlich ein
römischer Vogt hinübergesandt ward. So entstand der Gegen-
satz zwischen der italischen Eidgenossenschaft und den unter-
thänigen ‚Aemtern‘ (provinciae), der bisher nicht bestanden
hatte; denn daſs einzelne Keltendörfer am Po schon früher ähn-
lich mochten behandelt wurden sein, hat nicht viel zu bedeuten.
Im Wesentlichen ward das neue System erst jetzt festgestellt
und gemodelt nach der karthagischen Unterthanenverfassung,
die seine Grundsätze und seinen Geist für alle Zukunft be-
stimmte. — Während man noch beschäftigt war die sicilischen
Angelegenheiten zu ordnen und nur bedauerte, daſs der Be-
sitz des schönen Eilandes doch, so lange Sardinien kartha-
gisch blieb, nicht ausreichte um die westliche See in ein
italisches Binnenmeer zu verwandeln, kamen unvermuthet An-
erbietungen, die eine nahe Aussicht eröffneten auf den Er-
werb dieser zweiten Insel des Mittelmeeres. In Africa war
inzwischen durch die Schuld der Regierungsbehörden ein
fürchterlicher Aufruhr der Söldner und der Unterthanen aus-
gebrochen. Hamilkar hatte seinen sicilischen Söldnern in
den letzten Kriegsjahren den Sold nicht ferner aus eigenen
Mitteln auszahlen können und vergeblich Geldsendungen von
daheim erbeten; er möge, hieſs es, die Leute nur zur Ablöh-
nung nach Africa senden. Er fügte sich, aber da er die
Leute kannte, schiffte er sie vorsichtig in kleineren Abthei-
lungen ein, damit man sie truppweise ablohnen oder min-
destens dislociren könne, und legte hierauf den Oberbefehl
nieder. Allein alle Vorsicht scheiterte nicht so sehr an den
leeren Kassen als an dem collegialischen Geschäftsgang und
dem Unverstand der Bureaukratie. Man wartete, bis das ge-
sammte Heer wieder in Libyen vereinigt stand und versuchte
dann den Leuten an dem versprochenen Solde zu kürzen.
Natürlich entstand eine Meuterei unter den Truppen und aus
dieser eine allgemeine Schilderhebung der gesammten kartha-
gischen Soldatesca und der africanischen Unterthanen. Das
[366]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
unsichere und feige Benehmen der Behörden zeigte den Meu-
terern, was sie wagen konnten. Die meisten von ihnen
waren gebürtig aus den von Karthago beherrschten oder ab-
hängigen Districten; sie kannten die Stimmung, welche die
officielle Schlächterei nach dem Zuge des Regulus und der
fürchterliche Steuerdruck dort überall hervorgerufen hatte und
kannten auch ihre Regierung, die nie Wort hielt und nie
verzieh: sie wuſsten, was ihrer wartete, wenn sie sich nach
Hause zerstreuten mit dem meuterisch erpreſsten Solde.
Seit langem hatte man sich in Karthago die Mine gegraben
und bestellte jetzt selbst die Leute, die nicht anders konnten
als sie anzünden; wie ein Lauffeuer ergriff die Revolution
Besatzung um Besatzung, Dorf um Dorf; die libyschen Frauen
trugen ihren Schmuck herbei um den Söldnern die Löhnung
zu zahlen; eine Menge karthagischer Bürger, darunter einige
der ausgezeichnetsten Offiziere des sicilischen Heeres wurden
das Opfer der erbitterten Menge; schon war Karthago von
zwei Seiten belagert, das aus der Stadt ausrückende kar-
thagische Heer durch die Verkehrtheit des ungeschickten
Führers gänzlich geschlagen. Während also der Krieg in
Africa wüthete, vermochten die sardinischen Besatzungen, die
gleich der übrigen karthagischen Armee sich für die Aufstän-
dischen erklärt hatten, gegen die Eingebornen der Insel sich
nicht zu halten und boten dieselbe den Römern an (um 515);
diese gingen darauf ein und besetzten die Insel (516). Es
war zum zweitenmal, daſs das groſse und siegreiche Volk
sich hergab Brüderschaft zu machen mit dem feilen Söldner-
gesindel und seinen Raub mit ihm zu theilen; in diesem zwei-
ten Falle wäre es wohl möglich gewesen dem Gebot der Ehre
den augenblicklichen Gewinn nachzusetzen. Als Karthago, das
durch Hamilkars Genie sich plötzlich vom Abgrund gerettet
und in Africa wieder in seine volle Herrschaft eingesetzt sah
(517), von den Römern die Rückgabe Sardiniens begehrte,
brachte man nichtige Beschwerden vor, wonach die Karthager
römischen Handelsleuten Unbill zugefügt oder gar solche ins
Meer gestürzt haben sollten, und eilte den Krieg zu erklären*.
[367]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
Man bereute den Friedensschluſs von 513, der wenn er
nicht wirklich voreilig war, jetzt wenigstens allen voreilig
schien; man hatte vergessen, wie erschöpft damals der eigene
Staat gewesen war, wie mächtig der karthagische dagestan-
den hatte; man sah den gehaſsten und immer noch gefürch-
teten Feind in gröſserer Gefahr schweben als je die römischen
Kriege ihm gebracht hatten; und so dachte man eben das Ver-
säumte nachholen zu können. Die Scham hatte verboten mit den
karthagischen Rebellen offen in Verbindung zu treten, ja man
hatte den Karthagern ausnahmsweise zu diesem Krieg in Ita-
lien Werbungen zu veranstalten gestattet und den italischen
Schiffern mit den Libyern zu verkehren untersagt; für die rö-
mischen Capitäne indeſs, die den Aufständischen ihre Bedürf-
nisse zugeführt hatten und die von Hamilkar waren aufge-
griffen und eingesteckt worden, hatte sich der römische Senat
verwandt und ihre Freigebung erlangt. Auch die Anträge, die
Utica machte sich gleich Sardinien den Römern zu ergeben,
wies man zurück, weil sie weiter geführt hätten als man zu
gehen gedacht und hinaus über die natürlichen Grenzen Ita-
liens. Aber Sardinien, das besetzt worden war in der Zeit
der höchsten Bedrängniſs Karthagos, war man nicht gesonnen
wieder herauszugeben, als diese Gefahr wider Erwarten und
wahrscheinlich wider Verhoffen der Römer abgewendet war; der
Satz, daſs in der Politik jeder darf was er kann, trat hervor
in seiner unverhüllten Schamlosigkeit. Die gerechte Erbitte-
rung hieſs die Karthager den gebotenen Krieg annehmen;
hätte Catulus fünf Jahre zuvor auf Sardiniens Abtretung be-
standen, der Krieg würde wahrscheinlich seinen Fortgang ge-
habt haben. Allein jetzt, wo beide Inseln verloren, Libyen in
Gährung, der Staat durch den vierundzwanzigjährigen Krieg mit
Rom und den fast fünfjährigen entsetzlichen Bürgerkrieg aufs
Aeuſserste geschwächt war, muſste man sich wohl fügen und
da es die Römer einmal nicht anders wollten und nur auf
wiederholte flehentliche Bitten widerwillig vom Kriege abstan-
den, ihnen auch noch als Entschädigung für die muthwillig
veranlaſsten Kriegsrüstungen 1200 Talente (1⅘ Mill. Thlr.)
zahlen. So erwarb Rom fast ohne Kampf Sardinien, wozu
man Corsica fügte, die alte etruskische Besitzung, in der
vielleicht noch vom letzten Kriege her einzelne römische Be-
satzungen standen. Man bildete aus ihnen beiden das zweite
römische ‚Amt‘, das sich indeſs hauptsächlich, namentlich in
dem rauhen Corsica nur auf den Besitz der Küsten be-
[368]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
schränkte. Die Unterthanen wurden gleich den Siculern
zehntpflichtig; mit den Eingebornen im Innern führte man
beständig Kriege oder vielmehr man trieb dort die Menschen-
jagd: man hetzte sie mit Hunden und führte die gefangene
Waare auf den Sclavenmarkt, aber an eine ernstliche Unter-
werfung ging man nicht. Nicht um ihrer selbst willen
hatte man die Inseln besetzt, sondern zur Sicherung Italiens.
Seit sie die drei groſsen Eilande besaſs, konnte die Eidge-
nossenschaft das tyrrhenische Meer das ihrige nennen.


Im adriatischen Meer, an dessen Eingang die wichtige
und längst vorbereitete Colonie Brundisium endlich noch wäh-
rend des Krieges mit Karthago gegründet worden war (510),
standen die Dinge für Rom nicht minder günstig. In der
Westsee hatte Rom seinen Rivalen beseitigt; in der östlichen
sorgte die hellenische Zwietracht dafür, daſs keiner der Staa-
ten auf der griechischen Halbinsel eine namhafte Macht ent-
wickele. Der bedeutendste derselben, der makedonische, war
damals kaum im Stande die Nordgrenze gegen die Barbaren
zu schützen und unter dem Einfluſs Aegyptens vom oberen
adriatischen Meer durch die Aetoler wie aus dem Peloponnes
durch die Achäer verdrängt worden. Wie sehr den Römern
daran gelegen war Makedonien und dessen natürlichen Ver-
bündeten, den syrischen König niederzuhalten und wie eng
sie sich anschlossen an die eben darauf gerichtete ägyptische
Politik, beweist das merkwürdige Anerbieten, das sie nach
dem Ende des Krieges mit Karthago dem König Ptolemaeos III.
Euergetes machten, ihn in dem Kriege zu unterstützen, den
er wegen Berenikes Ermordung gegen Seleukos II. Kallinikos
von Syrien (reg. 507-529) führte und bei dem wahrschein-
lich Makedonien für den letztern Partei genommen hatte.
Ueberhaupt werden die Beziehungen Roms zu den hellenisti-
schen Staaten jetzt enger; auch mit Syrien knüpfte der Senat
Verbindung an und verwandte sich bei dem ebengenannten
Seleukos für die stammverwandten Ilier. — Indeſs der un-
mittelbaren Einmischung in die Angelegenheiten der östlichen
Mächte enthielt man sich, weil es deren nicht bedurfte. Die
achäische Eidgenossenschaft, die im Aufblühen geknickt ward
durch die engherzige Coteriepolitik des Aratos, die ätolische
Soldatengemeinde, das verfallene Makedonierreich hielten selber
einer den andern nieder, ohne daſs dazu römische Dazwi-
schenkunft nöthig gewesen wäre; und überseeischen Länder-
gewinn vermied man damals eher in Rom als daſs man ihn
[369]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
suchte. Als die Akarnanen, sich darauf berufend, daſs sie
allein unter allen Griechen nicht theilgenommen hätten an
der Zerstörung Ilions, die Nachkommen des Aeneas um Hülfe
baten gegen die Aetoler, versuchte der Senat zwar eine diplo-
matische Verwendung; allein da die Aetoler darauf eine nach
ihrer Weise abgefaſste, das heiſst unverschämte Antwort er-
theilten, ging das antiquarische Interesse der römischen Herren
doch keineswegs so weit um einen Krieg anzufangen, der die
Makedonier von ihrem Erbfeind befreit haben würde (um 515).
— Selbst den Unfug der Piraterie, die bei solcher Lage der Dinge
begreiflicher Weise das einzige Gewerbe war, das an der adria-
tischen Küste blühte und von der auch der italische Handel
viel zu leiden hatte, lieſsen sich die Römer lange gefallen mit
einer nicht löblichen Geduld, die zusammenhängt mit ihrer
gründlichen Abneigung gegen den Seekrieg und ihrem schlech-
ten Flottenwesen. Allein endlich ward es doch zu arg. Unter
Begünstigung Makedoniens, das keine Veranlassung mehr fand
sein altes Geschäft der Beschirmung des hellenischen Handels
vor den adriatischen Corsaren zu Gunsten seiner Feinde fort-
zuführen, hatten die Herren von Skodra zu gemeinschaftlichen
Piratenzügen im groſsen Stil die illyrischen Völkerschaften,
etwa die heutigen Dalmatier, Montenegriner und Nordalbanesen,
vereinigt; mit ganzen Geschwadern ihrer schnellsegelnden
Zweidecker, der bekannten ‚liburnischen‘ Schiffe, führten die
Illyrier den Krieg gegen Jedermann zur See und an den Kü-
sten. Die griechischen Ansiedlungen in diesen Gegenden, die
Inselstädte Issa (Lissa) und Pharos (Lesina), die wichtigen
Küstenplätze Epidamnos (Durazzo) und Apollonia (nördlich
von Avlone am Aoos), hatten natürlich vor allem zu leiden
und sahen sich wiederholt von den Barbaren belagert. Aber
noch weiter südlich, in Phoenike, der blühendsten Stadt von
Epeiros setzten die Corsaren sich fest; halb gezwungen halb
freiwillig traten die Epeiroten und Akarnanen mit den fremden
Räubern in eine unnatürliche Symmachie; bis nach Elis und
Messene waren die Küsten nirgends mehr sicher. Vergeblich
vereinigten die Aetoler und Achaeer was sie an Schiffen hatten
um dem Unwesen zu steuern; in offener Seeschlacht wurden
sie von den Seeräubern und deren griechischen Bundesge-
nossen geschlagen; die Corsarenflotte vermochte endlich sogar
die reiche und wichtige Insel Kerkyra (Corfu) einzunehmen.
Die Klagen der italischen Schiffer, die Hülfsgesuche der alt-
verbündeten Apolloniaten, die flehende Bitte der belagerten
Röm. Gesch. I. 24
[370]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
Issaeer nöthigten endlich den römischen Senat wenigstens Ge-
sandte, die Brüder Gaius und Lucius Coruncanius nach Skodra
zu schicken, um von dem König Agron Abstellung des Unwe-
sens zu begehren. Der König erwiderte, daſs nach illyrischem
Landrecht der Seeraub ein erlaubtes Gewerbe sei und die
Regierung nicht das Recht habe der Privatkaperei zu wehren;
worauf Lucius Coruncanius erwiderte, daſs dann Rom es sich
angelegen sein lassen werde den Illyriern ein besseres Landrecht
beizubringen. Zur Strafe dieser allerdings nicht sehr diplomati-
schen Replik wurden auf Geheiſs des Königs — so wenigstens
behaupteten die Römer — beide Gesandten auf der Heimkehr
ermordet und die Auslieferung der Mörder verweigert. Der
Senat hatte jetzt keine Wahl mehr. Mit dem Frühjahr 525
erschien vor Apollonia eine Flotte von 200 Linienschiffen mit
einer Landungsarmee an Bord; vor jener zerstoben die Cor-
sarenböte, während diese die Raubburgen brach; die Königin
Teuta, die nach ihres Gemahls Agron Tode die Regierung für
ihren unmündigen Sohn Pinnes führte, muſste, in ihrem letz-
ten Zufluchtsort belagert, die Bedingungen annehmen, die Rom
dictirte: das Gebiet der Herren von Skodra erhielt wieder
nördlich und südlich seine ursprünglichen engen Grenzen,
alle griechischen Städte muſsten sie entlassen, ebenso die Ar-
diaeer in Dalmatien, die Parthiner um Epidamnos, die Atin-
tanen im nördlichen Epeiros; südlich von Lissos (Alessio zwi-
schen Scutari und Durazzo) sollte künftig kein armirtes illy-
risches Fahrzeug noch über zwei nicht armirte zusammen fah-
ren dürfen. Roms Seeherrschaft auf dem adriatischen Meer
war in der löblichsten und dauerhaftesten Weise zur vollen
Anerkennung gebracht durch die rasche und energische Unter-
drückung des Piratenunfugs. Allein man ging weiter und
setzte sich zugleich an der Ostküste fest. Die Illyrier von
Skodra wurden tributpflichtig nach Rom; auf den dalmatini-
schen Inseln und Küsten wurde Demetrios von Pharos, der
aus dem Dienst der Teuta in römische getreten war, als ab-
hängiger Dynast und römischer Bundesgenosse eingesetzt; die
griechischen Städte Kerkyra, Apollonia, Epidamnos und die
Gemeinden der Atintanen und Parthiner wurden in milden
Formen der Symmachie an Rom geknüpft. Wie hätte es an-
ders kommen sollen? Rom brauchte eine gute Seestation im
obern adriatischen Meere, welche ihm seine italischen Be-
sitzungen an dem entgegengesetzten Ufer nicht gewährten;
die neuen Bundesgenossen, namentlich die griechischen Han-
[371]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
delsstädte, sahen in den Römern ihre Retter und thaten ohne
Zweifel was sie konnten sich des mächtigen Schutzes dauernd
zu versichern; im eigentlichen Hellas war nicht bloſs Niemand
im Stande zu widersprechen, sondern das Lob der Befreier
auf allen Lippen. Man kann fragen, ob der Jubel in Hellas
gröſser war oder die Scham, als statt der zehn Linienschiffe
der achaeischen Eidgenossenschaft, der streitbarsten Macht
Griechenlands, jetzt zweihundert Segel der Barbaren in ihre
Häfen einliefen und mit einem Schlage die Aufgabe lösten,
die den Griechen zukam und an der diese so kläglich ge-
scheitert waren. Aber wenn man sich schämte, daſs die Ret-
tung den bedrängten Landsleuten vom Ausland hatte kommen
müssen, so geschah es wenigstens mit guter Manier; man
säumte nicht die Römer durch Zulassung zu den isthmischen
Spielen und den eleusinischen Mysterien feierlich aufzunehmen
in den hellenischen Nationalverband. — Makedonien schwieg;
es war nicht in der Verfassung mit den Waffen zu protestiren
und verschmähte es mit Worten zu thun. Widerstand fand
sich nirgends; aber nichtsdestoweniger hatte Rom, indem es
die Schlüssel zum Hause des Nachbarn an sich nahm, in ihm
sich einen Gegner geschaffen, von dem, wenn er wieder zu
Kräften oder eine günstige Gelegenheit ihm vorkam, sich er-
warten lieſs, daſs er sein Schweigen zu brechen wissen werde.
Hätte der kräftige und besonnene König Antigonos Doson län-
ger gelebt, so würde wohl schon er den hingeworfenen Hand-
schuh aufgehoben haben; denn als einige Jahre später der
Dynast Demetrios von Pharos sich der römischen Hegemonie
entzog, im Einverständniſs mit den Istriern vertragswidrig
Seeraub trieb und die von den Römern für unabhängig er-
klärten Atintanen sich unterwarf, machte Antigonos Bündniſs
mit ihm und Demetrios Truppen fochten mit in Antigonos
Heer in der Schlacht bei Sellasia (533). Allein Antigonos
starb (Winter 533/4); sein Nachfolger Philippos, noch ein
Knabe, lieſs es geschehen, daſs der Consul Lucius Aemilius
Paullus den Verbündeten Makedoniens angriff, seine Hauptstadt
zerstörte und ihn landflüchtig aus seinem Reiche trieb (535).


Auf dem Festland von Italien war tiefer Friede seit dem
Fall von Tarent; der sechstägige Krieg mit Falerii (513) ist
kaum etwas mehr als eine Curiosität. Aber gegen Norden
dehnte zwischen dem Gebiet der Eidgenossenschaft und der
Naturgrenze Italiens, der Alpenkette noch eine weite Strecke
sich aus, die den Römern nicht unbedingt gehorchte. Jenseits
24*
[372]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
des Apennin besaſsen die Römer nur den schmalen Raum
zwischen dem Aesis oberhalb Ancona und dem Rubico unter-
halb Cesena *, ungefähr die heutigen Provinzen Forli und
Urbino. Südlich vom Po behauptete sich noch der mächtige
Keltenstamm der Boier (von Parma bis Bologna), neben denen
östlich die Lingonen, westlich (im heutigen Herzogthum Parma)
die Anaren, zwei kleinere vermuthlich in der Clientel der Boier
stehende keltische Cantone die Ebene ausfüllten. Wo diese
aufhört, begannen die Ligurer, die mit einzelnen keltischen
Stämmen gemischt auf dem Apennin von oberhalb Arezzo
und Pisa an sitzend das Quellgebiet des Po inne hatten. Von
der Ebene nordwärts vom Po hatten die Veneter, verschie-
denen Stammes von den Kelten und wohl illyrischer Abkunft,
den östlichen Theil etwa von Verona bis zur Küste im Besitz;
zwischen ihnen und den westlichen Gebirgen saſsen die Ce-
nomanen (um Brescia und Cremona), die selten mit der kel-
tischen Nation hielten und wohl stark mit Venetern gemischt
waren, und die Insubrer (um Mailand), dieser der bedeutend-
ste der italischen Keltengaue und in stetiger Verbindung nicht
bloſs mit den kleineren in den Alpenthälern zerstreuten Ge-
meinden theils keltischer, theils anderer Abkunft, sondern auch
mit den Keltengauen jenseits der Alpen. Die Pforten der Alpen,
der mächtige auf 250000 Schritte schiffbare Strom, die gröſste
und fruchtbarste Ebene des damaligen civilisirten Europa wa-
ren nach wie vor in den Händen der Erbfeinde des italischen
Namens, die wohl gedemüthigt und geschwächt, doch immer
noch kaum dem Namen nach abhängig und immer noch un-
bequeme Nachbarn, in ihrer Barbarei verharrten und dünn-
gesäet in den weiten Flächen ihre Heerden- und Plünderwirth-
schaft fortführten. Man durfte erwarten, daſs die Römer eilen
würden, sich dieser Gebiete zu bemächtigen; um so mehr als
die Kelten allmählich anfingen ihrer Niederlagen in den Feld-
zügen von 471 und 472 zu vergessen und sich wieder zu
regen, ja was noch bedenklicher war die transalpinischen
Kelten wieder begannen diesseit der Alpen sich zu zeigen.
In der That hatten bereits im Jahre 516 die Boier wieder
den Krieg begonnen und deren Herren Atis und Galatas ohne
Auftrag der Landesgemeinde die Transalpiner aufgefordert mit
ihnen gemeinschaftliche Sache zu machen; zahlreich waren
[373]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
diese dem Ruf gefolgt und im Jahre 518 lagerte ein Kelten-
heer vor Ariminum, wie Italien es lange nicht gesehen hatte.
Die Römer, für den Augenblick dort viel zu schwach um die
Schlacht zu versuchen, schlossen Waffenstillstand und lieſsen
um Zeit zu gewinnen Boten der Kelten nach Rom gehen, die
im Senat die Abtretung von Ariminum zu fordern wagten. Es
schien, als sollten die Zeiten des Brennus wiederkehren, als
ein unvermutheter Zwischenfall dem Krieg ein Ende machte,
bevor er noch recht begonnen hatte. Die Boier, unzufrieden
mit den ungebetenen Bundesgenossen und wohl für ihr eigenes
Gebiet fürchtend, geriethen in Händel mit den Transalpinern;
es kam zwischen den beiden Keltenheeren zu offener Feld-
schlacht und nachdem die boiischen Häuptlinge von ihren eige-
nen Leuten erschlagen waren, kehrten die Transalpiner heim.
Damit waren die Boier den Römern in die Hände gegeben
und es hing nur von diesen ab sie auszutreiben gleich den
Senonen und wenigstens bis an den Po vorzudringen; allein
sie begnügten sich mit der Abtretung einiger Landstriche und
gaben den Boiern Frieden (518). Es mag das geschehen
sein, weil man eben damals den Wiederausbruch des Krieges
mit Karthago erwartete; gewiſs ist es, daſs die Römer sich
nicht beeilten die Occupation des Landes bis an die Alpen
vorzunehmen, obwohl die beständigen Besorgnisse der Kelten
vor solcher römischen Invasion von den Absichten der Römer
hinreichend zeugen. Endlich waren es nicht diese, sondern
die Kelten, die den Krieg begannen, sei es, daſs die Ackerver-
theilungen an der römischen Ostküste (522), obwohl zunächst
nicht gegen sie gerichtet, sie besorgt gemacht hatten, sei es,
daſs sie die Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Rom um den
Besitz der Lombardei begriffen, sei es, was vielleicht das
Wahrscheinlichste ist, daſs das Keltenvolk wieder einmal des
Sitzens müde war und eine neue Heerfahrt zu rüsten be-
liebte. Mit Ausschluſs der Cenomanen, die mit den Venetern
hielten und sich für die Römer erklärten, traten sämmtliche
italische Kelten zusammen und ihnen schlossen sich unter
den Führern Concolitanus und Aneroestus zahlreich die Kel-
ten des obern Rhonethals oder vielmehr deren Reisläufer, die
Gaesaten oder Germanen an; welcher letztere Name hier zum
erstenmal in der Geschichte erscheint *. Mit 50000 zu Fuſs
[374]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
und 20000 zu Roſs oder zu Wagen kämpfenden Soldaten rück-
ten die Führer der Kelten auf den Apennin zu, ehe Rom sich
von dieser Seite des Angriffs versah (529); man hatte nicht
erwartet, daſs sie mit Vernachlässigung der römischen Festun-
gen an der Ostküste und des Schutzes der eigenen Stamm-
genossen geradeswegs gegen die Hauptstadt vorzugehen wagen
würden. Die Kelten schienen den Italikern dasselbe Schicksal
bereiten zu wollen, das nicht gar lange vorher Griechenland
erfahren hatte. Die Besorgnisse waren groſs durch ganz Ita-
lien und selbst in Rom zitterte die Bürgerschaft, so daſs man
es nicht verschmähte den wüsten Glauben der Masse, daſs
Roms Untergang diesmal unvermeidlich und der römische
Boden vom Verhängniſs gallisch zu werden bestimmt sei,
durch einen noch crasseren Aberglauben zu beschwichtigen
und zur Erfüllung des Schicksalspruchs einen gallischen Mann
und eine gallische Frau auf dem römischen Markt lebendig
zu begraben. Daneben traf man ernstlichere Anstalten. Von
den beiden consularischen Heeren, deren jedes etwa 25000
Mann zu Fuſs und 1100 Reiter zählte, stand das eine unter
Gaius Atilius Regulus in Sardinien, das zweite unter Lucius
Aemilius Papus bei Ariminum; beide erhielten Befehl sich so
schnell wie möglich nach dem zunächst bedrohten Etrurien zu
begeben. Schon hatten gegen die mit Rom verbündeten Ceno-
manen und Veneter die Kelten eine Besatzung in der Heimath
zurücklassen müssen; jetzt ward auch der Landsturm der Um-
brer angewiesen von den heimischen Bergen herab in die Ebene
der Boier einzurücken und dem Feinde daheim jeden erdenk-
lichen Schaden zuzufügen. Die Landwehr der Etrusker und
Sabiner sollte den Apennin besetzen und wo möglich sperren,
bis die regulären Truppen eintreffen könnten. In Rom bil-
dete sich eine Reserve von 50000 Mann; durch ganz Italien,
das diesmal in Rom seinen rechten Vorkämpfer sah, wurde
die dienstfähige Mannschaft verzeichnet, Vorräthe und Kriegs-
material zusammengebracht. — Indeſs alles das forderte Zeit;
man hatte einmal sich überrumpeln lassen und Etrurien zu
retten war es zu spät. Die Kelten fanden den Apennin kaum
vertheidigt und erreichten unangefochten die reichen Ebenen
des tuskischen Gebietes, das lange keinen Feind gesehen.
*
[375]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
Schon standen sie bei Clusium drei Tagemärsche von Rom,
als das Heer von Ariminum unter dem Consul Papus ihnen
in der Flanke erschien, während die etruskische Landwehr,
die sich nach der Ueberschreitung des Apennin im Rücken der
Gallier zusammengezogen hatte, dem Marsch der Feinde folgte.
Plötzlich wandten die Gallier sich rückwärts. Nachdem sie
die Lagerfeuer angezündet hatten, übernahm die Reiterei die
Vorposten; das Fuſsvolk zog ab auf der Straſse gegen Fae-
sulae (Fiesole). Als am Morgen darauf auch die Reiterei auf-
brach und die tuskische Landwehr, die dicht am Feinde la-
gerte, des Abzugs inne ward, meinte sie, daſs der Schwarm
anfange sich zu verlaufen und folgte im eiligen Marsch. Al-
lein eben darauf hatten die Gallier gerechnet; ihr ausgeruhtes
und geordnetes Fuſsvolk empfing auf dem wohl gewählten
Schlachtfeld die römische Miliz, die ermattet und aufgelöst
von dem Gewaltmarsch herankam. 6000 Mann fielen nach
heftigem Kampf; und auch der Rest des Landsturms, der
nothdürftig auf einem Hügel Zuflucht gefunden, wäre verloren
gewesen, wenn nicht rechtzeitig das consularische Heer er-
schienen wäre. Es war dies für die Gallier das Zeichen zum
Abmarsch. Ihr geschickt angelegter Plan die Vereinigung der
beiden römischen Heere zu hindern und das schwächere ein-
zeln zu vernichten war nur halb gelungen; für jetzt schien es
ihnen gerathen zunächst die beträchtliche Beute in Sicherheit zu
bringen. Des bequemeren Marsches wegen zogen sie sich aus
der Gegend von Chiusi, wo sie standen, an die ebene Küste
und marschirten am Strande hin, als sie unvermuthet sich
hier den Weg verlegt fanden. Es waren die sardinischen
Legionen, die bei Pisa gelandet waren und, da sie zu spät
kamen um den Apennin zu sperren, sich sofort gleichfalls auf
dem Küstenweg in der dem Marsch der Gallier entgegenge-
setzten Richtung in Bewegung gesetzt hatten. Bei Telamon
(an der Mündung des Ombrone) trafen sie auf den Feind.
Während das römische Fuſsvolk in geschlossener Fronte auf
der groſsen Straſse vorrückte, ging die Reiterei, geführt vom
Consul Gaius Atilius Regulus selbst, seitwärts vor um den
Galliern in die Flanke zu kommen und sobald wie möglich
dem andern römischen Heer unter Papus Kunde von ihrem
Eintreffen zu geben. Es entspann sich ein heftiges Reiter-
gefecht, in dem Regulus selber fiel; aber nicht umsonst hatte
er sein Leben aufgeopfert: sein Zweck war erreicht. Papus
gewahrte das Gefecht und ahnte den Zusammenhang; schleu-
[376]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
nig ordnete er seine Legionen und von beiden Seiten drang
das römische Fuſsvolk auf das Keltenheer ein. Muthig stellte
dieses sich zum Doppelkampf, die Transalpiner und Insubrer
gegen die Truppen des Papus, die alpinischen Taurisker und
die Boier gegen die sardinischen Legionen; das Reitergefecht
ging davon gesondert seinen Gang auf dem Flügel. Die Kräfte
waren der Zahl nach nicht ungleich gemessen und die ver-
zweifelte Lage der Gallier zwang sie zur hartnäckigsten Ge-
genwehr. Aber die Transalpiner, nur des Nahkampfes ge-
wohnt, wichen vor den Geschossen der römischen Plänkler;
im Handgemenge setzte die bessere Stählung der römischen
Waffen die Gallier in Nachtheil; endlich entschied der Flanken-
angriff der siegreichen römischen Reiterei den Tag. Die kelti-
schen Berittenen entrannen; für das Fuſsvolk, das zwischen
dem Meere und den drei römischen Heeren eingekeilt war, gab
es keine Flucht. 10000 Kelten mit dem König Concolitanus
wurden gefangen; 40000 andere lagen todt auf dem Schlacht-
feld; Aneroestus und sein Gefolge hatten sich nach kelti-
scher Sitte selber den Tod gegeben. — Der Sieg war voll-
ständig und die Römer fest entschlossen die Wiederholung
solchen Einfalls durch die völlige Ueberwältigung der Kelten
diesseit der Alpen unmöglich zu machen. Ohne Widerstand
ergaben im folgenden Jahr (530) sich die Boier nebst den
Lingonen, das Jahr darauf (531) die Anaren; damit war das
Flachland bis zum Padus in römischen Händen. Ernstlichere
Kämpfe kostete die Eroberung des nördlichen Ufers. Gaius
Flaminius überschritt in dem neugewonnenen anarischen Ge-
biet (etwa bei Piacenza) den Fluſs (531); allein bei dem
Uebergang und mehr noch bei der Festsetzung am andern
Ufer erlitt er so schwere Verluste und fand sich den Fluſs
im Rücken in einer so gefährlichen Lage, daſs er mit dem
Feind um freien Abzug capitulirte, den die Insubrer thörichter
Weise zugestanden. Kaum war er indeſs abgezogen, als er
auch schon wieder vom Gebiet der Cenomanen aus und mit
diesen vereinigt von Norden her zum zweitenmal einrückte in
den Gau der Insubrer. Zu spät begriffen diese, um was es sich
jetzt handle; sie nahmen aus dem Tempel ihrer Göttin die
goldenen Feldzeichen, ‚die unbeweglichen‘ genannt, und mit
ihrem ganzen Aufgebot, 50000 Mann stark boten sie den
Römern die Schlacht an. Die Lage war gefährlich; die Römer
standen an einem Fluſs (vielleicht dem Oglio), von der Hei-
math getrennt durch das feindliche Gebiet und für den Bei-
[377]ITALIENS NATUERLICHE GRENZEN.
stand im Kampf wie die Rückzugslinie angewiesen auf die
unsichere Freundschaft der Cenomanen. Indeſs es gab keine
Wahl. Man zog die Gallier auf das linke Ufer des Flusses;
auf dem rechten, den Insubrern gegenüber, stellte man die
Legionen auf und brach die Brücken ab, um nicht von den
unsichern Bundesgenossen im Rücken angefallen zu werden.
Also schnitt der Fluſs den Rückzug ab und ging der Weg zur
Heimath durch das feindliche Heer. Die Ueberlegenheit der
römischen Waffen und der römischen Disciplin erfocht den
Sieg und das Heer schlug sich durch; wieder einmal hatte
die römische Taktik die strategischen Fehler gut gemacht.
Der Sieg gehörte den Soldaten und Offizieren, nicht den
Feldherrn, die nur gegen den gerechten Beschluſs des Senats
durch Volksgunst triumphirten. Gern hätten die Insubrer
Frieden gemacht; aber Rom forderte unbedingte Unterwer-
fung, und so weit war man noch nicht. Sie versuchten sich
mit Hülfe der nördlichen Stammgenossen zu halten und mit
30000 von ihnen geworbener Söldner derselben und ihrer ei-
genen Landwehr empfingen sie die beiden im folgenden Jahr
(532) abermals aus dem cenomanischen Gebiet in das ihrige
einrückenden consularischen Heere. Es gab noch manches
harte Gefecht; bei einer Diversion, welche die Insubrer gegen
die römische Festung Clastidium am rechten Poufer versuch-
ten, fiel der gallische König Virdumarus von der Hand des
Consuls Marcus Marcellus. Allein nach einer halb von den
Kelten schon gewonnenen, aber endlich doch für die Römer
entschiedenen Schlacht erstürmte der Consul Gnaeus Scipio
die Hauptstadt der Insubrer Mediolanum, und die Einnahme
dieser und der Stadt Comum machte der Gegenwehr ein Ende.
Damit waren die italischen Kelten vollständig besiegt und der
Gnade eines Siegers preisgegeben, der in ihnen die National-
feinde und die Usurpatoren seines Erbes sah. Es zeigt von
dem losen Zusammenhang der keltischen Nation, daſs keiner
der nördlichen Stämme auſser um Gold sich der Stammge-
nossen und Vorposten annahm. Wie eben vorher die Römer
den Hellenen im Piratenkrieg gezeigt hatten, welcher Unter-
schied bestehe zwischen römischen und griechischen Flotten,
so hatten sie jetzt glänzend bewiesen, daſs Rom Italiens Pfor-
ten anders gegen den Landraub zu wahren wuſste als Ma-
kedonien die Thore Griechenlands und daſs trotz allen inne-
ren Haders Italien dem Nationalfeinde gegenüber ebenso einig
dastand wie Griechenland zerrissen. — Die Alpengrenze war
[378]DRITTES BUCH. KAPITEL III.
erreicht, insofern als das ganze Blachland den Römern unter-
thänig oder, wie das cenomanische und venetische Gebiet, von
abhängigen Bundesgenossen besessen war; es bedurfte indeſs
der Zeit um die Consequenzen dieses Sieges zu ziehen und
die Landschaft zu romanisiren. In den Gebirgen zwar, im
Nordapennin, in dem heutigen Piemont und in den Alpen
duldete man im Ganzen die bisherigen Bewohner; die zahl-
reichen sogenannten Kriege, die namentlich gegen die Li-
gurer geführt wurden (zuerst 516), scheinen mehr Sclaven-
jagden gewesen zu sein und wenn auch einzelne Gaue und
Thäler den Römern sich unterwarfen, so war die römische
Herrschaft doch hier in der Regel ein leerer Name. Auch die
Expedition nach Istrien (533) scheint nicht viel mehr bezweckt
zu haben als die letzten Schlupfwinkel der adriatischen Pira-
ten zu vernichten und längs der Küste zwischen den itali-
schen Eroberungen und den Erwerbungen an dem anderen
Ufer eine Verbindung herzustellen. Im Ganzen verfuhr man
in Norditalien wie in Sardinien; man nahm das ebene Land
in Besitz und kümmerte sich wenig um die Gebirge. Dage-
gen griffen die Römer mit aller Energie ihre neue Aufgabe
an das Pothal, in dem die Kelten völlig auszurotten das Ziel
ihrer Politik sein muſste und war, in Besitz zu nehmen und
zu sichern. Hier ward das dritte Amt, Gallia oder Ariminum
genannt, eingerichtet; die groſse Nordchaussee, die schon
achtzig Jahre früher über Otricoli nach Narni geführt und
kurz vorher bis an die neugegründete Festung Spoletium
(514) verlängert worden war, wurde jetzt (534) unter dem
Namen der flaminischen Straſse über den neu angelegten
Marktflecken Forum Flaminii (bei Foligno) durch den Furlo-
paſs an die Küste und an dieser entlang von Fanum (Fano)
bis nach Ariminum geführt, der Hauptstadt der neuen Provinz.
Es war die erste Kunststraſse, die den Apennin überschritt
und die beiden italischen Meere verband. Man war eifrig be-
schäftigt das neugewonnene fruchtbare Gebiet mit römischen
Ortschaften zu bedecken. Schon war am Po selbst zur Dek-
kung des Uebergangs die starke Festung Placentia (Piacenza)
gegründet, schon am linken Ufer Cremona angelegt, am rech-
ten auf dem den Boiern abgenommenen Gebiet der Mauerbau
von Mutina (Modena) weit vorgeschritten; schon bereitete man
weitere Landanweisungen und die Fortführung der Chaussee
vor, als ein plötzliches Ereigniſs die Römer in der Ausbeu-
tung ihrer Erfolge unterbrach.


[[379]]

KAPITEL IV.



Hamilkar und Hannibal.


Der Vertrag mit Rom von 513 gab den Karthagern
Frieden, aber um einen theuren Preis. Daſs die Tribute des
gröſsten Theils von Sicilien jetzt in den Schatz des Feindes
flossen statt in die karthagische Staatskasse, war der geringste
Verlust; viel schlimmer war es, daſs man nicht bloſs die Hoff-
nung hatte aufgeben müssen, deren Erfüllung so nahe ge-
schienen, die sämmtlichen Seestraſsen aus dem östlichen ins
westliche Mittelmeer zu monopolisiren, sondern daſs das ganze
handelspolitische System gesprengt, das bisher ausschlieſslich
beherrschte südwestliche Becken des Mittelmeers seit Siciliens
Verlust für alle Nationen ein offenes Fahrwasser, Italiens
Handel von dem phoenikischen vollständig unabhängig gewor-
den war. Indeſs die ruhigen sidonischen Männer hätten auch
darüber vielleicht sich zu beruhigen vermocht. Man hatte schon
ähnliche Schläge erfahren; man hatte mit den Massalioten,
den Etruskern, den sicilischen Griechen theilen müssen, was
man früher allein besessen; das was geblieben war, Africa,
Spanien, die Pforten des atlantischen Meeres, reichte aus um
mächtig und wohlgemuth zu leben. Aber freilich, wer bürgte
dafür, daſs auch nur dies blieb? — Was Regulus gefordert
und wie wenig ihm gefehlt hatte, um das was er forderte zu
erreichen, konnte nur vergessen, wer vergessen wollte; und
wenn Rom den Versuch, den es von Italien aus mit so
groſsem Erfolg unternommen hatte, jetzt von Lilybaeon aus
erneuerte, so war Karthago, wenn nicht die Verkehrtheit des
[380]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
Feindes oder ein besonderer Glücksfall dazwischen trat, un-
zweifelhaft verloren. Zwar man hatte jetzt Frieden; aber es
hatte an einem Haar gehangen, daſs dem Frieden die Ratifi-
cation verweigert ward und man wuſste, wie die öffentliche
Meinung in Rom jetzt diesen Friedensschluſs beurtheilte. Man
mochte zugeben, daſs Rom jetzt noch nicht dachte an die
Eroberung Africas und ihm Italien genügte; aber wenn an
dieser Genügsamkeit die Existenz des karthagischen Staats
hing, so sah es übel damit aus, und wer bürgte dafür, daſs
die Römer nicht eben ihrer italischen Politik es angemessen
fanden den africanischen Nachbar wenn nicht sich zu unter-
werfen, so doch unschädlich zu machen? — Kurz, Karthago
durfte den Frieden von 513 nur als einen Waffenstillstand
betrachten und muſste ihn benutzen zur Vorbereitung für die
unvermeidliche Erneuerung des Krieges; nicht um die erlit-
tene Niederlage zu rächen, nicht einmal zunächst um das
Verlorene zurückzugewinnen, sondern um nicht ferner seine
Existenz abhängig zu wissen von dem Gutfinden des Landes-
feindes. Allein wenn einem schwächeren Staat ein gewisser,
aber der Zeit nach unbestimmter Vernichtungskrieg bevorsteht,
werden die klügeren, entschlosseneren, hingebenderen Männer,
die zu dem unvermeidlichen Kampf sich sogleich fertig machen,
ihn zur günstigen Stunde aufnehmen und so die politische Defen-
sive durch die strategische Offensive verdecken möchten, überall
sich gehemmt sehen durch die träge und feige Masse der
Geldesknechte, der Altersschwachen, der Gedankenlosen, wel-
che nur Zeit zu gewinnen, nur in Frieden zu leben und zu
sterben, nur den letzten Kampf um jeden Preis hinauszuschie-
ben bedacht sind. So gab es auch in Karthago eine Friedens-
und eine Kriegspartei, die wie natürlich sich anschlossen an
die schon zwischen den Conservativen und den Reformisten
bestehenden politischen Gegensätze; jene fand ihre Stütze in
den Regierungsbehörden, dem Rath der Alten und den Hun-
dertmännern, an deren Spitze Hanno, der sogenannte Groſse,
stand, diese in den Leitern der Menge, namentlich dem
angesehenen Hasdrubal und in den Offizieren des sicilischen
Heeres, dessen groſse Erfolge unter Hamilkars Führung, wenn
sie auch sonst vergeblich gewesen waren, doch den Patrioten
einen Weg gezeigt hatten, der Rettung aus der ungeheuren
Gefahr zu versprechen schien. Schon lange mochte zwischen
diesen Parteien heftige Fehde bestehen, als der libysche Krieg
zwischen sie hineinschlug. Wie er entstand, ist schon erzählt
[381]HAMILKAR UND HANNIBAL.
worden. Nachdem die Regierungspartei die Meuterei durch
ihre unfähige alle Vorsichtsmaſsregeln der sicilischen Offiziere
vereitelnde Verwaltung angezettelt, diese Meuterei durch die
Nachwirkung ihres unmenschlichen Regierungssystems in eine
Revolution verwandelt und endlich durch ihre und namentlich
ihres Führers, des Heerverderbers Hanno militärische Unfähig-
keit das Land an den Rand des Abgrundes gebracht hatte,
ward der Held von der Eirkte Hamilkar Barkas in der höch-
sten Noth von der Regierung selbst ersucht sie von den Fol-
gen ihrer Fehler und Verbrechen zu retten. Er nahm das
Commando an und dachte hochsinnig genug es selbst dann
nicht niederzulegen, als man ihm den Hanno zum Collegen
gab; ja als die erbitterte Armee denselben heimgeschickt hatte,
vermochte er es über sich auf die flehentliche Bitte der Re-
gierung dem Hanno zum zweitenmal den Mitoberbefehl einzu-
räumen und trotz der Feinde wie trotz des Collegen durch
seinen Einfluſs bei den Aufständischen, seine geschickte Be-
handlung der numidischen Scheiks, sein unvergleichliches Or-
ganisirungs- und Feldherrngenie in unglaublich kurzer Zeit
den Aufstand völlig niederzuwerfen und das empörte Africa
zum Gehorsam zurückzubringen (Ende 517). — Die Patrioten-
partei hatte während dieses Krieges geschwiegen; jetzt sprach
sie um so lauter. Einerseits waren bei dieser Katastrophe
die ganze Verderbtheit und Verderblichkeit der herrschenden
Oligarchie an den Tag gekommen, ihre Unfähigkeit, ihre Co-
teriepolitik, ihre Hinneigung zu den Römern; andrerseits zeigte
die Wegnahme Sardiniens und die drohende Stellung, welche
Rom danach einnahm, deutlich für den geringsten Mann,
daſs das Damoklesschwerdt der römischen Kriegserklärung
stets über Karthago hing und daſs, wie jetzt die Dinge stan-
den, der Krieg mit Rom nothwendig Karthagos Untergang zur
Folge haben müsse. Es mochte nicht Wenige geben, die an
der Zukunft des Vaterlandes verzweifelnd die Auswanderung
nach den Inseln des atlantischen Meeres anriethen; wer durfte
sie schelten? Aber edlere Gemüther verschmähen es ohne die
Nation sich selber zu bergen, und groſse Naturen genieſsen
das Vorrecht aus dem, worüber die Menge der Guten ver-
zweifelt, Begeisterung zu schöpfen. Man nahm die neuen
Bedingungen an, wie sie Rom eben dictirte; es blieb nichts
übrig als sich zu fügen und den neuen Haſs zu dem alten
schlagend ihn sorgfältig zu sammeln und zu sparen, dieses
letzte Capital einer gemiſshandelten Nation. Dann aber schritt
[382]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
man zu einer politischen Reform *. Von der Unverbesserlich-
keit der Regimentspartei hatte man sich hinreichend überzeugt;
daſs die regierenden Herren auch im letzten Krieg weder ihren
Groll vergessen noch gröſsere Weisheit gelernt hatten, zeigte
zum Beispiel die ans Naive grenzende Unverschämtheit, daſs
sie jetzt dem Hamilkar den Prozeſs machten als dem Urheber
des Söldnerkrieges, insofern er ohne Vollmacht der Regie-
rung seinen sicilischen Soldaten Geldversprechungen gemacht
habe. Wenn der Klub der Offiziere und Volksführer die mor-
schen Stühle dieses Miſsregiments hätten umstoſsen wollen,
so würden sie in Karthago selbst schwerlich auf groſse
Schwierigkeiten gestoſsen sein; allein auf desto gröſsere in
Rom, mit dem die regierenden Herren von Karthago schon
in Verbindungen standen, die an Landesverrath grenzten. Zu
allen übrigen Schwierigkeiten der Lage kam noch die hinzu,
daſs die Mittel zur Rettung des Vaterlandes geschaffen werden
muſsten, ohne daſs weder die Römer noch die eigene römisch
gesinnte Regierung darum gewahr wurden. — So lieſs man
die Verfassung unangetastet und die regierenden Herren im
vollen Genuſs ihrer Sonderrechte und des gemeinen Gutes.
Es ward bloſs beantragt und durchgesetzt, daſs von den bei-
den Oberfeldherren, die am Ende des libyschen Krieges an
der Spitze der karthagischen Truppen standen, Hanno und
Hamilkar, der erstere abberufen und der letztere zum Ober-
feldherrn für ganz Africa auf unbestimmte Zeit in der Art
ernannt ward, daſs er eine von den Regierungscollegien un-
abhängige Stellung — eine verfassungswidrige monarchische
Gewalt nannten es die Gegner, Cato eine Dictatur — erhielt
und nur von der Volksversammlung abberufen und zur Ver-
antwortung gezogen werden durfte **. Selbst die Wahl eines
[383]HAMILKAR UND HANNIBAL.
Nachfolgers ging nicht von den Behörden der Hauptstadt aus,
sondern vom Heere, das heiſst von den im Heere als Geru-
siasten oder Offiziere dienenden Karthagern, die auch bei
Verträgen neben dem Feldherrn genannt werden; natürlich
unter Bestätigung der Volksversammlung daheim. Mag dies
Usurpation sein oder nicht, es bezeichnet deutlich, wie die
Kriegspartei das Heer als ihre Domäne ansah und behandelte.
— Der Form nach war Hamilkars Aufgabe bescheiden. Die
Kriege mit den numidischen Stämmen ruhten an der Grenze
nie; vor kurzem erst war im Binnenland die ‚Stadt der
hundert Thore‘ Theveste (Tebessa) von den Puniern besetzt
worden. Die Fortführung dieser Grenzfehden lieſs sich als
eine innere nicht sehr bedeutende Maſsregel betrachten, zu
welcher die karthagische Regierung, da man sie nicht störte
in dem was sie zunächst begehrte, stillschweigen konnte, wäh-
rend die Römer deren Tragweite vielleicht nicht einmal er-
kannten.


So stand an der Spitze des Heeres der eine Mann, der
im sicilischen und im libyschen Kriege es bewährt, daſs die
Geschicke ihn zum Retter des Vaterlandes bestimmt hatten oder
keinen. Groſsartiger als von ihm ist vielleicht niemals der groſs-
artige Kampf des Menschen gegen das Schicksal geführt wor-
den. Das Heer sollte den Staat retten; aber was für ein
Heer? Die karthagische Bürgerwehr hatte unter Hamilkars
Führung im libyschen Krieg sich nicht schlecht geschlagen;
allein er wuſste wohl, daſs es ein anderes ist die Kaufleute und
Fabrikanten einer Stadt, die in der höchsten Gefahr schwebt,
einmal zum Kampf hinauszuführen und ein anderes, Soldaten
aus ihnen zu bilden. Die karthagische Patriotenpartei lieferte
ihm vortreffliche Offiziere, aber in ihr war natürlich fast aus-
schlieſslich die gebildete Klasse vertreten. Bürgermiliz fand sich
gar nicht in Hamilkars Heer; höchstens einige libyphoeniki-
sche Reiterschwadronen. Es galt ein Heer zu schaffen aus
dem libyschen Zwangsrekruten und aus Söldnern; was einem
Feldherrn wie Hamilkar möglich war, allein nur, wenn er
seinen Leuten rechten und reichlichen Sold zu zahlen ver-
mochte. Aber daſs die karthagischen Staatseinkünfte in Kar-
thago selbst zu viel nöthigeren Dingen gebraucht wurden als
die gegen den Feind fechtenden Heere zu besolden, hatte er
in Sicilien erfahren. Es muſste also dieser Krieg sich selber
ernähren und im Groſsen ausgeführt werden, was auf dem
Monte Pellegrino im Kleinen versucht worden war. Aber noch
[384]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
mehr. Hamilkar war nicht bloſs Militär-, er war auch Partei-
chef; gegen die unversöhnliche und der Gelegenheit ihn zu
stürzen begierig und geduldig harrende Regierungspartei muſste
er auf die Bürgerschaft sich stützen, und mochten deren Füh-
rer noch so rein und edel sein, die Masse war tief verdorben
und durch das unselige Corruptionssystem gewöhnt nichts für
nichts zu geben. In einzelnen Momenten schlug wohl die
Noth oder die Begeisterung einmal durch, wie das überall
selbst in den feilsten Körperschaften vorkommt; wollte aber
Hamilkar für seinen im besten Fall erst nach einer Reihe von
Jahren durchführbaren Plan die Unterstützung des karthagischen
Volkes dauernd sich sichern, so muſste er seinen Freunden in
der Heimath durch regelmäſsige Geldsendungen die Mittel ge-
währen den Pöbel bei guter Laune zu erhalten. So genöthigt
von der lauen und feilen Menge die Erlaubniſs sie zu retten
zu erbetteln oder zu erkaufen; genöthigt dem Uebermuth der
Verhaſsten seines Volkes, der stets von ihm Besiegten durch
Demuth und Schweigsamkeit die unentbehrliche Gnadenfrist
abzudingen; genöthigt den verachteten Vaterlandsverräthern,
die sich die Herren seiner Stadt nannten, mit seinen Plänen
seine Verachtung zu verbergen — so stand der hohe Mann
mit wenigen gleichgesinnten Freunden zwischen den Feinden
von auſsen und den Feinden von innen, auf die Unentschlos-
senheit der einen und der andern bauend, zugleich beide
täuschend und beiden trotzend, um nur erst die Mittel, Geld
und Soldaten, zu gewinnen zum Kampf gegen ein Land, das,
selbst wenn das Heer schlagfertig dastand, mit diesem zu
erreichen schwierig, zu überwinden kaum möglich schien. Er
war noch ein junger Mann, wenig hinaus über die Dreiſsig;
aber es schien ihm zu ahnen, als er sich anschickte zu sei-
nem Zuge, daſs es ihm nicht vergönnt sein werde das Ziel
seiner Arbeit zu erreichen und das Land der Erfüllung anders
als von weitem zu schauen. Seinen neunjährigen Sohn Han-
nibal hieſs er, da er Karthago verlieſs, am Altar des höchsten
Gottes dem römischen Namen ewigen Haſs schwören und zog
ihn und die jüngeren Söhne Hasdrubal und Mago, die ‚Löwen-
brut‘, wie er sie nannte, im Feldlager auf als Erben seiner
Entwürfe, seines Genies und seines Hasses.


Der neue Oberfeldherr in Libyen brach unmittelbar nach
der Beendigung des Söldnerkrieges von Karthago auf (etwa
im Frühjahr 518). Er schien einen Zug gegen die freien
Libyer im Westen zu beabsichtigen; sein Heer, das besonders
[385]HAMILKAR UND HANNIBAL.
an Elephanten stark war, zog an der Küste hin, neben ihm
segelte die Flotte, geführt von seinem treuen Bundesgenossen
Hasdrubal. Plötzlich vernahm man, er sei bei den Säulen
des Herkules über das Meer gegangen und in Spanien gelan-
det, wo er Krieg führe mit den Eingebornen; mit Leuten die
ihm nichts zu Leide gethan und ohne Auftrag seiner Regierung,
klagten die karthagischen Behörden. Sie konnten wenigstens
nicht klagen, daſs er die africanischen Angelegenheiten ver-
nachlässige; als die Numidier wieder einmal aufstanden, trieb
sein Unterfeldherr Hasdrubal sie so nachdrücklich zu Paaren,
daſs auf lange Zeit an der Grenze Ruhe war und mehrere
bisher unabhängige Stämme sich bequemten Tribut zu zahlen.
Was er selbst in Spanien gethan, können wir nicht mehr im
Einzelnen verfolgen. Aber wie viel von ihm geleistet worden
ist als Militär und als Staatsmann in den neun letzten Jahren
seines Lebens (518-526), bis er im besten Mannesalter in
offener Feldschlacht tapfer kämpfend den Tod fand, wie Scharn-
horst, eben als seine Pläne zu reifen begannen; wie alsdann
im Sinne des Meisters während der nächsten acht Jahre (527-
534) der Erbe seines Amtes und seiner Pläne, sein Tochter-
mann Hasdrubal das angefangene Werk weiter geführt hat, das
zeigen die Erfolge. Statt der kleinen Entrepots für den Han-
del, die nebst dem Schutzrecht über Gades bis dahin Kar-
thago an der spanischen Küste allein besessen und als Depen-
denz von Libyen behandelt hatte, ward ein karthagisches
Reich in Spanien durch Hamilkars Feldherrnkunst begründet
und durch Hasdrubals staatsmännische Gewandtheit befestigt.
Die schönsten Landschaften Spaniens, die Süd- und Ostküste
wurden punisches Provinzialgebiet; Städte wurden gegründet,
vor allem Spanisch-Karthago (Cartagena), von Hasdrubal an
dem einzigen guten Hafen an der Südküste angelegt, mit
Hasdrubals prächtiger ‚Königsburg‘; der Ackerbau blühte auf
und mehr noch der Grubenbau in den glücklich aufgefunde-
nen Silberminen von Cartagena, die ein Jahrhundert später
gegen 2½ Millionen Thaler jährlich eintrugen. Die meisten
Gemeinden bis zum Ebro wurden abhängig von Karthago und
zahlten ihm Zins; Hasdrubal verstand es die Häuptlinge auf
alle Weise, selbst durch Zwischenheirathen in das karthagische
Interesse zu ziehen. So erhielt Karthago hier für seinen
Handel und seine Fabriken eine reiche Absatzquelle und die
Einnahmen der Provinz nährten nicht bloſs das Heer, sondern
es blieb noch übrig nach Karthago zu senden und für die
Röm. Gesch. I. 25
[386]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
Zukunft zurückzulegen. Aber die Provinz bildete und schulte
zugleich die Armee. Im karthagischen Gebiet fanden regel-
mäſsige Aushebungen statt; die Kriegsgefangenen wurden
untergesteckt in die karthagischen Corps; von den abhängi-
gen Gemeinden kam Zuzug und kamen Söldner, so viel man
begehrte. In dem langen Kriegsleben fand der Soldat im
Lager eine zweite Heimath und als Ersatz für den Patriotis-
mus den Fahnensinn und die begeisterte Anhänglichkeit an seine
groſsen Führer; die ewigen Kämpfe mit den tapfern Iberern
und Kelten schufen zu der vorzüglichen numidischen Reiterei
ein vortreffliches Fuſsvolk. — Von Karthago aus lieſs man
die Barkas machen. Da der Bürgerschaft regelmäſsige Lei-
stungen nicht abverlangt wurden, sondern vielmehr für sie noch
etwas abfiel, auch der Handel in Spanien wiederfand was er
in Sicilien und Sardinien verloren, wurde der spanische Krieg
und das spanische Heer mit seinen glänzenden Siegen und
wichtigen Erfolgen bald so populär, daſs es sogar möglich
ward in einzelnen Krisen, zum Beispiel nach Hamilkars Fall,
bedeutende Nachsendungen africanischer Truppen nach Spa-
nien durchzusetzen und die Regierungspartei wohl oder übel
schweigen oder doch sich begnügen muſste unter sich und
gegen die Freunde in Rom auf die demagogischen Offiziere
und den Pöbel zu schelten. — Auch von Rom aus geschah
nichts um den spanischen Angelegenheiten ernstlich eine an-
dere Wendung zu geben. Die erste und vornehmste Ursache
der Unthätigkeit der Römer war unzweifelhaft eben ihre Unbe-
kanntschaft mit den Verhältnissen der entlegenen Halbinsel, wel-
che sicher auch für Hamilkar die Hauptursache gewesen ist zur
Ausführung seines Planes Spanien und nicht, wie es sonst nicht
unmöglich gewesen wäre, Africa selbst zu erwählen. Zwar
die Erklärungen, mit denen die karthagischen Feldherren den
römischen um Erkundigungen an Ort und Stelle einzuziehen
nach Spanien gesandten Commissarien entgegenkamen, die Ver-
sicherungen, daſs alles dies nur geschehe um die römischen
Kriegscontributionen prompt zahlen zu können, fanden schwer-
lich vollen Glauben im Senat; allein man erkannte wahrschein-
lich von Hamilkars Plänen nur den nächsten Zweck: für die
Tribute und den Handel der verlorenen Inseln in Spanien
Ersatz zu finden, und hielt einen Angriffskrieg der Karthager,
und namentlich eine Invasion nach Italien von Spanien aus,
wie das sowohl ausdrückliche Angaben als die ganze Lage der
Sache bezeugen, für schlechterdings unmöglich. Daſs unter
[387]HAMILKAR UND HANNIBAL.
der Friedenspartei in Karthago manche weiter sahen, versteht
sich; allein wie sie dachten, konnten sie schwerlich sich gedrun-
gen fühlen ihre römischen Freunde aufzuklären über den dro-
henden Sturm, den zu beschwören die karthagischen Behörden
längst auſser Stande waren, und wenn es geschah, so mochte
man in Rom solchen Parteidenunciationen mit Fug den Glauben
versagen. Allerdings muſste die unbegreiflich rasche und gewal-
tige Ausbreitung der karthagischen Macht in Spanien allmäh-
lich die Aufmerksamkeit und die Besorgnisse der Römer er-
wecken; wie sie ihr denn auch in der That in den letzten Jahren
vor dem Ausbruch des Krieges Schranken zu setzen versuchten.
Um das Jahr 528 schlossen sie, ihres jungen Hellenenthums
eingedenk, mit den beiden griechischen oder halbgriechischen
Städten an der spanischen Ostküste, Zakynthos oder Sagun-
tum (Murviedro unweit Valencia) und Emporiae (Ampurias)
Bündniſs und indem sie den karthagischen Feldherrn Has-
drubal davon in Kenntniſs setzten, wiesen sie ihn zugleich
an den Ebro nicht erobernd zu überschreiten, was auch zu-
gesagt ward. Es geschah dies keineswegs um einen Einfall
in Italien auf dem Landweg zu hindern — den Feldherrn,
der diesen unternahm, konnte ein Vertrag nicht fesseln —
sondern theils um der materiellen Macht der spanischen Kar-
thager, die gefährlich zu werden begann, eine Grenze zu
stecken, theils um sich an den freien Gemeinden zwischen
dem Ebro und den Pyrenäen, die Rom also unter seinen
Schutz nahm, einen sicheren Anhalt zu bereiten für den Fall,
daſs eine Landung und ein Krieg in Spanien nothwendig werden
sollte. Für den nächsten Krieg mit Karthago, über dessen Un-
vermeidlichkeit der Senat sich nie getäuscht hat, besorgte man
von den spanischen Ereignissen schwerlich gröſsere Nachtheile,
als daſs man genöthigt werden könne einige Legionen nach
Spanien zu senden und daſs der Feind mit Geld und Soldaten
etwas besser versehen sein werde als er ohne Spanien es ge-
wesen wäre; war man doch fest entschlossen, wie der Feldzugs-
plan von 536 beweist, und wie es auch gar nicht anders sein
konnte, den nächsten Krieg in Africa zu beginnen und zu be-
endigen, womit dann über Spanien zugleich entschieden war.
Dazu kamen in den ersten Jahren die karthagischen Contribu-
tionen, welche die Kriegserklärung abgeschnitten hätte, alsdann
Hamilkars Tod, von dem Freunde und Feinde urtheilen moch-
ten, daſs seine Entwürfe mit ihm gestorben seien, endlich in den
letzten Jahren, wo der Senat allerdings zu begreifen anfing, daſs
25*
[388]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
es nicht weise sei länger mit der Erneuerung des Krieges zu
zögern, der sehr erklärliche Wunsch zuvor mit den Galliern
im Pothal fertig zu werden, da diese, mit Ausrottung bedroht,
voraussichtlich jeden ernstlichen Krieg, den Rom unternahm,
benutzen würden um die transalpinischen Völkerschaften aufs
neue nach Italien zu locken und die immer noch äuſserst
gefährlichen Keltenzüge zu erneuern. Daſs weder Rücksichten
auf die karthagische Friedenspartei noch auf die bestehenden
Verträge die Römer abhielten, versteht sich; überdieſs war,
wenn man den Krieg wollte, mit Benutzung der spanischen
Fehden ein Vorwand augenblicklich gefunden. Unbegreiflich
ist das Verhalten Roms demnach keineswegs; aber ebenso
wenig läſst sich leugnen, daſs der römische Senat diese Ver-
hältnisse kurzsichtig und schlaff behandelt hat — Fehler, von
denen seine Führung der gallischen Angelegenheiten in der
gleichen Zeit noch viel unverzeihlichere Belege aufweist.
Ueberall ist die römische Staatskunst mehr ausgezeichnet
durch Zähigkeit, Schlauheit und Consequenz, als durch eine
groſsartige Auffassung und Ordnung der Dinge, in der die
Feinde Roms von Pyrrhos bis auf Mithridates ihren Gegnern
sich oft überlegen gezeigt haben.


So gab dem genialen Entwurf Hamilkars das Glück die
Weihe. Die Mittel zum Kriege waren gewonnen, ein starkes
kampf- und sieggewohntes Heer und eine stetig sich füllende
Kasse; aber um für den Kampf den rechten Augenblick, die
rechte Richtung zu finden, fehlte der Führer. Der Mann, der
Kopf und Herz genug besessen um in verzweifelter Lage unter
einem verzweifelnden Volke den Weg zur Rettung zu bahnen,
war nicht mehr, als es möglich ward ihn zu betreten. Ob
sein Nachfolger Hasdrubal den Angriff unterlieſs, weil ihm der
Augenblick noch nicht gekommen schien, oder ob er, mehr
Staatsmann als Feldherr, sich der Oberleitung des Unter-
nehmens nicht gewachsen glaubte, vermögen wir nicht zu ent-
scheiden. Als er im Anfang des Jahres 534 von Mörderhand
gefallen war, beriefen die karthagischen Offiziere des spanischen
Heers an seine Stelle Hamilkars ältesten Sohn, den Hannibal.
Er war noch ein junger Mann — geboren 505, also damals
im neunundzwanzigsten Lebensjahr; aber er hatte schon viel
gelebt. Seine ersten Erinnerungen zeigten ihm den Vater im
entlegenen Lande fechtend und siegend auf der Eirkte; er hatte
den Frieden des Catulus, die bittere Heimkehr des unbesiegten
Vaters, die Gräuel des libyschen Krieges mit durchempfunden.
[389]HAMILKAR UND HANNIBAL.
Noch ein Knabe war er dem Vater ins Lager gefolgt; bald
zeichnete er sich aus. Sein leichter und festgebauter Körper
machte aus ihm einen vortrefflichen Läufer und Fechter und
einen verwegenen Galoppreiter; Schlaflosigkeit griff ihn nicht
an und Speise wuſste er nach Soldatenart zu genieſsen und
zu entbehren. Trotz seiner im Lager verflossenen Jugend
besaſs er die Bildung der vornehmen Phoenikier jener Zeit;
im Griechischen brachte er, wie es scheint erst als Feldherr,
unter der Leitung seines Vertrauten Sosilos von Sparta es weit
genug um Staatsschriften in dieser Sprache selber abfassen
zu können. Wie er heranwuchs trat er in das Heer seines
Vaters ein, um unter dessen Augen seinen ersten Waffendienst
zu thun, um ihn neben sich fallen zu sehen in der Schlacht.
Nachher hatte er unter seiner Schwester Gemahl Hasdrubal
die Reiterei befehligt und durch glänzende persönliche Tapfer-
keit wie durch sein Führertalent sich ausgezeichnet. Jetzt
rief ihn, den erprobten jugendlichen General, die Stimme
seiner Kameraden an ihre Spitze und er konnte jetzt aus-
führen, wofür sein Vater und sein Schwager gelebt und ge-
storben. Er trat die Erbschaft an, und er durfte es. Seine
Zeitgenossen haben auf seinen Charakter Makel mancherlei
Art zu werfen versucht: den Römern hieſs er grausam, den
Karthagern habsüchtig; freilich haſste er, wie nur orientalische
Naturen zu hassen verstehen, und ein Feldherr, dem niemals
Geld und Vorräthe ausgegangen sind, muſste wohl suchen zu
haben. Indeſs, wenn auch Zorn, Neid und Gemeinheit seine
Geschichte geschrieben haben, sie haben das reine und groſse
Bild nicht zu trüben vermocht. Von schlechten Erfindungen,
die sich selber richten, und von dem abgesehen, was durch
Schuld seiner Unterfeldherren, namentlich des Hannibal Mo-
nomachos und Mago des Samniten, in seinem Namen ge-
schehen ist, liegt nichts vor, was nicht unter den damaligen
Verhältnissen und nach dem damaligen Völkerrecht zu ver-
antworten wäre. Hannibal wuſste wie kaum ein anderer
Besonnenheit und Begeisterung, Vorsicht und Thatkraft mit
einander zu vereinigen. Eigenthümlich ist ihm die erfinderi-
sche Verschmitztheit, die einen der Grundzüge des punischen
Charakters bildet; er ging gern eigenthümliche und ungeahnte
Wege, Hinterhalte und Kriegslisten aller Art waren ihm ge-
läufig, und den Charakter der Gegner studirte er mit bei-
spielloser Sorgfalt. Durch die sorgfältigste Spionage beobachtete
er den Feind und hatte stehende Kundschafter in Rom selbst;
[390]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
ihn selbst sah man häufig in Verkleidungen und mit falschem
Haar, dies oder jenes auskundschaftend. Von seinem strate-
gischen Genie zeugt jedes Blatt der Geschichte seiner Zeit und
nicht minder von seiner staatsmännischen Begabung, die er
noch nach dem Frieden mit Rom bekundete durch seine Reform
der karthagischen Verfassung und den beispiellosen Einfluſs,
den er als landflüchtiger Fremdling in den Kabinetten der
östlichen Mächte ausübte. Welche Macht über die Menschen
er besaſs, beweist seine unvergleichliche Gewalt über ein
buntgemischtes und vielsprachiges Heer, das in den schlimmsten
Zeiten niemals gegen ihn gemeutert hat. Er war ein groſser
Mann; wohin er kam, ruhten auf ihm die Blicke aller.


Hannibal beschloſs sofort nach seiner Ernennung (Frühling
534) den Beginn des Krieges. Er hatte gute Gründe jetzt,
da das Keltenland noch in Gährung war und ein Krieg zwi-
schen Rom und Makedonien vor der Thür schien, ungesäumt
loszuschlagen und den Krieg früher dahin zu tragen wohin es
ihm beliebte als die Römer ihn begannen wie es ihnen bequem
war, mit einer Landung in Africa. Sein Heer war bald
marschfertig, die Kasse durch einige Razzias in groſsem Maſs-
stab gefüllt; allein die Kriegserklärung blieb aus. Hasdrubals,
des patriotischen Volksführers Platz war in Karthago schwe-
rer zu ersetzen als in Africa; die Partei des Friedens hatte
jetzt daheim die Oberhand und verfolgte die Führer der
Kriegspartei mit politischen Prozessen. Sie, die schon Ha-
milkars Pläne beschnitten und bemängelt hatte, war keines-
wegs gemeint den unbekannten jungen Mann, der jetzt in
Spanien befehligte, auf Staatskosten jugendlichen Patriotismus
treiben zu lassen; und in offener Widersetzlichkeit gegen die
legitimen Behörden den Krieg zu erklären konnte Hannibal
nicht wagen. Er versuchte die Saguntiner zum Friedensbruch
zu reizen; allein sie begnügten sich in Rom Klage zu führen.
Er versuchte, als darauf von Rom eine Commission erschien,
nun diese durch schnöde Antworten zur Kriegserklärung zu
treiben; allein die Commissarien sahen, wie die Dinge standen,
sie schwiegen in Spanien, um in Karthago Beschwerde zu
führen und daheim zu berichten, daſs Hannibal schlagfertig
stehe und der Krieg vor der Thür sei. So verfloſs die Zeit;
schon traf die Nachricht ein von dem Tode des Antigonos
Doson, der etwa gleichzeitig mit Hasdrubal plötzlich gestorben
war; die Gründung der Festungen im italischen Keltenland
ward mit verdoppelter Schnelligkeit und Energie von den
[391]HAMILKAR UND HANNIBAL.
Römern betrieben; man schickte in Rom sich an im nächsten
Frühjahr der Schilderhebung in Illyrien ein rasches Ende zu
bereiten. Jeder Tag war kostbar; Hannibal entschloſs sich.
Er meldete kurz und gut nach Karthago, daſs die Saguntiner
karthagischen Unterthanen, den Turdetanern zu nahe träten
und er sie darum angreifen müsse; und ohne die Antwort
abzuwarten begann er im Frühling 535 die Belagerung der
mit Rom verbündeten Stadt, das heiſst den Krieg gegen Rom.
Was man in Karthago dachte und berieth, mag man sich
etwa vorstellen nach dem Eindruck, den Yorks Capitulation
in gewissen Kreisen machte; alle ‚angesehenen Männer‘, heiſst
es, miſsbilligten den ‚ohne Auftrag‘ geschehenen Angriff; es
war die Rede von Desavouirung, von Auslieferung des dreisten
Offiziers. Aber sei es, daſs im karthagischen Rath die Furcht
vor Rom schwieg vor der näheren vor dem Heer und der
der Menge; sei es, daſs man die Unmöglichkeit begriff einen
solchen Schritt einmal gethan zurückzuthun; sei es, daſs die
bloſse Macht der Trägheit ein bestimmtes Auftreten hinderte —
man entschloſs sich endlich sich zu nichts zu entschlieſsen
und den Krieg wenn nicht zu führen, doch für sich führen
zu lassen. Sagunt vertheidigte sich, wie nur spanische Städte
sich zu vertheidigen verstehen; hätten die Römer nur einen
geringen Theil der Energie ihrer Schutzbefohlenen gezeigt, sie,
die Herren der See und geeigneter Landungsplätze, hätten wäh-
rend der achtmonatlichen Belagerung Sagunts, statt mit dem
elenden illyrischen Räuberkrieg die Zeit zu verderben, sich die
Schande des versäumten Schutzes ersparen und dem Krieg viel-
leicht eine andere Wendung geben können. Indeſs sie säumten
und die Stadt ward endlich erstürmt. Wie Hannibal die Beute
nach Karthago zur Vertheilung sandte, ward der Patriotismus
und die Kriegslust bei Vielen rege, die davon bisher nichts
gespürt hatten, und die Austheilung schnitt jede Versöhnung
mit Rom ab. Als daher nach der Zerstörung Sagunts eine
römische Gesandtschaft in Karthago erschien und die Aus-
lieferung des Feldherrn und der im Lager anwesenden Ge-
rusiasten forderte, und als der römische Sprecher, die ver-
suchte Rechtfertigung unterbrechend, die Discussion abschnitt
und sein Gewand zusammenfassend sprach, daſs er darin
Frieden und Krieg halte und daſs die Gerusia wählen möge,
da ermannten sich die Gerusiasten zu der Antwort, daſs man
es ankommen lasse auf die Wahl des Römers; und als dieser
den Krieg bot, nahm man ihn an (Frühling 536).


[392]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.

Hannibal, der durch den hartnäckigen Widerstand der Sa-
guntiner ein volles Jahr verloren hatte, war für den Winter 535/6
wie gewöhnlich zurückgegangen nach Cartagena, um alles theils
zum Angriff vorzubereiten, theils zur Vertheidigung von Spanien
und Africa; denn da er wie sein Vater und sein Schwager den
Oberbefehl in beiden Gebieten führte, lag es ihm ob auch zum
Schutz der Heimath die Anstalten zu treffen. Die gesammte
Masse seiner Streitkräfte betrug ungefähr 120000 Mann zu Fuss,
16000 zu Pferd; ferner 58 Elephanten und 32 bemannte, 18 un-
bemannte Fünfdecker auſser den in der Hauptstadt befindlichen
Elephanten und Schiffen. Die Truppen bestanden auſser weni-
gen punischen Schwadronen im Wesentlichen aus den zum
Dienst ausgehobenen karthagischen Unterthanen, Libyern und
Spaniern. Der Treue der letztern sich zu versichern gab der
menschenkundige Feldherr ihnen ein Zeichen des Vertrauens,
allgemeinen Urlaub während des ganzen Winters; den Libyern
versprach der Feldherr, der den engherzig punischen Sonder-
patriotismus nicht theilte, eidlich das karthagische Bürgerrecht,
wenn sie als Sieger nach Africa zurückkehren würden. Mit
Ausnahme weniger Ligurer unter den leichten Truppen fehlten
fremde Söldner in diesem karthagischen Heere ganz. Von die-
sen Truppen verwandte der Oberfeldherr etwa 20000 Mann
zur Besetzung von Africa, davon der kleinere Theil nach der
Hauptstadt und dem eigentlich punischen Gebiet, der gröſsere
an die westliche Spitze von Africa gelegt ward. Zur Deckung
von Spanien blieben 12000 Mann zu Fuſs zurück nebst 2500
Pferden und fast der Hälfte der Elephanten, auſserdem die
dort stationirte Flotte; den Oberbefehl und das Regiment
übernahm hier Hannibals jüngerer Bruder Hasdrubal. Das
unmittelbar karthagische Gebiet ward verhältniſsmäſsig schwach
besetzt, da die Hauptstadt im Nothfall Hülfsmittel genug bot;
ebenso genügte für Spanien, wo neue Aushebungen sich mit
Leichtigkeit veranstalten lieſsen, für jetzt eine mäſsige Zahl von
Fuſssoldaten, während dagegen ein verhältniſsmäſsig starker Theil
der eigentlich africanischen Waffen, der Pferde und Elephan-
ten dort zurückblieb. Die Hauptsorgfalt wurde darauf gewendet
die Verbindungen zwischen Spanien und Africa zu sichern,
weſshalb in Spanien die Flotte blieb und Westafrica von einer
sehr starken Truppenmasse gehütet ward. Für die Treue der
Truppen bürgte, auſser den in dem festen Sagunt versammelten
Geiſseln der spanischen Gemeinden, die Verlegung der Soldaten
auſserhalb ihrer Aushebungsbezirke, indem die ostafricanische
[393]HAMILKAR UND HANNIBAL.
Landwehr vorwiegend nach Spanien, die spanische nach West-
africa, die westafricanische nach Karthago kamen. So war
für die Vertheidigung hinreichend gesorgt. Was den Angriff
anlangt, so sollte von Karthago aus ein Geschwader von 20
Fünfdeckern mit 1000 Soldaten an Bord nach der italischen
Westküste segeln und diese verheeren, ein zweites von 25
Segeln wo möglich sich wieder auf Lilybaeon festsetzen; dieses
bescheidene Maſs von Anstrengungen glaubte Hannibal der
Regierung zumuthen zu können. Mit der Hauptarmee beschloſs
er selbst in Italien einzurücken, wie das ohne Zweifel schon in
Hamilkars ursprünglichem Plan lag. Ein entscheidender An-
griff auf Rom war nur in Italien wie auf Karthago nur
in Libyen möglich; so gewiſs Rom seinen nächsten Feldzug
mit dem letzteren begann, so gewiſs durfte auch Karthago
sich nicht von vorn herein entweder auf ein secundäres
Operationsobject, wie zum Beispiel Sicilien, oder gar auf die
Vertheidigung beschränken — die Niederlagen brachten in all
diesen Fällen das gleiche Verderben, nicht aber der Sieg die
gleiche Frucht. — Aber wie konnte Italien angegriffen werden?
Es mochte gelingen die Halbinsel zu Wasser oder zu Lande
zu erreichen; aber sollte der Zug nicht ein verzweifeltes
Abenteuer sein, sondern eine militärische Expedition mit stra-
tegischem Ziel, so bedurfte man dort einer näheren Operations-
basis, als Spanien oder Africa waren. Auf eine Flotte und
eine Hafenfestung konnte Hannibal sich nicht stützen, da Rom
das Meer beherrschte. Aber ebensowenig bot sich in dem
Gebiet der italischen Eidgenossenschaft irgend ein haltbarer
Stützpunct. Hatte sie zu ganz anderen Zeiten und trotz der
hellenischen Sympathien dem Stoſs des Pyrrhos gestanden, so
war nicht zu erwarten, daſs sie jetzt auf das Erscheinen des
phoenikischen Feldherrn hin zusammenbrechen werde; zwischen
dem römischen Festungsnetz und der festgeketteten Bundes-
genossenschaft ward das Invasionsheer ohne Zweifel erdrückt.
Einzig das Ligurer- und Keltenland konnte für Hannibal sein,
was für Napoleon in seinen sehr ähnlichen russischen Feld-
zügen Polen gewesen ist; diese noch von dem kaum beendeten
Unabhängigkeitskampf gährenden Nationen, den Italikern stamm-
fremd und in ihrer Existenz bedroht, um die eben erst die
ersten Ringe der römischen Festungs- und Chausseenkette
gelegt wurden, muſsten in dem punischen Heere, das zahl-
reiche spanische Kelten in seinen Reihen zählte, ihre Retter
erkennen und ihm als erster Rückhalt, als Verpflegungs- und
[394]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
Rekrutirungsbezirk dienen. Schon waren förmliche Verträge
mit den Boiern und Insubrern abgeschlossen, wodurch sie
sich anheischig machten dem karthagischen Heer Wegweiser
entgegenzusenden, ihnen gute Aufnahme bei ihren Stamm-
genossen und Zufuhr unterwegs auszuwirken und gegen die
Römer sich zu erheben, sowie das karthagische Heer auf
italischem Boden stehe. Eben in diese Gegend führten end-
lich die Beziehungen zum Osten. Makedonien, das durch
den Sieg von Sellasia seine Herrschaft im Peloponnes neu
befestigt hatte, stand mit Rom in gespannten Verhältnissen;
Demetrios von Pharos, der das römische Bündniſs mit dem
makedonischen vertauscht hatte und von den Römern vertrieben
worden war, lebte als Flüchtling am makedonischen Hof und
dieser hatte den Römern die begehrte Auslieferung verweigert.
Wenn es möglich war die Heere vom Guadalquivir und vom
Karasu irgendwo zu vereinigen gegen den gemeinschaftlichen
Feind, so konnte das nur am Po geschehen. So wies alles
nach Norditalien; und daſs schon des Vaters Blick dahin ge-
richtet gewesen, zeigt die karthagische Streifpartei, der die
Römer zu ihrer groſsen Verwunderung im Jahre 524 in Ligu-
rien begegnet waren. — Weniger deutlich ist es, warum Hanni-
bal dem Land- vor dem Seeweg den Vorzug gab; denn daſs
weder die Seeherrschaft der Römer noch ihr Bund mit Massalia
einen Landungsversuch in Genua unmöglich machte, leuchtet
ein. In unsrer Ueberlieferung fehlen um diese Frage genügend
zu entscheiden nicht wenige Factoren, auf die es ankommen
würde und die sich nicht durch Vermuthung ergänzen lassen.
Das Wahrscheinliche bleibt, daſs Hannibal von den zwei Uebeln,
unter denen er zu wählen hatte, es vorzog, statt den ihm
unbekannten und weniger zu berechnenden Wechselfällen der
Seefahrt und des Seekrieges sich auszusetzen, lieber die un-
zweifelhaft ernstlich gemeinten Zusicherungen der Boier und
Insubrer anzunehmen, um so mehr als auch das bei Genua
gelandete Heer noch die Berge hätte überschreiten müssen;
schwerlich konnte er genau wissen, wie viel geringere Schwie-
rigkeiten der Apennin bei Genua darbietet als die Hauptkette
der Alpen. War doch der Weg, den er einschlug, die uralte
Keltenstraſse, auf der viel gröſsere Schwärme die Alpen über-
stiegen hatten; der Verbündete und Erretter des Keltenvolkes
durfte ohne Verwegenheit diesen betreten. — So vereinigte
Hannibal die für die groſse Armee bestimmten Truppen mit
dem Anfang der guten Jahreszeit in Cartagena; es waren ihrer
[395]HAMILKAR UND HANNIBAL.
90000 Mann zu Fuſs und 12000 Reiter, darunter etwa zwei Drit-
tel Africaner und ein Drittel Spanier — die mitgeführten 37 Ele-
phanten mochten mehr bestimmt sein den Galliern zu imponiren
als zum ernstlichen Krieg. Hannibals Fuſsvolk war nicht mehr
wie das, welches Xanthippos führte, genöthigt sich hinter
einem Vorhang von Elephanten zu verbergen und Hannibal
einsichtig genug um dieser zweischneidigen Waffe, die eben
so oft die Niederlage des eigenen wie die des feindlichen
Heers entschied, sich nur sparsam und vorsichtig zu bedienen.
Mit diesem Heere brach der Feldherr im Frühling 536 von
Cartagena gegen den Ebro auf. Von den getroffenen Maſs-
regeln, namentlich den mit den Kelten angeknüpften Verbin-
dungen und von den Mitteln und dem Ziel des Zuges lieſs er
die Soldaten soviel erfahren, daſs auch der Gemeine, dessen
militärischen Instinct der lange Krieg entwickelt hatte, den
klaren Blick und die sichere Hand des Führers ahnte und
mit festem Vertrauen ihm in die unbekannte Weite folgte;
und die feurige Rede, in der er die Lage des Vaterlandes
und die Forderungen der Römer vor ihnen darlegte, die ge-
wisse Knechtung der theuren Heimath, das schmachvolle An-
sinnen der Auslieferung des geliebten Feldherrn und seines
Stabes, entflammte den Soldaten- und den Bürgersinn in den
Herzen aller.


Der römische Staat war in einer Verfassung, wie sie auch
in festgegründeten und einsichtigen Aristokratien wohl eintritt.
Was man wollte, wuſste man wohl; es geschah auch manches,
aber nichts recht noch zur rechten Zeit. Längst hätte man
Herr der Alpenthore und mit den Kelten fertig sein können;
noch waren diese furchtbar und jene offen. Man hätte mit
Karthago entweder Freundschaft haben können, wenn man
den Frieden von 513 loyal einhielt, oder, wenn man das nicht
wollte, konnte Karthago längst gedemüthigt sein; jener Frieden
ward durch die Wegnahme Sardiniens thatsächlich gebrochen
und Karthagos Macht lieſs man zwanzig Jahre hindurch sich
ungestört regeneriren. Mit Makedonien Frieden zu halten war
nicht schwer; um geringen Gewinn hatte man diese Freund-
schaft verscherzt. An einem leitenden die Verhältnisse im Zusam-
menhang beherrschenden Staatsmann muſs es gefehlt haben;
überall war entweder zu wenig geschehen oder zu viel. Nun be-
gann der Krieg, zu dem Zeit und Ort der Feind hatte bestimmen
können; und im Vollgefühl militärischer Ueberlegenheit war
man rathlos über Ziel und Gang der nächsten Operationen.
[396]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
Man disponirte über eine halbe Million brauchbarer Soldaten —
nur die römische Reiterei war minder gut und verhältniſsmäſsig
minder zahlreich als die karthagische, jene etwa ein Zehntel.
Diese ein Achtel der Gesammtzahl der ausrückenden Truppen.
Der römischen Flotte von 220 Fünfdeckern, die eben aus dem
adriatischen Meer in die Westsee zurückfuhr, hatte keiner der
westlichen Staaten eine entsprechende entgegenzustellen. Die
natürliche und richtige Verwendung dieser erdrückenden Ueber-
macht ergab sich von selbst. Seit langem stand es fest, daſs
der Krieg eröffnet werden solle mit einer Landung in Afri-
ca; die spätere Wendung der Ereignisse hatte die Römer
gezwungen derselben eine gleichzeitige Landung in Spanien
hinzuzufügen, vornämlich um nicht die spanische Armee vor
den Mauern von Karthago zu finden. Nach diesem Plan
muſste man, als der Krieg durch Hannibals Angriff auf Sagunt
zu Anfang 535 thatsächlich eröffnet war, vor allen Dingen
eilen ein römisches Heer in Spanien zu landen, ehe die Stadt
fiel; allein man versäumte das Gebot des Vortheils nicht minder
wie der Ehre und Sagunt hielt sich acht Monate lang umsonst —
als die Stadt capitulirte, hatte Rom zur Landung in Spanien
nicht einmal gerüstet. — Indeſs noch war das Land zwischen
dem Ebro und den Pyrenäen frei, dessen Völkerschaften nicht
bloſs die natürlichen Verbündeten der Römer waren, sondern
auch von römischen Emissarien gleich den Saguntinern Ver-
sprechungen schleunigen Beistandes empfangen hatten. Nach
Catalonien gelangt man zu Schiff von Italien nicht viel weniger
rasch wie von Cartagena zu Lande; wenn nach der inzwischen
erfolgten förmlichen Kriegserklärung die Römer wie die Punier
im April aufbrachen, konnte Hannibal den römischen Legionen
an der Ebrolinie begegnen. Allerdings wurde, nachdem der
gröſsere Theil des Heeres und der Flotte für den Zug nach
Africa disponibel gemacht worden war, der zweite Consul
Publius Cornelius Scipio an den Ebro beordert; allein er nahm
sich Zeit, da eben am Po ein Aufstand ausbrach, das zur
Einschiffung bereit stehende Heer dort zu verwenden und für
die spanische Expedition neue Legionen zu bilden. So fand
Hannibal am Ebro zwar den heftigsten Widerstand, aber nur
von den Eingeborenen, mit welchen er, da der Drang der
Umstände ihn zwang um nicht die kostbare Zeit zu verlieren
seine Leute nicht zu schonen, in wenigen Monaten fertig ward,
freilich mit dem Verlust des vierten Theils seiner Armee, und
erreichte die Linie der Pyrenäen. Daſs durch jene Zögerung die
[397]HAMILKAR UND HANNIBAL.
spanischen Bundesgenossen Roms zum zweitenmal aufgeopfert
wurden, konnte man eben so sicher vorhersehen als die Zöge-
rung selbst sich leicht vermeiden lieſs; wahrscheinlich aber
wäre selbst der Zug nach Italien, den man in Rom noch im
Frühling 536 nicht geahnt haben muſs, durch zeitiges Er-
scheinen der Römer in Spanien abgewendet worden. Hannibal
hatte keineswegs die Absicht sein spanisches ‚Königreich‘ auf-
gebend sich wie ein Verzweifelter nach Italien zu werfen; die
Zeit, die er an Sagunts Erstürmung und an die Unterwerfung
Cataloniens gewandt hatte, das beträchtliche Corps, das er
zur Besetzung des neugewonnenen Gebiets zwischen dem Ebro
und den Pyrenäen zurücklieſs, bewiesen zur Genüge, daſs,
wenn ein römisches Heer ihm den Besitz Spaniens streitig
gemacht hätte, er sich nicht begnügt haben würde sich dem-
selben zu entziehen; und was die Hauptsache war, wenn die
Römer seinen Abmarsch aus Spanien auch nur um einige
Wochen zu verzögern im Stande waren, so schloſs der Winter
die Alpenpässe, ehe Hannibal sie erreichte, und die africanische
Expedition ging ungehindert nach ihrem Ziel ab. — An den
Pyrenäen angelangt entlieſs Hannibal einen Theil seiner Truppen
in die Heimath; eine von Anfang an beschlossene Maſsregel, die
den Feldherrn den Soldaten gegenüber des Erfolges sicher zeigen
und dem Gefühl steuern sollte, daſs von diesem Unternehmen
wenige heimkehren würden. Mit einem Heer von 50000 Mann
zu Fuſs und 9000 zu Pferd, lauter alten Soldaten, ward das
Gebirg ohne Schwierigkeit überschritten und alsdann der Kü-
stenweg über Narbonne und Nimes eingeschlagen durch das
keltische Gebiet, das theils die früher angeknüpften Verbin-
dungen, theils das punische Gold, theils die Waffen dem
Heere öffneten. Als es Ende Juli Avignon gegenüber an die
Rhone gelangte, schien seiner hier ein ernstlicherer Widerstand
zu warten. Die gallischen Völkerschaften dieser Gegend, die
unter dem Einfluſs der Massalioten standen, hatten ihren
Landsturm an dem gegenüberliegenden Rhoneufer aufgestellt.
Der Consul Scipio ferner, der auf seiner Fahrt nach Spanien
in Massalia angelegt hatte (etwa Ende Juni), war dort berichtet
worden, daſs er zu spät komme und Hannibal schon nicht
bloſs den Ebro, sondern auch die Pyrenäen passirt habe, und
befand sich seitdem in Massalia mit einem Heer von 22000
Mann zu Fuſs und 2200 Reitern, mit dem er bereit schien
Hannibal den Rhoneübergang und den Einmarsch in Italien
zu wehren. Erst hier, wie es scheint, erkannten die Römer,
[398]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
wohin Hannibals Pläne zielten. Zum Glück für Hannibal stand
der Consul noch unthätig in Massalia, vier Tagesmärsche vom
Uebergangspunct; allein die Boten des gallischen Landsturms
eilten ihn zu benachrichtigen. Es galt in schleunigster Eile
das Heer mit seiner starken Reiterei und den Elephanten
unter den Augen des Feindes über den reiſsenden Strom zu
führen, und Hannibal besaſs nicht einen Nachen. Sogleich
wurden auf Hannibals Befehl von den zahlreichen Rhoneschif-
fern in dieser Gegend alle ihre Barken zu jedem Preise auf-
gekauft und was an Kähnen noch fehlte, aus gefällten Bäumen
gezimmert, so daſs die ganze zahlreiche Armee an einem Tage
übergesetzt werden konnte. Während dies geschah, marschirte
eine starke Abtheilung unter Hanno Bomilkars Sohn in Gewalt-
märschen stromaufwärts bis zu einem zwei kleine Tagemärsche
oberhalb Avignon gelegenen Uebergangspunct, den sie unver-
theidigt fanden und hier auf schleunig zusammengeschlagenen
Flöſsen den Fluſs überschritten, um dann sich stromabwärts
wendend die Gallier in den Rücken zu fassen, die dem Haupt-
heer den Uebergang sperrten. Schon am Morgen des fünften
Tages nach der Ankunft an der Rhone, des dritten nach
Hannos Abmarsch stiegen in dieser Richtung Rauchsignale
auf, für Hannibal das sehnlich erwartete Zeichen zum Ueber-
gang. Eben als die Gallier, sehend daſs die feindliche Kahn-
flotte sich in Bewegung setze, das Ufer zu besetzen eilten,
loderte plötzlich ihr Lager hinter der Linie in Flammen auf
und also, überrascht und getheilt, vermochten sie weder dem
Angriff zu stehen noch dem Uebergang zu wehren und zer-
streuten sich in eiliger Flucht. — Scipio indeſs war beschäf-
tigt in Massalia Kriegsrathsitzungen über die geeignete Be-
setzung der Rhoneübergänge abzuhalten und, da er den galli-
schen Boten miſstraute, das rechte Rhoneufer durch eine
schwache römische Reiterabtheilung recognosciren zu lassen.
Als diese in die Gegend von Avignon kam, fand sie die ge-
sammte karthagische Armee schon auf dem rechten Rhoneufer
mit Ausnahme der Elephanten, mit deren Ueberführung man
eben beschäftigt war. Nachdem die Römer, um nur die Reco-
gnoscirung beendigen zu können, einigen karthagischen Schwa-
dronen ein hitziges Gefecht geliefert hatte — das erste, in dem
die Römer und Punier in diesem Kriege auf einander trafen —,
wandten sie sich eiligst zurück um im Hauptquartier Bericht
zu erstatten. Scipio brach nun Hals über Kopf mit all seinen
Truppen gegen Avignon auf; allein als er dort eintraf, war
[399]HAMILKAR UND HANNIBAL.
die zur Deckung des Ueberganges der Elephanten zurückgeblie-
bene Nachhut, die feindliche Reiterei bereits seit drei Tagen
abmarschirt und es blieb den Römern nichts übrig als mit
ermüdeten Truppen und geringem Ruhm nach Massalia heim-
zukehren und auf die ‚feige Flucht‘ des Puniers zu schelten.
So hatte man zum drittenmal durch reine Lässigkeit die
Bundesgenossen und die sichere Vertheidigungslinie preis-
gegeben und nach diesem ersten Fehler, vom verkehrten Ra-
sten übergehend zu verkehrtem Hasten, ohne irgend eine
Aussicht auf Erfolg nun doch noch gethan, was mit so siche-
rer einige Tage zuvor geschehen konnte, und hatte eben dadurch
das wirkliche Mittel den Fehler wieder gut zu machen aus den
Händen gegeben. Seit Hannibal diesseit der Rhone im Kelten-
lande stand, war es nicht mehr zu hindern, daſs er die Alpen
erreichte; allein wenn sich Scipio auf die erste Kunde hin
mit seinem ganzen Heer nach Italien wandte — in sieben
Tagen konnte er über Genua den Po erreichen — und mit sei-
nem Corps die schwachen Abtheilungen im Pothal vereinigte, so
konnte er dort wenigstens dem Feind einen gefährlichen Em-
pfang bereiten. Allein nicht bloſs verlor er die kostbare Zeit
mit dem Marsch nach Avignon, sondern es fehlte sogar dem
sonst tüchtigen Manne sei es der politische Muth, sei es die
militärische Einsicht die Bestimmung seines Corps den Um-
ständen gemäſs zu verändern; er sandte das Gros desselben
unter seinem Bruder Gnaeus nach Spanien und ging selbst
mit weniger Mannschaft zurück nach Pisa.


Hannibal, der nach dem Uebergang über die Rhone in
einer groſsen Heerversammlung den Truppen das Ziel des
Zuges auseinandergesetzt und den aus dem Pothal angelangten
Keltenhäuptling Magilus selbst durch Dolmetsch hatte zu dem
Heere sprechen lassen, setzte ungehindert seinen Marsch nach
den Alpenpässen fort. Welchen derselben er wählte, darüber
konnte weder die Kürze des Weges noch die Gesinnung der
Einwohner zunächst entscheiden, wenn gleich er weder mit
Umwegen noch mit Gefechten Zeit zu verlieren hatte; sondern
den Weg muſste er einschlagen, der für seine Bagage, seine
starke Reiterei und die Elephanten practicabel war und in
dem ein Heer hinreichende Subsistenzmittel sei es im Guten
oder mit Gewalt sich verschaffen konnte — denn obwohl
Hannibal Anstalten getroffen hatte Lebensmittel auf Saum-
thieren sich nachzuführen, so konnten doch bei einem Heere,
das immer noch trotz starker Verluste gegen 50000 Mann
[400]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
zählte, diese nothwendig nur für einige Tage ausreichen. Ab-
gesehen von dem Küstenweg, den Hannibal nicht einschlug,
nicht weil die Römer ihn sperrten, sondern weil er ihn von
seinem Ziel abgeführt haben würde, führten in alter Zeit*
von Gallien nach Italien nur zwei namhafte Alpenübergänge:
der Paſs über die cottische Alpe (Mont Genevre) in das Gebiet
der Tauriner (über Susa oder Fenestrelles nach Turin) und
der über die graische (kleiner St. Bernhard) in das der Salasser
(nach Aosta und Ivrea). Der erstere Weg ist der kürzere;
allein von da an, wo man das Rhonethal verläſst, führt er in
den unwegsamen und unfruchtbaren Fluſsthälern des Drac,
der Romanche und der oberen Durance durch ein schwieriges
und armes Bergland und erfordert einen mindestens sieben-
bis achttägigen Gebirgmarsch; eine Heerstraſse ist hier erst
durch Pompeius angelegt worden, um zwischen der dies- und
jenseitigen gallischen Provinz eine kürzere Verbindung herzu-
stellen. — Der Weg über den kleinen St. Bernhard ist etwas
länger; allein sowie er die erste das Rhonethal östlich be-
grenzende Alpenwand überschritten hat, führt er in das Thal
der obern Isere, das von Grenoble über Chambery bis hart an
den Fuſs des kleinen St. Bernhard, das heiſst der Hochalpen-
kette sich hinzieht und unter allen Alpenthälern das breiteste,
fruchtbarste und bevölkertste ist. Es ist ferner der Weg über
den kleinen Bernhard unter allen natürlichen Alpenpassagen
zwar nicht die niedrigste, aber bei weitem die bequemste; ob-
wohl dort keine Kunststraſse angelegt ist, überschritt auf ihr
noch im Jahre 1815 ein österreichisches Corps mit Artillerie
die Alpen. Dieser Weg, der bloſs über zwei Bergkämme
führt, ist endlich von den ältesten Zeiten an die groſse Heer-
straſse aus dem Kelten- ins italische Land gewesen. Die
karthagische Armee hatte also in der That keine Wahl; es
war ein glückliches Zusammentreffen, aber kein bestimmendes
Motiv für Hannibal, daſs die ihm verbündeten keltischen Stämme
in Italien bis an den kleinen Bernhard wohnten, während ihn
der Weg über den Mont Genevre zunächst in das Gebiet der
Tauriner geführt haben würde, die seit alten Zeiten mit den
Insubrern in Fehde lagen. — So marschirte das karthagische
Heer zunächst an der Rhone hinauf gegen das Thal der obern
[401]HAMILKAR UND HANNIBAL.
Isere zu, nicht, wie man vermuthen könnte, auf dem nächsten
Weg, an dem linken Ufer der untern Isere hinauf, von Va-
lence nach Grenoble, sondern durch die ‚Insel‘ der Allobrogen,
die reiche und damals schon dichtbevölkerte Niederung, die
nördlich und westlich von der Rhone, südlich von der Isere,
östlich von den Alpen umfaſst wird. Es geschah dies wieder
deſshalb, weil die nächste Straſse durch ein unwegsames und
armes Bergland geführt hätte, während die Insel eben und
äuſserst fruchtbar ist und nur eine einfache Bergwand sie von
dem oberen Iserethal scheidet. Der Marsch an der Rhone
hin und quer durch die Insel bis an den Fuſs der Alpen-
wand war in sechzehn Tagen vollendet; er bot geringe Schwie-
rigkeit und auf der Insel selbst wuſste Hannibal durch ge-
schickte Benutzung einer zwischen zwei allobrogischen Häupt-
lingen ausgebrochenen Fehde sich einen der bedeutendsten
derselben so zu verpflichten, daſs derselbe den Karthagern
nicht bloſs durch die ganze Ebene das Geleit gab, sondern
auch ihnen die Vorräthe ergänzte und die Soldaten mit Waffen,
Kleidung und Schuhzeug versah. Allein an dem Uebergang
über die erste Alpenkette, die steil und wandartig emporsteigt
und über die nur ein einziger gangbarer Pfad (über den Mont
du Chat beim Dorfe Chevelu) führt, wäre fast der Zug ge-
scheitert. Die allobrogische Bevölkerung hatte den Paſs stark
besetzt. Hannibal erfuhr es früh genug um einen unversehe-
nen Ueberfall vermeiden zu können und lagerte am Fuſs, bis
nach Sonnenuntergang die Kelten sich in die Häuser der
nächsten Stadt zerstreuten, worauf er in der Nacht den Paſs
einnahm. So ward die Höhe ohne Schwierigkeit gewonnen;
allein auf dem äuſserst steilen Weg, der von der Höhe nach
dem See von Bourget hinabführt, glitten und stürzten die
Maulthiere und die Pferde, und die Angriffe, die an geeigneten
Stellen von den Kelten auf die marschirende Armee gemacht
wurden, fügten derselben weniger an sich als durch die da-
durch entstehende Verwirrung beträchtlichen Schaden zu.
Selbst als Hannibal sich mit seinen leichten Truppen von oben
herab auf die Allobrogen warf, wurden diese zwar ohne Mühe
und mit starkem Verlust den Berg hinunter gejagt, allein die
Verwirrung, besonders in dem Train ward noch erhöht durch
den Lärm des Gefechtes. So nach starkem Verlust in der
Ebene angelangt überfiel Hannibal sofort die nächste Stadt,
um die Barbaren zu züchtigen und zu schrecken und zugleich
seinen Verlust an Saumthieren und Pferden möglichst wieder
Röm. Gesch. I. 26
[402]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
zu ersetzen. Nach einem Rasttag in dem anmuthigen Thal
von Chambery setzte die Armee an der Isere hinauf ihren
Marsch fort, ohne in dem breiten und reichen Grund durch
Mangel oder Angriffe aufgehalten zu werden. Erst als man
am vierten Tag eintrat in das Gebiet der Centronen (die heu-
tige Tarantaise), wo allmählich das Thal sich verengte, hatte
man wiederum mehr Veranlassung auf seiner Hut zu sein;
indeſs die Centronen empfingen das Heer an der Landesgrenze
(etwa bei Conflans) mit Zweigen und Kränzen und stellten
Schlachtvieh, Führer und Geiſseln. Man zog wie durch Freun-
desland durch das centronische Gebiet. Als jedoch die Truppen
unmittelbar am Fuſs der Alpen angelangt waren, da wo der
Weg die Isere verläſst und durch ein enges und schwieriges
Defilé an dem Bach Reclus hinauf sich zu dem Gipfel des
Bernhard emporwindet, erschien auf einmal die Landwehr der
Centronen theils im Rücken der Armee, theils auf den rechts
und links den Paſs einschlieſsenden Bergrändern, in der Hoff-
nung den Train und die Bagage abzuschneiden. Allein Han-
nibal, dessen sicherer Tact in all jenen Protestationen der
Centronen nichts gesehen hatte als die Absicht Schonung ih-
res Gebiets und die reiche Beute zugleich zu gewinnen, hatte
in Erwartung eines solchen Angriffs den Troſs und die Rei-
terei voraufgeschickt und deckte den Marsch mit dem ge-
sammten Fuſsvolk; wodurch er die Absicht der Feinde ver-
eitelte, obwohl er nicht verhindern konnte, daſs sie, auf den
Berghängen den Marsch des Fuſsvolks begleitend, ihm durch
geschleuderte oder herabgerollte Steine sehr beträchtlichen
Verlust zufügten. An dem ‚weiſsen Stein‘ (noch jetzt la roche
blanche
), einem hohen einzeln stehenden Kreidefels am Fuſs
des Bernhard, der den Aufweg beherrscht, lagerte Hannibal
mit seinem Fuſsvolk, den Abzug der die ganze Nacht hindurch
mühsam hinauf defilirenden Pferde und Saumthiere zu decken,
und erreichte unter beständigen sehr blutigen Gefechten end-
lich am folgenden Tage die Paſshöhe. Hier auf der geschütz-
ten Hochebene, die sich um einen kleinen See, die Quelle
der Doria, in einer Ausdehnung von etwa 2½ Miglien aus-
breitet, lieſs er die Armee rasten. Die Entmuthigung hatte
angefangen sich der Gemüther der Soldaten zu bemächtigen.
Die immer schwieriger werdenden Wege, die zu Ende gehen-
den Vorräthe, die Defileenmärsche unter beständigen Angriffen
des unerreichbaren Feindes, die arg gelichteten Reihen, die
hoffnungslose Lage der Versprengten und Verwundeten, das
[403]HAMILKAR UND HANNIBAL.
nur der Begeisterung des Führers und seiner Nächsten nicht
chimärisch erscheinende Ziel, fingen an auch die africanischen
und spanischen Veteranen zu demoralisiren. Indeſs die Zu-
versicht des Feldherrn, die Rückkehr zahlreicher Versprengter,
die erreichte Wasserscheide, der Blick auf die Fluren Italiens,
die Nähe der befreundeten Gallier stellten nebst der kurzen
Rast die Haltung der Truppen einigermaſsen wieder her und
mit erneutem Muthe schickte man zu dem letzten und schwie-
rigsten Unternehmen, dem Hinabmarsch sich an. Von Feinden
ward das Heer dabei nichtwesentlich beunruhigt; aber die vor-
gerückte Jahreszeit — man war schon im Anfang September —
vertrat bei dem Niederweg das Ungemach, das bei dem Aufweg
die Ueberfälle der Barbaren bereitet hatten. Auf dem steilen
und schlüpfrigen Berghang längs der Doria, wo der frisch-
gefallene Schnee die Pfade verborgen und verdorben hatte,
verirrten und glitten Menschen und Thiere und stürzten in die
Abgründe; ja gegen das Ende des ersten Tagemarsches ge-
langte man an einen Paſs von etwa 200 Schritt Länge — es
ist die Wegstrecke, auf welche von den steil darüber hängen-
den Felsen des Cramont beständig Lawinen hinabstürzen und
in kalten Sommern der Schnee nicht wegzuthauen pflegt —
wo durch die alten und glatten Schnee- und Eismassen, über
die eine dünne Decke frischen Schnees sich hinzog, der Weg
für Elephanten und Pferde vollständig gesperrt war. Das
Fuſsvolk ging hinüber; mit dem Trosse, der Reiterei und den
Elephanten nahm der Feldherr oberhalb der schwierigen Stelle
das Lager. Am folgenden Tag vermochten die Reiter durch
angestrengtes Schanzen den Weg für Pferde und Saumthiere
zu bahnen; allein erst nach einer weiteren dreitägigen Arbeit
mit beständiger Ablösung der Hände konnten endlich die halb
verhungerten Elephanten hinüber geführt werden. So war
nach viertägigem Aufenthalt die ganze Armee wieder vereinigt
und nach einem weitern dreitägigen Marsch durch das immer
breiter und fruchtbarer sich entwickelnde Thal der Doria,
dessen Einwohner, die Salasser, Clienten der Insubrer, in den
Karthagern ihre Verbündeten und ihre Befreier begrüſsten,
gelangte die Armee um die Mitte des September in die Ebene
von Ivrea, wo die erschöpften Truppen in den Dörfern ein-
quartiert wurden, um durch gute Verpflegung und eine vier-
zehntägige Rast von den beispiellosen Strapazen sich zu er-
holen. Hätten die Römer, wie sie es konnten, ein Corps von
30000 ausgeruhten und kampffertigen Leuten etwa bei Turin
26*
[404]DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
gehabt und die Schlacht sofort erzwungen, so hätte es miſs-
lich ausgesehen um Hannibals groſsen Plan; zum Glück für
ihn waren sie wieder einmal nicht, wo sie sein sollten, und
störten die feindlichen Truppen nicht in der Ruhe, deren sie
so sehr bedurften *. — Das Ziel war erreicht, aber mit schwe-
ren Opfern. Von den 50000 zu Fuſs, den 9000 zu Roſs
dienenden alten Soldaten, welche die Armee nach dem Pyre-
näenübergang zählte, waren mehr als die Hälfte das Opfer
der Gefechte, der Märsche und der Fluſsübergänge geworden;
Hannibal zählte nach seiner eigenen Angabe jetzt nicht mehr
als 20000 zu Fuſs — davon drei Fünftel Libyer, zwei Fünf-
tel Spanier — und 6000 zum Theil wohl demontirte Reiter,
deren verhältniſsmäſsig geringer Verlust nicht minder für die
Trefflichkeit der numidischen Cavallerie spricht als für die
wohlüberlegte Schonung, mit der der Feldherr diese ausge-
suchte Truppe verwandte. Ein Marsch von 525 Miglien oder
etwa 35 mäſsigen Tagemärschen, dessen Fortsetzung und Been-
[405]HAMILKAR UND HANNIBAL.
digung nur durch unberechenbare Glücksfälle und noch unbe-
rechenbarere Fehler des Feindes möglich ward, den kein be-
sonderer nicht vorherzusehender gröſserer Unfall störte und
der nicht bloſs solche Opfer kostete, sondern die Armee so
strapazirte und demoralisirte, daſs sie einer längeren Rast
bedurfte um wieder kampffähig zu werden, ist eine Operation
von zweifelhaftem Werthe und es darf in Frage gestellt wer-
den, ob Hannibal sie selber als gelungen betrachtete. Ob der
ausgezeichnete Führer wegen dieses Feldzugplanes Tadel oder
Lob verdient, läſst sich nicht mehr entscheiden; wir sehen
wohl die Mängel des von ihm befolgten Operationsplans, nicht
aber können wir entscheiden, ob er im Stande war sie vor-
herzusehen — führte doch sein Weg durch unbekanntes Bar-
barenland — und ob ein anderer Plan, etwa die Küstenstraſse
einzuschlagen oder in Cartagena oder Karthago sich einzuschif-
fen, ihn geringeren Gefahren ausgesetzt haben würde. Die um-
sichtige und meisterhafte Ausführung des Planes im Einzelnen
ist auf jeden Fall bewundernswerth und worauf am Ende alles
ankam — sei es nun mehr durch die Gunst des Schicksals
oder sei es mehr durch die Kunst des Feldherrn, Hamil-
kars groſser Gedanke in Italien den Kampf mit Rom aufzu-
nehmen, war jetzt zur That geworden. Sein Geist ist es, der
diesen Zug entwarf; und wie Steins und Scharnhorsts Auf-
gabe schwieriger und groſsartiger war als die von York und
Blücher, so hat auch der sichere Tact geschichtlicher Erinne-
rung das letzte Glied der groſsen Kette von vorbereitenden
Thaten, den Uebergang über die Alpen stets mit gröſserer
Bewunderung genannt als die Schlachten am trasimenischen
See und auf der Ebene von Cannae.


[[406]]

KAPITEL V.



Der hannibalische Krieg bis zur Schlacht bei
Cannae
.


Durch das Erscheinen der karthagischen Armee diesseit
der Alpen war die Lage der Dinge mit einem Schlag ver-
wandelt und der römische Kriegsplan gesprengt. Von den
beiden römischen Hauptarmeen war die eine in Spanien ge-
landet und dort schon mit dem Feinde handgemein; sie zu-
rückzuziehen war nicht mehr möglich. Die zweite, die unter
dem Oberbefehl des Consuls Tiberius Sempronius nach Africa
bestimmt war, stand glücklicherweise noch in Sicilien; die
römische Zauderei bewies sich hier einmal von Nutzen. Von
den beiden karthagischen nach Italien und Sicilien bestimmten
Geschwadern war das erste durch den Sturm zerstreut und
einige der Schiffe desselben bei Messana von den syrakusani-
schen aufgebracht worden; das zweite hatte vergeblich ver-
sucht Lilybaeon zu überrumpeln und darauf in einem Seege-
fecht vor diesem Hafen den Kürzern gezogen. Indeſs das
Verweilen dieser Schiffe in den italischen Gewässern war sehr
unbequem; der Consul beschloſs, bevor er nach Africa über-
fuhr, die kleinen Inseln um Sicilien zu besetzen und die gegen
Italien operirende karthagische Flotte zu vertreiben. Mit der
Eroberung von Melite und dem Aufsuchen des feindlichen Ge-
schwaders, das er bei den liparischen Inseln vermuthete, wäh-
rend es bei Vibo (Montaleone) gelandet die brettische Küste brand-
schatzte, verging der Sommer. Heer und Flotte standen noch
in Lilybaeon, als der Befehl des Senats an den Consul erging
so schleunig wie möglich zur Vertheidigung der Heimath zurück-
[407]HANNIBALISCHER KRIEG.
zukehren. — Während also die beiden groſsen jede für sich
der Armee Hannibals an Zahl gleichen römischen Armeen in
weiter Ferne von dem Pothal standen, war man hier auf einen
Angriff schlechterdings nicht gefaſst. Zwar stand dort ein
römisches Heer in Folge der unter den Kelten schon vor
Ankunft der karthagischen Armee ausgebrochenen Insurrec-
tion. Die Gründung der beiden römischen Zwingburgen Pla-
centia und Cremona, von denen jede 6000 Colonisten erhielt,
und namentlich die Vorbereitungen zur Gründung von Mutina
im boischen Land hatten schon im Frühling 536 vor der mit
Hannibal verabredeten Zeit die Boier zum Aufstand getrieben,
dem sich die Insubrer sofort anschlossen. Die schon auf dem
mutinensischen Gebiet angesiedelten Colonisten, plötzlich über-
fallen, flüchteten sich in die Stadt. Der Praetor Lucius Man-
lius, der in der Provinz Ariminum den Oberbefehl führte, eilte
schleunig mit seiner einzigen Legion herbei um die blokirten
Colonisten zu entsetzen; allein in den Wäldern überfallen
blieb ihm nach starkem Verlust nichts anderes übrig als sich
auf einem Hügel festzusetzen, wo die Boier ihn nun gleich-
falls blokirten, bis eine zweite von Rom gesandte Legion unter
dem Praetor Lucius Atilius Heer und Stadt glücklich befreite
und den gallischen Aufstand für den Augenblick dämpfte.
Dieser voreilige Aufstand der Boier, der insofern als er Scipios
Abfahrt nach Spanien verzögerte Hannibals Plan wesentlich
gefördert hatte, war andrerseits die Ursache, daſs er das
Pothal nicht bis auf die Festungen völlig unbesetzt fand.
Allein das römische Corps, dessen zwei stark decimirte Le-
gionen keine 20000 Soldaten zählten, war nur beschäftigt
die Kelten im Zaum zu halten, nicht sich den Alpenpässen
zu nähern, deren Bedrohung man erst, als im August der
Consul Gnaeus Scipio ohne sein Heer von Massalia eintraf, in
Rom erfuhr und vielleicht selbst damals noch wenig beachtete,
da ja der tollkühne Streich allein an den Alpen scheitern
werde; wenigstens stand in der entscheidenden Stunde an
dem entscheidenden Platz nicht einmal ein römischer Vor-
posten. Hannibal hatte volle Zeit sein Heer auszuruhen, die
Hauptstadt der Tauriner, die ihm die Thore verschloſs, nach
dreitägiger Belagerung zu erstürmen und alle ligurischen und
keltischen Gemeinden im obern Pothal zum Bündniſs zu be-
wegen oder zu schrecken, bevor Gnaeus Scipio, der das Com-
mando im Pothal übernommen hatte, ihm in den Weg trat.
Dieser, der die schwierige Aufgabe hatte mit einem bedeutend
[408]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
geringeren, namentlich an Reiterei sehr schwachen Heer das
Vordringen der überlegenen feindlichen Armee auf- und die
überall sich regende keltische Insurrection niederzuhalten, war,
vermuthlich bei Cremona, über den Po gegangen und rückte
an diesem hinauf dem Feind entgegen, während Hannibal
nach der Einnahme von Turin fluſsabwärts marschirte, um
den Insubrern und Boiern Luft zu machen. In der Ebene
zwischen dem Ticino und der Sesia unweit Vercelli traf die
römische Reiterei, die mit dem leichten Fuſsvolk vorgegangen
war um eine forcirte Recognoscirung vorzunehmen, auf die
zu gleichem Zwecke ausgesendete punische, beide geführt von
den Feldherren in Person. Scipio nahm das angebotene Ge-
fecht trotz der Ueberlegenheit des Feindes an; allein sein
leichtes Fuſsvolk, das vor der Fronte der Reiterei aufgestellt
war, riſs aus vor dem Anstoſs der feindlichen schweren Rei-
terei und während diese von vorn die römischen Reitermassen
engagirte, nahm die leichte numidische Cavallerie, nachdem
sie die zersprengten Schaaren des feindlichen Fuſsvolks bei
Seite gedrängt hatte, die römischen Reiter in die Flanken
und den Rücken. Dies entschied das Gefecht. Der Verlust
der Römer war sehr beträchtlich; der Consul selbst, der als
Soldat gut machte was er als Feldherr gefehlt hatte, empfing
eine gefährliche Wunde und verdankte seine Rettung nur der
Hingebung seines siebzehnjährigen Sohnes, der muthig in die
Feinde hineinsprengend seine Schwadron zwang ihm zu folgen
und den Vater herauszuhauen. Scipio, durch dies Gefecht
aufgeklärt über die Stärke des Feindes, begriff den Fehler,
den er gemacht hatte, mit einer schwächeren Armee sich in
der Ebene mit dem Rücken gegen den Fluſs aufzustellen und
entschloſs sich unter den Augen des Gegners auf das rechte
Poufer zurückzukehren. Wie die Operationen sich auf einen
engeren Raum zusammenzogen und die Illusionen der römi-
schen Unwiderstehlichkeit von ihm gewichen waren, fand er
sein bedeutendes militärisches Talent wieder, das der bis zur
Abenteuerlichkeit verwegene Plan seines jugendlichen Gegners
auf einen Augenblick paralysirt hatte. Durch einen rasch ent-
worfenen und sicher ausgeführten Marsch gelangte er glück-
lich auf das zur Unzeit verlassene rechte Ufer des Flusses,
während Hannibal sich zur Feldschlacht bereit machte, und
brach die Pobrücke hinter dem Heere ab, wobei freilich das
mit der Deckung des Abbruchs beauftragte römische Detache-
ment von 600 Mann abgeschnitten und gefangen wurde. In-
[409]HANNIBALISCHER KRIEG.
deſs konnte, da der obere Lauf des Flusses in Hannibals
Händen war, es ihm nicht verwehrt werden, daſs er strom-
aufwärts marschirend auf einer Schiffbrücke übersetzte und in
wenigen Tagen auf dem rechten Ufer dem römischen Heere
gegenübertrat. Dies hatte in der Ebene von Placentia Stel-
lung genommen; allein die Meuterei einer keltischen Abthei-
lung im römischen Lager und die ringsum aufs neue aus-
brechende gallische Insurrection zwang den Consul die Ebene
zu räumen und sich auf den Hügeln hinter der Trebia zu
setzen, was ohne namhaften Verlust bewerkstelligt ward, da
die nachsetzenden numidischen Reiter mit dem Plündern und
Anzünden des verlassenen Lagers die Zeit verdarben. In die-
ser starken Stellung, den linken Flügel gelehnt an den Apen-
nin, den rechten an den Po und die Festung Placentia, von
vorn gedeckt durch die in dieser Jahrzeit nicht unbedeutende
Trebia hemmte er Hannibals Vorrücken so vollständig, daſs
diesem nichts übrig blieb als sein Lager gegenüber aufzu-
schlagen und das in seinem Rücken gelassene römische Castell
Clastidium, in dem reiche Magazine sich befanden, zur Aus-
füllung der Zeit zu belagern. Zwar die Insurrection fast aller
gallischer Cantone mit Ausnahme der römisch gesinnten Ce-
nomanen vermochte Scipio nicht abzuwenden, aber die von
ihm genommene Stellung so wie die Bedrohung der insubri-
schen Grenzen durch die Cenomanen hinderte doch die mäch-
tigsten gallischen Gemeinden sich massenweise dem Feinde
anzuschlieſsen. Das zweite römische Heer, das mittlerweile
von Lilybaeon in Ariminum eingetroffen war, konnte mitten
durch das insurgirte Land ohne wesentliche Hinderung Pla-
centia erreichen und mit der Poarmee sich vereinigen; Scipio
hatte seine schwierige Aufgabe vollständig und glänzend ge-
löst. Das römische Heer, jetzt nahe an 40000 Mann stark
und dem Gegner wenn auch an Reiterei nicht gewachsen,
doch an Fuſsvolk wenigstens gleich, brauchte bloſs da stehen
zu bleiben wo es stand, um den Feind entweder zu nöthigen
in der winterlichen Jahreszeit den Fluſsübergang und den
Angriff auf das römische Lager zu versuchen oder sein Vor-
rücken einzustellen und den Wankelmuth der Gallier durch
die lästigen Winterquartiere auf die Probe zu setzen. Indeſs
so einleuchtend dies war, so war es nicht minder klar, daſs
man schon im December war und bei jenem Verfahren zwar
vielleicht Rom den Sieg gewann, aber nicht der Consul Tiberius
Sempronius, der in Folge von Scipos Verwundung den Ober-
[410]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
befehl allein führte und dessen Amtsjahr in wenigen Monaten
ablief. Hannibal kannte den Mann und versäumte nichts ihn
zum Kampf zu reizen; die den Römern treugebliebenen kel-
tischen Dörfer wurden grausam verheert und als darüber ein
Reitergefecht sich entspann, gestattete Hannibal den Gegnern
sich des Sieges zu rühmen. Bald an einem rauhen regnerischen
Morgen kam es zu der Hauptschlacht, den Römern unvermu-
thet. Vom frühesten Morgen an hatten die römischen leichten
Truppen herumgeplänkelt mit der leichten Reiterei der Feinde;
sie wich langsam und hitzig folgten die Römer ihr nach
durch die hochangeschwollene Trebia, den errungenen Vor-
theil zu verfolgen. Plötzlich stand die Reiterei; die Römer
fanden sich auf dem von Hannibal gewählten Schlachtfeld
seiner zur Schlacht geordneten Armee gegenüber — die Vor-
hut war verloren, wenn nicht das Gros der Armee schleunigst
über den Bach folgte. Hungrig, ermüdet und durchnäſst kamen
die Römer an und eilten sich in Reihe und Glied zu stellen,
die Reiter wie immer auf den Flügeln, das Fuſsvolk im Mittel-
treffen. Die leichten Truppen, die auf beiden Seiten die Vor-
hut bildeten, begannen das Gefecht; allein die römischen hat-
ten fast schon gegen die Reiterei sich verschossen und wichen
sofort, ebenso auf den Flügeln die Reiterei, welche die Ele-
phanten von vorn bedrängten und die weit zahlreicheren kar-
thagischen Reiter links und rechts überflügelten. Aber das
römische Fuſsvolk focht seines Namens werth; das punische
sah zu Anfang sich aufs Heftigste bedrängt und selbst als die
Zurückdrängung der römischen Reiter der feindlichen Caval-
lerie und den Leichtbewaffneten gestattete ihre Angriffe gegen
das römische Euſsvolk zu kehren, stand dies zwar vom Vor-
dringen ab, aber zum Weichen war es nicht zu bringen. Da
plötzlich erschien eine auserlesene karthagische Schaar, 2000
Mann halb zu Fuſs halb zu Pferd unter der Führung von
Mago, Hannibals jüngstem Bruder, aus einem Hinterhalt in
dem Rücken der römischen Armee und hieb ein in die dicht
verwickelten Massen. Die Flügel der Armee und die letzten
Glieder des römischen Centrums wurden durch diesen Angriff
aufgelöst und zersprengt, während das erste Treffen, 10000
Mann stark, sich eng zusammenschlieſsend die karthagische
Linie sprengte und mitten durch die Feinde sich seitwärts
einen Ausweg bahnte, der der feindlichen Infanterie, nament-
lich den gallischen Insurgenten theuer zu stehen kam. Diese
tapfere Truppe gelangte also, nur schwach verfolgt, nach Pla-
[411]HANNIBALISCHER KRIEG.
centia und unter ihrem Schutz entrann ein Theil der Ver-
sprengten; die Masse aber ward von den Elephanten und den
leichten Truppen des Feindes niedergemacht und nur ein Theil
der Reiterei und einige Abtheilungen des Fuſsvolks vermochten
den Fluſs durchwatend das Lager zu gewinnen, wohin ihnen
die Karthager nicht folgten. Wenige Schlachten machen dem
römischen Soldaten mehr Ehre als diese an der Trebia und
wenige zugleich sind eine schwerere Anklage gegen den Feld-
herrn, der sie schlug; obwohl der billig Urtheilende nicht ver-
gessen wird, daſs die an einem bestimmten Tage ablaufende
Feldhauptmannschaft eine unmilitärische Institution war und
von Dornen sich einmal keine Feigen ernten lassen. Auch
für die Sieger war der Verlust groſs; wenn gleich der Verlust
im Kampfe hauptsächlich auf die keltischen Insurgenten ge-
fallen war, so erlagen doch nachher den in Folge des rauhen
und nassen Wintertages entstandenen Krankheiten eine Menge
von Hannibals alten Soldaten und sämmtliche Elephanten bis
auf einen einzigen. — Die Folge dieses ersten Sieges der
Invasionsarmee war, daſs die nationale Insurrection sich nun
im ganzen Keltenland ungestört erhob und organisirte. Die
Ueberreste der römischen Poarmee warfen sich in die Festun-
gen Placentia und Cremona; vollständig abgeschnitten von der
Heimath muſsten sie ihre Zufuhren auf dem Fluſs zu Wasser
beziehen. Nur wie durch ein Wunder entging der Consul Ti-
berius Sempronius der Gefangenschaft, als er mit einem schwa-
chen Reitertrupp der Wahlen wegen nach Rom ging. Hannibal,
der nicht durch weitere Märsche in der rauhen Jahreszeit die
Gesundheit seiner Truppen aufs Spiel setzen wollte, bezog wo
er war das Winterbivouac und begnügte sich, da ein ernst-
licher Versuch auf die gröſseren Festungen zu nichts geführt
haben würde, durch Angriffe auf den Fluſshafen von Placen-
tia und andere kleinere römische Positionen den Feind zu
necken. Hauptsächlich beschäftigte er sich damit den galli-
schen Aufstand zu organisiren; über 60000 Fuſssoldaten und
4000 Berittene sollen von den Kelten sich seinem Heer ange-
schlossen haben.


Für den Feldzug des Jahres 537 wurden in Rom keine
auſserordentlichen Anstrengungen gemacht; der Senat betrach-
tete, und nicht mit Unrecht, die Existenz Roms noch keines-
wegs als ernstlich bedroht. Auſser den Küstenbesatzungen,
die nach Sardinien, Sicilien und Tarent, und den Verstärkun-
gen die nach Spanien abgingen, erhielten die beiden neuen
[412]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Consuln Gaius Flaminius und Gnaeus Servilius nur so viel
Mannschaft als nöthig war um die vier Legionen wieder voll-
zählig zu machen; einzig die Reiterei wurde verstärkt. Sie
sollten die Nordgrenze decken und stellten sich deſshalb an
den beiden Kunststraſsen auf, die von Rom nach Norden
führten, und von denen die westliche damals in Arretium, die
östliche in Ariminum endigte; jene besetzte Gaius Flaminius,
diese Gnaeus Servilius. Während die Truppen aus den Pofestun-
gen wohl zu Wasser ihren Corps wieder zugeführt wurden, er-
warteten hier die Consuln den Beginn der besseren Jahreszeit
um in der Defensive die Apenninpässe zu besetzen und zur
Offensive übergehend in das Pothal hinabzusteigen und etwa bei
Placentia sich die Hand zu reichen. Allein Hannibal hatte keines-
wegs die Absicht das Pothal zu vertheidigen. Er kannte Rom
besser vielleicht als die Römer es selbst kannten, und wuſste
sehr genau, wie entschieden er der Schwächere war und es
blieb trotz der glänzenden Schlacht an der Trebia; er wuſste
auch, daſs sein letztes Ziel, die Demüthigung Roms, von dem
zähen römischen Trotz weder durch Schreck noch durch Ueber-
rumpelung zu erreichen sei, sondern nur durch die vollständige
Ueberwältigung der stolzen Stadt. Es lag klar am Tage, wie un-
endlich dem Feinde, dem von daheim nur unsichere und unre-
gelmäſsige Unterstützung zukam und der in Italien zunächst nur
auf das schwankende und launische Keltenvolk sich zu lehnen
vermochte, die italische Eidgenossenschaft an politischer Festig-
keit und an militärischen Hülfsmitteln überlegen war; und wie
tief trotz aller angewandten Mühe der punische Fuſssoldat
unter dem Legionar taktisch stand, hatte die Defensive Scipios
und der glänzende Rückzug der geschlagenen Infanterie an
der Trebia vollkommen erwiesen. Aus dieser Einsicht flossen
die beiden Grundgedanken, die Hannibals ganze Handlungs-
weise in Italien bestimmt haben: die Führung des Krieges
mit stetem Wechsel des Operationsplans und des Kriegsschau-
platzes, gewissermaſsen abenteuernd zu bewerkstelligen; die
Beendigung aber nicht von den militärischen Erfolgen zu er-
warten, sondern von den politischen, von der allmählichen
Lockerung und der endlichen Sprengung der italischen Eid-
genossenschaft. Jene Führung war nothwendig, weil Hannibal
als der schwächere Theil verloren war, so wie der Krieg zum
Stehen kam, und nur, wenn der Gegner stets durch unver-
muthete Combinationen deroutirt ward, das Einzige, was er
gegen so viele Nachtheile in die Wagschale zu werfen hatte,
[413]HANNIBALISCHER KRIEG.
sein militärisches Genie vollständig ins Gewicht fiel. Dieses
Ziel war das von der richtigen Politik ihm gebotene, weil er, der
gewaltige Schlachtensieger, sehr deutlich einsah, daſs er jedes-
mal die Generale überwand und nicht die Stadt, und nach
jeder neuen Schlacht diese den Karthagern eben so überlegen
blieb wie er seinen Gegnern. Daſs Hannibal selbst auf dem
Gipfel des Glücks sich nie hierüber getäuscht hat, ist bewun-
derungswürdiger als seine bewundertsten Schlachten. — Dies
und nicht die Bitten der Gallier, die ihn nicht bestimmen durf-
ten ist auch die Ursache, warum Hannibal seine neugewonnene
Operationsbasis gegen Italien jetzt gleichsam fallen lieſs und be-
beschloſs den Kriegsschauplatz nach Italien selbst zu verlegen.
Vorher hieſs er alle Gefangene sich vorführen; die Römer
wurden ausgesondert und mit Sclavenfesseln belastet — daſs
Hannibal alle waffenfähigen Römer, die er hier und sonst
aufgriff, habe niedermachen lassen, ist ohne Zweifel minde-
stens stark übertrieben —, dagegen die sämmtlichen italischen
Bundesgenossen ohne Lösegeld entlassen, um daheim zu be-
richten, daſs Hannibal nicht gegen Italien Krieg führe, son-
dern gegen Rom; daſs er jeder italischen Gemeinde die alte
Unabhängigkeit und die alten Grenzen wieder zusichere und
daſs den Befreiten der Befreier auf dem Fuſse folge als Retter
und als Rächer. So brach er, da der Winter zu Ende ging,
aus dem Pothal auf um sich einen Weg durch die schwie-
rigen Defileen des Apennin zu suchen. Gaius Flaminius mit
der etrurischen Armee stand vorläufig noch bei Arezzo,
vermuthlich um hier die aus den Pofestungen ihm zugeführ-
ten Truppen an sich zu ziehen und alsdann zur Deckung des
Arnothales und der Apenninpässe etwa bei Lucca sich auf-
zustellen, so wie es die Jahreszeit erlaubte. Allein Hannibal
kam ihm zuvor. Der Apenninübergang ward in möglichst
westlicher Richtung, das heiſst möglichst weit vom Feinde,
ohne groſse Schwierigkeit bewerkstelligt; allein die sumpfigen
Niederungen zwischen dem Serchio und dem Arno waren
durch die Schneeschmelze und die Frühlingsregen so über-
staut, daſs die Armee vier Tage im Wasser zu marschiren
hatte, ohne auch nur zur nächtlichen Rast einen trockenen
Platz anders zu finden als wo ihn das zusammengehäufte Ge-
päck und die gefallenen Saumthiere darboten. Die Truppen
litten unsäglich, namentlich das gallische Fuſsvolk, das hinter
dem punischen in den schon grundlosen Wegen marschirte;
es murrte laut und wäre ohne Zweifel in Masse ausgerissen,
[414]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
wenn nicht die punische Reiterei unter Mago, die den Zug
beschloſs, ihm die Flucht unmöglich gemacht hätte. Die
Pferde, unter denen die Klauenseuche ausbrach, fielen haufen-
weise; andere Seuchen decimirten die Soldaten; Hannibal
selbst verlor in Folge einer Augenentzündung das eine Auge.
Indeſs das Ziel ward erreicht. Hannibal lagerte bei Fiesole,
während Gaius Flaminius noch bei Arezzo abwartete, daſs die
Wege gangbar würden, um sie zu sperren. Nachdem die rö-
mische Defensivstellung somit umgangen war, konnte der
Consul, der vielleicht stark genug gewesen wäre um die
Bergpässe zu vertheidigen, aber sicher nicht im Stande war
Hannibal jetzt im offenen Felde zu stehen, nichts besseres
thun als zu warten, bis das Heer herankam, das bei Arimi-
num nun völlig überflüssig stand. Indeſs er selber urtheilte
anders. Er war ein politischer Parteiführer, durch seine Be-
mühungen die Macht des Senats zu beschränken in die Höhe
gekommen, durch die gegen ihn während seiner Consulate
gesponnenen aristokratischen Intriguen erbittert zum über-
müthigsten Trotz gegen Sitte und Herkommen, sich berau-
schend zugleich in der blinden Liebe des gemeinen Mannes
und eben so sehr in dem bittern Haſs der Herrenpartei, und
über alles dies mit der fixen Idee behaftet, daſs er ein mili-
tärisches Genie sei. Sein Feldzug gegen die Insubrer von
531, der für unbefangene Urtheiler nur bewies, daſs tüchtige
Soldaten öfters gutmachen was schlechte Generale verderben,
galt ihm und seinen Anhängern als der unumstöſsliche Be-
weis, daſs man nur den Gaius Flaminius an die Spitze des
Heeres zu stellen brauche um dem Hannibal ein schnelles
Ende zu bereiten. Solche Reden hatten ihm das zweite Con-
sulat verschafft und solche Hoffnungen hatten jetzt eine der-
artige Menge von unbewaffneten Beutelustigen in sein Lager
geführt, daſs deren Zahl nach der Versicherung nüchterner Ge-
schichtsschreiber die der Legionarier überstieg. Hannibal grün-
dete zum Theil hierauf seinen Plan. Weit entfernt ihn anzu-
greifen marschirte er an ihm vorbei und lieſs durch die Kelten,
die das Plündern gründlich verstanden, und die zahlreiche
Reiterei die Landschaft rings umher brandschatzen. Die Kla-
gen und die Erbitterung der Menge, die sich muſste ausplün-
dern lassen unter den Augen des Helden, der sie zu berei-
chern versprochen; das Bezeigen, daſs der Feind ihm weder
die Macht noch den Entschluſs zutraue vor der Ankunft seines
Collegen etwas zu unternehmen, muſsten einen solchen Mann
[415]HANNIBALISCHER KRIEG.
bestimmen sein strategisches Genie zu entwickeln und dem
unbesonnenen hochmüthigen Feind eine derbe Lection zu er-
theilen. Nie ist ein Plan vollständiger gelungen. Eilig folgte
der Consul dem Marsch des Feindes, der an Arezzo vorüber
langsam durch das reiche Chianathal gegen Perugia zu mar-
schirte; er erreichte ihn in der Gegend von Cortona, wo
Hannibal, genau unterrichtet von dem Marsch seines Gegners,
volle Zeit gehabt hatte sein Schlachtfeld zu wählen, ein enges
Defilé zwischen zwei steilen Bergwänden, das vorn ein hoher
Hügel, hinten der trasimenische See abschloſs. Mit dem Kern
seiner Infanterie verlegte er den Ausweg; die leichten Trup-
pen und die Reiterei stellten hinter den Seitenwänden ver-
deckt sich auf. Unbedenklich rückten die römischen Colonnen
in den unbesetzten Paſs; der dichte Morgennebel verbarg ih-
nen die Stellung des Feindes. Wie die Spitze des römischen
Zuges sich dem Hügel näherte, gab Hannibal das Zeichen zur
Schlacht; zugleich schloſs die Reiterei, hinter den Hügeln vor-
rückend, den Eingang des Passes und auf den Rändern rechts
und links zeigten die verziehenden Nebel überall punische
Waffen. Es war keine Schlacht, sondern nur eine Niederlage.
Was auſserhalb des Defilés geblieben war, wurde von den
Reitern in den See gesprengt; der Hauptzug in dem Passe
selbst fast ohne Gegenwehr vernichtet und die meisten, dar-
unter der Consul selbst, in der Marschordnung niedergehauen.
Die Colonnenspitze selbst, 6000 Mann zu Fuſs schlug sich
zwar durch das feindliche Fuſsvolk durch und bewies wie-
derum die unwiderstehliche Gewalt der Legionen; allein ab-
geschnitten und ohne Kunde von dem übrigen Heer marschir-
ten sie auf Gerathewohl weiter und wurden am folgenden
Tag auf einem Hügel, den sie besetzt hatten, von einem kar-
thagischen Reitercorps umzingelt und da die Capitulation,
die ihnen freien Abzug versprach, von Hannibal verworfen
ward, sämmtlich als kriegsgefangen behandelt. 15000 Römer
waren gefallen, ebenso viele gefangen, das heiſst das Heer
war vernichtet; der geringe karthagische Verlust — 1500
Mann — traf wieder vorwiegend die Gallier *. Und als wäre
[416]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
dies nicht genug, so erschien gleich nach der Schlacht die Rei-
terei des ariminensischen Heeres unter Gaius Centenius, 4000
Mann stark, die Gnaeus Servilius vorläufig seinem Collegen zu
Hülfe sandte, selber langsam nachrückend. Auch dies Corps
ward umzingelt und theils niedergemacht, theils gefangen. Ganz
Etrurien war verloren und ungehindert konnte Hannibal auf
Rom marschiren. Dort machte man sich auf das Aeuſserste ge-
gefaſst; man brach die Tiberbrücken ab und ernannte den Quin-
tus Fabius Maximus zum Dictator um die Mauern in Stand zu
setzen und die Vertheidigung zu leiten, für welche ein Reserve-
heer gebildet ward. Zugleich wurden zwei neue Legionen anstatt
der vernichteten unter die Waffen gerufen und die Flotte, die
im Fall einer Belagerung wichtig werden konnte, in Stand gesetzt.


Allein Hannibal sah weiter als König Pyrrhos. Er mar-
schirte nicht auf Rom; auch nicht gegen Gnaeus Servilius,
der, ein tüchtiger Feldherr, seine Armee mit Hülfe der Festun-
gen an der Nordstraſse auch jetzt unversehrt erhalten und
vielleicht den Gegner sich gegenüber festgehalten haben würde.
Es geschah wieder einmal etwas ganz Unerwartetes. An der
Festung Spoletium vorbei, deren Ueberrumpelung fehlschlug,
marschirte Hannibal durch Umbrien, verheerte entsetzlich das
ganz mit römischen Bauerhöfen bedeckte picenische Gebiet
und machte Halt an den Ufern des adriatischen Meeres. Hier
hielt er eine längere Rast, um in der anmuthigen Gegend
und der schönen Jahreszeit sein Heer sich erholen zu lassen,
in dem Menschen und Pferde noch nicht die Nachwehen der
Frühlingscampagne verwunden hatten, und sein libysches Fuſs-
volk in römischer Weise zu reorganisiren, wozu die Masse
der erbeuteten römischen Waffen ihm die Mittel darbot. Von
hier aus knüpfte er ferner die lange unterbrochenen Verbin-
dungen mit der Heimath wieder an, indem er zu Wasser seine
Siegesbotschaften nach Karthago sandte. Endlich als sein
Heer hinreichend sich wieder hergestellt hatte und der neue
Waffendienst genugsam geübt war, brach er auf und mar-
schirte langsam an der Küste hinab in das südliche Italien
hinein. — Er hatte richtig gerechnet, als er zu dieser Umge-
staltung der Infanterie sich jetzt entschloſs; die Ueberraschung
der beständig eines Angriffs auf die Hauptstadt gewärtigen
Gegner lieſs ihm mindestens vier Wochen ungestörter Muſse
zur Verwirklichung des beispiellos verwegenen Experiments
im Herzen des feindlichen Landes mit einer noch immer ver-
hältniſsmäſsig geringen Armee sein militärisches System voll-
[417]HANNIBALISCHER KRIEG.
ständig zu reformiren und den Versuch zu machen den unbe-
siegbaren italischen africanische Legionen gegenüberzustellen.
Allein seine Hoffnung, daſs die Eidgenossenschaft nun anfan-
gen werde sich zu lockern, erfüllte sich nicht. Auf die Etrusker,
die schon ihre letzten Unabhängigkeitskriege vorzugsweise mit
gallischen Söldnern geführt hatten, kam es hiebei am wenig-
sten an; der Kern der Eidgenossenschaft, namentlich in mili-
tärischer Hinsicht, waren nächst den latinischen die sabelli-
schen Gemeinden, und mit gutem Grund hatte Hannibal jetzt
diesen sich genähert. Allein eine Stadt nach der andern
schloſs ihre Thore; nicht eine einzige italische Gemeinde
machte Bündniſs mit dem Phoenikier. Damit war viel, ja
alles gewonnen für die Römer; indeſs man begriff in der
Hauptstadt, wie unvorsichtig es sein würde die Treue der
Bundesgenossen auf eine solche Probe zu stellen, ohne daſs
sich ein römisches Heer auch nur im Felde zeigte. Der Dic-
tator Quintus Fabius zog die beiden in Rom gebildeten Ersatz-
legionen und das Heer von Ariminum zusammen und als Han-
nibal an der römischen Festung Luceria vorbei gegen Arpi
marschirte, zeigten sich in seiner rechten Flanke bei Aecae
die römischen Feldzeichen. Ihr Führer indeſs verfuhr anders
als seine Vorgänger. Quintus Fabius war ein hochbejahrter
Mann, von einer Festigkeit, die nicht Wenigen als Eigensinn
erschien; ein eifriger Verehrer der guten alten Zeit, der politi-
schen Allmacht des Senats und des Bürgermeistercommandos
erwartete er das Heil des Staates nächst Opfern und Gebeten
von der methodischen Kriegführung. Politischer Gegner des
Gaius Flaminius und durch die Reaction gegen dessen thö-
richte Kriegsdemagogie an die Spitze der Geschäfte gerufen
reiste er ins Lager, eben so fest entschlossen um jeden Preis
eine Hauptschlacht zu vermeiden wie sein Vorgänger um jeden
Preis eine solche zu liefern, und ohne Zweifel überzeugt, daſs
die ersten Elemente der Strategik Hannibal verbieten würden
vorzurücken, so lange das römische Heer intact ihm gegen-
überstehe, und daſs es also nicht schwer halten werde die
auf das Fouragiren angewiesene feindliche Armee im kleinen
Gefecht zu schwächen und allmählich auszuhungern. Hannibal,
wohlbedient von seinen Spionen in Rom und im römischen
Heer, erfuhr den Stand der Dinge sofort und richtete wie
immer seinen Feldzugsplan ein nach der Individualität des
feindlichen Anführers. An dem römischen Heer vorüber mar-
schirte er über den Apennin in das Herz von Italien nach
Röm. Gesch. I. 27
[418]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Benevent, nahm die offene Stadt Telesia an der Grenze von
Samnium und Campanien und wandte sich von da gegen Ca-
pua, das unter allen italischen Städten nächst Rom die be-
deutendste und eben darum von der römischen Regierung
wie keine andere Gemeinde in der kränkendsten Weise ge-
drückt und zurückgesetzt worden war. Er hatte dort Verbin-
dungen angeknüpft, die den Abfall der Campaner vom römi-
schen Bündniſs hoffen lieſsen; allein auch diese Hoffnung
schlug ihm fehl. So wieder rückwärts sich wendend schlug er
die Straſse nach Apulien ein. Der Dictator war während dieses
ganzen Zuges der karthagischen Armee auf den Höhen gefolgt
und hatte seine Soldaten zu der traurigen Rolle verurtheilt
mit den Waffen in der Hand zuzusehen, wie die numidischen
Reiter weit und breit die treuen Bundesgenossen plünderten
und in der ganzen Ebene die Dörfer in Flammen aufgingen.
Jetzt wie Hannibal den Rückmarsch angetreten, verlegte der
Dictator ihm den Weg bei Casilinum (dem heutigen Capua),
indem er das linke Ufer des Volturnus durch die Besetzung
dieser Stadt sperrte und auf dem rechten die krönenden
Höhen mit seiner Hauptarmee einnahm, während eine Abthei-
lung von 4000 Mann auf der am Fluſs hinführenden Straſse
selbst sich lagerte. Allein Hannibal hieſs seine Leichtbewaff-
neten eine Anhöhe, die unmittelbar über der Straſse sich er-
hob, erklimmen und von hier aus eine Anzahl Ochsen mit ange-
zündeten Reisigbündeln auf den Hörnern vortreiben, so daſs
es schien, als zöge dort die ganze karthagische Armee in
nächtlicher Weile bei Fackelschein ab. Die römische Abthei-
lung, die die Straſse sperrte, sich umgangen und die fernere
Deckung der Straſse überflüssig wähnend, zog sich seitwärts
auf dieselben Anhöhen; auf der Straſse selbst zog Hannibal als-
dann mit dem Gros seiner Armee ab, ohne dem Feind zu be-
gegnen, worauf er am andern Morgen ohne Mühe und mit star-
kem Verlust für die Römer seine leichten Truppen degagirte und
zurücknahm. Ungehindert setzte Hannibal darauf seinen Marsch
in nordöstlicher Richtung fort und kam auf weiten Umwegen,
nachdem er die Landschaften der Hirpiner, Campaner, Samniten,
Paeligner und Frentaner ohne Widerstand durchzogen und ge-
brandschatzt hatte, mit reicher Beute und voller Kasse wieder
in der Gegend von Luceria an, als dort eben die Ernte beginnen
sollte. Wohl erkennend, daſs ihm nichts übrig bleibe als sich
auf Winterquartiere im offenen Felde einzurichten, ohne irgend
einen Bundesgenossen gefunden zu haben, begann er die
[419]HANNIBALISCHER KRIEG.
schwierige Operation den Winterbedarf des Heeres durch die-
ses selbst von den Feldern der Feinde einbringen zu lassen.
Die weite völlig flache apulische Ebene, die Getreide und
Gras in Ueberfluſs darbot und von seiner überlegenen Reiterei
gänzlich beherrscht werden konnte, hatte er hiezu sich aus-
ersehen. Bei Gerunium 25 Miglien nördlich von Luceria ward
ein verschanztes Lager angelegt, aus dem zwei Drittel des
Heeres täglich zum Einbringen der Vorräthe ausgesendet wur-
den, während Hannibal mit dem Rest Stellung nahm um das
Lager und die ausgesendeten Detachements zu decken. Das
römische Heer, das damals in Abwesenheit des Dictators sein
Unterfeldherr Marcus Minucius befehligte, rückte an den Feind
heran und bezog ein Lager im larinatischen Gebiet, wo es
theils durch seine bloſse Anwesenheit die Detachirungen und
dadurch die Verproviantirung des feindlichen Heeres hinderte,
theils in einer Reihe glücklicher Gefechte, die es gegen einzelne
punische Abtheilungen und sogar gegen Hannibal selbst bestand,
die Feinde aus ihren vorgeschobenen Stellungen verdrängte und
sie nöthigte sich bei Gerunium zu concentriren. Auf die Nach-
richt von diesen Erfolgen, die begreiflich bei der Darstellung
nicht verloren, brach in der Hauptstadt der Sturm gegen Quintus
Fabius los. Er war nicht ganz ungerechtfertigt. So weise es
war sich römischer Seits vertheidigend zu verhalten und den
Haupterfolg von dem Abschneiden der Subsistenzmittel des Fein-
des zu erwarten, so war es doch ein seltsames Vertheidigungs-
und Aushungerungssystem, bei welchem der Feind unter den
Augen einer an Zahl gleichen römischen Armee ganz Mittelitalien
ungehindert verwüstet und durch eine geordnete Fouragirung im
gröſsten Maſsstab sich für den Winter hinreichend verprovian-
tirt hatte. So hatte Gnaeus Scipio, als er im Pothal comman-
dirte, die defensive Haltung nicht verstanden und der Versuch
seines Nachfolgers bei Casilinum ihm nachzuahmen war auf eine
Weise gescheitert, die den städtischen Spottvögeln reichlichen
Stoff gab. Es war bewundernswerth, daſs die italischen Ge-
meinden nicht wankten, als ihnen Hannibal die Ueberlegen-
heit der Punier, die Nichtigkeit der römischen Hülfe so fühl-
bar darthat; allein wie lange konnte man ihnen zumuthen
die zwiefache Kriegslast zu ertragen und sich unter den Augen
der römischen Truppen und ihrer eigenen Contingente aus-
plündern zu lassen? Endlich was das römische Heer anlangte,
so konnte man nicht sagen, daſs es den Feldherrn zu dieser
Kriegführung nöthigte; es bestand nicht aus rohen Rekruten,
27*
[420]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
sondern theils aus den dienstgewohnten Legionen von Arimi-
num, theils aus einberufener Landwehr, und weit entfernt
durch die letzten Niederlagen entmuthigt zu sein, war es er-
bittert über die wenig ehrenvolle Aufgabe, die sein Feldherr,
‚Hannibals Lakai‘, ihm zuwies, und verlangte mit lauter
Stimme gegen den Feind geführt zu werden. Es kam zu
den heftigsten Auftritten in den Bürgerversammlungen gegen
den eigensinnigen alten Mann; seine politischen Gegner, an
ihrer Spitze der gewesene Praetor Marcus Terentius Varro,
bemächtigten sich des Haders — wobei man nicht vergessen
darf, daſs der Dictator thatsächlich vom Senat ernannt ward und
dies Amt galt als das Palladium der conservativen Partei — und
setzten im Verein mit den unmuthigen Soldaten und den Be-
sitzern der geplünderten Güter den verfassungs- und sinn-
widrigen Volksbeschluſs durch: die Dictatur, die dazu bestimmt
war in Zeiten der Gefahr die Uebelstände des getheilten Ober-
befehls zu beseitigen, in gleicher Weise wie dem Quintus Fa-
bius auch dessen bisherigem Unterfeldherrn Marcus Minucius
zu ertheilen. So wurde die römische Armee, nachdem ihre
gefährliche Spaltung in zwei abgesonderte Corps eben erst
zweckmäſsig beseitigt worden war, nicht bloſs wiederum ge-
theilt, sondern an die Spitze einer jeden Abtheilung ein Füh-
rer gestellt, der einen dem des Collegen geradezu und offen-
kundig entgegengesetzten Kriegsplan befolgte. Quintus Fabius
blieb natürlich mehr als je bei seinem methodischen Nichts-
thun; Marcus Minucius, genöthigt seinen Dictatortitel auf dem
Schlachtfeld zu rechtfertigen, griff übereilt und mit geringen
Streitkräften an und wäre vernichtet worden, wenn nicht hier
sein College durch das rechtzeitige Erscheinen seines frischen
Corps gröſseres Unglück abgewandt hätte. Der Dictator Quin-
tus Fabius, dem diese letzte Wendung der Dinge gewisserma-
ſsen Recht gegeben hatte, legte verfassungsmäſsig in der Mitte
des Herbstes sein Amt nieder und übergab den beiden Consuln
Gnaeus Servilius und Marcus Regulus den Oberbefehl, worauf
bald nachher von beiden Seiten die Operationen für dies Jahr
eingestellt wurden. Hannibal hatte in diesem Feldzug vollstän-
dig erreicht, was mit den Waffen sich erreichen lieſs; nicht
eine einzige wesentliche Operation hatte der Gegner ihm ver-
eitelt. Nicht der ‚Zauderer‘ hat Rom gerettet, sondern die
feste Fugung seiner Eidgenossenschaft und vielleicht nicht
minder der Nationalhaſs, mit dem der phoenikische Mann von
den Occidentalen empfangen ward.


[421]HANNIBALISCHER KRIEG.

Trotz aller Unfälle stand der römische Stolz nicht minder
aufrecht als die römische Symmachie. Die Geschenke, welche
die griechischen Städte in Italien und der König Hieron von
Syrakus für den nächsten Feldzug anboten — sie traf der Krieg
minder schwer als die übrigen Bundesgenossen Roms, da sie
nicht zum Landheer stellten — wurden mit Dank abgelehnt;
den illyrischen Häuptlingen zeigte man an, daſs sie nicht säu-
men möchten mit Entrichtung des Tributs; ja man beschickte
den König von Makedonien abermals um die Auslieferung des
Demetrios von Pharos. Die Partei des Uebermuths, die dem
Senatsregiment feind war, führte noch immer das Ruder. Was
den italischen Krieg anlangte, war man entschlossen keineswegs
zurückzukehren zu der Kriegführung des Fabius, welche den
Staat langsam zwar, aber sicher verderbe; daſs der Volksdicta-
tor nicht bessere Ergebnisse erfochten hatte, komme, so meinte
man, einzig daher, weil man eine halbe Maſsregel getroffen
und ihm zu wenig Truppen gegeben habe. Diesen Fehler
beschloſs man zu vermeiden und ein Heer aufzustellen, wie
Rom noch keines ausgesandt hatte: acht Legionen, jede um
ein Fünftel über die Normalzahl verstärkt, und die entspre-
chende Anzahl Bundesgenossen, zusammen 80000 Mann zu
Fuſs und über 6000 Reiter, genug um den nicht halb so
starken Gegner zu erdrücken. Auſserdem ward eine Legion
unter dem Praetor Lucius Postumius nach dem Pothal bestimmt,
um wo möglich die in Hannibals Heer dienenden Kelten nach
der Heimath zurückzuziehen. Diese Beschlüsse waren ver-
ständig; es kam nur darauf an auch über den Oberbefehl
angemessen zu bestimmen. Das starre Auftreten des Quintus
Fabius und die daran sich anspinnenden demagogischen Hetze-
reien hatten die Dictatur und überhaupt den Senat unpopu-
lärer gemacht als je; im Volke ging, wohl nicht ohne Schuld
der Führer, die thörichte Rede, daſs der Senat den Krieg ab-
sichtlich in die Länge ziehe. Da also an die Ernennung eines
Dictators nicht zu denken war, versuchte der Senat die
Wahl der Consuln angemessen zu leiten, was indeſs den Ver-
dacht und den Eigensinn erst recht rege machte. Mit Mühe
brachte der Senat den einen seiner Candidaten durch, den
Lucius Aemilius Paullus, der im Jahre 535 den illyrischen
Krieg verständig geführt hatte; die ungeheure Majorität der
Bürgerschaft gab ihm zum Collegen den Candidaten der Volks-
partei Marcus Terentius Varro, einen unfähigen Mann, der nur
bekannt war durch seine verbissene Opposition gegen den Senat
[422]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
und namentlich als Haupturheber der Wahl des Marcus Minu-
cius zum Condictator, und den nichts der Menge empfahl als
seine niedrige Geburt und seine rohe Unverschämtheit. Den
beiden Consuln des vorigen Jahres wurde daneben das Com-
mando verlängert; doch blieb den neu ernannten Consuln die
Oberfeldherrschaft, die nach der alten thörichter Weise bei-
behaltenen Sitte Tag um Tag zwischen ihnen wechselte. Mit
Anfang des Sommers 538 trafen Paullus und Varro mit den
vier neuen Legionen in Apulien ein, wo die beiden Heere sich
seit dem vorigen Herbst gegenüberstanden. Hannibals Vor-
räthe gingen schon auf die Neige und die Erntezeit war noch
fern; unter seinen Soldaten, namentlich den Kelten zeigte
sichtlich sich groſse Verstimmung — man brauchte nur zuzu-
warten, mit der doppelten Armee den Feind ebenso festzu-
halten wie bisher mit der einfachen und ihn am Abmarsch
und Fouragiren zu verhindern, so stand man am Ziel. Allein
dem Helden von der Gasse miſsfiel dergleichen militärische
Pedanterie; er befahl die Schlacht zu liefern wo man eben
stand und der Kriegsrath muſste sich fügen *. Das römische
Heer hatte bisher auf beiden Ufern des Aufidus eine wohlge-
wählte Stellung inne gehabt. Jetzt ward das linke Ufer ver-
lassen; nur eine Abtheilung von 10000 Mann blieb dort zurück
um das daselbst befindliche karthagische Lager zu überfallen.
Die Massen des römischen und des karthagischen Heeres stell-
ten sich in Schlachtordnung auf dem rechten Ufer in einem
weiten nirgends Schutz bietenden Blachfeld bei dem Städtchen
Cannae. Die römische Reiterei stand auf den Flügeln, die
schwächere der Bürgerwehr auf dem rechten am Fluſs, ge-
führt von Paullus, die stärkere bundesgenössische auf dem
linken gegen die Ebene, geführt von Varro. Im Mitteltreffen
stand das Fuſsvolk in ungewöhnlich tiefer Stellung unter dem
Befehl des Proconsuls Gnaeus Servilius. Diesem gegenüber
ordnete Hannibal sein Fuſsvolk im Halbmond, so daſs die kel-
tischen und iberischen Truppen in ihrer nationalen Rüstung
die vorgeschobene Mitte, die römisch gerüsteten Libyer auf
beiden Seiten die zurückgenommenen Flügel bildeten. An der
Fluſsseite stellte die gesammte schwere Reiterei unter Has-
[423]HANNIBALISCHER KRIEG.
drubal sich auf, an der Seite nach der Ebene hinaus die leichten
Reiter. Nach kurzem Vorpostengefecht der leichten Truppen war
bald die ganze Linie im Gefecht. Wo die leichte Reiterei der Kar-
thager gegen Varros schwere Cavallerie focht, ward das Gefecht
unter stetigen Chargen der Numidier ohne Entscheidung hin-
gehalten. Dagegen im Mitteltreffen warfen die Legionen die
ihnen zuerst begegnenden spanischen und gallischen Truppen
vollständig; eilig drängten die Sieger nach und verfolgten
ihren Vortheil. Allein auf ihrem rechten Flügel hatte das
Glück sich mittlerweile gegen sie gewandt. Hannibal hatte
den linken Reiterflügel der Feinde bloſs beschäftigen lassen,
um Hasdrubal mit der ganzen regulären Reiterei gegen den
schwächeren rechten zu verwenden und diesen zuerst zu
werfen. Nach tapferer Gegenwehr wichen die Römer und
wurden gröſstentheils in den Fluſs gesprengt; verwundet ritt
Paullus zu dem Mitteltreffen, das Schicksal der Legionen zu
theilen. Diese hatten, um den Sieg über die vorgeschobene
feindliche Infanterie besser zu verfolgen, ihre Frontstellung in
eine Angriffscolonne verwandelt, die keilförmig eindrang in das
feindliche Centrum. In dieser Stellung wurden sie von dem
libyschen Fuſsvolk, das rechts und links einschwenkte, von bei-
den Seiten heftig angegriffen und ein Theil von ihnen gezwun-
gen Halt zu machen um gegen die Flankenangriffe sich zu ver-
theidigen, wodurch der ganze Zug ins Stocken kam und die
dichtgestellte Infanteriemasse nicht mehr Raum fand sich zu
entwickeln. Inzwischen hatte Hasdrubal, nachdem er mit dem
Flügel des Paullus fertig war, seine Reiter aufs Neue gesam-
melt und geordnet und sie hinter dem feindlichen Mitteltreffen
weg gegen den Flügel des Varro geführt, der schon mit den
Numidiern genug zu thun hatte. Vor dem doppelten Angriff
stob die italische Reiterei schnell auseinander und Hasdrubal,
die Verfolgung der Flüchtigen den Numidiern überlassend,
ordnete zum drittenmal seine Schwadronen, um sie dem rö-
mischen Fuſsvolk in den Rücken zu führen. Dieser letzte
Stoſs entschied. Flucht war nicht möglich und Quartier ward
nicht gegeben; es ist vielleicht nie ein Heer von dieser Gröſse
so vollständig und mit so geringem Verlust des Gegners in
der Feldschlacht vernichtet worden wie das römische bei
Cannae. Hannibal hatte nicht ganz 6000 Mann eingebüſst,
wovon zwei Drittel auf die Kelten kamen, die der erste Stoſs
der Legionen traf. Dagegen von den 76000 Römern, die in
der Schlachtlinie gestanden hatten, deckten über 70000 das
[424]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Feld, darunter der Consul Lucius Paullus, der Proconsul
Gnaeus Servilius, zwei Drittel der Stabsoffiziere, achtzig Män-
ner senatorischen Ranges. Nur den Consul Marcus Varro
rettete sein rascher Entschluſs und sein gutes Pferd nach
Venusia und er ertrug es zu leben. Auch die Besatzung des
römischen Lagers, 10000 Mann stark, ward gröſstentheils
kriegsgefangen; nur einige tausend Mann, theils aus diesen
Truppen, theils aus der Linie, entkamen nach Canusium. Ja
als sollte in diesem Jahr durchaus mit Rom ein Ende gemacht
werden, fiel noch vor Ablauf desselben die nach Gallien ge-
sandte Legion in einen Hinterhalt und wurde mit ihrem Feld-
herrn Lucius Postumius, dem für das nächste Jahr ernannten
Consul, von den Galliern gänzlich vernichtet.


Dieser beispiellose Erfolg schien nun endlich die groſse
politische Combination zu reifen, um deren willen Hannibal
nach Italien gegangen war. Er hatte seinen Plan wohl zu-
nächst auf sein Heer gebaut; allein in richtiger Erkenntniſs
der ihm entgegenstehenden Macht sollte dies in seinem Sinn
nur die Vorhut sein, mit der die Kräfte des Westens und
Ostens allmählich sich vereinigen würden um der stolzen Stadt
den Untergang zu bereiten. Zwar diejenige Unterstützung,
die die gesichertste schien, die Nachsendungen von Spanien
her hatte das kühne und feste Auftreten des dorthin gesandten
römischen Feldherrn Gnaeus Scipio ihm vereitelt. Nach Hanni-
bals Uebergang über die Rhone war dieser nach Emporiae
gesegelt und hatte sich zuerst der Küste zwischen den Pyre-
näen und dem Ebro, dann nach Besiegung des Hanno auch
des Binnenlandes bemächtigt (536). Er hatte im folgenden
Jahr (537) die karthagische Flotte an der Ebromündung völlig
geschlagen, hatte, nachdem sein Bruder Publius, der tapfere
Vertheidiger des Pothals, mit Verstärkung von 8000 Mann zu
ihm gestoſsen war, sogar den Ebro überschritten und war
vorgedrungen bis gegen Sagunt. Zwar hatte Hasdrubal das
Jahr darauf (538), nachdem er aus Africa Verstärkungen erhal-
ten, den Versuch gemacht dem Befehl seines Bruders nachzu-
kommen und ihm eine Armee zuzuführen; allein die Scipionen
verlegten ihm den Uebergang über den Ebro und schlugen ihn
vollständig, etwa um dieselbe Zeit, wo in Italien Hannibal bei
Cannae siegte. Die mächtige Völkerschaft der Celtiberer und
zahlreiche andere spanische Stämme hatten den Scipionen sich
zugewandt; diese beherrschten das Meer und die Pyrenäen-
pässe und durch die zuverlässigen Massalioten auch die galli-
[425]HANNIBALISCHER KRIEG.
sche Küste. So war von Spanien aus für Hannibal jetzt
weniger als je Unterstützung zu erwarten. — Von Karthago
war bisher zur Unterstützung des Feldherrn in Italien so viel
geschehen, wie man erwarten konnte: punische Geschwader
bedrohten die Küsten Italiens und der römischen Inseln und
hüteten Africa vor einer römischen Landung, und dabei blieb
es. Ernstlicheren Beistand verhinderte nicht sowohl die Un-
gewiſsheit, wo Hannibal zu finden sei, und das Vermissen
einer Hafenstation in Italien als die langjährige Gewohnheit,
daſs das spanische Heer sich selbst genüge, vor allem aber die
grollende Friedenspartei. Hannibal empfand schwer die Fol-
gen dieser unverzeihlichen Unthätigkeit; trotz allen Sparens
des Geldes und der mitgebrachten Soldaten wurden seine
Kassen allmählich leer, der Sold kam in Rückstand und die
Reihen seiner Veteranen fingen an sich zu lichten. Jetzt aber
brachte die Siegesbotschaft von Cannae selbst die factiöse Oppo-
sition daheim zum Schweigen; der karthagische Senat beschloſs
dem Feldherrn 4000 numidische Reiter, 40 Elephanten und
2000 Talente Silber (1½ Million Thlr.) zur Verfügung zu
stellen und in Spanien 20000 Mann zu Fuſs und 4000 Be-
rittene für ihn ausheben zu lassen. — Die längst besprochene
Offensivallianz zwischen Karthago und Makedonien war anfangs
durch Antigonos plötzlichen Tod, dann durch seines Nach-
folgers Philippos Unentschiedenheit und dessen und seiner
hellenischen Bundesgenossen unzeitigen Krieg gegen die Ae-
toler (534-537) verzögert worden. Erst jetzt nach der
cannensischen Schlacht fand Demetrios von Pharos Gehör
beim Hofe von Pella mit dem Antrag seine illyrischen Be-
sitzungen an Makedonien abzutreten — sie muſsten freilich
den Römern erst entrissen werden — und erst jetzt schloſs
man ab mit Karthago. Makedonien übernahm es eine Lan-
dungsarmee an die italische Ostküste zu werfen, wogegen ihm
die Rückgabe der römischen Besitzungen in Epeiros zugesichert
ward. — Ungefähr gleichzeitig trat der Nachfolger des alten
im vierundfunfzigsten Regierungsjahr (Herbst 538) verstorbenen
Königs Hieron von Syrakus, der junge unfähige Hieronymos
über zur karthagischen Partei, nachdem ihm zuerst wie er
begehrt Sicilien bis an die alte karthagisch-sicilische Grenze,
dann als sein Uebermuth stieg der Besitz der ganzen Insel
bereitwillig versprochen worden war. Die karthagische Flotte,
die Syrakus bedroht hatte, machte sofort gemeinschaftliche
Sache mit den Syrakusanern, und die Lage der römischen
[426]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Flotte bei Lilybaeon, die schon mit dem zweiten bei den
aegatischen Inseln postirten karthagischen Geschwader zu thun
gehabt, ward auf einmal sehr bedenklich, während zugleich die
in Rom zur Einschiffung nach Sicilien bereitstehende Mannschaft
in Folge der cannensischen Niederlage für andere und drin-
gendere Erfordernisse verwendet werden muſste. — Was aber
vor allem entscheidend war, jetzt endlich begann das Gebäude
der römischen Eidgenossenschaft aus den Fugen zu weichen,
nachdem es die Stöſse zweier schwerer Kriegsjahre uner-
schüttert überstanden hatte. Es traten auf Hannibals Seite
Arpi in Apulien und Uzentum in Messapien, zwei alte durch
die römischen Colonien Luceria und Brundisium schwer be-
einträchtigte Städte; die Brettier — diese zuerst von allen —
mit Ausnahme der Peteliner und der Consentiner, die erst
belagert werden muſsten; die Lucaner gröſstentheils; die in
die Gegend von Salernum verpflanzten Picenter; die Hirpiner;
die Samniten mit Ausnahme der Pentrer; endlich und vor-
nämlich Capua, die zweite Stadt Italiens, die 30000 Mann zu
Fuſs und 4000 Berittene ins Feld zu stellen vermochte und
deren Uebertritt den der Nachbarstädte Atella und Calatia
entschied. Freilich erfolgte der Parteiwechsel überall und
namentlich in Capua erst nach hartnäckigen inneren Kämpfen,
indem die vielfach an das römische Interesse gefesselte Adels-
partei demselben sehr ernstlich widerstrebte. Hannibal sah
sich zum Beispiel genöthigt einen der Führer der campani-
schen Adelspartei, den Decius Magius, der noch nach dem
Einrücken der Punier hartnäckig das römische Bündniſs ver-
focht, festnehmen und nach Karthago abführen zu lassen; um
so den ihm selbst sehr ungelegenen Beweis zu liefern, was
es auf sich habe mit der von dem karthagischen Feldherrn
so eben den Campanern feierlich zugesicherten Freiheit und
Souveränetät. Dagegen hielten die süditalischen Griechen fest
am römischen Bündniſs, wobei die römischen Besatzungen
freilich auch das Ihrige thaten, aber mehr noch der sehr ent-
schiedene Widerwille gegen das phoenikische Wesen und des-
sen neue lucanische und brettische Bundesgenossen und die
Anhänglichkeit an Rom, das jede Gelegenheit seinen Helle-
nismus zu bethätigen eifrig benutzt und gegen die Griechen
in Italien eine ungewohnte Milde gezeigt hatte. So wider-
standen die campanischen Griechen, namentlich Neapel, muthig
Hannibals eigenem Angriff; dasselbe thaten in Groſsgriechen-
land trotz ihrer sehr gefährdeten Stellung Rhegion, Thurii,
[427]HANNIBALISCHER KRIEG.
Metapont und Tarent. Kroton und Lokri dagegen wurden von
den vereinigten Brettiern und Puniern theils erstürmt, theils zur
Capitulation gezwungen und die Krotoniaten nach Lokri geführt,
worauf brettische Colonisten jene wichtige Seestation besetzten.
Daſs die süditalischen Latiner, wie Brundisium, Venusia, Pae-
stum, Cosa, Cales unerschüttert mit Rom hielten, versteht
sich von selbst. Waren sie doch die Zwingburgen der Er-
oberer im fremden Land, angesiedelt auf dem Acker der
Umwohner, mit ihren Nachbarn verfehdet; traf es doch sie
zunächst, wenn Hannibal sein Wort wahr machte und jeder
italischen Gemeinde die alten Grenzen zurückgab. In gleicher
Weise gilt dies von ganz Mittelitalien, dem ältesten Sitz der
römischen Herrschaft, wo lateinische Sitte und Sprache schon
überall vorwog und man sich als Genossen der Herrscher,
nicht als Unterthanen fühlte. Hannibals Gegner im kartha-
gischen Senat unterlieſsen nicht daran zu erinnern, daſs nicht
ein römischer Bürger, nicht eine latinische Gemeinde sich
Karthago in die Arme geworfen habe. Dieses Grundwerk der
römischen Macht konnte gleich der kyklopischen Mauer nur
Stein um Stein zertrümmert werden.


Das waren die Folgen des Tages von Cannae, an dem
die Blüthe der Soldaten und Offiziere der Eidgenossenschaft,
ein Siebentel der gesammten Zahl der kampffähigen Italiker
zu Grunde ging. Es war eine grausame, aber gerechte Strafe
der schweren politischen Versündigungen, die sich die römi-
sche Bürgerschaft hatte zu Schulden kommen lassen, und nicht
etwa bloſs einzelne thörichte oder elende Männer. Die für
die kleine Landstadt zugeschnittene Verfassung paſste der
Groſsmacht nirgends mehr; es war eben nicht möglich über
die Frage, wer die Heere der Stadt in einem solchen Kriege
führen solle, Jahr für Jahr die Pandorabüchse des Stimm-
kastens entscheiden zu lassen. Da eine gründliche Verfas-
sungsrevision, wenn sie überhaupt ausführbar war, jetzt wenig-
stens nicht begonnen werden durfte, so blieb nichts anderes
übrig als zunächst der einzigen Behörde, die dazu im Stande
war, dem Senat die thatsächliche Oberleitung des Krieges und
namentlich die Uebertragung und Verlängerung des Comman-
dos zu übergeben und den Comitien nur die formelle Be-
stätigung vorzubehalten. Die glänzenden Erfolge der Scipionen
in dem schwierigen spanischen Feldzug zeigten, was auf die-
sem Weg sich erreichen lieſs. Allein die politische Demagogie,
die bereits nagte an den aristokratischen Elementen der Ver-
[428]DRITTES BUCH. KAPITEL V.
fassung, mischte sich ein; die unvernünftigen Beschuldigungen,
daſs die Vornehmen mit dem auswärtigen Feinde conspirirten,
fanden Glauben beim ‚Volk‘; die Heilande des politischen Köh-
lerglaubens, die Gaius Flaminius und Marcus Varro, beide ‚neue
Männer‘ und Volksfreunde vom reinsten Wasser, wurden dem-
nach zur Ausführung ihrer unter dem Beifall der Menge auf
dem Markt entwickelten Operationspläne von eben dieser
Menge beauftragt, und die Ergebnisse waren die Schlachten
am trasimenischen See und bei Cannae. Daſs der Senat,
der begreiflicher Weise seine Aufgabe jetzt besser faſste als
da er des Regulus halbe Armee aus Africa zurückrief, die
Leitung der Angelegenheiten für sich begehrte und jenem
Unwesen sich widersetzte, war pflichtgemäſs; allein die Art,
wie er den Krieg führte, als die erste jener beiden Nieder-
lagen ihm augenblicklich das Ruder in die Hand gab, ist
gleichfalls nicht unbefangen. Auch Quintus Fabius, so wenig
er mit jenen römischen Kleonen verglichen werden darf, hat
den Krieg nicht bloſs als Militär geführt, sondern auch als
politischer Gegner des Gaius Flaminius, und in einer Zeit,
die Einigkeit brauchte, gethan was er konnte um zu erbittern.
Die Folge war erstlich, daſs das wichtigste Instrument, das
eben für solche Fälle die Weisheit der Vorfahren dem Senat
in die Hand gegeben hatte, die Dictatur ihm unter den Hän-
den zerbrach; und zweitens mittelbar wenigstens die cannen-
sische Schlacht. Den jähen Sturz der römischen Macht ver-
schuldeten aber nicht Quintus Fabius noch Marcus Varro,
sondern das Miſstrauen zwischen dem Regiment und dem
Regierten, die Spaltung zwischen Rath und Bürgerschaft.
Wenn noch Rettung und Wiedererhebung des Staates möglich
war, muſsten sie daheim beginnen mit Wiederherstellung der
Einigkeit und des Vertrauens. Dies begriffen und, was schwe-
rer wiegt, dies gethan zu haben, gethan mit Unterdrückung
aller an sich gerechten Recriminationen, ist die herrliche und
unvergängliche Ehre des römischen Senats. Als Varro —
allein von allen Generalen, die in der Schlacht commandirt
hatten — nach Rom zurückkehrte, und die römischen Sena-
toren bis an das Thor ihm entgegengingen und ihm dankten,
daſs er nicht verzweifelt habe an der Rettung des Vaterlandes,
waren dies weder leere Reden um mit groſsen Worten das
Elend zu verhüllen, noch bitterer Spott über einen Armseligen;
es war der Friedensschluſs zwischen dem Regiment und den
Regierten. Vor dem Ernst der Zeit und dem Ernst eines
[429]HANNIBALISCHER KRIEG.
solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch;
fortan gedachte man in Rom nur wie man gemeinsam die
Noth zu wenden im Stande sei. In allem ging der Senat
voran und gab den Bürgern das Vertrauen auf sich und auf
die Zukunft zurück. Er bewahrte seine feste und strenge
Haltung, während die Boten von allen Seiten nach Rom eilten
um die verlorenen Schlachten, den Uebertritt der Bundes-
genossen, die Aufhebung von Posten und Magazinen zu be-
richten, um Verstärkung zu begehren für das Pothal und für
Sicilien, während Italien preisgegeben und Rom selbst fast
unbesetzt war. Das Zusammenströmen der Menge an den
Thoren ward untersagt, die Gaffer und die Weiber in die Häuser
gewiesen, die Trauerzeit um die Gefallenen auf dreiſsig Tage
beschränkt, damit der Dienst der freudigen Götter, von dem
das Trauergewand ausschloſs, nicht allzulange unterbrochen
werde — denn so groſs war die Zahl der Gefallenen, daſs
fast in keiner Familie die Todtenklage fehlte. Was vom
Schlachtfeld sich gerettet hatte, war indeſs durch zwei tüchtige
Kriegstribunen, Appius Claudius und Publius Scipio den Sohn,
in Canusium gesammelt worden; der letztere verstand es durch
seine stolze Begeisterung und durch die guten Schwerter sei-
ner Getreuen diejenigen vornehmen jungen Herren auf andere
Gedanken zu bringen, die in bequemer Verzweiflung an der
Rettung des Vaterlandes über das Meer zu entweichen ge-
dachten. Zu ihnen begab sich mit seiner Handvoll Leute
der Consul Marcus Varro; allmählich fanden sich dort etwa
zwei Legionen zusammen, die der Senat zu reorganisiren und
zu schimpflichem und unbesoldetem Kriegsdienst zu degradiren
befahl. Der unfähige Feldherr ward unter einem schicklichen
Vorwand nach Rom zurückberufen; der Prätor Marcus Claudius
Marcellus, der bestimmt gewesen war mit der Flotte von
Ostia nach Sicilien abzugehen, übernahm den Oberbefehl.
Eine kampffähige Armee zu organisiren strengte man die
äuſsersten Kräfte an. Die Latiner wurden beschickt um Hülfe
in der gemeinschaftlichen Gefahr; Rom selbst ging mit dem
Beispiel voran und rief die ganze Mannschaft bis ins Knaben-
alter unter die Waffen, bewaffnete die Schuldknechte und die
Verbrecher, ja sogar achttausend vom Staat angekaufte Sklaven
stellte man ein in das Heer. Da es an Waffen fehlte, nahm
man die alten Beutestücke aus den Tempeln und setzte
Fabriken und Gewerke überall in Thätigkeit. Der Senat
ward ergänzt — nicht, wie ängstliche Patrioten forderten,
[430]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
aus den Latinern, sondern aus den nächstberechtigten römi-
schen Bürgern. Hannibal bot die Lösung der Gefangenen
auf Kosten des römischen Staatsschatzes an; man lehnte sie
ab und lieſs den mit der Abordnung der Gefangenen ange-
langten karthagischen Boten nicht in die Stadt; es durfte
nicht scheinen, als denke der Senat an Frieden. Nicht bloſs
die Bundesgenossen sollten nicht glauben, daſs Rom zu trans-
igiren gedenke, sondern es muſste auch dem letzten Bürger
begreiflich gemacht werden, daſs für ihn wie für alle es kei-
nen Frieden gebe und Rettung nur im Siege sei.


[[431]]

KAPITEL VI.



Der hannibalische Krieg von Cannae bis Zama.


Hannibals Ziel bei seinem Zug nach Italien war die
Sprengung der italischen Eidgenossenschaft gewesen; nach
drei Feldzügen war dasselbe erreicht, so weit es überhaupt
erreichbar war. Daſs die griechischen und die latinischen
oder latinisirten Gemeinden Italiens, nachdem sie durch den
Tag von Cannae nicht irre geworden waren, überhaupt nicht
dem Schreck, sondern nur der Gewalt weichen würden, lag
am Tage, und der verzweifelte Muth, mit dem selbst in Süd-
italien einzelne kleine und rettungslos verlorene Landstädte
wie das brettische Petelia gegen den Punier sich wehrten,
zeigte sehr klar, was seiner bei den Marsern und Latinern
warte. Wenn Hannibal gemeint hatte auf diesem Wege
mehr erreichen und auch die Latiner gegen Rom führen zu
können, so hatten diese Hoffnungen sich als eitel erwiesen.
Aber es scheint, als habe auch sonst die italische Coalition
keineswegs die gehofften Resultate für Hannibal geliefert.
Capua hatte sofort sich ausbedungen, daſs Hannibal das Recht
nicht haben solle campanische Bürger anders als freiwillig
unter die Waffen zu rufen; es war nicht vergessen, wie
Pyrrhos in Tarent aufgetreten war, und die thörichten Städter
meinten zugleich der römischen wie der phoenikischen Herr-
schaft sich entziehen zu können. Samnium und Lucanien
waren nicht mehr was sie gewesen, als König Pyrrhos gedacht
hatte an der Spitze der sabellischen Jugend in Rom einzu-
ziehen. Nicht bloſs zerschnitt das römische Festungsnetz
[432]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
überall den Landschaften Sehnen und Nerven, sondern es
hatte auch die vieljährige römische Herrschaft die Einwohner
der Waffen entwöhnt — nur mäſsiger Zuzug kam von hieher
zu den römischen Heeren —, den alten Haſs beschwichtigt,
überall eine Menge Einzelner in das Interesse der herrschen-
den Gemeinde gezogen. Man schloſs sich wohl dem Ueber-
winder der Römer an, nachdem Roms Sache einmal verloren
schien; allein man fühlte doch, daſs es jetzt nicht mehr um
die Freiheit sich handle, sondern um die Vertauschung des
italischen mit dem phoenikischen Herrn, und nicht Begeiste-
rung, sondern Kleinmuth warf die sabellischen Gemeinden
dem Sieger in die Arme. Unter solchen Umständen stockte
in Italien der Krieg. Hannibal, der den südlichen Theil der
Halbinsel beherrschte bis hinauf zum Volturnus und zum Gar-
ganus und diese Landschaften keineswegs wie das Keltenland
einfach wieder aufgeben konnte, hatte jetzt gleichfalls eine
Grenze zu decken, die nicht ungestraft entblöſst ward; und,
um die gewonnenen Landschaften gegen die überall ihm
trotzenden Festungen und die von Norden her anrückenden
Heere zu vertheidigen und gleichzeitig die schwierige Offensive
gegen Mittelitalien zu ergreifen, reichten seine Streitkräfte, ein
Heer von etwa 40000 Mann ohne die italischen Zuzüge zu
rechnen, bei weitem nicht aus. Es kam hinzu, daſs die
Römer, durch furchtbare Erfahrungen belehrt, zu einem ver-
ständigeren System der Kriegführung übergingen und Feld-
herren an die Spitze ihrer Heere stellten, die weder von den
Bergen herab den feindlichen Operationen zusahen noch in die
Ebene hinabstiegen um in der Feldschlacht mit einem Schlage
den Krieg zu entscheiden, sondern in verschanzten Lagern unter
den Mauern der Festungen sich aufstellend den Kampf aufnah-
men, wo der Sieg zu Resultaten, die Niederlage nicht zur Ver-
nichtung führte. Es war der Prätor Marcus Claudius Mar-
cellus, der, nach der cannensischen Niederlage vorläufig zum
factischen Oberbefehl vom Senat berufen, diese neue Kriegs-
weise, die zwischen Zauderei und Vorschnelligkeit die rechte
Mitte zu finden verstand, muthig und glücklich ergriff und
durchzuführen begann. Und wenn die Rettung Roms aus dieser
höchsten Gefahr nicht das Verdienst eines Einzelnen ist, son-
dern der römischen Bürgerschaft insgemein und vorzugsweise
dem Senat gebührt, so hat doch kein einzelner Mann bei
dem gemeinsamen Bau mehr geschafft als Marcus Marcellus.


Vom Schlachtfeld hatte Hannibal sich nach Campanien
[433]HANNIBALISCHER KRIEG.
gewandt. Er kannte Rom besser als die naiven Leute, die in
alter und neuer Zeit gemeint haben, daſs er mit einem Marsch
auf die feindliche Hauptstadt den Kampf hätte entscheiden kön-
nen. Die heutige Kriegskunst zwar entscheidet den Krieg auf
dem Schlachtfeld; allein in der alten Zeit, wo der Angriffs-
krieg gegen die Festungen weit minder entwickelt war als
das Vertheidigungssystem, zerschellte unzählige Male der voll-
ständigste Erfolg im Felde an den Mauern der Hauptstädte.
Rath und Bürgerschaft in Karthago waren weitaus nicht zu
vergleichen mit Senat und Volk in Rom, Karthagos Gefahr
nach Regulus erstem Feldzug unendlich dringender als die
Roms nach der Schlacht bei Cannae; und Karthago hatte
Stand gehalten und vollständig gesiegt. Mit welchem Schein
konnte man meinen, daſs Rom jetzt dem Sieger die Schlüssel
entgegentragen oder auch nur einen billigen Frieden anneh-
men werde? Statt also über solchen leeren Demonstrationen
die möglichen und wichtigen Erfolge zu verscherzen oder die
Zeit zu verlieren mit der Belagerung der paar tausend römi-
scher Flüchtlinge in den Mauern von Canusium, hatte sich
Hannibal sofort nach Capua begeben, bevor die Römer Be-
satzung hineinwerfen konnten, und hatte durch sein Anrücken
die zweite Stadt Italiens nach langem Schwanken zum Ueber-
tritt bestimmt. Er durfte hoffen von Capua aus sich eines
der campanischen Häfen bemächtigen zu können, um dort die
Verstärkungen an sich zu ziehen, welche seine groſsartigen
Siege der Opposition daheim abgezwungen hatten. Als die
Römer erfuhren, wohin Hannibal sich gewendet habe, sam-
melten sie die ihnen übrig gebliebenen Truppen auf dem
rechten Ufer des Volturnus, während in Apulien nur eine
schwache Abtheilung zurückblieb. Mit den zwei cannensischen
Legionen marschirte Marcus Marcellus nach Teanum Sidici-
num, wo er von Rom und Ostia die zunächst disponiblen
Truppen an sich zog, und während der Dictator Marcus Ju-
nius mit der schleunigst neu gebildeten Hauptarmee langsam
nachfolgte, ging Marcellus bis nach Casilinum vor an den
Volturnus, um wo möglich Capua zu retten. Er fand dies
indeſs schon in der Gewalt des Feindes; dagegen waren dessen
Versuche auf Neapel an dem muthigen Widerstand der Bürger-
schaft gescheitert und die Römer konnten noch rechtzeitig in
den wichtigen Hafenplatz eine Besatzung werfen. Ebenso treu
hielten zu Rom die beiden andern gröſseren Küstenstädte,
Cumae und Nuceria. In Nola schwankte der Kampf zwischen
Röm. Gesch. I. 28
[434]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
der Volks- und der Senatspartei wegen des Anschlusses an
die Punier oder an die Römer. Benachrichtigt, daſs die er-
stere die Oberhand gewinne, ging Marcellus bei Caiatia über
den Fluſs und an den Höhen von Suessula hin um die feind-
liche Armee herum marschirend, erreichte er Nola früh genug
um es gegen die äuſseren und die inneren Feinde zu be-
haupten, ja bei einem Ausfall schlug er Hannibal selber mit
namhaftem Verlust zurück; ein Erfolg, der als die erste
Niederlage, die Hannibal erlitten, moralisch von weit gröſserer
Bedeutung war als durch seine materiellen Resultate. Zwar
wurden in Campanien Nuceria, Acerrae und nach einer hart-
näckigen bis ins folgende Jahr (539) sich hinziehenden Be-
lagerung auch der Schlüssel der Volturnuslinie, Casilinum von
Hannibal erobert und über die Senate dieser Städte, die zu Rom
gehalten hatten, die schwersten Blutgerichte verhängt. Aber
das Entsetzen macht schlechte Propaganda; es gelang den Rö-
mern mit verhältniſsmäſsig geringer Einbuſse den gefährlichen
Moment der ersten Schwäche zu überwinden. Der Krieg kam
in Campanien zum Stehen, bis der Winter einbrach und
Hannibal in Capua Quartier nahm, durch dessen Ueppigkeit
seine seit drei Jahren nicht unter Dach gekommenen Truppen
keineswegs gewannen. Im nächsten Jahre (539) erhielt der
Krieg schon ein ganz anderes Aussehen. Die beiden im vor-
jährigen Feldzug erprobten Feldherrn, Marcus Marcellus, der
Retter von Nola, und Tiberius Sempronius Gracchus, der sich als
Reiterführer des Dictators ausgezeichnet hatte, ferner der alte
Quintus Fabius Maximus traten, Marcellus als Proconsul, die
beiden andern als Consuln, an die Spitze der drei römischen
Heere, welche bestimmt waren Capua und Hannibal zu um-
ringen; Marcellus auf Nola und Suessula gestützt, Maximus am
rechten Ufer des Volturnus bei Cales sich aufstellend, Gracchus
an der Küste, wo er Neapel und Cumae deckend bei Liternum
Stellung nahm. Die Campaner, welche nach Hamae drei Mig-
lien von Cumae ausrückten um die Cumaner zu überrumpeln,
wurden von Gracchus nachdrücklich geschlagen; Hannibal, der,
um die Scharte auszuwetzen, vor Cumae erschienen war, zog
selbst in einem Gefecht den Kürzern, und kehrte, da die von
ihm angebotene Hauptschlacht verweigert ward, unmuthig nach
Capua zurück. Während so die Römer in Campanien nicht
bloſs behaupteten was sie besaſsen, sondern auch Comhulteria
und andere kleinere Plätze wieder gewannen, erschollen von
Hannibals östlichen Verbündeten laute Klagen. Ein römisches
[435]HANNIBALISCHER KRIEG.
Heer unter dem Praetor Marcus Valerius hatte bei Luceria
sich aufgestellt, theils um in Gemeinschaft mit der römischen
Flotte die Ostküste und die Bewegungen der Makedonier zu
beobachten, theils um in Verbindung mit der Armee von Nola
die aufständischen Samniten, Lucaner und Hirpiner zu brand-
schatzen. Um diesen Luft zu machen wandte Hannibal zu-
nächst sich gegen seinen thätigsten Gegner Marcus Marcellus;
allein derselbe erfocht unter den Mauern von Nola einen nicht
unbedeutenden Sieg über die punische Armee. Nach dem Fehl-
schlagen dieser Diversion machte das punische Heer, um den
Fortschritten des feindlichen Heeres in Apulien unmittelbar
zu steuern, sich von Campanien nach Arpi auf den Weg; ihm
folgte Tiberius Gracchus mit seinem Corps, während die beiden
andern römischen Heere in Campanien sich anschickten mit
dem nächsten Frühjahr zum Angriff auf Capua überzugehen.


Hannibals klaren Blick hatten die Siege nicht geblendet.
Es ward immer deutlicher, daſs er so nicht zum Ziele kam.
Jene raschen Märsche, jenes fast abenteuerliche Hin- und
Herwerfen des Krieges, denen Hannibal im Wesentlichen seine
Erfolge verdankte, waren zu Ende, der Feind gewitzigt, wei-
tere Unternehmungen durch die unumgängliche Vertheidigung
des Gewonnenen selbst fast unmöglich gemacht. An die Of-
fensive lieſs sich nicht denken, die Defensive war schwierig
und drohte jährlich es mehr zu werden; er konnte es sich
nicht verleugnen, daſs die zweite Hälfte seines groſsen Tag-
werks, die Unterwerfung der Latiner und die Eroberung Roms,
nicht mit seinen und der italischen Bundesgenossen Kräften
allein beendigt werden konnte. Die Vollendung stand bei
dem Rath von Karthago, bei dem Hauptquartier in Cartagena,
bei den Höfen von Pella und Syrakus. Wenn in Africa,
Spanien, Sicilien, Makedonien jetzt alle Kräfte gemeinschaftlich
angestrengt wurden gegen den gemeinschaftlichen Feind; wenn
Unteritalien der groſse Sammelplatz ward für die Heere und
Flotten von Westen, Süden und Osten, so konnte er hoffen
glücklich zu Ende zu führen, was die Vorhut unter seiner
Leitung so glänzend begonnen hatte. Das Natürlichste und
Leichteste wäre gewesen ihm von daheim solche Unterstützung
zuzusenden, wie der karthagische Staat, der vom Kriege fast
unberührt geblieben und von einer auf eigene Rechnung und
Gefahr handelnden kleinen Zahl entschlossener Patrioten aus
tiefem Verfall dem vollen Sieg so nahe geführt war, sie auf-
zubieten vermochte. Daſs es möglich gewesen wäre eine
28*
[436]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
punische Flotte von jeder beliebigen Stärke bei Lokri oder
Kroton landen zu lassen, zumal so lange als der Hafen von
Syrakus karthagisch war und durch Makedonien die brundi-
sinische Flotte in Schach gehalten ward, beweist die unge-
hinderte Landung von 4000 Africanern, die Bomilkar dem
Hannibal um diese Zeit von Karthago zuführte, in Lokri, und
mehr noch Hannibals ungestörte Ueberfahrt, als schon jenes
alles verloren gegangen war. Allein nachdem der erste Ein-
druck des Sieges von Cannae sich verwischt hatte, wies die
karthagische Friedenspartei, die zu allen Zeiten bereit war
den Sturz der politischen Gegner mit dem des Vaterlandes
zu erkaufen und die in der Kurzsichtigkeit und Lässigkeit der
Bürgerschaft treue Verbündete fand, die Bitten des Feldherrn
um nachdrücklichere Unterstützung ab mit der halb einfälti-
gen, halb perfiden Antwort, daſs er ja keine Hülfe brauche,
wofern er wirklich Sieger sei, und half so nicht viel weniger
als der römische Senat Rom erretten. Hannibal, im Lager
erzogen und dem städtischen Parteigetreibe fremd, fand keinen
Volksführer, auf den er sich hätte stützen können wie sein
Vater auf Hasdrubal, und muſste zur Rettung der Heimath die
Mittel, die diese selbst in reicher Fülle besaſs, im Ausland
suchen. — Hier durfte er, und wenigstens mit mehr Aussicht
auf Erfolg, rechnen auf die Führer des spanischen Patrioten-
heers, auf die in Syrakus angeknüpften Verbindungen und auf
Philippos Intervention. Es kam alles darauf an von Spanien,
Syrakus oder Makedonien neue Streitkräfte gegen Rom auf den
italischen Kampfplatz zu führen; und zu diesem Ende sind die
Kriege in Spanien, Sicilien und Griechenland geführt worden.
Sie sind alle nur Mittel zum Zweck und sehr mit Unrecht hat
man oft sie höher angeschlagen. Für die Römer sind es
wesentlich Defensivkriege, deren eigentliche Aufgabe ist die
Pyrenäenpässe zu behaupten, die makedonische Armee in
Griechenland festzuhalten, Messana zu vertheidigen und die
Verbindung zwischen Italien und Sicilien zu sperren; es ver-
steht sich, daſs diese Defensive wo möglich offensiv geführt
wird und im günstigen Fall sich entwickelt zur Verdrängung
der Punier aus Spanien und Sicilien und zur Sprengung der
Bündnisse Hannibals mit Syrakus und mit Philippos. Der ita-
lische Krieg an sich zwar tritt zunächst in den Hintergrund
und löst sich auf in Festungskämpfe und Razzias, die in der
Hauptsache nicht entscheiden. Allein Italien bleibt dennoch,
so lange die Punier überhaupt die Offensive festhalten, stets
[437]HANNIBALISCHER KRIEG.
das Ziel aller Operationen, und alle Anstrengung wie alles
Interesse knüpft sich daran die Isolirung Hannibals im süd-
lichen Italien aufzuheben oder zu verewigen.


Wäre es möglich gewesen unmittelbar nach der cannen-
sischen Schlacht alle die Hülfsmittel heranzuziehen, auf die
Hannibal sich Rechnung machen durfte, so konnte er des
Erfolgs ziemlich gewiſs sein. Allein in Spanien war Has-
drubals Lage eben damals nach der Schlacht am Ebro so
bedenklich, daſs die Anstrengungen an Geld und Mannschaft,
zu denen der cannensische Sieg die karthagische Bürgerschaft
angespannt hatte, gröſstentheils für Spanien verwendet wurden,
ohne daſs die Lage der Dinge dort dadurch besser geworden
wäre. Die Scipionen verlegten den Kriegsschauplatz im folgen-
den Feldzug (539) vom Ebro an den Guadalquivir und erfochten
in Andalusien, mitten im eigentlich karthagischen Gebiet, bei
Illiturgi und Intibili zwei glänzende Siege. In Sardinien mit
den Eingebornen angeknüpfte Verbindungen lieſsen die Kar-
thager hoffen, daſs sie sich der Insel würden bemächtigen
können, die als Zwischenstation zwischen Spanien und Italien
von Wichtigkeit gewesen wäre. Indeſs Titus Manlius Tor-
quatus, der mit einem römischen Heer nach Sardinien ge-
sendet ward, vernichtete die karthagische Landungsarmee voll-
ständig und sicherte den Römern aufs neue den unbestrittenen
Besitz der Insel (539). Die nach Sicilien geschickten can-
nensischen Legionen behaupteten im Norden und Osten der
Insel sich muthig und glücklich gegen die Karthager und
Hieronymos, welcher letztere schon gegen Ende des Jahres
539 von Mörderhand seinen Tod fand. Selbst mit Makedonien
verzögerte sich die Ratification des Bündnisses, hauptsächlich
weil die makedonischen an Hannibal gesendeten Boten auf
der Rückreise von den römischen Kriegsschiffen aufgefangen
wurden. So unterblieb vorläufig die gefürchtete Invasion an
der Ostküste und die Römer gewannen Zeit die wichtigste
Station Brundisium zuerst mit der Flotte, alsdann auch mit
dem vor der Ankunft des Gracchus zur Deckung von Apulien
verwendeten Landheer zu sichern und für den Fall der
Kriegserklärung selbst einen Einfall in Makedonien vorzube-
reiten. Während also in Italien der Kampf zum Stehen und
Stocken kam, war auſserhalb Italien karthagischer Seits nichts
geschehen, was eine baldige Landung neuer Heere oder Flot-
ten in Italien gefördert hätte. Römischer Seits hatte man sich
dagegen mit der gröſsten Energie überall in Vertheidigungs-
[438]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
zustand gesetzt und in dieser Abwehr da, wo Hannibals
Genie fehlte, gröſstentheils mit Erfolg gefochten. Darüber
verrauchte der kurzlebige Patriotismus, den der cannensi-
sche Sieg in Karthago erweckt hatte; die nicht unbedeuten-
den Anstrengungen, die man gemacht hatte, waren, sei es
durch factiöse Opposition, sei es bloſs durch ungeschickte
Ausgleichung der verschiedenen im Rath laut gewordenen
Meinungen, so zersplittert worden, daſs sie nirgends wesent-
lich gefördert hatten und da, wo sie am nützlichsten gewesen
wären, eben der kleinste Theil hinkam. Am Ende des Jahres
539 durfte auch der besonnene römische Staatsmann sich
sagen, daſs die dringende Gefahr vorüber sei und es nur
darauf ankomme mit Anspannung aller Kräfte auf sämmt-
lichen Puncten auszuharren in der heldenmüthig begonnenen
Gegenwehr, um sie zum glücklichen Ende zu führen.


Am ersten ging der Krieg in Sicilien zu Ende. Es hatte
nicht zunächst in Hannibals Plan gelegen auf der Insel einen
Kampf anzuspinnen, sondern halb zufällig, hauptsächlich durch
die knabenhafte Eitelkeit des unverständigen Hieronymos war
hier ein Landkrieg ausgebrochen, der ohne Zweifel eben aus
diesem Grunde vom karthagischen Rath mit besonderem Eifer
geführt ward. Nachdem Hieronymos zu Ende 539 getödtet
war, schien es mehr als zweifelhaft, ob die Bürgerschaft bei
der von ihm befolgten Politik verbleiben werde. Wenn irgend
eine Stadt hatte Syrakus alle Ursache an Rom festzuhalten,
da der Sieg der Karthager über die Römer trotz aller Verspre-
chen und Verträge unzweifelhaft jenen wenigstens die Herr-
schaft über ganz Sicilien geben muſste. Theils hiedurch be-
wogen, theils geschreckt durch die drohenden Anstalten der
Römer, die alles aufboten um die wichtige Insel, die Brücke
zwischen Italien und Africa wieder vollständig in ihre Gewalt
zu bringen, und jetzt für den Feldzug 540 ihren besten Feld-
herrn, den Marcus Marcellus nach Sicilien gesandt hatten,
zeigte die syrakusanische Bürgerschaft sich geneigt durch
rechtzeitige Rückkehr zum römischen Bündniſs das Geschehene
vergessen zu machen. Allein bei der entsetzlichen Verwir-
rung in der Stadt, wo nach Hieronymos Tode die Versuche
zur Wiederherstellung der alten Volksfreiheit und die Hand-
streiche der zahlreichen Prätendenten auf den erledigten Thron
wild durch einander wogten, die fremden Hauptleute der Söld-
nerschaaren aber die eigentlichen Herren der Stadt waren,
fanden Hannibals gewandte Emissäre Hippokrates und Epi-
[439]HANNIBALISCHER KRIEG.
kydes Gelegenheit die Friedensversuche zu vereiteln. Durch
den Namen der Freiheit regten sie die Masse auf; die nur
zu gegründete Schilderung von der fürchterlichen Bestrafung,
die den so eben wieder unterworfenen Leontinern von den
Römern zu Theil geworden war, erweckte auch in dem bes-
sern Theil der Bürgerschaft den Zweifel, ob es nicht zu spät
sei um das alte Verhältniſs mit Rom wieder herzustellen; unter
den Söldnern endlich wurden die zahlreichen römischen Ueber-
läufer, meistens durchgegangene Ruderer von der Flotte, leicht
überzeugt, daſs der Friede der Bürgerschaft mit Rom ihr
Todesurtheil sei. So wurden die Vorsteher der Bürgerschaft
erschlagen, der Waffenstillstand gebrochen und Hippokrates
und Epikydes übernahmen das Regiment der Stadt. Es blieb
dem Consul nichts übrig als zur Belagerung zu schreiten;
indeſs die geschickte Leitung der Vertheidigung, bei der na-
mentlich der als gelehrter Mathematiker berühmte syrakusani-
sche Ingenieur Archimedes sich hervorthat, zwang die Römer
nach achtmonatlicher Belagerung dieselbe in eine Blokade zu
Wasser und zu Lande umzuwandeln. Mittlerweile war auch
von Karthago aus, das bisher nur mit seinen Flotten die Sy-
rakusaner unterstützt hatte, auf die Nachricht von der aber-
maligen Schilderhebung derselben gegen die Römer ein star-
kes Landheer unter Himilko nach Sicilien gesendet worden,
das ungehindert bei Herakleia Minoa landete und sofort die
wichtige Stadt Akragas besetzte. Um dem Himilko die
Hand zu reichen, rückte der kühne und fähige Hippokrates
aus Syrakus mit einer Armee aus; Marcellus Lage zwischen
der Besatzung von Syrakus und den beiden feindlichen Hee-
ren fing an bedenklich zu werden. Indeſs mit Hülfe einiger
Verstärkungen, die von Italien eintrafen, behauptete er seine
Stellung auf der Insel und setzte die Blokade von Syrakus
fort. Dagegen trieb mehr noch als die feindlichen Armeen
die fürchterliche Strenge, mit der die Römer auf der Insel
verfuhren, namentlich die Niedermetzelung der des Abfalls
verdächtigen Bürgerschaft von Enna durch die römische
Besatzung daselbst, den gröſsten Theil der kleinen Landstädte
den Karthagern in die Arme. Im Jahre 542 gelang es Mar-
cellus in die syrakusanischen Vorstädte einzudringen, die von
der Insel und der eigentlichen Stadt am Strande (Achradina)
sich gegen das innere Land hin erstreckten; während ei-
nes Festes in der Stadt erstiegen die Römer einen von
den Wachen verlassenen Theil der weitläuftigen Auſsen-
[440]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
mauern. Die Festung Euryalos, die am äuſsersten westlichen
Ende der Vorstädte gelegen diese und die vom Binnenland
nach Syrakus führende Hauptstraſse sicherte, war hiemit ab-
geschnitten und fiel nicht lange nachher. Als so die Belage-
rung der Stadt eine den Römern günstige Wendung zu neh-
men begann, rückten die beiden Heere unter Himilko und
Hippokrates zum Ersatz heran und versuchten einen gleich-
zeitigen überdies noch mit einem Landungsversuch der kar-
thagischen Flotte und einem Ausfall der syrakusanischen Be-
satzung combinirten Angriff auf die römischen Stellungen;
allein er ward allerseits abgeschlagen und die beiden Entsatz-
heere muſsten sich begnügen vor der Stadt ihr Lager auf-
zuschlagen, in den sumpfigen Niederungen des Anapos, die
im Hochsommer und im Herbst dem darin Verweilenden tödt-
liche Seuchen erzeugen. Oft hatten diese die Stadt gerettet,
öfter als die Tapferkeit der Bürger; zwei punische Heere, da-
mals die Stadt belagernd, waren zu den Zeiten des ersten
Dionys unter den Mauern der Stadt durch diese Seuchen ver-
nichtet worden. Jetzt wendete der Stadt die eigene Schutz-
wehr das Schicksal zum Verderben; während Marcellus Heer
in den Vorstädten einquartiert nur wenig litt, verödeten die
Fieber die punischen und die syrakusanischen Bivouacs. Hippo-
krates starb, desgleichen Himilko und die meisten Punier; die
Ueberbleibsel der beiden Heere, gröſstentheils eingeborne Si-
culer, verliefen sich in die benachbarten Städte. Noch mach-
ten die Karthager einen Versuch die Stadt durch eine Flotte
zu retten; allein ihr Admiral Bomilkar entwich, als ihm der
Feind die Seeschlacht anbot. Nun gab selbst Epikydes, der
in der Stadt befehligte, dieselbe verloren und entrann nach
Akragas. Gern hätte Syrakus sich den Römern ergeben;
die Verhandlungen hatten schon begonnen. Allein zum zwei-
ten Mal scheiterten sie an den Ueberläufern; in einer aber-
maligen Meuterei der Soldaten wurden die Vorsteher der
Bürgerschaft und eine Anzahl angesehener Bürger erschlagen
und das Regiment und die Vertheidigung der Stadt von den
fremden Truppen ihren Hauptleuten übertragen. Nun knüpfte
Marcellus mit einem von diesen eine Unterhandlung an, die
ihm den einen der beiden noch freien Stadttheile, die Insel
in die Hände lieferte; worauf die Bürgerschaft ihm freiwillig
auch die Thore von Achradina aufthat (Herbst 542). Wenn
irgendwo hätte gegen diese Stadt, die offenbar nicht in ihrer
eigenen Gewalt gewesen war und mehrfach die ernstlichsten
[441]HANNIBALISCHER KRIEG.
Versuche gemacht hatte sich der Tyrannei des fremden Mili-
tärs zu entziehen, selbst nach den nicht löblichen Grundsätzen
des römischen Staatsrechts über die Behandlung bundbrüchiger
Gemeinden Gnade eintreten können. Allein nicht bloſs be-
fleckte Marcellus seine Kriegerehre durch die Gestattung einer
allgemeinen Plünderung der reichen Kaufstadt, bei der mit
zahlreichen anderen Bürgern auch Archimedes den Tod fand,
sondern auch der römische Senat hatte kein Ohr für die ver-
späteten Beschwerden der Syrakusaner über den gefeierten
Feldherrn und gab weder den Einzelnen die Beute zurück
noch der Stadt ihre Freiheit. — Sicilien schien damit für die
Karthager verloren; allein Hannibals Genie war auch hier in
der Ferne thätig. Er sandte zu dem karthagischen Heer, das
unter Hanno und Epikydes rath- und thatlos bei Akragas
stand, einen libyschen Reiteroffizier, den Mutines, der den
Befehl der numidischen Reiterei übernahm und mit seinen
flüchtigen Schaaren, den bittern Haſs, den die römische Zwing-
herrschaft auf der ganzen Insel gesäet hatte, zu offener Flamme
anfachend, einen Guerillakrieg in der weitesten Ausdehnung und
mit dem glücklichsten Erfolg begann, ja sogar, als am Himera-
fluſs die karthagische und die römische Armee auf einander
trafen, gegen Marcellus selbst mit Glück einige Gefechte bestand.
Indeſs das Verhältniſs, das zwischen Hannibal und dem kar-
thagischen Rath obwaltete, wiederholte hier sich im Kleinen.
Der vom Rath bestellte Feldherr verfolgte mit eifersüchtigem
Neid den von Hannibal gesandten Offizier und bestand darauf
dem Proconsul eine Schlacht zu liefern ohne Mutines und die
Numidier. Hannos Wille geschah und er ward vollständig
geschlagen. Mutines lieſs sich dadurch nicht irren; er be-
hauptete sich im Innern des Landes, besetzte mehrere kleine
Städte und konnte, da von Karthago nicht unbeträchtliche
Verstärkungen ihm zukamen, seine Operationen allmählich
ausdehnen. Seine Erfolge waren so glänzend, daſs endlich
der Oberfeldherr, da er den Reiteroffizier nicht anders hin-
dern konnte ihn zu verdunkeln, demselben kurzweg das Com-
mando über die leichte Reiterei abnahm und es seinem Sohn
übertrug. Der Numidier, der nun seit zwei Jahren seinen
punischen Herren die Insel erhalten hatte, fand hiemit das
Maſs seiner Geduld erschöpft; er und seine Reiter, die dem
jüngeren Hanno zu folgen sich weigerten, traten in Unter-
handlung mit dem römischen Feldherrn Marcus Valerius Lae-
vinus und lieferten ihm Akragas aus. Hanno entwich in einem
[442]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Nachen und ging nach Karthago um den schändlichen Vater-
landsverrath des hannibalischen Offiziers den Seinen zu be-
richten; die punische Besatzung in der Stadt ward niederge-
macht und die Bürgerschaft in die Sclaverei verkauft (544).
Zur Sicherung der Insel vor ähnlichen Ueberfällen, wie die
Landung von 540 gewesen war, erhielt die Stadt eine römische
Colonie; die alte herrliche Akragas ward zur römischen Festung
Agrigentum. Nachdem also ganz Sicilien unterworfen war, ward
römischer Seits dafür gesorgt, daſs einige Ruhe und Ordnung
auf die zerrüttete Insel zurückkehre. Man trieb das Räuber-
gesindel, das im Innern hauste, in Masse zusammen und
schaffte es hinüber nach Italien, um von Rhegion aus in Han-
nibals Bundesgenossengebiet zu sengen und zu brennen; die
Regierung that ihr Möglichstes um den gänzlich darniederlie-
genden Ackerbau wieder auf der Insel in Aufnahme zu brin-
gen. Im karthagischen Rath war wohl noch öfter die Rede
davon eine Flotte nach Sicilien zu senden und den Krieg dort
zu erneuern; allein es blieb bei Entwürfen.


Entscheidender als Syrakus hätte Makedonien in den
Gang der Ereignisse eingreifen können. Von den östlichen
Mächten war für den Augenblick weder Förderung noch Hin-
derung zu erwarten. Antiochos der Groſse, Philippos natür-
licher Bundesgenosse, hatte nach dem entscheidenden Siege
der Aegypter bei Raphia 537 sich glücklich schätzen müssen
von dem schlaffen Philopator Frieden auf Basis des Status quo
ante zu erhalten; theils die Rivalität der Lagiden und der
stets drohende Wiederausbruch des Krieges, theils Prätenden-
tenaufstände im Innern und Unternehmungen aller Art in
Kleinasien, Baktrien und den östlichen Satrapien hinderten
ihn jener groſsen antirömischen Allianz sich anzuschlieſsen,
wie Hannibal sie im Sinn trug. Der ägyptische Hof stand
entschieden auf der Seite Roms, mit dem er das Bündniſs
544 erneuerte; allein es war von Ptolemaeos Philopator nicht
zu erwarten, daſs er Rom anders als durch Kornschiffe unter-
stützen werde. In den groſsen italischen Kampf ein entschei-
dendes Gewicht zu werfen waren somit Makedonien und Grie-
chenland durch nichts gehindert als durch die eigene Zwie-
tracht; sie konnten den hellenischen Namen retten, wenn sie
es über sich gewannen nur für wenige Jahre zusammenzu-
stehen gegen den gemeinschaftlichen Feind. Wohl gingen
solche Stimmungen durch Griechenland. Des Agelaos von
Naupaktos prophetisches Wort, daſs er fürchte, es möge mit
[443]HANNIBALISCHER KRIEG.
den Kampfspielen, die jetzt die Hellenen unter sich aufführ-
ten, demnächst vorbei sein; seine ernste Mahnung nach Westen
die Blicke zu richten und nicht zuzulassen, daſs eine stärkere
Macht allen Parteien den Frieden des gleichen Joches bringe
— diese Reden hatten wesentlich dazu beigetragen den Frie-
den zwischen Philippos und den Aetolern herbeizuführen (537)
und für dessen Tendenz bezeichnend war es, daſs der aetolische
Bund sofort eben den Agelaos zu seinem Strategen ernannte. Der
nationale Patriotismus regte sich in Griechenland wie in Kar-
thago; einen Augenblick schien es möglich einen hellenischen
Volkskrieg gegen Rom zu entfachen. Allein der Feldherr eines
solchen Heerzugs konnte nur Philippos von Makedonien sein
und ihm fehlte die Begeisterung und der Glaube an die Na-
tion, womit ein solcher Krieg allein geführt werden konnte.
Er verstand die schwierige Aufgabe nicht sich aus dem Unter-
drücker in den Vorfechter Griechenlands umzuwandeln. Schon
sein Zaudern bei dem Abschluſs des Bündnisses mit Hannibal
verdarb den ersten und besten Eifer der griechischen Patrioten
und die Art der Kriegführung war noch weniger geeignet Sym-
pathie und Zuversicht zu erwecken. Gleich der erste Versuch,
der schon im Jahre der cannensischen Schlacht (538) gemacht
ward sich der Stadt Apollonia zu bemächtigen, scheiterte in
einer fast lächerlichen Weise, indem Philippos schleunigst um-
kehrte auf das gänzlich unbegründete Gerücht, daſs eine rö-
mische Flotte in das adriatische Meer steuere. Dies geschah
noch ehe es zum förmlichen Bruch mit Rom kam; als dieser
endlich erfolgt war, erwartete Freund und Feind eine makedo-
sche Landung in Unteritalien. Seit 539 standen bei Brundisium
eine römische Flotte und ein römisches Heer um derselben zu
begegnen; Philippos, der ohne Kriegsschiffe war, zimmerte an
einer Flotille von leichten illyrischen Barken um sein Heer
hinüberzuführen. Allein als es Ernst werden sollte, entsank
ihm der Muth den gefürchteten Fünfdeckern zur See zu be-
gegnen; er brach das seinem Bundesgenossen Hannibal gege-
bene Versprechen einen Landungsversuch zu machen und um
doch etwas zu thun, entschloſs er sich auf seinen Theil der
Beute, die römischen Besitzungen in Epeiros einen Angriff zu
machen (540). Im besten Falle wäre dabei nichts herausge-
kommen; allein die Römer, die wohl wuſsten, daſs die offen-
sive Deckung vorzüglicher ist als die defensive, begnügten sich
keineswegs, wie Philippos gehofft haben mochte, dem Angriff
vom andern Ufer her zuzusehen. Die römische Flotte führte
[444]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
eine Heerabtheilung von Brundisium nach Epeiros; Orikon
ward dem König wieder abgenommen, nach Apollonia Be-
satzung geworfen und das makedonische Lager erstürmt, wor-
auf Philippos vom halben Thun zur völligen Unthätigkeit über-
ging und trotz aller Beschwerden Hannibals, der umsonst
solche Lahmheit und Kurzsichtigkeit durch sein Feuer und
seine Klarheit zum Handeln zu spornen versuchte, einige
Jahre in thatenlosem Kriegszustand verstreichen lieſs. Erst der
Fall von Tarent (542), wodurch Hannibal einen vortrefflichen
Hafen an denjenigen Küsten gewann, die zunächst sich zur
Landung eines makedonischen Heeres eigneten, veranlaſste die
Römer den Schlag von weitem zu pariren und den Makedo-
niern daheim so viel zu schaffen zu machen, daſs sie an
einen Versuch auf Italien nicht denken könnten. In Griechen-
land war der nationale Aufschwung natürlich längst verraucht;
mit Hülfe der alten Opposition gegen Makedonien und der
neuen Unvorsichtigkeiten und Ungerechtigkeiten, die Philippos
sich hatte zu Schulden kommen lassen, fiel es dem römischen
Admiral Laevinus nicht schwer gegen Makedonien eine Coa-
lition der Mittel- und Kleinmächte unter römischem Schutz
zu Stande zu bringen. An der Spitze derselben standen die
Aetoler, auf deren Landtag Laevinus selber erschienen war
und sie durch die Zusicherung des seit langem von den Aeto-
lern begehrten akarnanischen Gebietes gewonnen hatte. Sie
schlossen mit Rom den ehrbaren Vertrag die übrigen Hellenen auf
gemeinschaftliche Rechnung zu plündern an Land und Leuten,
so daſs das Land den Aetolern, die Leute und die fahrende
Habe den Römern gehören sollten. Ihnen schlossen sich im
eigentlichen Griechenland die antimakedonisch oder vielmehr
zunächst antiachaeisch gesinnten Staaten an: in Attika Athen,
im Peloponnes Elis und Messene, besonders aber Sparta,
dessen altersschwache Verfassung eben um diese Zeit ein
dreister Soldat Machanidas über den Haufen geworfen hatte,
um unter dem Namen des unmündigen Königs Pelops selbst
despotisch zu regieren und ein auf gedungene Söldnerschaaren
gestütztes Abenteurerregiment zu begründen. Es traten ferner
hinzu die ewigen Gegner Makedoniens, die Häuptlinge der
halb wilden thrakischen und illyrischen Stämme und endlich
König Attalos von Pergamon, der in dem Ruin der beiden
griechischen Groſsstaaten, die ihn einschlossen, den eigenen
Vortheil mit Einsicht und Energie verfolgte und scharfsichtig
genug war sich der römischen Clientel schon jetzt anzu-
[445]HANNIBALISCHER KRIEG.
schlieſsen, wo seine Theilnahme noch etwas werth war. Es
ist weder erfreulich noch nothwendig den Wechselfällen dieses
ziellosen Kampfes zu folgen. Philippos, obwohl jedem einzelnen
seiner Gegner überlegen und nach allen Seiten hin mit Ener-
gie und persönlicher Tapferkeit die Angriffe zurückweisend,
rieb sich dennoch auf in dieser heillosen Defensive. Bald
galt es sich gegen die Aetoler zu wenden, die in Gemein-
schaft mit der römischen Flotte die unglücklichen Akarnanen
vernichteten und Lokris und Thessalien bedrohten; bald rief
ihn ein Einfall der Barbaren in die nördlichen Landschaften;
bald sandten die Achaeer um Hülfe gegen die aetolischen und
spartanischen Raubzüge; bald bedrohten die Kriegsschiffe von
Pergamon und Rom die östliche Küste oder setzten Truppen
ans Land in Euboea. Der Mangel einer Kriegsflotte lähmte
Philippos in allen seinen Bewegungen; es kam so weit, daſs er
von seinem Bundesgenossen Prusias in Bithynien, ja von Han-
nibal Kriegsschiffe erbat. Erst gegen das Ende des Krieges
entschloſs er sich zu dem, womit er hätte anfangen müssen,
hundert Kriegsschiffe bauen zu lassen, von denen indeſs kein
Gebrauch mehr gemacht ward, wenn überhaupt der Befehl
zur Ausführung kam. Alle, die Griechenlands Lage begriffen
und ein Herz dafür hatten, bedauerten den unseligen Krieg,
in dem Griechenlands letzte Kräfte sich selbst zerfleischten
und der Wohlstand des Landes zu Grunde ging. Wiederholt
hatten die Handelsstaaten Rhodos, Chios, Mytilene, Byzanz,
Athen, ja selbst Aegypten versucht zu vermitteln. Selbst von
den Aetolern, auf die es unter den römischen Alliirten haupt-
sächlich ankam, gingen allmählich manchem die Augen auf
über die ehrlose und verderbliche Rolle, zu der sie das römi-
sche Bündniſs verurtheilte; es ging ein Schrei der Empörung
durch die ganze griechische Nation, als die Aetoler in Ge-
meinschaft mit den Römern hellenische Bürgerschaften, wie
die von Antikyra, Oreos, Dyme, Aegina, in Masse in die Scla-
verei verkauften. Allein die Aetoler waren schon nicht mehr
frei; sie wagten viel, wenn sie auf eigene Hand mit Philippos
Frieden schlossen und fanden die Römer keineswegs geneigt,
zumal bei der günstigen Wendung der Dinge in Spanien und
Italien, von einem Kriege abzustehen, den sie ihrerseits bloſs
mit einigen Schiffen führten und dessen Last und Nachtheil
wesentlich auf die Aetoler fiel. Diese sahen sich hart be-
drängt, besonders seit der kleine König der Athamanen von
Philippos gewonnen worden und dadurch das innere Aetolien
[446]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
den makedonischen Einfällen geöffnet worden war. Endlich
entschlossen die Aetoler sich den vermittelnden Städten Gehör
zu geben und trotz der Gegenbestrebungen der Römer kam im
Winter 548/9 ein Friede zwischen den griechischen Mächten
zu Stande. Die Aetoler hatten einen übermächtigen Bundes-
genossen in einen gefährlichen Feind verwandelt; indeſs es
schien dem römischen Senat, der eben damals alle Kräfte
des erschöpften Staates zu der entscheidenden africanischen
Expedition aufbot, nicht der geeignete Augenblick den Bruch
des Bündnisses zu ahnden. Selbst den Krieg mit Philippos,
der nach dem Rücktritt der Aetoler neue Anstrengungen von den
Römern selbst gefordert haben würde, schien es zweckmäſsi-
ger durch einen Frieden zu beendigen, durch den Rom mit
Ausnahme des werthlosen atintanischen Gebiets seine sämmt-
lichen Besitzungen in Epeiros behielt. Unter den Umständen
muſste Philippos sich glücklich schätzen so günstige Bedingun-
gen zu erhalten; allein es war damit ausgesprochen, was sich
freilich nicht länger verbergen lieſs, daſs all das unsägliche
Elend, welches die zehn Jahre eines mit widerwärtiger Un-
menschlichkeit geführten Krieges über Griechenland gebracht
hatten, nutzlos erduldet, und daſs die groſsartige und richtige
Combination, die Hannibal entworfen und ganz Griechenland
einen Augenblick getheilt hatte, unwiederbringlich geschei-
tert war.


In Spanien, wo der Geist Hamilkars und Hannibals mäch-
tig war, war der Kampf ernster. Er bewegt sich in selt-
samen Wechselfällen, wie die eigenthümliche Beschaffenheit
des Landes und Sitte des Volkes sie mit sich bringen. Die
Bauern und Hirten, die in dem schönen Ebrothal und dem
üppig fruchtbaren Andalusien wie in dem rauhen von zahl-
reichen Waldgebirgen durchschnittenen Hochland zwischen
jenem und diesem wohnten, waren eben so leicht als bewaff-
neter Landsturm zusammenzutreiben, wie sie schwer gegen
den Feind sich führen und überhaupt nur sich zusammenhal-
ten lieſsen. Die Städter waren ebensowenig zu festem und
gemeinschaftlichem Handeln zu vereinigen, so hartnäckig jede
einzelne Bürgerschaft hinter ihren Wällen dem Dränger Trotz
bot. Sie alle scheinen zwischen den Römern und den Kar-
thagern wenig Unterschied gemacht zu haben; ob die lästigen
Gäste, die sich im Ebrothal, oder die, welche am Guadal-
quivir sich festgesetzt hatten, ein gröſseres oder kleineres
Stück der Halbinsel besaſsen, mag den Eingebornen ziemlich
[447]HANNIBALISCHER KRIEG.
gleichgültig gewesen sein, weſshalb von der eigenthümlich
spanischen Zähigkeit im Parteinehmen mit einzelnen Aus-
nahmen, wie Sagunt auf römischer, Astapa auf karthagischer
Seite, in diesem Kriege wenig hervortritt. Dennoch ward der
Krieg von beiden Seiten, da weder die Römer noch die Afri-
caner hinreichende eigene Mannschaft mit sich geführt hatten,
nothwendig zum Propagandakrieg, in dem selten festgegrün-
dete Anhänglichkeit, gewöhnlich Furcht, Geld oder Zufall ent-
schied, und der, wenn er zu Ende schien, sich in einen end-
losen Festungs- und Guerillakrieg auflöste um bald aus der
Asche wieder aufzulodern. Die Armeen wechseln wie die
Dünen am Strand; wo gestern ein Berg stand, findet man
heute seine Spur nicht mehr. Doch ist im Allgemeinen das
Uebergewicht auf Seiten der Römer, theils durch die glück-
liche Wahl ihrer Führer, theils durch den stärkeren Kern
mitgebrachter zuverlässiger Truppen. Bei unserer sehr un-
vollkommenen und namentlich in der Zeitrechnung tiefzerrüt-
teten Ueberlieferung ist es indeſs nicht wohl möglich von einem
also geführten Kriege eine befriedigende Darstellung zu geben.
— Die beiden Statthalter der Römer auf der Halbinsel Gnaeus
und Publius Scipio, beide, namentlich Gnaeus gute Generale
und vortreffliche Verwalter, vollzogen ihre Aufgabe mit dem
glänzendsten Erfolg. Nicht bloſs war der Riegel der Pyre-
näen durchstehend behauptet und der Versuch die gesprengte
Landverbindung zwischen dem feindlichen Oberfeldherrn und
seinem Hauptquartier wieder herzustellen blutig zurückgewie-
sen worden, sondern es hatten auch die römischen Heere
schon 539 in Andalusien mit Glück gefochten. Der Zug dort-
hin ward das Jahr darauf (540) mit noch gröſserem Erfolg
wiederholt; die Römer trugen ihre Waffen fast bis zu den
Säulen des Hercules, breiteten ihre Clientel im südlichen
Spanien aus und sicherten endlich durch die Wiedergewinnung
und Wiederherstellung von Sagunt sich eine wichtige Station
auf der Linie vom Ebro nach Cartagena, indem sie zugleich
eine alte Schuld der Nation so weit möglich bezahlten. Wäh-
rend so die Karthager sich in Spanien bedrängt sahen, wuſs-
ten ihnen die Römer im westlichen Africa selbst einen ge-
fährlichen Feind zu erwecken. Von den beiden mächtigen
westafricanischen Fürsten, Gala, der das Gebiet gegen Kar-
thago zu, und Syphax, der das gegen das atlantische Meer hin
beherrschte, trat der letztere mit den Scipionen in Verbin-
dung (um 541). Wäre es möglich gewesen ein römisches
[448]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Heer ihm zuzuführen, so hätte man groſse Erfolge hoffen
dürfen; allein in Italien konnte man eben damals keinen
Mann entbehren und das spanische Heer war zu schwach um
sich zu theilen. Indeſs schon Syphax eigene Truppen, ge-
schult und geführt von römischen Offizieren, erregten unter
den libyschen Unterthanen Karthagos so ernstliche Gährung,
daſs der stellvertretende Obercommandant von Spanien und
Africa Hasdrubal Barkas selbst mit dem Kern der spanischen
Truppen nach Africa ging. Es ist von diesem libyschen Krieg
wenig mehr überliefert als die Erzählung der grausamen
Rache, die Karthago wie es pflegte an den Aufständischen
nahm, nachdem der Nebenbuhler des Syphax Gala sich für
Karthago erklärt und durch seinen tapfern Sohn Massinissa
den Syphax geschlagen und zum Frieden genöthigt hatte.
Hasdrubal konnte abermals nach Spanien sich wenden (543),
wohin ihm beträchtliche Verstärkungen und Massinissa selbst
bald folgten. Die Scipionen, die während der Abwesenheit
des feindlichen Oberfeldherrn (541. 542) im karthagischen
Gebiet Beute und Propaganda zu machen fortgefahren hatten,
sahen sich unerwartet von so überlegenen Streitkräften ange-
griffen, daſs sie entweder hinter den Ebro zurückweichen oder
die Spanier aufbieten muſsten. Sie wählten das Letztere und
nahmen 20000 Celtiberer in Sold, worauf sie dann, um den
drei feindlichen Armeen unter Hasdrubal Barkas, Hasdrubal
Gisgons Sohn und Mago besser zu begegnen, ihr Heer theilten.
Es wäre vielleicht noch alles gut gegangen, wenn sie nur die
römischen Truppen zusammengehalten hätten; allein sie lösten
dieselben auf und bereiteten sich damit den Untergang. Wäh-
rend Gnaeus mit seinem Corps, einem Drittel der römischen
und den sämmtlichen spanischen Truppen, Hasdrubal Barkas
gegenüber lagerte, bestimmte dieser ohne Mühe die Spanier
im römischen Heer durch eine Summe Geldes zum Abzug,
was ihnen nach ihrer Soldatenmoral vielleicht nicht einmal
als Treubruch erschien, da sie ja nicht zu den Feinden ihres
Soldherren überliefen. Dem römischen Feldherrn blieb nichts
übrig als in möglichster Eile seinen Rückzug zu beginnen,
wobei der Feind ihm auf dem Fuſse folgte. Mittlerweile sah
sich das zweite römische Corps unter Publius von den beiden
andern punischen Armeen unter Hasdrubal Gisgons Sohn und
Mago lebhaft angegriffen und Massinissas kecke Reiterschaaren
setzten die Karthager in entschiedenen Vortheil. Schon war
das römische Lager fast eingeschlossen; es fehlte nur noch
[449]HANNIBALISCHER KRIEG.
an dem Eintreffen der erwarteten spanischen Hülfstruppen, um
die Römer vollständig zu blokiren. Der kühne Entschluſs des
Proconsuls mit seinen besten Truppen den Spaniern entgegen-
zugehen, bevor deren Erscheinen die Lücke in der Blokade
füllte, endigte nicht glücklich. Die Römer waren wohl anfangs
im Vortheil; allein die numidischen Reiter, die den Ausfal-
lenden rasch waren nachgesandt worden, erreichten sie bald und
hemmten sowohl die Verfolgung des halb schon erfochtenen Sie-
ges als auch den Rückmarsch, bis daſs die punische Infan-
terie herankam und endlich der Fall des Feldherrn die ver-
lorene Schlacht in eine Niederlage verwandelte. Nachdem
Publius also erlegen war, fand Gnaeus, während er langsam
zurückweichend sich des einen karthagischen Heeres mühsam
erwehrte, plötzlich von dreien zugleich sich angefallen und
durch die numidische Reiterei jeden Rückzug sich abge-
schnitten. Auf einen nackten Hügel gedrängt, der nicht ein-
mal die Möglichkeit bot ein Lager zu schlagen, wurde das
ganze Corps niedergehauen oder kriegsgefangen; von dem
Feldherrn selbst ward nie wieder sichere Kunde vernommen.
Eine kleine Abtheilung allein rettete ein trefflicher Offizier aus
Gnaeus Schule, Gaius Marcius hinüber auf das andere Ufer
des Ebro und ebendahin gelang es dem Legaten Titus Fon-
teius den von dem Corps des Publius im Lager gebliebenen
Theil in Sicherheit zu bringen; sogar die meisten im jen-
seitigen Spanien zerstreuten römischen Besatzungen vermoch-
ten sich dorthin zu flüchten. Aber in ganz Spanien bis zum
Ebro herrschten die Punier ungestört und der Augenblick schien
nicht fern, wo der Fluſs überschritten, die Pyrenäen frei und
die Verbindung mit Italien hergestellt sein würde. Allein die
Noth rief im römischen Lager den rechten Mann an die Spitze.
Die Wahl der Soldaten berief mit Umgehung älterer nicht un-
tüchtiger Offiziere zum Führer des Heeres den Gaius Marcius,
und an seiner gewandten Leitung und vielleicht ebenso sehr an
dem Neid und Hader unter den drei karthagischen Feldher-
ren scheiterten deren Versuche den wichtigen Sieg zu verfolgen.
Die Karthager wurden zurückgeworfen über den Fluſs und
zunächst die Ebrolinie behauptet, bis Rom Zeit gewann ein
neues Heer und einen neuen Feldherrn zu senden. Zum
Glück gestattete dies die Wendung des Kriegs in Italien, wo
so eben Capua gefallen war; es kam eine starke Legion —
12000 Mann — unter dem Propraetor Gaius Claudius Nero,
die das Gleichgewicht der Waffen wieder herstellte. Eine
Röm. Gesch. I. 29
[450]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Expedition nach Andalusien im folgenden Jahr (544) hatte
den gewünschten Erfolg; Hasdrubal Barkas ward umstellt und
eingeschlossen und entrann der Capitulation nur durch unfeine
List und offenen Wortbruch. Allein Nero war der rechte
Feldherr nicht für den spanischen Krieg. Er war ein tüch-
tiger Offizier, aber ein harter auffahrender unpopulärer Mann,
wenig geschickt Vortheil zu ziehen aus der Unbill und dem
Uebermuth, womit die Punier nach dem Tode der Scipionen
Freund und Feind im jenseitigen Spanien behandelt und alle
gegen sich erbittert hatten, und nicht dazu geeignet die alten
Verbindungen wieder anzuknüpfen und neue einzuleiten. Der
Senat, der die Bedeutung und die Eigenthümlichkeit des spa-
nischen Krieges richtig beurtheilte und durch die von der
römischen Flotte gefangen heimgebrachten Uticenser von den
groſsen Anstrengungen erfahren hatte, die man in Karthago
machte um Hasdrubal und Massinissa mit einem starken Heer
über die Pyrenäen zu senden, beschloſs nach Spanien neue
Verstärkungen und einen auſserordentlichen Feldherrn höheren
Ranges hinzuschicken, dessen Ernennung man dem Volke an-
heim zu geben für gut fand. Lange Zeit — so lautet der Bericht
— meldete sich Niemand zur Bewerbung um das gefährliche und
verwickelte Amt, bis endlich ein junger siebenundzwanzigjäh-
riger Offizier, Publius Scipio, der Sohn des in Spanien gefal-
lenen gleichnamigen Generals, gewesener Kriegstribun und
Aedil, als Bewerber auftrat. Es ist ebenso unglaublich, daſs
der römische Senat in diesen von ihm veranlaſsten Comitien
eine Wahl von solchem Belang dem Zufall anheimgestellt haben
sollte, als daſs Ehrgeiz und Vaterlandsliebe in Rom so aus-
gestorben gewesen, daſs für den wichtigen Posten kein ver-
suchter Offizier sich angeboten hätte. Wenn dagegen die Blicke
des Senats sich wandten auf den jungen talentvollen und er-
probten Offizier, der in den heiſsen Tagen an der Trebia und
bei Cannae sich glänzend ausgezeichnet hatte, dem aber noch
der erforderliche Rang abging um als Nachfolger von gewe-
senen Prätoren und Consuln aufzutreten, so war es sehr
natürlich diesen Weg einzuschlagen, der das Volk auf gute
Art nöthigte den einzigen Bewerber trotz seiner mangelnden
Qualification zuzulassen und zugleich ihn und die ohne Zweifel
sehr unpopuläre spanische Expedition bei der Menge beliebt
machen muſste. War der Effect dieser angeblich improvisirten
Candidatur berechnet, so gelang er vollständig. Der Sohn,
der den Tod des Vaters zu rächen ging, dem er neun Jahre
[451]HANNIBALISCHER KRIEG.
zuvor an der Trebia das Leben gerettet hatte, der männlich
schöne junge Mann mit den langen Locken, der bescheiden
erröthend in Ermangelung eines Besseren sich darbot für den
Posten der Gefahr; der einfache Kriegstribun, den nun auf
einmal die Stimmen der Centurien zu der höchsten Amt-
staffel erhoben — das alles machte auf die römischen Bürger
und Bauern einen wunderbaren und unauslöschlichen Eindruck.
Und in der That, Publius Scipio war eine begeisterte und be-
geisternde Natur. Er ist keiner jener Wenigen, die mit ihrem
eisernen Willen die Welt in neue Gleise zwingen, um sie
auf Jahrhunderte hinaus durch Menschenkraft zu bestimmen;
oder die doch auf Jahre dem Schicksal in die Zügel fallen,
bis die Räder über sie hinrollen. Geniale Neubildungen, wie
sie Rom wohl in jener Zeit bedurft hätte, hat Publius Scipio
nicht versucht; er hat im Auftrag des Senats Schlachten ge-
wonnen und Länder erobert, aber es ist weit von da bis zu
Caesar und Alexander. Als Krieger und Staatsmann ist er für
sein Vaterland nicht mehr gewesen als etwa Gaius Catulus
und Marcus Marcellus; der besondere Zauber aber, der auf
dieser anmuthigen Heldengestalt ruht, ist jene blendende Au-
reole heiterer und sicherer Begeisterung, mit der er halb
gläubig halb geschickt sich umgab. Mit gerade genug Schwär-
merei um die Herzen zu erwärmen und genug Berechnung,
um das Verständige überall entscheiden und das Gemeine
nicht aus dem Ansatz wegzulassen; nicht naiv genug um den
Glauben der Menge an seine göttlichen Inspirationen zu thei-
len noch schlicht genug ihn zu beseitigen, und doch im Stillen
innig überzeugt ein Mann von Gottes besonderen Gnaden zu
sein; mit einem Wort eine ächte Prophetennatur; über dem
Volke stehend und nicht minder auſser dem Volke; ein Mann
felsenfesten Worts und königlichen Sinns, der durch Annahme
des gemeinen Königtitels sich zu erniedrigen meinte, aber ebenso
wenig begreifen konnte, daſs die Verfassung der Republik auch
ihn band; seiner Gröſse so sicher, daſs er nichts wuſste
von Neid und Haſs und fremdes Verdienst leutselig aner-
kannte, fremde Fehler mitleidig verzieh; ein vorzüglicher
Offizier und feingebildeter Diplomat ohne das abstoſsende
Sondergepräge dieses oder jenes Berufs, hellenische Bildung
einigend mit dem vollsten römischen Nationalgefühl, redege-
wandt und anmuthiger Sitte, gewann Publius Scipio die Her-
zen der Soldaten und der Frauen, seiner Landsleute und der
Spanier, seiner Nebenbuhler im Senat und seines gröſseren
29*
[452]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
karthagischen Gegners. Bald war sein Name auf allen Lippen
und er der Stern, der seinem Lande Sieg und Frieden zu
bringen bestimmt schien.


Publius Scipio ging nach Spanien 544/5 ab, begleitet
von dem Propraetor Marcus Silanus, der an Neros Stelle
treten und dem jungen Oberfeldherrn als Beistand und Rath
dienen sollte, und von seinem Flottenführer und Vertrauten
Gaius Laelius, ausgerüstet abermals mit einer überzählig star-
ken Legion und einer wohlgefüllten Kasse. Gleich sein erstes
Auftreten bezeichnet einer der kühnsten und glücklichsten
Handstreiche, die die Geschichte kennt. Die drei kartha-
gischen Heerführer standen Hasdrubal Barkas an den Quellen,
Hasdrubal Gisgons Sohn an der Mündung des Tajo, Mago an
den Säulen des Herkules; der nächste von ihnen um zehn
Tagemärsche entfernt von der punischen Hauptstadt Neukar-
thago. Plötzlich im Frühjahr 545, ehe noch die feindlichen
Heere sich in Bewegung setzten, brach Scipio gegen diese Stadt,
die er von der Ebromündung aus in wenigen Tagen auf dem
Küstenweg erreichen konnte, mit seiner ganzen Armee von un-
gefähr 30000 Mann und der Flotte auf und überraschte die
nicht über 1000 Mann starke punische Besatzung mit einem
plötzlichen combinirten Angriff zu Wasser und zu Lande.
Die Stadt, auf einer in den Hafen hinein vorspringenden
Landspitze gelegen, sah sich zugleich auf drei Seiten von der
römischen Flotte, auf der vierten von den Legionen bedroht
und jede Hülfe war weit entfernt; indeſs wehrte der Com-
mandant Mago sich mit Entschlossenheit und bewaffnete die
Bürgerschaft, da die Soldaten nicht ausreichten um die Mauern
zu besetzen. Es ward ein Ausfall versucht, welchen indeſs die
Römer ohne Mühe zurückschlugen. Alsdann begann ihrerseits
von der Landseite der Sturm gegen die Mauern, ohne daſs sie
zu der Eröffnung einer regelmäſsigen Belagerung sich die Zeit
nahmen. Heftig drängten die Römer auf dem schmalen Land-
weg gegen die Stadt; immer neue Colonnen lösten die ermü-
deten Stürmer ab; die schwache Besatzung war aufs Aeuſserste
erschöpft, aber einen Erfolg hatten die Römer nicht gewonnen.
Scipio hatte auch keinen erwartet; der Sturm hatte bloſs den
Zweck die Besatzung wegzuziehen von der Hafenseite, wo er,
unterrichtet davon, daſs ein Theil des Hafens zur Ebbezeit
trocken liege, einen zweiten Angriff beabsichtigte. Während
an der Landseite der Sturm tobte, sandte Scipio eine Abthei-
lung mit Leitern über das Watt, ‚wo Neptun ihnen selbst den
[453]HANNIBALISCHER KRIEG.
Weg zeige‘, und sie hatte in der That das Glück die Mauern
hier unvertheidigt zu finden. So war am ersten Tage die
Stadt gewonnen, worauf Mago in der Burg capitulirte. Mit
der punischen Hauptstadt fielen 18 abgetakelte Kriegs- und
63 Lastschiffe, das gesammte Kriegsmaterial, bedeutende Ge-
treidevorräthe, die Kriegskasse von 600 Talenten (fast 1 Mill.
Thlr.), die Geiſseln der sämmtlichen spanischen Bundesgenos-
sen Karthagos und zehntausend Gefangene, darunter achtzehn
karthagische Gerusiasten oder Richter in die Gewalt der Rö-
mer. Scipio verhieſs den Geiſseln die Erlaubniſs zur Heimkehr,
so wie die Gemeinde eines jeden mit Rom in Bündniſs getreten
sein würde, und nutzte die Hülfsmittel, die die Stadt ihm
darbot, sein Heer zu verstärken und in besseren Stand zu
bringen, indem er die neukarthagischen Handwerker, zwei-
tausend an der Zahl, für das römische Heer arbeiten hieſs
gegen das Versprechen der Freiheit bei der Beendigung des
Krieges, und aus der übrigen Menge die fähigen Leute zum
Ruderdienst auf den Schiffen auslas. Nur die Stadtbürger
wurden geschont und ihnen die Freiheit und ihre bisherige Stel-
lung gelassen; Scipio kannte die Phoenikier und wuſste, daſs
sie gehorchen würden, und es war wichtig die Stadt mit dem
einzigen vortrefflichen Hafen an der Ostküste und den reichen
Silberbergwerken nicht bloſs durch eine Besatzung zu sichern.
— So war die verwegene Unternehmung gelungen; verwegen
deſshalb, weil es Scipio nicht unbekannt war, daſs Hasdrubal
Barkas von seiner Regierung den Befehl erhalten hatte nach
Gallien vorzudringen und diesen auszuführen beschäftigt war,
und weil die schwache am Ebro zurückgelassene Abtheilung
unmöglich im Stande war ihm dies ernstlich zu wehren, wenn
Scipios Rückkehr sich auch nur verzögerte. Indeſs er war
zurück in Tarraco, ehe Hasdrubal sich am Ebro gezeigt hatte;
das gefährliche Spiel, das der junge Feldherr spielte, als er
seine nächste Aufgabe im Stich lieſs um einen lockenden Streich
auszuführen, ward verdeckt durch den fabelhaften Erfolg, den
Neptunus und Scipio gemeinschaftlich gewonnen hatten. Die an
das Fabelhafte grenzende Einnahme der punischen Hauptstadt
rechtfertigte so über die Maſsen alles, was man daheim von
dem wunderbaren Jüngling sich versprochen hatte, daſs jedes
andere Urtheil verstummen muſste. Scipios Commando wurde
auf unbestimmte Zeit verlängert; er selber beschloſs sich nicht
mehr auf die dürftige Aufgabe zu beschränken der Hüter der
Pyrenäenpässe zu sein. Schon hatten in Folge des Falles von
[454]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Cartagena nicht bloſs die diesseitigen Spanier sich völlig unter-
worfen, sondern auch jenseit des Ebro die mächtigsten Für-
sten die karthagische Clientel mit der römischen vertauscht.
Scipio nutzte den Winter 545/6 dazu seine Flotte aufzulösen
und mit den dadurch gewonnenen Leuten sein Landheer so
zu vermehren, daſs er zugleich den Norden bewachen und im
Süden die Offensive nachdrücklicher als bisher ergreifen könne.
So marschirte er im Jahre 546 nach Andalusien, wo er auf
Hasdrubal Barkas traf, der in Ausführung des lange gehegten
Planes dem Bruder zu Hülfe zu kommen nordwärts zog. Bei
Baecula kam es zur Schlacht, in der sich die Römer den
Sieg zuschrieben und 10000 Gefangene gemacht haben sollen;
aber Hasdrubal erreichte, wenn auch mit Aufopferung eines
Theiles seiner Armee, im Wesentlichen seinen Zweck. Mit
seiner Kasse, seinen Elephanten und dem besten Theil seiner
Truppen schlug er sich durch an die spanische Nordküste,
erreichte am Ocean hinziehend die westlichen, wie es scheint
nicht besetzten Pyrenäenpässe und stand noch vor dem Ein-
tritt der schlechten Jahreszeit in Gallien, wo er Winterquartier
nahm. Es zeigte sich, daſs Scipios Entschluſs mit der ihm
aufgetragenen Defensive die Offensive zu verbinden unüberlegt
und unweise gewesen war; der nächsten Aufgabe des spani-
schen Heeres, die nicht bloſs Scipios Vater und Oheim, son-
dern selbst Gaius Marcius und Gaius Nero mit viel geringeren
Mitteln gelöst hatten, hatte der siegreiche Feldherr an der
Spitze einer starken Armee in seinem Uebermuth nicht genügt
und wesentlich verschuldete er die äuſserst gefährliche Lage,
in der Rom im Sommer 547 schwebte, als Hannibals Plan
eines combinirten Angriffs auf die Römer endlich dennoch sich
realisirte. Indeſs die Götter deckten die Fehler ihres Lieb-
lings mit Lorbeeren zu. In Italien ging die Gefahr glücklich
vorüber; man lieſs sich das Bulletin des zweideutigen Sieges
von Baecula gefallen und gedachte, als neue Siegesberichte
aus Spanien einliefen, nicht weiter des Umstandes, daſs man
den fähigsten Feldherrn und den Kern der spanisch-punischen
Armee in Italien zu bekämpfen gehabt hatte. — Nach Has-
drubal Barkas Entfernung beschlossen die beiden in Spanien
zurückbleibenden Feldherren vorläufig zurückzuweichen, Has-
drubal Gisgons Sohn nach Lusitanien, Mago gar auf die Ba-
learen, und bis neue Verstärkungen aus Africa anlangten, nur
Massinissas leichte Reiterei in Spanien streifen zu lassen, ähn-
lich wie es Mutines in Sicilien mit so groſsem Erfolge gethan.
[455]HANNIBALISCHER KRIEG.
So gerieth die ganze Ostküste in die Gewalt der Römer. Im
folgenden Jahr (547) erschien wirklich aus Africa Hanno mit
einem dritten Heere, worauf Mago und Hasdrubal sich wieder
nach Andalusien wandten. Allein Marcus Silanus schlug die
vereinigten Heere von Mago und Hanno und nahm diesen
selbst gefangen. Hasdrubal gab darauf die Behauptung des
offenen Feldes auf und vertheilte seine Truppen in die anda-
lusischen Städte, von denen Scipio in diesem Jahr nur noch
eine, Oringis erstürmen konnte. Die Punier schienen über-
wältigt; aber dennoch vermochten sie das Jahr darauf (548) wie-
der ein gewaltiges Heer ins Feld zu senden, 32 Elephanten,
4000 Mann zu Pferde, 70000 zu Fuſs, freilich zum aller-
gröſsten Theil zusammengeraffte spanische Landwehr. Wieder
bei Baecula kam es zur Schlacht. Das römische Heer zählte
wenig mehr als die Hälfte des feindlichen und auch von die-
sen war ein guter Theil Spanier. Scipio stellte, wie Wellington
in gleichem Fall, seine Spanier so auf, daſs sie nicht zum Schla-
gen kamen — die einzige Möglichkeit ihr Ausreiſsen zu verhin-
dern — während er umgekehrt seine römischen Truppen zuerst
auf die Spanier des Feindes warf. Der Tag war dennoch hart
bestritten; doch siegten endlich die Römer und wie sich von
selbst versteht, war die Niederlage eines solchen Heeres gleich-
bedeutend mit der völligen Auflösung desselben — einzeln
retteten sich Hasdrubal Gisgons Sohn und Mago nach Gades.
Die Römer standen jetzt ohne Nebenbuhler auf der Halb-
insel und traten das hiedurch ihnen zufallende Erbe der kar-
thagischen Herrschaft sofort an: die einzelnen nicht gutwillig sich
fügenden Städte wurden bezwungen und zum Theil mit grau-
samer Härte bestraft. Spanien war so entschieden unter-
worfen, daſs Scipio auf der africanischen Küste dem Syphax
einen Besuch abstatten und mit ihm, ja sogar mit Massinissa
für den Fall einer Expedition nach Africa Verbindungen ein-
leiten konnte — ein tollkühnes Wagstück, das durch keinen
entsprechenden Zweck gerechtfertigt ward, so sehr auch der
Bericht davon den neugierigen Hauptstädtern daheim behagen
mochte. Nur Gades, wo Mago den Befehl führte, war noch pu-
nisch. Einen Augenblick schien es, als ob die Spanier, ohne
Zweifel bitter getäuscht in ihren Hoffnungen nach Beendigung des
punischen Regiments auch der römischen Gäste loszuwerden und
ihre alte Freiheit wieder zu erlangen, eine allgemeine Insurrec-
tion gegen die Römer versuchen würden, bei welcher die bis-
herigen Verbündeten Roms vorangingen. Die Erkrankung des
[456]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
römischen Feldherrn und die Meuterei eines römischen Corps,
veranlaſst durch den seit vielen Jahren rückständigen Sold, be-
günstigten den Aufstand. Indeſs Scipio genas schneller als man
gemeint hatte und dämpfte mit Gewandtheit den Soldatenauf-
stand; worauf auch die zuerst aufgestandenen Gemeinden alsbald
niedergeworfen wurden, ehe die Insurrection Boden gewann.
Da also diese Hoffnungen sich als eitel erwiesen hatten und
Gades doch auf die Länge nicht zu halten war, befahl die
karthagische Regierung dem Mago zusammenzuraffen, was
dort an Schiffen, Truppen und Geld sich vorfinde, und damit
wo möglich dem Krieg in Italien eine andere Wendung zu
geben. Scipio konnte dies nicht wehren — es rächte sich jetzt,
daſs er seine Flotte aufgelöst hatte — und muſste zum zweiten
Mal die ihm anvertraute Vertheidigung der Heimath gegen
neue Invasionen seinen Göttern anheimstellen. Unbehindert
verlieſs der letzte von Hamilkars Söhnen die Halbinsel. Nach
seinem Abzug ergab sich auch Gades, die älteste und letzte
Besitzung der Punier, unter günstigen Bedingungen den neuen
Herren. Spanien war nach dreizehnjährigem Kampfe aus
einer karthagischen in eine römische Provinz verwandelt wor-
den, in der zwar noch Jahrhunderte lang die stets besiegte
und nie überwundene Insurrection den Kampf gegen die Rö-
mer fortführte, aber doch im Augenblick kein Feind den
Römern gegenüberstand. Scipio ergriff den ersten Moment
der Scheinruhe um sein Commando abzugeben (Ende 548)
und in Rom persönlich von seinen Siegen und der neuge-
wonnenen Provinz zu berichten.


Während also Marcellus in Sicilien, Publius Sulpicius in
Griechenland, Scipio in Spanien den Krieg beendigten, währte
auch auf der italischen Halbinsel der gewaltige Kampf ununter-
brochen. Hier standen, nachdem die cannensische Schlacht
geschlagen war und deren Folgen an Verlust und Gewinn sich
allmählich übersehen lieſsen, im Anfang des Jahres 540, des
fünften Kriegsjahres, die Römer und Punier folgendermaſsen
sich gegenüber. Norditalien hatten die Römer nach Hannibals
Abzug wieder besetzt und deckten es mit drei Legionen, wo-
von zwei in Gallien standen, die dritte als Rückhalt in Pice-
num. Unteritalien bis zum Garganus und Volturnus waren
mit Ausnahme der Festungen und der meisten Häfen in Han-
nibals Händen. Er stand mit der Hauptarmee bei Arpi, ihm
in Apulien gegenüber, gestützt auf die Festungen Luceria und
Benevent, Tiberius Gracchus mit vier Legionen. Im brettischen
[457]HANNIBALISCHER KRIEG.
Lande, dessen Einwohner sich Hannibal gänzlich in die Arme
geworfen hatten und wo auch die Häfen, mit Ausnahme von
Rhegion, das die Römer von Messana aus schützten, von den
Puniern besetzt worden waren, stand ein zweites punisches
Heer unter Hanno, ohne zunächst einen Feind sich gegenüber
zu sehen. Die römische Hauptarmee von vier Legionen unter
den beiden Consuln Quintus Fabius und Marcus Marcellus
war im Begriff die Wiedergewinnung Capuas zu versuchen.
Dazu kam römischer Seits die Reserve von zwei Legionen in
der Hauptstadt, die in alle Seehäfen gelegte Besatzung, welche
bei Tarent und Brundisium wegen der dort befürchteten ma-
kedonischen Landung durch eine Legion verstärkt worden
war, endlich die starke das Meer ohne Widerstreit beherr-
schende Flotte. Rechnet man dazu die römischen Heere in
Sicilien, Sardinien und Spanien, so läſst sich die Gesammt-
zahl der römischen Streitkräfte, auch abgesehen von dem Be-
satzungsdienst, den in den unteritalischen Festungen die dort
angesiedelte Bürgerschaft zu versehen hatte, nicht unter 200000
Mann anschlagen, darunter ein Drittel für dies Jahr neu ein-
berufene Leute, und etwa die Hälfte römische Bürger. Man
darf annehmen, daſs die gesammte dienstfähige Mannschaft
vom 17. bis zum 45. Jahre unter den Waffen stand und die
Felder, wo der Krieg sie zu bearbeiten erlaubte, von den
Sclaven, den Alten, Kindern und Weibern bestellt wurden.
Daſs unter solchen Verhältnissen auch die Finanzen im Ge-
dränge waren, ist begreiflich; die Grundsteuer, auf die man
hauptsächlich angewiesen war, ging natürlich nur sehr unregel-
mässig ein. Aber trotz dieser Noth an Mannschaft und Geld
sahen die Römer dennoch sich im Stande das rasch Verlorene
zwar langsam und mit Anspannung aller Kräfte, aber doch
zurückzugewinnen; ihre Heere jährlich zu vermehren, während
die punischen zusammenschwanden; gegen Hannibals italische
Bundesgenossen, die Campaner, Apuler, Samniten, Brettier,
die weder wie die römischen Festungen in Unteritalien sich
selber genügten noch von Hannibals schwachem Heer hin-
reichend gedeckt werden konnten, jährlich Boden zu gewin-
nen; endlich mittelst der von Marcus Marcellus begründeten
Kriegsweise das Talent der Offiziere zu entwickeln und die
Ueberlegenheit des römischen Fuſsvolks in vollem Umfang ins
Spiel zu bringen. Hannibal durfte wohl noch auf Sieg hoffen,
aber nicht mehr auf Siege wie am trasimenischen See und
am Aufidus; die Zeiten der Bürgergenerale waren vorbei. Es
[458]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
blieb ihm nichts übrig als abzuwarten, bis etwa Philippos die
längst versprochene Landung ausführen oder die Brüder aus
Spanien ihm die Hand reichen würden, und mittlerweile sich,
seine Armee und seine Clientel so weit möglich unversehrt
und bei guter Laune zu erhalten. Man erkennt in der zähen
Defensive, die jetzt beginnt, kaum den Feldherrn wieder, der
wie kaum ein anderer stürmisch und verwegen die Offensive
geführt hat; est ist psychologisch wie militärisch bewunderns-
werth, daſs derselbe Mann die beiden ihm gestellten Auf-
gaben ganz entgegengesetzter Art mit gleicher Vollkommenheit
gelöst hat.


Zunächst zog der Krieg sich vornämlich nach Campanien.
Hannibal erschien rechtzeitig zum Schutz der Hauptstadt,
deren Einschlieſsung er hinderte; allein weder vermochte er
von den campanischen Städten, die die Römer besaſsen, irgend
eine den starken römischen Besatzungen zu entreiſsen noch
konnte er wehren, daſs auſser einer Menge minder wichtiger
Landstädte auch Casilinum, das ihm den Uebergang über
den Volturnus sicherte, von den beiden Consularheeren nach
hartnäckiger Gegenwehr genommen ward. Ein Versuch Han-
nibals Tarent zu gewinnen, wobei es namentlich auf einen
sichern Landungsplatz für die makedonische Armee abgesehen
war, schlug ihm fehl. Das brettische Heer der Karthager
unter Hanno schlug sich in Lucanien mit der römischen
Armee von Apulien herum; Tiberius Gracchus bestand hier mit
Erfolg den Kampf und gab nach einem glücklichen Gefecht,
bei dem die zum Dienst gepreſsten Sclavenlegionen sich aus-
gezeichnet hatten, den Sclavensoldaten im Namen des Volkes
die Freiheit und das Bürgerrecht. — Im folgenden Jahr (541)
gewannen die Römer das reiche und wichtige Arpi zurück,
dessen Bürgerschaft, nachdem die römischen Soldaten sich in
die Stadt eingeschlichen hatten, mit ihnen gemeinschaftliche
Sache machte gegen die karthagische Besatzung. Ueberhaupt
lockerten sich die Bande der hannibalischen Symmachie; eine
Anzahl der vornehmsten Capuaner und mehrere brettische
Städte gingen über zu Rom; ja sogar eine spanische Abthei-
lung des punischen Heeres trat, durch spanische Emissäre
von dem Gang der Ereignisse in der Heimath in Kenntniſs
gesetzt, aus karthagischen in römische Dienste. — Ungünstiger
war für die Römer das Jahr 542 durch neue politische und
militärische Fehler, die Hannibal auszubeuten nicht unterlieſs.
In den groſsgriechischen Städten, die bisher treu zu Rom
[459]HANNIBALISCHER KRIEG.
gehalten hatten, hatte Hannibal schon seit langer Zeit Verbin-
dungen angeknüpft; es gelang ihm die in Rom befindlichen
tarentinischen und thurinischen Geiſseln durch seine Emissäre
zu einem tollen Fluchtversuch zu bestimmen, bei dem sie
schleunig von den römischen Posten wieder aufgegriffen wur-
den. Allein die unverständige Rachsucht der Römer erfüllte
Hannibals Wünsche über sein Erwarten; die Hinrichtung der
sämmtlichen entwichenen Geiſseln beraubte sie eines kostbaren
Unterpfandes und die erbitterten Griechen sannen seitdem, wie
sie Hannibal die Thore öffnen möchten. Wirklich ward Tarent
durch Einverständniſs mit der Bürgerschaft und durch die
Nachlässigkeit des römischen Commandanten von den Kar-
thagern besetzt; kaum daſs die römische Besatzung sich in
der Burg behauptete. Dem Beispiel Tarents folgten Heraklea,
Thurii und Metapont, aus welcher Stadt zur Rettung der
tarentiner Akropolis die Besatzung hatte weggezogen werden
müssen. Damit war die Gefahr einer makedonischen Landung
so nahe gerückt, daſs Rom sich genöthigt sah dem fast gänz-
lich vernachlässigtem griechischen Krieg neue Aufmerksamkeit
und neue Anstrengungen zuzuwenden, wozu glücklicher Weise
die Einnahme von Syrakus und der günstige Stand des spa-
nischen Krieges die Möglichkeit gewährte. In Campanien
hatten die Römer zwar noch nicht mit der wirklichen Belage-
rung von Capua begonnen; allein die in der Nähe postirten
römischen Legionen hatten doch die Bestellung des Ackers
und die Einbringung der Ernte so sehr gehindert, daſs die volk-
reiche Stadt auswärtiger Zufuhr dringend bedurfte. Hannibal
beeilte sich einen beträchtlichen Getreidetransport zusammen-
zubringen, den die Campaner angewiesen wurden bei Bene-
vent in Empfang zu nehmen; allein ihre Saumseligkeit gab
den Consuln Quintus Flaccus und Appius Claudius Zeit herbei-
zukommen, dem Hanno, der den Transport deckte, eine schwere
Niederlage beizubringen und sich seines Lagers und der ge-
sammten Vorräthe zu bemächtigen. Die beiden Consuln schlos-
sen darauf die Stadt ein, während Tiberius Gracchus sich auf
der appischen Straſse bei Benevent aufstellte um Hannibal
den Weg zum Entsatz der Stadt zu verlegen. Aber der
tapfere Mann fiel durch die schändliche List eines treulosen
Lucaners und sein Tod kam einer völligen Niederlage gleich,
da sein Heer, gröſstentheils bestehend aus jenen von ihm
freigesprochenen Sclaven, nach dem Fall des geliebten Füh-
rers auseinanderlief. So fand Hannibal die Straſse nach Ca-
[460]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
pua offen und nöthigte durch sein unvermuthetes Erscheinen
die beiden Consuln die kaum begonnene Einschlieſsung wieder
aufzuheben, nachdem ihre Reiterei noch vor Hannibals Ein-
treffen von der punischen, die unter Hanno und Bostar als
Besatzung in Capua lag, und der ebenso vorzüglichen cam-
panischen nachdrücklich geschlagen worden war. Die totale
Vernichtung der von Marcus Centenius, einem vom Unter-
offizier zum Feldherrn unvorsichtig beförderten Mann, ange-
führten regulären Truppen und Freischaaren in Lucanien, und
die nicht viel weniger vollständige Niederlage des nachlässigen
und übermuthigen Prätors Gnaeus Fulvius Flaccus in Apulien
beschlossen die lange Reihe der Calamitäten dieses Jahres.
Indeſs trotz aller Unfälle hatten in Campanien die Römer, so
wie Hannibal den Rücken wandte um sich nach Apulien zu
begeben, sich wieder um Capua zusammengezogen, Appius
Claudius bei Puteoli und Volturnum, Quintus Fulvius bei Ca-
silinum, der Prätor Gaius Claudius Nero auf der nolani-
schen Straſse, jedes der drei Heere in verschanzten Lagern,
die durch befestigte Linien mit einander verbunden waren;
und die groſse ungenügend verproviantirte Stadt muſste durch
bloſse Umstellung in nicht entfernter Zeit sich zur Capitula-
tion gezwungen sehen, wenn kein Entsatz kam. Wie der
Winter 542/3 zu Ende ging, waren auch die Vorräthe fast
erschöpft und dringende Boten, die kaum im Stande waren
durch die wohlbewachten römischen Linien sich durchzu-
schleichen, begehrten schleunige Hülfe von Hannibal, der in
Tarent stand beschäftigt mit der Belagerung der Burg. In
Eilmärschen brach er mit 33 Elephanten und seinen besten
Truppen von Tarent nach Campanien auf, hob den römischen
Posten in Calatia auf und nahm sein Lager am Berge Tifata
unmittelbar bei Capua, in der sichern Erwartung, daſs die
römischen Feldherrn eben wie im vorigen Jahre darauf hin
die Belagerung aufheben würden. Allein die Römer, die Zeit
gehabt hatten ihre Lager und ihre Linien festungsartig zu
verschanzen, rührten sich nicht und sahen unbeweglich von
den Wällen aus zu, wie auf der einen Seite die campanischen
Reiter, auf der andern die numidischen Schwärme an ihre
Linien anprallten. An einen ernstlichen Sturm war nicht zu
denken und es war vorauszusehen, daſs Hannibals Anrücken
bald die andern römischen Heere nach Campanien nachziehen
würde, wenn nicht schon früher der Mangel an Futter in dem
systematisch ausfouragirten Lande Hannibals Heer aus Cam-
[461]HANNIBALISCHER KRIEG.
panien vertrieb. Dagegen lieſs sich nichts machen. Hannibal
versuchte noch einen Ausweg, den letzten, der seinem erfin-
derischen Geist sich darbot, um die wichtige Stadt zu retten.
Er brach mit dem Entsatzheer, nachdem er den Campanern
von seinem Vorhaben Nachricht gegeben und sie zum Aus-
harren ermahnt hatte, von Capua auf und schlug die Straſse
nach Rom ein. Mit derselben gewandten Kühnheit wie in
seinen ersten italischen Feldzügen warf er sich mit einem
schwachen Heer zwischen die feindlichen Armeen und Fe-
stungen und führte seine Truppen durch Samnium und auf
der valerischen Straſse an Tivoli vorbei bis zur Aniobrücke,
die er passirte und auf dem andern Ufer ein Lager nahm,
eine deutsche Meile von der Stadt. Den Schreck empfanden
noch die Enkel der Enkel, wenn ihnen erzählt ward von
Hannibal vor dem Thor; eine ernstliche Gefahr war nicht
vorhanden. Die beiden Legionen in der Stadt rückten aus
und verhinderten die Berennung der Mauern; die Plünderung
der Landhäuser und Aecker konnten sie nicht wehren. In-
deſs Hannibals Absicht war es keineswegs gegen Rom aus-
zuführen, was Scipio bald nachher gegen Cartagéna gelang,
noch auch nur lange vor den Thoren stehen zu bleiben; seine
Hoffnung war einzig darauf gestellt, daſs im ersten Schreck
ein Theil des Belagerungsheeres von Capua nach Rom mar-
schiren und ihm also Gelegenheit geben werde die Blokade
zu sprengen. Darum brach er freiwillig nach kurzem Ver-
weilen wieder auf und wandte sich südwärts. Allein die
römischen Feldherrn hatten den Fehler vermieden, auf den
ihr Gegner gerechnet hatte; unbeweglich standen die Legionen
nach wie vor in den Linien um Capua und es war nur ein
schwaches Corps nach Rom detachirt worden. Wie Hannibal
diese Kunde erhielt, wandte er plötzlich sich um gegen den
Consul Publius Galba, der ihm von Rom her unbesonnen
gefolgt war und mit dem er bisher vermieden hatte zu schla-
gen, überwand ihn und erstürmte sein Lager; aber es war
das ein geringer Ersatz für Capuas jetzt unvermeidlichen Fall.
Lange schon hatte die Bürgerschaft, namentlich die besseren
Klassen derselben mit bangen Ahnungen der Zukunft ent-
gegengesehen; den Führern der Rom feindlichen Volkspartei
blieb die Curie und die städtische Verwaltung fast ausschlieſs-
lich überlassen. Jetzt ergriff die Verzweiflung Arme und
Reiche und die Campaner nicht minder als die punische Be-
satzung. Achtundzwanzig vom Rath wählten den freiwilligen
[462]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Tod; die übrigen übergaben die Stadt der Gnade eines un-
versöhnlich erbitterten Feindes. Daſs Blutgerichte folgen
muſsten, verstand sich von selbst; man stritt nur über langen
oder kurzen Prozeſs: ob es klüger und zweckmäſsiger sei die
weiteren Verzweigungen des Hochverraths auch auſserhalb
Capuas gründlich zu ermitteln oder durch rasche Execution
der Sache ein Ende zu machen. Ersteres wollten Appius
Claudius und der römische Senat; die letztere Meinung, viel-
leicht die weniger unmenschliche, siegte ob. Dreiundfunfzig
Offiziere und Beamte wurden auf den Marktplätzen von Cales
und Teanum auf Befehl und vor den Augen des Proconsuls
Quintus Flaccus ausgepeitscht und enthauptet, der Rest des
Rathes eingekerkert, ein zahlreicher Theil der Bürgerschaft
in die Sclaverei verkauft, das Vermögen der Wohlhabenderen
confiscirt. Aehnliche Gerichte ergingen über Atella und Ca-
latia. Diese Strafen waren hart; allein mit Rücksicht auf
das, was Capuas Abfall für Rom bedeutet und auf das,
was der Kriegsgebrauch jener Zeit wenn nicht recht, doch
üblich gemacht hatte, sind sie begreiflich. Und hatte nicht
durch den Mord der sämmtlichen in Capua zur Zeit des Ab-
falls anwesenden römischen Bürger unmittelbar nach dem
Uebertritt die Bürgerschaft sich selber ihr Urtheil gesprochen?
Arg aber war es, daſs Rom diese Gelegenheit benutzte um
die stille Rivalität, die lange zwischen den beiden gröſsten
Städten Italiens bestanden hatte, zu befriedigen durch die völlige
politische Vernichtung des gehaſsten und beneideten Nebenbuh-
lers, die Aufhebung der campanischen Stadtverfassung. — Unge-
heuer war der Eindruck von Capuas Fall, um so mehr, da er nicht
durch Ueberraschung, sondern durch eine zweijährige allen An-
strengungen Hannibals zum Trotz durchgeführte Belagerung her-
beigeführt worden war; er war ebenso sehr das Signal der den
Römern wiedergewonnenen Oberhand in Italien wie sechs Jahre
zuvor der Uebertritt Capuas zu Hannibal das Signal der verlore-
nen gewesen war. Vergeblich hatte Hannibal versucht dem Ein-
druck dieser Nachricht auf die Bundesgenossen entgegenzu-
arbeiten durch die Einnahme von Rhegion oder der tarentini-
schen Burg. Sein Gewaltmarsch um Rhegion zu überraschen
hatte nichts gefruchtet und in der Burg von Tarent war der
Mangel zwar groſs, seit das tarentinisch-karthagische Geschwa-
der den Hafen sperrte, aber da die Römer mit ihrer weit
stärkeren Flotte jenem Geschwader selbst die Zufuhr abzu-
schneiden vermochten und Hannibal in dem Gebiet, das er
[463]HANNIBALISCHER KRIEG.
beherrschte, Mühe hatte für sein Heer genug Vorräthe aufzu-
treiben, litten die Belagerer auf der Seeseite nicht viel we-
niger als die Belagerten in der Burg und verlieſsen endlich
den Hafen. Es gelang nichts mehr; das Glück selbst schien
von dem Karthager gewichen. Diese Folgen von Capuas Fall,
die tiefe Erschütterung des Ansehens und Vertrauens, das
Hannibal bisher bei den italischen Verbündeten genossen, und
die Versuche jeder nicht allzusehr compromittirten Gemeinde
auf leidliche Bedingungen wieder zurückzutreten in die römische
Symmachie, waren noch weit empfindlicher für Hannibal als
der unmittelbare Verlust. Er hatte die Wahl in die schwan-
kenden Städte entweder Besatzung zu werfen, wodurch er
sein schon zu schwaches Heer noch mehr schwächte und seine
zuverlässigen Truppen der Aufreibung in kleinen Abtheilungen
und dem Verrath preisgab — so wurden im Jahre 544 bei
dem Abfall der Stadt Salapia 500 auserlesene numidische
Reiter niedergemacht —; oder auch die unsicheren Städte zu
schleifen und anzuzünden um sie dem Feind zu entziehen,
was denn auch die Stimmung unter seiner italischen Clientel
nicht heben konnte. Mit Capuas Fall fühlten die Römer des
endlichen Ausganges des Krieges in Italien sich wiederum
sicher; sie entsandten beträchtliche Verstärkungen nach Spa-
nien, wo durch den Fall der beiden Scipionen die Existenz der
römischen Armee gefährdet war, und gestatteten zum ersten-
mal seit dem Beginn des Krieges sich eine Verminderung der
Gesammtzahl der Truppen, die bisher trotz der jährlich stei-
genden Schwierigkeit der Aushebung jährlich vermehrt worden
und zuletzt bis auf 23 Legionen gestiegen war. Darum ward
denn auch im nächsten Jahr (544) der italische Krieg lässiger als
bisher von den Römern geführt, obwohl Marcus Marcellus nach
der Beendigung des sicilischen Krieges wieder den Oberbefehl
der Hauptarmee übernommen hatte; er betrieb in den inneren
Landschaften den Festungskrieg und lieferte den Karthagern un-
entschiedene Gefechte. Auch der Kampf um die tarentinische
Akropole blieb ohne entscheidendes Resultat. Nur in Apulien ge-
lang Hannibal die Besiegung des Proconsuls Gnaeus Fulvius Cen-
tumalus bei Herdoneae. Das Jahr darauf (545) schritten die
Römer dazu der zweiten Groſsstadt, die zu Hannibal übergetre-
ten war, der Stadt Tarent sich wieder zu bemächtigen. Wäh-
rend Marcus Marcellus den Kampf gegen Hannibal selbst mit
gewohnter Zähigkeit und Energie fortsetzte — in einer zwei-
tägigen Schlacht erfocht er, am ersten Tage geschlagen, am
[464]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
zweiten einen schweren und blutigen Sieg —; während der
Consul Quintus Fulvius die schon schwankenden Lucaner und
Hirpiner zum Wechsel der Partei und zur Auslieferung der
punischen Besatzungen bestimmte; während gut geleitete
Razzias von Rhegion aus Hannibal nöthigten den bedrängten
Brettiern zu Hülfe zu eilen, setzte der alte Quintus Fabius,
der noch einmal — zum fünften Mal — das Consulat über-
nommen hatte und damit den Auftrag Tarent wieder zu er-
obern, sich fest im nahen messapischen Gebiet und der Verrath
einer brettischen Abtheilung der Besatzung überlieferte ihm
die Stadt, in der von den erbitterten Siegern fürchterlich ge-
haust ward. Was von der Besatzung oder von der Bürger-
schaft ihnen vorkam, wurde niedergemacht und die Häuser
geplündert. Es sollen 30000 Tarentiner als Sclaven verkauft,
3000 Talente (4½ Mill. Thlr.) in den Staatsschatz geflossen
sein. Hannibal kam zum Entsatz als alles vorbei war und
zog sich zurück nach Metapont. Die Eroberung Tarents
durch Quintus Fabius war des alten Feldherrn letzte Kriegs-
that; er starb nicht lange darauf, in dem Jahr, wo Hannibal
Italien verlieſs. — Nachdem also Hannibal seine wichtigsten
Eroberungen eingebüſst hatte und allmählich sich auf die
südwestliche Spitze der Halbinsel beschränkt sah, gedachte
Marcus Marcellus, der für das nächste Jahr (546) zum Consul
gewählt worden war, in Verbindung mit seinem tüchtigen
Collegen Titus Quinctius Crispinus dem Krieg durch einen
entscheidenden Angriff ein Ende zu machen; allein das
Schicksal sparte diesen Kranz für ein jüngeres Haupt. Bei
einer unbedeutenden Recognoscirung wurden beide Consuln
von einer Abtheilung africanischer Reiter überfallen; Marcellus,
schon ein Sechziger, focht tapfer den ungleichen Kampf, bis
er sterbend vom Pferde sank; Crispinus entkam, starb aber
an dem im Gefecht empfangenen Wunden (546).


Man stand jetzt im eilften Kriegsjahr. Die Gefahr schien
geschwunden, die einige Jahre zuvor die Existenz des Staates
bedroht hatte; aber nur um so mehr fühlte man den schwe-
ren und jährlich schwerer werdenden Druck des endlosen
Krieges. Die Staatsfinanzen waren aufs Aeuſserste erschöpft.
Gleich zu Anfang des Krieges hatte man die Scheidemünze
verringert, den Legalcurs des Silberstückes um mehr als ein
Drittel erhöht und eine Goldmünze weit über den Metallwerth
ausgegeben. Sehr bald reichte dies nicht aus; man muſste
von den Lieferanten auf Credit nehmen und ihnen durch die
[465]HANNIBALISCHER KRIEG.
Finger sehen, weil man sie brauchte, so daſs die Miſsbräuche
arg genug wurden um zuletzt die Aedilen zu veranlassen
durch Anklage vor dem Volk an einigen der schlimmsten ein
Exempel zu statuiren. Man nahm den Patriotismus der Ver-
mögenden, die freilich verhältniſsmäſsig eben am meisten
litten, oft in Anspruch und nicht umsonst; so hatten schon
seit langem die Soldaten aus den besseren Klassen die An-
nahme des Soldes verweigert und so gelang es durch eine
freiwillige Anleihe bei den Reichen eine Flotte auszurüsten
und zu bemannen (544). Man griff die Mündelgelder an, ja
man sah sich endlich genöthigt den letzten lange gesparten
Nothpfennig (etwa 1200000 Thlr. in Gold) im Jahre der Er-
oberung von Tarent anzugreifen. Dennoch genügte der Staat
seinen nothwendigsten Zahlungen nicht; die Entrichtung des
Soldes stockte namentlich in den entfernteren Provinzen in be-
sorglicher Weise. Aber die Bedrängniſs des Staats war nicht der
schlimmste Theil des materiellen Nothstandes. Ueberall lagen
die Felder brach; selbst wo der Krieg nicht hauste, fehlte es an
Händen für die Hacke und die Sichel. Der Preis des Medimnos
(1 preuſs. Scheffel) war gestiegen bis auf 15 Denare (4⅓ Thlr.),
mindestens das Dreifache des hauptstädtischen Mittelpreises, und
Viele wären geradezu Hungers gestorben, wenn nicht aus Aegyp-
ten Zufuhr gekommen wäre und nicht vor allem der in Sicilien
wieder aufblühende Feldbau der ärgsten Noth gesteuert hätte.
Wie aber solche Zustände die kleinen Bauerwirthschaften zerstö-
ren, den sauer zurückgelegten Sparschatz verzehren, die blühen-
den Dörfer in Bettler- und Räubernester verwandeln, das leh-
ren ähnliche Kriege, aus denen sich anschaulichere Berichte
erhalten haben. — Bedenklicher noch als diese materielle Noth
war die steigende Abneigung der Bundesgenossen gegen den
römischen Krieg, der auch ihnen Gut und Blut fraſs. Zwar
die nichtlatinischen Gemeinden, so weit sie nicht schon
für Hannibal Partei ergriffen hatten, waren kaum im Stande
sich zu widersetzen, so lange Latium zu Rom stand; aber
auch die latinischen fingen an zu schwanken. Die meisten
latinischen Communen in Etrurien, Latium, dem Marsergebiet
und dem nördlichen Campanien, also eben in denjenigen
italischen Landschaften, die unmittelbar am wenigsten von
dem Kriege gelitten hatten, erklärten im Jahr 545 dem rö-
mischen Senat, daſs sie von jetzt an weder Contingente noch
Steuern mehr schicken und es den Römern überlassen würden
den in ihrem Interesse geführten Krieg selber zu bestreiten.
Röm. Gesch. I: 30
[466]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Die Bestürzung in Rom war groſs; allein für den Augenblick
gab es kein Mittel die Widerspenstigen zu zwingen. Zum
Glück handelten nicht alle latinischen Gemeinden so. Die
gallischen, picenischen und süditalischen Colonien, an ihrer
Spitze das mächtige und patriotische Fregellae, erklärten im
Gegentheil, daſs sie um so enger und treulicher an Rom sich
anschlössen — freilich war es ihnen allen sehr deutlich dar-
gethan, daſs bei dem gegenwärtigen Kriege ihre Existenz wo
möglich noch mehr auf dem Spiele stand als die der Haupt-
stadt, und daſs dieser Krieg wahrlich nicht bloſs für Rom,
sondern für die Hegemonie der Latiner, ja für die nationale
Unabhängigkeit Italiens geführt ward. Jener halbe Abfall war
sicherlich bloſs hervorgegangen aus Kurzsichtigkeit und Er-
schöpfung, nicht aus Landesverrath; ohne Zweifel würden
dieselben Städte ein Bündniſs mit den Puniern mit Abscheu
zurückgewiesen haben. Allein immer war es eine Spaltung
zwischen Römern und Latinern, und der Rückschlag auf die
unterworfene Bevölkerung der Landschaften blieb nicht aus.
In Arretium zeigte sich sogleich bedenkliche Gährung; eine
im Interesse Hannibals unter den Etruskern angestiftete
Verschwörung ward entdeckt und schien so gefährlich, daſs
man deſswegen römische Truppen marschiren lieſs. Militär
und Polizei unterdrückten diese Bewegung zwar ohne Mühe;
allein sie war ein bedenkliches Zeichen, was in jenen Land-
schaften kommen könne, seit die latinischen Zwingburgen
nicht mehr schreckten. — In diese schwierigen und gespann-
ten Verhältnisse schlug plötzlich die Nachricht hinein, daſs
Hasdrubal im Herbst des Jahres 546 die Pyrenäen über-
schritten habe und man sich darauf gefaſst machen müsse im
nächsten Jahr mit den beiden Söhnen Hamilkars in Italien
den Krieg zu führen. Nicht umsonst hatte Hannibal die
langen schweren Jahre hindurch auf seinem Posten ausge-
harrt; was die factiöse Opposition daheim, was der kurzsich-
tige Philippos ihm versagt hatte, das führte endlich der Bruder
ihm heran, in dem wie in ihm selbst Hamilkars Geist mäch-
tig war. Schon standen achttausend Ligurer, durch punisches
Gold geworben, bereit sich mit Hasdrubal zu vereinigen; wenn
er die erste Schlacht gewann, so durfte er hoffen gleich dem
Bruder die Gallier, vielleicht die Etrusker gegen Rom unter
die Waffen zu bringen. Italien aber war nicht mehr, was es
vor eilf Jahren gewesen: der Staat und die Einzelnen waren
erschöpft, der latinische Bund gelockert, der beste Feldherr
[467]HANNIBALISCHER KRIEG.
so eben auf dem Schlachtfeld gefallen und Hannibal nicht
bezwungen. In der That, Scipio mochte die Gunst seines
Genius preisen, wenn er die Folgen seines unverzeihlichen
Fehlers von ihm und dem Lande abwandte.


Wie in den Zeiten der schwersten Gefahr bot Rom
wieder 23 Legionen auf; man rief Freiwillige zu den
Waffen und zog die gesetzlich vom Kriegsdienst Befreiten
zur Aushebung mit heran. Dennoch wurde man über-
rascht. Freunden und Feinden über alle Erwartung früh
stand Hasdrubal diesseit der Alpen (547); die Gallier, der
Durchmärsche jetzt gewohnt, öffneten für gutes Geld willig
ihre Pässe und lieferten was das Heer bedurfte. Wenn man
in Rom beabsichtigt hatte die Ausgänge der Alpenpässe zu
besetzen, so kam man damit zu spät; schon vernahm man,
daſs Hasdrubal am Padus stehe, daſs er die Gallier mit glei-
chem Erfolg wie einst sein Bruder zu den Waffen rufe, daſs
Placentia berannt worden sei. Schleunigst begab der Consul
Marcus Livius sich zu der Nordarmee; und es war hohe Zeit,
daſs er erschien: Etrurien und Umbrien waren in dumpfer
Gährung; Freiwillige von dort verstärkten das punische
Heer. Sein College Gaius Nero zog aus Venusia den Prätor
Gaius Hostilius Tubulus an sich und eilte mit einem Heere
von 40000 Mann Hannibal den Weg nach Norden zu verlegen.
Dieser sammelte seine ganze Macht im brettischen Gebiet und
die groſse Straſse, die von Rhegion nach Apulien führt, ent-
lang marschirend traf er bei Grumentum auf den Consul. Es
kam zu einem hartnäckigen Gefecht, in welchem Nero sich
den Sieg zuschrieb; allein Hannibal vermochte wenigstens,
wenn auch mit Verlust, durch einen seiner gewöhnlichen ge-
schickten Seitenmärsche sich dem Feinde zu entziehen und
ungehindert Apulien zu erreichen. Hier blieb er stehen und
lagerte anfangs bei Venusia, alsdann bei Canusium, Nero, der
ihm auf dem Fuſs gefolgt war, dort wie hier gegenüber. Daſs
Hannibal freiwillig stehen blieb und nicht von der römischen
Armee am Vorrücken gehindert ward, scheint nicht zu be-
zweifeln; der Grund, warum er gerade hier und nicht weiter
nördlich sich aufstellte, muſs gelegen haben in Verabredungen
Hannibals mit Hasdrubal oder in Muthmaſsungen über dessen
Marsch, die wir nicht kennen. Während also hier die beiden
Heere sich unthätig gegenüberstanden, ward von Neros Posten
die im feindlichen Lager sehnlich erwartete Depesche Hasdru-
bals aufgefangen; sie enthielt, daſs Hasdrubal beabsichtige die
30*
[468]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
flaminische Straſse einzuschlagen, also zunächst sich an der
Küste zu halten und dann bei Fano über den Apennin ge-
gen Narni sich zu wenden, an welchem Orte er Hannibal
zu treffen gedenke. Sofort lieſs Nero nach Narni als dem
zur Vereinigung der beiden punischen Heere ausersehenen
Punct die hauptstädtische Reserve vorgehen, wogegen die bei
Capua stehende Abtheilung nach der Hauptstadt kam und
dort eine neue Reserve gebildet ward. Ueberzeugt, daſs Han-
nibal die Absicht des Bruders nicht kenne und fortfahren
werde ihn in Apulien zu erwarten, entschloſs sich Nero zu
dem kühnen Wagniſs mit einem kleinen aber auserlesenen
Corps von 7000 Mann in Gewaltmärschen nordwärts zu eilen
und wo möglich in Gemeinschaft mit dem Collegen den
Hasdrubal zur Schlacht zu zwingen; er konnte es, denn das
römische Heer, das er zurücklieſs, blieb immer stark genug
um Hannibal entweder zurückzuwerfen, wenn er angriff, oder
ihn zu geleiten und mit ihm zugleich an dem Ort der Ent-
scheidung einzutreffen, wenn er abzog. Nero fand den Col-
legen Marcus Livius bei Sena gallica, den Feind erwartend;
sofort rückten beide Consuln aus gegen Hasdrubal, den sie
beschäftigt fanden den Metaurus zu überschreiten. Hasdrubal
wünschte die Schlacht zu vermeiden und sich seitwärts den
Römern zu entziehen; allein seine Führer lieſsen ihn im
Stich, er verirrte sich auf dem ihm fremden Terrain und
wurde endlich auf dem Marsch von der römischen Reiterei
angegriffen und so lange festgehalten, bis auch das römische
Fuſsvolk eintraf und die Schlacht unvermeidlich ward. Hasdru-
bal stellte die Spanier auf den rechten Flügel, davor seine zehn
Elephanten, die Gallier auf den linken, den er versagte.
Lange schwankte das Gefecht auf dem rechten Flügel und
der Consul Livius, der hier befehligte, ward hart gedrängt,
bis Nero, seine strategische Operation taktisch wiederholend,
den ihm unbeweglich gegenüberstehenden Feind stehen lieſs
und um die eigne Armee herum marschirend den Spaniern in
die Flanke fiel. Dies entschied. Der schwer erkämpfte und
sehr blutige Sieg war vollständig; das Heer, das keinen Rück-
zug hatte, ward vernichtet, das Lager erstürmt, Hasdrubal,
da er die vortrefflich geleitete Schlacht verloren sah, suchte
und fand gleich seinem Vater einen ehrlichen Reitertod.
Als Offizier und als Mann war er werth, Hannibals Bruder
zu sein. Am Tag nach der Schlacht brach Nero wieder auf
und stand nach kaum vierzehntägiger Abwesenheit abermals
[469]HANNIBALISCHER KRIEG.
in Apulien Hannibal gegenüber, den keine Botschaft erreicht
und der sich nicht gerührt hatte. Die Botschaft brachte ihm
der Consul mit; es war der Kopf des Bruders, den der Rö-
mer den feindlichen Posten hinwerfen hieſs, um also dem
groſsen Gegner, der den Krieg mit Todten verschmähte, die
ehrenvolle Bestattung des Paullus, Gracchus und Marcellus
zu vergelten. Hannibal erkannte, daſs er umsonst gehofft
hatte und daſs alles vorbei war. Er gab Apulien und Luca-
nien, sogar Metapont auf und zog sich mit seinen Truppen
zurück in das brettische Land, dessen Häfen sein einziger
Rückzug waren. Durch die Energie der römischen Feldher-
ren und mehr noch durch eine beispiellos glückliche Fügung
war eine Gefahr von Rom abgewandt, deren Gröſse Han-
nibals zähes Ausharren in Italien rechtfertigt und die mit
der Gröſse der cannensischen den Vergleich vollkommen aus-
hält. Der Jubel in Rom war grenzenlos; die Geschäfte be-
gannen wieder wie in Friedenszeit; Jeder fühlte, daſs die
Gefahr des Krieges überwunden sei.


Indeſs ein Ende zu machen beeilte man sich in Rom
eben nicht. Der Staat und die Bürger waren erschöpft durch
die übermäſsige moralische und materielle Anspannung aller
Kräfte; gern gab man der Sorglosigkeit und der Ruhe sich
hin. Heer und Flotte wurden vermindert, die römischen und
latinischen Bauern auf ihre verödeten Höfe zurückgeführt, die
Kasse durch den Verkauf eines Theils der campanischen Do-
mäne gefüllt. Die Staatsverwaltung wurde neu geregelt und
die eingerissenen Unordnungen abgestellt; man fing an das
freiwillige Kriegsanlehen zurückzuzahlen und zwang die wei-
gernden Colonien ihren versäumten Pflichten mit schweren
Zinsen zu genügen. — Der Krieg in Italien stockte. Es war
ein glänzender Beweis von Hannibals strategischem Talent so
wie freilich auch von der Unfähigkeit der jetzt ihm gegen-
überstehenden römischen Feldherren, daſs er vier Jahre im
brettischen Lande das Feld behaupten und von dem weit
überlegenen Gegner weder gezwungen werden konnte sich in
die Festungen einzuschlieſsen noch sich einzuschiffen. Frei-
lich muſste er immer weiter zurückweichen, weniger in Folge
der ihm von den Römern gelieferten nichts entscheidenden
Gefechte, als weil seine brettischen Bundesgenossen immer
schwieriger wurden und er zuletzt nur auf die Städte noch
zählen konnte, die sein Heer besetzt hielt. So gab er Thurii
freiwillig auf; Lokri ward auf Publius Scipios Veranstaltung
[470]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
von Rhegion aus wieder eingenommen (549). Als sollten
noch schlieſslich seine Entwürfe von den karthagischen Be-
hörden, die sie ihm verdorben hatten, selbst eine glänzende
Rechtfertigung erhalten, suchten diese in der Angst vor der
erwarteten Landung der Römer jene Pläne nun selbst wieder
hervor (548. 549) und sandten an Hannibal nach Italien, an
Mago nach Spanien Verstärkung und Subsidien mit dem Befehl
den Krieg in Italien aufs neue zu entflammen und den zittern-
den Besitzern der libyschen Landhäuser und der karthagischen
Buden noch einige Frist zu erfechten. Ebenso ging eine Ge-
sandtschaft nach Makedonien um Philippos zur Erneuerung des
Bündnisses und zur Landung in Italien zu bestimmen (549).
Allein es war zu spät. Philippos hatte wenige Monate zuvor
mit Rom Frieden geschlossen; die bevorstehende politische
Vernichtung Karthagos war ihm zwar unbequem, aber er that
öffentlich wenigstens nichts gegen Rom. Es ging ein kleines
makedonisches Corps nach Africa, das nach der Behauptung
der Römer Philippos aus seiner Tasche bezahlte; begreiflich wäre
es, allein Beweise wenigstens hatten die Römer nicht, wie der
spätere Verlauf der Ereignisse zeigt. An eine makedonische Lan-
dung in Italien ward nicht gedacht. — Ernstlicher griff Mago,
Hannibals jüngster Sohn, seine Aufgabe an. Mit den Trüm-
mern der spanischen Armee, die er zunächst nach Minorca
geführt hatte, landete er im Jahre 549 bei Genua, zerstörte
die Stadt und rief zu den Waffen die Ligurer und Gallier,
die wie immer das Gold und die Neuheit des Unternehmens
schaarenweise herbeizog; sogar durch ganz Etrurien, wo die
politischen Prozesse nicht ruhten, gingen seine Verbindungen.
Allein was er an Truppen mitgebracht, war zu wenig, um
ihm eine ernstliche Unternehmung, gegen das eigentliche Italien
möglich zu machen, und Hannibal war gleichfalls viel zu schwach
und sein Einfluſs in Unteritalien zu sehr gesunken, als daſs er
mit Erfolg hätte vorgehen können. Die karthagischen Herren
hatten die Rettung der Heimath nicht gewollt, da sie möglich
war; jetzt, da sie sie wollten, war sie nicht mehr möglich.


Wohl Niemand zweifelte im römischen Senat, weder
daran, daſs der Krieg Karthagos gegen Rom zu Ende sei,
noch daran, daſs nun der Krieg Roms gegen Karthago be-
gonnen werden müsse; allein die africanische Expedition, so
unvermeidlich sie war, anzuordnen scheute man sich. Man
bedurfte dazu vor allem eines fähigen und beliebten Führers;
und man hatte keinen. Die besten Generale waren entweder
[471]HANNIBALISCHER KRIEG.
auf dem Schlachtfeld gefallen oder sie waren, wie Quintus
Fabius und Quintus Fulvius, für einen solchen ganz neuen
und wahrscheinlich langwierigen Krieg zu alt. Die Sieger von
Sena Gaius Nero und Marcus Livius wären der Aufgabe
wohl gewachsen gewesen, allein sie waren beide im höchsten
Grade unpopuläre Aristokraten und es war zweifelhaft, ob es
gelingen würde ihnen das Kommando zu verschaffen — so
weit war man ja schon, daſs die Tüchtigkeit allein nur in
den Zeiten der Angst die Wahlen entschied — und mehr als
zweifelhaft, ob dies die Männer waren, die dem erschöpften
Volke neue Anstrengungen ansinnen durften. Da kam Publius
Scipio aus Spanien zurück und der Liebling der Menge, der
seine von ihr empfangene Aufgabe so glänzend erfüllt hatte
oder doch erfüllt zu haben schien, ward sogleich für das
nächste Jahr zum Consul gewählt. Er trat sein Amt an (549)
mit dem festen Entschluſs die schon in Spanien entworfene
africanische Expedition jetzt zu verwirklichen. Indeſs im Senat
war die Majorität dem jungen Feldherrn keineswegs günstig
gesinnt. Seine griechische Eleganz und moderne Bildung
und Gesinnung sagte den strengen und etwas bäurischen
Vätern der Stadt sehr wenig zu und gegen seine Kriegführung
in Spanien bestanden ebenso ernste Bedenken wie gegen seine
Soldatenzucht. Wie begründet der Vorwurf war, daſs er gegen
seine Corpschefs allzugroſse Nachsicht zeige, bewiesen sehr
bald die Schändlichkeiten, die Gaius Pleminius in Lokri ver-
übte, und die Scipio durch seine Fahrlässigkeit mittelbar in
der ärgerlichsten Weise verschuldet hatte. Daſs bei den Ver-
handlungen im Senat über die Anordnung des africanischen
Feldzugs und die Bestellung des Feldherrn dafür der neue
Consul nicht übel Lust bezeigte, wo immer Brauch und Ver-
fassung mit seinen Privatabsichten in Conflict geriethen, solche
Hemmnisse bei Seite zu schieben, und daſs er sehr deutlich
zu verstehen gab, wie er sich äuſsersten Falls der Regierungs-
behörde gegenüber auf seinen Ruhm und seine Popularität
bei dem Volke zu stützen gedenke, muſste den Senat nicht
bloſs kränken, sondern auch die ernstliche Besorgniſs er-
wecken, ob ein solcher Oberfeldherr bei dem bevorstehenden
Entscheidungskrieg und den etwanigen Friedensverhandlungen
mit Karthago sich an die ihm gewordenen Instructionen bin-
den werde; eine Besorgniſs, welche die eigenmächtige Füh-
rung der spanischen Expedition keineswegs zu beschwichtigen
geeignet war. Indeſs bewies man auf beiden Seiten Einsicht
[472]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
genug um es nicht zum Aeuſsersten kommen zu lassen. Auch
der Senat konnte nicht verkennen, daſs die africanische Ex-
pedition nothwendig und es nicht weise war, dieselbe aufs
Unbestimmte hinauszuschieben; nicht verkennen, daſs Scipio
ein äuſserst fähiger Offizier und insofern zum Führer eines
solchen Krieges wohl geeignet war und daſs, wenn einer, er es
vermochte vom Volke die Verlängerung seines Oberbefehls so
lange als nöthig und die Aufbietung der letzten Kräfte zu erlan-
gen. Die Majorität kam zu dem Entschluſs Scipio den gewünsch-
ten Auftrag zu ertheilen, nachdem derselbe zuvor die der höch-
sten Regierungsbehörde schuldige Rücksicht wenigstens der Form
nach gewahrt und im Voraus sich dem Beschluſs des Senats un-
terworfen hatte. Scipio sollte dies Jahr nach Sicilien gehen um
den Bau der Flotte, die Herstellung des Belagerungsmaterials
und die Bildung der Expeditionsarmee zu betreiben, und dann
im nächsten Jahre in Africa landen. Es ward ihm hiezu die
sicilische Armee — noch immer jene beiden aus den Trüm-
mern des cannensischen Heeres gebildeten Legionen — zur
Disposition gestellt, da zur Deckung der Insel eine schwache
Besatzung und die Flotte vollständig ausreichten, und auſser-
dem ihm gestattet in Italien Freiwillige aufzubieten. Es war
augenscheinlich, daſs der Senat die Expedition nicht anord-
nete, sondern vielmehr geschehen lieſs; Scipio erhielt nicht
die Hälfte der Mittel, die man einst Regulus zu Gebot gestellt
hatte, und überdies eben dasjenige Corps, das seit Jahren vom
Senat mit berechneter Zurücksetzung behandelt worden war.
Die africanische Armee war im Sinne der Majorität des Senats
ein verlorner Posten von Strafcompagnien und Volontärs,
deren Untergang der Staat allenfalls verschmerzen konnte. —
Ein anderer Mann als Scipio hätte vielleicht erklärt, daſs die
africanische Expedition entweder mit anderen Mitteln oder
gar nicht unternommen werden müsse; allein Scipios Zuver-
sicht ging auf die Bedingungen ein, wie sie immer waren,
um nur zu dem heiſsersehnten Zug zu gelangen. Sorgfältig
vermied er so weit es anging das Volk unmittelbar zu be-
lästigen, um nicht der Popularität der Expedition zu schaden.
Was die Kosten derselben anlangte, namentlich die beträcht-
lichen des Flottenbaus, so wurden diese im Wesentlichen
beigeschafft durch eine sogenannte freiwillige Contribution der
etruskischen Städte, das heiſst durch eine den Arretinern
und den sonstigen punisch gesinnten Gemeinden zur Strafe
auferlegt Kriegssteuer. Die Mannschaft verstärkten Freiwillige,
[473]HANNIBALISCHER KRIEG.
deren bis siebentausend aus allen Gegenden Italiens dem Rufe
des beliebten Offiziers folgten. So ging Scipio im Frühjahr
550 mit zwei starken Veteranenlegionen (etwa 30000 Mann),
40 Kriegs- und 400 Transportschiffen nach Africa unter Segel
und landete glücklich, ohne den geringsten Widerstand zu
finden, am schönen Vorgebirge in der Nähe von Utica.


Die Karthager, die seit langem erwarteten, daſs auf die
Plünderungszüge, welche die römischen Geschwader in den
letzten Jahren häufig nach der africanischen Küste gemacht
hatten, ein ernstlicherer Einfall folgen werde, hatten, um des-
sen sich zu erwehren, nicht bloſs den italisch-makedonischen
Krieg aufs Neue in Gang zu bringen versucht, sondern auch
daheim gerüstet um die Römer zu empfangen. Es war gelungen
von den beiden groſsen westafricanischen Scheiks, Massinissa
von Cirta (Constantine), dem Herrn der Massyler, und Syphax
von Siga (an der Tafnamündung westlich von Oran), dem
Herrn der Massaesyler, den letzteren, den bei weitem mäch-
tigeren, durch Vertrag und Verschwägerung eng an Karthago zu
knüpfen, den andern aber, den alten Nebenbuhler des Syphax,
völlig zu beseitigen. Massinissa war nach verzweifelter Gegen-
wehr der vereinigten Macht der Karthager und des Syphax
erlegen und hatte seine Länder dem letztern zur Beute lassen
müssen; er selbst irrte mit wenigen Reitern in der Wüste.
Auſser dem Zuzug, der von Syphax zu erwarten war, stand
ein karthagisches Heer von 20000 Mann zu Fuſs, 6000 Reitern
und 140 Elephanten — Hanno war eigends deſshalb auf Ele-
phantenjagd ausgeschickt worden — schlagfertig zum Schutz
der Hauptstadt, unter der Führung des in Spanien erprobten
Feldherrn Hasdrubal Gisgons Sohn; im Hafen lag eine starke
Flotte. Ein makedonisches Corps unter Sopater und eine
Sendung keltiberischer Söldner wurden demnächst erwartet.
— Auf das Gerücht von Scipios Landung traf Massinissa sofort
in dem Lager des Feldherrn ein, dem er vor nicht langem in
Spanien als Feind gegenübergestanden hatte; allein der länder-
lose Fürst brachte zunächst den Römern nichts als seine per-
sönliche Tüchtigkeit, und die Libyer, obwohl der Aushebungen
und Steuern herzlich müde, hatten doch in ähnlichen Fällen
zu bittere Erfahrungen gemacht um sich sofort für die Römer
zu erklären. So begann Scipio den Feldzug. So lange er nur
die schwächere karthagische Armee gegen sich hatte, war er im
Vortheil und konnte nach einigen glücklichen Reitergefechten zur
Belagerung von Utica schreiten; allein als Syphax eintraf, an-
[474]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
geblich mit 50000 Mann zu Fuſs und 10000 Reitern, muſste
die Belagerung aufgehoben und für den Winter auf einem
leicht zu verschanzenden Vorgebirg zwischen Utica und Kar-
thago ein befestigtes Schifflager geschlagen werden. Hier ver-
ging dem römischen General der Winter 550/1. Das Frühjahr
fand ihn in einer ziemlich unbequemen Lage, aus der er sich
durch einen glücklichen Handstreich befreite. Die Africaner,
eingeschläfert durch die von Scipio mehr listig als ehrlich an-
gesponnenen Friedensverhandlungen, lieſsen sich in einer und
derselben Nacht in ihren beiden Lagern überfallen: die Rohr-
hütten der Numidier loderten in Flammen auf und als die
Karthager eilten zu helfen, traf ihr eigenes Lager dasselbe
Schicksal; wehrlos wurden die Flüchtenden von den römischen
Abtheilungen niedergemacht. Dieser nächtliche Ueberfall war
verderblicher als viele Schlachten; indeſs die Karthager
lieſsen den Muth nicht sinken und verwarfen sogar den Rath
der Furchtsamen oder vielmehr der Verständigen Mago und
Hannibal zurückzurufen. Eben jetzt waren die erwarteten
keltiberischen und makedonischen Hülfstruppen angelangt;
man beschloſs auf den ‚groſsen Feldern‘, fünf Tagemärsche
von Utica noch einmal die offene Feldschlacht zu versuchen.
Scipio eilte sie anzunehmen; mit leichter Mühe zerstreuten
seine Veteranen und Freiwilligen die zusammengerafften kar-
thagischen und numidischen Schwärme und auch die Kelti-
berer, die bei Scipio auf Gnade nicht rechnen durften, wur-
den nach hartnäckiger Gegenwehr zusammengehauen. Die
Africaner konnten nach dieser doppelten Niederlage nirgends
mehr das Feld halten. Ein Angriff auf das römische Schiffs-
lager, den die karthagische Flotte versuchte, lieferte zwar kein
ungünstiges, aber doch auch kein entscheidendes Resultat und
ward weit aufgewogen durch die Gefangennahme des Syphax,
die dem Scipio sein beispielloser Glücksstern zuwarf und durch
welche Massinissa das für die Römer ward, was anfangs Sy-
phax den Karthagern gewesen war. — Nach solchen Nieder-
lagen konnte die karthagische Friedenspartei, die seit sech-
zehn Jahren hatte schweigen müssen, wiederum ihr Haupt
erheben und sich offen auflehnen gegen das Regiment der
Barkas und der Patrioten. Hasdrubal Gisgons Sohn ward
abwesend von der Regierung zum Tode verurtheilt und ein
Versuch gemacht von Scipio Waffenstillstand und Frieden zu
gewinnen. Er forderte Aufgebung der spanischen Besitzungen
und der Inseln des Mittelmeers, Uebergabe des Reiches des
[475]HANNIBALISCHER KRIEG.
Syphax an Massinissa, Auslieferung der Kriegsschiffe bis auf
20 und eine Kriegscontribution von 4000 Talenten (6 Mill.
Thaler) — Bedingungen, die für Karthago so beispiellos günstig
erscheinen, daſs die Frage sich aufdrängt, ob sie Scipio mehr
in seinem oder in Roms Interesse anbot. Die karthagischen
Bevollmächtigten nahmen diese Bedingungen an unter Vorbehalt
der Ratification ihrer Behörden und es ging eine karthagische
Gesandtschaft deſshalb nach Rom ab. Allein die karthagische
Patriotenpartei war nicht gemeint so leichten Kaufs auf den
Kampf zu verzichten; der Glaube an die edle Sache, das Ver-
trauen auf den groſsen Feldherrn, selbst das Beispiel, das
Rom ihnen gegeben, feuerte sie an auszuharren, auch davon
abgesehen, daſs der Friede nothwendig die Gegenpartei ans
Ruder und damit ihnen selbst den Untergang bringen muſste.
In der Bürgerschaft hatte die Patriotenpartei das Uebergewicht;
man beschloſs die Friedensverhandlungen der Opposition nur
geschehen zu lassen, um mittlerweile zu einer letzten und
entscheidenden Anstrengung sich vorzubereiten. An Mago und
an Hannibal erging der Befehl schleunigst nach Africa heim-
zukehren. Mago, der seit drei Jahren (549-551) daran
arbeitete in Norditalien eine Coalition gegen Rom ins Leben
zu rufen, hatte eben damals im Gebiet der Insubrer (um Mai-
land) gegen das weit überlegene römische Doppelheer eine
Schlacht geliefert, in der die römische Reiterei zum Weichen
und das Fuſsvolk ins Gedränge gebracht worden war und der
Sieg sich für die Karthager zu erklären schien, als der kühne
Angriff eines römischen Trupps auf die feindlichen Elephanten
und vor allem die schwere Verwundung des geliebten und
fähigen Führers das Glück der Schlacht wandte. Das puni-
sche Heer muſste an die ligurische Küste zurückweichen, wo
es den Befehl zur Einschiffung empfing und vollzog; Mago
aber starb auf der Ueberfahrt an seiner Wunde. Hannibal
dagegen, der in der letzten Zeit sich in und um Kroton ver-
schanzt hatte, stand bereit dem Befehl zu folgen, dem er
wahrscheinlich zuvorgekommen wäre, wenn nicht die letzten
Verhandlungen mit Philipp ihm eine neue Aussicht dargeboten
hätten seinem Vaterland in Italien nützlicher sein zu können
als in Libyen. Er lieſs seine Pferde niederstoſsen so wie die
italischen Soldaten, die sich weigerten ihm über das Meer zu
folgen und bestieg die auf der Rhede von Kroton längst in
Bereitschaft stehenden Transportschiffe, die ihn glücklich nach
Leptis führten; ohne Zweifel nicht unter dem Schutz des
[476]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
Waffenstillstandes, sondern auf eigene Verantwortlichkeit und
Gefahr. So stand der letzte von Hamilkars ‚Löwenbrut‘ aber-
mals auf dem Boden der Heimath, die er fast noch ein Knabe
verlassen hatte um seine groſsartige und doch so durchaus
vergebliche Heldenlaufbahn zu beginnen und westwärts auszie-
hend von Osten her heimzukehren, rings um die karthagische
See einen weiten Siegeskreis beschreibend. Jetzt, wo ge-
schehen war was er hatte verhüten wollen und was er ver-
hütet hätte, wenn er gedurft, jetzt sollte er, wenn möglich,
retten und helfen; und er that es ohne zu klagen und zu
schelten. Mit seiner Ankunft trat die Patriotenpartei offen auf;
das schändliche Urtheil gegen Hasdrubal ward cassirt, neue
Verbindungen mit den numidischen Scheiks durch Hannibals
Gewandtheit angeknüpft und nicht bloſs dem thatsächlich ab-
geschlossenen Frieden in der Volksversammlung die Bestäti-
gung verweigert, sondern auch durch die Plünderung einer
an der africanischen Küste gestrandeten römischen Transport-
flotte, ja sogar durch den Ueberfall eines römische Gesandte
führenden römischen Kriegsschiffs der Waffenstillstand gebro-
chen. In gerechter Erbitterung brach Scipio aus seinem La-
ger bei Tunis auf (552) und durchzog das reiche Thal des
Bagradas (Medscherda), indem er den Ortschaften keine Ca-
pitulation mehr gewährte, sondern die Einwohnerschaften der
Flecken und Städte in Masse aufgreifen und verkaufen lieſs.
Schon war er tief ins Binnenland eingedrungen und stand bei
Naraggara (westlich von Sicca, jetzt Kaf, bei Kas o Dschaber),
als Hannibal, der ihm von Hadrumetum aus entgegengezogen
war, mit ihm zusammentraf. Der punische Feldherr versuchte
den römischen in einer persönlichen Zusammenkunft zu be-
stimmen bessere Bedingungen zu gewähren; allein Scipio, der
schon bis an die äuſserste Grenze der Concessionen gegangen
war, konnte unmöglich nach dem Bruch des Waffenstillstandes
zu weiterer Nachgiebigkeit sich verstehen, und es ist nicht glaub-
lich, daſs Hannibal bei diesem Schritt etwas Anderes bezweckte
als der Menge zu zeigen, daſs die Patrioten keineswegs unbe-
dingt gegen den Frieden seien. Die Conferenz führte zu kei-
nem Ergebniſs und so kam es zu der Entscheidungsschlacht
bei Zama (vermuthlich unweit Sicca *). In drei Linien ord-
[477]HANNIBALISCHER KRIEG.
nete Hannibal sein Fuſsvolk: in das erste Glied die kartha-
gischen Miethstruppen, in das zweite die africanische Land-
und die punische Bürgerwehr nebst dem makedonischen Corps,
in das dritte die Veteranen, die ihm aus Italien gefolgt waren.
Vor der Linie standen die 80 Elephanten, die Reiterei auf
den Flügeln. Scipio stellte gleichfalls seine Legionen in drei
Glieder, wie die Römer pflegten und ordnete sie so, daſs die
Elephanten durch und neben der Linie weg ausbrechen konn-
ten, ohne sie zu sprengen. Dies gelang nicht bloſs vollstän-
dig, sondern die seitwärts ausweichenden Elephanten brachten
auch die karthagischen Reiterflügel in Unordnung, so daſs
gegen diese Scipios Reiterei, die überdies durch das Eintreffen
von Massinissas Schaaren dem Feinde weit überlegen war,
leichtes Spiel hatte und bald in vollem Nachsetzen begriffen war.
Ernster war der Kampf des Fuſsvolks. Lange stand das Ge-
fecht zwischen den beiderseitigen ersten Gliedern; in dem
äuſserst blutigen Handgemenge geriethen endlich beide Theile
in Verwirrung und muſsten an den zweiten Gliedern einen
Halt suchen. Die Römer fanden ihn; die karthagische Miliz aber
zeigte sich so unsicher und schwankend, daſs sich die Söld-
ner verrathen glaubten und es zwischen ihnen und der kar-
thagischen Bürgerwehr zum Handgemenge kam. Indeſs Han-
nibal zog eilig, was von den beiden ersten Linien noch übrig
war, auf die beiden Flügel zurück und schob seine italischen
Kerntruppen auf der ganzen Linie vor. Scipio drängte dagegen in
der Mitte zusammen, was von der ersten Linie noch kampffähig
war und lieſs das zweite und dritte Glied rechts und links
an das erste sich anschlieſsen. Abermals begann auf derselben
Wahlstatt ein zweites noch fürchterlicheres Gemetzel; Hanni-
bals alte Soldaten wankten nicht trotz der Ueberzahl der
Feinde, bis die Reiterei der Römer und Massinissas, von der
Verfolgung der geschlagenen feindlichen zurückkehrend, sie
von allen Seiten umringte. Damit war nicht bloſs der Kampf
zu Ende, sondern das punische Heer vernichtet; dieselben
Soldaten, die vierzehn Jahre zuvor bei Cannae gewichen wa-
ren, hatten ihren Ueberwindern bei Zama vergolten. Mit einer
Handvoll Leute gelangte Hannibal flüchtig nach Hadrumetum. —
Nach diesem Tage konnte auf karthagischer Seite nur der
Unverstand zur Fortsetzung des Krieges rathen; dagegen konnte
der römische Feldherr sofort die Belagerung der Hauptstadt
beginnen, die weder gedeckt noch verproviantirt war, und
es stand bei ihm, wenn nicht unberechenbare Zwischenfälle
[478]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
eintraten, das Schicksal, welches Hannibal über Rom hatte
bringen wollen, jetzt über Karthago walten zu lassen. Scipio
hat es nicht gethan; er gewährte Frieden (553), freilich nicht
mehr auf die früheren Bedingungen. Auſser den Abtretungen,
die schon bei den letzten Verhandlungen für Rom wie für
Massinissa gefordert worden waren, wurde den Karthagern
auf funfzig Jahre eine jährliche Contribution von 200 Talenten
(300000 Thaler) aufgelegt und muſsten sie sich anheischig
machen nicht gegen Rom oder seine Verbündeten und über-
haupt auſserhalb Africa gar nicht, in Africa auſserhalb ihres
eigenen Gebietes nur nach eingeholter Erlaubniſs Roms Krieg
zu führen; was thatsächlich darauf hinauslief, daſs Karthago
tributpflichtig ward und seine politische Selbstständigkeit ver-
lor. Es scheint sogar, daſs sie unter Umständen verpflichtet
waren Kriegsschiffe zu der römischen Flotte zu stellen. —
Man hat Scipio beschuldigt, daſs er, um die Ehre der Been-
digung des schwersten Krieges, den Rom geführt hat, nicht
mit dem Oberbefehl an einen Nachfolger abgeben zu müssen,
dem Feinde zu günstige Bedingungen gewährte. Die Anklage
möchte gegründet sein, wenn der erste Entwurf zu Stande ge-
kommen wäre; gegen den zweiten scheint sie nicht gerechtfertigt.
Weder standen in Rom die Verhältnisse so, daſs der Günstling
des Volkes nach dem Siege bei Zama die Abberufung ernstlich
zu fürchten gehabt hätte; noch rechtfertigen die Bedingungen
selbst diese Beschuldigung. Die Karthagerstadt hat, nachdem
ihr also die Hände gebunden und ein mächtiger Nachbar ihr
zur Seite gestellt war, nie auch nur einen Versuch gemacht
sich der römischen Suprematie zu entziehen, geschweige denn
mit Rom zu rivalisiren; es wuſste überdies jeder, der es
wissen wollte, daſs der so eben beendigte Krieg viel mehr von
Hannibal unternommen worden war als von Karthago und
daſs an eine Erneuerung des Riesenplanes der Patriotenpartei
sich schlechterdings nicht denken lieſs. Es mochte den rach-
süchtigen Italienern wenig dünken, daſs nur die fünfhundert
ausgelieferten Kriegsschiffe in Flammen aufloderten und nicht
auch die verhaſste Stadt; Verbissenheit und Dorfschulzenver-
stand mochten die Meinung verfechten, daſs nur der vernich-
tete Gegner wirklich besiegt sei, und den schelten, der es
verschmäht hatte das Verbrechen die Römer zittern gemacht
zu haben gründlich zu bestrafen. Scipio dachte anders und
wir haben keinen Grund und also kein Recht anzunehmen,
daſs in diesem Fall die gemeinen Motive den Römer bestimm-
[479]HANNIBALISCHER KRIEG.
ten, und nicht die adlichen und hochsinnigen, die auch in
seiner Natur lagen. Nicht das Bedenken der etwaigen Abbe-
rufung oder des möglichen Glückswechsels noch die Besorg-
niſs vor dem allerdings nicht fernliegenden Ausbruch des
makedonischen Krieges haben den sicheren und zuversicht-
lichen Mann, dem bisher noch alles unbegreiflich gelungen
war, gehindert die Execution an der unglücklichen Stadt zu
vollziehen, die funfzig Jahre später seinem Adoptivenkel aufge-
tragen wurde und die wohl schon jetzt gleich vollzogen werden
konnte. Es ist viel wahrscheinlicher, daſs die beiden groſsen
Feldherren, bei denen jetzt auch die politische Entscheidung
stand, den Frieden wie er war boten und annahmen, um dort
der ungestümen Rachsucht der Sieger, hier der Hartnäckig-
keit und dem Unverstand der Ueberwundenen gerechte und
verständige Schranken zu setzen; der Seelenadel und die
staatsmännische Begabung der hohen Gegner zeigt sich nicht
minder in Hannibals groſsartiger Fügung in das Unvermeid-
liche als in Scipios weisem Zurücktreten von dem Ueberflüs-
sigen und Schmählichen des Sieges. Sollte er, der hochher-
zige und freiblickende Mann, sich nicht gefragt haben, was
es denn dem Vaterlande nütze, nachdem die politische Macht
der Karthagerstadt vernichtet war, diesen uralten Sitz des Han-
dels und Ackerbaus völlig zu verderben und einen der Grund-
pfeiler der damaligen Civilisation frevelhaft niederzuwerfen? Die
Zeit war noch nicht gekommen, wo die ersten Männer Roms
sich hergaben zu Henkern der Civilisation der Nachbarn und
mit einer müssigen Thräne die ewige Schande der Nation von
sich abzuwaschen leichtfertig glaubten.


So war der zweite punische, oder wie die Römer ihn
richtiger nennen, der hannibalische Krieg beendigt, nachdem
er siebzehn Jahre vom Bosporos bis zu den Säulen des Her-
kules die Inseln und Landschaften verheert hatte. Hatte Rom
bis auf diesen Krieg sein politisches Ziel nicht höher gesteckt
als bis zu der Beherrschung des Festlandes der italischen
Halbinsel innerhalb seiner natürlichen Grenzen und der itali-
schen Inseln und Meere, so war man durch die Ergebnisse
des Krieges viel weiter geführt worden, als es in dem ur-
sprünglichen Plan lag; in welcher Hinsicht namentlich Beach-
tung verdient, wie fast zufällig Rom zu dem Besitz von Spa-
nien gelangte. Es ist mehr als wahrscheinlich und wird durch
die Behandlung Africas deutlich bewiesen, daſs man den Krieg
begann und beschloſs mit dem Gedanken nicht die Herrschaft
[480]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
über die Staaten am Mittelmeer oder die sogenannte Welt-
monarchie zu begründen, sondern einen gefährlichen Neben-
buhler unschädlich zu machen und Italien mit bequemen
Nachbaren zu umringen. Die Herrschaft über Italien hat Rom
errungen, weil es sie erstrebt hat; die Hegemonie und die
daraus entwickelte Herrschaft über das Mittelmeergebiet ist
den Römern gewissermaſsen ohne ihre Absicht von den Ver-
hältnissen zugeworfen worden. — Die unmittelbaren Resultate
des Krieges waren auſserhalb Italien die Verwandlung Spa-
niens in eine römische freilich in ewiger Insurrection begrif-
fene Doppelprovinz; die Vereinigung des bis dahin dependen-
ten syrakusanischen Reiches mit der römischen Provinz Sici-
lien; die Begründung des römischen statt des karthagischen
Patronats über die bedeutendsten numidischen Häuptlinge;
endlich die Verwandlung Karthagos aus einem mächtigen Han-
delsstaat in eine wehrlose Kaufstadt; mit einem Worte Roms
unbestrittene Hegemonie über den Westen des Mittelmeerge-
biets; ferner das entschieden ausgesprochene Ineinandergreifen
des östlichen und westlichen Staatensystems, das im ersten puni-
schen Krieg sich nur erst angedeutet hatte, und damit das dem-
nächst bevorstehende entscheidende Eingreifen Roms in die Con-
flicte der alexandrischen Monarchien. In Italien war zunächst
das Keltenvolk, wenn nicht schon vorher, doch jetzt sicher zum
Untergang bestimmt und nur noch eine Zeitfrage war es, wann
die Execution vollzogen werden würde. Innerhalb der römischen
Eidgenossenschaft war die Folge des Krieges das schärfere Her-
vortreten der herrschenden latinischen Nation, deren inneren
Zusammenhang die trotz einzelner Schwankungen doch im
Ganzen in treuer Gemeinschaft überstandene Gefahr fester
als bisher geschlossen hatte, und die steigende Unterdrückung
der nicht latinischen oder latinisirten Landschaften, namentlich
Etruriens und der unteritalischen Sabeller. Am schwersten
traf die Strafe oder vielmehr die Rache theils den mächtigsten,
theils den zugleich ältesten und letzten Bundesgenossen Hanni-
bals, die Gemeinde Capua und die Landschaft der Brettier.
Die capuanische Verfassung ward vernichtet und Capua aus
der zweiten Stadt in das erste Dorf Italiens umgewandelt;
den gesammten Grund und Boden mit Ausnahme weniger
Besitzungen Auswärtiger oder römisch gesinnter Campaner
erklärte der Senat zur öffentlichen Domäne und gab ihn seit-
dem an kleine Leute parzellenweise in Zeitpacht. Aehnlich
wurden die Picenter am Silarus behandelt; auch ihre Haupt-
[481]HANNIBALISCHER KRIEG.
stadt wurde geschleift und die Bewohner zerstreut in die um-
liegenden Dörfer. Der Brettier Loos war noch härter; sie
wurden in Masse gewissermaſsen zu Leibeigenen der Römer
gemacht und für ewige Zeiten vom Waffenrecht ausgeschlossen.
Aber auch die übrigen Verbündeten Hannibals büſsten schwer,
so die griechischen Städte mit Ausnahme der wenigen, die
beständig zu Rom gehalten hatten, wie die campanischen
Griechen und die Rheginer. Nicht viel weniger litten die
Arpaner und eine Menge anderer apulischer, lucanischer,
samnitischer Gemeinden, die groſsentheils Stücke ihrer Mark
verloren. Auf einem Theil der also gewonnenen Aecker wur-
den neue Colonien angelegt; so im Jahre 560 eine ganze
Reihe Bürgercolonien an den besten Häfen Unteritaliens, unter
denen Sipontum (bei Manfredonia) und Kroton zu nennen
sind, ferner Salernum, in dem ehemaligen Gebiet der süd-
lichen Picenter und diesen zur Zwingburg bestimmt, vor allem
aber Puteoli, das bald der Sitz der vornehmen Villeggiatur
und des asiatisch-ägyptischen Luxushandels ward. Ferner ward
Thurii latinische Festung unter dem neuen Namen Copia (560),
ebenso die reiche brettische Stadt Vibo unter dem Namen
Valentia (562). Auf anderen Grundstücken in Samnium und
Apulien wurden die Veteranen der siegreichen Armee von
Africa einzeln angesiedelt; der Rest blieb Gemeinland und die
Weideplätze der vornehmen Herren in Rom ersetzten die Hüt-
ten und das Pflugland. Es versteht sich, daſs auſserdem in
allen Gemeinden der Halbinsel eine vollständige Epurirung aller
namhaften nicht gut römisch gesinnten Leute vorgenommen
ward, so weit eine solche durch politische Prozesse und Güter-
confiscationen durchzusetzen war. Ueberall in Italien fühlten
die nichtlatinischen Bundesgenossen, daſs ihr Name eitel und
daſs sie fortan Unterthanen Roms seien; die Besiegung Han-
nibals ward als eine zweite Unterjochung Italiens empfunden.
Wie die Dinge standen, zeigt die ängstliche Sorgfalt, womit
während des folgenden makedonischen Krieges die Bewachung
Italiens vom Senat betrieben ward und die Verstärkungen, die
den wichtigsten Colonien — so Venusia 554, Narnia 555, Cosa
557 — von Rom her zugesandt wurden. — Im Staatsregiment
hatte die veränderte Stellung Roms jetzt allerdings unter den
leitenden Klassen eine Generation groſsgezogen, die nicht mehr
wie im ersten punischen Krieg mit der Kirchthurmspolitik die
Welt regieren zu können meinte; die Stellung des Senats ist
nach innen wie nach auſsen klar und fest. Allein zugleich
Röm. Gesch. I. 31
[482]DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
hatten sich die Gefahren herausgestellt, die die demokratischen
Elemente der römischen Verfassung dem neuen Groſsstaate droh-
ten. Man hatte nie verkennen können und nie in Rom ver-
kannt, daſs in den Urwahlen, wie sie dort bestanden, haupt-
sächlich der Zufall entschied, allein es lieſs sich dies ertragen,
so lange die moralische Gewalt des Senats über die Menge
den Zufall nöthigenfalls zu beherrschen im Stande war und
so lange überhaupt auf die Individualität der Bürgerwehrführer
und Jahrvorsteher nicht viel ankam. Jetzt begann jene Auto-
rität in der allgemeinen Zügellosigkeit und Uebermüthigkeit
zu schwinden und eben jetzt kam etwas mehr darauf an, wer
Consul ward, als da es gegen die Volsker und Aequer ging.
Man hatte in dieser Beziehung nach gemachten bitteren Erfah-
rungen allerdings wenn nicht die Sätze, doch die Uebung der
Verfassung zum Bessern verändert; es war dies der wesent-
liche Grund, dem man die Rettung und den Sieg verdankte.
Die Zukunft muſste lehren, ob jene Erfahrungen auf die Dauer
gefruchtet hatten. — Welche Lücken Krieg und Hunger in
die Reihen der italischen Bevölkerung gerissen hatten, zeigt
das Beispiel der römischen Bürgerschaft, deren Zahl während
des Krieges fast um den vierten Theil geschwunden war; selbst
die Angabe der Gesammtzahl der im hannibalischen Krieg
gefallenen Italiker auf 300000 Köpfe scheint durchaus nicht
übertrieben. Wie sehr endlich der siebzehnjährige Krieg, der
zugleich im Ausland nach allen vier Weltgegenden und im
Inland geführt worden war, die Volkswirthschaft im tiefsten
Kern erschüttert haben muſste, ist im Allgemeinen klar; zur
Ausführung im Einzelnen reicht die Ueberlieferung nicht hin.
Zwar der Staat gewann durch die Confiscationen und nament-
lich das campanische Gebiet blieb seitdem eine unversiegliche
Quelle der Staatsfinanzen; allein durch diese Ausdehnung der
Domänenwirthschaft ging natürlich der Volkswohlstand um
eben so viel zurück als er in anderen Zeiten gewonnen hatte
durch die Zerschlagung der Staatsländereien. Eine Menge
blühender Ortschaften — man rechnet vierhundert — war
vernichtet und verderbt, das mühsam gesparte Capital aufge-
zehrt, die Bevölkerung durch das Lagerleben demoralisirt, die
alte gute Tradition bürgerlicher und bäuerlicher Sitte von der
Hauptstadt bis in das letzte Dorf untergraben. Sclaven und
verzweifelte Leute thaten sich in Räuberbanden zusammen,
von deren Gefährlichkeit es einen Begriff giebt, daſs in einem
einzigen Jahre (569) allein in Apulien 7000 Menschen ver-
[483]HANNIBALISCHER KRIEG.
urtheilt werden muſsten. Die sich ausdehnenden Weiden mit
den halb wilden Hirtensclaven begünstigten diese heillose Ver-
wilderung des Landes und der italische Ackerbau sah sich in
seiner Existenz bedroht durch das zuerst in diesem Kriege auf-
gestellte Beispiel, daſs das römische Volk statt von selbst ge-
erntetem auch von sicilischem und ägyptischem Getreide ernährt
werden könne. — Dennoch durfte der Römer, dem die Götter be-
schieden hatten das Ende dieses Riesenkampfes zu erleben, stolz
in die Vergangenheit und zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Es war viel verschuldet, aber auch viel erduldet worden; das Volk,
dessen gesammte dienstfähige Jugend fast zehn Jahre hindurch
Schild und Schwert nicht abgelegt hatte, durfte manches sich
verzeihen. Jenes wenn auch durch wechselseitige Befehdung un-
terhaltene, doch im Ganzen friedliche und freundliche Zusammen-
leben der verschiedenen Nationen, wie es das Ziel der neueren
Völkerentwicklungen zu sein scheint, ist dem Alterthum fremd:
damals galt es Amboſs zu sein oder Hammer; und in dem Wett-
kampf der Sieger war der Sieg den Römern geblieben. Ob man
verstehen werde ihn zu benutzen, die latinische Nation immer
fester an Rom zu ketten, Italien allmählich zu latinisiren, die
Unterworfenen in den Provinzen als Unterthanen zu beherrschen,
nicht als Knechte auszunutzen, die Verfassung zu reformiren,
den schwankenden Mittelstand neu zu befestigen und zu erwei-
tern — das mochte Mancher fragen; wenn man es verstand, so
durfte Italien glücklichen Zeiten entgegensehen, in denen der auf
eigene Arbeit unter günstigen Verhältnissen gegründete Wohl-
stand und die entschiedenste politische Suprematie über die
damalige civilisirte Welt jedem Gliede des groſsen Ganzen ein
gerechtes Selbstgefühl, jedem Stolz ein würdiges Ziel, jedem
Talent eine offene Bahn geschaffen haben würde. Freilich
wenn nicht, nicht. Für den Augenblick aber schwiegen die
bedenklichen Stimmen und die trüben Besorgnisse, als von
allen Seiten die Krieger und Sieger in ihre Häuser zurück-
kehrten, als Dankfeste und Lustbarkeiten, Geschenke an Sol-
daten und Bürger an der Tagesordnung waren, die gelösten
Gefangenen heimgesandt wurden aus Gallien, Africa, Griechen-
land und endlich der jugendliche Sieger im glänzenden Zuge
durch die geschmückten Straſsen der Hauptstadt zog, um seine
Palme in dem Haus des Gottes niederzulegen, von dem, wie
sich die Gläubigen zuflüsterten, er zu Rath und That unmittel-
bar seine Eingebungen empfangen hatte.


31*
[[484]]

KAPITEL VII.



Der Westen vom hannibalischen Frieden bis zum
Ende der dritten Periode
.


Unter den Aemtern, mit denen Rom die italische Eid-
genossenschaft rings umgab, war eines der wichtigsten die
Provinz Ariminum oder Gallien, in deren Ordnung und Ein-
richtung man eben durch den hannibalischen Krieg unter-
brochen worden war. Es verstand sich von selbst, daſs man
jetzt da fortfahren würde, wo man aufgehört hatte, und die
Kelten begriffen es wohl. Schon im Jahre des Friedens-
schlusses mit Karthago (553) hatten im Gebiet der zunächst
bedrohten Boier die Kämpfe wieder begonnen, und ein erster
Erfolg, der ihnen gegen den eilig aufgebotenen römischen
Landsturm gelang, so wie das Zureden eines karthagischen
Offiziers Hamilkar, der von Magos Expedition her in Nord-
italien zurückgeblieben war, veranlaſsten im folgenden Jahr
(554) eine allgemeine Schilderhebung nicht bloſs der beiden
zunächst bedrohten Stämme, der Boier und Insubrer: auch
die Ligurer trieb die näher rückende Gefahr in die Waffen
und selbst die cenomanische Jugend hörte diesmal weniger
auf die Stimme ihrer vorsichtigen Behörden als auf den Noth-
ruf der bedrohten Stammgenossen. Von ‚den beiden Riegeln
gegen die gallischen Züge‘, Placentia und Cremona ward der
erste niedergeworfen — von der placentinischen Einwohner-
schaft retteten nicht mehr als 2000 das Leben —, der zweite
berannt. Eilig marschirten die Legionen heran um zu retten
was noch zu retten war. Vor Cremona kam es zu einer
[485]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
groſsen Schlacht, in der der punische Führer wohl versuchte
durch geschickte und kriegsmäſsige Leitung die Inferiorität
seiner Truppen zu ersetzen; aber trotz Hamilkars Führung
hielten die Gallier dem Andrang der Legionen nicht Stand
und flohen in wilder Verwirrung. Unter den zahlreichen Tod-
ten war auch der karthagische Offizier. Indeſs setzten die
Kelten den Kampf fort; dasselbe Heer, welches bei Cremona
gesiegt, wurde das nächste Jahr (555), hauptsächlich durch
die Schuld des sorglosen Führers, von den Insubrern fast
aufgerieben und erst 556 konnte Placentia nothdürftig wieder
hergestellt werden. Aber der Bund der zu dem Verzweiflungs-
kampf vereinigten Cantone ward in sich uneins; die Boier
und die Insubrer geriethen in Zwist und die Cenomanen tra-
ten nicht bloſs zurück von dem Nationalbunde, sondern er-
kauften auch die Verzeihung von den Römern durch schimpf-
lichen Verrath der Landsleute, indem sie während einer
Schlacht, die die Insubrer den Römern am Mincius lieferten,
ihre Bundes- und Kampfgenossen von hinten angriffen und
aufreiben halfen (557). So gedemüthigt und im Stich gelassen
bequemten sich die Insubrer nach dem Fall von Comum gleich-
falls zu einem Sonderfrieden (558). Die Bedingungen, welche
Rom den Cenomanen und Insubrern vorschrieb, waren aller-
dings härter, als sie den Gliedern der italischen Eidgenossen-
schaft gewährt zu werden pflegten; namentlich vergaſs man
nicht die Scheidewand zwischen Italikern und Kelten gesetzlich
zu befestigen und zu verordnen, daſs nie ein Bürger dieser
beiden Keltenstämme das römische Bürgerrecht solle gewinnen
können. Indeſs lieſs man ihnen ihre Existenz; ihr Gebiet,
in das die räuberischen Alpenbewohner regelmäſsige Razzias
zu machen pflegten, ward nicht zu dem der Eidgenossenschaft
gezogen, welches vielmehr der Po begrenzte. Wie rasch übri-
gens die Latinisirung dieser Keltenlandschaften vorschritt, be-
weist das Zeugniſs des Polybios, der etwa vierzig Jahre später
diese Gegenden bereiste, daſs daselbst nur noch wenige Dörfer
unter den Alpen keltisch geblieben seien — ein Bericht, der
übertrieben scheint, aber auch so beweist, daſs die Cultur-
stufe, auf der diese Kelten standen, eine bei weitem niedri-
gere war als die der Sabeller und Etrusker. Die Veneter
dagegen scheinen ihre Nationalität länger behauptet zu haben.
— Das hauptsächliche Bestreben der Römer war in diesen
Landschaften begreiflicher Weise darauf gerichtet dem Nach-
rücken der transalpinischen Kelten zu steuern und die natür-
[486]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
liche Scheidewand der Halbinsel und des inneren Continents
auch als politische Grenze festzustellen. Daſs die Furcht vor
dem römischen Namen auch schon zu den nächstliegenden
keltischen Cantonen jenseit der Alpen gedrungen war, zeigt
nicht bloſs die vollständige Unthätigkeit, mit der dieselben
der Vernichtung oder Unterjochung ihrer diesseitigen Lands-
leute zusahen, sondern mehr noch die officielle Miſsbilligung
und Desavouirung, welche die transalpinischen Cantone — man
wird zunächst an die Helvetier (zwischen dem Genfersee und
dem Main) und an die Carner und Taurisker (in Kärnthen
und Steiermark) zu denken haben — gegen die beschwerde-
führenden römischen Gesandten aussprachen über die Ver-
suche einzelner keltischer Haufen sich diesseit der Alpen in
friedlicher Weise anzusiedeln, nicht minder die demüthige Art, in
welcher diese Auswandererhaufen selbst zuerst bei dem römi-
schen Senat um Landanweisung bittend einkamen, alsdann
aber dem strengen Gebot über die Alpen zurückzugehen ohne
Widerrede sich fügten (568 fg. 575) und die Stadt, die sie
12000 Schritt von Aquileia schon angelegt hatten, zerstören
lieſsen. Mit weiser Strenge gestattete der Senat keinerlei
Ausnahme von dem Grundsatz, daſs die Alpenthore für die
keltische Nation fortan geschlossen seien, und schritt mit
schweren Strafen gegen diejenigen römischen Unterthanen ein,
die solche Uebersiedlungsversuche von Italien aus veranlaſst
hatten. Ein solcher Versuch, welcher auf einer bis dahin den
Römern unbekannt gebliebenen Straſse im innersten Winkel
des adriatischen Meeres stattfand, mehr aber noch, wie es
scheint, der Plan Philipps von Makedonien wie Hannibal von
Westen so seinerseits von Osten her in Italien einzufallen, veran-
laſsten die Gründung einer Festung in dem äuſsersten nord-
östlichen Winkel Italiens, der nördlichsten italischen Colonie
Aquileia (571-573), die nicht bloſs diesen Weg den Fremden
für immer zu verlegen, sondern auch die dortige für die
Schifffahrt vorzüglich gelegene Meeresbucht zu sichern und
der immer noch nicht ganz ausgerotteten Piraterie in diesen
Gewässern zu steuern bestimmt war. Die Anlage derselben
veranlaſste einen Krieg gegen die Istrier (576, 577), der mit
der Erstürmung einiger Castelle und dem Fall des Königs
Aepulo schnell beendigt war und durch nichts merkwürdig ist
als durch den panischen Schreck, den die Kunde von der
Ueberrumpelung des römischen Lagers durch eine Handvoll
Barbaren bei der Flotte und sodann in ganz Italien hervorrief.


[487]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.

Anders verfuhr man in der Landschaft diesseit des Padus,
wo der römische Senat beschlossen hatte mit den Kelten,
ein Ende zu machen und mit den Boiern zu wiederholen,
was achtzig Jahre zuvor mit den Senonen geschehen war.
Die Boier wehrten sich mit verzweifelter Entschlossenheit.
Noch einmal ward der Padus von ihnen überschritten und
ein Versuch gemacht die Insubrer wieder unter die Waffen
zu bringen (560); ein Consul ward in seinem Lager von
ihnen blokirt und wenig fehlte, daſs er unterlag; Placentia
hielt sich mühsam gegen die ewigen Angriffe der erbitterten
Eingeborenen. Bei Mutina endlich ward die letzte Schlacht
geliefert; sie war lang und blutig, aber die Römer siegten
(561) und seitdem war der Krieg kein Kampf mehr, sondern
eine Hetze. Die einzige Freistatt im boischen Gebiet war
bald das römische Lager, in das der noch übrige bessere
Theil der Bevölkerung sich zu flüchten begann, und die Sieger
konnten nach Rom berichten, ohne sehr zu übertreiben, daſs
von der Nation der Boier nichts mehr übrig sei als Kinder
und Greise. So freilich muſste sie sich ergeben in das
Schicksal, das ihr bestimmt war. Die Römer forderten Ab-
tretung des halben Gebietes (563); sie konnte nicht verwei-
gert werden, aber auch auf dem geschmälerten Bezirk, der
den Boiern blieb, verschwanden sie bald und verschmolzen
mit ihren Siegern* Das Land südwärts vom Po, wenn es
[488]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
auch nicht förmlich zu Italien gezogen ward, erhielt doch
italische Organisation und städtische Ordnung; jenseit des
Padus begann die Gauverfassung nach keltischer Art, der
Clans mit festen Gebieten, aber ohne eigentliche Hauptstädte.
— Nachdem die Römer also sich reinen Boden geschaffen
hatten, wurden die Festungen Placentia und Cremona, deren
Colonisten während der letzten unruhigen Jahre groſsentheils
hingerafft worden waren oder sich verlaufen hatten, wieder
organisirt und neue Ansiedler dorthin gesandt; neu gegründet
wurden in und bei dem ehemaligen senonischen Gebiet Po-
tentia (bei Recanati unweit Ancona; 570) und Pisaurum (Pe-
saro; 570), ferner in der neu gewonnenen boischen Land-
schaft die Festungen Bononia (565), Mutina (571) und Parma
(571), von denen die Colonie Mutina schon vor dem hanni-
balischen Krieg angelegt und nur der Abschluſs der Gründung
durch diesen unterbrochen worden war. Wie immer verband
sich mit der Anlage der Festungen auch die von Militär-
chausseen; es wurde die flaminische Straſse von ihrem nörd-
lichen Endpunct Ariminum unter dem Namen der aemilischen
bis Placentia verlängert (567) und eine kürzere Verbindung
zwischen Rom und den Pofestungen durch eine zweite Straſse
hergestellt, die die ältere Straſse von Rom nach Arretium
über den Apennin bis nach Bononia fortführte und dort in
die aemilische Straſse mündete.


In dem nordwestlichen italischen Gebirgsland, dessen
Thäler und Hügel hauptsächlich von dem vielgetheilten ligu-
rischen Stamm eingenommen waren, verfuhren die Römer in
ähnlicher Weise. Was südlich von der Magra wohnte, ward
vertilgt. Es traf dies hauptsächlich die Apuaner, die auf dem
Apennin zwischen dem Arno und der Magra wohnend einer-
seits das Gebiet von Pisa, andrerseits das von Bononia und
Mutina unaufhörlich plünderten. Was hier nicht dem Schwert
der Römer erlag, ward nach Unteritalien in die Gegend von
Benevent übergesiedelt (574) und durch energische Maſsregeln
die ligurische Nation, welcher man noch im Jahre 578 die
von ihr eroberte Colonie Mutina wieder abnehmen muſste, in
den Bergen, die das Pothal von dem des Arno scheiden, voll-
ständig unterdrückt. Die 577 auf dem ehemals apuanischen
Gebiet angelegte Festung Luna unweit Spezzia deckte die
Grenze gegen die Ligurer ähnlich wie Aquileia gegen die
Transalpiner und gab zugleich den Römern einen vortrefflichen
Hafen, der seitdem für die Ueberfahrt nach Massalia und nach
[489]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
Spanien die gewöhnliche Station ward. Gegen die westliche-
ren ligurischen Stämme, die die genuesischen Apenninen und
die Seealpen inne hatten, ruhten die Kämpfe nie. Es waren
unbequeme Nachbaren, die zu Lande und zur See zu plündern
pflegten; die Pisaner und die Massalioten hatten von ihren
Einfällen und ihren Corsarenschiffen nicht wenig zu leiden.
Bleibende Ergebnisse wurden indeſs bei den ewigen Fehden
nicht gewonnen und vielleicht auch nicht bezweckt; auſser
daſs man, wie es scheint, darauf ausging den Landweg nach
Spanien freizumachen und die groſse Küstenstraſse von Luna
über Massalia nach Emporiae wenigstens bis an die Alpen
sich zu bahnen; jenseits der Alpen war es die Aufgabe der
Massalioten den römischen Schiffen die Küstenfahrt und den
Landreisenden die Uferstraſse offen zu halten. Das Binnen-
land mit seinen unwegsamen Thälern und seinen Felsen-
nestern, mit seinen armen, aber gewandten und verschlagenen
Bewohnern diente den Römern hauptsächlich als Kriegsschule
zur Uebung und Abhärtung der Soldaten wie der Offiziere. —
Aehnliche sogenannte Kriege wie gegen die Ligurer führte
man gegen die Corsen und mehr noch gegen die Bewohner
des innern Sardinien, welche die gegen sie gerichteten Raub-
züge durch Ueberfälle der Küstenlandschaft vergalten. Im
Andenken geblieben ist die Expedition des Tiberius Gracchus
gegen die Sarden 577, nicht so sehr weil er der Provinz den
‚Frieden‘ gab, sondern weil er bis 80000 der Insulaner er-
schlagen oder gefangen zu haben behauptete und Sclaven von
dort in solcher Masse nach Rom schleppte, daſs es Sprich-
wort ward ‚spottwohlfeil wie ein Sarde‘.


In Africa, wo die Römer unmittelbare Besitzungen nicht
hatten noch haben wollten, ging ihr Bestreben dahin unter
den libyschen Eingebornen, den natürlichen Feinden ihrer
phoenikischen Zwingherren, einen Staat groſszuziehen, nicht
bedeutend genug, um ohne Roms Schutz etwas zu vermögen,
doch genügend, um Karthagos Macht, nachdem dieselbe auſser-
halb Africa vernichtet worden war, auch in Libyen so einzu-
schnüren, daſs es der gequälten Stadt unmöglich werde sich
je wieder zu rühren. Der hiezu ausersehene unter den ein-
gebornen Häuptlingen war der Herr von Cirta Massinissa, bis-
her der schwächere Nebenbuhler des mächtigsten westafrica-
nischen Scheiks Syphax von Siga. Der letztere, der für
Karthago Partei ergriffen, war in dem letzten Krieg überwun-
den und gefangen nach Italien abgeführt worden, wo er in
[490]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
der Haft starb; sein Sohn Vermina erlangte durch demüthiges
Bitten von den Römern den Besitz eines kleinen Theils des
väterlichen Gebiets (554), allein er vermochte nicht den Mas-
sinissa um die Stellung des bevorzugten Drängers von Kar-
thago zu bringen, welche diesem das ältere römische Bünd-
niſs zuwarf. Massinissa nutzte zur Erweiterung seiner Macht
sorgfältig die Gunst, deren er in Rom genoſs und welche die
Römer bei allen Gelegenheiten mit absichtlicher Deutlichkeit
hervortreten lieſsen, so daſs man sogar ihm die Ehre erwies,
die nichtitalischen Bundesgenossen nicht leicht auſserhalb ihrer
Heimath gespendet ward, mit seinen numidischen Reitern
neben den Legionen gegen Philippos fechten zu dürfen, und
ihm schon 554 Gebietserweiterungen in Aussicht stellte —
natürlich auf Kosten Karthagos. Es war das nicht schwer
bei der Unsicherheit der africanischen Grenzverhältnisse, wel-
che theils in der Natur der Landschaft, theils vielleicht auch
in der Absicht der römischen Ordner begründet war; die Be-
stimmung des Friedensvertrags, die den Karthagern zwar ihr
Gebiet ungeschmälert lieſs, aber Massinissa alle diejenigen
Besitzungen garantirte, die er oder sein Vorweser innerhalb
der karthagischen Grenzen besessen hatten, sieht fast so aus,
als wäre sie da um Controversen nicht zu heben, sondern
zu wecken. Aehnlich steht es mit der durch den römischen
Friedenstractat den Karthagern auferlegten Verpflichtung nicht
gegen römische Bundesgenossen Krieg zu führen, so daſs sie
nach dem Wortlaut des Vertrags nicht einmal aus ihrem eige-
nen und unbestrittenen Gebiet den numidischen Nachbar zu
vertreiben befugt waren. Unter solchen Verhältnissen und
bei der Parteilichkeit der einzigen Macht, die hier als Schieds-
richter einschreiten konnte, ist die peinliche Lage Karthagos
begreiflich. Schon 561 sah Karthago sich unter nichtigen
Vorwänden überfallen und den reichsten Theil seines Gebiets,
die Landschaft Emporiae an der kleinen Syrte, theils von den
Numidiern geplündert, theils sogar von ihnen in Besitz ge-
nommen. So gingen die Uebergriffe beständig weiter; das
platte Land kam in die Hände der Numidier und mit Mühe
behaupteten die Karthager sich in den gröſseren Ortschaften.
Alle Bitten und Beschwerden hatten nur den Erfolg, daſs
entweder römische Commissionen in Africa erschienen, die
nach gründlicher Untersuchung zu keiner Entscheidung kamen,
oder bei den Verhandlungen in Rom die Beauftragten Massi-
nissas Mangel an Instructionen vorschützten und die Sache
[491]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
vertagt ward. So erklärten zum Beispiel die Karthager ein-
mal (582), daſs ihnen bloſs in den letzten zwei Jahren wieder
siebzig Dörfer vertragswidrig entrissen worden seien und be-
schworen den römischen Senat ihnen entweder zu gestatten
sich mit den Waffen zu vertheidigen, oder ein Schiedsgericht
mit Spruchgewalt zu bestellen, oder die Grenze neu zu regu-
liren, damit sie wenigstens ein für allemal erführen, wie viel
sie einbüſsen sollten; besser sei es sonst sie geradezu zu
römischen Unterthanen zu machen als sie so allmählig den
Libyern auszuliefern. Der römische Senat mäſsigte wohl zu-
weilen den allzugroſsen Ungestüm der Libyer, die ihren alten
Peinigern jetzt das Erlittene reichlich vergalten; aber eine
Abstellung der Beschwerden erfolgte nicht, denn im Grunde
war es eben diese Quälerei Karthagos, um deren willen
Massinissa von den Römern der Stadt als Nachbar gesetzt
worden war. Nur phoenikische Geduld war im Stande sich
in eine solche Lage mit Ergebung zu schicken, ja sogar den
Machthabern jeden Dienst und jede Artigkeit, die sie be-
gehrten und nicht begehrten, mit unermüdlicher Beharrlichkeit
zu erweisen und namentlich durch Kornsendungen um die
römische Gunst zu buhlen; man hoffte wenigstens die com-
munale Freiheit, auf die sich Karthago thatsächlich beschränkt
sah, für die Stadt zu retten. In der That suchte Karthago
nach dem Sturz seiner politischen Macht nicht ohne Erfolg
sich im Innern zu regeneriren. Die bessernde Macht der
Noth und wohl auch Hannibals klarer, groſsartiger und der
Menschen mächtiger Geist bewirkten politische und finanzielle
Reformen. Die Oligarchie, die durch Erhebung der Criminal-
untersuchung gegen den groſsen Feldherrn wegen absichtlich
unterlassener Einnahme Roms und Unterschlagung der itali-
schen Beute das Maſs ihrer verbrecherischen Thorheiten voll
gemacht hatte — diese verfaulte Oligarchie wurde auf Han-
nibals Antrag über den Haufen geworfen und ein demokrati-
sches Regiment eingeführt, wie es den Verhältnissen der Bür-
gerschaft angemessen war (vor 559). Die Finanzen wurden
durch Beitreibung der rückständigen und unterschlagenen Gel-
der und durch Einführung einer besseren Controle so schnell
wieder geordnet, daſs ohne die Bürger irgendwie mit auſser-
ordentlichen Steuern zu belasten die römische Contribution
gezahlt, ja sogar schon 567 die sofortige Leistung der sämmt-
lichen Terminzahlungen angeboten werden konnte — ein An-
erbieten, das die Römer freilich, denen an der Tributpflich-
[492]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
tigkeit Karthagos mehr gelegen war als an der Geldsumme
selbst, begreiflicher Weise ablehnten. Mit neidischen Augen
sahen sie, daſs die Stadt trotz aller angewandten Mühe doch
nicht zu ruiniren war. Dies nährte ihre Furcht und immer
aufs Neue lief durch Rom das Gerücht, daſs ein dritter pu-
nischer Krieg vor der Thür sei; was denn jedesmal das Sig-
nal war zu neuen diplomatischen Miſshandlungen von römi-
scher, zu neuen Schädigungen von Massinissas Seite. Bald
sollte Hamilkar, der im nördlichen Italien die Kelten gegen
die Römer führte (554), dies im Auftrag seiner Regierung
gethan haben; bald sollte Hannibal Verbindungen anspinnen
mit Antiochos (559); bald hatte nach dessen Entfernung ein
Emissär von ihm, Ariston von Tyros sich in Karthago blicken
lassen, um die Bürger auf die Landung einer asiatischen
Kriegsflotte in Karthago vorzubereiten (561); bald hatte der
Rath in geheimer nächtlicher Sitzung im Tempel des Aescula-
pius den Gesandten des Perseus Audienz gegeben (580); bald
sprach man in Rom von der gewaltigen Flotte, die Karthago
rüste für den makedonischen Krieg (583). Es ist allerdings
mehr als wahrscheinlich, daſs Hannibal es keineswegs aufge-
geben hatte seine Vaterstadt abermals gegen Rom zu bewaff-
nen und sie in den nahe bevorstehenden Kampf der östlichen
Mächte zu verwickeln; es war keine eingebildete Gefahr, daſs
die karthagische Flotte in Italien landen und ein zweiter
hannibalischer Krieg dort sich entspinnen könne, während
die römischen Legionen in Kleinasien fochten. Man kann
darum die Römer kaum tadeln, wenn sie eine Gesandtschaft
nach Karthago schickten (559), die wahrscheinlich beauftragt
war Hannibals Auslieferung zu fordern. Die grollenden kar-
thagischen Oligarchen, die Briefe über Briefe nach Rom sand-
ten um den Mann, der sie gestürzt, wegen geheimer Verbin-
dungen mit den antirömisch gesinnten Mächten dem Landesfeind
zu denunciren, sind verächtlich, aber ihre Meldungen waren
wahrscheinlich richtig; und so wahr es auch ist, daſs in jener
Gesandtschaft ein demüthigendes Eingeständniſs der Furcht
des mächtigsten Volkes vor dem einfachen Schofeten von Kar-
thago lag, so begreiflich und ehrenwerth es ist, daſs der stolze
Sieger von Zama im Senat Einspruch that gegen diesen er-
niedrigenden Schritt, so war doch jenes Eingeständniſs eben
nichts andres als die schlichte Wahrheit, und Hannibal eine
so auſserordentliche Natur, daſs nur römische Gefühlspolitiker
ihn länger an der Spitze des karthagischen Staats dulden
[493]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
konnten. Die eigenthümliche Anerkennung, die er bei dem
Landesfeind fand, kam ihm selbst schwerlich überraschend.
Wie Hannibal und nicht Karthago den letzten Krieg geführt
hatte, so hatte auch Hannibal das zu tragen, was den Be-
siegten trifft. Die Karthager konnten nichts thun als sich
fügen und ihrem Stern danken, daſs Hannibal, durch seine
rasche und besonnene Flucht nach dem Orient die gröſsere
Schande ihnen ersparend, seiner Vaterstadt bloſs die mindere
lieſs ihren gröſsten Bürger auf ewige Zeiten aus der Heimath
verbannt, sein Vermögen eingezogen und sein Haus geschleift zu
haben. Das tiefsinnige Wort aber, daſs diejenigen die Lieblinge
der Götter sind, denen sie die unendlichen Freuden und die
unendlichen Leiden ganz verleihen, hat also an Hannibal in vol-
lem Maſse sich bewährt. — Schwerer als das Einschreiten gegen
Hannibal läſst es sich verantworten, daſs man nach dessen
Entfernung nicht aufhörte die Stadt zu beargwohnen und zu
plagen. Zwar gährten dort wie begreiflich die Parteien; es
gab noch eine Patriotenpartei, ja sogar eine Partei, die mit
den Libyern gemeinschaftliche Sache machen wollte, allein
die römisch Gesinnten waren und blieben dennoch am Regi-
ment und man hätte sich wohl in Rom beruhigen können,
wenn nicht die gründliche Angst vom hannibalischen Kriege
her noch immer nachgewirkt hätte, deren die Menge, ja selbst
der gewöhnliche Schlag der Herren von der Regierung sich
zu entschlagen nicht vermochte.


Während also die Macht der Phoenikier in dem Lande
ihrer Wahl ebenso dahinsank wie sie längst in ihrer Heimath
erlegen war, erwuchs unter der Gunst Roms und der kräftigen
Leitung eines begabten einheimischen Regenten die bis dahin
barbarische und unterdrückte libysche Nation zu einem sich
rasch civilisirenden und mächtigen Staate und die Residenz
Cirta zu einer lebhaften Hauptstadt. Massinissa vereinigte mit
seinem väterlichen Reiche theils im Wesentlichen das des Sy-
phax, theils eine Menge von dem karthagischen Gebiet allmählich
abgerissener Stücke; so daſs sein Reich sich ausdehnte vom
Flusse Molochath (jetzt Mluia an der maroccanisch-französi-
schen Grenze) bis an die Grenze von Kyrene und von Westen,
Süden und Norden das karthagische Gebiet umschloſs. Die
alte Sidonierstadt Groſsleptis ward nicht bloſs den Numidiern
gehorsam, sondern die einheimische Sitte und Sprache fing
dort an die phoenikische zu verdrängen; selbst das obere
Thal des Bagradas (Medscherda) mit der reichen Stadt Vacca
[494]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
war dem König unterthan und überall drückte er in nächster
Nähe auf die Karthager. Aber es war nicht bloſs das ge-
schmälerte Gebiet, wodurch Karthago Eintrag geschah; die
‚schweifenden Hirten‘ (νομάδες) wurden ein anderes Volk
durch ihren groſsen König und begannen Ackerbau zu treiben
und sich ansässig zu machen, wobei der König mit seinem
Beispiel voranging — weithin machte er die Felder urbar
und konnte jedem seiner Söhne bedeutende Ackergüter hinter-
lassen. Wie er seine Hirten umschuf in Bürger, verwandelte
er seine Plündererhorden in Soldaten und hinterlieſs seinem
Nachfolger eine überreiche Schatzkammer und ein wohldisci-
plinirtes Heer. Die bisher unterdrückte Nationalität hob sich
in ihren eigenen Augen und der Libyer fing an dem Phoenikier
sich gleich, ja sich überlegen zu fühlen; die karthagischen
Gesandten muſsten in Rom es hören, daſs sie Fremdlinge
seien in Africa und das Land den Libyern gehöre. Die
Seele dieses merkwürdigen Aufschwungs einer, wie es schien,
im Verkommen begriffenen Nation war Massinissa; ein merk-
würdiger Mann, den die Natur und das Glück wunderbar
begünstigt hatten. Er brachte sein Leben auf neunzig Jahre
(516-605), seine Regierung auf sechzig; noch im hohen
Alter vermochte er einen vollen Tag auf demselben Platz zu
stehen ohne die Stellung zu wechseln und im sechs und acht-
zigsten Jahre ward ihm ein Sohn geboren. Er verstand es
Zucht in seinem Hause zu halten wie Ordnung in seinem
Lande und erprobte von den Wechselfällen des Geschickes
eben genug um dessen Gunst zu verdienen und zu empfinden.
Es leidet keinen Zweifel, daſs er in Karthago seine künftige
Hauptstadt sah; die libysche Partei daselbst ist dafür be-
zeichnend. Die nationale Civilisation Nordafricas, die selbst
in der nivellirenden Kaiserzeit noch lebensfähig und kräftig
dasteht, ist viel weniger das Werk der Karthager als das des
Massinissa.


In Spanien fügten die griechischen und punischen Städte
an der Küste, wie Emporiae, Neukarthago, Gades sich um so
bereitwilliger der römischen Herrschaft, als sie selbst kaum
im Stande gewesen wären sich gegen die Eingebornen zu
schützen; wie aus gleichen Gründen Massalia, obwohl bei
weitem bedeutender und wehrhafter als jene Städte, es doch
nicht versäumte durch engen Anschluſs an die Römer, denen
Massalia als Zwischenstation zwischen Italien und Spanien viel-
fach nützlich wurde, sich einen mächtigen Rückhalt zu sichern.
[495]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
Die Eingebornen dagegen machten den Römern unsäglich zu
schaffen. Zwar fehlte es keineswegs an Ansätzen zu einer
national-iberischen Civilisation, von deren Eigenthümlichkeit
freilich es uns nicht wohl möglich ist eine deutliche Vorstel-
lung zu gewinnen. Wir finden bei den Iberern eine weit-
verbreitete nationale Schrift, die sich in zwei Hauptarten, die
des Ebrothals und die andalusische und vermuthlich jede von
diesen wieder in mannigfache Verzweigungen spaltet und
deren Ursprung in sehr frühe Zeit hinaufzureichen und eher
auf das altgriechische als auf das punische Alphabet zurück-
zugehen scheint. Von den Turdetanern (um Sevilla) ist sogar
überliefert, daſs sie Lieder aus uralter Zeit, ein metrisches
Gesetzbuch von 6000 Zeilen, ja sogar geschichtliche Aufzeich-
nungen besaſsen; allerdings wird diese Völkerschaft die civi-
lisirteste unter allen spanischen genannt und zugleich die am
wenigsten kriegerische, wie sie denn auch ihre Kriege regel-
mäſsig mit fremden Söldnern führte. Auf dieselbe Gegend
werden auch wohl Polybios Schilderungen zu beziehen sein
von dem blühenden Stand des Ackerbaus und der Viehzucht
in Spanien, durch die bei dem Mangel an Ausfuhrgelegenheit
Korn und Fleisch um Spottpreise zu haben war, und von den
prächtigen Königspalästen mit den goldenen und silbernen
Krügen voll ‚Gerstenwein‘. Auch die Culturelemente, die
die Römer mitbrachten, faſste wenigstens ein Theil der Spanier
eifrig auf, so daſs früher als irgendwo sonst in den über-
seeischen Provinzen eine Latinisirung sich in Spanien vor-
bereitete. So kam zum Beispiel schon in dieser Epoche der
Gebrauch der warmen Bäder nach italischer Weise auch bei den
Eingebornen auf. Auch das römische Geld ist allem Anschein
nach weit früher als irgendwo sonst auſserhalb Italien in
Spanien nicht bloſs gangbar, sondern auch nachgemünzt wor-
den; was durch die reichen Silberbergwerke des Landes
einigermaſsen begreiflich wird. Das sogenannte ‚Silber von
Osca‘ (jetzt Huesca in Arragonien), das heiſst spanische Denare
mit iberischen Aufschriften, wird schon 559 erwähnt und viel
später kann die Prägung schon deſshalb nicht begonnen haben,
weil das Gepräge dem der ältesten römischen Denare nach-
geahmt ist. Im innern Spanien dagegen, zum Beispiel in
Intercatia noch um 600, kannte man den Gebrauch des Gol-
des und Silbers nicht. Allein mochte auch in den südlichen
und östlichen Landschaften die Gesittung der Eingebornen der
römischen Civilisation und der römischen Herrschaft soweit
[496]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
vorgearbeitet haben, daſs diese dort nirgends auf ernstliche
Schwierigkeiten stieſsen, so war dagegen der Westen und Nor-
den und das ganze Binnenland besetzt von zahlreichen mehr
oder minder rohen Völkerschaften, die sich ebensowenig unter
einander wie mit den Römern vertrugen. Die Eingebornen
waren voll Unruhe und Kriegslust und selbst in offener Feld-
schlacht nicht verächtliche Gegner, die mit ihrem kurzen
zweischneidigen Schwert, welches später die Römer von ihnen
annahmen, und ihren gefürchteten Sturmcolonnen nicht selten
selbst die römischen Legionen zum Wanken brachten. Wäre
der Sinn nationaler Einheit in ihnen mächtig gewesen, viel-
leicht hätten sie es vermocht sich der aufgedrungenen Fremd-
herrschaft zu entledigen; aber ihre Tapferkeit war die des
Soldaten, nicht des Bürgers, und es fehlte ihr gar sehr am
politischen Verstand. Charakteristisch für dies ritterliche
Wesen der Ahnherren Don Quixotes ist die Ausforderung, die
zwanzig Jahre nach dem Ende des hannibalischen Krieges
die Einwohner der kleinen keltiberischen Stadt Complega (in
der Gegend der Tajoquellen) dem römischen Feldherrn zu-
schickten: er habe ihnen für jeden gefallenen Mann ein Pferd,
ein Schwert und einen Mantel zu senden, sonst werde es ihm
übel ergehen. Stolz auf ihre Waffenehre, so daſs sie häufig
es nicht ertrugen die Schmach der Entwaffnung zu überleben,
waren die Spanier dennoch geneigt jedem Werber zu folgen
und für jeden fremden Span ihr Leben einzusetzen — be-
zeichnend ist die Botschaft, die ein der Landessitte wohl
kundiger römischer Feldherr einem keltiberischen im Solde
der Turdetaner gegen die Römer fechtenden Schwarm zu-
sandte: entweder nach Hause zu kehren, oder für doppelten
Sold in römische Dienste zu treten, oder Tag und Ort zur
Schlacht zu bestimmen. Zeigte sich kein Werbeoffizier, so
trat man auch wohl auf eigene Hand zu Freischaaren zusam-
men um die friedlicheren Landschaften zu brandschatzen, ja
sogar die Städte einzunehmen und zu besetzen, ganz in cam-
panischer Weise. Wie unsicher das Binnenland war, zeigt
zum Beispiel, daſs in einigermaſsen aufgeregten Zeiten die
römischen Commandanten des jenseitigen Spaniens auf der
Heimreise eine Escorte bis zu 6000 Mann mit sich nahmen,
und deutlicher noch der seltsame Verkehr, den in der grie-
chisch-spanischen Doppelstadt Emporiae an der östlichen
Spitze der Pyrenäen die Griechen mit ihren spanischen Nach-
baren pflogen. Die griechische Ansiedlung, die auf einer
[497]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
Halbinsel lag und an der Landseite von dem spanischen
Stadttheil durch eine Mauer getrennt war, lieſs diese jede
Nacht durch den dritten Theil ihrer Bürgerwehr besetzen und
an dem einzigen Thor einen höheren Beamten beständig die
Wache versehen; kein Spanier durfte die Stadt betreten und
die Griechen brachten den Eingebornen die Waaren nur zu
in starken und wohl escortirten Abtheilungen. Die Internirung
westlich von Cartagena galt den Römern als schwere Strafe.
— So war das Land beschaffen, dessen Behauptung und Re-
gierung den Römern seit dem zweiten punischen Kriege oblag.
In Folge desselben erwarben dieselben in Spanien zwei ver-
schiedene Gebiete, die eigentlich karthagische Provinz, die
zunächst die heutigen Landschaften Andalusien, Granada,
Murcia und Valencia umfaſst, und die Ebrolandschaft, das
Standquartier der römischen Heere während des letzten Krie-
ges; aus welchen Gebieten die beiden römischen Provinzen
des jen- und diesseitigen Spaniens hervorgingen, deren Grenz-
linie — im Wesentlichen der Ebro — im Jahre 557 regulirt
ward. Hinsichtlich der Abgaben behielt man das karthagische
System bei, nach dem die einzelnen Städte und Häuptlinge
nicht, wie in dem friedlicheren Sicilien, den Zehnten, sondern
feste Abgaben an Geld und sonstigen Leistungen entrichteten.
Eigenthümlich, aber bei dem ewigen Kriegsstand in der Pro-
vinz wohl erklärlich, war es, daſs man ihnen nicht bloſs
Steuern auflegte, sondern auch die Stellung von Zuzug. Der
hauptsächliche Gewinn, den die Römer aus dem Lande zogen,
bestand in dem Ertrag der wichtigen Eisen- und der noch
wichtigeren Silbergruben, deren Bewirthschaftung namentlich
Marcus Cato regulirte (559) und deren Ruhm früh bis in den
fernen Orient drang. * Das Binnenland, ungefähr den beiden
Castilien entsprechend, das die Römer unter dem Namen
Keltiberien zusammenfaſsten, suchte man allmählich unter
römische Botmäſsigkeit zu bringen, während man sich be-
gnügte die Bewohner der westlichen Landschaften, namentlich
die Lusitanier im heutigen Portugal und dem spanischen
Estremadura, von Einfällen in das römische Gebiet abzuhalten
und mit den Stämmen an der Nordküste, den Gallaekern,
Asturern und Cantabrern noch gar nicht sich berührte. Die
Röm. Gesch. I. 32
[498]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
Behauptung und Befestigung der gewonnenen Erfolge war in-
deſs nicht durchzuführen ohne eine stehende Besatzung, indem
dem Vorsteher des diesseitigen Spanien namentlich die Bändi-
gung der Keltiberer und dem des jenseitigen die Zurückweisung
der Lusitanier jährlich zu schaffen machte. Es ward somit
nöthig in Spanien ein römisches Heer von vier starken Legio-
nen oder etwa 40000 Mann Jahr aus Jahr ein auf den Beinen
zu halten; wobei es dennoch sehr häufig erforderlich war in
den von Rom besetzten Landschaften den Landsturm aufzu-
bieten und damit die Legionen zu verstärken. Es war dies
in doppelter Weise von groſser Wichtigkeit, indem hier zuerst,
wenigstens zuerst in gröſserem Umfang, ein stehendes römi-
sches Heer erscheint und hier zuerst auch der Dienst anfängt
dauernd zu werden. Die alte römische Weise nur dahin
Truppen zu senden, wohin das augenblickliche Kriegsbedürf-
niſs sie rief, und auſser in sehr schweren und wichtigen
Kriegen die einberufenen Leute nicht über ein Jahr bei der
Fahne zu halten, erwies sich als schlechterdings unverträglich
mit der Behauptung der unruhigen, fernen und überseeischen
spanischen Aemter; es war schlechterdings unmöglich die
Truppen von da wegzuziehen und sehr gefährlich sie auch
nur in Masse abzulösen. Die römische Bürgerschaft fing an
inne zu werden, daſs die Herrschaft über ein fremdes Volk
nicht bloſs für den Knecht eine Plage ist, sondern auch für
den Herrn, und murrte laut über den verhaſsten spanischen
Kriegsdienst. Während die neuen Feldherren mit gutem Grund
sich weigerten eine Ablösung der bestehenden Corps in Masse
zu gestatten, meuterten diese und drohten, wenn man ihnen
den Abschied nicht gebe, ihn sich selber zu nehmen. —
Den Kriegen selbst, die in Spanien von den Römern geführt
wurden, kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie
begannen schon mit Scipios Abreise und währten, so lange
der hannibalische Krieg dauerte. Nach dem Frieden mit
Karthago (553) ruhten auch auf der Halbinsel die Waffen;
jedoch nur auf kurze Zeit. Im Jahre 557 brach in beiden
Provinzen eine allgemeine Insurrection aus; der Befehlshaber
der jenseitigen ward hart gedrängt, der der diesseitigen völlig
überwunden und selber erschlagen. Es ward nöthig den
Krieg mit Ernst anzugreifen, und obwohl inzwischen der
tüchtige Prätor Quintus Minucius über die erste Gefahr
Herr geworden war, beschloſs doch der Senat im Jahre 559
den Consul Marcus Cato selbst nach Spanien zu senden. Er
[499]DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.
fand bei der Landung in Emporiae das ganze diesseitige
Spanien von den Insurgenten überschwemmt; kaum daſs diese
Hafenstadt und im innern Lande ein paar Burgen noch für
Rom behauptet wurden. Es kam zur offenen Feldschlacht
zwischen den Insurgenten und dem consularischen Heer, in
der nach hartem Kampf Mann gegen Mann endlich die römi-
sche Kriegskunst mit der gesparten Reserve den Tag entschied,
worauf das ganze diesseitige Spanien seine Unterwerfung ein-
sandte. Indeſs wie wenig es mit derselben ernstlich gemeint
war, zeigte die theilweise Schilderhebung, die auf das irrige
Gerücht von der Heimkehr des Consuls nach Rom sofort
wieder stattfand. Nachdem die Gemeinden, die zum zweiten-
mal sich aufgelehnt hatten, schnell bezwungen und in Masse
in die Sclaverei verkauft waren, ordnete Cato eine allgemeine
Entwaffnung der Spanier in der diesseitigen Provinz an und
erlieſs an die sämmtlichen Städte der Eingebornen von den
Pyrenäen bis zum Guadalquivir den Befehl ihre Mauern an
einem und demselben Tage niederzureiſsen; welchem Gebot die
wenigsten die Erfüllung zu verweigern wagten, da man nicht
wuſste, wie weit es sich erstrecke, und keine Zeit war sich
zu verständigen. Von den wenigen widerspenstigen Gemeinden
fügten demnächst sich die meisten, als das römische Heer
vor ihren Mauern erschien, ohne den Sturm zu erwarten. —
Diese energischen Maſsregeln waren allerdings nicht ohne
bleibenden Erfolg. Allein nichts desto weniger hatte man
fast jährlich in der ‚friedlichen Provinz‘ ein Gebirgsthal oder
ein Bergcastell zum Gehorsam zu bringen und die stetigen
Einfälle der Lusitanier in die jenseitige Provinz endigten ge-
legentlich mit derben Niederlagen der Römer; wie zum Bei-
spiel 563 ein römisches Heer nach starkem Verlust sein
Lager im Stich lassen und in Eilmärschen in die ruhigern
Landschaften zurückkehren muſste. Erst ein Sieg, den der
Prätor Lucius Aemilius Paullus 565, und ein zweiter noch
bedeutenderer, den der tapfere Prätor Gaius Calpurnius jen-
seit des Tagus 569 über die Lusitanier erfocht, schaffte auf
einige Zeit Ruhe. Im diesseitigen Spanien ward die nomi-
nelle Herrschaft der Römer über die keltiberischen Völker-
schaften ernstlicher festgestellt durch Quintus Fulvius Flaccus,
der nach einem groſsen Siege über dieselben 573 wenigstens
die nächstliegenden Cantone zur Unterwerfung zwang, und
mehr noch durch seinen Nachfolger Tiberius Gracchus (575.
576), welcher seine Erfolge nicht bloſs den Waffen verdankte,
32*
[500]DRITTES BUCH. KAPITEL VII.
mit denen er dreihundert spanische Ortschaften sich unter-
warf, sondern mehr noch seinem geschickten Eingehen auf
die Weise der schlichten und stolzen Nation. Indem er an-
gesehene Keltiberer bestimmte im römischen Heer Dienste zu
nehmen, schuf er sich eine Clientel; indem er den schweifen-
den Leuten Land anwies und sie in Städten zusammenzog —
die spanische Stadt Gracchuris bewahrt des Römers Namen
—, ward dem Freibeuterwesen ernstlich gesteuert; indem er
die Verhältnisse der einzelnen Völkerschaften zu den Römern
durch gerechte und weise Verträge regelte, verstopfte er so
weit möglich die Quelle künftiger Empörungen. Sein Name
blieb bei den Spaniern in gesegnetem Andenken, und es trat
in dem Lande seitdem, wenn auch die Keltiberer noch man
ches Mal unter dem Joch zuckten, doch vergleichungsweise
Ruhe ein.


[[501]]

KAPITEL VIII.



Die östlichen Staaten und der zweite makedonische
Krieg
.


Das Werk, welches König Alexander von Makedonien
begonnen hatte ein Jahrhundert zuvor ehe die Römer in dem
Gebiet, das er sein genannt, den ersten Fuſsbreit Landes ge-
wannen, dies Werk hatte im Verlauf der Zeit, bei wesentlicher
Festhaltung des groſsen Grundgedankens den Orient zu helle-
nisiren, sich allmählich verändert und erweitert zu dem Auf-
bau eines hellenisch-asiatischen Staatensystems. Die unbe-
zwingliche Wander- und Siedellust der griechischen Nation,
die einst ihre Handelsleute nach Massalia und Kyrene, an den
Nil und in das schwarze Meer geführt hatte, hielt jetzt fest,
was der König gewonnen hatte, und überall in dem alten
Reich der Achämeniden lieſs sich die griechische Civilisation
friedlich nieder unter dem Schutz der Sarissen. Die Offiziere,
die den groſsen Feldherrn beerbten, glichen allmählich sich
aus und es stellte ein Gleichgewichtssystem sich her, dessen
Schwankungen selbst eine gewisse Regelmäſsigkeit zeigen.
Von den drei Staaten ersten Ranges, die demselben angehö-
ren, Makedonien, Asien und Aegypten, war Makedonien unter
Philippos dem Fünften, der seit 534 dort den Königsthron
einnahm, äuſserlich wenigstens im Ganzen was es gewesen
war unter dem zweiten Philippos, dem Vater Alexanders: ein
gut arrondirter Militärstaat mit wohl geordneten Finanzen.
An der Nordgrenze hatten die ehemaligen Verhältnisse sich
wieder hergestellt, nachdem die Fluthen der gallischen Ueber-
schwemmung sich verlaufen hatten; die Grenzwache hielt die
[502]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
illyrischen Barbaren in gewöhnlichen Zeiten wenigstens ohne
Mühe im Zaum. Im Süden war Griechenland nicht bloſs
überhaupt von Makedonien abhängig, sondern ein groſser
Theil desselben: ganz Thessalien im weitesten Sinn vom
Olympos bis zum Spercheios und der Halbinsel Magnesia, die
groſse und wichtige Insel Euboea, die Landschaften Lokris,
Doris und Phokis, endlich in Attika und im Peloponnes eine
Anzahl einzelner Plätze, wie das Vorgebirg Sunion, Korinth,
Orchomenos, Heraea, das triphylische Gebiet — alle diese
Land- und Ortschaften waren Makedonien geradezu unterthä-
nig und empfingen makedonische Besatzung, vor allen Dingen
die drei wichtigen Festungen Demetrias in Magnesia, Chalkis
auf Euboea und Korinth, ‚die drei Fesseln der Hellenen‘. Die
Macht des Staates aber lag vor allem in dem Stammland, in
der makedonischen Landschaft. Zwar die Bevölkerung dieses
weiten Gebiets war auffallend dünn; mit Anstrengung aller
Kräfte vermochte Makedonien kaum so viel Mannschaft auf-
zubringen als ein gewöhnliches consularisches Heer von zwei
Legionen zählte und es ist unverkennbar, daſs in dieser Hin-
sicht sich das Land noch nicht von der durch die Züge Ale-
xanders und die gallische Invasion hervorgebrachten Entvöl-
kerung erholt hatte. Aber während im eigentlichen Griechen-
land die sittliche und staatliche Kraft der Nation zerrüttet
war und dort, da es mit dem Volke doch vorbei und das
Leben kaum mehr der Mühe werth schien, selbst von den
Besseren der eine über dem Becher, der andre mit dem
Rappier, der dritte bei der Studierlampe den Tag verdarb;
während im Orient und in Alexandrien die Griechen unter
die dichte einheimische Bevölkerung wohl befruchtende Ele-
mente aussäen und ihre Sprache wie ihre Maulfertigkeit, ihre
Wissenschaft und Afterwissenschaft dort ausbreiten konnten,
aber ihre Zahl kaum genügte um die Offiziere, die Staats-
männer und die Schulmeister den Nationen zu liefern und
viel zu gering war um einen Mittelstand reingriechischen
Schlages auch nur in den Städten zu bilden, bestand dagegen
im nördlichen Griechenland noch ein guter Theil jener alten
kernigen Nationalität, aus der die Marathonkämpfer hervor-
gegangen waren. Daher rührt die Zuversicht, mit der die Ma-
kedonier, die Aetoler, die Akarnanen, überall wo sie im Osten
auftreten, als eine bessere Race sich geben und genommen
werden, und die überlegene Rolle, welche sie deſswegen an
den Höfen von Alexandria und Antiochia spielen. Die Erzäh-
[503]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
lung ist bezeichnend von dem Alexandriner, der längere Zeit
in Makedonien gelebt und dort Landessitte und Landestracht
angenommen hat, und nun, da er in seine Vaterstadt heim-
kehrt, sich selber einen Mann und die Alexandriner gleich Scla-
ven achtet. Diese derbe Tüchtigkeit und der ungeschwächte
Nationalsinn kamen vor allem dem makedonischen als dem
mächtigsten und geordnetsten der nordgriechischen Staaten
zu Gute. Wohl ist auch hier der Absolutismus emporgekom-
men gegen die alte gewissermaſsen ständische Verfassung;
allein Herr und Unterthan stehen doch in Makedonien keines-
wegs zu einander wie in Asien und Aegypten und das Volk
fühlt sich noch selbstständig und frei. In festem Muth gegen
den Landesfeind wie er auch heiſse, in unerschütterlicher
Treue gegen die Heimath und die angestammte Regierung,
im muthigen Ausharren unter den schwersten Bedrängnissen
steht keines unter allen Völkern der alten Geschichte dem
römischen so nah wie das makedonische, und die an das
Wunderbare grenzende Regeneration des Staates nach der
gallischen Invasion gereicht den leitenden Männern wie dem
Volke, das sie leiteten, zu unvergänglicher Ehre. — Der
zweite von den Groſsstaaten, Asien war nichts als das ober-
flächlich regenerirte und hellenisirte Persien, das Reich des
‚Königs der Könige‘, wie es selbst bezeichnend für seine An-
maſsung wie für seine Schwäche sich zu nennen pflegte, mit
denselben Ansprüchen vom Hellespont bis zum Pendschab zu
gebieten und mit derselben kernlosen Organisation, ein Bündel
von mehr oder minder abhängigen Dependenzstaaten, unbot-
mäſsigen Satrapien und halbfreien griechischen Städten. Von
Kleinasien namentlich, das nominell zum Reich der Seleukiden
gezählt ward, war thatsächlich die ganze Nordküste und der
gröſsere Theil des östlichen Binnenlandes in den Händen ein-
heimischer Dynastien oder der aus Europa eingedrungenen
Keltenhaufen, von dem Westen ein guter Theil in Besitz der
Könige von Pergamon, und die Inseln und Küstenstädte theils
aegyptisch, theils frei, so daſs dem Groſskönig hier wenig
mehr blieb als das innere Kilikien, Phrygien und Lydien und
eine groſse Anzahl nicht wohl zu realisirender Rechtstitel gegen
freie Städte und Fürsten — ganz und gar wie seiner Zeit die
Herrschaft des deutschen Kaisers auſser seinem Hausgebiet
bestellt war. Das Reich verzehrte sich in den vergeblichen
Versuchen die Aegypter aus den Küstenlandschaften zu ver-
drängen, in dem Grenzhader mit den östlichen Völkern, den
[504]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
Parthern und Baktriern, in den Fehden mit den zum Unheil
Kleinasiens daselbst ansässig gewordenen Kelten, in den be-
ständigen Bestrebungen den Emancipationsversuchen der öst-
lichen Satrapen und der kleinasiatischen Griechen zu steuern,
und in den Familienzwisten und Prätendentenversuchen, an
denen es zwar in keinem der Diadochenstaaten fehlt wie über-
haupt an keinem der Gräuel, welche die absolute Monarchie
in entarteter Zeit in ihrem Gefolge führt, allein die in dem
Staate Asien deſshalb verderblicher waren als anderswo, weil
bei der losen Zusammenfügung des Reiches sie hier zu der
Trennung einzelner Landestheile auf kürzere oder längere
Zeit zu führen pflegten. — Im entschiedensten Gegensatz
gegen Asien war Aegypten ein festgeschlossener Einheitsstaat,
in dem die intelligente Staatskunst der ersten Lagiden unter
geschickter Benutzung des alten nationalen und religiösen
Herkommens ein vollkommen absolutes Cabinetsregiment be-
gründet hatte, in welchem selbst das schlimmste Miſsregiment
weder Emancipations- noch Zerspaltungsversuche herbeizufüh-
ren vermochte. Sehr verschieden von dem nationalen Roya-
lismus der Makedonier, der auf ihrem Selbstgefühl ruhte und
dessen politischer Ausdruck war, war in Aegypten das Land
vollständig passiv, die Hauptstadt dagegen alles und diese
Hauptstadt Dependenz des Hofes; weſshalb hier mehr noch
als in Makedonien und Asien die Schlaffheit und Trägheit der
Herrscher den Staat lähmte, während umgekehrt in den Hän-
den von Männern, wie der erste Ptolemaeos und Ptolemiaeos
Euergetes, diese Staatsmaschine sich äuſserst brauchbar er-
wies. Zu den eigenthümlichen Vorzügen Aegyptens vor den
beiden groſsen Rivalen gehört es, daſs die aegyptische Politik
nicht nach Schatten griff, sondern klare und erreichbare
Zwecke verfolgte. Makedonien, die Heimath Alexanders; Asien,
das Land, in dem Alexander seinen Thron gegründet hatte,
hörten nicht auf sich als unmittelbare Fortsetzungen der ale-
xandrischen Monarchie zu betrachten und erhoben lauter
oder leiser den Anspruch dieselbe wenn nicht her-, so doch
wenigstens darzustellen. Aegypten dagegen begnügte sich ein
Handels- und Seestaat zu sein, der von der engen Heimath
aus nicht die Erde zu beherrschen gedachte, wohl aber das
östliche Mittelmeer und dessen Küsten und Inseln; es ist be-
zeichnend, daſs Ptolemaeos III. Euergetes alle seine Eroberun-
gen freiwillig an Seleukos Kallinikos zurückgab bis auf die
Hafenstadt von Antiochia. Theils hiedurch, theils durch die
[505]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
günstige geographische Lage kam Aegypten den beiden Con-
tinentalmächten gegenüber in eine vortreffliche militärische
Stellung zur Vertheidigung wie zum Angriff. Während der
Gegner selbst nach glücklichen Erfolgen kaum im Stande war
das ringsum für Landheere fast unzugängliche Aegypten ernst-
lich zu bedrohen, konnten die Aegypter von der See aus
nicht bloſs in Kyrene sich festsetzen, sondern auch auf Kypros
und den Kykladen, auf der phoenikisch-syrischen und auf der
ganzen Süd- und Westküste von Kleinasien, ja sogar in Eu-
ropa auf dem thrakischen Chersonesos. Durch die beispiellose
Exploitirung des fruchtbaren Nilthals zum unmittelbaren Besten
der Staatskasse und durch eine ebenso einsichtige als rücksichts-
lose Finanzwirthschaft, welche die materiellen Interessen ernst-
lich und geschickt förderte, war der alexandrinische Hof seinen
Gegnern auch als Geldmacht beständig überlegen. Endlich
die intelligente Munificenz, mit der die Lagiden der Tendenz
des Zeitalters nach ernster Forschung in allen Gebieten des
Könnens und Wissens entgegenkamen, und diese Forschungen
in die Schranken der absoluten Monarchie einzuhegen und in
die Interessen derselben zu verflechten verstanden, nutzte
nicht bloſs unmittelbar dem Staat, dessen Schiff- und Ma-
schinenbau den Einfluſs der alexandrinischen Mathematik zu
ihrem Frommen verspürten, sondern machte auch diese neue
geistige Macht, die bedeutendste und groſsartigste, welche das
hellenische Volk nach seiner politischen Zersplitterung in sich
hegte, so weit sie sich überhaupt zur Dienstbarkeit bequemen
wollte, zur Dienerin des alexandrinischen Hofes. Wäre Ale-
xanders Reich stehen geblieben, so hätte die griechische Wis-
senschaft und Kunst einen Staat gefunden, würdig und fähig
sie zu fassen; jetzt wo die Nation in Trümmer gefallen war,
wucherte in ihr der gelehrte Kosmopolitismus, und sehr bald
ward dessen Magnet Alexandreia, wo die wissenschaftlichen
Mittel und Sammlungen unerschöpflich waren, die Könige
Tragödien und die Minister dazu die Commentare schrieben
und die Pensionen und Akademien florirten. — Das Verhält-
niſs der drei Groſsstaaten zu einander ergiebt sich aus dem
Gesagten. Die Seemacht, welche die Küsten beherrschte und
das Meer monopolisirte, muſste nach dem ersten groſsen Er-
folg den europäischen vom asiatischen Continent politisch zu
trennen jetzt hinarbeiten auf die Schwächung der beiden
Groſsstaaten des Festlandes und also auf die Beschützung der
sämmtlichen kleineren Staaten, während umgekehrt Makedo-
[506]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
nien und Asien zwar auch unter einander rivalisirten, aber
doch vor allen Dingen in Aegypten ihren gemeinschaftlichen
Gegner fanden und ihm gegenüber zusammenhielten oder
doch zusammenhalten sollten.


Unter den Staaten zweiten Ranges ist für die Berührun-
gen des Ostens mit dem Westen zunächst nur mittelbar von
Bedeutung die Staatenreihe, welche vom südlichen Ende des
kaspischen Meeres zum Hellespont sich hinziehend das ganze
nördliche Kleinasien erfüllt: Atropatene (im heutigen Ader-
bidjan südwestlich vom kaspischen Meer), daneben Armenien,
Kappadokien im kleinasiatischen Binnenland, Pontos am süd-
östlichen, Bithynien am südwestlichen Ufer des schwarzen Mee-
res — sie alle Splitter des groſsen Perserreichs und beherrscht
von morgenländischen, meistens altpersischen Dynastien, die
entlegene Berglandschaft Atropatene namentlich die rechte
Zufluchtstätte des alten Perserthums, an der selbst Alexanders
Zug spurlos vorübergebraust war. — Von gröſserer Wichtigkeit
für die allgemeinen Verhältnisse ist der Keltenstamm, welcher
in dem kleinasiatischen Binnenland westlich von Kappadokien
sich ansässig gemacht hatte und dort in seiner heimischen
Gauverfassung lebte, beschäftigt von hier aus seinen unkriege-
rischen Nachbarn theils die Söldner zu jedem Krieg zu liefern,
theils die umliegenden Landschaften zu plündern oder zu
brandschatzen. Diese rohen, aber kräftigen Barbaren waren
der allgemeine Schreck der verweichlichten umwohnenden
Nationen, ja der asiatischen Groſskönige selbst, welche, nach-
dem manches asiatische Heer von den Kelten war aufgerieben
worden und König Antiochos I. Soter sogar selbst im Kampf
gegen sie sein Leben verloren hatte, zuletzt selber zur Zins-
zahlung sich verstanden. — Dem kühnen und glücklichen Auf-
treten gegen diese gallischen Horden verdankte es ein reicher
Bürger von Pergamon Attalos, daſs er von seiner Vaterstadt
den Königstitel empfing und ihn auf seine Nachkommen ver-
erbte. Dieser neue Hof war im Kleinen was der alexandrini-
sche im Groſsen; auch hier war die Förderung der materiel-
len Interessen, die Pflege von Kunst und Litteratur an der
Tagesordnung und das Regiment eine umsichtige und nüch-
terne Kabinetspolitik, deren wesentlicher Zweck war theils die
Macht der beiden gefährlichen festländischen Nachbarn zu
schwächen, theils einen selbstständigen Griechenstaat im west-
lichen Kleinasien zu begründen. Der wohlgefüllte Schatz trug
wesentlich zu der Bedeutung dieser pergamenischen Herren
[507]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
bei; sie schossen den syrischen Königen bedeutende Summen
vor, deren Rückzahlung später unter den römischen Friedens-
bedingungen eine Rolle spielte, und selbst Gebietserwerbungen
gelangen auf diesem Wege, wie zum Beispiel Aegina, das die
verbündeten Römer und Aetoler im letzten Krieg den Bundes-
genossen Philipps, den Achaeern entrissen hatten, von den
Aetolern, denen es vertragsmäſsig zufiel, um 30 Talente (45000
Thlr.) an Attalos verkauft ward. Indeſs trotz des Glanzes des
Hofes und trotz des Titels des Staatsoberhaupts behielt das
pergamenische Gemeinwesen immer etwas vom städtischen
Charakter, wie es denn auch in seiner Politik gewöhnlich
mit den Freistädten zusammenging. Attalos selbst, der Lorenz
von Medici des Alterthums, blieb sein Lebelang ein reicher
Bürgersmann und das Familienleben der Attaliden, aus deren
Hause trotz des Königtitels die Eintracht und Innigkeit nicht
gewichen war, stach sehr ab gegen die wüste Schandwirth-
schaft der adlicheren Dynastien. — In dem europäischen
Griechenland waren auſser den römischen Besitzungen an der
Ostküste, von denen in der wichtigsten, Kerkyra ein römischer
Beamter residirte, und den vollständig makedonischen Gebieten
noch mehr oder minder im Stande eine eigene Politik zu
verfolgen die Epeiroten, Akarnanen und Aetoler im nördlichen,
die Boeoter und Athener im mittleren Griechenland und die
Achaeer, Lakedaemonier, Messenier und Eleer im Peloponnes. —
Unter diesen waren die Republiken der Epeiroten, Akarnanen
und Boeoter in vielfacher Weise eng an Makedonien geknüpft,
die Akarnanen namentlich, weil sie der von den Aetolern drohen-
den Unterdrückung einzig durch makedonischen Schutz zu ent-
gehen vermochten; von Bedeutung war keine von ihnen. Die
inneren Zustände waren sehr verschieden; wie es zum Theil
aussah, dafür mag als Beispiel dienen, daſs bei den Boeotern,
wo es freilich am ärgsten zuging, es Sitte geworden war
jedes Vermögen, das nicht in gerader Linie vererbte, an die
Kneipgesellschaften zu vermachen und es für die Bewerber
um die Staatsämter manches Jahrzehend die erste Wahlbe-
dingung war, daſs sie sich verpflichteten keinem Gläubi-
ger, am wenigsten einem Ausländer, die Ausklagung seiner
Schuldner zu gestatten. — Die Athener pflegten von Alexan-
dreia aus gegen Makedonien unterstützt zu werden und standen
im engen Bunde mit den Aetolern; auch sie indeſs waren
völlig machtlos und nur der Nimbus attischer Kunst und
Poesie hob diese unwürdigen Nachfolger einer herrlichen Vor-
[508]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
zeit unter einer Reihe von Kleinstädten gleichen Schlages
hervor. — Nachhaltiger war die Macht der aetolischen Eid-
genossenschaft; das kräftige Nordgriechenthum war hier noch
ungebrochen, aber freilich ausgeartet in wüste Zucht- und
Regimentlosigkeit — es war Staatsgrundsatz, daſs der aetoli-
sche Mann gegen jeden, selbst gegen einen mit den Aetolern
verbündeten Staat als Reisläufer dienen könne, und auf die
dringenden Bitten der übrigen Griechen dies Unwesen abzu-
stellen, erklärte die Tagsatzung, eher könne man Aetolien aus
Aetolien wegschaffen als diesen Grundsatz aus ihrem Land-
recht. Die Aetoler hätten dem griechischen Volke von gro-
ſsem Nutzen sein können, wenn sie nicht durch diese orga-
nisirte Räuberwirthschaft, durch ihre gründliche Verfeindung
mit der achaeischen Eidgenossenschaft und durch die unselige
Opposition gegen den makedonischen Groſsstaat ihrer Nation
noch viel mehr geschadet hätten. — Im Peloponnes hatte der
achaeische Bund die besten Elemente des eigentlichen Grie-
chenlands zusammengefaſst zu einer auf Gesittung, National-
sinn und friedliche Schlagfertigkeit gegründeten Eidgenossen-
schaft. Indeſs die Blüthe und namentlich die Wehrhaftigkeit
derselben war trotz der äuſserlichen Erweiterung geknickt
worden durch Aratos diplomatischen Egoismus, welcher den
achaeischen Bund durch die leidigen Verwicklungen mit Sparta
und die noch leidigere Anrufung makedonischer Intervention
im Peloponnes der makedonischen Suprematie so vollständig
unterworfen hatte, daſs die Hauptfestungen der Landschaft
seitdem makedonische Besatzungen empfingen und dort jähr-
lich Philippos der Eid der Treue geschworen wurde. Die
schwächeren Staaten im Peloponnes, Elis, Messene und Sparta
wurden durch ihre alte namentlich durch Grenzstreitigkeiten
genährte Verfeindung mit der achaeischen Eidgenossenschaft in
ihrer Politik bestimmt und waren aetolisch und antimakedo-
nisch gesinnt, weil die Achaeer es mit Philippos hielten. Einige
Bedeutung unter diesen Staaten hatte einzig das spartanische
Soldatenkönigthum, das nach dem Tode des Machanidas an
einen gewissen Nabis gekommen war; er stützte sich immer
dreister auf die Vagabunden und fahrenden Söldner, denen
er nicht bloſs die Häuser und Aecker, sondern auch die
Frauen und Kinder der Bürger überwies, und unterhielt ämsig
Verbindungen, ja schloſs geradezu eine Association zum See-
raub auf gemeinschaftliche Rechnung mit der groſsen Söldner-
und Piratenherberge, der Insel Kreta, wo er auch einige Ort-
[509]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
schaften besaſs. Seine Raubzüge zu Lande wie seine Piraten-
schiffe am Vorgebirg Malea waren weit und breit gefürchtet, er
selbst als niedrig und grausam verhaſst; aber seine Herrschaft
breitete sich aus und um die Zeit der Schlacht bei Zama war es
ihm sogar gelungen sich in den Besitz von Messene zu setzen.
— Endlich die unabhängigste Stellung unter den Mittelstaaten
hatten die freien griechischen Kaufstädte an dem europäischen
Ufer der Propontis so wie auf der ganzen kleinasiatischen
Küste und auf den Inseln des aegaeischen Meeres; sie sind
zugleich die lichteste Seite in dieser trüben Mannichfaltigkeit
des hellenistischen Staatensystems. Es sind vor allem drei
Städte, die seit Alexanders Tode wieder volle Freiheit genos-
sen und durch ihren thätigen Seehandel auch zu einer acht-
baren politischen Macht und selbst zu bedeutendem Landge-
biet gelangten: Byzantion, die Herrin des Bosporos und des
wichtigen Kornhandels nach dem schwarzen Meer so wie der
Sundzölle; Kyzikos an der asiatischen Propontis, die Tochter-
stadt und die Erbin Milets, in engsten Beziehungen zu dem
Hofe von Pergamon, und endlich und vor allen Rhodos. Die
Rhodier, die gleich nach Alexanders Tode die makedonische
Besatzung vertrieben hatten, waren durch ihre glückliche Lage
für Handel und Schifffahrt Vermittler des Verkehrs in dem
ganzen östlichen Mittelmeer geworden und die tüchtige Flotte
wie der in der berühmten Belagerung von 450 bewährte Muth
der Bürger setzten sie in den Stand in jener Zeit ewiger Feh-
den aller gegen alle vorsichtig und energisch eine neutrale
Handelspolitik zu vertreten und wenn es galt zu verfechten;
wie sie denn zum Beispiel die Byzantier mit den Waffen zwangen
den rhodischen Schiffen Zollfreiheit im Bosporus zu gestatten
und ebensowenig die pergamenischen Dynasten das schwarze
Meer sperren lieſsen. Vom Landkrieg hielten sie sich dagegen
wo möglich fern, obwohl sie an der gegenüberliegenden kari-
schen Küste nicht unbeträchtliche Besitzungen erworben hatten,
und führten ihn, wenn es nicht anders sein konnte, mit Söld-
nern. Nach allen Seiten hin, mit Syrakus, Makedonien und
Syrien, vor allem aber mit Aegypten standen sie in freund-
schaftlichen Beziehungen und genossen hoher Achtung bei
den Höfen, so daſs nicht selten in den Kriegen der Groſs-
staaten ihre Vermittlung angerufen ward. Ganz besonders
aber nahmen sie sich der griechischen Seestädte an, die im
pontischen, im bithynischen und pergamenischen Reich oder
auf den von Aegypten den Seleukiden entrissenen kleinasiati-
[510]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
schen Küsten und Inseln bestanden, wie zum Beispiel Sinope,
Herakleia Pontike, Kios, Lampsakos, Abydos, Mytilene, Chios,
Smyrna, Samos, Halikarnassos und unzählige andere. Alle
diese waren im Wesentlichen frei und hatten mit ihren Grund-
herren nichts zu schaffen als die Bestätigung ihrer Privilegien
zu erbitten und höchstens einen mäſsigen Zins zu entrichten;
gegen etwanige Uebergriffe der Dynasten wuſste man bald
schmiegsam, bald energisch sich zu wehren. Hauptsächlich
hülfreich hiebei waren die Rhodier, welche zum Beispiel Si-
nope gegen Mithradates von Pontos nachdrücklich unterstütz-
ten. Wie fest die Freiheiten dieser kleinasiatischen Städte
sich unter dem Hader und eben durch die Zwiste der Mo-
narchen gegründet hatten, beweist zum Beispiel, daſs einige
Jahre nachher zwischen Antiochos und den Römern nicht
über die Freiheit der Städte selbst gestritten ward, sondern
darüber, ob sie die Bestätigung ihrer Freibriefe vom König
nachzusuchen hätten oder nicht. Dieser Städtebund war eine
förmliche Hansa, eben auch in dieser eigenthümlichen Stel-
lung zu den Landesherren, sein Haupt Rhodos, das in Ver-
trägen für sich und seine Bundesgenossen verhandelte und
stipulirte. Hier ward die städtische Freiheit gegen die mo-
narchischen Interessen vertreten und während um die Mauern
herum die Kriege tobten, blieb hier in verhältniſsmäſsiger
Ruhe Bürgersinn und bürgerlicher Wohlstand heimisch und
Kunst und Wissenschaft gediehen hier, ohne durch wüste
Soldatenwirthschaft zertreten oder von der Hofluft corrumpirt
zu werden.


Also standen die Dinge im Osten, als die politische
Scheidewand zwischen dem Orient und dem Occident fiel,
und die östlichen Mächte, zunächst Philippos von Makedonien
veranlaſst wurden in die Verhältnisse des Westens einzugrei-
fen. Wie es geschah und wie der erste makedonische Krieg
(540-548) verlief, ist zum Theil schon erzählt worden. Es
ist angedeutet worden, was Philippos im hannibalischen Kriege
hätte thun können und wie wenig von dem geschah, was Han-
nibal erwartet und berechnet hatte; es hatte wieder einmal
sich gezeigt, daſs unter allen Würfelspielen keines verderb-
licher ist als die absolute Erbmonarchie. Philippos war nicht
der Mann, dessen Makedonien damals bedurfte; indeſs war er
keine unbedeutende Natur. Er war ein rechter König, in dem
besten und dem schlimmsten Sinne des Wortes. Das leb-
hafte Gefühl selbst und allein zu herrschen war der Grund-
[511]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
zug seines Wesens; er war stolz nicht bloſs auf seinen Purpur,
und er durfte stolz sein. Er bewies nicht allein die Tapferkeit
des Soldaten und den Blick des Feldherrn, sondern auch
einen hohen Sinn in der Leitung der öffentlichen Angelegen-
heiten, wo immer sein makedonisches Ehrgefühl verletzt ward.
Voll Verstand und Witz gewann er, wen er gewinnen wollte,
und eben vor allem die fähigsten und gebildetsten Männer,
so zum Beispiel Flamininus und Scipio; er war ein guter Ge-
sell beim Becher und den Frauen nicht bloſs durch seinen
Rang gefährlich. Allein zugleich war er eine der übermüthig-
sten und frevelhaftesten Naturen, die jenes freche Zeitalter
erzeugt hat. Er pflegte zu sagen, daſs er Niemand fürchte
als die Götter; aber es schien fast, als seien diese Götter
dieselben, denen sein Flottenführer Dikaearchos regelmäſsige
Opfer darbrachte, die Gottlosigkeit (Asebeia) und der Frevel
(Paranomia). Weder das Leben seiner Rathgeber und der
Begünstiger seiner Pläne war ihm heilig noch verschmähte
er es seine Erbitterung gegen die Athener und Attalos durch
Zerstörung ehrwürdiger Denkmäler und namhafter Kunstwerke
zu befriedigen; es wird als Staatsmaxime von ihm angeführt,
daſs wer den Vater ermorden lasse, auch die Söhne tödten
müsse. Es mag sein, daſs ihm nicht eigentlich die Grausam-
keit eine Wollust war; allein fremdes Leben und Leiden war
ihm gleichgültig und die Inconsequenz, die den Menschen
allein erträglich macht, fand nicht Raum in seinem starren
und harten Herzen. Er hat den Satz, daſs kein Versprechen
und kein Moralgebot für den absoluten König bindend sei, so
schroff und grell zur Schau getragen, daſs er eben dadurch
seinen Plänen die wesentlichsten Hindernisse in den Weg ge-
legt hat. Einsicht und Entschlossenheit kann Niemand ihm
absprechen, aber es ist damit in seltsamer Weise Zauderei
und Fahrigkeit vereinigt; was vielleicht zum Theil dadurch
sich erklärt, daſs er schon im achtzehnten Jahr zum absolu-
ten Herrscher berufen ward und daſs sein unbändiges Wüthen
gegen jeden, der durch Widerreden und Widerrathen ihn in
seinem Selbstregieren störte, alle selbstständigen Rathgeber
von ihm verscheuchte. Was alles in seiner Seele mitgewirkt
haben mag um die schwache und schmähliche Führung des
ersten makedonischen Krieges hervorzurufen, läſst sich nicht
sagen — vielleicht jene Lässigkeit der Hoffart, die erst gegen
die nahe gerückte Gefahr ihre volle Kraft entwickelt, vielleicht
selbst Gleichgültigkeit gegen den nicht von ihm entworfenen
[512]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
Plan und Eifersucht auf Hannibals ihn beschämende Gröſse.
Gewiſs ist, daſs sein späteres Benehmen nicht den Philippos
wieder erkennen läſst, an dessen Saumseligkeit Hannibals
Plan scheitert.


Philippos schloſs den Vertrag mit den Römern und den
Aetolern 548/9 in der ernsten Absicht mit Rom einen dauern-
den Frieden zu machen und sich künftig ausschlieſslich den
Angelegenheiten des Ostens zu widmen. Es leidet keinen
Zweifel, daſs er Karthagos rasche Ueberwältigung ungern sah
und es kann sein, daſs Hannibal auf eine zweite makedoni-
sche Kriegserklärung hoffte und daſs Philippos im Stillen das
letzte karthagische Heer mit Söldnern verstärkte; allein sowohl
die weitschichtigen Dinge, in die er mittlerweile im Osten
sich einlieſs, als auch die Art der Unterstützung und beson-
ders das völlige Stillschweigen der Römer über diesen Frie-
densbruch, da sie doch nach Kriegsgründen suchten, setzen
es auſser Zweifel, daſs Philippos keineswegs im Jahre 551
nachholen wollte, was er zehn Jahre zuvor hätte thun sollen.
— Er hatte sein Auge nach einer ganz andern Seite gewen-
det. Ptolemaeos Philopator von Aegypten war 550 gestorben.
Gegen seinen Nachfolger Ptolemaeos Epiphanes, ein fünfjähri-
ges Kind, hatten die Könige von Makedonien und Asien Phi-
lippos und Antiochos sich vereinigt, um den alten Groll der
Continentalmonarchien gegen den Seestaat gründlich zu sät-
tigen. Der ägyptische Staat sollte aufgelöst werden, Aegypten
und Kypros an Antiochos, Kyrene, Ionien und die Kykladen
an Philippos fallen. Die Könige hatten zwar nicht bloſs keinen
Kriegsgrund, sondern nicht einmal einen Kriegsvorwand; recht
in Philippos Art, der über solche Rücksichten lachte, begann man
nichts desto weniger den Krieg, ‚eben wie die groſsen Fische die
kleinen auffressen.‘ — In einer Hinsicht hatte Philippos richtig
gerechnet. Aegypten hatte genug zu thun sich des näheren
Feindes in Syrien zu erwehren und muſste die kleinasiatischen
Besitzungen und die Kykladen unvertheidigt preisgeben, als
Philippos auf diese als auf seinen Antheil an der Beute sich
warf. In dem Jahr, wo Karthago mit Rom den Frieden ab-
schloſs (553), lieſs Philippos von den ihm unterthänigen Städ-
ten eine Flotte ausrüsten, die Truppen an Bord nahm und
an der thrakischen Küste hinaufsegelte. Hier ward Lysi-
macheia der aetolischen Besatzung entrissen, und Perinthos,
das zu Byzanz im Clientelverhältniſs stand, gleichfalls besetzt.
So war mit den Byzantiern der Friede gebrochen, mit den
[513]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
Aetolern, die so eben mit Philippos Friede gemacht, wenigstens
das gute Einvernehmen gestört. Die Ueberfahrt nach Asien
stieſs auf keine Schwierigkeiten, da König Prusias von Bithy-
nien mit Philippos im Bunde war; zur Vergeltung half Philippos
ihm die griechischen Kaufstädte in seinem Gebiet bezwingen.
Chalkedon unterwarf sich. Kios, das widerstand, wurde er-
stürmt und dem Boden gleich, ja die Einwohner zu Sclaven
gemacht — eine zwecklose Barbarei, über die Prusias selbst,
der die Stadt unbeschädigt zu besitzen wünschte, verdrieſslich
war und die die ganze hellenische Welt aufs tiefste erbitterte.
Besonders verletzt noch waren abermals die Aetoler, deren
Strateg in Kios commandirt hatte, und die Rhodier, deren
Vermittlungsversuche von dem König schnöde und arglistig
vereitelt worden waren. Aber wäre auch dies nicht gewesen,
es standen die Interessen aller griechischen Kaufstädte auf
dem Spiel. Unmöglich konnte man zugeben, daſs die milde
und fast nur nominelle ägyptische Herrschaft verdrängt ward
durch das makedonische Zwingherrenthum, mit dem die städ-
tische Freiheit und der ungefesselte Handelsverkehr sich nim-
mermehr vertrug; und die furchtbare Behandlung der Kianer
zeigte, daſs es hier nicht galt um das Bestätigungsrecht der
städtischen Freibriefe, sondern um Tod und Leben für einen
und für alle. Schon war Lampsakos gefallen und Thasos be-
handelt worden wie Kios; man muſste sich eilen. Der wackere
Strateg von Rhodos Theophiliskos ermahnte seine Bürger die
gemeinsame Gefahr durch gemeinsame Gegenwehr abzuwenden
und nicht geschehen zu lassen, daſs die Städte und Inseln
einzeln dem Feinde zur Beute würden. Rhodos entschloſs
sich und erklärte Philippos den Krieg. Byzanz schloſs sich
an; ebenso der hochbejahrte König Attalos von Pergamon, Phi-
lippos politischer und persönlicher Feind. Während die Flotte
der Verbündeten sich an der aeolischen Küste sammelte, lieſs
Philippos durch einen Theil der seinigen Chios und Samos
wegnehmen. Mit dem andern erschien er selbst vor Pergamon,
das er indeſs vergeblich berannte. Er muſste sich begnügen
das platte Land zu durchstreifen und an den weit und breit
zerstörten Tempeln die Spuren makedonischer Tapferkeit zu-
rückzulassen. Plötzlich brach er von Pergamon auf und
schiffte sich ein, um sich mit dem Geschwader, das bei Sa-
mos stand, wieder zu vereinigen. Allein die rhodisch-perga-
menische Flotte folgte ihm und zwang ihn zur Schlacht in
der Meerenge von Chios. Die Zahl der makedonischen Deck-
Röm. Gesch. I. 33
[514]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
schiffe war geringer, allein die Menge ihrer offenen Kähne
glich dies wieder aus und Philippos Epibaten fochten mit
groſsem Muthe; doch unterlag er endlich und fast die Hälfte
seiner Deckschiffe, vier und zwanzig Segel, wurden versenkt
oder genommen, 6000 Matrosen, 3000 makedonische Epibaten
kamen um, darunter der Admiral Demokrates, 2000 wurden
gefangen. Den Bundesgenossen kostete der Sieg nicht mehr
als 800 Mann und sechs Segel. Aber von den Führern der
Verbündeten war Attalos von seiner Flotte abgeschnitten und
gezwungen worden sein Admiralschiff bei Erythrae auf den
Strand laufen zu lassen; und Theophiliskos von Rhodos, des-
sen Bürgermuth den Krieg und dessen Tapferkeit die Schlacht
entschieden hatte, starb den Tag nach derselben an seinen
Wunden. So konnte, während Attalos Flotte in die Heimath
ging und die rhodische vorläufig bei Chios blieb, Philippos,
der fälschlich sich den Sieg zuschrieb, seinen Zug weiter fort-
setzen, und sich nach Samos wenden, um die karischen Städte
zu besetzen. An der karischen Küste lieferten die Rhodier,
diesmal von Attalos nicht unterstützt, der makedonischen
Flotte unter Herakleides ein zweites Treffen bei der kleinen
Insel Lade vor dem Hafen von Milet. Der Sieg, den wieder
beide Theile sich zuschrieben, scheint hier von den Makedo-
niern gewonnen zu sein, denn während die Rhodier nach
Myndos und von da nach Kos zurückwichen, besetzten jene
Milet und ein Geschwader unter dem Aetoler Dikaearchos die
Kykladen. Philippos inzwischen verfolgte auf dem karischen
Festland die Eroberung der rhodischen Besitzungen daselbst
und der griechischen Städte; wenn er Ptolemaeos selbst hätte
angreifen wollen und es nicht vorgezogen hätte sich auf die
Gewinnung seines Beuteantheils zu beschränken, er hätte
jetzt selbst an einen Zug nach Aegypten denken können. In
Karien stand zwar kein Heer den Makedoniern gegenüber
und Philippos durchzog ungehindert die Gegend von Magnesia
bis Mylasa; aber in der Landschaft, wo jede Stadt eine Festung
war, entspann sich ein Belagerungskrieg, der sich in die Länge
zog ohne erhebliche Resultate zu geben oder zu versprechen.
Der Satrap von Lydien Zeuxis unterstützte den Bundesgenos-
sen seines Herrn eben so lau wie Philippos sich bewies in
der Förderung der Interessen des syrischen Königs und die
griechischen Städte gaben Unterstützung nur aus Zwang oder
Furcht. Die Verproviantirung des Heeres ward immer schwie-
riger; Philippos muſste heute den plündern, der ihm gestern
[515]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
freiwillig gegeben hatte, und dann wieder gegen seine Natur
sich bequemen zu bitten. So ging allmählich die gute Jahres-
zeit zu Ende und in der Zwischenzeit hatten die Rhodier ihre
Flotte verstärkt und auch die des Attalos wieder an sich ge-
zogen, so daſs sie zur See entschieden überlegen waren. Es
schien fast, als könnten sie dem König den Rückzug abschnei-
den und ihn zwingen Winterquartier in Karien zu nehmen,
während doch die Angelegenheiten daheim, namentlich die
drohende Intervention der Aetoler und der Römer, seine
Rückkehr dringend erheischten. Indeſs Philippos entschloſs
sich; er lieſs Besatzungen, zusammen bis 3000 Mann, theils
in Myrina, um Pergamon in Schach zu halten, theils in den
kleinen Städten um Mylasa: Iassos, Bargylia, Euromos, Pe-
dasa, um den trefflichen Hafen und einen Landungsplatz in
Karien sich zu sichern, und bei der Nachlässigkeit, mit wel-
cher die Bundesgenossen das Meer bewachten, gelang es ihm
glücklich mit der Flotte die thrakische Küste zu erreichen
und noch vor dem Winter 553 zu Hause zu sein.


In der That zog sich gegen Philipp im Westen ein Gewitter
zusammen, welches ihm nicht länger gestattete die Plünderung
des wehrlosen Aegyptens fortzusetzen. Die Römer, die in dem-
selben Jahre endlich den Frieden mit Karthago auf ihre Bedin-
gungen abgeschlossen hatten, fingen an sich ernstlich um diese
Verwicklungen im Osten zu bekümmern. Es ist oft gesagt wor-
den, daſs sie nach der Eroberung des Westens sofort daran
gegangen seien den Osten sich zu unterwerfen; eine ernstlichere
Erwägung wird zu einem gerechteren Urtheil führen. Nur die
stumpfe Unbilligkeit kann es verkennen, daſs Rom in dieser
Zeit noch keineswegs nach der Herrschaft über die Mittelmeer-
staaten griff, sondern nichts weiter begehrte als in Africa
und in Griechenland ungefährliche Nachbaren zu haben. Ma-
kedoniens Macht war allerdings nicht gering und es ist augen-
scheinlich, daſs der römische Senat den Frieden von 548/9,
der sie ganz in ihrer Integrität belieſs, nur ungern gewährte;
allein wie wenig man ernstliche Besorgnisse vor Makedonien
in Rom hegte, beweist am besten die geringe und doch nie
gegen Uebermacht zu fechten genöthigte Truppenzahl, mit
welcher Rom den nächsten Krieg geführt hat. Ueberhaupt ist
es keineswegs ausgemacht, daſs der römische Senat den
durchaus freiwillig von ihm zugestandenen Frieden in der
bestimmten Absicht schloſs den Krieg bei gelegener Zeit wie-
der zu beginnen, und sehr gewiſs, daſs augenblicklich bei
33*
[516]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
der gründlichen Erschöpfung des Staats und der äuſsersten
Unlust der Bürgerschaft auf einen zweiten überseeischen Krieg
sich einzulassen der makedonische Krieg den Römern in hohem
Grade unbequem kam. Den makedonischen Staat, wie er im Jahre
548 war, konnte man sich als Nachbar gefallen lassen; allein
unmöglich durfte man gestatten, daſs derselbe den besten Theil
des kleinasiatischen Griechenlands und das wichtige Kyrene
hinzuerwarb, die neutralen Handelsstaaten erdrückte, und da-
mit seine Macht verdoppelte. Es kam hinzu, daſs der Sturz
Aegyptens, die Demüthigung, vielleicht die Ueberwältigung von
Rhodos auch dem sicilischen und italischen Handel tiefe Wun-
den geschlagen haben würden; und konnte man überhaupt ru-
hig zusehen, wie der italische Verkehr mit dem Osten von den
beiden groſsen Continentalmächten abhängig ward? Gegen Atta-
los, den treuen Bundesgenossen aus dem ersten makedonischen
Krieg, hatte Rom die Ehrenpflicht zu wahren und zu hindern,
daſs Philippos, der ihn schon in seiner Hauptstadt belagert
hatte, ihn nicht von Land und Leuten vertrieb. Endlich war
der Anspruch Roms den schützenden Arm über alle Hellenen
auszustrecken keineswegs bloſs Phrase; die Neapolitaner, Rhe-
giner, Massalioten und Emporienser konnten bezeugen, daſs
dieser Schutz sehr ernst gemeint war, und gar keine Frage
ist es, daſs in dieser Zeit die Römer den Griechen näher stan-
den als jede andere Nation und wenig ferner als die helleni-
sirten Makedonier. Es ist seltsam den Römern das Recht zu
bestreiten über die frevelhafte Behandlung der Kianer und
Thasier in ihren menschlichen wie in ihren hellenischen
Sympathien sich empört zu fühlen. So vereinigten sich in
der That alle politischen, commerciellen und sittlichen Motive,
um Rom zu dem zweiten Kriege gegen Philippos, einem der
gerechtesten, die die Stadt je geführt hat, zu bestimmen. Es
gereicht dem Senat zur hohen Ehre, daſs er sofort sich ent-
schloſs und sich weder durch die Erschöpfung des Staates
abhalten lieſs noch durch die Impopularität einer solchen
Kriegserklärung. Schon 553 erschien der Propraetor Marcus
Valerius Laevinus mit der sicilischen Flotte von 38 Segeln in
der östlichen See, noch ehe der Krieg erklärt war; man fing
an auf den Krieg sich ernstlich zu bereiten. Indeſs war man in
Verlegenheit einen ostensibeln Kriegsgrund ausfindig zu machen,
dessen man dem Volk gegenüber nothwendig bedurfte, auch
wenn nicht die Senatoren überhaupt viel zu einsichtige Po-
litiker gewesen wären um den nominellen Kriegsgrund in
[517]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
Philippos Art gering zu schätzen. Die Unterstützung, die
Philippos nach dem Frieden mit Rom den Karthagern gewährt
haben sollte, war offenbar nicht erweislich. Die römischen
Unterthanen in der illyrischen Landschaft beschwerten sich
zwar schon seit längerer Zeit über die makedonischen Ueber-
griffe. Schon 551 hatte ein römischer Gesandter an der Spitze
des illyrischen Aufgebots Philippos Schaaren aus dem illy-
rischen Gebiet hinausgeschlagen und der Senat hatte deſs-
wegen den Gesandten des Königs 552 erklärt, wenn er Krieg
suche, werde er ihn früher finden als ihm lieb sei. Allein
diese Uebergriffe waren eben nichts als die gewöhnlichen
Frevel, wie Philippos sie gegen seine Nachbarn übte; eine
Verhandlung darüber hätte im gegenwärtigen Augenblick zur
Demüthigung und Sühnung, aber nicht zum Kriege geführt.
Mit den sämmtlichen kriegführenden Mächten im Osten stand
die römische Gemeinde dem Namen nach in Freundschaft
und hätte ihnen Beistand gegen den Angriff gewähren können.
Allein Rhodos und Pergamon, die begreiflicher Weise nicht
säumten die römische Hülfe zu erbitten, waren formell die
Angreifer, und Aegypten, wenn auch alexandrinische Gesandte
den römischen Senat ersuchten die Vormundschaft über das
königliche Kind zu führen, scheint doch keineswegs sich beeilt
zu haben durch Anrufung römischer Intervention zwar die au-
genblickliche Bedrängniſs zu beendigen, aber zugleich der gro-
ſsen westlichen Seemacht das Ostmeer zu öffnen. Vor allen Din-
gen aber hätte die Hülfe für Aegypten zunächst in Syrien
geleistet werden müssen und würde Rom in einen Krieg
mit Asien und Makedonien zugleich verwickelt haben, was
man natürlich um so mehr zu vermeiden wünschte als man
fest entschlossen war sich nicht in die asiatischen Angelegen-
heiten zu mischen. Es blieb nichts übrig als vorläufig eine
Gesandtschaft nach dem Osten abzuordnen, um theils von
Aegypten zu erlangen, was den Umständen nach nicht schwer
war, daſs es die Einmischung der Römer in die östlichen
Angelegenheiten geschehen lieſs, theils den König Antiochos
zu beschwichtigen, indem man ihm Syrien preisgab, theils
endlich den Bruch mit Philippos möglichst zu beschleunigen
und die Coalition der griechisch-asiatischen Kleinstaaten gegen
ihn zu fördern (Ende 553). In Alexandria und Antiochia
erreichte man ohne Mühe, was man wünschte. Der alexan-
drinische Hof hatte keine Wahl und muſste dankbar den
Marcus Aemilius Lepidus aufnehmen, den der Senat abge-
[518]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
sandt hatte um als ‚Vormund des Königs‘ wenigstens diplo-
matischen Schutz zu gewähren. Antiochos, sei es aus Schlaff-
heit, sei es bestimmt durch die Erklärung der Römer in
Syrien nicht interveniren zu wollen, verfolgte seine Pläne in
Syrien und lieſs die Dinge in Griechenland und Kleinasien
gehen; ob er deſsfalls bestimmte Erklärungen den Römern gab,
ist nicht gewiſs, aber wenig wahrscheinlich. Darüber war
das Frühjahr 554 herangekommen und der Krieg hatte wie-
der begonnen. Philippos warf sich zunächst wieder auf Thra-
kien, wo er die sämmtlichen Küstenplätze, namentlich Maro-
neia, Aenos, Elaeos, Sestos besetzte; er wollte seine europäi-
schen Besitzungen vor einer römischen Landung gesichert
wissen. Alsdann griff er an der asiatischen Küste Abydos an,
an dessen Gewinn ihm gelegen sein muſste, da er durch den
Besitz von Sestos und Abydos mit seinem Bundesgenossen
Antiochos in festere Verbindung kam und nicht mehr zu
fürchten brauchte, daſs die Flotte der Bundesgenossen ihm
den Weg nach oder aus Kleinasien sperre. Diese behauptete
das aegaeische Meer, nachdem das schwächere makedonische
Geschwader sich zurückgezogen hatte; Philippos beschränkte
zur See sich darauf auf dreien der Kykladen, Andros, Kythnos
und Paros Besatzungen zu lassen und Kaperschiffe auszurüsten.
Die Rhodier gingen nach Chios und von da nach Tenedos,
wo Attalos, der den Winter über bei Aegina gestanden und
mit den Declamationen der Athener sich die Zeit vertrieben
hatte, mit seinem Geschwader zu ihnen stieſs. Es wäre wohl
möglich gewesen den Abydenern, die sich heldenmüthig ver-
theidigten, zu Hülfe zu kommen, allein die Verbündeten rühr-
ten sich nicht, und so ergab sich endlich die Stadt, nachdem
fast alle Waffenfähige im Kampf vor den Mauern und ein
groſser Theil der Einwohner durch eigene Hand gefallen
waren — die Gnade des Siegers bestand darin, daſs den
Abydenern drei Tage Frist gegeben wurden um freiwillig zu
sterben. Hier im Lager vor Abydos traf die römische Ge-
sandtschaft, die nach Beendigung ihrer Geschäfte in Syrien
und Aegypten die griechischen Kleinstaaten besucht und bear-
beitet hatte, mit dem König zusammen und konnte ihrer vom
Senat erhaltenen Aufträge sich entledigen: der König solle
gegen keinen griechischen Staat einen Angriffskrieg führen,
Ptolemaeos die entrissenen Besitzungen zurückgeben und we-
gen der den Pergamenern und Rhodiern zugefügten Schädi-
gung sich ein Schiedsgericht gefallen lassen. Die Absicht des
[519]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
Senats den König zur Kriegserklärung zu reizen ward nicht
erreicht; der römische Gesandte Marcus Aemilius erhielt vom
König nichts als die feine Antwort, daſs er dem jungen schö-
nen römischen Mann wegen dieser seiner drei Eigenschaften
das Gesagte zu Gute halten wolle. — Indeſs war mittlerweile
die gewünschte Veranlassung zur Kriegserklärung von einer an-
dern Seite her gekommen. Die Athener hatten in ihrer alber-
nen und grausamen Eitelkeit zwei unglückliche Akarnanen
hinrichten lassen, weil dieselben sich zufällig in ihre Myste-
rien verirrt hatten. Als die Akarnanen in gerechter Erbitte-
rung von Philippos begehrten, daſs er ihnen Genugthuung ver-
schaffe, konnte dieser das gerechte Begehren seiner treuesten
Bundesgenossen nicht weigern und gestattete ihnen in Make-
donien Mannschaft auszuheben und damit und mit ihren ei-
genen Leuten ohne förmliche Kriegserklärung in Attika ein-
zufallen. Zwar war dies nicht bloſs kein eigentlicher Krieg,
sondern es lieſs auch der Führer der makedonischen Schaar
Nikanor auf die drohenden Worte der gerade in Athen an-
wesenden römischen Gesandten sofort seine Truppen den
Rückmarsch antreten (Ende 553). Aber es war zu spät. Eine
athenische Gesandtschaft ging nach Rom, um über den An-
griff Philipps auf einen alten Bundesgenossen Roms zu be-
richten, und aus der Art, wie der Senat sie empfing, sah
Philippos deutlich was ihm bevorstand; weſshalb er zunächst
gleich im Frühling 554 seinen Oberbefehlshaber in Griechen-
land Philokles anwies das attische Gebiet zu verwüsten und
die Stadt möglichst zu bedrängen. — Der Senat hatte jetzt
was er bedurfte und konnte im Frühjahr 554 die Kriegs-
erklärung ‚wegen Angriffs auf einen mit Rom verbündeten
Staat‘ vor die Volksversammlung bringen. Sie wurde das
erste Mal fast einstimmig verworfen: thörichte oder tücki-
sche Volkstribunen querulirten über den Rath, der den Bür-
gern keine Ruhe gönnen wolle; aber der Krieg war einmal
nothwendig und genau genommen schon begonnen, so daſs
der Senat unmöglich von seinem Plan zurücktreten konnte.
Die Bürgerschaft ward durch Vorstellungen und Concessionen
zum Nachgeben bewogen. Es ist bemerkenswerth, daſs diese
Concessionen wesentlich auf Kosten der Bundesgenossen er-
folgten. Aus ihren im activen Dienst befindlichen Contingenten
wurden — ganz entgegen den sonstigen römischen Maximen —
die Besatzungen von Gallien, Unteritalien, Sicilien und Sardi-
nien, zusammen 20000 Mann, ausschlieſslich genommen. Die
[520]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
sämmtlichen vom hannibalischen Krieg her unter Waffen stehen-
den Bürgertruppen wurden entlassen; nur Freiwillige sollten da-
raus zum makedonischen Krieg aufgeboten werden dürfen, wel-
ches denn freilich, wie sich nachher fand, meistens gezwungene
Freiwillige waren — es rief dieſs später im Herbst 555 einen
bedenklichen Militäraufstand im Lager von Apollonia hervor.
Aus neu einberufenen Leuten wurden sechs Legionen gebildet,
von denen je zwei in Rom und in Etrurien blieben und nur
zwei in Brundisium nach Makedonien eingeschifft wurden, ge-
führt von dem Consul Publius Sulpicius Galba. — So hatte
sich wieder einmal recht deutlich gezeigt, daſs für die weit-
läuftigen und schwierigen Verhältnisse, in welche Rom durch
seine Siege gebracht war, die souverainen Bürgerschaftsver-
sammlungen mit ihren kurzsichtigen und vom Zufall abhängi-
gen Beschlüssen schlechterdings nicht mehr paſsten und daſs
deren verkehrtes Eingreifen in die Staatsmaschine zu gefähr-
lichen Modificationen der militärisch nothwendigen Maſsregeln
und zu noch gefährlicherer Zurücksetzung der latinischen Bun-
desgenossen führte.


Philippos Lage war sehr übel. Die östlichen Staaten,
die gegen jede Einmischung Roms hätten zusammenstehen
müssen und unter andern Umständen auch vielleicht zusam-
mengestanden haben würden, waren hauptsächlich durch Phi-
lippos Schuld so unter einander verhetzt, daſs sie die römi-
sche Invasion entweder nicht zu hindern oder sogar zu fördern
geneigt waren. Asien, Philipps natürlicher und wichtigster
Bundesgenosse, war durch die Verwicklung mit Aegypten und
den syrischen Krieg vorläufig an thätigem Eingreifen gehin-
dert. Aegypten hatte ein dringendes Interesse daran, daſs die
römische Flotte dem Ostmeer fern blieb; es ist bezeichnend,
daſs selbst jetzt noch eine ägyptische Gesandtschaft in Rom sehr
deutlich zu verstehen gab, wie bereit der alexandrinische Hof sei
den Römern die Mühe abzunehmen in Attika zu interveniren.
Allein der zwischen Asien und Makedonien abgeschlossene
Theilungsvertrag über Aegypten warf diesen wichtigen Staat ge-
radezu den Römern in die Arme und erzwang die Erklärung
des Kabinets von Alexandria, daſs es in die Angelegenheiten
des europäischen Griechenlands sich nur mit Einwilligung der
Römer mischen werde. Aehnlich, aber noch bedrängter ge-
stellt waren die griechischen Handelsstädte, an ihrer Spitze
Rhodos, Pergamon, Byzanz; sie hätten unter andern Umstän-
den ohne Zweifel das Ihrige gethan um den Römern das Ost-
[521]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
meer zu sperren, aber Philippos grausame und vernichtende
Eroberungspolitik hatte sie gezwungen zu einem ungleichen
Kampf, in den die italische Groſsmacht zu verwickeln sie
alles anwandten. Im eigentlichen Griechenland fanden die rö-
mischen Gesandten, die dort eine zweite Ligue gegen Philippos
zu stiften beauftragt waren, gleichfalls vom Feinde wesentlich
vorgearbeitet. Von der antimakedonischen Partei, den Spar-
tanern, Eleern, Athenern und Aetolern hätte Philippos die letzten
vielleicht zu gewinnen vermocht, da der Friede von 548 in ihren
Freundschaftsbund mit Rom einen tiefen und keineswegs aus-
geheilten Riſs gemacht hatte; allein abgesehen von den alten
Differenzen, die wegen der von Makedonien der aetolischen
Eidgenossenschaft entzogenen thessalischen Städte Echinos,
Larissa Kremaste, Pharsalos und des phthiotischen Thebae
bestanden, hatte die Vertreibung der aetolischen Besatzungen
aus Lysimacheia und Kios neue Erbitterung gegen Philippos
bei den Aetolern hervorgerufen. Wenn sie zauderten sich
der Ligue gegen ihn anzuschlieſsen, so lag der Grund wohl
hauptsächlich in der fortwirkenden Verstimmung zwischen
ihnen und den Römern. — Bedenklicher noch war es, daſs
selbst unter den fest an das makedonische Interesse geknüpf-
ten griechischen Staaten, den Epeiroten, Akarnanen, Boeotern
und Achaeern nur die Akarnanen und Boeoter unerschüttert
zu Philippos standen. Mit den Epeiroten verhandelten die rö-
mischen Gesandten nicht ohne Erfolg und namentlich der
König der Athamanen Amynander schloſs an Rom sich fest
an. Sogar von den Achaeern hatte Philippos durch die Er-
mordung des Aratos theils viele verletzt, theils überhaupt einer
freieren Entwicklung der Eidgenossenschaft wieder Raum ge-
geben; sie hatte unter Philopoemens (Strateg seit 546) Lei-
tung ihr Heerwesen regenerirt, in glücklichen Kämpfen gegen
Sparta das Zutrauen zu sich selber wiedergefunden und folgte
nicht mehr wie zu Aratos Zeit blind der makedonischen Po-
litik. Einzig in ganz Hellas sah die achaeische Eidgenossen-
schaft, die Philippos Vergröſserungssucht weder zu fördern
noch zunächst zu fürchten hatte, diesen Krieg vom unparteii-
schen und nationalhellenischen Gesichtspunkte aus an; und
begriff, was zu begreifen nicht schwer war, daſs die helleni-
sche Nation damit den Römern selber sich auslieferte, sogar
ehe diese es begehrten und wünschten. Die Achaeer ver-
suchten zwischen Philippos und den Rhodiern zu vermitteln;
allein es war zu spät. Der nationale Patriotismus, der einst
[522]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
den Bundesgenossenkrieg beendigt und zu dem ersten Krieg
zwischen Makedonien und Rom wesentlich beigetragen hatte,
war erloschen; die achaeische Vermittlung blieb ohne Erfolg
und vergeblich bereiste Philippos die Städte und Inseln um
die Nation wieder zu entflammen — es war das die Nemesis
für Kios und Abydos. Die Achaeer, da sie nicht ändern
konnten und nicht helfen mochten, blieben neutral.


Im Herbst des Jahres 554 landete der Consul Publius
Sulpicius Galba mit seinen beiden Legionen und 1000 numi-
dischen Reitern, ja sogar mit Elephanten, die aus der kartha-
gischen Beute herrührten, bei Apollonia; auf welche Nachricht
der König eilig vom Hellespont nach Thessalien zurückkehrte.
Indeſs theils die schon weit vorgerückte Jahreszeit, theils die
Erkrankung des römischen Feldherrn bewirkten, daſs zu
Lande dies Jahr nichts weiter vorgenommen ward als eine
starke Recognoscirung, bei der die nächstliegenden Ortschaf-
ten, namentlich die makedonische Kolonie Antipatreia von den
Römern besetzt wurden. Mit den nördlichen Barbaren, na-
mentlich mit Pleuratos, dem damaligen Herrn von Skodra
und dem Dardanerfürsten Bato, die selbstverständlich eilten
die gute Gelegenheit zu nutzen, ward für das nächste Jahr
ein gemeinschaftlicher Angriff auf Makedonien verabredet. —
Wichtiger waren die Unternehmungen der römischen Flotte,
die 100 Deck- und 80 leichte Schiffe zählte. Während die
übrigen Schiffe bei Kerkyra für den Winter Station nahmen,
ging eine Abtheilung unter Gaius Claudius Cento nach dem
Peiraeeus, um den bedrängten Athenern Beistand zu leisten.
Da Cento die Landschaft gegen die Streifereien der korinthi-
schen Besatzung und die makedonischen Corsaren schon hin-
reichend gedeckt fand, segelte er weiter und erschien plötz-
lich vor Chalkis auf Euboea, dem Hauptwaffenplatz Philippos
in Griechenland, wo die Magazine, die Waffenvorräthe und
die Gefangenen aufbewahrt wurden und der Commandant So-
pater nichts weniger als einen römischen Angriff erwartete.
Die unvertheidigte Mauer ward erstiegen, die Besatzung nie-
dergemacht, die Gefangenen befreit und die Vorräthe ver-
brannt; leider fehlte es an Truppen um die wichtige Position
zu halten. Auf die Kunde von diesem Ueberfall brach Phi-
lippos in ungestümer Erbitterung sofort von Demetrias in
Thessalien auf nach Chalkis und da er hier nichts von dem
Feind mehr fand als die Brandstätte, weiter nach Athen, um
Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Allein die Ueberrumpelung
[523]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
miſslang und auch der Sturm war vergeblich, so sehr der König
sein Leben preisgab; da Gaius Claudius vom Peiraeeus, Attalos
von Aegina nahten, muſste der Versuch aufgegeben werden. Phi-
lippos verweilte indeſs noch einige Zeit in Griechenland; aber
politisch und militärisch waren seine Erfolge gleich gering.
Umsonst versuchte er die Achaeer für sich in Waffen zu brin-
gen; und ebenso vergeblich waren seine Angriffe auf Eleusis
und den Peiraeeus so wie ein zweiter auf Athen selbst. Es
blieb ihm nichts übrig als seine begreifliche Erbitterung in
unwürdiger Weise durch Verwüstung der Landschaft und Zer-
störung der Bäume des Akademos zu befriedigen und nach
dem Norden zurückzukehren. So verging der Winter. Mit
dem Frühjahr 555 brach der Proconsul Publius Sulpicius aus
seinem Winterlager auf, entschlossen seine Legionen von Apol-
lonia auf der kürzesten Linie in das eigentliche Makedonien
zu führen. Diesen Hauptangriff von Westen her sollten drei
Nebenangriffe unterstützen: in nördlicher Richtung der Einfall
der Dardaner und Illyrier, in östlicher ein Angriff der combi-
nirten Flotte der Römer und der Bundesgenossen, die bei Aegina
sich sammelte; endlich von Süden her sollten die Athamanen
vordringen und, wenn es gelang sie zur Theilnahme am
Kampfe zu bestimmen, zugleich die Aetoler. Nachdem Galba
die Berge, die der Apsos (jetzt Beratinó) durchschneidet, über-
schritten hatte und in die fruchtbare dassaretische Ebene hin-
abgestiegen war, gelangte er an die Gebirgskette, die Illyrien
und Makedonien scheidet und betrat, diese übersteigend, das
eigentliche makedonische Gebiet. Philippos war ihm entgegen-
gegangen; allein in den ausgedehnten und schwach bevölker-
ten Landschaften Makedoniens suchten sich die Gegner einige
Zeit vergeblich, bis sie endlich in der lynkestischen Provinz,
einer fruchtbaren aber sumpfigen Ebene, unweit der nordwest-
lichen Landesgrenze auf einander trafen und auf 200 Schritt
von einander lagerten. Philippos Heer zählte, nachdem er das
zur Besetzung der nördlichen Pässe detachirte Corps an sich
gezogen hatte, etwa 20000 Mann zu Fuſs und 2000 Reiter; das
römische war ungefähr ebenso stark. Indeſs die Makedonier
hatten den groſsen Vortheil, daſs sie, in der Heimath fechtend
und mit Weg und Steg bekannt, mit leichter Mühe den Pro-
viant zugeführt erhielten, während sie sich so dicht an die Rö-
mer gelagert hatten, daſs diese es nicht wagen konnten zu aus-
gedehnter Fouragirung sich zu zerstreuen. Galba bot die Schlacht
wiederholt an, allein der König versagte sie beharrlich und
[524]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
die Gefechte zwischen den leichten Truppen, wenn auch die
Römer darin einige Vortheile erfochten, änderten in der Haupt-
sache nichts. Galba war genöthigt sein Lager abzubrechen
und 8000 Schritte weiter bei Oktolophos ein anderes aufzu-
schlagen, von wo er leichter sich verproviantiren zu können
meinte. Aber auch hier wurden die ausgeschickten Abthei-
lungen von den leichten Truppen und der Reiterei der Make-
donier vernichtet; die Legionen muſsten zu Hülfe kommen
und trieben dann freilich die makedonische Vorhut, die zu
weit vorgegangen war, mit starkem Verlust in das Lager zu-
rück, wobei der König selbst das Pferd verlor und nur durch
die hochherzige Hingebung eines seiner Reiter das Leben
rettete. Aus dieser gefährlichen Lage rettete die Römer der
Erfolg, den die von Galba veranlaſsten Nebenangriffe der
Bundesgenossen hatte, oder vielmehr die Schwäche der ma-
kedonischen Streitmacht. Obwohl Philippos in seinem Gebiet
möglichst starke Aushebungen vorgenommen und römische
Ueberläufer und andere Söldner hinzugeworben hatte, hatte
er doch nicht vermocht auſser den Besatzungen in Klein-
asien und Thrakien mehr als das Heer, womit er selbst dem
Consul gegenüberstand, auf die Beine zu bringen und über-
dieſs noch um dasselbe zu bilden, die Nordpässe in der pe-
lagonischen Landschaft entblöſsen müssen. Für die Deckung
der Ostküste verlieſs er sich theils auf die von ihm angeord-
nete Verwüstung der Inseln Skiathos und Peparethos, die der
feindlichen Flotte eine Station hätten bieten können, theils
auf die Besetzung von Thasos und der Küste und auf die
unter Herakleides bei Demetrias aufgestellte Flotte. Für die
Südgrenze hatte er gar auf die mehr als zweifelhafte Neutra-
lität der Aetoler rechnen müssen. Jetzt traten diese plötzlich
dem Bunde gegen Makedonien bei und drangen sofort mit
den Athamanen vereinigt in Thessalien ein, während zugleich
die Dardaner und Illyrier die nördlichen Landschaften über-
schwemmten und die römische Flotte unter Lucius Apustius
von Kerkyra aufbrechend in den östlichen Gewässern erschien,
wo die Schiffe des Attalos, der Rhodier und der Istrier sich mit
ihr vereinigten. — Philippos gab hienach freiwillig seine Stellung
auf und wich in östlicher Richtung zurück; ob es geschah
um den wahrscheinlich unvermutheten Einfall der Aetoler zu-
rückzuschlagen oder um das römische Heer sich nach und
ins Verderben zu ziehen oder um je nach den Umständen
eines oder das andere zu thun, ist nicht wohl zu entscheiden.
[525]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
Er bewerkstelligte seinen Rückzug so geschickt, daſs Galba,
der den verwegenen Entschluſs faſste ihm zu folgen, seine
Spur verlor und Philippos den Engpaſs, der die Landschaften
Lynkestis und Eordaea scheidet, auf Seitenwegen erreichen
und besetzen konnte, an welchem die Römer zu erwarten
und ihnen die Schlacht zu liefern er entschlossen war. So
weit gelang sein Plan. Aber die langen makedonischen Speere
erwiesen sich als unbrauchbar auf dem waldigen und unglei-
chen Terrain; die Makedonier wurden theils umgangen, theils
durchbrochen und verloren viele Leute. Indeſs wenn auch
Philippos Heer nach diesem unglücklichen Treffen nicht länger
im Stande war den Römern das weitere Vordringen zu weh-
ren, so scheuten sich doch diese selber in dem unwegsamen
und feindlichen Land weiter unbekannten Gefahren entgegen zu
ziehen und kehrten zurück nach Apollonia, nachdem sie die frucht-
baren Landschaften Hochmakedoniens Eordaea, Elymaea, Orestis
verwüstet und die bedeutendste Stadt von Orestis Keletron (jetzt
Kastoria auf einer Halbinsel in dem gleichnamigen See) sich
ihnen ergeben hatte — es war die einzige makedonische Stadt,
die den Römern ihre Thore öffnete. Im illyrischen Land ward
die Stadt der Dassaretier Pelion, an den obern Zuflüssen des
Apsos, erstürmt und stark besetzt, um auf einem ähnlichen
Zug künftig als Basis zu dienen. — Philippos störte die römi-
sche Hauptarmee auf ihrem Rückzug nicht, sondern wandte
sich in Gewaltmärschen gegen die Aetoler und Athamanen,
die in der Meinung, daſs die Legionen den König beschäftig-
ten, das reiche Thal des Peneios furcht- und rücksichtslos
plünderten, schlug sie vollständig und nöthigte was nicht fiel
sich einzeln auf den ihnen wohlbekannten Bergpfaden zu
retten. Durch diese Niederlage und ebenso sehr durch die
starken Werbungen, die in Aetolien für aegyptische Rechnung
stattfanden, schwand die Streitkraft der Eidgenossenschaft un-
gemein zusammen. Die Dardaner wurden von dem Führer
der leichten Truppen Philipps Athenagoras ohne Mühe und
mit starkem Verlust über die Berge zurückgejagt. Die römi-
sche Flotte richtete auch nicht viel aus; sie verjagte die ma-
kedonische Besatzung von Andros, suchte Euboea und Skiathos
heim und machte dann Versuche auf die chalkidische Halb-
insel, die aber bei Mende die makedonische Besatzung kräftig
zurückwies. Der Rest des Sommers verging mit der Einnahme
von Oreos auf Euboea, welche durch die entschlossene Ver-
theidigung der makedonischen Besatzung lange verzögert ward.
[526]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
Die schwache makedonische Flotte unter Herakleides stand un-
thätig bei Herakleia und wagte nicht den Feinden das Meer
streitig zu machen. Frühzeitig gingen diese in die Winter-
quartiere, die Römer nach dem Peiraeeus und Kerkyra, die
Rhodier und Pergamener in die Heimath. — Der römische
Feldzugsplan war vollständig gescheitert; die Truppen standen
nach einem äuſserst beschwerlichen Feldzug im Herbst genau
da, von wo sie im Frühling aufgebrochen waren, und ohne
das rechtzeitige Dareinschlagen der Aetoler und die glücklich
gewonnene Schlacht am Paſs von Eordaea hätte von der ge-
sammten Macht vielleicht kein Mann das römische Gebiet
wieder gesehen. Die vierfache Offensive hatte überall ihren
Zweck verfehlt und Philippos sah im Herbste nicht bloſs sein
ganzes Gebiet vom Feind gereinigt, sondern er konnte noch
einen freilich vergeblichen Versuch machen die an der aeto-
lisch-thessalischen Grenze gelegene und die Peneios-Ebene be-
herrschende feste Stadt Thaumakoi den Aetolern zu entreiſsen.
Wenn Antiochos, um dessen Beistand Philippos vergeblich zu
den Göttern flehte, sich im nächsten Feldzug mit ihm ver-
einigte, so durfte er groſse Erfolge erwarten. Es schien in
der That, als schicke Antiochos sich dazu an; sein Heer
erschien in Kleinasien und besetzte einige Ortschaften des
Königs Attalos, der von den Römern militärischen Schutz er-
bat. Diese indeſs beeilten sich nicht den Groſskönig jetzt
zum Bruch zu drängen; sie schickten Gesandte, die in der
That es erreichten, daſs Attalos Gebiet geräumt ward. Von
daher hatte Philippos nichts zu hoffen.


Indeſs der glückliche Ausgang des letzten Feldzugs hatte
Philipps Muth oder Uebermuth so gehoben, daſs, nachdem er
der Neutralität der Achaeer und der Treue der Makedonier
sich durch die Aufopferung einiger festen Plätze und des
verabscheuten Admirals Herakleides aufs Neue versichert hatte,
im nächsten Frühling 556 er es war, der die Offensive ergriff
und in die atintanische Landschaft einrückte, um in dem
engen Paſs, wo sich der Aoos (Viosa) zwischen den Bergen
Aeropos und Asmaos durchwindet, ein wohl verschanztes La-
ger zu beziehen. Ihm gegenüber lagerte das durch neue
Truppensendungen verstärkte römische Heer, dessen Oberbefehl
Publius Villius führte, bis im Sommer 556 der neue Consul
Titus Quinctius Flamininus denselben übernahm. Flamininus war
ein junger Mann von dreiſsig Jahren, ein geschickter Offizier
und besserer Diplomat und in vieler Hinsicht wohl geeignet
[527]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
für die Behandlung der schwierigen griechischen Verhältnisse.
Einer aus der jüngeren Generation, die dem hellenischen We-
sen sich zuneigten, hatte er mit dem altväterischen Wesen auch
den altväterischen Patriotismus von sich abgethan und dachte
zwar auch an das Vaterland, aber mehr noch an sich und seine
hellenischen Sympathien. Wohl wäre es für Rom wie für Grie-
chenland besser gewesen, wenn ein Mann dahin gesandt worden
wäre, den weder feine Schmeichelei bestochen noch beiſsende
Spottrede verletzt hätte, der die Erbärmlichkeit der hellenischen
Staatsverfassungen nicht über litterarischen und künstlerischen
Reminiscenzen vergessen und der Hellas nach Verdienst behan-
delt, den Römern aber es erspart hätte unausführbaren Idea-
len nachzustreben. — Der neue Oberbefehlshaber hatte mit
dem König sogleich eine Zusammenkunft, während die beiden
Heere unthätig sich gegenüber standen. Philippos machte Frie-
densvorschläge; er erbot sich alle eigenen Eroberungen zu-
rückzugeben und über den den griechischen Städten zugefügten
Schaden sich einem billigen Austrag zu unterwerfen; aber an
dem Begehren die altmakedonischen Besitzungen, namentlich
Thessalien aufzugeben, scheiterten die Verhandlungen. So
standen schon vierzig Tage die beiden Heere in dem Engpaſs
des Aoos, ohne daſs Philippos wich oder Flamininus sich ent-
schlieſsen konnte entweder den Sturm anzuordnen oder den
König stehen zu lassen und die vorjährige Expedition wieder
zu versuchen. Da half dem römischen General die Verräthe-
rei einiger Vornehmen unter den sonst gut makedonisch ge-
sinnten Epeiroten, namentlich des Charops, aus der Verlegen-
heit. Sie führten auf Bergpfaden ein römisches Corps von
4000 Mann zu Fuſs und 300 Reitern auf die Höhen oberhalb
des makedonischen Lagers und wie der Consul alsdann das
feindliche Heer von vorn angriff, entschied der Angriff der
unvermuthet von den beherrschenden Bergen herabsteigenden
römischen Abtheilung die Schlacht. Philippos verlor Lager und
Verschanzung und gegen 2000 Mann und wich eilig zurück
bis an den Paſs Tempe, die Pforte des eigentlichen Makedo-
niens. Allen anderen Besitz gab er auf bis auf die Festungen;
die thessalischen Städte, die er nicht vertheidigen konnte,
zerstörte er selbst — nur Pherae schloſs ihm die Thore und
entging dadurch dem gleichen Schicksal. In Folge dieses
Sieges traten zunächst die Epeiroten vom makedonischen
Bündniſs ab, was Flamininus geschickte Milde wesentlich be-
schleunigte. In Thessalien waren auf die erste Nachricht vom
[528]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
Siege der Römer sogleich die Athamanen und Aetoler einge-
brochen und die Römer folgten bald; das platte Land war leicht
überschwemmt, allein die festen Städte, die gut makedonisch
gesinnt waren und von Philippos Unterstützung empfingen, fielen
nur nach tapferem Widerstand oder widerstanden sogar dem
überlegenen Feind; so vor allem Atrax am linken Ufer des
Peneios, wo in der Bresche die Phalanx statt der Mauer
stand. Bis auf diese thessalischen Festungen und das Gebiet
der treuen Akarnanen war somit ganz Nordgriechenland in
den Händen der Coalition. — Dagegen war der Süden durch
die Festungen Chalkis und Korinth, die durch das Gebiet der
makedonisch gesinnten Boeotier mit einander die Verbindung
unterhielten, und durch die achaeische Neutralität noch immer
wesentlich in makedonischer Gewalt und Flamininus entschloſs
sich, da es doch zu spät war, um dies Jahr noch in Make-
donien einzudringen, zunächst Landheer und Flotte gegen
Korinth und die Achaeer zu wenden. Die Flotte, die wieder
die rhodischen und pergamenischen Schiffe an sich gezogen
hatte, hatte bisher sich damit beschäftigt zwei kleinere Städte
auf Euboea, Eretria und Karystos einzunehmen und daselbst
Beute zu machen; worauf beide indeſs ebenso wie Oreos wieder
aufgegeben und von dem makedonischen Commandanten von
Chalkis Philokles aufs Neue besetzt wurden. Jetzt wandte die
Flotte der Bundesgenossen sich nach Kenchreae, dem östlichen
Hafen von Korinth, um diese starke Festung zu bedrohen. Von
der anderen Seite rückte Flamininus in Phokis ein und be-
setzte die Landschaft, in der nur Elateia eine längere Belage-
rung aushielt; sie und namentlich Antikyra am korinthischen
Meerbusen waren zum Winterquartier ausersehen. Die Achaeer,
die also auf der einen Seite die römischen Legionen sich
nähern, auf der andern die Flotte der Bundesgenossen schon
in ihrem eigenen Gebiet sahen, verzichteten auf ihre sittlich
ehrenwerthe, aber politisch unhaltbare Neutralität; nachdem
die Gesandten der am engsten an Makedonien geknüpften
Städte Dyme, Megalopolis und Argos die Tagsatzung verlassen
hatten, beschloſs dieselbe den Beitritt zu der Coalition gegen
Philippos, und Kykliades und andere Führer der makedonischen
Partei verlieſsen die Heimath. Sofort vereinigten sich die
Truppen der Achaeer mit der römischen Flotte und eilten
Korinth zu Lande einzuschlieſsen, welche Stadt, die Zwing-
burg Philipps gegen die Achaeer, ihnen römischer Seits für
ihren Beitritt zu dem Bunde zugesichert worden war. Allein
[529]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
die makedonische Besatzung, die 1300 Mann stark war und
groſsentheils aus italischen Ueberläufern bestand, vertheidigte
nicht bloſs entschlossen die fast uneinnehmbare Stadt, sondern
es kam auch von Chalkis Philokles herbei mit einer Abtheilung
von 1500 Mann, die zuerst Korinth entsetzte und sodann
in das Gebiet der Achaeer eindrang und im Einverständ-
niſs mit der makedonisch gesinnten Bürgerschaft ihnen Argos
entriſs. Allein der Lohn solcher Hingebung war, daſs der
König, der nach dem Uebertritt der Achaeer zur römischen
Partei den bisherigen Bundesgenossen der Römer Nabis von
Sparta auf seine Seite zu bringen hoffte, die treue Stadt der
Schreckensherrschaft dieses Tyrannen auslieferte. Nabis hätte
ohne Zweifel entschieden für Philippos Partei ergriffen, wenn
die Parteien im Gleichgewicht gestanden hätten; denn er war
hauptsächlich nur deſshalb römischer Bundesgenosse, weil er
in Opposition zu den Achaeern und seit 550 sogar mit ihnen in
offenem Krieg sich befand. Allein Philippos Angelegenheiten
standen zu verzweifelt, als daſs irgend Jemand jetzt sich auf seine
Seite zu schlagen Lust verspürt hätte. Nabis nahm zwar Argos
von Philippos an, allein er verrieth den Verräther und blieb
im Bündniſs mit Flamininus, welcher in der Verlegenheit, jetzt
mit zwei unter einander im Krieg begriffenen Mächten verbün-
det zu sein, vorläufig zwischen den Spartanern und Achaeern
einen Waffenstillstand auf vier Monate vermittelte.


So kam der Winter heran. Philippos benutzte ihn aber-
mals, um wo möglich einen billigen Frieden zu erhalten. Auf
einer Conferenz, die in Nikaea am malischen Meerbusen ab-
gehalten ward, erschien der König persönlich und versuchte mit
Flamininus zu einer Verständigung zu gelangen, indem er den
petulanten Uebermuth der kleinen Herren mit Stolz und Fein-
heit zurückwies und von den Römern durch markirte Deferenz
gegen sie als die einzigen ihm ebenbürtigen Gegner erträg-
liche Bedingungen zu erhalten suchte. Flamininus war ge-
bildet genug um durch die Urbanität des Besiegten gegen
ihn und die Hoffart gegen die Bundesgenossen, welche der
Römer wie der König gleich verachten gelernt hatten, sich
geschmeichelt zu fühlen; allein seine Vollmacht ging nicht so
weit wie das Begehren des Königs und somit wies er ihn
an den Senat, nachdem ein zweimonatlicher Waffenstillstand
gegen Einräumung von Phokis und Lokris zugestanden wor-
den war. Im römischen Senat war man indeſs längst einig,
daſs Makedonien alle seine auswärtigen Besitzungen aufgeben
Röm. Gesch. I. 34
[530]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
müsse; als daher Philippos Gesandte in Rom erschienen, be-
gnügte man sich sie zu fragen, ob sie Vollmacht hätten auf
ganz Griechenland, namentlich auf Korinth, Chalkis und De-
metrias zu verzichten, und da sie dies verneinten, brach man
sofort die Unterhandlungen ab und beschloſs die energische
Fortsetzung des Krieges. Mit Hülfe der Volkstribunen gelang
es dem Senat den so nachtheiligen Wechsel des Oberbefehls
zu verhindern und Flamininus das Commando zu verlängern;
er erhielt bedeutende Verstärkung und die beiden früheren
Oberbefehlshaber Publius Galba und Publius Villius wurden
angewiesen sich ihm zur Verfügung zu stellen. Auch Philip-
pos entschloſs sich noch einmal die Feldschlacht zu wagen.
Um Griechenland zu sichern, wo jetzt alle Staaten mit
Ausnahme der Akarnanen und Boeoter gegen ihn in Waf-
fen standen, wurde die Besatzung von Korinth bis auf 6000
Mann verstärkt, während er selbst, die letzten Kräfte des er-
schöpften Makedonien aufbietend und Kinder und Greise in
die Phalanx einreihend, ein Heer von etwa 26000 Mann, dar-
unter 16000 makedonische Phalangiten aufzustellen vermochte.
So begann der vierte Feldzug 557. Flamininus schickte einen
Theil der Flotte gegen die Akarnanen, die in Leukas belagert
wurden; im eigentlichen Griechenland bemächtigte er sich
durch List der boeotischen Hauptstadt Thebae, wodurch sich
die Boeoter gezwungen sahen dem Bündniſs gegen Rom we-
nigstens dem Namen nach beizutreten. Zufrieden hiedurch die
Verbindung zwischen Korinth und Chalkis gesprengt zu haben,
wandte er sich nach Norden, wo allein die Entscheidung fallen
konnte. Die groſse Schwierigkeit, auf die in dem feindlichen
und groſsentheils öden Lande die Verpflegung des Heeres stieſs
und die schon oft die Operationen gehemmt hatte, sollte die
Flotte beseitigen, die die Aufgabe hatte das Heer längs der
Küste zu begleiten und ihm die aus Africa, Sicilien und Sar-
dinien gesandten Vorräthe nachzuführen. Indeſs die Entschei-
dung kam früher, als Flamininus gehofft hatte. Philippos, un-
geduldig und zuversichtlich wie er war, konnte es nicht aus-
halten den Feind an der makedonischen Grenze zu erwarten;
nachdem er bei Dion sein Heer gesammelt hatte, rückte er
durch den Tempepaſs in Thessalien ein und traf mit dem
ihm entgegenrückenden feindlichen Heer in der Gegend von
Skotussa zusammen. Beide Heere, das makedonische und
das römische, das durch Zuzüge der Apolloniaten, der Atha-
manen und der von Nabis gesandten Kretenser, besonders
[531]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
aber durch einen starken aetolischen Haufen verstärkt worden
war, zählten ungefähr gleich viel Streiter, jedes etwa 26000
Mann; doch waren die Römer an Reiterei dem Gegner über-
legen. Vorwärts Skotussa traf während eines trüben Regen-
tages der römische Vortrab unvermuthet auf den feindlichen,
der einen zwischen beiden Lagern gelegenen hohen und stei-
len Hügel, die Kynoskephalae, besetzt hielt. Zurückgetrieben
in die Ebene erhielten die Römer Verstärkung aus dem Lager
von den leichten Truppen und dem trefflichen Corps der aetoli-
schen Reiterei und drängten nun ihrerseits den makedonischen
Vortrab auf und über die Höhe zurück. Hier aber fanden
wiederum die Makedonier Unterstützung an ihrer gesammten
Reiterei und dem gröſsten Theil der leichten Infanterie; die
Römer, die unvorsichtig sich vorgewagt hatten, wurden mit
groſsem Verlust fast bis an ihr Lager zurückgejagt und hätten
sich völlig zur Flucht gewandt, wenn nicht die aetolischen
Ritter in der Ebene den Kampf so lange hingehalten hätten,
bis Flamininus die schnell geordneten Legionen herbeiführen
konnte. Philippos siegreiche Truppen forderten eifrig die
Fortsetzung des Kampfes; der Feldherr gab dem ungestümen
Ruf der Soldaten nach und ordnete seine Schwerbewaffneten
eilig zu der Schlacht, die weder sie noch der König an die-
sem Tage erwartet hatten. Es galt den Hügel zu besetzen,
der augenblicklich von Truppen ganz entblöſst war. Der
rechte Flügel der Phalanx unter des Königs eigener Führung
kam früh genug dort an um sich ungestört auf der Höhe in
Schlachtordnung zu stellen. Als nun die leichten Truppen der
Makedonier, von den Legionen gescheucht, den Hügel herauf-
stürmten, zog Philipp dieselben rasch an der Phalanx vorbei in
das Mitteltreffen und ohne zu erwarten, daſs auf dem linken
Flügel Nikanor mit der anderen langsamer folgenden Hälfte
der Phalanx eingetroffen war, hieſs er die rechte Phalanx
mit gesenkten Speeren den Hügel hinab sich auf die Legionen
stürzen, während die Peltasten sie gleichzeitig umgingen und
ihnen in die Flanke fielen. Der unwiderstehliche Angriff der
Phalanx am günstigen Orte zersprengte das römische Fuſs-
volk und der linke Flügel der Römer ward völlig geschlagen.
Nikanor dagegen war, da er die Vorbereitungen zum Angriff sah,
mit der andern Hälfte der Phalanx schleunigst gefolgt, wobei
die Glieder sich gelöst hatten; während die ersten Reihen
schon eilig den Berg hinab dem siegreichen rechten Flügel
folgten und durch das ungleiche Terrain noch mehr in Un-
34*
[532]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
ordnung geriethen, gewannen die letzten Glieder eben erst
die Höhe. Der rechte Flügel der Römer ward unter diesen
Umständen leicht mit dem feindlichen linken fertig; die Ele-
phanten allein, die auf diesem Flügel standen, vernichteten
die aufgelösten makedonischen Schaaren. Während des fürch-
terlichen Gemetzels, das hier entstand, nahm ein entschlosse-
ner römischer Offizier zwanzig Fähnlein zusammen und warf
sich mit diesen auf den andern makedonischen Flügel, der
den römischen linken verfolgend so weit vorgedrungen war,
daſs der römische rechte ihm im Rücken stand. Gegen den
Angriff von hinten war die siegreiche Phalanx wehrlos und
mit diesem Angriff war die Schlacht zu Ende. Bei der voll-
ständigen Auflösung der beiden Phalangen ist es begreiflich,
daſs 13000 Makedonier theils gefangen theils gefallen waren,
gefallen meistens, weil die römischen Soldaten das makedonische
Zeichen der Ergebung, das Aufheben der Sarissen nicht kann-
ten; der Verlust der Sieger war gering. Philippos entkam
nach Larissa und nachdem er alle seine Papiere verbrannt
hatte um Niemanden zu compromittiren, räumte er Thessalien
und ging in seine Heimath zurück. Gleichzeitig mit dieser
groſsen Niederlage erlitten die Makedonier noch andere Nach-
theile auf allen Puncten, die sie noch besetzt hielten: in Ka-
rien schlugen die rhodischen Söldner das dort stehende ma-
kedonische Corps und zwangen dasselbe sich in Stratonikeia
einzuschlieſsen; die korinthische Besatzung ward von Niko-
stratos mit seinen Achaeern mit starkem Verlust geschlagen
und das akarnanische Leukas nach heldenmüthiger Gegenwehr
erstürmt. Philippos war vollständig überwunden; seine letzten
Verbündeten, die Akarnanen ergaben sich auf die Nachricht von
der Schlacht bei Kynoskephalae.


Es lag vollständig in der Hand der Römer den Frieden
zu dictiren; sie nutzten ihre Macht ohne sie zu miſsbrauchen.
Man konnte das Reich Alexanders vernichten; auf der Con-
ferenz der Bundesgenossen ward dies Begehren von aetolischer
Seite ausdrücklich gestellt. Allein was hieſs das anders als
den Wall hellenischer Bildung gegen Thraker und Galater
niederreiſsen? Schon war während des eben geendigten Krie-
ges das blühende Lysimacheia auf dem thrakischen Chersonesos
von den Thrakern gänzlich zerstört worden — eine ernste War-
nung für die Zukunft. Flamininus, der tiefe Blicke in die
widerwärtigen Verfehdungen der griechischen Staaten gethan
hatte, konnte nicht die Hand dazu bieten, daſs die römische
[533]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
Groſsmacht für den Groll der aetolischen Eidgenossenschaft
die Execution übernahm, auch wenn nicht seine hellenischen
Sympathieen für den feinen und ritterlichen König ebenso
sehr gewonnen gewesen wären wie sein römisches Nationalge-
fühl verletzt war durch die Prahlereien der Aetoler, der ‚Sieger
von Kynoskephalae‘, wie sie sich nannten. Den Aetolern er-
wiederte er, daſs es nicht römische Sitte sei Besiegte zu ver-
nichten, übrigens seien sie ja ihre eigenen Herren und stehe
es ihnen frei Makedonien zu vernichten, wenn sie könnten.
Der König ward mit aller möglichen Rücksicht behandelt und
nachdem die Präliminarien, die im Wesentlichen den in Ni-
kaea gestellten Bedingungen entsprachen, von Flamininus im
Allgemeinen gebilligt waren, ihm gegen Zahlung einer Geld-
summe und Stellung von Geiſseln, darunter seines Sohnes
Demetrios, ein längerer Waffenstillstand bewilligt, den Phi-
lippos höchst nöthig brauchte um die Dardaner aus Makedo-
nien hinauszuschlagen. — Die definitive Regulirung der ver-
wickelten griechischen Angelegenheiten ward vom Senat einer
Commission von zehn Personen übertragen, deren Haupt und
Seele wieder Flamininus war. Philippos erhielt von ihr ähnliche
Bedingungen, wie sie Karthago gestellt worden waren. Er
verlor alle auswärtigen Besitzungen in Kleinasien, Thrakien,
Griechenland und auf den Inseln des aegaeischen Meeres;
dagegen blieb das eigentliche Makedonien ungeschmälert bis
auf einige unbedeutende Grenzstriche und die Landschaft
Orestis, welche frei erklärt ward — eine Bestimmung, die
Philippos äuſserst empfindlich fiel, allein die die Römer nicht
umhin konnten ihm vorzuschreiben, da bei seinem Charakter
es unmöglich war ihm die freie Verfügung über einmal von
ihm abgefallene Unterthanen zu lassen. Makedonien wurde
ferner verpflichtet keine auswärtigen Bündnisse ohne Vor-
wissen Roms abzuschlieſsen noch nach auswärts Besatzungen
zu schicken; ferner nicht auſserhalb Makedoniens gegen civi-
lisirte Staaten noch überhaupt gegen römische Bundesgenossen
Krieg zu führen und kein Heer über 5000 Mann, keine Ele-
phanten und nicht über 5 Deckschiffe zu unterhalten, die
übrigen an die Römer auszuliefern. Endlich trat Philippos
mit den Römern in Symmachie, die ihn verpflichtete auf Ver-
langen Zuzug zu senden, wie denn gleich nachher die make-
donischen Truppen mit den Legionen zusammen fochten.
Auſserdem zahlte er eine Contribution von 1000 Talenten
(1½Million Thlr.). — Nachdem Makedonien also zu voll-
[534]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
ständiger politischer Nullität herabgedrückt und ihm nur so
viel Macht gelassen war als es bedurfte um die Grenze zu
hüten, schritt man dazu über die vom König abgetretenen Be-
sitzungen zu verfügen. Die Römer, die eben damals in
Spanien erfuhren, daſs die überseeischen Provinzen ein sehr
zweifelhafter Gewinn seien, und die überhaupt keineswegs des
Ländererwerbes wegen den Krieg begonnen hatten, nahmen
nichts von der Beute für sich und zwangen dadurch auch
ihre Bundesgenossen zur Mäſsigung. Sie beschlossen sämmt-
liche Staaten Griechenlands, die bisher unter Philippos ge-
standen, frei zu erklären; und Flamininus erhielt den Auftrag
das deſsfällige Decret den zu den isthmischen Spielen ver-
sammelten Griechen zu verlesen (558). Der Jubel war groſs
und mag aufrichtig gewesen sein wie die Absicht, in der der
Senat die Freiheit verlieh*, freilich mochte es auch nicht
fehlen an ernsthaften Männern, die fragten, ob die Freiheit
ein verschenkbares Gut sei und was Freiheit ohne Einigkeit
und Einheit der Nation bedeute. — Ausgenommen waren von
dieser allgemeinen Maſsregel nur die illyrischen Landschaften
östlich von Epidamnos, die an den Herrn von Skodra Pleu-
ratos fielen und diesen ein Menschenalter zuvor von den Rö-
mern gedemüthigten Land- und Seeräuberstaat wieder zu der
mächtigsten unter all den kleinen Herrschaften in diesen Stri-
chen machten; ferner einige Ortschaften im westlichen Thes-
salien, die Amynander besetzt hatte und die man ihm lieſs,
und die drei Inseln Paros, Skyros und Imbros, welche Athen
für seine vielen Drangsale und seine noch zahlreicheren Dank-
adressen und Höflichkeiten aller Art zum Geschenk erhielt.
Daſs die Rhodier ihre karischen Besitzungen behielten und
Aegina den Pergamenern blieb, versteht sich. Sonst ward nur
mittelbar den Bundesgenossen gelohnt durch den Zutritt der
neu befreiten Städte zu den verschiedenen Eidgenossenschaften.
Am besten wurden die Achaeer bedacht, die doch am späte-
sten der Coalition gegen Philippos beigetreten waren; wie es
scheint aus dem ehrenwerthen Grunde, daſs dieser Bundes-
staat unter allen griechischen der geordnetste und ehrbarste
war. Die sämmtlichen Besitzungen Philipps auf dem Pelo-
ponnes und dem Isthmos, also namentlich Korinth, wurden
[535]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
ihrem Bunde einverleibt. Mit den Aetolern dagegen machte
man wenig Umstände; sie durften die phokischen und lokri-
schen Städte in ihre Symmachie aufnehmen, allein ihre Ver-
suche dieselbe auch auf Akarnanien und Thessalien auszudeh-
nen wurden theils entschieden zurückgewiesen, theils in die
Ferne geschoben, und die thessalischen Städte vielmehr in
vier kleine selbstständige Eidgenossenschaften geordnet. Dem
rhodischen Städtebund kam die Befreiung von Thasos und Lem-
nos, der thrakischen und kleinasiatischen Städte zu Gute. — Die
schwierigste Aufgabe blieb die Ordnung der inneren Verhält-
nisse, sowohl der Staaten zu einander, als der einzelnen
Staaten unter sich. Die dringendste Angelegenheit war der
zwischen den Spartanern und Achaeern seit 550 geführte
Krieg, dessen Vermittelung den Römern nothwendig zufiel.
Allein nach vielfachen Versuchen Nabis zum Nachgeben, na-
mentlich zur Herausgabe der von Philippos ihm ausgelieferten
achaeischen Bundesstadt Argos zu bestimmen blieb Flamininus
doch zuletzt nichts übrig als dem eigensinnigen kleinen Raub-
herrn, der auf den offenkundigen Groll der Aetoler gegen die
Römer und auf Antiochos Einrücken in Europa rechnete und
die Rückstellung von Argos beharrlich weigerte, endlich von
den sämmtlichen Hellenen auf einer groſsen Tagfahrt in Ko-
rinth den Krieg erklären zu lassen und mit der Flotte und
dem römisch - bundesgenössischen Heere, darunter auch mit
einem von Philippos gesandten Contingent sowie mit den
lakedämonischen Emigranten unter dem legitimen König von
Sparta Agesipolis, in den Peloponnes einzurücken (559). Um
den Gegner durch die überwältigende Uebermacht sogleich zu
erdrücken, waren nicht weniger als 50000 Mann auf die
Beine gebracht und mit Vernachlässigung der übrigen Städte
sogleich die Hauptstadt selbst von ihnen umstellt worden;
allein man erreichte nicht ganz den gewünschten Zweck.
Nabis hatte eine beträchtliche Armee, bis 15000 Mann, dar-
unter 5000 Söldner ins Feld gestellt und seine Herrschaft
durch ein vollständiges Schreckensregiment, die Hinrichtung
einer Masse ihm verdächtiger Offiziere und Bewohner der
Landschaft aufs Neue befestigt. Sogar als nach den ersten Er-
folgen der römischen Armee und Flotte er selber sich ent-
schloſs nachzugeben und die von Flamininus ihm gestellten
verhältniſsmäſsig sehr günstigen Bedingungen anzunehmen,
verwarf ‚das Volk‘, das heiſst das von Nabis in Sparta domi-
cilirte Raubgesindel, nicht mit Unrecht die Rechenschaft nach
[536]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
dem Siege fürchtend und getäuscht durch obligate Lügen
über die Beschaffenheit der Friedensbedingungen und das
Heranrücken der Aetoler und der Asiaten, den von dem rö-
mischen Feldherrn gegebenen Frieden und der Kampf begann
aufs Neue. Es kam zu einer Schlacht vor den Mauern und
zu einem Sturm auf die Stadt, die schon von den Römern
erstiegen war, als sie das Anzünden der genommenen Straſsen
wieder zur Umkehr zwang. Endlich nahm denn doch der
eigensinnige Widerstand ein Ende. Sparta behielt seine Selbst-
ständigkeit und ward weder gezwungen die Emigranten wieder
aufzunehmen noch dem achaeischen Bunde beizutreten; sogar
die bestehende monarchische Verfassung und Nabis selbst
blieben unangetastet. Dagegen muſste Nabis seine auswärtigen
Besitzungen, Argos, Messene, die kretischen Städte und über-
dieſs noch die ganze Küste abtreten, sich verpflichten weder
auswärtige Bündnisse zu schlieſsen noch Krieg zu führen und
keine anderen Schiffe zu halten als zwei offene Kähne, end-
lich alles Raubgut wieder abzuliefern, den Römern Geiſseln
zu stellen und eine Kriegscontribution zu zahlen. Den
spartanischen Emigranten wurden die Städte an der lakoni-
schen Küste angewiesen und diese neue Volksgemeinde, die
sogenannten ‚freien Lakonen‘ im Gegensatz der monarchisch
regierten Spartaner, angewiesen in den achaeischen Bund
einzutreten. Ihr Vermögen erhielten die Emigrirten nicht
zurück, indem die ihnen angewiesene Landschaft dafür als
Ersatz angesehen ward, wogegen verfügt ward, daſs den Emi-
grirten die Weiber und Kinder nicht wider deren Willen in
Sparta zurückgehalten werden sollten. Die Achaeer, obwohl
sie durch diese Verfügungen auſser Argos noch die freien
Lakonen erhielten, waren dennoch wenig zufrieden; sie hatten
die Beseitigung des gefürchteten und gehaſsten Nabis, die
Rückführung der Emigrirten und die Ausdehnung der achaei-
schen Symmachie auf den ganzen Peloponnes erwartet. Der
Unbefangene wird indeſs nicht verkennen, daſs Flamininus
diese schwierigen Angelegenheiten so billig und gerecht regelte,
wie es möglich ist, wo sich zwei beiderseits unbillige und
ungerechte politische Parteien gegenüberstehen. Bei der alten
und tiefen Verfeindung zwischen den Spartanern und Achaeern
wäre die Einverleibung Spartas in den achaeischen Bund
einer Unterwerfung Spartas unter die Achaeer gleichgekommen,
was der Billigkeit nicht minder zuwiderlief als der Klugheit.
Die Rückführung der Emigranten und die vollständige Re-
[537]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
stauration eines seit zwanzig Jahren beseitigten Regiments
würde nur ein Schreckensregiment durch das andre abgelöst
haben; der Ausweg, den Flamininus ergriff, war eben darum
der rechte, weil er beide extreme Parteien nicht befriedigte.
Endlich schien dafür gründlich gesorgt, daſs es mit dem spar-
tanischen See- und Landraub ein Ende hatte und das Regi-
ment daselbst, wie es nun eben war, nur der eigenen Ge-
meinde unbequem fallen konnte. Es ist möglich, daſs Flami-
ninus, der den Nabis kannte und wissen muſste, wie wün-
schenswerth dessen Beseitigung war, dieselbe unterlieſs um
nicht durch unabsehbare Verwicklungen den reinen Eindruck
seiner Erfolge zu trüben und daſs die Römer überdieſs
ein Gegengewicht gegen die Macht der achaeischen Eidgenos-
senschaft im Peloponnes zu conserviren suchten; indeſs der
erste Vorwurf trifft einen Nebenpunct und in letzterer Hin-
sicht ist es wenig wahrscheinlich, daſs die Römer sich herab-
lieſsen die Achaeer zu fürchten. — Somit war wenigstens
äuſserlich der Friede zwischen den kleinen griechischen Staa-
ten gestiftet. Aber auch die inneren Verhältnisse der einzel-
nen Gemeinden gaben dem römischen Schiedsrichter zu thun.
Die Boeoter trugen ihre makedonische Gesinnung selbst noch
nach dem Frieden mit Philippos offen zur Schau; als Flami-
ninus auf ihre Bitte die Rückkehr der in Philippos Diensten
gestandenen Boeoter bewilligt hatte, ward der entschiedenste
makedonische Parteigänger Brachyllas zum Vorstand der boeoti-
schen Genossenschaft erwählt und auch sonst Flamininus auf alle
Weise gereizt. Er ertrug es mit beispielloser Geduld; indeſs die
römisch gesinnten Boeoter, die wuſsten, was nach dem Abzug
der Römer ihrer warte, beschlossen den Tod des Brachyllas,
und Flamininus, dessen Erlaubniſs sie sich dazu erbitten zu
müssen glaubten, lieſs es geschehen. Brachyllas ward hienach
ermordet; worauf die Boeoter sich nicht begnügten die Mörder
zu verfolgen, sondern auch den einzeln durch ihr Gebiet
passirenden römischen Soldaten auflauerten und deren an
500 erschlugen. Dies war denn doch zu arg; Flamininus
legte ihnen eine Buſse von einem Talent für jeden Soldaten
auf und da sie diese nicht zahlten, nahm er die nächstliegen-
den Truppen zusammen und belagerte Koroneia (558). Nun
kamen freilich demüthige Bitten und auf die Fürbitte der
Achaeer und Athener lieſs Flamininus von den Schuldigen ab
gegen eine sehr mäſsige Buſse. Die makedonische Partei indeſs
blieb dennoch in der kleinen Landschaft am Ruder; ihrer
[538]DRITTES BUCH. KAPITEL VIII.
knabenhaften Opposition setzten die Römer nichts entgegen
als die Langmuth der Uebermacht. Flamininus begnügte sich
so weit es ohne Gewaltthätigkeit anging, auf die inneren Ver-
hältnisse namentlich der neubefreiten Gemeinden einzuwirken,
mit den Reichern den Rath und die Gerichte zu besetzen,
die antimakedonisch gesinnte Partei ans Ruder zu bringen
und die städtischen Gemeinwesen dadurch, daſs er das was
in jeder Gemeinde nach Kriegsrecht an die Römer gefallen
war, zu dem Vermögen der betreffenden Stadt schlug, mög-
lichst an das römische Interesse zu knüpfen. Im Frühjahr
560 war die Arbeit beendigt; Flamininus versammelte noch
einmal in Korinth die Abgeordneten der sämmtlichen griechi-
schen Gemeinden, ermahnte sie zu verständigem und mäſsi-
gem Gebrauch der ihnen verliehenen Freiheit und erbat sich
als einzige Gegengabe für die Römer, daſs man die italischen
Gefangenen, die während des hannibalischen Krieges nach Grie-
chenland verkauft worden waren, binnen dreiſsig Tagen ihm
zusende. Darauf räumte er die letzten Festungen, in denen
noch römische Besatzung stand, Demetrias, Chalkis nebst den
davon abhängigen kleineren Forts auf Euboea, und Akroko-
rinth, also die Rede der Aetoler, daſs Rom die Fesseln
Griechenlands von Philippos geerbt, thatsächlich Lügen stra-
fend, und zog mit den sämmtlichen römischen Truppen und
den befreiten Gefangenen in die Heimath.


Nur von der verächtlichen Unredlichkeit oder der elenden
Sentimentalität kann es verkannt werden, daſs es mit der Be-
freiung Griechenlands den Römern vollkommen Ernst war und
die Ursache, weſshalb der groſsartig angelegte Plan ein so
kümmerliches Gebäude lieferte, einzig zu suchen ist in der
vollständigen sittlichen und staatlichen Auflösung der helleni-
schen Nation. Es war nichts Geringes, daſs eine mächtige
Nation das Land, welches sie sich gewöhnt hatte als ihre
Urheimath und als das Heiligthum ihrer geistigen und höheren
Interessen zu betrachten, mit ihrem mächtigen Arm plötzlich
zur vollen Freiheit führte und jeder Gemeinde die Befreiung
von fremder Schatzung und fremder Besatzung und die un-
beschränkte Selbstregierung verlieh; bloſs die Jämmerlichkeit
sieht hierin nichts als politische Berechnung. Der politische
Calcul machte den Römern die Befreiung Griechenlands mög-
lich; zur Wirklichkeit wurde sie durch die eben damals in Rom
und vor allem in Flamininus selbst unbeschreiblich mächtigen
hellenischen Sympathien. Wenn ein Vorwurf die Römer trifft,
[539]DER ZWEITE MAKEDONISCHE KRIEG.
so ist es der, daſs sie und vor allem daſs den Flamininus,
der die wohlgegründeten Bedenken des Senats überwand, der
Zauber des hellenischen Namens hinderte die Erbärmlichkeit
des damaligen griechischen Staatenwesens in ihrem ganzen
Umfang zu erkennen und all den Gemeinden, die mit ihren
in und gegen einander gährenden ohnmächtigen Antipathien
weder zu handeln noch sich ruhig zu halten verstanden, ihr
Treiben ein für allemal zu legen durch eine diese ebenso er-
bärmliche als schädliche Freiheit an Ort und Stelle beseitigende
Uebermacht. In Boeotien zum Beispiel muſste Rom einen politi-
schen Mord, wenn nicht veranlassen, doch zulassen, weil man
sich einmal entschlossen hatte die römischen Truppen aus
Griechenland wegzuziehen und somit den römisch gesinnten
Griechen nicht wehren konnte, daſs sie in landüblicher Weise
sich selber halfen. Aber auch Rom selbst litt unter den Fol-
gen dieser Halbheit. Der Krieg mit Antiochos wäre nicht
entstanden ohne den politischen Fehler der Befreiung Grie-
chenlands, und er wäre ungefährlich geblieben ohne den
militärischen Fehler aus den wichtigen Festungen der euro-
päischen Grenze die Besatzungen wegzuziehen. Die Geschichte
hat eine Nemesis für jede Sünde, für den impotenten Frei-
heitsdrang wie für den unverständigen Edelmuth.


[[540]]

KAPITEL IX.



Der Krieg gegen Antiochos von Asien.


In dem Reiche Asien trug das Diadem der Seleukiden
seit dem Jahre 531 der König Antiochos der Dritte, der Ur-
urenkel des Begründers der Dynastie. Auch er war gleich
Philippos mit neunzehn Jahren zur Regierung gekommen und
hatte Thätigkeit und Unternehmungsgeist genug namentlich
in seinen ersten Feldzügen im Osten entwickelt, um ohne
allzu arge Lächerlichkeit im Hofstil der Groſse zu heiſsen.
Mehr indeſs durch die Schlaffheit seiner Gegner, namentlich
des ägyptischen Philopator, als durch seine eigene Tüchtigkeit
war es ihm gelungen die Integrität der Monarchie einiger-
maſsen wiederherzustellen und zuerst die östlichen Satrapien
Medien und Parthyene, dann auch den von Achaeos diesseit
des Tauros in Kleinasien begründeten Sonderstaat wieder mit
der Krone zu vereinigen. Ein erster Versuch das schmerzlich
entbehrte syrische Küstenland den Aegyptern zu entreiſsen
war im Jahre der trasimenischen Schlacht von Philopator bei
Raphia blutig zurückgewiesen worden und Antiochos hatte
sich wohl gehütet mit Aegypten den Streit wieder aufzuneh-
men, so lange dort ein Mann, wenn auch ein schlaffer, auf
dem Thron saſs. Aber nach Philopators Tode (550) schien
der rechte Augenblick gekommen mit Aegypten ein Ende zu
machen; Antiochos verband sich zu diesem Zweck mit Phi-
lippos und hatte sich auf Koilesyrien geworfen, während die-
ser die kleinasiatischen Städte angriff. Als die Römer hier
intervenirten, schien es einen Augenblick, als werde Antiochos
[541]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
gegen sie mit Philippos gemeinschaftliche Sache machen, wie
die Natur der Sache und der Bündniſsvertrag es mit sich
brachten. Allein nicht weitsichtig genug um überhaupt die
Einmischung der Römer in die Angelegenheiten des Ostens
sofort mit aller Energie zurückzuweisen, glaubte Antiochos
seinen Vortheil am besten zu wahren, wenn er Philippos leicht
vorauszusehende Ueberwältigung durch die Römer dazu nutzte
um die Besitzungen Aegyptens, die er mit Philippos hatte
theilen wollen, nun sämmtlich für sich zu gewinnen. Der
römische Senat, der fest entschlossen war sich um die asia-
tischen Angelegenheiten nicht anders als im äuſsersten Noth-
fall zu bekümmern und den Kreis seiner Macht mit den
Säulen des Herkules und dem Hellespont zu begrenzen, ging
auf die Absichten des Königs ein. Mit der Eroberung des
eigentlichen Aegypten, die leichter gesagt als gethan war,
mochte es Antiochos selbst nicht recht Ernst sein; dagegen
begann er ungestört von den Römern, die trotz ihrer engen
Beziehungen zu dem alexandrinischen Hof und ihrem könig-
lichen Mündel keineswegs im Sinne hatten wirklich, wie sie
sich nannten, dessen ‚Beschützer‘ zu sein, die Eroberung der
auswärtigen Besitzungen Aegyptens. Er griff zunächst die
kilikischen so wie die syrischen und palästinensischen an.
Der groſse Sieg, den er im Jahre 556 am Berge Panion bei
den Jordanquellen über den ägyptischen Feldherrn Skopas
erfocht, gab ihm nicht bloſs den vollständigen Besitz dieses
Gebiets bis an die Grenze des eigentlichen Aegypten, sondern
schreckte die ägyptischen Vormünder des jungen Königs so
sehr, daſs dieselben, um Antiochos vom Einrücken in Aegyp-
ten abzuhalten, sich zum Frieden bequemten und durch das
Verlöbniſs ihres Mündels mit der Tochter des Antiochos Kleo-
patra den Frieden besiegelten. Nachdem also das nächste
Ziel erreicht war, zog Antiochos im folgenden, in dem Jahr
der Schlacht von Kynoskephalae, mit einer starken Flotte von
100 Deck- und 100 offnen Schiffen nach Kleinasien, um die
ehemals ägyptischen Besitzungen an der Süd- und Westküste
Kleinasiens in Besitz zu nehmen — wahrscheinlich hatte die
ägyptische Regierung diese Districte, die factisch in Philippos
Händen waren, im Frieden an Antiochos abgetreten und über-
haupt auf die sämmtlichen auswärtigen Besitzungen zu Antio-
chos Gunsten verzichtet — und um überhaupt die kleinasia-
tischen Griechen wieder zum Reiche zu bringen. Zugleich
sammelte sich ein starkes syrisches Landheer in Sardes.
[542]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
Dieses Beginnen war mittelbar gegen die Römer gerichtet,
welche von Anfang an Philippos die Bedingung gestellt hatten
seine Besatzungen aus Kleinasien wegzuziehen und den Rho-
diern und Pergamenern ihr Gebiet, den Freistädten die bis-
herige Verfassung ungekränkt zu lassen, und nun hiedurch
nichts bewirkten, als daſs an Philippos Stelle sich Antiochos
derselben bemächtigte. Unmittelbar aber sahen sich Attalos
und die Rhodier jetzt von Antiochos durchaus mit derselben
Gefahr bedroht, die sie wenige Jahre zuvor zum Kriege gegen
Philippos getrieben hatte. Es versteht sich, daſs dieselben
die Römer nicht minder in diesen Krieg zu verwickeln wünsch-
ten als in den eben beendigten. Schon 555/6 hatte Attalos
von den Römern militärische Hülfe begehrt gegen Antiochos,
der sein Gebiet besetze, während Attalos Truppen in dem
römischen Kriege beschäftigt seien. Die energischeren Rhodier
erklärten sogar dem König Antiochos, als im Frühjahr 557
dessen Flotte an der kleinasiatischen Küste hinaufsegelte, daſs
sie die Ueberschreitung der chelidonischen Inseln (an der
lykischen Küste) als Kriegserklärung betrachten würden, und
als Antiochos sich hieran nicht kehrte, hatten sie, ermuthigt
durch die eben eintreffende Kunde von der Schlacht bei Ky-
noskephalae, sofort den Krieg begonnen und die wichtigsten
karischen Städte Kaunos, Halikarnassos, Myndos, ferner die
Insel Samos in der That vor dem König geschützt. Auch von
den halbfreien Städten hatten zwar die meisten sich demsel-
ben gefügt, allein einige derselben, namentlich die wichtigen
Städte Smyrna, Alexandreia Troas und Lampsakos hatten auf
dieselbe Kunde von der Ueberwältigung Philipps Muth bekom-
men sich dem Syrer zu widersetzen und ihre dringenden Bitten
vereinigten sich mit denen der Rhodier. — Indeſs die Römer
zeigten sich keineswegs bereitwillig hierauf einzugehen und in
Asien unmittelbar zu interveniren. Nicht bloſs zauderte man,
so lange der makedonische Krieg währte, und gab dem Attalos
nichts als den Schutz diplomatischer Verwendung, die übrigens
zunächst sich wirksam erwies; sondern auch nach dem Siege
sprach man es wohl aus, daſs die Städte, die Ptolemaeos und
Philippos in Händen gehabt, nicht von Antiochos sollten in
Besitz genommen werden, und die Freiheit der asiatischen
Städte Abydos, Kios, Myrina figurirte in den römischen Acten-
stücken, allein man that nicht das Geringste um sie durchzu-
setzen; als König Antiochos die gute Gelegenheit des Abzugs
der makedonischen Besatzungen benutzte um die seinigen in
[543]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
die Städte zu legen, lieſs man es geschehen. Ja man ging
so weit sich selbst dessen Landung in Europa im Frühjahr
558 und sein Einrücken in den thrakischen Chersonesos ge-
fallen zu lassen, wo er Sestos und Madytos in Besitz nahm
und längere Zeit verwandte auf die Züchtigung der thrakischen
Barbaren und die Wiederherstellung des zerstörten Lysima-
cheia, das er zu seinem Hauptwaffenplatz und zur Hauptstadt
der neu gestifteten Satrapie Thrakien ausersehen hatte. Fla-
mininus, in dessen Händen die Leitung dieser Angelegenheiten
sich befand, schickte wohl nach Lysimacheia an den König
Gesandte, die von der Integrität des ägyptischen Gebiets und
von der Freiheit der sämmtlichen Hellenen redeten; allein es
kam dabei nichts heraus. Der König redete wiederum von
seinen vortrefflichen Rechtstiteln auf das alte von seinem Ahn-
herrn Seleukos eroberte Reich des Lysimachos, setzte ausein-
ander, daſs er nicht beschäftigt sei Land zu erobern, sondern
einzig die Integrität seines angestammten Gebiets zu erhalten,
und lehnte die römische Vermittlung in dem Streit des Königs
mit den ihm unterthänigen Städten in Kleinasien ab. Mit
Recht konnte er hinzufügen, daſs mit Aegypten bereits Friede
geschlossen sei und es den Römern an einem formellen Grund
fehle hier zu interveniren * Die plötzliche Heimkehr des Kö-
nigs nach Asien, veranlaſst durch die falsche Nachricht von
dem Tode des jungen Königs von Aegypten, und die dadurch
hervorgerufenen Projecte einer Landung auf Kypros oder gar
in Alexandreia, veranlaſste den Abbruch der Conferenzen, ohne
daſs man auch nur zu einem Abschluſs, geschweige denn zu
einem Resultat gekommen wäre. Das folgende Jahr 559 kam
der König wieder nach Lysimacheia mit verstärkter Flotte und
Armee und beschäftigte sich die neue Satrapie zu ordnen, die
er seinem Sohn Seleukos bestimmte; in Ephesos kam Hannibal
zu ihm, der von Karthago hatte landflüchtig werden müssen,
und der ungemein ehrenvolle Empfang, der ihm zu Theil ward,
war so gut wie eine Kriegserklärung gegen Rom. Flamininus
lieſs sich nicht irren; wie sehr selbst jetzt noch die Römer
einen Krieg zu vermeiden suchten, zeigt die vollständige Räu-
[544]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
mung Griechenlands im Frühjahr 560, die unter solchen Um-
ständen wenigstens eine arge Verkehrtheit war. Der Gedanke
läſst sich fast nicht abweisen, daſs Flamininus, um nur den
Ruhm des gänzlich beendigten Krieges und des befreiten Hel-
las ungeschmälert heimzubringen, sich begnügte das glimmende
Feuer des Aufstandes und des Krieges vorläufig oberflächlich
zu verschütten. Der römische Staatsmann mochte durchaus
Recht haben, wenn er von Griechenland nichts begehrte, als
daſs die Gemeinden unabhängig seien, und wenn er jede In-
tervention der Römer in die asiatischen Angelegenheiten für
einen politischen Fehler erklärte; aber die gährende Opposi-
tion in Griechenland, der schwächliche Uebermuth des Asiaten,
das Verweilen des erbitterten Römerfeindes, der schon den
Westen gegen Rom in Waffen gebracht hatte, im syrischen
Hauptquartier, alles dies waren deutliche Anzeichen einer öst-
lichen Coalition, deren Ziel mindestens sein muſste Griechen-
land aus der römischen Clientel in die der antirömisch gesinnten
Staaten zu bringen. Flamininus, indem er Forderungen stellte,
für die marschiren zu lassen er nicht gesonnen war, und in-
dem er die Kriegsvorbereitungen jener Coalition absichtlich
ignorirte, that in Worten zu viel was in Thaten zu wenig
und vergaſs seine Pflicht und seine Heimath über die eigene
Eitelkeit, die den Griechen in beiden Welttheilen die Freiheit
geschenkt zu haben wünschte.


Antiochos nutzte die unerwarte Frist, um im Innern und
mit seinen Nachbarn die Verhältnisse zu befestigen, bevor er
den Krieg beginnen würde, zu dem er seinerseits entschlossen
war und immer mehr es ward, je mehr der Feind zu zögern
schien. Er vermählte jetzt (561) dem jungen König von Ae-
gypten seine Verlobte, die syrische Kleopatra; daſs er zugleich
seinem Schwiegersohn die Rückgabe der ihm entrissenen Pro-
vinzen versprochen habe, ward zwar später ägyptischer Seits
behauptet, allein wahrscheinlich mit Unrecht und jedenfalls
blieb factisch das Land beim syrischen Reiche * Er bot dem
Eumenes, der im Jahre 557 seinem Vater Attalos auf dem
[545]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
Thron von Pergamon gefolgt war, die Zurückgabe der ihm
abgenommenen Städte und gleichfalls eine seiner Töchter zur
Gemahlin, wenn er von dem römischen Bündniſs lassen wolle.
Ebenso vermählte er eine Tochter dem König Ariarathes von
Kappadokien und gewann die Galater durch Geschenke, wäh-
rend er die stets aufrührerischen Pisidier und andere kleine
Völkerschaften mit den Waffen bezwang. Den Byzantiern
wurden ausgedehnte Privilegien bewilligt; in Hinsicht der klein-
asiatischen Städte erklärte der König, daſs er die Unabhängig-
keit der alten Freistädte, wie Rhodos und Kyzikos zugestehen
und hinsichtlich der übrigen sich begnügen wolle mit einer
bloſs formellen Anerkennung seiner landesherrlichen Gewalt,
ja er gab zu verstehen, daſs er bereit sei sich dem Schieds-
gericht der Rhodier zu unterwerfen. Im europäischen Grie-
chenland war man der Aetoler gewiſs und hoffte auch Philip-
pos wieder unter die Waffen zu bringen. Ja es ward ein Plan
gutgeheiſsen, den Hannibal vorlegte, wonach der Karthager von
Antiochos eine Flotte von 100 Segeln und ein Landheer von 10000
Mann zu Fuſs und 1000 Reitern erhalten sollte und damit zu-
erst in Karthago anlaufen, um dort den dritten punischen, und
dann in Italien landen, um daselbst den zweiten hanniba-
lischen Krieg zu erwecken; tyrische Emissäre gingen nach
Karthago um die Schilderhebung daselbst einzuleiten. Man
hoffte endlich auf Erfolge der spanischen Insurrection, die
eben als Hannibal Karthago verlieſs auf ihrem Höhepunct
stand. — Während also von langer Hand und im weitesten
Umfang der Sturm gegen Rom vorbereitet ward, waren die
in diese Unternehmung verwickelten Hellenen wie immer die-
jenigen, die am wenigsten bedeuteten und am wichtigsten und
ungeduldigsten thaten. Es waren dies die erbitterten und
übermüthigen Aetoler, welche nach gerade selber zu glauben
anfingen, daſs Philippos von ihnen und nicht von den Römern
überwunden worden sei, und es gar nicht erwarten konnten,
daſs Antiochos in Griechenland einrückte. Sie charakterisirt
die Antwort, die ihr Strateg bald darauf dem Flamininus gab,
da derselbe eine Abschrift der Kriegserklärung gegen Rom
begehrte: die werde er selber ihm überbringen, wenn das
aetolische Heer an der Tiber lagern werde. Die Aetoler
machten die Geschäftsträger des syrischen Königs für Grie-
chenland und täuschten beide Theile, indem sie den König glau-
ben machten, daſs alle Hellenen die Arme nach ihm als ihrem
rechten Erlöser ausstreckten, und denen, die in Griechenland
Röm. Gesch. I. 35
[546]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
auf sie hören wollten, vorspiegelten, daſs die Landung des
Königs näher sei als sie es wirklich war. So gelang es ihnen
in der That den einfältigen Eigensinn des Nabis zum Los-
schlagen zu bestimmen und damit in Griechenland das Kriegs-
feuer zwei Jahre nach Flamininus Entfernung, im Frühling 562
wieder anzufachen; allein sie verfehlten damit ihren Zweck.
Nabis warf sich auf Gythion, eine der durch den letzten Ver-
trag an die Achaeer gekommenen Städte der freien Lakonen,
und nahm sie ein, allein der kriegserfahrene Strateg der
Achaeer Philopoemen schlug ihn an den harbosthenischen Ber-
gen und kaum den vierten Theil seines Heeres brachte der
Tyrann wieder in seine Hauptstadt zurück, in der ihn Philo-
poemen einschloſs. Da ein solcher Anfang freilich nicht ge-
nügte um Antiochos nach Europa zu rufen, beschlossen die
Aetoler sich selber in den Besitz von Sparta, Chalkis und
Demetrias zu setzen und durch den Gewinn dieser wichtigen
Städte den König zur Einschiffung zu bestimmen. Zunächst
gedachte man sich Spartas dadurch zu bemächtigen, daſs der
Aetoler Alexamenos, mit 1000 Mann in die Stadt einrückend
unter dem Vorgeben bundesmäſsigen Zuzug zu bringen, bei die-
ser Gelegenheit den Nabis aus dem Wege räume und die Stadt
besetze. Es geschah so und Nabis ward bei einer Heerschau
erschlagen; allein die Aetoler zerstreuten sich darauf um die Stadt
zu plündern und wurden von den Lakedaemoniern, die Zeit fan-
den sich zu sammeln, sämmtlich niedergemacht. Die Stadt
lieſs dann sich von Philopoemen bestimmen in den achaei-
schen Bund einzutreten. Nachdem das löbliche Project also
verdientermaſsen nicht bloſs gescheitert war, sondern gerade
den entgegengesetzten Erfolg gehabt hatte fast den ganzen
Peloponnes in den Händen der Gegenpartei zu einigen, ging
es den Aetolern auch in Chalkis wenig besser: es gelang da-
selbst der römischen Partei gegen die Aetoler und die chalkidi-
schen Verbannten die römisch gesinnten Bürgerschaften von
Eretria und Karystos auf Euboea rechtzeitig herbeizurufen.
Dagegen glückte die Besetzung von Demetrias, da die Magne-
ten, denen die Stadt zugefallen war, nicht ohne Grund fürch-
teten, daſs sie von den Römern Philippos als Preis für die
Hülfe gegen Antiochos versprochen sei; es kam hinzu, daſs
mehrere Schwadronen aetolischer Reiter unter dem Vorwande
dem Eurylochos, dem zurückgerufenen Haupt der Opposition
gegen Rom, das Geleite zu geben sich in die Stadt einzu-
schleichen wuſsten. So traten die Magneten halb freiwillig
[547]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
halb gezwungen auf die Seite der Aetoler und man säumte
nicht dies bei dem Seleukiden geltend zu machen.


Antiochos entschloſs sich. Der Bruch mit Rom, so sehr
man auch bemüht war ihn durch das diplomatische Palliativ
der Gesandtschaften hinauszuschieben, lieſs sich nicht länger
mehr vermeiden. Schon im Frühling 561 hatte Flamininus,
der fortfuhr im Senat in den östlichen Angelegenheiten das
entscheidende Wort zu haben, den Boten des Königs Menip-
pos und Hegesianax das römische Ultimatum ausgesprochen:
entweder aus Europa zu weichen und in Asien nach seinem
Gutdünken zu schalten, oder Thrakien zu behalten und das
Schutzrecht der Römer über Smyrna, Lampsakos und Alexan-
dreia Troas sich gefallen zu lassen. Dieselben Forderungen
waren im Frühling 562 noch einmal verhandelt worden auf
einer Zusammenkunft der römischen Gesandten Publius Sul-
picius und Publius Villius mit dem König in Ephesos, seinem
Hauptwaffenplatz und Standquartier in Kleinasien; man hatte
von beiden Seiten sich getrennt mit der Ueberzeugung, daſs
eine friedliche Einigung nicht möglich sei. In Rom war seit-
dem der Krieg beschlossen. Schon im Sommer 562 erschien
eine römische Flotte von 30 Segeln mit 3000 Soldaten an
Bord unter Aulus Atilius Serranus vor Gythion, wo ihr Ein-
treffen den Abschluſs des Vertrags zwischen den Achaeern und
Spartanern beschleunigte; die sicilische und italische Ostküste
wurde stark besetzt, um etwanigen Landungsversuchen sogleich
zu begegnen; für den Herbst ward in Griechenland ein Land-
heer erwartet. Flamininus bereiste im Auftrag des Senats seit
dem Frühjahr 562 Griechenland, um die Intriguen der Ge-
genpartei zu hintertreiben und so weit möglich die unzeitige
Räumung Griechenlands wieder gut zu machen. Bei den
Aetolern war es schon so weit gekommen, daſs die Tagsatzung
förmlich den Krieg gegen Rom beschloss. Dagegen gelang es
dem Flamininus Chalkis für die Römer zu retten, indem er
eine Besatzung von 500 Achaeern und 500 Pergamenern hin-
einwarf. Er machte ferner einen Versuch Demetrias wieder
zu gewinnen und die Magneten schwankten. Wenn auch
einige kleinasiatische Städte, die Antiochos vor dem Beginn
des groſsen Kriegs zu bezwingen sich vorgenommen, noch
widerstanden, er durfte jetzt nicht länger zögern mit der Lan-
dung, wofern er nicht die Römer all die Vortheile wiedergewin-
nen lassen wollte, die sie durch die Entfernung ihrer Besatzun-
gen aus Griechenland zwei Jahre zuvor aufgegeben hatten. Er
35*
[548]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
nahm also die Schiffe und Truppen zusammen, die er eben unter
der Hand hatte — es waren nur 40 Deckschiffe und 10000
Mann zu Fuſs nebst 500 Pferden und 6 Elephanten — und
brach vom thrakischen Chersonesos nach Griechenland auf, wo
er im Herbst 562 bei Pteleon am pagasaeischen Meerbusen
an das Land stieg und sofort das nahe Demetrias besetzte.
Ungefähr um dieselbe Zeit landete auch ein römisches Heer
von etwa 25000 Mann unter dem Prätor Marcus Baebius bei
Apollonia. Es war also von beiden Seiten der Krieg begonnen.


Es kam darauf an, wie weit jene umfassend angelegte Coa-
lition gegen Rom, als deren Haupt Antiochos auftrat, sich realisi-
ren werde. Was zunächst den Plan betraf in Karthago und
Italien den Römern Feinde zu erwecken, so traf Hannibal wie
immer so auch am Hof zu Ephesos das Loos seine groſs-
artigen und hochherzigen Pläne für kleinkrämerischer und
niedriger Leute Rechnung entworfen zu haben. Zu ihrer Aus-
führung geschah nichts als daſs man einige karthagische Pa-
trioten compromittirte; den Karthagern blieb keine andere Wahl
als sich den Römern unbedingt botmäſsig zu erweisen. Die
Camarilla wollte eben den Hannibal nicht — der Mann war
der Hofcabale zu unbequem groſs und nachdem sie allerlei
abgeschmackte Mittel versucht hatte, zum Beispiel den Feld-
herrn, mit dessen Namen die Römer ihre Kinder schreckten,
des Einverständnisses mit den römischen Gesandten zu be-
zichtigen, gelang es ihr den groſsen Antiochos, der wie alle
unbedeutenden Monarchen auf seine Selbstständigkeit sich viel
zu Gute that und mit nichts so leicht zu beherrschen war
wie mit der Furcht beherrscht zu werden, auf den weisen
Gedanken zu bringen, daſs er sich nicht durch den vielge-
nannten Mann dürfe verdunkeln lassen; worauf denn im hohen
Rath beschlossen ward den Phoenikier künftig nur für unter-
geordnete Aufgaben und zum Rathgeben zu verwenden, vor-
behältlich natürlich den Rath nie zu befolgen. Hannibal rächte
sich an dem Gesindel, indem er jeden Auftrag annahm und
jeden glänzend ausführte. — In Asien hielt Kappadokien zu
dem Groſskönig; dagegen trat Prusias von Bithynien wie im-
mer auf die Seite des Mächtigeren. König Eumenes blieb der
alten Politik seines Hauses getreu, die ihm erst jetzt die rechte
Frucht tragen sollte. Er hatte Antiochos Anerbietungen nicht
bloſs beharrlich zurückgewiesen, sondern auch die Römer be-
ständig zu einem Kriege gedrängt, von dem er Vergröſserung
seines Reiches erwartete. Ebenso schlossen die Rhodier und
[549]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
die Byzantier sich ihren alten Bundesgenossen an. Auch
Aegypten hielt fest am römischen Bündniſs und bot Unter-
stützung an Zufuhr und Mannschaft an, welche man indeſs
römischer Seits nicht annahm. — In Europa kam es vor
allem an auf die Stellung, die Philippos von Makedonien ein-
nehmen würde. Vielleicht hätte die richtige Politik ihn be-
stimmen sollen sich alles Geschehenen und nicht Geschehenen
ungeachtet mit Antiochos zu vereinigen; allein Philippos ward
in der Regel nicht durch solche Rücksichten bestimmt, son-
dern durch Neigung und Abneigung, und begreiflicher Weise
traf sein Haſs viel mehr den treulosen Bundesgenossen, der
ihn im Stich gelassen hatte gegen den gemeinschaftlichen
Feind, um dafür auch seinen Antheil an der Beute einzu-
ziehen und ihm in Thrakien ein lästiger Nachbar zu werden,
als seinen Sieger, der ihn rücksichts- und ehrenvoll behandelt
hatte. Es kam hinzu, daſs Antiochos durch Aufstellung ab-
geschmackter Prätendenten auf die makedonische Krone und
durch die prunkvolle Bestattung der bei Kynoskephalae blei-
chenden makedonischen Gebeine den leidenschaftlichen Mann
tief verletzte; so daſs er seine ganze Streitmacht mit dem
gröſsten Eifer den Römern zur Verfügung stellte. Ebenso
entschieden wie die erste Macht Griechenlands hielt die zweite,
die achaeische Eidgenossenschaft fest am römischen Bündniſs;
von den kleineren Gemeinden blieben auſserdem dabei die
Thessaler und die Athener, bei welchen letzteren eine von
Flamininus hineingelegte achaeische Besatzung die ziemlich
starke makedonische Partei zur Vernunft brachte. Die Epei-
roten gaben sich Mühe es wo möglich beiden Parteien recht
zu machen. Sonach traten auf Antiochos Seite auſser den
Aetolern und Magneten, denen ein Theil der benachbarten
Perrhaeber sich anschloſs, nur der schwache König der Atha-
manen Amynander, der sich durch thörichte Aussichten auf
die makedonische Königskrone blenden lieſs, die Boeoter, bei
denen die Opposition gegen Rom noch immer am Ruder war,
und im Peloponnes die Eleer und Messenier, gewohnt mit
den Aetolern gegen die Achaeer zu stehen. Das war denn
freilich ein erbaulicher Anfang; und der Oberfeldherrntitel mit
unumschränkter Gewalt, den die Aetoler dem Groſskönig de-
cretirten, schien zu dem Schaden der Spott. Man hatte
sich eben wie gewöhnlich beiderseits belogen: statt der un-
ermeſslichen Schaaren Asiens führte der König eine Armee
heran kaum halb so stark wie ein gewöhnliches consulari-
[550]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
sches Heer, und statt der offenen Arme, die sämmtliche Hel-
lenen ihrem Befreier vom römischen Joch entgegenstreckten,
trugen ein paar Klephtenhaufen und einige verliederlichte Bür-
gerschaften dem König Brüderschaft an.


Für den Augenblick freilich war Antiochos den Römern
im eigentlichen Griechenland zuvorgekommen. Chalkis hatte
zwar Besatzung von den griechischen Verbündeten der Römer
und wies die erste Aufforderung zurück; allein die Festung ergab
sich, als Antiochos mit seiner ganzen Macht davor rückte und
eine römische Abtheilung, die zu spät kam um sie zu be-
setzen, wurde bei Delion von Antiochos vernichtet. Euboea
war für die Römer verloren. Noch ward schon im Winter
von Antiochos in Verbindung mit den Aetolern und Athamanen
ein Versuch gemacht Thessalien zu gewinnen; die Thermopy-
len wurden besetzt, Pherae und andere Städte genommen,
aber Appius Claudius kam mit 2000 Mann von Apollonia
heran und entsetzte Larissa, wo er den Winter über blieb.
Antiochos, des Winterfeldzugs müde, zog es vor in seine lu-
stigen Quartiere in Chalkis zurückzugehen, wo es hoch her-
ging und der König sogar trotz seiner funfzig Jahre und
seiner kriegerischen Pläne mit einer hübschen Chalkidierin
Hochzeit machte. So verstrich der Winter 562/3, ohne daſs
Antiochos viel mehr gethan hätte als in Griechenland hin und
herschreiben — er führe den Krieg mit Dinte und Feder,
sagte ein römischer Offizier. Mit dem ersten Frühjahr 563
traf der römische Stab bei Apollonia ein, der Oberfeldherr
Manius Acilius Glabrio, ein Mann von geringer Herkunft, aber
ein tüchtiger von den Feinden wie von seinen Soldaten ge-
fürchteter Feldherr, der Admiral Gaius Livius, unter den
Kriegstribunen die gewesenen Consuln Marcus Porcius Cato,
der Ueberwinder Spaniens und Lucius Valerius Flaccus, die
nach altrömischer Weise es nicht verschmähten jetzt wieder
als einfache Legionscommandanten in das Heer einzutreten.
Sie brachten mit sich Verstärkungen an Schiffen und Mann-
schaft, darunter numidische Reiter und libysche Elephanten,
von Massinissa gesendet, und die Erlaubniſs des Senats von
den auſseritalischen Verbündeten bis zu 5000 Mann Hülfs-
truppen anzunehmen, so daſs dadurch die Gesammtzahl der
römischen Streitkräfte auf etwa 40000 Mann stieg. Der König,
der im Anfang des Frühjahrs sich zu den Aetolern begeben
und von da aus eine zwecklose Expedition nach Akarnanien
gemacht hatte, kehrte auf die Nachricht von Glabrios Landung
[551]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
in sein Hauptquartier zurück, um nun auch seinerseits den
Feldzug zu beginnen. Allein durch seine und seiner Stell-
vertreter in Asien Saumseligkeit waren unbegreiflicher Weise
ihm alle Verstärkungen ausgeblieben, so daſs er nichts hatte
als das schwache und nun noch durch Krankheit und Deser-
tion in den liederlichen Winterquartieren decimirte Heer, wo-
mit er im Herbst des vorigen Jahres bei Pteleon gelandet
war. Auch die Aetoler, die so ungeheure Massen hatten ins
Feld stellen wollen, führten jetzt da es galt ihrem Oberfeld-
herrn nicht mehr als 4000 Mann zu. Die römischen Truppen
hatten indeſs bereits die Operationen in Thessalien begonnen,
wo die Vorhut in Verbindung mit dem makedonischen Heer
die Besatzungen des Antiochos aus den thessalischen Städten
hinausschlug und das Gebiet der Athamanen besetzten; es
folgte der Consul mit der Hauptarmee. Die Gesammtmacht
der Römer sammelte sich in Larissa. Statt eilig nach Asien
zurückzukehren und gegen den in jeder Hinsicht überlegenen
Feind das Feld zu räumen, beschloſs Antiochos sich in den
von ihm besetzten Thermopylen zu verschanzen und dort die
Ankunft seines groſsen asiatischen Heeres abzuwarten. Indem
er selbst in dem Hauptpaſs sich aufstellte, befahl er den Ae-
tolern den Hochpfad zu besetzen, auf welchem es einst Xerxes
gelungen war, die Spartaner zu umgehen; allein nur der Hälfte
des aetolischen Zuzugs gefiel es diesem Befehl ihres Oberfeld-
herrn nachzukommen. Die übrigen 2000 Mann warfen sich
in die nahe Stadt Herakleia, wo sie an der Schlacht keinen
andern Theil nahmen, als daſs sie versuchten während derselben
das römische Lager zu überfallen und auszurauben. Aber auch
die auf dem Gebirg postirten Aetoler betrieben den Wachdienst
lässig und widerwillig; ihr Posten auf dem Kallidromos lieſs
sich von Cato überrumpeln und die asiatische Phalanx, die
der Consul mittlerweile von vorn angegriffen hatte, stob aus
einander, als ihr den Berg hinabeilend die Römer in die
Flanke fielen. Da Antiochos für nichts gesorgt und an den
Rückzug nicht gedacht hatte, so ward das Heer theils auf
dem Schlachtfeld, theils auf der Flucht durch unbekannte
Gegenden vernichtet; kaum daſs ein kleiner Haufen Deme-
trias und der König selbst mit 500 Mann Chalkis erreichte. Eilig
schiffte er sich nach Ephesos ein; nicht einmal die Festungen
konnten länger vertheidigt werden. Chalkis ergab sich an die
Römer, Demetrias an Philippos, dem als Entschädigung für
die fast schon von ihm vollendete und dann auf Befehl des
[552]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
Consuls aufgegebene Eroberung der Stadt Lamia in Achaia
Phthiotis die Erlaubniſs ward sich der sämmtlichen zu Antio-
chos übergetretenen Gemeinden im eigentlichen Thessalien
und selbst des aetolischen Grenzgebiets, der dolopischen und
aperantischen Landschaften zu bemächtigen. Was sich in
Griechenland für Antiochos ausgesprochen hatte, eilte seinen
Frieden zu machen: die Epeiroten baten demüthig um Ver-
zeihung für ihr zweideutiges Benehmen, die Boeoter ergaben
sich auf Gnade und Ungnade, die Eleer und Messenier fügten
sich, die letzterem nach einigem Sträuben, den Achaeern. Es
erfüllte sich, was Hannibal dem König vorhergesagt hatte,
daſs auf die Griechen, die jedem Sieger sich unterwerfen
würden, schlechterdings gar nichts ankomme. Selbst die Ae-
toler versuchten, nachdem ihr in Herakleia eingeschlossenes
Corps nach hartnäckiger Gegenwehr zur Capitulation gezwun-
gen worden war, mit den schwer gereizten Römern ihren
Frieden zu machen; indeſs die strengen Forderungen des
römischen Consuls und eine rechtzeitig von Antiochos ein-
laufende Geldsendung gaben ihnen den Muth die Verhand-
lungen noch einmal abzubrechen und während zwei ganzer
Monate die Belagerung in Naupaktos auszuhalten. Schon war
die Stadt aufs Aeuſserste gebracht und es war vorherzusehen,
daſs die Erstürmung oder die Capitulation nicht mehr fern
sei, als Flamininus, der seiner alten Politik getreu jede helle-
nische Gemeinde vor den ärgsten Folgen ihres eigenen Un-
verstandes und vor der Strenge seiner rauheren Collegen zu
bewahren bemüht war, sich ins Mittel schlug und zunächst
einen leidlichen Waffenstillstand zu Stande brachte. Damit
war auch der letzte Widerstand in Griechenland vorläufig
wenigstens beseitigt.


Ein ernsterer Krieg stand in Asien bevor, den nicht so
sehr der Feind, als die weite Entfernung und die unsichere
Verbindung mit der Heimath in sehr bedenklichem Licht er-
scheinen lieſsen, während doch bei Antiochos kurzsichtigem
Eigensinn sich nicht darauf rechnen lieſs den Krieg anders als
durch einen Angriff im eigenen Lande des Feindes zu beendigen.
Es galt zunächst die See zu sichern. Die römische Flotte, die
während des Feldzugs in Griechenland die Aufgabe gehabt
hatte die Verbindung zwischen Griechenland und Kleinasien
aufzuheben und der es in der That gelungen war um die Zeit
der Schlacht bei den Thermopylen einen starken asiatischen
Transport bei Andros aufzugreifen, war seitdem beschäftigt
[553]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
den Uebergang der Römer nach Asien für das nächste Jahr
vorzubereiten und zunächst die feindliche Flotte aus dem
aegaeischen Meer zu vertreiben. Dieselbe lag im Hafen von
Kyssos auf dem südlichen Ufer der gegen Chios auslaufenden
Landzunge Ioniens; dort suchte die römische sie auf, be-
stehend aus 75 römischen, 24 pergamenischen und 6 kar-
thagischen Deckschiffen unter der Führung des Gaius Livius.
Der syrische Admiral Polyxenidas, ein rhodischer Emigrirter,
hatte nur 70 Deckschiffe entgegenzustellen; allein da die rö-
mische Flotte noch die rhodischen Schiffe erwartete und Po-
lyxenidas auf die überlegene Seetüchtigkeit namentlich der
tyrischen und sidonischen Schiffe vertraute, nahm er den
Kampf sogleich an. Zu Anfang zwar gelang es den Asiaten
eines der karthagischen Schiffe zu versenken; allein so wie
es zum Entern kam, siegte die römische Tapferkeit und nur
der Schnelligkeit ihrer Rudrer und Segel verdankten es die
Asiaten, daſs sie nicht mehr als 23 Schiffe verloren. Noch
während des Nachsetzens trafen 25 rhodische Schiffe ein und
die Ueberlegenheit der Römer in diesen Gewässern war nun
zwiefach entschieden. Die feindliche Flotte verhielt sich seit-
dem ruhig im Hafen von Ephesos und da es nicht gelang sie
zu einer zweiten Schlacht zu bestimmen, löste die römisch-bun-
desgenössische Flotte sich auf und die römischen Kriegsschiffe
gingen für den Winter nach dem Hafen von Kane in der Nähe von
Pergamon. Beiderseits war man bemüht während des Winters
für den nächsten Feldzug Vorbereitungen zu treffen. Die Rö-
mer suchten die kleinasiatischen Griechen auf ihre Seite zu
bringen: Smyrna, das alle Versuche des Königs der Stadt sich
zu bemächtigen beharrlich zurückgewiesen hatte, nahm die
Römer mit offenen Armen auf und auch in Samos, Chios,
Erythrae, Klazomenae, Phokaea, Kyme und sonst gewann die
römische Partei die Oberhand. Antiochos war entschlossen
den Römern wo möglich den Uebergang nach Asien zu weh-
ren, weſshalb er eifrig zur See rüstete und theils durch Po-
lyxenidas die bei Ephesos stationirende Flotte herstellen und
vermehren, theils durch Hannibal in Lykien, Syrien und Phoe-
nikien eine neue Flotte ausrüsten lieſs, auſserdem aber ein
gewaltiges Landheer aus allen Gegenden seines weitläuftigen
Reiches in Kleinasien zusammentrieb. Früh im nächsten Jahre
(564) nahm die römische Flotte ihre Operationen wieder auf.
Gaius Livius lieſs durch die rhodische Flotte, die diesmal 36
Segel stark rechtzeitig erschienen war, die feindliche auf der
[554]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
Höhe von Ephesos beobachten und ging mit dem gröſsten
Theil der römischen und den pergamenischen Schiffen nach
dem Hellespont, um seinem Auftrag nachzukommen und durch
die Wegnahme der Festungen daselbst den Uebergang des
Landheers vorzubereiten. Schon war Sestos besetzt und Aby-
dos aufs Aeuſserste gebracht, als ihn die Kunde von der Nie-
derlage der rhodischen Flotte zurückrief. Der rhodische Ad-
miral Pausistratos, eingeschläfert durch die Vorspiegelungen
seines Landsmannes von Antiochos abfallen zu wollen, hatte
sich im Hafen von Samos überrumpeln lassen; er selbst war
gefallen, seine sämmtlichen Schiffe bis auf fünf rhodische und
zwei koische Segel waren vernichtet, Samos, Phokaea, Kyme
auf diese Botschaft zu Seleukos übergetreten, der in diesen
Gegenden für seinen Vater den Oberbefehl zu Lande führte.
Indeſs als die römische Flotte theils von Kane, theils vom
Hellespont herbeikam und nach einiger Zeit zwanzig neue
Schiffe der Rhodier bei Samos sich mit ihr vereinigten, war
Polyxenidas abermals genöthigt sich in den Hafen von Ephe-
sos einzuschlieſsen. Da er die angebotene Seeschlacht ver-
weigerte und bei der geringen Zahl der römischen Mannschaft
an einen Angriff von der Landseite nicht zu denken war,
blieb auch der römischen Flotte nichts übrig als gleichfalls
sich bei Samos aufzustellen. Eine Abtheilung ging nach Pa-
tara an die lykische Küste, um theils den Rhodiern gegen die
sehr beschwerlichen von dorther auf sie gerichteten Angriffe
Ruhe zu verschaffen, theils und vornämlich um die feindliche
Flotte, die an der Südküste erwartet ward, vom aegaeischen
Meer abzusperren. Als dieses Geschwader gegen Patara nichts
ausrichtete, erzürnte der neue Admiral Lucius Aemilius Regil-
lus, der mit 20 Kriegsschiffen von Rom angelangt war und
bei Samos den Gaius Livius abgelöst hatte, sich darüber so
sehr, daſs er mit der ganzen Flotte dorthin aufbrach; kaum
gelang es seinen Offizieren ihm unterwegs begreiflich zu ma-
chen, daſs es zunächst nicht auf die Eroberung von Patara
ankomme, sondern auf die Beherrschung des aegaeischen
Meeres, und ihn zur Umkehr nach Samos zu bestimmen. Auf
dem kleinasiatischen Festland hatte mittlerweile Seleukos die
Belagerung von Pergamon begonnen, während Antiochos mit
dem Hauptheer das pergamenische Gebiet und die Besitzun-
gen der Mytilenaeer auf dem Festland verwüstete; man hoffte
mit dem verhaſsten Eumenes fertig zu werden, bevor die rö-
mische Hülfe erschien. Die römische Flotte ging nach Elaea
[555]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
und dem Hafen von Adramyttion um dem Bundesgenossen zu
helfen; allein da es dem Admiral an Truppen fehlte, richtete
er nichts aus. Pergamon wäre verloren gewesen, wenn nicht
die Belagerung schlaff und nachlässig betrieben worden wäre;
dadurch gewann Eumenes Zeit achaeische Hülfstruppen unter
Diophanes in die Stadt zu werfen, deren kühne und glückliche
Ausfälle die gallischen Söldner des Antiochos, die mit der
Belagerung beauftragt waren, in der That zwangen dieselbe
aufzuheben. Auch in den südlichen Gewässern wurden die
Entwürfe des Antiochos vereitelt. Die von Hannibal gerüstete
und geführte syrische Flotte versuchte, nachdem sie lange
durch die stehenden Westwinde zurückgehalten worden war,
endlich in das aegaeische Meer zu gelangen; allein an der
Mündung des Eurymedon vor Aspendos in Pamphylien traf
sie auf ein rhodisches Geschwader unter Eudamos, und in
der Schlacht, die die beiden Flotten sich hier lieferten, trug
über Hannibals Taktik und über die numerische Ueberzahl
die Vorzüglichkeit der rhodischen Schiffe und Seeoffiziere den
Sieg davon. Die rhodische Flotte stellte hienach sich bei Patara
auf und vereitelte die beabsichtigte Vereinigung der ganzen asia-
tischen Seemacht. Es war dies das erste Seetreffen und die
letzte Schlacht gegen Rom, die der groſse Karthager schlug.
Im aegaeischen Meer ward die römisch-rhodische Flotte bei
Samos, nachdem sie durch die Entsendung der pergameni-
schen Schiffe in den Hellespont zur Unterstützung des dort
eben anlangenden Landheers sich geschwächt hatte, nun ihrer-
seits von der des Polyxenidas angegriffen, der jetzt neun Segel
mehr zählte als der Gegner. Am 23. December des unbe-
richtigten Kalenders, nach dem berichtigten etwa Ende August
564 kam es zur Schlacht am Vorgebirg Myonnesos zwischen
Teos und Kolophon; die Römer durchbrachen die feindliche
Schlachtlinie und umzingelten den linken Flügel gänzlich, so
daſs 42 Schiffe von ihnen genommen wurden oder sanken.
Viele Jahrhunderte nachher verkündigte den Römern die In-
schrift in saturnischem Maſs über dem Tempel der Seegeister,
der zum Andenken dieses Sieges auf dem Marsfeld erbaut ward,
wie vor den Augen des Königs Antiochos und seines ganzen
Landheers die Flotte der Asiaten geschlagen worden und die Römer
also ‚den groſsen Zwist schlichteten und die Könige bezwangen.‘
Seitdem wagten die feindlichen Schiffe nicht mehr sich auf
der offenen See zu zeigen und versuchten nicht weiter den
Uebergang des römischen Landheers zu erschweren.


[556]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.

Zur Führung des Krieges auf dem asiatischen Kontinent
war in Rom der Sieger von Zama ausersehen worden, der
in der That den Oberbefehl führte für den nominellen Höchst-
commandirenden, seinen geistig unbedeutenden und militärisch
unfähigen Bruder Lucius Scipio. Die bisher in Unteritalien
stehende Reserve ward nach Griechenland, das Heer des Gla-
brio nach Asien bestimmt; als es bekannt ward, wer dasselbe
befehligen werde, meldeten sich freiwillig 5000 Veteranen aus
dem hannibalischen Krieg, um noch einmal unter ihrem ge-
liebten Führer zu fechten. Im römischen Juli, nach der
richtigen Zeit im März fanden die Scipionen sich bei dem
Heere ein um den asiatischen Feldzug zu beginnen; allein man
war unangenehm überrascht, als man sich statt dessen zu-
nächst in einen endlosen Kampf mit den verzweifelnden Aeto-
lern verwickelt fand. Der Senat, der Flamininus grenzenlose
Rücksichten gegen die Hellenen übertrieben fand, hatte den
Aetolern die Wahl gelassen zwischen Zahlung einer absolut
unerschwinglichen Kriegscontribution und unbedingter Er-
gebung, was sie aufs Neue unter die Waffen getrieben hatte;
und es war nicht abzusehen, wann dieser Gebirgs- und Fe-
stungskrieg zu Ende gehen würde. Scipio beseitigte das
unbequeme Hinderniſs durch Bewilligung eines sechsmonat-
lichen Waffenstillstandes und trat darauf den Marsch nach
Asien an. Da die eine feindliche Flotte in dem aegaeischen Meere
nur blokirt war und die zweite, die aus dem Südmeer herankam,
täglich dort eintreffen konnte, schien es rathsam den Land-
weg durch Makedonien und Thrakien einzuschlagen und über
den Hellespont zu gehen; hier waren keine wesentlichen
Hindernisse zu erwarten, da König Philippos von Make-
donien vollständig zuverlässig und auch König Prusias von
Bithynien mit den Römern in Bündniſs war und die römische
Flotte leicht sich in der Meerenge festzusetzen vermochte.
Der lange und mühselige Weg längs der makedonischen und
thrakischen Küste ward ohne wesentlichen Verlust zurück-
gelegt; Philippos sorgte theils für Zufuhr, theils für freund-
liche Aufnahme bei den thrakischen Wilden. Indeſs hatte
man theils mit den Aetolern, theils auf dem Marsch so viel
Zeit verloren, daſs das Heer erst etwa um die Zeit der Schlacht
von Myonnesos auf dem thrakischen Chersonesos anlangte. Das
wunderbare Glück, das Scipio in Asien nicht minder wie in
Africa zur Seite stand, räumte alle Schwierigkeiten vor ihm
aus dem Wege. Auf die Kunde von der Schlacht bei Myon-
[557]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
nesos verlor Antiochos so vollständig den Kopf, daſs er einestheils
die starkbesetzte und verproviantirte Festung Lysimacheia von
der Besatzung und der dem Wiederhersteller ihrer Stadt treu
ergebenen Einwohnerschaft räumen lieſs und dabei sogar ver-
gaſs die Besatzungen aus Aenos und Maroneia herauszuziehen,
ja die reichen Magazine zu vernichten, anderntheils der Lan-
dung der Römer am asiatischen Ufer nicht den geringsten
Widerstand entgegensetzte, sondern während derselben sich
in Sardes damit die Zeit vertrieb auf das Schicksal zu schel-
ten. Es ist kaum zweifelhaft, daſs, wenn er nur Lysimacheia
hätte vertheidigen und sein groſses Heer an den Hellespont
vorrücken lassen, Scipio genöthigt worden wäre auf dem euro-
päischen Ufer Winterquartiere zu nehmen, in einer militärisch
wie politisch keineswegs gesicherten Lage. — Während die
Römer, am asiatischen Ufer ausgeschifft, einige Tage still-
standen um sich zu erholen und ihren durch religiöse Pflichten
zurückgehaltenen Führer zu erwarten, trafen in ihrem Lager
Gesandte des Groſskönigs ein, die Frieden boten. Antiochos
bot die Hälfte der Kriegskosten und die Abtretung seiner
europäischen Besitzungen so wie der sämmtlichen in Klein-
asien zu Rom übergetretenen griechischen Städte; allein Scipio
forderte sämmtliche Kriegskosten und die Aufgebung von ganz
Kleinasien. Jene Bedingungen, erklärte er, wären annehmbar
gewesen, wenn das Heer noch vor Lysimacheia oder auch
nur diesseit des Hellesponts stände; jetzt aber reichten sie
nicht, wo das Roſs schon den Zaum, ja den Reiter fühle.
Die Versuche des Groſskönigs von dem feindlichen Feldherrn
in morgenländischer Art den Frieden durch Geldsummen zu
erkaufen — er bot die Hälfte seiner Einkünfte! — scheiterten
wie billig; für die unentgeltliche Rückgabe seines in Gefangen-
schaft gerathenen Sohnes gab der stolze Bürger dem Groſs-
könig als Lohn den Freundesrath auf jede Bedingung Frieden
zu schlieſsen. In der That stand es nicht so; hätte der Kö-
nig sich zu entschlieſsen vermocht den Krieg in die Länge
und in das innere Asien zurückweichend den Feind sich
nach zu ziehen, so war ein endlicher Erfolg noch keineswegs
unmöglich. Allein Antiochos, gereizt durch den vermuthlich
berechneten Uebermuth des Gegners und für jede dauernde
und consequente Kriegführung zu schlaff, eilte seine ungeheure
ungleiche und undisciplinirte Heermasse je eher desto lieber
dem Stoſs der römischen Legionen darzubieten. Bei Magnesia
am Sipylos unweit Smyrna trafen im Spätherbst 564 die
[558]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
römischen Truppen auf den Feind. Er zählte nahe an 80000
Mann, darunter 12000 Reiter; die Römer, die von Achaeern,
Pergamenern und makedonischen Freiwilligen etwa 5000 Mann
bei sich hatten, bei weitem nicht die Hälfte, allein sie waren
des Sieges so gewiſs, daſs sie nicht einmal die Genesung
ihres krank in Elaea zurückgebliebenen Feldherrn abwarteten,
an dessen Stelle Gnaeus Domitius das Commando übernahm.
Um nur seine ungeheure Truppenzahl aufstellen zu können,
bildete Antiochos zwei Treffen; im ersten stand die Masse
der leichten Truppen, die Peltasten, Bogenwerfer, Schleuderer,
die berittenen Schützen der Myser, Daher und Elymaeer, die
Araber auf ihren Dromedaren und die Sichelwagen; im
zweiten hielt auf den beiden Flügeln die schwere Cavallerie
(die Kataphrakten, eine Art Kürassiere), neben ihnen nach
innen das gallische und kappadokische Fuſsvolk und im Cen-
trum die makedonisch bewaffnete Phalanx, 16000 Mann stark,
der Kern des Heeres, die aber auf dem engen Raum nicht
Platz fand und sich in Doppelgliedern 32 Mann tief aufstellen
muſste. In dem Zwischenraum der beiden Treffen standen
54 Elephanten zwischen die Haufen der Phalanx und der
schweren Reiterei vertheilt. Die Römer stellten auf den linken
Flügel, wo der Fluſs Deckung gab, nur wenige Schwadronen;
die Masse der Reiterei und die sämmtlichen Leichtbewaffneten
kamen auf den rechten, den Eumenes führte; die Legionen
standen im Mitteltreffen. Eumenes begann die Schlacht damit,
daſs er seine Schützen und Schleuderer gegen die Sichelwagen
schickte mit dem Befehl auf die Bespannung zu halten; in
kurzer Zeit waren nicht bloſs diese in Verwirrung gerathen,
sondern auch die nächststehenden Kameelreiter mit fortge-
rissen und schon gerieth sogar im zweiten Treffen der da-
hinterstehende linke Flügel der schweren Reiterei in Verwir-
rung. Eumenes warf sich sogleich mit der ganzen römischen
Reiterei, die 3000 Pferde zählte, auf die Söldnerinfanterie,
die im zweiten Treffen zwischen der Phalanx und dem linken
Flügel der Kürassiere stand, und da diese wich, flohen auch
die schon in Unordnung gerathenen Kürassiere. Die Phalanx,
die eben die leichten Truppen durchgelassen hatte und sich
fertig machte gegen die römischen Legionen vorzugehen, wurde
durch den Angriff der Reiterei in der Flanke gehemmt und
sah sich genöthigt stehen zu bleiben und nach beiden Seiten
Front zu machen, wobei die tiefe Aufstellung ihr wohl zu
Statten kam. Wäre die schwere asiatische Reiterei zur Hand
[559]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
gewesen, so hätte die Schlacht wieder hergestellt können,
aber der linke Flügel war zersprengt und der rechte, den
Antiochos selber anführte, hatte, die kleine ihm gegenüber-
stehende römische Reiterabtheilung vor sich hertreibend, das
römische Lager erreicht, wo man des Angriffs sich mit groſser
Mühe erwehrte. Darüber fehlten auf der Wahlstatt jetzt im
entscheidenden Augenblick die Reiter. Die Römer hüteten
sich wohl die Phalanx mit den Legionen anzugreifen, sondern
sandten gegen sie die Schützen und Schleuderer, denen in
der dichtgedrängten Masse kein Geschoſs fehlte. Die Phalanx
zog sich nichts destoweniger langsam und geordnet zurück,
bis die in den Zwischenräumen stehenden Elephanten scheu
wurden und die Glieder zerrissen. Damit löste das ganze
Heer in wilder Flucht sich auf; ein Versuch das Lager zu
halten miſslang und mehrte nur die Zahl der Todten und
Gefangenen. Die Schätzung des Verlustes des Antiochos auf
50000 Mann ist bei der grenzenlosen Verwirrung nicht un-
glaublich; den Römern, deren Legionen gar nicht zum Schla-
gen gekommen waren, kostete der Sieg, der ihnen den dritten
Welttheil überlieferte, 24 Reiter und 300 Fuſssoldaten. Klein-
asien unterwarf sich, selbst Ephesos, von wo der Admiral die
Flotte eilig flüchten muſste, und die syrische Hauptstadt
Sardes. Der König bat um Frieden und nahm die von den
Römern nach der Schlacht gestellten Bedingungen, die wie
gewöhnlich keine anderen waren als die vor der Schlacht dem
König gebotenen, vorläufig an. Bis zu deren Ratification blieb
das Heer in Kleinasien auf Kosten des Königs, was ihm auf
nicht weniger als 3000 Talente (4½ Mill. Thlr.) zu stehen
kam. Vielleicht niemals ist eine Groſsmacht so rasch, so
völlig und so schmählich zu Grunde gegangen wie das Se-
leukidenreich unter diesem Antiochos dem Groſsen. Er selbst
ward bald darauf bei der Plünderung des Beltempels in Ely-
mais südlich vom kaspischen Meer, mit dessen Schätzen er
seine leeren Kassen zu füllen gedachte, von den Einwohnern
erschlagen.


Es galt nun, nachdem der Sieg erfochten war, die An-
gelegenheiten in Kleinasien und in Griechenland zu ordnen.
Dort war Antiochos zwar besiegt, aber seine Verbündeten und
Satrapen im Binnenland, die phrygischen, kappadokischen
und paphlagonischen Dynasten zögerten mit der Unterwerfung
im Vertrauen auf ihre Entfernung, und die kleinasiatischen
Kelten, die nicht eigentlich mit Antiochos im Bunde gestanden
[560]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
hatten, sondern ihn nur nach ihrem Brauch in ihrem Lande
hatten Miethstruppen anwerben lassen, fanden sich gleichfalls
nicht veranlaſst um die Römer sich zu bekümmern. Dem
neuen römischen Oberfeldherrn Gnaeus Manlius Vulso, der
im Frühjahr 565 den Lucius Scipio in Kleinasien ablöste,
war dies ein erwünschter Vorwand auch seinerseits sich um
sein Vaterland ein Verdienst zu erwerben und die römische
Schutzherrschaft über die Hellenen in Kleinasien eben so
geltend zu machen wie es in Spanien und Gallien geschehen
war; obwohl die strengeren Männer im Senat bei diesem Krieg
sowohl den Grund als den Zweck vermiſsten. Der Consul
brach von Ephesos auf, brandschatzte die Städte und Fürsten
am obern Maeander und in Pamphylien ohne Ursache wie
ohne Maſs und wandte sich darauf nordwärts gegen die Kelten.
Der westlichste Canton derselben, die Tolistobojer, hatte sich
auf den Berg Olympos, der mittlere, die Tectosagen, auf den
Berg Magaba mit Habe und Gut zurückgezogen, in der Hoff-
nung, daſs sie sich hier würden vertheidigen können, bis der
Winter die Fremden zum Abzug zwänge. Allein die Geschosse
der römischen Schleuderer und Schützen, die so oft gegen
die damit unbekannten Kelten den Ausschlag gaben fast wie
in neuerer Zeit das Feuergewehr gegen die wilden Völker,
erzwangen die Höhen, und die Kelten unterlagen in einer
jener Schlachten, wie sie gar oft früher und später am Po
und an der Seine geliefert worden sind, die aber hier so seltsam
erscheint wie das ganze Auftreten des nordischen Stammes
unter den griechischen und phrygischen Nationen. Die Zahl
der Erschlagenen und mehr noch die der Gefangenen war an
beiden Stellen ungeheuer. Was übrig blieb rettete sich über
den Halys zu dem dritten keltischen Gau der Trocmer, welche
der Consul nicht beunruhigte, da er es nicht wagte die in
den Präliminarien zwischen Scipio und Antiochos verabredete
Grenze zu überschreiten.


Die Regulirung der kleinasiatischen Verhältnisse erfolgte theils
durch den Frieden mit Antiochos (565), theils durch die Fest-
setzungen einer römischen Commission, der der Consul Vulso vor-
stand. Auſser der Stellung von Geiſseln, darunter seines jüngern
gleichnamigen Sohnes, und einer nach dem Maſs der Schätze
Asiens bemessenen Kriegscontribution von 15000 euboeischen
Talenten (22½ Mill. Thlr.), davon der fünfte Theil sogleich, der
Rest in zwölf Jahreszielern entrichtet ward, wurde Antiochos
auferlegt die Abtretung seiner sämmtlichen europäischen Besit-
[561]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
zungen und in Kleinasien des ganzen Gebietes westlich vom Halys
in seinem ganzen Lauf und von der Bergkette des Tauros, die
Kilikien und Lykaonien scheidet, so daſs ihm, da der nord-
östliche Theil Kleinasiens den Königen von Kappadokien ge-
horchte, in Vorderasien nichts blieb als Kilikien. Er verlor
das Recht gegen die westlichen Staaten Angriffskriege zu füh-
ren oder im Fall eines Vertheidigungskrieges von ihnen beim
Frieden Land zu gewinnen, das Recht das Meer westlich von der
Kalykadnosmündung in Kilikien mit Kriegsschiffen zu befahren
auſser um Gesandte, Geiſseln oder Tribut zu bringen, überhaupt
Deckschiffe über zehn zu halten, auſser im Fall eines Ver-
theidigungskrieges, und Kriegselephanten zu zähmen, endlich
das Recht in den westlichen Staaten Werbungen zu veran-
stalten oder politische Flüchtlinge und Ausreiſser daraus bei
sich aufzunehmen. Die Kriegsschiffe, die er über die be-
stimmte Zahl besaſs, die Elephanten und die politischen Flücht-
linge, welche bei ihm sich befanden, lieferte er aus. Zur
Entschädigung erhielt der Groſskönig den Titel eines Freundes
der römischen Bürgergemeinde. Der Staat Syrien war hiemit
zu Lande und auf dem Meer vollständig aus dem Westen
verdrängt und für immer; es ist bezeichnend für die kraft-
und zusammenhanglose Organisation des Seleukidenreichs, daſs
dasselbe allein unter allen von Rom überwundenen Groſs-
staaten nach der ersten Ueberwindung niemals eine zweite
Entscheidung durch die Waffen begehrt hat. — König Ari-
arathes von Kappadokien kam, da sein Land auſserhalb der
von den Römern bezeichneten Grenze ihrer Clientel lag, mit
einer Geldbuſse von 600 Talenten (900000 Thlr.) davon, die
dann noch auf die Fürbitte seines Schwiegersohns Eumenes
auf die Hälfte herabgesetzt ward. — König Prusias von Bi-
thynien behielt sein Gebiet wie es war, ebenso die Kelten,
deren Freiheit bald nachher ausdrücklich anerkannt ward:
doch muſsten diese geloben nicht ferner bewaffnete Haufen
über die Grenze zu senden, wodurch die schimpflichen Tri-
bute, die viele kleinasiatische Städte ihnen zahlten, ein Ende
hatten. Rom erwies damit den asiatischen Griechen eine
wirkliche Wohlthat, die diese nicht ermangelten mit goldenen
Kränzen und den transcendentalsten Lobreden zu erwiedern.
— In Vorderasien war die Besitzregulirung nicht ohne Schwie-
rigkeit, zumal da hier die dynastische Politik des Eumenes
mit der der griechischen Hansa collidirte; endlich gelang es
sich in folgender Art zu verständigen. Allen griechischen
Röm. Gesch. I. 36
[562]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
Städten, die am Tage der Schlacht von Magnesia frei und
den Römern beigetreten waren, wurde ihre Freiheit bestätigt
und sie alle mit Ausnahme der dem Eumenes zinspflichtigen
der Tributzahlung für die Zukunft enthoben. So wurden na-
mentlich frei die Städte Dardanos und Ilion, die alten Stamm-
genossen der Römer von Aeneas Zeiten her, ferner Kyme,
Smyrna, Klazomenae, Erythrae, Chios, Kolophon, Miletos und
andere altberühmte Namen. Phokaea, das gegen die Capi-
tulation von den römischen Flottensoldaten geplündert worden
war, erhielt zum Ersatz dafür gleichfalls ausnahmsweise sein
Gebiet zurück und die Freiheit. Die meisten Städte der grie-
chisch-asiatischen Hansa erhielten überdieſs Gebietserweiterung
und andere Vortheile. Am besten ward natürlich Rhodos
bedacht, das Lykien mit Ausschluſs von Telmissos und den
gröſsern Theil von Karien südlich vom Maeander empfing;
auſserdem garantirte Antiochos den Rhodiern in seinem Ge-
biet ihr Eigenthum und ihre Forderungen so wie die bisher
genossene Zollfreiheit. — Alles Uebrige, also bei weitem der
gröſste Theil der Beute fiel an die Attaliden, deren alte Treue
gegen Rom so wie die in diesem Kriege bestandenen Drang-
sale und Eumenes persönliches Verdienst um den Ausfall der
entscheidenden Schlacht in einer Weise belohnt ward wie nie
ein König seinem Verbündeten gelohnt hat. Eumenes empfing
in Europa den Chersonesos mit Lysimacheia; in Asien auſser
Mysien, das er schon besaſs, die Provinzen Phrygien am Hel-
lespont, Lydien mit Ephesos und Sardes, den nördlichen
Streif von Karien bis zum Maeander mit Tralles und Magnesia,
Groſsphrygien und Lykaonien, die milysche Landschaft zwi-
schen Phrygien und Lykien und als Hafenplatz am südlichen
Meer die lykische Stadt Telmissos; über Pamphylien ward
später zwischen Eumenes und Antiochos gestritten, ob es
dies- oder jenseit des Tauros liege. Auſserdem erhielt er
die Schutzherrschaft und das Zinsrecht in den griechischen
Städten, die nicht unbeschränkt die Freiheit empfingen; doch
wurde auch hier bestimmt, daſs den Städten ihre Freibriefe
bleiben und die Abgabe nicht erhöht werden solle. Ferner
muſste Antiochos sich anheischig machen dem Eumenes die
350 Talente (½ Mill. Thlr.), die derselbe dem Vater Attalos
schuldig geworden war, zu entrichten, ebenso ihn mit 127
Talenten (190000 Thlr.) für die rückständigen Getreidelieferun-
gen zu entschädigen. Endlich erhielt er die königlichen For-
sten und die von Antiochos abgelieferten Elephanten, nich
[563]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
aber die Kriegsschiffe, die verbrannt wurden; eine Seemacht
litten die Römer nicht neben sich. Hiedurch war das Reich
der Attaliden in Osteuropa und Asien das geworden, was
Numidien in Africa war, ein von Rom abhängiger mächtiger
Staat mit absoluter Verfassung, bestimmt und fähig sowohl
Makedonien als Syrien in Schranken zu halten ohne anders
als in auſserordentlichen Fällen römischer Unterstützung zu
bedürfen. Mit dieser durch die römische Politik gebotenen
Schöpfung hatte man die durch Sympathie, Wohlwollen und
Eitelkeit gebotene Befreiung der asiatischen Griechen so weit
möglich vereinigt. Um die Angelegenheiten des ferneren
Ostens jenseit des Tauros und Halys war man fest entschlos-
sen sich nicht zu bekümmern; es zeigen dies sehr deutlich
die Bedingungen des Friedens mit Antiochos und noch entschie-
dener die bestimmte Weigerung des Senats der Stadt Soloi
in Kilikien die von den Rhodiern für sie erbetene Freiheit
zu gewähren. Ebenso getreu blieb man dem festgestellten
Grundsatz keine weiteren unmittelbaren Besitzungen zu er-
werben. Nachdem die römische Flotte noch eine Expedition
nach Kreta gemacht und die Freigebung der dorthin in die
Sclaverei verkauften Römer durchgesetzt hatte, verlieſsen Flotte
und Landheer im Nachsommer 566 Asien, wobei das Land-
heer, das wieder durch Thrakien zog, durch die Nachlässig-
keit des Feldherrn unterwegs von den Ueberfällen der Wilden
viel zu leiden hatte. Sie brachten nichts heim aus dem Osten
als Ehre und Gold, die in dieser Zeit sich schon beide in der
praktischen Form der Dankadresse, dem goldenen Kranze
zusammenzufinden pflegten.


Auch das europäische Griechenland war von diesem asia-
tischen Krieg erschüttert worden und bedurfte neuer Ordnung.
Die Aetoler, die immer noch nicht gelernt hatten sich in ihre
Nichtigkeit zu finden, hatten nach dem im Frühling 564 mit
Scipio abgeschlossenen Waffenstillstand nicht bloſs durch ihre
kephallenischen Corsaren den Verkehr zwischen Italien und
Griechenland schwierig und unsicher gemacht, sondern viel-
leicht noch während des Waffenstillstandes, getäuscht durch
falsche Nachrichten über den Stand der Dinge in Asien, die
Tollheit begangen den Amynander wieder auf seinen athama-
nischen Thron zu setzen und mit Philippos in den von die-
sem besetzten aetolischen und thessalischen Grenzlandschaften
sich herumzuschlagen, wobei der König mehrere Nachtheile
erlitt. Es versteht sich, daſs hienach auf ihre Bitte um
36*
[564]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
Frieden mit Rom die Antwort war die Landung des Consuls
Marcus Fulvius Nobilior im Frühling 565, der mit den Legionen
in ihr Land zog und Ambrakia nach funfzehntägiger Belagerung
durch eine für die Besatzung ehrenvolle Capitulation einnahm,
während zugleich die Makedonier, die Illyrier, die Epeiroten,
die Akarnanen und Achaeer über die Aetoler herfielen. Dennoch
lieſsen auf ihre wiederholten Friedensgesuche die Römer, die
diesen erbärmlichen und tückischen Gegnern gegenüber eine
wahrhaft exemplarische Geduld bewiesen, sich bewegen vom
Kriege abzustehen und leidliche Bedingungen zu gewähren.
Die Aetoler verloren alle Städte und Gebiete, die in den Hän-
den ihrer Gegner waren, namentlich Ambrakia, welches später
frei und selbstständig ward in Folge einer gegen Marcus Fulvius
in Rom gesponnenen Intrigue, ferner Oinia, das den Akar-
nanen gegeben wurde; ebenso traten sie Kephallenia ab. Sie
verloren das Recht Krieg und Frieden zu schlieſsen, und
wurden in dieser Hinsicht von den auswärtigen Beziehungen
Roms abhängig; ferner zahlten sie eine starke Geldsumme.
Kephallenia setzte sich auf eigene Hand gegen diesen Frieden
und fügte sich erst, als Marcus Fulvius auf der Insel landete;
ja die Einwohner von Same, die befürchteten aus ihrer wohl-
gelegenen Stadt durch eine römische Colonie ausgetrieben zu
werden, fielen nach der ersten Ergebung wieder ab und hiel-
ten eine viermonatliche Belagerung aus, worauf die Stadt
endlich genommen und die Einwohner sämmtlich in die Scla-
verei verkauft wurden. — Rom selbst nahm in Griechenland
für sich die eben erwähnte Insel Kephallenia und die be-
nachbarte Insel Zakynthos, welche die Achaeer von dem Statt-
halter ihres letzten Besitzers Amynander gekauft hatten und
ungern wieder herausgaben. Ueberhaupt waren die beiden
bedeutendsten Bundesgenossen Roms, Philippos und die
Achaeer, keineswegs befriedigt durch den ihnen gegönnten
Antheil an der Beute. Philippos fühlte sich nicht ohne Grund
verletzt; er durfte sagen, daſs in dem letzten Krieg die haupt-
sächlichen Schwierigkeiten, die nicht in dem Feinde, sondern
in der Entfernung und der Unsicherheit der Verbindungen
lagen, wesentlich durch seinen loyalen Beistand überwunden
waren. Der Senat erkannte dies allerdings an, indem er ihm
den noch rückständigen Tribut erlieſs und seine Geiſseln ihm
zurücksandte; allein die Gebietserweiterungen, wie er sie ge-
hofft, empfing er nicht. Er erhielt das magnetische Gebiet
mit Demetrias, das er den Aetolern abgenommen hatte;
[565]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
auſserdem blieben thatsächlich in seinen Händen die dolopi-
sche und athamanische Landschaft und ein Theil von Thes-
salien, aus denen gleichfalls die Aetoler von ihm vertrieben
worden waren. In Thrakien blieb zwar das Binnenland in
makedonischer Clientel, aber über die Küstenstädte und die
Inseln Thasos und Lemnos, die factisch in seinen Händen
waren, ward nichts bestimmt und der Chersonesos sogar aus-
drücklich an Eumenes gegeben; es war nicht schwer zu er-
kennen, daſs Eumenes nur deſshalb auch Besitzungen in
Europa empfangen hatte um nicht bloſs Asien, sondern auch
Makedonien im Nothfall niederzuhalten. Die Erbitterung des
stolzen und in vieler Hinsicht ritterlichen Mannes ist natür-
lich; allein es war nicht Schikane, was die Römer bestimmte,
sondern eine unabweisliche politische Nothwendigkeit. Make-
donien büſste dafür, daſs es einmal eine Macht ersten Ranges
gewesen war und mit Rom auf gleichem Fuſs Krieg geführt
[hatte]; man hatte hier und hier mit viel besserem Grund als
gegen Karthago sich vorzusehen, daſs die alte Machtstellung
nicht wiederkehre. — Anders stand es mit den Achaeern.
Sie hatten im Laufe des Krieges gegen Antiochos ihren lange
genährten Wunsch befriedigt den Peloponnes ganz in ihre
Eidgenossenschaft zu bringen, indem zuerst Sparta, dann nach
der Vertreibung der Asiaten aus Griechenland auch Elis und
Messene mehr oder weniger gezwungen beigetreten waren.
Die Römer hatten dies geschehen lassen und es sogar ge-
duldet, daſs man dabei mit absichtlicher Rücksichtslosigkeit
gegen Rom verfuhr. Flamininus hatte, als Messene erklärte,
sich den Römern unterwerfen, aber nicht in die Eidge-
nossenschaft eintreten zu wollen und diese darauf Gewalt
brauchte, zwar nicht unterlassen den Achaeern zu Gemüthe
zu führen, daſs solche Sonderverfügungen über einen Theil
der Beute an sich unrecht und in dem Verhältniſs der
Achaeer zu den Römern mehr als unpassend seien, aber
denn doch in seiner sehr unpolitischen Nachgiebigkeit gegen
die Hellenen im Wesentlichen den Achaeern ihren Willen ge-
than. Allein damit hatte die Sache kein Ende. Die Achaeer,
von ihrer zwerghaften Vergröſserungssucht gepeinigt, lieſsen
die Stadt Pleuron in Aetolien, die sie während des Krieges
besetzt hatten, nicht fahren und machten sie vielmehr zum
unfreiwilligen Mitgliede ihrer Eidgenossenschaft; sie blickten
nach Zakynthos und Aegina und hörten sehr unmuthig Fla-
mininus guten Rathschlag sich mit ihrem Peloponnes zu be-
[566]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
gnügen. Sie glaubten es sich schuldig zu sein die Unabhän-
gigkeit ihres Staates um so mehr zur Schau zu tragen, je
weniger daran war; man sprach von Kriegsrecht, von der
treuen Beihülfe der Achaeer in den Kriegen der Römer; man
fragte die römischen Gesandten auf der achaeischen Tag-
satzung, warum Rom sich um Messene bekümmere, da Achaia
ja nicht nach Capua frage, und der hochherzige Patriot, der
also gesprochen, wurde applaudirt und war der Stimmen bei den
Wahlen sicher. Das alles würde sehr recht und sehr erhaben
gewesen sein, wenn es nicht noch viel lächerlicher gewesen
wäre. Ohne Zweifel lagen edle Gefühle hier zu Grunde; es
lag eine tiefe Gerechtigkeit und ein noch tieferer Jammer
darin, daſs Rom, so ernstlich es die Freiheit der Hellenen
zu gründen und den Dank der Hellenen zu verdienen bemüht
war, dennoch ihnen nichts gab als die Anarchie und nichts
erntete als den Undank. Aber trotz der guten Absichten der
Führer ist dieser achaeische Patriotismus nicht minder eine
Thorheit und eine wahre historische Fratze. Bei all jenem
Ehrgeiz und all jener nationalen Empfindlichkeit geht durch
die ganze Nation vom ersten bis zum letzten Mann das
gründlichste Gefühl der Ohnmacht. Stets horcht Jeder nach
Rom, der liberale Mann nicht weniger wie der servile: man
dankt dem Himmel, wenn das gefürchtete Decret ausbleibt;
man mault, wenn der Senat zu verstehen giebt, daſs man
wohl thun werde freiwillig nachzugeben um es nicht gezwun-
gen zu thun; man thut was man muſs wo möglich in einer
für die Römer verletzenden Weise ‚um die Formen zu retten‘;
man berichtet, erläutert, verschiebt, schleicht sich durch und
wenn es nicht anders gehen will, so wird mit einem patrio-
tischem Seufzer nachgegeben. Das Treiben hätte Anspruch
wo nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenn die Führer
zum Kampf entschlossen gewesen wären und der Knechtschaft
der Nation den Untergang vorgezogen hätten; aber weder
Philopoemen noch Lykortas dachten an einen solchen politi-
schen Selbstmord — man wollte wo möglich frei sein, aber
denn doch vor allem leben. Zu allem diesem aber sind es
niemals die Römer, die die gefürchtete römische Intervention
in die inneren Angelegenheiten Griechenlands hervorrufen,
sondern stets die Griechen selbst, die wie die Knaben den
Stock, den sie fürchten, selber einer über den andern bringen.
Der von dem gelehrten Pöbel hellenischer und nachhellenischer
Zeit bis zum Ekel wiederholte Vorwurf, daſs die Römer be-
[567]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
strebt gewesen wären den inneren Zwist nach Griechenland
zu tragen, ist eine der tollsten Abgeschmacktheiten, welche
politisirende Philologen nur je ausgesonnen haben. Nicht
die Römer trugen den inneren Hader nach Griechenland —
wahrlich Eulen nach Athen —, sondern die Griechen ihn
nach Rom. Namentlich die Achaeer, die über ihren Arrondi-
rungsgelüsten gänzlich übersahen, wie sehr zu ihrem eigenen
Besten es gewesen, daſs Flamininus die aetolisch gesinnten
Städte nicht der Eidgenossenschaft einverleibt hatte, erwarben
in Lakedaemon und Messene sich eine wahre Hydra inneren
Zwistes. Unaufhörlich baten und flehten Mitglieder dieser
Gemeinden in Rom sie aus der verhaſsten Gemeinschaft zu
lösen, darunter charakteristisch genug selbst diejenigen, die
die Rückkehr in die Heimath den Achaeern verdankten. Unauf-
hörlich ward von dem achaeischen Bunde in Sparta und Messene
regenerirt und restaurirt; die wüthendsten Emigrirten von dort
bestimmen die Maſsregeln der Tagsatzung. Vier Jahre nach
dem nominellen Eintritt Spartas in die Eidgenossenschaft kam
es sogar zum offenen Kriege und zu einer bis zum Wahnsinn
vollständigen Restauration, wo die sämmtlichen von Nabis mit
dem Bürgerrecht beschenkten Sclaven wieder in die Knecht-
schaft verkauft und aus dem Erlös ein Säulengang in der
Achaeerstadt Megalopolis gebaut, wo die alten Güterverhält-
nisse in Sparta wieder hergestellt, die lykurgischen Gesetze
durch die achaeischen ersetzt, die Mauern niedergerissen
wurden (566). Ueber alle diese Wirthschaft ward dann
zuletzt von allen Seiten der römische Senat zum Schied-
spruch aufgefordert — eine Belästigung, die die gerechte
Strafe für die befolgte sentimentale Politik war. Weit entfernt
sich zu viel in diese Angelegenheiten zu mischen, ertrug der
Senat nicht bloſs die Nadelstiche der achaeischen Gesinnungs-
tüchtigkeit mit musterhafter Indifferenz, sondern lieſs selbst
die ärgsten Dinge mit sträflicher Gleichgültigkeit geschehen.
Man freute sich herzlich in Achaia, als nach jener Restaura-
tion die Nachricht von Rom einlief, daſs der Senat darüber
zwar gescholten, aber nichts cassirt habe, und für die Lake-
daemonier geschah von Rom aus nichts, als daſs der Senat,
empört über den von den Achaeern verfügten Justizmord von
beiläufig sechzig bis achtzig Spartanern, der Tagsatzung die
Criminaljustiz über die Spartaner nahm — freilich ein em-
pörender Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines unab-
hängigen Staates! Die römischen Staatsmänner kümmerten
[568]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
sich so wenig wie möglich um diese Sündfluth in der Nuſs-
schale, wie am besten die vielfachen Klagen beweisen über
die oberflächlichen, widersprechenden und unklaren Entschei-
dungen des Senats; freilich wie sollte er klar antworten,
wenn auf einmal vier Parteien aus Sparta zugleich im Senat
gegen einander redeten! Dazu kam der persönliche Eindruck,
den die meisten dieser peloponnesischen Staatsmänner in
Rom machten; selbst Flamininus schüttelte den Kopf, als
ihm einer derselben heute etwas vortanzte und den andern
Tag ihn von Staatsgeschäften unterhielt. Es kam so weit, daſs
dem Senat zuletzt die Geduld völlig ausging und er die Pe-
loponnesier beschied, daſs er sie nicht mehr bescheiden werde
und daſs sie machen könnten was sie wollten (572). Begreif-
lich ist dies, aber nicht recht; wie die Römer einmal standen,
hatten sie die sittliche und politische Verpflichtung hier mit
Ernst und Consequenz einen leidlichen Zustand herzustellen.
Jener Achaeer Kallikrates, der im Jahre 575 an den Senat
ging um sie über die Zustände im Peloponnes aufzuklären
und eine folgerechte und gehaltene Intervention zu fordern,
mag als Mensch noch etwas weniger getaugt haben als sein
Landsmann Philopoemen, der jene Patriotenpolitik wesentlich
begründet hat; aber er hatte Recht.


So umfasste die Clientel der römischen Gemeinde jetzt
die sämmtlichen Staaten von dem östlichen zu dem westlichen
Ende des Mittelmeeres; nirgends bestand ein Staat, den man
der Mühe werth gehalten hätte zu fürchten. Aber noch lebte
ein Mann, dem Rom diese seltene Ehre erwies; der heimath-
lose Karthager, der erst den ganzen Westen, alsdann den
ganzen Osten gegen Rom in Waffen gebracht hatte und der
vielleicht nur gescheitert war dort an der ehrlosen Aristokra-
ten-, hier an der kopflosen Hofpolitik. Antiochos hatte sich
im Frieden verpflichten müssen den Hannibal auszuliefern,
allein derselbe war zuerst nach Kreta, dann nach Bithynien
entronnen und lebte jetzt am Hof des Königs Prusias, be-
schäftigt diesen in seinen Kriegen gegen Eumenes zu unter-
stützen und wie immer siegreich zu Wasser und zu Lande.
Es wird behauptet, daſs er auch den Prusias zum Kriege
gegen Rom habe reizen wollen; eine Thorheit, die so wie sie
erzählt wird sehr wenig glaublich klingt. Gewisser ist es,
daſs der römische Senat zwar es unter seiner Würde hielt
den Greis in seinem letzten Asyl aufjagen zu lassen, — die
Ueberlieferung, die auch den Senat beschuldigt, scheint
[569]DER KRIEG GEGEN ANTIOCHOS VON ASIEN.
keinen Glauben zu verdienen —, daſs aber Flamininus, der
in seiner unruhigen Eitelkeit nach neuen Zielen für groſse
Thaten suchte, auf seine eigene Hand es unternahm wie
die Griechen von ihren Ketten so Rom von Hannibal zu
befreien und gegen den gröſsten Mann seiner Zeit den
Dolch zwar nicht zu führen, was nicht diplomatisch ist,
aber ihn zu schleifen und zu richten. Prusias, der jämmer-
lichste unter den Jammerprinzen Asiens, machte sich ein
Vergnügen daraus dem römischen Gesandten die kleine Ge-
fälligkeit zu erweisen, die derselbe mit halben Worten erbat,
und da Hannibal sein Haus von Mördern umstellt sah, nahm
er Gift. Er war seit langem gefaſst darauf, fügt ein Römer
hinzu, denn er kannte die Römer und das Wort der Kö-
nige. — Sein Todesjahr ist nicht gewiſs; wahrscheinlich
starb er in der zweiten Hälfte des Jahres 571, siebenund-
sechzig Jahre alt. Als er geboren ward, stritt Rom mit
zweifelhaftem Erfolg um den Besitz von Sicilien; er hatte
gerade genug gelebt um den Westen vollständig unterworfen
zu sehen, um noch selber seine letzte Römerschlacht gegen
die Schiffe seiner römisch gewordenen Vaterstadt zu schlagen
um dann zuschauen zu müssen, wie Rom auch den Osten
überwand gleich wie der Sturm das führerlose Schiff, und zu
fühlen daſs er allein im Stande war es zu lenken. — Es
konnte ihm keine Hoffnung weiter fehlschlagen, als er
starb; aber redlich hatte er in funfzigjährigem Kampfe den
Knabenschwur gehalten. — Um dieselbe Zeit, wahrschein-
lich in demselben Jahre starb auch der Mann, den die
Römer seinen Ueberwinder zu nennen pflegten, Publius
Scipio. Ihn hatte das Glück mit allen den Erfolgen über-
schüttet, die seinem Gegner versagt blieben, mit Erfolgen, die
ihm gehörten und nicht gehörten. Spanien, Africa, Asien
hatte er zum Reiche gebracht und Rom, das er als die erste
Gemeinde Italiens gefunden, war bei seinem Tode die Ge-
bieterin der civilisirten Welt. Er selbst hatte der Siegestitel
so viele, daſs deren überblieben für seinen Bruder und seinen
Neffen. * Und doch verzehrte auch er seine letzten Jahre in
bitterem Gram und starb wenig über funfzig Jahre alt
in freiwilliger Verbannung, mit dem Befehl an die Seinigen
in der Vaterstadt, für die er gelebt hatte und in der seine
Ahnen ruhten, seine Leiche nicht beizusetzen. Es ist nicht
[570]DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
genau bekannt, was ihn aus der Stadt trieb. Wir wissen von
Anschuldigungen wegen Bestechung und unterschlagener Gel-
der, die gegen ihn und mehr noch gegen seinen Bruder Lucius
gerichtet wurden, ohne Zweifel nichtige Verläumdungen, die
solche Verbitterung nicht hinreichend erklären; obwohl es
charakteristisch für den Mann ist, daſs er seine Rechnungs-
bücher, statt sich einfach dadurch zu rechtfertigen, im Angesicht
des Volks und der Ankläger zerriſs und die Römer aufforderte
ihn zum Tempel des Jupiter zu begleiten und den Jahrestag
seines Sieges bei Zama zu feiern. Das Volk lieſs den Ankläger
stehen und folgte dem Scipio auf das Capitol; aber es war
dies der letzte schöne Tag des hohen Mannes. Sein stolzer
Sinn, seine Meinung ein anderer und besserer zu sein als
die übrigen Menschen, seine sehr entschiedene Familienpolitik,
die namentlich in seinem Bruder Lucius den widerwärtigen
Strohmann eines Helden groſszog, verletzten viele und nicht
ohne Grund. Wie der ächte Stolz das Herz beschirmt, so
legt es die Hoffart jedem Schlag und jedem Nadelstich bloſs
und zerfriſst auch den ursprünglich hochherzigen Sinn.
Ueberall aber gehört es zur Eigenthümlichkeit solcher aus
ächtem Gold und schimmernden Flittern seltsam gemischten
Naturen, wie Scipio eine war, daſs sie des Glückes und des
Glanzes der Jugend bedürfen um ihren Zauber zu üben, und
daſs wenn dieser Zauber zu schwinden anfängt, unter allen
am schmerzlichsten der Zauberer selbst erwacht.


[[571]]

KAPITEL X.



Der dritte makedonische Krieg.


Philippos von Makedonien war empfindlich gekränkt durch
die Behandlung, die er nach dem Frieden mit Antiochos von
den Römern erfahren hatte; und der weitere Verlauf der
Dinge war nicht geeignet seinen Groll zu beschwichtigen.
Seine Nachbarn in Griechenland und Thrakien, groſsentheils
Gemeinden, die einst vor dem makedonischen Namen nicht
minder gezittert hatten wie jetzt vor dem römischen, machten
es sich wie billig zum Geschäft der gefallenen Groſsmacht all
die Tritte zurückzugeben, die sie seit Philippos des zweiten
Zeiten von Makedonien empfangen hatten, und der nichtige
Hochmuth wie der wohlfeile antimakedonische Patriotismus
der Hellenen dieser Zeit machte sich Luft auf den Tagsatzun-
gen der verschiedenen Eidgenossenschaften und in unaufhör-
lichen Beschwerden bei dem römischen Senat. Philippos war
von den Römern zugestanden worden, was er den Aetolern
abgenommen habe; allein in Thessalien hatte nur die Eidge-
nossenschaft der Magneten sich förmlich an die Aetoler ange-
schlossen, wogegen diejenigen Städte, die Philippos in zwei
anderen der thessalischen Eidgenossenschaften, der thessali-
schen im engern Sinn und der perrhaebischen den Aetolern
entrissen hatte, von ihren Bünden zurückverlangt wurden aus
dem Grunde, daſs Philippos diese Städte nur befreit, nicht
erobert habe. Auch die Athamanen glaubten ihre Freiheit
begehren zu können; auch Eumenes forderte die Seestädte,
die Antiochos im eigentlichen Thrakien besessen hatte, nament-
[572]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
lich Aenos und Maroneia, obwohl ausdrücklich ihm im Frieden
mit Antiochos nur der thrakische Chersonesos zugesprochen war.
All diese Beschwerden und zahllose geringere seiner sämmt-
lichen Nachbarn, über Unterstützung des Königs Prusias gegen
Eumenes, über Handelsconcurrenz, über verletzte Contracte
und geraubtes Vieh strömten nach Rom; vor dem römischen
Senat muſste der König von Makedonien von dem souverainen
Gesindel sich verklagen lassen und Recht nehmen oder Un-
recht, wie es fiel; er muſste sehen, daſs das Urtheil stets
gegen ihn ausfiel, muſste knirschend von der thrakischen
Küste, aus den thessalischen und parrhaebischen Städten die
Besatzungen wegziehen und die römischen Commissare höflich
empfangen, welche nachzusehen kamen, ob auch alles vor-
schriftmäſsig ausgeführt sei. Man war in Rom nicht so er-
bittert gegen Philippos wie gegen Karthago, ja in vieler Hin-
sicht dem makedonischen Herrn sogar geneigt; man verletzte
nicht so rücksichtslos jede Form gegen ihn wie es gegen Kar-
thago geschah, aber im Grunde war die Lage Makedoniens
wesentlich dieselbe wie die von Karthago. Indeſs Philippos war
keineswegs der Mann diese Pein mit phoenikischer Geduld
über sich ergehen zu lassen. Leidenschaftlich wie er war,
hatte er nach seiner Niederlage mehr dem treulosen Bundes-
genossen gezürnt als dem ehrenwerthen Gegner, und seit lan-
gem gewohnt nicht makedonische, sondern persönliche Politik
zu treiben hatte er in dem Kriege mit Antiochos nichts ge-
sehen als eine vortreffliche Gelegenheit sich an dem Alliirten,
der ihn schmählich im Stich gelassen und verrathen hatte,
augenblicklich zu rächen. Dies Ziel hatte er erreicht; allein
die Römer, die sehr gut begriffen, daſs nicht die Freundschaft
für Rom, sondern die Feindschaft gegen Antiochos den Ma-
kedonier bestimmte und die überdieſs keineswegs nach sol-
chen Stimmungen der Neigung und Abneigung ihre Politik
zu regeln pflegten, hatten sich wohl gehütet irgend etwas
Wesentliches zu Philippos Gunsten zu thun und hatten viel-
mehr die Attaliden, die von ihrer ersten Erhebung an mit
Makedonien in heftiger Fehde lagen und von dem König Phi-
lippos politisch und persönlich aufs bitterste gehaſst wurden,
die Attaliden, die unter allen östlichen Mächten am meisten
dazu beigetragen hatten Makedonien und Syrien zu zertrümmern
und die römische Clientel auf den Osten auszudehnen, die
Attaliden, die in dem letzten Krieg, wo Philippos es freiwillig
und loyal mit Rom gehalten, um ihrer eigenen Existenz willen
[573]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
wohl mit Rom hatten halten müssen, hatten diese Attaliden
dazu benutzt um im Wesentlichen das Reich des Lysimachos
wieder aufzubauen, dessen Vernichtung der wichtigste Erfolg
der makedonischen Herrscher nach Alexander gewesen war,
und Makedonien einen Staat an die Seite zu stellen, der zu-
gleich ihm an Macht ebenbürtig und Roms Client war. Den-
noch hätte vielleicht, wie die Verhältnisse einmal standen, ein
weiser und sein Volk mit Hingebung beherrschender Regent
sich entschlossen den ungleichen Kampf gegen Rom nicht
wieder aufzunehmen; allein Philippos, in dessen Charakter
von allen edlen Motiven das Ehrgefühl, von allen unedlen die
Rachsucht am mächtigsten waren, war taub für die Stimme
sei es der Feigheit sei es der Resignation, und nährte tief
im Herzen den Entschluſs abermals die Würfel zu werfen,
wie er zu Tage lag in der bei Gelegenheit der Schmähungen,
der thessalischen Tagsatzungen gegen Makedonien von ihm
angeführten theokritischen Zeile, daſs noch die letzte Sonne
nicht untergegangen sei *.


Philippos bewies bei der Vorbereitung und der Verber-
gung seiner Entschlüsse eine Ruhe, einen Ernst und eine
Consequenz, die, wenn er in besseren Zeiten sie bewährt
hätte, vielleicht den Geschicken der Welt eine andere Rich-
tung gegeben haben würden. Namentlich die Fügsamkeit gegen
die Römer, mit der er sich die unentbehrliche Frist erkaufte,
war für den harten und stolzen Mann eine schwere Prüfung,
die er doch muthig ertrug — seine Unterthanen freilich und
die unschuldigen Gegenstände des Haders, wie das unglück-
liche Maroneia, büſsten schwer den verhaltenen Groll. Schon
im Jahre 571 schien der Krieg ausbrechen zu müssen; aber
auf Philippos Geheiſs bewirkte sein jüngerer Sohn Demetrios
eine Ausgleichung des Vaters mit Rom, wo er einige Jahre
als Geiſsel gelebt hatte und sehr beliebt war. Der Senat,
namentlich Flamininus, der die griechischen Angelegenheiten
leitete, suchte in Makedonien eine römische Partei zu bilden,
die Philipps natürlich den Römern nicht unbekannte Bestre-
bungen zu paralysiren im Stande wäre, und hatte zu deren
Haupt, ja vielleicht zum künftigen König Makedoniens den
jüngeren leidenschaftlich an Rom hängenden Prinzen auser-
sehen. Man gab mit absichtlicher Deutlichkeit zu verstehen,
daſs der Senat dem Vater um des Sohnes willen verzeihe;
[574]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
wovon natürlich die Folge war, daſs im königlichen Hause
selbst Zwistigkeiten entstanden und namentlich des Königs
älterer und vom Vater zum Nachfolger bestimmter, aber in
ungleicher Ehe erzeugter Sohn Perseus in seinem Bruder
den künftigen Nebenbuhler zu unterdrücken suchte. Es scheint
nicht, daſs Demetrios sich in die römischen Intriguen einlieſs;
erst der falsche Verdacht des Verbrechens zwang ihn schuldig
zu werden und auch da beabsichtigte er, wie es scheint, nichts
weiter als die Flucht nach Rom. Indeſs Perseus sorgte dafür,
daſs der Vater diese Absicht auf die rechte Weise erfuhr; ein
untergeschobener Brief von Flamininus an Demetrios that das
Uebrige und so gab der Vater Befehl den Sohn aus dem Wege
zu räumen. Zu spät erfuhr Philippos die Ränke, die Perseus
gesponnen hatte und der Tod ereilte ihn über der Absicht
den Brudermörder zu strafen und von der Thronfolge auszu-
schlieſsen. Er starb im Jahre 575 in Demetrias, im neun-
undfunfzigsten Lebensjahre. Das Reich hinterlieſs er zer-
schmettert, das Haus zerrüttet, und gebrochenen Herzens
gestand er ein, daſs all seine Mühsal und all seine Frevel
vergeblich gewesen waren. — Sein Sohn Perseus trat darauf
die Regierung an, ohne in Makedonien oder bei dem römi-
schen Senat Widerspruch zu finden. Er war ein stattlicher
Mann, in allen Leibesübungen wohl erfahren, im Lager auf-
gewachsen und des Befehlens gewohnt, gleich seinem Vater
herrisch und nicht bedenklich in der Wahl seiner Mittel.
Ihn reizten nicht der Wein und die Frauen, über die Philippos
seines Regiments nur zu oft vergaſs; er war stetig und beharr-
lich wie sein Vater leichtsinnig und leidenschaftlich. Philippos,
schon als Knabe König und in den ersten zwanzig Jahren
seiner Herrschaft vom Glück begleitet, war vom Schicksal ver-
wöhnt und verdorben worden; Perseus bestieg den Thron in
seinem einunddreiſsigsten Jahr und wie er schon als Knabe
mitgenommen worden war in den unglücklichen römischen Krieg,
wie er aufgewachsen war im Druck der Erniedrigung und in
dem Gedanken einer nahen Wiedergeburt des Staates, so erbte
er von seinem Vater mit dem Reich seine Drangsale, seine
Erbitterung und seine Hoffnungen. In der That griff er mit
aller Entschlossenheit die Fortsetzung des väterlichen Werkes
an und rüstete eifriger als es vorher geschehen war zum
Kriege gegen Rom; es kam für ihn noch hinzu, daſs es wahr-
lich nicht die Schuld der Römer war, wenn er das make-
donische Diadem trug. Mit Stolz sah die stolze makedonische
[575]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
Nation auf den Prinzen, den sie an der Spitze ihrer Jugend
stehen und fechten zu sehen gewohnt war; und es schien in
der That nicht grundlos, daſs seine Landsleute und viele Helle-
nen aller Stämme in ihm den rechten Feldherrn für den nahen-
den Befreiungskrieg gefunden zu haben meinten. Aber er war
nicht, was er schien; ihm fehlte Philipps Genialität und Philipps
Spannkraft, die wahrhaft königlichen Eigenschaften, die das
Glück verdunkelt und geschändet, aber die reinigende Macht
der Noth wieder zu Ehren gebracht hatte. Philippos lieſs sich
und die Dinge gehen, aber wenn es galt, fand er in sich die
Kraft zu raschem und ernstlichem Handeln. Perseus spann
weite und feine Pläne und verfolgte sie mit unermüdlicher
Beharrlichkeit; aber wenn die Stunde schlug und das was er
angelegt und vorbereitet hatte, ihm in der lebendigen Wirk-
lichkeit entgegentrat, erschrak er vor seinem eigenen Werke.
Wie es beschränkten Naturen eigen ist, ward ihm das Mittel
zum Zweck; er häufte Schätze auf Schätze auf für den Römer-
krieg und als die Römer im Lande standen, vermochte er
nicht von seinen Goldstücken sich zu trennen. Es ist be-
zeichnend, daſs nach der Niederlage der Vater zuerst eilte
die compromittirenden Papiere in seinem Kabinet zu vernich-
ten, der Sohn dagegen seine Schätze nahm und sich ein-
schiffte. In gewöhnlichen Zeiten hätte er einen König vom
Dutzendschlag so gut und besser wie mancher Andere abgeben
können; aber er war nicht geschaffen ein Unternehmen zu
leiten, das von Haus aus verloren war, wenn nicht ein auſser-
ordentlicher Mann es beseelte.


Makedoniens Macht war nicht gering. Die Ergebenheit
des Landes gegen das Haus der Antigoniden war ungebrochen,
das Nationalgefühl hier allein nicht durch den Hader politi-
scher Parteien paralysirt. Den groſsen Vortheil der monar-
chischen Verfassung, daſs jeder Regierungswechsel den alten
Groll und Zank beseitigt und eine neue Aera anderer Men-
schen und frischer Hoffnungen mit sich führt, hatte der König
verständig benutzt und seine Regierung begonnen mit allge-
meiner Amnestie, mit Zurückberufung der flüchtigen Bankerot-
tirer und Erlaſs der rückständigen Steuern. Die gehässige
Härte des Vaters brachte also dem Sohn nicht bloſs Vortheil,
sondern auch Liebe. Sechsundzwanzig Friedensjahre hatten
die Lücken in der makedonischen Bevölkerung theils von
selbst ausgefüllt, theils der Regierung gestattet hiefür als für
den eigentlichen wunden Fleck des Landes ernstliche Für-
[576]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
sorge zu treffen. Philippos hielt die Makedonier an zur Ehe
und Kinderzeugung; er besetzte die Küstenstädte, aus denen
er die Einwohner in das Innere zog, mit thrakischen Kolo-
nisten, deren Treue und Wehrhaftigkeit er gewiſs war; er
zog, um die verheerenden Einfälle der Dardaner ein für alle-
mal abzuwehren, gegen Norden eine Militärgrenze, indem er
das Zwischenland jenseit der Landesgrenze bis an das bar-
barische Gebiet zur Einöde machte, und gründete neue Städte
in den nördlichen Provinzen. Kurz, er that Zug für Zug das-
selbe für Makedonien, wodurch später Augustus das römische
Reich zum zweitenmal gründete. Die Armee war zahlreich
— 30000 Mann ohne die Zuzüge und die Miethstruppen zu
rechnen — und die junge Mannschaft kriegsgeübt durch den
beständigen Grenzkrieg gegen die thrakischen Barbaren. Selt-
sam ist es, daſs Philippos nicht wie Hannibal es versuchte
sein Heer römisch zu organisiren; allein es begreift sich, wenn
man sich erinnert, was den Makedoniern ihre zwar oft über-
wundene, aber doch noch immer unüberwindlich geglaubte
Phalanx galt. Durch die neuen Finanzquellen, die Philippos
in Bergwerken, Zöllen und Zehnten sich geschaffen hatte, und
den aufblühenden Ackerbau und Handel war es gelungen den
Schatz, die Speicher und die Arsenale zu füllen; als der Krieg
begann, lag im makedonischen Staatsschatz Geld genug um
für das dermalige Heer und für 10000 Mann Miethstruppen
auf zehn Jahre den Sold zu zahlen und fanden sich in den
öffentlichen Magazinen Getreidevorräthe auf eben so lange Zeit
(18 Mill. Medimnen oder preuſs. Scheffel) und Waffen für ein
dreifach so starkes Heer als das gegenwärtige war. In der
That war Makedonien ein ganz anderer Staat geworden als
da es durch den Ausbruch des zweiten Krieges mit Rom über-
rascht ward; die Macht des Reiches war in allen Beziehungen
mindestens verdoppelt und mit einer in jeder Hinsicht weit
geringeren hatte Hannibal es vermocht Rom bis in seine
Grundfesten zu erschüttern. — Nicht so günstig standen die
äuſseren Verhältnisse. Es lag in der Natur der Sache, daſs
Makedonien jetzt die Pläne von Hannibal und von Antiochos
wieder aufnehmen und versuchen muſste sich an die Spitze
einer Coalition aller unterdrückten Staaten gegen Roms Supre-
matie zu stellen; und allerdings gingen die Fäden vom Hofe
zu Pydna nach allen Seiten; indeſs der Erfolg war gering.
Daſs die Treue der Italiker schwanke, ward wohl behauptet;
allein es konnte weder Freund noch Feind entgehen, daſs
[577]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
zunächst eine Wiederaufnahme der Samnitenkriege nicht gerade
wahrscheinlich sei. Die nächtlichen Conferenzen makedoni-
scher Abgeordneten mit dem karthagischen Senat, die Massi-
nissa in Rom denuncirte, konnten gleichfalls ernsthafte und
einsichtige Männer nicht erschrecken, selbst wenn sie nicht,
wie es sehr möglich ist, völlig erfunden waren. Die Könige
von Syrien und Bithynien suchte der makedonische Hof durch
Zwischenheirathen in das makedonische Interesse zu ziehen;
allein es kam dabei weiter nichts heraus, als daſs die un-
sterbliche Naivetät der Diplomatie die Länder mit Liebschaften
erobern zu wollen sich einmal mehr prostituirte. Den König
Eumenes, den gewinnen zu wollen lächerlich gewesen wäre,
hätten Perseus Agenten gern beseitigt; er sollte auf der
Rückkehr von Rom, wo er gegen Makedonien gewirkt hatte,
bei Delphoi ermordet werden, allein der saubere Plan miſs-
lang. — Von gröſserer Bedeutung waren die Bestrebungen die
nördlichen Barbaren und die Hellenen gegen Rom aufzuwie-
geln. Philippos hatte den Plan entworfen, die alten Feinde
Makedoniens, die Dardaner in dem heutigen Serbien, zu er-
drücken durch einen anderen vom linken Ufer der Donau her-
beigezogenen noch wilderen Schwarm germanischer Abstam-
mung, den der Bastarner, sodann mit diesen und der ganzen
von ihnen in Bewegung gesetzten Völkerlawine selbst nach
Italien auf dem Landweg zu ziehen und in die Lombardei
einzufallen, wohin er die Alpenpässe bereits erkunden lieſs —
ein groſsartiger Hannibals würdiger Entwurf, welchen auch
ohne Zweifel Hannibals Alpenübergang unmittelbar angeregt
hat. Es ist mehr als wahrscheinlich, daſs hiemit die Grün-
dung der römischen Festung Aquileia zusammenhängt, die
eben in Philippos letzte Zeit fällt (573) und nicht paſst zu dem
sonst von den Römern in ihren italischen Festungsanlagen
befolgten System. Der Plan scheiterte indeſs an dem verzwei-
felten Widerstand der Dardaner und der mitbetroffenen nächst-
wohnenden Völkerschaften; die Bastarner muſsten wieder ab-
ziehen und der ganze Haufen ertrank auf der Heimkehr unter
dem einbrechenden Eise der Donau. Der König suchte nun
wenigstens unter den Häuptlingen des illyrischen Landes, des
heutigen Dalmatiens und des nördlichen Albaniens, seine Clien-
tel auszubreiten; nicht ohne Perseus Vorwissen kam einer
derselben, der treulich zu Rom hielt, Arthetauros durch Mör-
derhand um, und der bedeutendste von allen, Genthios, der
Sohn und Erbe des Pleuratos, stand zwar dem Namen nach
Röm. Gesch. I. 37
[578]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
gleich seinem Vater in Bündniſs mit Rom, allein die Boten
von Issa, einer griechischen Stadt auf einer der dalmatini-
schen Inseln, berichteten dem Senat, daſs König Perseus mit
dem jungen schwachen trunkfälligen Menschen in heimlichem
Einverständniſs stehe und Genthios Gesandte in Rom dem
Perseus als Spione dienten. — In den östlichen Landschaften
zwischen der unteren Donau und der makedonischen Grenze
stand der mächtigste unter den thrakischen Häuptlingen, der
Fürst der ehemals in diesem ganzen Gebiet herrschenden,
jetzt vornämlich an der obern Maritza ansässigen Odrysen,
der kluge und tapfere Kotys mit Perseus im engsten
Bündniſs; von den andern kleineren Häuptlingen, die es hier
mit Rom hielten, ward einer, der Fürst der Sagaeer Abrupo-
lis, in Folge eines gegen Amphipolis am Strymon gerichte-
ten Raubzugs von Perseus geschlagen und aus dem Lande
getrieben. Von hieher hatte Philipp zahlreiche Kolonisten
gezogen und standen Söldner zu jeder Zeit in beliebiger Zahl
zu Gebot. — Unter der unglücklichen hellenischen Nation
ward von Philippos und Perseus lange vor der Kriegserklärung
gegen Rom ein zwiefacher Propagandakrieg lebhaft geführt,
indem man theils die nationale, theils — man gestatte den
Ausdruck — die communistische Partei auf die Seite Make-
doniens zu bringen versuchte. Daſs die ganze nationale Partei
unter den asiatischen wie unter den europäischen Griechen
jetzt im Herzen makedonisch gesinnt war, versteht sich von
selbst; nicht wegen einzelner Ungerechtigkeiten der römischen
Befreier, sondern weil die Herstellung der hellenischen Natio-
nalität durch eine fremde den Widerspruch in sich selbst
trug, und jetzt, wo es freilich zu spät war, jeder es begriff,
daſs die abscheulichste makedonische Regierung minder ver-
nichtend für Griechenland war als die aus den edelsten Ab-
sichten ehrenhafter Ausländer hervorgegangene freie Verfas-
sung. Daſs die tüchtigsten und rechtschaffensten Leute in
ganz Griechenland diese Partei ergriffen, war in der Ordnung;
römisch gesinnt war nur die feile Aristokratie und hie und
da ein einzelner ehrlicher Mann, der ausnahmsweise sich über
den Zustand und die Zukunft der Nation nicht täuschte.
Am schmerzlichsten empfand dies Eumenes von Pergamon,
der der Träger jener fremdländischen Freiheit unter den
Griechen war. Vergeblich behandelte er die ihm unterwor-
fenen Städte mit Rücksichten aller Art; vergeblich buhlte er
um die Gunst der Gemeinden und der Tagsatzungen mit wohl-
[579]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
klingenden Worten und noch besser klingendem Golde — er
muſste vernehmen, daſs man seine Geschenke zurückgewiesen,
ja daſs im ganzen Peloponnes eines schönen Tages man nach
Tagsatzungsbeschluſs alle früher ihm errichteten Statuen zer-
schlagen und die Ehrentafeln eingeschmolzen habe (584),
während Perseus Name auf allen Lippen war, während selbst
die ehemals am entschiedensten antimakedonisch gesinnten
Staaten, wie die Achaeer, über die Aufhebung der gegen Ma-
kedonien gerichteten Gesetze beriethen; während Byzantion,
obwohl mitten im pergamenischen Reich gelegen, nicht von
Eumenes, sondern von Perseus Schutz und Besatzung gegen die
Thraker erbat und empfing, und ebenso Lampsakos am Hel,
lespont sich dem Makedonier anschloſs; während die mächtigen
und besonnenen Rhodier dem König Perseus seine syrische Braut-
da die syrischen Kriegsschiffe im aegaeischen Meer sich nicht zei-
gen durften, mit ihrer ganzen prächtigen Kriegsflotte von Antiochia
her zuführten und hochgeehrt und reich beschenkt, namentlich
mit Holz zum Schiffbau, wieder heimkehrten; während Beauf-
tragte der asiatischen Städte, also der Unterthanen des Eu-
menes, in Samothrake mit makedonischen Abgeordneten ge-
heime Conferenzen hielten. Jene Sendung der rhodischen
Kriegsflotte schien wenigstens eine Demonstration; und sicher
war es eine, daſs der König Perseus unter dem Vorwand
einer gottesdienstlichen Handlung bei Delphoi den Hellenen
sich und seine ganze Armee zur Schau stellte. Daſs der
König bei dem bevorstehenden Kriege sich auf diese nationale
Propaganda zu stützen gedachte, lag in den Verhältnissen.
Arg aber war es, daſs er die fürchterliche ökonomische Zer-
rüttung Griechenlands benutzte, um alle diejenigen, die eine
Umwälzung der Eigenthums- und Schuldverhältnisse wünsch-
ten, an Makedonien zu ketten. Von der beispiellosen Ueber-
schuldung der Gemeinden wie der Einzelnen im europäischen
Griechenland mit Ausnahme des in dieser Hinsicht etwas
besser geordneten Peloponnes ist es schwer sich einen hin-
reichenden Begriff zu machen; es kam vor, daſs eine Stadt
die andere überfiel und ausplünderte bloſs um Geld zu ma-
chen, so zum Beispiel die Athener Oropos, und bei den Aeto-
lern, den Perrhaebern, den Thessalern lieferten die Besitzen-
den und die Nichtbesitzenden sich förmliche Schlachten. Die
ärgsten Gräuelthaten verstehen sich bei solchen Zuständen
von selbst; so wurde bei den Aetolern eine allgemeine
Versöhnung verkündet und ein neuer Landfriede gemacht
37*
[580]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
einzig zu dem Zweck eine Anzahl von Emigrirten ins Garn
zu locken und zu ermorden. Die Römer versuchten zu ver-
mitteln; aber ihre Gesandten kehrten unverrichteter Sache
zurück und meldeten, daſs beide Parteien gleich schlecht und
die Erbitterung nicht zu bezähmen sei. Hier half in der That
nichts andres mehr als der Offizier und der Scharfrichter;
der sentimentale Hellenismus fing an ebenso verderblich zu wer-
den wie er von Anfang an lächerlich war. König Perseus aber
bemächtigte sich dieser Partei, wenn sie den Namen verdient,
der Leute die nichts, am wenigsten einen ehrlichen Namen
zu verlieren hatten, und erlieſs nicht bloſs Verfügungen zu
Gunsten der makedonischen Bankerottirer, sondern lieſs auch
in Larissa, Delphoi und Delos Aufforderungen anschlagen an
sämmtliche wegen politischer oder anderer Verbrechen oder
ihrer Schulden wegen landflüchtig gewordene Griechen, nach
Makedonien zu kommen und volle Einsetzung in ihre ehe-
maligen Ehren und Güter zu gewärtigen. Daſs sie kamen,
kann man sich denken; ebenso daſs in ganz Nordgriechen-
land die glimmende sociale Revolution nun in offene Flammen
ausschlug und die national-sociale Partei daselbst um Hülfe sandte
zu Perseus. Wenn aber mit solchen Mitteln die hellenische
Nationalität gerettet werden sollte, so durfte bei aller Achtung
vor Sophokles und Pheidias man sich die Frage erlauben, ob
das Ziel des Preises werth sei.


Der Senat begriff, daſs er schon zu lange gezögert habe
und daſs es Zeit sei dem Treiben ein Ende zu machen. Die
Vertreibung des thrakischen Häuptlings Abrupolis, der mit den
Römern in Bündniſs stand, die Bündnisse Makedoniens mit den
Byzantiern, Aetolern und einem Theil der boeotischen Städte
waren ebenso viel Verletzungen des Friedens von 557 und
genügten für das officielle Kriegsmanifest; der wahre Grund des
Krieges war, daſs die formelle Souveränetät Makedoniens im Be-
griff stand sich in eine reelle zu verwandeln und Rom aus dem
Patronat über die Hellenen zu verdrängen. Schon 581 spra-
chen die römischen Gesandten auf der achaeischen Tagsatzung
es ziemlich unumwunden aus, daſs ein Bündniſs mit Perseus
gleichbedeutend sei mit dem Abfall von dem römischen. 582
kam König Eumenes persönlich nach Rom mit einem langen
Beschwerdenregister und deckte die ganze Lage der Dinge
im Senat auf, worauf dieser wider Erwarten in geheimer
Sitzung sofort die Kriegserklärung beschloſs und die Lan-
dungsplätze in Epeiros mit Besatzungen versah. Der Form
[581]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
wegen ging noch eine Gesandtschaft nach Makedonien, deren
Botschaft aber der Art war, daſs Perseus, erkennend, daſs er
nicht zurück könne, die Antwort gab, er sei bereit ein neues
wirklich gleiches Bündniſs mit Rom zu schlieſsen, allein den
Vertrag von 557 sehe er als aufgehoben an, und die Gesand-
ten anwies binnen drei Tagen das Reich zu verlassen. Damit
war der Krieg thatsächlich erklärt. Es war im Herbst 582;
wenn Perseus wollte, konnte er ganz Griechenland besetzen
und die makedonische Partei überall ans Regiment bringen,
ja vielleicht die bei Apollonia stehende römische Division von
5000 Mann unter Gnaeus Sicinius erdrücken und den Römern
die Landung streitig machen. Allein der König, dem schon
vor dem Ernst der Dinge zu grauen begann, lieſs sich mit
seinem Gastfreund, dem Consular Quintus Marcius Philippus
in Verhandlungen ein über die Frivolität der römischen Kriegs-
erklärung, welche dieser benutzte um den König zu bestim-
men den Angriff zu verschieben und noch einmal einen Frie-
densversuch in Rom zu machen, den, wie begreiflich, der Senat
nur beantwortete mit der Ausweisung sämmtlicher Makedonier
aus Italien und der Einschiffung der Legionen. Zwar tadelten
die Senatoren der älteren Schule die ‚neue Weisheit‘ ihres
Collegen und die unrömische List; allein der Zweck war er-
reicht und der Winter verfloſs, ohne daſs Perseus sich rührte.
Desto eifriger nutzten die römischen Diplomaten die Zwischen-
zeit um Perseus eines jeden Anhaltes in Griechenland zu
berauben. Der Achaeer war man sicher. Nicht einmal die
Patriotenpartei daselbst, die weder mit jenen socialen Be-
wegungen einverstanden war noch überhaupt sich weiter ver-
stieg als zu der Sehnsucht nach einer weisen Neutralität,
dachte daran sich Perseus in die Arme zu werfen; und über-
dies war dort jetzt durch römischen Einfluſs die Gegenpartei
ans Ruder gekommen, die unbedingt sich an Rom anschloſs.
Ebenso hatte zwar der aetolische Bund in seinen inneren
Unruhen von Perseus Hülfe erbeten; aber der unter den
Augen des römischen Gesandten gewählte neue Strateg Lykis-
kos war römischer gesinnt als die Römer selbst. Auch bei
den Thessalern behielt die römische Partei die Oberhand.
Sogar die von Alters her makedonisch gesinnten und ökono-
misch aufs tiefste zerrütteten Boeoter hatten sich in ihrer Ge-
sammtheit nicht offen für Perseus erklärt; nur zwei einzelne
Städte Haliartos und Koroneia hatten Sonderbündnisse mit ihm
abgeschlossen. Da auf die Beschwerden des römischen Ge-
[582]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
sandten die Boeoter ihm den Stand der Dinge mittheilten, erklärte
jener, daſs sich am besten zeigen werde, welche Stadt es mit
Rom halte und welche nicht, wenn jede sich einzeln ihm
gegenüber ausspreche; und darauf hin lief die boeotische Eid-
genossenschaft geradezu aus einander um nie sich wieder zu
vereinigen! Es ist nicht wahr, daſs Epaminondas groſser Bau
von den Römern zerstört worden ist; er fiel thatsächlich zu-
sammen, ehe sie daran rührten, und ward also freilich das
Vorspiel für die Auflösung der übrigen noch fester geschlossenen
griechischen Städtebünde*. Mit der Mannschaft der römisch
gesinnten boeotischen Städte belagerte der römische Gesandte
Publius Lentulus Haliartos, noch ehe die römische Flotte im
aegaeischen Meer erschien. — Chalkis ward mit achaeischer,
die orestische Landschaft mit epeirotischer Mannschaft, die
dassaretischen und illyrischen Castelle an der makedonischen
Westgrenze von den Truppen des Gnaeus Sicinius besetzt und
so wie die Schifffahrt wieder begann, erhielt Larissa eine Be-
satzung von 2000 Mann. Perseus sah dem allen unthätig
zu und hatte keinen Fuſsbreit Landes auſserhalb seines eige-
nen Gebietes besetzt, als die römischen Legionen im Frühling
oder nach dem officiellen Kalender im Juni 583 an der West-
küste landeten. Es ist zweifelhaft, ob Perseus namhafte Bun-
desgenossen gefunden haben würde, auch wenn er so viel
Energie gezeigt hätte, als er Schlaffheit bewies; daſs unter
diesen Umständen er völlig allein blieb und jene weitläuftigen
Propagandaversuche vorläufig wenigstens zu gar nichts führten,
ist in der Ordnung. Karthago, Genthios von Illyrien, Rhodos
und die kleinasiatischen Freistädte, selbst das mit Perseus bis-
her so eng befreundete Byzanz boten den Römern Kriegsschiffe
an, welche diese indeſs ablehnten; Eumenes machte sein Land-
heer und seine Schiffe mobil; König Ariarathes von Kappadokien
schickte unverlangt Geiſseln nach Rom; Perseus Schwager, Kö-
nig Prusias II. von Bithynien blieb neutral; in ganz Griechen-
land rührte sich niemand; König Antiochos IV. von Syrien, im
Curialstil ‚der Gott, der glänzende Siegbringer‘ genannt zur
Unterscheidung von seinem Vater, dem ‚Groſsen‘, rührte sich
zwar, aber nur um dem ganz ohnmächtigen Aegypten während
dieses Krieges das syrische Küstenland zu entreiſsen.


[583]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.

Indeſs wenn Perseus auch fast allein stand, so war er doch
ein nicht verächtlicher Gegner. Sein Heer zählte 43000 Mann,
darunter 21000 Phalangiten und 4000 makedonische und
thrakische Reiter, der Rest gröſstentheils Söldner. Die Ge-
sammtmacht der Römer in Griechenland betrug zwischen 30
und 40000 Mann italische Truppen, auſserdem über 10000
Mann numidischen, ligurischen, griechischen, kretischen und
besonders pergamenischen Zuzugs. Dazu kam die Flotte, die
nur 40 Deckschiffe zählte, da ihr keine feindliche gegenüberstand
— Perseus, dem der Vertrag mit Rom Kriegsschiffe zu bauen ver-
boten hatte, richtete erst jetzt Werften ein in Thessalonike —
die aber bis 10000 Mann Truppen führte, da sie hauptsächlich
zu Belagerungen bestimmt war. Die Flotte führte Gaius Lu-
cretius, das Landheer der Consul Publius Licinius Crassus.
Derselbe lieſs eine starke Abtheilung in Illyrien, um von We-
sten aus Makedonien su beunruhigen, während er mit der
Hauptmacht wie gewöhnlich von Apollonia nach Thessalien
aufbrach. Perseus dachte nicht daran den schwierigen Marsch
zu beunruhigen, sondern begnügte sich in Perrhaebien einzu-
rücken und die nächsten Festungen zu besetzen. Am Ossa
erwartete er den Feind und unweit Larissa erfolgte das erste
Gefecht zwischen den beiderseitigen Reitern und leichten
Truppen. Die Römer wurden entschieden geschlagen. Kotys
mit der thrakischen Reiterei hatte die italische, Perseus mit
der makedonischen die griechische geworfen und zersprengt;
die Römer hatten 2000 Mann zu Fuſs, 200 Reiter an Todten,
600 Reiter an Gefangenen verloren und muſsten sich glück-
lich schätzen unbehindert den Peneios überschreiten zu kön-
nen. Perseus benutzte den Sieg um den Frieden zu erbitten
auf dieselben Bedingungen, die Philippos erhalten hatte; sogar
dieselbe Summe zu zahlen war er bereit. Die Römer schlu-
gen die Forderung ab; sie schlossen nie Frieden nach einer
Niederlage und hier hätte derselbe allerdings folgeweise
den Verlust Griechenlands nach sich gezogen. Indeſs anzu-
greifen verstand der elende römische Feldherr auch nicht;
man zog hin und her in Thessalien, ohne daſs etwas von
Bedeutung geschah. Perseus konnte die Offensive ergreifen;
er sah die Römer schlecht geführt und zaudernd; wie ein
Lauffeuer war die Nachricht durch Griechenland gegangen,
daſs das griechische Heer im ersten Treffen glänzend gesiegt
habe — ein zweiter Sieg konnte zur allgemeinen Insurrection
der Patriotenpartei führen und durch die Eröffnung eines Gue-
[584]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
rillakrieges unberechenbare Erfolge bewirken. Allein Perseus
war ein guter Soldat, aber kein Feldherr wie sein Vater; er
hatte sich auf einen Vertheidigungskrieg gefaſst gemacht, und
wie die Dinge anders gingen, fand er sich wie gelähmt. Einen
unbedeutenden Erfolg, den die Römer in einem zweiten Rei-
tergefecht bei Phalanna davon trugen, nahm er zum Vorwand,
um nun doch, wie es beschränkten und eigensinnigen Naturen
eigen ist, zu dem ersten Plan zurückzukehren und Thessalien
zu räumen. Das hieſs natürlich so viel, als auf jeden Gedan-
ken einer hellenischen Insurrection verzichten; was sonst hätte
geschehen können, zeigt der dennoch erfolgte Parteiwechsel der
Epeiroten. Von beiden Seiten geschah seitdem nichts Ernst-
liches mehr; Perseus überwand den König Genthios, züchtigte
die Dardaner und lieſs durch Kotys die römisch gesinnten
Thraker und die pergamenischen Truppen aus Thrakien hin-
ausschlagen. Dagegen nahm die römische Westarmee einige
illyrische Städte und der Consul beschäftigte sich damit Thes-
salien von den makedonischen Besatzungen zu reinigen und
sich der unruhigen Aetoler und Akarnanen durch Besetzung
von Ambrakia zu versichern. Am schwersten aber empfanden
den römischen Heldenmuth die beiden unglücklichen boeoti-
schen Städte, die mit Perseus hielten; Haliartos ward von dem
römischen Admiral Gaius Lucretius erstürmt und die Einwoh-
nerschaft in die Sclaverei verkauft, Koroneia von dem Consul
Crassus gar trotz der Capitulation ebenso behandelt. Noch
nie hatte ein römisches Heer so schlechte Mannszucht gehal-
ten wie unter diesen Befehlshabern. Das Heer ward so zer-
rüttet, daſs auch im nächsten Feldzug 584 der neue Consul
Aulus Hostilius an ernstliche Unternehmungen nicht denken
konnte, zumal da der neue Admiral Lucius Hortensius sich
ebenso unfähig und niederträchtig erwies wie sein Vorgänger.
Die Flotte lief ohne allen Erfolg an den thrakischen Küsten-
plätzen an. Die Westarmee unter Appius Claudius, dessen
Hauptquartier in Lychnidos im dassaretischen Gebiet war, er-
litt eine Schlappe über die andere; nachdem eine Expedition
nach Makedonien hinein völlig verunglückt war, griff der Kö-
nig mit den an der Südgrenze durch den tiefen alle Pässe
sperrenden Schnee disponibel gewordenen Truppen ihn seiner-
seits an, nahm ihm zahlreiche Ortschaften und eine Menge Ge-
fangene ab und knüpfte Verbindungen mit dem König Genthios
an; ja er konnte einen Versuch machen in Aetolien einzufallen,
während Appius sich in Epeiros von der Besatzung einer
[585]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
Festung, die er vergeblich belagert hatte, noch einmal schlagen
lieſs. Die römische Hauptarmee machte ein paar Versuche erst
über die kambunischen Berge, dann durch die thessalischen
Pässe in Makedonien einzudringen, aber sie wurden schlaff
angestellt und beide von Perseus zurückgewiesen. Hauptsäch-
lich war der Consul bemüht das Heer einigermaſsen zu reor-
ganisiren, was freilich auch vor allen Dingen nöthig war, aber
einen strengeren Mann und einen namhafteren Offizier erfor-
derte. Abschied und Urlaub waren käuflich geworden, die
Abtheilungen daher niemals vollzählig; die Mannschaft ward
im Sommer einquartiert und wie die Offiziere im groſsen Stil,
stahlen die Gemeinen im kleinen; die befreundeten Völker-
schaften wurden in schmählichster Weise beargwohnt — so
wälzte man die Schuld der schimpflichen Niederlage bei La-
rissa auf die angebliche Verrätherei der aetolischen Reiterei
und sandte unerhörter Weise deren Offiziere zur Criminal-
untersuchung nach Rom; so drängte man die Molotter in
Epeiros durch falschen Argwohn zum wirklichen Abfall; die
verbündeten Städte wurden, als wären sie erobert, mit Kriegs-
contributionen belegt und wenn sie auf den römischen Senat
provocirten, die Bürger hingerichtet oder zu Sclaven verkauft
— so in Abdera und ähnlich in Chalkis. Der Senat schritt
sehr ernstlich ein: er befahl die Befreiung der unglücklichen
Koroneer und Abderiten und verbot den römischen Beamten
ohne Erlaubniſs des Senats Leistungen von den Bundesge-
nossen zu verlangen. Gaius Lucretius ward von der Bürger-
schaft einstimmig verurtheilt. Allein das konnte nicht ändern,
daſs das Ergebniſs dieser beiden ersten Feldzüge militärisch
null, politisch ein Schandfleck für die Römer war, deren un-
gemeine Erfolge im Osten nicht zum wenigsten darauf beruh-
ten, daſs sie der hellenischen Sündenwirthschaft gegenüber
sittlich rein und tüchtig auftraten. Hätte an Perseus Stelle Phi-
lippos commandirt, so würde dieser Krieg vermuthlich mit der
Vernichtung des römischen Heeres und dem Abfall der mei-
sten Hellenen begonnen haben; allein Rom war so glücklich
in den Fehlern stets von seinem Gegner überboten zu werden.
Perseus begnügte sich in Makedonien, das nach Süden und
Westen eine wahre Bergfestung ist, gleich wie in einer be-
lagerten Stadt sich zu verschanzen.


Auch der dritte Oberfeldherr, den Rom 585 nach Make-
donien sandte, Quintus Marcius Philippus, jener schon erwähnte
ehrliche Gastfreund des Königs, war seiner keineswegs leich-
[586]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
ten Aufgabe durchaus nicht gewachsen. Er war ehrgeizig und
unternehmend, aber ein schlechter Offizier. Sein Wagstück
durch den Paſs Lapathus westlich von Tempe den Uebergang
über den Olympos in der Art zu versuchen, daſs er gegen
die Besatzung des Passes eine Abtheilung zurücklieſs und mit
der Hauptmacht durch unwegsame Abhänge nach Herakleion
zu den Weg sich bahnte, wird dadurch nicht entschuldigt,
daſs es gelang. Nicht bloſs konnte eine Handvoll entschlosse-
ner Leute ihm den Weg verlegen, wo dann an keinen Rück-
zug zu denken war, sondern noch nach dem Uebergang, wie
er stand mit der makedonischen Hauptmacht vor sich, hinter
sich die stark befestigten Bergfestungen Tempe und Lapathus,
eingekeilt in eine schmale Strandebene und ohne Zufuhr wie
ohne die Möglichkeit zu fouragiren, war seine Lage nicht
minder verzweifelt, als da er in seinem ersten Consulat in den
ligurischen Engpässen, die seitdem seinen Namen behielten,
sich gleichfalls hatte umzingeln lassen und militärisch verloren
war. Allein wie damals ihn ein Zufall rettete, so jetzt Per-
seus Unfähigkeit. Als ob er den Gedanken nicht fassen könne
gegen die Römer anders als durch Sperrung der Pässe sich
zu vertheidigen, gab er sich seltsamer Weise verloren, so wie er
die Römer diesseit derselben erblickte, flüchtete eiligst nach
Pydna und befahl seine Schiffe zu verbrennen und seine
Schätze zu versenken. Obwohl somit die makedonische Ar-
mee sich freiwillig zurückzog, war dennoch der Mangel im
Lager des Consuls so groſs, daſs er im Vorrücken wesentlich
gehindert ward. Hätte nicht zur rechten Zeit das unüber-
windliche Tempe capitulirt und seine reichen Vorräthe dem
Feinde überliefert, so wäre er in die schlimmste Lage gera-
then; denn der König kam zur Besinnung und eilte, schleunigst
Gegenbefehle ertheilend, in die verlassene Position wieder ein-
zurücken. Da Quintus Marcius, der schon vier Tagemärsche
vorwärts gegangen war, wegen Mangels an Lebensmitteln wieder
hatte umkehren müssen, fand der König dieselbe unbesetzt und
verbarricadirte sich an dem Ufer des kleinen Flusses Enipeus. So
in den äuſsersten Winkel Thessaliens eingeklemmt verblieb
das römische Heer den Rest des Sommers und den Winter in
seiner Stellung. Hier verdankte man also den Erfolg, den
ersten wesentlichen in diesem Kriege, nicht dem römischen
Feldherrn, sondern dem feindlichen. Die römische Flotte ver-
suchte vergebens Demetrias zu nehmen und richtete über-
haupt gar nichts aus. Perseus leichte Schiffe streiften kühn
[587]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
zwischen den Kykladen, beschützten die nach Makedonien
bestimmten Kornschiffe und griffen die feindlichen Transporte
auf. Bei der Westarmee stand es noch weniger gut; Appius
Claudius konnte mit seiner geschwächten Abtheilung nichts
ausrichten und der von ihm begehrte Zuzug aus Achaia ward
durch die Eifersucht des Consuls vereitelt. Dazu kam, daſs
Genthios sich von Perseus durch das Versprechen einer gro-
ſsen Geldsumme hatte erkaufen lassen mit Rom zu brechen
und die römischen Gesandten einkerkern lieſs; worauf der
sparsame König es überflüssig fand die Gelder zu zahlen, da
Genthios nun ohnehin gezwungen war statt seiner zweideutigen
eine entschieden feindliche Stellung gegen Rom einzunehmen.
So hatte man also einen kleinen Krieg mehr neben dem
groſsen, der nun schon drei Jahre sich hinzog. Ja hätte Perseus
sich von seinem Golde zu trennen vermocht, er hätte einen
dritten Krieg entzünden können. Ein Keltenschwarm unter
Clondicus, 20000 Mann halb zu Pferd, halb zu Fuſs, bot in
Makedonien selbst sich an bei ihm Dienste zu nehmen; allein
man konnte sich nicht einigen über den Sold. Auch in Hellas
gährte es so, daſs ein Guerillakrieg sich mit einiger Geschicklich-
keit und einer vollen Kasse leicht hätte entzünden lassen; allein
da Perseus nicht Lust hatte zu geben und die Griechen nichts
umsonst thaten, blieb das Land ruhig.


Endlich entschloſs man sich in Rom den rechten Mann
nach Griechenland zu senden. Es war Lucius Aemilius Paul-
lus, der Sohn des gleichnamigen Consuls, der bei Cannae
fiel; ein Mann von altem Adel, aber geringem Vermögen und
deſshalb auf dem Wahlplatz nicht so glücklich wie auf dem
Schlachtfeld, wo er in Spanien und mehr noch in Ligurien
sich ungewöhnlich hervorgethan. Jetzt wählte das Volk ihn
zum zweitenmal zum Consul für das Jahr 586 seiner Ver-
dienste wegen, was damals schon eine seltene Ausnahme
war. Er war in jeder Beziehung der Rechte: ein vorzüg-
licher Feldherr von der alten Schule, streng gegen sich und
seine Leute und trotz seiner sechzig Jahre noch frisch und
kräftig, ein unbestechlicher Beamter — ‚einer der wenigen
Römer jener Zeit, denen man kein Geld bieten konnte‘, sagt
ein Zeitgenosse von ihm — und ein Mann von hellenischer
Bildung, der den Waffenstillstand benutzte Griechenland der
Kunstwerke wegen zu bereisen und vor dem olympischen Zeus
stehend es aussprach, daſs nur Pheidias es verstanden habe das
homerische Ideal darzustellen. — Nachdem der neue Consul
[588]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
im Lager bei Herakleion eingetroffen war, säumte die Entschei-
dung nicht lange. Während Vorpostengefechte im Fluſsbett
des Enipeus die Makedonier beschäftigten, lieſs er durch
Publius Nasica den schlecht bewachten Paſs bei Pythion über-
rumpeln; der Feind war also umgangen und muſste nach
Pydna zurückweichen. Am römischen 4. September 586 oder
am 22. Juni des julianischen Kalenders — eine Sonnenfinster-
niſs, die ein kundiger römischer Offizier dem Heer voraus-
sagte, damit kein böses Anzeichen darin gefunden werde,
gestattet hier die genaue Zeitbestimmung — wurden beim
Tränken der Rosse nach Mittag zufällig die Vorposten hand-
gemein, und beide Theile entschlossen sich die eigentlich
erst auf den nächsten Tag angesetzte Schlacht sofort zu
liefern. Ohne Helm und Panzer durch die Reihen schreitend
ordnete der greise Feldherr der Römer selber seine Leute. Kaum
standen sie, so stürmte die furchtbare Phalanx auf sie ein; der
Feldherr selber, der doch manchen harten Kampf gesehen
hatte, gestand später ein, daſs er gezittert habe. Die römi-
sche Vorhut zerstob, eine paelignische Cohorte ward nieder-
gerannt und fast vernichtet, die Legionen selbst wichen eilig
zurück bis sie einen Hügel erreicht hatten, bis hart an das
römische Lager. Hier wandte sich das Glück. Das unebene
Terrain und die eilige Verfolgung lösten die Glieder der Pha-
lanx; in einzelnen Cohorten drangen die Römer in jede Lücke
ein, griffen von der Seite und von hinten an, und da die
makedonische Reiterei, die allein noch hätte Hülfe bringen
können, ruhig zusah und bald sich in Massen davon machte,
mit ihr unter den Ersten der König, so war in weniger als
einer Stunde das Geschick Makedoniens entschieden. Die
3000 erlesenen Phalangiten lieſsen sich niederhauen bis auf
den letzten Mann; es war, als wolle hier die Phalanx selbst
untergehen, die bei Pydna ihre letzte groſse Schlacht schlug.
Die Niederlage war furchtbar; 20000 Makedonier lagen auf dem
Schlachtfeld, 11000 wurden gefangen. Der Krieg war zu
Ende, am funfzehnten Tage nachdem Paullus den Oberbefehl
übernommen hatte; ganz Makedonien unterwarf sich in zwei
Tagen. Der König flüchte mit seinem Golde — noch hatte
er über 6000 Talente (9 Mill. Thlr.) in seiner Kasse — nach
Samothrake, begleitet von wenigen Getreuen. Allein da er
selbst von diesen noch einen ermordete, den Euandros von
Kreta, der als Anstifter des gegen Eumenes versuchten Mordes
zur Rechenschaft gezogen werden sollte, verlieſsen ihn auch
[589]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
die königlichen Pagen und die letzten Gefährten. Einen Augen-
blick hoffte er, daſs das Asyl recht ihn schützen werde; allein
selbst er begriff, daſs er sich an einen Strohhalm halte. Ein
Versuch zu Kotys zu flüchten miſslang. So schrieb er an den
Consul; allein der Brief ward nicht angenommen, da er sich
darin König genannt hatte. Er erkannte sein Schicksal und
lieferte auf Gnade und Ungnade den Römern sich aus mit
seinen Kindern und seinen Schätzen, kleinmüthig und wei-
nend, den Siegern selbst zum Ekel. Mit ernster Freude und
mehr der Wandelbarkeit der Geschicke als dem gegenwärtigen
Erfolg nachsinnend empfing der Consul den vornehmsten
Gefangenen, den je ein römischer Feldherr heimgebracht hat.
Perseus starb wenige Jahre darauf als Staatsgefangener in
Alba am Fucinersee*; sein Sohn lebte in späteren Jahren in
derselben italischen Landstadt als Schreiber. — So ging
das Reich Alexanders des Groſsen, das den Osten bezwungen
und hellenisirt hatte, 144 Jahre nach seinem Tode zu Grunde.
— Damit aber zu dem Trauerspiel die Posse nicht fehle,
ward gleichzeitig auch der Krieg gegen den ‚König‘ Genthios
von Illyrien von dem Prätor Lucius Anicius binnen dreiſsig
Tagen begonnen und beendet, die Piratenflotte genommen,
die Hauptstadt Skodra erobert, und die beiden Könige, der
Erbe des groſsen Alexander und der des Pleuratos, zogen
neben einander gefangen in Rom ein.


Es war im Senat beschlossen worden, daſs die Gefahr
nicht wiederkehren dürfe, die Flamininus unzeitige Milde über
Rom gebracht hatte. Makedonien ward vernichtet. Auf der
Conferenz zu Amphipolis am Strymon verfügte die römische
Commission die Auflösung der Monarchie, die mehr als irgend
ein andrer griechischer Staat durch enge Nationalität zusammen-
geschlossen war, in vier Eidgenossenschaften, die von Amphi-
polis in den östlichen Landschaften, die von Thessalonike mit
der chalkidischen Halbinsel, die von Pella an der thessalischen
Grenze und die von Pelagonia im Binnenland. Die Verfassung
der Eidgenossenschaften legte alle Macht in die Hände der
Vornehmen. Dem Volke blieb die Wahl der Regierungsmit-
glieder und sein Landrecht; Zwischenheirathen indeſs unter
den Bürgern der vier Eidgenossenschaften waren ungültig
[590]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
und keiner durfte in mehr als einer derselben ansässig sein.
Alle königlichen Beamten so wie deren erwachsene Söhne
muſsten das Land verlassen und sich nach Italien begeben,
bei Todesstrafe — man fürchtete noch immer, und mit Recht,
die Zuckungen der alten Loyalität. Den vier Gemeinwesen
wurden die königlichen Domänen und die Regalien entzogen,
namentlich die Gold- und Silbergruben, ein Hauptreichthum
des Landes, deren Bearbeitung untersagt ward; doch ward
wenigstens die Ausbeutung der Silbergruben schon 596 wieder
gestattet.* Von der Grundsteuer, die an die Könige entrichtet
ward, ward die Hälfte erlassen, die andere Hälfte sollte in
Zukunft nach Rom bezahlt werden; sie betrug jährlich 100
Talente (150000 Thlr.).** Die Einfuhr von Salz, die Ausfuhr
von Schiffbauholz wurden verboten. Das ganze Land ward
für ewige Zeiten entwaffnet, die Festung Demetrias geschleift;
nur an der Nordgrenze sollte eine Postenkette gegen die
Einfälle der Barbaren bestehen bleiben. Von den abgelieferten
Waffen wurden die kupfernen Schilde nach Rom gesandt, der
Rest verbrannt. — Man erreichte seinen Zweck. Das make-
donische Land empörte sich noch einmal, als ein Prinz aus
dem alten Herrscherhause zu den Waffen rief, und ist übri-
gens von jener Zeit bis auf den heutigen Tag ohne Geschichte
geblieben. — Aehnlich ward Illyrien behandelt. Das Reich
des Genthios ward in drei kleine Freistaaten zerschnitten;
auch hier zahlten die Ansässigen die Hälfte der bisherigen
Grundsteuer an ihre neuen Herren, mit Ausnahme der Städte,
die es mit den Römern gehalten hatten — eine Ausnahme,
die zu machen Makedonien keine Veranlassung bot. Die
illyrische Piratenflotte ward confiscirt und den wichtigeren
griechischen Gemeinden an dieser Küste geschenkt; man
durfte hoffen, hiemit die ewigen Quälereien, welche die Illy-
rier ihren Nachbaren namentlich durch ihre Corsaren zufügten,
[591]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
gründlich abgestellt zu haben. — Kotys in Thrakien, der
schwer zu erreichen und gelegentlich gegen Eumenes zu
brauchen war, erhielt Verzeihung und seinen gefangenen Sohn
zurück. — So waren die nördlichen Verhältnisse geordnet
und nun auch Makedonien endlich von dem Joch der Mo-
narchie erlöst — in der That, Griechenland war freier als
je, ein König nirgends mehr vorhanden.


Aber man beschränkte sich nicht darauf Makedonien zu
demüthigen. Es war im Senat beschlossen die sämmtlichen
hellenischen Staaten, Freund und Feind, ein für allemal un-
schädlich zu machen und sie mit einander in dieselbe de-
müthige Clientel herabzudrücken. Daſs es beschlossen ward,
mag entschuldbar sein; allein die Art, wie man namentlich
gegen die mächtigeren unter den griechischen Clientenstaaten
verfuhr, ist einer Groſsmacht nicht würdig und zeigt, daſs die
Epoche der Fabier und Scipionen zu Ende ist. Am schwer-
sten traf dieser Rollenwechsel denjenigen Staat, der von Rom
geschaffen und groſsgezogen war, um Makedonien im Zaum
zu halten und dessen man jetzt, nach Makedoniens Vernich-
tung, freilich nicht mehr bedurfte, das Reich der Attaliden.
Es schien nicht leicht gegen den klugen und besonnenen
Eumenes einen erträglichen Vorwand zu finden um ihn aus
seiner bevorzugten Stellung zu verdrängen und ihn vorläufig
wenigstens in Ungnade fallen lassen zu können. Auf einmal
kamen um die Zeit, da die Römer im Lager bei Herakleion
standen, seltsame Gerüchte über ihn in Umlauf: er stehe mit
Perseus in heimlichem Verkehr; plötzlich sei seine Flotte wie
weggeweht gewesen; für seine Nichttheilnahme am Feldzug
seien ihm 500, für die Vermittlung des Friedens 1500 Ta-
lente geboten worden, und der Vertrag habe sich nur an
Perseus Geiz zerschlagen. Was die pergamenische Flotte anlangt,
so ging der König mit ihr, als die römische sich ins Winter-
quartier begab, gleichfalls heim, nachdem er dem Consul seine
Aufwartung gemacht hatte. Die Bestechungsgeschichte ist so
sicher ein Mährchen wie nur irgend eine heutige Zeitungsente;
denn daſs der reiche, schlaue und consequente Attalide, der
den Krieg durch seine Reise 582 zunächst veranlaſst hatte
und fast deſswegen von Perseus Banditen ermordet worden
wäre, in dem Augenblick, wo die wesentlichen Schwierigkeiten
eines Krieges überwunden waren, über dessen endlichen Ausgang
überdies nie ernstlich gezweifelt werden konnte, daſs er damals
seinem Mörder seinen Antheil an der Beute um einige Ta-
[592]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
lente verkauft und das Werk langer Jahre an eine solche
Erbärmlichkeit gesetzt haben sollte, ist denn doch nicht bloſs
gelogen, sondern sehr albern gelogen. Daſs kein Beweis
weder in Perseus Papieren noch sonst sich vorfand, ist sicher
genug; denn selbst die Römer wagten nicht jene Verdächti-
gungen laut auszusprechen. Aber sie hatten ihren Zweck.
Was man wollte, zeigt das Benehmen der römischen Groſsen
gegen Attalos, Eumenes Bruder, der die pergamenischen
Hülfstruppen in Griechenland befehligt hatte. Mit offenen
Armen ward der wackre und treue Kamerad in Rom empfan-
gen und aufgefordert nicht für seinen Bruder, sondern für
sich zu bitten — gern werde der Senat ihm ein eigenes
Reich gewähren. Allein die pergamenische Regentenfamilie
lebte unter sich nicht wie es in den fürstlichen Häusern her-
gebracht war; Attalos erbat nichts als Aenos und Maroneia
und erhielt sie, da der Senat meinte, daſs dies nur eine
vorläufige Bitte sei, mit groſser Artigkeit zugestanden. Als er
aber abreiste ohne mehr erbeten zu haben, wurden die Städte
frei erklärt. Nicht einen Fuſsbreit Landes erhielten die Per-
gamener von der makedonischen Beute; hatte man nach An-
tiochos Besiegung Philippos gegenüber noch die Formen ge-
schont, so wollte man jetzt verletzen und demüthigen. Um
diese Zeit scheint Pamphylien, über dessen Besitz Eumenes und
Antiochos bisher gestritten, von Rom unabhängig erklärt zu sein.
Bald nachher erbat Eumenes die römische Vermittlung bei
den Galatern, die sein Reich überschwemmten und ihn in
groſse Gefahr brachten. Der römische Gesandte gestand sie
zu, meinte aber, daſs Attalos, der das pergamenische Heer ge-
gen sie befehligte, besser nicht mitgehe um nicht die Wilden
zu verstimmen, und merkwürdiger Weise richtete er gar nichts
aus, ja er erzählte bei der Rückkehr, daſs seine Vermittlung
die Wilden erst recht erbittert habe. Endlich reiste Eumenes
selbst nach Rom. Der Senat, wie vom bösen Gewissen geplagt,
beschloſs plötzlich, daſs Könige künftig nicht mehr nach Rom
sollten kommen dürfen, und schickte ihm nach Brundisium
einen Quaestor entgegen ihm diesen Senatsbeschluſs vorzu-
legen, ihn zu fragen was er wolle und ihm anzudeuten, daſs
man seine schleunige Abreise gern sehen werde. Der König
schwieg; er begehre, sagte er endlich, weiter nichts und
schiffte sich wieder ein. Er sah, wie es stand: die Epoche
der halbmächtigen und halbfreien Bundesgenossenschaft war
zu Ende; es begann die der ohnmächtigen Unterthänigkeit.


[593]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.

Aehnlich erging es den Rhodiern, deren Einverständniſs
mit Rom schon seit einiger Zeit getrübt war. Ihre Stellung
war ungemein bevorzugt; sie standen mit Rom nicht in
eigentlicher Symmachie, sondern in einem gleichen Freund-
schaftsverhältniſs, das sie nicht hinderte Bündnisse jeder Art
einzugehen und nicht nöthigte den Römern auf Verlangen
Zuzug zu leisten. Daſs in Rom der Wunsch bestand sie zu
demüthigen, hatte sich während des Aufstandes der nach An-
tiochos Ueberwindung ihnen zugetheilten Lykier gezeigt (576).
Die Rhodier hatten sie als abtrünnige Unterthanen behandelt
und in grausamer Weise geknechtet; sie aber behaupteten
rhodische Bundesgenossen zu sein und drangen mit dieser
Behauptung im römischen Senat durch, als derselbe aufge-
fordert ward den zweifelhaften Sinn des Friedensinstruments
festzustellen. Hiebei hatte indeſs ein gerechtfertigtes Mitleid mit
den arg gedrückten Leuten wohl das Meiste gethan; wenigstens
geschah von Rom nichts weiter, als daſs man diesen wie
andern hellenischen Hader gehen lieſs, bis die Hadernden in
irgend einer Art zu Ende kamen. Als der Krieg mit Perseus
ausbrach, sahen ihn die Rhodier zwar wie alle übrigen Grie-
chen ungern und namentlich Eumenes als Anstifter desselben
war übel berufen, so daſs die Rhodier sogar seine Festgesandt-
schaft bei der Heliosfeier abwiesen. Allein dies hinderte sie nicht
fest an Rom zu halten und die makedonische Partei, die es wie
allerorts so auch in Rhodos gab, nicht an das Ruder zu lassen;
die noch 585 ihnen ertheilte Erlaubniſs der Getreideausfuhr aus
Sicilien beweist die Fortdauer des guten Vernehmens mit Rom.
Plötzlich erschienen kurz vor der Schlacht bei Pydna rhodi-
sche Gesandte im römischen Hauptquartier und im römischen
Senat mit der Erklärung, daſs die Rhodier nicht länger diesen
Krieg dulden würden, der auf ihren makedonischen Handel
und auf die Hafeneinnahme drücke, und daſs sie der Partei,
die sich weigere Frieden zu schlieſsen, selbst den Krieg er-
klären würden; zu welchem Ende bereits mit Kreta, mit den
asiatischen Städten ein Bündniſs abgeschlossen sei. In einer
Republik mit Urversammlungen ist vieles möglich; aber diese
wahnsinnige Intervention einer Handelsstadt, die in Rhodos erst
beschlossen sein kann als man dort den Fall des Tempe-
passes kannte, verlangt eine nähere Erklärung. Den Schlüssel
giebt die wohl beglaubigte Nachricht, daſs der Consul Quin-
tus Marcius, jener Meister der ‚neumodischen Diplomatie‘,
im Lager bei Herakleion, also nach Besetzung des Tempe-
Röm. Gesch. I. 38
[594]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
passes den rhodischen Gesandten Agepolis mit Artigkeiten
überhäufte und ihn unter der Hand ersuchte den Frieden zu
vermitteln. Republikanische Eitelkeit und Verkehrtheit thaten
das Uebrige; man meinte, die Römer gäben sich verloren,
man hätte gern zwischen vier Groſsmächten zugleich den Ver-
mittler gespielt — Verbindungen mit Perseus spannen sich
an; rhodische Gesandte von makedonischer Gesinnung sagten
mehr als sie sagen sollten; und man war gefangen. Der
Senat, der ohne Zweifel gröſstentheils selbst von jenen Intri-
guen nichts wuſste, vernahm die wundersame Botschaft mit
begreiflicher Indignation und war sehr erfreut über die gute
Gelegenheit die übermüthige Kaufstadt etwas zu demüthigen.
Ein kriegslustiger Prätor ging gar so weit bei dem Volk die
Kriegserklärung gegen Rhodos zu beantragen. Umsonst be-
schworen die rhodischen Gesandten einmal über das andere
kniefällig den Senat der 140jährigen Freundschaft mehr als
des einen Irrthumes zu gedenken; umsonst schickten sie die
Häupter der makedonischen Partei auf das Schaffot oder nach
Rom; umsonst sandten sie einen schweren Goldkranz zum
Dank für die unterlassene Kriegserklärung. Der ehrliche Cato
bewies zwar, daſs die Rhodier eigentlich gar nichts verbrochen
hätten und fragte, ob man anfangen wolle Wünsche und Ge-
danken zu strafen und ob man den Völkern die Besorgniſs
verargen könne, daſs die Römer sich alles erlauben möchten,
wenn sie Niemanden mehr fürchten würden. Seine Worte
waren vergeblich. Der Senat nahm den Rhodiern ihre Be-
sitzungen auf dem Festland, die einen jährlichen Ertrag von
120 Talenten (180000 Thlr.) abwarfen. Schlimmer noch
waren die Maſsregeln, die den rhodischen Handel trafen.
Schon das Verbot der Salzeinfuhr nach und der Ausfuhr von
Schiffbauholz aus Makedonien scheinen gegen Rhodos gerichtet.
Unmittelbarer noch traf den rhodischen Handel die Errichtung
des delischen Freihafens; der rhodische Hafenzoll, der bis
dahin das Jahr 1 Mill. Drachmen (250000 Thlr.) abgeworfen
hatte, sank in kürzester Zeit auf 15000 Dr. (37500 Thlr.).
Ueberhaupt aber waren die Rhodier in ihrer Freiheit und
dadurch in ihrer freien und kühnen Handelspolitik gelähmt
und der Staat fing an zu siechen. Selbst das erbetene Bünd-
niſs ward anfangs abgeschlagen und erst 590 nach wieder-
holten Bitten erneuert. Die gleich schuldigen, aber macht-
losen Kreter kamen mit einem derben Verweis davon.


Mit Syrien und Aegypten konnte man kürzer zu Werke
[595]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
gehen. Zwischen beiden war Krieg ausgebrochen, wieder
einmal über Koelesyrien und Palaestina. Nach der Behaup-
tung der Aegypter waren diese Provinzen bei der Vermählung
der syrischen Kleopatra an Aegypten abgetreten worden; was
der Hof von Babylon indeſs, der sich im factischen Besitz
befand, in Abrede stellte. Wie es scheint, gab die Anwei-
sung der Mitgift auf die Steuern der koelesyrischen Städte die
Veranlassung zu dem Hader und war das Recht auf syrischer
Seite; den Ausbruch des Krieges veranlaſste der Tod der
Kleopatra im Jahre 581, mit dem spätestens die Rentenzah-
lungen aufhörten. Der Krieg scheint von Aegypten begonnen
zu sein; allein auch König Antiochos Epiphanes ergriff die
Gelegenheit gern, um während der Beschäftigung der Römer
in Makedonien das traditionelle Ziel der Seleukidenpolitik, die
Erwerbung Aegyptens noch einmal anzustreben; es sollte
das letzte Mal sein. Das Glück schien ihm günstig. Der
damalige König von Aegypten, Ptolemaeos der Sechste Philo-
metor, der Sohn jener Kleopatra, hatte kaum das Knabenalter
überschritten und war schlecht berathen; nach einem groſsen
Sieg an der syrisch-aegyptischen Grenze konnte Antiochos in
demselben Jahr, in welchem die Legionen in Griechenland
landeten (583), in das Gebiet seines Neffen einrücken und
bald war dieser selbst in seiner Gewalt. Es gewann den
Anschein, als gedenke Antiochos unter Philometors Namen
sich in den Besitz von ganz Aegypten zu setzen; Alexandreia
schloſs ihm deſshalb die Thore, setzte den Philometor ab und
ernannte an seiner Stelle den jüngern Bruder, Euergetes II.
oder der Dicke genannt, zum König. Als hierauf Antiochos
durch Unruhen in seinem Reiche abgerufen ward und in seiner
Abwesenheit die Brüder sich mit einander vertrugen, setzte er
nach seiner Rückkehr gegen beide den Krieg fort. Wie er eben
vor Alexandreia stand, nicht lange nach der Schlacht von Pydna
(586), traf ihn der römische Gesandte Gaius Popillius, ein har-
ter barscher Mann, und insinuirte ihm den Befehl des Senats
alles Eroberte zurückzugeben und Aegypten in einer bestimm-
ten Frist zu räumen. Als der König sich Bedenkzeit erbat, zog
der Consular mit dem Stabe einen Kreis um ihn und hieſs ihn
sich erklären, bevor er den Kreis überschreite. Der König er-
wiederte, daſs er gehorche und zog ab nach seiner Residenz,
um dort als der Gott, der glänzende Siegbringer, der er war,
die Bezwingung Aegyptens nach römischer Sitte zu feiern
und den Triumph des Paullus zu parodiren. — Aegypten
38*
[596]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
fügte sich freiwillig in die römische Clientel; aber auch die
Könige von Babylon standen hiemit ab von dem letzten Ver-
such ihre Unabhängigkeit gegen Rom zu behaupten. Wie
Makedonien im Krieg des Perseus, so machten die Seleukiden
im koelesyrischen Krieg den gleichen und gleich letzten Ver-
such sich ihre ehemalige Macht wieder zu gewinnen; aber
es ist bezeichnend für den Unterschied der beiden Reiche,
daſs dort die Legionen entschieden und hier das barsche
Wort eines Diplomaten.


In Griechenland selbst waren als Verbündete des Perseus,
nachdem die beiden boeotischen Städte schon mehr als genug
gebüſst hatten, nur noch die Molotter zu strafen. Auf geheimen
Befehl des Senats gab Paullus an einem Tage siebzig Ort-
schaften in Epeiros der Plünderung Preis und verkaufte die
Einwohner, 150000 an der Zahl, in die Sclaverei. Die Aetoler
verloren Amphipolis, die Akarnanen Leukas wegen ihres zwei-
deutigen Benehmens, wogegen die Athener, die fortfuhren den
bettelnden Poeten ihres Aristophanes zu spielen, nicht bloſs
Delos und Lemnos geschenkt erhielten, sondern sogar sich
nicht schämten um die öde Stätte von Haliartos zu petitioni-
ren, die ihnen denn auch zu Theil ward. So war etwas für
die Musen geschehen, aber mehr war zu thun für die Justiz.
Eine makedonische Partei gab es in jeder Stadt und also be-
gannen durch ganz Griechenland die Hochverrathsprozesse.
Wer in Perseus Heer gedient hatte, ward sofort hingerichtet;
nach Rom ward beschieden, wen die Papiere des Königs oder
die Angaben der zum Denunciren herbeiströmenden politischen
Gegner compromittirten — der Achaeer Kallikrates und der
Aetoler Lykiskos zeichneten sich aus in diesem Gewerbe. So
wurden die namhafteren Patrioten unter den Thessalern, Aeto-
lern, Akarnanen, Lesbiern und so weiter aus der Heimath
entfernt; namentlich aber über tausend Achaeer, wobei man
nicht so sehr den Zweck verfolgte den Leuten den Prozeſs
als die kindische Opposition der Hellenen mundtodt zu machen.
Den Achaeern, die wie gewöhnlich sich nicht zufrieden gaben,
bis sie die Antwort hatten, die sie ahnten, erklärte der Senat,
ermüdet durch die ewigen Bitten um Einleitung der Unter-
suchung, endlich rund heraus, daſs bis auf weiter die Leute
in Italien bleiben würden. Sie wurden hier in den Land-
städten internirt und leidlich gehalten, Fluchtversuche indeſs
mit dem Tode bestraft; ähnlich wird die Lage der aus Ma-
kedonien weggeführten ehemaligen Beamten gewesen sein.
[597]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
Wie die Dinge einmal standen, war dieser Ausweg, so ge-
waltsam er war, noch der erträglichste und die enragirten
Griechen der Römerpartei sehr wenig zufrieden damit, daſs
man nicht häufiger köpfte. Lykiskos hatte es deſshalb zweck-
mäſsig gefunden in der Rathsversammlung vorläufig 500 der
vornehmsten Männer der aetolischen Patriotenpartei nieder-
stoſsen zu lassen; die römische Commission, die den Menschen
brauchte, lieſs es hingehen und tadelte nur, daſs man diesen
hellenischen Landesgebrauch durch römische Soldaten habe
vollstrecken lassen. Aber man darf glauben, daſs sie zum Theil
um solche Gräuel abzuschneiden jenes italische Internirungs-
system aufstellte. Da überhaupt im eigentlichen Griechenland
keine Macht auch nur von der Bedeutung wie Rhodos oder
Pergamon bestand, so bedurfte es hier einer Demüthigung
weiter nicht, sondern was man that, geschah nur um Gerech-
tigkeit, freilich im römischen Sinne, zu üben und die ärger-
lichsten und eclatantesten Ausbrüche des Parteihaders zu
beseitigen.


Es waren hiemit die hellenistischen Staaten sämmtlich der
römischen Clientel vollständig unterthan geworden und das ge-
sammte Reich Alexanders des Groſsen, gleich als wäre die Stadt
sein Erbe geworden, an die römische Bürgergemeinde gefallen.
Von allen Seiten strömten die Könige und die Gesandten nach
Rom um Glück zu wünschen, und es zeigte sich, daſs niemals
kriechender geschmeichelt wird als wenn Könige antichambriren.
König Massinissa, der auf ausdrücklichen Befehl davon abgestan-
den war selber zu erscheinen, lieſs durch seinen Sohn erklären,
daſs er sich nur als den Nutznieſser, die Römer aber als die
wahren Eigenthümer seines Reiches betrachte und daſs er
stets mit dem zufrieden sein werde, was sie ihm übrig lassen
würden. Darin war wenigstens Wahrheit. König Prusias
von Bithynien aber, der seine Neutralität abzubüſsen hatte,
trug die Palme in diesem Wettkampf davon; er fiel auf sein
Antlitz nieder, als er in den Senat geführt ward, und huldigte
‚den rettenden Göttern‘. Da er so sehr verächtlich war, sagt
Polybios, gab man ihm eine artige Antwort und schenkte ihm
die Flotte des Perseus. — Der Augenblick wenigstens für
solche Huldigungen war wohlgewählt. Von der Schlacht von
Pydna rechnet Polybios die Vollendung der römischen Welt-
herrschaft. Sie ist in der That die letzte Schlacht, in der
ein civilisirter Staat als ebenbürtige Groſsmacht Rom auf der
Wahlstatt gegenübergetreten ist; alle späteren Kämpfe sind
[598]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
Rebellionen oder Kriege gegen Völker, die auſserhalb des
Kreises der römisch-griechischen Civilisation stehen, gegen
sogenannte Barbaren. Die ganze civilisirte Welt erkennt fortan
in dem römischen Senat den obersten Gerichtshof, dessen
Commissionen in letzter Instanz zwischen Königen und Völ-
kern entscheiden um dessen Sprache und Sitten sich anzu-
eignen fremde Prinzen und vornehme junge Männer in Rom
verweilen. Ein klarer und ernstlicher Versuch, sich dieser
Herrschaft zu entledigen ist in der That nur ein einziges
Mal gemacht worden, von dem groſsen Mithradates von Pon-
tos. Die Schlacht bei Pydna bezeichnet aber auch zugleich
den letzten Moment, wo der Senat noch festhält an seiner
bisherigen Politik keine unmittelbaren Besitzungen auſser-
halb Italien zu erwerben, auſser wo wie in Spanien die
Nothwendigkeit sie aufdringt; denn offenbar war auch Spa-
niens Erwerb weit mehr eine Last als ein Gewinn und
man behielt die Halbinsel nur, weil man um jeden Preis
die Bildung eines neuen hannibalischen Staats verhindern zu
müssen glaubte und es einmal nicht möglich war hier zwei
Nationen gegen einander zu balanciren, wie in Gallien die
Kelten durch die Massalioten, in Libyen die Punier durch die
Eingebornen. Wenn man konnte, hielt man fest an der
Staatsmaxime keine überseeischen Eroberungen und Besatzun-
gen zu übernehmen; aber es war eine Sisyphusarbeit jene
zahllosen Clientelstaaten durch die bloſse politische Suprematie
so weit in Ordnung zu halten, daſs sie weder sich in völlige
Schwäche und Anarchie auflösten, wie es in Griechenland
geschah, noch dem halbfreien Staat die Möglichkeit blieb sich
zur vollen Unabhängigkeit zu entwickeln, wie es nicht ohne
Erfolg Makedonien versuchte. Kein Staat durfte ganz zu
Grunde gehen, aber auch keiner sich auf eigene Füſse stel-
len; weſshalb der besiegte Feind wenigstens die gleiche, oft
eine bessere Stellung bei den römischen Diplomaten hatte als
der treue Bundesgenosse, und der Geschlagene zwar aufge-
richtet, aber wer selber sich aufrichtete erniedrigt ward — die
Aetoler, Makedonien nach dem asiatischen Krieg, Rhodos,
Pergamon machten die Erfahrung. Das alles ward auf die
Länge den Herren ebenso unleidlich wie den Dienern; nach
der Schlacht von Pydna zeigen sich schon deutlich die Anfänge
eines Systemwechsels und der steigenden Abneigung Roms auch
nur Mittelstaaten in der ihnen möglichen Unabhängigkeit neben
sich zu dulden, weſshalb Makedonien nicht mehr geschwächt,
[599]DER DRITTE MAKEDONISCHE KRIEG.
sondern vernichtet ward. Die immer nothwendiger werdende
Intervention in die inneren Angelegenheiten der griechischen
Kleinstaaten mit ihrer Miſsregierung und ihrer politischen wie
socialen Anarchie, die Entwaffnung Makedoniens, wo die Nord-
grenze nothwendig einer anderen Wehr als bloſser Posten
bedurfte, endlich die beginnende Grundsteuerentrichtung nach
Rom aus Makedonien und Illyrien sind ebensoviel Anfänge
der nahenden Verwandlung der Clientelstaaten in Unterthanen
Roms.


Werfen wir zum Schluſs einen Blick zurück auf den
von Rom seit der Einigung Italiens bis auf Makedoniens
Zertrümmerung durchmessenen Lauf, so erscheint die römi-
sche Weltherrschaft keineswegs, wie man wohl zu sagen
pflegt, als ein von unersättlicher Ländergier entworfener und
durchgeführter Riesenplan, sondern als ein Ergebniſs, das der
römischen Regierung sich ohne, ja wider ihren Willen aufge-
drungen hat. Es ist offenbar für jede nicht oberflächliche
Betrachtung, daſs man während dieses ganzen Zeitraums
nichts wollte und begehrte als die Herrschaft über Italien,
daſs man bloſs wünschte nicht übermächtige Nachbarn neben
sich zu haben und daſs man, nicht aus Humanität gegen die
Besiegten, sondern in dem sehr richtigen Gefühl den Kern
des Reiches nicht von der Umlage erdrücken zu lassen, sich
sehr ernstlich dagegen stemmte erst Africa, dann Griechenland,
endlich Asien in den Kreis der römischen Clientel hineinzu-
ziehen, bis die Umstände jedesmal die Erweiterung des Kreises
erzwangen oder wenigstens mit unwiderstehlicher Gewalt nahe
legten. Die Römer haben stets behauptet, daſs sie nicht Erobe-
rungspolitik trieben und stets die Angegriffenen gewesen seien;
es ist etwas sehr Wahres darin, denn mit Ausnahme des Krieges
um Sicilien sind zu allen groſsen Kriegen, zu dem hannibalischen
und dem antiochischen und nicht minder zu denen mit Philippos
und Perseus, sie entweder durch einen unmittelbaren Angriff oder
durch eine unerhörte Störung der bestehenden politischen Ver-
hältnisse genöthigt und daher auch in der Regel von ihrem
Ausbruch überrascht worden. Daſs sie sich nicht so gemä-
ſsigt haben, wie sie vor allem im eigenen Interesse Italiens
es hätten thun sollen, daſs zum Beispiel die Festhaltung Spa-
niens, die Feststellung der Tutel über Africa, vor allem der
halb phantastische Plan den Griechen überall die Freiheit zu
bringen, schwere Fehler waren gegen die italische Politik, ist
deutlich genug. Allein die Ursachen davon sind theils die
[600]DRITTES BUCH. KAPITEL X.
blinde Furcht vor Karthago, theils der noch viel blindere hel-
lenistische Freiheitsschwindel; Eroberungslust haben die Römer
in dieser Epoche so wenig bewiesen, daſs sie vielmehr eine sehr
verständige Eroberungsfurcht zeigen. Ueberall ist die römische
Politik nicht die eines einzigen gewaltigen Kopfes oder eines in
einer Familie sich forterbenden Dynastenstrebens, sondern die
Politik einer sehr tüchtigen, aber etwas beschränkten Raths-
herrenversammlung, die um Pläne in Caesars und Napoleons
Sinn zu entwerfen der groſsartigen Combination viel zu wenig
und des richtigen Instincts für das Glück des Volkes viel zu
viel gehabt hat. Die römische Weltherrschaft beruht in ihrem
letzten Grunde auf der staatlichen Entwicklung des Alterthums
überhaupt. Die alte Welt kannte das Gleichgewicht der Nationen
nicht und deſshalb war jede Nation, die sich im Innern geeinigt
hatte, ihre Nachbarn entweder geradezu zu unterwerfen bestrebt,
wie die hellenischen Staaten, oder doch unschädlich zu ma-
chen, wie Rom, was denn freilich schlieſslich auch auf die
Unterwerfung hinauslief. Aegypten ist vielleicht die einzige
Groſsmacht des Alterthums, die ernstlich ein System des
Gleichgewichts verfolgt hat; in dem entgegengesetzten trafen
Seleukos und Antigonos, Hannibal und Scipio zusammen und
nur der Erfolg unterschied zwischen ihnen, da nach dem
Willen des Verhängnisses all die andern reich begabten und
hochentwickelten Nationen vergehen muſsten um eine unter
allen zu bereichern und alle am letzten Ende bauen halfen
an Italiens Gröſse und, was dasselbe ist, an Italiens Verfall.


[[601]]

KAPITEL XI.



Die Verfassung und die inneren Verhältnisse.


In keiner Epoche ist die römische Verfassung formell so
stabil geblieben wie in der vom sicilischen bis zum dritten
makedonischen Kriege und noch ein Menschenalter über die-
sen hinaus. Die Vermehrung der Beamtenzahl hielt schwer-
lich auch nur Schritt mit der Erweiterung der Grenzen und
der Vermehrung der Obliegenheiten der Regierung; wesent-
liche Verfassungsänderungen fanden kaum statt, und selbst die
wichtigsten, von denen wir Kunde haben, die Ausdehnung der
Wahlen auf priesterliche Würden und die Umgestaltung der
Abstimmungsweise in den Volksversammlungen, waren zwar
Fortschritte im demokratischen Sinn, aber mit den Reformen
weder der vorhergehenden noch der folgenden Periode an
Wichtigkeit irgend zu vergleichen. Unter den geistlichen Aem-
tern blieben die eigentlichen Priesterthümer, sowohl die Fla-
minate wie die Collegien der Salier und Arvalen, von dem
Kampf der Parteien unberührt wegen ihrer politischen Nich-
tigkeit. Dagegen die Collegien der Sachverständigen, der Pon-
tifices, der Auguren, der Orakelbewahrer, der Schmausherren,
griffen vielfach ein in das öffentliche Leben und wie einst die
Plebejer sich den Eintritt in dieselben zu erkämpfen bemüht
gewesen waren, so suchte jetzt die Bewegungspartei die Be-
setzung dieser Aemter in die Hände der Bürgerversammlung
zu bringen. Dem Geiste dieser Institutionen, die ja eben be-
stimmt waren die Kunde des göttlichen und menschlichen
[602]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
Rechts rein und vollständig den Nachkommen zu überliefern,
widersprach es indeſs den Eintritt in diese Collegien den Zu-
fälligkeiten der Volkswahl zu überliefern, und noch war dieser
Geist so mächtig, daſs man sich darauf beschränkte die Wahl
der Vorsteher dieser Körperschaften, so weit sie Vorsteher
hatten, aus dem Schoſs der Körperschaften den Comitien zu
übertragen; wobei überdieſs noch, um ja nichts zu versehen,
nicht das ganze Volk wählte, sondern nur die kleinere Hälfte
der Bezirke. Auf diese Art kam, vermuthlich im Anfang die-
ser Epoche, sicher vor dem Jahre 542 die Wahl des Vor-
stehers der Curionen und die wichtigere des obersten Pontifex
an die Bürgerversammlung. — Von gröſserer Bedeutung war
die Reform der Centuriatcomitien, die höchst wahrscheinlich
in dem Jahre erfolgte, in dem der erste punische Krieg zu
Ende ging (513). Nach der bisherigen Stimmordnung hatten
zuerst die Ritter gestimmt, das heiſst der alte Geschlechtsadel
in seinen und die plebejische Nobilität in ihren Abtheilungen;
alsdann die erste Klasse, das heiſst die Höchstbesteuerten;
und diese beiden Abtheilungen hatten, wenn sie einig waren,
jede Abstimmung entschieden. Das Stimmrecht der Steuer-
pflichtigen der vier folgenden Klassen war von zweifelhaftem
Gewicht, das der unter dem niedrigsten Steuersatz von 11000
Assen Geschätzten wesentlich illusorisch und den Freigelasse-
nen fehlte mit geringen Ausnahmen das Stimmrecht ganz.
Nach der neuen Ordnung stimmte dagegen einfach Bezirk nach
Bezirk und nur in dem einzelnen Bezirk Klasse nach Klasse;
die Höchstbesteuerten erhielten, statt wie nach der alten fast
die Hälfte, nach der neuen Ordnung nur etwa ein Fünftel
der Gesammtzahl der Stimmen, nicht mehr als jede der vier
folgenden Klassen. Zugleich wurde die Zahl der Bürgerbe-
zirke, nachdem sie auf fünf und dreiſsig gebracht war, hiemit
geschlossen und fortan die Neubürger nicht mehr in neue
Bezirke geordnet, sondern in die bestehenden eingeschrieben.
Es wird diese Reform als das Ende der ständischen Kämpfe
bezeichnet, und mit Recht; sie schaffte das letzte politische
Vorrecht des Adels, das wichtige Vorstimmrecht, ab und stellte
die reicheren Steuerpflichtigen den ärmeren wesentlich gleich.
Insofern ist ihre Tendenz allerdings demokratisch. Allein
selbst abgesehen davon, daſs im Allgemeinen die Zeitgenossen
wie die Nachwelt gewohnt sind die Wichtigkeit der Verände-
rungen in der Stimmordnung der Urversammlungen zu über-
schätzen, wird man auch im Besondern die demokratische
[603]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Tendenz dieser Reform nicht allzuhoch anschlagen dürfen.
Die Reform betraf bloſs die Centuriatcomitien, denen auſser
den Wahlen der Consuln und Censoren und der Entscheidung
über die Erklärung eines Angriffskrieges regelmäſsig keine
Fragen vorgelegt wurden; die übrigen Wahlen und die regel-
mäſsige Entscheidung über Gesetzvorschläge und Criminalan-
klagen kamen ohnehin schon an die nach Districten stim-
menden Tributcomitien, so daſs die Reform eigentlich nichts
anderes that als den Unterschied der Centuriat- und der Tri-
butcomitien thatsächlich aufheben. Es war nicht von sehr
groſsem Gewicht, daſs man nicht ganz auf demselben Wege
in beiden Comitien zu gleichem Ziel kam. Die Centurien
schlossen grundsätzlich die unter dem Minimalcensus ge-
schätzten und die freigelassenen Bürger aus, während die
Tribus alle Bürger umfaſsten. Aber dafür waren in den Tri-
bus alle nicht ansässigen und die meisten freigelassenen Bür-
ger in die vier städtischen Tribus zusammengedrängt, während
die ansässigen freigebornen Bürger die ein und dreiſsig übri-
gen inne hatten; in den Centurien dagegen standen die an-
sässigen und nichtansässigen Bürger seit Appius Claudius
Census sich gleich. Im Resultat kamen beide Stimmordnun-
gen darauf hinaus, daſs diejenigen Bürger, die überhaupt ein
ernstliches Stimmrecht hatten, wesentlich unter einander gleich-
standen, die vermögenslosen und die Freigelassenen aber kein
oder doch kein wirksames Stimmrecht besaſsen. Anfangs
zwar wurden bei jener Reform die Freigelassenen den Frei-
geborenen gleichgestellt, aber zwanzig Jahre später (534) sie
wieder aus den Stimmabtheilungen so gut wie entfernt — eine
Maſsregel, die der Censor Tiberius Sempronius Gracchus, der
Vater der beiden Urheber der römischen Revolution, im Jahre
585 gegen die immer wieder sich eindrängenden Freigelas-
senen wiederholte und schärfte. Im Ganzen blieben also
Freigelassene und Arme ausgeschlossen von der politischen
Gleichberechtigung; was um so wichtiger war und um so
deutlicher als ein Sieg der conservativen Partei erschien, als
man diese zurückgesetzten Klassen zu den Staatslasten mög-
lichst mit heranzuziehen anfing. Der Minimalcensus der Le-
gionssoldaten, der früher mit dem Minimalcensus der Centu-
riatcomitien von 11000 As zusammengefallen war, wurde im
Laufe dieser Periode auf 4000 As vermindert; es wurden die
zwischen 4000 und 1500 As geschätzten Freigebornen so wie
die Freigelassenen zum Dienst auf der Flotte herangezogen, die
[604]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
zwischen 1500 und 375 As geschätzten Freigebornen wenigstens
im Nothfall in das Heer eingestellt. In Folge dieser Bestimmun-
gen behielt auch noch die reformirte Verfassung einen sehr
entschieden aristokratischen Charakter. Die Reform der Cen-
turienordnung selbst war mehr administrativer als politischer
Art und hätte der Bürgerversammlung kaum eine wesentlich
veränderte Richtung gegeben, selbst wenn diese Versammlung
im Staat damals noch gewesen wäre, was sie früher war.
Allein dies Rad in der Staatsmaschine ward allmählich so ge-
lähmt, daſs die Veränderungen in seinem Bau keineswegs
mehr die Bedeutung haben wie in den Zeiten des Kampfes
der Patricier und der Plebejer.


Der römischen Bürgerversammlung, die vortrefflich orga-
nisirt war um die Gemeindeinteressen zu berathen, waren die
Verhältnisse vollständig über den Kopf gewachsen. In den
höchsten und schwierigsten Fragen, die die herrschende Welt-
macht zu lösen überkam, einem wohlgesinnten, aber zufällig
zusammengetriebenen Haufen italischer Bauern das entschei-
dende Wort zu gestatten; über Feldherrnernennungen und
Staatsverträge ihn, der weder die Gründe noch die Folgen
seiner Beschlüsse begriff, in letzter Instanz aburtheilen zu
lassen war ebenso sinnlos wie lächerlich. Dazu kam die arge
Unbehülflichkeit der Maschine, die schon in der vorigen Pe-
riode auffallend hervorgetreten und theils durch die steigende
Zahl der Bürger, theils durch die Reform selbst noch wesent-
lich vermehrt worden war; denn indem man seit der Reform
die Neubürger in die alten Bezirke einschrieb, ward allmählich
jeder Bezirk zusammengesetzt aus durchaus verschiedenen über
das ganze römische Gebiet zerstreuten Ortschaften und verlor
jeden inneren Zusammenhang. Eine bestimmte Leitung und
eine Vorberathung in den Bezirken ward immer schwieriger;
was um so übler war, als in den Comitien selbst nicht de-
battirt ward. Das Ergebniſs davon war wie billig die alberne
und unmündige Rolle, die die Comitien ohne Ausnahme in
der Geschichte dieser Zeit spielen; in der Regel standen die
Leute da und sagten ja zu allen Dingen, und wenn sie aus-
nahmsweise nein sagten, wie zum Beispiel im zweiten make-
donischen Krieg, konnte man sicher sein daſs die Kirchthurms-
der Staatspolitik eine kümmerliche und kümmerlich endende
Opposition machte. Nie ist in der beschränktesten Monarchie
dem Monarchen so völlig die Leitung der öffentlichen Angele-
genheiten entzogen worden wie es dem souverainen römischen
[605]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Volke geschah; der Senat beherrschte die Comitien vollständig,
und um so mehr, als die vornehmen Familien sich eben in
dieser Periode fester zusammenschlossen und wieder anfingen
einen eigenen Stand zu bilden, der im Senat seine Vertretung
fand — charakteristisch genug eben in einer Epoche, welche
formell die Grundsätze der Gleichberechtigung in der Bürger-
schaft zur Anerkennung brachte. Zwar lag eine gewisse Erb-
lichkeit in dem Wesen des senatorischen Instituts; es war ja
von Haus aus gewissermaſsen eine Repräsentation der Ge-
schlechter. Allein jetzt stellte sich nicht bloſs fest, daſs alle
Mitglieder der regierenden Familien, so wie sie zu ihren Jah-
ren gekommen waren, ihren Weg fanden in den Senat, son-
dern, was schlimmer war, es ward den Männern, denen bloſs
ihr Verdienst einen Anspruch gab auf einen Sitz in der Curie,
zwar der Eintritt in dieselbe nicht versperrt, aber zur Beklei-
dung der beiden höchsten Würden, des Consulats und der
Censur, wurden sie nicht leicht gelassen. Es fing an als eine
Art Usurpation betrachtet zu werden, wenn ein ‚neuer Mann‘
sich bewarb um diese Aemter und nur selten und ungern,
wie zum Beispiel zu Gunsten Catos und Glabrios, gestattete
man Ausnahmen. Schon schämte der Senator sich bei den
Spielen neben dem Plebejer zu sitzen; die Trennung der
Sitzplätze, die der groſse Scipio 560 als Censor verfügt haben
soll, war die offizielle Ankündigung der Scheidung zwischen
Regierenden und Regierten. Um die regierenden Familien,
in deren Händen zugleich ungeheure Reichthümer sich be-
fanden, schloſs sich dann der unvermeidliche Anhang von
Günstlingen und Bettlern; es ward nöthig die Geschenke be-
sonders deſshalb gesetzlich zu beschränken, weil die Senatoren
anfingen unter diesen Namen sich von ihren Clienten regel-
mäſsig Tribut entrichten zu lassen. Diese neue Sonderstellung
erweckte eine neue Opposition. Es ward der Grund gelegt zu
einer neuen Parteibildung, welche die so eben beseitigte Be-
vorrechtigung des Patriciats unter veränderten Namen wieder
aufnahm und der Kampf drohte nur um so schwieriger und
erbitterter zu werden, als die Zurücksetzung mehr eine that-
sächliche als eine rechtliche war. Für jetzt freilich herrschte
noch der Senat im Wesentlichen unumschränkt; und er ver-
diente es zu herrschen. Er hatte, nachdem er Lehrgeld ge-
geben während des ersten punischen Krieges, allmählich einen
Geist in sich entwickelt, der der consequenten Führung des
ihm zugefallenen Weltregiments gewachsen war; nicht so ab-
[606]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
geschlossen um nicht jeder Capacität Raum in seinem Schoſse
zu gönnen und fest genug zusammengeschaart um politische
Routine und politische Tradition in sich zu bilden, rechtfer-
tigte er in dem hannibalischen und den daraus ferner sich
entspinnenden Kriegen glänzend vor der Welt seine Befugniſs
sie zu beherrschen. Wären daneben die Bürgerversammlun-
gen bloſs nichtig gewesen, so hätte man sie immerhin den
Souverain repräsentiren lassen mögen; allein wenn die sou-
veraine Behörde unmündig ist und dennoch nicht mundtodt,
so fehlt es ihr nicht an Vertretern, die als den Willen des
höchstgebietenden Herrn den ihrigen proclamiren. Jede Mi-
norität im Senat konnte der Majorität gegenüber appelliren
an die Comitien; jedem einzelnen Mann, der die leichte Kunst
besaſs unmündigen Ohren zu predigen oder auch nur Geld
wegzuwerfen, war das Mittel an die Hand gegeben einen Be-
schluſs zu erwirken, dem Beamte und Senat formell sich fü-
gen muſsten. Solches Beginnen mochte loyal und zweckmäſsig
sein, so lange die Bürgerversammlung wirklich im Stande war
zu regieren; aber da dies anerkannter Maſsen nicht mehr der
Fall war, so thut man dieser ‚populären Partei‘, wie sie sich
nannte, viel zu viel Ehre an, wenn man sie eine demokrati-
sche nennt — sie verhält sich zu der Demokratie wie das
Günstlings- und Mätressenregiment zum Royalismus. Ihr Ziel
war nicht die Herrschaft des Volkes zu gründen, sondern die
des Senats zu stürzen und in der einen oder andern Form
die Herrschaft für sich zu usurpiren, oder vielmehr zunächst
— denn noch war man beim Anfang — einzelne Maſsregeln
im Interesse der Antragsteller gegen die Regierung durchzu-
setzen. Hieher gehören die Verhandlungen vor dem Volk
über Marcellus Oberbefehl; die Drohung Scipios sich vom
Volk das Commando übertragen zu lassen; die versuchte
Kriegserklärung gegen die Rhodier; vor allen Dingen aber die
thörichten Feldherrnwahlen, welche durch dieses System eben
dann, wenn am meisten auf sie ankam, auf jene Bürgergene-
rale fielen, die im Weinhaus Schlachtpläne auf den Tisch zu
zeichnen und auf den Kamaschendienst kraft ihres angebornen
strategischen Genies mitleidig herabzusehen gewohnt sind.
Was dabei herauskam, zeigt der erste Abschnitt des hanni-
balischen Krieges und der Krieg gegen Perseus. Immer wei-
ter dehnte die formelle Competenz des Volkes sich aus in
Justiz und Administration, namentlich hinsichtlich der Ratifi-
cation von Staatsverträgen, je weniger die Bürgerversammlung
[607]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
im Stande war die Tragweite ihrer Beschlüsse zu fassen. In
der That war das Volk weniger competent als je und während
die Macht des Senats wie der Magistrate und überhaupt aller
verfassungsmäſsigen Gewalten beschränkt, die Regierung auf
Schritt und Tritt gekreuzt und beirrt ward, begreiflicher Weise
eben am meisten, wo sie am meisten in ihrem guten Recht
war, erweiterte jede Ausdehnung der sogenannten Volkscom-
petenz bloſs die Macht der factiösen Minorität und der ein-
zelnen Ehrgeizigen. Freilich war das Uebel erst im Beginnen;
die neuen Parteien, die senatorische und die populare, waren
noch nicht dahin gelangt auch nur ihre Lager vollständig ab-
zustecken. Der gute und verständige Sinn in der Bürger-
schaft war nicht erloschen und obwohl in der Regel nicht er
in den Comitien entschied, so war es doch nicht unmöglich
wenn es galt ihn auch in diesen wieder zu erwecken, sei es
durch das Wort eines angesehenen Mannes, sei es durch die
lautere Stimme der Noth und der Schande. So wurden Mar-
cellus und Paullus vom Volk zu Feldherren gewählt und so
gelang es die Einwilligung des Volkes zu dem zweiten Krieg
gegen Philippos zu erwirken. Aber dieses Mittel erwies sich
nur wirksam im äuſsersten Fall. Für die regelmäſsigen An-
gelegenheiten stand der Regierung zwar verfassungsmäſsig die
Dictatur zu Gebot; aber bei der steigenden demokratischen
Tendenz war es nicht mehr möglich von dieser unpopulären
Magistratur Gebrauch zu machen und seit der Dictatur des
Quintus Fabius 537 und der Reaction dagegen, die dem In-
stitut den Todesstoſs gegeben, war sie thatsächlich beseitigt.
Hauptsächlich stützte deſshalb der Senat sich auf das popu-
läre Tribunat, das zwar eingeführt war um den Senat zu
lähmen, aber nach der Ausgleichung der ständischen Kämpfe
das Mittel geworden war, durch das der Senat einzig sich
hielt; denn indem jedem der zehn jetzt im Senat zu Sitz
und Stimme berechtigten Volkstribunen das Recht zustand
jeden Volksbeschluſs durch sein Einschreiten zu cassiren und
die Beamten zu verhaften, vermochte durch sie der Senat
einigermaſsen die Comitien und die factiöse Opposition im
Zaume und die Staatsmaschine im Gleise zu halten (S. 201).
Im minderen Grade wurden zu gleichem Zweck die sacralen
Institutionen gebraucht oder vielmehr gemiſsbraucht. Allein
daſs diese Mittel nicht reichten, und namentlich die Wahlen
vollständig dem Zufall oder der Intrigue anheimfallen muſsten,
leuchtet ein. Augenblicklich war der Zustand noch erträglich,
[608]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
da die Männer der popularen Partei noch nicht genau wuſs-
ten was sie wollten und mehr für den Fortschritt im Allge-
meinen, als für ein bestimmtes Parteiprogramm, mehr um
einzelne Maſsregeln der Regierung abzuzwingen als um die
Verfassung umzustürzen sprachen und handelten; allein der
gegenwärtige Uebelstand und die künftige Gefahr waren groſs
genug um eine Reform dringend zu erheischen und der han-
nibalische Krieg vor allem hatte die Nothwendigkeit einer
tapferen Verbesserung der Verfassung wahrlich klar genug
dargethan. Indeſs die conservative Partei machte nicht einmal
einen Versuch in dieser Richtung, sondern lieſs die Dinge
eben gehen und bereitete, sei es durch ihre Kurzsichtigkeit,
sei es durch ihre Feigheit, den Nachkommen eine böse Zeit;
indem der Acker nicht rechtzeitig umgebrochen ward, säeten
Unkraut auch die es nicht wollten. Den späteren Geschlech-
tern, die die Stürme der Revolution erlebten, erschien die
Zeit nach dem hannibalischen Kriege als die goldene Roms
und Cato als das Muster des römischen Staatsmannes. Es
war vielmehr die Windstille vor dem Sturm und die Epoche
der politischen Mittelmäſsigkeiten, eine Zeit wie die des wal-
poleschen Regiments in England; und es trat in Rom kein
Chatham auf, der die stockenden Adern der Nation in frische
Wallung gebracht hätte. Die Stabilität der Verfassung war
hier wie überall ein Zeichen nicht der Gesundheit des Staats,
sondern der beginnenden Erkrankung und der Vorbote einer
Revolution.


In demselben Geiste gestalteten sich die Verhältnisse zu
der italischen Eidgenossenschaft in dieser Epoche allmählich
um; die wichtigsten Veränderungen sind gleichfalls mehr that-
sächliche als rechtliche Neuerungen. Die römische Eidgenos-
senschaft bestand zu Anfang dieser Periode aus Vollbürgern,
Passivbürgern ohne Stimmrecht und Bundesgenossen sehr ver-
schiedenen Rechtes, unter denen die Städte in Latium, soweit
sie nicht bereits in die römische Bürgerschaft eingetreten
waren, und die von Rom gegründeten föderirten Städte, die
sogenannten latinischen Colonien, die wichtigste und bevor-
zugteste Klasse ausmachten. Von diesen drei Klassen wurde
die zweite insofern abgeschafft, als alle Stadtgemeinden mit
Passivbürgerrecht entweder ganz aufgelöst wurden, wie in
Folge des hannibalischen Krieges auſser andern namentlich
Capua, oder das Vollbürgerrecht empfingen, das im Laufe des
sechsten Jahrhunderts Roms den übrigen Halbbürgergemeinden
[609]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
allmählich zu Theil ward. Die factische Schwierigkeit, die
groſsentheils zu der Ertheilung des Passivbürgerrechts geführt
hatte, daſs nämlich das Vollbürgerrecht die Gemeinden den
römischen Gerichten unterwarf und aus entfernteren Districten
man doch nicht wohl die Leute beständig nach Rom kommen
lassen konnte, beseitigte man in der Art, daſs anstatt der
wegfallenden städtischen Jurisdiction ein von Rom aus ernann-
ter stellvertretender Richter (praefectus) eintrat; es bleibt frei-
lich zweifelhaft, ob bei diesem Wechsel die Gemeinden mehr
gewannen oder mehr verloren. Am Schluſs dieser Periode gab
es also keine andern römischen Passivbürger weiter, als ein-
zelne aus besonderen Gründen vom Stimmrecht ausgeschlos-
sene Individuen; die Bürger ohne Stimmrecht als Klasse in
der Eidgenossenschaft waren verschwunden. Es ging diese
wichtige Veränderung hervor aus demselben Geiste, der die
Stimmreform veranlaſste: man nivellirte innerhalb der römi-
schen Bürgerschaft und beseitigte alle anderen Zurücksetzun-
gen mit Ausnahme der der Nichtansässigen und der freige-
lassenen Sclaven. Die römische Bürgerschaft bildete seitdem
eine geographisch ziemlich geschlossene Masse, die an der
Westküste von Caere bis Cumae reichte und im Binnenland La-
tium im weitesten Sinn und die Sabina in sich schloſs; nur
einzelne Städte latinischen Rechts, wie zum Beispiel Tibur,
Praeneste, Cora, Norba, waren innerhalb dieses Gebiets encla-
virt. Dazu kamen ferner eine Anzahl römischer Bürger, die
ohne municipale Gemeinwesen zu bilden in Dörfern durch
ganz Italien zerstreut lebten, und die von Rom an den Küsten
angelegten Colonien, die nach römischer Uebung Theile der
römischen Vollbürgerschaft ausmachten. Gegen das Ende dieser
Periode ward ferner der Grundsatz aufgegeben allen von Rom
im Binnenlande gegründeten Festungen bloſs latinisches Recht
zu gewähren. Aquileia, dessen Gründung 571 begann, ist
die jüngste der italischen Colonien Roms, welche latinisches
Recht empfingen; die ungefähr gleichzeitig (570-577) aus-
geführten Colonien Potentia, Pisaurum, Parma, Mutina, Luna
erhielten bei der Gründung das volle Bürgerrecht. — Wenn
also die römische Bürgerschaft im Innern sich ausglich und
sich consolidirte, so schloſs sie andrerseits gegen die Bundes-
genossenschaft sich vollständig ab. Es läſst sich mit Sicher-
heit keine einzige italische Gemeinde bezeichnen, die in dieser
Periode das bundesgenössische mit dem Bürgerrecht vertauscht
hätte und es kann mit Wahrscheinlichkeit angenommen wer-
Röm. Gesch. I. 39
[610]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
den, daſs seit der vollendeten Unterwerfung Italiens das rö-
mische Bürgerrecht überhaupt an keine italische Gemeinde
mehr gegeben worden ist mit Ausnahme der neuen See- und
seit 570 der neuen Landcolonien. Aber auch in den Bundes-
verträgen macht seit derselben Zeit dieselbe Richtung sich
geltend die Bundesgenossen dem römischen Verbande fern-
zuhalten und namentlich die Gewinnung des römischen Bür-
gerrechts ihnen zu erschweren. Von den vier und dreiſsig
Colonien latinischen Rechts, die Rom in Italien und im cis-
alpinischen Gallien gegründet hat, waren die zwölf jüngsten,
das heiſst das 486 gegründete Ariminum und die seitdem
angelegten, wesentlich schlechteren Rechtes als die älteren
(S. 282). Während diesen, dem ‚gröſsern Latium‘, die volle
Freizügigkeit verbrieft worden war und jeder aus einer sol-
chen Stadt in Rom einwandernde Bürger dort als Passivbür-
ger (municeps) lebte und alle Rechte und Pflichten des römi-
schen Bürgers theilte mit Ausnahme der passiven Wahlfähigkeit
und des Stimmrechts, ja vielleicht auch dieses in ähnlicher
Weise übte wie die nichtansässigen Vollbürger *, wurden da-
gegen die Bürger der zwölf jüngsten Colonien, des ‚kleinern
Latium‘ beschränkt auf privatrechtliche Gleichstellung mit den
Römern im Handel und Wandel **. Nur den gewesenen Ge-
meindebeamten gestattete man die Gewinnung des römischen
Bürgerrechts und sorgte also in geschickter Weise dafür, daſs
die Capacitäten Rom nicht entfremdet wurden. Was also
[611]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
galt für die bevorzugteste Klasse der Bundesgenossen, wird
ohne Frage auch in analoger Weise für die übrigen Föderir-
ten zur Anwendung gekommen sein, über deren in Folge des
hannibalischen Krieges sehr zu ihrem Nachtheil veränderte
Stellung und Stimmung schon früher einige Andeutungen gege-
ben worden sind (S. 480). Die wenigen Verträge italischer Städte
mit Rom, die den hannibalischen Krieg unverändert über-
dauerten, wie zum Beispiel die mit Tibur, Praeneste,
Neapel, Nola, Heraklea, gewährten wichtige Rechte, die den
späteren fehlen und erkannten namentlich das Exilrecht an,
das auf der Freizügigkeit ruht; von Tibur und Praeneste
ist es nicht zu bezweifeln und von den andern nicht unwahr-
scheinlich, daſs diese Verträge im Wesentlichen den Bundes-
städten das Recht des gröſsern Latium gaben. — Gegen das
Ende dieser Periode ging man noch einen Schritt weiter. Es
liefen Klagen ein über die Verödung der latinischen Städte
in Folge der Freizügigkeit, die zwischen Rom und dem grös-
sern Latium bestand; während andrerseits die italischen Bun-
desgenossen minderen Rechtes anfingen sich in die latinischen
Gemeinden einzudrängen. Wenn das also fortgehe, hieſs es,
würden die Städte bald nicht mehr im Stande sein ihre Con-
tingente vollzählig zu machen. Römischer Seits ward hierauf
beschlossen die Latiner ihr Zugrecht nur dann ausüben zu lassen,
wenn der Uebertretende leibliche Kinder in seiner Heimathsge-
meinde zurücklasse; nach welchem Grundsatz polizeiliche Aus-
weisungen aus der Hauptstadt in groſsem Umfang stattfanden
(567. 577). Mochte diese Maſsregel auch zunächst im Interesse der
Bundesstädte getroffen sein, so diente sie doch jedenfalls dazu
das den Römern unbequeme freie Zugrecht der Bundesgenossen
auch da, wo es einmal verbrieft war, zu beschränken. Das
Ziel, wohin man steuerte, ist offenbar: es galt die römische
Bürgerschaft jetzt aufs Neue abzuschlieſsen wie sie in der
ältesten Zeit abgeschlossen gewesen war und das Plebejat, das
durch die Liberalität seiner Institutionen groſs geworden war,
wieder einzuschnüren in die starren Satzungen des Patriciats.
Wie innerhalb der Bürgerschaft die senatorischen Familien
dem Volke gegenüberstanden, so und noch viel schroffer trat
die ganze Bürgerschaft der italischen Eidgenossenschaft gegen-
über. Zu jener rechtlichen kamen vielfache factische Zurück-
setzungen, die den Italikern immer bestimmter das Gefühl
aufdrängten, daſs sie nichts seien als Unterthanen Roms; na-
mentlich seit dem Ende des zweiten punischen Krieges, den
39*
[612]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
die Italiker für Rom entschieden hatten, fühlte die Bürger-
schaft sich so sicher, daſs sie der Stützen ihrer Macht nicht
ferner zu bedürfen vermeinte. Daſs die vom Waffendienst
ausgeschlossenen Bundesgenossen, wie die Brettier und die
südlichen Picenter, da man sie wie Sclaven behandelte, auch
gleich Sclaven sich verhielten und zum Beispiel von der Flotte,
auf der sie als Ruderknechte dienten, ausrissen wo sie konn-
ten und gern Dienste nahmen gegen Rom, versteht sich ohne-
hin; aber auch die Verbündeten besseren Rechts, namentlich
die latinischen Colonien, dieser Fels auf dem die römische
Herrschaft über Italien ruhte, wurden schon vielfach zurück-
gesetzt und gekränkt. Zum Kriegsdienst fing man an die
Bundesgenossen immer stärker und drückender anzuziehen:
so wurden zum Beispiel 536 fast doppelt so viel Bundesge-
nossen aufgeboten als Bürger; so nach dem hannibalischen
Krieg die Bürger alle verabschiedet, nicht aber die Bundes-
genossen; so die letztern vorzugsweise verwandt für den ver-
haſsten spanischen Dienst und für die Besatzungen; so ward
(571) das Triumphalgeschenk der Bundesgenossen gegen das
der Bürger um die Hälfte verkürzt, so daſs inmitten des aus-
gelassenen Jubels dieses Soldatencarnevals jene stumm hinter
dem Siegeswagen einhergingen. Das alte Recht der Bundes-
städte auf einen gesetzlichen Antheil an der Beute war längst
und mit Fug beseitigt; aber es war üblich anstatt dessen den
einzelnen Städten theils aus dem Erlös der beweglichen Beute
eine Verehrung zu machen, theils von dem gewonnenen Lande,
so lange es römische Domäne blieb, den Bundesgemeinden
einzelne Striche zur Sondernutzung anzuweisen, bei der Auf-
theilung aber Bürger und Bundesgenossen gleichmäſsig zu
berücksichtigen. Diese Geschenke und Anweisungen an die
Bundesgenossen unterblieben zwar nicht ganz, aber sie wur-
den doch immer dürftiger; so zum Beispiel erhielten im Jahre
581 bei Landanweisungen in Norditalien die Bürger je zehn,
die Nichtbürger nur je drei Jugera Ackerlandes. Daſs bei
solchem Verfahren das römische Bürgerrecht unverhältniſs-
mäſsig im Preise stieg und das latinische Recht anfing gering
geachtet zu werden, ist kein Wunder; daher jene massenhafte
Uebersiedelung der Latiner nach Rom, von der so eben ge-
sprochen ward, und daher die Nothwendigkeit den seit 570
im italischen Binnenland gegründeten Städten das volle Bür-
gerrecht zu gewähren — es fand sich kein römischer Bürger
mehr, der willig gewesen wäre sein Bürgerrecht auch mit
[613]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Erwerbung bedeutender materieller Vortheile gegen latinisches
Recht aufzugeben. Eine tiefe Verstimmung riſs ein zwischen
der römischen Bürger- und der italischen Eidgenossenschaft;
sie wagte zwar noch nicht laut zu werden, aber man durfte
fragen, ob, wenn einmal ein zweiter Hannibal den Krieg nach
Italien tragen sollte, er noch auf jenen felsenfesten Wider-
stand stoſsen würde, an dem der Karthager gescheitert war.
Andrerseits war man wieder darauf bedacht die Brücke abzu-
brechen zwischen der italischen Eidgenossenschaft und den
nichtitalischen Nationen; an der Nordgrenze, wo am ersten
eine factische Verschmelzung eintreten konnte, war man be-
müht sie vertragsmäſsig abzuschneiden und rückte deſshalb in
die Verträge mit den Keltenstämmen, die diesseit der Alpen
geduldet wurden, die Clausel ein, daſs keiner aus diesen Ge-
meinden das römische Bürgerrecht je solle gewinnen dürfen.
So standen die senatorischen Familien gegen die Bürger, die
Bürger gegen die Italiker, die Italiker gegen die Ausländer in
schroffer Abgeschlossenheit und die Regierung that was sie
konnte dies politische Kastenwesen zu fördern und den Ge-
gensatz der privilegirten gegen die zurückgesetzte Klasse in
immer weiteren Kreisen sich wiederholen zu lassen.


Endlich trat in dieser Epoche in den römischen Staats-
verband eine neue Klasse von Staatsangehörigen ein, die der
älteren Zeit fremd und eigentlich dem Geiste der römischen
Institutionen zuwider war; es waren dies die Aemter, deren
es am Schluſs dieser Periode fünf gab: Sicilien, Sardinien mit
Corsica, das jen- und das diesseitige Spanien und Gallien, das
heiſst das Keltenland zwischen Apenninen und Alpen. Das
ältere römische Staatsrecht kannte eigentliche Unterthanen
nicht; die überwundenen Bürgerschaften wurden entweder in
die Sclaverei verkauft und vernichtet oder zu einem Bündniſs
zugelassen, das ihnen wenigstens die communale Selbstständig-
keit und die Steuerfreiheit sicherte. Allein mit den Gebieten,
die man Karthago entriſs, ward zugleich der Grundsatz über-
nommen, daſs in den auswärtigen Besitzungen Land und Leute
nur bestimmt seien Geld zu machen für ihre Zwingherrn. Da
die drei ältesten römischen Aemter, Sicilien, wo man übrigens
auch in dem hieronischen Theil eine der karthagischen gleich-
artige Verwaltung vorgefunden hatte, Sardinien und das jen-
seitige Spanien, im Wesentlichen den Karthagern abgenommen
worden waren, ist es begreiflich und zunächst vielleicht mehr
aus Bequemlichkeit und Kurzsichtigkeit als in bestimmter Ab-
[614]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
sicht geschehen, daſs man die Verfassung der Aemter nach
dem Muster der karthagischen ordnete oder vielmehr die kar-
thagische Provinzialverwaltung einfach beibehielt. Es war das
Hemd des Nessos, das man vom Feinde erbte. Die Herrschaft
der römischen Amtleute in den Aemtern konnte keine andere
sein als ein militärisches Willkürregiment, gegen dessen Ueber-
griffe in Gewaltthätigkeit und Spoliation es an aller ernstlichen
Schranke fehlte. Die finanziellen Lasten an sich, die Zehnten,
Zölle und Abgaben mochten erträglich sein; aber die willkür-
liche Steigerung derselben durch die Beamten und die ver-
kehrte Hebungsart drückten schwer auf die Provinzialen. Früh
riſs dazu die verderbliche Sitte ein dem Amtmann ‚Ehren-
wein‘ und andere ‚freiwillige‘ Gaben zu verehren; schon Cato
muſste in seiner Verwaltung Sardiniens im Jahre 556 sich
begnügen diese Hebungen zu reguliren und zu beschränken.
Ebenso ward das Vorspannrecht der in Staatsgeschäften Rei-
senden durch miſsbräuchliche Ausdehnung für die Unterthanen
eine schwere Last; ja sogar das Gastrecht, das die Beamten
auf der Durchreise in Anspruch nahmen, fing an Vorwand für
Erpressungen zu werden. Am übelsten aber war es, daſs in
der Hebung der Steuern theils dem Ermessen der Beamten
zu viel überlassen ward, theils die römische Staatskasse, um
sich die Manipulation der Hebungen zu vereinfachen, durch-
gängig dieselben an Mittelsmänner übertrug, die gegen eine
feste Summe die Provinzialgefälle in Bausch und Bogen ein-
handelten und sie dann auf eigene Rechnung und Gefahr ein-
zogen. So konnte es vorkommen, daſs der Amtmann in die
einzelnen Städte Militärcommissare zur Beförderung der He-
bungen bestellte; daſs er die Steuerpflichtigen anwies anstatt
des schuldigen Zehntenkorns den Werth in Geld nach der
Schätzung des Amtmanns abzuliefern; daſs wenn ein Dop-
pelzehnten erhoben und, wie in solchem Falle billig und
üblich, für den zweiten Zehnten von dem römischen Schatze
eine Vergütung gegeben ward, der Amtmann nach eigenem
Ermessen das Maſs der Vergütung bestimmte — lauter Miſs-
bräuche, welche der Senat auf die Klagen der Spanier den
dortigen Statthaltern im Jahre 583 untersagte. Schlimmer aber
noch als die willkürlichen Hebungsvorschriften, die die Beam-
ten erlieſsen, war die mitleidlose Strenge der Generalsteuer-
pächter. Wie arg es schon war, zeigt zum Beispiel, daſs der
Senat im Jahre 587 die Sistirung des makedonischen Gruben-
baus hauptsächlich deſshalb beschloſs, weil, wo Staatspächter
[615]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
seien, nothwendig entweder die Kasse bestohlen würde oder
die Bundesgenossen geplündert und es daher rathsamer sei
von dem übrigens so ergiebigen Betrieb ganz abzustehen —
freilich ein seltsames Armuthszeugniſs, das die controlirende
Behörde sich selber ausstellte. Im Gefolge der Steuerpächter
überschwemmten römische Banquiers die Provinzen, um den
verlegenen Schuldnern vorzuschieſsen und also ihnen hülfreich
zu sein bei ihrem ökonomischen Ruin. Ihr Treiben war so
verderblich, daſs zum Beispiel Cato in seiner sardinischen
Verwaltung es nöthig fand sämmtliche römische Banquiers aus
der Insel auszuweisen, und unter seinen Maximen den Satz
mit aufstellte, daſs wenig Unterschied sei zwischen einem
Banquier und einem Mörder. — In minderem Grade als die
Aemter, jedoch auch schon nicht gering hatten die abhängigen
Freistaaten und Königreiche von den mittelbaren und unmittel-
baren Erpressungen der römischen Beamten und von dem
Uebermuth der italischen Groſshändler und Banquiers zu lei-
den; die Raubzüge des Gnaeus Vulso in Kleinasien und die
heillose Wirthschaft während des Krieges gegen Perseus in
Griechenland zeigen ungefähr, was man am Ende dieser Pe-
riode sich schon gegen die Clientelstaaten herausnahm. —
Was die Controle anlangt, so fanden die Provinzialen gegen die
Bedrückungen durch die römischen Speculanten Schutz bei den
Amtmännern, der allerdings sehr ungleich war und wesentlich
von dem guten Willen und der Tüchtigkeit der letztern abhing;
allein es muſs anerkannt werden, daſs die Senatoren verhält-
niſsmäſsig sich in den Provinzen rechtschaffener und ehrbarer
verhielten als die Geldleute, und wenn auch nicht alle so derb
und entschlossen durchgriffen wie zum Beispiel Cato, so ist
es doch hauptsächlich in dieser Beziehung, daſs den Unter-
thanen späterhin das sechste Jahrhundert der Stadt als die
goldene Zeit der Provinzialherrschaft erschien. Gegen Ueber-
griffe der Beamten stand dagegen den Unterthanen und Clien-
telstaaten kein anderer Weg offen als entweder eine Civilklage
in Rom zu erheben, wobei aber, da die Civilgerichte damals
in den Händen des Senats sich befanden, jedenfalls ein sena-
torisches Gericht vom römischen Prätor bestellt ward, oder
zu appelliren an die Administrativjurisdiction des Senats; eine
Criminalklage zu erheben war den Verletzten nicht anders
möglich als wenn irgend ein römischer Beamter, der Crimi-
naljurisdiction besaſs, die Sache in die Hand zu nehmen und
sie an das Volksgericht zu bringen sich entschloſs. Der ge-
[616]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
wöhnliche Weg der Beschwerdeführung war die Berufung an
die höchste Verwaltungsbehörde, und noch war genug Recht-
lichkeit und Ehrenhaftigkeit in der römischen Aristokratie
um dieser Berufung oftmals Erfolg zu verschaffen und zu be-
wirken, daſs die römischen Beamten die Götter und den
Senat einigermaſsen fürchteten und in der Regel im Stehlen
Maſs hielten. Allein theils konnten bei der exorbitanten
Gewalt der römischen Beamten regelmäſsig solche Beschwer-
den erst vorgebracht werden, wenn sie ihr Amt niedergelegt
hatten und das Uebel geschehen war; theils konnten Klagen
der Fremden gegen Römer vor einer weit entfernten Behörde,
der die Beklagten selbst und die Mehrzahl der gleich Schul-
digen angehörten, von Anfang an nur auf Erfolg rechnen,
wenn das Unrecht klar und schreiend war; und vergeblich
zu klagen war fast gewisses Verderben. Es kam hinzu, daſs
diese Beschwerden durchaus nach dem Verwaltungs-, nicht
nach dem Rechtsstandpunkt beurtheilt wurden. So stellte
die heillose Regel sich fest, daſs bei geringen Erpressungen
und mäſsiger Gewaltthätigkeit der römische Beamte gewisser-
maſsen in seiner Competenz und von Rechtswegen straffrei
sei, die Beschädigten also zu schweigen hätten. Die Conse-
quenzen aus diesem Satz hat die Folgezeit zu ziehen nicht
unterlassen.


Richten wir den Blick auf die ökonomische Lage des
Staates und der Bürger, so versteht sich die glänzende Lage
der Staatsfinanzen so sehr von selbst, daſs es kaum nöthig
ist dabei zu verweilen. Man sah sich im Stande die verfas-
sungsmäſsige Grundsteuerfreiheit des römischen Ackers seit
dem dritten makedonischen Krieg nicht mehr durch Vorschuſs-
zahlungen zu beeinträchtigen. Die indirecten Abgaben, wie
das Salzmonopol und die Hafenzölle, stiegen von selbst durch
den vermehrten Reichthum Italiens; wenn daneben noch der
Salzpreis erhöht ward und neue Hafenzölle, zum Beispiel in
Puteoli, eingeführt wurden, so hatten diese Erhöhungen wohl
mehr den Zweck Schritt zu halten mit dem allgemeinen Stei-
gen der Preise und Sinken des Geldwerths und mit der Aus-
dehnung des überseeischen Handels, als die Lasten in der
That zu steigern. Die Hauptquellen der Staatseinnahmen
wurden mehr und mehr die Abgaben aus den Provinzen an
Zehnten, Zöllen und Ertrag der Bergwerke; daneben seit Ca-
puas Fall der Zins der verpachteten campanischen Domänen.
Die Verwaltung war, soweit das System der Erhebung durch
[617]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Mittelsmänner es zuläſst, sorgfältig und rechtschaffen; der Senat
litt keinen Unterschleif in Hinsicht auf die öffentlichen Gelder.
Mit Bewunderung hebt es Polybios hervor, daſs man in Grie-
chenland kaum einzelne Beamte finde, die nicht in die Kasse
eingriffen, in Rom dagegen Unterschleif sehr selten sei und
daſs der römische Beamte und Commissar auf sein einfaches
Treuwort ungeheure Summen redlich verwalte, während in
Hellas für die kleinste Summe zehn besiegelte Briefe und
zwanzig Zeugen aufgeboten würden und dennoch jeder be-
trüge. — Daſs die Einnahmen einen ungeheuren Ueberschuſs
über die Ausgaben herausstellten, liegt in den Verhältnissen.
Es war möglich theils auf die wichtigsten Einnahmequellen
zu verzichten, so zum Beispiel auf den Ertrag der makedo-
nischen Bergwerke und auf die Nutzung des gröſsten Theils
der italischen und vieler auſseritalischen Domänen, die man
zur Occupation hingab, theils die übrigen Einnahmen durch
Mittelsmänner, also mit starkem Verlust zu erheben und den-
noch nicht bloſs allen laufenden Ausgaben gerecht zu werden,
sondern auch sowohl die öffentlichen Bauten im groſsem Maſs-
stab zu betreiben als auch einen beträchtlichen Sparpfennig
in der Kasse aufzuhäufen. Für die Bauten und Reparaturen
finden wir in Friedenszeiten ein Fünftel, in Kriegszeiten ein
Zehntel der öffentlichen Einkünfte verwandt; so ward zum
Beispiel für Reinigung und Herstellung der Kloaken der Haupt-
stadt auf einmal eine Summe von 1½ Mill. Thlr. (1000 Ta-
lente) bestimmt. Als man im Jahre 545 die letzte Reserve
des Staatsschatzes angriff, betrug diese etwas über eine Mil-
lion Thaler (4000 Pfund Gold); kurze Zeit nach dem Schluſs
dieser Periode (597) befand sich in der Staatskasse ein todtes
Kapital von nahe an 6 Mill. Thlr., wovon etwa fünf Sechstel
in Goldbarren, der Rest zur Hälfte in ungeprägtem, zur Hälfte
in geprägtem Silber vorhanden war. * Man erkennt zugleich
hieraus, was ja auch bei den Beziehungen Roms zum Aus-
lande nicht wohl anders sein konnte, daſs in den Kassen der
gröſseren Kapitalisten und vor allem des Staats selbst mehr
Gold als Silber sich fand; von der Münze indeſs blieb jenes
so gut wie ganz ausgeschlossen und auf den Barrenverkehr
beschränkt, während im Kleinverkehr das Silber allein umlief.


Aber der blühende Zustand der Staatsfinanzen ward mehr
[618]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
als aufgewogen durch die auch ökonomisch bedenkliche Lage
des Landes. Es soll hier nicht die Rede sein von der Lage
der Provinzen; daſs diese sich schlechter befanden unter römi-
scher Herrschaft als unter karthagischer, ist nicht glaublich
und politisch betrachtet kam auch nicht eben viel darauf an,
ob die Siculer und Spanier es etwas mehr oder minder leidlich
hatten. Aber Italien selbst war nicht mehr was es früher
gewesen war. Der Reichthum stieg; aber die Volkszahl und
die Volkskraft fingen an zu sinken. Cato und Polybios be-
zeugen es ausdrücklich, daſs am Ende des sechsten Jahrhun-
derts Italien weit schwächer als am Ende des fünften bevöl-
kert und nicht mehr im Stande war solche Heere auszusenden
wie im ersten punischen Krieg; die Zuziehung der bis dahin
befreiten Classen zum Kriegsdienst, die Klagen der Bundes-
gemeinden über die Schwierigkeit ihren Zuzug vollzählig zu
machen bestätigen diese Angaben. Noch lauter reden die Zahlen
der römischen Bürgerliste. Die Bürgerschaft zählte im Jahre 502
kurz nach Regulus Zug nach Africa 298000 Köpfe; sie war
um ein Zehntel (auf 270000 Köpfe) gesunken am Anfang, um
mehr als ein Viertel (auf 214000 Köpfe) am Ende des zwei-
ten punischen Krieges und ein Menschenalter nachher, nach
einer Epoche verhältniſsmäſsig geringer Verluste durch den
Krieg, war kaum die Ziffer wieder erreicht, auf der die Bür-
gerschaft zu Anfang dieser Periode stand, obwohl inzwischen
durch die Anlage der groſsen Bürgercolonien in der nordita-
lischen Ebene ein beträchtlicher auſserordentlicher Zuwachs
eingetreten war. — Die unmittelbare Ursache dieser Entvöl-
kerung der Halbinsel waren allerdings die beiden punischen
Kriege, deren Folgen in dieser Beziehung schon früher ange-
deutet worden sind (S. 353. 482); nicht bloſs war durch sie die
Bürger- und die Bundesgenossenschaft decimirt worden, sondern
es hatte der hannibalische Krieg auſser einer Menge kleinerer
Gemeinden zwei Städte ersten Ranges, Capua und Tarent —
beides Gemeinden, die einst Heere von 30000 Mann ins Feld
gesendet hatten — vollständig ruinirt. — Aber verderblicher
als der verderbliche Krieg wirkte der Verfall des italischen
Ackerbaues; ihm wesentlich ist es zuzuschreiben, daſs die
Lücken sich nicht wieder füllten, die der Krieg gerissen hatte.
Auſser den allgemeinen Verhältnissen, der mit der Bildung
und dem Reichthum steigenden Arbeitsscheu und dem Zudrang
zu dem Wohlleben, das der Rentier wie der Bettler in der
Hauptstadt fand, wirkten hiezu besonders zwei Ursachen: der
[619]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Zudrang des überseeischen Korns auf die italischen Märkte
und die Richtung der Intelligenz unter der erwerbenden Klasse
auf Geldverkehr und Handel. Seit dem zweiten makedonischen
Krieg versorgte der Staat seine Heere statt mit italischem mit
dem Getreide der Provinzen, vor allem aus Sicilien; es ward
dies die eigentliche Bestimmung des Zehntkornes, das von
den Provinzialen theils ganz ohne Entgelt, theils, wenn man
sehr viel bedurfte, gegen eine geringe Vergütung erhoben
ward. Wie es scheint, verdang der Staat den Zehntpächtern
seine Zehnten in der Art, daſs sie theils eine gewisse Quantität
Getreides, theils eine Geldsumme den römischen Behörden
abzuliefern hatten; und somit verschloſs dem italischen Land-
mann sich die wichtige Absatzquelle der Kornlieferungen an
den Staat, ein Absatz, der, namentlich seit in Spanien that-
sächlich das Heer stehend geworden war, von ungemeiner
Bedeutung gewesen sein würde. Allein dies war das Ge-
ringste. Begreiflicher Weise erhielt der Staat in Friedenszeiten
sehr häufig mehr Getreide umsonst geliefert als er bedurfte;
diese Vorräthe zu Schleuderpreisen an die Stadtbürgerschaft
abzugeben lag um so näher, als schon seit alter Zeit die rö-
mische Regierung auf die Kornpreise ein wachsames Auge
hatte und bei drohenden Theurungen durch rechtzeitigen Ein-
kauf im Ausland einzuschreiten pflegte. Umsonst eiferte Cato
gegen solche kurzsichtige Politik; die beginnende Demagogie
mischte sich hinein und diese auſserordentlichen, aber ver-
muthlich sehr häufigen Kornvertheilungen wurden der Keim
der späteren Getreidegesetze. Aber auſser dem Korn, das
unentgeltlich an den Staat und zu Spottpreisen an die Con-
sumenten kam, muſste auch das sonstige überseeische Korn
auf den italischen Ackerbau drücken. Nicht bloſs konnten
die Zehntenpächter die Getreidemassen, die in ihre Hände
kamen, in der Regel ohne Zweifel unter dem Productionspreis
weggeben, sondern sehr wahrscheinlich war überhaupt der
letztere in den Provinzen, namentlich im Sicilien in Folge
der günstigen Bodenverhältnisse und der ausgedehnten Groſs-
und Sclavenwirthschaft nach karthagischem System (S. 324)
beträchtlich niedriger als in Italien. Muſste also das fremde
Korn schon im natürlichen Laufe der Dinge nach der Halb-
insel strömen, so scheint die Regierung, statt dem italischen
Landmann durch einen Schutzzoll zu Hülfe zu kommen, sogar
künstlich seine Lage verschlimmert zu haben, indem sie die
Kornausfuhr der Provinzen für das Mutterland monopolisirte;
[620]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
wenigstens finden wir, daſs die Ausfuhr einer Quantität Ge-
treide aus Sicilien den Rhodiern als besondere Vergünstigung
gestattet ward. Solche Wirthschaft möchte vielleicht sich
rechtfertigen lassen in einem groſsen Industriestaat, dessen
Ackerbau nicht ausreicht zur Ernährung der Bevölkerung; ein
Land wie Italien, in dem die Industrie unbedeutend, die
Landwirthschaft durchaus Hauptsache war, ward auf diesem
Wege systematisch ruinirt und den Interessen der hauptstäd-
tischen Bevölkerung, der freilich das Brot nicht billig genug
werden konnte, das Wohl des Ganzen auf die schmählichste
Weise geopfert. Nirgends vielleicht liegt so deutlich wie hier
zu Tage, wie schlecht die Verfassung und wie unfähig die
Regierung dieser sogenannten goldenen Zeit der Republik
war. Das dürftigste Repräsentativsystem hätte zu ernsten
Vorstellungen und zur Abstellung des Uebels geführt, und
jede Regierung, die den Namen verdient hätte, wäre von
selber eingeschritten; aber freilich in jenen demokratischen
Versammlungen machte alles andere, nur nicht die Stimme
und die Noth des Volkes sich geltend, und die Scipionen
und Flaminine hatten ja die Griechen zu emancipiren und
die republicanische Königscontrole zu beschaffen. Die Strafe
folgte dieser Sündenwirthschaft auf dem Fuſse. In frucht-
baren Jahren ward das sicilische und sardinische Korn in den
italischen Häfen um die Fracht losgeschlagen; schon zu Catos
Zeit war Sicilien die Kornkammer der Hauptstadt und das ita-
lische Getreide wie das italische Ackerland völlig entwerthet.
Die fast unglaubliche Billigkeit der Lebensmittel in den reich-
sten Kornlandschaften der Halbinsel, der heutigen Lombardei
und der Romagna, erwähnt Polybios; für Kost und Nacht-
quartier zahlte man durchschnittlich einen halben As den
Tag (2 Pf.), für den preuſsischen Scheffel Weizen (6 Modii)
einen halben Denar (3 Gr. 3 Pf.) *
— Preise, die nur begreif-
[621]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
ich sind in Gegenden reicher Production und ohne Absatz-
quellen. Wenn also das italische Getreide systematisch ent-
werthet ward, so warfen sich die Folgen dieses verkehrten
ökonomischen Systems in Verbindung mit anderen Ursachen
hauptsächlich auf den kleineren Grundbesitz und drohten ihn
völlig zu verschlingen. Schon an sich war es dem gröſseren
Ackerbauer eher möglich mit dem fremden Korn zu concur-
riren durch veränderte Bewirthschaftung und Minderung der
Productionskosten; zu welchem Ende entweder den kleinen
Zeitpächtern die Abgabe fast unerschwinglicher Fruchtquoten
(\frac{6}{7} zum Beispiel) vom Ertrag an den Grundherrn aufgebürdet
oder noch besser geradezu die Sclavenwirthschaft nach sicili-
scher Art, das heiſst der Plantagenbau eingeführt ward. Allein
noch gründlicher ward geholfen, indem man den Ackerbau
ganz aufgab und der Viehzucht sich zuwandte, die wegen des
schwierigeren überseeischen Transports die Concurrenz des
Auslandes minder zu fürchten hatte und bei der man ökono-
misch sich besser stand. Aus dem Pothal, das sein Getreide
nicht abzusetzen vermochte, gingen die Schweine nach ganz
Italien. Selbst Cato, obwohl er für seine Person bei dem
Landbau, das heiſst der Gutswirthschaft blieb und diese durch
Rath und Beispiel eifrig predigte, räth denen, die einen hohen
Bodenzins ziehen möchten, statt des Ackerbaus die Weide-
wirthschaft an. Diese aber kann mit Vortheil nur im Groſsen
getrieben werden; und so wurden die italischen Producenten,
mochten sie Ackerbauer oder Viehzüchter sein, durch die Ver-
hältnisse gezwungen der Gutswirthschaft sich zuzuwenden.
Aeuſsere Umstände begünstigten diese Richtung. Die Masse
des nach Rom strömenden Capitals erleichterte das Zusam-
menkaufen der kleinen Grundstücke; das unverständige von
Gaius Flaminius veranlaſste claudische Gesetz von 536,
welches den Senatoren die Kaufmannsgeschäfte als für sie
ungeziemend verbot, zwang die reichsten Familien ihre Capi-
talien in Grundstücken anzulegen und beförderte also, was
man mit allen Mitteln hätte verhüten sollen, das Verschwinden
des kleinen Eigenthums. Es kam hinzu, daſs das von Privaten
zinsfrei auf Widerruf besessene Domänenland, die sogenannten
Possessionen, deren factische Erblichkeit trotz des vereinzelten
*
[622]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
Angriffs von Gaius Flaminius sich mehr und mehr befestigte,
von Haus aus zur Guts- und zur Weidewirthschaft einluden;
denn die Regierung war thöricht genug den Einzelnen regel-
mäſsig gröſsere Striche occupiren zu lassen und die Occu-
panten fühlten keineswegs sich geneigt in einen so unsichern
Besitz Bau- und Bestellungskosten hineinzustecken. Schon
jetzt klagten die Einsichtigen laut über die Ausdehnung der
Gutswirthschaft und das Verschwinden der Bauerstellen; auf
die weitausgedehnten und neben und gleich Eigenthum
besessenen Possessionen der Vornehmen im cisalpinischen
Gallien, in Samnium, in Apulien, im Brettierland hinweisend
forderte Cato Abhülfe des Uebels und zunächst neue und
umfängliche Landanweisungen. Es war dies nicht ganz ver-
geblich. Die weise Colonisation der Landschaft zwischen den
Apenninen und dem Po trug ihre Früchte; die zahlreichen
neugegründeten Bauerstellen daselbst verschwanden nicht so
schnell und Polybios, der bald nach dem Ende dieser Periode
die Gegend bereiste, rühmt deren zahlreiche, schöne und kräf-
tige Bevölkerung. Wenn man das Interesse des Landes ver-
standen hätte, so hätte diese Landschaft werden müssen, was
Sicilien war: die Kornkammer Italiens. In ähnlicher Weise
war für Picenum die Auftheilung der Possessionen durch
Gaius Flaminius 522 nützlich geworden — eine Maſsregel,
die nicht aus den reinsten Absichten hervorgegangen sein
mag, in ihren Wirkungen aber sich nützlich erwies; indeſs
hatte die Gegend im hannibalischen Kriege viel auszustehen
gehabt. In Etrurien und wohl auch in Umbrien waren die
inneren Verhältnisse schon von Haus aus dem Gedeihen eines
freien Bauerstandes ungünstig. Besser stand es in Latium,
dem der hauptstädtische Markt zu Gute kam, und in den
abgeschlossenen Bergthälern der Marser und Sabeller, die alle
der hannibalische Krieg im Ganzen verschont hatte. Samnium
dagegen, nach der Zählung von 529 die blühendste Landschaft
der Halbinsel nächst dem römischen Bürgerdistrict und da-
mals im Stande halb so viel Waffenfähige zu stellen als die
sämmtlichen latinischen Städte, hatte im hannibalischen Kriege
schwer gelitten; und die Ackeranweisungen daselbst an die
Soldaten des scipionischen Heeres deckten, obwohl bedeutend,
doch den Verlust nicht. Noch übler waren in demselben
Kriege Campanien und Apulien, beide bis dahin wohl bevöl-
kerte Landschaften, von Freund und Feind zugerichtet wor-
den. In Apulien fanden später Assignationen statt, allein
[623]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
die Colonien daselbst gediehen nicht. Bevölkerter blieb die
schöne campanische Ebene; ein groſser Theil der Bauern
indeſs waren kleine Zeitpächter der Staatsdomänen, gegen
deren Occupirung hier die Regierung mit Nachdruck einschritt.
Endlich das lucanische und brettische Gebiet, dessen Bevöl-
kerung schon vor dem Kriege dünn war und nicht die Hälfte
der samnitischen betrug, wurde im Kriege entsetzlich verödet
und auch von den römischen Colonien daselbst gedieh nur
Valentia (Monteleone). In diesen drei südlichsten italischen
Landschaften, Apulien, Lucanien und dem Brettiergebiet, hat
der Ackerbau sich nie wieder erholt, und die Viehwirthschaft
hatte hier ihren rechten Sitz. Die halbwilden Hirten, fast
sämmtlich Sclaven und groſsentheils gefangene Feinde, mach-
ten Apulien schon 569 so unsicher, daſs starke Besatzung
dorthin gelegt werden muſste; es ward eine Sclavenverschwö-
rung entdeckt, in die gegen 7000 Menschen verwickelt waren
und die wie es scheint auch mit dem Bacchanalienwesen sich
verzweigte. Ueberhaupt wuchs die Sclavenbevölkerung in
demselben Verhältniſs wie die freie sank; es kam schon vor,
daſs Sclavenrotten Miene machten Städte wie Setia und Prae-
neste zu überfallen (556) und daſs man sich in Etrurien
mit einer solchen Bande förmlich herumschlug (558). Man
versuchte dem Uebel gesetzlich zu steuern und schrieb den
Gutsherren vor unter ihren Arbeitern eine bestimmte Anzahl
freier Leute zu verwenden; die Absicht war gut, aber es ist
sehr zweifelhaft, ob für die Durchsetzung der Vorschrift durch
ernstliche Beaufsichtigung gesorgt ward.


Dem Sinken der italischen Bodenwirthschaft zur Seite
geht das rasche und künstliche Aufblühen des italischen Han-
dels und des Geldverkehrs. Die nächste Ursache war das
politische Uebergewicht Roms, das theils den Römern und
Latinern eine bevorrechtete Handelsstellung sicherte — in
den Provinzen waren sie die Herren im Hause und selbst in
vielen Clientelstaaten stand den Römern und Latinern ver-
tragsmäſsig Zollfreiheit zu — theils durch den Handel und
durch andere Kanäle von Westen und Osten eine Capital-
masse nach Rom führte, von der eine bestimmte Vorstellung
kaum zu gewinnen ist, die aber deutlich erscheint in der
nicht minder als die politische und militärische entschiedenen
Geldübermacht Roms gegen die übrige civilisirte Welt. Cha-
rakteristisch ist der Ausdruck, den ein Grieche von dem jün-
geren Scipio Africanus braucht, ‚für einen Römer sei er nicht
[624]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
reich gewesen‘. Einigermaſsen einen Maſsstab gewähren die
Angaben, daſs Lucius Paullus, der kein reicher Senator war,
ein Vermögen von 60 Talenten (90000 Thlr.) hinterlieſs, wäh-
rend allein die Mitgift jeder der Töchter des ältern Scipio
Africanus sich auf 50 Talente (75000 Thlr.) belief. Der
reichste Grieche des sechsten Jahrhunderts besaſs ein Ver-
mögen von 200 Talenten (300000 Thlr.); dagegen kosteten
Gladiatorenspiele, wie sie sich schickten für die Leichenfeier
eines angesehenen Römers, 300 Talente (450000 Thlr.). Zu
diesen ungeheuren Geldmitteln kam hinzu, daſs der kaufmän-
nische Associationsgeist geweckt und künstlich genährt ward
durch das System der römischen Regierung die Einziehung
der Einnahmen und die Ausführung der öffentlichen Werke
durch Mittelsmänner besorgen zu lassen, und zwar regelmäſsig,
vielleicht sogar gesetzlich, der gröſseren Sicherheit wegen nicht
durch Einzelne, sondern durch Gesellschaften. Aufs tiefste grif-
fen diese Associationen ein in die Wirthschaft im Ganzen
wie im Einzelnen; es gab kaum einen vermögenden Römer,
der nicht bei den Staatspachtungen betheiligt war, und nach
dem Muster dieser Unternehmungen und eng mit ihnen ver-
bündet organisirte sich der gesammte Groſs- und Geldhandel.
Ein kaufmännischer Geist bemächtigte sich der Nation, mit
seiner ganzen Pünktlichkeit im Leisten wie im Fordern, aber
auch mit seiner ganzen Gewissensweite und Unerbittlichkeit.
In Rom, sagt Polybios, schenkt keiner keinem, wenn er nicht
muſs, und Niemand zahlt einen Pfennig vor dem Verfalltag,
auch nicht unter nahen Angehörigen. Die Gesetzgebung selbst
ist von diesem Geiste kaufmännischer Moral durchdrungen;
Zusammenhaltung des Vermögens für sich und die Erben
wird gewissermaſsen Bürgerpflicht, die Uebernahme von Bürg-
schaften, das Geben von Geschenken und von Vermächtnissen
werden durch besondere Volksschlüsse beschränkt, die Erb-
schaften, wenn sie nicht an die nächsten Verwandten fielen,
wenigstens besteuert. An sich war diese Entwickelung natur-
gemäſs und hätte von groſsem Nutzen für Italien sein können,
wenn sie nicht mit dem Ruin des Ackerbaus zusammen auf-
getreten wäre; wie es war, mehrten sich wohl die Capitalien
des Volkes, aber auch diese allein. Dazu ist es bemerkens-
werth, daſs die sterilsten Verkehrszweige eben diejenigen
waren, die vorzugsweise in Rom Aufnahme fanden. Die Steuer-
pachtungen selbst waren nothwendig unproductiv wie alles
bloſse Hebungswesen; es kam noch hinzu, daſs die Pächter
[625]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
für die geringeren Geschäfte natürlich vorzugsweise Sclaven
verwandten. Der Geldhandel selbst und das gewerbmäſsige
Leihgeschäft sind wenig besser und doch ist kein Zweig der
commerciellen Industrie so eifrig von den Römern gepflegt
worden; nicht bloſs daſs die Banquiers die groſsen Unterneh-
mungen unterstützten, sondern sie verbreiteten sich auch
überall in den kleinen Verkehr und in den sämmtlichen Pro-
vinzen und Clientelstaaten ward es so zu sagen Monopol der
Römer den Geldsuchenden vorzuschieſsen. Italische Banquiers
und Kaufleute fingen an sich in Menge in den Provinzen und
den Clientelstaaten niederzulassen, um dort ihre bevorzugte
Stellung auszubeuten und in der Regel mit ihrem im Ausland
gewonnenen Vermögen seiner Zeit nach Italien zurückzukehren.
Der Handel Italiens ward mehr und mehr passiv. Selbst
gegen Norden, wo am ersten eine für Italien günstige Han-
delsbilanz erwartet werden könnte, scheint dies nicht der Fall
gewesen zu sein. Die Einfuhr der Sclaven, die aus den kel-
tischen und wohl auch schon aus den germanischen Ländern
nach Ariminum und den übrigen norditalischen Märkten ström-
ten, konnte man mit andern Waaren nicht decken, so daſs es
nothwendig schien im Jahre 523 die Ausfuhr des Silbergeldes
in das Keltenland zu verbieten. Rom war eben die Hauptstadt
der Mittelmeerstaaten und Italien Roms Weichbild; der Handel
aber einer jeden Hauptstadt, wenn sie nichts weiter als dieses
ist, muſs passiv werden und Rom suchte nicht etwas weiter
zu sein. Man besaſs ja Geld genug um die Waaren zu be-
zahlen; kaum daſs man sich die Mühe gab sie zu holen. Wie
es mit der italischen Schiffahrt stand, ist schwer zu sagen;
es scheint indeſs, daſs die rührige hellenische Nation im See-
verkehr den Vorrang behauptete vor den Italikern. Sicherer
ist es, daſs die Industrie in Italien verhältniſsmäſsig zurück-
blieb; nur das Bauwesen kam in Aufschwung durch die groſs-
artigen Anlagen von Straſsen und Gebäuden, die auf Kosten
des Staats und der Gemeinden, bald auch der einzelnen
Reichen ausgeführt wurden. Die Ausführung geschah regel-
mäſsig durch Accord mit den Unternehmern, die das Capital
hergaben und im Einzelnen die Arbeit meist durch Sclaven
ausführen lieſsen; selbst die Architekten waren groſsentheils
unfrei. Es zeigen sich keine Versuche die gewerbmäſsige
Industrie, wie sie in Aegypten, in Syrien und Phoenikien und
sonst bestand, nach Italien zu verpflanzen oder auch nur sie
in die Hände zu bekommen; man kaufte wohl aegyptisches
Röm. Gesch. I. 40
[626]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
Linnen und tyrischen Purpur, aber so viel wir wissen, ward
weder im Ausland noch im Inland von Italikern fabricirt. —
Während also der bisherige Mittelstand zu siechen beginnt,
und die Bauerschaft droht sich in Gutsbesitzer und Tagelöhner
oder Sclaven aufzulösen, bildet sich eine neue Mittelklasse
von Banquiers, die hinter dem senatorischen Stand mehr an
Geburt, Rang und Einfluſs zurückstehen als an Vermögen.
Es sind die Anfänge des Ritterstandes.


Daſs die Latinisirung Italiens in dieser Epoche rasch
vorschritt, ist begreiflich und war für das Land ein Glück.
Auſser den allgemeinen Umständen, die sie förderten, waren
es wieder besonders die Colonien und Einzelassignationen,
durch die die latinische Bevölkerung im Brettierland, in Pice-
num, vor allem im Pothal sich ausbreitete. Nur dem Grie-
chenthum gegenüber machte das latinische Wesen keine Er-
oberungen, wie es eben auch in den Verhältnissen dieser
hellenisirenden Epoche liegt; die Griechenstädte in Italien
blieben was sie waren, so weit nicht der Krieg sie zernichtete,
und in Apulien, das wie kein anderer Theil Italiens von den
Römern vernachlässigt ward und fast ganz mit Colonien ver-
schont blieb, scheint in dieser Epoche der Hellenismus voll-
ständig geherrscht und hier eine localgriechische Civilisation
ins Leben gerufen zu haben, die unter dem Einfluſs der ver-
blühenden hellenischen Cultur stand. Die Ueberlieferung
schweigt zwar davon; aber die zahlreichen städtischen Münzen
durchgängig mit griechischer Aufschrift und die Vasenmalerei,
die hier allein in Italien in groſsem Umfang, aber mit mehr
Pracht als Geschmack betrieben ward, zeigen uns Apulien voll-
ständig eingegangen in den Kreis griechischer Art und Sitte. —
Weit wichtiger indeſs als diese vereinzelte Erscheinung ist das
hellenisirende Wesen, das in der latinischen Nation auf jedem
Gebiet des Denkens und Handelns sich eindrängt und im
heftigsten Kampfe mit der Richtung, die an dem Glauben
und dem Leben der Väter festhält, immer weiter Boden ge-
winnt. Wohl haben Beziehungen zu Hellas und Einwirkung des
Griechenthums auf Rom auch in den beiden ersten Perioden
schon bestanden; zuerst die naive und originelle Aufnahme
der frischen Anregung, wie sie das jugendliche Griechenthum
den Italikern darbot, dann ein äuſserliches Anschlieſsen an
den hellenischen Volkskreis und die Aneignung der Sprache
und der Erfindungen der Griechen um den praktischen Be-
dürfnissen zu genügen. Allein jetzt ist es anders; das Hel-
[627]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
lenenthum ist weder bloſs Anregung mehr noch bloſs Neben-
sache, sondern es möchte das lateinische Wesen geradezu
verdrängen in Versmaſs und Dichtweise, Bau- und Bildkunst,
Familie und Religion — man möchte ein Grieche werden
mit seinem ganzen inneren Leben und nur eben fortfahren
mit römischen Worten zu reden. Die Ursache liegt nahe.
Rom hatte die Epoche der Civilisation erreicht, wo ein rei-
cheres geistiges Leben anfängt Bedürfniſs zu werden; und
wie die germanischen Nationen, Engländer wie Deutsche, in
den Pausen ihrer eigenen Productivität es nicht verschmähten
die armselige französische Civilisation sich anzueignen, so
warf sich die überhaupt unproductive italische Nation mit all
ihrem Sinnen und Denken auf die herrlichen Schätze wie auf
den schandbaren Unflat der hellenischen Cultur. Diese ein-
reiſsende neue Sitte aber weckt unvermeidlich ein Gegenstreben;
wie bei uns der französische Frack den germanischen Deutschrock
gerufen hat, so in Rom das fremde Wesen denjenigen Geist,
der gleichsam verkörpert erscheint in Marcus Porcius Cato
(520-605). Er pflegt als das Muster des ächten Römers
angesehen zu werden, weil er der letzte namhafte Staatsmann
der alten Schule war. Mit gröſserem Recht gilt er als der
Repräsentant der nationalen Opposition gegen den italischen
Hellenismus. Beim Pfluge hergekommen und in die politische
Laufbahn gezogen durch seinen Gutsnachbar, einen der we-
nigen Adlichen die dem Zug der Zeit abhold waren, Lucius
Valerius Flaccus, der in dem derben sabinischen Bauer den
rechten Mann erkannte um dem Strom der Zeit sich ent-
gegenzustemmen, hat er sein langes Leben daran gesetzt diese
Aufgabe redlich wie er es verstand nach allen Seiten hin zu
lösen und noch in seinem fünfundachtzigsten Jahr auf dem
Marktplatz dem neuen Zeitgeist Schlachten geliefert. Er war
nichts weniger als schön — grüne Augen habe er, behaupteten
seine Feinde, und rothe Haare — und politisch wie sittlich
gründlich bornirt; aber die elegante Corruption in und auſser
dem Senat zitterte doch im Geheimen vor dem derben tref-
fenden Bauernwitz des furchtlosen und schlagfertigen Mannes,
des narbenbedeckten Veteranen aus dem hannibalischen Kriege,
wenn er einem nach dem andern seiner vornehmen Collegen
sein Sündenregister auf dem Markt vorhielt, allerdings ohne
es mit den Beweisen sehr genau zu nehmen und freilich auch
immer mit besonderem Genuſs denjenigen, die ihn persönlich
gereizt hatten. Die Scipionen und die Flaminine sahen zwar
40*
[628]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
vornehm herab auf den ahnenlosen Beller und glaubten nicht
mit Unrecht ihn weit zu übersehen; aber es blieb denn doch
unbequem, daſs der Bauer sie alle bei der Bewerbung um die
Censur aus dem Felde schlug und dann als Censor 570 mit
seinem adlichen Gesinnungsgenossen Lucius Flaccus den Bru-
der des Africaners aus der Ritterliste strich wegen der an-
geblich von ihm unterschlagenen syrischen Gelder und den
Bruder des Befreiers der Griechen gar aus dem Senat stieſs
wegen der schandbaren Ermordung eines wehrlosen Feindes —
als Höchstcommandirender im gallischen Lager hatte derselbe,
um seinen Buhlknaben für die versäumten Fechterspiele zu
entschädigen, einen zu ihm sich flüchtenden Boier mit eigener
Hand beim Gelage niedergestoſsen. Cato stützte sich bei
seiner rücksichtslosen Opposition vor allem auf die Bauer-
schaft, die in ihren Comitien ihn nie fallen lieſs, so oft auch
seine Feinde ihn durch Anklagen zu stürzen suchten. Seinen
Gegnern stand die Adelspartei zur Seite, doch muſs es aner-
kannt werden, daſs der Adel, wo er als Gesammtheit auftrat,
in dieser Zeit noch keineswegs geneigt war seinen Mitgliedern
alles nachzusehen, sondern der Senat lange Zeit ernstliche
und wohlgemeinte Anstrengungen machte den ärgsten Miſs-
bräuchen zu steuern, weſshalb Cato auch im Senat eine un-
gemein ansehnliche Stellung einnahm. Ein groſser Mann
war er nicht und am wenigsten ein weitblickender Staats-
mann; nie hat er einen Versuch gemacht die Quellen des
Uebels zu verstopfen und sein ganzes Leben damit verbracht
gegen Symptome zu fechten und mit Polizei und Justiz den
Zeitgeist zu bannen. Aber wie er war, ein Feind aller Bü-
berei und Gemeinheit wie aller Eleganz und Genialität, hat
er durch seine furcht- und mitleidlosen Angriffe und durch
seine unglaubliche Rührigkeit dem Lande wenigstens das ge-
nützt, daſs der Strom der Corruption auf einige Jahrzehende
zurückgestaut ward.


Man findet die hellenistischen Tendenzen so wie die na-
tionale Opposition wieder auf allen Gebieten des Denkens
und des Thuns der damaligen Zeit; und fast überall ist auch
Cato wieder thätig. Ihren Keim aber und ihren wesentlichen
Sitz haben jene in der Litteratur und Kunst, welche in der
gegenwärtigen Epoche anfangen auch in Italien wie längst
schon in den griechischen Staaten ein wesentliches Element
der Politien und der Politik zu werden. Noch im Anfang
dieser Periode war das nicht der Fall. Man zeichnete auf
[629]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
zu privater und öffentlicher Erinnerung, sang sein Lied und
trieb seinen Spaſs in der landüblichen Wechselrede, dem
saturnischen Maſs. ‚Die Dichtkunst‘ sagt Cato, ‚ward nicht
geehrt; wer sich damit abgab oder bei den Gastmählern
herumzog, der hieſs ein Herumstreicher‘. Das waren Impro-
visatoren, wie sie noch heute durch die römischen Oste-
rien ziehen; eine Litteratur gab es nicht. Allmählich fing
man an die klassischen Werke der Griechen zu lesen, anfangs
vermuthlich bloſs um griechisch daraus zu lernen, das der
Kaufmann wie der Staatsmann brauchte; im Laufe der Zeit
aber entwickelte sich hieraus eine allgemeinere Kunde der
griechischen Litteratur. Zu Catos Zeit bereits war sie allge-
mein verbreitet; es kam schon vor, daſs Senatoren beim
Becher griechische Verse declamirten. Sehr bald schlossen
sich hieran Versuche in römischer Sprache zu dichten und
zu publiciren. Um das Ende des ersten punischen Krieges
verfertigte ein Grieche aus Tarent, Andronicus, eine Ueber-
setzung der Odyssee in saturnischem Maſs, vermuthlich statt
Commentars für die Schüler, die die Odyssee mit ihm lasen,
und Lust- und mehr noch Trauerspiele in griechischen Maſsen
und nach griechischen Mustern, die auch aufgeführt wurden;
doch erschienen der Mit- und Nachwelt diese Arbeiten mehr
als Curiositäten denn als Kunstwerke. Bedeutender in ge-
schichtlicher Beziehung ist Gnaeus Naevius (etwa 480-550),
der älteste lateinische Schriftsteller; er machte den Versuch
ein lateinisches Epos und Schauspiel zu schaffen, wobei er
in den Maſsen seinem Vorgänger folgte. Es ist Schade, daſs
wir nicht mehr im Stande sind über den merkwürdigen Mann
ein eigenes Urtheil zu gewinnen; so gewiſs auch er von Grie-
chenland seine Anregung empfing, so ist er doch, sowohl der
Zeit nach, in der er blühte, als seiner Herkunft und Stellung
nach — er war ein Latiner aus Campanien, vermuthlich aus
einer der Latinerstädte daselbst, wie Suessa oder Cales, und
focht mit im ersten punischen Krieg — als ganz besonders
nach den Spuren und Trümmern seines Wirkens zu schlieſsen,
keineswegs den Vertretern jenes oben bezeichneten Hellenis-
mus zuzuzählen. Vielmehr scheint er eine durchaus nationale
Richtung eingeschlagen und in wahrhaft genialer Weise die-
jenigen Elemente in dem italischen Volksleben aufgefaſst zu
haben, die einer poetischen Belebung fähig waren: die Chronik
und die Komik. Die erstere schuf er, indem er die Geschichte
des ersten punischen Krieges, den er selbst mitgemacht hatte,
[630]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
in saturnischen Versen schrieb — ein Werk, das etwa den
Reimchroniken des deutschen Mittelalters vergleichbar gewesen
sein mag. Vielleicht noch bezeichnender für seine nationale
Tendenz ist die Schöpfung des ernsten Schauspiels mit römi-
schem Costüm, der sogenannten Praetexta, die gleichfalls auf
ihn zurückgeht; in solchen Stücken stellte er ‚die Erziehung
des Romulus und Remus‘ und ‚die Schlacht bei Clastidium‘
von 532, also Sagen- und gleichzeitige Geschichte dar. Be-
deutender noch als diese Episirung und Dramatisirung der
Chronik sind seine Versuche gewesen die Komik poetisch zu
beleben. Er scheint dafür im Wesentlichen zwar die griechi-
schen Formen adoptirt zu haben; wie lebensfrisch aber und
ächt italisch dieselben gehandhabt wurden, bezeugt die An-
gabe, daſs er wegen seiner impertinenten Ausfälle gegen
angesehene Leute von der Polizei in Rom eingesteckt ward,
und erst wieder freikam, als er in andern Komödien öffentlich
Buſse und Abbitte gethan. Daſs die Polizei wenn nicht Recht,
doch Ursache dazu hatte, beweisen zum Beispiel die folgenden
Zeilen, die er an den Sieger von Zama zu richten beliebte:


Jener selbst, der groſse Dinge ruhmvoll oft zu Ende führte,
Dessen Thaten lebendig leben, der bei den Völkern allen allein gilt,
Den hat nach Haus der eigne Vater von dem Liebchen geholt im Hemde.


Wenn man bedenkt, daſs diese und andre des Aristopha-
nes nicht unwürdige Zeilen so ziemlich das früheste Schrift-
werk sind, das in Rom geschrieben ward, so mochte er nicht
ganz unbefugt in seiner Grabschrift von sich sagen, daſs mit
seinem Tode die lateinische Sprache in Rom zu Ende gehe *.
Er irrte aber; denn wenn auch das nationale Epos und
das nationale Schauspiel, die er zu schaffen gedachte, kein
rechtes Gedeihen fanden, so erwuchs doch die dreiste Lustig-
keit, die er in den Garten der lateinischen Poesie gepflanzt,
zu einem prächtigen Baum, dem einzigen daselbst, der nicht
als Zierpflanze frisch und fröhlich gedieh. Plautus († 570)
aus Sassina, einer ohne Zweifel in dieser Epoche schon völlig
latinisirten Stadt an der Grenze von Umbrien gegen das längst
lateinisch redende Picenum, war der rechte Vertreter dieser
Richtung. Seine Lustspiele, so sehr sie, in der Fabel na-
[631]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
mentlich vollständig, von den griechischen Mustern abhängen
und so wenig sie Anspruch machen auf die eigentliche Poesie
der Komik wie sie Aristophanes, Shakespeare und Cervantes
verstanden, sind doch mit ihrer nicht tiefen, aber drastischen
Darstellung der Charaktere, den ergötzlichen Verwicklungen,
vor allem dem natürlichen und raschen Dialog und dem
ewigen Sprudel lustiger Wendungen und vortrefflicher Späſse
einer der besten und originellsten Theile der lateinischen
Litteratur; und man kann hinzufügen, daſs auch in der Folge-
zeit nur diejenigen italischen Dichter, welche diesen Ton an-
schlugen, wie zum Beispiel Lucilius und zum Theil noch
Catull und Horaz, auf klingende Saiten trafen. Selbst das
geborgte Gut dieser Art ward leichter heimisch als wo in
den ernsteren und höheren Gattungen der Litteratur Entleh-
nungen stattfanden, denn während die Poesie von Haus aus
national ist und schwer zu verpflanzen, ist der Witz an sich
kosmopolitisch. Dagegen der Begründer und der rechte Ver-
treter des Hellenismus in der römischen Litteratur ist Quintus
Ennius (515-585). Ennius, wie Andronicus von Haus aus
wo nicht Grieche, doch Halbgrieche, messapischer Herkunft
nämlich und hellenischer Bildung, und ein Menschenalter
jünger als Naevius, gehört derjenigen Epoche an, wo mit dem
Ende des zweiten punischen Krieges das griechische Wesen
in Rom recht in Gang kam. Er brach geradezu mit der
älteren Richtung und rühmte sich dessen, indem er das ein-
zige, was in der römischen Poesie altnationalen Ursprungs
war, das saturnische Maſs beseitigte und durchgängig in die
griechischen Rhythmen die lateinische Sprache fügte oder
zwängte, und indem er auf einmal die ganze Mannigfaltigkeit
der griechischen Dichtgattungen, auch die didaktische Poesie
— er übersetzte naturphilosophische, mythologische, ja gastro-
nomische Lehrgedichte der Griechen —, vielleicht sogar die
griechische Lyrik nach Rom zu übertragen den Versuch machte.
Doch versteht es sich von selbst, daſs er die von seinem
Vorfahren festgestellten Gattungen nicht fallen lieſs, ja die me-
trische Staatschronik, die das Werk des Naevius durch Voll-
ständigkeit wie durch Eleganz verdunkelte und wohl auch
überhaupt einen höhern Ton anschlagend den Olymp und
die Götter mit in die Chronik zog, ist sein Hauptwerk ge-
blieben. Das Maſs seines Talents abzuschätzen vermögen wir
nicht mehr; die Composition war nach dem Urtheil der Alten
mangelhaft, wogegen im Einzelnen sprachlich und rhythmisch
[632]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
vortreffliche Stellen vorkommen *; mit Wahrscheinlichkeit darf
angenommen werden, daſs er mehr durch Gewandtheit und
Eleganz sich auszeichnete als durch geniale Productivität.
Wie Klopstock für den deutschen gab er sich für den römi-
schen Homer und ward dafür genommen; von ihm datirt
man später die römische Poesie oder wie ein Dichter der
ciceronischen Zeit sagt:


Als es Hannibal bezwungen, nahte mit beschwingtem Schritt
Sich im Kriegsgewand die Muse der Quiriten hartem Volk.


In beidem ist die Wahrheit enthalten, daſs während Nae-
vius und die seiner Richtung folgten sich so viel wie möglich
auf das Grenzgebiet der Poesie gegen die Prosa beschränkten,
Ennius zuerst wenigstens danach strebte ein Poet im vollen
Sinn des Wortes zu sein; und daſs wie Homer für die Grie-
chen so Ennius für die Römer den Ton angab, in den die
Späteren einstimmten, zunächst in der Tragödie Pacuvius,
Ennius Landsmann, in der Komödie Statius Caecilius, später
Terenz. Im Uebrigen freilich zeigt die officielle Parallelisirung
der homerischen Ilias und der ennianischen Jahrbücher durch
den fast komischen Contrast nur um so schneidender die
Schwäche der italischen Poesie, gleich wie die Bettelarmuth
unserer vorlitterarischen Zeit sich am deutlichsten in der
deutschen Sappho-Karschin und dem deutschen Pindar-Willa-
mov abspiegelt. Wie unsere Orangerien gegen die sicilischen
Orangenwälder steht die römische Litteratur gegen die griechi-
sche; man kann auch an jener sich erfreuen, nur darf man
sie nicht vergleichen. — Aehnlich stand es in den bildenden
Künsten, nur daſs die Römer sich hier bei weitem mehr
passiv verhielten. Von namhafter Kunstübung ist weniger
die Rede als in der vorigen Periode. Daſs das schon früher
[633]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
begründete System der Nutzbauten bei der günstigen finan-
ziellen Lage des Staats immer groſsartiger aufblühte, ward
schon bemerkt. Das Ende dieser Periode ist bezeichnet durch
die Anlage der sogenannten Basiliken, die etwa unsern heuti-
gen Bazaren entsprechen: groſsartige für Prachtläden wie für
öffentliche Zwecke geeignete Säulenhallen, die längs des Marktes
angelegt wurden und die bisherigen Privatläden verdrängten.
Der Urheber dieser für das hauptstädtische Leben wichtigen
Institution ist wiederum Marcus Cato, der in seiner Censur
(570) die erste dieser Hallen, die porcische oder die der
Silberschmiede, dem Rathhause zur Seite anlegen lieſs; neben
welcher bald andere sich erhoben. — Indeſs wenn von römi-
scher Kunstübung aus dieser Epoche wenig berichtet werden
kann, so fingen dagegen die Kunstliebe und die Kunstkenner-
schaft an nothwendige Erfordernisse des gebildeten Mannes
zu werden. Selbst ein Mann wie Lucius Paullus, der keines-
wegs unbedingt einstimmte in die moderne Weise, betrachtete
und beurtheilte den Zeus des Pheidias mit Kennerblick. Da-
mit hing denn zusammen das Wegführen der Kunstschätze
aus den eroberten griechischen Städten, zuerst in gröſserem
Umfang aus Syrakus nach der Einnahme durch Marcus Mar-
cellus 542, dann aus dem eigentlichen Griechenland na-
mentlich durch Titus Flamininus 560 und durch Marcus
Fulvius Nobilior 567, zwei Hauptvertreter des römischen Hel-
lenismus, endlich durch Lucius Paullus 587. Die nationale
Partei begnügte sich auf dies Dilettiren mit fremder Litteratur
und Kunst verächtlich herabzusehen, ohne geradezu sich da-
gegen aufzulehnen. Quintus Ennius, der seine poetischen
Erfolge der Verherrlichung der vornehmen Römer und ihrer
Ahnen wesentlich mit verdankte und recht im Gegensatz zu
Naevius als dienstwilliger Client der Scipionen, der Flaminine,
der Fulvier lebte und schrieb, lobte zwar als vorsichtiger
Mann, der es mit keinem verdarb, auch Catos spanische Tha-
ten in seiner Chronik nach oder über Gebühr; darum aber be-
kam Marcus Fulvius Nobilior nicht minder von Cato zu hören,
daſs es sich für den römischen Beamten nicht schicke einen
solchen Menschen wie den messapischen Poeten in seinem
Gefolg in die Provinz mitzunehmen. Das Wegschleppen der
Kunstwerke ward laut miſsbilligt; wie der alte Quintus Ma-
ximus, Catos Ideal des ächten Römers, als nach der Eroberung
Tarents wegen der Bildsäulen bei ihm angefragt ward, zur
Antwort gegeben hatte, daſs man den Tarentinern ihre er-
[634]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
zürnten Götter lassen möge, so schalt Cato auf die, die über
die altmodischen Thonbilder auf den Tempeldächern spotteten.
Poesie und Kunst galten als Handwerk, das für geringe Leute
und Fremde sich wohl schicke, aber für angesehene Bürger
unziemlich war; und diese Auffassung blieb lange Zeit die
herrschende in Rom.


Später als Litteratur und Kunst fingen die griechischen
Wissenschaften an in Rom sich einzubürgern. Am frühesten
wahrscheinlich die Grammatik, die mit den Anfängen der
Litteratur um Naevius Zeit begonnen zu haben scheint, in-
dem man die wissenschaftlichen Grundsätze, nach denen die
griechische Sprache behandelt ward, auch auf die lateinische
übertrug. Dieser Zeit an gehört die Regulirung des römi-
schen Alphabets durch Beseitigung der veralteten Zeichen
und Aufnahme des schon seit längerer Zeit wieder eingeführ-
ten g an die Stelle des ausgestoſsenen z; womit ohne Zweifel
auch eine allmähliche Feststellung der Rechtschreibung zu-
sammenhing. Es knüpft sich jene Regulirung des Alphabets
an den Namen des Spurius Carvilius, der vermuthlich schon
förmlichen Sprachunterricht gab. Der Grammatik folgte die
griechische Heilkunst — der erste griechische Arzt kam 535
nach Rom — und die griechische Geschichtschreibung, welche
Quintus Fabius und Lucius Cincius, beides senatorische und
während des zweiten punischen Krieges in Staatsgeschäften
thätige Männer, zuerst einführten und dabei nicht bloſs im
Gegensatz gegen die alte einheimische Chronik griechischen
Pragmatismus, sondern sogar statt der eigenen die griechische
Sprache anwandten. Die Rhetorik und Philosophie fanden
erst in den letzten Decennien dieser Epoche ihren Weg nach
Rom. Diese griechischen Wissenschaften, die Medicin, die
Historie, die Rhetorik, die Philosophie traf der volle Haſs der
Männer nationalen Strebens und die ernstlichsten Versuche
wurden gemacht sich der Feinde zu erwehren. Vor allen
Dingen ward die Polizei zu Hülfe gerufen. Je zahlreicher die
jungen Leute den fremden Philosophen zuströmten, desto
mehr eilte der Senat die sämmtlichen griechischen Philosophen
und Rhetoren aus der Stadt zu weisen (593) — nachdem
Cato den vielbewunderten Karneades gehört, erklärte er im
Senat, daſs der Mensch nothwendig fortgeschafft werden müsse,
denn wenn er Gründe und Gegengründe aufzähle, könne Nie-
mand daraus klug werden, auf welcher Seite das Recht sei.
Die griechischen Aerzte ebenso auszuweisen war leider nicht
[635]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
wohl möglich; Cato muſste sich begnügen in seinen Schriften
die Hausmittel anzupreisen, die ihm und seiner Frau ein
langes Leben und dauernde Gesundheit verschafft hätten, und
die fremden Heilkünstler mit einem Eifer herunterzumachen,
der einer bessern Sache würdig war. * Man erlangte wenig-
stens so viel, daſs das Gewerbe gebrandmarkt ward und Jahr-
hunderte lang kein freier Römer sich zu demselben hergab.
Wie Cato über seine Collegen im Senat dachte, die die römi-
sche Geschichte griechisch schrieben, zeigt seine Frage an
den Aulus Postumius, der wegen seines schlechten Griechisch
in der Vorrede seines Geschichtwerks sich als Ausländer ent-
schuldigte, wer ihn denn gezwungen habe Dinge zu treiben,
die er nicht verstehe. Dieser freilich, der sogar griechische
Verse herausgab, gehörte zu den schlimmsten Graecomanen
und machte durch sein widerliches Hellenisiren allen verstän-
digen Leuten sich und die Sache zum Gespött und zum Ekel.
— Aber die nationale Partei beschränkte sich nicht auf den
Tadel des gelehrten hellenisirenden Treibens; sehr ernstlich
war wenigstens Cato selbst bemüht an die Stelle dieser grie-
chischen eine römische Wissenschaft und eine römische Ge-
schichtschreibung zu setzen und von all den vielfachen Be-
strebungen des thätigen Mannes ist keine so achtbar und so
erfolgreich gewesen. Er stand hierin wie es scheint ziemlich
allein; auſser ihm war nur noch etwa thätig in gleicher Rich-
tung sein Zeitgenosse Sextus Aelius Paetus, zugenannt der
Schlaue (Catus), der nicht bloſs der erste praktische Jurist
seiner Zeit war und auf diesem Wege zum Consulat (556)
und zur Censur (560) gelangte, sondern auch ein Buch über
das Landrecht schrieb, worin zu jedem Satz der zwölf Tafeln
die Erläuterung und das entsprechende Klagformular hinzu-
gefügt war, das sogenannte ‚dreitheilige Buch‘ (tripertita).
[636]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
Wahrscheinlich waren die Formulare im Wesentlichen der
Sammlung des Appius entlehnt; die Erläuterung bestand wohl
hauptsächlich in einer Erklärung der veralteten Ausdrücke
und darf in Verbindung gebracht werden mit der eben damals
aufblühenden Wissenschaft lateinischer Grammatik. Im übrigen
beschränkten sich die Rechtsgelehrten dieser Zeit auf die
praktische Thätigkeit, das heiſst auf die Bescheidung der an-
fragenden Parteien und auf die Bildung der zuhörenden jün-
geren Leute. — Aber so einsam Cato stand, so ersetzte er
doch dies einigermaſsen durch seine vielumfassende Thätigkeit.
In der Wissenschaft sollte alles unmittelbar Praktische, aber
auch dieses allein und dies möglichst kurz und schlicht zu-
sammengefaſst werden; wobei die Schriften der Hellenen be-
nutzt wurden — ‚die griechischen Bücher muſs man einsehen,
aber nicht auswendig lernen‘, lautet einer von Catos Weis-
sprüchen —, aber nur um aus dem Wust unnützer Betrach-
tungen einzelne brauchbare Erfahrungssätze zu gewinnen.
In dieser Weise hatten ja auch schon die Vorfahren grie-
chische Erfindungen sich angeeignet; in ihrem Sinne fort-
fahrend faſste Cato das Ergebniſs seiner Bestrebungen zusam-
men in einem merkwürdigen Buche, das für die spätere
Entwicklung der römischen Litteratur sehr wichtig geworden
ist, einer Art Encyclopädie, die er seinem Sohne zuschrieb
und in der in kurzen Sätzen dargelegt war, was ein ‚braver
Mann‘ (vir bonus) sein müsse als sittlicher Mensch überhaupt,
als Redner, als Kriegsmann, als Landmann, als Rechtskundiger
und als Arzt. Daſs diese Bücher, deren recht eigentliche Be-
stimmung war mit der Spitzfindigkeit und Unklarheit auch
den Scharfsinn und den Tiefsinn der Griechen zu verbannen,
im Ganzen nicht mehr sein wollten noch waren als schlichte
häusliche Noth- und Hülfsbücher, versteht sich von selbst;
aber eben so sehr, daſs es an kernigen Sprüchen nicht fehlte,
wohin zum Beispiel die goldene Regel für den Redner gehört ‚an
die Sache zu denken und die Worte sich von selber geben zu
lassen‘ — eine Regel, die die Nachfahren öfter anführten als
befolgten. — Ohne Zweifel höher stand Catos Geschichtswerk,
die ‚Anfänge‘ genannt; das erste römische Geschichtbuch, das
sich losmachte einerseits aus den Fesseln der Jahrzeitbuch-
form, andrerseits aus denen der griechisch schreibenden Hi-
storiographie, und das wir, wenn die Ungunst der Zeiten es
uns gegönnt hätte, wohl würden stellen dürfen neben die
Musen Herodots. Cato erzählte nicht in Chronikenweise die
[637]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Ereignisse Jahr für Jahr, sondern die Geschichte in gröſseren
Abschnitten — zuerst im ersten Buch die Sage von Roms
Gründung, der Königszeit und der Vertreibung der Tarquinier;
alsdann im zweiten und dritten die ähnlichen Sagen von dem
Ursprung der übrigen italischen Gemeinden und deren Eintritt
in die römische Eidgenossenschaft, hierauf im vierten und fünf-
ten die Kriege vom ersten punischen bis auf den Krieg mit
Antiochos, endlich in den letzten beiden Büchern die Ereig-
nisse der letzten zwanzig Lebensjahre des Verfassers. Es ist
charakteristisch, daſs die Epoche von der Vertreibung der
Könige bis auf den ersten punischen Krieg gewissermaſsen
fehlt; offenbar weil wohl die Sage und die Geschichte, nicht
aber die zwischen beiden in der Mitte liegende Zeit eine zu-
sammenhängende Erzählung gestattete. Ebenso charakteri-
stisch ist die sonst unerhörte ausführliche Berücksichtigung
der übrigen italischen Gemeinden; man sieht, daſs die Oppo-
sition gegen das hauptstädtische Treiben auf die Landschaft
sich stützte. Die letzten Bücher müssen anders und ausführ-
licher die Ereignisse geschildert haben; zu ihnen eine Art
Ergänzung bildeten die Staatsreden, die Cato gleichfalls, zuerst
unter den Römern, aufzuzeichnen anfing — es waren gewisser-
maſsen politische Memoiren, Nachträge zu seinem Hauptwerk,
in das er auch mehrere der Reden einrückte. In der Rede-
schriftstellerei fand er zahlreiche Nachfolger; das originelle
Buch der ‚Anfänge‘ hat seinen Platz in der römischen Litte-
ratur behauptet, aber eine Schule nicht begründet — der
römische Thukydides blieb aus. Aber daſs, während Poesie
und bildende Kunst dem Handwerk gleich geachtet wurden,
die Beschäftigung mit den Nützlichkeitswissenschaften und
mit der Geschichte auch den Staatsmann ehre, war ein Grund-
satz, den zuerst Cato entschieden auf- und für längere Zeit
bei seiner Nation feststellte.


Dieselben Parteien, die in Kunst und Wissenschaft sich
befehdeten, standen sich auch gegenüber in den Fragen der
religiösen, politischen und sittlichen Zucht. Man stand eben
an der Grenze zweier Epochen und auf jedem Gebiet des
menschlichen Thuns und Sinnens rangen der italische Bauer
und der weltbürgerliche Groſsstädter. Der Einfluſs der helle-
nischen Civilisation des siebenten Jahrhunderts mit ihrer bei-
spiellosen Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit ist eben in dem
Religionswesen sehr sichtbar und sehr nachtheilig. Der alte
einfache Glaube der Italiker war wie es fiel die Bewunderung
[638]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
oder der Spott der Griechen; in den Kriegen gegen die Ae-
toler höhnten deren Offiziere die Römer, daſs sie ihre Feld-
herren in die Schlacht schickten um zu opfern, wogegen der
einsichtigere Polybios mit seiner etwas platten Gescheitheit
die Römer gar sehr belobt wegen dieser politisch so wirksamen
Hegung der Götterfurcht und seine Landsleute belehrt, daſs
sie sich darüber nicht wundern möchten: alles das geschehe
um der Menge willen und es könne doch kein Staat bestehen
aus lauter klugen Leuten. Aber schon fingen Unglaube und
Aberglaube an die Grundlagen der einheimischen Religion zu
unterwühlen. Schon im ersten punischen Krieg (505) kam
es vor, daſs mit den Auspicien, die vor der Schlacht befragt
werden, der Consul selbst sträflichen Spott trieb — freilich
ein Consul aus dem übermüthigen und im Guten und Bösen
der Zeit voraneilenden Geschlecht der Claudier. Als die Kunst-
liebhaberei dann einriſs, schmückten heilige Bildnisse der
Götter gleich anderem Hausgeräth die Zimmer der Reichen,
worüber Catos frommer Eifer vergeblich zürnte. Bedenklicher
noch ist das Einreiſsen des wüsten Aberglaubens, den nament-
lich die schweren Zeiten des hannibalischen Krieges weckten.
Die Regierung selbst konnte nicht umhin sich dem zu fügen;
als in den letzten bangen Jahren des hannibalischen Krieges das
Orakel gebot die phrygische Göttermutter aus Pessinus, einer
Stadt der kleinasiatischen Gallier, nach Rom zu holen, muſste
der Senat wohl oder übel sich dazu entschlieſsen eine Gesandt-
schaft zu entsenden und die feierliche Einholung des rauhen
Feldsteins anzuordnen, den die pessinuntischen Priester als
das rechte Abbild der Mutter Kybele den Fremden verehrt
hatten (550), ja zur ewigen Erinnerung an das fröhliche
Ereigniſs unter sich Clubgesellschaften stiften, bei denen die
Pflicht die Gesellschaft zu bewirthen unter den Mitgliedern
umging — Gesellschaften, die für das festere Zusammen-
schlieſsen der vornehmen Familien und das beginnende He-
tärienwesen nicht ohne Wichtigkeit gewesen zu sein scheinen.
Aber schlimmer als diese anfangs wenigstens unschuldigen
Sodalitäten war es, daſs mit diesem öffentlich anerkannten
Cult der Göttermutter die Gottesverehrung der Orientalen zum
erstenmal Fuſs faſste in Rom. Der ganze wüste Apparat jener
Priester, die zu Ehren der Göttin sich castrirt hatten und
mit ihrem Erzpriester an der Spitze in Purpurgewändern und
unter dem Schall der Pfeifen und Pauken in feierlichem Ge-
pränge durch die Straſsen zogen und den bettelnden Pfaffen
[639]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
an jeder Thüre für die Göttin eine Gabe heischen lieſsen, war
damit übergesiedelt nach Rom, und wenn auch zunächst man
streng darauf hielt, daſs die Priester dieser neuen Göttin —
die Galli und ihr Haupt, der Archigallus — nicht Römer
waren, sondern Kleinasiaten, so muſste dennoch dies sinnlich-
mönchische Treiben vom wesentlichsten Einfluſs auf die Stim-
mung und die Anschauung des Volkes sein. Die goldene Zeit
der Bettelpropheten beginnt; vergeblich stemmten die einsich-
tigeren Männer sich gegen das um sich greifende Gesindel.
Die Polizei wies die Schwindler aus der Hauptstadt; der Senat
verbot jede nicht vom Staat gestattete Gottesverehrung; allein
wenn einmal die Köpfe verrückt sind, so legen sie selbst auf
höhern Befehl nicht sofort sich zur Ruhe. Mehr nützte es, wenn
ein Gutsherr seinem Meier in den Contract setzte: ‚daſs er kein
Opfer darbringen dürfe anders als an dem Markfest auf dem
Grenzaltar oder auf seinem eigenen Heerd, und daſs er nicht
befragen solle weder einen Eingeweidebesichtiger noch einen
Vogelschauer noch einen Wahrsager noch einen Chaldäer‘ —
wie Cato that und anrieth; allein solche strenge Zucht war
auch nicht mehr nach dem Geschmack der Zeit. Nicht bloſs
machte jeder ausländische Schwindel Glück in den niederen
wie in den höheren Kreisen, sondern es ward auch schon
einheimischer geliefert; so entdeckte man zum Beispiel im
Jahre 573 die hinterlassenen Schriften des Königs Numa, in
denen ganz neuer und seltsamer Gottesdienst vorgeschrieben
gewesen sein soll — mehr als dies und daſs die Bücher sehr
neu ausgesehen hätten, erfuhren die Glaubensdurstigen zu
ihrem Leidwesen nicht, denn der Senat legte die Hand auf
die Rollen und lieſs sie kurzweg ins Feuer werfen. Wohin
das führen konnte, zeigt der bakchische Geheimdienst, der
durch einen griechischen Pfaffen zuerst nach Etrurien und
von da aus nach Rom und über ganz Italien verbreitet wor-
den war — eine Muckerwirthschaft der scheuſslichsten Art,
mit Unzucht, Testamentsfälschungen und Giftmischerei im Ge-
folge, um sich fressend wie ein Krebs und überall die Fami-
lien zerrüttend. Der Senat schritt ein mit furchtbarem, aber
heilsamem Nachdruck, als die Sache zur Anzeige kam (568);
die Behörden verurtheilten über 7000 Menschen, groſsentheils
zum Tode, und strenge Vorschriften ergingen für die Zukunft.
Dennoch ging die Wirthschaft fort; noch 574 klagte der be-
treffende Beamte, daſs wieder 3000 Menschen verurtheilt
worden seien und noch kein Ende sich absehen lasse. Die
[640]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
andere Seite zu diesem um sich greifenden Cult der auslän-
dischen Mysterien war es denn, daſs die Priester der Landes-
religion anfingen für ihre nutzbaren Privilegien zu kämpfen,
zum Beispiel Anspruch machten auf Befreiung von den öffent-
lichen Abgaben und sehr unwillig die Rückstände nachzahl-
ten (558).


Aehnliche Erscheinungen begegnen im politischen Leben,
wo die alte Sitte und die neue Weise gleichfalls oft sich
schroff gegenübertraten. Der wunderlichste und der folgen-
reichste unter den neuen politischen Gedanken dieser Epoche
ist jenes Project einer Emancipation der Hellenen, dessen
schmählicher Schiffbruch früher dargestellt ward; man kann
dies als die fixe Idee der neuen Schule bezeichnen, eben wie
die Karthagerfurcht die fixe Idee der alten gewesen und denn
auch von Cato bis zur Lächerlichkeit gepredigt worden ist.
Ueberall beginnen die alten ehrbaren Gebräuche zu verschwin-
den und was sich sonst von selbst verbot, muſs durch Gesetze
untersagt werden. Dahin gehört zum Beispiel, daſs auch die,
welche keine Schlachten geschlagen hatten, anfingen sich um
die Ehre des Triumphs zu bewerben (zum Beispiel 574); daſs
blutjunge Leute sich zu den höchsten Aemtern drängten, bis
ein Gesetz dagegen erlassen ward; dahin vor allem die immer
mehr überhand nehmende Behandlung der Criminalsachen in
den Volksgerichten nicht nach Recht und Gerechtigkeit, son-
dern nach Gunst und Mitleid. Es kam schon vor, daſs einem
Feldherrn, der die ihm auf Treue und Glauben sich ergeben-
den Bundesgenossen wortbrüchig hatte niedermetzeln lassen,
seine eigenen Thränen und die seiner unmündigen Kinder
die Freisprechung verschafften. Wie sehr die Kriegszucht und
der kriegerische Geist des Volkes im Sinken war, bewies der
panische Schreck, der in dem unbedeutenden istrischen Krieg
Heer und Flotte der Römer, ja ganz Italien in einer kaum
glaublichen Weise ergriff (576) und wegen dessen Cato seinen
Landsleuten eine eigene Strafrede hielt; ja im dritten make-
donischen Krieg ward durch die elende Disciplin in der That
schon das Wohl des Staates auf das Spiel gesetzt. Nicht
ganz mit Unrecht wird dies Erschlaffen der Kriegszucht zurück-
geführt auf den Sieger von Zama. Die alte schöne Sitte, daſs
der Oberfeldherr des einen Jahres in einem andern wieder
als Stabsoffizier eintrat, wird schon selten; es ist Demonstra-
tion gegen die neue Schule, daſs Cato und Flaccus sich in
dieser Art unter Glabrios Oberbefehl stellen. Wie sehr das
[641]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Landvogtspielen den römischen Beamtenstand demoralisiren
muſste, ist schon in einem andern Zusammenhang angedeutet
worden; derselbe Mann, der heute im Ausland eine gesetz-
liche Militärtyrannis geführt hatte, konnte unmöglich sich
wieder zurückfinden in die bürgerliche Gemeinschaft, die wohl
Befehlende und Gehorchende, aber nicht Herren und Knechte
unterschied. Wo man den Blick auch hinwendet, klaffen in
dem alten Bau Risse und Spalten; es ist nur eine Zeitfrage,
wann er stürzen wird, und was die Hauptsache ist, nirgends
gewahrt man die Vorbereitungen zu einem ernstlichen und
ehrlichen Neubau.


Endlich das Familienleben und die Sittenzucht sind gleich-
falls im Sinken. In den vornehmsten Häusern kamen ent-
setzliche Verbrechen vor; in denen zum Beispiel der Calpur-
ner und der Fulvier ward der Vater ermordet von der Mutter
um dem Sohn Platz zu machen für das Consulat; Pläne ka-
men zur Anzeige die Hauptstadt an allen Ecken anzuzünden.
Die Familienbande erschlafften; die Ehelosigkeit ward immer
häufiger — schon 520 suchten die Censoren ihr entgegen zu
wirken —, ebenso die Geldheirathen und die Ehescheidungen.
Aber nichts ist so auffallend wie die beginnende Emancipation
der Frauen zunächst in ökonomischer, demnächst auch in
anderen Beziehungen. Die alte Sitte der Römer stellte die
verheiratheten Frauen unter die eheherrliche Gewalt, die der
väterlichen durchaus gleich war, die unverheiratheten unter die
ihrer nächsten Verwandten, die der väterlichen nahe kam;
allein es ward immer gewöhnlicher die Ehe einzugehen ohne
Uebertragung der eheherrlichen Vormundschaft an den Mann
und der Frau dabei die vermögensrechtliche Selbstständigkeit zu
wahren, die Vogtschaft der Verwandten aber durch Schein-
ehen zu sprengen. Wie bedenklich die Anzahl der reichen
und selbstständigen Frauen der Regierung erschien, zeigt das
exorbitante Gesetz vom Jahre 585, das die Erbeinsetzung der
Frauen überhaupt verbot, und die Erstreckung dieses Satzes
durch die Praxis auf die wichtigsten Fälle der Collateralerb-
schaften, die ohne Testament an Frauen fielen. Aber auch in
öffentlichen Dingen fingen die Frauen an einen Willen zu
haben und ‚die Herrscher der Welt zu beherrschen‘, wie Cato
sagte, der in seiner Rede über die Mitgiften vergeblich an die
guten alten Zeiten erinnerte, da die Frau dem Mann unter-
than war und ihm Buſse thun muſste für den Ehebruch wie
für das Weintrinken. Schon erhoben sich in den Provinzen
Röm. Gesch. I. 41
[642]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
Statuen römischer Frauen; ja in der römischen Volksversamm-
lung selbst setzte trotz Catos eifrigem Schelten ihr Einfluſs
es durch, daſs die alten Verbote des Goldschmuckes, der
bunten Kleider, der Wagen gesetzlich aufgehoben wurden. —
Die Ueppigkeit stieg in Schmuck und Speisen, in der Ver-
zierung der Villen wie in der einreiſsenden Mätressen- und
Knabenwirthschaft; namentlich seit das Heer aus Kleinasien
zurückgekehrt war, fand eine Masse neuer und frivoler Luxus-
artikel ihren Weg nach Rom und es begann die wissenschaft-
liche Kochkunst. Gesetze dagegen werden wohl erlassen; der
ausländische Wein ward untersagt und als Maximum der Kosten
einer Festmahlzeit 100 schwere Asse (5½ Thlr.), einer gewöhn-
lichen 10 (16 Gr.) festgesetzt durch ein Gesetz vom Jahre 593;
allein gleichzeitig bezahlte man nach Catos Bemerkung für
einen Topf Sardellen aus dem schwarzen Meer mehr als für
einen Ackerknecht und einen hübschen Knaben theurer als
ein Bauerngut. Das Leben ward unverhältniſsmäſsig theuer
in Rom und namentlich stiegen die Miethen; und doch stieg
in gleichem Maſs die Arbeitsscheu und das Bedürfniſs zu
lottern und zu gaffen. Die Zahl der Festtage wurde vermehrt;
die Floralien kamen 516, die Megalesien 560 hinzu; seit
dem Ende des zweiten punischen Krieges wurde es häufig,
daſs man das eben beendigte Fest noch einmal wieder von
vorn beginnen lieſs; die Gelegenheitsfeste bei Leichenfeiern
vornehmer Männer und sonst wurden immer zahlreicher und
ihre Ausstattung immer verschwenderischer. Die Pracht der
Spiele wurde allmählig der Maſsstab, nach dem das Volk die
Tüchtigkeit der Candidaten zu den Staatsämtern bemaſs. Man
war ganz nah an dem idealen Zustand, daſs jeder Tagedieb
wuſste, wo er jeden Tag verderben konnte. Schon 534 war
ein zweiter Rennplatz angelegt worden, bezeichnend genug
von Gaius Flaminius, dem ersten Demagogen von Profession,
den Rom hervorgebracht hat; er mag sich mit dieser Verdop-
pelung der Spielplätze die Erlaubniſs erkauft haben die Schlacht
am trasimenischen See zu liefern. Die Spiele selbst wurden
andere. Die unschuldigen Pferde- und Wagenrennen nach
groſsgriechischer Weise, die etruskischen Flötentänze genügten
nicht mehr. Mit 490 beginnen die Fechterspiele nach cam-
panischer, mit 514 die scenischen nach tarentiner Weise, mit
568 die Thierhetzen und in diesem Jahre traten auch zuerst
griechische Athleten auf; die bedeutenden Kosten wurden
überall groſsentheils auf die Provinzialen gewälzt. Was von
[643]VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
bildenden Elementen in den scenischen und musischen Spielen
lag, gab man von vorn herein dadurch Preis, daſs man diese
Lustbarkeiten vorwiegend für den gemeinen Mann bestimmte und
es der Absicht der Geber geradezu entgegen war den Genuſs
einem ausgewählten Kreis zu bereiten. Wie das Publikum be-
schaffen war, zeigt der Auftritt bei den Triumphalspielen 587,
wo die ersten griechischen Flötenbläser, da sie mit ihren Melo-
dien miſsfielen, vom Regisseur angewiesen wurden lieber sich
unter einander zu prügeln, worauf denn der Jubel kein Ende
nehmen wollte. — Unter solchen Verhältnissen muſste freilich
und vor allen Dingen in der Hauptstadt Geld und nichts als
Geld die Losung werden für Hoch und Niedrig. Schon lange
that in Griechenland Niemand etwas umsonst, wie die Grie-
chen selbst eingestanden; seit dem zweiten makedonischen
Krieg fingen die vornehmen Römer an auch in dieser Hin-
sicht zu hellenisiren und es wird schon als etwas Besonderes
angemerkt, daſs Paullus, der Sieger von Pydna, kein Geld
nahm. Man vermied es geradezu zu stehlen; aber alle krum-
men Wege zu schnellem Reichthum schienen erlaubt: Zins-
und Kornwucher, Lieferantenbetrug, Geldheirathen, Verun-
treuung der Beute. Ja das Stimmrecht schon ward einzeln
feil, wenn gleich im Ganzen die Wählerschaft noch zu achtbar
war, als daſs directe Wahlbestechung systematisch hätte be-
trieben werden können. Vor allem aber war es die Verwal-
tung der Provinzialstellen, die bald Ehrenämter nur noch
hieſsen, die als Mittel zu schnellem Reichthum betrachtet
ward; und was das Amt war für die Groſsen, war für den
gemeinen Mann der Kriegsdienst. Die Veteranen aus dem
zweiten makedonischen und dem kleinasiatischen Krieg waren
durchgängig als wohlhabende Leute heimgekehrt. Dies war
die Ursache, weſshalb zum dritten makedonischen Krieg so
zahlreiche Freiwillige sich meldeten; und als Lucius Paullus
ihnen dann nicht hinreichend nach Willen lebte, fehlte wenig
daran, daſs ihm nicht mittelst Volksbeschluſs wesentlich durch
seine eigenen Soldaten die Ehre des Triumphs entzogen wurde.
Selbst solche Dinge, die nach römischer Ansicht für Geld zu
leisten schimpflich war, wie namentlich der Rechtsbeistand,
wurden käuflich, indem der Sachwalter anfing ‚Geschenke‘ zu
nehmen; was dann freilich durch Volksschluſs untersagt ward.
Nur die Rechtswissenschaft hielt sich rein von solcher Schande;
auch ohne Gesetz blieben die Rechtsverständigen bei ihrer ehr-
baren Sitte den guten Rath umsonst zu geben. Aber es war
41*
[644]DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
dies eine einzelne Ausnahme, wenigstens in der Hauptstadt.
Die Masse der Bevölkerung fand keinen Genuſs in der Arbeit
mehr und arbeitete nur, um so schnell wie möglich zum
faulen Genuſs zu gelangen. Wahrlich, die Pandorabüchse, die
das Schicksal den Römern zugetheilt hatte, war eine Gabe
von zweifelhaftem Werth.

Appendix A

Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.

[]
Notes
*

Ihren Klang mögen einige Grabschriften vergegenwärtigen; wie ϑεο-
τοϱας artahiaihi bennarrihino und dazihonas platorrihi bollihi.
*
Lᾰtium doch wohl von derselben Wurzel wie πλατύς lᾰtus (Seite);
auch l±tus (breit) ist verwandt.
*
Ein französischer Statistiker, Dureau de la Malle, vergleicht mit der
römischen Campagna die Limagne in Auvergne, gleichfalls eine weite sehr
durchschnittene und ungleiche Ebene, mit einer Bodenoberfläche aus decom-
ponirter Lava und Asche, den Resten ausgebrannter Vulcane. Die Bevölke-
rung, mindestens 2500 Menschen auf die Quadratlieue, ist eine der stärksten,
die in rein ackerbauenden Gegenden vorkommt, das Eigenthum ungemein
zerstückelt. Fast der ganze Ackerbau wird von Menschenhand beschafft, mit
Spaten, Karst oder Hacke; nur ausnahmsweise tritt dafür der leichte Pflug
ein, der mit zwei Kühen bespannt ist und nicht selten spannt an der Stelle
der einen sich die Frau des Ackersmanns ein. Das Gespann dient zugleich
um Milch zu gewinnen und das Land zu bestellen. Man erntet zweimal im
Jahre, Korn und Kraut; Brache kommt nicht vor. Der mittlere Pachtzins
für einen Arpent Ackerland ist 100 Franken jährlich. Würde dasselbe Land
statt dessen unter sechs oder sieben groſse Grundbesitzer vertheilt werden;
würden Verwalter- und Taglöhnerwirthschaft an die Stelle des Bewirthschaf-
tens durch kleine Grundeigenthümer treten, so würde in hundert Jahren
ohne Zweifel die Limagne öde, verlassen und elend sein wie heutzutage die
Campagna di Roma.
*
Aricia doch wohl die Brache, von arare.
*
Die Quinctilier, die mit ihnen genannt werden, müssen, da sie albi-
scher Herkunft sind, nach Albas Zerstörung hinzugetreten sein so gut wie
viel später die Iulier.
*
Dahin gehören zum Beispiel Inschriften caeritischer Thongefäſse wie: mi-
niceϑumamimaϑumaramlisiaiϑipurenaieϑeeruisieepanamineϑunastavhelefu
oder:
mi ramuϑaf kaiufinaia.
**
Wie die Sprache jetzt klingen mochte, davon kann einen Begriff ge-
ben zum Beispiel der Anfang der groſsen perusiner Inschrift: eulat tanna
larezul amevaχr lautn velϑinase stlaafunas sleleϑcaru.
*
So zum Beispiel heiſst es auf einem kymaeischen Thongefäſs Τα-
ταίες ἐμὶ λέqυϑος· Ͱὸς δ᾽ ἄν με ϰλέφσει ϑυφλὸς ἔσται.
**
Es ist dasjenige gemeint, das die altphönicischen Formen des Iota
Ϟ Gamma 𐤂 oder [|] und Lambda [𐤋] durch die weniger der Verwechselung
ausgesetzten [|][C][V] ersetzte und regelmäſsig auch das leicht mit Pi [𐤐] zu
verwechselnde Rho [𐤓] durch den Beistrich als R unterschied.
*
Das zehnmonatliche Jahr hatte also 295 Tage; die spätere Berech-
nung desselben zu 304 Tagen beruht auf Rückrechnung aus dem Sonnen-
jahr von 365 Tagen, wie sie nach dessen Einführung für die praktische
Anwendung des zehnmonatlichen Jahres nothwendig ward.
*
Siehe Seite 92 Note**.
*
Ebenso altsächsisch writan, eigentlich reiſsen, dann schreiben.
*
Nos, Lares, iuvate! Ne
malam luem, Mamers, sinas incurrere in plures!
Satur furendi esto, Mars! In limen insili! Desiste verberare (limen)! Semones
alterni advocate cunctos! Nos, Mamers, iuvato! Tripudia!
*
Ͱιάϱον ὁ Δεινομένεος ϰαὶ τοί Συϱαϰόσιοι τοῖ Δὶ Τυϱαν᾽ ἀπὸ
Κύμας.
*
Die Verknüpfung der Wanderung des Bellovesus mit der Gründung
*
von Massalia, wodurch jene chronologisch auf die Mitte des zweiten Jahr-
hunderts der Stadt bestimmt wird, gehört unzweifelhaft nicht der einheimi-
schen natürlich zeitlosen Sage an, sondern der spätern chronologisirenden
Forschung und verdient keinen Glauben. Einzelne Einfälle und Einwande-
rungen mögen sehr früh stattgefunden haben; aber das gewaltige Umsich-
greifen der Kelten in Norditalien kann nicht vor die Zeit des Sinkens der
etruskischen Macht, das heiſst nicht vor die zweite Hälfte des dritten Jahr-
hunderts der Stadt gesetzt werden. — Ebenso ist, nach der einsichtigen
Ausführung von Wickham und Cramer, nicht daran zu zweifeln, daſs der
Zug des Bellovesus wie der des Hannibal nicht über die cottischen Alpen
(Mont Genevre) und durch das Gebiet der Tauriner, sondern über die
graischen (kleiner St. Bernhard) und das der Salasser ging; den Namen
des Berges giebt Livius wohl nicht nach der Sage, sondern nach seiner
Vermuthung an.
*
Vielleicht kein Abschnitt der römischen Annalen ist ärger entstellt
als die Erzählung des ersten samnitisch-latinischen Krieges, wie sie bei
Livius, Dionysios, Appian steht oder stand. Sie lautet etwa folgenderma-
ſsen. Nachdem 411 beide Consuln in Campanien eingerückt waren, erfocht
zuerst der Consul Marcus Valerius Corvus am Berge Gaurus über die Sam-
niten einen schweren und blutigen Sieg; alsdann auch der College Aulus
Cornelius Cossus, nachdem er der Vernichtung in einem Engpaſs durch die
Hingebung einer von dem Kriegstribun Publius Decius geführten Abtheilung
entgangen war. Die dritte und entscheidende Schlacht ward am Eingang
der caudinischen Pässe bei Suessula von den beiden Consuln geschlagen;
die Samniten wurden vollständig überwunden — man las vierzigtausend
ihrer Schilde auf dem Schlachtfeld auf — und zum Frieden genöthigt, in
welchem die Römer Capua behielten, dagegen Teanum, das sich ihnen nicht
zu eigen gegeben, den Samniten überlieſsen (413). Glückwünsche kamen
von allen Seiten, selbst von Karthago. Die Latiner, die den Zuzug verwei-
*
gert hatten und gegen Rom zu rüsten schienen, wandten ihre Waffen
statt gegen Rom vielmehr gegen die Paeligner, während die Römer zu-
nächst durch eine Militärverschwörung der in Campanien zurückgelassenen
Besatzung (412), dann durch die Einnahme von Privernum (413) und den
Krieg gegen die Antiaten beschäftigt waren. Da aber wechseln plötzlich
und seltsam die Parteiverhältnisse. Die Latiner, die umsonst das römi-
sche Bürgerrecht und Antheil am Consulat gefordert hatten, erhoben sich
gegen Rom in Gemeinschaft mit den Sidicinern, die vergeblich den Römern
die Unterwerfung angetragen hatten und vor den Samniten sich nicht zu
retten wuſsten, und mit den Campanern, die der römischen Herrschaft be-
reits müde waren. Nur die Laurenter in Latium und die campanischen
Ritter hielten zu den Römern, welche ihrerseits Unterstützung fanden bei
den Paelignern und den Samniten. Das latinische Heer überfiel Samnium;
das römisch-samnitische schlug, nachdem es an den Fucinersee und von da
an Latium vorüber in Campanien einmarschirt war, die Entscheidungsschlacht
gegen die vereinigten Latiner und Campaner am Vesuv, welche der Con-
sul Titus Manlius Imperiosus, nachdem er selbst durch die Hinrichtung
seines eigenen gegen den Lagerbefehl siegenden Sohnes die schwankende
Heereszucht wiederhergestellt und sein College Publius Decius Mus die Götter
versöhnt hatte durch seinen Opfertod, endlich mit Aufbietung der letzten
Reserve gewann. Aber erst eine zweite Schlacht, die der Consul Manlius
den Latinern und Campanern bei Trifanum lieferte, machte dem Krieg ein
Ende; Latium und Capua unterwarfen sich und wurden um einen Theil ihres
Gebietes gestraft. — Einsichtigen und ehrlichen Lesern wird es nicht entgehen,
daſs dieser Bericht von Unmöglichkeiten aller Art wimmelt. Dahin gehört das
Kriegführen der Antiaten nach der Dedition von 365; der selbstständige Feld-
*
zug der Latiner gegen die Paeligner im schneidenden Widerspruch zu den
Bestimmungen der Verträge zwischen Rom und Latium; der unerhörte
Marsch des römischen Heeres durch das marsische und samnitische Gebiet
nach Capua, während ganz Latium gegen Rom in Waffen stand; um nicht
zu reden von dem eben so verwirrten wie sentimentalen Bericht über den
Militäraufstand 412 und den Geschichtchen von dem gezwungenen An-
führer desselben, dem lahmen Titus Quinctius, dem römischen Götz von
Berlichingen. Vielleicht noch bedenklicher sind die Wiederholungen: so
ist die Erzählung von dem Kriegstribun Publius Decius nachgebildet der
muthigen That des Marcus Calpurnius Flamma oder wie er sonst hieſs im
ersten punischen Kriege; so kehrt die Eroberung Privernums durch Gaius
Plautius wieder im Jahre 425; so der Opfertod des Publius Decius bekannt-
lich bei dem Sohne desselben 459. Ueberhaupt verräth in diesem Abschnitt
die ganze Darstellung eine andere Zeit und eine andere Hand als die
sonstigen glaubwürdigen annalistischen Berichte; die Erzählung ist voll von
ausgeführten Schlachtgemälden; von eingewebten Anekdoten, wie zum Bei-
spiel die von dem setinischen Prätor, der auf den Stufen des Rathhauses
den Hals bricht weil er dreist genug gewesen war das Consulat zu begehren,
und die aus dem Beinamen des Titus Manlius herausgesponnenen mancherlei
Geschichtchen; von ausführlichen und zum Theil bedenklichen archäologi-
schen Digressionen, wohin zum Beispiel die Geschichte der Legion, die
Devotionsformulare, das laurentische Bündniſs gehören. Unter solchen Um-
ständen erscheint es von groſsem Gewicht, daſs Diodoros, der andern und
oft älteren Berichten folgt, von all diesen Ereignissen schlechterdings nichts
kennt als die letzte Schlacht bei Trifanum; welche auch in der That schlecht
paſst zu der übrigen Erzählung, die nach poetischer Gerechtigkeit schlieſsen
sollte mit dem Tode des Decius.
*
Es wird nicht überflüssig sein daran zu erinnern, daſs was über
Archidamos und Alexander bekannt ist, aus griechischen Jahrbüchern her-
rührt und der Synchronismus dieser und der römischen für die gegenwär-
tige Epoche noch bloſs approximativ festgestellt ist. Man hüte sich daher
den im Allgemeinen unverkennbaren Zusammenhang der west- und der ost-
italischen Ereignisse zu sehr ins Einzelne verfolgen zu wollen.
*
Der Ort ist im Allgemeinen gewiſs genug, da Caudium sicher bei
Arpaja lag; ob aber das Thal zwischen Arpaja und Montesarchio gemeint
ist oder das zwischen Arienzo und Arpaja, ist um so zweifelhafter, als das
letztere seitdem durch Naturereignisse um mindestens 100 Palmen aufgehöht
zu sein scheint. Ich folge der gangbaren Annahme ohne sie vertreten zu wollen.
*
Daſs zwischen den Römern und Samniten 436. 437 ein förmlicher
zweijähriger Waffenstillstand bestanden habe, ist mehr als unwahrscheinlich.
*
Die Richtigkeit von Strabons Erzählung, daſs Alexander der Groſse
in Rom Beschwerde geführt habe über die antiatischen Seeräuber, muſs
wenigstens dahin gestellt bleiben. Demetrios dem Belagerer sieht es eher
ähnlich, daſs er die Piraterie im tyrrhenischen Meer, das er nie mit Augen
gesehen, durch Verordnung abschaffte. — Für die Gesandtschaft der Römer
nach Babylon besitzen wir dagegen das Zeugniſs des Klitarchos (bei Plinius
hist. nat. 3, 5, 57) und es ist kein Grund sie zu bezweifeln; nur darf man
weder glauben, daſs sie dem König nach griechischer Sitte einen goldenen
Kranz überreichte (Memnon 25) noch überhaupt daraus auf irgend wesent-
liche Beziehungen der damaligen Machthaber im Osten und Westen schlieſsen.
*
Bei dem heutigen Anglona; nicht zu verwechseln mit der bekannte-
ren Stadt gleichen Namens in der Gegend von Cosenza.
*
Diese Zahlen scheinen glaubwürdig. Der römische Bericht giebt,
wohl an Todten und Verwundeten, für jede Seite 15000 Mann an, ein spä-
terer sogar auf römischer 5000, auf griechischer 20000 Todte. Es mag
das hier Platz finden, um an einem der seltenen Beispiele, wo Controle
möglich ist, die Unglaubwürdigkeit der Zahlangaben zu zeigen, in denen die
Lüge bei den Annalisten lawinenartig anschwillt.
*
Die späteren Römer und mit ihnen die Neueren geben dem Bündniſs
die Wendung, als hätten die Römer absichtlich vermieden die karthagische
Hülfe in Italien anzunehmen. Das wäre unvernünftig gewesen und die That-
sachen sprechen dagegen. Daſs Mago in Ostia nicht landete, erklärt sich
nicht aus solcher Vorsicht, sondern einfach daraus, daſs Latium von Pyrrhos
ganz und gar nicht bedroht war und karthagischen Beistandes also nicht
bedurfte; und vor Rhegion kämpften die Karthager allerdings für Rom.
*
Es ist zu bedauern, daſs wir über die Zahlenverhältnisse nicht ge-
nügende Auskunft zu geben im Stande sind. Man kann die Zahl der waf-
*
fenfähigen römischen Bürger für die Königszeit auf etwa 20000 anschlagen
(S. 70). Eine festgestellte Thatsache ist es, daſs von Albas Fall bis auf die
Eroberung von Veii die unmittelbare römische Mark nicht wesentlich erwei-
tert ward; womit es vollkommen übereinstimmt, daſs bis auf das Jahr 367
neue Bürgerbezirke nicht errichtet wurden. Mag man nun auch die Zunahme
durch den Ueberschuſs der Geborenen über die Gestorbenen, durch Ein-
wanderungen und Freilassungen noch so reichlich in Anschlag bringen, so
wird es doch schlechterdings unmöglich sein mit den engen Grenzen eines
Gebiets, das schwerlich 30 Quadratmeilen erreichte, die überlieferten Cen-
suszahlen in Uebereinstimmung zu bringen, nach denen die Zahl der waffen-
fähigen römischen Bürger in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts
zwischen 104000 und 150000 schwankt, und im Jahre 362, wofür eine
vereinzelte Angabe vorliegt, 152573 betrug. Vielmehr dürften diese Zahlen
mit den 84700 Bürgern des servianischen Census auf einer Linie stehen und
überhaupt die ganze bis auf die vier Lustren des Servius Tullius hinaufgeführte
und mit reichlichen Zahlen ausgestattete ältere Censusliste nichts sein als
eine jener scheinbar urkundlichen Traditionen, die eben in ganz detaillirten
Zahlenangaben sich gefallen und sich verrathen. — Erst mit der zweiten
Hälfte des vierten Jahrhunderts beginnen theils die groſsen Gebietserwer-
bungen, theils die Incorporationen ganzer Gemeinden in die römische (S. 223),
wodurch die Bürgerrolle plötzlich und beträchtlich steigen muſste. Es ist
glaubwürdig überliefert wie an sich glaublich, daſs um 416 man 165000
römische Bürger zählte, wozu es recht gut stimmt, daſs zehn Jahre vorher,
als man gegen Latium und Gallien die ganze Miliz unter die Waffen rief,
das erste Aufgebot zehn Legionen, also 50000 Mann betrug. Seit den
groſsen Gebietserweiterungen in Etrurien, Latium und Campanien zählte
man im fünften Jahrhundert durchschnittlich 250000, unmittelbar vor dem
ersten punischen Kriege 280000 bis 290000 waffenfähige Bürger. Diese
Zahlen sind sicher genug, allein aus einem andern Grunde geschichtlich
wenig brauchbar, insofern hier nämlich unzweifelhaft die römischen Voll-
bürger und die ‚Bürger ohne Stimme‘, wie zum Beispiel die Caeriten und
Capuaner, in einander gerechnet sind, während doch die letztern factisch
durchaus den Unterthanen beigezählt werden müssen und Rom viel sicherer
zählen konnte auf die hier nicht eingerechneten Zuzüge der Latiner, als auf
die campanischen Legionen.
*
Es ist sehr die Frage, ob sie nicht zu den zahlreichen Fabeln ge-
hört, die die etruskisirenden Archäologen in Umlauf setzten. Wenigstens
begreift sich schwer, was die römischen Knaben in Etrurien lernten, denn
daſs das Studium der tuskischen Sprache damals in Rom die Rolle wie jetzt
bei uns das der französischen gespielt hätte, werden doch selbst die eifrig-
sten heutigen Bekenner des Tages-Cultus nicht behaupten; und von der etru-
skischen Haruspicin etwas zu verstehen galt noch für weit schimpflicher als
derselben sich zu bedienen.
*

Man pflegt die Römer als das zur Jurisprudenz privilegirte Volk zu
preisen und ihr vortreffliches Recht als eine mystische Gabe des Himmels
anzustaunen; vermuthlich besonders um sich die Scham zu ersparen über
die Nichtswürdigkeit des eigenen Rechtszustandes. Ein Blick auf das bei-
*
spiellos schwankende und unentwickelte römische Criminalrecht könnte von
der Unhaltbarkeit dieser unklaren Vorstellungen auch diejenigen überzeugen,
denen der Satz zu einfach scheinen möchte, daſs ein gesundes Volk ein
gesundes Recht hat und ein krankes ein krankes. Abgesehen von allge-
meineren staatlichen Verhältnissen, von welchen die Jurisprudenz eben auch
und sie vor allem abhängt, liegen die Ursachen der Trefflichkeit des römi-
schen Civilrechts hauptsächlich in zwei Dingen: einmal darin, daſs der
Kläger und der Beklagte gezwungen wurden vor allen Dingen die Forde-
rung und ebenso die Einwendung in bindender Weise zu motiviren und zu
formuliren; zweitens darin, daſs man für die gesetzliche Fortbildung des
Rechtes ein ständiges Organ bestellte und dies an die Praxis unmittelbar
anknüpfte. Mit jenem schnitten die Römer die advokatische Rahulisterei,
mit diesem die unfähige Gesetzmacherei ab, so weit sich dergleichen ab-
schneiden läſst, und versöhnten mit beiden die zwei entgegenstehenden For-
derungen, daſs das Recht stets fest und daſs es stets zeitgemäſs sei.
*
Eher 406 als 448, da es nicht wahrscheinlich ist, daſs Tyros nach
Alexander für sich Staatsverträge abzuschlieſsen befugt war.
*
Wie wenig noch in dieser Zeit auf die Einzelheiten in den römi-
schen Annalen gegeben werden kann, zeigt die Vergleichung ihrer Erzählung
mit dieser Inschrift. Nach jener führt Lucius Scipio den Krieg in Etrurien,
sein College in Samnium und ist Lucanien dies Jahr im Bunde mit Rom.
*
Die schärfste Bezeichnung dieser wichtigen Klasse findet sich in dem
karthagischen Staatsvertrag (Polyb. 7, 9), wo sie im Gegensatz einerseits
zu den Uticensern, andrerseits zu den libyschen Unterthanen heiſsen: οί
Καϱχηδονίων ὕπαϱχοι ὅσοι τοῖς αὐτοῖς νόμοις χϱῶνται; sonst heiſsen
sie auch Bundes- (συμμαχίδες πόλεις Diod. 20, 10) oder steuerpflichtige
Städte (Liv. 34, 62. Iustin. 22, 7. 3). Ihr Conubium mit den Karthagern
erwähnt Diodoros 20, 55; das Commercium folgt aus den ‚gleichen Gesetzen‘.
Daſs die altphoenikischen Colonien zu den Libyphoenikiern gehören, beweist
die Bezeichnung Hippos als einer libyphoenikischen Stadt (Liv. 25, 40);
andrerseits heiſst es hinsichtlich der von Karthago aus gegründeten Ansied-
lungen zum Beispiel im Periplus des Hanno: ‚Es beschlossen die Karthager,
daſs Hanno jenseit der Säulen des Herkules schiffe und Städte der Liby-
phoenikier gründe‘. Im Wesentlichen bezeichnen die Libyphoenikier bei
den Karthagern nicht eine nationale, sondern eine staatsrechtliche Kategorie.
Damit kann es recht wohl bestehen, daſs der Name grammatisch die mit
Libyern gemischten Phoenikier bezeichnet (Liv. 21, 22, Zusatz zum Text
des Polybios); wie denn in der That wenigstens bei der Anlage sehr expo-
nirter Colonien den Phoenikiern häufig Libyer beigegeben wurden (Diodoros
13, 79). Die Analogie im Namen und im Rechtsverhältniſs zwischen den
römischen Latinern und den karthagischen Libyphoenikiern ist unverkennbar.
*
Wenn die Behauptung gegründet ist, daſs das libysche Alphabet zum
Theil ältere Buchstabenformen aufweist als das phoenikische, so folgt daraus
nicht, daſs die Libyer die Schrift von älteren Einwanderern erhielten, son-
dern nur, daſs die Ableitung des libyschen Alphabets aus dem phoenikischen
einer älteren Periode desselben angehört als die ist, in der die auf uns
gekommenen Denkmäler der phoenikischen Sprache geschrieben wurden.
*
Man hat an der Richtigkeit dieser Zahl gezweifelt und mit Rücksicht
auf den Raum die mögliche Einwohnerzahl auf höchstens 250000 Köpfe
berechnet. Abgesehen von der Unsicherheit derartiger Berechnungen, na-
mentlich in einer Handelsstadt mit sechsstöckigen Häusern, ist dagegen zu
erinnern, daſs die Zählung wohl politisch zu verstehen ist, nicht städtisch,
ebenso wie die römischen Censuszahlen, und daſs dabei also alle Karthager
gezählt sind, mochten sie in der Stadt oder in der Umgegend wohnen oder
im unterthänigen Gebiet oder im Ausland sich aufhalten. Solcher Abwesen-
den gab es natürlich eine groſse Zahl in Karthago; wie denn ausdrücklich
berichtet wird, daſs in Gades aus gleichem Grunde die Zahl der Bürger
stets weit höher war als die der ansässigen Bürgerschaft.
*
Der Bericht, daſs zunächst Xanthippos militärisches Talent Karthago
gerettet haben soll, ist wahrscheinlich gefärbt; die karthagischen Offiziere
werden schwerlich auf den Fremden gewartet haben um zu lernen, daſs
die leichte africanische Cavallerie zweckmäſsiger auf der Ebene verwandt
werde als in Hügeln und Wäldern. Von solchen Wendungen, dem Echo
der griechischen Wachstubengespräche, ist selbst Polybios nicht frei. —
Daſs Xanthippos nach dem Siege von den Karthagern ermordet worden sei,
ist eine Erfindung; er ging freiwillig fort, vielleicht in ägyptische Dienste.
*
Weiter ist über Regulus Ende nichts mit Sicherheit bekannt; selbst
seine Sendung nach Rom, die bald 503, bald 513 gesetzt wird, ist sehr
schlecht beglaubigt. Die spätere Zeit, die in dem Glück und Unglück der
Vorfahren nur nach Stoffen suchte für Schulacte, hat aus Regulus das Pro-
totyp des unglücklichen, wie aus Fabricius das des dürftigen Helden ge-
macht und eine Menge obligat erfundener Anekdoten auf seinen Namen in
Umlauf gesetzt; widerwärtige Flitter, die übel contrastiren mit der ernsten
und schlichten Geschichte.
*
Daſs die Karthager versprechen muſsten keine Kriegsschiffe in das
Gebiet der römischen Symmachie — also auch nicht nach Syrakus, viel-
leicht selbst nicht nach Massalia — zu senden (Zon. 8, 17), klingt glaub-
lich genug; allein der Text des Vertrages schweigt davon (Polyb. 3, 27).
*
Wann es aufkam die geschlossene römische Eidgenossenschaft als die
der Italiker zu bezeichnen, läſst sich nicht genau bestimmen; aber sicher
nicht vor den Kriegen mit Pyrrhos und den Beziehungen zu den Mamerti-
nern, die hiefür wichtig werden muſsten, und wahrscheinlich unter dem
Einfluſs der Griechen, die den Namen Italia, ursprünglich den des heutigen
Calabriens, allmählich anfingen auf die nördlichen Gegenden zu übertragen.
Noch die griechischen Schriftsteller des fünften Jahrhunderts der Stadt, wie
zum Beispiel Aristoteles, kennen jenes weitere Italien nicht.
*
Daſs die Abtretung der zwischen Sicilien und Italien liegenden In-
seln, die der Friede von 513 den Karthagern vorschrieb, die Abtretung
Sardiniens nicht einschloſs, ist ausgemacht; es ist aber auch schlecht be-
glaubigt, daſs die Römer damit die Besatzung der Insel drei Jahre nach
dem Frieden motivirten. Hätten sie es gethan, so würden sie bloſs der
politischen Schamlosigkeit eine diplomatische Albernheit hinzugefügt haben.
*
Nach den sorgfältigsten neueren Untersuchungen der Localität ist
der Rubico der Fiumicino bei Savignano, der indeſs jetzt in dem obern
Theil seines Laufs sein Bett verändert hat.
*
Dieselben, die Polybios bezeichnet als ‚die Kelten in den Alpen und
an der Rhone, die man wegen ihrer Reisläuferei Gaesaten (Lanzknechte)
nenne‘, werden in den gleichzeitigen römischen Aufzeichnungen Germani
*
genannt. Die besten Sprachforscher sind darüber einig, daſs das letzte
Wort nicht deutschen Ursprungs ist, sondern keltischen, und ‚Schreier‘ be-
zeichnet; die Geschichte ihrerseits bestätigt dies, indem sie hier als Germanen
nicht die später so genannten Deutschen vorführt, sondern einen Keltenschwarm.
*
Wir sind über diese Vorgänge nicht bloſs unvollkommen berichtet,
sondern auch einseitig, da natürlich die Version der karthagischen Friedens-
partei die der römischen Annalisten wurde. Indeſs selbst in unsern zer-
trümmerten und getrübten Berichten — die wichtigsten sind Fabius bei
Polybios 3, 8; Appian Hisp. 4 und Diodor 25 S. 567 — erscheinen die
Verhältnisse der Parteien deutlich genug. Von dem gemeinen Klatsch, mit
dem die ‚revolutionäre Verbindung‘ (έταιϱεία τῶν πονηϱοτάτων ἀνϑϱώ-
πων) von ihren Gegnern beschmutzt ward, kann man bei Nepos (Ham. 3)
Proben lesen, die ihres Gleichen suchen, vielleicht auch finden.
**
Die Barkas schlieſsen die wichtigsten Staatsverträge ab und die Ra-
tification der Behörde ist eine Formalität (Pol. 3, 21); Rom protestirt bei
ihnen und beim Senat (Pol. 3, 15). Die Stellung der Barkas zu Karthago
hat manche Aehnlichkeit mit der der Oranier gegen die Generalstaaten.
*
Der Weg über den Mont Cenis ist erst im Mittelalter eine Heer-
straſse geworden. Die östlichen Pässe, wie zum Beispiel die über die pö-
ninische Alpe oder den groſsen St. Bernhard, der übrigens auch erst durch
Caesar und Augustus Militärstraſse ward, kommen natürlich nicht in Betracht.
*
Die vielbestrittenen topographischen Fragen, die an diese berühmte
Expedition sich knüpfen, können als erledigt und im Wesentlichen als ge-
löst gelten durch die musterhaft geführte Untersuchung der Herren Wickham
und Cramer. Ueber die chronologischen, die gleichfalls Schwierigkeiten
darbieten, mögen hier ausnahmsweise einige Bemerkungen stehen. — Als
Hannibal auf den Gipfel des Bernhard gelangte, ‚fingen die Spitzen schon an
sich dicht mit Schnee zu bedecken‘ (Pol. 3, 54); auf dem Wege lag schon
Schnee (Pol. 3, 55), aber vielleicht gröſstentheils nicht frisch gefallener, sondern
Schnee von herabgestürzten Lawinen. Auf dem Bernhard beginnt der Winter
um Michaelis, der Schneefall im September; als Ende August die genannten
Engländer den Berg überstiegen, fanden sie fast gar keinen Schnee auf
ihrem Wege, aber zu beiden Seiten die Berghänge davon bedeckt. Hiernach
scheint Hannibal Anfang September auf dem Paſs angelangt zu sein; womit
auch wohl vereinbar ist, daſs er dort eintraf ‚als schon der Winter heran-
nahte‘ — denn mehr ist συνάπτειν τὴν τῆς πλειάδος δύσιν Pol. 3, 54
nicht, am wenigsten der Tag des Frühuntergangs der Plejaden (etwa 26. Oc-
tober); vgl. Ideler Chronol. I, 241. — Kam Hannibal neun Tage später,
also Mitte September in Italien an, so ist auch Platz für die von da bis
zur Schlacht an der Trebia gegen Ende December (Pol. 3, 72) eingetretenen
Ereignisse, namentlich die Translocation des nach Africa bestimmten Heeres
von Lilybaeon nach Placentia. Es paſst dazu ferner, daſs in einer Heerver-
sammlung ὑπὸ τὴν ἐαϱινὴν ὥϱαν (Pol. 3, 34), also gegen Ende März, der
Tag des Abmarsches bekannt gemacht ward und der Marsch fünf (oder nach
App. 7, 4 sechs) Monate währte. Wenn also Hannibal Anfang September
auf dem Bernhard war, so war er, da er von der Rhone bis dahin 30 Tage
gebraucht, an der Rhone Anfang August eingetroffen, wo denn freilich Scipio,
der Anfang Sommer (Pol. 3, 41), also spätestens Anfang Juni sich einschiffte,
unterwegs sehr verweilt oder in Massalia in seltsamer Unthätigkeit längere
Zeit gesessen haben muſs.
*
Das Datum der Schlacht, 23. Juni nach dem unberichtigten Kalender,
muſs nach dem berichtigten etwa in den April fallen, da Quintus Fabius
seine Dictatur nach sechs Monaten in der Mitte des Herbstes niederlegte,
also sie etwa Anfang Mai antrat und Hannibal zur Erntezeit (Juli, August)
zum zweiten Mal in Apulien einrückte. Die Kalenderverwirrung (S. 301)
war schon in dieser Zeit in Rom sehr arg.
*
Der Schlachttag ist nach dem unberichtigten Kalender der 2. August;
nach dem berichtigten muſs er, wie sowohl die Angaben über die Ernte
lehren als die Vergleichung des Datums der trasimenischen Schlacht, viel
mehr in den Juni fallen.
*
Weder Ort noch Zeit der Schlacht sind hinreichend festgestellt. Jener
wird doch wohl kein anderer sein, als das bekannte Zama regia; die Zeit
etwa das Frühjahr 552. Die Bestimmung des Tages auf den 19. October
wegen der Sonnenfinsterniſs ist nicht zuverlässig.
*
Nach Strab ons Bericht wären diese italischen Boier von den Römern
über die Alpen verstoſsen worden und aus ihnen die boische Ansiedlung
im heutigen Ungarn zwischen dem Neusiedler- und Plattensee hervorgegan-
gen, welche in der augusteischen Zeit von den über die Donau gegangenen
Geten angegriffen und vernichtet wurde, dieser Landschaft aber den Namen
der boischen Einöde hinterlieſs. Dieser Bericht paſst sehr wenig zu der
wohlbeglaubigten Darstellung der römischen Jahrbücher, nach der man sich
römischer Seits begnügte mit der Abtretung des halben Gebietes; und um
das Verschwinden der italischen Boier zu erklären, bedarf es in der That
der Annahme einer gewaltsamen Vertreibung nicht — verschwinden doch
auch die übrigen keltischen Völkerschaften, obwohl sie von Krieg und Co-
lonisirung in weit minderem Grade heimgesucht wurden, nicht viel weniger
rasch und vollständig aus der Reihe der italischen Nationen. Andrerseits
führen andere Berichte vielmehr darauf jene Boier am Plattensee herzuleiten
von dem Hauptstock der Nation, der ehemals in Baiern und Böhmen saſs,
bis deutsche Stämme ihn südwärts drängten. Ueberall aber ist es sehr
zweifelhaft, ob die so weit versprengten Boier, die man bei Bordeaux, am
Po, in Böhmen finden, wirklich Zweige eines Stammes sind und nicht bloſs
eine Namensgleichheit obwaltet. Strabons Annahme dürfte auf nichts an-
derem beruhen als auf einem Rückschluſs aus dieser Namensgleichheit, wie
die Alten ihn bei den Kimbern, Venetern und sonst, oft unüberlegt, anwandten.
*
1 Makkab. 8, 3; ‚Und Judas hörte was die Römer gethan hatten im
Lande Hispanien um Herren zu werden der Silber- und der Goldgruben
daselbst‘.
*
Wir haben noch Goldstater mit dem Kopf des Flamininus und der
Inschrift ‚T. Quincti‘, die zum Andenken an den siegreichen Befreier der
Hellenen in Griechenland geschlagen wurden. Der Gebrauch der lateini-
schen Sprache ist eine bezeichnende Artigkeit.
*
Das bestimmte Zeugniſs des Hieronymus, welcher das Verlöbniſs der
syrischen Kleopatra mit Ptolemaeos Epiphanes in das Jahr 556 setzt, in
Verbindung mit den Andeutungen bei Livius 33, 40 und Appian Syr. 3 und
mit dem wirklichen Vollzug der Vermählung im Jahre 561 setzen es auſser
Zweifel, daſs die Einmischung der Römer in die ägyptischen Angelegenhei-
ten in diesem Fall eine unberufene war.
*
Wir haben dafür das Zeugniſs des Polyhios 28, 1, das die weitere
Geschichte Iudaeas vollkommen bestätigt; Eusebius (p. 117 Mai) irrt, wenn
er Philometor zum Herrn von Syrien macht. Allerdings finden wir, daſs um
567 syrische Steuerpächter ihre Abgaben nach Alexandreia zahlen (Joseph.
12, 4, 7); allein ohne Zweifel geschah dies unbeschadet der Souveränetäts-
rechte in der Art, daſs die Mitgift der Kleopatra in Renten auf diese Stadt
angewiesen war; und eben daher entsprang später vermuthlich der Streit.
*
Africanus, Asiaticus, Hispallus.
*
Ηδη γάϱ φϱάσδει πάνϑ᾽ ἅλιον ἅμμι δεδύϰει.
*
Die rechtliche Auflösung der boeotischen Eidgenossenschaft erfolgte
übrigens wohl noch nicht jetzt, sondern erst nach der Zerstörung Korinths
(Pausan. 7, 14, 4. 16, 6).
*
Daſs die Römer, um zugleich ihm das Wort zu halten, das ihm
sein Leben verbürgte, und Rache an ihm zu nehmen, ihn durch Entziehung
des Schlafs getödtet, ist sicher eine Fabel.
*
Die Angabe Cassiodors, daſs im Jahre 596 die makedonischen Berg-
werke wieder eröffnet wurden, erhält ihre nähere Bestimmung durch die
Münzen. Goldmünzen der vier Makedonien sind nicht vorhanden; die Gold-
gruben also blieben entweder geschlossen oder wurden zum Vortheils Roms
ausgebeutet. Dagegen finden sich allerdings Silbermünzen des ersten Ma-
kedoniens (Amphipolis), in welchem Bezirk die Silbergruben belegen sind;
für die kurze Zeit, in der sie geschlagen sein müssen (596-608), ist die
Zahl derselben auffallend groſs und zeugt von einem sehr energischen Be-
trieb der Gruben.
**
Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs auch diese Steuer später er-
lassen ward. Polyb. 37, 4.
*
Dies latinische Stimmrecht bestand wenigstens eine Zeitlang darin,
daſs bei jeder einzelnen Abstimmung das Loos den Stimmbezirk feststellte,
in welchem sämmtliche Latiner zu stimmen hatten.
**
Cicero meldet (pro Caec. 35), daſs Sulla den Volaterranern das
Recht von Ariminum gegeben habe, das heiſst, setzt der Redner hinzu, das
Recht der zwölf Colonien, die nicht römisches Bürgerrecht besaſsen, aber
das Commercium mit den Römern. Ueber wenige Dinge ist so viel ver-
handelt worden wie über die Beziehung dieses Zwölfstädterechts; und doch
ist die Lösung sehr einfach: es sind die zwölf jüngsten latinischen Colo-
nien — Ariminum, Beneventum, Firmum, Aesernia, Brundisium, Spoletium,
Cremona, Placentia, Copia, Valentia, Bononia, Aquileia — gemeint, an deren
Spitze ja eben Ariminum steht. Damit ist zugleich bewiesen, was an sich
schon wahrscheinlich war, daſs alle nach Aquileias Gründung in Italien
ausgeführten Colonien zu den Bürgercolonien gehören. — Ob Zwischen-
heirathen zwischen Römern und Latinern als gültig angesehen wurden, d. h.
das Kind dem Stande des Vaters folgte, ist nicht ausgemacht. Wahrschein-
lich stand den Bürgern des gröſseren Latium das Conubium zu (Diodoros
590, 62. [fr.] Vat. 130 Dind.); daſs es denen des kleineren fehlte, unterliegt
keinem gegründeten Zweifel.
*
Es lagen in der Kasse 17410 römische Pfund Gold, 22070 Pfund un-
geprägten, 18230 Pfund geprägten Silbers; das Legalverhältniſs des Goldes
zum Silber war 1 Pfund Gold = 4000 Sesterzen oder 1 : 11. 91.
*
Ob es richtig ist, daſs die Kornpreise im Alterthum stärker ge-
schwankt haben als in neuerer Zeit, dürfte sehr zu bezweifeln sein; abge-
sehen natürlich von den ältesten Zeiten, in denen der überseeische Handel
noch nicht entwickelt war. Vergleicht man Preise wie diesen des Getreides
im Pothal von 3⅓ Gr. den Scheffel mit denen der ärgsten Kriegstheuerung,
wo z. B. im hannibalischen Kriege der Scheffel auf 99, im Bürgerkrieg auf
198-218 Groschen (nach dem heutigen Silberwerth des Denars berechnet)
stieg, so scheint der Abstand ungeheuer; allein solche Extreme sind wenig
belehrend und könnten unter sonst gleichen Verhältnissen auch heutzutage
wieder nach der einen wie nach der andern Seite hin vorkommen. Als
hauptstädtischer Mittelpreis kann wenigstens für das siebente und achte
*
Jahrhundert Roms der von 1 Denar für den Modius oder 1⅓ Thlr. für
den preuſsischen Scheffel Weizen angenommen werden, wobei freilich zu
beachten ist, daſs die Differenz dieser Preise von den heutigen sowohl auf
Seite des Korns, als auf Seite des Silbers sein kann.
*
Wenn es wahr ist, daſs er 550 in Utica starb, so entfloh er wäh-
rend des hannibalischen Krieges in das feindliche Land. Allein Varro
zweifelte wohl nicht ohne Grund an der Richtigkeit der Jahrszahl. Daſs
er ein Campaner war, deutet Gellius an; seine latinische Nationalität, wenn
auch dafür Name und Werke nicht zeugten, er selbst in der Grabschrift.
*

So die schöne Stelle aus dem Trauerspiel Phönix, die recht römi-
schen Bürgersinn athmet:


Doch dem Mann mit Muthe mächtig ziemt's zu wirken in der Welt.
Vor den Richterstuhl zu laden tapfern Sinns das schuldige Haupt —
Das ist Freiheit, wo im Busen rein und fest wem schlägt das Herz;
Sonst in tiefer Nacht begraben ruhen bleibt die Frevelthat.

und die malerischen Zeilen aus dem epischen Gedicht Scipio:


Et Neptunus saevus undeis aspereis pausam dedit,
Sol equeis iter repressit unguleis volantibus,
Constitere amneis peremneis, arbores vento vacant.

Und es hieſs die Wogen stocken streng die grollenden Neptun,
Seiner Rosse fliegende Hufe hielt zurück der Sonnengott,
Ewige Ström im Laufe rasten, an den Bäumen steht das Laub.
*
‚Ich kenne die Griechen von Athen her‘, schrieb er; ‚ich bin bereit
zu beweisen, daſs es das verdorbenste und widerspenstigste Gesindel ist —
glaube mir, mein Sohn Marcus, das ist so wahr wie ein Orakel. Wenn
das Volk uns seine Wissenschaft bringt, so wird es alles verderben, ganz
besonders aber, wenn es seine Aerzte hieher schickt. Sie haben sich ver-
schworen alle Barbaren umzubringen mittelst der Heilkunst, aber sie lassen
sich noch dafür bezahlen, damit man ihre Absicht nicht merke und die
Sache leicht gehe. Auch uns nennen sie Barbaren, ja sie geben uns sogar
den ehrenrührigen Namen Opiker‘. — Der gute Mann wuſste nicht, wie
sehr unschuldig die Hellenen dazu gekommen waren die Italiker mit einem
Namen zu bezeichnen, der im Griechischen nichts Anstöſsiges, aber im La-
nischen eine schmutzige Bedeutung hatte.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Römische Geschichte. Römische Geschichte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn3d.0