der
Wiſſenſchaften in Deutſchland.
Neuere Zeit.
Druck und Verlag vonR. Oldenbourg.
[][][]
der
Wiſſenſchaften in Deutſchland
Neuere Zeit.
vom
16. Jahrhundert bis 1860.
AUF VERANLASSUNG
UND MIT
UNTERSTÜTZUNG
SEINER MAJESTÄT
DES KÖNIGS VON BAYERN
MAXIMILIAN II.
HERAUSGEGEBEN
DURCH DIE
HISTORISCHE COMMISSION
BEI DER
KÖNIGL. ACADEMIE DER
WISSENSCHAFTEN.
Druck und Verlag vonR. Oldenbourg.
[]
der
Botanik
vom
16. Jahrhundert bis 1860.
AUF VERANLASSUNG
UND MIT
UNTERSTÜTZUNG
SEINER MAJESTÄT
DES KÖNIGS VON BAYERN
MAXIMILIAN II.
HERAUSGEGEBEN
DURCH DIE
HISTORISCHE COMMISSION
BEI DER
KÖNIGL. ACADEMIE DER
WISSENSCHAFTEN.
Druck und Verlag von R. Oldenbourg.
[][[VII]]
Vorrede.
Die Botanik umfaßt drei verſchiedene Wiſſenſchaften:
die auf Morphologie gegründete Syſtematik, die Phytoto-
mie und die Pflanzenphyſiologie, welche zwar einem gemein-
ſamen Ziele, der allſeitigen Kenntniß der Pflanzenwelt, zu-
ſtreben; übrigens aber in ihren Forſchungsmethoden ganz
verſchieden ſind, daher auch weſentlich verſchiedene intellec-
tuelle Anlagen vorausſetzen. Hiſtoriſch macht ſich dies in
ſehr fühlbarer Weiſe darin geltend, daß bis auf die neueſte
Zeit die Morphologie und Syſtematik ſich faſt ganz un-
abhängig von den beiden anderen Wiſſenſchaften entwickelt
haben; die Phytotomie iſt zwar immer in einer gewiſſen
Verbindung mit der Phyſiologie geblieben, wo es ſich aber
um die Bearbeitung der eigentlichen Grundlagen beider, der
Fundamentalfragen, handelte, da ſind auch ſie faſt ganz un-
abhängig von einander vorgegangen. Erſt in neueſter Zeit
hat eine tiefere Auffaſſung der Probleme des Pflanzenlebens
zu einer engeren Verknüpfung der drei Wiſſenſchaften ge-
führt. Dieſer hiſtoriſchen Thatſache glaubte ich durch eine
geſonderte Behandlung Rechnung tragen zu ſollen. Wenn
dabei das vorliegende Werk ſich in angemeſſenen Grenzen
[VIII]Vorrede.
halten ſollte, ſo konnte jeder der drei geſchichtlichen Dar-
ſtellungen höchſtens ein Raum von zwölf bis vierzehn Bo-
gen gewidmet werden. Es leuchtet aber ein, daß in ſo
engen Rahmen nur das Wichtigſte und Bedeutendſte auf-
zunehmen war, was ich übrigens nicht gerade für einen
Uebelſtand, ſondern im Intereſſe des Leſers eher für einen
Vortheil halte; denn der Aufgabe der geſammten „Ge-
ſchichte der Wiſſenſchaften“ entſprechend, ſollte auch dieſe
Geſchichte der Botanik nicht ausſchließlich für Fachmänner,
ſondern für einen weiteren Leſerkreis geſchrieben ſein und
einem ſolchen dürfte vielleicht ſchon das hier vorgeführte
Detail ab und zu ermüdend ſcheinen.
Die Form der Darſtellung hätte freier ausfallen, die
Reflexionen über den innereu Zuſammenhang des Ganzen
mehr Raum beanſpruchen können, wenn mir beſſere hiſto-
riſche Vorarbeiten vorgelegen hätten; wie aber die Sachen
ſtehen, mußte ich vor Allem darauf Bedacht nehmen, den
geſchichtlichen Thatbeſtand als ſolchen feſtzuſtellen, wahres
Verdienſt von unverdientem Ruhm zu ſondern, die erſten
Anfänge fruchtbarer Gedanken und ihre Fortbildung auf-
zuſuchen und verbreiteten Irrthümern in mehr als Einem
Fall mit ausführlichen Nachweiſungen entgegen zu treten,
was auf ſo beſchränktem Raum nicht immer ohne eine
gewiſſe Trockenheit der Darſtellung zu erreichen war; nicht
ſelten mußte ich mich ſogar mit flüchtigen Andeutungen
begnügen, wo ausführliche Auseinanderſetzungen verlangt
werden könnten.
Was die Auswahl, des hier Aufgenommenen betrifft,
ſo habe ich auf Entdeckungen von Thatſachen nur dann
[IX]Vorrede.
ein größeres Gewicht gelegt, wenn dieſe in die Entwicklung
unſerer Wiſſenſchaft nachweislich befruchtend eingegriffen
haben; als meine Hauptaufgabe betrachtete ich dagegen,
die erſte Entſtehung wiſſenſchaftlicher Gedanken aufzuſuchen
und ihre weitere Entwicklung zu umfaſſenden Theorieen zu
verfolgen; hierin liegt meiner Anſicht nach die wahre Ge-
ſchichte einer Wiſſenſchaft. In dieſem Sinne iſt jedoch
die Aufgabe eines Geſchichtſchreibers der Botanik eine ſehr
ſchwierige, da es vielfach nur mit vieler Mühe gelingt den
rothen Faden des wiſſenſchaftlichen Gedankens aus einem
unglaublichen Wuſt empiriſchen Materials herauszufinden.
Es war von jeher das hauptſächliche Hinderniß eines
raſcheren Fortſchritts der Botanik, daß die Mehrzahl der
Schriftſteller Thatſachen einfach zuſammentrugen, ohne ihre
theoretiſche Verwerthung genügend durchzuführen oder auch
nur zu verſuchen. Ich habe daher als die eigentlichen
Träger unſerer Geſchichte diejenigen Männer in den Vor-
dergrund geſtellt, welche nicht bloß neue Thatſachen feſt-
ſtellten, ſondern fruchtbare Gedanken ſchufen und das em-
piriſche Material theoretiſch verarbeiteten. Von dieſem
Geſichtspunkt ausgehend habe ich übrigens nur gelegentlich
hingeworfene Gedanken für nicht mehr genommen als ſie
urſprünglich waren; denn das wiſſenſchaftliche Verdienſt
gebührt nur demjenigen, der die prinzipielle Bedeutung eines
Gedankens klar erkennt und für den Fortſchritt der Wiſſen-
ſchaft auszubeuten ſucht. Aus dieſem Grunde lege ich
z. B. auch nur geringen Werth auf gewiſſe Aeußerungen
früherer Schriftſteller, welche man gegenwärtig als die
erſten Begründer der Deſcendenztheorie hinzuſtellen beliebt;
[X]Vorrede.
denn unzweifelhafte Thatſache iſt es, daß vor Darwin's
Werk von 1859 die Deſcendenztheorie keine wiſſenſchaft-
liche Bedeutung beſaß, daß ſie vielmehr erſt durch Darwin
eine ſolche gewonnen hat. Hier wie in anderen Fällen
ſcheint es mir Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht
früheren Schriftſtellern Verdienſte anzudichten, [auf] welche ſie
ſelbſt, wenn ſie noch lebten, wahrſcheinlich keinen Anſpruch
erheben würden.
Würzburg, 22. Juli 1875.
Dr. J. Sachs.
[[XI]]
Inhalt.
Erſtes Buch.
Geſchichte der Morphologie und Syſtematik.
1530-1860.
- Seite
Einleitung _ _ 3
Erſtes Kapitel.
Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker von Brunfels bis auf
Kaſp. Bauhin 1530-1623 _ _ 14Zweites Kapitel.
Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur der Organe von Cäſalpin
bis auf Linné 1583-1760 _ _ 40Drittes Kapitel.
Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem Dogma von der Con-
ſtanz der Arten 1789-1850 _ _ 116Viertes Kapitel.
Die Morphologie unter dem Einfluß der Metamorphoſenlehre und der
Spiraltheorie 1790-1850 _ _ 166Fünftes Kapitel.
Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der Entwicklungs-
geſchichte und der Kryptogamenkunde 1840-1860 _ _ 196Zweites Buch.
Geſchichte der Pflanzen-Anatomie.
1671-1860.
Einleitung _ _ 235
Erſtes Kapitel.
Begründung der Phytotomie durch Malpighi und Grew 1671-1682 _ _ 246
Zweites Kapitel.
Die Phytotomie im 18. Jahrhundert _ _ 265
Drittes Kapitel.
Unterſuchung des fertigen Zellhautgerüſtes der Pflanzen 1800-1840 _ _ 276
Viertes Kapitel.
Entwickelungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der Gewebeformen, Mole-
kularſtruktur der organiſirten Gebilde 1840-1860 _ _ 336- [XII]
Drittes Buch.
Geſchichte der Pflanzenphyſiologie.
1583-1860.
Einleitung _ _ 387
Erſtes Kapitel.
Geſchichte der Sexualtheorie.
1) Von Ariſtoteles bis auf R. J. Camerarius _ _ 406
2) Begründung der Lehre von der Sexualität der Pflanzen durch
R. J. Camerarius 1691-1694 _ _ 4163) Verbreitung der neuen Lehre, ihre Anhänger und Gegner 1700-
1760 _ _ 4224) Evolutionstheorie und Epigeneſis _ _ 435
5) Weiterer Ausbau der Sexualtheorie durch J. G. Kölreuter und
Conrad Sprengel 1761-1793 _ _ 4386) Neue Gegner der Sexualität und ihre Widerlegung durch Experi-
mente 1785-1849 _ _ 4567) Mikroſkopiſche Unterſuchung der Befruchtungsvorgänge der Phanero-
gamen; Pollenſchlauch und Keimkörper 1830-1850 _ _ 4668) Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen 1837-1860 _ _ 472
Zweites Kapitel.
Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen 1583-1860 _ _ 481
1) Cäſalpin 1583 _ _ 487
2) Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspunkte;
bis 1730 _ _ 4903) Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen
1730-1780 _ _ 5214) Begründung der neueren Ernährungslehre durch Ingen-Houß
und Th. de Sauſſure 1779-1804 _ _ 5305) Lebenskraft — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe 1804
bis 1840 _ _ 5446) Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen 1840-1860 _ _ 566
Drittes Kapitel.
Geſchichte der Phytodynamik.
Vom Ende des 17. Jahrhunderts bis gegen 1860 _ _ 578
Erſtes Buch.
Geſchichte der Morphologie und Syſtematik.
(1530-1860.)
Sachs, Geſchichte der Botanik. 1
[[2]][[3]]
Einleitung.
Die Verfaſſer der älteſten Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts
Brunfels, Fuchs, Bock, Mattioli u. A. ſahen in den
Pflanzen zunächſt nur die Träger mediciniſcher Kräfte; die Pflanzen
waren ihnen die Ingredienzien complicirter Medicamente und
wurden daher mit Vorliebe als Simplicia (einfache Beſtandtheile
von Medicamenten) bezeichnet. Ihnen kam es zunächſt darauf an,
die im Alterthum von den Medicinern benutzten Pflanzen, deren
Kenntniß im Mittelalter verloren gegangen war, wieder zu er-
kennen; zwar waren die verdorbenenen Texte des Teophraſt,
Dioscorides, Plinius, Galen von den italieniſchen Com-
mentatoren des 15. und der erſten Decenien des 16. Jahrhunderts
vielfach verbeſſert und kritiſch beleuchtet worden; ein Uebelſtand
aber, der ſich nicht hinwegkritiſiren ließ, lag in den höchſt un-
genügenden oft ganz fehlenden Beſchreibungen der alten Autoren
ſelbſt. Dabei war man anfangs in dem Gedanken befangen,
die von den griechiſchen Aerzten beſchriebenen Pflanzen müßten
auch in Deutſchland, überhaupt im übrigen Europa wild wachſen;
jeder ſah eine andere einheimiſche Pflanze für die fragliche des
Dioscorides, des Tèophraſt u. ſ. w. an, wodurch ſchon
im 16. Jahrhundert eine kaum zu bewältigende Verwirrung
der Nomenklatur entſtand. Den Bemühungen der philologiſchen
Commentatoren gegenüber, welche Pflanzen aus eigener Anſchau-
ung kaum kannten, war es ein großer Fortſchritt, daß die erſten
deutſchen Verfaſſer von Kräuterbüchern ſich direkt an die Natur
1*
[4]Einleitung.
wandten, die in ihrer Umgebung wild wachſenden Pflanzen be-
ſchrieben und ſorgfältig in Holzſchnitt abbilden ließen. Dadurch
wurde der erſte Anfang zu wirklich naturwiſſenſchaftlicher Unter-
ſuchung der Pflanzen gemacht. Zwar eigentlich wiſſenſchaftliche
Ziele verfolgte man damit noch nicht; man ſtellte keine Fragen
über die Natur der Pflanzen, über ihre Organiſation und gegen-
ſeitigen Beziehungen unter einander; was vielmehr zunächſt allein
intereſſirte, war die Kenntniß der einzelnen Pflanzenformen und
ihrer Heilkräfte.
Die Beſchreibungen waren anfangs höchſt naiv und un-
methodiſch; indem man ſich aber bemühte, ſie ſo gut es eben
ging, genau und kenntlich zu machen, ſtellten ſich nach und nach
ganz von ſelbſt und ungeſucht Wahrnehmungen ein, welche von
dem urſprünglich verfolgten Ziel weit ablagen. Man bemerkte
nicht nur, daß viele von den Pflanzen, welche Dioscorides
in ſeiner Materia medica beſchrieben hatte, in Deutſchland,
Frankreich, Spanien, England überhaupt nicht wild wachſen und
daß umgekehrt in dieſen Ländern ſehr zahlreiche Pflanzen vor-
kommen, welche den antiken Schriftſtellern offenbar unbekannt
waren; ſondern es ſtellte ſich auch heraus, daß viele Pflanzen
unter einander Aehnlichkeiten darbieten, welche mit ihrer medici-
niſchen Wirkung, mit ihrer Bedeutung für den Landmann und
für die Technik durchaus nichts zu thun haben. Indem man
die praktiſche Verwerthung der Pflanzenkenntniß durch ſorgfältige
Einzelbeſchreibung zu fördern ſuchte, drängte ſich ſo die Wahr-
nehmung auf, daß es verſchiedene natürliche Gruppen von Pflanzen
gebe, welche durch die Aehnlichkeit ihrer Geſtalt und ſonſtigen
Eigenſchaften untereinander übereinſtimmen. Es zeigte ſich, daß
außer den von Ariſtoteles und Theophraſt angenom-
menen drei großen Pflanzengattungen, den Bäumen, Sträuchern
und Kräutern noch andere natürliche Vergeſellſchaftungen ſich vor-
finden: ſchon bei Bock bemerkt man die erſten Wahrnehmungen
natürlicher Gruppen und die ſpätern Kräuterbücher laſſen deut-
lich erkennen, daß man die natürliche Zuſammengehörigkeit ſolcher
Pflanzen, wie ſie in den Gruppen der Pilze, Mooſe, Farne,
[5]Einleitung.
Coniferen, Umbelliferen, Compoſiten, Labiaten,
Papilionaceen u. a. vorkommen, wohl fühlte, wenn man
auch keineswegs ſich darüber klar wurde, worin eigentlich dieſe
natürliche Zuſammengehörigkeit ſich ausſpreche; die Thatſache der
natürlichen Verwandtſchaft drängte ſich von ſelbſt und ungeſucht
den Beobachtern auf; anfangs als ganz unbeſtimmte gelegentliche
Wahrnehmung, der man zunächſt keinen großen Werth beilegte.
Es bedarf keiner vorausgehenden philoſophiſchen Betrachtung,
keiner abſichtlichen Claſſifikation des Pflanzenreichs, um dieſe
Gruppen als ſolche wahrzunehmen; ſie bieten ſich dem unbefan-
genen Auge ganz ebenſo von ſelbſt dar, wie die Gruppen der
Säugethiere, Vögel, Reptilien, Fiſche, Würmer im Thierreich.
Die objektiv vorhandene Aehnlichkeit der in ſolche Gruppen zu-
ſammengehörigen Organismen macht ſich ſubjektiv ganz unwill-
kürlich durch Ideenaſſociation geltend und erſt wenn dieſer ganz
unwillkürliche pſychiſche Akt ſich vollzogen hat, der an und für
ſich keine Anſtrengung des Verſtandes verlangt, tritt dann das
Bedürfniß hervor, die Erſcheinung klarer aufzufaſſen; damit aber
beginnt die abſichtliche ſyſtematiſche Forſchung. Die Reihenfolge
der botaniſchen Bücher der Deutſchen und Niederländer von
1530-1623, von Brunfels bis Caspar Bauhin zeigt
ganz deutlich, wie ſich mehr und mehr dieſe Erkenntniß der ver-
wandtſchaftlichen Gruppirung im Pflanzenreich vollzog. Sie
zeigt aber auch, wie dieſe Männer dabei ausſchließlich einem in-
ſtinktiven Gefühl folgten, ohne nach der Urſache der wahrgenom-
menen Verwandtſchaftsverhältniſſe zu fragen.
Nichts deſto weniger war damit ein großer Schritt vor-
wärts gethan; all der fremdartige Ballaſt von mediciniſchem
Aberglauben und praktiſchen Rückſichten bei der Pflanzenbeſchreib-
ung war als Nebenſache erkannt und bei Caspar Bauhin
ſogar ganz abgeworfen; dafür war das belebende Prinzip aller
botaniſchen Forſchung: die Thatſache der natürlichen Verwandt-
ſchaft in den Vordergrund getreten und damit zugleich der Trieb
zu genauerer Unterſcheidung des Verſchiedenen und zu ſorgfäl-
tiger Zuſammenſtellung des Gleichartigen hervorgerufen. Die
[6]Einleitung.
natürliche Verwandtſchaft der Pflanzen iſt alſo nicht von irgend
einem Botaniker entdeckt worden, ſie hat ſich vielmehr aus der Ein-
zelbeſchreibung gewiſſermaßen als Nebenprodukt von ſelbſt ergeben.
Aber noch bevor bei Lobelius und ſpäter bei Caspar
Bauhin die Darſtellung der natürlichen Verwandtſchaft die erſten
claſſificatoriſchen Verſuche hervorrief, hatte in Italien Caeſalpin
1583 bereits auf ganz anderem Wege eine ſyſtematiſche Be-
handlung des Pflanzenreiches verſucht. Bei ihm war es nicht
wie bei den Deutſchen und niederländiſchen Botanikern die un-
willkürlich durch Ideenaſſociation ſich aufdrängende Thatſache der
natürlichen Verwandtſchaft, ſondern philoſophiſche Erwägung,
welche ihn dazu veranlaßte, das ganze Pflanzenreich in beſtimmte
Gruppen einzutheilen. Ausgeſtattet mit der philoſophiſchen Bild-
ung, welche im 16. Jahrhundert in Italien blühte, ganz ein-
gelebt in die Anſichten des Ariſtoteles, geübt in allen Fein-
heiten der Dialektikt, war Caeſalpin nicht der Mann, ſich ruhig
dem Einfluß der Natur auf die unbewußten Kräfte des Gemüths
hinzugeben; vielmehr ſuchte er ſofort, was ihm die Literatur und
eigene ſcharfſinnige Beobachtung von Pflanzenformen kennen lehrte
mit dem Verſtande zu beherrſchen. So trat Caeſalpin an die
wiſſenſchaftliche Aufgabe der Botanik in ganz anderer Weiſe
heran als Lobelius und Caspar Bauhin. Philoſophiſche
Erwägungen über das Weſen der Pflanze, über den ſubſtantiellen
und accidentellen Werth ihrer Theile nach ariſtotaliſcher Auffaſſung
waren es, welche ihn veranlaßten, das Pflanzenreich nach beſtimmten
Merkmalen in Gruppen und Untergruppen einzutheilen.
Dieſe Verſchiedenheit der Urſprungs der ſyſtematiſchen Be-
ſtrebungen bei Caeſalpin einerſeits bei Lobelius und Bau-
hin andrerſeits macht ſich in auffallendſter Weiſe geltend; bei
den Deutſchen waren es die Aehnlichkeiten, welche inſtinktiv zur
Auffaſſung der natürlichen Gruppen hinführten; bei Caeſalpin
dagegen die ſcharfe Unterſcheidung nach voraus beſtimmten Merk-
malen; alle Fehler des Bauhin'ſchen Syſtems beruhen auf
unrichtig erkannten Aehnlichkeiten, alle Fehler bei Caeſalpin
auf unrichtiger Unterſcheidung.
[7]Einleitung.
Die Hauptſache aber war, daß bei Lobelius und Bauhin
die ſyſtematiſche Gruppirung ohne irgend welche Angabe von
Gründen auftrat, ihre Darſtellung war ſo, daß in dem Leſer
ſich von ſelbſt noch einmal die Ideenaſſociation vollziehen mußte,
wie ſie ſich in den Autoren ſelbſt vollzogen hatte. Lobelius und
Bauhin verhielten ſich wie Künſtler, die nicht durch Worte und
Auseinanderſetzungen, ſondern durch bildliche Darſtellung das,
was ſie empfinden, Andern zur Anſchauung bringen; Caeſalpin
dagegen wendet ſich ſofort an den Verſtand des Leſers, er zeigt
ihm, daß aus philoſophiſchen Gründen eine Claſſifikation ſtatt-
finden müſſe und nennt die Eintheilungsgründe ſelbſt; philoſo-
phiſche Erwägungen waren es ebenfalls, welche Caeſalpin
veranlaßten, die Eigenſchaften des Samens und der Frucht ſeiner
Eintheilung zu Grunde zu legen; wogegen die deutſchen Botaniker,
welche die Fruchtificationsorgane kaum beachteten, ſich von dem
Geſammteindruck der Pflanze dem ſogenannten Habitus leiten
ließen.
Die Geſchichtsſchreiber der Botanik haben den hier darge-
legten Sachverhalt überſehen oder nicht genug betont; es wurde
nicht hinreichend beachtet, daß die Syſtematik, als ſie im 17. Jahr-
hundert ſich weiter auszubilden begann, von vornherein zwei ein-
ander wiederſtrebende Elemente in ſich aufnahm: einerſeits die
blos dunkel gefühlte Thatſache einer natürlichen Verwandtſchaft,
welche durch die deutſchen und niederländiſchen Botaniker zu
Tage gefördert war; anderſeits das Streben, dem Caeſalpin
den erſten Ausdruck gab, auf dem Wege klarer Erkenntniß zu
einer Eintheilung des Pflanzenreichs zu gelangen, welche den
Verſtand befriedigen ſollte. Zunächſt waren dieſe beiden Elemente
der ſyſtematiſchen Forſchung gegenſeitig durchaus incommenſurabel,
es fehlte ganz und gar an einem Mittel, wie man durch a priori
aufgeſtellte Eintheilungsgründe, welche dem Verſtand genügten,
auch gleichzeitig dem inſtinctiven Gefühl für die natürliche Ver-
wandtſchaft, welche ſich nun einmal nicht wegdisputiren ließ,
Rechnung tragen könne. In den das ganze Pflanzenreich um-
faßenden Syſtemen, welche bis 1736 aufgeſtellt wurden und
[8]Einleitung.
incluſive des Caeſalpin'ſchen und des Linné'ſchen nicht weniger
als die Zahl von 15 erreichten, ſpricht ſich überall dieſe Incommen-
ſurabilität zwiſchen natürlicher Verwandſchaft und a priori auf-
geſtellten Eintheilungsgründen aus. Man pflegt die Syſteme,
unter denen die von Caeſalpin, Moriſon, Ray, Rivinus,
Tournefort die bedeutendſten ſind, kurzweg als künſtliche zu
bezeichnen 1); aber die Abſicht dieſer Männer war es keines-
wegs, Eintheilungen des Pflanzenreichs aufzuſtellen, welche eben
blos künſtliche wären, welche nur irgend eine Anordnung zum
bequemeren Gebrauch darbieten ſollten; zwar wurde vielfach von
den Botanikern des 17. Jahrhunderts und ſelbſt von Linné
noch als Hauptzweck eines Syſtems die leichte Ueberſichtlichkeit
hingeſtellt; aber jeder dieſer Botaniker ſtellte im Grunde nur
deßhalb ein neues Syſtem auf, weil er glaubte, das Seinige
entſpräche den natürlichen Verwandtſchaften in höherem Grade,
als die ſeiner Vorgänger. Wenn auch bei einigen wie Moriſon,
Ray das Bedürfniß, die natürliche Verwandtſchaft durch ein
Syſtem zur Anſchauung zu bringen, bei andern aber mehr der
Wunſch überwog, eine leicht überſichtliche Ordnung herzuſtellen,
wie bei Tournefort und Magnol, ſo geht doch deutlich aus,
den Vorwürfen, welche jeder Folgende gegen ſeine Vorgänger er-
hob, hervor, daß ihnen allen die Darſtellung der natürlichen
Verwandtſchaft als Hauptaufgabe des Syſtems mehr oder min-
der klar vorſchwebte; nur freilich wandte Jeder dasſelbe unrichtige
Mittel an, indem man glaubte durch einige leicht wahrnehmbare
Merkmale, deren ſyſtematiſcher Werth a priori beſtimmt wurde,
die natürlichen Verwandtſchaften zur Anſchauung bringen zu
können. Dieſer Widerſpruch zwiſchen Mittel und Zweck zieht
ſich durch die ganze Syſtematik, von Caeſalpin 1583 bis auf
Linné 1736.
Aber bei Linné ſelbſt trat inſofern eine neue Wendung
ein, als er zuerſt deutlich erkannte, daß dieſer Zwieſpalt wirklich
[9]Einleitung.
beſteht. Linné war es, der zuerſt unumwunden ausſprach, daß
es ein natürliches Syſtem der Pflanzen gebe, welches nicht nach
dem bisherigen Verfahren durch a priori aufgeſtellte Merkmale
charakteriſirt werden könne, daß vielmehr die Regeln, nach denen
das wahre und einzig natürliche Syſtem aufgeſtellt werden müſſe,
noch unbekannt ſind, und daß erſt weitere Forſchung im Stande
ſein werde, das natürliche Syſtem aufzufinden. Er ſelbſt lieferte
in ſeinen Fragmenten 1738 ein Verzeichniß von 65 Gruppen
oder Ordnungen, welche er vorläufig für natürliche Verwandt-
ſchaftskreiſe anſah, wagte jedoch nicht, dieſelben irgendwie durch
Merkmale zu charakteriſiren. Dieſe Gruppen, wenn auch beſſer
geſondert und natürlicher zuſammengeſtellt, als bei Caspar
Bauhin, verdankten dennoch wie bei jenem ihre Aufſtellung
nur einem verfeinerten Gefühl für die relativen Aehnlichkeiten
und graduellen Verſchiedenheiten der Pflanzen untereinander und
ganz dasſelbe gilt von der Aufzählung natürlicher Familien,
wie ſie Bernard de Juſſieu 1759 verſuchte. Schon Linné
(1751) und B. de Juſſieu belegten dieſe kleinen Verwandt-
ſchaftsgruppen, wo ſie nicht ſchon von Alters her Namen beſaßen,
mit neuen Namen, welche nicht von Merkmalen, ſondern von
den Namen einzelner Gattungen dieſer Gruppen abgeleitet waren.
In dieſer Art der Namengebung tritt aber deutlich der Gedanke
hervor, der fortan die Syſtematik beherrſchte, daß den zahlreichen
Formen einer natürlichen Gruppe ein gemeinſamer Bildungstypus
zu Grunde liege, von welchem, wie die Cryſtallformen aus einer
Grundform, die einzelnen ſpecifiſch verſchiedenen Geſtalten abge-
leitet werden können; ein Gedanke, der von Pyrame de Can-
dolle 1719 auch ausgeſprochen wurde.
Mit der bloßen Benennung natürlicher Gruppen konnte
man ſich aber nicht begnügen; das dunkle Gefühl, welches bei
Linné und Bernard de Juſſieu der natürlichen Gruppirung
zu Grunde lag, mußte durch Angabe klar erkannter Merkmale
in die Sprache der Wiſſenſchaft umgeſetzt werden; das war
fortan die Aufgabe der neuen Syſtematiker von Antoine
Laurent de Juſſieu und de Candolle bis auf Endlicher
[10]Einleitung.
und Lindley. Es iſt aber nicht zu verkennen, daß die neuern
Syſtematiker ganz ähnlich wie Caeſalpin und die des 17. Jahr-
hunderts immer wieder in den Fehler verfielen, die natürlichen
Verwandtſchaftskreiſe gelegentlich durch künſtliche Eintheilung zu
zerreißen und Unähnliches zu vereinigen; wenn auch die fort-
geſetzte Uebung zu einer immer reineren Darſtellung der natür-
lichen Verwandtſchaften hinführte.
In dem Grade, wie die natürliche Verwandtſchaft mehr in
den Vordergrund der ſyſtematiſchen Beſtrebungen trat und die
Erfahrung der Jahrhunderte lehrte, daß a priori aufgeſtellte
Eintheilungsgründe nicht im Stande ſind, den natürlichen Ver-
wandtſchaften zu genügen; wurde die Thatſache der Verwandt-
ſchaft ſelbſt unverſtändlicher, myſtiſch und geheimnißvoll. Für
das, was man bei der ſyſtematiſchen Forſchung immerfort als
das eigentlich darzuſtellende Object fühlte und was man fortan
auch mit dem Namen Verwandtſchaft bezeichnete, fehlte es an
jedem beſtimmten, definirbaren Begriff. Linné gab dieſem
geheimnißvollen Weſen in dem Satze Ausdruck: Nicht der Cha-
rakter (die zur Charakteriſtik benutzten Merkmale) mache die
Gattung, ſondern die Gattung den Charakter; dazu aber kam,
um das Unbegreifliche im natürlichen Syſtem zu ſteigern, gerade
bei dem Manne, der das Weſen desſelben zuerſt deutlich erkannt,
bei Linné, die Lehre von der Conſtanz der Arten. Trat dieſe
bei Linné in anſpruchsloſer Weiſe, mehr als das Ergebniß der
alltäglichen Erfahrung auf, welches ja durch weitere Forſchung
hätte abgeändert werden können, ſo wurde ſie dagegen bei den
nachlinné'ſchen Botanikern zu einem Glaubensſatz, einem Dogma,
an welchem auch nur zu zweifeln, den wiſſenſchaftlichen Ruf eines
Botanikers zu Grunde gerichtet hätte. So ſtand über 100 Jahre
lang der Glaube, daß jede organiſche Form einem beſonderen
Schöpfungsact ihr Daſein verdanke, alſo von allen anderen ab-
ſolut verſchieden ſei, neben der Erfahrungsthatſache, daß zwiſchen
dieſen Formen ein inneres Band der Verwandtſchaft vorhanden
iſt, welches durch beſtimmte Merkmale zu bezeichnen, immer nur
theilweiſe gelingen wollte. Denn daß die Verwandtſchaft etwas
[11]Einleitung.
mehr und anders iſt, als bloße ſinnlich wahrnehmbare Aehnlichkeit,
wußte jeder Syſtematiker. Denkenden Männern aber konnte der
innere Widerſpruch nicht verborgen bleiben, der zwiſchen der
Annahme abſoluter Verſchiedenheit des Urſprungs der Arten
(denn das bedeutet die Conſtanz derſelben) und der Thatſache
ihrer inneren Verwandtſchaft liegt. Schon Linné hatte in
ſpäteren Jahren ſehr wunderliche Verſuche gemacht, dieſen Wider-
ſpruch zu löſen; ſeine Nachfolger ſchlugen jedoch einen andern Weg
ein; ſeit dem 16. Jahrhundert hatten ſich unter den Syſtemati-
kern, zumal ſeit Linné die Führung übernommen, mancherlei
ſcholaſtiſche Elemente erhalten und ganz beſonders war es die
mißverſtandene Ideenlehre Plato's, durch welche das Dogma
der Conſtanz der Formen eine philoſophiſche Berechtigung zu
gewinnen ſchien, die man ſich um ſo lieber gefallen ließ, als ſie
zugleich mit den kirchlichen Lehren im beſten Einklang ſtand.
Wenn ſich, wie Elias Fries 1835 ſagte, in dem natürlichen
Syſtem quoddam supranaturale d. h. eben die Verwandtſchaft
der Organismen vorfindet, ſo ſchien dies um ſo beſſer; nach dem-
ſelben Autor drückt jede Abtheilung des Syſtems eine Idee aus
(singula sphaera (sectio) ideam quandam exponit) und alle
dieſe Ideen ließen ſich nun in ihrem idealen Zuſammenhange
leicht als Schöpfungsplan deuten. Die etwaigen Bedenken, welche
ſich aus zahlreichen Beobachtungen und theoretiſchen Erwägungen
gegen eine derartige Auffaſſung erheben konnten, pflegte man
nicht weiter zu beachten. Uebrigens kamen derartige Betrachtun-
gen über das Weſen des natürlichen Syſtems nur ſelten zum
Vorſchein; gerade die Verſtändigſten fühlten ſich unbehaglich in
dieſem unbeſtimmten Weſen und verwendeten ihre Zeit und Kraft
lieber auf die Erforſchung der Verwandtſchaftsverhältniſſe im
Einzelnen. Allein überſehen ließ ſich nun einmal nicht, daß
es ſich hier um eine Fundamentalfrage der Wiſſenſchaft handle.
Später förderten die neueren zuerſt von Nägeli angeregten
morphologiſchen Forſchungen die wichtigſten ſyſtematiſchen Reſultate
zu Tage, Thatſachen, welche die Annahme, daß jede ſyſtematiſche
Gruppe eine Idee im platoniſchen Sinne repräſentire, erſchüttern
[12]Einleitung.
mußten; ſo z. B. die merkwürdigen embryologiſchen Beziehungen,
welche Hofmeiſter 1851 zwiſchen den Angiospermen, Gymnos-
permen, Gefäßkryptogamen und Muscineen aufdeckte; auch ver-
trug es ſich ſchlecht mit dem Schöpfungsplan der Syſtematiker,
daß die phyſiologiſch-biologiſchen Eigenſchaften einerſeits, die mor-
phologiſch-ſyſtematiſchen Charaktere andrerſeits gewöhnlich ganz
unabhängig von einander ſind. So trat mehr und mehr ein
Widerſpruch zwiſchen der eigentlich wiſſenſchaftlichen Forſchung
und den theoretiſchen Anſichten der Syſtematiker hervor und wer
ſich mit Beidem beſchäftigte, konnte ſich eines peinlichen Gefühls
der Unſicherheit auf dieſem Gebiete nicht erwehren. Dieſes aber
entſprang aus dem Dogma der Conſtanz der Arten und der
darausfolgenden Unmöglichkeit, den Begriff der Verwandtſchaft
wiſſenſchaftlich zu definiren.
Dieſem Zuſtand machte endlich 1859 Darwin's erſtes
und beſtes Buch über die Entſtehung der Arten ein Ende; aus
unzähligen zum Theil neuen, meiſt längſt bekannten Thatſachen
zeigte er, daß von einer Conſtanz der Arten überhaupt nicht die
Rede ſein könne, daß ſie nicht ein Ergebniß genauer Beobachtung,
ſondern ein der Beobachtung widerſprechender Glaubensartikel
ſei. War dies einmal feſtgeſtellt, ſo ergab ſich der richtige Be-
griff für das, was man bisher nur im figürlichen Sinne Ver-
wandtſchaft genannt hatte, faſt von ſelbſt: Die im natürlichen
Syſtem ausgedrückten Verwandtſchaftsgrade bezeichneten die ver-
ſchiedenen Grade der Abſtammung variirender Nachkommen gemein-
ſamer Ureltern; aus der figürlich angenommenen Verwandtſchaft
wurde echte Blutsverwandtſchaft, das natürliche Syſtem wurde
ein Bild des Stammbaumes des Pflanzenreichs. Mit dieſen
Sätzen war das alte Problem gelöſt.
Darwin's Theorie hat vor Allem das hiſtoriſche Verdienſt,
Klarheit an die Stelle der Unklarheit, ein naturwiſſenſchaftliches
Prinzip an die Stelle ſcholaſtiſcher Denkweiſe auf dem Gebiet
der Syſtematik und Morphologie geſetzt zu haben. Dies that
Darwin jedoch nicht im Gegenſatz zur geſchichtlichen Entwicklung
unſerer Wiſſenſchaft oder unabhängig von ihr; vielmehr beſteht
[13]Einleitung.
ſeine große Leiſtung darin, die in der Syſtematik und Morphologie
längſt geſtellten Probleme im Sinne moderner Naturforſchung
als ſolche richtig erkannt und gelöſt zu haben. Daß die Conſtanz
der Arten mit dem Begriff der Verwandtſchaft unvereinbar, daß
die morphologiſche (genetiſche) Natur der Organe mit ihrer phy-
ſiologiſchen functionellen Bedeutung nicht parallel geht, dieſe
Thatſache hat die Geſchichte der Botanik und Zoologie vor Dar-
win zu Tage gefördert; er aber zeigte zuerſt, daß die Variation
und die natürliche Auswahl im Kampf um das Daſein dieſe
Probleme löſt, jene Thatſachen als nothwendige Wirkungen
bekannter Urſachen begreifen läßt. Zugleich ergab ſich hiermit,
warum die von Lobelius und Caspar Bauhin zuerſt erkannte
natürliche Verwandtſchaft ſich nicht durch a priori aufgeſtellte
Eintheilungsgründe, wie es Caeſalpin verſucht hatte, dar-
ſtellen läßt.
[14]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
Erſtes Capitel.
Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker von Brunfels
bis auf Caspar Bauhin1).
1530—1623.
Wer an die neuere botaniſche Literatur gewöhnt zum erſten
Male die Werke von Brunfels (1530), Leonhard Fuchs
(1542), Hieronymus Bock, ſowie die ſpäteren von Rem-
bertus Dodonäus, Carolus Cluſius, Matthias Lo-
belius (1576) und ſelbſt die des Caſpar Bauhin aus dem
Anfang des 17. Jahrhunderts zu Hand nimmt, findet ſich über-
raſcht nicht nur von der fremdartigen Form, dem wunderlichen
uns jetzt nicht mehr geläufigen Beiwerk, aus welchem das
Brauchbare mit Mühe hervorgeſucht werden muß, ſondern noch
mehr von der außerordentlichen Gedankenarmuth dieſer meiſt
ſehr dickleibigen Folianten. Nimmt man jedoch ſtatt von der
Gegenwart rückwärts den entgegengeſetzten Weg: hat man ſich
vorher mit den botaniſchen Anſichten des Ariſtoteles und dem
[15]von Brunels bis auf Caspar Bauhin.
umfangreichen botaniſchen Werke ſeines Schülers Theophraſtos
von Ereſos, mit der Naturgeſchichte des Plinius und der Heil-
mittellehre des Dioscorides beſchäftigt, hat man die immer
ärmlicher werdende botaniſche Literatur des Mittelalters zumal
auch die ebenſo weitſchweifigen als gedankenarmen botaniſchen
Schriften des Albertus Magnus kennen gelernt und iſt
man endlich bis zu dem vor und nach 1500 vielgeleſenen Natur-
geſchichtswerk: Hortus sanitatis (Garten der Geſundheit) und
ähnlichen vorgedrungen; dann allerdings iſt der Eindruck, den
ſelbſt die erſten Kräuterbücher von Brunfels, Bock und Fuchs
machen, ein ganz anderer, faſt imponirender. Im Vergleich mit
den zuletzt genannten Produkten mittelalterlichen Aberglaubens
erſcheinen uns dieſe Bücher faſt modern und nicht zu verkennen
iſt, daß mit ihnen eine neue Epoche der Naturwiſſenſchaft be-
ginnt, daß wir in ihnen vor Allem die erſten Anfänge der
jetzigen Botanik finden. Zwar ſind es bloße Einzelbeſchreib-
ungen von meiſt gemeinen, in Deutſchland wild wachſenden oder
cultivirten Pflanzen, bei Fuchs alphabetiſch geordnet, bei Bock
nach Kräutern, Sträuchern und Bäumen gruppirt, übrigens aber
in bunteſter Reihe auf einander folgend; zwar ſind dieſe Be-
ſchreibungen naiv und kunſtlos und unſeren gegenwärtigen kunſt-
gerechten Diagnoſen kaum vergleichbar; aber die Hauptſache iſt,
ſie ſind nach den den Verfaſſern vorliegenden Pflanzen ſelbſt
entworfen; ſie haben dieſe Pflanzen ſelbſt vielfach geſehen und
genau betrachtet; um die Beſchreibung zu ergänzen, das, was
man mit einem Pflanzennamen meinte, genau zu veranſchaulichen,
ſind Bilder in Holzſchnitt beigefügt und dieſe Bilder, welche
immer die ganze Pflanze darſtellen, ſind von geübter Künſtler-
hand unmittelbar nach der Natur entworfen, ſo naturgetreu, daß
ein botaniſch geübtes Auge bei jedem ſofort erkennt, was es
darſtellt. In dieſen Bildern und Beſchreibungen (welch' letztere
bei Brunfels1) 1530 noch fehlen) würde, auch wenn ſie
[16]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
weniger gut wären, ein großes Verdienſt dieſer Männer um die
Geſchichte unſerer Wiſſenſchaft liegen; denn ſoweit war die bo-
taniſche Literatur vor ihnen heruntergekommen, daß nicht nur
die Bilder, wie in dem erwähnten Hortus sanitatis fabelhafte
Zuthaten enthielten, zum Theil ganz nach der Phantaſie ent-
worfen waren, ſondern auch die mageren Beſchreibungen ſelbſt
ganz gemeiner Pflanzen waren nicht nach der Natur gemacht,
vielmehr von früheren Autoritäten entlehnt und mit abergläu-
biſchem Fabelweſen durchwebt. Mit der Unterdrückung und Ver-
kümmerung des ſelbſtſtändigen Urtheils im Mittelalter war end-
lich ſogar die Thätigkeit der Sinne (die ja zum großen Theil
auf unbewußten Verſtandesoperationen beruht) krankhaft gewor-
den; ſelbſt diejenigen, welche ſich mit Naturgegenſtänden be-
ſchäftigten, ſahen dieſelben in fratzenhafter Verzerrung: jeder
ſinnliche Eindruck wurde durch die Thätigkeit einer abergläubi-
ſchen Phantaſie verunreinigt und entſtellt. Dieſer Verkommen-
heit gegenüber erſcheinen die kindlichen Beſchreibungen Bock's
ſachgemäß, naturgetreu und durch ihre friſche Unmittelbarkeit
wohlthuend; während bei dem gelehrteren Fuchs mit wirklicher
Naturforſchung ſich ſchon literariſche Kritik verbindet. Es war
ſehr viel damit gewonnen, daß man wieder anfing, die Pflanze
mit offenem Auge anzuſchauen, ſich ihrer Mannigfaltigkeit und
Schönheit zu erfreuen. Einſtweilen kam nichts darauf an, über
das Weſen der Pflanzenformen, über die Urſache des Pflanzen-
lebens zu philoſophiren; dazu war es Zeit, wenn man in der
Wahrnehmung ihrer Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten die
nöthige Uebung gewonnen hatte.
Nur in ſehr beſchränktem Sinne knüpften die ſogenannten
deutſchen Väter der Botanik an die botaniſche Literatur des
klaſſiſchen Alterthums an; indem ſie, wie erwähnt, in den
Pflanzen ihrer Heimath die von Theophraſt, Dioscorides,
Plinius, Galen genannten Pflanzen wieder zu erkennen
ſuchten. Das führte allerdings zunächſt zu ſehr zahlreichen
Irrthümern; denn die Beſchreibungen der Alten waren höchſt
kümmerlich und zur Wiedererkennung ihrer Pflanzen oft ganz
[17]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
unbrauchbar. In dieſer Richtung alſo hatten die Verfaſſer der
Kräuterbücher an den antiken Schriftſtellern durchaus keine nach-
ahmungswerthen Vorbilder. Indem man aber die Medicinal-
Pflanzen der griechiſchen Aerzte wiederzuerkennen ſuchte 1), war
man genöthigt, die verſchiedenſten Pflanzen Deutſchlands zu
vergleichen und ſo die ſinnliche Auffaſſung der Formverſchieden-
heiten zu üben und zu verfeinern; dieſes dem mediciniſchen
Bedürfniſſe entſprungene Verfahren leitete die Aufmerkſamkeit
ganz auf das Einzelne, worauf es auch im rein wiſſenſchaftlichen
Intereſſe zunächſt ankam; es war damit weit mehr gewonnen,
als wenn ſich dieſe Männer an die philoſophiſchen Schriften des
Ariſtoteles2) und Theophraſtos3) gehalten hätten; denn
dieſe hatten ihre philoſophiſch botaniſchen Anſichten auf ſehr ſchwachen
Grund gebaut; ihnen war kaum eine Pflanze in allen ihren
Theilen genau bekannt; ſehr Vieles wußten ſie nur vom Hören-
ſagen, nicht ſelten waren Kräuterhändler die Quellen ihres Wiſſens
geweſen. Aus dieſem kümmerlichen Beobachtungsmaterial, aus
allerlei überkommenem Volksglauben hatte Ariſtoteles ſeine
Anſichten über das Weſen der Pflanzen aufgebaut und wenn
Sachs, Geſchichte der Botanik. 2
[18]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
Theophraſtos auch an Erfahrung reicher war, ſo ſah er die
Thatſachen doch im Lichte der philoſophiſchen Lehren ſeines
Lehrers. Wenn es auch uns gegenwärtig gelingt, aus den
Schriften des Ariſtoteles und Theophraſtos manches
Richtige herauszuleſen, ſo war es doch gut, daß die erſten Ver-
faſſer der Kräuterbücher ſich darum nicht weiter kümmerten, ſon-
dern Hunderte und Tauſende möglichſt genauer Einzelbeſchreibungen
von Pflanzen anhäuften. Die Geſchichte zeigt, daß auf dieſem
Wege im Laufe weniger Jahrzehnte eine neue Wiſſenſchaft
entſtanden iſt, während die philoſophiſche Botanik des Ariſto-
teles und Theophraſtos zu keinem nennenswerthen Er-
gebniß geführt hat. Wir werden zudem im folgenden Ab-
ſchnitte ſehen, wie ſelbſt in den Händen eines philoſophiſch
begabten und geſchulten Mannes wie Caeſalpin es war, die
ariſtoteliſche Weisheit in der Naturgeſchichte der Pflanzen nur
Unheil anrichtete.
Wenn die Verfaſſer der Kräuterbücher auch nicht darauf
ausgingen, allgemeine Sätze aus ihren Beobachtungen abzuleiten,
ſo ergaben ſich doch nach und nach aus den ſich häufenden Ein-
zelbeſchreibungen ganz von ſelbſt Wahrnehmungen von abſtracter
und umfaſſenderer Art; vor Allem bildete ſich das Gefühl für
die Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der Formen und endlich die
Wahrnehmung der natürlichen Verwandtſchaften aus; und wenn
dieſe auch noch keineswegs wiſſenſchaftlich logiſch bearbeitet wurde,
ſo war ſie doch auch in der unbeſtimmten Form, wie ſie ſich
bei Lobelius 1576 und klarer bei Caspar Bauhin 1623
geltend machte ein Ergebniß von höchſtem Werthe; ein Reſultat,
von welchem das gelehrte Alterthum ebenſowenig wie das Mittel-
alter auch nur die geringſte Ahnung beſaß. Die Wahrnehmung
der natürlichen Verwandtſchaftsverhältniſſe konnte eben nur aus
tauſendfältig wiederholter genauer Einzelbeſchreibung, nicht aber
aus den Abſtractionen der ariſtoteliſchen Schule, welche weſentlich
auf oberflächlicher Beobachtung beruhten, gewonnen werden. Der
wiſſenſchaftliche Werth der Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts
lag alſo zumeiſt in der Einzelbeſchreibung ſolcher Pflanzen, welche
[19]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
jeder Botaniker auf einem ziemlich beſchränkten Gebiet ſeiner
Heimath vorfand und der Beachtung werth hielt; zugleich aber
waren die ſpäteren bemüht, jedem Kräuterbuch einen univerſellen
Charakter zu geben, auch die von dem Verfaſſer nicht ſelbſt
geſehenen Pflanzen mit aufzunehmen; jeder folgende entlehnte
von ſeinen Vorgängern wo möglich Alles, was dieſe geſehen
hatten und fügte das ſelbſt Geſehene, Neue hinzu; im Gegenſatz
zu den vorhergehenden Jahrhunderten aber hielt man jetzt nicht
mehr das aus den Vorgängern Entlehnte, ſondern das nach
eigener Beobachtung Hinzugebrachte für das eigentlich Verdienſt-
volle jedes neuen Kräuterbuches. So war jeder beſtrebt, möglichſt
zahlreiche, bisher nicht bekannte oder beachtete Pflanzen ſeinem
Werke einzuverleiben, und ſehr raſch ſtieg die Zahl der Einzel-
beſchreibungen: bei Fuchs (1542) finden wir ungefähr 500
Arten beſchrieben und abgebildet und ſchon 1623 iſt die Zahl
der von Caspar Bauhin aufgezählten Arten auf 6000 ge-
ſtiegen. Da die Botaniker über einen großen Theil Deutſchlands
verbreitet waren: Fuchs in Bayern, dann in Tübingen, Bock
am Mittelrhein, Konrad Gesner in Zürich, Dodonaeus und
Lobelius in den Niederlanden, ſo wurde ſchon auf dieſe Weiſe
ein Gebiet von beträchtlichem Umfange durchforſcht; erweitert
wurde es durch das, was Reiſende den Botanikern mitbrachten
oder zuſchickten, und vor Allem war es Cluſius, welcher nicht
nur einen großen Theil Deutſchlands und Ungarns, ſondern
auch Spanien bereiſte und die Pflanzen dieſer Länder eifrig
ſammelte und beſchrieb. Gleichzeitig wurde auch von Italien
her, zum Theil durch die Bemühungen der italieniſchen Botaniker,
wie Mattioli, aber auch durch reiſende Deutſche die Zahl
der bekannten Pflanzen vermehrt; zu erwähnen iſt hier noch die
erſte Flora des Thüringer-Waldes, welche Thalius ſammelte,
die aber erſt nach deſſen Tode 1588 herauskam. Selbſt botaniſche
Gärten, die man freilich in beſcheideneren Formen als unſere
jetzigen zu denken hat, halfen ſchon im 16. Jahrhunderte die
Pflanzenkenntniß mehren: die erſten derſelben waren in Italien
entſtanden, ſo zu Padua 1545, in Piſa 1547, in Bologna 1567
2*
[20]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
(unter Aldrovandi, dann unter Caeſalpin); bald darauf
traten auch im Norden derartige lebende Pflanzenſammlungen
auf: ſchon 1577 entſtand ein botaniſcher Garten in Leyden, dem
Cluſius eine Zeit lang vorſtand, dann 1593 in Heidelberg
und in Montpellier, aber erſt im Laufe des folgenden Jahrhun-
derts vermehrte ſich die Zahl der botaniſchen Gärten beträchtlich.
Auch die Aufbewahrung getrockneter Pflanzen, die Herſtellung
von Sammlungen, welche wir jetzt als Herbarien bezeichnen
(damals jedoch verſtand man unter einem Herbarium ein Pflanzen-
buch), ſtammt ſchon aus dem 16. Jahrhundert und auch hierin
waren die Italiener vorausgegangen. Nach Ernſt Meyer
ſcheint Luca Ghini der Erſte geweſen zu ſein, der getrocknete
Pflanzen zu wiſſenſchaftlichen Zwecken benutzte und ſeine beiden
Schüler Aldrovandi und Caeſalpin die erſten Herbarien
nach unſerer Art angelegt zu haben; zu den erſten derartigen
Sammlungen (vielleicht von 1559) gehört aber das Herbarium,
welches Ratzenberger anlegte, und welches vor einigen Jahren
im Caſſeler Muſeum von Keßler aufgefunden und beſchrieben
wurde.
Dieſe uns übrigens ferner liegenden Aeußerlichkeiten zeigen,
wie lebhaft in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts das In-
tereſſe an der Botanik war; noch mehr beweiſt es die große Zahl
von Pflanzenbüchern, welche mit theueren und zahlreichen Abbil-
dungen verſehen herausgegeben wurden, von denen manche ſogar
zahlreiche Auflagen erlebten. Mit der immer ſteigenden Zahl
der Abbildungen, welche man den Beſchreibungen beifügte und
welche in den ſpäteren Kräuterbüchern in die Tauſende gingen,
hielt jedoch ihr künſtleriſcher und wiſſenſchaftlicher Werth nicht
gleichen Schritt; die prächtigen Bilder bei Fuchs blieben uner-
reicht und nach und nach, je weiter man ſich von dem Zeitalter
Dürer's entfernte, wurden die Holzſchnitte kleiner und ſchlech-
ter 1), zuweilen ſogar unkenntlich. Dagegen nahm die Kunſt der
[21]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
Beſchreibung ſtetig zu; die Beſchreibungen wurden ausführlicher
und nach und nach ſtellte ſich eine gewiſſe Methode in der An-
führung der Merkmale und in der Würdigung ihres Werthes
heraus; auch mehrten ſich die kritiſchen Bemerkungen über die
Identität oder Nichtidentität der Arten, die Trennung vorher als
gleichartig betrachteter Formen und dergleichen mehr. Bei Clu-
ſius ſind die Beſchreibungen in der That ſchon als wiſſenſchaft-
lich durchdachte zu bezeichnen und bei Caspar Bauhin treten
ſie bereits in Form knapper methodiſch aufgeſtellter Diagnoſen auf.
Das Merkwürdigſte an dieſen Beſchreibungen von Fuchs
und Bock bis auf Caspar Bauhin iſt für uns aber die auf-
fallende Vernachläſſigung der Blüthen und Früchte. Die erſten
Beſchreibungen, zumal bei Bock, verſuchen die Pflanzenformen
gewiſſermaßen mit Worten zu malen, den ſinnlichen Eindruck der
Geſtalten unmittelbar wiederzugeben; es wurden ganz beſonders
die Formen der Blätter, der Habitus der Verzweigung, die Art
der Bewurzelung, Größe und Farbe der Blüthen beachtet. Kon-
rad Gesner1) war der Einzige, der die Blüthen und Frucht-
theile einer näheren Betrachtung würdigte und dieſelben mehrfach
abbildete, auch ihren hervorragenden Werth für die Beſtimmung
der Verwandtſchaft erkannte, wie aus ſeinen brieflichen Aeußer-
ungen bekannt iſt; der vielbeſchäftigte und vielgeplagte Mann
ſtarb jedoch, bevor er ſein lange vorbereitetes Pflanzenwerk been-
digen konnte und als im 18. Jahrhundert Schmiedel die
Gesner'ſchen Abbildungen, die unterdeſſen durch verſchiedene
Hände gegangen waren, herausgab, blieb dieſe verſpätete Publication
ohne jeden Nutzen für die bereits fortgeſchrittene Wiſſenſchaft.
Schon das über die Art der Beſchreibung Geſagte zeigt,
daß vergleichende morphologiſche Betrachtungen über die Pflanzen-
theile jenen Männern fern lagen und daß dem entſprechend auch
eine geregelte Kunſtſprache ihnen fehlte. Doch machte ſich bei
[22]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
den Gelehrteren wenigſtens das Bedürfniß geltend, die von ihnen
bei der Beſchreibung gebrauchten Worte mit einem beſtimmten
Sinne zu verbinden, die Begriffe zu definiren; ſo ſchwach auch
die erſten Anfänge in dieſer Richtung waren, verdienen ſie doch
Beachtung ſchon deßhalb, weil ſie mehr als alles Andere zeigen,
wie groß der Fortſchritt der Naturbetrachtung ſeit dem 16. Jahr-
hundert bis heut geweſen iſt.
Auffallend genug, iſt es ſchon in der Historia stirpium
des Leonhard Fuchs 1542, wo wir den erſten Verſuch zur
Feſtſtellung einer botaniſchen Nomenclatur gemacht finden. 1)
Vier ganze Seiten am Anfang des Werkes ſind dieſem Verſuche
gewidmet. In alphabetiſcher Reihenfolge, die er auch bei der
Beſchreibung der Pflanzen einhielt, wird eine beträchtliche Zahl
von Worten erklärt. Es iſt ſchwer, an herausgegriffenen Bei-
ſpielen eine klare Vorſtellung von dieſer erſten botaniſchen Nomen-
clatur zu geben, dennoch muß der Verſuch gewagt werden, weil
der Leſer auf dieſe Art allein erkennt, aus welch' ſchwachen An-
fängen ſich die ſpätere wiſſenſchaftliche Nomenclatur und Mor-
phologie entwickelt hat. So heißt es z. B.: Acinus bezeichnet
nicht bloß, wie manche glauben, die Körner im Innern der
Weintraube, ſondern die ganze Frucht, welche aus Saft, aus
einem fleiſchartigen Theile und den Kernen (vinaceis) ſowie aus
der äußeren Haut beſteht. Als Autorität für dieſe Namenerklä-
rung wird Galenus angeführt — Alae ſeien die Höhlungen
(Winkel) zwiſchen dem Stengel und ſeinen Zweigen (den Blättern),
aus welchen neue Sproſſe (proles) hervortreten. Asparragi
die Keime der Kräuter, welche zuerſt an's Licht hervortreten,
bevor ſie ſich in Blätter auflöſen und die jüngſten Sproſſe,
welche man eſſen kann — Baccae ſind kleinere foetus der
[23]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
Kräuter, Sträucher und Bäume, welche mehr zerſtreut und ver-
einzelt auftreten, wie z. B. die Lorbeeren (partus lauri), auch
weichen ſie darin von den acinis ab, daß dieſe dichter gedrängt
zum Vorſchein kommen — Internodium iſt, was zwiſchen den
Abgliederungen oder Knieen in der Mitte liegt, — Racemus
werde für die Weintraube gebraucht, gehöre aber nicht blos dem
Weinſtock, ſondern auch dem Epheu, und andern Kräutern und
Sträuchern, die irgend welche Trauben tragen. — Die meiſten
derartigen Namenerklärungen betreffen die Formen des Stammes
und der Zweige; das Merkwürdigſte an dem ganzen Verzeichniſſe
iſt aber, daß es die Worte Blüthe und Wurzel überhaupt nicht
enthält; doch findet ſich bei dem Worte julus die Angabe, es iſt
das, was bei dem Haſelſtrauch compactili callo racematim
cohaeret und gewiſſermaßen ein ſehr langer Wurm, der von
einem eigenthümlichen hängenden Stiel geſtützt iſt und der Frucht
vorausgeht. Obgleich das Wort Blüthe nicht erklärt wird, wer-
den doch einzelne Theile derſelben aufgeführt: ſo heißt es: sta-
mina sunt, qui in medio calycis erumpunt apices, sic dicta
quod veluti filamenta intimo floris sinu prosiliant. Schließ-
lich mag noch die Erklärung der Frucht folgen: Fructus, quod
carne et semine compactum est. Frequenter tamen pro
eo, quod involucro perinde quasi carne et semine coactum
est, accipi solet.
Der Fortſchritt in dieſer Richtung war langſam aber doch
kenntlich: in der letzten Ausgabe der Pemptaden des Dodonaeus1)
vom Jahre 1616 einem Folioband von 872 Seiten ſind aller-
dings nur 1⅓ Seite der Erklärung der Pflanzentheile gewidmet;
die Auswahl der erklärten Worte jedoch, ſowie der Inhalt der
[24]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
Erklärungen ſelbſt trifft mehr als bei Fuchs das Weſentliche
der Sache. So heißt es z. B. Wurzel (radix ρίζα) wird ſowohl
bei dem Baume, wie bei jeder anderen Pflanze der untere Theil
genannt, womit ſie in die Erde eingelaſſen iſt und ihr anhängt
und durch welche ſie Nahrung anzieht. Sie iſt (im Gegenſatz
nämlich zu den vorhergenannten meiſt abfallenden Blättern) allen
Pflanzen gemeinſchaftlich, mit Ausnahme von ſehr wenigen, die
ohne Wurzel leben und wachſen, wie die Cassytha, Viscum
und was man Hyphear nennt, ferner die Baumſchwämme, die
Geſchlechter der Mooſe und Tange, welche man dennoch unter
die φῦτα zu rechnen pflegt. — Caudex iſt bei den Bäumen und
Sträuchern, was aus der Wurzel über die Erde emporſteigt und
wodurch die Nahrung aufwärts getragen wird; derſelbe Theil
wird bei den Kräutern caulis oder cauliculus genannt — Blatt
(folium) iſt bei jeder Pflanze das, was dieſelbe bekleidet und
ſchmückt und durch deſſen Wegnahme Bäume und andere Pflanzen
nackt erſcheinen. — Die Definition der Blüthe läßt ſich ohne
Entſtellung nicht wohl deutſch wiedergeben: flos,ἄνϑος, arborum
et herbarum gaudium dicitur, futurique fructus spes est.
Unaquaeque etenim stirps pro natura sua post florem par-
tus ac fructus gignit. — Die Theile der Blüthe ſind ihm der
Kelch calyx, worin anfangs die Blüthe eingeſchloſſen iſt und
wovon bald auch der foetus umgeben wird. Staubfäden (sta-
mina), was gewiſſermaßen wie Fäden aus dem innerſten Grund
der Blüthe und dem Kelch hervorkommt; Apices (die Antheren),
gewiſſe dickliche Anhängſel am Gipfel der Staubfäden. — Julus
(Kätzchen), was von runder und länglicher Geſtalt ſtatt der Blüthe
herabhängt, wie bei dem Nußbaum, der Haſelnuß, der Maul-
beere, der Buche u. a. — Fructus iſt das, worin der Same
entſteht, aber nicht ſelten iſt es auch ſelbſt der Same, wo dieſer
nämlich von nichts Anderem umſchloſſen iſt und nackt entſteht.
Bei dieſen letzten Worten darf man nicht etwa an unſere Gym-
nospermen denken, vielmehr ſind hier, wie bei allen Botanikern,
bis auf A. L. de Juſſieu und Joſeph Gärtner (1788)
unter nackten Samen trockene Schließfrüchte zu verſtehen.
[25]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
Lobelius, bei dem man es am erſten erwarten dürfte,
hat überhaupt gar keine derartigen Erklärungen gegeben.
Der Mangel an tieferer vergleichender Betrachtung der
Pflanzentheile, der ſich in den angeführten Beiſpielen der Nomen-
clatur ausſpricht, kann als ein weiterer Beweis für die Behaup-
tung dienen, daß die natürliche Verwandtſchaft nicht aus genauer
Vergleichung der Form der Organe geſchloſſen, ſondern nur aus
der unmittelbar ſinnlichen Aehnlichkeit im Habitus, aus dem
Geſammteindruck der ganzen Pflanze herausgefühlt wurde.
Indem ich nun zur Betrachtung der ſyſtematiſchen Be-
ſtrebungen der deutſchen Botaniker dieſes Zeitraumes übergehe,
iſt zunächſt hervorzuheben, daß man allgemein die Eintheilung
in die Hauptgruppen: Bäume, Sträucher, Halbſträucher, Kräuter
beibehielt, Gruppen, welche aus dem Alterthum herübergenom-
men waren, und welche auch von den eigentlichen Syſtematikern
von Caeſalpin bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts
beibehalten wurden; es war in dieſem Prinzip nichts geändert,
wenn man ſtatt jener 4 Gruppen nur 3 oder 2 (Bäume und
Kräuter) beibehielt. Dabei galt es als ſelbſtverſtändlich, daß
die Bäume die vollkommenſten Gewächſe ſeien. Wenn nun im
Folgenden von Verwandtſchaftsverhältniſſen die Rede iſt, ſo
gelten dieſelben immer nur innerhalb dieſer eben genannten
Gruppen. Die Syſtematik der deutſchen und niederländiſchen
Botaniker entſprang nicht nur aus der Einzelbeſchreibung der
Pflanzen, ſondern ſie war anfänglich ſogar in gewiſſem Sinne
identiſch mit derſelben. Indem man es unternahm, die einzelnen
Pflanzenformen zu beſchreiben, hatte man ſofort die ſehr ähnlichen
von einander kritiſch zu ſondern, denn die Aehnlichkeit ſyſtematiſch
nahe verwandter Pflanzen iſt oft ſo groß, daß ihre ſpezifiſche
Unterſcheidung Nachdenken und ſorgfältige Vergleichung erfordert:
die Aehnlichkeit tritt ſchärfer hervor als die Verſchiedenheit; zudem
gibt es viele Pflanzen, welche, obgleich ihrer inneren Natur nach
gänzlich von einander verſchieden, doch für die unmittelbar ſinn-
liche Wahrnehmung auffallend ähnlich erſcheinen und umgekehrt.
Indem es nun alſo die Beſchreibung verſucht, die einzelnen For-
[26]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
men zu umgrenzen und zu fixiren, ſieht ſie ſich ſofort in Schwie-
rigkeiten verwickelt, deren Löſung die Aufſtellung ſyſtematiſcher
Begriffe ganz unmittelbar herbeiführt. Die Vergleichung der
Kräuterbücher von Fuchs und Bock bis auf Caspar Bauhin
zeigt nun ſehr deutlich, wie jene Schwierigkeiten Schritt für
Schritt überwunden wurden, wie die Beſchreibung der einzelnen
Arten nothwendig und ohne daß es die Autoren beabſichtigten, zu
Auseinanderſetzungen ſyſtematiſcher Natur hinführten. Wo die
Species einer Formengruppe, die wir jetzt als Gattung resp.
Familie bezeichnen, in hohem Grade einander habituell ähnlich
ſind, da trat ganz von ſelbſt und inſtinktiv das Gefühl für die
Zuſammengehörigkeit ſolcher Formen hervor; es machte ſich
ſprachlich darin geltend, daß man von vorneherein zahlreiche
derartige Formen ohne Bedenken mit demſelben Namen bezeichnete,
ſo finden wir, um von vielen Beiſpielen eines zu erwähnen, bei
Bock mit dem Namen Wolfsmilch, Euphorbia, nicht eine Spe-cies dieſer Gattung, ſondern mehrere ſolche bezeichnet, die der
Verfaſſer nun durch Beinamen (gemeine, kleinſte, cypreſſene,
ſüße) unterſcheidet. Sehr lehrreich in dieſer Beziehung iſt die
gewöhnliche Ausdrucksweiſe der Kräuterbücher: es gebe von die-
ſer oder jener Pflanze zwei oder mehr, die man vorher nur nicht
unterſchieden hatte. Aber dieſes Gefühl der Zuſammengehörig-
keit und Gleichartigkeit wurde nicht blos durch Formen nächſter
Verwandtſchaft, ſondern auch durch ſolche, welche weitläufigen
Gruppen des Syſtems angehören, hervorgerufen; ſo umfaßten
längſt die Worte Moos, Flechte, Pilz, Alge, Farnkraut u. a.
eine große Zahl verſchiedener Formen, wenn auch freilich die Un-
terſcheidung dieſer Gruppen nirgends logiſch ſcharf durchgeführt
wurde.
Das eben Geſagte iſt inſofern von Gewicht, als ſich daraus
auf das Beſtimmteſte die Unrichtigkeit der Behauptung ergiebt,
das Studium der Organismen gehe aus oder ſei zunächſt aus-
gegangen von der Kenntniß der einzelnen Species; dieſe ſei das
unmittelbar Gegebene und ohne ihre vorgängige Kenntniß ſei
kein Fortſchritt der Wiſſenſchaft möglich. Hiſtoriſche Thatſache
[27]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
iſt vielmehr, daß die deſcriptive Botanik ebenſo oft vielleicht noch
öfter von den Gattungen und Familien, wie von einzelnen Species
ausgegangen iſt, daß ſehr häufig zuerſt ganze Gruppen von
Formen als einheitliche Objecte aufgefaßt wurden, die man erſt
ſpäter in einzelne Formen abſichtlich ſpalten mußte; und bis
auf den heutigen Tag liegt ja ein Theil der ſyſtematiſchen
Beſchäftigung darin, ſolche Spaltungen von vorher für identiſch
gehaltenen Formen vorzunehmen. Es iſt eine erſt in der nach-
linné'ſchen Zeit unter der Herrſchaft des Dogmas von der Con-
ſtanz der Arten erfundene Fabel, daß die Species das dem Be-
obachter urſprünglich gegebene Object ſei und daß man erſt
nachträglich gewiſſe Species in Gattungen vereinigt habe; zu-
weilen iſt dies geſchehen, ebenſo oft aber war die Gattung das
zunächſt Gegebene und die Aufgabe der Beſchreibungskunſt die,
ſie in eine Anzahl von Species aufzulöſen. Im 16. Jahrhundert
war aber weder der Gattungs- noch der Species-Begriff definirt,
für die damaligen Botaniker hatten Gattungen und Species die-
ſelbe objective Realität. Indem man aber die Einzelbeſchreibung
immer genauer zu machen ſuchte, verknüpften ſich vorher geſon-
derte Formen und traten vorher identiſch genommene auseinander,
bis es nach und nach zum Bewußtſein kam, daß Beides metho-
diſch betrieben werden müſſe. Man kann daher eigentlich gar
nicht ſagen, daß irgend Jemand zuerſt die Species, ein Anderer
die Gattung und noch ein Anderer die größeren Gruppen aufge-
ſtellt habe. Vielmehr vollzog ſich dieſer Scheidungsproceß bis
zu einem gewiſſen Grade bei den Botanikern des 16. Jahrhun-
derts unabſichtlich, indem ſie ihren Einzelbeſchreibungen möglichſte
Beſtimmtheit zu geben ſuchten. Es lag dabei in der Natur der
Sache, daß zuerſt diejenigen Formgruppen, die wir jetzt als
Species und Gattung bezeichnen, ſich klären mußten, und ſo
finden wir denn in der That am Schluß dieſer Periode bei
Caspar Bauhin ſchon die Gattungen durch Namen, wenn
auch nicht durch Diagnoſen, die Species aber durch Namen und
Diagnoſen unterſchieden. — Aber gleichzeitig wurden auch ſchon
zahlreiche umfaſſendere Gruppen, die wir jetzt als Familien be-
[28]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
zeichnen, unterſchieden und ſogar oft mit noch jetzt geltenden
Namen belegt; ſchon im 16. Jahrhundert haben ſich die Gruppen
und Namen: Coniferen, Umbelliferen, Verticillaten (Labia-
ten), Capillares (Farne) u. ſ. w. gebildet. Abgrenzungen die-
ſer Gruppen nach beſtimmten Merkmalen wurden freilich noch
nicht verſucht, aber immer wieder werden die Pflanzen, welche
dieſen Gruppen angehören, in beſonderen Capiteln behandelt oder
in der Reihenfolge hintereinander aufgeführt. Indem dies jedoch
gewiſſermaßen unabſichtlich geſchah, der wahre Werth dieſer ver-
wandtſchaftlichen Verhältniſſe noch nicht erkannt wurde, traten
bei der Darſtellung in den Büchern gleichzeitig die verſchiedenſten
anderen Rückſichten mit hervor und ſtörten die natürliche Anord-
nung. Zuerſt bei Lobelius und dann in viel vollendeterer
Form bei Caspar Bauhinverdrängt das Gefühl für die
natürliche Verwandtſchaft alle anderen Rückſichten.
Das bisher Mitgetheilte mag dem Leſer das Hauptreſultat
der botaniſchen Beſtrebungen des hier betrachteten Zeitraumes
verſtändlich machen; eine Anſchauung von der Art und Weiſe,
wie man damals Pflanzen beſchrieb und in welcher Weiſe die
Syſtematik zum Ausdrucke gelangte, kann jedoch nur an Beiſpie-
len erläutert werden und wenn ich es unternehme, hier eine
Reihe von ſolchen vorzuführen, ſo geſchieht es in derſelben Ab-
ſicht, wie man naturwiſſenſchaftlichen Abhandlungen möglichſt
naturgetreue Abbildungen beifügt, weil nur auf dieſe Weiſe ein
wirkliches Verſtändniß zu erzielen iſt. Die botaniſche Literatur
des 16. Jahrhunderts iſt ſo verſchieden von der gegenwärtigen,
daß man durch Angabe der Reſultate in unſerer jetzigen Aus-
drucksweiſe doch nur eine ganz unbeſtimmte Vorſtellung von ihr
gewinnt.
Fuchs historia stirpium 1542.
Die jetzt unter dem Namen Ackerwinde (Convolvulus arvensis)
bekannte gemeine Pflanze heißt dort Helxine cissampelos. Sie wird
folgendermaßen beſchrieben:
Nomina:
Ελξινὴ κιδδάμπελος Graecis, Helxine cissampelos et Convolvulus
Latinis nominatur. Vulgus herbariorum et officinae, Volubilem mediam \&
[29]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
vitealem appellant, Germani Mittelwinden oder Weingartenwinden.
Recte autem Cissampellos dicitur; in uineis enim potissimum, nascitur
\& folio hederaceo. Convolvulus vero, quod crebra revolutione vicinos
fructices \& herbas implicet.
Forma:
Folia habet Haederae similia, minora tamen. Ramulos exiguos cir-
cumplectentes quodcunque contigerint. Folia denique ejus scansili ordine
alterna subeunt. Flores primum candidos Lilii effigie, dein in puniceum
vergentes, profert. Semen angulosum in folliculis acinorum specie.
Locus:
In vineis nascitur, unde etiam ei appelatio Cissampeli, ut diximus,
indita est.
Tempus:
Aestate, potissimum autem Julio \& Augusto mensibus, floret.
Bei Hieronymus Bock1) Kräuterbuch Straßburg 1560 p. 299
wird von derſelben Pflanze und dem ebenfalls bei uns wildwachſen-
Convolvulus Sepium folgendermaßen gehandelt:
„Von weiß Wind Glocken.
Zwei gemeiner Winden kreutter wachſen in unſerm land allent-
halben mit weißen ſchellen oder Glocken blumen. Die größt ſucht
ir Wohnung gern bei der Zeunen, kreucht über ſich wickelt und
windt ſich u. ſ. w. Das klein Wind oder Glockenkraut (nämlich
wieder der convolvulus arvensis) iſt dem großen mit der wurtzel run-
den ſtengeln blettern und Schellen blumen gleich, in allen Dingen
kleiner, dünner und kürzer. Etliche Glocken blumen an dieſem ge-
wächs werden gantz weiß, etlich ſchön leibfarb, mit braunrothen
ſtrömlein gemalet. Diſe wachſen in dürren wiſen, in den kraut
un Zwibelgärten, darinn thut es ſchaden, dann mit ſeinem kriechen
und umbewickeln, druckt es andere garten kreutter zu Boden, iſt
auch böß zu vertreiben, darum daß die weiße dünne wurtzelen ſeer
[30]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
dieff underſich ſchliefen, die bekleiben ſeer liederlich, ſtoßen alle zeit
neue und junge Dolden wie hopffen.“
Darauf folgt ein langer Abſchnitt über die Namen d. h. eine
kritiſche Zuſammenſtellung der [Meinungen] verſchiedener Schriftſteller
darüber, welcher Name des Dioskorides oder Plinius auf die
beſchriebene Pflanze anzuwenden ſei. „Mich will bedunken, heißt
es weiter, dieſe blum mit ir gantzen art ſei ein wild geſchlecht,
scammoniae Dioscoridis (doch onſchädlich), welches Kraut Dioscorides
auch colophoniam, dactylion, apopleumenon, sanilum und colophonium
nennet, u. ſ. w. dann folgt ein Kapitel von der Kraft und Wirkung
innerlich und äußerlich.
Was die Anordnung der von Bock beſchriebenen 567 Pflan-
zenarten betrifft, ſo behandelt er dieſelben in 3 Theilen des
Buches, von denen der erſte und zweite kleinere Kräuter, der
dritte aber Sträucher und Bäume umfaßt. Innerhalb eines
jeden Theils finden ſich gewöhnlich nahe verwandte Pflanzen in
mehr oder minder großer Zahl unmittelbar hintereinander abge-
handelt, wobei aber die verſchiedenſten Rückſichten für den Ver-
faſſer maßgebend ſind, ohne daß irgend ein allgemeines Princip
befolgt würde. So ſteht z. B. unſer Convolvulus mitten unter
einer Anzahl anderer ſehr verſchiedener Pflanzen, welche entweder
klettern wie der Epheu oder mit Ranken winden wie Smilax, dann
folgt das Engelkraut (Lysimachia nummularia), welches einfach
auf der Erde hinläuft, dann der Hopfen, das Bitterſüß (Sola-
num dulcamara), dann die Wildrebe (Clematis), der Hunds-
kürbis (Bryonia), das Geisblatt (Lonicera), dann verſchiedene
Cucurbitaceen, worauf er ohne Unterbrechung zu den Kletten,
Karden, Diſteln übergeht, um einige Umbelliferen folgen zu
laſſen. In ähnlicher Art iſt das ganze Werk verfaßt, das Gefühl
für Verwandtſchaft innerhalb der engſten Verwandtſchaftskreiſe
iſt deutlich vorhanden, ohne jedoch einen entſprechenden Ausdruck
zu finden, häufig durch Rückſicht auf biologiſchen Habitus ge-
ſtört; das tritt beſonders am Anfang des dritten Theils hervor,
der von Stauden, Hecken und Bäumen, „ſo in unſerm Teutſchen
landen wachſen“, handelt; das erſte Capitel nämlich handelt von
[31]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
den Schwämmen, welche an Bäumen wachſen, das zweite von
einigen Mooſen, auf welche unmittelbar die Miſtel (Viscum
album) folgt. Dann kommt das Heidekraut und andere kleinere
Sträucher, bis endlich größere und größte Bäume folgen. Das
Capitel von den Schwämmen enthält unter dem Abſchnitt
„Von den Namen“ auch die Meinung, die noch bis in's 17.
Jahrhundert hinein oft wiederholt wurde, über die Natur der
Pilze:
„Alle ſchwemme ſind weder kreutter noch wurzeln, weder blumen
noch ſamen, ſondern eittel überflüſſige feuchtigkeit der Erden, der
beume der faulen höltzer und anderer faulen dingen. Von ſolcher
feuchtigkeit wachſen alle Tubera und Fungi. Das kan man daran
war nemen, alle obgeſchribene ſchwemme (ſonderlich die in den
kuchen gebraucht werden) wachſen am meiſten, wenn es dondern
oder regnen wil, ſagt Aquinas Ponta. Darumb die alten ſonder-
lich acht darauff gehabt, und gemeinet, daß die Tubera (dieweil ſie
von keinem ſamen aufkommen) mit dem Himel etwas vereinigung
haben. Auff diſe weiß redet auch Porphyrius, und ſpricht: der Götter
kinder heiſſen Fungi und Tubera, darumb das ſie on ſamen unnd
nit wie andere leut geboren werden.“
Wir übergehen jetzt die Valerius Cordus, Konrad
Gesner, Mattioli1) mehrere unbedeutende Andere und
wenden uns zu Dodonaeus, Cluſius und Dalechamp, bei
denen ſchon eine entſchiedene Neigung zur geordneten Darſtellung
hervortritt, jedoch iſt das Anordnungsprinzip bei dieſen Dreien
weſentlich in zufälligen Aeußerlichkeiten, vor Allem in den Be-
ziehungen der Pflanzenwelt zum Menſchen enthalten. Die natür-
lichen Verwandtſchaftsverhältniſſe werden zwar innerhalb der
Abtheilungen, welche auf dieſe Weiſe künſtlich entſtehen, je ſpäter
[32]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
deſto mehr beachtet, ohne Bedenken aber werden verwandte Formen
auseinander geriſſen, wenn es ſich um das künſtliche Eintheilungs-
prinzip handelt. Auch tritt bei dieſen Schriftſtellern deutlich
genug hervor, daß es ihnen weit mehr um eine Form des
Vortrags als um eine objectiv giltige Eintheilung zu thun iſt.
Es iſt ſchlechterdings unmöglich, in unſerer wiſſenſchaftlichen Sprache
dem Leſer eine Vorſtellung von dieſen Eintheilungen zu geben,
ohne dieſe ſelbſt anzuführen. Um nicht allzu weitläufig zu
werden, will ich nur den beſten der eben genannten 3 Schriftſteller
(Cluſius) hervorheben 1): In der Rariorum plantarum his-
toria, welche bereits 1576 erſchienen war, mir aber in der
Auflage von 1601 vorliegt, handelt
das 1. Buch von den Bäumen, Sträuchern und Halbſträuchern,
das 2. Buch von den Zwiebelpflanzen,
das 3. Buch von den wohlriechenden Blumen,
das 4. Buch von den nichtriechenden,
das 5. Buch von den giftigen, narcotiſchen und ſcharfen Pflanzen,
das 6. Buch von Milchſaftgebenden, den Umbelliferen, Farnen,
Gräſern, Leguminoſen und einigen Cryptogamen.
Aehnlich iſt die Eintheilung aber auch bei Dalechamp2),
verwickelter und unnatürlicher in den Pemptaden des Dodo-
naeus; bei beiden aber iſt das Princip offenbar ein ähnliches
wie bei Cluſius. Wie es mit dieſen Eintheilungen gemeint
iſt, zeigen am Beſten die einleitenden Ueberſchriften, wo es z. B.
heißt (Cluſiusl. c. p. 127): „Nachdem wir die Geſchichte
der Bäume, Sträucher und Halbſträucher abgehandelt und dieſe
[33]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
im vorigen Buch zuſammengeſtellt haben, wollen wir jetzt in
dieſem zweiten von ſolchen Pflanzen handeln, welche aus einer
zwiebelartigen oder knolligen Wurzel beſtehen, von denen ein
großer Theil durch die Eleganz und Mannigfaltigkeit ihrer Blu-
men aller Augen auf ſich zieht und außerordentlich ergötzt, die
daher auch nicht den letzten Ort unter den Kranzpflanzen (inter
coronarias) erhalten ſollen. Wir werden aber mit den Pflanzen
von dem Liliengeſchlecht anfangen wegen ihrer Größe und Schön-
heit der Blumen“ u. ſ. w. Gelehrter und mit mehr Umſchweifen
verſehen ſind die Einleitungen zu den einzelnen Büchern, in den
Pemptaden des Dodonaeus. Es leuchtet ein, daß die Verfaſſer
dieſer Werke offenbar gar nicht die Abſicht hatten, nach einem
objectiv giltigen Princip einzutheilen, daß es ihnen vielmehr nur
darauf ankam, ihre Einzelbeſchreibungen irgendwie zu ordnen.
Daher erſcheinen auch dieſe Abtheilungen nicht unter den Namen
von Claſſen und Unterabtheilungen (genera majora et minora
wie man es damals etwa würde genannt haben), ſondern es
ſind eben nur möglichſt ſymetriſch gehaltene Abſchnitte des ganzen
Werkes. Wollen wir das, was ſyſtematiſche Bedeutung wirklich
beanſpruchen darf, in dieſen Werken auffinden, ſo dürfen wir
uns alſo nicht an dieſe typographiſch begrenzten Abſchnitte halten,
wir müſſen vielmehr innerhalb eines jeden derſelben die Reihen-
folge beobachten, in welcher die Pflanzen aufgeführt werden und
da zeigt ſich in der That, daß innerhalb des einmal feſtgeſetzten
Rahmens das natürlich Verwandte, ſo gut es eben geht, auch
zuſammengeſtellt wird; ſo finden wir z. B. in dem zweiten Buch
von Cluſius' Raritäten, zuerſt wirklich eine lange Reihe von
echten Liliaceen und Asphodeleen, Melantaceen, Irideen un-
unterbrochen hintereinander abgehandelt, dann folgt der Calmus,
an dieſen aber ſchließen ſich ohne irgend eine Motivirung eine
Reihe von Ranunkulaceen an, in denen die Gattung Ranuncu-
lus und Anemone ganz gut geſondert ſind, dann aber folgt
wieder ohne Weiteres die Gattung Cyclamen in verſchiedenen
Arten und auf dieſe zahlreiche Orchideen; mitten in denſelben
ſteht aber Orobanche und Corydalis, auf welche Helleborus
Sachs, Geſchichte der Botanik. 3
[34]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
niger, Veratrum album, Polygonatum u. ſ. w. folgen. Aehn-
lich geht es natürlich auch in den übrigen Abſchnitten, obgleich
im allgemeinen die Arten einer Gattung beiſammenſtehen, ſogar
die Gattungen einer Familie oft genug einander folgen; in all-
dem aber iſt kein rechter Halt, da immer wieder andere Rück-
ſichten das Gefühl für die natürliche Verwandtſchaft ſtören. Die
Einzelbeſchreibungen des Cluſius werden allgemein gerühmt
und ſie verdienen es wegen ihrer Ausführlichkeit und der Beach-
tung der Blüthenbildung, doch wendet auch er wie Lobelius
und Dodonaeus die ausführlichſte Beſchreibung den Blättern zu.
Bei Lobelius1) tritt, wie ſchon erwähnt, zum erſten
Male das Gefühl für die natürliche Verwandtſchaft mit ſolcher
Entſchiedenheit hervor, daß dadurch alle anderen Rückſichten über-
wogen, wenn auch nicht ganz beſeitigt werden. Hierüber gibt
uns zunächſt die Vorrede zu ſeinem Stirpium adversaria nova
1576 Auskunft, wo es wörtlich heißt: proinde adversariorum
voce novas veteribus additas plantas et novum ordinem
quadantenus innuimus. Qui ordo utique sibi similis et
unus progreditur ducitque assensui propinquioribus et
magis familiaribus ad ignotiora et compositiora, modumque
sive progressum similitudinis sequitur et familiaritatis,
quo et universim et particulatim, quantum licuit per
rerum varietatem et vastitatem, sibi responderet. Sic enim
ordine, quo nihil pulchrius in caelo aut in sapientis animo,
quae longe lateque disparata sunt, unum quasi fiunt,
magno verborum memoriae et cognitionis compendio, ut
Aristoteli et Theophrasto placet.
Es geht daraus nun freilich nicht hervor, daß Lobelius
ein natürliches Pflanzenſyſtem wirklich zu Stande gebracht habe,
aber noch mehr als in den Adverſarien zeigt ſich in ſeinen Ob-
[35]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
servationes das Beſtreben, die Pflanzen nach ihren Geſtalt-
ähnlichkeiten zuſammenzuordnen und zwar geſchieht dies nicht
mehr ganz inſtinktiv nach dem Geſammt-Habitus, er läßt ſich
vielmehr vorwiegend und offenbar abſichtlich von der Form der
Blätter leiten, ſo zwar, daß er von den Gräſern mit ſchmalen,
langen und einfachen Blättern beginnend zu den mehr breit-
blättrigen Liliaceen und Orchideen fortſchreitet, dann zu den
Dikotylen übergehend, die Hauptgruppen vielfach in ziemlich
geſchloſſenen Maſſen auftreten läßt. Doch erſcheinen mitten unter
den Dikotylen der Blattform wegen auch die Farnkräuter; wo-
gegen die Cruciferen, Umbelliferen, Papilionaceen und Labiaten
nur wenig durch Nebenrückſichten geſtört in ihrer Continität ſich
erhalten.
Den Abſchluß dieſer ganzen Entwicklungsreihe finden wir,
wie ſchon hervorgehoben wurde, in den Leiſtungen des Caspar
Bauhin1), ſowohl Betreffs der Namengebung und Einzel-
beſchreibung als auch bezüglich der Anordnung nach habituellen
Aehnlichkeiten. Bei Bauhin ſind endlich alle Nebenrückſichten
geſchwunden, ſeine Werke können im ſtreng wiſſenſchaftlichen
Sinne als botaniſche gelten und zeigen, wie weit man es in
einer beſchreibenden Wiſſenſchaft bringen kann, ohne daß eine
allgemeine vergleichende Formenlehre dieſelbe unterſtützt und wie
weit die bloße Wahrnehmung der habituellen Aehnlichkeiten im
Stande iſt, eine natürliche Anordnung der Pflanzen zu begründen;
weiter konnte man auf dem von den deutſchen und niederländi-
ſchen Botanikern eingeſchlagenen Wege nicht wohl gelangen.
Was zunächſt Bauhin's Beſchreibungen betrifft, ſo zeigt
ſein Prodromus Theatri Botanici 1620, daß bei ihm die Be-
ſchreibung der einzelnen Art in möglichſter Kürze und in beſtimmter
3*
[36]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker
Ordnung alle leicht wahrnehmbaren Theile der Pflanze beachtet:
Form der Wurzel, Höhe und Form des Stengels, Eigenſchaften
der Blätter, Blüthe, Frucht und des Samens werden in knappen
Sätzen aufgeführt; ſelten nimmt eine Beſchreibung mehr als 20
kurze Zeilen ein, die Description der einzelnen Art iſt hier in
der That zu einer Kunſt ausgebildet, die Beſchreibung zur Diag-
noſe geworden.
Noch höher iſt es anzuſchlagen, daß bei Caſpar Bauhin
die Unterſcheidung von Species und Gattung ſchon vollſtändig
und mit Bewußtſein durchgeführt wird; jede Pflanze beſitzt bei
ihm einen Gattungs- und einen Species-Namen und dieſe binäre
Nomenklatur als deren Begründer gewöhnlich Linné betrachtet
wird, iſt beſonders im Pinax des Bauhin beinahe vollſtändig
durchgeführt; häufig wird freilich dem zweiten Wort, dem Species-
namen, noch ein drittes und viertes hinzugefügt; man bemerkt
aber leicht, daß dies ein bloßer Nothbehelf iſt. Viel merkwür-
diger iſt dagegen, daß Bauhin ſeinen Gattungsnamen keine
Diagnoſen beigegeben hat; es iſt eben nur der Name, woran
man erkennt, daß mehrere Species zu einer Gattung gehören;
faſt möchte man glauben, daß die Gattungscharakteriſtik durch
die wunderliche, jedem Gattungsnamen mit geſperrter Schrift
beigegebene etymologiſche Erläuterung erſetzt werden ſoll.
Derartige ganz aus der Luft gegriffene Etymologieen haben ſich
bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erhalten, bis endlich Tour-
nefort dem Unweſen entgegentrat. Es war darin noch ein
gutes Stück ariſtoteliſch-ſcholaſtiſcher Denkweiſe enthalten, welche
aus der urſprünglichen Bedeutung des Namens das Weſen der
Dinge begreifen zu können glaubte.
Nichts zeigt ſo ſehr den Ernſt der Forſchung Bauhin's,
als die Thatſache, daß er eine 40jährige Arbeit ſeinem Pinax
widmete, um für jede von ihm aufgeführte Species nachzuweiſen,
wie dieſelbe bei den früheren Botanikern genannt wurde. Schon
das oben aus Fuchs angeführte Beiſpiel zeigt, wie zahlreich
bereits die Benennung einer Pflanze um die Mitte des 16.
Jahrhunderts war, ja ſchon bei Dioscorides und Plinius
[37]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
werden für jede einzelne Pflanze ganze Reihen von Namen an-
geführt; dazu kam, daß die Botaniker des 16. Jahrhunderts, wo
nur irgend möglich, die Namen des Dioscorides und anderer
antiken Schriftſteller auf beſtimmte, in Mitteleuropa gefundene
Pflanzen anwenden wollten; bei der oft ganz mangelnden ge-
wöhnlich aber durchaus ungenügenden Beſchreibung, welche Dios-
corides, Theophraſt und Plinius ihren Pflanzennamen
beigegeben hatten, war es nicht nur für die Wiſſenſchaft des
16. Jahrhunderts, ſondern iſt es auch noch für die des 19.
Jahrhunderts eine ſehr ſchwierige Aufgabe, die Pflanzen jener
antiken Schriftſteller wiederzuerkennen; ſo entſtand eine derartige
Verwirrung der Namen, daß der Leſer eines botaniſchen Werkes
niemals ſicher ſein konnte, ob die Pflanze des einen Autors auch
dieſelbe ſei wie die gleichnamige Pflanze eines anderen. Jeder
Pflanzenbeſchreibung pflegte daher ſchon damals eine kritiſche
Auseinanderſetzung darüber beigegeben zu werden, in wiefern
der gebrauchte Name mit dem anderer Autoren übereinſtimme
oder nicht. Dieſen Zuſtand der Unſicherheit wollte Caspar
Bauhin durch ſeinen Pinax beſeitigen, indem er für alle ihm
bekannten Pflanzenarten die von früheren Autoren für dieſelben
gebrauchten Namen nachwies, ſo daß man mit Hilfe dieſes Bu-
ches noch jetzt im Stande iſt, ſich über die Nomenklatur des 16.
Jahrhunderts zu orientiren; der Pinax iſt mit einem Wort das
erſte und für jene Zeit vollkommen erſchöpfende Synonymenwerk,
welches für hiſtoriſche Studien betreffs einzelner Pflanzenarten
noch jetzt geradezu unentbehrlich iſt, gewiß kein kleines Lob, wel-
ches einem Werke ſelbſt nach 250 Jahren noch geſpendet wer-
den kann.
Bei dieſer Tendenz des Pinax wäre es erlaubt, ja ſogar
zweckmäßig geweſen, die Pflanzen in alphabetiſcher Reihenfolge
anzuführen; deſto mehr überraſcht es gerade hier, eine ſorgfältige
Anordnung nach natürlichen Verwandtſchaften befolgt zu ſehen;
gerade dies beweiſt, was auch durch den Prodromus beſtätigt
wird, daß Bauhin einen ſehr großen Werth auf die Anordnung
nach natürlichen Verwandtſchaften legte. Auch in dieſem Punkte
[38]Die deutſchen und niederländiſchen Botaniker.
geht Caspar Bauhin über ſeine Vorgänger weit hinaus, er
verfolgt zwar denſelben Weg wie Lobelius 40 Jahre früher,
aber er geht auf dieſem Wege viel weiter. Mit ſeinem Vorgänger
theilt er aber noch die Eigenthümlichkeit, daß er die größeren
Gruppen, die zum Theil unſeren jetzigen Familien entſprechen,
einzelne Ausnahmen abgerechnet, weder durch beſondere Namen
bezeichnet, noch durch irgend eine Beſchreibung als ſolche charak-
teriſirt; es iſt auch bei Bauhin nur die Reihenfolge ſelbſt, aus
der man ſeine Anſichten über die natürliche Verwandtſchaft ent-
nehmen kann. Es bedarf übrigens kaum der Erwähnung, daß
die natürlichen Familien, ſoweit ſie in Bauhin's Werke kenntlich
werden, jeder ſcharfen Umgrenzung entbehren, ja man möchte
faſt ſchließen, daß er eine ſolche abſichtlich vermied, um ohne
Unterbrechung von einer Verwandtſchaftskette zur andern über-
gehen zu können.
Wie Lobelius ſchreitet auch Bauhin in ſeiner Aufzähl-
ung von dem vermeintlich Unvollkommenſten zum Vollkommeneren
fort, indem er mit den Gräſern beginnt, die Mehrzahl
der Liliaceen und Zingiberaceen, dann die dikotylen Kräuter
folgen läßt und endlich mit den Sträuchern und Bäumen
ſchließt.
Mitten in der Reihenfolge der dikotylen Kräuter zwiſchen
den Papilionaceen und den Diſteln ſtehen die ihm bekannten
Cryptogamen (mit Ausſchluß der den Gräſern zugezählten Equi-
ſeten). Ueber den großen Unterſchied zwiſchen den Cryptogamen
und Phanerogamen war ſich Bauhin offenbar weniger klar
als mancher ſeiner Vorgänger; daß er unter den Cryptogamen
auch einzelne Phanerogamen, (wie z. B. die Waſſerlinſe) und die
Salvinien unter den Mooſen anführt, daß er die Corallen, Al-
cionien und Spongien mit den Meeresalgen verbindet, iſt dagegen
keineswegs auffallend, wenn man bedenkt, daß erſt um die Mitte
des 18. Jahrhunderts in dieſer Beziehung richtigere Anſichten
entſtanden, und daß ſelbſt Linné ſich noch nicht recht entſchließen
konnte, die ſogenannten Zoophyten aus dem Pflanzenreiche aus-
zuſchließen und ſie den Thieren beizuzählen. Die Pflanzenkenntniß
[39]von Brunfels bis auf Caspar Bauhin.
im wiſſenſchaftlichen Sinne des Wortes war eben bis zum Be-
ginne des 19. Jahrhunderts auf die Phanerogamen beſchränkt
und wenn wir bis zu dieſem Zeitraum von Principien und
Methoden der deſcriptiven Botanik reden, ſo handelt es ſich dabei
immer nur um die Phanerogamen und höchſtens um die Farn-
kräuter; die methodiſche Bearbeitung der Cryptogamen gehört zu
den neueſten Fortſchritten der Botanik. Hier wurde nur deßhalb
auf die Sache hingewieſen, weil gerade bei Caspar Bauhin,
einem Botaniker von Begabung, in welchem geradezu das ganze
erſte Zeitalter der wiſſenſchaftlichen Botanik gipfelt, in ſchlagendſter
Weiſe erkennen läßt, wie groß der Fortſchritt ſeit jener Zeit
geweſen iſt.
[40]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Zweites Capitel.
Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur der Organe
von Caeſalpin bis auf Linné.
1583-1760.
Während ſich die Botanik bei den Deutſchen und Nieder-
ländern in der beſchriebenen Art entwickelte, und lange bevor dieſer
Entwicklungsproceß in C. Bauhin ſeinen Abſchluß fand, legte
Andrea Caeſalpino in Italien den Grund, auf welchem im
17. und bis tief in das 18. Jahrhundert hinein die weitere
Entwicklung der beſchreibenden Botanik ſich vollziehen ſollte; was
im 17. Jahrhundert in Deutſchland, England, Frankreich zur
Förderung der Morphologie und Syſtematik geſchah, knüpfte eng
an Caeſalpin's Grundſätze an, ſei es, daß man dieſelben
annahm und benutzte, ſei es daß man ſie zu widerlegen ſuchte.
Nach und nach wurde dieſer Zuſammenhang allerdings lockerer
und weniger kenntlich, durch neue Geſichtspunkte und Erweiterung
des Beobachtungsmaterials verdeckt; aber ſelbſt bei Linné tritt
die Anſchauungsweiſe Caeſalpin's bezüglich der theoretiſchen
Grundlagen der Syſtematik und in den Anſichten über das Weſen
der Pflanze überhaupt noch ſo deutlich hervor, daß, wer Caeſalpin
geleſen hat, bei der Lectüre von Linné's „Fundamenten“ oder
ſeiner Philosophia botanica häufig genug auf Reminiscenzen,
ja auf aus jenem entnommene Sätze ſtößt. Wie wir in Cas-
par Bauhin den Abſchluß der mit Fuchs und Bock beginnen-
den Entwicklungsreihe fanden, können wir Linné als den be-
trachten, der das von Caeſalpin gegründete Lehrgebäude völlig
ausbaute und zur Vollendung brachte.
[41]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Im ſchärfſten Gegenſatz zu der naiven Empirie der deutſchen
Väter der Botanik tritt Caeſalpin als Denker der Pflanzen-
welt gegenüber; galt jenen die Sammlung der Einzelbeſchreibungen
als Hauptaufgabe, ſo war dagegen für Caeſalpin das empiriſche
Material Gegenſtand ernſten Nachdenkens; er ſuchte vor Allem
das Allgemeine aus dem Einzelnen, das principiell Wichtige aus
dem ſinnlich Gegebenen herauszufinden; indem er ſich dabei aber
ganz und gar der ariſtoteliſchen Denkformen bediente, konnte
nicht fehlen, daß auch Vieles in die Thatſachen hineingedeutet
wurde, was auf inductivem Wege ſpäter wieder beſeitigt werden
mußte. Aber auch dadurch trat Caeſalpin in Gegenſatz zu
den deutſchen Botanikern des 16. Jahrhunderts, daß er ſich nicht
an dem Geſamteindruck der Pflanzen genügen ließ, daß er
vielmehr die einzelnen Theile ſorgfältig unterſuchte, auch die
kleinen und verborgenen Organe betrachtete; bei ihm wurde die
Beobachtung zuerſt zur wiſſenſchaftlichen Forſchung und ſo ent-
ſtand in ihm eine merkwürdige Verbindung von inductiver Natur-
wiſſenſchaft mit ariſtoteliſcher Philoſophie und dieſe iſt es beſon-
ders, welche den theoretiſchen Beſtrebungen ſeiner Nachfolger bis
auf Linné ihre eigenthümliche Färbung verleiht.
Mit ſeiner philoſophiſch combinirenden, nach umfaſſenden
Geſichtspunkten ſuchenden Betrachtung des Pflanzenreiches war
Caeſalpin übrigens ſeiner Zeit weit vorausgeeilt. Sein 1583
erſchienenes Werk übte zunächſt auf die Mitlebenden keinen wahr-
nehmbaren Einfluß aus; kaum läßt ein ſolcher ſich bei C. Bau-
hin 30-40 Jahre ſpäter nachweiſen und was nach dieſem bis
gegen 1670 von Botanikern geleiſtet wurde, betraf überall nur
die Vermehrung der Einzelkenntniß der Pflanzen; in ihrem Intereſſe
wurden ſeit 1600 Reiſen in alle Welttheile unternommen, die
Zahl der im 16. Jahrhundert noch ſpärlichen botaniſchen Gärten
mehrte ſich raſch (z. B. in Gießen 1617, Paris 1620, Jena
1629, Oxford 1630, Amſterdam 1646, Utrecht 1650 u. ſ. w.)
ſtatt der Univerſalwerke, welche das ganze Pflanzenreich zu
umfaſſen ſtrebten, widmete man ſich fortan mit Vorliebe der
botaniſchen Durchſuchung einzelner, kleinerer Gebiete; es entſtan-
[42]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
den die erſten Lokal-Floren (der Name Flora wurde jedoch erſt
im folgenden Jahrhundert von Linné eingeführt), von denen
beſonders Deutſchland bald eine beträchtliche Zahl hervorbrachte,
ſo z. B. von Altorf 1615 (durch Ludwig Jungermann),
von Ingolſtadt 1618 (durch Albert Menzel), von Gießen
1623 (durch L. Jungermann), von Danzig 1643 (durch
Nicolaus Oelhafen), von Halle 1662 (durch Carl Schef-
fer), von der Pfalz 1680 (durch Frank von Frankenau),
von Leipzig 1675 (durch Paul Ammann), von Nürnberg 1700
(durch J. Z. Volkamer).
Wenn nun auch Reiſewerke, Cataloge von Local-Floren und
die Pflanzencultur in botaniſchen Gärten Erfahrungen der ver-
ſchiedenſten Art zu Tage fördern, ſo bleiben dieſe doch zwiſchen
den Einzelbeſchreibungen zerſtreut, bis endlich ein combinirender,
weiter und tiefer blickender Schriftſteller allgemeine Sätze daraus
zu gewinnen ſucht. Derartigen Verſuchen begegnen wir aber
erſt tief in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, bei Mo-
riſon, Ray, Rivinus, Tournefort u. a., welche an die
Principien Caeſalpini's anknüpften, nachdem dieſelben faſt
100 Jahre lang brach gelegen hatten, ja von den Botanikern
vergeſſen waren.
In dieſer Einöde friſtete, abgeſehen von C. Bauhin's
Leiſtungen, nur die Einzelbeſchreibung und die Catalogiſirung
der Arten eine kümmerliche Exiſtenz; was bei den Vätern der
deutſchen Botanik ein großes Verdienſt war, die Einzelbeſchreibung,
wurde jetzt in ewiger Wiederholung geiſtloſe Tagarbeit. Was
auf dieſem Wege zu gewinnen war, hatten Lobelius und
Caspar Bauhin gethan. Dieſe Sterilität, welche auf die
fruchtbaren Anfänge des 16. Jahrhunderts folgte, war allgemein;
weder in Deutſchland, noch in Italien, noch in Frankreich und
England förderten die Botaniker irgend etwas Bedeutendes zu Tage;
zählten ihre Vertreter ohnehin nicht zu den höher Begabten und
Denkern ihrer Zeit, ſo mußte durch das behagliche Kleinleben,
das Pflanzenſammeln und Catalogiſiren, durch die Forderung,
womöglich alle bekannten Pflanzen dem Namen nach zu kennen,
[43]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
die Befähigung zu ſchwierigeren Verſtandesoperationen leiden, da
dieſe eben nicht geübt wurden.
So war es aber nicht bei einem Manne, der in der erſten
Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutſchland die Pflanzenwelt
ähnlich behandelte, wie früher Caeſalpin gethan hatte, der
aber ebenſo wie dieſer einſtweilen bei den zeitgenöſſiſchen Botani-
kern keine Beachtung fand; dieſer Mann war der bekannte Phi-
loſoph Joachim Jungius, der nicht nur eine vergleichende
Nomenclatur der Pflanzentheile ſchuf, ſondern auch über die
Theorie des Syſtems, über Benennung der Arten u. a. in zahl-
reichen Aphorismen kritiſch ſich bethätigte. Frei von der geiſt-
tödtenden Laſt, zu welcher die Einzelkenntniß der Arten heran-
gewachſen war, ausgeſtattet mit Kenntniſſen der verſchiedenſten
Art, ein geſchulter Denker, war J. Jungius beſſer befähigt,
als die Botaniker von Fach, zu ſehen, was der Botanik Noth
that und ſie fördern konnte; eine in der Geſchichte der Botanik
ſich mehrfach wiederholende Erſcheinung. Allein abgeſehen von
den unmittelbaren Schülern des Jungius blieben ſeine Leiſtungen
unbekannt, bis Ray 1693 dieſelben in ſein großes Pflanzenwerk
aufnahm und ſie ſeiner theoretiſchen Botanik zu Grunde legte.
Durch gute morphologiſche Bemerkungen Ray's bereichert, ging
Jungius' Nomenclatur der Pflanzentheile auf Linné über,
der ſie, wie anderes Brauchbare, was ihm die Literatur bot, auf-
nahm, im Einzelnen förderte, ihren Geiſt aber durch trockene
Schematiſirung verdarb.
Die in C. Bauhin gipfelnde Leiſtung der deutſchen und
niederländiſchen Botaniker des 16. Jahrhunderts blieb jedoch
nicht ohne tiefgreifenden Einfluß auf die durch Caeſalpin
begründete weitere Entwicklung der Syſtematik. Als Caeſalpin
ſein epochemachendes Werk ſchrieb, war ihm allerdings die na-
türliche Anordnung des Lobelius 1576 vielleicht noch nicht
bekannt; wenigſtens weiſt nichts in ſeinem Werk darauf hin; es
ſcheint ſogar, als ob Caeſapin ſebſtſtändig die Thatſache
gefunden habe, daß es einen objectiven, in der Geſammtorgani-
ſation ausgeſprochenen verwandtſchaftlichen Zuſammenhang unter
[44]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
den Pflanzen giebt; gewiß iſt aber, daß in ſeinem Syſtem von
vornherein dieſe Thatſache einen ganz andern Ausdruck als bei
Lobelius und Bauhin dadurch gewann, daß er ſich nicht von
unbeſtimmt empfundenen Aehnlichkeiten leiten ließ, ſondern viel-
mehr aus a priori abgeleiteten Gründen die Merkmale glaubte
aufſtellen zu können, aus denen man die objective Verwandtſchaft
erkennen müſſe. Ging auf dieſe Weiſe Caeſalpin weit über
die deutſchen Botaniker hinaus, indem er das deutlich und mit
Gründen auszuſprechen ſuchte, was jene nur dunkel empfanden,
ſo war damit aber auch gleichzeitig ein gefahrvoller Weg betreten,
auf dem die ſpäteren Botaniker bis auf Linné umherirrten, der
Weg nämlich, der immer nothwendig zu künſtlichen Gruppirungen
führen muß, da ſich aus irgend welchen a priori angenommenen
Eintheilungsgründen das natürliche Syſtem nicht aufſtellen läßt.
In dieſem Labyrinth, in welchem ſich die Botaniker bis auf
Linné verirrten, blieb nun das durch die deutſchen Botaniker
zuerſt lebhaft empfundene und zu einem gewiſſen Ausdruck ge-
brachte Gefühl für natürliche Verwandtſchaft der Wegweiſer, der
immer wieder das zu erreichende Ziel andeutete. Und als endlich
Linné und Bernard de Juſſieu die erſten ſchwachen Ver-
ſuche einer natürlichen Anordnung machten, war es auch
bei ihnen wieder derſelbe dunkle Drang, wie bei Lobelius
und Bauhin, der zum Durchbruch kam und den bisher betre-
tenen Weg als Irrweg erkennen ließ.
Die durch Caeſalpin begonnene, bis auf Linné ſich
erſtreckende Entwicklungsperiode der deſcriptiven Botanik läßt ſich
demnach vielleicht am beſten durch den Ausdruck charakteriſiren:
man ſuchte auf dem Wege künſtlicher Eintheilung den natürlichen
Verwandtſchaften gerecht zu werden; bis endlich Linné den
Widerſpruch in dieſem Verfahren deutlich erkannte. Inſofern
er aber das natürliche Syſtem zu bearbeiten der Zukunft überließ
und ſeine Einzelbeſchreibungen nach einem ausgeſprochenermaßen
künſtlichen Syſtem ordnete, liegt in Linné auch in dieſer Be-
ziehung mehr der Abſchluß der hier betrachteten Entwicklungsreihe,
als der Anfang der neueren Botanik.
[45]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Dieſe einleitenden Betrachtungen werden dem Leſer den
Faden an die Hand geben, an welchen er ſich bei der nun fol-
genden Betrachtung der hervorragenderen Leiſtungen von Caeſal-
pin bis Linné halten kann.
Das mehrfach erwähnte Werk des Andrea Caeſalpino1):
De plantis libri XVI. erſchien in Florenz 1583. Liegt der
Werth der gleichzeitigen deutſchen Kräuterbücher ganz vorwiegend
in der Anhäufung zahlreicher Einzelbeſchreibungen, die zwar auch
in dieſem Werk 15 Bücher füllen, ſo iſt dagegen für die Ge-
ſchichte der Botanik in dieſem Falle die allgemein theoretiſche
Einleitung im erſten Buch von ganz hervorragender Bedeutung.
Es enthält nämlich auf 30 Seiten eine ausführliche zuſammen-
hängende, überall von großen und allgemeinen Geſichtspunkten
ausgehende, dabei aber in ſehr knapper Form äußerſt inhaltreiche
Darſtellung der geſammten theoretiſchen Botanik. Die verſchie-
denen Disciplinen, in welche ſich die Botanik ſpäter geſpalten
hat, ſind hier noch zu einem untrennbaren Ganzen verſchmolzen:
Morphologie, Anatomie, Biologie, Phyſiologie, Syſtematik, Nomen-
klatur ſind eng in einander geſchlungen, daß es ſchwer hält,
Caeſalpin's Anſichten über irgend eine allgemeinere Frage
klar zu legen, ohne gleichzeitig die verſchiedenſten anderen Fragen
zu berühren. Drei Dinge ſind es vor Allem, welche den Inhalt
dieſes Buches charakteriſiren: zunächſt eine große Zahl feiner,
neuer Beobachtungen überhaupt; ſodann der gewichtige Nachdruck,
mit welchem Caeſalpin die Fructificationsorgane in den Vor-
dergrund der morphologiſchen Betrachtung ſtellt und endlich
die Art und Weiſe, wie er dieſes empiriſche Material in ſtreng
ariſtoteliſcher Weiſe philoſophiſch bearbeitet. Wird durch dieſe
Behandlung ein ſtyliſtiſch ſchöner, den Leſer mit ſich fort-
reißender Vortrag erzielt, das Ganze gewiſſermaßen durchgeiſtigt,
gewinnt auf dieſe Weiſe jede einzelne Thatſache einen allgemei-
neren Werth, ſo iſt doch andererſeits nicht zu verkennen, daß
[46]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
die bekannten, der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung ſchädlichen
Elemente der ariſtoteliſchen Philoſophie den Verfaſſer vielfach auf
Irrwege führen. Bloße Gedankendinge, welche durch Abſtraction
des Verſtandes gewonnen ſind, werden als objectiv vorhandene
Subſtanzen, als wirkende Kräfte unter dem Namen Principien
behandelt; neben den wirkenden Urſachen treten Zweckbeſtimmun-
gen auf: die Organe und Functionen des Organismus ſind ent-
weder alicujus gratia oder bloß ob necessitatem vorhanden;
die ganze Darſtellung wird von einer Teleologie beherrſcht, die
um ſo ſchädlicher in die Betrachtung eingreift, als die Zwecke,
um welche es ſich handeln ſoll, überall als bekannt und ſelbſt-
verſtändlich vorausgeſetzt werden, indem die Pflanze und Vegeta-
tion in jeder Beziehung als eine unvollkommene Nachbildung
des Thierreiches aufgefaßt wird; gerade bei dieſer Behandlung
des Stoffes aber mußte nothwendig die völlige Unkenntniß der
Sexualität der Pflanzen und der Bedeutung der Blätter für die
Ernährung zu folgeſchweren Fehlſchlüſſen führen; dieſer Mangel
würde nur für eine rein morphologiſche Betrachtung der Pflanze,
wie wir ſpäter bei Jungius ſehen werden, von geringerem
Belang ſein; allein bei Caeſalpin verſchlingen ſich morpho-
logiſche und phyſiologiſche Betrachtungen ſo, daß ein Fehler in
der einen Richtung nothwendig auch Fehler in der andern nach
ſich zieht.
Das in Bezug auf die Methode Caeſalpin's Geſagte
mag zunächſt an einigen Beiſpielen erläutert werden, um zu
zeigen, wie eng er ſich einerſeits an Ariſtoteles anſchließt
und wie andererſeits durch Caeſalpin's Vermittlung gewiſſe
ariſtoteliſche Auffaſſungen in die ſpätere theoretiſche Botanik
übergegangen ſind, ohne daß dieſer Urſprung bisher hinreichend
beachtet worden wäre 1).
„Da die Natur der Pflanzen“, ſo beginnt Caeſalpin's
[47]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Buch, „ausſchließlich jene Art von Seele beſitzt, durch welche ſie
ernährt werden, wachſen und ihnen Aehnliches erzeugen, dafür
aber der Empfindungskraft und Bewegung entbehren, worin die
Natur der Thiere beſteht, ſo bedurften die Pflanzen mit gutem
Recht eines weit geringeren Apparates von Werkzeugen als die
Thiere“. In unzähligen Wiederholungen zieht ſich dieſer Ge-
danke durch die Geſchichte der Botanik hin und zumal die Ana-
tomen und Phyſiologen des 18. Jahrhunderts wurden nicht
müde, die Einfachheit des Pflanzenbaues und der vegetabiliſchen
Functionen hervorzuheben.— „Da aber“, heißt es weiterhin,
„die Thätigkeit der ernährenden Seele darin beſteht, etwas Aehn-
liches zu erzeugen und da dieſes aus der Nahrung zur Erhaltung
der Einzelweſen, oder aus dem Samen zur Verewigung der
Species entſteht, ſo ſind den vollkommenen höchſtens zweierlei
Theile verliehen, die aber von der höchſten Nothwendigkeit ſind:
ein Theil, durch welchen ſie die Nahrung aufnehmen, welcher
Wurzel genannt wird, und ein anderer, durch welchen ſie die
Frucht, gleichſam den Foetus zur Fortpflanzung der Species
tragen, welcher Theil Stengel (caulis) genannt wird bei kleineren
Pflanzen, Stamm (caudex) dagegen bei den Bäumen.“
Auch dieſe in der Hauptſache richtige Auffaſſung des auf-
rechten Stammes als Samenträger der Pflanze zieht ſich durch die
ſpätere Botanik noch lange hin. Zu beachten iſt auch im An-
fange dieſes Satzes, daß die Erzeugung des Samens nur als
eine andere Art der Ernährung betrachtet wird, eine Annahme,
durch welche ſpäter noch Malpighi an der richtigen Deutung
der Blüthen und Früchte gehindert wurde, und welche in jedoch
verändertem Sinne 1759 bei Caspar Friedrich Wolff zu
einer ſehr ſchiefen Auffaſſung der Bedeutung der Sexualfunction
führte. — Mitten in die ariſtoteliſche Mißdeutung der Pflanze,
wonach die Wurzel eigentlich dem Mund oder Magen entſpricht,
daher dem Begriffe nach als der obere Theil betrachtet werden
muß, obgleich ſie unten liegt, die Pflanze alſo einem auf den
Kopf geſtellten Thiere zu vergleichen wäre, wonach ſich das Oben
und Unten bei der Pflanze beſtimmen laſſe; in dieſe Auffaſſung
[84[48]]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
werden wir durch folgenden Satz Caeſalpin's eingeführt:
„Jener Theil aber (die Wurzel nämlich) iſt edler (superior),
weil ſie urſprünglicher iſt und in die Erde eingeſenkt; denn es
leben viele Pflanzen nur durch die Wurzel, nachdem der Stengel
mit der Samenreife verſchwunden iſt — —; der Stengel dagegen
iſt von geringerer Bedeutung (inferior), obgleich er über die
Erde emporgehoben wird; denn die Exkrete, wenn ſolche vorhan-
den ſind, werden durch dieſen Theil ausgeſchieden; es iſt alſo
ähnlich wie bei den Thieren bezüglich der Ausdrücke pars su-
perior und inferior. Wenn wir in Wahrheit die Art der
Ernährung in Betracht ziehen, ſo müſſen wir in anderer Weiſe
das Oben und Unten beſtimmen; da nämlich ſowohl bei den
Thieren, wie bei den Pflanzen die Nahrung aufwärts ſteigt
(denn das Ernährende iſt leicht, weil es von der Wärme empor-
getragen wird), ſo war es nöthig, die Wurzeln am untern Theile
einzupflanzen, den Stengel aber gerade aufwärts zu ziehen, denn
auch bei den Thieren findet die Einwurzelung der Venen am
unteren Theil des Bauches ſtatt, der Hauptſtamm derſelben aber
ſtrebt aufwärts nach dem Herzen und dem Kopf.“ Man ſieht
wie hier in ächt ariſtoteliſcher Weiſe die Thatſachen in ein
vorher beſtimmtes Schema hineingezwängt werden.
Von beſonderem Intereſſe für die Beurtheilung gewiſſer
Anſichten ſpäterer Botaniker iſt Caeſalpin's Auseinanderſetzung
über den Sitz der Pflanzenſeele. „Ob irgend ein Theil bei den
Pflanzen angenommen werden kann, in welchem das Princip der
Seele liegt, wie das Herz bei den Thieren, iſt noch zu erwägen
— denn da die Seele die Bethätigung (actus) des organiſchen
Körpers iſt, ſo kann dieſelbe weder tota in toto noch tota in
singulis partibus ſein, ſondern ganz in irgend einem Haupt-
theile, aus welchem den übrigen abhängigen Theilen das Leben
mitgetheilt wird. — Wenn nämlich die Thätigkeit der Wurzel
iſt, Nahrung aus der Erde zu ziehen, des Stengels dagegen,
Samen zu tragen, und beide nicht vertauſcht werden können,
ſo daß die Wurzel Samen trüge und der Sproß in die Erde
geführt würde; ſo würde es entweder zweierlei der Art nach
[49]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
verſchiedene und dem Orte nach getrennte Seelen geben, ſo daß
die eine in der Wurzel, die andere im Sproſſe ſitzt; oder es
würde nur eine geben, welche beiden ihre eigenthümlichen Fähig-
keiten verleiht. Daß es jedoch nicht zwei Seelen von verſchie-
dener Art und an verſchiedenem Ort in einer Pflanze gebe, dafür
hat man folgendes Argument: wir ſehen oft eine abgeſchnittene
Wurzel einen Sproß austreiben und ebenſo einen abgeſchnittenen
Zweig eine Wurzel in die Erde ſchicken, als ob eine der Art
nach untheilbare Seele in beiden Theilen vorhanden wäre.
Dieß aber würde zu beweiſen ſcheinen, daß die ganze Seele in
den beiden Theilen vorhanden iſt und daß ſie ganz in der gan-
zen Pflanze ſei, wenn dem nicht entgegenſtände, was wir bei
vielen wahrnehmen, daß nämlich die Fähigkeiten auf beide Theile
vertheilt ſind, ſo daß der Sproß, wie er auch eingegraben werde,
niemals Wurzeln ausſendet, wie bei Pinus und Abies, bei
denen auch die abgeſchnittenen Wurzeln zu Grunde gehen.“ Da-
mit wäre alſo nach Caeſalpin zunächſt bewieſen, daß in Wur-
zel und Stamm nur einerlei Seele wohnt, daß ſie jedoch nicht
in allen Theilen vorhanden iſt; in der weiteren Darlegung ſucht
er nun den wahren Sitz der Seele ausfindig zu machen. Zunächſt
zeigt er einen anatomiſchen Unterſchied zwiſchen Sproß und Wur-
zel; die Wurzel beſtehe aus der Rinde und einem inneren Kör-
per, welcher bei einigen hart und holzig, bei anderen weich und
fleiſchig iſt. Im Stengel dagegen gibt es drei konſtituirende
Theile: außen die Rinde, im Innern das Mark und zwiſchen
beiden eingeſchloſſen einen Körper, welcher bei den Bäumen Holz
genannt wird. Auf dieſe in der Hauptſache richtige Unterſchei-
dung von Stamm und Wurzel folgt nun wieder eine ächt ariſto-
teliſche Deduction.
„Wenn nun aber in allen Weſen (NB. es ſoll für die
Hälfte dieſer Weſen erſt bewieſen werden, wird aber einſtweilen
als bewieſen angenommen) die Natur das Lebensprincip in den
innerſten Theilen zu verbergen pflegt, wie die Eingeweide in
Thieren, ſo wird es auch der Vernunft gemäß ſein, daß in den
Pflanzen das Lebensprincip nicht in der Rinde, ſondern tiefer
Sachs, Geſchichte der Botanik. 4
[50]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
im Innern verborgen ſei, nämlich im Mark, welches nur im
Stengel, nicht in der Wurzel vorhanden iſt. Daß dieß auch die
Meinung der Alten geweſen ſei, können wir aus dem Namen
ſchließen, denn dieſen Theil nannten ſie bei den Pflanzen Herz
(cor), Andere auch Gehirn (cerebrum), Andere matrix, da aus
dieſem Theil gewiſſermaßen das Princip der Foetification (Samen-
bildung) abgeleitet werde.“ Man bemerkt ſchon hier, warum die
Samen nach Caeſalpin, was ihm ſpäter von Linné getreulich
nachgeſprochen wurde, aus dem Mark entſtehen ſollen, worauf
wir noch zurückkommen; den Schluß der ganzen weitläufigen
Deduction bildet der Satz: „Nun giebt es aber bei den Pflanzen
zwei Haupttheile, die Wurzel und das Ganze, was nach Oben
ſtrebt; demnach ſcheint der paſſendſte Ort für das Herz der
Pflanzen in dem mittleren Theil zu liegen, wo nämlich der
Sproß mit der Wurzel ſich verbindet. Auch erſcheint an dieſem
Orte eine gewiſſe Subſtanz, welche ſowohl vom Sproß, wie von
der Wurzel verſchieden iſt, weicher und fleiſchiger als beide,
weßhalb ſie cerebrum genannt zu werden pflegt, bei vielen
eßbar, bevor ſie alt wird.“ Wir werden weiter unten noch ſehen,
welch' bedeutungsvolle Rolle dieſer ſo ſchwierig mit allen Hilfs-
mitteln der Scholaſtik zu Tage geförderte Sitz der Pflanzenſeele
in der Syſtematik Caeſalpin's zu ſpielen beſtimmt iſt und
wie er auf dieſem theoretiſchen Weg dazu gelangte, die Lage des
Embryos im Samen als Eintheilungsprincip zu benützen. Hier
aber mag die Bemerkung noch Raum finden, daß der Verbin-
dungspunkt von Wurzel und Stamm, in welchem Caeſalpin
den Sitz der Pflanzenſeele ſuchte, von den ſpäteren Botanikern
den Namen Wurzelhals erhielt (collet); wenn aber auch die Bo-
taniker des 19. Jahrhunderts aus der Schule Linné's nicht
mehr wußten, was im 16. Jahrhundert Caeſalpin bewieſen
hatte, daß der Wurzelhals der Sitz der Pflanzenſeele ſei, und
wenn man auch an eine Pflanzenſeele nicht mehr glaubte, ſo
erhielt ſich doch eine abergläubiſche Werthſchätzung dieſes Theils
der Pflanze, der eigentlich nicht einmal ein Theil iſt; und nur
ſo ſcheint es erklärlich, daß demſelben beſonders von manchen
[51]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
franzöſiſchen Botanikern eine Wichtigkeit beigelegt wurde, die
ohne hiſtoriſche Nachweiſung kaum verſtändlich wäre. — Kehren wir
nun nochmals zu Caeſalpin's cor zurück, ſo macht ihm die
Thatſache, daß die meiſten Pflanzen ſich aus abgetrennten Theilen
regeneriren, keine große Sorge; in ächt ariſtoteliſcher Art ſagt
er: obgleich das Lebens-Princip thatſächlich nur eins, ſo ſei es
doch der Möglichkeit nach vielfältig. Schließlich findet ſich auch
in jeder Blattaxel ein cor, durch welches ſich der Axelſproß mit
dem Mark des Mutterſproſſes verbindet und endlich, im directen
Widerſpruch mit obigem Nachweis für den Sitz der Pflanzenſeele
im Wurzelhals wird im 5. Cap. ganz unumwunden geſagt, daß
die Pflanzenſeele gewiſſermaßen durch alle Theile verbreitet ſei.
Die theoretiſche Einleitung zu ſeinen trefflichen und reich-
haltigen Bemerkungen über die Fructificationstheile mag uns
noch ein Beiſpiel von Caeſalpin's peripatetiſcher Methode dar-
bieten: „Da in derjenigen Fortpflanzung, welche aus dem Samen
geſchieht, der Endzweck (finis) der Pflanzen beſteht, während die
Fortpflanzung aus einem Sproß von unvollkommener Natur iſt,
inſoferne nämlich Pflanzen auch getheilt leben, ſo zeigt ſich die
Schönheit der Pflanzen am meiſten bei der Hervorbringung des
Samens; denn in der Zahl der Theile, in den Formen und
Verſchiedenheiten der Samenbehälter zeigt die Fructification
einen bei Weitem größeren Schmuck als die Entfaltung eines
Sproſſes; dieſe wunderbare Schönheit beweiſe den Genuß
(delitias) der erzeugenden Natur bei der Hervorbringung der
Samen. Sowie folglich bei den Thieren der Same ein Excret
des feinſten Nährſtoffes im Herzen ſei, durch deſſen Lebenswärme
und Geiſt er fruchtbar gemacht wird; ſo ſei auch bei den Pflan-
zen nothwendig, daß die Subſtanz der Samen aus dem Theil
ſich abtrenne, in welchem das Prinzip der Eigenwärme liegt,
welcher, wie er oben gezeigt, das Mark iſt. Deßhalb alſo ent-
ſpringt aus dem feuchteren und reineren Theil der Nahrung
das Mark des Samens 1), aus dem gröberen entſteht die Samen-
4*
[52]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
ſchale, welche zum Schutz herumgelegt iſt. Es war nämlich nicht
nöthig in den Pflanzen eine beſondere befruchtende Subſtanz von
der übrigen Materie zu ſcheiden, wie bei den Thieren, die ſich
als männliche und weibliche unterſcheiden“ u. ſ. w.
Die Schlußbemerkung ſowie mehrere ausführliche Deductionen
Caeſalpin's ſollen wie bei Ariſtoteles die Abweſenheit, ja
Unmöglichkeit der Sexualität bei den Pflanzen beweiſen und dem
entſprechend vergleicht er denn auch weiterhin die Blüthentheile,
die er beſſer als ſeine Zeitgenoſſen kannte, mit den Eihäuten des
thieriſchen Foetus, die er als Schutzorgane auffaßt. Kelch,
Corolle, Staubfäden und Carpelle ſind ihm bloß ſchützende Hüllen
des jungen Samens, wie die Laubblätter nur Schutzmittel der
jungen Sproſſe ſind. Unter Blüthe (flos) verſteht Caeſalpin
übrigens nur die Theile der Blüthe, welche nicht unmittel-
bar zur Fruchtanlage gehören, alſo den Kelch, die Blumenkrone,
und die Staubgefäße. Dieß muß man feſthalten, wenn man
ſeine Fructificationstheorie und beſonders ſeine Metamorphoſen-
lehre verſtehen will. Auch iſt dabei zu beachten, daß er unter
dem Ausdruck Pericarpium ausſchließlich die ſaftigen, eßbaren
Fruchthüllen verſteht, wobei aber freilich auch pulpöſe Samen-
hüllen innerhalb der Frucht ſelbſt für Pericarpien gelten. Als
Blüthentheile gelten ihm das folium, welches offenbar die
Blumenkrone bedeutet, aber in gewiſſen Fällen auch den Kelch
mit umfaßt; ferner das stamen worunter Caeſalpin unſere
Griffel verſteht, und die flocci, unſere jetzigen Staubgefäße.
Man ſieht, daß Caeſalpin ohne Weiteres Kelch und Blumen-
krone mit demſelben Wort bezeichnete, wie die gewöhnlichen Laub-
blätter, mit dem Worte folium; ebenſo wie er und hundert
Jahre ſpäter Malpighi ohne Bedenken die Cotyledonarblätter
als metamorphoſirte Blätter betrachtete. Uebrigens liegt die
Blattnatur der Blüthenhüllen und der Cotyledonen ſo nahe, daß
jedes unbefangene Auge ſie unbewußt wahrnehmen muß; wenn
in dieſer Beziehung in der nachlinné'ſchen Zeit Zweifel ent-
ſtehen konnten, ſo war das nur in Folge der linnéiſchen Nomen-
clatur, welche jeder comparativen Betrachtung entbehrte, möglich.
[53]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Uebrigens erſcheint die Metamorphoſenlehre bei Caeſalpin
viel conſequenter und nothwendiger als bei den Botanikern des
19. Jahrhunderts vor Darwin; bei ihm fließt dieſe Lehre
ganz unmittelbar aus den philoſophiſchen Anſichten von der Natur
der Pflanze und erſcheint daher bis zu einem gewiſſen Grade
durchaus verſtändlich. Als Metamorphoſenlehre Caeſalpin's
können wir nämlich auch die Annahme betrachten, daß die
Samenſubſtanz (Embryo und Endoſperm) aus dem Mark ent-
ſpringt, weil dieſes das Lebensprincip enthält 1); ſowie aber das
Mark des Sproſſes von Holz und Rinde ſchützend umgeben iſt, ſo
auch die Samenſubſtanz von der holzigen Samenſchale und von
dem rindenähnlichen Perikarp oder einer dem Perikarp entſprech-
enden Fruchthülle. Nach Caeſalpin entſpringt daher die ent-
wicklungsfähige Samenſubſtanz aus dem Mark, die holzige
Samenſchale aus dem Holz, das Pericarpium aus der Rinde
des Sproſſes. Die Schwierigkeit, die ſich für ihn aus dieſer
Deutung inſofern ergiebt, als ſeiner Theorie gemäß auch die
Blüthentheile, nämlich Kelch, Corolle und Staubfäden aus den
äußeren Gewebeſchichten des Sproſſes entſpringen müſſen, be-
ſeitigt er mit der Bemerkung (p. 19), daß dieſe Blüthentheile
entſtehen zu einer Zeit, wo das Pericarpium erſt der Anlage
nach vorhanden iſt, erſt nach dem Abfallen jener entwickelt es
ſich weiter; auch ſeien dieſe Blüthentheile ſo dünn, daß in dieſer
Annahme nichts Wunderbares liege. Wir ſehen in dieſer Me-
tamorphoſenlehre Caeſalpin's ohne Zweifel die ſpäter von
Linné angenommene Blüthentheorie, wenn auch in etwas anderer
Form. Daß Linné ſelbſt aber die ihm zugeſchriebene
Blüthentheorie als Caeſalpin's Meinung betrachtet, zeigt ſich
in ſeinen Classes plantarum, wo der dritte Satz in der Cha-
[54]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
rakteriſtik des Caeſalpin'ſchen Syſtems alſo lautet: „Die
Blüthe betrachtete er als die inneren Theile der Pflanze, welche
aus der geſprengten Rinde hervortreten; den Kelch wie eine
dickere aufgeſprungene Rinde des Sproſſes; die Blumenblätter
wie eine innere dünnere Rinde; die Staubgefäße als die inneren
Faſern des Holzes und das Piſtill als das Mark der Pflanze
ſelbſt.“ Man bemerkt jedoch, daß dieß allerdings nicht ganz
Caeſalpin's Meinung war, ebenſo gewiß iſt aber, daß Linné's
hier wörtlich angeführte Anſicht Caeſalpin's Meinung wieder
geben ſollte und wenn ſie dieß auch nicht genau thut, ſo iſt ſie
doch im Princip nicht weſentlich von ihr verſchieden, ja man
kann Linné's Auffaſſung als die im Caeſalpin'ſchen Sinne
konſequentere betrachten. Die Metamorphoſenlehre Caeſalpin's
tritt aber noch bei anderer Gelegenheit deutlich hervor; es giebt,
ſagt er, nicht in allen Blüthen Blumenblätter, Staubgefäße und
Griffel; die Blüthen gehen bei manchen in eine andere Subſtanz
über, wie bei der Haſelnuß, der eßbaren Kaſtanie und allen
Kätzchenträgern. Das Kätzchen ſtehe nämlich ſtatt einer Blüthe,
es ſei ein länglicher Körper, der aus dem Sitze der Frucht her-
vorgezogen iſt (und auf dieſe Weiſe erſcheinen Früchte ohne Blüthen),
denn die Griffel (stamina) bilden die Längsachſe des Kätzchens
(in amenti longitudinem transeunt), die Blumenblätter aber
und Staubgefäße verwandeln ſich in die Schuppen des Kätzchens.
Dies Alles zeigt, daß dem Caeſalpin der Gedanke einer Me-
tamorphoſe (für welchen man ſelbſt ſchon bei Theophraſt An-
deutungen findet) ſehr geläufig war und gewiß paßte dieſer Ge-
danke in ſeine ariſtoteliſche Philoſophie vollkommen hinein, während
die von Goethe ausgegangene Metamorphoſenlehre im Grunde
ebenfalls auf ſcholaſtiſchen Beinen ſteht, aber eben deßhalb in
der modernen Naturwiſſenſchaft ſich recht fremdartig ausnimmt.
Es wurde ſchon erwähnt, daß Caeſalpin nur die Hülltheile
und Staubgefäße unter dem Namen Blüthe zuſammenfaßt und
ſie der Fruchtanlage entgegenſtellt; daher ſagt er, es giebt einige
Pflanzen, bei denen etwas Kätzchenartiges entſteht, ohne jede
Hoffnung auf Frucht; denn ſie ſind ganz unfruchtbar; diejenigen
[55]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
aber, welche Frucht tragen, blühen nicht, wie Oxycedrus,
Taxus und bei den Kräutern Mercuriales, Urtica, Cannabis,
bei denen man die ſterilen als männliche, die fruchtbaren als
weibliche bezeichnet. Er unterſchied alſo dieſe Fälle, die wir
jetzt als diöciſche bezeichnen von den vorhingenannten monöciſchen,
zu denen er auch den Mais rechnet.
Dies Alles mag dem Leſer eine, wenn auch ſehr ungenügende
Vorſtellung von Caeſalpin's Theorie geben; um ihm jedoch
völlig gerecht zu werden, müßte ich nun ſeine ſehr zahlreichen,
richtigen, oft feinen Wahrnehmungen über Blattſtellung, Frucht-
bildung, Vertheilung der Samen und Lage derſelben in der
Frucht, ſeine vergleichenden Bemerkungen über die Fruchttheile
verſchiedener Pflanzen, beſonders auch ſeine ganz vortreffliche
Schilderung der Ranken- und Schlingpflanzen, der Dornbewaffnung
und dergleichen ausführlich mittheilen. Wenn auch ſelbſtverſtänd-
lich viel Schiefes und Unrichtiges mit unterläuft, ſo haben wir
doch in den betreffenden Capiteln den erſten Anfang einer ver-
gleichenden Morphologie vor uns, der Alles, was Ariſtoteles
und Theophraſt in dieſer Beziehung geſagt hatten, tief in den
Schatten ſtellt. Zu den Glanzparthieen ſeiner allgemeinen Botanik
aber gehört das 12., 13. und 14. Capitel, wo er die Grund-
züge der Lehre von der Syſtematik der Pflanzen aufſtellt; um
für das Spätere vorzubereiten, zeigt er zunächſt, daß es zweck-
mäßiger ſei, von den alten vier Gruppen des Pflanzenreichs die
Sträucher mit den Bäumen, die Halbſträucher mit den Kräutern
zu vereinigen. Wie nun aber dieſe Genera in Species zu ver-
theilen ſind, ſei ſchwer abzuſehen, da die Menge der Pflanzen
faſt unzählig iſt. Nothwendigerweiſe müſſe es auch viele inter-
mediäre Genera geben, unter denen die ultimae species ent-
halten ſind, aber wenige ſeien bis dahin bekannt. Nun wendet
er ſich gegen die nur auf die Beziehungen der Pflanzen zum
Menſchen gegründeten Eintheilungen. Solche Gruppen, wie die
Gemüſe und Getreidearten, welche zuſammen fruges genannt
werden und die Küchenkräuter (olcra) ſeien mehr nach dem Ge-
brauch, als nach der Aehnlichkeit der Form, welche wir fordern,
[56]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
angenommen, was er nun an Beiſpielen treffend darſtellt.
Nach dem, fährt er fort, was bisher darüber geſagt worden, iſt
die Erkennung der Pflanzen ſehr ſchwierig, den ſo lange die
Genera (größere Gruppen) unbeſtimmt ſind, müſſen nothwendig
die Species durcheinander geworfen werden 1); die Schwierigkeit
entſteht aber eben daraus, weil es ungewiß iſt, wonach die Aehn-
lichkeiten der Gattungen zu beſtimmen ſeien. Indem es näm-
lich zwei Haupttheile der Pflanzen, die Wurzel und den Sproß
giebt, kann man, wie es ſcheint, aus der Aehnlichkeit und Un-
ähnlichkeit weder des einen noch des andern die Genera und
Species ableiten; denn wenn wir als ein Genus diejenigen auf-
ſtellen, welche eine runde Wurzel haben, wie die Rübe, die
Aristolochia, das Cyclamen, das Arum, ſo trennen wir generell,
was in hohem Grade übereinſtimmt, wie den Raps und den Rettig,
welche mit der Rübe und die lange Aristolochia, die mit der
runden übereinſtimmt, während wir dagegen das Verſchiedenſte
vereinigen; denn das Cyclamen und die Rübe ſind in allem
Uebrigen von ganz verſchiedener Natur: ähnlich verhalte es
ſich mit ſolchen Eintheilungen, die blos auf der Verſchiedenheit
der Blätter oder der Blüthen beruhen.
Im weiteren Verfolg dieſer Betrachtungen, die vorwiegend
von dem Begriff der Species handeln, kommt er auch zu dem
Satz: nach dem Naturgeſetz erzeuge Aehnliches allerwärts Aehn-
liches und ſolches, was von derſelben Species iſt.
Aus Allem, was Caeſalpin über die ſyſtematiſche Grup-
pirung ſagt, erkennt man, daß er ſich vollkommen klar war über
den Unterſchied einer Eintheilung nach ſubjectiven Gründen und
einer ſolchen, welche die innere Natur der Pflanzen ſelbſt
reſpectirt und daß er die letztere als die allein richtige gelten
ließ; ſo heißt es z. B. im folgenden Capitel: „Wir ſuchen die
Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten der Formen, aus denen das
Weſen (substantia) der Pflanzen beſteht, nicht aber von ſolchen
Dingen, die ihnen blos zufällig zukommen (quae accidunt
[57]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
ipsis).“ Die mediciniſchen Kräfte und andere nützliche Eigen-
ſchaften ſeien eben bloße Accidentien. Hiermit war einerſeits
die Bahn gebrochen, auf welcher alle wiſſenſchaftliche Syſtematik
fortſchreiten muß, inſoferne ſie allein die objective Verwandtſchaft
darſtellen ſoll; aber gleichzeitig liegt in dieſem Satz auch ſchon
der Abweg vorgezeichnet, auf welchem ſich die ganze Syſtematik
bis auf Darwin bewegt hat: ſetzen wir in obigem Satz für
das Wort substantia das andere idea, was in der ariſtoteliſch-
platoniſchen Weltanſchauung ungefähr auf dasſelbe hinausläuft,
ſo erkennen wir die modernere vordarwiniſche Lehre wieder, wo-
nach die Species, Gattungen, Familien ideam quandam und
quoddam supranaturale repräſentiren.
Im weiteren Verfolge ſeiner Deductionen zeigt nun Cae-
ſalpin, daß nach der wichtigſten Thätigkeit der Vegetation,
der Anziehung der Nahrung durch Wurzel und Sproß, die wich-
tigſten Abtheilungen, nämlich die der Holzpflanzen und der
Kräuter geſchieden werden müſſen; eine ſolche Eintheilung galt
nun einmal ſeit dem Alterthum und ſpäter bis auf Rivinus
für ein unantaſtbares Dogma, dem ſich die Wiſſenſchaft einfach
zu fügen hatte. Die zweite Hauptfunction der Pflanze iſt
die, Aehnliches zu erzeugen, was durch die Fructificationstheile
geſchieht. Obgleich nun ſolche nicht allen, ſondern nur den voll-
kommeneren eigen ſind, ſo werden die Unterabtheilungen (posteriora
genera) ſowohl bei den Bäumen wie bei den Kräutern doch aus
der Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der Fructification abzuleiten
ſein. So kam alſo Caeſalpin durch rein ariſtoteliſch-philo-
ſophiſche Deductionen, nicht aber auf inductivem Wege zu dem
Satz: daß die Principien der natürlichen Eintheilung von den
Fructificationsorganen herzunehmen ſind; ein Satz, um deßwillen
Linné den Caeſalpin als den erſten Syſtematiker feierte,
wogegen er den Lobelius und Caspar Bauhin, welche nach
dem Habitus allein ihre ſyſtematiſchen Zuſammenſtellungen machten,
kaum der Erwähnung werth hielt.
Es waren alſo a priori gemachte Werthbeſtimmungen, wie
ſolche die ganze ariſtoteliſche Philoſophie durchziehen, aus denen
[58]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur.
Caeſalpin die Unterabtheilungen nach den Fruchtorganen ab-
leitete.
Ich muß es mir verſagen, auf manche anziehende Punkte
von Caeſalpin's weiterer Darlegung einzugehen: das Eine
will ich jedoch hervorheben, daß ſeiner Meinung nach bei den
Pflanzen das Höchſte, was ſie erzeugen, die Fructification iſt,
bei den Thieren die Sinne und die Bewegung, bei den Menſchen
aber die Intelligenz. Da dieſe letztere beſonderer körperlicher In-
ſtrumente jedoch nicht bedürfe, ſo finde ſich keine ſpecifiſche Ver-
ſchiedenheit der Menſchen, es giebt alſo, nach Caeſalpin, nur
eine Species Menſch.
Im 14. Capitel giebt er nun in großen Zügen ein über-
ſichtliches Bild ſeines Pflanzenſyſtems nach den Fructifikations-
merkmalen, wobei er mit den unvollkommenſten beginnt; für
den, der die betreffende Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts
kennt, wird es nichts Ueberraſchendes haben, zu finden, daß Caeſ-
alpin bei den niederen Pflanzen eine generatio spontanea
in kraſſer Form zuläßt; das gehörte zur ariſtoteliſchen Lehre und
hundert Jahre ſpäter ſuchte ſogar Mariotte die generatio
spontanea auch bei den hochentwickelten Pflanzen aus phyſica-
liſchen Gründen plauſibel zu machen.
„Manche Pflanzen, ſagt Caeſalpin, haben überhaupt keinen
Samen, da ſie die unvollkommenſten ſind und nur durch Fäul-
niß entſtehen; daher brauchen ſie ſich auch nur zu ernähren und
zu wachſen; ihres Gleichen zu erzeugen, vermögen ſie nicht; ſie
ſind gewiſſermaßen Mitteldinge zwiſchen Pflanzen und der un-
belebten Natur. In derſelben Weiſe wie die Zoophyten Mittel-
dinge zwiſchen Thier und Pflanze ſind, wie das Geſchlecht der
Pilze; dahin gehören nun die Waſſerlinſen, die Flechten und
und viele im Meer wachſende Sträucher.“
Manche aber ſieht man Samen abwerfen, ſie bilden ihn
aber ihrer eigenthümlichen Natur gemäß unvollkommen aus,
ähnlich wie unter den Thieren das Maulthier; ſie verhalten ſich
nämlich wie bloße Mißbildungen oder Krankheiten anderer Pflanzen
ſo z. B. viele in der Gattung des Getreides, welche leere Aehren
[59]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
tragen (offenbar ſind die Ustilagineen gemeint); dahin rechnet
er aber auch die Orobanchen und Hypocystis, denn in dieſen
allen iſt ſtatt des Samens ein bloßes Pulver enthalten, und
Caeſalpin bemerkt, um den Unterſchied zu zeigen: wenn bei
den vollkommeneren Pflanzen manche ſteril ſind, ſo gehören ſie
doch nicht in dieſe Abtheilung, da dieß bei ihnen nur indivi-
duell iſt.
Einige tragen etwas, was der Proportion nach dem Samen
entſpricht, denn ſie pflanzen ſich dadurch fort; es iſt eine Art
Wolle auf den Blättern; da dieſe Pflanzen des Stengels, der
Blüthe und des Samens entbehren, wie die Farnkräuter. Man
beachte hier wohl die aus der Morphologie des Caeſalpin
entſpringende Conſequenz, wonach Pflanzen ohne ächte Samen auch
keinen Stamm haben können; obgleich die Begründung dieſer Anſicht
bei den ſpäteren Botanikern nach und nach verloren ging, erhielt ſich
doch die Meinung, daß die Farnkräuter des Stammes entbehren;
und Botaniker, welche noch gegen die Mitte unſeres Jahrhunderts
Beweiſe für die Stammloſigkeit der Farne lieferten, hatten wohl
keine Ahnung davon, daß ſie damit ein Dogma der ariſtoteliſchen
Philoſophie zu beweiſen ſuchten: es war ein ähnliches Verhältniß,
wie mit dem oben bereits erwähnten Wurzelhals. Doch hören
wir, was Caeſalpin weiter ſagt. Andere endlich tragen wirk-
liche Samen und dieſe Abtheilung werde er hier zunächſt be-
handeln, da ſie eine große Ausdehnung beſitzt; ſie enthält
nämlich die vollkommenen Pflanzen. Zur Conſtitution der Organe
trage vorwiegend dreierlei bei, nämlich die Zahl, Stellung und
Figur der Theile; die Natur ſpiele in der Zuſammenſetzung der
Früchte, nach den Differenzen derſelben in verſchiedener Weiſe,
woraus die verſchiedenen Abtheilungen der Pflanzen entſpringen.
Er giebt nun die verſchiedenen Geſichtspunkte an, nach denen
er aus dieſen Verhältniſſen ſein Syſtem zu entwerfen gedenkt;
Geſichtspunkte, die ich hier übergehe, da ſie beſſer und kürzer
aus der unten folgenden Aufzählung ſeines Syſtems zu ent-
nehmen ſind. Die übrigen Merkmale dagegen, die ſich aus
Wurzeln, Stengeln, Blättern entnehmen laſſen, können nach
[60]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Caeſalpin zur Bildung der kleinen Abtheilungen benutzt werden.
Manche Merkmale endlich, welche weder zur Conſtitution der
ganzen Pflanze, noch der Frucht etwas beitragen, wie die Farben,
Gerüche, Geſchmäcke ſind bloße Zufälligkeiten und entſtehen daher
oft auch bloß durch die Cultur, den Standort oder das
Klima u. ſ. w.
Mit dieſer Ueberſicht endigt das erſte der ſechszehn Pflanzen-
bücher Caeſalpin's. Die folgenden fünfzehn Bücher enthalten
auf ungefähr 600 Seiten die Einzelnbeſchreibungen zum Theil
ſehr ausführlich und in 15 Claſſen geordnet; er beginnt mit den
Bäumen, denen er der Verwandtſchaft wegen (ob affinitatem),
wie er ſagt, auch die Sträucher beifügt. Der Anerkennung
dieſes Syſtems hat es offenbar ſehr geſchadet, daß Caeſalpin
es unterließ, eine Ueberſicht deſſelben dem Text vorauszuſchicken,
ſeine Darſtellung hat zudem eine ähnliche Form wie bei Clu-
ſius, Dodonaeus, Bauhin d. h. ſtatt in Klaſſen, Ordnungen
u. ſ. w. bewegt ſich die Darſtellung in der herkömmlichen Form
von Büchern und Capiteln; doch enthalten die Ueberſchriften und
Einleitungen der Bücher die Bezeichnung und allgemeine Charak-
teriſtik der in ihnen behandelten Claſſen. Linné hat ſich das
Verdienſt erworben, ſämmtliche vor ihm aufgeſtellte Syſteme und
in erſter Linie auch das des Caeſalpin in ſeinen Classes
plantarum überſichtlich darzuſtellen, die charakteriſtiſchen Eigen-
thümlichkeiten hervorzuheben und vor Allem den alten Gattungs-
namen die uns geläufigen Linné'ſchen Namen beizufügen.
Auf dieſes höchſt verdienſtliche Werk, welches uns für das
Verſtändniß der ſyſtematiſchen Beſtrebungen von Caeſalpin
bis auf Linné ſelbſt einen bequemen Schlüſſel liefert, werde
ich auch ſpäter vielfach verweiſen und hier laſſe ich nach ſeiner
präciſen Formulirung eine Ueberſicht der caeſalpiniſchen
Hauptabtheilungen folgen, die den Raum, den ſie einnimmt,
ſchon werth iſt, da es ſich um das erſte jemals aufgeſtellte und
mit Diagnoſen verſehene Pflanzenſyſtem handelt. Zum Ver-
ſtändniß der folgenden Diagnoſen habe ich noch zu bemerken,
daß nach Caeſalpin im Samen das cor (Herz) ſelbſtverſtänd-
[61]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
lich die Hauptſache iſt und zwar verſteht er in Uebereinſtimmung
mit dem früher geſagten darunter diejenige Stelle des Embryos,
wo die Keimwurzel und die Keimknoſpe ſich verbinden, oder wie
er ſelbſt ungenau ſagt, die Stelle, aus welcher die Cotyledonen
entſpringen.
Der Kürze wegen ſetze ich die Claſſen-Diagnoſen nach
Linné lateiniſch hierher.
- Arboreae
(Arbores et frutices)- I. Corde ex apice seminis. Seminibus saepius solitariis.
(z. B. Quercus, Fagus, Ulmus, Tilia, Laurus, Prunus). - II. Corde e basi seminis, seminibus pluribus (z. B. Ficus,
Cactus, Morus, Rosa, Vitis, Salix, Coniferen u. s. w.)
- I. Corde ex apice seminis. Seminibus saepius solitariis.
- Herbaceae
(Suffrutices et herbae).- III. Solitariis seminibus. Semine in fructibus unico (z. B.
Valeriana, Daphne, Urtica, Cyperus und Graeser.) - IV. Solitariis pericarpiis. Seminibus in fructu pluribus,
quibus est conceptaculum carnosum, bacca aut pomum. (z. B.
Cucurbitaceen, Solaneen, Asparagus, Ruscus, Arum.) - V. Solitariis vasculis. Seminibus in fructu pluribus quibus
est conceptaculum e sicca materia. (z. B. Verschiedene Legu-
minosen, Caryophylleen. Gentianeen u. a.) - VI. Binis seminibus. Semina sub singulo flosculo invicem
conjuncta, ut unicum videantur ante maturitatem; cor in parte
superiore, qua flos insidet. Flores in umbella (Familie der
Umbelliferen). - VII. Binis conceptaculis. (z. B. Mercurialis, Poterium, Galium,
Orobanche, Hyoscyamus, Nicotiana, Cruciferen.) - VIII. Triplici principio (Fruchtknoten) nonbulbosae. Semina
trifariam distributa; corde infra sito, radix non bulbosa.
(z. B. Thalictrum. Euphorbia, Convolvulus, Viola.) - IX. Triplici principio bulbosae. Semina trifariam distri-
buta; corde infra sito, radix bulbosa. (Großblüthige Mono-
cotylen.) - X. Quaternis seminibus. Semina quatuor nuda in com-
muni sede. (Enthält Borragineen und Labiaten.) - XI. Pluribus seminibus, anthemides. Semina nuda plurima,
cor seminis interius vergens; flos communis distributus per
partes in apicibus singuli seminis (enthält nur Compositen). - XII. Pluribus seminibus cichoraceae aut acanaceae. Semina
nuda plurima, cor seminis inferius vergit, flos communis
distributus per partes in apicibus singuli seminis. (Enthält
neben Compositen auch Eryngium und Scabiosa.) - XIII. Pluribus seminibus, flore communi. Semina soli-
taria plurima; corde interius flos communis, non distributus
inferius circa fructum (enthält z. B. Ranunculus, Alisma, Sani-
cula, Geranium, Linum.) - XIV. Pluribus folliculis. Semina plura in singulo folliculo
(z. B. Oxalis, Gossypium, Aristolochia, Capparis, Nymphaea,
Veratrum u. s. w.) - XV. Flore fructuque carentes. (Filices, Equiseta, Musci
incl. der Corallen, Fungi.)
- III. Solitariis seminibus. Semine in fructibus unico (z. B.
Schon die den Diagnoſen von mir angehängten Beiſpiele
zeigen, daß abgeſehen von der ſechsten, zehnten und fünfzehnten
Claſſe keine einzige der übrigen einer natürlichen Gruppe des
Pflanzenreiches vollſtändig entſpricht. Die Mehrzahl der Claſſen
enthält je eine Sammlung des Allerverſchiedenſten und was
ſchlimmer iſt, die ſchon bei Lobelius und ſpäter bei Bauhin
beinahe vollſtändig durchgeführte Trennung der Monocotylen und
Dicotylen iſt hier beinahe ganz verwiſcht: die neunte Claſſe ent-
hält allerdings nur Monocotylen, aber nicht alle. Nach ſo
beträchtlichen Anſtrengungen eines ſo geſchulten Verſtandes,
wie ihn Caeſalpin ſicherlich beſaß, iſt das Reſultat ein höchſt
unbefriedigendes. Es iſt nicht eine einzige neue Verwandtſchafts-
gruppe nachgewieſen, die nicht ſchon in den Kräuterbüchern der
Deutſchen und Niederländer hervortritt. Es liegt eben in der
Natur des natürlichen Syſtems, daß es ſich bis zu einem gewiſſen
Grade leichter der inſtinktiven Wahrnehmung als dem kritiſchen
Verſtande offenbart. Bei Caeſalpin, wie wir oben geſehen
haben, trat mit vollem klaren Bewußtſein das Streben hervor,
im Syſtem die natürlichen Verwandtſchaften zum Ausdruck zu
bringen und das Reſultat war ſchließlich eine Reihe höchſt
unnatürlicher Gruppen, deren faſt jede eine wahre Muſterkarte
[63]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
der verſchiedenſten Pflanzen enthält. Die Urſache dieſer anſcheinend
ſo merkwürdigen Erſcheinung aber liegt darin, daß Caeſalpin
aus a priori abgeleiteten Gründen die Merkmale glaubte beſtimmen
zu können, nach denen ſich die natürlichen Verwandtſchaften richten.
Eine beinahe 300jährige ununterbrochene Arbeit, welche immer
wieder von demſelben Grundſatz ausging oder factiſch doch in
dieſer Weiſe ſich bethätigte, hat den inductiven Beweis geliefert,
daß der von Caeſalpin eingeſchlagene Weg ein Irrweg iſt.
Wenn dennoch bei der Verfolgung desſelben bis zur Mitte des
18. Jahrhunderts die natürlichen Verwandtſchaftsgruppen immer
deutlicher hervortreten, ſo geſchah es, weil eben auch der auf
einem Irrweg Begriffene nach und nach die Gegend, in welcher
er umherirrt, immer beſſer kennen lernt und endlich ahnt, welcher
Weg der richtige geweſen ſein würde.
Joachim Jungius1) wurde 1587 in Lübeck geboren
und ſtarb nach einem vielbewegten Leben 1657. Er war ein
Zeitgenoſſe Keppler's, Galilaei's, Vesal's, Bakon's,
Gaſſendi's und Descarte's. Nachdem er in Gießen bereits
Profeſſor geweſen, wandte er ſich in Roſtock dem Studium der
Medizin zu, ging 1618-1619 nach Padua und lernte dort,
wie wir mit Beſtimmtheit annehmen dürfen, die botaniſchen
Lehren des bereits 15 Jahre vorher verſtorbenen Caeſalpin
kennen. Nach Deutſchland zurückgekehrt, bekleidete Jungius
während der nächſten zehn Jahre verſchiedene Profeſſuren in
Lübeck und Helmſtätt und wurde 1629 Rector des Johanneums
in Hamburg. Seine wiſſenſchaftliche Thätigkeit umfaßte die ver-
ſchiedenſten Gebiete, vorwiegend das der Philoſophie, in welcher
er als Gegner der Scholaſtik und des Ariſtoteles auftrat;
ferner die Mathematik, Phyſik, Mineralogie, Zoologie und Bo-
tanik. In allen dieſen Richtungen verhielt er ſich nicht blos
receptiv und lehrend, ſondern vor Allem kritiſch ſichtend und
[64]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
ſogar, was die Botanik betrifft, in reichem Maße productiv.
Wie Caeſalpin in Italien, ſo war Jungius in Deutſchland
der Erſte, welcher philoſophiſch geſchultes Denken mit genauer
Beobachtung der Pflanzen zu verbinden wußte.
Die Früchte ſeiner botaniſchen Studien kamen jedoch zunächſt
nur ſeinen eigentlichen Schülern zu gut, da der vielbeſchäftigte
und nach immer weiterer Vollendung ſeiner Forſchung ſtrebende
Mann ſelbſt Nichts publicirte. Aus einem handſchriftlichen
Nachlaß von ungeheurem Umfang gab erſt 1662 ſein Schüler
Martin Fogel die Doxoscopiae physicae minores heraus
und erſt 1678 erſchien die Isagoge phytoscopica durch einen
anderen ſeiner Schüler Johann Bagetius. Eine Abſchrift
ſeiner botaniſchen Dictate kam jedoch, wie Ray erzählt, ſchon
1660 nach England. Die Doxoscopiae enthalten ſehr zahlreiche
abgeriſſene Bemerkungen über einzelne Pflanzen, ihre genaue
Unterſcheidung von anderen, Sätze über die Methoden und
Principien botaniſcher Forſchung; dieß Alles in Form von
Aphorismen, die er gelegentlich zu Papier brachte. Zahl und
Inhalt derſelben zeigen, wie angelegentlich ſich Jungius auch
mit der Einzelkenntniß der Pflanzenarten beſchäftigte; er äußerte
ſich dort mißbilligend darüber, daß viele Botaniker mehr Mühe
darauf verwenden, unbekannte Pflanzen an's Licht zu ziehen, als
dieſelben ſorgfältig auf ihre wahren Gattungen nach logiſchen
Geſetzen durch ſpecifiſche Differenzen zurückzuführen. Er war der
Erſte, der es wagte, die altherkömmliche Eintheilung der Pflanzen
in Bäume und Kräuter als das Weſen nicht treffend zu bemängeln.
Wie feſt aber dieſes alte Dogma ſaß, zeigt ſich beſonders darin,
daß Ray am Ende des Jahrhunderts, obgleich er ſeiner theore-
tiſchen Botanik die Isagoge des Jungius zu Grunde legte,
die Eintheilung in Kräuter und Bäume doch beibehielt. Sehr
weit ging Jungius ſchon über Caeſalpin und ſeine eigenen
Zeitgenoſſen hinaus, indem er wiederholt die generatio spon-
tanea bezweifelte.
Wichtiger und von nachhaltigerer Wirkung für die Geſchichte
der Botanik war jedoch ſeine Isagoge phytoscopica, welche in
[65]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
gedrängter Kürze und in Form von Lehrſätzen ſtreng logiſch
geordnet ein Syſtem der theoretiſchen Botanik vorträgt. Wir
müſſen auf den Inhalt dieſer Schrift ſchon deßhalb näher ein-
gehen, weil in ihr die Grundlage der ſpäteren Linné'ſchen
Nomenclatur der Pflanzentheile enthalten iſt. Da der ganze
Inhalt der Isagoge mit geſperrter Schrift unter ausdrücklicher
Nennung der Quelle in Ray's historia plantarum angeführt
iſt, ſo unterliegt es gar keinem Zweifel, daß Linné die Lehren
des Jungius ſchon in ſeiner Jugend, jedenfalls vor 1738,
genau kennen gelernt hat. Es iſt aber eben ſo wichtig für die
Kenntniß der Geſchichte zu wiſſen, daß die Nomenclatur Linné's
ſich ganz weſentlich auf Jungius ſtützt, wie zu erfahren, daß
die allgemeinſten philoſophiſchen Sätze botaniſchen Inhalts bei
Linné aus Caeſalpin ſtammen. Zudem wird in der Ge-
ſchichte der Lehre von der Sexualität ausführlich nachgewieſen
werden, daß es Rudolph Jakob Camerarius war, auf
welchen ſeine Kenntniß der Sexualität zurückzuführen iſt.
Das erſte Capitel der Isagoge behandelt die Unterſcheidung
der Pflanzen von den Thieren. Die Pflanze iſt nach Jungius
ein lebender, nicht empfindender Körper; oder ſie iſt ein an
einen beſtimmten Ort, oder eine beſtimmte Unterlage befeſtigter
Körper, von wo aus ſie ſich ernähren, wachſen und fortpflanzen
kann. Die Pflanze ernährt ſich, inſofern ſie die aufgenommene
Nahrung in Subſtanz ihrer Theile umwandelt, um dasjenige
zu erſetzen, was von der Eigenwärme und dem innern Feuer
verflüchtigt worden iſt. Eine Pflanze wächſt, wenn ſie mehr
Subſtanz anſetzt, als verflüchtigt worden iſt, ſie wird dabei
größer und bildet neue Theile. Das Wachsthum der Pflanze
unterſcheidet ſich aber von dem der Thiere dadurch, daß nicht
alle Theile gleichzeitig wachſen, denn Blätter und Sproſſe hören,
ſobald ſie reif geworden ſind, auf zu wachſen; dann aber werden
neue Blätter, Sproſſe und Blüthen erzeugt. — Man ſage von
einer Pflanze, ſie pflanze ſich fort, wenn ſie eine ihr ſpecifiſch
ähnliche erzeugt; dieß ſei die breitere Faſſung des Begriffs.
Wir ſehen auch hier wie bei Caeſalpin, daß der Speciesbegriff
Sachs, Geſchichte der Botanik. 5
[66]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
mit dem der Fortpflanzung verbunden wird. Das zweite Capitel
behandelt unter dem Titel plantae partitio die wichtigſten
morphologiſchen Verhältniſſe der äußeren Gliederung; hier behält
Jungius im Weſentlichen die Caeſalpin'ſche Anſchauungs-
weiſe bei, wonach der ganze Pflanzenkörper (nachdem die niederſten
Pflanzen ausgeſchloſſen ſind) in zwei Haupttheile, Wurzel als
nahrungsaufnehmendes Organ und oberirdiſchen Stengel als Träger
der Fructification, eingetheilt wird. Auch Jungius hebt die
Grenze beider Theile, Caeſalpin's cor, doch unter dem Namen
fundus plantae beſonders hervor.
Der obere Theil oder ein Theil desſelben iſt entweder ein
Stengel, ein Blatt, eine Blüthe, eine Frucht oder ein Gebilde
von ſecundärer Bedeutung wie die Haare und die Dornen. —
Sehr merkwürdig iſt ſeine Definition des Stengels und des
Blattes: der Stengel, ſagt er, iſt derjenige obere Theil, welcher
in der Weiſe in die Höhe geſtreckt iſt, daß darin eine Hinter-
und Vorderſeite, eine rechte und linke ſich nicht unterſcheiden.
Blatt iſt, was von ſeinem Urſprungsort aus ſo in die Höhe
oder in die Länge und Breite ſich ausdehnt, daß die Grenzen
der dritten Dimenſion unter ſich verſchieden ſind, ſo alſo, daß
die äußere und innere Oberfläche des Blattes verſchieden organiſirt
ſind. Die innere Seite des Blattes, welche auch als Oberſeite
bezeichnet wird, iſt die nach dem Stengel hinſehende und deßhalb
behält ſie auch eine Concavität, oder ſie iſt weniger convex als
die andere. Wichtig für jene Zeit iſt die Folgerung, das zuſammen-
geſetzte Blatt werde von unerfahrenen oder nachläßigen Beobach-
tern für einen Zweig gehalten, es ſei aber leicht dadurch zu
unterſcheiden, das es eine innere und äußere Oberfläche wie das
einfache Blatt beſitzt und daß es gleich dieſem im Herbſt als
Ganzes abfällt. Difformiter foliata nennt er eine Pflanze,
deren Blätter am Grunde des Stengels von den Höherſtehenden
ſich auffallend unterſcheiden, ein Satz, den Göthe (in ſeinem
Fragment bei Guhrauer) gründlich mißverſtanden zu haben
ſcheint.
Nachdem in Verbindung mit jenen allgemeinen Definitionen
[67]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
die verſchiedenen Formen des Stammes und der Verzweigung,
ſowie die Verſchiedenheiten der Blätter hervorgehoben und mit
bezeichnenden Namen belegt worden ſind, Namen, die auch jetzt
noch zum großen Theile gelten, behandelt das vierte Capitel die
Gliederung des Stengels in Internodien; wenn der Stengel
oder Zweig, ſagt Jungius, als ein prismatiſcher Körper
betrachtet wird, ſo iſt die Abgliederung nämlich die Stelle, wo
ein Zweig oder ein Blattſtiel entſpringt, als ein Querſchnitt auf-
zufaſſen, parallel der Baſis des Prismas. Dieſe Stelle nun
wird, wenn ſie protuberirt, ein Knie oder Knoten genannt
u. ſ. w. und was zwiſchen zwei ſolchen Stellen liegt, iſt ein
Internodium.
Es iſt unmöglich, die zahlreichen vortrefflichen Einzelheiten,
die nun weiter folgen, vorzuführen, doch mögen noch einige
Bemerkungen über die Blüthentheorie von Jungius folgen, die
er im 13. bis 27. Capitel ſehr ausführlich behandelt. Sie
leidet, wie bei Caeſalpin, durch die vollſtändige Unkenntniß
der Sexualität der Pflanzen, wodurch eine irgend genügende
Definition des Begriffes Blüthe unmöglich wird. Ganz wie
Caeſalpin bringt daher auch Jungius die Fruchtanlage in
Gegenſatz zur Blüthe, ſtatt ſie als einen Theil derſelben zu
betrachten. Die Blüthe iſt ihm ein zarterer Theil der Pflanze,
durch Färbung und Form oder durch beides ausgezeichnet, der
mit der Fruchtanlage zuſammenhängt. Auch darin lehnt ſich
Jungius gleich allen Botanikern bis zum Ende des vorigen
Jahrhunderts an Caeſalpin an, daß er unter Frucht ſowohl
den vermeintlich nackten Samen (trockene Schließfrucht) als auch
einen Samenbehälter verſteht. Im Gegenſatz zu Caeſalpin
bezeichnet er die Staubfäden als stamina, den Griffel als
stilus, die Blumenkrone heißt aber auch bei ihm folium. Voll-
ſtändig nennt er eine Blüthe nur dann, wenn ſie alle dieſe drei
Theile beſitzt. Weiterhin werden nun die Form- und Zahlen-
verhältniſſe der Blüthentheile definirt und unter Anderem die
erſte richtige Anſicht von der Bedeutung des Blüthenköpfchens
der Compoſiten, welches Caeſalpin ganz verkannt hatte, vor-
5*
[68]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
getragen, auch die Blüthenſtände, ferner die oberſtändigen und
unterſtändigen Blüthen, die ſchon Caeſalpin unterſchieden hatte,
werden genauer betrachtet. In der Theorie des Samens lehnt
ſich Jungius an Caeſalpin an, ohne jedoch Neues zu
bieten.
Das weſentlich Auszeichnende in dieſer theoretiſchen Botanik
des Jungius und der große Fortſchritt, den er dabei über
Caeſalpin hinaus gemacht hat, liegt darin, daß er die Mor-
phologie ſoweit als irgend möglich unabhängig von allen phyſiolo-
giſchen Fragen behandelt, daher auch teleologiſche Deutungen
bei ihm ganz zurücktreten. Es ſind die Geſtaltverhältniſſe an ſich,
welche Jungius ins Auge faßt; die Behandlung iſt dabei eine
weſentlich vergleichende, das ganze ihm bekannte Pflanzenreich
umfaſſend. Jungius hatte ſicherlich von Caeſalpin ſehr viel
gelernt: indem er ſich aber wenigſtens von den gröberen Verirrungen
der ariſtoteliſchen Philoſophie und der Scholaſtik frei machte,
gelang es ihm, die Geſtaltungsgeſetze der Pflanzen viel unbefangener
als jener aufzufaſſen. Wie ihm dabei ſeine mathematiſche Be-
gabung zu Hilfe kam, iſt leicht aus ſeinen oben angeführten, die
Symmetrie der Stamm- und Blattgebilde hervorhebenden Definitonen
zu entnehmen. Bis auf die Zeit, wo Schleiden und Nägeli
die Entwicklungsgeſchichte in die Morphologie einführten, ſind
tiefere und treffendere Definitionen nicht gegeben worden.
Standen Caeſalpin, Caspar Bauhin und Jungius
jeder in ſeinem Zeitalter einſam da, ſo beginnt dagegen in den
drei letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts wieder eine regere
Thätigkeit gleichzeitig lebender Botaniker. Wie in dieſem Zeitraum
die Phyſik durch Newton, die Philoſophie durch Locke und
Leibnitz, die Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen durch
Malpighi und Grew einen raſchen Aufſchwung nahmen, ſo
wurde auch, wenn auch keineswegs in demſelben Maße und mit
derſelben Vertiefung, die Syſtematik durch Moriſon, Ray,
Rivinus und Tournefort gefördert. Die raſch aufeinander
folgenden theilweiſe chronologiſch in einander verſchränkten Arbeiten
dieſer Männer und ihrer minder begabten Anhänger riefen einen
[69]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné
Meinungsaustauſch, zum Theil polemiſche Schriften hervor, wie
ſolche auf dem Gebiete der Botanik noch nicht ſtattgefunden hatten;
die Literatur kam in Fluß und gewann an Lebhaftigkeit und
nachhaltigerem Intereſſe, welches ſich auch über weitere Kreiſe,
als die der Fachmänner verbreitete. Indem die genannten
Syſtematiker auch zugleich die Formenlehre und Nomenclatur der
Theile auszubilden ſuchten, fanden ſie bereits einen beträchtlichen
Vorrath von Beobachtungen und Gedanken vor, welche ſie aus
den Werken der Vorgänger zu weiterer Verarbeitung übernahmen.
Abgeſehen von der bereits ſehr großen Zahl von Einzelbeſchrei-
bungen, welche ſich ſeit Fuchs und Bock angehäuft hatten, war
die Thatſache der natürlichen Verwandtſchaft durch den Pinax
des Caspar Bauhin als das Fundament der natürlichen
Syſtematik erkannt; Caeſalpin hatte auf die Fructifications-
Organe als auf die für das Syſtem werthvollſten hingewieſen
und Jungius an die Stelle bloßer Namenerklärungen die
Anfänge einer auf Vergleichung beruhenden Morphologie geſetzt.
Die Botaniker in den letzten drei Decennien des 17. Jahrhunderts
mußten erkennen, daß die von Lobelius und Bauhin auf-
geſtellten Verwandtſchaftsreihen auf dem von Caeſalpin betre-
tenen Wege durch a priori feſtgeſtellte Merkmale nicht charakteriſirt
und nicht zu einem wohlgegliederten Syſtem ausgebildet werden
können. Indem ſie es aber beſſer zu machen ſuchten, behielten
ſie doch dem Princip nach das Verfahren Caeſalpin's bei;
nur glaubten ſie die a priori feſtgeſetzten Eintheilungs-
gründe nicht wie dieſer vorwiegend von der Organiſation des
Samens und der Frucht, ſondern von anderen Blüthentheilen
hernehmen zu müſſen: man verſuchte es aus den Verſchieden-
heiten der Blumenkrone, des Kelches, des Habitus Syſteme
abzuleiten, aus denen die natürliche Verwandtſchaft erkannt
werden ſollte. War ſchon das Mittel ſelbſt verfehlt, ſo wurde
auch der Zweck nicht klar und beſtimmt feſtgehalten; vielmehr
wünſchte man durch die Aufſtellung eines Syſtems auch eine
Erleichterung für eine möglichſt reichhaltige Einzelkenntniß zu
gewinnen; die immer drückender werdende Laſt, welche man ſich
[70]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
durch die unverſtändige Forderung aufbürdete, daß jeder Botaniker
alle beſchriebenen Pflanzen kennen müſſe, drängte ſelbſtverſtändlich
dahin, durch die ſyſtematiſche Anordnung eine Erleichterung zu
ſuchen. Allein die übermäßige Beſchäftigung mit der Einzel-
beſchreibung ließ eine gründliche, nachhaltige und fruchtbare
Beſchäftigung mit den Grundlagen des Syſtems nicht aufkommen,
ja ſie verdarb ſogar die Befähigung zu den ſehr ſchwierigen
Verſtandesoperationen, aus denen ein wirklich natürliches Syſtem
mit wiſſenſchaftlicher Begründung allein hervorgehen kann; man ſah,
um es vulgär auszudrücken, ſchließlich den Wald vor lauter
Bäumen nicht. Vor Allem wurde die von Jungius begründete
Morphologie, wenn auch beachtet und benutzt, doch nicht in dem
Grade gefördert, daß ſie zur Grundlage des Syſtems in ſeinen
großartigeren Zügen ſich geeignet hätte, ein Vorwurf, der übrigens
den Syſtematikern mit wenigen Ausnahmen auch der folgenden
100 Jahre gemacht werden muß. Wie konnte es den Botanikern
des 17. Jahrhunderts gelingen, die größeren Verwandtſchaftskreiſe
richtig zu erkennen, wenn man die von Jungius bereits beſeitigte,
jeder konſequenten Formenlehre widerſprechende alte Eintheilung
in Bäume und Kräuter beibehielt, wenn man ſo wenig Sorgfalt
auf den Bau des Samens und der Frucht verwendete, daß man
ganz allgemein die trocknen Schließfrüchte für nackte Samen
anſah und dergleichen mehr. Wurde ſolchergeſtalt Nichts prin-
cipiell Neues in die Syſtematik eingeführt, ſo wurde doch indeſſen
manches Gute im Einzelnen geleiſtet. Indem man verſchiedene
Syſteme aufſtellte, mußte ſich mehr und mehr zeigen, welche
Merkmale bei der Umgrenzung der natürlichen Gruppen unzuläſſig
ſind, immer ſchärfer mußte auf dieſem empiriſchen Wege der
Widerſpruch zwiſchen der Methode und dem Zweck der Syſtematik
hervortreten, ſo daß ſpäter Linné denſelben ganz deutlich
erkennen konnte, womit allerdings ſehr viel gewonnen war.
Es würde die Darſtellung nur verdunkeln, wenn ich hier
die zahlreichen Botaniker Englands, Frankreichs, Italiens, Deutſch-
lands und der Niederlande ſämmtlich in Betracht ziehen wollte;
viel klarer tritt vielmehr das geſchichtlich Wichtige hervor, wenn
[71]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné
ich diejenigen allein hervorhebe, welche die Syſtematik wirklich
bereichert haben. Wer eine genauere Kenntniß aller Syſteme,
welche bis auf Linné erſchienen ſind, wünſcht, wird eine meiſter-
hafte Darſtellung in Linné's Classes plantarum, eine beach-
tenswerthe auch in der Histoire de la Botanique de Michel
Adanson, Paris 1864 finden. Unſerem Zweck genügt es,
die Leiſtungen der oben genannten vier Männer näher zu
betrachten.
Robert Moriſon (geboren 1620 zu Aberdeen, geſtorben zu
London 1683) 1), war ſeit Caeſalpin und Bauhin wieder
der Erſte, der ſich der ſyſtematiſchen Botanik, d. h. der Begründung
und dem Ausbau des Syſtems widmete. Ihm wurde von ſeinen
Zeitgenoſſen und Nachfolgern der Vorwurf gemacht, als habe er
den Caeſalpin abgeſchrieben, ohne ihn zu nennen; dies war
Uebertreibung; Moriſon eröffnete ſeine Thätigkeit als Syſtemati-
ker mit einer ſorgfältigen Kritik von Caspar Bauhin's
Pinax; dort holte er ſeine Vorſtellungen von der natürlichen
Verwandtſchaft der Pflanzen, und wenn er ſpäter ſein eigenes
Syſtem vorwiegend auf die Fruchtformen gründete, ſo geſchah
dieß doch in einer von Caeſalpin weit abweichenden Weiſe und
Linné beſeitigt den obengenannten Vorwurf mit der treffenden
Bemerkung, Moriſon weiche gerade ſoweit von Caeſalpin
ab, als er dieſem in der Reinheit der Methode untergeordnet
ſei. Im Jahre 1669 erſchien ſein mit dem charakteriſtiſchen
Titel verſehenes Werk: Hallucinationes Caspari Bauhini
in Pinace tam in digerendis quam denominandis plantis,
welches Haller mit Recht ein invidiosum opus nennt; denn
wie es zu allen Zeiten Schriftſteller gibt, welche das Gute und
Bedeutende ihrer Vorgänger als etwas Selbſtverſtändliches
[72]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
undankbar aufnehmen, gleichzeitig aber jeden kleinen Fehler, den
ſich der Schöpfer einer großen Idee zu Schulden kommen läßt,
mit widerwärtiger Schadenfreude hervorheben, ſo hat auch Mo-
riſon kein Wort der Anerkennung für die im Pinax vorliegende
große Leiſtung; eine Anerkennung, die um ſo nöthiger geweſen
wäre, als er eben darauf ausging, die zahlreichen Fehler bezüglich
der Verwandtſchaftsverhältniſſe im Pinax aufzudecken. Auch
vermuthet Kurt Sprengel (Geſchichte II. p. 30) wohl mit
Recht, daß ihm des Jungius Handſchrift, welche 1661 durch
Hartlieb dem Ray mitgetheilt worden war, nicht unbekannt
geblieben iſt; und in dieſer konnte er allerdings ſehr Vieles
finden, was zu ſeinem Vorhaben paßte. Die Hallucinationes
ſagt Sprengel treffend, ſind eine gründliche Kritik der Anord-
nung der Pflanzen, welche die Bauhine gewählt hatten. In-
dem er den Pinax Seite für Seite durchgeht, zeigt er, welche
Pflanzen dort eine falſche Stelle einnehmen. Es ſei gewiß, daß
Moriſon den erſten Grund zu einer beſſern Anordnung und
zu einer richtigeren Charakteriſtik der Gattungen und Arten
gelegt habe.
Einen beträchtlichen Fortſchritt zeigt ſeine Plantarum um-
belliferarum distributio nova, Oxford 1672, die erſte Mono-
graphie, welche in der Abſicht unternommen wurde, innerhalb
einer einzelnen großen Familie ſyſtematiſche Grundſätze ſtreng
durchzuführen. Die ſehr verwickelte Eintheilung wird hier aus-
ſchließlich auf die äußere Form der Frucht, die er natürlich als
Samen bezeichnet, gegründet. Es iſt aber das erſte Werk, in
welchem die ſyſtematiſche Darſtellung nicht mehr von der älteren
Anordnung in Bücher und Capitel verdeckt, wo vielmehr eine
größere Ueberſichtlichkeit ſchon durch die typographiſche Behand-
lung erreicht wird, worin ihm allerdings Lobelius 100 Jahre
früher mit ſehr ſchwachen Anfängen vorausgegangen war. Auch
ſucht er die ſyſtematiſchen Beziehungen innerhalb dieſer Familie
durch lineare Darſtellungen zu veranſchaulichen; gewiſſermaßen
die erſte Ahnung deſſen, was wir jetzt einen Stammbaum nennen
würden, jedenfalls aber ein Beweis, wie lebhaft Moriſon
[73]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
die verwandtſchaftlichen Verhältniſſe auffaßte, freilich nicht nur,
wie es auf dem Titel heißt ex libro naturae, ſondern, dem
Princip nach, geſtützt auf Bauhin. Die Unfähigkeit Mori-
ſon's, das Verdienſt ſeiner Vorgänger zu würdigen und da,
wo er einen Schritt vorwärts that, zu glauben, der Weg ſei
vor ihm nie betreten worden, verräth ſich auch in dieſem Buche,
zu deſſen Verdienſten übrigens noch gehört, daß es zuerſt ſorg-
fältige Darſtellungen einzelner Pflanzentheile und zwar in Kupfer 1)
geſtochen enthält. 1680 erſchienen die erſten Bände ſeiner
historia plantarum universalis Oxoniensis, deren dritter
Theil nach ſeinem Tode 1699 von Bobart herausgegeben wurde,
eine Sammlung der meiſten damals bekannten Pflanzen und
einer großen Zahl neu beſchriebener; die ſyſtematiſche Anordnung
derſelben findet ſich in Linné's Classes plantarum reproducirt.
Wenn auch Moriſon in ſeiner Kritik des Bauhin einen
beträchtlichen Scharfſinn innerhalb engerer Verwandtſchaftskreiſe
verräth, ſo zeigt dagegen ſein univerſales Syſtem für die Ver-
wandtſchaftsbeziehungen im Großen nur äußerſt geringen Sinne
ſelbſt in kleineren Abtheilungen findet ſich das Allerverſchiedenſte
beiſammen; ſo enthält z. B. die letzte Claſſe ſeiner Bacciferae
Gattungen wie Solanum, Paris, Podophyllum, Sambucus,
Convallaria, Cyclamen, ein Reſultat, welches um ſo mehr
überraſcht, als ſich Moriſon nicht ſtreng logiſch wie Caeſalpin
nur an einzelne beſtimmte Merkmale hält, ſondern auch den
Habitus mitberückſichtigt. Im Ganzen ſteht ſeine ſyſtematiſche
Ueberſicht als Ausdruck natürlicher Verwandtſchaften hinter der
des Lobelius und Bauhin zurück.
Das Verdienſt Moriſon's lag in der That weniger in
der Qualität ſeiner Leiſtungen, als vielmehr darin, daß er zuerſt
wieder der Syſtematik eine umfaſſende Bearbeitung zuwendete;
[74]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
übrigens blieb die Zahl ſeiner unmittelbaren Anhänger gering:
von Deutſchen waren es nur Paul Ammann, Profeſſor in
Leipzig, der in ſeinem Character plantarum naturalis 1685
die Anſichten Moriſon's vertrat und Paul Herrmann,
1679-95 Profeſſor in Leyden, nachdem er acht Jahre lang in
Ceylon Pflanzen geſammelt hatte; ſein Syſtem kann kaum eine
Verbeſſerung des Moriſon'ſchen genannt werden.
Im Gegenſatz zu Moriſon wußte John Ray (1628 bis
1705) 1) aus den Werken ſeiner Vorgänger alles Gute und
Richtige nicht nur aufzunehmen, kritiſch zu ſichten und durch
eigene Beobachtungen zu vervollſtändigen, ſondern auch die Ver-
dienſte anderer freudig anzuerkennen, eigene und fremde Leiſtungen
zu einem harmoniſchen Ganzen zu verſchmelzen. Unter ſeinen
zahlreichen botaniſchen Werken tritt dieß beſonders in ſeiner
umfangreichen drei Foliobände umfaſſenden Historia plantarum
(1686-1704 ohne Bilder) 2) hervor. Das Werk enthält eine
Zuſammenſtellung aller bis dahin bekannten Einzelbeſchreibungen;
dem erſten Bande aber geht eine 58 Seiten lange Darſtellung
der allgemeinen Botanik voraus, welche in gewöhnlichem Format
gedruckt ſchon für ſich einen kleinen Band bilden würde und die
ganze theoretiſche Botanik ungefähr in der Form eines modernen
Lehrbuches behandelt. Wenn darin auch Morphologie, Anatomie
und Phyſiologie, in welch' letzteren er ſich auf Malpighi und
Grew ſtützt, nicht ſtreng geſondert vorgetragen werden, ſo iſt
es doch leicht, das Morphologiſche auszuſondern und die Theorie
der Syſtematik iſt in der That geſondert dargeſtellt. Die von
der Morphologie handelnden Capitel ſind am Eingang jedesmal
[75]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
mit den betreffenden Definitionen des Jungius verſehen, an
welche ſich das Weitere in ergänzender, ausführender und kritiſcher
Behandlung anſchließt. Mit Uebergehung des bloß Referirten und
des anatomiſch-phyſiologiſchen Inhalts will ich hier nur einige
der wichtigeren Ergebniſſe ſeines eigenen ſyſtematiſchen Denkens
anführen. Vor Allem ergriff Ray den von Grew ſehr unge-
ſchickt aufgefaßten Gedanken einer im Pflanzenreich herrſchenden
Sexualität (die Unterſuchungen des Camerarius waren damals
noch unbekannt), wodurch für ihn, wenn auch noch in unklarer
Weiſe die Blüthe eine andere Bedeutung als für ſeine Vorgänger
annahm. Deutlicher als bei Caeſalpin finden wir bei Ray
die Wahrnehmung, daß in vielen Samen außer dem Keime noch
eine pulpa oder medulla, nämlich das jetzt ſogenannte Endo-
ſperm enthalten iſt und daß der Embryo im Samen nicht immer
zwei Cotyledonen beſitzt, daß vielmehr in anderen Fällen nur
ein Keimblatt oder keines vorhanden iſt. Indeſſen wurde ihm
der Unterſchied, wie wir ihn jetzt durch die Worte dikotyler und
monokotyler Embryo ausdrücken, noch nicht ganz klar; trotzdem
erwarb ſich Ray das große Verdienſt auf dieſe Differenz der
Embryobildung das natürliche Syſtem zum Theil zu gründen.
Ueberhaupt tritt bei ihm lebhafter, als bei irgend einem Syſte-
matiker vor Juſſieu die Befähigung hervor, die größeren Ver-
wandtſchaftskreiſe des Pflanzenreichs als ſolche aufzufaſſen und
durch gewiſſe Merkmale zu charakteriſiren, indem er dieſe jedoch
nicht a priori aufſtellt, ſondern ſie aus den erkannten
Verwandtſchaftsverhältniſſen ableitet; dieß gilt aber nur in der
Hauptſache, denn im Einzelnen läßt auch er ſich zahlreiche und
ſchwere Verſtöße gegen dieſe Methode zu Schulden kommen, wie
wir weiter unten bei der Aufzählung ſeiner Claſſen ſehen werden.
Es iſt in neueſter Zeit wiederholt Ray das Verdienſt zugeſchrie-
ben worden, er habe zuerſt die Transmutation der Species gelehrt
und ſei ſomit zu den Begründern der Deſcendenztheorie zu rechnen.
Sehen wir, was an dieſer Behauptung Wahres iſt. Obgleich
Pflanzen, ſagt Ray, welche von demſelben Samen abſtammen
und ihre Species wieder durch Samen fortpflanzen, zu derſelben
[76]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Species gehören, ſo könne es doch vorkommen, daß der ſpezifiſche
Charakter nicht perpetuirlich und infallibel iſt. Es können Sa-
men zuweilen degeneriren und Pflanzen hervorbringen, welche
von der Mutterpflanze ſpecifiſch verſchieden ſind, wenn dieß auch
nur ſelten geſchieht; und ſo gebe es eine Transmutation der
Species, wie die Erfahrung lehrt. Zwar hielt er die Angaben
verſchiedener Schriftſteller, nach denen Triticum in Lolium,
Sisymbrium in Mentha, Zea in Triticum u. ſ. w. ſich um-
wandeln ſolle, für ſehr zweifelhaft, doch gebe es andere Fälle,
welche durchaus gewiß ſind; ſo habe ein Gärtner in London
nach gerichtlichem Ausweis Samen von Blumenkohl verkauft,
der dann aber nur gemeinen Kohl hervorgebracht habe. Zu
beachten ſei jedoch, daß ſolche Transmutationen nur zwiſchen nahe
verwandten und derſelben Gattung angehörigen Species vorkommen
und Manche, ſagt er, würden vielleicht nicht einräumen, daß
ſolche Pflanzen ſpecifiſch verſchieden ſind. — Mir ſcheint nun
in dieſen Worten, zumal wenn man ſie in Zuſammenhang
mit allem Uebrigen auffaßt, nicht mehr zu liegen, als die
Anſicht, daß innerhalb enger Verwandtſchaft beſonders bei
Culturpflanzen gewiſſe und unbeträchtliche Variationen möglich
ſind. Auch ſpricht Ray nicht von der Entſtehung neuer Pflanzen-
formen, ſondern davon, daß ſich eine bekannte Form in eine
andere ſchon vorhandene und bekannte Form umwandelt, alſo
das Gegentheil deſſen, was die Deſcendenztheorie verlangt.
Bei ſeiner Entwicklung der Principien der Syſtematik ſtoßen
wir unter Anderem auf einen folgeſchweren Irrthum in der An-
wendung des Satzes: natura non facit saltus, inſoferne der-
ſelbe ſo aufgefaßt wird, als ob alle Verwandtſchaftsverhältniſſe
ſich in einer geradlinigen Reihe darſtellen müßten, ein Irrthum,
der die natürliche Syſtematik bis in unſer Jahrhundert herein
vielfach irre geführt hat und erſt von Pyrame Decandolle
als Irrthum erkannt wurde; daß der Satz auch dann giltig
bleibt, wenn die Verwandtſchaftsverhältniſſe in Form verzweigter
Reihen, alſo nach Art eines Stammbaumes ſich ordnen, wurde
überſehen. Viel beſſer iſt Ray's Bemerkung, daß eine richtige
[77]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Aufſtellung des Syſtems vorerſt deßhalb unmöglich ſei, weil
man die Differenzen und Uebereinſtimmungen der Formen noch
nicht hinreichend kenne und ſeine Bemerkung, daß die Natur
ſich nicht in die Feſſeln einer beſtimmten Methode zwingen laſſe,
zeigt ſchon bei Ray das Aufdämmern derſelben Erkenntniß,
welche ſpäter bei Linné zu einer ſtrengen Sonderung der na-
türlichen und künſtlichen Syſteme führte.
Nach den ſehr verſtändigen und einſichtigen Aeußerungen
über die Bedeutung und Methode der Syſtematik erregt es nicht
geringe Verwunderung, auch bei Ray wieder die Eintheilung in
Holzpflanzen und Kräuter in den Vordergrund geſtellt zu ſehen;
die Sache wird dadurch um Nichts beſſer, daß er das charak-
teriſtiſche der Bäume und Sträucher in der Bildung von Knoſpen,
nämlich ſcharf abgegrenzter Winterknoſpen findet, was zudem
nicht richtig iſt. Doch fühlt man ſich für dieſen ſchweren Miß-
griff einigermaßen dadurch entſchädigt, daß er nun ſowohl die
Bäume, wie die Kräuter in ſolche mit zweiblättrigem und ſolche
mit einblättrigem oder blattloſem Embryo, alſo nach unſerer
Sprechweiſe in Dikotyledonen und Monokotyledonen eintheilt.
Unzweifelhaft iſt Ray's Syſtem in der vorlinnéiſchen Zeit das-
jenige, welches den natürlichen Verwandtſchaften am vollſtändigſten
Rechnung trägt; um den Fortſchritt ſeit Caeſalpin zu zeigen,
mag daher eine Ueberſicht ſeiner Claſſen folgen: In Klammern
ſetze ich die Linné'ſchen Namen einiger in den betreffenden
Klaſſen untergebrachten Gattungen bei:
- A. Plantae gemmis carentes(herbae)
- a. Imperfectae
- I. Plantae submarinae (meiſt Polypen, Fucus)
- II. Fungi.
- III. Musci (Conferven, Moose, Lycopodien).
- IV. Capillares (Farne auch Lemna und Equisetum).
- b. Perfectae
- Dicotyledones(binis cotyledonibus)
- V. Apetalae
- VI. Planipetalae lactescentes
- VII. Discoideae semine paposo
- VIII. Corymbiferae
- IX. Capitalae (VI-IX ſind Compositen)
- X. Semine nudo solitario (Valerianeen Mirabilis, Thesium u. a.)
- XI. Umbelliferae
- XII. Stellatae
- XIII. Asperifoliae
- XIV. Verticillatae (Labiaten)
- XV. Semine nudo polyspermo (Ranunculus, Rosa, Alisma!)
- XVI. Pomiferae (Cucurbitaceen).
- XVII. Bacciferae (Rubus, Smilax, Bryonia, Solanum, Menyanthes)
- XVIII. Multisiliquae (Sedum, Helleboreen, Butomus, Asclepias)
- XIX. Vasculiferae monopetalae (allerlei)
- XX. Vasculiferae dipetalae (allerlei)
- XXI. Tetrapetalae siliquosae (Cruciferen, Ruta, Monotropa)
- XXII. Leguminosae
- XXIII. Pentapetalae vasculiferae enangiospermae (allerlei)
- Monocotyledones(singulis aut nullis cotyledonibus)
- XXIV. Graminifoliae floriferae vasculo tricapsulari (Liliaceen,
Orchideen, Zingiberaceen) - XXV. Stamineae (Gräser)
- XXVI. Anomalae incertae sedis.
- a. Imperfectae
- B. Plantae gemmiferae(arbores)
- a. Monokotyledones
- XXVII. Arbores arundinaceae (Palmen, Dracaena)
- b. Dicotyledones
- XXVIII. Arbores flore a fructu remoto seu apetalae (Coniferen und
allerlei) - XXIX. Arbores fructu umbilicato (allerlei)
- XXX. Arbores fructu non umbilicato (allerlei)
- XXXI. Arbores fructu sicco (allerlei)
- XXXII. Arbores siliquosae (holzige Papilionaceen)
- XXXIII. Arbores anomalae (Ficus).
- XXVIII. Arbores flore a fructu remoto seu apetalae (Coniferen und
- a. Monokotyledones
Unter dieſen Claſſen können nur die Fungi, Capillares,
Stellatae, Labiatae, Pomiferae, Tetrapetalae siliquosae, die
Leguminosen die Floriferae und Stamineae als ganz oder
annähernd natürliche Gruppen gelten, obgleich auch bei dieſen
noch grobe Verſtöße vorkommen. Die Mehrzahl auch dieſer
Abtheilungen war aber längſt in der Botanik anerkannt und
wie ſchlimm es mit den andern ſteht, zeigen die in den Klam-
mern beigeſetzten Beiſpiele. Wenn man auf der einen Seite es
[79]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
anerkennen muß, daß Ray mit Jungius an der Entſtehung
der Krypogamen ohne Samen zweifelt, ſo fällt es anderſeits
auf, daß er ebenſowenig wie ſeine Vorgänger, Zeitgenoſſen und
nächſten Nachfolger an der vegetabiliſchen Natur der Polypen
und Spongien etwas auszuſetzen findet. Schlimmer als dies
iſt jedoch die höchſt mangelhafte Subordination und Coordination
in ſeinem Syſtem: während die Claſſe der Mooſe die Con-
ſerven, Flechten, Lebermooſe, Laubmooſe und Baer-
lappe, alſo Dinge enthält, welche von einander ſoweit verſchieden
ſind, wie Infuſorien, Würmer, Krebſe und Mollusken; finden wir
dagegen die eine Familie der Compoſiten nach ganz kleinlichen
unbedeutenden Verſchiedenheiten in vier Claſſen geſpalten. Es iſt
endlich hervorzuheben, daß wenn Ray auch die Blattbildung
des Embryos in ihrer Bedeutung für die Syſtematik im Allge-
meinen erkannte, er doch weit davon entfernt war, alle Mono-
und Dicotyledonen ſcharf zu ſondern.
Bei alldem bleibt Ray's Hauptverdienſt, daß er zuerſt die
natürlichen Verwandtſchaftsverhältniſſe in ihren großartigeren Zügen
einigermaßen erkannte, während dagegen die ſyſtematiſche Glie-
derung der kleineren Gruppen durch ihn kaum gefördert wurde.
Wie Moriſon, fand auch Ray in Deutſchland zwei An-
hänger, in Chriſtoph Knauth (1638-94) der nach Ray's
Methode geordnet 1687 eine Flora von Halle herausgab, und
in Chriſtian Schellhammer (1649-1716) Profeſſor in
Helmſtädt, dann in Jena.
Was Moriſon und Ray für England, Tournefort für
Frankreich, das war Auguſtus Quirinus Rivinus1) (1652 bis
1725) für die Deutſchen. Er war ſeit 1691 Profeſſor der Bo-
[80]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
tanik, Phyſiologie, Materia medica und Chemie in Leipzig;
außerdem beſchäftigte er ſich aber noch mit Aſtronomie ſo ange-
legentlich, daß er ſich durch Beobachtung von Sonnenflecken die
Augen verdarb. Bei ſo vielſeitiger Beſchäftigung kann es nicht
Wunder nehmen, daß ſeine Specialkenntniß der Pflanzen im
Vergleich zu der der drei anderen Genannten nur unbeträchtlich
war; deſto beſſer wußte er aber die von Jungius aufgeſtellten
Grundſätze der Morphologie zu würdigen, ſie für die Beurthei-
lung der Syſtematik zu benutzen. Sein Verdienſt liegt jedoch
mehr in der ſcharfen Kritik der hervorragendſten Irrthümer, welche
ſich bis dahin bei allen Botanikern erhalten hatten, wogegen
ſeine eigenen poſitiven Leiſtungen, wenigſtens ſoweit es die Er-
kennung von Verwandtſchaften betrifft, unbeträchtlich ſind; für
uns iſt von beſonderem Intereſſe ſeine Introductio gene-
ralis in rem herbariam, welche 1690 erſchien und 39
Seiten des größten Formates umfaßt; er weiſt darin das viele
unnöthige Beiwerk, mit welchem ſich die Botaniker befaßten, zu
rück und ſetzt den Zweck der Botanik allein in die wiſſenſchaft-
liche Betrachtung der Pflanzen ſelbſt. Zuerſt handelt er von
der Namengebung, wo ſich zeigt, daß Rivinus bezüglich der
Gattungs- und Speciesnamen bereits die Grundſätze auf-
ſtellte, welche ſpäter Linné zu konſequenter Anwendung
brachte, denn Rivinus ſelbſt befolgte ſeine eigenen Vorſchriften
nicht und verdarb ſeinen Ruf als Botaniker, durch eine geſchmack-
loſe Nomenclatur. Trotzdem ſprach er es ganz deutlich aus,
daß jede Pflanze am Beſten durch zwei Worte, deren eines der
Gattungs- das andere den Speciesnamen darſtellt, bezeichnet
werden ſolle und geiſtreich zeigte er den großen Nutzen dieſer
binären Nomenclatur bei der Behandlung der Medicinalpflanzen
und dem Aufſchreiben der Recepte. Die Culturvarietäten ließ
er nicht, wie z. B. Tournefort nach ihm noch that, für Species
gelten.
In der Syſtematik verwirft er mit Entſchiedenheit die Ein-
theilung in Bäume, Sträucher und Kräuter, deren ojective Un-
gültigkeit er an Beiſpielen gut erläuterte. Merkwürdig iſt in
[81]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
ſeinen kritiſchen Darlegungen, was übrigens auch bei Tourne-
fort wiederkehrt, daß man aus manchen Bemerkungen auf ein
feines Verſtändniß für natürliche Verwandtſchaft glaubt ſchließen
zu müſſen, während zwiſchen hinein wieder Ausdrücke vorkommen,
welche glauben machen, daß ihm dieſelbe für das Syſtem voll-
kommen gleichgültig ſei. Durch einen wunderlichen, unlogiſchen
Sprung, weil nämlich die Blüthe früher da ſei als die Frucht,
kommt er zu dem Schluß, daß man von jener die Hauptabthei-
lungen ableiten müſſe und bei derſelben benützt er nun gerade
dasjenige Merkmale der Blumenkrone, welches den allergeringſten
klaſifikatoriſchen Werth beſitzt, nämlich die regelmäßige oder ſyme-
triſche (irreguläre) Form derſelben. Zudem muß es Wunder
nehmen, daß Rivinus, der ein beträchtliches Vermögen zur
Herſtellung von Habitusbildern in Kupferſtich ohne jeden Zweck
verſchwendete und obgleich er ſein Syſtem auf die Blüthenform
gründete, dennoch dem Blüthenbau ſelbſt ein nur ganz oberfläch-
liches Studium zuwandte; was er über denſelben ſagt, iſt viel
ſchlechter, als was irgend Jemand vor und nach ihm darüber
geſchrieben hat. Sein auf die Form der Blüthen gegründetes
Syſtem enthält denn auch Nichts, was man einen Fortſchritt
in der Syſtematik nennen könnte; trotzdem fehlte es ihm nicht an
Anhängern, unter denen in Deutſchland Heucher, Knauth,
Ruppius, Hebenſtreit, Ludwig; auch Hill in England u. a.
zu nennen ſind, die an ſeinem Syſtem dieß und jenes änderten,
eine Fortbildung desſelben war jedoch ſeiner Natur nach ganz
unmöglich. Mit Ray und Dillenius gerieth er wegen ſeines
Syſtems in Streit; auch Ol. Rudbeck trat gegen ihn auf.
Obgleich auch Joſeph Pitton de Tournefort1) (1656
Sachs, Geſchichte der Botanik. 6
[82]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
bis 1708) ſein Syſtem auf die Form der Blumenkrone gründete, trat
er doch in gewiſſem Sinne in Gegenſatz zu Rivin. War dieſer
vorwiegend kritiſch und nur mit mangelhafter Specieskenntniß
ausgerüſtet, ſo trat dagegen Tournefort mehr dogmatiſirend
auf und wußte die großen Mängel ſeiner morphologiſchen Ein-
ſicht durch eine ſehr ausgedehnte Specialkenntniß in den Augen
ſeiner Zeitgenoſſen zu erſetzen. Tournefort wird gewöhnlich
als der Begründer der Gattungen im Pflanzenreich bezeichnet;
es wurde jedoch ſchon gezeigt, wie ſich aus der Einzelbeſchreibung
bereits im 16. Jahrhundert der Begriff der Gattungen und
Species hervorbildete und wie bereits Caspar Bauhin auch durch
die Namengebung in konſequenter Weiſe Gattungen und Species
unterſchied; zudem hatte Rivinus 1690 die binäre Nomen-
clatur bei der Benennung der Pflanzen als die zweckmäßigſte
gefordert, wenn er auch freilich dieſe Forderung ſelbſt nicht be-
folgte; Tournefort aber that es, jedoch in ganz anderer
Weiſe als Bauhin. Dieſer gab von den Gattungen nur die
Namen und verſah nur die Species mit Diagnoſen; Tourne-
fort dagegen verſah blos die Gattungsnamen mit Diagnoſen
und führte die Species und Varietäten ohne eigene Beſchreibung
dahinter auf. Tournefort hat alſo nicht die Gattungen zu-
erſt aufgeſtellt, ſondern vielmehr nur den Schwerpunkt der
deſcriptiven Botanik in die Charakteriſtik der Gattungen verlegt,
dabei aber den großen Fehler begangen, die ſpecifiſchen Verſchie-
denheiten innerhalb der Gattungen als Nebenſache zu behandeln.
Wie wenig Tiefe in Tournefort's botaniſchem Denken lag,
zeigt nicht nur ſeine in der That klägliche Blüthentheorie, deren
Fehlerhaftigkeit wie bei Rivin um ſo mehr auffällt, als er
ſein Syſtem auf die äußere Blüthenform gründete, ſondern noch
mehr der Ausſpruch am Ende ſeiner übrigens recht verdienſtlichen
Geſchichte der Botanik: Dieſe Wiſſenſchaft ſei ſeit dem Zeitalter
des Hippokrates in dem Grade gefördert worden, daß kaum
noch Etwas fehle außer einer genauen Aufſtellung der Gattungen.
Seine allgemeinen Sätze über die Aufſtellung des Syſtems ent-
halten neben manchem Guten, was jedoch meiſt nicht neu iſt,
[83]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
ſich vielmehr bei Moriſon, Ray und Rivinus beſſer findet,
wunderliche Mißgriffe; ſo ſchließt er z. B. denjenigen Pflanzen,
welche keine Blüthe und Frucht beſitzen, auch diejenigen an, bei
denen dieſe Theile nur unter dem Mikroskop zu erkennen ſind;
die Kleinheit gilt alſo gleich mit der Abweſenheit der Organe.
Die klägliche Beſchaffenheit ſeiner Blüthentheorie fällt um ſo
mehr auf, als damals (1700) bereits die trefflichen Unterſuchungen
Malpighi's und Grew's über den Blüthen- Frucht- und
Samenbau vorlagen und bereits Rudolph Jacob Camer-
arius ſeine Entdeckung der Sexualität im Pflanzenreich bekannt
gemacht hatte; von dieſer letzteren aber wollte Tournefort
ausdrücklich Nichts wiſſen. Der Vorwurf, die Vorarbeiten
Malpighi's und Grew's nicht benutzt zu haben, trifft Ri-
vinus und die Syſtematiker bis auf A. L. de Juſſieu in
ebenſo hohem Grade; wir haben da eben nur die erſten Bei-
ſpiele der ſpäter ſo oft bewährten Thatſache vor uns, daß die
Syſtematiker von Fach mit einer gewiſſen Aengſtlichkeit ſich von
den Ergebniſſen feinerer morphologiſcher Forſchung fern hielten
und wo möglich ihre Eintheilungsgründe von leicht wahrnehm-
baren Aeußerlichkeiten der Pflanze hernahmen, ein Verfahren,
welches mehr als Alles andere den Ausbau des Pflanzenſyſtems
aufgehalten hat.
Was nun das Syſtem Tournefort's betrifft, ſo iſt das-
ſelbe ein durchaus künſtliches, in wo möglich noch höherem Grade
als das des Rivinus und jedenfalls dem des Ray unter-
geordnet. Wenn wir auch einzelnen wirklich natürlichen Gruppen
begegnen, ſo kommt das einfach daher, daß eben in manchen
Familien die Gattungen in allen Merkmalen ſo übereinſtimmen,
daß ſie nothwendig vereinigt bleiben, gleichgiltig, ob man dieſes
oder jenes Merkmal herausgreift. Die bei Ray ſchon ganz von
den Phanerogamen geſchiedenen Cryptogamen, ſowie die Ein-
theilung der Holzpflanzen und Kräuter in Monocotylen und
Dicotylen finden wir bei Tournefort nicht reproducirt; trüge
ſein Hauptwerk, an welches wir uns hier halten, die Institutiones
rei herbariae, nicht die Jahreszahl 1700, ſo könnte man faſt
6*
[84]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur.
glauben, es ſei vor der Historia plantarum des Ray und vor
dem Hauptwerk des Rivinus geſchrieben. Doch iſt Ein Vorzug
von rein formaler Natur hervorzuheben: es herrſcht ſtrenge
Ordnung in dieſem Werke, jede Claſſe wird in Sectionen, dieſe
in Genera und dieſe in Species eingetheilt, zudem ſind die
einen ganzen Band füllenden Abbildungen von Blüthentheilen
und Blättern ſehr ſchön in Kupfer geſtochen, überſichtlich geordnet,
das Werk alſo in hohem Grade zum Nachſchlagen und zu raſcher
Orientirung geeignet. Um jedoch einen Begriff von dem Durch-
einander, das in verwandtſchaftlicher Beziehung in ſeinem Syſtem
herrſcht, zu gewinnen, brauchen wir nur die erſten drei Sectionen
ſeiner erſten Claſſe aufzuſchlagen, wo wir Atropa und Mandra-
gora in der erſten, Polygonatum und Ruscus in der zweiten,
Cerinthe, Gentiana, Soldanella, Euphorbia, Oxalis in der
dritten Section vereinigt finden. — Die Handlichkeit dieſes Buches
einerſeits, das geringe Intereſſe der meiſten damaligen Botaniker
für die natürliche Verwandtſchaft, das immer noch ſteigende
Intereſſe für die Einzelkenntniß der Pflanzen, haben es offenbar
verurſacht, daß Tournefort nicht nur in Frankreich, ſondern
auch in England, Italien und Deutſchland die meiſten Botaniker
für ſich gewann, daß ſein Syſtem ähnlich wie ſpäter dasLinné'ſche
Sexualſyſtem in den erſten drei bis vier Decennien des 18.
Jahrhunderts faſt allgemein den Darſtellungen zu Grunde gelegt
wurde. Unter andern entwarf Boerhave 1710 ein Syſtem,
welches als eine Combination deſſen von Ray mit dem von
Herrmann und Tournefort gelten kann, übrigens aber
weiter keinen Anklang fand.
Indem ich hiermit die Syſtematiker des 17. Jahrhunderts
verlaſſe, wende ich mich mit Uebergehung der bloßen Pflanzen-
ſammler der erſten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts nun-
mehr ſofort zu Linné.
Carl Linnaeus1), ſeit 1757 Carl von Linné genannt,
[85]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
wurde 1707 zu Rashult in Schweden, wo ſein Vater Prediger
war, geboren. Von dem begonnenen Studium der Theologie
zog ihn bald ſeine Vorliebe für die Botanik ab, in welcher ihn
Dr.Rothmann unterſtützte und auf Tournefort hinwies.
In Lund, wo er nun Medicin ſtudirte, lernte er Vaillant's
Vortrag de sexu plantarum kennen, durch den er auf die
Sexualorgane aufmerkſam gemacht wurde. Schon 1730 übertrug
der alte Profeſſor Rudbeck dem 23jährigen ſeine botaniſchen
Vorleſungen und die Verwaltung des botaniſchen Gartens und
ſchon hier begann Linné die Bearbeitung ſeiner Bibliotheca
botanica, der Classes plantarum und Genera plantarum..
Im Jahre 1732 machte er eine botaniſche Reiſe nach Lappland,
1734 nach Dalekarlien; 1735 ging er nach Holland, wo er
zunächſt promovirte, 3 Jahre blieb und die genannten Schriften,
das Systema naturae, die Fundamenta botanica u. a. drucken
ließ. Von hier aus beſuchte er auch England und Frankreich.
Im Jahre 1738 nach Stockholm zurückgekehrt, war er genöthigt,
als Arzt zu leben, bis er 1741 Profeſſor der Botanik in Upſala
wurde, wo er 1778 ſtarb.
Linné wird gewöhnlich als der Reformator der beſchreiben-
den Naturwiſſenſchaften bezeichnet, mithin die Anſicht ausgeſpro-
chen, daß mit ihm eine neue Entwicklungsreihe in der Geſchichte
unſerer Wiſſenſchaft beginnt, etwa ſo, wie mit Copernicus
eine neue Aſtronomie, mit Galiläi eine neue Phyſik begann.
Dieſe Auffaſſung der geſchichtlichen Stellung Linné's, wenigſtens
ſoweit es ſich um ſein Hauptfach, die Botanik, handelt, wird
aber nur derjenige hegen können, dem die Werke von Caeſalpin,
Jungius, Ray, Rivin nicht bekannt ſind oder der die in
Linné's theoretiſchen Werken reichlich vorhandenen Citate nicht
1)
[86]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
beachtet. Linné iſt vielmehr vorwiegend das letzte Glied der
Entwicklungsreihe, welche ſich in den eben genannten Männern
darſtellt; der ganze Geſichtskreis Linné's, der ganze Inhalt
ſeiner Gedanken ſind dieſelben, die Grundirrthümer jener Zeit
theilt Linné ebenfalls, ja er hat ganz weſentlich dazu beigetra-
gen, dieſe letzteren bis in das 19. Jahrhundert hinein fortzu-
pflanzen. Mit der Behauptung, daß Linné nicht den Anfang
einer neuen Entwicklungsperiode, ſondern den Abſchluß einer
älteren darſtellt, iſt aber keineswegs geſagt, daß ſeine Wirkſamkeit
für die ſpätere Zeit verloren geweſen ſei. Linné verhält ſich
zu den Syſtematikern der hier geſchilderten Periode eben ſo, wie
ſich Caspar Bauhin zu den Botanikern des 16. Jahrhunderts
verhält; wie dieſer alles Brauchbare ſeiner Vorgänger außer
Caeſalpin zuſammentrug und aus ihm wiederum die Botaniker
der zweiten Periode ſchöpften, obwohl ſie von ganz anderen Ge-
ſichtspuncten ausgingen; ebenſo hat Linné Alles, was die
Syſtematiker des 17. Jahrhunderts auf Grund Caeſalpin'ſcher
Ideen geleiſtet, in ſich aufgenommen, es zu einem Ganzen ver-
ſchmolzen, zu einem Lehrgebäude vereinigt, ohne im Grunde
etwas weſentlich Neues hinzuzubringen; in ihm gipfelte Alles,
was von Caeſalpin bis auf Tournefort an ſyſtematiſcher
Botanik ſich entwickelt hatte und die Reſultate, die er in ſehr
eigenthümlicher Form aber mit wahrer Meiſterſchaft zuſammen-
faßte, blieben für die ſpätere Entwicklung der Botanik eben ſo
wenig unfruchtbar, wie der Inhalt von Caspar Bauhin's
Werken für die Nachfolger des Caeſalpin.
Wer die Werke von Caeſalpin, Jungius, Moriſon,
Ray, Rivinus, Tournefort mit Linné's Fundamenten
der Botanik (1736), ſeinen Classres plantarum (1738), und
ſeiner Philosophia botanica (1751) ſorgfältig vergleicht, muß
ſich auf das Beſtimmteſte überzeugen, daß der ideelle Inhalt der
Linné'ſchen Theorien bereits in jenen Werken zerſtreut enthalten
iſt; wer ferner die Geſchichte der Sexualtheorie ſeit Rudolph
Jacob Camerarius (1694) verfolgt hat, muß zugeben, daß
Linné dieſer Theorie nicht das geringſte Neue hinzugefügt, daß
[87]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
er jedoch zu ihrer Anerkennung weſentlich beigetragen hat, obgleich
nicht geleugnet werden kann, daß er ſelbſt nach den Kölreuter'-
ſchen Arbeiten noch höchſt unklare, ja myſtiſche Vorſtellungen
von der Sexualität der Pflanzen hegte.
Was aber Linné dennoch eine ſo überwältigende Bedeutung
für ſeine Zeit gab, das iſt die geſchickte Zuſammenfaſſung Alles
deſſen, was vor ihm geleiſtet worden war; gerade dieſe Ver-
ſchmelzung des bisher Bekannten und Zerſtreuten iſt nicht nur
das Charakteriſtiſche bei Linné, ſondern auch zugleich ein großes
Verdienſt.
Caeſalpin trug zuerſt die ariſtoteliſche Denkweiſe in die
Botanik hinein; ſein Syſtem ſollte der Abſicht nach ein natür-
liches ſein, blieb aber ein äußerſt unnatürliches; Linné, dem
man überall den tiefen Eindruck anſieht, welchen Caeſalpin
auf ihn gemacht hat, behält das Bedeutendſte, erkennt aber, was
Keiner vor ihm erkannte, daß die Art von Syſtematik, wie ſie
Caeſalpin, Moriſon, Ray, Tournefort, Rivin getrie-
ben hatten, dem ihnen vorſchwebenden Zweck, nämlich der Auf-
findung der Verwandtſchaften, unmöglich genügen könne, daß
vielmehr auf dieſem Wege nur eine künſtliche und nützliche
Anordnung gewonnen wird, während die Darſtellung der natür-
lichen Verwandtſchaften auf ganz anderem Wege zu ſuchen iſt.
Was die Nomenclatur der Pflanzentheile betrifft, in welcher
ſich die damalige Morphologie erſchöpfte, ſo nimmt Linné den
ganzen Inhalt der Isagoge des Jungius in ſich auf, gibt
ihm aber eine überſichtlichere Form und bereichert die Blüthen-
theorie, indem er ohne Zögern die damals noch wenig beachtete
ſexuelle Bedeutung der Staubgefäße verwerthet und ſo eine
beſſere Geſammtauffaſſung der Blüthe gewinnt, die ihrerſeits
wieder ihre Früchte in einer eben ſo anſchaulichen als bequemen
Nomenclatur trägt: die noch jetzt in der Wiſſenſchaft gebräuch-
lichen Namen wie diöciſch, monöciſch, triandriſch, monogyniſch u. ſ. w.,
mittelbar auch die ſpäter erfundenen Ausdrücke: dichogamiſch,
protandriſch, protogyniſch u. dgl. verdanken ihre Entſtehung die-
ſer richtigen Auffaſſung der Geſchlechtsverhältniſſe der Pflanzen.
[88]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Aber auch ein großer Irrthum lief mitunter, der nicht wenig
dazu beigetragen hat, Linné's Ruhm zu vermehren.
Linné
nannte ſein künſtliches auf die Zahl, Verwachſung und Gruppirung
der Staubgefäße und Carpelle gegründetes Syſtem das Sexual-
Syſtem der Pflanzen, indem er die vermeintliche Vorzüglichkeit
desſelben darin fand, daß es auf Organe gegründet ſei, deren
Function die allergrößte Bedeutung beanſprucht. Es liegt aber
auf der Hand, daß das Linné'ſche Sexualſyſtem genau den-
ſelben claſſificatoriſchen Werth haben würde, wenn die Staub-
gefäße mit der Fortpflanzung gar nichts zu thun hätten oder
wenn die ſexuelle Bedeutung derſelben ganz unbekannt wäre.
Denn gerade diejenigen Merkmale der Staubgefäße, welche
Linné claſſificatoriſch verwerthet, ihre Zahl und Verwachſungs-
weiſe ſind für die Sexualfunction ſelbſt völlig gleichgiltig.
Wenn daher die Bedeutung dieſes künſtlichen Syſtems für
die Lehre von der Sexualität der Pflanzen auf einer Verſchiebung
und Verwirrung von Begriffen beruht, ſo iſt zugleich hervorzu-
heben, daß überhaupt der Verfolg der Wiſſenſchaft gezeigt hat,
wie Linné's Sexualſyſtem gerade deßhalb, weil die von ihm
benutzten Eigenſchaften der Staubgefäße von ihrer Function ganz
unabhängig ſind, vielfach zur Aufſtellung natürlicher Gruppen
führen mußte, denn wir dürfen es als ein wichtiges Ergebniß
betrachten, daß den größten claſſificatoriſchen Werth diejenigen
Eigenſchaften der Organismen darbieten, welche von den Func-
tionen der Organe ganz oder zum größten Theile unabhängig
ſind. Derſelbe Irrthum, welcher Caeſalpin dazu veranlaßte,
die functionelle Wichtigkeit der Fructificationstheile zum Princip
der Eintheilung zu machen, kehrt alſo bei Linné in anderer
Form wieder: um ein Eintheilungsprincip zu finden, wendet er
ſich an diejenigen Organe, deren Function ihm die wichtigſte
ſcheint, er nimmt aber die Merkmale nicht etwa von den Ver-
ſchiedenheiten der Function, ſondern von der Zahl und Verwachſungs-
weiſe, welche für die Sexualfunction ganz gleichgültig iſt. Ganz
demſelben Irrthum begegnen wir übrigens auch bei Leibnitz
und Burkhard, die ich hier nur deßhalb erwähne, um Linné
[89]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
gegen den ihm von ſeinen Zeitgenoſſen wiederholt gemachten
Vorwurf in Schutz zu nehmen, als ob er die Idee ſeines Sexual-
Syſtems dieſen beiden verdanke. Allerdings hatten ſie, ſowie
ſpäter Linné, in der großen phyſiologiſchen Bedeutung der
Sexualorgane irrthümlich den Grund gefunden, aus ihren Ver-
ſchiedenheiten die Eintheilungsgründe für ein Syſtem abzuleiten;
aber das war eben der Irrthum in der Sache; das richtige,
was nun Linné wirklich that, ſich nämlich für den Zweck der
Syſtematik an rein morphologiſche Eigenſchaften zu halten und
dieſe zweckmäßig zu verwerthen, das thaten jene nicht. Was
der berühmte Philoſoph 1) gelegentlich im Jahre 1701 über den
in Frage ſtehenden Gegenſtand äußerte, iſt übrigens ſo unbe-
deutend und unbeſtimmt, daß Linné keinesfalls viel daraus
entnehmen konnte; viel beſſer iſt freilich, was Burckhardt2) in
ſeinem oft genannten Briefe an Leibnitz 1702 in dieſer Be-
ziehung ſagt und ſtreift ſchon ungefähr den Gedanken Linné's;
aber von den dort gemachten Andeutungen bis zu dem durch-
geführten Aufbau eines wohlgegliederten und practiſch höchſt
brauchbaren Syſtem, wie es Linné erfand, iſt ein gar weiter Weg.
Einſeitig hatten die Botaniker des 16. Jahrhunderts und
im Grunde auch noch Moriſon und Ray den Schwerpunkt
ihrer Thätigkeit in die Unterſcheidung der Species, ebenſo hatten
Rivinus und Tournefort das Hauptgewicht in die Aufſtellung
der Gattungscharaktere mit Vernachläßigung der Species gelegt;
Linné verwendete dagegen dieſelbe Sorgfalt und viel größere
Kunſt auf die Beſchreibung ſowohl der Gattungen wie der Species.
Er brachte zu practiſcher Geltung, was Rivin als frommen
Wunſch oder als Vorſchrift aufgeſtellt hatte und ſo darf er,
wenn auch nicht als der Erfinder, ſo doch als der eigentliche Begrün-
der der binären Nomenclatur der Organismen betrachtet werden.
Wenn hier die Quellen nahmhaft gemacht wurden, aus
[90]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
denen Linné ſchöpfte, ſo wird damit nur eine Pflicht der
Geſchichtsſchreibung erfüllt; Mißverſtand wäre es, darin irgend
eine Beeinträchtigung des bedeutenden Mannes ſehen zu wollen,
wünſchenswerth iſt vielmehr, daß alle Naturforſcher gerade ſo,
wie Linné es gethan hat, das von ihren Vorgängern geleiſtete
Gute aufnähmen und es um ebenſo viel wie er förderten.
Linné ſelbſt hat die Quellen ſeines Wiſſens ſoweit ſie ihm
bekannt waren, wiederholt citirt und oft genug die Verdienſte
ſeiner Vorgänger mit einer Unbefangenheit gewürdigt, die nie-
mals eine Spur von Neid, wohl aber häufig eine enthuſiaſtiſche
Verehrung verräth, wie ganz beſonders die kurzen Charakteriſtiken
zeigen, welche er in den Classes plantarum den einzelnen Sy-
ſtemen vorausſchickt. Linné verſtand es, das Gute ſeiner Vor-
gänger nicht blos anzuerkennen und gelegentlich zu benutzen;
vielmehr wurden in ihm die Gedanken Anderer erſt lebendig
und fruchtbar, indem er ſie, wie ſeine eigenen Gedanken ver-
wendete, ihren principiellen Werth, ſoweit ſie ſolchen beſaßen,
überall zur Geltung brachte. Dieſe Lebensfriſche war es offen-
bar, durch welche ſich ſeine Nachfolger häufig zu dem Glauben
verleiten ließen, das Alles habe Linné ſelbſt erdacht und
erfunden. Was Caeſalpin und ſeine Nachfolger im 17.
Jahrhundert, ja ſogar was Caspar Bauhin geleiſtet, erkennt
man erſt recht deutlich bei der Lecture von Linné's Werken;
mit Bewunderung ſieht man hier längſt bekannte Gedanken jener
Männer, die dort aber unbedeutend und unvollendet auftreten,
bei Linné zu einem lebendigen Ganzen ſich geſtalten und inſo-
fern war Linné zugleich im beſten Sinne receptiv und produk-
tiv; und in der theoretiſchen Botanik hätte er vielleicht auf die-
ſem Wege noch Größeres geleiſtet, wenn er nicht in einem
großen Irrthum befangen geweſen wäre, der bei ihm noch viel
ſchärfer als bei ſeinen Vorgängern und Zeitgenoſſen hervortritt,
in dem Irrthum nämlich, als ob die höchſte und einzig würdige
Aufgabe darin beſtehen müſſe, alle Species des Pflanzenreichs
dem Namen nach genau zu kennen. Linné ſprach dies mit
aller Schärfe aus und ſeine Schule in Deutſchland und England
[91]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné
hielt daran ſo feſt, daß dieſe Meinung ſich auch im größeren
Publikum feſtſetzte und dieſes bis auf den heutigen Tag als
ſelbſtverſtändlich betrachtet, ein Botaniker ſei weſentlich dazu da,
jede beliebige Pflanze ſofort mit einem Namen zu bezeichnen.
Gleich ſeinen Vorgängern betrachtete auch Linné die Morpho-
logie, überhaupt die allgemeine theoretiſche Botanik nur als
Mittel zu dem Zweck, die Principien der Nomenclatur und der
Diagnoſtik aufzufinden, um ſo die Beſchreibung der Pflanzen zu
verbeſſern.
Das bisher über ihn Geſagte trifft übrigens vorwiegend
nur die Art und Weiſe, wie ſich Linné im Einzelnen bethätigte;
ſeinem innerſten Weſen nach war er aber Scholaſtiker, in viel
höherem Grade ſelbſt als Caeſalpin, welcher nicht ſowohl
Scholaſtiker als vielmehr Ariſtoteliker im ſtrengen Sinne des
Wortes genannt werden darf. Indem ich aber Linné's Denk-
weiſe als durchaus ſcholaſtiſch bezeichne, ſo iſt damit im
Grunde ſchon geſagt, daß er ein Naturforſcher im modernen
Sinne des Wortes nicht war; ich könnte darauf hinweiſen, daß
Linné nicht eine einzige irgend bedeutende Entdeckung, welche
auf das Weſen der Pflanzenwelt ein neues Licht wirft, gemacht
hat; das würde jedoch noch nicht beweiſen, daß er ein Schola-
ſtiker war.
Das Weſen echter Naturforſchung liegt darin, aus der
genauen und vergleichenden Beobachtung der Naturerſcheinungen
nicht nur überhaupt Regeln abzuleiten, ſondern diejenigen Mo-
mente aufzufinden, aus denen der cauſale Zuſammenhang, Urſache
und Wirkung ſich ableiten läßt. Indem die Forſchung nach
dieſer Methode verfährt, iſt ſie genöthigt, die vorhandenen Be-
griffe und Theorien beſtändig zu corrigiren, neue Begriffe und
neue Theorien aufzuſtellen und ſo unſer Denken dem Weſen der
Dinge mehr und mehr anzupaſſen; der Verſtand hat nicht den
Objecten, ſondern die Objecte dem Verſtande Vorſchriften zu
geben. Genau in entgegengeſetzter Weiſe verfährt die ariſtoteliſche
Philoſophie und ihre mittelalterliche Form, die Scholaſtik; bei
ihr handelt es ſich eigentlich gar nicht darum, durch die Forſchung
[92]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
neue Begriffe und neue Theorieen zu gewinnen, denn dieſe ſtehen
ein für allemal feſt; die Erfahrung muß ſich dem fertigen Ge-
dankenſyſtem fügen; was ſich nicht fügt, wird dialectiſch ſo lange
gedreht und gedeutet, bis es ſcheinbar in das Ganze hineinpaßt.
Die geiſtige Arbeit auf dieſem Standpunkte beſteht ganz weſent-
lich in dieſem Drehen und Wenden der Thatſachen, denn die
ganze Weltanſchauung ſelbſt iſt fertig und braucht nicht geändert
zu werden. Erfahrung in dem höheren Sinne der Naturforſchung
wird dadurch unmöglich gemacht, daß man die letzten Gründe
der Dinge ſämmtlich zu kennen glaubt; dieſe letzten Gründe und
Principien der Scholaſtik aber ſind im Grunde nur Worte mit
äußerſt unbeſtimmter Bedeutung, ihr Sinn beſteht in Abſtractionen,
die aus der alltäglichen, nicht wiſſenſchaftlich geläuterten, daher
ſchlechten Erfahrung ſprungweiſe abgeleitet ſind; und je weiter
die Abſtraction getrieben iſt, je weiter ſie ſich von der Hand der
Erfahrung entfernt, deſto ehrwürdiger und wichtiger erſcheinen
dieſe Abſtracta, über welche man ſich ſchließlich, jedoch wieder
nur durch Bilder und Metaphern gegenſeitig verſtändigen kann 1).
Die Wiſſenſchaft nach ſcholaſtiſcher Methode iſt ein Spiel mit
abſtracten Begriffen, der beſte Spieler der, welcher dieſelben
untereinander ſo zu verbinden weiß, daß die vorhandenen Wider-
ſprüche geſchickt verdeckt werden. Wogegen die echte Forſchung,
ſei es philoſophiſche oder naturwiſſenſchaftliche, gerade darauf aus-
geht, etwa vorhandene Widerſprüche ſchonungslos aufzudecken
und die Thatſachen ſo lange zu befragen, bis unſere Begriffe
ſich berichtigen und wenn es nöthig iſt, die ganze Theorie, die
ganze Weltanſchauung durch eine beſſere erſetzt wird. In der
ariſtoteliſchen Philoſophie und Scholaſtik ſind die Thatſachen
blos Beiſpiele zur Erläuterung feſtſtehender abſtracter Begriffe
für die Naturforſchung dagegen der fruchtbare Boden, aus wel-
chem beſtändig neue Vorſtellungen, Gedankenverbindungen, Theorieen
[93]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
und Weltanſchauungen hervorwachſen. Zu den ſchlimmſten Seiten
der Scholaſtik und ariſtoteliſchen Philoſophie gehört die Verwechs-
lung bloßer Begriffe und Worte mit dem objectiven Weſen der
durch ſie bezeichneten Dinge; beſonders gern leitete man das
Weſen der Dinge aus der urſprünglichen Bedeutung der Worte
ab und ſogar die Frage nach der Exiſtenz oder Nichtexiſtenz
eines Dinges wurde aus dem Begriffe desſelben beantwortet.
Dieſe Art des Denkens finden wir nun bei Linné überall da,
wo er nicht blos als Syſtematiker und Beſchreiber thätig iſt,
ſondern über das Weſen der Pflanzen und ihrer Lebenserſcheinungen
Auskunft geben will, ſo in ſeinen Fundamenten, der Philosophia
botanica und ganz beſonders in dem Amoenitates academicae.
Unter zahlreichen Beiſpielen ſei nur die Art hervorgehoben, wie
er die Sexualität der Pflanzen zu erweiſen ſucht. Linné kannte
und rühmte die Verdienſte des Rudolph Jacob Camera-
rius, der als echter Naturforſcher die Sexualität der Pflanzen
auf dem einzig möglichen Wege, dem des Experimentes, erwieſen
hatte; dieſer experimentelle Nachweis indeſſen läßt ihn kalt, er
erwähnt ihn nur ganz nebenbei, dagegen verwendet er ſeine
ganze Kunſt auf eine ächt ſcholaſtiſche Beweisführung, welche aus
dem Weſen der Pflanze die Exiſtenz der Sexualität als noth-
wendig erweiſen ſoll; er knüpft ſeine Beweisführung an den durch
unvollſtändige Induction gewonnenen Satz Harveys: omne
vivum ex ovo, den er offenbar für ein a priori feſtſtehendes
Princip hält und folgert nun daraus, daß auch die Pflanzen
aus einem Ei entſtehen müſſen, indem er überſieht, daß in dem
Satze omne vivum ex ovo die Pflanzen ohnehin ſchon die
Hälfte des omne vivum ausmachen; dann aber fährt er fort,
„daß die Pflanzen aus einem Ei entſtehen, lehrt uns die Ver-
nunft und die Erfahrung; die Cotyledonen beſtätigen es“ Ver-
nunft, Erfahrung und Cotyledonen! das iſt gewiß eine ſehr
merkwürdige Zuſammenſtellung von Gründen. Zuerſt hält er
ſich im folgenden Satz an die Cotyledonen, welche nach ihm bei
den Thieren aus dem Eidotter hervorkommen, in welchem ſich
der Lebenspunct befinde; folglich, ſagt er, ſind die Samenblätter
[94]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
der Pflanzen, welche das corculum umhüllen, dasſelbe; daß
nun aber der Nachkomme nicht blos aus dem Ei, auch nicht
aus dem männlichen Befruchtungsſtoff, ſondern gleichzeitig aus
beiden gebildet wird, das zeigen die Thiere, die Baſtarde, die
Vernunft und die Anatomie. Was nun die Vernunft in
dieſem und dem vorigen Satze betrifft, ſo verſteht er darunter
die aus dem Weſen, d. h. dem Begriff der Sache gefolgerte
Nothwendigkeit, daß es eben ſo ſein müſſe; die Thiere liefern
ihm die Analogie und was die Anatomie betrifft, ſo kann dieſe
eben nichts beweiſen, ſo lange nicht bekannt iſt, welchen Zweck
die anatomiſchen Einrichtungen haben; die ſchwächſte Seite dieſes
Beweiſes aber liegt in den Baſtarden, denn von dieſen kannte
Linné, als er die Fundamente ſchrieb, nur die Maulthiere;
pflanzliche Hybriden wurden erſt 1761 von Köhlreuter be-
ſchrieben von denen aber Linné keine Notiz nahm und was es
mit den pflanzlichen Hybriden auf ſich hat, die Linné ſelbſt
ſpäter beobachtet haben wollte, die aber nicht exiſtiren, werden
wir in der Geſchichte der Sexualtheorie noch erfahren, hier nur
ſo viel davon, daß er die Exiſtenz dieſer Hybriden gerade ſo aus
dem Begriff der Sexualität ableitet, wie hier die Sexualität
aus dem Begriff der Hybridation gefolgert wird. Nun geht es
in ſeiner Beweisführung weiter: „daß ein unbefruchtetes Ei
keime, wird durch die Erfahrung verneint, dementſprechend auch
die Eier 1) der Pflanzen — jede Pflanzenart iſt mit Blüthe und
Frucht ausgeſtattet, auch wo das Auge ſie nicht bemerkt“, was
natürlich im Sinne Linné's auch wieder aus dem Begriff der
Pflanze oder des Eies vernunftgemäß folgt; er führt allerdings
auch Beobachtungen an, die aber nicht richtig ſind. Nun aber
heißt es weiter: „die Fruchtification beſteht in den Geſchlechts-
organen der Blüthen; daß die Antheren die männlichen Organe,
der Pollen der Befruchtungsſtoff ſei, geht aus ihrem Weſen
[95]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné
hervor, ferner daraus, weil die Blüthe der Frucht vorausgeht;
ferner aus ihrer Stellung, der Zeit, den Loculamenten (der An-
theren), ferner aus der Caſtration und der Structur der Pollens.“
Die Hauptſache iſt ihm auch hier das Weſen der männlichen
Organe und damit man wiſſe, was dieſes Weſen ſei, verweiſt
er auf einen früheren Satz, wo wir die Belehrung finden, daß
die Eſſenz der Blüthe in Anthern und Stigma beſtehe. Auf
ſolchen Cirkelſchlüſſen und Beweisführungen aus dem zu Bewei-
ſenden beſtehen faſt alle Demonſtrationen Linné's. Zugleich
wird das Mitgetheilte zeigen, wie groß ſeine Verdienſte um
die Lehre von der Sexualität geweſen ſind; dieſe ganze Sophiſtik
aber findet ſich noch viel ausführlicher in dem Aufſatz sponsalia
plantarum (amoenitates I. p. 77) und noch viel ſchlimmer
ſieht es aus in dem Aufſatz plantae hybridae (Amoen. III.
p. 29). Das Linné nicht die entfernteſte Ahnung davon hatte,
wie man nach den Grundſätzen ſtreng inductiver Forſchung die
Exiſtenz einer hypothetiſch angenommenen Thatſache erweiſt,
zeigt neben dieſen und zahlreichen anderen Beiſpielen auch ſeine
Unterſuchung über die Samen der Mooſe (amoenitates II. p.
266), auf die er ſich nicht wenig einbildete, die aber ſelbſt für
jene Zeit (1750) ganz unglaublich ſchlecht iſt. Ueberhaupt war
es Linné's Sache nicht, ſich mit dem, was wir eine Unter-
ſuchung nennen, zu befaſſen; was dem erſten prüfenden Blick
entging, das ließ er ruhig liegen; Erſcheinungen, die ihn
intereſſirten, etwa auf ihre Urſachen zu unterſuchen, fiel ihm gar
nicht ein: er claſſificirte ſie und damit war die Sache abgethan;
wie z. B. in ſeinem somnus plantarum, wie er die periodiſchen
Bewegungen der Pflanzen nannte. Wenn man ſich längere Zeit
mit der Lectüre der Philosophia botanica und der Amoenitates
beſchäftigt, fühlt man ſich durch die Art der Scholaſtik und
Sophiſtik, auf welche hier Alles hinausläuft, in die Literatur
des Mittelalters verſetzt und doch ſtammen dieſe Schriften
Linné's aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, aus einer
Zeit, wo Malpighi, Grew, Rud. Jakob Camerarius,
Hales bereits muſterhafte Unterſuchungen durchgeführt hatten
[96]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
und wo ſeine Zeitgenoſſen Duhamel, Kölreuter u. a. nach
den Principien ächter Naturforſchung experimentirten. Beachtet
man dieſe Eigenthümlichkeit Linné's, ſo wird es erklärlich,
warum Männer, wie Buffon, Albert Haller, Kölreuter
ihn mit einer gewiſſen Nichtachtung behandelten; erklärlich wird
es aber auch, wie die ſtricten Anhänger Linné's in Deutſch-
land, die ſich ganz weſentlich nur von ſeinen Schriften nährten
und das wirklich Gute, was in Linné lag, von ſeiner Sophiſtik
nicht zu ſondern wußten, ſchließlich dahin kommen konnten, daß
ihre Botanik allem Andern mehr, als einer Naturwiſſenſchaft
ähnlich ſah. In der That lag für ſchwache Geiſter in Linné's
Führerſchaft etwas ſehr Gefährliches, denn mit ſeiner wunder-
lichen Logik, die ſelbſt auf dem Gebiet der Scholaſtik mit zum
Schlechteſten zählen dürfte, verband Linné die glänzendſten
Eigenſchaften eines descriptiven Naturforſchers: Nicht blos der
ungeheure Umfang ſeiner Specialkenntniß, ſondern ganz beſonders
die überlegene Sicherheit, womit er die Syſtematik beherrſchte,
konnten nicht verfehlen, allen denen im höchſten Grade zu impo-
niren, welche eben in dieſen Eigenſchaften allein die Bedeutung
des Naturforſchers erblickten. Zu ſeinen beſten Talenten gehörte
ohne Zweifel die Gabe, die Species und Gattungen des Pflanzen-
und Thierreichs mit wenigen Merkmalen ſchlagend zu charakteriſiren,
die Diagnoſen mit einem Minimum von Worten herzuſtellen;
in dieſer Beziehung wurde er das unerreichte Vorbild aller ſpä-
teren Botaniker.
Ueberhaupt lag Linné's Ueberlegenheit ganz und gar
in der ihm angebornen Befähigung, Alles, womit er ſich beſchäf-
tigte, mit Geſchick und Klarheit der Diſtinction zu klaſſificiren;
bei ihm wurde, ſo zu ſagen, die ganze Logik in die Thätigkeit
des Claſſificirens, des Coordinirens, Subordinirens, verwandelt.
In dieſer Weiſe behandelte er nicht nur die Naturkörper, ſondern
überhaupt Alles, worüber er ſchrieb. Die ſyſtematiſchen Botaniker,
von denen er in den Classes plantarum ſpricht, werden ſofort
ſelbſt claſſificirt in Fructiſten, Corolliſten, Calyciſten. Die Männer,
welche ſich irgend wie mit Botanik beſchäftigen, werden in 2 große
[97]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Claſſen eingetheilt, in wahre Botaniker und in bloße Botanophili,
zu denen er ſehr charakteriſtiſch für ſeine Denkweiſe die Ana-
tomen, Gärtner und Mediciner rechnet. Die wahren Botaniker
aber ſind wieder entweder bloße Sammler oder Methodiker. Zu
den Sammlern gehören alle, welche die Zahl der bekannten
Species vermehren, auch die Monographen, Floriſten und Rei-
ſenden, die man jetzt gewöhnlich, höflicher als Linné, Syſte-
matiker zu nennen pflegt. Unter Methodikern verſteht Linné
diejenigen, welche die Eintheilung und die ihr entſprechende Be-
nennung der Pflanzen beſorgen, ſie zerfallen aber in Philoſophen
Syſtematiker und Nomenclatoren; die erſteren ſind nämlich die-
jenigen, welche die Botanik nach Vernunftgründen und nach
Beobachtungen theoretiſch behandeln, ſie zerfallen wieder in Ora-
toren, Inſtitutoren, Eryſtici und Phyſiologen; unter dieſen
letzteren verſteht er diejenigen, welche das Myſterium der Sexua-
lität bei den Pflanzen enthüllten, Malpighi, Hales u. dergl.
ſind alſo nach Linné keine Phyſiologen. Die zweite Gattung
der Methodiker, die Syſtematiker nämlich, theilt er in die beiden
Species, Orthodoxe und Heterodoxe, von denen jene die Ein-
theilungsgründe ausſchließlich von der Fructification entnehmen,
dieſe aber auch andere Merkmale benutzen; in dieſer Weiſe be-
handelt Linné Alles, worauf er zu reden kommt und wenn
irgend möglich in ganz kurzen numerirten Sätzen, die ſich dann
immer ſelbſt wie Gattungs- und Speciesdiagnoſen ausnehmen.
Wie überhaupt ſein ganzes inneres Weſen ſchon fertig ausge-
bildet war, als er 1736 die Fundamente ſchrieb, ſo behielt er
auch die eigenthümliche Schreibweiſe immer bei und ſelbſt in dem
erwähnten Nachlaß moraliſch-religiöſen Inhaltes an ſeinen Sohn
in der Nemesis divina finden wir genau dieſelbe Ausdrucks-
weiſe wieder. Wo dieſelbe hinpaßt, macht ſie in der That den
beſten Eindruck, ſo z. B. in den kurzen Charakteriſtiken der
einzelnen Syſteme in ſeinen Classes plantarum, einem Werk,
wo ſich Linné ganz in ſeinem Elemente fühlt, wo er mit
ſeinem Inſtinkt aus jedem Syſtem die leitenden Principien,
ſeine Vorzüge und Mängel erkennt und mit epigrammatiſch zu-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 7
[98]die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
geſchärfter Kürze in einem Minimum von Worten dem Leſer in
numerirten Sätzen vorführt. Dieſe eigenthümliche ſtyliſtiſche Form,
die er auch in der Philosophia ſtreng durchführt, hat gewiß
nicht wenig dazu beigetragen, ſeine zahlreichen logiſchen Fehler,
ganz beſonders ſeine häufig wiederkehrenden Cirkelſchlüſſe der
Aufmerkſamkeit der Leſer zu entziehen.
Die ganze merkwürdige Miſchung von dilettantenhafter
Philoſophie mit jener Meiſterſchaft im Claſſificiren der Dinge
und Begriffe, dieſes Gemenge von eigenthümlicher Conſequenz in
ſeinen ſcholaſtiſchen Grundanſchauungen, mit groben Denkfehlern
gibt ſeinem Styl überall etwas auffallend Originelles, was noch
dadurch erhöht wird, daß er ſeine Ausdrucksweiſe durch eine
eigenthümliche friſche Unmittelbarkeit und nicht ſelten eine ge-
wiſſe Poeſie belebt.
Verſucht man es nun, den Fortſchritt zu bezeichnen, welchen
die Wiſſenſchaft der Thätigkeit Linné's verdankt, ſo ſind es
zwei Verdienſte, welche vor Allem hervorgehoben werden müſſen;
zuerſt die ſtrenge Durchführung der binären Nomenclatur in
Verbindung mit der ſorgfältigen methodiſchen Charakteriſtik der
Gattungen und Arten, die er auf das ganze damals bekannte
Pflanzenreich auszudehnen ſuchte, ſo daß durch ihn die deſcriptive
Botanik im engeren Sinn eine völlig neue Form gewann, eine
Form, welche nun auch bei der Begründung und dem weiteren
Ausbau des natürlichen Syſtems ohne jede Einſchränkung be-
nutzt werden konnte und die zugleich das Vorbild für die Be-
nennung und Charakteriſtik der größeren Gruppen des natürlichen
Syſtems wurde; als ſpäter Juſſieu und De Candolle die
Familien und Gruppen von Familien charakteriſirten, war es
in der Hauptſache dasſelbe Verfahren, wie es Linné bei der
Charakteriſtik der Gattungen durch Abſtraction von den ſpecifi-
ſchen Merkmalen eingeſchlagen hatte. Dieſes Verdienſt Linné's
iſt überall unbeſchränkt anerkannt worden; weniger dagegen ſein
zweites, auf welches mindeſtens derſelbe Werth zu legen iſt, das
Verdienſt, zuerſt erkannt zu haben, daß auf dem von Caeſal-
pin und ſeinen Nachfolgern betretenen Wege, durch a priori
[99]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
feſtgeſtellte Merkmale ein Syſtem zu ſchaffen, welches den natür-
lichen Verwandtſchaften gerecht werden ſoll, nicht vorwärts zu
kommen iſt; er ſtellte nicht blos ſein künſtliches Sexual-
ſyſtem auf, ſondern neben dieſem das Fragment eines natür-
lichen Syſtems; und zu den verſchiedenſten Zeiten hob er
immer wieder hervor, das natürliche Syſtem aufzufinden ſei die
Hauptaufgabe der Botanik. Damit war die Situation für
die Syſtematik geklärt. Er ſelbſt benutzte ſein Sexualſyſtem
bloß deßhalb, weil es äußerſt bequem für die Einzelbeſchreibung
ſich brauchen ließ, den eigentlich wiſſenſchaftlichen Werth aber
verlegte er ausſchließlich in das natürliche Syſtem und wie viel
er auch in dieſer Richtung leiſtete, iſt daraus zu entnehmen, daß
Bernard de Juſſieu ſeine allerdings viel beſſere Familien-
reihe nach dem Linné'ſchen Fragment aufſtellte und daß
auf dieſe Weiſe ſein Neffe A. L. de Juſſieu die Hauptidee,
welche dem natürlichen Syſtem zu Grunde liegt, einfach aufzu-
nehmen brauchte, um ſie weiter zu führen.
Um den Inhalt der theoretiſchen Botanik Linné's in
ſeinen Hauptzügen kennen zu lernen, wendet man ſich am beſten
an die Philosophia botanica, die man als ein Lehrbuch deſſen,
was Linné Botanik nannte, betrachten kann; und in dieſem
Sinne, zumal was die Ueberſichtlichkeit und Präciſion in der
Behandlung des Stoffes betrifft, ebenſo in der Reichhaltigkeit
des Materials läßt dies Buch alles Frühere derart weit hinter
ſich; was noch mehr ſagen will, in den neunzig Jahren nach
1751 iſt kaum ein Lehrbuch der Botanik mehr erſchienen, welches in
demſelben Grade das jeweilig vorhandene Wiſſen ſo vollſtändig
und ſo überſichtlich behandelt hätte. Um den Leſer einigermaßen
in die Behandlungsweiſe einzuführen, übergehe ich die erſten
Capitel, welche die botaniſche Literatur und die verſchiedenen
bis dahin aufgeſtellten Syſteme behandeln, um mich ſofort
zu dem dritten Capitel, welches unter der Ueberſchrift
Plantae die Geſammtnatur der Pflanzen und ſpeciell die Vege-
7*
[100]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
tationsorgane behandelt, zu wenden. Die Vegetabilien um-
faſſen ſieben Familien, heißt es daſelbſt, die Pilze,
Algen, Mooſe, Farne, Gräſer, Palmen und Pflanzen.
Die Vegetabilien beſtehen aber aus dreierlei Arten von
Gefäßen, den Saftgefäßen, welche die Flüſſigkeit bewegen, den
Schläuchen, welche den Saft in ihren Höhlungen conſerviren
und den Tracheen, welche Luft anziehen. Sätze, welche Linné
aus Malpighi und Grew entlehnt. Von den genannten
ſieben Familien werden die Pilze nicht durch Merkmale charak-
teriſirt, von den Algen heißt es, bei ihnen ſei Wurzel, Blatt
und Stamm in Eins verſchmolzen; den Mooſen wird eine Anthere ohne
Filament, welche von der weiblichen, eines Piſtills entbehrenden
Blüthe getrennt iſt, zugeſchrieben; die Samen dieſer Mooſe ent-
behren einer Schale und der Cotyledonen; verſtändlich wird dieſe
Charakteriſtik der Mooſe erſt durch Linné's oben erwähnte Ab-
handlung semina muscorum in der amoen. acad. II. Für die
Farne wird als Characteriſtik die Fructification auf der Unter-
ſeite der Wedel (die alſo nicht als Blätter aufgefaßt werden)
angeführt. Die ſehr einfachen Blätter, der gegliederte Halm,
der calyx glumosus und der vereinzelte Same charakteriſiren
die Familie der Gräſer. Der einfache Stamm, die Blattroſette
am Gipfel, die spatha des Blüthenſtandes ſind der Charakter
der Palmen. Alle übrigen Vegetabilien, welche in die vorigen
Familien nicht eintreten, werden Pflanzen genannt. Ihre bis-
herige Eintheilung, in Kräuter, Sträucher und Bäume wird als
eine nicht wiſſenſchaftliche abgewieſen. Dieſe Eintheilung des
ganzen Pflanzenreiches iſt nicht mit Linné's Fragment eines
natürlichen Syſtems zu verwechſeln, in welchem er vielmehr 67
Familien (Ordnungen) aufführt, unter denen allerdings auch die
Pilze, Algen, Mooſe, Farne, als ſolche figuriren. An dieſer
Stelle hat Linné dieſelben Abtheilungen offenbar nur deßhalb
angeführt, um darauf aufmerkſam zu machen, in wie weit die
folgenden Sätze auf alle Vegetabilien oder nur auf gewiſſe Ab-
theilungen derſelben anzuwenden ſind. Die Theile der Vegeta-
bilien, welche der Anfänger zuerſt zu unterſcheiden hat, ſind drei:
[101]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
die Wurzel, das Kraut1)und die Fructifications-
theile, mit welcher Eintheilung Linné von ſeinen Vorgängern,
bei denen die Fructification mit dem Kraut zuſammen der
Wurzel entgegengeſtellt wird, abweicht. Das Vegetabil beſteht
nun aus dem Mark, welches mit dem Holz umkleidet iſt, das
ſeinerſeits aus dem Baſt entſteht, der Baſt aber trennt ſich von
der Rinde ab, welche mit der Epidermis überzogen iſt; auch dieſe
anatomiſchen Sätze ſtammen von Malpighi; von Mariotte
dagegen iſt der Satz entlehnt, das Mark wachſe, indem es ſich
ſelbſt und ſeine Umhüllungen ausdehnt. Die Anſicht des Caeſal-
pin über die Knoſpenbildung ſpricht Linné in dem Satze aus:
das Ende eines Markfadens, welches durch die Rinde hervortritt,
löſt ſich in eine Knoſpe auf u. ſ. w. Die Knoſpe iſt ein zu-
ſammengedrängtes Kraut und dehnt ſich unbegrenzt aus, bis die
Fructification der bisherigen Vegetation ein Ziel ſetzt. Die Fruc-
tification entſteht dadurch, daß die Blätter zu einem Kelch zu-
ſammentreten, aus welchem die Spitze eines Zweiges als Blüthe
um ein Jahr verfrüht hervorbricht, während die Frucht aus der
Markſubſtanz entſtehend ein neues Leben nicht beginnen kann,
wenn nicht vorher die Holzſubſtanz der Staubgefäße von der
Piſtillflüſſigkeit abſorbirt worden iſt. So legte ſich Linné
Caeſalpin's Blüthentheorie zurecht, um gleichzeitig der von
Camerarius entdeckten ſexuellen Bedeutung der Staubgefäße
Rechnung zu tragen. — Eine neue Schöpfung, heißt es zum
Schluß, giebt es nicht, ſondern nur eine kontinuirliche Generation,
was mit dem merkwürdigen, ganz auf Caeſalpin'ſchen
Anſchauungen beruhenden Zuſatz bewieſen wird: cum corculum
seminis constat parte radicis medullari.
Die Wurzel, welche die Nahrung aufſaugt und das Kraut
mit der Fructification producirt, beſteht aus Mark, Holz, Baſt,
Rinde und wird in die beiden Theile caudex und radicula
eingetheilt. Der caudex entſpricht ungefähr unſerer Hauptwurzel
[102]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
und den Rhizomen, während die radicula ungefähr das bedeutet,
was wir jetzt Nebenwurzel nennen.
Das Kraut iſt derjenige Theil eines Vegetabils, welcher
aus der Wurzel entſpringt und von der Fructification begrenzt
iſt; es beſteht aus dem Stamm, den Blättern, den Blattſtützen
(fulcrum) und den Ueberwinterungsorganen (hibernaculum).
Es folgen nun die weiteren Diſtinctionen des Stammes und der
Blätter; die noch jetzt zum Theil übliche Nomenclatur wird hier,
im Weſentlichen auf die Definitionen des Jungius geſtützt, mit
großer Ausführlichkeit aufgeſtellt. Der merkwürdigen, auf die
Symmetrieverhältniſſe gegründeten Unterſcheidung von Stamm und
Blatt bei Jungius erwähnt Linné jedoch nicht, wie er über-
haupt in ſeiner Nomenclatur weniger tiefe Auffaſſung als dieſer
verräth, ſich mehr an die unmittelbar ſinnliche Wahrnehmung
hält und ſo Vieles unterſcheidet, was objektiv gleichartig iſt.
Davon giebt ſogleich der die fulcra behandelnde Paragraph Bei-
ſpiele; mit dieſem Terminus bezeichnet er nämlich Hülfsorgane
der Pflanze, zu denen er die Nebenblätter, Deckblätter, Dornen,
Stacheln, Ranken, Drüſen und Haare rechnet. Es geht daraus
hervor, daß Linné den Begriff Blatt (folium) nicht auf die
Deckblätter und Nebenblätter ausdehnte und die für die Ranken
aufgeführten Beiſpiele zeigen zugleich, daß er die ganz verſchiedene
morphologiſche Bedeutung einer ſolchen bei Vitis und bei Pisum
durchaus nicht kannte. Die Zuſammenſtellung der genannten
ſieben Organe unter dem Begriff fulcrum zeigt recht deutlich,
wie Linné bei der Aufſtellung ſeiner Nomenclatur nur darauf
ausging, das ſinnlich Verſchiedene mit beſtimmten Worten zu be-
zeichnen, um ſo die Mittel zu einer kurzen Diagnoſe der Species
und Gattungen zu gewinnen; ihm lag es fern, aus der ver-
gleichenden Formbetrachtung der Pflanzen allgemeinere Sätze ab-
zuleiten, um ſo einen tieferen Einblick in die Natur der Pflanze
zu gewinnen. Dasſelbe erkennt man in der Aufſtellung des Be-
griffes hibernaculum, worunter er einen Theil der Pflanze
verſteht, welcher das noch embryonale Kraut umſchließt und vor
äußerer Unbill ſchützt; er unterſcheidet hier die Zwiebel und die
[103]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Winterknoſpe der Holzpflanzen. Auf dieſem Wege, wo morpho-
logiſche und biologiſche Beziehungen der Organe vermengt werden,
folgten ihm übrigens die Botaniker bis tief in unſer Jahrhun-
dert hinein.
Ueber ſeine Vorgänger geht Linné weit hinaus in der
Unterſcheidung und Benennung der Fructificationsorgane, von
denen das vierte Capitel der Philosophia botanica handelt.
Die Fructification der Vegetabilien, ſagt er, iſt ein
temporärer Theil, der Fortpflanzung gewidmet,
welcher das Alte begrenzt, das Neue beginnt. Er
unterſcheidet folgende ſieben Theile: 1) den Kelch, welcher die
Rinde in der Fructification vergegenwärtigt, dahin rechnet er
jedoch auch das involucrum der Umbelliferen, die spatha,
die calyptra der Mooſe und ſogar die volva gewiſſer Hutpilze;
abermals ein Beweis, wie ſich Linné bei ſeiner Nomenclatur
der Pflanzentheile ganz von Aeußerlichkeiten leiten ließ. 2) Die
Blumenkrone, welche den Baſt der Pflanze in der Blüthe
repräſentirt. 3) Das Staubgefäß, welches den Pollen er-
zeugt. 4) Das Piſtill, welches der Frucht anhängend den Pollen
aufnimmt; hier wird zuerſt der Fruchtknoten, Griffel und Narbe
deutlich unterſchieden. Nun aber kommt wieder als beſonderes
Organ 5) das Perikarpium, der die Samen enthaltende
Fruchtknoten. Wie Zwiebel und Knoſpe nicht einfach als junge
Sproſſe, ſondern neben dieſen als eigenartige Organe behandelt
werden, ſo wird alſo hier auch die reife Frucht nicht blos als
der weiter ausgebildete Fruchtknoten, ſondern als eigenartiges Organ
betrachtet. Doch iſt die Unterſcheidung der verſchiedenen Fruchtformen
Linné's ſchon viel beſſer als bei ſeinen Vorgängern. 6) Der
Same iſt ein abfallender Theil der Pflanze, das Rudiment
einer neuen, welches durch den Reiz des Pollens belebt worden
iſt. Die Behandlung des Samens und ſeiner Theile gehört zum
Allerſchwächſten, was Linné geleiſtet hat; obgleich auf Cae-
ſalpin geſtützt, iſt das, was er über die Theile des Samens
ſagt, doch viel mangelhafter als bei dieſem und deſſen Nachfolgern.
Der Embryo wird als corculum bezeichnet und an ihm die
[104]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
plumula und das rostellum (Würzelchen) unterſchieden. Dem
corculum coordinirt, alſo nicht als Theil des Embryos, ſondern
als ein beſonderes Organ des Samens figurirt hier der Coty-
ledon, deſſen Definition mit den Worten: corpus laterale
seminis, bibulum caducum gegeben wird. Schlechter konnte
man es unmöglich machen und kaum glaublich ſcheint es, daß
eine ſo ſchlechte Definition und Diſtinction 1751 und noch 1770
von dem damals hervorragendſten Botaniker gegeben werden
konnte, nachdem Malpighi und Grew beinahe hundert Jahre
früher auf zahlreichen Kupfertafeln die Theile des Samens und
ſogar ſchon die Entwicklungsgeſchichte und die Keimung desſelben
erläutert hatten. Des Endoſperms, welches Linné offenbar
mit dem Cotyledon confundirt, thut er keine Erwähnung, obgleich
ſchon Ray dasſelbe von den übrigen Samentheilen gut unter-
ſchieden hatte. Was weiter oben über Linné's Unfähigkeit,
einigermaßen ſchwierig zu beobachtende Dinge ſorgfältig zu un-
terſuchen, geſagt wurde, findet hier bei ſeiner Nomenclatur der
Samentheile mehr als hinreichende Beſtätigung. Dem bereits
Geſagten gegenüber will es nicht viel bedeuten, daß er wie die
meiſten früheren Botaniker die einſamigen Schließfrüchte als
Samen behandelt, dem entſprechend auch den pappus als Samen-
theil aufführt. Unter 7) receptaculum verſteht er Alles, wo-
durch die Fructificationstheile unter einander verbunden werden,
außer dem receptaculum proprium, welches die Theile einer
einzelnen Blüthe verbindet, auch das receptaculum commune,
worunter er die mannigfaltigſten Inflorescenzen (Umbella,
Cyma, Spadix) zuſammenfaßt.
Das Weſen der Blüthe, heißt es ſchließlich, beſteht in der
Anthere und dem Stigma; das der Frucht im Samen; das der
Fructification in Blüthe und Frucht und das der Vegetabilien
in der Fructification. Hierauf folgt nun eine lange Reihe Un-
terſcheidungen und Benennungen der Fructificationsorgane, unter
denen ſchließlich auch die von Linné zuerſt unterſchiedenen Nec-
tarien genannt werden.
Ueber ſeine Anſicht von der Sexualität der Pflanzen,
[105]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
welche er nun im fünften Capitel behandelt, wurde ſchon oben
Einiges mitgetheilt, um zu zeigen, wie Linné ſich bezüglich der
Thatſache der Sexualität ſelbſt ganz weſentlich auf nichtsſagende
ſcholaſtiſche Deductionen ſtützte. Hier mögen noch einige ſeiner
ſpäter berühmt gewordenen Sätze kurz erwähnt werden. — Am
Anfang der Dinge, heißt es, wurde, wie wir annehmen, von jeder Spe-
cies der Lebeweſen ein einziges Paar von Geſchlechtern geſchaffen.
— Die Vegetabilien entbehren der Empfindung, daß ſie aber
gleich den Thieren leben, beweiſt ihre Entſtehung, das Altern
(aetas), die Bewegung, der Trieb (propulsio), die Krankheit,
der Tod, die Anatomie, die organiſche Struktur (organismus).
Für dieſe Worte werden nun einfache Worterklärungen gegeben,
die in der Frage Nichts beweiſen. — Im Verfolg wird die
ganze Sexualitätstheorie, wie weiter oben bereits gezeigt, überall
auf ſcholaſtiſche Beweiſe ſich ſtützend vorgetragen, dabei zugleich
die Parallele zwiſchen thieriſchen und vegetabiliſchen Sexualver-
hältniſſen bis zum Uebermaaß ausgeſponnen. Dieſes Capitel
der Philosophia botanica iſt es offenbar, neben ſeiner Abhand-
lung „Sponsalia plantarum“, welches die Anhänger Linné's,
denen die ältere Literatur unbekannt war und denen die ſchola-
ſtiſche Gewandtheit Linné's gerade hier imponirte, veranlaßte,
in ihm den Begründer der Sexualtheorie der Pflanzen überhaupt
zu feiern, während ein ſorgfältigeres Studium der Geſchichte
unwiderleglich zeigt, daß Linné auf dieſe Weiſe zwar zur Ver-
breitung der Lehre, aber abſolut Nichts zur Begründung der-
ſelben beigetragen hat.
Bei allem bisher Mitgetheilten handelte es ſich um die
Natur der Pflanze ſelbſt und Alles, was Linné darüber wußte,
iſt vor ihm erforſcht und erdacht worden; gerade bei dieſer Ge-
legenheit zeigt ſich überall das Eigenthümliche der Linné' ſchen
Scholaſtik im Gegenſatz zu den inductiv gewonnenen Thatſachen,
die er ſeinen Leſern überliefert. Die ſtarke Seite ſeiner Natur
macht ſich dagegen in den folgenden Capiteln der Philo-
sophia botanica, welche die Grundlagen der Syſtematik behan-
deln, in glänzender Weiſe geltend, hier, wo es ſich nicht mehr
[106]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
darum handelt, Thatſachen feſtzuſtellen, ſondern Vorſtellungen
und Begriffe zu ordnen, zu disponiren und zu ſubſummiren,
finden wir Linné ganz in ſeinem Element.
Das Fundament der Botanik, beginnt er, iſt ein zwiefaches,
die Eintheilung und die Benennung. Als theoretiſche Eintheilung
betrachtet er die Aufſtellung von Claſſen, Ordnungen, Gattungen;
als practiſche die Aufſtellung von Species und Varietäten. Jene,
welche Caeſalpin, Moriſon, Tournefort u. a. ausbil-
deten, führt zur Aufſtellung eines Syſtems; die bloße Praxis
der Speciesbeſchreibung könne auch von ſolchen geübt werden,
die von der Syſtematik Nichts verſtehen. Dieſe Aeußerungen
Linné's ſind inſofern von großem Intereſſe, als ſie gleich
anderen ſeiner Bemerkungen beweiſen, daß er die eigentliche
Syſtematik, welche ſich mit der Aufſtellung und Anordnung der
größeren Gruppen beſchäftigt, höher ſtellt, als die bloße Unter-
ſcheidung einzelner Formen; ſeine Nachfolger allerdings haben
zum großen Theil dieſe Lehre des Meiſters vergeſſen, ihnen galt
das bloße Sammeln und Unterſcheiden von Species ſchon für
Syſtematik. — Im Gegenſatz zur bloßen ſynoptiſchen Ueberſicht,
die mit ihren dichotomiſchen Eintheilungen nur practiſchen Zwecken
dient, ſteht das Syſtem ſelbſt, welches die einander ſubordinirten
Begriffe der Claſſen, Ordnungen, Genera, Species und Varietäten
behandelt. Dann folgt der oft citirte Satz: Species zählen
wir ſo viele, als verſchiedene Formen im Princip
(in principio) geſchaffen worden ſind. Früher hatte er
ſtatt in principio geſagt ab initio, es iſt hier alſo an die
Stelle des zeitlichen Anfangs ein ideeller, principieller Anfang
geſetzt, was ſeinen philoſophiſchen Anſichten beſſer entſpricht.
Daß es neue Species geben könne, fährt er fort, wird durch
die continuirliche Generation und Propagation, ſowie durch die
tägliche Beobachtung und durch die Cotyledonen widerlegt. Es
iſt ſchwer begreiflich, wie die Linné'ſche Schule bis tief in
unſer Jahrhundert herein ein Dogma feſthalten konnte, welches
auf ſolcher Logik beruhte. Daß Linné unter Species nicht
gradweiſe, ſondern principiell verſchiedene Formen verſtand, zeigt
[107]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
ſeine Definition der Varietäten, deren nach ihm ſo viele ſind,
als verſchiedene Pflanzen aus dem Samen gleicher Species ent-
ſtehen. Und zwar wird hinzugefügt, die Varietät verdanke ihre
Entſtehung einer zufälligen Urſache, wie dem Klima, dem Boden,
der Wärme, dem Wind, was offenbar auf ganz willkürlicher
Annahme beruht. Aus der Geſammtheit ſeiner Darſtellung
leuchtet die Anſicht hervor, daß die Species ihrem innerſten Weſen
nach, die Varietäten dagegen nur äußerlich verſchieden ſind.
Hier, wo wir das Dogma von der Conſtanz der Arten zuerſt
präcis ausgeſprochen finden, ein Dogma, welches bis zum Auf-
treten der Deſcendenztheorie allgemein geglaubt wurde, wäre
man berechtigt, Beweiſe zu ſuchen; wie aber Dogmen überhaupt
nicht beweisbar ſind, ſo ſtellt auch Linné das ſeinige einfach
als Behauptung hin 1), wenn man nicht etwa den Satz: negat
generatio continuata, propagatio, observationes quotidianae,
cotyledones als einen Beweis für die Behauptung, daß es keine
neuen Species gebe, gelten laſſen will. Uebrigens werden wir
noch weiterhin ſehen, zu welch' ſonderbaren Conſequenzen Linné
ſelbſt durch ſein Dogma geführt wurde, als es ſich darum han-
delte, den Verwandtſchaftsverhältniſſen der Gattungen und größeren
Gruppen Rechnung zu tragen. Das Werk der Natur, fährt
er fort, iſt immer die Species und das Genus, das Werk
der Cultur häufig die Varietät; die Claſſe und Ordnung beruht
ſowohl auf der Natur, wie auf der Kunſt, womit wohl geſagt
ſein ſoll, daß die größeren Gruppen des Pflanzenreichs nicht
in demſelben Maße objective Giltigkeit haben, wie die Species
und das Genus, ſondern zum Theil auf bloß ſubjectiver
[108]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Meinung beruhen. Daß Linné die Thätigkeit der Syſtematiker
nach Caeſalpin ſowie die Verdienſte der deutſchen Väter der
Pflanzenkunde bis auf Bauhin in ganz ähnlicher Weiſe auf-
faßte, wie es in dem hier vorliegenden Buch geſchieht, zeigt der
163. Satz, wo er das Wort Habitus erklärt und hinzuſetzt,
Caspar Bauhin und die Aelteren hätten aus dem Habitus
die Verwandtſchaften der Pflanzen vorzüglich errathen (divina-
runt), und ſelbſt die ächten Syſtematiker hätten ſich öfter geirrt,
wo der Habitus den richtigen Weg zeigte. Die natürliche An-
ordnung, welche das letzte Ziel der Botanik ſei, gründe ſich aber,
wie erſt die Neueren entdeckt hätten, auf die Fructification, ob-
gleich auch dieſe nicht alle Claſſen enthüllt. Sehr intereſſant iſt
es nun zu ſehen, wie Linné weiterhin (Satz 168) die Lehre
gibt, daß man bei der Aufſtellung der Gattungen, obgleich die-
ſelbe nach der Fructification geſchehen muß, doch auch den Ha-
bitus berückſichtigen müſſe, damit nicht etwa wegen eines klein-
lichen Merkmales (levi de causa) eine unrichtige Gattung auf-
geſtellt werde. Dieſe Berückſichtigung des Habitus müſſe jedoch
heimlich geſchehen, damit er nicht etwa die wiſſenſchaftliche Diag-
noſe ſtöre.
Im Folgenden giebt nun Linné ſehr ausführlich und bis
ins Einzelne hinein die Regeln, nach denen die Aufſtellung der
Species, Gattungen, Ordnungen und Claſſen und deren Benen-
nung vorgenommen werden müſſe und hier iſt es, wo Linné
ſeine unbeſtrittene Meiſterſchaft als Syſtematiker entwickelte.
Dieſe von ihm aufgeſtellten Regeln wurden von ihm ſelbſt in
ſeinen zahlreichen deſcriptiven Werken pünktlich befolgt und ſo
durch Linné ein Geiſt der Ordnung und Klarheit in die Kunſt
der Pflanzenbeſchreibung eingeführt, durch welchen dieſe im Ver-
gleich zu allen Vorgängern Linné's plötzlich ein ganz anderes
Anſehen gewann. Wer daher die Genera plantarum, das
Systema naturae und die anderen deſcriptiven Werke Linné's
mit den Werken von Moriſon, Ray, Rivinus, Tourne-
fort vergleicht, findet hier einen Umſchwung, der nothwendig
den Eindruck hervorruft, als ob mit Linné plötzlich die ganze
[109]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Botanik erſt zu einer Wiſſenſchaft geworden ſei; alles Frühere
erſcheint ſtümperhaft und ungeordnet im Vergleich zu Linné's
Darſtellungsweiſe. Ganz unzweifelhaft liegt in der großen
Sicherheit und Beſtimmtheit, welche Linné in die Beſchreibungs-
kunſt einführte, ſein größtes und dauerndes Verdienſt nicht nur
in der Botanik, ſondern auch in der Zoologie. Man darf aber
nicht überſehen, daß, wenn hiemit auch eine Reformation der
Botanik, wie es Linné ſelbſt gern nannte, eingetreten war,
doch die Grundanſchauungen vom Weſen der Pflanze eher einen
Rückſchritt als einen Fortſchritt durch ihn gemacht hatten.
Ray, Rivinus und zum Theil Tournefort und Moriſon
hatten ſich bereits in hohem Grade frei gemacht von dem Ein-
fluß der Scholaſtik, ſie machen auch uns noch den Eindruck ächter
Naturforſcher; Linné dagegen war ganz in die ſcholaſtiſche
Anſchauungsweiſe zurückgefallen und mit ſeiner glänzenden,
formalen Leiſtung verband ſich die Scholaſtik ſo innig, daß ſie
ſeinen Nachfolgern wie von der Syſtematik untrennbar erſchien.
Derſelbe Sinn für Ordnung und Klarheit, durch welchen
Linné zum Reformator der Beſchreibungskunſt wurde, in Ver-
bindung mit ſeiner Scholaſtik, war es, der ihn offenbar hinderte,
dem natürlichen Syſtem eine energiſchere Arbeit zuzuwenden.
Wiederholt habe ich bereits hervorgehoben, daß er es war, der
zuerſt ſchon 1738 in ſeinem Fragment 65 natürliche Gruppen
aufſtellte; auch zeigt ſich ein gewiſſes Gefühl für natürliche Ver-
wandtſchaft in der Aufſtellung der ſieben Familien, der Pilze,
Algen, Mooſe, Farne, Gräſer, Palmen und der eigentlichen
übrigen Pflanzen. Ferner führt er in dem 163. Satz der
Philosophia botanica die Eintheilung des ganzen Pflanzenreichs
in Akotyledonen, Monokotyledonen und Polykotyledonen mit
ihren Unterabtheilungen trefflich durch; und ſo tritt bei ihm
immer wieder der Drang nach einer natürlichen Anordnung
hervor, ohne daß er demſelben jedoch mit energiſcher Gedanken-
arbeit Genüge gethan hätte.
So blieben bei Linné zwei ganz verſchiedene Auffaſſungen
der Syſtematik neben einander beſtehen: eine flachere, für den
[110]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
praktiſchen Gebrauch nützliche, die ſich in ſeinem künſtlichen
Sexualſyſtem ausſprach und eine tiefere an ſich wiſſenſchaftlich
werthvolle, welcher er in ſeinem Fragment und in den obenge-
nannten natürlichen Gruppen Ausdruck gab.
Gerade ſo verhielt es ſich auch mit Linné's morphologi-
ſchen Anſichten; auch in dieſer Beziehung ging eine flachere neben
einer tieferen Auffaſſung her. Für den praktiſchen Gebrauch bei
der Pflanzenbeſchreibung bildete er ſeine Nomenclatur der Theile
aus, welche, ſo brauchbar ſie auch iſt, doch flach oder oberflächlich
erſcheint, da ihr jede tiefere Begründung durch vergleichende
Formbetrachtung fehlt. Daneben kommt aber an den verſchie-
denſten Stellen ſeiner Schriften doch immer wieder das Bedürfniß
nach einer tieferen Auffaſſung der Pflanzenformen zum Vorſchein;
was er darüber zu ſagen wußte, faßte er unter dem Namen
metamorphosis plantarum zuſammen; der Inhalt ſeiner Me-
tamorphoſenlehre aber baſirt ganz und gar auf den uns bereits
bekannten Anſchauungen Caeſalpin's, welche er jedoch
nicht in ihrer urſprünglichen Form aufnahm, ſondern in ächt
caeſalpinſcher Weiſe weiter auszuſpinnen ſuchte, indem er einerſeits
die Blätter und Blüthentheile aus den Gewebeſchichten des
Stammes ableitete, andererſeits aber die Blüthentheile ſelbſt nur
als veränderte Blätter auffaßte. In etwas confuſer Form tritt
dieſe Lehre von der Metamorphoſis auf der letzten Seite ſeiner
Philosophia botanica auf. Da heißt es z. B.: das ganze
Kraut iſt eine Fortſetzung der Medullarſubſtanz der Wurzel; das
Princip der Blüthen und Blätter iſt dasſelbe, wobei man ſich
in Linné's Sinne hinzudenken muß: weil beide aus den das
Mark umgebenden Gewebeſchichten entſtehen, wie Caeſalpin
gelehrt hatte; abweichend von Letzterem und jedenfalls in ſich
inkonſequent wäre aber die darauf folgende Behauptung, das
Princip der Knoſpe und Blätter ſei identiſch, wenn nicht die
Erklärung folgte, die Knoſpe beſtehe aus rudimentären Blättern,
ſo daß alſo der Axentheil der Knoſpe gar nicht beachtet wird.
Das Perianthium entſteht nach ihm aus verwachſenen Blatt-
rudimenten. Wie eng ſich Linné noch in ſeinen ſpäten Jahren
[111]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
an Caeſalpin anſchloß, zeigt ferner die nun folgende Erklärung
des Blüthenkätzchens, welche ſich ganz auf die von dieſem gegebene
Theorie desſelben ſtützt. Wie bei Linné's Formbetrachtung
eine flachere und tiefere Auffaſſung unvermittelt neben einander
hergehen, zeigt ſich ganz beſonders auch darin, daß er im Text der
Philosophia botanica Satz 84 die stipulae unter den Begriff der
fulcra, nicht aber unter den der folia ſtellt, wogegen ſich am Schluß des-
ſelben Werkes, wo er die Sätze über die Metamorphoſis zuſammen-
ſtellt, der Ausſpruch findet, die stipulae ſind Anhängſel der Blätter.
Den Gedanken Caeſalpin's, daß die die Fruchtanlage
umgebenden Blüthentheile gleich den gewöhnlichen Blättern aus
den das Mark umhüllenden Gewebeſchichten hervorgehen, hat
Linné in der Abhandlung metamorphosis plantarum Band IV
der Amoenitates academicae 1759 in ſehr ſonderbarer Weiſe
weiter ausgeſponnen, indem er die Blüthenbildung der Pflanzen
mit der Metamorphoſe der Thiere, beſonders mit der der Inſecten
vergleicht. Da heißt es p. 370, nachdem er die Verwandlungen
der Thiere dargelegt, die Vegetabilien unterliegen einer gleichen
Verwandlung. Die Metamorphoſe der Inſecten beſtehe in der
Ablegung verſchiedener Häute, ſo daß ſie ſchließlich in ihrer
wahren und vollkommenen Form nackt hervortreten. Dieſe
Metamorphoſe finden wir auch bei den meiſten Pflanzen, denn
dieſe beſtehen wenigſtens an dem eigentlich lebendigen Theil der
Wurzel aus Rinde, Baſt, Holz und Mark. Die Rinde der
Pflanzen verhalte ſich nun gerade ſo, wie die Haut einer Inſecten-
larve, nach deren Ablegung das nackte Inſect übrig bleibt. Bei
der Blüthenbildung der Pflanzen nun öffnet ſich die Rinde und
bildet den Kelch (wobei er wieder ausdrücklich auf Caeſalpin
verweiſt) und aus dieſem brechen die inneren Theile der Pflanzen
hervor um die Blüthe zu bilden, ſo daß der Baſt, das Holz
und das Mark in Form von Blumenkrone, Staubfäden und
Narbe nackt hervorbrechen. So lange die Pflanze innerhalb
der Rinde verborgen nur mit Blättern bekleidet daliegt, erſcheint
ſie uns ebenſo unkenntlich und dunkel, wie ein Schmetterling,
welcher im Larvenzuſtand mit Haut und Stacheln bedeckt iſt.
[112]Der künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Man hat bei dieſer auf Caeſalpin gegründeten Meta-
morphoſenlehre Linné's als Hauptſatz das im Auge zu behalten,
daß die gewöhnlichen Blätter mit den äußeren Blüthentheilen
deßhalb identiſch ſind, weil beide aus den äußeren Gewebeſchichten
des Stammes entſtehen. Die ſo nahe liegende und auch ohne
Mikroſkop leicht zu beobachtende Thatſache, daß die concentriſche
Anordnung von Rinde, Baſt, Holz und Mark nur bei einem
Theile von Blüthenpflanzen vorkommt, daß bei den Monokotylen
die Sache ſich ganz anders verhält, daß bei dieſen alſo Caeſal-
pin's Blüthentheorie keine rechte Anwendung mehr zuläßt, dieſe
Erwägungen darf man bei Linné's ganzer Denkweiſe überhaupt
nicht erwarten.
Der Mangel feſter empiriſcher Anhaltspunkte zeigt ſich
auch darin, daß er neben ſeiner Caeſalpin'ſchen Blüthentheorie
auch noch eine ganz andere, mit dieſer kaum zu vereinigende
Anſchauung vom Weſen der Blüthe verband, welche unter dem
Namen der prolepsis plantarum in zwei Diſſertationen unter
Linné's Präſidium 1760 und 1763 dargeſtellt wurde. Während
in der Philosophia botanica der letzte Satz lautet: Flos ex
gemma annuo spatio, foliis praecocior est; wird in jenen
Diſſertationen 1) die Lehre entwickelt, die Blüthe ſei Nichts als
das gleichzeitige Erſcheinen von Blättern, die eigentlich den
Knoſpenbildungen von ſechs auf einander folgenden Jahren an-
gehören, ſo zwar, daß die Blätter der für das zweite Jahr der
Pflanze zur Entwicklung beſtimmten Knoſpe zu Bracteen, die
Blätter des dritten Jahres zum Kelch, die des vierten zur Co-
rolle, die des fünften zu Staubfäden, die des ſechsten zum Piſtill
werden. Auch hier ſieht man wieder, wie Linné ſich in
willkürlichen Annahmen bewegt, ohne im Geringſten Rückſicht
auf die genaue Beobachtung zu nehmen, denn dieſer ganzen Pro-
lepſistheorie liegt Nichts zu Grunde, was man eine wohl kon-
ſtatirte Thatſache nennen könnte.
[113]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Noch zum dritten Male begegnen wir bei Linné dem
Nebeneinanderbeſtehen einer flacheren, auf alltägliche Wahrnehm-
ung gegründeten und einer tieferen, gewiſſermaßen philoſophiſchen
Anſicht, wo es ſich um das Dogma von der Conſtanz der Arten
einerſeits, und andererſeits darum handelt, die Thatſache der
natürlichen Verwandtſchaft und ihrer Gradation zu erklären.
Für das Dogma der Conſtanz der Arten führte Linné ſelbſt
außer ganz nichtsſagenden Worterklärungen nur die alltägliche
Wahrnehmung der Unveränderlichkeit der Arten an und an
dieſer hielt er bis zu ſeinem Lebensende feſt; nun galt es aber,
eine Erklärung dafür zu finden, daß eben, wie Linné immer
wiederholt hervorhob, auch die Gattungen, Ordnungen, Claſſen
nicht boß auf ſubjectiver Anſicht beruhen, ſondern objectiv vor-
handene Verwandtſchaftsverhältniſſe andeuten. Da half er ſich
nun in ſehr merkwürdiger Weiſe und gerade hier tritt nicht nur
die ſcholaſtiſche Denkmethode wieder ganz unverfälſcht durch
moderne Naturwiſſenſchaft hervor, ſondern Linné gründet auch
ſeine Erklärung wieder auf das uralte Vorurtheil, daß das Mark
das Lebensprincip der Pflanze ſei und zum Theil auf ſeine eigene
Annahme, daß ſich bei dem Sexualakt die Holzſubſtanz der Staub-
gefäße mit der Markſubſtanz des Piſtills verbinde. Hugo
Mohl hat bereits in der botaniſchen Zeitung 1870 Nr. 46
dieſen Sachverhalt klar gelegt, wenn ihm auch ebenſo wie
Wigand und den meiſten Biographen Linné's unbekannt war,
daß ſich die Theorieen desſelben überall weſentlich auf Caeſalpin
ſtützen. Linné's Theorie der natürlichen Verwandtſchaften,
wie er dieſelbe 1762 in der Diſſertation Fundamentum fructi-
ficationis und 1764 in der 6. Ausgabe ſeiner Genera plantarum
darſtellte, läuft nun auf Folgendes hinaus: bei der Erſchaffung
der Pflanzen (in ipsa creatione) wurde zunächſt je eine Species
als Repräſentant einer jeden natürlichen Ordnung erſchaffen,
und dieſe den natürlichen Ordnungen entſprechenden Pflanzen
waren von einander im Habitus und der Fructifikation, d. h.
bei Linné, abſolut verſchieden. In der Mittheilung von 1764
heißt es nun wörtlich:
Sachs, Geſchichte der Botanik. 8
[114]Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
- 1. Creator T. O. in primordio vestiit Vegetabile me-
dullare principiis constitutivis diversi corticalis,
unde tot difformia individua, quot ordines naturales,
prognata. - 2. Classicas has plantas Omnipotens miscuit inter se,
unde tot genera ordinum, quot inde plantae. - 3. Genericas has miscuit natura, unde tot species
congeneres, quot hodie existunt. - 4. Species hos miscuit casus, unde totidem quot
passim occurrunt varietates.
Mit Recht hat Hugo Mohl die Annahme Heufler's,
als ob in dieſen Sätzen eine der neueren Deſcendenztheorie
ähnliche Anſicht enthalten ſei, zurückgewieſen. Für den, welcher die
Anſichten des Ariſtoteles, Theophraſt und Caeſalpin
kennt, in denen ſich hier Linné bewegt, kann es nicht zweifel-
haft ſein, was er unter ſeinem Vegetabile medullare und
corticale verſteht; daß mit jenem in keiner Weiſe etwa eine
Pflanze von einfachſter Organiſation gemeint ſei; vielmehr be-
deuten die beiden Ausdrücke nur die Urprincipien der Vegetation,
welche nach Linné der Schöpfer mit einander zuerſt vereinigt
hat. Nach Linné's Annahme wurden urſprünglich gleichzeitig und
nebeneinander Pflanzen von der höchſten, wie von der niederſten
Organiſationsſtufe geſchaffen, neue Klaſſenpflanzen wurden ſpäter
nicht mehr geſchaffen aber durch die von dem Schöpfer herbei-
geführte Vermiſchung der Klaſſenpflanzen entſtanden die generiſch
verſchiedenen Formen, durch natürliche Vermiſchung dieſer die
Species und durch bloße zufällige Abweichungen die Varietäten.
Bei dieſen Vermiſchungen oder Hybridationen aber, das iſt zu
beachten, verbindet ſich nach Linné jedesmal die Holzſubſtanz der
einen Form, welche den Pollen liefert, mit der Markſubſanz
der andern Form, deren Piſtill von jener befruchtet wird und
ſo ſind es bei den angenommenen Kreuzungen immer die beiden
Urelemente der Pflanze, das medullare und das cortikale, die
ſich da vermiſchen.
[115]der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
Daß in dieſer Theorie Linné's kein Vorläufer unſerer
Deſcendenztheorie enthalten iſt, daß ſie vielmehr im ſtrengſten
Gegenſatz zu dieſer ſteht, wird eines weiteren Beweiſes kaum be-
dürfen. Linné's Theorie iſt ganz und gar eine Frucht der
Scholaſtik, das Weſentliche in Darwin's Deſcendenztheorie aber
liegt gerade darin, daß in ihr die Scholaſtik keinen Platz mehr
findet.
8*
[116]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Drittes Capitel.
Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem Dogma von
der Conſtanz der Arten.
1759-1850.
Nach 1750 brach ſich Linné's Nomenclatur der Organe,
ſowie die binäre Benennung der Arten allgemein Bahn, der
Widerſtand, den ſeine Lehren bis dahin gefunden hatten, ver-
ſtummte nach und nach und wenn auch nicht Alles, was Linné
lehrte, überall angenommen wurde, ſo ward doch ſeine Behand-
lung der Beſchreibungskunſt bald das Gemeingut aller Botaniker.
Im weiteren Verfolg aber zeigte ſich eine Spaltung in
zwei ſehr verſchiedene Richtungen: die meiſten deutſchen, engliſchen
und ſchwediſchen Botaniker hielten ſich ganz ſtreng an den Aus-
ſpruch Linné's: Je mehr Species ein Botaniker kennt, deſto
vorzüglicher iſt er; ſie nahmen das Linné'ſche Sexualſyſtem
als eine die Wiſſenſchaft in jeder Beziehung abſchließende Leiſtung
hin, ihrer Meinung nach hatte die Botanik in ihm ihren
Gipfel erreicht; ein Fortſchritt konnte nur noch im Einzelnen
ſtattfinden, indem man manche Unebenheiten des Linné'ſchen
Sexualſyſtems glättete und neue Species zu ſammeln und zu
beſchreiben fortfuhr. Es konnte nicht fehlen, daß auf dieſe Weiſe
die Botanik nach und nach aufhörte, überhaupt eine Wiſſenſchaft
zu ſein; ſelbſt die Einzelbeſchreibung, welche Linné zu einer
Kunſt erhoben hatte, wurde in den Händen dieſer Art von Nach-
folgern wieder laxer und ſchlaffer gehandhabt, an die Stelle der
morphologiſchen Betrachtung der Pflanzentheile trat eine immer
mehr und mehr ſich ausdehnende Anhäufung von Kunſtausdrücken,
[117]Dogma von der Conſtanz der Arten.
denen jeder tiefere wiſſenſchaftliche Gehalt fehlte, bis es end-
lich ſo weit kam, daß ein Lehrbuch der Botanik weit mehr
einem deutſch-lateiniſchen Lexikon als einem naturwiſſenſchaftlichen
Werke ähnlich ſah; um nur Ein Beiſpiel zu nennen, verweiſe
ich zum Beleg des Geſagten auf Bernhardi's Handbuch der
Botanik, Erfurt 1803 und zwar deßhalb, weil gerade Bern-
hardi einer der beſten Vertreter der Botanik Deutſchlands in
jener Zeit war. Wie die Botanik zumal in Deutſchland unter
dem Einfluß der Linné'ſchen Autorität nach und nach in ein
gemüthliches geiſtloſes Kleinleben ausartete, davon geben am
beſten die erſten Bände der Zeitſchrift Flora bis tief in die 20er
Jahre hinein Auskunft; man begreift kaum, wie Männer von
einiger Bildung ſich mit ſolchen nichtsſagenden Dingen beſchäf-
tigen konnten. Es wäre ganz verlorene Mühe, dieſe Art wiſſen-
ſchaftlichen Lebens, wenn der Ausdruck überhaupt erlaubt iſt,
dieſes geiſtloſe Treiben der Pflanzenſammler, welche ſich ganz in
Widerſpruch mit ſeiner Auffaſſung Syſtematiker nannten,
eingehender zu verfolgen. Es iſt zwar nicht zu verkennen, daß
dieſe Anhänger Linné's der Wiſſenſchaft inſofern genutzt haben,
als durch ſie die europäiſchen und viele außereuropäiſchen Floren-
gebiete durchſucht wurden, aber die wiſſenſchaftliche Verarbeitung
des von ihnen aufgehäuften Materials überließen ſie Anderen.
Aber lange bevor dieſe Verkommenheit um ſich griff, machte
ſich in Frankreich, wo das Sexualſyſtem überhaupt niemals
zu großer Anerkennung gelangte, eine neue Richtung auf dem
Gebiete der Syſtematik und Morphologie geltend. An Linné's
tiefere und eigentlich wiſſenſchaftliche Beſtrebungen anknüpfend,
waren es Bernard de Juſſieu und ſein Neffe A. L. de
Juſſieu, welche die Bearbeitung des natürlichen Syſtems, die
Linné ſelbſt als das höchſte Ziel der Botanik hingeſtellt hatte,
zur Aufgabe ihres Lebens machten. Hier konnte es ſich nicht
mehr um eine ewige Wiederholung von Einzelbeſchreibungen nach
beſtimmter Schablone handeln; vielmehr mußten genauere Unter-
ſuchungen über die Organiſation der Pflanzen, beſonders ihrer
Fructificationstheile das Fundament liefern, auf welchem die
[118]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Aufſtellung größerer natürlicher Gruppen zu verſuchen war.
Hier handelte es ſich alſo um neue inductive Forſchung, um
wirkliche Naturwiſſenſchaft, hier galt es, in die Tiefen der orga-
niſchen Form einzudringen, während jene anderen Botaniker,
welche ſich ausſchließlich an Linné's Beſchreibungskunſt hielten,
nichts Neues in dem Weſen der Pflanze zu Tage förderten. Wie
übrigens die Pflanzenſammler ſich an den genannten Ausſpruch
Linné's und ſomit ſich ſelbſt für ſeine eigentlichen Jünger
hielten, ebenſo gut durften auch die Begründer des natürlichen
Syſtems ſich als ächte Schüler deſſelben betrachten; nicht bloß,
weil ſie ſeine Nomenclatur und Diagnoſtik befolgten, ſondern
noch mehr deßhalb, weil ſie gerade demjenigen Ziel nachſtrebten,
welches Linné als die höchſte Aufgabe der Botanik hingeſtellt
hatte, dem Ausbau des natürlichen Syſtems; ſie waren das, was
Linné unter dem Namen methodici und systematici verſtand.
Die deutſchen, engliſchen und ſchwediſchen Pflanzenſammler hielten
ſich eben an die flachen, der alltäglichen Praxis dienenden Vor-
ſchriften Linné's, während die Begründer des natürlichen
Syſtems den tieferen Zügen ſeines Wiſſens folgten. Dieſe
Richtung erwies ſich nun als die allein lebenskräftige, ihr gehörte
zunächſt die Zukunft.
Das Charakteriſtiſche in den Beſtrebungen Juſſieu's,
Joſeph Gärtner's, De Candolle's, Robert Brown's
und ihrer Nachfolger bis auf Endlicher und Lindley liegt
aber nicht blos darin, daß ſie durch das natürliche Syſtem die
Gradationen der natürlichen Verwandtſchaften darzuſtellen ſuchten;
ebenſo characteriſtiſch iſt vielmehr für dieſe Männer der ſtrenge
Glaube an das von Linné definirte Dogma der Conſtanz der
Arten; damit war den Beſtrebungen der natürlichen Syſtematik
von vornherein ein Hinderniß entgegengeſtellt; der Begriff der
natürlichen Verwandtſchaft, auf welchen es ja bei dem natürlichen
Syſtem ganz ausſchließlich ankommt, mußte für Jeden, welcher
an die Conſtanz der Species glaubte, ein Myſterium bleiben,
ein naturwiſſenſchaftlicher Sinn ließ ſich mit dieſem myſteriöſen
Begriff nicht verbinden; und doch je weiter die Unterſuchung der
[119]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Verwandtſchaften fortſchritt, deſto klarer traten alle die Beziehungen
hervor, welche die Arten, Gattungen und Familien unter einan-
der verknüpfen; mit großer Klarheit entwickelte Pyrame de
Candolle eine lange Reihe von verwandtſchaftlichen Beziehungen,
welche die vergleichende Morphologie offenbart; aber was ließ
ſich dabei denken, ſo lange das Dogma von der Conſtanz der
Arten jedes objectiv reale Band zwiſchen zwei verwandten Or-
ganismen entzwei ſchnitt? Denken ließ ſich nun eben eigentlich
dabei nicht viel, um aber wenigſtens die erkannten verwandt-
ſchaftlichen Beziehungen beſprechen und beſchreiben zu können,
half man ſich mit Worten von unbeſtimmtem Sinn, denen man
nach Belieben eine metaphoriſche Bedeutung geben konnte. An
die Stelle deſſen, was Linné eine Klaſſenpflanze oder eine
Gattungspflanze genannt hatte, ſetzte man jetzt das Wort Sym-
metrieplan oder Typus, unter welchem man eine ideale Grund-
form verſtand, von welcher zahlreiche verwandte Formen ſich
ableiten ließen. Ob aber dieſe ideale Grundform jemals exiſtirt
habe oder ob ſie bloß durch Abſtraction des Verſtandes gewonnen
ſei, blieb unbeſtimmt; und bald fand ſich auch hier wieder
Gelegenheit, auf die Denkformen der alten Philoſophie zurückzu-
greifen. Die platoniſchen Ideen, obgleich bloße Abſtractionen,
alſo bloße Erzeugniſſe des Verſtandes, waren ja als objectiv
exiſtirende Dinge nicht blos von der platoniſchen Schule, ſondern
auch von den ſogenannten Realiſten unter den Scholaſtikern
betrachtet worden. Die Syſtematiker nun gewannen durch Ab-
ſtraction den Begriff eines Typus und leicht war es, im plato-
niſchen Sinne dieſem Gedankending eine objective Exiſtenz zuzu-
ſchreiben, und den Typus im Sinne einer platoniſchen Idee
aufzufaſſen und in ſtrenger Conſequenz dieſer auf dem Dogma
der Conſtanz allein möglichen Anſchauungsweiſe konnte Elias
Fries (corpus florarum 1835) von dem natürlichen Syſtem
ſagen, est quoddam supranaturale, und behaupten, daß jede
Abtheilung desſelben ideam quandam exponit. So lange man
an der Conſtanz der Arten feſthält, wird man dieſe von Fries
gezogene Folgerung nicht umgehen können; daß damit aber auch
[120]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
die Syſtematik aufhört, eine Naturwiſſenſchaft zu ſein, iſt ebenſo
gewiß. Die Syſtematiker durften ſich mit dieſer nothwendig
aus dem Dogma fließenden Folgerung als diejenigen betrachten,
welche durch das natürliche Syſtem den Schöpfungsplan, den
Gedankengang des Schöpfers ſelbſt auszudrücken ſuchten. Damit
aber wurde die Syſtematik in theologiſche Anſchauungen ver-
wickelt, und nur ſo begreift man, warum die erſten ſchwachen
Verſuche zu einer Deſcendenztheorie auf ſo hartnäckigen, ja fana-
tiſchen Widerſtand gerade bei den Syſtematikern von Fach ſtoßen
konnten, denn für ſie war ja das Syſtem etwas Uebernatürliches,
ein Beſtandtheil ihrer Religion. Und blicken wir nun zurück, ſo
finden wir den Grund dieſer Anſchauungen in dem Dogma von
der Conſtanz der Arten und Linné's Philosophia botanica
belehrt uns, auf was für Gründen dieſes Dogma ruht, indem
es heißt: Novas species dari in vegetabilibus negat gene-
ratio continuata, propagatio, observationes quoti-
dianae, cotyledones.
Trotz alledem wurde von den Nachfolgern Juſſieu's ein
großer Schritt vorwärts gethan: mit derſelben Sicherheit und
Präciſion, wie Linné die Species und Gattungen umgrenzt hatte,
wurden jetzt noch größere Gruppen von Gattungen, die Familien um-
grenzt und durch Merkmale charakteriſirt. Auch gelang es, verſchiedene
größere natürliche Verwandtſchaftsgruppen wie die der Monoco-
tylen und Dicotylen klar zu ſtellen, der Unterſchied der Crypto-
gamen und Phanerogamen wurde nach und nach beſſer gewürdigt,
obgleich ein Abſchluß in dieſer letzten Richtung deßhalb unmöglich
war, weil man die Cryptogamen durchaus auf das Schema der
Phanerogamen zurückführen wollte. Das größte Hinderniß für
den Fortſchritt der Syſtematik in dieſer Periode lag jedoch
wenigſtens Anfangs in der mangelhaften Morphologie, wie ſie
in Linné's Nomenclatur und in ſeiner Metamorphoſenlehre
enthalten war. Einen großen Fortſchritt allerdings bewirkte De
Candolle ſchon im zweiten Jahrzehnt unſeres Jahrhunderts
durch die Aufſtellung ſeiner Lehre von der Symmetrie der Pflanzen,
einer Lehre, welche man vielfach unterſchätzt hat, wohl bloß des
[121]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Namens wegen, denn ihrem Inhalte nach iſt De Candolle's
Symmetrielehre weſentlich eine vergleichende Morphologie und
im Grunde ſeit Jungius der erſte ernſthafte Verſuch einer
ſolchen, der in der That mit großem Erfolg gekrönt war; eine
Reihe der wichtigſten morphologiſchen Wahrheiten, welche gegen-
wärtig jedem Botaniker geläufig ſind, wurden zuerſt in De Can-
dolle's Symmetrielehre 1813 ausgeſprochen. Aber freilich
Eines fehlte nicht nur bei Juſſieu und De Candolle, ſon-
dern mit Ausnahme Robert Brown's bei allen Syſtematikern
dieſer Periode und dieſes Eine war die Entwicklungsgeſchichte.
Die Vergleichung der fertigen Formen führt zwar, wie die Ge-
ſchichte der Morphologie und Syſtematik dieſes Zeitraums zeigt,
zur Erkenntniß zahlreicher und höchſt wichtiger morphologiſcher
Thatſachen; ſo lange man aber fertig ausgebildete Organismen
vergleicht, wird die morphologiſche Betrachtung immer dadurch
geſtört, daß die zu vergleichenden Organe beſtimmten phyſiologi-
ſchen Functionen angepaßt ſind, wodurch ihr wahrer morpholo-
giſcher Charakter oft ganz unkenntlich gemacht wird; je jünger
dagegen die Organe ſind, deſto mehr tritt dieſer Uebelſtand zurück
und weſentlich darin liegt der große Vortheil der Entwicklungs-
geſchichte für die Morphologie. Als einer der charakteriſtiſchen
Züge der hier behandelten Periode muß alſo hervorgehoben
werden, daß die Morphologie an den fertigen Formen ſich weiter
ausbildete; die Entwicklungsgeſchichte dagegen, wenigſtens in ſo
weit es ſich um ſehr frühe Jugendzuſtände handelt, konnte ſchon
deßhalb bis in die vierziger Jahre hinein nicht nutzbar gemacht
werden, weil die Kunſt des Microſcopirens, die hier unerläßlich
iſt, erſt in den Jahren nach 1840 ſoweit ausgebildet wurde,
um die erſte Entſtehung der Organe zu verfolgen.
Feſtſtellung der natürlichen Verwandtſchaften mit der An-
nahme der Conſtanz der Arten und Ausbildung der vergleichen-
den Morphologie ohne Entwicklungsgeſchichte, endlich die ſehr
untergeordnete Aufmerkſamkeit, welche man den Cryptogamen
noch immer ſchenkte, ſind die vorwiegend charakteriſtiſchen Merk-
male der nun ausführlicher zu beſprechenden Periode.
[122]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Es muß hier noch einmal darauf hingewieſen werden, daß
es Linné war, der zuerſt erkannte, daß auf dem von Caeſal-
pin und ſeinen Nachfolgern betretenen Wege ein Syſtem als
Ausdruck der natürlichen Verwandtſchaften nicht gewonnen werden
könne. Wer Linné's Schriften ſeit dem Erſcheinen ſeiner
Classes plantarum 1738 aufmerkſam ſtudirte, dem mußte der
Unterſchied zwiſchen jenem Wege und dem von Linné empfohlenen
um ſo deutlicher werden, als dieſer ſelbſt ein künſtliches Syſtem
nach a priori feſtgeſetzten Eintheilungsgründen wie ſeine Vor-
gänger aufſtellte und für den praktiſchen Gebrauch bei der
Pflanzenbeſchreibung überall benutzte; während er gleichzeitig
ſchon in dem genannten Werk ſein Fragment eines natürlichen
Syſtems mittheilte und zugleich in der Vorrede dazu die Eigen-
thümlichkeiten des natürlichen Syſtems dem künſtlichen gegenüber
ſchlagend hervorhob. Das Erſte und Letzte, heißt es in den
Vorbemerkungen zu ſeinem Fragment, was in der ſyſtematiſchen
Botanik gefordert wird, iſt die natürliche Methode, welche aller-
dings von den weniger gelehrten Botanikern gering, von den
einſichtigeren dagegen immer hochgeſtellt worden iſt, die aber
freilich bis jetzt noch nicht entdeckt wurde. Wenn man aus allen
(bis 1738) vorhandenen Syſtemen die natürlichen Ordnungen
ſammle, ſo erhalte man nur eine geringe Zahl wirklich verwand-
ter Pflanzen, obgleich ſo viele Syſteme als natürliche proklamirt
worden ſeien. Lange habe auch er an der Auffindung der
natürlichen Methode gearbeitet, auch manches Neue darin gefun-
den, ſie ganz durchzuführen ſei ihm jedoch nicht gelungen, fort-
ſetzen aber werde er ſie ſein ganzes Leben lang. Ganz beſonders
treffend iſt ſeine Bemerkung: ein Schlüſſel (d. h. a priori
beſtimmte Eintheilungsgründe) könne für die natürliche Methode
nicht gegeben werden, bevor nicht alle Pflanzen bereits in Ord-
nungen gebracht ſeien. Hier gelte keine Regel a priori, weder
der eine noch der andere Theil der Fructification, ſondern allein
die einfache Symmetrie (simplex symmetria) aller Theile,
welche oft durch beſondere Merkmale angedeutet werde. Denen,
welche es verſuchen wollen, einen Schlüſſel zu dem natürlichen
[123]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Syſtem zu finden, gibt er den Rath, daß Nichts allgemeineren
Werth habe als die Stellungsverhältniſſe, beſonders des Samens
und in dieſem beſonders das punctum vegetans, wobei er
ausdrücklich auf Caeſalpin verweiſt. Er ſelbſt ſtelle hier keine
Klaſſen, ſondern nur Ordnungen auf; ſeien dieſe einmal feſtgeſtellt,
ſo werde es leicht ſein, die Klaſſen zu finden. Deutlicher als es
in dieſen Sätzen geſchehen iſt, konnte in jener Zeit das Weſen
des natürlichen Syſtems nicht dargelegt werden. Er ſtellte nun,
wie erwähnt, 1738 bereits 65 natürliche Ordnungen auf, die
er zunächſt einfach numerirte; aber ſchon in der erſten Auflage
der Philosophia botanica 1751, wo er die Zahl auf 67 ver-
mehrte, gab er jeder einzelnen Gruppe einen beſonderen Namen
und auch bei dieſer Namengebung zeigte ſich wieder Linné's
claſſificatoriſcher Takt, indem er die Namen entweder von wirklich
charakteriſtiſchen Merkmalen ableitete, oder was noch beſſer war,
einzelne Gattungen herausgriff und ihre Namen ſo umänderte,
daß ſie als Verallgemeinerungen für eine ganze Gruppe gelten
konnten. Viele dieſer Bezeichnungen ſind noch jetzt im Ge-
brauch, wenn auch der Umfang und der Inhalt der natür-
lichen Gruppen ſich weſentlich geändert hat. Dieſe Art der
Namengebung iſt aber deßhalb von großem Gewicht, weil
ſich darin der Grundgedanke ausſpricht, daß die verſchiedenen
Gattungen einer ſolchen Gruppe gewiſſermaßen als abgeleitete
Formen aus der zur Benennung herausgegriffenen betrachtet
werden. Viele von Linné's [Ordnungen] bezeichnen in der That
natürliche Verwandtſchaftskreiſe, wenn auch freilich ſehr häufig
einzelne Gattungen eine unrichtige Stelle finden, jedenfalls aber
iſt Linné's Fragment das bei weitem natürlichſte Syſtem,
welches bis 1738 oder wenn man will bis 1751 aufgeſtellt
worden iſt. Von der Aufzählung C. Bauhin's unterſcheidet
ſich dieſe dadurch, daß die Gruppen nicht unbegrenzt in einander-
laufen, ſondern ſcharf abgegrenzt und durch Namen fixirt ſind.
Deutlich tritt in dieſer Aufzählung das Streben hervor,
zunächſt die Monocotylen, dann die Dicotylen und ſchließlich die
Cryptogamen einander folgen zu laſſen; daß die frühere ſchon von
[124]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Jungius und Rivinus abgewieſene, aber bei Tournefort
und Ray noch beibehaltene Eintheilung in Bäume und Kräuter
auch in dem natürlichen Syſtem Linné's verſchwunden iſt,
verſteht ſich nach dem bisher über ihn Geſagten ſozuſagen von
ſelbſt und fortan war dieſer alte Unfug für immer beſeitigt.
Manche Verbeſſerungen ſowohl bezüglich der Namengebung
als auch in der Zuſammenſtellung und Aufeinanderfolge, aber
freilich auch manche auffallende Verſtöße gegen die natürliche
Verwandtſchaft finden wir in der Anordnung des Bernard de
Juſſieu1) von 1759. Dieſer hatte theoretiſche Betrachtungen
über das Syſtem überhaupt nicht publicirt, vielmehr gab er
ſeinen Vorſtellungen von den Verwandtſchaftsverhältniſſen des
Pflanzenreiches in der Anpflanzung der Gewächſe des königlichen
Gartens von Trianon und in den Garten-Catalogen Ausdruck.
Sein Neffe gab ſpäter 1789 in den Genera plantarum die Auf-
zählung ſeines Onkels mit der Jahreszahl 1759, wie oben an-
gegeben. Ich will dieſe Aufzählung hier nicht reproduciren,
da für unſeren Zweck der Unterſchied gegenüber der Linné'ſchen
nicht groß genug erſcheint. Doch iſt hervorzuheben, daß Bernard
de Juſſieu mit den Cryptogamen beginnt, durch die Monoco-
tylen zu den Dicotylen übergeht und mit den Coniferen ſchließt.
Wir können hier die Prioritätsanſprüche Adanſon's dem Bernard
de Juſſieu gegenüber (Histoire de la Botanique de Michel
Adanson, Paris 1864 p. 36) als für unſern Zweck ganz un-
erheblich übergehen. Eine irgendwie beachtenswerthe Förderung
erfuhr das natürliche Syſtem durch Adanſon nicht; wie wenig
derſelbe übrigens das Weſen desſelben und die Methode der
Forſchung auf dieſem Gebiete durchſchaute, geht zur Genüge aus
[125]Dogma von der Conſtanz der Arten.
der Thatſache hervor, daß er nach einzelnen Merkmalen nicht
weniger als 65 verſchiedene künſtliche Syſteme aufſtellte, in der
Vorausſetzung, daß auf dieſe Weiſe die natürlichen Verwandt-
ſchaften als Schlußeffekt ſich von ſelbſt ergeben müßten, was
um ſo überflüſſiger war, als die Betrachtung der ſeit Caeſal-
pin aufgeſtellten Syſteme die Nutzloſigkeit eines ſolchen Verfahrens
ohnehin darthun mußte.
Die erſte große Förderung erfuhr das natürliche Syſtem
durch Antoine Laurent de Juſſieu1) (1748-1836). Daß
er ſo wenig wie ſein Onkel das natürliche Syſtem erfun-
den oder begründet habe, bedarf nach allem bisher in unſerer
Geſchichte Geſagten keines weiteren Beweiſes. Sein wirkliches
Verdienſt aber beſteht darin, daß er zuerſt die kleineren Gruppen
desſelben, welche wir nach jetzigem Sprachgebrauch als Familien
bezeichnen würden, die er jedoch Ordnungen nannte, mit Diagnoſen
verſah. Es iſt nicht unintereſſant, hier zu beachten, wie Casp.
Bauhin zuerſt die Species zwar mit Diagnoſen verſah, die
Gattungen benannte, aber nicht charakteriſirte, wie dann Tourne-
fort die Gattungen mit Merkmalen umgrenzte, wie Linné
nun zunächſt die Gattungen gruppirte und die Gruppen einfach
benannte, ohne ſie durch Merkmale zu charakteriſiren und wie
nun endlich Antoine Laurent de Juſſieu zu den der
Hauptſache nach erkannten Familien die charakteriſtiſchen Diag-
noſen hinzufügte. So lernte man nach und nach aus ähnlichen
Formen die gemeinſamen Merkmale abſtrahiren und immer
größer wurden die Formenkreiſe, deren gemeinſchaftliche Merkmale
herauszuheben gelang, es vollzog ſich ſo ein inductiver Prozeß,
vom Einzelnen zum Allgemeineren fortſchreitend.
[126]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Es könnte ſcheinen, als ob A. L. de Juſſieu's Verdienſt
zu klein dargeſtellt würde, wenn man als ſeine hauptſächliche
Leiſtung rühmt, daß er die Familien zuerſt mit Diagnoſen ver-
ſehen habe, allein dieſes Lob wird nur denen zu gering erſcheinen,
welche die Schwierigkeit einer derartigen Arbeit nicht kennen;
es gehörten ſehr ſorgfältige und lange fortgeſetzte Unterſuchungen
dazu, um herauszufinden, welche Merkmale einer natürlichen
Gruppe wirklich gemeinſchaftlich zukommen. Und die zahlreichen
monographiſchen Arbeiten Juſſieu's zeigen, wie ernſt er dieſe
Aufgabe nahm; es iſt aber außerdem hervorzuheben, daß er in
Folge dieſer großen Sorgfalt nicht blos die ſchon von Linné
und ſeinem Onkel aufgeſtellten Familien und deren Umgrenzungen
aufnahm, ſondern daß er ſie auch beſſer umgrenzte daher viele
neue Familien aufſtellte und zuerſt den Verſuch machte, dieſe
ſelbſt in größere Gruppen einzutheilen, die er Claſſen nannte.
Dieſen Schritt that er jedoch mit geringem Erfolge. Auch ſein
Verſuch, das ganze Pflanzenreich in ſeiner geſammten Haupt-
gliederung darzuſtellen, die Claſſen ſelbſt in höhere Gruppen zu
vereinigen, war inſoferne mißglückt, als dieſe größeren Abthei-
lungen offenbar künſtliche blieben. Die drei größten Abtheilungen
dagegen, in welche das ganze Pflanzenreich bei ihm unmittelbar
zerfällt, die der Acotyledonen, der Monocotyledonen
und Dicotyledonen waren zum Theil ſchon von Ray, dann
aber durch Linné's Beſtrebungen und ſchließlich durch Ber-
nard de Juſſieu's Aufzählungen als natürliche Gruppen
vorgezeichnet. Immerhin bleibt es ein namhaftes Verdienſt
Juſſieu's, daß er zuerſt den Verſuch machte, an die Stelle
der bloßen Aufzählungen kleinerer einander koordinirter Gruppen
eine wirkliche Eintheilung des ganzen Pflanzenreiches in größere
und graduell ſubordinirte Gruppen zu verſuchen, was Linné
ausdrücklich als über ſeine Kräften gehend bezeichnet hatte.
Gibt nun auch Juſſieu's Syſtem noch bei Weiten keine ge-
nügende Einſicht in die Verwandtſchaftsverhältniſſe der großen
Abtheilungen des Pflanzenreichs, ſo traten doch ſchon vielfach
die wichtigen Geſichtspuncte hervor, nach denen dieſelben ſpäter
[127]Dogma von der Conſtanz der Arten.
aufgefunden werden konnten, und unzweifelhaft iſt dieſes Syſtem
die Grundlage für alle weiteren Fortſchritte auf dem Gebiet der
natürlichen Syſtematik geworden; deshalb iſt es aber auch nöthig,
hier eine Ueberſicht desſelben folgen zu laſſen.
A. L. de Jussieu's System 1789.
Dieſe Ueberſicht zeigt, daß Juſſieu die Cryptogamen,
welche er als Acotyledones bezeichnet, nicht der Geſammtheit
der Phanerogamen gegenüberſtellte, wie es bereits Ray,
der ſie als Imperfectae einführte, gethan hatte; vielmehr be-
trachtet Juſſieu die Geſammtheit der Acotyledonen als
eine den Monocotylen und Dicotylen coordinirte Claſſe;
dieſer Fehler aber oder doch ähnliche fehlerhafte Anſchauungen
gehen durch die ganze Syſtematik bis in die vierziger Jahre
hinein, erſt durch die von Nägeli begründete Morphologie und
durch die embryologiſchen Unterſuchungen Hofmeiſter's wurde
es klar, daß die Cryptogamen in mehrere Abtheilungen zer-
fallen, welche ihrerſeits den Monocotylen und Dicotylen coordinirt
ſind. Die Bezeichnung der Cryptogamen Linné's mit dem
Worte Acotyledones zeigt aber zugleich, daß Juſſieu die Be-
deutung der Cotyledonen in ihrem ſyſtematiſchen Werth weit
[128]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
überſchätzte und zwar, wie die Einleitung zu ſeinem Genera
plantarum zeigt, deßhalb, weil ihm der große Unterſchied zwiſchen
den Sporen der cryptogamiſchen Pflanzen und den Samen der
Phanerogamen völlig dunkel war. Juſſieu ſtand überhaupt
in ſeiner Auffaſſung der Generationsorgane noch weſentlich auf
Linné's Standpunkt, von welchem aus die Cryptogamen nach
dem Schema der Phanerogamen beurtheilt, in ihrer Eigenartig-
keit alſo nicht erkannt und deßhalb weſentlich durch negative
Merkmale charakteriſirt wurden.
Betrachtet man nun in der vorſtehenden Ueberſicht die Art
wie die Phanerogamen in Claſſen zerlegt werden, ſo fällt es auf,
daß die Dreitheilung in Hypogyne, Perigyne und Epigyne nicht
weniger als 4 mal wiederkehrt, ein Zeichen, wie ſehr Juſſieu
den claſſificatoriſchen Werth dieſer Merkmale verkannte; und
zudem hätte die viermalige Wiederkehr derſelben Dreitheilung
ſchon Zweifel an dem ſyſtematiſchen Werth dieſes Verfahrens
erregen ſollen. Um ſein Syſtem indeſſen genauer beurtheilen zu
können, iſt es nöthig, auch die Reihenfolge ſeiner Familien hier
anzuführen, deren Zahl Juſſieu bereits auf 100 vermehrt hat.
Classis I.
1. Fungi
2. Algae
3. Hepaticae
4. Musci
5. Filices
6. Najades
Classis II.
7. Aroideae
8. Typhae
9. Cyperoideae
10. Gramineae
Classis III.
11. Palmae
12. Asparagi
13. Junci
14. Lilia
15. Bromeliae
16. Asphodeli
17. Narcissi
18. Jrides
Classis IV.
19. Musae
20. Cannae
21. Orchides
22. Hydrocharides
Classis V.
23. Aristolochiae
Classis VI.
24. Elaeagni
25. Thymeleae
26. Proteae
27. Lauri
28. Polygoneae
29. Atriplices
[129]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Classis VII.
30. Amaranthi
31. Plantagines
32. Nyctagines
33. Plumbagines
Classis VIII.
34. Lysimachiae
35. Pediculares
36. Acanthi
37. Jasjmineae
38. Vitices
39. Labiatae
40. Scrophulariae
41. Solaneae
42. Borragineae
43. Convolvuli
44. Polemonia
45. Bignoniae
46. Gentianae
47. Apocineae
48. Sapotae
Classis IX.
49. Guajacanae
50. Rhododendra
51. Ericae
52. Campanulaceae
Classis X.
53. Cichoraceae
54. Cinarocephalae
55. Corymbiferae
Classis XI.
56. Dipsaceae
57. Rubiaceae
58. Caprifolia
Classis XII.
59. Araliae
60. Umbelliferae
Classis XIII.
61. Ranunculaceae
62. Papaveraceae
63. Cruciferae
64. Capparides
65. Sapindi
66. Acera
67. Malpighiae
68. Hyperica
69. Guttiferae
70. Aurantia
71. Meliae
72. Vites
73. Gerania
74. Malvaceae
75. Magnoliae
76. Anonae
77. Menisperma
78. Berberides
79. Tiliaceae
80. Cisti
81. Rutaceae
82. Caryophylleae
Classis XIV.
83. Sempervivae
84. Saxifragae
85. Cacti
86. Portulaceae
87. Fycoideae
88. Onagrae
89. Myrti
90. Melastomae
91. Salicariae
92. Rosaceae
93. Leguminosae
94. Terebinthaceae
95. Rhamni
Classis XV.
96. Euphorbiae
97. Cucubitaceae
98. Urticae
99. Amentaceae
100. Coniferae
Sachs, Geſchichte der Botanik. 9
[130]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Sehen wir von der Stellung der Najadeen ab, ſo bietet
Juſſieu's Eintheilung der Cryptogamen und Monocotylen ſchon
viel Befriedigendes dar. Größtentheils mißlungen iſt dagegen die
Gruppirung der Dicotylen, vorwiegend in Folge des übergroßen
Gewichtes, welches Juſſieu auf die Inſertion der Blüthentheile
d. h. auf die hypogyniſche, perigyniſche, epigyniſche Anordnung
derſelben legte. In dieſer Zuſammenſtellung der Familien zu
Claſſen liegt die ſchwache Seite von Juſſieu's Syſtem, ſie
iſt durchaus künſtlich und die Aufgabe der Nachfolger war
es nun, die in der Hauptſache feſtgeſtellten Familien der Pha-
nerogamen, vorwiegend der Dicotylen, in größere natürliche
Verwandtſchaftskreiſe zuſammenzuordnen. Dieß konnte aber erſt
geſchehen, wenn die Morphologie der Syſtematik neue Geſichts-
puncte eröffnete; Juſſieu nämlich ſtand wie erwähnt, in der
Morphologie der Fructificationsorgane der Phanerogamen
noch weſentlich auf Linné's Standpunct, wenn er auch immer-
hin im Einzelnen Vieles verbeſſerte. Er legte größeren Werth
auf die Zahlen und relativen Stellungsverhältniſſe der verſchie-
denen Blüthentheile; die Beachtung der Inſertion derſelben an
der Blüthenaxe, die er als hypogyne, epigyne und perigyne be-
zeichnete, wäre ein großer Fortſchritt geweſen, wenn er ſie in
ihrem ſyſtematiſchen Werth nicht überſchätzt hätte. Die Morpho-
logie der Frucht aber leidet bei Juſſieu an großer Oberfläch-
lichkeit, ſelbſt die Bezeichnung trockener Schließfrüchte als nackte
Samen kehrt in den Diagnoſen wieder, wenn auch freilich dieſe
unrichtige Auffaſſung nicht gerade auffallende Störungen ver-
urſacht. Wie ſchlimm es noch immer mit der genaueren Unter-
ſuchung der Fructificationsorgane, wenn dieſelben nur einiger-
maßen klein und unſcheinbar ſind, ausſah, zeigt ſich am beſten
darin, daß die Najadeen, denen auch Hippuris, Chara,
Callitriche beigezäht ſind, unter den Acotyledones
figuriren und daß den Filices auch Lemna und die Cyca-
deen beigezählt ſind.
Den Satz: Natura non facit saltus, deutete auch Juſſieu
noch in dem Sinne, daß ſämmtliche Pflanzen in ihrer natür
[131]Dogma von der Conſtanz der Arten.
lichen Anordnung eine geradlinige, von den unvollkommenſten
zu den höchſten aufſteigende Reihe darſtellen müßten; Er läßt
es aber unentſchieden, ob nicht auch Linné's Vergleichung des
natürlichen Syſtems mit einer geographiſchen Karte, deren Länder
den Ordnungen und Claſſen entſprechen, zuzulaſſen ſei.
Die theoretiſchen Darlegungen Juſſieu's Betreffs der
ſyſtematiſchen Auswerthung gewiſſer Merkmale haben wenig An-
ziehendes und ſind meiſt nicht ſehr zutreffend; er behandelt die
Sache ſo, als ob gewiſſe Merkmale überhaupt einen umfaſſen-
deren, andere einen weniger umfaſſenden Werth haben müßten;
inſoweit dies nun thatſächlich der Fall iſt, beruht die Erkennung
dieſes Verhaltens aber ganz und gar auf Induction; d. h. nach-
dem die natürlichen Verwandtſchaften bereits bis zu einem gewiſſen
Grade erkannt ſind, zeigt ſich, daß gewiſſe Merkmale in mehr oder
minder großen Gruppen conſtant bleiben; der Syſtematiker kann
nun ferner probiren, ob ſolche conſtante Merkmale vielleicht auch
bei anderen Pflanzen vorkommen, welche er bisher andern Ver-
wandtſchaftskreiſen zugezählt hatte und ſo probeweiſe verſuchen,
ob ſich mit jenen Merkmalen etwa noch andere verbinden, aus
denen die Verwandtſchaftsverhältniſſe conſtatirt werden können;
daß Juſſieu bei der Umgrenzung ſeiner Familien ſo verfahren
iſt, leidet keinen Zweifel, doch war er ſich deſſen nicht ganz klar,
und jedenfalls dehnte er dieſes Verfahren, leitende Merkmale auf-
zuſuchen, nicht aus auf die Feſtſtellung größerer Gruppen oder
Claſſen die er nach a priori aufgeſtellten Gründen eintheilte.
Juſſieu's Thätigkeit als Syſtematiker war jedoch mit der
Herausgabe ſeiner Genera plantarum nicht abgeſchloſſen, viel-
mehr begannen erſt nach 1802 ſeine fruchtbarſten Unterſuchungen,
die er in einer langen Reihe von Monographieen verſchiedener
Familien in den Mémoires du museum bis zum Jahre 1820
niederlegte. Er fühlte ſo gut, wie gleichzeitig De Candolle
und Robert Brown und die ſpäteren Syſtematiker, daß es ſich
für den Ausbau des natürlichen Syſtems vor Allem um eine
ſorgfältige Feſtſtellung und Begrenzung der Familien handelte.
Einen neuen Anſtoß erhielten aber Juſſieu's Beſtrebungen
9*
[132]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
durch das Werk eines deutſchen, deſſen erſter Band bereits 1788
alſo ein Jahr vor den Genera plantarum erſchienen war, deſſen
zweiter Band 1791 folgte. (Ein Suplement erſchien 1805.)
Dieſes Werk iſt Joſeph Gärtner's1) Carpologie: De
fructibus et seminibus plantarum, in welchem die Früchte
und Samen von mehr als 1000 Pflanzengattungen beſchrieben
und ſorgfältig abgebildet ſind. Faſt wichtiger als dieſe zahl-
reichen Einzelbeſchreibungen, die den Syſtematikern von Fach ein
reiches Material darboten, ſind aber die Einleitungen zu den
beiden erſten Bänden, beſonders die vom Jahre 1788. Abgeſehen
von werthvollen Betrachtungen über die Sexualität der Pflanzen,
welche ſeit Rudolph Jacob Camerarius 1694 erſt wieder
durch Kölreuter ſeit 1761 eine ſehr namhafte Förderung erfahren
hatte, ſeitdem aber wenig bearbeitet worden war; begründete
Gärtner in der umfangreichen Einleitung die Morphologie der
Früchte und Samen, welche ſeit Malpighi's und Grew's
Zeit eher Rückſchritte als Fortſchritte gemacht hatte; Gärtner
war dazu nicht bloß durch ſeine bis dahin unerhörte Formen-
kenntniß der Früchte, ſondern noch mehr durch ſeine geiſtigen
Anlagen befähigt: ganz frei von den ſcholaſtiſchen Neigungen
Linné's, trat er an die Unterſuchung der ſchwierigſten Organe
der Pflanze mit eben ſo großer Unbefangenheit als genauer
Literaturkenntniß heran; Joſeph Gärtner macht, abgeſehen
[133]Dogma von der Conſtanz der Arten.
von Kölreuter, in weit höherem Grade als irgend ein Botaniker
des 18. Jahrhunderts den Eindruck eines modernen Natur-
forſchers. Was er aus ſeinen zahlreichen einzelnen Unterſuch-
ungen als allgemein werthvoll abſtrahirte, verſtand er auch in
durchſichtiger und überſichtlicher Form darzuſtellen. Obgleich
man leicht erkennt, daß ihm als letztes Ziel ſeiner langwierigen
Arbeit die Begründung des natürlichen Syſtems vorſchwebte, ſo
überſtürzte er ſich doch keineswegs mit der Aufſtellung eines
ſolchen; er begnügte ſich vielmehr damit, die Fruchtformen ſelbſt
überſichtlich zu ordnen, indem er ausdrücklich hervorhob, daß auf
dieſem Wege allein das natürliche Syſtem nicht begründet werden
könne, wenn auch immerhin die genaue Kenntniß der Früchte
und Samen die wichtigſten Mittel zur Entſcheidung an die Hand
gebe. So wurde ſein großes Werk einerſeits eine unerſchöpfliche
Fundgrube von einzelnen wohl conſtatirten Thatſachen, anderer-
ſeits aber der Wegweiſer in die Morphologie der Fructifications-
Organe und deren Verwendung in der Syſtematik. Die Unvoll-
kommenheiten, welche auch dieſem Werk nicht fehlten, ſind in der dama-
ligen Zeitlage begründet: die trotz Schmiedel's und Hedwig's
Unterſuchungen über die Mooſe noch immer beſtehende Unklarheit
über die Fortpflanzungsorgane der Cryptogamen erſchwerte in
höchſtem Grade eine richtige Begrenzung der Begriffe Same
und Frucht; obwohl gerade in dieſer Beziehung Gärtner einen
großen Schritt vorwärts that, indem er zeigte, daß die Sporen
der Cryptogamen, die man bis dahin den Samen der Phanero-
gamen gleichgeſtellt hatte, von dieſen ganz weſentlich verſchieden
ſind, inſofern ſie einen Embryo nicht enthalten. Er nannte ſie
daher nicht Samen, ſondern Gemmen. Das zweite große Hin-
derniß, welches ſich der richtigen Auffaſſung gewiſſer Eigenſchaften
der Früchte und Samen bei Gärtner entgegenſtellte, war die
völlige Unbekanntſchaft mit der Entwicklungsgeſchichte in jener
Zeit; aber auch hier findet man bei ihm ſchon einen wenn auch
unbedeutenden Fortſchritt, inſofern er mehrfach zur richtigeren
Auffaſſung der Organe auf die Jugendzuſtände zurückgeht.
Vor Allem machte Gärtner dem noch immer beſtehenden
[134]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Unfug, die trockenen Schließfrüchte als nackte Samen zu bezeichnen,
ein Ende, indem er den Begriff des Pericarpiums als der reif
gewordenen Fruchtknotenwand richtig verallgemeinerte, die kräftige
oder ſchwache Ausbildung derſelben, die trockene oder pulpöſe
Beſchaffenheit als Nebenſache erkannte. Daß dadurch auch die
ganze Theorie der Blüthe inſoferne trockene Schließfrüchte aus
unter- oder oberſtändigen Fruchtknoten entſtehen können, auf
eine beſſere Grundlage geſtellt wurde, leuchtet ſofort ein. Zu
den verdienſtvollſten Leiſtungen Gärtner's aber gehört ſeine
Theorie des Samens. Nach einer ſorgfältigen Unterſuchung der
Samenhüllen wird der davon umſchloſſene Kern (nucleus) einer
auf eingehender Vergleichung beruhenden Betrachtung unterzo-
gen; das Endoſperm von den Cotyledonen richtig unterſchie-
den, die Verſchiedenheiten ſeiner Form und Lage dargeſtellt.
Dieß war um ſo nöthiger, als Linné die Exiſtenz eines „Al-
bumens“ bei den Pflanzen, welches Grew bereits erkannt und
mit dieſem Namen belegt, deshalb geleugnet hatte, weil es
für den Samen nutzlos ſei. Obgleich Gärtner die Cotyledonen
neben dem Embryo als Beſtandtheil des Samenkerns aufführt,
zeigt ſeine Darſtellung doch, daß er ſie als Auswüchſe des
Embryos ſelbſt betrachtete. Die Unſicherheit, welche damals noch
in der Deutung der Samentheile beſtand, zeigt ſich jedoch bei
Gärtner in der Aufſtellung des wunderlichen Begriffes vitellus,
der im Grunde alles das umfaßt, was er innerhalb des Samens
nicht recht zu deuten wußte; ſo iſt ihm z. B. das scutellum
der Gräſer aber auch der Cotyledonarkörper von Zamia ein
vitellus und bei den Sporen der Fucaceen, Mooſe und Farne
wird ſogar der ganze Inhalt als vitellus bezeichnet. Trotz der
auffallenden mit dieſem Irrthume verbundenen Mängel ſeiner
Samentheorie überragt dieſe doch an Klarheit und Conſequenz
bei Weitem Alles, was bis dahin geleiſtet worden war. In
logiſcher und formaler Beziehung war es auch ein Fortſchritt,
daß Gärtner den entwicklungsfähigen Theil im Samen als
den Embryo bezeichnete, wenn es auch immerhin ein Fehler
blieb, daß er die mit dem Embryo verwachſenen Cotyledonen
[135]Dogma von der Conſtanz der Arten.
nicht mit in den Begriff desſelben hineinzog, was ſich jedoch
ſpäter leicht corrigiren ließ. Das, was Gärtner jetzt Embryo
nannte, war bisher beſonders auch von Linné und Juſſieu
als corculum seminis bezeichnet worden; offenbar glaubte man
damit Caeſalpin's Sprachgebrauch feſtgehalten zu haben, der
jedoch, wie wir ſahen, als cor seminis die Stelle betrachtete,
wo die Cotyledonen aus dem Keim entſpringen, welche Stelle
Caeſalpin fälſchlich für die Grenze von Wurzel und Stamm-
theil und dementſprechend für den Sitz der Pflanzenſeele hielt.
So war endlich nach 200 Jahren auch das Wort beſeitigt,
welches noch an die Anſchauungen Caeſalpin's betreffs der
Pflanzenſeele erinnern konnte.
In Deutſchland, wo ungefähr 30 Jahre früher auch die
glänzenden Unterſuchungen Kölreuter's wenig Anklang gefun-
den hatten, wo 1793 Conrad Sprengel's merkwürdige
Unterſuchungen über die Beziehungen des Blüthenbaues zur In-
ſectenwelt unverſtanden blieben; konnte auch ein Werk, wie das
in Rede ſtehende von Gärtner, kaum einen fruchtbaren Boden
finden; wie er im zweiten Theil 1791 ſich beklagt, waren in
drei Jahren von dem erſten epochemachenden Bande noch nicht
200 Exemplare gedruckt. Deſto mehr Anklang fand Gärtner's
Werk in Frankreich, wo die Academie es unter denjenigen, welche
in letzter Zeit den Wiſſenſchaften den meiſten Gewinn gebracht
hatten, als das zweite bezeichnete; dort lebte eben der Mann,
der den ganzen Werth einer ſolchen Arbeit zu ermeſſen ver-
mochte, Antoine Laurent de Juſſieu. Doch fehlte es
auch in Deutſchland, wo übrigens die Einzelbeſchreibung behaglich
fortwucherte, nicht ganz an Männern, welche Gärtner's
Leiſtung ebenſo wie die Bedeutung des natürlichen Syſtems zu
ſchätzen wußten. So vor Allem A. J. G. V. Batſch (1761
bis 1802) Profeſſor in Jena, der ſelbſt 1802 eine tabula affini-
totum regni vegetabilis mit Charakteriſtik der Gruppen und
Familien herausgab. Noch mehr trug wohl zur Klärung der
Anſichten über das Weſen des natürlichen Syſtems nicht nur,
ſondern über die Aufgabe der wiſſenſchaftlichen Botanik überhaupt
[136]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Kurt Sprengel (geb. 1766, geſt. 1833, Profeſſor der Botanik
in Halle) durch zahlreiche Arbeiten, ganz beſonders aber durch
ſeine Geſchichte der Botanik bei, welche 1817-1818 erſchien.
Wie ſehr aber auch dieſer vielſeitige und gelehrte Mann noch
die Linné'ſche Ueberſchätzung der Einzelbeſchreibung theilte, zeigt
ſich gerade in ſeiner Geſchichte recht ſchlagend, wenn er, um die
Verdienſte älterer Botaniker hervorzuheben, Verzeichniſſe der von
ihnen zuerſt beſchriebenen Pflanzen mittheilt.
Die verdienſtlichen Bemühungen dieſer Männer waren in-
deſſen weder bahnbrechend an ſich, noch vermochten ſie das
natürliche Syſtem in Deutſchland zu allgemeiner Anerkennung
zu bringen. Dies gelang erſt, nachdem dasſelbe noch eine be-
trächtliche Förderung durch die zwei hervorragendſten Botaniker
jener Zeit, P. de Candolle und Robert Brown er-
fahren hatte.
Pyrame de Candolle1) (1778-1841) gehört zu der
[137]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Zahl hervorragender Naturforſcher, welche am Ende des vorigen
Jahrhunderts und am Anfang des unſrigen ihre Vaterſtadt Genf
zu einem glänzenden Centrum der Naturwiſſenſchaft erhoben.
De Candolle war Zeitgenoſſe und Landsmann Vaucher's,
Theodor de Sauſſure's, Sennebier's. Es war ganz
vorwiegend die phyſikaliſche und phyſiologiſche Forſchung, welche
damals in Genf blühte und ihrem Einfluß entzog ſich auch
Pyrame de Candolle nicht; zu ſeinen Jugendarbeiten
gehörten wichtige Unterſuchungen über die Wirkungen des
Lichtes auf die Vegetation und was De Candolle ſpäter
durch ſein großes Lehrbuch der Pflanzenphyſiologie geleiſtet
hat, wird in der Geſchichte dieſer Disciplin weiterhin erwähnt
werden. Ueberhaupt waren es alle Theile der theoretiſchen und
angewandten Botanik, denen De Candolle ſeine Aufmerkſamkeit
zuwandte, wenn auch immerhin ſeine Bedeutung für die Ge-
ſchichte unſerer Wiſſenſchaft ganz vorwiegend auf Seiten der
Morphologie und Syſtematik liegt und dieſe ſoll hier allein aus-
führlicher dargeſtellt werden.
Als practiſchen Syſtematiker und deſcriptiven Botaniker
bethätigte ſich De Candolle in einem Umfang wie keiner vor
oder nach ihm; abgeſehen von einer Reihe umfangreicher Mono-
graphieen großer Familien, gab er de la Marck's große Flore
française weſentlich verändert und bereichert neu heraus; und
neben zahlreichen anderen derartigen zumal auch pflanzengeogra-
phiſchen Arbeiten gründete er das großartigſte Werk der beſchrei-
benden Botanik, welches bis jetzt exiſtirt, den Prodromus syste-
matis naturalis, in welchem alle bis dahin bekannten Species
nach ſeinem natürlichen Syſtem geordnet ausführlich beſchrieben
werden ſollen, ein Werk, welches noch jetzt nicht ganz abgeſchloſſen
vorliegt, an welchem ſich viele andere deſcriptive Botaniker
der letzten Jahrzehnte betheiligt haben; keiner aber in ſo um-
fangreicher Weiſe wie De Candolle, der allein mehr als 100
Familien bearbeitet hat. Es iſt nicht wohl möglich, von dem
in ſolchen Arbeiten liegenden Verdienſt in Kürze Rechenſchaft zu
geben, ſie bilden eben die eigentlich empiriſche Grundlage der
[138]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
geſammten Botanik und je beſſer und umſichtiger dieſe gelegt iſt,
deſto größere Sicherheit gewinnt die ganze Wiſſenſchaft in ihren
Fundamenten.
Allein De Candolle erwarb ſich vielleicht ein viel größeres
Verdienſt dadurch, daß er nicht bloß wie Juſſieu das Syſtem
und ſeine Grundlagen deſcriptiv bearbeitete, ſondern die Theorie
der Syſtematik, die Geſetze der natürlichen Claſſification mit
einer Klarheit und Tiefe entwickelte, wie Niemand vor ihm; zu
dieſem Zweck aber ſtützte er ſich auf morphologiſche Unterſuchun-
gen, die an Tiefe und Gedankenreichthum, an Fruchtbarkeit für
die ganze Syſtematik bei Weitem Alles übertrafen, was Linné
und Juſſieu geleiſtet haben. Man ſieht es De Candolle's
morphologiſchen und ſyſtematiſchen Unterſuchungen an, daß er
neben ſeiner großartigen deſcriptiven Thätigkeit den modernen
Geiſt der Naturforſchung, wie ihn die franzöſiſchen Natur-
forſcher am Ende des vorigen Jahrhunderts bethätigten, während
ſeines zehnjährigen Aufenthaltes in Paris in ſich aufgenommen
hatte. Bei De Candolle iſt kaum noch eine Spur des ſchola-
ſtiſchen Geiſtes Caeſalpin's und Linné's, der auch bei
Juſſieu noch gelegentlich zum Vorſchein kommt, zu finden. Um
nur einige Hauptpuncte vorläufig hervorzuheben, ſei darauf
hingewieſen, daß De Candolle die Morphologie weſentlich als
die Lehre von der Symmetrie der Pflanzengeſtalt behandelte,
d. h. er fand die Grundlage der morphologiſchen Betrachtung
in den Stellungs- und Zahlenverhältniſſen der Organe, wogegen
die phyſikaliſch-phyſiologiſchen Eigenſchaften derſelben als morpho-
logiſch werthlos zurücktreten. De Candolle war es daher,
der zuerſt die ſo merkwürdige Discordanz der morphologiſchen
Eigenſchaften der Organe, welche für die Syſtematik werthvoll
ſind und der phyſiologiſchen Anpaſſungen derſelben an die Lebens-
bedingungen erkannte, wenn auch immerhin ſogleich geſagt werden
muß, daß er dieſen Gedanken nicht conſequent durchführte, viel-
mehr bei der Aufſtellung ſeines eigenen Syſtems ſich arge Ver-
ſtöße dagegen zu Schulden kommen ließ. Ein Punct von ganz
hervorragendem Intereſſe liegt in De Candolle's morpholo-
[139]Dogma von der Conſtanz der Arten.
giſchen Betrachtungen inſofern, als er zuerſt verſuchte, gewiſſe
Zahlen- und Formenverhältniſſe auf gewiſſe Urſachen zurückzu-
führen und ſo das primär Wichtige in der Symmetrie der
Pflanzen von bloß ſecundären Abweichungen zu unterſcheiden,
was namentlich in der von ihm begründeten Lehre vom
Abortus und von der Verwachſung der Organe hervortritt. In
dieſen Unterſcheidungen legte De Candolle den Grund zu mor-
phologiſchen Anſchauungen, welche, wenn auch zum Theil verän-
dert, noch jetzt die wichtigſten Elemente der Morphologie und
natürlichen Syſtematik enthalten. Indeß bewegten ſich die mor-
phologiſchen Betrachtungen De Candolle's ausſchließlich auf
dem Gebiete der Phanerogamen und vorwiegend war es die
Blüthentheorie, die dadurch gefördert wurde. Bei dem Zuſtand
der Mikroſkopie vor 1820 war an eine Morphologie der Cryp-
togamen ebenſo wenig zu denken, wie an die Herbeiziehung der
Entwicklungsgeſchichte zur Aufſtellung morphologiſcher Theorieen.
Im Zuſammenhang hat De Candolle ſeine Morphologie
oder die Lehre von der Symmetrie und ſeine Theorie der Claſſi-
fication in einem Buch dargeſtellt, welches unter dem Titel:
Théorie élémentaire de la botanique ou exposition des
principes de la classification naturelle et de l'art de d'écrire
et d'étudier les végétaux zuerſt 1813 erſchien und 1819 ver-
beſſert und vermehrt nochmals herauskam. An dieſe zweite Auf-
lage werde ich mich bei der weiteren Darſtellung ſeiner Anſichten
halten. Von Intereſſe iſt für uns zunächſt das zweite Capitel
des zweiten Buches. Nachdem er darauf hingewieſen, daß Ana-
tomie und Phyſiologie es nur mit der Structur des einzelnen
Organs für ſich, zu thun habe, ſofern es durch dieſe im Stande iſt,
ſeine Funktion zu erfüllen, hebt er hervor, daß die phyſiologiſche
Betrachtung keineswegs mehr hinreicht, wenn es ſich um eine
Vergleichung der Organe verſchiedener Pflanzen handelt. Ob-
gleich es richtig ſei, daß die Funktion der Organe für den Be-
ſtand des Individuums das Wichtigſte ſei, ſo finde man doch
an homologen Organen verſchiedener Pflanzen gerade die Func-
tionen modificirt; für die natürliche Claſſification aber ſei es
[140]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
das geſammte Organiſationsſyſtem oder die Symmetrie, welche
allein in Betracht kommen könne. Alle Organismen eines Rei-
ches, fährt er fort, haben mit leichten Abänderungen dieſelben
Functionen; die enormen Verſchiedenheiten der ſyſtematiſch ver-
ſchiedenen Arten beruhen daher nur in der Art und Weiſe, wie
die allgemeine Symmetrie der Structur ſich verändert. Dieſe
Symmetrie der Theile, das weſentliche Ziel der Naturforſchung,
ſei weiter Nichts als die Geſammtheit (l'ensemble) der relativen
Stellungsverhältniſſe der Theile. Jedesmal, wenn dieſe relativen
Stellungsverhältniſſe (disposition) nach demſelben Plane
geregelt ſind, bieten die Organismen unter ſich eine Art von
Geſammtähnlichkeit dar, unabhängig von der Form der Organe
im Einzelnen; inſofern man dieſe Geſammtähnlichkeit wahrnimmt,
ohne ſich über dieſelbe im Einzelnen Rechenſchaft zu geben, ſei
es das, was man als habituelle Verwandtſchaft bezeichnet habe;
Aufgabe der Lehre von der Symmetrie aber ſei es, dieſe habi-
tuelle Aehnlichkeit in ihre Elemente zu zerlegen und ſich über
ihre Urſachen klar zu werden. Ohne dieſes Studium der Sym-
metrie könne es leicht vorkommen, daß zweierlei verſchiedene
Arten von Symmetrie in Folge ihrer ſinnlichen äußerlichen
Aehnlichkeit für gleichartig gehalten würden, ähnlich wie man
Cryſtallformen ganz verſchiedener Syſteme ohne genaue Unter-
ſuchung mit einander verwechſeln könne; für jede Pflanzenklaſſe
müſſe man nun zunächſt den Symmetrieplan kennen und das
Studium desſelben ſei die Grundlage einer jeden Theorie der
natürlichen Verwandtſchaften. Aber der Erfolg dieſes Studiums
ſelbſt werde bedingt durch die Sicherheit der Unterſcheidung der
Organe, welche unabhängig von den Veränderungen der Form,
Größe und Function ſein müſſe. Er findet nun, daß die Schwie-
rigkeiten bei der morphologiſchen Vergleichung der Organe, oder
wie wir jetzt ſagen würden, bei der Feſtſtellung der Homologie,
von drei Urſachen abhängen. Dieſe liegen in dem Abortus, in
der Degeneration und den Verwachſungen (adhérence). Im
Verfolg werden nun dieſe drei Urſachen, durch welche der
urſprüngliche Symmetrieplan einer Claſſe verändert und ſelbſt
[141]Dogma von der Conſtanz der Arten.
unkenntlich gemacht werden kann, an Beiſpielen ausführlich
erläutert.
Betreffs des Abortus unterſcheidet er den durch innere Ur-
ſachen von dem durch zufällige äußere bewirkten; er weiſt zunächſt
auf den Abortus zweier Fruchtfächer bei der Roßkaſtanie und
Eiche hin, auf die Unterdrückung der Terminalknoſpe mancher
Sträucher durch die benachbarten Achſelknoſpen und in ähnlicher
Weiſe können alle Organe der Pflanze abortiren; ſo ſchwinden
die Sexualorgane vollſtändig in den Randblüthen von Viburnum
Opulus, nur eines beider Geſchlechter in der Blüthe von Lychnis
dioica u. ſ. w. Er geht hierauf zur Beantwortung der Frage
über, durch welche Mittel man unter ſolchen Umſtänden die
Symmetrie noch zu erkennen im Stande ſei; ein ſolches findet
er in den Monſtroſitäten, unter denen es auch ſolche gebe, welche
als Rückkehr zur urſprünglichen Symmetrie gelten dürfen, wie
die ſogenannten Pelorien. Weniger ſicher ſei die Analogie oder
„Induction“, dafür aber von viel ausgedehnterer Anwendbarkeit;
ſie gründe ſich ausſchließlich auf die Kenntniß der relativen
Stellung der Organe. Mit dieſer ausgerüſtet, finde man, daß
die Blüthe von Albuca, die einer ächten Liliaceen-Blüthe
nur deßhalb nicht entſpricht, weil ſie bloß drei Staubfäden beſitzt,
doch als eine Liliaceen-Blüthe zu betrachten ſei, weil zwiſchen
dieſen noch drei Fäden ſtehen, welche genau ſo wie die drei
anderen Liliaceen-Staubfäden geſtellt ſind. Man müſſe alſo
ſchließen, daß es abortirte Staubfäden ſind. Derartige Analogie-
ſchlüſſe müſſen von Species zu Species, von Organ zu Organ
geführt werden und thatſächlich hätten es die großen Syſtematiker
auch ſo gemacht. — In gewiſſen Fällen werde der Abortus
durch mangelhafte, in anderen durch überſchüſſige Ernährung
hervorgerufen, wofür er Beiſpiele anführt. Wichtig iſt der bei
dieſer Gelegenheit hingeſtellte Satz: Alles in der Natur laſſe
uns glauben, daß alle Organismen ihrer innerſten Natur nach
regelmäßig ſind, und daß verſchiedene Formen des Abortus,
verſchieden kombinirt alle Unregelmäßigkeit hervorbringen; un-
ter dieſem Geſichtspunkt ſeien auch die kleinſten Unregelmäßig-
[142]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
keiten wichtig, weil ſie uns viel größere bei nahe verwandten
Pflanzen vermuthen laſſen und jedesmal, wo es in einem gege-
benen Organiſationsſyſtem Ungleichheiten zwiſchen gleichnamigen
Organen gibt, wird die Ungleichheit ein Maximum erreichen
können, d. h. mit der vollſtändigen Vernichtung des kleinſten
Theiles endigen. So ſeien es bei den Labiaten mit zwei Staub-
fäden, die beiden auch ſonſt kleineren, welche hier vollſtändig
abortiren. Wenn bei den Craſſulaceen doppelt ſo viel Staub-
fäden als Blumenblätter vorhanden ſind, ſo finde man die mit
den letzteren alternirenden größer und zeitiger entwickelt, man
werde alſo erwarten dürfen, daß die anderen vor den Blumen-
blättern ſtehenden abortiren können und man werde alſo eine
Gattung, wo die letzteren zuweilen fehlen, wie Sedum, zu jener
Familie rechnen dürfen; fände man dagegen bloß die den Blumen-
blättern ſuperponirten Staubgefäße, ſo dürfte dieß nicht geſchehen.
— Es komme vor, daß ein Organ durch theilweiſen Abortus
verhindert wird, ſeine Function zu erfüllen. Dafür könne es
dann aber eine andere übernehmen, wie die abortirenden Blätter
der Wicken und die abortirenden Blüthenriſpen des Weinſtockes
als Ranken verwendet werden u. ſ. w. In anderen Fällen
dagegen erſcheine das abortirte Organ geradezu nutzlos, ſo z. B.
viele rudimentäre Blätter ohne Function. Alle derartigen unnützen
Organe, ſagt de Candolle, exiſtiren nur in Folge der primi-
tiven Symmetrie aller Organe. Endlich kann der Abortus ſo
vollſtändig ſein, daß keine Spur des Organs übrig bleibt, wobei
man jedoch zwei Fälle unterſcheidet, den einen, wo das Organ
anfangs noch merklich iſt, ſpäter aber ganz verſchwindet, wie bei
den abortirenden Fruchtfächern der Eiche; in anderen Fällen
dagegen finde man von dem abortirenden Organ gleich anfangs
keine Spur, wie von dem fünften Staubfaden des Antirrhinum.
Alles bisher Geſagte könnte wörtlich zum Beweis für die
Deſcendenztheorie angeführt werden, aber unſer Autor iſt ein
Anhänger des Dogma's von der Conſtanz der Arten; was er
ſich auf ſeinem Standpunct unter Abortus eigentlich denkt, iſt
ſchwer zu ſagen, denn es fehlt ihm das Object, welches abortirt.
[143]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Sind nämlich die Arten conſtant, alſo auch abſolut verſchie-
denen Urſprungs, ſo dürfte man überhaupt nicht von Abortus
reden, ſondern man könnte nur ſagen, ein Organ, welches bei
der einen Species vorhanden oder groß iſt, ſei bei der anderen
klein oder es fehle ganz. Mit der Einführung des Begriffes
Abortus überſchreitet alſo De Candolle bereits die Conſtanz
der Arten, freilich ohne ſich ſelbſt über dieſen wichtigen Schritt
klar zu werden. De Candolle's Verfahren zeigt eben, daß
die Thatſachen ſogar einen Vertheidiger der Conſtanz wider
ſeinen Willen zu theoretiſchen Annahmen führen, welche dem
Dogma zuwider laufen. Dieß beſtätigt ſich auch bei ſeiner
Wahrnehmung der Correlation des Wachsthums, die ſich mit
dem Abortus verbindet; er weiſt darauf hin, wie durch das
Schwinden der Sexualorgane in den Randblüthen von Vibur-
num Opulus die Blumenkronen, wie ebenſo die Deckblätter der
abortirten Blüthen von Salvia Horminum ſich vergrößern; in
ähnlichem Sinne betrachtet er das Schwinden der Samen bei
der Ananas, der Banane, dem Brodfruchtbaum als die Urſache
der Vergrößerung der Perikarpien; ebenſo entgeht ihm nicht, daß
bei Rhus Cotinus die fruchtbaren Blüthenſtiele nackt bleiben,
während an den unfruchtbaren eine elegante Behaarung ſich
bildet; auch die blattartige Ausbreitung ſolcher Blattſtiele von
Acacia heterophylla, welche ihre Lamina nicht entwickeln,
führt er auf dieſe Correlation des Wachsthums zurück. Das
merkwürdigſte Beiſpiel dieſer Art findet er bei der Füllung der
Blumen, wo ſeiner Anſicht nach das Schwinden der Antheren,
die corolliniſche Ausbildung der Filamente bedingt; ähnlich werde
auch zuweilen durch das Schwinden der Narben das Carpell in
ein Blumenblatt verwandelt. Obgleich man in manchen dieſer
Fälle das Cauſalverhältniß gewiß auch umgekehrt denken kann,
ſo bleibt doch jedenfalls De Candolle's Auffaſſung derſelben
unter dem Begriff der Correlation richtig.
Die zweite obengenannte Urſache, durch welche der Symme-
trieplan unkenntlich gemacht werden könne, die Degeneration,
macht ſich in der Bildung von Dornen, fadenförmigen Ver-
[144]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
längerungen membranöſen Ausbreitungen nnd in der Erzeugung
trockenhäutiger oder fleiſchiger Theile geltend.
Die dritte Art der Abweichungen von dem Symmetrieplan
ſind, wie oben erwähnt, die Verwachſungen, deren Theorie er
zunächſt auf die Pfropfung gründet, um dann auf ſchwierigere
Fälle überzugehen; ſo ſei die enge Nachbarſchaft der Fruchtknoten
gewiſſer Gaisblattarten die erſte Urſache der Verwachſung. Dieſe
beruhe deßhalb nicht auf dem Symmetrieplan, ſondern auf einem
Zufall, der aber bei der ſpecifiſchen Beſchaffenheit derartiger Pflanzen
conſtant auftritt. Im Zuſammenhang mit den Verwachſungs-
erſcheinungen betrachtet er nun auch die Frage, ob ein aus
mehreren Theilen zuſammengeſetztes Gebilde, wie z. B. ein mehr-
theiliger Fruchtknoten als urſprünglich einfach und erſt ſpäter
in Theile zerlegt zu denken ſei oder umgekehrt, es komme eben
darauf an, durch Unterſuchung zu unterſcheiden, welche Auffaſſung
im einzelnen Fall die richtige iſt. So laſſe ſich zeigen, daß die
ſogenannten durchwachſenen Blätter der Gaisblattarten, ebenſo
die Involucra mancher Umbelliferen und die ſogenannten
einblättrigen Kelche und Blumenkronen durch Verwachſung ent-
ſtanden ſeien und im weiteren Verfolg zeigt er nun, daß die
mehrfächerigen und mehrtheiligen Fruchtknoten ebenfalls durch
Verwachſung von zwei oder mehr Fruchtblättern ſich bilden und
ſchließt mit dem Hinweis auf die ſyſtematiſche Wichtigkeit der-
artiger Betrachtungen. Weiterhin kommt er dann auf die Be-
deutung der relativen Zahl der Blüthentheile zu reden, ein
Capital, welches zwar viel Gutes enthält, aber nicht hinreichend
ausgeführt iſt; denn erſt durch Schimper's Blattſtellungs-
lehre wurde es ſpäter möglich die Zahlen- und Stellungsverhält-
niſſe in präciſerer Weiſe auszudrücken.
Seine Regeln über die Anwendbarkeit ſeiner Morphologie
auf die Beſtimmung der Verwandtſchaftsverhältniſſe ſchließt er
mit dem Ausſpruch: die ganze Kunſt der natürlichen Claſſifica-
tion beſtehe darin, den Symmetrieplan zu erkennen und von all
den bisher beſprochenen Veränderungen desſelben zu abſtrahiren,
ungefähr ſo, wie der Mineralog die Grundformen der Kryſtalle
[145]Dogma von der Conſtanz der Arten.
aus den zahlreichen Ableitungsformen aufzufinden ſuche. Es iſt
nicht zu verkennen, daß in all' dem ein großer Fortſchritt auf dem
richtigen Wege gemacht war, daß De Candolle hier ein
wichtiges Prinzip der Morphologie und Syſtematik zum erſten
Mal ausgeſprochen hatte; trotzdem aber gelang es ihm keines-
wegs, ſein eigenes Prinzip überall conſequent durchzuführen; nur
bei der Beſtimmung der kleinen Verwandtſchaftskreiſe blieb er
ſich ſelber treu; bei der Aufſtellung der größten Abtheilungen
des Pflanzenreichs aber vergaß er vollſtändig auf den von ihm
ſelbſt erwieſenen Satz, daß die morphologiſche Natur der Organe
und ihre ſyſtematiſche Verwerthbarkeit von ihrer phyſiologiſchen
durchaus unabhängig und daß gerade die phyſiologiſch wich-
tigſten Eigenſchaften für die Beſtimmung der Verwandtſchaften
von ganz untergeordneter Bedeutung ſind. Trotz dieſer kaum
begreiflichen Inconſequenz De Candolle's gebührt doch ihm
das Verdienſt, zuerſt auf den Unterſchied der morphologiſchen
und phyſiologiſchen Merkmale mit Nachdruck hingewieſen, die
Discordanz zwiſchen morphologiſcher Verwandtſchaft und
phyſiologiſchem Habitus deutlich hervorgehoben zu haben; in
dieſer Discordanz aber liegt ein Problem [verborgen], welches
erſt durch Darwin's Selectionstheorie 40 Jahre ſpäter gelöſt
werden konnte. Nur ein ächt inductives Verfahren konnte dieſe
merkwürdigen Beziehungen zwiſchen morphologiſchen und phyſio-
logiſchen Eigenſchaften der Organe aufdecken. Aber andererſeits
war De Candolle's Leiſtung nur deßhalb möglich, weil durch
ſeine Vorgänger bereits eine große Zahl verwandtſchaftlicher Be-
ziehungen feſtgeſtellt worden war. Indem er die als unzweifel-
haft verwandt bereits erkannten Formen genau verglich, offenbarte
ſich ihm das, was er den Symmetrieplan, was man ſpäter den
Typus nannte; und indem er dieſen ſelbſt genauer betrachtete,
mit den habituellen Eigenſchaften verſchiedener Pflanzen von
gleichem Symmetrieplan verglich, fand er gewiſſe Urſachen, aus
denen die Abänderungen zu begreifen ſind: den Abortus, die
Degeneration und die Verwachſungen; durch deren Beachtung
es nunmehr gelang, bisher zweifelhafte oder unbekannte Ver-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 10
[146]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
wandtſchaftsverhältniſſe zu entdecken; das war jedenfalls die
richtige, inductive Methode, um in der Syſtematik vorwärts zu
kommen; im Grunde hatten auch die früheren Syſtematiker, ſo-
weit ſie wirklich Brauchbares producirten, dasſelbe Verfahren
befolgt, ſie waren ſich aber über ihr eigenes Thun und Laſſen nicht
klar geworden; die Methode, welche De Candolle zu klarem
Bewußtſein erhob, hatten jene unbewußt befolgt.
Die Mehrzahl von De Candolle's Nachfolgern war in-
deſſen weit entfernt, die ganze Bedeutung ſeiner Theorie, ihre
methodiſche und principielle Wichtigkeit vollſtändig zu würdigen;
vielmehr überließ man ſich auch ſpäterhin bei der Aufſuchung
der Verwandtſchaften mehr einem dunklen Gefühl als einer klar
erkannten Methode und leider muß dasſelbe von De Candolle
ſelbſt behauptet werden, wo es ſich um die Aufſtellung der großen
Abtheilungen des Pflanzenreichs handelt. Mit nicht geringer
Ueberraſchung findet man in dem genannten Buch, in welchem er
die richtige Methode der Syſtematik entwickelt hat, die Anſicht
ausgeſprochen, daß für die Hauptabtheilungen des Syſtems die
wichtigſten phyſiologiſchen Eigenſchaften als Eintheilungsgründe
benützt werden müſſen und dieſer Gedanke wird noch dazu da-
durch verdorben, daß er den Organen andere phyſiologiſche
Eigenſchaften, als ſie wirklich beſitzen, zuſchreibt; ſo betrachtet
er die Gefäße als die wichtigſten Ernährungsorgane, was ſie in
der That gar nicht ſind und baut auf dieſen doppelten Irrthum
ſeine Haupteintheilung des ganzen Pflanzenreichs in Gefäßpflanzen
und gefäßloſe Pflanzen und indem er noch einen dritten Fehler
begeht, glaubt er, daß dieſe Eintheilung ſich decke mit der in
Cotyledonar- und Akotyledonarpflanzen. Die bereits feſtſtehende
Eintheilung in Monocotyledonen und Dicotyledonen,
die ſich auf ein leitendes, rein morphologiſches Merkmal ſtützt,
verdirbt De Candolle noch dazu, indem er der Anſicht Des-
fontaines' folgend, den Dicotyledonen ein anderes Dicken-wachsthum als den Monocotylen zuſchreibt, jene als exogene,
dieſe als endogene charakteriſirt; nun iſt aber dieſe Auffaſſung,
wie Mohl allerdings erſt 12 Jahre ſpäter bewies, an ſich durch-
[147]Dogma von der Conſtanz der Arten.
aus unrichtig, und wenn ſie auch richtig wäre, ſo wäre ſie doch
ſyſtematiſch genommen gleichgiltig, weil ſie ſich auf ein Merkmal
von morphologiſch ganz untergeordneter Bedeutung bezieht. Die
ſchlimmſte Folge dieſer Mißgriffe macht ſich nun darin geltend,
daß in ſeine Claſſe der Monocotyledonen auch die Gefäß-
kryptogamen eintreten, dem Juſſieu'ſchen Syſtem gegenüber
ein entſchiedener Rückſchritt. Trotz dieſer großen Mängel in der
Haupteintheilung des ganzen Pflanzenreichs verdiente De Can-
dolle's Syſtem doch den Ruhm, den es ſich erwarb und lange
erhielt; es beſaß nämlich dem Syſtem Juſſieu's gegenüber
den Vorzug, daß innerhalb der größten Abtheilung des Pflan-
zenreiches, in der Klaſſe der Dicotyledonen, größere Unter-
abtheilungen hervortraten, innerhalb welcher vielfach weſent-
lich verwandte Familien vereinigt waren; die Dicotylen zer-
fielen nämlich zunächſt in zwei künſtliche Gruppen, je nachdem
eine doppelte oder einfache Blüthenhülle vorhanden iſt; die erſte,
viel größere dieſer künſtlichen Gruppen aber wurde ihrerſeits in
eine Reihe von Untergruppen aufgelöſt, welche vielfach auf na-
türliche Verwandtſchaften hinwieſen. Daß dieſe Gruppen, die
erſt in neueſter Zeit weſentlich verändert worden ſind, den
natürlichen Verwandtſchaften ſchon in hohem Grade Rechnung
trugen, kam daher, daß De Candolle bei ihrer Aufſtellung
ſeine Theorie wirklich befolgte, während die künſtlichen Oberab-
theilungen aus der Nichtbeachtung ſeiner eigenen Regeln her-
vorgingen.
Gegen die ältere Vorſtellung, daß das Syſtem des Pflanzen-
reichs einer geradlinigen Reihe entſpreche, eine Vorſtellung, welche
aus dem mißverſtandenem Satz: Natura non facit saltus,
entſprang, trat De Candolle ſehr entſchieden auf, indem er
die Unmöglichkeit an Beiſpielen nachwies; dafür vertiefte er ſich
nur allzuſehr in den von Linné bereits hingeworfenen Gedanken,
den auch Giſeke, Batſch, Bernardin de Saint-Pierre,
L'Heritier, Du Petit-Thouars u. a. theilten, das Pflanzen-
reich ſei bezüglich ſeiner Gruppirung mit einer geographiſchen
Karte zu vergleichen, auf welcher die Welttheile den Klaſſen,
10*
[148]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
die Königreiche den Familien u. ſ. w. entſprechen. Wenn
mit der Vorſtellung einer geradlinigen Reihenfolge von den
unvollkommenſten bis zu den höchſten Pflanzen die An-
nahme der Deſcendenz noch bis zu einem gewiſſen Grade
verträglich ſchien, ſo iſt dagegen durch dieſe Vergleichung mit
einer Landkarte jede derartige Möglichkeit abgeſchnitten und
die ſyſtematiſche Forſchung zugleich auf einen gefährlichen Abweg
gebracht, inſoferne nämlich bloßen habituellen Aehnlichkeiten, ge-
legentlichen Analogieen, durch welche eine Pflanzengruppe mit
fünf oder ſechs anderen verbunden ſcheint, die Bedeutung wirk-
licher Verwandtſchaftsbeziehungen zuerkannt wird. Für die Dar-
ſtellung im Buch ließ übrigens De Candolle die geradlinige
Reihenfolge als Nothbehelf gelten, da dieß ohnehin Nebenſache
ſei, denn die wahre Aufgabe der Wiſſenſchaft ſei, die Symmetrie-
verhältniſſe einer jeden Familie und die gegenſeitigen Beziehungen
der Familien unter einander zu ſtudiren. Die Reihenfolge jedoch
dürfe bei der linearen Darſtellung des Syſtems aus didaktiſchen
Gründen nicht mit den einfachſten Pflanzen beginnen, da dieſe
noch am wenigſten bekannt ſeien, vielmehr müſſe die Darſtellung
mit den höchſtentwickelten Pflanzen anfangen; und ſo wurde denn
durch De Candolle in dem Syſtem auch die letzte Spur deſſen
verwiſcht, was noch einen Anklang an eine aufſteigende, konti-
nuirliche Entwicklung der Formen bieten konnte. Auf dem
Boden der Conſtanz jedoch und mit der Annahme, daß jedem Ver-
wandtſchaftskreis ein Symmetrieplan zu Grunde liege, um
welchen ſich die einzelnen Formen wie Kryſtalle um ihre gemein-
ſame Grundform gruppiren, waren dieſe Auffaſſungen De Can-
dolle's ganz conſequent. Es war damit im Pflanzenreich
dieſelbe Vorſtellungsweiſe zur Herrſchaft gebracht, welche De
Candolle's Zeitgenoſſe Cuvier, ein ebenſo ſchroffer Verthei-
diger der Conſtanz, im Thierreich als Typentheorie aufgeſtellt
hatte. So verbanden ſich denn bei De Candolle die glänzend-
ſten, auf induktivem Weg gewonnenen Ergebniſſe mit dem un-
fruchtbarem Dogma der Conſtanz der Arten, welches, wie Lange
witzig bemerkt, direkt aus der Arche Noa ſtammt, zu einem
[149]Dogma von der Conſtanz der Arten.
innigen Gemenge von Wahrheit und Irrthum; den zahlreichen
Nachfolgern De Candolle's aber gelang es nicht, dieſes Knäuel
zu entwirren, wenn auch immerhin die ſpäteren Syſteme die
weſentlichen Irrthümer in dem De Candolle's beſeitigten und
manches Beſſere einführten.
Zum Schluß mag hier eine Ueberſicht der Hauptabtheilungen
von De Candolle's Syſtem von 1819 folgen, welches er,
inſofern es eine lineare Darſtellung iſt, ausdrücklich ein künſt-
liches nennt.
- I. Vascular- oder Cotyledonarpflanzen.
- 1. Exogene oder Dicotyledonen
- A. mit doppeltem Perigon
Thalamifloren (polypetale hypogyne)
Calycifloren (polypetale perigyne)
Corollifloren (gamopetale) - B. Monochlamydeen (mit einfachem Perigon).
- A. mit doppeltem Perigon
- 2. Endogene oder Monocotyledonen.
- A. Phanerogamen (die eigentlichen Monocotylen)
- B. Cryptogamen (Gefaesscryptogamen incl. der
Najadeen).
- 1. Exogene oder Dicotyledonen
- II. Cellularpflanzen oder Acotyledonen.
- A. Beblaetterte (Muscineen)
- B. Blattlose (Thallophyten).
Die Geſammtzahl der Familien bei Linné 67, bei A. L.
de Juſſieu 100, hat De Candolle hier auf 161 vermehrt.
Wenn die von De Candolle aufgeſtellten Grundſätze der
vergleichenden Morphologie zunächſt durch die unter den deutſchen
Botanikern damals herrſchende philoſophiſche Richtung und be-
ſonders durch die Unklarheiten der Goethe'ſchen Metamor-
phoſenlehre auch an einer raſchen Ausbreitung in Deutſchland
verhindert wurden, ſo brachen ſie ſich doch nach und nach ebenſo
wie De Candolle's Anſichten vom natürlichen Syſtem Bahn,
ſo daß dieſes ſeit 1830 in Deutſchland ebenſo wie in England und
Frankreich von den Botanikern als das eigentliche Ziel der
[150]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Wiſſenſchaft verfolgt wurde. Man darf ſogar ſagen, daß von
jetzt ab der von De Candolle gegebene Anſtoß in Deutſch-
land weit kräftiger fortwirkte als in Frankreich. Dasſelbe gilt
von De Candolle's Zeitgenoſſen, dem Engländer Robert
Brown1) (1773-1858), deſſen Thätigkeit vorwiegend in das
3. und 4. Decennium fällt; auch er fand wie De Candolle
in dieſer Zeit vorwiegend in Deutſchland das tiefſte Verſtändniß.
Robert Brown, der ſich fünf Jahre (1801-1805) in
Auſtralien aufgehalten hatte, bearbeitete die Flora dieſes Welt-
theils und in zahlreichen Aufſätzen behandelte er die botaniſchen
Ergebniſſe verſchiedener Reiſen, welche Andere beſonders in den
Polargegenden und unter den Tropen gemacht hatten. Auf dieſe
Weiſe fand er Gelegenheit, die durch Humboldt herrſchend
gewordenen Ideen über die Geographie der Pflanzen mit dem
[151]Dogma von der Conſtanz der Arten.
natürlichen Syſtem zu durchdringen; andererſeits aber behandelte
er auch eine Reihe von Pflanzenfamilien kritiſch, morphologiſch
und ſyſtematiſch.
Robert Brown's Thätigkeit erſchöpfte ſich in dieſen
monographiſchen Arbeiten; eine zuſammenhängende Darſtellung
der Grundſätze, von denen er ſich dabei leiten ließ, eine Dar-
ſtellung der Morphologie und der Theorie der Claſſification hat
er ebenſo wenig verſucht, wie die Aufſtellung eines neuen Syſtems.
Das eigentlich Fruchtbare, die Wiſſenſchaft fördernde in Brown's
Thätigkeit lag vielmehr in allgemeineren Betrachtungen, welche
er ganz gelegentlich ſeinen monographiſchen Arbeiten einzuflechten
wußte. So verſtand er es, die Morphologie der Blüthe und
zugleich die ſyſtematiſche Stellung ſchwieriger Pflanzenfamilien,
wie der Gräſer, Orchideen, Asclepiadeen, der neu entdeckten
Raffleſiaceen u. ſ. w. in einer Weiſe klar zu legen, daß da-
durch zugleich auch auf weitere Gebiete des Syſtems neues
Licht geworfen wurde; ſo brachte er auch z.B. in den Betrach-
tungen über den Bau und die Verwandtſchaften der merkwürdigſten
Pflanzen, welche im Anfang der zwanziger Jahre von verſchie-
denen Reiſenden in Afrika geſammelt waren, ſchwierige und
merkwürdige morphologiſche Verhältniſſe des Blüthenbaues über-
haupt zur Sprache, namentlich wies er in dieſer Abhandlung
(1826) auf die merkwürdigen Beziehungen hin, welche bei den
Monocotylen und Dicotylen zwiſchen dem Zahlenverhältniſſe
der Staubgefäße und Carpelle und denen der Blüthenhüllen be-
ſtehen, er zeigte, wie dieſe typiſchen oder wie er es mit De
Candolle's Sprachgebrauch nennt, ſymmetriſchen Verhältniſſe
durch Abortus verändert werden, indem er zugleich auf die
genauere Beſtimmung der Stellung der abortirten und übrig
gebliebenen Organe einging, um auf dieſe Weiſe neue Ver-
wandtſchaftsbeziehungen aufzudecken. Am fruchtbarſten war in
dieſer Beziehung aber ſeine Abhandlung über eine in Neuholland
entdeckte Pflanzengattung Kingia (1825), deren Samenbau
ihn veranlaßte, ſich über die Natur der unbefruchteten Samen-
knoſpe phanerogamer Pflanzen überhaupt, ganz beſonders aber
[152]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
auch über die der Cycadeen und Coniferen genauer zu
unterrichten. Trotz der Arbeiten Gärtner's und neuerer
Unterſuchungen von Treviranus fand ſich in der Theorie des
Samens noch inſoferne eine große Unklarheit, als man die Lage
des Embryos im reifen Samen auf ein allgemeines Geſetz nicht
zurückzuführen wußte; dieß konnte nur geſchehen, wenn die
Samenanlage vor der Befruchtung genau unterſucht wurde;
dieſen erſten Schritt zu einer Entwicklungsgeſchichte that Robert
Brown mit großem Erfolg; er unterſchied zuerſt mit Beſtimmt-
heit an der Samenknoſpe die Integumente und den Kern und
in dieſem letzteren den Embryoſack, Theile welche allerdings ſchon
Malpighi und Grew beachtet hatten, ohne jedoch zu voller
Klarheit durchzudringen. Man hatte bisher die Mikropyle und
den Nabel des Samens nicht richtig unterſchieden, ja zum Theil
vermengt; Robert Brown zeigte, daß der Nabel der Anhef-
tungsſtelle der Samenknoſpe entſpricht, während die Mikropyle
ein von den Eihäuten gebildeter Kanal iſt, welcher nach dem
Scheitel des Knoſpenkernes hinführt; daß bei anatropen Samen-
knoſpen die Mikropyle neben dem Nabel, bei orthotropen aber
ihm gegenüber liegt, daß ferner jederzeit der Embryo im Em-
bryoſack (Amnion) an derjenigen Stelle ſich bildet, welche der
Mikropyle zunächſtliegt und daß die Wurzel des Embryos immer
nach der Mikropyle hingerichtet iſt, Thatſachen, welche ohne
weiteres die allgemeine Regel feſtſtellten, nach welcher die Lage
des Embryos im Samen und in der Frucht zu beurtheilen iſt.
Brown gab auch die erſte richtige Erklärung des Endoſperms
als einer innerhalb des Embryoſackes nach der Befruchtung ent-
ſtehenden Nahrungsmaſſe und was mehr ſagen will als dies, er
unterſchied zuerſt das Periſperm als eine außerhalb des Embryo-
ſackes im Gewebe des Knoſpenkernes ſich bildende Subſtanz.
Waren ſo morphologiſche Beziehungen in der Organiſation
des Samens der Monocotylen und Dicotylen aufgeſtellt, welche
mit zu den wichtigſten Grundlagen der Claſſification dieſer
Claſſen zählen, ſo that Robert Brown einen noch glücklicheren
Griff, indem er zuerſt den Blüthenbau der Coniferen und Cyca-
[153]Dogma von der Conſtanz der Arten.
deen in ſeiner Eigenartigkeit gegenüber dem der anderen Blüthen-
pflanzen erkannte; er war es, der das, was man bisher eine
weibliche Blüthe dieſer Pflanzen genannt hatte, als eine nackte
Samenknoſpe erkannte, worauf allerdings ſchon der Nürnberger
Trew im Jahre 1767 hingewieſen hatte. Auch die Ueber-
einſtimmung im Bau der weiblichen und männlichen Organe
dieſer Familien zog Brown in Betracht. So wurde zuerſt
eine der merkwürdigſten Thatſachen des Pflanzenſyſtems, die
Gymnospermie der Coniferen und Cycadeen feſtgeſtellt, welche
ſpäter durch Hofmeiſter's Unterſuchungen zu dem wichtigen
Ergebniß führte, daß die Gymnospermen, die man bisher zu
den Dicotylen gerechnet hatte, als eine dritte, den Dicotylen
und Monocotylen coordinirte Claſſe zu betrachten ſind, durch
welche merkwürdige Homologieen in der Fortpflanzung der
höheren Cryptogamen und der Samenbildung der Phanerogamen
aufgedeckt werden; eine der wichtigſten Entdeckungen, die jemals
auf dem Gebiet der vergleichenden Morphologie und Syſtematik
gemacht wurden. Zu dieſem erſt 25 Jahre ſpäter durch Hof-
meiſter klar erkannten Ergebniß gaben Robert Brown's
Unterſuchungen den erſten Anſtoß, und zu dieſen Unterſuchungen
hatten ihn einige Schwierigkeiten im Samenbau einer neuhollän-
diſchen Pflanzengattung gelegentlich veranlaßt. In ähnlicher
Weiſe, wenn auch nicht immer mit ſo großem Erfolg, behandelte
Brown die verſchiedenſten Fragen der Morphologie und Syſte-
matik, ſelbſt rein phyſiologiſche Fragen kamen auf dieſem
eigenthümlichen Wege zuerſt in Fluß, ſo vor Allem die Frage,
auf welche Weiſe der Befruchtungsſtoff der Pollenkörner in die
Samenknoſpen geführt werde: daß dies durch die Mikropyle,
nicht aber durch die Raphe und den Nabel, wie man damals
glaubte, geſchieht, hatte Robert Brown ſchon aus der Lage
des Embryos geſchloſſen und er war es auch, der die Pollen-
ſchläuche im Fruchtknoten der Orchideen bis in die Samenknoſpen
zuerſt verfolgt hat. Indeſſen ſoll hier nur gelegentlich auf dieſen
Punkt hingewieſen ſein, da ich in der Geſchichte der Sexualtheorie
ausführlicher darauf zurückkomme.
[154]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
In viel höherem Grade als bei Juſſieu und De Can-
dolle tritt bei Robert Brown das natürliche Syſtem in
ſeiner Eigenartigkeit jedem künſtlichen Syſtem gegenüber hervor
und beſſer als irgend Jemand vor ihm verſtand es Brown
die ſyſtematiſch werthvollen rein morphologiſchen Organi-
ſationsverhältniſſe von den phyſiologiſchen Anpaſſungen der
Organe abzuſondern. Während die meiſten anderen Syſtematiker
bei der Auffindung von Verwandtſchaften ſich von einem dunklen
Gefühl leiten ließen, mehr durch unbewußte Verſtandesoperationen
inſtinctiv das Richtige gelegentlich trafen, ſuchte Brown ſich
jedesmals Rechenſchaft zu geben, warum er beſtimmte Verwandt-
ſchaftsverhältniſſe ſo oder anders auffaßte; aus dem bereits Feſt-
ſtehenden und Unzweifelhaften leitete er den Werth gewiſſer
Merkmale ab, um dadurch Regeln zur Beſtimmung unbekannter
Verwandtſchaftsverhältniſſe zu gewinnen. Auf dieſem Wege fand
er auch, daß Merkmale, welche innerhalb gewiſſer Verwandtſchafts-
kreiſe von großem claſſificatoriſchen Werth ſind, ſich in anderen
Abtheilungen als werthlos erweiſen können. So lieferte Robert
Brown in ſeinen zahlreichen monographiſchen Arbeiten zugleich
die Muſter, nach welchen Andere die Methode des natürlichen
Syſtems weiter anwenden und ausbilden konnten, und in dieſer
Beziehung brachten ihm die deutſchen Botaniker den beſten Willen
und das tiefſte Verſtändniß entgegen, wie ſchon die Thatſache
zeigt, daß eine Sammlung von Brown's botaniſchen Schriften
von verſchiedenen deutſchen Botanikern überſetzt, durch Rees
von Eſenbeck ſchon in den Jahren 1825-1834 in fünf Bän-
den herausgegeben wurde. Durch Brown und De Can-
dolle wurde das natürliche Syſtem in Deutſchland heimiſch,
zu deſſen richtiger Würdigung dem Linné'ſchen Sexualſyſtem
gegenüber ein 1829 erſchienenes Buch von Carl Fuhlrott
beitrug, in welchem Juſſieu's und De Candolle's Syſteme
mit denen von Agardh, Batſch und Linné verglichen, die
Vorzüge des natürlichen Syſtems hervorgehoben wurden. Wirk-
ſamer war in dieſer Hinſicht jedoch das Erſcheinen der Ordines
naturales plantarum von Bartling 1830, einer ſelbſtſtän-
[155]Dogma von der Conſtanz der Arten.
digen Leiſtung auf dieſem Gebiet, durch welche das natürliche
Syſtem weſentlich verbeſſert wurde. Gleichzeitig erfuhren die
von De Candolle und Brown aufgeſtellten Grundſätze der
Blüthenmorphologie durch Röper's Monographieen der Euphor-
bien und Balſamineen, ſowie durch ſeine Abhandlung de
organis plantarum (1828) eine geiſtvolle und ſelbſtſtändig
conſequente Anwendung zur Klärung morphologiſcher und ſyſtema-
tiſcher Begriffe. Uebrigens begegnete die von De Candolle
und Robert Brown eingeführte neue Methode der mor-
phologiſchen und ſyſtematiſchen Forſchung in Deutſchland und
zum Theil ſelbſt in Frankreich nicht nur den veralteten Linné'-
ſchen Anſichten, ſondern auch, was viel ſchlimmer war, den Ver-
irrungen, welche die durch Schelling begründete, ſogenannte
Naturphiloſophie herbeiführte. Die Unklarheiten dieſer Philoſophie
konnten kaum einen fruchtbareren Boden finden, als das natür-
liche Syſtem der Pflanzen mit ſeinen geheimnißvollen Verwandt-
ſchaftsverhältniſſen und Goethe's Metamorphoſenlehre trug nicht
wenig dazu bei, die Verwirrung zu ſteigern. Indeſſen komme
ich auf dieſe geſchichtlichen Erſcheinungen im folgenden Abſchnitt
noch zurück, hier ſoll zunächſt gezeigt werden, wie nun die
Syſtematiker von Fach den von De Candolle und Brown
eingeſchlagenen Weg weiter verfolgten; denn ſeit ungefähr 1830
trennte ſich beſonders in Deutſchland die morphologiſche Forſch-
ung als eine beſondere Disciplin von der Syſtematik ab, mehr
und mehr ward es Mode, die letztere als eine von der Morpho-
logie unabhängige Wiſſenſchaft zu behandeln und ſo den Quell
tieferer Einſicht, den allein die vergleichende und genetiſche Mor-
phologie dem Syſtematiker eröffnen kann, zu verlaſſen, während
andererſeits die Morphologie einen neuen Aufſchwung nahm, den
wir, eben weil er von der eigentlichen Syſtematik unabhängig
ſich entwickelte, in den folgenden Abſchnitten einer geſonderten
Darſtellung unterziehen.
Wenn der Fortſchritt der Syſtematik durch die Zahl der
aufgeſtellten Syſteme bewirkt würde, ſo müßte man die Zeit von
1825-1845 geradezu für das goldene Zeitalter der Syſtematik
[156]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
halten; nicht weniger als 24 Syſteme wurden in dieſem Zeitraum
aufgeſtellt, ungerechnet ſogar alle Diejenigen, welche ſich ganz
und gar in naturphiloſophiſchen Anſchauungen bewegten. Mit
dieſer großen, extenſiven Productivität war jedoch eine ent-
ſprechende Vertiefung nicht verbunden; weſentlich neue Geſichts-
punkte für die Claſſification wurden nicht aufgeſtellt und in
Bezug auf die wahren Grundlagen der natürlichen Syſtematik
trat ſogar ein deutlicher Rückſchritt ein, wie unten noch gezeigt
werden ſoll. Im Einzelnen jedoch wurde das Syſtem wirklich
gefördert, indem man ſich an die von De Candolle, Juſſieu
und Brown aufgeſtellten Principien im Allgemeinen wenigſtens
hielt. Vor Allem wurden nicht nur die Familien ſelbſt geklärt und
beſſer begrenzt, ſondern auch Gruppen von Familien aufgeſtellt, welche
ſich mehr und mehr als natürliche Verwandtſchaftskreiſe darſtellten.
Es handelte ſich hierbei vorwiegend um die ausgedehnte Claſſe der
Dicotylen, deren immer zahlreicher werdende Familien noch bei
A. L. de Juſſieu ein Chaos bildeten, bei De Candolle
aber in ziemlich künſtlicher Weiſe in größere Gruppen vereinigt
waren. Auch hier ſehen wir wieder, wie die Ausbildung der
Syſtematik ſich Schritt für Schritt vom Beſonderen zum All-
gemeineren erhebt; nachdem früher aus den Species die Gattun-
gen, dann aus dieſen die Familien gebildet worden waren,
gelang es nun in dieſem Zeitraum von 1820-1845, die Fa-
milien ſelbſt wieder in etwas umfangreichere Gruppen zuſammen-
zuordnen; aber noch nicht gelang es, dieſe Ordnungen oder
Claſſen ſo zu gruppiren, daß dadurch die größten Gruppen des
Pflanzenreiches in natürlicher Weiſe geſpalten worden wären.
Noch jetzt iſt namentlich die große Klaſſe der Dicotylen noch
nicht ſo geordnet, daß die kleineren Familiencomplexe ſich in
befriedigender Weiſe an einander ſchließen. Nichts deſto weniger
war es ein beträchtlicher Fortſchritt, daß man wenigſtens eine
große Zahl kleinerer Familiengruppen aufſtellte und beſonders
waren es Bartling und Endlicher, welche ſie bildeten, mit
Namen belegten und charakteriſirten.
Betrachten wir dagegen die Haupteintheilung des ganzen
[157]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Pflanzenreiches, ſo findet ſich als Ergebniß, daß zunächſt gewiſſe
große, natürliche Gruppen mehr und mehr zur Anerkennung
gelangen und in den Vordergrund des ſyſtematiſchen Calcules
treten; ſo die Gruppen der Thallophyten, der Muscineen, Ge-
fäßkryptogamen, Gymnospermen, Dicotylen und Monocotylen.
Man war jedoch weit davon entfernt, dieſe großen Abtheilungen
der geſammten Pflanzenwelt in ihrer Coordination richtig auf-
zufaſſen. Es war mehr der Sprachgebrauch, der ſie nach und
nach als die Haupttypen zu Tage förderte; in den Syſtemen
ſelbſt traten einzelne derſelben zu ſehr, andere zu wenig hervor,
oder es wurden neben ihnen noch andere unberechtigte Grup-
pen angenommen: bei Bartling z. B., deſſen Syſtem bis 1850
und länger als eines der natürlichſten gelten konnte, iſt De
Candolle's Eintheilung des Pflanzenreiches in Zellenpflanzen
und Gefäßpflanzen noch feſtgehalten, jene werden richtig in zwei
Hauptgruppen in Thallophyten und Muscineen (Homonemeae
und Heteronemeae) eingetheilt; die anderen in Gefäßkryptoga-
men und Phanerogamen geſpalten; die Phanerogamen jedoch zer-
fallen in Mono- und Dicotylen, die ihrerſeits in 4 Gruppen
eingetheilt ſind; eine derſelben iſt charakteriſirt durch das Vor-
handenſein eines Vitellus, d. h. eines von Periſperm umgebenen
Endoſperms; eine ganz künſtliche Abtheilung. Die drei anderen
ſind als apetal, monopetal und polypetal bezeichnet, den Ape-
talen jedoch die Coniferen und Cycadeen beigezählt. Weniger
befriedigend iſt die von Endlicher1)
gewählte Haupteintheilung
[158]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
in Thallophyten und Cormophyten, welch' letztere in die Abtheilungen
Acrobrya (Muscineen, Gefäßcryptogamen, Cycadeen), Amphibrya
(Monocotylen) und Acramphibrya (Dicotylen und Coniferen) zer-
fallen; die drei Namen dieſer Gruppen, von denen die erſte eine
durchaus unnatürliche, ſtützen ſich auf irrthümliche Annahmen
betreffs des Längen- und Dickenwachsthums, welche Endlicher
von Unger entlehnt hatte. — Während Endlicher's großes
Werk ſeiner Vollſtändigkeit in der Charakteriſtik der Familien
und Gattungen wegen für den Hausgebrauch der Botaniker bis
auf unſere Zeit unentbehrlich geblieben iſt, hat dagegen Brong-
niart's 1843 entworfenes Syſtem in Frankreich ſich eine
gewiſſermaßen officielle Bedeutung gewonnen. Das ganze Pflanzen-
reich wird hier in zwei Abtheilungen geſpalten, in Cryptogamen
und Phanerogamen, von denen jene als geſchlechtsloſe, dieſe als
geſchlechtlich ausgebildete unrichtig charakteriſirt werden. Die
Phanerogamen, in Mono- und Dicotylen getheilt, ſind in wenig
anſprechender Weiſe in Gruppen geſpalten; einen Vorzug aber
hat Brongniart's Syſtem, inſofern es die Gymnospermen
in geſchloſſener Maſſe zuſammenhält und wenn dieſelben auch in
unrichtiger Weiſe den Dicotylen zugezählt werden, ſo war es
doch ein Fortſchritt, daß hier Robert Brown's Entdeckung
der Gymnospermie wenigſtens theilweiſe zu ſyſtematiſcher Geltung
gelangte. — Ungefähr dieſelbe Bedeutung, welche Bartling
und Endlicher in Deutſchland, Brongniart in Frankreich
gewannen, fiel dem Syſtem John Lindley's in England zu.
Nach verſchiedenen früheren Verſuchen ſtellte er 1845 ein Syſtem
auf, in welchem die Cryptogamen ebenfalls als aſexuelle oder
blüthenloſe, die Phanerogamen als ſexuelle oder blühende Pflanzen
charakteriſirt werden; jene zerfallen in thallogene und acrogene;
die Phanerogamen aber werden in fünf Claſſen getheilt, in:
[159]Dogma von der Conſtanz der Arten.
1. rhizogene (Raffleſiaceen, Cytineen, Balanophoren), in
2. endogene (parallelnervige Monocotylen), 3. dictyogene (netz-
adrige Monocotylen), 4. gymnogene (Gymnospermen), 5. exo-
gene (Dicotylen). Dieſe Eintheilung iſt eine der unglücklichſten,
die jemals verſucht worden ſind: die rhizogenen ſind wegen
ihrer auffallenden Habitus-Form in ihrem ſyſtematiſchen Werth
weit überſchätzt, die Monocotylen eines unbedeutenden Merkmales
wegen in zwei Claſſen geſpalten, die Charakteriſtik aller dieſer
Gruppen überhaupt eine durchaus verfehlte.
Ich habe dieſe Syſteme aus der großen Zahl der übrigen
herausgegriffen, weil ſie dadurch zu allgemeinerer Kenntniß und
Bedeutung gelangt ſind, daß ihre Verfaſſer (abgeſehen von
Brongniart) ſie umfangreichen Darſtellungen des ganzen
Pflanzenreiches zu Grunde legten, und weil es für unſeren Zweck
überflüſſig wäre, die zahlreichen anderen Syſteme von weniger
hervorragenden Botanikern näher zu betrachten. Wer ſich in
dieſer Beziehung einläßlicher unterrichten will, wird in der Ein-
leitung zu Lindley's Vegetable Kingdom 1853 das
Nöthige finden.
Betrachten wir nun die Grundſätze und Geſichtspuncte,
welche in dieſen Syſtemen zur Geltung gelangen, ſo fällt vor
Allem das Eine auf, daß, abgeſehen von Bartling, neben
morphologiſchen auch phyſiologiſch-anatomiſche Merkmale zur Cha-
rakteriſtik der Hauptabtheilungen benützt werden; man fiel wieder
in den von De Candolle begangenen Fehler zurück, der ſich
um ſo ſchwerer rächte, als gerade dieſe phyſiologiſch-anatomiſchen
Merkmale zum Theil oder ganz auf Mißverſtändniſſen beruhten,
ſo z. B. Endlicher's Eintheilung in Acrobrya u. ſ. w.,
Lindley's Abtheilungen der Rhizogenen und Dictyogenen
und dgl. m. Was aber noch viel ſchlimmer war als dieß: ein-
zelne Syſtematiker von Fach verſchloſſen ſich geradezu hartnäckig
der Anerkennung wohl conſtatirter Thatſachen, welche freilich
nicht von Syſtematikern entdeckt, wohl aber für die Syſtematik
von höchſtem Werth waren. Kaum glaublich iſt es, daß bei
Lindley 1845 und noch 1853 die Unterſcheidung von endoge-
[160]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
nem und exogenem Wachsthum der Stämme feſtgehalten iſt,
nachdem bereits 1831 Hugo Mohl auf das Beſtimmteſte den
Nachweis geliefert hatte, daß dieſer von Desfontaines auf-
geſtellte von De Candolle adoptirte Unterſchied überhaupt
gar nicht exiſtirt. Ganz ähnlich verhielt es ſich mit der Charak-
teriſtik der Cryptogamen, in welche man wiederholt das Merkmal als
durchſchlagend aufnahm, daß ihnen die Sexualorgane fehlen, obgleich
man ſchon vor 1845 verſchiedene Fälle der Sexualität bei den Cryp-
togamen kannte: Schmidel hatte um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts die Sexualorgane der Lebermooſe, Hedwig 1782
die der Laubmooſe beſchrieben und Vaucher 1803 bereits den
Gedanken ausgeſprochen, daß die Conjugation der Spirogyren
unter den Algen als ein Sexualact aufzufaſſen ſei; mit dieſen
Andeutungen wußten die Syſtematiker freilich Nichts anzufangen.
Ein anderer Uebelſtand machte ſich dadurch geltend, daß
man bei der claſſificatoriſchen Thätigkeit Unterſuchung und Dar-
ſtellung oft verwechſelte; die Unterſuchung aller Merkmale ſoll
dahin führen, die ſyſtematiſche Bedeutung gewiſſer, beſtimmter
Merkmale oder den claſſificatoriſchen Werth derſelben feſtzuſtellen.
Iſt dieß durch die Unterſuchung geſchehen, dann genügt es bei
der Darſtellung des Syſtems, allein die entſcheidenden Merkmale
hervorzuheben; und häufig genügt ein einziges, um eine natür-
liche Gruppe zu vereinigen. Ein ſolches leitendes Merkmal iſt
wie die Fahne eines Regiments, die an und für ſich ebenſo wie
jenes gar Nichts bedeutet, aber den großen practiſchen Nutzen
gewährt, eine ganze Gruppe von Merkmalen, die damit verbun-
den ſind, zu ſignaliſiren. In dieſer Hinſicht aber trat ein noch
größerer Uebelſtand darin hervor, daß es faſt keiner der Syſte-
matiker nach De Candolle verſuchte, die Grundſätze, nach denen
das natürliche Syſtem bearbeitet wird, zu klarem Bewußtſein zu
erheben und ſie im Zuſammenhang als Theorie des Syſtems
darzuſtellen. Dieß hatte nicht nur für den Lernenden den großen
Uebelſtand, daß er bei dem Studium des natürlichen Syſtems
die Eintheilung einfach als Thatſache unverſtanden hinnehmen
mußte, es hatte vielmehr die noch weit üblere Folge, daß die
[161]Dogma von der Conſtanz der Arten.
Syſtematiker ſelbſt gewöhnlich nur einem dunklen Gefühl bei
der Aufſtellung ihrer Gruppen folgten, ohne ſich die Gründe
ihres Thuns logiſch klar zu entwickeln. In dieſer Beziehung iſt
John Lindley1) inſofern als rühmliche Ausnahme zu nennen,
als er wiederholt ſeit 1830 ausführlich über die Grundſätze der
natürlichen Claſſification ſich ausſprach und ähnlich wie es De
Candolle gethan hatte, eine Theorie der Syſtematik zu ent-
wickeln ſuchte 2). Aber auch nur in dieſem Streben liegt ſein
Verdienſt, denn die Grundſätze ſelbſt, welche er aufſtellte, ſind
zum größten Theil nicht nur ganz unrichtig, ſondern ſie wider-
ſprechen durchaus dem von ihm ſelbſt aufgeſtellten, wie jedem
anderen natürlichen Syſtem. In viel höherem Grade, als bei
De Candolle finden wir bei Lindley den Gegenſatz zwiſchen
der eigenen Theorie und der practiſchen Bethätigung bei der
Aufſtellung des Syſtems; nur iſt der Fall inſofern ein anderer,
als De Candolle zwar richtige Principien für die Beurtheilung
der Verwandtſchaft aufſtellte, dieſe aber zum Theil nicht befolgte,
während dagegen Lindley aus den vorhandenen, bereits vielfach
feſtgeſtellten natürlichen Verwandtſchaften ganz unrichtige Regeln
der Syſtematik ableitete: obgleich die Betrachtung aller bis zum
Jahre 1853 aufgeſtellten Syſteme ganz deutlich zeigt, daß die
Sachs, Geſchichte der Botanik. 11
[162]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
Charaktere der wirklich natürlichen Gruppen ausſchließlich in
morphologiſchen Merkmalen liegen, wird doch von Lindley der
Grundſatz ausgeſprochen, für die Claſſification ſei ein Merkmal
oder wie er unrichtig ſagt, ein Organ um ſo wichtiger, einen
je höheren phyſiologiſchen Werth dasſelbe für die Erhaltung und
Fortpflanzung des Individuums beſitzt. Wäre dieſer Satz richtig,
ſo wäre Nichts leichter, als ein natürliches Syſtem der Pflanzen
aufzuſtellen, man hätte dann eben nur nöthig, die Pflanzen
zunächſt in chlorophyllfreie und chlorophyllhaltige einzutheilen,
denn es gibt kein Organ, deſſen Exiſtenz für die Ernährung,
deſſen phyſiologiſche Bedeutung alſo eine ſo hervorragende wäre,
wie die des Chlorophylls; allerdings würden dann die chlorophyll-
freien Orchideen, die Orobanchen, die Cuscuta, Raffleſia u. a.
mit den Pilzen zuſammen die eine Claſſe, alle übrigen Pflanzen
zuſammen die andere bilden. Für die Exiſtenz einer Pflanze iſt
es demnächſt ſehr wichtig, ob ihre Organiſation geeignet iſt, ſie
in Waſſer, auf trockenem Land oder unterirdiſch wachſen zu
laſſen und wollte man Lindley beim Wort nehmen, ſo müßte
er ſeinem Princip zu Liebe die Algen, Rhizocarpeen, die Ballis-
nerien, Waſſerranunkeln, Lemna u. ſ. w. in eine Abtheilung
bringen. Es iſt ferner für die Exiſtenz einer Pflanze ſehr wichtig,
ob ſie von ſelbſt aufrecht wächſt oder mit Ranken, ſchlingendem
Stamm oder ſonſtwie emporklettert und demgemäß würde man
nach Lindley's Grundſatz gewiſſe Farnkräuter, den Weinſtock,
die Paſſifloren, manche Spargelgewächſe u. dgl. in Eine Ordnung
zuſammenſtellen müſſen. Es leuchtet ſofort ein, daß ſich auf
dieſe Weiſe Lindley's oberſter Grundſatz der Syſtematik als
völlig ſinnlos darſtellt; nach dieſem beurtheilt er nun aber auch
den ſyſtematiſchen Werth der anatomiſchen Eigenſchaften, des
Embryo's und Endoſperms, der Blumenkrone und Staubgefäße
überall die phyſiologiſche Wichtigkeit derſelben betonend, die auch
bei dieſen Theilen für die Syſtematik nur geringen Werth hat.
Dieſes Verfahren Lindley's, verglichen mit ſeinem eigenen
Syſtem, welches neben manchen ſchweren Mißgriffen doch immerhin
ein morphologiſch natürliches Syſtem iſt, beweiſt, daß er ebenſo
[163]Dogma von der Conſtanz der Arten.
wie viele andere Syſtematiker thatſächlich die von ihm aufge-
ſtellten Regeln gewöhnlich nicht befolgte, denn ſonſt hätte etwas
ganz anderes als ein natürliches Syſtem zu Tage kommen müſſen.
Das Gute, was man in der Beſtimmung der Verwandtſchaften
wirklich erreichte, verdankte man ganz vorwiegend einem richtigen
Gefühl, welches ſich durch beſtändige Beſchäftigung mit den
Pflanzenformen immer feiner ausbildete. Es war alſo im Grunde
noch immer dieſelbe, zum großen Theil unbewußte Ideenaſſociation,
wie bei Lobelius und Bauhin, durch welche die natürlichen
Verwandtſchaften nach und nach zu Tage gefördert wurden und
wie die angeführten Beiſpiele zeigen, wurden Männer von her-
vorragender ſyſtematiſcher Bedeutung, wie Lindley, ſich nicht
einmal darüber klar, nach welchen Regeln ſie ſelbſt verfuhren.
Und dennoch wurde auf dieſem Wege das natürliche Syſtem in
ungefähr 50 Jahren in ganz außerordentlicher Weiſe gefördert.
Die Zahl der thatſächlich erkannten Verwandtſchaftsbeziehungen
wuchs außerordentlich raſch, wie eine Vergleichung der Syſteme
von Bartling, Endlicher, Brongniart, Lindley mit
denen De Candolle's und Juſſieu's ergiebt. Wie bedeu-
tend der claſſificatoriſche Werth der ſo zu Tage geförderten
Syſteme war, wird durch Nichts ſo ſchlagend dargethan, als
durch die Thatſache, daß ein klarer und methodiſcher Denker wie
Darwin im Stande war, aus den Syſtemen, wie ſie vor 1850
ſich entwickelt hatten, die wichtigſte Stütze der Deſcendenztheorie
abzuleiten. Denn es muß hier conſtatirt werden, daß Darwin
ſeine Theorie nicht etwa im Gegenſatz zur Morphologie und
Syſtematik aus irgend welchen bis dahin unbekannten Principien
abgeleitet hat; daß er vielmehr die wichtigſten und unumſtößlichen
ſeiner Sätze ganz unmittelbar aus den Thatſachen des bis dahin
aufgebauten natürlichen Syſtems und der Morphologie deducirte.
Er weiſt ausdrücklich immer wieder darauf hin, daß das natür-
liche Syſtem (in der auf ihn gekommenen Form, die er in der
Hauptſache als die richtige anerkennt) nicht auf den phyſiologiſchen
Werth der Organe, ſondern nur auf ihren morphologiſchen gebaut
iſt; es könne, ſagt er, als eine Regel aufgeſtellt werden, daß,
11 *
[164]Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
je weniger ein Theil der Organiſation mit ſpeciellen Lebens-
gewohnheiten verknüpft iſt, er deſto wichtiger für die Claſſification
wird. Er hebt ebenſo wie Robert Brown und De Can-
dolle die hohe claſſificatoriſche Wichtigkeit der abortirten, phyſiolo-
giſch nutzloſen Organe hervor, weiſt auf ſolche Fälle hin, wo
ſehr entfernte Verwandtſchaftsbeziehungen nur durch zahlreiche
Uebergangsformen oder Zwiſchenglieder zu Tage treten, wofür
im Thierreich die Claſſe der Cruſtaceen ein beſonders auffallen-
des Beiſpiel liefert, wofür ſich aber im Pflanzenreich gewiſſe
Formenreihen der Thallophyten, die Muſcineen, die Aroideen
und andere Beiſpiele anführen laſſen; in ſolchen Fällen nämlich
haben die entfernteſten Glieder einer Verwandtſchaftsreihe zuweilen
kein einziges Merkmal mit einander gemein, welches ſie nicht
auch mit allen übrigen Pflanzen einer viel größeren Abtheilung
theilen u. ſ. w. In jenem und zahlreichen andern Sätzen Dar-
win's erkennt man deutlich, daß er aus den vorhandenen
natürlichen Syſtemen der Thiere und Pflanzen wirklich die Re-
geln herauslas, nach denen die Syſtematiker bis dahin gearbeitet
hatten; dieſe von Darwin hervorgehobenen Regeln hatten zwar
die Syſtematiker ſelbſt mehr oder weniger unbewußt practiſch
befolgt, aber nicht zu klarem Bewußtſein erhoben. Ganz richtig,
ſagt Darwin: wenn die Naturforſcher an ihrer Aufgabe
practiſch arbeiten, ſo kümmern ſie ſich gar nicht um den
phyſiologiſchen Werth der Charaktere, welche ſie zur Begrenzung
einer Gruppe oder zur Aufſtellung einer einzelnen Species brauchen.
Darwin war es, der die bereits von De Candolle unvoll-
ſtändig erkannte Discordanz zwiſchen der ſyſtematiſchen Verwandt-
ſchaft der Organismen und ihrer Anpaſſung an die Lebensbedin-
gungen vollkommen klar erkannte und conſequent feſthielt. Es
bedurfte in der That nur dieſer einen klaren Erkenntniß, um
die ganze Syſtematik in ihrem wahren Weſen zu charakteriſiren
und die Deſcendenztheorie als die einzig mögliche Erklärung des
natürlichen Syſtems erſcheinen zu laſſen. Die Thatſache, welche
die Morphologen und Syſtematiker mit ſchwerer Arbeit nach und
nach zu Tage gefördert, aber in ihrem Werthe nicht hinreichend
[165]Dogma von der Conſtanz der Arten
erkannt hatten, daß in dem Weſen jedes organiſchen Individuums
zwei ganz verſchiedene Principien vereinigt ſind, daß einerſeits
die Zahl, Anordnung und Entwicklungsgeſchichte der Organe der
einen Species auf die entſprechenden Verhältniſſe zahlreicher
anderer Species hinweiſt, während die Lebensweiſe und dem
entſprechend die Anpaſſung derſelben Organe bei dieſen verwandten
Species eine ganz verſchiedene ſein kann; dieſe Thatſache läßt
keine andere Erklärung zu, als die durch die Deſcendenztheorie
gegebene; ſie iſt daher die hiſtoriſche Urſache und logiſch genom-
men die ſtärkſte Stütze der Deſcendenztheorie. Dieſe ſelbſt iſt
ganz unmittelbar aus den Ergebniſſen abgeleitet, welche die
Beſtrebungen der Syſtematiker zu Tage gefördert hatten. Daß
aber gerade die Mehrzahl der Syſtematiker ſelbſt ſich wenigſtens
anfangs ganz entſchieden gegen die Deſcendenztheorie erklärten,
kann nicht überraſchen, wenn man beachtet, daß ſie ſich über ihr
eigenes Thun und Treiben ſo wenig Rechenſchaft zu geben wuß-
ten, wie dieß in den theoretiſchen Betrachtungen Lindley's ſo
auffallend hervortritt.
Eine Folge dieſer Unklarheit verbunden mit dem Dogma
der Conſtanz der Arten war, wie ſchon in der Einleitung ange-
deutet wurde, die Annahme, daß jeder Verwandtſchaftsgruppe
eine Idee zu Grunde liege, daß das natürliche Syſtem ein Bild
des Schöpfungsplanes ſelbſt ſei, wie Lindley, Elias Fries
und Andere ganz unumwunden bekannten. Wie aber ein ſolcher
Schöpfungsplan die wunderliche Thatſache erklären könne, daß
die phyſiologiſchen Anpaſſungen der Organe an die Lebensbedin-
gungen ſo ganz und gar Nichts zu thun haben mit ihrer ſyſte-
matiſchen Verwandtſchaft, das ließ man ruhig auf ſich beruhen
und in der That konnte auch die auf platoniſch ariſtoteliſche
Philoſophie gegründete Annahme eines Schöpfungsplanes und
idealer Grundformen, welche den ſyſtematiſchen Gruppen zu
Grunde liegen, jene Diſcordanz zwiſchen morphologiſchen und
phyſiologiſchen Eigenſchaften nicht erklären. Es wäre ſehr leicht,
die Anſicht der Syſtematiker, daß das Syſtem einen Schöpfungs-
plan repräſentire, zu beweiſen, wenn überall die phyſiologiſchen
[166]Bearbeitung des natürlichen Syſtems 2c.
und morphologiſchen Eigenſchaften vollſtändig Hand in Hand
gingen, wenn die Anpaſſung der Organe an die Lebensbedingungen
der Species eine durchaus vollkommene wäre; allein die That-
ſachen zeigen, daß die Anpaſſung auch im beſten Fall eine ziem-
lich unvollkommene iſt und daß ſie immer dadurch gewonnen
wird, daß Organe, welche urſprünglich anderen Functionen dienten,
für neue Bedürfniſſe eingerichtet werden.
[[167]]
Viertes Capitel.
Die Morphologie unter dem Einfluß der Metamorphoſenlehre
und der Spriraltheorie.
1790-1850.
Waren Juſſieu, De Candolle und Robert Brown
bemüht, durch Vergleichung verſchiedener Pflanzenſpecies die ver-
wandtſchaftlichen Beziehungen derſelben aufzudecken, ſo ſtellte ſich
dagegen die von Goethe begründete Metamorphoſenlehre von
vorneherein die Aufgabe, die innere Verwandtſchaft verſchiedener
Organe eines und desſelben Pflanzenindividuums zur Anſchauung
zu bringen. Wie De Candolle's Lehre von der Symmetrie
die verſchiedenen Pflanzenarten aus einem idealen Symmetrieplan
oder Typus ableitete, ſo nahm die Metamorphoſenlehre ein ideales
Grundorgan an, aus welchem die verſchiedenen Formen der
Blattgebilde einer Pflanze ſich ableiten laſſen. Der Stengel
kam nur nebenbei als Träger der Blattgebilde, die Wurzel faſt
gar nicht in Betracht. Wie nun die Aehnlichkeit nahe verwandter
Pflanzenarten dem unbefangenen Beobachter ſich ungeſucht und
von ſelbſt darbietet, ſo auch die Verwandtſchaft verſchiedener
Organe von blattartiger Natur bei einer und derſelben Pflanze.
Schon Caeſalpin hatte die Blumenkrone kurzweg als folium
(Blatt) bezeichnet; er und Malpighi betrachteten auch die
Cotyledonen als Blätter; ebenſo hatte Jungius auf die Ver-
ſchiedenheit der Blattformen, die bei manchen Pflanzen an Einem
Stengel in verſchiedener Höhe ſich finden, hingewieſen; Caspar
Friedrich Wolff, der zuerſt in dieſer Richtung methodiſch
[168]Die Morphologie unter dem Einfluß der
denkend vorging, erklärte 1766, er ſehe zuletzt an der Pflanze
Nichts, als Blätter und Stengel, wobei er die Wurzel zu dem
letzteren rechnet 1).
Schon lange vor Goethe hatte ſich in dieſe Wahrnehmungen
ein ſpeculatives Element zum Zweck der Erklärung derſelben
eingeſchlichen: wir ſahen, wie Caeſalpin und Linné, geſtützt
auf die alte Anſicht, das Mark ſei der Sitz der Pflanzenſeele,
die Samen als metamorphoſirtes Mark, die Blüthenhüllen ſammt
den Staubfäden ebenſo wie die eigentlichen Blätter als metamor-
phoſirte Rinden- und Holzſchichten des Stengels betrachteten.
Für ſie hatte, von ihrem Standpunct aus geſehen, das Wort
Metamorphoſe einen ganz klaren Sinn: es war eben wirklich
der Markcylinder, deſſen oberes Ende ſich in Samen umwandelte,
es war die wirkliche Corticalſubſtanz, welche ebenſo die gewöhn-
lichen Blätter, wie die Blüthentheile erzeugte. Andererſeits gab
Wolff, von ſeinem Standpunct aus, dem Satze, daß alle An-
hangsgebilde des Stengels Blätter ſind, eine anſcheinend leicht
verſtändliche phyſicaliſche Erklärung, die aber freilich den Fehler
hatte, unrichtig zu ſein: er ließ die Metamorphoſe der Blätter
durch veränderte Ernährung, die Blüthe ſpeciell durch ſeine
vegetatio languescens entſtehen.
Viel unklarer faßte Goethe von vorneherein die Sache
auf und zwar vorwiegend deßhalb, weil er die abnorme Meta-
morphoſe mit der normalen oder aufſteigenden nicht in eine
richtige Verbindung zu bringen wußte. Im erſten Satz ſeiner
Metamorphoſenlehre (1790) heißt es, man könne leicht bemerken,
daß gewiſſe äußere Theile der Pflanze „ſich manchmal verwan-
deln und in die Geſtalt der nächſtliegenden Theile, bald ganz,
bald mehr oder weniger übergehen.“ In den Fällen, welche
Goethe hier im Auge hat, kann mit dem Worte Metamorphoſe
in der That ein beſtimmter Sinn verbunden werden: wenn nämlich
z. B. aus dem Samen einer Pflanze mit nicht gefüllten Blüthen
[169]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
eine ſolche hervorgeht, welche an Stelle der Staubgefäße Blumen-
blätter beſitzt, oder deren Fruchtknoten in grüne, offene Blätter
aufgelöſt iſt und dergl. mehr, ſo iſt thatſächlich aus einer Pflanze
von bekannter Form eine andere Pflanze von anderer Form
hervorgegangen, es hat wirklich eine Verwandlung oder Meta-
morphoſe ſtattgefunden. Ganz anders geſtaltet ſich die logiſche
Behandlung deſſen, was Goethe die normale oder aufſteigende
Metamorphoſe nennt. Wenn an einer gegebenen Pflanzenart,
welche ſich conſtant mit allen ihren Merkmalen ſeit unzähligen
Generationen erhalten hat, die Cotyledonen, die Laubblätter,
Deckblätter und Blüthentheile als Blätter bezeichnet werden, ſo
beruht dieß zunächſt bloß auf Abſtraction, welche zu einer Ver-
allgemeinerung des Begriffes Blatt hinführt: indem man von
den phyſiologiſchen Eigenſchaften der Carpelle, Staubgefäße,
Blumenblätter und Cotyledonen abſtrahirt, nur die Art ihrer
Entſtehung am Stengel in Betracht zieht, iſt man berechtigt, ſie
mit den gewöhnlichen Laubblättern in einen verallgemeinerten
Begriff zuſammenzufaſſen, den man zunächſt ganz willkürlich mit
dem Worte Blatt bezeichnet. Zunächſt hat man hierbei gar keine
Berechtigung, von einer Verwandlung dieſer Organe zu reden, ſo
lange man die ganze Pflanze, um die es ſich handelt, als eine
erblich conſtante Form betrachtet. Für die conſtant genommene
Pflanzenform hat der Begriff Metamorphoſe alſo nur eine
bildliche Bedeutung; man überträgt die von dem Verſtand voll-
zogene Abſtraction auf das Object ſelbſt, indem man dieſem eine
Metamorphoſe zuſchreibt, die ſich im Grunde genommen nur in
unſerem Begriff vollzogen hat. Ganz anders freilich wäre die
Sache, wenn wir auch hier wie bei jenen obengenannten abnormen
Fällen, annehmen dürften, daß bei den Vorfahren der uns vor-
liegenden Pflanzenform, die Staubfäden gewöhnliche Blätter
waren u. ſ. w. So lange dieſe Annahme einer wirklich ſtatt-
gefundenen Veränderung nicht wenigſtens hypothetiſch gemacht
wird, bleibt der Ausdruck Verwandlung oder Metamorphoſe ein
rein bildlicher, oder die Metamorphoſe iſt eine bloße „Idee“.
Goethe hat nun dieſe Unterſcheidungen keineswegs gemacht;
[170]Die Morphologie unter dem Einfluß der
er wurde ſich nicht klar darüber, daß die normale aufſteigende
Metamorphoſe nur dann den Sinn einer naturwiſſenſchaftlichen
Thatſache beſitzt, wenn man hier, ſowie bei der abnormen Meta-
morphoſe oder Mißbildung eine wirkliche Verwandlung im Lauf
der Fortpflanzung annimmt. Vielmehr zeigt die Vergleichung
der verſchiedenen Aeußerungen Goethe's, daß er das Wort
Metamorphoſe bald in jenem objectiv giltigen, bald wieder bloß
in dem idealen, bildlichen Sinne nahm; ſo ſagt er z. B. aus-
drücklich, „man könne ebenſo gut ſagen, ein Staubwerkzeug ſei
ein zuſammengezogenes Blumenblatt, als wir von dem Blumen-
blatt ſagen können, es ſei ein Staubgefäß im Zuſtande der
Ausdehnung.“ Dieſer Satz zeigt, daß Goethe nicht etwa eine
beſtimmte Blattform als die der Zeit nach erſte, aus welcher
durch Verwandlung die anderen hervorgegangen ſind, betrachtete;
daß er vielmehr dem Worte Metamorphoſe einen rein idealen
Sinn unterlegte. In anderen Fällen wieder laſſen ſich Goethe's
Bemerkungen ſo deuten, als ob er wirklich die normale aufſtei-
gende Metamorphoſe als eine durch Verwandlung der Species
entſtandene, wirkliche Verwandlung der Organe betrachte. Mit
dieſer Verwechslung von Begriff und Sache, von Idee und
Wirklichkeit, von ſubjectiver Auffaſſung und objectivem Weſen,
ſtand Goethe ganz auf dem Boden der ſogenannten Natur-
philoſophie.
Zu ſtrenger Conſequenz und Klarheit des Gedankens konnte
Goethe's Metamorphoſenlehre nur dann vordringen, wenn
man ſich für den einen oder für den andern Weg entſchied:
entweder mußte er annehmen, die verſchiedenen Blattformen, die
zunächſt nur begrifflich als gleichartig betrachtet werden, ſeien
wirklich durch Umwandlung einer der Zeit nach erſten Blattform
entſtanden, eine Annahme, welche ſofort die Veränderung der
Species in der Zeit vorausſetzte; oder aber er mußte ſich ganz
auf den Boden der idealiſtiſchen Philoſophie ſtellen, wo Begriff
und Sache zuſammenfällt. In dieſem Fall war die Annahme
einer zeitlichen Veränderung der Arten nicht nöthig, die Meta-
morphoſe blieb eine ideale, ſie war eine bloße Anſchauungsform;
[171]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
der Ausdruck Blatt bezeichnet bei dieſem Standpunct nur eine
ideale Grundform, von welcher die verſchiedenen wirklich beobach-
teten Blattgebilde, wie die conſtanten Species bei De Candolle
von einem idealen Typus ſich ableiten laſſen.
Wenn man nun Goethe's ſpätere Bemerkungen zur
Metamorphoſenlehre aufmerkſam lieſt 1), ſo bemerkt man leicht,
daß er keine von dieſen beiden Conſequenzen wirklich zog, ſondern
zwiſchen beiden beſtändig hin- und herſchwankte; es ließe ſich
eine Reihe von Sätzen ſammeln, welche wir, wie es manche
neuere Schriftſteller auch wirklich thun, als Vorboten einer Deſcen-
denztheorie deuten könnten; ebenſo leicht aber iſt es, aus Goethe's
Sätzen eine Sammlung anzulegen, die uns ganz auf den Stand-
punct der Idealphiloſophie und der conſtanten Species zurück-
führt. Erſt in ſeinen letzten Lebensjahren trat bei Goethe
die Annahme einer phyſiſchen, in der Zeit vollzogenen Metamor-
phoſe, alſo die Forderung einer Veränderung der Species zur
Erklärung der Metamorphoſe deutlicher hervor. Hiefür ſpricht
vorwiegend der lebhafte, ja leidenſchaftliche Antheil, den Goethe
an dem 1830 zwiſchen Cuvier und Geoffroy de Saint-
Hilaire geführten Streit nahm 2). Wir entnehmen daraus,
daß ſich bei Goethe trotz aller Verirrungen in die Unklarheiten
der damaligen Naturphiloſophie doch nach und nach das Bedürf-
niß nach einer klareren Einſicht in das Weſen der Metamorphoſe
ſowohl bei Pflanzen wie bei Thieren regte; ohne daß es ihm
gelang, zu voller Klarheit durchzudringen.
Für die Geſchichte der Botanik blieben dieſe beſſeren Regun-
gen jedoch ohne Bedeutung; denn die Anhänger ſeiner Metamor-
phoſenlehre faßten ſie ſämmtlich im „naturphiloſophiſchen“ Sinne
auf und Goethe hatte ſelbſt gegen die furchtbaren Entſtellun-
gen, welche ſeine Lehre durch die Naturphiloſophen erfuhr, Nichts
[172]Die Morphologie unter dem Einfluß der
einzuwenden. Die weitere Ausbildung der Metamorphoſenlehre
geſchah daher ganz auf dem Boden der Naturphiloſophie, welche
die Ergebniſſe des rein idealiſtiſchen Standpunctes auf unvoll-
kommen beobachtete Thatſachen kritiklos anzuwenden gewohnt
war. Vor Allem blieb der Widerſpruch ungelöſt, wie das Dogma
von der Conſtanz der Species mit der „Idee der Metamorphoſe“
der Organe in einen logiſchen Zuſammenhang zu bringen ſei.
Das Uebernatürliche, was Elias Fries im natürlichen Syſtem
fand, blieb nun auch in der Metamorphoſenlehre, in der Ver-
gleichung der Organe einer Pflanze beſtehen.
Noch viel unklarer und ganz aus der Naturphiloſophie jener
Zeit herausgewachſen iſt Goethe's Anſicht von der „Spiral-
tendenz der Vegetation“ (1831): „Hat man den Begriff der
Metamorphoſe (heißt es 1. c. p. 194) vollkommen gefaßt, ſo
achtet man ferner, um die Ausbildung der Pflanze näher zu erkennen,
zuerſt auf die verticale Tendenz. Dieſe iſt anzuſehen, wie ein
geiſtiger Stab, welcher das Daſein begründet ... Dieſes Lebens-
princip (!) manifeſtirt ſich in den Längsfaſern, die wir als bieg-
ſame Fäden zu dem mannigfaltigſten Gebrauch benutzen; es iſt
dasjenige, was bei den Bäumen das Holz ausmacht, was die
einjährigen, zweijährigen aufrecht erhält, ja ſelbſt in rankenden,
kriechenden Gewächſen die Ausdehnung von Knoten zu Knoten
bewirkt. Sodann aber haben wir die Spiralrichtung zu beob-
achten, welche ſich um jene herumſchlingt.“ Dieſe Spiralrichtung,
die nun ſofort bei Goethe in eine „Spiraltendenz“ übergeht,
wird an verſchiedenen Vegetationserſcheinungen z. B. an den
Spiralgefäßen, windenden Stengeln, gelegentlich auch an der
Blattſtellung nachgewieſen. Wie weit ſich Goethe in die Ab-
ſtruſitäten der Naturphiloſophie verirrte, zeigen die Schlußbemer-
kungen dieſes kleinen Aufſatzes, wo die Verticaltendenz als das
Männliche, die Spiraltendenz als das Weibliche in der Pflanze
gedeutet wird. Damit war man in die tiefſten Tiefen der Myſtik
eingeführt.
Es wäre ebenſo nutzlos wie ermüdend, die bis zum äußer-
ſten Grade der Abſurdität fortſchreitende Umgeſtaltung der Meta-
[173]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
morphoſenlehre bei den Botanikern der naturphiloſophiſchen
Schule im Einzelnen zu verfolgen: zu ſehen, wie die Schlag-
worte derſelben: Polarität, Contraction und Expanſion, das
Stielartige und Röhrige, Anaphytoſe und Lebensknoten u. ſ. w.
mit den Ergebniſſen alltäglichſter Beobachtung zu ſinnloſen Con-
glomeraten ſich verbanden; rohe, ungeklärte Sinneseindrücke
wurden ebenſo wie gelegentliche Einfälle als Ideen, als Prin-
cipien betrachtet. Eine ausführliche Darſtellung dieſer kaum
glaublichen Verirrung findet man in Wigand's Geſchichte und
Kritik der Metamorphoſe. Das Unglaubliche in dieſer Richtung
leiſteten allerdings unſere Landsleute, wie Voigt, Kiefer,
Nees von Eſenbeck, C. H. Schulz, Ernſt Meyer (der
Geſchichtſchreiber der Botanik), aber auch andere, wie der Schwede
K. A. Agardh und manche Franzoſen, wie Turpin und Du
Petit-Thouars1) u. A. blieben nicht ganz von dieſer Krank-
heit verſchont. Selbſt die beſten deutſchen Botaniker jener Zeit,
wie Ludolph Treviranus, Link, G. W. Biſchoff u. A.
vermochten ſich dem Einfluß dieſer Art Naturphiloſophie nur da
zu entziehen, wo ſie ſich an eine möglichſt nüchterne Empirie
hielten. Merkwürdig! wo man auf die Metamorphoſe der Pflan-
zen zu ſprechen kam, verfielen ſelbſt begabte und verſtändige
Männer in ſinnloſes Phraſenthum; ſo z.B. Ernſt Meyer,
der zwar kein großer Botaniker war, aber in ſeiner Geſchichte
der Botanik ſich als geiſtreicher und gebildeter Mann dar-
ſtellt. Der peinliche Eindruck, den die Metamorphoſenlehre jener
Botaniker auf uns macht, wird dadurch beſonders hervorgerufen,
[174]Die Morphologie unter dem Einfluß der
daß nicht etwa der tiefere Sinn der idealiſtiſchen Philoſophie
darin zu conſequentem Ausdruck gelangte, ſondern vielmehr da-
durch, daß mit den Schlagworten derſelben ein ſinnloſes Spiel
getrieben wurde, indem man die höchſten Abſtractionen mit der
nachläſſigſten und roheſten Empirie zum Theil mit ganz unrich-
tigen Beobachtungen verband. Gerade die beſſere Beobachtung
und die größere philoſophiſche Conſequenz hat Oken vor jenen
Männern voraus, und wenn wir ſeine Theoreme auch verwer-
fen, ſo macht die Lectüre ſeiner Darſtellung doch den wohlthuen-
deren Eindruck größerer logiſcher Conſequenz. Wie außerordent-
lich viel die neuere Botanik Männern wie P. de Candolle,
Robert Brown, Mohl, Schleiden, Naegeli, Unger
(der ſich ſelbſt nur langſam aus der Naturphiloſophie heraus-
arbeitete), verdankt, erkennt man erſt, wenn man die Literatur
der Metamorphoſenlehre vor 1840 mit dem durch ſie angebahnten
Zuſtand unſerer Wiſſenſchaft vergleicht.
Trotz der wirklichen und ſcheinbaren Verſchiedenheiten der
Metamorphoſenlehre Goethe's und der Lehre von dem Symmetrie-
plan De Candolle's ſtanden beide doch weſentlich und inſo-
fern auf demſelben Standpuncte, als ſie von der Conſtanz der
Arten ausgingen und beide führten gleichmäßig zu dem Ergebniß,
daß neben den mannigfaltigſten phyſiologiſchen Verſchiedenheiten
der Pflanzenorgane ſich formale Uebereinſtimmungen derſelben
geltend machen, die ſich vorwiegend in der Entſtehungsfolge und
den Stellungsverhältniſſen ausſprechen. In dieſer Unterſcheidung
lag überhaupt der gute Kern der Metamorphoſenlehre nicht nur
bei Goethe, ſondern ſchon bei Wolff, ja ſelbſt bei Linné
und Caeſalpin. Es kam nur darauf an, dieſen guten Kern
frei von allen Schlacken, mit denen die Naturphiloſophie ihn
umgeben hatte, rein darzuſtellen und die Betrachtung der Stel-
lungsverhältniſſe mit Ernſt aufzunehmen, um auch auf dieſem
Gebiet der Morphologie namhafte Ergebniſſe zu ſichern; dieſen
Schritt that zuerſt Carl Friedrich Schimper und dann
Alexander Braun; beide nahmen den Hauptgedanken der
Metamorphoſenlehre in der Form, wie er ſich mit der Conſtanz-
[175]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
lehre verbinden läßt, alſo in rein idealiſtiſchem Sinne auf.
Beide machten ſich frei von den groben Verirrungen der Natur-
Philoſophen und brachten ſo die rein idealiſtiſche, formale Be-
trachtung der Pflanzengeſtalt zu conſequenterem Ausdruck.
Karl Friedrich Schimper1) begründete ſchon vor 1830 die
nach ihm benannte Blattſtellungstheorie, die er 1834 auf der
Naturforſcherverſammlung in Stuttgart als eine in ſich abge-
ſchloſſene, fertige Theorie vortrug; eine durch Klarheit und Ein-
fachheit ausgezeichnete Darſtellung dieſer Lehre gab Alexander
Braun in Form eines Referats dieſer Schimper'ſchen Vor-
träge in der Flora 1835, nachdem er ſelbſt bereits eine ausge-
zeichnete, umfaſſende Abhandlung über denſelben Gegenſtand
herausgegeben hatte. In dieſen Publicationen trat die Blatt-
ſtellungslehre ſofort mit einer formalen Vollendung auf, die
nicht verfehlen konnte, die größte Aufmerkſamkeit der botaniſchen
Welt und ſogar des größeren Publikums auf ſich zu ziehen; und
mit Recht, denn hier trat, was auf dem Gebiete der Botanik
leider ſo äußerſt ſelten iſt, ein wiſſenſchaftlicher Gedanke nicht
nur gelegentlich hingeworfen, ſondern in allen ſeinen Conſequen-
zen ausgeſponnen als ein in ſich vollendetes Lehrgebäude hervor,
welches dadurch noch an äußerem Glanz gewann, daß ſeine einzelnen
Sätze ſich in Zahlen und Formeln ausdrücken ließen, da ſich die
ganze Lehre in geometriſchen Conſtructionen bewegte, ein bis dahin
in der Botanik ganz unerhörtes Verfahren.
Daß die Blätter an den ſie erzeugenden Stengeln nach be-
[176]Die Morphologie unter dem Einfluß der
ſtimmten geometriſchen Regeln angeordnet ſind, wurde ſchon von
Caeſalpin, um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Bonnet
wahrgenommen; es blieb aber bei ſchwachen Verſuchen einer
bloßen Beſchreibung verſchiedener Fälle. Was Schimper's
Blattſtellungslehre auszeichnet, zugleich das höchſte Verdienſt und
den Grundfehler derſelben enthält, iſt die Zurückführung aller
Stellungsverhältniſſe auf ein einziges Princip. Dieſes Princip liegt
in der Annahme, daß das Wachsthum am Stengel in der Richtung
einer Schraubenlinie emporſteigt; die Bildung von Blättern ſei
eine örtliche Steigerung dieſes ſpiraligen Wachsthums. Die
Richtung dieſer Schraubenlinie könne bei derſelben Art ſogar an
derſelben Axe wechſeln, ſelbſt von Blatt zu Blatt umſpringen.
Die weſentlichen Verſchiedenheiten der Blattſtellung geben ſich
nicht in den longitudinalen Diſtancen der Blätter, ſondern in
dem Maß ihrer ſeitlichen Abweichungen am Stengel zu erkennen.
Die Betrachtungsweiſe dieſer ſeitlichen Abweichungen oder Diver-
genzen der auf einanderfolgenden Blätter einer Axe, ihre Zurück-
führung auf ein allgemeineres Stellungsgeſetz iſt das characteri-
ſtiſche dieſer Lehre. Mit großem Geſchick wurden zugleich die
Mittel an die Handgegeben, wie man auch in ſolchen Fällen, wo
die genetiſche Reihenfolge der Blätter und alſo auch ihre Diver-
genz nicht unmittelbar zu erkennen iſt, aus Nebenumſtänden die
wahren Stellungsverhältniſſe, die genetiſche Spirale auffinden
kann. Aus unzähligen Beobachtungen wurde zwar die außer-
ordentliche Mannigfaltigkeit der Blattſtellungsmaße conſtatirt, aber
auch zugleich gezeigt, daß eine verhältnißmäßig geringe Zahl
derſelben ganz gewöhnlich vorkommt und daß dieſe gewöhnlichen
Divergenzen ½, ⅔, ⅜, \frac{8}{13}, \frac{13}{21} u. ſ. w. in einem merk-
würdigen Verhältniß untereinander ſtehen, indem der Zähler
jedes folgenden Divergenzbruches ebenſo wie der Nenner desſelben
durch die Summirung der Zähler und Nenner der beiden vor-
hergehenden gewonnen wird, oder die einzelnen genannten Brüche
ſind die Partialwerthe eines unendlichen Kettenbruchs.
[177]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
Durch Abänderung einzelner Ziffern dieſes einfachſten aller
Kettenbrüche erhielt man auch die Ausdrücke für alle von der
gewöhnlichen Hauptreihe abweichenden Stellungsmaße. — Dem
Princip des ſpiraligen Wachsthums und der darauf gegründeten
Stellungslehre ſchien das ſo häufige Vorkommen von ſogenannten
Blattquirlen ohne Weiteres zu widerſprechen, wenigſtens dann,
wenn man annahm, daß ſämmtliche Blätter eines Quirls gleich-
zeitig entſtehen. Allein die Begründer der Lehre erklärten ge-
ſtützt auf ihre geometriſchen Conſtructionen, „daß jede Theorie,
welche von dem Quirl als ſimultaner Bildung ausgeht, unrichtig
iſt.“ Die Art und Weiſe jedoch, wie die verſchiedenen Blattquirle
eines Stengels unter ſich geordnet ſind und die Art, wie dieſelben
mit fortlaufenden Spiralſtellungen ſich verbinden, erforderte neue
geometriſche Conſtructionen, es wurde die Annahme eines Zu-
ſatzes (Prosentheſe) nöthig, den das Maß der Blattſtellung an-
nimmt bei dem Uebergang vom letzten Blatt des einen Cyklus
zum erſten des anderen. So künſtlich auch dieſe Conſtruction
erſcheint, gewährte ſie doch den Vortheil, das Spiralprincip zu
retten und zugleich ließ ſich das prosenthetiſche Verhältniß ſelbſt
wieder in höchſt einfachen Bruchformen darſtellen, ein großer
Vortheil für die formale Betrachtung der Stellungsverhältniſſe
in den Blüthen und ihre Beziehung zu den vorausgehenden
Blattſtellungen. Die große Gewandtheit der Begründer der
Blattſtellungslehre in der formalen Betrachtung der ganzen Pflan-
zengeſtalt zeigte ſich nicht minder bei der Feſtſtellung der Regeln,
nach denen ſich die Blattſtellungsverhältniſſe der Seitenſproſſe
an die der Mutteraxe anſchließen, wodurch namentlich die
Natur der Inflorescenzen ſich in durchſichtigſter und klarſter
Weiſe geometriſch darſtellen ließ. Eine treffende und geſchmack-
volle Nomenclatur gab der ganzen Theorie nicht nur etwas An-
ziehendes, ſondern machte dieſelbe in hohem Grade geeignet, bei
der formalen Beſchreibung der allerverſchiedenſten Pflanzenformen
eine geeignete und leicht verſtändliche, präciſe Ausdrucksweiſe an
die Hand zu geben. Dieſe Vorzüge der Theorie haben ſich ganz
beſonders darin bewährt, daß ſeit 1835 die morphologiſche
Sachs, Geſchichte der Botanik. 12
[178]Die Morphologie unter dem Einfluß der
Betrachtung und Vergleichung nicht nur der Blüthen und Blüthen-
ſtände, ſondern auch der vegetativen Sproſſe und ihrer Verzwei-
gung zu einer großen formalen Vollendung gelangte. Von dem
Princip dieſer Lehre durchdrungen gelang es den Beobachtern,
die verwickeltſten Pflanzengeſtalten dem Leſer oder Hörer in einer
Weiſe zu demonſtriren, daß dieſelben das Geſetz ihres Werdens
offenbarend ſo zu ſagen vor den Augen emporwuchſen, während
zugleich die verborgenſten Beziehungen der Organe derſelben
oder verſchiedener Pflanzen in eleganteſter Ausdrucksweiſe klar
hervortraten. Verband ſich dieſe Darſtellungsweiſe außerdem
mit De Candolle's Anſchauungen von Abortus, den Degene-
rationen und Verwachſungen, nahm ſie zugleich Rückſicht auf die
phyſiologiſchen Hauptformen der Blattgebilde, je nachdem die-
ſelben als Niederblätter, Laub- und Hochblätter, als Blüthen-
hüllen, Staubblätter und Fruchtblätter ausgebildet ſind, ſo ließ
ſich von jeder Pflanzengeſtalt eine künſtleriſche Beſchreibung liefern,
welche bei vollſtändiger ſinnlicher Anſchaulichkeit zugleich das
morphologiſche Geſetz der Geſtalt vorführte. Wer die Schriften
Alexander Braun's, Wydler's ganz beſonders auch die
von Thilo Irmiſch (ſeit 1843), welcher mit dieſer Beſchrei-
bung zugleich die biologiſchen Verhältniſſe der Pflanzen in bezieh-
ungsreicher Weiſe zu verbinden wußte, lieſt, wird nicht umhin
können, die außerordentliche Virtuoſität zu bewundern, mit welcher
dieſe Männer die Pflanzenbeſchreibung zu handhaben wußten.
Den trockenen Diagnoſen der Syſtematiker gegenüber gewann hier
die Beſchreibung die Bedeutung einer Kunſt, welche dem Leſer
auch die gemeinſten Pflanzenformen in einem neuen Licht an-
regend vorführte. Zu all' dem aber kam noch ein Vorzug:
die Blattſtellungslehre ſchien nicht blos die fertige Form der
Pflanze darzuſtellen, vielmehr dieſelbe genetiſch zu behandeln, und
in der That lag ein entwicklungsgeſchichtliches Element in dieſer
Lehre, indem ſie die genetiſche Reihenfolge der Blätter und
ihrer Axelſproſſe, welche ja zugleich die Reihenfolge von der
Baſis nach dem Gipfel hin iſt, jeder Betrachtung der Pflanzen-
form zu Grunde legte. Aber freilich lag auch gerade hierin
[179]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
eine der ſchwachen Seiten der Theorie; ſolange es ſich um fort-
laufende Spiralen handelt, repräſentirt die Reihenfolge der fertigen
Blätter allerdings auch die zeitliche Reihenfolge ihrer Entſtehung;
für die quirlſtändigen Blätter jedoch war dieß thatſächlich nicht
bewieſen und der Theorie zu Liebe mußten hier genetiſche Ver-
hältniſſe vorausgeſetzt werden, für welche zunächſt jeder weitere
Beweis fehlte; und neuere Unterſuchungen haben wiederholt ge-
zeigt, daß auch die conſequenteſte Anwendung der Schimper'-
ſchen Theorie ſich häufig in Widerſpruch mit der direct beobachteten
Entwicklungsgeſchichte findet 1). Dazu kam, daß die Abweichungs-
maße auch auf der fortlaufenden genetiſchen Spirale nur am
fertigen Stengel beachtet wurden, während immerhin die Mög-
lichkeit vorlag, daß die Divergenzen derſelben bei der erſten
Entſtehung andere geweſen ſein und ſich dann geändert haben
könnten, ein Punct, auf welchen Nägeli ſpäter hinwies 2).
Außerdem aber hatte Schimper's Lehre einen ſchwer zu be-
ſeitigenden Gegner in dem häufigen Vorkommen von ſtreng
alternirenden und paarweiſe gekreuzten Blattſtellungen, deren
Auffaſſung als ſpiralige Anordnung ohne Weiteres als willkür-
lich erſcheinen mußte, wenn man ſich nicht bloß auf den mathematiſchen,
ſondern auch auf den entwicklungsgeſchichtlichen Standpunct ſtellte;
ebenſo wie bei der Aenderung der Divergenzen die Prosen-
theſen, ſo ergab ſich auch die Annahme einer Umkehr der gene-
tiſchen Spirale von Blatt zu Blatt (z. B. bei den Gräſern)
ſofort als eine zwar geometriſch berechtigte Conſtruction, die
aber der Entwicklungsgeſchichte und ihren mechaniſchen Momenten
ſchwerlich gerecht werden konnte. Ein großer ſachlicher Mangel
der ganzen Theorie lag ferner darin, daß ſie über der ange-
nommenen ſpiraligen Anordnung die oft ſo deutlich ausge-
ſprochenen Symmetrieverhältniſſe der Pflanzenform und deren
Beziehungen zur Außenwelt, worüber ſchon Hugo Mohl 1836
12 *
[180]Die Morphologie unter dem Einfluß der
treffliche Bemerkungen publicirt hatte, vollſtändig vernachläſſigte,
ein Mangel, der leider auch jetzt noch nicht hinreichend gewürdigt
wird. Die Beachtung dieſer Widerſprüche, ſowie die Fälle, wo
die Entwicklungsgeſchichte den Conſtruktionen der Theorie wider-
ſpricht, hätten zu der Erkenntniß führen müſſen, daß das Princip
der Schimper'ſchen Lehre, die Annahme einer Spiraltendenz
im Wachsthum der Pflanzen, wenigſtens nicht für alle Fälle aus-
reicht und eine tiefere Erwägung mußte zeigen, daß in der
Annahme einer ſolchen Spiraltendenz überhaupt ein naturwiſſen-
ſchaftliches Princip, durch welches die Erſcheinungen wirklich
erklärt werden können, ebenſo wenig liegt, wie etwa in der
Annahme, daß die Himmelskörper eine Tendenz zur elliptiſchen
Bewegung beſitzen, weil ſie ſich gewöhnlich in Ellipſen bewegen;
der die Entwicklungsgeſchichte zu Grund legende neueſte Bearbeiter
der Blattſtellungslehre, Hofmeiſter, kommt daher zu dem
Schluß 1); „die Vorſtellung vom ſchraubenförmigen oder ſpiraligen
Gang der Entwicklung ſeitlicher Sproſſungen der Pflanzen iſt
nicht bloß eine unzweckmäßige Hypotheſe, ſie iſt ein Irrthum.
Ihre rückhaltsloſe Aufgebung iſt die erſte Bedingung zur Er-
langung eines Einblicks in die nächſten Urſachen der Verſchieden-
heiten der Stellungsverhältniſſe im Pflanzenreich.“ Dieſes an
ſich richtige Urtheil iſt jedoch 30 Jahre nach der Entſtehung der
Schimper'ſchen Theorie gefällt; die Geſchichte, die einen anderen
Standpunkt einnimmt, nicht nur nach der Richtigkeit einer Theorie
fragt, ſondern ihre geſchichtliche Bedeutung würdigen muß, ur-
theilt günſtiger. Nicht ob die Theorie richtig war, ſondern was
ſie zum Fortſchritt der Wiſſenſchaft beigetragen hat, iſt für die
geſchichtliche Betrachtung die Hauptſache. Ihre Fruchtbarkeit
aber war eine ſehr bedeutende, inſoferne durch Schimper's
Theorie die morphologiſch ſo wichtigen Stellungsverhältniſſe
der Organe zum erſten Mal ganz in den Vordergrund der
Morphologie geſtellt wurden; ja ein großer Theil der Ergebniſſe
der Entwicklungsgeſchichte trat durch conſequente Anwendung oder
[181]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
durch Oppoſition gegen die Theorie erſt in das rechte Licht.
Bei ihren Grundfehlern bleibt die Schimper'ſche Theorie ſchon
deßhalb eine der beachtenswertheſten Erſcheinungen in der Ge-
ſchichte der Morphologie, weil ſie überhaupt eine conſequent
durchgeführte Theorie iſt. Wir möchten dieſelbe in unſerer
Literatur ebenſowenig entbehren, als etwa die heutige Aſtronomie
in ihrer Geſchichte die alte Theorie der Epicyklen beſeitigt
wünſchen kann. Beide Theorien hatten das Verdienſt, die zu
ihrer Zeit bekannten Thatſachen unter einander zu verbinden.
Der Grundfehler der Blattſtellungstheorie liegt viel tiefer,
als es auf den erſten Anblick ſcheint. Es iſt auch hier die
idealiſtiſche Auffaſſung der Natur, die von dem Cauſalnexus
Nichts wiſſen will, weil ſie die organiſchen Formen für immer
wiederkehrende Nachbildungen ewiger Ideen nimmt und dieſem
platoniſchen Gedankenkreiſe entſprechend, die Abſtractionen des
Verſtandes mit dem objektiven Weſen der Dinge verwechſelt.
Dieſe Verwechslung aber zeigt ſich in der Lehre Schimper's
darin, daß er die willkürlichen, wenn auch von ſeinem Standpunkt
aus höchſt zweckmäßigen geometriſchen Conſtructionen, die er
auf die Pflanze überträgt, für weſentliche Eigenſchaften der
Pflanzen ſelbſt hält, daß er die vom Verſtande bewirkte Ver-
knüpfung der Blätter durch eine Spirallinie für eine in der
Natur der Pflanze liegende Tendenz nimmt. Schimper über-
ſah bei ſeinen Conſtructionen, daß, weil ein Kreis durch Um-
drehung eines Radius um einen ſeiner Endpunkte conſtruirt
werden kann, daraus noch nicht folgt, daß kreisförmige Flächen
in der Natur auf dieſe Weiſe wirklich entſtanden ſein müſſen,
mit andern Worten, er überſah, daß die geometriſche Betrachtung
räumlicher Anordnungen, ſo nützlich ſie ſonſt ſein mag, keine
Auskunft über die Urſachen ihrer Entſtehung giebt. Für
Schimper's Standpunkt war das aber eigentlich kein Ueber-
ſehen, denn wirkende Urſachen im Sinne der ächten Naturwiſſen-
ſchaft, würde er bei der Erklärung der Pflanzenform wohl kaum
zugelaſſen haben. Wie weit Schimper davon entfernt war,
die Pflanzenformen für etwas in der Zeit Gewordenes, nach
[182]Die Morphologie unter dem Einfluß der
Naturgeſetzen Entſtandenes gelten zu laſſen, wie tief verächtlich
ihm die Grundlagen der neueren Naturwiſſenſchaft waren, zeigt
ſich in kraſſer Form in einem Urtheil über Darwin's Deſcen-
denztheorie und die neuere Atomiſtik, deren Grobheit um ſo
mehr überraſcht, als Schimper eine feinfühlende, ſogar poetiſch
angelegte Natur war. „Die Zuchtlehre Darwin's, ſagt er 1),
iſt, wie ich gleich gefunden und bei wiederholtem aufmerkſamen
Leſen nur immer beſſer wahrnehmen mußte, die kurzſichtigſte,
niedrigdummſte und brutalſte, die möglich und noch weit arm-
ſeliger als die von den zuſammengewürfelten Atomen, mit der
ein moderner Poſſenreißer und gemietheter Fälſcher bei uns ſich
intereſſant zu machen verſucht hat.“ Hier prallte eben die alte
platoniſche Naturanſchauung an die neue Naturwiſſenſchaft an;
die härteſten Gegenſätze, welche die Cultur bisher zu Tage ge-
fördert hat.
Eines weiteren Ausbaues war die Schimper'ſche Theorie,
die man des lebhaften Antheiles wegen, den Braun von vorn-
herein an ihrer Begründung und Anwendung nahm, wohl beſſer
die Schimper-Braun'ſche nennen darf, nur in mathematiſch
formaler Richtung fähig, wie dies zumal in Naumann's
Schrift „Ueber den Quincunx als Grundgeſetz der Blatttſtel-
lung vieler Pflanzen“ (1845) hervortrat. — Die oben genannten
Mängel, aber nicht die Vorzüge der Schimper-Braun'ſchen
Theorie theilte die ungefähr zehn Jahre ſpäter aufgeſtellte Blatt-
ſtellungslehre der Gebrüder L. und A. Bravais. Obwohl in
noch höherem Grade, als jene, die mathematiſch formale Seite
herauskehrend, ohne auf die genetiſchen Verhältniſſe Rückſicht zu
nehmen, iſt ſie doch weniger conſequent in ſich ſelbſt, inſoferne
ſie zwei grundverſchiedene Arten der Blattſtellung annimmt,
nämlich geradlinig und krummlinig geordnete Stellungen; für
letztere wird, ohne erſichtlichen Grund, eine rein ideale Urdiver-
genz angenommen, welche in irrationalem Verhältniß zum
[183]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
Stammumfang ſteht und von welcher alle andern Divergenzen
ſich ſollen ableiten laſſen, was ſchließlich auf eine Zahlen-
ſpielerei hinauslief, durch welche in dieſer Form eine tiefere Ein-
ſicht in die Urſachen der Stellungsverhältniſſe nicht gewonnen
wurde. An Brauchbarkeit für die methodiſche Pflanzenbeſchreibung
ſtand die Bravais'ſche Theorie hinter der Schimper-
Braun'ſchen weit zurück 1).
Die mit dem Beginn der vierziger Jahre begründete gene-
tiſche Morphologie vertrug ſich, ſo gut es eben gehen wollte,
mit der auf ganz anderem Princip aufgebauten Blattſtellungs-
lehre; der Hauptſache nach gingen beide ungeſtört neben einander
her, bis 1868 Hofmeiſter in ſeiner allgemeinen Morphologie
das Princip der Schimper'ſchen Theorie ſelbſt angriff und
an die Stelle der rein formalen eine genetiſch mechaniſche Er-
klärung der Stellungsverhältniſſe zu ſetzen ſuchte; ein Verſuch,
der zwar noch nicht, wie dieß in der Natur der Sache liegt, zu
einer in ſich abgerundeten Theorie geführt hat, dafür aber die
Keime einer weiteren Entwicklung dieſer wichtigen Lehre enthält, deren
Darſtellung jedoch nicht in den Rahmen unſerer Geſchichte gehört.
DieSchimper-Braun'ſche Blattſtellungslehre, wie ſie
nach 1830 auftrat, hatte nur eine Seite der Metamorphoſen-
theorie zu klarer Darſtellung gebracht: die noch weiter in derſelben
liegenden, theoretiſch verwerthbaren Elemente wurden erſt zwiſchen
1840-1860 von Alexander Braun weiter cultivirt, in
einem Zeitraum, wo bereits ganz andere Geſichtspuncte der
botaniſchen Forſchung ſich geltend machten, wo durch die Be-
gründung der Zellenlehre, der feineren Anatomie, der Entwick-
lungsgeſchichte und der methodiſchen Kryptogamenkunde der
thatſächliche Inhalt der Botanik ebenſo ſehr bereichert, wie die
Methode der Forſchung in die phyſikaliſch mechaniſche Richtung
geleitet wurde. A. Braun, der in der Einzelforſchung regen
[184]Die Morphologie unter dem Einfluß der
Antheil an dieſer Neugeſtaltung der morphologiſchen Botanik
nahm, hielt jedoch an der idealiſtiſchen Geſammtanſicht feſt und
indem er die Ergebniſſe der neuen Forſchungen ſämmtlich in
dieſem Sinne wiederholt und zuſammenfaſſend bearbeitete, zeigte
ſich, in wieweit die idealiſtiſch platoniſirende Naturbetrachtung
im Stande iſt, ihrerſeits den Ergebniſſen genauer inductiver
Forſchung Rechnung zu tragen. Der Gegenſatz zwiſchen ſeinem
Standpunkt und dem der hervorragendſten Führer der induktiven
Richtung trat mit den Jahren immer ſchärfer hervor und muß
hier als eine geſchichtliche Thatſache behandelt werden. Wenn
ich aber, in Ermangelung eines beſſeren Ausdrucks, die nament-
lich durch Mohl, Schleiden, Nägeli, Unger, Hof-
meiſter, angebahnte neue Richtung der Botanik als die
inductive der durch Braun und ſeine Schule vertretenen
idealiſtiſchen Richtung entgegenſtelle, ſo iſt damit nicht geſagt,
daß die letztere nicht ebenfalls auf inductivem Wege im Einzelnen
zur Bereicherung der Wiſſenſchaft beigetragen habe; vielmehr
verdankt dieſe vor Allem A. Braun ſelbſt eine Reihe bedeu-
tender Arbeiten in dieſem Sinne. Indem ich die neuere Rich-
tung als die inductive bezeichne, nehme ich dies Wort in einem
höheren Sinne, als es gewöhnlich geſchieht und eine Erklärung
darüber wird gerade hier nicht überflüſſig ſein. Die idealiſtiſchen
Naturanſchauungen aller Zeiten, mögen ſie als Platonismus,
ariſtoteliſche Logik, als Scholaſtik oder moderner Idealismus
auftreten, haben ſämmtlich das gemein, daß ſie die höchſte dem
Menſchen erreichbare Erkenntniß als eine bereits gewonnene,
feſtſtehende betrachten; die oberſten Sätze, die umfaſſendſten
Wahrheiten gelten als bereits bekannt, und die inductive Forſch-
ung hat weſentlich nur die Aufgabe, dieſelben zu beſtätigen; die
Ergebniſſe der Beobachtung dienen mehr zur Erläuterung der
bereits feſtſtehenden Anſichten, zur Illuſtration bereits bekannter
Wahrheiten; die inductive Forſchung hat allein die Aufgabe, die
einzelnen Thatſachen feſtzuſtellen. In dem Sinne dagegen, wie
ich die inductive Forſchung mit Bacon, Locke, Hume, Kant,
Lange verſtehe, iſt ihre Aufgabe eine weſentlich weitergehende;
[185]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
ſie ſoll nicht bei der Feſtſtellung der einzelnen Thatſachen ſtehen
bleiben, ſondern ſie zur kritiſchen Prüfung der uns überlieferten
allgemeinſten Anſchauungen benutzen, womöglich neue umfaſſende
Theorieen aus ihnen ableiten, ſelbſt für den Fall, daß
dieſe den hergebrachten Anſichten durchaus widerſprechen. Im
Weſen dieſer Forſchungsmethode liegt es aber, daß ihre allge-
meinen Ergebniſſe einer beſtändigen Schwankung und Verbeſſerung
unterworfen ſind; jede allgemeinere Wahrheit hat für ſie nur
eine zeitweilige Geltung, ſo lange die neuen Thatſachen keinen
Widerſpruch erheben. Der Unterſchied des Idealismus und der
inductiven Methode auf dem Gebiet der Naturwiſſenſchaft läuft
alſo darauf hinaus, daß jener die neuen Thatſachen einem
Schema alter Begriffe einordnet, dieſe dagegen aus neuen That-
ſachen neue Begriffe ableitet; jener iſt ſeiner Natur nach dog-
matiſch und intolerant, dieſe vorwiegend kritiſch; jener conſervativ,
dieſe vorwärts drängend; jener mehr zur philoſophiſchen Con-
templation, dieſe mehr zu thatkräftiger, productiver Forſchung
geneigt. Zu all dem kommt aber noch ein Moment von großer
Bedeutung; die idealiſtiſche Naturanſchauung, indem ſie die Cau-
ſalität verwirft, erklärt die Natur aus Zweckbegriffen, ſie iſt
teleologiſch; damit werden in die Naturwiſſenſchaft ethiſche, ſelbſt
theologiſche Elemente eingeführt.
In dieſer Art ſtellt ſich nun der Unterſchied der durch A.
Braun vertretenen idealiſtiſchen Richtung und der neueren in-
ductiven Morphologie wirklich dar. Wäre es Aufgabe dieſer
Geſchichte, nur die Entdeckungen neuer Thatſachen zu verzeichnen,
ſo wäre es überflüſſig, auf dieſe Differenzen hier hinzuweiſen,
dann aber wäre es auch unmöglich, gerade die eigenthümlichſte
und hiſtoriſch intereſſanteſte Seite in A. Braun's langer wiſſen-
ſchaftlicher Thätigkeit richtig zu würdigen; dieſe aber dürfte, ab-
geſehen von ſeinen zahlreichen descriptiven und monographiſchen
Arbeiten, ganz vorwiegend in ſeinen philoſophiſchen Beſtrebungen
auf dem Gebiet der Morphologie liegen, die ſchon deßhalb unſere
Beachtung verdienen, weil in ihnen die ungeklärten Anſchauungen
Goethe's zu ihren letzten Conſequenzen durchdringen, der der
[186]Die Morphologie unter dem Einfluß der
älteren Naturphiloſophie zu Grunde liegende Idealismus in
reinerer Form auftritt. Seit Caeſalpin hat kein anderer
Botaniker, ſo wie Braun, verſucht, die Ergebniſſe der inductiven
Forſchung mit den Theoremen einer idealiſtiſchen Philoſophie
überall zu durchdringen.
Braun's philoſophiſche Anſichten gehen nicht nur neben
dem thatſächlichen Inhalt ſeines Wiſſens einher, ſie durchdringen
dasſelbe vielmehr überall und in den verſchiedenſten ſeiner Schrif-
ten, Beiträge und Monographieen werden die Thatſachen von
ſeinen philoſophiſchen Grundanſchauungen aus betrachtet. Zu-
ſammengefaßt hat er dieſe letzteren jedoch und durch einen großen
Reichthum der verſchiedenſten Thatſachen erläutert in ſeinem
berühmten Buch: „Betrachtungen über die Erſcheinung
der Verjüngung in der Natur, insbeſondere in der
Lebens- und Bildungsgeſchichte der Pflanze 1849-50“. Den Ge-
genſatz ſeines Standpunctes gegen die neuere inductive Richtung
betont er ſelbſt in der Vorrede (p. X), indem er den etwa zu
erhebenden Vorwurf, daß ſeine Richtung als eine veraltete
betrachtet werden könne, mit den Worten zurückweiſt: „Eine
lebendigere Naturbetrachtung, wie ſie hier verſucht wurde, welche
in den Naturkörpern nicht bloß die Wirkung todter Kräfte, ſon-
dern den Ausdruck lebendiger That zu finden ſucht, führt nicht,
wie man wohl glaubt, zu bodenloſen Phantaſiegebäuden, denn
ſie maßt ſich nicht an, das Leben der Natur auf anderem Wege
als eben in ſeiner Offenbarung durch die Erſcheinung kennen zu
lernen“ u. ſ. w.; noch ſchärfer wird dieſer Gedanke im Text
(p. 13) betont: „Wie uns die Natur äußerlich ohne den Men-
ſchen nur das Bild eines herrenloſen Irrgartens bietet, ſo führt
auch die wiſſenſchaftliche Betrachtung, welche die innere geiſtige
Grundlage der Natur und den weſentlichen Zuſammenhang der-
ſelben mit dem Geiſt leugnet 1), in ein Chaos von unbekannten,
[187]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
d. h. dem Geiſte verſchloſſenen Stoffen und Kräften, oder eigent-
licher nur von unbekannten Urſachen, welche auf unerklärliche
Weiſe zuſammenwirken.“ In einer Anmerkung hiezu wird aus-
drücklich auf „das Troſtloſe einer ſolchen weſenloſen Natur-
betrachtung, welche natürlich in der Vorſtellung und Sprache der
Wiſſenſchaft alles dasjenige auszurotten beſtrebt ſein muß, was
ihr von ihrem Standpuncte als anthropopatiſch erſcheint“, hin-
gewieſen und ſomit ein gemüthlich ethiſches Moment als von
der botaniſchen Forſchung unzertrennlich poſtulirt. Die Haupt-
aufgabe des genannten Werkes iſt nun der Nachweis, daß im
organiſchen Leben Alles auf Verjüngung hinausläuft, für welchen
Begriff zunächſt eine Definition zwar nicht gegeben, aber durch
den ganzen Inhalt des Werkes angeſtrebt wird. Wir können
den Begriff der Verjüngung, wie er ſich hier darſtellt, als eine
Erweiterung des Begriffs Metamorphoſe betrachten, in welcher
erweiterten Form derſelbe geeignet iſt, auch die Ergebniſſe der
Zellentheorie, der Entwicklungsgeſchichte und der neueren Crypto-
gamenkunde von dem Standpuncte des Idealismus zu umfaſſen.
Es tritt hier, wie auch bei anderen Gelegenheiten, eine Eigen-
thümlichkeit von Braun's Darſtellungsweiſe hervor, die darin
liegt, daß er zu einem Wort, wie hier zu dem der Verjüngung,
ſpäter zu dem Wort Individuum, nicht eine präciſe, willkürlich-
gewählte Definition giebt, hinter dem Worte vielmehr einen tiefen,
ja geheimnißvollen Sinn ſucht, der nun durch die Betrachtung
der Erſcheinungen erkannt und an's Licht gezogen werden ſoll.
— „Wir ſehen, heißt es (Verjüngung 1. c. p. 5,), alſo Jugend und
Alter in einer und derſelben Entwicklungsgeſchichte im Wechſel mit-
einander auftreten, wir ſehen die Jugend das Alter durchbrechen und,
fortbildend oder umgeſtaltend, mitten in die Entwicklungsgeſchichte
eintreten. Es iſt dieß die Erſcheinung der Verjüngung, welche in allen
Lebensgebieten in unendlich mannigfaltiger Weiſe ſich wiederholt,
aber wohl nirgends deutlicher ausgeſprochen und der Forſchung
zugänglicher auftritt, als im Pflanzenreich. Ohne Verjüngung
giebt es keine Entwicklungsgeſchichte.“ — „Fragen wir nun nach
den Urſachen der Verjüngungserſcheinungen (p. 7), ſo werden
[188]Die Morphologie unter dem Einfluß der
wir zwar anerkennen, daß die äußere Natur, in welche das
beſondere Leben in ſeiner Darſtellung eintritt, rufend und weckend
wirkt durch die Einflüſſe, welche die Jahreszeiten, ja ſelbſt die
Tageszeiten bringen, aber die eigentliche innere Urſache wird
doch nur gefunden werden können in dem Triebe nach Vollendung,
der jedem Weſen in ſeiner Art zukommt und es treibt, die ihm
fremde Außenwelt immer vollkommener ſich unterzuordnen, ſich
in ihr ſo ſelbſtſtändig, als die ſpecifiſche Natur es mit ſich
bringt, zu geſtalten.“ Weiterhin (p. 17) heißt es: „Der ſpeci-
fiſche Bildungstrieb iſt aber gleichfalls keine von außen gegebene
Richtung der Thätigkeit, ſondern ein innerlich gegebener, aus
innerem Grunde als innere Beſtimmung und Kraft wirkender.“
Bei dieſer Gelegenheit mag hier noch ein Satz aus Braun's
Abhandlung über die Polyembryonie 1860 (p. 111) herbeigezo-
gen werden: „Wenn auch der Organismus in ſeiner Verwirk-
lichung phyſicaliſchen Bedingungen unterworfen iſt, ſo liegen
doch die eigentlichen Urſachen ſeiner morphologiſchen und biolo-
giſchen Eigenthümlichkeit nicht in dieſen Bedingungen; ſeine Ge-
ſetze gehören einer höheren Entwicklungsſtufe des Daſeins an,
einem Bereiche, in welchem das Vermögen der inneren Selbſt-
beſtimmung unzweifelhaft hervortritt. Verhält es ſich ſo, ſo
erſcheinen die Geſetze des Organiſchen gleichſam als Aufgaben,
deren Erfüllung nicht durchaus, ſondern nur in Beziehung auf
Erreichung eines beſtimmten Zweckes nothwendig iſt; als Vor-
ſchriften, von deren ſtrenger Befolgung möglicherweiſe auch ab-
gewichen werden kann.“ — Doch kommen wir nochmals auf den
Begriff der Verjüngung zurück, ſo finden wir ferner (p. 18) den
Satz: „Für den Begriff der Verjüngung ziehen wir aus den
vorhergehenden Betrachtungen die Folgerung, daß das Aufgeben
bereits erreichter Geſtaltungen und das Zurückgehen zu neuen
Anfängen, womit die Verjüngung beginnt, nur die äußere Seite
des Vorganges bezeichnen, während die weſentliche Seite desſel-
ben vielmehr eine innere Sammlung iſt, gleichſam ein neues
Schöpfen aus dem eigenen Lebensgrund, ein erneutes Sichbeſin-
nen auf die ſpecifiſche Aufgabe oder eine erneute Erfaſſung des
[189]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
typiſchen Vorbildes, welches im äußeren Organismus dargeſtellt
werden ſoll. Hierdurch erhält die Verjüngung ihre beſtimmte
Beziehung zur Entwicklung, die eben nur das im Weſen des
Geſchöpfes Liegende, ihm innerlich Eigene in ſtufenweiſer Ver-
vollkommnung zur Darſtellung bringen kann und ſoll.“ Und
am Schluſſe des Werkes (p. 347) heißt es: „Die Art und
Weiſe, in welcher die innere, in ihrem Grunde geiſtige Natur
des Lebens ſich insbeſondere in der Erſcheinung der Verjüngung
manifeſtirt, können wir im wahren Sinne des Wortes als Erin-
nerung bezeichnen, als die Gabe, gegenüber der Veräußerlichung
und Veraltung des Lebens, in der Erſcheinung die innere Be-
ſtimmung von Neuem zu erfaſſen und mit erneuter Kraft nach
außen zu wenden“ u. ſ. w.
Der ſo erfaßte Begriff der Verjüngung wird nun auf alle
Lebenserſcheinungen der Pflanzen angewendet, nicht nur die Me-
tamorphoſe der Blätter, die Sproßbildung und Verzweigung, die
verſchiedenen Formen der Zellbildung, ſondern auch die paläon-
tologiſchen Thatſachen ſind Manifeſtationen der Verjüngung, die
nun im Verfolg die Eigenſchaft eines abſtracten Begriffes ab-
ſtreift und ſich zu einem thätigen Weſen perſonificirt (z. B. p. 8
„Thätigkeit der Verjüngung“).
Die Beziehungen von Braun's Standpunct zu der Frage
nach der Conſtanz der Arten können einigermaßen zweifelhaft erſchei-
nen; manche Aeußerungen laſſen ſich ſo deuten, als ob ſie eine
im Laufe der Zeiten ſich vollziehende Umgeſtaltung der Species
zulaſſen wollten, während andere Aeußerungen dem widerſprechen
und gerade die letzteren erſcheinen als die bei dem Standpunct
des Idealismus conſequenten. So heißt es z. B. (p. 9): „Der
Schein, als ob immer nur das Gleiche in der Natur ſich wieder-
hole, hebt ſich bei einem Rückblick aus unſerer ſtationären Zeit
in die Reihenfolge vorweltlicher Epochen. Hier finden wir in
Wirklichkeit die erſten Anfänge der Arten, der Gattungen, ja ſelbſt
der Ordnungen und Claſſen des Pflanzen- und Thierreichs; wir
ſehen zugleich, wie mit dem Erſcheinen der höheren Stufen der
organiſchen Reiche mehr oder weniger durchgreifende Umgeſtal-
[190]Die Morphologie unter dem Einfluß der
tungen verbunden ſind, ſo daß hinwiederum Gattungen und
Arten der alten Welt verſchwinden, während neue an ihre Stelle
treten. In allem dieſem Wechſel aber ſpricht ſich nicht der bloße
Zufall einerſeits zerſtörender, andererſeits neuen Boden für das
Gedeihen der organiſchen Natur gründender Erderſchütterungen
aus, ſondern vielmehr beſtimmte, bis in das Einzelne durch-
greifende Geſetze der Entwicklung des organiſchen Lebens.“ Dem
gegenüber aber finden wir am Schluß der Abhandlung über die
Polyembryonie, welche kurz vor dem Erſcheinen von Darwin's
epochemachendem Werk geſchrieben wurde, einen Satz, der die
Annahme der Verwandlung der Arten als ſehr zweifelhaft
erſcheinen läßt, indem es (p. 257) heißt: „Kann man, wenn
man überhaupt einen organiſchen Zuſammenhang in der Entwick-
lungsgeſchichte der Pflanzenformen anzunehmen berechtigt ſein
ſollte, ſich vorſtellen, daß der Typus der Mooſe ſowohl, als der
der Farne aus der Algenform hervorgegangen ſei, oder ſollte
umgekehrt die Algenform den Mooſen und Farnen den Urſprung
verdanken?“
Die hier zur Bezeichnung von Braun's naturphiloſophi-
ſchem Standpunct angeführten Sätze geben noch keine Vorſtellung
von der Art, wie dieſelben nun in der Darſtellung der That-
ſachen bei der Anordnung des empiriſchen Materials das Ganze
durchdringen, was zu veranſchaulichen natürlich nicht wohl
Gegenſtand eines kurzen Referates ſein kann. Noch ſchärfer als
in der Verjüngung tritt Braun's Auffaſſungsweiſe in einer drei
Jahre ſpäter erſchienenen Abhandlung „das Individuum der
Pflanze in ſeinem Verhältniß zur Species, Generationsfolge,
Generationswechſel und Generationstheilung der Pflanze“ 1852
und 1853 hervor. Wie in dem vorhin genannten Werk zu
dem Worte Verjüngung, ſo wird hier zu dem Worte Individuum
der Begriff aufgeſucht. Eine in der That ſchwierige Aufgabe,
wenn man bedenkt, wie vielerlei Bedeutungen man gerade dieſem
Worte im Lauf der Zeiten beigelegt hat; zwiſchen den Indivi-
duen oder Atomen des Epikur, den Individuen oder Monaden
des Leibnitz und den Atomen der modernen Chemie, den Be-
[191]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
trachtungen der Scholaſtiker über das Principium individuationis
im Gegenſatz zu der von ihnen behaupteten Realität der Univer-
ſalbegriffe, bis zu der gewöhnlichen Anwendung des Wortes in
der alltäglichen Sprache, wo ein einzelner Menſch oder ein ein-
zelner Baum und dergl. als Individuum bezeichnet wird, liegen
die Weltanſchauungen verſchiedener Jahrtauſende, wie ja über-
haupt Sinn und Bedeutung alter Worte ſich ändern, nicht ſelten
geradezu in ihr Gegentheil umſchlagen. Bei dem nominaliſtiſchen
Standpunct der neueren Naturwiſſenſchaft hat dieß wenig zu
bedeuten, weil dieſe die Worte und Begriffe als bloße Werkzeuge
der gegenſeitigen Verſtändigung betrachtet, in den Worten und
Begriffen ſelbſt niemals einen anderen Sinn ſucht, als den man
vorher abſichtlich hineingelegt hat. Ganz anders verfährt Braun,
indem er aus der Vergleichung der mannigfaltigſten Vegetations-
erſcheinungen, aus der Kritik früherer Anſichten über das Pflanzen-
individuum einen tieferen Sinn nachzuweiſen ſucht, der mit die-
ſem Wort verbunden werden müſſe.
Uebrigens iſt die Unterſuchung des Individuums nur der
Faden, an welchem ſich die Reflexionen Braun's hinziehen; im
Laufe derſelben werden noch einmal die Grundſätze der teleolo-
giſchen Naturphiloſophie dargeſtellt und ihr Gegenſatz gegen
die moderne Naturwiſſenſchaft hervorgehoben, wobei aber freilich
die letztere wieder ſtarken Mißverſtändniſſen unterliegt, wenn ſie
als materialiſtiſch, ihre Atome als todte, ihre Kräfte als blinde
bezeichnet werden. Daß die Geſchichte der Philoſophie außer
Ariſtoteles auch noch einen Bakon, Locke, Kant aufzu-
weiſen hat, daß ſogar die Frage nach dem Individuum ſchon
von den Scholaſtikern behandelt worden war, würde man nach
Braun's Darſtellung kaum vermuthen. Die Berückſichtigung
auch des anderen Standpunctes wäre aber um ſo erſpießlicher
geweſen, als der Verfaſſer im Beginn ſeiner Abhandlung die
Anſicht ausſpricht, die Lehre vom Individuum gehöre an den
Eingang der Botanik, wogegen man allerdings auch wohl behaupten
könnte, ſie ſei überhaupt ganz überflüßig.
Der Gedankengang bei der Aufſuchung deſſen, was man
[192]Die Morphologie unter dem Einfluß der
im Pflanzenreich ein Individuum zu nennen habe, iſt nun in
Kürze ungefähr folgender: Was der Auffaſſung des Pflanzen-
Individuums als eines einheitlichen Geſtaltungskreiſes oder eines
morphologiſchen Ganzen zunächſt in den Weg trete, ſei die in
den verſchiedenſten Abſtufungen des organiſchen Baues der Pflan-
zen vorhandene „Getheiltheit und Theilbarkeit“. Es komme nun
darauf an, den Mittelweg zu finden zwiſchen der nach unten
hin zerſplitternden morphologiſchen und der nach oben hin über
alle Grenzen erweiternden phyſiologiſchen Betrachtung des Pflanzen-
Individuums. Weder die blättertragenden Sproſſe, obgleich ſie
ſich zu ſelbſtſtändigen Pflanzen entwickeln können, noch die Theile
derſelben, welche dasſelbe leiſten, weder die einzelnen Zellen,
noch die Inhaltskörnchen derſelben, am allerwenigſten aber die
von blinden Kräften beherrſchten Atome des todten Stoffes wür-
den dem Begriff des pflanzlichen Individuums entſprechen. Es
komme nun darauf an, zu entſcheiden, welches Glied aus dieſer
mehrfach abgeſtuften Potenzenreihe der der Species untergeord-
neten Entwicklungskreiſe den Namen des Individuums vorzugs-
weiſe verdiene (p. 48). Es wird alſo ein Compromiß geſchloſſen,
es genügt einen Theil der Pflanze zu finden, welcher vorzugs-
weiſe dem Begriff des Individuums entſpricht, denn in dieſem
Begriff ſollen zwei Momente liegen, das der Vielheit und das
der Einheit. Braun entſcheidet ſich nun für den Sproß oder
die Knoſpe. „Schon das bloße Naturgefühl erwecke bei der
Betrachtung des meiſt verzweigten Pflanzenſtockes, namentlich eines
Baumes mit ſeinen zahlreichen Zweigen — — die Ahnung, daß
dieß nicht ein Einzelweſen und Einzelleben ſei, dem Individuum
des Thieres oder des Menſchen gleichzuſetzen, ſondern vielmehr
eine Welt vereinter Individuen, die in einer Folge von Genera-
tionen aus einander hervorſproſſen u. ſ. w.“ Im Weiteren ſoll
nun dargethan werden, daß dieſe aus geſundem Naturgefühl
ſtammende Auffaſſung auch durch die wiſſenſchaftliche Prüfung
beſtätigt wird. Im Verlauf der Darſtellung zeigt ſich jedoch,
daß manche Erſcheinungen im Wachsthum der Pflanzen zu die-
ſem Naturgefühl nicht recht paſſen wollen und ſo wird denn
[193]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
(p. 69) „der verwirrte Knoten dadurch zerhauen, daß wir, wenn
wir ſonſt hinreichende Gründe haben, Zweige als Individuen zu
betrachten, uns entſchließen, jeden Zweig, ſo ſehr auch der
Anſchein dagegen ſein mag, als Individuum gelten zu laſſen“.
Der Sproß iſt alſo das morphologiſche Individuum der Pflanze,
welches dem Individuum des Thieres analog iſt. Freilich iſt
dagegen zu bemerken, daß man den Knoten auch anders zerhauen
und dann mit Schleiden behaupten könnte, die Zellen ſeien
die Individuen des Pflanzenreiches, wenn man nicht etwa gar
auf dieſem Wege dazu gelangt, entweder die Atome oder im
Gegenſatz dazu eine ganze ſich ſelbſt ernährende Pflanze als ein
Individuum zu bezeichnen, denn für jede dieſer Annahmen wür-
den ſich ungefähr gleich ſchwer wiegende Gründe anführen laſſen.
Es kommt eben ganz auf den Standpunct an, den man bei der-
artigen Betrachtungen einnimmt, und auf das Gewicht, welches
man dem Naturgefühl bei Aufſtellung wiſſenſchaftlicher Begriffe
einräumt. Sehr entſchieden ſpricht ſich Braun (p. 39) gegen
die Annahme aus, daß auch die unſichtbaren individua oder
Atome des todten Stoffes mit in die Betrachtung des Pflanzen-
individuums hineingezogen werden könnten, um die Pflanzen als
ein bloßes Phänomen ſich anziehender und abſtoßender Atome
darzuſtellen. Wolle man unter Individuum wirklich ein durchaus
Untheilbares verſtehen, ſo ſei dieß allerdings die letzte Zuflucht,
dann aber habe man eben kein Pflanzenindividuum. Zudem
habe kein Auge jene Atome geſehen, ihre Annahme ſei eine bloße
Hypotheſe, welcher man auch die andere der Continuität und
Durchdringbarkeit der Materie entgegenſtellen könne. Die Frage
ſei daher die (p. 39), ob überhaupt von Individuen bei den
Pflanzen geredet werden könne, welche mit der anderen Frage
zuſammenfalle, ob die Pflanze ein bloßes Product der Thätigkeit
der Materie, alſo eine an ſich weſenloſe, durch blinde Kräfte
bewirkte Erſcheinung eines allgemeinen Naturkreislaufes ſei, oder
ob ſie ein ihr eigenes in ſich ſelbſt begründetes Daſein beſitzt.
Durch die Annahme der Phyſiologen, welche unter Beſeitigung
der Lebenskraft die Lebenserſcheinungen aus phyſikaliſch-chemiſchen
Sachs, Geſchichte der Botanik. 13
[194]Die Morphologie unter dem Einfluß der
Geſetzen erklären, ſei das Leben des Zaubers entkleidet worden,
der das unmittelbar Wirkende ſeiner Thätigkeiten zu ſein ſchien,
die ſchroffe Scheidewand zwiſchen organiſcher und anorganiſcher
Natur gefallen. „Da die phyſikaliſchen Kräfte überall an den
Stoff gebunden ſcheinen und in ihrer Wirkung ſich eine ſtrenge
Geſetzmäßigkeit zeigt, ſo wagte man es, die Geſammtheit der
Naturerſcheinungen, als Reſultat urſprünglicher, mit beſtimmten
Kräften nach Geſetzen blinder Nothwendigkeit zuſammenwirkender
Stoffe als einen in ewigem Kreislauf ſich bewegenden Natur-
mechanismus zu betrachten.“ Dem gegenüber könne aber das
ewig Nothwendige auch nur von Ewigkeit her erfüllt gedacht
werden und ſo mache jene phyſikaliſche Anſicht jedes wirkliche
Geſchehen undenkbar. Zudem bleibe ferner der Zweck der Be-
wegung für die blinde Nothwendigkeitslehre ein unlösbares
Räthſel. „Die Unzulänglichkeit der ſogenannten phyſikaliſchen
Naturbetrachtung gegenüber der teleologiſchen iſt daher nament-
lich im Bereich des Organiſchen, wo die beſonderen Lebenszwecke
überall in größter Beſtimmtheit erſcheinen, fühlbar.“ Die Be-
rechtigung dieſer letzteren Bemerkung iſt unbeſtreitbar, ſo lange
man entweder an der Conſtanz der Arten oder an einem bloß
inneren Entwicklungsgeſetz derſelben feſthält; die Löſung des
Räthſels aber fand wenige Jahre ſpäter Darwin in der An-
nahme, daß alle zweckmäßigen Einrichtungen der Organismen
in Folge der gegenſeitigen Verdrängung, Vernichtung der minder
zweckmäßigen, Erhaltung der beſtausgerüſteten Varietäten zu
erklären ſind. Eine andere Widerlegung oder beſſer Erklärung
der Teleologie im Organiſchen iſt bisher nicht verſucht worden.
Wie ich früher darauf hinwies, daß die Syſtematik, indem ſie
die Thatſache der Verwandtſchaft klarſtellte, ſich endlich genöthigt
ſah, die Conſtanz der Individuen aufzugeben, um dieſe Thatſache
begreiflich zu finden, ſo ſehen wir hier, wie die Auffaſſung der
zweckmäßigen Einrichtung der Organismen zu einem Widerſpruch
gegen die Cauſalität überhaupt führt, wenn nicht die Annahme
gewahrt wird, daß die durch Variation entſtehenden Formen nur dann
ſich erhalten, wenn ſie der Umgebung hinreichend angepaßt ſind.
[195]Metamorphoſenlehre und der Spiraltheorie.
Wie ſchon erwähnt, hat die von Goethe und der Natur-
philoſophie ausgegangene Bewegung in Schimper und Ale-
xander Braun ſich geklärt und ihren reinſten Ausdruck ge-
wonnen, ihren tiefſten Inhalt zu Tage gefördert; es wäre über-
flüſſig die ſonſtigen zahlreichen Erſcheinungen der Literatur, welche
ſich neben den Hauptvertretern dieſer Richtung geltend machen,
hier einer ausführlichen Schilderung zu unterziehen.
Indem wir nun dieſen idealiſtiſch-philoſophiſchen Boden
verlaſſen, aus dieſem Bereich der Begriffsdichtung, der Ver-
jüngung, des Wogenſchlags der Metamorphoſe, der Spiraltendenz
des Wachsthums und der Pflanzenindividuen heraustreten, wen-
den wir uns dem letzten Capitel unſerer Geſchichte der Syſtematik
und Morphologie zu, wo es weniger Dogmatik und Poeſie,
dafür aber einen feſteren Boden gibt, aus welchem eine ungeahnte
Fülle neuer Entdeckungen und tieferer Einſicht in das Weſen der
Pflanzenwelt ſich entwickelt.
13*
[196]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Fünftes Capitel.
Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
1840-1860.
In den Jahren unmittelbar vor und nach 1840 begann
auf allen Gebieten der Botanik, der Anatomie und Phyſiologie,
ebenſo wie dem der Morphologie ein neues Leben. Die letztere
verband ſich jetzt beſonders auch mit den erneuten Unterſuchungen
über die Sexualität der Pflanzen und die Embryologie, die ſich
bald nicht mehr wie früher blos auf die Phanerogamen, ſondern
auch zunächſt auf die höheren, ſpäter auf die niederen Krypto-
gamen erſtreckte. Dieſe entwicklungsgeſchichtlichen Unterſuchungen
waren jedoch erſt dann möglich, als die Anatomie durch Mohl
neu begründet, die Zellenlehre durch Nägeli um die Mitte
der vierziger Jahre grundlegend bearbeitet worden war; beides
aber hing ab von der vorher ausgebildeten Kunſt des Mikroſko-
pirens. Auf all jenen Gebieten war es die Mikroſkopie, welche
die thatſächlichen Grundlagen der neuen Forſchung lieferte,
während die Begründer derſelben zugleich von anderen philo-
ſophiſchen Standpunkten ausgingen, als die wir bisher in der
Botanik maßgebend erkannt haben. Keine andere Art der Forſch-
ung zwingt ſo wie die mikroſkopiſche den Beobachter zur höchſten
Anſpannung der Aufmerkſamkeit, zur Concentrirung derſelben auf
ein beſtimmtes Objekt und zwar in der Weiſe, daß gleichzeitig
eine beſtimmte Frage vorliegen muß, welche durch die Beobachtung
entſchieden werden ſoll; überall ſind Fehlerquellen zu vermeiden,
[197]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
und mögliche Täuſchungen in Betracht zu ziehen; die Sicherung
der Thatſachen ſelbſt verlangt alle die Kräfte, welche ganz vor-
wiegend das Eigenartige des Naturforſchers darſtellen. So war
ſchon die ernſte Beſchäftigung mit der Mikroſkopie eine der Ur-
ſachen, welche die hervorragenden Mikroſkopiker ganz auf das
Gebiet und auf die Eigenartigkeit der inductiven Forſchung hin-
führten; als ſich aber nach wenigen Jahren die thatſächlichen
Reſultate dieſer Forſchung zeigten, als ſich eine ganz neue Welt,
beſonders in den Kryptogamen den Botanikern eröffnete, da
handelte es ſich um Fragen, welche vorher nicht aufgeworfen
waren, an denen die dogmatiſche Philoſophie ihre alte Kraft noch
nicht verſucht hatte; die Thatſachen und die Fragen waren neu
intakt und boten ſich der unbefangenen Betrachtung reiner dar
als diejenigen, welche in den letzten drei Jahrhunderten ſich viel-
fach mit der alten Philoſophie, zumal mit ſcholaſtiſchen Elementen
verbunden hatten. Abgeſehen von Mohl, der ſich nur ganz
nebenbei mit morphologiſchen Dingen beſchäftigte, ſich ſtreng an
die inductive Methode hielt und mehr die Feſtſtellung einzelner
Thatſachen als die allgemeiner Principien im Auge hatte, gingen aber
auch die Begründer der neuen morphologiſchen Richtung, Schlei-
den und Nägeli, von allgemein philoſophiſchen Geſichtspuncten
aus, die, ſo verſchieden ſie auch bei beiden Männern waren, doch
zweierlei gemein hatten: die Forderung einer ſtreng inductiven
Forſchung als Grundlage der ganzen Wiſſenſchaft und die Ab-
lehnung jeder teleologiſchen Erklärungsweiſe der Erſcheinungen,
in welch letzterem Puncte der Gegenſatz zur idealiſtiſch
naturphiloſophiſchen Schule am deutlichſten hervortrat. Mit
dieſer aber hatten die Begründer der neuen Botanik einen Be-
rührungspunct von großer Bedeutung, den Glauben an die
Conſtanz der organiſchen Formen, der hier jedoch, da er ſich
nicht mit der platoniſchen Ideenlehre verband, mehr nur die
Anerkennung der alltäglichen Beobachtungen enthielt, daher von
geringerer principieller Wichtigkeit war und eher als eine Unbe-
quemlichkeit in der Wiſſenſchaft empfunden wurde; dieſer Auf-
faſſung entſprechend und durch die neuen Ergebniſſe ſelbſt dahin
[198]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluße der
geführt, waren es denn auch gerade die Hauptvertreter der
neueren Morphologie, welche den Gedanken der Deſcendenz ent-
weder ſchon vor dem Erſcheinen von Darwin's epochemachen-
dem Werk hegten, oder doch der neuen Lehre mit williger An-
erkennung, wenn auch mit manchen Zweifeln im Einzelnen ent-
gegenkamen. Die morphologiſchen und embryologiſchen Forſchungen
welche 1851 in Hofmeiſter's „vergleichenden Unterſuchungen“
die verwandtſchaftlichen Beziehungen der großen Gruppen des
Pflanzenreichs in einem ganz neuen Licht hervortreten ließen,
drängten ohnehin mehr und mehr zu der Annahme, daß es mit
der Conſtanz der organiſchen Formen eine ganz eigene Bewandt-
niß haben müſſe. Beſtimmter aber wurde der Gedanke der Ent-
wicklung des Pflanzenreichs durch die palaeontologiſchen Forſch-
ungen nahe gelegt; eine methodiſche Bearbeitung der foſſilen
Pflanzen hatte ſchon in den zwanziger Jahren begonnen,
Sternberg (1820-1838), Brongniart (1828-1837),
Goeppert (1837-1845), Corda (1845) hatten die Floren
der Vorwelt zum Gegenſtand eingehender Studien gemacht, die
foſſilen Formen mit den lebenden verwandten ſorgfältig verglichen.
Ganz beſonders aber war es Unger, der ſich gleichzeitig an
der Förderung der Zellenlehre, Anatomie und Phyſiologie der
Pflanzen betheiligte, der überall mit in die Entwicklung der
neuen Botanik eingriff, der in der Betrachtung der vorweltlichen
Vegetationen auch die Ergebniſſe der neuen botaniſchen Forſchung
verwerthete und die morphologiſch ſyſtematiſchen Beziehungen
der vorweltlichen Floren zur gegenwärtigen Vegetation zuerſt
ans Licht zog. Nach 20jähriger Vorarbeit ſprach er es 1852
direkt aus, daß die Unveränderlichkeit der Species eine Illuſion
ſei, daß die im Lauf der geologiſchen Zeiträume auftretenden
neuen Arten im organiſchen Zuſammenhang ſtehen, die jüngeren
aus den älteren entſtanden ſeien 1). Es wurde ſchon im vorigen
Capitel gezeigt, wie auch um dieſelbe Zeit der Hauptvertreter
[199]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
der idealiſtiſchen Richtung, A. Braun bereits, wenn auch in
unbeſtimmter Form, zur Annahme einer Entwicklung des
Pflanzenreiches hingedrängt wurde; und in demſelben Jahr, wo
Darwin's erſtes Buch über die Entſtehung der Arten erſchien;
ſchrieb Nägeli (Beiträge II. p. 34): „Aeußere Gründe,
gegeben durch die Vergleichung der Floren ſucceſiver geologiſcher
Perioden, und innere Gründe enthalten in phyſiologiſchen und
morphologiſchen Entwicklungsgeſetzen und in der Veränderlichkeit
der Art, laſſen kaum einen Zweifel darüber, daß auch die Arten
aus einander hervorgegangen ſind.“
War auch in dieſen Sätzen eine wiſſenſchaftlich brauchbare
Deſcendenztheorie noch nicht enthalten, ſo zeigen ſie doch, daß
die neueren Forſchungen und die unbefangene Würdigung der
Thatſachen gerade die hervorragendſten Vertreter der damaligen
Botanik dahin drängten die Conſtanz der Formen aufzugeben.
Zugleich aber lag in der genetiſchen Morphologie wie ſie vor-
wiegend unter Nägeli's Leitung ſeit 1844 ſich entwickelt hatte;
noch mehr in der Embryologie, welche bei Hofmeiſter zu Re-
ſultaten von größter ſyſtematiſcher Bedeutung führten, ein frucht-
bares Element, welches dazu beſtimmt war, Darwin's Deſcen-
denzlehre in einem weſentlichen Punct zu berichtigen und zu
bereichern. In ihrer urſprünglichen Form nämlich ſuchte Dar-
win's Lehre den Gedanken durchzuführen, daß neben der immer fort
ſtattfindenden Variation nur noch die durch den Kampf um's
Daſein bewirkte Auswahl die fortſchreitende Vervollkommnung
der organiſchen Form bewirkte; geſtützt auf die Ergebniſſe der
deutſchen Morphologie konnte aber ſchon 1865 Nägeli auf
das Ungenügende dieſer Erklärung hinweiſen, inſoferne dieſelbe
morphologiſche Beziehungen, zumal zwiſchen den großen Abtheil-
ungen des Pflanzenreichs unbeachtet läßt, welche durch die bloße
Zuchtwahl kaum erkärlich ſcheinen. Indem Nägeli zugab,
daß Darwin's Zuchtwahl ſehr wohl geeignet ſei, die Anpaſſung
der Organismen an ihre Umgebung, das Zweckmäßige und
phyſiologiſch Eigenthümliche ihrer Structur vollgiltig zu erklären,
wies er doch darauf hin, daß ſchon in der Natur der Pflanzen
[200]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
ſelbſt Geſetze der Variation vorgezeichnet ſind, welche unabhängig
vom Kampf ums Daſein und der natürlichen Auswahl zu
einer Vervollkommnung und fortſchreitender Differenzirung der
organiſchen Formen hinführen; ein Ergebniß der Morphologie,
deſſen Bedeutung auch Darwin ſpäter anerkannt hat. Erſt
durch die von Nägeli hinzugefügte Ergänzung gewann die
Deſcendenztheorie die Form, in welcher ſie geeignet war, das
ſchon von den Syſtematikern der ältern Richtung erkannte
Problem zu erklären, wie es möglich ſei, daß die ſyſtematiſch
morphologiſche Verwandtſchaft der Arten in ſo hohem Grade
unabhängig iſt von ihrer phyſiologiſchen Anpaſſung an die
Umgebung.
Die heutige Zellenlehre, Pflanzenanatomie, Morphologie
und die verbeſſerte Form der Selektionstheorie ſind das Ergebniß
der inductiven Forſchung ſeit 1840, ein Ergebniß, deſſen ganze
Bedeutung erſt noch in den folgenden Theilen unſerer Geſchichte
hervortreten wird. Hier werde ich in Folgenden nur die mor-
phologiſchen und ſyſtematiſchen Reſultate noch etwas näher be-
leuchten, wobei ich genöthigt bin, von der reichhaltigen Thätig-
keit der hier zu nennenden Botaniker eben nur einen Theil
vorzuführen, indem ich mir vorbehalte in der Geſchichte der Anatomie
und Phyſiologie der Pflanzen auf das Uebrige zurückzukommen.
Zu dem Eigenthümlichen dieſer Periode der Botanik gehört
es, daß die Morphologie in die engſte Verknüpfung mit der
Zellenlehre, Anatomie und Embryologie tritt und daß vor
Allem die Unterſuchungen über den Befruchtungsvorgang und
die Embryobildung gewiſſermaßen in den Mittelpunct, der
morphologiſch-ſyſtematiſchen Forſchungen treten. Eine ſtrenge
Sonderung dieſer verſchiedenartigen Beſtrebungen, die aber ſchließ-
lich alle der Syſtematik zu gute gekommen ſind, iſt daher kaum
durchführbar; am allerwenigſten da, wo es ſich um die niederen
Kryptogamen handelt.
Der Zuſtand der botaniſchen Literatur von 1840 war ein
höchſt unerquicklicher; zwar fehlte es nicht auf den verſchiedenen
[201]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Gebieten der Syſtematik, Morphologie, Anatomie und Phyſiologie
an hervorragenden Leiſtungen; fallen doch eine Anzahl der beſten
Arbeiten Mohl's bereits in dieſen Zeitraum, auch Meyen,
Dutrochet, Ludolph Treviranus und andere kultivirten
die Pflanzenanatomie und Phyſiologie; daß auf dem Gebiet der
Morphologie und Syſtematik in den letzten Jahrzehnten ebenfalls
Gutes und Beachtenswerthes geſchehen war, iſt ſchon erzählt
worden. Allein eine Zuſammenfaſſung alles deſſen, was ſich
von werthvollen Kenntniſſen in der geſammten Botanik ange-
ſammelt hatte, fehlte durchaus; noch mehr eine kritiſch ſyſtema-
tiſche Behandlung des Ganzen; im Grunde wußte Niemand,
wie reich ſchon damals die Botanik an wichtigen Thatſachen war;
am allerwenigſten konnte man aus den Lehrbüchern jener Zeit
ein Urtheil darüber gewinnen; ſie waren leer an Gedanken und
Thatſachen, angefüllt mit einer überflüſſigen Nomenclatur, die
ganze Behandlung trivial und abgeſchmackt, das eigentlich Wiſſens-
werthe und Wichtige, was dieſe Bücher dem Lernenden hätten über-
liefern ſollen, enthielten ſie überhaupt nicht. Diejenigen welche
wirklich wiſſenſchaftliche Unterſuchungen anſtellten, trennten ſich
von denen, welche die Botanik nach dem alten Schematismus
der Linné'ſchen Schule behandelten; dieſe aber waren es,
obwohl am wenigſten von allen dazu berufen, in deren Händen
faſt überall der botaniſche Unterricht, die Fortpflanzung des
Wiſſens lag; ſo wurde denn der großen Maſſe der Studirenden,
vor Allem auch den jungen Botanikern unter dem Namen Botanik
ein Haufen geiſtloſer Redensarten überliefert, die nicht verfehlen
konnten, jeden höher Begabten abzuſtoßen. So rächte ſich die
alte Thorheit, die da verlangte, die einzige oder doch die Haupt-
aufgabe jedes Botanikers ſolle ſein: mit Pflanzenſammeln in
Wald und Wieſe und mit dem Herumſtöbern in Herbarien,
die Zeit zu vertrödeln, womit nicht einmal im Linné'ſchen
Sinne der Syſtematik gedient ſein konnte. Selbſt Begabteren
mußte bei ſolcher Beſchäftigung mit der Pflanzenwelt der Sinn
für tieferes Wiſſen abhanden kommen, ſogar eine Rückbildung
der Verſtandeskräfte konnte nicht ausbleiben, und daß es wirk-
[202]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
lich ſo war, dafür liefert jedes Lehrbuch jener Zeit auf jeder
Seite die Beweiſe.
Ein ſolcher Zuſtand iſt aber für jede Wiſſenſchaft gefährlich;
was nützt es, daß einzelne hervorragende Männer dieſen oder
jenen Theil der Wiſſenſchaft fördern, wenn die Zuſammenfaſſung
fehlt und dem Anfänger keine Gelegenheit gegeben iſt, das Beſte
im Zuſammenhang kennen zu lernen. Indeß, noch zur rechten
Zeit fand ſich der rechte Mann, der es verſtand, die träge Be-
haglichkeit aus ihrem Halbſchlaf aufzurütteln, den Zeitgenoſſen
nicht bloß in Deutſchland, ſondern überall, wo Botanik getrieben
wurde, zu zeigen, daß es auf dieſe Weiſe nicht weiter fortgehen dürfe.
Dieſer Mann war Matthias Jacob Schleiden (geboren zu Ham-
burg 1804, lange Zeit Profeſſor in Jena). Ausgerüſtet mit einer
nur zu weit gehenden Kampfluſt, mit einer Feder, die rückſichts-
los verletzen konnte, jeden Augenblick ſchlagfertig, zu Uebertreibungen
ſehr geneigt, war Schleiden ganz der Mann, wie ihn der da-
malige Zuſtand der Botanik brauchte. Sein Auftreten wurde
wenigſtens anfangs gerade von den hervorragendſten Botanikern,
welche ſpäter den eigentlichen Fortbau der Wiſſenſchaft durchführten,
freudig begrüßt, wenn auch ſpäter freilich ihre Wege weit aus-
einander gingen, als es nicht mehr bloß einzureißen, ſondern
neu aufzubauen galt. Wenn man Schleiden's Werth an den
von ihm entdeckten Thatſachen meſſen wollte, ſo würde man ihn
kaum über dem Niveau der gewöhnlicheren, beſſeren Botaniker
finden: eine Reihe recht guter Monographieen, zahlreiche Berich-
tigungen alter Irrthümer u. dergl. würden ſich aufzählen laſſen;
die wichtigſten von ihm aufgeſtellten Theorieen aber, um welche
viele Jahre hindurch eine lebhafte Polemik unter den Botanikern
entbrannte, ſind jetzt längſt widerlegt. Schleiden's wahre
hiſtoriſche Bedeutung iſt aber vorhin bereits angedeutet worden:
nicht durch das, was er als Forſcher leiſtete, ſondern durch das,
was er von der Wiſſenſchaft forderte, durch das Ziel, welches
er hinſtellte und in ſeiner Großartigkeit gegenüber dem kleinlichen
Weſen der Lehrbücher allein gelten lies, erwarb er ſich ein
großes Verdienſt. Er ebnete denen, welche wirklich Großes leiſten
[203]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
konnten und wollten, den Weg; er ſchuf ſo zu ſagen erſt ein
wiſſenſchaftlich botaniſches Publicum, welches im Stande war
wiſſenſchaftliches Verdienſt von dilettantenhafter Spielerei zu
unterſcheiden. Wer von jetzt an mitreden wollte, mußte ſich zu-
ſammennehmen, denn er wurde mit anderem Maß gemeſſen als bisher.
Schleiden, der ſeine Thätigkeit als Botaniker mit
einigen wichtigen anatomiſchen und entwicklungsgeſchichtlichen
Unterſuchungen eröffnet hatte, unter denen beſonders die Ent-
wicklungsgeſchichte der Samenknoſpe vor der Befruchtung 1837
durch Inhalt und Darſtellung werthvoll war, ſchrieb ſelbſt ein
umfangreiches Lehrbuch der geſammten Botanik, welches zuerſt
1842 und 43, dann aber ſehr verbeſſert 1845 und 46 (auch
ſpäter noch zweimal) herauskam. Der Unterſchied zwiſchen dieſem
Werk und allen vorhergehenden Lehrbüchern iſt wie Tag und
Nacht; jener gedankenloſen Trägheit gegenüber hier eine ſprudelnde
Fülle von Leben und Gedanken, die vor Allem gerade auf die
Jugend um ſo mehr wirken mußte, als ſie in ſich ſelbſt viel-
fach unfertig und unvergohren war; auf jeder Seite dieſes merk-
würdigen Buches fand der Studirende neben wirklich wiſſens-
werthen Thatſachen intereſſante Reflexionen, lebhafte, meiſt grobe
Polemik, Lob und Tadel gegen Andere. Es war kein Lehrbuch
aus dem ſich ruhig und behaglich ſtudiren ließ, welches aber
den Studirenden überall anregte, Parthei für oder wider zu
nehmen und weitere Belehrung zu ſuchen.
Das erwähnte Lehrbuch wird gewöhnlich unter dem Titel
„Grundzüge der wiſſenſchaftlichen Botanik“ citirt; ſein Haupt-
titel aber iſt: „Die Botanik als inductive Wiſſenſchaft“, womit
ſofort der Punct bezeichnet iſt, auf welchen Schleiden das Haupt-
gewicht legte. Es kam ihm vor Allem darauf an, die in
den Lehrbüchern ſo ſehr verunſtaltete Wiſſenſchaft, die kaum noch
eine Aehnlichkeit mit einer Naturwiſſenſchaft hatte, auf Eine Linie
zu ſtellen mit der Phyſik und der Chemie, in denen bisher vor-
wiegend der Geiſt ächter inductiver Naturforſchung zur Geltung
gekommen war im Gegenſatz zu der Naturphiloſophie der letzt
vergangener Jahrzehnte. Es mag uns jetzt ſonderbar vorkommen,
[204]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
ein botaniſches Lehrbuch durch eine 131 Seiten lange methodo-
logiſche Einleitung über das Weſen der inductiven Forſchung
im Gegenſatz zur dogmatiſchen Philoſophie eingeführt zu ſehen,
an den verſchiedenſten Stellen des Buches ſelbſt immer wieder
die Grundſätze der Induction hervorgehoben zu finden. Man
kann auch an dem Inhalt dieſer Einleitung ſehr viel ausſetzen;
daß manche philoſophiſche Sätze darin mißverſtanden ſind, daß
Schleiden ſelbſt vielfach gegen die dort geſtellten Forderungen
verſtieß, wenn er z. B. an Stelle der von ihm abgewieſenen
Lebenskraft den Geſtaltungstrieb nisus formativus ſetzt, der
eben die Lebenskraft nur unter anderem Namen wieder einführt,
man kann es überflüſſig finden, daß er die Entwicklungsgeſchichte
als eine „Maxime“ im Kantiſchen Sinne hinſtellt, ſtatt zu zeigen,
daß die Entwicklungsgeſchichte eben in der inductiven Forſchung
ſich ganz von ſelbſt darbietet u. dergl. m.; mit all dem aber
würde man die hiſtoriſche Bedeutung dieſer philoſophiſchen Ein-
leitung nicht abſchwächen: die Art, wie damals die deſcriptive
Botanik tradirt wurde, war ſo durch und durch dogmatiſch ſcho-
laſtiſch, trivial und unkritiſch, daß den Jüngeren wenigſtens
ausführlich geſagt werden mußte, daß dies nicht die Methode
naturwiſſenſchaftlicher Forſchung ſei.
Specieller auf die Aufgaben botaniſcher Forſchung über-
gehend, betonte dann Schleiden überall die Entwicklungs-
geſchichte als die Grundlage jeder morphologiſchen Einſicht, wo-
bei er freilich über das Ziel hinausſchoß, wenn er die bloß ver-
gleichende Methode, die doch bei De Candolle namhafte Re-
ſultate ergeben hatte, und welche im Grunde auch das fruchtbare
Element in der Schimper-Braun'ſchen Blattſtellungslehre iſt,
als eine unfruchtbare abwies. Dafür iſt aber hervorzuheben,
daß Schleiden ſelbſt an der Entwicklungsgeſchichte der Pflanzen
energiſch ſich betheiligte, vor Allem auch die Embryologie in den
Vordergrund zog, in der Metamorphoſenlehre den entwicklungs-
geſchichtlichen Standpunct vertrat, gegenüber der von Goethe
eingeführten Behandlung der Metamorphoſe auf die viel klarere
Caspar Friedrich Wolff's hinwies u. ſ. w. Endlich gehört
[205]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
zu den die Methode berührenden Verdienſten Schleiden's auch
ſeine Behandlung des natürlichen Syſtems nicht etwa, weil
ſeine Eintheilung des Pflanzenreiches etwas beſonderes Anſprechen-
des darböte oder neue Verwandtſchaftsverhältniſſe zu Tage
gefördert hätte, ſondern weil hier zum erſten Mal der Verſuch
gemacht wurde, die Hauptabtheilungen des Pflanzenreichs aus-
führlich morphologiſch und entwicklungsgeſchichtlich zu charakteriſiren
und weil dabei von vornherein die Eigenartigkeit der Kryptoga-
men den Phanerogamen gegenüber in den Vordergrund trat;
die alte Art, die Morphologie ſo zu behandeln, als ob es bloß
Phanerogamen auf der Welt gebe und dann bei den Krypto-
gamen mit nichtsſagenden Negationen ſich zu behelfen, war damit
beſeitigt und gerade für die nächſte Zukunft ſehr viel gewonnen,
da dieſe ihre Thätigkeit beſonders den Kryptogamen widmete.
Uebrigens gelang es Schleiden noch nicht, einen ſicheren
Boden für die entwicklungsgeſchichtliche Morphologie der Krypto-
gamen zu gewinnen; deſto erfolgreicher aber waren ſeine Be-
mühungen um die Morphologie der Phanerogamen; ſeine Theorie
der Blüthe und Frucht iſt für ihre Zeit eine ausgezeichnete
Leiſtung, auch wenn man, wie ſelbſtverſtändlich, ſeine Anſicht
von der Stengelnatur der Placenten und manches Andere auf-
giebt. Wie Robert Brown die Entwicklungsgeſchichte der
Samenknoſpe, ſo gründete Schleiden zuerſt die der Blüthe
und ſein Vorgang wirkte ſehr anregend; bald wurden Unter-
ſuchungen über die Geneſis der Blüthen eine der Hauptbeſchäf-
tigungen der Morphologen und die Fruchtbarkeit der Entwick-
lungsgeſchichte erwies ſich für die Syſtematik der Phanerogamen
als ſehr werthvoll, zumal wenn man dabei die Entwicklungsfolge
der Organe eines und desſelben Blüthenkreiſes, den Abortus, die
Verdoppelung, die Verzweigung (der Staubfäden) u. ſ. w. genauer
in's Auge faßte. Duchartre, Wigand, Gelesnoff u. v. a.
arbeiteten bald darauf in dieſer Richtung mit beſtem Erfolg; vor
Allen verdient aber Payer hervorgehoben zu werden, der mit
enormer Ausdauer alle wichtigeren Familien auf ihre Blüthen-
entwicklung unterſuchte (Organogénie de la fleur 1857) und
[206]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
ſo ein grundlegendes Werk ſchuf, gleich ausgezeichnet durch die
Sicherheit der Beobachtung, einfache, vorurtheilsfreie Deutung
des Geſehenen, wie durch die Schönheit und den Reichthum der
Abbildungen, ein Werk, welches von Jahr zu Jahr für die Mor-
phologie der Blüthe wichtiger geworden iſt.
Es gehört ferner zu den Verdienſten von Schleiden's
Grundzügen, daß hier zum erſten Mal auch dem Studirenden in
einem Lehrbuch wirklich gute, auf ſorgfältige Unterſuchungen
begründete Abbildungen dargeboten wurden.
Bei all den zahlreichen Mängeln, welche ſich an Schlei-
den's Grundzügen leicht auffinden laſſen, kann doch ein Vorzug
dieſes Buches gar nicht hoch genug angeſchlagen werden: es war
mit Einem Schlage durch das Erſcheinen desſelben die Botanik
als eine Naturwiſſenſchaft im neueren Sinn dargeſtellt und die
ganze Botanik ſofort auf eine viel höhere Stufe geſtellt, der
Geſichtskreis erweitert, weil von höherem Standpunct aus über-
blickt. Die Botanik erſchien auf einmal als eine Wiſſenſchaft
mit reichem Inhalt; abgeſehen davon, daß Schleiden ſehr
Vieles ſelbſt unterſucht hatte und neue Theorieen aufſtellte, wies
er überall auf das ſchon Vorhandene, Bedeutende hin; denn es
genügt gar nicht in der Literatur, daß es ausgezeichnete Forſcher
gibt; es iſt ebenſo nöthig, daß das wiſſenſchaftliche Publicum,
beſonders der Nachwuchs an jungen Fachmännern, darauf hin-
gewieſen und hinreichend belehrt wird, wirklich gute Leiſtungen
von unbedeutenden zu unterſcheiden; es muß hier ausdrücklich
ausgeſprochen werden, daß, wenn auch Schleiden's Zellbil-
dungstheorie, ſein unbegreiflicher Irrthum in der Embryologie
der Phanerogamen u. dergl. ſehr bald als ganz unhaltbar ſich
erwieſen, davon doch keineswegs die große hiſtoriſche Bedeutung
berührt wird, welche Schleiden's Schriften in dem oben an-
gegebenen Sinn in der That beſitzen.
Wie lebhaft ſich im Beginn der vierziger Jahre auch bei
Anderen das Bewußtſein regte, daß die Botanik fortan mit der
alten behaglichen Gedankenloſigkeit brechen müſſe, tritt unter
Anderem auch darin hervor, daß neben der alten Zeitſchrift
[207]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
„Flora“ im Jahre 1843 von Mohl und Schlechtendal die
„Botaniſche Zeitung“, von Schleiden und Nägeli eine „Zeit-
ſchrift für wiſſenſchaftliche Botanik“ gegründet wurde, welche
letztere allerdings nur drei Jahrgänge 1844-1846 erlebte, die
faſt ganz allein mit Nägeli's Arbeiten ſich füllten. Beide
aber ſtellten ſich ausgeſprochenermaßen die Aufgabe, die neuen
Ziele der Wiſſenſchaft vertreten zu wollen. Die nächſte Folge
war, daß auch die „Flora“ fortan ihre Saiten etwas höher
ſpannte und dem neuen Zeitgeiſt gerecht zu werden ſuchte, was
unter Fürnrohr's nunmehr alleiniger Leitung auch in den
Literaturreferaten vortrefflich gelang.
Mit der Bearbeitung der Grundzüge der wiſſenſchaftlichen
Botanik war Schleiden's Productivität in höherem Sinne
des Wortes erſchöpft; ſeine ſpäteren, zum Theil umfangreichen
Schriften übten keinen maßgebenden Einfluß mehr auf die wie-
tere Entwicklung der Wiſſenſchaft aus. Das Ideal, welches er
für die wiſſenſchaftliche Botanik hingeſtellt und in ſeinen gröberen
Umriſſen zu zeichnen verſucht hatte, bedurfte zu ſeiner Realiſirung
der ausdauerndſten Arbeit, nicht nur Eines Mannes, ſon-
dern ganzer Generationen von Beobachtern und Denkern;
Schleiden aber unterließ es, zur Erreichung des hochgeſteckten
Zieles nun ein mühſames, unverdroſſenes Fortarbeiten anzu-
wenden.
Schon in den erſten Jahren, wo Schleiden's Grundzüge
die wiſſenſchaftliche Welt in Bewegung ſetzten, begann ein Mann
von ganz weſentlich anderen Geiſtesanlagen die Bearbeitung der
großen Aufgabe. Es war Nägeli, der von jetzt an in allen
Theilen der Botanik grundlegend arbeitete, die zunächſt erreich-
baren Ziele feſtſtellte, die inductive Methode und die Entwick-
lungsgeſchichte nicht nur forderte oder durch abgeriſſene Unter-
ſuchungen bald hier, bald dort Etwas zu Tage förderte, ſondern
mit ernſter Ausdauer jede aufgenommene Frage ſo lange bear-
beitete, bis ein erhebliches Reſultat erreicht war und faſt jedes
Mal war das Reſultat nicht nur eine Bereicherung unſeres poſi-
tiven Wiſſens, ſondern zugleich ein neues Fundament, auf
[208]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
welchem Andere weiterbauen und eine reiche Literatur ſich ent-
wickeln konnte.
Auch Nägeli empfand das Bedürfniß, vor Allem ſich über
die philoſophiſchen Grundlagen der Naturforſchung zu orientiren,
für ihn indeſſen handelte es ſich nicht mehr darum, die inductive
Methode im Allgemeinen und im Gegenſatz zur Dogmatik der
idealiſtiſchen Schule zu betonen; er ging vielmehr ſogleich darauf
aus, die Geſetze der Induction auf die allgemeinſten Fragen der
organiſchen Natur, ſpeciell der Vegetation anzuwenden. Es iſt
leicht geſagt, die Naturwiſſenſchaft müſſe allein, auf genaue Er-
fahrung geſtützt, Begriffe und Naturgeſetze ableiten; ſowie man
es verſucht, dieſer Forderung zu genügen, machen ſich unzählige
Bedenken geltend; denn ſoll es nicht bei bloßer Anhäufung ein-
zelner Thatſachen bleiben, ſo muß auch jedes Mal das Ziel
feſtgeſtellt werden, zu welchem die inductive Forſchung hinführen
ſoll. Nägeli hob es ausdrücklich hervor, daß Thatſachen und
Beobachtungen nur unter dieſer Bedingung einen wiſſenſchaftlichen
Werth haben, daß nur die Einordnung jedes einzelnen durch
Induction gewonnenen Begriffes in das Syſtem des ganzen
übrigen Wiſſens einen Werth habe. — Viel conſequenter als
Schleiden und im ſtrengſten Gegenſatz zur idealiſtiſchen Schule,
ganz dem nominaliſtiſchen Standpunct ächter Naturforſchung
entſprechend, ging Nägeli vor Allem darauf aus, aus den
beobachteten Erſcheinungen nicht nur Begriffe abzuleiten, dieſe
zu claſſificiren, ihre Subordination feſtzuſtellen, ſondern dieſe
Begriffe nur als ſubjective Producte des Verſtandes zu behan-
deln, ſie als Werkzeuge des Denkens und der Mittheilung zu
benutzen; bereit dieſelben zu ändern, ſobald die inductive Forſchung
eine Aenderung nöthig macht. So lange das aber nicht der
Fall iſt, wird der einmal aufgeſtellte Begriff, der ſich mit einem
Wort verbindet, ſtreng feſtgehalten, jede willkürliche Aenderung
oder Verwechslung mit einem anderen ſtreng verpönt. Da in
der Natur Alles Bewegung, jede Erſcheinung eine fließende iſt,
was ſpeciell im organiſchen Leben als Entwicklungsgeſchichte ſich
darſtellt, ſo muß bei der wiſſenſchaftlichen Begriffsbildung auf
[209]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Krytogamenkunde.
dieſe Beweglichkeit ſogleich die gebührende Rückſicht genommen
werden. Die Entwicklungsgeſchichte wird nicht nur im Allge-
meinen als eines der verſchiedenen Forſchungsmittel hingeſtellt,
ſie iſt vielmehr identiſch mit der Erforſchung des Organiſchen.
In den ausführlichen methodologiſchen Betrachtungen Nägeli's
im erſten und zweiten Band ſeiner mit Schleiden herausgege-
benen Zeitſchrift 1844 und 1845 ſind dieſe Grundſätze, aber auch
zugleich das Haupthinderniß einer ganz ſtrengen Durchführung
derſelben zu finden; denn damals hielt Nägeli gleich allen
Naturforſchern an der Conſtanz der Species feſt, und ganz con-
ſequent von dieſem Standpuncte aus wird das natürliche Syſtem
als ein Fachwerk von Begriffen bezeichnet, die jedoch keineswegs
wie bei den Syſtematikern der idealiſtiſchen Schule als platoniſche
Ideen aufgefaßt werden. Ebenſo conſequent iſt es, wenn bei
dieſer kritiſchen Behandlung, welche die Aenderung unſerer
Begriffe keineswegs für eine Aenderung der Dinge ſelbſt hält,
„die Idee der Metamorphoſe“ im Sinne Goethe's und Ale-
xander Braun's aus dem Bereich der wiſſenſchaftlichen Be-
trachtung verſchwindet; ich habe ſchon im vorigen Capitel darauf
hingewieſen, daß das, was Goethe die normale oder auf-
ſteigende Metamorphoſe nannte, nur dann einen naturwiſſen-
ſchaftlichen Sinn zuläßt, wenn die Species als veränderlich
gelten. Zudem zeigte ſich ohnehin, wenn man, wie Nägeli es
that, die Kryptogamen in den Vordergrund der Unterſuchung
ſtellte, daß die ſogenannte Metamorphoſe der Blätter eine Er-
ſcheinung von ſecundärer Bedeutung iſt, die erſt bei den Phane-
rogamen zu voller Geltung gelangt. Hatte noch Schleiden,
von ſeinem Standpunct aus eigentlich inconſequent, die Metamor-
phoſe als das Princip der Entwicklungsgeſchichte aufgefaßt, ſo
wurde dagegen dieſes Wort von Nägeli kaum noch gebraucht,
er faßte die Entwicklungsgeſchichte als das Wachsthumsgeſetz der
Organe und in Uebereinſtimmung mit der Annahme der Conſtanz
der Arten war das Wachsthumsgeſetz jeder Pflanzenart und jedes
Organs ein unveränderliches in dem Sinne, wie man von
Naturgeſetzen in der Phyſik und Chemie ſpricht. Mit Einem
Sachs, Geſchichte der Botanik. 14
[210]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Wort, Nägeli's Betrachtungen über die „gegenwärtige Aufgabe
der Naturgeſchichte“ 1. c. ſind nicht nur logiſch vollkommen
conſequent im Sinne der inductiven Methode, ſie ſind es auch
da noch, wo die Annahme der Conſtanz der Arten Andere ſo
leicht zu logiſchen Sprüngen verleitet hatte.
Nägeli machte nun Ernſt mit den von ihm aufgeſtellten
Forderungen an die inductive Forſchung und zwar im weiteſten
Sinne des Wortes, wie er dieſen Forderungen bei der Wider-
legung von Schleiden's und der Begründung ſeiner eigenen
Zellenlehre, wie er ihnen ſpäter bei der Begründung ſeiner
Theorie der Molekularſtructur und des Wachsthums der organi-
ſirten Gebilde, gerecht wurde, in dieſen Unterſuchungen wahre
Muſterbeiſpiele ächt inductiver Forſchung aufſtellte, werde
ich in der Geſchichte der Phytotomie ausführlich zeigen. Hier
ſoll nur hervorgehoben werden, was Nägeli auf dieſem
Wege für die Morphologie und Syſtematik erreichte; es waren
auf dieſem Gebiet vorwiegend zwei Neuerungen von der
tiefgehendſten Bedeutung, welche Nägeli einführte und durch
welche Ziel und Methode der Forſchung auf Jahrzehnte
hinaus beſtimmt wurden. Vor Allem knüpfte er ſeine morpho-
logiſchen Unterſuchungen wo irgend möglich an die niederen
Kryptogamen an, um ſie an den höheren und an den Pha-
nerogamen weiter zu führen, d. h. er ging von den einfachen,
klaren Thatſachen zu den ſchwierigeren über, zugleich aber wur-
den ſo die Kryptogamen nicht nur in den Bereich methodiſcher
Forſchung hineingezogen, ſondern geradezu zum Ausgangspunct
derſelben erhoben. Die Morphologie gewann damit nicht bloß eine
ſtreng entwicklungsgeſchichtliche Grundlage, ſie erhielt vielmehr
ſchon dadurch ein ganz anderes Anſehen, daß die bisher an den
Phanerogamen abſtrahirten morphologiſchen Begriffe hier an den
niederen Kryptogamen entwicklungsgeſchichtlich unterſucht wurden.
Das war die eine Neuerung, die zweite eng damit zuſammen-
hängende lag in der Art, wie Nägeli nun die neue Zellenlehre
zum Ausgangspunct der Morphologie machte. Die erſte Ent-
ſtehung der Organe nicht nur, ſondern auch das weitere Wachs-
[211]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
thum wurde auf die Entſtehung ihrer einzelnen Zellen zurück-
geführt; es ergab ſich ſofort das merkwürdige Reſultat, daß
zunächſt bei den Kryptogamen, deren Wachsthum überhaupt mit
Zelltheilungen verbunden iſt, eine ganz beſtimmte Geſetzmäßigkeit
in der Aufeinanderfolge und Richtung der Theilungswände ob-
waltet, daß Zellen von ganz beſtimmter Ableitung den Urſprung
und das weitere Wachsthum jedes Organs vermitteln. Das
Merkwürdigſte war, daß jeder Stamm oder Zweig, jedes Blatt
und ſonſtige Organ an ſeinem Scheitel eine einzelne Zelle beſitzt,
durch deren geſetzmäßige Theilungen alle übrigen entſtehen, ſo
daß für jede Gewebezelle ihre Herkunft aus jener Scheitelzelle
nachgewieſen werden kann und ſchon in den Jahren 1845 und
46 (Zeitſchr. f. wiſſ. Bot.) zeigte Nägeli die drei Hauptformen,
unter denen die Segmentirung einer Scheitelzelle ſich vollzieht,
nämlich die einreihige, zwei- und dreireihige (Delesseria,
Echinomitrium, Phascum, Jungermannia, Moosblätter).
Gewann auf dieſe Weiſe das Studium der Wachsthumsgeſchichte
der Kryptogamen eine ungemeine Klarheit und Beſtimmtheit ihrer
einzelnen Momente, ſo zeigte Nägeli andererſeits ſchon 1844
an einer Algengattung (Caulerpa), daß das Wachsthum einer
Pflanze auch dann die gewöhnlichen morphologiſchen Differenz-
irungen in Axe, Blatt und Wurzel zeigen könne, wenn die
Fortpflanzungszelle bei der Entwicklung und weiterem Wachsthum
überhaupt gar keine Zelltheilungen erleidet und 1847 wurden
ähnliche Verhältniſſe zuerſt bei Valonia, Udotea und Acetabu-
laria ausführlich nachgewieſen. Abgeſehen von anderen Folge-
rungen war durch dieſe Thatſachen feſtgeſtellt, daß die morpho-
logiſche Differenzirung während des Wachsthums nicht als eine
Wirkung der Zelltheilungen betrachtet werden dürfe und zugleich
gewann der Begriff der Zelle durch derartige Fälle eine höchſt
merkwürdige Erweiterung.
Uebrigens ließ es Nägeli nicht dabei bewenden, unter den
niederen Kryptogamen lehrreiche Beiſpiele für allgemeine mor-
phologiſche Sätze aufzuſuchen; er widmete vielmehr den Algen
ein ſpecielles Studium auch im ſyſtematiſch deſcriptiven Sinne;
14*
[212]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
und ſeine 1847 erſchienenen „neuen Algenſyſteme“ ſowie die
1849 publicirten „Gattungen einzelliger Algen“ waren die erſten
und erfolgreichen Verſuche, auf dieſem bisher zwar nicht vernach-
läſſigtem aber ſeit Vaucher nicht mehr methodiſch bearbeitetem
Gebiet ernſte Forſchung dem bloßen Sammeleifer entgegenzu-
ſtellen; in dieſem Sinne brachte auch Alexander Braun in
ſeiner Verjüngung ein reiches Material neuer Beobachtungen
über die Lebensweiſe und die damit eng verknüpften morpholo-
giſchen Verhältniſſe der Algen, Arbeiten, denen ſich in den näch-
ſten Jahren die wichtigen Unterſuchungen von Thuret, Prings-
heim, De Bary u. a. anſchloſſen, auf die ich weiter unten
zurückkomme.
Noch bevor die Unterſuchung der Algen und bald darauf
auch die der Pilze zu ihren großen Ergebniſſen führte, erfuhr
aber die Syſtematik der höheren Pflanzen eine tiefgreifende Um-
geſtaltung durch die methodiſch durchgeführte Embryologie der
Muscineen und Gefäßkryptogamen.
Unter den Kryptogamen waren die Muscineen und Gefäß-
kryptogamen ſeit dem vorigen Jahrhundert vielfach von guten
Beobachtern ſorgfältig ſtudirt worden; auch ohne in das Eigen-
thümliche ihrer Organiſation tiefer einzudringen, hatten die Syſte-
matiker die Arten und Gattungen, die Familien und ſelbſt
höheren Abtheilungen dieſer Gruppen leidlich in Ordnung
gebracht; ſchon lagen umfangreiche, ſyſtematiſch geordnete Cataloge
dieſer Pflanzen vor, auch hatte man verſucht, von den bei den
Phanerogamen geltenden Geſichtspuncten aus ſich über die mor-
phologiſche Gliederung der Muscineen und Gefäßkryptogamen zu
orientiren; für die erſteren lagen ſelbſt ſchon aus dem vorigen
Jahrhundert recht ſchätzenswerthe Arbeiten von Schmidel1)
1750 über die Lebermooſe, ganz beſonders aber von Hedwig
über die Laubmooſe 1782 vor, denen ſich 1835 ausführliche
[213]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Unterſuchungen Mirbel's über Marchantia und Biſchoff's
über die Marchantieen und Riccieen ſowie auch W. B. Schim-
per's Unterſuchungen über die Laubmooſe 1850 und Lantzius
Beninga's 1) Beiträge zur Kenntniß des Baues der Moos-
kapſel 1847 anſchloſſen. Die Gefäßkryptogamen waren ſeit 1828
beſonders durch Biſchoff's 2) Unterſuchungen in ihrer Organi-
ſation und ſogar zum Theil in ihrer Keimung näher bekannt
geworden; dazu kam, daß Unger ſchon 1837 die Spermato-
zoiden in den Antheridien verſchiedener Laubmooſe beſchrieben,
Nägeli dieſelben auch an einem Organ der Farnkräuter ent-
deckt hatte, welches man bis dahin für das Cotyledonarblatt die-
ſer Pflanzen gehalten, an welchem 1848 Suminsky auch
die weiblichen Geſchlechtsorgane und das Einſchlüpfen der Sper-
matozoiden in dieſelben beſchrieben. Schon einige Jahre vorher
war die Keimungsgeſchichte der Rhizocarpeen, an denen Schlei-
den ſeine verkehrte Befruchtungstheorie mit beſonderer Klarheit
glaubte bewieſen zu haben, von Nägeli, der auch hier die
Spermatozoiden entdeckte, und von Mettenius ausführlich
unterſucht worden. So lagen merkwürdige Bruchſtücke aus dem
Leben und der Organiſation dieſer Pflanzen bis 1848 vor,
Bruchſtücke, die unverſtanden und zuſammenhangslos, wie ſie
waren, einſtweilen nur geringen wiſſenſchaftlichen Werth beſaßen,
abgeſehen etwa von der Thatſache, daß bei den Kryptogamen die
Befruchtung ähnlich wie bei den Thieren durch Spermatozoiden
vermittelt wird. Eine vollkommen klare Einſicht in die embryolo-
[214]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
giſchen Verhältniſſe, um die es ſich hier handeln mußte, konnte
außerdem nur dann gewonnen werden, wenn die Embryologie
der Phanerogamen zunächſt in's Reine gebracht war, denn durch
Schleiden's mehrfach erwähnte Theorie, nach welcher der
Pollenſchlauch ſelbſt in den Embryoſack der Samenknoſpe einge-
drungen zum Embryo auswachſen ſollte, erſchien die Samenknoſpe
nicht mehr wie ein weibliches Geſchlechtsorgan, ſondern nur als
eine Brutſtätte für den im Grunde ungeſchlechtlich entſtandenen
Embryo. Und dieſe wichtige Frage wurde entſchieden durch
Wilhelm Hofmeiſter's 1849 erſchienenes Werk „die Entſtehung
des Embryos der Phanerogamen.“ Hier und in einer Reihe
ſpäterer Abhandlungen zeigte er, daß im Embryoſack ſchon vor
der Befruchtung das Keimkörperchen liegt, welches durch das
Eintreffen des Pollenſchlauches zur weiteren Entwicklung, zur
Bildung des Embryos angeregt wird. Die Organiſation der
Samenknoſpe, die Natur des Embryoſackes und des Pollenkorns,
ſowie die Entſtehung des Embryos aus der befruchteten Eizelle
hatte Hofmeiſter Schritt für Schritt, Zelle für Zelle verfolgt,
die ganze Klarheit, welche Nägeli's Zellentheorie und ſeine
Zurückführung aller Entwicklungsproceſſe auf die Zellbildungs-
vorgänge ſelbſt in die Entwicklungsgeſchichte eingeführt hatte,
durchleuchtete Hofmeiſter's Darſtellung dieſer Vorgänge. Die-
ſelbe entwicklungsgeſchichtliche Methode führte Hofmeiſter ſofort
auch in die Embryologie der Muscineen und Gefäßkryptogamen
ein, an einer langen Reihe von Arten wurde die Entſtehung der
Geſchlechtsorgane Zelle für Zelle verfolgt, die zu befruchtende
Eizelle in ihrer Entſtehung ebenſo wie die Geneſis der Sperma-
tozoiden beobachtet, vor Allem aber die in der befruchteten Eizelle
ſtattfindenden Zelltheilungen und ihre Beziehung zur weiteren
Gliederung des ſich ausbildenden geſchlechtlichen Productes dar-
gethan; der geſammte Entwicklungsverlauf der Muscineen und
Gefäßkryptogamen zeigte ein zweimaliges Zurückgreifen auf die
einzelne Zelle als Ausgangspunct je einer neuen Entwicklungs-
phaſe; das wahre gegenſeitige Verhältniß, die entwicklungs-
geſchichtliche Bedeutung der ungeſchlechtlich entſtandenen Sporen
[215]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
und ihrer Keimproducte einerſeits, des geſchlechtlich erzeugten
Embryos andererſeits traten in Hofmeiſter's Unterſuchung
ohne weitläufige Discuſſionen, welche die Genauigkeit der Methode
überflüſſig machte, ſofort klar hervor. Mit dieſen embryologiſchen
Vorgängen zumal der Rhizocarpeen und Selaginellen, bei denen
das Vorhandenſein von zweierlei Sporen erſt jetzt ſeine richtige
Deutung fand, verglich Hofmeiſter die Embryologie der Coni-
feren und durch dieſe vermittelt auch die der Angiospermen.
Das Ergebniß dieſer „vergleichenden Unterſuchungen“ 1851
(der Hauptſache nach ſchon 1849 publicirt) war ein ſo großartiges,
w e es auf dem Gebiet der deſcriptiven Botanik nicht zum zweiten
Male vorgekommen iſt; das Verdienſtliche zahlreicher werthvoller
Einzelheiten, welche auf die verſchiedenſten Fragen der Zellen-
theorie und Morphologie neues Licht warfen, verſchwand gegen
den Glanz des großen Geſammtergebniſſes, welches bei der
Klarheit der Einzeldarſtellung dem Leſer dieſes Werkes ſchon
einleuchtete, noch bevor er die wenigen Worte am Schluß des
Werkes las, die in ſchlichter Weiſe das Reſultat zuſammenfaßten.
Dieſes ſelbſt in kurzen Worten in ſeiner ganzen Bedeutung für
die Botanik zu charakteriſiren, iſt ſchwer; die Vorſtellung von
dem, was die Entwicklung einer Pflanze bedeute, war plötzlich
eine andere, ganz neue geworden; die innere Verwandtſchaft ſo
außerordentlich verſchiedener Organismen, wie der Lebermooſe,
Laubmooſe, Farne, Equiſeten, Rhizocarpeen, Selaginellen,
Coniferen, Monocotylen und Dicotylen ließ ſich mit einer
Durchſichtigkeit der Verhältniſſe überblicken, von der die bisherige
Syſtematik nicht die entfernteſte Vorſtellung geben konnte. Der
im Thierreich, wenn auch in ganz andern Formen damals neu
entdeckte Generationswechſel, erwies ſich als das oberſte Entwick-
lungsgeſetz, welches nach einem einfachen Schema die ganze
lange Reihe dieſer äußerſt verſchiedenen Pflanzen beherrſcht. Am
deutlichſten trat dieſer Generationswechſel bei den Farnen und
Muscineen hervor und doch zugleich in einem gewiſſen Gegenſatz
bei beiden; bei den Farnen und verwandten Kryptogamen entſteht
aus der ungeſchlechtlich erzeugten Spore ein kleines unſcheinbares
[216]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Pflänzchen, welches ſofort die Geſchlechtsorgane bildet, aus deren
Befruchtung der bewurzelte und blättertragende Stamm des
Farnkrauts hervorgeht, das ſeinerſeits nur wieder ungeſchlechtliche
Sporen erzeugt. Bei den Muscineen dagegen entwickelt ſich aus
der Spore eine gewöhnlich langlebige, vielfach gegliederte
Pflanze, welche erſt ſpät zur Bildung von Geſchlechtsorganen
ſchreitet, als deren Function die ſogenannte Moosfrucht entſteht.
Die erſte aus der Spore entſtandene Generation, die geſchlecht-
liche, iſt bei den Muscineen die vegetirende Pflanze, während
bei den Farnen und Verwandten die ganze Fülle der Lebens-
thätigkeit, der morphologiſchen Differenzirung ſich in der zweiten
ſexuell erzeugten Generation entfaltet. Hier lag Alles klar und
ſofort einleuchtend, aber Hofmeiſter's Unterſuchungen zeigten
auch, daß dasſelbe Schema der Entwicklung auch bei den Rhizo-
carpeen und Selaginellen gilt, wo zweierlei Sporen entſtehen
und gerade in dieſem Fall erwies ſich die Erkenntniß des wahren
Verhältniſſes zwiſchen Sporenbildung und Sexualorganen als
die die morphologiſche Deutung leitende. Mit der Kenntniß der
Vorgänge an der weiblichen großen Spore der vollkommenſten
Kryptogamen ließ ſich nun ſofort die Samenbildung der Coni-
feren verſtehen, der Embryoſack derſelben entſprach dieſer großen
Spore, in welcher das Prothallium nunmehr als das längſt
bekannte Endoſperm ſich darſtellt, ſowie das Pollenkorn die Mi-
kroſpore repräſentirte; in der Samenbildung der Phanerogamen
zeigten ſich die letzten Spuren des Generationswechſels, der bei
den Muscineen und Farnen ſo klar zu Tage lag. Die Verän-
derungen, welche der Generationswechſel von den Muscineen
aufwärts bis zu den Phanerogamen durchläuft, waren wo mög-
lich noch überraſchender, als der Generationswechſel ſelbſt.
Vor dem Leſer von Hofmeiſter's „vergleichenden
Unterſuchungen“ entrollte ſich ein Bild des verwandtſchaft-
lichen genetiſchen Zuſammenhanges der Kryptogamen und
Phanerogamen, deſſen Wahrnehmung mit dem damals herr-
ſchenden Glauben an die Conſtanz der Arten nicht mehr verein-
bar war. Es handelte ſich hier nicht um Aufſtellung von Typen
[217]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
ſondern um die Erkenntniß eines entwicklungsgeſchichtlichen Zu-
ſammenhangs, der das Allerverſchiedenſte, die einfachſten Mooſe
mit den Palmen, Coniferen und Laubhölzern eng verknüpft er-
ſcheinen ließ. Mit der Annahme, daß jede natürliche Gruppe
des Pflanzenreichs eine „Idee“ repräſentire, war hier nichts
mehr zu machen, die Vorſtellung von dem, was das natürliche
Syſtem zu bedeuten habe, mußte ſich gänzlich ändern; ebenſo
wenig, wie ein bloßes Fachwerk von Begriffen, konnte es als
eine Geſammtheit platoniſcher Ideen gelten. Aber auch in
methodologiſcher Hinſicht war das Reſultat der „vergleichenden
Unterſuchungen“ durchſchlagend; für die Morphologie ſtanden
jetzt die Kryptogamen im Vordergrund; die Muscineen waren
das Maaß, mit dem die niederen Kryptogamen, die Farne das
Maaß, mit dem die Phanerogamen gemeſſen werden mußten.
Die Embryologie war der Faden, der in das Labyrinth der ver-
gleichenden und genetiſchen Morphologie führte; die Metamorphoſe
gewann jetzt ihren einzig richtigen Sinn, indem ſich jedes Organ
auf ſeine Stammform, die Staub- und Fruchtblätter der Phane-
rogamen, z. B. auf die ſporentragenden Blätter der Gefäßkrypto-
gamen, zurückführen ließen. Was Häckel erſt nach Darwin's
Auftreten die phylogenetiſche Methode nannte, hatte Hofmeiſter
in ſeinen vergleichenden Unterſuchungen lange vorher thatſächlich
und mit großartigſtem Erfolge wirklich durchgeführt. Als acht
Jahre nach Hofmeiſter's vergleichenden Unterſuchungen Dar-
win's Descendenzlehre erſchien, lagen die verwandtſchaftlichen
Beziehungen der großen Abtheilungen des Pflanzenreiches ſo
offen, ſo tief begründet und ſo durchſichtig klar vor Augen, daß
die Descendenztheorie eben nur anzuerkennen brauchte, was hier
die genetiſche Morphologie thatſächlich zur Anſchauung ge-
bracht hatte.
Ein ſo großartiges Bild, wie es Hofmeiſter von dem
genetiſchen Zuſammenhang des Pflanzenreiches einſtweilen noch
mit Ausſchluß der Thallophyten, entworfen hatte, konnte aber
unmöglich in allen ſeinen einzelnen Zügen ſchon völlig vollendet
und correct ſein; noch waren manche Lücken auszufüllen, einzelne
[218]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Beobachtungen zu berichtigen; auch arbeitete Hofmeiſter ſelbſt
weiter: die ſo höchſt merkwürdigen Gattungen, Isoetes, Botrychium,
wurden in den nächſten Jahren von ihm, ebenſo die Befruchtung
und die Embryologie der Equiſeten von ihm und Milde, die
von Ophioglossum durch Mettenius genauer beobachtet und
dem Plan des Ganzen eingefügt. Bis auf den heutigen Tag iſt
es noch immer eine fruchtbare Aufgabe, die verſchiedenen Formen
der Muscineen, Gefäßkryptogamen und Gymnoſpermen wieder-
holt genau zu unterſuchen, um alle Einzelheiten im Entwicklungs-
gang dieſer Pflanzen, die Entſtehung des Embryos, die Zellen-
folge am Scheitel, die erſte Entſtehung und das Wachsthum der
ſeitlichen Organe feſtzuſtellen; und je genauer die Unterſuchung
wird, deſto klarer tritt überall auch in ihren letzten Conſequenzen
die Richtigkeit der von Hofmeiſter geltend gemachten Auffaſſung
des Generationswechſels hervor. Es iſt jedoch nicht mehr Auf-
gabe unſerer Geſchichte, zu verfolgen, wie durch ſpätere ausge-
zeichnete Arbeiten z. B. Cramer's über die Equiſeten, Prings-
heim's über Salvinia 1862, Nägeli's und Leitgeb's über
die Wurzelbildung der Kryptogamen, Hanſtein's über die
Keimung der Rhizocarpeen u. ſ. w. die Lehre vom Generations-
wechſel und die Morphologie der Kryptogamen im Einzelnen
immer weiter ausgebaut wurde.
Thallophyten.
Das Zurückgehen der morphologiſchen Unterſuchung auf die
erſten Geſtaltungsvorgänge des Embryos vor und nach der Be-
fruchtung, die Verfolgung der fortſchreitenden Gliederung und
des Wachsthumes durch alle Entwicklungsſtadien bis wieder zur
Bildung des Embryos hat bei den Muscineen, Gefäßkryptogamen
und Phanerogamen ſeit 1850 nicht nur zu einer großen Sicher-
heit in der morphologiſchen Deutung der Organe geführt, ſondern
auch das Willkürliche und Unſichere aus der Beſtimmung der
Verwandtſchaften entfernt; man kannte jetzt den Weg genau, der
jedesmal zum Ziele führen mußte, wenn es darauf ankam, die
[219]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
verwandtſchaftlichen Beziehungen einer Kryptogamengattung oder
die der größeren Gruppen der Phanerogamen feſtzuſtellen; das
geiſtreiche Herumrathen und Probiren war vorbei; nur geduldige
Unterſuchung konnte helfen, aber jede ſolche ergab auch ein Re-
ſultat von bleibendem Werth.
Ganz anders ſtand es um 1850 noch mit den Thallophyten;
das bereits vorliegende Sichere, was man von ihnen wußte,
zeigte nur, wie unſicher das Uebrige war; der methodiſch geord-
neten Kenntniß der Muscineen und Gefäßpflanzen gegenüber
boten die Algen, Pilze, Flechten eine chaotiſche Maſſe unverſtan-
dener Formen. War bei den Muscineen und Farnen die Ent-
wicklungsfolge innerhalb der Species in ihre einzelnen Stufen
ſo auseinandergelegt, daß alle Momente der fortſchreitenden Ge-
ſtaltung deutlich zur Geltung kamen, indem der Generationswechſel
die Hauptabſchnitte der Entwicklung zugleich ſcharf ſonderte und
doch zuſammenhielt; ſo ſchien dagegen die Entwicklung der Algen
und Pilze regellos in ein buntes Gewirr von auftauchenden und
wieder verſchwindenden Formen zu zerfallen, deren geſetzmäßigen
genetiſchen Zuſammenhang aufzufinden, kaum möglich ſchien.
Hier kam es vor Allem darauf an, zu beſtimmen, welche
der bekannten Formen in einen und denſelben Entwicklungs-
kreis zuſammengehörten; denn auf den verſchiedenſten Entwick-
lungsſtufen gehen dieſe Pflanzen auf Abſonderung einzelner Zellen
zurück, aus denen die Entwicklung von Neuem wiederholend oder
fortbildend beginnt. Entwicklungsanfänge der verſchiedenſten Algen-
ſpecies lagen in demſelben Waſſertropfen durcheinander, die der
verſchiedenſten Pilze wuchſen zwiſchen und auf einander auf dem-
ſelben Subſtrat; bei den Flechten vermengte ſich gar Pilz und
Algenform. So war es bei den kleinen, mikroſkopiſchen Arten;
die großen Meeresalgen, die Hutpilze und großen Flechten waren wohl
leichter ſpecifiſch auseinander zu halten, aber von ihrer Entwick-
lung wußte man wo möglich noch weniger, als von der der
mikroſkopiſchen Thallophyten.
Trotz all' der Unſicherheit hatte ſich bis 1850 eine ſehr
ausgedehnte Einzelkenntniß dieſer Organismen ausgebildet.
[220]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Beſonders die Sammler und Dilettanten, denen es nur auf die
Fixirung des unmittelbar Sichtbaren ankommt, die nach Ent-
ſtehung und Verwandtſchaft wenig fragten, füllten unverdroſſen
ihre Sammlungen, machten Cataloge und ſtellten nach beliebigen
äußeren Kennzeichen verſchiedene Syſteme auf. Nach Tauſenden
zählten die Namen der Species, deren Diagnoſen dicke Bände
deren Abbildungen große Atlanten füllten; der Formenreichthum
der Thallophyten erwies ſich ſo groß, daß zahlreiche Botaniker
ihre ganze Thätigkeit ihnen allein zuwandten, manche ſogar nur
die Algen, andere nur die Pilze oder Flechten ſammelten und
beſchrieben. — Eine tiefere Einſicht in den Zuſammenhang dieſer
Lebensformen unter ſich und etwa mit den übrigen Pflanzen, war
damit freilich nicht gewonnen; es war jedoch für die Kryptogamen-
kunde in ähnlicher Weiſe eine empiriſche Baſis geſchaffen, wie
durch die Kräuterbücher im 17. Jahrhundert für die Phanero-
gamen. Das Handgreifliche war benannt, irgendwie geordnet;
man konnte ſich gegenſeitig darüber verſtändigen, wovon die Rede
ſei, wenn man die Namen oder die Tafeln und Figuren jener
Werke citirte. In dieſem Sinne waren beſonders Agardh's,
Harvey's, Kützing's Werke über die Algen 1); Nees von
Eſenbeck's, Elias Fries, Léveillé's, Berkeley's, be-
ſonders aber Corda's 2) ausgedehnte Bemühungen um die Pilze
von hervorragendem Werth.
[221]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Ueber die Entſtehung und Fortpflanzung der niederen Kryp-
togamen hatte man noch in den zwanziger und dreißiger, ſelbſt
in den vierziger Jahren ſehr unbeſtimmte und ſchwankende
Anſichten.
Von einigen Algen, Pilzen und Flechten kannte man gewiſſe
Vermehrungs- und Fortpflanzungsformen, bei anderen waren
ſie völlig unbekannt; manche von ihnen traten an Orten und
unter Umſtänden auf, welche die Annahme der generatio spon-
tanea unumgänglich erſcheinen ließen; noch 1827 ließ Meyen
die „Prieſtley'ſche Materie“ (kleine Algen, die in ſtehendem
Waſſer auch in verſchloſſenen Gefäßen ſich entwickeln), durch freie
Zeugung entſtehen, was Kützing 1833 experimentell zu beweiſen
ſuchte; die Pilze hielt man zum Theil für krankhafte Aus-
wüchſe anderer Organismen, manche ließ man auch durch
generatio spontanea entſtehen, unbeſchadet ihrer Fähigkeit, ſich
durch Sporen fortzupflanzen; für die einfachſten Pilze theilten
dieſe Anſicht ſelbſt die hervorragenſten Botaniker bis zum Beginn
der fünfziger Jahre. So wenig übrigens die Annahme der
freien Zeugung von phanerogamiſchen Pflanzen noch im 17. Jahr-
hundert dem Fortſchritt der methodiſchen Forſchung hinderlich
war, ſo wenig wurde die methodiſche Bearbeitung der Algen
und Pilze nach 1850 durch dieſe Anſichten geſtört; hinderlich
war dagegen anfangs die von Hornſchuch (1821) und von
Kützing (1833) aufgeſtellte Anſicht, daß die einfachſten Algen-
zellen (Protococeus und Palmella), wenn einmal durch Urzeug-
ung entſtanden, je nach Umſtänden die verſchiedenſten Algenformen,
ja ſogar Flechten und Mooſe aus ſich entwickeln können; ähnlich
[222]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
wie noch jetzt einzelne Beobachter das Penicillium und den
Micrococeus als die Ausgangspuncte der verſchiedenſten Pilz-
entwicklungen in Anſpruch nehmen. Auch die Grenzregulirung
zwiſchen niederen Thieren und Pflanzen machte Schwierigkeit;
man zerhieb aber den Knoten: was ſich durch innere Kräfte von
ſelbſt bewegte, wurde dem Thierreich zugezählt, ganze Algen-
familien (die Volvocineen, Bacillariaceen u. a.) wurden ſo
von den Zoologen reclamirt und als man die erſten Schwärm-
ſporen einer echten Alge ausſchlüpfen ſah, wurde dies als die
Thierwerdung der Pflanze bezeichnet. (Trentepohl, 1807. —
Unger 1830 deuteten ſo das Ausſchlüpfen der Zoospore von
Vaucheria): das Merkwürdige iſt nicht, daß man derartige
Anſichten hegte, ſondern daß ſie ſich bei den Meiſten mit dem
Glauben an die Conſtanz der Species ganz wohl vertrugen. Das
Dogma von der Conſtanz leiſtete in dieſem Falle aber der
Wiſſenſchaft einen guten Dienſt, denn diejenigen Botaniker, welche
ſpäter an die methodiſche Bearbeitung der Algen und Pilze
gingen, thaten dies im Vertrauen auf die Conſtanz der ſpecifi-
ſchen Entwicklungsproceſſe, die ſich hier ſo gut wie bei den
Mooſen und höheren Pflanzen bewähren müſſe.
Neben dem vielen Unbeſtimmten und Unſicheren, was ge-
legentliche Beobachtungen bei unkritiſcher Deutung des Geſehenen
ergaben, enthielt aber die Literatur ſchon ſeit längerer Zeit ver-
einzelte wohlconſtatirte Thatſachen von Belang, die wohl geeignet
waren, ernſten Forſchern als Ausgangspuncte genauer Unter-
ſuchungen zu dienen. Unter den Algen hatten beſonders
die Gattungen Spirogyra und Vaucheria merkwürdige Er-
ſcheinungen dargeboten; ſchon Joſeph Gärtner kannte die
Zygosporenbildung der erſteren (1788), Hedwig fand
in der Art ihrer Entſtehung wenigſtens eine Andeutung der
Sexualität (1798) und Vaucher1) nannte in ſeiner 1803 er-
ſchienen, der Zeit weit vorausgeeilten histoire de conferves
[223]Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
d'eau douce die Conjugation ausdrücklich einen ſexuellen
Vorgang; ſeine optiſchen Mittel reichten aber noch nicht hin,
die Befruchtung bei der nach ihm benannten Vaucheria (Ectos-
perma) zu beobachten, deren Sexualorgane er genau beſchrieb,
ebenſo entging ihm die Bewegung der Zoosporen dieſer Gattung,
deren Ausſchlüpfen und Schwärmen dann Trentepohl 1807
beobachtete 1). Vaucher kannte auch ſchon die Bildung neuer
Netze in den alten Zellen von Hydrodictyon, einen Vorgang,
den Areſchoug 1842 wieder aufnahm, indem er das Wimmeln
der jungen Zellen in den alten ſah. Schon 1828 ſah Biſchoff
die Spermatozoiden der Charen ohne freilich ihre Bedeutung
zu erkennen. Die Beobachtungen an conjugirenden Algen mehrten
ſich, zumal ſah Ehrenberg 1834 an Cloſterium entſprechende
Erſcheinungen, die Morren 1836 näher beſchrieb. In den
dreißiger Jahren mehrten ſich auch die Beobachtungen über
Schwärmſporenbildung an Süßwaſſer- und Meeres-Algen und
1839 faßte Meyen (neues Syſtem III) alles bis dahin über
die Fortpflanzung der Algen Bekannte überſichtlich zuſammen.
Ein ganz neues Anſehen gewann aber die Algenkunde durch
Nägeli's bereits erwähnte Unterſuchungen zwiſchen 1844 und
1849, die erſten die wir (nach Vaucher) als methodiſche Forſch-
ungen auf dieſem Gebiet betrachten dürfen. Nägeli wandte
ſich vorwiegend an die Geſetze der Zelltheilungen bei der unge-
ſchlechtlichen Vermehrung und dem Wachsthum, hielt aber unter
den Algen nur die Florideen für ſexuell differenzirt, denen
er die anderen als der Sexualität entbehrend gegenüber ſtellte.
Zahlreiche Beiträge zur Biologie der Süßwaſſeralgen, welche
vielfach die intereſſanteſten Einblicke in einen noch verborgenen
Zuſammenhang dieſer Formen gewährten, lieferte Braun in
ſeiner „Verjüngung“ (1850), der ſchon 1852 eine muſterhafte
Wachsthumsgeſchichte der Characeen im Nägeli'ſchem Sinne
folgte, wo für jede Zelle dieſer Pflanzen die Art der Abſtamm-
[224]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
ung von der Scheitelzelle des Stammes nachgewieſen, die Se-
xualorgane zumal ſehr genau unterſucht, die Strömungsrichtung
des Zellinhalts in ihrer Beziehung zur morphologiſchen Glieder-
ung der Organe nachgewieſen wurde. Schon vorher hatte Guſtav
Thuret die Zoosporen der Algen zum Gegenſtand ausführlicher
Unterſuchungen gemacht.
So lagen die Sachen bezüglich der Algen um 1850, als
durch Hofmeiſter die Embryobildung der Phanerogamen,
Gefäßcryptogamen und Muscineen in den Mittelpunct der mor-
phologiſch-ſyſtematiſchen Forſchung geſtellt wurde. Hier zeigte
ſich, daß eine vollſtändige Einſicht in den ganzen Formenkreis einer
Pflanze und in ihre verwandtſchaftlichen Beziehungen nur dann
zu gewinnen iſt, wenn es gelingt, ihre ſexuelle Fortpflanzung,
die erſte Entſtehung des Embryos zum Ausgangspunct der
Forſchung zu machen. Es lag nahe, dasſelbe günſtige Reſultat
auch von der Embryologie der Algen zu erwarten; es kam alſo
darauf an, ſich fortan nicht mehr mit der Kenntniß der unge-
ſchlechtlichen Vermehrungen derſelben zu begnügen, ſondern die
ſexuelle Fortpflanzung aufzuſuchen und mit Hilfe derſelben voll-
ſtändige Entwicklungsgeſchichten der Algenſpecies herzuſtellen.
Daß die ſexuelle Fortpflanzung auch hier wahrſcheinlich allgemein
verbreitet ſei, darauf deuteten jene älteren Beobachtungen hin; daß
es ſich aber bei der Herſtellung zuſammenhängender Entwicklungs-
geſchichten um eine ſehr mühevolle Arbeit handeln würde, eine
Arbeit von der die Sammler, die ſich gerne Syſtematiker nannten,
keine Ahnung hatten, war leicht vorauszuſehen; man war aber
durch die Arbeiten Nägeli's und Hofmeiſter's an die
höchſten Forderungen in dieſer Richtung bereits gewöhnt und
die Männer, die auch hier der methodiſchen echten Wiſſenſchaft
neuen Boden gewinnen ſollten, waren um 1850 bereits an der
Arbeit. Ein glänzendes Ergebniß wurde ſchon 1853 durch Thuret's
Befruchtungsgeſchichte der Gattung Fucus erzielt; ſie war zwar
in ihrer embryologiſchen Seite ſehr einfach, aber der Sexualact
ſelbſt ſo klar, der experimentellen Behandlung ſogar zugänglich,
daß dadurch ſofort Licht auf andere ſchwieriger zu beobachtende
[225]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Fälle fiel. Nun folgten die Entdeckungen ſexueller Vorgänge
Schlag auf Schlag; Pringsheim löſte das alte Räthſel bei
Vaucheria 1855, ſchon 1856-1858 bei den Oedogonieen
Saprolegnieen, Coleochaeten; Cohn beobachtete 1855
die ſexuelle Sporenbildung der Sphaeroplea. Pringsheim
ließ es aber nicht bei der ſorgfältigſten Beobachtung des Sexual-
actes bewenden; vielmehr gab er von den betreffenden Familien
ausführliche, Zelle für Zelle fortſchreitende Wachsthumsgeſchichten,
der Entſtehung der Geſchlechtsorgane, der Entwicklung des ge-
ſchlechtlichen Products. Die in die Vegetation und in die Em-
bryologie eingreifenden ungeſchlechtlichen Fortpflanzungen wurden
in ihrem wahren Zuſammenhang nachgewieſen. Vorgänge, welche
vielfach an den Generationswechſel der Muscineen erinnerten,
wurden erkannt und dabei gezeigt, daß unter den Algen ganz
verſchiedene Formen der Sexualität und der Geſammtentwicklung
vorkommen, welche zur Bildung ſyſtematiſcher Gruppen führten,
die gänzlich von den auf oberflächliche Beobachtung der Sammler
gegründeten abwichen. Es zeigte ſich bald, daß hier, wie ſpäter
auch bei den Pilzen und Flechten, die eigentliche Forſchung ganz
neuen Grund legen mußte. Aus dem Durcheinander unverſtan-
dener Formen zog Pringsheim eine Reihe von characteriſtiſchen
Gruppen hervor, die allſeitig beleuchtet, meiſterhaft in Wort und
Bild dargeſtellt, ſich wie Inſeln aus dem Chaos der noch un-
erforſchten Formen erhoben, aber auch auf ihre Umgebung viel-
fach Licht warfen. Noch vor 1860 wurden auch die Conjugaten
in dieſer Weiſe von de Bary gründlich morphologiſch bearbeitet
(1858); Bruchſtücke algologiſcher Entwicklungsgeſchichten lieferte
ferner Thuret und noch bevor die ſechziger Jahre ſchloſſen,
wurde von Thuret und Bornet die merkwürdige Embryologie
der Florideen 1867, von Pringsheim die Paarung der
Schwärmſporen 1869 bei Volvocineen feſtgeſtellt. Die Algen
bieten gegenwärtig eine Mannigfaltigkeit der Entwicklungsvorgänge
wie keine andere Pflanzenklaſſe: ſexuelle, ungeſchlechtliche Fort-
pflanzung und Wachsthum greifen da in einer Weiſe ineinander,
welche ganz neue Einblicke in das Weſen der Pflanzenwelt eröffnen.
Sachs, Geſchichte der Botanik. 15
[226]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
War ſchon durch Hofmeiſter's Nachweis des Generations-
wechſels und die Zurückführung der Samenbildung der Phanero-
gamen auf dieſen das alte Schema von der Natur der Pflanzen
gänzlich verändert worden, ſo zeigten die erſten Anfänge des
Pflanzenlebens, die einfachſten Algenformen, Erſcheinungen, die
uns nöthigen, die Grundbegriffe der Morphologie zu revidiren,
wenn überhaupt eine methodiſche Darſtellung des ganzen Pflanzen-
reichs möglich ſein ſoll.
Zu ähnlichen, aber noch umfaſſenderen Ergebniſſen führte
die methodiſche Unterſuchung der Pilze ſeit 1850. Seit den
älteſten Zeiten waren die Pilze der Gegenſtand der Verwunderung
und des Aberglaubens geweſen; was Hieronymus Bock von
ihnen ſagte, wurde im erſten Capitel p. 31 mitgetheilt und nicht
nur Caspar Bauhin wiederholte das, ſondern ähnliche An-
ſichten erhielten ſich bis tief in unſer Jahrhundert herein; um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts glaubte Otto von Münch-
hauſen ſogar in den Schwämmen Polypenwohnungen ſehen zu
müſſen, eine Anſicht, die Linné beifällig aufnahm. Was die
Naturphiloſophen wie z. B. Nees von Eſenbeck über die Natur
der Schwämme zu ſagen hatten, ſoll dagegen hier nicht repro-
ducirt werden.
Indeſſen hatten ſich doch auch auf dieſem Gebiet ſchon längſt
einzelne brauchbare Beobachtungen angeſammelt; ſchon 1729 hatte
Micheli1) die Sporen zahlreicher Pilze geſammelt, ſie ausge-
ſäet und nicht nur Mycelien, ſondern auch Fruchtkörper gewonnen
und Gleditſch hatte 1753 dieſe Beobachtungen beſtätigt;
Jacob Chriſtian Schaeffer2) hatte ſchon 1762 ſämmtliche
in Bayern und der Pfalz wachſende Schwämme ſehr gut abge-
bildet und bei vielen auch die Sporen nicht verabſäumt; trotzdem
[227]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
konnten am Anfang unſereres Jahrhunderts Rudolphi und
Link die Keimung der Pilzſporen leugnen, während ſich Perſoon
1818 damit begnügte einige Pilze aus Sporen, andere durch
Urzeugung entſtehen zu laſſen. Seit 1820 trat eine entſchiedene
Beſſerung der Anſichten über die Pilze ein, wozu eine ausführ-
liche Arbeit Ehrenberg's (de mycetogenesi in der Leopol-
dina 1820) weſentlich beitrug. Indem er dort nicht nur alles
bis dahin bekannte über Natur und Fortpflanzung der Pilze
zuſammenſtellte, ſondern auch eigene Beobachtungen über die
Sporen und ihre Keimung machte, den Verlauf der Hyphen in
großen Fruchtkörpern u. dgl. abbildete, vor Allem aber den erſten
Fall von Sexualität bei einem Schimmelpilz, die Conjugation der
Zweige von Syzygites beſchrieb. In demſelben Jahr ſäte Nees
von EſenbeckMucor stolonifer auf Brod aus und erhielt
nach 3 Tagen bereits reife Sporangien (Flora 1820 p. 528);
Dutrochet zeigte 1834 (mém. II. p. 173), daß die größeren
Schwämme nur die Fruchtträger einer fadenförmigen verzweigten
Pflanze ſind, die gewöhnlich unter der Erde oder in den Zwiſchen-
räumen organiſcher Subſtrate ſich verbreitet und bis dahin unter
dem Namen Byſſus als eigene Pilzgattung behandelt worden
war. Bald darauf führte Trog (Flora 1837 p. 609) dieſe
Wahrnehmungen weiter aus, unterſchied Mycelium und Frucht-
körper, wies darauf hin, daß jenes häufig perennirt und daß es
dieſes iſt, was ſich zunächſt aus der keimenden Sporn bildet.
Er machte einen Verſuch, die Formen der größeren Fruchtkörper
morphologiſch zu behandeln und zeigte, wie man die Sporen von
abgeſchnittenen Hutpilzen auf Papier ſammeln könne und daß
bei Pezizen, Helvellen die Sporen in Form von Wölkchen ausge-
ſchleudert werden, auch brachte er neue Beweiſe für die ſchon
von Gleditſch aufgeſtellte Behauptung bei, daß Pilzſporen durch
die Luft überallhin verbreitet werden können. Ueber das Wachs-
thum und die Lebensweiſe verſchiedener größerer Pilze veröffent-
lichte zwiſchen 1842 und 45 Schmitz in der Linnaea vortreffliche
Beobachtungen. Es war damals auch nicht ohne Werth hervor-
zuheben, daß die Sporen der Pilze ihre Species genau reproduciren.
15*
[228]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
Der Schwerpunkt der ganzen Mykologie lag indeſſen in
den niederen, einfachen kleinen Pilzen, ganz beſonders in denen,
welche auf und in Pflanzen und Thieren paraſitiſch leben. Hier
häuften ſich die Schwierigkeiten, hier lagen die dunkelſten Räthſel,
mit denen es jemals die Botanik zu thun hatte, hier galt es
mit der äußerſten Umſicht und Vorſicht der Wiſſenſchaft Schritt
für Schritt ein neues Terrain zu gewinnen. Wie bei den Algen
handelte es ſich auch hier zunächſt darum, wenigſtens bei einer
kleineren Anzahl von Arten die vollſtändige Entwicklungsgeſchichte
kennen zu lernen; aber noch viel ſchwieriger als dort war es
hier, das in Einen Entwicklungskreis Zuſammengehörige aufzu-
finden und von den zerſtreuten Entwicklungszuſtänden anderer
Pilze abzuſondern. Das Verdienſt, in dieſer Richtung die Bahn
gebrochen zu haben, gebührt den Gebrüdern Tulaſne, welche
ſchon vor 1850 die erſten genaueren Unterſuchungen über die
Brand- und Roſtpilze veröffentlichten, denen dann eine lange Reihe
ausgezeichneter Arbeiten über die verſchiedenſten Pilzformen folgten,
ſo vor Allem über die unterirdiſchen Pilze, deren Lebensweiſe
und Anatomie beſchrieben und prachtvoll abgebildet wurde;
theoretiſch wichtiger aber waren ihre Arbeiten über die Entwick-
lungsgeſchichte des Mutterkorns 1853 und ihre weiteren Unter-
ſuchungen über Sporenbildung und Keimung von Cystopus,
Puccinia, Tilletia und Ustilago und die Entdeckung der
Sexualorgane bei Peronospora ſchon vor 1861. Von größter
Bedeutung für die Reformation der Mykologie war die in drei
Bänden von 1861-1865 erſchienene, mit prachtvollen z. Th.
entwicklungsgeſchichtlichen Abbildungen verſehene Selecta fun-
gorum carpologia. Unterdeſſen hatte auch ſchon Ceſſati
Unterſuchungen über den Muscardinenpilz der Seidenraupen
1852, und Cohn über einen merkwürdigen Schimmelpilz, den
Pilobulus publicirt.
Ihre heutige Form aber verdankt die Mykologie ganz vorwie-
gend den mehr als zwanzigjährigen Bemühungen Anton de Bary's
deſſen mykologiſche Schriften hier aufzuzählen zu weit führen würde.
Mit richtigem Verſtändniß deſſen, was auf dieſem ſchwierigen
[229]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Gebiet allein zu ſicheren Ergebniſſen führen kann, ließ es ſich
De Bary angelegen ſein, vor Allem die Beobachtungsmethoden
ſelbſt auszubilden, die Entwicklungsſtufen der niederen Pilze nicht
bloß an ihren natürlichen Standorten aufzuſuchen, ſondern die-
ſelben mit allen Vorſichtsmaßregeln ſelbſt zu kultiviren und ſo
vollſtändig geſchloſſene Entwicklungsreihen herzuſtellen. Auf dieſe
Weiſe gelang es ihm, das Eindringen paraſitiſcher Pilze in das
Innere geſunder Pflanzen und Thiere mit aller Evidenz feſtzu-
ſtellen, zu zeigen, wie auf dieſe Weiſe das merkwürdige Räthſel
ſich löſt, daß Pilze in anſcheinend ganz unverletzten Geweben
anderer Organismen leben, was früher zu der Annahme geführt
hatte, daß ſolche Pilze durch Urzeugung oder aus dem lebendigen
Zellinhalt ihrer Wirthe entſtehen. Für einen ungemein ein-
fachen Waſſerpilz (Pythium) hatte ſchon Pringsheim 1858
dieſe Vorgänge beobachtet. De Bary zeigte, wie der einge-
drungene Paraſit nun innerhalb ſeiner Nährpflanze oder des be-
fallenen Thieres weiter vegetirt, um dann ſeine Fortpflanzungs-
organe wieder an die freie Luft zu bringen, und wie nun zu
gegebener Zeit der von dem Pilz befallene Organismus erkrankt
oder getödtet wird. Die biologiſche Seite dieſer Unterſuchungen
bot nicht nur ein hohes wiſſenſchaftliches Intereſſe, vielmehr
wurde auf dieſe Weiſe für die Land- und Forſtwirthſchaft, ja
ſelbſt für die Medicin eine Reihe der werthvollſten Ergebniſſe erzielt.
Wie bei den Algen und in noch höherem Grade als bei
dieſen zeigte ſich auch bei den Pilzen als die Hauptſchwierig-
keit bei der Aufſtellung vollſtändiger Entwicklungsgeſchichten das
vielfältige Eingreifen der ungeſchlechtlichen Vermehrungsweiſen
in den Entwicklungsgang der Species, ja ſogar die Eigenthüm-
lichkeit, daß die verſchiedenen Entwicklungsſtufen in manchen
Fällen auf verſchiedenen Subſtraten allein ſich ausbilden können.
Eine der wichtigſten Aufgaben war aber auch hier die Aufſuchung
der Sexualorgane, deren Exiſtenz aus verſchiedenen Analogieen
nicht unwahrſcheinlich war und nachdem De Bary ſchon 1861
bei den Peronoſporeen die Sexualorgane vielfach beobachtet
hatte, gelang es ihm 1863 zuerſt den Nachweis zu liefern, daß
[230]Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
der ganze Fruchtkörper eines Aſcomyceten ſelbſt das Product
eines Sexualactes iſt, welcher an den Fäden des Myceliums
ſtattfindet.
Auf De Bary's Beobachtungsmethoden und ſeinen that-
ſächlichen Ergebniſſen fußend iſt nun ſeit ungefähr 1860 die
mykologiſche Literatur auch von anderen nach den verſchiedenſten
Richtungen hin bereichert worden; wie bei den Algen läßt ſich
auch hier noch nicht abſehen, zu welchen Reſultaten ſchließlich
die Unterſuchungen führen werden; daß es aber gelungen iſt,
auch dieſen dornigen, ja gefahrvollen Weg, auf welchem
überall Irrthümer auf den Forſcher eindringen, zu ebnen und
den ſtrengſten Anforderungen der Wiſſenſchaft auch hier zu ge-
nügen, iſt eines der ſchönſten Reſultate der ſtreng inductiven
Methode. Für die Morphologie und Syſtematik ſind ſchon jetzt
bedeutende Erfolge errungen, unter denen die Feſtſtellung der
Natur der großen Fruchtkörper und gewiſſer dem Generations-
wechſel höherer Kryptogamen ähnlichen Vorgänge vor Allem
hervorzuheben ſind. Als eines der bedeutendſten Ergebniſſe der
algologiſchen und mykologiſchen Forſchung aber darf ſchon jetzt
das genannt werden, daß die beiden bisher ſtreng geſchiedenen
Klaſſen der Algen und Pilze offenbar mit einander vereinigt
werden müſſen und daß eine ganz neue Claſſification aufzuſtellen
iſt, in welcher Algen und Pilze als bloße Habitusformen in ver-
ſchiedenen morphologiſch begründeten Abtheilungen wiederkehren1)
Noch wäre hier ein Wort über die Flechten zu ſagen; ſie
ſind die Abtheilung der Thallophyten, welche zuletzt und erſt in
neueſter Zeit in ihrer wahren Natur erkannt wurden; bis tief
in die fünfziger Jahre hinein kannte man von ihrer Organiſation
nicht viel mehr, als was Wallroth 1825 feſtgeſtellt hatte 2);
daß nämlich zwiſchen dem pilzähnlichen Hyphengewebe des Thallus
grüne Zellen eingeſtreut ſind, die man als Gonidien bezeichnete.
[231]Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
Man kannte ſeit Mohl's Unterſuchungen von 1833 die freie
Sporenbildung in den Schläuchen der Flechtenfrüchte (Apothecien)
und wußte, daß pulverförmige Ausſonderungen des Thallus aus
einem Gemenge von Gonidien und Hyphen beſtehend im Stande
ſind, die Species fortzupflanzen. Das genetiſche Verhältniß der
chlorophyllhaltigen Gonidien zu den pilzähnlichen Hyphen blieb
lange völlig unklar, bis es endlich in neueſter Zeit ſeit 1868
gelang, die Gonidien als ächte Algen, den Hyphenkörper als
einen ächten Pilz nachzuweiſen und zu zeigen, daß auch die Flechten
nicht mehr eine neben Pilzen und Algen beſtehende Pflanzenklaſſe
darſtellen, ſondern als eine Abtheilung der Schlauchpilze zu be-
trachten ſind, welche die Merkwürdigkeit darbieten, daß ſie ihre
Nährpflanzen, nämlich die als Gonidien fungirenden Algen, ganz
umſpinnen und in ihr Gewebe aufnehmen. Nach vorläufigen
Andeutungen De Bary's war es Schwendener, der dieſes
Verhalten erkannte und die unerwartete, den Lichenologen aber
unerfreuliche Thatſache ausſprach. Der Widerſpruch der Letzteren
wird ſich vorausſichtlich unter der Wucht der Thatſachen, die
ſchon jetzt dem Unbefangenen gar keinen Zweifel laſſen, legen.
So haben denn die Arbeiten auf dem Gebiet der Thollophyten
in den letzten zwanzig Jahren zu einer vollſtändigen Umgeſtaltung
der früheren Anſichten über das Weſen dieſer Organismen geführt
und die Botanik mit einer Reihe der überraſchendſten Reſultate
bereichert. Doch noch lange nicht abgeſchloſſen iſt die Bewegung
auf dieſem Gebiet. Als eines der Hauptergebniſſe für die
Wiſſenſchaft iſt aber das zu betrachten, daß durch die Unter-
ſuchung der niederen und höheren Kryptogamen die Morphologie
und Syſtematik von zahlreichen älteren Vorurtheilen ſich befreit
hat, daß der Blick ein freierer geworden iſt, die Unterſuchungs-
methoden ſicherer, die Frageſtellung ſchärfer.
[[232]][[233]]
Zweites Buch.
Geſchichte der Pflanzen-Anatomie.
(1671—1860.)
[[234]][[235]]
Einleitung.
Daß die Körperſubſtanz der vollkommeneren Pflanzen aus
Schichten von verſchiedener Beſchaffenheit beſteht, konnte auch
der primitivſten Betrachtung der Pflanzen ſeit den älteſten Zeiten
nicht entgehen; ſchon die alten Sprachen hatten ja Worte zur
Bezeichnung der augenfälligſten anatomiſchen Beſtandtheile der
Pflanzen, wie Rinde, Holz und Mark. Auch war leicht wahr-
zunehmen, daß das Mark aus einer anſcheinend homogenen
ſaftigen Maſſe beſteht, das Holz dagegen aus faſeriger Subſtanz,
während die Rinde der Holzpflanzen zum Theil häutige Schichten,
zum Theil faſrige und markähnliche Beſchaffenheit zeigt; die
Gewinnung der Geſpinſtfaſern z. B. des Flachſes aus der Rinde
gab ſchon im graueſten Alterthum eine, wenn auch vage Vor-
ſtellung davon, wie durch Fäulniß und mechaniſche Behandlung
die faſrigen von den markigen Theilen der Rinde ſich ſondern
laſſen. Auch verfehlten Ariſtoteles und Theophraſt nicht,
dieſe Beſtandtheile der Pflanzenſubſtanz mit entſprechenden des
thieriſchen Körpers in Parallele zu ſtellen und im erſten Buch
wurde bereits gezeigt, wie Caeſalpin im Sinne dieſer ſeiner
Lehrer das Mark als den eigentlich lebendigen Theil der Pflanze,
als den Sitz der Pflanzenſeele in Anſpruch nahm und dieſen
Gedanken morphologiſch und phyſiologiſch weiter verwerthete; er
bemerkte, daß der Wurzel gewöhnlich das Mark fehlt, daß der
[236]Einleitung.
Theil der Wurzel, welcher dem Holz des Stammes entſpricht,
häufig weich und fleiſchig erſcheint; die Zuſammenſetzung der
Laubblätter aus grüner, ſaftiger Subſtanz und faſerigen Strängen
ließ ſofort eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der grünen Rinde des
Stengels hervortreten, und dieſe war es offenbar, die ihn ver-
anlaßte, nicht bloß die Laubblätter, ſondern auch die Blattgebilde
der Blüthenhülle als aus der Rinde des Stengels entſprungen
zu betrachten, wogegen die weiche, ſaftige, pulpöſe Beſchaffenheit
der unreifen Samen und Samengehäuſe auf ihre Identität mit
dem Mark hinzuweiſen ſchien. Daß in den Pflanzen Säfte nicht
nur enthalten ſind, ſondern in ihnen auch ſich bewegen müſſen,
konnte auch der einfachſten Ueberlegung nicht entgehen und zu-
dem zeigte das Bluten des Rebſtockes, der Balſamausfluß der
Harzbäume und das Hervorquellen des Milchſaftes bei der Ver-
wundung derartiger Pflanzen eine ſo auffallende Aehnlichkeit mit
dem Bluten eines verwundeten Thierkörpers, daß die Annahme
von Canälen innerhalb der Pflanze, welche gleich den Blutadern
der Thiere jene Säfte enthalten und in Bewegung ſetzen, ganz na-
türlich erſchien, wie uns Caeſalpin's Reflexionen über dieſe
Strukturverhältniſſe zur Genüge zeigen. Nehmen wir noch hinzu
daß man wußte, wie die Samen in den Früchten liegen, wie
der Embryo nebſt einer pulpöſen Maſſe (Cotyledonen und Endo-
ſperm) in der Samenſchale eingeſchloſſen iſt, ſo haben wir unge-
fähr das geſammte Inventar der phytotomiſchen Kenntniſſe bis
um die Mitte des 17. Jahrhunderts.
Bei ſorgfältiger Präparation, durch geſchicktes Zerſchneiden ge-
eigneter Pflanzentheile und aufmerkſame Betrachtung der Veränder-
ungen, welche durch Verweſung und Fäulniß entſtehen, hätte man
aber ſchon früher die anatomiſchen Kenntniſſe beträchtlich weiter fördern
können; allein das Sehen iſt eine Kunſt, die gelernt und ausgebildet
ſein will, ein beſtimmter Zweck muß den Willen des Beobachters an-
regen, genau ſehen zu wollen und das Geſehene richtig zu unterſchei-
den und zu verbinden. Dieſe Kunſt des Sehens aber war bis zur
Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht weit gediehen; was man
in dieſer Richtung leiſten konnte, erſchöpfte ſich in der Unter-
[237]Einleitung.
ſcheidung der äußeren Organe der Blatt- und Stengelformen
und wie mißlich es trotzdem noch um die Unterſcheidung der
kleineren Blüthen- und Fruchttheile ausſah, wurde bereits im
erſten Buch hervorgehoben.
Durch die Erfindung des Mikroſkops wurde das Auge nicht
bloß befähigt, kleine Dinge groß, das unſichtbar Kleine überhaupt
zu ſehen; vielmehr war mit dem Gebrauch der Vergrößerungs-
gläſer noch ein ganz anderer Vortheil verbunden; man lernte über-
haupt erſt wiſſenſchaftlich und genau ſehen; indem man das Auge
mit einem Vergrößerungsglas bewaffnete, concentrirte ſich die Auf-
merkſamkeit auf beſtimmte Puncte des Objectes; das Geſehene war
zum Theil undeutlich und immer nur ein kleiner Theil des
ganzen Objects; der Wahrnehmung des Sehnerven mußte ſich
ein abſichtliches und intenſives Nachdenken beigeſellen, um das
mit dem Vergrößerungsglas ſtückweiſe beobachtete Object auch
dem geiſtigen Auge in ſeinem innern Zuſammenhange klar zu
machen; ſo wurde erſt durch die Bewaffnung mit dem Mikroſkop
das Auge ſebſt zu einem wiſſenſchaftlichen Inſtrument, welches
nicht mehr mit leichtſinniger Bewegung über die Objecte hineilt,
ſondern von dem Verſtand des Beobachters in ſtrenge Zucht ge-
nommen und zu methodiſcher Arbeit angehalten wurde. Schon
der Philoſoph Chriſtian Wolff machte (1721) die ſehr
richtige Bemerkung, daß man das, was man einmal mit dem
Mikroſkop geſehen hat, dann auch häufig mit dem unbewaffneten
Auge unterſcheiden könne und dieſe von jedem Mikroſkopiker ge-
machte Erfahrung beweiſt hinlänglich die gewiſſermaßen erziehende
und dreſſirende Wirkung, welche das Mikroſkop auf das Auge
ausübt. Dieſe merkwürdige Thatſache tritt auch in anderer
Weiſe noch hervor; wir ſahen in der Geſchichte der Syſtematik
und Morphologie, daß die Botaniker über hundert Jahre lang
die ganz offen daliegenden äußeren Formverhältniſſe der Pflanzen
kaum wiſſenſchaftlich zu beherrſchen, von allgemeineren Geſichts-
puncten aus zu betrachten ſuchten; erſt Jungius wandte ein
geregeltes Nachdenken auf die dem Auge ganz offen daliegenden
morphologiſchen Verhältniſſe der Pflanzen und erſt ſpät in unſerem
[238]Einleitung.
Jahrhundert wurde dieſer Theil der Botanik wieder wiſſenſchaftlich
methodiſch behandelt. Dieſer äußerſt langſame Fortſchritt in der
geiſtigen Beherrſchung der äußeren Pflanzenform bei fortwährender
Beſchäftigung mit derſelben ſcheint vorwiegend dadurch erklärlich,
daß das unbewaffnete Auge allzu unruhig über die Form der
Objecte hingleitet, die Aufmerkſamkeit des Beobachters durch ſeine
flüchtigen Bewegungen ſtört. Ganz im Gegenſatz zu der ſo ge-
wöhnlichen Gedankenloſigkeit bei der Betrachtung der äußeren
Form der Pflanzen finden wir ſchon bei den erſten Beobachtern
mit dem Mikroſkop, bei Robert Hooke, Malpighi, Grew
und Leeuwenhoek im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts
das Streben, durch angeſtrengtes Nachdenken die mit bewaff-
netem Auge geſehenen Bilder mit dem Verſtand zu bearbeiten,
ſich über die wahre Natur der mikroſkopiſchen Objecte klar
zu werden, theoretiſch in das innere Weſen einzudringen.
Vergleicht man die Werke der genannten Männer mit dem,
was die ſyſtematiſchen Botaniker desſelben Zeitraums über
die äußeren Geſtaltverhältniſſe der Pflanzen zu ſagen wußten,
ſo kann Niemandem entgehen, wie ſehr der geiſtige Gehalt der
erſteren dem der letzteren überlegen iſt; am auffallendſten aber
tritt dieß hervor, wenn wir das, was Malpighi und Grew
über den Bau der Blüthe und Frucht ſagten, vergleichen mit
dem, was Tournefort, Rivinus und Linné davon wußten.
Dieſe Steigerung auch der geiſtigen Fähigkeiten des Be-
obachters durch das Mikroſkop wird jedoch nur durch lange Uebung
gewonnen; auch das beſte Mikroſkop bleibt in den Händen eines
Ungeübten ein ſehr bald langweilig werdendes Spielzeug. Ein
großer Irrthum wäre auch zu glauben, daß der Fortſchritt der
Pflanzenanatomie einfach von der fortſchreitenden Vervollkommnung
der Mikroſkope abhängig geweſen ſei; unzweifelhaft iſt es aller-
dings, daß mit zunehmender Stärke der Vergrößerung, Helligkeit
und Schönheit des Geſichtsfeldes auch die Wahrnehmung der
anatomiſchen Objecte ſich klären mußte; damit allein wäre indeſſen
wenig gewonnen. Wie bei jeder Wiſſenſchaft kommt es auch
bei der Unterſuchung der Struktur der Pflanzen zunächſt darauf
[239]Einleitung.
an, die ſinnliche Wahrnehmung mit dem Verſtand zu bearbeiten,
das Wichtige vom Unwichtigen zu unterſcheiden, in die einzelnen
Wahrnehmungen logiſchen Zuſammenhang zu bringen, bei der
Unterſuchung ein Ziel zu verfolgen; dieſes Ziel aber kann in
letzter Inſtanz für den Phytotomen kein anderes ſein als das,
die ganze innere Struktur der Pflanze in ihrem geſammten Zu-
ſammenhang ſo klar zu erfaſſen, daß dieſelbe mit allen Einzel-
heiten von der Phantaſie mit völliger ſinnlicher Deutlichkeit
jederzeit reproducirt werden kann. Dieß zu erreichen, iſt nicht
leicht, weil das Mikroſkop, je ſtärker es vergrößert, nur
deſto kleinere Theile des Ganzen zeigt; geſchickte und überlegte
Präparation, ſorgfältige Combination der verſchiedenen Bilder
und lange Uebung ſind nöthig, um jenes Ziel zu erreichen. Die
Geſchichte der Phytotomie zeigt, wie ſchwer es den Beobachtern
gefallen iſt, das zerſtückelt Geſehene nach und nach zu klarer
zuſammenhängender Vorſtellung zu geſtalten.
Die fortſchreitende Verbeſſerung der Mikroſkope alſo genügte
keineswegs allein, um die Phytotomie fortſchreiten zu laſſen; ja
man geht ſogar nicht zu weit, wenn man behauptet, daß die
Fortſchritte, welche die mikroſkopiſche Anatomie mit Hülfe un-
vollkommener Mikroſkope nach und nach machte, wiederholt den
Impuls zu energiſchen Anſtrengungen für die Verbeſſerung der
Mikroſkope gegeben haben; die praktiſchen Mikroſkopiker allein
konnten beurtheilen, wo die wahren Mängel der vorhandenen
Mikroſkope lagen, ihre Beſtrebungen, ſie handlicher zu machen,
ihre beſtändigen Klagen über die geringe Leiſtungsfähigkeit des
optiſchen Theils, Klagen, die zumal am Ende des vorigen und
am Anfang dieſes Jahrhunderts laut wurden, waren es, welche
die Optiker drängten, dem Mikroſkop ihre Aufmerkſamkeit zuzu-
wenden und ihm eine immer größere Vollkommenheit zu geben.
Aber nicht nur das, die praktiſchen Mikroſkopiker ſelbſt waren es,
welche wiederholt weſentliche Verbeſſerungen an dem Inſtrument
ausführten; ſo gab zuerſt Robert Hooke 1760 dem zuſammen-
geſetzten Mikroſkop eine für wiſſenſchaftliche Beobachtung brauch-
bare Form, ſo war es Leeuwenhoek, der das einfache Mikroſkop
[240]Einleitung.
bis auf das Maximum ſeiner Leiſtungsfähigkeit brachte, ſo vor
Allem war es Amici, dem das heutige Mikroſkop ſeine Voll-
kommenheit ganz weſentlich mitverdankt, und nicht unerwähnt
darf hier Mohl bleiben, der die mikroſkopiſche Meſſung durch
zweckmäßige Einrichtung förderte und durch ein Buch über die
praktiſche Einrichtung des Mikroſkops den Optikern vielfach Winke
gab, auf welche Puncte ſie ihre Aufmerkſamkeit zu lenken hätten,
(Mikrographie 1846), während Nägeli und Schwendener
ſpäter um die Theorie des mikroſkopiſchen Sehens ſich Verdienſte
erwarben.
Nach dem Geſagten werden alſo die wichtigſten Momente
in der Geſchichte der Pflanzenanatomie nicht ohne Weiteres und ganz
paſſiv von der Geſchichte des Mikroſkops abhängen; vielmehr
werden dieſelben auch hier durch eine innere logiſche Nothwen-
digkeit beſtimmt: es ſind auch hier die Ziele ins Auge zu faſſen,
welche ſich die fortſchreitende Forſchung ſtellte. Ueberblicken wir
in dieſem Sinne die Geſchichte unſerer Disciplin, ſo zeigt ſich,
daß die Begründer derſelben im letzten Drittel des 17. Jahr-
hunderts, Malpighi und Grew, vorwiegend darüber in's
Reine zu kommen ſuchten, in welcher Weiſe die zelligen und
faſerigen Strukturelemente ſich verbinden; es wurden zwei
Grundformen des Gewebes von vornherein angenommen: das
aus Kammern oder Schläuchen beſtehende ſaftige Zellengewebe
im Gegenſatz zu den langgezogenen, im Allgemeinen faſerförmigen
oder röhrenförmigen Elementarorganen, deren Unterſcheidung in
unbegrenzte offene Röhren oder Gefäße und in blind endigende
Faſern vielfach zweifelhaft blieb. Das Charakteriſtiſche dieſer
Periode liegt auch darin, daß die Unterſuchung der feineren
Struktur ſich überall mit Reflexionen über die Funktion der
Elementarorgane innig verwebt, daß alſo Anatomie und Phyſio-
logie einander ſtützen, aber auch bei der Unvollkommenheit bei-
der einander Schaden zufügen. Im Grunde überwog bei den
erſten Phytotomen bei Weitem das phyſiologiſche Intereſſe, dem
die anatomiſche Unterſuchung dienſtbar gemacht wurde.
Allein die Unvollkommenheit der Mikroſkope während des
[241]Einleitung.
ganzen 18. Jahrhunderts brachte eine Art Abneigung gegen die
anatomiſche Beſchäftigung hervor, die man ohnehin nur als
Hilfsmittel der Phyſiologie gelten ließ; dieſe letztere aber hatte
auch ohne dieſe Hilfe durch Hales, ſpäter gegen den Schluß
des 18. Jahrhunderts, durch Ingen-Houß und Senebier
die wichtigſten Fortſchritte gemacht und ſo erloſch das Intereſſe
für die Phytotomie faſt ganz. Das ganze 18. Jahrhundert hat
dem, was Malpighi und Grew geleiſtet, nicht nur Nichts
beigefügt, ſondern ſogar das Verſtändniß für das bereits Geleiſtete
theilweiſe abhanden kommen laſſen
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam das Mikroſkop in-
deſſen wieder mehr zu Ehren; das zuſammengeſetzte wurde etwas
bequemer handlicher; Hedwig zeigte, wie ſich mit ſeiner
Hilfe die Organiſation der kleinſten Pflanzen, beſonders aber
der Mooſe enthüllt, auch verſuchte er es, den Bau des Zellge-
webes und der Gefäßbündel höherer Pflanzen zu erkennen. Mit
dem Beginn des 19. Jahrhunderts aber ſteigerte ſich ganz plötz-
lich wieder das Intereſſe an der Phytotomie; in Frankreich war
es Mirbel, in Deutſchland Kurt Sprengel, der die mikroſ-
kopiſche Struktur der Pflanzen wieder zum Gegenſtand ernſter
Beobachtungen machte. Die Leiſtungen beider waren anfangs
äußerſt ſchwach und ſie widerſprachen einander; es entwickelte
ſich in den nächſten Jahren eine lebhafte Polemik über die Natur
der Zellen, Faſern und Gefäße, an welcher ſich bald zahlreichere
deutſche Botaniker betheiligten; es kam wieder Leben in die
Sache, beſonders als die Göttinger Akademie eine Preisfrage
über die ſtreitigen Puncte aufſtellte (1804), an deren Löſung ſich
Link, Rudolphi und Ludolph Treviranus betheiligten,
während Bernhardi auf eigene Hand ſich mit der Natur der
Pflanzengefäße beſchäftigte. Es war nicht viel, was durch dieſe
Arbeiten erreicht wurde: man hatte gewiſſermaßen ganz von
vorn angefangen und noch galten jetzt nach 130 Jahren Mal
pighi und Grew als die wichtigſten Autoritäten, auf welche
man immer wieder zurückging. Die Fragen aber, um die es ſich
jetzt handelte, waren doch in der Hauptſache andere als damals:
Sachs Geſchichte der Botanik. 16
[242]Einleitung
hatten es Malpighi, Grew und Leeuwenhoek ſich vor-
wiegend zur Aufgabe gemacht, die verſchiedenen Gewebeformen in
ihrer Zuſammenlagerung zu ſtudiren, ſo kam es den genannten
Männern nun vorwiegend darauf an, den feineren Bau der ver-
ſchiedenen Gewebe ſelbſt deutlicher zu erkennen, darüber in's Reine
zu kommen, wie man ſich den Zellenbau des parenchymatiſchen
Gewebes zu denken habe, welches die wahre Struktur der Ge-
fäße und der Faſern ſei. Daß man in dieſer Richtung anfangs
ſehr langſam vorwärts kam, lag nicht nur an der Unvollkom-
menheit der Mikroſkope, ſondern in weit höherem Grade an der
ſehr ungeſchickten Präparation und dem Einfluß verſchiedener
Vorurtheile, vor Allem aber an einer zu geringen geiſtigen An-
ſtrengung. Ein großer Fortſchritt aber wurde erzielt durch ein
umfangreiches Werk, welches der jüngere Moldenhawer 1812
heraus gab. Sehr ſorgfältige und zweckmäßige Präparation der
Objekte, kritiſche Behandlung des Selbſtgeſehenen und der Literatur
zeichnen dieſes Werk aus und im Grunde beginnt erſt mit ihm
wieder eine ſtreng wiſſenſchaftliche Behandlung der Phytotomie.
An Moldenhawer knüpfte ſpäter (ſeit 1828) Hugo Mohl
an, während gleichzeitig auch Meyen ſich eifrig der Phytotomie
widmete. Ganz vorwiegend aber waren es Mohl's Leiſtungen,
welche bis 1840 dieſe Periode der Pflanzenanatomie zu einem
gewiſſen Abſchluß brachten. So ſchwach auch die Anfänge in
dieſem Zeitraum von 1800 - 1840 waren, und ſo bedeutend
auch der durch Hugo Mohl bewirkte Fortſchritt der Phyto-
tomie am Ende deſſelben ſich darſtellt, ſo dürfen wir doch Alles,
was während dieſer Zeit geleiſtet wurde, inſoferne zuſammen-
faſſen, als die zu bearbeitenden Fragen im Weſentlichen dieſelben
blieben; wie bei Mirbel und Treviranus, wie bei Mol-
denhawer und Meyen, handelte es ſich auch bei Mohl bis
1840 ganz vorwiegend um die Entſcheidung der Fragen,
wie das feſte Zellſtoffgerüſt der Pflanze im fertigen Zuſtand
beſchaffen iſt, ob zwiſchen je zwei Zellräumen eine einfache
oder eine doppelte Wandlamelle liegt, was unter Tüpfeln
und Poren zu verſtehen iſt, wie die verſchiedenen Formen der
[243]Einleitung
Faſern und Gefäße aufzufaſſen ſind; als ein Hauptreſultat dieſer
Beſtrebungen iſt aber auch ſchon die Feſtſtellung der Thatſache
zu bezeichnen, daß ſich alle Elementarorgane der Pflanze auf
Eine Grundform, auf die der allſeitig geſchloſſenen Zelle zurückführen
laſſen; daß die Faſern nur langgeſtreckte Zellen ſind, die ächten
Gefäße jedoch aus reihenweiſe geordneten, mit einander in offene
Verbindung getretenen Zellen entſtehen.
Hatten die Phytotomen vor 1840, vor Allem wieder Mohl,
auch gelegentlich entwicklungsgeſchichtliche Verhältniſſe mit be-
achtet, waren auch bereits in den dreißiger Jahren einzelne Fälle
der Entſtehung verſchiedener Zellen von Mohl und Mirbel
beſchrieben worden, ſo überwog doch immer das Intereſſe an der
richtigen Auffaſſung der fertigen Struktur des Gewebes; auch
waren bei der anatomiſchen Unterſuchung phyſiologiſche Geſichts-
punkte, wenn auch nicht mehr in erſter Linie, von Gewicht, in-
ſoferne die Beziehung der anatomiſchen Struktur zur Funktion
der Elementarorgane die Unterſuchung beeinflußte. Mit dem Auf-
treten Schleiden's und Nägeli's trat auch hier die ent-
wicklungsgeſchichtliche Behandlung und die rein morphologiſche
Betrachtung der inneren Struktur in den Vordergrund. Na-
mentlich war es die erſte Entſtehung der Pflanzenzellen und ihr
Wachsthum, welches jetzt erörtert wurde. Schleiden hatte
ſchon vor 1840 eine Theorie der Zellenbildung aufgeſtellt, welche,
auf zu wenige und ungenaue Beobachtungen geſtützt, alle Zell-
bildungsvorgänge im Pflanzenreich auf eine einzige Form zu-
rückführte, die ſich mit dem ſchon damals Bekannten ſchwer
vereinigen ließ. Aber ſchon 1846 wurde die mit großem Auf-
ſehen in die Welt getretene Schleiden'ſche Theorie von
Nägeli vollſtändig widerlegt, an ihrer Stelle auf Grund ſehr
eingehender und umfangreicher Unterſuchungen die wahre Ent-
ſtehungsgeſchichte der Pflanzenzellen in ihren Hauptzügen und
in ihren verſchiedenen Formen dargeſtellt. Es lag aber in der
Natur der Sache, daß die Unterſuchungen über die Entſtehung
der Pflanzenzellen die Aufmerkſamkeit der Beobachter, die früher
faſt ausſchließlich dem feſten Gerüſt des Zellengewebes gegolten
16*
[244]Einleitung
hatte, nunmehr auf den ſaftigen Inhalt der Zellen hinlenkten.
Der ſchon von Robert Brown entdeckte Zellkern war in ſeiner
weiteren Verbreitung bereits von Schleiden erkannt, wenn
auch in ſeiner Beziehung zur Zellbildung weit überſchätzt worden;
durch Nägeli und Mohl wurde jetzt der wichtigſte Beſtand-
theil der Pflanzenzelle, das Protoplasma, in ſeiner Eigenartigkeit,
beſonders in ſeiner Bedeutung für die Entſtehung der Zellen
erkannt. Schon 1855 machte Unger auf die große Aehnlichkeit
aufmerkſam, welche zwiſchen dem Protoplasma der Pflanzenzellen
und der Sarkode der einfachſten Thiere beſteht: eine Wahrnehm-
ung, welche ſpäter durch das Verhalten der Myxomyceten
beſonders in den Vordergrund trat und in den ſechziger Jahren
ſchließlich auch von Seiten der Zootomen zu der Erkenntniß
führte, daß die Grundlage aller organiſchen Entwicklung, der
pflanzlichen ſowohl, wie der thieriſchen, zunächſt in dem Proto-
plasma zu ſuchen ſei. — Dies waren jedoch nur einige der be-
deutenderen Errungenſchaften der entwicklungsgeſchichtlichen Phy-
totomie ſeit 1840; eine andere vielleicht noch wichtigere wurde
durch Nägeli's Unterſuchung der Molekularſtruktur der organi-
ſirten Zellentheile gewonnen; er ſtellte (1858-1863) eine Theorie
auf, welche nicht nur über die feinſten, mikroſkopiſch unſichtbaren
Strukturverhältniſſe organiſirter Körper Aufſchluß gibt, ſondern
auch die Grundlage einer tieferen Einſicht in die mechaniſchen
und chemiſchen Vorgänge des Wachsthums anbahnt. — Aber
auch in ganz anderer Richtung führte die entwicklungsgeſchichtliche
Behandlung der Phytotomie zu neuen Geſichtspuncten und zu
neuen Reſultaten; auf die Art, wie Nägeli ſeit 1844 die
Zelltheilungsfolgen bei dem Wachsthum der Organe zur Grund-
lage der morphologiſchen Betrachtung machte, wie dabei ganz
beſonders die Kryptogamen ihre innere Architektonik enthüllten,
auf die großartigigen Reſultate, welche die entwicklungsgeſchicht-
liche Phytotomie in ihrer Anwendung auf die Embryologie durch
Hofmeiſter 1851 zu Tage förderte, wurde bereits am Schluß
des erſten Buches hingewieſen; hier aber iſt noch hervorheben,
wie nun im Lauf der fünfziger und ſechziger Jahre auch die
[245]Einleitung
verſchiedenen Gewebeformen, zumal die Gefäßbündel, entwick-
lungsgeſchichtlich behandelt wurden, wie erſt auf dieſem Wege
es gelang, den inneren hiſtologiſchen Zuſammenhang der Blätter
und Axen, der Sproſſe und Mutterſproſſe, der Wurzeln und
Nebenwurzeln aufzuklären, und vor Allem auch eine richtige
Einſicht in das nachträgliche Dickenwachsthum zu gewinnen, die
wahre Entſtehung eines Holzkörpers und der ſekundären Rinde
zu verſtehen.
Es iſt nun Aufgabe der folgenden Capitel, die hier in ihrem
Hauptmomenten angedeutete Geſchichte der Phytotomie ausführ-
licher darzuſtellen.
[246]Begründung der Phytotomie durch
Erſtes Capitel.
Begründung der Phytotomie durch Malpighi und Grew.
1671-1682
Die Grundlage aller Pflanzenanatomie, aller Einſicht in
die Struktur der Pflanzenſubſtanz iſt die Kenntniß ihres zelligen
Baues. Die erſte Wahrnehmung eines ſolchen finden wir in
einem 1667 erſchienenen, umfangreichen Werke von Robert Hooke1):
Mikrographia or some physiological descriptions of minute
bodies made by magnifying glasses (London). Der Verfaſſer
dieſes merkwürdigen Buches war nicht Botaniker, ſondern ein
Naturforſcher von der Art, wie ſie beſonders im 17. Jahrhundert
vorkamen: er war Mathematiker, Chemiker und Phyſiker, vor
Allem Mechaniker, der ſich ſpäter auch als Architekt bewährte,
dabei Philoſoph in der damals neuen Richtung; neben zahlreichen
Entdeckungen auf den verſchiedenſten Gebieten gelang es ihm
auch 1660 das zuſammengeſetzte Mikroſkop ſoweit zu verbeſſern,
daß es bei namhafter Vergrößerung noch einigermaßen deutliche
Bilder gab. Mit ſeinem Inſtrument entdeckte ſchon 1661
Henshaw, wie angegeben wird, die Gefäße im Holz des Nuß-
baums, eine für unſere Geſchichte ziemlich gleichgültige Thatſache.
Hooke ſelbſt aber wollte vor Allem der Welt zeigen, was Alles
[247]Malpighi und Grew.
man mit ſeinem verbeſſerten Inſtrument ſehen könne; als Verehrer
der inductiven Philoſophie kam es ihm darauf an, die Sinnes-
wahrnehmungen, die Grundlage aller menſchlichen Erkenntniß, zu
vervollkommnen; in dieſem Sinne unterwarf er ſeinem Mikroſkop
die verſchiedenſten Dinge, um zu zeigen, wie viel das unbe-
waffnete Auge nicht ſieht. An das, was er ſah, knüpfte er Er-
örterungen über die manigfaltigſten Fragen ſeiner Zeit. Das
Buch war alſo nicht etwa der Phytotomie gewidmet; vielmehr
iſt darin von der Struktur der Pflanzenſubſtanz nur eben ſo
gelegentlich die Rede, wie von der Entdeckung paraſitiſcher Pilze
auf Blättern und von anderen Dingen. Was Hooke aber von
der Struktur der Pflanzen ſah, war nicht viel, aber neu
und im Ganzen vorurtheilsfrei aufgefaßt. Es ſcheint, daß er
den zelligen Bau der Pflanzen zuerſt durch die mikroſkopiſche
Beſichtigung der Holzkohle aufgefunden habe. Dann aber unter-
ſuchte er auch den Kork und andere Gewebeformen. Ein dünner
Schnitt des Flaſchenkorkes auf ſchwarzem Grund (alſo bei auf-
fallendem Licht) erſcheine wie eine Bienenwabe, man unterſcheide
Hohlräume (Poren) und die ſie trennenden Wände; jenen aber
giebt er den Namen, den ſie noch jetzt führen: er nennt ſie
Zellen. Die reihenweiſe Anordnung der Korkzellen verführt ihn
aber, ſie für Abtheilungen langer Hohlräume zu halten, welche
durch Diaphragmen getrennt ſind. Dies, ſagt er, ſeien über-
haupt die erſten mikroſkopiſchen Poren, die er und irgend Jemand
geſehen habe; er hielt alſo die Zellräume der Pflanzen für ein
Beiſpiel der Proſität der Materie, wofür ſie auch in den neueſten
Lehrbüchern der Phyſik noch ausgegeben werden. Auch benutzte
Hooke ſeine Entdeckung zunächſt nur dazu, die phyſikaliſchen
Eigenſchaften des Korkes zu erklären: die Zahl der Poren in
einem Kubikzoll berechnet er auf 1200 Millionen. Er zieht aber
noch eine andere Folgerung botaniſcher Natur: er ſchließt nämlich
aus dem Bau des Korkes, daß er der Rindenauswuchs eines
Baumes ſein müſſe und beruft ſich zur Beſtätigung dieſer
Hypotheſe auf die Angaben eines gewiſſen Johnſton. Die
Thatſache, daß der Kork die Rinde eines Baumes ſei, war alſo
[248]Begründung der Phytotomie durch
damals noch nicht allen Gebildeten in England bekannt. —
Weiter hin aber heißt es bei Hooke, dieſe Art der Textur ſei
nicht bloß dem Kork eigen; denn als er mit ſeinem Mikroſkop
das Mark des Hollunders und anderer Bäume, ſowie auch die
Pulpa hohler Stengel, wie derer des Fenchels, der Karden, des
Schilfes u. a. geprüft habe, ſo habe er eine ganz ähnliche Art
der Struktur gefunden, nur mit dem Unterſchied, daß hier die
Poren (Zellen) in Längsreihen, bei dem Kork dagegen in Trans-
verſalreihen geordnet ſeien. — Verbindungskanäle der Zellen
unter einander habe er zwar nicht geſehen, ſolche müſſen aber
exiſtiren, da der Nahrungsſaft von einer zur andern geht; denn
er habe geſehen wie bei friſchen Pflanzen die Zellen mit Saft
gefüllt ſind und ebenſo ſei es bei den langen Poren des Holzes,
die er dagegen bei dem verkohlten Holze ſaftleer, mit Luft
gefüllt gefunden habe.
Man ſieht, es war nicht viel, was Hooke mit ſeinem ver-
beſſerten Mikroſkop ſah; dünne Querſcheiben des Stengels der
Balſamine oder des Kürbis, zweier Pflanzen, die damals in
jedem Garten wuchſen, hätten auch dem unbewaffneten Auge
ebenſoviel, ja mehr von der Pflanzenſtruktur gezeigt. Hier be-
währte ſich aber ſogleich, was ich oben über den Einfluß des
Mikroſkops auf den Gebrauch des Auges ſagte; die Freude an
der Leiſtung des neuen Inſtruments mußte erſt die Aufmerkſam-
keit auf Dinge lenken, die man auch ohne jenes ſehen konnte,
aber eben doch nicht ſah.
Um die Zeit des Erſcheinens von Hooke's Mikrographie
hatten aber bereits Malpighi und Grew die Struktur
der Pflanzen zum Gegenſtand ausführlicher und methodiſcher
Unterſuchungen gemacht, deren Reſultate ſie faſt gleichzeitig 1671
der königlichen Geſellſchaft in London vorlegten. Die Frage, welchem
von beiden die Priorität gebühre, iſt wiederholt beſprochen worden,
obwohl die hier zu beachtenden Thatſachen ganz klar vorliegen.
Der erſte Theil von Malpighi's ſpäter erſchienenem großen
Werk, die Anatomes plantarum idea, iſt datirt Bologna
den 1. November 1671 und Grew, ſpäter (ſeit 1677) Sekretär
[249]Malpighi und Grew.
der Royal society, berichtet in der Vorrede zu ſeinem ana-
tomiſchen Werk (1682), am 7. Dezember 1671 habe Malpighi
ſeine Schrift der Geſellſchaft vorgelegt, an demſelben Tage,
wo Grew ſeine Abhandlung The anatomy of plantes begun
ſchon gedruckt vorlegte, nachdem er ſie bereits als Manuſcript
am 11. Mai desſelben Jahres eingereicht hatte. Es iſt aber
zu beachten, daß dieſe Daten nicht etwa für die ausführlichen,
ſpäter erſchienenen Werke beider Männer gelten, ſondern nur für ihre
reſumirenden vorläufigen Mittheilungen, in denen ſie die Haupt-
ergebniſſe ihrer bis dahin angeſtellten Forſchungen kurz zuſammen-
faßten; dieſe vorläufigen Mittheilungen bildeten in den ſpätern
ausführlichen Werken beider den erſten Theil, gewiſſermaßen
die Einleitung. Die ausführliche Darſtellung Malpighi's
wurde 1674 vorgelegt, während Grew zwiſchen 1672 und 1682
noch eine Reihe von Abhandlungen über die verſchiedenen Theile
der Pflanzenanatomie ausarbeitete, die dann mit jener vorläu-
figen Mittheilung zuſammen 1682 unter dem Titel: The ana-
tomie of plantes in einem ſtarken Folioband erſchienen. Grew
hatte alſo Gelegenheit bei ſeinen ſpäteren Ausarbeitungen Mal-
pighi's Ideen zu benutzen; er hat dieß wirklich gethan und
was die Hauptſache für den Prioritätsſtreit iſt: wo er es that,
hat er Malpighi ausdrücklich citirt. Damit erledigt ſich ohne
Weiteres die ſchwere Beſchuldigung, welche Schleiden (Grund-
züge 1845 I. p. 207) gegen Grew erhoben hat.
Wer die umfangreichen Werke von Malpighi und Grew
nicht ſelbſt geleſen hat, ſie etwa nur aus den Citaten der ſpäteren
Phytotomen kennt, kann leicht auf die Meinung verfallen, die
beiden Begründer der Phytotomie hätten ſich ſchon eine Zellen-
theorie von der Art, wie wir ſie jetzt beſitzen, zu recht gelegt.
Dem iſt jedoch nicht ſo; die Werke von Malpighi und Grew
haben nur geringe Aehnlichkeit mit den neuern Darſtellungen
der Pflanzenanatomie; der Unterſchied liegt vorwiegend darin,
daß die Neueren bei ihrer Darſtellung der Struktur der Pflanzen
ſogleich von dem Begriff der Zelle ausgehen und erſt ſpäter die
Verbindung der Zellen zu Gewebemaſſen behandeln, während
[250]Begründung der Phytotomie durch
dagegen die Begründer der Phytotomie, wie es in der Natur
der Sache lag, zuerſt und ganz vorwiegend die gr[ö]beren anato-
miſchen Verhältniſſe behandeln, Rinde, Baſt, Holz, Mark vorwiegend
der dikotylen Holzpflanzen in ihren makroſpiſchen Verhältniſſen
beſchreiben, die hiſtologiſchen Unterſchiede von Wurzel, Stamm,
Blatt, Frucht in ihren gröberen Verhältniſſen darſtellen, den
Bau der Knoſpen, Blüthen, Früchte, Samen ſoweit er ſich vor-
wiegend mit unbewaffnetem Auge erkennen läßt, ausführlich
unterſuchen. Die feineren Strukturverhältniſſe werden erſt im
Anſchluß an dieſe gröbere Anatomie und überall im innigſten
Zuſammenhang mit dieſer behandelt. Der Hauptnachdruck fällt
dabei auf die Betrachtung der Art und Weiſe, wie die faſerigen
Gewebemaſſen ſich mit dem ſaftig parenchymatiſchen verbinden;
die Fragen nach der Natur der Zelle, der Faſer, des Gefäßes
werden nur gelegentlich im Laufe der Darſtellung wiederholt
berührt oder ausführlicher beſprochen. Unterſuchung und Dar-
ſtellung iſt hier alſo eine vorwiegend analytiſche, während ſie in
den neueren Compendien der Phytotomie weſentlich ſynthetiſch iſt.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß bei dieſer Behandlungs-
weiſe diejenigen Fragen, welche in unſerm Jahrhundert eine
prinzipielle Wichtigkeit gewannen, entweder nur nebenher oder
gar nicht behandelt wurden; man darf daher, um das Verdienſt
beider Männer beurtheilen zu können, nicht mit den Anforder-
ungen, welche die fortgeſchrittene Wiſſenſchaft ſtellt, an die Lektüre
ihrer Werke herantreten. Ganz verkehrt wäre es ſogar, den
Werth dieſer Bücher danach bemeſſen zu wollen, ob und in wie-
weit ihr Inhalt mit der gegenwärtigen Zellentheorie übereinſtimmt.
Beide hatten vollauf damit zu thun, ſich in der neuen Welt, die
das Mikroſkop eröffnete, überhaupt nur zu orientiren; viele
Fragen, die für uns bedeutungslos geworden ſind, mußten da-
mals erſt gelöſt werden und gerade in dieſem Streben, ſich vor
allen Dingen über die gröberen Verhältniſſe des anatomiſchen
Baues der Pflanzen zu orientiren, lag ganz vorwiegend das Ver-
dienſt Malpighi's und Grew's; in dieſer Beziehung iſt das
Studium ihrer Werke ſelbſt jetzt noch den Anfängern zu empfehlen,
[251]Malpighi und Grew.
da die neueren phytotomiſchen Werke in dieſer Richtung meiſt
ſehr unvollkommen ſind. Bei all dem iſt jedoch nicht zu unter-
ſchätzen, was Malpighi und Grew über die feinere Anatomie,
beſonders über die Beſchaffenheit des feſten Zellhautgerüſtes in
der Pflanze ſagen; ſo unvollkommen und unfertig auch ihre
Anſichten darüber ſind, ſo blieben ſie doch über hundert Jahre
lang die Grundlage alles deſſen, was man über die zellige
Struktur der Pflanzen wußte und als am Anfang unſeres Jahrhun-
derts die Phytotomie einen neuen Aufſchwung nahm, waren es
gerade Malpighi's und Grew's zerſtreute Bemerkungen über
die Verbindung der Zellen unter einander, über die Struktur der
Faſern und Gefäße, an welche die neueren Phytotomen an-
knüpfend ihre eigenen Unterſuchungen aufnahmen.
Wenn in den hier berührten Puncten Malpighi und
Grew der Hauptſache nach übereinſtimmten, ſo war doch die
Darſtellung beider im Uebrigen ſehr verſchieden. Malpighi
hielt ſich mehr an das unmittelbar Sichtbare, Grew gefiel ſich
darin, an das Geſehene die mannigfaltigſten theoretiſchen Er-
örterungen zu knüpfen, beſonders ſuchte er auf ſpeculativem
Wege über die Grenzen des mikroſkopiſch Sichtbaren hinauszu-
gehen. Malpighi's Darſtellung macht mehr den Eindruck
eines genialen Entwurfs, Grew's den der ſorgfältigſten, ſelbſt
etwas pedantiſchen Ausführung; in Malpighi verräth ſich
eine größere formale Bildung, welche die Fragen halb ſpielend,
andeutend, faſt im Converſationston behandelt. Grew dagegen
iſt bemüht, die neue Wiſſenſchaft ſchulmäßig in ein wohl durch-
dachtes Syſtem, auch mit der Chemie, Phyſik und vor Allem
mit der carteſianiſchen Korpuskularphiloſophie in Zuſammen-
hang zu bringen. Malpighi war einer der berühmteſten
Mediciner und Zootomen ſeiner Zeit und behandelte die Phyto-
tomie von den in der Zootomie bereits eröffneten Geſichtspuncten
aus; Grew beſchäftigte ſich zwar auch gelegentlich mit Zootomie,
er war aber in der That fachmäßig Pflanzenanatom, der
ſich zumal ſeit 1668 faſt ausſchließlich mit der Struktur
der Pflanzen beſchäftigte, ſo zwar, daß bis auf Mirbel
[252]Begründung der Phytotomie durch
und Mohl kaum Einer in dem Grade ſich der Phytotomie
gewidmet hat.
Wie auch auf dem Gebiet der Medicin im 17. Jahrhun-
dert die menſchliche Anatomie auf das Innigſte mit der Phy-
ſiologie verknüpft war, die letztere noch gar nicht als beſondere
Disciplin behandelt wurde, ſo verband ſich nothwendig auch bei
den Begründern der Phytotomie die phyſiologiſche Betrachtung
der Funktionen der Organe überall mit dem Studium ihrer
Struktur. Bei jeder anatomiſchen Frage ſtanden Erwägungen
über die Saftbewegung und Ernährung im Vordergrund; Struktur-
verhältniſſe, welche ſich dem bewaffneten Auge entzogen, wurden
aus phyſiologiſchen Gründen hypothetiſch angenommen; obgleich
man damals von den Funktionen der Pflanzenorgane über-
haupt nur wenig Poſitives wußte; man ſtützte ſich daher
auf Analogieen zwiſchen Vegetation und thieriſchem Leben, wo-
durch die Pflanzenphyſiologie zwar ihre erſten kräftigen Impulſe
erhielt, anfangs aber doch vielfach Irrthümer hervorgerufen
wurden, welche auch die anatomiſche Behandlung oft verwirrten.
Gegenwärtig, wo die Pflanzenanatomie ſich mehr als wünſchens-
werth von der Phyſiologie, d. h. von der Unterſuchung der
Funktionen der Organe, abgetrennt hat, iſt es nach dem Geſagten
ſehr ſchwer, ja unmöglich, dem Leſer in Kürze den Inhalt der
beiden epochemachenden Werke vorzuführen. Ich muß mich
darauf beſchränken, einige Hauptpuncte hervorzuheben, an welche
die weitere Entwicklung der Phytotomie hiſtoriſch angeknüpft
hat; das ſind aber zum Theil gerade ſolche Fragen, denen
Malpighi und Grew nur nebenbei ihre Aufmerkſamkeit
ſchenkten, deren Betonung alſo eine gewiſſe Ungerechtigkeit gegen
ſie enthält. Auf den phyſiologiſchen Inhalt ihrer Werke komme
ich im dritten Buch unſerer Geſchichte zurück, indem ich es hier
verſuche, nur das die Strukturverhältniſſe der Pflanzen Betreffende
auszuſondern.
Das phytotomiſche Werk des Marcello Malpighi1) erſchien
[253]Malpighi und Grew.
1)
unter dem Titel: Anatome plantarum in Verbindung mit einer
Abhandlung über das bebrütete Hühnerei (1675). Der phytotomiſche
Theil des Buches zerfällt in zwei Hauptabſchnitte, deren erſter
Anatomes plantarum idea, wie bereits erwähnt, ſchon 1671
vollendet wurde und eine allgemeine reſumirende überſichtliche
Darſtellung von Malpighi's Anſichten über den Bau und
die Funktionen der Pflanzenorgane auf 14½ Folioſeiten ent-
hält; während der zweite viel umfangreichere Theil vom Jahre 1674
die im erſten ausgeſprochenen Anſichten an zahlreichen Beiſpielen
und mit Hilfe vieler Kupfertafeln eingehend erläutert; unſerem
Zweck entſpricht es, uns vorwiegend an die im erſten Theil zu-
ſammenhängend dargeſtellten Anſichten Malpighi's zu wenden.
Er beginnt ſeine Betrachtungen mit der Anatomie der
Baumſtämme und da deren Rinde zuerſt in's Auge fällt, ſo
wird zuerſt von ihr gehandelt. Der äußere Theil derſelben,
die Cuticula, beſtehe aus Schläuchen (utriculis) oder Säckchen,
welche in horizontale Reihen geordnet ſind; mit dem Alter ſterben
dieſe ab, fallen zuſammen und bilden zuweilen eine trockene
Epidermis. Nach Wegnahme der letzteren kommen mehr und
mehr Schichten holziger Faſern zum Vorſchein, welche gewöhnlich
netzartig mit einander verwebt und ſchichtenweiſe über einander
gelagert der Längsrichtung des Stammes folgen. Dieſe fibröſen
Bündel beſtehen aus zahlreichen Faſern und jede einzelne der-
ſelben aus Röhren, welche in einander münden (quaelibet fibra
insignis fistulis invicem hiantibus constat) u. ſ. w. Die
Zwiſchenräume jenes Netzes werden von rundlichen Schläuchen
erfüllt, die gewöhnlich gegen das Holz hin horizontale Richtung
haben. Hat man die Rinde weggenommen, ſo erſcheint das
Holz, deſſen größerer Theil aus Faſern und Röhren beſteht,
welche in die Länge geſtreckt ſind und aus Ringen oder gegen
[354[254]]Begründung der Phytotomie durch
einander geöffneten Blaſen beſtehen, die in Längsreihen geordnet
ſind. Auch die Faſern des Holzes laufen nicht parallel, ſondern
laſſen netzartig anaſtomoſirend winklige Räume zwiſchen ſich ent-
ſtehen, deren größere wieder von Schlauchbündeln erfüllt ſind,
die von der Rinde durch dieſe Zwiſchenräume hindurch bis zum
Mark verlaufen u. ſ. w. — Zwiſchen den genannten fibröſen
und fiſtulöſen Bündeln des Holzes liegen die Spiralröhren
(spirales fistulae), an Zahl zwar geringer, an Größe aber be-
trächtlicher, ſo daß ſie am querdurchſchnittenen Stamm mit
offener Mündung erſcheinen. Sie liegen in verſchiedener Weiſe,
der Mehrzahl nach aber in koncentriſchen Kreiſen. Dieſe Spiral-
röhren habe er durch zehnjährige Unterſuchung (alſo ſchon ſeit
1661) bei allen Pflanzen gefunden und es mag gleich hier hin-
zugeſetzt werden, daß Grew in der Einleitung zu ſeinem Werk
ausdrücklich die Priorität dieſer Entdeckung dem Malpighi
zugeſteht; andererſeits aber muß auch hinzugefügt werden, daß
Malpighi's Vorſtellungen von dieſen Spiralröhren höchſt un-
klar waren 1), was bei den ſpäteren Schriftſtellern vielfach An-
laß zu Mißdeutungen und groben Irrthümern gab. Er glaubte
in dieſen Gefäßen ſogar eine periſtaltiſche Bewegung wahrzu-
nehmen, eine Täuſchung der ſich am Anfang unſeres Jahrhun-
derts manche Naturphiloſophen mit beſonderer Vorliebe noch
hingaben.
Bei dem Ficus, der Cypreſſe u. a. beobachtete er außer-
halb der fibröſen Fascikeln und Tracheen verſchiedene Reihen
von Röhren, welche eine Milch ausfließen laſſen, woraus er
ſchließt, daß auch im Holz der Stämme derartige eigenthümliche
[255]Malpighi und Grew.
Röhren vorhanden ſein möchten, aus denen Milch, Terpentin,
Gummi und Aehnliches ausfließe.
Hiemit haben wir die Elementarorgane der Pflanze, ſoweit
ſie Malpighi bekannt waren: im Folgenden finden wir ſie zu
einer Hiſtologie des Stammes verwendet, in welche ſich jedoch
ſofort ein Irrthum einſchleicht, der ſich, auf die Autorität Mal-
pighi's geſtützt, bei den Phytotomen des 18. Jahrhunderts
und ſelbſt bei denen in den erſten Dezennien des 19. erhalten
hat, die Theorie nämlich, daß die jungen Holzlagen des Stammes
durch periodiſche Umänderung der innerſten Rindenſchichten
(ſekundären Baſtſchichten) entſtehen, zu welcher Annahme er, wie
es ſcheint, zum Theil durch die Weichheit und helle Farbe des
Splintes, zum Theil durch die faſerige Beſchaffenheit desſelben
verleitet wurde. In dieſer Subſtanz entſtehen nun nach und
nach die Spiralröhren und indem die Maſſe ſolider und kom-
pakter wird, bildet ſie ſpäter das wahre Holz.
Im Innerſten des Stammes liegt das Mark, welches nach
Malpighi aus zahlreichen Ordnungen von Kugeln (globulorum
multiplici ordine) beſteht, die der Länge nach aneinander ge-
reiht ſind und aus membranöſen Schläuchen beſtehen, wie man
deutlich am Nußbaum, dem Hollunder u. a. wahrnehme. Bei
dieſer Gelegenheit werden auch gleich die Milchgefäße im Mark
des Hollunders erwähnt. Indem wir verſchiedenes Andere über-
gehen, mag noch hervorgehoben werden, daß er an den jungen
Zweigen den Zuſammenhang ihrer Gewebeſchichten mit denen
des Mutterſproſſes erkennt; daß er ebenſo mit beſonderem Nach-
druck dieſelbe Continuität der Gewebeſchichten zwiſchen Blatt und
Sproßaxe hervorhebt. Dann berührt er kurz die anatomiſchen
Verhältniſſe der Früchte und Samen, das Vorhandenſein und
den Bau des Embryo's in Letzteren, um dann auf die Wurzeln
überzugehen. „Die Wurzeln ſind bei den Bäumen ein Theil
des Stammes, welcher in Zweige getheilt endlich in Haarfäden
(capillamenta) ſich auflöſt; ſo zwar, daß die Bäume nichts
Anderes ſind, als feine Röhren, welche innerhalb des Bodens
getrennt verlaufen, ſich nach und nach in Bündel ſammeln,
[256]Begründung der Phytotomie durch
welche ſelbſt weiterhin mit anderen noch größeren ſich vereinigen
und endlich ſämmtlich gewöhnlich in einen einzigen Cylinder zu-
ſammentreten, um ſo den Stamm zu bilden, welcher dann an der
entgegengeſetzten Extremität durch wieder eintretende Separation
der Röhren ſeine Aeſte ausſtreckt und nach und nach durch weitere
Theilung aus größeren in kleine, endlich in den Blättern ſich
ausbreitet und ſo ſeine letzte Begrenzung findet.“ Der Schluß
der ganzen Darſtellung betrifft vorwiegend die Bedeutung der
verſchiedenen Gewebeformen für die Ernährung der Pflanze.
Im zweiten, 1674 vorgelegten Theil werden nun die ver-
ſchiedenen Gewebeformen des Stammes ausführlicher beſprochen,
wobei ſich neben vielem in der That Guten doch auch vieles
höchſt Unvollkommene vorfindet, was nicht ausſchließlich der
Inferiorität ſeiner Mikroſkope zuzuſchreiben ſein möchte. Ganz
vortrefflich iſt jedoch die Art und Weiſe, wie Malpighi
über die gröberen anatomiſchen Verhältniſſe der Rinde des Holzes
des Markes ſich zu orientiren ſucht, wie er zumal in der Textur
der Rinde und des Holzes den longitudinalen Verlauf der Ge-
fäße und Holzfaſern mit dem horizontalen Verlauf der Mark-
ſtrahlen und Spiegelfaſern zuſammenhält. Seinen Abbildungen
nach zu ſchließen, müſſen die von ihm angewandten Vergrößer-
ungen ſchon recht beträchtliche geweſen ſein; wieviel von dem
Fehlerhaften aber der Unklarheit des Geſichtsfeldes, wieviel der
ungenauen Beobachtung zuzuſchreiben ſei, läßt ſich nicht ſagen.
So ſieht er z. B. die gehöften Tüpfel des Coniferenholzes ohne
deren centrale Pore zu erkennen und bildet ſie als grobe Körner
ab, welche auf der Außenſeite der Holzzellen liegen; für Mal-
pighi ſowohl, wie für ſeine Nachfolger war es ein Mißgeſchick,
daß die großen Gefäße des Dikotylen-Holzes, denen ſie ihre Auf-
merkſamkeit beſonders zuwandten, oft von ſekundärem Zellgewebe
erfüllt ſind (den Tüllen), die Malpighi bereits Taf. VI.
Fig 21. abbildet, deren wahre Natur aber erſt faſt 150 Jahre
ſpäter erkannt wurde. Ganz beſonderen Nachdruck legt Mal-
pighi, wie es nachher auch von den ſpäteren Phytotomen bis
in die zwanziger Jahre unſeres Jahrhunderts herein geſchehen
[257]Malpighi und Grew.
iſt, auf die Struktur der Spiralgefäße oder Tracheen, von denen
er ganz beſonders hervorhebt, daß ſie immer von einer Scheide
von Holzfaſern umgeben ſind. Indeſſen verfiel Malpighi
noch nicht auf die ſonderbaren Vorſtellungen über die Natur der
Spiralgefäße, denen ſich ſpäter Grew und die anderen Phyto-
tomen hingaben.
Wir können hier die zahlreichen Exkurſe auf die Aſſimilation
und Saftbewegung übergehen; hervorzuheben ſind dagegen Mal-
pighi's Beſchreibungen und Abbildungen der Knoſpentheile,
des Gefäßbündelverlaufs in verſchiedenen Pflanzentheilen, ganz
beſonders auch ſeine Blüthen- und Fruchtanalyſen und die für
ihre Zeit ſehr ſorgfältige Unterſuchung der Samen und Embryonen,
deren Betrachtung uns jedoch vom Hauptthema zu weit ab-
führen würden.
Wenn Malpighi's Werk mehr den Eindruck einer genial
hingeworfenen Skizze macht, bei der es dem Autor weſentlich nur
auf Feſtſtellung der Grundzüge der Architektur der Pflanze an-
kommt, ſo erſcheint dagegen das bei Weitem umfangreichere
Werk von Nehemiah Grew1), The anatomy of plantes (1682)
als ein in allen Einzelheiten ſorgfältig durchgearbeitetes Lehrbuch;
die geſchmackvolle Eleganz Malpighi's iſt hier durch eine oft
weitſchweifige, gründliche Ausführlichkeit erſetzt; während bei
Malpighi nur gelegentlich die philoſophiſchen Vorurtheile ſeiner
Zeit anklingen und ihn dann gewöhnlich zu Mißgriffen veranlaſſen,
iſt dagegen Grew's Darſtellung zwar überall von den philoſophiſch-
theologiſchen Vorſtellungen des damaligen Englands durchwebt; da-
für aber entſchädigt uns auf der anderen Seite eine beſſere ſyſtematiſche
Durchführung des Gedankengangs und beſonders das Streben, das
ſinnlich Wahrgenommene in möglichſt klare Vorſtellungen um-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 17
[258]Begründung der Phytotomie durch
zuſetzen. Obgleich auch er phyſiologiſche Erwägungen überall
mit in die anatomiſche Forſchung hineinzieht, hält er ſich doch
frei von manchen Vorurtheilen, welche Spätere auf dieſem Wege
in die Phytotomie hineintrugen. Um nur vorläufig einen Punct
hervorzuheben, vermied er den ſpäter ſo verbreiteten Irrthum, als
ob die Zellwände zum Zweck der Saftbewegung ſichtbare Oeffnungen
haben müßten, ein Irrthum, der erſt 1828 von Mohl definitiv
beſeitigt wurde.
Auch Grew's Werk zerfällt, wie ſchon erwähnt, in zwei
Hauptabtheilungen, von denen die erſte The anatomy of plants
begun with a general account of vegetation founded
thereopon 1671 gedruckt wurde und in raſcher curſoriſcher
Darſtellung auf 49 Folioſeiten die geſammte Anatomie und
Phyſiologie der Pflanzen umfaßt. In den ſpäteren Jahren
bis 1682 erſchienen dann als beſondere Abhandlungen die Ana-
tomie der Wurzeln, Stämme, Blätter, Blüthen, Früchte und
Samen. Die dem Werk einverleibten chemiſchen Unterſuchungen,
ferner die über Farben, Geſchmack und Geruch der Pflanzen
können wir ebenſo gut übergehen, wie die vorausgeſchickte Ab-
handlung An idea of a philosophical history of plants,
von der wir wohl, da ſie erſt im Januar 1672 der Royal
society vorgelegt wurde, annehmen dürfen, daß ſie vielleicht
als ein Gegenſtück zu Malpighi's Anatomes plantarum idea
geſchrieben worden ſei, obgleich ſie in der Darſtellung weit von
jener abweicht und Vieles aufnimmt, was der Anatomie und
Phyſiologie der Pflanzen fremd iſt.
Auch bei Grew fällt der Schwerpunct der Unterſuchung
nicht in die Betrachtung der einzelnen Zelle, ſondern in die
Hiſtologie; nachdem er ebenſo wie Malpighi den Hauptunter-
ſchied des parenchymatiſchen Gewebes und der longitudinal ge-
ſtreckten Faſerformen, der ächten Gefäße und der ſaftführenden
Canäle erkannt hat, kommt es ihm vorwiegend darauf an, die
Zuſammenlagerung dieſer Gewebeformen in den verſchiedenen
Organen der Pflanze nachzuweiſen und in dieſem Puncte leiſtet er
weit mehr als Malpighi, ſowohl in ſorgfältiger Beſchreibung,
[259]Malpighi und Grew.
wie Schönheit der Abbildungen. Die zahlreichen Figuren Grew's,
ſorgfältiger als die von Malpighi in Kupfer geſtochen, geben
in der That zumal von dem Bau der Wurzeln und Stämme
eine ſo klare Anſchauung, daß noch jetzt ein Anfänger ſie zur erſten
Orientirung mit Nutzen gebrauchen kann; Figuren, wie die auf
Tafel 36, 40 u. a. zeigen, daß Grew mit vielem Nachdenken
ſeine Beobachtungen zu einem klaren Bild des Geſehenen zu ge-
ſtalten wußte. Im Einzelnen finden ſich freilich und ſelbſtver-
ſtändlich viele Irrthümer, wo es ſich um den feineren Bau
der verſchiedenen Gefäß- und Zellenformen handelt.
Malpighi hatte Nichts darüber geſagt, ob er ſich die
Schläuche des Parenchyms (der Name Parenchym ſtammt von
Grew) völlig geſchloſſen oder porös denke und in welcher Weiſe
ſie unter einander zuſammenhängen; Grew läßt über dieſen
Punct keinen Zweifel; er ſagt ausdrücklich p. 64, die Zellen oder
Blaſen des Parenchyms ſeien in ſich geſchloſſen, ihre Wände nicht
von ſichtbaren Poren durchbohrt, ſo daß das Parenchym mit
Bierſchaum verglichen werden könne. Betreffs der Gefäße im
Holz führt er ausdrücklich Malpighi's Anſicht an, ergänzt
dieſelbe aber dadurch, daß das Spiralband nicht immer bloß ein
einzelnes ſei, ſondern daß auch zwei oder mehr von einander
ganz iſolirte Bänder die Wand des Gefäßes bilden, auch ſei der
Spiralfaden nicht flach, ſondern rundlich wie ein Draht, die
Windung desſelben je nach dem Pflanzentheil einander mehr oder
weniger genähert. Auch hebt er hervor, daß die Spiralröhren
niemals verzweigt ſind und daß, wenn ſie gerade verlaufen, wie
im ſpaniſchen Rohr, man auf weite Strecken durch ſie hindurch-
ſehen kann. Die von Malpighi ausgegangene und dann
durch das ganze 18. Jahrhundert feſtgehaltene Vorſtellung vom
Bau der Spiralgefäße hat Grewp. 117 klarer, als jener aus-
geſprochen; wobei man jedoch beachten muß, daß er ſowohl, wie
Malpighi die eigentlichen Spiralgefäße mit abrollbarer Spiral-
faſer von den im ſecundären Holz vorkommenden Gefäßformen,
die nur bei der Zerreißung eine ſpiralige Structur zeigen, nicht
ſcharf unterſcheidet. Durch die Art, ſagt er, wie die Faſern ge-
17*
[260]Begründung der Phytotomie durch
webt ſind, geſchieht es, daß die Gefäße oft in Form einer Platte
ſich aufrollen, ſowie, wenn wir uns denken, ein ſchmales Ban
ſei ſpiralig um einen runden Stab ſo gewunden, daß Kante an
Kante liegt; ſo wird, wenn der Stab herausgezogen iſt, das
gewundene Band in Form eines Tubus zurückbleiben und dieſer
entſpräche einem Luftgefäß der Pflanze; es iſt nämlich hier hervor-
zuheben, daß Grew, beſſer unterrichtet als die Phytotomen des
18. Jahrhunderts, die Holzgefäße als Luftbehälter betrachtet,
wenn gleich ſie zuweilen Waſſer führen. Er fährt aber in der
Beſchreibung der Gefäßwand fort: die Platte, welche bei der
Aufrollung eines Gefäßes zum Vorſchein komme, ſei ſelbſt wieder
aus zahlreichen untereinander parallellaufenden Fäden zuſammen-
geſetzt, wie bei einem künſtlichen Band: und wie in einem ſolchen
entſprechen auch hier die Faſern, welche ſpiralig gewunden ſind,
dem Wurf oder der Kette eines künſtlichen Gewebes, ſie werden
durch querlaufende Faſern, welche bei einem künſtlichen Band
dem Einſchlag entſprechen, zuſammengehalten. Um dieſe ſehr
ſonderbare Vorſtellung vom Bau eines Spiralgefäßes im
Sinne Grew's zu begreifen, muß man aber wiſſen, daß
er alle Zellwände, auch die des Parenchyms, aus einem äußerſt
feinem Fadengewebe ſich zuſammengeſetzt denkt; der von ihm vor-
her gemachte Vergleich des Zellengewebes mit Schaum, ſoll dem
Leſer offenbar nur die gröberen Verhältniſſe klar machen; ſeine
wahre Meinung iſt vielmehr die, daß die Subſtanz der Gefäß-
und Zellwände aus einem künſtlichen Gewebe feinſter Fäden be-
ſteht. Nachdem er ſchon p. 76 und 77 darauf hingewieſen,
kommt er p. 120 noch einmal ſehr ausführlich auf dieſe Vor-
ſtellungsweiſe zurück. Die genaueſte Vergleichung ſagt er, welche
wir von dem ganzen Körper einer Pflanze machen können, iſt
die mit einem Stück feinem Spitzengewebes, wie die Frauen
dasſelbe auf einem Kiſſen herſtellen. Denn das Mark, die
Markſtrahlen und das Parenchym der Rinde ſind ein äußerſt
feines und vollendetes Fadengewebe. Die Fäden des Markes
laufen horizontal, wie die Fäden in einem Stück Gewebe und
begrenzen die zahlreichen Blaſen des Markes und der Rinde,
[261]Malpighi und Grew.
ſowie die Fäden eines Gewebes die Hohlräume desſelben um-
grenzen. Die Holzfaſern und Luftgefäße aber ſtehen auf dieſem
Gewebe ſenkrecht, alſo rechtwinklich zu den horizontalen Faſern
der parenchymatiſchen Theile, etwa ſo, wie in einem auf dem
Kiſſen liegenden Gewebeſtück die Nadeln ſenkrecht zu den Fäden
ſtehen. Um dieſes Bild zu vervollſtändigen, müſſe man ſich
dieſe Nadeln hohl denken und das fädige Spitzengewebe in tauſend-
fachen Lagen übereinander geſchichtet. Grew gibt ſelbſt gelegent-
lich an, daß er auf dieſe Vorſtellung durch die Betrachtung einge-
trockneter Gewebemaſſen gekommen ſei, wobei er natürlich Runzeln
und Falten ſehen mußte, die er für ſeine Fäden nahm. Außerdem
ſcheint er aber auch mit ſtumpfen Meſſern geſchnitten zu haben,
wobei Zellwände faſerig zerreißen konnten, wie man faſt aus
der Abbildung Tafel 40 ſchließen möchte, wo das von ihm an-
genommene Fadengewebe der Zellwände deutlich genug abgebildet
iſt. Endlich mag auch die Beobachtung von netzförmig verdickten
Gefäßen und vom kreuzweiß geſtreiften Parenchymzellen zur Be-
gründung ſeiner Anſicht beigetragen haben.
Es wird kaum überflüſſig ſein, hier die Bemerkung einzu-
ſchalten, daß aus Grew's Vorſtellung von dem feinſten Bau
der Zellwände offenbar der Sprachgebrauch entſtanden iſt,
der hier, wie bei der Structur der Thiere, von Zellgewebe
(contextus cellulosus) redet, ein Sprachgebrauch, der ſich in
die Mikroſkopie einbürgerte und noch beibehalten wird, obgleich
Niemand mehr an die von Grew gemachte Vergleichung des
Zellenbaues mit einem künſtlichen Spitzengewebe denkt. Das
Wort Gewebe ſelbſt aber, hat offenbar, wie es zu geſchehen pflegt,
die ſpäteren Schriftſteller vielfach beirrt und ſie veranlaßt, der
Vorſtellung von der Pflanzenſtructur das Bild eines künſtlichen
Gewebes aus Häuten und Faſern zu Grunde zu legen.
Wie Malpighi, läßt auch Grew die jungen Holzlagen
des Stammes aus den innerſten Rindenſchichten entſtehen. Das
eigentliche Holz, ſagt er p. 114, iſt nichts weiter, als eine Maſſe
von alt gewordenen Lymphgefäßen, d. h. von Faſern, welche ur-
ſprünglich am inneren Umfang der Rinde lagen. Unter
[262]Begründung der Phytotomie durch
eigentlicher Holzſubſtanz verſteht er aber den faſerigen Beſtand-
theil des Holzes mit Ausſchluß der Luftgefäße; ſeine Lymph-
gefäße ſind die Baſtfaſern und ähnliche Gebilde; denn, heißt es
weiter, die Luftgefäße mit den Markſtrahlen und das wahre
Holz bilden das, was gewöhnlich das Holz eines Baumes ge-
nannt wird; die Luftgefäße nenne er ſo, nicht, weil ſie niemals
Saft enthalten, ſondern weil ſie während der eigentlichen Vege-
tationszeit, wenn die Gefäße der Rinde mit Saft erfüllt ſind,
nur eine vegetabiliſche Luft enthalten.
Das hier Mitgetheilte giebt allerdings nur eine ſehr un-
vollſtändige Vorſtellung von den phytotomiſchen Verdienſten
Grew's denn, was hier als Hauptſache hervorgehoben wurde,
kam für ihn, der ſich vorwiegend mit den gröberen hiſtologiſchen
Verhältniſſen befaßte, doch nur nebenbei in Betracht.
Auf dieſe beiden, nicht nur für die Botanik, ſondern für
die geſammte Naturwiſſenſchaft bedeutungsvollen Werke Mal-
pighi's und Grew's iſt im Laufe der nächſten 120 Jahre
kein einziges gefolgt, welches ſich irgend wie ebenbürtig an
ihre Seite ſtellen könnte, es erfolgte während dieſer langen Zeit
nicht nur kein Fortſchritt, ſondern ſogar ein ſtetiger Rückgang,
wie wir im folgenden Abſchnitt noch ſehen werden. Zunächſt
wurde freilich noch bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts die
Pflanzenanatomie im Einzelnen, wenn auch nicht gerade ſehr
wichtigen Puncten gefördert durch Anton van Leeuwenhoek1),
[263]Malpighi und Grew.
1)
der ſeine Beobachtungen über thieriſche und pflanzliche Anatomie
in ſehr zahlreichen Briefen der Royal society in London
mittheilte, von denen eine erſte Sammlung unter dem Namen
Arcana naturae 1695 in Delft erſchien. Es iſt nicht leicht,
aus den zerſtreuten Angaben Leeuwenhoek's ein klares
Bild ſeines phytotomiſchen Wiſſens zu gewinnen. Auch er
behandelte die gröbere Anatomie, zumal der Früchte, Samen
und Embryonen, machte gelegentliche Beobachtungen über die
Keimung, wiederholt auch ſolche über den Bau verſchiedener
Hölzer u. ſ. w. Dieß alles jedoch trägt den Charakter
nur gelegentlicher Beſchäftigung mit den Pflanzen; meiſt waren
es Fragen der damals herrſchenden Naturphiloſophie, beſonders
auch ſolche, welche mit der Evolutionstheorie zuſammenhängen,
nicht ſelten ſogar bloße Neugierde und das Gefallen an verbor-
genen, anderen Leuten ſchwer zugänglichen Dingen, was ihn zu
ſeinen Beobachtungen veranlaßte, aus denen ein Geſammtbild
der Pflanzenſtructur zu entwerfen, er unterließ. Dabei erwarb er
ſich aber unſtreitig Verdienſte um die Vervollkommnung der ein-
fachen Vergrößerungsgläſer, deren er eine große Zahl eigenhän-
dig herſtellte und welche Vergrößerungen lieferten, die Malpighi
und Grew offenbar nicht zu Gebote ſtanden. Dieſem Umſtand
iſt zu verdanken, daß Leeuwenhoek, die im ſecundären Holz
verlaufenden Gefäße nicht ſpiralig verdickt, ſondern mit Tüpfeln
beſetzt fand, deren wahren Bau er jedoch nicht erforſchte. Außer-
dem iſt er wohl der Erſte geweſen, der die Kryſtalle im Pflanzen-
gewebe (und zwar im Wurzelſtock von Iris florentina und
Smilaxarten) auffand, was ebenfalls nur mit ſtarken Vergrößer-
ungen möglich war. Im Uebrigen kehren bei ihm die von
Malpighi und Grew gehegten hiſtologiſchen Vorſtellungen
[264]Begründung der Phytotomie durch etc.
wieder, und im Ganzen machen alle ſeine zahlreichen Mittheilungen
gegenüber der geſchmackvollen Klarheit Malpighi's und der
ſyſtematiſchen Gründlichkeit Grew's einen peinlichen Eindruck
von Zerfahrenheit und Dilettantenthum. Auch halten ſeine
Abbildungen, die er nicht ſelbſt machte, den Vergleich mit denen
ſeiner großen Zeitgenoſſen, einzelne Ausnahmen abgerechnet,
nicht aus.
[265]
Zweites Capitel.
Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
In Italien hatte Malpighi keinen nennenswerthen Nach-
folger, in England war mit Hooke und Grew das neue Licht
ebenfalls erloſchen, man möchte faſt ſagen, bis auf den heutigen
Tag; auch in Holland fand Leeuwenhoek keinen ebenbürtigen
Nachfolger und was bis zum Beginn des ſiebenten Decenniums
des vorigen Jahrhunderts in Deutſchland geleiſtet wurde, iſt
kläglicher, als man ſich irgend vorſtellen kann. Phytotomiſche
Forſchung gab es in den erſten 50-60 Jahren des Jahrhunderts
überhaupt nicht; was man über die Struktur der Pflanzen zu
berichten hatte, wurde aus Grew, Malpighi und Leeuwen-
hoek entnommen, und da es von Perſonen geſchah, die ſelbſt
nicht beobachten konnten, ſo verſtanden ſie ihre Autoren nicht,
und berichteten Dinge, die jenen ganz fremd waren. Mit be-
ſonderer Vorliebe conſervirte man die ſchwächeren und unklaren
Anſichten derſelben und beſonders war es die complicirte Vor-
ſtellung Grew's vom gewebeartigen Bau der Zellwandungen,
die großen Eindruck auf die Berichterſtatter machte. Dieſer Zu-
ſtand der Verkommenheit darf nicht allein den mangelhaften
Mikroskopen zugeſchrieben werden; ſie waren allerdings nicht
gut, noch viel weniger bequem eingerichtet; aber man ſah und
beſchrieb nicht einmal das deutlich, was mit unbewaffnetem
Auge oder mit ſehr ſchwachen Vergrößerungen beobachtet werden
kann; das Uebelſte war, daß man ſich das wenige Selbſtgeſehene
und das in den älteren Werken Geſagte, nicht klar zu machen
ſuchte, ſondern ſich gedankenlos mit ganz verſchwommenen Vor-
[266]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
ſtellungen vom inneren Bau der Pflanzen begnügte. Es iſt nicht
leicht, die Urſachen dieſes Verfalls der Phytotomie in den erſten
ſechs bis ſieben Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts aufzu-
finden; eine der wichtigſten ſcheint mir jedoch darin zu liegen,
daß man, wie ſchon Malpighi und Grew gethan hatten, bei
der anatomiſchen Unterſuchung nicht die Kenntniß des inneren
Baues allein als Ziel verfolgte, ſondern vorwiegend die Erklärung
phyſiologiſcher Vorgänge dadurch zu erreichen ſuchte. Die Er-
nährung und Saftbewegung der Pflanzen trat immer mehr in
den Vordergrund und Hales zeigte, wie viel ſich in dieſer
Richtung auch ohne mikroſkopiſche Unterſuchung leiſten läßt; das
Intereſſe concentrirte ſich daher bei den Wenigen, die überhaupt
mit Pflanzenphyſiologie ſich beſchäftigten, wie Bonnet und Du
Hamel auf die experimentelle Behandlung derſelben. Zudem
wurden andere, die mit dem Mikroſkop umzugehen wußten, wie
der Freiherr von Gleichen-Rußworm und Koelreuter
durch ihr Intereſſe an den Befruchtungsvorgängen, überhaupt an
den Fortpflanzungsverhältniſſen von der Unterſuchung der Struc-
tur der Vegetationsorgane abgezogen. Die eigentlichen Botaniker
im Sinne jener Zeit, zumal diejenigen, welche ſich der Linné'-
ſchen Schule anſchloßen, betrachteten phyſiologiſche und anatomiſche
Unterſuchungen überhaupt als Nebenſache, wenn nicht gar als
bloße Spielerei, mit welcher ein ernſthafter Pflanzenſammler ſich
nicht zu befaſſen brauche. Daß Linné ſelbſt von mikroſkopiſcher
Pflanzenanatomie Nichts hielt, geht aus dem im erſten Buch über
ihn Geſagten zur Genüge hervor.
Es würde die Mühe nicht lohnen, die nicht einmal zahl-
reichen, kleinen Abhandlungen, welche bis gegen 1760 erſchienen,
im Einzelnen vorzuführen, da ſie abſolut nichts Neues bieten;
doch ſoll an einigen Beiſpielen das im Allgemeinen über den
damaligen Zuſtand der Phytotomie Geſagte erläutert werden.
Zunächſt begegnen wir hier einem Schriftſteller, den nur
Wenige unter den Phytotomen erwarten werden; es iſt der be-
kannte Philoſoph Chriſtian Freiherr v. Wolff, der in ſeinen
beiden Werken: „Vernünftige Gedanken von den Wirkungen der
[267]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
Natur“ (Magdeburg 1723) und „Allerhand nützliche Verſuche“
(Halle 1721) ſich wiederholt mit der Beſchreibung von Mikro-
ſkopen und mit phytotomiſchen Dingen beſchäftigte; vorwiegend in
dem zuletzt genannten Werk, wo er ein zuſammengeſetztes Mi-
kroſkop mit Sammellinſe zwiſchen Objectiv und Ocular beſchreibt,
dem jedoch der Beleuchtungsſpiegel fehlte; es diente alſo zur
Beobachtung bei Oberlicht auf undurchſichtiger Unterlage; das
Objectiv war eine einfache Linſe. Für ſtärker vergrößernde Ob-
jekte, ſagt Wolff indeſſen, benutze er ſtatt dieſes zuſammen-
ſetzten Mikroſkopes lieber ein einfaches, was damals überhaupt
gewöhnlicher im Gebrauch war. Als ächter Dilettant unterwarf
Wolff ſeinem Mikroſkope allerlei kleine und feine Dinge, ohne
irgend eines derſelben conſequent und mit Ausdauer zu unter-
ſuchen. Auch iſt ſeine phytotomiſche Ausbeute ſehr gering.
Er erkannte z. B., daß das Stärkemehl (Puder) aus Kügelchen
beſteht, glaubte aber aus der Lichtbrechung derſelben ſchließen zu
müſſen, es ſeien mit Flüſſigkeit erfüllte Bläschen; doch überzeugte
er ſich, daß dieſe Körnchen ſchon im Roggenkorn enthalten ſind,
alſo nicht erſt bei dem Mahlen desſelben entſtehen. Dünne
Schnitte von Pflanzentheilen legte er auf Glas, und zwar auf
matt geſchliffenes Glas, wobei er natürlich Nichts deutlich ſehen
konnte. Noch viel ungeſchickter griff ſein Schüler Thümmig
(Melethemata 1736) die Sache an. Gerade bei dieſen beiden
zeigt ſich recht deutlich, daß der geringe Erfolg weit weniger
durch die Unvollkommenheit ihrer Mikroſkope, als durch die Un-
geſchicklichkeit in der Handhabung derſelben und durch die un-
zweckmäßige Präparation bedingt wurde. Wolff und Thüm-
mig aber bemühten ſich doch wenigſtens, ſelbſt Etwas von der
Structur der Pflanzen zu ſehen; ein damals berühmter Botaniker
dagegen, Ludwig, hatte einen derartigen Verſuch offenbar nicht
gemacht, denn in ſeinen Institutiones regni vegetabilis 1742
äußert er ſich über den inneren Bau der Pflanze folgendermaßen:
„Platten oder membranöſe Häutchen, ſo unter ſich verbunden,
daß ſie kleine Höhlungen oder Zellchen bilden, und nicht ſelten
durch Zwiſchenkunft von feinen Fäden netzartig disponirt werden,
[268]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
bilden das Zellengewebe, welches wir durch alle Theile der
Pflanze verbreitet wahrnehmen. Dieſes iſt es, was Malpighi
u. a. Schläuche nennen, inſofern es in verſchiedenen Theilen in
Form von Bläschenreihen, die mit einander verbunden ſind, er-
ſcheint! Noch ſchlimmer ſieht es in Boehmer's dissertatio de
celluloso contextu 1785 aus: „Weiße, elaſtiſche, bald dickere
bald dünnere Fibern und Fäden unter ſich verwebt, von ver-
ſchiedener Figur und Größe bilden Höhlungen oder Zellen oder
Cavernen und pflegen mit dem Namen Zellgewebe bezeichnet zu
werden.“ Man ſieht, welches Unglück Grew mit ſeiner Theorie
vom faſerigen Bau der Zellwände angerichtet hatte und wie der
Ausdruck „Zellgewebe“ wörtlich genommen, die hier genannten Bo-
taniker u. a. zu ganz unrichtigen Vorſtellungen verführte. Daß
es aber nicht nur in Deutſchland bis zu ſolchen Mißverſtändniſſen
kam, zeigen Du Hamel's, Comparetti's. Senebier's
Werke und ſogar Hill, ein Landsmann Grew's, dachte ſich
die Zellen, wie Mohl berichtet, unter der Geſtalt von über ein-
ander ſtehenden, unter geſchloſſenen, oben offenen Bechern.
Freiherr v. Gleichen-Rutzworm (markgräfl. anſpachſcher
geheimer Rath geb. 1717, geſt. 1783) beſchäftigte ſich viel mit
der Vervollkommnung der äußeren mechaniſchen Einrichtung der
Mikroſkope, von deren außerordentlichen Unzweckmäßigkeit ſchon
ſeine Kupfertafeln die überraſchendſte Einſicht gewähren. Er
machte mit dieſen Inſtrumenten ſehr zahlreiche Beobachtungen,
die er in zwei umfangreichen Werken („das Neueſte aus dem
Reich der Pflanzen“ 1764 und „Auserleſene mikroſkopiſche Ent-
deckungen“ 1777-81) niederlegte. In beiden iſt aber von der
mikroſkopiſchen Anatomie, vom Zellenbau der Pflanze wenig oder
gar nicht die Rede. Seine mikroſkopiſchen Beobachtungen ſind
vorwiegend den Befruchtungsvorgängen gewidmet und dem Be-
weis, daß im Pollen Spermatozoen enthalten ſind. 1) Dabei
findet er aber Veranlaſſung, ſehr zahlreiche kleinere Blüthen ver-
größert und zum Theil recht ſchön abzubilden, in welcher Be-
[269]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
ziehung ſeine Werke zu ihrer Zeit Vielen gewiß ſehr lehrreich
geweſen ſein müſſen. Die Spaltöffnungen, welche übrigens
Grew bereits entdeckt hatte, ſah er an den Blättern der Farn-
kräuter, hielt ſie aber für die männlichen Befruchtungsorgane der-
ſelben, was zugleich zeigte, daß ihm die Exiſtenz dieſer Organe
bei den Phanerogamen unbekannt blieb.
Ganz vereinſamt unter ſeinen Zeitgenoſſen ſteht Caspar
Friedrich Wolff1) mit ſeinen phytotomiſchen Beſtrebungen da,
nicht nur inſofern er ſeit Malpighi und Grew wieder der
Erſte und Einzige war, welcher der Anatomie der Pflanzen
Arbeit und conſequente Ausdauer zuwandte, ſondern noch mehr
deßhalb, weil er zu einer Zeit, wo ſelbſt die Struktur der fer-
tigen Pflanzenorgane beinahe in Vergeſſenheit gerathen war, die
Entwicklungsgeſchichte dieſer Struktur, die Entſtehung des Zell-
gewebes zu ergründen ſuchte. Leider war es nicht ausſchließlich
ein phytotomiſches Intereſſe, welches ihn dabei leitete, ſondern
eine allgemeinere Frage, welche er auf dieſem Wege zu
erledigen ſuchte; er wollte durch den Nachweis der Ent-
wicklung der Pflanzenorgane die damals herrſchende Evolutions-
theorie widerlegen und für ſeine Lehre von der Epigeneſis induk-
tive Fundamente gewinnen. Obgleich auf dieſe Weiſe von der
[270]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
Verfolgung der rein phytotomiſchen Fragen vielfach abgelenkt, iſt
ſeine berühmte Schrift, Theoria generationis 1759, doch von
großer Bedeutung für die Geſchichte der Phytotomie 1); denn,
wenn dieſelbe auch in den nächſten vierzig Jahren bei den Bo-
tanikern unbeachtet blieb oder doch keinen nenneswerthen Ein-
fluß ausübte, ſo war es doch Wolff's Lehre von der Ent-
ſtehung der Zellenſtruktur der Pflanzen, welche am Anfang unſeres
Jahrhunderts von Mirbel in der Hauptſache wieder aufge-
nommen wurde, und der Widerſpruch, den dieß hervorrief,
hat weſentlich zum Fortſchritt der Phytotomie beigetragen.
Was der Schrift Caspar Fridrich Wolff's eine ſo
ſpäte, aber nachhaltige Wirkung ſicherte, war übrigens nicht
die thatſächliche Richtigkeit ſeiner Beobachtungen, ſondern
der Gedankenreichthum derſelben und das Streben, das wahre
Weſen der zelligen Pflanzenſtruktur zu ergründen, es auf phyſi-
kaliſchem und philoſophiſchem Wege zu erklären. Wolff's Be-
obachtungen ſelbſt, ſoweit ſie den Zellenbau der Pflanzen betreffen,
ſind höchſt ungenau, von vorgefaßten Meinungen beeinflußt, ſeine
Darſtellung getrübt, oft unleidlich gemacht durch die Sucht, das
ungenau Geſehene ſofort philoſophiſch deuten und erklären zu wollen.
Seine entwicklungsgeſchichtlichen Beſtrebungen, ſoweit ſie die Ent-
ſtehung des Zellgewebes betreffen, leiden an dem großen Mangel,
daß Wolff die Struktur der ausgebildeten Organe offenbar
nicht hinreichend kannte und es ſcheint, nach ſeinen Abbildungen
und theoretiſchen Erwägungen zu ſchließen, daß ſein Mikroſkop
nicht hinreichend vergrößerte und wohl auch keine ſcharfen Bilder
gab. Trotz all dieſer Mängel iſt die genannte Schrift in dem
ganzen Zeitraum zwiſchen Grew und Mirbel ohne Zweifel
des Bedeutendſte auf dem Gebiet der Phytotomie und zwar, wie
ſchon angedeutet wurde, nicht wegen der beſonderen Güte der
Beobachtung, ſondern weil Wolff aus ſeinen Beobachtungen
Etwas zu machen wußte, die bloß ſinnlichen Wahrnehmungen
zur Grundlage einer Theorie benutzte.
[271]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
Nach Wolff's Theorie beſtehen alle jüngſten Pflanzen-
theile, der von ihm aufgefundene Vegetationspunct des Stengels,
die jüngſten Blätter und Blüthentheile urſprünglich aus einer durch-
ſichtigen gallertartigen Subſtanz; dieſe iſt von Nahrungsſaft
durchtränkt, der ſich in Form von Anfangs ſehr kleinen Tröpfchen
(wir könnten ſagen Vacuolen) ausſcheidet, welche indem ſie nach
und nach an Umfang gewinnen, die Zwiſchenſubſtanz ausdehnen
und ſo die erweiterten Zellräume darſtellen. Die Zwiſchenſubſtanz
entſpricht alſo dem, was wir jetzt die Zellwände nennen, nur
ſind dieſe anfangs viel dicker und werden durch das Wachsthum
der Zellräume immer dünner. Man könnte ſich alſo ein junges
Pflanzengewebe im Sinne Wolff's etwa ſo entſtanden denken,
wie die Poroſität eines gährenden Brodteiges, nur daß die
Poren nicht mit Gas, ſondern mit Flüſſigkeit erfüllt ſind. Es
geht aus dem Geſagten zugleich hervor, daß die Bläschen oder
Poren, wie Wolff die Zellen nennt, von vorneherein unter ſich
durch die Zwiſchenſubſtanz verbunden ſind, daß zwiſchen je zwei
benachbarten Zellhöhlen nur eine Lamelle oder Zellhaut liegt,
ein Punct, über den die ſpäteren Phytotomen ſehr langſam in's
Reine gekommen ſind. Wie die Zellen durch Ausſcheidung von
Safttropfen in der Anfangs homogenen Grundſubſtanz entſtehen,
ſo werden nach Wolff die Gefäße dadurch erzeugt, daß ein
Tropfen in jener Gallerte ſich der Länge nach fortbewegt und ſo
einen Canal bildet; dem entſprechend müſſen natürlich auch die
benachbarten Gefäße durch einfache Lamellen der Grundſubſtanz
von einander getrennt ſein. Obgleich Wolff die Bewegung des
Nahrungsſaftes innerhalb der ſoliden galertartigen Grundſubſtanz
zwiſchen den Zellhöhlen und Gefäßkanälen ausdrücklich betont,
alſo eine Bewegung annimmt, die wir als eine Diffuſionsſtrömung
bezeichnen können, hält er es doch mit auffallender Inconſequenz für
nöthig, zum Zweck der Saftbewegung von Zelle zu Zelle, von
Gefäß zu Gefäß, in den Zwiſchenwandungen derſelben Löcher
anzunehmen, obgleich er in dem einzigen Fall, wo ihm die Iſolirung
von Zellen gelang, in reifen Früchten nämlich, die Wandungen
als geſchloſſen gelten laſſen mußte.
[272]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
Das Wachsthum der Pflanzentheile wird nach Wolff durch
Ausdehnung der ſchon vorhandenen Zellen und Gefäße ſowie
durch Entſtehung neuer zwiſchen den ſchon vorhandenen bewirkt;
die Einſchiebung neuer Elemente geſchieht in derſelben Weiſe, wie
die Bildung jener Vacuolen in der galertartigen Grundſubſtanz
der jüngſten Organe. In der ſoliden Zwiſchenſubſtanz zwiſchen
den Gängen und Höhlen des Gewebes ſcheidet ſich nämlich der
ſie durchtränkende Nahrungsſaft in Form von heranwachſenden
Tröpfchen aus, die nun ihrerſeits als zwiſchen die vorigen ein-
geſchaltete Zellen und Gefäße ſich darſtellen. Die Anfangs
weiche und dehnſame Subſtanz zwiſchen den Gängen und Höhlen
wird mit zunehmendem Alter feſter und härter und zugleich kann
ſich aus dem in den Zellhöhlen ſtagnirenden, in den Gefäßgängen
fließenden Safte eine erhärtende Subſtanz ablagern, welche nun
in manchen Fällen als eigene Haut derſelben erſcheint.
Das iſt im Weſentlichen die Theorie Wolff's. Mit Ueber-
gehung ſeiner Angaben über die erſte Entſtehung der Blätter am
Vegetationspunct und über die Entwicklung der Blüthentheile,
ſowie ſeiner phyſiologiſchen Anſichten über die Ernährung und
Sexualtität, welche zunächſt auf die geſchichtliche Entwicklung der
darauf bezüglichen Lehren noch lange ohne Einfluß blieben, will
ich hier nur noch ſeine Meinung über das Dickenwachsthum des
Stammes anführen. Dieſer ſei urſprünglich die Fortſetzung aller
unter ſich verbundenen Blattſtiele. Soviele Blätter aus der
Oberfläche der Vegetationsaxe hervorbrechen, ebenſo viele Bündel
von Gefäßen finde man im herangewachſenen Stamm; jedes
Blatt habe in dieſem einen einzelnen ihm gehörigen Gefäßſtrang
(alſo das, was wir jetzt eine innere Blutſpur nennen). Alle
dieſe den verſchiedenen Blättern angehörigen Stränge zuſammen,
bilden die Rinde des Stammes; ſind die Blätter aber ſehr zahlreich,
ſo bilden ihre hinablaufenden Bündel einen geſchloſſenen Cylinder
und wenn der Stamm perennirt, ſo werden in Folge der jähr-
lichen Neuproduction von Blättern auch jährlich neue derartige
Holzzonen, alſo die Jahresringe gebildet. Es iſt nicht zu über-
ſehen, daß dieſe Anſicht Wolff's vom Dickenwachsthum der
[273]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
Stämme eine unverkennbare Aehnlichkeit mit der ſpäter von
Du Petit-Thouars aufgeſtellten Theorie darbietet, nach welcher
die von den Knoſpen abwärts ſteigenden Wurzeln die Dickenzu-
nahme des Stammes bewirken ſollten.
Wir kommen ſpäter bei den Streitigkeiten zwiſchen Mirbel
und ſeinen deutſchen Gegnern am Anfang unſeres Jahrhunderts
auf die wichtigeren Puncte von Wolff's Zellentheorie zurück.
Mehr Beachtung als Wolff's theoria generationis fanden
bei den zeitgenöſſiſchen Botanikern Hedwigs1) phytotomiſche
Anſichten, die ſich nicht mit der Entſtehung, ſondern mit der
Struktur des fertig ausgebildeten Zellenbaues befaſſen. Hedwig
hatte ſchon in ſeinem Fundamentum historiae muscorum 1782,
dann in der Theoria generationis 1784 verſchiedene Abbildungen
und Beſchreibungen phytotomiſcher Dinge gegeben; Ausführlicheres
darüber enthält aber ſeine 1789 herausgegebene Schrift de fibrae
vegetabilis et animalis ortu, welche mir unzugänglich geblieben
und nur durch Citate ſpäterer Schriftſteller einigermaßen bekannt
geworden iſt. Die mir bekannten Abbildungen Hedwig's
ſind, ſoweit ſie hiſtologiſche Objekte betreffen, beſſer als die aller
ſeiner Vorgänger; ſie zeigen, daß er nicht nur ſtarke Vergrößer-
ungen, ſondern auch ein Mikroſkop mit klarem Geſichtsfeld benutzte.
Bei ihm lag der Fehler in vorgefaßten Meinungen, in übereilter
Deutung des Geſehenen. Er hatte, um Gleichen's Anſicht
betreffs der Spaltöffnungen der Farnkräuter zu widerlegen, die-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 18
[274]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
ſelben Organe auch bei zahlreichen phanerogamiſchen Pflanzen
nachgewieſen, dabei die Oeffnung der Spalte erkannt und ſie
spiracula genannt. Auf der zum Zweck dieſer Beobachtungen
abgezogenen Epidermis ſah er deutlich die doppelt contourirten
Abgränzungen der Epidermiszellen, alſo diejenigen Zellwände,
welche auf der Oberfläche ſenkrecht ſtehen. Dieſe hielt nun
Hedwig für eine beſondere Form von Gefäßen, die er als
vasa reducentia oder lymphatica, ſpäter ſogar vasa exhalantia
bezeichnete und zugleich im Inneren des parenchymatiſchen Ge-
webes wieder zu finden glaubte, indem er offenbar die Stellen,
wo je drei Wandflächen zuſammenſtoßen, für Gefäße hielt, mit
denen er noch dazu die von dem älteren Moldenhawer (1779)
beſchriebenen Milchzellen von Asclepias verwechſelte; jener
ſcheint aber ſelbſt ſchon die Interzellularräume im Mark der
Roſe für gleichbedeutend mit dieſen Milchzellen gehalten zu haben.
Mit dem Ausdruck Gefäß verband man eben im 18. Jahrhun-
dert eine ganz in's Unbeſtimmte verſchwimmende Vorſtellung,
welche ebenſowohl die weiten Luftröhren des Holzes, wie die
feinſten Fäſerchen für Gefäße gelten ließ. Hedwig's Vor-
ſtellung vom Bau der Spiralgefäße war ſonderbar genug. Für
ihn war das Spiralband ſelbſt als ſolches das Spiralgefäß;
dabei hielt er jenes für hohl, weil es ſich durch Aufnahme
farbiger Flüſſigkeiten färbt; bei den Spiralgefäßen mit entfernten
Windungen des Schraubenbandes ſah er zwar die zwiſchen den
Windungen liegende, feine urſprüngliche Haut, er nahm jedoch
an, daß dieſe innerhalb des Spiralbands liege, von demſelben
alſo äußerlich umwunden werde. Auf Tafel II des erſten Theils
der Historia muscorum bildet er ſogar das Leiſtennetz ab,
welches die benachbarten Zellen an der Wand des Spiralgefäßes
zurückgelaſſen haben, erklärt dasſelbe jedoch für durch Austrock-
nung entſtandene Falten.
Hedwig war ohne Zweifel ein ſehr geübter Mikroſkopiker
und er empfahl überall die äußerſte Behutſamkeit bei der Deut-
ung der mikroſkopiſchen Bilder. Wenn aber ein Beobachter von
ſolcher Sorgfalt und Uebung, wie er, der noch dazu mit einem
[275]Die Phytotomie im 18. Jahrhundert.
ziemlich ſtark vergrößernden Mikroſkop verſehen war, in ſo grobe
Irrthümer verfiel, ſo kann es nicht überraſchen, wenn Andere
wie P. Schrank, Medicus, Brunn, Senebier noch
weniger zu Tage förderten.
Mit dieſen höchſt unbedeutenden Leiſtungen ſchließt das
18. Jahrhundert.
18*
[276]Unterſuchung des fertigen
Drittes Capitel.
Unterſuchung des fertigen Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
1800-1840.
Eine ſcharfe Grenze zwiſchen dem vorigen und dieſem Zeit-
raum findet ſich nicht; die Beobachtungen der jetzt auftretenden
Phytotomen ſind anfangs kaum beſſer als die Hedwig's und
Wolff's; ſorgfältige Kritik des Selbſtgeſehenen und der Literatur
ſind in den erſten Jahren noch vielfach zu vermiſſen und vorge-
faßte Meinungen verdarben den Beobachtern oft das Urtheil über
das Geſehene.
In Einer Beziehung aber tritt mit dem Beginn des neuen
Jahrhunderts plötzlich eine auffallende Beſſerung ein; die Zahl
der gleichzeitig arbeitenden, einander kontrolirenden und kriti-
ſirenden Phytotomen iſt plötzlich eine größere geworden. Im
vorigen Jahrhundert lag zwiſchen je zwei phytotomiſchen Arbeiten
ein Decennium oder gar eine Reihe von ſolchen: mit dem Beginn
des 19. Jahrhunderts dagegen treten verſchiedene Phytotomen
gleichzeitig auf. Im Lauf der erſten zwölf Jahre ſehen wir
faſt ein Dutzend phytotomiſcher Werke auf einander folgen, ein
wiſſenſchaftlicher Wettſtreit belebt die Forſchung. Zum erſten
Mal iſt es ein Franzoſe, dem wir auf dem Felde der Phytotomie
begegnen, Briſſeau Mirbel, der 1802 mit ſeinem Traité
d'anatomie et de physiologie végétale hervortritt und eine
Reihe von phytotomiſchen Fragen eröffnet, an deren Bearbeitung
und Widerlegung ſich unmittelbar darauf mehrere deutſche Bo-
taniker betheiligen: Kurt Sprengel 1802, Bernhardi 1805,
Treviranus 1806, Link und Rudolphi 1807. Auch
[277]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
darin lag ein Fortſchritt, der die ganze Pflanzenkunde betraf,
daß abgeſehen von Rudolphi, alle dieſe Männer, ebenſo wie
vorher Hedwig, Botaniker von Fach waren; die Ueberzeugung
brach ſich endlich Bahn, daß neben der Pflanzenbeſchreibung nach dem
Linné'ſchen Schematismus doch auch die Unterſuchung der
innern Struktur mit in das Bereich der botaniſchen Forſchung
gehöre; und nicht zu verkennen iſt anderſeits, daß die botaniſchen
Kenntniſſe dieſer Männer ihren phytotomiſchen Forſchungen
vielfach Vorſchub leiſteten, ihrer Arbeit ſofort eine beſtimmtere
Richtung auf das wirklich Wiſſenswerthe und auf das zu-
nächſt anzuſtrebende Ziel gaben. In noch höheren Grade, als
von den eben Genannten, gilt dies von dem jüngeren Mol-
denhawer, der durch ſeine 1812 herausgegebenen Beiträge
den erſten Abſchnitt dieſes Zeitraums gewiſſermaßen zu einem
vorläufigen Abſchluß brachte, indem er die Beobachtungsmethoden
vervollkommnete, eine kritiſch vergleichende Behandlung des Selbſt-
geſehenen und der Literatur mit großer Schärfe durchführte,
überhaupt mit den Mikroſkopen jener Zeit Alles leiſtete, was
irgend erwartet werden darf.
Auf Moldenhawer folgt nun aber ein für uns leerer
Zeitraum von ungefähr 16 Jahren (1812-1828), in welchem
Nichts von erheblicher Bedeutung auf dem anatomiſchen Gebiet
geleiſtet wurde. Dagegen fällt in dieſen Zeitraum eine Reihe
der wichtigſten Verbeſſerungen, welche das zuſamengeſetzte Mikroſkop
ſeit ſeiner Erfindung erfahren hat.
Schon 1784 hatte Aepinus Objektivlinſen aus Flint-
und Kronglas hergeſtellt, ſchon 1807 van Deyl1) ſolche mit
zwei achromatiſchen Linſen konſtruirt, was jedoch nicht ausſchloß,
daß die Phytotomen auch ſpäter noch über den Zuſtand des
Inſtruments Klage führten; ihre Abbildungen zeigen, wie wenig
klar ſie mit ihren Inſtrumenten zu ſehen vermochten und doch
waren die Vergrößerungen unbedeutend; Link ſagt ausdrücklich
in der Vorrede zu ſeiner Preisſchrift 1807, daß er gewöhnlich
[278]Unterſuchung des fertigen
mit einer 180maligen Vergrößerung beobachte und Molden-
hawer ſchreibt 1812 unter allen von ihm benutzten Mikroſkopen
einem von Wright, welches ſogar bei 400maliger Vergrößer-
ung noch brauchbar ſei, den Vorzug vor allen übrigen zu, während
die deutſchen Inſtrumente, zumal die Weickert'ſchen ſchon bei
170-300maliger Vergrößerung unbrauchbar ſeien.
Es verging jedes Mal einige Zeit zwiſchen der Verbeſſer-
ung des Mikroſkops und dem Hervortreten der Vortheile, welche
die Phytotomie davon zog; ſo zeigte ſchon 1824 Selligue
der Pariſer Akademie ein vortreffliches Mikroſkop mir Doppel-
linſen; deren mehrere über einander geſchraubt werden konnten
und welches mit gewöhnlichem Tageslicht noch bei 500 maliger
Vergrößerung brauchbar war; ſo konſtruirte ſchon 1827 Amici
die erſten achromatiſchen und aplanatiſchen Objektive mit drei
übereinander geſchraubten Doppellinſen, deren flache Seite dem
Objekt zugekehrt war. Und doch äußerte ſich noch 1836 ein ſo
geübter Phytotom wie Meyen abfällig über die Inſtrumente
ſeiner Zeit und auch er gab einem alten engliſchen Mikroſkop
von James Man den Vorzug; doch räumte er ein, daß die
neueſten Ploeſſl'ſchen Inſtrumente noch etwas beſſer ſeien.
In ſeiner 1830 erſchienenen Phytotomie ſagt Meyen, alle
Bilder derſelben ſeien nach 220maliger Vergrößerung gemacht,
dasſelbe gilt noch von den ſehr ſchönen Bildern in ſeiner 1836
erſchienenen Teyler'ſchen Preisſchrift; im „Neuen Syſtem“
von 1837 dagegen benutzte Meyen bereits Vergrößerungen bis
über 500. Wie raſch der Forſchritt in den Jahren vor und
nach 1830 war, zeigt die Vergleichung von Mohl's Werk über
die Schlingpflanzen 1827, wo die Bilder noch ganz alterthümlich
ausſehen, mit ſeinen 1831 und 1833 erſchienenen Arbeiten,
deren Bilder einen ganz modernen Eindruck machen.
Mit der Vervollkommnung der Mikroſkope nahm auch die
Kunſt des Präparirens der anatomiſchen Objekte nach und nach
einen höheren Aufſchwung. Im Anfang des Jahrhunderts war dieſe
Kunſt, wie man aus den Aeußerungen der Schriftſteller und ihren
Abbildungen ſchließen darf, noch ſehr wenig ausgebildet. Es konnte
[279]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſchon als ein großer Fortſchritt gelten, daß der jüngere Mol-
denhawer 1812 die Zellen durch Maceration in Waſſer
(durch Fäulniß) iſolirte und ſo das Mittel gewann, Zellen
und Gefäße allſeitig und in unverletztem Zuſtand zu be-
trachten, ſie in ihrer wahren Geſtalt zu ſehen, und aus dieſer
zugleich die Art ihrer Zuſammenlagerung genauer als bisher
zu überſehen. Doch ſelbſt Moldenhawer machte ſich noch
nicht ganz frei von dem Fehler, zarte, mikroſkopiſche Objekte in
trockenem Zuſtand zur Beobachtung zu verwenden, obgleich ſchon
Rudolphi und Link 1807 darauf gedrungen hatten, daß man
die Präparate allſeitig feucht erhalte, zumal auch auf ihrer dem
Objektiv zugekehrten Oberfläche, woraus zugleich erſichtlich iſt,
daß man ſich damals des Deckglaſes noch nicht bediente. Die
Benutzung ſehr ſcharfer Meſſer von geeigneter Form, als welche
man gegenwärtig faſt ausſchließlich das Raſirmeſſer betrachtet,
und die Herſtellung möglichſt feiner, glatter Quer- und Längs-
ſchnitte, wurde jedenfalls noch nicht mit der Aufmerkſamkeit
und Uebung behandelt, welche ſpäter Meyen und Mohl als
unentbehrliche Hülfsmittel der Phytotomie zur Geltung brachten;
ſelbſt zu ihrer Zeit half man ſich gerne noch mit dem Zerfaſern
und Zerquetſchen der Präparate.
Mit der zunehmenden Uebung in der Präparation und
der Vervollkommnung der Mikroſkope hielt im Ganzen auch
die Herſtellung mikroſkopiſcher Zeichnungen gleichen Schritt.
Vergleicht man die Bilder vom Anfange des Jahrhunderts
bei Mirbel und Kurt Sprengel, bei Link und Tre-
viranus (1807), ferner bei Moldenhawer (1812), Meyen,
Mohl (1827 bis 1840), ſo gewinnt man einen ebenſo lehr-
reichen als raſchen Ueberblick über die Geſchichte der Phyto-
tomie in dieſem Zeitraum von vierzig Jahren. Die Bilder
zeigen uns nicht nur die fortſchreitende Zunahme der Vergrößer-
ung und Deutlichkeit der Geſichtsfelder, ſondern noch mehr die
fortſchreitende Sorgfalt in der Präparation und in der Be-
trachtung der Objekte. Doch ſchlich ſich vielfach in jener Zeit
eine ſonderbare Verirrung bei den Phytotomen ein: man glaubte
[280]Unterſuchung des fertigen
richtigere und zuverläſſigere Abbildungen zu gewinnen, wenn
nicht der Beobachter und Schriftſteller ſelbſt ſie herſtellte, ſondern
wenn er dazu fremde Augen und Hände benutzte, indem man
ſich dabei dem ganz unbegründeten Vorurtheil hingab, daß auf
dieſe Weiſe jede Art von Vorurtheil und vorgefaßter Meinung
bei der Herſtellung der Bilder ausgeſchloſſen werde. So ließ
nicht nur Mirbel, ſondern auch Moldenhawer ſeine phyto-
tomiſchen Bilder von einer Frau zeichnen, und auch ſpäter noch
überließen manche Phytotomen die Herſtellung ihrer Zeichnungen
wie es früher Leeuwenhoek gethan [hatte], angeſtellten Zeichnern.
Eine mikroſkopiſche Zeichnung, wie überhaupt jede naturwiſſen-
ſchaftliche Abbildung, kann aber gar nicht den Anſpruch erheben,
das Objekt ſelbſt zu erſetzen, vielmehr ſoll ſie mit aller Deut-
lichkeit genau das wiedergeben, was der Beobachter wahrgenom-
men hat und inſoferne die Beſchreibung in Worten unterſtützen.
Die Zeichnung wird um ſo vollkommener ſein, je geübter das
beobachtende Auge und der die Formen zurecht legende Verſtand
iſt. Die Abbildung ſoll dem Leſer Nichts anderes zeigen, als
was durch den Geiſt des Beobachters hindurchgegangen iſt, denn
nur ſo dient ſie zur gegenſeitigen Verſtändigung; die Sache aber
hat auch noch eine andere Bedeutung; gerade während des
Zeichnens eines mikroſkopiſchen Objektes iſt das Auge genöthigt,
auf den einzelnen Linien und Puncten zu verweilen, ihren wahren
Zuſammenhang nach allen Dimenſionen des Raumes aufzufaſſen;
es werden dabei ſehr häufig erſt Verhältniſſe wahrgenommen,
welche vorher ſelbſt bei ſorgfältiger Beobachtung unbeachtet blieben,
für die zu unterſuchende Frage jedoch entſcheidend ſein oder ſogar
neue Fragen eröffnen können. So wie das Auge erſt durch
das Mikroſkop zu wiſſenſchaftlichem Sehen dreſſirt wird, ſo wird
erſt durch ſorgfältiges Zeichnen der Objekte das geſchulte Auge
zu einem wachſamen Rathgeber des forſchenden Verſtandes; dieſer
letzte Vortheil aber geht dem, der ſeine Zeichnungen von fremder
Hand herſtellen läßt, durchaus verloren. Es gehört nicht zu
den kleinſten Verdienſten Mohl's, daß er zuerſt das mikroſkopiſche
Zeichnen ganz in dem hier angedeuteten Sinne betrieb, in ſeinen
[281]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
Zeichnungen nicht unverdaute Copieen der Objekte, ſondern viel-
mehr ſeine eigenen Anſichten von den Objecten ausdrücken
wollte.
Nach dem bisher Geſagten leuchtet bereits ein, daß zwiſchen
dem Anfang und dem Ende des hier betrachteten Zeitraums ein
wichtiges Stück der Geſchichte der Phytotomie liegt. Der Abſtand
zwiſchen dem, was am Anfang des Jahrhunderts über die Struktur
des vegetabiliſchen Zellenbaues bekannt war und dem, was
Meyen und Mohl um 1840 wußten, iſt außerordentlich groß;
dort ganz unſicheres Herumtappen in unklaren Vorſtellungen,
hier bereits eine vollſtändige Orientirung in der inneren Archi-
tektur der fertigen Pflanze. Trotz dieſes großen Abſtandes
zwiſchen Anfang und Ende empfiehlt es ſich doch, die Beſtrebungen
dieſes Zeitraums von vierzig Jahren als einen in ſich zuſammen-
hängenden hiſtoriſchen Entwicklungsprozeß zu betrachten und trotz
der Unterbrechung, welche zwiſchen dem Erſcheinen von Molden-
hawer's Beiträgen um 1812 und den Arbeiten Meyen's
und Mohl's um 1840 liegt, die Arbeiten dieſer letzteren als
den Abſchluß der am Anfang des Jahrhunderts aufgenommenen
Fragen zu betrachten. Und zwar um ſo mehr, als mit dem
Beginn der vierziger Jahre, mit dem Auftreten Schleiden's und
Naegeli's, plötzlich ganz neue Geſichtspuncte zur Geltung
kamen, ganz andere Ziele der phytotomiſchen Forſchung hinge-
ſtellt wurden; an dieſer Auffaſſung hindert es nicht, daß der
reichhaltigſte Theil von Mohl's Thätigkeit erſt in die nächſten
zwanzig Jahre fällt, denn in dieſer ſpäteren Zeit geht Mohl's
Bedeutung nur noch als gleichberechtigt und theilnehmend an der
neuen Richtung her; bis zur Mitte der vierziger Jahre dagegen
gipfelte die ganze frühere Phytotomie in Mohl's Leiſtungen;
was Mirbel, Link, Treviranus, Moldenhawer früher
angeregt hatten, fand ſeinen Abſchluß in Mohl's Arbeiten
bis 1840. Vor Allem handelte es ſich während dieſes ganzen
Zeitraums faſt ausſchließlich darum, ein möglichſt naturgetreues
Schema von der inneren Struktur der fertigen Pflanzenorgane
zu gewinnen; es kam darauf an, die verſchiedenen Zellen und
[282]Unterſuchung des fertigen
Gewebeformen in ihrer Verſchiedenheit richtig aufzufaſſen und zu
klaſſificiren, ſie mit Namen zu belegen, für dieſe Namen wohl-
definirte Begriffe zu gewinnen. Dabei kam faſt ausſchließlich
nur die Configuration des feſten Zellhautgerüſtes, und zwar
vorwiegend im fertigen Zuſtand desſelben in Betracht: die Form
der einzelnen Elementarorgane, ihre Zuſammenlagerung, die
Skulptur der Wandflächen, die Verbindung der Zellräume durch
Poren oder ihre Trennung durch geſchloſſene Wände. Soviel
man auch, zumal Anfangs, über den Inhalt der Gefäße und
Zellen ſprach, wie ſehr man ſich auch zum Zweck der anatomiſchen
Erörterung mit hypothetiſchen Bewegungen des Nahrungsſaftes
befaßte, kam es doch in dieſem Zeitraum noch nicht zu einer
ſorgfältigen, zuſammenhängenden Unterſuchung des Zellinhaltes;
es wurde noch nicht erkannt, daß der wahre lebendige Leib der
Pflanzenzelle nur ein beſtimmter Theil des von der Zellwand
umſchloſſenen Inhaltes iſt; als das Primäre und Wichtige im
Zellenbau der Pflanze galten damals die feſten Wandungen, das
Gerüſte des ganzen Aufbaues; erſt in dem folgenden Zeitraum
trat mit der entwicklungsgeſchichtlichen Auffaſſung auch die Anſicht
in den Vordergrund, daß das feſte Zellhautgerüſt des Pflanzen-
gewebes bei aller Wichtigkeit, die demſelben zukommt, doch im
genetiſchen Sinne nur ein ſekundäres Produkt der vegetativen
Lebenserſcheinungen iſt, daß der eigentliche Zellenleib der Pro-
toplasmakörper der Zelle, eine urſprünglichere, zeitlich und be-
grifflich hervorragendere Bedeutung, dem feſten Zellhautgerüſt
gegenüber, in Anſpruch nehmen dürfe.
Mirbel, auf den wir noch zurückkommen, hatte 1801 eine
auf Caspar Friedrich Wolff geſtützte Theorie des Zellenbaues
der Pflanzen aufgeſtellt, dem entſprechend die Einfachheit der
Scheidewände zwiſchen je zwei benachbarten Zellräumen ange-
nommen und auf neue Beobachtungen geſtützt, die Exiſtenz
ſichtbarer Poren in den Scheidewänden des Parenchym's und
der Gefäße behauptet, auch neue Anſichten über die Natur und
[283]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
Entſtehung der Gefäße vertheidigt. In Deutſchland war es
nun Kurt Sprengel, der bekannte Geſchichtsſchreiber der Botanik
und einer der vielſeitigſten und gelehrteſten Botaniker ſeiner
Zeit, der ſchon in ſeiner 1802 herausgegebenen „Anleitung zur
Kenntniß der Gewächſe“, die in einem ſehr weitſchweifigen Brief-
ſtyl geſchrieben iſt, den weſentlichſten Puncten entgegentrat. Er
ſtützte ſich dabei auf eigene Beobachtungen, die aber offenbar bei
geringer Vergrößerung mit unklarem Geſichtsfeld an ſchlechten
Präparaten gemacht waren. Das Zellgewebe, ſagte Sprengel,
beſtehe aus Höhlen von ſehr verſchiedener Geſtalt, die aber unter
einander kommuniciren, indem einige Scheidewände durchbrochen
ſind, andere gänzlich fehlen. In den Samenlappen der Bohne
und ſonſt, ſah er die Stärkekörner, die er jedoch für Bläschen
hielt, welche durch Waſſeraufnahme heranwachſen und ſo neues
Zellgewebe bilden, wobei er jedoch die Antwort auf die Frage
ſchuldig blieb, wie nun das Wachsthum der Organe bei einer
derartigen Zellbildung zu denken ſei. Höchſt unklar war ſeine
Vorſtellung von den Gefäßen, unklarer ſogar als bei Hedwig,
obgleich er ſich das Verdienſt erwarb, deſſen wunderliche Theorie
von den rückführenden Gefäßen in der Epidermis zu widerlegen;
auch hatte er den guten Gedanken, freilich nur nebenbei, geäußert,
daß die Schraubengänge und wohl die Gefäße überhaupt aus
Zellgewebe entſtehen könnten, da anfangs die jüngſten Pflanzen-
theile überhaupt nur aus ſolchem beſtehen. Ueber das Wie und
Wo des Vorganges ſprach er ſich jedoch nicht aus. Wie bei
Malpighi und Grew hatten auch bei ihm die Spiralgefäße
keine eigene Wand, welche er vielmehr aus der dicht zuſammen-
gerollten Spiralfaſer beſtehen ließ; die Einſchnürungen der weiten
kurzgliederigen Gefäße hielt er für Contractionen derſelben, welche
durch „lebhafte Zuſammenziehung“ der Spiralfaſer, durch eine
Art periſtaltiſcher Bewegung entſtehen; ein in den erſten Jahr-
zehnten des Jahrhunderts vielfach gehegter Irrthum, der ſich
gern mit der damaligen Vorſtellung von der Lebenskraft verband,
unter andern auch von Goethe getheilt wurde. — Wie Grew,
Gleichen, Hedwig ſah auch Sprengel an den Spaltöffnungen,
[284]Unterſuchung des fertigen
die er mit dem jetzt noch gangbaren Namen belegte, ſtatt der
beiden Schließzellen einen ringförmigen Wulſt; wir finden aber
hier ſchon die wohl von Comparetti zuerſt gemachte Beob-
achtung mitgetheilt, daß ſich die Spalte abwechſelnd ſchließt und
öffnet, am Morgen ſoll ſie weit geöffnet, am Abend geſchloſſen
ſein. Sprengel ſchrieb dieſen Organen aber eine einſaugende
Thätigkeit zu.
Gegen Mirbel erhob Sprengel bei Gelegenheit ſeiner
Zellbildungstheorie den Vorwurf, er habe die in den Zellen
liegenden Stärkekörnchen für die Poren der Zellwände gehalten.
In dieſem für die Zellenlehre und Phyſiologie ſo wichtigen
Puncte folgten ihm ſpäter die drei Bewerber um den Göttinger
Preis, obgleich ſchon 1805 Bernhardi Mirbel's Lehre von
den Poren in Schutz genommen und darauf hingewieſen hatte,
wie wenig man glauben könne, daß ein ſo gewandter Beobachter
wie Mirbel einen ſo groben Irrthum begangen haben ſolle.
Ueberhaupt zeichnete ſich die kleine Schrift Bernhardi's „Be-
obachtungen über Pflanzengefäße“ (Erfurt 1805) 1) nicht nur
durch verſchiedene neue und richtige Wahrnehmungen aus, ſondern
noch mehr durch einen einfachen geraden Verſtand, der die Dinge
nimmt, wie ſie ſich dem Auge darbieten, ohne ſich durch vorge-
faßte Meinungen beirren zu laſſen. Bernhardi's Beobacht-
ungen ſind unzweifelhaft die beſten in dem ganzen Zeitraum von
Malpighi und Grew bis auf den jüngeren Moldenhawer;
ſeine Art, die phytotomiſchen Fragen zu behandeln viel zweck-
mäßiger, als bei den drei Bewerbern um den Göttinger Preis.
Die genannte Schrift handelt übrigens nicht bloß von den
Gefäßen, ſondern auch von den übrigen Gewerbeformen, welche
Bernhardi genauer als bisher zu unterſcheiden und zu klaſſi-
ficiren ſucht. Dabei zeichnet er ſich ſehr vortheilhaft vor ſeinen
Zeitgenoſſen dadurch aus, daß er die gebrauchten hiſtologiſchen
Ausdrücke auf möglichſt ſcharf definirte Begriffe anzuwenden
[285]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſucht, was bei der Verſchwommenheit der damaligen phytoto-
miſchen Begriffe ſchon ein großer Fortſchritt war. Bernhardi
unterſcheidet drei Hauptformen des Pflanzengewebes: das Mark,
den Baſt und die Gefäße.
Als Mark bezeichnet er das, was Grew Parenchym ge-
nannt hatte und was auch jetzt noch ſo genannt wird; ob die
Markzellen von ſichtbaren Poren durchbohrt ſeien, blieb ihm frag-
lich. Unter dem Worte Baſt begriff er nicht bloß die faſerigen
Elemente der Rinde, ſondern vor Allem auch diejenigen des
Holzes, überhaupt das, was wir gegenwärtig prosenchymatiſche
Gewerbformen nennen; es ſtimmte das ſehr gut mit der auch
von ihm, wie von allen ſeinen Zeitgenoſſen, getheilten Anſicht
Malpighi's, daß bei dem Dickenwachsthum der holzigen
Stämme die inneren Lagen des Rindenbaſtes ſich in äußere
Holzlagen verwandeln; dieſen Urſprung ließ er jedoch nicht gelten
für den innerſten Theil des Holzkörpers, der ſich ſchon in den
jungen Sproſſen ausbildet, in welchen allein ächte Spiralgefäße
mit abrollbarer Faſer zu finden ſind.
Die Gefäße unterſcheidet Bernhardi in zwei Hauptgruppen.
in Luftgefäße und in eigene Gefäße. Die Luftgefäße bezeichnet
er aus demſelben Grunde wie Grew mit dieſem Namen, weil
ſie wenigſtens während eines Theils der Vegetationszeit mit
Luft gefüllt ſind; ſie finden ſich im Holz und wo ein geſchloſſener
Holzkörper nicht vorhanden iſt, da werden die holzigen Bündel
auch nicht allein von Gefäßen gebildet, ſondern es ſind Baſt-
ſtränge, welche Gefäßröhren einſchließen; dieſe letzteren unter-
ſcheidet er nun in drei Hauptformen: die Ringgefäße, welche er
ſelbſt erſt entdeckt hatte, die eigentlichen Spiralgefäße mit ab-
rollbaren Band und die Treppengefäße, worunter er jedoch nicht
bloß ſolche mit breiten Spalten, wie bei den Farnen, ſondern
auch die getüpfelten Gefäße des ſecundären Holzes verſtand.
Von den Ring- und Spiralgefäßen hatte er eine ganz richtige
Vorſtellung, zumal wies er auch Hedwig's erwähnte Meinung
ab und zeigte, daß das Gegentheil derſelben richtig ſei, daß
nämlich das Spiralband äußerlich von einer Haut umgeben iſt,
[286]Unterſuchung des fertigen
was übrigens ſpäter wieder von Link, Sprengel und Mol-
denhawer geleugnet wurde. Die Skulpturverhältniſſe der
Treppengefäße dagegen wurden ihm nicht klar, er hielt die Tüpfel
der punctirten Gefäße für Verdickungen der Wand, alſo für das-
ſelbe, was bei den ächten Treppengefäßen die Querleiſten zwiſchen
den Spalten ſind, welch letztere er übrigens für geſchloſſen hielt.
War in dieſen Anſichten auch noch viel Irrthümliches, ſo trug
doch weſentlich zur Klärung der Anſichten bei, daß Bernhardi
überhaupt die verſchiedenen Formen der Luftgefäße zu unter-
ſcheiden ſuchte, zumal darauf hinwies, daß ſich im ſecundären
Holz weder Spiral- noch Ringgefäße finden. Die Aehnlichkeit
der verſchiedenen Gefäßformen verführte die Zeitgenoſſen Bern-
hardi's vielfach zu der irrigen Anſicht, daß dieſelben durch
Metamorphoſe der eigentlichen Spiralgefäße entſtehen; er zeigte,
daß man wohl innerhalb Einer Gefäßröhre verſchiedene Wand-
formen finde, daß dies jedoch nicht auf einer zeitlichen Verwand-
lung beruhe; vielmehr lehre die Beobachtung, daß jede Art von
Gefäßen ſchon in der Jugend ihren Charakter beſitzt, daß zumal
auch die jüngſten Treppengefäße nicht die Form von Spiralge-
fäßen darbieten.
Unter den Begriff der eigenen Gefäße rechnete er alle röhren-
förmigen mit eigenthümlichen Saft erfüllten Gebilde, nicht bloß
die Milchzellen und ächten Milchgefäße, ſondern auch die Harz-
gänge und dergl., über deren Vertheilung und Saftgehalt zu
verſchiedenen Zeiten er vielfach gute, auch jetzt noch werthvolle
Beobachtungen machte. Die Unterſchiede im Bau dieſer ver-
ſchiedenen ſaftführenden Röhren konnte er mit den ſchwachen
Vergrößerungen ſeines Mikroſkops noch nicht wahrnehmen, er
hielt ſich daher vorwiegend an die Struktur der großen Harz-
gänge, die er im Ganzen richtig erkannte.
Die Frage: ob es außer den genannten Gefäßformen noch
andere in der Pflanze gebe, gab ihm Gelegenheit, den Begriff
eines Gefäßes als eines ununterbrochenen Rohres oder Canales
beſſer als es bis dahin geſchehen war zu definiren, und zugleich
ſieht er ſich genöthigt in dieſem Sinn die Frage aufzunehmen,
[287]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ob ſeine Baſtfaſern auch als Gefäße zu deuten ſind, eine Frage,
die er jedoch nicht beſtimmt beantworten konnte. Dagegen er-
klärte er ſich entſchieden gegen Hedwig's rückführende Gefäße
in der Epidermis, was auch Sprengel ſchon gethan hatte,
und ſehr anerkennenswerth iſt, daß Bernhardi die Kanten,
wo je drei Längswände des Parenchyms zuſammenſtoßen, für
das erkannte, was ſie wirklich ſind, während ſelbſt noch ſpätere
Beobachter hier Schwierigkeiten fanden.
Schon vor dem Erſcheinen von Bernhardi's Schrift, im
Jahre 1804 ſtellte die k. Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Göt-
tingen eine Preisfrage, welche ſehr deutlich zeigt, wie unſicher
man ſich damals noch in allen Puncten der Pflanzenanatomie
fühlte; zur Charakteriſtik des damaligen Zuſtands der Phyto-
tomie wird es beitragen, wenn hier die Preisfrage in ihrer
ganzen Länge angeführt wird; ſie findet ſich in der Vorrede von
Rudolphi's Anatomie der Pflanzen (1807): „Da der eigent-
liche Gefäßbau der Gewächſe von einigen neuen Phyſiologen ge-
leugnet, von anderen, zumal älteren, angenommen wird: ſo
wären neue mikroſkopiſche Unterſuchungen anzuſtellen, welche ent-
weder die Beobachtungen Mahlpighi's, Grew's, Du-
Hamel's, Muſtel's, Hedwig's oder die beſondere von
dem Thierreich abweichende, einfachere Organiſation der Ge-
wächſe, die man entweder aus einfachen, eigenthümlichen Fibern
und Faſern (Medicus) oder aus zelligen und röhrigen Gewebe
(tissu tubulaireMirbel) hat entſtehen laſſen, beſtätigen
müßten. — Dabei wären nachfolgende untergeordnete Fragen zu
berückſichtigen: a) Wievielerlei Gefäßarten laſſen ſich von der
erſten Entwicklungsperiode derſelben mit Gewißheit annehmen?
und wenn dieſe wirklich exiſtiren. b) Sind jene gewundenen
Faſern, welche man Spiralgefäße (vasa spiralia) nennt, ſelbſt
hohl, und bilden ſie alſo Gefäße, oder dienen ſie durch ihre
Windungen zur Bildung eigener Kapſeln? und wie c) bewegen
ſich in dieſen Kapſeln die tropfbaren Flüſſigkeiten ſowohl als
Luftarten? d) Entſtehen durch Verwachſung dieſer gewundenen
Faſern die Treppengänge (Sprengel) oder umgekehrt dieſe
[288]Unterſuchung des fertigen
aus jenen (Mirbel)? Entſtehen von den Treppengängen Splint
(Alburnum, Aubier) und Holzfaſern, oder dieſe aus urſprünglich
eigenthümlichen Gefäßen oder dem röhrigen Gewebe.“
Man ſieht es dieſer Preisfrage, wie mancher anderen, deut-
lich genug an, daß ſie von Perſonen aufgeſtellt wurde, welche
von der Sache wenig verſtanden und nicht einmal die bereits
vorliegende Literatur kritiſch zu würdigen wußten, wie hätte man
ſonſt die Aeußerungen eines Muſtel und Medicus denen eines
Malpighi und Grew entgegenſtellen können. Hätte Bern-
hardi oder Mirbel die Preisfrage geſtellt, ſie wäre ſicherlich
beſſer gefaßt. Dem entſprach es denn auch, daß die drei ein-
gelaufenen Preisſchriften, in der Behandlung weniger gut als
die erwähnte Arbeit Bernhardi's, obgleich ſie einander in
den weſentlichſten Puncten widerſprachen, doch ſämmtlich acceptirt
wurden; noch mehr, daß die von Treviranus nur das Acceſſit
erhielt, obgleich ſie entſchieden beſſer war, als die beiden anderen,
beſonders aber beſſer als die von Rudolphi. Das Beſte an der
ganzen Preisfrage war, daß ſie Leben in die damalige Phyto-
tomie brachte, und zumal Mirbel veranlaßte, die drei Preis-
ſchriften, beſonders die von Treviranus, welche Mirbel mit
dem Scharfblick des Fachmanns ſofort als die beſte erkannte,
einer ſcharfen Kritik zu unterziehen. Die Preisſchrift von Link
erſchien 1807 unter dem Titel: „Grundlehren der Anatomie und
Phyſiologie der Pflanzen“, die von Rudolphi als „Anatomie
der Pflanzen“, ebenfalls 1807, jede derſelben bildet einen ſtatt-
lichen Oktavband. Die Schrift von L. C. Treviranus kam
ſchon 1806 mit dem Titel „Vom inwendigen Bau der Ge-
wächſe“ heraus.
Vergleichen wir zunächſt die beiden gekrönten Schriften von
Link und von Rudolphi1), die ſich geradezu wie Lehrbücher
der geſammten Phytotomie und Phyſiologie der Pflanzen aus-
nahmen, ſo vermiſſen wir in beiden vor Allem eine klare Aus-
[289]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
einanderſetzung über die mit den gebrauchten Worten verbundenen
Begriffe; der Gedankengang bleibt daher vielfach unklar und
ſchwankend. Trotzdem iſt leicht zu erkennen, daß beide einander
in allen weſentlichen Puncten widerſprechen, wobei jedoch ge-
wöhnlich Link1) das Richtige oder wenigſtens das Richtigere
trifft. So leugnet z. B. Rudolphi überhaupt die vegetabiliſche
Natur der Pilze und Flechten, indem er zwiſchen ihren Hyphen
und dem pflanzlichen Zellgewebe durchaus keine Aehnlichkeit findet
(jene Pflanzen läßt er durch Urzeugung entſtehen); ſogar be-
treffs der Conferven ſagt er, das Mikroſkop habe ihm Nichts
gezeigt, was mit dem Pflanzenbau übereinſtimme; offenbar ein
Zeichen ſchlechter Beobachtung oder aber der Unfähigkeit, das
Geſehene zu begreifen. Link dagegen nimmt alle Thallophyten
für Pflanzen, erkennt, daß die Flechten- und Pilzfäden aus
Zellen beſtehen und daß wenigſtens bei manchen Algen Zellen
vorkommen. ‒ Rudolphi lobt gleichzeitig Wolff's und
Sprengel's Anſicht vom Zellgewebe, obgleich beide einander
Sachs, Geſchichte der Botanik. 19
[290]Unterſuchung des fertigen
direct widerſprechen und obgleich er Sprengel's ſonderbare
Zellbildungstheorie unverändert aufnimmt. Link dagegen erklärt
ſich aus guten Gründen gegen Sprengel's Theorie, indem er
nachweiſt, daß deſſen für junge Zellen gehaltene Bläschen Stärke-
körner ſind; freilich läßt er dagegen die neuen Zellen zwiſchen
den älteren entſtehen. ‒ Rudolphi meint, die Zellen münden
oft in einander, wie der Uebergang gefärbter Flüſſigkeiten deut-
lich beweiſe; Link behauptet, die Zellen ſeien geſchloſſen und
beweiſt dieſe Behauptung treffend durch das Vorkommen von
Zellen mit farbigem Saft mitten im farbloſen Gewebe. ‒ Ru-
dolphi läßt die Spalte der Spaltöffnungen von einer rund-
lichen Umfaſſung umgeben ſein, die er ohne vieles Bedenken für
einen Schließmuskel hält, da ſich die Spalten erweitern und
verengern. Viel beſſer hält Link die Umgebung der Spalte
für eine Zelle oder für eine Gruppe von Zellen. ‒ Rudolphi
kennt als Luftwege in den Pflanzen nur die großen Höhlen in
hohlen Stengeln und im Gewebe der Waſſerpflanzen; Link er-
klärt dieſelben für Lücken, welche durch verſchiedenes Wachsthum
der Gewebezellen entſtehen. ‒ Bei Rudolphi bezeichnet das
Wort Gefäß nicht nur die Gefäßformen des Holzes, ſondern auch
die Milchgefäße und Harzgänge und auf die Milchgefäße trägt
er ſogar die Malpighiſche Anſicht vom Bau der Spiralge-
fäße über. Link bezeichnet nur die im Holz liegenden Röhren
als Gefäße, indem er die verſchiedenſten Formen derſelben als
Spiralgefäße auffaßt; die Milchgefäße, Harzgänge u. dgl. ſchließt
er vom Begriff der Gefäße aus und zwar inconſequenter Weiſe,
da er mit Rudolphi annimmt, der Begriff des Gefäßes liege
darin, daß es wie bei den Thieren ein Nahrungsſaft führender
Canal ſei.
Bei ſo vielen Widerſprüchen der beiden Preisſchriften ſtim-
men dieſe jedoch darin überein, daß ſie die alte Malpighi'ſche
Anſicht vom Dickenwachsthum der Stämme annehmen, wonach
die neuen Holzlagen aus den inneren Baſtſchichten entſtehen,
indem gleichzeitig zwiſchen den Baſtzellen, die auch hier mit den
Holzfaſern für identiſch gehalten werden, neue Spiralgefäße ent-
[291]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſtehen und zwar, wie Link ausdrücklich ſagt, aus Säften, welche
ſich zwiſchen die Baſtzellen ergießen.
Es iſt ſchwer begreiflich, wie zwei Abhandlungen, welche
einander in der angegebenen Weiſe widerſprachen, gleichzeitig mit
dem Preis gekrönt werden konnten, noch ſchwerer begreiflich aber
wie man den großen Unterſchied zwiſchen der verſtändigen und
wohlgeordneten Darſtellung Link's und der ganz kritikloſen,
überall mehr auf alte Autoritäten als auf eigene Beobachtung
ſich ſtützenden Darſtellung Rudolphi's überſehen konnte. Un-
zweifelhaft iſt übrigens, daß auch die viel beſſere Arbeit Link's
der Schrift Bernhardi's nachſteht, wenn man nicht etwa die
größere Ausführlichkeit der erſteren, die Häufung der Beobacht-
ungen und die Beleſenheit Link's für einen weſentlichen Vor-
zug halten will. Die Abbildungen, ſowohl bei Link, wie
bei Rudolphi, ſind weniger gut als die Bernhardi's.
Die von den Göttinger Preisrichtern mit dem Acceſſit
bedachte Schrift von L. C. Treviranus1) ſteht an Umfang
hinter den beiden andern weit zurück, die Form der Darſtellung
19*
[292]Unterſuchung des fertigen
iſt viel weniger gewandt als bei Link, ſogar recht unbeholfen.
Aber ſchon die viel beſſeren Abbildungen zeigen, daß Trevira-
nus genauer als beide Mitbewerber beobachtet hatte und was
der kleinen Schrift trotz der unſchönen Darſtellungsform einen
hervorragenden Werth gab, waren die entwicklungsgeſchichtlichen
Geſichtspuncte, auf welche Treviranus entſchiedener als jene,
Werth legte und welche ihn in Bezug auf einige der fundamen-
talſten Fragen der Phytotomie zur Aufſtellung von Anſichten
veranlaßten, in welchen man die erſten Keime der ſpäter von
Mohl ausgebildeten Theorieen findet. Treviranus' Anſicht
von der Entſtehung des Zellgewebes war im Weſentlichen die
von Sprengel aufgeſtellte, alſo jedenfalls eine ſehr mißglückte,
das hinderte jedoch nicht, daß ſeine Beobachtungen über die Zu-
ſammenſetzung des Holzes und die Natur der Gefäße ſo gut und
richtig waren, als bei dem damaligen Zuſtand der Mikroſkope
erwartet werden durfte. Eine Entdeckung von beträchtlichem
Werth war zunächſt die Auffindung der Interzellularräume im
parenchymatiſchen Gewebe, deren Werth allerdings dadurch ge-
ſchmälert wurde, daß Treviranus dieſe Gänge mit Saft er-
füllt ſein ließ, deſſen Bewegung er ſogar beſchrieb. Die Holz-
faſern entſtehen ſeiner Meinung nach durch ſtarke Ausdehnung
von Bläschen in die Länge. Betreffs der Natur der Gefäße
vertheidigte Treviranus zunächſt die Anſicht Bernhardi's,
daß die Spiralfaſer der abrollbaren Spiralgefäße nicht um einen
häutigen Schlauch herumgewunden ſei, ſondern von einem ſolchen
umgeben werde. Gegen Bernhardi hebt er die Eigenartigkeit
der punctirten Gefäße oder poröſen Holzröhren im Gegenſatz zu
den falſchen Tracheen oder Treppengefäßen, hervor, deren Bau
er bei den Farnen richtiger beſchrieb. Mirbel's Anſicht, wo-
nach die Tüpfel der punctirten Gefäße Löcher ſeien, umgeben
von einem aufgeworfenen drüſigen Rand, lehnte Treviranus
ab, indem er ſie für Körner oder Kügelchen erklärte. Dieſem
Irrthum gegenüber war es aber ein beträchtlicher Fortſchritt, daß
Treviranus die Entſtehung der getüpfelten Holzgefäße aus
vorher von einander abgegrenzten Zellen nicht blos vermuthete,
[293]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſondern durch Beobachtung nachwies, indem er zeigte, daß die
Glieder derartiger Gefäße anfangs wirklich durch ſchiefe Quer-
wände getrennt ſind, welche ſpäter nicht mehr aufgefunden wer-
den. Doch wurde dieſe richtige Beobachtung dadurch getrübt,
daß Treviranus gleich den bisher genannten Phytotomen
das Holz durch Verwandlung des Baſtes entſtehen ließ und
demzufolge annahm, die Holzgefäße entſtünden aus Baſtfaſern,
welche ſich beträchtlich ausdehnen, nachdem ſie ſich in eine gerade
fortlaufende Kette an einander geſetzt haben; die Ungleichheiten,
welche aus dem ſchiefen prosenchymatiſchen Anſatz derſelben ent-
ſtehen, verſchwänden allmählich, die Grenzen der einzelnen Glieder
eines Gefäßes ſeien auch ſpäter noch an ſchiefen Querſtrichen
wahrzunehmen. Die Scheidewände, welche an dieſen Stellen ur-
ſprünglich vorhanden ſeien, ſollten durch Ausweitung der Höhlungen
verſchwinden, ſo, daß die einzelnen Glieder zuſammen einen kon-
tinuirlichen Canal bilden. Um das Verſchwinden einer Quer-
wand zwiſchen zwei benachbarten Zellen zu erläutern, verweiſt
Treviranus ſehr treffend, ja in überraſchender Weiſe auf die
Bildung des Copulationſchlauches der Spirogyren. Die von
Sprengel, Link und Rudolphi vertretene Anſicht, wonach
die verſchiedenen Gefäßformen aus ächten Spiralgefäßen ent-
ſtehen ſollen, weiſt Treviranus in Uebereinſtimmung mit
Bernhardi zurück; er habe die Treppengänge bei Farnen
ſchon im jüngſten Zuſtand als ſolche und nicht als Spiralgefäße
gefunden; für ihn habe es große Wahrſcheinlichkeit, daß die
getrennten Querſtreifen der falſchen Spiralgefäße (Treppengänge)
ebenſo wie die Tüpfel der punctirten Gefäße an den Wänden
membranöſer Faſerſchläuche ſich bilden und ebenſo ließ er die
wahren Spiralgefäße aus dünnhäutigen langen Zellen entſtehen,
auf deren Innenſeite das Spiralband ſich bildet, wobei er die
Glieder der jungen Spiralgefäße ſehr treffend mit den Schleuder-
zellen der Jungermannien vergleicht. Wir finden hier alſo
die erſten beſtimmteren Andeutungen einer Theorie vom Dicken-
wachsthum der Zellwände, welche ſpäter ebenſo wie die Ent-
ſtehung der Gefäße aus Zellreihen von Mohl weiter ausgeführt
[294]Unterſuchung des fertigen
und beſſer begründet wurde. Am Schluß der Schrift wird die
Hiſtologie der Kryptogamen, Monokotylen und Dikotylen ver-
gleichend und ebenfalls beſſer und klarer behandelt als in den
entſprechenden Capiteln, ſeiner Mitbewerber.
So ſchwach auch im Ganzen genommen die entwicklungs-
geſchichtlichen Momente in Treviranus' Darſtellung der Ge-
webelehre waren, erkannte doch Mirbel1) in ihm den gefährlichſten
Gegner ſeiner Theorie und an ihn, nicht an ſeine anderen deut-
ſchen Widerſacher, Sprengel, Link, Rudolphi richtete er
einen offenen Brief, in welchem er ſeine früher ausgeſprochenen
Anſichten vertheidigte. Dieſer Brief iſt der erſte Theil eines
umfangreicheren, 1808 erſchienenen Werkes: Exposition et de-
fense de ma theorie de l' organisation végétale, in welchem
Mirbel mit großer ſtyliſtiſcher Gewandtheit und auf Grund
mehr vielſeitiger, als tiefer Beobachtung die Einwendungen ſeiner
Gegner zu widerlegen und ſeine Theorie des Pflanzengewebes
von Neuem zu begründen ſucht, indem er zugibt, daß ſeine
früheren Abhandlungen manches Fehlerhafte enthalten, aber auch
verlangt, daß man ſeine Anſicht als ein Ganzes behandle und
[295]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
nicht an einzelne Ausdrücke ſich ſtoße. Im Weſentlichen iſt
Mirbel's Vorſtellung von der inneren Struktur der Pflanzen
die von Caspar Friedrich Wolff aufgeſtellte. Das Erſte
und die Fundamentalidee ſei, daß die ganze vegetabiliſche Or-
ganiſation von einem und demſelben, in verſchiedener Weiſe
modificirten Gewebe gebildet ſei. Die Zellhöhlen ſeien nur
Hohlräume von verſchiedener Form und Ausdehnung in einer
homogenen Grundmaſſe, bedürfen alſo nicht, wie Grew ange-
nommen, eines Fadenſyſtems, um unter einander zuſammenge-
halten zu werden. Eine Ausnahme machen nur die Tracheen,
von denen Mirbel ſehr im Gegenſatz zu der viel richtigeren
Anſchauung Treviranus' ſagt, es ſeien ſchmale, ſchraubig ge-
wundene Lamellen, die in das Gewebe eingeſchoben ſind und
mit dieſem nur an ihren beiden Enden zuſammenhängen. Frage
man nun, wie in einem derartigen Zellengewebe ein Saftaus-
tauſch möglich ſei, ſo könne man von vorneherein nicht leugnen,
daß die häutige Subſtanz der Pflanzen von unzähligen, unſicht-
baren Poren durchbohrt ſei, durch welche die Flüſſigkeiten dringen.
Die Natur habe aber auch ſchneller wirkende und kraftvollere
Mittel in den größeren Poren, welche mit Hülfe des Mikroſkops
ſichtbar ſind. Wie nun durch dieſe ſichtbaren Poren die Flüſſig-
keiten in Bewegung geſetzt werden, ließ Mirbel unerörtert, wie
man ſich damals überhaupt über dergleichen mechaniſche Schwie-
rigkeiten leicht hinwegſetzte, weil im Hintergrund die Lebenskraft
als bewegendes Agens ſtand. Die von Sprengel ihm ge-
machte Zumuthung, daß er Poren und Körner verwechſelt habe,
weiſt Mirbel mit dem Hinweis auf ſeine Abbildungen lebhaft
zurück; er habe bei den punctirten Gefäßen auf der Außenſeite
der Wände Erhabenheiten gezeichnet, in jeder derſelben aber eine
Oeffnung, welche ſeine Gegner eben einfach nicht geſehen hätten;
die Frage, ob dieſe Erhabenheiten auf der Innen- oder Außen-
ſeite der Gefäßwand liegen, hat bei Mirbel's Auffaſſung von
der Einfachheit der Scheidewände eigentlich keinen Sinn, es kann
ſich bei ihm nur darum handeln, ob die durchbohrten Hervor-
ragungen auf der einen oder der anderen Seite der Wand
[296]Unterſuchung des fertigen
liegen. Treviranus, der die Poren geleugnet, verweiſt er
auf ſeine Beſchreibung der Treppengefäße, wo er die den Poren
entſprechenden Spalten ſelbſt geſehen habe.
Dieſen Fundamentalfragen gegenüber haben die weiteren
Ausführungen Mirbel's über verſchiedene Einzelheiten für uns
kein weiteres Intereſſe. Im Zuſammenhang ſtellte Mirbel ſeine
geſammte Gewebelehre in Form von Aphorismen dar, welche
den zweiten Theil ſeines erwähnten Buches bilden. Von dem,
was er über die von ihm angenommenen fünf Arten von Ge-
fäßformen ſagt, iſt von hervorragenderem Intereſſe die Angabe,
daß bei ſeinen roſenkranzförmigen Gefäßen ſiebartig durchbohrte
Diaphragmen die einzelnen Glieder trennen. Den ſchwächſten
Theil der Phytotomie finden wir bei Mirbel ſowie bei ſeinen
Gegnern in der Beſchreibung der eigenen Gefäße (vasa propria)
zu denen auch er ebenſo die Milchzellen der Euphorbien, wie
die Harzgänge der Coniferen rechnet; daß dieſe letzteren Canäle
ſind, welche von einer eigenthümlichen Gewebeſchicht eingefaßt
werden, erkannte er übrigens deutlich genug. Dieſen Gewebe-
formen iſt der dritte Theil des Buches gewidmet, wo wir erfahren,
daß Mirbel zu ſeinen bündelförmig geordneten eigenen Gefäßen
nicht nur manche Formen von Siebröhrenbündeln, ſondern auch
ächte Baſtſtränge, wie die der Neſſeln und des Hanfes rechnet. —
Wie ſeine Gegner läßt auch Mirbel das Dickenwachsthum
holziger Stämme durch Verwandlung der inneren Baſtſchichten
in Holzlagen ſtattfinden; doch giebt er dieſer Anſicht eine andere
Wendung, welche ſich ſchon mehr der modernen Theorie des
Dickenwachsthums nähert: während der Vegetationszeit entwickle
ſich bei den Dikotylen an der Grenze von Holz und Rinde ein
feines Gewebe mit großen Gefäßen, welche die Maſſe des Holz-
körpers vermehren, während andererſeits ein lockeres Zellgewebe
entſtehe, welches dazu beſtimmt iſt, die beſtändigen Verluſte der
äußeren Rinde zu erſetzen. Für die ſpäteren Phytotomen, welche
mit dem Worte Cambium eine dünne, beſtändig Holz und Rinde
erzeugende Gewebeſchicht bezeichneten, mußte Mirbel's ohnehin
ſehr unklare Anſicht vom Dickenwachsthum um ſo unklarer wer-
[297]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
den, als er damals mit dem Worte Cambium nicht etwa die
ſpäter ſo genannte Gewebeſchicht, ſondern einen ſehr „ausgear-
beiteten und gereinigten Saft“ verſtand, welcher zur Ernährung
der Pflanze beſtimmt, alle Membranen durchdringt; man ſehe
dieſen Cambiumſaft da erſcheinen, wo er neue Röhren und
Zellen (im Sinne der Wolff'ſchen Theorie) hervorbringt. Die
Zellen zeigen ſich anfangs als ſehr kleine Kügelchen, die Röhren
als ſehr dünne Linien; beide erweitern ſich und zeigen nach und
nach Poren, Spalten u. ſ. w. Alſo im Weſentlichen die
Wolff'ſche Lehre, welche Mirbel ſpäter bei der Keimung der
Dattelpalme, mit Hülfe ſtärkerer Mikroſkope gegen die deutſchen
Phytotomen weiter zu begründen ſuchte.
Mit mehr Nachdruck als die deutſchen Phytotomen jener
Zeit machte Mirbel den Gedanken geltend, daß alle Gewebe-
formen der Pflanze ſich urſprünglich aus jungem Zellgewebe
entwickeln, ein Gedanke, den übrigens ſchon Sprengel ange-
regt hatte und welcher für Mirbel aus der Wolff'ſchen
Theorie von ſelbſt folgte. Ganz wie bei C. F. Wolff findet
man auch bei Mirbel neben zu raſcher Beobachtung ein all-
zuſtarkes Vorwalten theoretiſcher Begründung des Geſehenen;
wie Wolff iſt auch Mirbel allzu raſch mit weitgehenden Er-
klärungen bei der Hand, wo zunächſt nur fortgeſetzte Beobachtung
entſcheiden konnte.
Treviranus unterließ es nicht, auf die Polemik Mir-
bel's wenn auch ſpät zu antworten, indem er ſeinen „Beiträgen
zur Pflanzenphyſiologie“ (Göttingen 1811) einen Aufſatz „Be-
obachtungen im Betreff einiger ſtreitigen Puncte der Pflanzen-
phyſiologie“ einverleibte, wo er die ſtreitigen Fragepuncte nicht
blos Mirbel, ſondern auch Link und anderen gegenüber, ge-
ſtützt auf neue Beobachtungen, wieder aufnahm. Es iſt nicht zu
leugnen, daß Treviranus in dieſer kleinen Schrift abermals
einige wichtige Fragen ihrem Abſchluß näher brachte; nament-
lich lieferte er hier einen guten Beitrag zur Kenntniß der ge-
tüpfelten Gefäße, über welche er nunmehr ſeine Anſicht der
Mirbel's näherte; auch wies er auf die blaſenartige Natur
[298]Unterſuchung des fertigen
der voneinander nicht ſelten trennbaren Pflanzenzellen hin, hob
das Vorkommen ächter Spiralgefäße in der Umgebung des Markes
auch bei den Coniferen hervor, entdeckte die Spaltöffnungen
auf der Fruchtkapſel der Laubmooſe und dergl. mehr. Betreffs
ſeiner, von Sprengel entlehnten Zellbildungstheorie ſuchte er
ſich jedoch durch eine Spitzfindigkeit, aus der Verlegenheit zu
ziehen, indem er nachwies, daß die Stärkekörner aus den Coty-
ledonen der Bohnen zwar verſchwinden, ohne daſelbſt neue Zellen
zu erzeugen, ſich aber auflöſen, um dann an anderen Orten der
Keimpflanze als flüſſiges Material zur Zellbildung zu dienen,
womit natürlich die Sprengel'ſche Theorie aufgegeben war;
als einen directen Beweis für dieſelbe betrachtete er jedoch die
Entſtehung der Gonidien in den Zellen des Meſſernetzes und
deren Ausbildung zu neuen Netzen.
Mirbel und ſeine deutſchen Gegner bewegten ſich im
Ganzen noch in einem Gedankenkreiſe, der durch die Ideen
Malpighi's, Grew's, Hedwig's und Wolff's geſchaffen
worden war, wenn auch zugegeben werden muß, daß beſonders
die Beobachtungen von Treviranus ſchon andere Geſichts-
puncte eröffneten. Viel weiter jedoch trat aus dieſen älteren
Anſchauungen ſchon 1812 Johann Jokob Paul Moldenhawer1)
in ſeinen inhaltreichen „Beiträgen zur Anatomie der Pflanzen“
heraus. Viel ſelbſtſtändiger als einer der bisher Genannten
ſtellte er ſich den älteren Anſichten gegenüber; indem er auf
ſehr ausführliche, vielſeitige und methodiſche Beobachtungen ge-
ſtützt, auch offenbar mit einem viel beſſeren Mikroſkop verſehen,
ſich zunächſt an das ſelbſt Geſehene hielt, danach ſeinen Stand-
punct wählte, die Anſichten ſeiner Vorgänger ausführlich und
mit einer unverkennbaren Ueberlegenheit kritiſirte, wobei er eine
ebenſo eingehende Literaturkenntniß, wie vielſeitige phytotomiſche
Erfahrung an den Tag legte. Er faßte die Fragepuncte ſcharf
in's Auge und widmete jedem derſelben angeſtrengte Beobachtung
[299]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
und eine ausführliche klare Beſprechung. Die Sorgfalt der
Unterſuchung und die größere Vorzüglichkeit ſeines Inſtruments
erkennt man ſofort an den Abbildungen Moldenhawer's, un-
zweifelhaft den beſten, welche bis zum Jahre 1812 angefertigt
worden ſind. Die Art, die Phytotomie zu behandeln, erinnert
bei Moldenhawer vielfach an Mohl's Behandlungsweiſe,
auch die Abbildungen, obgleich nicht von ihm ſelbſt gemacht,
thun dasſelbe. Doch müßte man richtiger ſagen, Mohl's Be-
handlungsweiſe erinnert an die von Moldenhawer, denn bei
der großen Achtung, welche Mohl zumal in ſeinen früheren
Schriften für ihn an den Tag legt, iſt kaum daran zu zweifeln,
daß er ſich an deſſen Beiträgen gebildet, aus ihnen zuerſt den
Ernſt und die Sorgfalt, welche phytotomiſche Arbeiten erheiſchen,
kennen gelernt hat.
Es wurde ſchon erwähnt, daß ein weſentlicher Fortſchritt,
den die Pflanzenphyſiologie Moldenhawer verdankt, darin
lag, daß er zuerſt ſowohl die Zellen als auch die Gefäße durch
Fäulniß in Waſſer und nachheriges Zerdrücken und Zerfaſern
iſolirte, ein Verfahren, welches in neuerer Zeit wenig Anwendung
findet, obgleich es auch jetzt noch ſelbſt neben der ſog. Schultze'-
ſchen Maceration mit Vortheil angewendet werden kann, beſon-
ders wenn man dieſe Präparationsmethode mit derſelben Sorg-
falt und Umſicht wie Moldenhawer anwendet. Die Iſolirung
der Elementarorgane der Pflanzen durch Maceration in Waſſer
mußte Moldenhawer ſofort in den ſtrengſten Gegenſatz gegen
Mirbel ſtellen, der mit Wolff die Einfachheit der Scheide-
wände zwiſchen je zwei Zellen annahm, während Moldenhawer
durch ſein Verfahren die Zellen und Gefäße nach der Iſolirung
als geſchloſſene Schläuche und Säcke vorfand, die alſo anſcheinend
nothwendig in der lebenden Pflanze ſelbſt ſo aneinander liegen
mußten, daß die Wand zwiſchen je zwei Zellräumen von einer
doppelten Hautlamelle gebildet wurde und Moldenhawer hebt
ausdrücklich hervor, daß dies auch in ſehr dünnwandigem
Parenchym der Fall ſei. Dieſes Ergebniß blieb unanfecht-
bar, ſo lange man nicht in der Lage war, aus der Ent-
[300]Unterſuchung des fertigen
wicklungsgeſchichte des Zellgewebes die urſprüngliche Einfachheit
der Scheidewände abzuleiten, oder ſo lange man nicht aus ſehr
ſtarken Vergrößerungen die wahre Struktur der Scheidewände
und ihre ſpätere Spaltung ſowie die Differenzirung der urſprüng-
lich einfachen Wand in zwei trennbare Lamellen darthun konnte.
War die auf das Macerationsergebniß baſirte Anſicht auch noch
nicht die richtige, ſo trat ſie doch betreffs der fertigen Zuſtände
der Wahrheit näher, als die Wolff-Mirbel'ſche Annahme
und was noch mehr galt, man war in der Lage, die Form der
einzelnen Elementarorgane und die Skulptur ihrer Wände viel
genauer als bisher zu ſtudiren. Zwar hatte ſchon Link 1809
(Nachträge p. 1) die Zellen gelegentlich durch Knochen iſolirt, auch
hatte 1811, wie erwähnt, Treviranus auf die Iſolirbarkeit
mancher Parenchymzellen im natürlichen Zuſtand aufmerkſam
gemacht; aber keiner von beiden führte dieſe Wahrnehmungen
methodiſch weiter aus und vor Allem behält Moldenhawer
das Verdienſt, die Gefäße und Holzzellen zuerſt iſolirt zu haben.
Wie es aber zu gehen pflegt, hat freilich auch er nicht alle Con-
ſequenzen, zu denen ſeine Präparationsmethode berechtigte, wirk-
lich gezogen. Moldenhawer's Darſtellung, welche im Grunde
die ganze Phytotomie umfaßt, kehrt immer wieder zu einer be-
ſtimmten Pflanzenart, dem Mais zurück, dieſer liefert bei jeder
zu behandelnden Frage den Ausgangspunct; die dort gewonnenen
Ergebniſſe ſind die feſten Stützpuncte, an welche er ſich bei der
Betrachtung der verſchiedenſten anderen Pflanzen lehnt, um ſich
ſodann in ſehr ausführliche vergleichende Betrachtungen einzu-
laſſen. Dieſe Behandlungsweiſe war bei dem damaligen Zuſtand
der Wiſſenſchaft ſowohl für die Forſchung, wie für die belehrende
Darſtellung ſehr glücklich gewählt; ein beſonders glücklicher Griff
aber war es, daß Moldenhawer zu dieſem Zweck gerade die
Maispflanze wählte: die früheren Phytotomen hatten ſich ge-
wöhnlich an die dikotylen Stämme gewendet, mit Vorliebe ſogar
an ſolche mit compacten Holzkörper und komplicirt gebauter Rinde,
Pflanzen, deren Unterſuchung auch für einen geübten Beobachter
mit gutem Mikroskop noch heute Schwierigkeiten darbietet; ge-
[301]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
legentlich hatte man ſich wohl auch an die Anatomie des Kürbis-
ſtammes gehalten, deſſen große Zellen und Gefäße die geringe
Vergrößerung unterſtützten, wobei jedoch wieder manche Abnor-
mitäten dieſer Pflanze ſtören mußten; die Monokotylen hatten
die bisherigen Beobachter gleich den Gefäßkryptogamen erſt in
zweiter Linie beachtet. Indem nun Moldenhawer eine mono-
kotyle, raſch wachſende Pflanze mit ſehr großzelligem Gewebe
von verhältnißmäßig ſehr einfachem Bau zur Grundlage ſeiner
Unterſuchung machte, mußte ihm ſchon aus dieſem Grunde vieles
klarer werden, als ſeinen Vorgängern. Vor Allem aber fand er
bei dieſer Pflanze die faſerigen Elementarorgane mit den Gefäßen
in Bündeln vereinigt, welche ſich von dem ſie umgebenden groß-
zelligen Parenchym ſcharf abgrenzen. So trat das Eigenartige
und der Begriff des Gefäßbündels den anderen Gewebeformen
gegenüber deutlich hervor; es war nicht mehr der Unterſchied
von Rinde, Holz und Mark, der den früheren Phytotomen als
Grundlage der hiſtologiſchen Orientirung diente, der aber an ſich
nur ein ſecundäres Ergebniß der ſpäteren Ausbildung gewiſſer
Pflanzentheile iſt; indem Moldenhawer von vornherein das
Hauptgewicht auf den Gegenſatz von Gefäßbündel und Parenchym
legte, traf er damit eine hiſtologiſche Thatſache von mehr funda-
mentaler Bedeutung, durch deren richtige Würdigung ſeitdem
erſt eine durchgreifende Orientirung in der Hiſtologie der höheren
Pflanzen möglich geworden iſt. Denn während demjenigen, der
von der Betrachtung der Rinde, des Holzes und des Markes
älterer dikotyler Stengel ausgeht, der Bau der Monokotylen und
Farne abnorm und ganz eigenartig erſcheinen muß, iſt dagegen
dem, der mit Moldenhawer in den Gefäßbündeln der
letzteren ein beſonderes hiſtologiſches Syſtem erkannt hat, der
Weg geöffnet, auch bei den Dikotylen dasſelbe aufzuſuchen, die
ſecundäre Erſcheinung von Holz und Rinde auf die primäre
Exiſtenz von Gefäßbündeln zurückzuführen. Und Moldenhawer
bahnte dies in der That an, indem er zuerſt darauf hinwies,
wie das Wachsthum eines dikotylen Stengels aus dem Bau und
der Lagerung der anfangs iſolirten Gefäßbündel verſtanden wer-
[302]Unterſuchung des fertigen
den kann (Beiträge p. 49 ff). Dieſes Verfahren aber mußte
ihn nothwendig zur Abweiſung der Malpigh'ſchen Theorie
vom Dickenwachsthum holziger Stämme führen, einer Theorie,
die, wie wir geſehen haben von Grew bis auf Mirbel ſämmt-
liche Pflanzenanatomen angenommen hatten; wenn auch Bern-
hardi und Treviranus ſchwache Verſuche machten, ſie wenig-
ſtens zum Theil zu entkräften, ſo war doch Moldenhawer
der erſte, der die Entſtehung der äußeren Holzſchichten aus
inneren Baſtlagen definitiv beſeitigte und die erſte wirklich
brauchbare Grundlage für die ſpätere richtige Theorie des nach-
träglichen Dickenwachsthums lieferte (p. 35). Die Beſeitigung
dieſes alten Irrthums iſt ſchon an ſich ein ſehr bedeutendes Er-
gebniß, welches ihm, abgeſehen von allen übrigen Verdienſten,
eine ehrenvolle Stelle in der Geſchichte der Botanik ſichern
mußte.
Dieſen Lichtſeiten ſollte jedoch auch der Schatten nicht
fehlen; alle Sorgfalt der Beobachtung, alle kritiſche Behandlung
ſchützte auch ihn nicht vor einem Vorurtheil und den üblen Folgen
desſelben. Nachdem Moldenhawer nämlich die Elementar-
organe durch Maceration iſolirt hatte, entſtand für ihn die Frage,
wie nun der feſte Zuſammenhang derſelben in der lebenden
Pflanze zu denken ſei. Da glaubte er nun ebenſo wie ſpäter
auch Mohl, Schacht u. a. eines beſonderen Bindemittels zu
bedürfen, verfiel aber nicht wie dieſe auf eine Matrix, welcher
die Zellen eingebettet ſind, oder auf ein Klebemittel, welches ſie
zuſammenhält, ſondern auf eine viel wunderliche Theorie, welche
ſtark an Grew's Fadengewebe erinnert und wie bei dieſem zum
Theil auf fehlerhaften Wahrnehmungen beruht, welche zu raſch
als Grundlage einer Theorie benutzt wurden, die nun ihrerſeits
die weiteren Beobachtungen trübte. Moldenhawer glaubte
nämlich, daß die Zellen und Gefäße durch ein äußerſt feines
Netzwerk von Fäſerchen umſponnen und zuſammengehalten werden;
in manchen Fällen glaubte er dieſe Faſern wirklich zu ſehen,
für ſolche ſprach er auch die Verdickungsleiſten der bekannten
Zellen von Sphagnum an; und was faſt noch mehr Wunder
[303]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
nehmen muß, er ſcheint auch die verdickten Längs- und Quer-
kanten von Zellen und Gefäßen für ſolche Faſern gehalten zu
haben. Der üble Eindruck dieſer Theorie mußte noch dadurch
erhöht werden, daß Moldenhawer ſein Phantaſiegebilde von
Faſernetzen, welche die Zellen und Gefäße zuſammenhalten ſollen,
mit dem längſt anders gebrauchten Namen Zellengewebe belegte,
während er das Parenchym ſelbſt als zelligte Subſtanz bezeichnete
eine Nomenclatur, in welcher ihm glücklicherweiſe Niemand ge-
folgt iſt, die aber gewiß dazu beigetragen hat, Moldenhawer's
große Verdienſte um die Phytotomie ſpäter in Mißkredit zu
bringen.
Seine „Beiträge zur Anatomie der Pflanzen“ zerfallen in
zwei Hauptabſchnitte, deren erſter von den Umgebungen der
Spiralgefäße, der zweite von dieſen ſelbſt handelt.
Im erſten werden die Theile des Gefäßbündels im Mais-
ſtamme, bezüglich ihrer Lagerung und Geſammtform ſehr gut
beſchrieben; zunächſt die aus ſtark verdickten Faſern beſtehende
Hülle des ganzen Bündels richtig erkannt, die eigene Membran
jeder dieſer Zellen und ihre allſeitige Geſchloſſenheit hervorge-
hoben, ihre Aehnlichkeit mit dem Baſt und den faſerigen Ele-
menten des dikotylen Holzes betont. Gelegentlich wird auch der
gefächerten Holzzellen und der reihenförmig geordneten Holz-
parenchymzellen gedacht. — Unter dem Namen der fibröſen
Röhren faßte er die Zellen der Sklerenchymſcheide vieler Gefäß-
bündel, den ächten Baſt und die Holzfaſern zuſammen, welch'
letztere nach Moldenhawer dem Coniferenholze fehlen. Das
nachträgliche Dickenwachsthum der Rinde und des Baſtes er-
läuterte er an der Weinrebe, wo er auch die Markkrone und
die Spiralgefäße derſelben richtig erkannte; bei krautigen Diko-
tylen fand er die Gefäßbündel aus einem Baſt- und einem
Holztheil zuſammengeſetzt und den compacten Holzkörper der
eigentlichen Holzpflanzen ließ er durch Verſchmelzung der Holz-
theile dieſer einzelnen Bündel entſtehen.
Bei der Behandlung des parenchymatiſchen Zellgewebes
wird die von Sprengel und Treviranus angenommene
[304]Unterſuchung des fertigen
Entſtehung junger Zellen aus Inhaltskörnern der älteren mit
Nachdruck und guten Gründen abgewieſen, ebenſo die Wolff-
Mirbel'ſche Theorie beſeitigt, gegen Mirbel noch ganz be-
ſonders hervorgehoben, daß die Trennung fibröſer Röhren auch
da noch möglich ſei, wo auf dem Querſchnitt zwiſchen ihnen
keine Grenzlinie zu ſehen iſt. Ebenſo wie bei den dickwandigen
ſei auch bei den dünnwandigen Parenchymzellen die Scheidewand
doppelt und die Zellhaut allſeitig geſchloſſen. „Nach dieſen Beob-
achtungen, fährt er p. 86 fort, beſteht alſo die zelligte Subſtanz
aus einzelnen verſchloſſenen, kugelrunden, ovalen oder mehr oder
weniger länglichen, faſt cylindriſchen Schläuchen, welche durch den
gegenſeitigen Druck auf einander eine eckige und abgeplattete, den
Bienenzellen ähnelnde regelmäßige oder eine mehr oder weniger
unregelmäßige Geſtalt annehmen; ein ſolches Aggregat einzelner
Zellen (und darin hat er allerdings ganz Recht) hat nichts
Gemeinſchaftliches mit einem Gewebe, und der Name Zellgewebe
ſcheint daher weniger anpaſſend zu ſein als der Name der
zelligten, aus zellenförmigen Schläuchen beſtehenden, Subſtanz.“
— Weiterhin wird dann die Exiſtenz ſichtbarer Löcher in den
Zellwandungen gegen Mirbel abgewieſen, und hervorgehoben,
daß die Saftbewegung derſelben nicht bedürfe. Da ſich zwiſchen
Mirbel und ſeinen Gegnern der Streit um die Poroſität der
Zellwände auch gleichzeitig auf die Spaltöffnungen der Oberhaut
ausdehnte 1), inſoferne man nämlich die Spalten derſelben als
Oeffnungen in der als einfache Haut gedachten Epidermis annahm,
ſo ging Moldenhawer bei dieſer Gelegenheit genauer auf die
Anatomie der Spaltöffnungen ein, von denen er die erſten natur-
getreuen Beſchreibungen und Abbildungen lieferte, indem er beſon-
ders zeigte, daß die Spalte nicht, wie die meiſten bisherigen
Beobachter glaubten, von einem einfachen Hof umgeben ſei, ſondern
zwiſchen zwei Zellen liegt, daß alſo dieſe Spalte in keiner Weiſe
als ein Beiſpiel der Poroſität der Zellwände betrachtet werden
[305]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
könne, wie Mirbel geglaubt hatte; es mag hier eingeſchaltet
werden, daß der letztere ſpäter die Spaltöffnungen ſogar für
kurze, breite Haare hielt; erſt Amici 1824 und Treviranus
1821 zeigten an Querſchnitten der Spaltöffnungen deren wahren
Bau, der dann viel ſpäter von Mohl genau unterſucht wurde.
Auch Moldenhawer beſchäftigte ſich bei Gelegenheit dieſer
Unterſuchung mit der von Comparetti zuerſt beobachteten und
von den deutſchen Phytotomen mehrfach beſprochenen, auch in
neueſter Zeit mehrfach unterſuchten Fähigkeit der Spaltöffnungen,
ſich abwechſelnd zu öffnen und zu ſchließen. Dies Alles bei
Gelegenheit der Tüpfelbildung an den Zellwänden, über deren
wahre Natur Moldenhawer jedoch nicht in's Reine kam.
Wie für ſeine Vorgänger und viele Nachfolger ſind auch
für Moldenhawer die ſogenannten eigenthümlichen Gefäße
(vasa propria) ein Stein des Anſtoßes, inſofern er unter dieſem
Namen durch die Aehnlichkeit der Säfte verleitet, Gebilde der
verſchiedenſten Art zuſammenfaßt: auf eine ſehr gute Beſchreib-
ung des Weichbaſtes im Gefäßbündel der Maispflanze folgen
die Milchſaftſchläuche von Musa, die Milchzellen von Asclepias
die er falſch deutet, die richtiger erkannten Milchgefäße von
Chelidonium. Alle dieſe vasa propria nahm Molden-
hawer für zelligte Gefäße, welche aus in einander geöffneten
Schläuchen beſtehen; ſehr gut aber werden von ihnen die Ter-
pentingänge unterſchieden und einer derſelben von der Kiefer
richtig abgebildet, doch nimmt er innerhalb der den Kanal um-
grenzenden Zellreihen noch eine beſondere den Gang auskleidende
Haut an. Endlich geht er auf die Interzellularräume über,
welche er als Lücken in der zelligten Subſtanz auffaßt und an
Musa und Nymphaea erläutert. Die ſchon von Treviranus
entdeckten, das Parenchym durchziehenden engen Zwiſchenräume
beachtete Moldenhawer nicht weiter.
In dem zweiten Abſchnitt von den Spiralgefäßen werden
zunächſt alle im Gefäßbündel der Maispflanze enthaltenen Ge-
fäße als Spiralgefäße zuſammengefaßt, die verſchiedenen Formen
derſelben aber gut unterſchieden und beſonders darauf hingewieſen,
Sachs, Geſchichte der Botanik. 20
[306]Unterſuchung des fertigen
daß an einer und derſelben Gefäßröhre in verſchiedenen Theilen
ihres Verlaufs Ringe und Spiralen vorkommen, was übrigens
bereits Bernhardi entdeckt hatte. Die Iſolirung der Gefäße
gibt ihm Gelegenheit die Zuſammenſetzung derſelben aus ver-
ſchieden langen Gliedern beſſer als ſeine Vorgänger zu ſehen,
er beweiſt ausführlich die Exiſtenz einer geſchloſſenen dünnen
Gefäßmembran, deren Verdickungen er jedoch wie Hedwig auf
der Außenſeite ſitzen läßt. Die Schwierigkeiten der gehöften
Tüpfel hat Moldenhawer ebenſowenig, wie ſpäter Mohl und
Schleiden überwunden; auch hier war es erſt die Entwicklungs-
geſchichte, welche Auskunft über den wahren Bau dieſer Gebilde
gab (Schacht 1860).
Es wurde ſchon in der Einleitung hervorgehoben, daß
Moldenhawer die erſte Periode des zwiſchen 1800 und 1840
liegenden Zeitraums gewiſſermaßen abſchließt, nicht nur inſoferne
die Mehrzahl der bisher ventilirten Fragen bei ihm zu einem
gewiſſen Abſchluß gelangt, ſondern auch äußerlich, indem auf
ſeine Beiträge nunmehr eine Reihe von Jahren folgt, innerhalb
deren ein namhafter Fortſchritt auf dem Gebiet der Phytotomie
nicht zu verzeichnen iſt; zwar wurde in Kiefer's „Grundzügen
der Anatomie der Pflanzen“ 1815 eine zuſammenhängende Dar-
ſtellung der ganzen Phytotomie verſucht, die aber nicht nur
nichts weſentlich Neues bot, ſondern ſich ganz in den unfrucht-
baren Redensarten der damaligen Naturphiloſophie bewegte,
und ſelbſt ſo grobe Irrthümer, wie Hedwig's Lehre von
lymphatiſchen Gefäßen im Gewebe der Epidermis, wieder auf-
wärmte, die Mooſe aus Confervenfäden beſtehen ließ. Eine
wirkliche Bereicherung der Phytotomie war dagegen in Tre-
viranus 1821 erſchienen vermiſchten Schriften, beſonders Be-
treffs der Epidermis enthalten, ebenſo in Amici's Entdeckung
1823, daß die Interzellularräume der Pflanzen nicht Saft,
ſondern Luft enthalten und daß ebenſo die Gefäße vorwiegend
Luft führen. Die nach 1812 und vor 1830 fallenden weiteren
Publikationen Mirbel's, Schultze's, Link's, Turpin's
u. a. können wir hier ruhig übergehen, da es uns nicht auf
[307]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
eine Schilderung der Literaturzuſtände überhaupt, ſondern auf
den Nachweis wirklicher Fortſchritte ankommt.
Mit dem Ende der zwanziger Jahre beginnt die Thätigkeit
Meyen's und Mohl's und im Lauf der dreißiger Jahre
ſind beide die weit überwiegenden Hauptvertreter der Phytotomie,
wenn auch immerhin 1835 eine in vieler Beziehung verdienſtliche
Arbeit Mirbel's über die Marchantia polymorpha und die
Pollenbildung von Cucurbita fällt. Selbſt ein ſo umfang-
reiches Werk wie Treviranus' „Phyſiologie der Gewächſe“
1835-1838, in welchem auch die ganze Phytotomie behandelt
wird, können wir hier ruhig übergehen, da in demſelben trotz
mancher verdienſtlicher Einzelheiten die Phytotomie doch weſent-
lich unter den ſchon vor 1812 eröffneten Geſichtspuncten wieder
vorgetragen wird; dieſes umfangreiche und durch ſeine Literatur-
nachweiſungen ſehr brauchbare Werk war leider ſchon zur Zeit
ſeines Erſcheinens veraltet, denn ſchon ſeit 1828 war in die
Behandlung der Phytotomie mit Mohl's Arbeiten ein ganz
anderer Geiſt eingetreten.
Die beiden Männer, welche ſeit dem Schluß der zwanziger
Jahre bis 1840 als die Hauptvertreter der Phytotomie gelten
dürfen, Meyen und Mohl, ſtellen ſich aber in ihrer Bedeutung
für unſere Wiſſenſchaft ſehr verſchieden dar. Man kann den
weſentlichen Unterſchied vielleicht nicht treffender bezeichnen, als
wenn man darauf hinweiſt, daß Meyen's phytotomiſche Ar-
beiten gegenwärtig nur noch hiſtoriſches Intereſſe beanſpruchen
können, während auch die älteſten anatomiſchen Unterſuchungen
Mohl's von 1828-1840 noch keineswegs veraltet ſind, noch
jetzt als Quellen unſeres phytotomiſchen Wiſſens gelten, aus
welchen jeder noch heute ſchöpfen muß, der irgend einen Theil
der Phytotomie weiter bearbeiten will. Meyen's Anſichten
ſchließen ſich überall trotz ſeiner zahlreichen eigenen Unterſuchungen,
dem in der Göttinger Preisfrage vertretenen Gedankenkreiſe an,
obwohl er in ſeinen Beobachtungen weit über dieſen, ſelbſt über
Moldenhawer hinausgeht; für Mohl dagegen waren ſelbſt
anfangs die phytotomiſchen Anſichten jener Männer nicht mehr
20*
[308]Unterſuchung des fertigen
maßgebend; ſelbſt Moldenhawer und Treviranus gegen-
über nahm er ſofort eine ganz ſelbſtſtändige Stellung; länger
dauerte es allerdings, bis es ihm gelang, ſich auch von der
Autorität Mirbel's ganz frei zu machen. Aus den hier an-
gegebenen Gründen und weil Meyen's Thätigkeit ſchon 1840
durch den Tod unterbrochen wurde, während Mohl noch dreißig
Jahre länger die Phytotomie fördern half, werde ich hier zuerſt
von Meyen's Thätigkeit berichten.
Meyen1) zeichnete ſich durch eine außerordentliche Frucht-
barkeit als Schriftſteller aus. Schon mit 22 Jahren ſchrieb er eine
Abhandlung de primis vitae phaenomenis in fluidis 1826;
zwei Jahre ſpäter anatomiſch-phyſiologiſche Unterſuchungen über
den Inhalt der Pflanzenzellen und ſchon 1830 erſchien ſein
Lehrbuch der Phytotomie, welches die ganze Disziplin auf Grund
eigener Unterſuchungen und mit zahlreichen, für jene Zeit recht
ſchönen Abbildungen auf 13 Kupfertafeln behandelt. Seine
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit wurde ſodann durch eine in den
Jahren 1830-32 ausgeführte Weltumſeglung unterbrochen,
um in den letzten vier Jahren ſeines Lebens 1836-1849 zu
einer unglaublichen Produktivität ſich zu ſteigern; man begreift
kaum, wo Meyen die Zeit hernahm, um auch nur die mecha-
niſche Seite derſelben zu bewältigen; denn 1836 erſchien ſeine
von der Teyler'ſchen Geſellſchaft in Harlem gekrönte
Preisſchrift über die neueſten Fortſchritte der Anatomie und
Phyſiologie der Gewächſe, ein Quartband von 319 Seiten
mit 22 Kupfertafeln; die letzteren ſind ſchön gezeichnet, die
ſtyliſtiſche Darſtellung gewandt, der Inhalt des Werkes freilich
[309]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ziemlich flüchtig behandelt. Schon ein Jahr ſpäter, 1837 erſchien
der erſte Band ſeines „neuen Syſtems der Pflanzenphyſiologie“,
dem bis 1839 die beiden anderen folgten, ein ebenfalls an neuen
Beobachtungen und Abbildungen reiches Werk. Gleichzeitig mit
dieſen Arbeiten, 1836-39 gab er ausführliche, einen ſtattlichen
Band füllende Jahresberichte über die Reſultate der Arbeiten im
Felde der phyſiologiſchen Botanik heraus, nachdem er 1837 eine
Preisſchrift über die Sekretionsorgane und 1836 einen Grundriß
der Pflanzengeographie publicirt hatte; 1840 erſchien eine Ab-
handlung über Befruchtung und Polyembryonie und außerdem
hinterließ er die nach ſeinem Tode 1841 publicirte Pflanzen-
pathologie. Das Quantum dieſer zwiſchen 1836 und 1840
herausgegebenen, wenn auch theilweiſe ſchon vorher vorbereiteten
Arbeiten iſt ſo außerordentlich groß, daß der Verfaſſer den
innern Zuſammenhang der Thatſachen und dieſe ſelbſt im Ein-
zelnen unmöglich reiflich durchdacht haben kann. Das Studium
ſeiner Werke zeigt aber auch vielfach Ueberſtürzung in der Auf-
ſtellung neuer Anſichten, in Zurückweiſung oder Aufnahme fremder
Behauptungen; die Darſtellung iſt zwar überſichtlich und fließend,
von ächt naturwiſſenſchaftlichem Geiſt getragen; allein der Aus-
druck iſt oft ungenau, die Gedanken nicht ſelten unreif; häufig
wird das principiell Wichtige über unbedeutenden Nebendingen
überſehen. Dieſen durch die raſche Produktion bedingten Fehlern
gegenüber iſt aber ganz beſonders als Vorzug Meyen's her-
vorzuheben, daß er für Alles in der Phytotomie ein offenes
Auge hatte, Nichts unbeachtet ließ und immer darauf ausging,
die Wiſſenſchaft als ein zuſammenhängendes Ganze überſichtlich
darzuſtellen, den Leſer allſeitig zu orientiren, um ſo die Phyto-
tomie und Phyſiologie auch weiteren Gelehrtenkreiſen zugänglich
zu machen; in dieſem Sinne ſind auch ſeine ſchön und gewandt
gezeichneten mikroſkopiſchen Bilder zu rühmen; dieſe bieten dem
Leſer nicht, wie in den früheren phytotomiſchen Werken, kleine
Bruchſtücke, ſondern ganze Gewebemaſſen im Zuſammenhang ſo,
daß man einen Einblick in die Lagerung der verſchiedenen Ge-
webeſyſteme und ihrer Beziehungen unter einander gewinnt.
[310]Unterſuchung des fertigen
Ganz auffallend iſt es, wie ſehr ſich Meyen's Zeichnungen
von 1836 denen von 1830 gegenüber vervollkommnet haben,
obgleich er in beiden Fällen dasſelbe Mikroſkop und die gleiche
Vergrößerung von 220 benutzte.
Um zu erfahren, was Meyen zur Förderung der Phyto-
tomie ganz ſelbſtändig beigetragen hat, müſſen wir uns an ſeine
„Phytotomie“ von 1830 wenden; denn in ſeinen ſpäteren Werken,
beſonders auch im neuen „Syſtem der Phyſiologie“ von 1837
konnte er bereits die erſten durchſchlagenden Arbeiten Mohl's
benutzen, die nothwendig auf ſeine ſpäteren Anſichten einwirken
mußten, wenn Meyen auch immerhin mehr als Rivale und
Opponent Mohl's auftrat und dieſem gegenüber nicht nur
Treviranus und Link, ſondern auch einen Kieſer u. dergl.
wie gleichberechtigte Capacitäten behandelte. Wie er in ſeinen
ſpäteren Schriften Mohl's Leiſtungen widerwillig anerkannte,
die fundamentale Bedeutung derſelben überſah, ſo trat er in
ſeiner früheren Phytotomie 1830 auch vielfach gegen Molden-
hawer auf, um ihm gegenüber die Autorität Link's zur An-
erkennung zu bringen und mit Verwunderung lieſt man im
erſten Bande des neuen Syſtems eine Widmung an Link,
wo dieſer als „Gründer der deutſchen Pflanzenphyſiologie“ be-
zeichnet wird. Die Stellung eines Gelehrten zu ſeiner ganzen
Wiſſenſchaft findet ihren einfachſten und beſtimmteſten Ausdruck
ſicherlich in ſeinem Urtheil über die Verdienſte ſeiner Zeitgenoſſen
und Vorgänger; das eben Geſagte läßt daher ſchon ſchließen,
daß Meyen noch in der Hauptſache in dem Gedankenkreiſe der
Göttinger Preisſchrift ſich bewegte, ohne die Bedeutung der
von Moldenhawer und Mohl bereits eröffneten Geſichtspuncte
klar zu erkennen; wenn auch immerhin zugegeben werden muß
daß Meyen in der von Link betretenen Bahn ſelbſtändig weit
über dieſe hinausging.
Käme es darauf an, eine Biographie Meyen's zu ver-
faſſen, ſo müßten wir allen ſeinen genannten Werken folgen und
zeigen, wie ſich ſeine Anſichten nach und nach klärten; für unſern
Zweck genügt es jedoch, das Eigenartige in der Geſammtauf-
[311]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
faſſung der phytotomiſchen Probleme bei Meyen hervorzuheben;
dieſe tritt aber am deutlichſten in ſeiner mehrerwähnten „Phyto-
tomie“ von 1830 hervor, und da dieſelbe auch in ſeinen ſieben
Jahre ſpäter erſchienenen erſten Bande des „neuen Syſtems“ der
Hauptſache nach feſtgehalten iſt, ſo können wir unſerer hiſtoriſchen
Betrachtung jenes Werk zu Grunde legen und dies um ſo mehr,
als uns eine ausführliche Würdigung ſeiner ſpäteren Arbeit in
weitläufige Diskuſſionen über ſein wiſſenſchaftliches Verhältniß
zu Mohl verwickeln müßte. Es kommt mir hier alſo weniger
auf eine Würdigung der wiſſenſchaftlichen Perſönlichkeit Meyen's,
als vielmehr darauf an, zu zeigen, wie im Jahre 1830, als
Mohl eben erſt angefangen hatte, ſich der Phytotomie zu widmen
ohne aber noch einen bedeutenden Einfluß auf die Literatur zu
üben, die Anſichten über die Struktur der Pflanze bei einem
Manne ſich geſtalteten, der mit entſchiedenem Talent und großem
Eifer dem Studium derſelben ſich hingab; wir gewinnen ſo einen
Maßſtab für das, was in den nächſten zehn Jahren vorwiegend
durch Mohl, zum Theil durch Mirbel zu Tage gefördert
wurde. Bei der Beurtheilung ſeiner „Phytotomie“ (1830),
deren Grundanſchauungen im Folgenden vorgeführt werden ſollen,
iſt übrigens nicht zu vergeſſen, daß Meyen, als er ſie ſchrieb,
25-26 Jahre alt war und daß für einen ſo jungen Mann
eine ſolche Leiſtung immer hin eine ſehr beträchtliche war.
Von den Elementarorganen der Pflanze nahm Meyen drei
Grundformen an: Zellen, Spiralröhren und Lebensſaftgefäße;
durch Vereinigung gleichartiger Elementarorgane entſtehen Syſteme
von ſolchen, es giebt alſo ein Zellenſyſtem, ein Spiralröhren-
ſyſtem und ein Syſtem von Lebensſaftgefäßen (Gefäßſyſtem).
Schon an dieſer Eintheilung ſieht man, wie eng ſich Meyen
noch 1830 an die Vorſtellungen, welche vor Moldenhawer
ſich gebildet hatten, anſchließt. Die Aufſtellung der genannten
Syſteme iſt gegenüber der bereits von Moldenhawer deutlich
erkannten Unterſcheidung von Gefäßbündeln und Zellgewebe ge-
radezu ein Rückſchritt. Jedes der Meyen'ſchen Syſteme wird
nun ausführlicher behandelt und dann ihre Geſammtgruppirung
[312]Unterſuchung des fertigen
beſchrieben. Großen Werth legte Meyen (auch ſpäter noch)
auf die verſchiedenen Habitusformen des Zellgewebes, für welche
er die Namen Merenchym, Parenchym, Proſenchym,
Pleurenchym einführte. Dieſe Formen bezeichnet er als das
regelmäßige Zellgewebe, deſſen Zellformen geometriſchen Körpern
ähnlich ſind, im Gegenſatz zu den unregelmäßigen Gewebe der
Tange, Flechten und Pilze. Ein entſchiedener Fortſchritt iſt es,
der auch Meyen's ſpätere Arbeiten charakteriſirt, daß er ſchon
hier neben der Struktur des feſten Zellhautgerüſtes in einem
beſonderen Kapitel den Inhalt der Zellen behandelt, wo zunächſt
die gelöſten Stoffe, dann die körnigen Gebilde organiſcher Struktur
beſprochen werden; zu letzteren gehören freilich nicht nur die
Stärkekörner, Chlorphyllbläschen und dergl., ſondern auch die
Samenthierchen in den Pollenkörnern einerſeits, und andererſeits
die auf der Innenſeite der Zellwände vorſpringenden Verdick-
ungsſchichten, z. B. die Spiralbänder in den Schleuderzellen der
Jungermanien u. dergl. m. Auch die Kryſtallbildungen in
Pflanzenzellen werden ausführlich beſprochen und ſchließlich die
Bewegung des Zellinhaltes („Saftes“) behandelt, wo außer den
von Corti ſchon beobachteten Charen auch noch verſchiedene
andere Waſſerpflanzen mit kreiſendem Inhalt genannt werden.
— Auch das Capitel über die Interzellularräume zeigt einen
beträchtlichen Fortſchritt über die um 1812 geltenden Anſichten
hinaus, das Capitel führt den Titel: „Ueber die durch Aneinander-
fügung der Zellen entſtandenen Räume im Zellgewebe;“ es werden
hier die eigentlichen Interzellulargänge, welche mit Luft erfüllt ſind,
von den Sekretionsbehältern, den Harz-, Gummi-, Oelgängen und den
höhlenartigen Sekretionsbehältern unterſchieden. Eine dritte Form
von Zwiſchenräumen des Gewebes bilden die großen Luftgänge und
Lücken, wie ſie zumal bei den Waſſerpflanzen vorkommen. Meyen's
mit Zellgewebe angefüllte Luftkanäle im Holz der Eichen ſind offen-
bar mit Tüllen erfüllte Gefäße. — Die Form der Zellen im
Gewebe läßt Meyen nicht durch gegenſeitigen Druck entſtehen,
auch weiſt er Kieſer's Anſicht ab, wonach die Form eines
langgezogenen Rhombendodekanders die ideale Grundform der
[313]Zellhautgerüſtes der Pflanzen
Zellen ſein ſoll. Dagegen ſcheint ihm eine bedeutungsvolle
Aehnlichkeit der Zellenformen mit den Abſonderungsgeſtalten der
Baſalte vorhanden zu ſein.
Bei der Behandlung des Syſtems der Spiralröhren wird
zuerſt die Spiralfaſer beſprochen, die entweder ganz frei zwiſchen
den Zellen erſcheint oder auch im Inneren von Zellen; ein
entſchiedener Rückſchritt gegenüber Bernhardi's und Tre-
viranus' alten Arbeiten. Die Spiralröhren ſind ihm (p. 225)
cylinder- oder kegelförmige Gebilde, welche durch die ſpiralförmig
gewundende Faſer dargeſtellt werden, um welche ſich erſt ſpäter
eine feine Haut bilde. Als metamorphoſirte Spiralröhren faßt
er die Ringgefäße, netzförmig verdickten und punktirten Röhren
zuſammen. Seine Auseinanderſetzung über dieſe kann man nicht
wohl anders verſtehen, als daß er wirklich eine zeitliche Meta-
morphoſe im Sinne Rudolphi's und Link's annahm; ob-
gleich er ſpäter im „neuen Syſtem“ I p. 140 dies für ein
Mißverſtändniß erklärt, wobei man aber auch wieder nicht ins
Reine kommt, wie er es meint; wie in der Morphologie der
Organe verfehlte die Unklarheit der Metamorphoſenlehre eben
auch in der Phytotomie nicht, Mißverſtändniſſe hervorzurufen.
Nur die geſtreiften und punctirten Gefäße im Holze läßt Meyen
Luft, die eigentlichen Spiralgefäße aber Saft führen. Daß die
Gefäße aus Zellen entſtehen, was Mirbel bereits behauptet,
Treviranus wenigſtens zum Theil beobachtet hatte, wird von
Meyen nur unbeſtimmt und ſchüchtern angedeutet.
Die verſchiedenen Formen der milchſaftführenden Organe
werden als „das Circulationsſyſtem der Pflanzen“ behandelt;
in ihm ſieht er das Höchſte, was die Pflanze hervorbringt, in-
dem er mit Schultz feſt überzeugt iſt, daß der Milchſaft oder wie
auch er ihn nennt, der Lebensſaft, in beſtändiger Cirkulation,
wie das Blut in den Adern begriffen ſei. Die Art und Weiſe
des Verlaufs der milchführenden Organe dagegen wird viel über-
ſichtlicher als früher dargeſtellt, im Ganzen aber mehr Sorgfalt
auf die Natur des Milchſaftes, als auf die Struktur ſeiner Be-
hälter verwendet. Daß dieſe letzteren zum Theil durch Zellfuſion
[314]Unterſuchung des fertigen
enſtehen, andere Interzellularräume darſtellen, noch andere lange,
verzweigte Zellen ſind, war Meyen unbekannt, wie auch den
ſpäteren Phytotomen bis in die ſechziger und ſiebziger Jahre
hinein.
Dieſe gedrängte Inhaltsüberſicht von Meyen's „Phytotomie“
zeigt ein auffallendes Gemenge von Fortſchritten und Rückſchritten
gegenüber dem, was vor ihm geleiſtet war: neben der ſchon
von Treviranus feſtgeſtellten Thatſache, daß die Epidermis
nicht blos aus einem Häutchen, ſondern aus einer Zellenſchicht
beſteht, was Meyen zugiebt, finden wir den großen Irrthum,
daß er die Schließzellen der Spaltöffnungen als Hautdrüſen be-
trachtet, deren Spalte er ganz als Nebenſache behandelt. Noch
auffallender aber iſt, daß Meyen die verſchiedenen Tüpfelbildungen
der Zellhäute noch 1830 als Erhöhungen derſelben behandelt,
indem er die zwei Jahre vorher von Mohl feſtgeſtellte That-
ſache, daß die Tüpfel des Parenchyms dünnere Stellen ſind,
ausdrücklich zurückweiſt (p. 120).
Daß Meyen ſpäter in ſeinem „neuen Syſtem“, deſſen
ganzer erſter Band die Phytotomie ausführlich, aber im Ganzen
nach demſelben Schema wie hier behandelt, zahlreiche Irrthümer
berichtigt, viele neue Beobachtungen beibringt, überhaupt viel-
fache Fortſchritte erkennen läßt, braucht kaum beſonders her-
vorgehoben zu werden; auf manche ſeiner ſpäteren Anſichten
jedoch kommen wir im beſſeren Zuſammenhang im Folgenden
zurück; hier ſei nur erwähnt, daß Meyen auch ſpäter den Zell-
inhalt mehr als ſeine Zeitgenoſſen beachtete, beſonders die
ſtrömende Bewegung ausführlich beobachtete, ohne jedoch das
Subſtrat derſelben, das Protoplasma, in ſeiner Eigenartigkeit zu
erkennen. Die Zellhaut, welche Meyen früher für ſtrukturlos
gehalten, ließ er ſpäter aus feinen Faſern beſtehen, eine Anſicht,
welche auf richtigen aber nicht hinreichend verfolgten Wahr-
nehmungen beruhte und ſpäter von Mohl und Nägeli be-
richtigt wurde.
Es iſt nicht wohl möglich, einen ſchärferen Gegenſatz zwiſchen
zwei, die gleiche Wiſſenſchaft bearbeitenden Männern zu denken,
[315]Zellhautgerüſtes der Pflanzen
als den zwiſchen Meyen und ſeinem viel bedeutenderen Zeit-
genoſſen Hugo Mohl: Meyen war mehr Schriftſteller als
Forſcher; Mohl ſchrieb verhältnißmäßig wenig in langer Zeit,
die er der ſorgfältigſten Unterſuchung widmete; Meyen beachtete
gewiſſermaßen nur den Habitus, den Geſammteindruck der mi-
kroſkopiſchen Bilder, Mohl kümmerte ſich um dieſen wenig und
ging überall auf die Grundlagen, auf den wahren inneren Zu-
ſammenhang der Strukturverhältniſſe zurück; Meyen war mit
ſeinem Urtheil bald fertig, Mohl verſchob dasſelbe nicht ſelten
auch nach langer Unterſuchung; Meyen war wenig zur Kritik,
wenn auch immerhin zur Oppoſition geneigt; bei Mohl über-
wog das kritiſche Moment bei Weitem das conſtructive Denken.
Meyen hat weniger zur definitiven Beantwortung der weſent-
lichen Fragen beigetragen, als vielmehr die mannigfaltigſten Er-
ſcheinungen an's Licht gezogen, ſo zu ſagen Rohmaterial ange-
häuft; Mohl dagegen ging gleich vornherein darauf aus,
das Grundweſentliche im Zellenbau der Pflanzen aufzuſuchen,
die verſchiedenen anatomiſchen Thatſachen zur Aufſtellung eines
einheitlichen Schema's zu verwerthen.
Auf Hugo Mohl's 1) hervorragende Bedeutung für die
[316]Unterſuchung des fertigen
Geſchichte nicht nur dieſes, ſondern auch des folgenden Zeitraums
iſt ſchon oben hingewieſen worden. Indem er gewöhnlich die ſchon
bisher bearbeiteten Fragen der Phytotomie aufnahm, beſonders das
feſte Zellſtoffgerüſt der Pflanzen zum Gegenſtand der eingehendſten
Unterſuchung machte und in dieſer Beziehung die Beſtrebungen
ſeiner Vorgänger zum Abſchluß brachte, legte er ſo zugleich einen
feſten Grund, auf welchem die ſpäter von Nägeli begründeten
entwicklungsgeſchichtlichen Unterſuchungen vorgenommen werden
konnten. An die früheren Phytotomen ſchließt Mohl auch in-
ſofern an, als bei ihm die Unterſuchung der Strukturverhält-
niſſe ſich meiſt in Zuſammenhang mit phyſiologiſchen Fragen
bewegt; ein großer Unterſchied aber tritt freilich darin hervor,
das er ſich jederzeit darüber klar war, daß durch phyſiologiſche
Anſichten das Urtheil über ſichtbare Strukturverhältniſſe nicht
beirrt werden darf; ſeine ſehr gründlichen phyſiologiſchen
Kenntniſſe benutzte er vorwiegend dazu, ſeinen anatomiſchen
Unterſuchungen eine beſtimmtere Richtung zu geben, den Zu-
ſammenhang zwiſchen Struktur und Funktion der Organe zu be-
leuchten; kaum bei einem anderen Pytotomen war das Ver-
hältniß von phyſiologiſcher und anatomiſcher Forſchung ein ſo
geſundes und fruchtbares, wie bei ihm, dem die völlige Ab-
trennung der Phytotomie von der Phyſiologie ebenſo fremd war,
wie das ungeregelte Ineinandergreifen beider, durch welches ſeine
Vorgänger, bſonders auch Meyen, zu Mißgriffen verleitet
wurden
Bei ſeinen anatomiſchen Forſchungen kam ihm eine ſeltene
techniſche Kenntniß des Mikroſkops zu ſtatten; er ſelbſt verſtand
Linſen zu ſchleifen und zu faſſen, welche den Vergleich mit den
1)
[317]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
beſten ihrer Zeit nicht zu ſcheuen brauchten. Bei der geringen
Bekanntſchaft mit dem Mikroſkop, welche in den dreißiger und
vierziger Jahren unter den meiſten Botanikern noch herrſchte,
war daher Niemand beſſer als Mohl geeignet, in kleinen Auf-
ſätzen über die praktiſchen Vorzüge eines Inſtrumentes zu be-
lehren, Vorurtheile zu beſeitigen und ſchließlich in ſeiner „Mi-
krographie“ 1846 eine ausführliche Anweiſung zur Handhabung
des Mikroſkops zu geben.
Viel wichtiger war jedoch die geiſtige Begabung Mohl's,
welche gerade in der Zeit der dreißiger und vierziger Jahre für
die Anforderungen der Pflanzenanatomie kaum glücklicher gedacht
werden kann. In jener Zeit, wo man auf ungenaue Beobacht-
ungen phantaſtiſche Theorien baute, wo Gaudichaud das
Dickenwachsthum des Holzes wieder in der von Wolff und
Du Petit-Thouars angenommenen Art ſtattfinden ließ, wo
noch Desfontaines' Anſicht vom endogenen und exogenen
Wachsthum der Stämme geglaubt wurde, wo Mirbel ſeine
alte Theorie von der Enſtehung der Zellen durch neue Beob-
achtungen und ſchöne Bilder zu ſtützen ſuchte, wo Schultz
Schultzenſtein die abenteuerlichſten Anſichten über die Milch-
ſaftgefäße von der pariſer Akademie mit einem Preis gekrönt
ſah, wo Schleiden's voreilige Zellentheorie und Befruchtungs-
lehre mit großem äußeren Erfolg auftrat, war es Mohl, der
immer wieder auf die genaue Beobachtung zurückging, leicht-
ſinnig aufgeſtellten Theorien durch ſorgfältige monographiſche
Arbeiten den Boden entzog und gleichzeitig eine Summe wohl
conſtatirter Thatſachen zu Tage förderte, an welche die weitere
ernſte Forſchung anknüpfen konnte. Jene Theorien haben längſt
kaum noch ein hiſtoriſches Intereſſe, die damals entſtandenen
Arbeiten Mohl's aber ſind noch jetzt eine reiche Fundſtätte
von brauchbaren Beobachtungen und wahre Muſter klarer Dar-
ſtellng.
Seiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit ging ein ſorgfältiges
Studium aller botaniſchen Diſciplinen und der nöthigen Hilfs-
wiſſenſchaften voraus. Daß er dabei nicht bloß Kenntniſſe
[318]Unterſuchung des fertigen
ſammelte, ſondern die Studien auch dazu benutzte, ſeine Ver-
ſtandeskräfte einer ſtrengen Dreſſur zu unterwerfen, daß zeigt
ſchon die auffallende Sicherheit und Klarheit in der Darſtellung
ſeiner erſten Unterſuchungen. In jener Zeit, wo die Natur-
philoſophie und die entſtellte Goethe'ſche Metamorphoſenlehre
noch fortwucherte, trat Mohl trotz ſeiner Jugend mit einer
Ruhe und Unbefangenheit an die Gegenſtände ſeiner Forſchung
heran, die beſonders dann auffällt, wenn man beachtet, wie ſein
Freund Unger anfangs ganz in jene Strömung gerieth und
nur langſam es dahin brachte, ſich auf den feſten Boden ächt
induktiver Forſchung zu retten.
Mohl war wohl in Folge der Uebertreibungen und Ver-
irrungen, welche er in ſeiner Jugend an der Naturphiloſophie
kennen lernte, aller Philoſophie abhold, indem er offenbar die
unförmlichen Ausſwüchſe der Schelling'ſchen und Hegel'-
ſchen Lehren für etwas der Philoſophie Weſentliches hielt, wie
man leicht aus ſeiner Rede bei Eröffnung der naturhiſtoriſchen
Fakultät in Tübingen, welche auf ſein Betreiben von der philo-
ſophiſchen abgetrennt worden war, entnehmen kann. Seine Ab-
neigung gegen die Abſtraktionen der Philoſophie hing offenbar
zuſammen mit der gegen weitgehende Combinationen und gegen
umfaſſende Theorien, auch da, wo ſolche ſich aus genauen Be-
obachtungen durch ſorgfältige Schlußfolgerungen ergeben. Mohl
begnügte ſich gewöhnlich mit der Feſtſtellung der Thatſachen
im Einzelnen und ſeine theoretiſchen Folgerungen hielten ſich
möglichſt eng an das direkt Geſehene, ſo z. B. ſeine Theorie des
Dickenwachsthums der Zellhäute und wo ſich ihm in Folge ſeiner
genauen Beobachtung weitere Fernſichten eröffneten, da hielt er
gewöhnlich vorſichtig inne, begnügte ſich mit Andeutungen, wo
ſpäter kühnere Denker ihre Forſchung erſt aufnahmen; ſo z. B.
bei ſeiner Unterſuchung der Zellhäute im polariſirten Licht. Es
war daher wenig Geniales und Schwunghaftes in Mohl's
wiſſenſchaftlicher Thätigkeit; dafür entſchadigte aber mehr als
hinreichend der ſichere, feſte Boden, den er dem Leſer ſeiner Ar-
beiten überall darbietet; wenn man von der Lektüre der vor 1844
[319]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
publicirten phytotomiſchen Arbeiten Anderer zu denen Mohl's
übergeht, ſo iſt hier in der That der vorwiegende Eindruck der
der Sicherheit; man hat das Gefühl, daß er richtig geſehen
haben müſſe, weil ſchon die Art ſeiner Darſtellung als eine ganz
natürliche und gewiſſermaßen nothwendige ſich giebt, um ſo mehr
als er ſelbſt jeden möglichen Zweifel hervorhebt und, wenn er
ihn nicht zu beſeitigen weiß, als ſolchen beſtehen läßt. In dieſer
Art gleicht Mohl's Darſtellung der Moldenhawer's, nur
daß ſie bei Mohl ſich zu einer Meiſterſchaft entwickelt, welche
dieſem noch fehlte.
Mit Mohl's Abneigung gegen weitgehende Abſtraktionen
und philoſophiſche Betrachtung der Beobachtungsergebniſſe hing
es offenbar zuſammen, daß er in einer mehr als vierzigjährigen
unausgeſetzten Thätigkeit als Phytotom doch niemals dazu kam,
eine überſichtliche, zuſammenhängende Darſtellung der ganzen
Phytotomie zu geben. Mohl's Thätigkeit erſchöpfte ſich in
monographiſchen Arbeiten, welche gewöhnlich an Tagesfragen an-
knüpften oder ſonſt durch den Zuſtand der Literatur hervorge-
rufen wurden. Da ſammelte er dann die ganze Literatur über
die betreffende Frage, kritiſirte dieſe und ſchälte endlich den
wahren Kern der Frage heraus, die er nun durch ſeine eigenen
Beobachtungen zu beantworten ſuchte. Für letztere ſah ſich
Mohl jedesmal zunächſt nach den geeignetſten Objekten um, was
außer Moldenhawer die Früheren gewöhnlich verſäumt hatten;
ein ſolches Objekt ſtudirte er dann ſehr gründlich, um ſpäter
ſchwierigere Gegenſtände in den Kreis der Unterſuchung hinein-
zuziehen. So lieferte jede derartige Monographie gewiſſermaſſen
einen Typus, an welchen ſich ſpäter eine größere Zahl von
weiteren Beobachtungen anſchließen konnte. In einer ſehr langen
Reihe von gründlichen Monographien behandelte Mohl ſchließ-
lich alle wichtigeren Fragen der Phytotomie.
Die außerordentliche Sorgfalt der Beobachtung reichte aber
auch bei einem ſo ruhigen Forſcher, wie Mohl es war, wenig-
ſtens in ſeinen früheren Jahren nicht hin, ihn vor einigen ſehr
ſtarken Mißgriffen zu ſchützen, wie ſolche in ſeiner erſten Theorie
[320]Unterſuchung des fertigen
der Interzellularſubſtanz 1836 und in ſeiner früheſten Anſicht
über die Natur der Pollenzellhaut 1834 ſich finden. Dieſe und
einige andere Mißgriffe eines ſo begabten rein induktiven For-
ſchers ſind lehrreich, inſofern ſie zeigen, daß Beobachtung ohne
jede theoretiſche Grundlage überhaupt pſychologiſch unmöglich iſt;
es iſt eine Täuſchung, zu glauben, ein Beobachter könne die Er-
ſcheinungen in ſich aufnehmen etwa wie ein photographiſches
Papier das Bild; vielmehr trifft die ſinnliche Wahrnehmung
immer ſchon auf vorhandene Anſichten des Beobachters, auf Vor-
urtheile, mit welchen ſich die Wahrnehmung unwillkürlich ver-
knüpft. Das einzige Mittel, Irrthümern in dieſer Beziehung zu
entgehen, liegt darin, daß dieſe Vorurtheile zu klarem Bewußt-
ſein erhoben, ihre logiſche Brauchbarkeit geprüft, die vorhandenen
Begriffe ſcharf definirt wurden. Als Mohl ſeine Theorie von
der Interzellularſubſtanz aufſtellte, ſchwebten ihm offenbar unbe-
ſtimmte, halb unbewußte Vorſtellungen von der Art vor, wie
Wolff und Mirbel ſie vom Zellenbau der Pflanzen hegten;
und als er die Pollenzellhaut aus einer Zellenſchicht beſtehen
ließ, ſubſummirte er unklare Strukturverhältniſſe derſelben dem
damals noch ſehr unklaren Begriff Zelle. Als ächter Natur-
forſcher, der ſich überall ſtreng an die Ergebniſſe der weiteren
Beobachtung hält, ſeine Begriffe durch dieſelbe zu klären ſucht,
der jeder Anſicht nur einen relativen Werth einräumt, kam Mohl
indeſſen über dieſe Irrthümer bald hinaus und er ſelbſt lieferte
die Beweiſe für die Unrichtigkeit ſeiner früheren Behauptung.
Uebrigens iſt, verglichen mit der ſehr großen Zahl ſeiner Unter-
ſuchungen die Anzahl wirklich irriger Angaben außerordentlich
gering.
Betrachten wir Mohl's Bedeutung für die geſammte Ent-
wicklung der Phytotomie, ſo können wir in ſeiner wiſſenſchaft-
lichen Laufbahn deutlich genug zwei Perioden erkennen, deren
erſte von 1827 bis ungefähr 1845 reicht. Vor 1845 war er
unbeſtritten der größte Phytotom, allen Mitſtrebenden entſchieden
überlegen; ſeine Autorität, obwohl von Unbedeutenderen viel-
fach angefochten, wuchs von Jahr zu Jahr. Einen gewiſſen Ab-
[321]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſchluß findet dieſe Periode in der Herausgabe ſeiner „vermiſchten
Schriften“ 1845. Bis dahin waren es ganz vorwiegend Unter-
ſuchungen über die Form des feſten Zellhautgerüſtes der Pflanzen,
welche das phytotomiſche Intereſſe in Anſpruch nahmen und auf
dieſem Gebiet gab es keinen, der ſich damals mit Mohl meſſen
konnte. Doch hatte er ſchon in den dreißiger Jahren angefangen,
die Entwicklungsgeſchichte der Pflanzenzellen zu ſtudiren: 1833
beſchrieb er die Entwicklung der Sporen der verſchiedenſten Krypto-
gamen, 1835 die Vermehrung der Zellen durch Theilung bei
einer Alge, 1838 auch bei der Entwicklung der Spaltöffnungen;
in dieſe Zeit fallen auch die erſten Beobachtungen Mirbel's
über die Entſtehung der Pollenzellen (1833). Auch war Mohl
der erſte, wenn man nämlich von den ziemlich unvollkommenen
Andeutungen über die Entſtehung der Gefäße bei Treviranus
1806 und 1811 abſieht, der die Entwicklungsgeſchichte der Ge-
fäße feſtſtellte; und ſeine Theorie des Dickenwachsthums der
Zellhäute, deren Grundzüge ſchon in ſeiner Abhandlung über
die Poren des Zellgewebes 1828 enthalten ſind, darf ebenfalls
als eine entwicklungsgeſchichtliche Auffaſſung der Sculpturverhält-
niſſe der Zellhaut gelten.
Schon ſeit 1838 hatte Schleiden nicht nur überhaupt
die Entwicklungsgeſchichte ganz in den Vordergrund der botani-
ſchen Forſchung geſtellt, ſondern auch eine durchaus verfehlte
Theorie der Zellbildung zu Tage gefördert, welcher Mohl trotz
ſeiner älteren viel beſſeren Beobachtungen wenigſtens anfangs
ſeinen Beifall nicht verſagte; viel entſchiedener aber und mit
nachhaltigerem Erfolg bearbeitete Nägeli ſeit 1842 die Ent-
wicklungsgeſchichte der Pflanzenzellen und der Gewebeſyſteme ſo-
wohl, wie der äußeren Organe. Durch ihn wurden ganz neue
Momente in die phytotomiſche Forſchung eingeführt und bald
zeigte ſich, daß auch die bisher bearbeiteten Fragen einer an-
deren Faſſung bedurften. Mohl entzog ſich der neuen Richtung
nicht, er lieferte ſogar eine Reihe ausgezeichneter Unterſuchungen,
welche ſich den neuen Fragen der Zellbildungstheorie anſchloſſen,
ſo vor Allem ſeine Arbeiten über das Protoplasma, dem er den
Sachs, Geſchichte der Botanik. 21
[322]Unterſuchung des fertigen
jetzt gebräuchlichen Namen gab; in ſeiner Abhandlung, “die vege-
tabiliſche Zelle“, welche 1851 in Wagner's Handwörterbuch
der Phyſiologie erſchien, gab Mohl ſogar eine ausgezeichnete
Darſtellung der neueren Zellbildungstheorie; trotz alldem und
trotz der großen Autorität, welche Mohl bis tief in die ſechziger
Jahre hinein mit Recht genoß, war er doch nicht mehr in dem-
ſelben Sinne wie vor 1845 der die Richtung beſtimmende
Führer auf dem Gebiet der Phytotomie.
Zu allen Zeiten war es das feſte Gerüſt der Pflanzen-
ſtruktur in ſeinem fertigen Zuſtand, was Mohl's Beobachtungs-
eifer vorwiegend in Anſpruch nahm, wenn auch immerhin eine
Reihe ſeiner wichtigſten Arbeiten dem Studium des Zellinhalts
gewidmet war.
Abgeſehen von ſeiner Anatomie der Palmen (1831), wo er
viele, zum Theil ſogar unnöthige Mühe auf hiſtologiſche Habitus-
bilder verwendete, ſind Mohl's mikroſkopiſche Zeichnungen nicht
auf den Geſammteffekt, ſondern nur darauf gerichtet, das Ver-
ſtändniß ſeiner Strukturverhältniſſe der einzelnen Zellen und
ihrer Verbindung durch möglichſt einfache Linien klar zu legen.
Die ſpäter von Schacht eingeführte, zum Theil an Spielerei
grenzende Herſtellung von mehr künſtleriſch ausgeſtatteten mi-
kroſkopiſchen Bildern verſchmähte Mohl jederzeit und in ſeinen
ſpäteren Publikationen wurden die Abbildungen immer ſparſamer
oder ganz weggelaſſen in dem Maße, als es mehr und mehr
gelang, auch ſchwierige Strukturverhältniſſe durch Worte klar zu
machen.
Bei dem außerordentlichen Reichthum von Mohl's wiſſen-
ſchaftlicher Thätigkeit iſt es nicht leicht, dem Leſer ein anſchau-
liches Bild derſelben vorzuführen, aber doch nöthig, wenigſtens
ihre Hauptergebniſſe überſichtlich zuſammenzufaſſen, um in
allgemeinen Zügen Mohl's hiſtoriſche Bedeutung für unſere
Wiſſenſchaft darzuſtellen; mit Uebergehung mancher für die
Hauptfragen der Phytotomie unweſentlichen Abhandlungen, werde
ich hier nur die den Bau des feſten Gerüſtes der Pflanzenſtruktur
betreffenden Leiſtungen hervorzuheben ſuchen, da ſich ſeine ent-
[323]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
wicklungsgeſchichtlichen Unterſuchungen erſt im Zuſammenhang
mit den im folgenden Kapitel zu behandelnden Fragen in ihrer
hiſtoriſchen Bedeutung verſtehen laſſen. Doch beſchränke ich mich
dabei keineswegs auf Mohl's Leiſtungen vor 1845, obgleich
ich dadurch vielfach genöthigt bin, Arbeiten zu erwähnen, welche
der zeitlichen Reihenfolge nach erſt dem folgenden Zeitraum, ja
beinahe der Gegenwart angehören.
1. Die Zelle als alleiniges Grundelement der
Pflanzenſtruktur war zwar ſchon von Sprengel und
Mirbel behauptet, aber nicht auf genaue Beobachtungen ge-
ſtützt worden. Auch hatte ſchon Treviranus gezeigt, daß
die Gefäße im Holz durch reihenweiſe Verbindung zellenähnlicher
Schläuche entſtehen, ohne jedoch dieſe Wahnehmung auch ſpäter
zu voller Klarheit durchzuführen. Andererſeits ſtand der An-
nahme, daß die Pflanze ganz und gar aus Zellen beſtehe, noch
lange die ſonderbare alte Anſicht entgegen, wonach die Spiral-
faſer ein ſelbſtändiges Grundorgan der Pflanzenſtruktur ſein
ſollte, eine Anſicht, die Meyen 1830 noch vertrat. Als der
wahre Begründer des ſo höchſt wichtigen Satzes, daß nicht
nur die faſerförmigen Elemente des Baſtes und Holzes, die
man längſt als geſtreckte Zellen betrachtete, ſondern auch die
Gefäße des Holzes aus Zellen entſtehen, iſt Mohl zu betrachten
und wir dürfen in dieſer Beziehung großes Gewicht auf ſeine
eigene Behauptung legen, er ſei der Erſte geweſen, welcher die
Entſtehung der Gefäße aus Reihen geſchloſſener Zellen erkannt
habe; dieſe Entdeckung fällt ſchon in das Jahr 1831, wo er in
ſeiner Abhandlung über die Struktur des Palmenſtammes die
entſcheidenden Beobachtungen, wenn auch kurz, doch deutlich be-
ſchrieb. Er ſah damals die Scheidewände an den Einſchnürungen
der Gefäße, deren Exiſtenz von faſt allen früheren Phytotomen
geleugnet worden war: „Dieſe Scheidewände weichen, ſagt er
von den übrigen Membranen der Pflanzen durchaus ab, indem
ſie von einem Netz dicker Faſern, welche Oeffnungen zwiſchen
ſich laſſen, gebildet ſind.“ Die Entwicklungsgeſchichte dieſer Ge-
fäße ſtudirte er ſowohl an Palmen, wie an dikotylen Pflanzen:
21*
[324]Unterſuchung des fertigen
„Im jungen Triebe finde man an den Stellen, an welchen ſpäter
die großen Gefäße liegen, vollkommen geſchloſſene, große cylin-
driſche Schläuche, die aus einen waſſerhellen, ſehr zarten Mem-
bran beſtehen.“ Er zeigt nun, wie nach und nach auf der
Innenſeite der Schläuche die den Gefäßwandungen eigene Skulptur
entſteht und erwähnt bei dieſer Gelegenheit, daß von einer zeit-
lichen Metamorphoſe einer Gefäßform in eine andere durchaus
keine Rede ſein kann, wie auch Treviranus ſchon und Bern-
hardi behauptet hatten. „Auf ganz analoge Weiſe (wie die
Seitenwandungen der Gefäße) bilden ſich auch die Scheidewände
(Querwände) aus; bei dieſen geht aber meiſtens die urſprüng-
liche, zarte Membran mit der Zeit in den Maſchen des Faſer-
netzes zu Grunde.“ Seitdem iſt an dieſer Auffaſſung der Ge-
fäße im Holz von keinem urtheilsfähigen Phytotomen mehr ge-
zweifelt worden. Es iſt aber auffallend genug, daß Mohl,
der einen ſo großen Werth auf den Nachweis, daß die Zelle
die alleinige Grundlage der Pflanzenſtruktur ſei, legte, dieſen
Nachweis doch niemals auf die Milchgefäße und anderer Sekre-
tionskanäle ausgedehnt hat, um zu zeigen, ob und wie auch
dieſe aus Zellen entſtehen; noch 1851 („vegetabiliſche Zelle“)
bezweifelte er Unger's Behauptung, daß auch die Milchſaftge-
fäße aus reihenweiſe geordneten, mit einander verſchmelzenden
Zellreihen ſich bilden und hielt die Anſicht eines Ungenannten
(bot. Zeitg. 1846 p. 833), wonach die Milchſaftgefäße häutige
Auskleidungen von Lücken des Zellgewebes ſeien, für richtiger.
Ihm mochte wohl der Geſchmack an der Unterſuchung dieſer und
ähnlicher Sekretionsorgane verdorben ſein, nachdem Schultz
Schultzenſtein ſeit 1824 durch ſeine verſchiedenen Abhand-
lungen über den ſogenannten Lebensſaft und den von ihm be-
haupteten Kreislauf desſelben dieſes Gebiet der Phytotomie zu
einem wahren Sumpf von Irrthümern gemacht und ſich nicht
geſcheut hatte, Mohl, der ihm mehrfach entgegentrat, in unan-
ſtändigſter Weiſe zu erwidern; zudem wurde Schultz's von
Unſinn ſtrotzende Schrift: „Ueber die Circulation des Lebens-
ſaftes“ 1833 von der Pariſer Akademie mit einem Preis gekrönt.
[325]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
2. Das Dickenwachsthum der Zellhaut und ihre
dadurch entſtandene Skulptur war ein die meiſten Arbeiten
Mohl's durchziehendes Thema. Schon 1828 in ſeiner erſten
Arbeit über „die Poren des Pflanzengewebes“ hatte er die
Grundzüge ſeiner Anſicht entwickelt. Die Art, wie er auch ſpäter
noch das Dickenwachsthum der Zellhäute ſich vorſtellte, läßt ſich
ungefähr in folgender Weiſe ausſprechen: Alle Elementarorgane
der Pflanze ſind urſprünglich ſehr dünnwandige, vollkommen
geſchloſſene Zellen, die innerhalb des Gewebes durch dopelte
Wandlamellen von einander getrennt ſind 1), an dieſen primären
Zellmembranen lagern ſich, nachdem ihre Umfangszunahme auf-
gehört hat, auf der Innenſeite neue Schichten von Hautſubſtanz
ab, die einander ſchalenartig umgeben, unter ſich feſt verbunden
ſind und die Geſammtheit der ſekundären Verdickungsſchichten
darſtellen; auf der Innenſeite dieſer ſo durch Appoſition ver-
dickten Haut iſt gewöhnlich 2) noch eine anders beſchaffene tertiäre
Verdickungsſchicht zu erkennen. Die ſchichtenweiſe Ablagerung auf
der urſprünglichen Zellhaut findet jedoch an einzelnen, ſcharf
umſchriebenen Stellen, der Zellhaut nicht ſtatt, an dieſen iſt die
Zelle auch ſpäter noch durch die primäre Membran allein be-
grenzt; dieſe dünnen Stellen der Zellhaut ſind es, welche den
Namen Tüpfel führen, welche Mirbel und zum Theil Mol-
denhawer für Löcher gehalten hatten, die aber nach Mohl
nur in ſehr ſeltenen Ausnahmsfällen durch Reſorption der pri-
mären, dünnen Wand wirklich in Löcher verwandelt werden.
Dieſer Theorie entſprechend entſtehen die Spiral- Ring- und
Netzgefäße durch entſprechend geformte Ablagerung auf der
Innenſeite der urſprünglich glatten, dünnen Wand. Wie
Schleiden und andere Phytotomen kam jedoch auch Mohl
[326]Unterſuchung des fertigen
weder über die Entſtehung noch über die Bildung der fertigen,
gehöften Tüpfel in's Reine; man ließ an den entſprechenden
Stellen die beiden Lamellen der doppelten Scheidewand ſo aus-
einander weichen, daß ein linſenförmiger Hohlraum zwiſchen
beiden entſtand, welcher dem äußeren Hofe des Tüpfels entſprach
während der innere Hof desſelben auf gewöhnlicher Tüpfelbildung
beruhte. Dieſe durch die Entwicklungsgeſchichte als falſch nach-
weisbare Anſicht entſprang in der That aus ungenauer Beob-
achtung, ein bei Mohl ſeltener Fall, übrigens wurde der wahre
Sachverhalt bei der Bildung der gehöften Tüpfel erſt 1860 von
Schacht aufgefunden.
Es wurde oben erwähnt, daß Meyen in ſeinem „neuen
Syſtem der Phyſiologie“ 1837 (I p. 45) die Zellhäute aus
ſpiralig gewundenen Faſern zuſammengeſetzt ſein ließ; Mohl
hatte ſchon 1836 an gewiſſen langen Faſerzellen von Vinca
und Nerium Strukturverhältniſſe beſchrieben, welche man vor-
läufig in dieſer Weiſe deuten konnte; durch Meyen's Auffaſſung
der Sache veranlaßt, kam Mohl 1837 noch einmal ausführlich
auf die feineren Strukturverhältniſſe der Zellhaut zurück; er
klärte zunächſt die Frage, indem er diejenigen Fälle, wo
wirklich ſpiralförmige Verdickungen auf der Innenſeite der
Haut verlaufen, von denen unterſchied, wo die an der
Oberfläche glatte Haut doch eine feine, in Form ſpiraliger
Linien ſichtbare innere Struktur zeigt; für dieſe Fälle nahm er
eine eigenthümliche Lagerung der Zellſtoffmoleküle an, indem er
die Möglichkeit eines derartigen Verhaltens an der Spaltbarkeit der
Kryſtalle zu verſinnlichen ſuchte (Vermiſchte Schriften p. 329);
indeß gelang es ihm noch nicht dieſe feinſten Strukturverhältniſſe,
die wir jetzt als die Streifung der Zellhaut bezeichnen, ſo klar
zu legen, wie es ſpäter Nägeli im Zuſammenhang mit ſeiner
Molekulartheorie gethan hat.
3. Im engſten Zuſammenhang mit Mohl's Theorie des
Dickenwachsthum der Zellhäute ſtand die Frage nach ihrer Sub-
ſtanz und chemiſchen Natur; Mohl beſchäftigte ſich
ſchon 1840 ausführlich mit den Reaktionen, welche verſchie-
[327]Zellhautgerüſtes der Pflanzen
dene Zellhäute mit Jodlöſung unter verſchiedenen Verhältniſſen
ergeben, eine Frage, welche in den letzten Jahren durch Meyen
und Schleiden verſchieden beantwortet worden war; Mohl
kam zu dem Reſultat, daß das Jod den vegetabiliſchen Zellhäuten
je nach der Menge, in welcher es aufgenommen wird, ſehr ver-
ſchiedene Farben ertheilt; eine geringe Menge erzeuge gelbe oder
braune, eine größere violette, eine noch größere blaue Färbung; zum
Theil hänge dieß von der Quellungsfähigkeit der Haut ab; zumal be-
ruhe die blaue Färbung hauptſächlich darauf, daß eine hinreichende
Menge Jod eingelagert wird. Größeres Intereſſe gewann die Frage
nach der chemiſchen Natur des feſten Gerüſtes des Pflanzenkörpers,
jedoch erſt durch eine ſehr wichtige Arbeit von Payen 1844 1),
worin derſelbe nachwies, daß die Subſtanz aller Zellhäute, wenn
ſie von fremden Einlagerungen gereinigt ſind, die gleiche chemiſche
Zuſammenſetzung zeigt. Nach Payen's Anſicht iſt dieſer Stoff,
die Celluloſe, in den jungen Zellhäuten ziemlich rein vorhanden,
in den älteren dagegen durch „inkruſtirende Subſtanzen“ verun-
reinigt, deren Anweſenheit die phyſikaliſchen und chemiſchen
Eigenſchaften der Zellhäute in verſchiedener Weiſe verändert.
Dieſe inkruſtirenden Subſtanzen können durch Behandlung der
Zellhäute mit Säuren, Alkalien, Alkohol, Aether mehr oder
weniger vollſtändig ausgezogen werden, während andere, un-
organiſche Stoffe nach der Verbrennung der Häute als Aſchen-
ſkelett zurückbleiben. Dieſer gegenwärtig weiter ausgebildeten
Theorie trat bald darauf Mulder mit der Behauptung entgegen,
daß ein großer Theil der die Zellhäute zuſammenſetzenden Schichten
von Anfang an aus anderen Verbindungen und nicht aus Cel-
luloſe beſtehe; zugleich leitete Mulder aus dieſer Behauptung
Folgerungen über das Dickenwachsthum der Zellhäute ab. Er
[328]Unterſuchung des fertigen
und Harting behaupteten, auf mikroſkopiſche Unterſuchungen
geſtützt, daß die innerſte tertiäre Schicht verdickter Häute die
älteſte ſei, auf deren Außenſeite die anderen nicht aus Zell-
ſtoff beſtehenden Schichten abgelagert werden. Dieſer An-
ſicht trat nun Mohl in der botaniſchen Zeitung 1847
entſchieden und ſiegreich entgegen, ebenſo wies er („Vegeta-
biliſche Zelle“ p. 192) die auf unklaren chemiſchen Begriffen
ruhende Anſicht Schleiden's von der verſchiedenen Subſtanz
der Zellhäute zurück.
Es würde uns viel zu weit führen, wollten wir hier aus-
führlicher auf dieſen wiſſenſchaftlichen Streit eingehen; Payen's
von Mohl adoptirte und weiter ausgebildete Anſicht von der
chemiſchen Natur der Pflanzenzellhaut hat ſich bisher erhalten
und gilt allgemein als die richtige; Mohl's Theorie des
Dickenwachsthums dagegen wurde ſpäter (1858) durch Nägeli's
Wachsthumstheorie in ihren Grundlagen erſchüttert und man
darf wohl ſagen, in der Hauptſache für immer beſeitigt. Nichts
deſto weniger war aber Mohl's Theorie des Dickenwachsthums
der Zellhäute für die Entwicklung unſerer Anſichten vom Zellen-
bau der Pflanzen von großem Nutzen: indem ſie ſich an die
unmittelbar ſichtbaren Verhältniſſe ganz eng anſchloß, war ſie zu-
gleich geeignet, faſt alle Skulpturverhältniſſe der Zellwände unter
einen einheitlichen Geſichtspunct zu bringen und ihre Entſtehung
auf ein allgemeines und ſehr einfaches Schema zurückzuführen:
jede derartige Theorie iſt für den Fortſchritt der Wiſſenſchaft
ſchon, weil ſie die gegenſeitige Verſtändigung erleichtert, von
großem Nutzen, der ſich in dieſem Fall ſofort zeigte, als
Nägeli ſeine tiefer gefaßte Theorie der Intusſuception auf-
ſtellte; das Verſtändniß dieſer letzteren wird ganz weſentlich er-
leichtert, wenn man vorher die Mohl'ſche Theorie in ihren
Grundlagen und Conſequenzen genau kennen gelernt hat. —
Zum Schluß ſei hier noch erwähnt, daß Mohl ſpäter (Bot.
Zeitung 1861) in ſeiner Unterſuchung über das Vorkommen der
Kieſelſäure in den Zellhäuten einen ſehr reichhaltigen und folgen-
reichen Beitrag zur Kenntniß der feineren Struktur der Zellhäute,
[329]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
und der Art, wie inkruſtirende Subſtanzen ſich in dieſe ablagern,
lieferte.
4. In enger Verbindung mit den älteren Theorien der
Zellbildung, aber im Widerſpruch mit der noch jetzt geltenden,
1846 von Nägeli begründeten Zellenlehre, ſtanden in den
zwanzig Jahren von 1836-1856 die Anſichten der Phytotomen
über die ſogenannte Interzellularſubſtanz. Mohl ſelbſt
hatte dieſen Begriff in einer ſeiner früheren und weniger guten
Abhandlungen: „Erläuterung meiner Anſicht von der Struktur
der Pflanzenſubſtanz“ 1836 zuerſt in die Wiſſenſchaft eingeführt,
mehr im Widerſpruch, als im Zuſammenhang mit ſeiner eigenen
Theorie von dem Wachsthum und der Struktur der Zellhäute.
Von den ſchwer zu beurtheilenden, zum Theil ganz eigenartigen
Zellhautbildungen mancher Algen ausgehend, glaubte Mohl auch
bei den höheren Pflanzen zwiſchen den ſcharf umſchriebenen, die
Zellräume umgrenzenden Häuten, die er für die ganzen Zellhäute
hielt, in vielen Fällen eine Subſtanz wahrzunehmen, in welche
die Zellen eingelagert ſind, wenn dieſe Zwiſchenſubſtanz maſſen-
haft auftritt; während ſie nur als dünne Schicht, wie ein Kitt
erſcheint, wenn ſie in geringer Menge zwiſchen den einander
drückender Zellen liegt. Nachdem ſich ſchon Meyen im neuen
Syſtem“ 1837 (p. 162 u. 174) gegen dieſe Anſicht erklärt hatte, kam
auch Mohl ſelbſt mehr und mehr vor derſelben zurück, er
ſchränkte das Vorkommen der Interzellularſubſtanz ſpäter auf
gewiſſe Fälle ein, da er ſich überzeugte, daß Vieles, was er
früher für ſolche gehalten hatte, nur aus „ſekundären Verdick-
ungsſchichten“ beſtehe, zwiſchen welchen er noch die primären
Lamellen der Zellhäute hindurchlaufen ſah. Uebrigens wurde
von anderen Phytotomen, zunächſt von Unger (bot. Zeit. 1847
p. 289), ſpäter aber ganz beſonders von Schacht die Theorie
der Interzellularſubſtanz aufgenommen und weiter ausgebildet;
als Gegner derſelben trat jedoch Wigand (Bot. Unterſ. 1854
p. 67) auf, indem er in konſequenter Fortbildung der Mohl-
ſchen Zellhauttheorie die dünnen Schichten der Interzellular-
ſubſtanz ebenſo wie die von Mohl zuerſt richtig unterſchiedene
[330]Unterſuchung des fertigen
Cutikula als primäre Zellhautlamellen in Anſpruch nahm, deren
Subſtanz eine tief greifende chemiſche Veränderung erlitten habe.
— Auch dieſe Anſichten von der Interzellularſubſtanz und der
Cutikula mußten übrigens eine weſentlich andere Geſtalt an-
nehmen, als Nägeli ſeine Intusſuceptionstheorie aufſtellte.
Bei der hier gebotenen Kürze der Darſtellung müſſen dieſe
Notizen genügen, um Mohl's Bedeutung für die Ausbildung
der Zellentheorie, ſoweit dieſelbe den Bau des feſten Zellhaut-
gerüſtes betrifft, anzudeuten; auf ſeine Beobachtungen über die
Entſtehung der Zellen ſelbſt komme ich ſpäter noch zurück.
5) Gewebeformen und vergleichende Anatomie.
Die ſchwächſte Seite der Phytotomie bis in die dreißiger Jahre
hinein lag in der Claſſifikation der Gewebeformen, in der Auf-
faſſung ihrer Gruppirung und demzufolge in der hiſtologiſchen
Nomenclatur. Die darin liegenden Uebelſtände machten ſich be-
ſonders dann geltend, wenn es darauf ankam, den anatomiſchen
Bau verſchiedener Pflanzenklaſſen, der Cryptogamen, Coniferen,
Monokotylen und Dikotylen zu vergleichen, die wahren Unter-
ſchiede und wirklichen Uebereinſtimmungen derſelben feſtzuſetzen.
Wie wenig die Phytotomie in dieſer Richtung noch fortgeſchritten
war, zeigt ſich deutlich in der von Meyen noch 1837 im neuen
Syſtem gegebenen Darſtellung. Es gehört mit zu den Verdienſten
Mohl's, daß er ſchon in ſeinen früheren Arbeiten mehr als es
ſeine Zeitgenoſſen thaten, Werth auf eine natürliche und zweck-
mäßige Unterſcheidung der verſchiedenen Gewebeformen, auf eine
richtige Auffaſſung ihrer Gruppirung legte und ſo nicht nur die
Orientirung im Geſammtbau der höheren Pflanzen erleichterte,
ſondern auch die wiſſenſchaftliche Vergleichung der Struktur ver-
ſchiedener Pflanzenklaſſen ermöglichte.
Wie lange vorher Moldenhawer, ſo faßte auch Mohl
von vornherein die Gefäßbündel in ihrer Eigenartigkeit den
übrigen Gewebemaſſen gegenüber richtig auf, indem auch er
dabei von den Monokotylen ausging; ſchon in ſeiner 1831 er-
ſchienenen Abhandlung über die Struktur der Palmen und nicht
[331]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
minder in ſeinen ſpäteren Unterſuchungen über die Stämme der
Baumfarne, der Cycadeen und Coniferen, ſowie der eigenthüm-
lichen Stammformen von Isoetes und Tamus elephantipes
die man in ſeinen vermiſchten Schriften von 1845 zuſammenge-
ſtellt findet, iſt die richtige Auffaſſung der Gefäßbündel als eigen-
artiger Syſteme verſchiedener Gewebeformen die Urſache der
Klarheit und Verſtändlichkeit ſeiner Darſtellung, durch welche
ſich Mohl's Behandlung dieſer Gegenſtände der bisherigen
Literatur gegenüber (Moldenhawer ausgenommen) als eine
ganz neue zu erkennen gibt. Sind dieſe Arbeiten Mohl's
auch durch die ſpäteren entwicklungsgeſchichtlichen Studien anderer
überholt, ſo waren ſie doch ihrerzeit gewiſſermaſſen der feſte
Kern, an welchen ſich die weiteren vergleichenden Unterſuchungen
über die Struktur zumal der Stämme anlehnen konnten. Zu
einer richtigen Einſicht in den Bau derſelben mußte zunächſt bei-
tragen, daß Mohl an Moldenhawer anknüpfend, in den Ge-
fäßbündeln den Holztheil und den Baſttheil unterſchied und beide
als weſentliche Conſtituenten eines ächten Gefäßbündels betrach-
tete; nicht minder wichtig waren Mohl's Unterſuchungen über
den Längsverlauf der Gefäßbündel im Stamm und Blatt und
die Hervorhebung der Thatſache, daß bei den Phanerogamen die
im Stamm verlaufenden Stränge nur die unteren Enden der-
ſelben Gefäßbündel ſind, deren obere Enden in die Blätter hinaus-
biegen, ſowie der Nachweis, daß in dieſer Beziehung die Mono-
cotyledonen und Dicotyledonen übereinſtimmen, wenn auch die
Art des Gefäßbündelverlaufs bei beiden namhafte Unterſchiede
darbietet. Ein bedeutendes Ergebniß erzielte er in dieſer Beziehung
ſchon in ſeiner Unterſuchung über die Palmenſtämme 1831, wo
er die Unrichtigkeit der von Desfontaines aufgeſtellten, von
De Candolle ſogar zur Syſtematik verwertheten Unterſcheidung
eines endogenen und exogenen Dickenwachsthums nachwies. Nach
Desfontaines ſollte das Holz der Monocotylen in Form zer-
ſtreuter Bündel auftreten, von denen diejenigen, welche oben in
die Blätter auslaufen, aus dem Centrum des Stammes her-
kommen. Aus dieſer ſehr unvollſtändigen Beobachtung hatte er
[332]Unterſuchung des fertigen
die Anſicht abgeleitet; daß die Gefäßbündel der Monocotylen im
Centrum des Stammes entſtehen und daß dieß ſo lange ſtatt-
finde, bis die älteren erhärteten Bündel im Umkreis desſelben
eine ſo feſte Scheide bilden, daß ſie dem Andrange der jüngeren
widerſtehen, womit dann jedes weitere Dickenwachsthum desſelben
aufhören müſſe, und daß hierin die ſäulenförmige Geſtalt des
monocotylen Stammes begründet ſei. Dieſe Lehre fand allge-
meine Billigung und wurde von De Candolle dazu benutzt,
die Gefäßpflanzen überhaupt in endogene und exogene einzu-
theilen, wie denn überhaupt in der erſten Hälfte unſeres Jahr-
hunderts vielfach die Neigung hervortrat, die großen Gruppen
des Pflanzenreichs durch anatomiſche Charaktere zu unterſcheiden.
Zwar zeigte ſchon Du Petit-Thouars, daß manche monoco-
tylen Stämme ebenfalls unbegrenzt in die Dicke wachſen, es ge-
lang ihm aber ebenſowenig, wie den ſpäteren Beobachtungen
Mirbel's jene Theorie zu erſchüttern, deren Anhänger in
ſolchen Fällen außer dem Centralwachsthum auch noch ein peri-
pheriſches annahmen. Da klärte Mohl in der genannten Ab-
handlung den wahren Verlauf der Gefäßbündel im monocotylen
Stamm vollſtändig auf, womit die ganze Theorie des endo-
genen Wachsthums ſofort für jeden Urtheilsfähigen beſeitigt
wurde, wenn auch immerhin manche, ſelbſt hervorragende Syſte-
matiker den alten Irrthum noch lange conſervirten. — Was
Mohl in der vergleichenden Anatomie der Stämme leiſtete,
ſtützte ſich vorwiegend auf eine ſorgfältige Beobachtung der fer-
tigen Gewebemaſſen, und wo er auf die Entwicklungsgeſchichte
zurückging, da pflegte er doch nicht bis auf die allererſten lehr-
reichſten Entwicklungsphaſen zurückzugreifen; dieſem Umſtand iſt
es zuzuſchreiben, daß es ihm nicht gelang, die wahre Ueber-
einſtimmung und Verſchiedenheit im Bau der Baumfarne
und anderer Gefäßkryptogamen den Phanerogamen gegenüber
vollſtändig klar zu legen; nicht minder blieb er auf halbem
Wege ſtehen, als es ſich darum handelte, das nachträgliche
Dickenwachsthum der dikotylen Stämme aus der Natur ihrer
Gefäßbündel und der Entſtehung des Cambiums zu er-
[333]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
klären; die weniger auf Beobachtung, als auf ideeller Schema-
tiſirung beruhende Darſtellung des Dickenwachsthums, welche er
noch 1845 (Verm. Schr. p. 153) gab, iſt in hohem Grade un-
klar, und ſelbſt ſeine 1858 in der botaniſchen Zeitung veröffent-
lichte Abhandlung über die Cambialſchicht des Phanerogamen-
ſtammes, wo er die neueren Lehren Schleiden's und Schacht's
kritiſirt, läßt an Klarheit ſehr viel zu wünſchen übrig, wenn
auch immerhin ſeine Anſichten weſentliche Fortſchritte den
früheren gegenüber darbieten; zu einem genügenden Abſchluß
Betreffs des Dickenwachsthums des Holzkörpers und der Rinde
kam es erſt ſpäter, als man auch die Hiſtologie der Pflanzen
durchaus entwicklungsgeſchichtlich zu behandeln anfing.
Wie Mohl die Eigenartigkeit der Gefäßbündel den anderen
Gewebemaſſen gegenüber von vornherein betonte und feſthielt, ſo
erkannte er auch in der Epidermis und den verſchiedenen Formen
des Hautgewebes etwas durchgreifend Eigenthümliches und
mehr, als bei jenen, gelang es ihm hier, zu voller Klarheit durch-
zudringen. Vor Mohl's Arbeiten hatte man von der Epidermis
und den verſchiedenen anderen Formen des Hautgewebes höchſt
unklare Vorſtellungen; das Beſte und Wichtigſte, was wir gegen-
wärtig davon wiſſen, hat Mohl nachgewieſen. Ganz beſonders
wichtig wurden ſeine Unterſuchungen über die Entſtehung und
wahre Form der Spaltöffnungen 1838 und 1856, ſowie über
die Cutikula und ihr Verhältniß zur Epidermis 1842 und
1845; ganz neue Thatſachen förderte Mohl durch ſeine Unter-
ſuchungen über die Entwicklung des Korkes und der Borke 1836
zu Tage; dieſe Gewebeformen waren bis dahin kaum jemals
ſorgfältig unterſucht, ihre Entſtehung und Beziehung zur Epi-
dermis und zum Rindengewebe völlig unbekannt. In der ge-
nannten Abhandlung, einer ſeiner beſten, wurde zuerſt die Ver-
ſchiedenheit des aus Kork beſtehenden Periderms und der wahren
Epidermis dargethan, die verſchiedenen Formen des Periderms
beſchrieben, und die merkwürdige Thatſache feſtgeſtellt, daß die
Bildung der Borkeſchuppen durch die Entſtehung ſeiner Kork-
lamellen veranlaßt wird, durch welche nach und nach immer
[334]Unterſuchung des fertigen
tiefer liegende Theile der Rinde außer Zuſammenhang mit dem
übrigen lebendem Gewebe geſetzt werden, während ſie ſelbſt ab-
ſterbend ſich zu einer rauhen Kruſte anhäufen, welche als Borke
die meiſten dicken Baumſtämme umgiebt. Die Unterſuchung
war ſo gründlich und umfaſſend, daß ſpätere Beobachter, beſon-
ders Sanio 1860, nur noch feinere entwicklungsgeſchichtliche
Verhältniſſe nachzutragen vermochten. Noch in demſelben Jahr
erſchien auch die Unterſuchung über die Lenticellen, wo Mohl
jedoch überſah, was gleichzeitig Unger entdeckte (Flora 1836),
daß dieſe Gebilde unter den Spaltöffnungen entſtehen; dafür be-
richtigte er aber ſogleich die abenteuerliche Annahme Unger's,
wonach die Lenticellen ähnliche Gebilde, wie die Keimkörnerhaufen
der Jungermannien-Blätter ſein ſollten; Unger ſeinerſeits
zögerte nicht, Mohl's Deutung der Lenticellen als lokaler
Korkbildungen anzunehmen.
Bei der ſcharfen Hervorhebung der Eigenartigkeit der Ge-
fäßbündel, ſowie der verſchiedenen Hautgewebeformen von Seiten
Mohl's muß es Wunder nehmen, daß er ebenſowenig, wie die
ſpäteren Phytotomen, das Bedürfniß empfand, auch die noch
übrigen Gewebemaſſen in ihrer eigenthümlichen Gruppirung als
ein Ganzes, als ein eigenartiges Gewebeſyſtem aufzufaſſen, die
verſchiedenenen Gewebeformen desſelben zu klaſſificiren und zweck-
mäßig zu benennen, wozu ihm gerade die Unterſuchung der
Baumfarne eine Veranlaſſung hätte bieten können. Mohl be-
gnügte ſich ebenſo wie die gleichzeitigen Phytotomen, Alles, was
nicht Epidermis, Kork oder Gefäßbündel iſt, als Parenchym zu
bezeichnen, ohne dieſen Ausdruck ſcharf zu umgrenzen.
Wir verlaſſen hiemit Mohl's Thätigkeit einſtweilen, um
im folgenden Capitel noch wiederholt auf ſeine Betheiligung an
dem weiteren Fortſchritt der Phytotomie zurückzukommen. Man
kann ſich Mohl's Bedeutung für die Geſchichte unſerer Wiſſen-
ſchaft vielleicht am beſten dadurch klar machen, daß man es ver-
ſucht, die hier genannten Leiſtungen desſelben als überhaupt gar
nicht exiſtirend zu betrachten; es würde in dieſem Falle in der
neueren phytotomiſchen Literatur eine ganz ungeheure Lücke ent-
[335]Zellhautgerüſtes der Pflanzen.
ſtehen, die nothwendig erſt von anderen hätte ausgefüllt werden
müſſen, bevor der weitere Ausbau der entwicklungsgeſchichtlichen
Zellen- und Gewebelehre ſtattfinden konnte; kaum denkbar iſt,
wie ſich die ſpäteren Fortſchritte, denen wir die jetzige Form der
Pflanzenanatomie verdanken, ohne Mohl's vorgängige Leiſtungen
etwa an die Auffaſſungen Meyen's, Link's und Trevi-
ranus' hätten anſchließen ſollen.
[336]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Viertes Capitel.
Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der Gewebeformen,
Molecularſtructur der organiſirten Gebilde.
1840-1860.
Es war ſchon in den dreißiger Jahren bekannt, daß die
alten Zellbildungstheorien von Wolff, Sprengel, Mirbel
und Anderen nicht auf directe genaue Beobachtung geſtützt, ſon-
dern nur auf unbeſtimmte Wahrnehmungen hin eine ungefähre
Vorſtellung von der Entſtehung der Zellen geben ſollten. Schon
im Laufe der dreißiger Jahre wurden aber wirklich verſchiedene
Fälle der Neubildung von Zellen genau beobachtet, zum Theil
von Mirbel, vorwiegend aber von Mohl, der nicht nur ver-
ſchiedene Arten der Sporenbildung, ſondern auch ſchon 1835
den erſten Fall von vegetativer Zelltheilung beſchrieb. Dieſe an
ſich ſehr guten Beobachtungen hatten jedoch das Mißliche, daß
ſie gerade ſolche Fälle der Zellbildung betrafen, welche bei der
gewöhnlichen Vermehrung der Zellen in wachſenden Organen
nicht vorkommen und Mohl hütete ſich, aus ſeinen Beobachtungen
an Fortpflanzungszellen und an einer wachſenden Fadenalge eine
allgemeine Theorie der Zellbildung zu entwickeln: auch Mirbel
war ſo vorſichtig, die Bildung der Pollenzellen, ebenſo wie
die bei der Keimung der Sporen von ihm [angenommene] nur
als beſondere Fälle aufzufaſſen, indem er für die Entſtehung der
gewöhnlichen Gewebezellen ſeine alte Theorie feſthielt.
[337]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
Nicht ſo verfuhr Schleiden; nachdem er 1838 die freie
Zellbildung im Embryoſack der Phanerogamen ungenau beobachtet
hatte, baute er darauf ſofort eine Bildungstheorie der Zelle,
welche in allen Fällen, beſonders auch in wachſenden Organen
allgemeine Geltung haben ſollte. Die große Beſtimmtheit, mit
welcher Schleiden dieſe Theorie ausſprach und jeden Einwand
ſchroff beſeitigte, ſowie das bedeutende Anſehen, welches ſein
Name im Anfang der vierziger Jahre genoß, verfehlten nicht,
ſeiner Theorie ſofort Eingang in weiten Kreiſen zu verſchaffen
und ſelbſt die bedeutendſten Vertreter der Phytotomie, anfangs
auch Mohl nicht ausgenommen, geſtanden ihr eine gewiſſe Be-
rechtigung zu. Indeſſen handelte es ſich hier um ein Gebiet,
wo theoretiſche Erwägungen erſt in zweiter Linie maßgebend ſind,
wo dagegen directe und vielfältige Beobachtung bei ſorgfältiger
Präparation und mit ſtarker Vergrößerung die Baſis aller
weiteren Forſchung bildet. Unger zeigte ſo, daß die Vorgänge
am Vegetationspunct des Stammes mit Schleiden's Zell-
bildungstheorie ſchwer vereinbar ſind, worin ihm auch der
Engländer Henfrey beitrat; mit Energie und Conſequenz aber
ergriff zuerſt Nägeli die ebenſo wichtige als ſchwierige Frage,
wie die Zellen in den Fortpflanzungsorganen und bei dem
Wachsthum der vegetativen entſtehen, inwieweit hierin die
niederen Kryptogamen mit den Gefäßpflanzen übereinſtimmen;
anfangs von der Annahme ausgehend, daß Schleiden's
Theorie in der Hauptſache richtig ſei, führten ihn jedoch ſchon
1846 ſeine ſehr ausgedehnten Unterſuchungen zu dem Ergebniß,
daß ſie vollſtändig aufgegeben werden müſſe und Nägeli
ſelbſt lieferte die Grundzüge der gegenwärtig noch geltenden
Theorie der Zellbildung. Wie auf dem Gebiete der Morphologie
waren es auch hier die niederen Kryptogamen, welche er mit
großem Erfolg zuerſt in den Bereich der Forſchung zog und
nicht wenig trugen Alexander Braun's Beobachtungen
an ſehr einfach gebauten Algen zur weiteren Ausbildung der
Zellentheorie, beſonders aber zur Erweiterung und Berichtigung
des Begriffes Zelle bei; nicht minder waren es Hofmeiſter's
Sachs, Geſchichte der Botanik. 22
[338]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
embryologiſche Forſchungen, welche neben ihren morphologiſchen
Hauptergebniſſen auch vielfache Thatſachen zum weiteren Ausbau
der Nägeli'ſchen Zellentheorie lieferten. Je weiter dieſelbe
ſich ausbildete, deſto mehr zeigte ſich, daß die Aeußerlichkeiten
der Vorganges der Zellbildung ſehr verſchiedene ſein können,
daß vor Allem auch die früheren Beobachtungen Mohl's ein-
zelne Typen derſelben richtig darſtellten; was aber im Grunde
wichtiger war, als dieſes Ergebniß, war die ſchon von Nägeli
1846 ausgeſprochene Thatſache, daß in all' dieſen verſchiedenen
Formen der Zellbildung doch nur die Aeußerlichkeiten und Neben-
dinge abweichen, während das Weſentliche des Vorgangs überall
dasſelbe bleibt und bald ſtellte ſich heraus, daß auch die Zell-
bildung im Thierreich, die jetzt eingehender bearbeitet wurde, in
der Hauptſache mit der vegetabiliſchen übereinſtimmt, worauf
Schwann (1839) und Kölliker (1845) hinwieſen.
Es iſt unnöthig, hier auf die ganz abweichenden, überhaupt
nicht auf ſorgfältiger Beobachtung beruhenden Theorien einzu-
gehen, welche um dieſelbe Zeit Thodor Hartig und Karſten
aufſtellten; nicht weil ſie nach dem übereinſtimmenden Urtheil
aller beſſeren Beobachter unrichtig ſind, ſondern weil dieſelben
auf die Ausbildung der ganzen Lehre keinen Einfluß genommen
haben, alſo hiſtoriſch nicht weiter in Betracht kommen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Unterſuchungen
über die Entſtehung und Vermehrung der Zellen die Aufmerk-
ſamkeit der Beobachter dem lebendigen Inhalt derſelben mehr
und mehr zuwenden mußten, denn dieſer iſt es, der ſich ganz
unmittelbar an der Bildung der neuen Zellen bethätigt. Zwar
hatte man ſchon vor 1840 die verſchiedenen körnigen, kryſtal-
liniſchen und ſchleimigen Gebilde des Zellinhaltes vielfach beob-
achtet, beſonders waren es die „Bewegungen des Zellſaftes“,
denen Meyen und Schleiden ihre Aufmerkſamkeit zuwandten;
aber erſt durch die entwicklungsgeſchichtlichen Beobachtungen wurde
man im Lauf der vierziger Jahre auf eine Subſtanz aufmerkſam,
welche ſich regelmäßig bei der Entſtehung neuer Zellen betheiligt,
welche den von Robert Brown entdeckten Zellkern einhüllt
[339]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
und bei dem Wachsthum der Zellen die weſentlichſten Veränder-
ungen erleidet, welche allein den ganzen Körper der Schwärm-
ſporen darſtellt, nach deren Verſchwinden aber die Zellhäute als
ein todtes Gerüſt zurückbleiben. Dieſe den Lebensproceß der
Pflanze viel unmittelbarer als die Zellhaut tragende Subſtanz
hatte Schleiden 1838 geſehen und für Gummi gehalten,
Nägeli 1842-1846 ſorgfältiger ſtudirt und als eine ſtickſtoff-
haltige Subſtanz erkannt; 1844 und 1846 wurde ſie von
anderen Geſichtspuncten ausgehend von Mohl ebenfalls beſchrieben,
mit dem noch jetzt geltenden Namen Protoplasma belegt und
darauf hingewieſen, daß dieſe Subſtanz, nicht aber der eigent-
liche Zellſaft es iſt, welche die von Corti im vorigen Jahr-
hundert entdeckte, 1811 von Treviranus wieder an's Licht
gezogene Bewegung, die ſ. g. Rotation und Circulation in den
Zellen ausführt. Beſonders lehrreich erwieſen ſich für das
Studium dieſer merkwürdigen Subſtanz abermals die Algen;
die von Alexander Braun, Thuret, Nägeli, Prings-
heim und De Bary an Algen und Pilzen beobachteten Schwärm-
ſporen zeigten, daß das Protoplasma ganz unabhängig von der
Zellhaut lebensfähig iſt, durch innere Kräfte getrieben ſeine
Form verändern und ſelbſt Ortsbewegungen ausführen kann.
Schon 1855 wies Unger in ſeinem Lehrbuch auf die Aehnlich-
keit dieſer Subſtanz mit der ſ. g. Sarcode der niederſten
Thiere hin, eine Aehnlichkeit die noch deutlicher hervortrat als
1859 durch De Bary's Studien über die Myxomyceten klar
wurde, daß die Körperſubſtanz auch dieſer Gebilde aus Proto-
plasma beſteht, welches hier lange Zeit und oft in mächtigen
Klumpen fortlebt, um erſt ſpäter Zellhäute zu bilden. Jetzt
nahmen auch die Zootomen an dieſen Ergebniſſen der Botaniker
Intereſſe; Max Schultze (1863), Brücke, Kühne ſtudirten
das thieriſche und pflanzliche Protoplasma und mehr und mehr
gewann man im Laufe der ſechziger Jahre die Ueberzeugung,
daß das Protoplasma, die unmittelbare Grundlage ſowohl des
vegetativen wie des animaliſchen Lebens iſt; eines der bedeutenſten
Ergebniſſe der neueren Naturwiſſenſchaft.
22 *
[340]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Nicht weniger wichtige Reſultate als das Studium des Pro-
toplasmas ergab auch das der übrigen organiſirten Inhaltstheile
der Zellen: Mohl zeigte, daß die Chorophyllkörner, die wichtigſten
Ernährungsorgane der Pflanze, aus dem Protoplasma entſtehen,
Theodor Hartig erwarb ſich trotz ſeiner verfehlten Zelltheorie
ein namhaftes Verdienſt durch die Entdeckung der ſog. Aleuron-
körner in den Samen und der in ihnen zuweilen vorkommenden
cryſtallähnlichen Einſchlüſſe, Gebilde, welche ebenfalls aus dem
Protoplasma entſtehen und deren Subſtanz zur Neubildung von
ſolchen verwendet wird; Radlkofer, Nägeli u. A. förderten
die Kenntniß der Aleuronkörner, bezüglich ihrer Form und
chemiſchen Zuſammenſetzung. Zu ganz beſonderen Ergebniſſen
aber führte eine ebenſo umfaſſende, als tief eindringende Unter-
ſuchung, welche Nägeli den ſchon ſo oft, zumal von Payen
unterſuchten Stärkekörnern widmete; das Reſultat derſelben war
ein umfangreiches, nicht nur in der Phytotomie, ſondern für die
Kenntniß der organiſirten Körper überhaupt epochemachendes
Werk, welches 1858 unter dem Titel „die Stärkekörner“ erſchien.
Unter Anwendung von Unterſuchungsmethoden, welche bis dahin
der geſammten Mikroſkopie fremd waren, gelangte Nägeli zu
beſtimmten Vorſtellungen über die Molekularſtruktur der Stärke-
körner und über ihr Wachsthum durch Einlagerung neuer Mo-
lekule zwiſchen die vorhandenen. Dieſe an den Stärkekörnern
ausgebildete Intuſſuſceptionstheorie war aber deshalb von ſo
großer Wichtigkeit, weil ſie ſich unmittelbar auch zur Erklärung
des Wachsthums der Zellhaut benutzen, überhaupt auf die
Molekularvorgänge bei der Entſtehung und Veränderung organi-
ſirter Gebilde übertragen ließ, während ſie zugleich Rechenſchaft
gab von einer langen Reihe merkwürdiger Erſcheinungen, zumal
von dem Verhalten der organiſirten Körper im polariſirten Licht.
Nägeli's Molekulartheorie iſt der erſte glückliche Verſuch, die
mechaniſch-phyſikaliſche Betrachtung auch auf das organiſche Leben
anzuwenden und ohne Zweifel die tiefſte Gedankenarbeit, welche
bis jetzt die geſammte Botanik aufzuweiſen hat.
Indem ſich die beſten Kräfte der Löſung ſo ſchwieriger
[341]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
Probleme widmeten, blieb doch auch die weitere Ausbildung der
eigentlichen Gewebelehre ſeit den vierziger Jahren nicht zurück.
Auch hier war es ganz vorwiegend Nägeli, welcher der
weiteren Entwicklung den Anſtoß und die Richtung gab; ſchon
in ſeiner mit Schleiden herausgegebenen Zeitſchrift (1844-46)
publicirte er eingehende Unterſuchungen über die erſte Entſtehung
der Gefäßbündel aus dem gleichartigen Urgewebe; bei den Krypto-
gamen, entdeckte er die Entſtehung der geſammten Gewebemaſſe
der ganzen Pflanze aus der Scheitelzelle des fortwachſenden
Stammes; eine Entdeckung, welche zunächſt von Hofmeiſter
weitergeführt; in den letzten zwanzig Jahren eine umfangreiche
Literatur hervorgerufen hat, welche ebenſoſehr der Theorie der
Gewebebildung, wie der Morphologie und in Folge deſſen auch
der Syſtematik zu gute kommt. Hofmeiſter's, Nägeli's,
Hanſtein's, Sanio's u. a. Unterſuchungen über die erſte
Entſtehung der Gefäßbündel aus dem Urgewebe der jungen
Organe führte zu umfaſſenden Ergebniſſen auch für die Mor-
phologie, inſofern erſt jetzt der morphologiſche Werth anatomiſcher
und hiſtologiſcher Verhältniſſe ſich beurtheilen ließ. Die für die
Pflanzenphyſiologie ſo wichtige Thatſache des Dickenwachsthums
der Holzpflanzen wurde ebenfalls erſt verſtändlich, als man die
erſte Entſtehung der Gefäßbündel und ihre wahre Beziehung zum
Cambium kennen lernte; Hanſtein und Nägeli, dann aber
ganz beſonders Sanio, brachten vor und nach 1860 die mit
dem Dickenwachsthum verbundenen Fragen der Hauptſache nach
in's Reine. Das Jahr 1860 brachte außerdem noch eine, wenn
auch vereinzelte, ſo doch höchſt wichtige Entdeckung auf dem Ge-
biete der Phytotomie; Schacht, deſſen phytotomiſche Thätigkeit
ſonſt nicht gerade eine erſprießliche war, erwarb ſich das Ver-
dienſt, die Entwicklungsgeſchichte der gehöften Tüpfel feſtzuſtellen
und zu zeigen, daß, wo im Holzkörper Zellwandungen auf beiden
Seiten mit ſolchen verſehen ſind, die Zellhöhlen ſich mit Luft
füllen, indem die urſprüngliche Scheidewand im Tüpfel ver-
ſchwindet, daß alſo offene Communication zwiſchen den benach-
barten Zellen und Gefäßen dieſer Art hergeſtellt wird. In ähn-
[342]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
lichem Sinne iſt auch Th. Hartig's frühere Entdeckung der
Siebröhren im Baſtgewebe hervorzuheben; die Klärung des alten
Begriffs der „eigenen Gefäße“, ihre Unterſcheidung in ſafthaltige
Intercellulargänge, in Milchgefäße und Milchzellen u. dgl. fällt
zum großen Theil erſt in die Jahre nach 1860.
Wenn ich nun dazu übergehe, zu zeigen, wie die erwähnten
bedeutenden Reſultate erzielt wurden, ſo bieten ſich manche
Schwierigkeiten. Seit 1840 wuchs die botaniſche Literatur zu
einer früher unbekannten Fülle heran, neben umfangreicheren
Werken, welche einzelne Theile der Phytotomie monographiſch
behandeln und neben einigen Lehrbüchern, ſind es vorwiegend
die in den botaniſchen Zeitſchriften enthaltenen kleineren Aufſätze,
aus denen man die weitere Entwicklung des wiſſenſchaftlichen
Gedankens zuſammenſuchen muß. So ſehr auch die Gründung
der wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften dazu beigetragen hat, den Ver-
kehr der Fachmänner zu beſchleunigen, ſo erſchwert dieſe Form
der Literatur doch anderſeits die Orientirung über das in früheren
Jahrzehnten Geleiſtete und die Auffindung des hiſtoriſchen Zu-
ſammenhangs in der Wiſſenſchaft; des Schadens gar nicht zu
gedenken, den das Zeitſchriftenweſen bei angehenden, jüngeren
Fachmännern anzurichten pflegt. Um bei dieſem Zuſtand der
hier in Betracht kommenden Literatur eine einigermaßen über-
ſichtliche Darſtellung zu gewinnen, werde ich hier abweichend von
den früheren Capiteln nicht mehr an die einzelnen Hauptperſonen
anknüpfen, ſondern die wichtigeren Fragen in ihrer geſchichtlichen
Entwicklung verfolgen. Dieſes Verfahren iſt ſchon inſofern ge-
boten, als wir hier nicht mehr auf eigentlich hiſtoriſchen Boden
ſtehen, denn noch lebt die Mehrzahl der Männer, welche die
Entwicklung der neuen Lehren ſeit 1840 bewirkt haben, und
zweifelhaft bleibt es, ob die hier verſuchte Darſtellung nicht auf
Widerſpruch in dieſem oder jenem Sinne ſtößt. Denn bei der
außerordentlichen Meinungsverſchiedenheit, wie ſie unter den Bo-
tanikern ſelbſt über die umfaſſendſten Fragen der Wiſſenſchaft
[343]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
beſteht, iſt es ſehr ſchwer, das herauszufinden, was als wiſſen-
ſchaftliches Gemeingut betrachtet werden darf, ein Uebelſtand, an
welchem vielleicht keine andere Wiſſenſchaft ſo ſehr wie die Botanik
leidet.
In wieweit die einzelnen Botaniker an der Fortbildung der
Phytotomie während des hier betrachteten Zeitraums ſich be-
theiligt haben, wird aus der folgenden Darſtellung von ſelbſt
hervorgehen; wenn dabei faſt nur von Deutſchen die Rede iſt,
ſo liegt die Urſache einfach darin, daß die Engländer ſeit Grew
bis auf die neueſte Zeit zur Fortbildung der Phytotomie ſo gut
wie gar Nichts beigetragen haben; auch die früher durch Mal-
pighi ſo großartig vertretenen Italiener bei den hier behandelten
Fragen kaum noch in Betracht kommen, während die franzöſiſchen
Botaniker, in dem vorigen Zeitraum durch Mirbel vertreten,
zwar auch ſpäter noch zahlreiche phytotomiſche Arbeiten lieferten,
ohne ſich jedoch an der Entſcheidung der hier allein behandelten
fundamentalen Fragen weſentlich zu betheiligen.
Wenn wir in der vorhergehenden Periode noch der fort-
ſchreitenden Ausbildung des Mikroſkops Rechnung tragen mußten,
um die Entwicklung der Anſichten von der Pflanzenſtruktur zu
verſtehen, ſo iſt dieß dagegen nach 1840 kaum noch nöthig. Gute
und brauchbare Mikroſkope mit ſtarker Vergrößerung und klarem
Geſichtsfeld ſtanden ſeit dieſer Zeit jedem Phytotomen zu Gebote
und wenn die Inſtrumente auch bis auf den heutigen Tag noch
immer vervollkommnet werden, ſo waren doch die in den vier-
ziger und fünfziger Jahren allgemein verbreiteten in den Händen
geſchickter Beobachter völlig ausreichend zur Entſcheidung der neu-
geſtellten Fragen. Die weſentlichſte Verbeſſerung, welche das
Mikroſkop in dieſem Zeitraum erfuhr, war offenbar die Ein-
richtung desſelben für den Polariſationsapparat und für be-
quemere Meſſung der Objekte; wir werden weiter unten
ſehen, welchen Einfluß zumal die erſtgenannte Einrichtung auf
die Ausbildung von Nägeli's Molekulartheorie gewann. —
Je beſſer die Mikroſkope wurden, und je ſchwieriger die
Fragen, um deren Entſcheidung es ſich handelte, deſto mehr
[344]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Sorgfalt mußte fortan auch auf die Präparate ſelbſt verwendet
werden: es genügte nicht mehr, gut zu ſchneiden oder zu zerfaſern
und die Form der feſten Theile des Pflanzenbaues kennen zu
lernen; vielmehr wurden Vorſichtsmaßregeln und Hülfsmittel der
verſchiedenſten Art nöthig, um auch die weichen Inhaltsmaſſen
der Zellen zu klarer Anſchauung zu bringen, das Protroplasma
wo möglich im lebenden Zuſtand und geſchützt gegen ſchädliche
Einflüſſe zu beobachten; die verſchiedenſten chemiſchen Reagentien
fanden Anwendung, theils um die Objecte durchſichtiger zu machen,
theils um ihre phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften zu er-
kennen; beſondere Erwähnung verdient außerdem die von Franz
Schultze ſchon vor 1851 entdeckte Methode, die Zellen durch Kochen
in einem Gemenge von Salpeterſäure und chlorſaurem Kali binnen
wenigen Minuten zu iſoliren und ſo das von Moldenhawer an-
gewendete Macerationsverfahren (durch Fäulniß) abzukürzen, wenn
auch nicht ganz zu erſetzen. Mit Einem Wort, die mikroſkopiſche
Technik wurde von Schleiden, Mohl, Nägeli, Unger, Schacht,
Hofmeiſter, Pringsheim, De Bary, Sanio u. A. nach
den verſchiedenſten Seiten hin ausgebildet, zu einer Kunſt erhoben,
welche wie jede andere gelernt und geübt ſein will. Den jüngeren
Mikroſkopikern war ſeit den fünfziger Jahren Gelegenheit geboten,
dieſe Kunſt in den Laboratorien der Aelteren ſich anzueignen und ſo
die techniſche Erfahrung und den wiſſenſchaftlichen Rath derſelben
ſich zu Nutze zu machen; es entſtanden phytotomiſche Schulen,
wenigſtens an deutſchen Univerſitäten; anderwärts blieb es frei-
lich noch bei den früheren Zuſtänden, wo jeder verſuchen mußte,
auf eigene Hand ganz von vorn anzufangen.
Die allgemeine Verbreitung guter Mikroſkope brachte es mit
ſich, daß man, zumal ſeit Mohl den richtigen Weg betreten
hatte, nunmehr auch höhere Anforderungen an die Ausführung
mikroſkopiſcher Bilder ſtellte; und in dieſer Beziehung kam dem
wiſſenſchaftlichen Bedürfniß die Erfindung des Steindruckes eben-
ſoſehr, wie das Wiederaufleben des Holzſchnittes zu ſtatten, wo-
durch die koſtſpielige Herſtellung von Kupfertafeln vermieden
wurde. Die Zahl und Schönheit der mikroſkopiſchen Bilder
[345]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
wuchs daher nicht blos bei wiſſenſchaftlichen Monographieen, ſon-
dern auch die Lehrbücher konnten jetzt mit zahlreichen Abbildungen
ausgeſtattet werden, wodurch die Verſtändigung über Dinge,
welche jeder nur einzeln für ſich ſehen kann, ſehr gefördert wurde.
Seit dem Ende des ſechzehnten Jahrhunderts war der Holzſchnitt
immer mehr in Verfall gerathen und durch Kupferſtich erſetzt
worden; erſt in den vierziger und fünfziger Jahren trat der
Holzſchnitt wieder in ſein altes Recht und erwies ſich zumal für
die Lehrbücher als eine viel bequemere Art der bildlichen Dar-
ſtellung; ſo wurden ſchon Schleiden's Grundzüge 1842,
Mohl's „vegetabiliſche Zelle“ 1851, ſodann Unger's und
Schacht's Lehrbücher durch zahlreiche zum Theil ſehr ſchöne
Holzſchnitte bereichert. Für Zeitſchriften und Monographieen zog
man gewöhnlich den Steindruck vor, ſo wurde z.B. die 1843
von Mohl und Schlechtendal gegründete botaniſche Zeitung
bis in die ſechziger Jahre hinein das Hauptorgan für kürzere
phytotomiſche Mittheilungen, durch ebenſo zahlreiche als ſchöne
Tafeln aus dem Atelier des Berliner Lithographen Schmidt
bereichert.
1. Entwicklung der Zellbildungstheorie von 1838-1851.
Da es ſich hier um Fragen von ganz fundamentaler Be-
deutung, nicht nur für eine Disciplin, ſondern für die geſammte
Botanik und ſogar für die übrigen Naturwiſſenſchaften handelt,
ſo ſcheint es geboten, die Begründung und Ausbildung der
Zellentheorie, ähnlich wie ich es ſpäter bei der Sexualtheorie thun
werde, Schritt für Schritt, ſoweit es der hier gegönnte enge
Raum geſtattet, zu verfolgen.
Wie gewöhnlich auf dem Gebiet der induktiven Wiſſenſchaften
ging auch hier der ſtreng induktiven Forſchung eine längere Zeit
voraus, wo man auf höchſt unvollkommene Wahrnehmungen ge-
ſtützt, doch ſchon allgemeine Theorieen aufzuſtellen wagte. Es
wurde ſchon gezeigt, wie Caspar Friedrich Wolff 1759
die Zellen als Vacuolen in einer homogenen Galert entſtehen
ließ, worin ſich ihm noch bis tief in unſer Jahrhundert herein
[346]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Mirbel der Hauptſache nach anſchloß; wie dann ferner Kurt
Sprengel und mit ihm eine Reihe ſpäterer Phytotomen,
Treviranus noch bis in die dreißiger Jahre hinein, die Zelle aus
kleinen Körnchen und Bläschen des Zellinhaltes entſtehen ließen,
eine Annahme, welcher Link 1807 zwar entgegentrat, der er jedoch
ſpäter in der Hauptſache beiſtimmte. Obgleich ſchon Molden-
hawer (Beiträge 1812 p. 70) dieſe Zellbildungstheorien be-
ſtimmt abwies und Wahrnehmungen bekannt machte, welche weiter
verfolgt, auf den richtigen Weg geführt haben würden, ſo blieben
doch die Genannten und Andere noch lange bei ihrer früheren An-
ſicht ſtehen. Kiefer z. B. (Mem. s. l'org. 1812) bildete die An-
ſicht von Treviranus, daß auch die feinen Körnchen im Milch-
ſaft Zellenkeime ſeien, die dann in den Interzellularräumen ausge-
brütet werden, noch weiter aus. Schultz-Schultzenſtein (die
Nat. d. leb. Pfl. 1823-28 I. p. 607) verwarf dieſe Anſichten
und ließ die Zellen in ähnlicher Weiſe wie Wolff und Mirbel
entſtehen. — Kaum beſſer als die von Sprengel, Trevi-
ranus und Kiefer vertretene Anſicht von den Zellkeimen war
übrigens auch die in den vierziger Jahren von Karſten aufgeſtellte
Zellentheorie, welcher ſchon in den zwanziger Jahren in Frank-
reich die von Raspail und Turpin1) aufgeſtellten, wenn
auch mit anderer Nomenclatur auftretenden, doch in der Haupt-
ſache der Sprengel'ſchen ſich anſchließenden Anſichten voraus-
gegangen waren.
Es war Mirbel gegönnt, wie am Anfang des Jahr-
hunderts, auch dreißig Jahre ſpäter noch einmal in die Fort-
bildung der Phytotomie mit wichtigen, wenn auch zum Theil
unrichtig gedeuteten Wahrnehmungen einzugreifen und auch dieß-
mal war es ein deutſcher Forſcher, Mohl, der ſeine Beobachtungen
und Anſichten berichtigte.
In ſeiner berühmten Abhandlung über die Marchantia
polymorpha, deren erſten Theil Mirbel 1831-1832 der
[347]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
pariſer Akademie verlegte, die aber erſt 1835 in den Mém. de
l'Acad. roy l'instit. de France T. 13 erſchien, ſtellte Mirbel
drei verſchiedene Arten von Zellbildung auf; bei der Keimung
der Sporen dieſer Pflanze ſollten aus dem Keimſchlauch neue
Zellen hervorſproſſen, aus denen ſich derſelbe Vorgang wieder-
hole, alſo ungefähr ſo, wie es bei der Sproſſung der Hefepilze
wirklich ſtattfindet; eine zweite Form der Zellbildung glaubte er
bei der Anlage der Brutknoſpen von Marchantia zu finden, wo
er offenbar die ſucceſſive auftretenden Theilungswände ſah, den
Vorgang aber im Ganzen unrichtig auffaßte; bei dem weiteren
Wachsthum der Brutknoſpen und in anderen Fällen des Wachs-
thums ſollten die jungen Zellen jedoch, ſeiner alten Anſicht ent-
ſprechend, zwiſchen den vorhandenen auftreten.
Wie fremdartig dieſe Vorgänge damals noch erſchienen, zeigt
Mohl's 1835 als Diſſertation gedruckte, 1837 in der „Flora“
wiederholte Abhandlung „über die Vermehrung der Pflanzen-
zellen durch Theilung“, wo er Mirbel's erwähnte Angaben zwar
mit einigen Zweifeln anſieht, ſie aber doch im Ganzen gelten
läßt, während er ſeine eigenen viel zahlreicheren und beſſeren
Beobachtungen über die Entwicklung der Sporen Flora 1833
nur ganz gelegentlich erwähnt, obgleich er hier bereits ver-
ſchiedene Fälle von Zelltheilung und freier Zellbildung deutlich
genug geſehen hatte. Auch hatte ſchon Adolph Brongniart
(Ann. d. sc. nat. 1827) die Entſtehung der Pollenkörner in
ihren Mutterzellen bei Cobaea scandens, wenn auch ſehr un-
vollkommen beobachtet und Mirbel im Anhang zu ſeiner er-
wähnten Unterſuchung die Entſtehung der Pollenzellen vortrefflich
abgebildet und naturgetreu beſchrieben und dennoch unterließ es
Mohl dieſe wichtigen Beobachtungen mit ſeinen eigenen über
die Zelltheilung zu vergleichen; ja ſelbſt 1845, wo er die letz-
teren neu bearbeitet in den vermiſchten Schriften herausgab,
überſah er noch die naheliegenden Beziehungen zwiſchen der Bil-
dung jener Pollenkörner und der Sporen mit der Zelltheilung
bei Cladophora. Dennoch iſt dieſe Abhandlung Mohl's
von großer Bedeutung für die Geſchichte der Zellbildungstheorie
[348]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
weil hier zum erſten Mal eine Zelltheilung Schritt für Schritt
und mit Hervorhebung aller wichtigen Puncte beſchrieben wurde.
Auch hatte ſchon 1832 Dumortier Zelltheilungen beobachtet 1)
1836 Morren die Theilung der Closterien geſehen, ohne
jedoch das nöthige Detail beizufügen. Uebrigens dehnte Mohl
ſeine bei Cladophora gemachten Erfahrungen auch auf einige
andere Fadenalgen aus, und wies er auf die Aehnlichkeit dieſer
Vorgänge mit der Theilung der Diatomeen hin, die er deßhalb
gegen Ehrenberg, der ſie für Thiere hielt, als Pflanzen in
Anſpruch nahm (Flora 1836 p. 492).
Auf Mohl's Beobachtungen an Cladophora geſtützt,
erklärte ſodann Meyen im zweiten Band ſeines neuen Syſtems
1838 die Zelltheilung für einen ſehr gewöhnlichen Vorgang bei
Algen, Fadenpilzen und Charen, ohne jedoch die Vorgänge, durch
welche die Theilung eingeleitet und beendigt wird, näher zu unter-
ſuchen. Beachtenswerth iſt übrigens Meyen's Vergleichung
dieſer Fälle der Zellbildung mit der Entſtehung der Sporen,
Pollenkörner und Endoſpermzellen, inſofern dabei doch wenigſtens
ein Verſuch gemacht iſt, die jetzt ſogenannte freie Zellbildung von
der Zelltheilung zu unterſcheiden; denn der Mangel dieſer Unter-
ſcheidung war es offenbar, der eine richtigere Einſicht auf dieſem
ganzen Beobachtungsgebiet lange Zeit ſtörte. Hätte man, wie
es nach den vorliegenden Beobachtungen nahe lag, dieſe beiden
Zellbildungsformen richtig auseinandergehalten, ſo wäre Schlei-
den's Theorie von vornherein unmöglich geweſen, die Entwick-
lung der Zellentheorie wäre nicht auf den Abweg gerathen, den
Schleiden ſeit 1838 einſchlug, nämlich die freie Zellbildung,
wie er ſie im Embryoſack der Phanerogamen beobachtet zu haben
glaubte, auch auf die Vermehrung der Zellen in vegetativen wach-
ſenden Organen zu übertragen, ſie überhaupt für die einzige
Form der Zellbildung auszugeben. Dieß wäre um ſo weniger
möglich geweſen, als Mohl in demſelben Jahr ſchon die Ent-
wicklung der Spaltöffnungen durch Theilung einer jungen Epi-
[349]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
dermiszelle und ſpätere Spaltung der Scheidewand in zwei La-
mellen ganz zutreffend beſchrieb. Aber Mohl hielt ſich auch in
den nächſten Jahren mit einer mehr als gerechtfertigten Vorſicht
von allen theoretiſchen Betrachtungen über die ihm klar vor-
liegenden Fälle fern, ſelbſt 1845, wo ſchon Unger und Nä-
geli gute Beobachtungen über die Entſtehung der Gewebezellen
wachſender Organe gemacht hatten, blieb er noch immer un-
ſchlüſſig (Verm. Schriften 1845 p. 336).
Schleiden's Zellbildungstheorie entſtand aus einer ſchwer
begreiflichen Verſchmelzung unklarer Beobachtungen und vorge-
faßter Meinungen, ja ſie erinnert in der Hauptſache ſtark an
die alte Theorie von Sprengel und Treviranus; obgleich
dieſe von Schleiden ſcharf abgewieſen wurden, ließ doch auch
er die neuen Zellen zunächſt aus ſehr kleinen Körnchen hervor-
gehen und ebenſowenig wie bei jenen, lag auch ſeiner Theorie
eine in allen Puncten durchgeführte Beobachtung zu Grunde.
Robert Brown hatte 1831 (ſiehe deſſen vermiſchte Schrif-
ten von Nees von EſenbeckV. p. 156) den Zellkern zunächſt
in der Oberhaut der Orchideen entdeckt und ſeine große Ver-
breitung in den Gewebezellen der Phanerogamen nachgewieſen,
im Uebrigen aber aus der Entdeckung Nichts weiter zu machen
gewußt. Der Zellkern blieb ruhig liegen, bis ihn Schleiden
plötzlich zur Seele ſeiner Theorie, zum Ausgangspunct jeder
Zellbildung machte. Den übrigen ſchleimigen Inhalt der Zelle,
in welchem Schleiden ohne Angabe genügender Gründe,
Gummi als Hauptbeſtandtheil vorausſetzte, betrachtete er als die
Bildungsſubſtanz des Zellkerns, die er als Cytoblaſtem bezeich-
nete, während der Zellkern ſelbſt den Namen Cytoblaſt erhielt.
Da ſein Cytoblaſtem mit Jodlöſungen, wie er angiebt, gelb
und granulös wird, ſo dürfen wir in demſelben unſer Proto-
plasma wiederfinden.
Um Schleiden's Zellbildungstheorie in ihrer urſprüng-
lichen Form kennen zu lernen, wenden wir uns an ſeinen Auf-
ſatz: „Beiträge zur Phytogeneſis“ (Archiv für Anatomie, Phy-
ſiologie u. ſ. w. von Johannes Müller 1838). Die Ab-
[350]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
handlung beginnt mit einigen Auseinanderſetzungen über das
allgemeine Grundgeſetz der menſchlichen Vernunft u. ſ. w., be-
handelt die Literatur über die Zellbildung auf einigen Zeilen,
wo Mohl's zahlreiche Beobachtungen nicht erwähnt werden,
geht dann auf das allgemeine Vorkommen des Zellkerns über,
der bei dieſer Gelegenheit umgetauft wird, beſchäftigt ſich dann
mit Gummi, Zucker, Stärkemehl, um ſchließlich zur Sache ſelbſt
überzugehen. Zwei Stellen in der Pflanze ſeien es, wo ſich am
leichteſten und ſicherſten die Bildung neuer Organiſation beobachten
läßt, nämlich im Embryoſack und im Ende des Pollenſchlauchs,
in welchem nach Schleiden's Befruchtungstheorie die erſten
Zellen des Embryos entſtehen ſollen, wo jedoch thatſächlich gar keine
Zellen entſtehen. An beiden Orten bilden ſich nun nach Schlei-
den im Gummiſchleim ſehr bald kleine Körnchen, wodurch die
bis dahin homogene Gummilöſung ſich trübt. Dann zeigen ſich
einzelne größere, ſchärfer gezeichnete Körnchen, die Kernkörperchen
und bald nachher treten auch die Cytoblaſten auf, die gleichſam
als granulöſe Coagulationen aus jener Körnermaſſe erſcheinen;
in dieſem freien Zuſtand wachſen die Cytoblaſten noch bedeutend,
ſobald ſie aber ihre völlige Größe erreicht haben, erhebt ſich auf
ihnen ein feines durchſichtiges Bläschen; dies iſt die junge Zelle
die anfangs ein ſehr flaches Kugelſegment darſtellt, deſſen plane
Seite vom Cytoblaſten, deſſen konvexe von der jungen Zelle
(der Zellhaut) gebildet wird, die auf jenem ungefähr wie ein
Uhrglas auf einer Uhr aufſitzt. Allmählig dehnt ſich aber das
Bläschen mehr aus, wird conſiſtenter und die Wandung beſteht
nun mit Ausnahme des Cytoblaſten, der ſtets einen Theil der
Wand bildet, aus Galerte. Nach und nach wächſt die Zelle
über den Rand des Cytoblaſten hinaus und wird raſch ſo groß,
daß der letztere nur noch als ein kleiner, in einer der Seiten-
wände eingeſchloſſener Körper erſcheint. Bei fortſchreitendem
Wachsthum und bedingt durch den gegenſeitigen Druck der Zellen
wird ihre Geſtalt regelmäßiger und geht dabei häufig in die von
Kieſer aus naturphiloſophiſchen Gründen angenommene Grund-
form des Rhombendodekaëders über. Erſt nach der Reſorption
[351]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
des Cytoblaſten fängt die Bildung ſekundäre[r] Ablagerungen,
wovon jedoch einige Ausnahmen ſtatuirt werden, auf der inneren
Fläche der Zellwand an. Schleiden glaubt nun (p. 148) mit
Recht annehmen zu dürfen, daß der geſchilderte Vorgang das
allgemeine Bildungsgeſetz für das vegetabiliſche Zellengewebe bei
Phanerogamen ſei. Es wird noch ausdrücklich hinzugefügt, daß
der Cytoblaſt niemals frei im Innern der Zelle liegen könne,
daß er vielmehr immer in eine Duplikatur der Zellwandung ein-
geſchloſſen ſei und ferner wird hervorgehoben, es ſei ein ganz
unbedingtes Geſetz, daß jede Zelle (abgeſehen vorläufig vom
Cambium) als ganz kleines Bläschen entſteht und erſt allmählig
zu der Größe ſich ausdehnt, die ſie im ausgebildeten Zuſtand
zeigt. Die Aehnlichkeit dieſer Anſicht mit der von Sprengel
und Treviranus aufgeſtellten wird noch erhöht, wenn wir
weiterhin leſen, daß von den in den Sporen von Marchantia
enthaltenen Zellkeimen meiſt nur zwei bis vier zur Bildung von
Zellen dienen, die anderen dagegen ſich mit Chlorophyll über-
ziehen und ſo dem Lebensprozeß entzogen werden. Wer die auf
ebenſo zahlreiche als ſorgfältige ſpätere Unterſuchungen gegründete
neuere Anſicht von den Vorgängen der freien Zellbildung kennt,
wird in dem Voranſtehenden ſchwerlich eine einzige richtige Be-
obachtung finden.
Bald darauf (Linnaea 1839 p. 272) theilte Mohl ſeine
ſorgfältigen und in allen Hauptpuncten zutreffenden Beobachtungen
über die Theilung der Sporenmutterzellen von Anthoceros
mit, wo er mit Bezugnahme auf Mirbel's frühere Angaben
hervorhebt, daß die Theilung durch den ſchleimigen Inhalt ſelbſt
bewirkt werde, daß nicht das Hineinwachſen von Zellhautleiſten
eine paſive Theilung des Inhalts der Mutterzelle bewirke.
Der Erſte, der ſich direkt gegen Schleiden's Lehre aus-
ſprach, war Unger1), der in der Linaea 18[4]1 p. 389 ſeine
[352]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
1)
Beobachtungen am Vegetationspunct mittheilte und aus der
Größe und Lagerung der Zellen ſchloß, daß hier die Gewebe-
zellen, durch Theilung, nicht aber in der von Schleiden an-
gegebenen Weiſe entſtehen. Bald darauf beobachtete auch
Nägeli (Linnaea 1842 p. 252) die Zellbildungsvorgänge
in Wurzelſpitzen, die er jedoch nicht als Theilungen auffaßte;
er ſah je zwei Kerne und um dieſe zwei Zellen in der Mutter-
zelle entſtehen und erklärte die Bildung der Scheidewand durch
das Zuſammenſtoßen der beiden neuen Zellen und ähnlich ſei
[353]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
die Sache auch bei den Spaltöffnungen und in den Pollenmut-
terzellen, eine Auffaſſung, die ſich zur Noth mit Schleiden's
Theorie vertrug, ſich von ihr aber dadurch unterſchied, daß hier
weſentliche Vorgänge richtig geſehen, nur noch zum Theil un-
richtig gedeutet waren. In demſelben Jahr erſchien bereits die
erſte Auflage von Schleiden's Grundzügen der wiſſenſchaft-
lichen Botanik, wo die bereits mitgetheilte Zellbildungstheorie
in präciſerer Faſſung wiederholt wurde. Wie ſehr es ihm Ernſt
um dieſelbe war, zeigt ſeine nochmalige Darſtellung dieſer
Theorie in ſeinen „Beiträgen zur Botanik“ 1844, wo er darauf
dringt, daß ſeine Art der Zellbildung die allgemeine, wenn auch
zunächſt nur bei den Phanerogamen ſichergeſtellte ſei. Wie ſehr
aber eine vorgefaßte Meinung einen Beobachter umſtricken kann,
lehrt Schleiden's Vermuthung, daß die Bildung der Zygo-
ſporen bei Spirogyra nach ſeiner Theorie ſtattfinde, obgleich
kein Fall der Zellbildung denkbar iſt, der leichter zu beobachten
und mit Schleiden's Theorie weniger vereinbar wäre. Wie
ſchon im erſten Buch erwähnt, war der merkwürdige Vorgang
der Zygosporenbildung der Algengattung Spirogyra ſchon Hed-
wig und Baucher bekannt; er wurde aber bis auf Schlei-
den's Zeit überhaupt gar nicht als ein Beiſpiel der Zellbildung
betrachtet und inſofern lag in der That ein Fortſchritt in
Schleiden's Aeußerung, als er einen nach den damaligen
Begriffen ſo höchſt eigenthümlichen Vorgang überhaupt dem Be-
griff der Zellbildung ſubſumirte.
Mit dem Jahre 1844 begann die methodiſche, auf ſorg-
fältige Beobachtung und umſichtige Erwägungen gegründete
Bearbeitung der Zellentheorie. Faſt gleichzeitig in dieſem Jahr
erſchienen die ſehr ausführlichen Unterſuchungen Nägeli's über
das Vorkommen des Zellkerns und über die wandſtändige Zell-
bildung, d. h. die Zelltheilung; ferner die von Mohl über den Pri-
mordialſchlauch und ſein Verhalten bei der Zelltheilung im jungen
Gewebe und endlich die von Unger über die „merismatiſche Zell-
bildung (Zelltheilung) als allgemeinen Vorgang beim Wachsthum der
Organe.“ Da es dieſen Beobachtern zunächſt darauf ankam,
Sachs, Geſchichte der Botanik. 23
[354]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
die Richtigkeit und allgemeine Giltigkeit der Schleiden'ſchen
Theorie zu prüfen, ſo mußten ſie vor Allem auf das allgemeine
Vorkommen des Zellkerns und auf ſeine Lagerung an der Seite
der Zellwand achten, denn dieß waren die der Beobachtung und
der Kritik zugänglichſten Momente. Bei der Diskuſſion der Be-
obachtungen trat ein in dem bisherigen Sprachgebrauch liegender
Uebelſtand hervor, indem man mit dem Wort Zelle für gewöhn-
lich zwar nur die Zellhaut, unter Umſtänden aber auch die
Geſammtheit des ganzen Zellkörpers verſtand; auch hatte man
bisher den protoplasmatiſchen Inhalt der Zellen von den übrigen
Contentis noch nicht ſcharf geſchieden.
Nägeli und Mohl erwarben ſich gleichzeitig das Ver-
dienſt, die Begriffe in dieſer Beziehung zu klären, indem Mohl
den Primordialſchlauch 1844 als einen nicht zur Zellhaut gehörigen
Beſtandtheil des Zellinhaltes erkannte, ſeine Betheiligung an der
Zelltheilung nachwies, und 1846 das Protoplasma als ſolches
in ſeiner Eigenartigkeit dem übrigen Zellinhalt gegenüber erkannte
und mit dem noch jetzt üblichen Namen belegte. Unterdeſſen
hatte auch Nägeli das Protoplasma von den übrigen Contentis
unterſchieden und ſeine hervorragende Bedeutung für die Zell-
bildung, ſowie ſeine ſtickſtoffhaltige Beſchaffenheit hervorgehoben.
Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Unterſuch-
ungen über die Zellbildungsvorgänge die Beobachter nöthigten,
diejenigen Orte aufzuſuchen, wo Zellbildung wirklich ſtattfindet,
wobei ſich denn bald die Thatſache herausſtellte, daß nicht in
allen, nicht einmal in allen wachſenden Theilen der Pflanze,
Zellen im status nascendi zu finden ſind, daß vielmehr nur in
den ſogenannten Vegetationspuncten der Stämme und Wurzeln,
in den jüngſten Seitenorganen derſelben, und bei den Holzpflanzen
zwiſchen Rinde und Holz die Orte zu ſuchen ſind, wo gewöhnlich
neue Zellen entſtehen. Um dieſe Zeit begann man auch dem
Wort Cambium, welches Mirbel früher im Sinne eines die
Pflanze durchtränkenden Nahrungsſaftes benutzt hatte, einen andern
Begriff unterzulegen; man gewöhnte ſich, das Wort auf ſolche
Gewebemaſſen anzuwenden, in denen Neubildung von Zellen
[355]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
ſtattfindet, beſonders auch auf diejenige ſehr dünne zwiſchen Holz
und Rinde liegende Gewebeſchicht, aus welcher ſich die Holz- und
Rindenlagen der Holzpflanzen regeneriren, eine Schicht, welche
nach Mirbel's Theorie als eine ſulzige Saftmaſſe gegolten
hatte, in welcher neue Zellen als Vacuolen entſtehen.
Unger trat 1844 (Bot. Ztg. bei Gelegenheit einer Unter-
ſuchung über das Wachsthum der Internodien) nochmals der
Schleiden'ſchen Theorie entgegen, indem er zunächſt irrthümlich
das allgemeine Vorkommen der Zellkerne im Theilungsgewebe
beſtritt, dagegen ganz zutreffend aus der Lagerung, der ver-
ſchiedenen Wanddicke und relativen Größe der Zellen auf die
Vermehrung derſelben durch Entſtehung von Theilungswänden
hinwies, die Betheiligung des Zellinhaltes bei der Vermehrung
der Zellen in Haaren hervorhob und die Allgemeinheit der
merismatiſchen Zellbildung (Zelltheilung) bei dem Wachsthum
vegetativer Organe behauptete, indem er ausdrücklich hervorhob,
daß alles das, was man an den Bildungsſtätten des Zellgewebes
wirklich ſieht, mit Schleiden's Theorie nicht in Einklang zu
bringen ſei. Die bei der Zelltheilung ſtattfindenden Vorgänge
beobachtete jedoch Unger nicht Schritt für Schritt; ſeine Be-
obachtungen reichten im Ganzen hin, Schleiden's Theorie ſehr
unwahrſcheinlich zu machen, ohne jedoch genügende Grundlagen
zu einer neuen zu bieten und Schleiden unterließ nicht in
der zweiten Auflage ſeiner Grundzüge 1845 Unger's Einwürfe
abzuweiſen.
In demſelben Jahrgang der botaniſchen Zeitung trat ſchon
vorher Mohl mit ſeiner bereits erwähnten Abhandlung über
den Primordialſchlauch hervor, mit welchem Namen er zum Theil
die ſehr dünne Protoplasmaſchicht bezeichnete, welche in ſaft-
reichen größeren Zellen wie eine Tapete die Innenſeite der Zell-
wand auskleidet, zum Theil aber eine äußere Schicht vom Pro-
toplasma jüngerer Zellen, welche noch reich an dieſer Subſtanz
ſind. Es war gerade kein glücklicher Griff, den Mohl mit der
Aufſtellung ſeines Primordialſchlauches that, doch verſtand er es,
in ſeiner gewöhnlichen gründlichen Weiſe, dieſen zu einer beſſeren
23*
[356]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Einſicht in die Zellbildung zu verwenden, indem er (p. 289) auf
den Umſtand hinwies, daß die Zellen der Cambiumſchicht zwiſchen
Rinde und Holz immer ohne Interzellularräume zuſammenſchließen,
daß alſo nur zwei Modifikationen der Zellvermehrung denkbar
ſeien: entweder Theilung der Zellen durch Bildung einer Scheide-
wand oder Entſtehung von Zellen in Zellen; in jeder dieſer
jugendlichen Zellen finde ſich ein Primordialſchlauch, deſſen Ent-
ſtehung alſo mindeſtens gleichzeitig mit der der Zelle (Zellhaut)
erfolgen müſſe. „Würde ſich nun mit Beſtimmtheit nachweiſen
laſſen, daß in den Zellen, welche in Vermehrung begriffen ſind,
ſich zwei Primordialſchläuche neben einander befinden, ehe eine
Scheidewand zwiſchen denſelben ausgebildet iſt, ſo wäre es für die
Cambiumſchicht, ſowie für die Spitze des Stammes und der Wurzel
entſchieden, daß an dieſen Stellen der Bildung der Zelle die des
Primordialſchlauches vorausgeht.“ Mohl glaubte dieſen Vorgang
geſehen zu haben, blieb aber über die Richtigkeit ſeiner Beobachtung
im Zweifel; doch fährt er fort: „Da jede jugendliche Zelle einen
Primordialſchlauch enthält, ſo muß dieſer, ehe eine Vermehrung
der Zelle eintritt, entweder reſorbirt werden, um zwei neuen an
ſeiner Stelle entſtehenden Platz zu machen oder es muß der alte
Primordialſchlauch durch Abſchnürung in zwei Schläuche zerfallen.“
Er hielt aber das Erſtere für wahrſcheinlich, indem er Unger's
Angabe, daß die Kerne erſt nach der Theilung entſtehen, zurück-
wies. Es iſt überraſchend, daß Mohl nach dieſen Erwägungen
in ſeinen Beobachtungen eine Beſtätigung der Schleiden'ſchen
Zellbildungstheorie glaubte finden zu müſſen, obgleich er außer-
dem hervorhob, daß der Zellkern niemals einen Theil der Zell-
wand bilde, was doch für Schleiden's Theorie durchaus
charakteriſtiſch iſt; aber freilich hielt Mohl die nach Schleiden
vom Zellkern ſich abhebende Haut für den Primordialſchlauch.
Nach dieſen Fehlgriffen finden wir andererſeits wieder die richtige
Vermuthung, die Subſtanz des Primordialſchlauches möge identiſch
ſein mit der ſchleimigen Maſſe, welche den Zellkern gewöhnlich
einſchließt, alſo mit dem, was Mohl zwei Jahre ſpäter Pro-
toplasma nannte. In dieſer ſpäteren Abhandlung (Bot. Zeit. 1846),
[357]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
wo er nachweiſt, daß die bekannten Bewegungen im Innern
der Zelle nicht vom wäſſerigen Zellſaft, ſondern von dem Pro-
toplasma ausgeführt werden, hob er auch hervor (p. 75), daß
dieſes den Zellkern erzeugt, daß ſeine Organiſation die Entſtehung
der neuen Zelle einleitet, daß es ganz abweichend von Schlei-
den's Theorie den Zellkern allſeitig umhüllt, der in ſehr jungen
Zellen immer im Centrum liege, was ganz beſonders auch bei
den von Schleiden beobachteten Endoſpermzellen ſtattfinde. Er
zeigt dann, wie der anfangs ſolide Protoplasmakörper junger
Zellen ſpäter Safthöhlen erhält, zwiſchen denen das Protoplasma
Wände, Bänder und Fäden darſtellt, deren Subſtanz die ſtrömende
Bewegung zeigt. Merkwürdigerweiſe unterließ es Mohl auch
bei dieſer Gelegenheit, ſeine früheren Beobachtungen über die
Entſtehung der Sporen und Theilung der Algenzellen mit ſeinen
neuen Ergebniſſen ſorgfältig zu vergleichen, die weſentlichen Aehn-
lichkeiten aufzuſuchen; vielmehr erklärte er ausdrücklich, daß die Zell-
theilung bei Cladophora wahrſcheinlich ein ganz anderer Vor-
gang ſei, als die Vermehrung der Gewebezellen höherer Pflanzen.
Was Unger und Mohl bis 1846 gefunden hatten, ge-
nügte vollkommen zur Widerlegung von Schleiden's Theorie;
es genügte aber nicht zu einer klaren Einſicht in die Zellbildungs-
vorgänge überhaupt; die verſchiedenen Formen der Zellbildung
waren weder ſorgfältig auseinandergehalten, noch ließen ſie ſich
auf ein gemeinſames Princip zurückführen. Beide Beobachter
hatten mehr aus gewiſſen Indicien den wahren Hergang der
Zellbildung zu errathen geſucht, indem ſie das nicht Beobachtete
durch Schlußfolgerungen ergänzten.
Ganz anders nahm gleichzeitig Nägeli Stellung der
Schleiden'ſchen Theorie gegenüber. In einer umfangreichen
Abhandlung: „Zellkern, Zellbildung und Zellenwachsthum bei
den Pflanzen“, deren erſter Theil 1844 in der von ihm und
Schleiden gegründeten Zeitſchrift erſchien, faßte Nägeli Alles,
was bis dahin von ihm und Anderen über Zellbildung beobachtet
worden war, von verſchiedenen Geſichtspuncten ausgehend, zu-
ſammen. Methodiſch wurden alle Abtheilungen des Pflanzen-
[358]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
reichs bezüglich des Vorkommens des Zellkerns geprüft, betreffs
der verſchiedenen Arten der Zellbildung neu unterſucht, alle Fälle
der letzteren nach ihren Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten ſorg-
fältig verglichen, um ſo das Weſentliche und Allgemeine aus
den Erſcheinungen der Zellbildung abzuleiten. Die nächſte Folge
war, daß ſich Schleiden ſchon 1845 in der zweiten Auflage
ſeiner Grundzüge genöthigt ſah, die von Nägeli konſtatirte
Zelltheilung bei Algen und Pollenmutterzellen als eine zweite
Form der Zellbildung gelten zu laſſen, womit der Rückzug be-
gann, der ſchon im nächſten Jahr mit Vernichtung der Schlei-
den'ſchen Theorie endigen ſollte. Dieß geſchah durch die
Fortſetzung von Nägeli's genannter Abhandlung im dritten
Bande der Zeitſchrift 1846. Bei der Bearbeitung des erſten
Theiles war Nägeli von der Richtigkeit der Schleiden'ſchen
Behauptungen ausgegangen, obgleich er dieſelben ſchon damals
beträchtlich einſchränken mußte. Im zweiten Theil der Abhand-
lung dagegen wird in Folge der weiter fortgeſetzten Unterſuchungen
die Schleiden'ſche Theorie unumwunden in jeder Beziehung
für unrichtig erklärt und Punct für Punct ſchlagend widerlegt.
Bei dieſem negativen Ergebniß brauchte Nägeli um ſo weniger
ſtehen zu bleiben, als ſeine umfaſſenden Unterſuchungen zugleich
das Material lieferten, aus welchem ſich eine neue Zellbildungs-
theorie aufbauen ließ, welche nicht nur die verſchiedenſten Fälle
umfaßte, ſondern auch das ihnen allen zu Grunde liegende Geſetz
ausſprach. Vergleicht man dieſen zweiten Theil von Nägeli's
genannter Abhandlung mit Mohl's Arbeiten von 1833-1846,
ſo bleibt kein Zweifel, daß Mohl zwar eine Anzahl wichtiger
Thatſachen genau beobachtet hatte, daß jedoch Nägeli dieſelben
ſehr erweitert und was die Hauptſache iſt, ſie zu einer um-
faſſenden Theorie verarbeitet hat, welche alle Formen der Zell-
bildung umfaßt. Wie wichtig für die Ausbildung der Zelltheorie
die richtige Unterſcheidung des Protoplasma's von den übrigen
Inhaltsmaſſen der Zelle war, erſieht man aus der Aeußerung
Nägeli's, er nehme ſeine frühere, von Schleiden ausgehende
[...] zurück, weil dieſelbe aus einer Zeit ſtamme, wo er die
[359]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
Bedeutung der Schleimſchicht (des Protoplasma's) noch nicht
kannte, indem er aber freilich auch auf andere Puncte und neuere
Erwägungen hinwies, welche Schleiden's Theorie definitiv
beſeitigten. Nachdem er die verſchiedenen Formen der freien
Zellbildung unterſucht und die Vorgänge dabei ganz anders ge-
funden hatte, als Schleiden, ging er dazu über, die freie
Zellbildung auch da aufzuſuchen, wo ſie nach Schleiden's
Behauptung ausnahmslos vorkommen ſollte, in den wachſenden
vegetativen Organen höherer Pflanzen. Dieſe Unterſuchung führte
ihn aber zu dem Schluß, daß alle vegetative Zellbildung eine
„wandſtändige“ (Zelltheilung) ſei, und daß auch die reproduktive
mancher Algen und Pilze durch Theilung ſtattfinde; durch freie
Zellbildung entſtehen die Reproduktionszellen der meiſten Pflanzen,
wobei der Begriff der freien Zellbildung jedoch noch nicht ganz
in dem ſpäter gebrauchten Sinne aufgefaßt wird, inſoferne
Nägeli auch noch die Tetradenbildung der Sporen und Pollen-
körner in den Begriff der freien Bildung hineinzog. War der
Unterſchied zwiſchen Zelltheilung und freier Zellbildung auch
ſchon vorher von anderen mehrfach angedeutet worden, ſo wurde
er doch zuerſt von Nägeli, wenn auch noch nicht ganz in dem
ſpäter geltenden Sinne charakteriſirt. „Bei der wandſtändigen
Zellbildung (Zelltheilung), theilt ſich der Inhalt der Mutterzelle
in zwei oder mehrere Parthieen; um jede dieſer Inhaltsparthieen
entſteht eine vollſtändige Membran, welche im Momente ihres
Auftretens theils an die Wandung der Mutterzelle, theils an die
zugekehrten Wandungen der Schweſterzellen ſich anlehnt. Bei der
freien Zellbildung iſolirt ſich ein kleiner oder größerer Theil des
Inhaltes, wohl auch der ganze Inhalt einer Zelle.
An ſeiner Oberfläche bildet ſich eine vollſtändige, an ihrer äußeren
Fläche überall freie Membran. Die Zellbildung enthält
zwei Momente; das erſte beſteht in der Iſolirung
oder Individualiſirung einer Parthie des Inhaltes
der Mutterzelle, der zweite beſteht in der Entſteh-
ung einer Membran um dieſe individualiſirte
Inhaltsparthie.“ Es wird ferner gezeigt, daß die Zellhaut
[360]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
durch Ausſcheidung ſtickſtofffreier Moleküle aus dem ſtickſtoffhal-
tigen Schleim (dem Protoplasma) entſteht. In dieſen Sätzen
iſt das Allgemeine und Weſentliche der vegetabiliſchen Zellbildung
herausgehoben. Weiterhin werden die verſchiedenen Zellbildungs-
vorgänge in ihrer Beſonderheit charakteriſirt: die Individuali-
ſirung des Inhalts behufs der Zellbildung tritt nach Nägeli
in vier Geſtalten hervor; erſtens können ſich einzelne kleine
Parthieen des Inhalts innerhalb des Uebrigen abſondern, wie
es bei der Bildung der freien Keimzellen von Algen, Flechten,
Pilzen und der Endoſpermzellen der Phanerogamen geſchieht;
zweitens ſammelt ſich der ganze Inhalt einer Zelle oder zweier
durch Copulation verbundener Zellen zu einer freien kugelförmigen
oder ellipſoidiſchen Maſſe, wie bei der Keimzellenbildung der
Conjugaten; drittens theilt ſich der ganze Inhalt einer Zelle
in zwei oder mehrere Parthieen, was Nägeli die wandſtändige
Zellbildung, was man aber jetzt einfach die Zelltheilung nennt,
von welcher Nägeli als vierte Form die ſogenannte Abſchnür-
ung, wie ſie bei der Keimzellenbildung mancher Algen und vieler
Pilze vorkommt, unterſcheidet.
Schleiden hatte ſchon als allgemeines Geſetz für die
Pflanzen ausgeſprochen, daß Zellen nur innerhalb von Mutter-
zellen entſtehen; wogegen Meyen, Endlicher und Unger
noch in den letzten Jahren auch Neubildung von Zellen zwiſchen
den älteren angenommen hatten; dem entgegen betonte Nägeli,
daß alle vegetative normale Zellbildung, ebenſo wie alle repro-
duktive nur innerhalb von Mutterzellen geſchieht.
Der lange Zeit ſo beliebten Annahme gegenüber, daß es eine
allgemeine Grundform der Zelle geben müſſe, wies Nägeli auf die
Thatſache hin, daß die Zellen im Moment ihres Entſtehens ſehr ver-
ſchiedene Formen haben. Die durch freie Zellbildung erzeugten ſeien
anfangs immer ſphäriſch oder ellipſoidiſch, die durch Zelltheilung
dagegen beſitzen diejenige Geſtalt, welche durch die Form der Mutter-
zelle und durch die Art der Theilung nothwendig bedingt wird. Er
zeigte ferner wie die Geſtaltänderungen der Zellen bei fortſchreitendem
Wachsthum weſentlich davon abhängen, ob die Zellen an allen Theilen
[361]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
ihres Umfangs gleichmäßig ſich ausdehnen, oder nur einzelne
Stellen, Erwägungen, welche hier, ſo nahe ſie auch lagen, doch
zum erſten Mal gemacht und verwerthet wurden.
Der mit der Sache ſelbſt Vertraute wird in den angeführten
Sätzen, auch ohne ausführliche Erläuterung, die weſentlichen
Grundlagen der noch jetzt geltenden Zellentheorie um ſo leichter
wiedererkennen, wenn er das vorher und gleichzeitig von Schlei-
den, Unger und Mohl über die Zellbildung Geſagte damit
vergleicht. Es iſt aber ſelbſtverſtändlich, daß durch die weiteren
Unterſuchungen, die in den nächſten zwanzig Jahren mit großem
Eifer betrieben wurden, und eine anſehnliche Literatur über die
Zellbildung hervorriefen, Nägeli's Theorie in vielen Einzel-
heiten weiter gefördert und ausgebaut, in einigen mehr neben-
ſächlichen Puncten berichtigt wurde, was fortan um ſo leichter
geſchehen konnte, als nunmehr ein Schema gegeben war, an
welches ſich die Unterſuchung der Specialfragen anſchließen konnte.
Ob der Zellkern ein ſolider Körper oder ein Bläschen ſei, ob die
Theilungswand bei der Fächerung einer Mutterzelle immer von
außen nach innen wachſe oder in ihrer ganzen Fläche ſimultan
entſtehe, ob ſie urſprünglich aus zwei Lamellen zuſammengeſetzt
ſei oder erſt ſpäter ſich differenzirt, dieſe und viele andere Fragen
wurden im Lauf der Zeit entſchieden.
Die Schleiden'ſche Theorie war nun definitiv beſeitigt,
ein tieferer Blick in das Weſen der Zelle gethan, der Begriff,
der ſich mit dieſem Wort verbindet, erweitert und vertieft. Die
nun bekannte Entſtehung der Zellen zeigte, daß die Zellhäute,
welche man bisher für die Hauptſache gehalten, nur ſekundäre
Produkte ſind, daß der eigentliche, lebendige Leib der Zelle viel-
mehr durch den Inhalt, zumal durch den Protoplasmakörper
dargeſtellt wird. Alexander Braun ſprach es 1850 (Ver-
jüngung p. 244), geſtützt auf zahlreiche Unterſuchungen an nie-
deren Algen, aus: Es ſei ein Mißſtand, daß man mit dem
Wort Zelle bald die Zelle mit Haut, bald die Zelle ohne Haut,
bald die Haut ohne Zelle bezeichne. Da der Inhalt der weſent-
liche Theil derſelben ſei, da er ſchon vor der Abſonderung der
[362]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Celluloſe-Haut ein abgeſchloſſenes Ganze bilde, das ſeine eigene
hautartige Begrenzung, den Primordialſchlauch, beſitzt, ſo müſſe
man, wenn man die Bezeichnung Zelle nicht bloß auf die um-
hüllende Haut oder Kammer anwenden und den Inhaltskörper
mit einem andern Namen belegen wolle, gerade dieſen letzteren
als die eigentliche Zelle bezeichnen. Dieſe Auffaſſungsweiſe,
welche bei der Bildung der Schwärmſporen der Algen und Pilze,
aber auch in vielen anderen Fällen ſich ganz unmittelbar dem
Beobachter als die richtige darſtellt, iſt fortan ein weſentliches
Moment der Zellenlehre geblieben. Alexander Braun trug
außerdem zur Klärung der Begriffe dadurch bei, daß er alle
bis zum Jahre 1850 ihm bekannt gewordenen Modalitäten der
Zellbildung ſyſtematiſch überſichtlich zuſammenſtellte und klaſſifi-
cirte, beſonders auch die Copulationsformen eingehender als bis-
her behandelte. Ganz an die deutſchen Beobachter lehnten ſich
Henfrey's Mittheilungen (Flora 1846 und 1847) an, ohne
ſelbſtändig weſentlich Neues zu Tage fördern. Dagegen trugen
Hofmeiſter's neue Beobachtungen über die Entwicklung des
Pollens 1848 und die zahlreichen Mittheilungen über Zellbil-
dungsvorgänge in ſeinen epochemachenden embryologiſchen Unter-
ſuchungen (1851) vielfach zur Aufklärung zweifelhafter Puncte,
zumal über das Verhalten des Zellkerns bei der Zellbildung und
über die Entſtehung der Theilungswände bei. Mohl, der ſich
bis 1846 der damals herrſchenden Schleiden'ſchen Theorie
gegenüber, trotz ſeiner eigenen guten Beobachtungen, einigermaßen
rathlos verhielt, gab nun 1851 in ſeiner ſchon genannten Ab-
handlung „die vegetabiliſche Zelle“ eine vortreffliche, überſicht-
liche und klare Darſtellung der bis dahin gewonnenen Ergebniſſe.
Beſonders hob er betreffs der Zelltheilung hervor, daß die neuen
Kerne ſchon vor beginnender Theilung des Inhalts die Central-
puncte der künftigen Tochterzellen einnehmen; dagegen hielt er
auch jetzt noch an ſeiner alten Meinung feſt, daß bei jeder Zell-
theilung, wie bei Cladophora, die Scheidewand von außen
nach innen fortſchreitend ſich bilden müſſe, gegenüber Nägeli's
und Hofmeiſter's ganz richtigen Angaben, daß auch ſimul-
[363]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
tane Entſtehung der Scheidewände vorkomme. Wie gewöhnlich
ſtützte Mohl aber ſeinen Widerſpruch auf eine gute Beobacht-
ung, indem er zeigte, daß es bei der Pollenbildung dikotyler
Pflanzen gelinge, den bereits tief vierlappig gewordenen Proto-
plasmakörper einer ſich theilenden Mutterzelle durch Zerſpreng-
ung ihrer Haut frei zu legen und in dieſer ſelbſt die halbfertigen
Scheidewände zu ſehen, was freilich nur zeigte, daß hier die
Sache ſich wirklich ſo verhält, während in anderen Fällen ſimul-
tane Scheidewandbildung erfolgt. Bei dieſer Gelegenheit mag
darauf hingewieſen werden, daß der 1842 von Nägeli einge-
führte Begriff der Spezialmutterzellen bei der Pollenbildung dem
damaligen Stand der Wiſſenſchaft vollkommen entſprach, inſofern
er mit dieſem Ausdruck diejenigen Zellhautlamellen bezeichnete,
welche während der ſucceſſiven Theilung der Pollenmutterzelle
ſich bilden. Dieſe auch jetzt noch als Spezialmutterzellen zu be-
zeichnen, wie es in neueſter Zeit einzelne Phytotomen thun, iſt
inſofern durchaus unberechtigt, als nach Nägeli's 1846 auf-
geſtellter Zellentheorie, wie wir geſehen haben, das Wort Zelle
nicht mehr bloß die Haut, ſondern den ganzen Körper bezeichnete,
wogegen dem Ausdruck Spezialmutterzelle der ältere Sprachge-
brauch zu Grunde liegt, nach welchem Zelle und Zellhaut iden-
tiſch ſind.
Was nach 1851 bis tief in die ſechziger Jahre hinein zur
Förderung der Zellbildungslehre geſchah, hatte verhältnißmäßig
geringere Bedeutung im Vergleich zu dem großartigen Aufſchwung
den ſie in den vorhergehenden zehn Jahren genommen hatte;
wie denn überhaupt dieſe zehn Jahre die fruchtbarſten und
thatenreichſten auf allen Gebieten der Botanik waren. Durch
die Arbeiten Unger's, Mohl's, Nägeli's, Braun's,
Hofmeiſter's war nunmehr die Zellentheorie nicht nur in
ihren Fundamenten begründet, ſondern auch ſchon bis in's Ein-
zelne ausgebaut, die Begriffe geklärt. Nunmehr konnten auch
die Lehrbücher die neue Lehre in weiteren Kreiſen verbreiten;
zu ihnen dürfen wir in gewiſſer Beziehung auch Mohl's ge-
nannte Abhandlung über die vegetabiliſche Zelle rechnen, da ſie
[364]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
ſpäter in beſonderer Ausgabe in den Handel kam und von vielen
Lehrern der Botanik ihren Vorträgen als Leitfaden zu Grunde
gelegt wurde. Es wurde jetzt überhaupt Mode, nicht mehr Lehr-
bücher der Botanik, ſondern Compendien der Anatomie und Phy-
ſiologie zu ſchreiben, während die Morphologie und Syſtematik
ebenſo unbeachtet blieben, wie in der vorſchleiden'ſchen Zeit ge-
wöhnlich die Anatomie und Phyſiologie; wer ein vollſtändiges
Lehrbuch der ganzen Botanik benutzen wollte, mußte ſich daher
auch ſpäter noch an Schleiden's Grundzüge halten, was
wiederum nicht wenig dazu beitrug, die unrichtige Zellen- und
Befruchtungslehre Schleiden's auch dann noch in weiteren
Kreiſen zu verbreiten, als bei den Fachmännern die neueren
und richtigeren Anſichten längſt feſtſtanden; es iſt überhaupt eine
leidige Eigenthümlichkeit unſerer Wiſſenſchaft, daß ſie an guten
Lehrbüchern, welche dem jeweiligen Stand der Forſchung allſeitig
Rechnung tragen, ſo außerordentlich arm iſt; ſicherlich liegt darin
eine von den Urſachen, die es bewirken, daß ſeit langer Zeit
auch die offiziellen Vertreter der Botanik in den Grundanſchau-
ungen über Methode, über das wirklich Feſtſtehende und noch
Zweifelhafte in den Hauptgebieten vielfach ſoweit von einander
abweichen, daß ſelbſt die gegenſeitige Verſtändigung oft unmög-
lich wird. Daß es in dieſer Beziehung in der Zoologie, Phyſik
und Chemie viel beſſer ſteht, verdankt man gewiß nicht zum ge-
ringſten Theil den zahlreichen gutem Compendien und Lehr-
büchern, welche beſtrebt ſind, dem Fortſchritt der Wiſſenſchaft
von Jahr zu Jahr Rechnung zu tragen.
Im Lauf der fünfziger und ſechziger Jahre waren es Schacht
und Unger, welche die Reſultate der neuen phytotomiſchen
Forſchungen in Lehrbüchern auch weiteren Kreiſen zugänglich zu
machen ſuchten. Zu den Lehrbüchern nämlich rechne ich auch
Schacht's 1) „Die Pflanzenzelle“ 1852, ein Buch, in welchem
der Anſpruch erhoben ward, alle Theile der Phytotomie ganz
[365]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
und gar auf eigene Beobachtungen geſtützt mit nur nebenſäch-
licher Berückſichtigung der Literatur darſtellen zu wollen, was
jedoch inſoferne ganz unmöglich war, als der Verfaſſer die
weſentlichen Puncte ſchon völlig bereinigt in der Literatur vor-
fand; das Werk hatte jedoch den Vorzug, durch zahlreiche gute
Originalabbildungen den Leſer zu feſſeln; auch die Darſtellung
wurde durch die fortwährende Berufung auf eigene Beobachtung
belebt; doch ließ ſich nicht verkennen, daß die Literatur nicht
gehörig benutzt war, der Verfaſſer daher vielfach hinter dem
wahren Stand derſelben zurückblieb. Schlimmer, als dieß, war
jedoch ein gewiſſer Mangel an formaler Bildung, der den Ver-
faſſer häufig zu Widerſprüchen mit ſich ſelbſt, zu unrichtiger
Klaſſifikation der Thatſachen führte; prinzipiell Wichtiges wurde
über unbedeutenden Einzelheiten vielfach überſehen und im
Ganzen machte ſich in demſelben eine ziemlich gedankenloſe En-
pirie geltend, welche von der logiſchen Schärfe in Mohl's,
Nägeli's, Hofmeiſter's Arbeiten allzuſehr abſtach. In der
1856 erſchienenen zweiten Auflage, welche als „Lehrbuch der
Anatomie und Phyſiologie der Gewächſe“ betitelt iſt, war zwar
Vieles im Einzelnen gebeſſert, im Ganzen aber zeigte das Buch
noch dieſelben formalen Uebelſtände wie früher. Es iſt hiſtoriſch
nicht unwichtig, dieß hervorzuheben, weil in den fünfziger und
ſechziger Jahren die Mehrzahl der jüngeren Botaniker und viele
Andere ihre Kenntniß der Phytotomie, zumal der Zellenlehre,
hauptſächlich aus Schacht's Büchern ſchöpften, in denen aber
der wahre Stand der Wiſſenſchaft nicht repräſentirt war und
deren mangelhafte Logik jüngeren Leſern gewiß nicht zu Gute
gekommen iſt, beſonders dazu beitragen mußte, auch auf dem
Gebiet der Phytotomie und Phyſiologie der Pflanzen eine ge-
dankenloſe Anhäufung von Thatſachen einzubürgern, wie es
lange Zeit auch in der Morphologie und Syſtematik geſchehen iſt.
Viel gelungener in der Form und Strenge der Darſtellung
war Unger's Lehrbuch der Anatomie und Phyſiologie der
Pflanzen von 1855. Mit ſorgfältiger Berückſichtigung alles
Bekannten, wenn auch zuweilen mit einiger Uebereilung des
[366]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Urtheils, wurde dort der Anfänger in das Gebiet der Zellen-
lehre eingeführt, das prinzipiell Wichtige überall in den Vorder-
grund geſtellt, die einzelnen Thatſachen zur Erklärung der allge-
meinen Sätze benutzt, wie es in einem Lehrbuch immer geſchehen
ſollte. Unger's Buch enthielt aber außerdem manches wirklich
Neue und Werthvolle unter Anderem auch ſehr wichtige Bemerk-
ungen über die phyſiologiſchen Eigenſchaften des Protoplasma's
und vor Allem wurde hier zum erſten Mal hingewieſen auf die
Aehnlichkeit desſelben mit der Sarkode der Rhizopoden, welche
Max Schultze vorher ſorgfältig beſchrieben hatte. In dem-
ſelben Jahr publicirte auch Nägeli Unterſuchungen über den
Primordialſchlauch und die Bildung der Schwärmſporen (Pflan-
zenphyſiologiſche Unterſuchungen, Heft I), welche neue Einblicke
in die phyſikaliſch phyſiologiſchen Eigenſchaften des Protoplasma's
ergaben. Ich habe ſchon oben darauf hingewieſen, wie De
Bary's Unterſuchungen über die Myxomyceten 1859 das
Protoplasma von einer neuen Seite beleuchteten, wie man hier
Lebenserſcheinungen desſelben kennen lernte, welche den ſonſt be-
kannten analog aber gerade dadurch ſo ſehr auffallend waren,
daß hier das Protoplasma nicht bloß in mikroſkopiſch kleinen
Maſſen und in feſte Zellhäute eingekapſelt, ſondern in großen
zuweilen mächtigen Klumpen ganz frei, nicht eingeſchloſſen in
Zellwände, ſich bewegte und Geſtaltveränderungen zeigte. Hier
war die beſte Gelegenheit geboten, das Protoplasma näher kennen
zu lernen, in ihm den unmittelbarſten Träger nicht nur des
vegetativen, ſondern auch des animaliſchen Lebens zu erkennen;
in den nächſten Jahren wurde denn auch von Seiten der
Zootomen und Phyſiologen Max Schultze, Brücke, Kühne
u. a. conſtatirt, daß die der animaliſchen Zellbildung zu Grunde
liegende Subſtanz in den wichtigſten Eigenſchaften mit dem
Protoplasma der Pflanzenzellen übereinſtimmt. Eine ausführ-
lichere Darſtellung der neueren Protolasmaſtudien, die uns auch
veranlaſſen müßte, Hofmeiſter's Buch „die Lehre von der
Pflanzenzelle“ 1867 eingehender zu würdigen, gehört jedoch nicht
mehr in den Rahmen unſerer Geſchichte.
[367]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gebilde.
2. Weitere Ausbildung der Anſichten über die Natur des feſten
Zellhautgerüſtes der Pflanzen ſeit 1845.
In den vierziger Jahren waren, wie wir geſehen haben,
die hervorragenden Vertreter der Phytotomie ganz vorwiegend
damit beſchäftigt, die Entſtehung der Pflanzenzellen zu beobachten,
die Zellbildungstheorie induktiv zu begründen. Es war nicht zu
erwarten, daß ſchon während dieſer Arbeiten, welche Jahr für
Jahr neue Aufſchlüſſe brachten und die Anſichten über die Ent-
ſtehung der Zellen im Fluß erhielten, die neuen Ergebniſſe auch
zu weſentlichen Aenderungen der von Mohl begründeten Theorie
des feſten Zellhautgerüſtes führen ſollten. Vielmehr gewannen
erſt jetzt Mohl's uns bereits bekannte Anſichten vom Zuſam-
menhang der Zellen unter einander, von der Configuration ihrer
Scheidewände und dem Dickenwachsthum derſelben, ihren nach-
haltigſten Einfluß. Den damals noch ſehr ſchwankenden Anſichten
über die Entſtehung der Zellen gegenüber ſtand Mohl's Theorie
feſt und fertig da; es wurde einſtweilen nicht viel gefragt, ob
und in wieweit dieſelbe mit den neuen Beobachtungen über die
Bildungsgeſchichte der Zellen verträglich ſei. Mitten in den
Kampf der Meinungen über dieſe letztere hinein erſchienen Mohl's
vermiſchte Schriften 1845, wo deſſen Anſichten vom fertigen
Gewebebau der Pflanzen in einer Reihe von Monographien
als ein anſcheinend völlig geſichertes Reſultat hervortraten.
In der That knüpften denn auch die phytotomiſchen Arbeiten
bis zum Beginn der ſechziger Jahre an den von Mohl ver-
tretenen Gedankengang überall an, bis endlich zwiſchen 1858
und 1863 durch Nägeli's neue Theorie des Wachsthums
durch Intusſusception, ſowie durch eine weitere Vertiefung der Zell-
bildungslehre die Unzulänglichkeit von Mohl's Grundanſchauungen
über den feſten Theil der Pflanzenſtruktur hervortrat.
Deutlich genug zeigt ſich die Richtigkeit des oben Geſagten
in der weiteren Entwicklung der Anſichten über die Inter-
cellularſubſtanz und die Cuticula, die ſchon in den
[368]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
vierziger Jahren an die neue Zellentheorie mit Erfolg hätte an-
knüpfen können, dieß jedoch nicht that, ſondern ganz auf den vor
1845 entſtandenen Gedankengang zurückgriff. Es wurde ſchon
im vorigen Capitel darauf hingewieſen, wie Mohl ſeine 1836 aufge-
ſtellte Theorie von der Interzellularſubſtanz nach und nach ein-
ſchränkte, und dieſelbe um 1850 nur noch als einen in manchen
Fällen ſichtbaren Kitt zwiſchen den Zellwänden gelten ließ. Es
iſt hier nachzutragen, daß Schleiden im Zuſammenhang mit
ſeiner Zellentheorie die Interzellularſubſtanz ebenſo wie die Cu-
ticula als nachträgliche Ausſcheidungen der Zellen betrachtete,
die Interzellularräume durch jene ſich füllen ließ, ähnlich wie
milch- und harzführende Gänge durch die Sekrete ihrer Grenz-
zellen (1845). Auch Unger hielt noch 1855 („Anatomie und
Phyſiologie der Pflanzen“) die Exiſtenz eines Kittes zwiſchen den
Zellen für nöthig, damit ſie nicht auseinanderfallen. Schacht,
der ſchon in ſeiner „Pflanzenzelle“ 1852 die Interzellularſubſtanz
und die Cuticula im Anſchluß an Schleiden für Ausſcheidungen
oder Excrete der Zellen genommen hatte, hielt im Ganzen auch
1858 noch an dieſer Vorſtellung feſt, wenn er ſie auch in einigen
wichtigeren Puncten modificirte. Dieſer Schleiden- Schacht-
ſchen Theorie trat zuerſt Wigand in einer Reihe von Abhand-
lungen 1850-1861 entgegen, wo er in ſtrenger Feſthaltung
der Mohl'ſchen Appoſitionstheorie nachzuweiſen ſuchte, daß
diejenigen Schichten, welche zumal bei Holzzellen als mittlere
Lamellen in den Scheidewänden ſichtbar ſind, und welche man
bisher als einen Kitt zwiſchen den benachbarten Zellen, als Inter-
zellularſubſtanz, betrachtet hatte, weiter nichts ſeien, als die pri-
mären dünnen, bei der Zelltheilung entſtandenen Hautlamellen,
die eine nachträgliche chemiſche Veränderung erfahren haben,
während ſich beiderſeits die ſekundären Verdickungsſchichten im
Sinne Mohl's anlagerten. Eine entſprechende Deutung erhielt die
Cuticula auf der Epidermis. Wenn ſpäter auch Sanio (1863)
gegen Wigand's Auffaſſung Verſchiedenes einzuwenden hatte,
ſo hielt er doch den Grundgedanken derſelben feſt, der eine um
ſo kräftigere Beſtätigung dadurch zu gewinnen ſchien, daß es ihm
[369]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
gelang, in der gereinigten Interzellularſubſtanz des Holzes die
bekannte Zellſtoffreaktion hervorzurufen.
Wigand's und Sanio's Arbeiten genügten vollkommen
die von Mohl begründete Theorie der Interzellularſubſtanz und
der Cuticula definitiv zu beſeitigen; ſie lieferten aber deßhalb
noch keinen Beweis für die Behauptung, daß die Mittellamellen
in der That die primären Scheidewände ſeien, an welche ſich
beiderſeits, ſowie bei der Cuticula nur einſeitig die ſekundären
Verdickungsſchichten Mohl's angelagert hätten; vielmehr konnte
von dem Standpunct aus, den Nägeli's Theorie der Intus-
ſusception nunmehr gewährte, die Struktur der Scheidewände
und die Exiſtenz der Cuticula überhaupt ganz anders aufgefaßt
werden; man brauchte fortan in der Mittellamelle verdickter
Zellen und in der Cuticula weder ein Secret, noch eine primäre
Zellhautlamelle zu ſehen, denn es eröffnete ſich nunmehr die
Möglichkeit, daß dieſe Schichtenbildungen durch nachträgliche
chemiſche und phyſikaliſche Differenzirung der durch Intusſuscep-
tion ſich verdickenden Häute entſtehen. Da die Phytotomen auch
heute noch nicht über die Richtigkeit dieſer Anſicht ganz einig
ſind, ſo ſollte hier eben nur hervorgehoben werden, daß in der
Frage der Cuticula und der Interzellularſubſtanz eines derjenigen
Momente liegt, durch deren Entſcheidung die ältere Mohl'ſche
Appoſitionstheorie in Frage geſtellt wird. Es iſt nicht mehr
Sache dieſe Geſchichte, die in den ſechziger und ſiebziger Jahren
geltend gemachten neueren Anſichten vorzuführen, da der Streit
noch nicht definitiv geſchlichtet iſt.
Zu Mohl's Vorſtellung von dem feſten Zellhautgerüſt der
Pflanzen gehörte die von ihm ſeit 1828 wie ein Dogma feſt-
gehaltene Anſicht, daß abgeſehen von den Querwänden der ächten
Holzgefäße und manchen ſehr vereinzelten Vorkommniſſen, eine
Durchlöcherung der Scheidewände im Zellgewebe nicht vorkomme;
daß die einfachen und gehöften Tüpfel vielmehr immer durch die
primäre ſehr dünne Hautlamelle verſchloſſen bleiben. Zwiſchen
1850 und 1860 jedoch wurden verſchiedene, für die Phyſiologie
ſehr wichtige Ausnahmen von dieſer Mohl'ſchen Regel con-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 24
[370]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
ſtatirt. Theodor Hartig hatte ſchon 1851 in ſeiner Natur-
geſchichte der Forſtpflanzen im Baſtſyſtem eigenthümliche Zell-
reihen beſchrieben, deren Quer- zum Theil auch Längswände von
zahlreichen feinen Löchern ſiebartig durchbohrt ſchienen, die er
deßhalb als Siebröhren bezeichnete. Mohl erklärte ſich jedoch
1855, indem er Hartig's Entdeckung übrigens beſtätigte und
erweiterte, gegen die Durchbohrung der Wände und glaubte an
den betreffenden Stellen nur gitterartige Verdickungen der Zell-
wände zu ſehen; er wollte daher Hartig's Siebröhren als
Gitterzellen bezeichnet wiſſen. Da zeigte jedoch Nägeli 1861,
daß an der wirklichen Durchbohrung wenigſtens in gewiſſen Fällen
nicht zu zweifeln iſt, daß die Siebplatten dem Transport ſchlei-
miger Stoffe im Baſtgewebe dienen; nebenbei ſei bemerkt, daß
ich 1863, Hanſtein 1864 Mittel angaben, durch welche man
ſich mit Leichtigkeit die Gewißheit verſchaffen kann, daß Hartig's
Siebplatten in der That durchlöchert ſind. Unterdeſſen hatte
man auch ſchon eine Zahl von Milchſaft führenden Organen als
gefäßartige Bildungen im Sinne Mohl's erkannt und gefunden,
daß derartige Canäle durch Auflöſung der Querwände benach-
barter Zellen entſtehen. Doch blieb die Kenntniß der milchführen-
den Organe noch bis gegen die Mitte der ſechziger Jahr hin
eine ſehr ungeordnete und lückenhafte und auch die Unter-
ſuchung der Harzgänge und ihre Entſtehung durch bloßes Aus-
einanderweichen der Zellen gehört erſt der neueren Phytotomie
an; Hanſtein, Dippel, N. J. C. Müller, Frank u. A.
haben ſeit 1860 die Kenntniß dieſer Gewebebildungen gefördert.
Eine der allerwichtigſten Ausnahmen von Mohl's obengenannter
Anſicht, conſtatirte ſchon 1860 Schacht, indem er entwicklungsge-
ſchichtlich die Entſtehung und wahre Form der gehöften Tüpfel
im Holz der Coniferen und in den punktirten Gefäßen der An-
gioſpermen nachwies und außerdem zeigte, daß in allen
ſolchen Fällen, wo die gehöften Tüpfel auf beiden Seiten einer
Scheidewand ausgebildet ſind, und wo die benachbarten Zellen
ſpäter Luft führen, daß da die urſprüngliche, ſehr dünne Scheide-
wand im gehöften Tüpfel verſchwindet, daß ſomit in ſolchen
[371]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
Fällen die gehöften Tüpfel ebenſoviele offene Löcher darſtellen,
durch welche die benachbarten Zellen und Gefäße communiciren.
Zugleich ergab ſich die Erklärung einer anderen bis dahin un-
erklärlichen Erſcheinung. Wie ſchon Malpighi und die Phy-
totomen am Anfang unſeres Jahrhunderts bemerkt hatten, füllen
ſich nicht ſelten die großen Gefäßröhren des Holzes mit parenchy-
matiſchem Zellgewebe an, über deſſen Urſprung man natürlich
nicht in's Reine kam. Nach Schacht's Entdeckung aber konnte
die Erſcheinung nunmehr ganz einfach erklärt werden: die Tüllen-
bildung findet nur dann in den Gefäßen ſtatt, wenn dieſe an
geſchloſſene Holzparenchymzellen angrenzen; in dieſem Fall wird
die ſehr dünne, die gehöften Tüpfel von der Nachbarzelle ab-
ſchließende Haut nicht reſorbirt, vielmehr wölbt ſie ſich unter
dem Saftdruck der benachbarten Parenchymzelle in den Gefäß-
raum hinein, ſchwillt daſelbſt blaſenförmig an und kann durch
Auftreten von Scheidewänden zur Bildung von parenchymatiſchen
Zellen Anlaß geben, die nun aus zahlreicheren Tüpfeln hervor-
tretend die Höhlung des Gefäßes erfüllen.
3. Entwicklungsgeſchichte und Claſſification der Gewebeformen.
Es wurde früher ſchon hervorgehoben, wie der erſte Anfang
zu einer ſachlichen Orientirung im Geſammtbau der höheren
Pflanzen von Moldenhawer dadurch gemacht wurde, daß er
von den Monocotylen ausgehend das Gefäßbündel als ein
Ganzes, als ein aus verſchiedenen Gewebeformen beſtehendes Ge-
webeſyſtem auffaßte und dieſe Vorſtellung auch bei der Beur-
theilung des Stammes der Dicotylen feſthielt, wodurch zu-
nächſt die alte Malpighi'ſche Theorie vom Dickenwachsthum
der Stämme beſeitigt wurde. Auch darauf wurde ſchon hinge-
wieſen, daß Mohl in dieſem Sinne fortſchreitend auch die Epi-
dermis und die übrigen Hautgewebeformen näher charakteriſirte und
claſſificirte d. h. eine auf ſachliche Erwägung begründete Nomen-
klatur einführte, ohne in dieſer Beziehung jedoch zu einem genügen-
den Abſchluß zu gelangen, der in der That auch nur durch die
24*
[372]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Entwicklungsgeſchichte gefunden werden konnte; denn ebenſo wie
für den Begriff der Zelle und ſeinen Unterarten, wie für die
Beurtheilung der wahren Natur des feſten Gerüſtes der Pflanzen-
ſtruktur, ſo iſt auch für die richtige Unterſcheidung und Claſſifi-
cation der Gewebeformen die Entwicklungsgeſchichte vor Allem
maßgebend; ſie liefert die morphologiſchen Geſichtspuncte für das
Verſtändniß des inneren Geſammtbaues der Pflanzen, weil ſie
die Gewebeformen in ſolchen Entwicklungszuſtänden aufſucht, wo
ſie ihren ſpäteren phyſiologiſchen Funktionen noch nicht angepaßt
ſind. Länger als in anderen Disciplinen der Botanik hat ſich
auf dieſem Gebiet die Vermengung morphologiſcher und phyſio-
logiſcher Geſichtspuncte bei der Beurtheilung des Thatbeſtandes
erhalten, aber auch hier traten die neueren entwicklungsgeſchicht-
lichen Beobachtungen ſichtend und klärend in die Entwicklung der
Begriffe und Anſichten ein; jedoch erſt in den fünfziger Jahren
und ſpäter, als die Zellbildungstheorie der Hauptſache nach ent-
ſchieden war und die Führer auf dem Gebiet der Phytotomie
wieder Zeit fanden, ſich derartigen hiſtologiſchen Fragen zu widmen.
Wie wenig man ſich noch in den vierziger Jahren in den
Verſchiedenheiten der Gewebeformen höherer Pflanzen zurecht zu
finden wußte, zeigt z. B. die Ueberſicht der Gewebeformen in
Schleiden's Grundzügen 1845 (p. 232), wo die Begriffe
Parenchym, Interzellularſubſtanz, Gefäße, Gefäßbündel, Baſtge-
webe, Baſtzellen der Apocyneen und Asclepiadeen, Milchſaft-
gefäße, Filzgewebe, Epidermoidalgewebe in coordinirten Abſchnitten
des Textes der Reihenfolge nach abgehandelt werden. Daß auf
dieſe Weiſe eine geordnete Einſicht in den geſammten Zellenbau
einer höheren Pflanze nicht zu erzielen war, bedarf keiner weiteren
Begründung. In demſelben Werk, wo Schleiden weiterhin
eine Claſſification der Gefäßbündel verſuchte, indem er dieſelben
als geſchloſſene und ungeſchloſſene unterſchied, von denen die letz-
teren den Dikotolen zukommen, finden wir als äußere Grenze
dieſer ungeſchloſſenen Gefäßbündel die Cambiumſchicht ſelbſt ge-
nannt; der außerhalb dieſer letzteren liegende Baſt wurde alſo
nicht als Theil der ungeſchloſſenen Gefäßbündel betrachtet, womit
[373]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
natürlich eine fruchtbare Vergleichung der Verhältniſſe bei Mono-
und Dicotylen abgeſchnitten war. In mancher Beziehung noch
ſchlimmer ſah es in Schacht's erwähntem Buche „die Pflan-
zenzelle“ 1852 aus, wo die Hiſtologie unter dem Titel: die Arten
der Pflanzenzelle in folgenden coordinirten Abſchnitten behandelt
wurde: die Schwärmfäden der Kryptogamen, die Sporen der-
ſelben, die Pollenkörner, die Zellen und das Gewebe der Pilze
und Flechten, die Zellen und das Gewebe der Algen, das Pa-
renchym und ſeine Zellen, das Cambium und ſeine Zellen, die
Gefäße der Pflanze, das Holz und ſeine Zellen, die Baſtzellen,
die Spaltöffnungen, die appendiculären Organe der Oberhaut,
der Kork; dann folgt ein Paragraph über den Verdickungs-
ring und erſt dann zum nicht geringen Erſtaunen des Leſers
werden die Gefäßbündel behandelt, nachdem bereits die Ge-
fäße, das Holz und die Baſtzellen ihre Erledigung gefunden haben.
Daß dieſer Darſtellungsform eine ebenſo unklare Einſicht des Ver-
faſſers in dem Geſammtbau der Pflanze zu Grunde liegt, geht aus
der Lektüre des Buches ohne Weiteres hervor und auch in Schacht's
Lehrbuch von 1856 findet ſich noch dieſelbe Begriffsverwirrung.
Viel beſſer iſt ſchon die Claſſification der Gewebe in Unger's
Lehrbuch der Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen von 1855;
nachdem die Lehre von der Zelle abgehandelt iſt, folgt eine Haupt-
abtheilung des Buches als die Lehre von den Zellcomplexen, wo
die Zellenfamilien, Zellengewebe und Zellfuſionen abgehandelt
werden. Ein folgender Hauptabſchnitt beſchäftigt ſich mit der
Lehre von den Zellgruppen, wo die Epidermoidalbildungen, die
Lufträume, Saftbehälter, Drüſen und Gefäßbündel im Einzelnen
behandelt werden, bei welcher Eintheilung allerdings überſehen
iſt, daß man den Epidermoidalbildungen zwar die Gefäßbündel als
coordinirte Begriffe entgegenſtellen kann, daß ihnen jedoch Luft-
räume, Saftbehälter und Drüſen nicht als gleichwerthige Theile
entgegengeſtellt werden können. Ein letzter Hauptabſchnitt Un-
ger's behandelt als Lehre von den Syſtemen die Art und Weiſe,
wie bei verſchiedenen Pflanzen die Gefäßbündel unter einander
verbunden ſind und in ganz richtiger Gedankenverbindung wird
[374]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
hier das nachträgliche Dickenwachsthum und die Thätigkeit der
Cambiumſchicht mitbehandelt.
Wie überall, wo es galt, die fundamentalen Begriffe unſerer
Wiſſenſchaft feſtzuſtellen, ſich in den Thatſachen nach umfaſſenden
Geſichtspuncten zu orientiren und die Prinzipien dazu in der
Entwicklungsgeſchichte zu ſuchen, ſo finden wir auch hier wieder
Nägeli's Arbeiten als die grundlegenden und bahnbrechenden.
In ſeinen „Beiträgen zur wiſſenſchaftlichen Botanik“ ſtellte Nägeli
1858 eine Claſſification der Gewebeformen nach rein morpholo-
giſchen Geſichtspunkten auf. Als Hauptabtheilungen unterſchied er
zunächſt die Theilungsgewebe von den Dauergeweben; in jeder
Abtheilung ſind wieder zwei Hauptformen, die prosenchymatiſchen
und parenchymatiſchen Gewebe unterſchieden. Das parenchyma-
tiſche Theilungsgewebe, aus welchem anfänglich jedes junge
Organ beſteht, nannte er das Urmeriſtem im Gegenſatz zu dem
prosenchymatiſchen Theilungsgewebe, welches ſich in Form von
Strängen und Schichten differenzirt und von ihm allgemein Cam-
bium genannt wurde; eine allerdings nicht glückliche Unter-
ſcheidung ſchon deßhalb, weil Nägeli's Cambium keineswegs
überall aus prosenchymatiſchem Gewebe beſteht. Als Folge-
meriſtem bezeichnete Nägeli ſolche Gewebeſtränge und Gewebe-
ſchichten, welche zwiſchen dem Dauergewebe älterer Theile auf-
treten. Aus dem Urmeriſtem ſcheidet ſich nach Nägeli zunächſt
das Cambium aus. — Die zweite Hauptform, das Dauerge-
webe, theilt er nicht nach der Geſtalt der Zellen oder nach phy-
ſiologiſchen Beziehungen ein, ſondern zunächſt nach ihrer Ab-
ſtammung in zwei Claſſen: Alles Dauergewebe, welches vom
Urmeriſtem unmittelbar abſtammt, iſt Protenchym, und Alles,
was direkt oder indirekt aus dem Cambium entſteht, Epenchym.
Die bisher als Gefäßbündel bezeichneten Gewebeſtränge glaubte
Nägeli, da ſie keineswegs bloß Gefäße enthalten, ſondern wie
ſchon Bernhardi 1805 hervorgehoben, auch immer faſerige
Elemente beſitzen, deßhalb als Fibrovaſalſtränge bezeichnen zu
ſollen. — Wenn auch nicht zu verkennen iſt, daß bei dieſer Ein-
theilung die ſo klar daliegende Verſchiedenheit der Hautgewebe
[375]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
von den übrigen Gewebemaſſen nicht zu entſprechendem Aus-
druck gelangt und wenn auch gegenwärtig ſchon andere Geſichts-
punkte für die genetiſche Claſſification der Gewebeformen ſich
aufſtellen laſſen, ſo hatte Nägeli's Eintheilung und Nomen-
klatur doch den Vorzug, daß durch ſie die geſammte Hiſtologie der
Pflanzen zum erſten Mal nach umfaſſenden und genetiſchen Principien
dargeſtellt wurde. Sie hat weſentlich zur Herbeiführung einer beſ-
ſeren Verſtändigung über den Geſammtbau der Pflanze beigetragen.
Zu weiterer Unterſuchung im genetiſch morphologiſchen Sinn
forderten zunächſt die Gefäßbündel oder Fibrovaſalſtränge heraus;
denn eine richtige Einſicht in die Entſtehung und ſpätere Verän-
derung dieſes Gewebeſyſtems iſt für die Phytotomie ebenſo wichtig,
wie etwa für die Zootomie der Wirbelthiere die Entſtehung und
ſpätere Veränderung des Knochenſyſtems. Für die Phytotomie
aber hat die Kenntniß der Gefäßbündel und ihres Verlaufs im
Stamm beſonders auch deßhalb eine weittragende Bedeutung,
weil nur auf dieſem Wege eine richtige Einſicht in die Vorgänge
des nachträglichen Dickenwachsthums bei den eigentlichen Holz-
pflanzen zu gewinnen iſt.
Es wurde ſchon erwähnt, daß Mohl bereits 1831 die In-
dividualität der im Stamm beginnenden, in die Blätter aus-
biegenden und dort endigenden Stränge nachgewieſen hatte, ſo
daß das ganze Gefäßbündelſyſtem einer Pflanze aus einzelnen
iſolirt entſtandenen, unter ſich aber nachträglich verbundenen
Strängen beſteht. Schon 1846 hatte Nägeli die entſprechenden
Verhältniſſe der Gefäßkryptogamen unterſucht, als Schacht in
ſeinem erwähnten Buch den Rückſchritt machte, das Gefäßbündel-
ſyſtem einer Pflanze durch fortgeſetzte Verzweigung, ſtatt durch
nachträgliche Verſchmelzung iſolirter Stränge entſtehen zu laſſen,
ein Irrthum, welchem Mohl 1858 entſchieden entgegentrat; aus-
führlicher und klarer geſchah dieß jedoch durch Johannes
Hanſtein 1857 und durch Nägeli 1858. In einer Abhand-
lung über den Bau des dikotylen Holzringes wies Hanſtein,
die älteren Angaben Nägeli's beſtätigend, für die Dicotyle-
donen und Coniferen nach, daß der primäre Holzkreis in
[376]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
dem Stamme aus einer Anzahl von Gefäßbündeln entſteht, die
mit denen der Blätter identiſch ſind und im Urmeriſtem der
Knoſpe entſtehn. Dieſe primordialen Bündel durchziehen ſelb-
ſtändig und geſondert eine gewiſſe Zahl von Stengelgliedern ab-
wärts, um unten iſolirt zu endigen oder mit älteren, tiefer unten
entſprungenen Nachbarbündeln ſich zu vereinigen. Treffend be-
zeichnete Hanſtein die aus der Blattbaſis in den Stamm ein-
tretenden und ihn abwärts eine gewiſſe Strecke weit durchſetzen-
den Theile der Gefäßbündel als Blattſpuren, ſo daß alſo kurz ge-
ſagt werden kann: Der primäre Holzcylinder der Dicotylen
und Coniferen beſtehe aus der Geſammtheit der Blattſpuren.
Umfaſſender waren Nägeli's Unterſuchungen, aus denen ſchon
oben die Nomenclatur der Gewebeformen hervorgehoben wurde.
Nägeli unterſchied drei Arten von Gefäßbündeln bezüglich ihres
Verlaufs: Die gemeinſamen nämlich, welche im Stamme Han-
ſtein's Blattſpuren darſtellen und mit ihren oberen Enden in
die Blätter ausbiegen; im Gegenſatz dazu nannte Nägeli ſtamm-
eigene Stränge diejenigen, welche an ihren vorderen Enden im
Vegetationspunct des Stammes ſich verlängern, ohne in Blätter
auszubiegen; und blatteigene, die nur den Blättern angehören.
Der Schwerpunct ſeiner Unterſuchung liegt in den gemeinſamen
Strängen, für welche er betreffs der Dicotylen und Coni-
feren die allgemeine Regel aufſtellte, daß ſie an der Grenze
ihrer auf- und abſteigenden Hälften, an der Stelle nämlich, wo
ſie in das Blatt ausbiegen, ſich zu bilden anfangen, um von
dort aus abwärts in den Stamm und aufwärts in das Blatt
durch Differenzirung entſprechender Gewebezüge ſich fortzubilden.
Es liegt in der Natur der gemeinſamen Stränge, daß ein tieferes
Verſtändniß ihres Verlaufs und ihrer erſten Entſtehung eine ge-
nauere Kenntniß der Entſtehungsfolge der Blätter am Stamm-
ende und der phyllotaktiſchen Veränderungen während des Wachs-
thums vorausſetzt; Beziehungen, welche Nägeli ausführlich er-
wog und aus welchen er neue Geſichtspuncte für die genetiſche
Betrachtung der Blattſtellung ſelbſt ableitete, indem er zugleich
auf die ungenügende genetiſche Grundlage der Schimper-
[377]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
Braun'ſchen Blattſtellungslehre hinwies. — Nägeli war
auch der erſte, der die anatomiſche Struktur der Wurzeln mit
der der Stämme verglich und beſonders auf die eigenartige
Natur des Fibrovaſalkörpers in dieſen Organen hinwies. Wie
früher Nägeli's Entdeckung der Scheitelzelle und ihrer Seg-
mentirung, ſo rief auch jetzt wieder ſeine Abhandlung über die
Fibrovaſalſtränge zahlreiche Bearbeitungen von Seiten anderer
hervor, unter denen ganz beſonders Carl Sanio's Abhandlung
über die Zuſammenſetzung des Holzkörpers (Bot. Zeitg. 1863)
als eine der erſten und bedeutendſten erwähnt werden muß, da
ſie in Verbindung mit Hanſtein's und Nägeli's Arbeiten
zuerſt größere Klarheit in die Vorgänge des Dickenwachsthums
der Stämme brachte. Es wurde ſchon erwähnt, daß es weder
Mohl noch Schleiden, weder Schacht noch Unger gelungen
war, den richtigen Ausdruck für das Dickenwachsthum zu ge-
winnen. Es war dieß unmöglich, weil ihnen die erſte Ent-
ſtehung, der wahre Verlauf und die Zuſammenſetzung der Ge-
fäßbündel vor dem Dickenwachsthum nicht hinreichend bekannt
war; im höchſten Grade ſtörend wirkte die begriffliche und ſprach-
liche Verwechslung ganz verſchiedener Dinge, die hier mit in
Betracht kamen, des ſogenannten Verdickungsringes nämlich, in
welchem dicht unter der Stammſpitze die erſten Gefäßbündel ent-
ſtehen ſollten, mit dem viel ſpäter erſt ſich bildenden Cambium
der ächten Holzpflanzen und dieſer beiden wiederum mit der ſehr
ſpät entſtehenden Meriſtemſchicht, in welcher bei den baumför-
migen Liliaceen fortwährend neue Gefäßbündel entſtehen und
ein ſehr eigenthümliches Dickenwachsthum der Stämme bewirken 1).
Erſt durch Sanio's Abhandlung wurden dieſe ſelbſt von
Mohl noch 1858 zum Theil feſtgehaltenen Begriffsverwirrungen
beſeitigt, indem er beſonders den ſogenannten Verdickungsring,
in welchem dicht unter der Stammſpitze die erſten Anlagen der
Gefäßbündel entſtehen, von dem ächten Cambium ſcharf unter-
ſchied, welches erſt viel ſpäter in den Gefäßbündeln und zwiſchen
[378]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
dieſen ſich bildet, um dann die ſecundären Holz- und Rinden-
lagen zu erzeugen; auch ließ es ſich Sanio angelegen ſein,
die verſchiedenen Elementarorgane des Holzkörpers einer ſorgfäl-
tigeren Unterſcheidung, beſſerer Claſſification und Nomenclatur
zu unterwerfen. Der eigenthümliche Vorgang des nachträglichen
Dickenwachsthums der baumartigen Liliaceen, der längſt be-
kannt, vorwiegend dazu beigetragen hatte, Mohl und Schacht
in Mißverſtändniſſe zu verwickeln, wurde dagegen zuerſt 1865
durch A. Millardet vollſtändig aufgeklärt. Die ſpäteren Ar-
beiten Nägeli's, Radlkofer's, Eichler's u. A. über ab-
norme Holzbildungen trugen noch weſentlich zur Klärung des
Verſtändniſſes auch des normalen Wachsthums bei; doch gehören
dieſe in die ſechziger Jahre fallenden Arbeiten ebenſowenig wie
Hanſtein's neuere Unterſuchungen über die Gewebedifferen-
zirung im Stammende der Phanerogamen, in den Rahmen un-
ſerer Geſchichte.
4. Nägeli's Theorie der Molecularſtruktur und des Wachsthums
durch Intusſusception,
auf deren große Wichtigkeit für die weitere Entwicklung der
Phytotomie und Phyſiologie der Pflanzen ſchon oben hingewieſen
wurde, ſoll hier den Abſchluß unſerer Geſchichte der Pflanzen-
anatomie bilden. Es war ein merkwürdiges Zuſammentreffen,
daß Nägeli's Moleculartheorie der organiſirten Gebilde, welche
auch für die Zootomie nicht unfruchtbar bleiben wird, in den-
ſelben Jahren um 1860 zur Ausbildung gelangte, in denen
auch Darwin zuerſt mit ſeiner Deſcendenztheorie hervortrat.
Auf den erſten Anblick ſcheinen beide Theorien in gar keinem
Zuſammenhang zu ſtehen, dieſes zeitliche Zuſammentreffen alſo
ein ganz zufälliges zu ſein. Geht man jedoch tiefer in die
Sache ein, ſo findet man eine, für die Geſchichte der Natur-
wiſſenſchaft ſehr bedeutungsvolle Aehnlichkeit beider Theorieen:
durch beide nämlich wurde die bisherige formale Betrachtung
organiſcher Formen auf eine cauſale zurückgeführt; wie Dar-
win's Lehre darauf ausgeht, die ſpecifiſchen Formen der Thiere
[379]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
und Pflanzen aus der Erblichkeit und Veriabilität unter dem
zerſtörenden oder begünſtigenden Einfluß äußerer Umſtände ur-
ſachlich zu erklären, ſo ſteckt ſich Nägeli's Theorie das Ziel,
das Wachsthum und die innere Struktur organiſirter Körper
auf phyſikaliſch chemiſche und mechaniſche Vorgänge zurückzuführen.
Die Zukunft wird zeigen, ob die von Nägeli gewonnenen An-
ſchauungen in ihrer weiteren Ausbildung nicht dazu beitragen werden
auch der Deſcendenztheorie eine tiefere Begründung zu geben, in-
ſofern es nicht unwahrſcheinlich iſt, daß ein tieferes Verſtändniß
der Molecularſtruktur der Organismen den dunklen Begriffen Erb-
lichkeit und Variabilität mehr Licht und Klarheit geben könnte.
Wie immer bei ähnlichen Gelegenheiten, waren auch hier
die erſten Anfänge ſehr unſcheinbar und Niemand konnte den
erſten Wahrnehmungen, um die es ſich hier handelt, anſehen,
was ſchließlich aus ihnen ſich entwickeln ſollte. Wie bereits er-
wähnt, hatte Mohl ſchon 1836 die ſogenannte Streifung ge-
wiſſer Zellhäute beobachtet, was Meyen veranlaßte, auf Grund
weiterer, zum Theil aber unrichtiger Wahrnehmungen die pflanz-
lichen Zellhäute aus ſpiralig gewundenen Faſern beſtehen zu
laſſen. Es wurde auch ſchon früher darauf hingewieſen, wie
Mohl die eigentliche Streifung zunächſt von ſpiraligen Ver-
dickungen, die bei Meyen mit untergelaufen waren, unterſchied,
(1837) und wie er bereits auf gewiſſe Vorſtellungen von der
Molecularſtruktur der Zellhäute hingeführt wurde, ohne jedoch
zu einem genügenden Abſchluß zu gelangen. Noch weniger ge-
ſchah das Letztere bei Agardh, welcher neue Fälle von Zell-
hautſtreifung bekannt machte; 1853 (bot. Zeitg.) nahm ſich Mohl
nochmals der Sache an, indem er darauf drang, daß eine
Trennung der Streifen oder ſcheinbaren Faſern weder mechaniſch
noch chemiſch möglich ſei, wobei er jedoch unentſchieden ließ, ob
die in der Flächenanſicht ſich kreuzenden Linien der nämlichen
oder verſchiedenen Zellhautſchichten angehören. Was bald darauf
Crüger und Schacht mittheilten, trug zur Förderung der
Sache Nichts bei; auch Wiegand trat 1856 in die Diskuſſion
ein, verfehlte aber von vornherein den rechten Weg, inſofern er
[380]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
die ſich kreuzenden Streifen als verſchiedenen Hautſchichten gehörig
annahm. So lange man die Mohl'ſche Theorie, daß die con-
centriſche Schichtung der Zellhäute durch Anlagerung neuer
Schichten entſtehe, feſthielt, war betreffs der Streifung ein rich-
tiges Urtheil überhaupt kaum zu gewinnen: dieß wurde vielmehr
erſt dann möglich, als Nägeli in ſeinem großen Werk über
die Stärkekörner 1858 bewies, daß die concentriſche Schichtung
dieſer Gebilde ebenſowohl, wie die der Zellhäute überhaupt gar
nicht darin beſteht, daß gleichartige Schichten einfach an einander
liegen, daß vielmehr abwechſelnd dichtere, waſſerarme und minder
dichte, waſſerreiche Schichten in der Subſtanz mit einander ab-
wechſeln, und daß dieſe Form der Schichtung unmöglich durch
Auflagerung im Sinne Mohl's erklärt werden könne, wogegen
ſie durch Einſchiebung neuer Molecüle zwiſchen die ſchon vor-
handenen und durch entſprechende Differenzirung des Waſſerge-
haltes zu erklären ſei. Daß das Flächenwachsthum der Zell-
häute durch derartige Intusſusception ſtattfindet, war ohnehin
gewiß, von Unger gelegentlich betont, und die Erſcheinung,
welche man als Streifung der Zellhaut bezeichnet, konnte nun
auf dasſelbe Princip, wie die concentriſche Schichtung, näm-
lich auf eine regelmäßig abwechſelnde größere und geringere
Waſſereinlagerung zurückgeführt werden. Nägeli zeigte aber,
was den anderen Beobachtern entgangen war, daß die Struktur-
verſchiedenheit, welche in der Flächenanſicht der Zellhaut als ge-
wöhnlich doppelte, gekreuzte Streifung auftritt, die ganze Dicke
einer geſchichteten Zellhaut durchſetzt. Nägeli gewann ſo eine
Differenzirung in der Subſtanz jedes kleinen Zellhautſtückchens
nach drei Richtungen des Raumes, für welche er das ſchon
früher von Mohl gebrauchte Bild treffender als dieſer benutzte,
daß nämlich die Struktur einer kreuzweis geſtreiften und zugleich
concentriſch geſchichteten Zellhaut derjenigen eines Kryſtalls ver-
gleichbar ſei, welcher nach drei Richtungen ſpaltbar iſt. Dieſe
Vorſtellung vom Bau der Zellhaut ſprach er zuerſt 1862
(Botan. Unterſ. I. p. 187) aus, um ſie dann 1864 (ebenda
II. p. 147) weiter zu begründen.
[381]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
Der eigentliche Ausgangspunct für Nägeli's Theorie von
der Molecularſtruktur lag jedoch in der von ihm 1858 ſo ein-
gehend unterſuchten Struktur der Stärkekörner. Aus der Art
und Weiſe, wie dieſe ſich gegen Druck und Austrocknung, gegen
Quellungsmittel und Extraktion eines Theiles ihrer Subſtanz
verhalten, kam er zu der Vorſtellung, daß die geſammte Subſtanz
eines Stärkekorns aus Molecülen beſteht, welche nicht rund,
ſondern polyedriſch geformt ſein müſſen, die unter ſich im nor-
malen Zuſtand durch Waſſerhüllen von einander getrennt ſind,
und daß der Waſſergehalt der geſchichteten Subſtanz von der
Größe dieſer Molecüle abhängt, inſofern er um ſo geringer ſein
muß, je größer die Molecüle ſelbſt ſind; eine Vorſtellungsweiſe,
welche ſich nun ſofort auch auf die Struktur der Zellhaut über-
tragen ließ und nach welcher das Wachsthum überhaupt durch
Vergrößerung ſchon vorhandener, ſowie durch Einlagerung neuer
kleiner Molecüle zwiſchen die vorhandenen verſtanden werden
kann. Dieſe Nägeli'ſchen Molecüle ſind ſelbſt ſchon ſehr zu-
ſammengeſetzte Gebilde, denn das kleinſte derſelben würde ſchon
aus zahlreichen Atomen von Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauer-
ſtoff beſtehen, gewöhnlich aber würde ein Molecül aus tauſenden
von ſolchen Atomaggregaten, welche die Chemiker Molecüle nennen,
zuſammengeſetzt ſein.
Schon bei der Unterſuchung der Stärkekörner kam Nägeli
zu der Folgerung, daß Moleküle von verſchiedener chemiſcher Natur
an jedem ſichtbaren Punkt zuſammengelagert ſind: durch Extrak-
tion der Körner ließ ſich derjenige Stoff vollſtändig entfernen,
welcher mit Jod ohne Weiteres blau wird, die Granuloſe. Nach
der Extraktion dagegen blieb ein ſehr ſubſtanzarmes Skelet des
Stärkekornes zurück, welches im Weſentlichen genau die urſprüng-
liche Schichtung zeigte, mit Jod aber keine blaue Färbung an-
nahm und von Nägeli als Stärkecelluloſe bezeichnet wurde.
Aus dieſem Verhalten folgte, daß im Stärkekorn zweierlei
chemiſch verſchiedene Molecüle überall neben einander gelagert
ſind, etwa ſo, wie wenn man rothe und gelbe Ziegeln zum Auf-
bau eines Hauſes ſo verwendet hätte, daß nach ſpäterer Weg-
[382]Entwicklungsgeſchichte der Zelle; Entſtehung der
nahme aller gelben Ziegel nunmehr die rothen allein noch das
Mauerwerk, wenn auch viel lockerer, ſo doch in ſeiner Geſammt-
form noch darſtellen würden. Zu ähnlichen Ergebniſſen kam
Nägeli 1862 bei den kryſtallähnlich geformten Proteinkörpern,
welche Theodor Hartig vorher entdeckt, Radlkofer kryſtallo-
graphiſch, Maſchke chemiſch unterſucht hatte. Da man in
gleicher Weiſe die ſogenannten inkruſtirenden Subſtanzen aus
Zellhäuten extrahiren kann ohne ihre feine Struktur weſentlich
zu ändern, da man durch Verbrennung derſelben Aſchenſkelette
gewinnt, welche die feine Struktur der Zellhaut ſelbſt nachahmen,
ſo gilt das oben angewandte Bild in noch complicirterer Weiſe
auch für die Molecularſtruktur der Zellhäute, ja manche Erwäg-
ungen führen zu der Annahme, daß Nägeli's bei den Stärke-
körnern gewonnene Vorſtellungsweiſe ſich auch auf die Struktur des
Protoplasma's mit gewiſſen Modificationen wird anwenden laſſen.
Wie oben angedeutet, war Nägeli durch Erſcheinungen an
den Stärkekörnern zu der Annahme geführt worden, daß ihre
Molecüle nicht rund ſondern polyedriſch ſeien und ſo lag die
Frage nahe, ob ſie etwa als geradezu kryſtalliniſch gelten dürfen.
Ueber dieſe Frage konnte die Anwendung des polariſirten Lichtes
Aufſchluß geben, mit welcher ſich bereits verſchiedene Beobachter
beſchäftigt hatten. Schon 1847 hatte Erlach, 1849 Ehren-
berg das Polariſationsmikroſkop zur Charakteriſtik mikroſkopiſcher
Objekte benutzt, ohne jedoch daraus Folgerungen auf die Mole-
cularſtruktur abzuleiten; Schacht hatte ſpäter ſogar die Be-
obachtungen mit dem Polariſationsmikroſkop für eine hübſche
Spielerei erklärt, die aber keinen wiſſenſchaftlichen Werth habe.
Darauf begegnen wir wieder einer ernſten ſorgfältigen Unter-
ſuchung Mohl's auch auf dieſem Gebiet (Bot. Zeitg. 1858),
wo derſelbe mit gewohnter Gründlichkeit und unter techniſcher
Verbeſſerung des Apparates zu Folgerungen über die Natur
und Subſtanz der Zellhäute, Stärkekörner u. ſ. w. gelangte,
welche ſofort den Beweis lieferten, daß in den Händen eines
denkenden Beobachters das Polariſationsmikroſkop nicht ein
Spielzeug, ſondern ein Mittel zu tief eindringender Forſchung
[383]Gewebeform, Molecularſtruktur der organiſchen Gewebe.
ſei, vorausgeſetzt freilich, daß der Beobachter mit der Phyſik des
polariſirten Lichtes vollkommen vertraut iſt. Doch zeigte ſich
auch bei dieſer Gelegenheit wieder die Eigenthümlichkeit Mohl's,
welche ihn ſchon zwanzig Jahre früher gehindert hatte, ſeine
gründlichen und ausgedehnten Unterſuchungen über die Zell-
bildung zu einem theoretiſchen Abſchluß zu bringen; er begnügte
ſich auch dießmal wieder, gründlich und richtig zu beobachten,
das Beobachtete ſorgfältig zu beſchreiben und es mit den nächſt-
liegenden phyſikaliſchen Anſichten ſo in Verbindung zu bringen,
daß dadurch mehr eine Claſſifikation der Erſcheinungen, als eine
neue und tiefere Einſicht in das Weſen der Sache gewonnen
wurde. Es fehlte ihm der ſchöpferiſche Gedanke, der Drang,
die Ergebniſſe ſeiner Unterſuchungen bis in die letzten Elemente
zu analyſiren und ſich aus dieſem ein klares Bild der inneren
Struktur der organiſirten Theile zu bilden. Mohl blieb auch
hier alſo bei der Induktion ſtehen, ohne bis zur deduktiven und
conſtruirenden Bearbeitung der vorliegenden Frage überzugehen;
das Letztere that, wie wir ſehen werden, Nägeli auch in
dieſem Fall.
Unterdeſſen erſchien 1861 ein umfangreicheres Werk von
Valentin über die Unterſuchung der Pflanzen- und Thier-
gewebe im polariſirten Licht, wo der mit großer Literatur- und
Sachkenntniß ausgerüſtete Verfaſſer die Polariſationserſchein-
ungen ausführlich unterſuchte, die Inſtrumente und ihre Hand-
habung ausgezeichnet darſtellte, überhaupt die Theorie und
Technik derartiger Unterſuchungen entwickelte. Er überſah jedoch
betreffs der pflanzlichen Zellhäute eine bereits von Mohl er-
kannte Erſcheinung, daß nämlich die vom polariſirten Licht
ſenkrecht zu ihrer Fläche durchſtrahlten Membranen Inter-
ferenzfarben zeigen, was ihn nothwendig zu einer unrichtigen
Deutung ihrer inneren Struktur führen mußte.
Auch Nägeli widmete von 1859 ab den Polariſations-
erſcheinungen langwierige theoretiſche und phyſikaliſche Studien,
die im dritten Heft ſeiner botaniſchen Beiträge erſt 1863
publicirt wurden; aber ſchon ein Jahr früher machte er die
[384]Entwicklungsgeſchichte der Zelle, Entſtehung der
Hauptergebniſſe betreffs der Molecularſtruktur der Zellhäute
und Stärkekörner (Bot. Mitth. 1862) bekannt. Auch die Po-
lariſationserſcheinungen führten ihn wieder, und zwar auf einem
ganz anderen Wege zu der Anſicht, daß die organiſirten Theile
der Pflanzenzelle aus iſolirten Molecülen beſtehen, zwiſchen
denen ſich Flüſſigkeit befindet; die neueren Unterſuchungen
aber ergaben nun auch beſtimmtere Vorſtellungen von der
Natur jener Molecüle, die nach dem optiſchen Verhalten der
unterſuchten Gebilde nicht bloß als polyedriſch, ſondern als
kryſtalliniſch bezeichnet werden durften; die Subſtanzmolecüle
der organiſirten Pflanzentheile verhalten ſich nach Nägeli
wie optiſch zweiaxige Kryſtalle, die alſo drei verſchiedene Axen
der Aetherdichtigkeit beſitzen; in den Stärkekörnern und Zell-
häuten ſind dieſe kryſtalliniſchen Molecüle ſo angeordnet, daß
jedesmal eine dieſer Axen ſenkrecht zur Schichtung ſteht,
während die beiden anderen in der Schichtungsebene liegen.
Die Wirkung der organiſirten Zellentheile auf polariſirtes
Licht ſummirt ſich aus den Wirkungen der einzelnen Mole-
küle, wogegen die zwiſchen ihnen liegende Flüſſigkeit optiſch
inaktiv iſt und nur inſofern in Betracht kommt, als durch ihr
Quantum die Molecüle mehr oder minder weit aus einander
oder zuſammenrücken.
Es würde die Aufgabe der hiſtoriſchen Darſtellung über-
ſchreiten, wollte ich es hier verſuchen die ſchon jetzt denk-
baren Conſequenzen zu entwickeln, welche ſich aus Nägeli's
Theorie für das Verſtändniß der Wachsthumsvorgänge,
für die Mechanik des Wachsthums ableiten laſſen; jeden-
falls iſt durch dieſe Ergebniſſe ein Schema von der feinſten
Struktur der Organismen aufgeſtellt, in welchem zugleich
eine gewiſſe Uebereinſtimmung des Organiſchen und des Un-
organiſchen, aber auch der weſentliche Unterſchied beider zu
Tage tritt; an dieſes Schema wird jede weitere Unterſuchung
anknüpfen müſſen, welche wirklich und ernſthaft darauf ausgeht,
die Erſcheinungen des Lebens nach naturwiſſenſchaftlichen Prin-
zipien zu erklären.
[[385]]
Drittes Buch.
Geſchichte der Pflanzenphyſiologie.
(1583—1860.)
Sachs, Geſchichte der Botanik. 25
[[386]][[387]]
Einleitung.
Was man im 16. und im Anfange des 17. Jahrhunderts
von den Lebenserſcheinungen der Pflanzen wußte, war nicht viel
mehr als das, was ohnehin ſchon ſeit den älteſten Zeiten menſch-
licher Cultur durch Landwirthſchaft, Gärtnerei und andere prak-
tiſche Beſchäftigung mit Pflanzen bekannt geworden war. Man
wußte, daß die Wurzeln nicht nur zur Befeſtigung im Boden,
ſondern auch zur Nahrungsaufnahme dienen, daß gewiſſe Dünge-
ſtoffe z. B. Aſche, unter Umſtänden auch Salz, die Vegetation
kräftigen; daß ferner die Knoſpen auswachſen und Sproſſe bilden,
der Erzeugung von Samen und Früchten die Blüthen voraus-
gehen müſſen und mancherlei unbedeutendere phyſiologiſche Er-
ſcheinungen, welche die Gartenkunſt zu Tage förderte, waren be-
kannt. Dagegen hatte man von der phyſiologiſchen Bedeutung
der Blätter für die Ernährung gar keine, von der der Staub-
gefäße für die Erzeugung fruchtbarer Samen nur eine ganz
dunkle Ahnung; daß die aus der Erde aufgenommenen Nahrungs-
ſtoffe innerhalb der Pflanze ſich bewegen müſſen, um auch die
höher liegenden Theile zu ernähren, war eine nahe liegende
Folgerung, die man auch zog und durch Vergleichung mit der
Blutbewegung der Thiere zu verſtehen ſuchte. Von der Be-
deutung des Lichts und der Wärme für die Ernährung und das
Wachsthum der Pflanzen berichten die Schriftſteller bis in die
25*
[388]Einleitung.
letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts ſo gut wie Nichts,
wenn auch unzweifelhaft ſchon ſeit den älteſten Zeiten die Wirk-
ungen dieſer Agentien bei der Pflanzenkultur und verſchiedenen
ſonſtigen Gelegenheiten bekannt geworden ſein müſſen.
So dürftig war der Vorrath von Kenntniſſen, den die Be-
gründer der Pflanzenphyſiologie in der letzten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts vorfanden. Während die phyſiologiſche Bedeutung der
verſchiedenen Organe des menſchlichen Körpers und der meiſten
Thiere wenigſtens in ihren gröberen Zügen Jedermann bekannt
war, mußte das Studium des vegetativen Lebens damit beginnen,
mühſam zu entdecken, ob denn überhaupt die verſchiedenen Theile
der Pflanzen für die Erhaltung und Fortpflanzung des vege-
tativen Lebens nöthig ſind, und welche Verrichtungen zum Vor-
theil des Ganzen man den einzelnen Theilen zuſchreiben ſolle.
Auch war es durchaus nicht leicht in dieſer Beziehung nur einen
erſten Schritt vorwärts zu thun; denn unmittelbar zu ſehen, wie
bei den Thieren, iſt von den Verrichtungen der Pflanzentheile
ſo gut wie Nichts und man braucht nur Cäſalpin und die
Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts zu leſen, um zu bemerken,
wie rathlos man jedesmal der Frage nach der etwaigen phyſio-
logiſchen Bedeutung eines Pflanzenorgans gegenüberſtand, wo es
ſich nicht gerade um die Wurzel als Ernährungsorgan und die
Frucht und den Samen als den vermeintlich letzten Zweck des
Pflanzenlebens handelte. Die phyſiologiſchen Verrichtungen der
Pflanzenorgane fallen nicht in die Augen, ſie müſſen vielmehr
aus gewiſſen Vorkommniſſen erſchloſſen, oder aus dem Erfolg
von Experimenten logiſch abgeleitet werden. Dem Experiment
aber muß die Aufſtellung einer beſtimmten Frage, geſtützt auf
eine Hypotheſe, vorausgehen; Fragen und Hypotheſen aber können
ſelbſt wieder nur aus ſchon vorhandenen Kenntniſſen entſpringen.
Einen erſten Anknüpfungspunct bot in dieſer Beziehung die Ver-
gleichung des pflanzlichen Lebens mit dem thieriſchen, welche
ſchon Ariſtoteles, wenn auch mit geringem Glück, verſucht hatte.
Mit beſſeren botaniſchen und zoologiſchen Kenntniſſen ausgerüſtet
hatte jedoch Cäſalpin beſtimmtere Vorſtellungen von der Be-
[389]Einleitung.
wegung der Nahrungsſäfte in den Pflanzen zu gewinnen geſucht
und nachdem im Anfang des 17. Jahrhunderts Harvey den
Kreislauf des Blutes entdeckt hatte, tauchte auch bald der Ge-
danke auf, in den Pflanzen könne eine ähnliche Circulation des
Saftes ſtattfinden. So war alſo eine erſte Hypotheſe, eine be-
ſtimmte Frage gewonnen, welche man nun durch genauere Er-
wägung der gewöhnlichen Vegetationserſcheinungen, beſſer aber
durch Experimente zu entſcheiden ſuchte. Führte nun auch eine
faſt hundert Jahre andauernde Polemik ſchließlich zu der Ein-
ſicht, daß ein der Blutcirkulation entſprechender Kreislauf des
Saftes in den Pflanzen nicht ſtattfindet, ſo war dieſes Reſultat
doch eben durch jene Hypotheſe gewonnen, welche aus der Ver-
gleichung der Thiere und Pflanzen entſprang. Gewiſſermaßen als
Nebenprodukt der in dieſem Sinne geführten Unterſuchungen
ergab ſich aber auch die wichtige Entdeckung, daß die Blätter
eine entſcheidende Rolle bei der Ernährung der Pflanzen ſpielen,
eine Entdeckung, welche derjenigen der Kohlenſäurezerſetzung
durch grüne Pflanzentheile um mehr als hundert Jahre voraus-
ging. Um noch ein Beiſpiel hervorzuheben, konnte auch die
Entdeckung der Sexualität bei den Pflanzen nur dadurch ange-
bahnt werden, daß man gewiſſe Erſcheinungen des vegetativen
Lebens mit der Fortpflanzung der Thiere verglich; lange bevor
Rudolph Jacob Camerarius ſeine entſcheidenden Experimente
(1691-1694) über die nothwendige Mitwirkung des Blüthen-
ſtaubes zur Erzeugung keimfähiger Samen anſtellte, hegte man
die, wenn auch höchſt unbeſtimmte und durch allerlei Vorurtheile
entſtellte Vermuthung, daß bei den Pflanzen eine dem thieriſchen
Geſchlechtsverhältniß entſprechende Einrichtung beſtehen möge.
Das Intereſſe, welches die ſchon im 17. Jahrhundert bekannt
gewordene Reizbarkeit der Mimoſen und ſpäter ähnliche Be-
wegungserſcheinungen an Pflanzen hervorriefen, entſprang eben-
falls weſentlich aus der hier ſo auffallend hervortretenden Aehn-
lichkeit zwiſchen Thier und Pflanze; und die erſten Unterſuchungen
darüber wurden ſelbſtverſtändlich durch die Frage hervorgerufen,
ob die Pflanzenbewegungen durch ähnliche Organiſationsverhältniſſe,
[390]Einleitung.
wie die der Thiere zu Stande kommen. In allen derartigen
Fällen war es ganz gleichgültig, ob die vorausgeſetzten Analogieen
durch die fortgeſetzten Unterſuchungen endlich, wie bei der Sexua-
lität, beſtätigt, oder, wie bei der Saftcirculation, verneint wurden.
Es handelte ſich nicht um das Reſultat, ſondern darum, über-
haupt nur Ausgangspuncte für die Unterſuchung zu gewinnen.
Zu dieſem Zwecke genügte es, wenn, geſtützt auf wirkliche oder
nur ſcheinbare Analogieen zwiſchen Pflanzen und Thieren, den
anſcheinend ganz unthätigen Organen der Pflanze gewiſſe Func-
tionen fragweiſe zugemuthet, gewiſſermaßen angedichtet wurden.
Damit kam die wiſſenſchaftliche Arbeit in Fluß, gleichgültig wie
ſpäter das Reſultat ausfallen würde. Ueberall wo es ſich um
Lebenserſcheinungen handelt, iſt eben unſer eigenes Leben nicht
nur der erſte Ausgangspunct, ſondern auch das Maaß des Be-
greifens; was das Lebendige im Gegenſatz zum Lebloſen ſei, er-
kennen wir zuerſt durch Vergleichung unſeres eignen Weſens mit
dem der verſchiedenen Objecte. Von unſeren Lebensregungen
ſchließen wir auf diejenigen der höheren Thiere, welche wir aus
dem Gebahren derſelben ganz unmittelbar und inſtinktmäßig ver-
ſtehen; von dieſen ausgehend werden uns auch die der niederen
Thiere verſtändlich und ſchließlich leiten uns weitere Analogie-
ſchlüſſe bis hinüber zu den Pflanzen, deren Belebtheit uns eben
nur auf dieſe Weiſe bekannt wird. Indem ſo die Pflanzen als leben-
dige Weſen ſchon im Alterthum den Thieren genähert wurden, bot
ſich von ſelbſt dem weiteren Nachdenken die Annahme dar, daß
man nun auch im Einzelnen die Lebenserſcheinungen der Thiere
bei den Pflanzen wiederfinden werde. Aus den botaniſchen
Fragmenten des Ariſtoteles erfahren wir, daß auf dieſe Weiſe
in der That die erſten Fragen der Pflanzenphyſiologie entſtanden
ſind; und wie ſchon erwähnt, nahmen dieſelben bei Cäſalpin
bereits eine beſtimmtere Form an und die ſpäteren Pflanzen-
phyſiologen bedienten ſich immer wieder ähnlicher Analogie-
ſchlüſſe. Einen anderen Anfang konnte die Geſchichte unſerer
Wiſſenſchaft nicht nehmen, weil es pſychologiſch und hiſtoriſch
genommen, keinen anderen giebt. Wenn ſich nun auch die vor-
[391]Einleitung.
ausgeſetzten Analogieen zwiſchen Thieren und Pflanzen ſpäter oft
als trügeriſch erwieſen und vielfach Unfug mit ihnen getrieben
wurde, ſo hat die fortgeſetzte Unterſuchung nach und nach andere
viel wichtigere und weſentlichere Uebereinſtimmungen beider Reiche
zu Tage gefördert; immer deutlicher tritt namentlich in unſerer
Zeit hervor, daß die materiellen Grundlagen des vegetabiliſchen
und animaliſchen Lebens in der Hauptſache identiſch ſind, daß
die Vorgänge der Ernährung, Saftbewegung, geſchlechtlichen und
ungeſchlechtlichen Zeugung die überraſchendſten Aehnlichkeiten in
beiden Reichen darbieten.
Wenn die erſten Begründer der wiſſenſchaftlichen Pflanzen-
phyſiologie ſich ganz und gar teleologiſchen Anſchauungen hin-
gaben, ſo war dieß nicht nur in den Zeitverhältniſſen begründet,
ſondern auch für die erſten Fortſchritte unſerer Wiſſenſchaft von
großem Nutzen. Man brauchte im 17. und 18. Jahrhundert
nicht Ariſtoteliker zu ſein, um bei phyſiologiſchen Unterſuchungen
überall Zwecke und zweckmäßige Einrichtungen vorauszuſetzen.
Dieſer Standpunct iſt ohnehin überall und zu jeder Zeit der
urſprüngliche und jeder Philoſophie vorausgehende; vielmehr iſt
es Aufgabe der fortgeſchrittenen Wiſſenſchaft, dieſen Standpunct
zu verlaſſen, und ſchon im 17. Jahrhundert wurde von Seiten
der Philoſophen die Teleologie als ein unwiſſenſchaftliches Ver-
fahren erkannt. Allein die erſten Pflanzenphyſiologen waren
eben nicht Philoſophen im engeren Sinne des Worts und wenn
ſie an ihre Unterſuchung gingen, war die teleologiſche Auffaſſung
der organiſchen Natur ſchon deßhalb außer Frage, weil es ſich
gewiſſermaſſen von ſelbſt verſtand, daß jedes Organ, abſichtlich
und genau ſo geſchaffen worden ſein müſſe, daß es die zum Be-
ſtand des Ganzen nöthigen Functionen auszuführen im Stande
iſt. Dieſe Auffaſſung entſprach nicht nur den herrſchenden An-
ſchauungen, ſondern ſie hatte noch den Vorzug großer Bequem-
lichkeit, und bei den erſten Anfängen unſerer Wiſſenſchaft war
es ſogar ganz gut, wenn man vorausſetzte, daß jeder Theil der
Pflanze, auch der unſcheinbarſte, für die Erhaltung ihres Lebens
ausdrücklich erdacht und geſchaffen worden ſei, denn darin lag
[392]Einleitung.
ein Antrieb, die Einrichtungen der Pflanzenorgane ſorgfältig zu
betrachten, worauf es doch zunächſt allein ankam. So finden
wir es auch in der That bei Malpighi, Grew, Hales und
weiter unten werden wir ſehen, wie ſelbſt noch am Ende des
vorigen Jahrhunderts Konrad Sprengel in ſtrenger Durchführung
ſeines teleologiſchen Standpunctes die glänzendſten Entdeckungen
über die Beziehungen des Blüthenbaues zur Inſektenwelt u. ſ. w.
machte. Dem Fortſchritt der Morphologie war die teleologiſche
Auffaſſung von vornherein ſchädlich, obgleich die Geſchichte der
Syſtematik zeigt, wie ſchwer es den Botanikern wurde, ſich von
derartigen Anſichten zu trennen. Ganz anders verhielt es ſich
bei der Phyſiologie; hier erwies ſich die Teleologie wenigſtens
als heuriſtiſches Princip in hohem Grade nützlich, wenn es ſich
darum handelte die Funktionen der Organe zu entdecken, den Zu-
ſammenhang der Lebenserſcheinungen zu verſtehen. Etwas ganz
anderes freilich war es, als es darauf ankam, die Urſachen der-
ſelben aufzuſuchen, die Vegetationserſcheinungen in ihrem cauſalen
Zuſammenhang aufzufaſſen. Da genügte die teleologiſche Auf-
faſſung nicht mehr, ja ſie mußte als ein Hinderniß beſeitigt
werden, wenn ſich auch immerhin die Schwierigkeit ergab,
wie denn nun ohne den teleologiſchen Standpunct die zweck-
mäßigen Einrichtungen der Organismen zu verſtehen ſind. Es
bedarf hier nur des Hinweiſes, daß dieſe Schwierigkeit durch
die Selectionstheorie in befriedigender Weiſe gehoben wurde.
Sie iſt für die Phyſiologie in dieſer Beziehung ganz ebenſo
wichtig geworden, wie die Deſcendenztheorie überhaupt für die
Syſtematik und Morphologie. Wenn die Deſcendenztheorie die
morphologiſche Behandlung der Organismen endlich von dem
Einfluß der Scholaſtik befreite, ſo hat nicht weniger die Phyſio-
logie ſpeciell durch die Selectionstheorie erſt die Möglichkeit ge-
wonnen, ſich von teleologiſchen Deutungen ganz frei zu machen.
Nur ein völliges Mißverſtehen der Darwin'ſchen Lehre kann
dieſer den Vorwurf zuziehen, ſie falle in die Teleologie zurück,
während ihr größtes Verdienſt darin beſteht, die Teleologie auch
da als überflüſſig erſcheinen zu laſſen, wo ſie den Naturforſchern
[393]Einleitung.
früher trotz aller Gegengründe der Philoſophie ganz unentbehr-
lich ſchien.
Wenn die Vergleichung der Pflanzen mit den Thieren und
ebenſo die teleologiſche Auffaſſung der Organismen den erſten
Anfang pflanzenphyſiologiſcher Forſchung überhaupt ermöglichten,
ſo waren dagegen andere Momente von entſcheidender Bedeutung,
als es ſich ſpäter darum handelte, die wenigſtens in ihren
gröberen Zügen erkannten Functionen der Pflanzenorgane ur-
ſächlich zu begreifen und zu erklären. Vor Allem kam hier die
Phytotomie in Betracht. In dem Grade wie die innere Struktur
der Pflanzen näher bekannt, die verſchiedenen Gewebeformen
unterſchieden wurden, gelang es auch, die bereits durch Experi-
mente entdeckten Funktionen der Organe mit ihrer mikroskopiſchen
Struktur in Zuſammenhang zu bringen; die Phytotomie zerlegte
die lebende Maſchiene in ihre einzelnen Beſtandtheile und konnte
es nun der Phyſiologie überlaſſen, aus der Struktur und dem
Inhalt der Gewebeformen zu erkennen, in wie weit dieſelben
geeignet ſind, beſtimmten Funktionen zu dienen. Dieß war
ſelbſtverſtändlich erſt dann möglich, wenn die Vegetationser-
ſcheinungen vorher an der lebenden Pflanze ſelbſt ſtudirt worden
waren. So konnte z. B. die mikroſkopiſche Unterſuchung der
bei der Befruchtung ſtattfindenden Vorgänge erſt dann zu weiteren
Aufſchlüſſen führen, wenn vorher durch Experimente die Sexualität
ſelbſt, die Nothwendigkeit des Pollens zur Erzeugung keimfähiger
Samen conſtatirt war; ebenſo die anatomiſche Unterſuchung des
Holzes erſt dann zur Erklärung der Art und Weiſe, wie das
Waſſer in ihm emporſteigt, Anhaltspuncte darbieten, wenn vor-
her experimentell feſtgeſtellt war, daß dieſes überhaupt nur im
Holzkörper geſchieht u. ſ. w.
Zu ganz ähnlichen Erwägungen veranlaßt uns das Ver-
hältniß der Phyſiologie zur Phyſik und Chemie, worüber hier
ſchon deßhalb einige orientirende Bemerkungen vorausgeſchickt
werden ſollen, weil man nicht ſelten, und gerade in neueſter
Zeit der Anſicht begegnet, die Pflanzenphyſiologie ſei weſentlich
nichts Anderes als angewandte Phyſik und Chemie, als ob man
[394]Einleitung.
die Vegetationserſcheinungen einfach aus phyſikaliſchen und chemi-
ſchen Lehren ableiten könnte. Das wäre ja vielleicht möglich,
wenn Phyſik und Chemie auf ihren Gebieten keine Frage mehr
zu löſen hätten; thatſächlich aber ſind beide von dieſem Ziel
noch ebenſoweit entfernt, wie die Pflanzenphyſiologie von dem
ihrigen. Es iſt ja gewiß, daß die heutige Pflanzenphyſiologie
ohne die heutige Phyſik und Chemie undenkbar wäre, daß ebenſo
die erſtere auch früher auf den jeweiligen Stand der Phyſik und
Chemie ſich ſtützen mußte, wenn es darauf ankam, ſchon con-
ſtatirte Vegetationserſcheinungen als Wirkungen bekannter Urſachen
aufzufaſſen. Ebenſo gewiß aber iſt, daß alle Fortſchritte, welche
Phyſik und Chemie bisher gemacht haben, für ſich allein keine
Pflanzenphyſiologie hervorgebracht haben würden, auch nicht in
Verbindung mit der Phytotomie; die Geſchichte zeigt, daß man
im 17. und 18. Jahrhundert ſchon eine Reihe von Lebenser-
ſcheinungen der Pflanzen kennen gelernt hatte, zu einer Zeit, wo
die Phyſik und Chemie ſelbſt noch wenig zu bieten hatten und
gänzlich außer Stande waren, den Phyſiologen irgend welche
Erklärungsgründe darzubieten. Die wahre Grundlage aller
Phyſiologie iſt eben die unmittelbare Beobachtung der Lebens-
erſcheinungen ſelbſt, welche durch Experimente hervorgerufen oder
verändert, erſt in ihrem Zuſammenhang ſtudirt werden müſſen,
bevor man daran denken kann, ſie auf phyſikaliſche und chemiſche
Urſachen zurückzuführen. Es iſt daher wohl möglich, daß die
Pflanzenphyſiologie einen gewiſſen Grad von Ausbildung erreicht,
auch ohne phyſikaliſche und chemiſche Erklärung der Vegetations-
erſcheinungen, ja ſogar trotz irrthümlicher Theorieen auf dieſen
Gebieten. Was Malpighi, Hales, zum Theil Du Hamel
leiſteten, war doch gewiß Pflanzenphyſiologie und zwar beſſere,
als manche Neuere glauben; was ſie aber wußten, hatten ſie
aus Beobachtungen an der lebenden Pflanze, und keineswegs
aus den chemiſchen und phyſikaliſchen Theorieen ihrer Zeit ab-
geleitet. Selbſt die Feſtſtellung der wichtigen Thatſache, daß
die grünen Blätter allein im Stande ſind, ſolche Nahrungsſtoffe
zu bilden, welche geeignet ſind, das Wachsthum und die Bildung
[395]Einleitung.
neuer Organe zu bewirken, wurde mehr als hundert Jahre früher
entdeckt, als die Kohlenſäurezerſetzung durch grüne Pflanzentheile,
zu einer Zeit, wo die Chemie von Kohlenſäure und Sauerſtoff
noch Nichts wußte. Es läßt ſich ſogar eine Reihe von phyſio-
logiſchen Entdeckungen anführen, welche in ſcharfen Gegenſatz zu
chemiſchen und phyſikaliſchen Theorieen traten und ſelbſt zur
Berichtigung derſelben beitrugen. So z. B. die Feſtſtellung der
Thatſache, daß die Wurzeln Waſſer und Nahrungsſtoffe auf-
nehmen, ohne dafür Etwas an die Umgebung abzutreten, was
nach der früheren phyſikaliſchen Theorie vom endosmotiſchen
Aequivalent durchaus unbegreiflich ſchien; daß ferner die ſo-
genannten chemiſchen Strahlen der Phyſiker gerade bei der
Aſſimilation der Pflanzen von ganz untergeordneter Bedeutung
ſind, während die gelben und benachbarten Theile des Spectrums
im ſtrengſten Gegenſatz zu den herrſchenden Anſichten der Phyſiker
und Chemiker die Zerſetzung der Kohlenſäure lebhaft bewirken.
Und aus welchen Lehrſätzen der Phyſik hätte irgend Jemand
folgern können, daß das Wachsthum der Wurzeln abwärts, der
Stämme aufwärts, von der Schwerkraft bewirkt werde, was
Knight 1806 durch Experimente mit lebenden Pflanzen bewies;
oder konnte die Optik vorausſehen, daß das Wachsthum der
Pflanzen durch das Licht verlangſamt wird und daß wachſende
Theile unter ſeinen Einfluß ſich krümmen. Ueberhaupt das
Beſte, was wir vom Leben der Pflanze wiſſen, iſt durch directe
Beobachtung derſelben gewonnen, aber nicht aus chemiſchen und
phyſikaliſchen Theorieen deducirt worden. Nach dieſen Vorbe-
merkungen mögen nun die wichtigeren Fortſchritte der Pflanzen-
phyſiologie in raſchem Ueberblick vorgeführt werden.
1) Daß die erſten Anfänge der Pflanzenphyſiologie ungefähr
in denſelben Zeitraum fallen, wo auch die Chemie und Phyſik
anfingen, ſich als ächte Naturwiſſenſchaften zu etabliren, beweiſt
keineswegs, daß dieſe es waren, welche die Pflanzenphyſiologie
hervorgerufen haben. Sie verdankte vielmehr ihre Entſtehung
ebenſo wie die Phyſiologie, die Mineralogie, die Aſtronomie,
Geographie u. ſ. w. dem Auftreten des neuen Forſchungstriebes
[396]Einleitung.
im 16. und 17. Jahrhundert, welcher, indem er die Leerheit
der Scholaſtik empfand, nach allen Richtungen hin darauf aus-
ging, durch Beobachtung werthvolle Kenntniſſe zu ſammeln. Be-
kanntlich war es die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, wo
in dieſem Sinne und im Gegenſatz zur Scholaſtik in Italien,
England, Deutſchland, Frankreich naturwiſſenſchaftliche Geſell-
ſchaften oder Akademieen gegründet wurden; in ihren Verhand-
lungen ſpielen die erſten pflanzenphyſiologiſchen Schriften eine
ganz hervorragende Rolle: von Unbedeutenderem abgeſehen,
war es die londoner Royal society, welche die epochemachenden
Werke von Malpighi und Grew in den ſiebziger und achtziger
Jahren des 17. Jahrhunderts herausgab; ebenſo erſchienen die
für die Sexualitätslehre epochemachenden erſten Mittheilungen
des Camerarius in den Ephemeriden der deutſchen Academia
naturae curiosorum und auch die franzöſiſche Akademie ließ es
ſich um dieſe Zeit angelegen ſein, unter Dodart's Leitung
pflanzenphyſiologiſche Unterſuchungen förmlich zu organiſiren,
wenn auch freilich das Reſultat dem Streben nicht entſprach.
In dieſen Zeitraum, wo es auf allen Gebieten der Wiſſenſchaft
ſich regte, wo die großen Entdeckungen mit wunderbarer Eile
einander folgten, fallen auch die erſten bedeutenden Anfänge
unſerer Wiſſenſchaft: die erſten Unterſuchungen über den ſoge-
nannten auf- und abſteigenden Saft, zumal in England, Mal-
pighi's Theorie, welche die Blätter als Ernährungsorgane in
Anſpruch nimmt, Ray's erſte Mittheilungen über die Ein-
wirkung des Lichtes auf die Färbung der Pflanzen, vor
Allem aber des Camerarius' Experimente, durch welche die
befruchtende Kraft des Pollens erwieſen wurde. Es war
die Zeit der erſten Entdeckungen: die Erklärungsverſuche waren
allerdings noch ſchwach; die eben erſt begründete Phytotomie
wurde jedoch ſofort auch für die Phyſiologie fruchtbar, während
Phyſik und Chemie noch wenig zu bieten hatten. Dagegen trug
die im Zeitalter Newton's herrſchende Vorliebe für Mechanik
und mechaniſche Erklärung organiſcher Vorgänge auch auf dem
Gebiet der Pflanzenphyſiologie eine ſchöne Frucht in Hales'
[397]Einleitung.
Unterſuchungen über die Saftbewegung der Pflanzen; ſeine Sta-
tical essays 1727 ſchließen ſich den vorhin genannten grund-
legenden Werken an und zugleich erreicht mit dieſer bedeutenden
Leiſtung die erſte Periode unſerer Wiſſenſchaft einen ſcharf mar-
kirten Abſchluß.
Auf dieſe Zeit ſchwunghaften Fortſchrittes folgten jedoch
einige Decennien, in welchen nichts Erhebliches geleiſtet, entdeckt
und gedacht wurde, wo vielmehr unfruchtbare Zweifel an dem
bereits Bewieſenen ſich regten, ohne daß dieſelben jedoch zu einer
tieferen Faſſung der Fragen oder zu neuen experimentellen Ent-
ſcheidungen führten.
2) Um 1760 jedoch beginnt es auf den verſchiedenſten Ge-
bieten der Pflanzenphyſiologie wieder ſich zu regen. Nachdem
durch Du Hamel's Physique des arbres 1758 nicht nur
alles Frühere überſichtlich zuſammengefaßt und durch zahlreiche
neue Beobachtungen bereichert worden war, begann nunmehr
abermals eine Reihe der wichtigſten Entdeckungen bis zum An-
fang unſeres Jahrhunderts. Die Lehre von der ſexuellen Fort-
pflanzung, ſeit Camerarius kaum gefördert und durch die
Evolutionstheorie verunſtaltet, fand in Koelreuter einen Beobachter
erſten Ranges, der im Anfang der ſechziger Jahre einen tieferen
Blick in das Weſen der Sexualität eröffnete, indem er die erſten
Baſtarde künſtlich erzeugte, auch die Beſtäubungseinrichtungen der
Blüthe zuerſt ſorgfältig ſtudirte und die merkwürdigen Bezieh-
ungen derſelben zur Biologie der Inſecten hervorhob. Viel aus-
führlicher wurden dieſe Beziehungen ſpäter von Conrad Sprengel
unterſucht (1793), der dabei zu ſo überraſchenden und weit-
ausſehenden Reſultaten gelangte, daß dieſelben von ſeinen Zeit-
genoſſen und lange nachher nicht einmal verſtanden wurden,
bis ſie erſt in neueſter Zeit wieder im Intereſſe der Deſcendenz-
theorie ihre verdiente Würdigung fanden.
Nicht minder groß waren die Fortſchritte auf dem Gebiet
der Ernährungslehre: in den achtziger Jahren bewies Ingen
Houß, daß die grünen Pflanzentheile unter dem Einfluß des
Lichts Kohlenſäure aufnehmen, den Sauerſtoff abſcheiden und ſo
[398]Einleitung.
den Kohlenſtoff gewinnen, den die Pflanzen in Form organiſcher
Verbindung in ſich anhäufen; daß aber auch alle Pflanzentheile
zu jeder Zeit kleinere Quantitäten von Sauerſtoff aufnehmen,
Kohlenſäure aushauchen und ſo einen Athmungsproceß voll-
bringen, der dem thieriſchen durchaus entſpricht. Ihm folgte
bald Theodore de Sauſſure mit viel gründlicheren Unter-
ſuchungen derſelben Vorgänge und mit dem Nachweis, daß die
Aſchenbeſtandtheile des Pflanzenkörpers nicht zufällige oder be-
deutungsloſe Beimengungen ihrer Nahrung ſind, wie man bis
dahin vielfach geglaubt hatte (1804). Auch die Einwirkung der
allgemeinen phyſiſchen Kräfte auf die Vegetation wurde in einigen
Hauptpuncten conſtatirt, wenn auch noch nicht eingehend unter-
ſucht. So zeigte Senebier in den achtziger Jahren, welch'
großen Einfluß das Licht auf das Wachsthum und die grüne
Färbung der Pflanzen ausübt, und ſpäter erkannte De Can-
dolle die Einwirkung desſelben auf die periodiſch beweglichen
Blätter und Blüthen. Noch viel bedeutungsvoller war Knight's
1806 gemachte Entdeckung, daß der aufrechte Wuchs der Stämme
ebenſo wie der abwärts gerichtete der Hauptwurzeln durch die
Schwerkraft beſtimmt wird.
3) Auch auf dieſe zweite Periode wichtiger Entdeckungen
folgte wieder ein Rückſchlag; auch dießmal wieder regten ſich
Zweifel an der Richtigkeit gerade der am beſten conſtatirten
Thatſachen; es waren vorgefaßte Meinungen, denen zu Liebe
man wohl conſtatirte Thatſachen zu entkräften oder zu ignoriren
ſuchte, um an ihre Stelle ſcheinbar philoſophiſche Theorieen zu
ſetzen; die ſogenannte Naturphiloſophie, die auch der Morphologie
ſich lange als großes Hinderniß entgegenſtellte, verfehlte nicht,
der Pflanzenphyſiologie in gleicher Weiſe zu ſchadeu; namentlich
war es die Lehre von der Lebenskraft, welche jedem Verſuch,
die Lebenserſcheinungen in ihre elementaren Vorgänge aufzulöſen,
ſie als eine Kette von Urſachen und Wirkungen zu erkennen,
hindernd in den Weg trat. Man ließ ſogar die Aſchenbeſtand-
theile der Pflanzen, ja ſelbſt den Kohlenſtoff derſelben durch die
Lebenskraft in den Pflanzen ſelbſt entſtehen, verſchwommene Vor-
[399]Einleitung.
ſtellungen, die man mit dem Worte Polarität verband, mußten
die Richtung des Wachsthums und vieles Andere erklären. Nicht
minder richtete ſich der jede geſunde Logik vernichtende Einfluß
der Naturphiloſophie gegen die bisher gewonnenen Reſultate der
Sexualtheorie; abermals wurde ſelbſt nach den Unterſuchungen
Koelreuters die Sexualität der Pflanzen geradezu geleugnet. Das
dauerte ſo bis in die zwanziger Jahre hinein, dann aber be-
gann es ſich abermals zu beſſern. L. C. Treviranus wies die
Verirrungen von Schelwer und Henſchel durch ſorgfältige Kritik
1822 zurück, in England lieferte Herbert 1837 neue ſehr werth-
volle Unterſuchungen über die Hybridation und ſchon in dieſer
Periode machte Carl Friedrich Gärtner ſeine mehr als zwanzig
Jahre fortgeſetzten Studien und Experimente über die normale
Befruchtung und Baſtardbildung, welche allerdings erſt 1844
und 1849 in umfangreichen Werken publicirt wurden und die
wichtigeren Fragen auf dem Gebiet der Sexualtheorie gerade
um die Zeit zu einem gewiſſen Abſchluß auf dem Wege des
Experiments führten, wo auch die mikroſkopiſche Embryologie
der Phanerogamen durch Hofmeiſter zuerſt ein feſtes Fundament
erhielt.
Auch andere Theile der Pflanzenphyſiologie erfuhren manche
bedeutende Förderung, ſchon lange vor 1840: Theodore de
Saußure beobachtete 1822 die Selbſterwärmung der Blüthen
und die Abhängigkeit derſelben von der Athmung; zehn Jahre
ſpäter conſtatirte Göppert die Selbſterwärmung keimender und
vegetirender Pflanzen. In den verſchiedenſten Richtungen an-
regend wirkte in den zwanziger und dreißiger Jahren Dutro-
chet, namentlich aber war es die von ihm zuerſt verſuchte An-
wendung der diosmotiſchen Erſcheinungen zur Erklärung der
Saftbewegung in den Pflanzen, welche nachhaltig auf die fer-
neren Fortſchritte der Pflanzenphyſiologie einwirkte. Weniger
erfolgreich waren die chemiſchen Unterſuchungen, durch welche
jedoch ein namhaftes Material von Einzelkenntniſſen ſich anhäufte,
die ſpäter theoretiſch verwerthet werden konnten.
Den Schluß dieſer mit unfruchtbaren Zweifeln beginnenden
[400]Einleitung.
Periode, in der aber Vieles ſich vorbereitete, was nach 1840
weiter ausgebaut wurde, bildeten einige wichtige Sammelwerke,
in denen alles bisher in der Pflanzenphyſiologie Geleiſtete im
Zuſammenhang dargeſtellt wurde; außer Dutrochet's geſam-
melten Schriften (1837) erſchienen drei umfaſſende Compendien
der Pflanzenphyſiologie, eines von De Candolle, welches von
Röper in's Deutſche überſetzt, vielfach verbeſſert und bereichert
1833 und 1835 herauskam; ihm folgte zunächſt die Phyſiologie
der Gewächſe von L. C. Treviranus 1835-1838, und
Meyen's neues Syſtem der Pflanzenphyſiologie ſchloß ſich 1837
bis 1839 an. In dieſen Werken tritt das Charakteriſtiſche dieſer
Periode zumal darin deutlich hervor, daß die Phyſiologie bis
dahin noch keine kräftige Stütze an der Phytotomie findet, während
gleichzeitig die alten Anſichten von der Lebenskraft genaueren
phyſikaliſch chemiſchen Erklärungen der Vegetationsvorgänge ſich
entgegenſtellen.
4) Es wurde früher gezeigt, welch überraſchenden Auf-
ſchwung die Morphologie und Phytotomie, die Embryologie und
die Zellenlehre mit dem Beginn der vierziger Jahre nahm, und
wie dies vorwiegend darin ſeine nächſte Begründung fand, daß
man nunmehr auch die letzten Nachwehen der Naturphiloſophie
und namentlich auch die Lebenskraft beſeitigte, ſtatt naturphilo-
ſophiſcher Speculationen, ſtrenge Beobachtung und methodiſch
durchgeführte Induktion verlangte und wie in dieſer Beziehung
Schleiden's Grundzüge im Beginn der vierziger Jahre die For-
derungen der neueren Zeit energiſch vertraten, ohne jedoch in
gleichem Maße durch poſitive Ergebniſſe zu befriedigen. Für die
Pflanzenphyſiologie erwies ſich vor Allem die raſche Förderung
günſtig, welche zunächſt die Phytotomie und Zellenlehre durch
Mohl und Nägeli erfuhr; durch ſie wurde es nunmehr mög-
lich, auch die Befruchtungsvorgänge im Inneren der Samen-
knoſpen zu verfolgen. Schon lange vor 1840 hatte man die
Entſtehung der Pollenſchläuche aus den Pollenkörnern beobachtet
und Schleiden hatte 1837 die Theorie aufgeſtellt, daß der Em-
bryo der Phanerogamen im Ende des Pollenſchlauches ſelbſt
[401]Einleitung.
durch freie Zellbildung entſtehe, nachdem dasſelbe bis in den
Embryoſack hineingewachſen ſei. Aber ſchon 1846 zeigte Amici
und 1849 Hofmeiſter das Irrthümliche dieſer Auffaſſung, indem
ſie nachwieſen, daß die Keimanlage innerhalb des Embryoſackes
bereits vor der Ankunft des Pollenſchlauches vorhanden iſt,
durch deſſen Eintreffen aber erſt zu weiterer Entwicklung, zur
Bildung des Embryos angeregt wird. Ebenſo ließen Hofmeiſters
weitere Beobachtungen über die Embryologie der Gefäßkryptogamen
und Mooſe keinen Zweifel, daß die zum Theil bereits von
Unger und Nägeli entdeckten Spermatozoiden dieſer Pflanzen-
gruppen dazu dienen, eine in dem weiblichen Organ vorgebildete
Keimanlage, die Eizelle zu befruchten und zu weiterer Entwick-
lung anzuregen (1849, 1851). Bald darauf wurde auch der
Sexualakt bei verſchiedenen Algen aufgefunden und hier war es,
wo die beſte Gelegenheit ſich bot, auf mikroskopiſchem Wege die von
den experimentellen Ergebniſſen noch offen gelaſſenen Fragen ihrer
Löſung entgegenzuführen. Thuret zeigte 1854, wie die großen
Eizellen der Fucusarten von Spermatozoiden umſchwärmt und be-
fruchtet werden, es gelang ihm ſogar Baſtardirungen durch Vermiſch-
ung der Spermatozoiden einer Art mit den Eiern einer anderen her-
beizuführen; doch blieb auch hier die Frage noch offen, ob eine bloße
Berührung der männlichen und weiblichen Organe genüge, oder ob
die Befruchtung durch die Verſchmelzung der Subſtanz des Sper-
matozoids und der Eizelle ſtattfindet; dieſe Frage wurde 1855 von
Pringsheim entſchieden, indem er bei einer Süßwaſſeralge die männ-
lichen Befruchtungskörper in die Subſtanz der Eizelle eindringen
und in derſelben ſich auflöſen ſah, ein Vorgang, der ſpäter auch
bei höheren Kryptogamen beobachtet wurde und in ſeiner ein-
fachſten Form in dem Sexualakt der Conjugaten ſich darſtellt,
den De Bary 1858 ausführlich beſchrieb und, wie Vaucher
bereits gethan hatte, als einen ſexuellen Vorgang auffaßte.
Wenn man bedenkt, wie ſehr durch die ſchwierigen und zeit-
raubenden Beobachtungen über die feinere Anatomie der Pflanzen,
über die Zellbildung, die Embryologie und Entwicklungsgeſchichte
der Organe die Zeit und Arbeitskraft gerade der hervorragend-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 26
[402]Einleitung.
ſten Botaniker nach 1840 in Anſpruch genommen wurde, ſo
kann es nicht Wunder nehmen, daß die übrigen Theile der
Pflanzenphyſiologie, welche Experimente und Vegetationsverſuche
erfordern, nur wenig und nebenbei kultivirt wurden; doch ge-
wann auch dieſe Richtung eine feſtere Grundlage durch die Fort-
ſchritte der Phytotomie, welche dem Phyſiologen nunmehr ein
beſtimmteres Bild des Apparates vorführten, an welchem ſich
die vegetativen Lebenserſcheinungen vollziehen.
Von den eigentlich phyſiologiſchen Disziplinen war es neben
der Sexualtheorie nur noch die Lehre von dem Chemismus der
Pflanzenernährung, welche in dem Zeitraum von 1840-1860
continuirlich und mit namhaften Erfolg kultivirt wurde; dieß
geſchah aber nicht oder nur ganz nebenbei von den Botanikern,
ſondern vorwiegend von Chemikern, welche an die Reſultate Sau-
ßure's anknüpfend die Ernährungsvorgänge unterſuchten. Nament-
lich waren es die Fragen nach der Unentbehrlichkeit aller oder
gewiſſer Aſchenbeſtandtheile für die Ernährung, die Herkunft der-
ſelben und die daran ſich knüpfenden Erwägungen über die Er-
ſchöpfung des Ackerlandes durch die Pflanzenkultur und die ent-
ſprechende Abhülfe durch geeignete Düngung, welche die Agri-
kulturchemiker bis gegen 1860 hin bearbeiteten. In Frankreich
hatte ſchon vor 1840 Bouſſingault experimentelle und ana-
lytiſche Unterſuchungen in dieſer Richtung unternommen und
auch im Lauf der folgenden zwanzig Jahre war er es, der die
phyſiologiſch werthvollſten Thatſachen zu Tage förderte, unter
denen als eine der wichtigſten die zu nennen iſt, daß die Pflanzen
den freien atmosphäriſchen Stickſtoff zu ihrer Ernährung nicht
benützen, daß ſie dazu vielmehr Stickſtoffverbindungen auf-
nehmen müſſen. In Deutſchland gewann die Bearbeitung der-
artiger Fragen ein erhöhtes Intereſſe dadurch, daß Juſtus Liebig
aus dem bis 1840 Bekannten das principiell Wichtige von dem
Nebenſächlichen und Unbedeutenden ſcharf abſonderte und auf die
große praktiſche Wichtigkeit der Theorie der Pflanzenernährung
für die Land- und Forſtwirtſchaft hinwies; bald wurden daher
auch beträchtliche öffentliche Mittel für derartige Unterſuchungen
[403]Einleitung.
zur Verfügung geſtellt, die jedoch ebendeßhalb, weil ſie in den
Dienſt praktiſcher Intereſſen traten und dabei den inneren
Zuſammenhang aller Vegetationserſcheinungen vielfach außer
Acht ließen, nicht ſelten auf Abwege geriethen. Indeß wurde
doch ein großes Material von Thatſachen angehäuft, welches bei
ſorgfältiger Sichtung ſpäterhin auch rein wiſſenſchaftlichen In-
tereſſen dienen konnte. Einzelne der hervorragendſten Agrikultur-
chemiker erwarben ſich übrigens das Verdienſt, neben den prak-
tiſchen Geſichtspuncten auch die rein wiſſenſchaftlichen zur Geltung
zu bringen und in umfangreichen Werken die geſammte Er-
nährungslehre der Pflanzen, ſoweit es ſich ohne tieferes Ein-
gehen auf die Organiſation derſelben thun ließ, vorzutragen; ſo
namentlich Bouſſingault und bei uns Emil Wolff und Franz
Schulze. Aber auch jetzt noch blieben diejenigen Fragen der
Ernährung unentſchieden, welche die chemiſchen Vorgänge im
Innern der Pflanze ſelbſt betreffen, die Vorgänge der Aſſimilation
und des Stoffwechſels, obwohl auch in dieſer Beziehung manche
werthvolle Vorarbeiten ſtattfanden.
Im Vergleich mit den bedeutenden Fortſchritten der Sexual-
theorie und der Ernährungslehre wurde in den übrigen Theilen
der Pflanzenphyſiologie nur wenig und dies Wenige nur unzu-
ſammenhängend und bruchſtückweiſe zu Tage gefördert; verſchiedene
Beobachter conſtatirten den Zuſammenhang der vegetabiliſchen
Eigenwärme mit der Sauerſtoffathmung; es wurden einzelne
neue Thatſachen bezüglich der Abwärtskrümmung der Wurzeln
bekannt, Brücke lieferte 1848 eine ausgezeichnete Unterſuchung
über die Reizbewegungen der Mimoſenblätter und Hofmeiſter
zeigte 1857, daß das ſogenannte Bluten der Weinrebe und einiger
Bäume, bei denen man dieſe Erſcheinung bisher allein kannte,
bei allen Holzpflanzen, und nicht bloß im Frühjahr, ſondern zu
jeder Zeit ſtattfindet, wenn die geeigneten Bedingungen hergeſtellt
werden. Alle dieſe und zahlreiche andere vereinzelte Wahrnehm-
ungen waren für die Zukunft ſehr werthvoll, wurden aber einſt-
weilen noch nicht zur Ausbildung umfaſſender Theorieen benutzt,
da ſich Niemand derartigen Fragen ausſchließlich und mit der-
26*
[404]Einleitung.
jenigen Ausdauer widmete, welche allein auf dieſen ſchwierigen
Gebieten zu ſicheren Reſultaten und zu einer tieferen Einſicht in
den inneren Zuſammenhang der Erſcheinungen führen kann.
Ueberraſchend gering war der Zuwachs an Kenntniſſen be-
treffs der Saftbewegung in den Pflanzen und noch geringer das,
was man über die äußeren Bedingungen der Wachsthumsvorgänge
und die damit verbundenen Bewegungen zu Tage förderte. Die
für die Pflanzenphyſiologie ſo höchſt wichtige Abhängigkeit der Vege-
tationserſcheinungen von der Temperatur, wurden zwar nicht
ganz vernachläſſigt; man gerieth aber auf einen Abweg,
indem man ſich die Sache leicht machte und die geſammte Vege-
tationszeit einer Pflanze mit der mittleren Tagestemperatur
während derſelben multiplicirte, um in dieſem Produkt einen
Ausdruck für das geſammte Wärmebedürfniß einer gegebenen
Pflanze zu finden; ein Mißgriff, durch welchen namentlich
die Pflanzengeographie irre geführt wurde.
Was ſich von werthvolleren Kenntniſſen bis 1851 ange-
ſammelt hatte, ſtellte Mohl in ſeiner oft erwähnten Schrift
über die vegetabiliſche Zelle ebenſo überſichtlich, wie kurz und
präcis zuſammen, nicht ohne die beſtehenden Anſichten kritiſch
zu beleuchten; ausführlicher, doch weniger kritiſch geſichtet, wurde
die geſammte Pflanzenphyſiologie in dem ebenfalls ſchon erwähnten
Lehrbuch Ungers von 1855 dargeſtellt und dieſe beiden Bücher
waren es vorwiegend, welche bis in die ſechziger Jahre hinein
zur Verbreitung der Pflanzenphyſiologie beitrugen und dieſe
Aufgabe ehrenvoll löſten; was dagegen in Schacht's Büchern
ſeit 1852 unter dem Namen Pflanzenphyſiologie behandelt
wurde, beruhte auf ſo mangelhafter Einſicht, daß dadurch
dem Anſehen unſerer Wiſſenſchaft eher geſchadet, als genützt
wurde.
Indem ich nun nach dieſer vorläufigen Ueberſicht zu einer
ausführlicheren Darſtellung übergehe, finde ich mich veranlaßt
die Geſchichte der Sexualtheorie von der der übrigen Pflanzen-
[405]Einleitung.
phyſiologie abgeſondert vorzutragen. Zu dieſem Verfahren fordert
der Umſtand heraus, daß in der That die Begründung und
weitere Verfolgung der Sexualtheorie in ihren entſcheidenden
Momenten ſich ganz unabhängig von den übrigen phyſiologiſchen
Disziplinen entwickelt hat, ſo daß die geſchichtliche Continuität
unterbrochen, die Darſtellung unklar werden müßte, wenn man
die Entwicklung der Sexualtheorie an die der übrigen phyſio-
logiſchen Disciplinen chronologiſch anſchließen wollte. Ebenſo
hat ſich auch die Lehre von der Ernährung und Saftbewegung
der Pflanzen unabhängig von anderen phyſiologiſchen Dis-
ciplinen continuirlich weiter entwickelt und wird es ſich deßhalb
empfehlen auch ihr ein beſonderes Capitel zu widmen.
Was in früherer Zeit über die Bewegungen der Pflanzen-
theile und die Mechanik des Wachsthums gedacht worden iſt,
ſoll in einem dritten Capitel kurz zuſammengeſtellt werden.
[406]Geſchichte der Sexualtheorie.
Erſtes Capitel.
Geſchichte der Sexualtheorie.
1.
Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
Zu einer richtigen Würdigung deſſen, was am Ende des
17. Jahrhunderts durch Rudolph Jakob Camerarius und ſpäter
durch ſeine Nachfolger über die Geſchlechtsverhältniſſe der Pflanzen
entdeckt worden iſt, wird es beitragen, wenn wir uns darüber
unterrichten, was man ſeit Ariſtoteles in dieſer Beziehung zu
Tage gefördert hatte; wir werden dabei zugleich erfahren, wie
äußerſt unfruchtbar die auf oberflächliche Beobachtung geſtützte
ältere Philoſophie auf einem Gebiet ſich erwies, wo nur die
inductive Forſchung zu Reſultaten führen konnte.
Daß Ariſtoteles 1) wie viele Spätere die ſexuelle Befruchtung
zu den Ernährungsvorgängen rechnete und auf dieſe Weiſe gerade
das ſpecifiſch Eigenthümliche der letzteren verkannte, erſieht man
deutlich genug aus ſeiner Aeußerung: dieſelbe Kraft der Seele
ſei die ernährende und die erzeugende. Zu dieſer auf ungenauer
Erwägung beruhenden Subſumption geſellte ſich bei Ariſtoteles
noch außerdem ein auf ſehr mangelhafter Erfahrung beruhender
Irrthum, inſofern er die Sexualität der Organismen in eine
cauſale Beziehung zu ihrer Ortsbewegung ſetzte. „Bei allen
Thieren, heißt es in ſeinen botaniſchen Fragmenten, welche
Ortsbewegung haben, iſt das Weibliche vom Männlichen ge-
trennt, und ein Thier weiblich, das andere männlich, beide jedoch
[407]Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
gleicher Art, wie beiderlei Menſchen. Bei den Pflanzen dagegen
ſind dieſe Kräfte vermiſcht und das Männliche vom Weiblichen
nicht unterſchieden, daher ſie auch aus ſich ſelbſt zeugen und
keinen Befruchtungsſtoff ausſtoßen“, worauf es weiterhin heißt:
„Bei den nicht ſchreitenden Thieren, wie bei den Schalthieren
und denen, welche angewachſen leben, indem ſie ein den Pflanzen
ähnliches Leben haben, fehlt, wie bei dieſen, das Weiblich-Männ-
liche. Gleichwohl werden ſie nach der Aehnlichkeit und Analogie
männlich und weiblich genannt; denn einen gewiſſen geringen
Unterſchied haben ſie allerdings. Auch unter den Bäumen tragen
einige Frucht, andere keine Frucht; unterſtützen aber die frucht-
baren bei dem Garmachen der Früchte, wie dieß der Fall iſt
bei der Feige und dem Caprificus (der wilden Feige).“
Im Vergleich mit dieſen Anſichten des Ariſtoteles erſcheinen
die ſeines Schülers Theophaſtros 1) ſchon einigermaßen geklärt
und auf eine etwas reichhaltigere Erfahrung geſtützt. Aber
freilich iſt auch bei ihm von eigener Beobachtung im Intereſſe
der Frage Nichts zu merken; denn bei Gelegenheit der Angabe,
daß unter den Blüthen des mediſchen Apfels (mali Medicae)
einige fruchtbar, andere nicht fruchtbar ſeien, ſagt er, es ſei
nöthig nachzuſehen, ob etwas Aehnliches auch bei anderen Pflanzen
ſtattfinde, was er ſelbſt in ſeinem Garten leicht hätte thun können.
Uebrigens kommt es ihm mehr darauf an, das ihm Bekannte
logiſch zu ordnen, als die Frage zu beantworten, ob bei den
Pflanzen ein Geſchlechtsverhältniß exiſtire. Daß von den Pflanzen
gleicher Gattung, ſagt er, einige blühen, andere aber ſich keiner
Blüthe erfreuen, das werde verſichert; ſo ſolle die männliche
Palme blühen, die weibliche nicht, dafür aber Früchte bringen. 2)
[408]Geſchichte der Sexualtheorie.
Das, ſo ſchließt er dieſen Satz, ſind die Differenzen der Pflanzen
und derer, welche keine Frucht zu Stande bringen: woraus
ſattſam einleuchte, wie groß die Verſchiedenheit der Blüthe ſei.
Im dritten Buch De causis (c 15,3) heißt es: die Terebinthe
ſei theils männlich, theils weiblich, jene ſei ſteril und werde
ebendeßhalb männlich genannt. Daß Theophraſt in dieſen Dingen
ſich ganz auf die Erzählung anderer verließ, zeigt eine Stelle in
demſelben Buch (c. 18,1), wo es heißt: Was man ſich erzählt,
daß die Frucht der weiblichen Dattelpalme nicht ausdauere, wenn
man nicht die Blüthe der männlichen mit ihrem Staub über ihr
ausſchüttelt, iſt in der That ſonderbar, doch ähnlich der Caprifi-
cation der Feige, woraus man faſt ſchließen könnte, daß die
weibliche zur Vollendung des Fötus ſich ſelbſt nicht genüge;
allein dieß müßte nicht bei einer Gattung oder zweien, ſondern
entweder bei allen oder vielen ſtattfinden. Man ſieht an dieſer
Stelle recht deutlich, wie vornehm der griechiſche Philoſoph dieſe
wichtige Frage abthut, ohne ſich im Entfernteſten zu einer eigenen
Beobachtung herabzulaſſen.
Es ſcheint, daß bis auf Plinius' Zeiten, wenn auch nicht
bei den Schriftſtellern, ſo doch bei Perſonen, die ſich ſelbſt mit
der Natur beſchäftigten, die Annahme einer ſexuellen Differenz
der Pflanzen ſich mehr ausgebildet und befeſtigt habe; denn
Plinius ſagt in ſeiner Historia mundi, wo er das Verhältniß
der männlichen und weiblichen Dattelpalme beſchreibt und na-
mentlich den Blüthenſtaub als das Befruchtungsmittel bezeichnet,
die Naturkundigen erzählen, alle Bäume und ſelbſt
Kräuter beſäßen beiderlei Geſchlecht. 1)
Wenn dieſes Thema der Naturgeſchichte den Philoſophen
nur wenig Stoff zum Nachdenken bot, ſo ermangelte es deſto
weniger, die Phantaſie der Dichter anzuregen. De Candolle
2)
[409]Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
citirt ausführlich die darauf bezüglichen Verſe des Ovid, des
Claudian und mit ſelbſtverſtändlicher Uebergehung des geſammten
Mittelalters die lebhafte poetiſche Schilderung des Jovianus
Pontanus vom Jahr 1505, welche ſich auf zwei Dattelpalmen
verſchiedenen Geſchlechts in Brindiſi und Otranto bezieht. Für
die Naturwiſſenſchaft war damit freilich Nichts gewonnen.
Wie es um die Kenntniß der Sexualität bei den deutſchen
und niederländiſchen Botanikern des 16. Jahrhunderts ſtand,
hat bereits Treviranus (Phyſ. d. Gew. 1838 II p. 371)
treffend ausgeſprochen: „Was man als männliches Geſchlecht
bei den Pflanzen bezeichnete, z. B. Abrotanum, Asphodelus,
Filix, Polygonum Mas et Femina, gründete ſich nur auf
eine Verſchiedenheit des Habitus, ohne daß man die weſentlich
dazu erforderlichen Theile berückſichtigte. Es iſt jedoch zu be-
merken, daß die minder gelehrteren unter den älteren Botanikern
z. B. Fuchs, Mattioli, Tabernaemontan ſich dieſer
Bezeichnungsart der Pflanzen häufiger bedienen; die gelehrten
aber z. B. Konrad Geſner, Cluſius, J. Bauhin ſeltener
und nur, um eine bereits bekannte Pflanze anzudeuten. Cluſius
merkt zwar in der Beſchreibung von ihm aufgefundener Gewächſe
häufig die Form und Farbe, auch wohl die Zahl der Staub-
fäden an — — — auch nennt er von Carica Papaya das In-
dividuum mit Staubfadenblüthen das männliche, das mit Frucht-
blüthen das weibliche, indem er ſie, obwohl der nämlichen Gat-
tung, doch einem verſchiedenen Geſchlechte angehörend hält. Allein
er begnügt ſich zu ſagen: Man behaupte, ſie ſeien einander ſo
befreundet, daß der weibliche Baum keine Frucht bringe, wenn
der männliche nicht in ſeiner Nähe, ſondern durch einen weiten
Raum von ihm getrennt ſei (Cur. poster. 42).“
Bei den hier genannten Botanikern haben wir es mit ein-
facher Unkenntniß der Sache zu thun; bei dem botaniſchen Phi-
loſophen Caeſalpin dagegen iſt es die Conſequenz des ariſto-
teliſchen Syſtems, welche ihn veranlaßt, die Annahme getrennter
Geſchlechtsorgane bei den Pflanzen als ihrer Natur widerſprechend
ausdrücklich zurückzuweiſen. Es iſt ſchwer begreiflich, wie De
[410]Geſchichte der Sexualtheorie.
Candolle 1. c. p. 48 ſagen konnte, Caeſalpin habe das Vor-
handenſein der Geſchlechter bei Pflanzen bereits erkannt. Schon
ſeine Auffaſſung der vegetabiliſchen Samenkörner als Analagon
des männlichen Samens der Thiere, mußte ihm das Verſtändniß
der Sexualität bei den Pflanzen unmöglich machen. Dasſelbe be-
weiſt auch ſeine Annahme, daß der Same der Pflanzen aus dem
Mark als dem Lebensprincip der Pflanze entſpringe und in Zu-
ſammenhang hiermit heißt es im erſten ſeiner ſechzehn Bücher p. 11:
Non fuit autem necesse, in plantis genituram aliquam
distinotam a materia secerni, ut in animalibus, quae mare
et femina distinguunter. Die den Fruchtknoten umgebenden
oder von ihm getrennten Blüthentheile ſammt den Staubgefäßen
betrachtete er nur als Hüllen des Fötus und wenn er auch, wie
ſchon gezeigt wurde, ſehr wohl wußte, daß bei manchen Pflanzen,
wie bei der Haſelnuß, Kaſtanie, dem Ricinus, Taxus, Mer-
curialis, Urtica, Cannabis, Mais, die Blüthen von den Frucht-
anlagen getrennt ſind und ſogar anführt, daß man die ſterilen
Individuen Männchen, die fruchtbaren Weibchen nenne, ſo faßte
er dieß doch nur als eine populäre Bezeichnung auf, ohne ein
Geſchlechtsverhältniß wirklich zuzulaſſen; bezüglich der Ausdrücke
mas et foemina heißt es p. 15: Quod ideo fieri videtur,
quia foeminae materia temperatior sit, maris autem ca-
lidior; quod enim in fructum transire debuisset, ob super-
fluam caliditatem evanuit in flores, in eo tamen genere
foeminas melius provenire et foecundiores fieri ajunt, si
juxta mares serantur, ut in palma est animadversum,
quasi halitus quidam ex mare efflans debilem foeminae
calorem expleat ad fructificandum.
Vom Pollen iſt dabei keine Rede, noch weniger von einer
Verallgemeinerung des bei den getrenntgeſchlechtigen Blüthen
Wahrgenommenen auf die gewöhnlichen, wo Blüthe und Frucht-
anlage im Sinne Caeſalpin's vereinigt ſind. Auch das in
unſerem erſten Buch p. 51 über ſeine Anſicht von dem Ver-
hältniß zwiſchen Samen und Sproß Citirte zeigt, daß ihm die
Samenbildung nur eine edlere Art der Fortpflanzung, als die
[411]Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
durch Knoſpen ſei, nicht aber weſentlich verſchieden davon. So
wie ſich Caeſalpin einmal die ariſtoteliſche Lehre zurecht gelegt
hatte, konnte ihm überhaupt die Annahme der Sexualität der
Pflanzen nicht paſſen.
Was Prosper Alpin 1592 über die Beſtäubung der
Dattelpalme ſagt, enthält nichts Neues, außer daß er in Aegypten
es ſelbſt geſehen hatte. (De Candolle 1. c. p. 47).
Der Böhme Adam Zaluziansky1) ſuchte 1592 das bis
dahin Ueberlieferte, ohne jedoch ſelbſt Beobachtungen zu machen,
zu einer Art Theorie zu verſchmelzen. Der Foetus, ſagt er,
iſt ein Theil der pflanzlichen Natur, den die Pflanze aus ſich
hervorbringt und unterſcheidet ſich alſo von dem Sproß, inſofern
dieſer aus der Pflanze hervorwächſt, wie ein Theil aus dem
Ganzen, jener dagegen, wie ein Ganzes aus einem Ganzen.
Faſt wörtlich citirt er aus Plinius den Satz: die Natur-
beobachter behaupteten, daß alle Pflanzen beiderlei Geſchlecht
beſitzen, aber ſo, daß bei den einen die Geſchlechter vermiſcht,
bei den anderen vertheilt ſind. Bei vielen Pflanzen ſei das
Männliche und Weibliche gemiſcht, weßhalb ſie die Fähigkeit
haben, für ſich allein zu zeugen, ähnlich wie manche androgyne
Thiere; und er verfehlt nicht, deutlicher als Ariſtoteles, dieß
aus der mangelnden Ortsbewegung der Pflanzen zu erklären.
So ſei es bei der größten Mehrzahl der Pflanzen. Bei anderen
jedoch, wie es namentlich bei der Palme feſtſteht, ſei das Männ-
liche und Weibliche getrennt und die weiblichen bringen ohne
die männlichen keine Frucht und wo der Staub der letzteren nicht
von ſelbſt zu jenen gelangt, da könne der Menſch nachhelfen.
Auch hier wie bei den anderen Schriftſtellern blickt die Sorge
durch, man möge Pflanzen von verſchiedenem Geſchlecht für ver-
ſchiedene Arten halten. Auch nimmt Zaluziansky Bezug auf
[412]Geſchichte der Sexualtheorie.
die landläufige Unterſcheidung vieler Pflanzen in männliche und
weibliche nach gewiſſen äußerlichen Verſchiedenheiten.
Gewiß hat auch Jungius die damals bekannten That-
ſachen und Anſichten ebenfalls gekannt; das Studium ſeiner
botaniſchen Schriften jedoch zeigt Nichts, was auf eine Annahme
wirklicher Sexualität bei den Pflanzen, auf die Nothwendigkeit
des Zuſammenwirkens zweierlei Geſchlechter zum Zweck der
Fortpflanzung ſich deuten ließe. Faſt möchte man glauben, daß
gerade die gelehrteſten und ernſteſten Männer, wie Caeſalpin
und Jungius, die Annahme der Sexualität bei den Pflanzen
als eine Abſurdität betrachteten, mit der man ſich nicht gerne
befaßt. Dieſen Eindruck macht auch die Lectüre von Malpighi's
Pflanzenanatomie. Er war es, der die erſte ſorgfältige Ent-
wicklungsgeſchichte des Samens gab und ſogar die früheren Ent-
wicklungsſtufen des Embryos im Embryoſack ſtudirte und dennoch
ſagt er bei dieſer Gelegenheit Nichts über die Mitwirkung des
in den Antheren enthaltenen Staubes zur Embryobildung, ja er er-
wähnt nicht einmal der Anſichten früherer Schriftſteller darüber.
Auch Malpighi betrachtete wie Caeſalpin die Samenbildung
nur als eine andere Form der gewöhnlichen Knoſpenbildung,
wie überhaupt die Fortpflanzung nur als eine andere Form der
Ernährung. Daß man die Pflanzen mit unfruchtbaren Blüthen
als männliche bezeichnet, wird nur nebenbei als Volksmeinung
mit erwähnt (p. 52) und zum Schluß die Theorie aufgeſtellt,
daß die Staubgefäße ebenſo wie die Blumenblätter einen Theil
des Saftes aus der Blüthe entfernen, um ſo einen reineren Saft
zur Bildung der Samen zu gewinnen (p. 56).
In allen die Geſchichte der Sexualität betreffenden Nach-
richten wird ein in der Geſchichte der Botanik ſonſt Unbekannter
Sir Thomas Millington als derjenige bezeichnet, der
zuerſt die Staubgefäße als männliche Geſchlechtsorgane in An-
ſpruch genommen habe. Die einzige Nachricht darüber beſchränkt
ſich jedoch auf folgende Mittheilung Grew's, in deſſen Anatomy
of plants 1682 p. 171 ch. 5. §. 3. „In Unterredung hierüber
(nämlich über die Bedeutung der von Grew mit dem Worte
[413]Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
attire Schmuck 1) bezeichneten Staubfäden für die Samen-
bildung) mit unſerem gelehrten Savilian Profeſſor Sir
Thomas Millington, ſagte mir derſelbe, er ſei der Meinung,
daß das attire als männliches Organ zur Erzeugung des
Samens diene. Ich erwiderte ſogleich, daß ich derſelben Meinung,
ſei, gab ihm einige Gründe dafür an und beantwortete einige
Einwürfe, welche derſelben entgegenſtehen könnten.“ Dann fährt
Grew fort (p. 172), die Summe ſeiner dieſen Gegenſtand be-
treffenden Gedanken 2) ſei Folgendes: Zunächſt ſcheine es, daß das
attire dazu diene, gewiſſe überflüſſige Theile des Saftes abzu-
ſcheiden, zur Vorbereitung der Erzeugung des Samens. Sowie
die Blüthenblätter (foliature) dazu dienen, die flüchtigen ſalini-
ſchen Schwefeltheile wegzuſchaffen, ſo dient das attire zur Ver-
minderung und Adjuſtirung der luftartigen; damit der Same
deſto öliger werden könne und ſeine Principien beſſer fixirt
werden. Wir befinden uns hier nämlich auf dem Boden der
damaligen Chemie, wo Schwefel, Salz und Oel die Hauptſache
war. Dem entſprechend, fährt Grew fort, habe die Blume
gewöhnlich einen ſtärkeren Geruch als das attire, weil der ſa-
liniſche Schwefel ſtärker iſt, als der luftartige, welcher zu ſubtil
iſt, um den Sinn zu afficiren u. ſ. w. Mit engem Anſchluß
an Malpighi's Anſicht betrachtet er nun dieſe Abſcheidungen
ähnlich den menses als ſolche, durch welche der Saft im Frucht-
knoten für die herannahende Entſtehung des Samens qualificirt
wird. Und ſo wie das junge attire bevor es ſich öffnet, den
weiblichen menses entſpreche, ſei es wahrſcheinlich, daß ſpäter,
wenn es ſich öffnet, es die Function des Männchens erfülle, wie
ſich aus der Form (!) dieſer Theile ſchließen laſſe. Wie verwirrt
es aber auch in dieſer Beziehung noch bei Grew ſteht, zeigt
folgender Satz, (p. 152 § 6), den ich mit den Worten des Ori-
[414]Geſchichte der Sexualtheorie.
ginals hier folgen laſſe: for in the florid attire (in den ein-
zelnen Blüthen der Compoſitenköpfe) the blade (Griffel und
Narbe) doth not unaptly resemble a small penis, with
the sheath opon it, as its praeputium. And in the
seedlike attire the several thecae are, like so many little
testikles. And the globulets and other small partikles
opon the blade or penis and in the thecae, are as the
vegetable sperme. Wich as soon, as the penis is exserted
or the testikles come to break, falls down opon the
seedcase or wombe and so toutches it with a pro-
lifick virtue.
Dem Bedenken, daß demnach dieſelbe Pflanze männlich und
weiblich ſein müſſe, tritt er mit der Thatſache entgegen, daß
Schnecken und andere Thiere ſich ebenſo verhalten. Daß aber
die Pollenkörner nur dadurch, daß ſie auf den Fruchtknoten
(uterus) fallen, dieſem oder ſeinem Saft eine prolific virtue
ertheilen, ſei um ſo wahrſcheinlicher, wenn man den Befruchtungs-
vorgang bei manchen Thieren damit vergleicht (wobei Grew ſon-
derbare Dinge zur Tage fördert). Der ganze Abſchnitt ſchließt
mit der Bemerkung, wenn man eine vollſtändige Aehnlichkeit
zwiſchen Thieren und Pflanzen in dieſer Beziehung fordern wollte,
ſo hieße das, verlangen, die Pflanze ſolle nicht einem Thiere
ähnlich, ſondern ſelbſt ein Thier ſein.
Fragt man ſich nun, was etwa Millington und Grew
wirklich geleiſtet haben, ſo beſteht es in der Vermuthung, daß
die Staubgefäße den männlichen Befruchtungsſtoff erzeugen, eine
Anſicht, die hier aber mit den wunderlichſten chemiſchen
Theorieen und thieriſchen Analogieen eng verknüpft auftritt.
Merkwürdig wie krumm die Wege ſind, auf denen die Wiſſenſchaft
zuweilen fortſchreitet; Grew, wenn er einmal irgend Sexualität
bei den Pflanzen annehmen wollte, hätte einfach an Theo-
phraſt's Angabe anknüpfen können, daß man zur Befruchtung
weiblicher Palmen den Blüthenſtaub der männlichen über ihnen
ausſchüttle und da Grew ebenſo wie Malpighi den Blüthen-
ſtaub in den Staubgefäßen vorfand, konnten dieſe letzteren ohne
[415]Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
Weiteres und noch dazu auf ein Jahrtauſende altes Experiment
geſtützt als die männlichen Organe in Anſpruch genommen werden.
Der älteren Anſichten und Erfahrungen jedoch erwähnt Grew
mit keinem Wort. Irgend ein Experiment zur Verantwortung
der Frage hat auch er ebenſowenig gemacht, wie irgend ein
anderer Schriftſteller vor Camerarius. Es war ſchon ein
Fortſchritt, daß Ray in ſeiner Historia plantarum (1693.
I. Cap. 10. p. 17. II. p. 1250) dieſen ſo äußerſt unklaren
Gedankengang Grew's durch Hinweis auf die diöciſchen Pflanzen
und auf die alten Erfahrungen an der Dattelpalme, klärte und
mehr in's richtige Geleiſe brachte, ohne jedoch auch ſeinerſeits
durch Experimente der Frage näher zu treten. Zudem war der
eigentliche Entdecker der Sexualität, Camerarius, ſchon zwei
Jahre vor dem Erſcheinen der Historia plantarumRay's mit
der experimentellen Löſung des Problems beſchäftigt. Auch was
Ray 1694 in der Vorrede zu ſeinem Sylloge stirpium ſagt,
iſt eben nur eine Behauptung, die ſich auf kein Experiment ſtützt.
Aber ſelbſt wenn man den Aeußerungen Grew's und Ray's
einen größeren Werth beilegen wollte, ſo würde doch die Ver-
gleichung der Art und Weiſe, wie Camerarius die Sache
angriff, ohne Weiteres zeigen, daß er es geweſen iſt, der zunächſt
die Frage theoretiſch ſoweit geklärt hat, daß ſie einer experimen-
tellen Behandlung zugänglich wurde und daß er unzweifelhaft der
Erſte war, der nicht nur Experimente überhaupt in dieſer Rich-
tung unternahm, ſondern dieſe auch mit großem Geſchick durch-
führte, wie wir im Folgenden ſehen werden. Linné traf das
Richtige, wenn er (Amoenitates I 1749 p. 62) ſagt, Came-
rarius habe zuerſt das Geſchlecht und die Erzeugung der
Pflanzen deutlich bewieſen (perspicue demonstravit).
[416]Geſchichte der Sexualtheorie
2.
Begründung der Lehre von der Sexualität der Pflanzen durch Rudolph
Jacob Camerarius
1691-1694.
Was man bis zum Jahre 1691 über die Sexualität der
Pflanzen wußte, waren alſo die ſchon von Théophraſt er-
zählten Thatſachen betreffs der Dattelpalme, der Terebinthe und
des mediſchen Apfels, ferner die Vermuthungen Millington's
Grew's und Ray's, denen jedoch die Anſicht Malpighi's
als ebenſo berechtigt entgegenſtand. Zu einer wiſſenſchaftlich
feſtgeſtellten Thatſache konnte die Sexualität der Pflanzen nur
auf einem einzigen Weg, dem des Experiments, erhoben werden;
es mußte gezeigt werden, daß ohne die Mitwirkung des Blüthen-
ſtaubes keimfähige Samen nicht entſtehen. Nach allen vorliegenden
hiſtoriſchen Documenten war R. J. Camerarius der Erſte,
welcher einen derartigen Verſuch zur Löſung der Frage machte
und demſelben zahlreiche andere Experimente folgen ließ. Eine
ganz andere Frage iſt es, wie der Befruchtungsſtoff zu den be-
fruchtungsfähigen Samenanlagen gelangt und dieſe konnte erſt
dann einen Sinn haben, wenn durch Experimente feſtgeſtellt war,
daß der Pollen überhaupt zur Befruchtung des Samens unent-
behrlich iſt.
J. Ch. Mikan, Profeſſor der Botanik in Prag, hat ſich
das Verdienſt erworben, die ſehr zerſtreuten, daher wenig bekannt
gewordenen Schriften des Rudolph Jakob Camerarius1)
[417]Rudolph Jacob Camerarius.
1)
in Verbindung mit einigen ſolchen Koelreuter's zu ſammeln
und unter dem Titel R. J. Camerarii opuscula botanici
argumenti1797 (Pragae) herauszugeben. Ich werde mich
hier ganz vorwiegend an dieſes, wie es ſcheint, nur wenig be-
kannte Buch halten. Die kleinen vorläufigen Mittheilungen
des Camerarius ſind daſelbſt aus dem neunten und zehnten
Jahrgang der zweiten und aus dem fünften und ſechſten Jahr-
gang der dritten Dekurie der Ephemeriden der Leopoldina
wörtlich abgedruckt; der uns ſpäter beſchäftigende Brief an Va-
lentin nach J. G. Gmelin's Ausgabe von 1749 wiederge-
geben; ebenſo ein Auszug desſelben und eine Antwort des
Valentin.
Camerarius hatte beobachtet, daß ein weiblicher Maul-
beerbaum einmal Frucht trug, obwohl kein männlicher Baum
(amentaceis floribus) in der Nähe war, daß aber die Beeren
nur taube, hohle Samen enthielten, welche er mit den unbe-
fruchteten Windeiern der Vögel verglich. Durch dieſe Beob-
achtung aufmerkſam geworden, machte er nun das erſte Experi-
ment mit einer anderen zweihäuſigen Pflanze, dem Bingelkraut
(Mercurialis annua); er nahm von den freiwachſenden Pflanzen
Ende Mai zwei weibliche Exemplare (die man früher als männ-
liche bezeichnete, die er jedoch als die weiblichen erkannte), ſetzte
ſie in Töpfe und ſonderte ſie von anderen ab. Die Pflanzen
gediehen vortrefflich, die Früchte ſchwollen zahlreich an, halb reif
aber begannen ſie zu vertrocknen und nicht eine brachte vollen
Samen; ſeine Mittheilung darüber iſt vom 28. Dezember 1691
datirt. In der dritten Dekurie der Ephemeriden annus V erzählt
er, daß er in einer Ausſaat von Spinat neben diöciſchen Pflanzen
auch monöciſche gefunden habe, dasſelbe habe Ray bei Urtica
romana beobachtet, was Camerarius an drei anderen Arten
beſtätigt fand. Die Nichtbeachtung dieſer Thatſache hat ſpäter
vielfach irrige Deutung der Experimente und Zweifel an der
Sexualität veranlaßt.
Sachs, Geſchichte der Botanik. 27
[418]Geſchichte der Sexualtheorie.
Das Hauptwerk des Camerarius über die Sexualität der
Pflanzen iſt jedoch ſeine vielgenannte, aber wie es ſcheint, von
ſehr Wenigen geleſene De sexu plantarum expistola, die er
am 25. Auguſt 1694 an Valentin Profeſſor in Gießen richtete.
Dieſer Brief iſt das Umfangreichſte, was bis dahin und ſelbſt
bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts über die Sexualität
der Pflanzen geſchrieben wurde; er enthält aber auch das bei
Weitem Gründlichſte in dieſer Richtung vor Koelreuter. Die
Darſtellungsweiſe weicht ſehr zu ihrem Vortheil von der jener
Zeit weit ab und iſt durchaus im modern naturwiſſenſchaftlichen
Sinn gehalten: eine vollſtändige Kenntniß der einſchlägigen Li-
teratur wird hier mit ſorgfältiger Kritik gehandhabt; der Blüthen-
bau klarer als jemals vorher und lange nach ihm dargeſtellt
und zwar ausdrücklich in der Abſicht, den Sinn ſeiner Experi-
mente über die Sexualität verſtändlich zu machen. Man ſieht
es der ganzen Haltung des Briefes an, daß Camerarius
von der außerordentlichen Wichtigkeit der Frage durchdrungen
war und daß es ihm darauf ankam, die Exiſtenz der Sexualität
auf jede mögliche Weiſe feſtzuſtellen.
Nach der ausführlichen Betrachtung der Blüthentheile, der
Antheren mit ihrem Pollen, des Verhaltens der befruchteten und
unbefruchteten Samenanlagen, der Erſcheinungen an gefüllten
Blumen u. dgl., woraus er mit vieler Umſicht die Bedeutung
der Antheren (apices) ableitet, geht er nun zum directen Be-
weis über: „In der zweiten Abtheilung von Pflanzen ſagt er,
bei welcher die männlichen Blüthen von den weiblichen auf der-
ſelben Pflanze getrennt ſind, habe ich auch zwei Beiſpiele davon
kennen gelernt, welch' ſchlimme Wirkung die Entfernung der
Antheren ausübt. Als ich nämlich zunächſt von dem Ricinus
die männlichen Blüthen (globulos), bevor die Antheren ſich aus-
breiteten, wegnahm und das Auftreten jüngerer verhinderte,
während ich zugleich die vorhandenen Fruchtſtände ſchonte, erhielt
ich niemals vollſtändigen Samen, ſondern ich ſah leere Blaſen,
welche endlich erſchöpft und vertrocknet zu Grunde gingen.
Ebenſo wurden von dem Mais die bereits herabhängenden Narben
[419]Rudolph Jacob Camerarius
(coma) geſchickt abgeſchnitten, worauf die beiden Kolben völlig
ohne Samen blieben, obgleich die Zahl der tauben Schalen
(vesicularum) ſehr groß war.“ Betreffs der diöciſchen Pflanzen
Morus und Mercurialis verweiſt er auf ſeine früheren
Mittheilungen in den Ephemeriden und auch der Spinat habe
dieſe Reſultate beſtätigt. Nach dem Hinweis auf ähnliche Verhält-
niſſe bei den Thieren fährt er fort: „Im Pflanzenreich findet
keine Erzeugung durch Samen, dieſes vollkommenſte Geſchenk der
Natur, dieſes allgemeine Mittel zur Erhaltung der Species ſtatt,
wenn nicht vorher die Antheren, die in dem Samen enthaltene
junge Pflanze vorbereitet haben (nisi praecedanei florum apices
prius ipsam plantam debite praeparaverint). Es ſcheint
daher gerechtfertigt, jenen apices einen edleren Namen beizulegen
und die Bedeutung von männlichen Geſchlechtsorganen, da die
Kapſeln derſelben Behälter ſind, in welchen der Same ſelbſt,
nämlich jenes Pulver, der ſubtilſte Theil der Pflanze, ſecernirt
und geſammelt wird, um von hier aus ſpäter abgegeben zu
werden. Ebenſo leuchtet ein, daß der Fruchtknoten mit ſeinem
Griffel (seminale vasculum cum sua plumula sive stilo)
das weibliche Geſchlechtsorgan der Pflanze darſtellt.“ Weiterhin
geht er auf des Ariſtoteles Theorie der vermiſchten Geſchlechter
der Pflanzen ein und führt Swammerdam's Entdeckung des
Hermaphroditismus der Schnecken an, was bei Thieren Ausnahme,
bei den Pflanzen aber Regel ſei. Ein Irrthum, der aber erſt
hundert Jahre ſpäter durch Konrad Sprengel erkannt und
endlich in neueſter Zeit vollkommen widerlegt worden iſt, war
es allerdings, wenn Camerarius glaubte, daß die herma-
phroditiſchen Blüthen ſich ſelbſt befruchten, was er im Vergleich
mit den Schnecken ſehr ſonderbar findet, was aber die meiſten
Botaniker trotz Koelreuter und Sprengel bis auf die neueſte
Zeit nicht ſonderbar gefunden haben. Daß man am Schluß
des 17. Jahrhunderts die Sexualität der Pflanzen höchſtens im
bildlichen Sinne gelten ließ (wobei Ray ausgenommen werden
muß), daß aber Camerarius dieſelbe ganz in demſelben
Sinne, wie bei den Thieren auffaßte, und dieſe Auffaſſung zur
27*
[420]Geſchichte der Sexualtheorie
Geltung zu bringen ſuchte, erkennt man an den ſtarken Aus-
drücken, welche er braucht, um zu zeigen, daß bei den Diöciſten
der Unterſchied von männlicher und weiblicher Pflanze nicht bloß
bildlich zu verſtehen ſei. Sowie bei den Thieren entſtehe auch
bei den Pflanzen der neue Fötus, das im Samen enthaltene
Pflänzchen, erſt nach dem Abblühen innerhalb der Samenhaut.
Bezeichnend iſt es dabei für die in jener Zeit noch immer gel-
tende Autorität der Alten, daß Camerarius es für nöthig
hält, ausdrücklich hervorzuheben, daß die Anſichten des Ari-
ſtoteles, Empedokles und Theophraſt ſeiner eigenen
Sexualtheorie nicht im Wege ſtehen. Der ächte Naturforſcher
und kritiſche Geiſt macht ſich aber darin bei Camerarius
geltend, daß er den für die Thiere ſchon damals erhobenen
Streit, ob das Ei oder das Spermatozoid (vermis) den Fötus
erzeuge, auf ſich beruhen läßt, da es einſtweilen nur darauf an-
komme, die ſexuelle Differenz zu konſtatiren, aber nicht die Art
der Zeugung; wünſchenswerth ſei ihm allerdings, daß man unter-
ſuche, was die Pollenkörner enthalten, wie weit ſie in die weib-
lichen Theile eindringen, ob ſie unverletzt bis zu den empfangen-
den Samen vorrücken, oder was ſie entlaſſen, wenn ſie etwa
vorher zerſpringen. Den Verdienſten Grew's um die Kenntniß
des Pollens und ſeiner Bedeutung läßt er volle Gerechtigkeit
widerfahren.
Dem naturwiſſenſchaftlichen Sinn des Camerarius macht
es alle Ehre, daß er ſelbſt eine Reihe von Einwänden gegen
ſeine Sexualtheorie hervorhebt; zu dieſen gehört, daß die Lyco-
podien und Equiſeten aus ihrem Staub, wie er glaubt, keine
jungen Pflanzen erzeugen; er vermuthete daher, daß ihnen die Samen
fehlen. Es iſt aber zu beachten, daß die Keimung der Equi-
ſeten und Lycopodien überhaupt erſt in unſerem Jahr-
hundert beobachtet worden iſt. Ein für jene Zeit wichtigerer
Einwand lag darin, daß ein dritter Kolben einer kaſtrirten Mais-
pflanze elf befruchtete Samen enthielt, über deren Entſtehung
er keine Rechenſchaft zu geben wußte. Noch ärgerlicher war ihm,
daß drei aus dem Feld genommene Hanfpflanzen, im Garten
[421]Rudolph Jacob Camerarius.
kultivirt, dennoch fruchtbare Samen brachten, was er durch ver-
ſchiedene Annahmen über unbemerkte Beſtäubung zu erklären ſucht.
Auch dieß veranlaßte ihn zu einem neuen Verſuch; im nächſten
Jahr brachte er nämlich einen Topf mit Hanfkeimpflanzen in
einen abgeſchloſſenen Raum; es entſtanden drei männliche und
drei weibliche Pflanzen; die drei männlichen wurden (nicht von
ihm ſelbſt) bevor ſie ihre Blüthen öffneten, abgeſchnitten; es
entſtanden zwar ſehr viele taube Samen, aber auch ziemlich viel
fruchtbare. Wie es zu gehen pflegt, klammerten ſich die Neider
und diejenigen, welche ſich ſelbſt das Verdienſt des Came-
rarius anzueignen ſuchten, an dieſe mißlungenen Verſuche,
ohne freilich irgend eine Erklärung der gelungenen Verſuche geben
zu können. Für uns iſt die Angabe ſeiner mißlungenen Ver-
ſuche vielmehr der Beweis der Genauigkeit ſeiner Beobachtungen,
denn wir kennen jetzt die Urſache des Mißlingen, die Came-
rarius ſelbſt eigentlich ſchon beobachtet, aber nicht zur Er-
klärung benutzt [hatte]. Man darf wohl annehmen, daß er
in ruhigerer Zeit ſeine ohnehin ausgezeichnete Unterſuchung
auch in dieſer Beziehung abgerundet haben würde, denn am
Schluß des Briefes beklagte er ſich über die Unbill des herr-
ſchenden Krieges; es war die Zeit der Raubzüge Ludwig's XIV.
Am Schluß des Briefes findet ſich eine aus 26 vierzeiligen
Strophen beſtehende lateiniſche Ode, welche von einem Unbe-
kannten, wahrſcheinlich einem Schüler des Camerarius, ge-
dichtet worden iſt; ähnlich wie Goethe's bekanntes Gedicht den
Inhalt ſeiner Metamorphoſenlehre, ſo enthält dieſe, allerdings
nicht göthiſche Ode im Weſentlichen den Inhalt der epistola
de sexu plantarum; ſie beginnt mit den Worten:
[422]Geſchichte der Sexualtheorie.
3.
Verbreitung der neuen Lehre, ihre Anhänger und Gegner.
1700-1760.
Kein Theil der Botanik iſt ſo oft hiſtoriſch behandelt wor-
den, wie die Lehre von der Sexualität der Pflanzen. Da je-
doch die Mehrzahl der Berichterſtatter die Quellen nicht aufſuchten,
ſo ſind die Verdienſte der wirklichen Begründer und Förderer
der Lehre vielfach zum Vortheil Anderer verdunkelt worden;
ſelbſt deutſche Botaniker haben das Verdienſt des Camerarius,
weil ſie deſſen Schriften nicht kannten oder kein Urtheil über
die Frage und ihre Löſung hatten, Franzoſen und Engländern
zugeſchrieben. Ich habe es mir angelegen ſein laſſen, die Lite-
teratur des 18. Jahrhunderts in dieſer Beziehung ſorgfältig zu
durchforſchen und werde hier zu zeigen verſuchen, in wie weit
vor Koelreuter noch irgend Jemand zur Gründung der
Sexu[al]theorie thatſächlich Etwas beigetragen hat. Wie es bei
großen Neuerungen in der Wiſſenſchaft immer zu gehen pflegt,
fanden ſich ſolche, welche die neue Theorie einfach leugneten,
Viele, die ſie ohne Verſtändniß des Fragepunctes annahmen,
Andere, welche ſie von herrſchenden Vorurtheilen durchdrungen
ſchief auffaßten und entſtellten, Manche, die es verſuchten, das
Verdienſt des Entdeckers ſich ſelbſt zuzuſchreiben und nur ſehr
Wenige, welche mit richtigem Verſtändniß der Frage durch neue
Unterſuchungen die Sache förderten.
Von denen, welche durch eigene Beobachtungen zur Löſung
der Frage beizutragen ſuchten, ſind aber zwei Abtheilungen zu
unterſcheiden; zuerſt diejenigen, denen die Frage, ob überhaupt
der Pollen zur Samenbildung nöthig ſei, die Hauptſache war.
In dieſe Abtheilung gehören Bradley, Logan, Müller,
Gleditſch. Andere nahmen dagegen die Sexualität überhaupt
als erwieſen an und ſuchten zu zeigen, auf welche Weiſe der
Pollen die Befruchtung des Samens bewirke; dahin gehören
Geoffroy und Morland. Eine zweite Claſſe der hier in
[423]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
Betracht kommenden Schriftſteller ſind diejenigen, welche die
Frage ohne eigene Beobachtungen und Experimente glaubten be-
handeln zu können, und aus allgemeinen Gründen das von den
Beobachtern Feſtgeſtellte entweder einfach acceptirten wie Leib-
nitz, Burckhard und Vaillant, oder aus philoſophiſchen
Gründen von Neuem zu beweiſen ſuchten, wie Linné und ſeine
Schüler, oder endlich die Sexualität einfach verwarfen, wie
Tournefort und Pontedera. Endlich wäre Patrick Blair
zu nennen, der ſelbſt nichts leiſtete, ſondern einfach die geſammten
Reſultate des Camerarius ſich aneignete und zum Lohn
dafür ſogar von deutſchen ſpäteren Schriftſtellern auch als einer
der Begründer der Sexualtheorie angeführt wird. 1)
Sehen wir zunächſt, was durch weitere Experimente und
Beobachtung wirklich zu Tage gefördert wurde. Der Erſte,
welcher Experimente mit hermaphroditen Blüthen anſtellte, um
die Sexualität der Pflanzen überhaupt zu erweiſen, ſcheint
Bradley (New improvements in gardening 1717 I p. 20)
geweſen zu ſein. Er pflanzte zwölf Tulpen auf einen von an-
deren Tulpen abgelegenen Platz des Gartens und nahm ihnen,
ſobald ſie ſich zu öffnen anfingen, Antheren weg; der Er-
folg war, daß nicht eine derſelben Samen hervorbrachte, wäh-
rend an einer anderen Stelle desſelben Gartens 400 Tulpen
maſſenhaft Samen lieferten.
Wieder vergehen zwei Jahrzehnte, bis ein neues Experiment
gemacht wird. James Logan, 2) Gouverneur von Pennſyl-
vanien, ein geborner Irländer, hatte in jeder Ecke ſeines Gar-
tens, der vierzig Fuß breit und ungefähr achtzig lang war,
[424]Geſchichte der Sexualtheorie.
einige Maispflanzen geſetzt und verſchiedene Maßregeln getroffen.
Im October bemerkte er nun folgende Ergebniſſe: die Kolben
derjenigen Pflanzen, an denen er die männlichen Rispen, als
bereits die Narben herabhingen, weggeſchnitten hatte, ſchienen
zwar ein ganz gutes Anſehen zu haben; nach genauerer Unter-
ſuchung waren ſie jedoch ſämmtlich unbefruchtet, ausgenommen
einen, der nach jener Seite gerichtet war, von woher der Wind
den Pollen anderer Maispflanzen zuwehen konnte. An denjeni-
gen Kolben, die ihrer Narben zum Theil beraubt worden waren,
fand er gerade ſo viel Körner als er Narben hatte ſtehen laſſen.
Ein noch vor Austritt der Narben in Mouſſelin eingehüllter
Kolben ergab nur unfruchtbare, leere Samenſchalen.
Von beſonderem Intereſſe ſind die ſpäteren Verſuche Müller's
von 1751, welche Koelreuter aus dem Gärtnerlexicon (11. Theil
p. 543) 1) mittheilt, inſofern hier zum erſten Mal die Inſectenhülſe
bei der Beſtäubung beobachtet wurde. Müller pflanzte zwölf
Tulpen in einer Entfernung von ſechs bis ſieben Ellen von ein-
ander und nahm ihnen ſobald ſie ſich öffneten, ihre Staubfäden
ſorgfältig weg; er glaubte hierdurch die Befruchtung gänzlich ver-
hindert zu haben; einige Tage ſpäter jedoch ſah er Bienen in
einem gewöhnlichen Tulpenbeet ſich mit Pollen bedecken und zu
ſeinen kaſtrirten Blumen hinfliegen. Als ſie wieder fort waren,
bemerkte er, daß ſie eine zur Befruchtung hinreichende Menge
von Blumenſtaub auf den Narben zurückgelaſſen hatten und
wirklich brachten auch dieſe Tulpen Samen. Müller ſonderte
auch männliche Spinatpflanzen von weiblichen ab und fand, daß
die letzteren zwar große aber keimloſe Samen trugen.
Profeſſor Gleditſch, Director des botaniſchen Gartens in
Berlin, veröffentlichte in demſelben Jahr (Hist. de l'acad. roy.
des sc. et des lettres für das Jahr 1749, ausgegeben 1751,
Berlin) einen Verſuch über die künſtliche Befruchtung der
Palma tactylifera folio flabelliformi, was unzweifelhaft
[425]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
unſer Chamerops humilis iſt, da er ſelbſt p. 105 ſagt, es ſei
Linné's Chamerops und Koelreuter die Pflanze in ſei-
nem Bericht ebenfalls ſo nennt. Dieſe Abhandlung iſt durch
ihre wiſſenſchaftliche Haltung, durch die gelehrte Behand-
lung der Fragepuncte das Beſte, was ſeit Camerarius bis
auf Koelreuter in dieſer Richtung geleiſtet wurde. Wir er-
fahren aus der Einleitung, daß es im Jahre 1749 nur noch
Wenige gab, welche die Sexualität der Pflanzen in Zweifel zo-
gen. Er ſelbſt habe ſich eine vollſtändige Ueberzeugung von der
Sexualität durch mehrjährige Experimente mit Pflanzen der ver-
ſchiedenſten Art zu erwerben geſucht. Er habe beſonders in den
letzten Jahren vorwiegend die diöciſchen Bäume zur Unter-
ſuchung gewählt, Ceratonia, Therebinthus, Lentiscus und
diejenige Species der Dattelpalme, welche man gewöhnlich
Chamerops nennt. Nachdem er über die Entſtehung keimfähiger
Samen der Terebinthe und des Maſtixbaumes durch künſtlich
eingeleitete Beſtäubung berichtet, wendet er ſich zu dem Chame-
rops, von welcher Art Prinz Eugen wiederholt Exemplare von
bedeutender Größe aus Afrika hatte kommen laſſen; ein Exem-
plar habe bis zu hundert Piſtolen gekoſtet; ſie gingen jedoch zu
Grunde, ohne zu blühen. Unſere Palme in Berlin, fährt er
fort, die vielleicht achtzig Jahre alt ſein mag, iſt rein weiblich;
ſie habe nach der Behauptung des Gärtners niemals Früchte
getragen und Gleditſch ſelbſt fand in fünfzehn Jahren keinen
fruchtbaren Samen an derſelben. Da es in Berlin keinen
männlichen Baum dieſer Art gab, ließ Gleditſch den Pollen aus
dem Garten des Caspar Boſe in Leipzig kommen. Auf dem
neuntägigen Transport war bereits der größte Theil des Pol-
lens aus den Aetheren gefallen und Gleditſch fürchtete ſchon, er
könne verdorben ſein; aber die Nachricht des Leipziger Botanikers
Ludwig, der in Algier und Tunis erfahren hatte, daß die
Afrikaner gewöhnlich trockenen und einige Zeit aufbewahrten
Pollen zur Befruchtung verwenden, ließ ihn auf Erfolg hoffen.
Obgleich der weibliche Baum ſchon beinahe abgeblüht hatte,
ſtreute er den ausgefallenen Pollen dennoch auf deſſen Blüthen
[426]Geſchichte der Sexualtheorie.
und befeſtigte den ſchon verſchimmelten männlichen Blüthenſtand
an einen nachträglich blühenden weiblichen Sproß. Das Reſultat
war, daß im folgenden Winter Früchte reiften, welche im Früh-
jahr 1750 keimten. Ein zweiter Verſuch in ähnlicher Weiſe
ausgeführt, ergab ein gleich günſtiges Reſultat. 1)
Koelreuter, der in ſeiner „Hiſtorie der Verſuche, welche vom
Jahr 1691 bis auf 1752 über das Geſchlecht der Pflanzen an
geſtellt worden ſind“, das hier Vorgeführte ebenfalls mittheilt,
beendigt ſeinen Bericht darüber mit den Worten: „Dies ſind,
ſoviel mir bekannt iſt, alle Verſuche, die von 1691 bis auf das
Jahr 1752 in der Abſicht, das Geſchlecht der Pflanzen zu be-
weiſen und zu beſtätigen gemacht und beſchrieben worden ſind“;
Koelreuter's Schrift war eben dem Nachweis gewidmet, daß wo
es ſich um die Conſtatirung der Sexualität im Pflanzenreich
handelt, ausſchließlich Experimente entſcheiden können und daß
eben außer Camerarius, Bradley, Logan, Müller,
Gleditſch bis 1752 Niemand ſolche gemacht habe.
Während es ſich bei den oben Genannten um die Frage
handelte, ob überhaupt Sexualität im Pflanzenreich beſteht, be
gegnen wir ſchon im Anfang des 18. Jahrhundert zweien Schrift-
ſtellern, welche die Sexualität als vorhanden betrachten, ſich aber
die Frage vorlegen, in welcher Weiſe der Pollen die Bildung
des Embryos bewirke. Beide waren Anhänger der Evolutions-
theorie, ſchlechte Beobachter und mit der Literatur nicht vertraut.
Der Erſte derſelben iſt Samuel Morland. In den philoso-
phical transactions 1704 (für das Jahr 1702 und 1703
p. 1474) nennt derſelbe Grew denjenigen, der bemerkt habe
(observed), daß der Pollen dem männlichen Samen entſpreche;
auf Camerarius' Experimente, damals noch die einzigen,
[427]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
nimmt er keine Rückſicht. Er ſtellt aber die Annahme auf, die
jungen Samen ſeien unbefruchteten Eiern vergleichbar, der
Pollenſtaub (farina) enthalte Samenpflänzchen, von denen je
eines in jede Samenanlage (ovum) gelangen müſſe, damit dieſe
fruchtbar werde; demnach müſſe der Stilus eine Röhre ſein,
durch welche jene Samenpflänzchen in ihre Brutneſter hinein-
gleiten. Bei der Kaiſerkrone (Fritillaria imperialis) läßt er
den Blüthenſtaub ſogar durch Wind und Regen von der Narbe
aus durch den Griffelkanal hindurch in den Fruchtknoten geſpült
werden, ohne zu beachten, daß dieſe Bewegung in der hängenden
Blüthe aufwärts ſtattfinden müßte. Wenn ich nachweiſen könnte,
ſagt er, daß man in den unbefruchteten Samen niemals Em-
bryonen findet, ſo würde der Beweis zur Demonſtration werden;
er aber ſei nicht ſo glücklich geweſen, dies zu entſcheiden; davon,
daß Camerarius gerade dies bereits zehn Jahre früher ge-
leiſtet hatte, erwähnt Morland Nichts. Statt deſſen findet er
nun den Hauptbeweis für ſeine Vermuthung darin, daß bei den
Bohnen der Embryo nahe an dem Loche (der Mikropyle) der
Samenſchale liegt, woraus wir zugleich erſehen, daß Morland
nicht einmal wußte, daß die beiden großen Körper in Bohnen-
ſamen (die Cotyledonen) zum Embryo gehören, worüber ſeine
Landsleute Grew und Ray bereits das Nöthige publicirt
hatten. Die Frage, auf welche Weiſe die Befruchtung ſtattfinde,
hat alſo Morland in keiner Weiſe beantwortet; ſeine Abhand-
lung enthält Nichts als die Behauptung, daß die Embryonen
bereits in den Pollenkörnern enthalten ſind und durch einen
hohlen Griffel in die Samen gelangen, wo ſie ausgebrütet
werden, eine durchaus irrige Vorſtellung, die noch dazu nichts
Originelles bietet, da ſie ſich ganz und gar an die damals herr-
ſchende Evolutionstheorie anſchließt.
Geoffroy's Mittheilungen (Hist. de l'acad. roy. d. sc.
Paris 1714 p. 210) ſind ein wenig reicher an thatſächlichen
Angaben; ohne Grew, Camerarius oder ſelbſt nur Mor-
land zu erwähnen, knüpfte er ſeine ſchon 1711 gemachten
„Beobachtungen über die Structur und den Nutzen der wichtigeren
[428]Geſchichte der Sexualtheorie.
Blüthentheile“ an Tournefort an, der ein entſchiedener Gegner
der Sexualität der Pflanzen war. Die Blüthentheile werden
flüchtig beſchrieben, einige Formen der Pollenkörner abgebildet,
die vorgefaßte Meinung, daß der Griffel eine Röhre ſein müſſe,
durch einen einzigen Verſuch, durch Waſſeraufſaugung mittelſt des
Griffels einer Lilie ſcheinbar beſtätigt. Die Anſicht, daß der Pollen
nicht, wie Tournefort gleich Malpighi behauptet hatte,
ein Excrement ſei, wird zum Theil durch ganz nichtsſagende Be-
weiſe geſtützt z. B. durch die falſche Behauptung, die Staubge-
fäße ſeien immer ſo geſtellt, daß die Extremität der Piſtills
nothwendig ihren Staub aufnehmen müſſe. Der einzige Beweis,
daß die Samen unfruchtbar bleiben, wenn Blüthenſtaub nicht mit-
wirkt, wird durch ſehr flüchtige Angaben über Verſuche mit
Mais und Mercurialis gegeben. Der Erfolg dieſer Verſuche
ebenſo wie gewiſſe ſonſtige Aeußerungen Geoffroy's erinnern
mehr, als bloßer Zufall bewirken könnte, an den Text des Briefes
von Camerarius. Sollte Geoffroy, was ich einigermaßen
bezweifle, wirklich ſelbſt Verſuche mit Mais und Mercurialis
gemacht haben, ſo wären ſie doch um fünfzehn Jahre jünger
als die des Camerarius, der unter anderen auch dieſe
Verſuche gemacht und viel beſſer beſchrieben hatte. Geoffroy
ſucht nun zu zeigen, auf welche Weiſe der Blüthenſtaub die Be-
fruchtung bewirke und ſtellt darüber zweierlei Anſichten auf:
1) der Staub ſei ſehr ſchwefelhaltiger Natur, ſeine Theile löſen
ſich auf dem Piſtill, die ſubtilſten dringen in den Fruchtknoten,
wo ſie durch eine von ihnen eingeleitete Fermentation die Ent-
ſtehung des Embryos bewirken; oder 2) die Pollenkörner ent-
halten ſchon die Embryonen, die in den Samen gelangt daſelbſt
ausgebrütet werden; alſo die bereits von Morland, der jedoch
nicht erwähnt wird, gemachte Annahme. Dies hält er für den
wahrſcheinlicheren Fall, zunächſt deßhalb, weil man vor der Be-
fruchtung noch keinen Embryo im Samen erblicke und weil die
Samen der Bohnen eine Oeffnung (die Mikropyle), beſitzen; es
entgeht ihm dabei, daß dieſe Thatſachen ebenſo ſehr für die erſte,
wie für die zweite Anſicht ſprechen.
[429]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
Es wird nur dieſer Anführungen bedürfen, um zu zeigen,
daß Morland und Geoffroy weder zur Conſtatirung der
Sexualität überhaupt, noch zur Entſcheidung der Frage, wie der
Pollen die Befruchtung bewirkt, Etwas beigetragen haben.
Ich habe jedoch dieſe beiden zunächſt deßhalb hinter den
eigentlichen Förderern der Sexualtheorie genannt, weil ſie doch
wenigſtens auf empiriſchem Boden ſtanden und Organiſationsver-
hältniſſe nachzuweiſen ſuchten, welche das Wie der Befruchtung
erläutern ſollten, wenn ihnen dieß auch nicht gelang. Es ſind
nun aber noch eine Reihe von Männern zu nennen, die man
gewöhnlich als Mitbegründer der Sexualtheorie angeführt findet;
ſo Leibnitz, Burckhard, Vaillant, Linné, von denen
ſich aber nachweiſen läßt, daß ſie zur wiſſenſchaftlichen Be-
gründung dieſer Lehre gar Nichts beigetragen haben. Was zu-
nächſt den Philoſophen Leibnitz betrifft, ſo ſagt er 1701 in
einem Briefe, aus welchem Jeſſen (Botanik der Gegenwart und
Vorzeit 1864 p. 287) das Weſentlichſte mittheilt: „Die Blüthen
haben nun die genaueſte Beziehung zur Fortpflanzung der
Pflanzen, und in der Fortpflanzungsweiſe (principiis generationis)
Unterſchiede aufzufinden, iſt von großem Nutzen u. ſ. w. ferner:
„Einen neuen und äußerſt wichtigen Vergleichungspunct werden
auch in Zukunft die neuen Unterſuchungen über das doppelte
Geſchlecht der Pflanzen darbieten.“ Nach Jeſſen's Referat nennt
er als Beobachter R. J. Camerarius und Burckhard.
Man wird von Leibnitz nicht erwarten, daß er ſelbſt Experimente
gemacht habe und die citirten Aeußerungen weiſen eben nur
darauf hin, daß er die Blüthentheile, weil ſie nach anderen
Beobachtern die Fortpflanzung vermitteln, zur ſyſtematiſchen Ein-
theilung benutzt wiſſen wollte. Ganz dasſelbe und in viel
höherem Grade gilt von Burckhard, welcher in ſeinem ſchon
oben p. 89 citirten Briefe vom Jahre 1702 den von Leibnitz
angedeuteten Gedanken weiter ausführte, indem auch er die
Sexualität als ſolche für eine erwieſene und ſelbſtverſtändliche
Sache nahm. Die in den hiſtoriſchen Angaben früherer Bota-
niker häufig genannte Rede des Sebaſtian Vaillant, womit
[430]Geſchichte der Sexualtheorie.
derſelbe 1717 ſeine Vorleſung am Jardin de roy in Paris er-
öffnete, habe ich nicht zu Geſicht bekommen; De Candolle
jedoch, der ihm eine ganz beſondere Bedeutung für die Entwick-
lung der Sexualtheorie beimißt, ſagt 1), daß er in dieſer Rede
„die Sexualität der Pflanzen auf das Förmlichſte und als
eine zu ſeiner Zeit bekannte Sache aufſtellte“, und ferner
„Vaillant beſchreibe ſehr maleriſch, auf welche Weiſe die
Staubgefäße den Stempel befruchten,“ wobei wohl nicht viel
Richtiges untergelaufen ſein mag, da erſt Koelreuter, Konrad
Sprengel und die Botaniker der neueſten Zeit gerade über dieſen
letzten Punct ins Reine gekommen ſind. Vaillant's Verdienſt
dürfte ſich alſo auf eine rhethoriſche Schilderung des damals
Bekannten beſchränken. Dennoch fährt De Candolle fort
„Vaillant's Entdeckungen wurden u. ſ. w.“, ſowie es auf
der folgenden Seite daſelbſt heißt: „Linné beſtätigte dieſe Ent-
deckungen im Jahre 1736 in ſeinen Fundamenta botanica
und benutzte dieſelbe im Jahre 1735 bei der Begründung ſeines
Sexualſyſtems auf eine geſchickte Weiſe.“ Welche Verwirrung
der Begriffe dieſen und vielen ähnlichen Angaben zu Grunde
liegt, habe ich ſchon oben p. 88 gezeigt und wie es mit Linné's
Verdienſten um die Conſtatirung der Sexualität ausſah, wird
man aus meiner Darſtellung im 1. Buch p. 93-95 bereits
zur Genüge entnommen haben. Linné's ganze geiſtige Anlage
brachte es mit ſich, daß er auf den experimentellen Nachweis
einer Thatſache, auch wenn ſie, wie die Sexualität, nur und aus-
ſchließlich experimentell bewieſen werden kann, doch nur unbe-
deutenden Werth legte; auf ſeinem ſcholaſtiſch philoſophiſchen
Standpunct war es ihm viel wichtiger, die Exiſtenz dieſer That-
ſache philoſophiſch, wie er meinte, aus dem Begriff der Pflanze
oder aus der Vernunft abzuleiten und dabei verſchiedene Ana-
logieen von den Thieren herbeizuziehen; daher ließ er des Came-
rarius Verdienſt zwar gelten, kümmerte ſich jedoch wenig
um die allein entſcheidenden Experimente desſelben, während er
[431]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
lang und breit aus Vernunftgründen u. ſ. w. den Beweis für
die Sexualität ſelbſt zu führen unternimmt. Wie er dieß in
den Fundamenten und in der Philosophia botanica that, wurde
1. c. dargeſtellt; hier wollen wir noch kurz bei der häufig citirten
Diſſertation Sponsalia plantarum im erſten Band der Amoeni-
tates academicae von 1749 verweilen. Dort werden die An-
ſichten von Millington, Grew, Camerarius u. ſ. w.
mitgetheilt; dann aber läßt ſich Linnép. 63 vom Promovenden
Guſtav Wahlboom ſagen, er, Linné ſei 1735 in den Fun-
damenta botanica mit unendlicher Mühe an dieſe Frage ge-
gangen und habe daſelbſt §. 132-150 das Geſchlecht der
Pflanzen mit ſo großer Gewißheit demonſtrirt, daß Keiner zögern
würde, auf dasſelbe das weitläufige Syſtem der Pflanzen zu
gründen. Wir haben alſo auch hier wieder die Gründung des
ſogenannten Sexualſyſtems Linné's in die Sexualitätsfrage herein-
gezogen, als ob dieſelbe das Geringſte mit der Conſtatirung der
Sexualität ſelbſt zu thun hätte, und was es mit der unendlichen
Mühe (infinito labore), welche Linné der Sache gewidmet
haben ſoll, auf ſich hat, ſo enthalten die citirten Paragraphen der
Fundamenta die von uns p. 93 bereits dargeſtellten ſcholaſtiſchen
Kunſtſtücke, aber keinen einzigen thatſächlich neuen Nachweis.
Ganz in derſelben Weiſe ſind übrigens auch die Beweisführungen
in der hier betrachteten Diſſertation gehalten, welche überhaupt
nur eine weitläufige Paraphraſe der in den Fundamenta bo-
tanica aufgeſtellten Linné'ſchen Sätze unter Zuhilfenahme
der von Anderen gemachten Experimente iſt, mit einem äußerſt
ſpärlichen Zuſatz nebenſächlicher, zum Theil mißverſtandener Wahr-
nehmungen. So heißt es z. B. p. 101: Beinahe in allen Blüthen
finde ſich Nektar, von welchem Pontedera glaube, er werde
von den Samen eingeſogen, damit ſie ſich länger conſerviren
u. ſ. w.; man könne glauben, die Bienen ſeien den Blüthen
ſchädlich, inſofern ſie den Nektar und den Pollen wegnehmen;
doch wird gegen Pontedera bemerkt, daß die Bienen mehr
Nutzen als Schaden ſtiften, da ſie den Pollen auf das Piſtill
ausſtreuen, obgleich noch nicht feſtſtehe, was der Nektar in der
[432]Geſchichte der Sexualtheorie.
Phyſiologie der Blüthe zu bedeuten habe. Auch dieſe bald
darauf von Müller beſſer konſtatirte Thatſache der Inſecten-
hülfe wird hier nicht weiter verfolgt, denn p. 99 wird von den
Kürbiſſen geſagt, ſie bringen ihre Früchte hinter Fenſtern deß-
halb nicht zur Ausbildung, weil der Wind die Beſtäubung nicht
mehr vermitteln könne.
Von Verſuchen wird nur einer genannt, ohne daß man er-
fährt, wer ihn angeſtellt hat. Es heißt nämlich p. 99, daß im
Jahre 1723 im Garten von Stenbrohuld ein Kürbis ge-
blüht habe, welchem täglich die männlichen Blüthen genommen
wurden, worauf nicht eine einzige Frucht ſich gebildet habe.
Nebenbei wird auch auf die Kunſtgriffe der Gärtner hingewieſen,
um Varietätbaſtarde von Tulpen und Kohl zu erzielen, die Sache
aber mehr als eine angenehme Spielerei behandelt. — Im dritten
Band der Amoenitates vom Jahr 1764, wo Koelreuter's erſte
Unterſuchungen über Hybridation bereits publicirt waren, finden wir
aber eine Diſſertation von Haartman über hybride Pflanzen ab-
gedruckt, welche allerdings ſchon 1751 geſchrieben war. In
dieſer Abhandlung wird nun die Nothwendigkeit hybrider For-
men aus philoſophiſchen Gründen gerade ſo gefolgert, wie
Linné früher aus ſolchen auch die Sexualität abgeleitet hatte;
Experimente werden nicht gemacht, ſondern beliebige Pflanzen-
formen als Baſtarde in Anſpruch genommen; bei einer Veronica
spuria, im Garten von Upſala 1750 geſammelt, wird behauptet,
ſie ſtamme von der Veronica maritima als Mutter und von
Verbena officinalis als Vater ab; dieſer letzteren aber wird
die Vaterſchaft nur deßhalb zugeſchrieben, weil ſie in der Nähe
wuchs; ebenſo finden wir hier ein Delphinium hybridum aus
der Beſtäubung von Delphinium elatum mit Aconitum
Napellus, eine Saponaria hybrida aus der Beſtäubung
von S. officinalis mit dem Pollen einer Gentiana; wir er-
fahren unter Anderem, daß Actaea spicata alba aus A.
spicata nigra mit dem Pollen von Rhus toxicodendron
u. ſ. w. entſtanden ſei. Daß hier nicht von Beobachtung der
entſcheidenden Momente, ſondern nur von Folgerungen aus
[433]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
beliebig angenommenen Prämiſſen die Rede iſt, leuchtet ſo-
fort ein.
Demnach haben Linné und ſeine Schüler in dem Zeit-
raum zwiſchen Camerarius' und Koelreuter's Arbeiten
zur Begründung der Thatſache, daß es eine geſchlechtliche Dif-
ferenz bei den Pflanzen und eine Baſtardirung verſchiedener Arten
gebe, keinen einzigen neuen oder ſtichhaltigen Beweis beigebracht
und wenn dennoch zahlreiche ſpätere Botaniker Linné's große
Verdienſte um die Sexualtheorie gerühmt, ihn als den hervor-
ragendſten Begründer derſelben bezeichnet haben, ſo beruhte das
zum Theil darauf, daß ſie Linné's ſcholaſtiſche Deductionen
von naturwiſſenſchaftlichen Beweiſen nicht zu unterſcheiden ver-
mochten, zum Theil auf der früher ſchon erwähnten Verwechs-
lung der Begriffe Sexualität und der auf die Sexualorgane ge-
gründeten Eintheilung der Pflanzen; auf eine ſolche laufen z. B.
auch die Anſprüche hinaus, welche Renzi für Patrizi erhoben,
Ernſt Mayer jedoch bereits als auf dieſem Irrthum beruhend
zurückgewieſen hat (Mayer, Geſch. d. Bot. IV p. 420). Noch
in unſerem Jahrhundert wurde De Candolle von Johann
Jacob Römer getadelt, daß er Linné nicht als den Begründer
der Sexualtheorie habe gelten laſſen.
Nun zum Schluß noch einige Worte über diejenigen Schrift-
ſteller, welche nach des Camerarius Unterſuchungen die
Sexualität der Pflanzen noch leugneten, weil ſie entweder die
Literatur nicht kannten, oder unfähig waren, wiſſenſchaftliche
Beweiſe zu würdigen. Zunächſt iſt hier Tournefort zu nennen,
der großen Autorität wegen, welche er unter den Botanikern in
der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts genoß. In ſeinen uns
ſchon bekannten Institutiones rei herbariae vom Jahr 1700
(I. p. 69) handelt er von der phyſiologiſchen Bedeutung der
Blüthentheile, wie es ſcheint, völlig ohne Kenntniß der Unter-
ſuchungen des Camerarius, aber jedenfalls mit Anlehnung
an Malpighi's Anſichten. Die Blumenblätter ſollen aus
den Blüthenſtielen Nahrung aufnehmen, welche ſie wie Eingeweide
weiter verarbeiten und der wachſenden Frucht darbieten, während
Sachs, Geſchichte der Botanik. 28
[434]Geſchichte der Sexualtheorie.
die ungeeigneten Beſtandtheile des Saftes durch die Staubfäden
in die Antheren übergehen und ſich in den Loculamenten der-
ſelben anſammeln, um als Exkrete ausgeworfen zu werden. Selbſt
die Nothwendigkeit der Beſtäubung der weiblichen Dattelpalme
bezweifelte Tournefort. Er kannte eben die Thatſache nicht
hinreichend, und war durch Vorurtheile irre geführt. Ganz ähnlich
verhielt es ſich noch 1720 mit dem italieniſchen Botaniker Pon-
tedera, der in ſeiner Anthologia noch einmal Malpighi's
unglückliche Anſicht aufwärmte und zugleich den Nektar zur Aus-
bildung der Samen vom Fruchtknoten aufſaugen ließ; bei Pflanzen
mit dikliniſchen Blüthen hielt er die männliche für eine unnützige
Zuthat.
Valentin, an welchen Camerarius ſeine berühmte
Epiſtel (De sexu plantarum 1694) gerichtet hatte, erwies dieſem
einen ſchlechten Dienſt, indem er einen kurzen Auszug derſelben
veröffentlichte, welcher grobe Mißverſtändniſſe bezüglich der That-
ſachen enthielt. 1) Auf dieſe falſchen Angaben geſtützt beſtritt
auch Alſton ſogar noch 1756 die Folgerungen des Came-
rarius, indem er zugleich aus ganz nichtsſagenden Gründen
die ſexuelle Bedeutung der Staubfäden bezweifelte. Die beſſer be-
gründeten Zweifel eines Herrn Möller in Deutſchland, der weib-
liche Spinat- und Hanfpflanzen auch nach der Entfernung der
männlichen noch Samen tragen ſah, und ſich auf die ſcheinbar
ungeſchlechtliche Fortpflanzung der Kryptogamen berief, wurden
von Käſtner in Göttingen mit dem Hinweis auf die Thatſache
zurückgewieſen, daß diöciſche Pflanzen zuweilen Zwitterblüthen
bringen, wofür er die Weiden anführte. Dieſe Zweifel wären
überhaupt ganz unmöglich geweſen, wenn die hier Genannten die
Abhandlungen des Camerarius geleſen und verſtanden, über-
haupt die Literatur gekannt hätten.
[435]Verbreitung der neuen Lehre ihre Anhänger und Gegner.
4.
Evolutionstheorie und Epigeneſis.
Dem Einfluß der Evolutionstheorie auf die Befruchtungs-
lehre der Pflanzen begegneten wir ſchon oben bei Morland und
Geoffroy. Ausführlicheres erfahren wir darüber in dem ſchon
früher genannten Werk des Philoſophen Chriſtian Wolff „Ver-
nünftige Gedanken von den Wirkungen der Natur“ (Magde-
burg 1723), deſſen betreffende Aeußerungen ich hier auch deßhalb
citire, um zu zeigen, was ſelbſt ein ſo gebildeter und beleſener
Mann im Vaterlande des Camerarius und 30 Jahre nach
deſſen Schrift über die Sexualität der Pflanzen wußte. Im
2. Capitel des 4. Theils, welches über Leben, Tod und Er-
zeugung der Pflanzen handelt, ſagt Wolff: „Ordentlicher Weiſe
werden die Pflanzen aus Samen erzeugt, denn der Same ent-
hält nicht allein die Pflänzlein im Kleinen in ſich, ſondern auch
zugleich die erſte Nahrung.“ Ebenſo natürlich ſei die Fort-
pflanzung durch Augen, deren jedes einen Zweig im Kleinen
enthält. „Man findet in der Blüthe inwendig allerlei Stengel
rings herum, daran oben Etwas zu ſehen ſo ganz ſtaubig iſt
und den Staub auf den obern Theil des Behältniſſes von den
Samen fallen läßt, das einige mit dem Geburtsglied der Thiere
und den Staub mit dem männlichen Samen vergleichen. Nach
ihrer Meinung wird der Same durch den Staub fruchtbar ge-
macht und müſſen demnach die kleinen Pflänzlein durch den Staub
in das Samenbehältniß und darinnen in den Samen gebracht
werden. Ich habe mir zwar vorgenommen gehabt, die Sache
zu unterſuchen, allein ich habe es immer wieder vergeſſen.“ —
— — „Da Dieſes Alles, was bisher beigebracht worden, auch
bei den Blumen zu finden, die aus Zwiebeln wachſen, und
gleichwohl gewiß iſt, daß die Blätter der Zwiebeln folgends
auch Pflänzlein in ſich haben — — — ſo ſieht man leicht, daß
die jungen Pflänzlein (Embryonen) aus den Blättern der Zwie-
beln kommen müſſen. Weil ſie nun daraus ſo leicht mit dem
Safte in die Samenkörnlein können gebracht werden, als in den
28*
[436]Geſchichte der Sexualtheorie.
Staub, der ſich oben in der Blume erzeugt, ſo zweifle noch gar
ſehr, ob die Sache auch ihre Richtigkeit hat und mit der Er-
fahrung übereinſtimmen wird. Es entſteht aber nun die Haupt-
frage, woher die kleinen Pflänzchen in den Saft kommen: weil
ſie nicht bloß eine äußerliche Figur, ſondern auch eine innerliche
Struktur haben, ſo ſieht man nicht, wie ſie entweder durch bloße
innere Bewegung des Saftes oder durch Abſonderung gewiſſer
Theile entſtehen können. — Und dieſes iſt allerdings glaublicher,
daß die kleinen Pflänzlein ſchon im Kleinen vorhanden geweſen,
ehe ſie in dem Saft und der Pflanze durch einige Veränderung
in den Zuſtand geſetzt worden, wie ſie im Samen und den
Augen anzutreffen. Allein es iſt nun ferner die Frage, wo ſie
denn vorher geweſen. Sie ſtecken demnach entweder in einer
kleinen Geſtalt in einander, wie in Sonderheit Malebranche
behauptet oder werden aus der Luft und Erde mit dem Nahr-
ungsſaft in die Pflanze gebracht, wie Honoratus Fabri vor-
gegeben und Perrault und Sturm nach ihm weiter ausge-
führt. Nach der erſten Meinung muß das erſte Samenkörnlein
Alles in ſich enthalten haben, was bis auf dieſe Stunde daraus
gewachſen iſt.“ Dieſe Zumuthung geht jedoch ſelbſt über Wolff's
Glauben hinaus; denn, ſagt er, es mache der Einbildungskraft viel
zu ſchaffen, wie man ſich dieſe Einſchachtelung der Keime denken
ſolle. Es iſt bekannt, daß derartige Vorſtellungen im 18. Jahr-
hundert ſehr verbreitet waren, und daß man die Spermatozoiden
der Thiere für eine wichtige Stütze derſelben hielt; ſelbſt Albert
Haller war noch in den ſechziger Jahren Anhänger der Evo-
lutionstheorie. So confus auch der Gedankengang Wolff's im
Uebrigen iſt, verdient doch die Hervorhebung des Gedankens
Beachtung, daß bei der Annahme der Evolution die ſexuelle
Bedeutung der Staubgefäße eigentlich wegfällt. Wir werden
unten ſehen, wie Koelreuter in ganz anderer Weiſe die Natur
der geſchlechtlichen Fortpflanzung aufzufaſſen wußte. Ueberhaupt
wird die für die Sexualtheorie epochemachende Bedeutung Koel-
reuter's erſt dann recht verſtanden, wenn wir die theoretiſchen
Anſichten ſeiner Vorgänger und Zeitgenoſſen betrachten. Es wird
[437]Evolutionstheorie und Epigeneſis im 18. Jahrhundert.
daher am Orte ſein, hier zum Theil chronologiſch vorgreifend
auch die Anſichten des Freiherrn von Gleichen-Rußworm und die
ſchwachen Gründe Kaſpar Friedrich Wolff's gegen die Evolu-
lutionstheorie zu erwähnen. Der zuerſt Genannte vertrat in
ſeinem Werk: „Das Neueſte aus dem Reich der Pflanzen“ u. ſ. w.
1764, vorwiegend auf mikroſkopiſche Beobachtung des Inhaltes
der Pollenkörner geſtützt, die Anſicht, daß die kleinen Körnchen
desſelben den Spermatozoiden der Thiere entſprechen und in die
Samenknoſpen eindringen, um dort zu Embryonen ausgebildet zu
werden. Trotzdem war Gleichen ein eifriger Verfechter der
Sexualtheorie und ſuchte bekannte Einwendungen gegen dieſelbe
durch den Hinweis auf das Vorkommen weiblicher Blüthen an
männlichen Spinatpflanzen zu entkräften, auch machte er mit
Mais und Hanf Experimente in dieſer Richtung. Ohne zu
beachten, daß gerade die Baſtarde den ſchlagendſten Beweis
gegen die Evolutionstheorie darſtellen, nahm er dieſelben doch
ganz richtig für einen beſonders ſtarken Beweis zu Gunſten der
Sexualität überhaupt in Anſpruch. Was freilich ſeine wirkliche
Kenntniß von Baſtarden betraf, ſo ſtützte ſie ſich zum Theil auf
Linné's uns bekannte Angaben, ja er beſchreibt ſogar einen
Baſtard zwiſchen Hirſch und Kuh u. dgl. und ärgert ſich über
Koelreuter, weil dieſer das Vorkommen der Hybriden ſo ſehr
einſchränke. So geht es, der Erſte, der überhaupt Baſtarde im
Pflanzenreich methodiſch erzeugte, mußte ſich ſchelten laſſen, daß
er die ganz aus der Luft gegriffenen Baſtarde ſeiner Zeitgenoſſen
nicht gelten ließ. Uebrigens iſt Gleichen's genanntes Buch, ſowie
ſeine auserleſenen mikroſkopiſchen Entdeckungen von 1777 reich
an guten Wahrnehmungen im Einzelnen; er war es ſogar, der
die Pollenſchläuche von Asclepias zuerſt ſah und abbildete, ohne
natürlich ihre Natur und Bedeutung zu ahnen.
Kaſpar Friedrich Wolff wird gewöhnlich als derjenige
bezeichnet, der die Evolutionstheorie zuerſt widerlegt habe. An-
zuerkennen iſt jedenfalls, daß er ſchon in ſeiner Doktordiſſertation
1759, der bekannten Theoria generationis, entſchieden gegen
die Evolution auftrat; was aber das Gewicht ſeiner Gründe
[438]Geſchichte der Sexualtheorie.
betrifft, ſo war dasſelbe nicht groß; und jedenfalls haben die
faſt gleichzeitig von Koelreuter entdeckten Pflanzenbaſtarde einen
viel ſchlagenderen Beweis gegen jede Form der Evolutionstheorie
geliefert. C. F. Wolff faßte den Befruchtungsact einfach als eine
andere Form der Ernährung auf. Auf die ſehr unvollſtändige,
zum Theil unrichtige Wahrnehmung hin, daß ſchlecht genährte
Pflanzen früher blühen, betrachtete er überhaupt die Blüthen-
bildung als den Ausdruck geſchwächter Ernährung, (vegetatio
languescens). Die Fruchtbildung aber ſoll in der Blüthe da-
durch hervorgerufen werden, daß dem Piſtill in dem Pollen eine
vollendetere Nahrung dargeboten werde. Wolff griff hiermit
wieder auf die älteſte, ſchon von Ariſtoteles in gewiſſem Sinne
vertretene Anſicht zurück, die unfruchtbarſte, die ſich denken läßt,
da ſie durchaus ungeeignet ſcheint, die zahlreichen mit der Sexua-
lität zuſammenhängenden Erſcheinungen irgend wie zu erklären,
vor allem aber den Hybridationsreſultaten Rechnung zu tragen.
Wolff konnte ſo zwar die Evolutionstheorie abweiſen; aber ihm
ſelbſt gieng dabei das weſentlich Eigenthümliche des Sexualactes
verloren.
5.
Weiterer Ausbau der Sexualtheorie durch Joſeph Gottlieb Koelreuter
und Konrad Sprengel.
1761-1793.
R. J. Camerarius hatte auf experimentellem Wege
gezeigt, daß bei den Pflanzen zur Hervorbringung embryohaltiger
Samen die Mitwirkung des Pollens unentbehrlich iſt und einige
wenige ſpätere Beobachter hatten die Thatſache der Sexualität
durch verſchiedene weitere Experimente beſtätigt. Für die ſtreng
naturwiſſenſchaftliche weitere Forſchung kam es jetzt darauf an,
ebenfalls wieder auf experimentellem Wege zu erfahren, welchen
Antheil das männliche und weibliche Princip an der Bildung
der durch den Geſchlechtsact entſtehenden neuen Pflanze nimmt.
Wenn Pollen und Samenknoſpe derſelben Pflanzenform angehören,
ſo nimmt auch der Nachkomme dieſelbe Form an und die Frage
[439]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
bleibt unentſchieden. Es kam alſo darauf an, Pollen und Sa-
menknoſpe verſchiedener Pflanzenformen zu vereinigen; hier mußte
ſich zeigen, ob und welche Eigenſchaften die Nachkommen durch
den Pollen, und welche durch die Samenknoſpe ſie gewinnen;
vorausgeſetzt natürlich, daß eine ſolche Vereinigung von verſchie-
denen Pflanzenformen überhaupt möglich ſei. Auch dieſe Fragen
konnten ausſchließlich durch Experimente d. h. durch künſtliche.
Baſtardirung beantwortet werden; denn bevor man nicht auf
dieſe Weiſe hybride Formen wirklich erzeugt hatte, blieb es eine
ganz unſichere Hypotheſe, anzunehmen, daß gewiſſe wildwachſende
Pflanzenformen durch Baſtardbefruchtung entſtanden ſeien.
Die Frage, ob bei den Pflanzen Baſtardbefruchtung möglich
ſei, hatte ſchon Camerarius in ſeinem Briefe angeregt mit
dem Zuſatz, ob dann ein veränderter Nachkomme entſtehe (an
et quam mutatus inde prodeat foetus). Nach Bradley's
Bericht hatte ſogar ſchon vor 1719 ein Gärtner in London einen
Baſtard von Dianthus caryophyllus und D. barbatus künſtlich
erzielt. Der erſte aber, der ſich wiſſenſchaftlich und eingehend
mit der Frage beſchäftigte, war Koelreuter. 1) Er erkannte zuerſt
die ganze Wichtigkeit derſelben und bearbeitete ſie mit einer be-
wunderungswürdigen, damals ganz unerhörten Ausdauer und
[440]Geſchichte der Sexualtheorie.
Einſicht, ſo zwar, daß Koelreuter's Baſtardiruungen auch jetzt noch,
obgleich ſeitdem Tauſende derartiger Experimente gemacht worden
ſind, zu den beſten und lehrreichſten zählen. Er war es aber
auch, der zuerſt die verſchiedenen Einrichtungen innerhalb der
Blüthe in ihrer Beziehung zum Sexualverhältniß ſorgfältig ſtu-
dirte, zuerſt die Bedeutung des Nektars und die Mithülfe der
Inſecten bei der Beſtäubung erkannte und die Anſicht vom
Weſen des Sexualactes als einer Vermiſchung zweier verſchiedener
Materien aufſtellte, welche, wenn auch mit namhaften Verän-
derungen, in der Hauptſache jetzt noch als die giltige zu be-
trachten iſt.
Vergleicht man Koelreuter's nicht umfangreiche, aber inhalts-
ſchwere Schriften mit Allem, was ſeit Camerarius ge-
ſchrieben worden war, ſo erſtaunt man, nicht nur über die Fülle
neuer Gedanken, ſondern noch mehr über die außerordentliche
Klarheit und Durchſichtigkeit derſelben und über die Sicherheit
ihrer Begründung durch Experimente und Beobachtung. Bei der
Lectüre von Linné's, Gleichen's, Wolff's Schriften über die
Sexualität tritt man in eine uns längſt fremdgewordene, ſchwer
verſtändliche Gedankenwelt ein, die nur noch hiſtoriſches Intereſſe
darbietet. Koelreuter's Schriften dagegen heimeln uns an, als
ob ſie unſerer Zeit angehörten; ſehr natürlich, weil das Beſte,
was wir über die Sexualität wiſſen, von ihm zuerſt ausge-
ſprochen worden iſt; ſelbſt nach mehr als hundert Jahren ſind
ſeine Schriften nicht als veraltet zu betrachten. Man ſieht hier,
wie ein wirklich begabter Denker mit der nöthigen Ausdauer in
wenigen Jahren allein weit mehr leiſtet, als zahlreiche weniger
begabte Beobachter im Laufe vieler Jahrzehnte. Wie es aber
gerade in ſolchen Fällen gewöhnlich geſchieht und wie es ſchon
Camerarius erfahren hatte, ſo geſchah es auch hier; es
dauerte viel länger, bis Andere die Bedeutung ſeiner Arbeiten
ſchätzen lernten, als er nöthig gehabt hatte, ſeine Entdeckungen
zu Tage zu fördern.
Koelreuter's wichtigſte und bekannteſte Schrift kam in
vier Abtheilungen 1761, 1763, 1764, 1766 unter dem Titel:
[441]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
„Vorläufige Nachricht von einigen das Geſchlecht der Pflanzen
betreffenden Verſuchen und Beobachtungen“ heraus; ich werde
verſuchen, die wichtigeren Reſultate überſichtlicher gruppirt in
Kürze zuſammenzufaſſen.
An verſchiedenen Stellen finden ſich Beobachtungen und
Verſuche über die Beſtäubungseinrichtungen, die bis dahin nur
ſelten und nachläſſig beobachtet worden waren. Da man den
Pollenſchlauch noch nicht kannte und auch Koelreuter von der An-
ſicht ausging, daß aus den auf die Narbe gebrachten Pollen-
körnern eine Flüſſigkeit in die Samenknoſpen eindringe, ſo war
es zunächſt von Intereſſe, die Quantität des Pollens feſtzuſtellen,
welche zur vollſtändigen Befruchtung eines Fruchtknotens nöthig
iſt; zu dieſem Zweck zählte Koelreuter die in einer Blüthe ge-
bildeten Pollenkörner und verglich ſie mit derjenigen Zahl, welche
zur vollſtändigen Befruchtung auf die Narbe gebracht werden
muß, und fand, daß die letztere Zahl bei Weitem kleiner iſt.
So zählte er z. B. in einer Blüthe des Hibiscus venetianus
4863 Pollenkörner, während 50-60 derſelben genügten, um
mehr als 30 Samen des Fruchtknotens zu befruchten; bei Mira-
bilis Jalappa und longiflora zählte er in den Antheren circa
300 Samenkörner, während 2-3 derſelben, ſogar ein einziges
genügte, um den einſamigen Fruchtknoten zu befruchten. Ebenſo
unterſuchte er, ob bei mehrtheiligen, ſelbſt tiefgeſpaltenen Griffeln
die Befruchtung durch einen einzigen derſelben in allen Fächern
des Fruchtknotens bewirkt werde, was er beſtätigt fand.
Sein beſonderes Augenmerk richtete Koelreuter auf die Ein-
richtungen, durch welche im natürlichen Lauf der Dinge der
Pollen aus den Antheren auf die Narben gelangt. Wenn er
hierbei auch dem Wind und der Erſchütterung noch einen zu
großen Spielraum gönnte, ſo war er doch der Erſte, der die
große Bedeutung der Inſectenwelt für die Beſtäubung der Blü-
then erkannte: „Ueberhaupt, ſagt er, ſind die Inſecten bei Pflan-
zen, bei welchen das Beſtäuben nicht gewöhnlichermaßen durch
eine unmittelbare Berührung geſchieht, (nach neueren Erfahrun-
gen freilich meiſt auch in ſolchen Fällen) immer mit im Spiel
[442]Geſchichte der Sexualtheorie.
und tragen das Meiſte zur Beſtäubung und folglich auch zur
Befruchtung derſelben bei und wahrſcheinlicher Weiſe leiſten ſie
wo nicht den allermeiſten Pflanzen, doch wenigſtens einem ſehr
großen Theil derſelben dieſen ungemein großen Dienſt; denn es
führen alle hierher gehörigen Blumen Etwas bei ſich, das ihnen
angenehm iſt und man wird nicht leicht eine derſelben finden,
bei der ſie ſich nicht in Menge einfinden ſollten. “ Bei Epilo-
bium erkannte er ſogar ſchon die Dichogamie, ohne dieſe Wahr-
nehmung jedoch weiter zu verfolgen. — Das erwähnte Etwas
in den Blüthen, was den Inſecten angenehm iſt, unterſuchte nun
Koelreuter; er ſammelte den Nektar zahlreicher Blumen (1760)
künſtlich in größern Quantitäten auf und fand, daß derſelbe nach
dem Abdünſten des Waſſers eine Art wohlſchmeckenden Honigs
darſtellte; nur bei der Kaiſerkrone, die auch von den Hummeln
nicht beachtet wird, war dieſer Honig ſchlecht. Koelreuter zwei-
felte daher nicht, daß die Bienen ihren Honig aus dem Nektarſaft
der Blüthen bereiten. Wie ſehr ihn die Beziehungen der Exi-
ſtenz der Pflanzen zur Exiſtenz gewiſſer Thiere intereſſirten, Be-
ziehungen, welche erſt in neueſter Zeit durch Darwin wieder
in den Vordergrund geſtellt worden ſind, zeigt ſeine Unterſuchung
über die Fortpflanzung der Miſtel (1763); mit Nachdruck hebt
er hervor, daß bei dieſer Pflanze nicht nur die Beſtäubung von
Inſecten bewirkt werden muß, ſondern daß auch die Ausſaat
ihrer Samen ausſchließlich durch Vögel bewirkt werden könne,
daß alſo die Exiſtenz dieſer Pflanze an zweierlei Thiere aus
ganz verſchiedenen Klaſſen gebunden ſei.
Ebenſo zog Koelreuter die Bewegungen, zumal die durch
Reizbarkeit vermittelten, der Staubgefäße und Narben in den
Kreis ſeiner Beobachtungen. Der Graf Giambattiſta dal Co-
volo hatte 1764 die erſten Beobachtungen über die Reizbarkeit der
Staubgefäße diſtelähnlicher Pflanzen gemacht und die Mechanik
derſelben zu erklären geſucht. Koelreuter kümmerte ſich weniger
um die letztere, als vielmehr um den Nutzen, welchen die Reiz-
barkeit der Staubgefäße für die Beſtäubung der Narben haben
könne; er zog dabei auch die ſchon von Du Hamel erwähnten
[443]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
reizbaren Staubfäden von Opuntia, Berberis und Cistus in
Betracht, und entdeckte ſeinerſeits die Reizbarkeit der Narben-
lappen von Martynia proboscidea und Bignonia radicans.
Hier erkannte er, daß die Narbenlappen mechaniſch gereizt, ſich
ſchließen, bald aber wieder öffnen; wenn ſie dagegen mit Pollen
belegt werden, ſo lange geſchloſſen bleiben, bis die Befruchtung
geſichert iſt.
Wie vollkommen die Beſtäubung der Blüthen durch In-
ſecten ausgeführt wird, ſtellte er durch einen vergleichenden Ver-
ſuch feſt, wo 310 Blumen mit dem Pinſel künſtlich, ebenſoviele
von den Inſecten beſtäubt wurden; die Samenbildung der letz-
teren blieb nur wenig hinter der jener zurück, obgleich die In-
ſecten von ungünſtigem Wetter behindert waren.
Ebenſo ſuchte er die Zeit feſtzuſtellen, welche von der Auf-
tragung des Pollens aus gerechnet nöthig iſt, um die zur Be-
fruchtung erforderliche Quantität „Samenſtoff“ in den Frucht-
knoten gelangen zu laſſen; auch zeigte er, daß die Beſtäubung auch
im Finſtern die Befruchtung bewirkt; ſpätere Botaniker behaup-
teten zwar das Gegentheil, aber mit Unrecht.
Weniger glücklich war Koelreuter mit ſeinen Beobacht-
ungen über die Structur der Pollenkörner, da es ſich hier
ausſchließlich um mikroſkopiſche Beobachtungen handelte und ge-
rade in jener Zeit die Mikroſkope noch ſehr mangelhaft waren.
Dennoch ſah er, daß die Haut des Pollenkornes aus zwei iſo-
lirten Schichten beſteht, erkannte die Stacheln und ſonſtigen
Skulpturverhältniſſe der äußeren Schicht und ihre Elaſticität;
bei Passiflora coerulea beobachtete er die Deckel an den Lö-
chern der Exine und bei den in Waſſer gelegten Pollenkörnern
ſah er ſogar die innere Haut in Form zapfenartiger Ausſtülp-
ungen hervortreten, die dann freilich zeriſſen und den Inhalt
ausgoſſen. Doch deutete er die von ihm geſehenen Pollenſchlauch-
anfänge unrichtig, indem er annahm, dieſe Ausſtülpungen hät-
ten den Zweck, das Platzen befeuchteter Pollenkörner zu verhin-
dern. Klarer wurde man über dieſen Punct jedoch erſt 60-70
Jahre ſpäter. Koelreuter hielt den Inhalt des Pollens für ein
[444]Geſchichte der Sexualtheorie.
„zellenförmges Gewebe“. Als die eigentlich befruchtende Sub-ſtanz betrachtete er aber das Oel, welches den Pollenkörnern
außen anhängt; er nahm an, es werde im Innern derſelben
bereitet und trete durch feine Canäle der Pollenhaut heraus.
Das Zerplatzen der Pollenkörner, welches ſein Gegner Gleichen
für nöthig hielt, um die von ihm angenommenen Samenthierchen
austreten zu laſſen, bezeichnete Koelreuter als einen wider-
natürlichen Vorgang.
Von der Annahme ausgehend, daß das den Pollenkörnern an-
hängende Oel die befruchtende Subſtanz ſei, ſtellte nun Koelreuter
den damaligen chemiſchen Anſchauungen entſprechend, folgende
Anſicht über den Befruchtungsvorgang auf, indem er zugleich die
Anſicht abwies, als ob die Pollenkörner ſelbſt in den Frucht-
knoten gelangen könnten: „Beide, ſagt er, ſowohl der männliche
Same, als die weibliche Feuchtigkeit auf den Stigmaten ſind
öligter Natur, vermiſchen ſich daher, wenn ſie zuſammenkommen
auf das Innigſte unter einander und machen nach der Vermiſch-
ung eine gleichartige Miſchung aus, die wenn anders eine Be-
fruchtung erfolgen ſoll, von dem Stigma aufgeſogen und durch
das Stielchen zurück bis zu den ſogenannten Sameneiern oder
unbefruchteten Kernen geführt werden muß.“ Koelreuter ließ
alſo die Befruchtung eigentlich ſchon auf der Narbe ſtattfinden
und den gemiſchten männlichen und weiblichen Stoff in den Frucht-
knoten hinabwandern, um dort in den Samen die Embryonen zu
erzeugen. Dieſe Anſicht hatte er ſchon 1761 ausgeſprochen; 1763
führte er ſie weiter aus, indem er den Gedanken geltend machte,
daß die männliche und weibliche Feuchtigkeit ſich untereinander
verbinden wie eine ſauere und eine laugenhafte Subſtanz ſich zu
einem Mittelſalz vereinigen; aus dieſer Verbindung entſtehe ent-
weder ſogleich oder erſt ſpäter eine neue belebte Maſchine. Noch
1775 kam er bei einer Unterſuchung über die Beſtäubungsver-
hältniſſe der Asclepiadeen auf dieſen Gedanken wieder zu-
rück und betonte hier beſonders, daß im ganzen Pflanzen- und
Thierreich der Befruchtungsact in der Vermiſchung zweier
flüſſigen Materien beſtehe. Doch ſcheint er ſpäter die Narben-
[445]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
feuchtigkeit nicht mehr als die ſexuell weibliche betrachtet zu ha-
ben, da ihn Verſuche lehrten, daß durch Erſetzung der eigenen
durch fremde Narbenfeuchtigkeit bei Beſtäubung mit eigenem
Pollen keine Baſtardform entſteht. 1) Jedenfalls hatte Koelreuter
eine richtigere Vorſtellung von dem Weſen der ſexuellen Be-
fruchtung, als irgend Jemand vor ihm und beſonders war die-
ſelbe geeignet, auch die Erfolge ſeiner Baſtardirungen für jene
Zeit hinreichend zu erklären, während zugleich die Baſtarde ſelbſt
die ſchlagendſten Beweiſe gegen die herrſchende Evolutionstheorie
ergaben.
Wir ſind hier bei der bedeutendſten Leiſtung Koelreuter's
angelangt, bei der Herſtellung der Baſtarde; hier, wo es ſich
abermals um geſchicktes Experimentiren handelte, wo es nicht
auf mikroſkopiſches Sehen ankam, erreichte Koelreuter Reſultate,
an denen auch ſpäter Nichts zu ändern war, die vielmehr noch
in neueſter Zeit mit ſpäteren Beobachtungen zuſammen, zur Ab-
leitung allgemeiner Geſetze der Hybridation benutzt worden ſind.
Der erſte Baſtard, den Koelreuter durch Uebertragung des Pol-
lens von Nicotiana paniculata auf die Narben von N.
rustica erhielt, brachte zwar impotenten Pollen; bald darauf
aber erhielt er Baſtarde dieſer beiden Species, welche keim-
fähige Samen lieferten und 1763 beſchrieb er außerdem eine
lange Reihe neuer Baſtarde in den Gattungen Nicotiana,
Kedmia, Dianthus, Mattiola, Hyoscyamus u. a. Im letzten
Abſchnitt ſeiner erwähnten Schrift von 1766 beſchreibt er acht-
zehn Hybridationsverſuche mit fünf einheimiſchen Verbascum-Arten
und unterwirft er Linné's oben mitgetheilte Anſichten über
Baſtardpflanzen einer vernichtenden Kritik. Zugleich zeigt er,
geſtützt auf Experimente, daß, wenn eigener und fremder Pollen
gleichzeitig auf eine Narbe kommt, nur der eigene befruchtend
wirke, und daß hierin zum Theil das Fehlen wilder Baſtarde,
[446]Geſchichte der Sexualtheorie.
die man aber künſtlich erzeugen kann, begründet ſei. Auf eine
ausführlichere Darſtellung ſeiner berühmten Baſtarde dritten,
vierten und fünften Grades, die Rückführung der Baſtarde in
die väterliche Urform durch wiederholte Beſtäubung mit der letzteren
u. ſ. w., deren Reſultate Nägeli ſpäter ausführlich theore-
tiſch bearbeitet hat, kann ich hier nicht eingehen.
Der allgemein theoretiſche Werth von Koelreuter's künſtlichen
Pflanzenbaſtarden iſt gar nicht hoch genug anzuſchlagen; die
Vermiſchung der Eigenſchaften der väterlichen und mütterlichen
Form war der ſtärkſte Beweis gegen die Evolutionstheorie und
ließ gleichzeitig einen tiefen Blick in das wahre Weſen der ſexu-
ellen Vereinigung thun. Auch ging aus Koelreuter's zahlreichen
Unterſuchungen ſofort hervor, daß nur ganz nahe verwandte
Pflanzen und auch dieſe nicht immer einer geſchlechtlichen Ver-
einigung fähig ſind, wodurch die vagen Vorſtellungen Linné's
für jeden Urtheilsfähigen ſofort beſeitigt wurden, wenn es auch
immerhin noch lange dauerte, bis die Wiſſenſchaft alle Vortheile
aus Koelreuter's Unterſuchungen zog. Die Pflanzenſammler aus
der Linné'ſchen Schule ebenſo, wie die eigentlichen Syſtematiker am
Ende des vorigen Jahrhunderts, hatten kein Verſtändniß für
derartige Leiſtungen, ja Koelreuter's Ergebniſſen zum Trotz, ver-
breiteten ſich in der botaniſchen Literatur ſpäter unrichtige Vor-
ſtellungen über Baſtarde und ihre Fähigkeit ſich fortzupflanzen;
den Gläubigen der Conſtanzlehre konnten die Baſtarde ohnehin
nur unbequem ſein, ſie ſtörten ihnen die Reinlichkeit des Sy-
ſtems und paßten zudem nicht recht zu der Annahme, daß jede
Species eine „Idee“ repräſentire.
Indeß fielen Koelreuter's Lehren doch nicht ganz auf un-
fruchtbaren Boden; wenigſtens in Deutſchland fanden ſich zwei
Botaniker, welche an ihn anknüpften: Joſeph Gärtner, der
Verfaſſer der berühmten Carpologie und Vater von Carl Fried-
rich Gärtner, der ſpäter 25 Jahre lang Befruchtungsverſuche
und Baſtardirungen machte und Konrad Sprengel, der mit
Anknüpfung an Koelreuter's Entdeckung der Inſectenhülfe zu ganz
neuen, äußerſt merkwürdigen Reſultaten gelangte.
[447]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
Joſeph Gärtner machte nicht ſelbſt neue Beobachtungen
über die Sexualität, benutzte jedoch Koelreuter's Ergebniſſe
in der Einleitung zu ſeiner Carpologie 1788 dazu, die verſchie-
denen Arten der Fortpflanzung ſtrenger von einander zu unter-
ſcheiden und zugleich auch ſeinerſeits der Evolutionstheorie ent-
gegenzutreten. Die Keimkörner oder Sporen der kryptogamiſchen
Pflanzen, die man damals vielfach ohne genügenden Grund für
wirkliche Samen hielt, ſtellte er dieſen gerade deßhalb gegen-
über, weil ſie ohne Befruchtung entſtehen und keimfähig ſind,
wogegen der Same erſt durch den Pollen keimfähig gemacht
werde. Die Sexualität der Kryptogamen leugnete Joſeph
Gärtner entſchieden; denn erſt ein halbes Jahrhundert ſpäter
gelang es, auch auf dieſem Gebiet an die Stelle vager Ver-
muthungen ſtreng wiſſenſchaftliche Nachweiſungen zu ſetzen und
im Intereſſe methodiſcher Wiſſenſchaft war es zu Gärtner's
Zeit in der That beſſer, die Sexualität der Kryptogamen ganz
zu läugnen, als die Spaltöffnungen der Farne, wie Gleichen that,
oder das Induſium der Farnkräuter mit Koelreuter oder ſelbſt
die Volva der Hutpilze für männliche Befruchtungsorgane zu
halten. Den Vertheidigern der Evolutionstheorie hielt Gärtner
ſehr richtig die Baſtarde Koelreuter's entgegen, und denen, welche
in den Samen nur eine andere Form vegetativer Knoſpen
ſahen, ſagte er, daß eben die Knoſpe ohne Befruchtung, der
Samen jedoch nur durch dieſe zur Bildung einer neuen Pflanze
befähigt werde. Welche Verdienſte ſich Gärtner um die Kennt-
niß des unreifen und reifen Samens erwarb, wurde ſchon in
der Geſchichte der Syſtematik mitgetheilt. Was den Vorgang
der Befruchtung ſelbſt betrifft, ſo adoptirte er im Weſentlichen
Koelreuter's Anſicht, daß es auf die Vermiſchung einer männli-
chen und einer weiblichen Flüſſigkeit ankomme, aus welcher das
Keimkörperchen in der Samenknoſpe gewiſſermaſſen herauskryſtal-
liſire. Auch Konrad Sprengel ſchloß ſich dieſer Anſicht
vollſtändig an, die ihn jedoch hinderte, den Befruchtungsvorgang
bei den Asclepiadeen richtig aufzufaſſen.
[448]Geſchichte der Sexualtheorie.
In Konrad Sprengel1) begegnen wir zum dritten Mal,
wie bei Camerarius und Koelreuter, einem genialen
Forſcher, der aber an Kühnheit des Gedankens weit über die
beiden Vorgänger hinausging und deßhalb von ſeinen Zeitgenoſſen
und Epigonen noch weniger als dieſe verſtanden wurde. Konrad
Sprengel's Ergebniſſe waren ſo überraſchend, paßten ſo gar
nicht in den trockenen Schematismus der Linné'ſchen Botanik
und noch weniger in die ſpäteren Anſichten vom Weſen der
Pflanze, daß erſt Darwin die ganz vergeſſene Leiſtung Spren-
gel's wieder an's Licht ziehen und ihre große Bedeutung für
die Descendenztheorie darthun mußte. — Hatte Camerarius
zuerſt bewieſen, daß Pflanzen überhaupt Sexualität beſitzen, und
Koelreuter gezeigt, daß auch Pflanzen verſchiedener Species
ſich ſexuell verbinden können, und fruchtbare Baſtarde erzeugen, ſo
zeigte nun Conrad Sprengel, daß eine gewiſſe Form der
Baſtardirung im Pflanzenreich allgemein vorkommt, nämlich die
Kreuzung verſchiedener Blüthen oder verſchiedener Individuen
gleicher Species mit einander. In ſeinem Werk: „Das neu
entdeckte Geheimniß der Natur in Bau und Befruchtung der
Blumen“ (Berlin 1793 p. 43), ſprach er den Satz aus: „Da
ſehr viele Blumen getrennten Geſchlechtes und wahrſcheinlich
[449]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
wenigſtens ebenſoviele Zwitterblumen Dichogamiſten ſind, ſo
ſcheint die Natur es nicht haben zu wollen, daß irgend eine
Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werden ſolle.“ Das
war indeſſen nur eines der merkwürdigſten Reſultate, vielleicht
noch wichtiger war das Theorem, daß die ganze Geſtalt und
alle Eigenſchaften einer Blüthe überhaupt nur aus ihren Bezieh-
ungen zu den ſie beſuchenden und ſie beſtäubenden Inſecten ver-
ſtanden werden könne; der erſte Verſuch, die Entſtehung organi-
ſcher Formen aus beſtimmten Beziehungen zu ihrer Umgebung
zu erklären. Seit Darwin dieſen Gedanken durch die Selec-
tionstheorie neu belebt hat, iſt er zugleich eine der weſentlichſten
Stützen dieſer letzteren geworden.
Es iſt anziehend zu leſen, wie der ſinnige Mann aus an-
ſcheinend ganz unbedeutenden, für Jedermann offen daliegenden
Structurverhältniſſen der Blüthen zuerſt auf Gedanken kam, die
ihn im Verfolg weniger Jahre zu ſo weittragenden Ergebniſſen
führen ſollten. „Als ich im Sommer 1787, ſagt Sprengel,
die Blumen des Waldſtorchſchnabels (Geranium silvaticum)
aufmerkſam betrachtete, ſo fand ich, daß der unterſte Theil ihrer
Kronenblätter auf der inneren Seite und an den beiden Rändern
mit feinen und rauhen Haaren verſehen war. Ueberzeugt, daß der
weiſe Urheber der Natur auch nicht ein einziges Härchen ohne eine
gewiſſe Abſicht hervorgebracht hat, dachte ich darüber nach, wozu
denn wohl dieſe Haare dienen möchten. Und hier fiel mir bald
ein, daß, wenn man vorausſetze, daß die fünf Safttröpfchen,
welche von eben ſo vielen Drüſen abgeſondert werden, gewiſſen
Inſecten zur Nahrung beſtimmt ſeien, man es zugleich nicht un-
wahrſcheinlich finden müßte, daß dafür geſorgt ſei, daß dieſer
Saft nicht vom Regen verdorben werde und daß zur Erreichung
dieſer Abſicht dieſe Haare hier angebracht ſeien. Da die Blume
aufrecht ſteht und ziemlich groß iſt, ſo müſſen, wenn es regnet,
Regentropfen in dieſelbe hineinfallen. Es kann aber keiner von
den hineingefallenen Regentropfen zu einem Safttröpfchen ge-
langen und ſich mit demſelben vermiſchen, indem er von den
Haaren, welche ſich über den Safttröpfchen befinden, aufgehalten
Sachs, Geſchichte der Botanik. 29
[450]Geſchichte der Sexualtheorie.
wird, ſowie ein Schweißtropfen, welcher von der Stirn des
Menſchen herabgefloſſen iſt, von den Augenbrauen und Augen-
wimpern aufgehalten und verhindert wird, in das Auge hinein-
zufließen. Ein Inſect wird durch dieſe Haare keineswegs ver-
hindert, zu den Safttröpfchen zu gelangen. Ich unterſuchte
hierauf andere Blumen und fand, daß verſchiedene von denſelben
Etwas in ihrer Struktur hatten, welches zu eben dieſem End-
zweck zu dienen ſchien. Je länger ich dieſe Unterſuchung fort-
ſetzte, deſto mehr ſah ich ein, daß diejenigen Blumen, welche
Saft enthalten, ſo eingerichtet ſind, daß zwar die Inſecten ſehr
leicht zu demſelben gelangen können, der Regen aber ihn nicht
verderben kann; ſich ſchloß aber hieraus, daß der Saft dieſer
Blumen, wenigſtens zunächſt um der Inſecten Willen abgeſondert
werde, und damit ſie denſelben rein und unverdorben genießen
können, gegen den Regen geſichert ſei.“ Im folgenden Jahr
fand er, veranlaßt durch die Blüthen des Vergißmeinnicht (Myo-
sotis palustris), daß verſchiedenfarbige Flecken auf den Blumen-
kronen in ihrer Lage gewiſſe Beziehungen zu dem Ort der Saft-
abſonderung darbieten und mit derſelben ſchlagfertigen Logik wie
oben folgerte er nun weiter: „Wenn die Krone der Inſecten
wegen an einer beſonderen Stelle beſonders gefärbt iſt, ſo iſt ſie
überhaupt der Inſecten wegen gefärbt; und wenn jene beſondere
Farbe eines Theils der Krone dazu dient, daß ein Inſect, wel-
ches ſich auf die Blume geſetzt hat, den rechten Weg zum Saft
leicht finden könne, ſo dient die Farbe der Krone dazu, daß die
mit einer ſolchen Krone verſehenen Blumen den ihrer Nahrung
wegen in der Luft umherſchwärmenden Inſecten als Saftbehält-
niſſe ſchon von weitem in die Augen fallen.“
Später fand er, daß die Narben einer Iris-Art ſchlechterdings
nicht anders befruchtet werden können, als durch Inſekten und ſeine
weiteren Unterſuchungen überzeugten ihn immer mehr, „daß viele,
ja vielleicht alle Blumen, welche Saft haben, von den Inſekten, die
ſich von dieſem Saft ernähren, befruchtet werden, und daß folg-
lich dieſe Ernährung der Inſekten zwar in Anſehung ihrer ſelbſt End-
zweck, in Anſehung der Blumen aber nur ein Mittel, und zwar das
[451]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
einzige Mittel, zu einem gewiſſen Endzweck iſt, welcher in ihrer Be-
fruchtung beſteht, und daß die ganze Structur ſolcher Blumen ſich
erklären läßt, wenn man bei Unterſuchung derſelben folgende
Puncte vor Augen hat: 1) die Blumen ſollen durch dieſe oder
jene Art von Inſekten oder durch mehrere Arten derſelben be-
fruchtet werden; 2) dieſes ſoll alſo geſchehen, daß die Inſekten,
indem ſie dem Saft der Blumen nachgehen und deßwegen ſich
entweder auf den Blumen auf eine unbeſtimmte Art aufhalten
oder auf eine beſtimmte Art entweder in dieſelben hineinkriechen,
oder auf denſelben im Kreiſe herumlaufen, nothwendig mit ihrem
mehrentheils haarigen Körper oder nur mit einem Theil desſelben
den Staub der Antheren abſtreifen und denſelben auf das
Stigma bringen, welches zu dem Ende entweder mit kurzen und
feinen Haaren beſetzt, oder mit einer klebrigen Feuchtigkeit be-
netzt iſt.“
Im Sommer 1790 entdeckte er die Dichogamie, die er zu-
erſt an dem Weidenröschen (Epilobium angustifolium) wahr-
nahm. Er fand, „daß dieſe Zwitterblume von Hummeln und
Bienen befruchtet wird, aber nicht ein jedes Individuum ver-
mittelſt ſeines eigenen Staubes, ſondern die älteren Blumen ver-
mittelſt desjenigen Staubes, welchen dieſe Inſekten aus den
jüngeren Blumen in dieſelben ſchleppen.“ Nachdem er ein ähn-
liches Verhalten bei Nigella arvensis kennen gelernt hatte,
fand er ſpäter bei der gemeinen Wolfsmilch gerade das entgegen-
ſetzte Verhalten, daß nämlich die Narben mittelſt der Inſekten
nur den Pollen von älteren Blüthen empfangen können.
„Auf dieſe ſechs, in fünf Jahren gemachten Hauptentdeck-
ungen, fährt er fort, gründe ſich ſeine Theorie der Blumen“,
welche er nun im Folgenden ausführlich entwickelt, indem er zu-
nächſt die ſaftabſcheidenden Drüſen (Nektarien), die Safthalter,
die Saftdecken, ferner die Veranſtaltungen, durch welche die In-
ſekten den Saft der Blumen leicht finden können, auseinander-
ſetzt. Nachdem er auf Koelreuter's gute Beobachtungen über die
Befruchtung der Saftblumen durch Inſekten hingewieſen, hebt
er hervor, noch Niemand habe gezeigt, daß die ganze Struk-
29 *
[452]Geſchichte der Sexualtheorie.
tur der Saftblumen auf dieſen Endzweck abzielt und
ſich aus demſelben vollſtändig erklären läßt. Den
Hauptbeweis für dieſen wichtigen Satz findet er in der Dicho-
gamie.
„Nachdem, ſagt er (bei den Dichogamiſten), die Blume ſich
geöffnet hat, ſo haben oder erhalten die Filamente entweder alle
zugleich oder eines nach dem andern eine beſtimmte Stellung, in
welcher ihre Antheren ſich öffnen und ihren Staub zur Be-
fruchtung darbieten. Unterdeſſen aber befindet ſich das Stigma
an einer von den Antheren entfernten Stelle und iſt noch klein
und feſt geſchloſſen. Es kann alſo der Staub der Antheren
ſchlechterdings weder auf eine mechaniſche Art, noch durch ein
Inſekt auf das Stigma gebracht werden, weil es noch nicht exi-
ſtirt. Dieſer Zuſtand währt eine beſtimmte Zeit. Wenn nach
Verfließung derſelben die Antheren keinen Staub mehr haben,
ſo gehen mit den Filamenten verſchiedene Veränderungen vor,
deren Reſultat dieſes iſt, daß die Antheren nicht mehr die Stell-
ung einnehmen, die ſie vorher eingenommen hatten. Unterdeſſen
hat ſich das Piſtill ſo verändert, daß nun das Stigma gerade
an der Stelle ſich befindet, wo vorher die Antheren waren, und
da es ſich nun auch öffnet, oder die Theile, aus denen es be-
ſteht, von einander breitet, nun öfters ungefähr denſelben Raum
einnimmt, welchen vorher die Antheren eingenommen haben.
Nun iſt aber diejenige Stelle wo anfänglich die blühenden An-
theren und hernach das blühende Stigma ſich befinden, in jeder
Blume ſo gewählt, daß das Inſekt, für welches die Blume be-
ſtimmt iſt, nicht anders zum Saft gelangen kann, als daß es
zugleich mit einem Theil ſeines Körpers in der jungen Blume
die Antheren und in der älteren das Stigma berührt, den Staub
von jenen abſtreift und auf dieſes bringt und auf ſolche Art
der Staub der jüngeren Blume die ältere befruchtet.“ Es wurde
ſchon erwähnt, daß Sprengel nicht nur dieſe, ſondern auch die
entgegengeſetzte Form der Dichogamie kannte und im Anſchluß
an dieſe Auseinanderſetzung hebt er hervor, daß manche Blumen
nur mit Hülfe der Inſekten befruchtet werden können, daß in
[453]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
manchen Fällen ſogar Blütheneinrichtungen vorhanden ſind,
durch welche die helfenden Inſekten ſelbſt beſchädigt und zu
Tode gemartert werden. „Alle Blumen, heißt es weiterhin,
welche keine eigentliche Krone, noch an der Stelle derſelben einen
anſehnlichen Kelch haben — — ſind ſaftleer und werden nicht
von den Inſekten, ſondern auf eine mechaniſche Art, nämlich
durch den Wind befruchtet, welcher entweder den Staub von den
Antheren ab und an die Stigmata anweht, oder dadurch, daß
er die Pflanze oder die Blume ſchüttelt, verurſacht, daß der
Staub von den Antheren herab und auf die Stigmata fällt.“
Er weiſt auch darauf hin, daß ſolche Blumen immer ſehr viel
Pollen erzeugen, und daß dieſer leicht beweglich, bei den Saft-
blumen dagegen ſchwer beweglich iſt. Und nun entwickelt er
weiter, wie nach ſeinen Principien alle phyſiologiſchen Eigen-
ſchaften, Stellung, Größe, Farbe, Geruch, Form, Blüthezeit
u. ſ. w. der Blumen verſtanden werden können.
Sprengel war davon ausgegangen, daß der Nektar der
Blumen und gewiſſe Einrichtungen der letzteren ausdrücklich dazu
erſchaffen worden ſind, um den Inſecten zu dienen; der Verfolg
ſeiner Unterſuchungen führte ihn aber ſchließlich zu dem Reſultat,
daß die Inſekten ſelbſt dazu dienen, nicht nur die Beſtäubung
überhaupt zu vermitteln, ſondern zu bewirken, daß bei der Be-
fruchtung für gewöhnlich eine Kreuzung zwiſchen verſchiedenen
Blüthen einer Pflanze oder zwiſchen Pflanzen einer Species ſtatt-
findet. Es blieb nun eine Frage, die gerade von dem ſtreng
teleologiſchen Standpunct Sprengel's aus noch der Beantwortung
bedurfte, die Frage nämlich, welchen Zweck dieſe Kreuzung der
Blüthen oder Individuen haben könne. Sprengel begnügte ſich,
wie ſchon hervorgehoben, die Thatſache einfach auszuſprechen,
indem er ſagte, die Natur ſcheine es nicht haben zu wollen, daß
irgend eine Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werde.
Wer möchte dem Entdecker ſo merkwürdiger und umfaſſender
Naturerſcheinungen einen Vorwurf daraus machen, daß er nicht
auch dieſe letzte Frage beantwortete und die von ihm geſchaffene
Lehre ihrem letzten Abſchluß entgegenführte? Zumal in dieſem
[454]Geſchichte der Sexualtheorie.
Fall, wo nur zahlreiche Experimente weiterhelfen konnten und
wo noch langjährige Arbeit erforderlich geweſen wäre. Weder
die äußere Lebensſtellung Konrad Sprengel's noch der Erfolg
ſeines genialen Werkes konnte ihn, auch wenn er es gewollt
hätte, ermuntern, dieſe letzte und ſchwierigſte Aufgabe, ſelbſt zu
löſen. Die Botaniker waren gerade in jener Zeit und ſpäter
ganz in Anſchauungen befangen, die derartige biologiſche und
phyſiologiſche Thatſachen des Pflanzenlebens unbeachtet bei Seite
liegen ließen, und zudem waren Sprengel's Ergebniſſe dem Dogma
von der Conſtanz der Arten keineswegs günſtig; vom Standpunct
desſelben betrachtet, mußten die wunderbaren Beziehungen zwiſchen
der Organiſation der Blüthen und der der Inſecten geradezu
abgeſchmackt und abſtoßend erſcheinen; minder begabten Naturen
aber iſt es in ſolchen Fällen eigen, lieber die Thatſachen zu
leugnen oder ſie unbeachtet zu laſſen, als die eigene liebgewordene
Meinung zu opfern; ſo erklärt ſich leicht die Nichtbeachtung, auf
welche Sprengel's Werk überall ſtieß. Dazu kam aber, daß trotz
der Arbeiten eines Camerarius und Koelreuter auch am Anfang
unſeres Jahrhunderts die Sexualität der Pflanzen überhaupt
ſehr Vielen noch zweifelhaft ſchien. Selbſt nachdem Knight
und William Herbert die von Sprengel offen gelaſſene Frage
richtig erfaßt und experimentelle Ergebniſſe zu ihrer Beantwortung
gewonnen hatten, konnte die neue Lehre ſich doch nicht Bahn
brechen. Auf die frühere naive, aber conſequente Teleologie in
der Behandlung phyſiologiſcher Fragen folgte ſpäter eine ent-
ſchiedene Verwerfung aller teleologiſchen Erklärungen, die jeden-
falls das Ihrige dazu beitrug, Sprengel's Ergebniſſe unbequem
erſcheinen zu laſſen, inſofern gerade ſie anſcheinend nur teleolo-
giſche Erklärungen zuließen. Man war vor 1860 derartigen
Naturerſcheinungen gegenüber in eine Lage gerathen, die ſozuſagen
gar keinen Standpunct der Beurtheilung zuließ; man ſchämte ſich
vom teleologiſchen Standpunct aus mit Konrad Sprengel zu
glauben, daß jede noch ſo unſcheinbare Einrichtung der Orga-
nismen das wohlüberlegte Werk eines Schöpfers ſei; etwas Beſſeres
aber hatte man nicht an die Stelle zu ſetzen und ſo blieben
[455]Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
Sprengel's Entdeckungen unverſtanden und unbeachtet liegen, bis
Darwin am Ende der fünfziger Jahre ihre ganze große Be-
deutung erkannte, dem teleologiſchen Princip das der Deſcendenz
und Selection entgegenſtellte und ſo in der Lage war, Sprengel's
Entdeckungen nicht nur in naturwiſſenſchaftlicher Weiſe verſtändlich
erſcheinen zu laſſen, ſondern dieſelben als eine der wichtigſten
Stützen der Selectionstheorie zu benutzen. Jetzt konnte auch
erſt gewürdigt werden, was bald nach Sprengel durch Knight
und ſpäter durch Herbert und C. F. Gärtner zum weiteren
Ausbau von Sprengel's Lehre geſchah, denn auch das, was dieſe
zu Tage förderten, blieb einſtweilen unbeachtet. Schon wenige
Jahre nach Sprengel's Werk hatte Andrew Knight1), auf
vergleichende Selbſtbeſtäubungs- und Kreuzungsverſuche an Pisum
geſtützt, den Satz aufgeſtellt, daß keine Pflanze eine unbegrenzte
Zahl von Generationen hindurch ſich ſelbſt befruchte; 1837 faßte
Herbert das Ergebniß ſeiner zahlreichen Befruchtungsverſuche in
dem Satz zuſammen: „Er ſei geneigt zu glauben, daß er ein
beſſeres Reſultat erlangte, wenn er die Blüthe, von der er
Samen zu erlangen wünſchte, mit Pollen von einem anderen
Individuum derſelben Varietät oder wenigſtens von einer anderen
Blüthe, als wenn er ſie mit ihrem eigenen Pollen befruchtete;“
ein Ergebniß zu welchem auch C. F. Gärtner durch Befruch-
tungsverſuche mit Passiflora, Lobelia und Fuchsia-Arten 1844
gelangte. In dieſen Wahrnehmungen lag der erſte Keim zu der
Beantwortung der von Sprengel offen gelaſſenen Frage, warum
die meiſten Blüthen ſo eingerichtet ſind, daß nur durch Kreuzung
verſchiedener Blüthen oder Pflanzen derſelben Art eine Befruch-
tung vollzogen werden kann; die künſtlichen Kreuzungen dieſer
Art, welche Knight, Herbert und Gärtner mit der Selbſtbe-
ſtäubung einzelner Blüthen verglichen, zeigten, daß die Kreuzung
eine vollſtändigere und kräftigere Befruchtung erzielt, als die
Selbſtbeſtäubung. Sie legten alſo den Gedanken nahe, daß die
von Sprengel entdeckten Blütheneinrichtungen ſammt der In-
[456]Geſchichte der Sexualtheorie.
ſektenhülfe den Nutzen gewähren, eine möglichſt kräftige und zahl-
reiche Nachkommenſchaft zu erzielen. Auch dieſen Gedanken faßte
zuerſt Darwin ſchärfer in's Auge, um ihn ſeiner Selections-
theorie dienſtbar zu machen, indem er zugleich ſeit 1857 bis in
die ſechziger Jahre hinein durch ſehr zahlreiche Experimente ihn
weiter ſtützte.
6.
Neue Gegner der Sexualität und ihre Widerlegung durch Experimente
1785-1849
Wenn man die Schriften von Camerarius und Koelreuter
ſorgfältig geleſen hat, ſo ſcheint es faſt unmöglich, daß ſpäter
noch Zweifel, nicht an den Modalitäten der Befruchtungsvor-
gänge, ſondern an der Sexualität ſelbſt erhoben werden konnten.
Und doch geſchah dieß im Laufe der nächſten 40-60 Jahre
wiederholt von verſchiedenen Seiten und mit dem größten Nach-
druck und zwar nicht etwa in Folge einer erhöhten Genauigkeit
der experimentellen Unterſuchung oder etwaiger Widerſprüche,
welche man den Begründern der Sexualtheorie hätte nachweiſen
können, ſondern vielmehr deßhalb, weil eine Reihe von Beob-
achtern ihre Experimente ungeſchickt anſtellten und widerſprechende
Reſultate erhielten, ihre Verſuchspflanzen nicht genau genug
beobachteten, oder überhaupt, weil ihnen die nöthige Uebung
und Umſicht in ſolchen Dingen fehlte. So war es vor Allem
bei Spallanzani und ſpäter bei Bernhardi, Girou de
Bouzareingue und Ramiſch. Viel ſchlimmer aber ſah es
aus bei Schelver, ſeinem Schüler Henſchel und ihren Anhängern.
Bei ihnen waren es vorgefaßte Meinungen, aus der Naturphi-
loſophie abgeleitete Folgerungen, durch welche ſie ſich berechtigt
glaubten, experimentell feſtgeſtellte Thatſachen zu leugnen. Die
geradezu zerſtörende Wirkung, welche die Naturphiloſophie am
Anfang unſeres Jahrhunderts auf die Verſtandeskräfte ſehr Vieler
ausübte, ſprach ſich ganz beſonders darin aus, daß ſie nicht
mehr im Stande waren, den Erfolg einfacher Experimente zu
[457]Neue Gegner der Sexualität etc. etc.
würdigen, die Erſcheinungen der Natur auf das Schema von
Urſache und Wirkung zurückzuführen. Wie einſt Linné die
Sexualität der Pflanzen philoſophiſch mit ganz nebenſächlicher
Beachtung des experimentellen Verfahrens geglaubt hatte, be-
weiſen zu können, ſo fand ſich jetzt in Schelver ein Naturphi-
loſoph, welcher umgekehrt aus philoſophiſchen Gründen die Un-
möglichkeit der Sexualität bei Pflanzen darthun wollte. Wie
Linné dieſelbe aus dem Weſen oder Begriff der Pflanze folgerte,
ſo glaubte Schelver ſie aus dem Weſen oder Begriff der Pflanze
negiren zu müſſen; logiſch genommen hatte der Eine ſoviel Recht,
wie der Andere, denn die Frage ſelbſt konnte eben nicht auf
dieſem Wege, ſondern nur durch Experimente erledigt werden.
Indeſſen hielten es doch auch unſere Naturphiloſophen für zweck-
mäßig, ihren Theorieen eine empiriſche Stütze zu geben und dieſe
fanden ſie in den Experimenten Spallanzanis. 1) Dieſer
hatte 1786 unter dem Titel Experiences pour servir à
l'histoire de la génération des animaux et des plantes
(Genf 1786) außer ſeinen Verſuchen über die Befruchtung der
Thiere auch ſolche über die der Pflanzen publicirt, von denen
uns hier natürlich ausſchließlich die letzteren intereſſiren, bei
deren Beſchreibung aber eine ſehr mangelhafte Literaturkenntniß
des Autors ſich verräth, wie ſchon daraus hervorgeht, daß er
Caeſalpin zu denen rechnet, welche die Sexualität der Pflanzen
angenommen hätten. Seine Verſuche ſelbſt zeugen von einer
ſehr geringen Kenntniß der biologiſchen Vorausſetzungen, nach
denen ſich die Kultur der Verſuchspflanzen zu richten hat, über-
haupt geringe botaniſche Einſicht, wie ſie Dilettanten eigen zu
[458]Geſchichte der Sexualtheorie.
ſein pflegt, welche ohne hinlängliche Vorbereitung ſich plötzlich
mit dieſer oder jener Frage der Pflanzenphyſiologie beſchäftigen;
die Darſtellung Spallanzani's iſt flüchtig, die Kritik Anderer
rechthaberiſch und biſſig, ohne dem Leſer das Gefühl des Zu-
trauens zu ſeiner eigenen Geſchicklichkeit und Urtheilsfähigkeit zu
erwecken. Seine oft mit Haſt und wenig Ueberlegung unter-
nommenen Vegetationsverſuche führte er zum Theil an Pflanzen
aus, die wie z. B. Günſter, Bohnen, Erbſen, Rettig, Basi-
licum, Delphinium gerade für derartige Unterſuchungen unge-
eignet ſind. So kann denn auch das Reſultat nicht überraſchen,
daß er bei einigen, wie Mercurialis und Basilicum die Noth-
wendigkeit der Einwirkung des Pollens zur Bildung keimfähiger
Samen konſtatirte, während andere Pflanzen, wie der Kürbiß,
die Waſſermelone, der Hanf und Spinat auch ohne Befruchtung
dasſelbe leiſten ſollen. Schon ſein größerer Landsmann Volta,
der Spallanzani's Experimente wiederholte, beſtritt dieſes
Reſultat.
So waren die Verſuche beſchaffen, auf welche ſich Franz
Joſeph Schelver, Profeſſor der Medicin in Heidelberg, in ſeiner
„Kritik der Lehre von dem Geſchlecht der Pflanzen“ 1812 berief.
Es iſt nicht nöthig, ausführlich auf dieſes wunderliche Product
eines irre geleiteten Verſtandes näher einzugehen, wenn auch
immerhin bis in die zwanziger Jahre hinein eine beträchtliche
Zahl deutſcher Botaniker den Unſinn für tiefe Weisheit nahm.
Die Unterſuchungen des Camerarius erledigte Schelver mit
vier Zeilen; als den wichtigſten Autor aber empfahl er Spal-
lanzani, während Koelreuter hochmüthig abgefertigt wurde.
Die Erfahrungen dieſer Männer, ſagte er, ſind richtig, aber die
Befruchtung beweiſen ſie nicht. Ihm kommt es vielmehr darauf
an, die Frage aus der Natur des vegetativen Lebens zu ent-
ſcheiden; aus dieſer von ihm ſelbſt conſtruirten Natur aber
folgert er, daß die Pflanzenorgane überhaupt keinen Nutzen
haben, daß ſie noch nicht den Trieb haben können, einander zu
nutzen und in Gemeinſchaft das Leben fortzuzeugen, weil dieſes
eine Ziel des Wirkens nur da lebendig werden kann, wo alle
[459]Neue Gegner der Sexualtheorie etc. etc.
Theile zugleich vorhanden ſind, womit denn natürlich auch die
befruchtende Wirkung des Pollens wegfällt; dem entſprechend führt
er die die Samenbildung hervorrufende Einwirkung einer männ-
lichen Pflanze auf eine benachbarte weibliche nicht etwa auf die
Beſtäubung durch jene zurück, ſondern die „Nähe“ ſelbſt iſt es,
welche befruchtend wirkt. Das ſind jedoch nur unbedeutende
Proben ſeiner Logik.
Noch viel ſchlimmer aber ſieht es in den Schriften ſeines
Schülers Henſchel 1), zumal in deſſen umfangreichem Buch, „von
der Sexualität der Pflanzen“ 1820 aus. Er glaubte die natur-
philoſophiſchen Lehren durch zahlloſe Verſuche beweiſen zu müſſen;
die Art und Weiſe jedoch, wie dieſe letzteren ausgedacht, einge-
leitet und beſchrieben ſind, läßt Alles weit hinter ſich, was an
Geſchmackloſigkeit und Urtheilsunfähigkeit jemals geleiſtet worden
iſt. Es bedarf nicht einmal der Zweifel, welche Einem gelegent-
lich betreffs der Genauigkeit ſeiner Berichte aufſteigen und der
dießbezüglichen Bemerkungen bei Treviranus und Gärtner, um
uns die Beſtrebungen dieſes Mannes zu verleiden.
Es wäre überflüſſig auf den Inhalt dieſes Buchs einzu-
gehen, welches mehr ein pathologiſches als hiſtoriſches Intereſſe dar-
bietet; in welchem Grade aber bis in die zwanziger Jahre hinein
auch bei Beſſeren die Fähigkeit, in ſolchen Dingen zu urtheilen,
durch den Einfluß der Naturphiloſophie verdorben war, wie
ſelbſt namhafte Forſcher es der Mühe werth fanden, die Producte
Schelver's und Henſchel's mit einem gewiſſen Reſpect zu behan-
deln, davon giebt unter Anderem eine Briefſammlung, welche
Nees von Eſenbeck als zweite Beilage, zur Regensberger „Flora“
1821 publicirte, Auskunft; nicht minder aber auch die ſpäteren
Bemerkungen Goethe's zur Metamorphoſe der Pflanzen, die man
namentlich unter dem Titel „Verſtäubung, Verdunſtung, Ver-
tropfung“ in der Cotta'ſchen Ausgabe in vierzig Bänden Bd. 36
p. 134 findet. Indeſſen fanden ſich doch Einzelne, welche dem
Unweſen ſcharf entgegentraten; ſo namentlich Paula Schrank
[460]Geſchichte der Sexualtheorie.
(Flora 1822 p. 49) und C. L. Treviranus, der 1822 eine um-
faſſende Widerlegung Henſchel's: „die Lehre von dem Geſchlecht
der Pflanzen in Bezug auf die neueſten Angriffe erwogen“
herausgab. Dagegen fanden ſich einzelne Nachzügler jener krank-
haften philoſophiſchen Richtung auch ſpäter noch; ſo z. B. J. B.
Wilbrand, Profeſſor in Gießen, welcher noch 1830 (Flora p. 585)
in ſehr ſubtiler Unterſcheidung annahm, daß bei den Pflanzen
zwar etwas der thieriſchen Sexualität „Analoges“, aber keines-
wegs wirkliche Sexualität ſtattfinde. In dieſer ganzen natur-
philoſophiſchen Literatur ſpricht ſich die Unfähigkeit aus, Experi-
mente einfach mit geſundem Menſchenverſtand zu beurtheilen;
überall wird in den Erfolg der Verſuche Etwas hineingedichtet,
was nicht in der entfernteſten Beziehung zu den Bedingungen
und Ergebniſſen derſelben ſteht.
Ganz anders verhielt es ſich dagegen mit den von Bern-
hardi 1811, von Girou 1828-30, und von Ramiſch 1837
ausgeſprochenen Zweifeln. Sie machten Verſuche und beurtheilten
ſie im Sinne naturwiſſenſchaftlicher Forſchung; nur waren ſie
weder mit den nöthigen Kenntniſſen eingeleitet, noch mit aus-
reichenden Vorſichtsmaßregeln durchgeführt; auch fehlte es dieſen
Männern an genügender Literaturkenntniß. Schon im vorigen
Jahrhundert, ja ſelbſt ſchon von Camerarius und Ray war
auf das gelegentliche Vorkommen männlicher Blüthen an weib-
lichen Pflanzen von Spinat, Hanf, Mercurialis hingewieſen
worden und doch experimentirten die Genannten gerade wieder
mit dieſen, ohne das etwaige Auftreten männlicher Blüthen an
den weiblichen Verſuchspflanzen oder andere Beſtäubungsgelegen-
heiten ſorgfältig genug auszuſchließen.
So regten ſich noch bis tief in die dreißiger Jahre hinein
Zweifel an der Sexualität der Pflanzen überhaupt oder doch
an ihrer allgemeinen Giltigkeit bei den Phanerogamen; denn
von den Kryptogamen war zunächſt keine Rede, ſie galten trotz
mancher werthvollen Wahrnehmungen früherer Zeit für ge-
ſchlechtslos. Uebrigens wurde von der großen Mehrzahl der
Botaniker an der ſexuellen Bedeutung der Blüthenorgane nicht
[461]Neue Gegner der Sexualität etc. etc.
gezweifelt. Die Meiſten verließen ſich guten Glaubens auf Linné's
Autorität und Manche wußten ſogar die experimentellen Beweiſe
des Camerarius, Bradley, Logan, Gleditſch und Koelreuter zu
ſchätzen. Wer aber im Lauf der zwanziger und dreißiger Jahre
die Sache ernſt nahm, dem mußte allerdings eine nochmalige
umfaſſende Aufnahme der Frage nach der Sexualität der Pflanzen
erwünſcht ſein. Schon 1819 hatte es die Berliner Akademie
der Wiſſenſchaften auf Link's Vorſchlag durch Stellung einer
Preisfrage: „Giebt es eine Baſtardbefruchtung im Pflanzenreich“,
verſucht, neue Unterſuchungen über den Kern der Sexualitäts-
frage anzuregen. Die einzige, erſt 1828 eingelaufene Antwort
von Wiegmann entſprach jedoch den Anforderungen nicht, und
wurde nur mit dem halben Preis belohnt. Glücklicher war in
dieſer Beziehung ſpäter die holländiſche Akademie zu Haarlem,
welche auf Reinwardt's Veranlaſſung 1830 die Frage etwas
verändert und mit ihrer praktiſchen Beziehung auf Pflanzen-
kultur ausſchrieb. Hier trat als Preisbewerber Carl Friedrich
Gärtner1) auf, deſſen Schrift durch Nebenumſtände verſpätet
1837 den Ehrenpreis und eine außerordentliche Prämie erhielt.
C. F. Gärtner hatte ſchon ſeit 1826 die Reſultate ſeiner Ba-
ſtardirungsverſuche in verſchiedenen Zeitſchriften publicirt. Seine
geſammten, aus fünfundzwanzigjährigen experimentellen Unter-
ſuchungen gezogenen Reſultate publicirte er jedoch erſt 1849 in
[462]Geſchichte der Sexualtheorie.
einem umfangreichen Band: „Verſuche und Beobachtungen über
die Baſtardzeugung“ (Stuttgart 1849). Gewiſſermaßen als Ein-
leitung zu dieſem Werk hatte er aber ſchon 1844 ein ebenſo
umfangreiches Buch: „Verſuche und Beobachtungen über die Be-
fruchtungsorgane der vollkommeneren Gewächſe und über die
natürliche und künſtliche Befruchtung durch den eigenen Pollen“
herausgegeben. Beide Werke zuſammen ſind das Gründlichſte
und umfaſſendſte, was bisher über die experimentelle Unter-
ſuchung der Sexualitätsverhältniſſe der Pflanzen geſchrieben
worden iſt. Sie bilden einen glänzenden Abſchluß der nach
Koelreuter mit Zweifeln an der Sexualität der Pflanze beginnen-
den Periode, einen Abſchluß, der in dieſelben Jahre fällt, wo
bereits eine lebhafte Polemik zwiſchen Schleiden und Schacht
einerſeits, Hofmeiſter andererſeits, über die Vorgänge bei der
Embryobildung durch mikroſkopiſche Unterſuchungen geführt wurde.
Gärtner's Werke finden ihre Bedeutung weniger in neuen
überraſchenden Entdeckungen oder in glänzenden Ideen und un-
erwarteten Combinationen, als vielmehr in der gründlichſten
Unterſuchung aller derjenigen Umſtände und Verhältniße, welche
bei der ſexuellen Fortpflanzung der Phanerogamen überhaupt in
Betracht kommen können. Seine Baſtardirungsverſuche, über
welche er die genaueſten Journale führte, überſchritten die Zahl
von 9000; bei dieſen ſowohl wie bei der normalen Beſtäubung
ſtudirte Gärtner alle Fehlerquellen, welche auf die Experimente
irgendwie Einfluß nehmen können, zog er alle in der Entwick-
lung der Pflanze ſelbſt und in den äußeren Verhältniſſen lie-
genden Bedingungen der Befruchtung ſorgfältig in Betracht und
ebenſo unterwarf er die geſammte Literatur dieſer Fragen einer
ſo eingehenden Kritik, daß jeder von früheren Schriftſtellern an-
gegebene Verſuch ſeine kritiſche, auf die umfaſſenſten eigenen Er-
fahrungen geſtützte Erledigung fand. Das Werk über die Wirk-
ung des eigenen Pollens 1844 enthält die vollſtändigſte Biologie
und Phyſiologie der Blüthen. Es werden dort, überall auf
eigene und zum Theil ganz neue Beobachtungen geſtützt, ſämmt-
liche Lebenserſcheinungen der ſich entfaltenden Blüthe und ihre
[463]Neue Gegner der Sexualität etc. etc.
Beziehungen zur Befruchtung beſchrieben; das Verhältniß des
Kelches, der Blumenkrone, der Nektarabſonderung, des Oeffnens
der Antheren, die Selbſterwärmung der Blüthen, die phyſiologi-
ſchen Vorgänge am Fruchtknoten, den Griffeln und der Narbe
ſpeciell unterſucht; alles bis dahin Bekannte über die Reizbarkeit
und Bewegungserſcheinungen an der Blume und den Befrucht-
ungsorganen zuſammengeſtellt und durch neue Beobachtungen
erläutert und ſo von dem Leben der Blüthe ein reichhaltiges,
bis in's kleinſte Detail ausgeführtes Bild entworfen, wie wir es
von keinem anderen Organ der Pflanze bisher beſitzen; es wäre
vergeblich, in Kürze von der Reichhaltigkeit dieſer Beobachtungen
eine klare Vorſtellung geben zu wollen. Indeß waren dies mehr
die Präliminarien für die Hauptſache, den Nachweis, daß die
Entdeckung des Camerarius richtig, daß trotz aller mehr
als hundertjährigen Einwendungen die Mitwirkung des Pollens
zur Embryobildung in den heranwachſenden Samen unentbehrlich
ſei, daß alſo die Pflanzen eine Sexualität, ganz in dem Sinn
wie die Thiere beſitzen. Auch begnügte ſich Gärtner nicht,
eine beliebige Zahl neuer Befruchtungsverſuche zu machen; viel-
mehr wurden die Einwendungen Spallanzani's, Schel-
ver's, Henſchel's, Girou's u. A. ausführlich und mit ſpe-
ciellſter Berückſichtigung aller in Betracht kommenden Umſtände
durch neue Experimente und ſonſtige Erfahrungen widerlegt, die
Ungenauigkeit der Beobachtungen der Gegner der Sexualität
Punct für Punct ſchlagend dargethan, und ſchließlich noch auf
eine Reihe merkwürdiger Erſcheinungen hingewieſen, welche auch
an dem unbefruchteten Fruchtknoten eintreten und die Umſtände
namhaft gemacht, unter denen bei ſcheinbar verhinderter Beſtäu-
bung dennoch Zutritt von Pollen ſtattfinden kann. Dieſe Unter-
ſuchungen konſtatirten abermals die Exiſtenz der vegetabiliſchen
Sexualität und zwar ſo, daß ſeitdem kein Widerſpruch gegen
dieſelbe mehr erhoben werden konnte. Selbſt als ſpäter um
1860 Erſcheinungen bekannt wurden, welche die Vermuthung
nahe legten, daß unter Umſtänden bei gewiſſen Individuen
einiger Pflanzenarten die weiblichen Organe auch ohne Mit-
[464]Geſchichte der Sexualtheorie.
hilfe der männlichen entwicklungsfähige Embryonen erzeugen
können, konnte es ſich nicht etwa mehr darum handeln, in dieſen
als Parthenogeneſis bezeichneten Vorkommniſſen Beweiſe gegen
die allgemeine Sexualität zu finden; vielmehr konnte es nur
darauf ankommen, derartige Vorkommniſſe zunächſt bezüglich der
Thatſache ſelbſt genau zu prüfen und die Fragen ſo zurecht zu
legen, daß ſie neben der beſtehenden Sexualität noch einen ver-
nünftigen Sinn behielten, ähnlich wie dieß auch bei den ent-
ſprechenden Erſcheinungen im Thierreich nöthig war.
Dem umfaſſenden Werke Gärtners über die Baſtard-
befruchtung waren bereits einige andere Unterſuchungen über
dasſelbe Thema vorausgegangen: die ſchon erwähnten Knight's
am Anfang des Jahrhunderts und die ausführlicheren von Wil-
liam Herbert, in deſſen Werk über die Amaryllideen 1837.
Gärtner unterließ nicht, ſeine eigenen Unterſuchungen überall
mit den Ergebniſſen ſeiner Vorgänger, ganz beſonders aber mit
denen Koelreuter's zu vergleichen und aus dem ganzen erſtaun-
lich großen Beobachtungsmaterial eine Reihe von allgemeinen
Sätzen über die Bedingungen, unter denen Baſtardirung über-
haupt möglich iſt und über den Erfolg der Kreuzung, ſowie
über die Urſachen des Mißerfolges zu ziehen. Von ganz be-
ſonderem Intereſſe waren ſeine vermiſchten und zuſammengeſetzten
Baſtarde, die Verſuche über die verſchiedenen Gradationen des Ein-
fluſſes, den fremder Pollen auf das Verhalten der weiblichen
Organe ausübt, die Beziehung zu der Varietätenbildung. Es
iſt auch hier ganz unmöglich, die Reſultate Gärtner's
beſtimmter zu verzeichnen, ohne uns geradezu in ſachliche Dis-
kuſſionen einzulaſſen, welche weit über ein hiſtoriſches Referat
hinausgehen würden. Es iſt dies auch um ſo weniger nöthig,
als Nägeli 1865 es unternommen hat, aus der ganzen Fülle
des von Koelreuter, William Herbert und Gärtner gelieferten
Materials eine Reihe von Sätzen abzuleiten, welche in mehr
überſichtlicher Form alle weſentlichen Ergebniſſe zuſammenfaſſen.
1)
[465]Neue Gegner der Sexualität etc. etc.
Gärtner's Baſtardirungen wurden an demſelben Orte, wo
Koelreuter die ſeinigen in den Jahren 1762 und 1763 ge-
macht hatte, nämlich zu Calw in Württemberg ausgeführt.
So waren es alſo zwei kleine Städte Württembergs, in welchen die
Sexualtheorie von den drei hervorragenſten Experimentatoren
begründet und ſoweit es ſich durch Experimente thun läßt, zum
Abſchluß geführt worden iſt. Camerarius in Tübingen, Koel-
reuter und C. F. Gärtner in Calw hatten allein zur experimen-
tellen Begründung der Sexualtheorie ſoviel beigetragen, daß alles
Uebrige, was Andere in dieſer Richtung gethan haben, faſt
als Nebenſache erſcheinen müßte, wenn es ſich ausſchließlich
um künſtliche Beſtäubung handelte. Wie dagegen die Be-
ſtäubung in der freien Natur gewöhnlich vermittelt wird,
das hatte Koelreuter zwar unvollkommen erkannt, aber erſt
Konrad Sprengel in allen wichtigeren Beziehungen durch-
ſchaut, und es darf hier nicht verſchwiegen werden, daß Gärt-
ner die ergiebigſte Quelle neuer großartiger Reſultate unbenutzt
ließ, indem er Konrad Sprengel's merkwürdige Ergebniſſe
einer ernſten Beachtung nicht für werth hielt; ſeine fleißige
Behandlung der Nektarabſonderung, der Reizbarkeit der Befrucht-
ungsorgane und ſeine zahlreichen Wahrnehmungen über ſonſtige
biologiſche Verhältniſſe der Blüthen würden erſt dann ihren na-
türlichen Abſchluß gefunden haben, wenn er ſie mit Sprengel's
allgemeinen Sätzen über die Beziehung des Blüthenbaues zur
Inſectenwelt überall verknüpft hätte. Das unterließ Gärtner
vollſtändig und ſo blieb es auch hier wieder der wunderbaren
Combinationsgabe Darwin's vorbehalten, die Summe aus
den Ergebniſſen einer hundertjährigen Forſchung zu ziehen
und die Reſultate Koelreuter's, Knight's, Herbert's und Gärt-
ner's mit Konrad Sprengel's Blüthentheorie zu einem lebendigen
Ganzen zu verſchmelzen, ſo daß nunmehr alle phyſiologiſchen
Einrichtungen der Blüthe in ihren Beziehungen zur Befruchtung
nicht nur, ſondern in ihrer Abhängigkeit von den natürlichen Be-
dingungen, unter denen die Beſtäubung ohne Mithülfe des
Menſchen ſtattfindet, verſtändlich geworden ſind. Es war hier
Sachs, Geſchichte der Botanik. 30
[466]Geſchichte der Sexualtheorie.
alſo ähnlich, wie in der Geſchichte der Morphologie und Syſte-
matik: die Prämiſſen fand Darwin vor, den Schluß aus ihnen
zog er; auch hier beruht die Sicherheit ſeiner Theorie auf den
Ergebniſſen der beſten Beobachter, auf Unterſuchungen, welche in
Darwin's Theorie ihren nothwendigen logiſchen und hiſtoriſchen
Abſchluß finden.
7.
Mikroſkopiſche Unterſuchung der Befruchtungsvorgänge der Phanero-
gamen, Pollenſchlauch und Keimkörper.1)
1830-1850.
Schon im vorigen Jahrhundert hatten diejenigen, welche
von der Sexualität der Pflanzen überzeugt waren, auf verſchiedene
Weiſe verſucht, mit Hülfe des Mikroſkops eine Vorſtellung davon
zu gewinnen, in welcher Weiſe durch den Pollen die Erzeugung
des Embryos innerhalb des Samens vermittelt werde. Von
den ſehr rohen derartigen Verſuchen Morland's und Geof-
froy's abgeſehen, waren es Needham (1750), Juſſieu,
Linné, Gleichen, Hedwig, welche die Vorſtellung hegten,
der Pollen zerſpringe auf der Narbe, die darin enthaltenen Körn-
chen aber drängen durch den Griffel hinab zu den Samenknoſpen,
um dort entweder ſelbſt zu Embryonen ausgebrütet zu werden,
oder doch zu deren Erzeugung behülflich zu ſein. Dieſe Vor-
ſtellungsweiſe ſchloß ſich eng an die damals herrſchende Evo-
lutionstheorie an und ſchien in den Samenkörperchen der Thiere
eine Stütze zu finden; ſie ſtützte ſich zugleich auf die Beobacht-
ung, daß Pollenkörner in Waſſer gelegt unter dem Mikroſkop
[467]Mikroſkopiſche Unterſuchung der Befruchtungsvorgänge etc.
häufig zerſpringen und ihren Inhalt in Form einer körnig
ſchleimigen Maſſe entleeren. Es wurde bereits erwähnt, daß
Koelreuter dieſer Anſicht entgegentrat, das Zerſpringen für natur-
widrig erklärte, dafür aber das von den Pollenkörnern ausge-
ſchwitzte Oel als die befruchtende Subſtanz betrachtete, worin
ihm Joſeph Gärtner und Konrad Sprengel folgten. Dieſe
Anſicht wurde indeſſen weniger beachtet und bis tief in die
dreißiger Jahre hinein blieb die von Needham und Gleichen
begründete in einem gewiſſen Anſehen. Die Frage war nun
aber, auf welche Weiſe dieſe Inhaltskörnchen des Pollens in die
Samenknoſpen gelangen ſollten. Da bot ein Zufall einen An-
knüpfungspunct für weitere Reflexionen. Amici, der zu an-
derem Zweck die Narbenhaare von Portulaca unterſuchte, ſah
bei dieſer Gelegenheit (1823) den Pollenſchlauch aus dem Pollen-
korn hervortreten und die körnige Inhaltsmaſſe des letzteren, die
ſogenannte Fovilla, ſtrömende Bewegungen ähnlich der in den
Charen bekannten ausführen. Der Wunſch, dieſe merkwürdige
Thatſache zu prüfen und darüber Aufſchluß zu gewinnen, „wie
denn eigentlich die befruchtende Subſtanz von der Narbe abſorbirt
werde,“ veranlaßte Brongniart 1826, eine große Zahl mit
Pollen bedeckter Narben zu unterſuchen. Es gelang ihm dabei
zu conſtatiren, daß die Bildung von Pollenſchläuchen eine ſehr
verbreitete Erſcheinung ſei. Mangelhafte Verfolgung des Ge-
ſehenen und die Voreingenommenheit für die alte Theorie Need-
ham's hinderten ihn jedoch die Pollenſchläuche in ihrem ganzen
Verlauf bis in die Samenknoſpe hinein kennen zu lernen; er
nahm vielmehr an, daß ſie, in die Narbe eingedrungen, ſich
öffnen und ihre Inhaltskörnchen entlaſſen, indem er ausdrücklich
behauptete, daß dieſe letzteren den Samenthierchen der Thiere ana-
log und der active Theil des Pollens ſeien. Nunmehr aber griff
Amici die Frage ernſter an, er verfolgte 1830 die Pollen-
ſchläuche nicht nur bis in den Fruchtknoten, ſondern fand auch, daß
je einer derſelben in die Mikropyle einer Samenknoſpe eindringe.
So war die Frage plötzlich ihrer Löſung ſehr nahe gerückt,
als von verſchiedenen Seiten her Abwege eingeſchlagen wurden.
30*
[468]Geſchichte der Sexualtheorie.
Robert Brown zeigte 1831 und 1833, daß die zu ſogenannten
Pollinarien zuſammengebackenen Pollenkörner der Orchideen und
Aſclepiadeen ebenſo wie die anderer Pflanzen Pollenſchläuche
austrieben und daß man feine Röhrchen im Fruchtknoten be-
ſtäubter Orchideen vorfinde, deren Zuſammenhang mit den
Pollenkörnern ihm jedoch zweifelhaft blieb, ſo daß er ſelbſt zu
der Annahme ſich geneigt fand, dieſelben entſtünden im Frucht-
knoten ſelbſt, wenn auch in Folge der Beſtäubung der Narbe.
Ganz anders war der Abweg, auf welchen Schleiden gerieth,
durch welchen jedoch die Frage, ähnlich wie gleichzeitig die
nach der Entſtehung der Zellen in den Vordergrund der botaniſchen
Forſchung geſtellt wurde. 1837 publicirte Schleiden ausgezeich-
nete Unterſuchungen über die Entſtehung und Ausbildung der
Samenknoſpen vor der Befruchtung, ohne Zweifel die beſten und
gründlichſten der damaligen Zeit. Zugleich beſeitigte er die
Zweifel Brongniart's und Brown's und die Angaben
Amici's beſtätigend, bewies er, daß die Pollenſchläuche von
der Narbe aus überall bis in die Samenknoſpen durch die Mi-
kropyle derſelben eindringen. Er ließ ſie aber zu weit vor-
dringen; ganz poſitiv behauptete er: „der Pollenſchlauch ſchiebt
die Membran des Embryoſackes vor ſich her, ſtülpt dieſen in ſich
ſelbſt hinein und ſein Ende liegt dann ſcheinbar im Embryoſack.
Das Ende des Pollenſchlauches im Embryoſack ſchwillt kugelig
oder eiförmig an, und aus ſeinem Inhalt bildet ſich Zellgewebe.
Es bildet die ſeitlichen Organe, Einen oder zwei Cotyledonen,
wobei aber die urſprüngliche Spitze als plumula mehr oder
weniger frei bleibt. Das Stück des Pollenſchlauches unterhalb
des Embryo's und die dasſelbe umſchließende Duplikatur des
Embryoſacks ſchnüren ſich früher oder ſpäter ab und obliteriren
völlig, ſo daß nunmehr der Embryo wirklich im Embryoſack
liegt.“ Wäre dieſe, anſcheinend ganz auf Beobachtung beruhende
und durch entſprechende Abbildung erläuterte Anſicht richtig
geweſen, ſo hätte ſie entſprechend der alten Evolutionstheorie
und mit auffallender Annäherung an die Anſichten Morlands
und Geoffroy's zwar der Nothwendigkeit der Beſtäubung zur
[469]Mikroſkopiſche Unterſuchung der Befruchtungsvorgänge etc.
Bildung embryohaltiger Samen Rechnung getragen, aber dennoch
wäre die Sexualität der Pflanzen ähnlich wie bei den Verthei-
digern der Evolutionstheorie damit in der Hauptſache beſeitigt
worden: die Samenknoſpe wäre eben nur der geeignete Ort zur
Ausbrütung des vom Pollen erzeugten Embryos geblieben. Dieſer
Anſicht Schleiden's ſchloſſen ſich nun alsbald Wydler, Gelesnow
und verſchiedene Andere, vor Allem aber Schacht an, während
gerade die hervorragendſten Mikroſkopiker ihr ungläubig entgegen-
traten. Zuerſt war es wieder Amici, der 1842 auf dem
italieniſchen Gelehrtenkongreß in Padua der neuen Lehre entgegen-
trat und nachzuweiſen ſuchte, daß der Embryo nicht im Ende des
Pollenſchlauches, ſondern aus einem ſchon vor der Befruchtung
vorhandenen Theile der Samenknoſpe entſtehe, welcher durch die
im Pollenſchlauch enthaltene Flüſſigkeit befruchtet werde. Die
Wahl einer zu dieſem Zweck höchſt ungeeigneten Pflanze, des
Kürbiſſes, hinderte ihn jedoch, die Vorgänge im Einzelnen genau
genug zu erkennen und Schleiden verfehlte nicht, 1845 Amici's
Behauptungen in den ungeſuchteſten Ausdrücken zurückzuweiſen.
Dieſer aber brachte ſchon im nächſten Jahr (1846) die entſcheiden-
den Beweiſe für ſeine Behauptung: an den für ſolche Unter-
ſuchungen ſehr günſtigen Orchideen zeigte er nicht nur, daß
Robert Brown's erwähnte Zweifel unbegründet ſeien, ſondern
was die Hauptſache war, daß im Embryoſack der Samenknoſpen
ſchon vor dem Eintreffen des Pollenſchlauches ein Körper (das
Keimbläschen) vorhanden iſt, welcher durch den Zutritt des
Pollenſchlauches zur weiteren Entwicklung, zur Bildung des Em-
bryos veranlaßt wird. Er demonſtrirte hier zuerſt den ganzen
Verlauf dieſer Vorgänge von der Beſtäubung der Narbe an bis
zur Ausbildung des Embryos im Zuſammenhang.
Obgleich ſchon im folgenden Jahr durch Mohl und Hof-
meiſter Amici's Darſtellung als die richtige beſtätigt wurde
und Hofmeiſter 1849 in einer umfangreicheren Schrift: „Die
Entſtehung des Embryo der Phanerogamen“ (Leipzig 1849) an
zahlreicheren anderen Pflanzen die für die Frage entſcheidenden
Momente ausführlich beſchrieb und durch ſehr ſchöne Abbildungen
[470]Geſchichte der Sexualtheorie.
erläuterte, obgleich auch Tulasne als Gegner der Schleiden'-
ſchen Theorie auftrat, inſofern er ſich auf das Beſtimmteſte
davon überzeugte, daß ein Zuſammenhang zwiſchen dem befruch-
teten Keimbläschen und dem Pollenſchlauch nicht beſteht (wobei
er aber die Exiſtenz des Keimbläschen vor der Befruchtung
leugnete); ſo entſpann ſich doch jetzt erſt der heftigſte Kampf um
die Schleiden'ſche Theorie: das niederländiſche Inſtitut in Am-
ſterdam krönte eine Preisſchrift Schacht's, die 1850 herauskam;
hier wurde Schleiden's Theorie von Neuem vertheidigt und durch
ſehr zahlreiche Abbildungen erläutert, welche in ganz unbegreif-
licher Weiſe überall die entſcheidenden Momente unrichtig und
im Sinn der Theorie darſtellten. Mohl ſagt bei dieſer Gelegen-
heit ſehr treffend (Bot. Ztg. 1863 Beilage p. 7):„Es iſt jetzt
nachdem wir wiſſen, daß die Schleiden'ſche Lehre ein Irrlicht
war, lehrreich, wenn auch betrübend zu ſehen, mit welcher Leicht-
gläubigkeit das Unrichtige für wahr gehalten wurde, wie die
einen auf eigene Unterſuchungen vollkommen verzichtend mit
theoretiſchen Gründen das Phantom herausputzten, die andern,
welche das Mikroſkop zur Hand nahmen, durch ihre vorgefaßte
Meinung geblendet zu ſehen glaubten, was ſie gar nicht ſehen
konnten, und durch Hunderte von Zeichnungen, welchen Nichts
als die Wahrheit fehlte, die Richtigkeit der Schleiden'ſchen Lehre
als über jeden Zweifel erhaben darzuſtellen ſuchten, und wie
eine Akademie durch Krönung einer ſolchen Arbeit einen neuen
Beweis für die alte, namentlich in unſerer Wiſſenſchaft ſeit
einigen Decennien wiederholt ſo glänzend gemachte Erfahrung
lieferte, wie wenig Preisaufgaben geeignet ſind, die Löſung einer
zweifelhaften, wiſſenſchaftlichen Frage herbeizuführen.“ In dieſem
Falle war noch dazu die gekrönte Preisſchrift ſchon im Voraus
durch Mohl, Hofmeiſter, Tulasne widerlegt. Schacht hielt
natürlich nun erſt deſto mehr an Schleiden's Theorie feſt: nach
einigen polemiſchen Schriften, in welche auch andere, minder
Berufene ſich einmengten, erſchien aber 1856 eine ausführlichere
Schrift Radlkofer's, welche Hofmeiſter's Beobachtungen in allen
Puncten beſtätigte und beiläufig auch eine Darlegung der nun
[471]Mikroſkopiſche Unterſuchung der Befruchtungsvorgänge etc.
mehr veränderten Anſichten Schleiden's enthielt, eine Darlegung,
welche man als einen vollſtändigen Widerruf Schleiden's deuten
konnte, zu welchem bald darauf auch Schacht ſich genöthigt ſah,
als er bei Gladiolus Verhältniſſe an der Samenknoſpe kennen
lernte, die mit der Schleiden'ſchen Theorie handgreiflich unverein-
bar waren.
Hofmeiſter hatte von vornherein ſeine Aufmerkſamkeit ſpeziell
der Frage zugewendet, ob im Pollenſchlauch ſich Gebilde vor-
finden, welche etwa den Spermatozoiden entſprechen und ob etwa
eine Oeffnung am Ende des Pollenſchlauches wahrzunehmen ſei.
Zwar fand er bei den Coniferen (1851) Gebilde, welche immer-
hin an die männlichen Befruchtungskörper höherer Cryptogamen
erinnern mochten; der Pollenſchlauch aber war geſchloſſen, ſowie
bei den übrigen Phanerogamen, wo ſeine Haut noch dazu eine
ſehr beträchtliche Dicke erreicht. Es blieb alſo Nichts übrig,
als die Annahme, daß eine flüßige Subſtanz durch die Wand
des Pollenſchlauches und des Embryoſackes hindurchdiffundirend
die Befruchtung des Keimbläschens vermittelt und ſo war es
nicht die Präformationstheorie des vorigen Jahrhunderts, welcher
noch Brongniart anhing, ſondern die von Koelreuter ver-
tretene Anſicht, welche ſich ſchließlich als die der Wahrheit näher
kommende erwies; wenn freilich auch von Koelreuter's Anſicht
Nichts weiter übrig blieb, als daß die befruchtende Subſtanz
bei den Phanerogamen eine flüßige ſei. Die für Sperma-
tozoiden gehaltenen Inhaltskörnchen des Pollens dagegen haben
ſich ſpäter zum Theil als unſchuldige Stärkekörnchen und Oel-
tropfen zu erkennen gegeben.
8.
Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen.
1837-1860.
Um die Mitte der vierziger Jahre zweifelte kein Urtheils-
fähiger mehr an der Sexualität der Phanerogamen. Nicht ſo
war es bezüglich der kryptogamiſchen Pflanzen, obgleich ſchon
[472]Geſchichte der Sexualtheorie.
um dieſe Zeit eine Reihe von Thatſachen bekannt war, welche
darauf hinzuweiſen ſchienen, daß auch bei ihnen im Lauf der
Entwicklung eher oder ſpäter ein Moment eintritt, wo ein Ge-
ſchlechtsact ſich vollzieht. Es fehlte jedoch bis dahin an einer
methodiſchen Bearbeitung der Frage, vor Allem an experimen-
tellen Unterſuchungen oder ſolchen Beobachtungen, welche die
Nothwendigkeit einer ſexuellen Vereinigung auch hier dargethan
hätten.
Als in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die
große Mehrzahl der Botaniker an der ſexuellen Bedeutung der
Staubgefäße der Phanerogamen nicht mehr zweifelte, ließ man
es ſich angelegen ſein, auch bei kryptogamiſchen Pflanzen Organe
von ähnlicher Funktion nachzuweiſen; man ſtützte ſich dabei auf
äußerliche Aehnlichkeiten und Analogieen, die man mehr oder
weniger willkürlich zu deuten ſuchte. Die ziemlich auffallende
äußerliche Aehnlichkeit der Antheridien und Archegonien der Mooſe
mit den Geſchlechtsorganen der Phanerogamen veranlaßten ſchon
Schmidel und Hedwig dieſelben als Staubgefäße- und Frucht-
knoten in Anſpruch zu nehmen und hier errieth man in der That
etwas Richtiges, wenn auch freilich die wahre Bedeutung der
Moosfrucht auf dieſem Wege nicht erkannt werden konnte. Früher
hatten Micheli, Linné, Dillen, noch mehr auf Aeußerlich-
keiten und geringe Kenntniß dieſer Pflanzen geſtützt, die Moos-
frucht ſelbſt für eine männliche Blüthe gehalten und was die
übrigen Kryptogamen betraf, überließen ſich ſelbſt die hervor-
ragendſten Botaniker einem Herumtaſten ohne jeden feſten empi-
riſchen Anhaltspunct. Es iſt unnöthig, ſpeciell auf die Anſichten,
die dabei zum Vorſchein kamen, einzugehen; nur beiſpielsweiſe
ſei Einzelnes erwähnt: Koelreuter z. B. betrachtete die Volva
der Hutſchwämme, Gleditſch und Hedwig dagegen ſchlauchförmige
Zellen an den Lamellen derſelben als die männlichen Befrucht-
ungsorgane. Gleichen nahm die Spaltöffnung der Farne, Koel-
reuter ihr Induſium, Hedwig ſogar ihre Drüſenhaare für An-
theren. Man ahnte noch nicht, daß der Entwicklungsgang und
die geſammte morphologiſche Gliederung der kryptogamiſchen
[473]Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen.
Pflanzen mit der der Phanerogamen nicht auf dieſe Art ver-
glichen werden kann, und das Richtige ſowohl, wie das Unrich-
tige, was man bezüglich der Sexualorgane der Kryptogamen an-
nahm, hatte keinen wiſſenſchaftlichen Werth, da es eben nur auf
unbeſtimmte Vermuthungen hin errathen wurde. Auch in den erſten
Decennien unſeres Jahrhunderts geſtalteten ſich die Verhältniſſe
nicht beſſer und wenn auch nach und nach eine Reihe von gelegent-
lichen Wahrnehmungen, welche ſich ſpäter methodiſch verwerthen
ließen, gemacht wurde, ſo blieben es doch zunächſt vereinzelte That-
ſachen, denen jeder wiſſenſchaftliche Zuſammenhang fehlte und Jedem
mußte überlaſſen bleiben, ob er den Kryptogamen überhaupt Sexual-
organe zuſchreiben oder abſprechen wollte. Indeſſen häuften ſich nach
und nach derartige Wahrnehmungen, ſo daß um die Mitte der vier-
ziger Jahre ſchon eine gewiſſe Sichtung derſelben und eine Art Orien-
tirung auf dieſem Gebiet eintreten konnte. Abgeſehen von den
Mooſen, wo die Mehrzahl der Botaniker doch gern an Schmidel's
und Hedwig's Meinung feſthielt, hatte ſchon 1803 Vaucher die
längſt bekannte Copulation der Spirogyren als einen Sexualact
in Anſpruch genommen, 1820 Ehrenberg die Copulation eines
Schimmelpilzes, Syzygites, beobachtet; durch Biſchoff und
Mirbel war die Organiſation der Lebermoosantheridien genauer
bekannt geworden (1845) und ſchon 1822 ſah Nees von Eſen-
beck die Spermatozoiden von Sphagnum, 1828 Biſchoff die von
Chara, die man freilich zunächſt für Infuſorien hielt, eine An-
ſicht, der ſich Unger 1834 noch anſchloß; Unger1) war es
jedoch, der ſchon 1837 die Spermatozoiden der Laubmooſe näher
ſtudirte und ſie als männliche Befruchtungsorgane in Anſpruch
nahm; 1844 entdeckte Nägeli die entſprechenden Gebilde an
dem bis dahin als Cotyledon gedeuteten Vorkeim der Farn-
kräuter und 1846 fand er die Spermatozoiden als Producte der
kleinen Sporen der Pilularia, welche Schleiden als Pollenkörner
dieſer Pflanzen gedeutet hatte.
[474]Geſchichte der Sexualtheorie.
Dieſe Thatſachen waren höchſt bedeutſam, aber anzufangen
war mit ihnen nicht viel, da man, abgeſehen von den Mooſen,
das weibliche Organ der betreffenden Pflanzen nicht kannte
und einſtweilen nur aus der Aehnlichkeit der vegetabiliſchen
Spermatozoiden mit denen der Thiere errathen konnte, daß
ſie möglicherweiſe die ſexuelle Bedeutung der letzteren haben
könnten.
Da kam plötzlich Licht in die Sache, als 1848 der Graf
Leſczyc-Suminsky an dem vermeintlichen Cotyledon der
Farnkräuter (dem Prothallium) außer den Antheridien noch eigen-
thümliche Organe entdeckte, in deren Innerem der Embryo oder
das junge Farnkraut entſteht. Waren auch die Angaben über
Entwicklung und Bau dieſer weiblichen Organe, ſowie die des
Embryos in ſehr weſentlichen Puncten unrichtig, ſo war doch
der Weg gewieſen, wo die Befruchtung durch die Spermatozoiden
zu vermuthen ſei und da man bereits durch Vaucher's und
Biſchoff's frühere Arbeiten die Keimungsgeſchichte der übrigen
Gefäßkryptogamen einigermaßen kannte, ſo eröffnete ſich nun
auch ein Weg, die Befruchtungsorgane derſelben da zu ſuchen,
wo ſie wirklich zu finden ſind. Dabei war allerdings zuerſt eine
von Schleiden aufgeſtellte unrichtige Anſicht über die Bedeutung
der kleinen Sporen der Rhizokarpeen zu beſeitigen, was zum
Theil ſchon durch Nägeli's genannte Entdeckung und gleich-
zeitig durch Unterſuchungen von Mettenius geſchah. Da gab
1849 Hofmeiſter eine zuſammenhängende Beſchreibung der Keim-
ung von Pilularia und Salvinia, in welcher die für den Sexual-
act entſcheidenden Momente klar gelegt, zumal die Bedeutung
der Spermatozoiden für die Befruchtung der Eizellen im Archi-
gonium nachgewieſen wurde. Dasſelbe that Hofmeiſter gleich-
zeitig bei einer von den Rhizokarpeen und Farnen weit verſchie-
denen Gattung (Selaginella), wo ebenfalls die Spermatozoiden
aus kleineren Sporen ſich entwickeln, um die in dem Prothallium
der großen Sporen entſtandenen Archegonien zu befruchten. In-
dem Hofmeiſter die Keimungsvorgänge dieſer Pflanzen mit denen
der Farne und Mooſe verglich, wurde vor Allem ein ganz neues
[475]Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen.
Licht auf die geſammte morphologiſche Gliederung dieſer Klaſſen
geworfen, durch welche nun erſt eine Vergleichung derſelben
unter ſich und mit den Phanerogamen möglich wurde, und erſt
jetzt gelang es, den Sexualact der Muscineen und Gefäßkrypto-
gamen in ſeiner Bedeutung für die Entwicklungsgeſchichte dieſer
Pflanzen richtig zu würdigen. Hofmeiſter zog aus ſeinen Be-
obachtungen ſchon 1849 den Schluß: „Das Prothallium der Ge-
fäßkryptogamen ſei morphologiſch gleichbedeutend mit der blätter-
tragenden Moospflanze, die beblätterte Pflanze eines Farnkrauts,
eines Lycopodium, einer Rhizocarpee gleichbedeutend mit der
Moosfrucht. Bei Mooſen, wie bei Farnen finde eine Unter-
brechung der vegetativen Entwicklung durch die Zeugung, ein
Generationswechſel ſtatt: bei den Gefäßkryptogamen ſehr bald
nach der Keimung, bei den Mooſen um Vieles ſpäter.“ Es
wurde bereits in der Geſchichte der Syſtematik auf die epoche-
machende Bedeutung dieſer Entdeckung hingewieſen. Für die
Lehre von der Sexualität der Pflanzen war die von Hofmeiſter be-
gründete Auffaſſung dieſer Verhältniſſe nicht minder wichtig; mit
einem Schlage waren alle älteren falſchen Analogieen zwiſchen
Phanerogamen und Kryptogamen zerſtört und das wirklich Ueber-
einſtimmende aufgefunden: wie in der Samenknoſpe der Pha-
nerogamen, ſo hatte Hofmeiſter im Archegonium der Krypto-
gamen denjenigen Körper aufgefunden, welcher ſich nach der Be-
fruchtung zum Embryo ausbildet, das Keimbläschen oder die
Eizelle. Hier lag der Ausgangspunct für jede weitere metho-
diſche Vergleichung bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung der
Kryptogamen und Phanerogamen. Alles andere war von ſecun-
därer Bedeutung, auch das, daß die Befruchtung der Eizelle bei
den Kryptogamen nicht durch einen Pollenſchlauch, ſondern durch
Spermatozoiden ſtattfindet. Es war nun leicht auch in anderen
von Hofmeiſter noch nicht beobachteten Fällen die entſprechenden
Generationsverhältniſſe nachzuweiſen.
Seine Angaben und Schlüſſe wurden 1850 von Mettenius
bezüglich der Selaginella und Isoetes beſtätigt [und] erweitert, und
1851 erſchien Hofmeiſter's umfaſſendes Werk: „die vergleichenden
[476]Geſchichte der Sexualität.
Unterſuchungen,“ wo nunmehr auch die Keimbildung der Coni-
feren als die Vermittlungsform zwiſchen der der Kryptogamen
und Phanerogamen dargeſtellt wurde. Weitere Ergänzungen
folgten: Henfrey beſtätigt Hofmeiſters Ergebniſſe bei den
Farnen, 1852 beobachteten Hofmeiſter und Milde die Befrucht-
ungsgeſchichte der Equiſeten, Hofmeiſter gab gleichzeitig die voll-
ſtändige Entwicklungsgeſchichte von Isoetes, 1855 beſchrieb er
die entſcheidenden Momente bei Botrychium und Mettenius
1856 bei Ophioglossum.
Durch alle dieſe Entdeckungen waren die vor und nach der
Befruchtung ſtattfindenden Entwicklungsvorgänge aufgeklärt, aber
noch fehlte die directe Beobachtung des Befruchtungsactes ſelbſt.
Hofmeiſter ſchildert (Flora 1857 p. 122) die damalige Sachlage
folgendermaßen:
„Hatten die zahlreichen Unterſuchungen helles Licht über die
Beſchaffenheit der männlichen und weiblichen Organe, wie über
die Art und Weiſe der Entſtehung des Embryo durch fortge-
ſetzte Theilung des ſchon vor der Befruchtung in letzteren vor-
handenen Keimbläschens ſich verbreitet, ſo blieb doch das eigent-
liche Weſen der Befruchtung völlig dunkel. Durch Beobachtung
und Verſuch war es genügend feſtgeſtellt, daß es der Einwirkung
von Samenfäden auf die Archegonien bedürfe, um in dieſen einen
Embryo zu erzeugen. Weibliche, von den männlichen entfernte
Moospflanzen, 1) von den Mikrosporen getrennte Makrosporen
von Gefäßkryptogamen hatten in allen Fällen ſich ſteril erwieſen;
aber ſelbſt darüber war keine Sicherheit erlangt worden, bis zu
welchem Puncte der weiblichen Organe die Samenfäden vor-
dringen. Zwar hatten Leſczyc und ſpäter Mercklin den Ein-
tritt beweglicher Samenfäden in die Mündungsöffnung der Ar-
[477]Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen.
chegonien von Farnen geſehen; was aber Leſczyc über die
Rolle angab, die ſie dort weiter ſpielen ſollten, erwies ſich als
auf Selbſttäuſchung beruhend. Hofmeiſter hatte bewegungslos
gewordene Samenfäden im mittleren Theile des Halskanales
von Archegonien des Schafthalmes beobachtet; aber auch hier
war nichts Näheres über die Art der Einwirkung des Sperma-
tozoids auf das Keimbläschen zu ermitteln geweſen. Da traf
es ſich, daß im Frühjahr 1851 Hofmeiſter, mit Unterſuchung
der Entwicklung der Vegetationsorgane der Farnkräuter beſchäf-
tigt, mehrfach in den baſilären das Keimbläschen einſchließenden
Zellen der Archegonien von Farnen in Bewegung begriffene
Samenfäden ſelbſt in der Mehrzahl das Keimbläschen umſpielend
antraf. Ihre Bewegungen endeten während der Beobachtung
mit Eintritt der Veränderungen, welche der Inhalt durch Schnitte
blosgelegter jugendlicher Pflanzenzellen bei längerer Einwirkung
von Waſſer zu erleiden pflegt.“ Spätere Beobachtungen laſſen
jetzt keinen Zweifel darüber zu, daß einzelne Spermatozoiden
auch bei Muscineen und Farnen in das ſogenannte Keimbläschen,
die nackte Eizelle des Archegoniums, eindringen.
Zunächſt wurde die Frage jedoch an den Algen ent-
ſchieden, wo ohne ſtörende Eingriffe der Befruchtungsvorgang
unmittelbar geſehen werden konnte. Daß nämlich auch bei den
Algen geſchlechtliche Fortpflanzung ſtattfinde, lag ſehr nahe, ſeit-
dem Decaiſne und Thuret an den Fucusarten 1845,
Nägeli an den Florideen 1846, Organe aufgefunden hatten,
die eine andere Deutung kaum zuließen. Auch hatte ſchon Ale-
xander Braun auf die Bildung von zweierlei Sporen bei einer
großen Zahl von Süßwaſſeralgen hingewieſen. Mehr als bloße
Vermuthungen hatte man damit freilich noch nicht. Da bewies
1854 Thuret durch Experimente, daß bei der Gattung Fucus
die großen Eizellen von ſehr kleinen ſchwärmenden Spermato-
zoiden befruchtet werden müſſen, um die Keimung einzuleiten;
beiderlei Organe ließen ſich hier in Menge geſondert ſammeln,
und nach Belieben zur Befruchtung zuſammenbringen; Thuret
erzielte auf dieſe Weiſe ſogar Baſtardbefruchtung. Pringsheim
[478]Geſchichte der Sexualität.
beobachtete 1855 zuerſt die Bildung der Spermatozoiden in den
Hörnchen der Vaucheria und conſtatirte, daß ohne das Heran-
treten derſelben an die Eizelle eine entwicklungsfähige, ſogenannte
Ooſpore nicht gebildet wird. Zugleich fügte er den Angaben
Thuret's noch die ſehr wichtige hinzu, daß in dem ſchon von
einer Haut umgebenen befruchteten Fucus-Ei an der Oberfläche
der Inhaltsmaſſe die Reſte von Spermatozoiden zu erkennen ſeien.
Ziemlich gleichzeitig veröffentlichte Cohn ſeine Beobachtungen
über Sphaeroplea annulina, wo er ebenfalls das Herantreten
von Spermatozoiden an die Eizellen conſtatirte, welche in Folge
deſſen, wie bei Fucus und Vaucheria, ſich zunächſt mit einer
Zellhaut umkleiden und zu weiterer Entwicklung befähigt werden.
Noch immer aber war die entſcheidende Beobachtung nicht
gemacht, noch Niemand hatte geſehen, wie die beiden Befruch-
tungselemente im Augenblick der Befruchtung ſich verhalten.
Dieß gelang Pringsheim 1856 bei einer der gemeinſten Süß-
waſſeralgen, dem Oedogonium. Hier ſah er das bewegliche
Spermatozoid mit der protoplasmatiſchen Subſtanz der Eizelle
zunächſt in Berührung treten, dann aber in dieſelbe ein-
dringen und mit ihr verſchmelzend zerfließen. Es
war ſo die erſte Beobachtung gemacht, welche mit Beſtimmtheit
zeigte, daß eine wirkliche Vermiſchung der männlichen und weib-
lichen Befruchtungselemente ſtattfinde und noch in demſelben Jahr
wurde dieſe wichtige Thatſache auch von De Bary beſtätigt.
War nun einmal feſtgeſtellt, daß die Befruchtung der Krypto-
gamen in einer Verſchmelzung zweier nackter Protoplasmakörper,
des Spermatozoids und der Eizelle beſteht, ſo konnte man folge-
richtig auch die Conjugation der Spirogyren, überhaupt der
Conjugaten nunmehr als einen Befruchtungsakt auffaſſen, nur
daß hier die beiden Befruchtungselemente nicht von verſchiedener
Größe und Geſtalt, ſondern von gleichem Ausſehen ſind. Zu
dieſer Schlußfolgerung gelangte De Bary 1858 in ſeiner
Monographie der Conjugaten. Für die Theorie der Sexualität
war dieſe Erweiterung des Begriffs Befruchtung auch auf ſolche
Fälle, wo die verſchmelzenden Zellen äußerlich gleichartig zu
[479]Entdeckung der Sexualität der Kryptogamen.
ſein ſcheinen, von beſonderem Werth, wie ſich erſt im Verfolg
zeigte, wo man noch eine Reihe anderer Befruchtungsformen
kennen lernte, die eine noch ſtärkere Erweiterung des Begriffes
der Sexualität nöthig machten. Noch 1858 entdeckte Prings-
heim bei einer anderen Algengruppe, den Saprolegnieen,
Befruchtungsapparate, welche wenigſtens in ihrem äußeren An-
ſehen von den bisher bei niederen Pflanzen bekannten weit
abwichen.
So waren in den fünfziger Jahren eine Reihe grundlegender
Thatſachen gewonnen, an welche ſich im Verlauf der nächſten
Jahre zahlreiche andere beſtätigend und erweiternd anſchloſſen.
Es gehört nicht mehr zu der hier verfolgten Aufgabe, die zahl-
reichen, nach 1860 auf dieſem Gebiet gemachten Entdeckungen
vorzuführen; nur darauf ſei hingewieſen, daß im Lauf der
ſechziger Jahre die Befruchtungsvorgänge auch bei den Florideen
von Thuret und Bornet, vor Allem aber auch bei den Pilzen
von De Bary und ſeinen Schülern in zum Theil ſehr ſonder-
baren Formen beobachtet worden ſind. So daß nunmehr über
die allgemeine Verbreitung der Sexualität auch bei den Thal-
lophyten kein Zweifel mehr herrſcht, wenn auch immerhin die
Frage noch offen bleibt, ob nicht doch vielleicht einige der aller-
einfachſten und kleinſten Gewächſe derſelben entbehren.
Eines der wichtigſten Ergebniſſe dieſer Unterſuchungen liegt
offenbar in der auffallenden Aehnlichkeit vieler Befruchtungsvor-
gänge bei Kryptogamen mit denen der niederen Thiere; auch
hier beſtätigte ſich wieder, was die neueren zoologiſchen und
botaniſchen Forſchungen vielfach anderweitig ergeben haben, daß
die Aehnlichkeiten zwiſchen Pflanzen- und Thierreich um ſo deut-
licher hervortreten, je mehr man beide in ihren einfachſten Bil-
dungsſtufen vergleicht, ein deutlicher Hinweis darauf, daß beide
Reiche im Sinne der Deſcendenztheorie ſich aus gemeinſamen
gleichartigen Anfängen hervorgebildet haben. Was aber die
wahre Natur der Befruchtung ſelbſt betrifft, welche bei Thieren
und Pflanzen offenbar in der Hauptſache übereinſtimmt, ſo läßt
ſich auch jetzt noch nicht mehr ſagen, als daß es auf alle Fälle
[480]Geſchichte der Sexualtheorie.
auf eine materielle Vermiſchung des Inhalts zweier Zellen an-
kommt, deren jede für ſich einer weiteren Entwicklung nicht fähig
iſt, während das Vermiſchungsproduct nicht nur im Stande iſt,
ſich weiter zu entwickeln, ſondern auch die Eigenſchaften der
beiden älterlichen Formen in ſich vereinigt und bei der weiteren
Entwicklung wiederholt. Daß es dabei nicht auf die Verſchmelz-
ung zweier geformter Körper ankommt, daß vielmehr wenigſtens
die männliche befruchtende Subſtanz eine flüſſige ſein kann,
ſcheint aus dem Verhalten der Phanerogamen mit Beſtimmtheit
hervorzugehen und Nichts hindert die Annahme, daß auch bei
den Kryptogamen die Geſtalt der befruchtenden Elemente für
den Sexualact ſelbſt gleichgültig iſt, wenn immerhin auch die
Form und Beweglichkeit derſelben zur Uebertragung der be-
fruchtenden Subſtanz auf die zu befruchtende nothwendig iſt.
[481]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Zweites Capitel.
Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
1583-1860.
Daß die Pflanzen aus ihrer Umgebung Subſtanzen in ſich
aufnehmen um aus ihnen ihren Körper aufzubauen, konnte auch
in den älteſten Zeiten nicht zweifelhaft ſein, und daß damit
nothwendig Bewegungen der Nährſtoffe verknüpft ſind, leuchtete
ohne Weiteres ein. Schwierig aber war die Frage, von welcher
Art die Nahrungsſubſtanz der Pflanzen ſei, wie und durch welche
Kräfte getrieben, ſie in dieſelben eindringt und ſich in ihnen
vertheilt und ſelbſt das war lange fraglich, ob die von außen
aufgenommene Nahrung innerhalb der Pflanze ſelbſt noch irgend
eine Veränderung erleidet, bevor ſie zum Wachsthum verwendet
wird. Das waren ungefähr die Fragen der Pflanzenernährung,
mit denen ſich Ariſtoteles beſchäftigt hatte, und welche auch noch
den Hauptgegenſtand von Caeſalpin's phyſiologiſchem Nachdenken
bildeten.
Eine viel beſtimmtere Faſſung aber gewannen die Fragen
der Pflanzenernährung in der letzten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts, als man anfing, die verſchiedenen Vegetationserſcheinungen
überhaupt genauer zu beobachten und als man es verſuchte, ſich
Rechenſchaft zu geben über ihre Beziehungen zur Außenwelt.
Der Begründer der Phytotomie, Malpighi, war es, der zuerſt
die Betheiligung der verſchiedenen Organe der Pflanzen an dem
geſammten Ernährungsgeſchäfte aufzuweiſen unternahm; er er-
kannte, durch Analogieſchlüſſe geleitet, daß die grünen Blätter
Sachs, Geſchichte der Botanik. 31
[482]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
nahrungsbereitende Organe ſind und daß die von ihnen bereiteten
Stoffe in alle Theile der Pflanze übergehen, um dort entweder
aufbewahrt oder zum Wachsthum benutzt zu werden. Damit
war jedoch noch keine Einſicht gewonnen in die Natur derjenigen
Stoffe, aus welchen die Pflanzen ihre Nahrung bereiten; ſoweit
es bei dem Stand der Chemie um dieſe Zeit möglich war,
ſuchte Mariotte darüber Auskunft zu geben und namentlich
erwarb er ſich das Verdienſt, im Gegenſatz zu der alten ariſtote-
liſchen Vorſtellung, zu beweiſen, daß die Pflanzen die aus dem
Boden aufgenommenen Nahrungsſtoffe in neue chemiſche Ver-
bindungen überführen, daß dagegen die Erde und das Waſſer
den verſchiedenſten Pflanzen dieſelben Nahrungsſtoffe darbieten.
Es konnte aber ſchon damals den Pflanzenphyſiologen nicht ent-
gehen, daß das Waſſer, welches die Pflanzen aus dem Boden
aufnehmen nur ſehr geringe Quantitäten aufgelöſten Stoffes in
ſie einführt. Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts
hatte dies van Helmont ſogar durch einen Vegetationsverſuch
bewieſen, deſſen Ergebniß er aber freilich dahin deutete, daß die
Pflanzen im Stande ſeien, aus Waſſer allein, ſowohl ihre ver-
brennliche, wie ihre unverbrennliche Subſtanz zu erzeugen. Ganz
anders jedoch faßte im Anfang des 18. Jahrhunderts Hales
die Sache auf, indem er durch die Entwicklung der Gaſe bei der
trockenen Deſtillation der Pflanzen zu der Anſicht geführt wurde,
daß ein beträchtlicher Theil der Pflanzenſubſtanz in luftförmiger
Geſtalt aus der Atmoſphäre aufgenommen werde.
In den von Malpighi, Mariotte und Hales auf-
geſtellten Anſichten lagen die weſentlichſten Elemente einer Er-
nährungstheorie der Pflanzen; hätte man ihren Werth erkannt,
ſo hätte ſich aus ihnen die Lehre ziehen laſſen, daß ein Theil der
Pflanzennahrung aus der Erde und dem Waſſer ſtammt, daß
ein anderer aus der Luft entnommen wird, und daß die Blätter
dieſe aufgenommenen Stoffe in der Weiſe verändern, daß daraus
Pflanzenſubſtanz erzeugt und dieſe zum Wachsthum verwendet
wird; dieſe Combination wurde jedoch nicht gemacht, denn in den
folgenden Jahrzehnten beſchäftigte man ſich vorwiegend mit Beob-
[483]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
achtungen, welche über die Art und Weiſe der Saftbewegung
in den Pflanzen Auskunft geben ſollten; da man jedoch die von
Malpighi bereits erkannte Funktion der Blätter überſah, ſo
gelangte man auch in dieſer Beziehung nur zu unklaren und
ſelbſt widerſprechenden Reſultaten. Denn die geſammte Einſicht
nicht nur in die chemiſchen Vorgänge der Pflanzenernährung,
ſondern auch in die Mechanik der Saftbewegung, überhaupt in
den geſammten Haushalt der Pflanze hängt von der Kenntniß
der Thatſache ab, daß nur die chlorophyllhaltigen Zellen, bei
den höheren Pflanzen alſo die vorwiegend aus ſolchen beſtehenden
Blätter im Stande ſind, unter Mithülfe der aus dem Boden
aufgenommenen Stoffe die gasförmige Nahrungsſubſtanz der
Atmoſphäre in Pflanzenſtoffe umzuwandeln. Dieſe Thatſache
iſt für die ganze Ernährungstheorie der Pflanzen von princi-
pieller Bedeutung; ohne ihre Kenntniß iſt die mit der Ernährung
und dem Wachsthum verbundene Stoffbewegung, die Abhängig-
keit der Vegetation vom Licht, und auch zum großen Theil die
Wurzelfunction unerklärlich.
Dieſes Princip der geſammten Ernährungstheorie der Pflanzen
konnte aber erſt aufgefunden werden, als an Stelle der älteren
phlogiſtiſchen Chemie das neue chemiſche Syſtem von Lavoiſier
trat und merkwürdigerweiſe waren es im Weſentlichen dieſelben
Entdeckungen, welche im Lauf der ſiebziger und achtziger Jahre
die Baſis für die neuere Chemie und gleichzeitig für die Be-
gründung der neueren Ernährungslehre der Pflanzen lieferten.
Geſtützt auf Lavoiſier's antiphlogiſtiſche Anſichten über die
Zuſammenſetzung der Luft, des Waſſers, der mineraliſchen Säuren,
gelang es Ingen-Houß zu zeigen, daß alle Pflanzentheile
beſtändig Sauerſtoff aufnehmen und Kohlenſäure bilden, daß
jedoch die grünen Organe unter dem Einfluß des Lichts um-
gekehrt Kohlenſäure aufnehmen und Sauerſtoff dafür ausſcheiden;
und ſchon 1896 hielt es Ingen-Houß für wahrſcheinlich, daß
die Pflanzen die Geſammtmaſſe ihres Kohlenſtoffs aus der
atmoſphäriſchen Kohlenſäure aufnehmen. Bald darauf bewies
Sauſſure (1804), daß die Pflanzen, indem ſie Kohlenſäure
31*
[484]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
zerſetzen, ein größeres Quantum an Gewicht zunehmen, als dem
zurückbehaltenen Kohlenſtoff entſpricht, und daß dies durch die
gleichzeitige Bindung der Beſtandtheile des Waſſers zu erklären
ſei. Ebenſo zeigte er, daß die geringen Quantitäten ſalzartiger
Verbindungen, welche die Pflanzen aus dem Boden aufnehmen,
für ihre Ernährung nothwendig ſind, und wenigſtens wahr-
ſcheinlich konnte er es machen, daß das atmoſphäriſche Stickſtoff-
gas zur Bildung der ſtickſtoffhaltigen Pflanzenſubſtanz Nichts
beiträgt. Schon vorher hatte Senebier beſonders auf die
Thatſache hingewieſen, daß die Zerſetzung der Kohlenſäure unter
dem Einfluß des Lichts nur in grünen Organen ſtattfindet.
So waren von Ingen-Houß, Senebier und Sauſ-
ſure die weſentlichſten Momente der Pflanzenernährung entdeckt.
Wie es aber oft bei Entdeckungen von großer Tragweite zu
gehen pflegt, ſo war auch dieſe lange Zeit ſchweren Mißver-
ſtändniſſen ausgeſetzt; weniger in Frankreich, wo in den zwanziger
und dreißiger Jahren Dutrochet und De Candolle die Be-
deutung des Gasaustauſches der grünen Organe für die Er-
nährung und Athmung im Ganzen richtig zu würdigen wußten;
Anderen aber und ganz beſonders in Deutſchland wurde das
Verſtändniß dadurch getrübt, daß ihnen dieſe einfachen chemiſchen
Vorgänge als Grundlage der geſammten Pflanzenernährung und
ſomit des ganzen Pflanzenlebens nicht genügten; die in den
erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts in Verbindung mit der
Naturphiloſophie ausgebildete Theorie der Lebenskraft, welcher
nicht nur die Philoſophen und Phyſiologen, ſondern auch die
Chemiker und Phyſiker allgemein anhingen, fand es paſſender,
den Pflanzen eine myſteriöſe, vom Leben ſelbſt abſtammende
Subſtanz, den ſogenannten Humus zur Ernährung darzubieten.
Die nächſtliegenden Erwägungen, welche dieſe Humustheorie ſofort
als widerſinnig zurückweiſen konnten, wurden überſehen und ſo
den Ergebniſſen Sauſſure's zum Trotz die Ernährung der
Pflanzen noch einmal, wie es bereits in den früheren Jahrhun-
derten geſchehen war, ganz auf Rechnung des Bodens und der
Wurzeln geſetzt; zu den Conſequenzen der mit der Lebenskraft
[485]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
verbundenen Humustheorie gehörte auch, daß man die Aſchen-
beſtandtheile der Pflanzen entweder nur als zufällige Beimeng-
ungen oder als Reizmittel betrachtete, oder ſie geradezu als Er-
zeugniſſe der Lebenskraft in der Pflanze entſtehen ließ.
In den zwanziger und dreißiger Jahren jedoch begann ſich
bereits von verſchiedenenen Seiten her die Reaction gegen die
Theorie der Lebenskraft zu regen; den Chemikern gelang es,
organiſche Verbindungen, die man früher als die Producte der-
ſelben betrachtet hatte, künſtlich herzuſtellen; Dutrochet entdeckte
in der Endosmoſe einen phyſikaliſchen Vorgang, der geeignet
war, verſchiedene Lebenserſcheinungen der Pflanzen auf phyſika-
liſch mechaniſche Principien zurückzuführen; Sauſſure und
Andere zeigten, daß die Eigenwärme der Pflanzen ein Product
der Sauerſtoffathmung ſei und mit dem Beginn der vierziger
Jahre konnte die frühere Theorie der Lebenskraft als veraltet
und abgethan angeſehen werden. Nun aber kam es darauf an,
die unter ihrem Einfluß und dem der Humustheorie gänzlich
verkannten Reſultate von Ingen-Houß und Sauſſure
wieder in ihr Recht einzuſetzen. Liebig war es, der 1840 die
Humustheorie beſeitigte, den Kohlenſtoff der Pflanzen ganz aus-
ſchließlich auf die atmosphäriſche Kohlenſäure, den Stickſtoffgehalt
derſelben auf das Ammoniak und ſeine Derivate zurückführte,
die Aſchenbeſtandtheile als weſentliche Faktoren der Ernährung
in Anſpruch nahm und von den allgemeinen Geſetzen der Chemie
ausgehend, vorwiegend auf deduktivem Wege einen Einblick in
die chemiſchen Vorgänge der Aſſimilation und des Stoffwechſels
zu gewinnen ſuchte. Erſt in dem Zuſammenhang, den Liebig
den mit der Ernährung verbundenen Erſcheinungen zu geben
wußte, trat jetzt der ganze theoretiſche Werth der von Ingen-
Houß, Senebier und Sauſſure gefundenen Thatſachen
hervor. Es kam nun plötzlich neues Leben in die Ernährungs-
lehre, ein feſter Boden war gewonnen, und unbeirrt durch die
früheren von der Lebenskraft erhobenen Schwierigkeiten galt es
nun, an der Hand der phyſikaliſchen und chemiſchen Kräfte die
Unterſuchung der Ernährungserſcheinungen von Neuem weiterzu-
[486]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
führen. Zunächſt wurde die von Liebig geleugnete Sauerſtoff-
athmung der Pflanzen von Mohl und anderen wieder in ihr
Recht eingeſetzt. Was Liebig über die Herkunft des Stickſtoffs
der Pflanzen und über die Bedeutung der Aſchenbeſtandtheile
geſagt hatte, ſtützte ſich mehr auf allgemeine Betrachtungen und
Wahrnehmungen und auf Berechnungen und mußte nunmehr
durch methodiſch eingeleitete Unterſuchungen, namentlich durch
Vegetationsverſuche im Einzelnen geprüft werden. Ganz vor-
wiegend war es nun Bouſſingault, der im Gegenſatz zu
Liebig's deductivem Verfahren den rein induktiven Weg betrat,
die Methoden für Vegetationsverſuche nach und nach verfeinerte
und bald dahin gelangte, Pflanzen in einem völlig humusfreien
rein mineraliſchen Boden ſo zu kultiviren, daß nicht nur die
Frage nach der Herkunft des Kohlenſtoffs aus der Atmoſphäre,
ſondern auch die Stickſtofffrage definitiv gelöſt wurde. An
ſolchen künſtlich ernährten Pflanzen zeigte Bouſſingault unter
Beachtung aller hier ſo gefährlichen Fehlerquellen, daß der atmo-
ſphäriſche, elementare Stickſtoff für die Ernährung der Pflan-
zen gleichgiltig iſt, daß aber eine normale Vermehrung der ſtick-
ſtoffhaltigen Pflanzenſubſtanz ſtattfindet, wenn die Wurzeln außer
den nöthigen Aſchenbeſtandtheilen ſalpeterſaure Salze aufnehmen.
Abgeſehen von einigen Zweifeln, welche noch bezüglich der
Nothwendigkeit einzelner Aſchenbeſtandtheile, wie des Natrons,
Chlors und der Kieſelſäure beſtehen blieben, wurde ſomit vor
1860 die Herkunft derjenigen Stoffe erkannt, welche ſich bei
dem Chemismus der Pflanzenernährung betheiligen. Was
jedoch über die Vorgänge im Innern der Pflanze, über die
erſte Entſtehung organiſcher Subſtanz bei der Aſſimilation und
über die weiteren Umänderungen derſelben zu Tage trat, blieb
auf Bruchſtücke und Vermuthungen beſchränkt, ohne noch zu einem
abſchließenden Ergebniß zu führen.
[487]Caeſalpin.
1.
Caeſalpin.
Ariſtoteles hatte ſich darüber Rechenſchaft zu geben geſucht,
von welcher Art die Subſtanzen ſind, welche die Pflanzen als
Nahrung aufnehmen und den Satz aufgeſtellt, daß die Nahrung
aller Organismen nicht einfach, ſondern aus Verſchiedenem zu-
ſammengeſetzt ſei. Neben dieſer ganz richtigen Anſicht hegte er
jedoch den Irrthum, daß die Pflanzennahrung ſchon in der Erde,
wie in einem Magen, zum Wachthum vollſtändig vorbereitet
werde, ſo daß auch die Abſcheidung von Exkrementen in den
Pflanzen überflüßig erſcheine; ein Irrthum, der zwar, wie wir
bald ſehen werden, ſchon von Jungius widerlegt wurde, der ſich
aber trotzdem ſelbſt bis ins 18. Jahrhundert hinein vererbte
und ſchließlich noch Du Hamel's Ernährungstheorie vollſtändig
verdarb.
Caeſalpin, in dem wir ſchon früher einen ebenſo geiſtreichen
als treuen Schüler des Ariſtoteles kennen gelernt haben, wandte
ſeine Speculationen weniger der chemiſchen, als der mechaniſchen
Seite der Ernährungsfrage zu, indem er ſich vorwiegend über
die Bewegung des Nahrungsſaftes in den Pflanzen klar zu
werden ſuchte. Ihm ſtand bereits ein reicheres Erfahrungs-
material als ſeinem Meiſter zur Verfügung und gerade deßhalb
iſt es lehrreich, uns mit ſeinen Anſichten näher bekannt zu
machen, weil ſich hier zeigen mußte, in wieweit die alte Philo-
ſophie im Stande war, auch beſſer begründeten Erfahrungen,
als denen des Ariſtoteles, zu genügen. Es wird ſich ſogleich
zeigen, daß ſchon der erſte Anlauf Caeſalpin zu Anſichten führte,
die eigentlich nicht mehr als ſtreng ariſtoteliſch gelten konnten.
Im zweiten Capitel des erſten Buches ſeines uns ſchon be-
kannten Werkes: De plantis libri XVI. 1583 wirft er die
Frage auf, in welcher Weiſe die Anziehung der Nahrung und
die Ernährung der Pflanzen geſchehe. Bei den Thieren ſehen
wir die Nahrung von den Venen zum Herzen hingeführt werden,
[488]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
welches gleichſam die Werkſtätte der Eigenwärme iſt und nach-
dem ſie dort ihre letzte Vollendung erfahren, durch die Arterien
in den ganzen Körper ſich verbreiten; und zwar geſchieht dieß
durch die Thätigkeit derſelben Kraft (spiritus), welche aus der-
ſelben Nahrung im Herzen erzeugt wird. In den Pflanzen
dagegen ſehen wir weder Venen, noch andere Kanäle, noch fühlen
wir irgend eine Wärme derſelben, ſo daß es unbegreiflich er-
ſcheint, aus welchem Grunde die Bäume zu ſo beträchtlicher
Größe heranwachſen, da ſie bei Weitem weniger Eigenwärme als
die Thiere zu haben ſcheinen. Dieſes Räthſel erklärt ſich Caeſal-
pin dadurch, daß bei den Thieren viel Nahrung nöthig ſei zur
Unterhaltung der Sinnesthätigkeiten und der Bewegungen der
Organe. Das größere Quantum der thieriſchen Nahrung ver-
lange auch größere Behälter und das ſeien eben die Venen.
Die Pflanzen dagegen bedürfen deßhalb weniger Nahrung, weil
dieſe eben nur zur Ernährung benutzt werde, und nur zum klein-
ſten Theil zur Erzeugung der inneren Wärme, weßhalb ſie auch
ſtärker wachſen und mehr Früchte erzeugen können, als die Thiere.
Indeſſen fehle den Pflanzen die innere Wärme nicht, obgleich
dieſelbe durch das Gefühl nicht wahrzunehmen ſei; das komme
jedoch nur davon her, daß uns alle Gegenſtände kalt er-
ſcheinen, welche weniger warm ſind, als unſer Gefühls-
organ. Daß übrigens auch die Pflanzen Venen beſitzen,
wenn auch der geringen Nahrungsmenge entſprechend nur
ſehr enge, das beweiſen die milchenden Pflanzen, wie die
Wolfsmilch und der Feigenbaum, welche angeſchnitten wie thieri-
ſches Fleiſch bluten; der hier von Caeſalpin gemachte Zuſatz:
quod et in vite maxime contingit, zeigt, daß er den Milch-
ſaft von dem ausfließenden Waſſer des thränenden Weinſtockes
noch nicht unterſchied. Geſehen können dieſe engen Venen ihrer
Feinheit wegen nicht werden; doch erkenne man in jedem Stengel
und jeder Wurzel Etwas, was gleich den thieriſchen Nerven
der Länge nach ſpaltbar iſt und was man auch Nerven nennt;
oder auch dickere derartige Dinge, die ſich in den meiſten Blättern
verzweigen und hier Venen genannt werden. Dieſe Dinge
[489]Caeſalpin.
ſeien für Nahrungskanäle zu halten, welche den Venen der
Thiere entſprechen; jedoch fehle den Pflanzen ein Venenſtamm,
welcher der vena cava der Thiere entſpräche; vielmehr treten
aus der Wurzel viele und feine Venen in das Herz der Pflanze
(cor = Wurzelhals, vergl. p. 50) und aus dieſem ſteigen ſie
in den Stengel hinauf; denn bei den Pflanzen war es nicht
nöthig, daß die Nahrung in einer gemeinſchaftlichen Höhlung
enthalten ſei, wie im Herzen der Thiere, wo dieß zur Erzeugung
des Spiritus nothwendig iſt, ſondern es genügte bei den Pflanzen,
die Flüſſigkeit durch die Berührung mit der medulla cordis
(im Wurzelhals) zu verändern, ſo wie bei den Thieren eine
derartige Veränderung im Mark des Gehirns oder in der Leber
bewirkt wird; denn auch in dieſen Organen ſind, wie bei den
Pflanzen die Venen ſehr eng.
Da die Pflanzen jeder Sinneswahrnehmung entbehren, ſo
können ſie auch nicht wie die Thiere, ihre Nahrung ausſuchen,
ſondern ſie ziehen die Feuchtigkeit in der Erde auf andere Weiſe
an ſich; es ſei jedoch ſchwer einzuſehen, wie das zugeht. Indem
nun Caeſalpin darüber Rechenſchaft zu geben ſucht, läßt er uns
nicht nur einen Blick in die damals herrſchenden phyſikaliſchen
Vorſtellungen thun; ſondern wir ſehen auch mit Ueberraſchung
den Verſuch zu der phyſikaliſchen Erklärung einer Lebenserſchein-
ung gemacht, der über die ariſtoteliſche Denkweiſe hinausgeht
und zugleich den richtigen Weg einſchlägt. Nicht die ratio
similitudinis, welche das Eiſen zum Magneten hinzieht, könne
die Anziehung des Saftes durch die Wurzel bewirken; denn in
einem ſolchen Falle werde das Kleinere zum Größeren hinge-
zogen; wäre nun die Anziehung der Erdflüſſigkeit durch die
Wurzel ſo zu denken, wie die Anziehung des Eiſens durch den
Magneten, ſo müßte die Erdfeuchtigkeit ihrerſeits den Saft aus
den Pflanzen herausziehen, was doch eben nicht geſchieht. Auch
könne es nicht die ratio vacui; ſein; denn da in der Erde nicht
bloß Feuchtigkeit, ſondern auch Luft enthalten iſt, ſo würde ſich
die Pflanze in Folge dieſes Princips nicht mit Saft, ſondern mit
Luft erfüllen. Nun aber findet Caeſalpin eine dritte Art von
[490]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Urſachen, durch welche Saft in die Pflanzen eingeſogen werden
könnte. Ziehen nicht, ſagt er, manche trockene Dinge ihrer Natur
entſprechend die Flüſſigkeit an, wie z. B. die Leinwand, der
Schwamm und das Pulver, wogegen andere die Flüſſigkeit ab-
ſtoßen, wie manche Vogelfedern und das Kraut Adiantum,
welche auch beim Eintauchen in Waſſer nicht benetzt werden;
jene aber ſaugen viel ein, weil ſie mit dem Waſſer mehr, als
mit der Luft übereinſtimmen; von dieſer Art müſſen nun nach
Caeſalpin diejenigen Theile der Pflanze ſein, deren die ernährende
Seele zur Anziehung der Nahrung ſich bedient. Daher ſeien
dieſe Organe auch nicht wie die Venen der Thiere von einem
continuirlichen Kanal durchſetzt, ſondern eher wie die Nerven aus
einer fädigen Subſtanz gebildet; ſo führe nun die ſaugende Kraft
(bibula natura) die Feuchtigkeit beſtändig nach dem Orte, wo
das Princip der Eigenwärme ſitzt, wie auch an der Flamme
einer Laterne zu ſehen ſei, wo der Docht beſtändig Oel zuführt.
Auch werde durch die äußere Wärme die Anziehung der Feuch-
tigkeit vermehrt, weßhalb die Pflanzen im Frühjahr und Sommer
kräftiger wachſen.
Daß Caeſalpin aber nicht die entfernteſte Ahnung von der Be-
deutung der Blätter für die Ernährung der Pflanzen hatte, geht
unzweifelhaft aus ſeiner Wiederholung des ariſtoteliſchen Satzes
hervor, daß die Blätter nur zum Schutz der jungen Sproſſe und
Früchte gegen Luft und Sonnenlicht zu betrachten ſind, ein Satz,
der offenbar nicht durch Speculation gewonnen war, ſondern
direct aus den Weingärten eines von heißem Sonnenſchein ge-
troffenen Landes ſtammte.
2.
Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte für die
Theorie der Pflanzenernährung.
Was Ariſtoteles und ſeine Schule, auch Caeſalpin nicht
ausgenommen, über die Lebensäußerungen der Pflanzen zu ſagen
wußten, ſtützte ſich auf die alltäglichen Wahrnehmungen, deren
[491]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
keine bezüglich ihrer thatſächlichen Richtigkeit kritiſch genauer ge-
prüft war und die Mehrzahl der phyſiologiſchen Sätze war über-
haupt nicht aus Beobachtungen an Pflanzen abgeleitet, ſondern
aus philoſophiſchen Principien und vorwiegend aus Analogieen
mit den Thieren.
Sollte eine wiſſenſchaftliche Behandlung der Ernährungslehre
zu Stande kommen, ſo mußte vor Allem das Erfahrungsmaterial
bereichert und kritiſch behandelt werden. Es bedurfte, um hier-
bei ſofort auf Widerſprüche gegen die alte Philoſophie zu ſtoßen,
nicht einmal ſchwieriger Beobachtungen oder Experimente; es ge-
nügte vielmehr, die Dinge ſich etwas genauer anzuſehen und
unbefangener aufzufaſſen, als es die Alten gethan hatten.
Auf dieſe Art kam ſchon Jungius dazu, einem wichtigen
Punct der ariſtoteliſchen Ernährungslehre zu widerſprechen. Im
zweiten Fragment ſeiner de plantis doxoscopiae physicae
minores findet ſich eine Bemerkung, welche offenbar gegen den
ariſtoteliſchen Satz, daß die Pflanzen ihre Nahrung völlig zube-
reitet aus der Erde aufnehmen und daher auch keine Excremente
von ſich geben 1), gerichtet iſt. Die Pflanzen, ſagt Jungius in
Uebereinſtimmung mit Ariſtoteles, ſcheinen einer denkenden Seele
(anima intelligente), welche die zuträgliche Nahrung von der
unzuträglichen zu unterſcheiden wüßte, nicht zu bedürfen. Ari-
ſtoteles hatte ihnen eben deßhalb die völlig zubereitete Nahrung
ſchon in der Erde entſtehen laſſen. Ganz anders faßt Jungius,
geſtützt auf thatſächliche Wahrnehmungen, die Sache auf. Zu-
nächſt ſei es möglich, ſagt er, daß die aufſaugenden Oeffnungen
der Wurzeln ſo organiſirt ſind, daß ſie nicht jede Art von Saft
eintreten laſſen und wer wolle ſagen, daß die Pflanzen die Eigen-
thümlichkeit beſäßen, überhaupt nur das ihnen Nützliche anzu-
ziehen, denn ſie haben ebenſo, wie die anderen lebenden Weſen
ihre Ausſcheidungen, welche durch Blätter, Blüthen und Früchte
ausgehaucht werden. Zu dieſen rechnet er aber auch die Harze
[492]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
und ſonſtigen austretenden Flüſſigkeiten und endlich könne es
geſchehen, daß wie bei den Thieren, ein großer Theil des Saftes
durch unmerkliche Ausdunſtung entweiche.
Nach der Anſicht des Ariſtoteles war die Pflanze ſelbſt bei
ihrer Ernährung ganz paſſiv und unthätig; da ihr die vollkom-
men zubereitete Nahrung von der Erde dargeboten wurde, ſo
war das Wachsthum gewiſſermaßen ein bloßer Kryſtalliſations-
proceß ohne chemiſche Veränderung. Mit dem Hinweis auf die
Bildung von Exkreten ſchrieb Jungius dagegen der Pflanze eine
chemiſche Thätigkeit zu, und die Annahme, daß die Organiſation
der Wurzel ſchon den Eintritt gewiſſer Stoffe hindert, den an-
derer begünſtigt, räumte er der Pflanze eine Mitwirkung bei ihrer
Ernährung ein, ohne daß ſie dazu einer denkenden Seele be-
durfte.
In noch viel ſchärferem Gegenſatz zur ariſtoteliſchen Lehre
ſtellte ſich ein Zeitgenoſſe des Jungius, der Arzt und Chemiker
Johann Baptiſt van Helmont1). Indem er die vier Elemente der-
ſelben überhaupt verwarf, betrachtete er als einen Hauptbeſtandtheil
aller Dinge das Waſſer; namentlich ließ er aus dieſem alle
Beſtandtheile der Vegetabilien, ſowohl die verbrennlichen, wie
auch die mineraliſchen derſelben (die Aſche) entſtehen. Während
alſo Ariſtoteles die Beſtandtheile der Pflanzen ſchon fertig vor-
gebildet durch das Waſſer eingeführt werden ließ, ſchrieb van
Helmont im Gegentheil der Pflanze die Fähigkeit zu, aus Waſſer
die allerverſchiedenſten Stoffe zu erzeugen. Es wäre nicht gerade
nöthig, auf dieſen, dem alchymiſtiſchen Standpunct entſprungenen
Widerſpruch gegen die alte Lehre hinzuweiſen, wenn nicht van
Helmont verſucht hätte, ſeine Anſicht experimentell zu begründen;
es kam ſo der erſte zu wiſſenſchaftlichem Zweck unternommene
Vegetationsverſuch zu Stande, von dem wir überhaupt Nachricht
haben, der auch noch von viel ſpäteren Pflanzenphyſiologen
[493]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
vielfach citirt und theoretiſch ausgebeutet wurde. Er brachte in
einen Topf ein Quantum Erde, welches ſcharf getrocknet 200
Pfund wog; ein Weidenzweig von 5 Pfund Gewicht wurde
hineingepflanzt, der Topf durch einen Deckel vor Staub geſchützt
und täglich mit Regenwaſſer begoſſen. Nach fünf Jahren fand
ſich, daß die Weide groß und ſtark geworden war und um
164 Pfund an Gewicht zugenommen hatte, obgleich die Erde im
Topf wieder getrocknet nur einen Verluſt von zwei Unzen ergab.
Aus dem Erfolg dieſes Verſuches ſchloß van Helmont, daß die
beträchtliche Gewichtszunahme der Pflanze ganz auf Koſten des
Waſſers erfolgt ſei, daß alſo auch die vom Waſſer ganz ver-
ſchiedenen Pflanzenſtoffe aus dieſem entſtanden ſeien.
Die von Jungius und van Helmont gegen die ariſtoteliſche
Lehre erhobenen Einwürfe blieben indeſſen zunächſt vereinzelt
und unfruchtbar. Von ganz anderer Seite her erhielt jedoch
die Pflanzenphyſiologie einen Anſtoß zu neuen Forſchungen, der
noch bis tief in das 18. Jahrhundert hinein nachwirkte. Dieſen
Anſtoß gab die Aufſtellung des Satzes, daß in den Pflanzen
nicht bloß ein von den Wurzeln aufgenommener Nahrungsſaft
zu den Blättern und Früchten emporſteige, ſondern daß auch eine
entgegengeſetzte Bewegung desſelben in der Rinde ſtattfinde.
Dieſer Gedanke trat jedoch von vornherein in zwei Modificationen
auf. Die einen nahmen, offenbar geſtützt auf die Analogie des
Blutkreislaufs in den Thieren an, daß auch in den Pflanzen ein
wirklicher Kreislauf des Saftes ſtattfinde; andere dagegen be-
gnügten ſich mit der Annahme, daß, während im Holz der von
den Wurzeln aufgenommene wäſſrige Saft emporſteigt, in der
Rinde, den Milchſaftgefäßen und Harzgängen ein zubereiteter
wachsthumsfähiger Saft ſich bewege. Beide Anſichten wurden
ſpäter vielfach verwechſelt und indem man die erſtere widerlegte,
glaubte man auch die andere beſeitigt zu haben. Es ſcheint, daß
der aus Breslau ſtammende Arzt Johann Daniel Major1),
[494]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
1)
Profeſſor in Kiel, 1665 zuerſt den Gedanken ausgeſprochen habe,
daß in den Pflanzen ähnlich wie in den Thieren ein Kreislauf
des Nahrungsſaftes ſtattfinde. Die etwaige nähere Begründung
ſeiner Hypotheſe iſt mir jedoch nicht bekannt, da mir ſeine be-
treffende Schrift unzugänglich geblieben iſt. Gewiß iſt aber,
daß ſeit dieſer Zeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die
Circulation der Pflanzenſäfte ein Lieblingsthema geblieben iſt,
mehr für diejenigen, welche ſie bekämpfen, als für die, welche
ſie vertheidigen wollten.
Der beſſere Gedanke, daß nicht nur überhaupt eine rück-
läufige Bewegung von Stoffen gegen die Wurzel hin ſtattfinde,
daß vielmehr die Blätter die Organe ſind, welche die zum Wachs-
thum nöthigen Stoffe aus dem ihnen zugeführten Rohmaterial
erzeugen, wurde ſchon 1771 von Malpighi in Form einer
wohldurchdachten Theorie [ausgeſprochen]. In ſeiner anatomes
plantarum idea vom genannten Jahr widmet er die letzten
Seiten einer kurzen Darſtellung der Ernährungstheorie, wie er
ſich dieſelbe zurecht gelegt hatte. Als die Leitungsorgane des
von den Wurzeln aufgenommenen Nahrungsſaftes betrachtete
Malpighi die faſerigen Beſtandtheile des Holzes, wogegen er
die Gefäße desſelben als luftführende Organe in Anſpruch nahm,
die er wegen ihrer Aehnlichkeit mit den Tracheen der Inſekten
auch zuerſt als Tracheen bezeichnete. Woher die Luft in ihnen
komme, ob ſie von den Wurzeln aus der Erde, oder von den
Blättern aus der Atmoſphäre aufgenommen werde, blieb ihm
zweifelhaft, da es ihm nicht gelang, weder dort noch hier Oeff-
nungen zum Eintritt der Luft aufzufinden; doch hielt er es für
wahrſcheinlicher, daß die Luft von den Wurzeln aufgenommen
werde, weil dieſe reich an Tracheen ſind und die Luft ohnehin
[495]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
ein Streben habe, aufwärts zu ſteigen. Neben jenen Flüſſigkeit
führenden Faſern und den luftführenden Tracheen des Holzes
betonte er aber auch die Exiſtenz beſonderer Gefäße, welche bei
manchen Pflanzen eigenartige Säfte führen, wie die Milchgefäße,
Gummi- und Terpentingänge.
Bezüglich der Bewegung der Säfte hebt er hervor, daß ſich
die Richtung derſelben umkehren laſſe, weil umgekehrt gepflanzte
Sproſſe an ihrem organiſch oberen Ende Wurzeln in die Erde
austreiben und zu Bäumen heranwachſen; wenn dieſe auch
immerhin weniger kräftig gedeihen, ſo beweiſe das Experiment
doch, daß die Bewegung des Nahrungsſaftes in umgekehrter
Richtung ſtattfinde.
Nach dieſen vorbereitenden Bemerkungen geht er zu dem
Nachweis über, daß die rohen Nahrungsſäfte erſt in den Blättern
diejenige Veränderung erfahren, durch welche ſie zur Unterhaltung
des Wachsthums befähigt werden. Die Art, wie Malpighi
zu dieſer Anſicht gelangt, iſt ebenſo einfach wie originell. Die
Cotyledonen der Keimpflanzen erkennt er als ächte Blätter (in
leguminibus seminalis caro, quae folium est conglobatum),
was beſonders bei dem Kürbiß, wo die Cotyledonen zu großen
grünen Blättern auswachſen, einleuchte. Durch die Keimwurzel
wird denſelben Flüſſigkeit zugeführt, von den in ihnen enthaltenen
Stoffen aber geht ein Theil in die Keimknoſpe, um dieſe zum
Wachsthum zu veranlaſſen, denn ihr Wachsthum unterbleibt,
wenn die Cotyledonen weggenommen werden; da dieſe letzteren
nun Blätter ſind, ſo folgert Malpighi, daß auch alle übrigen
Blätter zu dem Zweck vorhanden ſind, damit der in ihren Zellen
enthaltene Nahrungsſaft, den die Holzfaſern herbeigeführt haben,
daſelbſt zubereitet werde (excoquatur). Die in den zahlreichen
Anaſtomoſen der Faſern auf ihrem langen Wege gemiſchte Feuch-
tigkeit, werde in den Blättern durch die Kraft der Sonnenſtrahlen
verändert und mit dem in den Zellen ſchon vorhandenen Safte
gemiſcht, wodurch eine neue Verbindung der Beſtandtheile hervor-
gebracht wird, indem zugleich Transſpiration ſtattfindet, was er
mit gewiſſen Vorgängen im Blut der Thiere vergleicht.
[496]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Man ſieht, wie nahe Malpighi's Anſicht über die Be-
deutung der Blätter für die Ernährung an die Wahrheit ſtreift,
in der That ſo nahe, als es bei dem damaligen Zuſtand chemi-
ſcher Kenntniſſe überhaupt möglich war. Malpighi erweiterte
dieſe Anſicht jedoch, geſtützt auf anatomiſche Ergebniſſe und wenn
er dabei auch etwas ganz Richtiges traf, daß nämlich das Rinden-
parenchym ähnlich dem der Blätter wirke, ſo ging er freilich zu
weit, wenn er auch das farbloſe, bloß zur Aufbewahrung aſſimi-
lirter Stoffe dienende Parenchym dem der Blätter gleichſetzte.
Er ſagt nämlich, man müſſe nun auch eine den Blattzellen ähn-
liche Natur den entſprechenden Zellen der Rinde und denjenigen
zuſchreiben, welche im Holz transverſal gelagert ſind (den Mark-
ſtrahlen und Rindenſtrahlen), es ſei nicht irrationell, daß in
dieſen Schläuchen die Pflanzennahrung zubereitet und aufbewahrt
werde. Indem er Zubereitung und bloße Aufbewahrung nicht
ſcharf ſondert, ſchreibt er eine ähnliche Funktion, wie den
Blättern, auch dem Parenchym des Fruchtfleiſches und der Zwiebel-
ſchalen zu; aus dem Austreiben abgehauener Baumſtümpfe
und anderer Pflanzentheile ſchließt er, daß ſie mit Reſerveſtoffen
gefüllt ſind (asservato humore turgent).
Daß die Gefäße des Holzes weſentlich luftführende Organe
ſind, daß in den Blättern der rohe Nahrungsſaft erſt für das
Wachsthum vorbereitet, daß ſolcher Saft in verſchiedenen Theilen
aufbewahrt wird, während die faſerigen Elemente des Holzes
die von der Wurzel aufgenommenen rohen Nahrungsſtoffe bis
in die Blätter hinaufführen, das waren alſo die weſentlichen
Puncte in Malpighi's Ernährungstheorie vom Jahre 1671.
Von einer Circulation der Säfte, welche der Blutcirculation ver-
gleichbar wäre, findet ſich hier Nichts, obgleich ihm ſpäter viel-
fach eine ſolche Anſicht untergeſchoben wurde. Davon geben
auch noch die weiteren Betrachtungen Malpighi's Zeugniß;
während er nicht zweifelhaft darüber war, in welchen Elementar-
organen der aufſteigende Nahrungsſaft ſich bewege, mußte er
ſich auf bloße Vermuthungen beſchränken, betreffs der Wege, auf
denen der im Zellgewebe der Blätter, der Rinde und überhaupt
[497]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
des Parenchym's zubereitete Nahrungsſaft fortgeführt werde.
Ueber die Richtung aber war er nicht im Zweifel, er nahm viel-
mehr an, daß dieſer Saft ſowohl abwärts durch den Stamm in
die Wurzeln dringe, als auch aufwärts in den Zweigen oberhalb
der Blätter und zu den Früchten hin; Malpighi hatte ſomit
eine richtigere Vorſtellung von der Bewegung der aſſimilirten
Stoffe als die Mehrzahl ſeiner Nachfolger, welche den ſehr un-
paſſenden Ausdruck: „abſteigender Saft“ einführten. Er hielt es
ferner für wahrſcheinlich, daß der zubereitete Nahrungsſaft in
den Baſtbündeln fortgeleitet werde, 1) ohne jedoch einen continuir-
lichen Zu- und Abfluß zu haben (absque perenni et consi-
derabili fluxu et refluxu); daß er in den Milchſaftgefäßen
gewiſſermaßen ſtagnire und je nach Bedürfniß, durch Trans-
ſpiration und äußere Einflüſſe veranlaßt, zuweilen auch in höhere
Theile ſich bewege, wodurch Wachsthum und Ernährung unter-
halten wird. Auch dieſe letzteren Bemerkungen ſind beſſer als
Vieles, was im 18., ſelbſt im 19. Jahrhundert über die Saft-
bewegung der Pflanzen geſagt worden iſt und jedenfalls beweiſen
ſie, daß es ein großes Mißverſtändniß war, wenn, wie es ſpäter
häufig geſchah; Malpighi als ein Vertheidiger der Saftcircu-
lation im Sinne Major's bezeichnet wurde.
Malpighi hat ſeine, ſchon 1671 im Zuſammenhang kurz
dargeſtellte Theorie in der ausführlicheren Bearbeitung der Phy-
totomie von 1674 im Einzelnen weiter begründet; namentlich
legte er Werth auf ſeine Entdeckung, daß die Pflanzen gleich den
Thieren der Luft zur Athmung bedürfen und daß die Gefäße
des Holzes den Tracheen der Inſekten und den Lungen der
übrigen Thiere ihrer Function nach entſprechen. Ebenſo kommt
er wiederholt auf die Bedeutung der Blätter als der Zubereitungs-
organe des Nahrungsſtoffes zurück.
Wenn man Malpighi's Ernährungstheorie der Pflanzen
mit den Anſichten ſeiner Vorgänger vergleicht, ſo muß man an-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 32
[498]Geſchichte der Sexualtheorie.
erkennen, daß hier etwas ganz Neues geſchaffen war, woran die
ariſtoteliſche Lehre keinerlei Antheil mehr hatte. Hätten Mal-
pighi's Nachfolger das Weſentlichſte und Wichtigſte ſeiner Lehre
begriffen und ſich beſtrebt, durch Experimente an der lebenden
Pflanze ſie durch neue Thatſachen zu ſtützen und zu klären, ſo
wäre man von zahlreichen Irrthümern und Verirrungen, welche
ſich ſpäter einniſteten und die Ernährungslehre zu einem wahren
Chaos von Mißverſtändniſſen machten, verſchont geblieben. Mit
dem ſchon mehrerwähnten Mißverſtändniß, als ob Malpighi,
ähnlich wie Major und ſpäter Perrault eine continuirliche
Circulation der Pflanzenſäfte angenommen habe, mußte ſich noth-
wendig eine unrichtige Auffaſſung der Blattfunction verbinden;
ja dieſe letztere wurde ſpäter vielfach ganz vernachläſſigt oder
vorwiegend in der Transſpiration geſucht, indem man ihre
chemiſche Arbeit ganz überſah.
In Malpighi's Ernährungstheorie iſt von der chemiſchen
Natur der pflanzlichen Nahrungsſtoffe kaum die Rede; ſie be-
ſchäftigt ſich weſentlich mit der Bedeutung der Organe für die
Hauptmomente der Ernährung; ihre Grundlagen ſind vorwiegend
anatomiſcher Natur. Grew, der im Weſentlichen Malpighi's
Theorie adoptirte, ohne ſie jedoch durch ſeine weitläufigen Dis-
kuſſionen über einzelne Fragepuncte zu fördern, verſuchte zwar
die chemiſche Seite der Pflanzenernährung weiter zu kultiviren;
indem er dabei jedoch ganz in der Anſchauungsweiſe der Car-
teſianiſchen Corpusculartheorie ſich bewegte und die chemiſchen
Vorgänge ſo zu ſagen conſtruirte, dabei aber das principiell
Wichtige meiſt überſah, gelang es ihm nicht, Etwas zu Tage zu
fördern, was für die weitere Entwicklung der Ernährungslehre
förderlich ſein konnte. Gerade in dieſer Beziehung aber ſind
die Ideen eines Mannes von großem Intereſſe, deſſen Namen
gegenwärtig nur Wenige in der Geſchichte der Pflanzenphyſiologie
ſuchen werden. Es iſt Mariotte1), der Entdecker des bekannten
[499]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
Geſetzes der Gaſe, einer der bedeutendſten Phyſiker in der letzten
Hälfte des 17. Jahrhunderts, der auch die menſchliche Phyſio-
logie mit werthvollen Entdeckungen bereichert hat. Uns iſt ein
Brief Mariotte's an einen Herrn Lantin vom Jahre 1679
erhalten, der ſich in den Oeuvres de Mariotte (Leyden 1717)
unter dem Titel: Sur le sujet des plantes, als ziemlich um-
fangreiche Abhandlung vorfindet. Es iſt in hohem Grade lehr-
reich, aus dieſem Briefe zu erfahren, wie einige Jahre nach
Malpighi's epochemachendem Werk und ungefähr gleichzeitig
mit der Herausgabe von Grew's Phytotomie einer der be-
rühmteſten und geiſtreichſten Phyſiker über die chemiſchen Vor-
gänge und Bedingungen der Pflanzenernährung dachte. Daß
Mariotte dabei nur ganz nebenſächlich und oberflächlich auf
die feinere Struktur der Pflanzen Rückſicht nimmt, iſt beinahe
ſelbſtverſtändlich; dafür entſchädigt uns aber die Hervorhebung
des principiell Wichtigen und Neuen, was ſich damals über die
chemiſche Seite der Ernährungsvorgänge der Pflanzen ſagen ließ.
Ueber die „Elemente“ oder „Principien“ der Pflanzen ſtellt
Mariotte drei Hypotheſen auf, deren erſte in der Annahme
liegt, daß es viele unmittelbare Principien (princips grossiers
et visibles, offenbar was wir nähere Beſtandtheile nennen
würden) der Pflanzen giebt, wie das Waſſer, den Schwefel oder
das Oel, das gemeine Salz, den Salpeter, das flüchtige Salz
oder Ammoniak, einige Erden u. ſ. w.; und daß dieſe unmittel-
baren Beſtandtheile ſelbſt wieder zuſammengeſetzt ſind aus drei
oder vier einfacheren Principien, die ſich mit einander verbunden
haben; der Salpeter z. B. habe ſein Phlegma oder geſchmack-
loſes Waſſer, ſeinen Spiritus, ſein fixes Salz u. ſ. w.; ebenſo
habe das gemeine Salz dieſelben Beſtandtheile und man könne
mit viel Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß auch dieſe einfacheren
1)
32*
[500]Geſchichte der Sexualtheorie.
Principien noch aus einigen, unter ſich verſchiedenen Theilen
zuſammengeſetzt ſind, die jedoch ihrer Kleinheit wegen durch kein
Mittel der Kunſt, ihrer Figur oder ſonſtigen Eigenſchaften nach,
zu erkennen ſind. Nachdem er weiter gezeigt, wie ſich gewiſſe
Principien mit einander verbinden, fährt er fort, er wolle den-
ſelben durchaus nicht etwa ein Bewußtſein (connaissance) zu
ſchreiben, durch welches ſie ſich zu vereinigen ſuchen; er glaube
vielmehr, daß ſie eine natürliche Dispoſition beſitzen, ſich reciprok
gegen einander zu bewegen und in Folge deſſen ſich genau zu
verbinden, ſobald ſie einander berühren; obgleich es ſehr ſchwierig
ſei, die Art dieſer Dispoſition zu beſtimmen, genüge es doch zu
wiſſen, daß ſich in der Natur viele Beiſpiele derartiger Beweg-
ungen finden: ſo bewegen ſich die ſchweren Körper gegen das
Centrum der Erde, das Eiſen gegen den Magneten; und dieſe
Bewegungen ſeien kaum ſchwieriger zu begreifen, als die der
Planeten in ihren Kreiſen oder diejenigen der Sonne um ihre
eigene Axe, oder die Bewegung des Herzens in einem lebenden
Thiere. Mit dieſer erſten Hypotheſe ſtellt ſich Mariotte, im
Gegenſatz zu der damals noch vielfach unter Botanikern und
Phyſiologen herrſchenden ariſtoteliſchen Lehre mit ihren Entelechieen
und Zweckbegriffen, ganz auf den Boden der modernen Natur-
wiſſenſchaft mit ihrer atomiſtiſchen Grundlage und der Annahme
nothwendig wirkender Anziehungskräfte.
Mariotte's zweite Hypotheſe betrifft nun im Specielleren
die chemiſche Natur der Pflanzen ſelbſt; er nimmt an, daß
mehrere ſeiner principes grossiers in jeder Pflanze enthalten
ſind und zunächſt ſucht er die Herkunft derſelben nachzuweiſen:
die Luftſtäubchen, ſagt er, die durch den Blitz verbrannt, nach
Schwefel riechen, werden von meteoriſchem Waſſer in die Erde
geführt und nebſt Theilen derſelben in die Pflanze aufgenommen.
Ferner ergebe die Deſtillation bei allen Pflanzen Waſſer, welches
die Chemiker Phlegma nennen, außerdem Säuren und Ammoniak,
und wenn man den Deſtillationsrückſtand verbrennt, ſo bleibe
Aſche übrig, aus der man eine geſchmackloſe, in Waſſer nicht
lösliche Erde und fixe Salze gewinnt, die ſich unter einander
[501]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
durch Mengung von mehr oder weniger ſaurem und ammoniaka-
liſchem Geiſt oder anderer unbekannter Principien, die das Feuer
nicht verflüchtigen konnte, unterſcheiden. Man brauche ſich nicht
zu wundern, daß man dieſe Principien in den Pflanzen finde,
da dieſe ihre Nahrung aus der Erde ziehen, welche dieſelbe ent-
hält. — Man ſieht, wie groß der Fortſchritt auf dieſem Gebiet
ſeit der Zeit war, wo van Helmont durch ſeinen Vegetationsver-
ſuch glaubte bewieſen zu haben, daß alle Pflanzenſtoffe aus
reinem Waſſer entſtehen.
Aber noch galt es, einer damals verbreiteten Anſicht über
die Herkunft der Pflanzenſtoffe entgegen zu treten, welche eben-
falls noch aus dem Inventar der ariſtoteliſchen Begriffe übrig
geblieben war. Man nahm nämlich an, daß die Stoffe, aus
denen die Pflanze ſich aufbaut, ſchon als ſolche in der Erde
enthalten ſind und nur einfach von den Wurzeln aufgenommen
zu werden brauchen. Ariſtoteles ſelbſt hatte ausdrücklich geſagt:
„Alles ernährt ſich von dem, woraus es beſteht, und Alles er-
nährt ſich von Mehrerem; auch was ſich nur von Einem zu
nähren ſcheint, wie die Pflanzen von Waſſer, ernährt ſich von
Mehrerem, denn Erde iſt mit dem Waſſer gemiſcht; daher auch
die Landleute mit Miſchungen zu begießen pflegen.“ Dieſer Satz
könnte noch Zweifel übrig laſſen, wenn wir nicht noch den andern
fänden: „Wieviel Geſchmäcke in den Fruchthüllen, ſoviel walten
offenbar auch in der Erde. Daher auch viele der alten Phyſio-
logen ſagten, ſovielartig ſei das Waſſer, wie der Boden, durch
den es rinne.“ 1) Dieſe Sätze zuſammengehalten mit den ſchon
früher citirten zeigen, daß Ariſtoteles die zum Wachsthum der
Pflanzen nöthigen Stoffe, wie auch bereits früher hervorgehoben,
fertig gebildet aus der Erde in die Pflanzen gelangen ließ, eine
Anſicht, die ſich nicht nur bis auf Mariotte's Zeit erhalten
hat, ſondern ſogar jetzt noch bei phyſiologiſch Ungebildeten
fortlebt. Es iſt nun intereſſant zu ſehen, wie Mariotte das
[502]Geſchichte der Sexualtheorie.
Unzutreffende, ja Gedankenloſe dieſer Auffaſſung ſchlagend dar-
thut, ohne dabei irgend eine neue Entdeckung zu Hülfe zu nehmen.
In ſeiner dritten Hypotheſe nämlich behauptet er, daß die Salze,
Erden, Oele u. ſ. w., welche die verſchiedenen Pflanzenarten
durch die Deſtillation ergeben, immer dieſelben ſind, und daß
die Unterſchiede nur von der Art der Vereinigung dieſer prin-
cipes grossiers und ihrer einfachſten Theile oder auch von ihrer
Trennung herrühren, was er folgendermaßen beweiſt: Wenn man
eine Bonchretien-Biene auf eine wilde pfropft, ſo erzeugt der-
ſelbe Saft, der auf der letzteren ſchlechte Birnen bringt, auf dem
Pfropfreis gute wohlſchmeckende Birnen. Pfropfe man auf letz-
teres wieder ein Reis der Waldbirne, ſo trage dieſes abermals
ſchlechte Früchte. Dieſes zeige nun, daß derſelbe Saft des
Stammes in jedem Pfropfreis verſchiedene Eigenſchaften annimmt.
Noch ſchlagender aber iſt ſein Nachweis dafür, daß die Pflanzen
ihre Subſtanz nicht direct aus der Erde nehmen, ſondern ſie durch
chemiſche Prozeſſe ſelbſt erzeugen. Nehmt einen Topf, ſagt er,
mit 7-8 Pfund Erde und ſäet in dieſe eine ganz beliebige
Pflanze; ſie wird in dieſer Erde und in dem darauf gefallenen
Regenwaſſer alle Principien vorfinden, aus denen ſie bei der
Reife zuſammengeſetzt iſt. Man kann jedoch 3000 oder 4000
verſchiedene Pflanzenarten in dieſe Erde ſäen; wenn nun ihre
Salze, Oele, Erden bei jeder Pflanzenſpecies von verſchiedener
Art wären, ſo müßten alle dieſe Principien in dem kleinen
Quantum Erde und Regenwaſſer, welches in drei bis vier Mo-
naten darauf fällt, enthalten ſein, was unmöglich iſt; denn jede
dieſer Pflanzen würde im reifen Zuſtand wenigſtens ein Gros
fixes Salz und zwei Gros Erde ergeben und alle dieſe Principien
zuſammen mit denen, welche mit dem Waſſer gemengt ſind,
würden wenigſtens zwei bis drei Unzen wiegen, was multiplicirt
mit der Zahl von 4000 Pflanzenarten ein Gewicht von 500
Pfund ergeben würde.
Dieſe Erwägungen ſtützen ſich ebenſo, wie die des Jungius
und in der Hauptſache auch die des Malpighi auf Thatſachen,
die dem Alterthum im Ganzen ebenſogut, wie dem 17. Jahr-
[503]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
hundert bekannt waren; nur hatte ſich eben früher Niemand mit
derartigen Erwägungen befaßt, welche an ſich vollkommen hin-
reichten, die ariſtoteliſche Lehre von der Pflanzenernährung zu
beſeitigen.
Im zweiten Theil ſeines Briefes beſchäftigt ſich Mariotte
mit den von der Ernährung abhängigen Vegetationserſcheinungen;
den Nährkörper des Samens vergleicht er mit dem Dotter der
Thiere; den Eintritt des Waſſers in die Wurzel mit dem Steigen
desſelben in capillaren Röhren; der Milchſaft wird als Nahrungs-
ſaft aufgefaßt, der mit dem arteriellen Blut zu vergleichen ſei,
während die anderen wäſſrigen Säfte dem venöſen entſprechen.
Ganz neu iſt aber, was Mariotte über den Saftdruck ſagt;
er weiſt auf den hohen Druck hin, unter welchem der Saft in
den Pflanzen ſteht, und folgert daraus, daß in der Pflanze Ein-
richtungen vorhanden ſein müſſen, welche dem Waſſer zwar den
Eintritt, nicht aber den Austritt geſtatten. Das Vorhandenſein
des Saftdruckes ſelbſt wird an dem Ausquellen verletzter Milch-
ſaftpflanzen treffend demonſtrirt und mit dem Druck verglichen,
unter welchem das Blut in den Adern ſteht. Nicht minder tref-
fend iſt Mariotte's weitere Folgerung, daß der Saftdruck
die Wurzeln, Zweige und Blätter ausdehne, alſo zu ihrem
Wachsthum beitrage. Der Saft, ſetzt er hinzu, würde nicht
unter dieſem Drucke ſtehen können, wenn er nicht durch Poren
einträte, welche ihm den Rücktritt verwehren. In dieſen Be-
merkungen lagen die erſten Keime theoretiſcher Betrachtungen
über das Wachsthum der Pflanzen, denen wir in etwas anderer
Form noch einmal bei Hales begegnen werden, die aber bei
der geringen Entwicklung der Phytotomie einer weiteren Aus-
bildung noch nicht fähig waren und erſt von mir wieder, wenn
auch von anderen Geſichtspuncten ausgehend, aufgenommen
worden ſind.
Daß der primäre Saft nicht nur durch die Wurzeln, ſon-
dern auch durch die Blätter eindringe, ſchloß Mariotte daraus,
daß der eine Zweig eines größeren Aſtes einige Tage lang friſch
bleibt, wenn der andere Zweig desſelben in Waſſer taucht, ein,
[504]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
wie die Zukunft lehrte, nicht ganz gerechtfertigter Schluß. Was
er über die Nothwendigkeit des Sonnenlichts zur Ernährung
über das Reifen der Früchte und Anderes ſagt, ſtützt ſich auf
ſehr unvollſtändige Erfahrung und kann hier übergangen werden.
Das Charakteriſtiſche und Bedeutende in Mariotte's
Ernährungstheorie der Pflanzen iſt der entſchiedene Gegenſatz
ſeines naturwiſſenſchaftlichen Standpunctes gegen die damals noch
viel verbreiteten, ariſtoteliſchen und ſcholaſtiſchen Anſichten und
in dieſem Sinne erklärt er auch der ariſtoteliſchen Pflanzenſeele
den Krieg. Seine Betrachtungen über dieſe knüpft er an die ihn
in Verwunderung ſetzende Thatſache, daß jede Pflanzenart ihre
Eigenſchaften ſo genau fortpflanzt; durch die Annahme einer
Pflanzenſeele, von der man nicht wiſſe, was ſie ſei, werde für
die Erklärung Nichts gewonnen. Ebenſo entſchieden aber ſpricht
er ſich auch gegen die ſchon damals verbreitete Evolutionstheorie
aus. Gegenüber der Annahme, daß in den Pflanzenſamen ſchon
alle künftigen Generationen in einander geſchachtelt ſeien, findet
er es viel wahrſcheinlicher, daß ſie nur die weſentlichen Stoffe
enthalten und daß durch deren Einwirkung auf den rohen Nahr-
ungsſaft die übrigen Pflanzenſtoffe ſucceſſive entſtehen, was wir
auch jetzt noch als durchaus zutreffend gelten laſſen dürfen. In-
dem Mariotte den ganzen Ernährungs- und Lebensprozeß der
Pflanzen als ein Spiel phyſiſcher Kräfte, als Vereinigung und
Trennung einfacher Stoffe betrachtet, glaubt er nun auch, als
nothwendige Folgerung aus dieſer Annahme die damals allgemein
angenommene Urzeugung phyſikaliſch beweiſen zu können. Hier
machte ſich jedoch der Mangel hinreichender und kritiſch geſichteter
Erfahrung geltend, denn er hielt es für einen Beweis der Ge-
neratio spontanea, wenn aus dem Boden trocken gelegter Sümpfe
und ausgeworfener Gräben zahlreiche Pflanzen hervorſproſſen.
„Man kann alſo annehmen, ſagt er, daß es in der Luft, im
Waſſer und in der Erde unendlich viele Körperchen giebt, welche
ſo geartet ſind, daß zwei oder drei durch ihre Verbindung den
Anfang einer Pflanze bilden können und den Samen einer ſolchen
darſtellen, wenn ſie eine ihrem Wachsthum günſtige Erde vorfinden.
[505]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
Es ſei aber nicht glaublich, daß dieſer kleine Complex alle Zweige,
Blätter, Früchte und Samen dieſer Pflanze ſchon enthalte und
noch weniger, daß in dieſem Samen ſchon alle die Zweige,
Blätter, Blüthen u. ſ. w. enthalten ſeien, welche in infinitum
aus dieſer erſten Keimung hervorgehen.“ Als Beweis dagegen
führt er an, daß aus den Blüthenknoſpen eines Roſenſtockes
nach völliger Entlaubung desſelben im nächſten Jahr nur Laub-
ſproſſe hervorkamen, daß alſo die Blüthen in jenen Knoſpen
nicht präformirt geweſen ſeien und dasſelbe ſei daraus zu folgern,
daß die Samen eines und desſelben Obſtbaumes oder einer
Melone durch Variation verſchiedene Nachkommen erzeugen, ein
Beweis gegen die Evolutionstheorie, der viel zutreffender iſt,
als das Meiſte, was vor Koelreuter's Baſtardirungen gegen
dieſelbe geſagt wurde.
Auch anderen Vorurtheilen ſeiner Zeit trat Mariotte
mit guten Gründen entgegen. Die ſogenannten virtutes der
Pflanzen, d. h. ihre mediciniſchen Wirkungen, ſpielten damals
nicht nur in der Botanik, ſondern noch mehr in der Medicin
und Chemie eine große Rolle. Nach Abfertigung der alten
Theorie von Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit,
welche den Pflanzen als weſentlich immanente Eigenſchaften ihrer
Subſtanz zugeſchrieben wurden, und aus welchen man ihre ver-
mutheten mediciniſchen Wirkungen erklärte, weiſt er darauf hin,
daß Giftpflanzen in demſelben Boden neben unſchädlichen wachſen,
woraus zu folgern ſei, daß, wie er ſchon vorher bewieſen, die
verſchiedenen Pflanzen ihre eigenthümlichen Stoffe nicht direct
aus dem Boden aufnehmen, ſondern ſie durch Trennung und
Vereinigung der allgemeinen Principien erſt erzeugen. Schließlich
erklärte er ſich auch noch gegen einen der gröbſten aus dem 16. Jahr-
hundert ſtammenden Irrthümer, gegen die signatura plantarum,
nach welcher man die mediciniſche Wirkſamkeit der Pflanzen aus
ganz äußerlichen Merkmalen, zumal aus Aehnlichkeiten ihrer
Organe mit Organen des menſchlichen Körpers glaubte ableiten
zu können. Mariotte dringt darauf, daß man die medicini-
[506]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſchen Wirkungen der Pflanzen durch experimentirende Anwendung
derſelben an Kranken konſtatire.
Mariotte's Brief, deſſen weſentlichſten Inhalt ich hier
mitgetheilt habe, giebt uns ein lebhaftes Bild von den in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über das Pflanzenleben
verbreiten Anſichten und zeigt zugleich, wie ein hervorragender
Naturforſcher, der ſich auf die Principien der neueren Philoſophie
ſtützte und die bekannten Thatſachen ſcharfſinnig zu verwenden
wußte, jenen veralteten, auf Vorurtheil und Gedankenloſigkeit
beruhenden Irrthümern entgegentrat. Nehmen wir, was Mal-
pighi vorwiegend auf phytotomiſchen Grundlagen über die
innere Oekonomie der Pflanzen ſagte, zuſammen mit den chemiſch
phyſikaliſchen Erörterungen Mariotte's, ſo haben wir eine
vollkommen neue Theorie der Pflanzenernährung, welche der
ariſtoteliſchen nicht nur gänzlich entgegengeſetzt, ſondern auch durch
einen viel größeren Reichthum an Gedanken und durch ſcharf-
ſinnigere Combination als dieſe ausgezeichnet iſt.
In der That hatten Malpighi und Mariotte alle
diejenigen Principien der Ernährungstheorie aufgefunden, welche
bei dem damaligen Zuſtand der Phytotomie und Chemie über-
haupt gefunden werden konnten; namentlich hatte es Mariotte
verſtanden, aus den ſchwankenden chemiſchen Kenntniſſen ſeiner
Zeit gerade das Beſte zur Erklärung der Vegetationserſcheinungen
zu benutzen. Wie wenig die Chemie damals noch im Einzelnen
zur Erklärung der Ernährungsvorgänge der Pflanzen beitragen
konnte, zu einer Zeit, wo ſie eben erſt anfing, ſich aus den Vor-
urtheilen der Jatrochemie frei zu machen, um dem Phlogiſton
anheimzufallen, wie wenig die Methoden gerade zur Unterſuchung
organiſcher Körper damals noch ausgebildet war, darüber findet
man viel Belehrendes in einem kleinen 1676 und zum zweiten
Mal 1679 herausgegebenem Buche: Mémoires pour servir à
l'histoire des plantes, welches zwar von Dodart herausge-
geben, aber von ſämmtlichen Mitgliedern der Pariſer Akademie
zuſammengeſtellt und gebilligt worden iſt. Es enthält nicht
Unterſuchungsreſultate, ſondern ein ausführliches Programm, nach
[507]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
welchem das Pflanzenreich allſeitig, namentlich auch chemiſch
unterſucht werden ſollte. Da heißt es z. B., man müſſe die
Pflanzen langſam verbrennen, damit die zerſtörende und ver-
wandelnde Gewalt des Feuers weniger Einfluß übe, auch ſpielen
die virtutes plantarum eine große Rolle in der chemiſchen
Unterſuchung der Pflanzen und mit Blut miſchte man Pflanzen-
ſäfte, um ihre Wirkungen zu erfahren! Noch 1685 leitete ein
gewiſſer Dedu in einer Abhandlung: De l'âme des plantes
die Erzeugung und das Wachsthum der Pflanzen aus der Gährung
und dem Aufbrauſen der Säuren mit den Laugenſalzen her, wie
Kurt Sprengel berichtet. Erſt durch den Vergleich mit dieſen
und ähnlichen Anſichten erkennt man die ganze hervorragende
Bedeutung deſſen, was Malpighi und Mariotte über die
Ernährung der Pflanzen ſagten und noch mehr zeigt ſich ihr
Scharfſinn darin, daß ſie Manches nicht ſagten, weil ſie es
offenbar für unbegründet hielten.
Malpighi's und Mariotte's Anſichten über die Pflan-
zenernährung wurden von ihren Zeitgenoſſen und Nachfolgern
zwar vielfach citirt und beachtet; wie es aber leider bis auf die
neuere Zeit gewöhnlich der Fall war, wurde auch ſchon damals
das principiell Wichtige und Bedeutende über Nebendingen über-
ſehen oder die Anſichten dieſer klar denkenden Männer mit un-
beſtimmten Vorſtellungen und mißverſtandenen Thatſachen ver-
mengt, ſo daß längere Zeit ein wirklicher Fortſchritt nicht ſtatt-
fand, wenn auch immerhin verſchiedene neue Thatſachen bekannt
wurden. Es wurde ſchon früher hervorgehoben, daß Mal-
pighi's richtige Anſicht von der Bedeutung der Blätter für die
Ernährung ſpäter gewöhnlich mit Major's Circulationstheorie
für gleichbedeutend genommen wurde und da man die letztere
aus verſchiedenen Gründen für unzutreffend hielt, ſo glaubte
man damit auch Malpighi's Anſicht beſeitigt zu haben. Denen
gegenüber, welche in den Pflanzen ausſchließlich einen im Holz
aufſteigenden Saft annahmen, verdiente aber ſelbſt die Circula-
tionstheorie im Sinne Major's noch den Vorzug, da ſie doch
wenigſtens geeignet war, gewiſſen Wachsthumserſcheinungen Rech-
[508]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
nung zu tragen. Einen neuen Vertreter fand dieſelbe nun in
Claude Perrault 1680, der jedoch wie es ſcheint 1) den bündigen
Argumenten Malpighi's für die Exiſtenz eines rückkehrenden
Saftes weſentlich Neues nicht hinzufügte. Noch weniger gelang
es aber ſeinem Gegner Magnol in einer 1709 publicirten,
ſehr ſchwachen Abhandlung etwas Stichhaltiges gegen die Circu-
lationstheorie, die er auch dem Malpighi zuſchrieb, zu ſagen.
Unter den Vegetationserſcheinungen der Holzpflanzen iſt
kaum eine andere ſo auffallend, wie das Ausfließen wäſſrigen
Saftes aus verwundeten Weinſtöcken und manchen Baumſtämmen
im Frühjahr. Es konnte nicht fehlen, daß dieſe Erſcheinung
ebenſo wie das Ausfließen des Milchſaftes, des Gummi's, der
Harze u. ſ. w. von Denen mit lebhaftem Intereſſe beachtet wurde,
welche ſich im 17. Jahrhundert mit den Vegetationserſcheinungen
beſchäftigten. Sind die Bewegungen des Waſſers im Holz, der Milch-
ſäfte u. ſ. w. in ihren Kanälen auch nicht nothwendige Begleiter
der Ernährung der Pflanzen überhaupt, ſo lag es in jener Zeit
doch nahe, gerade in ihnen auffallende Beweiſe der mit der Er-
nährung zuſammenhängenden Saftbewegung zu finden und ſie
in dieſem Sinne zu unterſuchen. Auch konnte es ſcheinen, als
ob es ſich hier um ein leicht zu löſendes Problem handle, denn
erſt eine ſpätere Zeit lehrte, daß gerade hier die ſchwierigſten
Fragen der Pflanzenphyſiologie ſich aufthun. Von dem lebhaften
Intereſſe an dieſen Dingen giebt uns eine Reihe brieflicher Mit-
theilungen Auskunft, welche in den Philosophical transactions
vom Jahr 1670 enthalten ſind 1) und von Dr.Tonge, Francis
Willoughby und beſonders von Dr. Martin Lifter herrühren,
Es war jedoch gerade diejenige Erſcheinung, welche ſo recht dazu
angethan iſt, das Verſtändniß der Waſſerbewegungen in den
[509]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
Holzpflanzen irre zu führen, nämlich das ſogenannte Bluten der
Bäume im Winter, dem dieſe Männer ihr Intereſſe vorwiegend zu-
wandten. Dieſes Bluten des Holzes im Winter, welches von ganz
weſentlich anderen Urſachen abhängt, als das Thränen des Wein-
ſtocks und anderer Holzpflanzen im Frühjahr, wurde mit eben dieſer
Erſcheinung für identiſch gehalten und ſo eine arge Begriffsver-
wirrung angerichtet. Zwar zeigte Martin Liſter, daß man im kalten
Winter an abgeſchnittenen Aſtſtücken durch künſtliche Erwärmung
Waſſer aus dem Holz austreiben und dann durch Abkühlung
dasſelbe wieder einſaugen laſſen kann, aber erſt einem neueren
Pflanzenphyſiologen gelang es, den Nachweis zu liefern, daß
dieſe Erſcheinung mit dem durch den Wurzeldruck verurſachten
Bluten abgeſchnittener Stöcke Nichts zu thun hat und zur Er-
klärung desſelben nicht benutzt werden kann.
John Ray, der im erſten Band ſeiner historia plan-
tarum 1693 Alles, was man über die Ernährung der Pflanzen
bis dahin wußte, überſichtlich und recht verſtändig darſtellte,
theilte auch einige von ihm ſelbſt gemachte Erfahrungen über
die Bewegungen des Waſſers im Holze mit. Dem Sprachge-
brauche Grew's folgend, der den aufſteigenden Saft im Holz
als Lymphe und dem entſprechend die Holzfaſern als Lymphgefäße
bezeichnete, hob Ray ausdrücklich hervor, daß die Lymphe nament-
lich im Frühjahr weder in Geſchmack noch Conſiſtenz von ge-
meinem Waſſer zu unterſcheiden ſei. Mit Grew ſtimmte er
auch darin überein, daß um dieſe Zeit die Lymphe auch die
ächten Gefäßröhren des Holzes erfülle und auf Querſchnitten aus
ihnen hervorquelle, während ſie im Sommer mit Luft gefüllt
ſind und die Lymphe zur Zeit der ſtarken Transſpiration der
Holzpflanzen nur in den Lymphgefäßen, d. h. in den faſerigen
Elementen des Holzes und Baſtes emporſteige. Durch geeignete
Einſchnitte in das Holz bewies Ray, daß die Lymphe auch ſeit-
wärts durch das Holz ſich bewegen könne; auch hatte er den
guten Gedanken, die Meinung derer, welche in den Hohlräumen
des Holzes, namentlich in den Gefäßen, Klappen annahmen, die
den Rücktritt der Lymphe verhindern ſollten, dadurch zu wider-
[510]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
legen, daß er Waſſer durch beiderſeits abgeſchnittene Aſtſtücke in
den entgegengeſetzten Richtungen hindurchfiltriren ließ. Schwach
war dagegen, was er über die mechaniſchen Urſachen der Waſſer-
bewegung im Holz zu ſagen wußte.
Ueberhaupt wurde die Kenntniß derartiger Vegetationsvor-
gänge erſt einige Jahrzehnte ſpäter durch Hales beträchtlich ge-
fördert. Bevor wir jedoch auf deſſen bedeutende und dieſen
Zeitraum abſchließende Leiſtung übergehen, iſt noch von einigen
minder wichtigen Schriften zu berichten. Ziemlich unbedeutend
war, was Woodward und Beale über die Transſpiration
und Waſſeraufnahme im Intereſſe der Ernährungstheorie mit-
theilten. Des Erſteren Angabe, daß eine in Waſſer wachſende
Mentha in drei Monaten ſechsundvierzigmal ſoviel Waſſer auf-
nahm und durch die Blätter verdunſtete, als ſie in ſich ſelbſt
zurückhielt, war vielleicht das Bedeutendſte, was er an Thatſäch-
lichem zu Tage förderte, wogegen ſeine eigenen Folgerungen daraus
nichts Brauchbares darboten.
Keine von Malpighi's Lehren hatte ihrerzeit ſoviel Auf-
ſehen gemacht, wie die, daß in den Spiralgefäßen des Holzes
ähnlich wie in den Tracheen der Inſekten die zur Athmung der
Pflanzen nöthige Luft ſich bewege; während ihm Grew und
ſpäter Ray in der Hauptſache beiſtimmten, wagte dagegen ſein
Landsmann Sbaraglia 1704 ſogar die Exiſtenz derartiger
Gefäße zu leugnen und bald gerieth die Phytotomie ſo ſehr
in Verfall, daß die Frage, ob es überhaupt Gefäße, oder wie
man es damals nannte, Spiralgefäße gebe, wiederholt bald be-
jaht und bald verneint wurde, und ſchließlich fand man es
zweckmäßiger im Intereſſe der phyſiologiſchen Fragen, ſtatt des
Mikroſkops, das Experiment zu Rathe zu ziehen. So verſuchte
ſchon 1715 Nieuwentyt mit Hülfe der Luftpumpe die in den
Gefäßen enthaltene Luft unter Flüſſigkeit in ſichtbarer Weiſe
austreten zu laſſen. Wie ſchon früher bei anderen Gelegenheiten
begegnen wir nun auch hier wieder als einem eifrigen Vertreter
der Pflanzenphyſiologie in Deutſchland, dem Philoſophen Chriſtian
Wolff, der in dem dritten Theil ſeines Werkes: „Allerhand nütz-
[511]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
liche Verſuche u. ſ. w.“ 1721 unter Anderem auch Verſuche
mittheilte, welche die Gegenwart der Luft in den Pflanzen be-
ſtätigten; denn dieß war bei dem damaligen Zuſtand der Phyſik
und Chemie von größerem Intereſſe, als die anatomiſche Beſchaffen-
heit der die Luft führenden Organe. Wolff hatte in luftfreiem
Waſſer liegende Blätter dem Vacuum der Luftpumpe ausgeſetzt
und Luftblaſen namentlich auf der Unterſeite austreten ſehen;
wenn er aber den atmoſphäriſchen Druck wieder einwirken ließ,
ſo infiltrirten ſich die Blätter mit Waſſer, und das Gleiche fand
er an Tannenholz, welches nach der Infiltration unterſank.
Gleiche Verſuche mit Aprikoſenfrüchten ließen Luft aus der Haut,
beſonders aber aus dem Stiel derſelben austreten. Auch Wolff's
Schüler Thümmig beſchrieb in ſeiner „gründlichen Erläuterung
der merkwürdigſten Begebenheiten in der Natur“ 1723 ähnliche
Verſuche und beide blieben in dieſer Frage, wie überhaupt in
ihren phyſiologiſchen und phytotomiſchen Anſichten treue An-
hänger Malpighi's, das Verſtändigſte, was man damals
thun konnte. Bei Chriſtian Wolff müſſen wir hier jedoch
noch länger verweilen, da er einige Jahre ſpäter die ge-
ſammte Ernährungslehre in überſichtlicher und populärer Form
behandelte. Wolff's Verdienſte um die Verbreitung der Natur-
wiſſenſchaft in Deutſchland ſcheinen bisher weniger, als billig,
gewürdigt worden zu ſein; ſeine verſchiedenen, zum Theil
recht umfangreichen und theilweiſe auf eigene Unterſuchung ge-
ſtützten naturwiſſenſchaftlichen Werke waren in hohem Grade
inhaltreich und für ihre Zeit ſehr belehrend; ſie trugen dazu bei,
einer freieren Geiſtesrichtung die Bahn zu brechen, in einer
Zeit, wo ſelbſt unter denen, welche wiſſenſchaftliche Abhandlungen
in der deutſchen Akademie der Wiſſenſchaften (den Akten der
Leopoldina) veröffentlichten, noch kraſſer Aberglaube herrſchte,
wie der der Palingeneſie. Wenn auch Wolff's eigene natur-
wiſſenſchaftliche Unterſuchungen mehr guten Willen als Geſchick
verriethen, ſo hatte er doch vor vielen Anderen eine bedeutende
philoſophiſche Bildung voraus; an abſtractes Denken gewöhnt,
gelang es ihm leicht, das prinzipiell Wichtige aus den Erfahr-
[512]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ungen Anderer von dem Nebenſächlichen und Unbedeutenden
abzuſondern und ſo die naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe ſeiner
Zeit von höheren Geſichtspuncten aus darzuſtellen. In dieſer
Beziehung iſt beſonders ſein 1723 erſchienenes Werk: „Ver-
nünftige Gedanken von den Wirkungen der Natur“ anerkennend
hervorzuheben. Es iſt, was man jetzt eine Art „Kosmos“
nennen könnte: Es handelt von den Körpern [und] ihren phyſi-
ſchen Eigenſchaften überhaupt, von den Weltkörpern im Allge-
meinen, von unſerem Planeten im Beſonderen, von Meteorologie,
phyſiſcher Geographie, und endlich von Mineralien, Pflanzen
Thieren und Menſchen. Seinem Hauptzweck, der allgemeinen
Belehrung, entſprechend iſt es deutſch und in gut populärem
Stil geſchrieben unter Benutzung des Beſten, was damals von
naturwiſſenſchaftlichen Dingen bekannt war, ſo namentlich auch
ſeine Darſtellung der Ernährungsverhältniſſe der Pflanzen, wo
er die ganze einſchlägige Literatur ſorgfältig und mit Verſtänd-
niß benutzte und alles Brauchbare aus Malpighi, Grew,
Leeuwenhoek, van Helmont, Mariotte u. ſ. w. zu einer
zuſammenhängenden Lehre von der Ernährung der Pflanze ver-
ſchmolz, wobei auch gelegentliche, treffend kritiſche Bemerkungen
nicht fehlen. Bei dem Zuſtand der naturwiſſenſchaftlichen Literatur
in Deutſchland während der erſten Jahrzehnte des vorigen Jahr-
hunderts lag in einer ſolchen zuſammenfaſſenden und orientiren-
den Behandlung ebenſoviel Verdienſtliches, wie in neuen Unter-
ſuchungen oder in einigen Entdeckungen von untergeordnetem
Werth. Für uns aber hat gerade hier Chriſtian Wolff's Capitel
über die Ernährung namentlich auch inſofern Intereſſe, als in
demſelben noch manche, damals ſchon bekannte, bisher aber nicht
erwähnte Wahrnehmungen von Werth mitgetheilt ſind. Die-
ſelben beziehen ſich vorwiegend auf die chemiſche Seite der Er-
nährungsvorgänge und berühren manche Probleme, die ihre Er-
ledigung erſt in unſerer Zeit gefunden haben; ſo z. B. die An-
gabe, es ſei eine bekannte Sache: „daß die Erde ihre Fruchtbar-
keit verliert, wenn Vieles daraus wächſt; ſonderlich was viel
Nahrung erfordert, und man daher nöthig hat, dieſelbe entweder
[513]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
mit Miſt oder Aſche zu düngen“; worin wir alſo bereits die
Frage nach der Erſchöpfung des Bodens und die Lehre vom
Wiedererſatz der durch die Ernten entnommenen Bodenſtoffe in
Kürze angedeutet finden. „Abſonderlich ſei bekannt, fährt Wolff
fort, wie der Salpeter das Erdreich fruchtbar mache; Valle-
mont habe den Nutzen des Salpeters gerühmt und andere
Sachen angeführt, die wegen ihrer ſalzigten und öligten Theil-
chen eine gleiche Wirkung haben, wie das Horn von Hörnern
und Klauen der Thiere; der Miſt habe gleichfalls ſalzige und
öligte Theilchen in ſich, die auch der Aſche nicht fehlen,
und man ſehe daran, daß auch ſolche Theilchen nicht fehlen
dürften, wenn eine Pflanze durch das Waſſer ernährt werden
ſoll. Dasſelbe zeige auch der Same, der die erſte Nahrung
der Pflanze bei ſich führt, maßen keiner zu finden, der nicht
Oel und Salz enthält, dergeſtalt, daß ſich aus vielen das
Oel herauspreſſen läßt; man finde auch in allen Pflanzen
Oele und Salz, wenn man ſie chemiſch unterſucht.“ Mit
Nachdruck hebt Wolff auch den von Malpighi und Ma-
riotte begründeten Gedanken hervor, daß in der Pflanze
ſelbſt die eingetretenen Nährſtoffe chemiſch verändert werden
müſſen. Da eine jede Pflanze, ſagt er, ihr beſonderes Salz
und ihr beſonderes Oel habe, ſo werde man leicht zugeben,
daß dasſelbe erſt in der Pflanze erzeugt, aber keineswegs hinein-
gebracht wird. Weil aber gleichwohl die Pflanzen nicht wachſen
können, wo die Erde ihnen keine ſalzige, ſonderlich ſalpetrigte
Theilchen gewähren kann, ſo müſſen dieſe doch dazu dienen, daß
die Salze und Oele in der Pflanze erzeugt werden und abſon-
derlich auch dazu erforderlich ſeien, daß das Waſſer in einen
Nahrungsſaft verwandelt wird. Weiterhin weiſt er auf die in
der Luft ſchwebenden ſalpetrigten, ſalzigen und öligten Theile
hin und auch die tägliche Erfahrung zeige, daß von verweſenden
Körpern das Meiſte in die Luft geht und wenn man das Licht
durch eine enge Oeffnung in einen finſteren Ort laſſe, könne
man auch eine große Menge Stäubchen herumfliegen ſehen; das
Waſſer aber nehme Salz und Erde leicht an ſich und die mi-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 33
[514]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
neraliſchen Brunnen bezeugen, daß ſich auch metalliſche Theilchen
damit vermengen. Derowegen ſei wohl auch kein Zweifel, daß
nicht auch das Regenwaſſer mit allerhand Materie vermiſcht ſein
ſollte, welche es den Pflanzen zuführt. Indem Wolff weiterhin
noch einmal auf die nothwendig anzunehmende chemiſche Ver-
änderung der Nährſtoffe in den Pflanzen hinweiſt, knüpft er
daran Betrachtungen über die Organe, in denen dies geſchieht,
wobei er ſich eng an Malpighi anſchließt: In Röhren, ſagt
er, könne dergleichen Aenderung nicht vorgehen, denn darin ſteige
der Saft bloß in die Höhe oder hernieder. Derowegen bleibe
wohl Nichts übrig als die ſchwammigte Materie (das Zellgewebe)
darinnen der Nahrungsſaft zubereitet werden könne und vertreten
demnach die Bläschen oder ſogenannten utriculi die Stelle des
Magens; die Veränderung aber, welche mit dem Waſſer vorgeht,
könne nur darin beſtehen, daß die Theilchen verſchiedener Materie
die im Regenwaſſer anzutreffen ſind, von demſelben geſchieden
und auf eine beſondere Art mit einander vereinigt werden, welches
ohne beſondere Bewegungen nicht geſchehen kann. Wolff's Vor-
ſtellungen von dieſen Saftbewegungen aber ſind ziemlich unklar.
Als bewegende Kräfte nimmt er die Ausdehnung der Luft und
die Capillarität der Holzröhren in Anſpruch. Entſchieden ſtellte
er ſich auf die Seite derer, welche außer dem aufſteigenden rohen
Nahrungsſaft auch einen rückkehrenden annahmen, in welcher Be-
ziehung er ſich jedoch auf Major, Perrault, und Mariotte,
ſtatt auf Malpighi beruft; gleich dieſem aber hebt er das
Wachsthum umgekehrt gepflanzter Bäume als Beweis hervor,
daß die Säfte in den leitenden Organen ſich in entgegengeſetzten
Richtungen bewegen können und mit Mariotte ſchreibt er die
Vergrößerung wachſender Organe der Auseinandertreibung durch
die eindringenden Säfte zu.
Nicht nur dieſe wohlgemeinten Beſtrebungen Chriſtian
Wolff's, ſondern Alles, was ſeit Malpighi und Mariotte
bis auf Ingen-Houß in der Ernährungslehre der Pflanzen
geſchah, wurde tief in den Schatten geſtellt durch die glänzenden
[515]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
Unterſuchungen von Stephan Hales1), in denen noch einmal
der originelle Erfindungsgeiſt und die geſunde, urwüchſige Logik
der großen Naturforſcher aus Newton's Zeitalter hervortrat.
Seine Statical essays, welche 1727 zuerſt erſchienen, kamen
noch zweimal engliſch, ſpäter in franzöſiſcher, italieniſcher und
deutſcher Ueberſetzung (dieſe mit einem Vorwort von Ch. Wolff)
heraus. Es war das erſte umfangreichere, ganz der Ernährung
und Saftbewegung der Pflanzen gewidmete Werk, welches, die
bisherige Literatur zwar beachtete, doch weſentlich nur neue
Unterſuchungen des Verfaſſers mittheilte. Eine Fülle neuer Ex-
perimente und Beobachtungen, Meſſungen und Berechnungen ver-
einigte ſich hier zu einem lebensvollen Bild. Hatte Malpighi
vorwiegend durch Analogien und geſtützt auf die Struktur der
Organe die phyſiologiſche Bedeutung derſelben zu entziffern ge-
ſucht, Mariotte durch ſeine Combination phyſikaliſcher und
chemiſcher Thatſachen die Abhängigkeit der Pflanze von ihrer
Umgebung in ihren Grundzügen erkannt; ſo wußte Hales
dagegen die Pflanzen gewiſſermaßen ſelbſt reden zu laſſen; durch
klug ausgedachte, geſchickt angeſtellte Experimente zwang er ſie,
die in ihnen thätigen Kräfte durch augenfällige Wirkungen zu
verrathen, und ſo zu zeigen, daß in den ruhigen, anſcheinend
ganz paſſiven und unthätigen Vegetationsorganen bewegende
33*
[516]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Kräfte ganz beſonderer Art thätig ſind. Ganz durchdrungen von
dem Geiſt des Newton'ſchen Zeitalters, welcher trotz einer
ſtreng teleologiſchen, ja theologiſchen Naturauffaſſung doch alle
Lebenserſcheinungen mechaniſch, durch Anziehung und Abſtoßung
materieller Theilchen zu erklären ſuchte, begnügte ſich Hales
auch nicht damit, die Vegetationserſcheinungen überhaupt nur
anſchaulich zu machen, ſondern er ging darauf aus, ſie auf die
damals bekannten mechaniſch-phyſikaliſchen Geſetze zurückzuführen.
So wurde das von ihm geſammelte Erfahrungsmaterial durch
geiſtvolle Reflexionen belebt, die einzelnen Thatſachen an
allgemeinere Betrachtungen geknüpft. Es konnte nicht fehlen,
daß ein ſolches Buch großes Aufſehen machte und ſelbſt für uns
iſt es noch eine Quelle vielfacher und werthvoller Belehrung im
Einzelnen, wenn wir auch immerhin die Geſammtheit der Vege-
tationserſcheinungen in einen anderen Zuſammenhang bringen,
als Hales.
Den lebhafteſten Anklang fanden ſeine Unterſuchungen über
die Transpiration und Waſſerbewegung im Holz. Er maß die
von den Wurzeln aufgeſogenen, von den Blättern ausgehauchten
Waſſermengen, verglich dieſe mit dem in der Erde enthaltenen
Vorrath an Feuchtigkeit, ſuchte die Geſchwindigkeit zu berechnen,
mit der das Waſſer im Stamm aufſteigt, und dieſe zu vergleichen
mit der Geſchwindigkeit ſeines Eintritts in die Wurzeln und
ſeines Austritts aus den Blättern. — Beſonders auffallend und
lehrreich waren die Experimente, durch welche er die Größe der
Saugkraft des Holzes und der Wurzel, ſo wie die des Wurzel-
druckes der blutenden Weinrebe demonſtrirte. Die von ihm an-
geſtellten Meſſungen und die Zahlen, die er ſeinen Berechnungen
zu Grunde legte, waren keineswegs ſo genau, wie ſpäter viel-
fach geglaubt wurde; er ſelbſt aber ging auch vielmehr darauf
aus, runde, ungefähre Zahlen zu gewinnen, die unter den ge-
gebenen Umſtänden durchaus genügende Grundlagen zur Auf-
ſtellung gewiſſer Sätze gewährten, die damals neu waren und
eine gewiſſe Einſicht in den Haushalt der Pflanze ermöglichten
und gerade in dieſem Verfahren verrieth ſich der geniale Experi-
[517]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
mentator; denn an lebenden Körpern laſſen ſich nicht, wie an
Metallen und Gaſen Conſtanten aufſuchen, die man allgemeinen
Rechnungsformeln einſchalten könnte, und bei deren Aufſtellung
daher die äußerſte Genauigkeit geboten iſt; vielmehr handelt es
ſich bei Meſſungen an Pflanzen immer um individuelle Einzel-
fälle, aus denen durch richtige Deutung die allgemeinen Geſetze
der Vegetation zu gewinnen ſind.
Um zu zeigen, daß die in der Pflanze thätigen Saug- und
Druckkräfte nicht sui generis ſind, ſondern auch von lebloſer Ma-
terie geltend gemacht werden, daß hier ein Fall der allgemeinen
Anziehung der Materie vorliege, worauf man damals beſonders
achtete, ließ Hales Waſſer auch von feinporigen Körpern auf-
ſaugen, und maß er die Kraft, womit dieß geſchieht. Dieſe
Vorgänge aber verglich er mit der Kraft, welche quellende Erbſen
auf Widerſtände ausüben und ſo gewann er ein richtigeres Bild
der bei der Waſſerbewegung in der Pflanze thätigen Kräfte, als
die Capillarität von Glasröhren gewährte, die Mariotte und
Ray zur Verſinnlichung derſelben benutzten.
Indem Hales den Werth von Malpighi's Betrachtungen
über die Bedeutung der Blätter unterſchätzte, und ſich durch
die Ausgiebigkeit der Waſſerverdunſtung verführen ließ, dieſer
eine zu große phyſiologiſche Wichtigkeit beizumeſſen, ſah er in
den Blättern weſentlich nur Transſpirationsorgane, die wie
Saugpumpen den Saft aus den Wurzeln durch den Stamm
emporziehen. Dem entſprechend läugnete er auch die Exiſtenz
eines in der Rinde abſteigenden Saftes und nur inſofern ließ
er eine rückläufige Bewegung zu, als Nachts in Folge der Ab-
kühlung der aufſteigende Saft des Holzes ſinken könne, wie das
Queckſilber in einem Thermometer. Das war der ſchwache
Punct bei Hales.
Eine ſeiner bedeutendſten Leiſtungen iſt auch in neuerer
Zeit überall überſehen worden; wohl deshalb, weil ſie von
ſeinen Nachfolgern im 18. Jahrhundert gänzlich vernachläſſigt
wurde; es iſt der von ihm zuerſt bewieſene Satz, daß zum
Aufbau des Pflanzenkörpers, zur Bildung ſeiner feſten Sub-
[518]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſtanz, die Luft mitwirkt, daß gasförmige Beſtandtheile in großer
Maſſe zur Ernährung der Pflanzen beitragen; daß alſo weder
das Waſſer, noch die von ihm aus der Erde mitgenommenen
Beſtandtheile allein das Material zum Aufbau der Pflanze liefern,
wie man bis dahin allgemein annahm. Er zeigte zunächſt,
beſſer als Niewentyt und Wolff, mit Hilfe der Luftpumpe,
daß die Luft nicht nur durch die Blätter, ſondern auch durch die
Oeffnungen der Rinde in die Pflanzen eintreten und ſich in den
Hohlräumen des Holzes bewegen kann. Dieß brachte er nun
in Verbindung mit der von ihm durch zahlreiche Verſuche feſt-
geſtellten Thatſache, daß aus Pflanzenſubſtanz durch Gährung
und trockene Deſtillation große Quantitäten von „Luft“ gewonnen
werden; dieſe durch Gährung und Hitze frei werdende Luft mußte
ſeiner Anſicht nach während der Vegetationszeit der Pflanze
condenſirt, in einen feſten Zuſtand übergeführt worden ſein. Wir
finden ſagt er (im 7. Cap.) durch die chemiſche Analyſe (trockene
Deſtillation) der Vegetabilien, daß ihre Subſtanz aus Schwefel,
flüchtigem Salz, Waſſer und Erde zuſammengeſetzt iſt; dieſe
Principien ſind ſämmtlich mit gegenſeitiger Anziehungskraft (ihrer
Theile) begabt. In die Zuſammenſetzung der Pflanze tritt aber
auch Luft ein, welche im feſten Zuſtand mächtig anziehend, im
elaſtiſchen jedoch mit größter Kraft abſtoßend wirkt. Durch un-
endlich verſchiedene Combinationen, Actionen und Reactionen
dieſer Principien nun werden alle Thätigkeiten in thieriſchen und
pflanzlichen Körpern bewirkt. Bei der Ernährung iſt die Summe
der anziehenden Kräfte größer, als die der abſtoßenden, wodurch
zunächſt ſchleimige (viscid ductile), endlich aber, indem das
Waſſer verdunſtet, harte Theile erzeugt werden. Wenn dieſe
jedoch wieder Waſſer einſaugen, und dadurch die abſtoßenden
Kräfte das Uebergewicht gewinnen, dann wird der Zuſammen-
halt der vegetabiliſchen Theile aufgehoben, ſo daß ſie durch dieſe
Fäulniß wieder befähigt werden, neue vegetabiliſche Producte zu
erzeugen; daher kann das Capital von Nahrungsſtoff in der
Natur niemals erſchöpft werden; dieſe nämlich iſt dieſelbe bei
[519]Erſte inductive Verſuche und Eröffnung neuer Geſichtspuncte etc.
Thieren und Pflanzen und geeignet, durch eine kleine Veränderung
der Textur die Einen oder die Anderen zu ernähren.
Aus ſeinen Experimenten folge, fährt er fort, daß die
Blätter bei der Ernährung der Pflanzen ſehr nützlich ſind, inſo-
fern ſie Nahrung aus der Erde heraufziehen, ſie ſcheinen jedoch
noch zu anderen edlen und wichtigen Dienſten geeignet; ſie laſſen
das überflüſſige Waſſer abdunſten und halten deſſen nahrhafte
Theile zurück, indem ſie auch ihrerſeits Salz, Salpeter u. ſ. w.
auch Thau und Regen aufſaugen; und indem er, wie Newton,
das Licht für einen Stoff hält, ſchließt er weiter: mag nicht
das Licht ebenfalls, indem es in die Flächen der Blätter und
Blüthen eindringt, viel zur Veredlung der Stoffe in der Pflanze
beitragen?
Aus dieſen Aeußerungen könnte man ſchließen, daß Hales
nur den in der Luft ſuspendirten Stoffen eine Bedeutung für
die Ernährung eingeräumt habe; dem iſt jedoch nicht ſo; denn
im 6. Capitel heißt es, er habe durch ſeine Experimente be-
wieſen, daß eine Menge wahrer, permanent elaſtiſcher Luft durch
die Gährung und Diſſolution (trockene Deſtillation) aus pflanz-
lichen und thieriſchen Körpern erzeugt wird; der Subſtanz der-
ſelben ſei die Luft zu einem großen Theil unmittelbar und feſt
inkorporirt und es folge daraus, daß bei der Bildung dieſer
Körper eine große Quantität von elaſtiſcher Luft beſtändig ver-
braucht werden muß.
Hales ſieht in der Luft aber nicht bloß eine ernährende
Subſtanz, ſondern in ihrer Elaſticität, welche der Attraktion der
anderen Stoffe entgegenwirkt, auch die Kraftquelle, durch welche
die inneren Bewegungen unterhalten werden. Wenn alle ma-
teriellen Theile, ſagt er, nur mit Attraktionskraft begabt wären,
ſo würde die ganze Natur ſofort zu einem unthätigen Klumpen
ſich zuſammenziehen; daher war es abſolut nöthig, um dieſe
ungeheure Maſſe attraktiver Materie in Bewegung zu ſetzen, und
zu beleben, daß mit ihr ein hinreichendes Quantum ſtark ab-
ſtoßender, elaſtiſcher Materie gemengt ſei; und da dieſe elaſtiſchen
Partikeln beſtändig in großer Menge durch die Attraktion der
[520]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
anderen in einen feſten Zuſtand verſetzt werden, ſo mußten ſie
mit der Eigenſchaft begabt ſein, ihren elaſtiſchen Zuſtand wieder
anzunehmen, wenn ſie von der attraktiven Maſſe befreit werden.
So beſtehe ein beſtändiger Kreislauf von Bildung und Auflöſung
animaliſcher und vegetabiliſcher Körper. Die Luft ſei nun ſehr
wichtig bei der Erzeugung und dem Wachsthum der Thiere und
Pflanzen in zweifacher Weiſe; ſie gebe ihren Säften Kraft (by
invigorating), ſo lange ſie ſich im elaſtiſchen Zuſtand befinde,
ſie trage aber auch viel zur feſten Vereinigung der conſtituirenden
Theile bei, wenn ſie fixirt worden iſt.
Man ſieht, wie gut Hales mit dem geringen Capital phy-
ſikaliſcher und chemiſcher Begriffe ſeiner Zeit Haus zu halten
wußte und es verſtand, ſich damit auf einen hohen Standpunct
zu ſtellen, der ihn die Vegetationserſcheinungen in ihren wich-
tigſten Beziehungen zur übrigen Natur, in ihrem inneren Verlauf
und Zuſammenhang verſtehen ließ. Seine Nachfolger aber ver-
ſtanden die principielle Bedeutung dieſer Betrachtungen nicht und
und ließen den ſo fruchtbaren Gedanken, daß ein ſehr großer
Theil der Pflanzenſubſtanz aus der Luft und nicht aus Waſſer
und Erde ſtammt, unbenutzt liegen, um ſich immer wieder
darüber zu verwundern, daß doch nur ſo wenig von der Erde
an die Pflanze abgegeben wird, wie ſchon van Helmont ge-
zeigt hatte, ohne daß man aber mit dieſem eine Verwandlung
des Waſſers in Pflanzenſubſtanz offen annahm. — Indem man
ſo das Princip verlor, welches ſchon lange vor Ingen-Houß die
wichtigſte Beziehung der Pflanze zur Außenwelt, ihre Ernährung
durch Beſtandtheile der Atmoſphäre, genügend erklären konnte
und es verabſäumte dieſen Gedanken experimentell weiter zu
verfolgen, citirte und wiederholte man immer wieder die einzelnen
Verſuche und Beobachtungen des Hales, ohne das Band zu
beachten, welches bei ihm dieſe einzelnen Wahrnehmungen ver-
knüpfte.
Mit Hales ſchließt die Reihe der hervorragenden Natur-
forſcher, welche die Pflanzenphyſiologie zuerſt begründeten. So
fremd uns auch Manches bei ihnen anmuthet, ſie waren es doch,
[521]Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
welche zuerſt einen tieferen Blick in das innere Getriebe des
Pflanzenlebens thaten und uns nicht nur vereinzelte Thatſachen
deſſelben, ſondern auch ihre wichtigſten Beziehungen über-
lieferten. Vergleicht man, was vor Malpighi bekannt war
mit dem, was die statical essays des Hales enthalten, ſo ſtaunt
man über den raſchen in kaum 60 Jahren gemachten Fortſchritt,
nachdem von Ariſtoteles bis auf Malpighi faſt nichts ge-
leiſtet worden war.
3.
Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
1730-1780.
Hätten diejenigen, die ſich nach Hales und vor Ingen-
Houß mit der Ernährung und vorwiegend der Saftbewegung
der Pflanzen beſchäftigten, Malpighi's Anſicht, daß in den
Blättern die Nährſtoffe zum Wachsthum vorbereitet werden,
feſtgehalten und ſie mit Hales Gedanken, daß die Pflanzen
einen großen Theil ihrer Subſtanz aus der Luft entnehmen, in
Verbindung gebracht, ſo hätten ſie für die Unterſuchung der
Saftbewegung ein leitendes Princip gehabt, und durch Experi-
mente an der lebenden Pflanze dieſen Ideen ſelbſt einen be-
ſtimmteren Ausdruck geben können, auch ohne, daß die Chemie
und Phyſik einſtweilen noch neue Anhaltspuncte darboten. Wie
bereits erwähnt, geſchah dieß jedoch nicht; man hielt ſich an das
Handgreifliche der Vegetationserſcheinungen und glaubte ſo einen
ſicheren Boden zu haben, auf dem man jedoch über die gewöhn-
lichſte, gedankenloſe Empirie nicht hinauskam, da es der Beob-
achtung an einem Ziel, dem Urtheil an einem Princip fehlte.
Man gerieth, wie immer in ſolchen Fällen, wo nicht eine wohl-
durchdachte Hypotheſe die Beobachtung leitet, auf Abwege, die
gerade in dieſem Falle zu großer Unklarheit führten, weil man
einen der wichtigſten Factoren zum Verſtändniß der Saftbewegung
nicht hinreichend kannte: die feinere Struktur der Pflanzen, deren
Kenntniß ſeit Malpighi und Grew nicht mehr weiter gefördert
[522]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
worden war. Da die Meiſten phytotomiſche Unterſuchungen
ſelbſt gar nicht machten, ſo verſtanden ſie auch das von jenen
Geſagte nur theilweiſe, man behalf ſich mit verſchwommenen
und oft ganz unrichtigen Vorſtellungen vom inneren Bau des
Holzes und der Rinde und glaubte doch, mit ſolchen eine Einſicht
in die Saftbewegung gewinnen zu können. Bei der Lectüre von
Malpighi's, Grew's, Mariotte's und Hales', ja ſelbſt
bei der von Wolff's Schriften erfreut man ſich, trotz zahl-
reicher Fehler im Einzelnen doch an dem logiſchen Zuſammen-
hang und dem Scharfſinn, womit ſie das Wichtige vom Unbe-
deutenden zu ſondern wußten, wogegen uns die hier zu nennenden
Beobachter höchſtens durch vereinzelte Angaben entſchädigen und
wir keineswegs die Genugthuung empfinden, in ihnen mit Män-
nern von hervorragendem Verſtand zu verkehren.
Die ganz unbedeutenden Schriften von Friedrich Walther
(1740), Anton Wilhelm Platz (1751) und von Rudolph Böhmer
(1753) können wir hier als bloße unfruchtbare Stielübungen
völlig übergehen. Einige Aufmerkſamkeit aber können wir denen
von De la Baiſſe und Reichel ſchenken, da dieſe wenigſtens
bemüht waren, etwas Neues zu Tage zu fördern. Aber freilich
war gerade die von ihnen benutzte Methode, farbige Flüſſigkeiten
von lebenden Pflanzen aufſaugen zu laſſen, geeignet, damals
und noch lange nachher grobe Irrthümer herbeizuführen. Nach-
dem ſchon Magnol 1709 derartige Verſuche erwähnt hatte,
war es zuerſt der Jeſuitenpater Sarrabat, genannt De la
Baiſſe, der ſich in ſeiner von der Akademie zu Bordeaux
preisgekrönten Diſſertation: Sur la circulation de la sève des
plantes 1733 mit derartigen Experimenten befaßte. 1) Er ſetzte
die Wurzeln verſchiedener Pflanzen in den rothen Saft der Phy-
tolacca-Früchte und fand zwei bis drei Tage ſpäter die geſammte
Wurzelrinde, ganz beſonders aber die Endigungen der Wurzel-
[523]Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
faſern innerlich roth gefärbt. Damals war der Schluß ganz
ſelbſtverſtändlich, daß gerade dieſe Theile es ſeien, welche die
Nährſtoffe ebenſo wie hier den rothen Farbſtoff beſonders kräftig
aufſaugen, und in der That erhielt ſich dieſe Meinung ſelbſt bis
auf unſere Tage und auf derartige Ergebniſſe hin ſtellte ſpäter
ſogar Pyrame de Candolle ſeine noch jetzt in Frank-
reich geltende Theorie von den Wurzelſchwämmchen (spongioles)
auf. Erſt in neueſter Zeit iſt es nämlich bekannt geworden,
daß Wurzelrinde und vor Allem die jüngſten Wurzelendigungen
erſt dann ſich in ſolchem Falle färben, wenn ſie vorher durch
den Farbſtoff vergiftet und getödtet worden ſind; derartige Färb-
ungen alſo, wie ſie ſeit De la Baiſſe hundertfältig wiederholt
worden ſind, beweiſen durchaus Nichts in Bezug auf die Thätig-
keit der lebenden Wurzel und ſo war gleich von vornherein durch
dieſe Methode des Experimentirens eine Quelle ſehr ſchädlichen
Irrthums in die Pflanzenphyſiologie eingeführt und wir werden
gleich ſehen, daß noch andere Irrthümer aus derſelben ent-
ſprangen. Weniger verwirrend war indeſſen ein anderes Reſultat
welches De la Baiſſe erhielt; als er nämlich die Schnittflächen
abgeſchnittener Zweige von Holzpflanzen in die farbige Flüſſigkeit
ſtellte, färbte ſich der Holzkörper derſelben nicht bloß, ſondern
auch die von ihm ausgehenden Holzbündel der Blätter und
Blüthentheile roth, während das ſaftige Gewebe der Rinde und
Blätter farblos blieb. Man konnte alſo folgern, daß der rothe
Saft bloß im Holz fortgeleitet werde und durch eine gewagte
Analogie ſchließen, daß auch die in Waſſer gelöſten Nahrungs-
ſtoffe der Pflanzen ſich ähnlich verhalten; auch dieſe Anſicht iſt
freilich gegenwärtig nicht mehr ſtichhaltig und daß der von den
Wurzeln zu den Blättern emporſteigende Nahrungsſaft zumal
das Waſſer nur im Holzkörper und nicht in der Rinde empor-
ſteigt, war aber bereits durch Hales' und andere Verſuche hin-
länglich bewieſen. Zu neuen Irrthümern führte die kritikloſe
Behandlung derartiger Experimente ſpäter bei Chriſtian Reichel1),
[524]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen
deſſen hier zu erwähnende Diſſertation: De vasis plantarum
spiralibus 1758 ſich übrigens durch ſorgfältige Literaturangaben
und eigene phytotomiſche Unterſuchungen vor ähnlichen Producten
jener Zeit vortheilhaft auszeichnet. Die von Malpighi, Nieu-
wentyd, Wolff, Thümmig, Hales beigebrachten Beweiſe für
den Luftgehalt der Holzgefäße fand Reichel ungenügend. In
abgeſchnittenen, mit der Schnittfläche in das rothe Dekokt des
Fernambukholzes eingeſtellten Zweigen holziger und krautiger
Pflanzen fand er ganz richtig, daß die rothe Färbung ſich in
allen Gefäßbündeln, auch in denen der Blüthen und Früchte ver-
breitete. Bei der mikroſkopiſchen Beobachtung aber fand er die
rothe Flüſſigkeit zum Theil auch in den Hohlräumen der Gefäße,
woraus er voreilig folgerte, daß dieſelben auch im natürlichen
Zuſtand nicht Luft, ſondern Saft führen. Seine Beſchreibung
und Abbildung zeigt jedoch, daß nur einige Gefäße und dieſe
nur zum Theil mit der rothen Flüſſigkeit ſich gefüllt hatten.
Reichel ließ dabei ebenſo wie ſeine zahlreichen Nachbeter die
Frage außer Acht, ob denn die Gefäße vor dem Verſuch mit
Luft oder Flüſſigkeit gefüllt waren, ob denn dasſelbe Reſultat
auch dann eintreten würde, wenn Pflanzen mit ganz unverletzten,
lebendigen Wurzeln die farbige Flüſſigkeit aufnehmen, wenn alſo
keine durchſchnittenen Gefäße mit der letzteren in Berührung
kommen. Nichts hinderte ſchon damals, die einfache Ueberlegung
zu machen, daß die Gefäße eines durchſchnittenen, in Flüſſigkeit
geſtellten Zweiges, gerade dann wie enge Glasröhrchen capillar
wirken müſſen, wenn ſie im natürlichen Zuſtand mit Luft erfüllt
ſind, und daß bei dem Verſuch die Transſpiration der Blätter
das Aufſteigen des rothen Saftes in den Hohlräumen der Ge-
fäße begünſtigen müſſe, wie ſchon aus anderen und beſſeren
Verſuchen von Hales zu ſchließen war. Allein dieſe einfache
Ueberlegung wurde nicht gemacht, vielmehr das Verſuchsergebniß
ganz gedankenlos hingenommen, und dem wohlbegründeten Ur-
theil Malpighi's und Grew's, daß die Gefäße Luft führen,
die ganz unbegründete Behauptung entgegengeſtellt, daß ſie im
natürlichen Zuſtand ſaftleitende Organe ſeien; ſo war auf Grund
[525]Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
ſchlecht interpretirter Verſuche eine der wichtigſten Entdeckungen
in Frage geſtellt und noch hundert Jahre ſpäter hat es nicht an
Perſonen gefehlt, welche auf dieſelben Verſuche, wie Reichel, ge-
ſtützt, den Gefäßen des Holzes die Führung des aufſteigenden
Saftes zumutheten, eine Anſicht, durch welche jedes wirkliche
Verſtändniß der Saftſtrömung im Holzkörper bei transſpirirenden
Pflanzen von vornherein unmöglich gemacht wird. Aber auch das
andere große Ergebniß Malpighi's, daß nämlich die Blätter
die nahrungszubereitenden Organe ſind, war ſchon vor Reichel
durch Bonnet geleugnet und durch die ganz falſche Anſicht
erſetzt worden, daß ſie weſentlich zur Aufſaugung von Thau und
Regenwaſſer dienen. Bonnet1), der ſich vorher um die Biologie
der Inſekten verdient gemacht, namentlich die ungeſchlechtliche
Fortpflanzung der Blattläuſe entdeckt und ſich dabei die Augen
verdorben hatte, hielt es nun für einen paſſenden Zeitvertreib
ſich mit allerlei Experimenten an Pflanzen zu beſchäftigen. Unter
vielem ganz Unbedeutenden kam dabei auch allerdings Manches
zu Tage, was ſpäter von urtheilsfähigeren Perſonen benutzt
werden konnte, denn auch das wenige Brauchbare, was Bonnet
über die mit dem Wachsthum verbundenen Krümmungen der
Pflanzen beobachtete, zeigte von einem auffallenden Mangel an
Urtheil. Dasſelbe tritt aber auch nicht minder bei denjenigen
Beobachtungen hervor, welche Bonnet über die Ernährungs-
thätigkeit der Blätter anſtellte. Es war ein Zeichen der Zeit, daß
eine ſo ganz gedankenloſe Zuſammenhäufung unverdauter That-
ſachen, wie ſie 1754 in Bonnet's récherches sur l'usage
des feuilles dans les plantes etc. enthalten iſt, damals all-
[526]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
gemein für eine bedeutende Leiſtung gehalten werden konnte.
Bonnet erzählt, daß ihn Calandrini darauf aufmerkſam
gemacht habe, daß wohl die Struktur der Unterſeite der Blätter
den Zweck haben könne „den aus der Erde aufſteigenden Thau“
aufzuſaugen und in die Pflanze einzuführen. Von dieſer ſinn-
reichen Vermuthung, wie es Bonnet nennt, ausgehend, machte
er nun allerlei wirklich ſinnloſe Experimente mit abgeſchnittenen
Blättern, welche die Frage überhaupt gar nicht entſcheiden konnten.
Die abgeſchnittenen Blätter wurden bald mit der Ober- bald
mit der Unterſeite auf Waſſer gelegt, mit Oel oder anderen
ſchädlichen Dingen beſtrichen und die Zeit ihres Verderbens
beobachtet. Es iſt unmöglich, ſich ſchlechter ausgedachte Vegeta-
tionsverſuche vorzuſtellen; denn wenn Bonnet Calandrini's
„ſinnreiche“ Vermuthung prüfen wollte, ſo mußte er vor Allem die
Blätter an der lebenden Pflanze belaſſen und den Effekt beob-
achten, den die etwaige Aufſaugung von Thau auf die Vegeta-
tion hervorbringt. Zudem iſt zu beachten, daß er unter dem auf-
ſteigenden Thau offenbar Waſſerdampf verſtand, denn der wirk-
liche Thau ſchlägt ſich auf der Oberſeite der Blätter vorwiegend
nieder; was konnte alſo für ſeine Frage herauskommen, wenn
er abgeſchnittene Blätter auf Waſſer legte? Sie bewieſen nicht
einmal im Entfernteſten, daß die Blätter überhaupt den Thau
aufſaugen; trotzdem aber zog Bonnet den Schluß, daß die
wichtigſte Verrichtung der Blätter eben in der Aufſaugung des
Thaues beſtehe, und um dieſes Reſultat mit den Unterſuchungen
von Hales über die Transſpiration in Einklang zu bringen,
ſtellte er nun die Theorie auf: 1) „Der Nahrungsſaft, welcher
am Tage aus den Wurzeln in den Stamm ſteigt, wird von den
Holzfaſern mit Hilfe der Luftröhren vornehmlich in die untere
Seite der Blätter geführt, wo die Oeffnungen zu ſeinem Aus-
tritt (Verdunſtung) in größerer Menge vorhanden ſind. Bei
Hereinbrechen der Nacht, wenn die Wärme nicht mehr auf die
Blätter und die in den Luftröhren enthaltene Luft wirkt, kehrt
[527]Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
der Saft wieder nach den Wurzeln zurück; als dann fängt die
Unterſeite der Blätter ihre andere Verrichtung an, der langſam
von der Erde aufſteigende Thau ſtößt auf dieſe Seite, er ver-
dichtet ſich hier und wird von den Härchen und ſonſtigen Vor-
richtungen aufgehalten (dies geſchieht aber auf der Oberſeite in
viel höherem Grade). Die hier vorhandenen Röhrchen ſaugen
ihn ſogleich ein (was handgreiflich falſch iſt, da der Thau bis
Sonnenaufgang ſich vermehrt) und führen ihn in die Zweige,
von wo er in den Stamm übergeht.“ Bonnet legte ſo großen
Werth auf dieſe wunderliche Theorie, daß er ſogar die helio-
tropiſchen und geotropiſchen Krümmungen der Blätter und Stengel
die er nicht aus einander zu halten wußte, und die Stellung
der Blätter am Stamm nur mit Rückſicht auf ſeine oder beſſer
Calandrini's Theorie teleologiſch glaubte erklären zu können.
— Es war um ſo nöthiger hier auf das ganz Sinnloſe in
Bonnet's Anſicht von der Bedeutung der Blätter hinzuweiſen,
weil ſie inſofern von hiſtoriſcher Bedeutung iſt, als ſie Jahr-
zehnte lang trotz der beſſeren älteren Leiſtungen geglaubt wurde
und wir daraus erſehen, wie ſehr die Urtheilsfähigkeit in ſolchen
Dingen ſeit Malpighi abgenommen hatte. Das Lob aber,
welches Bonnet von ſeinen Zeitgenoſſen geſpendet wurde, hat
offenbar verurſacht, daß auch viel ſpätere Pflanzenphyſiologen,
die es beſſer wiſſen konnten, ihn für eine Autorität auf dem
Gebiet der Ernährungslehre gehalten haben. Wo möglich noch
unbedeutender als ſeine Verſuche mit abgeſchnittenen Blättern,
waren ſeine „Verſuche über das Wachsthum der Pflanzen in
einer anderen Materie als der Erde.“ Auch hier war nicht
einmal der Gedanke originell, denn erſt auf die Nachricht hin,
daß man in Berlin Landpflanzen ſtatt in Erde, in zuſammen-
gehäuften Moos habe wachſen laſſen, machte er ſelbſt zahlreiche
derartige Verſuche und fand, daß manche Pflanzen auf dieſe
Weiſe recht kräftig wachſen, blühen und Samen tragen. Für
die Ernährungslehre war aber damit durchaus Nichts gewonnen,
es war eine kindliche Spielerei ohne tieferen Sinn. Die wenigen
Seiten, welche Malpighi über die Ernährung der Pflanzen
[528]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſchrieb, waren viel mehr werth, als Bonnet's ganzes Buch
über den Nutzen der Blätter; jener hatte aus einfachen Ueber-
legungen und Analogieſchlüſſen den wahren Nutzen der Blätter
wirklich erkannt, Bonnet aus zahlreichen ſinnloſen Experimenten
ihnen eine ganz andere Function als die richtige zugeſchrieben.
Nicht viel günſtiger lautet unſer Urtheil über die Ernähr-
ungslehre eines um die Pflanzenphyſiologie ſonſt viel verdienten
Mannes, auf deſſen wirkliche Verdienſte wir im letzten Capitel
noch zurückkommen werden. Zwar war auch Du Hamel1), um
den es ſich hier handelt, kein Naturforſcher, der ſich mit einem
Malpighi, Mariotte oder Hales hätte vergleichen können;
jenen Denkern gegenüber war er weſentlich nur Compilator und
zwar ein ziemlich kritikloſer. Vor Bonnet aber hatte Du
Hamel voraus, daß er kein Dilettant war, ſondern ein ernſter
Fachmann, der ſich mit der Pflanzenwelt viel beſchäftigt hatte
und die Ergebniſſe ſeiner phyſiologiſchen Studien praktiſch zu
verwerthen ſuchte. Seine langjährige Beſchäftigung mit der
Pflanzenwelt hatte in ihm einen gewiſſen Inſtinkt für das Rich-
tige bei der Behandlung der Pflanzen ausgebildet und ſeine Art,
zu beobachten und Experimente anzuſtellen, giebt Zeugniß davon;
viele ſeiner Experimente und Beobachtungen ſind noch jetzt lehr-
reich; was ihm jedoch fehlte, das war die Combinationsgabe,
welche gerade bei pflanzenphyſiologiſchen Unterſuchungen aus
Beobachtungen und Experimenten erſt einen Sinn zu Tage fördern
muß, und die Fähigkeit, das principiell Wichtige von Neben-
dingen zu unterſcheiden. Dieſer Meinung war auch ſein Biograph
Du Petit-Thouars.
Die hier genannten Vorzüge und Fehler vereinigen ſich
[529]Unfruchtbare Bemühungen um die Saftbewegung der Pflanzen.
namentlich auch in Du Hamel's berühmteſtem Werk: Physique
des arbres, welches in zwei Bänden 1758 erſchien und ein Lehrbuch
der geſammten Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen mit zahl-
reichen Kupfertafeln darſtellt. Was er hier über die Ernährung
und Saftbewegung der Pflanzen ſagt, iſt eine weitſchweifige
Compilation, in welcher vorwiegend Malpighi, Mariotte
und Hales benutzt werden, ohne daß es dem Verfaſſer gelingt,
grade das theoretiſch Wichtige und die umfaſſenden Geſichtspuncte
derſelben ſich anzueignen. Er verflicht in ſeine Darſtellung auch
die Reſultate ſeiner eigenen Experimente, die an ſich oft lehr-
reich, doch niemals zur Feſtſtellung einer beſtimmten Anſicht über
den Zuſammenhang der Ernährungsvorgänge benutzt werden.
Nur wo es ſich um ganz offen daliegende, handgreifliche Dinge
handelt, trifft er das Richtige; ſo ſetzt er die Holzgefäße wieder
in ihr altes Recht ein, folgert er aus Verſuchen, wie bereits im
17. Jahrhundert geſchehen war, daß in der Rinde ein wachs-
thumsfähiger Saft ſich abwärts bewegt; ſo auch erkennt er, daß
wenn Zwiebeln, Knollen, Wurzeln mit oder ohne Beihilfe auf-
genommenen Waſſers, Sproſſe, ſelbſt Blüthen austreiben, dieß auf
Koſten vorhandener Reſerveſtoffe geſchieht, eine Wahrnehmung,
die er jedoch nicht weiter verwerthet. Das Beſte aber verdarb
er gründlich: die Blätter waren ihm nur Pumpwerke, welche
den Saft aus den Wurzeln emporſaugen; die beſſere Anſicht
Malpighi's citirt er wie ein Curioſum, auf welches er im
Verlauf ſeiner Unterſuchung nicht weiter zurückkommt; dafür
aber wird Bonnet's verunglückte Theorie acceptirt, obgleich er
ſelbſt zahlreiche Thatſachen anführt, welche für Malpighi's
Deutung der Blätter ſprechen. Faſt noch ſchlimmer ſieht es mit
ſeiner Behandlung der chemiſchen Ernährungsfragen aus; obgleich
er hier die Darlegungen Mariotte's über die Nothwendigkeit
einer chemiſchen Veränderung der Nährſtoffe in der Pflanze
wiederholt, und ſelbſt Belege dafür beibringt, kann er ſich doch
von dem Ariſtoteliſchen Satz nicht freimachen, daß die Erde wie
ein thieriſcher Magen die Nahrungsſtoffe der Pflanzen vorbereitet
und daß die Wurzeln dieſe präparirte Subſtanz wie Chylusge-
Sachs, Geſchichte der Botanik. 34
[530]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
fäße aufſaugen (phys. des arb. II. p. 189, 230). Obgleich
er ferner aus ſeinen eigenen Vegetationsverſuchen, Landpflanzen
ohne Erde und durch gewöhnliches Waſſer zu ernähren, den
Schluß zieht, daß dieſes den Pflanzen nur ſehr wenig aufgelöſte
Theile darbiete, weiß er doch aus Hales' Angaben über die
Mitwirkung der Luft bei dem Aufbau der Pflanze, keinen Vor-
theil zu ziehen und ſchließt (l. c. p. 204), er habe eben nur
beweiſen wollen, daß das reinſte und einfachſte Waſſer den
Pflanzen ihre Nahrung darbieten könne, was ſeine Verſuche nicht
beweiſen.— So iſt faſt Alles was Du Hamel über die Er-
nährung ſagt, ein Gemenge richtiger Wahrnehmungen im Ein-
zelnen mit ganz verfehlten Schlüſſen und Reflexionen, die ſich
immer an das Einzelne anklammern, ohne dem Zuſammenhang
im Ganzen Rechnung zu tragen. In noch viel höherem Grade
treten dieſe Fehler in dem ſpäteren, faſt noch umfangreicheren
Werk Muſtel's: Traité théorique et pratique de la végé-
tation 1781 hervor. Je weiter man ſich in der Zeit von den Be-
gründern der Pflanzenphyſiologie entfernte, deſto umfangreicher
wurden die Bücher, deſto dünner aber auch der Faden, der die
einzelnen Erfahrungen zuſammenhielt, bis er endlich ganz zerriß.
Es war höchſte Zeit, daß der Ernährungslehre wieder neues
Licht zugeführt wurde, an der ſie, wie eine vergeilte und ver-
wäſſerte Pflanze, nun wieder erſtarken konnte. Dieß geſchah
durch die Entdeckungen des Ingen-Houß und durch den ge-
waltigen Aufſchwung, den die Chemie ſeit den ſiebziger Jahren
durch Lavoiſier nahm.
4.
Begründung der neueren Ernährungslehre durch Ingen-Houß und
Th. de Sauſſure.
1779-1804.
Die beiden Cardinalfactoren der Ernährungslehre der
Pflanzen, daß die Blätter die nahrungsbereitenden Organe ſind
und daß ein großer Theil der Pflanzenſubſtanz aus der Atmo-
[531]Begründung der neueren Ernährungslehre etc.
ſphäre ſtammt, waren, wie wir ſahen, von Malpighi und
Hales zwar conſtatirt und theoretiſch verwerthet worden, es
fehlte aber an einem augenfälligen Nachweis dafür, daß die
grünen Blätter einen Beſtandtheil der Atmoſphäre aufnehmen
und ihn zu ihrer Ernährung verwerthen. Der Mangel eines
ſolchen directen Nachweiſes war es offenbar, der die Nachfolger
jener erſten Phyſiologen veranlaßte, die Wichtigkeit dieſer deductiv
gefundenen Sätze zu überſehen und nun principlos im Dunkeln
herum zu tappen.
Die Entdeckungen Prieſtley's, Ingen-Houß' und
Senebier's, die quantitativen Beſtimmungen Sauſſure's
lieferten nun in den Jahren von 1774 bis 1804 den Beweis,
daß die grünen Pflanzentheile, alſo namentlich die Blätter, einen
Beſtandtheil der Luft aufnehmen und zerſetzen, dabei gleichzeitig
die Beſtandtheile des Waſſers aſſimiliren und dem entſprechend
an Gewicht zunehmen, daß dieß jedoch nur dann ausgiebig und
in normaler Weiſe geſchieht, wenn von den Wurzeln her gleich-
zeitig kleine Quantitäten mineraliſcher Stoffe in die Pflanze ein-
geführt werden. Die Entdeckungen und Thatſachen, aus denen
dieſe Lehre hervorging, waren dieſelben, welche den Sturz der
Phlogiſtontheorie herbeiführten und aus welchen Lavoiſier die
Principien der neueren Chemie ableitete und erſt durch Lavoi-
ſier's Lehren wurde auch die neue Ernährungstheorie der
Pflanzen möglich; es iſt daher nöthig, wenigſtens einen flüchtigen
Blick auf die in den ſiebziger und achtziger Jahren ſich voll-
ziehende Umwälzung in der Chemie zu werfen. Dieſe knüpfte
bekanntlich 1) zunächſt an die Entdeckung des Sauerſtoffgaſes an,
welches Prieſtley 1774 dargeſtellt hatte. Während dieſer
ſelbſt hartnäckiger Anhänger des Phlogiſtons war und blieb,
wurde ſeine Entdeckung für Lavoiſier die Grundlage einer
ganz neuen Anſchauungsweiſe der chemiſchen Prozeſſe. Schon
1776 erkannte er die Zuſammenſetzung der „fixen Luft“ aus
34*
[532]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Kohlenſtoff und „Lebensluft“, er gewann dieſelbe durch Ver-
brennung von Kohle und Diamant. Ebenſo wurden Phosphor-
ſäure, Schwefelſäure und nach einer vorläufigen Entdeckung von
Cavendish auch die Salpeterſäure als Verbindungen der Lebens-
luft mit Phosphor, Schwefel und Stickſtoff erkannt; 1777 zeigte
Lavoiſier, daß bei der Verbrennung organiſcher Subſtanzen
fixe Luft und Waſſer erzeugt wird und nachdem er 1781 die
quantitative Zuſammenſetzung der fixen Luft annährend feſtgeſtellt
hatte, nannte er dieſelbe Kohlenſäure, die bisherige Lebensluft
Sauerſtoff. Nach einer abermaligen vorläufigen Entdeckung von
Cavendish (1783), daß nämlich durch Verbrennung von
Waſſerſtoffgas Waſſer entſtehe, war es wieder Lavoiſier, der
nun bewies, daß das Waſſer eine Verbindung von Waſſerſtoff
und Sauerſtoff ſei. — Dieſe Entdeckungen beſeitigten nicht nur
Schritt für Schritt die Phlogiſtontheorie und lieferten nicht nur
die Principien der neuen Chemie, ſondern ſie betrafen auch ge-
rade diejenigen Stoffe, welche bei der Pflanzenernährung die
wichtigſte Rolle ſpielen; jede dieſer chemiſchen Entdeckungen ließ
ſich daher ſofort auch phyſiologiſch verwerthen. Schon 1779
fand Prieſtley, daß grüne Pflanzentheile gelegentlich Lebens-
luft aushauchen und in demſelben Jahr beſchrieb Ingen-Houß
ausführlichere Unterſuchungen, aus denen hervorging, daß dieß
nur unter dem Einfluß des Lichtes an grünen Pflanzentheilen
geſchieht, während im Dunklen vielmehr fixe Luft von dieſen
ausgehaucht wird, was die nicht grünen ſowohl im Licht wie
im Finſtern thun. Eine richtige Deutung dieſer Vorgänge war
jedoch 1779 noch nicht möglich; denn erſt 1785 war Lavoiſier
ſelbſt ſoweit vorgedrungen, ſich von der Phlogiſtontheorie ganz
frei zu machen und ſein antiphlogiſtiſches Syſtem im Zuſammen-
hang zu entwickeln. Noch iſt hier nachzutragen, was für die
Pflanzenphyſiologie ſpäter ebenfalls wichtig wurde, daß La-
voiſier 1777 die Athmung der Thiere als einen Oxydations-
prozeß erkannte, der wie jede Verbrennung Wärme, die thieriſche
Eigenwärme erzeugt. Doch dauerte es noch ſehr lange, bis
dieſes Cauſalverhältniß auch für die Pflanzen erkannt wurde.
[533]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
Mit der Conſtatirung der Thatſache, daß Pflanzentheile
unter Umſtänden Sauerſtoffgas abſcheiden, war für die Ernähr-
ungstheorie der Pflanzen noch wenig oder nichts gewonnen 1);
mehr aber leiſtete Prieſtley für uns nicht. Ingen-Houß
dagegen erkannte die Bedingungen der Sauerſtoffabſcheidung und
außerdem, daß alle Pflanzentheile beſtändig Kohlenſäure erzeugen;
dieß aber ſind die Grundlagen der Ernährung und Athmung
der Pflanzen; wir werden alſo Ingen-Houß als den Be-
gründer der Ernährungs- und Athmungslehre der Pflanzen zu
betrachten haben. Da es hierbei um eine Entdeckung von außer-
ordentlicher Tragweite ſich handelt, ſcheint es geboten, etwas näher
auf die Einzelheiten einzugehen.
1779 erſchien ein Werk Prieſtley's, welches im folgen-
den Jahr auch deutlich unter dem Titel: Verſuche und Beobacht-
ungen über verſchiedene Theile der Naturlehre herauskam und
in welchem (p. 257) auch Prieſtley's Verſuche mit Pflanzen
beſchrieben ſind. Die Art, wie er dieſelben angeſtellt hatte, war
aber auffallend unzweckmäßig; auch gab er ſie, ohne ein beſtimm-
tes Reſultat von phyſiologiſcher Bedeutung erzielt zu haben,
auf, obgleich er den Gedanken, um den es ſich hier handelte
klar genug ausſprach, indem er ſagte: Wenn die von der Pflanze
ausgehauchte Luft von beſſerer Beſchaffenheit (ſauerſtoffreicher) iſt,
als die atmoſphäriſche, ſo folge daraus, daß das Phlogiſton der
Luft in der Pflanze zurückbehalten und zur Ernährung benutzt
werde, wodurch der entweichende Theil, ſeines Phlogiſtons ent-
ledigt, einen hohen Grad von Reinheit gewinnen müſſe. Nach-
dem er ſeine Verſuche mit Pflanzen 1778 aufgegeben hatte, fiel
ihm auf, daß in den dabei benutzten Waſſergefäßen eine grüne
Materie ſich abgeſetzt hatte, welche eine ſehr „reine“ Luft ab-
[534]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſchied; zahlreiche weitere Beobachtungen lehrten ihn, daß dieß
nur unter dem Einfluß des Sonnenlichts geſchieht; von der
vegetabiliſchen Natur dieſer Subſtanz, welche ſpäter als Prieſt-
ley'ſche Materie bezeichnet und aus Algen beſtehend erkannt
wurde, hatte Prieſtley ſelbſt indeſſen keine Ahnung.
In demſelben Jahr (1779) erſchien auch die erſte ausführ-
lichere Arbeit von Ingen-Houß1) über denſelben Gegenſtand
Experiments upon vegetables, discovering their great
power of purifying the common air in the sunshine and
of injouring it in the shade and at night, die ſogleich in's
Deutſche, Holländiſche und Franzöſiſche überſetzt wurde. Schon
der Titel zeigt, daß der Verfaſſer mehr und richtiger beobachtet
hatte, als Prieſtley. Der innere Zuſammenhang der That-
ſachen aber wurde ihm erſt ſpäter verſtändlich, nachdem La-
voiſier ſeine neue antiphlogiſtiſche Theorie entwickelt hatte.
In ſeiner 1796 erſchienenen, 1798 auch deutſch (von Fiſcher)
herausgegebenen, von A. v. Humboldt eingeleiteten Schrift:
„Ueber die Ernährung der Pflanzen und Fruchtbarkeit des Bodens“
ſagt Ingen-Houß ſelbſt, als er 1779 ſeine Entdeckungen ge-
macht habe, ſei das neue Syſtem der Chemie noch nicht öffent-
lich vorgetragen, und unbekannt mit deſſen Vorzügen, ſei er nicht
im Stande geweſen, aus den Thatſachen die wahre Theorie ab-
zuleiten; ſeitdem man jedoch die Analyſe des Waſſers und der
Luft kenne, ſei es weit leichter geworden, die Vegetationser-
ſcheinungen zu erklären. Um aber ſeine Priorität feſtzuſtellen,
hebt er (p. 56) hervor, er ſei glücklich genug geweſen, die wahre
Urſache zu entdecken, warum Pflanzen die umgebende Luft zu
einer Zeit ſchlechter machen, eine Urſache, welche von Prieſtley
und Scheele auch nicht einmal geahnt wurde. Er habe im
Sommer 1779 entdeckt, daß alle Vegetabilien unaufhörlich kohlen-
ſaures Gas ausgeben, daß aber die grünen Blätter und Schöß-
[535]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
linge allein im Sonnenlicht oder hellen Tageslicht Sauerſtoff
aushauchen. — Ingen-Houß hatte alſo nicht nur die Kohlen-
ſtoffaſſimilation und die eigentliche Athmung der Pflanzen ent-
deckt, ſondern er wußte auch beide Erſcheinungen nach ihren Be-
dingungen und in ihrer Bedeutung auseinander zu halten.
Dem entſprechend war ihm auch der große Unterſchied zwiſchen
der Ernährung keimender und älterer grüner Pflanzen, die Un-
abhängigkeit jener, die Abhängigkeit dieſer vom Licht vollkommen
klar und daß er die atmoſphäriſche Kohlenſäure als die haupt-
ſächliche, wenn auch nicht alleinige Quelle des Kohlenſtoffs der
Pflanzen betrachtete, zeigt ſeine Widerlegung einer unverſtän-
digen Behauptung von Haſſenfratz, wonach der Kohlenſtoff durch
die Wurzeln aus dem Boden aufgenommen werde, der er die
Bemerkung entgegenſtellte: es ſei ſchwer begreiflich, wie ein großer
Baum unter dieſen Umſtänden ſeine Nahrung Jahrhunderte lang
an demſelben Ort finden könne. Es lag damals eine gewiſſe
Kühnheit, ein großes Vertrauen auf die einmal gewonnene Ueber-
zeugung in dieſen Aeußerungen von Ingen-Houß, da der
Kohlenſäuregehalt der Luft noch wenig beobachtet und quanti-
tativ noch nicht ſicher geſtellt war, die relativ kleinen Quanti-
täten der atmoſphäriſchen Kohlenſäure aber manchen Anderen
gewiß davon abgeſchreckt hätten, in ihnen das Reſervoir der un-
geheuren Kohlenſtoffmengen zu ſehen, welche die Pflanzen in ſich
anhäufen.
Noch bevor Ingen-Houß in der zuletzt genannten Schrift
die Reſultate ſeiner 1779 gemachten Beobachtungen den neuen
chemiſchen Anſichten gemäß deutete, und ſo die weſentlichen
Grundlagen der Ernährungslehre ſchuf, machte Jean Senebier
in Genf 1) ausgedehnte Unterſuchungen über den Einfluß des
[536]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Lichts auf die Vegetation (1782-1788), deren Reſultate er in
ſeiner umfangreichen fünfbändigen physiologie végètale im
Jahr 1800 mit ermüdender Weitſchweifigkeit zu einer Ernähr-
ungstheorie ausarbeitete. Manches immerhin Werthvolle ver-
ſteckt ſich hier in einem Schwall von unbedeutenden Einzelheiten
und langwierigen rhetoriſchen Stielübungen, die meiſt den Nagel
nicht auf den Kopf treffen. Es iſt jedoch nicht zu verkennen,
daß Senebier mit gründlicheren chemiſchen Kenntniſſen als
Ingen-Houß ausgerüſtet, Alles zuſammentrug, was damals
die chemiſche Literatur an zerſtreuten Thatſachen darbot, um ein
vollſtändigeres Bild der Ernährungsvorgänge zu gewinnen; na-
mentlich war es für jene Zeit von Werth, das Princip zu be-
tonen, daß die Ernährungsvorgänge innerhalb der Pflanze nach
den allgemeinen Geſetzen der Chemie beurtheilt werden müſſen;
die organiſirten Weſen, ſagte Senebier, ſind der Schauplatz,
wo die Affinitäten der Beſtandtheile der Erde, des Waſſers, der
Luft auf einander einwirken; die Zerſetzungen aber werden ge-
wöhnlich durch den Einfluß des Lichts eingeleitet, welches den
Sauerſtoff der Kohlenſäure aus den grünen Theilen der Pflanzen
entbindet. Unter den von ihm hervorgehobenen Grundſätzen
finden wir auch ſchon (I. c. II. p. 304) den betont, daß die
einfachen Beſtandtheile in allen Pflanzen dieſelben ſind, und daß
die Unterſchiede nur quantitativer Natur ſeien. Von dieſen Ge-
ſichtspuncten ausgehend führt er nun der Reihe nach die ein-
fachen und zuſammengeſetzten Beſtandtheile der Pflanzen vor,
unter denen, den Anſchauungen jener Zeit entſprechend, auch das
Licht und die Wärme als körperliche Weſen figuriren. Die alte
1)
[537]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
Frage nach der Bedeutung der Salze in der Pflanze behandelt
er ſehr ausführlich und für uns iſt lehrreich zu ſehen, wie er
darüber Anskunft zu geben ſucht, ob ſalpeterſaure, ſchwefelſaure
Salze und Ammoniak, die man im Saft der Pflanzen finde,
von außen in dieſe eingeführt ſeien, oder ob ſie erſt in dieſer
ſelbſt aus ihren Beſtandtheilen entſtehen; ſchließlich hält er jedoch
erſteres für wahrſcheinlich. Daß der Kohlenſtoff der Pflanzen,
wenigſtens zum allergrößten Theil aus der Atmoſphäre abſtammt,
konnte nach Ingen-Houß kaum noch zweifelhaft ſein; Sene-
bier widmete aber gerade dieſer Frage beſondere Aufmerkſamkeit
und ließ es ſich angelegen ſein, alle hier mitwirkenden Factoren
in Rechnung zu ziehen, namentlich ſuchte er von Neuem zu be-
weiſen, daß der von der Pflanze am Licht entbundene Sauerſtoff
von eingeſogener Kohlenſäure herrührt, daß nur die grünen und
keine anderen Organe im Stande ſind, dieſe Zerſetzung zu be-
wirken, und daß ſich in der Natur hinreichende Quantitäten von
Kohlenſäure vorfinden, um die Ernährung der Pflanzen zu unter-
halten. Obwohl er ſich jedoch überzeugte, daß grüne Blätter
die ſie umgebende gasförmige Kohlenſäure zerſetzen, nahm er an,
daß dieſe letztere vorwiegend durch die Wurzeln mit dem auf-
ſteigenden Saft den Blättern zugeführt werde, eine Anſicht, die
bei ſpäteren Schriftſtellern vielfach zu weiteren Irrthümern Anlaß
gegeben hat.
Es war nicht nur die ermüdende Weitſchweifigkeit, welche
Senebier's Werk zu keiner rechten Anerkennung und Wirkung
kommen ließ, vielmehr trat dem das Erſcheinen eines Werkes
entgegen, welches durch ſeine glänzenden Vorzüge, durch die
enorme Wichtigkeit ſeines Inhalts, die knappe Sprache und
Durchſichtigkeit des Gedankengangs Senebier's verwäſſerte
Stilübungen tief in den Schatten ſtellte. Dieſes Werk war
Théodore de Sauſſure'srecherches chimiques sur la végé-
tation 1804. Das Neue an dieſem Werk 1) waren nicht bloß
[538]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
die neuen Unterſuchungen und Reſultate, ſondern noch viel mehr
die neue Methode, die Ernährungsfragen vorwiegend quanti-
tativ zu behandeln; dem entſprechend war natürlich ſchon die
Frageſtellung eine beſtimmtere und da ſeine Vegetationsverſuche
mit ſouverainer Meiſterſchaft durchgeführt waren, ſo wurden die
beſtimmt geſtellten Fragen auch beſtimmt beantwortet. Sauſ-
ſure wußte ſeine Verſuche ſo einzuleiten, daß das Reſultat noth-
wendig deutlich werden mußte; er hatte nicht nöthig, dasſelbe
aus kleinlichen, ſogenannten Genauigkeiten, durch welche unge-
ſchickte Experimentatoren ihre Unſicherheit vertuſchen, mühſam
herauszurechnen. Dieſe Geradheit und kurz angebundene Art,
mit durchſchlagender Sicherheit quantitative Reſultate zu Tage
zu fördern, die Conſequenz und durchſichtige Klarheit des Ge-
dankenganges ſind es vorwiegend, die uns bei der Lectüre dieſes
Werkes, ſowie auch bei Sauſſure's ſpäteren Schriften, ein
Gefühl von Vertrauen und Sicherheit einflößen, wie kaum ein
anderes Werk ſeit Hales bis auf die neueſte Zeit. Mit den
statical essays von Hales haben die recherches chimiques
auch das gemein, daß die thatſächlichen Angaben darin noch
ſpäter hundertfältig von Anderen theoretiſch ausgebeutet worden
ſind, während man gerade ſo wie bei Hales vielfach den theo-
retiſchen Zuſammenhang derſelben verlor, wie wir zur Genüge
im folgenden Abſchnitt ſehen werden. Es iſt nicht Jedermann's
Sache ein Werk wie dieſes zu leſen und zu verſtehen; denn es
iſt keine didaktiſch zuſammenhängende Darſtellung der Ernähr-
ungstheorie, ſondern eine Reihe von Verſuchsergebniſſen, welche
1)
[539]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
ſich um die fundamentalen Fragen der Pflanzenernährung grup-
piren, wobei der theoretiſche Zuſammenhang nur in kurzen Ein-
leitungen und Recapitulationen fortgeſponnen wird, während es
dem Leſer überlaſſen bleibt, durch ſorgfältiges Studium aller
Einzelheiten ſich die Ueberzeugung ſelbſt zu erwerben. Es war
eben kein didaktiſches, ſondern ein grundlegendes Werk, welches
vor Allem nicht lehren, ſondern Thatſachen feſtſtellen wollte.
Die Darſtellung hat daher auch, wie in ſolchem Falle ſelbſtver-
ſtändlich, nichts Geniales oder Schwunghaftes, eher tritt uns ein
allzu ängſtliches Feſthalten an dem empiriſch Gegebenen entgegen
und es iſt kein Zweifel, daß manche ſpätere Verirrungen der
Ernährungsliteratur vermieden worden wären, wenn Sauſſure
nach der inductiven Begründung ſeiner Lehren auch eine didaktiſch
deduktive Darſtellung derſelben gegeben hätte.
Die von Sauſſure unterſuchten Vegetationsvorgänge
waren im Weſentlichen dieſelben, welche ſchon Ingen-Houß
und Senebier ausführlich behandelt und in ihren allgemeinſten
Umriſſen richtig erkannt hatten. Das weſentlich Neue bei Sauſ-
ſure aber iſt eben, daß es nicht bei den allgemeinen Umriſſen
der Erſcheinungen bleibt, daß er vielmehr durch quantitative
Beſtimmungen eine Bilanz herſtellt zwiſchen dem, was die Pflanze
aufnimmt, was ſie abgiebt und dabei ſelbſt erwirbt. Auf dieſem
Wege machte er vor Allem die großen Entdeckungen, daß mit
dem Kohlenſtoff zugleich die Beſtandtheile des Waſſers in der
Pflanze gebunden werden und daß ohne die Aufnahme von Stick-
ſtoffverbindungen und Mineralbeſtandtheilen eine normale Er-
nährung der Pflanzen nicht ſtattfindet. Es iſt jedoch nöthig, um
Sauſſure's Verdienſt würdigen zu können, ſeinen Leiſtungen
mehr in's Einzelne zu folgen.
Betrachten wir zunächſt, was er über die Kohlenſtoffaſſimi-
lation der Pflanzen feſtſtellte; da iſt das wichtige Reſultat,
daß größere Quantitäten von Kohlenſäure in der die Pflanze
umgebenden Atmoſphäre nur dann die Vegetation begünſtigen,
wenn die Pflanzen im Stande ſind, jene zu zerlegen, wenn ſie
alſo von hinreichend intenſivem Licht getroffen werden; daß da-
[540]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
gegen jede Vermehrung des Kohlenſäuregehaltes der Luft im
Schatten oder im Finſtern die Vegetation beeinträchtigt, und daß
eine Steigerung des Kohlenſäuregehaltes der Luft über 8%
überhaupt ſchädlich einwirkt. Auf der anderen Seite aber fand
er, daß die Zerſetzung der Kohlenſäure durch die grünen Theile
im Licht eine nothwendige Beſchäftigung derſelben iſt, daß die
Pflanzen abſterben, wenn ſie daran verhindert werden. Den
erſten tieferen Einblick in die innerhalb der Pflanze ſelbſt bei
der Kohlenſäurezerſetzung ſtattfindenden chemiſchen Vorgänge ge-
währte die Wahrnehmung, daß die Pflanzen, indem ſie ein be-
ſtimmtes Kohlenſtoffquantum ſich aneignen, ihre Trockenſubſtanz
um ein beträchtlich größeres Quantum vermehren und daß dies
nur von einer gleichzeitigen Bindung der Beſtandtheile des Waſ-
ſers herrührt, eine Thatſache, die allerdings erſt ſpäter, als die
Theorie der Kohlenſtoffverbindungen, die organiſche Chemie, be-
gründet war, in ihrer wahren Bedeutung aufgefaßt werden
konnte. Was endlich die Bedeutung der Kohlenſäurezerſetzung
durch die grünen Organe im Licht für die geſammte Ernährung
der Pflanzen betrifft, ſo kam Sauſſure durch viel beſtimmtere
Beweiſe als Ingen-Houß zu dem Reſultat, daß nur ein
kleiner Theil der Pflanzenſubſtanz aus den vom Waſſer aufge-
löſten Beſtandtheilen der Erde abſtammt, daß die Hauptmaſſe
des vegetabiliſchen Körpers aus der atmoſphäriſchen Kohlenſäure
und den Beſtandtheilen des Waſſers ſich aufbaut; dieſe Ueber-
zeugung gewann Sauſſure zum Theil durch die Vergleichung
der geringen Quantitäten, welche das Waſſer überhaupt aus
einem Vegetationsboden aufzulöſen im Stande iſt, zum Theil
durch Vegetationsverſuche und Betrachtungen allgemeinerer Natur.
Nicht minder wichtig waren Sauſſure's Unterſuchungen
über die Sauerſtoffathmung der Pflanzen, welche als Thatſache
genommen allerdings ſchon Ingen-Houß entdeckt hatte. Sauſ-
ſure aber zeigte, daß ohne dieſen Athmungsprozeß kein Wachs-
thum möglich iſt, auch nicht bei Keimpflanzen, obgleich dieſe reich
an aſſimilirten Stoffen ſind. Er zeigte ferner, daß grüne Blätter
und ſich entfaltende Blüthen, überhaupt ſolche Pflanzentheile,
[541]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
welche ſich durch eine regere Lebensthätigkeit auszeichnen, auch
mehr Sauerſtoff zur Athmung verbrauchen, als minder thätige
und ruhende. Er beſtimmte den Gewichtsverluſt, welchen die
organiſche Subſtanz der Keimpflanzen durch die Athmung erleidet
und fand auch dieſen größer, als dem Gewicht des ausgeathmeten
Kohlenſtoffs entſpricht; bei dem damaligen Zuſtand der Chemie
mußte er jedoch im Zweifel bleiben, wie dieß zu verſtehen ſei.
Fügen wir endlich noch hinzu, daß Sauſſure ſpäter (1822)
die wichtigſten Beziehungen zwiſchen der Selbſterwärmung der
Blüthen und dem Sauerſtoffverbrauch derſelben conſtatirte, ſo
bleibt kein Zweifel, daß er die wichtigſten Elemente der neueren
Athmungstheorie der Pflanzen geliefert hat, obgleich er dieſelbe
niemals in ihrem Zuſammenhang ausſprach.
Vor Ingen-Houß war trotz Hales' uns bekannten An-
ſichten die allgemeine Meinung offenbar die, daß die Pflanzen
die überwiegende Quantität ihrer Nahrung den Beſtandtheilen
der Erde und dem Waſſer verdanken. Seit man jedoch wußte,
daß der Hauptbeſtandtheil der Pflanzenſubſtanz, der Kohlenſtoff
aus der Atmoſphäre ſtammt und man beachtete, daß die
bei Weitem überwiegende Quantität der vegetabiliſchen Stoffe
verbrennlich iſt, konnte es zweifelhaft erſcheinen, ob denn die
unverbrennlichen Aſchenbeſtandtheile für die Ernährung der
Pflanzen überhaupt von Bedeutung ſind. Dieſer ziemlich ver-
breiteten Anſicht trat nun Sauſſure entſchieden entgegen; er
betonte, daß vor Allem diejenigen Aſchenbeſtandtheile, welche ſich
ausnahmslos in jeder Pflanze vorfinden, nicht wohl als zufällige
Beimengungen zu betrachten ſeien, daß ebenſo die geringe Menge
derſelben kein Beweis für ihre Entbehrlichkeit ſei und durch eine
große Zahl von Aſchenanalyſen, die lange Zeit unübertroffen
daſtanden, zeigte er, daß zwiſchen dem Vorhandenſein gewiſſer
Aſchenbeſtandtheile und den Entwicklungszuſtänden der Pflanzen-
organe gewiſſe allgemeine Beziehungen ſtattfinden, ſo z. B. fand
er junge entwicklungsfähige Pflanzentheile reich an Alkalien und
Phosphorſäure, ältere und unthätige vorwiegend reich an Kalk
und Kieſelſäure. Noch wichtiger aber waren Vegetationsverſuche
[542]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
durch welche er zeigte, daß Pflanzen, deren Wurzeln nicht in
Erde, ſondern in deſtillirtem Waſſer wachſen, nur ſoviel an
Aſchenbeſtandtheilen zunehmen, als dem in das Waſſer fallenden
Staub entſpricht. Viel wichtiger für die Hauptfrage aber war
das andere Ergebniß, daß in einem ſolchen Fall auch die Zunahme
der organiſchen, verbrennlichen Subſtanz der Pflanze eine nur
höchſt unbedeutende iſt und daß eine normale Vegetation ohne
die Aufnahme von genügenden Aſchenbeſtandtheilen überhaupt
nicht ſtattfindet. Leider hat es Sauſſure verſäumt, dieſe Er-
gebniſſe mit dem nöthigen Nachdruck und mit dem Hinweis auf
ihre principielle Wichtigkeit hervorzuheben, ſo daß noch bis in die
dreißiger Jahre hinein Zweifel an der Nothwendigkeit der Aſchen-
beſtandtheile für die Vegetation erhoben wurden.
Daß ein Theil der lebendigen Pflanzenſubſtanz ſtickſtoffhaltig
ſei, war damals zwar bekannt, fraglich jedoch, wie die Pflanzen
den Stickſtoff aufnehmen. Da man wußte, daß die Atmoſphäre
zu ⅘ aus dieſem Gas beſteht, ſo lag die Annahme ſehr nahe,
daß die Pflanze eben dieſes zur Bildung ſtickſtoffhaltiger Sub-
ſtanz benutzte. Sauſſure ſuchte dieſe Frage auf volumetriſchem
Weg zu entſcheiden, der, wie ſich ſpäter zeigte, in dieſem Falle
allerdings nicht genügt. Trotzdem traf er das Richtige, daß
nämlich das atmoſphäriſche Stickſtoffgas von den Pflanzen nicht
aſſimilirt wird. Der Stickſtoff mußte alſo in Form irgend einer
chemiſchen Verbindung und zwar von den Wurzeln aufgenommen
werden. Sauſſure unterließ es jedoch, dieſe Frage durch Ve-
getationsverſuche zu entſcheiden und begnügte ſich mit der Ver-
muthung, daß die vegetabiliſchen und animaliſchen Extracte des
Bodens, ſowie die ammoniakaliſchen Dünſte von den Pflanzen
als Stickſtoffquelle benutzt werden. Erſt ein halbes Jahrhundert
ſpäter wurde dieſe von Sauſſure allerdings ventilirte Frage,
nachdem ſie zu langwierigen Streitigkeiten Anlaß gegeben, durch
Vegetationsverſuche von Bouſſingault entſchieden.
Im Zuſammenhang mit ſeiner Unterſuchung über die Be-
deutung der Aſchenbeſtandtheile legte ſich Sauſſure auch die
Frage vor, ob die Wurzeln die ihnen dargebotenen Löſungen
[543]Begründung der neuen Ernährungslehre etc.
von Salzen oder anderen Subſtanzen unverändert aufnehmen.
Er fand zunächſt, daß allerdings die verſchiedenſten, auch giftigen
Stoffe aufgeſogen werden, daß alſo ein Wahlvermögen in dem
Sinne, wie es Jungius einſt vermuthet hatte, allerdings nicht
beſteht; dagegen ergab ſich aber auch, daß die Löſungen doch
nicht unverändert in die Wurzel eintreten, daß vielmehr bei
ſeinen Verſuchen jederzeit mehr Waſſer als Salz, als der Zu-
ſammenſetzung der Löſung entſprach, aufgenommen wurde, und
daß bei ſonſt gleichen Verhältniſſen einige Salze in größerer,
andere in geringerer Quantität in die Pflanze übergehen. Damals
und noch lange nachher war es jedoch nicht möglich, dieſe That-
ſachen zu verſtehen und richtig zu deuten; noch fehlte die Theorie
der Diffuſionen und noch mußten fünf bis ſechs Decennien ver-
gehen, bis es gelang, in dieſe von Sauſſure angeregten Fragen
Licht zu bringen.
Das hier Mitgetheilte dürfte die wichtigſten Ergebniſſe von
Sauſſure's 1804 erſchienenem Werke wiedergeben. Was er
ſpäter noch in einigen wichtigen Fragen der Pflanzenphyſiologie
leiſtete, wird weiterhin erwähnt werden. Vergleicht man aber
den Inhalt der recherches chimiques mit dem, was vor 1780
über die chemiſche Seite der Pflanzenernährung bekannt war, ſo
erregt der ungeheure Fortſchritt in dieſen 24 Jahren die leb-
hafteſte Bewunderung. Die letzten Decennien des 18. Jahr-
hunderts hatten ſich für die Theorie der Pflanzenernährung wo-
möglich noch fruchtbarer erwieſen, als die letzten Decennien des
17. Jahrhunderts; beide Perioden haben überhaupt für den
Fortſchritt der geſammten Pflanzenkunde nach allen Richtungen
hin die außerordentliche Fruchtbarkeit in der Entwicklung neuer
Geſichtspuncte gemein. Aber auch darin ſind beide Perioden
einander ähnlich, daß auf jede derſelben eine längere Zeit der
Ermattung folgte; wie ſich die Zeit von Hales bis auf Ingen-
Houß höchſt unfruchtbar erwies, ſo auch die nächſten dreißig
Jahre nach Sauſſure's grundlegendem Werk, obgleich hinzu-
geſetzt werden muß, daß in dieſer Zeit wenigſtens in Frankreich
manches Gute geleiſtet wurde, während in Deutſchland die neue
[544]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Ernährungstheorie der Pflanzen gerade von Seiten der Haupt-
vertreter der Botanik den gröbſten Mißverſtändniſſen erlag, wie
im folgenden Abſchnitt noch gezeigt werden ſoll. Es darf aber
nicht verſchwiegen werden, daß eines dieſer Mißverſtändniſſe,
welches ſich ſogar bis in die ſechziger Jahre hinein erhalten hat,
von Sauſſure ſelbſt veranlaßt worden iſt. Er hatte beob-
achtet, daß die rothen Blätter einer Varietät der Gartenmelde
ebenſoviel Sauerſtoff aus Kohlenſäure entbinden, wie die grünen
Blätter der gewöhnlichen Art. Sehr voreilig in dieſem Fall zog
er aus dieſer vereinzelten Wahrnehmung den Schluß, die grüne
Farbe ſei kein weſentlicher Charakter derjenigen Theile, welche
Kohlenſäure zerſetzen; obgleich er nur nöthig gehabt hätte, die
Oberhaut jener rothen Blätter abzuziehen, um ſich zu überzeugen,
daß das innere Gewebe derſelben, ebenſo intenſiv grün gefärbt
iſt, wie bei gewöhnlichen grünen Blättern. Der ſonſt ſo äußerſt
ſorgfältige Beobachter, war hier nachläſſig und ſpätere Schrift-
ſteller verfehlten nicht, wie es gewöhnlich geſchieht, ſich gerade
an dieſen einen ſchwachen Punct zu hängen und eine der wich-
tigſten Thatſachen der Pflanzenphyſiologie, daß nämlich nur die
chlorophyllhaltigen Zellen Sauerſtoff abſcheiden, immer wieder in
Frage zu ziehen.
5.
Lebenskraft. - Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
1804-1840.
In den fünfzehn bis zwanzig Jahren nach dem Erſcheinen
von Sauſſure's chemiſchen Unterſuchungen wurde die Theorie
der Pflanzenernährung kaum in irgend einer Richtung gefördert
und was noch ſchlimmer war, es wurde das bereits Geleiſtete
nicht einmal verſtanden. Verſchiedene Umſtände wirkten zuſammen,
Mißverſtändniſſe gerade auf dem Gebiet der Ernährungslehre
herbeizuführen: vor Allem die in jener Zeit ſtärker als früher
hervortretende Neigung, den Organismen eine beſondere Lebens-
kraft zuzuſchreiben, die man mit den mannigfaltigſten Kunſt-
[545]Lebenskraft. - Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
fertigkeiten ausſtattete, ſogar mit der Fähigkeit, Elementarſtoffe,
Wärme und Anderes aus Nichts zu erzeugen; wo irgend ein
Vorgang in den Organismen der phyſikaliſch chemiſchen Erklärung
Schwierigkeiten darbot, da überließ man es einfach der Lebens-
kraft, die fraglichen Erſcheinungen in unerklärlicher Weiſe zu
Stande zu bringen. Es handelte ſich dabei nicht um die ſpäter
von tieferen Denkern behandelte Frage, ob überhaupt außer den
allgemeinen, die unorganiſche Natur beherrſchenden Kräften, noch
irgend ein beſonderes Agens in den Organismen thätig ſei.
Denn gerade eine ſorgfältige Unterſuchung dieſer Frage hätte zu
den ernſthafteſten Verſuchen, die Lebenserſcheinungen ohne Reſt
phyſikaliſch oder chemiſch zu erklären, hinführen müſſen; ſtatt
deſſen aber machte man es ſich bequem, und ließ die als er-
wieſen angenommene Lebenskraft die allerverſchiedenſten Dinge
vollbringen, wobei man ſich der Mühe, die Art, wie dieß be-
wirkt werde, zu erklären, überhob; die Annahme der Lebenskraft
wurde nicht als eine die Unterſuchung anſpornende Hypotheſe,
ſondern als ein jedes Nachdenken überflüſſig machendes Geſpenſt
behandelt. Dazu kam nun noch, wo ſich die Ernährungsfragen
um die Saftbewegung drehten, die höchſt mangelhafte Kenntniß
der inneren Struktur der Pflanzen, deren Zuſtand wir bereits
im zweiten Buch kennen gelernt haben. So wurde z. B. die
Frage nach dem abſteigenden Saft durch Du Petit-Thouart's
Theorie von den zwiſchen Rinde und Holz abſteigenden Knoſpen-
wurzeln in einer kaum glaublichen Weiſe verwirrt; Reichel's ſo
ſchlecht bewieſene Anſicht vom Aufſteigen des Saftes in den
Holzröhren war jetzt ſo ziemlich Gemeingut geworden und noch
ſchlimmer war es, daß Andere die Interzellularräume des Paren-
chyms für die eigentlich ſaftführenden Organe hielten; noch 1812
mußte Moldenhawer und zwar ohne durchſchlagenden Erfolg
den Luftgehalt der Holzgefäße nachweiſen und noch 1821 Tre-
viranus hervorheben, daß die Spaltöffnungen dem Ein- und
Austritt der Luft dienen. Was die Naturphiloſophen, wie Kieſer
z. B., über Ernährung und Saftbewegung ſagten, braucht hier
nicht einmal weiter beachtet zu werden; aber auch diejenigen,
Sachs, Geſchichte der Botanik. 35
[546]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
welche ſich von den Auswüchſen dieſer Richtung fern hielten,
waren nicht im Stande, die Leiſtungen von Ingen-Houß,
Senebier und Sauſſure zu benutzen oder gar zu fördern.
Um nur ein Beiſpiel hervorzuheben, ſoll aus Link's 1807 er-
ſchienenen, uns bereits bekannten „Grundlehren der Anatomie
und Phyſiologie“ citirt werden, was er über die Function der
Blätter ſagt; ſie iſt, heißt es daſelbſt p. 202, die Ausdunſtung
nach Hales, die Einſaugung nach Bonnet, das Ausſchwitzen
und Abſondern verſchiedener Flüſſigkeiten nach Bjerkander,
das Aufbewahren der Säfte nach Hedwig, und inſofern die
Blätter die grüne Oberfläche der Pflanze vermehren, Spaltöff-
nungen und Haare tragen, in ihrem häufigen Parenchym eine
Menge Säfte faſſen, könne man ihnen alle dieſe Funktionen zu-
ſchreiben, nur keine ausſchließlich; eigenthümlich ſei den Blättern
nur, daß ſie den jungen Theilen bereitete Säfte zuführen.“ Ge-
rade die Hauptſache, daß ſie Kohlenſäure zerſetzen, wird nicht
angeführt. Dieſe Vernachläſſigung der Lehren Ingen-Houß',
Senebier's und Sauſſure's war jedoch nicht individuell,
ſondern namentlich in Deutſchland allgemein; wie man zumal
aus den Bemühungen erſieht, die Exiſtenz eines abſteigenden
Saftes in der Rinde wieder ganz in derſelben Weiſe, wie es
bereits im 17. und 18. Jahrhundert geſchehen war, zu erweiſen,
nämlich durch den Erfolg ringförmiger Entrindungen u. dergl.,
während die einfache Erwägung, daß nur in den grünen Blättern
kohlenſtoffhaltige Pflanzenſubſtanz gebildet wird, die Exiſtenz eines
ſogenannten abſteigenden Saftes als ſelbſtverſtändlich hätte er-
ſcheinen laſſen und zu einer viel klareren Auffaſſung führen
mußte. Dieſe einfache Erwägung aber wurde auch von denen,
welche ſich experimentell mit der Bewegung des abſteigenden
Saftes beſchäftigten, entweder ganz überſehen, oder doch nur
nebenbei angedeutet; ſo z. B. ſelbſt in Heinrich Cotta's ſonſt
vielfach lehrreichen „Naturbeobachtungen über die Bewegung und
Function des Saftes in den Gewächſen“ 1806 und in Knight's
ebenfalls anderweitig brauchbaren Experimenten über das Dicken-
wachsthum der Bäume. Erſt viel ſpäter im Beginn der dreißiger
[547]Lebenskraft. - Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
Jahre brach ſich bei De Candolle und Dutrochet die Er-
kenntniß Bahn, daß die Aſſimilationsthätigkeit der grünen Blätter
für die Beurtheilung der Saftbewegung im Stamm maßgebend
ſein müſſe.
Nur ein Theil der Ernährungslehre im weiteren Sinn
wurde ſchon in den zwanziger und dreißiger Jahren weiter aus-
gebildet, theoretiſch vertieft und mit neuen Thatſachen bereichert;
dieß war die Lehre von der Sauerſtoffathmung aller Pflanzen-
theile, die ſchon deßhalb den Anſchauungen jener Zeit adäquater
war, weil hier die Analogieen mit der thieriſchen Athmung ſich
nach jeder Richtung hin von ſelbſt darbieten. Schon 1819 hatte
Grishow gezeigt, daß die Pilze überhaupt niemals Kohlenſäure
zerſetzen, ſondern immer nur Sauerſtoff einathmen und Kohlen-
ſäure aushauchen, was 1834 von Marcet noch weiter ausge-
führt wurde, nachdem ſchon vorher 1822 Th. de Sauſſure
eine ausgezeichnete Unterſuchung über die Sauerſtoffathmung der
Blüthen publicirt hatte, eine Arbeit, welche zugleich die erſte
Grundlage für die Theorie der vegetabiliſchen Eigenwärme wurde,
worauf wir noch zurückkommen. Ausführlich aber wurde zuerſt
die Sauerſtoffathmung der Pflanzen mit der der Thiere ver-
glichen von Dutrochet 1837, der auch ausdrücklich hervorhob,
daß nicht nur das Wachsthum, wie bereits Sauſſure erkannt
hatte, ſondern auch die Reizbarkeit der Pflanzen, von der Gegen-
wart des Sauerſtoffs, d. h. von ihrer Athmung abhängt. Mit
der Erkenntniß, daß die Sauerſtoffathmung bei den Pflanzen
dieſelbe Rolle ſpielt, wie bei den Thieren, brach ſich auch die
Anſicht Bahn, daß die vegetabiliſche Eigenwärme einfach eine
Folge der Athmung ſei, wie bei den Thieren. Es iſt nicht nöthig
hier ausführlich auf die vor 1822 über die Eigenwärme der
Pflanzen gemachten Verſuche einzugehen; ſie litten ſämmtlich an
einer Unklarheit der Frageſtellung, die nothwendig jeden Erfolg
vereiteln mußte; man ſuchte die Eigenwärme, von der man
annahm, ſie müſſe ſich immer durch eine Temperaturerhöhung
der Pflanze über die Umgebung geltend machen, nämlich gerade
da nachzuweiſen, wo ſie am wenigſten zu finden iſt, im Holz, in
35*
[548]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Früchten und Knollen, überhaupt in ruhenden, unthätigen Theilen.
Zudem waren die älteren Verſuche, die man in Goeppert's Buch
über die Wärmeentwicklung der Pflanzen 1830 zuſammengeſtellt
findet, auch in ihrer Ausführung ſo ungeſchickt, daß ſie unmöglich
zu einem Ergebniß führen konnten. Wenn es ſich um die Frage
handelte, ob die Pflanzen überhaupt, ähnlich wie die Thiere,
Eigenwärme erzeugen, ſo konnten die wenigen Fälle lebhafter
Wärmeentwicklung an Blüthen um ſo weniger entſcheiden, als
man ſich damals im Zuſammenhang mit der Theorie der
Lebenskraft gern dem Gedanken hingab, daß gerade die Blüthen
als Fortpflanzungsorgane wohl allein die Fähigkeit der Wärmepro-
duktion beſitzen könnten.
Schon 1777 hatte Lavoiſier die Quelle der thieriſchen
Eigenwärme in der Verbrennung kohlenſtoffhaltiger Subſtanz
durch den eingeathmeten Sauerſtoff klar erkannt und durch Ex-
perimente bewieſen. Senebier, der zuerſt die Erwärmung des
Blüthenkolbens von Arum mit dem Thermometer beobachtete,
hatte in ſeiner Phyſiologie (III p. 315) ſchon 1800 wenigſtens
die Vermuthung geäußert, daß eine kräftige Sauerſtoffathmung
die Urſache des Phänomens ſein könne. 1804 berichtete Bory
de St. Vincent, ein Plantagenbeſitzer Hubert auf Madagaskar
habe unter Anderem beobachtet, daß die Luft, in welcher ein
Aroideen-Kolben ſich erwärmt hatte, weder thieriſche Athmung
noch Verbrennung unterhalte. Dieſe Indicien wurden jedoch
nicht weiter beachtet, bis Th. de Sauſſure 1822 direkt den
Zuſammenhang zwiſchen Sauerſtoffathmung und Erwärmung der
Blüthen nachwies. Trotzdem dauerte es noch lange, bis die
Eigenwärme der Pflanzen als eine allgemeine und nothwendig
mit der Athmung verbundene Thatſache begriffen wurde. Wäre
dieß geſchehen, ſo wäre die ganze von Goeppert in ſeinem er-
wähnten Buch 1830 angehäufte Maſſe von Thatſachen überflüſſig
geweſen, durch welche der Verfaſſer beweiſen wollte, daß die
Pflanzen (p. 228) in keiner Epoche ihres Lebens die Fähigkeit
beſitzen, eine eigene Wärme zu erzeugen, eine Anſicht, die Goeppert
jedoch ſchon 1832 widerrief, indem es ihm gelungen war, an
[549]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
zuſammengehäuften Keimpflanzen, Knollen, Zwiebeln und grünen
Pflanzen eine Temperaturſteigerung nachzuweiſen. Wie ſchwer
es den Phyſiologen unter der Herrſchaft der Lebenskraft wurde,
ſich an das einfache Princip der Eigenwärme, ſtatt an vereinzelte
Beobachtungen zu halten, zeigen auch die Aeußerungen De Can-
dolle's 1835 und noch mehr die von Treviranus 1838.
Dagegen iſt erfreulich zu ſehen, wie Meyen das Princip in
ſeinem neuen Syſtem (II 1838) energiſch geltend macht und die
Wärmeentwicklung der Pflanzen als eine nothwendige Folge der
Athmung und der chemiſchen Prozeſſe hinſtellt. Meyen brachte
ſelbſt keine neuen Beobachtungen; dieß thaten aber Vrolik und
De Vrieſe 1836 und 39, indem ſie durch mühſame Experi-
mente die Abhängigkeit der Selbſterwärmung der Aroideen-
Kolben von der Sauerſtoffathmung nachwieſen. Principiell wich-
tiger aber war der von Dutrochet 1840 unternommene Nach-
weis, daß auch wachſende Sproſſen geringe Quantitäten von
Wärme erzeugen, was er mit einem thermoelektriſchen Apparat
darzuthun verſuchte; man mag im Einzelnen an dieſen Beob-
achtungen Dutrochet's Manches auszuſetzen finden; leugnen
läßt ſich jedoch nicht, daß ihnen eine klare Erkenntniß des Prin-
cips der Eigenwärme zu Grunde liegt, wenn [auch] immerhin der
Gedanke, daß Wärmebildung in der Pflanze nicht nothwendig
mit Temperaturerhöhung verbunden ſein muß, da abkühlende
Urſachen die Wärmebildung überwiegen können, noch nicht zum
Durchbruch kam. Jedenfalls war durch Sauſſure's, Vro-
lik's, de Vrieſe's und Dutrochet's Beobachtungen, ebenſo
durch Meyen's und Dutrochet's Geltendmachung des La-
voiſier'ſchen Princips die Lehre von der Eigenwärme der
Pflanzen in der Hauptſache begründet; es dauerte aber freilich
wieder mehr als dreißig Jahre, bis ſie zum Gemeingut der
Pflanzenphyſiologie erhoben wurde.
Mit der Erkenntniß, daß die Eigenwärme der Organismen
ein Produkt der durch die Athmung angeregten chemiſchen Vor-
gänge ſei, war der bisherigen rohen Auffaſſung der Lebenskraft
eine ihrer wichtigſten Stützen entzogen, denn gerade dieſe galt
[550]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſeit der ariſtoteliſchen Zeit als eine ganz ſpecifiſche Wirkung
derſelben. Nunmehr trat aber noch eine andere Entdeckung hervor,
welche nicht minder geeignet war, allgemeine und wichtige Lebens-
erſcheinungen der Pflanzen und Thiere auf mechaniſche Principien
zurückzuführen, wo man bisher ebenfalls die Lebenskraft ge-
dankenlos hatte wirken laſſen. Es iſt für uns ziemlich gleich-
giltig, ob man den Breslauer Profeſſor Fiſcher als den wahren
Entdecker der Endosmoſe (1822) betrachten will; gewiß iſt aber,
daß Dutrochet1) dieſe Naturerſcheinung zuerſt genauer ſtudirt
und vor Allem ihre außerordentliche Wichtigkeit für die Erklär-
ung gewiſſer Lebenserſcheinungen erkannt hat. Von 1826-1837
hob Dutrochet wiederholt die Bedeutung der Endosmoſe für
die Erklärung phyſiologiſcher Vorgänge hervor und verſuchte er,
die verſchiedenſten Vegetationserſcheinungen auf dieſes Agens
zurückzuführen. Er hatte die Wirkungen der Endosmoſe zuerſt
an organiſchen Gebilden und zwar in ihren mechaniſchen Effekten
kennen gelernt: der Austritt der Zooſporen eines Waſſerpilzes
und die Ausſtoßung des Sperma's aus den Samenbeuteln der
Schnecken hatten ihn zuerſt auf die Annahme geführt, daß der
von den organiſchen Häuten umſchloſſene dichtere Inhalt eine
[551]Lebenskraft. - Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
Anziehung auf das umgebende Waſſer ausübe, welches in den
geſchloſſenen Raum eindringend daſelbſt im Stande iſt, namhafte
Druckkräfte geltend zu machen. Die Hervorhebung dieſer mecha-
niſchen Wirkung der Endosmoſe und ihre Verwerthung zur Er-
klärung verſchiedener Lebenserſcheinungen iſt ganz vorwiegend ein
bleibendes Verdienſt Dutrochet's; zahlreiche Erſcheinungen, an
deren mechaniſche Erklärung man bis dahin kaum dachte, konnten
nunmehr auf ein mechaniſches Princip zurückgeführt werden, deſſen
Wirkungen ſich auch außerhalb des Organismus an künſtlichen
Apparaten hervorrufen und genauer ſtudiren ließen. Mit Recht
legte Dutrochet beſondern Werth darauf, daß ſich durch Endos-
moſe und Exosmoſe ohne Weiteres die verſchiedenen Turgescenz-
zuſtände des Pflanzengewebes erklären laſſen, wenn er auch, wie
es in ſolchen Fällen zu geſchehen pflegt, das neu erkannte Er-
klärungsprincip ſelbſt da zur Geltung brachte, wo es nicht am
Orte war, wie wir noch weiter ſehen werden. Was Dutrochet
über das Weſen der Endosmoſe ſelbſt zu Tage förderte, kann
gegenwärtig als durchaus veraltet betrachtet werden und ebenſo-
wenig gelang es dem Mathematiker Poiſſon und dem Phyſiker
Magnus im Beginn der dreißiger Jahre eine genügende Theorie
der Endosmoſe und der Exosmoſe aufzuſtellen. Erſt im Lauf
der nächſten zwanzig bis dreißig Jahre zeigte ſich, daß die von
Dutrochet beobachteten Erſcheinungen, welche er als Endosmoſe
und Exosmoſe bezeichnet hatte, nur beſondere complicirtere Fälle
der ſogenannten Hydrodiffuſion darſtellen, die ſelbſt wieder mit
der Gasdiffuſion ein weitläufiges Feld der Molecularphyſik aus-
macht. Dutrochet hatte ebenſo, wie ſeine nächſten Nachfolger
ſeine Unterſuchungen über die Osmoſe mit thieriſchen und com-
plicirt gebauten pflanzlichen Häuten ausgeführt, und mit dieſen
jedesmal außer dem endosmotiſchen Strom, welcher das Waſſer
zu der dichteren Löſung hinführte, einen Austritt von gelöſter
Subſtanz ſelbſt erhalten, woraus er ſchloß, daß durch die die
beiden Flüſſigkeiten trennende Haut immer zwei entgegengeſetzte
Strömungen ſtattfinden müſſen, daß nach ſeiner Ausdrucksweiſe
mit der Endosmoſe auch immer Exosmoſe verbunden ſei; dieſer
[552]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen
Irrthum, der ſpäter ſogar zu einer Theorie vom endosmotiſchen
Aequivalent ausgebildet wurde, hat bis auf die neuere Zeit ganz
weſentlich dazu beigetragen, die Zurückführung gewiſſer Vegeta-
tionserſcheinungen auf die Vorgänge der Hydrodiffuſion unmöglich
zu machen oder zu erſchweren; um hier nur Ein Beiſpiel zu
nennen, hob ſchon Schleiden mit Recht hervor, daß, wenn die
Endosmoſe in Dutrochet's Sinn die alleinige Urſache der
Aufnahme des Waſſers durch die Wurzeln ſei, nothwendig auch
eine entſprechende Exosmoſe an den Wurzeln ſtattfinden müſſe;
eine ſolche, ſogenannte Wurzelausſcheidung glaubte nun freilich
Macaire Prinſep aufgefunden zu haben und ſelbſt Liebig
hielt bis in die neuere Zeit an der Exiſtenz einer ſolchen feſt,
obgleich ſchon Wiegman und Polstorff 1842 und ſpätere ſorg-
fältigere Unterſuchungen zeigten, daß den großen Mengen von
Waſſer und darin gelöſten Stoffen, welche die Wurzeln auf-
nehmen, keine irgendwie nennenswerthe Ausſcheidung durch Exos-
moſe entſpricht. Auch genügte Dutrochet's Endosmoſentheorie
noch keineswegs, Rechenſchaft davon zu geben, wie die einzelnen
Nährſtoffe in die Pflanze eintreten und in ihr ſich verbreiten.
Trotz dieſer und mancher anderer Mängel jedoch verdiente ſie
nicht bloß deßhalb die größte Beachtung, weil ſie den erſten
Anſtoß zu der ſpäteren Ausbildung der Diffuſionstheorie gab,
ſondern ebenſoſehr, weil in ihr ein mechaniſches Princip zur Er-
klärung der verſchiedenſten, bis dahin unerklärten Vegetations-
erſcheinungen lag. Dutrochet verſäumte auch nicht, dieſes
Letztere wo nur irgend thunlich, zur Geltung zu bringen; ſo vor
Allem in ſeiner Abhandlung über den auf- und abſteigenden
Saft. (Memoires 1837 I p. 365 ff.), welche ſich vor allem
bis dahin über die Saftbewegung in den Pflanzen Geſchriebenen
durch Klarheit der Frageſtellung und Ueberſichtlichkeit der Be-
handlung des Thema's auszeichnet. Namentlich iſt hervorzuheben,
daß Dutrochet die Bedeutung der Blattfunktion ſowohl für den
aufſteigenden, wie für den abſteigenden Saft richtig erkannte und
zum Theil ſogar den principiellen Fehler andeutete, der in den
früheren Experimenten mit Aufſaugung farbiger Flüſſigkeiten
[553]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
liegt. Nachdem er eine Reihe ſehr guter Beobachtungen über
die Wege des auf- und abſteigenden Saftes mitgetheilt, namentlich
auch hervorgehoben, daß die Holzgefäße der Rebe nur zur Zeit
des Blutens im Frühjahr der Saftbewegung dienen, dagegen im
Sommer, wo durch die Transſpiration die lebhafteſte Waſſer-
ſtrömung im Holz hervorgerufen wird, Luft führen; ging er zur
Betrachtung der Kräfte über, durch welche ſowohl im Frühjahr
wie im Sommer die Bewegung des im Holz aufſteigenden Saftes
vermittelt wird. Sehr zweckmäßig unterſcheidet er zunächſt was
bis dahin immer vermengt worden war, das Austhränen abge-
ſchnittener Wurzelſtöcke von dem Aufſteigen des Saftes im Holz
transſpirirender Pflanzen; das Erſte findet nach ihm durch Im-
pulſion, das Andere durch Attraktion ſtatt, oder wie wir jetzt
ſagen würden, bei thränenden Wurzelſtöcken wird das Waſſer
hinaufgepreßt, bei transſpirirenden Pflanzen hinaufgeſogen. Die
Erſcheinung der Impulſion nun führt er auf die Endosmoſe an
den Wurzeln zurück und, ohne viel auf das Detail der anato-
miſchen Verhältniſſe einzugehen, vergleicht er einen blutenden
Wurzelſtock mit ſeinem Endosmometer, in deſſen Steigrohr ſich
in Folge der Endosmoſe die eingeſogene Flüſſigkeit erhebt und
oben ſogar ausfließt; ein tieferes Verſtändniß der Erſcheinung
war damit freilich nicht erzielt, aber doch wenigſtens das Er-
klärungsprincip angedeutet. Ebenſo ſuchte Dutrochet nun
auch die Bewegung des im Holz aufſteigenden Waſſers trans-
ſpirirender Pflanzen durch Endosmoſe im Holz von Zelle zu Zelle
zu erklären. Das war nun freilich, wie die Zukunft lehrte,
durchaus verfehlt, ſehr gut aber verſtand es Dutrochet, die
früher verſuchten mechaniſchen Erklärungen als unrichtig zu kenn-
zeichnen und die ganze Abhandlung iſt, wenn auch in ihrem
Hauptergebniß ungenügend, doch durch eine große Zahl ſinn-
reicher Experimente und ſcharfſinniger Bemerkungen ausgezeichnet.
Ueberhaupt war Dutrochet in den zwanziger und dreißiger
Jahren neben Theodor de Sauſſure, der ſich ausſchließlich
mit chemiſch-phyſiologiſchen Fragen beſchäftigte, der einzige Ver-
treter der Pflanzenphyſiologie, der ſich mit allen wichtigeren
[554]Geſchichte der Ernährungtheorie der Pflanzen.
Fragen derſelben eingehend und experimentell befaßte: ſeiner
trefflichen Abhandlung über die Athmung der Pflanzen wurde
bereits oben gedacht; ſie iſt außerdem noch deßhalb für ihre
Zeit von großem Gewicht, weil Dutrochet hier zuerſt die
chemiſchen Vorgänge der Athmung, den Ein- und Austritt der
Gaſe mit den Luftwegen der Pflanze, den Spaltöffnungen, Ge-
fäßen und Interzellularräumen in richtigen Zuſammenhang
brachte und die Zuſammenſetzung der in den Hohlräumen der
Pflanzen enthaltenen Luft einer ſorgfältigen Betrachtung unter-
zog; auch dieſe Abhandlung war zu ihrer Zeit 1837 und noch
lange nachher das Beſte, was man über die Athmung der
Pflanzen leſen konnte und wenn er auch darin einen Mißgriff
beging, daß er als das Hauptagens bei der Athmung den von
der Pflanze ſelbſt im Licht entbundenen Sauerſtoff betrachtete,
während die ſonſtige Sauerſtoffaufnahme ihm nur als ſubſidiäre
galt, ſo entſchädigte doch dafür die entſchiedene Betonung der
Thatſache, daß nur chlorophyllhaltige Zellen Sauerſtoff entbinden
und noch mehr die richtige Unterſcheidung zwiſchen Athmung
durch Sauerſtoffaufnahme und der Kohlenſäurezerſetzung am Licht;
dieſe beiden Vorgänge wurden ſchon damals und ſpäter ſehr
unzweckmäßiger Weiſe als Tages- und Nachtathmung der Pflanzen
unterſchieden und dieſe ganz ſchiefe, das Verſtändniß durchaus
hindernde Ausdrucksweiſe iſt dann trotz des 1851 auch von
Garreau erhobenen Proteſtes doch bis in die ſechziger Jahre
hinein beibehalten worden, wo es endlich einem neueren deutſchen
Pflanzenphyſiologen gelang, die richtige Unterſcheidung zwiſchen
Athmung und Aſſimilation der Pflanzen allgemein zur Geltung
zu bringen. — Auch mit dem Worte Saftcirculation wurde in
den dreißiger Jahren eine arge Verwirrung angerichtet: Man
glaubte in der von Corti entdeckten, von Amici genauer be-
ſchriebenen „Circulation des Saftes“ (Protoplasma's) in den
Schläuchen der Charen einen Beweis für die Exiſtenz einer
Saftcirculation auch in höheren Pflanzen finden zu müſſen;
Dutrochet (Memoires I. p. 431) wies ausdrücklich dieſe Be-
griffsverwirrung zurück und erwarb ſich zugleich das Verdienſt,
[555]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
die „Circulation des Lebensſaftes“, welche Schultz-Schultzenſtein
von der Pariſer Akademie ſich mit einem Preis hatte krönen
laſſen, als einen groben Irrthum zurückzuweiſen.
Auf ſeine ſehr ausführlichen Unterſuchungen über die Reiz-
bewegungen der Pflanzen, die er ebenfalls zuerſt auf endos-
motiſche Turgescenzänderungen in den Geweben zurückzuführen
ſuchte, ohne jedoch den anatomiſchen Bedingungen derſelben ge-
recht zu werden, kommen wir im folgenden Kapitel noch zurück.
Hier aber mag noch die Bemerkung Platz finden, daß Dutro-
chet's Leiſtungen, zumal in Deutſchland vielfach unterſchätzt
worden ſind und zwar zum großen Schaden der Pflanzenphyſio-
logie ſelbſt. Mit Recht wurde von ſeinen jüngeren deutſchen
Zeitgenoſſen Mohl und Schleiden, ſpäter auch von Hof-
meiſter das Irrthümliche und zum Theil Willkührliche in Du-
trochet's mechaniſchen Erklärungen verſchiedener Bewegungs-
erſcheinungen nachdrücklich hervorgehoben und nicht leugnen läßt
ſich, daß er vielfach in ſehr bedenkliche Unklarheiten verfiel,
z. B. wenn er ohne erſichtlichen Zuſammenhang, als eine me-
chaniſche Bedingung des Saftſteigens, ſowie der heliotropiſchen
Krümmungen die Sauerſtoffathmung betrachtete und daß ſeine
Erklärungsverſuche häufig ſehr gezwungen und von vornherein
unwahrſcheinlich klangen: das Alles hindert jedoch nicht, daß ein
aufmerkſamer Leſer auch jetzt noch in ſeinen phyſiologiſchen
Schriften vielfach Belehrung und noch mehr Anregung zu eigener
Unterſuchung findet. Dutrochet war ein entſchieden geiſtreicher
Mann, ein ſelbſtändiger Denker, der ſich zwar oft durch ſeine
eigenen Vorurtheile beirren ließ, dafür aber den alten überlie-
ferten Schlendrian in der Behandlung phyſiologiſcher Begriffe
energiſch entgegentrat und an die Stelle behaglicher Erzählung
und bloßer Anhäufung einzelner Beobachtungen, wie ſie damals
Mode war, eine kritiſche Behandlung der Literatur ſowohl,
wie ſeiner eigenen Unterſuchungen treten ließ. Nach Sauſſure's
Recherches chimiques ſind bis zum Jahre 1840 Dutrochet's
Memoires pour servir á l'histoire anatomique et physio-
logique des végétaux et des animaux 1837 ohne Zweifel
[556]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
das Beſte, was die phyſiologiſche Literatur in dieſem langen
Zeitraum aufzuweiſen hat; hätten die ſpäteren Botaniker, ſtatt
ſich an ſeine Fehler zu hängen, das wirklich Gute in ſeiner
Geſammtauffaſſung der Pflanzenphyſiologie ſorgfältig und kritiſch
weiter kultivirt, ſo wäre dieſe Disciplin in den vierziger und
fünfziger Jahren gewiß nicht in dem Grade in Verfall gerathen,
wie es wirklich geſchehen iſt. Um zu erfahren, welche Bedeutung
Dutrochet in den dreißiger Jahren als Pflanzenphyſiolog beſaß,
braucht man ſein erwähntes Werk nur mit den beſten Lehr-
büchern der Pflanzenphyſiologie desſelben Jahrzehntes, mit denen
von De Candolle, Treviranus und Meyen zu vergleichen.
Keines derſelben erreicht an Scharfſinn und Tiefe der Behand-
lung Dutrochet's Memoires.
Die drei eben erwähnten Lehrbücher enthielten zwar wenig
oder nichts Neues auf dem Gebiet der Ernährungslehre, weder
an Thatſachen, noch an Gedanken; alle drei waren vielmehr
Sammlungen des bis dahin Bekannten und eigenthümlich war
jedem nur die Auswahl des Stoffes und die Form, welche es
der Ernährungslehre zu geben ſuchte; aber gerade hierin liegt
ein Grund, uns dieſe Bücher noch etwas näher anzuſehen, da
wir in ihnen den Zeitgeiſt, wie er ſich damals in der Pflanzen-
phyſiologie abſpiegelte und ſich auf dem Gebiet der Ernährungs-
lehre geltend machte, kennen lernen.
P. de Candolle's Werk erſchien in zwei Bänden, von
denen der erſte allein der Ernährungslehre gewidmet iſt, 1832
franzöſiſch und ſchon 1833 in deutſcher Ueberſetzung unter dem
Titel: „Pflanzenphyſiologie oder Darſtellung der Lebenskräfte
und Lebensverrichtungen der Gewächſe“ mit zahlreichen, werth-
vollen Anmerkungen des Ueberſetzers Roeper. Das Werk leidet
gleich den beiden anderen und gleich den früheren Werken von
Du Hamel, Muſtel u. a. ganz vorwiegend an einer zu
großen Breite der Behandlung, durch welche das principiell
Wichtige in einem ungeheuren Ballaſt von Thatſachen und Li-
teraturangaben ſich verbirgt. Sehr Vieles iſt darin aufgenom-
men, was entweder als gänzlich veraltet völlig wegbleiben konnte,
[557]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
oder als rein chemiſches Beobachtungsmaterial eine eigentlich
phyſiologiſche Auswerthung damals noch nicht erlaubte.
Trotzdem verdiente das Werk die große Beachtung, welche ihm
zumal in Deutſchland lange Zeit geſchenkt wurde, denn De
Candolle hatte ſich die Aufgabe geſtellt, die Pflanzenphyſio-
logie als eine in ſich abgeſchloſſene eigenartige Wiſſenſchaft zu
behandeln, gleichzeitig den phyſikaliſchen, chemiſchen, phytotomiſchen
und eigentlich biologiſchen Anforderungen gerecht zu werden und
ſo ein vollſtändiges und allſeitiges Bild des Pflanzenlebens zu
entwerfen; während gerade das Beſte, was ſeit Du Hamel
zumal über die Ernährung der Pflanzen geſchrieben worden war,
von Chemikern und Phyſikern, zum Theil von Pflanzenzüchtern,
wie Knight und Cotta herrührte, von denen jeder einſeitig
ſeinen eigenen Standpunct geltend machte, keiner aber die Ge-
ſammtheit aller Vegetationserſcheinungen in Zuſammenhang zu
bringen ſuchte; dem gegenüber iſt De Candolle's Pflanzen-
phyſiologie eben durch die Geſammtform, welche er der Wiſſen-
ſchaft zu geben ſuchte, ſeit Du Hamel's Physique des arbres
die bedeutendſte Leiſtung und wenn es darauf ankommt, zu er-
fahren, welchen Fortſchritt die geſammte Pflanzenphyſiologie und
im Beſonderen die Ernährungslehre in dem Zeitraum von
1758 — 1832 gemacht hat, ſo braucht man nur den Inhalt
dieſer beiden Werke zu vergleichen; daß dieſer Fortſchritt immer-
hin ein ſehr beträchtlicher war, wird eine kurze Ueberſicht der
geſammten Ernährungstheorie, wie De Candolle ſich dieſelbe
am Schluß des erſten Bandes zurecht legte, deutlich genug er-
kennen laſſen; zugleich zeigt uns dieſelbe, daß De Candolle
vorwiegend darauf ausging, mehr die geſammte innere Oekono-
mie der Pflanze zu klarer Vorſtellung zu bringen, als die treiben-
den Kräfte, die Urſachen und Wirkungen aufzuſuchen. Von Letz-
terem mußte ihn ſchon die Annahme der Lebenskraft abhalten.
Er unterſchied nämlich vier Arten von Kräften: die Anziehungs-
kraft, welche die phyſikaliſchen; die Wahlverwandtſchaft, welche
die chemiſchen Erſcheinungen hervorruft; ferner die Lebenskraft
als den Urquell aller phyſiologiſchen, und die Seelenkraft als
[558]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
den der pſychiſchen Phänomene. Von dieſen Kräften ſeien nur
die erſten drei in der Pflanze thätig und wenn es auch noth-
wendig ſei, genau zu unterſuchen, welche Vegetationserſcheinungen
phyſikaliſcher oder chemiſcher Natur ſind, ſo bleibe doch die
Hauptaufgabe der Pflanzenphyſiologie gerade die Erkenntniß der-
jenigen Erſcheinungen, welche durch die Lebenskraft hervorgerufen
werden. Die letzteren ſeien aber vorwiegend ſolche, welche mit
dem Tode der Pflanze aufhören (p. 6). Natürlich mußten auf
dieſe Weiſe alle eigentlichen Ernährungserſcheinungen, welche
ausſchließlich an der lebenden Pflanze auftreten, mit in das Be-
reich der Lebenskraft fallen. Man muß jedoch zugeſtehen, daß
De Candolle von ſeinem Standpunct aus einen ſehr mäßigen
Gebrauch von der Lebenskraft machte, ſich, wo irgend möglich,
an phyſikaliſch-chemiſche Erklärungen hielt und wenn es ihm
nicht gelang auf dieſem Wege Vieles, was er vitaliſtiſch erklärte,
phyſikaliſch-chemiſch zu deuten, ſo war daran weniger ſein phi-
loſophiſcher Standpunct, als vielmehr ſeine weniger auf Forſch-
ung als auf Belehrung und Ueberlieferung ausgehende Dar-
ſtellung Schuld. Zwar war De Candolle mit den Thatſachen
der Phyſik und Chemie ſeiner Zeit vielleicht beſſer als irgend
ein anderer Botaniker bekannt, und aller Anerkennung werth
iſt es, daß er neben ſeiner großartigen Thätigkeit als Syſte-
matiker und Morpholog ſich ſoviel Verſtändniß phyſikaliſch
chemiſcher Dinge aneignen konnte; aber immerhin fehlte es ihm,
in ſpäteren Jahren wenigſtens, an der Uebung und Gewohnheit
phyſikaliſchen Denkens, welches dem Phyſiologen wichtiger iſt,
als zahlreiche phyſikaliſche Einzelkenntniſſe. Das eben Geſagte
trifft jedoch den großen Syſtematiker in weit geringerem Grade
als Treviranus und Meyen, deren Werke bald darauf er-
ſchienen.
Nachdem De Candolle Alles zuſammengetragen, was
die Literatur ſeit der älteſten Zeit an phyſiologiſchen Thatſachen,
namentlich auch in den letzten Jahrzehnten an chemiſchen Unter-
ſuchungen der Pflanzenſtoffe zu Tage gefördert hatte, ſucht er
ſchließlich ein Geſammtbild der Ernährungsvorgänge der Pflanzen
[559]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
zu entwerfen: „Die Saugſchwämmchen (spongiolae, eine trüb-
ſelige Erfindung De Candolle's, die ſeitdem nicht mehr aus
der franzöſiſchen Literatur verſchwunden iſt und ſelbſt in Liebig's
neueſtem Werk noch eine Rolle ſpielt) der Wurzeln ſaugen, ver-
möge ihrer lebensthätigen Contractilität und mit Hilfe der
ihrem Gewebe inwohnenden Haarröhrchenthätigkeit und hygros-
kopiſchen Kraft, das ſie umgebende Waſſer nebſt den ſalzartigen
organiſchen oder gasförmigen Theilen ein, mit denen es etwa
beladen iſt. Durch die Wirkung einer ſich vorzüglich durch die
Contractilität der Zellen und vielleicht auch der Gefäße äußern-
den, durch die Hygroskopicität und Haarröhrchenthätigkeit des
Gewebes, ſowie den durch die Aushauchung hervorgebrachten
leeren Raum und noch andere Urſachen unterſtützten Thätigkeit
wird das von den Wurzeln eingeſogene Waſſer durch den Holz-
körper hindurch und insbeſondere in den Interzellulargängen bis
zu den blattartigen Theilen geführt. Zu den blattartigen Theilen
gelangt dieſes Waſſer indem es in ſenkrechter Richtung von den
Blättern und in ſeitlicher Richtung, zu jeder Jahreszeit, vorzüg-
lich aber im Frühling von der zelligen Hülle (Rindenparenchym)
angezogen wird; ein beträchtlicher Theil wird den Tag über
durch die Spaltöffnungen als reines Waſſer in die Außenwelt
ausgehaucht, und läßt in den Organen, in welchen dieſe Aus-
hauchung ſtattfindet, alle ſalzartigen Theile und namentlich alle
mineraliſchen Beſtandtheile, welche es enthielt, zurück. — Der
rohe Nahrungsſaft, welcher in den blattartigen Theilen anlangt,
wird daſelbſt von dem Sonnenlichte getroffen, und vermittelſt
dieſer Kraft wird das im Nahrungsſafte aufgelöſte kohlenſaure
Gas (mag dieſes nun von dem durch die Wurzeln eingeſogenem
Waſſer oder aus der atmosphäriſchen Luft herrühren, oder auch
demjenigen angehören, welches der Sauerſtoff der Luft mit dem
überſchüſſigen Kohlenſtoff der Pflanze erzeugte) während des
Tages zerſetzt; der Kohlenſtoff ſetzt ſich an die Pflanze ab, und
der Sauerſtoff wird als Gas in die Außenwelt entleert. Die
unmittelbare Folge dieſer Operation ſcheint die Bildung von
Gummi zu ſein, welches aus einem Atom Waſſer und einem
[560]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen
Atom Kohlenſtoff beſteht, und durch ſehr geringe Umänderungen
in Stärkemehl, Zucker und Holzſtoff verwandelt werden kann,
lauter Verbindungen, deren Zuſammenſetzung faſt die gleiche iſt.
Der durch dieſe Verarbeitungen gelieferte Nahrungsſaft, welcher
im einfachſten und gewöhnlichſten Zuſtande Gummi zu ſein ſcheint,
ſteigt während der Nacht, bei den Exogenen längs der Rinde
und dem Spint, bei den Endogenen längs dem Holzkörper, von
den Blättern zu den Wurzeln wieder hinab. Unterwegs ſtößt
er, vorzüglich in der Rinde und nahe bei dem Ort, wo er ge-
bildet ward, auf Drüſen oder drüſige Zellen, die ſich von ihm
vollſaugen und in ihrem inneren Raume beſondere Subſtanzen
erzeugen, von denen die meiſten nicht zur Ernährung der Pflanzen
dienen können und welche dazu beſtimmt ſind, in die Außenwelt
entleert, oder anderen Stellen des Gewebes zugeführt zu werden.
Auf ſeinem Wege ſetzt er die Nahrungsſtoffe ab, welche in dem
Holzkörper mehr oder minder mit dem aufſteigenden rohen Nahr-
ungsſafte gemengt, oder mit dem Waſſer, welches die Zellenhülle
ſeitwärts durch die Markſtrahlen an ſich zieht, eingeſogen, von
den Zellen und insbeſondere den rundlichen oder nur wenig
lang geſtreckten Zellen aufgeſogen und weiter ausgebildet werden.
Dieſe Ablagerung von Nahrungsſtoffen, welche hauptſächlich aus
Gummi, Stärkemehl, Zucker, vielleicht aus Holzſtoff, und bis-
weilen aus fettem Oel beſteht, findet häufig in dazu voraus-
beſtimmten Organen ſtatt, aus welchen dieſe Stoffe ſpäter wieder
aufgeſogen werden, um alsdann zur Ernährung anderer Organe
zu dienen. ‒ Das Waſſer, welches von der Wurzel zu den
blattartigen Theilen in die Höhe ſteigt, kommt in dieſen faſt
rein an, wenn es durch holzige Theile, deren Moleküle wenig
auflöslich ſind, ſchnell durchſtrömt. Wenn im Gegentheil das
Waſſer ſolche Stellen durchſtrömt, an denen viel rundliches, mit
Nahrungsſtoffen angefülltes Zellgewebe vorkommt, ſo fließt es
langſamer, vermengt ſich mit dieſen Stoffen und löſt ſie auf;
wird es nun durch die Lebensthätigkeit der ſich entwickelnden
Theile über dieſe Stellen hinaus angezogen, ſo gelangt es nicht
mehr als reines Waſſer, ſondern als Nahrungsſtoffe führendes
[561]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
Waſſer zu den erwähnten Theilen. Die Säfte der Pflanzen
ſcheinen hauptſächlich durch die Interzellulargänge weiter geſchafft
zu werden. Die Gefäße nehmen wahrſcheinlich in gewiſſen
Fällen an dieſen Verrichtungen Theil, dienen aber meiſtens nur
als Luftkanäle. — Wie es ſcheint, ſind die Zellen, die bei der
Ernährung wirklich thätigen Organe, in denen die Zerſetzung und
Aſſimilation der Säfte vor ſich geht. Die Cycloſe (nämlich des
Schultze'ſchen Lebensſaftes) iſt eine Erſcheinung, die nur mit der
Bereitung der Milchſäfte in genauer Verbindung zu ſtehen ſcheint
und durch die lebensthätige Contractilität der Zellwände oder
der Röhren veranlaßt wird. In jeder Zelle ſetzen ſich holzige
oder andere Subſtanzen in je nach den Arten und Nebenum-
ſtänden verſchiedenen Mengen ab und bekleiden ihre Wände; die
ungleiche Dicke dieſer abgelagerten Schicht ſcheint nach Hugo
Mohl die Veranlaſſung zur Annahme durchlöcherter Zellen ge-
geben zu haben; es erſcheinen nämlich die durchſichtig bleibenden
Stellen der Zellwände unter dem Mikroſkope wie Poren. —
Jede Zelle kann allerdings als ein Körper betrachtet werden, der
in ſeinem Innern Säfte bereitet; es ſteht aber bei den Gefäß-
pflanzen ihre Thätigkeit dermaßen mit einem aus Organen zu-
ſammengeſetzten Ganzen in Verbindung, daß eine einzelne Zelle
nicht das ganze Weſen vorſtellt, wie man es hingegen von den
unter ſich ähnlichen Zellen gewiſſer Zellularpflanzen ſagen kann.
— Einen dem Kreislaufe der Thiere wirklich ähnlichen Kreis-
lauf beobachtet man bei den Pflanzen nicht, wohl aber findet
ein abwechſelndes Auf- und Abſteigen des rohen Nahrungsſaftes
und des mit ihm oft vermengten Bildungsſaftes ſtatt. Dieſe
beiden allgemeinen Erſcheinungen werden vielleicht durch die
Contractilität der noch jungen Zellen bedingt, welches Zuſammen-
ziehungsvermögen als dann die wahre Lebensverrichtung der Pflanzen
ſein würde.“
Das für uns Fremdartige in De Candolle's Ernähr-
ungstheorie verdankt ſie ganz vorwiegend dem Vorwalten der
Lebenskraft; dabei giebt ſie jedoch die Thatſachen in ihrem Ge-
ſammtzuſammenhang und das Beſte an ihr iſt, daß im Centrum
Sachs, Geſchichte der Botanik. 36
[562]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
ſämmtlicher Ernährungsvorgänge die richtig erkannte Blattfunktion,
die Zerſetzung der Kohlenſäure am Licht und die Erzeugung der
organiſirbaren Subſtanz in den Blättern ſteht. Ganz anders
geſtalteten ſich in dieſer Beziehung die Anſichten der beiden her-
vorragendſten deutſchen Pflanzenphyſiologen am Schluß des hier
betrachteten Zeitraums: von Treviranus nämlich und Meyen,
ſo verſchieden auch beide ſonſt in ihrer Geſammtauffaſſung der
Pflanzenphyſiologie ſich darſtellen. In Treviranus gipfelt
gewiſſermaßen Alles, was die erſten drei Jahrzehnte unſeres
Jahrhunderts an Vorurtheilen und Irrthümern auf Grund der
Annahme der Lebenskraft hervorgebracht haben; zu einer Zeit,
wo Andere bereits die phyſikaliſch-mechaniſche Erklärung der Vege-
tationserſcheinungen, als das anzuſtrebende Ziel, aufſtellten, ſuchte
Treviranus noch einmal das ganze Rüſtzeug der veralteten
Lebenskraftlehre hervor, ſo zwar, daß ſeine Phyſiologie der Ge-
wächſe, als ſie 1835 erſchien, auch ſchon als veraltet gelten
konnte. In ſcharfem Gegenſatz zu ihm trat Meyen im zweiten
Band ſeines neuen Syſtems der Pflanzenphyſiologie 1838; wo
irgend möglich ſucht er die Vegetationserſcheinungen auf phyſi-
kaliſch mechaniſche und chemiſche Urſachen wieder zurückzuführen,
wenn es ihm auch ſelten gelingt, in dieſer Richtung etwas
Neues und dauernd Brauchbares zu Tage zu fördern. Denn
ihm ſowohl, wie Treviranus fehlte gründliche phyſikaliſche
und chemiſche Bildung; ſie ſtanden nicht wie einſt Hales und
Malpighi in dieſer Beziehung auf der Höhe ihrer Zeit; dabei
lag aber ein großer Unterſchied in der Behandlung der ihnen
vorliegenden Literatur: Treviranus, der in früheren Jahren
ſich um die Phytotomie namhafte Verdienſte erworben hatte, war
dieſer Aufgabe nicht gewachſen; in allen ſeinen phyſiologiſchen
Darlegungen ſpricht ſich eine greiſenhafte Gedankenſchwäche, eine
Unfähigkeit, den Zuſammenhang der Thatſachen zu überſehen,
aus; alles in den letzten Jahrzehnten Geleiſtete iſt ihm verdächtig,
faſt überall ſtützt er ſich auf das im 18. Jahrhundert Publicirte,
ja er lebt in den Vorſtellungen dieſer Vergangenheit, ohne ſich
indeſſen an der treffenden Logik und Gedankenfriſche eines Mal-
[563]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
pighi, Mariotte und Hales zu erwärmen. Ganz im Ge-
genſatz dazu erſcheint Meyen's Behandlung der Phyſiologie
friſch und jugendlich; ohne das Alte zu mißachten, hält er ſich
doch vorwiegend an die neueren Errungenſchaften der Wiſſen-
ſchaft; während Treviranus mit merkwürdigem Mißgeſchick
faſt immer das Brauchbare und Folgenreiche überſieht, findet
Meyen aus der vorliegenden Literatur gewöhnlich das Beſte
heraus; furchtſam vermeidet Treviranus, irgend eine Anſicht
entſchieden auszuſprechen und ſie feſtzuhalten, wogegen Meyen,
bei ſeiner uns bereits bekannten Maſſenproduktion, keine Zeit
findet, ſeine Gedanken zu ordnen, in ſeinem Urtheil ſich vielfach
überſtürzt und ſich häufig widerſpricht. Trotz dieſer Mängel in
Meyen's Darſtellung, erſcheint er jedoch als Vorkämpfer der
ſich neu anbahnenden Richtung; während Treviranus ganz
und gar in der Vergangenheit lebt, und in ihm keine Spur des
rüſtig ſchaffenden Geiſtes zu finden iſt, der ſich bald darauf im
Beginn der vierziger Jahre auf allen Gebieten der Naturwiſſen-
ſchaft ſo kräftig entfalten ſollte.
Betrachten wir nun, was beide auf dem Gebiet der Er-
nährungslehre leiſteten, ſo zeigen ſich die angegebenen Unterſchiede
ihrer Geſammtauffaſſung zunächſt in der Behandlung der auf-
ſaugenden Thätigkeit der Wurzel, der Mechanik des aufſteigenden
Saftes; hier iſt bei Treviranus Alles Lebenskraft, die Gefäße
des Holzes leiten vermittelſt derſelben die Säfte aus den Wurzeln
in die Blätter und dergleichen Veraltetes mehr; Meyen dagegen
acceptirt Dutrochet's Standpunct und weiſt ſogar die Wurzel-
ſchwämmchen De Candolle's zurück. Mit der Athmung weiß
Treviranus Nichts anzufangen; Meyen erklärt ſie rundweg
als eine der thieriſchen Athmung entſprechende Function und
findet in ihr die Haupturſache der Eigenwärme, welche Tre-
viranus in alterthümlicher myſtiſcher Weiſe aus der Lebens-
kraft ableitet. In Einem Punct aber ſtimmen beide überein,
in der völligen Verkennung der maßgebenden Bedeutung der
Kohlenſäurezerſetzung in den Blättern für die geſammte Ernährung
der Pflanzen. Es iſt zum Verſtändniß der Begriffsverwirrung,
36*
[564]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
welche ſich damals in die Ernährungslehre eingeſchlichen hatte
und zur richtigen Würdigung deſſen, was bald darauf Liebig
und Bouſſingault leiſteten, nöthig, noch etwas näher auf die
chemiſche Seite der Ernährungstheorie bei Treviranus und
Meyen einzugehen.
Treviranus lehnte zwar in der Einleitung ſeines Werkes
eine von der Materie trennbare Lebenskraft ab, war aber trotz-
dem ganz und gar in dem Gedankenkreiſe derſelben befangen und
machte von ihr einen viel ausgiebigeren Gebrauch als De Can-
dolle; noch ſchlimmer aber war, daß ihn ſeine höchſt mangel-
hafte chemiſche Bildung auf die grob materialiſtiſche Annahme
einer Lebensmaterie verfallen ließ (1. c. I. p. 6). Dieſe
Lebensmaterie ſei jenes halbflüſſige Weſen, welches man durch
Kochen und Fäulniß aus allen belebt geweſenen Körpern erhalte.
ſie entſtehe zwar aus den Elementen, ſei aber ſelbſt der eigent-
liche Elementarſtoff, mit dem es die Phyſiologie allein zu thun
habe; ſie ſei dem Thier- und Pflanzenreich gemeinſchaftlich, am
reinſten zeige ſie ſich in Form von Schleim, Eiweiß und Gallert;
da Thiere und Pflanzen gleichmäßig aus dieſer Lebensmaterie
beſtehen, ſo erkläre ſich, warum die Pflanzen den Thieren und
umgekehrt, die Thiere den Pflanzen zur Nahrung dienen. Im
weiteren Verfolg von Treviranus' Ernährungslehre zeigt ſich
nun, daß eine ähnliche ſchmierige Subſtanz, welche die Chemiker
den Extraktivſtoff des Bodens nannten, und den auch allerdings
viele Chemiker für einen weſentlichen Nährſtoff der Pflanzen
hielten, die eigentliche Nahrung der Pflanzen darſtelle. Der
Extraktivſtoff des Bodens war alſo die Lebensmaterie, welche
die Pflanzen aufſaugen; es war natürlich daß Treviranus
auf die Kohlenſäurezerſetzung in den Blättern kein weiteres Ge-
wicht legte, um ſo mehr, als er den chemiſchen Zuſammenhang
alles deſſen, was Ingen-Houß, Senebier und Sauſſure
geleiſtet, nicht verſtand. Die Mitwirkung des Lichts zur Er-
nährung der Pflanzen erklärte er für eine bloß „formelle Be-
dingung“ und die im Bodenwaſſer gelöſten Salze waren ihm
Reizmittel für die Wurzelenden, die ſich dadurch in „Lebensturges-
[565]Lebenskraft. — Athmung und Eigenwärme; Endosmoſe.
cenz“ verſetzt fühlten, und da für Treviranus die Blattfunk-
tionen, wie Malpighi und Hales ſie geahnt, Ingen-
Houß,
Senebier und Sauſſure ſie bewieſen hatten, nicht exiſtirte,
ſo fand nach ihm auch die Aſſimilation des Bodenſaftes einfach
unterwegs ſtatt, während er die Pflanze aufſteigend und ab-
ſteigend durchſtrömte. Es läßt ſich, wie man ſieht, Nichts kläg-
licheres denken, als dieſe Ernährungstheorie; ſie wäre ſchlecht
geweſen am Ende des 17. Jahrhunderts, ſie war ein unbegreif-
licher Rückſchritt dreißig Jahre nach Sauſſure's Werk.
Im Einzelnen iſt Vieles beſſer in Meyen's Anſichten
über die chemiſchen Vorgänge bei der Ernährung der Pflanzen;
vor Allem weiß er aus den früheren Verſuchen zu folgern, daß
die mit dem Waſſer in die Wurzeln eintretenden Salze nicht
bloß Reizmittel, ſondern Nahrungsſtoffe ſind und, wie ſchon er-
wähnt, wußte er ſich die Sauerſtoffathmung der Pflanzen nach
Sauſſure's Beobachtung trefflich zurecht zu legen; aber auch
ihm war die Kohlenſtoffaſſimilation der Stein des Anſtoßes;
wie ſo Vielen vor und nach ihm, wurde auch ihm das Ver-
ſtändniß verwirrt durch die ſimple Thatſache, daß es ſich ſowohl
bei der Ernährung, wie bei der Athmung der Pflanzen um
gasförmige Stoffe handelt; indem er beide Vorgänge als Reſpira-
tionsproceſſe in einen Topf warf, ſchien ihm die Sauerſtoffath-
mung als die allein wichtige und begreifliche Funktion; während
ihm die Kohlenſäurezerſetzung am Licht unnöthig, für den Haus-
halt der Pflanze gleichgiltig erſchien; ſtatt eine einfache Rechnung
anzuſtellen, ob die anſcheinend ſo geringe Menge der atmo-
ſphäriſchen Kohlenſäure nicht doch vielleicht ausreiche, um die
Vegetation mit Kohlenſtoff zu verſehen, erklärt er ſie einfach für
ungenügend, und weil Pflanzen in ſterilem Boden mit kohlen-
ſaurem Waſſer begoſſen nicht gedeihen wollten, war es mit der
Bedeutung der Kohlenſäure vorbei. Auch ihm war die von den
Chemikern unterdeſſen ausgebildete Humustheorie bequemer; wie
Treviranus ließ auch er den geſammten Kohlenſtoff der
Pflanzen aus Bodenextrakt ſich abſetzen, ohne auch nur die hier
einſchlägigen Thatſachen ſich genauer anzuſehen; daß ein Vege-
[566]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
tationsboden durch die Pflanzen nicht ärmer, ſondern reicher an
Humus wird, leugnete Meyen ausdrücklich. Es verſteht ſich
nun von ſelbſt, daß alles, was Treviranus und Meyen
über die chemiſche Seite der Pflanzenernährung etwa ſonſt noch
im Einzelnen richtig zu ſagen wußten, doch für eine Geſammt-
auffaſſung der Ernährungsvorgänge völlig werthlos blieb, da die
Cardinalpuncte der geſammten Ernährungstheorie der Pflanzen:
die Herkunft des Kohlenſtoffs derſelben, die Mitwirkung des Lichts
und der Atmoſphäre durchaus verkannt waren. Das Beſte, was
Ingen-Houß, Senebier und Sauſſure geleiſtet hatten,
war ſo für die deutſchen Pflanzenphyſiologen völlig abhanden
gekommen.
6.
Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
1840-1860.
Im vorigen Abſchnitt zeigte ſich bereitts, wie ſchon im Lauf
der dreißiger Jahre Anſichten hervortraten, welche geeignet waren,
die Annahme der Lebenskraft wenigſtens bei der Erklärung ein-
zelner wichtiger Vegetationserſcheinungen als überflüſſig erſcheinen
zu laſſen: ſo die Erklärung der Eigenwärme durch chemiſche
Vorgänge, die der Saftbewegung durch Diosmoſe; auch auf dem
Gebiet der Chemie, wo noch 1827 Berzelius die organiſchen
Stoffe als die unter dem Einfluß der Lebenskraft gebildeten von
den unorganiſchen unterſchieden hatte, brach ſich ſchon im Lauf
der dreißiger Jahre die Anſicht Bahn, daß ein derartiges Ein-
greifen der Lebenskraft zurückzuweiſen ſei, da es wiederholt ge-
lang, organiſche Verbindungen auf künſtlichem Wege aus unor-
ganiſchem Material, alſo ohne die Hilfe der Lebenskraft zu er-
zeugen. Ueberhaupt lag es in der nunmehr zur Geltung kommen-
den, gegen die frühere Naturphiloſophie ſich kehrenden Richtung,
die mit dem Begriff der Lebenskraft verknüpfte Unklarheit abzuweiſen
und dem Gedanken Geltung zu verſchaffen, daß die chemiſchen und
phyſikaliſchen Geſetze außerhalb wie innerhalb der Organismen in
gleicher Weiſe giltig ſind und von den hervorragenderen Vertretern
[567]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
der Naturwiſſenſchaft wurde dieſer Gedanke ſeit 1840 wie ein
Axiom, wenn auch nicht immer ausgeſprochen, ſo doch bei jedem
Erklärungsverſuch phyſiologiſcher Erſcheinungen zu Grunde gelegt.
Von dieſer Seite her alſo war der geiſtigen Bewegung
ſchon vor dem Jahre 1840 eine freiere Bahn geöffnet, und wie
auf dem Gebiet der Morphologie und Phytotomie um dieſe Zeit
die ſtreng inductive Forſchung, vor Allem die Feſtſtellung der
Thatſachen und eine ſtrengere Handhabung der Logik gefordert
wurde, ſo geſchah dasſelbe auch auf dem Gebiet der Ernährungs-
lehre. Hier handelte es ſich aber zunächſt weniger darum, neue
Thatſachen zu entdecken, als vielmehr das bereits Bekannte, das,
was Ingen-Houß, Senebier und Sauſſure geleiſtet,
richtig zu würdigen und es von all den Verirrungen der letzten
Jahrzehnte zu befreien. Die Hauptvertreter der Pflanzenphyſio-
logie, De Candolle, Treviranus, Meyen u. A. hatten
ſich die Aufgabe erſchwert, indem ſie die einzelnen Fragen der
Ernährungsphyſiologie, zumal die chemiſchen von den mechaniſchen
nicht ſtreng genug ſonderten; über einem ganz überflüſſigen Wuſt
von Nebendingen war die nächſtliegende Frage: aus was für
Stoffen denn überhaupt die Nahrung der Pflanzen beſtehe, mehr
nebenſächlich behandelt worden, und durch die von den Chemikern
und Landwirthen ausgebildete Humustheorie, die ſich bei Tre-
viranus u. A. ſo leicht in die Lehre von der Lebenskraft ein-
reihen ließ, wurde die Sache vollends verdorben. Es war
Liebig's großes Verdienſt, dieſe Unklarheiten und all den
überflüſſigen Ballaſt, der ſich an die Frage nach den Nährſtoffen
der Pflanze nach und nach angehängt hatte, zu beſeitigen und
die hier in Betracht kommenden Fragepuncte vollkommen klar zu
legen; war dieß einmal geſchehen, ſo verſtand ſich ihre Beant-
wortung faſt von ſelbſt, denn die vorliegenden Erfahrungen
lieferten dazu genügendes empiriſches Material. Manche ſich
hierbei ergebenden tiefer in das Einzelne eindringenden Fragen
erforderten dagegen neue, ausgedehnte experimentelle Unterſuchungen,
welche im Lauf der vierziger und fünfziger Jahre an Bouſſin-
gault ihren fruchtbarſten und befähigtſten Bearbeiter fanden.
[568]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Bevor wir jedoch auf eine nähere Betrachtung der Leiſtungen
Liebig's und Bouſſingault's eingehen, mag zur Charakteriſtik
der Schwenkung, welche die Anſichten in den Jahren vor und
nach 1840 erfuhren, noch einer anderen Literatur-Erſcheinung
gedacht werden. Ein ungenannter „Freund der Wiſſenſchaft“
hatte 1838 der Göttinger Akademie einen Preis für die Beant-
wortung der Frage zur Verfügung geſtellt: „ob die ſogenannten
unorganiſchen Elemente, welche in der Aſche der Pflanzen ge-
funden werden, auch dann in den Pflanzen ſich finden, wenn
ſie denſelben von außen nicht dargeboten werden; und ob jene
Elemente ſo weſentliche Beſtandtheile des vegetabiliſchen Orga-
nismus ſind, daß dieſer ſie zu ſeiner völligen Ausbildung durch-
aus bedarf.“ Der erſte Satz dieſer Frage erſcheint uns jetzt
geradezu unſinnig, inſofern er die Möglichkeit zuläßt, daß Ele-
mentarſtoffe überhaupt entſtehen, und daß ſpeciell gewiſſe Ele-
mente in den Pflanzen entſtehen ſollen, eine Annahme, die noch
ganz in den Gedankenkreis der Naturphiloſophie und Lebenskraft
gehört. Es war den Verfaſſern der gekrönten Preisſchrift: Wieg-
man und Polstorff (1842), zwei Männern der neueren
Richtung, nicht ſchwer, dieſen erſten Theil der Frage zu ver-
neinen, um ſo mehr, als die Beantwortung des zweiten Theiles
dieſe Verneinung bereits in ſich ſchloß. Die zum Zweck der
letzteren von Wiegman und Polstorff angeſtellten Unter-
ſuchungen waren in durchaus verſtändiger Weiſe eingeleitet, wenn
ſie auch immerhin noch von der Annahme ausgingen, daß ein
gewiſſes Quantum humusſaurer Verbindungen in den Nahrungs-
gemenge nicht fehlen dürfe. Ihre viel zweckmäßiger, als alle
früheren, durchgeführten Vegetationsverſuche, zeigten ſchlagend, daß
die Aufnahme der Aſchenbeſtandtheile zur normalen Ernährung
der Pflanzen nothwendig iſt und zugleich ließen es ſich die Ver-
faſſer angelegen ſein, eine Reihe anderer Ernährungsfragen in den
Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen, wobei ſich jedoch bereits der Ein-
fluß von Liebig's unterdeſſen erſchienenem Buch geltend machte.
Es war dieß die 1840 zuerſt erſchienene, ſpäter noch viel-
fach neu aufgelegte und erweiterte Schrift: „Die organiſche
[569]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Phyſiologie.“
Schon der Name des Autors, des hervorragendſten Chemikers
Deutſchlands, ließ erwarten, daß hier die Ernährungsfragen in
einer ganz anderen Form, als bisher würden behandelt werden
und dieſe Erwartung wurde nicht nur nicht getäuſcht, ſondern noch
weit übertroffen durch die Neuheit und Kühnheit, mit welcher
Liebig die wichtigſten Puncte der Ernährungstheorie beleuchtete,
das principiell Wichtige herausgriff und unbekümmert um alles
Herkommen das Nebenſächliche und Unbedeutende, was die Frage
bisher nur verwirrt hatte, ganz außer Acht ließ. Dazu kam,
daß ſich Liebig gerade in den wichtigſten Puncten auf längſt
bekannte Thatſachen ſtützen konnte und daß er dieſelben nur mit
dem Licht ſeines chemiſchen Wiſſens zu beleuchten brauchte, um
an die Stelle des bisherigen Dunkels, plötzlich Klarheit treten
zu laſſen. Seiner Hauptabſicht entſprechend, die organiſche Chemie
und Pflanzenphyſiologie der Agricultur dienſtbar zu machen,
richtete Liebig die Schärfe ſeiner Kritik zunächſt gegen die bisher
von den Chemikern und Landwirthen ausgebildete, von verſchie-
denen Pflanzenphyſiologen unbedachtſam angenommene Humus-
theorie; ſie mußte vor Allem beſeitigt ſein, wenn die Frage
beantwortet werden ſollte, aus welchen Stoffen die Nahrungs-
ſubſtanz der Pflanzen beſteht; denn die Humustheorie war nicht
nur unrichtig, ſondern viel ſchlimmer als das, ſie war das Produkt
einer Gedankenloſigkeit, welche die ganz offen daliegenden That-
ſachen überſah; Liebig zeigte, daß der ſogenannte Humus durch
die Vegetation nicht nur nicht vermindert, ſondern beſtändig ver-
mehrt wird, daß der vorhandene zur Ernährung einer kräftigen
Vegetation auf die Dauer gar nicht hinreichen würde und daß
er von Pflanzen überhaupt nicht aufgenommen wird. War dieß
einmal feſtgeſtellt, und Liebig's Berechnungen ließen darüber
keinen Zweifel, ſo blieb eben nur eine einzige Quelle des Kohlen-
ſtoffs der Pflanze übrig: die atmoſphäriſche Kohlenſäure, von
welcher eine ſehr einfache, auf die eudiometriſchen Ergebniſſe ge-
ſtützte Rechnung darthat, daß ihre Quantität auf undenkliche
Zeiten hinaus für die Vegetation der geſammten Erde ausreicht.
[570]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Freilich ging Liebig in ſeinem Eifer viel zu weit, wenn er in
der ächten Athmung der Pflanzen, weil dieſelbe mit Kohlenſäure-
Aushauchung verbunden iſt, etwas Widerſinniges fand und die
Thatſächlichkeit derſelben einfach beſtritt. Dagegen fand erſt jetzt
die von Sauſſure feſtgeſtellte Thatſache, daß mit dem Kohlen-
ſtoff zugleich die Elemente des Waſſers aſſimilirt werden, ihre klare
theoretiſche Beleuchtung. Beſſer als Sauſſure verſtand es Liebig,
die ganze Bedeutung dieſer Thatſache für die Ernährungstheorie
zu verwerthen. Doch waren es nicht dieſe gewichtigen Erwäg-
ungen, welche von den Anhängern und Gegnern Liebig's in
erſter Linie beachtet wurden; die praktiſche Tendenz ſeines Buches
brachte es vielmehr mit ſich, daß ſich die Diskuſſion, welche das-
ſelbe zumal bei Chemikern und Landwirthen hervorrief, vorwie-
gend um die Frage nach der Herkunft des Stickſtoffs der Pflan-
zenſubſtanz drehte. Wie den Kohlenſtoff, ſo ließ die bisherige
Humustheorie auch den Stickſtoff in Form organiſcher Verbind-
ungen in die Pflanzen eintreten. Sauſſure hatte zwar in
ſeinem grundlegenden Werk 1804, wie wir ſahen, das Ammoniak
als eine Stickſtoffverbindung genannt, welche mit in Betracht ge-
zogen werden könne, ohne jedoch zu einer beſtimmteren Ent-
ſcheidung zu gelangen. Von ganz anderen Geſichtspuncten aus-
gehend, geſtützt auf ſeine eigenen Unterſuchungen über die Natur
des Stickſtoffs und ſeiner Verbindungen, kam dagegen Liebig
zu dem Reſultat, daß das Ammoniak in letzter Inſtanz die
einzige Quelle des Stickſtoffs der Pflanzenſubſtanz ſein müſſe und
daß das Ammoniak in der Atmoſphäre und im Boden vollkommen
hinreiche, um die Vegetation mit genügenden Stickſtoffmengen
zu verſehen, gerade ſo, wie die atmoſphäriſche Kohlenſäure zuletzt
die einzige Quelle alles Kohlenſtoffs der Pflanzen iſt; und ſo
kam Liebig zu dem Schluß: „Kohlenſäure, Ammoniak und
Waſſer enthalten in ihren Elementen die Bedingungen zur Er-
zeugung aller Thier- und Pflanzenſtoffe während ihres Lebens.
Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer ſind die letzten Produkte des
chemiſchen Proceſſes ihrer Fäulniß und Verweſung.“
Weniger glücklich, unſeres Bedünkens, war wenigſtens in der
[571]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
Form der Darſtellung, was Liebig über die Nothwendigkeit
und ſpecifiſche Bedeutung der Aſchenbeſtandtheile für die Er-
nährung der Pflanze ſagt. Statt den Nachdruck auf die experi-
mentelle Beantwortung der Frage zu legen: welche Beſtandtheile
der Aſche ſind für das Gedeihen einer oder aller Pflanzen ab-
ſolut unentbehrlich, verlor ſich Liebig hier in geiſtreiche che-
miſche Theorieen, welche über die Bedeutung der unorganiſchen
Baſen für die Bindung der Pflanzenſäuren Auskunft geben
ſollten, über die gegenſeitige Erſetzbarkeit verſchiedener Baſen u. ſ. w.
Es iſt für unſern Zweck nicht nöthig, den Anwendungen zu
folgen, welche Liebig von ſeinen theoretiſchen Betrachtungen auf
die Agricultur machte und noch viel weniger brauchen wir uns
hier mit dem ungeheuren Aufſehen und den Diskuſſionen zu be-
faſſen, welche Liebig's Werk unter praktiſchen und theoretiſchen
Landwirthen und Agriculturchemikern hervorrief. Reiner und
beſtimmter, als auf dieſen Gebieten trat der wiſſenſchaftliche
Gewinn von Liebig's Betrachtungen über die Ernährung der
Pflanzen bei den Pflanzenphyſiologen hervor; für dieſe kamen
ganz vorwiegend die oben hervorgehobenen Puncte in Betracht.
Zwar rief Liebig's Werk auch hier lebhaften Widerſpruch
hervor und gerade die beiden Hauptvertreter der Pflanzenphy-
ſiologie im Anfang der vierziger Jahre, Schleiden und Mohl,
traten mit ſchonungsloſer Kritik gegen ihn auf, die zum Theil
jedenfalls durch die eigenthümliche Beweisführung Liebig's,
durch die den Botanikern ganz ungewohnte deduktive Behandlung
phyſiologiſcher Fragen hervorgerufen war; außerdem aber hielten
es beide für ihre Pflicht, den ehrenrührigen Auslaſſungen Liebig's
gegen die Pflanzenphyſiologen entgegenzutreten. Dieſen letzteren
und den Botanikern hatte er nämlich die Verantwortung für
den ganzen Nonſens der Humustheorie und ihrer Dependenzen
aufgebürdet, und mit Recht fragte Mohl, ob etwa Sauſſure,
Davy, Carl Sprengel, Berzelius, Mulder, welche die
Humustheorie begründet hatten, Botaniker ſeien. Ganz über-
flüſſig aber war, daß Mohl, Schleiden u. A. ſich durch
Liebig's Vorwurf getroffen fühlten, inſofern es ſich um Pflan-
[572]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
zenphyſiologen von Fach handelte; ſie waren das ebenſowenig
wie Davy, Berzelius oder Mulder. Pflanzenphyſiologen
von Fach, officielle öffentliche Vertreter der Pflanzenphyſiologie
gab es ja überhaupt nicht und damals wie jetzt wurde eben
Jeder, der ſich gelegentlich mit pflanzenphyſiologiſchen Fragen
beſchäftigte, als Pflanzenphyſiolog bezeichnet. Die Polemik lief
in dieſer Beziehung alſo auf einen Wortſtreit hinaus, während
Liebig, Mohl und Schleiden ſich die ſchöne Gelegenheit
entgehen ließen, dem Gedanken öffentlich Geltung zu verſchaffen,
daß es hohe Zeit ſei, für eine ſo wichtige Disciplin endlich öf-
fentliche officielle Vertreter anzuſtellen, die ſich ihr ganz aus-
ſchließlich widmen konnten; wie ſollte man von den Profeſſoren
der Botanik, von denen Regierung und Publikum die Förderung
und Ueberlieferung der Syſtematik, nunmehr auch die der Phyto-
tomie, zudem die der Pharmacognoſie erwarteten, und denen die
Verwaltung botaniſcher Gärten einen guten Theil ihrer Zeit
raubte, eine energiſche Förderung der Pflanzenphyſiologie er-
warten, die ihrerſeits ausgedehnte phyſikaliſche und chemiſche
Studien verlangt, und wo waren denn die Laboratorien und die
Inſtrumente zum fachmäßigen Betrieb der Pflanzenphyſiologie?
Dieß Alles wurde nicht angeregt und ſo blieb es denn einſtweilen
bei altem Herkommen.
In der Sache ſelbſt bezog ſich übrigens die von Mohl,
Schleiden, verſchiedenen Agriculturchemikern u. dgl. gegen
Liebig erhobene Polemik mehr auf Nebendinge, zu denen auch
das gerechnet werden konnte, daß Liebig von den anatomiſchen
Verhältniſſen der Pflanze ſo gut wie Nichts verſtand. Denn
Hauptſache war, daß er die ſchiefen Anſichten über die wahre
Natur der Pflanzennahrung zurecht gerichtet, grobe Irrthümer
abgewieſen, das principiell Wichtige vom Unbedeutenden ge-
ſondert hatte. Daß ihm dieß vollkommen gelungen war, zeigt
die geſammte Literatur über die Pflanzenernährung nach 1840;
auch die erwähnten Streitſchriften ſtanden in der Hauptſache auf
dem von Liebig geklärten Boden. Auf einmal wußten jetzt Alle,
welche Bedeutung die Kohlenſäurezerſetzung in grünen Pflanzen-
[573]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
theilen habe, daß die Aſchenbeſtandtheile für die Vegetation nicht
bloß ein Gewürz ſind u. dergl. m.; für Alle war in dieſen
Dingen ein feſter Boden gewonnen, eine Anzahl von wiſſen-
ſchaftlichen Sätzen zum dauernden Gemeingut geworden; das
ſchloß freilich nicht aus, daß es nunmehr für die Andern ein
Verdienſt war, die übrigen von Liebig aufgeſtellten Theorieen
zu prüfen, z. B. ſeinen großen Mißgriff Betreffs der Athmung
der Pflanzen zu corrigiren, was Mohl mit Nachdruck that.
Es iſt bei den hier verfolgten Aufgaben weder möglich noch
thunlich, auf alle die Einzelheiten einzugehen, welche in Folge
der von Liebig gegebenen Anregungen nunmehr bis in die ſech-
ziger Jahre hinein diskutirt wurden, zumal alles das, was über
die erſten Aſſimilationsprodukte in den Pflanzen und ihre etwaigen
weiteren Metamorphoſen durch den Stoffwechſel zur Sprache
kam: ob die baſiſchen Mineralbeſtandtheile nur weſentlich zur
Bindung von Pflanzenſäuren dienen, ob dieſe letzteren die erſten
Produkte der Aſſimilation ſind, oder ob dieſe ſofort Kohlenhydrate
erzeugt u. ſ. w. mehr bloße Vermuthung, Deduktion und Com-
bination blieb, die ſich auf ſichere Beobachtungen und geeignete
Methoden nicht ſtützte; erſt nach 1860 wurden in dieſer Richt-
ung neue Wege eingeſchlagen und Reſultate von Belang erzielt.
Viel wichtiger war in jener Zeit für den Fortſchritt der Wiſſen-
ſchaft die weitere Bearbeitung der Frage nach der Herkunft des
in den Pflanzen aſſimilirten Stickſtoffs; eine definitive Entſcheid-
ung hierüber war um ſo nöthiger, als Liebig's Deduktionen noch
manchen Zweifeln Raum gaben und gerade der berühmteſte Ver-
treter der Pflanzenphyſiologie, Theodor de Sauſſure, in
ſeinen alten Tagen den Fehler beging, ſich zum Vertheidiger der
Humustheorie Liebig gegenüber aufzuwerfen und die Behauptung
aufzuſtellen (1842), daß das Ammoniak oder ſalpeterſaure Salze
nicht ſelbſt Nahrungsmittel der Pflanze ſind, ſondern nur zur
Auflöſung des Humus dienen. Auch Andere konnten ſich ſchwer
von der alten, liebgewordenen Humuslehre ganz losſagen; wenn
man ſich auch, wie Mohl, der Wahrnehmung nicht verſchloß,
daß der Kohlenſtoff der Pflanzen der Hauptſache nach aus der
[574]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
Atmoſphäre allein ſtammt, ſo glaubte man doch dem Humus
ſchon wegen ſeines Stickſtoffgehaltes eine die Vegetation weſent-
lich begünſtigende Rolle zuſchreiben zu müſſen. Unter ſolchen
Umſtänden war es höchſt verdienſtlich, daß Bouſſingault, der
ſich ſchon vor dem Erſcheinen von Liebig's Buch mit experimen-
tellen und analytiſchen Unterſuchungen über die Keimung und
Vegetation, ſpeciell auch mit ſolchen über die Herkunft des Stick-
ſtoffs in den Pflanzen beſchäftigt hatte, dieſe Frage aufnahm.
Seine 1837 und 1838 hierüber ausgeführten Vegetationsverſuche
waren ohne ganz durchſchlagendes Reſultat geblieben; Bouſ-
ſingault aber ſetzte ſeine Vegetationsverſuche Jahre lang fort
und bildete von Jahr zu Jahr die Unterſuchungsmethoden weiter
aus. Durch ſeine zwiſchen 1851 und 1855 angeſtellten zahl-
reichen Experimente wurde endlich mit aller Sicherheit das Er-
gebniß feſtgeſtellt, daß die Pflanzen nicht im Stande ſind, den
freien Stickſtoff der Athmoſphäre zu aſſimiliren, daß man dagegen
eine normale und kräftige Vegetation erzielt, wenn ihnen der
Stickſtoff in Form von ſalpeterſauren Salzen dargeboten wird.
Dieſe Vegetationsverſuche Bouſſingault's lehrten zugleich,
daß es möglich iſt, in einem Boden, dem durch Ausglühen jede
Spur organiſcher Subſtanz entzogen worden iſt, dem man aber
außer den Aſchenbeſtandtheilen ein ſalpeterſaures Salz zuſetzt,
eine normale Ernährung der Pflanzen zu erzielen; wodurch zu-
gleich bewieſen war, daß der geſammte Kohlenſtoffgehalt ſolcher
Pflanzen ausſchließlich aus der atmoſphäriſchen Kohlenſäure
ſtammt, und daß die Mitwirkung des Humus dabei ganz über-
flüſſig iſt, daß alſo die günſtige Wirkung eines humusreichen
Bodens auf die Vegetation ganz andere Urſachen haben müſſe,
als die von der Humustheorie früher angenommenen. Es iſt
unmöglich, Bouſſingault's weitere Verdienſte um die Ernähr-
ungstheorie der Pflanzen hier zur Sprache zu bringen, da ſie
ſich zum Theil auf Spezialitäten beziehen, die beſten und wich-
tigſten derſelben aber erſt nach 1860 publicirt worden ſind, und
deßhalb nicht mehr in den Rahmen unſerer Geſchichte gehören.
Das aber iſt hervorzuheben, daß Bouſſingault als der Be-
[575]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
gründer der neueren Methoden. Ernährungsverſuche anzuſtellen,
genannt werden muß. Wie kläglich die Art und Weiſe war, in
welcher man nach Sauſſure bis in die dreißiger Jahre hinein
Vegetationsverſuche im Intereſſe der Ernährungstheorie anzuſtellen
pflegte, darüber hatte ſich bereits Liebig draſtiſch genug aus-
geſprochen, ohne jedoch ſelbſt beſſere Methoden einzuführen; dies
aber that Bouſſingault; um nur Eins z. B. hervorzuheben,
hatten ſich diejenigen, welche die Humusfrage experimentell ent-
ſcheiden wollten, wie z. B. Hartig im Einverſtändniß mit Liebig
u. A. gewöhnlich damit befaßt, den Pflanzen humusſaure Verbin-
dungen darzubieten und zu ſehen, was nun daraus entſtehen würde.
Bouſſingault machte es hier wie Columbus mit dem Ei: er
zwang einfach die Pflanzen ohne jede Spur von Humus in einem
künſtlich bereiteten Boden und Nährſtoffgemenge ſich zu ernähren,
um ſo unwiderleglich zu zeigen, daß ſie des Humus nicht be-
dürfen.
In ähnlicher Weiſe wie Bouſſingault experimentirte
auch in Deutſchland der Fürſt Salm-Horſtmar, der ſich vor-
wiegend mit der Frage beſchäftigte, welche Bedeutung die ein-
zelnen Säuren und Baſen der Aſche für die Ernährung der
Pflanzen haben, ob einzelne derſelben entbehrlich ſind und welche
die Pflanze nothwendig aufnehmen muß; Fragen die indeſſen
erſt im Lauf der ſechziger Jahre ihrer Erledigung entgegengeführt
wurden und zum Theil noch jetzt nicht entſchieden ſind.
Die Feſtſtellung der Thatſache, daß chlorophyllhaltige Pflan-
zen die Geſammtmaſſe ihres Kohlenſtoffs aus der atmoſphäriſchen
Kohlenſäure beziehen, und daß dieſe auch für die nicht chloro-
phyllhaltigen Pflanzen und Thiere die urſprüngliche Quelle des
Kohlenſtoffs iſt, daß ferner der in den Pflanzen aſſimilirte Stick-
ſtoff in Form von Ammoniak- oder ſalpeterſauren Salzen auf-
genommen wird und daß die Alkalien, alkaliſchen Erden in Form
von ſchwefelſauren und phosphorſauren Salzen zur Ernährung
der Pflanzen unerläßlich ſind, halte ich für die Hauptergebniſſe
aller Beſtrebungen auf dem Gebiet der Ernährungslehre in dem
Zeitraum von 1840-1860, ohne damit behaupten zu wollen,
[576]Geſchichte der Ernährungstheorie der Pflanzen.
daß nicht ſchon Vieles angebahnt wurde, was erſt nachher in den
Vordergrund der Forſchung trat.
Kaum nennenswerth ſind dagegen die geringen Fortſchritte,
welche die Theorie der Saftbewegung der Pflanzen ſeit Du-
trochet bis tief in die fünfziger Jahre hinein gemacht hat;
doch war es ein Fortſchritt, daß man die Endosmoſenlehre nach
und nach in ihrer phyſiologiſchen Bedeutung immer mehr ſchätzen
lernte und daß die tiefere Begründung und die genauere Kennt-
niß der osmotiſchen Vorgänge nach und nach eine mehr in's
Einzelne gehende Erklärung der Stoffbewegung ermöglichte,
wenn auch noch keineswegs ein genügender Abſchluß erzielt
wurde; als eine Entdeckung von großem Belang iſt hier aber
vor Allem auf die 1857 von Hofmeiſter conſtatirte Thatſache
hinzuweiſen, daß dieſelbe Erſcheinung, welche man ſeit Jahr-
hunderten an der Weinrebe und an einigen Bäumen, ſpäter
auch an den Agaven und an manchen Schlingpflanzen der
Tropen unter dem Namen des Thränens oder Blutens kannte,
und welche man auf gewiſſe Vegetationsperioden beſchränkt
glaubte, nicht nur allen mit ächten Holzzellen verſehenen Ge-
wächſen zukommt, ſondern an dieſen auch durch geeignete Mittel
zu jeder Zeit hervorgerufen werden kann. Dieſe Verallge-
meinerung war für die weitere Erforſchung des Thränens ſelbſt
von großer Bedeutung.
Am ſchlimmſten ſah es auch in dieſer Periode noch mit
der Lehre vom abſteigenden Saft aus; auch jetzt noch berief
man ſich in dieſer Beziehung immer wieder auf Experimente
von derſelben Art, wie bereits Malpighi, Du Hamel und
Cotta ſie angeſteſtellt hatten, Experimente, die im Grunde gar
Nichts anderes bewieſen, als daß bei dikotylen Holzpflanzen
überhaupt eine von den Blättern bereitete Nahrung durch die
Rinde abwärts geführt wird. War jedoch einmal erkannt,
daß alle organiſche Subſtanz urſprünglich in den Blättern ent-
ſteht, woran ſeit 1840 Niemand zweifeln konnte, ſo verſtand es
ſich auch ohne ſolche Experimente von ſelbſt, daß die zum
Wachsthum der Wurzeln, wie der Knoſpen und Früchte
[577]Feſtſtellung des Nahrungsmaterials der Pflanzen.
nöthigen Bildungsſtoffe aus den Blättern dorthin geleitet
werden müſſen. Die Frage konnte gar nicht mehr ſein, ob
überhaupt eine derartige Bewegung aſſimilirter Stoffe ſtatt-
finde, vielmehr trat jetzt die neue Frage heran, welche Gewebe-
formen dieſe Fortleitung vermitteln und von welcher Natur
die in den Blättern erzeugten und in den übrigen Organen
fortgeleiteten Subſtanzen ſind. Beide Fragen ließen ſich der
Organiſation der Pflanze entſprechend weſentlich nur auf mi-
krochemiſchem Wege entſcheiden, ein Weg, der jedoch erſt ſeit
1857 betreten und dann weiter ausgebildet wurde. Ueber
die chemiſchen Verbindungen, welche durch die Aſſimilation in
den Blättern zuerſt erzeugt werden, wußte man, wie ſchon
erwähnt, auch in den vierziger und fünfziger Jahren nichts
Gewiſſes; De Candolle hatte, wie wir ſahen eine gummi-
artige Subſtanz als primären Bildungsſaft daſelbſt entſtehen
laſſen, aus welchem ſich nun in den verſchiedenen Gewebe-
formen die verſchiedenſten anderen Pflanzenſtoffe abſcheiden ſollten.
Theodor Hartig der ſich in den fünfziger Jahren durch ſeine
Unterſuchungen über die Stärke im Holz der Bäume, das
Klebermehl in den Samen, durch die Entdeckung der Siebröhren,
durch Beobachtung des Waſſergehaltes der Hölzer in verſchiedenen
Jahreszeiten und durch verſchiedene andere Beiträge verdient
gemacht hatte, beſchäftigte ſich auch mit der Theorie des ab-
ſteigenden Saftes, den er ſich als einen formloſen Urſchleim
dachte, aus welchem ähnlich, wie aus De Candolle's Gummi,
unterwegs die verſchiedenſten anderen Pflanzenſtoffe ſich abſetzen.
„In den Blättern, ſagt Hartig bot. Zeitung 1858 p. 341,
wird der rohe Nahrungsſaft zu primitivem Bildungsſaft umge-
wandelt,“ und ferner „die Bildung der feſten Reſerveſtoffe (aus
jenem) kann nicht ohne Abſcheidung bedeutender Mengen wäſſriger
Flüſſigkeit geſchehen.“ Die gelegentlichen Bemerkungen der ver-
ſchiedenſten Pflanzenphyſiologen in den vierziger und fünfziger
Jahren beweiſen, daß ähnliche Vorſtellungen von der Bildung eines
derartigen Urſchleims in den Blättern allgemein verbreitet waren.
Sachs, Geſchichte der Botanik. 37
[578]Geſchichte der Phytodynamik.
Drittes Capitel.
Geſchichte der Phytodynamik.
Es iſt gegenwärtig kaum zweifelhaft, daß die Mechanik des
Wachsthums, die der geotropiſchen und heliotropiſchen Krüm-
mungen, der verſchiedenen Arten periodiſcher Bewegungen, des
Schlingens der Ranken und Schlingpflanzen, ſowie der Reizbe-
wegungen auf ein gemeinſames Princip ſich wird zurückführen
laſſen, und daß bei allen dieſen Bewegungen außer der Elaſticität
der Zellwände die noch unbekannten Eigenſchaften des Protoplasmas
die wichtigſte Rolle ſpielen; und inſofern das Letztere der Fall
iſt, werden auch die ſogenannten Protoplasmaſtrömungen und
das Schwimmen der Schwärmſporen und ähnliche Vorgänge
jenen phytodynamiſchen Erſcheinungen anzureihen ſein. Unter
dieſem Geſichtspunct erſcheint die Phytodynamik als eine der
wichtigſten Grundlagen der geſammten Pflanzenphyſiologie. Die
Erkenntniß dieſes Sachverhaltes iſt jedoch neueſten Datums und
es hieße der Vergangenheit etwas ihr ganz Fremdes andichten,
wenn man annehmen wollte, daß den früheren Pflanzenphyſio-
logen eine derartige Auffaſſung der Bewegungen im Pflanzen-
reich vorgeſchwebt habe. Vielmehr wurden dieſe in früheren
Jahrhunderten kaum als Curioſitäten beachtet und einiges Nach-
denken begann man ihnen erſt am Ende des 17. Jahrhunderts
[579]Geſchichte der Phytodynamik.
zu widmen und nur ſehr langſam gelang es ſpäter, die zum
Theil ſehr verwickelten, hier in Betracht kommenden Verhältniſſe
zu entwirren, die Abhängigkeit der phytodynamiſchen Erſchein-
ungen von äußeren Einflüſſen zu beſtimmen und die mechaniſchen
Bedingungen ihres Geſchehens einigermaßen klar zu legen.
Einzelne Bewegungen von Pflanzentheilen zogen ſchon in
alter Zeit die Aufmerkſamkeit verſchiedener Schriftſteller auf ſich, die
ihrer jedoch nur flüchtig erwähnen; ſo rührt die erſte Nachricht
über die heliotropiſchen Bewegungen mancher Blüthenſtiele ſchon
von Varro her, nach welchem man damals ſolche Blumen als
heliotropiſche bezeichnete und im folgenden Jahrhundert erwähnte
Plinius, daß bei herannahendem Unwetter die Blätter des Klees
ſich ſchließen; Albertus Magnus im 13., Valerius
Cordus und Garcias del Huerto im 16. Jahrhundert
hielten zuerſt die täglichen periodiſchen Bewegungen der Fieder-
blättchen einiger Leguminoſen der Erwähnung werth; Caeſalpin
aber beachtete auch ſchon die Bewegungen der Ranken und
Schlingpflanzen und wunderte ſich darüber, daß die letzteren
ihre Stützen gewiſſermaßen aufſuchen. Mehr als dieſe alltäg-
lichen Erſcheinungen mußte die auffallende Reizbarkeit der Blätter
der aus Amerika eingeführten Mimosa pudica die Aufmerkſam-
keit auf ſich ziehen, und ſo finden wir ſchon in Robert Hooke's
Mikrographie 1667 eine Abhandlung über die Urſachen derſelben.
Aber auch die Reizbarkeit der Staubgefäße von Centaurea
wurde ſchon 1653 von Borelli erwähnt.
1) Die erſten theoretiſchen Beſtrebungen treten uns auch auf
dieſem Gebiet am Ende des 17. Jahrhunderts entgegen. Eine
zuſammenfaſſende Darſtellung phytodynamiſcher Erſcheinungen gab
Ray in ſeiner Historia plantarum 1693 und zwar ſogleich im
Beginn ſeiner allgemeinen Betrachtungen über das Weſen der
Pflanze, die er an den Satz des Jungius: Planta est corpus
vivens, non sentiens etc. anknüpft. Obgleich er noch ähnlich,
wie Caeſalpin, an eine ariſtoteliſche Pflanzenſeele zu glauben
ſcheint, geht ſeine Behandlung doch weſentlich darauf aus, die
Bewegungen, über welche er berichtet, mechaniſch-phyſikaliſch zu
37*
[580]Geſchichte der Phytodynamik.
erklären; namentlich ſucht er darzuthun, daß die Reizbarkeit der
Mimoſe nicht auf Empfindung, ſondern auf bekannten phyſikali-
ſchen Urſachen beruhe. Er betrachtet die Reizbewegungen in
Folge einer Berührung als durch eine Zuſammenziehung verur-
ſacht, die ihrerſeits durch Welken oder Erſchlaffung hervorgebracht
werde. Von dem mechaniſchen Vorgang der Reizbewegung ſelbſt
ſucht er nach Maßgabe der damals vorhandenen Kenntniſſe Re-
chenſchaft zu geben: die Blätter, ſagt er, bleiben überhaupt nur
deßhalb ſtraff, weil ihr Verdunſtungsverluſt vom Stamme her
immer durch zufließendes Waſſer erſetzt wird; wenn nun in Folge
einer Berührung die Saftwege der Mimoſenblätter zuſammen-
gedrückt werden, ſo reiche der Zufluß nicht mehr hin, ſie vor
Erſchlaffung zu ſchützen. Wie es auch bis auf die neue Zeit
geſchehen iſt, verwechſelte Ray dabei die Reizbewegungen mit
den täglichen periodiſchen, deren Vorkommen er nicht nur bei
den Blättern der Leguminoſen, ſondern bei faſt allen ähnlich
gefiederten Blättern angiebt; mit dieſen periodiſchen Blattbeweg-
ungen ſtellt er aber auch das periodiſche Oeffnen und Schließen
der Blüthen von Calendula, Cichorium, Convolvulus u. a. in
eine Reihe. Daß dieſe letzteren aber durch Temperaturveränder-
ungen hervorgerufen werden, ſchien ihm durch ein Experiment
des Jacob Cornutus mit Anemonen-Blüthen bewieſen, welche
abgeſchnitten und an einem warmen Ort in einem wohlver-
ſchloſſenen Kaſten ſich zu ungewohnter Zeit öffneten, wenn auch
nur der Blüthenſtiel in warmes Waſſer tauchte. Dieſe ganz
richtige, ſpäter verloren gegangene und erſt vor wenigen Jahren
neu entdeckte Abhängigkeit der Blüthenbewegungen von Tem-
peraturveränderungen übertrug nun Ray auch auf die periodi-
ſchen Bewegungen der Laubblätter, welche wie er ſich ausdrückt,
bei hereinbrechender Nachtkälte ſich zuſammenlegen, um ſich am
Tage wieder zu entfalten und da er dieſe mit den Reizbeweg-
ungen der Mimoſe für gleichartig hielt, ſo glaubte er auch er-
klären zu müſſen, in welcher Weiſe Abkühlung einen ähnlichen
Reiz bewirken könne, wie bloße Berührung. Es lag bei dem
damaligen Stand der Naturwiſſenſchaft überhaupt ſehr nahe,
[581]Geſchichte der Phytodynamik.
Wärmeänderungen als erſte Urſache verſchiedener Bewegungen
anzunehmen, da man eben von Bewegungsurſachen, außer dem
Stoß, andere kaum kannte. So erklärte denn Ray auch die jetzt
als heliotropiſche bezeichneten Bewegungen wachſender Stengel
durch eine Temperaturdifferenz auf den entgegengeſetzten Seiten
derſelben. Eine gewiſſer Dr.Sharroc hatte die Stengel ſeiner
Verſuchspflanzen nach derjenigen Stelle eines Fenſters hinwachſen
ſehen, wo die Luft durch eine Oeffnung freien Zutritt fand;
hieraus und aus der ſtarken Verlängerung von Pflanzen in ge-
ſchloſſenen Räumen, die er der höheren Temperatur zuſchrieb,
zog er den Schluß, daß die kältere Luft die von ihr getroffene
Seite eines Stengels am raſchen Wachsthum hindert, und daß
ſomit eine Concavität auf dieſer Seite eintreten müſſe. Aehnlich
wie De Candolle 140 Jahre ſpäter benutzte alſo ſchon Ray
das Etiolement der Pflanzen in geſchloſſenen Räumen zur Er-
klärung ihrer heliotropiſchen Krümmungen, nur mit dem Unter-
ſchied, daß er die raſche Verlängerung vergeilter Pflanzen, nicht
wie De Candolle dem Lichtmangel, ſondern der höheren
Temperatur zuſchrieb. Dagegen erkannte Ray klar genug, daß
das Ergrünen der Blätter nicht durch den Luftzutritt, ſondern
durch das Licht bewirkt wird, da, wie er ſagt, die Pflanzen
unter Glasglocken ergrünen, was unter einem opaken Gefäß nicht
geſchieht; wenn ſie aber unter Glas weniger ergrünen, als in
freier Luft, ſo rühre dieß daher, daß das Glas gewiſſe Licht-
ſtrahlen abſorbirt und andere reflektirt. Indeſſen hielt Ray
ebenſo, wie faſt alle ſpäteren Beobachter bis auf die neueſte Zeit,
die Verlängerung und Mißfärbung etiolirter Pflanzen nicht hin-
reichend auseinander; ſeine Darſtellung dieſer Erſcheinung leidet
daher an manchen Unklarheiten.
Es iſt ſchon von Anderen darauf hingewieſen worden, daß
eine der merkwürdigſten hieher gehörigen Erſcheinungen gerade
deßhalb gewöhnlich gar nicht beachtet wird, weil ſie durch ihre
Alltäglichkeit als etwas Selbſtverſtändliches nicht weiter auffällt:
die Thatſache, daß die Hauptſtämme ſenkrecht aufwärts, die
Hauptwurzeln abwärts wachſen. Der franzöſiſche Akademiker
[582]Geſchichte der Phytodynamik.
Dodart, dem wir ſchon in der Geſchichte der Ernährungslehre
begegnet ſind, erwarb ſich das große Verdienſt, zuerſt 1700 dieſe
anſcheinend ſelbſtverſtändliche Erſcheinung ſehr merkwürdig zu
finden, ſich zunächſt durch Verſuche an Keimpflanzen davon zu
überzeugen, daß dieſe vertikalen Stellungen durch Krümmungen
zu Stande kommen und ſich zu fragen, was möglicher Weiſe die
phyſikaliſche Urſache davon ſein könne, daß ſich Hauptwurzeln
aus abnormer Lage immer nach unten, Hauptſtämme nach oben
krümmen, bis ſie ſenkrecht ſtehen. Es war von untergeordneter
Bedeutung, daß ſeine mechaniſche Erklärung ganz ungenügend
ausfiel, indem er annahm, daß die Faſern der Wurzeln ſich auf
der feuchteren Seite zuſammenziehen, die des Stammes auf
derſelben ausdehnen; denn viel wichtiger war, daß dieſe merk-
würdigen Erſcheinungen überhaupt zum Gegenſtand wiſſenſchaft-
licher Forſchung gemacht wurden und die Literatur zeigt, daß
bald darauf verſchiedene Naturforſcher ihr Intereſſe derſelben zu-
wandten und ihren Scharfſinn an Erklärungsverſuchen übten,
worauf wir noch zurückkommen.
Eine noch allgemeinere Erſcheinung als der vertikale Wuchs
der Hauptſtämme und Wurzeln iſt aber das Wachsthum der
Pflanzen überhaupt und ſicherlich gehörte ebenſoviel, ja noch
größerer Forſchungsgeiſt dazu, ſich die Frage vorzulegen, ob und
wie das Wachſen der Pflanzen mechaniſch erklärt werden könne.
Mariotte hatte ſchon 1679, wenn auch nur gelegentlich, dieſe
Frage berührt und die Ausdehnung des Markes, das hieß da-
mals des parenchymatiſchen Gewebes, als die Urſache des Wachs-
thums der Pflanzentheile in Anſpruch genommen; ein Gedanke,
der wohl aus der ariſtoteliſchen Lehre vom Sitz der Pflanzen-
ſeele im Mark entſprungen ſein mochte, den aber Mariotte
phyſikaliſch zu begründen ſuchte. Viel eingehender beſchäftigte
ſich Hales in ſeinen Statical essays 1727 mit Betrachtungen
über das Wachsthum der Pflanzen. An den ſchon in der Er-
nährungslehre vorgeführten Gedankengang anknüpfend, leitet
Hales ſeine Betrachtungen über das Wachsthum mit der Be-
merkung ein, daß die Pflanzen aus Schwefel, flüchtigen Salzen
[583]Geſchichte der Phytodynamik.
Erde, Waſſer und Luft zuſammengeſetzt ſind, von denen die erſten
vier einander anziehen und deßhalb den feſten, trägen Theil der
Pflanzenſubſtanz bilden; dasſelbe thue jedoch die Luft nur ſolange,
als ſie durch jene in einem feſten Zuſtand erhalten wird; ſobald
ſie aber frei werde, ſei ſie expanſibel; und auf dieſe Ausdehn-
ungskraft der Luft, durch welche die Pflanzenſäfte belebt und
gekräftigt werden, baut er ſeine mechaniſche Theorie des Wachs-
thums; nach ihr werden ſo die geſchmeidigen Theile der Pflanze
ausgedehnt und indem ſich die Luft mit anderen Beſtandtheilen
verbindet, alſo feſt wird, werde Wärme und Bewegung erzeugt,
wodurch die Safttheilchen nach und nach eine Geſtalt annehmen.
Das waren die Principien, von denen Hales ausging. Um
aber etwas Näheres zu erfahren über die Art, wie das Wachs-
thum der Pflanzentheile fortſchreitet, machte er an jungen Sten-
geln und Blättern äquidiſtante Einſtiche und es fand ſich, daß
dieſe durch das Wachsthum ihre Entfernungen um ſo mehr ver-
größerten, je jünger die zwiſchen ihnen liegenden Theile waren.
Dabei fiel ihm beſonders die ſtarke Verlängerung durch das
Wachsthum auf, weil wie er ſagt, die Gefäße trotz derſelben
doch hohl bleiben, gerade ſo, wie ein Glasröhrchen auch bei der
ſtärkſten Ausziehung ſeinen Kanal behält. Er findet nämlich
Borelli's Meinung beſtätigt, der junge Trieb wachſe dadurch,
daß die Feuchtigkeit im ſchwammigen Mark ſich ausdehnt; daß
hierbei der wachſende Sproß nicht auch in gleichem Grade quer
ausgedehnt wird, ſich alſo nicht kugelig abrundet wie ein Apfel,
ſucht er aus der Struktur des Zellgewebes darzuthun. Daß aber
die im Zellgewebe eingeſchloſſene Luft und der Saft mit hin-
reichender Kraft eindringe, um eine ſo große Ausdehnung zu
bewirken, findet Hales durch ſeine Verſuche bewieſen, welche
über die große Kraft, womit das Waſſer in blutenden Wein-
ſtöcken emporſteigt und in quellende Erbſen eindringt, Auskunft
geben; auch wiſſe man, daß Waſſer mit großer Kraft wirke,
wenn es in einer Maſchine erhitzt wird, in welcher Waſſer durch
Hitze in die Höhe getrieben werden kann; der Pflanzenſaft, der
nichts Anderes ſei, als eine Verbindung von Waſſer, Luft und
[584]Geſchichte der Phytodynamik.
anderen wirkſamen Theilen, bringe deßhalb mit ſehr großer
Kraft in die Röhren und Zellen, wenn er durch die Sonne er-
wärmt wird.
2) Im Lauf des 18. Jahrhunderts mehrte ſich nach und
nach die Zahl der phytodynamiſchen Erſcheinungen, denen die
Phyſiologen mehr oder weniger Beachtung ſchenkten; auch wurden
wiederholt Verſuche zur mechaniſchen Erklärung derſelben gemacht,
die aber meiſt ganz ungenügend ausfielen, da man die ver-
ſchiedenartigſten Bewegungen confundirte, ihre Abhängigkeit von
äußeren Einflüſſen nicht genau erkannte und von dem anatomi-
ſchen Bau der beweglichen Theile, bei dem gänzlichen Verfall
der Phytotomie in jener Zeit, nur höchſt unklare Vorſtellungen
hatte. Die wichtigſte Rolle bei den Erklärungen ſpielte die
Feuchtigkeit und Wärme, deren Wirkungsweiſe jedoch immer nur
in ganz allgemeinen Ausdrücken angedeutet wurde; man ſprach
von den mechaniſchen Vorgängen in der Pflanze ungefähr ſo,
wie Jemand, der nur ganz unbeſtimmte Vorſtellungen von den
Eigenſchaften des Dampfes und dem inneren Bau einer Dampf-
maſchine beſitzt, über die Bewegungen derſelben reden würde.
Es kam der Mehrzahl der Schriftſteller, dem Zeitgeiſt entſprechend,
offenbar mehr darauf an, im Allgemeinen nur zu bekennen, daß
ſie die Lebenserſcheinungen der Pflanzen nicht auf ein unbe-
kanntes Seelenprincip, ſondern auf mechaniſch- phyſikaliſche Ur-
ſachen zurückführen wollten, ohne jedoch den Erſcheinungen die-
jenige Anſtrengung des Verſtandes zu widmen, welche gerade
auf dieſem Gebiet ganz allein zu theoretiſchen Ergebniſſen führen
kann.
Daß Linné, der 1751 die periodiſchen Bewegungen der
Blüthen, 1755 die der Laubblätter zum Gegenſtand ſeiner Be-
trachtung machte, ſich auf eine mechaniſche Erklärung derſelben
nicht weiter einließ, lag ganz in ſeiner Art; er begnügte ſich, die
Aeußerlichkeiten dieſer Erſcheinungen an zahlreichen Pflanzenarten
zu konſtatiren, ſie zu claſſificiren und die periodiſchen Bewegungen
mit einem neuen Namen zu belegen, indem er die nächtlichen
Stellungen als Pflanzenſchlaf bezeichnete; dieſen Ausdruck nahm
[585]Geſchichte der Phytodynamik.
er jedoch keineswegs nur ſinnbildlich oder metaphoriſch, vielmehr
ſah er in dem Pflanzenſchlaf eine, dem thieriſchen ganz analoge
Erſcheinung. Daß die Schlafbewegungen nicht willkürliche, ſondern
durch äußere Einflüſſe bewirkte ſeien, folgte für ihn aus dem
Weſen und Begriff der Pflanze, wonach dieſe zwar lebt und
wächſt, aber der Empfindung entbehrt. Hervorzuheben iſt aber
die richtige Wahrnehmung, daß es nicht oder nicht allein Wärme-,
ſondern Lichtveränderungen ſind, welche die Schlafbewegungen
der Blätter veranlaſſen, da dieſelben in der gleichmäßigen Tem-
peratur eines Gewächshauſes ebenfalls ſtattfinden.
Im Gegenſatz zu der zwar nur formalen, aber doch wohl-
geordneten Behandlung, welche Linné dieſen Bewegungsformen
widmete, ſteht die gleichzeitige Bearbeitung dieſer und anderer
Erſcheinungen von Seiten Bonnet's. Es läßt ſich kaum etwas
Formloſeres, kaum eine gründlichere Verwirrung des Allerver-
ſchiedenſten denken, als in den Experimenten und Reflexionen
Bonnet's über die verſchiedenen Bewegungen der Blätter und
Stengel in ſeinem Werk „über den Nutzen der Blätter“ 1754;
geotropiſche und heliotropiſche Krümmungen, Nutationen und
periodiſche Blattbewegungen, Alles läuft hier durch einander;
ſeine Verſuche bieten zwar Jemanden, der ſchon weiß, worauf
es ankommt, im Einzelnen ab und zu etwas Brauchbares, er
ſelbſt aber wußte Nichts aus ihnen zu machen. Eine vorgefaßte
Meinung verdarb ihm von vornherein das Verſtändniß deſſen,
was ſeine Experimente ihm zeigten; ihm kam es nur darauf an,
durch recht viele Beiſpiele zu beweiſen, daß Stengel und Blätter
unter allen Umſtänden ſich ſo krümmen, drehen und wenden,
daß die Blattunterſeiten abwärts gerichtet werden, um den Thau
aufſaugen zu können, der nach Bonnet die Hauptnahrung der
Pflanzen iſt und aus der Erde emporſteigt. Es iſt nur ein ge-
ringes Lob, daß ſich bei aller Verwirrung doch auch ab und zu
einzelne richtige Wahrnehmungen ihm aufdrängten, wie die, daß
vorwiegend die jungen und dehnbaren Organe, wenn ſie aus
ihrer natürlichen Lage gebracht worden ſind, durch Krümmungen
und Drehungen dieſelbe wieder zu gewinnen ſuchen. Ganz ge-
[586]Geſchichte der Phytodynamik.
dankenlos iſt dagegen, was er aus ſeinen Verſuchen über die
mechaniſchen Urſachen derartiger Bewegungen folgerte; denn bei
nur einigermaßen kritiſcher Behandlung hätte er zu ganz anderen
Folgerungen gelangen müſſen: die Wärme und Feuchtigkeit, ſagt
er nämlich, ſcheinen alſo die natürlichen Urſachen der Bewegung
zu ſein, die Wärme aber wirke ſtärker als die Feuchtigkeit und
die Wärme der Sonne ſei wirkſamer, als die der Luft. Dieſe
Erklärung traf nun gerade für die hauptſächlich von ihm beob-
achteten geotropiſchen und heliotropiſchen Krümmungen nicht zu.
Nur in Einem Punct traf er ſchließlich das Richtige, daß näm-
lich die ſtarke Verlängerung der Stengel, das Kleinbleiben der
Blätter und ihre mangelhafte Färbung bei Pflanzen, welche in
geſchloſſenen Räumen wachſen, durch partiellen oder gänzlichen
Lichtmangel hervorgerufen wird, was übrigens bezüglich der
Färbung ſchon Ray bewieſen hatte.
Obgleich Du Hamel die kritik- und planloſen Unter-
ſuchungen Bonnet's, wie es auch ſpäter gewöhnlich geſchah, mit
großem Reſpekt behandelte, war doch ſeine eigene überſichtliche
Darſtellung verſchiedener Pflanzenbewegungen viel beſſer. Im
6. Capitel des vierten Buches ſeiner Physique des arbres
1758, behandelte er unter dem Titel: Ueber die Richtung der
Stengel und Wurzeln und über die Nutation der Pflanzen-
theile, die ihm bekannten phytodynamiſchen Erſcheinungen. Unter
der Rubrik: Aufrechte oder ſchiefe Richtung der Stengel und
Wurzeln beſpricht er die geotropiſchen, heliotropiſchen und einige
andere Krümmungen; dann folgt ein Capitel über das Etiole-
ment und unter dem Titel: Bewegungen von Pflanzen, welche
gewiſſermaßen den freiwilligen Bewegungen der Thiere ſich
nähern, unterſucht er die periodiſchen und Reizbewegungen der
Mimoſenblätter, um mit einem kurzen Bericht über Linné's
Blüthenuhr und die hygroskopiſchen Bewegungen der Frucht-
ſchalen zu ſchließen. Die Bewegungen der Ranken und ſchlingen-
den Stengel, von denen Du Hamel nur Wenig gewußt zu
haben ſcheint, werden in dieſer Zuſammenſtellung nicht behandelt;
ſie ſind aber in einem früheren Kapitel, im Zuſammenhang mit
[587]Geſchichte der Phytodynamik.
den Haaren, Dornen u. dergl. ähnlich wie ſchon bei Caeſalpin
erwähnt. Wenn wir in dieſer Behandlungsweiſe der verſchie-
denen Bewegungen der Pflanzen eine Claſſifikation derſelben
ſehen dürfen; ſo war dieſe jedenfalls noch eine höchſt ungenügende,
inſofern ſie Gleichartiges trennte, ganz Ungleichartiges vereinigte;
trotzdem war ſie doch ſchon eine viel geordnetere als bei Bon-
net und im Einzelnen finden wir hier ſogar recht werthvolle
neue Beobachtungen. Du Hamel kann zunächſt als derjenige
gelten, der zuerſt das Licht als die Veranlaſſung heliotropiſcher
Krümmung in Anſpruch nahm; was er bezeichnend genug aus
Bonnet's Experimenten ableitete. Nachdem er ſich in ähnlicher
Weiſe wie Hales mit der Vertheilung des Wachsthums an
Sproſſen beſchäftigt und erkannt hatte, daß dieſes mit beginnen-
der Verholzung aufhört, legte er ſich auch die Frage vor: an
welchen Stellen die Verlängerung der Wurzeln ſtattfinde und
durch zweckmäßige Experimente fand er, daß jeder Wurzelfaden
nur an ſeinem, einige Linien langen, Endſtück wächſt, alles
Uebrige aber keine weitere Verlängerung erfährt. In dem
Capitel über die Richtung der Pflanzentheile prüft er nun die
Richtigkeit der bis dahin verſuchten Erklärungen der geotropiſchen
Krümmungen. Aſtruc und de la Hire hatten das Gewicht
des abſteigenden Saftes als die Urſache der Abwärtskrümmung
der Wurzeln und die im Gewebe aufſteigenden leichteren Dünſte
als die Urſache der Aufwärtskrümmung der Stengel in An-
ſpruch genommen, Bazin dagegen die Feuchtigkeit der Erde für
den Geotropismus der Wurzel verantwortlich gemacht. Du
Hamelunternahm es nun, zu entſcheiden, ob es die Feuchtig-
keit, geringere Temperatur oder Dunkelheit der Erde ſei, welche
die Abwärtskrümmung der Wurzeln veranlaßte, was er nach
dem Ausfall ſeiner Verſuche verneinen mußte. Uebrigens ſah
es mit ſeiner mechaniſchen Erklärung derjenigen Bewegungen,
welche wir jetzt als geotropiſche, heliotropiſche und periodiſche
bezeichnen würden, übel aus; denn er kam zu dem Schluß, daß
die „Richtung der Dämpfe“ innerhalb der Pflanzengefäße und in
der Umgebung der Pflanze mehr als andere Urſachen zur Her-
[588]Geſchichte der Phytodynamik.
vorrufung derartiger Bewegungen beitragen, und wenn die
Wärme und das Licht Einfluß darauf zu nehmen ſcheinen, ſo
ſei es vielleicht nur deßhalb, weil ſie Dämpfe erzeugen, oder
dieſen eine beſtimmte Bewegung ertheilen. — Betreffs der Be-
wegungen der Mimoſenblätter wiederholte Du Hamel einen
ſchon 1729 von Mairan gemachten Verſuch, bei welchem die
periodiſche Bewegung auch in conſtanter Finſterniß fortdauerte;
er kam zu demſelben Reſultate, aus dem er ſchloß, daß die
periodiſchen Bewegungen der Mimoſe von Temperatur und
Lichtänderungen nicht weſentlich abhängen: 1757 hatte Hill
den Beleuchtungswechſel als die Urſache der Schlafbewegungen
in Anſpruch genommen, da er fand, daß eine am Tage vor-
genommene Verdunkelung die Nachtſtellung hervorrief; wogegen
wieder Zinn 1759 zu einem ähnlichen Schluß wie Mairan
und Du Hamel gelangte. Erſt lange nachher wurde die Frage
durch Dutrochet zum Theil geklärt. Du Hamel hielt es
für nöthig, die früher von Tournefort geäußerte Meinung,
daß die Pflanzenbewegungen durch Muskeln vermittelt werden,
beſonders zu widerlegen und zu zeigen, daß Tournefort's
Pflanzenmuskeln hygroskopiſche Faſern ſind.
Schließlich iſt noch zu erwähnen, daß er zuerſt bemerkte,
daß die beiden Gabeläſte einer Weinranke um eine zwiſchen
ihnen befindliche Stütze in entgegengeſetzter Richtung ſich winden;
auch ſcheint er der Erſte geweſen zu ſein, der die Reizbarkeit
der Staubfäden von Opuntia und Berberis mit der der Mi-
moſenblätter verglich; die Staubgefäße von Berberis wurden
ſpäter mehrfach, zumal von Covolo 1764, Koelreuter 1788,
Smith 1790 u. a. unterſucht, ohne jedoch zu neuen Ergebniſſen
über die Natur der Reizbarkeit zu führen. Dieß geſchah da-
gegen durch dal Covolo's berühmte Abhandlung 1764 über
die Staubfäden der Cynareen, die zwar noch kein definitives
Reſultat ergab, aber werthvolle Einzelheiten brachte, welche
einiges Licht auf die Mechanik dieſer Reizbewegungen warfen.
Koelreuter, der ſich 1766 auch mit dieſen Objecten beſchäftigte,
ging dabei weniger auf eine mechaniſche Erklärung derſelben,
[589]Geſchichte der Phytodynamik.
als darauf aus, die Reizbarkeit der Staubgefäße als Beweiſe
für die Nothwendigkeit der Inſectenhilfe bei der Beſtäubung in
Anſpruch zu nehmen. — Eine Bewegung ganz neuer Art ent-
deckte Corti 1772 in den Schläuchen der Charen: die jetzt ſo-
genannte Circulation des Protoplasma's; dieſe Form pflanzlicher
Bewegung ſchien jedoch zunächſt nicht die geringſte Aehnlichkeit
mit den damals bekannten phytodynamiſchen Vorgängen zu haben
und wurde daher auch und noch lange nachher mit dieſen nicht
in Verbindung gebracht; vielmehr ſetzte ſich bald der Irrthum
feſt, daß man es hier mit einer Circulation des Nahrungsſaftes
in dem Sinne früherer Phyſiologen zu thun habe; ein Irrthum
der ſich noch tief bis in unſer Jahrhundert herein erhielt und
ſich mit den mißverſtandenen Bewegungen des Milchſaftes ver-
band, um ſich bei Schultz Schultzenſtein zur Lehre von der
Circulation des Lebensſaftes auszubilden. Uebrigens war zeit-
weilig Corti's Entdeckung wohl ihrer Fremdartigkeit wegen
wieder in Vergeſſenheit gerathen, ſo daß ſie 1811 von Trevi-
ranus erneuert werden mußte. Nicht viel beſſer ſtand es mit
der Bewegung der Oscillatorien, (welche Adanſon 1767 ent-
deckte, da ſie Vaucher zunächſt nur dazu verleitete), die Oscil-
latorien für Thiere zu erklären.
3) So unvollkommen auch die theoretiſchen Beſtrebungen
des 18. Jahrhunderts auf dieſem Gebiet waren, gingen ſie doch
wenigſtens darauf aus, die verſchiedenen Bewegungsformen der
Pflanzen auf ein Spiel phyſikaliſcher Kräfte zurückzuführen.
Schon in den letzten Jahren des Jahrhunderts trat jedoch auch
hier, wie auf allen Gebieten der Botanik und Zoologie eine
andere Auffaſſungsweiſe der geſunden Weiterentwicklung der
Wiſſenſchaft entgegen. Auch die Mehrzahl derer, die ſich von
der Naturphiloſophie und ihren Redensarten fern hielten, glaubten
doch in den Organismen etwas der übrigen Natur Fremdes ſehen
zu müſſen; da die bisherigen Verſuche, die Lebenserſcheinungen
mechaniſch zu erklären, im Ganzen ſehr ungenügend ausgefallen
waren, hielt man jede derartige Erklärung überhaupt für ganz
unmöglich, ſelbſt für widerſinnig, ohne zu bemerken, daß die
[590]Geſchichte der Phytodynamik.
Lebenskraft, die nunmehr Alles erklären ſollte, eben nur ein Wort
war, in welchem man alles Unerklärliche im Leben der Orga-
nismen zuſammenfaßte. Die Lebenskraft wurde perſonificirt, und
bei den Bewegungen der Pflanzen glaubte man ſie förmlich mit
Händen greifen zu können. War aber eine Erſcheinung einmal
der Lebenskraft verfallen, dann gab man jede weitere Unter-
ſuchung auf; man verhielt ſich namentlich den phytodynamiſchen
Erſcheinungen gegenüber, wie jener Bauer, der ſich die Be-
wegung der Locomotive nur durch ein darin enthaltenes Pferd
erklären konnte. Dazu kam, daß mit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts die Kenntniß des inneren Baues der Pflanzen
ihren niedrigſten Stand erreicht hatte; das einzige Strukturele-
ment, deſſen Form man einigermaßen kannte, waren die abroll-
baren Spiralfaſern, in deren hygroſkopiſchen Bewegungen man
die Zuckungen der Lebenskraft mit der Spiraltendenz der Pflanze
vereinigt ſah. Indem man zugleich ganze Gefäßbündel für
Spiralfaſern hielt, oder doch die Gefäßbündel ganz aus ſolchen
beſtehen ließ, ſah man in ihnen die vegetabiliſchen Muskeln, die
ſich durch Reize der verſchiedenſten Art contrahiren und ſo die
Bewegungen der Pflanzenorgane verurſachen ſollten, wobei man
nicht einmal bedachte, daß gerade bei den Organen, welche, wie
die der reizbaren und periodiſch beweglichen Blätter, die auf-
fallendſten Bewegungen zeigen, dieſer Muskel eine centrale Lage
beſitzt, die ihn zu der ihm zugeſchriebenen Funktion ganz unfähig
macht. Es wäre ziemlich nutzlos und ermüdend, das Geſagte
mit zahlreichen Beiſpielen, die ſich leicht ſammeln ließen, zu be-
legen; nur einige Sätze aus Link's Grundlehren der Anatomie
und Phyſiologie 1807 will ich anführen; ſie ſind beſonders lehr-
reich, weil Link ſich gegen die Naturphiloſophie erklärte und
auf Seiten der inductiven Wiſſenſchaft zu ſtehen behauptete.
Unter dem Titel: „Bewegungen der Pflanzen“ behandelte er aber
die geotropiſchen Krümmungen, ebenſo wie andere Bewegungen
mit der damals gewöhnlichen Oberflächlichkeit, um ſchließlich zu
finden, daß die Wachsthumsrichtung der Stämme und Wurzeln
durch eine in jeder Pflanze beſtimmte Polarität bewirkt wird,
[591]Geſchichte der Phytodynamik.
„die uns auf höhere Verbindungen unſeres Planeten im Welt-
raum“ ſchließen läßt. „Daß das Licht die Urſache des Pflanzen-
ſchlafs ſei, ließ ſich bald vermuthen“, ſagt er, worauf nun die
einander widerſprechenden Angaben Hill's, Zinn's und De
Candolle's zu einem unentwirrbaren Knoten verſchlungen, an-
geführt werden, der jeder logiſchen Behandlung ſpottet. Dann
weiſt er aber die mechaniſchen Erklärungsverſuche mit der Be-
merkung ab, daß die Pflanzen ihren regelmäßigen Schlaf auch
im Dunkeln und in der Kühlung behalten, denn dieſe ſo merk-
liche Angewöhnung ſei eines der wichtigſten Kennzeichen der Vitalität.
Zu demſelben Reſultat führt ihn Desfontaine's Erfahrung,
daß eine Mimoſe, der Erſchütterung einer Wagenfahrt ausgeſetzt, ſich
anfangs zwar ſchließt, dann aber wieder ausbreitet. Bezüglich
der raſchen Schwingungen der Blättchen von Hedysarum gyrans
und ähnlicher Bewegungen, weiſt er zwar Percival's An-
nahme eines Willens der Pflanzen zurück; ſie aber von mecha-
niſchen oder chemiſchen Gründen ableiten zu wollen, habe bisher
nur zu Spielerei geführt.
Daß Männer, die Solches und noch weit Schlimmeres
drucken ließen, auf dieſem Gebiet nichts leiſten konnten, liegt auf
der Hand. Der eben ſo breite, als ſeichte Strom derartiger
Meinungen fluthete aber noch lange, ſelbſt bis in die dreißiger
Jahre fort, bis er ſich endlich verlief, als nach und nach ſeine
Quellen durch neue Entdeckungen verſtopft wurden und wiſſen-
ſchaftliche Forſchungen wieder die Oberhand gewannen. Denn
einzelne ruhigere Denker, die ſich mit leeren Worten nicht be-
gnügten, hatten unterdeſſen den von Ray, Dodart, Hales,
Du Hamel betretenen Weg weiter verfolgt und durch Experi-
mente und ernſtes Nachdenken neue Thatſachen zu Tage gefördert,
welche die mechaniſche Erklärung phytodynamiſcher Erſcheinungen
wenigſtens anbahnen konnten. In dieſem Sinne hatte ſchon am
Anfang dieſes Zeitraums Senebier in ſeiner Physiologie
végétale 1700 eine ſehr ausführliche Unterſuchung des Etiole-
ments mitgetheilt, welche zwar an dem großen Fehler litt, daß
er die im Finſtern nicht ſtattfindende Kohlenſäurezerſetzung für
[592]Geſchichte der Phytodynamik.
die Mißfärbung der Blätter und die ſtarke Streckung der Stengel
verantwortlich machte; dafür aber brachte er die echt naturwiſſen-
ſchaftliche Methode zur Geltung, deren Geiſt ſich auch darin aus-
ſprach, daß Senebier den Linné'ſchen Ausdruck Pflanzen-
ſchlaf unzutreffend fand, weil, wie er bemerkte, die ſchlafenden
Blätter keineswegs erſchlafft, ſondern ebenſo ſchraff wie am Tage
ſind. — Aehnlich wie Senebier experimentirte auch De Can-
dolle über den Einfluß des Lichts auf die Vegetation (1806)
und es gelang ihm nachzuweiſen, daß die tägliche Periode der
Blätter ſich durch künſtliche Beleuchtung umkehren läßt; wie ſchon
in der Geſchichte der Ernährungslehre erwähnt, war er zwar
Anhänger der Lebenskraft, von der er jedoch nur dann Gebrauch
machte, wenn phyſikaliſche Erklärungen verſagten. — In das
Jahr 1806 fällt aber noch eine der glänzendſten Entdeckungen,
die den Naturphiloſophen und Anhängern der Lebenskraft um
jeden Preis, ſehr unbequem wurde und gewiß dazu beigetragen
hat, die wiſſenſchaftliche Behandlung der Pflanzenbewegungen
wieder auf die rechte Bahn zu leiten. Es war der von Andrew
Knight1) gelieferte, experimentelle Nachweis, daß der ver-
ticale Wuchs der Stämme und Hauptwurzeln durch die Schwer-
kraft verurſacht wird, indem er keimende Pflanzen an einem ſich
raſch drehenden Rade befeſtigte und ſie ſo der Centrifugalkraft
allein oder unter Mitwirkung der Schwere ausſetzte; wie ſonſt
der letzteren, ſo folgten hier die Keimwurzeln der Richtung der
Centrifugalkraft, während die Keimſtengel die entgegengeſetzte
Richtung annahmen. Die Frage war nun aber, auf welche Art
die Schwere, reſp. die Centrifugalkraft, es bewirkt, daß Wurzel
und Stengel gerade entgegengeſetzte Richtungen einſchlagen, warum
z. B. bei einer horizontal gelegten Pflanze die Wurzelſpitze ſich
abwärts, der Stengel ſich aufwärts krümmt. Knight nahm
an, daß jene, wie eine halbweiche Maſſe durch ihr eigenes Ge-
[593]Geſchichte der Phytodynamik.
wicht ſich abwärts biege, wogegen im Stengel der Nahrungsſaft
ſich nach der Unterſeite hinzieht und dieſe ſo lange zu ſtärkerem
Wachsthum veranlaßt, bis durch die ſo bewirkte Krümmung der
Stengel wieder grade aufgerichtet iſt. Auch hier, wie einſt bei
Dodart, kam zunächſt wenig darauf an, daß die Erklärung
ſich ſpäter als ungenügend erwies; in jener Zeit konnte man
ſich bei ihr beruhigen, denn ſie erklärte, was man von der Er-
ſcheinung kannte, genügend. Derſelbe Geiſt echter Naturforſch-
ung, der ſich in Knight's Erklärung des Geotropismus aus-
ſprach, fand übrigens ſeinen Ausdruck auch in zahlreichen anderen
Beiträgen zur Pflanzenphyſiologie, unter denen hier nur noch
zw[e]i erwähnt werden ſollen; 1811 zeigte er, daß unter geeigneten
Umſtänden Wurzeln von ihrer verticalen Richtung durch feuchte
Erde abgelenkt werden können, eine Beobachtung, die ſpäter
(1828) zwar von Johnſon beſtätigt, dann aber ganz vergeſſen
wurde. Mehr Beachtung fand ſeine Entdeckung (1812), daß
die Ranken von Vitis und Ampelopsis negativ heliotropiſch
ſind, d. h. ſich von der Lichtquelle wegwenden; die erſten Fälle
dieſer Art von Heliotropismus, für welche man auch jetzt eine
nur geringe Zahl von Beiſpielen kennt, die aber deshalb von
großem Intereſſe ſind, weil ſie lehren, daß die Beziehungen der
Pflanzen zum Licht denſelben Gegenſatz zeigen, wie die zur
Schwerkraft. Es war etwas von Hales' grader und kühner
Logik in ſeinem Landsmanne Knight, der der Lebenskraft zum
Trotz mit mechaniſchen Erklärungen, wo ſich die Möglichkeit bot,
ſofort bei der Hand war; ſo erklärte er auch das Winden der
Ranken dadurch, daß der Druck der Stütze die Säfte nach der
entgegenſetzten Seite treibe, die in Folge deſſen ſtärker wächſt
und ſo die Krümmung bewirkt, durch welche die Ranke die Stütze
umwindet. Dieſe Theorie war jedenfalls beſſer, als was ſpäter
(1827) Hugo Mohl an ihre Stelle zu ſetzen ſuchte und bis
auf die letzten Jahre iſt keine beſſere gegeben worden. Aehnlich
war es auch mit Knight's Erklärung der geotropiſchen Krüm-
mungen; zwar zeigte 1828 Johnſon, daß abwärts krümmende
Wurzelſpitzen ein Gewicht, ſchwerer als ſie ſelbſt, in Bewegung
Sachs, Geſchichte der Botanik. 38
[594]Geſchichte der Phytodynamik.
ſetzen, alſo nicht einfach hinabſinken, und Pinot 1829, daß ſie
auch in Queckſilber eindringen, daß alſo Knight's Theorie
wenigſtens betreffs der Wurzeln ungenügend iſt; eine beſſere
wurde jedoch ſelbſt bis heute nicht gefunden und ſeine Anſicht
von dem Vorgang der Aufwärtskrümmung der Stengel iſt eben-
falls auch heut noch nicht durch eine andere, allgemein ange-
nommene erſetzt.
Bis in die zwanziger Jahre hatte ſich allgemein die An-
nahme erhalten, daß die Bewegungen der Pflanzentheile durch
die Spiralgefäße, oder, was damals gleichbedeutend war, durch
die Gefäßbündel vermittelt werden. Da war es ein Ereigniß
von Bedeutung, als Dutrochet 1822 bewies, daß die Beweg-
ungen der Mimoſenblätter durch die wechſelnde Expanſion der
antagoniſtiſchen Parenchymmaſſen ihrer Polſter hervorgerufen
werden, daß bei den Krümmungen der letzteren das centrale
Gefäßbündel alſo nur paſſiv mitgekrümmt wird. Zu dieſer An-
ſicht war allerdings ſchon 1790 Lindſay durch ganz ähnliche
Verſuche, wie Dutrochet gelangt; ſeine ungedruckte Abhandlung
darüber wurde aber erſt 1827 von Burnett und Mayo an's
Licht gezogen. Unter deſſen hatte Dutrochet auch ſchon er-
kannt, daß das Licht die Bewegungen der Blätter in ſehr ver-
ſchiedenem Sinne beeinflußt, indem es die in dauernder Finſter-
niß ſtarr gewordenen erſt wieder in den normalen beweglichen
Zuſtand verſetzt, daß aber Beleuchtungswechſel auf dieſen letzteren
als Bewegungsreiz einwirkt.
Im Laufe der zwanziger Jahre regte ſich vielſeitig das In-
tereſſe an den verſchiedenen Bewegungen der Pflanzenorgane.
Im Jahr 1826 ſtellte die mediciniſche Facultät in Tübingen
eine Preisfrage, welche Auskunft über die Eigenſchaften der
Ranken und Schlingpflanzen verlangte und dabei alle diejenigen
Puncte hervorhob, welche nothwendig erſt bereinigt ſein mußten,
wenn eine tiefere Einſicht in die Bewegungen dieſer Organe, die
man bis dahin faſt ganz vernachläſſigt hatte, gewonnen werden
ſollte. Die beiden gekrönten Preisſchriften wurden 1827 publicirt.
Die eine war von Palm, die andere von Hugo Mohl, beide
[595]Geſchichte der Phytodynamik.
aber von ſehr verſchiedenem Werth; Palm's Schrift iſt eine
gute fleißige Schülerarbeit, die von Mohl hat durchaus nichts
von einer ſolchen an ſich; die Art der Darſtellung, die genaue
Literaturkenntniß, die Fülle eigener Erfahrung, die durchſchla-
gende Kritik, die Hervorhebung des principiell Wichtigen, das
Gefühl der Sicherheit und Ueberlegenheit, das ſich hier aus-
ſpricht, läßt den Leſer vergeſſen, daß er nicht die Arbeit eines
gereiften Fachmannes, ſondern die eines zweiundzwanzigjährigen
Studenten vor ſich hat. Dieſe akademiſche Preisſchrift: über
den Bau und das Winden der Ranken und Schlingpflanzen war
nicht nur eine von Mohl's beſten Abhandlungen, ſondern über-
haupt das Beſte, was über dieſen Gegenſtand bis auf Dar-
win's denſelben behandelnde Schrift 1865 geleiſtet worden iſt.
Es muß hier aber ſogleich geſagt werden, daß Mohl die eigent-
lich mechaniſchen Vorgänge im Gewebe windender Ranken und
Schlingpflanzen nicht erklärte, da er in beiden Fällen zur An-
nahme einer Reizbarkeit gelangte, in Folge deren die Umwind-
ung der Stütze ſtattfindet und er dieſe Reizbarkeit nur „dyna-
miſch“ nicht aber „mechaniſch“ glaubte auffaſſen zu müſſen; das
hinderte jedoch nicht, daß Mohl ſeine Unterſuchung bis auf
dieſen Punct durchaus im Sinne einer ſtreng naturwiſſenſchaft-
lichen durchführte und diejenigen Thatſachen, welche ſich durch
Beobachtung und Experiment feſtſtellen ließen, ſo genau ſtudirte,
wie es bis dahin noch bei keiner Pflanzenbewegung geſchehen
war. Es war eine echt Mohl'ſche Arbeit: ſtreng inductiv bis
zu dem Puncte, wo die deductive Forſchung hätte anfangen
müſſen. Sehr werthvoll war zunächſt die zweckmäßige Unter-
ſcheidung der hier in Betracht kommenden Organe in Ranken
und ſchlingende Stengel, da das Verhalten beider weſentliche
Verſchiedenheiten zeigt; noch werthvoller die Entdeckung, daß die
Berührung mit der Stütze als Reiz auf die Ranke wirkt, was
er allerdings irrthümlich auch auf die ſchlingenden Stengel aus-
dehnte. Mohl trat ſofort der neuen Anſicht Dutrochet's
bei, daß es nicht die Gefäßbündel, ſondern die Parenchymſchichten
ſind, welche die Bewegungen vermitteln; die ſeit Caeſalpin
38*
[596]Geſchichte der Phytodynamik.
immer wiederholte, wenn auch nur verſchämt ausgedrückte Anſicht,
daß die Ranken und Schlingpflanzen ihre Stützen „gleichſam
aufſuchen“, die ſeit Grew oft wiederholte, ganz gedankenloſe
Annahme, daß die verſchiedene Richtung des Schlingens der
Stengel durch den verſchiedenen Einfluß des Laufs der Sonne
und des Mondes bewirkt werde, wies er ſchlagend ab; dafür
zeigte er, wie die Nutationsbewegungen der ſchlingenden Stengel
vollkommen hinreichen, das ſogenannte Aufſuchen der Stützen zu
erklären und wenn er die entſprechende Erſcheinung bei den
Ranken auch nicht entdeckte, ſo genügte das, was er ſah, doch
zur Abweiſung jener veralteten Meinung. Auf die ſehr zahl-
reichen, meiſt guten Einzelheiten einzugehen iſt hier nicht der Ort,
und daß manche derſelben ſpäter berichtigt werden mußten, braucht
kaum erwähnt zu werden. Hauptſache war, daß durch Mohl's
umfangreiche Unterſuchung ein Muſter geliefert war, wie phyto-
dynamiſche Erſcheinungen allſeitig zu ſtudiren ſind, bevor man
an eine eigentlich mechaniſche Erklärung derſelben denken kann.
Auch wenn es Mohl verſucht hätte, die Vorgänge im Ge-
webe windender Organe mechaniſch zu erklären, ſo hätte dieſer
Verſuch doch ſcheitern müſſen, da ein Agens, welches hier ſicherlich
mit in Betracht kommen mußte, die Diffuſionsvorgänge, erſt in
demſelben Jahr (1826), wo er die Bearbeitung unternahm, von
Dutrochet entdeckt und erſt ſpäter ſoweit ſtudirt wurde, daß
es ſich zur Erklärung von Vegetationserſcheinungen benutzen
ließ. Dutrochet ſuchte die Endosmoſe ſchon 1828 in die
Phytodynamik einzuführen, und inſofern es ſich dabei nur um
den Nachweis handelt, wie überhaupt und im Allgemeinen durch
Endosmoſe und Exosmoſe Turgescenzänderungen des Gewebes
zu Stande kommen, war damit auch in der That ein neues
mechaniſches Erklärungsmittel für ſolche Vorgänge gewonnen, die
man bis dahin vitaliſtiſch glaubte auffaſſen zu müſſen; allein in
ſeinen ſpäteren, ausführlichen Bearbeitungen des Geotropismus,
Heliotropismus, der periodiſchen und Reizbewegungen u. ſ. w.,
die er in den „Mémoires“ 1837 zuſammenſtellte, gerieth Du-
trochet in einen zwiefachen Irrthum; einerſeits nahm er, um
[597]Geſchichte der Phytodynamik.
durch Endosmoſe die verſchiedenſten Krümmungen zu erklären,
Größen- und Schichtungsverhältniſſe der Zellen an, die factiſch
nicht exiſtiren und anderſeits genügte ihm die Endosmoſe im
Parenchym nicht; er zog vielmehr auch Veränderungen in den
Gefäßbündeln herbei, welche durch die Einwirkung des Sauer-
ſtoffs in unerklärter Weiſe hervorgerufen werden ſollten. So
gab ſich Dutrochet bei der Erklärung der einzelnen Vorgänge
allerdings Blößen und ſeine mechaniſchen Theorieen blieben un-
befriedigend; Anerkennung verdient aber, und für die Entwicke-
lung der Phytodynamik werthvoll war, daß Dutrochet mit
ganz entſchiedenem Ernſt darauf ausging, die Pflanzenbewegungen
im Einzelnen mechaniſch zu erklären; denn ſelbſt die Gegner
ſolcher Erklärungen mußten ſich, um ihn zu widerlegen, doch in
mechaniſche Verhältniſſe vertiefen und mit der einfachen Behaupt-
ung, das Alles mache die Lebenskraft, konnte man jetzt Nie-
mandem mehr imponiren; ſelbſt ein ſo ganz in der Lebenskraft
befangener Mann, wie Treviranus, mußte ſich mit der Endos-
moſe abzufinden ſuchen. Uebrigens boten Dutrochet's aus-
führliche phytodynamiſche Unterſuchungen eine Fülle intereſſanter
Erfahrungen, ſeiner Combinationen und anregender Betrachtungen,
durch welche die Lectüre derſelben noch jetzt lehrreich, jedem der
ſich ſelbſt mit derartigen Forſchungen beſchäftigt, ſogar unent-
behrlich iſt; eine Vergleichung ſeiner betreffenden Aufſätze in den
Mémoires von 1837 mit dem, was vorher über die Mechanik
der Pflanzenbewegungen bekannt war, läßt nicht verkennen, daß
hier an die Stelle der früheren behaglichen Gedankenloſigkeit,
energiſche Verſtandesarbeit getreten war.
Vollſtändig mechaniſch erklärt war alſo noch keine einzige
Pflanzenbewegung; wohl aber hatten ſich bis zum Schluß der
dreißiger Jahre die Anſichten geklärt; die Mitwirkung der äußeren
Agentien war in der Hauptſache bekannt, die verſchiedenen Be-
wegungsformen beſſer auseinander gehalten, wenn auch in dieſer
Richtung noch viel zu thun übrig blieb; und was die mechani-
ſchen Veränderungen im Gewebe der beweglichen Theile anbe-
langt, ſo war in der Endosmoſe wenigſtens ein Factor gegeben,
[598]Geſchichte der Phytodynamik.
mit dem ſich rechnen ließ, wenn auch ſeine Anwendung anders
als bisher verſucht werden mußte.
Bevor ich nun über die weiteren theoretiſchen Beſtrebungen
auf dieſem Gebiet zwiſchen 1840 und 1860 berichte, iſt noch
darauf hinzuweiſen, daß man unterdeſſen auch wieder neue Fälle
verſchiedener Pflanzenbewegungen auffand. Dutrochet hatte
den Keimſtengel von Viscum als ein negativ heliotropiſches
Organ erkannt und ſein Verhalten ſorgfältig ſtudirt; der alten
Anſicht, daß die geotropiſche Abwärtskrümmung ein Vorrecht
der Hauptwurzeln ſei, und daß ſie dadurch in „polarem“ Gegen-
ſatz zum Stamm ſtehen, trat er mit dem Hinweis auf die Rhizom-
ſproſſe von Sagittaria, Sparganium, Typha u. a. entgegen,
welche wenigſtens in ihrer Jugend mit Gewalt ſich abwärts
krümmen; und indem er Knight's Rotationsverſuche erweiterte,
fand er, daß auch die Blätter einen eigenthümlichen Geotropismus
zeigen. — Dieſe Wahrnehmungen und manche neue Beiſpiele
periodiſcher und Reizbewegung traten nun ohne Schwierigkeit in
Verbindung mit den längſt bekannten Bewegungsformen im
Pflanzenreiche, indem ſie zugleich zur Berichtigung der Anſichten
über dieſe beitrugen. Nicht ſo war es einſtweilen mit zwei an-
deren in das Gebiet der Phytodynamik gehörigen Erſcheinungen:
mit dem normalen Wachsthum einer-, mit den Protoplasmabe-
wegungen anderſeits, in denen ſo zu ſagen die beiden entgegen-
geſetzten Extreme der hierher gehörigen Thatſachen auftreten.
Ueber das Wachsthum hatte man ſeit dem Beginn des Jahr-
hunderts verſchiedene Meſſungen gemacht, ſeine Abhängigkeit von
Licht und Wärme ohne nennenswerthen Erfolg zu conſtatiren
verſucht; die Bewegungen des Protoplasmas hatte 1811 Tre-
viranus wieder in den Nitellen aufgefunden; durch Amici,
Meyen und Schleiden wurden ähnliche Bewegungen auch
in den Zellen höherer Pflanzen vielfach nachgewieſen, aber für
Strömungen des Zellſaftes gehalten; daß es ſich hier um Be-
wegungen derſelben organiſirten Subſtanz handelt, welche in
Form von Schwärmſporen ganz frei im Waſſer herumſchwimmt,
war noch unbekannt. Alle dieſe Erſcheinungen, zumal auch die
[599]Geſchichte der Phytodynamik.
Bewegungen der Schwärmſporen in den dreißiger Jahren, wurden
zwar beachtet und im Einzelnen ſtudirt; man dachte aber noch
nicht daran, ſie und die Mechanik des normalen Wachsthums
mit denjenigen Erſcheinungen, welche man gewöhnlich unter dem
Titel: Bewegungen im Pflanzenreich zu behandeln pflegte in
Zuſammenhang zu bringen; De Candolle und Meyen er-
wähnten ihrer in ihren bekannten Compendien (1835 und 1839)
in dieſem Zuſammenhange nicht; vielmehr behandelte Meyen
die „Circulation des Zellſaftes“ bei der Ernährung und das
Schwimmen der Schwärmſporen bei der Fortpflanzung der Algen.
— Die längſt bekannten Bewegungen im Pflanzenreich, welche
man gewöhnlich im Zuſammenhang aufzuführen pflegte, trennten
die genannten Schriftſteller, ähnlich wie es Du Hamel gethan
hatte, in zwei Hauptgruppen, indem ſie die geotropiſchen und
heliotropiſchen Krümmungen, die Bewegungen der Ranken und
Schlingpflanzen unter dem Titel: „Richtung der Pflanzen“, die
periodiſchen und Reizbewegungen aber unter dem der: „Beweg-
ungen“ behandelten, ohne daß man jedoch die Argumente dieſer
Eintheilung angab; offenbar lag ihr das dunkle, der klaren Er-
kenntniß vorauseilende Gefühl zu Grunde, daß es ſich bei jenen
um wachſende, bei dieſen um ausgewachſene Pflanzentheile handelt.
Dutrochet machte eine derartige Unterſcheidung jedoch nicht.
Er war aber unter den Hauptvertretern der Pflanzenphyſiologie
in den dreißiger Jahren der einzige, der ſich den phytodynami-
ſchen Erſcheinungen gegenüber ſchon ganz auf den Standpunct
der mechaniſchen Auffaſſung geſtellt hatte. Daß Treviranus
gänzlich in der Lebenskraft befangen war, wurde ſchon erwähnt;
De Candolle und Meyen ſuchten zwar die einzelnen Pflanzen-
bewegungen womöglich mechaniſch zu erklären, verfielen aber doch
bei allgemeineren Betrachtungen gern noch in veraltete Anſichten;
ſo war die Reizbarkeit der Mimoſen für De Candolle ein
Fall höchſter „Excitabilität“ und Röper überſetzte, in Ueberein-
ſtimmung mit ſeinen ſonſtigen Anſichten, De Candolle's
Ausdruck: autonome Bewegungen mit dem: „eigenwillige“ Beweg-
ungen. Meyen nannte die hier gemeinten Bewegungen von
[600]Geſchichte der Phytodynamik.
Hedysarum gyrans, denen er auch die von Oscillatoria an-
reihte, „freiwillige“ Bewegungen; daß er hierbei wohl noch dunkle
Reminiscenzen an die alte Pflanzenſeele hegte, zeigt der Titel
des betreffenden Abſchnitts ſeines Werkes, welcher: „Von den
Bewegungen und der Empfindung der Pflanzen“ lautet; auch
iſt dieſem Abſchnitt ein Schlußkapitel gewidmet, wo Meyen den
Pflanzen, wenn auch in ſehr gewundenen Ausdrücken, doch eine
Art Empfindung zuſchreibt, die er aus der offenbaren Zweck-
mäßigkeit ihrer Bewegungen folgert.
5) Mit dem Beginn der vierziger Jahre verſchwanden auch
auf dieſem Gebiet die Unklarheiten der Naturphiloſophie und
der Lebenskraft; die inductive, methodiſch naturwiſſenſchaftliche
Forſchung, die noch in den dreißiger Jahren mit ihnen zu kämpfen
hatte, galt wieder für die allein berechtigte; zwar fehlte es nicht
an einigen Nachzüglern, ſie fanden aber keinen Anklang. Man
drang vor Allem auf genaue Unterſuchung der einzelnen Facta,
um für ſpätere Theorieen eine feſtere Baſis zu gewinnen. Zu
einem irgend wie abſchließenden Reſultat, oder zu ganz neuen
Geſichtspuncten, wie in der Phytotomie, Morphologie und Syſte-
matik gelangte man jedoch bis 1860 in der Phytodynamik nicht,
da ſich die beſten Kräfte, die hervorragendſten Forſcher der För-
derung jener Disciplinen faſt ausſchließlich widmeten und die
phytodynamiſchen Studien faſt ganz aus dem Geſichtskreis der
meiſten Botaniker verſchwanden. Eine ſo dauernde, extenſive
und intenſive Bearbeitung, wie Dutrochet ſie dieſen Dingen
in den zwanziger und dreißiger Jahren zugewendet hatte, wurde
ihnen in den beiden folgenden Jahrzehnten nicht zu Theil; wohl
aber wirkte der von ihm gegebene Anſtoß zunächſt inſofern kräftig
nach, als nunmehr die Endosmoſe neu bearbeitet, als ein ſpe-
cieller Fall der Molecularphyſik behandelt wurde; der ſo erwei-
terte Geſchichtskreis geſtattete ſpäter eine freiere Bewegung bei der
mechaniſchen Behandlung phytodynamiſcher Fragen, die gleichzeitig
durch die Fortſchritte der Phytotomie eine feſtere Baſis gewannen.
Was aber, abgeſehen von Brücke's Abhandlung über die Mi-
moſe (1848) geleiſtet wurde, hatte doch mehr den Character des
[601]Geſchichte der Phytodynamik.
kritiſch Sichtenden bezüglich der früheren Leiſtungen, und was
an Neuem und Poſitivem zum Vorſchein kam, blieb unvollendet
bis in die Zeit, in welche unſere Geſchichte nicht mehr fortzu-
führen iſt. Bei dieſer Sachlage iſt eine zuſammenfaſſende Dar-
ſtellung der Leiſtungen dieſes Zeitraums kaum möglich und be-
ſchränke ich mich darauf, die wichtigeren neuen Entdeckungen und
theoretiſchen Beſtrebungen einzeln vorzuführen.
Im Anfang der vierziger Jahre beſchäftigten ſich verſchie-
dene Beobachter mit dem Einfluſſe des Lichts auf wachſende
Pflanzentheile. Payer behauptete 1843, daß die Keimwurzeln
verſchiedener Phanerogamen das Licht fliehen, worüber ſich zwi-
ſchen ihm und Dutrochet ein Streit entſpann, an welchem ſich
1845 auch Durand betheiligte; ohne daß es ſpäter auch nur
betreffs der Thatſache ſelbſt zu einem beſtimmten Abſchluß kam.
Viel wichtiger hätte die ſchöne Entdeckung von Schmitz 1843
werden können, daß die Rhizomorphen im Licht zwar lang-
ſamer als im Finſtern wachſen, aber dennoch negativ heliotropiſch
ſind; eine Thatſache, deren theoretiſcher Werth jedoch bis auf
die neueſte Zeit vollſtändig verkannt worden iſt. — Sebaſtian
Poggioli hatte ſchon 1817 die ſtark brechbaren Strahlen des
Lichtes als die heliotropiſch wirkſameren erkannt und 1842
wurde dieß von Payer beſtätigt, dem jedoch Dutrochet 1843
mit der unrichtigen Behauptung entgegentrat, daß nicht die Brech-
barkeit, ſondern die Helligkeit des Lichtes der entſcheidende Factor
ſei. Zantedeſchi fand aber 1843, daß rothes, oranges und
gelbes Licht heliotropiſch unwirkſam iſt, wogegen Gardner
1844 und Guillemain 1857 mit Hülfe des Spektrums zu
dem Reſultat kamen, daß alle Strahlen desſelben heliotropiſch
wirkſam ſind; mit welchen Widerſprüchen behaftet, die Frage
liegen blieb, bis ſie erſt 1864 wieder neu aufgenommen wurde.
Ganz ähnlich ging es, um dieß hier nachzutragen, mit der
Wirkung des verſchiedenfarbigen Lichts auf die Sauerſtoffab-
ſcheidung und die Chlorophyllbildung; ſchon 1836 hatte ſich
Daubeny damit beſchäftigt und ſich der Anſicht zugeneigt, daß
nicht ſowohl die Brechbarkeit, als die Helligkeit des Lichtes ent-
[602]Geſchichte der Phytodynamik.
ſcheide und auch Draper's 1844 mit Hülfe des Spektrums
gemachte Beobachtung, daß die Sauerſtoffabſcheidung im gelben
Licht eine maximale iſt und beiderſeits davon abnimmt, wurde
ſpäter allgemein in dem Sinne gedeutet, als ob es ſich auch
hier nur um die Helligkeit des Lichtes handle, eine Anſicht, die
erſt in neueſter Zeit definitiv beſeitigt wurde, wie denn über-
haupt alle ſoeben erwähnten Unterſuchungen bis in die ſechziger
Jahre hinein zu keinem befriedigenden Abſchluß gelangten und
theoretiſch kaum verwerthet wurden.
Den Glanzpunct in der Entwicklung der Phytodynamik
bildet aber eine Abhandlung Brücke's über die Bewegungen der
Mimoſenblätter 1848, nicht bloß wegen ihrer außerordentlich
wichtigen Reſultate, ſondern noch mehr durch die Exaktheit ihrer
Methode, die geradezu das Vorbild für jede weitere Unterſuchung
auf dieſem Gebiet geworden iſt. Von den Reſultaten iſt nament-
lich zu erwähnen, daß Brücke zuerſt die weſentliche Verſchieden-
heit der periodiſchen Nachſtellung der Mimoſenblätter von ihrer
Reizſtellung erkannte, indem jene mit einer Turgescenz-Zunahme,
dieſe dagegen mit einer Erſchlaffung verbunden iſt: er zeigte
ferner, daß nach Entfernung der oberen Hälfte des Bewegungs-
organs nicht nur die periodiſchen Bewegungen fortdauern, ſon-
dern auch die Reizbarkeit noch erhalten iſt. Methodiſch wichtig
war namentlich die klare Darlegung der zwiſchen dem Gefäß-
bündel und dem turgescenten Parenchymmantel beſtehenden
Spannung und die Zurückführung der periodiſchen und Reiz-
bewegungen auf Waſſerbewegungen in den antagoniſtiſchen Pa-
renchymmaſſen, die zwar im Einzelnen noch Manches zu wün-
ſchen übrig ließ, aber den großen Vortheil darbot, den mit
dem Begriff der Reizbarkeit verbundenen Myſticismus, welchen
ſelbſt Mohl noch nicht abgeſtreift hatte, zu beſeitigen.
Eine ausführliche Unterſuchung Wigand's über die Ab-
wärtskrümmung der Wurzeln 1854 war die einzige dieſes Thema
behandelnde Arbeit in dieſem Zeitraum, die auch deßhalb hervor-
gehoben zu werden verdient, weil ſie zum erſten Mal ſeit langer
Zeit wieder die eigentlich mechaniſchen Fragen dieſes Vorgangs
[603]Geſchichte der Phytodynamik.
theoretiſch beleuchtete und, neben manchem ſonſt Lehrreichen, Du-
trochet's von Mohl acceptirte, auf Endosmoſe und Gewebe-
ſtruktur gegründete Theorie mit der einfachen Bemerkung be-
ſeitigte, daß auch einzellige Organe geotropiſche Krümmungen
zeigen, wie denn überhaupt im Lauf der ſechziger und ſiebziger
Jahre erkannt worden iſt, welch' große theoretiſche Bedeutung
die Thatſache beſitzt, daß abgeſehen von den Reizbewegungen die
verſchiedenſten phytodynamiſchen Erſcheinungen auch an einzelligen
Organen auftreten.
Es wurde oben darauf aufmerkſam gemacht, daß Corti's
1772 gemachte, von Treviranus 1811 wiederholte Ent-
deckung der Circulation in den Zellen ohne theoretiſches Ergeb-
niß blieb und im Grunde war es auch ſo mit den ſpäteren Be-
obachtungen Amici's, Meyen's und Schleiden's, durch
welche zunächſt die große Verbreitung derartiger Bewegungen
in den Pflanzenzellen conſtatirt wurde. Ebenſo waren die ſchon
vor 1840 bekannten, ziemlich zahlreichen Fälle der Schwärm-
ſporenbewegungen mehr ein Gegenſtand der Verwunderung als
wiſſenſchaftlicher Betrachtung; dieſe letztere konnte in der That
erſt dann Platz greifen, als Nägeli und Mohl 1846 in dem
Protoplasma das wahre Subſtrat der ſogenannten Saftbewegung
in den Zellen erkannten, und 1848 Alexander Braun die
Schwärmſporen als hautloſe Protoplasmamaſſen, aber als wahre
Pflanzenzellen proklamirte. Man hatte alſo nunmehr ein neues
Subſtrat und zwar das allereinfachſte für die Pflanzenbeweg-
ungen entdeckt und Nägeli machte ſchon 1849 den Verſuch,
die Bewegungen der Schwärmſporen mechaniſch zu erklären.
Kam es bezüglich dieſer Erſcheinungen, für welche 1859 De
Bary in den Myxomyceten die lehrreichſten Objekte aufwies,
noch zu keiner mechaniſchen Einſicht, ſo führten ſie ſpäter doch
zu der Vermuthung, daß möglicherweiſe auch bei allen übrigen
phytodynamiſchen Erſcheinungen das Protoplasma in erſter Linie
betheiligt ſei und Unger's 1855 gemachter Hinweis auf die Aehn-
lichkeit des pflanzlichen und thieriſchen Protoplasma's mußte
dieſem Gedanken eine ganz beſondere Tragweite geben. Zum
[604]Geſchichte der Phytodynamik.
Abſchluß allerdings gelangte bis in die ſechziger Jahre keine
einzige dieſer neuen Wahrnehmungen; wie ſehr ſich aber doch
die Anſichten über die Phytodynamik im Allgemeinen ſchon im
Anfang der fünfziger Jahre geklärt hatten, erkennt man deutlich
genug in Mohl's 1851 (Vegetabiliſche Zelle) und in Unger's
1855 (Lehrbuch der Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen)
überſichtlichen Darſtellungen, von denen der erſtere mehr kriti-
ſirend das Ungenügende der bis dahin gemachten Erklärungs-
verſuche, Unger dagegen das bereits principiell Feſtſtehende
hervorhob.
So wenig, wie in den früheren Darſtellungen der Phyto-
dynamik wurde aber auch von Mohl und Unger die Mechanik
des Wachsthums mit in den Kreis der phytodynamiſchen Er-
ſcheinungen gezogen. Vielmehr ſchien man einen gewiſſen Gegen-
ſatz zwiſchen Wachsthum und anderen Bewegungen im Pflanzen-
reich anzunehmen, was auch bis auf die allerneueſte Zeit feſtge-
halten worden iſt. Ueberhaupt wurde ſeit Mariotte und
Hales die Mechanik des Wachsthums nicht mehr zum Gegen-
ſtand von Unterſuchungen und theoretiſchen Erwägungen gemacht;
doch fehlte es nicht ganz an Beobachtungen, welche wenigſtens
die formalen Verhältniſſe und die Abhängigkeit des Wachsthums
von äußeren Einflüſſen in's Auge faßten. Seit Du Hamel
war Ohlert 1837 wieder der Erſte, der ſich mit der Vertheilung
des Wachsthums an der Wurzel beſchäftigte; bezüglich derſelben
Frage Betreffs der Stengel hatten Cotta's 1806, Chr. F.
Meyer's 1808, Caſſini's 1821, Steinheil's und andere
Meſſungen weſentlich nur zu dem Reſultat geführt, daß die Ver-
theilung des Wachsthums an den Internodien eine ſehr ver-
ſchiedene ſein könne und ſelbſt Münter's 1841 und 1843 und
Griſebach's 1843 an wachſenden Internodien gemachte Meſſ-
ungen führten noch zu keinem erheblichen Ergebniß, weil es die
Beobachter unterließen, die gewonnenen Zahlen theoretiſch zu
verwerthen. Man gab ſich damals überhaupt, wie es ſcheint,
der Meinung hin, es genüge, die Meſſungen einfach in Zahlen
aufzuſchreiben und es müſſe dann ein theoretiſches Ergebniß
[605]Geſchichte der Phytodynamik.
ſchon von ſelbſt in die Augen ſpringen; wogegen erſt, wenn die
Zahlen bereits vorliegen, die eigentlich wiſſenſchaftliche Arbeit
beginnt. Aus dieſem Grunde führten denn auch die hier noch
zu nennenden Beobachtungen zu keinem beſtimmten Ergebniß.
Der Einfluß, welchen die veränderliche Lufttemperatur 1) und der
periodiſche Wechſel von Tageslicht und nächtlicher Dunkelheit
auf das Längenwachsthum der Internodien und Blätter geltend
macht, nachdem dieſelben aus dem Knoſpenzuſtand hervorgetreten
ſind, iſt vielfach Gegenſtand der Unterſuchung geweſen; ſchon
Chriſtian Jacob Trew publicirte 1727 lange fortgeſetzte
tägliche Meſſungen am Blüthenſchaft von Agave americana
in Verbindung mit Temperatur- und Wetterbeobachtungen; aber
erſt hundert Jahre ſpäter wurden ähnliche Beobachtungen von
Ernſt Meyer 1827 und Mulder 1829 aufgenommen, denen
dann van der Hopp, de Brieſe 1847 und 1848 folgten;
eingehender wurden die einſchlägigen Fragen aber erſt von
Harting 1842 und Caspary 1856 unterſucht. Abgeſehen
von dem Ergebniß, welches Münter andeutete und Harting
theoretiſch verwerthete, daß nämlich die Wachsthumsgeſchwindig-
keit unabhängig von äußeren Urſachen erſt zunimmt, dann ein
Maximum erreicht, um wieder abzunehmen und ganz aufzuhören,
worauf übrigens von Niemand weiter geachtet wurde, führten
alle dieſe zum Theil ſehr fleißigen Beobachtungen zu keinem
Reſultat, nicht einmal zur Feſtſtellung einer wirklich brauchbaren
Beobachtungsmethode; kaum zwei Beobachter kamen zu gleichem
Reſultat, da man ſich die Fragen über die Beziehungen des
Längenwachsthums zur Temperatur und zum Licht nicht hin-
reichend klar gemacht hatte. Es erſchienen ſogar Mittheilungen,
die einfach nur fortgeſetzte Längenmeſſungen wachſender Pflanzen-
theile tabellirten und wohl ein Bild der fortwährenden Ungleich-
förmigkeit des Wachsthums gaben, ohne aber von den Urſachen
derſelben irgendwie Rechenſchaft geben zu können; ſo groß war
die Unklarheit ſelbſt in den fünfziger und ſechziger Jahren, daß
[606]Geſchichte der Phytodynamik.
die meiſten Beobachter ſich die Frage ſtellten, welcher Unterſchied
zwiſchen täglichem und nächtlichem Wachsthum beſtehe; ohne zu
überlegen, daß Tag und Nacht nicht einfache Naturkräfte ſind,
ſondern verſchiedene und ſehr variable Complicationen äußerer
Wachsthumsbedingungen: der Temperatur, Beleuchtung, Feuchtig-
keit, und daß eine ſolche Frageſtellung unmöglich zur Auffindung
geſetzlicher Beziehungen führen kann, ſo lange man nicht die ein-
zelnen Faktoren kennt, welche in den Begriffen Tag und Nacht
enthalten ſind. — Die theoretiſch werthvollſte der genannten
Publikationen war unzweifelhaft die von Harting 1842, der
mit Entſchiedenheit darauf ausging, aus ſeinen Meſſungen be-
ſtimmte Sätze theoretiſchen Inhalts zu gewinnen, namentlich die
Abhängigkeit des Wachsthums von der Temperatur auf einen
mathematiſchen Ausdruck zu bringen, der jedoch ungenügend genug
ausfiel. Die Vorausſetzung: daß ſich zwiſchen dem Wachsthum
und der Temperatur eine einfache arithmetiſche Beziehung finden
müſſe, war ſchon von Adanſon im vorigen Jahrhundert an-
geregt worden und fand ganz beſonders zwiſchen 1840 und 1860
vielen Beifall, wobei man jedoch dem Wort Wachsthum einen
höchſt allgemeinen Sinn unterlegte, indem man damit in mehr
populärer Redeweiſe die Geſammtheit aller Vegetationserſchein-
ungen bezeichnete. Adanſon hatte angenommen, die Zeit des
Ausſchlagens der Knoſpen werde durch die Geſammtzahl der
Grade mittlerer Tageswärme beſtimmt, welche vom Jahresan-
fang an gerechnet, zuſammenkommen; obgleich Senebier und
ſpäter P. de Candolle ſich gegen dieſe Beziehung ausgeſprochen
hatten, gewann ein ähnlicher Gedanke nach 1840 nicht nur vielen
Anklang, ſondern er wurde geradezu wie ein leicht begreifliches
Naturgeſetz behandelt. Bouſſingault hatte nämlich darauf
hingewieſen, daß wenn man bei Culturpflanzen in Europa und
Amerika die geſammte Vegetationszeit in Tagen ausgedrückt mit
der mittleren Temperatur dieſes Zeitraums multiplicirt, die er-
haltenen Producte bei derſelben Pflanzenſpecies nicht allzuweit
von einander abweichen. Darauf hin wurde nun angenommen,
daß dieſe Abweichungen nur Folge ungenauer Beobachtung ſeien
[607]Geſchichte der Phytodynamik.
und daß für jede Pflanzenſpecies ein ſolches conſtantes Product
von Vegetationszeit und Mitteltemperatur gelten müſſe. Zudem
bezeichnete man dieſes Product mit dem unſinnigen Ausdruck
Temperaturſumme. Fände nun eine derartige Beziehung zwiſchen
Vegetation und Temperatur ſtatt, ſo würde ohne Weiteres daraus
folgen, daß alle anderen Einwirkungen, die des Lichtes, der
Feuchtigkeit, des Bodens u. ſ. w. auf die Vegetationszeit über-
haupt gar keinen Einfluß ausüben, ganz abgeſehen davon, daß
ſchon die einfachſten Wachsthumsvorgänge in höchſt complicirter
Weiſe nicht nur von inneren Urſachen, ſondern auch von der
Temperatur abhängen. Es iſt hier um ſo weniger der Ort,
auf die in dem Begriff der Temperaturſumme liegende Ungereimt-
heit noch einmal hinzuweiſen, als ich bereits 1860 (Jahrbücher
für wiſſ. Bot. Bd. I. p. 370) das Nöthige geſagt habe. Es iſt
aber merkwürdig, daß ein ſolches Monſtrum von Logik bis in
die ſechziger Jahre die Wiſſenſchaft nach den verſchiedenſten Richt-
ungen hin ſchädigen konnte. Es entſtand ſogar eine neue Wiſſen-
ſchaft, die ſogenannte Phaenologie, welche Tauſende und aber
Tauſende von Zahlen aufhäufte, um die für jede Pflanze charak-
teriſtiſche Temperaturſumme aufzufinden, und als dieſe grobe
Empirie zeigte, daß die einfache Multiplication von Vegetations-
zeit und Temperatur keine conſtante Zahl liefere, ſo verſuchte
man es mit dem Quadrat der Temperatur und anderen Zahlen-
ſpielereien. Obgleich Alphonſe de Candolle ſchon 1850
ſehr gegründete Einwürfe gegen dieſe ganze Behandlungsweiſe,
in welcher die Mitteltemperaturen eine ganz ungerechtfertigte
Rolle ſpielten, machte, konnte er ſich doch ſelbſt ſo wenig von der
herrſchenden Meinung befreien, daß er ſogar die Wirkungen
des Lichts durch eine Aequivalentzahl von Temperaturgraden
glaubte ausdrücken und ſo das hypothetiſche Temperaturgeſetz der
Vegetation retten zu können. Von dieſem Standpunct aus
ſchrieb Alphonſe de Candolle ſeine zweibändige Pflanzen-
geographie 1855, in welcher übrigens ein reicher Schatz von Er-
fahrung und Literaturkenntniß zuſammengeſtellt iſt.
[608]Geſchichte der Phytodynamik.
So lag denn faſt Alles, was in der Phytodynamik
von principieller Bedeutung iſt, noch ungeklärt zu der Zeit,
wo unſere Geſchichte ſchließt; erſt nachher wurden die Fragen
unter neuen Geſichtspuncten wieder aufgenommen und jetzt
iſt die Diskuſſion derſelben in vollem Fluß.
Appendix A Namenregiſter.
Adanſon 71, 124, 589, 606.
Aepinus 277.
Agardh 173, 220, 379.
Albertus Magnus 15.
Aldrovandi 20.
Alpinus 411.
Alſton 434.
Amici 240, 306, 401, 467, 469.
Ammann 42.
Ariſtoteles 4, 6, 14, 17, 46, 55,
235, 406, 487.
Aſtruc 587.
Aubert Du Petit-Thouars 147.
Bachmann ſiehe Rivinus.
Baiſſe (de la Baiſſe) 522.
Banks 150.
Bartling 154, 157.
Batſch 135, 147.
Bauhin, Caspar 5, 6, 9, 13, 14, 18,
21, 26, 27, 28, 35, 42, 69, 86,
108, 123, 408.
Beale 510.
Berkeley 220.
Bernhardi 117, 241, 276, 284 -
287, 374.
Biſchoff Z. W. 173. 213, 474.
Blair, Patick 423.
Bock, Hieronymus 3, 14, 15, 21.
26, 29. 30.
Boehmer 268.
Boerhaave 84.
Bonnet 176, 525-527, 585.
Borelli 579.
Bornet 225, 479.
Bouſſingault 402, 574, 606.
Bradley 423.
Braun, Alexander 175, 178, 185 -
195. 199, 337, 338, 361, 477.
Bravais 183.
Briſſeau - Mirbel 241, 242, 270,
276, 294-297. 298, 307, 332.
336, 346.
Brongniart, Adolf 158, 347, 467,
471.
Brown, Robert 118, 121, 131, 150
-155, 167, 174, 244, 349, 468.
Brücke 339, 602.
Brunfels 3, 5, 14, 15.
Buffon 96.
Burckhard 89, 429.
Burnett 594.
Caeſalpino, Andrea 6, 10, 13, 18,
20, 25, 40, 41, 43, 45-62,
66, 69, 73, 86, 88, 111, 135,
176, 235, 388, 409, 487-490.
Calandrini 526.
Camerarius Rud. Jacob 65, 83,
86, 93, 389, 406, 416-421,
439.
Candolle ſiehe De Candolle.
Caſſini 604.
Ceſſati 228.
Choulant 20.
Cluſius (De l'Ecluſe) 14, 19, 20.
31, 32, 33, 60, 408.
Cohn 225, 228, 478.
Comparetti 268, 284. 305.
Corda 198, 220.
Cordus, Valerius 31, 579.
Cornutus, Jacob 580.
Corti 339, 589.
Covolo, conte dar, 588.
Cramer, Carl 218.
Dalechamps 31, 32.
Darwin, Charles 11, 12, 53, 57,
164, 182, 194, 199, 378, 466.
Daubeny 601.
De Bary 225, 228-230, 316,
339, 366, 401, 478.
De Candolle, Alphons 607.
De Candolle, Pyrame 9, 76, 98,
118, 120, 131, 136-149, 331,
523, 556-561, 581, 599.
De la Baiſſe 522.
De l'Ecluſe (ſiehe Cluſius).
De la Hire 587.
De l'Obel (ſiehe Lobelius).
Sachs, Geſchichte der Botanik. 39
[610]Namenregiſter.
Desfontaines 317, 331.
De Brieſe 549.
Dillenius 81, 226, 472.
Dioscorides 3, 4, 15, 16, 30, 36.
Dippel 370.
Dodart 397, 582.
Dodonaeus (Dodoeus) 14, 19, 22,
31, 32, 33, 34, 60.
Draper 602.
Du Hamel du Monceau 96, 397,
528-530, 586.
Du Petit-Thouars (ſiehe Aubert)
173, 317, 332.
Durand 601.
Dutrochet 227, 399, 550-555,
594, 596.
Ehrenberg 227, 348, 382, 473.
Eichler 378.
Endlicher 9, 118. 157.
Erlach 382.
Fiſcher 550.
Fogelius 64.
Fries, Elias 11, 119, 165, 220.
Fuchs 3, 14, 15, 16, 19, 20, 22,
28, 409.
Fürnrohr 207.
Gärtner, Carl Friedrich 455, 460
-465.
Gärtner, Joſeph 24, 118, 132-
135, 222, 447.
Galenus 3, 16.
Garcias del Huerto 579.
Gardner 610.
Gaudichaud 317.
Geoffroy 427.
Gesner, Konrad 19, 21, 31, 409.
Ghini, Luca 20.
Girou de Buzareingue 460.
Gleditſch 226, 227, 424.
Gleichen-Rußworm 266, 268, 437.
Goeppert 198, 399, 548.
Goethe 66, 155, 168-172, 283.
Grew, Nehemia 74, 95, 104, 238,
240, 249, 251, 257-262, 413,
596.
Griſchow 547.
Griſebach 604.
Guillemain 601.
Hales 95, 241, 392, 515-520,
583.
Haller 71, 96, 436.
Hanſtein, Johannes 218, 370, 375,
378.
Hartig, Theodor 325, 340, 342,
370, 577.
Harting 328, 605.
Harvey 220.
Haſſenfratz 535.
Hebenſtreit 81.
Hedwig 133, 212, 241, 273-274,
306, 472.
Henfrey 337, 362, 476.
Henſchel, Auguſt 459.
Herbert, William 455.
Hermann 74.
Heucher 81.
Hill 81, 588.
Hofmeiſter, Wilh. 11, 127, 180, 183,
198, 214-218, 224, 244, 337,
362, 401, 475.
Hooke, Robert 238, 239, 246-
248, 579.
Hornſchuch 221.
Ingen-Houß 241, 397, 533, 534-
535.
Johnſon 593.
Jrmiſch, Thilo 178.
Jungermann 42.
Jungius 43, 46, 63-68, 70, 79,
86, 124, 167, 237, 412, 491.
Juſſieu, Antoine Laurent de, 9, 24,
83, 98, 118, 125-131, 135, 167.
Juſſieu, Bernard de 9, 44, 124.
Karſten 346.
Keßler 20.
Kieſer 173, 306, 346.
Knauth, Chriſtoph 79.
Knight, Andrew 455, 546, 592.
Kölliker 338.
Koelreuter 96, 133, 266, 439-
446, 472, 588.
Kützing 220, 221.
Lantzius-Beninga 213.
Lavoiſier 531, 548.
Leeuwenhoek 239, 262-264.
Leibnitz 89, 429.
Leitgeb 218.
Leſczyc-Suminsky 474.
L'Heritier 147.
Léveillé 220.
Liebig 402, 567, 569-571.
Lindley 10, 158, 161.
Lindſey 594.
[611]Namenregiſter
Link 173, 227, 241, 276, 277, 288,
289-291, 335, 546, 590.
Linné 8, 10, 11, 13, 40, 42, 44,
53, 60, 70, 77, 81, 84-115,
116, 122, 131, 430, 584.
Liſter 508.
Lobelius (de l'Obel) 6, 7, 14, 18,
19, 25, 28, 34, 38, 43, 62, 65,
69, 72.
Logan, James 423.
Ludwig 81, 267.
Macaire, Prinſep 552.
Magnol 8, 508.
Major, Johann Daniel 493.
Mairan 588.
Man, James 278.
Malpighi 47, 52, 68, 74, 95, 167,
238, 240, 249, 251, 253-257,
259, 392, 412, 494-497.
Marcet 547.
Mariotte 498-507, 582.
Mattioli 3, 19, 31, 104.
Medicus 275, 288.
Merklin 476.
Mettenius 213, 474.
Meyen 242, 279, 307, 308-314,
329, 335, 348, 379, 549, 565,
600.
Meyer, Ernſt 20, 173, 604.
Micheli 226, 472.
Mikan 416.
Millardet 378.
Millington 412, 416.
Mirbel (ſiehe Briſſeau-Mirbel).
Mohl, Hugo 113, 174, 207, 240,
279, 280, 307, 315-335, 336,
347, 351, 355, 367, 377, 379,
382, 404, 571, 595.
Moldenhawer J. J. P. 242, 277,
279, 280, 298-306.
Moriſon 8, 68, 71-74, 108.
Morland, Samuel 426.
Morren 348.
Mulder 327.
Müller 424.
Münter 604.
Muſtel 287.
Nägeli 11, 68, 127, 174, 179, 197,
199, 207-212, 223, 240, 243,
321, 326, 338, 351-361, 367,
374, 375, 378-384, 473, 603.
Naumann 182.
Needham 466.
Nees von Eſenbeck 173, 220, 227,
473.
Nieuwentyt 510.
Ohlert 604.
Oken 174.
Palm 595.
Payen 327.
Payer 205, 601.
Percival 591.
Perrault 436, 508.
Perſoon 227.
Platon 11.
Platz, Wilh. 522.
Plinius 3, 15, 16, 36, 408.
Ploeſſl 278.
Poggioli 601.
Polſtorff 568.
Pontedera 434.
Prieſtley 531, 533.
Pringsheim 218, 225, 229, 344,
401, 478.
Radlkofer 340, 378, 470.
Rajus 8, 42, 64, 65, 68, 72, 74-
79, 81, 108, 415, 509, 579-581.
Raspail 346.
Ratzenberger 20.
Reichel, Chriſtian 523.
Rivinus, Aug. Quir. 8, 42, 68, 79
-81, 89, 108.
Roemer 433.
Roeper 155, 400.
Rudbeck 81.
Rudolphi 227, 276, 288, 289-291.
Ruppius 81.
Saint-Hilaire, Auguſte de 161.
Salm-Horſtmar 575.
Sanio, Carl 334, 341, 369, 377.
Sarrabat de la Baiſſe 522.
Sauſſure, Theodore de, 398, 537-
543, 547. 573.
Sbaraglia 510.
Schacht, Hermann, 326, 329, 341,
344, 364-365, 371, 373, 375,
382, 469, 470.
Schaeffer J. C. 226.
Schellhammer 79,
Schelver, Franz Joſeph 458.
Schimper, C. Fried. 175-182.
Schimper, W. B. 213.
Schlechtendal 207, 345.
39*
[612]Namenregiſter
Schleiden 68, 174, 193, 197, 202
-207, 243, 321, 327, 337, 349,
353, 368, 372, 468, 571.
Schmidel 21, 133, 212, 472.
Schmitz 227, 601,
Schrank, Paula 275.
Schultz-Schultzenſtein 317, 324, 346.
Schulze, Franz 344, 403.
Schultze, Max 339, 366.
Schwendener 231, 240.
Schwann 338.
Selligue 278.
Senebier, Jean 241, 268, 398, 535
-537, 591.
Sharroc 581.
Smith 588.
Spallanzani, Lazaro 457.
Sprengel, Conrad 397, 448-453.
Sprengel, Kurt 72, 136, 241, 276,
279, 283-284, 346.
Steinheil 604.
Sternberg 198.
Thalius 19.
Theophraſtos 3, 4, 15, 16, 17, 18,
37, 235, 407.
Thümmig 267.
Thuret, Guſtav 224, 225, 339, 401,
477.
Tonge 508.
Tournefort, Pitton de 8, 42, 68, 80,
81-84, 89, 109, 433, 588.
Tragus (ſiehe Bock).
Trentepohl 222.
Treviranus, Ch. Ludolf 20, 173,
288, 291-294, 297, 314, 335,
346, 460, 562, 563-564, 589.
Trew 605.
Trog 227.
Tulaſne 228, 470.
Turpin 346.
Unger, Franz 174, 198, 222, 244,
324, 329, 337, 339, 351-355,
365, 366, 368, 373, 404, 473,
603.
Vagetias 64.
Vaillant, Sebaſtian 430.
Valentin 383.
Van Deyl 277.
Van Helmont 492.
Varro 579.
Vaucher 222, 223, 401, 473, 589.
Voigt 173.
Volckamer 42.
Vrolik 549.
Wallroth 230.
Walther, Friedrich 522.
Weickert 278.
Wiegemann 568.
Wigand, Albert 113, 368, 369, 379,
602.
Wilbrand 460.
Willoughby 508.
Wolff, Chriſtian 237, 266, 435,
510-514.
Wolff, Casp. Fried. 47, 167, 269-
273, 297, 345, 437.
Woodward 510.
Wright 278.
Wray (ſiehe Rajus)
Wydler 178.
Zaluziansky 411.
Zantedeſchi 601.
Zinn 588.
[][]
In derſelben Verlagshandlung erſchien ferner:
Bayerisches Wörterbuch
von
J. Andreas Schmeller.
Zweite mit des Verfaſſers Nachträgen vermehrte Ausgabe, im Auftrag der hiſtoriſchen Commiſſion
bei der königl. Akademie der Wiſſenſchaften in München
bearbeitet von
C. Karl Frommann.
Lieferung 1-11 à24 Sgr. oder 2 Mark 40 Pfg.
Das Werk wird in 2 Bänden oder 12 Lieferungen vollſtändig ſein.
Deutſche Reichstagsakten.
Band I.
Deutſche Reichstagsakten unter König Wenzel.
Erſte Abtheilung 1376-1387.
Herausgegeben von
Julius Weizſäcker.
IX. und 684 S. Lexikon-4°. geh. Preis 6 Thlr. 20 Sgr. oder 20 Mark.
‒ do. ‒ Band II. Deutſche Reichstagsakten unter König
Wenzel. Zweite Abtheilung 1388-1397.
XX. und 544 S. Lex.-4°. geh. Preis 5 Thlr. 10 Sgr. oder 16 Mark.
hin zeigen wird.
modernen Botanik an die allgemeinen kulturhiſtoriſchen Vorgänge des
15. und 16. Jahrhunderts anſchließen, geben Kurt Sprengel Geſchichte
der Bot. I. 1817 und Ernſt Meyer Geſchichte der Bot. Bd. IV. 1857,
beſonders anziehend iſt auch die Geſchichte des Valerius Cordus von Thilo
Irmiſch im Prüfungsprogramm des Schwarzburgiſchen Gymnaſiums zu
Sondershauſen 1862.
welchem unſere Geſchichte beginnt, zu beleuchten. Wie in dem ganzen vor-
liegenden Buch, betrachtete ich es auch hier als meine einzige Aufgabe, die
Entwicklung botaniſcher Gedanken aufzuſuchen und darzuſtellen.
Mönch, dann, in Straßburg zum Proteſtantismus übergetreten, als Lehrer
thätig, zuletzt Arzt, ſtarb 1534.
wiſſenſchaftliche bezeichnen dürfen, bildete ſich im Intereſſe der Medicin oder
doch des mediciniſchen Aberglaubens eine ziemlich reichhaltige Literatur über
die ſogen. signatura plantarum im 16. und 17. Jahrhundert aus. Man
glaubte nemlich aus gewiſſen äußeren Merkmalen, aus Aehnlichkeiten ge-
wiſſer Pflanzentheile mit menſchlichen Organen u. dgl. errathen zu können, welche
Pflanzen und welche Theile derſelben als Heilmittel zu verwenden ſeien.
Pritzel macht 24 Schriften namhaft, welche von 1550–1697 darüber
erſchienen ſind. Nebenbei nahmen auch die Kräuterbücher von der signatura
Notiz und noch bei Ray findet ſich dieſelbe kritiſch behandelt.
man nach Wimmer's Ausgabe überſetzt in E. Meyer's Geſch. d. Bot. I.
p. 94. ff.
v. Chr. berichtet ausführlich E. Meyer Geſch. d. Bot. Schon 1483 er-
ſchien eine von Theodor Gaza beſorgte Ausgabe ſeiner Bücher de historia
et de causis pl. (Vergl. Pritzel thesaurus lit. bot.)
des Holzſchnitts zur bildlichen Darſtellung der Pflanzen, Leipzig 1855 und
Choulant graphiſche Incunabln, Leipzig 1858.
vollen Schickſalen 1558 Profeſſor der Naturgeſchichte dortſelbſt, wo er 1565
an der Peſt ſtarb. (Ausführliches bei E. Meyer Geſch. d. Bot. IV.)
1519 in Ingolſtadt unter Reuchlin die Claſſiker und wurde 1524 Doctor
der Medizin; er trat zum Proteſtantismus über; nach einem in Folge deſſen
bewegten Leben wurde er 1535 Profeſſor der Medicin in Tübingen, wo er
1566 ſtarb. (Vergl. Meyer Geſch. der Bot. IV.)
ſeitig gebildeter Mediciner; ſeit 1552 gab er eine Reihe botaniſcher Werke
heraus, z. Th. in flämiſcher Sprache, welche 1583 unter dem Titel Stirpium
historiae pemtades VI. (Antwerpen) ihren Abſchluß fanden. 1574—1579
war er Leibarzt des Kaiſers Maximilians II. 1582 übernahm er eine
Profeſſur in Leyden und ſtarb 1585. (Vergl. E. Meyers Geſch. der
Botanik IV. p. 340.)
brückiſchen geboren; anfangs dem Kloſter beſtimmt, wandte er ſich dem
Proteſtantismus zu, wurde in Zweibrücken Schullehrer und Aufſeher des
fürſtlichen Gartens; bald darauf Prediger in Hornbach, wo er zugleich ärzt-
liche Praxis und Botanik trieb und 1554 ſtarb. (Weiteres bei E. Meyer
Geſch. der Botanik IV. p. 303.)
lange Zeit als Leibarzt am Hofe Ferdinands I.) können wir übergehen,
da bei ihm neben den mediciniſchen Intereſſen die botaniſchen wenig
in Betracht kommen. Sein Kräuterbuch, urſprünglich ein Commentar zum
Dioscorides, nach und nach ſehr erweitert, erlebte über 60 Auflagen und
Ausgaben in verſchiedenen Sprachen. (Vergl. Meyer Geſch. der Bot. VI.)
Familie in Frankreich religiöſen Verfolgungen unterlag, brachte er den
größten Theil ſeines Lebens in Deutſchland und den Niederlanden zu;
1573 folgte er einem Rufe Maximilians II. nach Wien; 1593 wurde er
Profeſſor in Leyden, wo er 1609 ſtarb. Ueber das vielbewegte Leben dieſes
bedeutenden Mannes vergl. Meyer Geſch. der Botanik Bd. 4.
mehr Philolog als beobachtender Naturforſcher wie Meyer (Geſch. der
Bot. VI. p. 395) ſagt.
Freund und Landsmann, wurde zu Lille 1538 geboren, ſtarb 1616
in England, wo er von Jacob I. den Titel eines Botonographen er-
halten hatte. Auch über ihn berichtet Meyer ausführlich.
ſeinem ältern Bruder Johannes bei Fuchs; ſammelte in der Schweiz,
Deutſchland, Italien, Frankreich Pflanzen, ward Profeſſor in Baſel
und ſtarb 1624. Ueber ihn und ſeinen Bruder berichtet Haller in der
Vorrede ſeiner hist. stirp. Helvetiae 1768 und Kurt Sprengel Geſch. der Bot.
1818 I. p. 364.
Profeſſor in Piſa und ſpäter des Papſtes ClemensVIII. Leibarzt ſtarb 1603.
der Sexualität der Pflanzen komme ich in der Geſchichte der Phyſiologie
zurück.
Cotyledonen und des Endoſperms.
Schneider Leipzig 1818; de causis pl. L. V. cap. V.) findet ſich die
Angabe, daß nach Zerſtörung des Marks der Weinrebe die Trauben keine
Samenkerne enthalten; offenbar deutet dieſer Aberglaube auf ein höheres
Alterthum der Anſicht, daß die Samen aus dem Mark entſtehen.
und ſein Zeitalter, Tübingen 1850. Ueber ſeine Bedeutung als Philoſoph
vergl. Ueberweg, Geſchichte der Philoſophie 1898 III. p. 119, wo Jun-
gius als Vorgänger Leibnitzen's bezeichnet wird.
nachdem jener geſiegt, nach Frankreich, wo er zu Paris unter Robin ſich
der Botanik widmete. 1660 wurde er Leibarzt KarlsII. und Profeſſor
der Botanik, zehn Jahre ſpäter Profeſſor zu Oxford (K. Sprengel,
Geſch. der Bot. II. p. 30.)
der Kupferſtich an ſeine Stelle getreten und ſchon am Anfang des 17. Jahr-
hunderts war ein dicker Band von Pflanzenbildern im größten Folioformat
in Kupfer geſtochen als hortus Eistädtenis herausgekommen.
der Zoologie Bedeutendes. Nachdem er Theologie ſtudirt und in England
wie auf dem Continent Reiſen gemacht, lebte er von einer Penſion Wil-
loughbys ohne Amt ganz ſeinen Arbeiten (vergl. Carus Geſch. der
Zoologie p. 428).
merkung im Thes. lit. bot.
Bachmann eines Mediziners und Philologen zu Halle; er ſoll 80,000 fl.
auf ſeine Werke und deren Ausſtattung mit ca. 500 Kupfertafeln ver-
ausgabt haben, bis die Mittel ausgingen. Eine Biographie und richtige
Würdigung ſeiner Leiſtungen von Du Petit-Thouars findet ſich in der
Biographie universelle ancienne et moderne.
ſeine erſte Bildung in einem Jeſuitenkolleg; anfangs zum Theologen be-
ſtimmt, konnte er ſich nach ſeines Vaters Tode 1677 ganz der Botanik
widmen. Nach Reiſen in Frankreich und Spanien wurde er 1683 Profeſſor
am Jardin des Plantes; auch von hier aus machte er verſchiedene
Reiſen in Europa, 1700 ging er nach Griechenland, Aſien, Afrika.
Auf all' dieſen Reiſen ſammelte er fleißig Pflanzen, die er dann beſchrieb.
zahlreiche biographiſche Schriften Auskunft die man z. Th. in Pritzel's
ſich in überraſchender Weiſe in einem Vermächtniß an ſeinen Sohn, einem
Aufſatz über die „Nemesis divina“, von welchem Prof. Fries leider nur
einen Auszug veröffentlicht hat, der ſich in der Regensburger Flora 1851
Nr. 44 referirt findet. Über Linné's Verdienſte um die Zoologie vergl.
Carus, Geſchichte der Zoologie, München 1872.
rentii Heisteri praefaione Helmstadii 1750.
ariſtoteliſchen Philoſophie und der Scholaſtik in Albert Lange's Geſchichte
des Materialismus II. Auflage 1874.
ſich unrichtig) ſtammt, wie Ariſtoteles berichtet, von Empedokles her und
wurde immer mit Vorliebe von den Syſtematikern hervorgehoben.
Germen iſt aber bei Linné der Fruchtknoten.
eigentlich aus der Scholaſtik oder in letzter Inſtanz aus der platoniſchen
Ideenlehre folgt und deshalb ſchon vor Linné als ſelbſtverſtändlich ange-
nommen wurde; Linné brachte dieſe Conſequenz nur zu klarem Bewußt-
ſein; die empiriſchen Daten, die er dafür beibringt, ſind ohne alle beweiſende
Kraft. Die Stärke des Dogmas liegt vielmehr in ſeiner Beziehung zu der
platoniſch-ſcholaſtiſchen Philoſophie, welcher mehr oder weniger bewußt die
Syſtematiker bis auf die neueſte Zeit gehuldigt haben.
der Metamorphoſe 1846 kenne.
Arzt, durch Vaillants Vermittlung nach Paris berufen und nach deſſen
Tode Profeſſor und Demonſtrator am Jardin royal. Er war mit Peiſſonel
einer der erſten, welche ſich gegen die pflanzliche Natur der Corallen erklärten.
In ſeiner Eloge (hist. de l'Acad. Roy. des sc. Paris 1777) wird aus-
drücklich erwähnt, daß Bernard de Juſſieu ſeine natürlichen Familien
nach dem Linné'ſchen Fragment aufgeſtellt habe. Er ſtarb 1777.
Bernard nach Paris. — 1790 wurde er Mitglied der Municipalität
und bis 1792 mit der Verwaltung der Hoſpitäler beauftragt. Als 1802
die Annales du Museum ins Leben traten, nahm er ſeine botaniſchen
Arbeiten wieder auf. Seit 1826 trat ſein Sohn Adrien d. J. an ſeine
Stelle am Muſeum ein. (Vergl. ſeine biogr. von Brongniart in Ann.
des sc. nat. T. VII. 1837.)
ſtudirte ſeit 1751 in Göttingen, wo er auch Haller hörte. Um berühmte
Naturforſcher kennen zu lernen, reiſte er nach Italien, Frankreich, Holland,
England; er beſchäftigte ſich auch mit Phyſik und Zoologie; 1760 wurde
er Profeſſor der Anatomie in Tübingen, 1768 als Prof. der Botanik nach
St. Petersburg berufen, von wo er jedoch ſchon 1770 des ihm unzuträg-
lichen Clima's wegen nach Calw zurückkehrte, um ſich der bereits dort
angefangenen Carpologie ganz zu widmen. Banks und Thunberg,
der eine von einer Weltumſegelung, der andere aus Japan zurückgekommen,
übergaben ihm ihre Fruchtſammlungen. Das beſtändige Beobachten, z. Th.
mit dem Mikroſkop, brachte ihn in Gefahr zu erblinden, (vergl die an-
ziehende Biographie von Chaumeton in der Biographie universelle).
die ſich früher religiöſer Verfolgungen wegen nach Genf geflüchtet hatte, wo
ſie nunmehr in hohem Anſehen ſtand und noch ſteht. Schon als Knabe
wurde er mit Vaucher und 1796 bei ſeinem erſten Beſuche in Paris mit
Desfontaines und Dolomieu, nach Genf zurückgekehrt auch mit
Senebier befreundet; der ältere Sauſſure, ſowie ſpäter Biot, dem
er bei einer phyſikaliſchen Unterſuchung half, verſuchten, ihn der Phyſik zu
gewinnen. Die Jahre 1798 bis 1808 verlebte er in Paris in lebhaftem
Verkehr mit den dortigen Naturforſchern. Zahlreiche kleinere Monographieen
ſowie die Herausgabe der Succulenten beſonders aber der neuen Auf-
lage von de la Marcks Flore française fallen in dieſen früheren Zeitraum.
— 1808 bis 1816 war er Profeſſor der Botanik in Montpellier, von
wo aus er zahlreiche botaniſche Reiſen durch alle Gegenden Frankreichs und
der Nachbarländer unternahm; neben zahlreichen Monographien ſchrieb er
hier geographiſch botaniſche Werke, beſonders aber ſeine wichtigſte Schrift
die Theorie élémentaire. Von 1816-1841 lebte er wieder in Genf,
welches ſich 1813 von der 1798 erzwungenen Verbindung mit Frank-
reich freigemacht hatte. Neben einer botaniſchen Thätigkeit von unglaublichem
Umfang fand De Candolle hier noch Zeit, ſich mit Politik und ſocialen
Fragen zu befaſſen. (Notice sur la vie et les ouvrages de A. P. De
Candolle par de la Rive Genève 1845.)
in Mont-Roſe, ſtudirte in Aberdeen, dann in Edinbourgh die Medizin; als
Militärarzt ſtationirte er anfangs in Nordirland. Als die Admiralität
eine wiſſenſchaftliche Expedition nach Auſtralien unter Capitain Flinders
ausrüſtete, welche 1801 abfuhr, wurde auf Sir Joſeph Banks Em-
pfehlung Brown zum Naturforſcher derſelben ernannt, F. Bauer als
bot. Zeichner, Good als Gärtner, Westall als Landſchaftsmaler be-
gleiteten ihn; unter den Midſhipmen des Schiffes befand ſich auch Joſeph
Franklin. In Folge der Unbrauchbarkeit des Schiffes verließ Flinders
Auſtralien, um mit einem beſſeren wiederzukehren; litt aber Schiffbruch und
wurde zu Port-Louis von den Franzoſen als Gefangener bis 1810 zurück-
gehalten. Die Naturforſcher der Expedition blieben bis 1805 in Auſtralien,
von wo Brown 4000 meiſt neue Arten mitbrachte. Sir J. Banks
ernannte ihn 1810 zu ſeinem Bibliothekar und Conſervator ſeiner Samm-
lungen, auch wurde er Bibliothekar der Linné'ſchen Geſellſchaft in London;
von Banks erbte er 1823 Bibliothek und Sammlungen unter der Beding-
ung, daß dieſelben nach Brown's Tode dem Brittiſh Muſeum zufielen.
Auf Brown's Antrag wurden dieſe Sammlungen jedoch ſofort dem
Muſeum einverleibt, deſſen Cuſtodenſtelle er bis zu ſeinem Tode behielt.
Auf Humboldt's Verwendung bewilligte ihm das Miniſterium Peel
eine Jahresrente von 200 Pfd. Brown erfreute ſich einer allſeitigen An-erkennung ſeiner Verdienſte und Humboldt nannte ihn ſogar botani-corum facile princeps.
verließ das Studium der Theologie und wurde 1828 Scriptor an der
Hofbibliothek in Wien, 1836 Cuſtos der botan. Abtheilung des Hofnatura-
lienkabinets. Nachdem er 1840 promovirt, übernahm er die Profeſſur der
Botanik und die Direction des botan. Gartens in Wien. Seine Bibliothek
und Herbar im Werth von 24000 Thalern ſchenkte er dem Staat; von
ſeinem Privatvermögen gründete er die „Annalen des Wiener-Muſeums“
kaufte er botaniſche Sammlungen und theuere Bücher und beſtritt er die
Herausgabe ſeiner ſowie fremder Werke. Sein Vermögen wurde ſo bei
geringem Gehalt endlich aufgezehrt und im März 1849 machte er ſeinem
einer der hervorragendſten Syſtematiker ſondern auch Philolog und Linguiſt,
er verfaßte u. a. eine chineſiſche Grammatik (Linnaea 1864 und 1865
Bd. 33 p. 583).
bei Norwich 1799, geſt. zu London 1865.
1853, Profeſſor in Paris) gab 1840 lecons de Botanique comprenant
principalement la Morphologie végétale etc. heraus. Es enthält eine
etwas weitſchweifige Darſtellung von P. de Candolle's Symmetrielehre
in Verbindung mit Goethe's Metamorphoſentheorie und Schimper's
Blattſtellungslehre, überhaupt der damals geltenden vergleichenden Morpho-
logie, welche ſchließlich zu einer Theorie der Syſtematik benutzt wird. Das
umfangreiche Werk enthält bei weitem weniger Fehler als Lindley's theore-
tiſches Vorwort, iſt aber auch weniger tief und berührt die Fundamen-
talfragen, die uns hier intereſſiren, nur nebenbei; es iſt aber inſoferne von
hiſtoriſchem Intereſſe, als es den Zuſtand der Morphologie vor 1840 in
klarer und ſehr überſichtlicher Form darſtellt.
1846 p. 38.
jahrelang in Isle de France, Madagascar, Bourbon Pflanzen, wurde
ſpäter Director der Baumſchule in Roule, 1820 Mitglied der Akademie und
ſtarb 1831. Seine biographiſchen Aufſätze in der Biographie universelle
zeigen ihn als geiſtreichen Schriftſteller; bei ſeinen eigenen Unterſuchungen,
zumal über das Dickenwachsthum der Bäume, verdarben ihm vorgefaßte
Meinungen und hartnäckig feſtgehaltene Schrullen die unbefangene Wür-
digung des Geſehenen. (Ausführlicheres über ſein bewegtes Leben ſ. Flora
1845 p. 439.)
eines Stipendiums wegen in Heidelberg Theologie, nachdem er jedoch als
beauftragter Pflanzenſammler in Südfrankreich gereiſt war, nahm er ſeine
Studien als Mediciner wieder auf. Von 1828-1842 lebte er in München
zeitweiſe als academiſcher Docent thätig, zwiſchenweilig die Alpen und
Pyrenäen und andere Gegenden im Auftrage des Königs von Bayern be-
reiſend. In dieſe Zeit fallen ſeine wichtigſten Arbeiten über die Blatt-
ſtellung und Forſchungen über die frühere Ausdehnung der Gletſcher und
die Periode der Eiszeit. Seit 1842 lebt er wieder in der Pfalz, ſeit 1859
zumal in Schwetzingen als Privatgelehrter, in ſeinen ſpäteren Jahren unter-
ſtützt durch eine Penſion des Großherzogs von Baden. Er ſtarb daſelbſt 1867
Sachs, Lehrb. d. Bot. 4. Aufl. 1874 p. 195 f. f.
verſammelten Freunde und Mitſtrebenden von K. J. Schimper 1865.
Schleiden's Behauptung, daß die Bravais'ſche „die Einfachheit des
Geſetzes“ beſſer ausdrücke, findet man Flora 1847 Nro.13. von Sendtner
und in Braun's „Verjüngung“ p.126.
den Zuſammenhang nur anders auf, inden ſie das Verhältniß des er-
kennenden Subjectes zu den Erſcheinungen beachtet.
pag. 52.
der Medizin in Erlangen; er beſchrieb zuerſt die Sexualorgane verſchiedener
Lebermooſe.
feſſor in Göttingen.
geſt. als Profeſſor der Botanik zu Heidelberg 1854; er ſchrieb verſchiedene
Hand- und Lehrbücher, die obgleich ſehr ſorgfältig und fleißig bearbeitet,
doch ganz im Geiſte der vorſchleidenſchen Zeit gedacht, daher völlig veraltet ſind;
ſehr werthvoll ſind dagegen ſelbſt jetzt noch ſeine ſehr ſorgfältigen Unterſuch-
ungen über Lebermooſe, Charen und Gefäßkryptogamen, die er durch ſehr
ſchöne ſelbſt gemachte Abbildungen erläuterte. Auch ſein Wörterbuch der
beſchreib. Botanik iſt durch zahlreiche Bilder noch jetzt von Werth.
Lund, dann Biſchof von Wermland und Dalsland. — Jacob Georg Agardh
geb. 1813, Profeſſor in Lund. — William Henry Harvey (1811-1866)
Profeſſor der Botanik in Dublin. — Friedrich Traugott Kützing Profeſſor
an der Realſchule zu Nordhauſen geb. 1807.
Nees von Eſenbeck und „das Syſtem der Pilze“ 1837 von Th. I. L.
Nees von Eſenbeck und A. Henry bearbeitet. Der erſtere (1776-1858)
war lange Präſident der Leopoldina und Profeſſor der Botanik in Breslau,
einer der Hauptvertreter der Naturphiloſophie. ‒ Elias Fries geb. 1794,
ſeit 1835 Profeſſor der Botanik in Upſala. — Léveillé (1796-1870)
Arzt in Paris. — Auguſt Joſeph Corda geb. 1809 zu Reichenberg in Böhmen,
ſeit 1835 Cuſtos am Nationalmuſeum in Prag; von einer 1848 angetretenen
Schiffbruch 1849 umgekommen. Ausführlicheres über dieſen um die Pilzkunde
ſehr verdienten Mann berichtet Weitenweber in der Abh. der böhm. Geſch.
der Wiſſ. V. 7. Prag 1852. Corda war der Erſte, der das Mikroſkop
zur bildlichen und diagnoſtiſchen Fixirung aller ihm erreichbaren Pilzformen
zumal der kleinen, conſequent anwendete; ſeine Icones fungorum hucusque
cognitorum 1837-1854 ſind noch jetzt ein unentbehrliches Handbuch für
Mycologen.
war Prediger und Profeſſor in Genf.
Bemerkungen und Berichtigungen von A. W. Roth, Leipzig 1807.
Gartens daſelbſt, geſtorb. 1737) und Joh. Jac. Dillenius (geb. in Darm-
ſtadt 1687, Profeſſor der Botanik in Oxford, geſt. 1747) waren die Erſten,
welche den niederen Kryptogamen, zumal auch den Mooſen wiſſenſchaftliche
Bearbeitung widmeten und die Sexualorgane derſelben nachzuweiſen ſuchten.
dant in Regensburg.
zu Nordhauſen 1857 (Flora 1857 p. 336).
entfaltete trotz ſeines kranken Körpers eine Thätigkeit von unglaublicher
Ausdehnung und Vielſeitigkeit, über welche ein guter Artikel von de l'Aul-
naye in der Biographie universelle Auskunft gibt. Hooke wurde 1662
Mitglied der Royal society, ſpäter auch Sekretär derſelben und Profeſſor
der Geometrie am Grasham college. Er ſtarb 1703
Doctor der Medicin, ſeit 1656 Profeſſor in Bologna, Piſa, Meſſina und
arzt. Er ſtarb 1694. Ueber ſeine vergleichend anatomiſchen Arbeiten und
ſeine Verdienſte um die menſchliche Anatomie vergl. Biographie universelle
und V. Carus Geſch. der Zoologie p. 395.
tenui et pellucida, velut argentei coloris, lamina, parum lata, quae
spiraliter locata, et extremis lateribus unita, tubum interius et exterius
aliquantulum asperum efficit; quin et avulsa zona capites seu extremo
trachearum tum plantarum, tum insectorum, non in tot disparatos annulos
resolvitur, ut in perfectorum trachea accidit; sed unica zona in longum
soluta et extensa extrahitur.
wahrſcheinlich 1628 geboren. Nachdem er auf einer ausländiſchen Univerſität
das Doktorat erworben, widmete er ſich in ſeiner Vaterſtadt der ärztlichen
Praxis und phytotomiſchen Unterſuchungen; 1677 wurde er Sekretär der
Royal Society. Nachdem er noch 1701 eine Cosmographia sacra heraus-
gegeben, ſtarb er 1711 (Biogr. univers.)
Leeuwenhoek's zootomiſche Beobachtungen ſcheinen bedeutender, als
ſeine botaniſchen. B. Carus ſagt von ihm (Geſch. der Zoolg. p. 399):
„Benutzte Malpighi das Mikroſkop planmäßig und den Bedürfniſſen einer
Unterſuchungsreihe entſprechend, ſo war das Inſtrument in den Händen des
andern berühmten Mikroſkopikers des 17. J.-H. mehr oder weniger das Mittel,
die Neugierde, welche die Wunder einer bis dahin unſichtbaren Welt in
empfänglichen Geiſtern erregte, zu befriedigen. Und doch ſind die Entdeck-
ungen, welche die Frucht eines emſigen, durch fünfzig Jahre fortgeſetzten
Gebrauchs des Mikroſkops waren, extenſiv, ſowie ihrer Tragweite nach die
wichtigſten und einflußreichſten. Anton von Leeuwenhoek war 1632
in Delft geboren, genoß keine gelehrte Erziehung, da er zum Kaufmanns-
ſtande beſtimmt war (er ſoll nicht einmal Latein verſtanden haben) wandte
deren er unabläſſig immer neue und neue Gegenſtände durchſuchte, ohne
bei dieſen Unterſuchungen von irgend einem durchgehenden wiſſenſchaftlichen
Plan geleitet zu werden. Die königl. Geſellſchaft zu London, welcher er ſeine
Beobachtungen überſandte, machte ihn zum Mitglied. Er ſtarb, 90 Jahre
alt, 1723 in ſeiner Geburtsſtadt.“
theilweiſe in die Zeit des ſiebenjährigen Kriegs fielen, begann er 1753 am
dortigen Collegium medico-chirurgicum; bei Meckel trieb er Anatomie,
bei Gleditſch Botanik; ſpäter bezog er die Univerſität Halle, wo er Leibnitz-
Wolff'ſche Philoſophie ſtudirte, die in ſeiner Diſſertation, der theoria
generationis (1759) allzuſehr überwiegt. Haller, Vertreter der Evolutions
theorie, gegen welche dieſe Schrift auftrat, würdigte dieſelbe einer wohlwol-
lenden Kritik und trat mit ihrem jugendlichen Verfaſſer in Briefwechſel. —
In Breslau hielt Wolff mediciniſche Lehrvorträge im Lazareth; 1762 erhielt
er die Erlaubniß am Collegium medico chirurgicum zu Berlin Phyſiologie
u. a. zu leſen; bei der Beſetzung zweier Profeſſuren an dieſer Anſtalt wurde
er jedoch übergangen; die Kaiſerin Katharina II. berief ihn 1766 an die
Petersburger-Akademie; er ſtarb daſelbſt 1794. (vergl. Alf. Kirchhoffs:
„Idee der Pflanzenmetamorphoſe“ Berlin 1867.)
kunde, wurde 1730 zu Kronſtadt in Siebenbürgen geboren. Nach Beendig-
ung ſeiner Studien in Leipzig kehrte er in ſeine Vaterſtadt zurück, wo er
jedoch, weil nicht in Oeſterreich promovirt, zu[r] ärztlichen Praxis nicht zu-
gelaſſen wurde. Er kehrte daher nach Sachſen zurück und ließ ſich als Arzt
in Chemnitz nieder, von wo er 1781 nach Leipzig überſiedelte; hier wurde
er 1784 am Militärſpital angeſtellt, 1786 wurde er außerordentlicher
Profeſſor der Medizin, 1789 aber Ordinarius der Botanik. Er ſtarb 1799.
— Seine botaniſchen Studien, die er bereits als Student angefangen, ſetzte
er auch unter ſchwierigen Verhältniſſen in Chemnitz fort, bis er ſich ihnen
als Profeſſor frei widmen konnte.
war Profeſſor der Botanik daſelbſt.
der Anatomie und Phyſiologie zu Berlin, ſtarb daſelbſt 1832.
in Göttingen, wo er 1788 Doctor der Medicin wurde; 1792 ward er als
Profeſſor der Zoologie, Botanik und Chemie nach Roſtock, 1811 auf den
Lehrſtuhl der Botanik nach Breslau, 1815 nach Berlin berufen, wo er 1851
ſtarb. — Link war ein ſehr vielſeitig gebildeter, geiſtreicher Mann, der es
jedoch bei der Unterſuchung im Einzelnen nicht allzu genau nahm und ſich
mehr als anregender Lehrer und Verfaſſer populärer, philoſophiſch-natur-
wiſſenſchaftlicher Werke u. dgl. in weiteren Kreiſen Geltung erwarb. Er
war einer der wenigen Botaniker Deutſchlands, die in den erſten Jahrzehnten
unſeres Jahrhunderts eine allſeitige Pflanzenkenntniß anſtrebten, mit ſoliden
ſyſtematiſchen Forſchungen auch phytotomiſche und phyſiologiſche zu verbinden
wußten. Unter der ſehr großen Zahl ſeiner Schriften, welche alle Disciplinen
der Botanik, aber auch Zoologie, Phyſik, Chemie und Anderes behandeln,
dürfte ſeine Göttinger Preisſchrift doch die für den Fortſchritt der Wiſſen-
ſchaft wichtigſte geweſen ſein; ſeine ſpätere ſchriftſtelleriſche Thätigkeit war,
wie Martius treffend ſagt, weniger von univerſell treibender Bedeutung,
als vielmehr nachforſchend, berichtend, berichtigend, bezweifelnd, belehrend
und anregend. Eine, wohl etwas übertreibende Schilderung ſeiner wiſſen-
ſchaftlichen Bedeutung giebt v. Martius: „Denkrede auf H. F. Link“
(Gelehrte Anzeigen München 1851 Nr. 58 bis 69.)
1801 Doctor der Medicin in Jena; nach Bremen zurückgekehrt, widmete er
ſich der ärztlichen Praxis; 1807 wurde er am Lyceum daſelbſt Lehrer;
1812 folgte er einem Rufe an die von Link in Roſtock verlaſſene Profeſſur,
auch in Breslau wurde er deſſen Nachfolger; als 1830 C. G. Nees von
Eſenbeck ſeine Stellung in Bonn aufgab, entſchloß ſich Treviranus
ihm ſeine Stellung in Breslau abzutreten und die Profeſſur in Bonn zu
übernehmen, wo er 1864 ſtarb. ‒ Seine Thätigkeit war anfangs vorwiegend
der Phytotomie und Phyſiologie der Pflanzen, ſpäter mehr der Beſtimmung
und Berichtigung der Spezies gewidmet. Für die Geſchichte der Botanik
ſind vorwiegend ſeine erſten Schriften, die im Text erwähnten, ſo wie ſeine
zwiſchen 1815 und 1828 erſchienenen Abhandlungen über Sexualität und
Embryologie der Phanerogamen von Bedeutung. Seine zweibändige Phy-
ſiologie der Gewächſe 1835-1838 iſt ihrer genauen Literaturangaben wegen
auch jetzt noch von Werth, zum Fortſchritt der Phyſiologie ſelbſt hat ſie
jedoch kaum beigetragen, da Treviranus darin noch ganz die älteren
Anſchauungen, zumal auch die von der Lebenskraft vertritt, während in
dieſen Jahren bereits neue Begriffe ſich Bahn brachen. Einige Notizen über
ſein Leben vgl. botan. Zeitg. 1864 pag.. 176.
zu Paris, geſt. 1854 (vergl. Pritzel), widmete ſich anfangs der Malerei;
durch Desfontaines in die Botanik eingeführt, ward er 1808 Mitglied
des Inſtituts, bald darauf Profeſſor an der Univerſität zu Paris. Von
1816-1825 blieb er botaniſchen Studien ganz fern, da er ſich während
dieſer Zeit der Adminiſtration widmete; ſpäter nahm er ſeine botaniſchen
Arbeiten wieder auf und wurde 1829 Profeſſor der Culturen am Museum
d' hist. nat. ‒ Mirbel iſt der Begründer der mikroſkopiſchen Anatomie
der Pflanzen in Frankreich; was dort vor ihm in dieſer Richtung gethan
wurde, war noch viel unbedeutender, als das in Deutſchland. Nicht nur
ſeine Schriften zogen ihm vielfache Polemik auch ſpäter zu, ſondern noch
mehr wurde er angefeindet, weil er der Syſtematik als Lehrer die große
Bedeutung nicht zugeſtand, die man ihr damals beilegte, während er die
Schüler auf die Struktur und Lebenserſcheinungen der Pflanzen hinwies.
Nach Milne-Edwards litt Mirbel ſehr unter den ſcharfen Angriffen,
die er deßhalb erfuhr; er wurde apathiſch, eine Krankheit hinderte ihn lange
vor ſeinem Tode an der Fortſetzung ſeiner Arbeiten und amtlichen Funktionen
(Botan. Ztg. 1855 p. 343).
geb. zu Hamburg 1766, geſt. 1827.
öffnung vgl. Mohl's Ranken und Schlingpflanzen 1827 p. 9.
als Profeſſor zu Berlin 1840. ‒ Er widmete ſich anfangs der Pharmazie,
ging dann aber zur Medicin über und promovirte 1826, worauf er mehrere
Jahre ärztliche Praxis trieb; 1830 trat er, mit Inſtruktionen A. v. Hum-
boldt's verſehen, eine Weltumſegelung an, von der er 1832 zurückkehrte
und reiche Sammlungen mitbrachte; 1834 wurde er Profeſſor zu Berlin.
Auf ſeine phyſiologiſchen Arbeiten komme ich ſpäter zurück. (Biographiſches
in Flora 1745 p. 618).
als Profeſſor der Botanik zu Tübingen 1872. Er war der Sohn eines
württembergiſchen hohen Staatsbeamten; der Staatsmann Robert Mohl,
der Orientaliſt Julius, der Nationalökonom Moritz Mohl ſind ſeine Brüder.
— Der Unterricht auf dem Gymnaſium zu Stuttgart, welches er 12 Jahre
lang beſuchte, beſchränkte ſich auf die alten Sprachen; Mohl's früh er-
wachte Vorliebe für Naturgeſchichte, Phyſik und Mechanik fand ihre Be-
friedigung daher in eifrigen Privatſtudien. Seit 1823 ſtudierte er in
Tübingen Medicin, wo er 1828 promovirte. Ein nun folgender mehrjähriger
Aufenthalt in München brachte ihn in Verkehr mit Schrank, Martius,
Zuccarini, Steinheil und bot ihm reiches Unterſuchungsmaterial für
ſeine Arbeiten über Palmen, Farne und Cycadeen. Schon 1832 folgte er
einem Ruf als Profeſſor der Phyſiologie nach Bern; nach Schübler's Tode
wurde er 1835 Profeſſor der Botanik in Tübingen, wo er, verſchiedene
Berufungen ablehnend, bis zu ſeinem Tode blieb. Zur Einſamkeit geneigt
und nur ſeiner Wiſſenſchaft lebend, blieb er unverheirathet.Seine äußere
an glüchkliche Tage, durch keinerlei ernſtes Mißgeſchick, von keinem außerge-
wöhnlichem Ereigniß bewegt. — Mohl war in allen Gebieten der Botanik
zu Hauſe und weit darüber hinaus ein vielſeitig und gründlich gebildeter
Mann, ein Naturforſcher in der beſten Bedeutung des Wortes. — Eine ſehr
hübſche biographiſche Skizze aus de Bary's Feder findet ſich botan.
Zeitg. 1872 Nr. 31
tig, dann mit Einſchränkung von Mohl 1844 angenommen.
der induſtriellen Chemie an der Pariſer école des arts et métiers. Seine
für die Botanik wichtigen Abhandlungen waren: Mémoire sur l'amidon etc.
Paris 1839 und beſonders mém. sur le dévéloppement des végétaux in
den Memoiren der Pariſer Akademie.
waren die Originale unzugänglich.
in Südſteiermark als Sohn eines Geſchäftsmannes geboren. Seine Gym-
naſialbildung bis zum 16. Jahr empfing er in dem von Benediktinern ge-
Jahrgänge wandte er ſich nach ſeines Vaters Wunſch zur Jurisprudenz,
verließ jedoch 1820 Graz und dieſe Studien um in Wien Medizin zu
ſtudiren; 1822 ging er zu gleichem Zwecke nach Prag. Von hier aus
unternahm er eine Ferienreiſe nach Deutſchland, wo er Oken, Carus,
Rudolphi u. a. kennen lernte; die angeknüpften Verbindungen und der
Umſtand, daß Unger ſeine Reiſe ohne beſondere polizeiliche Erlaubniß an-
getreten, verwickelten ihn nach der Heimkehr in eine Unterſuchung, während
welcher er ¾ Jahre gefangen gehalten wurde; 1825 wieder in Freiheit
geſetzt, wurde er mit Jacquin und Endlicher bekannt, um mit letzterem
in lebhaften, wiſſenſchaftlichen Verkehr zu treten. Nachdem er 1827 pro-
movirt und ſein Vater verarmt war, ergriff er die ärztliche Praxis, der er
bis 1830 bei Wien (in Stockerau), ſpäter in Kitzbühel in Tyrol als Lands-
gerichtsarzt oblag. Seine ſchon in früher Jugend aufgenommenen botaniſchen
Studien ſetzte er auch als Arzt lebhaft fort, in Kitzbühl beſonders mit den
Pflanzenkrankheiten und palaeontologiſchen Unterſuchungen beſchäftigt, denen
ſich ſolche über den Einfluß des Bodens auf die Vertheilung der Gewächſe
anſchloſſen. Ende 1835 wurde er Profeſſor der Botanik am Johanncum zu
Graz, wo er fortan vorwiegend paläontologiſche Studium trieb, durch die er bald
zum hervorragendſten Vertreter dieſes Faches wurde. Seit 1849 Profeſſor der
phyſiologiſchen Botanik in Wien, widmete er ſich mehr der Phyſiologie und
Phytotomie bis er gegen Ende der fünfziger Jahre im Intereſſe der cultur-
geſchichtlichen Studien wiederholt größere Reiſen zu machen begann. Im
Jahr 1866 gab Unger ſeine Stelle auf und lebte fortan als Privatmann
in Graz, wo er durch populäre Schriften und Vorträge anregend wirkte
und 1870 ſtarb. Ueber ſeine Perſönlichkeit und ſeine vielſeitig reichhaltige
Thätigkeit auf den verſchiedenſten Gebieten der Botanik geben Leitgeb
(Bot. Zeitg. 1870 Nr. 16) und Reyer „Leben und Wirken des Naturh.
Unger“ (Graz 1871) Auskunft.
wo er ſeit 1859 Profeſſor der Botanik war.
supersunt opera, Leipzig 1818. Man vergl. daſelbſt außer dem oben Ge-
ſagten die Sätze: De causis l. I. c. 13, 4, 1. IV. c. 4 und Historia plan-
tarum l. II. c. 8.
auch von den Botanikern des 16. und 17. Jahrhunderts, wie bereits in der
Geſchichte der Syſtematik gezeigt wurde, die Fruchtanlage überhaupt nicht
phyſiologie 1835 II. p. 44 wörtlich citirt und betreffs des Pollens heißt es
daſelbſt: Ipso et pulvere etiam foeminas maritare.
haben ſcheint.
mir iſt ſie jedoch unbekannt; das oben Mitgetheilte ſtützt ſich auf ein langes
wörtliches Citat Roeper's (in ſeiner Ueberſetzung von De
Candolle's
Phyſiologie II. p 49) der eine Auflage von 1604 vor ſich hatte.
als florid attire (p. 37).
Theils dieſes Werkes Geſagte, wo Grew noch keine ſexuelle Bedeutung der
Staubfäden annahm.
Rudolph Jacob Camerarius geboren zu Tübingen 1665
ſtarb daſelbſt 1721. Nachdem er Philoſophie und Medicin ſtudirt, durch-
reiſte er von 1685 bis 1687 Deutſchland, Holland, England, Frankreich und
Italien; 1688 wurde er Prof. extraord. und Director des botan. Gartens
in Tübingen, 1689 Profeſſor der Phyſik bis 1695 und zuletzt, als Nach-
folger ſeines Vaters Elias Rudolph Camerarius, erſter Profeſſor der
Univerſität; ſein Sohn Alexander, eines ſeiner zehn Kinder, wurde ſpäter
ſein Nachfolger in dieſer Stellung. (Nach einem Artikel der Biographie
univerſelle von Du Petit-Thouars). Auch die anderen, nicht das Ge-
ſich vor denen ihrer Zeit durch geiſtvolle Auffaſſung und klare Darſtellung aus.
p. 242 bis 276; das unverſchämte Plagiat an Camerarius erſtreckt ſich
ſogar bis auf die erwähnte Ode.
über das Geſchlecht der Pflanzen in opuscula bot. argum. von Mikan
p. 188. Logan's Werk: Experim. et meletemata de plant. generatione
iſt mir unbekannt geblieben; nach Pritzel erſchien es 1739 in Haag
Koelreuter citirt eine Londoner Ausgabe von 1747.
Mikan's citirter Sammlung.
er habe 1766 Pollen von Chamerops nach Petersburg und Berlin ge-
ſchickt, wo er von Eckleben und Gleditſch mit Erfolg zur Beſtäubung be-
nutzt wurde. Koelreuter wollte auf dieſe Art prüfen, wie lange der
Pollen ſeine Wirkſamkeit behält.
der Verſuche u. ſ. w. Vergl. in opuscula botanici argumenti von Mikan
p. 180.
ſtarb 1806 in Carlsruhe, wo er Profeſſor der Naturgeſchichte und von
1768 bis 1786 auch Oberaufſeher der botaniſchen und fürſtlichen Hofgärten
war; dieſe letztere Stellung mußte er jedoch, der Widerſetzlichkeit der Gärtner
weichend aufgeben, nachdem ſeine Beſchützerin, die Markgräfin Caroline von
Baden geſtorben war, worauf er ſeine Beobachtungen in ſeinem eigenen
kleinen Garten bis 1790 fortſetzte. Es iſt wohl ein Mißverſtändniß, wenn
C. F. Gärtner (in ſeinem Werk über Baſtardbefruchtung 1849 p. 5)
ſagt, Koelreuter habe ſeitdem alchimiſtiſchen Verſuchen obgelegen. — Mehr
Biographiſches über ihn zu erfahren iſt mir trotz vielen Suchens nicht ge-
lungen, auch die biographie universelle anc. et mod. enthält nichts über
dieſen hochverdienten Mann. Obige Angaben nach Gärtner I. c. und Flora
1839 p. 245. Daß Koelreuter vor 1766 auch in Petersburg war, geht
aus einer Notiz in der 3. Fortſetzung der „vorläuf. Nachricht“ p. 151
hervor.
iſt die betreffende zweite Fortſetzung von Koelreuter's Arbeit leider unzu-
gänglich.
und begann erſt in dieſer Stellung ſich mit Botanik zu beſchäftigen und
zwar mit ſolchem Eifer, daß er darüber ſein Amt und ſelbſt die Sonntags-
predigt verſäumte und abgeſetzt wurde. Später lebte er in ärmlichen Ver-
hältniſſen in Berlin und als Sonderling ſehr vereinſamt, von den Ge-
lehrten ſogar gemieden. Zu ſeinem Unterhalt gab er Unterricht in Sprachen
und Botanik; Sonntags früh machte er Excurſionen, an denen jeder gegen
2-3 Groſchen pro Stunde theilnehmen konnte. Wegen Mangels an Unter-
ſtützung und Aufmunterung gab er den 2. Theil ſeines berühmten Werkes
nicht heraus; ſein Verleger hatte ihm nicht einmal ein Freiexemplar des
1. Theils gegeben. Der ſehr verzeihliche Aerger über den geringen Bei-
fall, den ſein Werk fand, veranlaßte ihn, ſich ſpäter ganz von der Botanik
zurückzuziehen und ſich mit Sprachen zu beſchäftigen, bis er 1816 ſtarb.
Einer ſeiner Schüler widmete ihm einen ſehr herzlichen Nachruf in der
„Flora“ 1819 p. 541, dem ich dieſe Angaben entlehne.
durch Inſekten (Leipzig 1873 p. 5).
geſt. zu Pavia 1799, wo er lange als Profeſſor der Naturgeſchichte wirkte.
Seine Unterſuchungen betrafen die verſchiedenſten Fragen der Naturwiſſen-
ſchaften vorwiegend aber ſolche der Thierphyſiologie, die er aber, wie es
ſcheint, mit derſelben Haſt bearbeitete, wie ſie in ſeinen Verſuchen über die
Sexualität der Pflanzen hervortritt. Ein längerer Artikel in der Biographie
universelle anc. et mod. giebt ausführliche Nachricht über ſeine wiſſen-
ſchaftliche Thätigkeit.
geſt. 1850 zu Calw. Als Lehrling in die Hofapotheke zu Stuttgart ein-
getreten, beſuchte er naturwiſſenſchaftliche Vorleſungen in der Carlsakademie;
um ſich mediciniſchen Studien zu widmen ging er nach Jena, 1795 aber
nach Göttingen, wo er auch Lichtenberg hörte. Noch in demſelben Jahre
kehrte er nach der Heimath zurück, wo er 1796 promovirte, um ſich als
Arzt in Calw niederzulaſſen. Hier beſchäftigte er ſich anfangs mit Fragen
der menſchlichen Phyſiologie, bearbeitete aber dann den Supplementsband
zu ſeines Vaters Carpologia. Er ſammelte Notizen und Excerpte zu einem
umfaſſenden Werk über Pflanzenphyſiologie; aus dieſem, übrigens nicht zur
Ausführung gelangten Plane, entſprang auch die Bearbeitung der Sexual-
theorie, der er ſich 25 Jahre lang widmete. (Jahresheft des Vereins für
vaterl. Naturkunde in Württemberg 1852 Bd. VIII. p. 16.)
Leipzig 1868-74.
ſtören, mache ich hier die wichtigeren Schriften namhaft: Robert Brown's
vermiſchte Schriften, herausgegeben von Nees von Eſenbeck Bd. IV.
1830 Bd. V. 1834. — Mohl über G. Amici in bot. Zeitung 1863
Beilage p. 7. — Schleiden: über die Bildung des Eichens und Entſtehung
des Embryos in Nova Acta Acad. Leopold 1839 Bd. XI. 1. Abth. —
W. Hofmeiſter: Zur Ueberſicht der Geſchichte von der Lehre der Pflanzen-
befruchtung in Flora 1867 p. 119 ff.
p. 120 ff. von Hofmeiſter vollſtändig zuſammengeſtellt.
et morphologiques sur les Mousses werthvolle Angaben über die Unfrucht-
barkeit ſolcher weiblicher Laubmooſe gemacht, welche weit entfernt von männ-
lichen Exemplaren wachſen und Fälle nachgewieſen, wo das Vorkommen
männlicher Mooſe unter ſonſt unfruchtbaren weiblichen, deren Fruchtbarkeit
herbeiführt.
Bot. I. p. 120.
Brüſſel 1644, war einer der Hauptvertreter der Jatrochemie, über deſſen
Leben und Wirken Kopp (Geſch. d. Chemie 1843 I. p. 117 f. f.) ausführ-
lich berichtet.
wird ſowohl von Chriſtian Wolff wie von Reichel (De vasis plantarum
die er in ſeiner dissertatio botanica de planta monstrosa Gottorpi-
ensi etc. 1665 vortrug. Kurt Sprengel (Geſch. d. Bot. II. p. 7 führt
ihn übrigens unter den Vertheidigern der Palingeneſie auf, eines Aber-
glaubens, der die Wiederherſtellung der Pflanzen und Thiere aus ihrer
Aſche annahm und ſo die Auferſtehung der Todten bewies.
ſeinen hiſtologiſchen Darſtellungen wohl als Baſtbündel aufgefaßt werden muß.
Bourgogne und wohnte zur Zeit ſeiner erſten wiſſenſchaftlichen Arbeiten in
bei Dijon; der Akademie der Wiſſ. zu Paris gehörte er ſeit deren Gründung
1666 an; er war einer der Erſten, die ſich in Frankreich der experimen-
tirenden Phyſik widmeten und die Mathematik auf dieſelbe anwandten. Er
ſtarb zu Paris 1684 (Biogr. univ.)
Bot. I. p. 119 u. 125.
Histoire de l'Acad. roy. des sc. 1709 und Sprengel's Geſch. der
Bot. II, 20 bekannt. Perrault's betreffende Abhandlung iſt nach Pritzel's
Theſaurus vom Jahre 1680, aber in den Oeuvres divers de Perrault
1721 publicirt.
wo er den erſten Unterricht im Vaterhaus erhielt ohne dabei beſondere Be-
gabung zu zeigen; mit 19 Jahren trat er in Cambridge als Penſionär des
Chriſtcollege ein, wo ſich ſeine Vorliebe für Phyſik, Mathematik, Chemie
und Naturgeſchichte entwickelte; trotzdem blieb er bei der Theologie, in der
er ſich ſogar auszeichnete und ſchon als junger Mann erhielt er eine kirch-
liche Anſtellung; nach und nach war er Pfarrer in verſchiedenen Grafſchaften.
Die Royal society nahm ihn 1718 auf, dort las er zuerſt die statical
essays. 1733 kam auch ſeine Hämoſtatik heraus. Nachdem er noch Unter-
ſuchungen und Erfindungen der verſchiedenſten Art gemacht und publicirt
hatte, ſtarb er 1761; er wurde in der Kirche zu Riddington, die er auf
eigene Koſten neu hatte erbauen laſſen, beigeſetzt; die Prinzeſſin von Wales
ließ ihm in der Weſtminſterabtei ein Epitaph ſetzen. (Eloge in hist. de
l' Acad. roy. des sc. 1762).
ſchichte der Bot. I 229 und aus Reichel's und Bonnet's weiter unten
genannten Schriften bekannt.
Leipzig.
Familie und widmete ſich anfangs der Jurisprudenz, beſchäftigte ſich aber
ſchon in ſeiner Jugend mit naturwiſſenſchaftlichen Beobachtungen, namentlich
zoologiſcher Natur. Später wurde er Mitglied des großen Rathes ſeiner
Vaterſtadt und in ſeinen ſpäteren Jahren ſchrieb er verſchiedene Werke phi-
loſophiſch-naturwiſſenſchaftlichen, pſychologiſchen und zum Theil theologiſchen
Inhalts. Er ſtarb 1793 auf ſeiner Beſitzung Genthod bei Genf (Biogra-
phie universelle und Carus, Geſch. d. Zool. p.
526).
ſtarb 1781. Er war Grundbeſitzer im Gatinais und verwerthete ſeine phy-
ſikaliſchen, chemiſchen, zoologiſchen und botaniſchen Studien vorwiegend in
einer langen Reihe von Werken, welche der Land- und Forſtwirthſchaft, dem
Seeweſen und der Fiſcherei gewidmet ſind. Seit 1728 war er Mitglied
der Akademie, nachdem er dieſer eine Abhandlung über eine damals herr-
ſchende, von einem Pilz bewirkte Krankheit der Safranpflanzungen vorgelegt
hatte (Biogr. univers.).
Entwicklung der Chemie in der neueren Zeit 1873 p. 138 ff.
Blätter in lufthaltigem Waſſer von der Sonne beſchienen, Gasblaſen an
ihrer Oberfläche zeigen; Bonnet negirte ausdrücklich eine active Betheiligung
der Blätter an dieſem Vorgang, da abgeſtorbene Blätter in lufthaltigem
Waſſer ganz dieſelbe Erſcheinung zeigen.
öſterr. Leibarzt; geb. zu Breda in Holland 1730, geſt. zu Boward bei
London 1799.
ſtudirte Theologie und war ſeit 1765 evang. Paſtor. Von einer Reiſe nach
Paris zurückgekehrt, ſchrieb er „moraliſche Erzählungen“ und auf ſeines
Freundes Bonnet Rath bewarb er ſich um die Harlemer Preisfrage:
worin die Kunſt zu beobachten beſtehe? er erhielt das Acceſſit. Nachdem
er ſeit 1769 Paſtor in Chancy geweſen, wurde er Bibliothekar von Genf
lauzani's wichtigere Werke überſetzte, chemiſche Vorträge von Tingry
hörte und ſeine Unterſuchungen über die Wirkungen den Lichts ausführte.
Für die Encyclopaedie méthodique ſchrieb er die Pflanzenphyſiologie
(1791); die Revolution in Genf veranlaßte ihn, in das Waadland ſich zurück-
zuziehen, wo er ſeine fünfbändige Physiologie végétale ausarbeitete; 1799
nach Genf zurückgekehrt, betheiligte er ſich an einer neuen Bibelüberſetzung;
er ſtarb daſelbſt 1809 (Biogr. univers.).
ſelbſt 1845; er war der Sohn des berühmten Alpenforſchers, dem er bei
1797 ſchrieb er eine Abhandlung über die Bedeutung der Kohlenſäure für
die Vegetation, als Vorläufer ſeiner récherches chimiques, die großes Auf-
ſehen machten und ihm die Ernennung zum correſp. Mitglied des franz.
Inſtituts eintrugen. Er hatte Geſchmack für Literatur und nahm an öffent-
lichen Angelegenheiten Theil, er war wiederholt Mitglied des Rathes von
Genf. Seine Vorliebe für die Einſamkeit ſoll ihn vom Lehramt fern ge-
halten haben. (Vergl. Biogr. universelle, Supplement und Poggendorff's
biographiſch litter. Handwörterbuch.)
adeligen Familie des Indre-Departements, welche während der Revolution
ihr Vermögen verlor; um ſich nun einen Unterhalt zu ſichern, ſtudirte Du-
trochet Medicin und promovirte 1806 an der Pariſer Facultät; 1808
und 1809 machte er als Militärarzt den Feldzug in Spanien mit; ſobald
es ihm jedoch möglich wurde, gab er die Praxis auf, um in tiefer Zurück-
gezogenheit ſeinen phyſiologiſchen Studien zu leben; zunächſt während einer
Reihe von Jahren in der Tourraine. Seit 1819 correſpondirendes Mit-
glied der Akademie, ſandte er derſelben ſeine Abhandlungen, und als er
1831 ordentliches Mitglied wurde, zog er nach Paris, wo er jedoch nur
die Wintermonate zu verleben pflegte. Ein heftiger Stoß an den Kopf
verurſachte ihm ein langwieriges Kopfleiden, an welchem er zwei Jahre ſpäter
1847 ſtarb. — Dutrochet war auch in der Thierphyſiologie einer der
erfolgreichſten Vorkämpfer der neueren Richtung, welche in den zwanziger
und dreißiger Jahren die alte vitaliſtiſche Schule zu verdrängen begann.
(Allgemeine Zeitung 1847 p. 780.)
Bewegungen im Pflanzenreich“ ſei es erlaubt, den kürzeren: Phytody-
namik zu benutzen.
society, zu Wormsley Grange bei Herford 1758 geboren, zu London
1838 geſt.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Geschichte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860. Geschichte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn2v.0