oder
45 Hundspoſttage.
In Karl Matzdorffs Buchhandlung.
Druckfehler des 3ten Heftleins
von
Heſperus, oder 45 Hundspoſttage.
Seite 4 Zeile 5 von oben muß und weg.
— 5 — 1 von oben ſt. nicht l. nicht auf;
— 9 — 2 von unten ſt. Patner l. Platner
— 10 — 1 von oben ſt. Das l. das
— 42 — 9 von oben ſt. ihr l. Ihr
— 43 — 6 von oben ſt. jede l. jedes
— 46 — 8 von oben ſt. aufliegendem l. auffliegendem
— 47 letzte Zeile ſt. falſcher. Dies l. falſcher Dieb
— 48 — 3 von oben ſt. Vorſtellungen l. Verſtellungen
— 62 — 10 von unten ſt. aneinandergedruͤckten l. aneinan¬
dergeruͤckten
— 69 — 11 von unten ſt. jeden l. unter
— 73 — 2 von oben ſt. mit. l. mir - - -
— 82 — 8 von oben ſtreiche an weg.
— 87 — 5 von unten ſtatt Wildprets-Fumel l. Wildprets¬
Fumet
— 97 — 7 von unten ſt. Reichen l. Reiche
— 98 — 12 von oben ſt. deutſche l. Deutſche
— 100 — 8 von oben nach anſtatt ſetze dazu: es
— 105 — 5 von unten ſt. Weinſtein l. Weidſtein
— 108 — 15 von oben ſt. ſagt l. ſaͤgt
— 109 — 12 von oben ſt. . . . . ſetze: . .
— 113 — 7 von oben ſt. dreimaͤchtigen l. dreimahtigen
— 145 — 13 von unten ſt. ein l. ſein
— 147 — 3 von oben ſt. ihr l. ihn
— 167 — 4 von oben noch »Paradieſes« fehlt »der Re¬
genbogen
— 168 — 14 von oben ſt. ſpielend l. ſpielende
— 177 — 6 von oben ſt. die ſchon I. ſchon die
— 228 — 10 von oben ſt. dieſe l. die
— 291 — 9 von oben ſtreiche der Seele weg.
— 306 — 15 von oben ſt. das l. dem
— 318 — 7 von unten ſt. Gruͤn l. Grimm
— 339 — 2 von unten ſt. Genius l. Genus
— 349 — 4 von unten ſt. Freunde l. Freundin.
— 350 — 7 von unten ſt. vergeht l. zergeht
— 367 — 16 von oben ſt. Seite l. Seide
— 398 — 9 von unten ſt. Fabrikant l. Febrikant
— 424 — 5 von oben ſt. vergnuͤgen l. verjuͤngen
—
425 — 1 von oben ſt. weiſſer l. weiſſen
Dritter Theil.
Heſperus. IIITh. A[[2]][[3]]Vorrede zum dritten Heftlein.
Da jetzt auch der Schalttag in die Vorrede
einfaͤllt und er noch dazu beim Anfangsbuchſta¬
ben V anfaͤngt; ſo koͤnnen ja beide ungemein
gluͤcklich mit einander abgefertigt werden.
Siebenter Schalttag.
Ende des Regiſters der Extra-Schöslinge.
U. V.
Unempfindlichkeit der Leſer — Vorrede.
Es gab gluͤckliche Zeiten, wo man von ſeinem Ne¬
benwilden und Naͤchſten nichts zu befahren hatte als
todtgeſchlagen zu werden — wo nur der Hagel der
Knutenmeiſter der Haut war, anſtatt daß jetzt der
A 2[4] Paſſatwind des Viſitenfaͤchers fuͤr uns eine Winds¬
braut iſt und der kuͤhle Athem uͤber die Theetaſſe
heruͤber ein Seewind — wo man weniger am Kum¬
mer des andern Antheil nahm als an ſeinem Fraße
— wo die Damen und die Herren in Baͤrenhaͤuten
mit nichts verwundeten (mit Blicken, Reizen, Locken
am allerwenigſten) mit nichts als mit Keulen und
wo ſie ſich zwar ſo gut wie heute und morgen des
Herzens eines ehrlichen Mannes bemaͤchtigten, aber
doch nur ſo, daß ſie den Inhaber deſſelben vorher
auf einen Altar hinſtreckten und ordentlich abſchlachte¬
ten, eh' ſie ihm den Himmelsglobus aus dem Bruſt¬
gehaͤuſe ausſchnitten. — —
Um dieſe Zeiten ſind wir nun alle gebracht: in
den jetzigen ſiehts ſchlecht aus. Beim Himmel, man
hat ja nicht viel weniger als Alles vonnoͤthen, um
gluͤcklich, und nicht viel mehr als Nichts, um un¬
gluͤcklich zu ſeyn — zu jenem braucht man eine
Sonne, zu dieſem ein Sonnenſtaͤubgen! — Gut waͤ¬
ren wir daran und große Zimmer im Luftſchloß mon
répos am Rhein haͤtten wir innen, wenn es uns
vom Schickſal beſcheeret waͤre, daß wir etwan ſo
viele Foltern erlitten wie die Juriſten haben, naͤm¬
lich drei — nicht mehr Plagen als die Aegypter tru¬
gen, naͤmlich ſieben — nicht mehr Verfolgungen als
die erſten Chriſten ausſtanden, naͤmlich zehn. Aber
auf ſolche Gluͤcks-Ziehungen ſieht ein Mann von
[5] Verſtand gar nicht; wenigſtens verſpricht ſich
ſolche Treffer einer nicht, der ſich wie ich hinſetzt
und erwaͤgt unſre Kolibrimaͤgen — unſere weiche
Raupenhaut — unſer klingendes Gehoͤr — unſere
Selbſtzuͤnder von Augen — und unſere culs de Paris,
die nicht von einem umgeſtuͤlpten Roſenblatt ſondern
ſchon vom Schatten eines Dornes geſtochen werden
— und unſern Teint, der ohne ein Paraluͤne ſchwarz
wuͤrde im Mondenſchein. . . . . . Und doch hab' ich
in dieſe Rechnung unſerer Leiden — weil ich mit
Fleiß darauf ausbin, ſie kleiner zu machen — noch
mit keinem Worte ganz andere, ganz verdammte Po¬
ſten gebracht, ſondern z. B. den Reichthum voͤllig
ausgelaſſen, dieſes Schmerzengeld ſo vieler tauſend
Schrammen und Exfoliarionen der Bruſt, und uͤber¬
haupt Millionen Seelenwunden, die unſer durchloͤ¬
chertes Ich ganz durchſichtig machen wuͤrden, waͤr'
es nicht zum Gluͤck ganz bis auf den Fuß in engli¬
ſches Taftpflaſter gekleidet. . . . Aber ich ließ das
weg, weil ich wußte, es waͤre doch ſo gut wie nichts,
wenn ich's gegen ein ganz anderes Fegfeuer und Ge¬
witter hielte, in das vorzuͤglich wir Mannsperſonen
geworfen werden, wenn wir ſo ungluͤcklich ſind, daß
wir uns ſelber kielholen — naͤmlich uns verlieben,
welches meines wenigen Erachtens ein geringer
Vorſchmack der Hoͤlle iſt ſo wie des Himmels. Die
beſte Peereß in dieſem Fache ſchreib' an mich und
[6] kouvertir' es poſtfrei an die Matzdorfſche Verlagshand¬
lung in Berlin und nenne ſich mir‚ wenn ſie faͤhig war‚
ihren armen Pastor fido nicht zu ſchinden und zu ſpieſſen‚
noch mit Zwickelurtheln zu verfolgen‚ noch ihm mit den
Kompreſſionsmaſchinen der Haͤnde ſein Herz voll
komplizirter Frakturen‚ mit der Faͤcher-Baſtonade
ſeinen Kopf voll Fiſſuren mit den Augen die Bruſt
voll Brandblaſen zu machen und ihm wie dem
Rauchtabak mit Thraͤnen eine Baize zu geben. . . .
Wenigſtens komm' ich ſelber gegenwaͤrtig gerade aus
einem ſolchen Zucht- und Hazhaus heraus und ſeh'
erbaͤrmlich aus in meiner Haut‚ als haͤtt' ich eine
ſkalpirte um mich geſchlagen.
Wir wollen nichts weiter davon reden. Meine
Abſicht bei allem iſt‚ den Leſer ſtandhaft zu machen‚
weil ein ganz neues Regengeſtirn‚ das ich gar nicht
nahmhaft gemacht, fuͤr ihn herauf ſteigt, um ihn
einzuſchneien. Das tobet aͤrger als alles Vorige.
Ich meine ſo, ein Reichsbuͤrger kann ſchon mit
Allem zu Rande ſeyn — ſeine Kaſſe und ſeine Feinde
koͤnnen ſchon geſtuͤrzt und ſeine Arbeiten vom Publi¬
kum oder vom Kollegio recht gut aufgenommen —
ſeine Friſtgeſuche bewilligt und die Quinquennels
ſeiner Schuldner abgeſchlagen worden ſeyn — ſeine
juͤngſte Tochter, die wie die aͤlteſte des Bruders des
franzoͤſiſchen Koͤnigs, Mademoiſelle heiſſet, kann
ſchon die Blattern uͤberſtanden haben und die Ver¬
[7] lobung nachher: es hilft ihm wenig, das Aergſte,
eine ganze Gehenna erwartet ihn noch — im Buͤ¬
cherbrett; denn dort koͤnnen die ſchoͤnen Geiſter, er
habe immer ſchon alle bittere Salze des Geſchicks
hinunter geſchluckt, unter dem Namen Romanen-
Manna ein hartes Thraͤnenbrod ihm vorgeſchnitten
haben, das ich fuͤr meine Perſon weder backen noch
kaͤuen moͤchte — warlich ſie koͤnnen (in einer andern
Metapher) Todtenmaͤrſche und Maeſtoſen und Semi¬
tonien fuͤr ihn komponirt und bereit gelegt haben,
die ihn ganz niederwerfen und ihm warm machen,
daß ihm die Augen uͤbergehen.
Und zum Ungluͤck zeichnen ſich gerade warmbluͤ¬
tige und weichhaͤutige herrliche Maͤnner am wenig¬
ſten durch ſtandhaftes maͤßigendes Ertragen der poe¬
tiſchen Leiden aus, die ihnen Autoren zuſchicken.
Ich kann daher dieſen dritten Heft, der zu leicht
ruͤhret, unmoͤglich ohne alle Vorrede als eine Wider¬
lage laſſen, wenn ich nicht ſelber Urſache ſeyn will,
daß unſchuldige Menſchen bei den beſten Szenen die¬
ſes Hefts weinen und mit leiden. Solche zu weiche
Menſchen, denen die Natur die aͤſthetiſche Apathie
gegen große Leidensfaͤlle in Tragoͤdien und Romanen
verſagt hat, ſollten ſich — ſie muͤßten denn fett
ſeyn; denn Fetten thut der Kummer gut wie Hun¬
gerkur und Hoͤllenſtein — dieſe ſollten ſich durch
Philoſophie kalt machen und bewafnen gegen den
[8] tragiſchen Dichter; ſie ſollten ſich unter dem Leſen
eines großen Jammers troͤſten und ſagen: »wie lange
»dauert ein ſolches gedrucktes Ungluͤck? — Wie bald
»iſt ein Buch und Leben hinaus — Morgen denkſt
»du doch anders — Der ungluͤckliche Zuſtand, in
»den ich durch Shakeſpear hier gebracht werde,
»exiſtirt ja nur in meiner Vorſtellung und der
»Schmerz daruͤber iſt ja, nach den Stoikern, nur
»Illuſion — Man muß, ſagt Epiktet im Handbuch,
»das nicht bejammern, was nicht in unſerem Willen
»liegt und hier die traurige Szene von Klopſtock iſt
»ja ein aͤuſſeres Ding, das du nicht aͤndern kannſt
»— Willſt du dich von einem Nordamerikaner,
»vom Halloren, vom Poͤbel, vom Cretin aus Gex
»beſchaͤmen laſſen, der dieſe ganze Szene aus Goͤthe's
»Taſſo ſtill und gelaſſen aushielte, ohne ein Auge
»naß zu machen?« —
Ich betheur' es den Leſern, daß ich hier nur ge¬
gen ihre Weiber und Schweſtern zu Felde liege:
denn unter den Leſern fehlten ſtandhafte Zuſchauer
aͤſthetiſcher Leiden niemals ganz und noch weniger
als ſelber unter dem Poͤbel und ich moͤchte am we¬
nigſten den Schein haben als ſtritt' ich dem groͤßern
Theile der Geſchaͤftsleute, der Rezenſenten, Krimina¬
liſten, und Hollaͤnder große Gelaſſenheit unter dem
Leſen uͤberflorter truͤber Szenen ab, die ich und an¬
dere in die Preſſe geben. Ich berede mich vielmehr
[9] gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es
gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen
Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen
verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen
Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und
in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne
Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit
der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns
ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir,
wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und
nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit
Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das
greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬
geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬
nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen
Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬
dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt;
oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬
lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬
zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere
luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der
Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬
fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen
Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬
dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien
gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr
Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —
[10] wie ein Fuͤrſt ſchrieb — Das einzige Heilmittel der
Schmerzen iſt, oder der Himmel ſchenkt uns, wie
nach Leid, Freude, nach einer Meſſiade (wovon uns
eine gute Traveſtirung anzuwuͤnſchen waͤre) eine blu¬
maueriſche Parodie, woruͤber wir die vorige Epopee
leicht vergeſſen koͤnnen.
W.
Weiber. . Ihr holden weichen Fruͤhlingsblumen
und Enge. Abſenker neben uns harten Winterkohl¬
ſtruͤnken, ich habe ja ſchon im vorigen Buchſtaben eurer
gedacht und eurer Weichheit im Gegenſatz der deut¬
ſchen Strengfluͤßigkeit! Was ſoll ich weiter
ſagen als daß ihr, ſobald ihr gut ſeid, es im hoͤch¬
ſten Grade ſeid und daß ihr und das engliſche Zinn
einerlei Stempel habt — naͤmlich die Figur eines
Engels? —
X ſiehe IKS — Y ſiehe I — Z ſiehe T S.
Tz.
Spitz. Der arme Spitz will ſo gut in Vor¬
reden unter Extra-Schoͤslinge wie ſein Herr und
koͤmmt gerade recht mit dem 29ten Kapitel. Ich
kann ſtundenlang mit Spitzhunden reden wie Yorik
mit Eſeln. Ich will jetzt den Goͤtterboten auf die
Hinterfuͤße ſtellen und an den vordern halten, damit
er mir aufgerichtet zuhoͤrt. — — »Steh, leichte
[11] »Beſtie! — Ich rede nur mit dir uͤber etwas, da¬
»mit ich dich in die dritte Vorrede ſetzen kann. Es
»verdient, Spitz, bemerkt zu werden, daß du ein
»Schelm biſt wie Menſchen und gleich ihnen nicht
»gerade, ſondern gekruͤmmt und niedergebuͤckt
»verbleiben willſt, bloß um recht zu freſſen: du und
»ſie wollen wie Pharokarten durch Beugen und
»Kruͤmmen gewinnen, wie die gemeinen Englaͤn¬
»der ihre ſchlechten Silbermuͤnzen kruͤmmen, da¬
»mit ſie nicht fuͤr weniger ausgegeben werden, naͤm¬
»lich zwei fuͤr eine. — Du haſt falſche Augen, aber
»du handelſt doch gut. — Die Rezenſenten, unge¬
»duldiges Vieh, ſagen, wenn ſie an deiner Stelle
»waͤren, ſie wuͤrden das biographiſche Bauzeug flei¬
»ßiger zutragen, damit die Biographie aus waͤre eh'
»es ſchneiet — Setze ihnen nicht entgegen, daß ich's
»wie Baronius machen koͤnnte, der ſeine Anna¬
»len ohne Bart angefangen und mit einem grauen
»ausgemacht — Das koͤnnen ihm nur Rezenſenten
»(ich aber nicht) nachthun, die Zeit haben zu feilen
»und die ein Werk unbaͤrtig anfangen koͤnnen am
»Raſiertage und erſt drei Tage darauf vollenden,
»wenn ſie eingeſeift ſind. — — Fall' nur nieder,
»Hofmann, und friß: du biſt wenigſtens nicht ohne
»allen Verſtand und giebſt doch mehr auf das Har¬
»anguiren Acht als ein Dauphin-Foͤtus und wedelſt
»doch, aber der Foͤtus nicht — Ich habe nun mit
[12] »ganz andern Leuten zu ſprechen und die wenigſten
»wedeln, Spitz!«
Jean Paul.
29. Hundspoſttag.
Bekehrung — Villetdoux der Uhr — Florhut.
Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinſel
ab, und Mittags Viktor nach ſeinem pontiniſchen
Sumpf — beide mit einer Entfernung zufrieden, die
ſie wuͤrdig machte, eine Vereinigung zu genießen.
Das erſte was der Hofmedikus in Flachſenfingen
vornahm, war — daß er nachſann oder vielmehr
nachempfand. Der Menſch iſt der Doppelſpaht der
Zeit, der alle Szenen zweimal neben einander zeigt.
Die Erinnerung fing in ihrem Spiegel noch einmal
den Mondſchein der letzten Nacht und die Engel
auf, die darin ſchwebten und kehrte den Spiegel
mit dieſem Schimmer, mit dieſer Perſpektive meinem
Viktor zu. Er uͤberdachte jetzt Klotildens bisheri¬
ges Betragen, aus dem er — und ich hoffe, mein
Leſer — die Zuͤge der reinſten Liebe, die nur mit
einem Auge aus dem Schleier blickt, neben den Zuͤ¬
gen einer entſchiedenen Herrſchaft der weiblichen Ge¬
[13] fuͤhle uͤber die weiblichen Wuͤnſche entdeckte. Sie
koͤmmt den erſten Mai aus Maienthal mit einem
weinenden Herzen, das von einer Todten abgeriſſen
offen noch fortblutet. — Der Schuͤler Emanuels be¬
gegnet ihr und ſie eilet wieder zum Grabe zuruͤck,
um dort mit den Thraͤnen der Trauer ihre erſte Lie¬
be auszuloͤſchen. — Aber Emanuel theilte dieſer Lie¬
be ſein heiliges Feuer mit durch die ſeinige, durch
ſein Lob des Geliebten, durch den ſchoͤnen Brief
voll keimender Liebe, den dieſer am Geburtsfeſte des
4ten Maies an ihn geſchrieben. — Sie kehrt unge¬
heilet gegen die Zeit ſeiner nahen Abreiſe zuruͤck. —
Aber ihr guter Emanuel druͤckt freundſchaftlich-grau¬
ſam das Bild, das ihr das Herz zu enge macht, tie¬
fer in die Wunden deſſelben hinein, indem er ihr
Viktors Leben in Maienthal und das Geſtaͤndniß be¬
richtet, daß er ſie liebe. —
Vitor ſchweigt vor ihr, aber ſie glaubt, er thu'
es, weil er von ſeinem Vater keine Erlaubniß habe,
mit ihr uͤber Flamins Verwandſchaft zu reden. —
Er geht an den Hof und ſcheint ſie zu vergeſſen, ja
er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch
wie er weis ihre Seele blutig druͤcken. — Ihre El¬
tern noͤthigten ihr, um ſie auszuforſchen oder um
ihrem geheimen Werber Matthieu mit ihrer weibli¬
chen Verſchleierung zu ſchmeicheln, durch eine ty¬
ranniſche Frage das ungluͤckliche Nein ab, das ihren
[14] Bruder taͤuſcht und ihren Freund entfernt — Vik¬
tor weicht an ihrem Geburtstage aus dem Garten,
ohne ſie anzureden, beſucht darauf ihre Eltern wie¬
der und iſt ganz erkaltet. — Nun hoͤrt ſie nichts
mehr von ihm als hoͤchſtens Berichte ſeiner hoͤfiſchen
Freuden und ſeiner Beſuche bei Joachimen — — —
Ja, du Gute, da mußten ja im Kampfe mit Wuͤn¬
ſchen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach der
geliebten Seele, da mußten ja alle deine Freuden ein¬
ſchlafen und deine Hoffnungen ausſterben und deine
unſchuldigen Wangen erblaſſen. — — Da nun Vik¬
tor ſo dieſe truͤbe Vergangenheit durchdachte und
ſich erinnerte, wie ihr im Schauſpielhauſe, wo er
ihr ſeine Wiſſenſchaft um ihre Verſchwiſterung zeig¬
te, die letzte Bluͤte der Wange, der letzte Zweig
der Hoffnung wegbrach, weil ſie ſein bisheriges
Schweigen fuͤr ein von ſeinem Vater befohlnes hal¬
ten konnte. — Und da alle dieſe Zuͤge in eine Him¬
melskoͤnigin zuſammenliefen, vor welcher das Nie¬
derknien leichter als das Umarmen iſt. — Und da er
weiter bedachte, daß dieſes edle von einem Emanuel
verſchoͤnerte, und eines Emanuels wuͤrdige Herz ſich
doch mit allen ſeinen Himmeln dem wankelmuͤthigen
Herzen des Schuͤlers ergab — und daß der Guten
nicht einmal dieſer beſcheidene Wunſch gelang —
daß das Schickſal die Bluͤte ihrer Liebe wie die ei¬
ner Roſenſtaude aufſchob durch Verpflanzung, durch
[15] Setzen in Schatten, durch Beſchneiden der Knoſpen
im Fruͤhjahr und Herbſt. — Und da er ſah, daß
gleichwol dieſe Edle mit dem Finger auf dem Mun¬
de, mit der Hand auf dem truͤben Herzen, ohne ei¬
nen Wink ihres Grams geſchieden waͤre nach Maien¬
thal, und daß die moraliſche Kaͤlte dieſe Blume,
wie die phyſiſche die andern, erhob aber ihr da¬
durch die Wurzeln des Lebens abriß — und da end¬
lich ſein Traum am dritten Oſterfeiertag, wo ihm
vorkam als ſaͤh' er ſie auf einem lichten Nebel ſin¬
gend aus der Erde ſteigen, wie eine große Regen¬
wolke voruͤberging und da der Traum mit ihrem er¬
blaßten Kolorit vor ſeiner ſchmachtenden warmen
Seele ſtille ſtand, und da eine Stimme aus dem
Traum ihn fragte: »wirſt du ſie lange lieben, da
»ſich Engel nach ihr ſehnen und ſie aus dem Kum¬
»mer heben und dir nichts laſſen als das Grab des
»zu lang verkannten Herzens?» — — da alle dieſe
Gedanken gluͤhend und aneinandergereihet wie Huͤ¬
gelketten von rothen Abendwolken um ſeine Seele
zogen: So wurde ſein Herz wie ein Altar durch ein
vom Himmel fallendes Opferfeuer bedeckt und alle
ſeine erdigten Luͤſte, alle ſeine Fettflecken vergingen
in dieſem Feuer — kurz, er beſchloß, ſich zu beſſern,
um durch Tugend wuͤrdig zu ſeyn einer Tugend¬
haften.
[16]
Er bekehrte ſich den 3ten April 1793 gegen Abend
als der Mond — und die Erde — unter ſeinem
Fuͤßen im Nadir waren. —
Der Leſer kann uͤber dieſen Chronometer gelacht
haben; aber jeder Menſch, an dem die Tugend et¬
was hoͤheres iſt als ein zufaͤlliger Waſſeraſt und
Holztrieb, muß die Stunde ſagen koͤnnen, worin je¬
ne die Hamadryade ſeines Innern wurde — welches
die Theologen Bekehrung und die Herrhuter Durch¬
bruch nennen. Wie ſoll die Zeit nicht unſre geiſti¬
gen Empfindungen abmarken, da ja blos dieſe jene
abſtecken?
Es giebt — oder koͤmmt' — in jedem mehr ſo¬
lariſchen als planetariſchen Menſchen eine hohe
Stunde, wo ſich ſein Herz unter gewaltſamen Be¬
wegungen und ſchmerzlichen Losreißungen, endlich
durch eine Erhebung ploͤtzlich umwendet gegen die
Tugend, in jenem unbegreiflichen Uebergang, wie
der iſt, wenn ſich der Menſch von einem Glaubens¬
ſyſtem auf einmal zum andern, oder vom hoͤchſten
Punkte des Grolls ſchnell zu einer zerſchmelzenden
Vergebung aller Fehler hinuͤberhebt — jene hohe
Stunde, die Geburtsſtunde des tugendhaften Lebens,
iſt auch die ſuͤſſeſte deſſelben, weil jetzt dem Men¬
ſchen iſt als waͤre ihm der druͤckende Koͤrper abge¬
nommen, weil er die Wonne genießet, keine Wi¬
derſpruͤche in ſich zu fuͤhlen, weil alle ſeine Ket¬
ten[17] ten fallen, weil er nichts mehr fuͤrchtet im
ſchauerlich-erhabnen Univerſum. — Der Anblick iſt
groß, wenn der Engel im Menſchen gebohren wird,
wenn alsdann am Horizont der Erde die zweite Welt
aufſteigt, und wenn die ganze Sonnenwaͤrme der
Tugend durch keine Wolken mehr auf das Herz
faͤllt. —
Aber der arme Menſch, der gebundne in Blut
verſunkne, von Fleiſch umfaßte Menſch empfindet
bald den Unterſchied zwiſchen ſeinen Entzuͤckungen
und ſeinen Kraͤften; er, der das gelobte Land er¬
kaͤmpfen wollte, da ihm die Trauben deſſelben ent¬
gegen kamen, ſtockt, da er gegen deſſen Rieſen zie¬
hen ſoll (gegen die Leidenſchaften.) Gleichwol ver¬
werf' ich nicht einmal die Uebertreibung jenes En¬
thuſiasmus: der Menſch muß wie Gebaͤude in die
Hoͤhe geſchraubt werden um reparirt zu wer¬
den; ein Syllogismus graͤbt die Blutſtroͤme unſerer
Begierden nicht ab. Es iſt ſonderbar, daß der
Teufel in uns allein das Recht haben ſoll, das
Blut, die Nerven, die Getraͤnke, die Leidenſchaften
zu ſeinen Kriegsoperazionen und fuͤr ſeine Reichs¬
kaſſe zu verwenden, der Engel aber ſoll's nicht. ..
Indeſſen iſt's ſo: die Menſchen ſind laſterhaft,
weil ſie die Tugend fuͤr zu ſchwer anſehen, und ſie
werden's wieder, weil ſie ſie fuͤr zu leicht hielten.
Nicht die Vernunft (d. h. das Gewiſſen) macht uns
Heſperus. III. Th. B[18] gut, ſie iſt der ausgeſtreckte hoͤltzerne Arm am Wege
der Tugend; aber dieſer Arm kann uns weder hin¬
tragen noch hindraͤngen — die Vernunft hat die ge¬
ſetzgebende, nicht die ausuͤbende Gewalt. — Die
Kraft, dieſe Befehle zu lieben, die noch groͤßere,
ſich ihnen zu ergeben, iſt ein zweites Gewiſſen ne¬
ben dem erſten — wie Kant nicht das mit Dinte
ſigniren kann, was den Menſchen ſchlimm macht,
ſo iſt auch das nicht darzuſtellen, was ſein Herz
uͤber dem moraliſchen Kothe aufrecht erhaͤlt oder
aus dieſem erhebt. —
Wer erklaͤrt es, wenn es Menſchen giebt, die von
Jugend aus ein gewiſſes Gefuͤhl von Ehre entweder beſi¬
tzen oder entbehren — im weiblichen Geſchlecht iſt
dieſe Abtheilung noch ſchroffer und wichtiger — wenn
es Menſchen giebt, die von Jugend auf eine gewiſſe
Sehnſucht nach dem Ueberirdiſchen, nach der Reli¬
gion, nach dem Edleren im Menſchen, (und nach
Syſtemen, die dieſes Edlere beſiegeln, nicht beſtrei¬
ten) entweder empfinden oder ewig entrathen? — —
(Bei Kindern iſt warmes Gefuͤhl fuͤr die Religion
immer ein Zeichen des Genies). Der Menſch wird
nicht gut (obwohl beſſer), weil er ſich bekehrt, ſon¬
dern er bekehrt ſich weil er gut iſt.
Waͤre die Tugend nichts wie Stoizismus: ſo
waͤre ſie ein bloßes Kind der Vernunft, deren Pfle¬
getochter ſie hoͤchſtens iſt. Der Stoizismus ſtellt die
[19] Tugend ſo nuͤtzlich, ſo vernuͤnftig dar, daß ſie nichts
weiter iſt als ein Schluß: man hat bei ihr nichts
zu uͤberwinden als Irrthuͤmer. — Da ſie (nach ihm)
nicht das hoͤchſte ſondern das einzige Gut iſt; da
alle Begierden nach ihm auf ein leeres Nichts los¬
gehen: ſo iſt Tugend kein Verdienſt, ſondern eine
Nothwendigkeit. Z. B. wenn es nichts haſſenswer¬
thes giebt: ſo iſt der Sieg uͤber den Zorn und die
Liebe gegen den Feind nicht ſchwerer oder verdienſt¬
licher als die gegen den Freund, ſondern einerlei.
Was hat denn der Stoiker der Tugend nach ſei¬
ner Meinung aufzuopfern als Vexirguͤter, Luft¬
ſchloͤßer und Fieberbilder? — Gleichwohl thut der
Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem Genie,
negative Dienſte — die ſtoiſche Erkaͤltung treibt
keinen Fruͤhling heraus, aber ſie richtet die Inſekten
hin, die ihn zernagen — der ſtoiſche Winter nimmt
wie der phyſiſche, die Peſt hinweg eh' die waͤr¬
mern Monate kommen, die neues Leben rei¬
chen. . . .
Obgleich Viktor ſagte: »Du Theure, kein
»Herz kann rein, ſtill, zart und groß genug fuͤr dei¬
»nes ſeyn, aber das ſchwache, das du erduldeſt, wird
»an deinem ſich heiligen und koͤmmt gebeſſert zu
»dir:» ſo war doch die bloße Liebe die Quelle
ſeiner Tugend, ſondern umgekehrt konnte nur Tu¬
gend ſich durch eine ſolche Liebe offenbaren. Aber
B2[20] auch ohne das wird eine halb eigennuͤtzige Sinnes¬
aͤnderung durch Handeln zur uneigennuͤtzigen, wie
die Liebe, die von der Schoͤnheit des Geſichts an¬
faͤngt, ſich zuletzt in Liebe fuͤr Schoͤnheit der Seele
veredelt.
Die Abſonderung von Klotilden gab ihm jetzt
durch den Gedanken Freude, daß er dadurch die ei¬
ferſuͤchtigen Irrthuͤmer ihres Bruders ſchone. Die
Simultanliebe ruͤckte jetzt der Freundſchaft gegen
die beſſern Weiber zu, und der Toleranz gegen die
ſchlimmern. Er hob ſeine ſatiriſche Intoleranz —
die aber nicht halb ſo groß war wie die junger
ſchriftſtelleriſcher Spasvoͤgel — durch eigne Tole¬
ranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reiſe ins
Pferdeland als Rezept gegen Luͤgen, wenn man an
den Hof geht. Sein Kubach und Schatzkaͤſtlein und
ſein collegium pietatis beſtand aus drei unaͤhnlichen
Baͤnden: Kant, Jakobi *), und Epiktet.
Ich wollt' aber, er machte ſich nicht laͤcherlich.
Von einem Manne, der neun Monate am Hofe ge¬
weſen, war man ſchon zu erwarten berechtigt, daß
er ſich anders benehmen und gegen jene Gleichheit
der Staͤnde und der Laſter nicht verſtoßen werde,
da die Menſchen die Suͤnden am beſten gemeinſchaft¬
[21] lich veruͤben, wie in den ſchweizeriſchen Kirchen die
Zuhoͤrer gemeinſchaftlich huſten oder die Rekruten
eines Transports zugleich piſſen muͤſſen. Wenig¬
ſtens verraͤth es den Mann von Lebensart nicht,
ſeine Liebe gegen ſeine Ehefrau oder gegen ſeine Re¬
ligion andern zu zeigen. — Ich komme wieder zur
Hiſtorie:
Viktor beſchloß, lauter Viſiten zu machen, die
ihn aͤrgerten. Der boͤſe Geiſt der im Menſchen all¬
zeit wie die juͤngſten Raͤthe zuerſt votirt, machte die
Mozion »er ſolle Joachimen den kleinen Irrwahn,
»daß er ſie lieb, laſſen, » — als das nicht durch¬
ging, nahm der Filou eine andere Stimme an und
ſchlug damit vor: »er ſollte ſie fuͤr ihre bisherige
Zweideutigkeit durch die deutlichſten Zeichen ſeines
Haßes ſtrafen.» — Aber er ging willig dem guten
Geiſte nach, der ihn an der Hand fuͤhrte und unter¬
weges ſagte: »gehe jetzt zu ihr — ziehe dich von
»ihr ohne ihre Schmerzen loß — deine Hand gleite
»allmaͤhlig aus ihrer und raͤume einen Finger nach
»dem andern wie es Maͤdgen mit ihrer phyſiſchen
»machen und ſtelle dich weder als ihren Feind noch
»als ihren Liebhaber an.» Er ging ohne allen Ei¬
gennutz hin: denn der waͤre eher geweſen zu Hauſe
zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu
genießen und durchzublaͤttern, oder auch aus dem
Hauſe zu gehen nach St. Luͤne, um ſich zu
[22] Agathen neben den Florhut Klotildens, den ſie ſtu¬
dirte, zu ſetzen.
Um aber ſeinem Beſuche nicht zu vieles Gewicht
in den Augen Joachimens zu laſſen, nahm er ſich
vor, ſie um die Proſpekte von Maienthal, die in
ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige Wochen.
O Maienthal, wie viel haſt du, wenn ſchon dein
Schattenriß ſo gluͤcklich macht! — Aber ſeine Viſite
lief ſonderbar ab. Er wuͤnſchte unterweges, in ih¬
rem Toilettenzimmer waͤre der feine Narr, und der
wohlriechende und mehr Zeug — es war nichts da,
Sie nahm ihn mit einer ſorgloſen [Luſtigkeit] auf als
waͤre ſie die Kolombine und der Medikus der Pickel¬
haͤring. Er aber wollte blos das diminuendo ſeiner
moraliſchen Diſſonanzen ausfuͤhren; daher wurd' er
durch das ewige Hinſehen auf ſein Notenpult und
auf die Partitur ſeiner innern Harmonie etwas ſteif
und ungelenk in ſeinem Spiel. Weiber unterſchei¬
den leicht Kaͤlte der Vernunft (ſchon am Mangel der
Uebertreibung) von Kaͤlte der Laune. Jetzt verlang¬
te er die Proſpekte. Joachime wurde nicht kaͤlter,
ſondern warm d. h. ernſthaft und hob in der holen
Hand ihre Uhr empor und ſagte, darauf blickend:
»Ich geb' Ihnen ſo viele Minuten Friſt, als Sie
»Tage weggeblieben ſind, um das Wegbleiben zu
»entſchuldigen.» — Viktor nahm ohne Verlegenheit
— wie jeder, der nur nach Einem entweder guten
[23] oder boͤſen Prinzip handelt' — die peremtoriſche
Friſt an und hob die montre à regulateur unter
dem Spiegel aus‚ um nicht von Joachimen betrogen
zu werden. Dieſe verdammte Uhr der Fuͤrſtin grinz¬
te ihn uͤberall an‚ wie eine Druckkugel und Mine
unter ſeinen Fuͤßen. Er zog ſie auf‚ um dieſes
nuͤrnbergiſche Ei (wie man ſonſt die Uhren nannte)
aufzumachen und endlich einmal nachzuſehen‚ ob die
Liebeserkaͤrung d. h. das punctum saliens der Liebe
oder der Amor — der nach Plato auch aus einem
Ei auskam — noch darin waͤre. »Ich weiß ſchon‚
»ſagt' er zu ſich‚ es iſt laͤngſt heraus‚ aber ich pro¬
»bir's nur.»
Es waͤre uͤberhaupt die Frage geweſen‚ ob's die¬
ſelbe Uhr war‚ da die in Toſtatos Bude keine Bril¬
lanten hatte — wenn nicht aus dieſer Pandorabuͤch¬
ſe‚ ſobald er ſie am Fenſter aufgeſchloſſen hatte‚ her¬
vorgeflattert waͤre ein duͤnnes Blaͤttgen‚ halb ſo groß
wie ein Schmetterlingsfluͤgel, ſo lang wie ein Tul¬
penſtaubfaden. — — Die kleine Folie nahm vor je¬
dem Luͤftgen die Flucht. — — Joachime fing das
Ding — las das Ding — fand die Liebeserklaͤrung
noch darauf — hielt ſie fuͤr eine‚ die er ihr ſelber
eben mache‚ um ſeine Abweſenheit auszuſoͤhnen und
die er der Uhr Witzes halber (er konnte auf ihre
Herz-Geſtalt anſpielen) einverleiben wollen. . . .
[24]
Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war.
— Recht wohl waͤr' ihm dabei geweſen, wenn er
haͤtte entſetzlich luͤgen duͤrfen oder wenn er nur we¬
nigſtens den wenigen Hof-Leuten haͤtte nachſchlagen
duͤrfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren
Koͤrper waͤſſern, nicht 28 ehrliche Blutstropfen —
ein einziger kann wie liquor probatorius verdammte
Sedimente nachlaſſen — geſchuͤttet haben. Aber
ſeine Seele ekelte der neue Koͤder zur Luͤge. Der
Leſer kann gar noch nicht wiſſen, daß Viktor fehl¬
ſchoß, — daß er nemlich (wegen der Entlegenheit
von Joachimens Argwohn) auf dieſen gar nicht kam,
ſondern auf den naͤhern, Joachime habe jetzt ſeinen
ganzen naͤrriſchen Streich gegen die Fuͤrſtin heraus.
Er war niemals faͤhig, einen fremden Leichnam als
Schild den Pfeilſchuͤßen gegen ſeinen eignen vorzu¬
halten — eine Sitte aus dem Hof Moria, die nicht
wie die altteſtamentliche einen Iſaak mit einem
Widder loͤſet, ſondern einen Widder mit einem
Iſaak — er war heute am wenigſten faͤhig, die Fuͤr¬
ſtin Preis zu geben, um ſich zu retten; aber auch
nicht einmal das vermocht' er, Joachimen Preis zu
geben, um jene zu retten, d. h. den Teufelszettel
zu einem Miniatur-billet doux an Joachimen um¬
zumuͤnzen. Der Satan ſchrie ſich in ihm heiſer,
um ihn nur ſo weit zu bringen, daß er wenigſtens
durch ſchweigende Pantomime loͤge und die ihrige
[25] rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm
als glaubte ſie es an eine fremde Dame gerichtet.
Er ſagte ihr frei heraus, was er waͤre — ein
Narr. Er referirte den ganzen Handel in Kuſſewiz.
Er ſchloß damit, es ſey ein Gluͤck fuͤr ihn, daß die
Fuͤrſtin das tolle Einſchiebſel der Uhr gar nicht auf¬
geſtoͤbert habe. ... Da er nun dieſes eintoͤnig
vorſang ohne eine einzige Schmeichelei, aus der et¬
wan eine neue Auflage des Einſchiebſels zu machen
geweſen waͤre: ſo war er ſo gluͤcklich, bei ſeinem
Abſchiede die belehrte Joachime in einem Zuſtand zu
hinterlaſſen, der ſich nach ſolchen magnetiſchen Des¬
organiſazionen bei gebildeten Weibern in einer ſchoͤ¬
nen ſtolzen Exaltazion und bei unbegebildeten in
den Verſuchen aͤuſſert; an den Mann die bildende
letzte Hand gerade ſo zu legen wie ſie die griechi¬
ſchen Kuͤnſtler an ihre Modelle legten — — — naͤm¬
lich mit den Naͤgeln der letzten Hand. — Viktor
zog mit zweierlei ſehr verſchiedenen Proſpekten ab,
mit denen der Zukunft und mit den Maienthali¬
ſchen. —
Sie behielt das Blaͤttgen. Aber nicht die Furcht,
ſondern das herbe Gefuͤhl, daß ſeine bisherigen
Thorheiten ſich blos in einem fremden Herzen mit
einer fehlgeſchlagnen Hoffnung enden, floß mit eini¬
gen bittern Tropfen in die ſuͤße verjuͤngende Empfin¬
dung, daß er auf ſeine Koſten Recht gehandelt ha¬
[26] be. Eine Ruͤhrung, eine Thraͤne iſt ein Schwur
vor dem Himmel, gut zu werden; — aber eine
einzige Aufopferung ſtaͤhlet dich mehr als fuͤnf Bu߬
thraͤnen und zehn Kaſualpredigten.
Ich habe nicht den Muth, es zu errathen, war¬
um die Fuͤrſtin die Uhr mit dem erotiſchen Einſchluße,
den ſie (ſchon nach dem Geſpraͤch mit Toſtato) ge¬
leſen haben muß, Joachimen in die Haͤnde gegeben;
aber fuͤr die Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres
Augenverbandes und Kuſſes gedacht, iſt das ein
Fund: das Geſchenk der Uhr beſtaͤtigt ſie ganz in
ihrer ſpitzbuͤbiſchen Theſis; denn ſie koͤnnen — ich
ſetze mich vergeblich dagegen — das Geſchenk fuͤr
ein Zeichen der italieniſchen Rache ausgeben, die
Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der ſie
Viktors Widerſtand zuſchreiben mußte, dadurch habe
nehmen wollen, daß ſie ihr ſeine anderweitigen Lie¬
beserklaͤrungen mitgetheilt.
Viktor nahm ſich, indem er zu Hauſe die groͤſten
phyſiſchen Schritte machte, vor, aͤhnliche politiſche zu
thun und geradezu dem Fuͤrſten zu bekennen: »es iſt
»nicht viel uͤber neun Monate, daß ich Hoͤchſtdero¬
»ſelben Braut mit einer ſchmalen Liebeserklaͤrung
»behelligt habe, die ſie gar noch nicht kann geleſen
»haben und die nun aus einer Hand in die andre
»geht.» Aber jetzt war die Eroͤfnung der Uhrbrief¬
ſache — Halsbandſache haͤtt' ich beinahe geſchrie¬
[27] ben — nicht thulich: Jenner war durch die Entfer¬
nung Klotildens ein wenig verdruͤßlich — Viktor
war ſeit einiger Zeit auch weniger um ihn als ſonſt,
wie doch ein rechtſchaffener Guͤnſtling nicht ſollte,
da z. B. der beruͤhmte Graf von Bruͤhl wie eine
Mutter von Morgen bis Mitternacht ſeinen Herrn
umwachte — Jenner ſchien in dieſer Einſamkeit
mehr an ſeine Kinder zu denken und Viktor konn¬
te ihm keine Nachrichten vom Lord ertheilen — die
Hauptſache war vollends ſeine Fruͤhlingskraͤnklichkeit,
die ihn wieder zum glaͤubigen Juͤnger des D. Kuhl¬
peppers und des Podogra machte. Dieſer D.-Rumpf
unter einem Doktorhute, deſſen Gehirnfiebern zu
Baßſaiten gezwirnt waren, verſteigerte ſeine Betiſen
blos durch die ernſthafte Schwerfaͤlligkeit, wo¬
mit er ihrer loß wurde, uͤber den Preis: von ge¬
wiſſen Perſonen, z. B. von Aerzten, von Finanz-
Arithmetikern, von oͤkonomiſchen chargés d'affaires
fodern ſogar Leute von feinen Sitten ſteife und hal¬
ten ſich an eine Zipfelperuͤcke lieber als an einen
Kompreſſions-Haarbeutel ſo groß wie eine Schuh¬
ſchnalle. Sebaſtian kam den Leuten viel zu ſpas¬
haft vor, als daß ſie haͤtten denken koͤnnen, er habe
was gelernt. Im Punkte der Aerzte — wie in je¬
dem Kardinalpunkte des Vermoͤgens oder des Lebens
— denket der vornehmſte Poͤbel wie der niedrigſte
und ſchaͤtzet Maͤnner und Schooßhunde nach aͤuſſerer
[28] zottiger Wildniß. Noch dazu hatte Viktor den Feh¬
ler, ſich und die Aerzte in den Verdacht der Ruhm¬
ſucht zu bringen, indem er ſie geradezu lobte: z. B.
»ſie waͤren bei ihrem Matroſen- und Todten-Preſ¬
»ſen eine Art Seelenverkaͤufer fuͤr die andre Welt
»und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne
»die Koͤrperſchaale begehrten, um ihn weiter zu ſte¬
»cken, zu Nußknackern — wie oft heben wir nicht
»— (fuhr er fort) die gefaͤhrlichſten Krankheitsver¬
»ſetzungen durch eine leichte Krankenverſetzung?
»Ich koͤnnte mich auf die refugiésaus dieſer Welt
»berufen, ob unſer Streu- und Dintenfaß, (das
»Geraͤthe unſerer Rezepte) nicht die Saͤemaſchine
»und Gießkanne der menſchlichen Winterſaat waren;
»aber die Reſtanten ſollen reden und antworten, ob
»ſie nicht die Pfruͤnden, die Regimenter, die Lehn¬
»guͤter, die Ordensbaͤnder, die ihnen zugefallen, un¬
»ſern Rezepten und Uriasbriefen zu verdanken haben
»und ob ſie und ſogar Koͤnige im Trocknen ſaͤßen
»ohne unſere haͤufigen Abzugsgraͤben im Kirch¬
»hof? — Und doch duͤnkt mich iſt unſer Ruhm im
»Heilen und Beleben eben ſo groß, wo nicht groͤſ¬
»ſer: dieſer Ruhm — ſo wie die Mortalitaͤtsliſten,
»worauf er ſich ſtuͤtzt — iſt ſeit vielen Jahrhunder¬
»ten der naͤmliche geblieben, unſre Theorien,
»Spezifika, Einſichten mochten ſich aͤndern wie ſie
»wollten.» . . .
[29]
Den Fuͤrſten machten ſolche Satiren recht luſtig
und — unglaͤubig. D. Kuhlpepper hingegen hielt
auf ſeine Wuͤrde und wuͤrde gegen einen Satirikus
der vom langſamen Dezimiren der Aerzte geſprochen
haͤtte, ſeinen Degen gezogen und ihn durch ein ſchnel¬
leres vollſtaͤndig widerlegt haben. Ich rathe jedem,
der in der Welt etwas werden will, (naͤmlich etwas
anders) bei den Maͤnnern auszuſehen wie ein Lei¬
chenbitter — bei den Weibern wie ein Gevatterbit¬
ter. — Der Fuͤrſt hielt ſich im ſiechen Fruͤhjahr aus
zwei Gruͤnden wieder vom Zipperlein beſeſſen, erſt¬
lich weil ich noch keinen Nerven-Schwaͤchling ge¬
kannt habe, der ſich eine Krankheit, die ich ihm im
Sommer ausgeredet hatte, nicht im naͤchſten kraͤnk¬
lichen Winter wieder in den Kopf geſetzt haͤtte —
zweitens weil Jenner nachgerechnet, daß er oft genug
vor Damen auf die Knie gefallen war, um das An¬
beten daran noch als Gonagra zu ſpuͤren.
So ſtand's, als ein kleiner Zufall meinen Viktor
wieder gluͤcklich machte. Ich muß nur vorher ſagen,
daß er ohnehin gar nicht ungluͤcklich war: denn ein
Liebhaber bekuͤmmert ſich um nichts, um einen Hof
gar nicht; er hat Amors Binde um und verzeiht
gern der Fortuna und der Juſtiz die ihrigen. Und
das moraliſche Oſterfeuer loͤſete — ſo wie Aberglaube
dem phyſiſchen eine eigne Kraft beimiſſet — alles
Eis, womit man Viktors Blut andaͤmmte, in Freu¬
[30] den-[Lymphe] auf; der Oſterwind — der nach dem
Wetterpropheten bis zu Pfingſten fortwehet — ſetzte
ſeine alten Freudenblumen in Bewegung und ſaͤete
aus ihnen den Samenſtaub kuͤnftiger weiter; der
Schnee zerging auf dem aus dem Winterſchlafe er¬
wachenden heiſſen Fruͤhling und die erſten Blumen
und die tauſend Knoſpen gaben allen Herzen Kraͤfte
und Hofnungen und Liebe. O wenn Viktor drauſſen
dem gruͤnenden Steige nachſah, der ihn mit friſchen
Saftfarben mitten aus der Grummetſteppe (denn im
Fruͤhling gruͤnen die Fußwege zuerſt) in das Maien¬
thaliſche Eden locken und tragen wollte; und wenn
er dann gluͤhend und duͤrſtend umkehrte und in das
gezeichnete Maienthal einlief, in die entlehnten Pro¬
ſpekte und da jeden Farbenberg erſtieg und jeden
punktirten Garten umzingelte mit ſeinen Fingern und
Phantaſien: ſo dachte er ſelber nicht, daß ein kleiner
Zufall ihn noch froher machen koͤnnte. — Und doch
machte er's ihn.
Es iſt nicht wohlgethan von mir, daß ich das —
und das hab' ich mir in dieſer Biographie ſo ſehr
angewoͤhnt — immer einen Zufall nenne, was ein
naher Bluts-Urenkel voriger Kapitel iſt und was
ja kommen muß. Denn der Florhut — das war
der Zufall — mußte ja kommen, weil er beſtellt
war. Es war aber das — Original ſelber. In ſo
ſchmaler Zeit waͤre ohnehin von der flinkeſten Putz¬
[31] Bauherrin kein Hut zu machen geweſen; aber Seba¬
ſtian hatt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Pu¬
derſpuren und aufgegangne Spitzen-Gitter gezwungen
haͤtten, den alten Hut von einem neuen zu trennen.
Kurz: Klotilde hatte ihn Agathen, die es ihr nicht
verſchweigen konnte, fuͤr wen ſie die Kopie davon
nehme, vor dem dritten Oſtertage gegeben zum
Abkopiren, und nach dem beſagten Tage ihr ge¬
ſchrieben, ihr die Kopie zu ſchicken und dem Medi¬
kus das Original fuͤr das Nachbild (wie bei der
Wachsſtatue) anzuhaͤngen. — Und warum wohl? —
O das fuͤhlte ihr Freund in ſchoͤner Ruͤhrung nach:
es dauerte ſie, daß ſie einem ſcheuen zaͤrtlichen Her¬
zen nichts geben konnte, keinen Laut, keinen Blick,
keine Freude, kein Andenken des ſchoͤnſten Abends,
als bloß den herbſtlichen Nachflor deſſelben, als
nachgenaͤhte Seidenblumen dieſer Freudenblume, den
Taftſchatten eines Taftſchattens- . . . Nein, ſie be¬
zwang ſich, um dem [ſtummen] Liebling wenigſtens
mehr als die Kopie des Schattens zu geben. — O
vor wem das liebevolle zugedruͤckte Herz eines guten
Weibes aufginge; wie viel bekaͤmpfte Zaͤrtlichkeit,
verhuͤllte Aufopferungen und ſtumme Tugenden wuͤrd'
er darin ruhen ſehen!
— Man muß nur dem deutſchen Reichstage und
ſeinen Querbaͤnken kein Geheimniß daraus machen,
daß Viktor den neunten Kurhut nicht annehmen
[32] will, wenn er dafuͤr den Florhut abſtehen ſoll. ..
Was koͤnnen die plumpeſten dickſten Kronen, die
man mir auf meinen Reiſen vorgezeigt, in der einen
Schaale wiegen — geſetzt man wuͤrfe auch noch ei¬
nige Tiaren und Dogemuͤtzen mit Buͤgeln und paͤbſt¬
liche Huͤte zu den Kronen hinein — wenn auf der
andern Klotildens Florhut zieht? Da der Leſer eben
ſo viel Verſtand hat wie ich ſelber: ſo entſcheid' er
hierauf. — Dieſer Hut gab ihm ein unausſprechli¬
ches Sehnen nach Maienthal und war fuͤr ihn ein
Dedikationskupfer, das ihm (wie durch eine investi¬
tura per pileum) Klotilden erſt ſchenkte; er ſtand
vor dieſer Krone als Kronerbe — jede Minute zog
ſeinen Kronwagen — mit zwei großen Freudentro¬
pfen, die das gluͤckliche Auge nicht faßte und ſagte
langſam den Kopf wiegend: »Nein, das guͤtige
»Schickſal giebt mir zu viel — Ach wie kann ich
»dieſe Seele vom Himmel verdienen? — Ach ich
»werde bloß zu ihr ſagen: »ich bin dein!« und ſpaͤt
»einmal: du biſt mein!« Und als gar ſeine Phan¬
taſie hinter der Flor-Jalouſie die zwei großen Au¬
gen aufſchloß, die ſonſt darunter die Thraͤnen eines
zuruͤckgeſtoßenen Herzens verborgen halten und als
er die entruͤckte Stimme wieder hinter dieſem Sprach¬
gitter aus Schattenfaͤden reden ließ: ſo konnt' er
ſich nicht mehr halten, ſondern er ſchrieb — damit
er nach Maienthal duͤrfe — dem Hute gegenuͤber
den[33] den erſten Brief an ſie, den ich Morgen Abends ge¬
wiß mit der Poſt erhalten werde vom Hunde. —
Ich glaube, ich hab' es gar noch nicht geſagt,
daß Agathe ihm den Hut auslieferte und daß ſie
ihn — es iſt gegen das Ende des Aprils — auf
den 4ten Mai zum Geburtstag des Vaters einlud.
Viktor dachte an den melancholiſchen 4ten Mai vom
Jahre 92 und wurde noch ſehnſuͤchtiger nach der
entriſſenen Freundin.
Eh' ich das Kapitel ſchließe, will ich nur den
juͤngern Klotilden, den Vice–Klotilden, Kebs–
Klotilden und den Anti-Klotilden, die mich und
meine Kapitel auf dem Schoße haben, das noch ſa¬
gen: ſeid kalt! Ihr koͤnnt die weibliche Tugend–Kaͤlte
gar nicht zu weit treiben, ihr muͤßtet ihr denn gar
keine Graͤnzen ſtecken. — — Ich will euretwegen
dieſe Lehre in weiſe Spruͤche und witzige Sentenzen
kleiden, damit ſie beſſer auf Faͤcher und in Stamm¬
buͤcher geht.
Die Liebe muß wie der Aurikelſaame auf Schnee
geſaͤet werden, beide waͤrmen ſich durch das Eis
ſchon durch und gehen dann deſto friſcher auf —
Ihr muͤſſet euch nie zu einem Geſchenke machen,
ſondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter —
Ihr erhaltet und verdient gerade ſo viel Achtung,
als ihr fodert, und ihr koͤnnt ihr moͤgt legirt ſeyn
wie ihr wollt, euren Muͤnzſtempel oder Praͤgſtock
Heſperus. III. Th. C[34] aus der Taſche ziehen und euch damit praͤgen zu ei¬
nem Damend'or fuͤr den einen Herrn, und zu einem
elenden Fettmaͤngen fuͤr den andern — Ein Libertin
zeigt in einer Geſellſchaft wie ein Luftreinigkeitsmeſ¬
ſer durch die verſchiedenen Grade ſeiner Kuͤhn¬
heit die verſchiedenen Grade des weiblichen Verdien¬
ſtes an aber in umgekehrtem Verhaͤltniß. . . .
Sogar wenn's nicht zum weiblichen Point d'hon¬
neur gehoͤrte, muͤßte man's doch begehren, um nur
eine Muͤhe mehr zu haben — weil mein Geſchlecht
hieruͤber voͤllig ſo denkt wie ich, der ich aus
keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter mag, wo
nicht wenigſtens die Eltern etwas wider mich haben;
— und es kann hiemit bekannt werden (es iſt ſo
viel als ließ' ichs in die Zeitung ſetzen,) daß ich mir
von Eltern, die aus ihrem Auktionsſaal voll Toͤch¬
ter, aus ihrem Liebes-Inokulationshoſpital eine oder
die andre abſtehen wollen, und denen ein Berghaupt¬
mann, Gerichtshalter, Muſikmeiſter nnd Biograph
— das moͤgen meine wenigen Chargen ſeyn — keine
zu veraͤchtliche Partie iſt, daß ich ſag' ich von die¬
ſen Eltern, erwarte, daß ſie (wenn ihnen die Sache
ein Ernſt iſt) mir wenigſtens das Haus verbieten
oder den haͤufigen Briefwechſel: — das friſchet
Schwiegerſoͤhne an. . . .
[35]
30. Hundspoſttag.
Briefe.
Haͤtt' ich oder ein anderer hinter einen Buſch oder
in einem Chauſſee Hohlwege aufgepaſſet und waͤren
wir zu rechter Zeit vorgebrochen: ſo haͤtten wir die
zwei in einander geſiegelten Briefe‚ die Viktor nach
Maienthal ſchickte‚ dem Boten abnehmen koͤnnen‚
der kein deutſch verſtand‚ naͤmlich ſeinem italieniſchen
Bedienten. Der Brief an Emanuel war der Um¬
ſchlag des Briefes an Klotilde — die Freundſchaft
iſt immer die Emballage der Liebe. Vom Umſchlage
will ich nur einen Auszug und einen Ausſchnitt ge¬
ben, eh' ich den Brief an Klotilden ganz mittheile.
Er bat den Emanuel, dieſes nur fuͤr ein Couvert zu
nehmen und die Inlage Klotilden allein zu uͤberge¬
ben — er ſagt' es ihm ohne weitere Erklaͤrung, er
haͤnge nicht von ſeinen Wuͤnſchen ſondern von Blu¬
menketten ab, die ihn zuruͤckzoͤgen von den andern
Blumenketten in Maienthal und eine vielfache Um¬
ſchnuͤrung mit Guirlanden koͤnne man nicht durch¬
brechen, weil man nicht wolle — er war abſicht¬
lich uͤber ſein neues Verhaͤltniß mit Klotilden un¬
C2[36] deutlich, weil er ihre Erlaubniß zum Gegentheil
nicht vorausſetzen durfte — er bat ſcherzhaft ſeinen
Freund, ſeine Freundin zu bitten, daß ſie ihm be¬
fehlen ſolle, nach Flachſenfingen zu reiſen, damit ſie
einander zu ſehen bekaͤmen — (ich komm' aus den
Perioden, wenn ich die Abſicht dieſer Wendung
zeige) — er ſtrich in ſeinem Kopfe die Frage wieder
aus, ob Klotilde noch des Arztes beduͤrfe, bloß weil
er einer fuͤr ſie im doppelten Sinne war, und fragte
nur, ob ſie geneſen ſey — Endlich ſchloß er ſo:
»Und ſo flatter' ich denn mit ziemlich abgeſtaͤub¬
ten Schmetterlingsſchwingen im unabſehlichen Tem¬
pel, der fuͤr unſer Phalaͤnen Auge in kleinere zer¬
faͤllt und deſſen architektoniſches Laubwerk an den
Saͤulen wir fuͤr die Saͤulen ſelber halten und deſſen
Kolonnaden durch ihre Groͤße unſichtbar werden, da
flattert der Menſchenpapillon auf und nieder — zer¬
ſtoͤßet ſich an Fenſtern — rudert durch ſtaͤubige Ge¬
ſpinnſte — ſchlaͤgt ſeine Fluͤgel endlich um eine hole
Blume — und der große Orgelton der ewigen Har¬
monie wirft ihn bloß mit einem ſtummen auf und
niedergehenden Sturm umher. . . .
Ach ich kenne jetzt das Leben! Waͤre nicht der
Menſch ſogar in ſeinen Begierden und Wuͤnſchen ſo
ſyſtematiſch — ging' er nicht uͤberall auf Arrondiſſe¬
mens ſowohl ſeiner Arkadien als des Reiches der
Wahrheit aus: ſo koͤnnt' er gluͤcklich ſeyn und mu¬
[37] thig genug zur Weisheit — Aber eine Spiegelwand
ſeines Syſtems, ein lebendiger Zaun ſeines Pa¬
radiſes, die ihn beide nicht ins Unendliche ſe¬
hen oder laufen laſſen, ſprengen ihn ſofort auf die
entgegen geſetzte Seite zuruͤck, die ihn mit neuen
Gelaͤndern empfaͤngt und neuen Schranken zuwirft.
. . . Jetzt, da ich ſo verſchiedene Zuſtaͤnde durchlau¬
fen, leidenſchaftliche, weiſe, tolle, aͤſthetiſche, ſtoi¬
ſche; — da ich ſehe, daß der vollkommenſte entwe¬
der meine irrdiſchen Wurzeln in der Erde oder
meine Zweige im Aether verbiege und einklemme
und daß er, wenn er's auch nicht thaͤte, doch uͤber
keine Stunde dauern koͤnnte, geſchweige ein Leben;
— da ich alſo klar einſehe, daß wir ein Bruch, aber
keine Einheit ſind und daß alles Rechnen und Ver¬
kleinern am Bruche nur Approximiren zwiſchen Zaͤh¬
ler und Nenner iſt, Verwandeln des \frac{1000}{1001} in \frac{10000}{10001};
ſo ſag' ich: »meinet wegen! die Weisheit ſey alſo
»fuͤr mich bloß Auffinden und Ertragen der
»kleinſten Luͤcke im Wiſſen, Freuen und Thun.«
Ich laſſe mich daher nicht mehr irre machen — und
meinen Nachbar auch nicht mehr — durch die ge¬
woͤhnlichſte Taͤuſchung, daß der Menſch jede Veraͤn¬
derung an ſich, — jede Verbeſſerung ohnehin, aber
auch ſogar jede Verſchlimmerung — fuͤr groͤßer an¬
ſieht als ſie hinterher iſt. —
[38]
— Genug! aber ſeit dieſer Bemerkung — o noch
mehr, ſeit daß das hohe Schickſal mir Freuden gab,
damit ich ſie verdiente — iſt neues Morgenlicht
auf meinen Schattenſteig gefallen, und ich habe nun
Muth, mich zu beſſern. . . . . Der klare Strom der
Zeit geht uͤber einen hinabgefallnen Blumenboden
ſchoͤner Stunden, auf dem ich einmal ſtand und zu
dem ich ganz hinunterſchauen kann — o wenn ſich
dieſe Eden-Aue wieder aufwaͤrts hebt und ich kann
an deiner Hand, darauf treten und neben dir nieder¬
knieen und dankend bald zum Morgenhimmel bald
uͤber die wehenden Blumenfelder dieſes Lebens blik¬
ken: dann ſink' ich ſtumm an dich zuruͤck und um¬
faſſe dankbar deine Bruſt und ſage: »ach Emanuel,
durch dich verdien' ich's ja erſt.« — O ich ſag' es
heute, geliebter Lehrer, und bleibe du recht lange ne¬
ben deinem Schuͤler auf der Erde, ſo lange bis er
wuͤrdig iſt, dich zu begleiten aus ihr.« —
So lang dieſes Schreiben auch war, ſo liebte
Viktor ſeinen Lehrer doch zu ſehr — und haßte die
monarchiſche Unart, Menſchen zu Werkzeugen zu
machen, zu ſehr — als daß er's ihm nicht geradezu
haͤtte ſagen ſollen, daß dieſer Brief — nicht ſowohl
ſeine Exiſtenz als — ſeinen Geburtstag dem Briefe
[39] an ſeine Geliebte verdanke. Mit folgenden leiſen
Worten traͤgt er darin ſeine Bitte, ſie zu ſehen vor:
»Wenn ich wuͤßte, daß ich die ſchoͤne Seele, die
jetzt neben dem erhabnen Emanuel, neben dem Fruͤhling
und [unter] ihren ſchoͤnen Gedanken gluͤcklich ſeyn
wird, nur einen Augenblick durch dieſes Blatt be¬
klemmte oder ſtoͤrte: o recht gerne opferte ich dieſe
ſeelige Stunde auf, um ſie vielleicht zu verdienen.
Aber nein, ewige Freundin, Ihr weiches Herz be¬
gehrt mein Schweigen nicht! Ach der Menſch muß
ſo oft Kaͤlte und Kummer verbergen, warum noch
gar Liebe und Freude? — Und ich wuͤrd' es auch
heute nicht koͤnnen.
O wenn ein Erdenmenſch in einem Traum durch
das Elyſium gegangen, wenn große unbekannte Blu¬
men uͤber ihn zuſammengeſchlagen waͤren, wenn ein
Seeliger, ihm eine von dieſen Blumen gereicht haͤtte
mit den Worten: »dieſe erinnere dich, wenn du er¬
»wachſt, daß du nicht getraͤumt haſt!« wie wuͤrde
er ſchmachten nach dem elyſiſchen Lande ſo oft er die
Blume anſaͤhe. — Unvergeßliche! Sie haben in der
Schimmernacht, wo mein Herz zweimal erlag, aber
nur einmal vor Schmerz, einem Menſchen ein Eden
gegeben, das hinausreicht uͤber ſein leben; aber mir
war bisher als wuͤrd' ich wacher aus der zuruͤckge¬
[40] benden Traumnacht — Siehe! da behielt ich aus
dem paradiſiſchen Traum eine Blume*), die Sie
mir gelaſſen haben, damit ich unausſprechlich gluͤck¬
lich bliebe — und damit meine Sehnſucht ſo groß
wuͤrde wie meine Seeligkeit. Warum zieht dieſer
Flor alle heiſſe Thraͤnen tief aus meinem Herzen
herauf, warum ſeh' ich hinter dieſem gewebten Ge¬
gitter die Augen aufgehen, die ſo weit von mir ſind
und die mein Inneres ſo wehmuͤthig bewegen? O
nichts befriedigt die liebende Seele als was ſie mit
der geliebten theilt — darum ſchau' ich den Fruͤh¬
ling mit ſo ſuͤßem Wallen an: denn ſie genießet ihn
auch, ſag' ich — darum gefaͤllſt du mir ſo, du lieber
Mond und Abendſtern: denn du uͤberſpinnſt mit dei¬
nen Silberfaͤden auch ihre Schatten und ihre Mai¬
blumen — darum vertief ich mich ſo gern in jedes
ſchattirte Thal Ihres Eldorados*); denn ich denke:
in den vergroͤßerten Schatten, in duftenden Bluͤten
dieſer Bilder wandelt ſie jetzt und die Mondsſichel
wendet die Blitze der Sonne gemildert auf Ihr
Auge zuruͤck. — Wenn ich dann zu freudig werde,
wenn der Abendregen der Erinnerung auf die
heiſſen Wangen faͤllt, wenn ſich meine Entzuͤckung
[41] auf einem einzigen bebenden langen Dreiklang des
Klaviers auf und niederwiegt: dann thut dem
taumelnden Herzen das Zittern und Schweigen
und die unendliche Liebe zu weh, dann ſehn' ich
mich nur nach dem kleinſten Laut, womit ich der
Geliebten meines Herzens ſagen darf, wie ich ſie
liebe, wie ich ſie ehre, daß ich fuͤr ſie leben will,
daß ich fuͤr ſie ſterben will. — — O mein Traum,
mein Traum tritt mir jetzt wie eine Thraͤne an's
Herz! In der Nacht des dritten Oſtertags traͤumte
mir: ich und Emanuel ſtaͤnden in einer dunkeln
Nachtgegend — eine große Senſe am weſtlichen Ho¬
rizont warf wiederſcheinende laufende Blitze auf die
hohen Fluren, die ſogleich vertrockneten und erblichen
— Wenn aber ein Blitz in unſer Auge flatterte:
ſo zog ſich unſer Herz ſuͤß zergehend empor in der
Bruſt und unſere Koͤrper wurden leichter zum weg¬
ſchweben. »Es iſt die Senſe der Zeit, ſagte Ema¬
»nuel, aber von was hat ſie wohl den Wieder¬
»ſchein?« — Wir ſchaueten nach Morgen und dort
hing tief in der Ferne und in der Luft ein weites
dunkelgluͤhendes Land aus Duft, das zuweilen blitzte.
»Iſt das nicht die Ewigkeit?« ſagte Emanuel. —
Da ſanken vor uns lichte Schneeperlen wie Funken
nieder — wir blickten auf und drei goldgruͤne Para¬
diesvoͤgel wiegten ſich oben und zogen ewig in einem
kleinen Kreis hinter einander umher und die fallen¬
[42] denden Perlen waren aus ihren Augen oder ihre Au¬
gen ſelber — Hoch uͤber ihnen ſtand der Vollmond
im Blauen, aber auf der Erde war doch kein Licht,
ſondern ein blauer Schatten: denn das Himmelsblau
war eine große blaue Wolke, bloß an einer Stelle
vom Monde geoͤfnet, der nur auf die drei Paradies¬
voͤgel und unten auf eine helle von uns abgekehrte
Geſtalt Schimmer niedergoß — Sie waren dieſe Ge¬
ſtalt und wendeten ihr Angeſicht bloß gegen Morgen,
gegen die haͤngende Landſchaft als ob ſie etwas da
ſogleich erblicken wuͤrden. Die Paradiesvoͤgel ſaͤeten
die Perlen haͤufiger in Ihre Augen: »es ſind die
»Thraͤnen, die unſere Freundin weinen muß« ſagte
Emanuel; auch fielen ſie dann aus ihren Augen, aber
lichter und blieben glimmend auf dem Blumenboden
ſtehen. Das Blau auf der Erde wurde ploͤtzlich hel¬
ler als das Blau am Himmel und eine ſchiefe Hoͤle,
deren Muͤndung gegen die Ewigkeit aufklafte, wuͤhlte
ſich ruͤckwaͤrts durch die Erde gegen Abend bis nach
Amerika hinab, wo die Sonne in die Oefnung ſchien
— und ein Strom von Abendroͤthe ſo breit wie ein
Grab ſchoß aufwaͤrts aus der Erde und legte ſich
mit ſeinem Abendſcheine an die neblichte Ewigkeit
wie duͤnne Flammen an. — Da zitterten Ihre Arme
ausgebreitet, da zitterten Ihre Lieder voll ſehnſuͤchti¬
ger Wonne, — da konnten wir und Sie die erleuch¬
tete Ewigkeit ganz ſehen. Aber ſie wechſelte ſchil¬
[43] lernd unter dem Sehen, wir konnten das nicht den¬
ken und behalten, was wir ſahen, es waren unfa߬
liche Geſtalten und Farbenſpiele, ſie ſchienen nahe,
ſchienen fern, ſchienen mitten in unſern Gedanken zu
ſeyn — Woͤlkgen aus der Erde aufziehend ſchwebten
um die gluͤhende Ewigkeit und jede hob einen auf
ihr ſtehenden ſingenden Menſchen hinauf zu dieſer
Lichtinſel, die ſich gegen die Erde ſpaltete bloß mit
einer unabſehlichen Allee von weißen Baͤumen, aus
Licht und Schnee gegoſſen und ſtatt Bluͤten Purpur¬
blumen treibend — Und wir ſahen unſere drei Schat¬
ten erhaben an den lichtweiſſen Hain hinuͤbergewor¬
fen liegen und auf Klotildens Schatten hingen die
Purpurblumen wie Kraͤnze nieder — ein Engel um¬
flog den holden Schatten und laͤchelte ihn zaͤrtlich
an und beruͤhrte an ihm die Stelle des Herzens —
Da erbebteſt du ploͤtzlich, Klotilde, wandteſt dich um
gegen uns, ſchoͤner als der Engel in der Ewigkeit,
dein ganzer Boden glimmte unter den gefallnen Thraͤ¬
nen und wurde durchſichtig — Und als deine nieder¬
ſinkenden Perlen jetzt den Boden in eine aufdringende
Wolke aufloͤſeten: reichteſt du uns eilig die Hand
und ſagteſt: die Wolke hebt, wir ſehen uns wieder
— Ach mein zerfloſſenes Herz faßte ſein Blut nicht
mehr, ich kniete nieder, aber ich konnte nichts ſagen,
ich wollte meine Seele in einen einzigen Laut zer¬
ſchmelzen, aber die gebundne Zunge vermochte keinen
[44] und ich ſtarrte die aufſteigende Unſterbliche an mit
unendlicher und troſtloſer Liebe — Ach, dacht' ich,
das Leben iſt ein Traum; aber ich koͤnnt' ihr's
vielleicht ſagen, wie ich ſie liebe, waͤr' ich nur
erwacht.
Dann erwacht' ich — O Klotilde, kann es der
Menſch ſagen, wie ſehr er liebe?
H.
Sein Karakter und der Inhalt dieſes Traums
ſchließen den Argwohn der Erdichtung aus — Uebri¬
gens wenn ihm auch Klotilde den eingehuͤllten
Wunſch, ſie in Maienthal zu ſehen, verſagt: ſo muß
ſie es doch auf einem Blaͤttgen und mit drei Zeilen
thun, die er dann tauſendmal leſen kann und die
das Bilder- und Siegelkabinet, worin ſchon Hut
und Proſpekte liegen, um ein Anſehnliches bereichern.
Inzwiſchen ſtand er in ſeinem ſchoͤnen Alpenthal
zwiſchen zwei hohen Bergen, auf deren jedem ſich
der Stof zu einer Schneelauvine regte — vielleicht
iſt ſchon oben eine im erquetſchenden Gange und er
kann ſie noch nicht ſehen. — Die erſte Lauvine, die
ſein geringſter Laut uͤber ihn herunterwerfen kann,
iſt ſein tolles Verhaͤltniß mit ſeiner hoͤfiſchen Be¬
[45] kanntſchaft. Er kann ſich ruͤhmen, ſie ſaͤmtlich auf¬
gebracht zu haben, die Fuͤrſtin, Joachimen, Mat¬
thieu. Aber auch ohne das, muß ſchon irgend ein
Konduktor — bloß weil er nicht auf dem gemein¬
ſchaftlichen Iſolirſchemel des Thrones mit ſteht —
mit einem verjuͤngten Blitze in ſeine Finger oder
Naſe einſchlagen: in Kollegien und an Hoͤfen bleibt
ohne Verbindung keiner aufrecht, es iſt da wie auf
den Galeeren, wo alle Sklaven ihre Ruder zugleich
bewegen muͤſſen, wenn keiner die Schneide der Kette
empfinden ſoll. Aber Viktor ſagte zu ſich: »ſey kein
»Kind! ſey kein umgekehrter Fuchs, der ſaure
»Trauben, bloß weil er ſie nicht mehr erſpringen
»kann, fuͤr ſuͤß ausgiebt! Ich ſchmeichle mir, du
»kannſt Kurial-Herzen entrathen, die wie ihre Ge¬
»richte nur uͤber einem Waͤrmbecken voll flimmern¬
»den Weingeiſt erſt aufgewaͤrmt werden muͤſſen. —
»Beim Himmel, ein Menſch wird doch eſſen koͤnnen,
»wenn auch das was er anſpieſſet nicht von einem
»Gardeſoldaten aus der Kuͤche geholt, dann einem
»Pagen eingehaͤndigt, dann von einem Kammerherrn
»oder ſonſtigen Ordonanzkavalier ſervirt worden iſt.
»— Nur meinen Vater wenn's nichts verſchlaͤgt!«
Das wars eben: am Sohne war nichts zu faͤllen,
ſondern am Vater *), fuͤr den man den Wald und
[46] Opferhammer wahrſcheinlich ſo lang aufgehoben ſchwe¬
ben laͤſſet, bis er mit ſeinem Kopfe darunter ſteht,
der ohne ſeine Zuruͤckkunft nicht zu haben iſt.
Aber ein Paſtorfido fragt den Henker nach der
erſten Schneelauvine. Auf den Harmonikaglocken
ſeiner Phantaſie hoͤren die aͤuſſern Kakophonien des
Schickſals wie das Wagen-Gerolle des Pflaſters auf
einem Saitenbezuge, in ſanft aufliegendem Ertoͤnen
auf. Bei ihm war, wie bei den Aſtrologen, der
April gleich meinem Buche, dem Abendſterne d. h.
der Venus geweihet.
Hingegen die andere Schneelauvine lag ſchon
im voraus auf ſeiner Bruſt — der moͤgliche Bruch
mit Klotildens Bruder. Einen Eiferſuͤchtigen bekeh¬
ren die zwoͤlf Apoſtel und die zwoͤlf kleinen Prophe¬
ten nicht; — wenn er am Sonntage kurirt iſt: ſo
wird er am Montage wieder krank, am Dienſtage
raſet er und am Mitwoche koͤnnt ihr ihn wieder los¬
binden, er iſt matt und klug und — — paſſet nur
auf. Der eiferſuͤchtige Krebs auf der Bruſt iſt nie
ganz zu ſchneiden, wenn ich großen Operateurs glau¬
ben ſoll. — Dasmal war noch dazu etwas Wahres
dran; auch ſchaffet es der Eiferſuͤchtige zeitig bei;
*)[47] Eiferſucht erzwingt Untreue und das gequaͤlte Weib
will ſo viel an ihr iſt den Mann nicht in Irrthum
laſſen. Ich kann mir die Muͤhe nicht machen (ſon¬
dern der Leſer,) in meiner Biographie meinem Hel¬
den alle kleine Fugen und Efloͤcher nachzuzaͤhlen,
wodurch er bisher ſeinen Flamin in ſein verliebtes
Herz ſehen und hoͤren laſſen: dieſe Aſtloͤcher ſind
deſto groͤßer, da er vor dem dritten Oſtertag eben
darum unvorſichtiger war weil er unſchuldiger war
oder vielmehr ungluͤcklicher.
Dazu kam, daß Flamin — der den theuern Ev¬
angeliſten Matthaͤus taͤglich aufrichtiger und ofner
fand (wie ein ausgeſchoſſenes Zuͤndloch) — ſeinen
treuen Baſtian taͤglich fuͤr hinterliſtiger und undurch¬
ſichtiger anſah. Ich wollt' der Regierungsrath waͤre
geſcheuter; aber kompakte dichte Seelen, wie
Viktors ſeine, die mehrere Kraͤfte und eben darum
mehrere Seiten haben, ſcheinen freilich weniger po¬
roͤs zu ſeyn, ſo wie vollloͤthige Autores weniger
deutlich — ein Menſch, der euch alle ſeine in einan¬
der ſchillernden Farben ſeines Herzens mit Offenheit
aufdeckt, verliert dadurch den Ruhm der Offenheit
— einer, der wie Viktor fremde Kniffe aus Laune
ſammelt und vormacht, ſcheint ſie nachzumachen —
ein veraͤnderlicher, ein ironiſcher, ein feiner Menſch
iſt in eingeſchraͤnkten Augen ein falſcher. Dies von
[48] Haus aus. — Auch ſprang Viktor, wenn's ohne
Laͤrm anging, langen Erwaͤhnungen Klotildens, d. h.
langen Vorſtellungen aus dem Wege; und eben
dieſe Flucht, vor Hinterliſt, eben ſeine jetzige groͤ¬
ßere Menſchenfreundlichkeit gegen Flamin verſchatte¬
ten gerade ſeine edle Geſtalt; und uͤber den ver¬
drehenden Argwohn troͤſtete ihn nichts als die ſuͤße
Betrachtung, daß er dem Bruder ſeiner Geliebten
und ſeines Herzens zu Gefallen den ſchoͤnſten Tagen
in Maienthal den Ruͤcken kehre.
31. Hunds¬[49]
31. Hundspoſttag.
Klotildens Brief — Nachtbote — Riſſe und Schnitte im Bande
der Freundſchaft.
Ich wollt' es in die Litteraturzeitung ruͤcken laſſen,
ich haͤtte Herrnſchmidtsosculologia zu meinen
(gelehrten) Arbeiten vonnoͤthen — Naͤmlich zu die¬
ſem Kapitel: ich wollte daraus ſehen, wie man zu
Herrenſchmidts Zeiten mit den Weibern umging.
Zu Jean Paul's Zeiten geht man ſchlecht mit ihnen
um, in Romanen naͤmlich. Bloß der Englaͤnder
kann vortrefliche Weiber portraitiren — Den mei¬
ſten deutſchen Roman-Formern ſchlagen die Weiber
zu Maͤnnern um, die Koketten zu H., die Statuen
zu Klumpen, die Blumenſtuͤcke zu Kuͤchenſtuͤcken.
Daß die Schuld mehr an den Malern als den Ori¬
ginalen liege, wiſſen nicht nur die Originale ſelber,
ſondern auch der Berghauptmann ſchon daraus, weil
die Romanenleſerinnen alle noch romantiſcher ſind
als die Romanheldinnen, noch feiner und zuruͤckhal¬
tender. Der Berghauptmann thut hier, — ohne die
Abſicht zu haben, daß ihn acht vornehme Weiber in
Mainz, wie den Weiber- und Meiſterſaͤnger Hein¬
Heſperus. III Th. D[50] rich Frauenlob, zu Grabe tragen — einen gedruckten
Eidſchwur (d. h. Schwurſchwur,) daß er die meiſten
ſeiner Zeitgenoſſinnen beſſer antraf als ſie der gute ofne,
aber leere rohe Kopf des Verf. des Alcibiades und
Nordenſchilds zeichnen kann. — In der That wenn
die Weiber nicht den Maͤnnern alles verziehen, ſo¬
gar den Autoribus, (und zwar taͤglich ſiebenzigmal
und ſie reichen den andern Backen dar, wenn der
eine durch Kuͤſſen beleidigt worden:) ſo koͤnnt' es
kein Buͤcherverleiher erklaͤren, wie Menſchen, deren
Kopf doch ſchwerer, deren Zirbeldruͤſe kleiner iſt, die
ſechs Knorpelringe der Luftroͤhre mehr haben —
naͤmlich 20 uͤberhaupt, wahrſcheinlich zum mehrern
Reden — deren Bruſtbein kuͤrzer und deren Bruſt¬
knochen weicher ſind als bei den Maͤnnern, wie doch
ſolche Menſchen weiblichen Geſchlechts noch die
Magd oder den Kerl in eine Leſebibliothek mit dem
Auftrag ſchicken koͤnnen: »einen Ritterroman fuͤr
meine Mademoiſelle!« Meine Feder-Kollegen —
in Ruͤckſicht der Weiber bin ich nach der Bergſpra¬
che bloß von der Feder, nicht von Feuer noch
von Leder — werden zur Erziehung der Leſerinnen
wie nach Leſſing die Juden zur Erziehung der Voͤl¬
ker nur darum gewaͤhlt, weil ſie roher ſind als die
Eleven.
Jede Frau iſt feiner als ihr Stand. Sie gewinnt
mehr durch die Kultur als der Mann. Die weibli¬
[51] chen Engel (aber auch die weiblichen Teufel) halten
ſich nur in den hoͤchſten feinſten Menſchen-Schub¬
faͤchern auf; es ſind Schmetterlinge, an denen der
Samt–Fittich zwiſchen zwei rohen Mannsfingern zum
nackten haͤutigen Lappen wird — es ſind Tulpen,
deren Farbenblaͤtter ein einziger Griff des Schickſals
zu einem ſchmutzigen Leder ausdruͤckt. — —
Ich bringe das alles vor, damit H. Kozebue und
der Verfaſſer des Alcibiades und das ganze roman¬
tiſche Schifsvolk es meiner Klotilde nicht uͤbel neh¬
men, daß ſie mehr ihr eignes Geſchlecht als das be¬
ſagte Volk nachahmt, um ſo mehr, da ſie vorſchuͤ¬
tzen kann, ſie habe dieſes noch nicht geleſen.
Durch Agathen kam ſehr bald eine von Emanuel
kouvertirte Antwort Klotildens an, die innen lega¬
zions–maͤßig geſiegelt, geometriſch beſchnitten und
kallygraphiſch geſchrieben war, weil Frauenzimmer
alle Dinge, die ſinnliche Aufmerkſamkeit verlan¬
gen, beſſer betreiben als wir und weil ſie — denn
kaum vier aus meiner Bekanntſchaft brauch' ich aus¬
zunehmen — gerade im Gegenſatz der Maͤnner deſto
ſchoͤner ſchreiben, je beſſer ſie denken. Lavater ſagt,
der ſchoͤnſte Maler gebiert die ſchoͤnſten Gemaͤlde;
und ich ſage, ſchoͤne Haͤnde ſchreiben eine ſchoͤne
Hand.
Klotildens Brief ſtellet ſich mit einer Luſthecke
und einem lebendigen Zaun voll Bluͤten unſerem
D 2[52] Doktor in den Steig und laͤſſet ihn nicht nach Mai¬
enthal. Denn er heiſſet ſo:
Wuͤrdigſter Freund,
»Kein Maͤdgen iſt vielleicht ſo gluͤcklich als eine
Dichterin; und ich glaube, hier in dieſem aufge¬
ſchmuͤckten Thale wird man zuletzt beides. Sie ſind
uͤberall gluͤcklich, da Sie ſogar an einem Hofe ein Dich¬
ter ſeyn koͤnnen, wie mir Ihre ſchoͤne poetiſche Epi¬
fiel beweiſet. Aber die Phantaſie malet gern aus
Schminkdoſen — das wahre Maienthal kann der
Ihrigen nicht ſoviel geben als Sie in die drei Land¬
ſchafts-Blaͤtter deſſelben zu legen wiſſen. So oft
ich und Sie einerlei durch Phantaſie erſetzen muͤſ¬
ſen: ſo iſt blos bei Ihnen der Erſatz groͤßer als das
Opfer.
Wenn ich Ihnen das Vergnuͤgen, H. Emanuel
zu ſehen, durch Ueberreden haͤtte verſchaffen koͤnnen:
ſo haͤtt' ichs gern gethan; aber ich war zuletzt aus
Gewiſſenhaftigkeit nicht beredt genug, um ihn zu
einer Reiſe zu Ihnen zu bringen, die ſeine ſieche
Bruſt der Gefahr des Verblutens ausſetzte. Sehen
Sie ihn fuͤr einen Fruͤhling an, den man alle Jah¬
re neun Monate lang erwarten muß.
Ach die Beſorgniß fuͤr meinen unvergeßlichen
und unerſetzlichen Lehrer wirft einen Schatten uͤber
den jetzigen ganzen Fruͤhling wie ein Grabmal uͤber
[53] einen Blumengarten. Ich habe niemals einen Fruͤh¬
ling ſo gern und ſo freudig angeſehen wie dieſen —
ich kann oft noch bei Mondſchein an die Baͤche hin¬
ausgehen und eine Blume aufſuchen, die vor dem
fließenden Spiegel zittert und um die ein Mond
oben und einer unten ſchimmert und ich ſtelle mir
das Blumenfeſt in Morgenland vor, bei dem man
(wie man ſagt) zu Nachts um jede Gartenblume ei¬
nen Spiegel und zwei Lichter ſetzt. Aber doch kann
ich nicht zum Blumenflor meines Lehrers hinuͤber¬
blicken, ohne zu weich zu werden, da ich denken
muß, wer weiß ob ſeine Tulpen nicht laͤnger ſtehen
als ſeine geknickte Geſtalt. Hat denn die ganze Ar¬
zeneikunſt kein Mittel, das ſeine Hoffnung zu ſter¬
ben vereitelt? — Ich glaube, er ſtimmt mich nach
und nach in ſeinen melancholiſchen Ton, womit ich
mich vor einem andern als dem Freunde Emanuels
laͤcherlich machen wuͤrde; aber eine ſtille verborgene
Freude bricht auch gern in Schwermuth aus; »nur
»in der kalten, nicht in der ſchoͤnen Jahreszeit un¬
»ſers Schickſals ſagten Sie einmal, thun die war¬
»men Tropfen weh, die aus den Augen auf die
»Seele fallen, ſo wie man blos im Winter die Blu¬
»men nicht warm begießen darf.» Und warum
ſollt' ich Ihrer offenherzigen Seele nicht alle Schwaͤ¬
chen der meinigen offenbaren? Dieſes Zimmer,
worin meine Giulia ihr ſchoͤnes Leben endigte, die¬
[54] ſer Spiegel ſogar, der mir, als ich mich vor Schmerz
von ihrem Sterben wegkehrte, meine erblaſſende
Schweſter noch einmal zeigte, die Fenſter, aus de¬
nen mein [Auge] ſo oft des Tages auf einen trauri¬
gen dornenvollen Roſenſtrauch und auf einen ewig
geſchloßenen Huͤgel kommen muß, alles das darf ja
wohl meinem Herzen einige Seufzer mehr geben als
eine Gluͤckliche ſonſt haben ſoll. Ich weiß nicht,
ſagten Sie oder Emanuel es: »der Gedanke des
Todes muß nur unſer Beſſerungsmittel aber nicht
unſer Endzweck ſeyn; wenn in das Herz wie in die
Herzblaͤtter einer Blume die Grabeserde faͤllt, ſo
zerſtoͤret ſie, anſtatt zu befruchten.» — Aber auf
mein Laub hat wohl das Schickſal und Guilia ſchon
einige Erde geworfen. — Und ich trage ſie gern, da
ich ſeit Ihrer Freundſchaft nun zu einem Herzen
fluͤchten kann, vor dem ich meines oͤfnen darf, um
ihm darin alle Kuͤmmerniße, alle Seufzer, alle Zwei¬
fel, alle Fragen einer gedruͤckten Seele zu zeigen.
O ich danke dem Allguͤtigen, daß er mir ſoviel als
er mir in meinem Lehrer zu entziehen drohet,
ſchon voraus in ſeinem Freunde wieder giebt —
meine Freundſchaft wird unſern Emanuel nachreichen
bis in die andre Welt und ſeinen Liebling begleiten
durch dieſe; und ſollte einmal auf uns beide der ge¬
meinſchaftliche Schlag ſeines Todes fallen, ſo wuͤr¬
den wir unſere vereinigten Thraͤnen geduldiger ver¬
[55] gießen und ich wuͤrde vielleicht ſagen: ach, ſein
Freund hat mehr verlohren als ſeine Freundin!
Klotilde.
Das Schlagen meines fremden Herzens miſſet mir
das Schlagen des gluͤcklichern ab. Aber eh' ich er¬
zaͤhle, was Viktors Freude uͤber dieſen Brief anfangs
ſtoͤrte und dann verdoppelte, ſey es mir erlaubt, zwei
gute Reflexionen zu machen. Die erſte iſt: die ver¬
groͤßerte Empfindſamkeit iſt in einer ſtolzen Bruſt
(wie Klotildens), die ſonſt die Seufzer zuruͤckholte
und nur weibliche Satiren uͤber uns Herren aus¬
ſchickte, das ſchoͤnſte Zeichen, daß ihr Herz im Sonnen¬
ſchein der Liebe zergehe. Denn dieſe kehret die
Weiber um: ſie macht aus einer Kolumbine eine
Youngin, aus einer Ordentlichen eine Unordentliche,
aus einer Feinen eine Offenherzige, aus einer Putz¬
macherin und Putztraͤgerin eine Philoſophin und wie¬
der umgekehrt. — Und du, liebe Philippine,
pruͤfe die zweite Reflexion, da du jetzt ſo gut biſt
wie dein eigner Bruder: iſt nicht das Verhehlen der
Liebe das ſchoͤnſte Entdecken derſelben? Zeigt nicht
ein Schleier — ein moraliſcher, mein' ich — das
ganze Geſicht und iſt fuͤr nichts unzugaͤnglich als fuͤr
den Wind — den moraliſchen, mein' ich —? De¬
[56] cket nicht das glaͤſerne Gehaͤuſe der Damenuhr das
ganze darauf gefirniſte Uhrportrait am Boden auf
und wendet blos das Beſchmutzen‚ nicht das Be¬
ſchauen ab? — Und was wirſt du fuͤr Reflexionen
machen‚ wenn ich dir dieſe zwei vorleſe!
Dieſer Brief ſtaͤrkte zugleich ſeinen Wunſch‚ um
Klotilde zu ſeyn‚ und ſeine Kraft‚ ihn aufzugeben —
bis des andern Tags in der Toilette-Stunde ein
Zufall alles aͤnderte. Matthieu‚ der faſt mehr Be¬
ſuche bei Feinden als bei Freunden ablegte‚ kam vom
Apotheker herauf. Er ſah die Proſpekte von Mai¬
enthal nnd den Florhut; und da er wußte, daß ſei¬
ne Schweſter Joachime beides habe: ſo ſagte er
ſcherzhaft: »ich glaube, Sie wollen ſich verkleiden,
oder man hat ſich entkleidet.» Viktor flatterte mit
einem leeren luſtigen »Beides!» daruͤber. Er nahm
nicht gern den Namen der Liebe oder eines Weibes
vor einem Menſchen in den Mund, der an keine
Tugend glaubte, am wenigſten an weibliche, der
zwar wie andre Spinnen auf andere Muſik, ſich an
ſeinem Faden auf die Liebe niederließ, der aber wie
Maͤuſe aus Liebe zu den Toͤnen, uͤber die Saiten
kroch und ſie zerſprengte. Viktor war ungern (vor
ſeinem Hofleben) mit ſolchen philoſophiſchen Ehren¬
raͤubern unter unbeſcholtenen Maͤdgen, weil es ihm
ſchon wehe that, an den Geſichtspunkt der erſtern
erinnert zu werden. »Von meiner Tochter, ſagt'
[57] er, muͤßten ſie nicht einmal das Daſeyn erfahren,
weil ſie einen ſchon dadurch beleidigen, daß ſie ſie
denken.» —
Matthieu ſprach von dem naͤchſten patriotiſchen
Klub (den 4 Mai am Geburtstag des Pfarrers) und
fragte, ob er dabei waͤre. Agathe aber hatte ihn
ſchon geſtern (am vorletzten April) daran erinnert.
Endlich fuͤhrte Maz ſeine Frage vor, »ob er nicht
»auch zu Pfingſten von der Parthie ſey — er habe
»mit dem Regierungsrathe (Flamin), der dazu im¬
»mer Ferien brauche, eine kleine Luſtreiſe abgekartet
»nach Groskuſſewiz zum Grafen O — er habe da
»zu thun, noch einige Logis des Hofſtaats den Kuſ¬
»ſewizern zu bezahlen, und den Grafen O. zu
»einem guͤtlichen Vergleich uͤber das neuliche Mi߬
»verſtaͤndniß zu diſponiren, daher er den Juriſten
»mithaben muͤſſe — vielleicht waͤren die Englaͤnder
»bei dieſem Kongreſſe — das Reiſekorps koͤnne dann
»ſo große Vergnuͤgungen haben wie ein corps diplo¬
»matique, nachdem es vorher eben ſolche Geſchaͤfte
»gehabt.» — Mein Sebaſtian hatte ſeine lange
ſtumme Aufmerkſamkeit mit einem kalten »Nein»
beſchloßen, weil die Ausduͤnſtung dieſer falſchen flie¬
genden Katze mit einem aͤtzenden Gift ſein unbe¬
ſchirmtes Herz uͤberzog. »Was hab' ich (dacht' er
»unter jener Einladung) dieſem Menſchen gethan,
»daß er mich ewig verfolgt — daß er mit einem
[58] »Meſſer, deſſen eine Seite vergiftet iſt oder beide,
»meinen Jugendfreund unter unſern doppelten
»Schmerzen, von meiner Seele ſchneidet — daß er
»ſeine Minier-Hoͤlen bis an fremde Orte fortfuͤhrt,
»[um] mich in allen Stellungen uͤber ſeinem Pulver
»zu haben.» Viktor mußte naͤmlich nach allem be¬
ſorgen, daß die Pfingſt-Reiſe eine Entdeckungsreiſe
ſey, worauf Joachime dem Bruder wie Ritter Mi¬
chaelis den Morgenlandsfahrern, Fragen uͤber die
Uhrbriefſache, uͤber Toſtato u. ſ. w. mitgebe, um
wohl gar beim Fuͤrſten eine Anklage daraus zu bil¬
den. Er hielt das Untere ſeiner Karte, d. h. ſeines
tugendhaften Schmerzens ſo, daß es Matthieu
nicht ganz ſehen konnte, um dieſem eine boßhafte
Freude zu entziehen. Dieſer, der nicht eine Spi¬
tzenmaske, ſondern eine eiſerne und noch dazu eine
mit einem Halſe trug, hatte oft eine ſolche Kaͤlte,
daß man ſeinen wuͤthigen Zorn nicht begrif und
umgekehrt — aber jene hatte er im Lager, dieſen
in der Akzion gegen den Feind. Wenn ihn jemand
ſogleich aufbrachte, war's ein gutes Zeichen und
bedeutete, daß er nichts gegen ihn im Schilde
fuͤhre.
Aber nach dem Remarſch des Evangeliſten —
den er ungern den Florhut finden laſſen, welchen er
uͤberhaupt eingeſperret haͤtte, waͤre Flamin oͤfter ge¬
kommen — war Viktor vergnuͤgt uͤber einen neuen
[59] Einfall. Denn am Hute ſchlugen Blumen aus und
der war der Gluͤckstopf, aus dem er eine frohe
Stunde zog, naͤmlich den Vorſatz, auf Pfingſten zu
verreiſen, aber nach — Maienthal. Er hielt ſich
ernſtlich vor, daß ihm und Klotilden die zu weit
getriebene Schonung eines eiferſuͤchtigen Bruders,
deſſen irre Hoffnungen ja keine Schweſter zu ſtaͤrken
verpflichtet ſey, noch dazu durch die menſchenfeindliche
Inſpirazion Matthieus erſchweret und vereitelt werde —
daß alſo ihr Abſondern ſo wenig erleichtere als ihr
Beſuchen verſchlage — daß es indeſſen ſchoͤn ſey,
den Bruder zu ſchonen und blos in ſeine Abweſen¬
heit einen verdaͤchtigen Ausflug zu verlegen, bis ihn
einmal die heruntergezogne Binde in der Unge¬
treuen die Schweſter entdecke und im Nebenbuhler
den ſchonenden Freund — und daß es immer beſſer
ſey, ſie in Maienthal als bei ihrer Zuruͤckkunft in
ſeiner Naͤhe zu ſprechen — und daß der uͤber ſeine
Abſtammung belehrte Bruder ihm einmal doch blos
vorruͤcken koͤnne, er habe ihm keine Taͤuſchungen ge¬
nommen als unangenehme. — O die Liebe und die
Tugend haben ein nacktes Gewiſſen und entſchuldi¬
gen ihre himmliſchen Freuden laͤnger und mehr als
andere ihre hoͤlliſchen!
Als Viktor noch dazu daran dachte, daß den
Tagen der Liebe ſobald das Laub und die Bluͤthen
abfallen und daß Emanuel und ſelber Klotilde zwei
[60] hart ans Ufer des Grabes geruͤckte Blumen ſind,
deren loſe nackte Wurzeln ſchon erſtorben hinunter¬
haͤngen: ſo war ſein Entſchluß befeſtigt und er ſchrieb
an Emanuel die Nachricht ſeiner Ankunft zu Pfing¬
ſten, um Klotilden durch keinen Ueberfall zu erzuͤr¬
nen und um ihr noch dazu die Gelegenheit eines
Verbotes zu laſſen. Seine Wendung war die:
»Wenn es ſein ſokratiſcher Genius erlaube (d. h.
»Klotilde), der ihm immer ſage, was er nicht
»thun ſolle: ſo komm' er zu Pfingſten, da ohnehin
»die Stadt da veroͤde, da Flamin auf 4, 5 Tage
»nach Kuſſewitz reiſe» ꝛc.
Als er den Brief fertig hatte: fiel ihm ein, daß
er gerade heute an dieſem 29 April vor einem Jah¬
re die ganze Nacht gereiſet ſey, um mit dem erſten
Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarrhaus zu
treten. »Ich kann ja wieder dieſe ſchwuͤle Zephyr¬
»Nacht nicht unter dem Zudeck ſondern unter den
»Sternen verbringen. — Ich kann in Einem fort
»ins Abendroth nach Maienthals Bergen ſchauen.
»— Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zu¬
»gehen — oder gar den ganzen. — Ich kann mich
»auf einen Berg ſtellen und ins Doͤrfgen ſchauen —
»Wahrlich ich kann dann mein Billet hier irgend
»einem Maienthaler inkognito einhaͤndigen und wie¬
»der Reißaus nehmen noch vor Tags.» —
[61]
Um ſieben Uhr Nachts ging er wie das Meer
von Oſten nach Weſten. Orion, Kaſtor und Andro¬
meda blinken in Weſten nicht weit vom Abendroth
uͤber den Gefilden der Geliebten und werden wie
dieſe bald aus einem Himmel in den andern unter¬
gehen. Das von lauter Hoffnungen erſchuͤtterte
Herz, ſeine erhitzten Gehirnkammern, an denen
das mit ſympathetiſcher Dinte gezeichnete Mai¬
enthal immer lichter und farbiger vortrat, dieſes
innere halb ſchmerzliche Charivari und Schellenge¬
laͤute der Freude raubte ihm anfangs das Vermoͤgen,
den in griechiſcher Schoͤnheit aufgebaueten Fruͤhlings¬
tempel in eine ſtille helle Seele aufzufaſſen. Die
Natur und die Kunſt werden nur mit einem reinen
Auge aus dem die zwei Arten von Thraͤnen wegge¬
wiſchet ſind, am beſten genoßen.
Aber endlich uͤberdeckte das ausgebreitete Nacht¬
ſtuͤck ſeine heiſſen Fieberbilder und der Himmel
drang mit ſeinen Lichtern und die Erde mit ihren
Schatten in ſein erweitertes Herz. Die Nacht war
ohne Mondlicht, aber ohne Wolken. Der Tempel
der Natur war wie andere Tempel erhaben verdun¬
kelt. — — Er konnte ſich aus den Laufgraͤben lan¬
ger Thaͤler, aus Waͤlder-Souterrains und aus dem
ſchillernden Nebel ſeiner Traͤume und der Wieſen
nicht eher erheben als in der Mitternachtsſtunde,
wo er einen Berg wie einen Thron beſtieg und ſich
[62] da auf den Ruͤcken legte, um die Augen in den Him¬
mel unterzutauchen und ſich abzukuͤhlen vom Traͤu¬
men und Laufen. Das hereinhaͤngende Himmelsblau
ſchien ihm eine duͤnne blaue Wolke, ein in blaue
Duͤnſte zerſchlagnes Meer zu ſeyn und eine Sonne
um die andere that mit ihren langen Strahlen dieſe
blaue Fluth ein wenig auseinander. Der Arkturus,
der dem liegenden Menſchen gegenuͤber ſtand, ſtieg
ſchon von der Zinne des Himmels herab und drei
große Sternbilder, der Luchs, der Stier, der große
Baͤr zogen weit voraus unter das Abendthor. —
Dieſe naͤhern Sonnen wurden von entruͤckten Milch¬
ſtraßen mit einem Hof umſchwommen und tauſend
große in die Ewigkeit geworfne Himmel ſtanden in
unſerem Himmel als weiſſe ſpannenlange Duͤfte, als
lichte Schneeflocken aus der Unermeßlichkeit, als ſil¬
berne Kreiſe aus Reif. — Und die Schichten anein¬
andergedruͤckter Sonnen, die erſt vor dem tauſend¬
aͤugigen Auge der Kunſt den Nebelſchleier fallen laſ¬
ſen, ſpielten wie Streife unſerer Sonnenſtaͤubgen,
im gluͤhenden durch das Unermeßliche brennenden
Sonneuſtrahl des Ewigen. — Und der Wiederſchein
ſeines durchgluͤhten Thrones lag hell auf allen Son¬
nen — —
— Ploͤtzlich ſtellen ſich naͤhere zerſchmolzene Licht¬
woͤlkgen, naͤhere Nebel aufgeflogen aus Thau unter
der Verſilberung, tief herab vor die Sonnen und
[63] der Silberblick des Himmels laͤuft mit zertragenen
dunkeln Flocken an. — — Viktor begreifet die uͤber¬
irdiſche Entzuͤndung nicht und richtet ſich bezaubert
empor. ... und ſiehe, der gute verwandte nahe
Mond, der ſechſte Welttheil unſerer kleinen Erde,
war ſtill und ohne das Freudengeſchrei des Morgens
neben der Triumphpforte der Sonne hereingetre¬
ten in die Nacht ſeiner Mutter-Erde mit ſeinem
halben Tage.
Und als jetzt die Schatten von allen Bergen ran¬
nen und durch die aufgedeckten Landſchaften nur in
Baͤchen zwiſchen Baͤumen zogen und als der Mond
dem ganzen dunkeln Fruͤhling in der Mitternacht ei¬
nen kleinen Morgen gab: ſo faßte Viktor nicht
naͤchtlich-melancholiſch, ſondern morgendlich-verjuͤngt
den großen runden Spielraum der jaͤhrlichen Schoͤ¬
pfung in ſein erwachtes Auge, in ſeine erwachte
Seele und er uͤberſchauete den Fruͤhling unter dem
innern Freudengeſchrei mitten in der weiten Ver¬
ſtummung, unter dem Gefuͤhle der Unſterblichkeit im
Kreiſe des Schlafes. — —
Auch die Erde, nicht nur der Himmel, macht
den Menſchen groß!
Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr
Mai-Gefuͤhle, die ihr in der Bruſt meines Viktors
ſchluget, da er uͤber die knoſpende ſchwellende Erde
ſah, von Sonnen uͤber ſeinem Haupte bedeckt, von
[64] gruͤnenden Leben umſtrickt, das von Gipfeln zu Wur¬
zeln, von Bergen zu Furchen reichte, und von einem
zweiten Fruͤhling unter ſeinen Fuͤßen getragen, da er
ſich hinter der durchbrochenen Erdrinde die Sonne
mit einem Glanztage unter Amerika ſtehend dachte.
— Steige hoͤher, Mond, damit er den quellenden,
geſchwollenen, dunkel-gruͤnen Fruͤhling leichter ſehe,
der mit kleinen blaßen Spitzen aus der Erde dringt
bis er ſich herausgehoben voll gluͤhender Blumen,
voll wogender Baͤume — damit er die Ebenen er¬
blicke, die unter fetten Blaͤttern liegen und auf de¬
ren gruͤnem Wege das Auge zu aufgerichteten Blu¬
men ruͤckt, an denen die zerſpaltenen Reitze des Lich¬
tes wachſen und ſich befeſtigen und zu den in Bluͤ¬
then zerſpringenden Buͤſchen und zu den langſamen
Baͤumen, deren gleiſſende Knoſpen in den Fruͤhlings¬
winden auf und nieder ſchwanken — — Viktor war
in Traͤumen geſunken, als auf einmal das kalte An¬
wehen der Fruͤhlingsluft, die jetzt mehr mit kleinen
Wolken als mit Blumen ſpielen konnte, und das
Rauſchen der Fruͤhlingsbaͤche, die neben ihm von
allen Bergen und uͤber jedes dunklere Gruͤne weg¬
ſchoßen, ihn erweckte und beruͤhrte. — — Da war
der Mond ungeſehen geſtiegen und alle Quellen glimm¬
ten und die Maiblumen traten weißbluͤhend aus dem
Gruͤn und um die regen Waſſerpflanzen huͤpften
Silberpunkte. — Da hob ſich ſein wonneſchwerer
Blick[65] Blick, um zu Gott zu kommen, von der Erde auf
und von den gruͤnenden Raͤndern der Baͤche und
ſtieg auf die herumgebognen Waͤlder, aus denen die
eiſernen Funken und Dampf-Saͤulen *) uͤber die
Gipfel ſprangen, und zog auf die weiſſen Berge,
wo der Winter in Wolken ſchlaͤft, — — aber als
der heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und
zu Gott hinaufſehen wollte, der die Nacht und den
Fruͤhling und die Seele geſchaffen hat: ſo fiel er
mit zuruͤckſinkendem Fluͤgel und weinend und fromm
und demuͤthig und ſeelig zuruͤck. . . . Seine ſchwe¬
re Seele konnte nur ſagen: Er iſt! —
Aber ſein Herz ſog ſich voll Leben an der unend¬
lichen, quellenden, wehenden Welt um ihn, uͤber
ihm, unter ihm, worin Kraft an Kraft, Bluͤthe an
Bluͤthe reicht, und deren Lebensquellen von einer
Erde in die andere ſpruͤtzen, und deren leere Raͤume
nur die Steige der feinern Kraͤfte und der Aufent¬
halt der kleinern ſind — die ganze unermeßliche
Welt ſtand vor ihm, deren ausgeſpanter Waſſerfall,
in Duͤfte und Stroͤme, in Milchſtraßen und Herzen
zerſprungen, zwiſchen den zwei Donnern des Gi¬
pfels und des Abgrunds, reiſſend, geſtirnt, geflammt
herabfaͤhrt aus einer vergangnen Ewigkeit und nie¬
Heſperus. III. Th. E[66] derſpringt in eine kuͤnftige — und wenn Gott auf
den Waſſerfall ſieht, ſo mahlt ſich der Zirkel der
Ewigkeit als Regenbogen auf ihn und der Strom
verruͤckt den ſchwebenden Zirkel nicht. ...
Laſſet uns wieder kleinere Gefuͤhle ſuchen. Er
ſtand auf und wandelte im Gefuͤhle der Unſterblich¬
keit durch das um ihn pulſirende Fruͤhlingsleben
weiter; und er dachte, daß der Menſch mitten unter
den Beiſpielen der Unvergaͤnglichkeit den Unterſchied
zwiſchen ſeinem Schlaf und Wachen irrig zum Un¬
terſchiede zwiſchen Sein und Nichtſein zerdehne.
Jetzt war ſeinen kraͤftigen ſtrotzenden Gefuͤhlen jedes
Getoͤſe willkommen, das Schlagen der Eiſenhaͤmmer
in den Waͤldern, das Rauſchen der Fruͤhlingswaſſer
und der Fruͤhlingswinde und das aufpraſſelnde Reb¬
huhn. —
Um drei Uhr Morgens ſah er Maienthal liegen.
Er trat auf den von fuͤnf einzelnen Tannenbaͤumen
gehobnen Berg, auf dem man durch's ganze Dorf
und wieder hinuͤber zum andern Berge ſchauen kann,
wo die Trauerbirke ſeinen Emanuel beſchattet. Die
uͤberwachſene Zelle des letztern konnt' er nicht er¬
blicken; aber am Stifte, wo ſeine Freundin traͤum¬
te, ſchimmerten alle Fenſter im ausfunkelnden Mon¬
denlicht. In ſeiner Bruſt war noch der Rauſch der
Nacht und auf ſeinem Angeſicht das Brennen der
Traͤume — aber das Thal zog ihn in die Erde her¬
[67] aus und gab ſeinen Freudenblumen bloß einen fe¬
ſtern Boden; und der Morgenwind kuͤhlte ſeinen
Athem und der Thau ſeine Wangen ab. Die Thraͤ¬
nen ſtiegen in ſeine Augen, als ſie auf die weiß ver¬
hangnen Fenſter fielen, hinter denen eine ſchoͤne, eine
weiſe, eine geliebte und eine liebende Seele ihre un¬
ſchuldigen Morgentraͤume vollendete. Ach, es traͤu¬
me dir, Klotilde, von deinem Freunde, daß er dir
nahe iſt, daß er ſeine uͤberſtroͤmenden Augen auf
deine Zelle wendet und daß er verſchwindet wenn du
erſcheinſt und daß er doch ſeeliger werde von Mi¬
nute zu Minute — ach er traͤumt ja auch und wenn
die Sonne aufgeht, iſt das geliebte Thal wie dein
Traum mit dem Sternenhimmel verſunken. — O
die Berge, die Waͤlder, hinter denen eine geliebte
Seele wohnt, die Mauern, die ſie umſchließen,
ſchauen den Menſchen mit einem ruͤhrenden Zauber
an und haͤngen vor ihm wie holde Vorhaͤnge der Zu¬
kunft und Vergangenheit. —
Mit jedem Sterne, der oben im Himmel zuruͤck¬
ſank, wachte unten auf der Erde eine Blume auf —
Der Weg von der Nacht zum Tage wurde ſchon
mit Halbfarben belegt — kleine Nebel ſtiegen an der
Kuͤſte des Tages auf — und Viktor war noch auf
dem Berge. Sein Beſorgniß, daß ſich die weiſſe
Fenſterhuͤlle rege und ihn zeige, war ſo groß wie
ſein Wunſch, daß die Beſorgniß immer groͤßer wer¬
E2[68] de! — Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner
ging auf. — Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine
Zauberfloͤte an dem Fuße ſeines Berges und der ſtille
Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬
te, mit ſeinen Morgentoͤnen entgegen. Da entſchlei¬
erte ſich ploͤtzlich Klotildens Fenſter und ihre ſchoͤnen
hellen Augen nahmen den erfriſchten Morgen in die
wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬
nung ungeachtet, von Geſtraͤuch hinter Geſtraͤuch;
aber die Flucht vor den geliebten Augen fuͤhrte ihn
der Floͤte naͤher: er wollte jedoch eben ſo wenig vor
Emanuel, den er in der Nachbarſchaft des Blinden
glaubte, erſcheinen als vor Klotilden. Da ihn nur
noch einige Gebuͤſche von den Toͤnen ſchieden: ſah
er auf dem Berge ſeinen großen Freund unter der
Trauerbirke. Nun eilt' er froh und zitternd zu ſei¬
nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬
ſicht, ſchoͤn wie den juͤngern Bruder eines Engels,
umflogen und umſungen von Voͤgeln, an einer Birke
lehnen: »welche Geſtalten, welche Herzen, dacht' er,
ſchmuͤcken dieſes Paradies.« Wie haͤtt' er ſich an
einem ſolchen großen Morgen, an einem ſo heiligen
Orte, gegen einen ſo guten Juͤngling verſtellen und
ihm etwan mit der nachgemachten Stimme ſeines
italieniſchen Bedienten den Brief an Emanuel uͤber¬
geben koͤnnen! — Nein, das konnt' er nicht; er ſagte
mit leiſer Stimme, um ihn nicht zu erſchrecken: lie¬
[69] ber Julius! — Dann ſank er langſam an den wei¬
chen Menſchen voll Liebe und umarmte an Einer
Bruſt — drei Herzen; und reichte ihm den Brief:
»gieb ihn deinem Emanuel!« und floh mit dem
waͤrmſten Druck der zarteſten Hand, den Berg tiefer
hinab und davon. —
Gerade um dieſe Stunde an dieſem Tage vor ei¬
nem Jahr verſchwand auch Giulia aus Maienthal
und nahm nichts von dem ſchoͤnen Blumenboden mit
als einen — Grabeshuͤgel.
Als er jetzt hinter einer Geſtraͤuch'allee dem Orte
der Seeligen entronnen war: machte ſeine naͤchtliche
Erheiterung einer unbezwinglichen Wehmuth Platz.
Die aufgehende Sonne zog alle hellen Farben aus
ſeinem naͤchtlichen Traum — »hab' ich denn wirk¬
»lich Maienthal und Julius und alle Geliebte ge¬
»ſehen oder iſt nur auf einer jeden den Mond ſchil¬
»lernden Wolke ein zerfloſſenes Schattenſpiel vor¬
»uͤber geronnen?« ſagt' er — der Tag bruͤtete die
friſche Nachtluft ſeiner Seele zu einem ſchwuͤlen
Flattern des Suͤdwinds an — Anſtatt daß der
Menſch ſonſt wie Raguel, in der Mitternacht Graͤ¬
ber aushauet und in der Morgenſonne ſie wieder
verſchuͤttet, kehrte heute Sebaſtian es um. —
Eigentlich war es nicht ganz ſo: ſondern das
ſchnelle Vorſpringen und Einſinken der geliebten Ge¬
ſtalten; die vergroͤßerte Sehnſucht darnach, der ruͤh¬
[70] rende Kontraſt des Morgen-Getuͤmmels mit der
Nacht-Pauſe, des Sonnenfeuers mit der Monds-
Epiktetslampe, und die mit der Ermuͤdung der Phan¬
taſie und des Koͤrpers verknuͤpfte traͤumende Ermat¬
tung der Schlafloſigkeit, alle dieſe Dinge druͤckten
aus dem Herzen und Thraͤnendruͤſen unſers weichen
Nachtwandlers unwillkuͤhrliche, ſuͤße, ſtroͤmende Thraͤ¬
nen aus, die keinen Gegenſtand betrafen die weder
vor Freude noch Kummer floſſen, ſondern vor
Sehnſucht.
Auf einmal ließ der ſchoͤne nebelloſe erſte Maitag
das Andenken an den vorjaͤhrigen, wo er wie ein
Fruͤhling und homeriſcher Gott, im Nebel ankam,
voruͤbergehen — und der gute Menſch ſchauete mit
den Thautropfen in den Augen die Thautropfen in
den Blumen an und ſagte unausſprechlich geruͤhrt:
»ach vor einem Jahre kam ich ſo gluͤcklich, wurde
»ſo ungluͤcklich, und bin wieder ſo gluͤcklich — o
»ihr fliehenden, ſpielenden, nachtoͤnenden, zitternden
»Jahre des Menſchen!« — und das Feiertags-Ge¬
laͤute aus allen Doͤrfern (es war Philippi Jakobi)
ſetzte mit dem ſanften Beben eines Echo alle ſeine
Trauerſaiten in ein weiteres Zittern.
»O vor einem Jahre (toͤnten ihn die Glocken an)
begleiteten wir Giulia wie dich, aus Maienthal her¬
aus.« Dann zog vor der Sonne, die am Himmel
ihre weiſſen Bluͤten aufſchlug, der warme Gedanke
[71] ſein erweichtes Herz aus einander: »vor Einem
Jahre, an dieſem Morgen, ging dir dein Flamin
entgegen und vergoß an deiner gluͤhenden Bruſt ſo
viele Freudenthraͤnen — und am Ende des heutigen
Tages zog er dich wieder an ſein Herz und ſagte
gleichſam ahndend; vergiß mich nicht, verrath mich
nicht und wenn du mich verlaſſen willſt, ſo laß mich
mit dir untergehen!« —
»O du Treuer (ſagten alle ſeine Gedanken,) wie
»troͤſtet es mich heute, daß ich einmal alle meine
»Wuͤnſche gern den deinen aufgeopfert habe, um dir
»getreu zu bleiben §) — Nein, ich kann ihm nichts
»verbergen, ich gehe jetzt zu ihm.« — Er ging ge¬
rade Flamin, um (wiewohl ohne Meineid gegen den
Lord und mit Schonung der Eiferſucht) es zu beken¬
nen, daß er auf Pfingſten nach Maienthal verreiſe.
Sein auseinander gegangnes Herz bedurfte ein entge¬
gen weinendes Auge ſo ſehr — ſein feines Ehrgefuͤhl
verſchmaͤhte es ſo ſehr, eine fremde Reiſe znr ſpani¬
ſchen Wand der eignen zu machen — ſeiner erneuer¬
ten Liebe that das kleinſte Verhehlen vor ſeinem
Freunde ſo weh — Matthieu war aus dieſem him¬
[72] melblauen Eden unter der Gehirnſchaale ſo gaͤnzlich
verſtoßen — daß er, je laͤnger er dachte und lief,
deſto mehr aufſchließen wollte. Er wollt es naͤmlich
ſeinem Flamin ſogar entdecken, daß er heute Nachts
die Einladungskarte eigenhaͤndig an den Blinden abge¬
reicht: durch eine Taͤuſchung wurde ihm die Pfingſt¬
reiſe durch die heutige zulaͤßiger und dieſen eignen
Geſichtspunkt ſah er fuͤr einen fremden an.
Aber ſo weit trieb ſeine traͤumeriſche und nacht¬
trunkne Seele ihre gefaͤhrliche Ergießung nicht.
Denn beim Eintritt zog ein Maifroſt auf Flamins
Geſicht den aufbrechenden Bluͤtenkelch ſeines Her¬
zens ein wenig zuſammen. Er bat Flamin mit ſei¬
ner kontraſtirenden Waͤrme des Geſichts um einen
Spaziergang an dieſem hellen Tage. Drauſſen
wurde der Abſtich noch ſchneidender, da Flamin ſei¬
nen Spazierſtock bis zum Knicken einſtieß, Blumen
koͤpfte, Laub abſchlug, mit dem Stiefelabſatz Fußſta¬
pfen aushieb, indeß Viktor in Einem fort zu reden
ſuchte, um ſeine Seele in der mit gebrachten Waͤrme
Waͤrme zu erhalten.
Es freuet mich an ihm, daß er ſein von den heu¬
tigen Entbehrungen mazerirtes uͤberrinnendes Herz
gerade in eines ergießen wollte, dem er die Entbeh¬
rungen ſchuld zu gehen hatte. Endlich ſagte er, um
das erſchwerte Geſtaͤndniß nur von der Seele zu
werfen, eilend: »auf Pfingſten geh' ich nach Maien¬
[73] »thal« — und ging fliegend zu den Worten uͤber:
»O gerade heute vor einem Jahre gingſt du mit.«
Flamin unterfuhr ihn und das Eisgeſicht wurde
wie ein Hekla, von Flammen zerſpalten:« So ſo!
— Zu Pfingſten? — »Nach Kuſſeviz gehſt du nicht
»mit uns! — Laß mich doch einmal recht ausreden,
»Viktor!« — Sie blieben alſo ſtehen. Flamin
ſtreifte die Bluͤten und Blaͤtter von einem Schlehen¬
aſt mit blutiger Hand und blickte ſeinen ſanften
Freund nicht an, um nicht erweicht zu werden.
»Heute vor einem Jahre, ſagſt du? Sieh da ging
»ich eben Abends mit dir auf die Warte und wir
»verſprachen uns entweder Treue oder Mord —
»Du ſchwurſt mir, dich hinabzuſtuͤrzen mit mir,
»wenn du mir alles genommen haͤtteſt, alles — Bin
»ich denn blind? Seh' ich denn nicht, die Maſchine¬
»rie mit ihrer und deiner Reiſe iſt abgekartet? —
»Was thuſt du mit den Maienthaler Landſchaften
»gerade jetzt? Wem gehoͤrt der Hut? — Und was
»ſoll ich mir aus allem nehmen? — Wem, wem?
»ſag's ſag's — O Gott! wenn's wahr waͤre! — Hilf
»mir, Viktor!« — Dem gemißhandelten heute er¬
ſchoͤpften Vittor ſtanden die bitterſten Thraͤnen in
den Augen, die aber Flamin, der ſich durch ſein ei¬
gnes Sprechen erzuͤrnte, jetzt ertragen konnte. Nie¬
mals nahm dieſer in einer Ergrimmung Vorſtellungen
an: gleichwohl erwartete er ſie und ſtaunte uͤber
[74] ſein Rechthaben und uͤber das fremde Verſtummen
und begehrte, daß man widerſpraͤche. Er quetſchte
ſeine Hand in die Schlehenſtacheln. Sein Auge
brannte in das weinende hinein. Viktor bejammerte
den feſten Schwur vor ſeinem Vater und ſah auf
die zitternde Wage worauf der Eid und die ſcho¬
nende Freundſchaft ſich ausglichen. Er ſammelte
noch einmal alle Liebe in ſeiner Bruſt und breitete
die Arme auseinander und wollte mit ihnen den
Straͤubenden an ſich ziehen und konnte doch nichts
ſagen als: »Ich und du ſind unſchuldig; aber bis
»mein Vater koͤmmt, eher kann ich mich nicht recht¬
»fertigen.« — Flamin druͤckte ihn von ſich ab:
»Wozu das? — So wars im Gartenkonzert [auch] —
»Sag' lieber geradezu, willſt du ſie heirathen? —
»Schwoͤr' daß du nicht willſt? — O, Gott zoͤger'
»nicht — ſchwoͤr' ſchwoͤr! — Ja ja, Matthieu! —
»Kannſt du noch nicht? — Nu ſo luͤg wenigſtens!«
»Oh! — ſagte Viktor und Blutſtroͤme ſchoſſen
»verfinſternd durch ſein Gehirn und uͤber ſein Ange¬
»ſicht — beleidigen darfſt du mich doch nicht gar
»zu ſehr, ich bin ſo gut wie du, ich bin ſo ſtolz wie
»du — vor Gott iſt meine Seele rein« — — Aber
Flamins Blut an der Schlehenſtaude druͤckte Viktors
zuͤrnende Erhebung nieder und er hob bloß das un¬
beſcholtene Auge voll Freundſchafts-Thraͤnen in den
hellern ſanftern Himmel. — »Nur die Heirath ver¬
[75] »ſchwoͤrſt du doch nicht? — Gut, gut, du haſt mich
»erwuͤrgt — mein Herz haſt du zerſtampft, und
»mein ganzes Gluͤck — ich hatte niemand wie dich
»du warſt mein einziger Freund, jetzt will ich ohne
»einen zum Teufel fahren — Du ſchwoͤrſt nicht? —
»O ich reiſſ' mich von dir blutig und elend und als
»dein Feind — wir ſcheiden uns — gehe nur —
weg! es iſt aus, ganz! — Adieu! — Er entfloh mit
»dem in den Weg hauenden Stock und ſein zerruͤt¬
»teter Freund zu Fuͤßen liegend der Wahrheit, die
das Flammenſchwerd gegen den Meineid aufhebt,
und in Thraͤnen ſterbend vor der Freundſchaft, die
auf das weiche Herz den ſchmelzenden Blick voll
Bitten wirft, Viktor, ſag' ich, rief dem fliehenden
Geliebten im Sterben nach: »Lebe wohl, mein treuer
»Flamin! mein unvergeßlicher Freund! ich war dir
»wohl treu! — Aber ein Schwur liegt zwiſchen
»uns — Hoͤrſt du mich noch? — eile nicht! — Fla¬
»min, hoͤrſt du mich? ich liebe dich noch, wir finden
»uns wieder, und komm wenn du willſt.« . . . Er
rief ſtaͤrker, obwohl mit erſtickten gedaͤmpften Toͤnen
nach: »redliche, theure theure Seele, ich habe dich
»ſehr geliebt und noch und noch — ſey nur recht
»gluͤcklich — Flamin Flamin, mein Herz bricht da
»du mein Feind wirſt.« — Flamin ſah ſich nicht
mehr um, aber ſeine Hand war wie es ſchien an
ſeinen Augen. — Der Jugendfreund ſchwand aus
[76] ſeinen Augen wie eine Jugend und Viktor ſank un¬
gluͤcklich nieder unter dem ſchoͤnſten Himmel, mit
dem [Bewußtſeyn] der Unſchuld, mit allen Gefuͤhlen
der Freundſchaft! — O die Tugend ſelber giebt kei¬
nen Troſt, wenn du einen Freund verloren haſt und
das maͤnnliche Herz, das die Freundſchaft durch¬
ſtochen hat, blutet toͤdtlich fort, nnd aller Wundbal¬
ſam der Liebe ſtillet es nicht! —
[77]
32. Hundspoſttag.
Phyſiognomie Viktors und Flamins — Siedpunkt der Freund¬
ſchaft — prächtige Hofnungen für uns.
Wer haͤtt' es von Cicero gedacht, (wenn er's nicht
geleſen haͤtte,) daß ein ſo bejahrter geſcheuter Mann
ſich in ſeiner Johannis-Inſel hinſetzen und An¬
faͤnge, Exordien, praͤexiſtirinde Keime im voraus
auf den Kauf verfertigen wuͤrde? Inzwiſchen hatte
der Mann den Vortheil, daß er wenn er einen Torſo
uͤber irgend etwas ſchrieb, die Wahl unter den Koͤ¬
pfen hatte, wovon er einen dem Rumpfe nach der
Korpuſkularphiloſophie aufſchrauben konnte. — Von
mir, an dem nichts Geſetztes iſt, kann's nicht Wun¬
der nehmen, daß ich auf meinem Moluckiſchen Fra¬
ſkati ganze Zaſpeln von Anfaͤngen im voraus gewai¬
fet und gezwirnt habe. Wenn nachher der Spitz ei¬
nen Hundstag bringt: hab' ich ihn ſchon angefangen
und ſtoße nur den hiſtoriſchen Reſt gar an die Ein¬
leitung. — Gegenwaͤrtigen Anfang hab' ich fuͤr heute
erleſen.
Anfangs aber wollt' ich freilich dieſen nehmen:
[78]
Mich quaͤlet bei meinem ganzen Buche nichts als
die Angſt, wie es werde uͤberſetzt werden. Dieſe
Angſt iſt keinem Autor zu verdenken, wenn man
ſieht, wie die Franzoſen die Deutſchen und die Deut¬
ſchen die Alten uͤberſetzen. Im Grunde iſt's warlich
ſo viel als wird man exponirt von den untern Klaſ¬
ſen und den Lehrern derſelben. Ich kann jene Leſer
und dieſe Klaſſen in Ruͤckſicht ihrer Seelenkoſt, die
durch ſo vielen Medien vorher geht, mit nichts ver¬
gleichen als mit den armen Leuten in Lapland: wenn
da die reichen ſich in dem [Trinkzimmer] mit einem
Likoͤr, der aus einer theuren Wurzel geſotten wird,
berauſchen: ſo lauert an der Hausthuͤre das arme
Volk, bis ein bemittelter Lappe heraus koͤmmt und
p—ſſ—t: das vertirte Getraͤnk, die Vulgata von ge¬
branntem Waſſer koͤmmt dann den armen Teufeln
zu Gute.
Aber dieſen Anfang heb' ich mir auf fuͤr den
Vorbericht zu einer Ueberſetzung.
Es gehoͤrt zu den ſchoͤnen Gaukeleien und Natur
ſpielen des Zufalls, deren es recht viele giebt, daß
ich dieſes Buch gerade in der Philippi Jakobi Nacht
1793 anfing, wo Viktor die Hexen-Farth zum
Maienthaliſchen Blocksberg unter die Zauberer und
Zauberinnen vornahm und wo er 1792 aus Goͤttin¬
gen anlangte.
[79]
Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's
leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬
lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht
vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande,
die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige
Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es
ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬
werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr
er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In
dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle,
Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde:
wenn man einem Freunde, den man ſchon lange
liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben
konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man
ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn.
Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis
der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen,
ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund.
Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen
pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer
kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬
weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z.
B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das
Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern,
die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind
große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr
lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das
[80] Immobiliar-Vermoͤgen als eine kleine angenehme
Unart, ſo wie euch manche Leute lieber einen Wech¬
ſel ſchenken als ein ſo großes leeres Papier. Die
Urſache iſt, große Aufopferungen macht der Enthu¬
ſiasmus, kleine die Vernunft. Flamin, der ſelber
niemals kleine machte, foderte ſie vom andern mit
Hitze, weil er ſie fuͤr große nahm. Viktor hatte
ſich hieruͤber weniger vorzuruͤcken; aber Klotilde be¬
ſchaͤmte ihn, deren laͤngſte und kuͤrzeſte Tage wie
bei den meiſten ihres Geſchlechts lauter Opfertage
waren. — Auch wurde ſeine natuͤrliche Delikateſſe,
die jetzt durch ſein Hofleben den Zuſatz der kuͤnſtli¬
chen gewonnen hatte, tiefer als ſonst von ſeines
Freundes Ecken verletzt. — Die feinen Leute geben
ihrem innern Menſchen (wie ihrem aͤuſſern) durch
Mandelkleien und Nachthandſchuhe weiche Haͤnde,
blos um das Untere der Karten beſſer zu fuͤhlen,
um niedliche halbe Damen-Ohrfeigen zu geben, aber
nicht wie die Wundaͤrzte um damit Wunden hand¬
zuhaben.
Zum Ungluͤck ſchrieb ihm dieſer Wahn der Er¬
kaͤltung ein aͤuſſeres freundliches Beſtreben vor,
Waͤrme bei Flamin zu zeigen; — da nun der Regie¬
rungsrath nicht bedachte, daß auch das Gezwung¬
ne eben ſo oft von Aufrichtigkeit entſtehen koͤnne
als das Ungezwungne von Falſchheit: ſo hatte der
Teufel immer mehr ſein Beſtia-Spiel (wo eine
Freund¬[81] Freundſchaft der hohe Einſatz war) bis ſolcher am
Hexentage es gewann.
Aber am 4ten Mai ſoll er alles wieder verlieren
denk' ich. Denn Viktor, deſſen Herz bei der ge¬
ringſten Bewegung wieder den Verband durchblutete,
nahm ſich vor, nicht nur am 4ten Mai dem Ge¬
burtstag des Hofkaplans in St. Luͤne beizuwohnen,
ſondern auch einen Geburtstag der erneuerten Freund¬
ſchaft mit Flamin zu begehen. Er wollte gern den
erſten, zweiten, zehnten Schritt thun, wenn nur je¬
ner ſtehen bliebe und keinen zuruͤck thaͤte. Denn er
kann ihn nicht vergeſſen, er kann ſeine Entbehrung
nicht verwinden, ſo leicht ihm ſonſt die freiwillige
war. Er druͤckt alle Abende Flamins ſchoͤnes Bild,
das gemacht war aus ſeiner Liebe fuͤr ihn, aus ſei¬
ner unbeſtechlichen Rechtſchaffenheit, ſeinem Felſen-
Muth, ſeiner Liebe zum Staat, ſeinem Talent, ſo¬
gar aus ſeinem Aufbrauſen, das aus dem doppelten
Gefuͤhl des Unrechts und der eignen Unſchuld kam,
dieſes erweichende Bild druͤckte er an das aufgeriſ¬
ſene Herz und wenn er ihn am Morgen auf das
Kollegium gehen ſah, ſo liefen ihm die Augen uͤber
und er pries den Bedienten gluͤcklich, der ihm die
Akten nachtrug. Wenn der 4te Mai des großen
Versoͤhnungstages mit dem Soͤhnopfer nicht ſo nahe
waͤre: ſo wuͤrde er die kleine Julia an ſich angewoͤh¬
nen muͤſſen als einen dritten Stand zwiſchen den 2
Heſperus. III. Th. F[82] andern, als einen Leitton zwiſchen Diſſonanzen.
Blos die Hoffnung des Maies ſetzte ſeinen Gedanken
ſtatt der Neſſeln-Brennſpitzen, Roſenſtacheln an. —
Der Jugendfreund, lieber Leſer, der Schulfreund
wird nie vergeſſen, denn er hat etwas von einem
Bruder an ſich — wenn du in den Schulhof des Le¬
bens tritſt, das eine Schnepfenthaler Erziehungsan¬
ſtalt iſt an eine berliniſche Realſchule, ein breslaui¬
ſches Eliſabethanum, ein Scherauiſches Marianum:
ſo begegnen dir die Freunde zuerſt und eure Ju¬
gendfreundſchaft iſt der Fruͤhgottesdienſt des Le¬
bens. —
Viktor wuſte Flamins Verſoͤhnlichkeit gewiß vor¬
aus, er ſah ihn ſogar ſchon oͤfter am Fenſter ſtehen,
und zum Erker hinuͤber ſchielen, aus dem ein
freundliches um alle Mißdeutungen des Point d'hon¬
neur unbekuͤmmertes Auge frei und gerade zum Se¬
nior ſchauete — aber das nahm doch ſeine Thraͤnen
nicht weg, ſondern ſie wurden vermehrt durch die
erſte Wiedererblickung des ſo ſchoͤnen betrauerten ge¬
liebten Angeſichts. Flamin hatte eine große maͤnnli¬
che Geſtalt, ſeine ineinander und zuruͤckgedraͤngte
ſchmale Stirn war der Horſt des Muths, ſeine
durchſichtigen blauen Augen — die ſeine Schweſter
Klotilde auch hatte und die ſich recht gut mit einer
feurigen Seele vertragen, wie ja auch die alten
Deutſchen und das Landvolk beides haben — waren
[83] von einem denkenden Geiſte entzuͤndet‚ ſeine gepre¬
ſten und eben darum dunkelroͤtheren uͤbervollen Lip¬
pen waren in die menſchenfreundliche Erhebung zum
Kuße befeſtigt; blos die Naſe war nicht fein genug‚
ſondern juriſtiſch oder deutſch gebildet. Die Naſe
großer Juriſten ſieht meines Erachtens ſo elend aus‚
wie die Naſe der Juſtiz‚ mit der ſie aber nichts ge¬
mein hat als die — Form. Nicht zu erklaͤren iſts
beilaͤufig‚ warum die Geſichter großer Theologen —
ſie muͤſten denn noch etwas anderes Großes ſeyn —
etwas von der typographiſchen Pracht der deut¬
ſchen Bibeln an ſich haben. Viktors Geſicht hinge¬
gen hatte am wenigſten unter allen von juriſtiſchem
Matgold und von theologiſcher Packpapier- und Kur¬
rent-Gemeinheit: ſeine Naſe lief‚ die Schaͤrfe und
den Stirn-Einſchnitt abgezogen‚ griechiſch-gerade gerade
nieder‚ die ſpitzigen Mundwinkel betrugen (wenn er
aber nicht lachte) vielleicht uͤber I′′′′′ formirten mit
einer ſolchen Naſen-Schneide das Ordens-kreutz‚
das ſatiriſche Leute tragen; — ſeine weite Stirne
woͤlbte ſich zu einem hellen und geraͤumigen Chor
einer geiſtigen Rotunda‚ worin eine ſokratiſch¬
gleichbeleuchtete Seele wohnt‚ aber weder dieſe Helle
noch jene Stirne gatten ſich mit angeborner wil¬
der Feſtigkeit obwohl mit erworbener; — ſeine
Phantaſie‚ dieſer große Gewinn‚ hatte wie mehr¬
mals gar keine Lotteriedeviſe auf ſeinem Geſicht; —
F 2[84] ſeine Achataugen aus Neapel verkuͤndigten und ſuch¬
ten ein liebendes Herz; ſein blondes Mouſſelin-Ge¬
ſicht kontraſtirte wie Hof mit Krieg, gegen Flamins
braunes elaſtiſches den zwei Gluthwangen als Grund
dienendes Angeſicht. — Uebrigens war Flamins See¬
le ein Spiegel, der unter der Sonne nur mit einem
einzigen Punkte flammte; an Viktors ſeiner aber
waren mehrere Kraͤfte zu ſchimmernden Facetten aus¬
geſchliffen. Klotilde hatte mit ihrem Bruder dieſes
ganze Feuerzeug und dieſe Schwefelminen des Tem¬
peraments gemein; aber ihre Vernunft deckte alles
zu — der reiſſende Blutſtrom, der ſich bei ihm von
Felſen zu Felſen ſchlug, zog bei ihr ſchon ſtill und
glatt durch Blumenwieſen.
Ich ſaͤh' es gern, er erneuerte wieder mit dem
Regierungsrath den Kontrakt der Freundſchaft: ich
wuͤrde dann ſeine Pfingſt-Reiſe nach Maienthal zu
beſchreiben kriegen, die vielleicht das Septleva und
das Beſte wird, wozu es noch der menſchliche Ver¬
ſtand gebracht hat. Aus dieſem Septleva wird aber
nichts, wenn ſie nicht wieder Friede machen: neben
jede Blume in Maienthal, neben jede Entzuͤckung
wuͤrde ſich dem Freunde die abgegraͤmte Geſtalt des
Freundes ſtellen und fragen: »kannſt du ſo gluͤcklich
»ſeyn da ich's ſo wenig bin?» —
Geſcheuter waͤr' es, es waͤren Moͤnche oder Hof¬
leute: dann waͤre beiden zuzumuthen, daß ſie, da
[85] die Freundſchaft die Ehe der Seelen iſt, enthalt¬
ſam im Zoͤlibate der Seelen verblieben. . . .
Eben beim Schluße dieſes Kapitels bringt der
Hund das neue und ich flechte beide gar ineinander
und fahre fort:
Ohne ſonderliche Aergerniß uͤber das Ausbleiben
der Antwort aus Maienthal, ging Viktor den 4ten
Mai einſam nach St. Luͤne und mit jedem Schritte,
um den er naͤher kam, wurde ſeine Seele weicher
und verſoͤhnlicher. — Als er ankam — — —
Es giebt in jedem Hauſe Tage, die in der Lita¬
nei vergeſſen wurden — verdammte, verteufelte,
verhenkerte Tage — wo alles Diagonal geht und
die Queere — wo alles keift und knurrt und mit
dem Schwanze wedelt — wo die Kinder und der
Hund nicht Muck! ſagen duͤrfen und der Erb- Lehn-
und Gerichtsherr des Hauſes alle Thuͤren zuwirft
und die Haus-Souverainin das Schnarrkorpus-Re¬
giſter des Moraliſirens *) zieht und den Silberton
der Teller und Schluͤſſelbunde anſchlaͤgt — wo man
lauter alte Schaͤden aufſtoͤbert, alle Waldfrevel der
Maͤuſe und Motten, die zerknickten Paraſol- und
[86] Faͤcherſtaͤbe und daß das Schieß-Pulver und der
wohlriechende Puder und das Kavalierpapier dum¬
pfig geworden und daß der Wurſtſchlitten ausgeſeſſen
iſt zu einem hoͤlzernen Eſel, und daß der Hund und
das Kanapee im Haͤaͤren begriffen ſind — wo alles
zu ſpaͤt kommt, alles verbraͤt, alles uͤberkocht und
die Kammerdonna die Stecknadeln ins Fleiſch der
Frau wie in eine Puppe treibt — und wo man,
wenn man ſich bei dieſer hundsfoͤttiſchen Krankheit
ohne Materie genugſam ereifert hat ohne Urſache,
ſich zufrieden giebt wieder ohne Urſache — —
Als Viktor anlandete in der Pfarre: hoͤrt' er
den Geburtshelden des Tages, den Pfarrer, in ſei¬
nem Muſeo doziren und ſchreien. Er goß ſeinen
h. Geiſt in die langen Ohren ſeiner Katechumenen
aus, in die keine feurigen Zungen zu bringen wa¬
ren. Er handhabte eine Dunſin aus einer Einoͤde
(einem einzigen Hauſe im Walde), vor der er den
Unterſchied des Loͤſe- und des Bindeſchluͤſſels aufklaͤ¬
ren wollte. Es war aber nicht zu machen: der Ka¬
plan und Wiedergebohrne hatte ſchon 1½ Stunde
uͤber die Schulzeit mit dem Aufklaͤren zugebracht;
die Dunſin vergrif ſich immer in den Schluͤſſeln,
als waͤre ſie eine — Weltdame. Der Kaplan
hatte ſeinen Kopf darauf geſetzt auf die Illuminazion
des ihrigen — er ſtellte ihr alles vor, was Eiſen¬
holz und Eiſenſteine geruͤhrt haͤtte, ſeinen heutigen
[87] Geburtstag, die allgemein–verſalzene Luft, die an¬
derthalben Supernumerar-Stunden, um ſie zu uͤber¬
reden, daß ſie den Unterſchied begriffe — ſie thats
nicht, ſie ſah' ihn nicht ein — er ließ ſich zu Sup¬
pliken herab und ſagte: »Schatz, Lamm, Beſtie,
»Beichttochter, faſſ' es, fleh' ich — mache deinem
»Seelenhirten die Freude und repetir' ihm den auſ¬
»ſerordentlichen Unterſchied zwiſchen Bind- und Loͤ¬
»ſeſchluͤſſel — mein' ich's denn nicht redlich — mit
»dir? — Aber mein Pfarramt fodert es von mir,
»daß ich dich nicht wie ein Vieh ohne einen Schluͤſ¬
»ſel zu kennen weglaſſe. — Ermanne dich nur und
»ſprich' mir nur Wort fuͤr Wort nach, theuer–er¬
»kaufte Chriſten–Beſtie.» — Das that ſie endlich
und da ſie fertig war, ſagt' er freudig: So gefaͤllſt
du deinem Lehrer und merk' ferner auf.» — Drauſ¬
ſen rekapitulirte ſie es wieder und ſie hatte alles
gut gefaſſet, ausgenommen, daß ſie ſtatt der Bind–
und Loͤſeſchluͤſſel allemal vernommen hatte Bind– und
Loͤſeſchuͤſſeln. —
Die Drillinge wollten erbaͤrmlicher Weiſe erſt
nach dem Eſſen kommen — Die Seele der Appel
dampfte eben darum ein Wildprets-Fumel aus und
roch wie angebrannte Milchſuppe — der Regierungs¬
rath war angelangt, aber leider wieder auf die Fel¬
der hinausgelaufen bis zum Eſſen — Agathens Ge¬
ſicht war wie ein Felſenkeller von der Kaͤlte ihres
[88] Bruders gegen Viktor ausgeſchlagen: — Nur die
Pfarrerin war die Pfarrerin, nicht blos Ein Vater¬
land ſondern Ein Liebesathem reihete ihr Herz an
ſein Herz und es war ihr unmoͤglich, auf ihn zu
zuͤrnen. Sie liebte ein Maͤdgen, wenn er's lobte;
waͤre ſie ohne Mann geweſen: ſo wuͤrde ſie entweder
billetdoux-Stellerin oder billetdoux-Traͤgerin fuͤr
ihn geweſen. — So lieben Weiber: ohne Maaß!
Oft haſſen ſie auch ſo. — Dazu ſetzet nun mein
Korreſpondent noch, daß er aus dem Baddorfe ei¬
nen ganzen Zeugenrotul zum Beweiſe extrahiren
koͤnnte, daß die Pfarrerin nicht blos allemal ſondern
auch am heutigen Ventos- und Pluvios-Tage es
mit ungeſchminkter Faſſung einer Chriſtin auszuhal¬
ten und zu erleben vermochte, wenn eine etwas fal¬
len ließ, eine Taſſe oder ein Wort. Zu ſo etwas
— zur Apathie gegen einen gegenwaͤrtigen gaͤnzlichen
Verluſt einer Terrine, eines Spuͤhlnapfes, einer
compotiére — iſt vielleicht eben ſo viel Geſundheit
als Vernunft von noͤthen.
— Endlich trat abends der Hofjunker ein und
ſagte, Flamin ſey noch im Garten. Viktor nahm
es auf als waͤr' es ihm geſagt und ging hinaus und
trug ſein beklommenes Herz einer andern bangen
entgegen. Flamin fand er in einer uͤberlaubten Ecke
hinaufſtarrend mit den Augen zum Wachsbilde des
verſtoſſenen Geliebten, Viktors Herz ging wie zwi¬
[89] ſchen Thraͤnen ſchwer in der uͤbervollen Bruſt. Fla¬
mins Geſicht war nicht mit dem Panzer des Zorns,
ſondern mit dem Leichenſchleier des Kummers bedeckt.
Viktor bewillkomte ihn mit der ſanften Stimme ei¬
nes gedruͤckten Herzens, aber dieſer ſagte alle Gedan¬
ken und Worte nur halb. Viktor ſchauete tief in
die Seele, die um die Freundſchaft trauerte: denn
nur ein Herz ſieht ein Herz, nur der große Mann
ſieht große Maͤnner, ſo wie man Berge nur auf
Bergen erblickt. Er hielt es daher fuͤr kein Zeichen
des Grolls, da Flamin langſam von ihm weg¬
ging; aber er mußte, ſo einſam da gelaſſen, ſeine
Augen von der geweihten Erde des Gartens, wo ih¬
re Freundſchaft ſonſt die Bluͤten geoͤfnet hatte, und
von der Opferlaube, wo er bei ſeinem Vater fuͤr
Klotildens und Flamins Verknuͤpfung geſprochen,
und von der hohen Warte, dem Thabor der freund¬
ſchaftlichen Verklaͤrung, von allen dieſen Begraͤbni߬
ſtaͤtten einer ſchoͤnern Zeit mußt' er die Augen ab¬
wenden, um die aͤrmere zu ertragen. Allein das,
was er nicht anſchauen wollte, ſtellte er ſich deſto
heller vor.
Jetzt dehnte die Gebet- und Abendglocke ihre
melancholiſchen Bebungen aus bis an die Herzen der
Menſchen — die vergangnen Zeiten ſchickten die Toͤ¬
ne und die Abendklagen ſanken wie heiſſe Bitten,
in die getrennten Freunde: O ſoͤhnet euch aus und
[90] »gehet zuſammen! Iſt denn das Leben ſo lang, daß
»die Menſchen zuͤrnen duͤrfen, ſind denn der guten
»Seelen ſo viele, daß ſie einander fliehen koͤnnen?
»O dieſe Toͤne zogen um viele Aſchen-Leichen, um
»manches erſtarrte Herz voll Liebe, um manchen
»geſchloſſenen Mund voll Grimm, o Vergaͤngliche,
»liebet, liebet euch!» — Viktor ging willig (denn
er weinte) dem Freunde nach und fand ihn am Bet¬
te ſtehen, worauf Eyman deſſen Namens-F. in
Kohlrabipflanzen gruͤnen ließ: er ſchwieg, weil er
wußte, daß zu allen ſympathetiſchen Kuren ge¬
ſchwiegen werden muß. O eine ſolche ſchweigende
Stunde, wo Freunde wie Fremdlinge neben einan¬
der ſtehen und mit dem Verſtummen das alte Er¬
gießen vergleichen, hat zu viele Herzensſtiche und
tauſend erdruͤckte Thraͤnen und ſtatt der Worte die
Seufzer!
Viktor ſo nahe am Freund wollte, da unter
dem Gelaͤute ſeine ſchoͤnere Seele wie Nachtigallen
unter Konzerten, immer lauter wurde, von Minute
zu Minute an dieſes ſchoͤne edle Geſicht, an dieſe
zum Verſoͤhnungskuß geruͤndeten Lippen fallen —
aber er erſchrack vor der neulichen Abſtoſſung. Er
ſah jetzt, wie Flamin ins Bett immer weiter trat
und die Herzblaͤtter der Kohlrabi langſam umtrat
und auseinander quetſchte: endlich merkte er, dieſes
Zerknirſchen des gruͤnenden Namens ſey blos die
[91] ſtumme Sprache der Troſtloſigkeit, die ſagen wollte:
»ich haſſe mein gequaͤltes Ich und ich moͤcht' es
»zermalmen wie meinen Namen hier: fuͤr wen ſoll
»er?» — Das riß Blut aus Viktors Herzen und
weggekehrte Thraͤnen aus ſeinem Auge und er nahm
ſanft die lang entzogne Hand, um ihn wegzufuͤhren
vom Selbſtmorde des Namens. Aber Flamin drehte
ſein zuckendes Angeſicht ſeitwaͤrts nach dem waͤchſer¬
nen Schatten ſeines Freundes und ſah, ſtarr abge¬
kruͤmmt, hinauf. — »Beſter Flamin!» — ſagte
Viktor mit dem ſchoͤnſten geruͤhrteſten Laute und
druͤckte die brennende Hand. Da riß ſie Flamin
aus ſeiner heraus und ſtieß mit den zwei Handbal¬
len die Thraͤnentropfen in die Augen zuruͤck — und
athmete laut — und ſagte erſtickt: Viktor! — und
wandte ſich mit großen Thraͤnen um und ſagte noch
dumpfer: liebe mich wieder! — Und ſie ſtuͤrzten
zuſammen und Viktor antwortete: »ewig und ewig
lieb' ich dich, du haſt mich ja nie beleidigt» — und
Flamin ſtammelte gluͤhend und ſterbend: »nimm nur
»meine Geliebte und bleibe mein Freund» — Und
Viktor konnte lange nicht reden und ihre Wangen
und ihre Thraͤnen brannten vereinigt aneinander bis
er endlich ſagen konnte: »o du! o du! du edler
Menſch! Aber du irreſt dich irgendwo! — Nun
verlaſſen wir uns nicht mehr, nun wollen wir ewig
ſo bleiben. — Ach wie unausſprechlich wer¬
[92] den wir uns einmal lieben, wenn mein Vater
koͤmmt!«
Hier holte ſie die vielleicht um beide beſorgte
Pfarrerin ab und Flamin ehrte ſie, was er ſelten
that, in ſeiner Erweichung mit einer kindlichen Um¬
armung; und aus vier verweinten Augen las ſie ent¬
zuͤckt die Erneuerung ihres unvergaͤnglichen Bundes.
Nichts beweget den Menſchen mehr als der An¬
blick einer Verſoͤhnung, unſere Schwaͤchen werden
nicht zu koſtbar durch die Stunden ihrer Vergebung
erkauft, und der Engel, der keinen Zorn empfaͤnde,
muͤßte den Menſchen beneiden, der ihn uͤberwindet.
— Wenn du vergiebſt, ſo iſt der Menſch, der in
dein Herz Wunden macht, der Seewurm, der die
Muſchelſchaale zerloͤchert, welche die Oefnungen mit
Perlen verſchließet.
Dieſe Ausſoͤhnung zog, gleichſam eine mit dem
Gluͤck nach ſich — der brumaire Abend wurde zu ei¬
nem floréal-Abend — die Drillinge aßen vom ge¬
bratnen Ruhm der Appel nach — Der Pfarrer hatte
mit keinen Schluͤſſeln weiter zu thun als mit Loͤſe¬
ſchluͤſſeln, den geiſtigen Muſikſchluͤſſeln — und das
Geburtsfeſt war zu einem Foͤderationsfeſte aufgebluͤ¬
het, zu einem Oppoſitionsklub, wo ſich alles, aber in
einem hoͤhern Sinne als Quaͤker und Kaufleute
[93]Freund nannte. Die Drillinge hielten altbrittiſche
Reden, die nur freie Menſchen verſtehen konnten.
Viktor wunderte ſich uͤber die allgemeine Freimuͤthig¬
keit vor einer ſo geſtachelten Schmeiß-Mouche wie
Matthieu war — aber die Englaͤnder fragten nach
nichts. Der Pfarrer ſchickte Herzensgebete ab und
ſagte, er ſeines Orts nehme wenig Notiz davon und
bitte nur leiſer zu haranguiren, damit er nicht in
den Ruf kaͤme, als ob er pietiſtiſche Konventikel in
ſeiner Pfarre zuließe. »Inzwiſchen ſteif' er ſich
»ganz auf den Herrn Hofmedikus und H. Hofjun¬
»ker, die ihn gegen Fiskulate gewißlich decken wuͤr¬
»den: ſonſt wuͤrd' er Frau und Sohn nicht mit
»drein ſprechen laſſen.» Die Pfarrerin zog die
Erinnerungen an ihr freies Vaterland den beſten
Verlaͤumdungen und Moden vor. — Viktor mußte
heute ſein Verſprechen halten, ſeine republikaniſche
Orthodoxie außer Zweifel zu ſetzen; und da er's vor
unſern Ohren gab, wollen wir auch mit ſehen, wie
er's haͤlt und ob er ein Alt-Britte iſt.
Er ahmte meiſtens den Styl nach, den er zu¬
letzt geleſen oder — wie heute — gehoͤrt hatte; da¬
her ſprach er in Sentenzen wie der eine brennend-
kalte Englaͤnder.
»Kein Staat iſt frei als der ſich liebt; das
»Maaß der Vaterlandsliebe iſt das Maaß der
»Freiheit. Was iſt denn nun dieſe Freiheit!
[94] »Die Geſchichte iſt der La Morgue-Platz*), wo
»jeder die todten Verwandten ſeines Herzens ſucht:
»fragt die großen Todten aus Sparta, Athen und
»Rom, was Freiheit iſt? Ihre ewigen Feſttage —
»ihre Spiele — ihre ewigen Kriege — ihre ſteten
»Opfer des Vermoͤgens und Lebens — ihre Verach¬
»tung des Reichthums, des Handels und der Hand¬
»werker koͤnnen den kameraliſtiſchen Landesflor nicht
»zum Ziel der Freiheit machen. Aber der konſe¬
quente Deſpot muß den ſinnlichen Wohlſtand ſeiner
»Plantage betreiben. — Der Druck und die Milde,
»die Ungerechtigkeit und die Tugend eines Einzelnen
»machen ſo wenig den Unterſchied zwiſchen ſklavi¬
»ſcher und freier Regierungsform aus, daß Rom
»eine Sklavin war unter den Antoninen, und eine
»Freie unter dem Sylla**). — Nicht jeder Bund,
»ſondern der Zweck des Bundes, nicht das Vereini¬
»gen unter gemeinſchaftliche Geſetze, ſondern der In¬
»halt derſelben geben der Seele die Fluͤgel des Pa¬
»triotismus: denn ſonſt waͤre jede Hanſa, jeder Han¬
[95] »delsbund ein pythagoreiſcher und zeugte Spartaner.
Das, wofuͤr der Menſch Blut und Guͤter giebt,
muß etwas Hoͤheres als beides ſeyn; — das eigne
Leben und Vermoͤgen zu beſchuͤtzen, hat der Gute
nicht ſo viel Tapferkeit als er hat wenn er fuͤr frem¬
des kaͤmpft; — die Mutter wagt nichts fuͤr ſich und
alles fuͤr das Kind — kurz nur fuͤr das Edlere in
ſich, fuͤr die Tugend oͤfnet der Menſch ſeine Adern
und opfert ſeinen Geiſt, nur nennt der chriſtliche
Maͤrtyrer dieſe Tugend Glauben, der wilde Ehre,
der republikaniſche Freiheit. — Nehmt zehn Men¬
ſchen, ſperrt ſie in zehn verſchiedene Inſeln: keiner
wird den andern (ich habe keine Kosmopoliten ge¬
nommen) wenn er ihn auf ſeinem Kahn begegnet,
lieben oder beſchuͤtzen, ſondern ihn bloß wie ein un¬
ſchuldiges gutgebildetes Thier unbeſchaͤdigt voruͤber¬
fahren laſſen. Werft ſie aber ſaͤmtlich auf Eine In¬
ſel*): ſo werden ſie gegenſeitige Bedingungen des
Beiſammenlebens des Unterſtuͤtzens u. ſ. w., d. h.
Geſetze machen — jetzt haben ſie oͤftern Genuß und
Gebrauch des Rechts, folglich ihrer Perſoͤnlichkeit,
die ſie von bloßen Mitteln unterſcheidet, folglich ih¬
rer Freiheit. Vorher auf ihren zehn Inſeln waren
[96] ſie mehr ungebunden als frei. Je mehr die Ge¬
genſtaͤnde ihrer Geſetze ſich veredeln, deſto mehr
ſehen ſie, daß das Geſetz den innern Menſchen mehr
angehe als der Schuthaufen, den es beſchirmt, das
Recht mehr als das Eigenthum und daß der edle
Menſch ſeine Guͤter, ſeine Gerechſame, ſein Leben
verfechte, nicht wegen ihrer Wichtigkeit, ſondern we¬
gen ſeiner Wuͤrde. — Ich will die Sache von einer
andern Seite beſchauen, um den Satz zu vertheidi¬
gen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk
ſeine Verfaſſung haſſet: ſo geht der Zweck ſeiner
Verfaſſung d. h. ſeiner Vereinigung verloren. Liebe
der Verfaſſung und Liebe fuͤr ſeine Mitbuͤrger als
Mitbuͤrger iſt eins. Ich hole ſo aus: Waͤren alle
Menſchen weiſe und gut: ſo waͤrrn ſie alle einander
aͤhnlich, folglich gewogen. Da das nicht iſt: ſo er¬
ſetzt die Natur dieſe Guͤte durch Surrogate der
Aehnlichkeit, z. B. durch Gemeinſchaft des Zwecks,
durch Beiſammenleben u. ſ. w. und haͤlt durch dieſe
Baͤnder — der ehelichen, der Geſchwiſter, und der
Freundesliebe — unſere glatten ſchluͤpferigen Herzen
zuſammen in verſchiedenen Entfernungen. So erzieht
ſie unſer Herz zur hoͤheren Waͤrme. Der Staat
giebt ihm eine noch groͤßere, denn der Buͤrger liebt
ſchon mehr den Menſchen im Buͤrger als der Bru¬
der im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlands¬
liebe iſt nichts als ein eingeſchraͤnkter Kosmopolitis¬
mus;[97] mus; und die hoͤhere Menſchenliebe iſt des Weiſen
große Vaterlandsliebe fuͤr die ganze Erde. In mei¬
nen juͤngern Jahren war mir oft die Menge der
Menſchen ſchmerzlich, weil ich mich unvermoͤgend
fuͤhlte, 1000 Millionen auf einmal zu lieben; aber
das Herz des Menſchen nimmt mehr in ſich als ſein
Kopf und der beſſere Menſch muͤßte ſich verach¬
ten, deſſen Arme nur um einen einzigen Planeten
reichten. . . .
— Jetzt ſetz' ich wie in einer Komoͤdie nur die
Namen der Akteurs vor die Anmerkungen. Der
kalt-philoſophiſche Balthaſar: »Daher muß die
»ganze Erde einmal ein einziger Staat werden, eine
»Univerſalrepublik: die Philoſophie muß Kriege,
»Menſchenhaß, kurz alle moͤgliche Widerſpruͤche mit
»der Moral ſo lange gut heiſſen als es noch zwei
»Staaten giebt. Es muß einmal einen National¬
»konvent der Menſchheit geben, die Reichen ſind die
»Munizipalitaͤten.«
Matthieu: »jetzt leben wir alſo erſt im 11ten
»Oktober und ein wenig im vierten Auguſt.«
Viktor: »wir ſehen gleich dem David, den ſa¬
»lomoniſchen Tempel nur in Traͤumen und die
»Stiftshuͤtten im Wachen; aber die Philoſophie
Heſperus. III Th. G[98] »waͤre jaͤmmerlich, die von den Menſchen nichts fo¬
»derte als was dieſe bisher ohne Philoſophie leiſte¬
»ten. Wir muͤſſen die Wirklichkeit dem Ideal, aber
»nicht dieſes jener anpaſſen.«
Der heiß–philoſophiſche Melchior: die meiſten
»jetzigen Bewegungen ſind nur Griffe die ein unter
»dem Trepan Schlafender nach der blutigen Gehirn¬
»baut thut. — Aber die fallende Stalaktite der Re¬
»gentſchaft tropfet endlich mit der ſteigenden Stal¬
»agmite des Volkes zur Saͤule zuſammen.«
Flamin: »ſetzen aber nicht Sparter Heloten
»voraus und Roͤmer und deutſche Sklaven, und Eu¬
»ropaͤer Neger? — Muß ſich nicht immer das Gluͤck
»des Ganzen auf einzelne Opfer gruͤnden, ſo wie
»ein Stand ſich dem Ackerbau widmen muß, damit
»ein anderer dem Wiſſen obliege?«
Kato der aͤltere: »dann ſpei' ich auf's Ganze
»wenn ich das Opfer bin, und verachte mich, wenn
»ich das Ganze bin.«
Balthaſar: beſſer iſt's, das Ganze leidet frei¬
»willig eines einzigen Gliedes wegen, als daß dieſes
»wider ſeine gerechte Stimme fuͤr das Ganze
»leide.«
Mathieu: »fiat justitia et pereat mundus.«
Viktor: »Auf deutſch: das groͤßte phyſiſche Ue¬
»bel muß man vorziehen dem kleinſten moraliſchen,
»der kleinſten Ungerechtigkeit.« —
[99]
Melchior: durch die phyſiſche von der Natur
»gemachte Ungleichheit der Menſchen wird irgend
»eine politiſche ſo wenig entſchuldigt als durch Peſt
»der Mord, durch Mißwachs das Kornjudenthum.
»Sondern umgekehrt muß eben die politiſche Gleich¬
»heit das Surrogat der phyſiſchen ſeyn. Im deſpo¬
»tiſchen Staat kann die Aufklaͤrung wie das Wohl¬
»leben an Intenſion groͤßer ſeyn, aber im freien iſt
»ſie an Extenſion groͤßer und unter alle vertheilt.
»Denn Freiheit und Aufklaͤrung erzeugen einander
»wechſelſeitig.«
Viktor: »Wie Unglaube und Deſpotie. Ihre
»Behauptung zeigt den Voͤlkern zwei Wege, einen
»langſamern aber gerechtern, und einen, der beides
»nicht iſt. — Die wilden Eingriffe in's Ziffer¬
»blattsrad der Zeit, das tauſend kleine Raͤder
»drehen, verruͤcken es mehr als ſie es beſchleunigen,
»oft brechen ſie ihm Zaͤhne ab*): haͤnge an's
»Gewicht des Uhrwerks, das alle Raͤder treibt; d.
»h. ſey weiſe und tugendhaft, dann biſt du groß und
»unſchuldig zugleich und baueſt an der Stadt Got¬
G 2[100] »tes, ohne den Moͤrtel des Bluts und ohne die
»Quader der Todtenkoͤpfe.« — —
Hier wird dieſe politiſche Predigt ausgelaͤutet,
unter der Viktor ſeiner ſokratiſchen Menſur und
Maͤßigung ungeachtet doch dieſe wilden Koͤpfe zu
Freunden des ſeinigen machte. — Dem einzigen
Matthieu war nur um Spott zu thun, auf den er
jeden Ernſt zuruͤckfuͤhrte, anſtatt umzukehren. Er
hatte in einem individuellen Grade jene Unverſchaͤmt¬
heit von Stand, gewiſſe Thorheiten zugleich zu be¬
gehen und zu verſpotten, gewiſſe Thoren zugleich zu
ſuchen und zu verachten und gewiſſe Weiſe zugleich
zu meiden und zu loben. Wo er nur konnte, be¬
warf er den gutmuͤthigen Fuͤrſten von Flachſenfingen
mit ſatiriſchen Diſtelkoͤpfen und zeigte eine Feindſe¬
ligkeit gegen den Ehemann, die ſonſt das Zeichen ei¬
ner zu großen Freundſchaft gegen die Frau iſt. —
So ſagte er heute in Beziehung auf Jenners oder
Januars Neigungen, die mit ſeinem Monats- und
Heiligen-Namen kontraſtiren: »fuͤr den H. Ja¬
nuarius in Puzzolo *) war ein Fiſch der D. Kuhl¬
pepper.« —
[101]
Ich geſteh' es, ich habe unter dem ganzen Klub
wieder den naͤrriſchen Gedanken gehabt, den ich mir
ſchon oft, ſo toll er iſt, nicht aus dem Kopfe ſchla¬
gen konnte — denn er wird freilich ein wenig da¬
durch beſtaͤtigt, daß ich wie ein Atheiſt nicht weiß,
wo ich her bin und daß ich mit meinem franzoͤſiſchen
Namen Jean Paul durch die wunderbarſten Zufaͤlle
an ein deutſches Schreibepult getrieben wurde, auf
dem ich einmal der Welt jene weitlaͤuftig berichten
will — wie geſagt, ich halt' es ſelber fuͤr eine Narr¬
heit, wenn ich mir zuweilen einbilde, es waͤre moͤg¬
lich, daß ich etwan — da in der orientaliſchen Ge¬
ſchichte die Beiſpiele davon tauſendweiſe da ſind —
gar ein anonymer Knaͤſenſohn oder Schachsſohn oder
etwas aͤhnliches waͤre, das fuͤr den Thron gebildet
werde und dem man nur ſeine edle Geburt verſtecke,
um es beſſer zu erziehen. So etwas nur zu uͤberle¬
gen, iſt ſchon Tollheit; aber ſo viel iſt doch richtig,
daß aus der Univerſalhiſtorie die Beiſpiele nicht aus¬
zukrazen ſind, wo mancher bis in ſein 28tes Jahr —
ich bin um zwei aͤlter — nicht ein Wort davon
wußte, daß ein aſiatiſcher oder anderer Thron auf
ihn warte und wo er nachher, wenn er darauf kam,
praͤchtig herunter regierte. Setze man aber, ich
wuͤrde aus einem Jean ohne Land ein Johann mit
Land, ſo ging' ich ſofort auf's Billard und ſagte je¬
dem, wen er vor ſich haͤtte. Waͤre einer von mei¬
[102] nen Landskindern mit da und ſtieße: ſo wuͤrd' ich
ihn dort gleich regieren — und eine Landstochter
ohne Bedenken — Ich wuͤrde mit Bedacht verfah¬
ren und nur mit Subjekten aus meiner Billard-Ge¬
ſpannſchaft die wichtigern Aemter beſetzen, weil der
Regent den kennen muß, den er vozirt, welches er
beim Spiel bekanntlich am erſten kann — Ich wuͤrde
meinen Landſaſſen und allen durch ein Generalregle¬
ment auf alle Zeiten ſtrenge befehlen, gluͤcklich und
wohlhabend zu ſeyn und wer arm wuͤrde, den ſetzte
ich zur Strafe auf halben Sold; und ich denke,
wenn ich die Armuth ſo nachdruͤcklich unterſagte, ſo
wuͤrd' es zuletzt ſo viel ſeyn als regierten Saturn
und ich mit einander — Ich wuͤrde in meinem
Staate nicht wie ein Sultan in ſeinem Harem, phy¬
ſiſche Stumme und Zwerge begehren ſondern morali¬
ſche — Ich geſteh' es, ich haͤtte eine eigne Vorliebe
fuͤr Genies und ſtellte bei allen, ſogar beim elende¬
ſien Poſten die groͤßten Koͤpfe an. — Ich wuͤrde
mich vor nichts fuͤrchten (Feinde ausgenommen) als
vor der Kopfwaſſerſucht, vor der ein gekroͤntes Haupt
oder ein infulirtes in Aengſten ſeyn muß, wenn es
wie ich in dem D. Ludwig oder auch in Tiſſot von
den Nerven geleſen hat, daß dergleichen durch ſtarke
Binden um den Kopf am erſten entſtehe, welches
ich noch mehr von meiner Krone befahre, zumal
[103] wenn der Kopf der hinein getrieben wird, dick iſt
und ſie eng. . . .
Wir kommen wieder zur Geſchichte. Den an¬
andern Tag kehrten Viktor und Flamin, in den
ſchoͤnen neu angezognen Schlingen des freundſchaftli¬
chen Bundes, nach Flachſenfingen zuruͤck. Jetzt
konnte Viktor durch Maienthals Himmelspforte ein¬
gehen, wenn Klotilde ſie nicht verriegelte. Alles
kam auf Emanuels Antwort an. Die Mailuͤfte
wehten, die Maiblumen dufteten, die Maienbaͤume
rauſchten. O wie fachte dieſes Wehen die Sehnſucht
an, alle dieſe Seligkeiten in Maienthal zu genießen
und das Entreebillet zum ſchoͤnſten Konzertſaal der
Natur vom Freunde zu bekommen. Es kam keines:
denn es war ſchon — gekommen durch den Zeidler
Lind aus Kuſſeviz, der als Feudal-Poſtillon vom
Grafen O an Matthieu geſendet worden und den
Weg uͤber Maienthal genommen hatte. Es war
von Emanuel:
Horion!
Komm' eher, Geliebter! Eil' in unſer Edenthal,
das ein Gartenſaal der Natur mit gruͤnenden Waͤn¬
den zwiſchen lauter Gaͤngen iſt, die aus dem Him¬
mel in den Himmel laufen — Die blumigen lichten
Stunden ruͤcken vor dem Auge des Menſchen vor¬
uͤber wie die Sterne vor dem Sehrohre des Him¬
[104] melsmeſſers — Bluͤtenſchlingen aus Jelaͤngerjelieber
ſind dir gelegt und mit Duͤften zugedeckt: und wenn
du darin gefangen biſt, faſſen die aufwallenden Duͤfte
dich mit einer Wolke ein und unbekannte Arme drin¬
gen durch die Wolke und ziehen dich an drei Herzen
voll Liebe! — Ich habe ſchon Maiblumen aus dem
Walde ausgehoben und neben mich gepflanzt — deine
Stadt iſt ja auch ein Wald um dich ſtille Maiblu¬
me — Ich habe ſchon zwei Balſaminen und fuͤnf
Sommerievkojen verſetzt; — aber meine erſte ver¬
ſetzte Balſamine war Klotilde. — Du ſiehſt, der
Fruͤhling ſtreckt ſich mit ſeinen uͤppigen treibenden
Saͤften auch durch meine aufknoſpende Seele und der
Mai ſpaltet an ihr wie ich jetzt an den Nelken, alle
Knoſpen auf. — Erſcheine, erſcheine, eh ich wieder
truͤbe werde und ſage dann deinem Julius, wer den
Engel war, der ihm den Brief an mich gereicht.
Emanuel.
Julius hatte wahrſcheinlich dabei wieder an jenen
andern Brief gedacht, den ihm ein bis jetzt unbekann¬
ter Engel zum Aufſiegeln auf dieſe Pfingſten gege¬
ben — Aber was gehen mich hier Engel und Briefe
an? Kourir-ſchreiben will ich jetzt, damit ich das
32te Kapitel hinaus gemacht habe, eh der Hund mit
[105] ſeinem 33ten Pfingſtkapitel auftritt, das nicht bloß
weil es 32 Kapitel-Ahnen hat ſondern wegen der
wahrſcheinlichen [Ausgießung] eines freudigen H.
Geiſtes darin oder wegen eines ganzen Tauben¬
flugs von H. Geiſtern und wegen den hiſtoriſchen Ge¬
maͤlden darin — und wegen meiner eignen Anſtren¬
gung — ein Kapitel (glaubt man) werden muß, der¬
gleichen in jeder dyoniſiſchen Periode kaum ein hal¬
bes und in jeder konſtantinopolitaniſchen ein ganzes
kann geſchrieben werden — Der Pfingſt-Hundstag
kann lang ausfallen, aber gut und goͤttlich — Phi¬
lippine wird den Bruder ruͤtteln und ſagen (ſie
ſchmeichelt gern:) Paul! Paul oder Paulus war
auch im dritten Himmel, aber ſo hat er ihn nicht
beſchrieben in ſeinen Briefen an die Roͤmer!« —
Ich wollte ſelber, ich koͤnnte meinen 33ten Hunds¬
tag leſen eh' ich ihn gemacht haͤtte. . . .
Das Viele, was ich noch mit Wenigem und mit
der bisherigen Eile herzuwerfen habe, iſt laut den
Kuͤrbis-Akten das: Viktor freuete ſich eben ſo wie
ich, auf die Pfingſt-Evangelien. Sein Gewiſſen
ſetzte ſeinem Genuſſe nicht das duͤnnſte Speiſegelaͤn¬
der, nicht den niedrigſten Weinſtein weiter in den
Weg und er konnte wie eine unſchuldige Freude zur
geliebten Klotilde gehen und ſagen: nimm mich an.
Er that jetzt die Kondolenz- und Krankenviſiten bei
Hofe regelmaͤßig ab und ſchor ſich um kein Wort
[106] voll Hoͤllenſtein und um kein Auge voll Baſiliskengift.
Er verdoppelte die ſchoͤnern Beſuche bei Flamin, um
deſſen edle Verſoͤhnung mit einer waͤrmern Freund¬
ſchaft zu belohnen und er druͤckte auf die vergangne
Geſchichte und auf den Gegenſtand der Eiferſucht
das Sekretsinſiegel des ſchonenden Schweigens. Seine
Traͤume ſtellten zwar bei ihrem Theater voll Schat¬
tenſpielen und Lufterſcheinungen Klotildens Geſtalt
nicht an, (gerade die geliebteſten Geſichter verſaget
der Traum) aber indem ſie ihn in die alten dun¬
keln Regenmonate fuͤhrten, wo er wieder ungluͤcklich
und ohne Liebe und ohne die theuerſte Seele war,
ſo gaben ſie ihm durch die nieder geregnete Nacht
einen hellern Tag und die verdoppelte Wehmuth
wurde zur verdoppelten Liebe — Und wenn er am
Morgen nach ſolchen Traͤumen vom vergangnen
Traum, durch den Maien-Reif neben den uͤppigen
Freudentropfen der Weinreben und unter dem
Morgenwind, der ihn mehr trug als kuͤhlte, hinaus¬
trat, um die feſten weſtlichen Waͤlder, die mit ei¬
nem gruͤnen Vorhang die Opernbuͤhne ſeiner Hof¬
nung verhingen, wie theure Reliquien mit den ſeh¬
nenden Augen zu betaſten — — Ein Rezenſent der
ſich an meine Stelle ſetzt, kann mir unmoͤglich bei
dieſer Kuͤrze der Zeit und auf meiner Extrapoſtkut¬
ſche des Phoͤbuswagen (jetzt in den kuͤrzern Tagen)
zumuthen, einem Vorſatz ſeinen Nachſatz zu geben.
[107]
Sogar der ſteilrechte Klimax des Barometers
und das wagrechte Stroͤmen des Oſtwindes faßten
die Segel ſeiner Hofnung an und zogen ihn in das
ſtille Meer der Pfingſt-Zukunft und in den Kalen¬
der von 1793, um zu ſehen, ob der Mond zu Pfingſten
voll waͤre — Beim Himmel er wird's wenigſtens
halb, welches noch viel beſſer iſt, weil man ihn ſo¬
gleich bei der Hand mitten am Himmel hat wenn
man ſeinen Abend anfangen will . . . .
Ich hab's doch durch auſſerordentliches Rennen
dahin gebracht, daß ich mit dem 32ten Hundspoſttage
fertig bin, eh Spizius mit ſeinem Freudenpokal am
Halſe uͤber das indiſche Meer geſetzt iſt. — Und da
ich ohnehin nach der capitulatio perpetua mit dem
Leſer (bei der bekanntlich die Fuͤrſten- und Staͤdte¬
bank in's Gras beiſſet) jetzt einen Schalttag machen
muß: ſo will ich dazu die Hunds-Vakanz verwen¬
den; aber ich flehe alle meine Tagwaͤhler und
Kunden, die bisher am Springſtabe des Zeigefingers
uͤber die Schalttage weggeſetzt ſind, ernſthaft an,
es bei dieſem nicht zu thun, erſtlich weil ich erboͤtig
bin, mich erſchießen zu laſſen, wenn ich in dieſem
Schalttage mein obwohl unter mehrern Regierungen
beſtaͤtigtes Schalttags-Privilegium, die witzigſten
und tiefſinnigſten Sachen vortragen zu duͤrfen, nur
im geringſten exerzire — und zweitens weil der Hund
ſchon am Schalttage in den Hafen laufen und mir
[108] Fakta bringen kann, die ich nicht im 33ten Hunds¬
tage auftiſche ſondern ſchon am — VIII. Schalt¬
tage oder an der VIII. Sansculotide.
— Der Inhalt davon iſt gleich der Gegenwart
ein toller Vorbericht vor der Zukunft. —
Ich muß ſagen, wenn erſtlich Bellarmin (der
katholiſche Vorfechter und Kontradiktor) behauptet,
jeder Menſch ſey ſein eigner Erloͤſer — woraus mei¬
nes Erachtens folgt, daß er auch ſeine eigne Eva
und Schlange fuͤr ſeinen antiken Adam iſt — wenn
zweitens die Feder eines auſſerordentlich guten Au¬
tors eine Lichtputze der Wahrheit, ſo wie umgekehrt
bei dem inhaftirten H. von Moſer die Lichtputze die
Feder war — wenn drittens der Deſpotismus ſtatt
der lebendigen Baumſtaͤmme zuletzt (denn er ſagt in
die Welt hinein wie blind) den Thron-Saͤgebock ſel¬
ber zerſaͤgen kann — ferner muß ich ſagen, wenn
viertens jede Handlung (ſogar die ſchlimmſten) wie
Chriſtus zwei unaͤhnliche Geſchlechtsregiſter hat —
wenn vollends fuͤnftens ein und der andere Rezen¬
ſent ſein kritiſches Auge, womit er alles beſieht,
nicht auf dem Scheitel–Wirbel traͤgt (wie etwan
Muhammeds Seelige, um die Schoͤnheiten nicht
zu ſehen) noch auf der Bruſt wie der Rieſe Poly¬
phem, noch wie Argus hinten und vornen ſondern
wirklich vornen gleich unter dem Magen uͤber dem
Gedaͤrm mitten im Nabel, wenn dieſer Mann noch
[209 [109]] dazu kein anderes Herz beſitzt als das leinene, das
die Naͤhterin unten im Winkel des Hemdjabots ein¬
flickt und das auf der Herzgrube aufliegt, die man
geſcheuter die Magengrube nennen ſollte — endlich
muß ich ſagen (wenigſtens kann ich's) wenn ſechſtens
wahrer Zuſammenhang, ſtrenge Paragraphen-Ver¬
kettung vielleicht die groͤßte Zierde und Seele der
ungebundnen Rede iſt, die aber einem gebund¬
nen Klaviere gleicht und wenn daher der Verſtand,
wie eine epiſche Handlung, am Ende der (rhetori¬
ſchen und der Zeit-) Periode anfangen muß, weil
ſonſt gar keiner da waͤre. . . .
— Es wird aber auch keiner mehr kommen. —
Aber jene vier Punkte ſehen wie die Haſenfaͤrthe
im Schnee aus. — Kurz: der Spitzhund unſer bio¬
graphiſcher Handlanger und Kommiſſionaͤr, liegt
ſchon unter dem Tiſche und hat einige elyſiſche Fel¬
der und Himmelreiche abgeladen. — Da ich ohne¬
hin im obigen nicht wußte was ich haben wollte
(ich will nicht geſund vor dem Publikum ſitzen, wenn
ich's gewuſt habe): ſo erwieß mir der Hund einen
wahren Liebesdienſt, daß er dem Perioden den Nach¬
ſatz-Schwanz ſo zu ſagen gar abbiß. Es war ohne¬
hin mein Plan blos zu narriren und zu haſeliren in
einem ellenlangen Perioden bis der Hund mir die
Angſt uͤber die Zweifelhaftigkeit der Pfingſtreiſe be¬
nommen haͤtte. — Ueberhaupt wollt' ich nie Worte
[110] und Gedanken mit einander aufwenden, ſondern
dieſe ſparen, wenn ich jene verthat: Peuzer
ſchrieb laͤngſt an die Regenſpurger und Wetzlaer:
viele Gedanken brauchen einen kleinen Wortfluß, aber
je groͤßer der Bach iſt, deſto kleiner kann das Muͤhl¬
rad ſeyn. — Einen rechtſchaffenen Rezenſenten kraͤnkt
ein lakoniſches Buch auch ſchon darum (nicht blos
weil das Publikum es nicht verſteht), weil ein Deut¬
ſcher ja an den Juriſten und Theologen die beſten
Muſter vor ſich hat, weitſchweifig zu ſchreiben und
zwar mit einer Weitlaͤufigkeit, die vielleicht — denn
der Gedanke iſt die Seele, das Wort der Leib —
unter den Worten jene hoͤhere Freundſchaft der
Menſchen ſtiftet, die nach Ariſtoteles darin beſteht,
daß Eine Seele (Ein Gedanke) in mehrerern Koͤr¬
pern (Worten) zugleich wohnet. — —
— Ich hebe Viktors Vigilie, den h. Abend vor
Pfingſten jetzt an. Es war ſchon Sonnabend — der
Wind ging (wie die Wiſſenſchaften) von Morgen
— das Queckſilber ſprang in der Barometerroͤhre
(wie heute in meinen Nervenroͤhren) faſt oben hin¬
aus. — Flamin war friedlich von ſeinem Freunde
am Freitag geſchieden und kehrte vor fuͤnf Tagen
nicht zuruͤck. — Viktor will morgen am erſten Pfingſt¬
tag vor der Sonne aufbrechen, um am dritten wie¬
der zuruͤckzukommen, wenn ſie in Amerika ausſteigt.
— (Ich wollt' er blieb' laͤnger) — Es iſt ein ſchoͤ¬
[111] ner blauer Montag in der Seele (jeder blaue
Tag iſt einer) und eine ſchoͤne Diſpenſation von der
Trauerzeit des Lebens, wenn man (wie mein Held)
das Gluͤck hat, an einem h. Abend, unter dem Ge¬
betlaͤuten, und wenn der Mond ſchon uͤber die Haͤu¬
ſer herauf iſt, vor den Proſpekten in die ſchoͤnſten
Pfingſttage und in die ſchoͤnſten Pfingſtgeſichter, ru¬
hig und ſchuldlos in Zeuſels Erker zu ſitzen, alle
Voreſſen der Hoffnung anzuſchneiden, alle Vorſteck¬
roſen und Anzeigen des ſchoͤnſten Morgens zu ſam¬
meln und unter dem merkantiliſchen Gaſſen-Praͤlu¬
dien des Feſtes den zweiten Theil der Mumien
gerade in den Freudenſektoren zu leſen, wo ich mei¬
nen und Guſtavs Einzug in das himmliſche Jeruſa¬
lem zu Lilienbad abzeichne. — — Alles das hatte
wie geſagt der Held . . . .
Aber als er, der zwiſchen ſeiner Pfingſtreiſe
und jener Badreiſe ſo viele Verwandſchaft ausfand,
endlich mit ſeiner bewegten Seele an die Zerſtoͤrung
jenes Jeruſalems kam: ſo ſagte er mit dem erſten
traurigen Seufzer fuͤr heute: »O du gutes Schick¬
ſal, ein ſolches Schlachtmeſſer, eine ſolche Beinſaͤge
lege nie am Herzen meiner Klotilde an: ach ich
ſtuͤrbe wenn ſie ſo ungluͤcklich wuͤrde wie Beate.«
— Und er dachte weiter nach, wie die rothen Mor¬
genwolken der Hoffnung nur ſchwebender erhoͤhter
Regen ſind und wie oft der Schmerz der bittere
[112] Kern der Entzuͤckung iſt, gleich dem Reichsapfel des
deutſchen Kaiſers, der zwar 3 Mark und 3 Loth
ſchwer aber innen mit Erde ausgefuͤllet iſt. . . .
Beim Himmel! wir verſalzen uns da alle mit
Nachtgedanken den h. Abend ohne Noth und es
weiß keiner von uns warum er ſo ſeufzet. — Ich
habe ja das ganze Pfingfeſt ſchon kopeilich vor mir
und es ſteht kein einziges Ungluͤck darin, es muͤßte
denn Viktor noch einen vierten Pfingſttag als Nach¬
ſommer anſtoßen und in dieſem muͤßte es etwas ab¬
ſetzen. — Ich geſteh' es, ich bin gern aͤſthetiſcher
frère terrible und ſetze der Welt, die in meine un¬
ſichtbare Mutter-Loge ſich hineinlieſet, gern den
Degen auf die Bruſt und dergleichen Streiche mehr
— das koͤmmt aber davon, weil man in der Jugend
Werthers Leiden lieſet und beſitzt, von dem man
wie ein Meßprieſter, ein unblutiges Opfer veranſtal¬
tet eh' man die Akademie bezieht. Ja wenn ich noch
heute einen Romen verfaßte: ſo wuͤrd' ich — da
der blauroͤckige Werther an jedem jungen Amoroſo
und Autor einen Quaſichriſtus hat, der am Karfrei¬
tage eine aͤhnliche Dornenkrone aufſetzt und an ein
Kreutz ſteigt — es auch wieder ſo machen. . . .
— Aber es iſt Zeit, daß ich mein Maienthal
oͤfne und jeden einlaſſe. Ich will nur nicht laͤnger
verheimlichen, daß ich geſonnen bin, dieſes ganze
Paphos und Rittergut an den Leſern gar zu ver¬
ſchenken,[113] ſchenken, wie Ludwig der XI. die Grafſchaft Bou¬
logne der h. Maria zuwarf. Ich gedenke dadurch
vielleicht uͤber andre Autores, die ihren Leſern nur
ihre Kiele beſcheeren, eben ſo weit vorzuſtechen, als
der Koͤnig uͤber den alten Lipſius, der der Maria
nur ſeine ſilberne Feder teſtirte. Anfangs wollt' ich
dieſes Elyſium mit ſeinen dreimaͤchtigen Wieſen und
Nadelhoͤlzern ſelber behalten, weil ich im Grunde
ein armer Teufel bin und wirklich nicht mehr einzu¬
nehmen habe als ein Prinz von Wuͤrtemberg ſonſt,
naͤmlich 90 fl. rhn. Apanage und 10 fl. zu einem
Ehrenkleide, und weil ich mir auf die mir von Gott
und Rechtswegen zuſtaͤndige 2 Quadratmeilen Landes
— denn ſoviel wirft die ganze Erde bei ihrer glei¬
chen Zerſchlagung nach einem guten Partageplan auf
den Mann aus — wahrlich ſo wenig Rechnung ma¬
che, daß ich die zwei Meilen an jeden gern um ei¬
nen elenden Schaf-Pferch abſtehen will. — Und
was mich am meiſten zuruͤckzog, dieſe Schenkung
unter den Lebendigen mit meinem Maienthal zu ma¬
chen, war die Sorge, daß ich ein Feudum Leuten,
Leſern, Landboten, Knaͤſen zuwende, die tauſendmal
groͤßere Woiwodſchaften und Chatoullguͤter innen ha¬
ben und die man aufbringt, wenn man ſie der Ma¬
ria aͤhnlich macht, die aus einer Himmels-Koͤnigin
eine Graͤfin von Boulogne wurde, oder dem roͤmi¬
Heſperus. III. Th. H[114] ſchen Kaiſer, der zugleich am Kroͤnungstage ein
Mitglied des Marienſtifts zu Aachen werden muß. —
Aber was koͤnnen denn alle ihre Majorate — ih¬
re Deutſchmeiſtereien — ihre Afterlehn — und ihre
patrimonia Petri (eine Anſpielung auf meinpatri¬
moniumPauli) — und ihre großvaͤterlichen Guͤter
und alles ihr auf das Erdenſchiff geladne Schiffs¬
guth, kurz ihre europaͤiſchen Beſitzungen auf der
Erde, was koͤnnen ſag' ich dieſe Hollaͤndereien fuͤr
Produkte liefern, die vor den Maienthaliſchen nur
von weitem beſtaͤnden? Und wachſen auf ihren
Kronenguͤtern himmelblaue Tage, Abende voll ſeeli¬
ger Thraͤnen, Naͤchte voll großer Gedanken? —
Nein, Maienthal traͤgt hoͤhere Blumen als die das
Vieh abreiſſet, ſchoͤnere Heſperiden-Aepfel als die
Obſtkammern bewahren, uͤberirdiſche Schaͤtze auf un¬
terirdiſchen, Eden-Kompetenzſtuͤcke wie Klotilde und
Emanuel ſind, und alles was unſre Traͤume malen
und unſre Freudenthraͤnen begießen. — — —
— Und eben das entſchuldigt mich, wenn ich
das Maienthaliſche Freuden-Tafelgut tauſend Kom¬
petenten abſchlage, wenn ich als deſſen Lehnprobſt
mit dieſem Schwaͤbiſchen Schupflehn nicht beleh¬
nen kann ſolche Leute, die auch zu keinem unfiguͤrlichen
Feudum taugen, moraliſche Blinde, Lahme, Minoren¬
ne, Spadonen ꝛc. — und hier muß ich mir viele
Feinde machen wenn ich aus den Vaſallen und Mit¬
[115] belehnten, denen man das Maienthal mit allen ſei¬
nen poetiſchen Nutznießungen zu Lehn giebt, nament¬
lich alte Saalbader ausſtoße, die den Ritterſprung
der Phantaſie nicht mehr thun koͤnnen. — 47 Schee¬
rauer und 103 Flachſenfinger, deren Herzen ſo kalt
ſind wie ihre Knieſcheiben oder wie Hundsſchnautzen
— die groͤſten Miniſter und andere Große, an de¬
nen wie an großen gebratnen Fleiſchklumpen blos
die Mitte noch roh iſt, naͤmlich das Herz — ½ Bil¬
lion Oekonomen, Juriſten, Kammer- und Finanzraͤthe
und Plus- d. h. Minusmacher, in denen die Seele
wie an Adam der Leib aus einem Erdenkloße geknaͤ¬
tet worden, die einen Herzbeutel haben aber kein
Herz, Gehirnhaͤute ohne Gehirn, Pfiffigkeit ohne
Philoſophie, die ſtatt des Buchs der Natur nur ih¬
re Manualakten und Steuerbuͤcher leſen — endlich
die, die nicht Feuer genug haben, um vor dem
Feuer der Liebe, der Dichtkunſt, der Religion zu
entbrennen, die ſtatt weinen, greinen ſagen, ſtatt
dichten, reimen, ſtatt empfinden, raſen. . . .
Bin ich denn toll, daß ich mich hier ſo erboße,
als wenn ich nicht auf der andern Seite das ſchoͤn¬
ſte Leſer-Kollegium, das ich zum primus adquirens
des Maienthaliſchen Maͤnner- und Kunkellehns er¬
hebe, vor mir haͤtte; eine myſtiſche moraliſche Per¬
ſon, die es einſieht, daß der Nutzen nur eine nie¬
drigere Schoͤnheit und die Schoͤnheit ein hoͤherer
H 2[116] Nutzen iſt? — Es iſt allen Empfindungen eigen
(aber nicht den Einſichten) daß man ſie nur allein
zu haben glaubt. So haͤlt jeder Juͤngling ſeine Lie¬
be fuͤr ein auſſerordentliches Meteor, daß nur ein¬
mal in der Welt ſey, wie der Stern der Liebe, der
Abendſtern oft mit einem Kometen gleichſieht. Aber
es wird nicht lauter Flachſenfinger und Hollaͤnder
geben, die auf die Alpen gehen, weniger um große
Gedanken und Erhebungen als um Stuͤhle*)
zu haben, oder zu Schiffe gehen, nicht um auf das
erhabne Meer den Blick des Artiſten zu werfen, ſon¬
dern um die Hektik zu verfahren. ... Sondern
es wird uͤberall in jedem Marktfleck, auf jeder In¬
ſel ſchoͤne Seelen geben, die der Natur am Buſen
ruhen — die die Traͤume der Liebe achten, wenn
auch ſie ſelber aus ihren eignen wach geworden —
die mit rauhen Menſchen umpanzert ſind, vor denen
ſie ihre Idyllenphantaſien uͤber das zweite Leben
und ihre Thraͤnen uͤber das erſte verhuͤllen muͤſſen
— die ſchoͤnere Tage geben als ſie empfangen —
dieſem ganzen ſchoͤnen Bunde mach' ich das ver¬
ſchenkte Feudum von Maienthal, wovon ſchon ſoviel
Redens war, endlich auf und gehe als inveſtirender
Lehnhof mit einigen Freunden und Freundinnen und
meiner Schweſter vorn an der Spitze voran hinein.
[117]
Poſtſkript oder eigenhaͤndige Diſpenſazionsbul¬
le: der Berghauptmann kann nicht laͤugnen, daß der
S. T. Verfaſſer dieſer Biographie dadurch, daß der
Hund faul iſt, und daß dieſe Poſttage voluminoͤſer
ſind, und daß er in dieſem Kapitel gar zwei in ei¬
nes zuſammengeſchmolzen hat, hinlaͤnglich bei denen
entſchuldigt iſt, die das Recht haben ihn zu fragen,
warum er erſt in der Mitte des Septembers oder
Fructidors den 32 Poſttag hinausgebracht. Vier
Monate weit ſitzet er noch mit ſeiner Beſchreibung
von der Geſchichte ab. 1793.
J. P.
[118]
1. Pfingſttag. (33. Hundspoſttag.)
Polizeiordnung der Freude — Kirche — der Abend — die
Blütenhöle.
Viktor war am Pfingſtmorgen kaum aus ſeinem
Schlafe, obwohl nicht aus ſeinen Traͤumen erwacht:
ſo ſagte ihm das Leiſereden aller ſeiner Gedanken, die
elyſiſche Stille durch ſein ganzes Herz, daß heute ſeine
Sabbathswochen angehen. Ohne Vorwuͤrfe
und Vorſaͤtze eines Fehltrittes, ohne einen Seufzer
ſeines Gewiſſens ging er unſchuldig der Freude und
der Liebe entgegen. Je zaͤrter und weicher eine Blu¬
me der Freude iſt, deſto reiner muß die Hand ſeyn,
die ſie abbricht und blos thieriſche Weide vertraͤgt
den Schmutz; ſo wie diejenigen, die den Kaiſerthee
abpfluͤcken, ſich vorher alle grobe Koſt verſagen, um
das aromatiſche Laub unbeſudelt abzunehmen. —
Viktor hatte drauſſen kaum Morgenroͤthe genug, um
auf ſeiner breiten Stundenuhr vom Zeidler Lind
die erſte Stunde ſeines Sabbaths zu ſehen; aber
dieſe Uhr, der Schrittzaͤhler auf dem ſo ſchoͤnen Le¬
benswege des Bienenvaters, und der Fruͤhgottes¬
dienſt der Natur, der in Stille beſteht, machten
[119] ſeinen Vorſatz feſter, ſein jetziges Leben dem zwei¬
ten nach dem Tode als einen ſtillen, kuͤhlen, geſtirn¬
ten Fruͤhlingsmorgen vorauszuſchicken.
»Bei euch ſchwoͤr' ich — ſagt' er, als nach und
»nach immer mehr Lerchen aus ihrem Thau mit
»Singen in die kanoniſche Hora ſtiegen — ich will,
»ſogar in der Freude gelaſſen bleiben ganze dreißig
»Jahre lang in einem fort, wenigſtens drei ganze
»Pfingſttage — ich will ein Univerſitaͤts– und Haus¬
»freund, aber nicht ein pastor fido der Freude ſeyn
»— Handelt nicht der Menſch, als muͤßte ſein Le¬
»bensſteig eine Bruͤcke zuſammengeſchobener Honig¬
»waben ſeyn, durch die er Motten-artig ſich durch¬
»zukaͤuen habe, als waͤren ſeine Haͤnde nur zwei Zu¬
»ckerzangen der Luſt? — Ich will wieder meinen
»Freuden und meinen Schmerzen den Scherz als ei¬
»nen Zaum anlegen. — Die warmen Thraͤnen der
»Melancholie, beſonders die der Entzuͤckung, eine
»Art heiſſer Daͤmpfe die ſtaͤrker treiben und zerſetzen
»als Schießpulver und papinianiſche Maſchinen, will
»ich wohl noch vergießen, aber vorher ein wenig
»kuͤhlen. — Und wenn ich Klotilde nicht jeden Vor¬
»mittag anſichtig werde: ſo will ich blos ſagen: ein
»Menſch kann nicht immer im dritten Himmel ſeyn,
»er muß auch manchmal im erſten uͤbernachten.»
— — Er hat vielleicht mehr Recht als Kraft: aber
es iſt wahr, die Geſundheit des Herzens entfernet
[120] ſich gleich weit von hiſteriſchen Zuckungen und von phleg¬
matiſcher Agonie und die Entzuͤckung graͤnzet naͤher an
den Schmerz als die Ruhe. Aber keine Ruhe und
Kaͤlte iſt etwas werth als die erworbene — der
Menſch muß der Leidenſchaften zugleich faͤhig und
maͤchtig ſeyn. Die Ueberſtroͤmungen des Wil¬
lens gleichen denen der Fluͤße, die alle Brunnen
eine Zeitlang verunreinigen: nehmet ihr aber die
Fluͤße weg, ſo ſind die Brunnen auch fort. —
Das Morgenroth deckte eine ferne Sonne nach
der andern zu; und als endlich die nahe aufgegangen
war oder vielmehr die Natur: ſo konnte Viktor —
ſehen und leſen und mein Werk (die bekannten Mu¬
mien) aus der Taſche ziehen. Ein Buch war fuͤr
ihn in der treibenden freien Natur eine Garten¬
ſcheere ſeiner uͤppig aufſchießenden Traͤume und
Freuden. Dieſer mit einem ganzen Fruͤhling pran¬
gende Morgen, dieſes Schimmern auf allen Baͤchen,
dieſes Summen aus Bluͤten in Bluͤten, dieſes haͤn¬
gende blaue Meer, woruͤber die Sonne wie ein Bu¬
centauro ſchiffte, um auf den Meeres-Grund der
Erde den Vermaͤhlungsring zu werfen, eine ſolche
Gegenwart wuͤrde neben einer ſolchen Zukunft ſchon
in der dritten Stunde ihm die Kraft genommen ha¬
ben, ſeiner neuen Konſtituzion zufolge uͤber ſeine
Wonne zu regieren und immer ſoviel Ruhe zu be¬
[121] wahren als zur Mitteltinte zwiſchen einem ent¬
zuͤckten und einem truͤben Tage noͤthig iſt — ich ſa¬
ge, er wuͤrde das nicht vermocht haben ohne ſeinen
Biographen, ich meine, wenn er nicht mein Buch
vorgenommen haͤtte, in deſſen zweiten Theile er noch
den Schulmeiſter Wuz zu leſen hatte. Aber dieſes
gelehrte Opus ſetzte — getrau' ich mir ohne Eigen¬
duͤnkel zu ſchmeicheln — ſeiner Entzuͤckung die or¬
dentlichen Graͤnzen. Denn ſo — indem er leſend
ging — (wie andre, z. B. Rouſſeau und ich, leſend
diniren und bald aus dem Teller bald aus dem Bu¬
che einen Biſſen nehmen) — indem er dem Leben
des Schulmeiſters ſo lange zuſchauete, bis ein neues
Thal aufging oder ein neues Waͤldgen — indem er
bald dieſem abgedruckten Kantor bald einem leben¬
den zuhorchte, vor deſſen Pfingſtliedern er vorbei
ging: ſo konnte er ſeine Ideen bei allen ihren Ron¬
dos und Roͤſſelſpruͤngen in einer ſolchen ſchoͤnen Ball¬
ordnung und Kirchenzucht erhalten, daß er ſo gluͤck¬
lich war als der geleſene Wuz. Ich ſchrie ihm noch
dazu in Einem fort aus meinen Mumien zu, ge¬
ſcheut zu ſeyn und auf meinen Schulmeiſterlein als
einem Fluͤgelmann der Freuden-Handgriffe acht zu
geben und jeden Tag, jede Stunde auszukernen.
»Ich bin ohnehin verdammt (ſagt' er) wenn ich's
»nicht thue: iſt denn nicht, du guter Gott, ſchon
»das Gefuͤhl der Exiſtenz ein ſtehendes Vergnuͤ¬
[122] »gen, und der erſte ſuͤße Imbis nach jedem Erwa¬
»chen?» — Er dachte zwar daran, daß die Kultur
uns Brillen gebe und die Zungenwaͤrzgen nehme und
uns die Freuden durch die beſſere Definizionen der¬
ſelben verguͤte (ſo wie der Seidenwurm als Raupe
Geſchmack aber keine Augen, und als Schmetter¬
ling Augen ohne jenen hat) er geſtand ſich zwar zu,
er habe zuviel Verſtand, um ſoviel Vergnuͤgen zu
haben wie der Auenthaler Schulman und er philoſo¬
phire dazu zu tief; aber er beſtand auch darauf: »ei¬
»ne hoͤhere Weisheit muͤſſe doch (weil ſonſt der All¬
»weiſe der Allungluͤckliche ſeyn muͤßte) wieder aus
»dem ſchwuͤlen Auditoriums–Parterre den Weg in
»ein Blumenparterre finden. Hohe Menſchen tra¬
»gen wie die Berge den ſuͤßeſten Honig.» . . .
Ob er gleich ſchon im letzten Dorfe, gleichſam
der Vorſtadt von Maienthal, auslaͤuten hoͤrte: ſo
erzuͤrnte er ſich doch nicht uͤber die Verſpaͤtung des
Eintritts. Ja um ſich ſelber zu zeigen, er ſey der
Philoſoph Sokrates, ſchritt er mit Fleiß traͤger fort
und libirte nicht wie der Athener den Freudenbecher,
ſondern fuͤllte ihn gar noch nicht. »Werde immer,
»ſagt' er zu einem aus Lilien–Samenſtaub zuſam¬
»mengelaufenen Woͤlkgen, vor mir fruͤher uͤber die
»G[u]ten geweht, du Wolkenſaͤule vor dem gelobten
»Land! — Und dein kleiner Schatten ſilhouettire
»ihnen den feſtern, der traͤger nachkoͤmmt und den
[123] »das Himmelblau ſpaͤter einſaugt!» — Und eh' ihn
der herumgekruͤmte Fußſteig vor das mit Blumen
behangne Portal des Thales ſtellte, worin die ge¬
liebte Wiege und Baumſchule ſeiner ſchoͤnen dreitaͤ¬
gigen Zukunft ſtand: ſo hielt ihn noch eine zuge¬
knoͤpfte Diſtel auf, um deren hermetiſch verſiegelte
Honiggefaͤße ein weiſſer Schmetterling ſeine dritte
Parallele zog — und die muſiviſchen Diſteln auf Le
Bauts Diele traten vor ihm ins Leben und zeigten
ihm alle Stacheln der Vergangenheit und er fand
es jetzt unbegreiflich, wie er ſeine Schmerzen ertra¬
gen koͤnnen, und leichter, den Freudenhimmel zu tra¬
gen. . . .
Er zog Linds Uhr heraus, um die Geburtsminu¬
te ſeiner Honig- und Flitterzeit zu wiſſen — gerade
um 11 Uhr trat er vor das nette Dorf, vor das
Treibhaus ſeines Himmels, vor die Pflanzſtadt ſei¬
ner Hoffnung, vor Eden . . . . Ach das ſaͤuſelnde
in Lauben verwachſene Doͤrfgen ſchien alle ſeine bluͤ¬
henden Zweige als Arme um ihn zu legen und ihn
an ſich zu ſtricken; es war gruͤn und weiß und roth
— nicht angeſtrichen, ſondern uͤberlaubt und uͤber¬
bluͤht. Und als er unter dem Auslaͤuten — um ſich
die Umarmung ſeines Emanuels geitzig aufzuſparen
und um den Maienthaliſchen Kirchengeſang mit ei¬
nem von der Natur geoͤfneten Herzen zu beſchleichen
— in das lange ſaubere Doͤrfgen ſtahl und den
[124] Freundſchafts-Zoll auf eine Minute bei Emanuels
Hauſe umfuhr: ſo war ihm, als wenn ſein unſchul¬
diges menſchenliebendes Herz ſich in den ſtillen Gaſ¬
ſen mit den Voͤgeln auf den die Fenſterſcheiben ver¬
gitternden Kirſchenzweigen wiegte und mit den Bienen
in den Kirſchenbluͤten ſchwankte. »Komm nur her¬
ein, (ſchien alles zu ſagen) du guter Menſch, wir
ſind alle gluͤcklich und du ſollſt es auch werden.» —
Er trat an die blanke Kirche, deren blendende Ue¬
bertuͤnchung dem Himmelsblau durch den Kontraſt
ein erhabenes Dunkel zuwarf, und ſein pochendes
Herz zitterte gluͤcklich mit der wogenden Orgel darin
und mit der vor dem Kirchthore raſchelnden einge¬
ramten Birke und mit dem trocknen vom Morgen¬
wind gebognen Maienbaum mitten im Dorfe ...
»Aber, ſagt mein Leſer, konnte denn ſein Auge
ſo lange die ſchoͤnern Proſpekte und ſein Herz die
geliebtere Schoͤnheit entrathen und ſtatt der Abtei
nur die Kirche aufſuchen?» — O er ſah zu allererſt
nach jener und ſein bebendes Auge lief um alle Fen¬
ſter ſeines Sonnentempels; aber da er daran alle
Fenſter offen und leer, und alle Gardinen aufgezogen
antraf: ſo vermuthete er, daß die ſchoͤnen Konklavi¬
ſtinnen deſſelben und darunter die Konklaviſtin
ſeiner Bruſt da waͤren, wo er ſie ſuchte — — —
[125]
— und fand: im Tempel. Er ſtieg unter dem
Heruntertraben der Kirchgaͤnger ungehoͤrt hinauf in
die auſſen leer ſcheinende adeliche Frontloge, dieſe
Konſole und dieſe Blumengeſtelle der Stifts-Non¬
nen. Es war heute nichts drinnen als entfalne Bir¬
kenblaͤtter: denn die ſaͤmtlichen Nonnen und die Aeb¬
tiſſin und die Ex-Nonne Klotilde ſtanden — unten
in der Kirche und faßten den Altar mit einem Chor
von ſingenden Engeln ein und empfingen daran das
Abendmal. — Mit einem Freudenſchauer blickte er
die Koͤnigin ſeines Himmels an, die ſo theuer Ge¬
liebte und ſo Unverdiente, dieſen glaͤnzenden Engel,
der ſeine Huͤlle aus Erdenſchnee mit der himmliſchen
Waͤrme zu Thraͤnen zerſchmilzt, um bald unſichtbar
zu werden. — — Sein Geiſt bog ſich als ſie kniete:
»Himmelsfrieden trinke (ſagt' er) aus dem Ordens¬
»kelch des großen Menſchen, unter deſſen Gedanken
»keine Wolke und kein Seufzer war — o der Ge¬
»danke, den du jetzt mit ſo feſter Andacht anſchau¬
»eſt, muͤſſe immer leuchtender und unbeweglich wie
»eine Sonne werden und immer ein warmes Abend¬
»licht uͤber die muͤde Seele werfen!» — Dieſer En¬
gel im Trauerkleide zog jetzt in ſeinem Innern durch
eine Todtenauferweckung alle Tugenden ſeines Lebens
und alle Fehler deſſelben herauf und gab jenen einen
Himmel und dieſen ihre Hoͤlle: daher war er jetzt
zu heilig, um eine Heilige zu ſtoͤren durch ſeine Er¬
[126] ſcheinung, wenn anders ihr ruhendes nur in fromme
Ruͤhrungen eingeſenktes Auge, das nicht einmal auf
die naͤhern frommen Schoͤnheiten zur Hoͤhenmeſſung
der Taille fiel, ſich bis zu ihm haͤtte verſteigen koͤn¬
nen. Die Birke am erſten Fenſter der Empor nahm
er als belaubten Faͤcher vor: — dieſer gruͤne an ſei¬
nen Wangen ſpielende Schleier bedeckte ſeine Auf¬
merkſamkeit und ſeine Freudenthraͤnen vor der gan¬
zen Kirche. Der Ort wo er ſo gluͤcklich war, ſchien,
nach einer Glas–Inſkripzion zu urtheilen, ſonſt der
gewoͤhnliche Stand Klotildens geweſen zu ſeyn: denn
Giulia's ihrer war darneben, wie ich gewiß weiß,
weil auf dem Logenfenſter ein von einem Kranz um¬
faßtes G und K eingeſchnitten war mit den Worten
von Giuilia: »So vereinen uns die Blumen des
Lebens und der Zirkel der Ewigkeit». . . .
Viktor ſchlich ungeſehen und fruͤh und ſeelig ſich
aus dieſer Bilderblinde weggeſtellter Goͤttinnen fort
und trug das von der Liebe gefuͤllte Herz an die ofne
erhabne Bruſt der Freundſchaft — an Emanuel. Er
ſah ſchon deſſen Stiftshuͤtte im Tempel der Natur
— als ſeine Entzuͤckung aufgeſchoben wurde durch
eine fruͤhere. Julius lag im bluͤhenden Graſe, von
deſſen Wellen beſpuͤhlt, und hielt einen Kirſchen¬
zweig voll ofner Honigkelche in der Hand, um die
Bienen an ſich zu ziehen und ſich an ihrem ſummen¬
[127] den Schweben uͤber den Bluͤten zu beluſtigen. Vik¬
tor umſchlang ihn und vergaß in der Entzuͤckung
ſeinen Namen zu nennen — »biſt du mein Engel?»
ſagte er — »Ich bin nur dein Viktor!» — O komm,
o komm!» ſagte der entzuͤckte Blinde wie ein Wohl¬
laut bebend und zog den Freund zu Emanuels Haus;
aber er fuͤhrte ihn, hinter der Wolke ſeiner Augen,
den laͤngern Weg und drehte ſich noch dazu bei je¬
dem vierten Schritte um, zu einer erneuerten Um¬
ſchlingung.
Als ſie an's Waſſerrad kamen, das ſeine Gie߬
kannen laut auf die Blumenſaaten ausſchuͤttete und
deſſen zerſplitterte Blitze an den Fenſtern und an der
Stubendecke Emanuels flatterten: ſo ſagte der Blin¬
de: umfaſſe mich noch einmal recht ſehr.» — Aber
unter dem Getoͤſe der Regenguͤße und unter der Be¬
taͤubung der Liebe wurden ſie von andern Armen als
den ihrigen zuſammengedruͤckt und die zwei jungen
ſtummen Herzen wurden an ein großes Drittes an¬
gereiht und der erhabne Indier ſchauete wie ein
Gott der Liebe zwiſchen ſie und ſagte: »o ihr gu¬
»ten Juͤnglinge, bleibet immer ſo und weinet fort
»in euerer ſeeligen Liebe! — Sei geſegnet, mein
»Horion, ſey willkommen im großen Fruͤhling um
»uns her!» — und als Emanuel und Vikto an
[128] einander ſanken, ſo war es als ob alle Blumenbeete
ſich vor Wonne niederboͤgen, als ob alle Wellen
weiſſer flammten unter daruͤber fliegenden uͤberirdi¬
ſchen Blitzen, als ob die Zephyre von Seufzern der
Liebe anſchwoͤllen, als ob hoͤhere Weſen im freudi¬
gen Uebermaße fluͤſtern muͤßten: ach, ihr guten Men¬
ſchen, liebet ja ganz wie wir! —
Ein Arm aus einem Paradieſesfluße trug dieſe
liebende Dreieinigkeit hebend in die uͤbergruͤnten
Zimmer und hier ſah erſt Viktor, daß der Fruͤh¬
ling auf Dahores Wangen war und der Sommer
in ſeinen Augen, ſo wie zwoͤlf Wonnemonate in ſei¬
nem Herzen. Die weiſſen Trauerroſen auf ſeinen
Wangen, die immer als Mauerkronen des
Todes dem Johannistage entgegenzubluͤhen ſchie¬
nen, waren den rothen gewichen — kurz Ema¬
nuels Geſtalt gab die Hoffnung, daß er uͤber
ſeinen Tod ein falſcher Prophet geweſen ſey. — —
In dieſem wehenden Zimmer, deſſen goldne Wand¬
leiſten Lindenaͤſte und deſſen Hauteliſſen Lindenblaͤtter
und uͤber deſſen Thuͤr als dessus de porte der Wie¬
derſchein und die Nebenſonnen des ſchimmernden Waſſer¬
rades zitterten, in dieſem vom Wonnemeer der Natur
umbrauſeten Eiland von Zimmer, durch deſſen ofne
Fenſter die Zephyre Schmetterlinge und Bienen uͤber
die[129] die Fenſterblumen in die Linden warfen, gingen mei¬
nem Helden, dem noch dazu das Mittagsgelaͤute wie
ein Gelaͤute zu einem Friedensfeſte der Erde vorkam,
die Blumen der Freude, worin er watete, bis an
das Herz — Emanuels Poeſie klang ihm in dieſer
epiſchen Berauſchung wie Proſe; er war eingeſunken
in ein Blumengebuͤſch und erblickte oben daruͤber ei¬
nen geneſenen Unſterblichen, der die Bluͤten Ueber¬
huͤllung auseinander bog — und noch hoͤher eine
ewige Pfingſtſonne im endloſen Blau — und naͤher
das Sprießen des Blumenlaubes und das Bienen¬
gewimmel daruͤber — und eine goldne Morgenroͤthe
als Einfaſſungsgewaͤchs rund um die ganze bunte
rauchende Waldung geſchlungen. . . . .
— Beim Himmel! nur in einer [unfiguͤrlichen]
ſolchen Blumen-Holzung zu liegen, waͤre ſchon et¬
was — geſchweige gar in einer metaphoriſchen!
— Viktor war fromm aus Freude, aus Ueberfuͤllung
ſtill, aus Dankbarkeit genuͤgſam. Der Anblick des
gemeinſchaftlichen Lehrers gab zwar Klotildens Bilde
waͤrmere Farben und ſeiner Seele hoͤhere Flammen,
aber ſeinen Wuͤnſchen keine Unerſaͤttlichkeit und keine
Ungeduld.
Emanuel kam ſogleich auf dieſe geliebte Schuͤle¬
rin: nicht, gar nicht als ob Klotilde ihm den drit¬
ten Oſterfeiertag klar erzaͤhlt haͤtte oder als ob
Heſperus. III. Th. I[130] Emanuel ihn errathen haͤtte, ſondern dieſer unſchul¬
dige-erhabne Menſch wußte nur den Unterſchied zwi¬
ſchen Liebe und Freundſchaft nicht und er haͤtte ſo
gut von ſich als von Viktor geſagt, er liebe ſie.
Und eben dieſe kindliche Unbefangenheit, die einer
ofnen weiblichen Herzenskammer keine Durchgangs¬
gerechtigkeit, keine Breſchen ablauerte, ſondern die
eignen entbloͤßte, und die keine Geſtaͤndniſſe erangel¬
te, keine verargte, keine benutzte, dieſe mußte mit
dem gordiſchen Nervenknoten der Sympathie die
ſcheueſte weibliche Seele an eine ſo ofne maͤnnliche
binden. Ja, ich glaube, Klotilde haͤtte ihre Liebe
leichter ihrem Lehrer als ihrem Geliebten bekannt.
— Da ihm dieſer Emanuel nun erzaͤhlte, wie er ihr
alle Szenen ſeines vorigen Hierſeyns vorgemalet
habe — und alle ſeine Entzuͤckungen — und ſein Ge¬
ſtaͤndniß der Freundſchaft fuͤr ſie — wie er ihr ſeine
Briefe vorgeleſen und wie der zweite (jener troſtloſe
in der Nacht des Stamiziſchen Konzerts) ſo viele
Thraͤnen in ihre Augen getrieben — und da Viktor
ſah, wie ſehr ſein Freund ihre Liebe wie einen zu¬
gehenden Tulpenkelch auseinander gehaucht habe:
ſo fachte dieſes ſeine Liebe fuͤr ſie, ſeine Freundſchaft
fuͤr ihn bis zur Andacht an und er kuͤßte ſeelig ver¬
legen den Blinden. Aus dieſer verdoppelten Liebe
erklaͤrt' ſich jetzt Klotildens leichte Einwilligung in
ſeine Pfingſtreiſe.
[131]
Er haͤtt' es jetzt fuͤr einen Engels- und Petrus-
Abfall von der Freundſchaft gehalten, bei Emanuel
nicht geradezu anzufragen, wenn er dieſe Geliebte —
der Tugend ſehen duͤrfe. »Jetzt!« ſagte dieſer, der
ungeachtet ſeiner indiſchen achtenden Milde gegen
die Weiber die Naſenringe, Bindeſchluͤſſel und Daͤm¬
pfer unſerer Harams-Dezenz nicht kannte. Aber
Viktor handelte anders und dachte doch eben ſo.
Er hatte ſchon im Auslande gefragt: »Warum laͤßt
»man die elende Reichspolizeiordnung fuͤr Maͤdgen
»ſtehen, daß ſie z. B. nicht einzeln, ſondern immer
»wie Nuͤrnberger Juden unter der Eſkorte einer Al¬
»ten oder wie die Moͤnche Paarweiſe auswandeln
»muͤſſen? Nicht etwan als ob mich das genirte,
»wenn ich einen Roman ſpielte, ſondern nur wenn
»ich einen ſchriebe, wo ich mich an das weibliche
»Marſchreglement auf Koſten des kunſtrichterlichen
»halten und ein Geleite von Auxiliar-Weibern Weibern
»durchs ganze Buch mit mir zum Verhak meiner
»Heldin herumſchleppen wuͤrde. Muͤßt' ich nicht,
»wenn ich ſie nur uͤber die Hausthuͤre hinaus haben
»wollte, mit einer Kronwache von Siegelbewahrerin¬
»nen neben ihr herziehen? Waͤr' ich nicht durch dieſe
»verdammte Mitbelehnſchaft und Kompagniehandlung
»mit der Tugend — es fehlte an einer Proprehand¬
»lung — genoͤthigt, meiner Heldin wider alle Wahr¬
»ſcheinlichkeit Freundinnen aufzuheften? Ich wuͤrd¬
J 2[132] »es zwar einem ſpaniſchen Maͤdgen verdenken, wenn
»ſie mir ihren Fuß, und einem tuͤrkiſchen, wenn ſie
»ihr Geſicht vorwieſe und einem Deutſchen, wenn
»es allein zum beßten Juͤngling ginge; aber eben
»weil die tollſten blauen Geſetzte, die doch blauer
»Dunſt an blauen Montagen werden, zum wahren
»Sittengeſetze fuͤr ſie werden; ſo aͤrger' ich mich
»uͤber die jaͤmmerliche Kleinherzigkeit und wuͤnſche
»nichts verboten zu ſehen als das — Walzen und
»Fallen.«. . . Er hat hier vielleicht Satire in pet¬
to: denn ernſthaft davon zu ſprechen, hat dieſe
Heils-Ordnung, daß ſich Maͤdgen bei uns allemal
wie Memoriale, in Duplikaten einreichen muͤſſen,
offenbar die Abſicht, ſie alle an einander zu gewoͤh¬
nen weil ſie ihre Freundſchaft haben muͤſſen
zu Viſiten — zweitens ſollen Geſchwiſter einander
aus den Haaren kommen weil ſie nicht wiſſen wenn
ſie einander beduͤrfen zu Ruͤckbuͤrgen ihrer Tu¬
gend und zu Liebes-Sekundawechſeln — drittens ge¬
ben dieſe Menſchenſatzungen der weiblichen Tugend
durch den kleinen Sitten-Dienſt (weil große
Verſuchungen zu ſelten ſind) taͤgliches Religionsexer¬
zizium und hoͤhere Wichtigkeit und verhalten ſich wie
die Talmudiſchen Artikel zur Bibel, wiewohl ein
rechter Jude lieber gegen die Bibel als den Talmud
verſtoͤßt — viertens verdanken wir dieſen ſymboli¬
ſchen Buͤchern des Wohlſtandes die fruͤhere Bildung
[133] des weiblichen Scharfſinns, dem wir leider keine an¬
dern Gelegenheiten der Aufmerkſamkeit verſchaffen
als die der Schwur auf jene Buͤcher giebt. . . .
Aber zuruͤck oder weiter! Viktor tadelte und be¬
folgte zugleich, wie ein gutes Maͤdgen, die weibli¬
chen Ordensregeln: der Hof hatte ihn beherzter, aber
auch feiner gemacht und unter den Weibern wurd'
er wie jeder mit dem Linienblatt des Zeremoniels
verſoͤhnt. Daher wollt' er erſt am zweiten Pfingſt¬
tage eine ordentliche Ambaſſaden–Audiens bei der
Aebtiſſin abthun, da heute alles zu ſpaͤt war und er
uͤberdies in die ſchoͤnen frommen Bewegungen druͤ¬
ben nicht wie ein Haarſtern fahren wollte. Und
ſeine Zufriedenheit ſagte ihm ja auch, wie wenig die
Nachbarſchaft eines geliebten Herzens verſchieden
iſt von der Gegenwart deſſelben, die ohnehin
nichts iſt als eine naͤhere Nachbarſchaft.
Inzwiſchen uͤberwand er ſich doch ſo weit, daß
er mit ſeinen Zwillingsbruͤdern des Herzens — hin¬
ausging in's Koloſſeum der Natur, ob er gleich ſich
nicht verbarg, drauſſen werd' er den Schrecken ha¬
ben, Klotilden zu begegnen. Und Emanuel verrin¬
gerte dieſe Sorge ſchlecht, da er ihm geſtand, ſie
waͤre bisher alle Tage mit ihrem verwundeten Leben
um die Teiche wie um baquets und durch die Flur
wie durch Feldapotheken gegangen — Eilet end¬
lich hinaus, ihr drei guten Menſchen, in's Jubi¬
[134] leum des Fruͤhlings, das die Erde jaͤhrlich zum An¬
denken der Schoͤpfung begeht — Eilet, eh' die Mi¬
nuten auf eurem Leben wie die breiten Wellen auf
den zwei Baͤchen, jetzt noch fliehend, und ſchillernd,
und toͤnend, zerſpringen und ausloͤſchen an einer
Trauerweide — eilet eh' die Blumen eurer Tage
und die Blumen der Wieſe von dem Abende uͤberzo¬
gen werden, wo ſie ſtatt der Lebens- und Feuerluft
nur giftige verhauchen — und genießet den erſten
Pfingſttag eh' er verrinnt!
— Und er iſt verronnen, und ein Sommer liegt
heute ſchon wie ein Grab auf ihm; aber die drei
guten Menſchen haben geeilt und ihn genoſſen eh'
er ſich entfaͤrbte. . . . Sie wandelten unter die aus
allen Geſtraͤuchen fliegende Zephyre hinein, die die
Saͤemaſchinen der Blumen ſind — ſie traten vor die
fuͤnf Taſchenſpiegel der Sonne, vor die Teiche, da
die Fluͤſſe Pfeilerſpiegel ſind und die bunten Ufer
die Spiegeltiſche — ſie ſahen wie die Natur gleich
Chriſtus ihre Wunder verbirgt, aber ſie ſahen auch
die Brautfackel des vermaͤhlenden Maies, die Sonne,
und eine Hochzeitkammer in jedem ſingenden Gipfel
und ein Brautbett in jedem Blumenkelch — ſie, die
Hochtzeitgaͤſte der Erde ſchlugen die Biene nicht
weg, die um ſie honigtrunken taumelte, und trieben
die aͤzende Mutter nicht auf, vor der der junge Vo¬
gel mit zitternden Fluͤgeln zerfloß — und als ſie auf
[135] alle Erden-Stufen des ewigen Tempels, deſſen Saͤu¬
len Milchſtraßen ſind, geſtiegen waren: ſo ſank die
Sonne, wie die Gedanken des Menſchen, einer an¬
dern Welt entgegen. ...
Die Fontaine im Garten des Endes*), die
mitten auf dem Abhange des ſuͤdlichen Berges ſich
empor richtet und hoch uͤber den Berg wegſchimmert,
trug ſchon auf ihrer kryſtallnen duͤnnen Saͤule einen
von der Abendſonne zu einem Rubin umgegoſſenen
Schaft und dieſe glimmende aufgeblaͤtterte Roſe zog
ſich wie andere entſchlafende Blumen ſchon zu einer
rothen Spitze ein — und die haͤngenden Marſchſaͤu¬
len der Muͤcken im letzten Strale ſchienen zu ſagen:
morgen wird es wieder ſchoͤn, geht zuruͤck, ach ihr
ſpielt doch laͤnger in der Sonne als wir. —
Sie gingen zuruͤck; aber als Viktor im Abend
die fuͤnf hohen weiſſen Saͤulen am weſtlichen Ende
des geliebten Gartens blinken ſah: wurde ſein erhoͤh¬
tes Herz ſehnſuͤchtig und beklommen und er wehrte
ihm nicht zu ſeufzen: »gute Klotilde! ach ich moͤchte
»wohl dich heute noch ſehen, ach mein Herz iſt voll
»Freudenthraͤnen uͤber dieſen heiligen Tag und ich
[136] »moͤchte es wohl ausſchuͤtten vor dir.« — Und als
der ganze Park der Abtei ſich ſtolz neben den Abend¬
himmel ſtellte und in ihre Herzen trat: ſagte auf
einmal Emanuel — der ſich immer gleich blieb, ſo¬
gar in ſeinen Entzuͤckungen: — »ich will es der
Aebtiſſin ſchon heute ſagen, damit unſere Klotilde
ſich auf morgen freut« und er trennte ſich. . . . .
Schoͤner Menſch! der du in vier Wochen aus dieſem
Blumenfruͤhling zu gehen hofft in die Sterne uͤber
dir — du denkſt mehr die Unſterblichkeit als den
Tod, dich hat keine drohende Rechtglaͤubigkeit ſon¬
dern die indiſche Blumen-Lehre erzogen, darum biſt
du ſo ſeelig — du biſt ohne Zorn wie jeder Ster¬
bende und ohne Gier und ohne Angſt — in deiner
Seele, wie am Pole wenn jeden Morgen die ſchwuͤle
[Sonne] ausbleibt, geht der Mond der zweiten
Welt, den ganzen Tag, die ganze Nacht nicht
unter! —
Viktor fuͤhrte jetzt allein den Blinden nach Haus
und beide ſchwiegen und umarmten ſich mit Bruder-
Thraͤnen hinter jeder Verhuͤllung und fragten einan¬
der weder [um] die Urſachen der Umarmung noch der
Thraͤnen. — Da ſie durchs ſtille Dorf waren und
dem Park der Abtei vorbei kamen: ſah Viktor ſeinen
Geliebten aus der letzten Laube in das blendende
Kloſter treten. Es war ihm als kennte ihn ſchon
jede darin, als muͤßt' er ſich verſtecken. Der Gar¬
[137] ten der Begeiſterung ſollte in dem Thale nur das
Blumenbeet in einer Wieſe ſeyn und nicht durch
grelle Schranken an der Natur zuruͤckprallen, ſon¬
dern ſanft wie ein Traum in's Wachen durch bluͤ¬
hende, belaubte Graͤnzen in ſie uͤberhaͤngen und uͤber¬
fließen durch Hopfengaͤrten, durch gruͤne dicht zuſam¬
mengeruͤckte Zaͤune um Fruchtfelder und durch ver¬
ſaͤete Kindergaͤrtgen. Eine weite Kaſtanien-Kolonna¬
de, von zwei Baͤchen in Silber gefaſſet, ſchloß ſich
frei und weit gegen die fuͤnf von Bluͤten durchbroch
nen Teiche auf. Der noͤrdliche Berg richtete ſich
dem Parke gegenuͤber wie eine Teraſſe empor und
fuͤhrte das Eden ſcheinbar uͤber ungeſehene Thaͤler
fort.
Viktor wich jedem aufgehenden Fenſter des Klo¬
ſters durch die Kaſtanien aus, unter die er ſeinen
Blinden fuͤhrte und hinter denen er naͤher und doch
unbeobachtet beobachten konnte. Auf dem aus gruͤ¬
nenden Dachlatten verwachſenen Wetterdach der Allee
lag der Abend wie ein Herbſt, mit rothem durchfal¬
lenden Schimmer. Er ging trotz der Gefahr der Er¬
tappung bis in die Mitte, wo die Allee in [zwei]
Arme zerſpringt; aber hier nahm er den rechten
Arm der belaubten Halle, der ſich mit ihm vom
Kloſter wegbog ſo wie von einer Nachtigal, die mit¬
ten im Garten aus einer geheiligten Dornhecke ihre
Jungen und ihre Toͤne ausſandte. Die Allee that
[138] ihm durch ihre ſanften Entfernungen von den [...]ra¬
vourarien der gefiederten Prima Donna die Dienſte
eines Daͤmpfers und Lautenzugs — leiſe wurd' er
von den Kruͤmmungen, die die allmaͤhlige Verdunke¬
lung und Verengerung der Allee verbargen, fortgezo¬
gen zwiſchen den nachfliegenden Toͤnen der Nachti¬
gal, zwiſchen den duͤnner durch die Blaͤtter tropfen¬
den Abendſtralen, zwiſchen den zwei Baͤchen, die jetzt
innerhalb des Kaſtanien-Korridors dahin ſchluͤpf¬
ten — Die Baͤche gingen enger an einander und lie¬
ßen nur fuͤr die Liebe Raum — Der Portikus ſenkte
ſich tiefer herein — Die zerſtreuten Blumen der
zwei Ufer draͤngten ſich zuſammen und gingen in Ge¬
ſtraͤuche uͤber — Die Geſtraͤuche verwuchſen zur Gar¬
tenwand und beruͤhrten ſich anfangs in loſe und
durchſichtig zuhaͤngenden Gipfeln und endlich in fin¬
ſter zuſammengeſtrickten — Und die Allee und der
unter ihr aufgewachſene Laubengang gruͤnten in ein¬
ander hinein, um mit ihren zuſammenfallenden Bluͤ¬
ten-Huͤllen nur eine einzige Nacht zu machen —
Dann verſperrte in der gruͤnen Daͤmmerung ein Je¬
laͤngerjelieber–Geſpinſt und Bluͤten–Geniſte die Laube,
aber fuͤnf aufſteigende Stufen lockten zum Zerreiſſen
des bluͤhenden Vorhangs an — Und wenn man ihn
zertheilte: ſank man in ein Bluͤten-Gekluͤft in eine
enge durchwachſene Gruft, gleichſam in einen vergroͤ¬
ßerten Blumenkelch — In dieſer delphiſchen Hoͤle
[139] der Traͤume war der Polſter aus hohem Graſe ge¬
macht und die Arme des Sitzes aus Bluͤtenzweigen
und die Ruͤcken-Lehne aus gedraͤngten Blumen und
die Luft aus dem Hauche von ſtaͤubendem Zwergobſt
— Dieſes Blumen-Allerheiligſte wurde nur von Bie¬
nen und Traͤumen bewohnt, nur von weiſſen Bluͤten
erhellt, es hatte ſtatt des Abendroths nur den Pur¬
pur der Nachtviole, ſtatt des Himmelblaues nur den
Azur der Hollunderbluͤte, und der Seelige darin
wurde nur von Bienenfluͤgeln und von den um ihn
verſammelten fuͤnf Muͤndungen der Baͤche in den
Schlummer eingeſungen, in welchem die ferne Nach¬
tigal die Harmonika- und Abendglocken des
Traumes anſchlug. . . .
— Und da heute Viktor die fuͤnf Stufen betrat
und die aus Bluͤten gewobene Tapetenthuͤr des Him¬
mels auseinander that: ſiehe! da — o du Seeliger
diſſeits des Todes! — ruhte darin eine Heilige mit
weinenden Augen, in Philomelens verklungne Klagen
untergeſunken . . . Du, Klotilde warſt es, und dach¬
teſt an Ihn mit weicherer Seele, und mit groͤßerer
Liebe — und er an dich jetzt mit der erwiederten!
— Ach wenn zwei liebende Menſchen einander in
der naͤmlichen Ruͤhrung begegnen: dann erſt ach¬
ten ſie das menſchliche Herz und ſeine Liebe und
ſein Gluͤck! — Decke, Klotide, mit keiner Bluͤte die
Thraͤnen zu, unter denen deine Wangen erroͤthen,
[140] weil jene nur vor der Einſamkeit niederfallen ſoll
ten! Zittere, aber nur vor Freude, wie die Sonn
zittert, wenn ſie aus einer Wolke am Horizont her¬
ausruͤckt! — Schlage dein von Blumen verhangnes
Auge noch nicht nieder, das zum erſtenmal ſo ruhig
geoͤfnet und mit einem ſolchen Strom der Liebe an
den Menſchen ſinkt der dein ſchoͤnes Herz verdient
und der alle deine Tugenden mit ſeinen belohnt! . .
..Viktor wurde vom Blitze der Freude getroffen und
mußte im ſuͤßen Laͤcheln der Entzuͤckung erſtarren,
da die Himmliſche hinter dem Blumengewoͤlk wie ein
Mond hinter einem in voller Bluͤte ſtehenden Eden
aufging und in der weiblichen Verklaͤrung der Liebe
einen in ein Gebet zerfloßnen Engel glich.
Der Blinde wußte noch nichts vom dritten Be¬
gluͤckten. — Sie bewegte ſuͤß-verwirrt die Hand
nach einem zu duͤnnen Zweige, um ſich von der tie¬
fen Grasbank aufzuheben; dem Geliebten war als
reichte ihm aus den Wolken des zweiten Lebens dieſe
Hand ein zweites Herz und er zog ſie zu ſich an und
ſank mit ſeinem ſtummen uͤberfließenden Angeſicht
durch die Bluͤten auf ihre ſchoͤnen klopfenden Adern
nieder. — Aber kaum hatte Klotilde beide ſtam¬
melnd willkommen geheiſſen unter dem Heraustreten
aus dem gruͤnen Kloſet: ſo erſchien ihnen der Engel
— Emanuel, der aus dem Kloſter geeilet war, um
[141] die Freundin aufzuſuchen. . . . Er ſagte nichts, aber
er ſah beide mit einer namenloſen Wonne an, um
zu finden, ob ſie ſich recht freueten und gleichſam
um zu fragen: »ſeid ihr denn jetzt nicht recht gluͤck¬
lich, ihr Guten, liebt ihr euch denn nicht unaus¬
ſprechlich?« — — O, zum Mitleiden gehoͤrt nur
ein Menſch, aber zur Mitfreude ein Engel; es giebt
nichts ſchoͤneres als den glaͤnzenden Chriſtuskopf, auf
dem das Weglegen der erhabnen Moſisdecke den ſtil¬
len frohen Antheil an fremden unbeſcholltenen Freu¬
den, an fremder reiner Liebe zeigt; und es iſt eben ſo
goͤttlich (oder noch goͤttlicher) einer fremden Liebe
mit einem ſtumm-gluͤckwuͤnſchenden Herzen zuzu¬
ſchauen als ſie ſelber zu haben. ... Emanuel, dein
groͤßeres Lob wird in verwandten Seelen aufbehal¬
ten, aber auf keinem Papier! —
Auf dem Kreuzwege der Allee theilte ſich der
ſchoͤne Bund auseinander und der linke Zweig der¬
ſelben fuͤhrte Klotilde neben der Nachtigal vorbei
in die Wohnung der ſanften Herzen zuruͤck. Viktor
kam, von der vergroͤßerten Liebe fuͤr drei Menſchen
zugleich aufgeloͤſet, in den dunkeln nur von unterge¬
henden Sternen erleuchteten Zimmern Emanuels an
und fand da einen gedeckten Tiſch, den die feine
Aebtiſſin dem Gaſte oder dem Wirthe geſendet hatte,
(weil Emanuel Abends nur Obſt genoß.) Man will
[142] alles mit der Geliebten theilen, ſogar die Kuͤche.
Emanuel zuͤndete nach Oſtern kein animaliſches Licht
mehr an. Im Helldunkel, aus Mondes-Silber und
Lindengruͤn zuſammengegoſſen, bluͤhte das ſeelige Klee¬
blatt unter dem Abendſtern. Viktor machte heute
durch ſeine mediziniſche Schilderungen der Nachtkaͤlte
den ſiechen Freund abtruͤnnig von den Nachtwand¬
lungen und ging nur allein mit dem Blinden noch
hinaus an die Schlafſtaͤtte der verſtummten Natur.
. . . . Seelig iſt der Abend, der der Vorhof eines
ſeeligen Morgens iſt — Der Maifroſt hatte die
Sterne vom warmen Dunſthauch gereinigt und das
Blau des Halb-Himmels vertieft, um eine ſchoͤne
Nacht zum Buͤrgen eines ſchoͤnen Tages zu machen
— Alles ſchwieg ums Doͤrfgen, ausgenommen die
Nachtigal im Garten und die rauſchenden Maikaͤfer,
dieſe Herolde eines hellen Tages — Und als Viktor
nach Hauſe ging mit einem empor geſeufzeten Dank
fuͤr dieſe Pfingſtſtunden, von denen jede der andern
die Zuckerſtreubuͤchſe gab, um die engen Minuten ei¬
nes ſtillen Menſchen zu verſuͤßen; als er vorbeiging
vor den gedaͤmpften Beichtliedern, die hier ein zwoͤlf¬
jaͤhriger Menſch, der morgen zum Abendmal ging,
dort einer neben ſeiner Mutter ſang; und als end¬
lich ein verhauchtes Abendlied aus der Abtei, das
gleichſam auf einem einzigen Lautenton fortſchwamm,
den ſchoͤnen Tag mit einer Kadence zu Ende fuͤhrte
[143] und da vom ſanften Tage nichts mehr uͤbrig war
als ſein Nachhall im Herzen der Gluͤcklichen und im
Abendliede des Kloſters, als ſein Wiederſchein in der
ziehenden Abendroͤthe am Himmel und in dem befrie¬
digten noch laͤchelnden Angeſicht des ſchlafenden Ema¬
nuels: ſo ſahen in Viktor die ſtummen Freuden wie
Gebete aus, die ungeſtoͤrten Thraͤnen wie uͤberlau¬
fende Tropfen aus dem Freudenkelch, ſeine Stille
wie eine gute That und ſein ganzes Herz wie die
warme Freudenzaͤhre eines hoͤhern Genius. . . .
Viktor fuͤhrte den blinden Geliebten leiſe an ſeine
Lagerſtelle, wo der Traum ſeine zerritteten Augen
operirte und ihnen die kleinen Landſchaften ſeiner
Kindheit mit Morgenfarben heller um ſie ſtellte —
Und Viktor legte ſich unentkleidet, dem tief herabge¬
ruͤckten Monde gegenuͤber, auf die Bauſtelle unſerer
ſchoͤnern Luftſchloͤſſer, auf den Reſonanzboden der
Kindheit, wo der Morgentraum den geheiligten Men¬
ſchen aus der Wuͤſte des Tages auf den Berg Mo¬
ſis fuͤhrt und ihn ſchauen laͤßt in das dunkle gelobte
Land der Ewigkeit. . . .
Der erſte Pfingſttag, lieber Leſer, hat in dieſem
Wonne-Dreiklang verhallt; aber in dieſen drei
hohen Feſten von Freude wird wie bei denen
im Kalender das zweite noch ſchoͤner, und das dritte
[144] am ſchoͤnſten. Ich werde mit dem Steigen meiner
Feder durch dieſe drei Himmel gar nicht eilen —
ja wenn ich gewiß wiſſen koͤnnte, daß die Akteurs
und Figuranten in dieſer Geſchichte mein Werk nie¬
mals zu ſehen bekaͤmen, ich wuͤrde (zur Graͤnzen¬
verruͤckung dieſes Edens) gar manches dazu machen,
was nicht hiſtoriſch wahr waͤre. —
2. Pfingſt¬[145]
2. Pfingſttag. — 34. Hundspoſttag.
Der Morgen — Die Aebtiſſin — Der Waſſerſpiegel — ſtummer
Injurienprozeß — Der Regen und der ofne Himmel.
Um zwei Uhr zog der Morgenwind lauter und kuͤh¬
ler durch Viktors ofnes Zimmer und ruͤttelte ſchon
Thautropfen von geglaͤttetem Laub — das nahe
Blaͤtter-Gefluͤſter wirbelte ſich durch ſeine Ohren in
ſeine Traͤume — Die Lerche fuhr als Ouvertuͤre des
Tages hoch in's Himmels-Grau hinauf und laͤutete
das Trommetenfeſt des Morgens ein — Dieſer Wek¬
ker wurde durch ein Traͤumen zum herumfliegenden
Nachhall, das ſich mit dem Morgen vermiſchte und
unter dem ſanften Einfallen des nachbarlichen Getoͤ¬
nes ſchloß er langſam die Augen auf und traͤumte
weiter, und that ſie wieder zu und erwachte mehr
und der Schlaf fuhr nicht wie ein dickes Leichentuch
aus Nacht hinweg, ſondern wallete wie ein Schleier
aus Morgenduft empor und ſeine Seele ſchloß ſich,
ohne eine einzige Bewegung mit dem Koͤrper zu ma¬
chen, mit dem ſtillen Erwachen eines Blumenkelchs
vor dem Morgen auseinander. . . .
— Jetzt bin ich ſchon wieder im Sieden und
Flammen — und doch nehm' ich mir, ſo oft ich ein¬
Heſperus. III Th. K[146] tunke vor, die Kunſtrichter zu gewinnen und mit
meiner Feder zu ſchreiben wie mit einem Eiszapfen.
Aber es iſt mir unmoͤglich — erſtlich weil ich in die
Jahre komme. Bei den meiſten Menſchen hoͤrt zwar
wie bei den Voͤgeln das Singen mit der Liebe auf;
aber bei denen, die ihren Kopf zu einem Treibhaus
ihrer Ideen machen, geben die Jahre d. h. die Exer¬
zirtage darin der Phantaſie wie den Leidenſchaf¬
ten einen hoͤhern Wuchs. Dichter gleichen dem
Glaſe, das im Alter bei dem Zerfallen bunte Farben
annimmt. — Aber zweitens, wenn ich auch erſt in
meinem zwanzigſten Jahre bluͤhete: ſo koͤnnt' ich doch
jetzt nicht froſtig ſchreiben, maßen der Winter vor
der Thuͤr' iſt. Rouſſeau ſagt, im Stockhauſe braͤchte
er das beſte Gedicht auf die Freiheit heraus — da¬
her die ſtaatsgefangnen Franzoſen ſonſt beſſere Proſa
daruͤber edirten als die freiern Britten — daher dich¬
tete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer
meine Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieſes
Silhouettenbrett anpreſſen und dann abreiſſen; aber
die Phantaſie kann nur Vergangenheit und Zukunft
unter ihr Kopierpapier legen und jede Gegenwart
ſchraͤnkt ihre Schoͤpfung ein — ſo wie das von Ro¬
ſen deſtillirte Waſſer nach den alten Naturforſchern
gerade zur Zeit der Roſenbluͤte ſeine Kraft einbuͤßet.
Daher mußt' ich allemal warten bis ich untreu wur¬
de, eh' ich mit meinem Reißzeug an die Liebe
[147] gehen konnte. ... Aber ein Menſch, der jetzt auf
einer molukiſchen Inſel gegen den Nachſommer hin
den Fruͤhling grundirt und auszeichnet, muß ihr aus
mehr als dem Grunde, weil der fliegende Sommer
der ſehnen-erregende Nachklang und die Silberhoch¬
zeit des Fruͤhlings iſt, mit viel zu hellen Saftfarben
den Gallerieinſpektoren einhaͤndigen. — —
Die bunt ausgenaͤhete Beſchreibung von Viktors
Aufenthalt in Maienthal kann ſo lang werden wie
die von Voltairens ſeinem in Paris, mit deren Ho¬
norar der magere Spaßvogel den Miethzinß ſeiner
chambres garnies haͤtte beſtreiten koͤnnen. Denn
eben hat der Hund gar einen vierten Pfingſttag ab¬
geliefert und die trinomiſche Wurzel der Freudenpo¬
tenz zu einer quadrinomiſchen ausgebreitet. Da in
dieſer Freuden-Quadruplick wiederum kein Jammer
ſteht, kein Mord, keine Landplage, ſondern nichts
als Gutes: ſo fang' ich freudig die uͤbrigen Bilder
dieſes Fruͤhlings an meiner dunkeln Kammer auf und
ſchwebe nicht in der Angſt, daß ich meinen Helden
(Knef hat mir alle Pfingſttage uͤbermacht und ſendet
nur ein kleines Supplement gar nach) wie etwan
meinen Guſtav, aus dem zuſammen geſtuͤrzten
Schutt ſeines Luſt- und Sommerhauſes zu ziehen
habe. — —
Emanuel that Vormittags ſein Schreibpenſum in
ſeinen aſtronomiſchen Tabellen ab, um den ganzen
K 2[148] Nachmittag mit ſeinem Gaſte bei der Aebtiſſin zu
verbringen; auch trug er ihm eine kleine Kollabora¬
torſtelle bei ſeinen Blumen an, naͤmlich die Rosma¬
rinbluͤten auszupfluͤcken und uͤber das Nelkenpoſta¬
ment den Sonnenſchirm zu ſpannen. Bei Emanuel
hingen auch in der proſaiſchen Ruhe des Tages, im¬
mer die Fluͤgel noch weit unter den Halbfluͤgeldecken
hervor. Viktor hielt die Bitten ſeines Lehrers fuͤr
Geſchenke. Da er drauſſen am Rosmarin abblatte¬
te: ſo oͤfnete die aufgehende Sonne das Ventile des
Windes und dann fingen, von ihm angeweht, alle
Regiſter der großen Weſen-Orgel zu gehen an und
vor ſeinem Ohre wogte der Tremulant der Baͤche,
ſchrie das Floͤtenwerk der Voͤgel und braußte das
32fuͤßige Pedalregiſter der Waldungen. Ein einge¬
pfarrter kleiner Kopf um den andern, der ſeine zwoͤlf
Jahre ſamt eben ſoviel Herkules Arbeiten des Ge¬
daͤchtnißes zum h. Abendmal trug, ſchlich hinter dem
Vater mit einem Kranz-Knauf und uͤberhaupt mit
Goldflittern geſtickt und aufgeſteift vor ihm voruͤber.
Welchen ſchoͤnen zweiten Pfingſttag, der ſonſt voll
Regenwolken iſt, habt ihr Kleinen jetzt! — Viktor
goͤnnte recht gern der Grandetza des Dorfes, d. h.
den Vollſpaͤnnern und dem Schulmeiſters Sohn den
Haarformer und Zopfprediger Meuſeler, der am
zweiten Pfingſttag die benachbarten Doͤrfer friſirte
und der mit ſeinem Puder-Weihwedel die letzte
[149] Pfingſt-Ausgießung auf die kleinen Koͤpfe betrieb,
die der Pfarrer ſchon ſechs Wochen eingefeuchtet
hatte. Viktors Herz ſchlug vor Freude als wenn
er ein Kind mit darunter haͤtte oder eines waͤre, als
die bunte gepuderte Weſenkette mit huͤpfenden Flit¬
tern, mit hochſtaͤmmigen Blumenſtraͤußern, mit
ſchwarz-gleiſſenden geiſtlichen Muſenalmanachs, vor
dem Kommando- und Hirtenſtab ihrer zwei Konſuln,
ſingend und beſungen und eingelaͤutet und angebla¬
ſen durchs Kirchen-Triumphthor einzog. — Ach Kin¬
dern ſteht die Freude noch ſchoͤner wie uns, ſo wie
ein ungluͤckliches, ein bettelndes, dem das Schickſal
das erſte Kindergaͤrtgen zertritt und vor deſſen Au¬
gen beim erſten Aufſchlagen ins Sein nichts haͤngt
als ſchwarzes ungeſtaltes Morgengewoͤlke, unſer
Herz betruͤbter macht als der Vater deſſelben. . . .
»Beeret jede Minute eures erſten Triumphtages
»ab, ihr guten Kinder, und ich wollte, die Predigt
»wuͤrde recht lang, damit ihr den ſchoͤnen Anzug
»laͤnger anbehieltet!» ſagte Viktor und ſah ſich nach
dem Kloſter um, deſſen Fenſter voll unkenntlicher
Zuſchauerinnen waren: er ſetzte ſich vor, beim Re¬
marſche der Kinder-Prozeſſion ſich unter den Fen¬
ſtern das mit dem ſchoͤnſten Inhalt auszuſuchen durch
ein Taſchenperſpektiv. — Gehe nur, guter menſchen¬
freundlicher Menſch, der die ſchoͤnen Seelen liebt
wie die ſchoͤne Natur und die kalten ertraͤgt wie die
[150] Wintergegend, und der ſich nie raͤchte, gehe nur an
den Baͤchen auf und ab, weil da der Fußſteig der
Fiſcher iſt und weil du auf deinen dichteriſchen Ring¬
rennen keinem Bauern nur einen Zwieſelwagen voll
Heu wie ihn die Kinder aus Haſelruthen flechten
niedertreten willſt! Fuͤlle den Zwiſchenraum zwi¬
ſchen dem erſten und dem dritten Himmel wo du zu
Mittag nicht mit Abraham ſondern mit deiner Klo¬
tilde am Tiſche der Aebtiſſin ſitzeſt, mit einem zwei¬
ten, naͤmlich mit dem Umarmen der ganzen Natur,
die nie holder in die Seele hineinſchauet als wenn
auf ihr nicht weit von der Seele eine — Geliebte
wohnt! —
Ein Wandelgang zwiſchen zwei zuſammenblitzen¬
den Baͤchen und zwiſchen ihren lakirten von Schaum¬
wuͤrmern beſchneieten Weiden uͤberzieht das ganze
Innere bis auf jeden Winkel einer dunkeln Thraͤne
mit Morgenglanz. — Noch dazu ſchauete Viktor
immer uͤber die Wieſe hinauf zu Emanuels ofnem
Fenſter und ließ ſich ein Laͤcheln von ihm wie eine
laufende Welle voll Licht herunterwehen. — Noch
dazu blieb er nicht da, ſondern ging zweimal hinauf
und ſtoͤrte ihn mitten in ſeinem Schreiben durch ein
kindliches Umfaſſen. — Noch dazu legt' er ſeinen
Augen Meilenſtiefel an und lief uͤber die ganze ſich
hier baͤumende, dort ſich buͤckende, hier leuchtende,
[151] dort ſchattende Landſchaft, um eine Poſtkarte und
Reiſeroute zu den ſchoͤnſten Stellen fuͤr die Nachmit¬
tagsſpaziergaͤnge mit Klotilden ſchon hier voraus zu
mappiren und zu ſkizziren, weil Nachmittags die
Entzuͤckungen vielleicht die Wahl der Entzuͤckungen
verfaͤlſchen! — Und ſo ſchuf die Natur in ſeinem
Geiſte ihren Morgen und ihren Fruͤhling noch ein¬
mal aus dem Erdenklos des erſten Fruͤhlings, d. h.
aus der heiſſen Sonne, aus dem kuͤhlen Bache, aus
dem Schmetterling, den der Mai aus der Huͤlfe
ſchaͤlte, aus den illuminirten Muͤcken, die die ge¬
baͤhrende Erde aus dem Larvenſamen wie fliegende
Bluͤmgen hervortrieb. — Da ſchloß er unter dem
Spazen- und Schwalbengetobe im Dorfe und unter
dem Feldgeſchrei der Lerchen und vor den blendenden
Wellen der Baͤche, da ſchloß er die Augen zu und
ließ ſeine Seele in das klingende Meer und in das
vom Augenlied gemalte Helldunkel untertauchen;
aber dann waͤre ſein Herz erdruͤckt worden von der
Schoͤpfungsfluth, die uͤber daſſelbe ging aus allen
Roͤhren und Betten und Muͤndungen des Lebens um
ihn, aus dem verſtrickten Geaͤder des Lebensſtroms,
der zugleich durch Blumen-Rinnen, durch Baum-
Goſſen, durch weiße Muͤcken-Adern, durch rothe
Blut-Roͤhren und durch Menſchennerven ſchießt. .
er waͤre Freuden-ohnmaͤchtig ertrunken im tiefen
weiten Lebens-Ozean, den Lebensſtroͤme durchkreutzen
[152] und nachfuͤllen, haͤtt' er nicht wie jener Ertrunkne
ein Glockengelaͤute in die Wellen hinunterge¬
hoͤrt. . .
Kurz — die Kirche war aus und er mußte hin¬
ter einen Blaͤtter-Jagdſchirm gehen, um, wenn
die kleinen Abendmals-Paniſten aus der nachor¬
gelnden Kirche und unter den nachtrompetenden
Thurm vorbei zoͤgen, dann mit dem Taſchenperſpek¬
tiv zuzuſchauen, wer zuſchaue aus dem Kloſter.
Klotildens Angeſicht ſchwebte, wie durch Magie vor¬
gerufen aus der zweiten Welt, dicht am Glaſe und
er konnte unvertrieben ſeine Schmetterlingsfluͤgel um
dieſe Blume ſchlagen: er konnte frei in ihre großen
Augenhoͤlen wie in zwei mit Thau-Glanz gefuͤllte
Blumenkelche ſinken. Er ſah nie einen ſo reinen
Schnee des Augapfels um die blaue Himmelsoͤfnung
die weit in die ſchoͤnere Seele ging; und wenn ſie
das Auge in den Garten niederſchlug, ſtand das
große verhuͤllende Augenlied mit ſeinen zitternden
Wimpern eben ſo ſchoͤn daruͤber wie eine Lilie uͤber
einer Quelle. Die Liebe faͤngt ſich wie das Zeich¬
nen und der keimende Menſch beim Auge an. —
Da die Kinder voruͤber waren: ſo wandte Klotilde
ihr Angeſicht langſam und frei gegen Emanuels Laub¬
huͤtte und ſchauete mit dem weiten ſehnenden Blicke
der Liebe heruͤber. . . .
[153]
Und mit einer ſolchen Liebe, die wie ein Herz
in ſeinem Ich pochte, kam Viktor ſamt ſeinen zwei
Freunden droben im Kloſter an. Die Aebtiſſin (ihr
Name wird mir gar nicht berichtet, nicht einmal
ein falſcher) empfing ihn mit einem hohen Air, das
ihr Stand nicht gegeben, ſondern gemildert hatte.
Ihre Seele wurde gekroͤnt geboren. Die * * Fuͤr¬
ſtin, deren Oberhofmeiſterin ſie war, ſpielte zuwei¬
len gern das Kind (Kinder erwiederns umgekehrt und
repraͤſentiren ihre Repraͤſentanten); aber ob ſie gleich
einen dreißigjaͤhrigen Stolz beſaß, ſo fiel ſie doch
ihrem Steckenpferd in den Zuͤgel, ſobald die monar¬
chiſche Oberhofmeiſterin erſchien, die im ganzen Lan¬
de (die Schwanen ausgenommen) den Kopf am mei¬
ſten zuruͤckbog. Eine Frau wie dieſe, deren Blicke
Throninſignien und deren Worte mandata sacrae
caesareae majestatis propria waren, hatte aus den
Haͤnden der Natur ſelber die Huldigungsmuͤnze und
das Throngeruͤſte, um ihren Reichsapfel gegen die
Schoͤnheitsaͤpfel junger Maͤdgen abzuwaͤgen — eine
ſolche konnte die Klotilden beherrſchen und formen.
Ihre jetzige Seele war von drei Meiſtern gemalt:
— der Hintergrund von der Welt — der Vorgrund
von der Kirche — der Mittelgrund von der Tugend.
Ihre aszetiſche Beſtandtheile ſetzten ſie auf eine ſon¬
derbare Weiſe in einige chymiſche Verwandſchaft mit
Emanuels indiſchen. —
[154]
Ich kenne nichts ruͤhrenders und ſchoͤneres als die
weibliche Verbeugung aus jener tiefen Achtung, mit
der gute Maͤdgen ihre Liebe allein zu ſagen wagen. —
Gluͤcklicher Viktor! deine Klotilde empfing dich mit
ſo vieler Achtung wie ihren Lehrer. Nur die Ko¬
kette wird durch die Liebe befehlshaberiſcher (ein
kieſelſteinernes Juriſten–Wort!); aber die Stolze
wird dadurch beſcheiden und ſanft. — Nie aß er
froher als in dieſem transparenten Luftſchloß, vor
deſſen ofnen Fenſtern ein blauer Horizont und naͤher
brauſende und mit Muſik beſetzte Alleen ruhten, als
in dieſer geputzten Orangerie aufbluͤhender Maͤdgen,
anſtatt daß ein Gymnaſium eine Menagerie iſt und
ein Schweſternhaus eine Volerie. — Viktor, der Weiber
noch beſſer zu lenken verſtand als Maͤnner, war im
arbeitenden Ameiſenhaufen dieſer lebhaften Maͤdgen
ſo geſund wie in einem Ameiſenbad und war ein
zweiter Bienenvater Wildau, der ſich aus dieſem
Immenſchwarm bald einen Bart komponirte, bald
einen Muff. Es gehoͤrt mehr maͤnnlicher Verſtand zu
einer gewiſſen feinen Galanterie als die haben, die
ſie in ihren Satiren mit der faden vermengen; ſo
wie nur Gebirge den ſuͤßeſten Honig darbieten. Der
Ernſt muß den Scherz grundiren, die Achtung und
das Wohlwollen das Lob. Viktor konnte leichter
vor zwei, als vor 32 weiblichen Augen in Verlegen¬
heit gerathen, die uͤbrigens der groͤbſte Donatſchnizer
[155] und Germanismus in der weiblichen Grammatik iſt.
Er hatt' es laͤngſt gelernt, die fluͤchtigen Salze
des weiblichen Witzes mit den fixen des maͤnnlichen
zu binden, ſo wie das, in großen Zirkeln jede Seele,
jede Raupe auf das rechte Nahrungsblatt zu
ſetzen.
Fuͤr ihn, der einmal geſagt: »ich wollte, ich
»haͤtte wenigſtens viermal des Jahrs mit Damen zu
»konverſiren, bei denen man ſo viel Tournure an¬
»bringen muͤßte, daß man gar nicht wuͤßte, was man
»wollte und die fein bis zum Unſinn waͤren» —
fuͤr ihn war eine hohe Dame wie die Aebtiſſin, die
man ſeit dem Niederlegen ihres Oberhofmeiſter¬
thums ein klein, klein wenig mit einer Prezioͤſen
verwechſeln konnte, ein wahres Labſal: denn er
konnte ihr doch die phyſiognomiſchen Fragmente
vom Hofe mit tauſend Wendungen, d. h. ein Voll¬
geſicht durch fuͤnf Punkte vorzeichnen. Aber er
hatte dabei die noch edlere Abſicht, ſeine anbetende
Aufmerkſamkeit, ſein in Geſtalt einer Thraͤne ins
Auge tretende Herz von ſeiner geliebten Klotilde
wegzurufen, um ihr eine ganz andere Aufmerkſamkeit
zu erſparen als die ſeinige. Auf eine ſonderbare
Weiſe zog immer gerade ſein ſatiriſches Gefuͤhl ſei¬
nen ernſten Gefuͤhlen, ſeiner erweichten Seele die
Moſis Decke ab — er ſchaͤmte ſich naͤmlich keiner
Thraͤne, blos weil er wußte, daß ihn ſeine Laune
[156] gegen den Verdacht der Uebertreibung und gegen den
Spoͤtter beſchuͤtzen koͤnnte; ſo wie wieder umgekehrt
ſein ſchillernder Witz unter Thraͤnen wie Phosphor
unter Waſſer, ſein Licht aufbehielt und naͤhrte. —
Zum Gluͤck machte jetzt Emanuel, der mitten
unter dem Diner in den Garten gegangen war, da
er wieder kam, die Petizion eines Spazierganges —
Denn in ſeiner Seele ſtanden nur große Ideen noch
vom Leben uͤbrig wie in Aegypten nur Tempel, keine
Haͤuſer nachblieben; und ſeine Unwiſſenheit in kleinen
Dingen muß kleinen Dingern laͤcherlich ſeyn. —
Die Aebtiſſin hatte Klotilde als Unterkoͤnigin der
feurigen Nonnen neben ſich auf den Thron genom¬
men. Viktor ſtellte mit ſeiner einzigen Perſon das
churmaͤrkiſche Pupillenkollegium unter dieſen flattern¬
den Grazien vor. Klotilde uͤbergab den Blinden
gerade einem ganzen Tauben-Fluge der lebhafteſten
Wegweiſerinnen, weil ſie alle um das Bootmanns-
und Zeigefinger–Amt beim Blinden warben: ſie
liebten ihn alle wegen ſeiner himmliſchen Schoͤnheit
und Faſſade, aber (da er die ihrige nicht ſah) nur
ſo wie ſie einen ſchoͤnen Knaben von fuͤnf Jahren
herzen: . . Zu einer andern Zeit wuͤrde Viktor
ſich gewiß umgeſehen und fein angeſpielet haben,
daß die Schoͤnheit die Blindheit fuͤhre; aber
heute ſah er ſich nur um aus andern Urſachen.
[157]
— Endlich war die Inſel der Seeligen, die ſchon
durch den Nebel ſeiner Kindertraͤume weit, weit vor¬
geſchimmert hatte, jetzt der Boden unter ſeinen
Fuͤßen und er machte jetzt die Entdeckungsreiſen durch
ſeinen Himmel — er und Klotilde ſchwiegen einige
Minuten, weil ihre Herzen ſanft vor Freude zu
wallen anfingen, daß ſie endlich allein nebeneinander
und vor der großen Eſplanade des Fruͤhlings ſtan¬
den. Unter dem ſeeligen Laͤcheln, dem ſtummen
Buchſtaben der Wonne und unter zitternden Athem¬
zuͤgen, dieſer h. Sankritſprache der Liebe, waren
ſie ſchon am erſten Teiche, uͤber deſſen Kryſtallſpie¬
gel ſich eine Bruͤcke wie vergoldetes Laubwerk ſchlaͤn¬
gelt. — Sie ſtockten in der Mitte dieſer glatten
Mond- und Spiegelſcheibe geblendet, weil der Son¬
nenſchirm nicht gegen zwei Sonnen auf einmal, die
im Waſſer dazu gerechnet, decken konnte: ſie kehrten
ſich halb um und ſuchten mit den Blicken im malen¬
den Waſſer das tiefere Himmelsblau und zwei ſtille
begluͤckte Geſtalten auf, die einander mit ihren feuch¬
ten Augen anblickten. O ſein Auge ruhte warm
in ihren wiedergeſtralten wie die Sonne in der unter¬
irdiſchen Sonne und ſein zitternder Blick wurde das
lange Beben und Aushalten eines einzigen Tones:
denn die im Waſſer wohnende Goͤttin ſank mit ihren
Augen ſeiner Seele entgegen, weil ſie die verdoppelte
Entfernung ſeiner Geſtalt benutzen wollte, die ſich
[158] auf 10 Fuß belief. — Um endlich das uͤbermaͤchtige
Entzuͤcken zu ſchließen, fuͤhrt' er ſeine Augen weg
von dieſer Glasmalerei und richtete ſie (d. h. er
verdoppelte es blos) an das Original ſelber; und
das Ineinanderrinnen der Blicke, das Zuſammenzit¬
tern der Seelen warf in den engen Augenblick die
Gefilde eines langen Himmels. — Und ſie ſahen, daß
ſie ſich gefunden hatten und daß ſie ſich geliebt hat¬
ten, und daß ſie ſich verdienten. Aber unter dem
Weitergehen konnte Viktor nur das ſagen: »o moͤch¬
»ten Sie ſo unausſprechlich gluͤcklich ſeyn wie ich
»heute.» — Und ſie antwortete leiſe, wie ein unter
weiche blaͤtterloſe Bluͤten verhauchter Zephyr ſo lei¬
ſe: »ich bin es wohl.» . . . . Ach ich habe mir
oft es vorgemalt, wenn wir uns alle einander ſo
liebten wie zwei Liebende, wenn die Bewegungen al¬
ler Seelen wie bei dieſen, gebundne Noten waͤren,
wenn die Natur uns allen zugleich den Nachklang
ihres bis uͤber die Sterne reichenden Saitenbezuges
ablockte, anſtatt daß ſie nur ein liebendes Paar wie
ein Doppelklavier bewegt — dann wuͤrden wir ſehen,
daß ein Menſchenherz voll Liebe ein unermeßliches
Eden einſchloͤße, und daß die Gottheit ſelber eine
Welt erſchuf, um eine zu lieben. —
Aber ich will wieder ſo ſchreiben wie Klotilde
ſprach, die den dichteriſchen Geiſt nur durch Tha¬
ten, nicht durch Worte offenbarte, gleich Schauſpie¬
[159] lern, die den Reim und das Sylbenmaas ihres
Dichters im Sprechen zu umgehen wiſſen.
Das Dorf oder das Wirthshaus vielmehr gab
ihrer Himmelsleiter eine vierte Sproße, den vierten
Pfingſttag — Der Englaͤnder Kato der aͤltere fuhr
heraus, der aus Kuſſewiz mit einem wandernden
Orcheſter Prager Virtuoſen von ſeiner Geſellſchaft
weggelaufen war, um das Maienthal auch zu ſehen.
Er konnte nie in ſeinem Leben auf etwas warten.
Er ſagte zu Viktor, morgen komm' er zu ihm, heu¬
te beſchau' er die beſaͤeten Proſpekte und paſſe mit
der Ouvertuͤre der Prager nur auf das Auslaͤuten
der Veſperpredigt. Endlich ſagt' er ihm, daß Fla¬
min und Matthieu uͤbermorgen verreiſeten und wie¬
der zuruͤckgingen nach Kuſſewiz und folglich da laͤn¬
ger verweilten als ſie gewollt. Dieſe Gegenwart
des Englaͤnders und die ſpaͤtere Zuruͤckkehr des Ei¬
ferſuͤchtigen machte auf einmal den letzten Willen in
Viktor feſt, auch den vierten Pfingſtlag als die vier¬
te Saite auf dieſes Freuden-Tetrachord aufzuziehen.
Und da an dieſem vierten Tage gerade das durch
alle Heftlein dieſes Buchs laufende Raͤthſel mit dem
Engel in die Entzifferungskanzlei der Zeit getragen
wird, weil Julius den Brief deſſelben Klotilden zum
Vorleſen uͤbergiebt: ſo konnt' er ſich weiß machen,
er bliebe deswegen; und zu ſich ſagen: »Wunders¬
»halber ſollte man's doch abwarten, was es mit
[160] »dem Engel fuͤr eine Bewandniß habe.» — Guter
Held! du vermengſt jeden Engel mit deinem und ich
wuͤßte nicht, warum nicht! . . .
Jetzt lief ein Wolkenſchatten uͤber ſie, gleichſam
als Vorlaͤufer eines dunklern, der ihre Seelen ſuchte.
Denn Viktor, der vor einem ſchoͤnen Herzen niemals
ſeines verſperren konnte, der in der Heiligung der
Liebe alle Verſtellung verſchmaͤhte, erzaͤhlte Klotil¬
den mit jener Herzlichkeit, die ſich ſo leicht mit
Feinheit vermaͤhlen laͤßt, die Urſachen von Mat¬
thieus Reiſe, naͤmlich ſeine eigne kleine Thorheit in
Kuſſewiz, wo er der Fuͤrſtin das geſchriebene billet¬
doux mitgab. Er haͤtt' ihr auch ohnedas dieſe Er¬
oͤfnung machen muͤſſen, um der fremden eines An¬
klaͤgers vorzubauen. Aber er ſetzte bei Klotilde vor¬
eilig die Chronologie ſeiner kleinen Annalen voraus
und merkte nicht an, daß er das Billet geſchrieben,
eh' er wußte, daß Klotilde noch frei und nur Fla¬
mins Schweſter ſey*). Sie ſchwieg lange. Er be¬
fuͤrchtete dieſe Pantomime des Zuͤrnens; und wagt' es
nicht, ſich davon zu uͤberzeugen durch einen Blick in ihr
Angeſicht. Endlich bat ſie ihn an ihrem Lieblings-bow¬
ling green, wo in der groͤßten Vertiefung des Thals
gruͤner[161] gruͤner Schatten ſeine gemalten Zweige im Sonnen
und Waſſerſcheine wiegt, da bat ſie ihn weder mit
kalter noch ſtolzer Stimme, ſondern mit einer faſt
geruͤhrten, ſie ein wenig auf ihrer Lieblings Gras¬
bank, deren Seitenlehnen große Blumen waren, aus¬
ruhen zu laſſen. Als er vor ihr ſtand: ſo erblickte
er erſchrocken in ihrem beſeelten Angeſicht — nicht
einen mit der Hoͤflichkeit ringenden Groll, ſondern
— den ruͤhrenden Kampf gegen das Schickſal, das
ihr den Liebling ihrer Seele verdunkelte, den unei¬
gennuͤtzigen Schmerz uͤber die geſchloßene Narbe, die
ſie aus ſeiner Tugend wegwuͤnſchte. Ihr war, ihm
war als wenn das vorige Jahr ſich wieder erhoͤbe
von ſeinem Todtenkiſſen aus Freudenblumen, die
es beiden ertreten hatte: ſie waren recht traurig,
Klotilde war kaum ihrer Augen maͤchtig und Viktor
kaum ſeiner Zunge — bis dieſem endlich das Mi߬
verſtaͤndniß einleuchtete. Er ſagte ihr daher leiſe
und auf engliſch: »haͤtte ſein Vater ihm alle ſeine
»Eroͤfnungen fruͤher gemacht, ſo haͤtt' er ihm mehr
»als einen Kampf, mehr als eine truͤbe Stunde und
»zuerſt die vorige Thorheit erſpart.»
In der hoͤhern Liebe iſt der Zorn nur Trauer
uͤber den Gegenſtand. Klotilde ſetzte gleichwol die
Sonnenfinſterniß ihrer ſchoͤnen Minen fort — aber
es kam nicht von Fortdauer des vorigen Seufzers,
noch von dem gewoͤhnlichen Unvermoͤgen, eine aus¬
Heſperus. III. Th. L[162] geſoͤhnte Seele ſogleich in ein zuͤrnendes Geſicht zu
uͤbertragen, ſondern die Unzufriedenheit mit ihrer
eignen Voreiligkeit ſah allemal wie eine mit einer
fremden aus. Daher ſtand ſie auf, um ihm ihren
Arm und gleichſam das nahe liegende Herz wieder
zu geben. Viktor erlaubte ſich den Bruch des dop¬
pelſtimmigen Schweigens nicht — Emanuel kam nach
und da ſagte Klotilde bewegt als wenn ſie erſt aufs
Vorige antwortete: »ach ich bin meinem Bruder
»nur zu ſehr verwandt von der Seite meiner Feh¬
»ler.» — Meinte ſie Flamins Eiferſucht, oder Arg¬
wohn, oder wahrſcheinlicher ſein Temperament? —
Viktor wandte ſich zu ihr, um ſie gleichſam fuͤr das
um Verzeihung zu bitten, was ſie geſagt — und
ihre Augen ſagten: »o ich haͤtte dich nicht verkennen
»ſollen» — und ſeine ſagten: »ich haͤtte dich, auch
»ungekannt, nie verlaͤugnen ſollen» — und ihre
Herzen machten Friede und der Oelzweig wand zwi¬
ſchen den alten Blumen der Freude ihre Seelen an
einander.
Emanuel fuͤhrte ſie, als ihr leitendes Geſtirn,
auf ſeine lieben Berge, dieſe Frontlogen der Erde
— nur von ſeinem Berg mit der Trauerbirke wehrte
er ſie aus unbekannten Gruͤnden freundlich ab —;
und ſein leichtes Aufſteigen gab ihnen die Freude
uͤber die Geneſung ſeines Athems. Endlich kamen
ſie auf den Thron der Gegend, auf den Berg, wo
[163] Viktor am Morgen nach der durchreißten Nacht uͤber
Maienthal geſchauet hatte. O wie zog ſich die le¬
bendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne
und eines Edens, in ſo unbaͤndigen, gruͤnenden,
athmenden, wehenden Maſſen dahin! Wie hing der
Himmel voll Berge aus Duft, voll Eißfelder aus
Licht! Und ein ſanfter Morgenwind ſchlich ſich aus
dem mit Wolkenflor verhangnen Morgenthor und
ſpielte mit Himmel und Erde, mit dem gelben Bluͤm¬
gen und mit der breiten Wolke daruͤber, mit der
Augenwimper unter einer Thraͤne und mit durch¬
wuͤhlten Kornfluren! — Wie wird das Auge ſo
groß, wenn gejagte Nachtſtuͤcke der Wolkenſchatten
dem hellen Sonnenſchein der Erde durchſchneiden,
wie wird das Herz ſo groß, wenn der Morgenwind
die gefluͤgelten Schatten bald uͤber Berge ſchleudert,
bald in Glanzteiche, bald in gebuͤckte Saaten! —
Aber rund auf die Waͤlder hatten ſich ſtille Eißber¬
ge aus Wolken gelagert. — — Ach dieſes mit Tag
und Nacht gefleckte Gefilde, dieſer Wall aus Nebel¬
gletſchern ſtellte ja Viktors Herz in den alten Traum
zuruͤck, wo er Klotilde auf einem Eißberg mit aus¬
gebreiteten Armen ſah! — Ach auf dieſer uͤber den
ſuͤdlichen Berg reichenden Felſenſpitze konnte er die
Inſel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln
und mit ihren weiſſen Tempel liegen ſehen, und das
L [2][164] trinkende Herz taumelte voll vom gemiſchten Trank
aus Sehnſucht und Wehmuth und Liebe. —
Dann ſagt' er es ihr gern, daß er an jenem
Morgen ſie hier geſehen habe, wo er dem Blinden
das Blaͤttgen an Emanuel gegeben, und daß er ſich
doch ihren Beſuch verſaget — — gieb ihm nur,
Klotilde, den großen warmen Blick voll Dank fuͤr
ſein Schonen deines Bruders, fuͤr ſein edles Lieben
und fuͤr ſein Ueberſchleiern dieſes Liebens! — Sie
ſah ihn an und als ihr Auge warm von einer Thraͤ¬
ne wurde, neigte ſich der Himmel auf einem Son¬
nenwoͤlkgen zu ihnen nieder und beruͤhrte die ver¬
wandten Menſchen mit heiſſen herunterflatternden
Tropfen. — O du gute Erde, du gute Natur! Du
ſympathiſirſt oͤfter (und allemal) mit guten Menſchen
als oft gute Menſchen ſelber! — Vor ihn trat der
Traum, Klotildens Thraͤnen den Fußboden in
ein hebendes Woͤlkgen zertheilten . . .
Aber der heranziehende Abend und die kleinen
herunterrollenden zerriſſenen Perlenſchnuͤre von Re¬
gentropfen riefen die ſchoͤnen Menſchen in die Zim¬
mer zuruͤck. Die Maͤdgen, die mit den Blinden
nicht einmal den Berg ganz erklettert hatten, kehr¬
ten ſchon um und gingen voraus. Emanuel entfern¬
te ſich auf ſeinen Trauerberg, um dort ſeine Blu¬
men dem Regen aufzudecken. Als unſere zwei lie¬
benden Menſchen unten im rauchenden Thale anka¬
[165] men: o wie himmliſch wurde der Abend und die
Erde: — Am großen Abendhimmel uͤber ihnen be¬
wegten ſich Tulpenbeete von rothem Gewoͤlke, zwi¬
ſchen denen blaue Streifen wie dunkle Baͤche liefen.
— Hinter ihnen ſtanden unter der Sonne Berge,
wie Veſuve, in Flammen, und die Waldung, wie ein
feuriger Buſch und das uͤber die Blumen laufende
Steppenfeuer ergrif die Wolkenſchatten. — Und alle
Lerchen hingen mit ihren Ripienſtimmen der Natur
nahe am rothen Deckenſtuͤcke des Abends und jeder
tiefere Sonnenſtrahl hielt eine ſummende Weſenkette
von Muͤcken. — Und in der Schaͤferei am Berge
liefen rufend hundert Muͤtter an hundert Kinder zu¬
ſammen und das ſtille Schaf eilte laͤrmend an ſein
durſtiges niederknieendes Lamm — —
Großer Abend! nur im Thal Tempe bluͤheſt du
noch und verwelkeſt nicht; aber in wenig Minuten,
Leſer, brechen erſt alle ſeine Bluͤten praͤchtig auf! —
Klotilde und Viktor gingen enger und waͤrmer
aneinander gedruͤckt unter dem ſchmalen Sonnen¬
ſchirm, der beide gegen den fluͤchtigen Regen ein¬
bauete. — Und mit Herzen, die immer ſtaͤrker ſchlu¬
gen und ſtatt des Blutes gleichſam andaͤchtige Freu¬
den-Thraͤnen umtrieben, erreichten ſie den Park; die
warmen Toͤne der Nachtigal zogen ihnen daraus ent¬
gegen; die abgewehten Toͤne des muſikaliſchen Ge¬
folges, womit der Englaͤnder jetzt uͤber die Berge
[166] ging, floßen ihnen wie Blumenduͤfte nach. — —
Aber ſiehe, als die Erde noch die Vergoldung im
Feuer der Sonne trug, als noch die Abendfontaine
wie eine Fackel oben brannte, als in einem großen
Eichenbaum des Gartens, in dem bunte Glaskugeln
ſtatt der Fruͤchte eingeimpfet waren, zwanzig rothe
Sonnen aus den Blaͤttern funkelten — ſiehe da floß
eine erwaͤrmte Wolke auseinander und tropfte ganz
in das Abendfeuer und auf die glimmende Waſſer¬
ſaͤule. . . . .
Die den Baͤumen naͤhern Nonnen flogen unter
das Laub; aber Klotilde, die den langſamen Gang
ſchoͤner und tugendhafter fuͤr eine weibliche Seele
fand, ging ohne Eile der nachbarlichen »Abendlaube»
zu, die, uͤber den Garten erhoben, ihr dichtes Blaͤt¬
terwerk nirgends aufthut als vor der untergehenden
Sonne. — Nein, es war ein Engel, es war Klo¬
tildens Schweſter, Giulia, die auf der zarten Wol¬
ke ruhte und durch ſie ihre Freudenthraͤnen fallen
ließ, um ihre Freundin, deren Arm in des Gelieb¬
ten ſeinem wie in einem Verbande lag, in die glim¬
mende Laube zu draͤngen, wo zwei ſchoͤne Herzen vor
Wonne ſterben ſollten. Klotilde verweilte noch un¬
ter dem Perlen- und Goldſand-Regen und glich den
ſtillen Tauben um ſie her, die auf allen Daͤchern
ihre reinen Fluͤgel wie bunte Regenſchirme ausein¬
[167] anderſchlugen und dem Bade unterhielten — und vor
dem Eintritte zog ſie Viktor zuruͤck, der Wonne¬
beklommen ſagte: »o Gott!» und auf Emanuels
Laube hinblickte, auf der das Portal des Paradieſes
aus muſiviſchen Steinen aufgefuͤhrt ſich anfing und
ſich durch den Himmel hinuͤberwoͤlbte uͤber die Abend¬
laube und mit dem himmliſchen Zauberkreis die drei
ſchoͤnen Seelen einfaßte — —
Und als ſie in die dunkle Laube traten, die nur
eine kleine Oefnung gegen die durch den Regen her¬
einbrennende Sonne hatte: ſtanden ihnen die Thraͤ¬
nen in den Augen. Und vor der Oefnung lag das
Abendgefilde, mit den wankenden Feuerſaͤulen, zwi¬
ſchen denen der goldne Fluß der zerſchmolzenen Son¬
ne ſchlug, und mit den Auen, die bis an die Blu¬
men in einem Meer von Lichtkuͤgelgen ſtanden. —
Und herabgefallene Regenbogen lagen mit ihren
Truͤmmern auf den Bluͤtenbaͤumen. — Und kleine
Luͤftgen wehten das Lauffeuer in den Wieſenblumen
an und warfen Funken aus den Bluͤten. — Und das
Menſchenherz wurde von den Wonneſtroͤmen fortge¬
zogen und ſchwam brennend in ſeinen eignen Thraͤ¬
nen. —
Wie eine Verklaͤrte ſchauete Klotilde in die Son¬
ne und ihr Angeſicht wurde erhaben zugleich von der
Sonne und von ihrer Seele. Und ihr Freund ſtoͤrte
die ſchoͤne Seele nicht; aber er nahm das weiſſe
[168] Tuch aus ihrer Hand und trocknete die aus der
Laube tropfenden Farbenkoͤrner mit Blumenſtaub
umzogen ſanft hinweg, und ſie gab ihm freiwillig
ihre Hand. Als ſie ihre Augen voll Thraͤnen auf
ihn wandte: ließ er die Thraͤnen ſtehen; aber ſie
nahm ſie ſelber und ſchauete ihn mit einer Liebe an,
uͤber die bald die alte Thraͤne zog, und ſagte mit
einem Laͤcheln, das ſeetig weiter floß: »mein ganzes
»Herz iſt unausſprechlich geruͤhrt; vergeben Sie
»ihm, theuerſter Freund, heute alles worin es bis¬
»her dem Ihrigen nicht aͤhnlich war!» . . .
— Siehe da wurde die warme Wolke in den
Garten gleichſam wie ein ganzer Paradieſesfluß nie¬
dergeſchuͤttet und auf den Stroͤmen floßen ſpielend
Engel herab . . . . und als die Wonne nicht mehr
weinen und die Liebe nicht mehr ſtammeln konnte,
und als die Voͤgel jauchzeten und die Nachtigal durch
den Regen ſchmetterte, und als der Himmel freudig¬
weinend mit Wolkenarmen an die Erde fiel: — ja,
dann zitterten zwei begeiſterte Seelen zuſammen und
ruheten ohne Athem aneinander mit den zuckenden
Lippen feſt auf den zuckenden Lippen und Wange an
Wange gepreſſet im gluͤhenden zitternden Schauer —
dann quollen endlich wie Lebensblut aus dem ge¬
ſchwollnen Herzen, große Wonnethraͤnen aus den
liebenden Augen in die geliebten uͤber. — Das Herz
maaß die Ewigkeit ſeines Himmels mit großen won¬
[169] ne-ſchweren Schlaͤgen — die ganze Sichtbarkeit, die
Sonne ſelber war dahingeſunken und nur zwei See¬
len ſchlugen aneinander einſam in der ausgeleerten
daͤmmernden Unermeßlichkeit, geblendet von Thraͤnen¬
ſchimmer und vom Sonnenglanz, uͤbertaͤubt vom
Himmelsbrauſen und vom Echo der Philomele, und
erhalten von Gott im Erſterben aus Wonne. . .
Klotilde bog ſich ab, um die Augen abzutrock¬
nen; und ihr ſtummer Liebling ſank um und kniete
vor ihr und druͤckte ſein Angeſicht auf ihre Hand
und ſtammelte: »o du Herz aus meinem Herzen,
»o du ewig, ewig Geliebte, — ach koͤnnt' ich fuͤr
»dich bluten, fuͤr dich untergehen — »Und ploͤtzlich
ſtand er wie von einer unermeßlichen Begeiſterung
gehoben auf und ſagte leiſer, ſie anſchauend: Freun¬
din, dich, Gott und die Tugend lieb' ich ewig.» —
— Ich will endigen: der Nachklang dieſer großen
Stunde loͤſet mein Inneres auf. Sie traten aus
der Laube — der Himmel hatte ſich wie ihr Herz
erſchoͤpft in Freudenthraͤnen und war blos heiter —
die Sonne war zugleich mit der großen Minute un¬
tergangen. — Viktor ging langſam als wenn er
vor einem weiten Elyſium vorbeiginge, das empfang¬
ne Eden auf ſeinem Herzen tragend, heim in Daho¬
re's ſtille Wohnung. — Dahore ſank ſitzend einge¬
ſchlummert ſanft hinuͤber und heruͤber, und Viktor,
ob er gleich gern ſein Herz an einer zweiten aͤhnli¬
[170] chen Bruſt auspochen laſſen wollte, verſagte ſich es
doch — und lehnte ſich langſam an den wankenden
Lehrer. Er hielt recht lange das ſchlummernde
Haupt an ſeiner brauſenden Bruſt. Sein Freuden¬
gewitter kuͤhlte ſich ab zum heitern Himmel und die
erquickten Freudenblumen ſchloßen die Duft-Kelche
der Erinnerung auf. Dahore ſchlug die Arme um
ſeinen Liebling und dann erſt wurde er wach: denn
es hatte ihm getraͤumt, er umarme ihn, und als er
aufwachte, war er froh, daß es ihm nicht blos ge¬
traͤumet hatte.
Genug! — und ihr, ihr Menſchen, die ich lie¬
be, ruht' aus an der Erinnerung oder an der Hoff¬
nung; und leget zugleich mit mir dieſe kleinen Blaͤt¬
ter aus den Haͤnden! —
[171]
3. Pfingſttag oder 35. Hundspoſttag
oder Burgunder-Kapitel.
Der Engländer — Wieſenball — ſeelige Nacht — die
Blütenhöle.
Bei den Menſchen wie bei den Geitzigen ſchlaͤgt es
immer nur Viertel zur frohen Stunde, aber gleich
einer ſchlechten Uhr ſchlaͤgt es die Schaͤferſtunde un¬
ſerer Hoffnung nie aus. Aber in Ruͤckſicht der
Pfingſttage iſt das grundfalſch — ſie ſind praͤchtig
und wie man ſonſt die Ausgießung des h. Geiſtes in
alten Kirchen durch das Herunterwerfen der Blumen
vorſtellte: ſo bilden wir ſie in Maienthal durch das
Auswerfen figuͤrlicher ab. Ich habe daher gar eine
Flaſche Burgunder aufgeſiegelt und neben die Din¬
tenflaſche geſtellt, um erſtlich durch mein groͤßeres
Feuer in dieſem Kapitel die Natur- und Kunſtrich¬
ter auf meine Seite zu bringen, die leichter den
Stab uͤber Autoren als eine Lanze mit Autoren bre¬
chen — und um zweitens uͤberhaupt den Wein zu
trinken, welches ſchon an ſich Endzwecks und Teleo¬
logie genug iſt. Ein wahres Schlaraffenland und
Himmelreich haͤtten wir, wenn auch der Leſer bei
[172] ſolchen Kapiteln etwas Spirituoͤſes zu ſich naͤhme —
Betrinkt ſich der Autor allein, ſo geht der halbe Ef¬
fekt zum Henker; und es iſt ein Ungluͤck, daß die
Rezenſenten nichts zu leben und zu trinken haben:
ſie koͤnnten mir als einem Stern zur Refrakzion
durch ihren Dunſtkreis dienen und mich hoͤher
und breiter zeigen als ich ſtaͤnde.
Viktor war kaum in's naſſe Gras des Morgens
gelaufen, als er den Englaͤnder mit dem Kopfe un¬
ter den Gießkannen des Waſſerrades aufjagte. Er
vergab dieſem Kato dem aͤltern gern alle ſeine Son¬
derbarkeiten und das Idiotikon ſeiner tollen Natur
und ſeinen Kometen-Gang: denn er war in ſeinem
achtzehnten Jahr ſelber ein ſolcher Schwanzſtern ge¬
weſen und ſah dieſen fuͤr eine auf ſich geſchlagene
Kometenmedaille an. Ob gleich der Britte Sonder¬
barkeit ſuchte: ſo wußte Viktor aus eigner Erfah¬
rung, daß er's nicht aus Eitelkeit (man kann wenn
man will, aus allen Handlungen, ſogar aus den un¬
ſchuldigſten, Eitelkeit extrahiren wie aus allen Koͤr¬
pern Luft) ſondern aus Laune geſchah, fuͤr welche
der Genuß einer exzentriſchen Rolle, man mag ſie
leſen oder ſpielen eben ſo viele Reize hat wie
fuͤr das Gefuͤhl der Freiheit und der innern Kraft.
Eitle erliegen dem Laͤcherlichen, dem der Sonderling
trotzt; und jene haſſen, dieſe ſuchen ihre Ebenbil¬
der. Das einzige, was Viktor ihm veruͤbelte, war
[173] daß er andern kleine Schonungen bloß darum nicht
erwies, weil er auch keine begehrte; und eben dieſer
vom Humor unzertrennliche Krieg mit allen kleinen
Schwaͤchen und Erwartungen der Menſchen hatte
dem menſchenliebenden Viktor dieſe exzentriſche Bahn
verleidet. Das Ungluͤck macht daher leichter Son¬
derlinge als das Gluͤck.
Ihm gab die Freude uͤber die Schilderungen, die
ihm Kato von Flamins aͤhnlichen Himmelfarthen und
Freudenfeuern machte, den Gedanken ein, ſeine Qua¬
terne ſchoͤner Tage durch etwas anders zu verdienen
als durch ſeine vorigen truͤben — naͤmlich dadurch,
daß er auch fremde ſeinen aͤhnlich machte. Kurz er
redete es mit dem aͤltern Kato ab — dem's recht
lieb war, — die Prager zu etwas zu verwenden,
naͤmlich Abends in der Kuͤhle, damit den Maientha¬
liſchen Kindern einen Wieſen-Ball zu geben. Was
hatten beide dazu noͤthig als — was ſie ſogleich tha¬
ten — in die Taſche und in die Boͤrſe zu greifen
und dem Nachtwaͤchter loci mehr zu geben als das
Heu ſeiner großen Wieſe zu Johannis werth ſeyn
konnte, die heute zu einem Tanzſallon ausgemaͤhet
werden mußte? Der Mann gab ſie ohnehin mit tau¬
ſend Freuden her, weil ſein Sohn heute — Hochtzeit
hatte. Die zwanzig Maienbaͤume, die Kato in den
Redoutenſaal pflanzen wollte, ſtanden ſchon als Ar¬
tochthonen inkorporirt darin. Und als ſie noch bei
[174] den Eltern des ſaubern Dorfes — ſonſt aber gleicht
der arme Ackerbauer dem Schweine, das nach Ae¬
lian hist. 1. 2. ſeine Profeſſion erfand — die jun¬
gen Tanz-Moitiſten mit der groͤßten Ernſthaftigkeit
— Bauern und Damen finden ſich nicht in Sonder¬
barkeiten — zuſammen gebettelt und gepreſſet hat¬
ten: ſo war alles richtig.
Das befreundete Trio fand am Mittagstiſche der
Aebtiſſin den geſtrigen Tag. Viktor war uͤberall ſo¬
gleich zu Hauſe, er blieb nicht Gaſt, damit der an¬
dre nicht Wirth bliebe. Man findet ſonſt Maͤdgen
ſelten ſo wieder als man ſie verließ, ſo wie ihr Em¬
pfang allemal waͤrmer oder kaͤlter iſt als ihr Billet
vorher; aber in Klotildens zergehenden Zuͤgen kuͤn¬
digte ein unendlicher Zauber die Erinnerung von ge¬
ſtern an, wo ſie aus zwei Gruͤnden ihr Herz allen
ſeinen auf dem Altar der Natur und der Tugend
geheiligten Flammen uͤberlaſſen hatte. Erſtlich war
ſie geſtern waͤrmer, weil ſie vorher kaͤlter geweſen im
kleinen Zank, den bloß ihr Geſicht uͤber die Kuſſe¬
vizer Affaire gehabt: nichts macht die Liebe ſuͤßer
und zaͤrter als ein kleines Keifen und Frieren vor¬
her, ſo wie die Weintrauben durch einen Froſt vor
der Leſe duͤnnere Schaalen und [...]eſſern Moſt gewin¬
nen. Zweitens betragen ſich in einem hohen Grade
der Ruͤhrung und Liebe die beßten Maͤdgen gerade
ſo wie die — guten.
[175]
Ich habe erſt drei Kaffeetaſſen Burgunder zu mir
genommen, weil ich zur Karnation und Roͤthelzeich¬
nung des Nachmittags vielleicht nicht mehr brauche
— aber o Himmel, die Nacht! — Meine Schuld
iſt's nicht, wenn es der Nachwelt nicht zu Ohren
koͤmmt, daß die meiſten Nachmittags der Hitze we¬
gen aus dem Garten blieben. Aber ſie ſehen aus
den Zimmern die Wieſe, den Zimmerplatz eines ſchoͤ¬
nen Abends, wo die Kinder ſchon im voraus herum¬
liefen, das Gras hinaustrugen, und mit Virtuoſen
auf Bierhebern das Trommetenfeſt eroͤfneten. Es
wuͤrde zu geringfuͤgig ſeyn, wenn ich's anmerken
wollte, daß mehrere Jungen durch geſchoſſene rothe
Kappen oder Kronen todt hingeſtreckt wurden, weil
ſie Haſen vorſtellten, der Muͤtzen-Schuͤtze Jaͤger,
und die Reſtanten Windhunde; man kann's aber me¬
taphoriſch nehmen und dann wird's ſatiriſch und er¬
heblich genug.
Die Freude zarter Menſchen iſt verſchaͤmt, ſie
zeigen lieber ihre Wunden als ihre Entzuͤckungen,
weil ſie beide nicht zu verdienen glauben oder ſie zei¬
gen beide hinter dem Schleier einer Thraͤne. Vik¬
tor war ſo und ſah in jeder Freude ſeufzend nach
Weſten, ich weiß nicht ob er an den Untergang
der Sterne und der Menſchen dachte oder an die
Schwarzen, deren Ketten bis in unſere Halbkugel
heraufklirren, oder an naͤhere Weiſſe, fuͤr die man
[176] die zerſprengten wieder loͤthet mit Blut — — Aber
dieſes Schauen nach ſeiner Keblah zwang ihn ſeine
Entzuͤckung zu verdienen. Die geſtrige und heu¬
tige war ſo groß, daß er geruͤhrt zum Genius der
Erde ſagte: »ſo groß kann meine ſchwache Tugend
»nicht werden.« — Es half ihm nichts, daß er ſich
ſelber vor ſeinem Gewiſſen herauszuſtreichen ſuchte
und dieſem vorſtellte, wie viel ſchoͤne Minuten und
frohe Pulsſchlaͤge er hier in dieſem Seifersdor¬
fer Thal austheile an ſeine Freunde, und an ſeine
Freundin, die durch ihn geneſe, und an die Kinder,
die er jetzt ſchon ſpringen ſehe und Abends noch
mehr — es fruchtete beim Gewiſſen etwas, aber
doch nicht genug, als er es fragte, ob er denn vor
der Sphaͤrenmuſik dieſer Tage die Ohren zuhalten
ſollte; ob er nicht ſeine Leidenſchaften uͤberwunden
habe und ob nicht der groͤßere Spielraum und die
groͤßere Thaͤtigkeit eines Menſchen bloß in der groͤ¬
ßern Zahl beſiegter Leidenſchaften beſtehe, ſo daß alſo
eine Hofdame, ja ſogar ein Koͤnig keinen kleinern
Wirkungskreis innen habe als der nuͤtzlichſte Buͤrger;
und ob nicht der Menſch wie ſehr kleine Kin¬
der bloß in die Erdenſchule geſendet worden, um
ſtille ſeyn zu lernen — aber der evchariſtiſche Re¬
ligionskrieg des alten und neuen Adams hoͤrte bloß
durch eine Entzuͤckung auf, naͤmlich durch die Ent¬
ſchließung, ſobald ihn ſein Vater die Hand- und
Bein¬[177] Beinſchellen des Hofes abnehme, mehr zu kuriren
als der Stadt- und Landphyſikus und alles gratis
und meiſtens bei Armen. — —
Nur auf ein Wort, Leſer! Tugend kann nicht der
Gluͤckſeligkeit wuͤrdig machen, ſondern nur wuͤrdi¬
ger, weil die ſchon Exiſtenz bei uns wie bei den
nicht-moraliſchen Thieren ein Recht an Freude giebt
— weil Tugend und Freude inkommenſurable Groͤ¬
ßen ſind, und man nicht weiß, wird ein ſeeliges
Jahrhundert durch ein tugendhaftes Jahrzehend ver¬
dient oder umgekehrt — weil die Jahre der Freude
vor den Jahren der Tugend laufen, ſo daß der Tu¬
gendhafte ſtatt der Zukunft erſt die Vergangenheit,
ſtatt des Himmels erſt die Erde zu verdienen
haͤtte.
Der Nachmittag lief wie eine lichte Quelle uͤber
bunte Kleinigkeiten wie uͤber Goldſand hinuͤber, uͤber
kleine Freuden und uͤber große Hofnungen, uͤber
zarte Aufmerkſamkeiten und uͤber den Blumenſtaub
wohlwollender Feinheiten, der das beſte Heftpulver
der Herzen iſt. Viktor fuͤhlte, daß eine Geliebte, die
viel Verſtand hat, der Liebe einen eignen pikanten
Geſchmack mittheile; ſie ſelber fuͤhlte, daß das Herz,
das man mit weichen bekleideten Haͤnden und nicht mit
rohen Griffen abgepfluͤckt, ſich beſſer konſervire, ſo
wie Borsdorferaͤpfel laͤnger ſich halten, die man nur
mit Handſchuhen abgenommen. Ob gleich nach mei¬
Heſperus. III. Th. M[178] nen Tabellen die Liebe gerade am Tage nach dem
erſten Kuſſe am hoͤchſten, naͤmlich auf 112° Fahrenh.
oder 10° de l'Isle ſteht: ſo war doch mit Viktors
Liebe zugleich ſeine Ehrfurcht geſtiegen — o die Liebe
erhebt, worin die Gunſtbezeugungen nicht kuͤhner
ſondern bloͤder machen! —
Unſer Freund fuͤhlte, wie gluͤcklich in der Freude
das Anſichhalten mache und wie ſehr der mouſſi¬
rende Freuden-Pokal durch einige Meſſerſpitzen hin¬
eingeworfnes Temperirpulver ſich aufhelle und ver¬
edle. Nach einem Nachmittag, wo die ganzen
Stunden reizend waren, ohne daß man einzelne auſ¬
ſerordentliche Minuten haͤtte herausheben koͤnnen —
wie die Faſanenfedern nicht einzeln, ſondern in gan¬
zen Buͤſchen glaͤnzen — nach dieſem Nachmittag zog
alles in den Garten, aber Emanuel zuerſt. Der In¬
dier vertrug wie Grasmuͤcken keine Zimmer und
ſchwieg darin oder las nur und zwar bloß — was
mich nicht wundert — den ernſthaften Shakeſpear.
. . . . .
Unter dem großen Abendhimmel, den keine Wolke
einſchraͤnkte, thaten ſich die Seelen wie Nachtviolen
auf. Emanuel war der Zizerone und Gallerieinſpek¬
tor dieſes maleriſchen Gartens. Er fuͤhrte ſeinen
Freund und die andern zu ſeinem kleinen Blumen¬
gaͤrtgen, das am hoͤchſten im Park lag. Der Park
lief naͤmlich den Berg hinab mit fuͤnf gleichſam aus
[179] dieſem Schubladenweiſe herausgezognen Terraſſen
und Stockwerken. Dieſe fuͤnf Ebenen, dieſe einge¬
hauene gruͤnende Stufen, hielten eben ſo viel ver¬
ſchiedene Gaͤrten, Baum-Staudengaͤrten ꝛc. empor
— daher wurde durch jeden neuen Standpunkt wie
durch einen metamorphotiſchen Spiegel aus dem al¬
ten Garten ein neuer zuſammengeruͤckt. Den ab¬
ſchuͤſſigen Park faßten auf beiden Seiten zwei
Schlangengaͤnge hoher, wankender, brennender Blumen
wie zwei hinunter wehende Treppengelaͤnder ein und
hinter jeder Blumen-Schlangenlinie ringelte ſich
oben vom Berge ſilbernes Geaͤder mit hellem duͤn¬
nem auf- und niederſpringenden Gewaͤſſer herab*),
das in der Abendſonne eine in aufrechten Windungen
daliegende Goldſchlange oder Ichor Schlagader wur¬
de. Auf der oberſten letzten Terraſſe ſtanden einan¬
der die Abend- und die Morgenlaube als die
Pole des Gartens gegenuͤber und die Abendfon¬
taine glimmte uͤber jener und die Morgenſon¬
taine uͤber dieſer empor und beide ſahen zu eiander
wie Mond und Sonne heruͤber.
Und gerade an der Abendfontaine hatte Emanuel
ſeinen Zwiſchengarten. Denn er liebte als Indier
M 2[180] phyſiſche Blumen wie poetiſche, und ihm war im
December ein Blumenbuch eine gewiegte Blumenau
und ein Nelkenblaͤtterkatalog war fuͤr ihn die Huͤlſe
und Chryſalide des Sommers. Er fuͤhrte ſeine Ge¬
liebten auf der blumigen Region des Berges durch
die unſchuldigen Blumen hindurch‚ die wie gute
Maͤdgen weder Sonne noch Erdreich zum eignen Le¬
ben dem fremden nehmen — vor der Goldquaſte der
Tulpe vorbei — vor den Miniaturfarben des Ver¬
gißmeinnicht — vor den bunten Glocken‚ die auch
wie die lauten in den Giesloͤchern der Erde gegoſ¬
ſen werden — vor den Ohrroſen des Auguſts, naͤm¬
lich den Roſen — vor dem Kato, der nicht der lu¬
ſtige Englaͤnder ſondern eine ungeflammte Aurikel iſt,
die bei H. Klefeker in Hamburg zu haben — vor
der geliebten Agathe, die an die andere in St. Luͤne
erinnerte und die eine ſchoͤne Schluͤſſelblume iſt. ..
Endlich kamen ſie an die Adendlaube und an Da¬
hore's Blumen, naͤmlich an ſchneeweiſſe Hyazinthen
in deren Verſchattung die durchſtrahlte Abendfontai¬
ne eine bleiche Roͤthe tuſchte. O wie ſchoͤn, wie
ſchoͤn wehte da die Waͤrme der Abendſonne heruͤber
und die Kuͤhle des Abendwindes! — Aber warum
ſinket, Klotilde, dein Auge und dein Haupt hier ſo
traurig gegen die Blumen zu? Iſt's, weil die Fon¬
taine erliſcht, weil die Sonne untergeht? — Nein,
ſondern weil die weiſſen Hyazinthen in der Blumi¬
[181] ſtenſprache Julia heiſſen — o weil der Gottesacker
heruͤberſieht, deſſen hohe wankende Grasblumen mit
ihren Wurzeln uͤber zwei geliebten Augen ſtehen,
uͤber den Augen der blaſſen Hyazinthe Giulia, die
das heutige Feſt nicht erlebte. — — Aber Klotilde
verbarg ſich, um nichts zu ſtoͤren.
Das ausfunkelnde Gold der Waſſer-Silberſtange
und die zuruͤckſchlagende Abendlohe an allen Fenſtern
zogen die Augen zur Sonne, die unter ihre Buͤhne
ſank — Aber ein rollendes Feuerrad des Allegro,
womit die Harmoniſten auf der Wieſe die weichende
Sonne begleiteten, nahm die Augen zu den Ohren
herab und unten auf der eingehuͤllten Wieſe ſtieg ein
neues Theater der Freude mit neuen Schauſpielern
empor. . . . Zwei Roſen waren in den Himmel ge¬
pflanzt, die rothe, die Sonne, die uͤber der zweiten
Halbkugel ihre Bluͤten aufthat, und die weiſſe, der
Mond, der in unſere niederhing; aber Sonnengold
und Lunensſilber und Abendſchlacken wurden noch
von einem rauchenden Zauberdufte eingeſogen und
man konnte noch nicht die Schatten vom ſilbernen
Grunde des Mondlichts abſondern und niederflattern¬
de Bluͤten wurden noch mit Nacht-Schmetterlingen
vermengt. — —
Die Gluͤcklichen gingen durch die Kaſtanienallee
hinab zu den juͤngern Gluͤcklichen, zu den Kindern,
die, kuͤhner durch die Gegenwart ihrer Mutter, zwan¬
[182] zig Freiheitsbaͤume in veraͤnderlichen Gruppen umzin¬
gelten und umkreiſeten und nur auf tiefere Schatten
warteten, um ſchneller zu tanzen. Der Englaͤnder
wurde von Klotilde wie ein Freund ihrer zwei
Freunde empfangen. Das Brautpaar, dem die Wieſe
als Erbſchaft gehoͤrte, hatte die eigne Muſik gegen
dieſe vertauſcht und das Bundesfeſt deſſelben ruͤckte
in ſeinem Budesfeſte unſerem Helden den heitern
Tag naͤher, wo er er auch ſeine Klotilde Braut
nennen durfte; aber er hatte jetzt nicht den Muth,
ſein erroͤthendes Geſicht gegen dieſe zu wenden, weil
er dachte, ſie denke daſſelbe und ſey auch roth. Nur
ein Liebender kann mit dem Enthuſiasmus eines
Brautpaars ſympathiſiren; und nie ſtiegen ſchoͤnere
Wuͤnſche fuͤr eines auf als fuͤr dieſes in zwei See¬
len voll Liebe. Eine vierjaͤhrige Schweſter der Braut
druͤckte ſich an Klotilden an — jene war die kleine
Luna dieſer Venus bei ihren Spaziergaͤngen — und
dieſe entlud gern ihre Liebe in die kleine Hand, die
der ihrigen den Vorzug vor einem Moitiſten ließ.
Der Mond gab jetzt durch den Widerſchein der
Sonne, womit er dieſes Kinderparadies verſilberte,
der Freude helleres Kolorit und unter dem vertieften
Schatten der Maienbaͤume wuchs der kindliche Muth.
Alles war begluͤckt — alles feſſelnlos — alles fried¬
lich — kein giftiges Auge warf Blitze — keine ein¬
zige Haͤrte ſtoͤrte das metriſche Leben — in melodi¬
[183] ſcher Fortſchreitung klangen dir Minuten im Silber¬
tone voruͤber und verfingen und hielten ſich in dem
ausſchlagenden Roſendickigt der Abendroͤthe auf —
Der laue flatternde Aether des Fruͤhlings ſog an
den Bluͤten ſich voll Duͤfte und trug ſie wie Honig
in die Bruſt des Menſchen — Und als die Pulſe
voller ſchlugen, ſpielten ſtumme kuͤhlende Blitze um
die Nebel des Horizonts und der Mond zog Lebens¬
luft *) aus den Blaͤttern, um auf ihr den abgezognen
Geiſt ihrer Kelche geſuͤnder zuzufuͤhren. —
Viktor und der Englaͤnder und Emanuel und
Klotilde nebſt einigen von ihren Freundinnen ſtanden
unten wie gebende Goͤtter der Freude neben den Kin¬
dern und wurden durch den Genuß der fremden La¬
bung trunken. Unſer Freund hatte eine zu heilige
Liebe, um ſie (zumal ſo vielen Fremden und dem
Englaͤnder) zu zeigen und legte dem unbaͤndigen tan¬
zenden Herzen Zuͤgel an. In der edeln Liebe iſt das
Opfer — und waͤre ſie es ſelber — ſo angenehm wie
der Genuß; aber noch leichter wird es neben einem
Emanuel, der — das iſt das ſchimmernde Ordens¬
kreuz der hoͤhern Menſchen — gerade in der Freude
ſeine Augen zu dem hoͤhern Leben aufhebt und zur
[184] Wahrheit. Dieſesmal verdoppelte noch dazu das
Gefuͤhl ſeiner ſteigenden Geſundheit ſein Schmachten
nach dem geweiſſagten Verſcheiden. Sein verherr¬
lichtes Angeſicht, ſeine uͤberirrdiſchen Wuͤnſche und
ſein ſtilles Ergeben waren gleiſam der zweite hoͤhere
Mondenſchein, der in den dunklern fiel; und er
ſtoͤrte das wachſende Elyſium gar nicht, da er z. B.
ſagte: »der Sterbliche haͤlt ſich hier fuͤr ewig, weil
»das Menſchengeſchlecht ewig iſt; aber der fortgeſtoßene
»Tropfe wird mit dem unverſiegendem Strome ver¬
»wechſelt; und keimten nicht immer neue Menſchen
»nach, ſo wuͤrde jeder die Fluͤchtigkeit ſeiner Lebens¬
»terzie tiefer empfinden« — oder da er ſagte:
»wenn der Menſch nicht unſterblich wird, ſo wird
»es auch kein hoͤheres Weſen und die Schluͤſſe ſind
»dieſelben; dann brennte der ſtehende Gott aus dem
»kaͤmpfenden und erloͤſchenden Sinn einſam heraus,
»gleich der Sonne, die, wenn es keinen Erdendunſt¬
»kreis gaͤbe, aus einem ſchwarzen Himmel lodern und
»die gewoͤlbte Nacht durchſchneiden aber nicht erhel¬
»len wuͤrde« — oder da er ſagte: der Gang des
»Menſchengeſchlechts zur h. Stadt Gottes gleicht
dem Gange einiger Pilgrimme, die nach Jeruſalem
wallfarthen und allemal nach drei Schritten vor¬
waͤrts wieder einen ruͤckwaͤrts thun« — Oder end¬
lich da er auf ſeines Viktors Bemerkung, daß die
Beſſerung nur die groben Fehler, nicht die feinen
[185] Gewiſſensbiſſe aufhebe und daß ein Heiliger ſo viel
Klagen von ſeinem Gewiſſen erhalte als der Schlim¬
me, da er darauf ſagte: »unſere Entfernung von
»der Tugend findet man wie die von der Sonne, durch
»genauere Berechnungen bloß groͤßer: aber die
»Sonne fließet, aller veraͤnderlichen Rechnungen un¬
»geachtet, immer mit derſelben Waͤrme in unſer
»Angeſicht.« — —
Ploͤtzlich lief der Englaͤnder zu den Spielern und
foderte — um die achromatiſchen Spruͤnge und Laͤu¬
fer ſeiner Ideen in Muſik geſetzt zu ſehen — von
ihnen das beſte Adagio und eilte in das »Florge¬
»zelt« oben hinauf, das der Lord Horion aus ei¬
ſernen Boͤgen und daruͤber geſpannten ſchwarzen Dop¬
pelflor erbauen ließ, um fuͤr ſeine damals erkranken¬
den Augen den Sonnenſchein in Mondſchein umzu¬
ſetzen. — — Da jedes Herz bei der erſten Beruͤh¬
rung vom Adagio in ſeelige Thraͤnen zerſpringen
mußte: ſo zerlegte die Wonne, die ſich zu verhuͤllen
ſuchte, den ruhenden Kreis und alle floſſen auseinan¬
der, um, (jeder unter ſeinem eignen Ueberlaubung)
ungeſehen zu laͤcheln und ungehoͤrt zu ſeufzen — wie
Kurgaͤſte eines Geſundbrunnen zertheilte, begegnete,
entfernte man ſich in zufaͤlligen Richtungen.
Der ſchoͤne Blinde ruhte oben nicht weit von der
Nachtigal gleichſam an der Quelle der harmoniſchen
Stroͤme und Klotilde blickt' ihn trauernd an, ſo oft
[186] ſie an ihm voruͤber ging und dachte vielleicht:
»arme verſchattete Seele, die Seufzer der Muſik
»dehnen dein ſehnſuͤchtiges Herz aus und du ſiehſt
»nie, wen du liebſt, wer dich liebt.« — Emanuel
ging einſam den langen Weg zu ſeinem Berge mit
der Trauerbirke hinauf und zuruͤck. — Viktor irrte
den ganzen Garten hindurch: er kam vor verhuͤllten
Obeliſken, Saͤulen und Wuͤrfeln voruͤber, die den
Platz ſteinerner Faunen beſſer beſetzten; er trat in die
dunkle nur von der Abendroͤthe ſchattirte Abendlaube,
wo er geſtern zu gluͤcklich war fuͤr einen Sterblichen
und zu weich fuͤr einen Unſterblichen; — er draͤngte
ſich durch einen Ring von Buͤſchen, aus denen ein
ſtrahlendes Springwaſſer vorragte und ſchloß geblen¬
det die Augen zu als er darin in kuͤnſtlich belaubten
Pfeilerſpiegeln einen mit Mondsſilber geſaͤttigten
Waſſerbogen in zuruͤckweichenden Erbleichungen mil¬
lionenmal aufgewoͤlbt und aus weiſſen Regenboͤgen
in Mondsſicheln und endlich in Schatten zuruͤckge¬
fuͤhrt erblickte. — —
O wie oft hatt' er nicht in ſeinen Kindertraͤu¬
men, in ſeinen Landſchaftsgemaͤlden, die er ſich von
den Tagen des Paradieſes entwarf, dieſe Nacht ge¬
ſehen und kaum gewuͤnſcht, weil er ſie auf der rau¬
hen Erde nie zu erleben hofte; und jetzt ſtand dieſe
Eden-Nacht mit allen um ſie haͤngenden Bluͤten und
Sternen ausgeſchaffen vor ihm? — Und wer von
[187] uns hat nicht in irgend einer zauberiſch beleuchteten
Stelle ſeiner Phantaſie und ſeiner Hofnung ein eben
ſo großes Nachtſtuͤck einer kuͤnftigen Fruͤhlingsnacht
aufgeſtellt, wo er wie in dieſer mit allen Freun¬
den auf einmal (nicht immer allein) gluͤcklich iſt —
wo wie in dieſer die Nacht nur als ein Schleier
durchſichtig uͤber den Tag geworfen iſt, wo der ro¬
the Guͤrtel, den die Sonne beim Einſteigen in's
Meer abgelegt, bis an den Morgen auf dem Rand
der Erde ſchimmernd liegen bleibt — wo die langen
Seelentoͤne der Nachtigal laut durch das auseinan¬
der rinnende Adagio ziehen und ſich aus dem Echo
erheben — wo wir lauter befreundeten Seelen be¬
gegnen und ſie trunken anblicken und durch das Laͤ¬
cheln fragen: o du biſt doch auch ſo gluͤcklich wie
ich? und wo das fremde Laͤcheln es bejahet — eine
Nacht, o Gott, wo du unſer Herz voll und doch
ruhig gemacht, wo wir weder zweifeln noch zuͤr¬
nen noch fuͤrchten, wo alle deine Kinder an dei¬
ner Bruſt in deinen Armen ruhen und die Haͤnde
ihrer Geſchwiſter halten und nur mit halb geſchloſſe¬
nen Augen ſchlummern um ſich anzulaͤcheln? — —
Ach da der Seufzer, womit ich dieſes ſchreibe und ihr
es leſet, es uns daran erinnert, wie ſelten ſolche
Fruͤhlingsnaͤchte auf unſere Erde fallen: ſo veruͤbelt
es mir nicht, daß ich das ſchwelgeriſche Gemaͤlde die¬
ſer Nacht nur langſam vollfuͤhre, damit ich einmal
[188] in meinen alten Tagen mich an der gemahlten
Stunde der jetzigen Begeiſterung erquicke und etwan
ſagen koͤnne: ach du wußteſt es damals wohl, daß
du niemals eine ſolche Nacht erleben wuͤrdeſt, dar¬
um warſt du ſo weitlaͤuftig. Und was anders als
verſteinerte Bluͤten eines Klima, das auf dieſer Erde
nicht iſt, graben wir aus unſerer Phantaſie aus ſo
wie man in unſrem Norden verſteinerte Palmbaͤume
aus der Erde holt. . . .
Viktor ging zum ſtillen Julius an der Nachtigal¬
lenhecke und legte ihm Nachtviolen in die Hand und
kuͤßte ihn auf das verhangne Auge, das nicht ſehen
aber doch weinen konnte vor Freude — und die be
nachbarte Nachtigal hielt nicht innen unter dem
Kuß. — Viktor kam den Garten hinauf als Ema¬
nuel herunterkam, und neben der Morgenfontaine
ſahen ſie einander an und Emanuels Angeſicht leuch¬
tete im Wiederſchein der Wellen als wenn er vor
dem Engel des Todes ſtaͤnde und zerfloͤſſe, um zu
ſterben und er ſagte: »Der Unendliche druͤckt uns
»heute an ſich — warum kann ich nicht weinen, da
»ich ſo gluͤcklich bin.« — Und als ſie wieder ausein¬
ander waren: rief er ſeinem Viktor zuruͤck und ſag¬
te: »ſchau wie bluͤhendroth der Abend gegen Mor¬
gen zieht wie ein Sterbender, als wenn ihn die Toͤ¬
ne fortruͤckten — ſchau die Sterne haͤngen wie Bluͤ¬
ten aus der Ewigkeit in unſere Erde herein — ſchau
[189] die große Tiefe wieviel Fruͤhlinge gruͤnen heute auf
ſo viel tauſend darin ziehenden Erden.« —
Als Viktor vor der Sonnenuhr voruͤberging, die
mit einem Maasſtabe aus Schatten uns andern
Schatten ihre engen gluͤcklichen Inſeln zuzaͤhlte und als
ihm der Mond auf der Wage mit ſeiner innenſtehen¬
den Schattenzunge die letzten Minuten dieſer frohen
Stunde vorwog, weil er nach Mitternach hin zeigte gleich
ſam als wenn er ſchriebe: es iſt ſogleich voruͤber: ſo
trat der Englaͤnder allein langſam und niederblickend aus
dem Florgewebe und ging unter die Toͤne, um ſie wegzu¬
fuͤhren mit dem ganzen Himmel um ſie. Viktor,
der im ſtillen Meer der tiefſten Freude nicht mehr
nach Gegenden ſteuerte ſondern zufrieden darauf tau¬
melte und ruhte und in der Zukunft nichts begehrte
als die Gegenwart, wandelte jetzt nur auf den lan¬
gen Terraſſen hin und her, anſtatt den Garten auf
und abzuſteigen — er ſtand gerade auf der oberſten,
auf der Blumenteraſſe, an der Morgenfontaine und
ſah den daͤmmernden Weg hinuͤber zur blinkenden
Abendfontaine und der Schnee des Mondes lag tie¬
fer und weiſſer gefallen die gluͤckſelige Ebene hinab
und dieſes bluͤhende Zuckerfeld kam ſeinem traͤumen¬
den Herzen wie eine in dieſe Erde hereinreichende
Landſpitze der Inſel der Seeligen vor und er ſah ja
lauter ſeelige Menſchen auf dieſem Zaubergefilde
gehen, ruhen, tanzen, hier einſam, dort in Paaren, dort
[190] in Gruppen und unſchuldige Menſchen, ſtille Kinder,
ſanfte tugendhafte Maͤdgen und er ſchauete zum ge¬
ſtirnten Himmel auf und ſein Auge voll Thraͤnen
ſagte zum Allguͤtigen: o gieb auch meinem guten
Vater und meinem guten Flamin eine ſolche Nacht
— — als er ploͤtzlich die Toͤne wie abgewehet ver¬
nahm und den Britten mit den Kindern ziehen ſah
und das Schwanenlied eines Maͤſtoſo wurde voraus¬
getragen vor der entfliehenden Jugend. . . .
Viktor ging oben mit den wegſchwimmenden Toͤ¬
nen und die Sterne ſchienen mitzuſchwimmen und
die Gegend mitzugehen — auf einmal ſtockt er am
Ende der Blumenterraſſe, vor der Abendfontaine, vor
den Ebenbildern Giulias, den weiſſen Hyazinthen,
vor der Freundin Giulias, vor — Klotilde. . . Au¬
genblick! der nur in der Ewigkeit wiederholt wird,
ſchimmere nicht zu ſtark, damit ich es ertragen kann,
bewege mein Herz nicht zu ſehr, damit es dich be¬
ſchreiben kann! — Ach beweg' es nur wie die zwei
Herzen, denen du erſchienſt, du begegneſt uns allen
nicht mehr. . . . . Und Klotilde und Viktor ſtanden
unſchuldig vor Gott und Gott ſagte: weint und liebt
wie in der zweiten Welt bei mir! — Und ſie ſchaue¬
ten ſich ſprachlos an in der Verklaͤrung der Nacht,
in der Verklaͤrung der Liebe, in der Verklaͤrung der
Ruͤhrung und Wonnezaͤhren deckten die Augen zu
und hinter den erleuchteten Thraͤnen ſtiegen um ſie
[191] verklaͤrte Welten aus der dunkeln Erde auf und die
Abendfontaine legte ſich glimmend wie eine Milch¬
ſtraße uͤber ſie heruͤber und der Sternenhimmel ſchlug
funkelnd uͤber ſie zuſammen und das entweichende
Vertoͤnen ſpuͤhlte die aufgehobnen Seelen vom Er¬
denufer loß. ... Siehe! da trieb ein kleines We¬
hen die entfliegenden Laute heiſſer und naͤher an ihr
Herz und ſie nahmen ihre Thraͤnen von den Augen;
und als ſie umher ſchaueten in der Gegenwart: ſo
bewegte das melodiſche Wehen alle Bluͤten im Gar¬
ten und die große Nacht, die mit Rieſengliedern im
Mondſchein auf der Erde ſchlief, regte vor Wonne
ihre Kraͤnze aus abgeſchatteten Gipfeln und die zwei
Menſchen laͤchelten zitternd zugleich und ſchlugen mit ein¬
ander die Augen nieder und hoben ſie mit einander auf und
wußten's nicht. Und Viktor konnte endlich ſagen:
O! moͤge das edelſte Herz, das ich kenne, ſo unaus¬
ſprechlich ſeelig ſeyn wie ich und noch ſeeliger! So
viel hab' ich nicht verdient. — Und Klotilde ſagte
in einem ſanften Tone: ich bin den ganzen Abend
allein geblieben bloß um vor Freude zu weinen, aber
er iſt zu ſchoͤn fuͤr mich und die Zukunft. ... Die
umkehrenden Geſpielinnen kamen den Garten herauf
und beide mußten auseinander ſcheiden; und als Vik¬
tor noch mit erſtickten Lauten ſagte: »Ruhe wohl,
du edle Seele — ſolche Freudenthraͤnen muͤſſen im¬
mer in deinen Augen ſtehen, ſolches melodiſche Ge¬
[192] toͤne muͤſſe immer um deine Tage rinnen — Ruhe
wohl du himmliſche Seele« und als ein Blick voll
neuer Liebe und ein Auge voll neuer Thraͤnen ihm
dankte; und als er ſich tief, tief buͤckte vor der Heiligen
Stillen Beſcheidnen, und aus Ehrfurcht nicht ein¬
mal ihre Hand kuͤßte: ſo umarmte in der Unſichtbar¬
keit ihr Genius ſeinen Genius vor Entzuͤcken, daß
ihre zwei Kinder ſo gluͤcklich waren und ſo tugen¬
haft. — —
O wie wohl that jetzt ſeiner uͤberſchuͤtteten Seele
ſein geliebter Dahore, dem er unter den lauten Ka¬
ſtanien nachkam und an den er mit allen ſeinen Thraͤ¬
nen der Wonne, mit allen ſeinen Liebkoſungen des
trunknen Herzens fallen durfte: »mein Emanuel,
»ruhe ſanft! Ich bleibe heute Nacht unter dieſem
»guten warmen Himmel um uns her.« — »Bleibe
»nur, Guter, (ſagte Emanuel) eine ſolche Nacht
»zieht durch keinen Fruͤhling mehr. .... Hoͤrſt du
»(fuhr er fort, als die in die Unermeßlichkeit ent¬
»ruͤckten Toͤne gleichſam wie Abendſterne des unter¬
»gegangnen Glanzes, wie Herbsſtimmen des wegzie¬
»henden Sommergeſangs in die ſehnſuͤchtige Seele
»hineinriefen) hoͤrſt du das ſchoͤne Vertoͤnen? ſiehe,
»eben ſo toͤne am laͤngſten Tage meine Seele aus,
»eben ſo liege dein Herz an meinem und ſo ſage wie
»heute: ruhe wohl!« ...
Dem[193]
Dem letzten Geliebten entſunken ſchwankte Viktor
im gemiſchten Zwielicht der wehmuͤthigen Begeiſte¬
rung zuruͤck durch die vom Mondlicht durchbrochne
gleichſam von Stralen tropfende Allee, um in der
Bluͤtenhoͤle, wo er zuerſt Klotilde hier gefunden, das
traͤumende Haupt an ein Kopfkiſſen von Bluͤtenkel¬
chen anzulehnen. . . . Und als er langſam und allein
und mit elyſiſchen Erinnerungen und Hofnungen
durch den in die Allee gewachſenen Laubengang zwi¬
ſchen den einwiegenden Baͤchen hinwankte: ſo ſchwam¬
men noch niedrige Wogen des weggetragnen Getoͤnes
in die Phantaſie mehr als in die Ohren und nur die
Nachtigal regierte laut uͤber die beſeelte Nacht. O!
da ſank unnenbar begluͤckt und wonneſchwer der letzte
Menſch dieſer Nacht von den fuͤnf Stufen ſeines
himmliſchen Bettes durch die Zweig–Vergitterung
in das dunkle Bluͤten–Souterrain hinein — — Be¬
thauete Sproſſen fielen kuͤhlend an ſeine entzuͤndete
Stirne, er legte die zwei Arme ausgeſtreckt auf zwei
Armlehnen von Zwergbaͤumen und ſchloß entzuͤckt die
heiſſen Augenlieder zu und das Forttoͤnen der Nach¬
tigal und der fuͤnf Quellen um ihn wehten ihn ei¬
nige Strecken weit in den daͤmmernden Wahnſinn
des Traumes hinuͤber — — aber die in Freuden Jubel
hinausſchreiende Nachtigal ſchlug durch ſeinen Traum
und als er die Augen, in halbe Traͤume verſchlagen,
aufthat, ſchoß der Blitz des Mondes durch das weiſſe
Heſperus. III. Th. N[194] Geſtraͤuch — — — dennoch, von den vorigen Sze¬
nen befriedigt, laͤchelte er nur halb auſſer ſich und
uͤberhuͤllte das Auge wieder und ließ ſich ganz in den
harmoniſchen Schlummer hinunter . . . . nur ewige
gebrochne Laute ſang er noch in ſich . . . nur eini¬
gemal regte er noch die liegenden Arme zu Umfaſſun¬
gen . . . . und nur im Erſterben des Schlummers
und der Wonne ſtammelte er Einmal noch dunkel:
Geliebte! . . .
Und ſo ſchoͤn, großer Allguͤtiger, laſſ' uns andere
Menſchen in der letzten Nacht entſchlafen wie Vik¬
tor in dieſen und laſſ' es auch unſer letztes Wort
ſeyn: Geliebte! —
[195]
4. und letzter Pfingſttag. 36. Hundspoſttag.
Hyazinthe — Die Stimme vom Vater Emanuels — Brief vom
Engel — Flöte auf dem Grab — Zweite Nachtigal — Ab¬
ſchied — Piſtolen — Geiſtererſcheinung.
Eben iſt der Anhang zum vierten Freudentage einge¬
laufen. — Ich komme nach dem Seufzer, womit
man gewoͤhnlich am Tage nach den Feſttagen ſagt,
daß man ſie begrabe, wieder vor das bluͤhende Bette
meines Freundes und oͤfne den gruͤnenden Vorhang;
gegen neun Uhr erſt zog ihn eine nah' an ſeinen
Haͤnden ſchlagende Grasmuͤcke muͤhſam aus einem
tiefen Traummeer. Aber die Schattenfiguren, die
der Hohlſpiegel des Traums in der Luft aufgerichtet
hatte, waren alle vergeſſen; nur die Thraͤnen, die
ſie ihm ausgepreſſet, ſtanden noch in ſeinen Augen
und er entſann ſich nicht mehr, warum er ſie vergoſ¬
ſen hatte. Es war hente Quatember, der wie an¬
dere Wetter- und Mondsveraͤnderungen unſer Traum-
Echo lauter und vielſylbiger macht. — In einer ſon¬
derbaren Erweichung ſchlug er die Augen auf vor
der weiſſen Daͤmmerung des Apfelbluͤten Ueberhangs,
vor dem Wirwar des gruͤnen Geſpinſtes — ſeine
Hand jagte die Grasmuͤcke durch das Gebuͤſch —
N2[196] es war ſchwuͤl um dieſen Schatten, die Baumgipfel
waren ſtumm und alle Blumen gerade — Bienen
bogen ſich von Sandkoͤrngen herab in die Quellen
um ihn und ſchlurften Waſſer — von den Weiden tropf¬
ten weiſſe Flocken und alle Riechflaͤſchgen der Bluͤ¬
ten und die Rauchgefaͤße der Blumen uͤbergoßen ſei¬
ne Schlafſtaͤtte mit einem ſuͤßen ſchwuͤlen Dunſt ...
Er fuͤhrt ſeine rechte Hand ans naſſe Auge und
erblickt darin mit Erſtaunen eine weiſſe Hyazinthe,
die ihm jemand heute mußte hineingeleget haben ..
Er verfiel auf Klotilde; und ſie war's auch gewe¬
ſen: vor einer halben Stunde trat ſie an dieſes Blu¬
men-Bette — ließ ſogleich das Geſtraͤuch leiſe wie¬
der zuſammenſchlagen — zog es aber doch wieder
auseinander, weil ſie die Thraͤnen des vergeſſenen
Traums uͤber das Angeſicht des gluͤhenden Schlaͤfers
rinnen ſah — ihre ganze Seele wurde nun ein wei¬
cher ſegnender Blick der Liebe und ſie konnte ſich
nicht enthalten, das Denkmal ihres Morgenbeſuchs,
die Blume, in die Hand zu legen — und eilte dann
leiſe in ihr Zimmer zuruͤck.
Er trat eilig in den leuchtenden Tag, um die
Geberin einzuholen, deren Morgengabe er leider aus
Beſorgniß der Zerſtoͤrung ſo wenig wie ſie ans Herz
anpreſſen durfte. O wie that es ihm wehe, als er
im Freien vor dem herrnhutiſchen Gottesacker der
heimgegangnen Himmelsnacht, vor dem ruhen¬
[197] den Garten ſtand und als er auf die kahlen ausge¬
maͤhten eingetretenen Tanztenne und auf die ver¬
ſtummte Nachtigallenſtaude blickte und auf die Ber¬
ge, woran die Kinder ſchmutzig weideten vom geſtri¬
gen Schmucke entkleidet! Da erſchien der vergeſſene
Traum wieder und ſagte: weine noch einmal, denn
das Roſenfeſt deines Lebens beſchließet ſich heute und
der letzte von den vier Fluͤßen des Paradieſes trock¬
net in wenig Stunden gaͤnzlich aus! — O ihr ſchoͤ¬
nen Tage, ſagt' Viktor, ihr verdient es, daß ich
euch verlaſſe mit einer Erweichung ohne Maaß und
mit Thraͤnen ohne Zahl! — Er floh aus dem zu
hartem Tageslicht in die Zelle aus Flor, damit ſie
den hellen Vorgrund des Tages zu einem daͤmmernden
Hintergrund ummalte mit dem geſtrigen Mondſchein
uͤberdeckt; und unter dieſem Leichenſchleier der erbli¬
chenen Nacht ſetzte er ſich vor, dem verarmenden
Herzen heute ſeine letzten Freuden ganz im Ueber¬
maaß zu goͤnnen, naͤmlich ſeine Thraͤnen. Er trat
aus dem Flor, aber der naͤchtliche Mondſchein wich
nicht von der Flur; er ſchaute auf in den blauen
Himmel, der uns mit Einer langen Flamme beta¬
ſtet, aber die zugehuͤllten Sterne der Winternacht
ſchickten herausquellende kleine Stralen an die ver¬
dunkelte Seele; er ſagte ſich zwar: »der Eißberg,
auf dem bisher meine Vernunft halbe Bergpredigten
abgelegt, iſt unter der Freudenglut zu einem Maul¬
[198] wurfshuͤgel eingelaufen» aber er ſetzte hinzu: »heu¬
»te frag' ich nach nichts.»
Er kam zu Emanuel mit Augen voll Thraͤnen.
Dieſer ſagte ihm, daß ſich das erſte Glied der ge¬
ſtrigen Blumenkette, naͤmlich der Britte mit ſeinen
Leuten, ſchon in der Nacht abgeloͤſet habe. Aber je
laͤnger er Emanuel anſah und an morgen dachte —
denn morgen lehnt auch er vor Tag's die Garten¬
thuͤre dieſes Paradieſes leiſe hinter ſich zu, heute
Nachmittags nimmt er von der Aebtiſſin und Abends
von der Geliebten Abſchied, um dieſe nicht im Ab¬
leſen der bekannten Engels-Epiſtel zu hemmen —
deſto druͤckender waren ſeine Augen geſpannt und er
ging lieber mit einem ſich ſelber vollblutenden Her¬
zen hinaus ins Freie und fuͤhrte den Blinden mit,
der nichts errieth, nichts erblickte und vor dem man
ohnehin wie vor einem Kinde gern ſein Innerſtes
entkleidete.
Aber dieſesmal war Julius in derſelben Erwei¬
chung, weil er den ganzen Morgen den Engel in
ſeiner daͤmmernden Seele ſpielen und fliegen ſehen.
Die Sehnſucht nach dem Engel bruͤtete ſein ruhen¬
des Herz zum Pochen an und er ſagte mit einem
ungewoͤhnlichen Schmerz: »wenn ich nur ſehen koͤnn¬
»te, nur etwas, nur meinen Vater, oder dich!»
Die uͤberſtaͤubten Erinnerungen an ſeine Kindheit
wurden aufgeſchuͤttelt; und aus dieſer in Wolken
[199] ſtehenden Zeit trat beſonders Ein Tag heraus vor
ihn morgenhell, blau und voll Geſang, und trug
drei Geſtalten auf ſeinem Nebelboden, Julius eigne
und die der zwei Kinder, von denen er ſich vor ih¬
rer Einſchiffung nach Deutſchland geſchieden hatte
— es entfloßen ihm Tropfen, ohne daß er es merk¬
te, da er gerade dieſem Viktor, der das Folgende
gethan hatte, das Kuͤßen und Umhaͤngen und Nach¬
rufen des einen Kindes malte, das ihn am meiſten
liebte und immer trug. »und ich denke, fuhr er
»fort, jeder, den ich gern hoͤre, habe das Geſicht
»dieſes guten Kindes und auch du. Oft wenn ich
»einſam dieſe Geſtalt in meinem Dunkeln anſchaue
»und warme Tropfen auf den Lippen ſpuͤre und in
»eine ſchmachtende ſchlummernde Wonne falle: mein'
»ich, es quelle Blut aus meinen Lippen und mein
»Herz ſiedet — aber mein Vater ſagt, wenn dann
»meine Augen ploͤtzlich aufgethan wuͤrden und ich
»ſaͤhe meinen Engel an oder das gute Kind oder
»einen ſchoͤnen Menſchen, dann wuͤrde ich ſterben
»muͤſſen vor Liebe.» — — O Julius, Julius,
(rief ſein Viktor) wie edel iſt dein Herz! Das gute
Kind, das du ſo liebſt, wird bald mein Vater an
dich legen, es wird dich ſo kuͤſſen, ſo lieben, ſo
druͤcken wie ich jetzt. —
Er fuͤhrte ihn zum Eſſen zuruͤck; er ſelber aber
blieb bis Nachmittags unter dem Himmel und ſein
[200] Herz legte ſtille Trauer an unter Baͤumen voll Bie¬
nen neben Geſtraͤuchen voll aͤzenden Voͤgeln, auf al¬
len bisherigen Spaziergaͤngen und Sonnenwegen die¬
ſes ſterbenden Feſtes — und es ſtanden alle Kinder¬
ſtunden aus dem Winterſchlafe bei Gedaͤchtnißes auf
und beruͤhrten ſein Herz, aber es zerfloß. — — O
wenn uns weit entlegne Minuten mit ihrem Glo¬
ckenſpiel antoͤnen, ſo fallen große Tropfen aus der
weichen Seele, wie das naͤhere Heruͤberklingen fer¬
ner Glocken Regen bedeutet. Ich verdenke dir
nichts, Viktor, — du biſt doch nur weich, aber
nicht weichlich — ſo gut dir dein Biograph deine
Erweichung nachzuſchreiben und dein Leſer ſie nach¬
zufuͤhlen vermag, ohne die feſten Muskeln des Her¬
zens abzuſpannen, eben ſo gut vermagſt du es auch
und nur ein Mann, der bittere Thraͤnen erpreſſen
kann, wird ſuͤße verhoͤhnen und keine ſelber ver¬
gießen.
Endlich ging Viktor zur letzten Freude, in den
Garten des Endes, um mit ſanften Thraͤnen in der
Abtei von allen Freundinnen abzuſcheiden. Ein
ſonderbarer Vorfall verſchob es ein wenig: denn in¬
dem er von Emanuel wegging, ſtieß ihm Julius
auf, der aus dem Garten kam und ihm ſagte, »wenn
»er zu Emanuel wolle, er ſei im Garten.» — Sie
erhoben einen freundſchaftlichen Streit, weil jeder
ihn gerade jetzt geſprochen haben wollte. Viktor
[201] ging mit ihm zu Dahore zuruͤck und hier erzaͤhlte
Julius ſeinem Lehrer jedes Wort des vorgeblichen
Gartengeſpraͤchs mit ihm: »z. B. uͤber Viktor, uͤber
Klotilde, uͤber ſeinen heutigen Abſchied, uͤber die
bisherigen frohen Tage.»
Waͤhrend der Erzaͤhlung wurde Emanuels Ange¬
ſicht glaͤnzend als wenn Mondsſchimmer davon nie¬
derfloͤße — und anſtatt dem geliebten Kinde die Un¬
moͤglichkeit ſeiner Erſcheinung im Garten vorzuſtel¬
len, raͤumte er ſie ihm ein und ſagte entzuͤckt: »ich
»werde ſterben! — Es war mein abgeſchiedener Va¬
»ter — ſeine Stimme klingt wie meine — er ver¬
»hieß mir in ſeinem Sterben, aus der zweiten Welt
»in dieſe zu kommen eh' ich von hinnen ginge. —
»Ach ihr Geliebten druͤben uͤber den Graͤbern, ihr
»denkt alſo noch an mich — o! du guter Vater,
»dringe jetzt mit deinem toͤdlichen Glanze vor mich
»heran und loͤſe mich an deinem Munde auf!» —
Er wurde noch mehr darin befeſtigt, weil Julius
dazu erzaͤhlte, die Geſtalt habe ſich von ihm den
Brief des Engels reichen laſſen, ihn aber nach einem
kleinen Liſpeln wieder zuruͤckgegeben. Das Siegel
war unbeſchaͤdigt. Emanuels freudiger Enthuſias¬
mus uͤber dieſe Steganographie des Todes ſetzte un¬
zufriedene Schluͤße aus ſeiner bisherigen Geſundheit
voraus. Viktor lehnte ſich nie gegen die erhabnen
Irrthuͤmer ſeines Lehrers auf; ſo ſtellte er z. B.
[202] niemals die Gruͤnde, die er hatte und die ich im
naͤchſten Schalttage anzeigen will, dem unſchuldigen
Wahn entgegen: »aus dem Traume und aus der
»Unabhaͤngigkeit des Ichs vom Koͤrper koͤnne man
»auf die [...]uͤnftige nach dem Tode ſchließen — im
»Traume ſtaͤube ſich der innere Demant ab und ſau¬
»ge Licht aus einer ſchoͤnern Sonne ein.» — Vik¬
tor erſchrack daruͤber, aber aus andern Gruͤnden:
Julius nahm beide an den Ort der Unterredung mit,
der in der verfinſterten Allee neben der Bluͤtenhoͤle
war. Niemand war da, nichts erſchien, Blaͤtter li¬
ſpelten, aber keine Geiſter, es war der Ort der
Seeligkeit, aber der irdiſchen. —
Viktor ging in den andern, in die Abtei. Klo¬
tilde war nicht droben, ſondern im verſchlungnen
Labyrinth des Parks, wahrſcheinlich um dem Inha¬
ber vom Engels-Briefe, Julius, die Gelegenheit
des Vorleſens zu erleichtern. Er nahm, als die
Sonne gerade den Fenſterſcheiben gegenuͤber brannte,
von der guten Aebtiſſin mit jener feinen geruͤhrten
Hoͤflichkeit Abſchied, auf die ſich in ihrem Stande
der hoͤchſte Enthuſiasmus einſchraͤnkte. Die feine
Aebtiſſin ſagte ihm: »ſein Beſuch ſey ſo kurz, daß
»er unverzeihlich waͤre, wenn nicht Viktor es da¬
»durch gutmachte, daß er ihren zweiten Fruͤhlings¬
»Gaſt (Klotilden) uͤberredete, den ihrigen zu verlaͤn¬
[203] »gern: denn auch dieſe verlaſſe ſie bald.» — Er
ſchied mit einer geruͤhrten Achtung von ihr: denn
ſein weiches Herz wußte eben ſo gut hinter der
Spitzenmaske der Feinheit und Welt, als hinter der
Leder-Kruſte der Rohheit das fremde weiche aus¬
zufuͤhlen.
Als er freilich in den Garten eilte: ſtiegen die
Thraͤnen ſeines Herzens hoͤher und waͤrmer — und
ihm war als muͤßte er den im Angeſichte der Sonne
aufgehenden Mond umſchließen, als er dachte! »ach
»wenn deine bleiche Flocke heute lichter droben
»haͤngt, wenn du allein niederſchaueſt, bin ich ge¬
»ſchieden von meiner Schaͤferwelt oder ſcheide noch.»
— Und unten ruhte neben der Nachtigallenhecke ſein
Julius, der helle Thraͤnenſtroͤme vergoß — denn die¬
ſer ganze Abend wimmelt von immer groͤßern Meer¬
wundern des Zufalls — er eilt zu ihm herab, der
Brief des ſogenannten Engels iſt geoͤfnet in ſeiner
Hand, Viktor ſagt leiſe: Julius, warum weineſt
du ſo?» — O Gott, ſagte dieſer gebrochen: »fuͤhre
»mich unter eine Laube!» — Er leitete ihn zur
uͤberflorten. Julius ſagte darin: »recht! hier brennt
»die Sonne nicht!» und ſchlug den rechten Arm um
Viktor und gab ihm den Brief und legte den Arm
herum bis an ſein Herz und ſagte: du guter Menſch!
[204] ſage mir, wenn die Sonne nieder iſt und lies mir
noch einmal den Brief des Engels vor!»
Viktor fing an: »Klotilde!» — »An wen iſt
»er?» ſagt' er. — »An mich! (ſagte Julius) und
»Klotilde hat mir ihn ſchon vorgeleſen; aber ich
»konnte ſie wegen ihrem Weinen nicht verſtehen und
»ich war auch zu betruͤbt. — Ich werde vor Kum¬
»mer ſterben, du gute Giulia, warum haſt du mir
»es nicht vor deinem Tode geſagt. — Die Todte
»hat ihn geſchrieben, lies nur!» — Er las:
Klotilde!
»Ich huͤlle meine erroͤthenden Wangen in den
Leichenſchleier. Mein Geheimniß ruht in meinem
Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Lei¬
chenſtein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es
aus dem zerfallenen Herzen dringen — o dann bleib'
es ewig in deinem, Klotilde! — und ewig in deinem,
Julius! — Julius, war nicht oft eine ſchweigende
Geſtalt um dich, die ſich deinen Engel nannte?
Legte ſie nicht einmal als die Todtenglocke ein bluͤ¬
hendes Maͤdgen einlaͤutete, eine weiſſe Hyazinthe in
die Hand und ſagte: Engel pfluͤcken ſolche weiſſe
Blumen? Nahm nicht einmal eine ſtumme Geſtalt deine
Hand und trocknete ſich damit ihre Thraͤnen ab und
konnt' es nicht ſagen, warum ſie weine? Sagte nicht
einmal eine leiſe Stimme: lebe wohl, ich werde dir
[205] nicht mehr erſcheinen, ich gehe in den Himmel zu¬
ruͤck? Dieſe Geſtalt war ich, o Julius: denn ich
habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe! hier
ſteh' ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich ſchaue
nicht hinuͤber in ihre unendlichen Gefilde, ſondern
ich kehre mein Angeſicht noch ſinkend nach dir zu¬
ruͤck, nach dir und mein Auge bricht an deinem
Bilde. — Jetzt hab' ich Dir alles geſagt. — Nun
komm, ſtillender Tod, lege langſam die weiſſe Hya¬
zinthe um und theile bald das Herz auseinander, da¬
mit Julius darin die verſchloßene Liebe ſehe. — —
Ach wirſt denn du eine Todte in deine Seele neh¬
men? Wirſt du weinen, wenn du dieſes leſen hoͤ¬
reſt? Ach wenn mein zugedeckter, zerdruͤckter Staub
dich nicht mehr beruͤhren kann, wird mein entfern¬
ter Geiſt von deinem geliebt werden? — Aber ich
beſchwoͤre dich, o Unvergeßlicher, geh' an dem Ta¬
ge, wo dir dieſes Thraͤnenblatt vorgeleſen wird, da
gehe wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem
Grabe und bringe dem bleichen Angeſicht darunter,
das der alte Huͤgel ſchon entzwei druͤckt, und dem
zerronnenen Herzen, das fuͤr nichts mehr ſchlagen
kann, da bringe der Armen, die dich ſo ſehr geliebt
und die deinetwegen ſich unter die Erde gehuͤllet,
dein Todtenopfer — bring' ihr auf deiner Floͤte die
Toͤne meines geliebten Liedes: das Grab iſt tief und
ſtille. — Sing es leiſe nach, Klotilde und beſuch'
[206] mich auch. — Ach arme Giulia, richte deine Seele
auf und erliege jetzt nicht, da du deinen Julius dir
an deinem Grabe denkeſt! — Wenn du das Todten¬
opfer bringſt, ſo wird zwar mein Geiſt ſchon hoͤher
ſtehen, ich werde ein Jahr jenſeits der Erde gelebet
haben, ich werde die Erde ſchon vergeſſen haben —
aber doch, aber o Gott, nenn du die Toͤne uͤber
meinem Grabe ins Elyſium dringen lieſſeſt, dann
wuͤrd' ich niederſinken und heiße Thraͤnen vergießen
und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der
Ewigkeit lieb' ich ihn noch — es geh' ihm wohl auf
der Erde, ſein weiches Herz ruhe weich und lange
auf dem Leben drunten. — Nein, nicht lange!
Komm herauf, Sterblicher, zu den Unſterblichen,
damit dein Auge geneſe und die Freundin erblicke,
die fuͤr dich geſtorben iſt!
Giulia.»
»Ich will gehen — ſagte Julius ſtockend, aber
»mit Zuckungen im Geſicht — wenn auch die Son¬
»ne nicht hinab iſt: Mein Vater ſoll mich bis zum
»Untergange troͤſten, damit mein Herz nicht ſo hef¬
»tig an die Bruſt anſchlaͤgt, wenn ich am Grabe
»ſtehe und das Todtenopfer bringe.» — — Laß mich
nichts ſagen, Leſer, von der Beklemmung, womit
[207] ich weiter gehe, — noch von dieſer zu weichen Giu¬
lia, die wie eine Morgenſonnenuhr, vor dem Mit¬
tage im Schatten und Kuͤhlen war, die wie eine
Taube die Fluͤgel dem Regen und Weinen ausein¬
ander faltete — noch von ihren Schweſtern, die im
zweiten Jahrzehend das Skelet des Todes ganz mit
Blumen uͤberhaͤngen, daß ſie ſeine Glieder nicht ſe¬
hen koͤnnen und die ihren weißen Arm blos auf ei¬
nen Myrthenzweig der Liebe ſtuͤtzen wie auf einen
Aderlaßſtock und ruhig dem Verbluten ſeiner zer¬
ſchnittenen Adern zuſchauen! —
Ich haͤtte nicht einmal dieſes geſagt, wenn nicht
Viktor es gedacht haͤtte, deſſen Herz ein unendlicher
Gram und eine unendliche Liebe toͤdtlich auseinander
zogen: denn ach wie weit war nicht ſeine unerſetzli¬
che Klotilde ſchon auf dem Wege, ihrer Freundin
nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde
zu verbergen, wie man im Froſte Nelken nieder¬
legt?
Die Sonne ſtieg tiefer — der Mond ſtieg hoͤher
— Viktor ſah Klotilden wie eine Heilige, wie einen
aͤtheriſch verkoͤrperten Engel in einer gegen Abend
geoͤfneten Niſche ruhen — das kleine geſtern ge¬
nannte Maͤdgen ſpielte auf ihrem Schoos mit einer
neuen Puppe — ihm war als ſeh' er ſie gen Himmel
ſchweben — und als ſie ihre großen Augenlieder
aus den Thraͤnen fuͤr die geſchiedne Freundin, deren
[208] Geheimniß ſie laͤngſt errathen und verborgen hatte,
gegen den aufhob, der ſie heute durch ſeinen Abſchied
vermehrte; und als ſie auch ſein Angeſicht in Ruͤh¬
ung zerſchmolzen ſah: ſo erdruͤckten die gleichen
Trauergedanken in beiden ſogar die erſten Laute des
Empfangs und beide wanten ihr Geſicht ab, weil ſie
uͤber die Trennung weinten. — — »Haben Sie
(ſagte Klotilde, wenigſtens mit einer gefaßten Stim¬
me) eben mit Julius geſprochen?» — Viktor ant¬
wortete nicht, aber ſeine Augen ſagten Ja, indem
ſie blos heftiger ſtroͤmmten und ſie unverwandt an¬
ſchaueten. Sie ſchlug ſie tief nieder, mit einem klei¬
nen Erroͤthen fuͤr Giulia. Das kleine Kind hielt die
uͤber die großen Tropfen heruͤberfallenden Augenlie¬
der fuͤr ſchlaͤfrig und zog der Puppe das ſchmale mit
Heu gepolſterte Kopfkiſſen weg, breitete es Klotilden
hin und ſagte unſchuldig: »da leg' dich drauf und
ſchlaf' ein!» Es ſchauerte ihren Freund, da ſie ant¬
wortete: »Heute nicht, Liebe, auf Kiſſen mit Heu
ſchlafen nur die Todten.» Es ſchauerte ihn, da er
auf ihrem bewegten Herzen eine ſchneeweiße Feder¬
nelke, in deren Mitte ein großer dunkelrother Punkt
wie ein blutiger Tropfen iſt, erzittern ſah. Die
fuͤrchterliche Nelke ſchien ihm die Lilie zu ſeyn, die
der Aberglaube ſonſt im Korſtuhle des Prieſters an¬
traf, deſſen Sterben prophezeiet werden ſollte.
Sie[209]
Sie heftete ſchmerzlich ihren Blick auf die tiefe
Sonne und den Gottesacker, hinter dem dieſe in den
Maitagen wie ein Menſch unterging. »Verlaſſen
»Sie dieſe Ausſicht, Theuerſte (ſagt' er ohne Hoff¬
»nung des Gehorſams) — eine ſchoͤne zarte Huͤlle
»wird von einer ſchoͤnen zarten Seele am leichteſten
»zerſtoͤrt. — Ihre Thraͤnen thun Ihnen zu wehe.»
Aber als ſie unbefangen erwiderte: »ſchon lange nicht
»mehr — nur in fruͤhern Jahren brannten mir da¬
»von die Augenhoͤlen und der Kopf wurde betaͤubt»
»und als der Gedanke an die bewoͤlkte Perſpektive
ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬
ſen wand: ſo erſtarb das Sonnenlicht auf ihren
Wangen — Thraͤnenſtroͤme brachen gewaltſam aus
ihren Augen — er wandte ſich um — druͤben auf
dem Gottesacker ſank der Verhuͤllte auf dem Huͤgel
der Verhuͤllten nieder — die Sonne war ſchon un¬
ter die Erde, aber die Floͤte hatte noch keine Stim¬
me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine Toͤ¬
ne. . . Endlich richtete der ſchoͤne Blinde ſich un¬
ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer
und die Floͤtenklagen ſtiegen von dem feſten Grabe auf
in das Abenbroth — drei Herzen zergingen wie die
Toͤne, wie das vierte eingeſunkne. — Aber Klotilde
riß ſich gewaltſam aus dem ſtummen Jammer auf
und ſang zu dem Todtenopfer leiſe das himmliſche
Heſperus. III. Th. O[210] Lied, um das die Verſtorbne ſie gebeten hatte
und das ich mit unausſprechlicher Ruͤhrung gebe:
O Salis! in dieſem Doch ſind alle unſere verweh¬
ten Seufzer, alle unſere vertrockneten Thraͤnen und
heben das ſteigende Herz aus ſeinen Wurzeln und
Adern und es will ſterben!
[211]
Die Stimme der edeln Saͤngerin unterlag der
Wehmuth, aber ſie ſang doch die letzte der Strophen die¬
ſes Sphaͤren-Liedes, obwohl leiſer in der ſchmerz¬
haften Ueberwaͤltigung:
Ihre Stimme brach, wie ein Auge bricht oder ein
Herz. . . . Ihr Freund huͤllte ſein Haupt in die
Blaͤtter der Laube — das ganze Erdenleben zog wie
eine Klage voruͤber. — Klotildens ſchwere Vergan¬
genheit, Klotildens duͤſtere Zukunft ruͤckten zuſam¬
men vor ſeinem Auge und warfen im dunkeln den
Leichenſchleier uͤber dieſen Engel und zogen ſie ver¬
huͤllet in das Grab zur Schweſter. . . . Er hatte
ſogar den Abſchied vergeſſen . . . er hatte nicht den
Muth, die große Szene um ſich anzuſchauen und die
Gebeugte neben ſich . . .
Er hoͤrte die Kleine gehen und ſagen: ich hole
dir ein groͤßeres Kiſſen unter den Kopf.
Klotilde ſtand auf und faßte ſeine Hand — er
kehrte ſich wieder um in die Erde — und ſie ſchaue¬
te ihn an mit einem verweinten aber zaͤrtlichen Auge,
deſſen Tropfen zu rein waren fuͤr dieſe ſchmutzige
O2[212] Welt, aber in dieſem großen Auge ſtand etwas
gleichſam wie die fuͤrchterliche Frage: »lieben wir
uns nicht vergeblich fuͤr dieſe Welt?» — Und ihr
ſchlagendes Herz erſchuͤtterte die blutige Nelke. —
Der Mond und der Abendſtern glimten einſam wie
eine Vergangenheit im Himmel. — Julius ruhte
ſtumm und niedergedruͤckt mit umſchließenden Armen
auf dem eingeſunknen Huͤgel, der auf den Staub
ſeines zerſplitterten Paradiſes gewaͤlzet war. —
Die Toͤne der Nachtigal ſchlugen jetzt gleich ho¬
hen Wellen an die Nacht — da ermannte er ſich,
um ihr Lebe wohl zu ſagen . . .
Leſer! erhebe deinen Geiſt zu keiner Entzuͤckung,
denn ſie wird bald in einem Krampf erſtarren —
aber ich erhebe meine Seele dazu, weil ſogar das
toͤdtliche Niederſtuͤrzen an der Pforte des Paradiſes
ſchoͤn iſt unter dem Weggehen daraus!
Dem erſten Rufe der vertrauten Nachtigal ant¬
wortete ploͤtzlich noch hoͤher eine neue hergeflatterte
von dicken Bluͤten gedaͤmpfte Nachtigal, die immer
unter dem Singen flog und jetzt aus der Bluͤtenhoͤle
ihr melodiſches Schmachten ziehen ließ. Die zwei
Menſchen, die das Scheiden verſchoben und fuͤrchte¬
ten, irrten betaͤubt der gehenden Nachtigal nach und
waren auf dem Wege zur ſeeligen Bluͤtenhoͤle: ſie
wußten nicht, daß ſie allein waren; denn in ihrem
Herzen war Gott; vor ihrem Auge ſchimmerte die
[113] ganze zweite Welt voll auferſtandner Seelen. End¬
lich erhohlte ſich Klotilde, kehrte um vor der Nach¬
tigal und gab das traurige Zeichen der Trennung.
— Viktor ſtand am Ufer ſeiner bisherigen gluͤckſeli¬
gen Inſel — alles, alles war nun voruͤber — er
blieb ſtehen, nahm ihre zwei Haͤnde, konnte ſie noch
nicht anſchauen vor Schmerz, bog ſich mit Thraͤnen
nieder gegen ihre Schulter, richtete ſich auf als er
leiſe reden konnte: »Lebe wohl — mehr kann mein
»ſchweres Herz nicht — recht wohl lebe, viel beſſer
»als ich — weine nicht ſo oft wie ſonſt, damit du
»mich nicht etwan verlaſſen mußt. — Denn ich gin¬
»ge dann auch.» — Lauter und feierlicher fuhr er
fort: »denn wir koͤnnen nicht mehr geſchieden wer¬
»den — hier unter der Ewigkeit reich' ich dir mein
»Herz — und wenn es dich vergiſſet: ſo zerquetſch'
»es ein Schmerz, der uͤber die zwei Welten reicht
».... (Leiſer und zaͤrtlicher) Weine morgen nicht,
»Engel — und die Vorſehung gebe dir Ruhe.» —
Wie ein Verklaͤrter an eine Verklaͤrte neigte er ſich
zuruͤckgezogen an ihren heiligen Mund und nahm in
einem leiſen andaͤchtigen Kuſſe, in dem die ſchwe¬
benden Seelen nur von Ferne mit aufgeſchlagnen
Fluͤgeln zitternd einander entgegen wehen, mit leiſer
Beruͤhrung von den zerfloſſenen weichenden Lippen
die Verſieglung ihrer reinen Liebe, die Wiederho¬
[214] lung ſeines bisherigen Edens‚ und ihr Herz und
ſein Alles — — — —
— Aber hier wende die ſanftere Seele‚ die die
Donnerſchlaͤge des Schickſals zu ſehr erſchuͤttern‚ ihr
Auge von dem gelben großen Blitze weg‚ der ploͤtz¬
lich durch das ſtille Eden faͤhrt! —
»Schurke!» — ſchrie der herausſtuͤrzende Fla¬
min mit ſpruͤhenden Blicken, mit ſchneeweiſſen Wan¬
gen, mit wie Maͤhnen herunterhaͤngenden Locken,
mit zwei Taſchenpiſtolen in den Haͤnden — »da
»nimm, nimm, Blut will ich» und ſtieß ihm das
Mordgewehr entgegen, Viktor draͤngte Klotilden
weg und ſagte: »o Unſchuldige! vermehre deine
Schmerzen nicht!» — Flamin rief in neuer Entflam¬
mung: »Blut! — Treuloſer, nimm, ſchieß!» —
Matthieu fiel ihm in den rechten Arm, aber der
linke drang bebend dem Viktor das Geſchoß auf. —
Viktor riß es zu ſich weil die Muͤndung um Klotil¬
den herumwankte. — »Du biſt ja mein Bruder»
rief die arme Gemarterte blos durch Todesangſt vom
Tode der Ohnmacht weggequaͤlt. — Flamin warf
mit beiden Armen alles von ſich und ſagte graͤßlich¬
leiſe lang gedehnt in wuͤthiger Erſchoͤpfung: »Blut!
— Tod!» — Klotilde ſank um — Viktor blickte
[215] auf ſie und ſprach gegen ihn: »feuer' nur, hier iſt
mein Leben!» — Flamin ſchrie laut »du zuerſt!» —
Viktor ſchoß, hob den Arm weit empor, um in die
Luft zu ſchießen und der zerſplitterte Gipfel wurde
von ſeiner Kugel heruntergeſtuͤrzt. — Klotilde wachte
auf, — Emanuel flog her, — warf ſich an ſeines
Schuͤlers Herz, — ſeiner ſeit Jahren zum erſtenmale
von Leidenſchaft auseinandergeriſſenen Bruſt quoll das
ſieche Blut aus, — Flamin ſchleuderte ſtolz ſeine
Piſtole weg und ſagte zu Matthieu: komm! es iſt
der Muͤhe nicht werth» und ging mit ihm davon.
Als Klotilde Emanuels Blut auf ihres Geliebten
Kleidern ſah, hielt ſie ihn fuͤr getroffen und legte
ihr Tuch auf das Blut und ſagte: »ach das haben
Sie nicht um mich verdient.» — Emanuel athmete
wieder durch ſein Blut hindurch, niemand konnte
weiter ſprechen, niemand uͤberlegen, jeder fuͤrchtete
ſich, zu troͤſten, die toͤdtlich zermalmten Herzen
ſchieden mit verbiſſenem Weh auseinander: blos
Viktor, den das graͤßliche Wort »Schurke» bei
jeder Erinnerung wie ein Dolch durchſtieß, ſagte
noch zur Schweſter: »ich lieb' ihn nicht mehr, aber
»er iſt ungluͤcklicher als wir, ach er hat alles verlo¬
»ren und nichts behalten als einen Teufel» —
Naͤmlich Matthieu. Dieſer hatte heute die
Stimme Emanuels, die mit Julius geſprochen und
die Dahore fuͤr des Vaters ſeine gehalten, und
[216] nachher die Stimme der Nachtigall, der Viktor
nachgegangen, nachgemacht, um den Regierungsrath
durch ſeine eigne Ohren und Augen von Viktors
Liebe gegen Klotilden zu uͤberfuͤhren.
Viktor fuͤhrte den ſchwachen Lehrer in die indi¬
ſche Huͤtte. Er fuͤhlte jetzt nach ſo vielen aufloͤſenden
Tagen ſeine Nerven durch dieſes Ungewitter gekuͤhlt
und geſtaͤhlt; der Seelenſchmerz und die Aufopferung
hatten ſein Blut, wie engere verſperrende Wege die
Stroͤme, ſchneller und heftiger gemacht und die Lie¬
be zu Klotilden war maͤnnlicher und kuͤhner durch
den Gedanken geworden, daß er ſie nun ganz ver¬
diene. — Nichts giebts auſſer Groß-muth und
Sanft-muth ſchoͤneres als das Buͤndniß derſelben.
Emanuel war nichts mehr als matt und ſetzte
ſich, da der Abend ſchwuͤl auf allen bruͤtete, mit
Viktor auf die Grasbank ſeines Hauſes, um mit
der zuckenden Bruſt aufrecht zu bleiben und eine
ſanfte Freude glaͤnzte in ſeinen Minen uͤber jeden
gefallnen Blutstropfen, weil jeder ein rothes Siegel
auf ſeine Hoffnung zu ſterben war. Aber als Viktor
das muͤde Haupt des guten Mannes an ſeinen Bu¬
ſen nahm und ihn darauf entſchlummern ließ: ſo
wurde ihm im ſtillen Abend wieder weh und ſein
Herz ſchmerzte ihn erſt. Er dachte ſich es einſam,
wie ſich druͤben heiſſe Schwerter durch die ſchuldloſe
blutende Seele ziſchend ziehen wuͤrden — er fuͤhlte,
[217] wie nun das zweiſylbige, zweyſchneidige Zornwort
Flamins durch das ganze Band ihrer Freundſchaft
geſchnitten — er ſtellte ſich das neben ihm bluͤhende
Theater der ſchoͤnen Tage veroͤdet vor und das
Voruͤberwehen der Freuden, die uns nur wie Schmet¬
terlinge in weiten Kreiſen umſpielen, indeß der Ner¬
venwurm des Grams ſich tief in unſere Nerven ein¬
beiſſet. — Ach endlich lehnt' er ſich weinend an den
ſchlummernden Vater und druͤckte ihn leiſe und ſag¬
te: »ach ohne Freundſchaft und Liebe koͤnnt' ich die
Erde nicht ertragen» — Und endlich wurde auch
ſeine zerſetzte und verſiegte Seele vom ſchweren Koͤr¬
per in den dicken Schlaf gedruͤckt und hinab
gezogen.
Leſer! der letzte Augenblick in Maienthal iſt der
groͤßte — erhebe deine Seele durch Schauder und
ſteige auf Graͤber wie auf hohe Gebirge, um hinuͤber
zu ſehen in die andere Welt!
Um Mitternacht, wo die Phantaſie die verhuͤll¬
ten Todten aus den Saͤrgen zieht und ſie aufgerich¬
tet in die Nacht um ſich ſtellt und aus der zweiten
Welt unbekannte Geſtalten zu uns verſchlaͤgt — ſo
wie unkenntliche Leichname aus Amerika an die Kuͤ¬
ſten der alten Welt antrieben und ihr die neue ver¬
[218] kuͤndigten — in der Geiſterſtunde ſchlug Viktor die
Augen auf aber unausſprechlich heiter. Ein vergeſ¬
ſener Traum hatte die heutige Vergangenheit mit
allem ihrem Getoͤſe und Gewoͤlke weit hinabgeſenkt
— der lichte Mond ſtand oben in der blauen Ver¬
finſterung wie die ſilberne Spalte und quellen-helle
Muͤndung, aus der der Lichtſtrom der andern Welt
in unſere bricht und in aͤtheriſchen Dufte nieder¬
ſinkt. — Wie iſt alles ſo ſtill und ſo licht, ſagte
Viktor, iſt dieſe daͤmmernde Gegend nicht aus mei¬
nem Traume uͤbrig geblieben, iſt das nicht die ma¬
giſche Vorſtadt der uͤberirdiſchen Stadt Gottes —
Eine voruͤbereilende Stimme ſagte: Tod! ich bin
ſchon begraben.
Emanuel oͤfnete daruͤber die Augen, warf ſie
durch das Laubwerk in den uͤber das Doͤrfgen erhoͤh¬
ten Kirchhof und ſagte mit einer Zuckung ſeines
ganzen Weſens: »Horion wach' auf, Giulia hat die
»Ewigkeit verlaſſen und ſteht auf ihrem Grabe.»
— Viktor blickte fieberhaft hinauf; und in einem
ſchneidenden Eisſchauer wurden alle warmen Gedan¬
ken und Nerven des Lebens hart und ſtarr, da er
oben am Grabe eine weiſſe verſchleierte Geſtalt ru¬
hen ſah. Emanuel riß ſich und ſeinen Schuͤler auf
und ſagte: wir wollen hinauf auf das Theater der
Geiſter; vielleicht ergreift die Todte meine Seele
und nimmt ſie mit.» . . . Fuͤrchterlich ſchwiegen
[219] die Gegenden um ihren Weg . . . die Menſchen
fahren aus dem Fußboden wie ſtumme Knechte, wie
Maſchinen zur Bedienung, und fallen wieder hinun¬
ter, wenn ſie abgeleeret ſind . . . Das Menſchen¬
geſchlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den
Sonnenſchein und das bethauete Gewebe haͤngt ſich
flatternd an zwei Welten an und in der Nacht ver¬
gehts . . . So dachten die zwei Menſchen auf der
Walfahrt zur Todten — ſie wunderten ſich uͤber ih¬
re eigne ſchwere Verkoͤrperung und uͤber das Ge¬
raͤuſch ihrer Tritte. — Emanuel knuͤpfte ſeinen Blick
auf die verſchleierte Geſtalt, die jetzt niederkniete —
er dachte, ſie hoͤre ſeine Gedanken und fliege zu ſei¬
nem Herzen durch das Mondlicht heruͤber. . .
Die Bruſt der zwei Menſchen hob ſich gleichſam
unter zwei Leichenſteinen auf und nieder, da ſie die
uͤbergraßten langen Stufen zum Kirchhof aufſtiegen
und das ſchwere Thor, das mit verwitterten, wegge¬
waſchenen Auferſtandenen angemalet war, beruͤhrten
und aufdrehten. — Das warme Erdenblut friert ein
und das weiche Gehirn gerint zu einem einzigen
Schreckenbilde, wenn von der Ewigkeit und von der
Pforte der Geiſterwelt die große Wolke wegruͤckt:
Emanuel rief auf der Buͤhne der Todten wie auſſer
ſich: »ſchauderhafter Geiſt, ich bin ein Geiſt wie
»du, du ſtehſt auch unter Gott, willſt du mich toͤd¬
»ten: ſo toͤdte mich durch keinen Schauer, durch
[220] »keine zermalmende Geſtalt, ſondern laͤchle wie die
»Menſchen und drehe ſtill mein Herz ab.« — Da
ſtand die verhuͤllte Geſtalt auf und kam — Emanuel
grif wild nach ſeinem Freund, huͤllte ſich in das An¬
geſicht deſſelben und ſagte angedruͤckt: »An dir ſterb'
»ich, an deinem warmen Herzen — o lebe gluͤcklich,
»wenn du nicht mit mir erkalteſt, ach! ziehe mit!« ..
»Ach, Klotilde:« — ſagte Viktor: denn ſie war
die Geſtalt. Sie war ſtumm wie das Geiſterreich,
denn die beſuchte Todte umklammerte noch ihr Herz;
aber ſie war groß wie ein Geiſt daraus: denn der
aͤtheriſche Lichtnebel des Mondes, der Stand auf
Todten, der Blick in die Ewigkeit, die hohe Nacht
und die Trauer erhoben ihre Seele und man vergaß
faſt, daß ſie weinte. — Emanuel hielt ſeine Fluͤgel
noch ausgebreitet uͤber die Szene und ſchauete erha¬
ben uͤber die Graͤber: »Wie alles hier ſchlaͤft und
»ruht auf dem großen gruͤnen Todtenbette! Ich
»moͤchte darauf erliegen — Sprach jetzt nichts? —
»Die Gedanken der Menſchen ſind Worte der Gei¬
»ſter — Wir ſind ſchleichende Nachtvoͤgel im daͤm¬
»mernden Dunſtkreis, wir ſind ſtumme Nachtwand¬
»ler, die in dieſe Hoͤlen fallen, wenn ſie erwachen
»— Ihr Todten! verſtaͤubet nicht ſo ſtumm, ihr
»Geiſter, die ihr aus euren begrabnen Herzen
»zieht, flattert nicht ſo durchſichtig um uns! — —
»O der Menſch waͤre auf der Erde eitel und Aſche
[221] »und Spielwerk und Dunſt, wenn er nicht fuͤhlte,
»daß er's waͤre — — o Gott, dieſes Gefuͤhl iſt un¬
»ſere Unſterblichkeit!« — —
Klotilde, um ihn von dieſer verheerenden Begei¬
ſterung herabzuziehen, nahm ihn bei der Hand und
ſagte: »Leben Sie wohl, Verehrungswuͤrdiger, ich
»nehme heute noch Abſchied, weil ich morgen aus
»Maienthal gehe — leben Sie gluͤcklich, gluͤcklich,
»bis wir uns wieder ſehen; mein Herz vergiſſet Ihre
»Groͤße nie aber ich ſehe Sie bald wieder«. . . . .
Ihre Wehmuth, uͤber den Gedanken an ſein geweiſ¬
ſagtes Sterben, ihre Furcht eines ewigen Abſchieds
erdruͤckten die andern Worte, denn ſie wollte mehr
ſagen und waͤrmer danken. Emanuel ſagte: »Wir
»ſehen uns nicht wieder, Klotilde: denn ich ſterb'
»in vier Wochen.« — O Gott! nein! ſagte Klotilde
mit dem innigſten heiſſeſten Tone. — »Mein guter
»Emanel, ſagte Viktor, quaͤle dieſe Gequaͤlte nicht
»— Faſſe dich, Gemarterte, unſer Freund bleibt ge¬
»wiß bei uns.« — Hier hob Emanuel groß ſein
Auge in den Himmel und ſagte mit einem Blick, in
dem eine Welt war: »Ewiger! koͤnnteſt du mich bis¬
»her ſo getaͤuſcht haben? — Nein, nein, am laͤng¬
»ſten Tage ziehen mich deine Sterne auf und deine
»Erde kuͤhlt mein Herz — Und dich, du gute Klo¬
»tilde, du Seele vom Himmel, dich ſeh ich alſo
»heute gewiß, bei Gott! zum letztenmal mit deinen
[222] »ſchoͤnen Wangen und in deiner Erbengeſtalt — ich
»ſegne dich und ſage dir Lebewol, aber ſchwer und
»truͤbe, weil ich noch ſo viele Tage leben ſoll ohne
»dich. Ziehe ſanft umweht durch's Leben, halte
»dein Herz hoch uͤber den bunten Dunſt der Erde
»und uͤber ihre Wetterwolken — du hoͤrſt mich ja
»nicht, du bitter-weinendes Angeſicht, Gott gieße
»Troſt in deine Seele, ſcheide froher! — dein
»Freund iſt bei mir, wann ich von hinnen gehe.« —
— Hier faßte Viktor die Haͤnde der wankenden ver¬
weinten Geſtalt, die ſich vergeblich die Thraͤnen ab¬
ſtreifte, um den Lehrer noch einmal zu ſehen und in
die Seele zu druͤcken; und als Viktor ohne Beſin¬
nung aber emporgehoben rief: »Giulia! Seelige! mil¬
»dere das Weh deiner Freundin in dieſer Stunde,
»halte dieſes brechende Herz« ſo ſagte Emanuel un¬
beſchreiblich zaͤrtlich beide anblickend: »Ich ſegne
»euch ein wie ein Vater, heiliges Seelen-Paar!
»Nie verlaſſet, nie vergeſſet einander! — O ihr ſee¬
»ligen Geiſter hier uͤber dem glimmenden Moder der
»zerſtuͤckten Saͤrge, gebet dieſen zwei Herzen Frieden
»und Gluͤck und wenn ich einmal geſtorben bin,
»will ich um eure Seelen ſchweben und ſie beruhi¬
»gen — Und du, Ewiger unter deinen Sternen,
»mache dieſe zwei Menſchen ſo gluͤcklich wie mich
»— o nimm ihnen nichts, nichts auf der Erde als
»das Leben — Gute Nacht, Klotilde!« . . . .
[223]
— Die Pfingſttage ſind voruͤber! —
Und dir, gutes Schickſal, dank' ich, daß du mir
die Geſundheit zur Freude gereicht, ein ſolches fluͤch¬
tiges goldnes Zeitalter abzuſchatten, da mein ſchwa¬
ches ſo ungleich pulſirendes Herz nicht verdient, ſol¬
che Entzuͤckungen nachzumalen — Und dir, mein lie¬
ber Leſer, moͤge das Pfingſtfeſt irgend einen Brand¬
ſonntag oder eine Marterwoche deines Lebens ver¬
ſuͤßet haben! —
[224]
Neunter Schalttag.
Viktors Aufſatz über das Verhältniß des Ichs zu den Organen.
Viktor war eben ſo ſehr dem ausſchließenden Ge¬
ſchmack in der Philoſophie als in der Dichtkunſt
feind. In allen Syſtemen — ſelber der Ketzer des
Epiphanias und Walchs — druͤckt ſich die Geſtalt
der Wahrheit, wie im Thierreich die menſchliche,
wiewohl in immer kuͤhnern Zuͤgen ab. Kein Menſch
kann eigentlichen Unſinn glauben, obwohl ſagen.
Sonderbar iſt's, daß gerade die konſequenten
Syſteme, ohne das Atomen-Klinamen des Gefuͤhls,
am weiteſten auseinander laufen. Die Syſteme wer¬
fen wie die Leidenſchaften nur im Fokalabſtande den
hellſten Lichtpunkt auf den Gegenſtand; — wie jaͤm¬
merlich laͤuft z. B. die große Theorie von der Selbſt¬
beherrſchung aus dem Chriſtenthum in den Stoi¬
zismus — dann in den Myſtizismus — dann in
den Monachismus und der Strom ſikert endlich
ausgedehnt im Fohismus ein wie der Rhein im
Sand! — Die kantiſche Theorie hat mit allen kon¬
ſequenten Syſtemen dieſe Verſandung, und mit
den[225] den unkonſequenten jenes Gefuͤhls-Klinamen *)[ge¬
mein], das die vertrocknenden Arme wieder zur einer
labenden Quelle zuſammenfuͤhrt. Die zwei Haͤnde
der reinen Vernunft, die einander in der Antinomie
zerkratzten und ſchlugen, legt die praktiſche friedlich
zuſammen und druͤckt ſie gefalltet an's Herz und
ſagt: hier iſt ein Gott, ein Ich und eine Unſterblich¬
keit! — —
Viktor befruchtete ſeine Seele vorher durch
die große Natur oder durch Dichter und dann erſt
erwartete er das Aufgehen eines Syſtems. Er fand
(nicht erfand) die Wahrheit durch Aufflug, Umher¬
ſchauen und Ueberſchauen, nicht durch Eindringen,
mikroſkopiſches Beſichtigen und ſyllogiſtiſches Herum¬
kriechen von einer Sylbe des Buchs der Natur zur
andern, wodurch man zwar deſſen Woͤrter
aber nicht den Sinn derſelben bekoͤmmt.
Jenes Kriechen und Betaſten gehoͤrt, ſagt' er, nicht
zum Finden, ſondern zum Pruͤfen und Beſtaͤtigen
der Wahrheit; wozu er ſich allezeit von Bayle Schul¬
ſtunden geben ließ: denn niemand lehrt die Wahrheit
ſchlechter finden und beſſer pruͤfen als Scharfſinn oder
Bayle, der ihr Muͤnzwardein aber nicht ihr Berg¬
mann iſt.
Heſperus. III. Th. P[226]
Der Aufſatz.
Schrieb' ich ihn in Goͤttingen: ſo koͤnnt' ich ihn
in Paragraphen und gruͤndlicher machen, weil mich
die Flachſenfinger nicht ſtoͤrten. Indeſſen muß er
doch hier geſchrieben werden, damit ich an mir ſel¬
ber einen Schirmherrn und Anwald gegen die Jun¬
ker habe, die meinen Geiſt in meinen Koͤrper verwan¬
deln wollen.
Das Gehirn und die Nerven ſind der wahre Leib
unſers Ichs; die uͤbrige Einfaſſung iſt nur der Leib
jenes Leibes, die naͤhrende und ſchirmende Borke je¬
nes zarten Marks. — Und da alle Veraͤnderungen
der Welt uns nur als Veraͤnderungen jenes Markes
erſcheinen: ſo iſt der Mark- und Breiglobus mit ſei¬
nen Streifen der eigentliche Weltglobus der Seele.
Der umgekehrte Nervenbaum entſprießet aus dem
geſchwollnen Foͤtus-Gehirn wie aus einem Kerne,
dem es auch aͤhnlich ſieht und ſteigt mit Sinnen-Ae¬
ſten als Ruͤckenmarksſtamm empor bis zum zerglieder¬
ten Gipfel des Pferdeſchweifs. Dieſes markige Ge¬
waͤchs iſt auf den Adernbaum wie eine zehrende para¬
ſitiſche Pflanze geimpft. Und wie jeder Zweig ein
kleinerer Baum iſt, ſo ſind — denn das alles iſt
nicht Aehnlichkeit des Witzes ſondern der Natur —
die Nervenknoten vierte Gehirnkammern im Kleinen.
[227] Die Nerven-Enden blaͤttern ſich ausgebildet, auf
der Retina, auf der Schneideriſchen Haut, in der
Geſchmacksknoſpe ꝛc. zu Bluͤten auf. Daher wird
z. B. nicht mit dem Fortſatze des Sehenervens ge¬
ſehen, ſondern mit ſeiner zarten Staubfaͤden-Zerfa¬
ſerung: denn die große wankende Gemaͤldegallerie
auf der Netzhaut kann unmoͤglich durch eine Bewe¬
gung des Nervengeiſts (oder was man nehmen will:
denn auf Bewegung laͤuft es doch hinaus) ſich zuruͤck¬
ſchieben in's Gehirn, wobei noch dazu die zwei Gal¬
lerien der zwei Augen durch die zwei Zinken des
Sehenervens durchruͤcken und in deſſen Stiel zu Ei¬
nem Gemaͤlde zuſammenfallen muͤßten.
Folglich muß das Bild im Auge ꝛc. wenn es zu
etwas dienen ſoll, vorn an der Spitze des Nervens
empfunden werden — mit Einem Wort, es iſt noch
naͤrriſcher die Seele in den Zwinger der vierten
Gehirnkammer d. h. in einen Porus dieſes Knollen¬
gewaͤchſes zu ſperren als es waͤre, wenn einer, der
wie ich ein beſeelendes Ich in die Blume ſetzt, daſ¬
ſelbe in's Souterrain des dumpfen Kerns heftete.
Lieber wollt' ich die Seele doch in das feinſte Honig¬
gefaͤß der Sinnen, in die Augen verlegen als in's
unempfindlichere Gehirn, wenn ich nicht uͤberhaupt
glaubte, daß ſie wie eine Hamadryade jedes Nerven¬
aͤſtgen dieſer Thierpflanze bewohne und waͤrme und
rege. Der unterbundne oder durchſchnittne Nerve
P 2[228] bringt zwar keine Empfindung mehr zu, aber nicht
wegen unterbrochener Kommunikation mit der Seele
und ihrer Wohn–Gehirnkammer, ſondern weil
ihr der naͤhrende Lebensgeiſt abgeſchnitten iſt: denn
die Nerven brauchen wie alle feinere Organiſationen
ſo ſehr fortdauernden Koſt–Zuguß, daß der ſtok¬
kende Herz– und Arterienſchlag in Einer Minute alle
ihre Kraͤfte aufhebt.
Ich gehe weiter und ſage — um zwei Irrthuͤ¬
mern zu widerſprechen — vorher heraus: dieſe Or¬
gane empfinden nicht, ſondern werden empfunden;
zweitens die Organe ſind nicht die Bedingung
aller Empfindung uͤberhaupt, ſondern nur einer ge¬
wiſſen.
Das letzte zuerſt: da das Organ (d. h. ſeine
Veraͤnderung,) das ſo gut ein Koͤrper iſt als irgend
ein grobes Objekt, deſſen ſeine jenes an die Seele
legt, dennoch von dem geiſtigen Weſen unmittelbar
und ohne ein zweites Organ empfunden wird: ſo
muͤſſen alle koͤrperliche Weſen dem geiſtigen ſo gut
Empfindungen geben als die Nerven, und eine un¬
verkoͤrperte Seele iſt nur darum nicht moͤglich, weil
ſie im Falle des abgeloͤſeten Koͤrpers alsdann das
ganze materielle Univerſum als einen plumpern
truͤge.
Meine erſte Behauptung war: man ſollte nicht
ſagen, empfindende Organiſation ſondern em¬
[229]pfundne. Die Nerven empfinden nicht den Gegen¬
ſtand, ſondern veraͤndern nur den Ort wo er empfun¬
den wird, und ihre Veraͤnderungen und die des Ge¬
hirns ſind nur Gegenſtaͤnde des Empfindens, nicht
Werkzeuge deſſelben oder gar es ſelber. Aber
warum? —
Ich habe mehr als ein Darum. Ein Koͤrper iſt
nur der Bewegung faͤhig, ob ſie gleich freilich nur
der Schein der gedachten Zuſammenſetzung und das
Reſultat der in einfache Theile verhuͤllten Kraͤfte iſt.
Die Saite, die Luft, die Gehoͤrknoͤchelchen, die Gehoͤr¬
nerven erzittern; aber die Erzitterung der letztern erklaͤ¬
ret ſo wenig das Empfinden eines Tons als das Erzittern
der Saite es koͤnnte, wenn die Seele an dieſe gekettet
waͤre. So iſt trotz aller Bilder im Auge und Gehirn
das Erſehen derſelben doch noch ungethan und uner¬
klaͤrt; oder iſt wohl darum, weil die Sinne Spiegel
voll Bilder ſind, etwan das geiſtige Auge entbehr¬
lich oder erſetzt? Und ſetzt die Veraͤnderung des Ner¬
vens (d. h. die Empfindung) nicht eine zweite in ei¬
nem zweiten Weſen voraus, wenn ſie ſoll bemerkt
werden? oder ſtellet ſich in dieſem Weſen wieder
eine Bewegung die Bewegung vor?
Dieſes bringt mich aufs Gehirn. Dieſer groͤßte
und groͤbſte Nerve — der Reſonanzboden aller an¬
dern — haͤlt der Seele die Schattenriſſe derer Bil¬
der vor, die von den andern zugefuͤhrt wurden. Im
[230] Ganzen glaub' ich dient das Gehirn mehr den Mu¬
ſkelnnerven, den Glieder Zuͤgeln, die da in der
Hand der Seele zuſammenlaufen, und mehr allen
uͤberhaupt als naͤhrende Wurzel; aber weniger dient
es als Reiszeug der mahlenden Seele. Da unſere
meiſten Vorſtellungen auf grundirende Geſichtsbilder
aufgetragen ſind: ſo denken wir wahrſcheinlich mehr
mit dem Sehnerven als mit dem Gehirn. Warum
bemerkte Bonnet, daß tiefes Denken die Augen und
ſcharfes Sehen das Gehirn ermuͤde? Warum ſtum¬
pfen gewiſſe Ausſchweifungen zugleich das Gedaͤcht¬
niß und die Augen ab? Die auſſerhalb des Auges
gaukelnden Fieberbilder der Kranken und der lebhaf¬
ten Menſchen wie Kardan, der im dunkeln ſah was
er feurig dachte, erklaͤren ſich aus meiner Ver¬
muthung.
Ueber das Gehirn hat man zwei Irrthuͤmer; aber
der Himmel bewahre meine Freunde nur vor dem
einen. Denn vor dem andern kann ſie Reimarus
bewahren, der recht erwieſen hat, daß das Gehirn keine
Aeolsharfe mit ziternden Fibern noch eine dunkle
Kammer mit geſchobnen Bildern iſt, noch eine Spiel¬
welle mit Stiften fuͤr jede Idee, die der Geiſt um¬
dreht, um an ſich ſeine Ideen ab und vorzuorgeln.
Iſt nun nicht einmal die vorher beſtimmte Harmonie
des Gehirns und des Geiſtes oder das Akkompagne¬
ment beider begreiflich: ſo iſt die Identitaͤt der¬
[231] ſelben gar unmoͤglich; und eben vor dieſem Irrthum
hat eben der oben gedachte Himmel meine Freunde
zu bewahren. Der Materialiſt muß erſtlich alles
das aufſtellen, was Reimarus umgeſtoßen hat; er
muß im Gehirnbrei die Millionen Bilderkabinetter
von 70 Jahren petrifiziren und doch wieder wie Ei¬
dophyſika beweglich machen und die gemiſchten Kar¬
ten Bilder an jede Terzie austheilen; er muß dar¬
auf ſehen, daß dieſe beſeelten tanzenden Bilder in
Reih und Glied gezwungen werden. Und dann geht
doch ſeine Noth erſt recht an: denn nun muß er —
wenn wir ihm auch zugeben, daß die Bilder ſich ſel¬
ber ſehen, die Gedanken ſich ſelber denken, daß jede
Vorſtellung alle andere und ſogar das Ich, wie eine
Monade das All, dunkel nachſpiegle, und daß ſonach
jede Idee eine ganze Seele ſey — nun muß er (ſa¬
gen wir,) erſt einen Generaliſſimus herſchaffen, der
dieſes unermeßliche fluͤchtige Ideenheer kommandire
und ſtelle, einen Setzer, der das Ideen-Buch nach
einem unbekannten Manuſkript ſetze und, wenn Traͤu¬
me, Fieber, Leidenſchaften alle Schriftkaͤſten in ein¬
ander geſchuͤttet haben, alle Lettern wieder alphabe¬
tiſch lege. Dieſe regelnde Einheit und Kraft —
ohne welche die Symmetrie des Mikrokosmus
ſo wenig als des Makrokosmus, der vorge¬
ſtellten Welt ſo wenig wie der wirklichen
zu erklaͤren ſteht — nennen wir eben einen Geiſt.
[232] Freilich iſt durch dieſe unbekannte Kraft weder die
Entſtehung noch die Folge der Ideen vermittelt
und erklaͤrt; aber bei der bekannten der Materie,
bei der Bewegungskraft, iſt's nicht bloß unbegreiflich
ſondern gar unmoͤglich; und Leibniz kann leichter die
Bewegung aus fremden dunkeln Vorſtellungen erklaͤ¬
ren als der Materialiſt Vorſtellungen aus Bewegun¬
gen. Dort iſt die Bewegung nur Schein und
exiſtirt nur im zweiten betrachtenden Weſen, aber
hier waͤre die Vorſtellung Schein und exiſtirte im
zweiten — vorſtellenden Weſen.
Ich habe oft mit Weltleuten, die gut beobachten
und elend ſchließen, mich gezankt, weil ſie bei der
kleinſten Abhaͤngigkeit der Seele vom Koͤrper — z.
B. im Alter, Trunke ꝛc. — die eine zum bloßen Re¬
petirwerk des andern machten; ja ich habe ſogar ge¬
ſagt, kein Tanzmeiſter ſey ſo dumm daß er ſo ſchloͤſ¬
ſe: »weil ich in bleiernen Schuhen plump, in hoͤl¬
»zernen flinker, und in ſeidnen am beſten tanze: ſo
»ſeh’ ich wohl, daß die Schuhe mich mit beſondern
»Springfedern aufſchnellen; und da ich kaum mit
»bleiernen Schuhen aufkann, ſo braͤcht' ich's barfuß
»nicht zu einem einzigen Pas.« Die Seele iſt der
Tanzmeiſter, der Koͤrper der Schuh.
Wir faſſen keine Einwirkung weder von Koͤrpern
auf Koͤrper, noch von Monaden auf Monaden; mit¬
hin eine von Organen auf das Ich noch minder.
[233] Dieſes wiſſen wir, daß die Kohaͤſion und Guͤterge¬
meinſchaft zwiſchen Leib und Seele immer einerlei
oder hoͤchſtens in den Zeiten groͤßer iſt, wo ſie an¬
dere kleiner vermuthen; denn der groͤßte Tiefſinn,
die heiligſten Empfindungen, der hoͤchſte Aufſchwung
der Phantaſie beduͤrfen gerade das waͤchſerne Flug¬
werk des Koͤrpers am meiſten, wie es auch ſeine dar¬
auf kommende Ermattung verbuͤrgt; je unkoͤrperlicher
der Gegenſtand der Ideen iſt, deſto mehr koͤrperliche
Hand- und Spanndienſte ſind zu deſſen Feſthaltung
vonnoͤthen und hoͤchſtens in die Zeiten der dummen
Sinnlichkeit, der geiſtigen Abſpannung, des dunkeln
Bloͤdſinns muͤßte man die Zeiten der Loskettung vom
Koͤrper fallen laſſen. Sogar die moraliſche Kraft,
womit wir aufſchießende uͤppige Triebe des Leibes
niedertreten, arbeitet mit koͤrperlichem Brech- und
Handwerkszeug; und die Seele bietet nur das Ge¬
hirn gegen den Magen auf. — Dazu koͤmmt, daß
die Graͤnzen und die Hinderniſſe einer ſolchen Lo߬
feſſelung und Ankettung eben ſo wenig anzugeben
waͤren als die Urſachen derſelben. Noch weniger
koͤnnen, wie einige meinen, im Traume die Bande
der Seele ſchlaffer und laͤnger werden. Der Schlaf
iſt die Ruhe der Nerven nicht des ganzen Koͤrpers.
Die unwillkuͤrlichen Muskeln, der Magen, das Herz
arbeiten darin fort, nicht viel weniger als im wa¬
chenden Liegen. Nur die Nerven und das Gehirn,
[234] d. h. das Denken und Empfinden ſtocken. Daher
erquickt der Schlummer reitende und fahrende Men¬
ſchen, die alſo mit nichts als den Nerven ruhen.
Daher werden Nervenſchwache, die jede Ruhe abmat¬
tet, vom traumloſen Schlaf erfriſcht. Beilaͤufig ohne
die Theorie der Desorganiſation, die negative und
poſitive Nerven-Elektrizitaͤt annimmt, ſind die Me¬
teore des Schlafes unerklaͤrlich — z. B. unerklaͤrlich
iſt dann, warum gerade Opium, Wein, Manipuliren,
Thierheit, Kindheit, Plethora, nahrhafte Koſt, Ge¬
ruͤche auf der einen Seite Schlaf befoͤrdern und
Tortur, Ermattung, Alter, Maͤßigkeit, Gehirndruck,
Winter, Blutverluſt, Furcht, Gram, Phlegma, Fett,
geiſtige Abſpannung ihn auf der andern auch erre¬
gen. — — Hoͤchſtens im tiefen Schlafe, wo der
Nervenkoͤrper ruht, koͤnnte man die Seele vom Irr¬
diſchen loßgekettet denken; im Traum hingegen eher
enger angeſchloſſen, weil der Traum ſo gut wie das
tiefe Denken, das wie er die fuͤnf Sinnenpforten ab¬
ſchließt, ja kein Schlafen iſt. Daher zehren Traͤume
die Nerven ſo ſehr aus, zu deren innern Ueberſpan¬
nungen jene noch aͤuſſere Eindruͤcke geſellen. Daher
verleiht der Morgen dem Gehirn und dem Traum
gleiche Belebung. Daher geht dem ſchlafenden
Thiere — ausgenommen den weichlichen zahmen
Hund — das ungeſunde Traͤumen ab. Daher giebt
ſchon Ariſtoteles ungewoͤhnliche Traͤume fuͤr Vorlaͤu¬
[235] fer des Krankenwaͤrters aus. Daher hab' ich jetzt
getraͤumt genug und der Leſer geſchlafen genug. —
37. Hundspoſttag.
Der Amaroso am Hofe — Präliminarrezeſſe der Hochzeit —
Rettung des höflichen Krümmens.
Am Morgen nach jener großen Nacht nahm Viktor
von dieſer geweihten Grabeserde ſeiner ſchoͤnſten Tage
mit unverhuͤllten Thraͤnen Abſchied. Er ſah ſich
oft um nach dieſen Ruinen ſeines Palmyra, bis
nichts davon uͤbrig ſtand als der Bergruͤcken als
Brandmauer. »Wenn du nach vier Wochen wieder
»hieher geheſt, dachte er, ſo iſt's nur, um dem To¬
»desengel zuzuſehen, wie er deinen Emanuel auf den
»Altar und unter das Opfermeſſer legt.« Er ſagte
ſich's, wie theuer er dieſes Laubhuͤttenfeſt durch den
Verluſt eines Freundes bezahle; wie dieſer ohne ei¬
nen ſolchen Erſatz einen eben ſo großen Verluſt er¬
leide. Denn er fuͤhlte daß das fuͤrchterliche Wort
»Schurke« als eine ewige Felſenwand zwiſchen ihre
auseinander getheilten Seelen nun getreten ſey —
Er ſtellte ſich zwar vor und recht gern, was den ver¬
gangnen Freund loßſprach, beſonders die Verhetzung
[336 [236]] durch Matthieu, und Flamins Zuhorchen als er Klo¬
tilden ewige Liebe zuſchwor; ja er verfiel ſogar dar¬
auf, daß der Evangeliſt den armen Flamin vielleicht
beſondere (die vom Apotheker vorgeſchlagnen) Moti¬
ven einer Liebe, durch deren Gegenſtand die Gunſt
des Fuͤrſten feſtzumachen war, weit im Hintergrunde
ſehen laſſen — aber ſein Gefuͤhl ſagte ihm unauf¬
hoͤrlich: »er haͤtte doch nicht glauben ſollen! —
Ach haͤtteſt du mich doch, (ſagte er geruͤhrt bei der
Erblickung der Stadt) mit Kugeln oder mit andern
Schmaͤhungen durchbohrt, damit ich dir haͤtte leicht
vergeben koͤnnen — aber gerade mit dieſem fortfreſ¬
ſenden Giftlaute!« — Er hat Recht: die Beleidi¬
gung der Ehre wird darum nicht kleiner, weil ſie
der andere aus voller Ueberzeugung des Rechts be¬
geht. Denn die Ueberzeugung iſt eben die Beleidi¬
gung; und die Ehre eines Freundes iſt ſo etwas
Großes, daß die Zweifel an ihr faſt nur durch eignes
Geſtaͤndniß entſtehen duͤrfen. Aber ſo werden aus
kleinen Verhehlungen leicht Trennungen wie aus Ne¬
beln im Maͤrz Gewitter im Julius. Nur eine
vollendete edle Seele vermag es, den gepruͤften Freund
nicht mehr zu pruͤfen — zu glauben, wenn die Fein¬
de des Freundes laͤugnen — zu erroͤthen wie uͤber ei¬
nen unreinen Gedanken, wenn ein ſtummer verfliegen¬
der Argwohn das holde Bild beſchmutzt — und
wenn endlich die Zweifel nicht mehr zu bezwingen
[237] ſind, ſie noch lange aus den Handlungen fortzuwei¬
ſen‚ um lieber in eine kameraliſtiſche Unvorſichtigkeit
zu fallen als in die ſchwere Suͤnde gegen den heili¬
gen Geiſt im Menſchen. Dieſes feſte Vertrauen iſt
leichter zu verdienen als zu haben.
Im laͤrmenden Hammer- und Muͤhlenwerk der
Stadt war ihm wie in einer oͤden Waldung. An
zarte Seelen verwoͤhnt kamen ihm die ſtaͤdtiſchen alle
ſo ſtachlicht und ungeſchliffen vor: denn die Liebe
hatte wie die Tragoͤdie ſeine Leidenſchaften gereinigt‚
indem ſie ſolche erregte. — Alles hing ſo verfallen‚
ſo verraſet zum Einbrechen heruͤber‚ indeß die glat¬
ten Spiegelwaͤnde in Maienthal maſſiv und leuchtend
aufſtiegen! denn die Liebe iſt das einzige‚ was das
Herz des Menſchen bis an den Rand vollgießet wie¬
wohl mit einem bald einſinkenden Nektar Schaume;
ſie allein faſſet ein Gedicht von etlichen tauſend Mi¬
nuten ab ohne den klirrenden R-Buchſtaben, wie der
Dominikaner Carbone uͤber ſie ein eben ſo großes
Gedicht unter dem Namen L' R-sbandita ohne ein
einziges R verfertigte — Daher iſt ſie wie die Krebſe
in den Monaten ohne R am ſchoͤnſten.
Das erſte‚ was er in Flachſenfingen zu machen
hatte‚ war ein Brief an Klotilde- Denn da der
Evangeliſt Maz um aller Wahrſcheinlichkeit nach in
alle Welt ausgehen und das Evangelium vom Schuß-
Duel zwiſchen den zwei Freunden allen Voͤlkern pre¬
[238] digen wird: ſo war nichts anders fuͤr den heiligen
Ruf ſeiner Geliebten zu thun als ſie in eine Braut
zu verwandeln durch eine oͤffentlich erklaͤrte Verlo¬
bung. Flamins neues Ereifern konnte gegen Klotil¬
dens Rechtfertigung in keine Betrachtung kommen.
Der Ausruf »du biſt mein Bruder,« den die Kon¬
vulſionen der Angſt Klotilden entriſſen hatten, war
natuͤrlich fuͤr Flamin unbegreiflich und ohne Wir¬
kung geblieben; — fuͤr den lauernden Maz aber war
er ein herrlicher Kernſpruch und ein dictum probans
ſeines Lehrgebaͤudes von ihrer Verſchwiſterung geworden.
— Im Briefe alſo ging Viktor ſeine Freundin um
die ſtumme Erlaubniß zu ſeinem Werben an: er
uͤberließ es ihr ſchweigend, die uneigennuͤtzigſten Mo¬
tiven ſeiner Bitte zu errathen. —
Er erſchien jetzt auf dem Kriegsſchauplatz der
Seelen, von dem man ſelten eine genaue Karte er¬
wiſcht, am Hofe: — ſeinem mit Paradieſen ange¬
fuͤllten Herzen kamen ſogar die Zimmer vor wie
Glaskaͤſten einer ausgebaͤlgten Volerie, die man mit
Streuglanz, Konchylien und Blumen uͤberſaͤet, und
die lebendigen Stuͤcke der Zimmer wie getrocknetes,
mit Arſenik oder Holz ausgeſtopftes Gevoͤgel, durch
die Schlangen war Drath gefuͤhrt, wie durch die
Schwaͤnze der großen Thiere und die Baumlaͤufer
am Thron ſtanden auf Drath — — So ſehr wurde
er bloß durch das Pfingſtfeſt der Gegenfuͤßler von
[239] uns, die wir bei kaͤlterem Blute das Erhabene und
Edle eines Hofs leicht bemerken. — Das Neueſte
was er da hoͤrte war, daß der Fuͤrſt in Geſellſchaft
der Fuͤrſtin zum Geſundbrunnen in St. Luͤne abreiſe,
um die gichtbruͤchigen Fuͤße wie dieſe die Augen heil
zu baden. Viktor war wirklich nicht ganz tolerant,
da er bei ſich dachte: »wenn ihr's nicht beſſer haben
wollt, ſo geht meinetwegen zum T —« Das Paulli¬
num war fuͤr ihn ein Hazhaus und jedes Vorzimmer
eine Marterkammer: der Fuͤrſt behandelte ihn nicht
hoͤfiſch-hoͤflich, ſondern kalt, welches ihm deſto weher
that, da es bewies, er habe ihn geliebt — Die Fuͤr¬
ſtin ſtolzer — Bloß Matthieu der mit Leuten am
liebſten ſprach, die ihn toͤdtlich haßten, hatte ein Ge¬
ſicht voll Sonnenſchein — Von dieſem und von ſei¬
ner Schweſter und einigen Ungenannten hatt' er
leichtes Schlangengift der Perſiflage uͤber ſein Duel
einzunehmen und zu verwinden, das wohl der Ma¬
gen wie anderes Schlangengift verdaut, das aber in
Wunden geſpruͤtzt das Lebensblut aufloͤſet — — Ge¬
raͤth denn nicht ſogar mein Korreſpondent in Eifer
und ſchickt mir ſeinen Eifer durch meinen capsarius*)‚
den Hund zu und ſagt: »Es bleibe doch einer ein¬
»mal kalt, der warm iſt naͤmlich verliebt, und den
»noch nicht der Tod kalt gemacht, er verbleib' es
[240] »ſage ich vor dem ſtechenden Laͤcheln einer Hof¬
»Schweſterſchaft uͤber ſeine empfindſame Liebe, zu¬
»mal vor ſolchen hoͤhern Damen, die Gottheiten
»ſind denen allemal (wie bei den Szythen) der
»Fremde geopfert wird und denen (wie die Gallier
»von ihren Goͤttern glaubten) Uebelthaͤter, roués,
»Orleans die liebſten Opfer ſind! — Oder er hoͤre
»ſich, wenn er auch das hinnimmt, gelaſſen von ei¬
»nem Evangeliſten uͤber ſeine Liebe perſifliren, der
»darin folgende Grundſaͤtze erfindet und geſteht: La
»décense ajoute aux plaisirs de l'indécense: la
»vertu est le sel de l'amour; mais n'en prénés
»trop — l'aime dans les femmes les accés co¬
»lére, de douleur, de joie, de peur: il y a tou¬
»jours dans leur sangbouillantquelque chose
»qui est favorable aux hommes — C'est la où la
»finesse demeure courte, qu'il faut de l'enthusias¬
»me — Les femmes s'étonnent rarément d'etre
»crues foibles; c'est du contraire qu'ils s'etonnent
»un peu. — L'amour pardonne toujours a l'amour,
»rarément a la raison — Gluͤcklich ſind, (ſeufzet
Knef) Antagoniſten, die einander pruͤgeln duͤrfen.«
Der Evangeliſt warf einen baizenden Tropfen
auf Viktors Herznerven, da er trotz ſeiner Wiſſen¬
ſchaft um Flamins adeliche Abſtammung, ihn damit
aufzog, »daß er wie ein franzoͤſiſcher Aequilibriſt ſich
»mit Buͤrgerlichen — zwar nicht vermaͤhle, aber
doch[241] »doch — ſchieſſe.« — Und es ging ihm durch die
Seele, ſeinen ausgeſtohlnen Freund ſo ſehr an Freun¬
den verarmt zu ſehen, daß dieſer Matthieu der
letzte und der Stammhalter war, der ſich nicht ein¬
mal vor Viktor die Muͤhe gab, in den hoͤhern Zir¬
keln die Rolle eines Freundes von Flamin zu neh¬
men und fortzuſpielen. — Einem guten Menſchen
wird das weiche Herz gleichſam in eine Quetſchform
eingeſchraubt, wenn er vor Leuten ſtehen muß (wie
hier Viktor vor ſo vielen) die ihn haſſen und belei¬
digen — anfangs iſt er heiter und kalt und freuet
ſich, daß er ſich nichts darum ſchiert — aber er ruͤ¬
ſtet ſich unwiſſend mit immer mehr Verachtung,
um der Beleidigung etwas entgegenzuſtellen — end¬
lich meldet ſich der Anwachs der Verachtung durch
das unbehagliche Gefuͤhl der entfliehenden Liebe an
und des eindringenden Haſſes und das bittere Schei¬
dewaſſer ergreift und zerfrißt ſein eignes Gefaͤß, das
Herz — Dann werden die Schmerzen ſo groß, daß
er die alte Menſchenliebe, die das warme Element
ſeiner Seele war, wieder in Stroͤmen in den Buſen
rinnen laͤßt. Bei Viktor kam noch etwas zur Er¬
bitterung — ſeine Erweichung: man iſt nie kaͤlter
als nach großer Waͤrme, ſo wie Waſſer nach dem
Kochen eine groͤßere Kaͤlte annimmt als es vorher
hatte. Liebe, Rauſch und zuweilen die aus dem An¬
blick der Natur getrunkne Begeiſterung machen uns
Heſperus. III Th. Q[242] gegen unſere Lieblinge zu gut und gegen unſere An¬
tipoden zu hart. Als nun Viktor in dieſer bittern
Laune neben einem Spieltiſch zuſah und uͤber die
ganze Aſſemblee ſich innerliche Vorleſungen hielt,
lectures upon heads*), wo er ſich ſtatt der Koͤpfe
aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: ſo fiel
durch die Erinnerung an die ſtille Menſchenduldung,
womit Klotilde ſich in eben dieſe Menſchen ihren
Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer,
der ſich um ſein Herz wie um eine Blume gelegt
hatte, zerfloſſen herab und ſein erwaͤrmtes Herz ſagte
mit der erſten heutigen Freude: »Warum haſſ' ich
»denn dieſe eben ſo gequaͤlten als quaͤlenden Geſtal¬
»ten ſo hart? Sind ſie nur meinetwegen, haben ſie
»nicht auch ihr Ich? Muͤſſen ſie ſich mit dieſem
»mangelhaften, gepeinigten Selbſt nicht durch die
»ganze Ewigkeit ſchleppen? Wird nicht jeder von
»irgend einer fremden Seele noch geliebt, warum
»willſt denn du nur Stof zum Abſcheu an ihnen
»ſehen und aus jeder Mine, aus jedem Laute Saͤure
»ziehen? — Nein, ich will die Menſchen bloß
»lieben, weil ſie Menſchen ſind.« — Ja
wohl! die Freundſchaft kann Vorzuͤge begehren,
aber die Menſchenliebe bloß Menſchengeſtalt. Da¬
her haben wir eben alle eine ſo kalte, eine ſo wech¬
[243] ſelnde Menſchenliebe, weil wir den Werth der
Menſchen mit ihrem Recht vermengen und nichts
an ihnen lieben wollen als Tugenden.
Unſerem Viktor wurde ſo leicht wie nach einem
Gewitter: das Bitterſte, womit uns Beleidigungen
angreifen, iſt daß ſie uns zu haßen noͤthigen. Auf
der andern Seite fuͤhlte er jetzt, wie unrein unſer
fuͤr Tugend ausgegebene Widerſtand gegen Schlimme
ſey und wie ſauer es ſelber einer edeln Seele wer¬
de, Feinde zu bekaͤmpfen ohne ſie anzufeinden —
denn dieſes iſt noch ſchwerer als ſie zu begluͤcken
und zu beſchuͤtzen ohne ſie zu lieben. — —
So ſtrichen einige Wochen unter ſeinen erzwung¬
nen Landungen am feindlichen Hofe voruͤber — denn
die Bitte ſeines Vaters beherrſchte ſein Herz — und
unter vergeblichen Hoffnungen auf Klotildens Ent¬
ſcheidung und unter thraͤnenden Zuruͤckſehnen in die
innehaltenden Tage der Liebe und in die verheer¬
ten Tage der Freundſchaft. Klotildens Schweigen
willigte aber eben in ſeine Ankunft ein; doch melde¬
te er ihr durch einen zweiten Brief noch zum Ueber¬
fluß das Datum derſelben. Uebrigens wurde ihm,
— ſo an den Thron wie an einen Baum gebunden,
ſo aus allen Gegenſtaͤnden ſeiner Liebe herausge¬
ſchleudert, ſo auf nichts geheftet als auf eine von
weitem donnernende Zukunft, in der ſein Emanuel
nach 14 Tagen unter die Erde einſinkt und ſeine
Q 2[244] Klotilde in tauſend Schmerzen — die Gegenwart
ſchwuͤl und eng. Um ihn ging ein unreifes Gewit¬
ter herum und wie an den Tag- und Nachtgleichen,
ruhten die Wolken unbeweglich wie ein großer Ne¬
bel uͤber ihm und das verborgne Arbeiten im hohen
Gewoͤlke des Schickſals hatte noch nicht das Zuſam¬
menfließen in Thraͤnen entſchieden oder das Zerthei¬
len in Blau.
Endlich ging er nach St. Luͤne . . . Warlich
nur wehmuͤthig-begluͤckt! O! konnt' er auf den
Luͤner Fußſteig blicken oder auf das Pfarrhaus, das
die Buͤhnen der begrabnen Freundſchaft bedeckte, oh¬
ne das Auge uͤberfließend abzuwenden, ohne daran
zu denken, wie viel eitler das Lieben als das Leben
der Menſchen ſey, wie das Schickſal gerade die
waͤrmſten Herzen zur Zerſtoͤrung der beſten anwende,
(ſo wie man nur Brennſpiegel zum Einaͤſchern der
Edelſteine gebraucht) und wie manche ſtille Bruſt
nichts iſt als der geſunkne Sarg eines erblaßten ge¬
liebten Bildes? — Es iſt ein namenloſes Gefuͤhl,
einen Freund lieben zu wollen aus Erinnerung und
ihn fliehen zu muͤſſen aus Ehre: Viktor wuͤnſchte,
er duͤrfte ſeinem bethoͤrten Liebling vergeben; aber
vergeblich: das arſenikaliſche Wort das mich in ſei¬
nem Namen ſchmerzt, blieb trotz aller, aller verſuͤſ¬
ſenden Saͤfte, mit denen er's einwickelte, doch un¬
aufgeloͤſet und freſſend und toͤdlich in ſeiner Seele
[245] liegen. Guter Flamin! ein Fremder koͤnnte dich lie¬
ben, ich z. B. aber dein Jugendfreund nicht mehr!
Viktor ſchritt zoͤgernd vor dem Bilder- und
Muſikſaal ſeiner nachgeſpiegelten und nachgetoͤnten
Kindheit vorbei, vor dem Pfarrhaus, desgleichen
vor der ſcheuernden Apollonia die er gern tiefer
gruͤßte als ſein Stand zuließ, und vor dem alten
Mops, der ſich in keinen Familienzwiſt einmengte,
ſondern ihn freimuͤthig mit dem Schwanz invitirte.
— Nicht ſein Stolz hielt ihn ab, die (vorgeblichen)
Eltern ſeines Opponenten zu beſuchen, ſondern die
Aengſtlichkeit that's, die ihn beſorgen ließ, die gu¬
ten Menſchen wuͤrden ſich vielleicht vor ihm im ver¬
legnen Kampfe zwiſchen Hoͤflichkeit, zwiſchen alter
Liebe und neuem Groll abquaͤlen. Aber er beſchloß,
durch einen Brief an die edelmuͤthige Pfarrfrau ſei¬
ne Liebe zu befriedigen nnd ihre Empfindlichkeit.
Dann trat er vor ſeine Geliebte! — Ich hab'
es vor-vorgeſtern unter dem Leſen der deutſch-fran¬
zoͤſiſchen Geſchichte, wo bekanntlich auch der ge¬
kroͤnte Name Klotilde regiert, an den verdoppelten
Schlaͤgen meines Herzens gemerkt, wie mir erſt ſeyn
wuͤrde, wenn ich dieſe Klotilde, die ich ſeit drei
viertel Jahren gelobt habe, vollends gar ſaͤhe: denn
daß Knef ſo wie der Hund keine Spitzbuben ſind, und
daß die ganze Hiſtorie nicht blos vorgefallen iſt,
ſondern auch noch vorfaͤllt, erſeh' ich aus hundert
[246] Zuͤgen, die wohl keine Phantaſie erfinden kann.
Wuͤrde der Biograph der Heldin anſichtig: dann
entſtaͤnde nichts als ein neues Heft und ein neuer
— Held, welcher ich waͤre . . . .
Sie war krank: jener Abend war wie ein Sto߬
vogel auf ihr Herz gefahren und hatte die blutigen
Krallen noch nicht herausgezogen. Ihre Seele ſchien
der Engel zu ſeyn, der die entſeelte Huͤlle eines
Frommen huͤtet. Der Kammerherr begegnete dem
Hofmedikus als ob er von keinem Duelleriren wiſſe.
Was ſonſt Muͤtter thun, that der Vater: er vergab
jedem, der von Stande war und der die Tochter
wollte. Der Antrag, den ihm Viktor endlich mach¬
te, frappirte ihn nur, weil er bisher gedacht hatte,
dieſer verſchieb' ihn blos wegen der Ungewißheit
uͤber Klotildens Erbſchaft und Verwandſchaft. Sei¬
ne Antwort beſtand in unendlichen Vergnuͤgen, un¬
endlicher Ehre ꝛc. und andern Unendlichkeiten: denn
bei ihm war alles eine; daher auch Platner mit
Recht behauptet, der Menſch koͤnne im Grunde blos
das Endliche nicht denken. Le Baut haͤtte die Toch¬
ter hergegeben, wenn er auch nicht gewollt haͤtte:
er konnte ins Geſicht nichts abſchlagen, nicht ein¬
mal eine Tochter. Auch konnte keiner kommen und
um Klotilden anſuchen, der nicht in irgend eines
feiner Projekte (ſeine vier Gehirnkammern lagen bis
[247] an die Decke davon voll) hineingepaſſet haͤtte. Na¬
tuͤrlicher Weiſe war ibm alſo ein Schwiegerſohn jetzt
am meiſten erwuͤnſcht, da ihm etwan die Tochter
gar mit Tod abgehen koͤnnte, ohne daß er ſie noch
zu einem Springſtab und Hebebaum ſeines Leibes
gebraucht haͤtte — und da ihm zweitens das Duell-
Gerede das Herz anfras; nicht als ob er nicht durch
geſunde wurmfoͤrmige Bewegungen die haͤrteſten
Dinge verdauet haͤtte, ſondern weil er wie gebil¬
dete Menſchen ohne Ehre, bei kleinen Beleidigun¬
gen gern mit Laͤrmkanonen und Feuertrommeln er¬
ſchien, um ſich das Recht zu erſchleichen, bei voll¬
ſtaͤndigen, aber ergiebigen und mit Silberadern durch¬
zognen Entehrungen mauſeſtill da zu liegen. Das
einzige was der Kammerherr nicht gern ſah, was er
aber ſogleich dadurch hob, daß er dem Hofmedikus
das Wort (uͤber die Tochter) gab, das war, daß
er vorher das naͤmliche Wort (in geheim) unſerem
Matz gegeben hatte. Da ihm der bald wiederkom¬
mende Lord mehr ſchaden und helfen konnte als der
Miniſter: ſo brach er gern das alte Wort, um das
neueſte zu halten; denn nicht blos den letzten
Willen, ſondern auch jeden kann der Menſch aͤn¬
dern wie er will und wenn er ein Mann von Wort
iſt, ſo wird er gern ganz entgegengeſetzte Verſpre¬
chungen thun, um ſich zum Halten zu noͤthigen.
Was konnte die Schwiegermutter, die Kammerher¬
[248] rin, die immer die Waffentraͤgerin und Liguiſtin
des Evangeliſten war, weiter dabei machen als ein
freundliches Geſicht und die Bemerkung: niemand iſt
ſchwerer zu regieren als ein Ehemann, den jeder
regiert.
Die Formalien der Verlobung ſelber warteten
auf die Zuruͤckkehr des Lords und auf andere Ver¬
haͤltniſſe. — Laſſet mich nichts ſagen von der durch
ſo viele Leiden veredelten Liebe dieſes Paars: wenn
mit der Liebe ſich gar die Menſchenliebe noch ver¬
maͤhlt (welches mancher gar nicht verſtehen wird);
— wenn im Athem der Liebe alle andere Reitze des
Herzens ſchoͤner werden, alle feine Gefuͤhle noch
feiner, jede Flamme fuͤr das Erhabne noch hoͤher,
wie in der Feuer- und Lebensluft jeder Funke ein
Blitz und jedes Johanniswuͤrmgen eine Flamme wird;
— wenn beide Menſchen einander ſelten mit den
Augen, und oft mit den Gedanken begegnen; —
wenn Viktor ein Herz faſt zu behalten ſcheuet, dem
er ſoviel koſtet, ſo viel dunkle Tage, ſo viel Sorgen
und faſt einen Bruder; — und wenn Klotilde eben
dieſes zarte Scheuen erraͤth und ihn fuͤr ihre Lei¬
den belohnt: dann iſt's unmoͤglich vielen Menſchen
den Umriß einer ſolchen Aetherflamme, geſchweige
die Farben derſelben zu geben; — fuͤr wenige iſt's
unnoͤthig.
[249]
Viktor blieb einige Tage, beſuchte aber natuͤr¬
lich die Britten und ihren fortdauernden Klub nicht.
Le Baut fand dieſes vorſichtig, »denn man wiſſe
von ſicherer Hand, es ſeyen Jakobiner und verkapte
Franzoſen.« — Viktor nahm endlich — ehe die
zwei gekroͤnten Badgaͤſte mit einigem Gefolge anka¬
men — Abſchied von ſeiner Verlobten, in deren
Augen wie in ſeinen bei der Nachricht, daß er nach
Maienthal abgehe des laͤngſten Tages wegen, Thraͤ¬
nen ſtanden, die mehr als einen Schmerz bezeich¬
neten.
Wir Leſer wollen unterdeſſen uns vom Kammer¬
herrn beurlauben, der mit ſeinen diagonalen Augen¬
braunen — bei der Naſenwurzel konvergiren ſie in
Geſtalt des mathematiſchen Wurzelzeichens — mit
wahrer verbindlicher Hoͤflichkeit ſich von uns trennt.
Ich weiß, wenn wir fort ſind, laͤßt er uns Gerech¬
tigkeit widerfahren und macht zuviel aus uns: denn
er verlaͤumdet nie, weder aus Boßheit noch Leicht¬
ſinn, und wen er verlaͤumdet, den hat er die ernſt¬
hafte Abſicht zu ſtuͤrzen, weil er lieber ungluͤcklich als
ſchwarz macht. — Als ich ihn ſich ſo buͤcken ſah ge¬
gen uns: verfertigte ich in Gedanken halbe Satire
auf ihn, wovon das Wahre und Ernſthafte das ſein
mag: daß die Menſchen wirklich dazu erſchaffen ſind,
ſich ſo krum zu machen wie der spiritus asper iſt.
Ich baue eben nicht darauf viel, daß Geometer ge¬
[250] ſchrieben haben, wenn die Goͤtter eine Geſtalt an¬
naͤhmen, ſo muͤßt' es die vollkommenſte, die eines
Zirkels ſeyn: ich koͤnnte zwar daraus folgern, ein
krummer Ruͤcken waͤre wenigſtens eine Annaͤherung
zur Goͤttergeſtalt, weil's ein Bogen und Segment
aus einem Zirkel waͤre — aber ich mag nicht: denn
das Phyſiſche iſt Kinderei dabei und nur in ſo fern
von Belang, als es das innere Kruͤmmen und Krie¬
chen der Seele theils anzeigt, theils (z. B. durch
Verengerung der Bruſt) befoͤrdert. Sogar am Hofe
wuͤrde man das aͤuſſere Kruͤmmen erlaſſen, wenn
man gewiß wiſſen koͤnnte, daß das edlere, innere der
Denkungsart da waͤre ohne das Zeichen, denn da
nach Kant Unterwuͤrfigkeit und Niederſchlagung un¬
ſers Eigenduͤnkels die Foderung der reinern und der
chriſtlichen Moral iſt: ſo muß einer, der gar keine
moraliſchen Vorzuͤge hat, mit dem Selbſtbewußtſeyn
davon noch tiefer nieder als zur Demuth, die ſchon
der Tugendhafte hat, er muß zu dem ſinken, was
ich ein edles Kriechen nenne. Ich geſtehe, ich ver¬
achte die Uebung nicht, die darin die kleinen Re¬
geln der Lebensart gewaͤhren, die ja ohnehin nichts
ſeyn ſoll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Re¬
geln naͤmlich, daß man ſich buͤckt wenn man wider¬
ſpricht — wenn man lobt — wenn man eine Belei¬
digung erfaͤhrt — wenn man eine anthut — wenn
man den andern buͤckt — wenn man gerade eben
[251] des Teufels werden moͤchte. Aber gut iſt's, daß
eine ſolche Tugend der Kruͤmmung ihre eigne Exer¬
zierplaͤtze hat und nicht vom Zufall abhaͤngt. Am
Hofe wuͤrde ein Menſch mit geradem Leibe und
Geiſte als hoͤfiſch-tod ausgeſchoſſen werden wie ein
Krebs mit einem geraden Schwanze, den nur
krepirte Krebſe fuͤhren. Wenn ſonſt die Einſiedler
niedrige Zellen erwaͤhlten, um nicht aufrecht zu ſte¬
hen: ſo braucht der Weltmann das nicht; ihn druͤ¬
cken die hohen Speiſeſaͤle, die Luſttempel, die Tanz¬
ſallons deſto tiefer nieder, je hoͤher ſie ſind. — Es
waͤre ſchlimm, wenn dieſe ſo wichtige Tugend der
Niederbuͤckung erſt eine beſondere geiſtige oder koͤr¬
perliche Staͤrke, die ſich ja niemand geben kann,
vorausſetzte; aber gerade umgekehrt will ſie nur
Schwaͤche haben, welches bei Pferden nicht ſo iſt,
die den Schwanz nicht mehr niederbringen, wenn
deſſen Sehnen abgeſchnitten ſind. Wenn die Phari¬
ſaͤer Blei in den Muͤtzen fuͤhrten, um ſich das Buͤ¬
cken zu erleichtern*): ſo thut das Blei, das man
auf die Welt bringt und das im Kopfe liegt, viel¬
leicht noch groͤßere Dienſte. Daher iſt's eine ſchoͤne
[252] Einrichtung, daß aus großen Seelen, denen wie
langen Staturen das Buͤcken ſauer faͤllt, zum Gluͤck
(aber zu ihrer Strafe) nichts wird, anſtatt, daß
mittelmaͤßig, die ſich nichts daraus machen, gedei¬
hen und eine ſchoͤne Krone treiben: ſo ſah ich oft
beim Brodbacken, daß jeder maͤßige Laib im Back¬
ofen ſich ſchoͤn erhob und woͤlbte, der große aber
blieb platt und miſerabel ſitzen. — Wir waͤren aber
bedauernswuͤrdig, wenn eine Tugend, die den Werth
des buͤrgerlichen Menſchen ausmacht, dieſe Tugend,
nicht blos wie Kinder zu werden, ſondern wie Foͤ¬
tus, die ſich im Mutterleibe zuſammenſtuͤlpen, wenn
dieſe nur an den hoͤchſten Orte gediehe, wie man
faſt denken ſollte, da der Hofmann nach dem Falle
auf ſeinem Landgute ſchon wieder aufrecht geht —
anſtatt daß die Schlange vor dem Falle und unter
dem Verfuͤhren nicht kroch. — Allein in allen buͤr¬
gerlichen Verhaͤltnißen ſind Erziehungsanſtalten zu
Kruͤmlingen vorhanden; die Luft haͤngt voll vom
geiſtlichen und weltlichen Arme und von andern Haͤn¬
den, die uns ordentlich einkrempen und noch hoͤher
ſind die allerlaͤngſten angebracht, die uͤber ganze
Voͤlker reichen. Der Gelehrte ſelber buͤckt ſich am
Schreibepult unter der Geburt der Dedikazionen und
Dedukzionen und Urthel. Durch das bloße graue
Alter reift ſowohl der Koͤrper zum verknoͤcherten
Buͤcklinge als die Seele. Und die niedrige Geiſt¬
[253] lichkeit arbeitet ſich, weil ſie immer niederwaͤrts ins
Grab ſieht, in die gekruͤmte Attituͤde hinein. —
Ich ſchließe mit dem Troſte, daß Buͤcken Aufgebla¬
ſenheit nicht ausſchließe, ſondern ein; da eben
der Zirkel, deſſen Segment man wird, unzaͤhlig
um die geſchwollne Kugelflaͤche laͤuft. ....
Ich wuͤrde wahrhaftig dieſes Extrablatt eines
uͤberſchrieben haben — ſo daß es alſo der Leſer haͤt¬
te uͤberſpringen koͤnnen — wenn ich nicht gewollt
haͤtte, daß er's laͤſe, um ſich zu zerſtreuen, und die
truͤben Stunden meines Viktors leichter mit ihm
auszudauern. Denn jeder Glockenſchlag iſt der aus
einer Todtenglocke gehende Todtenmarſch ſeiner ſchoͤ¬
nern geſcheiterten Stunden. Viktor war kaum ei¬
nige Tage zu Hauſe: ſo ging das gekroͤnte Paar
ins Bad. Ohne es zu wiſſen, that und beantworte
er ſich den ganzen Tag die Fragen: was werden bei¬
de, was Flamin, was Matthieu — der nicht ſein
Brautfuͤhrer, ſondern ſein ſabiniſcher Raͤuber ſeyn
will — zur Verlobung ſagen?
Noch am Morgen, wo er nach Maienthal ab¬
reißte, empfing er zwei neue Knochenſplitterungen
des Muths. Der Apotheker konnte ſich das Ver¬
gnuͤgen nicht verſagen, dem Hofmedikus ſeines zu
nehmen, indem er die (wahrſcheinlich falſche) Both¬
ſchaft brachte, der Hofjunker habe den Kammer¬
herrn gefordert wegen des uͤber Klotilden gebrochnen
[254] Verſprechens. Wenig oder nichts iſt an der Both¬
ſchaft ſchon darum, weil der Apotheker nur ſein
Eigenlob loßhuſten und in das Lob Viktors verklei¬
den wollte, daß dieſer mit ſo unendlicher Feinheit
ſeine neulichen Winke, den Evangeliſten zu unter¬
graben, zu vollfuͤhren gewußt. Die Winke waren
wie man ſich erinnert, die zwei Vorſchlaͤge, der
Liebhaber der Fuͤrſtin und der Ehemann Klotildens
zu werden, um den Fuͤrſten zu gewinnen und wie
ein Schwein die Klapperſchlange, Mazen, ohne
Schaden zu verſchlucken. Man muß der von einem
Wurmſtock von Schmerzen angenagten Seele Vik¬
tors vergeben, daß er aufbraußte und mit einem
Auge voll tiefſter Verachtung Zeuſeln anfuhr: »ich
weiß nicht, wer verdiente, ſolche Vorſchlaͤge anzu¬
hoͤren — wenn's nicht einer iſt, der ſie machen
kann.»
Der Korreſpondent hoͤrt traurig und kurz mit
den Worten auf: »abends kam Viktor ſpaͤt und mit
geſchwollnen Augen in Maienthal an, um zu ſehen,
ob am andern Tage der ſchoͤnſte Lehrer und der
groͤßte Freund verwelke!» — — Wir koͤnnen uns
alle denken wie die Umarmung eines Geliebten we¬
nige Schritte von ſeinem Grabe ſeyn mußte — Der
Freund, der uns ſein Sterben drohet, greift ſchmerz¬
haft unſere Seele an, auch wenn wir es bezweifeln
— wir koͤnnen uns alle das naſſe Auge denken, das
[255] Viktor uͤber die noch bluͤhende Staͤtte ſeines ver¬
welkten Roſenfeſt's geworfen. — Was ihn troͤſtet,
iſt die Unwahrſcheinlichkeit des prophezeyten Ster¬
bens, da Emanuel ſich wie ſonſt befindet, und da
der Selbſtmord noch unmoͤglicher bei dieſem from¬
men Geiſte iſt, der den Selbſtmoͤrder ſchon laͤngſt
mit dem Hummer verglich, der die eine Scherre,
die er ſelber mit der andern aus Stumpfſinn zer¬
knirſcht und kneipt, nicht herauszieht ſondern ab¬
ſprengt. — Moͤge mir der Leſer zur Beſchreibung
des laͤngſten Tages*), die ich einſam unter der er¬
hebenden Stille der Nacht machen werde, ein Herz
wie des Indiers mitbringen, das gleich alten Tem¬
peln ſtumm und dunkel, aber weit und voll heiliger
Bilder iſt!
[256]
38. Hundspoſttag.
Die erhabene Vormitternacht — Die ſeelige Nachmitternacht —
Der ſanfte Abend.
Heute uͤbergeb' ich Emanuels laͤngſten Tag, der nun
erloſchen und abgekuͤhlt unter den Tagen der Ewig¬
keit liegt, mit bleichen Abriſſen den Phantaſien der
Menſchen. Meine Hand zittert und mein Auge
brennt vor den Szenen, die jetzt in Leichenſchleiern
um mich treten und ſo nahe an mir die Schleier
aufheben. — — Ich ſchließe mich heut Nacht ein
— ich hoͤre nichts als meine Gedanken — ich ſehe
nichts als die Nachtſonnen, die uͤber den Himmel
ziehen — ich vergeſſe die Schwaͤchen und die Fle¬
cken meines Herzens, damit ich den Muth erhalte,
mich zu erheben als waͤr' ich gut, als wohnt' ich
auf der Hoͤhe, wo um den großen Menſchen wie
Sternbilder nichts als Gott, Ewigkeit und Tugend
liegen. Aber ich ſage zu denen, die beſſer ſind —
zum ſtillen großen Herzen, das ſeine Pflichten ver¬
mehrt, indem es ſie erfuͤllt und das ſich beim
Wachsthum ſeines Gewiſſens taͤglich blos mit
groͤßern Verdienſten befriedigt — zu den hohen
Menſchen,[257] Menſchen, die die Hand des Todes warm gedruͤckt
haben, die ihn, wenn er auf Morgenauen herum¬
geht, friedlich fragen koͤnnen: »ſucheſt du mich heu¬
»te» — zur lechzenden Seele, die ſich unter dem
Zypreſſenbaum kuͤhlet — zu den Menſchen mit
Thraͤnen, mit Traͤumen, mit Fluͤgeln, zu allen die¬
ſen ſag' ich: »Verwandte meines Emanuels, euer
»Bruder ſtrecket nach euch ſeine Hand durch die
»kuͤrzeſte Nacht aus, ergreifet ſie, er will von euch
»Abſchied nehmen!«
Die erhabene Vormitternacht.
Viktor ſtand aus ſeinen Traͤumen, in denen er
nichts als Graͤber und Trauergeruͤſte fuͤr ſeinen
Freund geſehen hatte, wehmuͤthig auf; aber er faßte
beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn
ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Aenderun¬
gen in ſeinen angeblichen Todesmorgen treten ſah.
Ihm war jetzt blos vor dem Eindruck bange, den
die getaͤuſchte Hoffnung des Scheidens auf das ſchon
halb aus dem irdiſchen Boden geriſſene und von
Erde entbloͤßte Herz des Geliebten machen wuͤrde.
Dieſer hingegen hielt noch ſeine Traͤume feſt, denen
ſogar ſeine naͤchtlichen Nahrung gaben; und er ſah
ſehnend in das ungeſtirnte Blau und berechnete den
langen Weg bis zur zwoͤlften Nachtſtunde, wo aus
dem Himmel die Sterne und der Tod mit ſeinem
Heſperus. IIl. Th. R[258] dunkeln unermeßlichen Mantel, in dem er uns durch
ſein kaltes Reich traͤgt, vordringen wuͤrden. Sein
Herz lag in einer unbeſchreiblichen Mittagsruhe,
die zum Theil von koͤrperlichen Ermatten und vom
ſchoͤnen Tag herkam. Eine innere Windſtille, die
nirgends ſo groß und ſo magiſch iſt als in Seelen,
an denen Wirbelorkane hin und her geriſſen haben,
uͤberdeckte ſein ganzes Weſen mit einer ſehnſuͤchti¬
gen Wonne, die in andern Augen als ſeinen in
Thraͤnentropfen zerfloſſen waͤre.
O Ruhe, du ſanftes Wort! — Herbſtflor aus
Eden! Mondſchein des Geiſtes! Ruhe der Seele,
wenn haͤltſt du unſer Haupt, daß es ſtill liege, und
unſer Herz, daß es nicht klopfe? Ach eh' jenes
bleich und dieſes ſtarr iſt, ſo kommſt du oft und
geh'ſt du oft und nur unten bei dem Schlafe und
bei dem Tode bleibeſt du, indeß oben die Stuͤrme
die Menſchen mit den groͤßten Fluͤgeln gleich
Paradießvoͤgeln am meiſten umherwerfen!
Emanuels Ruhe, womit er die Gaſtrolle des
Lebens bis aufs letzte Merkwort ausſpielte, womit
er alles einpackte — zurechtſtellte — anbefahl —
verabſchiedete, trieb im gequaͤlten Freunde Thraͤnen
und Stuͤrme zuſammen — Viktors Herz war zwar
vom Schickſal uͤber einem ſteinigten Weg wund ge¬
ſchleift, aber die Entzuͤndungen deſſelben kuͤhlte jetzt
der Gedanke des Todes ſanft ab; doch konnt' er es
[259] — beim groͤßten Unglauben an Emanuels Tod —
nicht aushalten, es zu hoͤren, wie ihm Emanuel den
blinden Julius, dem man dieſen Tod verbarg, von
weitem mit den leiſen Worten uͤbergab: »hab' ihn
»lieb wie ich, verſorge, beſchirme den Armen bis
»du ihn dem Lord Horion uͤbergeben kannſt.» Sei¬
ne bebenden Haͤnde konnten kaum ein Paket an die¬
ſen Lord annehmen, das ihm der Liebling mit zaͤrt¬
lichen Augen und mit den Worten reichte: »wenn
»dieſe Siegel geoͤfnet werden, ſo haben meine Eide
»aufgehoͤrt und du erfaͤhr'ſt alles.» Denn ſein zar¬
tes Gewiſſen verſtattete ihm nur den Inhalt, nicht
das Daſeyn von Geheimniſſen zu verbergen. — Es
wird uns nicht wundern, da Viktors Adern eine
Wunde um die andere empfingen, daß er, um nicht
durch Wallungen ihr Bluten zu vermehren, den
Floͤtenſpieler bat, heute nicht zu ſpielen: Muſik
haͤtte an dieſem Tag uͤber ſein zerfloſſenes Herz zu¬
viele Gewalt gehabt.
Den Morgen verbrachten ſie in Abſchiedsbeſuchen
bei alten Steigen, Lauben und Anhoͤhen; aber Ema¬
nuel machte hier nicht die grelle, tobende Forcerolle
des fuͤnften Akts; er ſchlug auf einer Erde, wo der
Tod graſet, keinen unphiloſophiſchen Laͤrmen daruͤber
auf, daß er die Blumen und die Saaten nicht maͤ¬
hen und das gruͤne Obſt nicht gelben werde ſehen:
R 2[260] ſondern mit einem hoͤhern Entzuͤcken, das ſich jen¬
ſeits des Erden-Lenzes noch ſchoͤnere verſprach,
machte er ſich von jeder Blume loß, ging er durch
jedes Laub Gewinde und Schatten Nachtſtuͤck hin¬
durch, zog er ſeine in der Erde liegende verklaͤrte
Geſtalt aus jedem Spiegelteiche und eine liebevolle¬
re Aufmerkſamkeit auf die Natur zeigte an, daß er
heute Nachts dem naͤher zu komnen hoffte, der ſie
geſchaffen. Er verſuchte und Viktor vermied von
allem dieſen zu reden. »Nur nicht zum letztenma¬
»le!» ſagte dieſer. »Nicht? (ſagte Emanuel) —
»Geſchieht nicht alles nur Einmal und zum letzten¬
»male? — Scheidet uns nicht der Herbſt und die
»Zeit ſo gut wie der Tod, von allem? — Trennt
»ſich nicht alles von uns, wenn wir uns auch nicht
»von ihm trennen? — Die Zeit iſt nichts als ein
»Tod mit ſanftern duͤnnern Sicheln; — jede Mi¬
»nute iſt der Herbſt der vergangnen und die zweite
»Welt wird der Fruͤhling einer dritten ſeyn. — —
»Ach wenn ich einmal wieder aus der Blumenflaͤche
»einer zweiten weiche, und wenn ich am himmli¬
»ſchen Sterbetag das Zwielicht von der Erinnerung
»zweier Leben ſehe — — o in der Zukunft ruht
»eine Anlage zur unendlichen Wonne ſo gut wie zur
»Qual, warum ſchauert der Menſch nur vor die¬
»ſer?» — Viktor beſtritt die kuͤnftige Erinnerung.
»Ohne Erinnerung (ſagte Emanuel) giebt's kein Le¬
[261] »ben, nur Daſeyn, keine Jahre, nur Terzien —
»kein Ich, nur Vorſtellungen deſſelben — Ein
»Weſen zerfaͤhrt in ſo viel Millionen Weſen als es
»Gedanken hat — Erinnerung iſt blos Bewußtſeyn
»der gegenwaͤrtigen Exiſtenz» — Auch der Dichter
philoſophirt, wenigſtens fuͤr Dichtung und gegen
Philoſophie. — Viktor dachte: »du Guter! mir,
»nicht dir macht' ich dieſe Einwuͤrfe.»
Es war gegen Mittag: der Himmel war rein
aber ſchwuͤl; die Blumen meldeten das Zuſammen¬
ziehen der Blitze durch ihr Verſchließen an; alle
Auen waren Rauchaltaͤre, und Duͤfte gingen als Pro¬
pheten der Gewitterwolken voraus. Mit der phy¬
ſiſchen Gewittermaterie haͤufte ſich in Viktor die
moraliſche an — er dachte daran, daß oft ein
heißer Tag den Schwindſuͤchtigen das Leben nehme;
— er verwechſelte zuweilen die Bitterkeit des
Abſchieds mit der Wahrſcheinlichkeit deſſelben:
denn der von der Luftperſpektiv der Furcht be¬
trogne Menſch findet ein Schreckenbild deſto naͤ¬
her, je groͤßer es iſt; — er weinte, wenn er bloß
daran dachte, daß er weinen koͤnnte —: aber gleich¬
wol wuͤrde die Vernunft die Oberhand uͤber die
Gefuͤhle behalten haben, haͤtte nicht beide folgender
Zufall betaͤubt.
[262]
In Maienthal wohnte ein Wahnſinniger, den
man blos das tolle Todtengebein hieß. Aus drei
Gruͤnden wurd' er ſo genannt: erſtlich weil er ein Kno¬
chenpraͤparat von Magerheit war — zweitens weil
er die fixe Idee herum trug, der Tod ſetze ihm nach
und woll' ihn an der linken Hand, die er deswegen
immer verdeckte, ergreifen und wegziehen — drittens
weil er vorgab, er ſeh' es denen die bald ſterben
wuͤrden, am Geſichte an, uͤber das ſich alsdann
ſchon die Einſchnitte und Abſzeſſe der Verweſung
ausbreiteten. In Moritz Erfahrungsſeelenkunde *)
iſt ein aͤhnlicher Menſch beſchrieben, der auch im
Stande ſeyn ſoll, die Vorpoſten des Todes und ſei¬
ne zerreibende Hand auf Geſichtern voraus zu ſehen,
die andern glatt und roth vorkommen, wenn er ſie
mit dem Hoͤllenſtein der Verweſung ausgeſtrichen
erblicket. — Dieſes Todtengebein war's was in der
Nacht des 4ten Pfingſttages, als Klotilde auf dem Kirch¬
hof war, ausrief: Tod! ich bin ſchon begraben. —
Viktor und Emanuel gingen unter dem Gelaͤute der
zwoͤlften Stunde nach Hauſe und vor einem Huͤgel
voruͤber, woran das Todtengebein beklemmt ſaß: es
bohrte ſich die linke Hand, wornach der Tod grif,
tief unter die Achſel: »brrrr! (ſagt' es ſchuͤttelnd zu
[263] »Emanuel) Er hat dich, aber mich nicht! Lauter
»Moder haͤngt an dir runter! Die Augen ſind weg!
»Brr!»
Die Worte der Wahnſinnigen ſind dem Men¬
ſchen, der an der Pforte der unſichtbaren Welt
horcht, merkwuͤrdiger als die des Weiſen, ſo wie er
aufmerkſamer den Schlafenden als den Wachenden,
den Kranken als den Geſunden zuhoͤrt. Viktors Blut
erſtarrte unter dem eiskalten Grif in ſein warmes
Leben. Das tolle Gebein rannte fort, die linke
Hand mit der rechten verbauend. Viktor nahm ſei¬
nes Freundes linke, blickte zur warmen Sonne
auf und ſuchte ſich zu verbergen und zu erwaͤrmen
und konnte nichts ſagen. Unten am tiefblauen Him¬
mel tauchten kleine Nebel auf, die Keime eines
Abendgewitters; und in der ſchwuͤlen Luft flog nichts
als Gewuͤrm.
Emanuel war ſtiller und faſt aͤngſtlich; aber es
war nicht die Bangigkeit der Furcht, ſondern jene
Bangigkeit der Erwartung mit der wir allemal auf
die Falten und Bewegungen des Vorhangs großer
Szenen blicken. Die ſtechende Sonne erhielt das
Paar zu Hauſe. Dem vom ſchwuͤlen Dunſtkreiß ge¬
druͤckten Emanuel wurde faſt der letzte Nachmittag
zu lange. Aber ſein Freund ſah in dieſem Dunſt¬
gewoͤlbe immer ein moderndes Angeſicht haͤngen, das
ſich in das geliebte friſche einzuarbeiten ſchien und
[264] immer hoͤrt' er das tolle Todtengebein in ſeine Oh¬
ren ſagen: »ſeine Augen ſind raus!»
In der ſchwuͤlen Stille‚ wo die Sonne die Mi¬
nirgaͤnge des Donners grub und lud, und wo die
zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur
mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften‚
ſtand gegen 4 Uhr ein faͤchelnder Abendwind auf‚ der
alle haͤngende Fluͤgel und Haͤupter erfriſchte. Ema¬
nuel ließ dieſe kuͤhlen Wogen herein‚ die — einwie¬
gend und beruhigend uͤber die gebuͤckten Blumen am
Fenſter liefen und an den ſchwankenden Falten der
Vorhaͤnge niederfloſſen und verirrt durch das duften¬
de Laubwerk des Zimmers plaͤtſcherten. Da kam ei¬
ne unendliche Stille‚ eine aufloͤſende Wonne, ein
unausſprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine
Kindheitsfreuden — die Zuͤge ſeiner Mutter — die
Bilder indiſcher Gefilde — alle geliebte verſtaͤubte
Geſtalten — Der ganze gleitende Wiederſchein des
Jugendmorgens floß vor ihm glimmend voruͤber —
Eine wehmuͤthige Sehnſucht nach ſeinem Vaterland,
nach ſeinen geſtorbnen Menſchen dehnte ſeinen Bu¬
ſen mit ſuͤßen Beklemmungen aus — Dieſes immer¬
gruͤne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als
kuͤhlendes Kraut um ſeine und Horions Stirne und
den ganzen erſten Kreiß ſeines Daſeyns trug er aus
dem indiſchen Eden in dieſes enge Gehaͤuſe vor ſei¬
ne zwei letzten Geliebten heruͤber. Aber da er ſo
[265] die Aſche der Freuden-Phoͤnixe auf dem Altar der
Abendſonne aufhaͤufte — da er ſo am Ausgange uͤber
alle hintereinander liegende elyſiſche Felder ſeines
Lebens hinuͤberſah — da vor ihm die ganze Erde
und das Leben, mit Morgenthau und Morgenroth
uͤberzogen, ſich in den daͤmmernden Spielplatz des
Menſchen verwandelten: ſo war er ſeiner Ruͤhrung
und ſeines zerſchmolznen Herzens nicht mehr maͤch¬
tig, ſondern im ſeeligen Zittern, im bebenden Dank
gegen den Ewigen bat er den Blinden, die Floͤte zu
nehmen und ihm das Lied der Entzuͤckung, das
er ſich allemal am Morgen des neuen Jahrs und
ſeines Geburtstages ſpielen ließ, als Echo des aus¬
toͤnenden Lebens nachzuſenden.
Julius nahm die Floͤte. Horion ging hinaus
unter einen laut rauſchenden Baum und ſah in die
tiefere Abendſonne. Emanuel ſtellte ſich am wehen¬
den Fenſter dem Purpurſtrom des Abendlichtes ent¬
gegen und das Lied der Entzuͤckung fing an und floß
in Stroͤmen in ſein Herz und um die eingeſunkne
Sonne.
Und da die Sphaͤren-Laute von der Sonne aus¬
zuwallen ſchienen, die in der Abendroͤthe wie ein
Schwan, in Melodien aufgeloͤſet in Goldrauch und
in Freudenthau vor Gott aus Entzuͤcken ſtarb —
und da vor Emanuel alle Blumen, womit die ewi¬
[266] ge Guͤte unſer Herz bedeckt, und alle Wonnegefilde,
durch die ihre ſanfte Hand den ungewiſſen Menſchen
fuͤhrt, wie Engel voruͤberflogen — und da er die
kuͤnftigen Himmel naͤher ruͤcken ſah, in die der Weg
des Lebens geht — und da er ſah dieſe unendlichen
Arme alle wunde Herzen decken, uͤber alle Jahrtau¬
ſende reichen, alle Welten tragen und ihn, ihn klei¬
nen Erdenſohn doch auch: o da konnte er unmoͤglich
das volle Herz mehr halten, es brach ihm vor Dank
und aus ſeinen Augen fielen die erſten — Thraͤnen
ſeines Daſeyns. Dieſe heilige Tropfen verwiſchte
er nicht: in ihnen zerlief die Abendroͤthe in ein lo¬
derndes Meer; die Floͤte verhallete; Horion fand die
ſchimmernden Augen noch; Emanuel ſagte: o ſieh'
ich weine vor Freude uͤber meinen Schoͤpfer.— —
Dann gab es unter den erhabnen Menſchen, an die¬
ſer heiligen Staͤtte keine Worte mehr — der Tod
hatte ſeine Geſtalt verloren — eine erhabne Trauer
betaͤubte die Schmerzen der Trennung — die Sonne,
mit Erde bedeckt, beruͤhrte mit ihren aufgerichteten
Stralen den Himmel und die Nacht und den Boden
der Wolken — die Erde ſchimmerte magiſch wie
eine Traum-Landſchaft, und doch war es leicht aus
ihr zu weichen, denn den Himmel bedeckten die an¬
dern Traum-Landſchaften.
Die Erden der Nacht (die Planeten) traten ſchon
auf, die Sonnen der Nacht (die Fixſterne) gingen
[267] ſchon nach ihnen hervor, der Mond hatte ſchon das
ſuͤdoͤſtliche Gewitter um ſich gehuͤllt: als Emanuel
ſah, daß es Zeit ſey, die Szenen des Thals zu endi¬
gen und auf ſein Thabor zu gehen, um dem Tod
das Fluͤgelkleid ſeiner Seele zu geben. Stockend bat
er ſeinen Viktor, ein wenig voraus zugehen, damit
er nicht das Trennen vom Blinden ſaͤhe und ſich et¬
wan durch eine Theilnahme verriethe: denn bei dem
Blinden hatte Viktor die Reiſe in die andre Welt
nur fuͤr eine auf dieſer ausgegeben. Er ſtellte ſich
ungluͤcklich hinaus vor die verſtummten ſchwuͤlen Ge¬
filde, in denen einmal die Paradieſes-Stroͤme ſeiner
Liebe gegangen waren, auf denen er einmal an Klo¬
tildens Seite ſchoͤnere Abende geſehen hatte: auf der
Erde war Todtenſtille wie in einer Kirche zu Nachts,
blos den Himmel umbrauſete ein auf die Erde ge¬
kruͤmmtes Bleigewoͤlk und der Tod ſchien von Wolke
zu Wolke zu gehen und ſie zur Schlacht zu ordnen.
Endlich hoͤrt' er Julius Weinen. Emanuel floh
heraus, aber in ſeinen Augen hingen ſchwerere Tro¬
pfen als ſeine erſten waren. Und da der verlaſſene
Blinde ſein dunkles Haupt unter der Hausthuͤr von
ſeinen Freunden wegdrehte, entweder weil er ihren
Weg nicht wußte oder weil er horchen wollte, wel¬
chen ſie naͤhmen, ſo konnte Viktor dem Gebeugten,
der in einer doppelten Nacht wohnte, kaum vor in¬
[268] niger Wehmuth zuruͤck rufen, er (Viktor) komme
nach Zwoͤlfen wieder.
In dem kahlen Abendgruß »gute Nacht, ſchlaft
wohl« den Emanuel gab und bekam, war mehr
Thraͤnenſtof als in ganzen Elegien und Abſchiedsre¬
den: ſo ſehr ſind die Worte nur die Inſkriptionen
auf unſern Stunden und die Ripienſtimmen und die
Bezifferung unſerer Grundnoten.
Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den
daran angeketteten Orkan und vor ſeinen Todtenberg
trat: ſo hoben Engel ſeine erweichte Seele wieder —
er ſah den Tod vom Himmel ſteigen und auf ſeinem
Grabe den Freiheitsbaum aufrichten — er ſah die
freundlichen Sterne naͤher kommen und es waren die
himmliſchen Augen ſeiner Freunde und aller ſeeligen
Weſen. Viktor durfte ſeine dichteriſchen Hofnungen
durch keine Gruͤnde ſtoͤren: vielmehr wurd' er ſelber von
Stunde zu Stunde tiefer in den Glauben an ſeinen
Tod hineingezogen; wenigſtens fuͤrchtete er, daß der
heutige Entzuͤckungs-Sturm die muͤrbe Wohnung
dieſes ſchoͤnen Herzens und ſeiner Seufzer zertrennen
und daß der Tod ſo lange um die edle Seele ſchlei¬
chen wuͤrde bis er ſie an ihren Fluͤgel, wenn ſie in
Wonne ſie aufrichtete, vom Leben pfluͤcken koͤnnte
wie Kinder den Schmetterling ſo lang umgehen bis
er auf ſeiner Blume die Schwingen an einander ge¬
falltet in die raͤuberiſchen Finger erhebt.
[269]
Emanuel verſchob durch Umwege das Erſteigen
des Berges, um ſeinen gebrochnen Freund, deſſen
Augen nicht mehr trocken wurden, von einer Sonne
in die andre zu heben, damit er in dieſer hohen
Stellung aus Lichtern herunterblickte auf dieſe Schat¬
tenerde und darauf den befreundeten Leichnam vor
Kleinheit kaum bemerkte. »Darum (ſagt' er) wird
»ja dieſe Erde alle Tage verfinſtert, wie Kaͤfiche der
»Voͤgel, damit wir im Dunkeln leichter die hoͤheren
»Melodieen faſſen. — Gedanken, die der Tag zu ei¬
»nem dunkeln Rauch und Nebel macht, ſtehen in
»der Nacht als Flammen und Lichter um uns, wie
»die Saͤule, die uͤber dem Veſuv ſchwebt, am Tage
»eine Wolkenſaͤule ſcheint und zu Nachts eine Feuer¬
»ſaͤule iſt.« Viktor merkte die Abſicht, zu troͤſten
und wurde deſto untroͤſtlicher und ſchwieg immer.
Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur
Trauerbirke hinauf, ſondern an ſeinem langſam auf¬
ſteigenden Ruͤcken. Sie uͤberſahen jetzt das Theater
der Nacht, uͤber welches der Mond und das Gewit¬
ter verhuͤllet heraufruͤckten. Emanuel ſtand ſtill und
ſagte: »o blick hinauf und ſieh die ewig funkelnden
»Morgenauen; die um den Thron des Ewigen lie¬
»gen — haͤtte aus dem Himmel nie ein Stern ge¬
»ſchienen, nur dann wuͤrde ſich der Menſch aͤngſtlich
»in den letzten Schlaf, auf einer wie ein Leichenge¬
»woͤlbe uͤberbauten dunkeln Erde ohne Oefnung le¬
[270] »gen.« — Vor den Augen, die' ſich an Sonnen
hefteten, ſchweiften blinkende Johanniswuͤrmgen und
eine Fledermaus ziſchte nach einem grauen Nacht¬
ſchmetterling — drei Johannisfeuer, vom Aberglau¬
ben angeſchuͤrt, zogen drei ferne Huͤgel aus der
Nacht — alles Leben ſchlief unter ſeinem Blatt, un¬
ter ſeinem Zweig, naͤher an ſeiner Mutter und in
den herumgeſtreueten Traͤumen waren Gewitter —
Fiſche taumelten wie Leichen auf der Waſſerflaͤche,
als Vorboten des Donners.
Ploͤtzlich fing Emanuel mit einer unpaſſenden
nicht genug bezwungnen Stimme an: »wahrlich wir
»wuͤrden gefaßter neben dem Genius ſtehen, der die
»letzten Schlummerkoͤrner auf die Augen unſrer Lie¬
»ben fallen laͤßt, wenn ſie nachher nicht in Kirchen¬
»gewoͤlben, in Kirchhoͤfen ſondern auf Auen aus¬
»ſchliefen, unter dem Himmel oder als Mumien in
»Zimmern. . . . Jetzt, mein Geliebter (ſie hoͤrten
»ſchon das Wehen der Trauerbirke) herrſche alſo
»uͤber deine Phantaſie: du wirſt neben der Birke
»meine Ruhehoͤle offen ſehen — ich habe ſie ſeit
»vier Wochen mit Blumen ausgeſaͤet und uͤberklei¬
»det, die jetzt meiſtens bluͤhen — du legſt mich mor¬
»gen ohne alles andre ſo in meinem Schlafklei¬
»de unter die Blumen — und deck' es morgen zu
»— gieb aber nicht, du Guter, meinem kleinen Blu¬
»menſtuͤck ſolche harte Namen wie andre Menſchen
[271] »— morgen ſag' ich; heute geh ſogleich heim zu
»deinem Julius, wenn ich . . . .« (geſtorben bin,
wollt' er ſagen, konnt' aber die weiche Umſchreibung
vor Ruͤhrung nicht finden.) —
Ach das gebrochne Auge riß Horion mit einem
Seufzer heraus aus der kalten ofnen Grotte ſeines
Geliebten und er konnte nicht hinabſehn zu dem Blu¬
menflor darin. Er ſchluchzete laut und ſah aus
Thraͤnen zergangen, in Emanuels Angeſicht, um zu
ſehen ob er lebe oder ſterbe. Zwei Johanniswuͤrm¬
gen durchkreuzten einander in glimmendem Bogen
uͤber dem Grabe, ſie ſenkten ſich daneben hin und
loͤſchten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Be¬
wegung. — —
In Viktors Wunden grif jetzt der Donner mit
ſeinem erſten Schlag — den oͤſtlichen Horizont deckte
ein zerfließender Blitz und die Flamme lief uͤber die
Alpengebirge — die Gewitterſtange auf dem Pulver¬
thurm ſchimmerte, ſeine Gewitterſtuͤrmer erklangen,
die Irrwiſche ſpielten um den Thurm und mitten in
der Luft ruͤckte ein ſchwebender Lichtpunkt fuͤrchter¬
lich auf ihn zu. —
In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen — um
zwoͤlf Uhr glaubte Emanuel dahin zu ſeyn. — End¬
lich fiel Dahore, ſelber vom fremden Kummer uͤber¬
mannt, an ſeinen Freund und ſagte: »was haſt du
»mir noch zu ſagen, mein Geliebter, mein unaus¬
[272] »ſprechlich theurer Freund? — Meine Stunden ſind
»dahin — unſer Lebewohl koͤmmt — ſage deins und
»ſtoͤre dann mein Sterben nicht — Sey ſtill wenn
»der Tod den Berg herauf ſteigt und jammere nicht
»nach wenn er mich erhebt — Was haſt du mir
»noch zu ſagen, mein ewig Geliebter?« — »Nichts
»mehr, du Engel des Himmels, ich kann auch nicht«
ſagte der verblutete Menſch und legte das gedruͤckte
Haupt mit Thraͤnenſtroͤmen auf Emanuels Schulter.
»Nun ſo brich dein Herz von meinem ab und
»lebe wohl — ſey gluͤcklich, ſey gut, ſey groß — ich
»habe dich ſehr geliebt, ich werde dich noch einmal
»lieben und dann unendlich — Guter! Treuer!
»Sterblicher wie ich! Unſterblicher wie ich!«
Die Gewitterſtuͤrmer laͤuteten heftiger — der
ſchwebende Lichtpunkt trat an den Pulverthurm —
alle eingehuͤllte Wolken-Vulkane tobten neben ein¬
ander und warfen ihre Flammen zuſammen und die
Donner gingen wie Sturmglocken zwiſchen ihnen —
die zwei Menſchen lagen an einander dicht, ſtumm,
keuchend, druͤckend, zitternd vor dem letzten Wort.
»O ſprich noch einmal, mein Horion, und nimm
»Abſchied von deinem Freund — ſage nur zu mir:
»Ruhe wohl! und laſſe den Sterbenden.«
Horion ſagte: »Ruhe wohl!« und ließ ihn.
Seine Thraͤnen hoͤrten auf und ſeine Seufzer ver¬
ſtummten. Der Donner ſchwieg fuͤrchterlich. Die
Natur[273] Natur ordnete ſtumm ihr Chaos im Gewitter. Kein
Blitz ſchimmerte durch das Trauergeruͤſte am Him¬
mel. Blos das Todtengelaͤute der Gewitterſtuͤrmer
ſprach noch fort und der Lichtpunkt ruͤckte noch fort.
Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Traͤu¬
me und eines Freundes troſtloſes Herz.
In dieſer Ewigkeits-Stille trat Emanuel ohne
eine fremde Hand an die hohe Pforte, die ſchwarz
hinaufſteigt uͤber die Zeit. — —
Die Stille iſt die Sprache der Geiſterwelt, der
Sternenhimmel ihr Sprachgitter — aber hinter
dem Sternengitter erſchien jetzt kein Geiſt, und Gott
nicht.
Es kam die Minute wo der Menſch ſeinen Koͤr¬
per anſieht und dann ſein Ich und dann ſchaudert.
— Das Ich ſteht allein neben ſeinem Schatten —
ein Schaumglobus von Weſen zittert, kniſtert und
wird niedriger und man hoͤrt die Blaͤsgen verſchwin¬
den und iſt eines. —
Emanuel ſchauete hinein in die Ewigkeit, ſie ſah
wie eine lange Nacht aus.
Er ſah um ſich, ob er keinen Schatten werfe,
— ein Schatten wirft keinen Schatten. —
Ach ein Stummer legt den Menſchen in die
Wiege, ein Stummer druͤckt ihn in's Grab — Wenn
er eine Freude hat, ſieht es aus als lachte ein
Schlafender — wenn er jammert und weint, ſieht
Heſperus. III. Th. S[274] es wie das Weinen im Schlafe — Wir blicken alle
zum Himmel auf und bitten um Troſt; aber droben
im unendlichen Blau iſt keine Stimme fuͤr unſer
Herz — nichts erſcheint, nichts troͤſtet uns, nichts
antwortet uns. —
Und ſo ſterben wir. . . .
— O Allguͤtiger, wir ſterben froher; aber der
arme Emanuel kaͤmpfte in der ſtillen Finſterniß mit
grimmigen Gedanken, die er ſo lange nicht geſehen
hatte und die nach ſeinem erbleichenden Angeſicht
krallten. Aber dieſe Larven rennen davon, wenn
ein freundliches Bruderangeſicht vor dich tritt und
dich umarmt. — Horion richtete ſich auf und er¬
waͤrmte den Gebeugten durch einen ſtummen Abſchied
wieder. — Ein Sturmwind ſtuͤrzte ſich aus dem
klaren Weſten in die ſtumme arbeitende Hoͤlle und
jagte alle Blitze und alle Donner heraus — Siehe
da flog aus dem zuruͤckgewehten Gewoͤlke der lichte
Mond wie ein Engel des Friedens in das unbeſu¬
delte Blaue heraus — Da unterſchied ſich im
Lichte Emanuel von ſeinem Schatten —
Da beſchien der Mond einen Regenbogen aus blaſſen
Farbenkoͤrnern, der in Suͤdoſten (der Pforte nach
Oſtindien) durch die dunkle Fluthſaͤulen drang und
ſich uͤber die Alpen bog — Da ſah Emanuel die
vorige Himmelsleiter wieder uͤber die Erdennacht ge¬
lehnt — Da kam die Entzuͤckung ohne Maas und
er rief mit ausgebreiteten Armen: »ach dort in
[275] »Morgen, in Morgen, uͤber die Straße nach dem
»Vaterland, nach Morgenland, da ſchimmert
»der Triumphbogen, da oͤfnet ſich die Ehrenpforte
»— da ziehen die Sterbenden hindurch« ...
Und da es jetzt zwoͤlf Uhr ſchlug: ſo breitete er
ſeine Haͤnde verzuͤckt gegen den Himmel, der blau
war uͤber dem Berge, und gegen den Mond, der hei¬
ter neben dem Gewitter ruhte, und rief brechend
mit ſeeligen Thraͤnen: »Habe Dank, Ewiger, fuͤr
»mein erſtes Leben, fuͤr alle meine Freuden, fuͤr
»dieſe ſchoͤne Erde.« —
Um Maienthal zogen Julius Floͤtentoͤne und er
ſah auf die Erde nieder.
»Und bleibe du geſegnet, du gute Erde, du gu¬
»tes Mutterland, bluͤhet ihr Gefilde Hindoſtans,
»lebe wohl, du ſchimmerndes Maienthal mit deinen
»Blumen und mit deinen Menſchen — und ihr Bruͤ¬
»der alle kommt mir nach einem langen Laͤcheln ſee¬
»lig nach — — Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf
»und troͤſte die zwei Bleibenden.«
Die Todesengel ſtanden auf allen Wolken und
zogen ihre blitzenden Schwerter aus den Naͤchten —
ein Donner ſchlug hinter dem andern wie wenn auf¬
geworfen wuͤrde eine Gefaͤngnißthuͤr des Erdenlebens
nach der andern.
Der ſchreckliche Lichtpunkt hatte ſich verkrochen
aus der Mitte der Luft in den Pulverthurm.
S 2[276]
Die Todesſtunde war ſchon voruͤber und doch
das Leben noch nicht. —
Emanuel zitterte ſehnend und bange, weil er noch
kein Sterben fuͤhlte — bewegte die Haͤnde als wenn
er ſie jemand geben wollte — ſtarrte in die Blitze
als wenn er ſie auf ſich ziehen wollte. . . .
»Tod! faſſe mich, rief er auſſer ſich, — ihr ge¬
»ſtorbnen Freunde! o Vater! o Mutter! brecht ab
»mein Herz, nehmet mich — ich kann, ich kann
»nicht mehr leben.« — —
Da fuhr in's Gewitter eine lodernde raſſelnde
Weltkugel hinauf und der Pulverthurm zerſchoß wie
eine auseinander geſprengte Hoͤlle. —
Der Knall warf den flammenden Emanuel erblaßt
in ſein Blumengrab; der ganze donnernde Oſten zit¬
terte; der Mond und der Regenbogen wurden zuge¬
huͤllt. . . .
Die ſeelige Nachmitternacht.
Viktor regte, ſinnlos darniedergeworfen, endlich
den Arm und taſtete damit an das kalte Angeſicht,
aus dem heute das tolle Todtengebein dieſe Nacht
geleſen hatte und das aus dem Grabe ragte gen
Himmel gekehrt. Er warf ſich troſtlos daruͤber und
druͤckte ſeins an das bleiche. Eh noch ſeine Thraͤ¬
nen durch den harten Schmerz ſich durchgeriſſen hat¬
ten: trugen die Wolken ihre Sturmfaͤſſer und ihre
Leichenfackeln zuruͤck und durchſichtige Schaumflocken
uͤberfloſſen weichend den Mond und ſenkten ſich end¬
[277] lich uͤber das ganze Thal und uͤber das ſtille Paar
in tauſend warmen Tropfen nieder, die den Men¬
ſchen ſo leicht an ſeine erinnern. Der von Einem
der drei Englaͤnder aufgeſprengte Pulverthurm hatte
das Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt.
Das zerſtuͤckte Gewitter hatte ſich in kleinen
Wolken herumgezogen und ſtand uͤber der Mitter¬
nachtsroͤthe in Nordoſten, als die kalte Betaͤubung
die zwei Menſchen noch zuſammen heftete: endlich
kam von oben herab eine heiſſe Hand zwiſchen ihre
Angeſichter und eine furchtſame Stimme fragte:
»ſchlafet ihr?«
»O Julius, (ſagte Horion) komm in's Grab,
»dein Emanuel iſt geſtorben.« ...
Ich mag die grauſamen Minuten nicht zaͤhlen,
die zwei Ungluͤckliche liegen lieſſen mit dem Stachel¬
guͤrtel des Jammers an einen Erblaßten gebunden.
Aber ſchoͤnere kamen, die vorher jedes Woͤlkgen aus
dem Himmel druͤckten und den angelaufnen Mond
abwiſchten und dann die heiſſen Augen oͤfneten vor
der gereinigten abgekuͤhlten Silbernacht.
»Ach iſt er wohl nur ohnmaͤchtig« ſagte Viktor
ſehr ſpaͤt. Sie richteten ſich ſeufzend auf. Sie zo¬
gen muͤde den Geliebten aus dem Grabe. Sie woll¬
ten ihn in ſeine Wohnung hinuntertragen, um da die
Sonnenwende dieſer ſchoͤnen Seele wie der Jo¬
hannisſonne wieder zu erzwingen. Mit den duͤnnen
Kraͤften, die ihnen der Gram noch uͤbrig gelaſſen,
[278] und mit dem wenigen Licht, das noch in zwei naſſe
Augen kam, rangen ſie ſich mit dem zerknickten En¬
gel, indeß zwei arbeitende Schatten neben ihnen
fuͤrchterlich einen dritten im Schimmer trugen, vom
Berge in die Wieſen herunter: hier ging Viktor
allein in's Dorf, um vielleicht einen troͤſtlichern als
einen Leichenwagen zu beſorgen. Der Blinde hielt
ſich an einen Birkenbaum, Emanuel ſchlief wie die
andern Blumen und auf ihnen, vor dem Monde. ..
Aber Julius hoͤrte ploͤtzlich den Todten reden und
ihn durch das Gras ſtreifen; und er rannte von Ent¬
ſetzen verfolget, davon. . . .
— Genius der Traͤume! der du durch den neblich¬
ten Schlaf der Sterblichen trittſt und vor der ein¬
ſamen in einen Leichnam geſperrten Seele die gluͤck¬
lichen Inſeln der Kindheit herauf zieheſt, ach der du
darin unſern verweſ'ten Freunden wieder Wangen¬
bluͤte giebſt und unſerm armen wahnſinnigen Herzen
vergangne Himmel zeigſt und Eden-Wiederſchein und
rinnende Auen auf Wolken! — Magiſcher Genins!
trete in dieſe heilige Nacht vor einen Menſchen, der
nicht ſchlaͤft und wende deinen uͤberflorten Spie¬
gel auf mein ofnes Auge, damit ich darin die elyſi¬
ſche Lichtwelt, die mit unſerm Erdſchatten kaͤm¬
pfet, in der doppelten Verfinſterung als eine blaſſe
Luna ſehe *) und mahle! — —
[279]
Die entzuͤckte Stimme des Todten rief: »ſey ge¬
»gruͤßet, du ſtilles Elyſium! o du ſchimmerndes Land
»der Ruhe! nimm den neuen Schatten auf — ach
»wie glimmſt du ſanft — wie weheſt du ſanft —
»wie ruheſt du ſanft.« . . .
Emanuels Augen waren aufgegangen; aber in ſei¬
nem Gehirn brannte der elyſiſche Wahnſinn, er ſey
geſtorben und erwache in der zweiten Welt. O du
Ueberſeeliger! dich umfing ja auch ein blinkendes
Eden — ach dieſes Schimmern, dieſes Wehen, die¬
ſes Duften, dieſes Ruhen war zu ſchoͤn fuͤr eine
Erde — Der Mond uͤberwebte mit Silberfaͤden wie
mit fliegendem Sommergeſpinnſte das Nacht Gruͤn
— von Blatt zu Blatt, von Baͤumen zu Baͤumen
reichte die Funkendecke des uͤberſtrahlten Regens —
uͤber allen Waſſern wankten flimmernde Nebelbaͤnke
— ein leiſes Wehen warf tropfende Edelſteine von
den Zweigen in die Silberfluͤſſe — die Baͤume und
Berge ſtiegen wie Rieſen in die Nacht — der ewige
Himmel ſtand uͤber den fallenden Funken, uͤber den
eilenden Duͤften, uͤber den ſpielenden Blaͤttern, allein
unveraͤnderlich mit feſten Sonnen mit dem ewigen
Welten-Bogen, groß, kuͤhl, licht und blau — So
glimmte, ſo duftete, ſo liſpelte, ſo zauberte niemals
ein Thal. . . .
Emanuel umarmte den funkelnden Boden und
rief aus der brennenden, der Wonne erliegenden ſtok¬
[280] kenden Bruſt: »ach iſt es denn wahr? halt' ich dich
»wirklich, mein Vaterland? — ach in ſolchen Ge¬
»filden der Ruhe werden die Wunden geheilt, die
»Thraͤnen geſtillt, keine Seufzer gefodert, keine
»Suͤnden begangen, ach da zerfließet ja das kleine
»Menſchenherz vor zu voller Wonne und erſchaft ſich
»wieder, um wieder zu zerfließen. . . .. So hab ich
»dich laͤngſt gedacht, ſeeliges, magiſches, blendendes
»Land, das an meine Erde graͤnzt. . . . O! liebe
»Erde, wo biſt du wohl?«
Er hob das trunkne Auge in den mit Sternen
bethaueten Himmel und ſah den erniedrigten Mond
gelb und matt in Suͤden haͤngen: dieſen ſah er fuͤr
die Erde an, aus der ihn der Tod in dieſes Elyſium
getragen habe. Hier zerging ſeine Stimme in Ruͤh¬
rung uͤber den geliebten erſten Garten ſeines Lebens
und er redete die oben uͤber die Sterne fliehende
Erde an:
»Kugel der Thraͤnen! Wohnung der Traͤume!
»Land voll Schatten und Flecken! — Ach auf dei¬
»nen breiten Schattenflecken *) werden jetzt die gu¬
»ten Menſchen beben und unterſinken! ... Ein
»Ring aus Nebeln **) umkreiſet dich und ſie ſehen
[281] »das Elyſium nicht. .... Ach wie ſtill traͤgſt du
»durch den ſeeligen ſtillen Himmel dein Schlachtge¬
»ſchrei — deine Stuͤrme — deine Graͤber: deine
»Dunſtkugel ſchließet wie ein Sarg alle deine Klag¬
»ſtimmen um dich ein und du rinneſt mit uͤberdeck¬
»ten Gebeugten bloß als eine blaſſe ſtille Kugel uͤber
»das Elyſium hinuͤber! ...
»— Ach ihr Theuern, mein Horion! mein Ju¬
»lius, ihr ſeid noch droben im Gewitter, ihr deckt
»meinen Leichnam zu, ihr blickt weinend gen Him¬
»mel und koͤnnt das Elyſium nicht ſehen. ... O!
»daß ihr durch das naſſe Gewoͤlk des Lebens ſchon
»durchwaͤret — aber vielleicht hab' ich ſchon lange
»geſchlafen und gewacht, vielleicht geht die Zeit auf
»der Erde anders als in der Ewigkeit — ach daß
»ihr hernieder kaͤmet in die ſtillen Gefilde!« Er ſah
im magiſchen vergroͤßernden Schimmer zwei Geſtal¬
ten gehen. »O wer iſts?« rief er entgegenfliegend.
»O Vater! o Mutter! ſeid ihr hier?« — Aber da
er naͤher kam: ſauk er in vier andre Arme und ſtam¬
melte: »ſeelig, ſeelig ſind wir jetzt, mein Horion,
»mein Julius!« — Endlich ſagt' er: »wo ſind
»meine Eltern und meine Bruͤder und die drei Bra¬
»minen? ach ſie wiſſen nicht, daß ihr Dahore in
»Elyſium iſt.«
Viktor ſah troſtlos dem wahnſinnigen Entzuͤcken
ſeines Geliebten zu und ſagte weder Ja noch Nein.
[282] Dieſer ſchauete himmliſch laͤchelnd und liebe-ſtroͤ¬
mend in Julius Angeſicht und ſagte: »blick mich an,
»du haſt mich auf der Erde nicht geſehen.« — »Du
»weiſt ja, daß ich blind bin, mein Emanuel!« ſagte
der Blinde. Hier floh der Wahnſinnige mit wegzuk¬
kenden [Augen] und mit einem Seufzer gegen den
Mond von den Freunden hinweg und ſagte leiſe zu
ſich: »die zwei Geſtalten ſind nur Schattentraͤume
»aus der Erde — ich will ſie nicht anſehen, damit
»ſie zerfließen — So reichet alſo der Schatten- und
»der Traumkummer der Erde bis in's Eden herun¬
»ter — — Ich bin wohl noch im Todtentraum,
»denn die Gegend hier ſieht wie die Gegenden in
»meinen Lebenstraͤumen aus — oder iſt dieſes nur
»der Vorhof des Himmels, weil ich meine Eltern
»nicht finde.« . . . . Er ſah gegen die hohen Ster¬
ne: »wo ſteh ich jetzt unter euch? Neue Himmel
»liegen an neuen Himmeln — — Ach ſehnet man
»ſich hier denn auch?« . . .
Er ſeufzete, und wunderte ſich, daß er ſeufzete.
Er lehnte ſich an den perlenden Blumeuhuͤgel, gekehrt
mit dem Ruͤcken gegen die geliebten Schatten, und
mit den Augen gegen das anglimmende Morgenroth
und ſuchte und traͤumte — aber endlich deckte die
Morgenkuͤhle die ſuchenden, geblendeten, brennenden
Augen, die heute bald auf Schreckgeſtalten bald in
Wonnemeere gefallen waren, mit leiſem Schlummer
[283] und mit aͤhnlichen Traͤumen zu. ... »Ruhe ſanft,
»du muͤder Menſch!« ſagte ſein Freund; aber der
Schlaͤfer ergluͤhte mit dem Horizont und der alte
Wahnſinn ſpielte in ihm weiter. ...
Ein Traum und der Morgen legten fuͤr ihn ein
noch hoͤheres Elyſium an.
Ihm traͤumte, Gott werde von einem Sonnen-
Throne ſteigen und in Geſtalt eines unſichtbaren un¬
endlichen Zephyr-Wehens uͤber das Elyſium gehen.
Der erſte Morgen des Sommers haͤufte um ihn
den Brautſchmuck der Erde — er durchzog die Ge¬
filde mit Perlenbaͤnken von Thau und warf uͤber
die wuͤhlenden Baͤche das Zitter- und Glanzgold
des herabgeſchwommenen Morgenroths und legte den
Buͤſchen das Armgeſchmeide von brennenden Tro¬
pfen an — Aber erſt als er alle Blumen auseinan¬
der geſpalten — alle freudig-zitternde Voͤgel in den
Glanzhimmel geſtreuet — in alle Gipfel Singſtim¬
men gehuͤllt — als er den verwelkten Mond unter
die Erde verſenkt und die Sonne wie einen Goͤtter¬
thron uͤber aufgebluͤhte Wolkenguirlanden aufgerich¬
tet und uͤber alle Gaͤrten und um alle Waͤlder in
einander gewundne Regenbogen von Thau gehangen
hatte — und als der Seelige traͤumend ſtammelte:
»Allguͤtiger, Allguͤtiger, erſcheine im Elyſium!« —
Da weckte ihn der langſam flieſſende Morgenwind
und fuͤhrte ihn in die tauſendſtimmigen Jubelchoͤre
[284] der Schoͤpfung hinein und ließ ihn erblindend in's
brauſende flammende Elyſium taumeln. — — —
O ſiehe! da uͤberfloß ein unermeßliches Athmen
kuͤhlend, regend, liſpelnd das ganze entbrannte Pa¬
radies und die kleinen Blumen bogen ſich ſchweigend
nieder und die gruͤnen Aehren walleten ſaͤuſelnd zu¬
ſammen und die erhabnen Baͤume zitterten und brau¬
ſten — aber nur die große Bruſt des Menſchen
trank den unendlichen Athem in Stroͤmen ein und
Emanuels Herz zerfloß eh' es ſagen konnte: »Das
»biſt du, Alliebender!« —
— Du, der du mich hier lieſeſt, laͤugne Gott
nicht, wenn du in den Morgen trittſt oder unter
den Sternenhimmel, oder wenn du gut oder wenn du
gluͤcklich biſt! —
— Aber, ungluͤcklicher Emanuel!
Du ſaheſt fuͤnf ſpielenden Trauermaͤnteln zu und
hielteſt die ſchoͤnen Schmetterlinge fuͤr ſeelige Pſy¬
chen — Du hoͤrteſt hinter deinem Huͤgel in die Erde
hauen als mache man ein Grab — Du ſaheſt deinen
guten Blinden an und ſagteſt doch: »Schatte! wei¬
»che. . . . . . . . . . . Fuͤrchte dich vor Gott, der
»voruͤberging, und verſchwinde!« — Aber du ſagteſt
vorher noch etwas, was ich heute nicht enthuͤlle —
— Mein Herz zittert vor der kuͤnftigen Zeile! —
Heulend vor Schmerz, grinzend vor freudiger
Wuth ſprang das tolle Todtengebein in die ſeelige
[285] Ebene hinter dem Huͤgel hervor und trug in ſeiner
Rechten eine abgehauene blutige Hand und ſchuͤttelte
aus dem linken Stumpfe, dem ſein Wahnſinn ſie ab¬
gehacket hatte, rieſelnde Blutboͤgen und druͤckte mit
dem rechten Arme ein Grabſcheit an ſich, um die
Hand zu begraben und ſchrie jubelnd und greinend:
»der Tod erſchnapte mich daran, ich hab ſie aber ab¬
»gezwickt — und wenn er das Grab der Fauſt ſieht,
»iſt er ſo dumm und denkt, ich lieg' drinn. .. Ach!
»Du da! Leg dich doch in den Sarg zu Bett'; er
»hat dir die Augen ausgebohrt und das Maul mit
»Moder beklebt. ... Brr!«
»O Allguͤtigor, du haſt mich verdammt!« ſtam¬
melte Emanuel: aus ſeiner zermalmten Lunge, riß
ſich das gejagte Blut und der Troſtloſe ſchwankte
ſterbend auf die vollgebluteten Blumen ſeines verlor¬
nen Himmels nieder. ...
So nimmt ein Tag dem andern den Himmel und
eh der beraubte Menſch dort in das letzte Paradies
eintritt, hat er hier zu viele verloren! — Ach eine
von Wunden geoͤfnete Bruſt tragen wir in jede Fruͤh¬
lingsluft dieſes Lebens und in den Aether des zwei¬
ten; und ſie muß erſt zugeſchloſſen werden, eh' ſie
ſich fuͤllen kann! ...
Der ſanfte Abend.
Gegen Mittag macht' er die muͤden Augen auf,
[286] aber blos um ſie in's Grab fallen zu laſſen‚ das der
Tod neben ihm unter ſeinem Schlafe aufgeſchloſſen
hatte. Aber der eine Wahnſinnige war der Arznei¬
gott des andern geweſen: ſein Traum vom Elyſium
war ausgetraͤumt‚ kurz vorher eh' er erfuͤllet zu
werden ſchien und er war wieder vernuͤnftig. Vik¬
tor ſah aus allen Zeichen‚ daß wenigſtens gegen
Sonnenuntergang der Tod mit ſeinem Obſtpfluͤcker dieſe
weiſſe Frucht von ihrem Gipfel brechen werde; aber
er ſah es ruhiger als geſtern: da er ſchon die Pro¬
berolle der Troſtloſigkeit gemacht hatte‚ ſo ſaͤgten die
Inſtrumente des Grams keinen neuen Riß in's Herz
ſondern gingen nur im alten blutig hin und her.
Wer einen im Sarg Erwachten nach Jahren zum
zweitenmal hineintraͤgt‚ trauert ſchwerlich ſo heftig
wie das erſtemal.
Mit welchen veraͤnderten Augen erwachte Ema¬
nuel in der Abendſtube‚ wo er geſtern die erſten
Thraͤnen vor Freude vergoſſen hatte! Seine Seele
hatte wie der traurige Baum von Goa‚ am Tage
das naͤchtliche Gedraͤnge von Bluͤten fallen laſſen;
ſeinem erkalteten Haupte kehrte die Erde nicht mehr
die Auen-Seite der Dichtkunſt zu‚ ſondern die lichte
der kalten Vernunft. Er geſtand jetzt‚ daß er die
edlern Theile ſtines innern Menſchen auf Koſten der
unedlern vollbluͤtig gemacht — das ſeine Todes-Hof¬
[287] nung zu groß geweſen wie ſeine dichteriſchen Fluͤgel¬
federn — daß er die Erde nicht aus der Erde, ſon¬
dern zu ſehr aus dem Jupiter betrachtet, auf deſſen
Sternwarte ſie zu einem Feuerfunken einkriechen
mußte und daß er alſo die Erde verloren, ohne doch
den Jupiter dafuͤr zu bekommen. — — Vergeblich
widerſprach ihm Viktor mit dem wahren Satze, daß
der hoͤhere Menſch gleich den Mahlern mit Waſſer¬
farben, allezeit ſein Lebensſtuͤck mit dem Hinter¬
grunde und mit dem Himmel anfangen, den
Oelmahler und niedere Menſchen zuletzt machen;
ſeine Antwort war die Klage, daß er leider nicht
fortgemahlet bis zum Vorgrunde. Endlich warf er
ſich auch vor, daß er zu viele Umſtaͤnde bei einer ſo
kleinen Trennung gemacht als der Tod wenigſtens
fuͤr den der gehe, ſey, da die andern Trennungen
auf der Erde doch laͤnger, herber und doppel¬
ſeitig waͤren.
Sie kamen dadurch auf die Erkennungen jen¬
ſeits dieſes Theaters. Viktor ſagte, er koͤnne Ver¬
muthungen uͤber die Erde hinaus nicht ſo verſchreien
wie mancher Weiſe: denn wir muͤßten doch uͤber
die Erde hinausvermuthen, und denken, wir moͤchten
bejahen oder verneinen. »Ohne die Fortdauer der
»Erinnerung (ſagte er) iſt mir die Fortdauer meines
»Ichs ſo viel wie die eines fremden d. h. keine: ſo
[288] »bald ich mein jetziges Ich vergeſſe, ſo koͤnnte ja je¬
»des fremde ſtatt meiner unſterblich ſeyn. Auch
»folgt der Untergang meiner Erinnerung nicht aus
»der irrdiſchen Abhaͤngigkeit von meinem Koͤrper;
»denn dieſe Abhaͤngigkeit haben alle geiſtige Kraͤfte
»mit ihr gemein und es muͤßte dann aus dieſer Ab¬
»haͤngigkeit auch der Untergang der andern folgen;
»und was bliebe denn noch zur Unſterblichkeit uͤbrig?«
— Emanuel ſagte: der Gedanke der Wiedererkennung,
ſo viel er auch Sinnliches vorausſetze, ſey ſo ſuͤß
und hinreiſſend, daß wenn ſich die Menſchen ge¬
wiß davon machen koͤnnten, keiner eine Stunde hier
wuͤrde zoͤgern wollen, beſonders wenn man den Him¬
mels-Gedanken ausmahlte, alle große und edle Men¬
ſchen auf einmal zu finden. »Ich habe mir oft
»(ſagt' er) die kuͤnftige Erinnerung nach Analogie
»der jetzigen vorphantaſirt, und mußte immer vor
»Entzuͤckung aufhoͤren, wenn ich mir dachte, wie in
»jener Erinnerung die Erde zu einer dunkeln Mor¬
»gen-Aue und unſer Leben zu einem weit entruͤckten
»mit Mondſchein erhellten Tag eingehen werde —
»O wenn wir ſchon vor dem Bilde einiger Kin¬
»derjahre zerfließen, wie ſanft wird uns einmal
»das Bild aller Kinderjahre anblicken.« — Viktor
wehrte dieſe toͤdtlichen Entzuͤckungen ab und nach¬
dem er zum Uebergange geſagt, »eine Verbindung
»muß in jedem Fall dieſe Erde mit der zweiten ha¬
»ben»[289] »ben« kam er auf etwas anders, das ihm in dieſer
Nacht ſo aufgefallen war. . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ich verhuͤll' es heute noch was Viktor fragte
und was Emanuel entdeckte: die neue Perſpektive
wuͤrde unſer Auge zu lange vom großen Kranken ab¬
ziehen.
Der Blinde hielt aͤngſtlich die heiſſe Hand deſſel¬
ſelben in Einem fort, um den geliebten Vater nicht
zu verlieren; und wenn ihm Emanuel lange ſanften
Troſt uͤber ſeinen Tod, gleichſam kuͤhle Blaͤtter unt
die entzuͤndeten Schlaͤfe herumgelegt hatte: ſo ſagte
er nichts als innigſt flehend: »ach Vater, wenn ich
dich nur geſehen haͤtte, nur Einmal!« —
Emanuel ſchien gefaßt zu ſeyn; aber er taͤuſchte
ſich: ſeine jetzige Gleichguͤltigkeit gegen die Erde war
im Grunde ſchneidender als die naͤchtliche, die bloß
ein anderer mit den Zaubertraͤnken der Phantaſie ver¬
miſchter Genuß des Lebens war. In ſeine Reue
uͤber ſeinen dichteriſchen Selbſtmord ſchien ſich faſt
Freude uͤber die Folgen zu mengen. Daher ſagte er
mit einem ruͤhrend gewiſſen Blicke: »heute gegen
»Abend werd' er gewiß gehen und ſeine zwei letzten
»und beſten Freunde nicht mehr mit dieſen Verzoͤge¬
»rungen des Abſchieds quaͤlen — Der Genius der
»Welten werde ihm ſeinen letzten Fehler vergeben
Heſperus. III. Th.[290] »und auf die hieſige Entfernung von ihm, die
»ihm zu lange wurde, dort keine zweite folgen laſ¬
»ſen.»
Je laͤnger er ſprach, deſto mehr ruͤckte das alte
Bluͤten-Eden wieder in ſeine matte Seele ein. —
Jetzt that er eine ſonderbare Herz zerſchneidende
Bitte an ſeine Freunde. Da bekanntlich das Gehoͤr
den Sterbenden am laͤngſten bleibt, indes ſchon alle
andere Sinnen ſich gegen die Erde zugeſchloſſen ha¬
ben: ſo ſagte Emanuel zu Viktor »ſo bald du ſie¬
»heſt, daß es ſich mit mir aͤndern will, ſo gieb dei¬
»nem Julius die Floͤte, und du! ſpiele mir dann
»das alte Lied der Entzuͤckung, damit ich an
»den Toͤnen ſterbe, wie ich ſchon oft wuͤnſchte, und
»ſpiele es auch noch einige Minuten nach dem En¬
»de fort.»
Er dachte jetzt daruͤber nach, wie ſchoͤn um ſei¬
ne letzten Gedanken Toͤne ziehen wuͤrden, wie Vo¬
gelgeſang um die untergehende Sonne; und in ſei¬
nem erloſchenen Geiſte flogen wieder die alten Fun¬
ken auf: »ach ich werde ſeelig von hinnen ziehen.
»— O meine Seele konnte in dieſer Nacht ſchon
»dieſem Erdboden einen uͤberirdiſchen Schmuck an¬
»legen und ihn fuͤr Eden halten: ach erſt, wenn der
»Boden ſchoͤner und die Seele groͤßer iſt . . .»
Er wurde wieder ohnmaͤchtig, aber der Puls
ſchlug noch leiſe. — Und hier in dieſem Hinbruͤten
[291] war es, wo er von der Erde als letzte Gabe den
ſchauderhaft-ſuͤßen Traum empfing, in welchen der
Koͤrper die Gefuͤhle ſeiner Kraͤnklichkeit miſchte und
den er nach ſeiner Wiederbelebung mit einem neuen
Nachtraͤumen erzaͤhlte. Es iſt der letzte ſanfte Drei¬
klang unſers Koͤrpers mit unſerer weichenden Seele,
daß er ihr noch in ſeiner Aufloͤſung (wie wir von
Ohnmaͤchtigen, von Scheintodten unter dem Waſ¬
ſer ꝛc. wiſſen) der Seele ſuͤße Spiele und Traͤume
zufuͤhrt. —
Traum Emanuels, daß alle Seelen Eine
Wonne vernichte.
Er ruhte verklaͤrt in einem durchſichtigen farbicht¬
dunkeln Tulpenkelch, der ihn hin und her wiegte,
weil ein ſanftes Erdbeben die Tulpenlaube auf der
gebognen Stuͤtze zu taumeln zwang. Die Blume
ſtand in einem magnetiſchen Meer, das den Seeli¬
gen immer ſtaͤrker zog; endlich druͤckte er, hinausge¬
ſogen, ſie nieder und ſank als eine Thauperle aus
dem umgebognen Kelche heraus. . .
Welch' eine Farben-Welt! Ein Flockengewimmel
von Aethergeſtalten wie ſeine ſtand ſchwebend uͤber
einer weiten Inſel, um welche ein rundes Gelaͤnder
von großen Blumen aufgeblaͤttert ſpielte — mitten
uͤber den Himmel der Inſel flogen Abendſonnen hin¬
ter Abendſonnen — tiefer neben ihnen liefen weiße
T 2[292] Monde — nah am Horizont kreiſeten Sterne —
und ſo oft eine Sonne oder ein Mond hinunterflog,
ſchaueten ſie himmliſch wie Engels Augen durch die
großen Blumen am Ufer hindurch. Die Sonnen
wurden von den Monden durch Regenbogen geſchie¬
den, und alle Sterne liefen zwiſchen zwei Regenboͤ¬
gen und ſtickten ſilbern die bunte Ringkugel des Him¬
mels. Ueber einander ſtiegen hinauf bunte Wolken,
in denen ein Kern von Gold, von Silber, von
Edelſteinen brannte — von Schmetterlingsfluͤgeln
waren Staubwolken abgeſtreift, die wie fliegende
Farben den Boden uͤberhuͤllten und aus dem Ge¬
woͤlke blitzten reißende Lichtfluͤſſe, die ſich alle in
einander verſchlangen. . ...
Und in dieſem Farben–Getuͤmmel ging eine ſuͤße
Stimme umher und ſagte uͤberall: vergehet ſuͤßer
am Lichte.
Aber die Seelen erblindeten nur und vergingen
noch nicht.
Da uͤberfielen Abendwinde und Morgenwinde
und Mittagswinde mit einander die Aue und weh¬
ten die hell–blauen und gold–gruͤnen Wolken nieder,
die aus Blumenduft entſtanden waren, und falteten
den Blumenring am Horizonte auf und trieben den
ſuͤßen Rauch an die Herzen der Seeligen. — Der
Bluͤtennebel ſchlang ſie in ſich ein, das Herz wurde
in die dunkeln Duͤfte wie in ein Gefuͤhl aus der
[293] tiefſten Kindheit eingetaucht und wollte, vom heißen
Blumendunſte uͤberfloſſen, darin auseinander tropfen.
— Jetzt kam die unbekannte Stimme naͤher und
liſpelte ſanft: vergehet ſuͤßer am Duft.
Aber die Seelen taumelten nur und vergingen
noch nicht.
Tief in der Ewigkeit aus der Mitternacht bog
ſich auf und nieder ein einziger Ton — ein zweiter
ſtand in Morgen auf — ein dritter in Abend —
endlich toͤnte aus der Ferne der ganze Himmel und
die Toͤne uͤberſtroͤmten die Inſel und ergriffen die
erweichten Seelen. . . Als die Toͤne auf der In¬
ſel waren, weinten alle Menſchen vor Wonne und
Sehnſucht . . . Dann liefen ploͤtzlich die Sonnen
noch ſchneller, dann ſtiegen die Toͤne noch hoͤher,
und verloren ſich wirbelnd in eine ſchneidende, un¬
endliche Hoͤhe — ach dann gingen alle Wunden der
Menſchen wieder auf und waͤrmten ſanft mit dem
rinnenden Blute jede Bruſt, die in ihrer Wehmuth
erſtarb — ach dann kam ja alles fliehend vor uns
was wir hier geliebet haben, alles was wir hier
verloren haben, jede theure Stunde, jedes beweinte
Gefild', jeder geliebte Menſch, jede Thraͤne und je¬
der Wunſch — — Und als die hoͤchſten Toͤne ver¬
ſtummten und wieder einſchnitten und laͤnger ver¬
ſtummten und tiefer einſchnitten: ſo zitterten Har¬
monikaglocken unter den Menſchen, die auf ihnen
[294] ſtanden, damit das einſchneidende Schwirren jeden
Bebenden zerlegte. — Und eine hohe Geſtalt, um
die ein dunkles Woͤlkgen zog, trat auf in einem
weißen Schleier und ſagte melodiſch: »vergehet
»ſuͤßer an Toͤnen.»
Ach! ſie waͤren vergangen und gern vergangen
an der Wehmuth der Melodie, wenn jedes Herz das
Herz, nach dem es ſchmachtete, an ſeiner Bruſt ge¬
halten haͤtte; aber jeder weinte noch einſam ohne
ſeinen Geliebten fort.
Endlich ſchlug die Geſtalt den weißen Schleier
auf und der Engel des Endes ſtand vor den
Menſchen. Das Woͤlkgen, das um ihn ging, war
die Zeit — ſo bald er das Woͤlkgen erreichte, ſo
wuͤrd' er es zerdruͤcken und die Zeit und die Men¬
ſchen waͤren vernichtet.
Als der Engel des Endes ſich entſchleiert hatte:
laͤchelte er die Menſchen unbeſchreiblich lieblich an,
um ihr Herz durch Wonne und durch das Laͤcheln
zu zertreiben. Und ein ſanftes Licht fiel aus ſeinen
Augen auf alle Geſtalten und jeder ſah die Seele
vor ſich ſtehen, die er am meiſten liebte — und als
ſie einander vor Liebe ſterbend anſchaueten und auf¬
geloͤſet dem Engel nachlaͤchelten: grif er nach dem
nahen Woͤlkgen — aber er erreichte es nicht.
Ploͤtzlich ſah jeder neben ſich noch einmal Sich
— das zweite Ich zitterte durchſichtig neben dem
[295] erſten und beide laͤchelten ſich zerſtoͤhrend an und
wurden mit einander hoͤher — das Herz, das im
Menſchen bebte, hieng noch einmal bebend im zwei¬
ten Ich und ſah ſich darin ſterben — —
O da mußte jeder von ſeinem Ich zu ſeinem Ge¬
liebten wegfliehen und, ergriffen von Schauder und
Liebe, die Arme um fremde theure Menſchen winden
— Und der Engel des Endes oͤfnete die Arme weit
und druͤckte das ganze Menſchengeſchlecht in Eine
Umarmung zuſammen — Da glimmt, duftet, toͤnt
die ganze Au — da ſtocken die Sonnen, aber die
Inſel wirbelt ſich ſelber um die Sonnen — Die
zwei geſpaltnen Ichs rinnen in einander ein — die
liebenden Seelen fallen an einander wie Schneeflo¬
cken — die Flocken werden zur Wolke — die Wolke
ſchmilzt zur dunkeln Thraͤne —
Die große Wonnethraͤne, aus uns allen gemacht,
ſchwimmt durchſichtiger und durchſichtiger in der
Ewigkeit —
Endlich ſagte leiſe der Engel des Endes: ſie
ſind am ſuͤßeſten vergangen an ihren Ge¬
liebten. —
Und er zerdruͤckte weinend das Woͤlkgen der
Zeit. —
In Emanuels Augen glaͤnzten die Fieberbilder
[296] des Todes, mit denen ſich jeder Schlaf, ſogar der
letzte anfaͤngt. Sein Geiſt hing wiegend in ſeinen
ſchlaffen Nerven, von ſanften Luͤften angeweht: denn
er war ſchon in jener zerſetzenden Nerven-Entzuͤ¬
ckung der Ohnmaͤchtigen, der Gebaͤhrenden, der Ver¬
bluteten, der Sterbenden. Aber ſeine ausgeleerte
Bruſt ſtieg leichter auf, ſein ziehender Geiſt dehnte
den Lebensfaden duͤnner aus.
Viktor wuͤrde den Troſt der dumpfen Betaͤubung
genoſſen haben, womit uͤber einander gehaͤufte
Schmerzen uns zuſammendruͤcken, wenn er nicht dem
armen B [...]nden jede Minute dieſe Schmerzen, d. h.
alle Zuruͤſtungen des Todes haͤtte ſagen muͤſſen. Ach
der Blinde beſorgte vielleicht, ſeinem Lehrer zu
ſpaͤt mit dem Liede der Entzuͤckung nachzurufen.
Es kam der Abend. Emanuel wurde ſtiller und
ſein Auge ſtarrer und es ſchien die Phantaſien ſeines
arbeitenden Gehirns in der Stube zu ſehen, bis der
Goldſtreif der vorgeſunknen Abendſonne, den ein
Spiegel auf ihn richtete, gleichſam wie ein Blitz
durch ſeine Traumwelt fuhr. Leiſe, aber mit ande¬
rer Stimme ſagte er: »in die Sonne!» — Sie
verſtanden ihn und ruͤckten ſein Bette und ſein Haupt
dem ſchoͤnen Abendregen der Abendſonne, dem er
ſonſt ſo oft ſein weiches Herz aufgeſchloſſen hatte,
entgegen. Viktor erſchrack, da ſeine Augen der
Sonne ungeblendet und unbeweglich offen ſtanden.
[297]
Es war erhaben-ſtill um drei zerruͤttete Men¬
ſchen: blos ein Abendluͤftgen flatterte in den Linden¬
blaͤttern des Zimmers, und eine Biene zog um die
Lindenbluͤten; aber drauſſen auſſerhalb dem Theater
der Beaͤngſtigung ruhte ein ſeeliger Abend auf den
roth uͤberſonnten Fluren unter freudigen, flatternden,
ſingenden, trunknen Weſen.
Emanuel ſchauete ſtill in die Sonne, die tiefer
in die Erde drang: er krallte nicht am Deckbette
wie andre, ſondern hob ſeine Arme empor wie zu
einem Fluge oder zu einer Umarmung. Viktor nahm
ſeine geliebten Haͤnde, aber ſie hiengen ohne Druck
in ſeine nieder. Und als die Sonne wie eine lo¬
dernde Welt am Gerichtstage, unterſank in einer
aufſchießenden letzten Lohe: ſo blieb der Stille mit
kalten Augen an der leeren Stelle der Sonne und
merkte den Untergang nicht; und Viktor ſah ploͤtzlich
wechſelnde Blitze der Todesſenſe gelb uͤber das un¬
verruͤckte Antlitz gehen — Da gab er zerruͤttet dem
Julius die Floͤte und ſagte gebrochen: ſpiele das
Lied der Entzuͤckung, jetzt ſtirbt er. — —
Und Julius preßte mit ſtroͤmenden verfinſterten
Augen den ſchluchzenden Athem in die Floͤte und er¬
hob ſeine Seufzer zu himmliſchen Toͤnen, um die
entrinnende Seele unter ihrer Auswurzelung mit
dem Nachklange der erſten Welt, mit dem Verklan¬
[298] ge der zweiten Welt zu verhuͤllen und zu betaͤu¬
ben —
Und als unter dem Liede das Laͤcheln uͤber einen
unbekannten Traum in dem letzten Schweiß ausfloß
— und als eine bloße Zuckung der Hand die Hand
des troſtloſen Freundes druͤckte, und als die Zuckung
mit dem Augenlied winkte und weiter hinab die
blaſſen Lippen oͤfnete und verging, und als die Abend¬
roͤthe die bleiche Geſtalt bedeckte — — Siehe da
trat der Tod, kalt gegen die Erde und unſern Jam¬
mer, eiſern, aufgerichtet und ſtumm, durch den
ſchoͤnen Abend unter die Lindenbluͤte hin zur uͤber¬
deckten Seele im beruhigten Leichnam und reichte
die verhuͤllte Seele mit unermeßlichem Arm von der
Erde durch unbekannte Welten hindurch in Deine
ewige warme vaͤterliche Hand, die uns geſchaffen
hat — in das Elyſium, fuͤr das du uns gebildet
haſt — unter die Verwandten unſers Herzens —
in das Land der Ruhe, der Tugend und des
Lichts . . . .
Julius ſtockte aus Schmerz und Horion ſagte:
ſpiele das Lied der Entzuͤckung fort, er iſt erſt ge¬
ſtorben. — Unter den Toͤnen druͤckte Horion dem
Geliebten die Augen zu und ſagte mit einem Herzen
uͤber der Erde: »Nun ſchließet euch zu — der
Geiſt iſt uͤber der Erde, dem ihr das Licht gegeben
— du blaſſe geheiligte Geſtalt, du geheiligtes Herz,
[299] der Engel in dir iſt ausgezogen und du faͤllſt in die
Erde zuruͤck» — Und hier umſchlang er doch einmal
die leere kalte Huͤlle und druͤckte das Herz, das ja
nicht mehr ſchlug, ihn nicht mehr kannte, an ſein
heißes an: denn die Floͤtentoͤne riſſen ſeine bleichen
Wunden zu weit auseinander — O es iſt gut, daß
bei dem Menſchen, wenn er im grimmigen Weh zu
feſtem Eiß erſtarrt, keine Toͤne ſind: die weichen
Toͤne leckten aus der durchborten Bruſt alles trau¬
rige Blut und der Menſch wuͤrde an ſeinen Qualen
ſterben, weil er vermoͤchte, ſeine Qualen auszu¬
druͤcken. . . .
— Hier falle mein Vorhang vor alle dieſe Sze¬
nen des Todes, vor Emanuels Grab und vor Ho¬
rions Schmerz! — Ich und du mein Leſer wollen
nun aus dem fremden Sterbezimmer gehen, um in
naͤhere zu ſchauen, wo wir ſelber erliegen, oder wo
unſere Theuerſten erlagen. Wir wollen in jenen
Zimmern unſer Todtenbette erblicken, aber unſer
Auge falle nicht nieder; — die Flamme der Liebe
und der Tugend lodert aufwaͤrts uͤber die Verwe¬
ſungen — wir ſehen um das Todtenbette eine Bah¬
re als Ruhebank, auf die alle Laſten abgelegt ſind
und das auseinandergedruͤckte Herz auch — wir ſehen
um das Todtenbette eine große unbekannte Geſtalt,
die vom Ebenbilde Gottes den Erden-Rahmen
[300] bricht — Aber wenn das Herz groß wird neben un¬
ſerem Ruheort, ſo wird es weich neben dem frem¬
den — Wenn du, mein Leſer, und wenn ich jetzt
mit dieſer bewegten Seele in die Zimmer blicken,
wo wir die ewigen Wunden der Erde empfingen, ſo
werden uns die blaſſen Geſtalten, die darin ihre
Todtenaugen noch einmal gegen uns aufheben, zu
ſehr erſchuͤttern und verwunden. — Ach, das duͤrft
ihr auch, ihr geliebten Stummen — was haben wir
euch denn noch zu geben als eine Thraͤne, die uns
ſchmerzet, als einen Seufzer, der uns beklemmt
— — Ach wenn der Trauerflor auf unſerem Ange¬
ſicht ſobald zerreißet wie der Leichenſchleier auf
eurem — wenn der Grabesmarmor mit eurem Na¬
men ſich auf eurer Leiche umkehren muß, um eine
neue mit ihrem neuen Namen zu bedecken — o!
wenn wir alle die ewige Liebe, das ewige Erinnern
ſo leicht vergeſſen, das wir euch in eurer letzten
Stunde verſprochen haben: — ach ſo iſt ja in die¬
ſen brauſenden Tagen des Lebens eine ſtille Stunde
wie dieſe heilig und ſchoͤn, wo wir uns gleichſam
an die eingefallnen Graͤber mit den Ohren niederle¬
gen und tief aus der Erde, obwol jeden Tag dunk¬
ler, die Stimmen, die wir kennen, rufen hoͤren:
»vergeſſet uns nicht — vergiß mich nicht, mein
»Sohn — mein Freund — meine Geliebte, vergiß
»mich nicht!« —
[301]
Nein wir wollen euch auch nicht vergeſſen. Und
wenn es uns [immerhin] zu wehe thut: ſo rufe doch
jeder von uns in dieſer Minute die theuerſten Ge¬
ſtalten aus ihren Ruheſtaͤtten vor ſich und ſchaue
die verweßten Zuͤge, die wieder geoͤfneten Augen
voll Liebe, die ſo lange geſchloſſen waren, und das
theure aufgedeckte Angeſicht recht lange an, bis ihm
die alten Erinnerungen an die ſchoͤnen Tage ihrer
Liebe das Herz zerbrechen und er nicht mehr wei¬
nen kann. —
[302]
39. Hundspoſttag.
Große Entdeckung — neues Unglück und Trennungen
Ich will jetzt enthuͤllen, was ich im vorigen Kapi¬
tel verbarg — Da Emanuel an jenem elyſiſchen
Morgen des Wahnſinns zu Julius geſagt hatte:
»Schatten! weiche!» ſo fuhr er fort: »gaukle den blin¬
»den Sohn meines Horions (des Lords) nicht
»nach, der mich noch fuͤr ſeinen Vater haͤlt —
»fuͤrchte dich vor Gott, der voruͤberging, und ver¬
»ſchwinde!» — Und zu Viktor wandte er ſich:
»Schatten! wenn du nicht weißt, wer du biſt und
»deinen Vater Eyman nicht kennſt: ſo falle wie¬
»der auf die Erde hinab und in den Schatten hin¬
»ein, den dort mein Viktor wirſt.» — — Und da
Viktor am andern Tag den Sterbenden auf dieſe
Worte fuͤhrte: ſo fragte er beklommen: »ach hab'
»ich's denn nicht im Wahnſinn geſagt, als ich waͤhn¬
»te, im Lande jenſeits der Erden-Eide zu ſeyn?»
und kehrte ſtumm das erſchrockene Angeſicht gegen
die Wand. . . .
Er hatt' es alſo im Wahnſinn des Todes her¬
ausgeſagt, daß Julius der Sohn des Lords, und
[303] Viktor der Sohn des Pfarrers Eyman iſt . . . .
Aber welche helle weite Beleuchtung giebt nicht die¬
ſer Vollmond unſerer ganzen Geſchichte, auf die bis¬
her nur eine Mondsſichel ſchien? —
Ich geſteh' es, ſchon beim erſten Kapitel fiel es
mir auf, daß Viktor ein Arzt war: jetzt iſt's er¬
klaͤrt; denn der mediziniſche Doktorhut war die be¬
ſte Montgolfiere und das Wuͤnſchhuͤtlein fuͤr einen
buͤrgerlichen Legaten des Lords, um damit leichter
um den Thron zu ſchweben und auf den muͤrben
Jenner einzuwirken; auch konnte Sebaſtian nach
ſeiner kuͤnftigen Devalvazion und nach dem Verluſt
des Federhuts am beſten in den medizinſchen ſein
taͤgliches buͤrgerliches Brod einſammeln — ſah der
Lord. Das war Ein Grund, warum dieſer jenen
fuͤr ſeinen Sohn ausgab. Ein anderer iſt: Viktor
war der Rolle beim Fuͤrſten durch ſeine Laune, Ge¬
wandheit, Gefaͤlligkeit u. ſ. w. am meiſten gewach¬
ſen, wozu noch die empfehlende Aehnlichkeit trat,
die er mit dem fuͤnften bis jetzt noch verlornen Soh¬
ne, den Jenner ſo liebte, in allem, das Alter aus¬
genommen, beſaß. Da nur ein Leibarzt der Guͤnſt¬
ling ſeyn ſollte: ſo konnte der Lord keinen von den
fuͤrſtlichen Soͤhnen dazu nehmen, weil dieſe Juriſten
werden mußten, um in die kuͤnftigen Aemter einzu¬
paſſen. — Seinen eignen Sohn Julius konnt' er
nicht brauchen, weil er blind war — beilaͤufig! der
[304] Lord war auch einmal blind und vermehret alſo die
Beiſpiele der von Vater auf Sohn forterbenden
Blindheit durch ſeines —; aber auch ohne die
Blindheit konnt' er wegen ſeiner uneigennuͤtzigen De¬
likateſſe unmoͤglich ſeinen Sohn die Vortheile der
fuͤrſtlichen Gunſt erbeuten laſſen, indeß er die eignen
Soͤhne Jenners von ihnen entfernte. —
Du guter Mann ohne Hoffnung! wenn ich jetzt
deine dichteriſche Erziehung des Blinden mit deinen
kalten Grundſaͤtze vergleiche, wenn ich berechne, wie
du — abgeſtorben den lyriſchen Freuden — verhaͤr¬
tet fuͤr die Thraͤnen des Enthuſiasmus — gleichwol
die mit Augenliedern verhangne dunkle Seele deines
Julius von ſeinem Lehrer fuͤllen laͤſſeſt mit dichteri¬
ſchen Blumenſtuͤcken — mit Thauwolken der Ruͤh¬
rung — und mit dem Nebelſtern des zweiten Le¬
bens: ſo vermehret es eben ſo ſehr meine Schmer¬
zen als meine Hochachtung, daß du nichts auf der
Erde findeſt, was du an dein ausgehungertes Herz
druͤcken kannſt, und daß du dein auf leeren Thraͤ¬
nendruͤſen verwelktes Auge kalt aufhebſt gegen den
Himmel und auch da nichts ſieheſt als ein wuͤſtes
oͤdes Blau! —
Dieſe ſchmerzliche Betrachtung machte Viktor
noch fruͤher als ich. — Aber zur Geſchichte! Die
vergangne zog tauſend Stacheln durch ſein Herz.
Wir kennen jetzt unſern ſonſt frohen Sebaſtian nicht
mehr[305] mehr — er hat vier Menſchen verloren, gleichſam
um die vier Pfingſttage damit abzuzahlen: Emanuel
iſt verſchwunden, Flamin iſt ein Feind geworden,
der Lord ein Fremder und Klotilde — eine Fremde.
Denn er ſagte zu ſich: »Jetzt, da ſie ſo weit uͤber
»mich geruͤckt iſt, will ich [...]er Leidenden, der ich
»ſchon ſo viel genommen, nicht gar alles koſten,
»nicht gar die liebe ihres Vaters und ihren Stand
»— ich will nicht auf ihre in der Unwiſſenheit
»meiner Verhaͤltniſſe geſchenkte Liebe dringen. —
»Nein, ich will gern meine Seele von der theuerſten
»abloͤſen unter tauſend Wunden meiner Bruſt und
»mich dann einſam hinlegen und zu Tod bluten.» —
Jetzt wurd' ihm dieſer Vorſatz leicht: denn nach
dem Tode eines Freundes nehmen wir ein neues
ſchweres Ungluͤck gern auf unſere Bruſt, es ſoll ſie
eindruͤcken, denn wir wollen ſterben.
Doch hatte das Schickſal in ſeinen zwei Armen
noch zwei Geliebte gelaſſen: ſeinen Julius und ſeine
Mutter. In jenem liebt er ſo viele ſchoͤne Bezie¬
hungen; ſogar das war eine, die es macht, daß man
allzeit den liebt, mit dem man verwechſelt wuͤrde;
und er wollte Vaterſtelle bei jenem vertreten wie
der Lord bei ihm, um dieſem edeln Manne — Edel¬
manne — nicht ſowol zu danken als nachzueifern.
Und noch heißer umfing er mit ſeiner Seele die vor¬
trefliche Pfarrerin, der ſchon bisher ſein Herz in
Heſperus. III Th. U[306] der ſanften Waͤrme eines Sohnes entgegengeſchlagen
hatte. Ach wie wohl haͤtte es der kindlichen Bruſt,
von der der bisherige Vater geſtoßen war, in ihrem
Sehnen gethan, ans muͤtterliche Herz gedruͤckt zu
werden und von der Mutter die Worte zu hoͤren:
»guter Sohn, warum koͤmmſt du ſo ungluͤcklich und
»ſo ſpaͤt zu mir?» Aber er durfte nicht, weil er
ſonſt den Schwur, die Abkunft Flamins unter der
Decke des Geheimniſſes zu laſſen, gebrochen haͤtte.
Er ſperrte ſich vier Tage mit dem Blinden ins
Sterbhaus ein — er ſah niemand — beſuchte das
trauernde Kloſter nicht, wo aus allen ſchoͤnen Augen
aͤhnliche Thraͤnen floſſen — that Verzicht auf den
duftenden Park und auf den blauen Himmel — und
ließ den Blumenflor des Verſtorbenen nachwelken.
— — Er troͤſtete den verlaſſenen Blinden und den
ganzen Tag ruhten ſie aneinander geſchlungen und
malten ſich weinend ihren Lehrer und ſeine Lehren
und die lichten Stunden ihrer Kindheit vor. —
Endlich am 4ten Tage fuͤhrte er den Blinden auf
immer aus dem ſchoͤnen Maienthal — die Abend¬
glocke ſandte ihnen weit das Todtengelaͤute eines
ganzen eingeſargten Lebens nach — Julius weinte
laut — aber Viktor hatte, nur ein feuchtes Auge
und troͤſtete nicht ſich, ſondern den Blinden; denn
ſeine Seele war jetzt anders als man errathen wird:
ſeine Seele war erhoͤht uͤber dieſes Abend-Leben,
ſein Verſtorbner hielt ſie wie ein Genius hoch em¬
[307] por uͤber die Wolken und uͤber die Spiele einer klei¬
nen Zeit. — — Viktor ſtand auf dem hohen Ge¬
birg wo man am Begraͤbniß-Tage eines Freundes
ſteht, unten am Gebirge ging das Todtenmeer
des Abgrunds weit hin *) und ſog an einem aus¬
gedehnten zitternden Nebel, der ſich auf dem
Meere aufrichtete — und auf dem Nebel wa¬
ren bunte Staͤdte gefaͤrbt und ſchwankende Land¬
ſchaften hingen in ihm und die kleinen Voͤlker mit
rothen Wangen liefen auf den Landſchaften aus Duft
— und alles, Voͤlker und Staͤdte tropften wie Thraͤ¬
nen hinab ins ſaugende Meer — — blos am Hori¬
zont war unten im duͤſtern Nebel ein angeglomme¬
ner Saum wie Morgenglut: denn eine Sonne ſteigt
hinter der Daͤmmerung auf und dann iſt der Nebel
vergangen und eine neue gruͤne feſte Welt liegt in
die Unermeßlichkeit hinein. — —
Er wollte die ganze Nacht gehen, aber er wurde
durch etwas Fuͤrchterliches im naͤchſten Dorfe das
Obermaienthal heiſſet, angehalten. Er erkannte in
der Wagenremiſe des Gaſthofs den Wagen des Kam¬
merherrn am Wappen. Er ließ den Blinden auf
einer ſteinernen Bank an der Thuͤre nieder, wo die¬
ſer dem Geraͤuſche des Heu Abladens zuhorchte.
Viktor bekam drinnen auf ſeine Frage die Nachricht:
U 2[308] »es waͤren zwei Damen droben, die eine kenne man
»nicht« (er entdeckte aber im erſten Abriß ihres An¬
zugs ſogleich die Pfarrerin) — »die andere ſey oft
»hierdurch paſſirt, es ſey die Tochter des Obriſt¬
»kammerherrn und habe Ganz-Trauer an, weil ihr
»Vater vor einigen Tagen todtgeſchoſſen worden im
»Duell mit dem Regierungsrath Flamin, und beide
»reiſeten, wie ihre Leute ſagten, nach England.»
Er ſchrie vergeblich, halb im Blut und Qual
erſtickend: es iſt unmoͤglich, mit dem Hofjunker von
Schleunes meint ihr.» Aber es war doch — Fla¬
min war im Gefaͤngniß — Matthieu auſſer Landes
— Le Baut ſchon unter der Erde . . . . Fodert
aber die Geſchichte dieſes Mordes jetzt nicht! —
Viktor zog langſam die Uhr des gluͤcklichen Zeidlers
heraus und ſah ſtarr den Zeiger froher Stunden an,
der ſchon einige Tage unaufgezogen ſtockte; in ihm
rieth etwas der wilden Verzweiflung an, er ſollte
ſie gegen den ſteinernen Boden ſchleudern und ſchmet¬
tern. — — Aber drei Lauten-Hauche der Floͤte,
mit der der Blinde eine ſchoͤnere waͤrmere Vergan¬
genheit vor die erſtarrte Seele zog, loͤſeten ſein
gerinnendes Herz in ein naſſes Auge auf und er
hob es uͤberfließend empor und ſagte blos: »Vergieb
»mir's, Allguͤtiger — ach ich will gern nur wei¬
»nen!» — Wenn die Schmerzen in uns zu reiſſend
werden: ſo knirſcht etwas in uns gegen das Schick¬
[309] ſal und das Herz ballet ſich gleichſam zur Wehre
ergrimmt zuſammen — aber dieſe Staͤrke iſt Laͤ¬
ſterung, o! es iſt ſchoͤner gegen dich, Allguͤtiger,
mit dem entzweigepreßten Herzen hinzurinnen und
zur Thraͤne zu werden und ſo lange zu lieben und
zu ſchweigen bis man ſtirbt!
Die bekannten Floͤtentoͤne drangen in Klotildens
dicke Regenwolke des Grams — ſie zitterte ans Fen¬
ſter — ſie ſah den Blinden — aber ſie ging ſchnell
zuruͤck und huͤllte ihr Herz tiefer in die kalte Wolke
— denn jetzt wußte ſie alles, der Blinde war der
Todesbote, daß ihr großer Freund die Erde und die
Troſtloſen verlaſſen habe. »Mein Lehrer iſt auch
todt» ſagte ſie zur Begleiterin; und als Viktor um
eine Unterredung bitten ließ: konnte ſie nur ſprach¬
loß mit dem Kopfe nicken — Dann bat ſie die Pfar¬
rerin, in ein anderes Zimmer zu treten, weil ihr
der Anblick Viktors aus vielen Gruͤnden druͤckend
ſeyn mußte. Viktor ſtieg die Treppe gleichſam zu
einem Blutgeruͤſt hinauf, auf dem ihm das Schick¬
ſal ſein Herz herausnehmen werde, naͤmlich die gu¬
te Klotilde, von der er heute ſowol durch ihre Reiſe
als durch ſeinen Vorſatz ſie zu entbehren abgeſchie¬
den wurde. Als er aufmachte und die Bekuͤmmerte
erblickte bleich und muͤde an die Wand gelehnt; und
als beide einander mit niedergeſunknen Haͤnden in
[310] die rothgeweinten Augen ſahen und bebten in dem
duͤſtern Zwiſchenraum zwiſchen dem Anblick und dem
erſten Wort wie in der ſchrecklichen Zeit zwiſchen
dem Feuer eines großen Geſchoſſes und zwiſchen der
Ankunft der Kugel und da endlich Klotilde leiſe
fragte: »es iſt alles wahr?» und er ſagte: alles!
— ſo legte ſie ihr ſchoͤnes Haupt langſam um gegen
die Wand und wiederholte in einem fort, aber leiſe¬
klagend, mit den ſanften gedaͤmpften Trauertoͤnen
des ermuͤdeten Jammers die Worte: »ach! mein
»guter Lehrer! mein unvergeßlicher Freund! — Ach
»du großer Geiſt! du ſchoͤne Himmelsſeele, warum
»zogeſt du ſo bald meiner Giulia nach! — — O,
»theuerſter Freund, zuͤrnen Sie nicht, ich wuͤnſchte
»jetzt blos zu ſeyn, wo mein Vater iſt, im ſtillen
»Grabe.» — — Viktor fing bebend die Frage an:
»hat ihn Flamin. . . . .» — aber er konnte nicht
dazu ſetzen: »umgebracht»: denn ſie richtete das
Haupt empor und blickte ihn an mit einem ſchwel¬
lenden, mit einem arbeitenden unſaͤglichen Schmerz
und dieſer Schmerz war ihr Ja. — —
Sie wollte, von der Thraͤnenverblutung erſchlafft
und zuckend unter den Erinnerungen, die wie Ge¬
hirnbohrer die Seele betaſteten, endlich an der
Wand zuſammenſinken; aber ihr Geliebter faßte ſie
mit unausſprechlichem Mitleid auf und erhielt ſie
[311] aufgerichtet an ſeiner Bruſt und ſagte: »komm', un¬
»ſchuldiger Engel, komm' an mein Herz und weine
»dich aus daran — wir ſind ungluͤcklich, aber un¬
»ſchuldig — o ruhe ſanft aus, gequaͤltes Haupt,
»ruhe ſanft unter meinen Thraͤnen.» — — Aber
im hoͤchſten Weh fing allzeit eine Bergluft um ihn
zu flattern an, ihm war als richtete das Hebeiſen
die eingebrochne Hirnſchale auf, als zoͤge Lebensluft
durch die angebohrte, innen modernde Bruſt hinein;
es war ihm darum ſo, weil ihm das Leben der
Menſchen klein wurde, der Tod groß und die Erde
zu Staub. »Schlafe, Gequaͤlte — ſagt' er zu Klo¬
»tilde, die welkend an ihm lehnte — verſchlafe das
»Weh — das Leben iſt ein Schlaf, ein gedruͤckter
»heiſſer Schlaf, Wampyren ſitzen auf ihm, Regen
»und Winde fallen auf uns Schlafende und wir
»greifen vergeblich aus zum Erwachen — — o das
»Leben iſt ein langer, langer Seufzer vor dem
»Ausgehen des Athems — O daß aber die elende
»Lufterſcheinung gerade dieſe gute Seele, gerade
»dich, dich ſo quaͤlen darf!» — »Ach wenn doch
»die zu traurige Floͤte aufhoͤrte! Mein Herz zer¬
»ſpringt vor Quaal» ſagte die beladene Seele; aber
ihr Frennd riß grauſam alle Quellen ihrer Thraͤnen
weiter auf und goß ſeine in die ihrigen und malte
ihr die Vergangenheit ab: »vor vier Wochen war
»es anders, da gingen die Floͤtentoͤne uͤber ein ſchoͤ¬
[312] »neres Land durch gluͤcklichere Klagen der Nachtigal
»hindurch in unſere Herzen, die damals ſo froh
»waren — am erſten Pfingſttage fand ich dich, als
»die Nachtigal ſchlug — am zweiten ſank ich vor
»Wonne und Hochachtung vor dir nieder, als der
»Regen um uns glaͤnzte — am dritten ging oben an
»der Abendfontaine ein weiter Himmel auf und ich
»ſah einen einzigen Engel glaͤnzend und laͤchelnd dar¬
»innen ſtehen — — Unſere drei Tage waren Traͤu¬
»me von ſchoͤnen Blumen, denn Traͤume von Blu¬
»men bedeuten Jammer» — Er hatte bisher ſeine
weiche Seele gegen dieſes grauſame Gemaͤlde verhaͤr¬
tet; aber als er gar mit gepreßter Stimme dazu ge¬
fuͤgt hatte: »Damals lebte unſer Emanuel noch und
»beſuchte abends ſein ofnes Grab. . . .»: ſo mußte
ſein Herz zerreißen und alle Thraͤnen quollen uͤber
das tief hineingedruͤckte Schwert wie blutige Tro¬
pfen heraus und er ſagte, ſie heftiger an ſich fas¬
ſend: »O komm', wir wollen weinen ohne Maaß:
»wir wollen uns nicht troͤſten. Wir ſind nicht
»lange mehr beiſammen: o ich moͤchte mich jetzt
»zerruͤtten durch Kummer — Erhabner Dahore!
»ſchau dieſe Sterbende an und ihre Thraͤnen um
»dich und vergelt' ihre Trauer und gieb der muͤden
»Seele einmal Ruhe und deinen Frieden und alles
»was den Menſchen fehlt!»
[313]
Die zwei Seelen ſanken, verſchlungen, hin in ei¬
ne einzige Thraͤne und die Stille der Trauer heiligte
den Augenblick — und mehr laſſet mich mit meinem
beklommenen Athem nicht davon ſagen.
— Wie erwachend zog ſie ihr Haupt von ſeinem
Herzen und nahm mit einem entkraͤfteten Laͤcheln
ſeine Hand — denn ſie liebte ihn aller Ungluͤcks-
Zufaͤlle ungeachtet unausſprechlich und war eben auf
dem Wege nach Maienthal, um ihn noch einmal
zu erblicken — und ſagte: »ich gehe nach England
»zu meiner Mutter, um den Lord auszufinden und
»zu erbitten, daß er fruͤher komme und ſich ins
»Mittel ſchlage, und fremde Schmerzen und meine
»endige. —» Ihr Stocken, das ihr Blick ausfuͤll¬
te, entdeckte ihm ſoviel als es der ungluͤcklichen
Pfarrfrau verſchwieg, die im Nebenzimmer vieles
hoͤren konnte — was ſie verdeckte, war, daß ſie bei
dem Lord die Beſchleunigung der Entdeckung, daß
Flamin der Sohn des Fuͤrſten ſey, betreiben wollte.
Auſſerdem ruͤckte dieſer Weg ihre Augen von ſo vie¬
len Bildern des Grams, ſo wie ihre Ohren von ſo
vielen Kakophonien des Geſpoͤttes hinweg. Freilich
war die Abſicht, auf dem Kutſchkiſſen und auf dem
Schiffe die Mozion wie eine Eiſentinktur einzuneh¬
men, nur ihr Vorwand bei Hofe geweſen, wo man
[314] ehrerbietige Unwahrheiten nicht blos vergiebt ſondern
auch verlangt.
Viktor verhies ihr, in dunkler Ahndung
ſeiner Kraft und Uneigennuͤtzigkeit — denn der
Ungluͤckliche opfert leichter und freigebiger als
der Gluͤckliche auf — »er wolle wie eine Schwe¬
ſter fuͤr ihn ſorgen.« — Ihre Augen trugen einan¬
der ihre Geheimniſſe und eben darum ihre Liebe
vor und Klotilde floß von weinender Liebe uͤber, erſt¬
lich der Reiſe wegen, (weil fuͤr ihr Geſchlecht eine
Reiſe der Seltenheit wegen etwas Wichtiges iſt)
zweitens des Kummers wegen, da die Liebe ein weib¬
liches Herz in ganzer Trauer waͤrmer macht als eins
in halber, wie Brennſpiegel ſchwarz gefaͤrbte Dinge
ſtaͤrker erhitzen als weiſſe. — —
Gerade heute, wo ſie ihm mit ſo viel erneuter
Liebe in die Augen blickte, ſollt' er von ihr abgeriſ¬
ſen werden. Er verſchonte ſie zwar mit der Entdek¬
kung ſeiner Geburt und ſeiner ewigen Trennung, um
an ihr reiſſendes Herz nicht neue ziehende Qualen zu
haͤngen; aber er wollte dieſe letzte Minute ſeiner
ſchoͤnen Liebe‚ dieſe Nachleſe und dieſen Nachflor
ſeines Lebens ganz abernten. Ach er wollte ſie an¬
ſchauen wie nie — er wollte ihr die Hand druͤcken
heftig wie nie — er wollte ihr ein Lebewol ſagen
wie ein Sterbender — — Denn es iſt alles‚ rief
unaufhoͤrlich ſein Innerſtes zum letzten letztenmale!
[315] — Nur kuͤſſen wollt' er ſie nicht: eine ſcheue Ehr¬
furcht, der Gedanke an die ausgeſpielte Liebhaber¬
rolle verbot es ihm, von ihrer Unwiſſenheit
einen eigennuͤtzigen Gebrauch zu machen. Aber als
er den letzten Blick der Liebe auf ſie richten wollte:
ſo ſchlug das Schickſal alle die geſchlifnen Waffen,
die bisher in ſeine Nerven gedrungen waren, noch
einmal in die blutenden Oefnungen, wie man in die
Wunden der Ermordeten die alten Inſtrumente wie¬
der haͤlt, um zu ſehen, obs dieſelben ſind, — — ach
es waren dieſelben — das Zimmer benebelte gleich¬
ſam ein Lichterdampf — die Floͤtentoͤne erſtickten im
innern Brauſen — er mußte ſie anſehen und konnte
doch nicht vor Waſſer — er mußte ſie lange, faſſend
anſehen, weil er ihr ſchoͤnes Angeſicht als ein Me¬
daillon, als ein Schattenbild des Schatten-Edens
auf ewig niederlegen wollte in ſeiner Seele — —
Endlich konnt' er's, mit tauſend, tauſend Schmerzen
blickte er ihr bethraͤntes Angeſicht, durch das die Tu¬
gend wie ein Herz ſchlug, ergreifend an und ſchattete
es ab in ſeiner oͤden Seele bis auf jede Linie, bis
auf jeden Tropfen — So viel nahm er mit von ihr,
mehr nicht; ihr lies er alles, ſein Herz und ſeine
Freude — Ach weiche Klotilde! wenn du es errathen
haͤtteſt! — Das Schluchzen ſeiner Mutter riß ihn
ans Nebenzimmer, er ſtieß die Thuͤr' auf, rief zer¬
truͤmmert der weggekehrten Mutter zu: »Theuerſte!
[316] »Beim Allmaͤchtigen, Ihr Sohn iſt kein Moͤrder
»und kein Verlorner« — und druͤckte die ihm hin¬
ter dem Ruͤcken gegebne Han ſinnlos zuſammen.
Seht dem duͤſtern Augenblicke, meine Freunde,
jetzt nicht zu, wo er zum letztenmale Klotildens Hand
nimmt und ſein Herz von ihrem ſpaltet und doch
nur ſagt: »Reiſe gluͤcklich, Klotilde, lebe ruhig, Klo¬
tilde, werde froh, Klotilde!«
— Und weit vom Dorfe fiel er neben dem Blin¬
den auf die Knie mit einem ſtummen Gebet fuͤr das
trauernde Herz, das er nun zum letztenmal verloren
hatte. —
Erſt Morgens um 4 Uhr kam er ohne Muͤdigkeit
und ohne Thraͤnen und ohne Gedanken in Flachſen¬
fingen mit dem Blinden an.
[317]
40. Hundspoſttag.
Das mörderiſche Duel — Rettung der Duelle — Gefängniſſe
als Tempel betrachtet — Hiobsklagen des [...]fa [...]rers — Sa¬
gen meiner biographiſchen Vorzeit, Kartoffelnſtecken.
Indem ich in den 40ten Tag mit der Anmerkung
einſchreiten will: »die Hiſtorie des Duels iſt noch
»voll Banal-Chiffern und ein wahrer unbezifferter
»Generalbaß« — langt ein Stuͤck vom 43ten an und
beziffert den Baß und punktirt die Konſonanten.
Dieſem jungen Vorlauf aus dem 43ten Kapitel hat
man es zu danken, daß ich die Schuß–Hiſtorie mit
froherem Muth erzaͤhlen kann.
Man wird es nicht errathen, wer uͤber Klotildens
Verlobung am meiſten aufkochte — der Evangeliſt
naͤmlich. Ihn verdroß die kuͤhne Treuloſigkeit des
Kammerherrn, uͤber deſſen Hoͤflichkeit er bisher durch
Grobheit regiert hatte, darum ſo ſehr, weil ein
menſchliches Kompoſitum aus Kraftloſigkeit und
Schmeichelei wie le Baut uns unſaͤglich erbittert,
wenn es von Schmeicheleien zu Beleidigungen
uͤbergeht. Noch mehr hetzte ihn, der Flamin auf¬
hetzte, die Witwe des Kammerherrn auf und ſchuͤrte
[318] in ſein Elementarfeuer ſanftes Oel und einige Zuͤn¬
deruthen nach: ſie haßte Klotilden, weil dieſe geliebt
wurde, und unſern Helden, weil er nicht wie der
Evangeliſt die Stiefmutter uͤber die Stieftochter er¬
hob. Eine Frau, die fuͤr einen Mann in den Tod
gegangen iſt, d. h. in einen kurzen Schlaf (welches
der Tod fuͤr Fromme iſt,) naͤmlich in eine Ohnmacht
— wie eben die Frau Wittwe im 8ten Poſttage —
darf ſchon dieſen Mann haſſen, wenn er ſich nicht
lieben laͤſſet. Der Evangeliſt, der bisher Klotildens
und Viktors Liebe nur fuͤr die zufaͤllige Galanterie
einer Minute gehalten und der die fluͤchtige Verbin¬
dung mit ſeiner Schweſter Joachime auch fuͤr keine
laͤngere angeſehen hatte, war teufelstoll uͤber den
Fehlſchuß im erſten Falle und uͤber den Koͤnigsſchuß
im zweiten: und beſchloß, ſich und ſeine Schweſter,
die er mehr als ſeinen Vater liebte, an jedem zu
raͤchen.
Er hinterbrachte dem Regierungsrath zuerſt ob¬
wohl ohne 24 blaſende Poſtillons den Sieg Viktors
uͤber ſie beide. Flamin haͤtte im eingeſperrten Gruͤn
gern den einen Welttheil am andern zerſplittert;
aber Maz faßte ſich und waͤlzte alles auf den Kam¬
merherrn: »dieſer ſey ein kleiner Filou und ein gro¬
»ßer Hofmann — er habe vielleicht mehr als der
»Liebhaber Klotildens Badreiſe nach Maienthal ver¬
»mittelt — er und nicht ſo ſehr Viktor, ſuche aus
[319] »der Tochter ein Nachtgarn des fuͤrſtlichen Herzens
»und einen gradus ad Parnassum des Hofes zu ma¬
»chen.« Indeſſen verbarg er dem Rathe (um unpar¬
theiiſch zu ſeyn,) doch nicht, daß der Apotheker
uͤberall aus Erbitterung gegen Sebaſtian ausſagte,
dieſer habe den Plan dieſer Heirath als eines Erhoͤ¬
hungs-Mittels blos von ihm, von Zeuſeln. Flamin
grif bei ſolchen Knochen Zerſplitterungen des Her¬
zens nur zur Stahlkur des Degens, zum Bleiwaſſer
der Kugeln und zum Kauteriſireiſen des Saͤbels; und
da ihn das Duel mit dem adelichen Viktor verwoͤhnt
hatte, wollt' er's in der erſten Hitze dem Dreiknoͤ¬
pfler le Baut auch vorſchlagen, als Maz den tournir¬
unfaͤhigen Roturier auslachte. Flamin vermaledeite
in vergeblichem Grimm ſeinen Ahnen-Defekt, der
ihn hinderte, ſich erſchießen zu laſſen von einem Ah¬
nen-Beguͤterten; ja er waͤre — da er ſchnell an¬
gluͤhte und doch langſam erkaltete — faͤhig geweſen,
blos einer adelichen Injurie wegen (wie ſchon ein¬
mal einer that) Soldat zu werden, dann Offizier und
Edelmann, blos um nachher den ſtifts- und ſchußfaͤ¬
higen Injurianten vor ſeine Piſtolenmuͤndung zu
zitiren.
Aber der treue Maz — deſſen fleckige Seele ſich
vor jedem anders drehte, der Sonne gleich, die nach
Ferguſon ſich ihrer Flecken wegen um ſich wendet,
um allen Planeten gleiches Licht zu ſchenken —
[320] wußte zu rathen: er ſagte, er wolle in ſeinem eignen
Namen den Kammerherrn fodern und zwar auf ein
vermummtes Duel und dann koͤnne in der Verkap¬
pung Flamin ſeine Rolle nehmen, indeß er ſelber un¬
ter dem Namen des dritten Englaͤnders dabei waͤre
und die zwei andern als Sekundanten.
Flamin wurde durch Schnelligkeit uͤbermannt;
aber nun fehlte es wieder an etwas das noch weni¬
ger als der Adel zu einem Fechterſpiel zu entrathen
iſt — an einer guten ordentlichen Beleidigung. Maz
war zwar mit Vergnuͤgen bereit, dem Manne eine
anzuthun, die zu einem Duelle qualifizirte; aber der
Mann mit dem kammerherrlichen Dieterich ließ be¬
fahren, er werde ſie vergeben — und niemand kaͤme
zum Schuß. — Recht gluͤcklicherweiſe entſann ſich
der Evangeliſt, daß er ja ſelber ſchon eine von ihm
erhalten habe, die er nur nuͤtzlich und redlich zu ver¬
wenden brauche: »le Baut hab' ihm ja vor zwei
»Jahren die Tochter ſo gut wie verſprochen; und ſo
»gleichguͤltig dieſer Meineid an ſich ſey, ſo behalt'
»er doch als Vorwand zur Zuͤchtigung fuͤr einen
»groͤßern Fehler ſeinen guten Werth.« . . . So
nimmt auf einer ſchmutzigen Zunge die Wahrheit die
Geſtalt der Luͤge an, ſobald ſich die Luͤge nicht in
die der Wahrheit kleiden kann.
Ich bin in Angſt, man denke, daß Matthieu ei¬
nem Kammerherrn, zumal einem, bei dem Verſpre¬
chen[321] chen und Halten weitlaͤuftige Vettern waren, die
Machtvollkommenheit zu luͤgen mehr abſpreche als
einem Hofjunker und daß er vergeſſe wie man uͤber¬
haupt uͤber den Strom des Hofs und Lebens wie
uͤber jeden phyſiſchen nie gerade hinuͤber gelange ſon¬
dern die Quere und ſchief. Aber der Schlimme ver¬
achtet den Schlimmen noch mehr als er den Guten
haſſet. Noch dazu handelte er alſo nicht blos aus
Leidenſchaft ſondern auch aus Vernunft: wurde Fla¬
min todgemacht, ſo mußte er von Agnola, die jetzt
immer mehr die Fuͤrſtin des Fuͤrſten wurde und fuͤr
die natuͤrlicherweiſe ein Nachflor von Jenners und
des Lords vorigen Saͤmereien ein Diſteln Gehege
war, das Schießgeld und Meßgeſchenk empfangen
und eine hoͤhere Stelle auf der Meritentafel des
Hofs; — ferner konnte dann der Lord nicht mehr
zum Thor hereinrollen und hinterbringen: »Ew.
»Durchlaucht Sohn iſt zu haben und am Leben.«
— Wurde der Kammerherr erlegt, ſo wars auch
nicht zu verachten: dieſer vorige Elektrizitaͤts und
Inſultraͤger der fuͤrſtlichen Krone war doch zum Teu¬
fel und der Lord mußte ſich wenigſtens ſchaͤmen, durch
ſein Schweigen den Regierungsrath in das moͤrderi¬
ſche Verhaͤltniß mit einem Manne verflochten zu ha¬
ben, dem er in jedem Falle oͤffentlich die Vereh¬
rung eines Sohnes abzutragen hatte. Maz konn¬
te nicht verlieren — noch dazu konnte er ſeine
Heſperus. III. Th. X[322] Wiſſenſchaft um Flamins Abkunft verſtecken oder auf¬
decken wie es Noth war.
Da gar die Englaͤnder die Sekundanten ſeyn
konnten: ſo ſagte Flamin Ja; aber le Baut ſagte
Nein als er das Manifeſt und Kriegsinſtrument von
Mazen erhielt: des Todes war er faſt ſchon uͤber ein
Todes-Rezept ohne das Ingredienz der Kugel. Ich
werde einen Hofmann nie ſo verkleinern, daß ich
vorgebe, er lehne einen ſolchen Kartoffelnkrieg aus
Tugend ab oder aus Feigherzigkeit — ſolche Men¬
ſchen zittern gewiß nicht vor dem Tode, ſondern
blos vor einer Ungnade, — aber eben die letztere,
die le Baut vom Miniſter und Fuͤrſten beſorgte,
ſchreckte ihn ab. Er hielt daher auf feinem Papier
und mit feinen Wendungen, die den Streuſand uͤber¬
ſchimmerten, Mazen die vorige Freundſchaft vor
und verbindliche Abmahnungen von dieſem auffallen¬
den »Gozsurthel« und erklaͤrte ſich uͤberhaupt bereit¬
willig, gern alles zu leiſten, was ſeine Ehre — belei¬
digte, falls er nur nicht durch das Luſttreffen gegen
das Duelmandat verſtoßen muͤßte. Aber er mußte
— Maz ſchrieb zuruͤck, er verbuͤrge ſich fuͤr das Ge¬
heimniß ſo wie fuͤr das Schweigen der Sekundan¬
ten und er ſchlage ihm zum Ueberfluß vor, ſich
einander zu Nachts und in Masken die Drachen-
Pechkugeln zu inſinuiren; »uͤbrigens bleib' er auch
»in Zukunft ſein Freund und beſuch' ihn, denn nur
[323] »die Ehre fodere ihm dieſen ab.» . . .
Und dem Kammerherrn auch: — denn dieſe Leute
verſchlucken wohl große, aber nicht kleine Beleidi¬
gungen, ſo wie die von tollen Hunden Gebiſſenen
zwar feſte Sachen aber keine fluͤßigen hinunterbrin¬
gen — und damit iſt in meinen Augen ein Hofmann
wie Le Baut genugſam entſchuldigt, wenn er ſich
ſtellt als waͤr' er ein redlicher Mann oder als ginge
er von denen ſehr ab, die das ganze Jahr ihre Eh¬
re zum Pfand einſetzen und das Pfand — wie Reichs¬
pfandſchaften oder wie vornehme lebendige Pfaͤnder
der Liebe — nie einloͤſen.
Auf den Abend, wo Viktor in Maienthal trau¬
ernd eintraf, war alles feſtgeſetzt — das Kriegsthea¬
ter war zwiſchen St. Luͤne und der Stadt.
Extrablatt zur Rettung der Duelle.
Ich glaube, der Staat beguͤnſtigt die Duelle,
um der Vermehrung des Adels Graͤnzen zu ſtecken
wie eben darum Titus die Juden einander fodern
ließ. Da immerfort Edelleute gemacht werden, aber
keine Buͤrgerliche — da noch dazu allemal ein Buͤr¬
gerlicher daran gewendet und eingeriſſen werden
muß, eh' die Reichskanzlei einen Edelmann auf ſei¬
ner Bauſtaͤtte auffuͤhren kann — da die ſtehenden
Armeen und die Kroͤnungen zugleich zunehmen und
folglich die Bauten Adelicher mit: ſo wuͤrde der
X 2[324] Staat ſicher eher zuviel als zu wenig Edelleute (wie
doch nicht iſt) beſitzen, waͤre ihnen nicht gegenſeiti¬
ges Erſchießen oder Erſtechen verſtattet. In Ruͤck¬
ſicht der kleinen Fuͤrſten, die in der Kanzlei-Baͤcke¬
rei gemacht werden, waͤre weiter nichts zu wuͤn¬
ſchen, als daß zugleich auch Unterthanen — ein oder
ein Paar Rudel mit jedem Fuͤrſten — mit abfielen
von der Drehſcheibe; ſo wie ich uͤberhaupt auch nicht
weiß, warum die Reichskanzlei nur Poeten machen
will, da ſie doch eben ſo gut Hiſtoriker, Biographen,
Rezenſenten von ihrer Salpeterwand abkratzen koͤnn¬
te. — Man wende mir nicht ein, am Hofe ſchieße
man ſich ſelten: hier hat die Natur ſelber auf eine
andere Art wohlthaͤtige Graͤnzen der Hofleute geſteckt,
etwan ſo wie bei den Hamſtern, bei denen Bech¬
ſtein die weiſe Abſicht ihrer Entvoͤlkerung darin fin¬
det, daß ſie, ſo boshaft-bißig ſie auch ſonſt das
Ihrige verfechten, gleichwol ihre Brut nicht zum
Ihrigen rechnen, ſondern ſie gern fahren laſſen.
Auch duͤrfte D. Fenk mehr Recht haben, der ihre
Partei nimmt und ſagt, er gebe zu, ſie nuͤtzten
nichts den wichtigern Gliedern des Staats dem
Lehr- dem Bauernſtande ꝛc., aber doch viel den klei¬
nern unnuͤtzen Gliedern, den Meßhelfern des Luxus,
den Friſeurs, der Lakaienſchaft ꝛc. und ein Unpar¬
theiiſcher muͤſſe ſie mit den Brenneſſeln vergleichen,
[325] auf denen ſich, da ſie fuͤr Menſchen und große Thiere
wenig Nuzen haben, die meiſten Inſekten bekoͤſtigen.
Ende dieſes rettenden Extrablattes.
Flamins Seele arbeitete ſich den ganzen Tag in
Bildern der Rache ab. In einem ſolchen Sieden des
Bluts wurden ihm moraliſche Leberflecken zu Bein¬
ſchwarz, die Druckfehler des Staats kamen ihm wie
Donatſchnitzer vor, die peccata splendida des Regie¬
rungskollegiums wie ſchwarze Laſter. Heute ſah er
noch dazu den Fuͤrſten immer vor Augen, den er in
den Clubs der Drillinge und noch mehr in Hinſicht
auf Klotilden toͤdtlich haßte. Er verſchmaͤhte das be¬
laſtete Leben und in dieſer Hitze, worin alle Mate¬
rien ſeines Innern in einem einzigen Fluß zerlaſſen
waren, ſuchte die innere Lawa eine Erupzion in ir¬
gend einem Wagſtuͤck. Seine heutige Ergrimmung
war am Ende eine Tochter der Tugend, aber die
Tochter wuchs der Mutter uͤber den Kopf. Die
Drillinge, die obwohl nicht mit der Zunge, doch
mit dem Kopfe ſo wild waren wie er, zuͤndeten gar
den ganzen Schwaden ſeiner vollen Seele an.
Endlich ritten zu Nachts die 2 Sekundanten,
und Flamin und der in den 3ten Englaͤnder verlarvte
Matthieu auf den Schießplatz hinaus. Flamin
kaͤmpfte entflammt mit ſeinem aufſteigenden dampfen¬
den Hengſt. Spaͤter trug in Kourbetten ein Schim¬
[326] mel den Kammerherrn daher. Stumm miſſet man
die Mord- und Schußweite und tauſchet das Ge¬
ſchoß. Flamin als Beleidigter bricht zuerſt wie ein
Sturm gegen den andern loß; und auf dem ſchnau¬
benden Pferde und im Zittern des Grim[m]s ſchießet
er ſeine Kugel uͤber das fremde — Leben hinaus.
Der Kammerherr feuerte abſichtlich und offenbar
weit vor dem Gegner vorbei, weil die Niederlage
des (vermeintlichen) Matthieu ſein ganzes Hofgluͤck
mit niedergeſchlagen haͤtte. Matthieu, ſchon unter
den Zuruͤſtungen des Gefechtes ſchaͤumend, und noch
mehr ergrimmt uͤber das Verfehlen ſeines Wechſel-
Ziels, und zu ſtolz, um ſich vor den Englaͤndern
mit dem Geſchenk ſeines Lebens unter einem frem¬
den Namen und von einem ſo veraͤchtlichen Wider¬
part beſchaͤmen zu laſſen, ſties ſeine eigene Maſke
herab, und Flamins ſeine dazu und rit kalt auf
den Kammerherrn zu und ſagte: um ihn durch die
Entdeckung ſeines ahnenloſen Gegners zu demuͤthi¬
gen: »Sie haben ſich im Stande geirrt — aber
»jetzt ſchießen wir uns« . . . Le Baut ſtotterte ver¬
wirrt und beleidigt — aber Matthieu draͤngte ſein
Pferd zuruͤck — ſtand — ſchrie — ſchoß mit verſtei¬
nertem Arme und traf und zerſtoͤhrte toͤdtlich das
kahle Leben des armen Le Baut. . . Blitzſchnell ſag¬
te er allen: »zum Grafen O!« und trabte — mit
dem Bewußtſeyn der fruͤhen, leichten Vergebung von
[327] Seiten des Fuͤrſtenpaars und der Wittwe — uͤber
die Graͤnze hinuͤber nach Kuſſeviz.
Flamin wurde ein Eisberg — dann ein Vulkan
— dann eine wilde Flamme — dann ergrif er die
Haͤnde der Britten und ſagte: »ich, blos ich hab'
»den hier getoͤdtet. Mein Freund haͤtte nichts mit
»ihm gehabt. Aber da er fuͤr mich geſuͤndigt hat:
»ſo iſts Pflicht, daß ich fuͤr ihn buͤße — Ich will
»ſterben; ich gebe mich bei den Richtern fuͤr den
»Moͤrder aus, damit ich hingerichtet werde — und
»ihr muͤſſet wie ich ausſagen.» — Aber er ent¬
deckte ihnen jetzt einen viel hoͤhern Antrieb zu ſeiner
kuͤhnen Luͤge: wenn ich ſterbe, ſagt' er immer gluͤ¬
hender, ſo muͤſſen ſie mich auf dem Richtplatz ſa¬
gen laſſen, was ich will. Da will ich Flammen un¬
ter das Volk werfen, die den Thron einaͤſchern ſol¬
len. Ich will ſagen: »ſeht, hier neben dem Richt¬
»ſchwert bin ich ſo feſt und froh wie ihr, und ich
»habe doch nur Einen Nichtswuͤrdigen aus der Welt
»geworfen. Ihr koͤnntet Blutigel, Woͤlfe, und
»Schlangen und einen Laͤmmergeier zugleich fangen
»und einſperren — ihr koͤnntet ein Leben voll Frei¬
»heit erbeuten, oder einen Tod voll Ruhm. Sind
»denn die tauſend aufgeriſſenen Augen um mich alle
»ſtarblind, die Arme alle gelaͤhmt, daß keiner den
»langen Blutigel ſehen und wegſchleudern will, der
»uͤber euch alle hinkriecht und dem der Schwanz
[328] »abgeſchnitten iſt, damit wieder der Hofſtaat und
»die Kollegien hinten daran ſaugen? Seht, ich
»war ſonſt mit dabei und ſah wie man euch ſchin¬
»det — und die Herren vom Hofe haben euere
»Haͤute an. Seht einmal in die Stadt: gehoͤren
»die Pallaͤſte euch, oder die Hundshuͤtten? Die
»langen Gaͤrten, in denen ſie zur Luft herum gehen,
»oder die ſteinigen Aecker, in denen ihr euch todt
»buͤcken muͤſſet? Ihr arbeitet wohl, aber ihr habt
»nichts, ihr ſeid nichts, ihr werdet nichts — hin¬
»gegen der faullenzende todte Kammerherr da neben
»mir». . . . Niemand laͤchelte; aber er kam zu
ſich. Die Drillinge, fuͤr die der Koͤrper und die
Zeit und der Thron eine Brandmauer, oder ein
Ofenſchirm ihrer in ſich ſelber zuruͤckbrennenden
Freiheitslohe w [...], gelobten ihm gebundne Zungen,
feſte Herzen und thaͤtige Haͤnde; doch waren ſie
ſchweigend entſchloſſen, ihn nach der ſpruͤhenden
Rede mit ihrem Blute zu retten und ſeine Unſchuld
zu enthuͤllen. Eine Folge dieſes Freiheits-Dythram¬
ben war, daß Kats der aͤltere den Tag darauf den
Pulverthurm bei Maienthal, der das einzige Pulver¬
magazin im Lande war, (Kornmagazine hatte man
nicht ſo viele) ins Gewitter aufſprengte, als er nach
Kuſſeviz zu Mathieu ritt. —
Nun trugen ſie die Luͤge ins Dorf, Flamin habe
die Verkappung Matzens benutzet und in einer aͤhnli¬
[329] chen dem Kammerherrn, den er wegen eigner Ah¬
nen Glaze nicht erſchießen konnte, mit der Piſtole
das Lebenslicht ausgeputzt. Der Regierungsrath
wurde auf einer kleinen ſcheinbaren Flucht inhaftiert
und als eine goͤttliche Statue allein in jenen Tem¬
pel geſetzt, der wie die alten Tempel ohne Fenſter
und Geraͤthſchaft war, und den die darin ſeßhaften
Goͤtter wie Diogenes ſein Faß mit Inſkripzionen
verſehen, und den der gemeine Mann blos ein Ge¬
faͤngnis nennt. — — — Ich will aber vor allen
Dingen dieſe und die folgenden Worte ein
Extrablatt
benennen. Die Kapelle oder das Filial eines ſol¬
chen Tempels heiſſet man ferner ein Hundeloch.
Die Prieſter und Sodalen dieſer Pagoden ſind die
Stockmeiſter und Stadtknechte. Ueberhaupt ſind die
Zeiten nicht mehr, wo die Großen gleichguͤltig ge¬
gen Wahrheiten waren: jetzt ſuchen ſie einen Mann,
der wichtige geſagt hat, vielmehr auf und ſetzen ihm
nach und machen ihn (mit mehr Recht als die Tyrier
ihren Gott Herkules) in beſagten Tempeln mit Ketgen
und eiſernen postillions d'amour feſt, damit er da auf
dieſem Iſolierſchemel (Iſolatorio) ſein elektriſches
Feuer und Licht beſſer beiſammen behalte und an¬
haͤufe. Iſt einmal ein ſolcher Merkur ſo fixiert und
hat er mit den Fixſternen außer dem Lichte auch die
[330] Unbeweglichkeit lange genug gemein gehabt: ſo kann
man ihm, wenn mehr aus ihm geworden iſt, endlich
gar an den Dreifuß — ſo heißt der Galgen — als
ein haͤngendes Siegel der Wahrheit ſchaffen, wo
er zur ordentlichen aufgetrockneten Naturalie aus¬
doͤrret, weil er ſonſt als kein taugliches Exemplar in
das herbarium vivum des philoſophiſchen Martyro¬
logiums geklebt werden kann. Ein ſolches Haͤngen
iſt eine wuͤrdigere und nuͤtzlichere Nachahmung der
Kreuzigung Chriſti, als ich in ſo vielen katholi¬
ſchen Kirchen an Karfreitagen ſah, und im Grunde
um nichts ſchwaͤcher als die, ſo Michel Angelo ver¬
anſtaltete, der den Menſchen, der ihm zum Getreu¬
zigten ſaß, oder vielmehr hing, re vera kreuzigte.
Daher ſind in katholiſchen Laͤndern neben den un¬
blutigen Meßopfern mehrere blutige; denn ein
ſolcher Quaſichriſtus, der nicht in den dritten Him¬
mel, aber doch in den Zitterungshimmel *) (coelum
trepidationis) erhoͤht wird durch ein wenig Hanf,
ſoll — deswegen erlegt man ihn — ſeinen Lehren
durch ſeinen Tod die Dienſte erweiſen, den der hoͤ¬
here Kreuzestod einmal erwies. Und warlich die
Todten predigen fort — fuͤr die Wahrheit ſterben,
iſt ein Tod nicht fuͤr das Vaterland, ſondern
[331] fuͤr die Welt — die Wahrheit wird wie die medi¬
zeiſche Venus in dreißig Truͤmmern der Nachwelt
uͤbergeben, aber dieſe wird ſie in eine Goͤttin zuſam¬
menfuͤgen — und dein Tempel, ewige Wahrheit, der
jetzt halb unter der Erde ſteht, ausgehoͤhlt von den
Erbbegraͤbniſſen deiner Maͤrtyrer, wird ſich endlich
[uͤber] die Erde heben, und eiſern mit jedem Pfeiler
in einem theuern Grabe ſtehen!
Ende!
Kato ritt dem nach Kuſſeviz gefluͤchteten Mat¬
thieu nach und legte ihm mit franzoͤſiſcher Bered¬
ſamkeit den Plan Flamins, zu ſterben, und ihren
eignen, ihn zu retten vor. Maz genehmigte alles,
aber er glaubte nichts: er blieb noch außer Landes.
Doch erbat er ſich, es ihm nicht uͤbel zu nehmen,
wenn er Flamins edle Aufopferung mit etwas ver¬
gaͤlte, was wider ihren Plan, aber uͤber ihre Hof¬
nungen waͤre. Will er etwan dem Fuͤrſten es ſagen,
daß ſein Sohn in der Haft ſitzt? —
In drei Minuten gehen die Leſer und ich in die
Apotheke zum Helden, wenn nur vorher berichtet
worden iſt, daß als der leere blutige Gaul des Kam¬
merherrn und die Drillinge mit der luͤgenhaften
Hiobspoſt des Mordes ans Pfarrfenſter kamen, der
Hofcaplan eingeſeift und halb raſiert war. Er
mußte daher ſtill ſitzen und nur langſam unter dem
[332] Meſſer reden: »o Jammer uͤber allen Jammer —
»ſcheer' Er doch fixer zu, mein H. Feldſcheer —
»Frau, heule nur wenigſtens» — Er ſchwenkte in
ſeiner verhaltenen Pein die Hand ſchlotternd, um
den Arm und das Kinn nicht zu erſchuͤttern: »Um
»Gottes Willen, kann Er mich denn nicht hurtig
»ſchinden? — Er hat einen armen Hiob unter
»dem Meſſer — es iſt mein letzter Bart — man
»wird mich und mein Haushalten gefaͤnglich einzie¬
»hen — Du Rabenkind, dein Vater kann deinet¬
»wegen dekollirt werden, du Kain du!» Er
lief an alle Fenſter: »Daß Gott erbarm'! das wird
»ſchon im ganzen Pfarrſpiel ruchtbar — Siehſt du
»Frau, einen ſolchen Satanas haben wir mit einan¬
»der erzogen und geboren, du biſt ſchuld — Was
»lauſcht Er denn da, ſcheer' Er ſich einmal fort zu
»ſeinen Kunden, H. Feldſcheer, und ſchwaͤrz' er ſei¬
»nen Seelenhirten nirgends an, und breit' ers nicht
»aus» — — Jetzt kam die ſanfte Klotilde, nieder¬
geſenkt und mit dem Schnupftuch in der Hand,
weil ſie errieth, was das Herz einer untroͤſtlichen
Mutter beduͤrfe, naͤmlich zwei liebende Arme, als ei¬
nen Verband um die zerſchmetterte Bruſt, und tau¬
ſend Balſamtropfen fremder Thraͤnen auf das unter
den Splittern ſchwellende Herz. Sie ging auf die
Mutter mit ofnen Armen zu und ſchloß ſie darin
ſprachlos weinend ein. Der naͤrriſche Pfarrer fiel
[333] ihr zu Fuͤßen und ſchrie: »Gnade! Gnade! wir
»ſaͤmtlich wuſten um nichts. Ich hab' den Todt¬
»ſchlag erſt unter dem Balbieren gehoͤrt. Ich be¬
»jammre nur Dero Herrn Vater und ſeine Relik¬
»ten. — Ich und meine Frau ſind geſtraft genug,
»daß ich jetzt nicht Senior Conſiſtorii werden kann;
»und unſern Pathenbrief an Se. Durchlaucht un¬
»terſchlag ich auch, und wenn meine Frau auf der
»Stelle niederkaͤme.» — Die zwei Freundinnen
zogen ſich in ein Kabinet; und hier goß Klotilde
das erſte Wundwaſſer auf die blutende Seele, indem
ſie mit ihr die Reiſe nach London verabredete. — —
Einige meiner Leſer werden mir ſchon vorgeflo¬
gen ſeyn, und in den Erker Viktors hineingeſchaut
haben, um ſeinen von vier Waͤnden verſteckten Gram
zu finden — fuͤrchterlich ſteht die Einſamkeit vor
ihm und faltet ihm ein großes ſchwarzes Gemaͤlde
mit zwei weißen Graͤbern auf; in einem großen
Grabe liegt die verlorne Freundſchaft, im andern
die verlorne Hofnung. Ach er wuͤnſcht das dritte,
worein auch er ſich verloͤre. Er hatte die erhabne
Stimmung Hamlets. Der verhuͤllte Julius kam
ihm wie ein zuckender Todter vor. Er mied ganz
den Hof: denn ſein Selbſtgefuͤhl war viel zu be¬
ſcheiden und ſtolz, um mit dem geſtohlnen Adel und
den erſchlichenen Rechten eines Lords Sohnes ein
fluͤchtiges Gepraͤnge zu treiben. Auch ſetzte ſich an
[334] ſeinem Herzen eine kleine Froſtbeule durch den Ge¬
danken an, daß der Lord, nach der Unart aller
Staatsleute und Staatsmaſchinenmeiſter, die Men¬
ſchen zu handhaben nur wie Koͤrper, nicht wie Gei¬
ſter, nur wie Karyatiden, nicht wie Miethleute
des Staatsgebaͤudes, kurz blos wie Taͤnzerinnen von
Golkonda *) die ſich zum Laſtvieh eines einzigen Rei¬
ters mit ihren Gliedern zuſammenſchlingen und ver¬
ſchraͤnken — daß der Lord, ſag' ich, dieſe ſonſt er¬
habene Seele, auch ſeinen Viktor zu ſehr zum Ar¬
beitszeuge ſeiner Tugend verbrauchet hatte. Aber
er vergabs dem Mann, dem er doch nichts vorzu¬
werfen hatte, als daß er nur die Guͤtigkeiten eines
Vaters gehabt, ohne die Rechte deſſelben.
Da Viktor niemand den Hof mehr machte: ſo
wollte natuͤrlich der Apotheker ihm auch keinen mehr
machen. Jener laͤchelte dazu und dachte: »ſo ſollte
»jeder gute Hofman handeln, und wie ein geſchick¬
»ter Faͤhrmann in ſeinem Boote, allemal die Seite
»verlaſſen, die ſinkt, und auf die andere uͤbertre¬
»ten.» Zeuſel trat uͤber zum beguͤnſtigten Brunnen¬
doktor Kuhlpepper, deſſen Einſichten man die Hei¬
lung Jenners zuſchrieb, die vom Sommer herkam, und
er legte ſich hin, um mit ſeiner kleinen Schlangen¬
[335] zunge die Fuͤße zu lecken‚ in deren Ferſe er vorher
mit ſeinem Giftgebiß geſtochen hatte — aber Gro¬
biane vergeben nie: Kuhlpepper verachtete den
»Neunundneunziger» und der Neunundneunziger
wieder meinen Hofmedikus‚ wiewol er ihn aus
Furcht — wie der Fuͤrſt aus Gemaͤchlichkeit — we¬
der vor den Kopf noch aus dem Hauſe zu ſtoßen
wagte.
Armer Viktor! der Ungluͤckliche braucht Thaͤtig¬
keit wie der Gluͤckliche Ruhe; und doch mußteſt du
gebunden in die Zukunft wie in ein ausgedehntes her¬
antreibendes Gewitter ſchauen — Du konnteſt ſie
weder verdraͤngen noch lenken noch beſchleunigen,
und hatteſt nicht einmal den Troſt, dem Schmerze
die Waffen zu ſchmieden, und wie Simſon den
Krampf der Qual durch Erſchuͤtterungen der Saͤu¬
len auszulaſſen und — auszuloͤſchen! — Er konnte
nicht einmal fuͤr den gefangenen Liebling etwas
thun, den er in einen noch groͤßern Jammer getrie¬
ben: denn Flamins Leiden fuͤhrten wieder die
Freundſchaft fuͤr ihn in ſeinen Buſen ein‚ obwol
verkappt in den Domino der Menſchenliebe. Er
muſt' es erwarten‚ aber er konnt es nicht errathen‚
ob der Lord komme oder lebe — welches beides
durch deſſen Schweigen und durch die Unſichtbarkeit
des fuͤnften Fuͤrſtenſohnes wenig fuͤr ſich hatte. — —
Zuletzt ſtand er in Furcht vor dem — Schlaf‚ zu¬
[336] mal dem mittaͤglichen: denn der Schlummer legt
zwar ſeine Sommernacht uͤber unſere Gegenwart
wie uͤber eine Zukunft, er zieht zwei Augenlieder
gleichſam wie den erſten Verband uͤber die Wunden
des Menſchen und deckt mit einem kleinen Traume
ein Schlachtfeld zu; aber wenn er wieder weg geht
mit ſeinem Mantel, ſo fallen die hungrigen
Schmerzen deſto heißer auf den nackten Menſchen
los, unter Stichen faͤhrt er aus dem ruhigern Trau¬
me empor, und die Vernunft muß die ausgeſetzte
Kur den vergeßnen Troſt von vorn anfangen. —
Und doch — du gutes Schickſal! — zeigteſt du un¬
ſerem Viktor noch einen abendroͤthlichen Streif an
ſeinem weiten Nachthimmel: es war die Hofnung,
von Klotilden, die ſein Herz nicht mehr die Seinige
nennen durfte, vielleicht einen Brief aus London zu
erhalten. . . .
Ich wollte dieſes Kapitel erſtlich mit der Nach¬
richt ſchließen, daß die Kapitel in immer weiterm
Zeitraume und in kleinerm Format einlaufen —
welches das Ende der Hiſtorie bezeichnet, — und
nachher mit der Bitte es nicht uͤbel zu nehmen, daß
die Leute darin immer romantiſcher agieren und
ſpekulieren: das Ungluͤck macht romantiſch, nicht der
Biograph.
Aber ich ſchließe gar nicht — eben der letztern
Bitte wegen —, ſondern friſche lieber im Kopf des
Leſers[337] Leſers das Bild des alten luſtigen Viktors ein we¬
nig auf, den er ſich kaum mehr wird denken koͤnnen.
Es iſt ein ungemein gluͤcklicher Zufall, daß mir der
Hund am dritten Hundspoſttage eines und das an¬
dre Faktum eingeliefert, das ich damals gar ausge¬
laſſen habe. Deswegen kann ichs jetzt unvermuthet
rapportieren. Es muß ordentlich mir und dem Le¬
ſer das groͤſte Vergnuͤgen machen, wenn meine
Schilderei — ſie war damals ſchon ganz fertig —
hier auf dieſem Blatte aufgehangen wird.
Der Hiatus des dritten Kapitels, morin ich Vik¬
tors Ankunft aus Goͤttingen im Pfarrhaus male,
lautet vollgemacht alſo:
»Der Kaplan hatte das Eigne mancher Leute
daß er mitten im Freuden- und Viſiten-Choc an
ſeine winzigſten Funkzionen dachte, z. B. am Hoch¬
zeittage an ſeine Maulwurfsfallen. Heute ſchnitt er
in der Geſindeſtube — waͤhrend der Lord dem Hof¬
medikus die geheime Inſtrukzion ertheilte — die
Saͤe-Kartoffeln entzwei. Er konnte die Sekzion
dieſer Fruͤchte wenigen anvertrauen, weil er wuſte,
wie ſelten ein Menſch Stereometrie des Auges ge¬
nug beſas, um eine Kartoffel in zwei gleiche Kegel-
oder Kugelſchnitte zu zerfaͤllen. Er haͤtte lieber die
Saͤezeit verſeſſen, als einen Keimglobus in ungleiche
Sektores zerlegt und ſagte: »nur Ordnung will ich
haben.» — Es kann meinen Helden verſchatten,
Heſperus. III. Th. D[338] wenn es auskoͤmmt — und durch den Druck muß
es ja — und wenn es zumal Nuͤrnberger Patriziern
und Leuten in Aemtern und Reichsgerichtlichen
membris zu Ohren koͤmmt, daß Viktor Nachmittags
hinter dem Kaplan und Appeln einen Ehrenzug auf
den Krautacker hielt, und daſelbſt das vollfuͤhrte,
was man in einigen Provinzen Kartoffelnſtecken
nennt. Man ließ ihm das Lob, daß er in eben ſo
ſymmetriſchen Diſtanzen wie der Kaplan, die unter¬
irdiſche Brodfrucht dem Boden einverleibe; uͤber¬
haupt ſannen beide der Kartoffelnallee ſcharf nach
und ihre Augen waren die Linientheiler der Beete.
Der Kaplan hatte ſchon vorher dem Ackerpflug hin¬
ter einem Diopterlineal nachgeſehen und nachgehol¬
fen, damit das Feld, um das ich und die reichsge¬
richtlichen membra jetzt ſtehen, in gleiche Prismata
oder Beete ausgeſchnitten wurde. Als beide Abends
nach Hauſe kamen mit großem Ernſt und kleinen
Waͤmſern: ſo hatt' ihn das ganze Haus lieb zum
Freſſen; und die Pfarrerin fragte ihn, was er in
ſeinem Wams, wenn ihm die Kammerherrin begeg¬
net waͤre, gemacht haͤtte, eine Verbeugung, eine
Entſchuldigung oder nichts?
»O du liebes Deutſchland! (rief er und ſchlug
»die Haͤnde zuſammen) ſoll ſich denn das ganze
»Land keinen Spas machen als den der Hof dekre¬
»tiert?» (Viktor ſah hier den alten tauben Kut¬
[339] ſcher Zeuſel an: denn jede humoriſtiſche Ergießung
richtete er ordentlicher Weiſe an den, der ſie am
wenigſten verſtand; ich wills aber hier an die Patri¬
zier und membra gerichtet wiſſen) »Giebts denn,
»mein lieber Mann, hier zu Lande nichts als Gal¬
»gen und Zimmerleute und Juſtizbeamten, ich meine
»ſo, daß alſo die erſtern keine Axt anruͤhren, wenn
»nicht die letztern damit den erſten Hieb gethan?
»Will Er denn alle Narrheiten wie die Moden von
»oben herabbekommen, wie ein Wind allemal in den
»obern Luftregionen ſauſet eh' er unten an unſere
»Fenſter anpfeift? — Und wo iſt denn ein Reichs¬
»abſchied oder ein Vikariatskonkluſum, das einem
»Reichs-Deutſchen verboͤte, naͤrriſch zu ſeyn? Ich
»hoffe, Zeuſel, es ſoll noch eine Zeit kommen, wo
»Er und ich und jeder ſo viel Verſtand hat, daß er
»ſeinen eignen hat und ſeine eigne aus ſeinem
»Fleiſch und Blut gezeugte Privat-Narrheit, als
»Autodidaktus in jeder Toll- und Weisheit. —
»O ihr armen Menſchen! fangt doch nach den Fluͤ¬
»gel- und Schwanzfedern der Freude unter den for¬
»cierten Maͤrſchen euerer Tage! O ihr Armen!
»Will denn kein guter Freund einen Imperialfo¬
»lianten zuſammenſchmieren und euch darthun, daß
»ihr wenig Zeit habt gleich dem Teufel in der Apo¬
»kalypſis? Ach der Genius verſpricht ſo wenig —
»die Hofnung haͤlt ſo wenig — Der Saͤe- und
Y 2[340] »Pflanztage der Freude ſtehen im berliniſchen Ka¬
»lender ſo wenig — wenn ihr nun vollends ſo
»dumm waͤret und ganze Stunden und Olympiaden
»voll Luft als Eingemachtes wegſetztet und aufhoͤbet
»im Keller, um, der Henker weiß wenn, daruͤber zu
»gerathen uͤber ganze eingepoͤkelte marinierte 50,
»60 Jahre — — ich ſage, wenn ihr nicht an
»jeder Stundentraube die Minuten-Beere auskelter¬
»tet wenigſtens mit einigen Zitronendruͤckern —— —
»was wuͤrde denn am Ende daraus werden? . . .
»weiter nichts als die Moral zu meiner erſten und
»letzten Fabel, die ich einmal vor einem Hanovera¬
»ner gemacht» . . .
Ich wollt', der Leſer wollte ſie: denn ſie lau¬
tet ſo:
»Der dumme Hamſter, heißt der Titel. Dieſen
»brachte einmal der volle Kropf einer Taube, den
»er ausfraß, auf die Preisfrage, ob es nicht beſſer
»waͤre, wenn er ſtatt einzelner Koͤrngen lieber Tau¬
»ben mit ganzen Kornmagazinen am Halſe eintruͤge.
»Er thats. An einem langen Sommertag inhaf¬
»tierte er einen halben Taubenflug mit gefuͤllten
»Kroͤpfen; aber er riß keinen Kropf entzwei, ſon¬
»dern ſparte ſich hungernd alles zuſammen auf
»Abend und Morgen, erſtlich um recht viel Tauben
»zu inkarzerieren, zweitens um den Koͤrner-Knaul
»Abends durchgeweicht zu ſchmauſen. Er ſchlizte
[341] »endlich Abends ſeinen Zehend-Offizianten die
»Kroͤpfe auf, ſechſen, neunen, allen — kein Koͤrngen
»war mehr da, die Inhaftaten hatten alles ſchon
»ſelber verdaut; und der Hamſter war ſo dumm ge¬
»weſen wie ein — Geizhals.»
So weit der dritte und der vierzigſte Hundspoſt¬
tag. — Armer Viktor!
Poſtſkript: die Geſchichte verſieret jetzt im
Monat Auguſt und der Geſchichtſchreiber vorn am
Oktober — blos ein Monat liegt zwiſchen beiden.
[342]
41. Hundspoſttag.
Brief — zwei neue Inziſionen des Schickſals — des Lords
Glaubensbekenntniß.
Man ſchenke einem Menſchen, der wie ein Pferd,
in der Naͤhe der Nacht und der Heimath ſtaͤrker
laͤuft, den zehnten Schalttag: am Ende eines Lebens
und eines Buchs macht der Menſch wenig Aus¬
ſchweifungen.
Ich hab' es ſchon geſagt, daß nichts das Seelen-
und Ruͤckenmark mehr aus einem Menſchen preſſet,
als wenn ihm ſein Ungluͤck kein Handeln vergoͤnnt:
das Schickſal hielt unſern Viktor noch feſt mit der
einen Hand, um ihn wund zu ſchlagen mit der an¬
dern, als in dieſen Trauerwochen das Schoͤpfrad der
Zeit zwei neue Thraͤnenkruͤge im Herzen der Men¬
ſchen einſchoͤpfte und in die Ewigkeit hinausgoß.
Erſtlich kam die truͤbe Nachricht wie Trauergelaͤute
an Viktors Ohr, daß ſein ehemaliger Jugendfreund
Flamin einen Schritt, zu dem es ohne das Ueber¬
werfen mit ihm nie gekommen waͤre, wol mit dem
Tode buͤßen werde. Einige Tage nach den Kaniku¬
larferien — gerade als vor einem Jahre der arme
[343] Gefangne ſein neues Amt mit ſo vielen menſchen¬
freundlichen Hofnungen angetreten hatte — zog je¬
nes Geruͤcht wie eine Peſtwolke aus den Seſſions¬
zimmern heraus. Viktor fluͤchtete eilig und un¬
glaͤubig und doch zitternd zum Apotheker, um ihm
die Widerlegung abzufragen. Dieſer ſchlug vor ihm
— eben weil er den Hofmedikus verachtete und be¬
ſchaͤmen wollte — aufrichtig alle Kurial-Rapport¬
zettel und Cercle- oder Kreisrelazionen aus einander
und las ihm daraus ſo viel vor: es ſei nicht an¬
ders. Viktor hoͤrte, was er ſchon vorausſetzte, daß
jetzt der Fuͤrſt den Laufzaum oder das Stangengebiß
ſeiner eignen Frau umhabe, und daß ſie ihm durch
Klotildens Entfernung naͤher komme und mit dem
Ohr- und Ringfinger den in den Naſenring
eingefaͤdelten Zuͤgel bewege, als waͤre ſie in der
That nichts geringeres als ſeine — Maitreſſe, wel¬
ches ein neues trauriges Beiſpiel iſt, wie leicht in
den jetzigen Zeiten eine feine Ehefrau ſich die
Rechte einer Kebsfrau erſchleiche. Zeuſel fand es
natuͤrlich, »daß ſie, als die Freundin des Miniſters,
»der ſo wie ſein Sohn Matthieu der Freund des
»Kammerherrn geweſen, den Tod des letztern an
»Flamin zu raͤchen ſuche, und daß der Miniſter, um
»ſeine Hand beſſer in die Griffe der Parzenſcheere
»zu bringen und dem Regierungsrath den Lebensfa¬
»den entzwei zu ſchneiden, ſelber die fortdauernde
[344] »Entfernung ſeines Sohns verhaͤnge und unterhalte,
»damit dieſer nicht etwan den ungluͤcklichen Liebling
»decke.» — Nicht ein wahres Wort war daran,
das wußte Viktor beſſer; aber deſto ſchlimmer: ach
verraͤth nicht alles, daß Matthieu die Fuͤrſtin durch
Winke uͤber Flamins Geburt in ſein treuloſes In¬
tereſſe gezogen, um wie Zauberer, in der Ferne und
durch wenige Karaktere umzubringen? Wuͤrd' ihn
wol blos die Furcht vor der Ruͤge der Ausfoderung
ſo lange außer den Graͤnzſteinen des Landes feſthal¬
ten? — Noch dazu bruͤtete die Fuͤrſtenſonne den
miniſterialiſchen Kroͤtenlaich immer lebendiger an.
Es iſt wahr — und Viktor laͤugnete es nicht —,
man darf erwarten von der Fuͤrſtin, daß ſie die
Matthaͤus« oder Jakobsleiter, auf der ſie das fuͤrſt¬
liche Herz erſtieg, da ſie vorher nur an Jenners
Hand reichte —, mit der Zeit umſchnellen wird
mit dem Fuß, ſo wie der Marder ſich vom ſchlaf¬
trunknen Adler in die Hoͤhe reißen laͤßt und ihn erſt
droben ſo lange zerhackt, bis der Traͤger faͤllt und
ſtirbt: aber jetzt iſt, glaub' ich, ihre fortdauernde
Dankbarkeit gegen Schleunes ſchon genugſam fuͤr
den Rechtſchaffenen dadurch entſchuldigt, daß noch
mehr zu holen ſteht von der unvollendeten Gabe.
Ein alter Geſetzmacher ſetzte auf jeden Undank
Strafe; ich glaube, man verfaͤllt in den naͤmlichen
Fehler wie er, wenn man jede Dankbarkeit tadelt
[345] und beſtraft, da oft der Eigennuͤtzigſte am Hofe zu
ihr ſeine guten Gruͤnde haben kann.
Viktor ging truͤbe in ſein Zimmer und ſah das
Portrait Flamins an und ſagte: »o! das wolle der
»Himmel nicht, daß du Armer nicht mehr zu retten
»waͤreſt.» Viktor konnte ſich uͤberhaupt drei Tage
nach einer Beleidigung nicht mehr raͤchen: »ich ver¬
»gebe jedem, ſagt' er ſonſt, nur Freunden und Maͤd¬
»gen nicht, weil ich beide zu lieb habe.« Aber
welche Hand, welchen Zweig konnt' er dem ſinken¬
den Flamin hinunterreichen ins Gefaͤngniß? —
Alles was er vermochte, war zum Fuͤrſten zu gehen
mit einer nackten Bitte um deſſen Begnadigung.
Tauſend Aufopferungen unterbleiben, weil man nicht
ganz gewiß iſt, daß ſie ihre rechten Fruͤchte bringen.
Aber Viktor gieng doch: er hatte ſich die goldne
Regel gemacht: fuͤr den Andern auch dann zu
handeln, wenn der Erfolg nicht gewiß zu
hoffen iſt. Denn wollten wir erſt dieſe Gewißheit
abwarten: ſo wuͤrden Aufopferungen eben ſo ſelten
als unverdienſtlich werden.
Er gieng zum Fuͤrſten nach langer Zeit zum er¬
ſtenmal — hatte den Nachtheil wider ſich, eine lan¬
ge Abweſenheit mit einer Bitte zu endigen — ſprach
mit dem Feuer des Einſamen fuͤr ſeinen Flamin —
flehte den Fuͤrſten um den Aufſchub des Schickſals
deſſelben an, bis der Lord wiederkehrte — erhielt die
[346] Reſoluzion: »Ihr H. Vater und ich muͤſſen es blos
»der Juſtiz uͤberlaſſen» und wurde kalt und ſtolz
verabſchiedet.
Jetzt gerade am 5. September dieſes Jahres, wo
eine große Sonnenfinſterniß die Seele wie die Erde
truͤbe und bange machte, jetzt hatte das Waſſerrad
des Schickſals den erſten Thraͤnenkrug in ſeiner
Bruſt gefuͤllt — es waͤlzte ſich weiter und der
zweite floß uͤber: Klotildens Brief kam den 22. Sep¬
tember zu Herbſtes Anfang an.
»Theurer Freund!
»Ihr H. Vater war in London noch zu Anfang
des Februars und hatte viel franzoͤſiſche Kor¬
reſpondenz; dann gieng er ab nach Deutſchland, und
ſeitdem weiß meine Mutter nichts von ihm. Das
Schickſal wache uͤber ſein wichtiges Leben. An drei
Eiden*), die ſeine Abweſenheit unaufloͤslich macht,
haͤngen viele Thraͤnen, viele Herzen und o Gott!
ein Menſchenleben. — Ich lege ein Blatt von Ih¬
rem H. Vater bei, das er bei meiner Mutter ge¬
ſchrieben und worin eine Philoſophie iſt, die meinen
Geiſt und meine Ausſichten immer truͤber machen.
[347] Ach, ob ſie gleich einmal ſagten: weder die Furcht
noch die Hofnungen des Menſchen treffen ein, ſon¬
dern immer etwas anders; ſo hab' ich doch das
traurige Recht, meiner Bangigkeit und allen Traͤu¬
men der Angſt zu glauben, da ich mich bisher in
nichts irrte als in der Hofnung. — Wie ungenuͤg¬
ſam iſt der Menſch — Ach wenn auch alles ein¬
traͤfe und ich zu ungluͤcklich wuͤrde: ſo wuͤrd' ich
doch ſagen: wie koͤnnt' ich jetzt zu ungluͤcklich ſeyn,
wenn ich nicht einmal zu gluͤcklich geweſen
waͤre? — —
Sie werden mir es gern vergeben, daß ich uͤber
London und uͤber den Eindruck ſchweige, den es auf
ein ſo zerſtreuetes Herz wie meines machen konnte:
das thaͤtige Gewuͤhl der Freiheit und der Schimmer
des Luxus und des Handels beklemmen eine kummer¬
hafte Seele blos und machen nicht froher, wenn
man es nicht vorher iſt. Sei gluͤcklich, geliebte
Vaterſtadt, ſagte mein Herz, ſei es lange und ſehr,
wie ichs in dir geweſen bin in meiner Jugend! —
Aber dann eil' ich lieber mit meiner Mutter auf
ihr Landhaus zu, wo einmal drei gute Kinder *) ſo
froͤhlich gruͤnten und da werd' ich unausſprechlich
erweicht und dann bild' ich mir ein, ich ſei hier
gluͤcklicher, als unter den Gluͤcklichen. Ich bilde
[348] mir es wol nur ein: denn wenn ich da das geſam¬
melte Spielzeug dieſer guten Kinder, ihre Exerzi¬
zienbuͤcher und ihre engen Kleider anſchaue; wenn ich
mich unter drei an einander geſaͤete Kirſchbaͤume
ſetze, die ſie ſcherzend in dem zu engen Kindergarten
eingelegt hatten; und wenn ich dann denke, auf die¬
ſer Buͤhne zogen ſie ihre Herzen fuͤr ein gluͤcklicheres
Leben groß als ſie gewonnen, fuͤr eine hoͤhere Tu¬
gend als die Verhaͤltniſſe zugelaſſen, und fuͤr beſſere
Menſchen als ſie gefunden haben: dann werd' ich
ſehr betruͤbt, und dann iſt mir als muͤſt' ich weinen
und duͤrft' ich ſagen: auch ich bin in England ge¬
boren und wurde in Maienthal erzogen.
Ach ich kann mein Herz nicht verbergen, wenn
ich den Namen dieſer großen Seele ſchreibe — Er
war hier oft auf einem Berge, wo eine auseinander¬
gefallene Kirche liegt, und wo er auf eine noch nicht
umgeworfene Saͤule ſtieg, um ſein Auge zu den
Sternen zu erheben, wo er nun wohnt — Ich
wollte Ihnen jetzt das ſchreiben, was mir meine
Mutter von ſeinem Abſchied erzaͤhlte: aber les thut
mir zu wehe und ich werd es Ihnen muͤndlich ſagen.
Ich beſuche dieſen Berg ſehr oft, weil man in die
ganze Ebene nach Oſten hinunterſehen kann: hier
haͤngt noch der alte Baum mit ſeinen Wurzeln und
Zweigen in den Steinbruch hinunter, der voll zer¬
ſtuͤckter Tempelſaͤulen liegt; Emanuel nahm oft
[349] Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte *)
und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem
einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig
und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte
und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬
ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die
entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬
genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte.
Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt
du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur
Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich
»moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die
»hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich
ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den
Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis
an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und
niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.
Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬
gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein
verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬
land zuruͤck zum beſten Freunde der
treueſten Freunde.
Cl.
O du gute Seele! — —
[350]
Hart klingt jetzt das ſonderbare Blatt vom Lord,
das kein Brief ſondern eine kalte Schutzrede ſeines
kuͤnftigen Betragens zu ſeyn ſcheint.
»Das Leben iſt ein leeres kleines Spiel. Wenn
mich meine vielen Jahre nicht widerleget haben: ſo
iſt eine Widerlegung durch die wenigen uͤbrigen we¬
der noͤthig noch moͤglich. Ein einziger Ungluͤcklicher
wiegt alle Trunkne auf. Fuͤr uns nichtige Dinge
ſind nichtige Dinge gut genug; fuͤr Schlaͤfer Traͤu¬
me. Darum giebt es weder in noch auſſer uns et¬
was Bewundernswerthes. Die Sonne iſt in der
Naͤhe ein Erdball, ein Erdball iſt bloß die oͤftere
Wiederhohlung der Erdſcholle. — Was nicht an
und fuͤr ſich erhaben iſt, kanns durch die oͤftere Sez¬
zung ſo wenig werden, als der Floh durchs Mikro¬
ſkop, hoͤchſtens kleiner. Warum ſoll das Gewitter
erhabner ſein als ein elektriſcher Verſuch, ein Re¬
genbogen groͤßer als eine Seifenblaſe? Loͤſ' ich eine
große Schweitzergegend in ihre Beſtandtheile auf: ſo
hab' ich Tannennadeln, Eiszapfen, Graͤſer, Tro¬
pfen und Gries. — Die Zeit vergeht in Augen¬
blicke, die Voͤlker in Individuen, das Genie in
Gedanken, die Unermeßlichkeit in Punkte: es iſt
nichts groß. — Ein oft gedachter trigonometriſcher
Satz wird zum identiſchen, ein oft geleſener Ein¬
fall ſchaal, eine alte Wahrheit gleichguͤltig.
— Ich behaupte wieder: was durch Stufen groß
[351] wird, bleibt klein. Wenn die Dichtungskraft, die
entweder Bilder oder Leidenſchaften mahlt,
nicht in der Erfindung des alltaͤglichſten Bildes ſchon
zu bewundern iſt, ſo iſt es nirgends. In die Stelle
eines andern kann ſich jeder in irgend einem Grade
ſetzen. — Die Begeiſterung iſt mir verhaßt, weil
ſie eben ſo gut durch Likoͤre als durch Phantaſien
entſteht, und weil man in und nach ihr am meiſten
ſich zum Haß und zur Wolluſt neigt. — Die Groͤ¬
ße einer erhabnen That beſteht nicht in der Ausfuͤh¬
rung, die auf koͤrperliche Armſeligkeiten, auf Bewe¬
gen, Stehen auslaͤuft, nicht im einfachen Ent¬
ſchluß, weil der entgegengeſetzte, z. B. der zu mor¬
den eben ſo viel Kraft bedarf als der, zu ſterben,
nicht in der Seltenheit‚ weil wir alle uns dieſel¬
be Tuͤchtigkeit dazu, nur aber nicht die Motiven
dazu empfinden, nicht in allen dieſem, ſondern in
unſerer Prahlerei. — Wir halten unſern allerletz¬
ten Irrthum fuͤr Wahrheit, unſer Heute fuͤr fromm,
und jeden kuͤnftigen Augenblick fuͤr den Kranz und
Himmel der vorigen. Im Alter hat der Geiſt nach
ſo vielen Arbeiten, nach ſo vielen Stillungen den¬
ſelben Durſt, dieſelbe Quaal. — Da alles ſich
verkleinert in einem hoͤhern Auge: ſo muͤßte ein
Geiſt oder eine Welt, um groß zu ſeyn, es ſogar
vor dem ſogenannten goͤttlichen Auge ſeyn; aber
dann muͤßt' er oder ſie groͤßer ſeyn als Gott, weil
[352] man nie ſein Ebenbild bewundert. — In meiner
Jugend gab ich in einem Trauerſpiel dem Helden
alle jene Grundſaͤtze und ließ ihn kurz vorher, eh'
er ſich den Dolch ins Herz trieb, noch ſagen: »aber
»vielleicht iſt der Tod erhaben: denn ich faſſ' ihn
»nicht. Und ſo will ich denn die Blutboͤgen, die
»aus dem Herzen aufſpringen und ſo ſpielend das
»Menſchenhaupt und Menſchen-Ich in der Hoͤhe er¬
»halten wie ein Springbrunnen die darauf gelegte
»Hohlkugel ſchwebend traͤgt, dieſe Fontaine will ich
»mit dem Dolche ableiten, damit das Ich nieder¬
»falle» — Ich ſchauderte damals uͤber dieſen
Karakter: aber ich dachte nachher uͤber ihn nach
und es wurde mein eigner!» —
Fuͤrchterlicher Menſch! Dein Blut-Strahl und
das Ich daruͤber iſt vielleicht ſchon umgefallen,
oder bricht bald darnieder — Und eben dieſe
ſchwarze Weiſſagung iſt auch im Herzen Klotildens
und Viktors. — — O moͤchteſt du, anderer gebuͤck¬
ter Mann, den ich hier vor dem Publikum nicht
nennen darf, es errathen, daß ich dich meine, daß
du eben ſo wie der ungluͤckliche Lord dein eignes
Ich abfriſſeſt gleich blutſaugenden Leichen, und daß
du in der Sternennacht des Lebens noch einen
eignen toͤdtlichen Nebel um dich traͤgſt! O der
Anblick[353] Anblick eines großmuͤthigen Herzens, das ſich blos
durch Ideen huͤlflos macht, und das unzugaͤnglich
und betaͤubt in ſeiner Laube aus philoſophiſchen
Giftbaͤumen liegt, faͤrbt oft Tage ſchwarz! — Glau¬
be nicht, daß der Lord irgendwo Recht habe! Wie
kann er etwas klein finden, ohn' es gegen etwas
Großes zu halten? Ohne Achtung gaͤb' es keine
Verachtung, ohne das Gefuͤhl der Uneigennuͤtzigkeit
keine Bemerkung des Eigennutzes, ohne Groͤße keine
Kleinheit. So wenig du aus dem Schwanken der
Saiten die Thraͤnen des Adagio, oder aus den
Blutkuͤgelgen und dreifachen Haͤuten eines ſchoͤnen
Geſichts deine Achtung fuͤr daſſelbe erklaͤrſt: eben ſo
wenig kannſt du dein Entzuͤcken fuͤr das Geiſtige
in der Natur mit den koͤrperlichen Faſern derſelben
rechtfertigen wollen, die nichts ſind als die Floͤten-
Anſaͤtze und Disklappen der ungeſpielten Harmonie.
Das Erhabne wohnt nur in den Gedanken, es ſei
des Ewigen, der ſie ausdruͤckt durch Buchſtaben aus
Welten, oder des Menſchen, der ſie nachlieſet! —
Ich verſchiebe die Widerlegung des Lords auf
ein anderes Buch, obwol dieſes eine eben ſo gute
iſt. —
Heſperus. III Th. Z[354]
42. Hundspoſttag.
Aufopferung — Valetreden an die Erde — Memento-mori-
Spatziergang — Herz von Wachs. —
Es giebt einen Schmerz, der ſich mit einem gro¬
ßen Saugeſtachel ans Herz legt und Thraͤnen durſtig
zieht — das ganze Herz rinnt und quillt und druͤckt
zuckend die innerſten Faſern zuſammen, um zu einem
Thraͤnenſtrom zu werden und fuͤhlt den Zug des
Schmerzens nicht unter der toͤdtlich-ſuͤßen Ergies¬
ſung. ... So toͤdtlich ſuͤß ſchmerzte unſern Viktor
Klotildens Brief.
Aber toͤdtlich-bitter war der des Lords. »O die¬
»ſer muͤd-gequaͤlte Geiſt — rief er aus — ſehnte
»ſich ja ſchon auf der Inſel der Vereinigung nach
»Todten-Ruhe — ach er iſt gewiß ſchon aus der
»ſchwuͤlen Erde geflohen, die ihm ſo klein und druͤk¬
»kend vorkam.« War das: ſo waren alle Schwuͤre,
an deren Erlaſſung Flamins Leben hieng, ewig ge¬
macht und dieſer verloren. War's nicht, ſo war
wenigſtens keine Zuruͤckkehr zu hoffen, da Emanuels
Tod und Geſtaͤndniß, Flamins Gefangenſchaft und
alle bisherigen Zufaͤlle, die der Lord alle erfahren
[355] konnte, ſeinen ganzen ſchoͤn linierten Plan ausgeſtri¬
chen hatten. Jetzt rief's laut in Viktors Seele:
»rette den Bruder deiner Geliebten!« — Ja, es
war ein Mittel dazu da; — aber der Meineid
war's — wenn er naͤmlich den begieng, daß er dem
Fuͤrſten entdeckte, wer Flamin ſei: ſo war er erloͤ¬
ſet. Aber ſein Gewiſſen ſagte: Nein! — »Der
»Untergang einer Tugend iſt ein groͤßeres Uebel als
»der Untergang eines Menſchen — nur Sterben,
»aber nicht Suͤndigen muß ſeyn — ach ſoll es mich
»noch mehr koſten, mein Wort zu brechen, als mich
»bisher koſtete, es zu halten?«
Bekanntlich war am Tage der heurigen Tag-
und Nachtgleiche, wo er die zwei Londner Blaͤtter
empfangen hatte, ein kalter ſchneiender regnender
Sturm, aus dem nachher der Sommer gleichſam
zum zweitenmal aufbluͤhte. — Viktor gruͤbelte wei¬
ter nach. Er zog jenen großen Tag auf der Inſel
der Vereinigung noch einmal mit allen Minuten vor
ſich und fand, daß er dem Lord durchaus geſchwo¬
ren hatte, immer ſtill zu ſchweigen, ausgenommen
eine Stunde vor ſeinem eignen Tode. Wir wer¬
den noch wiſſen, daß er ſich dieſen Separatartikel
damals ausbedungen, weil er einmal Flamin zuge¬
ſchworen hatte, ſich mit ihm von der Warte zu
ſtuͤrzen, wenn ſie ſich feindlich trennen muͤßten und
weil er jetzt, da ihm Klotildens Verſchwiſterung, be¬
Z 2[356] richtet wurde, voraus befuͤrchtete, es koͤnne zu je¬
nem Trennen und Stuͤrzen kommen: Dann wollte
er ſich wenigſtens die Freiheit vorbehalten, nur ei¬
ne Stunde vor dem Sterben ſeinem Freunde zu
ſagen, daß er unſchuldig und die Geliebte Flamins
nur eine — Schweſter ſei.
»Alſo eine Stunde vor meinem Tode darf ich al¬
»les offenbaren? — O Gott! — Ja! — — Ja!
»— ich will ſterben damit ich reden kann!« rief
er entzuͤndet, pochend, aufgeweht, uͤber das Leben
gehoben. — Der Sturmwind ſchlug die Giesbaͤche
des Himmels und die zerſtaͤubten Eisfelder an die
Fenſter und der Tag ſank dunkel unter in der zu¬
ſammenſchlagenden Fluth. . . . »O (ſagte unſer
»Freund) wie ſehn' ich mich aus dieſem ſchwarzen
»Sturm des Lebens hinaus — in den ſtillen lichten
»Aether — an die feſte unbewegliche Bruſt des To¬
»des, die den Schlaf nicht ſtoͤrt. . . .
Wenn er dem Fuͤrſten es entdeckte, daß Flamin
ſein eigner Sohn ſei: ſo war dieſer errettet und er
brauchte nur eine Stunde darauf ſich — umzu¬
bringen.
Und das wollt' er gern: denn was hatt' er auf
der Erde noch als — Erinnerungen? O, der Erin¬
nerungen zu viel, der Hoffnungen zu wenig! —
Wen kuͤmmert ſein Fall? — die Geliebte, die ihn
doch entbehret, oder ihren Bruder, den er rettet
[357] und fliehet oder ſeinen guten Lord, der vielleicht
ſchon im Erdball ruht, oder ſeinen Emanuel, deſ¬
ſen liebende Arme ſchon zerfallen? — »Ja bloß die¬
»ſen geht mein Sterben an, (ſagt' er): denn Da¬
»hore wird ſich ſehnen nach ſeinem treuen Schuͤler,
»er wird in einer Sonne die Arme oͤffnen und auf
»den Weg zur Erde niederſchauen und ich werde her¬
»aufkommen mit einer großen Wunde auf der Bruſt
»und mein ſtroͤmendes Herz wird nackt auf der
»Wunde liegen — o Emanuel, verſchmaͤh' mich
»nicht, werd' ich ſchreien, ich war ja ungluͤcklich,
»ſeit du geſtorben biſt, nimm mich an und heile
»die Wunde!«
— »Siehſt du meinen Vater?» ſagte der blin¬
de Julius, und ſein Angeſicht nahte ſich einer laͤ¬
chelnden Entzuͤckung. Viktor erſchrack und ſagte:
ich rede mit ihm, aber ich ſehe ihn nicht! —
Aber das hielt ſein Erheben an. Er war bisher
der Paraklet und Krankenwaͤrter des armen blinden
geweſen: er konnt' ihn nicht verlaſſen, er mußte
den Retraiteſchuß des Lebens verſchieben auf
Klotildens Ankunft, damit dieſe den Huͤlfloſen be¬
ſchirme. Ach der gute Nachtwandler, und Nacht¬
ſitzer (im eigentlichen Sinn) hatte anfangs jeden
Tag ſeinen Viktor gebeten, ihm ins Auge zu ſte¬
chen und das Licht wieder zu geben, eh' ſein theue¬
re Vater auseinander gefallen waͤre, damit er das
[358] ſchoͤne von Wuͤrmern untergrabene Angeſicht nur ein
mal ſaͤhe, nur noch ein mal, ja er wollte wenig¬
ſtens die kalte Larve blind betaſten — das hatt' er
anfangs gebeten; aber in wenig Wochen hatt' er ſei¬
ne Arme unter dem Todten weggezogen und ſie ganz
(wie ein wahres Kind) mit aller ſeiner liebkoſenden
Liebe um den immer bei ihm zu Hauſe bleibenden
Viktor geſchlungen. Sogar zu Nachts reichten ſie
ſich aus ihren zwei nahen Betten die warmen Haͤnde
zu und giengen, ſo verknuͤpft, in die Abendlaͤnder
der Traͤume hinein. Den kindlichen Blinden hatte
ſogar das fortklingende Getoͤſe des Stadtgetuͤm¬
mels, das ſeinem Dorfe abgegangen war, ge¬
troͤſtet. . . .
Viktor erwartete alſo vorher die Ankunft Klotil¬
dens — ach er haͤtt' es auch ohne den Blinden ge¬
than. — Mußt' er nicht ſeine gute Mutter noch
einmal ſehen, ſeine unvergeßliche Geliebte noch ein¬
mal hoͤren? — Ich kann es uͤbrigens nicht ver¬
heimlichen, daß ihm nicht bloß die Rettung Flamins,
ſondern eigentlicher Lebensekel die Hand bei ſeinem
Todesurtheil fuͤhrten. Im Urtheil des moͤrderiſchen
Ekels ſtanden als Entſcheidungsgruͤnde der erhabne
Sonnenuntergang Emanuels. — Viktors gelaͤufige
Nachtgedanken uͤber unſer Lukubrieren des Lebens —
ſeine gaͤnzliche Umſtuͤrzung ſeiner buͤrgerlichen Verhaͤlt¬
niſſe — das aͤhnliche vergangene oder kuͤnftige Muſter
[359] des Lords — ſein Lechzen nach einer That voll Staͤrke
— und am meiſten die Todeskaͤlte um ſeine nackt
gelaſſene Bruſt, die ſonſt von ſo vielen warmen
Herzen zugedeckt wurde. Man kann Liebe und
Freundſchaft nur ſo lange entbehren, als man ſie
noch nicht genoſſen hat — aber ſie verlieren und
ohne Hoffnung verlieren, das kann man nicht,
ohne zu ſterben. Seinem Gewiſſen macht' er den
optiſchen Betrug und coups de théatre vor, daß
er es fragte, ob er nicht ſeinen Freund aus dem
Waſſer mit Gefahr des Lebens holen, ob er nicht
vom Brette, das nur Einen truͤge, in die Wellen
ſtuͤrzen duͤrfe, um den Tod zum Kaufſchilling eines
andern Lebens zu machen? — Zwei ſonderbare Vor¬
ſtellungen verſuͤßeten ihm ſeinen Todes-Entſchluß am
meiſten.
Die erſte war, daß er am Todestage (nach der
Entdeckung beim Fuͤrſten) hingehen koͤnnte ins Ge¬
faͤngniß zu Flamin und ſeine Hand anfaſſen und ſa¬
gen durfte: komm heraus — heute ſterb' ich fuͤr
dich, damit ich dir beweiſen kann, daß Klotil¬
de deine Schweſter war und ich dein Freund —
ich loͤſche das ſchwarze Wort das erſt am Todestage
vergeben werden kann, mit meinem unſchuldigen
Blute aus, und der Tod druͤckt mich wieder in
deinen Arm. — O ich thu' es gern, damit ich
dich nur noch einmal recht lieben und zu dir ſagen
[360] kann: mein guter, theuerer, unvergeßlicher Ju¬
gendfreund! — Dann wollt' er ihm mit tauſend
Thraͤnen um den Hals fallen und ihm alles verge¬
ben: denn neben dem Tode und nach einer
großen That kann und darf der Menſch dem
Menſchen alles, alles verzeihen.
Die weichere Seele erraͤth leicht die zweite Ver¬
ſuͤßung ſeines Todes. — Dieſe, daß er noch ein¬
mal zur Geliebten hingehen und es vor ihr denken
ob wol nicht ſagen konnte: ich falle fuͤr dich.
Denn er fuͤhlte es jetzt doch, daß die beſchloſſene
Scheidung durch das Leben zu ſchwer ſei und nur
eine durch Sterben leicht — o recht leicht und ſuͤß,
empfand er, iſts, vor der Geliebten das naſſe Au¬
ge zu ſchlieſſen, dann nichts mehr weiter anzuſehen
auf der Erde, ſondern mit den hohen Flammen des
Herzens und mit dem an die Bruſt angedruͤckten
theuren Bilde wie die eingeſargte Mutter mit dem
todten Liebling, blind an den Rand dieſer Welt zu
treten und ſich hinabzuſtuͤrzen ins ſtille, tiefe, dun¬
kle, kalte Todtenmeer. ... »Du biſt, ſagt' er
oft, in mein Ich gemalt und nichts macht dein
Bild von meinem Herzen los; beide muͤſſen, wie
in Italien Mauer und Gemaͤlde darauf, mit ein¬
ander verſetzet werden.» — Und da jetzt nichts
mehr nach ſeinem Koͤrper zu fragen brauchte: ſo
durft' er die Thraͤnen die ihn zerruͤtteten, ab¬
[361] ſichtlich vorreitzen — er wollte ordentlich etwas von
ſeinem Leben Klotilden bringen, — daher macht'
er einige Tage hinter einander die Proberolle der
blutigſten Abſchiedsſzene bis zur Erſchoͤpfung und
zeichnete ſeinen Schmerz mit Dinte ab und ſagte zu
ſich, wenn ihn daruͤber Kopfſchmerzen und Herz¬
klopfen befielen: »ſo kann ich doch etwas fuͤr ſie
leiden, wenn ſie es auch nicht weiß.« —
Hier iſt ein ſolches Trauerblatt.
»O du Engel! Thaͤt' es dir nur nicht zu wehe,
»ſo gieng' ich zu dir und fuͤllete vor deinen Augen
»mein Herz ſo lange mit Thraͤnen an, mit Bildern
»der ſchoͤnern Zeit, mit den bitterſten Schmerzen,
»bis es zerſprengt waͤre und ſaͤnke — oder ich erleg¬
»te mich in deiner Gegenwart, ach es waͤre ſuͤß
»wenn ich mein Herz mit Blei zerſchlitzte, indem
»es an deinem Buſen lehnte und wenn ich dann
»mein Blut und Leben an deiner Bruſt abrinnen
»lieſſe. — Aber o Gott! nein, nein! Sondern,
»Gute, laͤchelnd will ich zu dir gehen, wenn du wieder
»koͤmmſt — laͤchelnd will ich vor dir weinen, als waͤr'
»es bloß vor Freude uͤber deine Wiederkehr — nur
»die Federnelke mit dem rothen Tropfen werd' ich
»von dir bitten, damit mein geſchmuͤcktes Herz un¬
»ter der letzten Blume des Lebens verweſe. — Ich wer¬
»de wol ſo nah vor dir bluten, himmliſche Moͤrde¬
»rinn, wie die Leiche vor der Moͤrderinn, aber
»doch nur innerlich, und jeder Blutstropfen wird
[362] »bloß von einem Gedanken auf den andern fallen. —
»Dann endlich werd' ich lang' verſtummen und gehen und
»auf immer und nur ſagen und mehr nicht: »Denk' an
»mich, Geliebte, aber ſey gluͤcklicher als bisher.«
»— — Wo werd' ich dann gehen nach einer Stun¬
»de? Ich werde gehen auf dem oͤden ſtummen We¬
»ge zum giftigen Buhan *) Upas-Baum, zum
»einſam ſtehenden Tode und dort ganz allein ſterben,
»ganz allein. — — Die Todten ſind Stumme,
»ſie haben Glocken und ein Stummer wird im
»Blauen ſchweben und die Todtenglocke laͤuten. ...
»O Klotilde Klotilde, dann iſt unſere Liebe auf der
»Erde voruͤber!«
Kennſt Du, Leſer, noch die Stimme, die in ſei¬
nem Innern allzeit unter dem Weineu der Muſik im
Tonfall der Verſe erklang? Hier klingt ſie wieder.
— Aber ſein Orkan des Entſchluſſes machte bald
ſanfteren Thaten und Stunden Platz, ſo wie der Ae¬
quinokziumsſturm ſich in ſtille Nachſommertage auf¬
loͤſete. Der Gedanke: »in einigen Wochen fluͤchteſt
»du unter die Erde« machte ihn zum Freigebor¬
nen und zum Engel. Er verzieh jedem, ſogar dem
Evangeliſten. Er fuͤllte ſeine kleine Sphaͤre mit ei¬
[363] nem Lebens-Nachflor von Tugenden; und widmete
ſeine kurzen Stunden nicht ſuͤßen Phantaſien, ſon¬
dern duͤrftigen Kranken. Er unterſagte ſich jeden
Aufwand, um ſeinem Julius das vaͤterliche Vermoͤ¬
gen ungeſchmaͤlert zu laſſen. Er war weder eitel
noch ſtolz. Er ſprach freimuͤthig uͤber und gegen
den Staat; — denn was iſt ſo nahe neben dem
Sturm- und Wetterdache des Sargdeckels wol zu
fuͤrchten? — Aber eben weil er bloß die Liebe zum
Guten, und keine Leidenſchaften und keine Feigheit
in ſeinem Innern ſpuͤrte: ſo widerſtand er ſanft
und ruhig; denn ſobald nur der Menſch fuͤr ſich
ſelber uͤberfuͤhrt iſt, daß er Muth fuͤr den Noth¬
fall verwahre: ſo ſucht er nicht mehr, ihn vor an¬
dern auszukramen. Der Gedanke des Todes machte
ihn ſonſt zu humoriſtiſchen Thorheiten geneigt;
jetzt aber nur zu guten Handlungen. Ihm war jetzt
ſo wohl, ihm erſchienen die Menſchen und die Sze¬
nen um ihn in dem milden ſtillenden Abendlichte,
worin er beide allemal in den Krankheiten ſeiner
Kindheit erblickte. Es ſchien als wollt' er (und es
gelang ihm) durch dieſe Froͤmmigkeit ſein Gewiſſen
zur leſerlichen Unterſchrift ſeines eigenhaͤndigen To¬
desurtheils beſtechen. Wie dem verewigten Emanuel
kamen ihm die Menſchen wie Kinder vor, das Er¬
denlicht wie Abendlicht, alles ſanfter, alles ein we¬
nig kleiner, er hatte keine Angſt und Gier; die Er¬
[364] de war ſein Mond: jetzt errieth er erſt die Seele
ſeines Dahore. . . .
— Und du, mein Leſer, fuͤhleſt du nicht, du
wuͤrdeſt dich ſo nahe vor der Kloſterpforte des Todes
eben ſo veredeln? Aber ich und du ſtehen ja ſchon
davor: iſt unſer Tod nicht ſo gewiß als Viktors
ſeiner, wiewol in einem laͤngern Zwiſchenraum? O
wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an
einem beſtimmten Tage fuͤhrte ihn die Natur auf
ihren Richtplatz: er waͤr' anders; aber wir alle wer¬
fen das Bild des Todes aus unſerer Seele wie die
Schleſier es am Laͤtare-Sonntag aus den Staͤdten
werfen. Der Gedanke und die Erwartung des To¬
des beſſern ſo ſehr als die Gewißheit und Wahl deſ¬
ſelben.
Jetzt zogen die ſchoͤnen blauen Nachſommertage
des heurigen Oktobers auf zarten Phalaͤnenfluͤgeln
von Spinnengeweben uͤber den Himmel. Viktor
ſagte zu ſich: »ſchoͤner Erdenhimmel, ich will noch
»einmal unter dir wandeln! gutes Mutterland, ich
»will dich noch einmal mit deinen Bergen und Waͤl¬
»dern uͤberſchauen und dein Bild in die unſterbliche
»Seele heften, eh' dein gelbes Gruͤn mein Herz
»uͤberwaͤchſet und darin einwurzelt, — ich will dich
»ſehen, St. Luͤne meiner Kindheit, und meine ſchoͤn¬
»nen Pfingſtwege, und dich du ſeeliges Maienthal,
[365] »und dich du guter alter Bienenvater *) und will dir
»deine Freudenſtunden Uhr zuruͤckgeben — — und
»dann werd' ich genug gelebt haben.«
Er fragte ſich: »bin ich denn reif fuͤr die Obſtkam¬
»mer des Kirchhofs? — Aber iſt denn jeder Menſch
»reif? iſt er nicht im 90ſten Jahr ſo unvollendet
»wie im 20ſten?» — Ja wol! der Tod nimmt
Kinder ab und Feuerlaͤnder; der Menſch iſt Som¬
merobſt, das der Himmel brechen muß, eh' es [...]ei¬
tigt. Die andere Welt iſt keine gleichgeſchnittene
Allee und Orangerie, ſondern die Baumſchule un¬
ſerer hieſigen Saamenſchule.
Ehe Viktor mit Kuͤſſen und Weinen vom Blin¬
den gieng: beſchied er Abends vorher die arme Ma¬
rie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italieni¬
ſchen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber ſei¬
ne Abſicht war, der zerbrochenen kraftloſen Seele
die Hoffnung einiger 100 fl. — ſo viel durft' er
ſchon als Erbſchaft von ſeinem bemittelten Vater
Eyman begehren — voraus zu geben und anzukuͤndi¬
gen. Der Eigennutz dieſer Erniedrigten, der andere
kalt gemacht haͤtte, ruͤhrte gerade ſein Innerſtes:
ſchon laͤngſt hatt' er geſagt: »man ſollte mit keinem
»Menſchen Mitleid haben, der philoſophiſch oder
»erhaben daͤchte, am wenigſten mit einem Gelehr¬
[366] »ten — bei einem ſolchen giengen die Weſpen-Stiche
»des Schickſals kaum durch den Strumpf — hingegen
»mit der armen Poͤbelſeele leid' er und wein' er un¬
»endlich, die nichts groͤßeres kenne als die Guͤter
»der Erde und die, ohne Grundſaͤtze, ohne Troſt,
»bleich, [huͤlflos], zuckend und erſtarret niederfalle vor
»den Ruinen ihrer Guͤter.» — Es verdoppelte da¬
her bloß ſein Mitleiden, da dieſe Marie in ſinnloſer
Dankbarkeit vor ihm mit abgeriſſenen Dankſagungen
— Ausrufungen — Freudenguͤſſen — mit Rockkuß,
einfaͤltigem Lachen und Niederknieen wechſelte.
Als er den andern Morgen gieng — zuerſt auf
St. Luͤne, — und vor dem Marienkloſter voruͤber¬
kam, wo einmal die Adoptivtochter des Italieners
Toſtato einen ſechſten Finger opfern wollte: ſo kam
Marie aus einer Glieder-Bude *) heraus und hatte
zwei waͤchſerne Herzen erhandelt. Viktor brachte
durch langes und kuͤnſtliches Fragen aus ihr heraus:
ſie wolle das eine, das ihres vorſtelle, der h. Ma¬
rie umhenken, weil ihres ihr nicht mehr ſo wehe
thue und nicht ſo eingepreſſet ſei wie vorige Woche.
— Ueber das zweite wollte ſie lange nicht heraus;
endlich geſtand ſie: es ſei Viktor ſeines, das ſie
[367] der h. Mutter Gottes opfern wollte, weil ſie dachte,
es thu' ihm auch recht weh', da er ſo bleich ausſehe
und ſo oft ſeufze. — — »Gieb mirs, Liebe, (ſagt'
er zu tief bewegt) ich will mein Herz ſelber
»opfern.«
»Ja, wiederholt' er unter dem ſtillen Himmel
drauſſen, ich will das Herz da drinnen opfern —
es iſt auch von Wachs — und der Mutter Erde,
will ichs, damit es heile — heile. . . .»
Laſſet ihn immer weinen, meine Freunde, jetzt da
er laͤchelnd die ſtille blaſſe Erde anblickt, hinauf bis zu
ihren Bergen voll Duft. — Denn Weichheit der
Empfindung vertraͤgt ſich gern mit Apathie und Paſ¬
ſauer Kunſt gegen das verletzende Geſchick — laſſet
ihn immer weinen, da er dieſe blumenloſe gleichſam
in die Seite des fliegenden Sommers ſich einſpin¬
nende Erde anſieht und ihm iſt als muͤſſ' er nieder¬
fallen und die kalte Aue wie eine Mutter kuͤſſen und
ſagen: bluͤhe fruͤher wieder auf als ich, du haſt mir
Freuden und Blumen genug gegeben! — Das ſtille
Auseinandergehen der Natur, auf deren Leiche die
vollbluͤhende Zeitloſe gleichſam wie ein Todtenkranz
ſtand, legte durch dieſes aufloͤſende Reiben ſeine
Kraͤfte ſanft auseinander — er war ermuͤdet und ge¬
ſtillt — die Natur ruhte um ihn, er in ihr — die
Erſchoͤpfung ſtoß beinahe in eine ſuͤße kuͤtzelnde Ohn¬
macht uͤber — die Thraͤnendruͤſe ſchwoll und druͤckte
[368] nicht mehr, eh' ſie uͤbertrat, ſondern ihr Waſſer
lief wie Thau aus Blumen leicht und ohne Stocken
nieder wie das Blut durch ſeine Bruſt.
Er ſah jetzt St. Luͤne liegen, aber gleichſam ent¬
ruͤckt von ihm in einem Mondſchein. Er gieng nicht
hindurch, ſondern auſſen herum: »werde immer
»breiter und lauter, ſchoͤner Ort, nie umzingle dich
»ein Feind!« Mehr ſagt' er nicht. Denn als er
vor dem Kirchhof voruͤbergieng: dacht er: »haben
»denn nicht dieſe auch alle von dem Orte Abſchied
»genommen; und thu' ichs allein?« — Blos der
Zuruͤckblick nach dem Pfarr-Schieferdach entzuͤndete
noch einen Blitz des Schmerzens durch den Gedan¬
ken an die muͤtterlichen Thraͤnen uͤber ſeinen
Tod; aber er ſagte ſich bald den Troſt, daß das an
Flamin gewoͤhnte Mutterherz der Pfarrerin den Kum¬
mer uͤber das Opfer heilen werde durch die Freude
uͤber den geretteten Liebling.
Er gieng nun auf Maienthal zu und zog mit
Fleiß ſeine traͤumenden Gedanken von deſſen erhab¬
nen Stellen ab, um Abends bei der Ankunft) deſto
mehr — Schmerz zu genieſſen. Aber nun ſpann
ſich ſein Ich in ein neues Gedankengewebe ein: er
uͤberdachte jetzt das Vergnuͤgen, ohne alle Kranken¬
naͤchte hell und gerade, nicht liegend ſondern aufge¬
richtet[369] richtet wie der Rieſe Caͤnaͤus *) in die Erde einzu¬
ſinken — er fuͤhlte ſich geſchirmet gegen alle Unfaͤlle
des Lebens und gereinigt von der ſtets in jedem Her¬
zen fortnagenden Furcht — alles dieſes und die
Freude an erfuͤllten Pflichten und an bezwungnen
Trieben und die Lichter des blauen gleichſam im
Blumenſtaube ſtehenden Tages klaͤrten ſeinen umge¬
ruͤttelten Lebensſtrom ſo auf, daß er zuletzt laͤnger
(wenns ihm nicht ſein Beſchluß verboͤte) im hellen
Strome haͤtte ſpielen wollen. . . . So groß wird
durch die Verachtung des Todes die Schoͤnheit des
Lebens — ſo gewiß iſt jeder, der mit kaltem
Blut ſich das Leben abſpricht, vermoͤgend, es zu
ertragen — ſo wahr raͤth Rouſſeau, vor dem Tode
eine gute That zu unternehmen, weil man jenen
dann entbehren kann. . . . — Als Viktor ſo dachte:
trat das Schickſal vor ihn und fragte ihn zuͤrnend:
willſt du ſterben? — Er antwortete »ja!» — da
er vor Sonnenuntergang in Obermaienthal Klotildens
Wagen, den er da bei der Abreiſe geſehen, jetzt wie¬
der erblickte. Jetzt fiel die Todeswolke uͤber die Ge¬
gend nieder. Er eilte voruͤber — am Fenſter ſah er
ſeine Mutter und die Lady, die Mutter Flamins —
Heſperus. III. Th. Aa[370] ſein Inneres brauſte — ſein Auge gluͤhte trocken —
denn er waͤhlte unter den Waffen des Todes —
Warum gieng er ſo ſpaͤt, im Dunkeln, mit einem
ſtuͤrmenden Innern, das alle ſuͤßen Traͤume verfinſter¬
te, noch nach Maienthal? — Er wollte zu Ema¬
nuels Grabe: nicht um da zu trauern, nicht
um da zu traͤumen; ſondern um ſich da eine
Hoͤhle zu [ſuchen], naͤmlich die letzte. Der reiſ¬
ſende Gram hatte ein Gemaͤlde ſeines Sterbens
entworfen und er hatte den Riß gebilligt: er wollte
naͤmlich neben der Trauerbirke ſein Grab aushoͤlen, ſich
hinlegen, ſich darin toͤdten, und ſich dann von dem
blinden Julius, der nichts wiſſen und ſehen kann,
mit Erde uͤberſchuͤtten laſſen und ſo, verhuͤllt, un¬
bekannt, namenlos aus dem Leben fliehen an die
modernde Seite ſeines Emanuels. . . .
Schwarze Leichenzuͤge von Raben flogen langſam
wie Gewoͤlke durch den ſonnenloſen Himmel und
ſenkten ſich wie Gewoͤlke in die Waͤlder nieder.
— Der halbe Mond hieng uͤber die Erde — ein klei¬
ner fremder Schatten ſo groß wie ein Herz lief fuͤrch¬
terlich neben ihm, er ſah auf, es war der Schat¬
ten eines langſam ſchwebenden Geiers. — Er riß
ſich durch Maienthal, er ſah nicht den entblaͤtterten
Garten und Dahores verſchloſſenes Haus, ſondern lief
durch die Kaſtanienallee der entgegen. — —
Aber unter den Kaſtanien am Orte, wo ihn Fla
[371] min toͤdten wollte, ſah er Klotildens welke Feder¬
nelke mit dem blutigen Tropfen liegen. . . . Und
da noch eine Lerche, die letzte Saͤngerin der Na¬
tur, uͤber dem Garten zitterte und allen Fruͤhlingen
des Lebens mit zu heiſſen Toͤnen nachrief und das
Herz mit einem unendlichen toͤdtlichen Sehnen durch¬
ſchnitt: ſo weinte mein Viktor laut hinauf und als
er oben auf dem Grabe die großen duͤſtern Thraͤnen
abgewiſcht hatte, ſtand — Klotilde vor ihm.
Er erzitterte einmal und verſtummte. . . . Sie
kannte kaum die abgebleichte Geſtalt und fragte
zitternd: »Sie ſinds? Sehen wir uns wieder?»
— Seine Seele war auseinandergetrieben und er
ſagte, aber in anderem Sinn: wir ſehen uns wieder.
— Sie bluͤhte, durch die Reiſe geneſen. Aber
Blut war in ihrem Schnupftuch — es war das
Blut, das Emanuel unter dem Duell in der Allee
aus ſeinem Buſen vergoſſen. Er ſtarrte fragend das
Blut an — ſie wies ſanft auf das Grab und ver¬
huͤllte ihr weinendes Auge. — Mit der Frage: »Iſt
»Ihr H. Vater gekommen?« wollte die Gute ſanft
ablenken — aber ſie lenkte ihn an ſein Grab — ſein
Auge ſuchte wild den Raum zur letzten kuͤhlen Grot¬
te des Lebens — ſie hatte ihren ſanften Geliebten
niemals ſo geſehen und wollte ſeine Seele mildern
durch ſtilles Erinnern an Emanuel — ſie fuͤllte die
Aa 2[372] leere Stelle ihres Briefes aus und erzaͤhlte, wie ge¬
faſt und ſtill der Todte aus England gegangen und
vorher beim Abſchiede in eine auſſerordentlich tiefe
Hoͤhle des verfallnen Tempels alle ſeine oſtindiſchen
Blumen, drei Portraite, beſchriebene Palmblaͤtter
und geliebte Aſchenſammlungen hinabgeſenkt habe. . . .
Viktor war auſſer ſich — er ſtemmte ſeine Hand
aufs thaukalte naſſe gelbe Grab, — er weinte in
Einem fort und konnte die Geliebte nicht mehr ſe¬
hen — er ſtuͤrzte an ihren bebenden Mund und gab
ihr den Abſchiedskuß des Todes. Er durfte ſie
kuͤſſen, denn Todten haben keinen Rang. Er fuͤhlte
ihre ſtroͤmenden Thraͤnen und eine fuͤrchterliche Sehn¬
ſucht ergriff ihn, dieſe Thraͤnen hervorzureitzen; aber
er konnte nur nicht reden. Er erſtickte ihre Worte
durch Kuͤſſe und ſeine durch Quaal. Endlich konnte
er ſagen: lebe wohl! Sie wand ſich erſchrocken los
und blickte ihn an mit groͤßern Thraͤnen und ſagte:
»wie iſt Ihnen? Sie brechen mir das Herz?» —
Er ſagte zuckend: »nur meines muß brechen!« und
riß das Herz von Wachs heraus und quetſchte es
auf dem Grabe auseinander und ſagte: »ich opfere
»dir mein Herz, Emanuel, ich opfere dir mein
»Herz.» Und als Klotilde fuͤrchtend entflohen war:
konnt' er ihr nur mit erſchoͤpften Toͤnen noch tau¬
ſendmal nachrufen: lebe wohl, lebe wohl!
[373]
43. Hundspoſttag.
Matthieu's vier Pfingſttage und Jubileum.
Es iſt ein Kunſtgrif, daß ich wahre Spitzbuben-
Szenen in den hoͤhern Staͤnden vorher franzoͤſiſch
niederſchreibe und dann vertiere, wie Boileau ſeine
welken Verſe vorher in Proſe aufſetzte. — Da mir
am 43. Hundstage gelegen iſt — weil der edle Maz
darin ſeinen Flamin ſogar mit Aufopferung ſeiner
Tugend und des Lords zu retten ſucht —: ſo gedenk
ich ihn aus dem Franzoͤſiſchen, worin ich ihn ge¬
ſchrieben, ſo getreu ins Deutſche zu uͤberſetzen, daß
mein franzoͤſiſcher Autor ſelber mir ſeinen Beifall
ſchenken ſoll.
Kaum hoͤrte Matthieu, daß Klotildens und Fla¬
mins Mutter aus London gekommen: ſo marſchierte
dieſer Reinecke aus ſeinem Fuchsbau nach Flachſen¬
fingen, weil er ſich die Ehre, Flamin zu erloͤſen,
von niemand nehmen laſſen wollte. Er grif, ſeines
Feuers ungeachtet, dem Zufall ſelten vor, ſondern
er paßte und ſchob nur da oder dort nach: — wie
in einem Roman, ſo haͤkeln ſich im Leben tauſend
[374] leiſ' zuſammengeruͤckte Geringfuͤgigkeiten endlich feſt
in einander und ein guter Maz zwirnet aus zertra¬
genen Spingeweben des Zufals zuletzt einen ordent¬
lichen — ſeidnen Strick fuͤr ſeinen Nebenmenſchen. —
Er ließ ſich kuͤhn beim Fuͤrſten eine geheime Audienz
auswirken, »weil er lieber der Strafe (wegen der
»Foderung zum Duel) entgegenkommen, als uͤber
»einige wichtige Dinge laͤnger ſchweigen wolle.»
Wichtige und gefaͤhrliche waren laͤngſt bei Jenner
verwandt, jetzt aber gar identiſch, weil ihn die Fuͤr¬
ſtin an jedem Morgen mit einigen Strophen aus
dem Buß- und Eulenliede uͤber Aufruhr, Anker¬
ſtroͤme und Propagandiſten anſang. Sie und Schleu¬
nes blieſen in Ein Horn, wenigſtens Eine Me¬
lodie.
Maz trat ein und langte das große Wichtige
hervor — die kahle Bitte um Flamins Leben. Jen¬
ner ſagte ein eben ſo kahles Nein; denn der Menſch
iſt eben ſo unwillig auf den, der ihn in eine unge¬
gruͤndete Furcht, als auf den, der ihn in eine ge¬
gruͤndete jagt. Matthieu repetierte kalt ſein Geſuch:
»ich bitte Ew. Durchlaucht blos, nicht zu glauben,
»daß ich jemals die bloße Freundſchaft fuͤr eine hin¬
»laͤngliche Entſchuldigung einer ſolchen kuͤhnen Bitte
»halten wuͤrde — die Pflicht eines Unterthanen iſt
»meine Entſchuldigung.» — Jenner, den das un¬
hoͤfliche Zuruͤckziehen verdroß, brach es ab: »der
[375] »Schuldige kann nicht fuͤr den Schuldigen bitten.»
— »Gnaͤdigſter Herr — ſagte Maz, der ihn in
»Furcht und Harniſch zugleich zu jagen ſuchte — zu
»jeder andern Zeit als in der unſrigen wuͤrd' es
»eben ſo ſtraͤflich ſeyn, gewiſſe Dinge zu errathen
»oder zu weiſſagen als ſie zu beſchließen — in der
»unſrigen ſind dieſe drei Dinge leichter. Auf den
»Tag, wo der Regierungsrath ſein Leben verlieren
»ſollte, iſt ein Plan berechnet, den einige zur Erhal¬
»tung des ſeinigen auf Koſten des ihrigen gemacht
»haben.» — Der Fuͤrſt — entruͤſtet uͤber die
Kuͤhnheit, die ſonſt nicht in der Bouger'ſchen
Schneelinie der Hoͤfe, ſondern nur in der demo¬
kratiſchen Aequatorlinie wohnt — ſagte mit dem
Todesurthel, das Maz laͤngſt in ſein Geſicht hinein
haben wollte: »Ich werde Ihnen morgen die Nah¬
»men der Elenden abfodern laſſen, die ihr Leben
»Preis geben wollen, um die Gerechtigkeit zu ſtoͤ¬
»ren» . . . . . Hier fiel dieſer vor ihm nieder
und ſagte ſchnell: »mein Name iſt der erſte — jetzt
»iſts meine Pflicht, ungluͤcklich zu werden — mein
»Freund hat niemanden getoͤdtet, ſondern ich — er
»iſt nicht der Sohn eines Prieſters, ſondern der
»erſtgeborne Sohn des getoͤdteten H. le Baut» . . .
So lang' es noch Pfeilerſpiegel gab, ſo ſah nie
ein ſo beſtuͤrztes auseinandergefahrnes Geſicht aus
[376] ihnen als heute. Jenner ließ ihn abtreten, um ſich
wieder zuſammenzuleſen.
Wir wollen jetzt in der Antichambre drei Worte
uͤber den Abweſenden reden. Mir ſagte einmal ein
feiner Mann, er habe einmal zu einem großen Welt¬
kenner geſagt: »der Fehler der Großen waͤre, ſich
»ſelber nichts zuzutrauen, und daher wuͤrden ſie
»von jedem gelenkt;» und der Weltkenner habe
geantwortet: er treff' es. — Jenner liebte Mazen
nicht, und das blos ſeines ſatiriſchen und wolluͤſti¬
gen Geſichts wegen — aber nicht etwan ſeiner La¬
ſter wegen. Ich ſetze voraus, der Leſer wird doch
Hoͤfe genug geſehen haben — auf dem Theater, wo
die hoͤhern Staͤnde ihre Begriffe von Landleuten und
wir unſere von ihnen abholen —, um zu wiſſen, was
man da haſſet — — keine Laſterhaften, nicht ein¬
mal Tugendhafte, ſondern beide liebt man wirklich
gerade wie daſige Bratſchiſten, Wezlaer Prokurato¬
ren, Intendanten, wenn man ſie noͤthig hat. — —
Der Junker kam wieder vor. Jenner hatte das
ſuͤße vaͤterliche Wallen uͤber die Neuigkeit, da er
bisher alle ſeine Kinder verloren gegeben, geſtillt;
aber er begehrte jetzt den Beweis, daß Flamin der
(angebliche) Sohn des Kammerherrn ſei. Ums
Duel kuͤmmerte er ſich gar nicht. Der Beweis war
der aufrichtigen Seele leicht zu fuͤhren: die Seele
berief ſich geradezu auf die Mutter, die eben gerade
[377] aus London eingetroffen, um den Sohn zu retten
und auf die Schweſter ſelber — die Seele hatte
wieder die Praͤmiſſe, das beide Kenntniß davon haͤt¬
ten, zu erweiſen — Matthieu berief ſich auf den
Brief der Mutter, den er vor einigen Jahren dem
blinden Lord mit der angenommenen Stimme Klo¬
tildens vorgeleſen, und auf der Schweſter Ausruf
unter dem Duel im Maienthaler Park: »es iſt mein
»Bruder» — und zuletzt fuͤhrt' er noch einen Haus¬
zeugen in der Sache auf, den Nachſommer, der jetzt
bald erſcheinen und das Aepfel-Muttermal, das Le
Bauts Sohn auf der Schulter trage, neu aufmalen
werde.
Matthieu hatte zu viel Hochachtung gegen ſeinen
Fuͤrſten und Herrn, um den Herrn des Sohns den
Vater des Sohns zu nennen. Jetzt hoͤrte er damit
auf: »Er wiſſe nicht, aus welchen Gruͤnden der
»Lord Horion bisher Flamins Abkunft verborgen
»habe — welche es auch waͤren, alle Entſchuldigun¬
»gen deſſelben waͤren auch ſeine, warum er ſelber
»bisher geſchwiegen — um ſo mehr, da ihm der
»Beweis dieſer Abſtammung ſchwerer fallen muͤſſen,
»als dem Lord — Nur jetzt durch die Ankunft der
»Mutter ſei die Leichtigkeit des Beweiſes ſo
»groß wie die Nothwendigkeit deſſelben — Al¬
»les was er thun koͤnnen als ein Hausfreund des
[378] »Kammerherrn, ſei geweſen, Flamins Vertrauter zu
»werden, um ſein Waͤchter zu werden.»
Dadurch wurde nothwendig der Fuͤrſt auf die
Materie des Duels zuruͤckgefuͤhrt, die jener anfangs
nach wenigen Winken fallen laſſen: es war ſeine
Methode, von einer ihm wichtigen Angelegenheit
bald abzubrechen, uͤber andere Dinge eben ſo lange zu
ſprechen, dann jene wieder vorzuholen und ſo das
Wichtige unter eben ſo große Lagen von Unwichti¬
gem zu verpacken, wie die Buchhaͤndler konfiszierte
Buͤcher bogenweiſe unter weißes oder anderes Pa¬
pier verſchlichten. Auch war jetzt Flamins Unſchuld
am Mord fuͤr Jenner wichtiger: dieſer fragte alſo
natuͤrlicher Weiſe, warum er ſeinen Freund dem
Scheine des Duels ausgeſetzet habe?
Matthieu ſagte, es werde lange und es ſei kuͤhn,
Se. Durchlaucht um ſo viel [Aufmerkſamkeit] zu fle¬
hen. Er hob an zu rapportieren, was — die Hunds¬
poſttage bisher rapportiert hoben. Er log wenig.
Er hinterbrachte, er habe, um Flamins Liebe fuͤr
ſeine unbekannte Schweſter Klotilde zu brechen,
— wenigſtens mehren wollt' er ſie — ihn eiferſuͤch¬
tig machen wollen, aber er habe ihn mit niemand
entzweien koͤnnen als mit dem Liebhaber: ja, es
habe nicht einmal etwas gefruchtet, daß er ihn ſel¬
ber den Ohrenzeugen der ſehr verzeihlichen Untreue
Klotildens werden laſſen, ſondern jener habe noch
[379] zuletzt uͤber die Verlobung der Schweſter eine Wuth
geaͤußert, die er durch nichts als durch die Vorſpie¬
gelung eines verkappten Duels mit dem Vater be¬
friedigen koͤnnen — denn um einen zweiten Kampf
zwiſchen Vater und Sohn, den das Schweigen des
Lords angezettelt, abzuwenden, hab' er ihn ſelber
unternommen, aber leider zu ungluͤcklich.
So weit der Edle: die uns bekannten wahren
Einſchiebſel unterſchlag' ich. Jenner, der jetzt dem
Evangeliſten fuͤr die Wegnahme einer Furcht gewo¬
gen wurde, in die er ihn ſelber geſetzt hatte, that
die natuͤrliche Frage: »warum Flamin den Mord
auf ſich nehme.» — Matthieu: »ich fluͤchtete ſo¬
»gleich, und es ſtand nicht bei mir, ſeine Unwahr¬
»heit, deren ich mich nicht verſehen konnte, zu ver¬
»huͤten; aber es ſtand bei mir, ſie zu widerlegen.» —
Jenner: »Fahren Sie in Ihrer Freimuͤthigkeit fort,
»ſie iſt Ihre Schutzſchrift, weichen Sie nicht aus!» —
Matthieu mit einer freiern Mine: »was ich zu ſa¬
»gen wußte, hab' ich ſchon geſagt im Anfange, um
»ihn zu retten; und jetzt iſt er gerettet.» — Jen¬
ner ſann zuruͤck, begrif nichts und bat: »noch deut¬
»licher!» — Matthieu mit der abſichtlichen Mine
eines Menſchen, der Verſilberungen ſeines Vortrags
zurechtmacht: »aus Großmuth wuͤrd' er fuͤr den ge¬
»ſtorben ſeyn, der fuͤr ihn geſuͤndigt hatte, (fuͤr Ma¬
»zen), wenn ihn nicht ſeine Freunde retteten.» Jen¬
[380] ner ſchuͤttelte unglaͤubig den Kopf. »Denn, fuhr
»jener fort, da er ſeinen hoͤhern Stand nicht
»kennt, ſo nahm er einige franzoͤſiſche Grund¬
»ſaͤtze leichter an, die ihm ſeinen Tod eben ſo ſehr
»erleichtert haͤtten, als einige Englaͤnder ſie wuͤr¬
»den beim Volke genutzt haben, um ihn zu verhuͤ¬
»ten.» Zum Beweis fuͤhrt' er den angezuͤndeten
Pulverthurm nebenher an.
Jenner ſah ſtaunend ein Licht uͤber eine dunkle
Hoͤle gleiten und durchſah die Hoͤle. ...
Man thut dem vortreflichen Evangeliſten Unrecht,
wenn man denkt, es thu' ihm genug, blos ſeinen
Freund gerettet zu haben: ſein gutes Herz war auch
noch darauf aus, dem Lord eine Ehrenſaͤule zu ſetzen
und ihn unter die Saͤule als Grundſtein zu legen.
Er quartierte gern (wie in Hamlet) in dem Schau¬
ſpiel wieder eines ein und zog zwei Theatervorhaͤnge
auf. Wir wollen uns in die Frontloge ſetzen. Sein
bisheriges Betragen gegen den Regierungsrath zeigt
genug, wie weit wahre Freundſchaft zu treiben
faͤhig war, ohne andere Freunde, z. B. die Fuͤrſtin
vor den Kopf zu ſtoßen: denn fuͤr die letztere war
der Wiederfund des verlornen Sohns des Fuͤrſten
ohne ſonderlichen Nachtheil, da der Sohn als jako¬
biniſcher Logenmeiſter und als Rebell gegen den
Stief- und den Vater zugleich praͤſentiert wurde,
und da noch dazu der Lord ſo entſetzlich dabei ver¬
[381] lor. Aber weil Maz ſich nichts dabei vorzuwerfen
hatte als ſein Uebermaas an Menſchenliebe: ſo
ſuchte er dieſem Uebermaaß durch ein entgegengeſetz¬
tes in der Bosheit zu begegnen, weil Bako ſchreibt:
Uebertreibungen werden am beſten durch entgegen¬
geſetzte kuriert. Nach ſeinen zu feurigen Begriffen
von der Freundſchaft konnt' er auch kein aͤchter
Freund des Lords ſeyn, da man nach Montaigne
nur Einen aͤchten, wie Einen Liebhaber haben kann,
und der Lord ſchon einen dergleichen an Jennern
aufzeigte.
Man vergoͤnne mir, mit drei Worten kurz zu
ſeyn und angenehm: wenn die Araber 200 Nahmen
fuͤr die Schlange haben, ſo ſollten ſie gar den 201ten
dazu legen, den eines Hoͤflings — ferner erlaube man
mir zu ſagen, daß ein Mann von Einfluß und Ton
durch ſogenannte Blutſchuld eben ſo gut bluͤhe, als
ein ganzer Staat durch elendere metalliſche. —
Jenner war jetzt vorbereitet, alles zu glauben,
was die vorigen ſonderbaren Dinge erklaͤrte. Eine
Luͤge, die einen Knoten loͤſet, iſt uns glaublicher als
eine, die einen knuͤpft. Matthieu fuhr fort: »er
»habe allen republikaniſchen concerts spirituels bei¬
»gewohnt, um Maasregeln gegen Flamins Anſtek¬
»kung zu nehmen; und er uͤbertreibe die Freund¬
»ſchaft gegen die drei Englaͤnder und den Lords¬
»Sohn (Viktor) nicht, wenn er jene und dieſen
[382] »mehr fuͤr Arbeitszeug irgend einer andern verborg¬
»nen Hand anſehe, als fuͤr Arbeiter an einem Plane
»ſelber. — Das beſtaͤtige der bisher vom unſchul¬
»digen Flamin gemachte Mißbrauch.» — Um Vik¬
tor zu entſchuldigen, ſagt' er — wobei er ihn im¬
mer den Hofmedikus benamſete, ſo daß Jenner in
dieſer Verfaſſung an einen Hofvergifter eher dachte,
als an etwas anderes — um alſo ein vortheilhaftes
Licht auf dieſen zu werfen, ſagt' er, ſelbiger liebe
blos das Vergnuͤgen und fuͤhre nur gehorſam das
aus, was ſein Vater entworfen — Viktor habe ſich
in einen Italiener verkleidet, um die Prinzeſſin zu
beobachten; und um es nachher dem Lord, auf deſ¬
ſen Befehl ers vermuthlich gethan, in einer gehei¬
men Zuſammenkunft auf einer Inſel zu berichten —
Als Italiener hab' er der Fuͤrſtin eine Uhr uͤberreicht,
in die er ein Blaͤtgen verſteckt haͤtte, worin er den
hoͤhern Rang vergeſſen, um dem ſeinigen zu ſchmei¬
cheln — —
Der Fuͤrſt, der ſeine Gemahlin mit groͤßerer Ei¬
ferſucht liebte als ſeine Braut, fegte mit dem ſchla¬
genden Puterhahns-Fluͤgel den Boden und machte
den Naſen-Zapfen lang und fragte ſtolz: wie er das
wiſſe? — Matthieu verſetzte ruhig: von Viktor
»ſelber — denn die Fuͤrſtin wiſſ' es ſelber
»nicht« . . . . . .
Mir verdankt es der Leſer, daß er tauſend Dinge
[383] beſſer weiß — Agnola wuſte den Inhalt der Uhr
gewiß recht gut; ja ich ſtelle mir ſogar vor, ſie ha¬
be, da ihr die erzuͤrnte Joachime Viktors gerades
Geſtaͤndniß ſeines concepit hinterbrachte, Mazen
oder Joachimen erlaubt, den gegenwaͤrtigen Ge¬
brauchszettul zu entwerfen, nach welchem hier der
Eheherr das Sebaſtianſche Billetdoux einzunehmen
bekoͤmmt. —
— »ſie habe vielmehr (fuhr er fort) ſeiner
»Schweſter lange darauf die Uhr mit dem Blaͤtgen
»geſchenkt — Joachime hab' es in Viktors Gegenwart
»herausgezogen und der hab' es fuͤr ſchicklich gehal¬
»ten, ihr eben dieſes frei zu bekennen, was ſie und
»er ſelber aus Ehrfurcht noch nicht der Fuͤrſtin ent¬
»deckt haͤtten — Inzwiſchen ſei ihm ſeine Schwe¬
»ſter darauf ausgewichen — worauf er ſich Klo¬
»tilden genaͤhert, vielleicht nach einer vaͤterli¬
»chen Inſtrukzion, um den Bruder in naͤhern
»Verhaͤltniſſen zu haben — Aber allemal miſch' er
»in vaͤterliche Plane des Ehrgeizes eigne des Ver¬
»gnuͤgens und ſei gutgeſinnt, ſo wie die Englaͤnder,
»die er fuͤr verkapte Franzoſen halte» —
Der Fuͤrſt verſteckte unter der ganzen Projekzion
dieſer Deſſeins ſeine Furcht unter Zorn; Matthieu,
der die Maſke und das Geſicht ſah, ſchnitt bis¬
her alles nach jener zu und machte den ſcheinbaren
Mangel an Furcht zum Deckmantel ſeiner Kuͤhnheit,
[384] ſie zu erregen. — Und ſo gieng er vom Fuͤrſten
weg in einen unbeſtimmten ſpaßhaften Arreſt fuͤr den
Mord: Jenner fieng aber an‚ die Sachen und Zeu¬
gen zu unterſuchen.
Vor dem Berichte des Erfolges laſſet mich es
gern geſtehen‚ daß Maz‚ der Edle‚ ſchon luͤgen kann‚
um ſo mehr‚ da er die Wahrheit als Sparwerk ſei¬
nes Luͤgen-Moͤrtels hinſetzt. Wie im polniſchen
Steinſalzbergwerk laͤſſet der gute Luͤgner beim Un¬
tergraben immer ſo viele Wahrheiten zu Saͤulen ſte¬
hen als gegen das Einbrechen des Gewoͤlbes noͤthig
ſind. Ueberhaupt iſt jede Luͤge ein gluͤckliches Zei¬
chen‚ daß es noch Wahrheit in der Welt giebt:
denn ohne dieſe wuͤrde keine geglaubt und alſo keine
verſucht. Bankeroute machen dem Rechtſchaffenen
Freude als neue Belege des unerſchoͤpften Religions¬
fonds von fremder Ehrlichkeit‚ die vorhanden ſeyn
muſte‚ wenn ſie ſollte betrogen werden. So lange
noch Kriegs- und Friedenstraktaten ſchaͤndlich gebro¬
chen werden‚ ſo lange iſt noch Hofnung genug da‚
und ſo lange fehlet es Hoͤfen an aͤchter Redlichkeit
nicht: denn jeder Bruch eines Vertrags ſetzet vor¬
aus‚ daß man einen gemacht hat — und gemacht
koͤnnte keiner mehr werden‚ wenn kein einziger mehr
gehalten wuͤrde. Es iſt mit den Luͤgen wie mit den
falſchen Zaͤhnen‚ die der Goldfaden nur an ein Paar
aͤchtr Reſtanten ſchließen kann. —
[385]
Jenner fing die Muͤnzprobazionstage des Mat¬
thaͤiſchen Evangeliums an.
1) Der Pfarrer wurde zitirt, um in Gegenwart
der landesherrlichen Hoheit zu bekennen, was er fuͤr
Zuſammenrottungen im Prieſterhauſe geduldet. Der
ſchlug in Oemlers Paſtoraltheologie nach, um zu er¬
ſehen, wie ſich ein Pfarrer zu benehmen habe, der
gehenkt werden ſoll. Ohne Murren legte er jetzt
den Hals vor kleinern maͤßigen Ungluͤcksfaͤllen auf
den Block und unter das Beil, vor dem Rattenkoͤ¬
nig, der durch ſeine Behauſung ſauſete, vor dem
Strumpfband, das unter dem Gehen langſam uͤber
die Knieſcheibe abglit und vertauſchte die Aengſt¬
lichkeit des Gluͤcklichen gegen die Angſt des Un¬
gluͤcklichen. Im Verhoͤre ſagt' er, er habe an heili¬
ger Staͤtte und an anderer auf die Klubs ſo gut
als einer geſchmaͤhlet und ſich deswegen den Girtan¬
ner gekauft. Auf die Frage: ob Flamin ſein Sohn
ſei? verſetzte er traurig: er hoffe, ſeine Frau breche
ſeine und ihre Ehe nicht. — Als er wieder nach
Hauſe kam, nahm er, um nur nicht in der Angſt
der Verhaftung zu ſeyn, einen Buͤndel alter Predigt-
Manuſkripte in einen Steinbruch hinein und memo¬
rirte ſie da auf drei, vier Sonntage voraus.
2) Klotilde und die Lady ſagten alles ſchriftlich
ſo aus, wie Maz verſprochen: denn jetzt war durch
die Entdeckung von Flamins Abkunft, — die ſie
Heſperus. III. Th. B b[386] dem Hofmedikus zuſchrieben — die eiſerne Birn des
Eides aus ihrem Munde genommen und ſie waren
freudig uͤber dieſe Breſche und ofne Jubeljahrsthuͤr
des Gefaͤngniſſes ihres Geliebten.
3) Viktor bekannte ſich ruhig und gern zum Ver¬
faſſer des Hirten- oder Schaͤferbriefes in der
Uhr.
4) Alle Suͤnden-Kerbhoͤlzer in Kuſſeviz und uͤber¬
all griffen in einander ein; ſogar aus Viktors vori¬
gem Mittleramt, das er ſonſt beim Fuͤrſten fuͤr Ag¬
nola verſah, aus ſeinen kleinen Unbeſonnenheiten,
aus ſeinen Satiren, aus ſeiner Hoſen-Einkleidung
der Soldatenjungen, aus ſeiner Reiſe mit dem Fuͤr¬
ſten wurde nun lauter Zugwerk und Grundſtriche ei¬
ner gegen den Thron entworfnen Schlachtordnung
zuſammenbuchſtabiert. Ueberhaupt war's nothwendig,
Jenner muſte, je mehrere Sehroͤhre er auf dieſes Me¬
teor der Luͤge richtete, es nur deſto groͤßer er¬
blicken. —
Ich habe die Fuͤrſtin vergeſſen, die ſich bei Jen¬
ner ſehr beleidigt und unwiſſend anſtellte und kaum
mit der Strafe zufrieden war, daß dem Helden der
Hundspoſttage der Hof verboten wurde — Der Hof,
dir guter Viktor! der du bald die Erde dir verbie¬
ten willſt!
Jenner uͤberſah leicht vergangne Beleidigungen,
aber er ruͤgte ſtreng zukuͤnftige. Und da noch
[387] dazu Maz wie eine Klapperſchlange ſo klapperte,
nicht um zu warnen, ſondern um, wie auch die
Neuern an der andern fanden, den Raub ſteif und
ſcheu zu machen: ſo war der Lord ſo uͤber alle
Thronſtufen aus Jenners Herzen herabgepurzelt,
daß es ihm nicht einmal etwas helfen konnte, wenn
er ſogleich aus der Luft heraustraͤte — Flamin
war ohne ihn gefunden. — Den drei Englaͤndern
ſchickte man die Erlaubniß in das Haus, nach ihrer
Inſel (England) abzuſegeln, wenn ſie wollten. Sie
ließen zuruͤckſagen, ſie brauchten nur Einen Tag,
um auf ihrer Inſel anzukommen und warteten nur
auf ihren Reiſegefaͤhrten. Unter der Inſel meinten
ſie aber die Inſel der Vereinigung — und unter
dem Reiſegefaͤhrten den gefeſſelten Flamin, den ſie
mit bereden wollten.
Es gefaͤllt mir, daß meinem Viktor der Hof
verboten wurde. Das Hof-Verbot iſt ſonſt eine
Wohlthat — dieſen Namen verdient nun wol eine
Eximirung von den Hofdienſten —, die ſonſt nicht
immer an den Wuͤrdigſten ertheilt wird, ſondern
oft einem Teufel wie Louvois, ſo gut als einem
Apoſtel wie Teſſin. Heiſſet aber das nicht einer
vorzuͤglichen Gnade, einem Orden pour le mérite
allen Werth benehmen, wenn man ſie Filouen zu¬
wirft, da ſie doch nur fuͤr den rechtſchaffenſten, frei¬
muͤthigſten, aͤlteſten Mann am Hofe als die groͤßte
Bb 2[388] und letzte Belohnung, als ein Tref- und Spies¬
folgedank, als eine Ovazion ſollte aufgehoben blei¬
ben? —
Im naͤchſtrn Kapitel kann man ſich auf einen
Laͤrm gefaßt machen, dergleichen man in wenig deut¬
ſchen Kapiteln hoͤrt: die Laͤrmkanonen der Hofpar¬
thei, das Herabpoltern der Buͤhnen und das Um¬
ſchmeißen der Stuͤhle nach gehegtem peinlichen Ge¬
richt werd' ich bis in meine Inſel heruͤber hoͤren
koͤnnen. Der ſchwarzhaarige und ſchwarzherzige Hof¬
junker wird, wenn er aus dem Arreſt los iſt, mit
ſeiner ironiſchen Miene und mit der eignen leiſen
Stimme — die Ripienſtimme ſeines boshafteſten
Hohns wie bei andern des erhabenſten Enthuſias¬
mus — uͤberal herumſtreichen und ſagen: er wuͤn¬
ſche der Lord erſchiene, er habe bisher in ſeinen
Sachen nach Vermoͤgen gearbeitet. Am Hofe iſt
man zuweilen erhaben durch eine vorſtechende Bos¬
heit, wie nach Burke kein Geruch erhaben iſt als
der allerſtinkendſte, und kein Geſchmack als der bit¬
terſte. Und eben ſo verbirgt da jeder die mitleidige
Theilnahme am fallenden Guͤnſtling leicht, aͤhnlich
dem weiſen Vater, der beim Fall eines Kindes das
mitleidige Geſicht unter ein luſtiges verſteckt.
Den 21. Oktober kommt Matthieu los und darf
zu Flamin gehen — er hat ſich's ausgebeten — und
[389] ihm die Freiheit und die Standeserhoͤhung mit ein¬
ander anſagen . . . . . In wenig Tagen koͤnnten
die Begebenheiten und mein Protokol derſelben aus
einem Zeit-Stundenglaſe rinnen, wenn der Hund
ordentlich kaͤme; aber der kommt wenn er
will.
[390]
44. Hundspoſttag.
Die Bruderliebe — die Freundesliebe — die Mutterliebe — die
Liebe. — —
Der Hund iſt da, aber der Lord nicht — der
Laͤrm iſt klein, aber die Freude nicht — alles iſt
vorbereitet, aber doch unerwartet — das Laſter be¬
hauptet das Schlachtfeld, aber die Tugend die ely¬
ſiſchen Felder. — Kurz es iſt recht naͤrriſch, aber
recht huͤbſch. —
Ich denke, das iſt das letzte Kapitel dieſes
Buchs. Ich ſchaue ordentlich den Poſthund — mei¬
nen pommeriſchen Boten *) — der Schwanz ſein
Botenſpies — mit Ruͤhrung an und mich aͤrgerts,
daß er mit Adam gefallen und einen Knochen unter
dem verbotenen Baum gefreſſen hat: denn im Para¬
dies leuchteten die erſten Hundseltern wie Diaman¬
ten und man konnte durch ſie ſehen, wie Boͤhme
behauptet. — Eben darum, da der Berghauptmann
[391] bald ausgeſchrieben hat, verzeih' man's ihm, daß
er in dieſem Kapitel der Liebe feuriger und angeneh¬
mer iſt, als je und uͤberhaupt jetzt ſchreibt als waͤr'
er beſeſſen.
Anfangs ziehen den Himmelswagen noch Trauer¬
pferde. . . . Sehr fruͤh, den 21 Oktober 1793
war's, wo der Hofjunker in's Stockhaus Flamins
lief, aus dem eignen und dieſem darin buͤßenden
Bruder alles verkuͤndigte, ſeine Entlaſſung — ſeine
Verſchwiſterung mit Klotilden — ſeine Einkindſchaft
in's fuͤrſtliche Haus — ſeine aufſteigende Laufbahn und
zugleich die Amneſtie des moͤrderiſchen Boten, die
eigne naͤmlich. O wie gluͤhte die Freude uͤber
Matthieu's Losſprechung und Vorſprache und uͤber
die eigne Standeserhoͤhung ſeine ſtockenden Adern
an. Denn Flamin beſtieg den hoͤhern Stand
als eine Anhoͤhe, um ſeine Wohlthaten und Projekte
weiter zu werfen; Viktor hingegen war uͤber ſeinen
Standes Bankerut froh geweſen, weil er Stille be¬
gehrte wie jener Getoͤſe. Viktor wollte mehr ſich,
jener mehr andere umbeſſern. Flamin ſtieß lebendi¬
ges Schiffsvolk uͤber den Bord ins Meer, und na¬
gelte den Staats-Bucentauro mit Ruderſklaven voll,
um ihn ſchneller gegen Winde anzutreiben. Viktor
aber erlaubte ſich, nur Eine Leiche zur Erleichterung
des Kaperſchiffs zu machen — ſeine eigne. Er ſagte
zu ſich: »wenn ich nur den Muth allezeit heilig
[392] »aufbewahre, mich ſelber aufzuopfern: dann
»brauch' ich keinen groͤßern; denn der groͤßere
»opfert doch geſtohlne Guͤter — Das Schickſal
»kann Jahrhunderte und Inſeln opfern, um Jahr¬
»tauſende und Welttheile zu begluͤcken; *) der Menſch
»aber nichts als ſich.«
Jubelnd lief Flamiu mit ſeinem Erloͤſer nach St.
Luͤne, um die treue Schweſter in der untreuen Ge¬
liebten dankend und abbittend zu umfaſſen — ach als
die hohe Warte in ſeine Augen aufſtieg: ſo zog ſich
blutig und ſchmerzhaft wie ein Augenfell die Decke
von ihnen herab, die bisher die Unſchuld ſeines be߬
ten Freundes, Viktors, verfinſtert hatte. »Ach
»wie wird er mich haſſen! O haͤtt' ich ihm
»mehr getrauet!« ſeufzete er und nichts freuete ihn
»mehr: denn den Schmerz eines guten Menſchen, der
ungerecht geweſen, auch in der Meinung der volle¬
ſten Gerechtigkeit, kann nichts troͤſten, nichts als
viele viele Aufopferungen. Er ſchlich ſich ſeufzend
nicht zur neuen Mutter, ſondern ſank den treuen
Drillingen ſanft an das unbeleidigte Herz. Die red¬
[393] lichen Seelen bewillkommeten alle den Evangeliſten
als einen helfenden Freund; und dieſe bunte Spinne
kroch mit ihren unreinen Spinnwarzen auf allen die¬
ſen edeln Gewaͤchſen einer offnen Liebe herum: die
Spinne hoͤrte alles, ſogar die Abrede, daß die Eng¬
laͤnder den Befehl, nach der Inſel abzugehen, nach
dem Buchſtaben nehmen und ſich in die engliſche In
ſel des Lords ſo lange einſperren wollten, bis Fla¬
min und die Lady mit ihnen allen in ihre groͤßere
Inſel — ins Souterrain und Werkhaus der Freiheit
— in den klaſſiſchen Boden aufgerichteter Menſchen
abzuſchiffen im Stande waͤren.
Denſelben Morgen zog der Kaplan in ſeinen
Steinbruch und legte ſich da vor Anker, weil er
noch nichts wußte. Drauſſen verſaß er die Angſt
und Nachts zog er wieder ein. Er gieng da mit
niemand um als ſeinem Koͤrper — wie manche ſich
mit ihrer Seele, ſo unterhalten ſich andere mit ih¬
rem Koͤrper — und ſah von Zeit zu Zeit nicht die
Natur, ſondern ſein — Waſſer an, um daraus —
da deſſen Farbenloſigkeit, nach der Phyſiologie Kum¬
mer bedeutet — die Kenntniß zu ſchoͤpfen, ob er
ſich ſehr abhaͤrme oder nicht; wiewol kein Proto¬
medikus fuͤr ihn ſtehen wird, daß er nicht urinam
chyli oder sanguinis fuͤr dito potus wird angeſehen
haben. Da die Aerzte behaupten, daß Seufzer nuͤ¬
tzen, den Puls ſchneller und die Lungenfluͤgel leich¬
[394] ter machen — ein Regent kann alſo ganzen Laͤn¬
dern auf einmal nuͤtzen, wenn er ſie zu ſeufzen noͤ¬
thigt: — ſo ſchrieb ſich Eyman eine beſtimmte An¬
zahl Seufzer vor, die er zum Beſten ſeiner Lunge
taͤglich zu holen hatte.
Denſelben Morgen gieng die Lady zur Pfarrerinn,
um ihr zu ſagen, daß Flamin ein Unſchuldiger, aber
ihr Sohn nicht mehr ſei; und Klotilde gieng mit
ihr, um die Haͤnde der zwei Toͤchter zu nehmen und
ihnen zu ſagen, ihr habt einen andern Bruder.
Denn Viktor hatte ſeine Abkunft noch verhehlt.
»O Gott! (ſagte die verarmende Pfarrerinn und
ſchloß Flamins Mutter und Schweſter an die ſchmach¬
tende Mutterbruſt, die mit heißen Seufzerzuͤgen ei¬
nen Sohn begehrte) — »wo iſt denn mein Kind?
»— Fuͤhren Sie mir meinen wahren Sohn zu! —
»Ach ich ahndete es wohl, daß mich das Duell
»doch ein Kind koſten wuͤrde! O! er findet alles
»wieder, aber ich buͤße alles ein. — O Sie ſind
»eine Mutter und ich bin eine Mutter, helfen Sie
»mir!« — Klotilde ſchauete ſie mit dem weinen¬
den Wunſche des Troſtes an; aber die Lady ſagte:
»Ihr Sohn lebt und iſt auch gluͤcklich, aber mehr
»kann ich nicht ſagen.«
Und denſelben Morgen war dieſer Sohn, unſer
Viktor, nicht gluͤcklich. Ihm war, bei dem Ge¬
ruͤchte von Flamins Loskettung, und von Mat¬
[395] thieus Dienſtfertigkeit, als wenn er das Ziſchen
und den Kugelpfif des herabſchieſſenden Stoßvogels
vernaͤhme, der bisher unverruͤckt gleichſam mit ange¬
nageltem Fittich hoch im Blauen uͤber dem Raub
geruhet hatte. — Verarget es dem Doktor nicht
gar zu ſehr, daß ihn die verlorne Gelegenheit kraͤnk¬
te, ſeinen Freund aus dem engen Gefaͤngniß und
ſich aus dem weiten des Lebens los zu machen. Denn
er hat zu viel verloren und iſt zu einſam: die Men¬
ſchen kommen ihm wie die Leute in dem polniſchen
Steinſalzbergwerk vor, die herumtappen mit einem
an dem Kopf gebundnen Licht, das ſie ein Ich
nennen, vom genußloſen Blinken des Salzes um¬
zingelt, weis gekleidet und mit rothen Binden, als
waͤren es Aderlaßbinden — Die Sprache ſeiner Be¬
kannten iſt wie die der Sineſer, einſylbig — Er
muß dem erniedrigenden Tag entgegen leben, wo
Jenner und die Stadt die Niedrigkeit ſeines Stan¬
des ihm zum Betrug anrechnen. — Vor jedem
Auge ſteht er in einem andern Lichte oder Schatten
vielmehr, Matthieu haͤlt ihn fuͤr grob, Jenner fuͤr
intriguant, die Weiber fuͤr taͤndelnd, ſo wie Ema¬
nuel fuͤr fromm und Klotilde fuͤr zu warm — denn
jeder vernimmt an einem vollſtimmig beſetzten
Menſchen nur ſein Echo. Welches Herz konnt' ihn
[nun] noch bewegen — ſeines ohnehin nicht — das
Ruder im Sklavenſchiff des Lebens laͤnger zu halten?
[396] O Eines konnt' es, ein maͤchtiges warmes, das
muͤtterliche: »ſtuͤrze dich nur aus der Erde — ſagte
»ſein Gewiſſen — dann ſtirbt dir deine Mutter voll
»Liebe nach und tritt in der zweiten Welt vor dich
»mit ſo vielen Thraͤnen, mit allen heiſſen [Wunden]
»und ſagt: Sohn, dieſer Schmerz iſt dein Werk!«
— Er gehorchte und ſah ein, wenn es edel iſt, fuͤr
eine Geliebte zu ſterben, ſo ſei es noch edler fuͤr
eine Mutter zu leben.
Daher beſchloß er, noch heute Abends —
Abends, damit die Nacht ſich vor einige verwit¬
ternde Ruinen der beſſern Zeit, vor einige voruͤber¬
ziehende Nachtleichen der Erinnerung ſtellte —
nach St. Luͤne zu gehen, ſeine Mutter zu rufen
und ihr muͤdes ſieches Herz wenigſtens mit Einer
Freudenblume zu ſtaͤrken und ihr — da ihn kein Eid
mehr band — zu ſagen: Du giebſt mir jetzt zum
zweitenmal das Leben. Wie wohl wurd' ihm! —
Ein einziger guter Vorſatz bettet und luͤftet das
ſcharfe Siechbette und Krankenſopha eines zerriſſe¬
nen Lebens.
Aber am Abende, ihr guten Bedraͤngten, am
Abende — nicht des Lebens ſondern — des 21 Ok¬
tobers wird euch leichter und friſcher werden und
die Kugel euerer Fortuna wird ſich aus der Wetter¬
[ſ]eite in die Sommerſeite drehen!
Abends kam Viktor in St. Luͤne an, und huͤllte
[397] ſich in die Laube des Pfarrgartens ein: in der Lau¬
be hatt' er Klotilden die erſten Thraͤnen der Liebe
gegeben. — Das Pfarrhaus, das Schloß, die
Warte, die zwei Gaͤrten lagen wie verfallne Ritter¬
ſchloͤſſer um ihn, aus denen alle Freuden und Be¬
wohner laͤngſt gezogen ſind! — Alles ſo ſtill, ſo ſte¬
hend um ihn — die Bienen ſaßen ſtumm auf dem
Flugbrett neben hingerichteten Drohnen — ſogar der
Mond und ein Woͤlkgen ſtanden feſt neben einander
— die Wachsmumie war mit dem ſtarren Geſicht
gegen das ſtille Zimmer gewandt! — Endlich kam
die Pfarrerin durch den Garten, um ins Schloß zu
gehen. Er wußte, wie ſehr ſie ihn wieder lieben
mußte, da ſeine Treue gegen den eiferſuͤchtigen Fla¬
min jetzt ans Licht gekommen war. O ſie ſah ſo
muͤde und kraͤnklich aus, ſo rothgeweint und ver¬
blutet und veraltet! — Ihn dauerte es, daß er
erſt ein gleichguͤltiges Wort ſagen mußte, um ſie
in die Laube zu rufen. Als ſie hineintrat: erhob er
ſich, und buͤckte ſich tief und legte ſich ausloͤſchend
an die theuere Bruſt, hinter der eine Welt voll
Seufzer und ein Herz voll Liebe war und ſagte:
»O Mutter ich bin Dein Sohn — nimm mich auf,
»dein Sohn hat nichts, er liebt nichts mehr auf der
»ganzen weiten Erde nichts mehr als dich — O
»liebe Mutter, ich habe viel verloren bis ich dich
»fand — Warum ſiehſt du mich ſo an? — Wenn
[398] »du mich verſchmaͤheſt: ſo gieb mir deinen Segen
»und laß mich entfliehen. ... O! ich wollte ohne¬
»hin nur deinetwegen leben bleiben.« — Sie ſchaue¬
te ihn, zuruͤckgebogen, mit einem naſſen Blick voll
unausſprechlicher Zaͤrtlichkeit und Trauer an: iſt's
denn wahr? »O Gott! wenn Sie mein Sohn waͤ¬
»ren — Ach, gutes Kind! — ich habe dich laͤngſt
»geliebt wie eine Mutter. — Aber taͤuſche mich
»nicht, mein Herz iſt ſo wund!« — Der Sohn
ſchwur. ... und hier ſinke der Vorhang langſam
an der muͤtterlichen Umarmung herab und wenn er
Sohn und Mutter ganz bedeckt: ſo ſchaue ein gu¬
tes Kind in ſeine eigne Seele zuruͤck und ſage: hier
wohnet alles was du nicht beſchreiben kannſt!
Jetzt Abends ſchlich der Kaplan vom Felde heim
und durch den Garten hindurch und rief ſeinem
neuen Sohne entgegen: Ach! Herr Hofmedikus,
»ich ſchwinde laͤſterlich ein. Ich ſehe ja offenbar
»aus wie ein ecce homo und Fabrikant. Es wird
»mir zugeſetzt — ich ſoll eine persona miserabilis.
»einen souffre douleurs, einen Patropaſſianer abge¬
»ben.« — Da Viktor ihm berichtet hatte: »es ſei
»alles voruͤber, der Regierungsrath ſei los und un¬
»ſchuldig:« ſo blickte Eymann feſt auf die Warte
und ſagte: »wahrlich droben ſitzt der Rath und gukt'
»ruͤber« und wollte hinauf zu ihm; aber Viktor hielt
ihn ſanft und ſagte zaͤrtlich: »ich bin Ihr Sohn«
[399] und offenbarte ihm alles. — »Wie? — Sie? —
»Du? — Der Sohn eines ſo vornehmen Lords
»waͤre mein Sohn? — Meinen Herrn Gevatter
»haͤtt' ich gezeugt? — Das iſt unerhoͤrt, ein Bru¬
»der der Pathe des andern — zwei Sebaſtian hab'
»ich auf einmal im Hauſe.» — Er wurde die Pfar¬
rerin anſichtig und fieng einen Hader an, — wel¬
ches allemal ein Zeichen ſeiner Freude war. »So,
»Frau? Das weiſt du heute den ganzen Tag und
»mich laͤſſeſt du drauſſen im Steinbruch im Noth¬
»ſtall ſitzen, mitten im Harm und ich laͤute bis
»Nachts an der Armenſuͤnderglocke? Haͤtteſt du nicht
»den Kalkanten hinaus laſſen koͤnnen zum Notifizieren?
»Das war recht ſchlecht — die Frau ſteckt zu Hauſe
»und trinkt Bitterwaſſer, in das ihr ganze Zucker¬
»faͤſſer und Konfektteller hineingeworfen ſind — und
»der Mann haͤlt ſich in Steinbruͤchen auf und ſaͤuft
»ſeine bittern Extrakte aus einem Brechbecher
fort.» — Sie antwortete nie darauf.
Jetzt erfuhr erſt Viktor von ſeiner Mutter, daß
Flamin bloß fuͤr den Freund (Matthieu) und fuͤr
das Vaterland habe ſterben wollen — daß er ſeine
eiferſuͤchtige Ungerechtigkeit bereue und die verſcherzte
Freundſchaft bejammere und daß ſie ihn eben darum
abhole, um ihn in die Haͤnde der wahren Mutter
und vor das Angeſicht der gekraͤnkten Schweſter zu
fuͤhren. Es war heute am Morgen menſchliche
[400] Schwaͤche geweſen, daß das erfrorne Glied der
Freundſchaft, ſein Herz, ein wenig kaͤlter und un¬
empfindlicher gegen Flamin geworden war, da er deſ¬
ſen Rettung aus dem Gefaͤngniß vernahm — aber es
war jetzt Abends menſchliche Guͤte, daß Flamins
großer Entſchluß zu ſterben, wie eine ruſſiſche Froſt¬
ſalbe ſeinem ſtarren Herzen Waͤrme und Bewegung
wiedergab. Sein Inneres regte ſich gewaltſam, quoll
auf, uͤberſtroͤmte den erdruͤckten Groll und das Bild
des Jugendfreundes ſtand auf und ſagte: »Viktor,
»gieb dem Schuldfreund wieder deine Hand — o er
»hat ſo viel gelitten, und ſo edel gehandelt.« Thraͤ¬
nen ſchoſſen ihm aus den zuckenden Augen, als er
ſich jetzt entſchloß, auf die Warte zu gehen und
zum alten Liebling zu ſagen: »es ſei vergeſſen —
»komm' wir wollen mit einander zu deiner Schweſter
»gehen.« Er gieng allein auf die Warte, um ihn
nachher der Lady vorzuſtellen. Die Pfarrerin ſprang
einige Minuten von Viktor ab, um ſeine zwei
Schweſter zu benachrichtigen und zu bringen und den
blinden Julius aus der Stadt fuͤhren zu laſſen, da¬
mit in der goldnen Halskette der Liebe kein Gelenk
abgienge.
Welche Himmelsleiter, in der jede Minute eine
hoͤhere Sproſſe iſt, ſteht in dieſer Nacht auf der
wan¬[401] wankenden Erde und gute Menſchen ſteigen hinter
einander hinauf! —
Unten an der Treppe der casa santa der Verſoͤh¬
nung arbeitete Viktors Herz gewaltſam im heiſſen
durchwuͤhlten Blute. Flamin ſah ihn langſam hin¬
aufſteigen; aber er kam ihm nicht entgegen, weil
es ungewiß war, komme Viktor zuͤrnend oder ver¬
gebend. Als dieſer endlich oben war: ſo ſtuͤzte Fla¬
min ſein abgekehrtes Geſicht beſchaͤmt in das Ge¬
zweig; denn er konnte dem ſo ſehr gemißhandelten
Geliebten nicht ins Auge blicken, bis er wußte, daß
er ihm verziehen habe. Sie ſchwiegen ſchauerlich
neben einander unter dem rieſelnden Lindengipfel —
ſie erriethen einander nicht ganz und das machte das
Schweigen fuͤrchterlicher und das Verſoͤhnen zweifel¬
haft. Endlich reichte ihm Flamin, heftig athmend
und mit dem ins Laub gelegten Geſicht die zuckende
Hand entgegen. Da Viktor dieſe ſtumme um Ver¬
ſoͤhnung flehende Hand zittern ſah: ſo tropften ſie¬
dende Thraͤnen durch ſein Herz und zertrennten es
und nur aus Wehmuth und liebender Schonung
verſchob er es, die demuͤthige Hand zu nehmen.
Aber hier kehrte ſich Flamin (im falſchen Argwohn)
ſtolz, erroͤthend und voll Thraͤnen und voll alter Liebe
um und ſagte: »ich bitte dich recht gern um Verge¬
»bung, daß ich gegen dich Engel ein Teufel war;
Heſperus. III. Th. Cc[402] »aber dann wenn du mir keine ertheilſt, ſo ſchleu¬
»dere ich mich hinunter, damit mich nur der Teufel
»holt.« — Sonderbar! dieſes Erpreſſen der Ver¬
zeihung zog Viktors offne Seele ein wenig zuſam¬
men; aber er umfaßte doch den freundſchaftlichen
Wilden und ſagte mit der milden Stimme der ſtil¬
len Liebe: »aus dem Grunde der Seele hab' ich dir
»heute vergeben; aber geliebt hab' ich dich immer
»und allezeit und in wenig Wochen wuͤrd' ich fuͤr dich
»geſtorben ſeyn, um dein Leben zu retten.« — Jetzt
traten ihre Seelen nahe und unverhuͤllt vor einander
und deckten ihr Leben auf — — und da ſich beide
alles erzaͤhlt hatten und als Viktor ihm eroͤffnet hat¬
te, daß er an ſeine Stelle eingeruͤckt und der Sohn
der beraubten Mutter geworden ſei: ſo wollte Fla¬
min vor Reue vergehen, und druͤckte verſchaͤmt ſein
Angeſicht tiefer nur an Viktors Bruſt — und ihre
Seelen feierten neuvermaͤhlt auf dem Traualtar der
Warte ihre Silberhochzeit unter der Brautfackel des
Mondes und ihre Seligkeit wurde von nichts erreicht
als von ihrer Freundſchaft.
Sie wandelten im zaͤrtlichen Taumel langſam in
Le Bauts Garten und der Strom der Wonne wurde
immer tiefer; aber eiskalte Wellen wie vom Fluſſe
Styx erſchreckten ploͤtzlich den ſanft erwaͤrmten Vik¬
tor, da er in die Trauerlaube kam, wo er gerade
heute vor einem Jahre am 21. Oktober — alſo iſt
[403] heute Klotildens Geburtstag — aus ſeinem zerruͤtte¬
ten Herzen ihr Bild geriſſen hatte, und wo er wie¬
der ankam, um es aus den alten Narben vielleicht
wieder auszureiſſen Denn das Senken ſeines Stan¬
des hatt' ihn ein wenig — ſtolzer gemacht, und
ſeine Liebe fuͤr Klotilden ſcheuer. Die Wahrheit
zu ſagen, ſo glaubt' er's ſelber nicht recht, daß ihr
ſeine niedrige Abkunft unbekannt geweſen: er ſchloß
vielmehr das Widerſpiel aus dem Antheil, den ſie
der Lord an ſeinen Briefen und an allen Geheim¬
niſſen nehmen laſſen — aus ihrem anfaͤnglichen
Kampf gegen ihre aufkeimende Liebe und aus dem
kleinen Stolze gegen ihn am erſten Tage — aus ih¬
rem Lobe der Mesalliance — aus ihrer Beguͤnſti¬
gung der Liebe Giulia's gegen Julius, den ſie als
Lords Sohn kannte — aus ihrer leichten Einwilli¬
gung in die Verlobung, die ihr Vater ja nach der
Erkennung nicht mehr zugelaſſen haͤtte — und aus
andern Zuͤgen, die man bei der zweiten Leſung die¬
ſes Werks leichter ſelber ſammelt. Wie geſagt,
dieſe Hoffnung, daß ſie ihn allemal gekannt, wieder¬
legte einige Einwuͤrfe ſeiner Delikateſſe und ſeiner
Reſignation; und bluͤhte heute noch hoͤher auf unter
ſo vielen Freuden und ſchoͤnen Zufaͤllen. — Ach!
wenn er ohne alle Hoffnung geweſen waͤre: ſo haͤtt'
er ja mitten im Kreiſe ſo vieler Begluͤckten als die
Cc 2[404] letzte Opferleiche todt niederfallen muͤſſen! — Aber
das etwas im Menſchen, das ihm allemal einen gro¬
ßen Verluſt ſo wahrſcheinlich und einen großen Ge¬
winnſt ſo unwahrſcheinlich vormalt, quaͤlte, verei¬
nigt mit wehmuͤthigen Erinnerungen ihn jetzt.
Er bat daher Flamin, ihn ein wenig in der
Laube zu laſſen und allein, da die Pfarrerin ſchon im
Garten war — in die befreundeten Arme der gefun¬
denen Schweſter und Mutter zu eilen: er komme
bald nach. Als Flamin fort war: fieng Viktor im¬
mer vor Klotildens Erſchuͤtterung zu zittern an, die
ſich ihrer vielleicht jetzt bei der Nachricht ſeiner Ab¬
ſtammung bemeiſtern werde; und es druͤckte ihn ſehr,
da er dachte, daß fuͤr alle im Garten die Trauer
von dem ſchwarzausgeſchlagnen Trauerzimmer der
Erde abgenommen werde, nur fuͤr ihn wohl
nicht. — —
Aber da kam, von neuen Entzuͤckungen wieder¬
ſcheinend, ſeine Mutter und trocknete ihm eh' ſie
fragte, erſt die Augen ab. Ihre neuen Entzuͤckun¬
gen kamen davon her, daß Klotilde, da ihr von der
Pfarrerin ſeine Abkunft erzaͤhlet wurde, ihr um den
Hals gefallen und ſie um Verzeihung des ſo langen
Verhehlens, des ſo lange fortgeſetzten Raubes des
Kindes gebeten — und daß die Lady ſie erſucht, ih¬
ren Sohn ſchneller zu bringen. Viktor konnte vor
weinendem Entzuͤcken nichts ſagen, als: »iſt denn
[405] meine gute Agathe und der Blinde noch nicht da?«
— Und beide ſtanden — hinter ihm; und er verbarg
das Uebermaaß ſeiner Wonne unter Liebkoſungen der
Schweſter und des Freundes: ſein weiter Leidens¬
kelch war ja ganz mit Freudenthraͤnen vollgegoſſen.
Als er den ſchoͤnen Weg zu den lieblichen Ver¬
buͤndeten antrat im gehenden Zirkel drei liebender
Seelen: ſo kamen ſie ihm alle entgegen mit glaͤnzen¬
den Zuͤgen — mit ſchwimmenden Blicken — mit
verſchmerzten Erinnerungen, oder vielmehr mit ge¬
noſſenen, denn von den zertretenen Freudenblumen
auf dem Lebenswege wehet Wohlgeruch auf die jetzi¬
ge Stunde heruͤber, wie ziehende Heere oft aus
Steppen den Wohlgeruch zerquetſchter Kraͤuter
ausſchicken. Die Lady wurde von ihren zwei Kin¬
dern gefuͤhrt und ſagte verbindlich-laͤchelnd: »hier
»ſtell ich Ihnen meine geliebten Kinder vor, ſetzen
»Sie die Freundſchaft gegen ſie fort, die Sie ihnen
»bisher gegeben haben.« — Ihr Sohn Flamin flog,
»gleichguͤltig gegen Sitte, an ſeinen Hals. Klotilde
buͤckte ſich tiefer als ſie vor einem Fuͤrſten gethan
haͤtte und in ihrem Auge ſchwamm die Frage der
wehmuͤthigen Liebe: »biſt du noch ungluͤcklich? hab'
»ich noch dein Herz? Warum iſt dein Auge benetzt,
»warum deine Stimme gebrochen?« — Viktor er¬
wiederte mit eben ſo viel Zaͤrtlichkeit als Anſtand,
indem er ſich gegen die Lady wandte: »Sie konuten
[406] »an keinem ſchoͤnern Tage Ihren Sohn wieder fin¬
»den als am Geburtstage Ihrer Tochter.« ....
Daran hatte in den bisherigen Wirbelwinden kei¬
ner gedacht. Welches frohe Chaos! Welch eine
herzliche liebende Sprachverwirrung der Improviſa¬
tori von edlen Gratulanten! Welch ein geruͤhrter
Augendank Klotildens fuͤr ein ſo verbindliches Ge¬
daͤchtniß!
Man zog jetzt trunken durch den kuͤhlen Garten
in das Schloß. O wenn Schweſterliebe, Kindes¬
liebe, Mutterliebe, Geliebten-Liebe und Freundſchaft
neben einander auf den Altaͤren brennen: ſo thut es
dem guten Menſchen wohl, daß das Menſchenherz
ſo edel iſt und den Stoff zu ſo vielen Flammen ver¬
wahrt, und daß wir Liebe und Waͤrme nur fuͤhlen,
wenn wir ſie auſſer uns vertheilen, ſo wie unſer
Blut uns nicht eher warm vorkoͤmmt, als bis es
auſſerhalb den Adern gefloſſen im Freien iſt. — O
Liebe! wie gluͤcklich ſind wir, daß du von einer
zweiten Seele angeſchauet, dich wieder erzeugſt und
verdoppelſt, daß warme Herzen warme ziehen und
ſchaffen wie Sonnen Planeten, die groͤßern die klei¬
nern und Gott alle — und daß ſelber der dunkle
Planet nur eine kleinere, uͤberzogene, eingehaͤuſige
Sonne iſt. . . . Aber zuruͤck! Alle Seelen ſtanden
heute hoch auf ihrer Alpe und ſahen — wie auf ei¬
ner phyſiſchen — den Regenbogen des Menſchen¬
[407] gluͤcks als einen großen vollendeten Zauberkreis
zwiſchen der Erde und Sonne haͤngen. — Im
Schloſſe bat die Lady ihre Tochter, allein in das
dunkle Zimmer der Mundharmonika zu gehen, ſie
woll' ihr das Angebinde des Geburtstags geben.
Klotildens Auge nahm vom bleibenden Freund mit
einem zweiten Dank fuͤr ſeine Seele einen zaͤrtlichen
Abſchied. —
Nach ihrer Entfernung gab ihm die Lady einen
Wink, mit ihr hinter den andern nachzubleiben —
da ſank er gern vor Klotildens Mutter, die um
ihre Einwilligung in ſeine Liebe noch nicht gebeten
war, mit den Worten auf das Knie: »wenn Sie
»meine Bitte nicht errathen: ſo hab ich nicht den
»Muth, ſie anzufangen.« Sie hob ihn auf und
ſagte: »Bitten, die ſo ſtillſchweigend geſchehen, wer¬
»den eben ſo ſtille erfuͤllt — aber jetzt kommen Sie
»lieber und ſehen zu, womit ich meine Tochter be¬
»ſchenke.« — Aber er mußte erſt lange die Hand
benetzen und kuͤſſen, die ihm den Lindenhonig eines
ganzen Lebens reichen will.
Beide giengen nun in dieſem aus dem tauſend¬
jaͤhrigen Reiche heruͤbergeſchickten Abende ins dunkle
Zimmer zur Tochter. Warum entfloſſen Klotilden
Thraͤnen vor Wonne, noch eh' die Mutter ſprach?
— weil ſie ſchon alles errathen konnte. Die Mut
ter fuͤhrte den Geliebten an die Geliebte und ſagte
[408] zur Braut: »nimm hin das Angebinde deines Ge¬
»burtstages. Wenige Muͤtter ſind reich genug, ein
»ſolches zu geben — aber auch wenige Toͤchter ſind
»gut genug, es zu erhalten.« — Das Brautpaar
wurde vom Druck der ſchweren Wonne, des großen
ſtummen Dankes vor ihr niedergedruͤckt auf die Knie
und theilte ſich in die zwei wohlthaͤtigen Haͤnde der
Mutter; aber dieſe zog ſie ſanft aus fremden weg
und legte den Liebenden die ihrigen in einander und
ſchluͤpfte davon mit dem Laute: »hieher will ich
»unſre Gaͤſte bringen!« — —
— O ihr zwei endlich begluͤckten, neben einan¬
der knieenden guten Seelen! wie ungluͤcklich muß
ein Menſch ſein, der ohne eine Thraͤne der Freude,
— oder wie gluͤcklich einer, der ohne eine Thraͤne
der Sehnſucht euch ſehen kann jetzt ſtumm und wei¬
nend einander in die Arme fallen — nach ſo vielen
Losreiſſungen endlich verknuͤpft — nach ſo vielen
Verblutungen endlich geheilt — nach tauſend tau¬
ſend Seufzern doch endlich begluͤckt — und unaus¬
ſprechlich begluͤckt durch Herzensunſchuld und durch
Seelenfrieden und durch Gott! — Nein, ich kann
heute meine naſſen Augen nicht von euch wenden —
ich kann heute die andern guten Menſchen nicht an¬
ſchauen und abzeichnen — ſondern ich lege meine
Augen mit den zwei Thraͤnen, die der Gluͤckliche
und der Ungluͤckliche hat, feſt und ſanft auf meine
[409] zwei ſtillen Geliebten im dunkeln Zimmer, wo ein¬
mal der Hauch der Harmonikatoͤne ihre zwei Seelen
wie Gold- und Silberblaͤttgen an einander wehte
— O da ſich mein Buch jetzt endigt und meine Ge¬
liebten entweichen: ſo ziehe dich langſam weg, dunk¬
les Allerheiligſtes mit deinen zwei Engeln — toͤne
lange nach, wenn du aufflieheſt mit deinen melodi¬
ſchen Seelen, wie Schwanen zu Nachts mit Floͤten¬
toͤnen uͤber den Himmel ziehen — — Aber ach ſteht
nicht ſchon hoch und weit von mir das Allerheiligſte
und haͤngt als Silberwoͤlkgen am Horizont des
Traums? — O dieſe guten Menſchen, dieſer gu¬
te Viktor, dieſer gute Emanuel, dieſe gute Klotil¬
de, alle dieſe Fruͤhlings-Traͤume ſind aufgeſtiegen
und mein Herz blickt ſchmerzlich auf und rufet ohne
Hoffnung nach: Fruͤhlings-Traͤume, wann kommt
»ihr wieder.?« —
O warum wuͤrd' ichs thun, wenn nicht die
Freunde, die wir ſo feſt an den Haͤnden faſſen,
auch Traͤume waͤren, die aufſteigen? Aber dieſen
rufet das auf dem Grabſtein zuckende zuruͤckgefallne
jammernde Herz nicht nach: Fruͤhlingstraͤume, wann
kommt ihr wieder? — —
[410]
Nachtrag zum 44. Hundspoſttag.
Nichts —
Da dieſer Nachtrag zu einem Poſttaͤglein zu klein
war: ſo wartete ich immer auf den Hund und auf
neuen biographiſchen Pfeifenthon und Teig — Da
aber die poste aux chiens ausbleibt, ſo will ich nur
die wenigen kakophoniſchen Toͤne, die ich aus dem
liebenden Konzert des vorigen Kapitels herausge¬
than, hier auf meine Noten ſetzen. Es iſt lauter
verdruͤßliches Zeug, was ich hier noch nachzuholen
habe, und eben jene Knartoͤne koͤnnen wieder eine
neue Lauwine herabwerfen und neuen Unfug [ſtiften].
Es iſt nur dumm, daß ſo das Buch aus und doch
nicht aus iſt, da der Hund von einem — Hund
ganz unerwartet weg iſt wie Schnupftaback.
Die ſtiefmuͤtterliche Kammerherrin, die vom bio¬
graphiſchen Geiſter- und Koͤrperbanner ſeit langem
aus dieſen Blaͤttern Landes verwieſen iſt, war bei
der Ankunft der Lady aus ſehr natuͤrlicher Antipa¬
thie wegmarſchiert auf ein kleines Landgut. Reiſe
zu, du biſt ohnehin meine Amancebada nicht! —
[411] Matthieu war im vorigen Kapitel nach ſeiner alten
Kuͤhnheit unter lauter Widerſachern ſeines dunkel¬
braunen Ichs ein wenig da geblieben; und ſaß im
Schloſſe, als die gluͤckliche Prozeſſion aus dem Gar¬
ten einzog. Er wuſte noch nicht, daß der Hofmann
Viktor wahrhaftig nichts iſt als ein bloßer platter
Pfarrſohn. Anfangs ſetzte er den antiken Spas ſei¬
ner Liebeserklaͤrung gegen Agathen fort und reizte
den Pfarrer zu Komplimenten und Dankadreſſen
fuͤr die Dienſte an, die er allen heute erwieſen. Als
er aber zu viel Gleichguͤltigkeit gegen ſeine kalte
Bosheit vorfand, benahm er ſeiner Verachtung die
Zweideutigkeit. Ueberhaupt war ſein Herz aufrichtig
und ſtellte ſich lieber boshafter als tugendhafter an
als es war: er haßte jene Verſtellung, wodurch ſich
mancher Hoͤfling leicht jene Miene des Tugendhaft¬
ten giebt, die am beſten durch Lavaters Bemerkung
zu erklaͤren iſt, daß der Zornige auf ſeinem Geſicht
die Mienen deſſen den er haſſet, bekomme.
Endlich errieth Matthieu die Geheimniſſe und
der Pfarrer beſtaͤtigte ſie ihm. Ein ſolches Waſſer
fuͤr ſeine Schneide- und Saͤgemuͤhle, auf der er
Menſchen fuͤr ſein Throngeruͤſte zurechtſchnitt, war
noch nie auf ihn zugefloſſen — wenn er dieſes neue
Falſum, dieſen neuen entſetzlichen abſcheulichen Be¬
trug, den der Lord dem Fuͤrſten geſpielt, dem Fuͤr¬
ſten vortraͤgt: ſo muß, — ſchließet er — Jenner
[412] außer ſich kommen vor Erſtaunen uͤber Horions Luͤ¬
gen und uͤber Matthieu's Wahrheiten. — Jetzt
hielt ers fuͤr Pflicht, zu laͤcheln zwar, aber nicht
mehr ſchadenfroh wie Maz, ſondern ordentlich ver¬
achtend wie ein Hof-Lehnman ſoll: auch fuͤhlte er,
wie ſehr es unter ſeiner Wuͤrde ſei, ſich laͤnger in
dieſes buͤrgerliche Quodlibet, ohne es doch zum Nar¬
ren zu haben, mit einquirlen zu laſſen. Er gieng
mithin — um die Nouvelle aus ſeinem Saͤetuch in
gutes Land auszuwerfen — nach einem kurzen aber
aufrichtigen Gluͤckwunſche zur Vermaͤhlung noch die¬
ſelbe Nacht an den Hof zuruͤck — — — und der
Teufel folgte ihm als Kammermohr anſtaͤndig hin¬
terdrein.
Ich wollte, der Spitzbube thaͤte keinen Tritt mehr
in meine biographiſche Schreibſtube und casa santa:
er iſt ſich ſo vieler unmoraliſcher Huͤlfsquellen be¬
wuſt, daß er ordentlich im Kraftgefuͤhl derſelben
mit den Suͤnden ſpielt und immer einige mehr wagt
als er braucht; ſo wie er z. B. in der Maienthaler
Allee mit der Stimme der Nachtigall aus bloßem
Uebermuth Viktor und Klotilde in ſeine Naͤhe lockte,
obgleich Flamin beide ohne jene Philomelenmaſchi¬
nerie haͤtte belauſchen koͤnnen. Von dieſer Seite
wuͤnſch' ich faſt gar nicht mehr, daß der Poſthund
weiter koͤmmt: ich muß zu ſehr beſorgen, daß Mat¬
thieu neuen Kroͤtenlaich und eine neue Eſſigmutter
[413] des Elends an die Waͤrme Jenners bringt, damit ſie
neues giftiges ſcharfes Ungluͤck aushecke; denn er
wird es gewiß hoͤchſten Orts berichten, daß die drei
Englaͤnder ſich in die Inſel wie in eine Katakombe
verſtecken — daß Flamin ſich ihnen zugeſelle — daß
Viktor bisher einen belogen, deſſen Unterthan er
ſei — noch anderer Dinge zu geſchweigen, die die
miniſterialiſche Spionin und Kammerherrin von
le Baut mittheilt und ſein ſo anti klubbiſtiſcher
Vater anſchwaͤrzt, die jene zeichnet und dieſer kolo¬
riert. Und wenn ich bedenke, daß in dieſer Bio¬
graphie ein kleines Ungluͤck immer die Eierſchale
und das Eiweis eines großen war; ſo bin ich ſehr
geneigt zu glauben, daß der Ausdruck des Pfarrers
am 21. Oktober mehr Wiz als Wahrheit enthalte:
»daß ſie gegenwaͤrtig alle ſtatt des Thraͤnenbrods
»den Brautkuchen der Freude anſchnitten.». . . . . . .
Ihr guten Menſchen! worin mag jetzt in dieſer Mi¬
nute euer Buſen auf und niedergehen, im weichen
duͤnnen Aether der Freude, oder im Gewitter-Bro¬
dem der Angſt? —
[414]
45ſtes oder letztes Kapitel.
Knef — Stadthof — Schweisfuchs — Räuber — Schlaf —
Schwur — Nachtreiſe — Gebüſch — Ende. . . .
Ich ſage nur ſo viel voraus, ſo lange man noch
Dinte — und Johannisbeerwein — aus Federſpuh¬
len verzapfte; ſo lange noch Kiele geſchnitten wur¬
den, um Friedensinſtrumente zu machen — oder ver¬
kohlet, um Kriegsinſtrumente zu machen (denn die
Kohle des Schießpulvers bereitet man aus Federn) —
und noch laͤnger vorher, ſo lange iſt der ſonderbare
Kaſus gar noch nicht vorgefallen, den ich der Welt
jetzt zu berichten habe. Wie geſagt, ich ſage nur
das voraus, der Kaſus iſt leiblich.
Weil der Poſthund ſeit dem 44. Kapitel von
dieſem gelehrten Werke die Hand oder Pfote abge¬
zogen: ſo wollt' ichs allein hinausmachen und nur
noch ein letztes Kapitel — aber nicht dieſes — als
Schlußleiſten und Schwanengeſang gar anſtoßen, da¬
mit das opus einmal auf die Poſt und auf die Welt
kaͤme. Gute Rezenſenten dacht' ich, laͤſſeſt du uͤber
den Mangel an einer Finalkadenz, ſich mit dem Poſt¬
[415] Hunde und biographiſchen Leithaͤmmel ſo lange herum¬
beißen als ſie wollen. .... Es war ſchon
gegen das Ende des Oktobers und meiner Robinſo¬
nade auf der Johannisinſel, als der alte gute Frei¬
tag dieſes Robinſons, mein D. Fenk von ſeiner
langen botaniſchen Alpenreiſe, nach Scheerau heim¬
kehrte, aber ſogleich wieder in die See ſtach und
auf meinem Johannitermeiſterthum ausſtieg.
Wir ſetzten uns nieder zu zwei oder drei Gaͤn¬
gen mit hiſtoriſchen Eingeſchneizes (Ragout) von
Reiſeanekdoten. Zuletzt macht' ich ihn — wie alle
Gelehrte thun — auf das aufmerkſam, was ich
ſchriebe, auf mein neueſtes Opusculum, das ſo ver¬
dammt hoch vor uns aufgebettet ſtand wie ein Ster¬
nenkegel: »es iſt ganz fluͤchtig, (ſagt' ich) von mir
»gefallen, oft zu Nachts, ſo wie Voltaire oder die
»Pfauhennen im Schlafe Eier aufs Stroh herunter
»— ſpringen laſſen. Ich habe die Welt mit die¬
»ſem Legat von drei Heftlein gern bedacht; aber
»das Legat wartet noch aufs letzte Kapitel — ſonſt
»wird die Hundsarbeit im edeln Sinn eine im
»ſchlechten. Er las das ganze Vermaͤchtniß vor
meinen Augen durch — welches fuͤr einen Autor
eine naͤrriſche ſchwuͤle Empfindung iſt — und
ſchwepperte oft mit den zwei Armen auf und nieder
und wollte den Verfaſſer roth machen durch uͤber¬
treibendes Lob; aber es war nichts, denn ein Ver¬
[416] faſſer hat ſich jedes ſchon vorher tauſendmal ertheilt
und iſt zugleich ſeine eigne Fleiſchwage, ſein eignes
Fleiſchgewicht und ſein eignes Fleiſch, weil er wie
ein Tugendhafter mit ſeinem eignen Beifall zufrieden
iſt. —
»Der Held deiner Poſttage — ſagt' er — iſt
»ein wenig nach dir ſelber geboſſelt.» — Das,
verſetzte ich, entſcheide die Welt und der Held,
wenn mich beide kennen lernen; es thuns aber alle
Autores, ihr Ich ſteht entweder abgezeichnet vor
dem Titelblatt oder darhinter mitten im Werke, wie
der Maler Markus Gerard in allen ſeinen Land¬
ſchaften eine Frau anbrachte, die p—ſte.
Nun aber denke man ſich mein ſtaunendes Haͤn¬
dezuſammenſchlagen, als der Doktor mir das Laͤnd¬
gen nannte, wo die ganze Geſchichte vorgieng: ***
heißet das Laͤndgen. «Ich duͤrfe nur hin, ſagt' er,
»ſo koͤnnt' ich das 45ſte Schwanz-Kapitel aus der
»Quelle ſchoͤpfen. Bei ſeinem Durchmarſch waͤre
»man in Flachſenfingen erſt uͤber dem 40. Hunds¬
»poſttage her geweſen. Wenn ich eigne Pferde neh¬
»men wollte (das will ich, ſagt' ich, ich kaufe mir
»noch hente eigne): ſo koͤnnt' ich vielleicht einem
»vornehmen Paſſagier nachkommen, der, wenn ihn
»nicht alles troͤge, der Lord leibhaftig waͤre.» We¬
gen einiger Loth Teufelsdreck, die Fenk unterweges
brauchte, war er ſogar bei Zeuſeln in der Apotheke
gewe¬[417] geweſen, dem, ſagt' er, die Zahl 99 ſo leſerlich wie
dem Nummernvogel (Catalanta) die Zahl 98 aner¬
ſchaffen ſei.
Verdenken kann man's warlich keinem Autor, der
nach ſeinem 45ten Schwanz- und Schleppenkapitel
krebſet und fiſchet, daß er wie unſinnig weglief —
aufpackte — anſchirrte — einſaß — fortjagte und ſo
wuͤthig zufuhr im Voruͤberſchießen vor Hotels, vor
Landhaͤuſern, vor Prozeſſionen, vor Sternen und
Naͤchten, daß ich nicht etwan in ** Tagen, ſondern
ſchon in *** Tagen (mancher wird gar denken, ich
mache Wind) in den Gaſthof zum goldnen Loͤwen
— beſtaͤubt aber ungepudert hineinſprang. Beſagter
Gaſthof liegt naͤmlich in der Stadt Hof, die ihrer
ſeits wieder in etwas groͤßerem liegt, naͤmlich im
Voigtland. Ich nenne mit Fleiß weder die Tage
meiner Reiſe noch das Thor, wodurch ich zu Hof
einſchoß, damit ich's nicht neugierigen Schelmen und
mouchards durch die Marſchroute verrathe, wie
Flachſenfingen heiſſet. Hof konnt' ich ohne Scha¬
den herausnennen, weil man von da aus — ſobald
man uͤber die Thore hinaus iſt — nach allen Punk¬
ten des Kompaſſes fahren kann; und ſo kann man
da, (welches recht gut iſt) auch aus allen Orten an¬
kommen, aus Moͤnchberg, Kotzau, Gattendorf, Sach¬
ſen, Bamberg, Boͤheim und von der Siebenhitz und
aus Amerika und aus den Spitzbubeninſeln.
Heſperus. III. Th. Dd[418]
Nicht weit vom goldnen Loͤwen (im Grunde im
Habergaͤßchen) ſtand ein vornehmer Englaͤnder und
ſah zu, wie ſeine vier rauchende Pferde eine Medi¬
zin von ⅔ gemeinen Salpeter und ⅓ Roßſchwefel ge¬
gen das Verſchlagen einbekamen. Der Fremde —
der ungefaͤhr ſo viel Jahre haben mochte als dieſes
Buch Tage — war ſchwarz gekleidet, lang, ehrwuͤr¬
dig, reich (nach der Equipage zu urtheilen) und ſchoͤn
gebildet. Sein heller und fixirter Blick lag wie ein
Fokus-Punkt zuͤndend auf den Menſchen — ſein
Geſicht war glatt und kalt — auf ſeiner Stirne
ſtand die lothrechte Sekante als der Taktſtrich der
Geſchaͤfte, als Exklamazionszeichen uͤber die Muͤhen
des Lebens — mit bleichen wagrechten Linien war
dieſer Taktſtrich raſtriert, beide Arten von Linien
waren gleichſam wie Zeichen in die zu hohe Stirne
eingeſchnitten, wie hoch das Thraͤnenwaſſer der
Truͤbſal ſchon an dieſer Stirne, an dieſer Seele auf¬
geſtiegen ſei. »Ich wollte den Lord Horion —
»dacht' ich — anders geſchildert haben, wenn mir
»dieſes Geſicht eher vorgekommen waͤre. Viel¬
leicht denkt der Leſer, das war der Lord ſelber.
Als der Englaͤnder mein Terzett von Schweis¬
fuͤchſen erblickt hatte: gieng er gerade auf mich zu
und leitete ein Tauſchprojekt ein und wollte meinen
Fuchs mit einem Rappen einwechſeln. Er hatte die
Phantaſie der vornehmen Ruſſen, mit einem ordent¬
[419] lichen Zento ungleichfaͤrbiger Pferde zu fahren — ſo
wie er die ſchoͤnere Sitte der Neapolitaner hatte,
ein freies lediges Pferd wie einen Hirſch neben dem
Wagen hertanzen zu laſſen — Daher des Roß-
Quodlibets halber, wollt' er meinen elenden Fuchs
erſtehen, der, die Wahrheit zu ſagen, nirgends ſein
eignes Haar trug als hinten auf dem Buͤrzel. Ich
ſagte es ihm geradezu — um ihm keinen Argwohn
eines Eigennutzes und einer Abſicht zu laſſen —,
»meine drei Fuͤchſe ſaͤhen wie die drei Furien aus
und ſtellten die drei Kavitaͤten der Anatomie ein wenig
vor; blos der Schweisgaul, den er wolle, ſei herr¬
lich gebauet, beſonders um den Kopf herum, und
ich verloͤr' ihn ungern gerade jetzt, da mir der Kopf
erſt recht einſchlagen will.» — »So?» ſagte der
Britte. »Natuͤrlich, ſagt' ich: denn ein Pferdekopf
»iſt das beſte Mittel gegen Wanzen; und der muß
»nun bald wie eine reife Pflaume vom Gaul abfal¬
»len — den Kopf kann ich in [mein] Bettſtroh
»thun.» Der Englaͤnder laͤchelte nicht einmal; un¬
ter dem ganzen Handel regte er keinen Finger, keine
Miene, keinen Muſkel. Erſt als ich ſelber geſagt
hatte: »wenn nur die drei Parzen ſo lange auf den
»Beinen bleiben, bis ich das 45te Kapitel abgeholt
»habe auf der Achſe»: ſo fiel es mir auf, daß er
mich auf eine entfernte Art mehr zu ſtudieren und
auszufragen getrachtet als den Schweisfuchs — und
Dd 2[420] ich gerieth auf die Hypotheſe, ob er nicht gar den
ganzen Roßtauſch nur zum Deckmantel ſeines ver¬
daͤchtigen Rekognoſzieren-Fragens gemißbraucht
habe.
Der Leſer leſe nur weiter! — Der Englaͤnder
fuhr mit meinem Fuchs-Muſkelnpraͤparat davon —
und ich ſpaͤter hintennach mit dem Rappen, der ſo
ſchwarz und gleiſſend war wie der alte Adam des
Menſchen.
Aber ich muß erſt ſagen was ich in Hof wollte,
— dediziren wollt' ich. Anfangs ſollte jedes dieſer
Heftlein einer Freundin zugeeignet werden; aber ich
muſte beſorgen, es wuͤrde mich gereuen, weil ich
mich jeden Monat mit einer andern — mit allen
auf einmal nie — zu zanken pflege. Ich moͤchte
wiſſen, unter welcher geographiſchen Breite der
Mann laͤge, der nicht mit ſeiner Freundin tauſend¬
mal oͤfter keifte als mit ſeinem Freund. Der Bio¬
graph muſte alſo aus Noth, weil er zu veraͤnderlich
iſt — mit ſeinen drei Heftlein queer aus dem gold¬
nen Loͤwen uͤber die Gaſſe ziehen und zu dem einzi¬
gen ins Haus gehen, gegen den er ſich nicht aͤndert
und der's auch nicht thut und zu ihm ſagen: »hier,
»mein lieber guter Chriſtian Otto dedizir' ich dir
»wieder etwas — drei Heftlein auf einmal — huͤbſch
»waͤr' es, wenn du jedes wieder an die Deinigen
»dedizirteſt, dreie langen gerade zu — Ich reite
[421] »nun dem 45ten Kapitel nach, und du, ſchneide und
»raupe indeß an den 44 andern Rabatten ſo viel
»ab als du willſt.
Und hier, mein Treuer, muſt du das letzte Kapi¬
tel auch gar haben und ich ſetze nur noch dazu:
»dieſen Heſperus, der als Morgenſtern uͤber
meinem friſchen Lebensmorgen ſteht, kannſt du noch
anſchauen, wenn mein Erdentag voruͤber iſt; dann
iſt er ein ſtiller Abendſtern fuͤr ſtille Menſchen,
bis auch er hinter ſeinem Huͤgel untergeht.«
Ich bin ein wenig aus der Melodie heraus, ich
ſinge mich aber wieder hinein, wenn ich erzaͤhle, daß
mich in der Hauptkirche mein ehemaliger Stuben¬
kamerad, jetziger theologiſcher Kandidat J. P. Friede¬
rich Richter ungemein erbauete durch zwei gute
Theile; im erſten Theile zeigte er ſeinen Hoͤfern aus
der Epiſtel, daß ſie einander in der fluͤchtigen Luft¬
erſcheinung des Lebens nicht raufen, ſondern recht
lieben ſollten, ohne Ruͤckſicht auf die Nummern der
Haͤuſer — und im zweiten Pars that er dar, ſie
ſollten ſich im kurzen abnehmenden Lichte des Lebens
von Zeit zu Zeit einen und den andern Spas ma¬
chen . . . . .
Als ich kaum einige Stunden — Tage — Wo¬
chen gefahren (denn die Wahrheit ſag' ich nicht) und
gegen Mitternacht in meinem Wagen bergauf in ei¬
nem dicken Forſte eingeſchlafen war: ſo ſtuͤrzten zwei
[422] Haͤnde, die von hinten durch das Ruͤckenfenſter ſich
hereingearbeitet hatten eine Bienenkappe uͤber mei¬
nen Kopf, ſchnallten ſie hurtig um den Hals mit ei¬
nem Vorlegſchloß, verſchraͤnkten und verdeckten
meine Augen, und mich ſelber ergriffen, hielten und
banden zehn bis zwoͤlf andere Haͤnde. Das Schlimſte
bei ſo etwas iſt, daß man denkt, man wird todt¬
geſchlagen und von ſeinen Juwelenkaͤftgen entbloͤſt:
nun kann man aber einen Antor, der ſein Buch noch
nicht hinaus gemacht hat, nicht aͤrgerlicher und ver¬
drießlicher machen, als wenn man ihn erſchlaͤgt.
Kein Menſch will in einem Plane ſterben; und doch
traͤgt jeder zu jeder Stunde des Tages zugleich auf¬
knospende, gruͤne, halb reife und ganz reife Plane.
Ich ſuchte alſo mein Leben mit einer Tapferkeit zu
verfechten — weil mir um's 45te Kapitel und deſſen
Kunſtrichter zu thun war —, daß ich — ich kann es
ſagen — vier bis fuͤnf Prinzenraͤuber leicht uͤber¬
meiſtert haͤtte, waͤr' es nicht ein halb Dutzend ge¬
weſen. Ich ſtreckte das Gewehr, behauptete aber
das Schlachtfeld, naͤmlich das Kutſch-Kiſſen und
merkte uͤberhaupt, daß man den Berghauptmann
nicht ſowol todt machen wollen als blind. Es
wurde noch abentheuerlicher — mein eigner Kerl
wurde nicht vom Throne ſeines Bocks geſtuͤrzt —
mein Wagen blieb auf dem Wege nach Flachſenfin¬
gen — zwei Herren ſetzten ſich zu mir hinein, die
[423] nach ihren Maͤdgenhaͤnden zu urtheilen, von Stande
waren — und noch ſonderbarer, es boll ein Hund,
der, dem Bellen nach, als Meshe!fer und Mit¬
meiſter an dieſem gelehrten Werke gearbeitet
hatte.
Wir ſoupirten und goutirten unter freiem
Himmel. Hier wurde mir ein chirurgiſches Ordens¬
band auf bloßen Leib umgethan, weil ich unter den
Viertelsſchwenkungen und Hand-Evoluzionen meiner
Gegenwehr ungluͤcklicherweiſe mein Schulterblatt in
eine Spitze getrieben hatte. Eſſen konnt' ich recht
gut, weil das blecherne Kanarienbauer-Thuͤrgen an
meiner Bienenkappe weit aufgedrehet war. O lieber
Himmel! wenn das Publikum den Verfaſſer der
Hundspoſttage haͤtte ſeine Viktualien in die aufhaͤn¬
genden Thorfluͤgel von Blech einſchieben ſehen: er
waͤre vergangen! — Unter dem Eſſen lockte ich
den Hund mit dem Namen: Hofmann! zu mir: er
kam wirklich; ich fuͤhlte ihn aus, ob an ſeinem
Halſe kein 45tes Kapitel hinge — er war
leer.
Nach einem langen Wechſel von Fahren — Eſ¬
ſen — Schweigen — Schlafen — Tagen — Naͤch¬
ten wurd' ich endlich in eine See geſetzt und ſo lan¬
ge herum gefahren (oder kam's von einem Schlaf¬
trunk) bis ich ſchlief wie eine Ratte. Was darauf
[424] geſchah: mach' ich — ſo wunderbar es immer iſt —
erſt bekannt, wenn ich die Bemerkung ausgeſchrieben
habe — daß zwar die große Freude und der große
Schmerz die edlern Neigungen in uns beleben und
vergnuͤgen, daß aber die Hoffnung, und noch
weit mehr die Angſt den ganzen Wurmſtock elender
Begierden, den Infuſionslaich kleiner Gedanken an¬
bruͤten und auseinander ringeln und ins Nagen brin¬
gen — ſo, daß alſo der Teufel und der Engel
in uns eine aͤrgere Paritaͤt ihrer zwei Religionen
als ſelber in Augsburg bei zwei andern iſt, zu er¬
halten wiſſen und daß jede von den zwei Religions¬
partheien im Menſchen eben ſo gut ihren eignen
Nachtwaͤchter, Zenſor, Wirth, Zeitungsſchreiber
beſoldet als wie geſagt in Augsburg. . . .
— Ich hatte die Augen noch geſchloſſen,
als ein Lispeln, von tauſend Gipfeln weiter gewir¬
belt, mich umſchwamm, das getriebene Luftmeer zog
durch enge Aeolsharfen und ſchlug daran Wellen und
die Wellen uͤberſpuͤhlten mich mit Melodien — eine
hohe Bergluft, von einer voruͤberſchieſſenden Wolke
herzuſchlagend, fuhr wie ein Waſſerſtrahl kuͤhl an
meine Bruſt — ich oͤffnete die Augen und dachte,
ich traͤumte, weil ich ohne die eiſerne Maske war
— ich war an die fuͤnfte Saͤule auf der oberſten
Stufe eines griechiſchen Tempels gelehnt, deſſen
[425] weiſſer Fußboden die Gipfel taumelnder Pappeln
umzingelten — und die Gipfel von Eichen und Ka¬
ſtanien liefen nur wie Fruchthecken und Gelaͤnder¬
baͤume wallend um den hohen Tempel und reichten
dem Menſchen darin nur bis an das Herz. —
Ich muß ja dieſe wuͤhlende Gipfelſaat kennen,
ſagt' ich, — dort haͤngen Trauerbirken die Arme —
da drauſſen knieen Staͤmme vor dem Donner, der ſie
getroffen — flattern nicht 9 Floͤre und zerſtaͤubte
Fontainen in gefleckten Zweigen durch einander —
und die Gewitter haben hier ihre fuͤnf eiſernen
Szepter (Gewitterableiter) in die Erde gepflanzt. —
Das iſt doch gewiß ein Traum von der Inſel der
Vereinigung, die ſo oft bisher den Nebel
des Schlafs mit Strahlen durchſchnitten und
himmliſch und ziehend meine Seele angeſchimmert
hat. — —
Es war kein Traum. Ich ſtand von der Stufe
auf und wollte in den griechiſchen durchhellten Tem¬
pel, der bloß aus einem griechiſchen Dache und fuͤnf
Saͤulen und der ganzen um ihn gelagerten Erde be¬
ſtand, eintreten, als mich acht Arme umfaßten und
vier Stimmen anredeten: »Bruder! — wir ſind
deine Bruͤder.« Eh' ich ſie anſchauete, eh' ich ſie
anredete: fiel ich gern mit ausgebreiteten Armen
zwiſchen drei Herzen die ich nicht kannte, und ver¬
[426] goß Thraͤnen an einem vierten, das ich nicht kannte
und hob endlich, nicht fragend ſondern begluͤckt, die
Augen von den unbekannten Herzen auf in ihr An¬
geſicht und unter dem Anſchauen ſagte hinter mir
mein geliebter D. Fenk! »Du biſt der Bruder Fla¬
»mins und dieſe drei Englaͤnder ſind deine leiblichen
»Bruͤder.« . . . Die Freude zuckte durch mich wie
ein Schmerz — ich druͤckte mich ſtumm an die Lip¬
pen der vier Umarmten und Umarmenden — aber ich
ſtuͤrzte dann an den aͤltern Freund und ſagte gebro¬
chen: »guter, lieber Fenk! ſag' mir alles! Ich bin
»zerruͤttet und bezaubert von Dingen, die ich doch
»nicht faſſe.»
Fenk gieng laͤchelnd mit mir wieder zu den vier
Bruͤdern und ſagte zu ihnen: »ſeht, das iſt euer
»fuͤnfter auf den ſieben Inſeln verlorner Bruder und
»euer Biograph dazu — nun hat er endlich ſein
»45ſtes Kapitel erwiſcht.« — Nun wandte er ſich
an mich: »Du ſiehſt doch (ſagt' er), daß das die
»Inſel der Vereinigung iſt — daß die Drillinge da
»die drei Soͤhne des Fuͤrſten ſind, die unſer Lord
»bringen wollte. — Deinetwegen, weil du ſchon
»lange von den ſieben Inſeln weg biſt, iſt er durch
»alle Marktflecken und um alle Inſeln von Europa
»gefahren. Endlich ſchrieb ich ihm.« . . . .
»Du biſt gewiß auch (unterbrach ich ihn) mein
»Korreſpondent mit dem Hund geweſen.« —
[427]
»Fahr nur fort, ſagt' er.«
»Und Knef iſt der umgekehrte Fenk — und haſt
»dich bei Viktor fuͤr einen Italiener, der kein
»Deutſch kann, ausgegeben — und ihm den ganzen
»Tag ſeine eigne Konduitenliſte fuͤr den Lord abge¬
»ſchrieben, und fuͤr mich im Grunde auch, um ſein
»und mein Spion zu ſeyn.« —
»So iſt's — und habe alſo (ſagt' er) dem Lord
»auch geſchrieben, dein franzoͤſiſcher Name Jean Paul
»mache dich verdaͤchtig und da du noch dazu ſelber
»nicht weißt, wo du her biſt, und dazu gerechnet
»dein naͤrriſches Stuͤck Lebensweg, der wie in einem
»engliſchen Garten nicht eine Meile lang gerade aus
»geht« — —
»Der Biograph, ſagt' ich, ſollte uͤberhaupt ſein
»eigner ſeyn.« — *)
»Jetzt wird mir's unbegreiflich, wie ich nur
»nicht gleich darauf fallen koͤnnen: denn deine Aehn¬
»lichkeit mit Sebaſtian, die der fuͤnfte Sohn des
»Fuͤrſten haben ſollte, merkteſt du laͤngſt ſelber —
[428] »und dein Stettiner-Doſenſtuͤck auf dem Schulter¬
»blatt, das die Herren da alle aufhoben, und das
»der Lord vorgeſtern ſelber unter deinem Verbande
»angeſehen.«
»So, ſo! (ſagt' ich) Deswegen bekam alſo euer
»Biograph die Falkenhaube, die Ruͤckenwunde, den
»huͤbſchen Rappen und der Fremde in Hof war der
»Lord? —
Kurz bei allem dieſen hatte der Lord ſich gar voͤl¬
lig uͤberzeugt, daß ich der waͤre, den er ſo lange ge¬
ſucht; denn vorher hatte er ſchon lange das Schrei¬
ben von Fenk durch funfzehn Haͤnde erhalten, in¬
dem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Ha¬
deln nach Ziegenhain in Niederheſſen lief, dann in
die Herrſchaft Schwabek, dann in die Grafſchaft
Holzapfel, nach Schweinfurt, nach Scheer Scheer,
und doch wieder zuruͤck nach ** und *** und
endlich nach Flachſenfingen, wo er's erſt erhielt:
dort, in der Inſel der Vereinigung, war er lange
verſteckt geweſen, bis ihn das Schreiben, der endi¬
gende Oktober, der die Muttermaͤhler gleichſam mit
rother Dinte durchzog, und am meiſten die drei
aus St. Luͤne exilirten Britten, die auf der Inſel
ausſtiegen, nach Scheerau oder vielmehr nach Hof
im Voigtland abzureiſen zwangen. Hier ſtieß ich
ihm auf, und mein altes Geſicht, das er ſofort mit ei¬
[429] nem juͤngern Nachſtich vom fuͤnften Fuͤrſtenſohne zu¬
ſammenhielt, warf ſogleich im »Habergaͤßgen« uͤber
alles das reichlichſte Licht.
Sobald er das wußte, ließ er mich allein hinter
meiner Bienen-Blechkappe [und] Moſis Decke fahren,
und eilte voraus zum Fuͤrſten gerade eine Minute
fruͤher eh' es — zu ſpaͤt war. Denn Matthieu hat¬
te alles verrathen; und die Drillinge wollte man
eben aus der Inſel, worein ſie geflohen waren, und
unſern Viktor aus ſeiner Mutter Hauſe, worin er
ſchon Hof und Adel uͤber Pazienten und Wiſſenſchaf¬
ten und Braut vergeſſen hatte, abholen zum Ver¬
haft. Aber der Lord — deſſen Seele eine petro¬
graphiſche Karte erhabener Ideen war — griff
den Fuͤrſten mit ſeiner Allmacht an— zog die Schleier
von der ganzen Vergangenheit ab — trotzte ihm —
erſchuͤtterte ihn — zerfaſerte die Strick-Seele von
Maz — legte ihm die h. Dokumente des großen
alles mit dem Tode beſchwoͤrenden Emanuels vor und
die der Mutter und meiner Bruͤder — — berief ſich
auf die Feſtons von den fuͤnf in Blute ſtehenden
Schultern — denn es war der 30 Oktober (heute iſt
der 31ſte) — und ſagte, den 31ſten woll' er das al¬
les noch auf eine Weiſe beſiegeln, wie noch kein
Menſch es gethan — —
Edler Mann! Du verzehrſt nichts weiter auf
[430] der Erde als dich, und biſt ein Sturmvogel, durch
deſſen Fett ein Docht (Philoſophie) gefaͤdelt iſt und
den jetzt ſein eignes Licht ausbrennt und verkohlt —
mir ahndet, als wenn deine ſchoͤne Seele bald
auf einer andern, auf einer hoͤhern Inſel
der Vereinigung ſeyn werde als auf dieſer
irrdiſchen!
Ich ſchreibe dieſes den 31. Oktober Vormittags
um 10 Uhr auf der Inſel.
Abends um 6 Uhr in Maienthal.
Womit wird dieſes Buch noch enden? — mit
einer Thraͤne oder mit einem Jauchzen? —
Der D. Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord
erſt kommen wollte) den Koch- oder Lumpen-Zucker
der Laune auf unſere Minuten und Schmerzen; ſein
naͤrriſches rothes Geſicht war das violette Zuckerpa¬
pier der Suͤßigkeit. Denn mein guter Sebaſtian
war mit Klotilden in Maienthal. Jener lachte mich
in Einem fort aus als einen Dauphin. Es iſt mir
aber aus der Geſchichte recht gut bekannt, daß in
Frankreich ſchon unter Ludwig XIV das jetzige
Gleichheitsſyſtem obwol erſt fuͤr Prinzen da war, die
der Koͤnig gleich machte, ſie mochten als Meſtitzen,
[431] oder Kreolen oder Quarteronen *) oder Quinteronen
oder Eingeborne des Throns ans Leben ausgeſtiegen
ſeyn. Da man nun eben ſo gut in Deutſchland neue
Geſetze und Novellen der Reichsgeſetze hervorzubrin¬
gen vermag als auſſer den Graͤnzen deſſelben: ſo
koͤnnt' es ja bei meinen Lebzeiten geſchehen, daß le¬
gitimirte Prinzen fuͤr thronfaͤhig erklaͤrt wuͤrden —
wodurch ich freilich zur Regierung kaͤme. Gut waͤrs
fuͤr Flachſenſingen, wenns geſchaͤhe, weil ich mir
vorher die beßten franzoͤſiſchen und lateiniſche Werke
uͤber das Regieren kaufen und es darin ſo ſtudiren
will, daß ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich
darf mir vorſetzen, das arme Menſchengeſchlecht,
das ewig im erſten April lebt und das nie vom
Gaͤngelwagen ſteigt — blos mehrere Raͤder werden
dem Wagen angeſetzt — ein wenig auf die Beine
zu bringen durch meinen Szepter Sonſt war ein
Edelmann und das Pferd eines engliſchen Bereiters
im Stande, den Hut abzuziehen, ein Piſtol los
zuſchieſſen, Taback zu rauchen, zu wiſſen, ob eine
Jungfer in der Geſellſchaft war u. ſ. w.; jetzt aber
haben ſich Pferd und Edelmann durch die Kultur ſo
von einander getrennt, das es eine wahre Ehre iſt,
letzerer zu ſeyn, und daß es meinem Adel nichts
[432] ſchadet (ob ich's gleich anfangs beſorgte), daß ich
mehr als gemeine Kenntniſſe habe. In unſern Ta¬
gen ſind die adelichen Vorderpferde nicht mehr ſo
weit wie vor hundert Jahren vor den buͤrgerlichen
Deichſelpferden am Staats-Wagen vorausgeſpannt;
daher iſt's Pflicht, wenigſtens Klugheit, (auch fuͤr
einen neuen Edelmann wie mich), daß er (oder ich)
ſich herablaͤſſet und das Gefuͤhl ſeines Standes —
warum ſoll mir das nicht ſo gut gelingen wie an¬
dern? — unter die Verzierung einer gefaͤlligen leich¬
ten Lebensart verſteckt und ſich uͤberhaupt auf keine
Ahnen etwas einbildet als auf die kuͤnftigen, de¬
ren ſaͤmmtliche Verdienſte ich mir nicht groß genug
denken kann, weil die Erde noch blutjung und erſt
im Fluͤgelkleide und wie Pohlen, im polniſchen Roͤck¬
gen iſt.
Ich komme zuruͤck. Um 2 Uhr kam der Lord
mit ſeinem blinden Sohn, gleichſam die Philoſophie
mit der Dichtkunſt. Schoͤner ſchoͤner Juͤngling! die
Unſchuld hat deine Wangen gezeichnet, die Liebe
deine Lippen, die Schwaͤrmerei deine Stirne. Der
Lord mit der Laudons Stirne und mit einem heute
mehr als in Hof verdunkelten ſchattigem Geſicht,
an das die Flitterwochen der Jugend und die Mar¬
terwochen des ſpaͤtern Alters vermiſchtes Helldunkel
war¬[433] warfen, dieſer trat heute faſt waͤrmer zu uns, ob¬
wol mit lauter Zuͤgen des Gefuͤhls, daß das Leben
ein Schalttag ſei und daß er nur die Menſchenliebe,
nicht die Menſchen liebe. Er ſagte, wir ſollten ihm
und dem Hofmedikus den Gefallen thun, letztern
noch heute in Maienthal zu beſuchen und herzubrin¬
gen, weil er hier ohne Augenzeugen noch allerlei
Anordnungen fuͤr die Ankunft des Fuͤrſten zu vollen¬
den habe; wir ſollten aber zu Nachts mit Viktor
niederkommen, weil unſer H. Vater morgen ſehr
fruͤhe eintraͤfe. Der Blinde konnte als Blinder da
bleiben. Es fiel mir nicht auf, daß er dem guten
verhuͤllten Julius verbarg, daß er ſein Vater war,
denn er ſagte zwei- und dreideutig: »da der Gute
»ſchon einmal den Schmerz einen Vater zu verlieren
»uͤberſtanden hat, ſo muß man ihm dieſem Schmer¬
»ze nicht zum zweitenmale ausſetzen.« Aber das fiel
mir auf, daß er uns bat, ihn fuͤr das, was er bis¬
her fuͤr Flachſenfingen thun wollen, dadurch zu be¬
lohnen, daß wir's thaͤten und ihm endlich zu ver¬
ſichern, daß wir in den Staatsaͤmtern die wir be¬
kommen wuͤrden, ſeine kosmopolitiſchen Wuͤnſche,
die er uns ſchriftlich uͤbergab, erfuͤllen wuͤrden, we¬
nigſtens ſo lange bis er uns wiederſaͤhe. Der
Fuͤrſt hatt' ihm dieſelbe feierliche Verſicherung geben
muͤſſen. Wir ſahen zu ihm hinauf wie zu ei¬
Heſperus. III. Th. Ee[434] nem bewoͤlkten Kometen und ſchwuren mit
Trauer.
Wir traten den Weg nach Maienthal an. Ein
Englaͤnder erzaͤhlte uns, daß er hinter dem Trauer¬
gebuͤſch — der Schlafkammer der Mutter des Blin¬
den, der Geliebten des Lords, die unter einer
ſchwarzen Marmorplatte ausruht — einen zweiten
Marmor habe aufgeſtellt geſehen, den die anflattern¬
den Flortuͤcher uͤberdecken ſollten und doch nicht
konnten. O da ſah jeder von uns ſich beklommen
nach der Inſel um, wie nach einer unterminirten
Stadt, eh' ſie zerriſſen aufgeſchleudert wird. —
Aber meine Sehnſucht, Viktor und Maienthal, die¬
ſen klaſſiſchen Boden meiner waͤrmſten Traͤume, zu
erblicken, uͤbertaͤubte die Angſt.
Endlich erſtiegen wir den ſuͤdlichen Berg und
das bunte Eden wuchs mit ſeiner Blaͤtter-Fuͤlle und
mit dem Gewimmel ſeiner pulſirenden Zweige rau¬
ſchend ins Thal hinab druͤben lag in Aeſten wie
ein Nachtigallenneſt Emanuels ſtille Huͤtte, in der
jetzt mein Viktor war — naͤher an uns braußte die
Kaſtanienallee und oben drauſſen ruhte der abgemaͤhte
Kirchhoff — — Mir war, da ich alles dieſes bis¬
her nur im Traum der Phantaſie geſehen, jetzt wie¬
der als zoͤgen Traͤume heran und der undurchſichtige
Boden wurde ein transparenter von Duft-Gebilden
[435] — und ich ſank voll Wehmuth auf den Berg. . . .
Ich gieng endlich hinab wie in ein gelobtes Land, aber
meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenſchleier
ein.
— Und mein Viktor riß den Schleier weg und
druͤckte ſeine warme Seele an meine und wir ſchmol¬
zen ein zu einem gluͤhenden Punkt. — O ich will ihm
nachher, wenn er wiederkoͤmmt aus der Abtei, noch
einmal und noch waͤrmer an die Bruſt fallen [und]
ihm dann erſt meine Liebe recht ſagen . . . O Vik¬
tor, wie biſt du ſo milde und ſo harmoniſch, ſo ver¬
edelt und ſo erweicht, wie ſchoͤn in der Freuden¬
thraͤne, wie groß in der Begeiſterung! — Ach Men¬
ſchenliebe, die du dem innern Menſchen das griechi¬
ſche Profil und ſeinen Bewegungen Schoͤnheitslinien
und ſeinen Reizen Brautſchmuck giebſt, verdopple
deine Wunder und Heilungskraͤfte in meiner hekti¬
ſchen Bruſt, wenn ich Thoren ſehe, oder Suͤnder,
oder unaͤhnliche Menſchen, oder Feinde, oder Fremde!
Viktor, [der] nie die Angſt eines Menſchen noch
groͤßer machte, gab uns einige Beruhigung uͤber den
Lord. Er gieng zu Klotilden ins Stift, um uns
bei ihr und der Aebtiſſin anzumelden — der ſpaͤte
Beſuch wird durch die Nothwendigkeit der naͤchtli¬
chen Zuruͤckkehr entſchuldigt. Bis er wiederkoͤmmt,
halt' ich mit meiner Geſchichte ſtill. Ich ſah ihm
nach auf ſeinem Wege zur Braut, und ſeine Hand,
Ee 2[436] ſein Auge und ſein Mund waren voll Gruͤße fuͤr je¬
den, beſonders fuͤr verſchmaͤhte Menſchen, fuͤr Greiſe,
fuͤr alte Witwen. Die Freude [meines] Helden wird
die meinige: die Zeit arbeitet an dem ſchoͤnen Tage,
wo ſein Herz auf immer mit dem verlobten ver¬
ſchmilzt, wo er, ohne ein Gelenke der entzwei ge¬
ſchnittenen Floh- und Affenkette des Hofes, frei
durch die Natur geht, nichts iſt als ein Menſch,
nichts macht als Kuren ſtatt der Kour, nichts liebt
als die ganze Welt, und zu gluͤcklich iſt um beneidet
zu werden. Dann will ich einmal, mein Baſtian,
Abends im Mondſchein unter Linden-Dampf und
Linden-Geſums bei dir eſſen, und mich auf den Bal¬
len gerade ausgepackter abgedruckter Hundspoſttage
ſetzen. Uebrigens bin ich — ob ich mir gleich mein
eignes Ich ſitzen ließ, um ſeines abzufaͤrben — nur
ein elender zerfloſſener ausgewiſchter Schieferabdruck
von ihm, nur eine ſehr freie paraphraſirte Verſion
von dieſer Seele; und ich finde, daß ein gebildeter
Pfarrſohn im Grunde beſſer iſt als ein ganz ungebil¬
deter Prinz, und daß die Prinzen nicht wie die Poe¬
ten geboren, ſondern gemacht werden.
Ich hoffe, ich habe ſo lange Materie zum Schrei¬
ben bis er wiederkoͤmmt. Ich habe uͤberhaupt in
meiner Biographie als Supernumerarkopiſt der Na¬
tur allzeit die Wirklchkeit abgeſchrieben — z. B. bei
Flamins Karakter hatt' ich einen Dragonerrittmei¬
[437] ſter im Kopf — bei Emanuels ſeinem dacht' ich an
einen großen Todten, einen beruͤhmten Schriftſteller,
der gerade am Tage, wo ich Emanuels Traum von
der Vernichtung mit ſuͤßer ſchauernder Trunkenheit
ſchrieb, aus der Erde gieng und halb unter ſie —
Die Goͤttin Klotilde fuͤgt' ich aus zwei weiblichen
Engeln zuſammen und ich werde in wenig Minuten
ſelber ſehen ob ich ſie getroffen. Fatal iſt's, daß ich
aus Gewohnheit den Leuten dieſes Buchs in der
Konverſazion die hundspoſttaͤglichen Namen gebe, da
doch Flamin eigentlich ** heißet, und Viktor **,
und Klotilde gar ** . Es waͤre zu wuͤnſchen, —
ich hab' es nicht verſchworen — ich machte die wah¬
ren Namen nach dem Tode einiger moraliſcher Ma¬
roden und Peſtkranken dieſer Hefte, oder nach meinem
eignen der Welt bekannt. Thu' ich's, ſo wird das ge¬
lehrte Europa hinter alle die Gruͤnde kommen, die das
politiſche ſchon weiß, welche den Berghauptmann ab¬
gehalten haben, in einige Partien ſeiner Hiſtorie
(zumal uͤber den Hof) ſo viel Licht einfallen zu
laſſen als er wirkiich haͤtte geben koͤnnen; und ich
erwarte, ob nach der Ausſtellung dieſer Gruͤnde der
Zeitungsſchreiber Y und der Geſandſchaftſekretair
Z, — die zwei groͤſten Feinde des Flachſenfingiſchen
Hofes und meiner Perſon — noch behaupten werden,
ich ſei dumm. Ja ich bin ſo kuͤhn, mich hier oͤf¬
fentlich auf den ** Agenten in ** zu berufen, ob
[438] ich nicht manche Perſonen in der Geſchichte ganz
ausgelaſſen habe, die darin mit agiret hatten und
in meiner biographiſchen [Zuckermuͤhle] als unter¬
ſchlaͤchtige Raͤder mit im Gange geweſen waren;
noch mehr, ich gebe meinem Widerſacher-Paar ſo¬
gar die Erlaubniß, die weggelaſſenen Perſonnagen —
ſie haben einige Gewalt, zu ſchaden — der Welt zu
nennen, wenn dieſer doppelte Geier das Herz dazu
hat. . . .
Der gute Spizius Hofmann wedelt jetzt und
ſpringt vor mir in die Hoͤhe. Guter fleißiger Poſt¬
hund! biographiſche Egerie des Jean Pauls! ich
werde dich zur Aufmunterung ſobald ich Zeit habe,
ausſchinden und nett ausbaͤlgen und mit einer Heu-
Wurſtfuͤlle durchſchießen, um dich in eine oͤffentliche
Rathsbibliothek als dein eignes Bruſtbild neben an¬
dere Gelehrte von Rang einzuſtellen! — Meuſel iſt
ein billiger Mann, den ich in einem eignen Privat¬
ſchreiben um einen Siz im gelehrten Deutſchland
fuͤr den Spiz anſprechen will; dieſer Gelehrte wird
ſo gut wie ich nicht einſehen, warum ein ſo fleißiger
Handlanger und Kompilator und Spediteur der Ge¬
lehrſamkeit als mein Hund iſt, blos darum ein elen¬
deres kaͤlteres Schickſal erleiden ſoll als [andere] ge¬
lehrte Handlanger, blos darum ſag' ich, weil er ei¬
nen Schwanz traͤgt, der ſein Steis-Toupee vorſtellt.
Blos der ſetzt das arme Vieh unter den Gelehrten
herunter.
[439]
— Ich ſeh jetzt Viktor durch die Lauben des
Gartens von Lichtern begleitet: ich will nur noch
eiligſt herwerfen‚ daß ich in der mit entblaͤttertem
Geſtraͤuch vergitterten Sakriſtei Emanuels ſitze. Eile
nicht ſo‚ Sebaſtian‚ der du wegen deiner bisherigen
Verwechslungen den drei oder vier Pſeudo-Sebaſtia¬
nen in Portugal gleichſt‚ eile nicht‚ damit ich nur
noch zu meiner Schweſter ſagen kann: du geliebte
Ex-Schweſter, dein toller Bruder ſchreibt ſich von,
aber du haſt nur ſeine Bruſt, nicht ſein Herz verlo¬
ren. Wenn ich nach Scheerau komme, will ich mich
um nichts ſcheeren und an dir unter dem Umarmen
weinen und endlich ſagen: es hat nichts auf ſich.
Mein Geiſt iſt dein Bruder‚ deine Seele iſt meine
Schweſter‚ und ſo veraͤndere dich nicht‚ verſchwiſter¬
tes Herz.
— Der gute Viktor geht haſtig. Ach Menſchen‚
die der Schmerz oft erkaͤltet hat, haben weder in
den koͤrperlichen noch moraliſchen Bewegungen die
langſame Symmetrie des Gluͤcks, ſo wie Leute, die
im Waſſer waten, große weite Schritte thun. —
O armer Viktor! warum weineſt du jetzt ſo und
kannſt dich gar nicht trocknen? . . . .
[440]
Fruͤh um vier Uhr in der Inſel der
Vereinigung.
Ach iſt es lange, daß ich fragte: wird ſich dieſes
Buch mit einer Thraͤne ſchließen? — Viktor kam
heute Nachts um 8 Uhr mit zwei großen unbeweg¬
lichen Thraͤnen auf dem Augenrand zuruͤck und ſagte:
wir wollen nur ein wenig ſchnell auf die Inſel zu¬
ruͤckeilen; Klotilde bittet uns ſelber darum, ſie lie¬
ber ein anderesmal zu ſehen. »Ein Ungluͤck —
»(habe ihr getraͤumt) — richte ſich jetzt groß und
»hoch wie eine Meerſchlange auf und werfe ſich nie¬
»der auf Menſchenherzen wie jene auf Schiffe und
»druͤcke ſie hinunter.» Sie war mit jeder Minute
banger und enger geworden wie man an einer dum¬
pfen Stelle wird, uͤber der noch der Blitz zielet und
ziſcht. Was ſetzte das anders voraus, als daß der
Lord ſeiner treuen Freundin Dinge entdeckt hatte,
die wir in dieſer Nacht zu erleben beſorgten? Und
wir konnten uns alle die Sorge nicht mehr verheh¬
len, daß ſein muͤder Geiſt vielleicht wie Lykurg
das Siegel ſeiner Leiche auf ſeine Verſicherung druͤk¬
ken wolle, daß wir Jenners Soͤhne ſind, ferner auf
unſern Schwur, gut zu ſeyn, und auf den fuͤrſtlichen,
meinen Bruͤdern zu folgen bis er wiederkomme.
»Weine nicht ſo ſehr, Viktor! (ſagt' ich), es iſt
»doch noch nicht gewiß.» Er trocknete ſich ſtill
[441] und gern die Augen ab und ſagte blos: »ſo wollen
»wir denn auf die Inſel jetzt gehen — es wird
»ſchon neun Uhr.»
Wir giengen fern, fern vor der fleckigen Trauer¬
birke voruͤber, die ihr abgeriſſenes Laub der welken
Huͤlle des großen Menſchen nachwarf. Viktor
konnte vor Schmerz nicht hinuͤberſehen; aber ich
blickte mit einem kalten Zittern nach ihrem Schwan¬
ken im heitern Nachthimmel. Erſt ſeit einigen Ta¬
gen, wo Viktor gluͤcklicher geworden war, hatte ſich
der Staub Emanuels gleichſam wieder in eine blaſſe
Geſtalt zuſammengezogen und ſich auf das Todten¬
gruͤn herausgeſtellt und die Arme weit fuͤr ſeinen al¬
ten Liebling aufgethan — und Viktor jammerte und
ſchmachtete und wollte vergeblich ſich ſterbend an den
weißen Schatten preſſen.
Er laͤchelte ſchmerzlich, da er uns und ſich durch
die Worte zerſtreuen wollte: »der naͤrriſche Menſch
»duckt (buͤckt) ſich wie ein Vogel, wenn nur das
»Ungluͤck von weitem auf ihn zugeht.» Seine Thraͤ¬
nen machten ihn zum Blinden und ich und Flamin
waren ſeine Fuͤhrer, dennoch gruͤßte er in ſeinem
Schmerze einen Nachtboten.
Ich habe nichts geſagt (denn ich kann nicht)
vom Garten des Endes, dem verbluͤhenden Boden
abgebluͤhter abgelaubter Freudentage.
Ueber die Stoppeln und uͤber die Puppen der
[442] Nachtſchmetterlinge, der Gaukler in kuͤnftigen Fruͤh¬
lingsnaͤchten und uͤber den feſten unterirdiſchen Win¬
terſchlaf fuhren die einſamen Nachtwinde — ach der
Menſch muſte wol denken: »Luͤfte, kommt ihr nicht
uͤber Graͤber her, uͤber theure, theure Graͤ¬
ber? —
Ich ſagte: wie ſchmal iſt der blasgruͤne Zwiſchen¬
raum von Erde zwiſchen Menſchenleibern und Men¬
ſchengerippen. — Viktor ſagte: ach die Natur ruht
ſo viel, und warum unſer Herz ſo wenig?
Es war gegen Mitternacht. Der Himmel blinkte
naͤher an der Erde, der Schwan, die Leier, der
Herkules*) ſchimmerten untergeſunken durch ein
anderes Himmelblau. Großer Himmel — ſagte je¬
des Herz — gehoͤreſt du fuͤr den Menſchengeiſt,
nimmſt du ihn einmal auf, oder gleichſt du nur dem
Deckengemaͤlde eines Dohms, das die gemauerten
Schranken verbirgt und mit Farben die Ausſicht in
einen Himmel aufthut, der nicht iſt? — Ach jede
Gegenwart macht uner Seele klein und eine Zu¬
kunft nur macht ſie groß.
Viktor war außer ſich und ſagte wieder: »Ruhe!
»dich geben weder die Freude noch der Schmerz,
»ſondern [nur] die Hofnung. Warum ruht nicht alles
»in uns wie um uns?»
Da ſchlug der von allen Waͤldern nachgelallte
Knall eines Schuſſes durch die ſtille Nacht — und
die Inſel der Vereinigung ſchwamm im Nachtblau
auf und ihr weißer Tempel hieng uͤber ihr — und
neben dem Trauergebuͤſch, das uͤber das Zerfallen
eines jungen Herzens hinuͤberwuchs, ſchoſſen gen
Himmel neun ſchmale Flammen, die an den neun
Floͤren aufliefen, gleichſam Freudenfeuer zu einem
Friedensfeſte.
Bleich, eilend, ſeufzend, ſchweigend beruͤhrten wir
das erſte Ufer der Inſel. Das Waſſer war vom
Boden trocken eingeſogen. Das ſchwarze Morgen¬
thor hatte ſich weit aufgeriſſen und ſeine weiße Far¬
benſonne an Baͤume gelehnt und verdeckt. Viele
Leichenfackeln auf weißen Gueridons knuͤpften ſich
ans Morgenthor an, giengen den langen gruͤnen
Weg hinein, flimmerten uͤber Ruinen, Sphinxe und
Marmortorſo's und endigten ſich dunkel im Trauer¬
gebuͤſch.
Flatterndes Getoͤne der Aeolsharfen wurde am
Eingang von langen Toͤnen durchzogen. Unter dem
Morgenthor ruhte ſtill der Blinde und ſpielte froh
auf ſeiner Floͤte — ſo wie eine Taube in den Don¬
ner fliegt.
Er fiel freudig an ſeinen Viktor und ſagte: »es
»iſt gut, daß du koͤmmſt; ein ſtiller langer Mann
»hat ſich eine halbe Viertelſtunde an mein Herz ge¬
[444] »legt und in meine Hand geweint und mir ein
»Blatt an dich gegeben.»
Viktor riß das Blatt zu ſich, es hieß: »Ihr alle
»habt geſchworen, ſo lange meine Bitten zu erfuͤllen
»bis Ihr mich wieder hoͤrt; aber decket den ſchwar¬
»zen Marmor nicht auf.» — Der Lord hatt' es
dem blinden Sohne gegeben. Viktor rief: »o Va¬
»ter, o Vater, ich konnte dir alſo nichts belohnen!»
und ſank an die Bruſt des Sohns. Er wollte ſich
von ihr reißen, aber der Blinde umklammerte ihn
und laͤchelte freudig unwiſſend in die Nacht. — Wir
eilten ins Trauergebuͤſch — und indem darin die
zwei Leichenfackeln ausbrannten, ſo ſahen wir, daß
ein zweites Grab darin ausgehoͤhlt war, deſſen friſche
Erde daneben lag — daß ein ſchwarzer Marmor die
Hoͤle zudeckte, und daß das ſchwarze Kleid des
Lords ein wenig aus der Hoͤhle vorſah, und daß er
ſich darin getoͤdtet hatte. — Und auf ſeinem ſchwar¬
zen Marmor ſtand wie auf dem Marmor ſeiner Ge¬
liebten, ein blaſſes Aſchenherz, und unter dem Her¬
zen ſtand mit weißen Buchſtaben:
Es ruht.
Ende des Buchs.
Anbetung [empfangen] hatten.
dens Verbindung mit Flamin ſprach — und als er ſich
vorſetzte, vor derſelben ſogar ihre Freundſchaft zu ent¬
behren.
lich-Galgenmatres) und Kaſernenpredigerinnen als bis ſie
Teufelstoll ſind, wie Sterne die meiſten Einfälle hatte,
wenn er nicht wohl war.
gefundnen Todten ausſtellet, damit jeder Verwandter den
ſeinigen ausſuche.
Gewalt entſagt — größer iſt das Volk, vor dem mans thun
durfte. Ein anderes wäre den Läuſen Syllas zuvorge¬
kommen.
weil gerade ſo viele zu einem Tumulte gehören, hommel
rapsod. observat. CCXXV.
ſachen, ſondern nur große aus 1000000 kleinen Urſachen,
wovon man immer die letzte fuͤr die Mutter der großen
Geburt ausgiebt. Iſt denn das Zündpulver die Ladung des
Geſchoſſes?
zweite Naſe machen, die paßte — denn die erſte war abge¬
brochen — endlich nach 400 Jahren fand ein Kind in einem
großen Fiſche die marmorne, die anlag. Labaths Reiſen
5. Theil.
ſtopfung.
nem romantiſchen Geſchmack anfangen aber nicht vollen¬
den laſſen, weil er auf die Inſel der Vereinigung fiel. Ich
webe die Beſchreibung davon nur ſtückweiſe in die Begeben¬
heiten ein.
der Inſel von ſeinem Vater die Verwandſchaft Klotildens.
faden für herunterrieſelnde Quelle; aber die Bogen
mehrerer ſchief-ſpringender Fontainen waren in ſolche Ent¬
fernungen geſtellt, daß der eine den andern fortſetze.
luft ab.
bücher nachtrug.
Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief.
immer gekrümt einherzogen und darum Krümlinge hieſ¬
ſen — um Gott, der die ganze Erde ausfüllt, ein wenig
Platz zu machen. Altes und neues Judenthum. 2 B.
S. 47.
nicht ganz aſtronomiſch-richtig.
von uns in beflorten Spiegel angeſchaut.
Mondes aus.
erfüllten Nebel, den man am Morgen vom Aetna herunter ſieht.
und den Planeten einen Zitterungshimmel ein, um ihm
die kleinen Anomalien der letztern ſchuld zu geben.
für den König, eine macht den Rüſſel, viere die Beine,
viere den Rumpf. Hiſtorie aller Reiſ. 10. Band.
Lord von Viktor, von Klotilde und von ihrer Mutter un¬
ter jenem tragiſchen Apparat, der beſonders in weibliche
[Herzen] ſo ſtark eingreift, ablegen laſſen.
um ſich tödtet und der Miſſethäter reiſet einſam zu ſeinem
Gift, aber er kehret ſelten zuruͤck.
Heft XVIII. 45.) ſtehen Waarenlager von wächſernen Glie¬
dern und Thieren, die man als Ohren– und Armgehenke
für Heilige kauft, damit die Originale geneſen.
ſondern mußten ihn ſtehend in die Erde drücken. Orph.
Argonaut. 168.
Pommern fort, der jährlich nach Pommern ꝛc. abgieng,
um von den Eltern Briefe fuͤr die Pariſer Studenten ab¬
zuholen.
dererſatz. Wir fühlen keine Ungerechtigkeit, wenn ein We¬
ſen ein Plantagenneger, ein anderes ein Sonnenengel wird;
aber ihre Schöpfung beginnt ihre Rechte und der Ewige
kann ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen
des winzigſten Weſens die Freuden aller beſſern kaufen,
wenn es nicht jenem wieder vergütet wird.
meiner eignen Lebensbeſchreibung Hoffnung, womit ich es,
wenn ich nur noch einige nöthige Kapitel daraus erlebt ha¬
be, unter dem Titel beſchenken werde: Jean Pauls Apoſtel¬
geſchichte, oder deſſen Thaten, Begebenheiten und Meinun¬
gen.
der von Mulatten und Weiſſen ſind.
nuel u. ſ. w.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Anonymous. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn2x.0