[][][][][]
Jenny.

Von der
Verfaſſerin von „Clementine“.

Zweiter Theil.

Leipzig::
F. A. Brockhaus

1843.
[][]
Jenny.

Zweiter Theil.
[][]
Jenny.

Von der
Verfaſſerin von „Clementine“.

Ein Stamm, aus dem der Erlöſer, die Madonna, die
Apoſtel hervorgegangen, der nach tauſendjähriger Ver-
folgung dem Glauben und den Sitten ſeiner Väter treu
geblieben, nach tauſendjährigem Drucke noch hervorra-
gende Größe für Wiſſenſchaft und Kunſt erzeugt, muß
jedem andern ebenbürtig ſein.
Die Verhältniſſe der Juden in Preuſſen von v. Rönne
und Simon.


Zweiter Theil.

Leipzig::
F. A. Brockhaus

1843.
[][[1]]

In Berghoff, dem prächtigen, am Meere
gelegenen Landhauſe des Kaufmanns Meier,
finden wir Jenny wieder. Neben ihr Clara
Horn, die zu Jenny hinausgefahren war und
nun mit bangem Herzklopfen der Ankunft
Eduard's harrte. Sie hatte ihn noch nicht wie-
dergeſehen, und war lange mit ſich zu Rathe
gegangen, wie und wann dies erſte Begegnen
vor ſich gehen könne. Eduard war allerdings
in ſeinem Berufe bei ihrer Mutter geweſen,
und hatte lange dort verweilt, in der Hoffnung,
Clara werde endlich wieder für ihn ſichtbar
werden; aber ſie war nicht erſchienen. So re-
ſignirt ſie ſich fühlte, war ſie doch ihrer Faſſung
II. 1
[2] nicht gewiß genug, um im Beiſein ihrer Mutter
Eduard zum erſten Male ſprechen zu wollen,
und endlich, als die Sehnſucht nach ihm immer
reger wurde, benutzte ſie ihr Verſprechen, Jenny
in Berghoff zu beſuchen, in der Vorausſetzung,
daß Eduard den Abend dort zubringen und die
Anweſenheit der ganzen Familie ihr eine ruhige
Haltung möglich machen werde.


Clara's Eintritt erregte große Freude bei
den Damen, aber zugleich ein allgemeines Fra-
gen nach ihrem Ergehen, denn man fand ſie
ſehr bleich und leidend. Sie verſicherte indeſſen,
ſich vollkommen wohl zu fühlen, und ging gleich
zu einer allgemeinen Unterhaltung über, wozu
Herr Meier, der ebenfalls anweſend war und
Clara mit ungewöhnlicher Aufmerkſamkeit be-
handelte, ihr hülfreich die Hand bot. Jenny
aber täuſchte das nicht, und ſie benutzte die erſte
Gelegenheit, ſich mit Clara zu entfernen, um
wo möglich von ihr ſelbſt zu erfahren, was
[3] ſeit der Scene im Garten zwiſchen Eduard und
ihrer Freundin vorgegangen ſei, und ob ſie den
beiden, ihr ſo theuern Perſonen irgend Beiſtand
oder Troſt gewähren könne.


Wie wir früher berichtet, hatten die jun-
gen Mädchen eine innige Freundſchaft für ein-
ander gefaßt, und ſich faſt über Alles auſge-
ſprochen, was ſie berührte. Jenny kannte Wil-
liam's Neigung für ihre Freundin, ſeine Wer-
bung und die Scheu, mit der Clara an die
Zeit ſeiner Rückkehr dachte, ohne daß eines der
beiden Mädchen aus leicht begreiflicher Rückſicht
jemals den Grund berührt hatte, der Clara
dieſer Verbindung abgeneigt machte. So lange
Jenny ihre Freundin heiter und Eduard unver-
ändert ruhig geſehen, hatte ſie es für indiscret
gehalten, ſich in ein Verhältniß zu drängen,
das man ihr verheimlichen wollte; nun ſie aber
in Clara's bleichem Antlitz, in Eduard's düſte-
rer Stimmung das Leiden ihrer Seelen las,
1*
[4] konnte ſie ſich nicht länger überwinden, und mit
aller ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit kniete
ſie vor Clara nieder, und bat, indem ſie ſie mit
beiden Armen umſchlang: „Sage mir, Clara,
was iſt geſchehen? Warum haſt Du ſo viel ge-
litten, daß Du bleich und traurig ausſiehſt?
Was fehlt Eduard? Sage es mir, wenn ich
nicht das Aergſte fürchten ſoll, wenn Du mich
genug liebſt, mich mit Dir leiden zu laſſen.“


„Du weißt es“, antwortete Clara, „aber
gerade darum laß mich davon ſchweigen. Helfen
kannſt Du mir nicht, Niemand kann es, und
das Einzige, was Du für mich thun ſollſt, iſt,
mich mit Eduard ein paar Minuten allein zu
laſſen, wenn er heute herauskommt. Willſt
Du das?“


Jenny verſprach es, und traurig ſaßen ſie
lange beiſammen, bis der Hufſchlag eines Pfer-
des die Ankunft eines Reiters verkündete und
nach einer Pauſe banger Erwartung Herr Meier
[5] mit Eduard zu ihnen kam. So gewaltig dieſer
nach Faſſung rang, ſo deutlich ſah man ihm
die innere Aufregung an, als er, Clara be-
grüßend, ihre Hand ergriff und küßte. In
Clara's Augen ſchwammen große Thränen,
welche nur die Anweſenheit des Vaters zurück-
hielt, der anſcheinend es nicht bemerkte. Er
hielt einen Brief in der Hand und fragte ſeine
Tochter, ob ſie etwas von Erlau's Abreiſe ge-
wußt hätte, die er Eduard in dieſem Briefe
melde, mit welchem er zugleich von allen ſeinen
Freunden Abſchied nehme. Jenny verneinte es,
und Herr Meier ſagte: „Dieſes Schreiben iſt
nun wieder Erlau's treueſtes Abbild; hört nur,
wie es lautet: „An Eduard Meier, mit dem
Befehl, es als Currende an das übrige Volk zu
ſenden, das ſich nach 24 Stunden Abweſenheit
noch eines Entfernten erinnern ſollte.“


„Lieber Doctor! ziehe Dein Taſchentuch her-
vor und trockne Deine verwunderten und hof-
[6] fentlich weinenden Augen, da Du erfährſt, daß
ich längſt zum Thore hinaus bin, wenn ich Dir
dies Lebewohl ſage. Du kannſt nicht behaup-
ten, daß ich treulos deſertire — die lange und
langweilige Campagne eines norddeutſchen, nebel-
grauen Winters habe ich voll rührender Geduld
und lobenswerther Theilnahme mit Euch durch-
gemacht; ich habe Eure ſteifgeſchnürten, gebilde-
ten Schönen tanzen geſehen, mich in hundert
Geſellſchaften gelangweilt und ruhig Eurem ſo-
genannten vernünftigen Treiben und Wirken,
Eurer Aeſthetik und Politik, Euren Diners und
Zweckeſſen, Euren Vereinen und all den tau-
ſend Narrheiten zugeſchaut und, was noch mehr
iſt, ich habe meine rechte Hand im Zaume ge-
halten, die täglich ſich in hundert Karikaturen
zu zeigen verlangte. Die Karikatur aber iſt
ein Baſtard der Kunſt, ein unwürdiger Sohn,
den die Mutter verleugnen muß, und zu deſſen
Vater ich mich und meinen ehrlichen Namen
[7] nicht hergeben mag. Wehe Euch! wenn Eure
unverbeſſerliche Geſchmackloſigkeit mich endlich
dazu verleitet hätte, und Ihr waret nahe daran,
mich auf dieſen Irrweg zu führen. Darum
fliehe ich Euch und wende meine Schritte nach
jenen Gegenden, über denen ein blauer Himmel
lacht, in denen man das Regieren den Fürſten
und das Denken den Pfaffen überläßt, die da-
für bezahlt werden und es doch nicht thun,
und wo man keinen Gewerbſchein zu löſen
braucht, wenn man nichts verlangt, als ruhig
in der Sonne zu liegen und ſich der paradieſi-
ſchen Wonne des dolce far niente zu befleißi-
gen. — Von Euch und Eurem geprieſenen
civiliſirten Leben verlange ich gar nicht zu hö-
ren. Ihr ſollt und könnt mir nicht ſchreiben,
weil ich nicht weiß, wo ich ſein werde, und,
wenn ich es irgend vermeiden kann, meine
ſchreibkundige Hand zu nichts brauchen will,
als die Blüthen und Freuden zu pflücken, die
[8] mir am Wege winken. Erſt wenn dieſer Win-
ter lange hinter mir liegen wird, ſoll der Pinſel
die einzelnen Lichtſtrahlen wiedergeben, die durch
Eis und Schnee unvergeßlich in meine Seele
drangen. Denn jede Nacht hat ihre Sterne;
auch im nordiſchen Eiſe blitzen ſonnenhelle Bril-
lanten funkelnd hervor, das Auge zu erfreuen —
aber zu beleben, zu erwärmen, das verſchmäh-
ten ſie leider. Und ſomit lebet wohl! Du
lieber Eduard, die Deinen alle und Ihr übri-
gen Freunde; genießet des ſpärlichen Sonnen-
lichtes, das Euch geworden, wachſet und gedei-
het, Jeder auf ſeine Art, und wenn Ihr in
Berghoff die Sonne untergehen und den Mond
am Horizonte emporſteigen ſehet, ſo betet mit
mir, daß der Götter reichſter Segen dies Fleckchen
Erde, dieſe Oaſe in der Wüſte, dies Thal be-
glücken möge, wo unter dem Schutze ſorglicher
Liebe die ſchöne Roſe von Saron erblühte.
Möge Apoll ihr und ihren Pflegern den ſüßen
[9] Duft lohnen, den ſie in die Seele eines ſeiner
Söhne gehaucht, ſie, die allein ihn vor dem
gänzlichen Erſtarren in der traurigen Farbloſig-
keit Eures Landes beſchützte. Nochmals lebet
wohl!“


„Da haſt Du noch ein Abſchiedscompliment,
mein Kind!“ ſagte der Vater, „und zum Danke
für daſſelbe magſt Du ſorgen, daß der Brief
nach Erlau's Wunſch den näheren Freunden des
Hauſes mitgetheilt werde. Uebrigens freut es
mich um des jungen Mannes willen, daß er
noch ſolch raſcher Entſchlüſſe fähig iſt; denn
Italien wird ohne Frage ihm die Vollendung
geben, für die er berufen iſt. Gib mir jetzt
den Brief, ich will ihn der Mutter und The-
reſen zeigen und ihnen die Abreiſe des liebens-
würdigen Wildfangs erzählen.“


„Ich komme mit Dir“, rief Jenny, als ihr
Vater, nachdem er ſeinem Wunſche gemäß
Eduard über die Pein des erſten Wiederſehens
1**
[10] fortgeholfen, ſich entfernen wollte. Clara ſelbſt
hielt ſie aber zurück, und ſprach: „Nein, liebe
Jenny! bleibe nur, es iſt beſſer ſo. Was Dein
Bruder und ich uns zu ſagen haben, braucht
für Niemanden, am wenigſten für Dich ein Ge-
heimniß zu ſein.“


„Clara!“ rief Eduard, „um Gottes willen
nicht dieſe Ruhe, die Sie und mich tödtet, von
der in dieſem Augenblick meine Seele weit ent-
fernt iſt. O! das Glück, Sie endlich, endlich
wiederzuſehen, iſt doch nicht im Stande, mich
das Leid vergeſſen zu machen, das uns trifft.“


„Auch ich leide,“ erwiderte Clara mit be-
bender Stimme, „aber wir müſſen als Freunde
mit einander zu tragen verſuchen, was wir
nicht zu ändern vermögen. Sie bleiben mir
ja“, ſagte ſie, und faßte Eduard's und Jenny's
Hände, die ſie vereint an ihr Herz drückte,
„und auch meine kleine Jenny bleibt uns, und
ſo vieles Gute, und die Achtung vor uns ſelbſt,“
[11]
und — die Liebe. Das muß uns genügen und
erheben“, ſchloß ſie, und verbarg weinend ihr
Geſicht an Jenny's Bruſt, die ſich zärtlich und
mit ihr weinend an ſie ſchmiegte.


Eduard bog ſich zu den Mädchen nieder,
machte ſeine Hand von Clara los und drückte
einen langen Kuß auf ihre Stirn. „Möge uns
Friede werden!“ ſeufzte er, und ſtumm ſaßen
ſie lange beiſammen. Endlich verſuchte Eduard
mit der Frage, ob Clara noch am Abende
nach der Stadt zurückkehre, das Geſpräch anzu-
knüpfen.


„Ja!“ antwortete ſie, „und ich zweifle, daß
wir uns in den erſten Tagen ſprechen werden,
wenigſtens hier in Berghoff nicht, da meine
Mutter die Ankunft meines Vetters erwartet
und“ — ſie ſtockte; aber Eduard und Jenny
erriethen das Fehlende.


„Da ſtehen Dir ſchwere Tage bevor“, ſagte
Jenny, und blickte ängſtlich Eduard an, der
[12] todtenbleich geworden war und unwillkürlich
ausrief: „Auch das noch und ſchon jetzt!“


„Mein Onkel iſt hergeſtellt“, fuhr Clara
fort, „und ich wußte ſchon, als wir uns zuletzt
ſahen, daß William zurückkehren werde. Ich
wollte es Ihnen ſagen, als ich herkam, aber es
war mir ſpäter wieder entfallen.“


Und wieder entſtand eine lange, drückende
Pauſe, in der Niemand ſprach, weil Jeder ſich
ſcheute, von dem Gegenſtande zu reden, der ihn
allein beſchäftigte. Eduard wollte irgend einen
beſtimmten Entſchluß faſſen; er wollte Clara
beſchwören, dieſe ſtumme Reſignation aufzuge-
ben, oder lieber ein Beiſammenſein zu vermei-
den, das für ihn bitterer, als jede Trennung
ſein mußte. Dazuſtehen vor der Geliebten, der
man entſagen ſoll, und ſein Herz zu bezwingen,
das in einen Schrei des Schmerzes, in die glü-
hendſten Worte der Leidenſchaft ausbrechen wollte,
das fand Eduard unerträglich. So ſüß es ſei-
[13] ner entſtehenden Neigung geſchienen, ohne Worte
jede zarte Regung in dem geliebten Herzen zu
verſtehen, ehe das entſcheidende Geſtändniß den
Lippen entfloh, ſo qualvoll dünkte ihn jetzt ein
Zwang, der ihn zu leidender Unthätigkeit, zu
peinlichem Erwarten des Kommenden verur-
theilte, ihn, der bis jetzt allen Begegniſſen ſei-
nes Lebens raſch handelnd entgegengetreten
war. Deshalb erſchien ihm Reinhard, der, eben
in Berghoff angelangt, ſeine Braut ſuchte, wie
ein Erlöſer aus drückenden Banden. Erſt nach-
dem die ganze Familie beiſammen und eine
Stunde in Mittheilungen mancher Art vergan-
gen war, konnten ſich Eduard und Clara all-
mälig von den ſchmerzlichen Empfindungen be-
freien, die ſie erduldet hatten, und zu des Va-
ters großer Genugthuung ſich, wenn auch ohne
alle Theilnahme, in die Unterhaltung der Uebri-
gen miſchen, bis endlich, von Eduard heiß er-
ſehnt, die Trennungsſtunde ſchlug. Und wieder
[14] geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem
letzten Abende, den ſie in der Stadt zuſammen
verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den
Beide jetzt empfanden, mußte ihnen der Schmerz
jener Stunde wie ein Glück erſcheinen. Denn
in jenem Schmerze lag noch Bewegung und
Leben; heute aber fühlten ſie die Entſagung
wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet
und ſchieden wortlos und vernichtet.



Wie man verabredet hatte und wir berich-
tet, ſollte Jenny's Taufe nun in wenig Tagen
vollzogen werden, und die Abfaſſung des nö-
thigen Glaubensbekenntniſſes führte ſie zu ernſt-
lichem, erneuertem Nachdenken über dieſen Punkt.
Menſchen von beſonders lebhafter Phantaſie iſt
es möglich und eigen, ſich allmälig in einen
beſtimmten Ideenkreis hineinzudenken, ihn nach
[15] allen Richtungen hin mit Gründen auszuſtat-
ten, und ſich ſo ein Gebäude zu errichten, das
den Schein der Feſtigkeit und Vollendung an
ſich trägt, ohne irgend eine wirkliche Baſis in
der Ueberzeugung Desjenigen zu haben, der es
aufgeführt. Wie der Dichter, namentlich in
ſeiner Jugend, die Geſchöpfe ſeines Geiſtes kaum
von den um ihn her lebenden Menſchen zu un-
terſcheiden vermag; wie Kinder ſich ſpielend ſo
feſt in die erfundenen Verhältniſſe ihrer Pup-
pen hineindenken, daß ſie unwillkürlich Erfun-
denes und Wirkliches vermiſchen und nicht mehr
trennen können, ſo ging es in gewiſſer Art
Jenny mit ihrer religiöſen Erkenntniß. Nach-
dem ſie vergebens verſucht, die Symbole des
Chriſtenthums mit dem Verſtande zu erfaſſen,
bemächtigte ſich einſt plötzlich ihre Einbildungs-
kraft derſelben, und ſie wurde mit Ueberraſchung
gewahr, daß ſie Vieles ſich denken und in ſei-
nen Folgen und Veranlaſſung ausmalen, ja es
[16] bis zu einer deutlichen Vorſtellung in ſich aus-
bilden könne, woran ihr der Glaube fehlte.
Chriſtus, der eingeborne, gekreuzigte und wieder
auferſtandene Sohn Gottes, wurde für ſie zu
einer ſo feſten Geſtalt in ſeinen Wundern, wie
es ihr früher irgend ein Gott des Olymps ge-
weſen, wie es ihr noch jetzt Goethe's göttlicher
Mahadö war, der die ſich opfernde Geliebte
mit ſich verklärt aus den Flammen emporhebt.
Sowie ſie, trotz der hiſtoriſchen Kenntniß des
mittelaltrigen Johannes Fauſt, dieſen gänzlich
in der unſterblichen Geſtalt des Goethe'ſchen Fauſt
verloren hatte, weil der Letztere allein ihr durch
die poetiſche Schönheit des Gedankens als wirk-
lich erſchien: ſo bildete ſie aus dem Menſchen
Jeſus, den die Apoſtel beſchrieben, jenen myſti-
ſchen Chriſtus in ſich aus, wie ihn die ſpätern
chriſtlichen Philoſophen als Theil der Dreieinig-
keit dachten. Nur wähnte ſie, als dieſe Erſchei-
nung in einer beſtimmten Form in ihr lebte,
[17] endlich an Chriſtus und ſeine Wunder zu glau-
ben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte
ſodaß ſie mit vollem Vertrauen von ſich zu
behaupten wagte, jetzt ſei ihr nicht blos die
chriſtliche Moral, ſondern die Menſchwerdung
Chriſti zu einer vollkommenen Wahrheit gewor-
den. Wie bei allen Trugſchlüſſen ſtimmte nun
Alles zu ihren Ideen, nachdem ſie willkür-
lich einen Anfangspunkt für ihr Syſtem gefun-
den hatte, den ſie als richtig annahm, obgleich
er es in der That nicht war. Die ſichere Ruhe,
mit der ſie ſich hinterging, täuſchte auch Rein-
hard und den ſie unterrichtenden Paſtor, ob-
gleich der Letztere über eine ſo unerwartete Ver-
änderung der Anſichten bei ſeiner Schülerin
ſehr überraſcht zu ſein ſchien.


Dazu kam, daß ſeit einigen Wochen Cla-
ra's und Eduard's Lage ſie beunruhigte und
ihre Theilnahme in Anſpruch nahm, während
zugleich die Entdeckung von Thereſens Liebe für
[18] Reinhard und Erlau's unerwartetes Geſtändniß
ſie vielfach beſchäftigt und ihre Gedanken von
den Forſchungen über das Chriſtenthum abge-
zogen hatten, bis der für die Taufe feſtgeſetzte
Termin herannahte und ſie wieder darauf hin-
lenkte. Als ſie nun jenes Glaubensbekenntniß
niederſchreiben wollte, das ſich eigentlich ſtreng
an die im Glauben enthaltenen Dogmen binden
mußte; als ſie ihr Nachdenken feſt auf den
Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künſt-
lichen Ueberzeugung zu ſchwanken an, und die
Schöpfung einer regen Phantaſie zerfloß vor
dem hellen Strahl des Geiſtes. Das bemerkte
Jenny mit Entſetzen. Sie hatte Ruhe und
Heiterkeit gewonnen durch die Täuſchung, der
ſie ſich unbewußt hingegeben: was frommte ihr
eine Einſicht, die ihr Beides ſchonungslos raubte,
ſie in das alte Chaos des Zweifels ſtürzte und,
wenn ſie wahr ſein wollte, ſie von Reinhard
trennte, weil ihr Uebertritt zum Chriſtenthum
[19] bei dieſen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver-
gebens wollte ſie die Vorſtellungen in ſich zu-
rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig
und klar geweſen waren; es gelang ihr nicht
ebenſo wenig, als es dem Erwachſenen gelingt,
jene Empfindung in ſich hervorzuzaubern, die
wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn
wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume
und Häuſer an uns vorüberfliegen zu ſehen,
während wir ſtille ſtänden. Nachdem uns ein-
mal das Gegentheil unumſtößlich bewieſen wor-
den, kann ſelbſt unſer feſter Wille das Trug-
bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang
mag man hoffen, ſich gegen die Wahrheit ver-
blenden, eine liebgewordene Täuſchung in ſich
feſthalten zu können — die Wahrheit ſiegt im-
mer. Es iſt ihr Prüfſtein, daß ſie ſiegen muß,
und auch Jenny ſträubte ſich jetzt vergebens
gegen ihre Gewalt.


Die Ueberzeugung, daß der Geiſt des Chri-
[20] ſtenthums die Hauptſache in demſelben ſei, war
es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Be-
ſorgniſſe zeigte, vor dem ſich jedoch Anfangs
ihre Redlichkeit ſcheute. Was aber ſollte ſie
thun? Jetzt, nachdem ſie unaufhörlich ihren
Glauben an die chriſtlichen Dogmen behauptet
hatte, plötzlich erklären, ſie habe ſich getäuſcht
und ſie könne nichts davon glauben? Das
hätte ſie eigentlich am liebſten gethan; aber
würde man nicht an der Unfreiwilligkeit dieſer
Täuſchung zweifeln, und annehmen, ſie habe
bis jetzt gegen ihre Anſicht etwas behauptet,
um ihren Zweck zu erreichen, was zu beſchwö-
ren ihr der Muth fehle? Vor Reinhard
und ihrem Vater, vor Eduard in dieſem Lichte
zu erſcheinen, brachte ſie zur Verzweiflung, ab-
geſehen ſelbſt von der Trennung von dem Ge-
liebten, die unvermeidlich wurde, wenn ſie ſich
weigerte, Chriſtin zu werden. Sie ſchauderte,
zwiſchen der Wahrheit und Reinhard wählen
[21]
zu ſollen; ſie fühlte, daß Alle ſie bedauern müß-
ten wegen dieſer unglückſeligen Alternative, und
daß wol Alle mit ihr leiden würden, falls ſie
ſich wirklich entſchließen müßte, den Geliebten
ihrer Ueberzeugung zu opfern. Alle würden es
beklagen, ſelbſt Joſeph, der ſie ungern Chriſtin
werden ſah, und Erlau, der ſie liebte — Alle,
nur Thereſe nicht. Ja, Thereſe würde ſich
freuen darüber, denn für ſie konnte nur daraus
eine Hoffnung erblühen, und, wie ſie dieſelbe
jetzt kannte, würde Thereſe eigenſüchtig genug
ſein, auf den Trümmern von Jenny's Glück-
und Liebestempel ſich eifrig ein bürgerliches
Wohnhaus zu gründen. Das ſollte und durfte
aber nicht geſchehen; Thereſe ſollte nicht ern-
ten, wo Jenny mit ihrem Herzblute geſäet
hatte, und wieder und immer wieder ging ſie
daran, Alles durchzudenken, was ihr je von re-
ligiöſen Anſichten bekannt geworden war, bis
ſie entſchieden zu der Ueberzeugung gelangte, die
[22] Dogmen als eine Nebenſache zu betrachten, und,
um Reinhard's Meinung zu ſchonen, endlich ein
Glaubensbekenntniß zu Stande brachte, das in
Spitzfindigkeit dem älteſten Jeſuiten Ehre gemacht
hätte. Mit großem Geſchick hatte ſie vermie-
den, jener Lehren von der Kindſchaft Chriſti,
der Erlöſung durch ſeinen Tod und der damit
gegebenen Genugthuung zu erwähnen, ohne
irgend Zweifel an ihrem Glauben bei Rein-
hard dadurch zu veranlaſſen, der ſich ganz ein-
verſtanden mit dem Glaubensbekenntniſſe erklärte,
als Jenny es ihm mit innerſter Beſchämung
vorlegte. Des Geliebten Beifall, ſeine Freude
über ihre Erkenntniß waren Dolchſtöße für ihr
Gefühl. Er liebte ſie, er freute ſich über ſie,
während ſie ihn in Dem betrog, was ihm das
Heiligſte war. Sie ſagte ſich, daß ſie Rein-
hard's Vertrauen unwürdig hintergehe; ſie hätte
ihm gern die Wahrheit geſtanden, wenn er nur
gleich ihr dem Gedanken Raum gegeben hätte,
[23] daß man an Chriſtus auf verſchiedene Weiſe
glauben, und doch ſich unausſprechlich lieben
und glücklich mit einander ſein könne. Sie be-
griff es nicht, wie der ſonſt ſo freiſinnige Mann
nur in dieſem Einen Punkte von ſo unerbitt-
licher Strenge ſein konnte. Was that es ihrer
Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny
Jeſus für den Erſten unter den Menſchen, ſtatt
Chriſtus für Gott hielt, ſo lange ſie nur ſeine
Lehren befolgte? Indeſſen führten alle dieſe
Gedanken ſie doch nur immer auf den einen
Punkt zurück, daß Reinhard es nimmer zugeben
würde, ſie Chriſtin werden zu laſſen, wenn ſie
ihm die Wahrheit bekenne: daß ſie ihn verliere,
wenn ſie es nicht werde. Das machte ſie ver-
zagt, und dieſe Kämpfe ermüdeten ſie ſo ſehr,
daß ſie aus Schwäche Muth zu einer Trennung
von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu
Selbſtmördern werden würden, wenn im Mo-
[24] ment der Entſcheidung nicht eben ihre Feigheit
ſie von der That zurückhielte.



Wir ſind ſo ſehr gewohnt, in den Erzählun-
gen unſerer Dichter nur auf Edelmuth und er-
habene Motive bei den Helden derſelben zu ſtoßen,
ſodaß die nackte Proſa des Lebens uns fremd
und widerwärtig erſcheint. Deshalb wird viel-
leicht Jenny in den Augen manches Leſers und
in ſeiner Gunſt ſinken, wenn wir behaupten,
daß es zuletzt nur Schwäche und Furcht wa-
ren, welche ſie abhielten, das Aeußerſte zu wa-
gen und ihr Glück zu opfern, um vor ſich ſelbſt
gerechtfertigt zu ſein. Von Natur offen und
mittheilend, ſah ſie ſich theils durch Verhält-
niſſe, theils durch ihre eigne Schuld in ein
Gewebe von Heimlichkeiten und Täuſchungen
[25] verwickelt, das ſie in ihren eignen Augen ernie-
drigte. Clara's ruhige ergebene Entſagung
leuchtete ihr als Beiſpiel vor; ſie wollte nicht
kleiner ſein als ihre Freundin, denn auch ſie
war ſich bewußt, das Unvermeidliche würdig
tragen und eher das Glück, als Achtung vor
ſich ſelbſt entbehren zu können. Wie würde es
ſein, fragte ſie ſich, wenn ich vor Reinhard
hinträte und ihm erklärte: „Ich liebe Dich
mehr, als Du ahnen kannſt, ich hatte meine
ganze Zukunft an Dein Daſein geknüpft; aber
Chriſtin nach Deinem Sinne kann ich nie wer-
den, darum müſſen wir der Wonne entſagen,
auf die wir gehofft. Thereſe liebt Dich, ſie
glaubt wie Du an Chriſtus, möge ſie Dir ein
Glück gewähren, das Du aus den Händen einer
Jüdin nicht annehmen darfſt.“ Bei dieſer in-
nerlich gehaltenen Rede zerfloß Jenny in Thrä-
nen. Der Schmerz, den ſie empfinden würde,
wenn der Moment dieſer traurigen Entſcheidung
II. 2
[26] gekommen, ſie fühlte ihn jetzt ſchon lebhaft, ob-
gleich eine Art von Beruhigung für ſie in dem
Akte der Großmuth lag, den ſie gegen ihre
Nebenbuhlerin ausüben wollte. Sie ſtellte ſich
den Kummer vor, in dem ſie die ſchönſten Jahre
ihres Lebens fern von Reinhard vertrauern
würde, der ihrer an Thereſens Seite vielleicht
bald vergeſſen könnte, und noch heißer und bit-
terer floſſen ihre Thränen. Was würden ihre
Eltern ſagen? Was würde man in den Kreiſen
ihrer Bekannten denken? Welch' widerſprechende,
tadelnde und nachtheilige Gerüchte könnten ſich
über ſie verbreiten! Während ſie ihr höchſtes
Glück einer religiöſen Überzeugung mit bluten-
dem Herzen opferte, würden Neid und böſer
Wille ſich in die innerſten Verhältniſſe ihres
Lebens drängen und Motive zu dieſer Hand-
lung ſuchen, von denen keine Spur in ihrer
Seele war. Könnte nicht ſelbſt Thereſe bereit
ſein, Reinhard zu beweiſen, daß Mangel an
[27] Liebe zu ihm oder die Furcht vor ſeinen be-
ſchränkten Verhältniſſen und dem Leben in länd-
licher Zurückgezogenheit ſie zur Löſung dieſes
Bündniſſes veranlaſſe, und daß ſie die Religion
nur zum Deckmantel gebrauche? Jenny ſah
Reinhard vor ſich, ſie ſah, wie er mit Verach-
tung auf ſie blickte, wie er ſie von ſich ſtieß,
er, der ſie einſt geliebt, an dem ſie ſtets mit
warmer Neigung gehangen, und trotz aller in-
nern Kämpfe, trotz der warnenden Stimme
ihres Gewiſſens ließ Jenny die Taufe für eine
beſtimmte Stunde anſetzen, und beſchloß, durch
jenes gekünſtelte Glaubensbekenntniß, das ſie
beſchwören konnte, ohne gerade einen Meineid
zu begehen, ſich unauflöslich mit Reinhard zu
verbinden, weil ſie ſich vor den Leiden fürchtete,
die eine Trennung von ihrem Geliebten noth-
wendig zur Folge haben mußte.


Reinhard, ſeine Mutter und Clara ſollten
die Zeugen bei Jenny's Taufe ſein, und die
2*
[28] Pfarrerin war zu dieſem Zwecke nach Berghoff
gekommen, wo ſie ein paar Wochen zu bleiben
verſprochen hatte. Auch Reinhard machte ſich
frei von ſeinen Geſchäften in der Stadt, um
dieſe Zeit ganz mit ſeiner Braut zu verleben,
da er, wie ſchon geſagt, gleich nach der Taufe
mit ſeiner Mutter zu ſeinem alten Onkel fah-
ren und dort verweilen wollte, bis die Entſchei-
dung über ſeine Anſtellung definitiv erfolgt ſein
würde. Obgleich nur ein paar Monate ſeit
der Abreiſe der Pfarrerin verfloſſen waren, fand
ſie das Verhältniß ihres Sohnes zu Jenny
weſentlich verändert und faſt umgekehrt. Rein-
hard's Eiferſucht hatte ſich gelegt, da Erlau
dieſelbe nicht mehr erregte; mit den äußern
Verhältniſſen ſeiner Zukunft, mit dem Reich-
thum ſeiner Braut hatte er ſich ausgeſöhnt, je
mehr er ſich überzeugte, daß die ganze Familie
denſelben zwar in ſeinem Werthe begriff, aber
doch nicht überſchätzte oder damit abſichtlich
[29] prunkte; und da nun auch Jenny's religiöſe
Erkenntniſſe ſich ſeinen Anſichten angeſchloſſen
hatten, war er vollkommen glücklich, und zu
jener innern Zufriedenheit gelangt, die ihn ſeit
ſeiner Verlobung geflohen hatte. Dieſe innere
Ruhe machte ihn heiter, nachgebender und mit-
theilender, als er es jemals geweſen. Er hatte
tauſend Aufmerkſamkeiten für Jenny's Eltern,
behandelte Eduard mit der zarteſten, ängſtlichſten
Sorgfalt, da er ihn über einen Verluſt tröſten
wollte, deſſen Größe Reinhard mit ihm empfand,
ohne daß Jener irgend über ſeine Liebe oder
ſeinen Gram mit ihm geſprochen hatte. Mit
Jenny unabläßlich beſchäftigt, war er es jetzt,
der ſich an jeder Kleinigkeit erfreuen und bei
jedem Begebniß eine fröhliche, ſcherzhafte Seite
hervorheben konnte. Selbſt Thereſens Neigung
für ihn diente, ſo ſehr er es auch verheimlichen
wollte, nur dazu, ſein Glück zu erhöhen, indem
ſie ſeiner Eitelkeit, deren er ſich kaum bewußt
[30] war, ſchmeichelte und ihm in Jenny's Eiferſucht
einen ihm wohlthuenden Beweis ihrer Liebe ge-
geben hatte. Er fühlte ſich in gewiſſer Weiſe
Thereſen dafür verpflichtet, behandelte ſie mit
freundlicher Zuvorkommenheit, und in dem täg-
lichen Beiſammenſein mit ihr ſtellte ſich ein zu-
traulich bequemes Verhältniß zwiſchen ihnen
her, das aber von Thereſens Seite an Unbe-
fangenheit verlor, je ruhiger Reinhard ſich dem-
ſelben überließ.


Mit Freuden hatte die Pfarrerin die Ver-
wandlung bemerkt, welche die Stimmung ihres
Sohnes erlitten hatte, aber um ſo räthſelhafter
erſchien ihr Jenny. Ein düſtrer Ernſt, eine
krankhafte Reizbarkeit hatten ſich ihrer bemäch-
tigt, und beſonders hatte Thereſe von der Letz-
tern zu dulden, ſodaß ſie der alten Dame Be-
dauern deshalb erregte. Jenny's Liebe zu ihrem
Bräutigam ſchien grenzenlos; ſie konnte ſich
keinen Augenblick von ihm trennen; ſie war
[31]
unruhig, wenn ſie ihn nicht ſah, und doch ver-
mißte das ſcharfe Auge der Pfarrerin, trotz der
Heftigkeit und Leidenſchaft, die Jenny's Liebe
verrieth, jene innige Hingebung, welche ſie frü-
her für Reinhard gezeigt hatte. Es lag ein
Etwas in dem Betragen, in der ganzen Art
Jenny's, das ihr unheimlich, ja faſt dämoniſch
vorkam, und wovon ſie ſich doch keine beſtimmte
Rechenſchaft geben konnte, um ſo weniger, als
Jenny von einem unerſättlichen Hang zu im-
mer neuen Zerſtreuungen erfüllt ſchien, der
Niemanden in ihrer Umgebung zur Ruhe kommen
ließ. Fahrten zu Waſſer und zu Lande, Be-
ſuche in der Nachbarſchaft und ſtundenlange
Spazierritte wechſelten ſchnell mit einander ab,
ohne daß Jenny, die eifrig darnach verlangte,
Genuß darin zu finden ſchien. Reinhard liebte
die Natur und jede Art von Bewegung im
Freien, deshalb ließ er ſich gern bereitwillig
finden zu jedem Vorſchlag der Art, welchen
[32] Jenny machte, bis auch ihm endlich ihre fieber-
hafte Unruhe auffiel, die nicht eher nachließ, bis
ſie körperlich ganz erſchöpft zuſammenbrach und
dann ſtundenlang in vollkommener Abſpannung
und weichſter Stimmung verharrte. Bat er
ſie, von dieſer anſtrengenden Lebensweiſe abzu-
ſtehen, ſich Ruhe und Erholung zu gönnen, ſo
riß ſie ſich gewaltſam aus der Apathie empor,
verſicherte, weder krank noch ermüdet zu ſein,
und beſtand darauf, dieſen letzten Sommer in
Berghoff mit Reinhard, wie ſie es nannte, noch
recht in Eile zu genießen.


Gegen dies wilde Treiben, das zuletzt Jen-
ny's Mutter ebenſo beunruhigte, als die Pfar-
rerin, erſchien Thereſens ſtille, häusliche Thä-
tigkeit um ſo wohlthuender. Sie hatte allmä-
lig ſich faſt des ganzen häuslichen Regimentes
bemächtigt und wußte für Jeden mit Sicherheit
das Bequeme und Angenehme zu verſchaffen,
ohne daß man es von ihr verlangt hatte. Da-
[33] durch machte ſie ſich namentlich den ältern Da-
men unentbehrlich, und auch Reinhard konnte
nicht umhin, ihr lobend zu geſtehen, daß ſie ein
ſeltenes Talent beſitze, die materiellen Wünſche
ihrer Umgebung zu errathen und zu befriedigen.
Je mehr durch Gewöhnung auch für ihn der
Comfort des Lebens an Reiz gewann, um ſo
angenehmer erſchien ihm die Weiſe, mit der
Thereſe denſelben zu bereiten verſtand. Jenny's
Aeußerung, daß Thereſe ſich Liebe erkoche und
erwirthſchafte, begegnete daher allgemeinem Ta-
del, wie überhaupt ihr Verhältniß zu ihrer
Freundin der Pfarrerin immer mehr mißfiel
und Allen ein Räthſel war, Reinhard ausge-
nommen, der dieſe Schattenſeite an Jenny's
Charakter nur zu leicht und zu gern entſchuldigte.


Nach Jenny's früher geäußertem Wunſche
ſollte auch Thereſe unter ihren Taufzeugen ſein,
doch ſchien ſie dieſen oft beſprochenen Vorſatz
ganz aufgegeben zu haben, und erklärte, als die
2**
[34] Pfarrerin ſie deshalb zur Rede ſtellte und ihr
bemerklich machte, wie dieſe Zurückſetzung für
Thereſe höchſt empfindlich ſein müſſe: „Es thäte
ihr leid, aber ſie könne ſich nicht entſchließen,
es wäre ihr unmöglich, ſie dazu aufzufordern.“
Dieſe entſchiedene Aeußerung veranlaßte die Pfar-
rerin, weiter in Jenny zu dringen, ohne daß
ſie eine nähere Erklärung von ihr erlangen
konnte. Sie behauptete, ſich in Thereſe geirrt
zu haben, und eine Abneigung gegen ſie zu füh-
len, die faſt an Haß grenze und die ſie nicht
überwinden könne. Als zufällig gerade in die-
ſem Augenblick Thereſe mit einer gleichgültigen
Frage im Auftrag von Jenny's Mutter hinzu-
kam und mit einer heftigen, kurzen Antwort
von Jenny abgefertigt wurde, die gleich darauf
das Zimmer verließ, benutzte die Pfarrerin die
Gelegenheit, mit Thereſen einmal darüber zu
ſprechen, ob ſie vielleicht den Grund zu Jenny's
gereizter, launenhafter Stimmung kenne?


[35]

„Nein“, ſagte ſie, „ich weiß auch nichts
Beſtimmtes darüber; nur Das fühle ich, ihr
Betragen gegen mich habe ich nicht verdient,
und würde es nicht dulden, wenn mich das
Andenken an unſer früheres Verhältniß nicht
nachſichtig gegen ſie machte.“


„Und wiſſen Sie denn nicht, liebes Kind,
ſeit wann dieſe Verſtimmung ſich Jenny's be-
mächtigt hat? Man könnte vielleicht irgend
Etwas zu ihrer Beruhigung thun, wenn man
nur im Entfernteſten die Veranlaſſung dazu
ahnen würde.“


„Sowie Sie Jenny jetzt ſehen, liebe Frau
Pfarrerin, iſt ſie ſeit wir in Berghoff ſind“,
antwortete Thereſe, „und allerdings habe ich
eine Vermuthung darüber, die ich Ihnen mit-
theilen möchte, wenn Sie mir heilig verſprechen
wollen, gegen Jeden, beſonders aber gegen Ih-
ren Sohn darüber zu ſchweigen.“


[36]

Die Pfarrerin zauderte einen Augenblick,
dann bat ſie Thereſe, dieſe Mittheilung lieber
zu unterlaſſen, wenn ſie nicht wirklich nöthig
zu Jenny's Glück, zu ihrer Herſtellung ſei.


„Ich bin in einer ſonderbaren Lage“, ant-
wortete Thereſe, „und weiß ſelbſt nicht, ob es
nicht meine Pflicht iſt, ein Geheimniß zu ver-
rathen, zu deſſen Kenntniß ich nur zufällig ge-
langte; denn noch dürfte es Zeit ſein, ein Unheil zu
vermeiden, das meinen theuerſten Freunden droht.“


Die Pfarrerin wurde unruhig, und Thereſe
fuhr fort: „Den Abend, ehe wir nach Berg-
hoff zogen, zeichnete Jenny mit Erlau auf dem
Balkon vor dem Treibhauſe eine Anſicht der
Gegend, welche ſie für ihren Bräutigam be-
ſtimmte. Sie war Anfangs ganz heiter; Stein-
heim war auch mit ihnen und Jenny rief mich
ebenfalls herbei, um mir ihre Arbeit zu zeigen
und mich an der Unterhaltung Theil nehmen
[37] zu laſſen. Dieſe nahm, wie gewöhnlich, wenn
jene Drei ohne Reinhard beiſammen waren, eine
ziemlich fade Wendung. Das Geſpräch lang-
weilte mich, ſodaß ich Jenny aufmerkſam
machte, wie wenig dieſe Converſation ihrem
Bräutigam zuſagen würde. Darüber wurde ſie
verdrießlich und heftig, und ſo iſt es ſeit jenem
Tage geblieben.“


„Aber, liebe Thereſe“, ſagte die Pfarrerin
im Tone des Vorwurfs, „Sie können doch
kaum annehmen, daß ein ſo geringer Tadel
Jenny's ganzes Weſen, ihr ganzes Verhältniß
zu Ihnen ſo vollkommen verändern könne, beſon-
ders da ſie ſonſt Tadel von Jedermann mit
großer Freundlichkeit zu ertragen pflegte, was
mir ſtets angenehm aufgefallen iſt.“


„O, Gott bewahre! das glaube ich auch
nicht“, erwiderte Thereſe, „ich halte es nur
für begreiflich, daß ihre üble Laune ſich gerade
[38] gegen mich richtet, weil wir zufällig jenen klei-
nen Streit in einer Stunde hatten, die außer-
dem von entſchieden traurigen Folgen für
Jenny war.“


„Thereſe“, unterbrach die Pfarrerin ſie ſehr
ernſthaft, „Ihre halben Reden ſcheinen mir ein
Geheimniß mittheilen zu wollen, das Sie viel-
leicht verſchweigen ſollten. Sie ſind aber be-
reits zu weit gegangen, und ich muß Sie bit-
ten, mir nun die volle Wahrheit zu enthüllen,
damit ich ſelbſt entſcheide, was wir für Jenny,
die ich als meine Tochter liebe, thun können
und müſſen.“


Thereſe ſchien zu ſchwanken, dann aber ſagte
ſie raſch und mit großer Beſtimmtheit: „Nun
denn, Frau Pfarrerin! Ich glaube, Erlau's
Abreiſe iſt die Veranlaſſung zu der vollkomme-
nen Veränderung, welche mit Jenny vorgegan-
gen iſt.“


[39]

„Das wäre ein großes Unglück“, rief die
alte Dame erſchreckt. „Aber was bringt Sie
auf dieſe Vermuthung, Thereſe?“


„Eine bloße Vermuthung hätte ich Ihnen
nicht mitgetheilt“, antwortete Thereſe, „ich habe
die feſte Überzeugung, daß es ſo iſt. Nachdem
Steinheim den Balkon verlaſſen hatte, hörte
ich, denn ich war im Treibhauſe beſchäftigt,
Erlau lebhaft mit Jenny ſprechen, und obgleich
ich weder Alles verſtehen konnte noch wollte,
vernahm ich, daß Erlau ihr ſeine Liebe geſtand
und ihr zugleich Lebewohl ſagte, weil er ohne
Hoffnung in ihrer Nähe nicht leben könne.
Den nächſten Tag war er abgereiſt, und als
ſein Abſchiedsbrief uns gebracht wurde, behaup-
tete Jenny, die man darum fragte, von ſeiner
Reiſe ebenſo wenig gewußt zu haben, als wir.
Trotzdem hat ſie ihm wahrſcheinlich das für
Reinhard beſtimmte Bildchen zum Andenken
geſchenkt, denn ich habe es ſeit dem Abend nicht
[40] mehr geſehen und es iſt auch nie wieder die
Rede davon geweſen. Am nächſten Tage zogen
wir hieher und ſeitdem iſt Jenny's traurige
Stimmung, wie Sie ſelbſt wiſſen, im Zuneh-
men begriffen.“


Die Pfarrerin ſchwieg lange Zeit und ſchien
mit ſich ſelbſt zu Rathe zu gehen, dann ſprach
ſie: „Gott verhüte, daß Ihre Behauptung
wahr ſei! Ich kann nicht glauben, daß Jenny
ſich ſo vollkommen über ihre Gefühle getäuſcht
haben könne, und bin ebenſo feſt von ihrer
Liebe zu Reinhard überzeugt, als von der ſei-
nen für ſie. Indeß iſt leider unſer Herz tau-
ſend befremdlichen Eindrücken zugänglich, und
es wäre nicht unmöglich, daß ſich irgend ein
Widerſtreit von Gefühlen in der Seele meiner
armen Jenny erhoben hat, den ſie mit ihrer
leidenſchaftlichen Weiſe gewaltſam bekämpfen
will und hoffentlich bekämpfen wird. Daher
mag ihre Unruhe entſtehen, und ich danke Ih-
[41] nen, liebe Thereſe, für das Geſtändniß, das Sie
mir gemacht, ebenſo für die Geduld, mit der
Sie die Unfreundlichkeit des geliebten Kindes
ertragen. Nur Eins muß ich Ihnen wie die
heiligſte Pflicht ans Herz legen: Laſſen Sie
weder Jenny, noch meinen Sohn es ahnen,
daß Sie irgend eine Vermuthung der Art
hegen.“


„Wie können Sie das nur glauben?“
fragte Thereſe. „Rechnen Sie feſt auf meine
Verſchwiegenheit, um ſo mehr, als auch Ihres
Sohnes Glück davon abhängt, dem ich lebens-
lang für ſo Großes verpflichtet bin und für
den kein Opfer mir zu ſchwer fallen ſollte.“


Die Pfarrerin umarmte ſie gerührt und
konnte nicht umhin, ihr zu verſichern, wie ſie
ihre Achtung in hohem Grade gewonnen habe,
und wie ſehr ſie ihr die Schonung Dank wiſſe,
mit der ſie Jenny behandle. „Laſſen Sie uns
vereint“, ſprach ſie, „dahin wirken, Jenny mit
[42] ſich ſelbſt wieder auſzuſöhnen und ihr das Glück
zu erhalten, das Sie und mein Sohn von der
Zukunft erwarten. Unſere innigſte Anerkennung
wird es Ihnen danken, und wenn Sie ſich
wirklich meinem Sohne verpflichtet fühlen, tra-
gen Sie ihm Ihren Dank jetzt in einer Weiſe
ab, welche ihn für immer zu Ihrem Schuld-
ner macht.“


Thereſe verſprach Alles und die Damen
ſchieden mit einer wiederholten Umarmung und
den herzlichſten gegenſeitigen Verſicherungen.


Wie weit Thereſe bei dieſer Unterredung
ſich ſelbſt über die Beweggründe ihrer Hand-
lungen getäuſcht hatte, wie weit ſie abſichtlich
dabei zu Werke gegangen, möchte ſchwer zu ent-
ſcheiden ſein. Ob ſie wirklich an Jenny's Liebe
für Reinhard zweifelte, an eine Neigung für
Erlau glaubte, ob nur der Wunſch, Reinhard
und Jenny vor Reue zu bewahren, allein ſie
antrieb, der Pfarrerin jenen Bericht zu erſtat-
[43] ten, das laſſen wir dahingeſtellt ſein. Jeden-
falls aber war ſie ſich der eigenſüchtigen Mo-
tive, die zweifelsohne in ihrer Seele ſich regten,
nicht deutlich bewußt, ſodaß ſie die Lobſprüche
der Pfarrerin mit ruhigem Gewiſſen annahm
und ſich Jenny gegenüber in einer ſtillen Größe
erſchien, welche es ihr leichter machte, ſich füg-
ſam und nachgebend gegen ſie zu betragen.


Ihrem Vorſatz getreu, ſchwieg die Pfarrerin
gänzlich über die Entdeckung, welche Thereſe
ihr gemacht hatte. Jenny that ihr leid und
doch zürnte ſie ihr, weil ſie nicht daran zweifelte,
daß Erlau wirklich einen Eindruck auf Jenny's
bewegliche Phantaſie gemacht und ſie verleitet
haben könnte, Reinhard untreu zu werden, wäre
Erlau ſelbſt ihr nicht zu rechter Zeit zu Hülfe
gekommen. So lieb ſie ihre künftige Schwie-
gertochter hatte, konnte ſie ſich doch nicht ver-
bergen, was ſie ſtets gedacht und früher auch
gegen ihren Sohn geäußert hatte, daß eine
[44] Frau mit ſo unruhigem Geiſte, mit ſolch' hef-
tigen Leidenſchaften viel weniger zu Hoffnungen
auf ein ruhiges eheliches Glück berechtigte, als
z. B. ein Mädchen von Thereſens ſoliden, wenn auch
weniger glänzenden Eigenſchaften. Sie zitterte
bei dem Gedanken, ihr Sohn könne durch irgend
einen Zufall von der Neigung ſeiner Braut für
Erlau unterrichtet werden, und fühlte ſich ſehr
beruhigt, als endlich der für die Taufe be-
ſtimmte Tag gekommen war und ſie die Aus-
ſicht hatte, nun mit ihrem Sohne Berghoff auf
einige Monate zu verlaſſen. In dieſer Zeit, ſo
hoffte ſie, würde Jenny zur Ruhe kommen,
ohne daß Reinhard etwas von dem Kampfe in
ihrem Herzen zu erfahren brauchte.



Herr und Madame Meier, Eduard, Joſeph,
die Pfarrerin, Thereſe und Clara waren in
[45] ernſter Haltung in einem Zimmer beiſammen,
in das freundlich die Strahlen der untergehen-
den Sonne hineinfielen. Ein runder, mit koſt-
barem Teppich behangener Tiſch, auf dem ein
ſilberner Becken in ſilberner Schale ſtand, nahm
die Mitte deſſelben ein. Neben dieſem impro-
viſirten Hausaltar ſtand Jenny's Lehrer, der
würdige Paſtor, und erwartete, gleich den Übri-
gen, den Eintritt ſeiner Schülerin. Sie hatte
gewünſcht, die letzten Stunden vor ihrer Taufe
ganz allein zu bleiben, und ihren Bräutigam
erſucht, ſie erſt rufen zu kommen, wenn Alles
zu der feierlichen Handlung bereit ſein würde.


Nun trat ſie an Reinhard's Arm in das
Zimmer und Allen fiel die Todtenbläſſe ihrer
ſchönen Züge auf, als ſie ſich in die Nähe des
Paſtors ſtellte und Reinhard zurücktrat. Nach
einer kurzen Anrede des Geiſtlichen ſprach Jenny
ihr Glaubensbekenntniß und empfing die Taufe.
Sie ſchien furchtbar ergriffen zu ſein und bebte
[46] ſichtlich zuſammen, als das Taufwaſſer ihre
bleiche Stirn berührte. Aber keine Thräne war
in ihr Auge gekommen, kein Muskel ihres
Geſichtes hatte gezuckt, und nur der bebende
Ton der Stimme hatte, während ſie das Glau-
bensbekenntniß ablegte, der Herrſchaft ihres
feſten Willens Trotz geboten.


Jetzt war die kurze Ceremonie vorüber;
Jenny war Chriſtin geworden. Mit unbe-
ſchreiblicher Innigkeit zog Reinhard die Geliebte
an ſein Herz und Thränen der reinſten Freude,
des zärtlichſten Dankes glänzten in ſeinen Au-
gen. Doch nur einen kurzen Moment ruhte
ſie, wie um ſich zu erholen und Kraft zu ge-
winnen, an ſeinem Herzen; dann flog ſie, von
einem innern Impuls getrieben, zu ihrer Mutter
ſank, bitterlich weinend, ihr in die Arme.


Es wäre vielleicht für den ruhigen Zuſchauer
ein intereſſantes Schauſpiel geweſen, hätte er wäh-
rend der Taufe in den Seelen der anweſenden
[47] Perſonen zu leſen vermocht, die alle von den
verſchiedenſten Gefühlen dabei bewegt waren.
Madame Meier zerfloß in Thränen, weil es
ihr vorkam, als trete durch die Taufe ein frem-
des Element zwiſchen ſie und ihre Tochter.
Eduard und Clara, welche ſich gegenüber ſtan-
den, waren in ſchmerzliche Gedanken vertieft,
und wenn ihre Blicke ſich zufällig trafen, wand-
ten ſie dieſelben ſchnell von einander ab, als
fürchteten ſie, die ernſte Feier durch die beredte
Sprache ihrer Augen zu entweihen. Die Pfar-
rerin dankte Gott, daß es endlich ſo weit ge-
diehen ſei, und betete inbrünſtig, der Herr
möge nun auch ferner dies Paar beſchützen und
alles Störende, das ihnen noch in der nächſten
Zukunft drohen könne, gnädig an ihnen vor-
überführen. Dieſes innere Gebet verhinderte
ſie, Thereſens Unruhe zu bemerken, die keinen
Blick von Reinhard und ſeiner Braut abwen-
dete und, faſt ebenſo bleich als dieſe, mit Ge-
[48] walt in Jenny's Seele leſen zu wollen ſchien.
Joſeph aber entging dies ängſtliche Spähen
Thereſens nicht, das ihn ebenſo wenig, als
Jenny's qualvolle Aufregung befremdete. Er
ſah finſter auf die Scene vor ſeinen Augen
als auf etwas, das er lange erwartet hatte;
nur als Reinhard nach der Taufe die Braut
in ſeine Arme ſchloß, fuhr Jener mit der Hand
nach dem Herzen, als ob er dort einen flüchti-
gen Schmerz empfinde.


Der Vater allein war vollkommen ruhig
und heiter geblieben, er freute ſich Reinhard's,
der ſich der glücklichſte Menſch unter der Sonne
zu ſein dünkte, und dies mit ſo ſtolzer, voller
Freude äußerte, daß es auf alle Übrige, Thereſe
vielleicht auſgenommen, einen wohlthuenden,
beſänftigenden Eindruck hervorbrachte und end-
lich auch über Jenny's Thränen und ihren nicht
zu verbergenden Schmerz zu ſiegen begann.


Eine Weile ließ Herr Meier den erregten
[49] Empfindungen Raum, ſich zu beruhigen, dann
war er es, der die Thüren des Zimmers öff-
nete, in den Garten hinaustrat und die Uebri-
gen aufforderte, ihn zu begleiten. Es war
drückend warm im Zimmer geworden, denn die
Sonne brannte auf die Scheiben der geſchloſſe-
nen Fenſter. Um ſo erquickender erſchien Jedem
die friſche Abendluft, welche, von dem Duft der
prächtigſten Orangenblüthen balſamiſch durch-
zogen, ihnen entgegenſtrömte. Reinhard war
einer der Erſten, die der Aufforderung des Va-
ters folgten. Er verlangte ſehnlichſt, mit ſeiner
Braut allein zu ſein, und wandte ſich mit ihr,
ſobald es thunlich war, einem entlegenern Theile
des Parkes zu. Dort angekommen, ſetzten ſie
ſich nieder unter den Schatten einer mächtigen,
von Epheu grün umrankten Kaſtanie und
ſchweigend ſah Reinhard lange mit der innig-
ſten Liebe auf Jenny, die, noch ſehr bleich und
ermattet, ſich mit geſchloſſenen Augen an ihn
II. 3
[50] lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen ſchien.
Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die
That vollbracht war, nachgelaſſen und wie na-
türlich einer großen Erſchöpfung Platz gemacht.
Als Reinhard das zarte Mädchen ſo in ſeinen
Armen hielt, das mit den geſchloſſenen Augen,
den ruhigen, regungsloſen Zügen und der weißen
Kleidung wirklich einer ſchönen Leiche glich,
fuhr ihm ſchmerzlich der Gedanke durch die
Seele, ſie könne ſterben, während er ſich von
ihr trenne, und er werde ſie niemals wieder-
ſehe. Er ſchrak zuſammen. Wäre es eine Ah-
nung? fragte er ſich, und eine faſt kindiſche
Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die
Geliebte könne gerade jetzt in ſeinen Armen ge-
ſtorben ſein. Behutſam küßte er plötzlich Jen-
ny's lange Wimpern, indem er ſie mit den
zärtlichſten Worten bat, nur einen Laut zu
ſprechen, ihm nur zu ſagen, daß ſie lebe,
daß ſie ſein Glück mit ihm fühle.


[51]

„Ja, ich lebe, mein Guſtav!“ antwortete
ſie auf ſeine Frage und ſchlug lächelnd die Au-
gen zu ihm empor. „Ich lebe! Und ob ich
Dich liebe? O! Gott weiß es, wie ich davon
in dieſer Stunde Zeugniß gegeben habe. Ich
liebe Dich wie mein Leben, wie meine Seele —
nein, mehr als meine Seele. Iſt es ſo
recht?“ fragte ſie und lehnte ſich wieder an
ihn, nachdem ſie ſich während des Sprechens
aufgerichtet und die Hände feſt ineinander ge-
faltet hatte. „Aber warum fragſt Du mich,
Guſtav, ob ich Dich liebe?“ fuhr ſie nach einer
kleinen Pauſe fort.


„Weil ich den Ton Deiner Stimme hören
wollte, mein ſüßes Leben. Du ſahſt ſo heilig,
ſo verklärt aus, daß ich fürchtete, Du könnteſt
die Erde verlaſſen und aus meinen Armen in
Deine Heimat, in den Himmel, zurückkehren,
von dem Dein Antlitz ein ſo treues Bild war.“


„Ach! hätte ich ſo hinüberſchlummern kön-
3*
[52] nen“, ſeufzte Jenny, „ſo im vollen Beſitz Dei-
ner Liebe.“


„Als ob dieſe Liebe Dir jemals fehlen
könnte“, rief Reinhard faſt entrüſtet aus.
„Siehe, Jenny, einſt gab es eine Zeit, in der
ich an Dir, an Deiner Liebe zweifelte, Dich
fliehen und vergeſſen wollte. Das iſt Alles
nicht mehr möglich, und ſeit Du durch Deine
Liebe mich zum Herrſcher über Dein Schickſal
geſetzt, haſt Du mich ja zu Deinem treueſten
Sklaven gemacht. Du weißt es“, ſagte er,
immer wärmer werdend, „ich würde vor keinem
Könige knien, kein Weib hat mich jemals zu
ſeinen Füßen geſehen, ich glaubte, nur vor
Gott mich beugen zu können — und nun knie
ich vor Dir, und bekenne Dir, daß ich Dich
fußfällig bitten könnte, mich zu lieben, mir
treu zu bleiben, wenn ich daran zweifeln könnte,
weil in Dir allein das ganze Glück meines Le-
bens beruht.“


[53]

Er war wirklich vor ihr niedergeſunken und
hielt ſie mit ſeinen Armen umfaßt, während
ſeine Augen an den ihren hingen. Jenny glaubte
vor Wonne zu vergehen und gab ſich ganz dem
Glück der Gegenwart hin, bis drohend der
Zweifel vor ihr aufſtieg, ob Reinhard ſie mit
dieſer Innigkeit lieben, ob ſeine Neigung nicht
wanken würde, wenn er einſt erfahren ſollte,
wie ſie ihn getäuſcht, um ſich ſeine Liebe zu
bewahren, um die Seine zu werden.


„Guſtav“, ſagte ſie, „vergiß dieſe Stunde
nie, wie ich dies Glück nie vergeſſen werde,
und wenn einſt ein Tag käme, an dem Du
irre an mir würdeſt, an dem ich Deiner Liebe
weniger werth ſchiene — dann Guſtav, aus
Barmherzigkeit, dann denke an dieſe Stunde,
dann laß mich Dich daran erinnern und eine
Stütze in dieſer Erinnerung bei Dir finden!“


„Was bedeutet das?“ fragte Reinhard ver-
wundert, „wie kannſt Du glauben, jemals eines
[54] andern Fürſprechers bei mir zu bedürfen, als
meiner Liebe zu Dir?“


„Das gebe Gott!“ rief Jenny. „Guſtav,
wenn Du mich einſt ſchwach und tadelnswerth
finden, wenn Du mich deshalb weniger lieben,
mich von Dir weiſen ſollteſt, dann möge Deine
Neigung mein treuer Schutz ſein; ſie möge Dir
deutlich machen, daß ich aus Liebe kein Opfer
ſcheute, daß ich Alles erdulden wollte, Alles!
Nur Dir entſagen — das konnte ich nicht, das
werde ich niemals können, dazu fehlt mir die
Kraft.“


„Ich verſtehe Dich nicht, mein Herz“, ſagte
Reinhard, vergebens einen Sinn in dieſen Re-
den ſuchend, der in irgend einem Zuſammen-
hang mit ihren Verhältniſſen ſtehen konnte,
„aber das ſchwöre ich Dir, ich werde nie an
der Lauterkeit Deiner Seele, an der Reinheit
Deines Herzens zweifeln; Du ſollſt in mir alle
Liebe finden, die Dir gebührt, und auch Nach-
[55] ſicht, wenn es möglich wäre, daß Du ſie jemals
brauchteſt; denn wie ſollte ich Dir nicht Alles
verzeihen, ſo lange Deine Liebe mir bleibt!“


„Schwöre mir das, mein Geliebter“, flehte
Jenny mit einer Angſt, als ob ſie fürchtete, er
könne ſeine Neigung ändern.


„Ich ſchwöre es Dir“, antwortete Rein-
hard und reichte Jenny ſeine rechte Hand, welche
ſie lange feſt hielt, dann leidenſchaftlich an ihre
Lippen drückte und mit den Worten: „Nun bin
ich ruhig Guſtav, nun iſt es gut“, endlich wie-
der losließ.


Eine Stunde vollkommenen Glückes verging
den Liebenden, die ihnen doppelt kurz erſchien
gegen die lange Trennung, welche ihnen bevor-
ſtand, wenn Reinhard am nächſten Morgen
ſeine Reiſe antrat. Auch hatten ſie der übri-
gen Familie ſo vollkommen vergeſſen, daß die
Pfarrerin ſelbſt ſie zu ſuchen kam, weil der
[56] alte Paſtor ihnen Lebewohl ſagen und zur Stadt
zurückkehren wollte.



Wenige Tage nach Clara's erſtem Beſuch
in Berghoff war William zurückgekehrt. Da
er den Tag ſeiner Ankunft nicht beſtimmt an-
gegeben, fand er zufällig weder ſeine Tante,
noch Clara zu Hauſe, und wurde von dem
Diener zu Herrn Horn in das Comptoir ge-
wieſen, mit dem Bemerken, Frau Commerzien-
räthin würde ſehr überraſcht ſein, ihn ſchon
zu finden, da man ſeine Ankunft heute noch
nicht erwartet hätte.


Nicht erwartet zu werden von Perſonen,
nach denen man ſich geſehnt, gehört zu den
peinlichſten Gefühlen, die uns nach längerer
Trennung von denſelben berühren können. Tau-
[57] ſendmal hatte er es ſich vorgeſtellt, während er
in ſeinem Wagen einſam und raſch dahinflog,
wie die Tante und Clara ihm entgegeneilen
und er mit dem Willkomm zugleich den Braut-
kuß von den Lippen ſeiner Couſine küſſen
werde. Statt deſſen empfing ihn ſein Onkel
zwar freundlich, aber zerſtreut durch Geſchäfte,
in denen er ihn unterbrochen hatte, und mit ſo
eiligen Fragen nach dem Befinden ſeines Va-
ters, nach ſeiner Reiſe und den Ausſichten für
das nächſte Handelsjahr in London, daß der
junge Mann wohl bemerken konnte, wie gern
ſein Onkel ihn abzufertigen wünſche. Deshalb
zog er ſich bald zurück und begab ſich in die
Zimmer der Damen, um dort die Heimkehr
derſelben zu erwarten.


Eine eigenthümliche Empfindung beſchlich
ihn, als er ſich wieder in den Räumen befand,
aus denen er, von Furcht und Hoffnung be-
wegt, geſchieden war. Gleich nach ſeiner An-
3**
[58] kunft in London hatte er der Commerzienräthin
geſchrieben und einen kurzen, herzlichen Brief
für Clara beigelegt, dem ſie ihm beantwortete,
ohne eigentlich ſeiner Werbung zu gedenken,
indem ſie ihm hauptſächlich ihre Theilnahme an
der Krankheit ſeines Vaters ausdrückte, ihr
Bedauern über ſeine plötzliche Abreiſe unter ſo
traurigen Umſtänden und die Hoffnung, daß
dennoch Alles ſich zum Beſten und nach ihren
Wünſchen fügen werde. William ſelbſt gehörte
nicht zu den Menſchen, welche es lieben, ſich
mündlich oder gar ſchriftlich über ſeine Gefühle
auszuſprechen; deshalb überraſchte ihn Clara's
Zurückhaltung nicht. Sie wußte, daß er ſie
liebe; die Tante hatte ihm die Hand ihrer Toch-
ter zugeſagt, ihm ſelbſt die Verſicherung gege-
ben, daß Clara ſeine Neigung erwidere, und
da dieſe ſich nicht dagegen erklärt hatte, las
er mit fröhlichem Vertrauen aus den wenigen
und flüchtigen Briefen, welche er von Clara
[59] erhielt, Alles, was ſein Herz begehrte. Jetzt,
wo er jeden Augenblick den leichten Tritt der
Geliebten zu hören hoffte, wo er ihrer mit leb-
hafter Ungeduld entgegen harrte, fiel es ihm
auf, wie wenig Clara bis jetzt dazu gethan,
ihn ihrer Liebe oder nur der Zuſtimmung zu
ſeinen Anſprüchen zu verſichern. Er ſetzte ſich
ſinnend auf den Platz nieder, den er ſo häufig
Clara gegenüber an ihrem Arbeitstiſche einge-
nommen hatte. Ein Nähkäſtchen, welches
Eduard in einer Verloſung gewonnen und in
William's Beiſein Clara geſchenkt hatte, er-
kannte er wieder. Es war ſchon ein wenig
abgenutzt und mußte eben gebraucht ſein, denn
es enthielt außer verſchiedenen Apparaten für
weibliche Arbeit eine Viſitenkarte des Doctor
Meier, auf welche mit Bleiſtift das Datum
eines der letzten Tage und die Worte geſchrie-
ben ſtanden: Bedauert, die Einladung der Frau
Commerzienräthin Horn für heute nicht annehmen
[60] zu können. Eine politiſche Broſchüre lag aufge-
ſchlagen neben dem Käſtchen; ſie gehörte eben-
falls dem Doctor Meier, wie die von ſeiner
Hand geſchriebenen Anmerkungen in derſelben
verriethen. Von all' jenen eleganten Kleinig-
keiten, die William ſeiner Couſine geſchenkt,
ſchien ſie keinen Gebrauch zu machen, denn ſie
ſtanden in kalter Ordnung mit andern Nippes
auf einer Etagère aufgerichtet, wo ſie nur die
Hand des Hausmädchens geſäubert und Clara's
Auge vielleicht niemals getroffen haben mochte.
Das that William wehe und machte ihn un-
muthig und nachdenkend, ſo daß er faſt erſchrak,
als er endlich die Stimme ſeiner Tante hörte.


Eilig ſtand er auf und ging den Damen
entgegen. Mit einem: „Willkommen, mein
Sohn!“ umarmte ihn die Commerzienräthin
und fügte, gegen Clara gewendet, hinzu: „Nun,
da iſt er! Ich will wie eine ächte Romanmutter,
die ich Euch immer war, den zärtlichen Erguß
[61]
Eurer Herzen nicht ſtören und erwarte Euch
erſt in einer halben Stunde in meinem Zim-
mer“, worauf ſie ſich raſch entfernte.


Es ging der ſonſt ſo klugen Frau, wie allen
ſehr förmlichen, abgemeſſenen Leuten, die, wenn
ſie einmal unbefangen und herzlich erſcheinen
wollen, gleich gänzlich aus der Rolle fallen
und nur zu leicht die ungeſchickteſten Verſtöße
begehen. Clara und William ſtanden ſich ver-
legen gegenüber, was beſonders den Letztern
peinigen mußte, da er fühlte, wie unvortheil-
haft ein Mann in ſolchem Falle erſcheint. In-
deſſen wäre es faſt Jedem an ſeiner Stelle
ebenſo ergangen, wenn er ſtatt einer zärtlichen
Braut, die ihn liebend begrüße, ſehnſüchtig nach
ihm verlange, ein Mädchen gefunden hätte, das
ihn mit ſcheuer Zurückhaltung behandelte und
offenbar eher erſchreckt, als erfreut durch ſeine
Anweſenheit war. Er fand Clara verändert,
und theils um das peinliche Schweigen zu
[62] brechen, theils um ſich wirklich über ihr leiden-
des Ausſehen zu beruhigen, fragte er freundlich:
„Warſt Du krank, mein Clärchen? Ich finde
die ſchöne Röthe Deiner Wangen ganz ver-
blichen. Und freut es Dich nicht, daß wir bei-
ſammen ſind?“


„O gewiß“, lieber Couſin!“ antwortete ſie,
„es freut mich von Herzen, daß Dein Vater
hergeſtellt iſt und Du zu uns zurückkehren
konnteſt.“


„Lieber Couſin?“ rief William ſcherzend.
„Nein, mein Clärchen, das klingt doch gar zu
couſinenmäßig für eine Braut, und ſelbſt eine
Couſine hätte mir längſt ihren Mund ſtatt der
Hand zum Willkomm reichen müſſen.“ Bei
dieſen Worten ſchloß er ſie in ſeine Arme und
drückte ſie, trotz ihres Widerſtrebens ſie herzlich
küſſend, an ſeine Bruſt. „Ah, nun lebe ich
erſt!“ ſagte er dann, „nun weiß ich erſt recht,
daß ich meine Braut wiederſehe und daß ich
[63] glücklich bin. Clara, wie freuen ſich meine
Eltern, Dich als meine Frau zu begrüßen! Mein
Vater will, wenn ſeine Kräfte es erlauben, ſelbſt
bei unſerer Hochzeit gegenwärtig ſein, und ich
habe ihm verſprochen, daß wir auf ihn warten,
wenn er ſich ein wenig mit der Erholung beei-
len will.“


„Und wie weit iſt dieſe vorgeſchritten?“
fragte Clara, froh, das Geſpräch von der bis-
herigen Richtung ablenken zu können. William
aber deutete dieſe Frage nach ſeinem Sinne
und antwortete tändelnd: „So weit, mein
Fräulein, daß Sie Ihr Hochzeitskleid beſtellen
und Ihr Reiſekoſtüm anordnen müſſen; denn
ſo lieb mir Deutſchland und ſeine Sitten ge-
worden, nach der Trauung biſt Du meine Eng-
länderin und wir ſteigen gleich in den Wagen,
um unſern Honigmonat in Hugheshall zu ver-
leben.“


In der Freude ſeines Herzens bemerkte Wil-
[64] liam nicht, daß er faſt ausſchließlich die Koſten
der Unterhaltung trug, während Clara mit
ſchlecht verhehlter Spannung ſeinen Worten
zuhörte und nur dann und wann eine gleich-
gültige Frage dazwiſchen warf.


„Kommt mein Bruder nicht bald zurück?“
unterbrach ſie den Erzählenden.


„Das iſt eine üble Sache, er hat ſich —
erſchrick nur darüber nicht — er hat ſich dort
ziemlich leichtſinnig in ein Verhältniß einge-
laſſen, welches leicht bindend werden könnte
und — aber das iſt nichts für Dein Ohr, lie-
bes Bräutchen, und ich werde noch Zeit haben,
mit Deiner Mutter darüber zu ſprechen.“


„So komme gleich“, bat Clara, beſorgt
über William's Mittheilung hinſichtlich Ferdi-
nand's, und doch froh, dem tête à tête zu ent-
gehen, da außerdem, wie William ſelbſt be-
merkte, die Mutter ſie wol ſchon erwarten
dürfte.


[65]

Natürlich war eine der erſten Fragen, welche
die Commerzienräthin an ihren Neffen richtete,
nach dem Ergehen ihres Sohnes. Dieſer hatte
die Zeit ſeiner Abweſenheit von Monat zu Mo-
nat ausgedehnt, obgleich Herr Horn ſchon lange
ſeine Heimkehr gewünſcht. Ferdinand hatte
ſich nämlich in London einer unbegrenzten Ver-
ſchwendung hingegeben und Mr. Hughes, wenn
er Anzeige von den Summen machte, welche
der junge Horn von ihm entnommen, ſchon
mehrmals darauf hingedeutet, es möchte vielleicht
gerathen ſein, den jungen Mann nach Deutſch-
land zurückzuberufen.


„Ferdinand iſt geſund“, berichtete William;
fügte aber mit einer gewiſſen Zurückhaltung
hinzu, „ich zweifle jedoch, ob er freiwillig ſo-
bald zurückkehrt, als Sie wünſchen, liebe Tante.“


„Und was, glaubſt Du, iſt es, was ihm
davon abhält? Was feſſelt ihn ſo ſehr?“


„Eine Schwäche, falls man eine Leiden-
[66] ſchaft ſo nennen darf, mit der man Nachſicht
haben müßte, wenn ſie einem würdigern Gegen-
ſtande zugewendet wäre.“


Die Commerzienräthin wechſelte die Farbe
und befahl ihrer Tochter unter dem Vorwande
irgend eines Auftrages das Zimmer zu ver-
laſſen. Dann nöthigte ſie William, ſich zu
ihr zu ſetzen, und beſchwor ihn, indem ſie ſeine
Hand ergriff, ihr raſch und unumwunden das
Aergſte zu ſagen. Die qualvolle Angſt der
Mutter bewog William, in den ſchonendſten
Aeußerungen ihr mitzutheilen, wie Ferdinand
gleich bei ſeiner Ankunft in England die Be-
kanntſchaft einer Frau von hoher Schönheit,
aber von den verworfenſten Sitten gemacht
habe, welche ſeine erklärte Geliebte geworden
ſei und ihn in ſeinem Hange zur Verſchwen-
dung beſtärke, nachdem ſie ihren frühern Ge-
liebten, Lord D., einen jungen Mann vom
Stande, ruinirt und verlaſſen hatte.“


[67]

„Sie hat Ferdinand vorgeſpiegelt“, erzählte
William, „um ſeinetwillen und nur aus Liebe
für ihn mit ihrem erſten Verehrer gebrochen
zu haben, der, wie ſie behauptet, ihr die Ehe
verſprochen hatte, und Ferdinand iſt in einer
unglücklichen Stunde ſo thöricht geweſen, ihr
ſchriftlich eine eben ſolche Zuſicherung zu geben,
die er ſpäter in Gegenwart ihrer und ſeiner
Bekannten wiederholte und auf deren Erfüllung
ſie jetzt dringt, ohne von irgend einem Ver-
gleich oder einer Abfindung hören zu wollen.“


William hielt inne, weil die zitternde, eis-
kalte Hand ſeiner Tante, welche noch immer
angſtvoll die ſeine hielt, ihm deutlich verkündete,
wie entſetzlich dieſe Nachricht ihr Herz verwunde.


„Nur weiter, weiter!“ bat ſie, als ſie das
Zaudern ihres Neffen bemerkte. „Hältſt Du es
für möglich, daß mein Sohn ehrlos genug ſein
könnte, wirklich an eine Heirath mit einer Ver-
worfenen zu denken? daß er mir, ſeiner Mut-
[68] ter, ein ſolches Weib zur Tochter aufdringen
könnte?“


„Ich hoffe“, antwortete William, „daß es
Ihren Ermahnungen gelingt, ihn davon zurück-
zubringen, was bis jetzt freilich weder meinem
Vater, noch mir möglich war.“


„Er muß zurück, noch heute werde ich es
ihm befehlen“, rief die Commerzienräthin wie
außer ſich, „er ſoll und muß gehorchen.“


„Das wird er nicht, liebſte Tante“, bemerkte
William, „und Sie würden ſich, falls er Ihnen
ſogar gehorchte, nur der Unannehmlichkeit aus-
ſetzen, dieſe läſtigen Verhältniſſe in Ihre Nähe
zu ziehen; denn ich zweifle keinen Augenblick,
daß jene Frau ihm auch gegen ſeine Erlaubniß
hieherfolgen und hier auf die Erfüllung ſeines
Wortes dringen würde. Darum haben Sie
Geduld, ſchreiben Sie ihm, daß Sie um das
Verhältniß wiſſen, daß Sie es mißbilligen; aber
vermeiden Sie eine Strenge, welche ihn leicht
[69] zu offenem Widerſtand, zu unüberlegten Schrit-
ten treiben könnte, da er ſie von Ihnen nicht
gewohnt iſt. Vielleicht wäre es ſogar beſſer,
Sie überließen es Ihrem Manne, obgleich mein
Vater mir rieth, es Ihnen zuerſt mitzutheilen.“


„Das lohne ihm Gott!“ ſagte die alte
Dame. „Denn ſieh, mein Sohn, Du biſt ja
auch mein Sohn, und Dir darf ich es beken-
nen, Du weißt es vielleicht ſelbſt, daß niemals
ein gutes Vernehmen zwiſchen Ferdinand und
ſeinem Vater ſtattfand. Männer vergeſſen es
leicht, daß ſie einſt ſelbſt jung und der Nach-
ſicht bedürftig geweſen ſind. Der Commerzien-
rath wenigſtens ſcheint ſich deſſen, Ferdinand
gegenüber, nicht mehr zu erinnern und“ — fuhr
ſie fort, plötzlich umgeſtimmt durch den Gedan-
ken, ihr Liebling Ferdinand könne irgendwie
den Tadel ſeines Vaters auf ſich ziehen — „viel-
leicht iſt es mit Ferdinand ſo ſchlimm nicht,
als wir glauben. Deshalb verſprich mir, ſei-
[70] nem Vater davon nichts zu ſagen, bis ich ſelbſt
eine Antwort von meinem Sohne erhalten habe
und Dich dazu ermächtigen werde.“


William ſagte das zu und ſeine Tante er-
ſuchte ihn, ſie allein zu laſſen, da ſeine Mit-
theilung ſie unangenehm berührt habe und ſie
ſich ſammeln wolle, um bei der Mittagstafel
ihrem Manne keine Beſorgniß zu geben. Aber
die Kränkung, die ihr Stolz erlitten hatte, der
Schreck und die Unruhe, die ſie empfunden,
waren ſo lebhaft geweſen, daß ihre gewohnte
Selbſtbeherrſchung ſie verließ und ſie von ner-
vöſen Zufällen ergriffen wurde, welche ſie nö-
thigten, ein paar Tage ihr Zimmer zu hüten
und ihr Clara's Pflege und Wartung unent-
behrlich machten.


Dadurch bekam William ſeine Braut — denn
als ſolche betrachtete er Clara — nur wenig
zu ſehen. Trotzdem mußte ihm ihr Betragen
auffallen, das offenbar zurückhaltender und be-
[71]
fangener war, als ſie ſich ihm jemals gezeigt
hatte. Er konnte nicht begreifen, warum ſein
Onkel kein Wort mit ihm über dies Verhältniß
ſpreche; er ſah, daß man es wie ein Geheimniß
behandelt haben müſſe, und obgleich dieſes ge-
wiſſermaßen durch die Umſtände entſchuldigt
werden oder ſelbſt geboten ſein konnte, fand er
die ſtrenge Beobachtung der Etiquette unter ſo
nahen Verwandten, die alle einig und glücklich
über dieſe Verbindung waren, übertrieben. Er
nahm ſich vor, ſobald die Commerzienräthin
wieder wohl und ſichtbar ſein würde, auf die
Bekanntmachung ſeiner Verlobung mit Clara
zu dringen, weil ihm die jetzige Stellung höchſt
unbequem war und er hoffte, die ungewöhnliche
Schüchternheit ſeiner Braut werde ſich von
ſelbſt geben, wenn ihr beiderſeitiges Verhältniß
zu einander kein Geheimniß mehr ſei.


Am zweiten Abende hatte ſich der Zuſtand
von Madame Horn ſo weit gebeſſert, daß Clara
[72] ſie auf ihren ausdrücklichen Befehl verlaſſen
mußte, um ſich ihrem Bräutigam nicht unnö-
thig zu entziehen, der, innig erfreut, ſie wieder
zu haben, ihr den Vorſchlag machte, mit ihm
nach Berghoff zu fahren. Er wünſchte, Clara
möge ſich nach den in der Krankenſtube ihrer
Mutter verlebten Tagen in freier Luft erholen
und zugleich mit ihm die Meier'ſche Familie
beſuchen, von der er noch Niemand geſehen
hatte. Clara lehnte aber Beides ab und bat
William, ihr in ihr Zimmer zu folgen, da ſie
ihn allein und gleich ſprechen müſſe.


Als ſie ſich dort niedergelaſſen hatte, be-
gann Clara: „Ich weiß wirklich nicht, lieber
William, wie ich es machen ſoll, Dir zu ſagen,
was Du doch erfahren mußt. Du biſt mir
mit ſo herzlichem Vertrauen entgegengekom-
men, ſo gut, ſo unbeſchreiblich freundlich gegen
mich geweſen, daß ich Dir nie genug danken
kann.“ Sie ſtockte; William ſah ſie verwundert
[73] an und ſagte: „Iſt denn das Verſprechen, die
Meine zu werden, nicht der ſchönſte Dank, den
meine Liebe von Dir begehrt?“


„Das iſt es eben“, fiel Clara ein, „was
mich beunruhigt. Glaube mir, William, ich
erkenne Deine treue Anhänglichkeit mit tiefer
Beſchämung, ich achte Dich von Herzen.“


„Aber Du liebſt mich nicht“, rief William,
„ſage es kurz, Clara. Du ſchlägſt meine Hand
aus, weil ich Dir gleichgültig, oder wol gar
zuwider bin.“


„Nein, das nicht; gewiß, das nicht. Ich
habe Dich lieb, William, von Herzen lieb, ich
bin überzeugt, daß einer Frau ein ſchönes Loos
an Deiner Seite werden muß — aber ich
kann Deine Frau nicht werden.“


„So liebſt Du einen Andern?“ fragte
William heftig und ſtand auf.


Ein leiſes, kaum hörbares Ja von Clara's
Lippen gab ihm die Antwort, die ihn tief zu
II. 4
[74] betrüben ſchien; denn er blieb lange ſchweigend
vor Clara ſtehen und fragte endlich, mühſam
ſeinen Schmerz bekämpfend: „Und weiß der
Glückliche, daß Du ihn liebſt? Verdient er ein
Glück, das er mir raubte?“


„Er weiß es, William“, antwortete Clara,
„aber glücklich iſt er nicht, ſo wenig als ich;
denn es iſt keine Vereinigung für uns möglich.“


Dieſe Aeußerung enthüllte dem Erſtaunten
plötzlich ein Geheimniß, von deſſen Daſein er
nicht die leiſeſte Ahnung gehabt hatte. Nur
Eduard konnte es ſein, den ſeine Couſine liebte,
durch den er ſeine Braut verlieren ſollte. Das
ſchmerzte ihn um ſo tiefer, und im Tone des
Vorwurfs fragte er: „Und das erfahre ich
erſt jetzt, nachdem ich ſeit lange an Deine Liebe
geglaubt, auf Deine Hand gerechnet hatte?
Wie durfteſt Du ſo an mir handeln? Wie
konnte Deine Mutter mir ſo zuverſichtlich ihr
Wort für Dich geben?“


[75]

„Vergib mir, William“, bat Clara, „wenn
ich Dir verſchwieg, was wir erſt vor wenigen
Wochen uns ſelbſt geſtanden, um es für ewig
vergeſſen zu müſſen. Niemand weiß davon,
und von Dir, von Deiner Großmuth erflehe
ich es als die höchſte Gunſt, daß Du ſelbſt dem
Anſpruche an meine Hand entſagſt und mir
beiſtehſt, die Verzeihung meiner Mutter zu er-
langen. Sie wird unerbittlich darauf dringen,
daß ich ihr Wort löſe und Dir meine Hand
gebe, die doch ohne Werth für Dich ſein muß,
nun Du Alles weißt.“


William hatte ſich ruhig wieder niedergeſetzt
und ſah düſter ſinnend vor ſich nieder. Die
widerſprechendſten Gefühle wogten in ſeiner
Bruſt. Ein paarmal war es, als ob er ſeinen
Gedanken Worte geben wolle, dann aber unter-
drückte er ſie wieder, wie wenn er das rechte
noch nicht gefunden hätte, bis er endlich auf-
ſtand, Clara die Hand reichte, und ſagte: „Du
4*
[76] ſiehſt wohl, daß ich darauf nicht vorbereitet
war, mich nicht darein finden kann; denn es
fällt ſchwer, ſo plötzlich von ſeinen liebſten Hoff-
nungen zu ſcheiden. Darum fordere heute kei-
nen Entſchluß, kein Verſprechen von mir; nur
darauf nimm mein Wort, Niemand, auch Deine
Mutter nicht, ſoll Dich zu einem Schritte zwin-
gen, der mich nicht glücklich machen kann, wenn
Du ihn nicht freiwillig thuſt.“


„Guter, edler Mann!“ rief Clara dem
Enteilenden nach, der ſie nach ſeinen letzten
Worten verlaſſen hatte, um Eduard aufzuſuchen
und ſich mit dieſem zu erklären, wonach ihn
lebhaft verlangte.


Er traf den Doctor glücklicherweiſe in der
Stadt und zu Hauſe, wo er in den jetzt ein-
ſamen Gängen des Gartens umherging und
ſchnell William entgegeneilte. Beide junge
Männer reichten ſich die Hände zum gewohnten
Gruß, aber plötzlich zog Hughes ſeine Hand
[77] zurück und Eduard, die Abſichtlichkeit dieſer
Handlung bemerkend, fragte, während eine glü-
hende Röthe ſein Geſicht überflog: „Sie kom-
men von Clara?“


„Ich komme von ihr und weiß Alles“, ant-
wortete der Andere. „Was haben Sie mir
darauf zu ſagen?“


Einen Augenblick bedurfte Eduard, um ſich
zu ſammeln, dann ſprach er mit ſicherer Stimme:
„Wir Beide, denke ich, können auch in dieſer
Angelegenheit, die uns gleich nahe berührt, offen
zu Werke gehen, weil ſie dem Einen ſo heilig
iſt, wie dem Andern. Es wäre unwahr, wenn
ich mich einer Großmuth rühmen wollte, die
ich nicht in mir fühlte. Ich liebe Clara, das
wiſſen Sie, und würde mein Leben daran ge-
ſetzt haben, ſie zu beſitzen, wäre es möglich für
mich geweſen, ohne meine Ehre zu opfern.
Nur nachdem ich alles Mögliche verſucht, ver-
[78] geblich verſucht habe, fügte ich mich widerſtre-
bend in den Gedanken, Clara zu entſagen.“


„Und das erzählen Sie mir? mir, deſſen
Anſprüche an Clara Sie kannten, mir, der Sie
für ſeinen Freund hielt?“


„William, mir ahnte, daß Clara Ihnen
beſtimmt und theuer ſei, ich wußte faſt gewiß,
daß meine Hoffnung ſich nur von meinen Wün-
ſchen täuſchen ließ, aber dennoch ſträubte ich
vergebens gegen eine Neigung, die Clara errieth
und theilte, ſo ſehr ich ſie ihr zu verbergen
ſtrebte. Der Kampf um Liebe, um ein Weib
iſt ein unerbittlicher Kampf, ein Kampf auf
Leben und Tod. Es gibt kein Drittes. Und
wenn zwei Unglückliche auf dem Meere ſchiff-
brüchig umhergetrieben werden, wenn ein letztes
Bret Beide von ſicherm Verderben trennt,
wenn Einer untergehen muß, werden ſie Den
verdammen, der, um ſich zu retten, den Andern
im unwillkürlichen Trieb der Selbſterhaltung
[79] hinunterſtößt, auf die Gefahr hin, ihn ſinken
zu ſehen?“


„Ihr Gleichniß mag recht ſchön ſein“, ſagte
William höhniſch; „ich bin nur leider nicht in
der Stimmung, Ihre poetiſchen Produktionen
zu bewundern, und muß Sie deshalb bitten,
mir unumwunden zu erklären, wie Sie in Be-
treff meiner Couſine jetzt zu handeln gedenken.“
Eduard aber bezwang ſeine leicht aufbrauſende
Heftigkeit und antwortete ruhig: „Ich handle,
wie Clara es von mir gefordert, wie ich es
vor mir ſelbſt verantworten kann, und bitte
Sie, zu bemerken, daß nur die Rückſicht auf
Ihr gekränktes Gefühl und auf die Anſprüche,
welche Sie an Clara zu haben glauben, mich
zu irgend einer Erklärung veranlaßt, die Sie
in dieſem Tone von mir zu fordern nicht be-
rechtigt ſind. Hören Sie mich ruhig an. Ich
wollte, nachdem ich jede Hoffnung verloren,
mir Clara zu gewinnen, und ihr im erſten
[80] Schmerz darüber meine Liebe geſtanden hatte,
von ihr ſcheiden; ich ſagte ihr das ſchriftlich.
Sie ſelbſt befahl mir zu bleiben, obgleich auch
ſie von der Hoffnungsloſigkeit unſerer Liebe
vollkommen überzeugt war. Ich blieb, weil ſie
es wünſchte, weil ſie das Unglück, das uns ge-
troffen, leichter zu tragen hoffte, wenn wir uns
nicht plötzlich und gewaltſam trennten. Seit-
dem habe ich ſie nur ſelten und niemals allein
geſprochen; ich habe mir keine Annäherung er-
laubt, ich wage auch nicht, den kleinſten An-
ſpruch an Clara zu machen, weil ich leider ihr
nichts bieten, nichts ſein darf, was mich dazu
ermächtigte. Ich weiß, man wird darauf drin-
gen, daß Clara ſich verheirathe. Schwer wird
mir der Gedanke“, ſagte er, und ſeine Feſtig-
keit wankte ſo ſehr, daß ſeine Stimme zitterte,
„ſchwer wird es mir, die Geliebte als das Weib
eines Andern mir vorzuſtellen, ſehr ſchwer!“ Dann
ſammelte er ſich wieder, reichte William die
[81]
Hand und ſagte: „Aber meine Hand darauf,
ich werde ſie ruhiger und lieber in Ihren Ar-
men, als in denen jedes andern Mannes ſehen,
denn auch Sie ſind mir werth und Sie verdie-
nen ein Mädchen wie Clara, weil Sie ſie
achten.“


William war von Eduard's ſichtbarem
Schmerz und ſeiner Offenheit überwunden. Er
ſchlug in die dargebotene Rechte und ſagte:
„Auch ich liebe Clara, aber gerade darum möchte
ich nicht, daß ſie mir mit Widerſtreben folgt,
ich will nicht, daß der Gedanke, ſie hätte doch
vielleicht die Ihre und mit Ihnen glücklicher
werden können, wenn ich nicht dazwiſchen ge-
treten wäre, jemals von meiner Frau gedacht
werden ſoll. Darum überlegen Sie ſelbſt: Gibt
es eine Möglichkeit, ein Mittel, durch das Sie
Clara's Hand erlangen, ſo trete ich zurück und
Sie iſt die Ihre.“


„Ich habe keine Ausſicht, keine“, antwor-
4**
[82] tete Eduard ſchmerzlich, aber beſtimmt, „als die
Emancipation unſers Volkes, die noch in wei-
ter Ferne liegt, und auch dann ſtehen mir die
Anſichten von Clara's Eltern entgegen. Clara
ſelbſt hat mir jede Hoffnung genommen und
glaubt an keine.“


„Dann iſt ſie mein!“ rief William mit
einer Freude, welche deutlich hervorbrach, obgleich
er ſie aus Zartgefühl vor dem Freunde zu ver-
bergen trachtete.


Eduard ſaß in ſich gekehrt und wortlos,
und ſein Freund ehrte, ebenfalls ſchweigend,
dieſe Todtenfeier eines innigen Gefühls. So
verging eine lange Zeit, bis William ſich erhob
und, indem er ſich zum Fortgehen anſchickte,
Eduard Lebewohl ſagte.


„Sie gehen ſchon?“ fragte dieſer, wie aus
ſchwerem Traume erwachend, und ſah, nach-
dem ſie ſich mit einem Händedruck getrennt,
dem raſch Dahineilenden lange nach. Dann,
[83] als er ihn aus dem Geſichte verloren hatte,
rief er: „Er geht zu ſeiner Braut.“ Wie ein
Todesſtoß zuckte die Gewißheit durch ſein Herz
und ein paar ſchwere Tropfen fielen aus ſeinen
Augen. Sie galten der verlornen Geliebten.
„Seit wie lange netzen ſolche Thränen die
Erde“, ſagte er, ſchmerzlich über ſich ſelbſt lä-
chelnd, „und noch immer will der Keim der
Freiheit nicht Wurzel faſſen, der doch zum
Baume erwachſen wird, unter dem auch wir
einſt Schatten finden müſſen.“



Nachdem die Commerzienräthin ſich einiger-
maßen erholt hatte, war es nur der Gedanke
an Ferdinand, der ſie unabläſſig beſchäftigte.
Sie ſchrieb ihm, daß ſie durch ihren Schwager
und durch William von dem Grunde unterrich-
tet ſei, der ihn abhalte, nach Deutſchland zurück-
[84] zukehren. Sie beſchwor ihn, ſich loszureißen,
kein Opfer an Geld zu achten, um ſich von
einem Weibe zu befreien, deſſen einzige Abſicht
ihm nicht verborgen ſein könne, und war un-
vorſichtig genug, ihn zu dieſem Zweck eine be-
deutende Summe aus ihrem Privatvermögen
zu übergeben, damit ſein Vater gar nichts von
dieſem Verhältniß zu erfahren brauche. Was
die aufrichtige Beſorgniß einer Mutter, die
Furcht vor öffentlicher Beſchimpfung einer ſo
ſtolzen Frau nur einzugeben vermochten, das
ſtellte ſie ihm in den beredteſten Worten vor und
harrte angſtvoll und ungeduldig ſeiner Antwort.
Doch der erſte Termin, der ſie bringen konnte,
verging und kein Brief von Ferdinand erſchien.
In dieſer tödtlichen Ungewißheit traten alle
übrigen Angelegenheiten in ihren Augen zurück
und ſelbſt von Clara's Verlobung war gar
nicht die Rede. Die Commerzienräthin nahm
dies Verhältniß als längſt entſchieden an; ſie
[85] ſah William und Clara oft und freundlich bei-
ſammen, das genügte ihr, und jetzt an irgend
eine geſellſchaftliche Rückſicht wie die Bekannt-
machung dieſer Verbindung zu denken, konnte
ſie nicht geſtimmt ſein.


William aber war es gerade ſo genehm.
Er hätte Clara dem Freunde abzutreten ver-
mocht, wenn ſie dadurch glücklich geworden
wäre. Da dies nicht möglich war, dachte er
nur daran, ſie dauernd und feſt an ſich zu bin-
den. Deshalb wollte er Clara durch keine
raſchen Schritte beunruhigen; er ſprach nicht
von ſeiner Liebe, aber ſein ſchonendes Betragen,
ſeine zarten Rückſichten thaten das um ſo deut-
licher. Unbefangen brauchte er das Recht, wel-
ches ſein doppeltes Verhältniß zu ihr ihm gab,
faſt unausgeſetzt in ihrer Nähe zu ſein. Er
las mit ihr, begleitete ſie auf ihren Spazier-
gängen, und ſie konnte es ſich nicht verhehlen,
daß William's Unterhaltung in ihrer jetzigen
[86] Lage eine Zerſtreuung für ſie ſei und ſie ab-
halte, gänzlich in den Gram über Eduard's
Verluſt zu verſinken. Eduard hatte ſie faſt
täglich, aber nur flüchtig in dem Zimmer ihrer
Mutter geſehen, deren Zuſtand ſeine Behand-
lung nöthig machte. Außerdem hatte er es ver-
mieden, ſie zu beſuchen, und der Aufenthalt
ſeiner Familie in Berghoff bot ihm eine Ent-
ſchuldigung bei der Commerzienräthin, welche
wuẞte, daẞ er die Abende faſt ausſchlieẞlich dort
verbringe, während zugleich das oft wiederkeh-
rende Unwohlſein ihrer Mutter Clara abhielt,
nach Berghoff zu fahren, und ſie auf die klei-
nern Promenaden in William's Begleitung be-
ſchränkte.


So waren einige Wochen vergangen, als
William, der Clara in ziemlich heiterer Stim-
mung ſah, ſich entſchloß, endlich mit ihr über
ſeine Unterredung mit Eduard zu ſprechen. „Ich
bin Dir noch Aufklärung über mein Verhältniß
[87] zu Dir und zu Eduard ſchuldig, liebe Clara“,
ſagte er. „Daß man ſich nicht ohne Kampf
entſchließt, ein Glück, wie Deine Liebe, hinzuge-
ben, oder auf Deinen Beſitz zu verzichten, das
glaubſt Du mir, denn jetzt am wenigſten würde
ich Dir ſchmeicheln. Doch hätte ich zu entſagen
vermocht, um Dich glücklich mit Eduard zu
wiſſen, den Du liebſt, und ich habe das Eduard
geſagt.“


Clara reichte ihm bewegt die Hand und
ſagte: „Du kannſt mir doch nicht helfen, ſo
edel Du auch biſt.“


„Aber lindern kann ich, tröſten“, fiel er
ihr ins Wort, „und das vergönne mir. Eduard
fühlt wie ich, daß Deine Mutter nicht darein
willigen würde, Dich unvermählt zu laſſen,
auch wenn ich ganz auf Deine Hand verzichtet
hätte. Und glaube mir, kein Mann, den man
für Dich wählen könnte, wird Dich mehr lie-
ben, als ich, Niemand mit größerm Vertrauen
[88] die Zeit abwarten, bis Dein gerechter Schmerz
ſich gemildert hat und Du im Stande ſein
wirſt, wieder an ein Glück zu glauben, das
Dir jetzt unmöglich ſcheint.“


Clara ſchüttelte ſchweigend den Kopf, aber
William that, als ob er es nicht bemerke, und
fuhr nur noch freundlicher fort: „Ich komme
Dir vielleicht kalt vor und Du fürchteſt Dich
vor dieſer Ruhe; aber ſie kommt aus der Zu-
verſicht, daß Du Dich in die unabwendbare
Trennung von Eduard fügen und daß es mei-
ner treuen Liebe gelingen müſſe, Dich wieder
zu erheitern, Dich froh zu ſehen in dem Be-
wußtſein, das höchſte Gut eines Mannes, mein
größtes Glück zu ſein.“ Dann ſchilderte er
Clara, wie ſehnſüchtig ſeine Mutter in ihr die
Tochter erwarte, die der Himmel ihr ſelbſt ver-
weigert habe; wie man ſie lieben und mit off-
nen Armen im Hauſe ſeiner Eltern empfangen
werde, und endete ſcherzend mit der Bemerkung:
[89] „Du kannſt nicht wollen, daß ich jetzt, nachdem
ich den Eltern die Verſicherung gegeben habe,
in Dir den größten Schatz des Continents mit
nach Hauſe zu bringen, allein zurückkehren ſoll
und ſagen: Ich war ein eitler Thor, als ich
von ihrer Liebe ſprach, ſie hat mich nicht gemocht.“


Unwillkürlich lächelte Clara; da konnte Wil-
liam ſich nicht länger halten, mit aller Fröh-
lichkeit eines Liebenden ſprang er auf, nahm ſie
in ſeine Arme, küßte ſie und rief: „Mag nun
daraus entſtehen, was da will, das ertrage ein
Anderer, wenn man ſich Monate lang für den
glücklichſten Bräutigam gehalten hat, mit einem-
mal wieder zum Couſin zu werden. Einen
Kuß habe ich glücklich geſtohlen, nun will ich
wieder geduldig warten und ruhig Deinen Zorn
ertragen.“


Und zornig war Clara wirklich über einen
Ausbruch, der in ſo grellem Widerſpruch zu
ſeinen Worten ſtand, daß ſie ihn verließ, ohne
[90] ein Wort darüber zu ſprechen. Indeſſen blieb
dieſe Unterredung nicht ohne Wirkung. Ver-
ſtändig und ruhig, wie Clara es war, konnte
ſie ſich nicht leugnen, daß William recht hatte,
als er behauptete, ihre Mutter werde auf eine
andere Heirath beſtehen, wenn es ihr ſelbſt ge-
länge, ſich jetzt von der Verbindung mit ihrem
Couſin zu befreien, deſſen Betragen ihren auf-
richtigen Dank verdiente. Sie ſah ein, daß ſie
und Eduard der Wahrheit gemäß keine Ausſicht
oder Hoffnung hätten; aber daß Eduard es
William zugeſtanden, verletzte ſie, ohne daß ſie
wußte weshalb. Sie konnte an Eduard's Treue,
an ſeinen Schmerz über ihre Trennung nicht
zweifeln; ſie begriff, es ſei ehrenwerth, daß er
ſie jetzt vermeide — und doch war ſie unzufrieden
mit ihm, mit William und mit ſich, obgleich
ſie fühlte, daß Keiner von Allen anders han-
deln konnte, als er es that. Der Gedanke, von
Eduard getrennt zu ſein, faßte tief Wurzel in
[91]
ihr, ohne daß dadurch William ihr näher rückte,
der ſich in liebender Hingebung gleich blieb und
ſein Ziel keinen Augenblick aus dem Geſichte
verlor. Er ſtrebte, die Neigung der Geliebten
zu gewinnen, und hatte zugleich die ſchwere
Pflicht, ſeine Tante über ſein eigenthümliches
Verhältniß zu Clara zu täuſchen, was um ſo
nöthiger war, als die Commerzienräthin noch
immer vergebens auf Antwort von Ferdinand
harrte und deshalb in der gereizteſten Stim-
mung von der Welt war.


Sie hatte ihrem Sohne zu wiederholten
Malen geſchrieben, ſich endlich an ihren Schwa-
ger gewendet und von ihm erfahren, wie Fer-
dinand gleich nach Empfang ihres Briefes mit
ſeiner Geliebten verreiſt ſei, ohne irgend eine
Nachricht zu hinterlaſſen, wohin er gehe oder
wohin man ihm die Briefe von Hauſe nach-
ſenden ſolle. Es ſcheint, bemerkte ihr Schwa-
ger ſchließlich, als ob er aufs Neue in den
[92] Beſitz einer größern Summe gekommen ſei,
welche ihm dieſe Reiſe möglich macht. Die
Commerzienräthin war in der tödtlichſten Un-
ruhe, ſie entſchloß ſich, ihrem Manne das Ge-
heimniß zu enthüllen, und die unangenehme
Scene, welche die Heftigkeit beider Theile her-
vorrief, warf die Mutter aufs Neue nieder.
Da langte endlich ein Brief von Ferdinand an,
aber er war nicht an die Eltern, ſondern an
William gerichtet und lautete wie folgt:


„Du haſt Dich der Mühe unterzogen, ohne
daß ich darum bat, meiner Mutter eine Mit-
theilung zu machen, die ich noch geheim zu hal-
ten wünſchte. Es ſcheint, daß dergleichen Com-
miſſionen Dir Vergnügen machen, und Du
wirſt es deshalb entſchuldigen, wenn ich Dich
erſuche, jetzt meine Eltern davon zu unterrich-
ten, daß ich mich in der vorigen Woche verhei-
rathet habe und mit meiner Frau nach Paris
gegangen bin. Ich werde dort bleiben, ſo lange
[93] die Summe, welche meine Mutter mir geſchenkt,
ausreicht, in Paris in der Weiſe zu leben, an
welche meine Frau gewöhnt iſt. Danke meiner
Mutter, daß ſie, wie immer meine Wünſche er-
rathend, auch jetzt meiner Bitte zuvorkam und
mir die Mittel gab, ſchneller zur Ausführung
eines Entſchluſſes zu ſchreiten, der unwiderruflich
war, weil er mein Glück ſichert und zugleich
die Erfüllung einer Pflicht iſt gegen eine Frau,
die aus Liebe für mich eine glänzende Zukunft
aufgegeben. Jeder Verſuch, dieſe Verbindung
zu löſen, würde vergebens ſein, da ſie durchaus
nach allen Geſetzen gültig vollzogen iſt, und
würde nur die Folge haben, daß ich mit mei-
ner Frau früher nach Hauſe käme, um die nö-
thigen Schritte dagegen zu thun, obgleich, wie
meine Mutter in ihrem Vorurtheil ſchreibt, die
Anweſenheit meiner Frau, welche Lord D. zu
ſeiner Gemahlin erkoren hatte, ein Schimpf für
unſere Familie ſein würde. Darüber will ich
[94] nicht ſtreiten und erſuche Dich nochmals, meinen
Auftrag auszurichten. Meinen nähern Freun-
den habe ich es ſelbſt gemeldet. Meine Frau
und ich wünſchen Dir und Clara bald ein
Glück, wie wir es genießen.“


William war erſchrocken, obgleich der thö-
richte Entſchluß ihm nicht unerwartet kam. Er
wußte, welchen Eindruck dieſe Neuigkeit auf
ſeine Tante hervorbringen mußte, aber es war
nicht möglich, ſie ihr zu verheimlichen, da Fer-
dinand zugleich an ſeine Freunde geſchrieben
und damit dies Verhältniß zum Stadtgeſpräch
gemacht hatte.


Die Familie war in der höchſten Aufregung.
Der Commerzienrath wüthete und tobte gegen
ſeine Frau, deren unglückliche Verblendung den
Sohn verzogen und, wie dieſer jetzt ſelbſt ge-
ſtand, ihm die Mittel zur Ausführung dieſer
wahnſinnigen Heirath gegeben hatte. Clara
weinte über das Loos, das ihr Bruder ſich be-
[95] reitete, und mußte doch ihre ganze Aufmerkſam-
keit auf ihre Mutter richten, die dieſer Brief
vollkommen vernichtet hatte. Die Commerzien-
räthin verſicherte, dieſen Schimpf nicht überleben
zu können; ſie gab ſich einer ſo ungemeſſenen
Verzweiflung hin, daß Eduard ſelbſt unruhig
über ihren Zuſtand wurde. Er bat deshalb
William und Clara, die Mutter auf irgend
eine Weiſe zu beſänftigen, da bei einer Frau
ihres Alters und ihrer Conſtitution die Nerven-
zufälle, welche ſich ſeit einiger Zeit immer wie-
derholten und jetzt bedeutend zugenommen hat-
ten, leicht einen traurigen Ausgang nehmen
könnten. Anfänglich war jede Vorſtellung, jeder
Einwand verloren, und erſt nach einigen Tagen
gelang es William, der leidenſchaftlichen Frau
einen Troſt zu geben, mit der Hindeutung, wie
Clara's Liebe und Sorgfalt, die ſich jetzt im
ſchönſten Lichte zeige, wol ein Glück ſei, das
die Mutter nicht verkennen dürfe. Dadurch
[96] bekamen die Ideen der Commerzienräthin plötz-
lich eine andere Wendung.


„Ja, Du haſt recht, mein Sohn“, ſagte
ſie, „an Clara habe ich mich ſchwer verſündigt,
das Kind habe ich nicht genug geliebt. Aber
jetzt werde ich vergelten; ſie ſoll jetzt mein
Stolz, mein Alles ſein, und jetzt gleich ſoll
Eure Verlobung gefeiert werden, damit die
Leute nicht glauben, die Schande, die mein
Sohn über mich bringt, habe mich ganz nieder-
gebeugt. Sie ſollen ſehen, daß mir in Clara
und Dir noch große Freude geblieben iſt, und
daß ich weder ſo ſchwach, noch ſo alt bin, mich
von irgend einem Unglück beugen zu laſſen.
Hole mir Clara, ich will gleich mit ihr Rück-
ſprache nehmen.“


Das hatte William nicht beabſichtigt und
es ſetzte ihn in Verlegenheit, um ſo mehr, als
Clara es leicht für ein planmäßiges Werk von
ſeiner Seite halten konnte. Er verſuchte alſo,
[97] der Tante zu beweiſen, wie ein zu gleichgülti-
ges Verhalten bei der Nachricht von Ferdinand's
unerwarteter Vermählung mißdeutet werden
könne, und beredete ſie, nicht jetzt, während ſie
noch leidend und Clara ſo betrübt über ihren
Bruder ſei, ein Feſt zu feiern, das mit voller
Freudigkeit begangen werden müſſe. Dadurch
erlangte er einen kurzen Aufſchub. Offenbar
hatte aber die Ausſicht, welche ihr William in
Clara's Glück eröffnete, eine faſt wunderbare
Wirkung auf ſeine Tante gehabt. Sie erklärte,
ſich wohler zu fühlen, erſtand von ihrem Lager
und ſöhnte ſich mit ihrem Manne aus, um ſich
mit ihm über Clara's Dotirung auszuſprechen,
die ſie jetzt ebenſo ſehr zu erhöhen wünſchte,
als ſie früher auf Beſchränkung derſelben zu
Ferdinand's Gunſten gedrungen hatte. Dies
Alles entging Clara nicht, und in ängſtlicher
Erwartung ſah ſie der Stunde entgegen, in der
dieſer Gegenſtand endlich zwiſchen ihr und ihrer
II. 5
[98] Mutter zur Sprache kommen mußte, und auch
dieſe blieb nicht aus.


Eines Morgens ließ die Commerzienräthin
Clara früher als gewöhnlich rufen. Sie hatte
ihre Krankenſtube verlaſſen und ſaß in einer
gewiſſen feierlichen Toilette auf einem Sopha.
Freundlich reichte ſie der Tochter die Hand, nöthigte
ſie, ſich zu ihr zu ſetzen, und ſagte, nachdem
ſie einen Augenblick über den Anfang der Un-
terhaltung nachgedacht hatte: „Mein Kind, es
iſt zwiſchen uns nicht immer ſo geweſen, wie
es ſein ſollte; ich habe Dich verkannt, Deine
Sanftmuth für Schwäche gehalten und Dir
auch ſonſt in meinem Herzen Unrecht gethan,
weil ich alle Plane für das Anſehen unſers
Hauſes nur auf Ferdinand baſirte. Er hat
meine Hoffnungen betrogen — ich habe keinen
Sohn mehr.“


Ein nervöſes Zittern fuhr trotz der Mühe,
mit der ſie es verbergen wollte, ſichtbar durch
[99] ihre Glieder. Clara bat ſie, ſich zu ſchonen;
ſie verſuchte ein Wort zu Gunſten ihres Bru-
ders einzulegen und der Mutter vorzuſtellen,
wie ſeine unbeſonnene Handlung vielleicht we-
niger traurig in ihren Folgen ſein würde, als
man glaube.


Die Commerzienräthin ließ ſie aber nicht
enden. „Das verſtehſt Du nicht“, ſagte ſie hef-
tig; „oder kann irgend Etwas die Schmach ver-
tilgen, daß ein Weib wie jenes den Namen un-
ſerer Familie, meinen Namen trägt? Fürchte
nicht, daß Ferdinand Mangel leiden, daß Dein
Vater ihn enterben könne, wie er neulich ge-
droht. Er ſoll mehr haben, als er bedarf, mehr,
als Lord D. dem Weibe geboten hätte, unter
der einzigen Bedingung, daß er unſern Namen
ablegt, daß er nie nach Deutſchland kommt,
daß ich nie von ihm und ſeinem Weibe höre.
Für mich iſt Ferdinand todt, ich habe keinen
Sohn mehr“, wiederholte ſie nochmals.


5*
[100]

Während dieſer Rede war ſie immer hefti-
ger geworden und brach zuletzt in krampfhaftes
Weinen aus, das ſie zu erleichtern ſchien, ſodaß
ſie bald darauf fortfuhr. „Auf Dich allein iſt
nun meine Zukunft angewieſen. Deine Söhne
ſollen die Erben dieſes Hauſes werden und Wil-
liam hat mir verſprechen müſſen, daß ſie un-
ſern Namen neben dem Euren führen ſollen.
Morgen muß der Ehecontrakt aufgenommen
werden und ſehr bald Eure Hochzeit ſein. Ich
würde nicht Ruhe haben, ehe ich die einzige
Angelegenheit beendet, die mir auf Erden noch
Freude machen kann, und daß Du mir dieſe
letzte Freude machſt, das wird Dir Segen brin-
gen. Gott gebe, Du würdeſt eine glücklichere
Mutter, als ich.“


Ganz erſchöpft fiel ſie in die Kiſſen des
Sophas zurück und ſprachlos ſtand Clara an
ihrer Seite, bemüht, ſie durch den Geruch ſtärkender
Eſſenzen zu beleben. Sie hatte ſich vorgenom-
[101]
men, ihrer Mutter zu ſagen, daß ſie William
nicht liebe und ihn nicht heirathen könne, und
hatte ſich gefaßt gemacht, den heftigen Zorn
derſelben mit Ergebung zu tragen. Jetzt aber,
als die Mutter vor ihr lag, in der gewohnten
prächtigen Kleidung, die ſtolzen Züge ganz ge-
brochen von der Macht des Leidens, fehlte ihr
der Muth, ſie durch eine entſchiedene Weigerung
noch mehr zu betrüben. Nur um Aufſchub
wollte ſie fürs Erſte bitten und that es, indem
ſie der Commerzienräthin vorſtellte, wie ihr lei-
dender Zuſtand keine Aufregung geſtatte und
wie William gern bereit ſein würde, zu war-
ten, bis die Mutter wieder ganz wohl und
kräftig ſei. Aber auch davon wollte dieſe nichts
hören, und als in dieſem Moment Eduard in
das Zimmer trat, um ſeinen täglichen Morgen-
beſuch zu machen, richtete die Commerzienräthin
ſich lebhaft mit der Frage empor: „Sagen Sie,
[102] lieber Doctor, glauben Sie, daß Freude meinen
Nerven ſchaden könne?“


„Im Geringſten nicht“, antwortete er un-
befangen; „ich glaube vielmehr, daß Erheiterung
Ihres Gemüths mehr zu Ihrer Geneſung bei-
tragen würde, als irgend eine Arzenei.“


„Alſo haben Sie nichts dagegen, wenn wir
morgen die Verlobung meiner Tochter feiern?“


Eduard erbleichte und ſchwieg. Clara ſah
ihn mit flehenden Blicken an, ihr Athem ſtockte;
denn von dieſer Antwort hing ihre Zukunft ab.
Die Commerzienräthin ſchien aber zu glauben,
ihr Arzt überlege, ob ihre Anweſenheit in größe-
rer Geſellſchaft zuläſſig ſei und ſagte: „Ich
ſpreche ja von keiner großen Fete, nur im eng-
ſten Kreiſe wollen wir die Verlobung vor ſich
gehen laſſen. An ſolche Feſte, wie Ihre Eltern
bei Jenny's Verlobung veranſtalteten, darf ich
jetzt freilich nicht denken, auch wird Clara zur
[103] Entſchädigung in dem Hauſe ihrer Schwieger-
eltern Glanz und Feſte in Ueberfluß finden —
deshalb ſoll Alles morgen in Stille vor ſich
gehen und dagegen dürfen Sie keine Einwen-
dungen machen.“


„Nein, ich darf keine Einwendungen machen“,
antwortete er mit einem Seufzer und blickte
auf Clara, die wie erſtarrt ſich an einen Stuhl
lehnte, um nicht ihrer Bewegung zu unterliegen.


Kaum aber hatte die Commerzienräthin
Eduard's Erlaubniß erhalten, als ſie die Klin-
gel zog und dem Diener befahl, Herrn Hughes
zu ihr zu bitten, der auch bald auf ihren Wunſch
erſchien, als Eduard die Hand der alten Dame
noch in der ſeinen hielt und einige Fragen über
ihren Zuſtand an ſie richtete.


„Gleich, gleich, Doctor!“ unterbrach ſie ihn,
„ſeien Sie nicht böſe. Aber Sie ſelbſt geſtan-
den mir, Freude ſei meine beſte Arzenei, darum
muß ich William ſagen, daß Sie mir die Er-
[104] laubniß gegeben haben, morgen die Verlobung
feiern zu dürfen.“


„Eduard!“ rief William. Doch ehe er
noch ein Wort hinzufügen konnte, ſprang Eduard
auf und wollte Clara zu Hülfe eilen, die tod-
tenbleich der Thüre zuwankte. Plötzlich blieb
er ſtehen und ſagte raſch, aber mit einer Selbſt-
beherrſchung, die Jeden täuſchen mußte, der die
Verhältniſſe nicht kannte: „Ihre Braut iſt un-
wohl, William, begleiten Sie ſie.“


In demſelben Augenblick war William an
Clara's Seite, ihre letzte Kraft verließ ſie, ſie
ſank halb ohnmächtig in die Arme ihres Bräu-
tigams und an ſeine Bruſt; in Eduard's und
in ihrer Mutter Gegenwart weinte ſie heiße
Thränen über ihr ſchweres Loos.


Noch am Abende fuhr Eduard nach Berg-
hoff. „Clara Horn iſt Braut mit William“,
ſagte er, nachdem er ſich mit den Seinen be-
grüßt hatte.


[105]

„Das freut mich ſehr“, antwortete ſein Va-
ter und drückte Eduard die Hand, während die
Damen ihn um eine nähere Mittheilung baten.
Mehr wurde zwiſchen Vater und Sohn nie
wieder über eine Angelegenheit geſprochen, welche
früher der Gegenſtand lebhafter Erörterungen,
banger Beſorgniß und ſchweren Kampfes gewe-
ſen war. Nach wie vor fuhr Eduard jeden
Morgen in das Haus der Commerzienräthin,
ſo lange ihre Geſundheit ſeine Pflege erforderte;
nur Zeuge von Clara's Verlobung zu ſein, hatte
er unter einem Vorwande verweigert, wofür
William und Clara ihm Dank wußten. Die
erſten Tage, an denen er das neue Brautpaar
ſah, bedurfte es ſeiner ganzen Kraft, um äu-
ßerlich eine Faſſung zu erzwingen, die ihm in
ſeinem Geiſte noch fehlte. Aber William ſtand
ihm auf die edelſte Weiſe bei. Er ſelbſt be-
gleitete bald darauf Clara nach Berghoff und
5**
[106] mit einer Gewandtheit, die aus dem feinſten
Schicklichkeitsgefühl und einem wohlwollenden
Herzen entſprungen war, wußte er Eduard
und Clara vor jeder zu ſchmerzlichen Berüh-
rung zu bewahren. Während die Damen ſich
mit einer Unterhaltung über die in beiden Häu-
ſern nöthig gewordenen Ausſtattungen für die
Bräute beſchäftigten, zog William ſeinen Freund
mit ſich und ſagte: „Lieber Eduard! Clara hat
gegen mich das Verlangen geäußert, Sie noch
einmal allein zu ſprechen, und ich hatte ihr zu-
geſagt, ihr dazu Gelegenheit zu geben. Später
bin ich anderer Meinung geworden, ich habe
Clara gebeten, der Erfüllung dieſes Wunſches
zu entſagen. Sie werden mir zugeben müſſen,
daß es für uns Alle beſſer iſt, wenn wir uns
ſo ſchnell als möglich über eine Zeit fortzu-
helfen verſuchen, die überreich an ſchmerzlichen
Eindrücken ſein muß. Deshalb habe ich meine
[107] Tante überredet, unſere Hochzeit zu beſchleu-
nigen, und dieſe ſoll in vierzehn Tagen ſpä-
teſtens vollzogen werden.“


„Ich billige Ihre Anſicht vollkommen und
danke Ihnen für Alles, was Sie thun, Clara's
Gefühle zu ſchonen“, antwortete Eduard.


„Und nun Eduard!“ ſagte William, „noch
eine Bitte. Ich habe Sie ſeit unſerm erſten
Begegnen für einen ſeltenen Menſchen gehal-
ten; weil Sie der ſind, laſſen Sie es mich
nicht entgelten, daß ich glücklicher als Sie bin.
Ich werde bald eine Frau haben, die ich liebe
— ſoll ich deshalb den Freund verlieren, den
ich gewonnen zu haben glaubte?“


„Nein, bei Gott! das ſollſt Du nicht!“
rief Eduard, hingeriſſen von William's Wor-
ten. „Glaube mir, William! daß ich Dich
aus Grund der Seele achte; aber wundre Dich
nicht, wenn mir jetzt, wo ich von den Hoff-
[108] nungen meiner Vergangenheit ſo plötzlich ſcheide,
Gegenwart und Zukunft noch umwölkt erſchei-
nen; wenn ich keinen andern Gedanken habe,
als wie groß das Glück war, auf das ich ge-
hofft. Dir vertraue ich dies Glück an und
könnte mich Etwas tröſten, ſo wäre es das Be-
wußtſein, Clara an den Würdigſten verloren
zu haben, der mein Freund bleiben ſoll für das
Leben.“


Arm in Arm kehrten ſie zu den Uebrigen
zurück, bei denen ſie Steinheim fanden, welcher
eben angelangt war. „Ich ſchwöre Ihnen“,
ſagte er, „ich wäre längſt einmal hieher ge-
kommen, wenn die fatale Hitze mir nicht eine
vollkommene Nervenabſpannung zu Wege brächte;
beſonders da die Stadt ſo ſtill und einſam iſt,
wie Pompeji vor der Ausgrabung.“


„So bringen Sie uns keine Neuigkeiten
mit, und wir Landleute wiſſen mehr als Sie.
[109] Denken Sie nur, der ſtolze Engländer entführt
mir meine Clara ſchon in der nächſtfolgenden
Woche!“ bemerkte Jenny.


„Ja! dann hat er ein Recht, ſtolz zu ſein,
weil wir dann das Einzige an ihn verlieren,
um das England uns beneiden mußte“, rief
Steinheim, Poſa's Worte parodirend, indem
er ſich galant gegen Clara verneigte.


„Die Hitze bekommt Ihnen wirklich ſchlecht!“
ſagte Jenny lächelnd, „und Sie vergeſſen, daß
Mr. Hughes mich nicht ebenfalls mitnimmt,
ſondern daß ich hier bleibe, um mich fürchter-
lich an Ihnen für Ihren Mangel an Galanterie
zu rächen.“


„Gehört die Rache auch zu den chriſtlichen
Tugenden einer Frau Pfarrerin?“ fragte
Steinheim und, da Jenny, gegen ſein Er-
warten, nichts darauf erwiderte, ſondern die
Frage fallen ließ, wendete ſich zu den Her-
ren, die ſeitwärts lebhaft converſirten. Bald
[110] aber kehrte er wieder zu den Damen zurück,
weil, wie er behauptete, da, wo die Männer
ſäßen, ein furchtbarer Zugwind wehe, von dem
man in dieſer Witterung den Tod haben könnte.
Man lachte ihn aus, und doch war er heute
Clara willkommen. Seine Anweſenheit, ſeine
Unterhaltung, die freilich nur ſein geliebtes
„Ich“ betraf, zog die Aufmerkſamkeit von ihr
ab; und je größer der Zirkel wurde, um ſo
ungeſtörter konnte ſie ſich in die Erinnerung
alles Deſſen verſenken, was ſie in dieſem Kreiſe
erlebt hatte, und was ſich heute unwillkürlich
ihrem Geiſte aufdrängte.


„Sehen wir Sie vor Ihrer Hochzeit noch?“
fragte Madame Meier, als ſie ſpäter ſchieden.


„O, gewiß!“ antwortete Clara, „ich komme
noch Abſchied von Ihnen Allen zu nehmen, da
wir gleich nach der Trauung abreiſen. Denken
Sie unſer, wenn wir nicht mehr hier ſein wer-
den“, bat ſie mit kaum unterdrücktem Weinen
[111]
und ein langer, tiefer Blick traf Eduard, der
ihn nur zu wohl verſtand. William aber
machte der ſtummen Scene ſchnell ein Ende,
und führte ſeine Braut mit ſich fort.



Die Trauung des neuen Ehepaares war
vorüber; die junge Frau in Reiſekleidern war
des Augenblickes gewärtig, in dem die Diener
melden würden, daß Alles zur Abreiſe bereit
ſei. Die Gäſte hatten ſich entfernt, nur Jenny
und Eduard waren noch geblieben. In ſich
gekehrt ſah dieſer kaum, was um ihn vorging,
und wünſchte ſehnlich, der letzte, ſchwere Kampf
wäre an Clara und ihm ſchon vorüber. Die
Commerzienräthin ſprach mit ihrem Schwieger-
ſohne und empfahl ihm die dringendſte Vor-
ſicht für die junge Frau, welche Hand in Hand
[112] mit ihrem Vater da ſaß, der in ihr ſeine ein-
zige Freude verlor.


Da trat ein Diener herein und wie ein
elektriſcher Schlag durchzuckten Jeden die ein-
fachen Worte: „Der Poſtillon hat ange-
ſchirrt!“


Weinend ſchieden die Eltern von der ein-
zigen, ſchönen Tochter; weinend ſank ſie Jenny
in die Arme und wollte, ſich gewaltſam los-
reißend, an Eduard vorüber, ihrem Manne
folgen. Dieſer aber hielt ſie zurück, ſagte leiſe:
„Und Eduard?“ — und führte ſie ſelbſt zu
dem Freunde. Jetzt in der Stunde der Tren-
nung bedurfte es keines Geheimniſſes, gab es
keine Entweihung für dieſe reine Liebe; über-
raſcht, aber mit ehrendem Schweigen, ſahen
Clara's Eltern, wie Eduard die junge Frau
tief erſchüttert an ſein Herz zog und einen
langen Kuß auf ihre Stirne drückte. „Gott
ſegne Euch!“ rief er, und ſchloß nochmals
[113] Clara und William in ſeine Arme. „Ihnen,
Eduard! vermache ich meine Eltern“, ſagte
Clara kaum hörbar, „ſtehen Sie ihnen bei!“ —
Und nun erſt nahm William ihren Arm und
trug ſie mehr, als ſie ging, in den Wagen, der
ſie bald den Augen der nachſehenden Freunde
entzog.



Nach Clara's Abreiſe ſchien Eduard ſich
plötzlich zu ermannen. Er war ernſter gewor-
den, aber die tiefe Trauer war von ihm ge-
wichen. Ein Leben, das ihm keine Freude bot,
wollte er für Andere nützen, ſo ſehr er ver-
mochte; und nicht umſonſt hatte er ſeine Hoff-
nungen geopfert und der Geliebten entſagt.
Er fing an wieder vorwärts in das Leben zu
blicken, und nahm mit neuem Eifer ſeine me-
[114] diziniſchen Studien und die Beſtrebungen vor,
die er im Verein mit gleichgeſtimmten Män-
nern ſchon früher für die Befreiung ſeiner
Glaubensgenoſſen gemacht hatte. So hatte
Herr Meier ihn zu finden erwartet, und das
erhabenſte Verhältniß bildete ſich immer ſchöner
zwiſchen Vater und Sohn aus, auf deſſen
raſche Thätigkeit die Ruhe und Weisheit des
Vaters den ſegensreichſten Einfluß übten. Seit
Eduard ganz von der Leidenſchaft für Clara
beherrſcht, nur dieſer und dadurch ſich ſelbſt
gelebt, war er auch mit Joſeph und Steinheim
weniger zuſammengekommen, die den Rück-
kehrenden mit Freuden wieder aufnahmen. Jetzt
erſt erfuhren ſie, welche Forderung Eduard an
die Regierung geſtellt, und die abſchlägige
Antwort, die ihm geworden, und Beide errie-
then leicht, was ihn bewogen hatte, jene An-
gelegenheit ſo heimlich zu betreiben.


„Wir müſſen mit unerſchütterlicher Con-
[115] ſequenz, aber ruhig den Weg gehen“, ſagte
Eduard, „den wir für den rechten halten. Es
kommt nur darauf an, daß wir nicht ermüden,
nicht verzagen und immer wieder kommen, ſo
oft man uns auch abweiſt.“


„Das werden ſie jüdiſche Unverſchämtheit
nennen!“ bemerkte Joſeph.


„Mögen ſie es immerhin. Nur in der
Beharrlichkeit liegt Hoffnung, nur wenn wir
unabläſſig dagegen ſtürmen, können die Ver-
ſchanzungen fallen, hinter denen ſie die Wahr-
heit und unſer Recht verſtecken möchten; und
fallen müſſen ſie. Unſer Recht muß uns
werden.“


„Und wär' es mit Ketten an den Himmel
geſchloſſen!“ unterbrach ihn Steinheim, der
ſelbſt in einer ernſten Unterredung, die ihm
ſehr am Herzen lag, ſeine üble Angewohnheit
nicht überwinden konnte. Glücklicherweiſe war
man ſo ſehr daran gewöhnt, daß Niemand es
[116] weiter beachtete. Auch Joſeph und Eduard
hörten nicht darauf, ſondern überlegten lange,
ob man jetzt, nachdem Eduard's perſönlicher
Wunſch abſchlägig beſchieden worden, dieſelbe
Bitte für die Juden im Allgemeinen bei der
Regierung wagen ſolle. Sie ſtritten hin und
her und kamen endlich überein, daß Eduard
ſich nach Jenny's Hochzeit, die nicht allzu fern
mehr war, ſelbſt nach der Reſidenz begeben
und verſuchen möchte, was dort zu erreichen
ſein würde. Nach dieſem Beſchluſſe verließ
Steinheim die Andern und Eduard, der erſt
jetzt wieder auf ſeine Umgebung aufmerkſam zu
werden anfing, ſagte zu Joſeph: „Da wir
Jenny's Hochzeit erwähnen, ſage mir, Du, der
Du das Mädchen nie aus den Augen ver-
loren haſt, was quält Jenny? liebt ſie Rein-
hard nicht? ſcheut ſie ſich vor dem Leben auf
dem Lande? oder was geht ſonſt mit ihr vor?
Ich finde ſie geiſtig in einer Weiſe verändert,
[117] die mich um ſo mehr überraſcht, als ſie mir
bis jetzt gänzlich entgangen war.“


„Du haſt recht!“ ſagte Joſeph, „aber wir
können ihr nicht helfen, ſie quält ſich ſelbſt,
und ich weiß nicht, wie das enden wird.“


„Wie meinſt Du das?“ fragte Eduard
beſtürzt.


„Ich bin überzeugt, Jenny iſt ohne allen
Glauben an die chriſtlichen Dogmen Chriſtin
geworden, und der Gedanke, einen Meineid
geſchworen zu haben, peinigt und verfolgt ſie
in einer Gewiſſensangſt, vor der ſie ſich nicht
zu ſchützen weiß.“


„Wär's möglich? — ſollte es Das ſein? Was
bringt Dich auf die Vermuthung?“


„Jenny's ganzes Weſen und vor Allem
eine Unterhaltung, die ich vor einigen Tagen
mit ihr hatte. Sie brachte abſichtlich das Ge-
ſpräch auf Religionsverſchiedenheit und geſtand
mir, jetzt, da ſie Chriſtin geworden wäre, käme
[118] ſie ſich manchmal wie ausgeſchloſſen oder ver-
ſtoßen von den Ihren vor. Es ſei ihr, als
wenn ſie nicht mehr ſo ganz zu den Eltern
gehöre, obgleich ſie ſich doch Reinhard durch
die Taufe nicht näher gebracht fühle. Sie
fragte mich, was ich von dem Eide denke? ob
ich überhaupt glaube, daß alle ſogenannten
Sünden auch Sünden vor Gott ſeien? und
äußerte ſich überhaupt in einer Art, die mir
bei ihrem Geiſte lächerlich und kindiſch erſchie-
nen wäre, wenn ich nicht darin eine vollkom-
mene, innere Verwirrung, einen Zwieſpalt ge-
funden hätte, der mir herzlich leid that. Zu-
letzt ſagte ſie mir, ſie könne den Gedanken
nicht faſſen, nicht mit ihren Eltern auf dem-
ſelben Kirchhofe zu ruhen. Ich ſtellte ihr vor,
das ſei eine Thorheit; auch wir, obgleich noch
Juden, könnten leicht fern von allen Freunden
eine Ruheſtatt finden, und es ſei gewiß höchſt
gleichgültig, wo ſie uns begraben würden. Sie
[119] aber blieb dabei, es wäre ihr ſchrecklich, und
war überhaupt in einer Stimmung, in der
jeder Vernunftgrund fruchtlos bleiben mußte.“


„Das arme Kind!“ rief Eduard, „was
kann man für ſie thun?“


„Wir müſſen ſie ſich ſelbſt überlaſſen. Ich
bin überzeugt, daß ſie den Ausweg finden
wird. Das muß man abwarten und ich hoffe,
ſie findet ihn bald, beſonders, wenn irgend ein
äußerer Anlaß ihrer Unentſchloſſenheit zu Hülfe
käme und ſie veranlaßte, ſich offen darüber zu
erklären, wo eigentlich die Quelle ihres Lei-
dens iſt.“


„So laß uns gemeinſchaftlich über ſie wa-
chen“, bat Eduard, „damit wir den rechten
Augenblick nicht verfehlen, wenigſtens Jenny
glücklich zu machen, da wir es nicht gewor-
den ſind.“


„Leidensgefährte!“ — ſagte Joſeph mit einer
Miene und einem Tone, die ein eigenthümliches
[120] Gemiſch von Spott und Schmerz ausdrückten.
„Wir wollen ſie behüten, ſo gut es geht, aber
ich fürchte, auch ſie wird nicht glücklich!“


Und leider war Joſeph's Vermuthung nur
zu richtig. Je glücklicher ſich Jenny in Rein-
hard's anbetender Liebe fühlte, um ſo mehr de-
müthigte ſie der Gedanke, unwahr gegen ihn
zu ſein. Von frühſter Kindheit an hatte man
ihr die Lüge als etwas ſo Unedles, ſo Verächt-
liches dargeſtellt, daß ſie ſich nur mit Entſetzen
zu geſtehen vermochte, wie tief ſie ſich in die-
ſelbe verwickelt habe. Der Zuſtand ihrer Seele
möchte für Den, der ihn nicht von ſelbſt ver-
ſteht, ſchwer zu beſchreiben ſein. Sie fühlte
ſich dem Elemente, in dem ſie geboren, der
Atmoſphäre, in der allein ſie athmen konnte,
entriſſen. Man hatte ſie gelehrt, wahr gegen
ſich ſelbſt, gegen jeden Andern zu ſein, und
Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe-
ſen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt.
[121]
Gott iſt die Wahrheit, das Recht, das Gute
und das Schöne, hatte ihr Vater ihr ſtets ge-
ſagt, und ſo lange Du das Recht thuſt, ſo
lange Du wahr bleibſt, biſt Du Gottes Kind
und mein liebes Kind! Stundenlang konnte
die Erinnerung an dieſe freundlichen Worte,
bei denen ſie ſich ſonſt ſo glücklich gefühlt, ſie
jetzt quälen. Nachdem ſie damit angefangen
hatte, unwahr gegen ſich ſelbſt zu ſein, hatte
ſie, durch eine damals unfreiwillige Selbſttäu-
ſchung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt,
zum Chriſtenthume überzutreten, an das ſie zu
glauben wähnte. Als aber tauſend Zweifel in
ihr erwachten; als ſie mit aller Anſtrengung
und dem Aufwande von tauſend Scheingrün-
den in ſich die Lehren Reinhard's und des
Paſtors zu motiviren ſtrebte; da, ſagte ſie ſich
jetzt, da habe ſie gewußt, daß ſie niemals werde
glauben können, was ſich gegen ihre Vernunft
ſträube; und daß ſie dennoch, trotz dieſer in-
II. 6
[122] nern Gewißheit, Chriſtin geworden; daß ſie
ihren Vater, Reinhard und ſich ſelbſt habe hin-
tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um
deſſentwillen ſie ſich verächtlich vorkam, eine
Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber
was iſt Sünde? fragte ſie ſich. Wenn ich
Reinhard nicht anders glücklich machen konnte
als durch eine Unwahrheit; wenn ich ſelbſt
ohne ſie elend werden mußte, kann Gott ein
Unrecht ſtrafen, das aus heißer Liebe begangen
wurde? Einen Augenblick fühlte ſie ſich frei
und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den
Kampf, den es ſie gekoſtet, aus Liebe gegen
ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus
Liebe ein Opfer gebracht, das ihr ſchwer ge-
worden war, ſie hatte ſich ſelbſt überwunden —
das war es ja gerade, was Gott von uns ver-
langt — und dieſe Idee gab ihr Ruhe, bis ſie
ſich geſtand, daß auch dies eine neue Unwahr-
heit ſei. Nicht nur, um glücklich zu machen,
[123] ſondern um es zu werden, war ſie Chriſtin ge-
worden; es lag Selbſtſucht auch in dieſer
Handlung, und die Bemerkung, daß es ihr faſt
zur Gewohnheit geworden, ſich nach ihrem Be-
dürfniß ſelbſt zu täuſchen, vermehrte ihre See-
lenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige
Urtheil raubte. Eine Furcht vor der Strafe
Gottes bemächtigte ſich ihrer Seele und ſie,
die nicht an die myſtiſchen Lehren des Chri-
ſtenthums zu glauben vermochte, überließ ſich
faſt willenlos dem Aberglauben des alten Te-
ſtaments, das in Gott einen Rächer zeigt das
Böſe ſtrafend bis in das fernſte Glied. Auch
Reinhard, ſagte ſie ſich, ziehe ich mit in mein
Verderben; auch ihn wird der Strudel erfaſſen,
wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, daß
ich nicht glaube. Was ſoll er dann beginnen?
Er wird mich lieben und mir doch nicht ver-
zeihen können! Auch er wird in den heilloſen
Kampf zwiſchen ſeiner Liebe und ſeinem Glau-
6*
[124] ben gerathen; auch auf ſein theures Haupt
werde ich das Elend herabbeſchwören, das mich
nicht ruhen läßt, und das wird die erſte Strafe
ſein, mit der Gott meine Sünden rächt.“


In dieſer Verfaſſung ihrer Seele vermehr-
ten die Briefe Reinhard's ihr Leiden. Sie
ſprachen die heißeſte Liebe und ein volles un-
bedingtes Vertrauen aus. Er ſchilderte ihr
das Glück einer Ehe, wie er ſie an ihrer Seite
erwarte, die, auf gleichen Anſichten, gleicher
Ueberzeugung gegründet, in gemeinſamen Stre-
ben nach Vollkommenheit, den Himmel auf
Erden bieten müſſe; und meldete ihr endlich
mit Entzücken, daß der Tag zu ſeiner Ordi-
nation beſtimmt ſei und er, ſobald ihm dieſe
Weihe geworden, zurückkehren werde, um ſie
heimzuführen. Seine Mutter, die ſeiner Or-
dination beizuwohnen wünſche, ſei bereits bei
ihm und werde mit ihm zur Hochzeit nach
Berghoff kommen. Dann wünſche er vor der-
[125] ſelben mit Mutter und Braut das Abendmahl
zu nehmen, was Jenny bisher noch nicht em-
pfangen hatte, und bald nach der Hochzeit ab-
zureiſen, während ſeine Mutter in der Stadt
bleiben würde, um ſie die Wonne des erſten
Beiſammenſeins ganz ungeſtört und allein ge-
nießen zu laſſen.


Jenny's Herz ſchlug freudig der langerſehn-
ten Nachricht entgegen. Selig drückte ſie das
Blatt an ihre Lippen. Vor der ſichern Hoff-
nung auf die nahe Vereinigung mit dem Ge-
liebten war für einen Augenblick jeder andere
Gedanke aus ihrer Seele geſchwunden; und ſie
begann den Brief nochmals zu leſen, um nur
keines der Worte zu verlieren, welche ſie ſo
glücklich machten. Da fiel ihr Blick auf die
Stelle: „Ich wünſche noch vor unſerer Hoch-
zeit mit Dir das Abendmahl zu nehmen und
auch auf dieſe Weiſe in die heiligſte, innigſte
Gemeinſchaft mit Dir zu treten, die bald als
[126] mein geliebtes Weib, unauſlöslich, untrennbar
mit mir verbunden, mein ſein wird.“


Ihrer Hand entſank das Blatt, ſie war
vernichtet. Zum zweiten Mal, wie bei der Taufe,
ein freventliches Spiel zu treiben mit Dem, was
Reinhard das Heiligſte auf der Welt war, das
vermochte ſie nicht. Jetzt, das fühlte ſie, war
der entſcheidende Moment gekommen, in wel-
chem ſie entweder ſich durch einen gewaltſamen
Entſchluß in ihrer eigenen Achtung wieder her-
ſtellen und ihr Gewiſſen in Bezug auf Rein-
hard beruhigen, oder ſich mit geſchloſſenen
Augen in ein Labyrinth ſtürzen mußte, in dem
ſie und der Geliebte untergehen konnten.


Der Kampf war furchtbar. Endlich ſiegte
die Wahrheit, und aufgelöſt in Schmerz ſchrieb
ſie nach durchwachter Nacht, als ſchon das helle
Tageslicht in ihre Fenſtern ſchien, folgenden
Brief an Reinhard:


„Einzig Geliebter! Wie unausſprechlich
[127] glücklich wären wir Beide, wenn ſtatt dieſes
Briefes die Nachricht in Deine Hände käme,
Deine Jenny ſei geſtorben. Du würdeſt
weinen, mein Guſtav! Du würdeſt um mich
trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich
liebſt, und ich wäre, glücklich in dieſem Ge-
danken, geſchieden und hätte Ruhe. Warum
konnte ich nicht ſterben, als ich das letzte
Mal in Deinen Armen lag, als Deine volle,
ganze Liebe mich beglückte? Denkſt Du dar-
an, wie ich es wünſchte, weil ich ſo glücklich
war; weil ich ſchon damals ahnte, daß ein
Augenblick, wie der jetzige, mir bevorſtehen
könnte?“


„Bei der Erinnerung an jene Stunde be-
ſchwöre ich Dich, bei der Liebe und Nach-
ſicht, die Du mir damals gelobt, ſtoße mich
jetzt nicht von Dir, Du, Geliebter! Du, der
mich faſt ſeit meiner Kindheit kennt, den ich
anbetete, ſeit ich ihn zuerſt ſah. Guſtav!
[128] Du biſt mein Lehrer geweſen und kennſt
meine Seele; Du weißt, daß mein Geiſt
ebenſo glühend nach Wahrheit dürſtet, als
mein Herz Liebe verlangt. Darum kannſt
Du mich verſtehen, darum mußt Du Mit-
leid mit mir haben, wenn ich Dir ſage, daß
ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, daß
ich meine Ueberzeugung zwingen wollte, ſich
meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht
länger.“


„Von Augenblick zu Augenblick zögere ich,
Dir ein Bekenntniß zu machen, von dem
ich fürchte, daß es Dich tief betrüben, mich
in Deinen Augen herunterſetzen könne. Ich
möchte Dich mit Feuerzungen an die heiligen
Bande erinnern, die uns vereinen; an die
Wonne, welche wir einander verdanken, da-
mit ſie und nur ſie Dir vorſchweben, wenn
ich Dir Alles geſagt.“


„Ich glaube nicht, daß Chriſtus der Sohn
[129] Gottes; daß er auferſtanden iſt, nachdem er
geſtorben. Ich glaube nicht, daß es ſeines
Todes bedurfte, um uns Gottes Vergebung
und Nachſicht zu erwerben. Die Dreieinig-
keit, die er lehrte, iſt mir ein ewig unver-
ſtändlicher Gedanke, der keinen Boden in
meiner Seele findet. Ich glaube nicht, daß
es ein Wunder gibt, daß Eines geſchehen
kann, außer den Wundern, die Gott, der
Eine, einzig Wahre, täglich vor unſern Au-
gen thut. Und ſelbſt zu Chriſtus, des er-
habenen, göttlichen Menſchen Erinnerung
kann ich das Abendmahl nicht nehmen, mich
nicht zu einer Ceremonie entſchließen, die
mir wie eine unheimliche Form erſcheint,
während Du die innigſte Verbindung mit
Gott darin findeſt.“


„Ich kann nicht anders! Dieſe Ueberzeu-
gung iſt ſtärker als meine Liebe, als ich!
Nach furchtbarem Kampfe wurde ich Chriſtin;
6**
[130] denn ſchon vor der Taufe war die Wahr-
heit in mir Herr geworden über eine Täu-
ſchung, die ich mit der Angſt der Ver-
zweiflung in mir zu erhalten ſtrebte, um
Deinetwillen! Lügen kann ich nicht länger,
aber auch glauben kann ich nicht — kein
Ausweg iſt möglich; und mit dem Gefühl
der unausſprechlichſten Liebe, die ewig wahr
und unverändert in mir iſt, werfe ich mich
an Deine Bruſt. Du ſollſt mir ſagen, wie
ich Friede mache zwiſchen Liebe und Glau-
ben, wie ich mich wiederfinde in dem Gewühl
des Kampfes.“


„Wenn Du mich liebſt, habe Mitleid mit
mir, komme bald, komme gleich und laß mich
aus Deinem Munde die Worte hören, die
meiner Seele allein Ruhe geben können; ſage
mir, daß Du mich lieben kannſt, wenn ich
auch nicht an Chriſtus glaube, wie Ihr es
verlangt. Ihr ſagt, er ſei die Liebe — nun,
[131]
dann iſt er mit mir, denn ich liebe Dich,
wie je ein Menſch zu lieben vermochte;
ich kenne kein Glück als Deine Liebe.
Schreibe mir nicht! Das dauert zu lange,
komme ſelbſt, damit ich Dich ſehe und in
Dir eine Antwort finde, die langſam aus
todten Lettern zu leſen, eine Qual wäre,
die Du mir erſparen wirſt, weil Du mich
liebſt. Ja! ich weiß, daß Du mich liebſt:
mit dem Glauben, ſage ich Dir, auf Wie-
derſehen! — Adieu! Guſtav! Geliebter, Leh-
rer, Freund, Gatte, mein Alles auf der
Welt! Laß mich nicht lange auf Deine An-
kunft warten, jetzt, wo jede Minute mir zu
Jahrtauſenden wird, bis ich Dich ſehe!“


Nachdem Jenny dieſen Brief gefaltet und
der Diener ihn beſorgt hatte, ſchien es ihr, als
hätte ſie nichts von Dem geſagt, was ſie eigent-
lich gedacht. Sie wollte ihn zurück haben, es
anders ſagen, nochmals überlegen. Sie warf
[132] ſich vor, zu raſch gehandelt zu haben, und be-
ſchwor den Diener, ſich zu beeilen und Alles
aufzubieten, um ihr dieſen Brief zurückzubrin-
gen. Aber vergebens. Die Poſt war abge-
gangen, kein Widerruf war möglich. „Nun,
ſo mag Gott ſich meiner erbarmen!“ rief Jenny
und ſtürzte weinend zu ihren Eltern, die jetzt
durch ſie das Unabänderliche erfuhren und, mit
ihr leidend, Alles aufboten, ihr Ruhe und Troſt
zu geben. Zärtlich, nur für den Augenblick be-
ſorgt, verſicherte ihre Mutter, Jenny könne doch
unmöglich daran zweifeln, daß Reinhard ſie
liebe, und ſie hege das Vertrauen, ein ſo auf-
geklärter Mann werde an ſeiner Braut wegen
einer Meinungsverſchiedenheit nicht irre werden.
Sie erinnerte ſie, wie duldſam ſich Reinhard
und die Pfarrerin gezeigt, noch ehe von irgend
einem Verhältniß zu Jenny die Rede geweſen,
und ſprach die feſte Ueberzeugung aus, Reinhard
in wenigen Tagen hier und Jenny glücklich zu
[133] ſehen. Und doch weinte ſie mit der Tochter,
denn ihr Herz war fern von den Hoffnungen,
mit denen ſie dieſe zu beruhigen ſtrebte.


„Täuſche Jenny nicht mit Erwartungen,
die ſich nicht erfüllen werden, oder ich müßte
Reinhard nicht kennen“, ſagte der Vater. „Ich
fürchte, er kommt nicht.“


„Gott im Himmel, was habe ich gethan!“
rief Jenny.


„Was ich Dir ſelbſt gerathen hätte“, ant-
wortete ihr Vater, „wenn ich Deinen Zuſtand
früher gekannt. Du durfteſt nicht daran den-
ken, in eine Ehe zu treten, der nach Reinhard's
Anſicht das innere Bindungsmittel fehlte. Du
durfteſt namentlich ihn nicht täuſchen über
Deine Geſinnung. Jetzt haſt Du Deine Pflicht
erfüllt und Du wirſt in dem Bewußtſein, das
Rechte gethan zu haben, Kraft finden, auch
das Schwerſte zu tragen.“


Jenny war troſtlos. Sie wollte einen zwei-
[134] ten Brief ſchreiben. „Kannſt Du etwas von
Dem widerrufen, was Du in dem erſten ge-
ſagt?“ fragte der Vater. Jenny mußte zuge-
ben, das ſei ihr nicht möglich. „So ſchreibe
auch nicht“, ſagte er.


Dann verlangte ſie, gleich jetzt zu Reinhard
zu reiſen; ſie wollte ihn ſprechen, alle ſeine Ein-
wendungen beſiegen, aber auch Das erklärte ihr
Vater für unthunlich. „Sieh, mein geliebtes
Kind,“ ſagte er, „Du biſt nun leider einmal
in einen Kreis von Widerſprüchen gerathen,
aus denen nur ein gewaltſamer Ausweg möglich
ſein wird. Reinhard iſt duldſam gegen den
Andersgläubigen, aber ſeine Frau will er nicht
nur dulden, er will ſie lieben, ſie ſoll ein Theil
ſeines Ichs werden. Das kannſt Du nicht, wenn
Du in Dem, was einmal der Mittelpunkt ſei-
ner Seele iſt, ſo vollkommen von ihm abweichſt.
Selbſt wenn er ſich überwinden und ſchweigen
wollte, würde ſchon die Nothwendigkeit, gegen
[135] ſeine Frau auf ſeiner Hut zu ſein, mit ihr
nicht über ſeine heiligſten Intereſſen ſprechen zu
können, eine Störung Eures Glückes werden,
abgeſehen davon, daß Deine Geſinnung gerade
zu ſeinem Verhältniß als Geiſtlicher in noch
ſchrofferem Widerſpruche ſteht.“


Innig zog er ſein leidendes Kind in ſeine
Arme, aber er verſuchte nicht, ſie zu tröſten.
„Blicke feſt in Dein Inneres“, ſagte er, „dort
wirſt Du Quellen des Troſtes finden, die uns
nie fehlen, wenn ein Schmerz uns trifft, ein
Unglück uns droht, das wir nicht ſelbſt verſchul-
det haben. Wir alle leiden mit Dir und Gott
wird Dir beiſtehen.“


Eine tiefe Trauer ſchien über dem Hauſe
zu liegen. Jeder fürchtete, Jenny auf irgend
eine Weiſe zu verletzen, ihr wehe zu thun.
Man wollte ſie ſchonen, ſie die ganze Größe
der Liebe fühlen laſſen, die man für ſie empfand,
und ſelbſt Thereſe, der die obwaltenden Verhält-
[136] niſſe kein Geheimniß bleiben konnten, hatte
wahres Mitleid mit Jenny, die ſich in ſtiller
Ergebung zu faſſen verſuchte, was bei ihrem
heftigen Charakter um ſo rührender erſchien.


Ebenſo traurig ſah es bei Reinhard und
ſeiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief
wie ein Blitzſtrahl aus heiterm Himmel getroffen
und er war Anfangs keiner Empfindung, kei-
nes Gedankens mächtig geweſen. Nur das Be-
wußtſein, daß ihn ein großes unerſetzliches Un-
glück getroffen habe, ſtand klar vor ſeiner Seele.
„Wie war das möglich, wie hatte das geſche-
hen können?“ fragte er ſich und ſaß in ſtarrer
Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu-
kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen
Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte.
Sie fragte, was ihm geſchehen ſei, und ſtatt
aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's
Brief hin, der auch auf die Matrone den ſchmerz-
lichſten Eindruck zu machen nicht verfehlte.


[137]

„Das alſo iſt das Ende aller meiner Hoff-
nungen“, rief er endlich und verſank wieder in
ſein früheres Brüten. „Ach, und Jenny“, ſagte
er dann, „was wird aus Dir mit Deinem
heißen Herzen?“


„Für das wird ſich Troſt finden“, meinte
die Pfarrerin mit Bitterkeit. Denn kaum hatte
ſie ſich von dem erſten Schrecken erholt, als
ihr mit erneuerter Deutlichkeit Thereſens Be-
hauptung einfiel, Jenny liebe Erlau und habe
ſich ſchon lange nicht glücklich in Reinhard's
Liebe gefühlt. Die Pfarrerin war eine verſtän-
dige, welterfahrne Frau, ſie war aber auch
Chriſtin und Mutter und tief verletzt in ihrem
Glauben und in ihrem Sohne. Unzählige ver-
ſchiedene Verhältniſſe hatte ſie im Leben kennen
gelernt. Selbſt in dem Kreiſe ihrer Bekannten
gab es viele Juden, die zum Chriſtenthum über-
getreten waren und glücklich und ruhig in dem-
ſelben lebten. Warum ſollte Jenny allein, die
[138] ihr ſelbſt ſo oft mit wahrer Erbauung von
Jeſu und ſeinen Lehren geſprochen, kein Heil
zu finden im Stande ſein an der Quelle, aus
der Segen für die ganze Menſchheit geſtrömt
war? Jenny, die obenein Reinhard zum Lehrer
gehabt, deſſen innige fromme Ueberzeugung Je-
den gewinnen mußte? An dieſen Grund von
Jenny's Zerriſſenheit konnte ſie nicht glauben,
und that ſie es, dann ſchauderte ſie vor dem
Leichtſinne, mit dem das Mädchen einen Mein-
eid begangen hatte. Wer mit den heiligſten
Dingen ſpielen konnte, bot auch dem Gatten
keine Sicherheit. Ebenſo wie gegen Gott würde
ſie ſich gegen ihren Ehemann verſündigen, be-
ſonders da nur Erlau's würdiges Betragen ſie
abgehalten hatte, ſchon ihrem Bräutigam un-
treu zu werden. Der Schmerz über die Leiden
ihres Sohnes machte ſie ungerecht, und ihre
gekränkte Muttereitelkeit gewann ſo ſehr über
ihre Vernunft den Sieg, daß ſie dem Sohne
[139] ihre Zweifel an Jenny's Aufrichtigkeit und ihre
ganze Unterredung mit Thereſe mittheilte.


Kaum aber hatte ſie es gethan, als ſie das
Unheil zu bereuen anfing, das ſie angerichtet.
Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, kann
keine zerſtörendere Wirkung hervorbringen, als
die Worte ſeiner Mutter auf Reinhard. Mit
tiefer Wehmuth hatte er Jenny's bis jetzt ge-
dacht. Sein Leiden und das ihre fühlte er
gleichmäßig und vereint, und hätte ſich alle Be-
redſamkeit der Welt gewünſcht, um Jenny eine
Ueberzeugung zu geben, welche es möglich machte,
ihre Trennung zu verhindern, die für ſie in
den jetzigen Verhältniſſen unvermeidlich wurde.
Nun, bei der Erzählung der Mutter, erwachte
ſeine Eiferſucht aufs Neue. Sein altes Miß-
trauen fing ſich zu regen an und wie eine Furie
verfolgte ihn unabläſſig der Gedanke, das Spiel-
zeug in den Händen eines Mädchens geweſen
zu ſein, das ihn verwarf, ſobald ein neuer Wunſch
[140] es gleichgültig gegen den frühern machte. Er
hatte ſie ſo grenzenlos geliebt, er war bereit
geweſen, ihr Alles, ſelbſt ſeinen Stolz, ſein
Ehrgefühl zu opfern; zu Allmoſen von der
Hand ihres Vaters hatte er ſich um ihretwillen
erniedrigen gewollt, und nun er ſich am Ziele
wähnte, in ihre Hand ſeine Hoffnungen, ſeine
geheimſten Wünſche legte — nun beſaß ein An-
derer ihr Herz und ſie entzog ihm ihre Hand
unter einem Vorwande, der ſie in ſeinen Augen
verächtlich machte. Jenny zu verlieren ſchien
ihm ein Glück gegen die Pein, ſie nicht mehr
achten zu können; ſie, in deren junge Seele er
ſelbſt den Keim alles Großen und Schönen ge-
pflanzt, die er als das ſchönſte Werk des Schöpfers
angebetet hatte.


Würde nur Jemand ihm warnend, beruhi-
gend zur Seite geſtanden haben, er hätte ſich
aus der Verwirrung der Leidenſchaften leicht
und ſchnell zurecht gefunden; denn nur zu deut-
[141]
lich verrieth ihm, ſo lange er ſelbſtändig ur-
theilte, Jenny's Brief den Zuſtand ihres Her-
zens, und kein Zweifel an der Wahrheit ihrer
Worte kam in ihm auf, bis die Mutter ſeinen
Argwohn rege machte. In ihrer Entrüſtung
achtete dieſe nicht auf die heißen, flehenden Bit-
ten Jenny's, mit denen ſie nichts ſehnlicher
verlangte, als Reinhard's Eigenthum zu blei-
ben; der Gedanke allein, Jenny weigere ſich,
Reinhard's Frau zu werden, ſie ſchlage die Hand
ihres Sohnes aus, ihr Guſtav ſei von ſeiner
Braut abgewieſen, war ihr gegenwärtig und
erbitterte ſie um ſo mehr, als ſie Grund hatte,
auf ihren Sohn ſtolz zu ſein, der dieſe Ver-
bindung wie ſein höchſtes Glück erſtrebt hatte.
Geſchäftig, ihn zu tröſten, hielt ſie ihm das
Unrecht vor, das man an ihm begehe, und ſtei-
gerte dadurch ſein eigenes Leiden ſo ſehr, daß
er, von Eiferſucht und gekränktem Stolze ge-
[142] trieben, in der erſten Aufregung ſeines leiden-
ſchaftlichen Schmerzes dieſe Antwort ſchrieb:


„Ein Mädchen, das Seelenſtärke genug be-
ſitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen-
der Liebe jeden Zweifel an ſie für eine Tod-
ſünde gehalten, mit dem heiligſten Eide zu täu-
ſchen, wird die Kraft finden, eine Trennung
zu ertragen, der mein Männermuth zu unter-
liegen droht. Wohl ihr, wenn dieſe Kraft ſie
auch vor Reue bewahrt.“


Anfänglich ſollte das Alles ſein, was er
ihr ſagen wollte, und ſeine Mutter, welche dies
Blatt geleſen, beeilte ſich, es abzuſenden, weil
es gerade ſo ihrer Geſinnung entſprach. Aber
ein anderer Geiſt, eine unſägliche Traurigkeit
kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den
Händen ſeiner Mutter, öffnete es nochmals und
fuhr fort:


„Jenny, warum haſt Du mir das gethan?“
[143] Gab es kein anderes Spiel, als das mit mei-
nem Herzen? Ich weiß jetzt Alles, weiß, daß
mich mein Argwohn nicht betrog. Du kannſt
mich nicht mehr täuſchen. Alle Bande zwiſchen
uns ſind gelöſt, mein Gewiſſen verlangt, daß
ich ſie zerreiße, aber mein Herz blutet. Ich
fühle, daß ich kein Weib die Meine nennen
darf, dem der heilige Glaube, welchen zu ver-
künden ich berufen bin, ein Spott iſt. Und
doch könnte ich Dich lieben, könnte Dich ſeg-
nen, wenn Du mir nur die Möglichkeit gelaſſen
hätteſt, Dich zu achten. Warum ſagteſt Du
mir nicht, daß Du Erlau liebteſt, daß nur er
Dich beglücken könne? Für Dich wäre mir das
Opfer nicht zu ſchwer geweſen. Aber Du lieb-
teſt ihn und gelobteſt mir Treue, Du verlachſt
meinen Glauben und ſchwörſt, daß auch Dich
Chriſtus durch ſeinen alleinſeligmachenden Tod
mit dem Vater im Himmel vereint. Jenny,
wie durfteſt Du ſo grauſam das Ideal zerſtö-
[144] ren, das ich in Dir anbetete? Wie konnteſt Du
Deine Seele, dies heilige, Dir von Gott ver-
traute Pfand, bis zu dieſer That verſinken
laſſen? Sage mir nicht, daß Du Dich getäuſcht,
das iſt unmöglich, wenn Du es nicht wollteſt.
Selbſt Liebe entſchuldigt die Lüge nicht, und
dieſe Lüge iſt es, die uns für ewig trennt, denn
ich habe unwiederbringlich den Glauben an Dich
verloren, in der ich alles Heilige und Wahre
anbetete. Lebe denn wohl, Du, die ich nimmer
vergeſſen kann, die mir das größte Glück und
das tiefſte Leid meines Lebens gegeben. Lebe
wohl, Jenny, ich klage Dich nicht an, denn Du
biſt unglücklicher, als ich, der im Glauben eine
Stütze finden wird. O, wollte Gott, daß ich
Dir den Glauben geben könnte zum Dank für
die Seligkeit, die ich in Deiner Liebe gefunden?“


So kam der Brief in Jenny's Hände. Sie
ſelbſt vermochte ihn nicht zu leſen, ihre Hände
zitterten, die Buchſtaben ſchwammen vor ihren
[145] Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade
bei ihr war, den Brief und fragte bebend:
„Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann
nicht leſen.“ Verneinend ſchüttelte der Vater
das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und
gab ihn der Tochter wieder, die ſich gewaltſam
zuſammennahm und ihn mit Todesangſt durch-
flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück,
das ihr in dieſer Stunde werden konnte, ſenkte
ſich auf ſie nieder.


Als ſie erwachte, las ſie wieder und immer
wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein-
hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was
der Gedanke bedeute, daß ſie Reinhard um
Erlau's willen aufopfere. Sie hatte ſich ge-
ſagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge-
ſinnung denkbar ſei, aber für möglich hatte ſie
es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres
Vaters. „Von dem Geliebten verachtet, ohne
II. 7
[146] Glauben, ohne Hoffnung, mir ſelbſt eine Laſt,
was bleibt mir im Leben?“ rief ſie aus.


„Jenny!“ ſagte der Vater verweiſend und
doch mit unausſprechlicher Liebe, zog ſeine Toch-
ter in ſeine Arme und rief auch die Mutter
herbei, daß ſie Beide mit ihrer Liebe das Kind
beſchatten möchten vor dem verſengenden Strahl
des Schmerzes, der ſie getroffen.


In tiefem Kummer ſchwanden Stunden und
Tage für Jenny hin; immer erwartete ſie, Rein-
hard werde zur Erkenntniß kommen, er werde
bereuen, und wenn auch eine Wiedervereinigung
unmöglich ſei, werde er dennoch kommen, um
ſie noch einmal zu ſehen, um in Frieden von
ihr zu ſcheiden. Aber vergebens. Und wieder
verlangte Jenny, dem Geliebten zu ſchreiben, ſie
wollte ihm nur ſagen, wie ſie Niemanden liebe,
als ihn, wie ihr der Argwohn in Bezug auf
Erlau unbegreiflich und ſchmerzlich ſei. Sie
[147] bat, man möge ihr die Beruhigung gönnen.
Aber auch ihr Vater und die Ihren fühlten ſich
ſchwer gekränkt durch Reinhard's Betragen
gegen Jenny, und der Vater fragte: „Erlaubt
es Dein Stolz, Dich einem Mann zu nähern,
der Dich ſo verkennt?“


„Ich fühle keinen Stolz“, antwortete Jenny,
„nur das Bedürfniß nach ſeiner Liebe, die mein
höchſter Stolz geweſen. Nur ſeine Achtung
will ich mir erhalten, er ſoll nicht wie einer
Unwürdigen meiner denken, er ſoll mir glauben,
daß ich ihn allein geliebt.“


„Nein“, ſagte der Vater, „wenn Reinhard
nur das leiſeſte Verlangen nach einer Erklärung
ausſpräche, würde ich jedem Deiner Wünſche
in dieſer Rückſicht meine Billigung geben. Vor
einem Manne aber, der ſeiner Braut die un-
würdigſte Wortbrüchigkeit zutraut und weder
an ihre Liebe, noch an ihre Schwüre glaubt,
vor dem ſoll meine Tochter ſich mit keiner Bitte
7*
[148] um Vertrauen erniedrigen. Mit Reinhard's
krankhaftem Ehrgefühl, mit all' ſeinen Forde-
rungen hatte ich Nachſicht, denn er ſelbſt ver-
diente Achtung und Du liebteſt ihn — jetzt in-
deſſen ſcheint es mir faſt eine Wohlthat, wenn
ein Verhältniß ſich löſt, in dem Du nimmer
glücklich werden konnteſt, ſei es, daß Reinhard
ſo gering von Dir dachte, als er es augenblick-
lich thut, oder auch, daß Heftigkeit ſein Urtheil
ſo ganz verblenden, ihn ſo ungerecht ſelbſt gegen
ſeine Braut zu machen vermag. Ich fordere
es als einen Beweis Deiner Liebe zu mir, daß
Du keinen Verſuch machſt, Dich mit Reinhard
zu verſtändigen, eine friedliche Löſung Eurer
Bande herbeizuführen, wenn er es nicht aus-
drücklich von Dir verlangt. Du warſt Rein-
hard's Braut, aber Du biſt auch meine Toch-
ter, auch die Ehre Deines Vaters muß Dir
heilig ſein, auch ihr mußt Du ein Opfer brin-
gen können, ja, ich fordere, daß Du es bringſt.“


[149]

Und ſo geſchah es. Reinhard und Jenny
ſahen ſich nicht wieder, niemals fand irgend
eine Erklärung zwiſchen ihnen ſtatt und ein
Brautpaar, das mit glühender Sehnſucht nach
innigſter Vereinigung geſtrebt hatte, war plötz-
lich und auf die ſchmerzhafteſte Weiſe für im-
mer getrennt.


Still und einſam verlebte man den Som-
mer in Berghoff, da auch Thereſe einige Zeit
nach dieſen Ereigniſſen zu ihrer Mutter zurück-
kehrte. Sie behauptete, zu Hauſe nöthig zu
ſein, und Madame Meier ſah es gern, als
Thereſe ſelbſt den Wunſch ausſprach, ſie zu ver-
laſſen, weil ihre Anweſenheit Jenny nicht an-
genehm zu ſein ſchien.


Erſt ſpät im Jahre kehrte man in die Stadt
zurück und Jenny mußte ſich allmälig wieder
in Verhältniſſe hineinleben, die ihr fremd ge-
worden, da ihnen die Beziehung auf Reinhard
genommen war.


[150]

Und als diesmal der Sylveſterabend erſchien,
der im vorigen Jahre ſo glückliche Menſchen
im Meierſchen Hauſe vereinte, war die Familie
allein und nahm ſelbſt Steinheim's Beſuch nicht
an, um Jenny's ſchmerzliche Erinnerungen zu
ſchonen, obgleich man mit Dank ſein Beſtreben
erkannte, den Freunden, mit denen er ſo viel
frohe Stunden verlebt, auch am böſen Tage
ein treuer Gefährte zu ſein.



Wer Baden-Baden kennt, erinnert ſich wol
der einzeln liegenden Häuſer auf der Kloſter-
wieſe und der ſchönen Eichen vor einem der-
ſelben. Im Schatten dieſer Bäume ſaß an ei-
nem Junimorgen des Jahres 1841 eine Dame
und zeichnete. Es war eine kleine, feine Figur.
Lange rabenſchwarze Locken fielen auf das Pa-
[151]
pier nieder und verbargen das Geſicht der Ar-
beitenden; aber man war berechtigt, ſchöne
Züge zu erwarten, wenn man von ihrer ſchma-
len Hand und dem graziöſen Fuß auf ihr
Geſicht ſchließen ſollte. Ein ſechsjähriger, hell-
blonder Knabe ſpielte in einiger Entfernung
und verſuchte vergebens, die Aufmerkſamkeit
der Dame auf ſich zu ziehen. Er kam endlich
näher und rief: Look my dearest aunt, there
comes papa and Lord Walter.
— Dann, als
die Dame ſich erhob, um die Kommenden zu
begrüßen, ſprang er fröhlich fort und bot den
Herren in fremdklingendem Deutſch ſeinen
Willkomm und guten Morgen.


„Iſt Deine Mutter noch in ihrem Zimmer,
Richard?“ fragte der Vater des Knaben.


„Nein!“ antwortete für ihn Jenny Meier
— denn ſie war die Zeichnerin — „nein, lie-
ber Hughes; Clara iſt Ihnen mit der Wär-
terin und Luch entgegengegangen, um Ihnen
[152] von den neueſten Fortſchritten zu erzählen,
welche die Kleine gemacht hat. Ich wundre
mich, daß Sie ihr nicht begegnet ſind. Sie
wollte am Goldbrünnlein auf Sie warten.“


„O, Schade!“ rief Hughes, „daß wir durch
die Stadt gingen und ſie verfehlten. Ich will
ſogleich zurückkehren, ſie zu holen, und ich denke,
Sie bleiben hier bei Fräulein Meier, lieber
Walter, und erwarten unſere Rückkehr.“


„Mit dem größten Vergnügen!“ antwortete
der Angeredete, „wenn ich das Fräulein nicht
in der Arbeit ſtöre!“


„Ach! die kann ich ſpäter beenden“, ſagte
Jenny freundlich. „Kommen Sie, Herr Graf,
und beichten Sie, warum man Sie in den letz-
ten Tagen gar nicht geſehen hat?“


Walter that, wie ſie von ihm begehrte und
Hughes ging mit ſeinem Knaben davon, die
Mutter und das kleine Schweſterchen zu holen.


Während nun der Graf von ſeinen Aus-
[153] flügen und Streifereien in der Umgegend er-
zählt, ſei es uns vergönnt, mit flüchtigen Um-
riſſen den Zeitraum von acht Jahren auszu-
füllen, der zwiſchen der erſten und zweiten
Hälfte unſerer Erzählung liegt.



Der Schmerz über die Trennung von Rein-
hard hatte Jenny's Seele in ihren innerſten
Tiefen erſchüttert und ſie prüfend in ihr eige-
nes Herz blicken laſſen, um dort einen Grund
für Reinhard's ihr unerklärliches Betragen zu
finden. Es ſchien ihr leichter, Unrecht zu ha-
ben, ſich ſelbſt eines Fehlers zu zeihen, als
Reinhard eine Schuld beizumeſſen: denn wahre
Frauenliebe klagt lieber ſich, als den Geliebten
an. Nun iſt das menſchliche Herz recht eigent-
7**
[154] lich der Acker, den man nur zu durchwühlen
braucht, um die köſtlichſten Schätze zu ent-
decken. Auch Jenny fand in ſich, ſtatt des
Unrechts, das ſie in ihrem Herzen ſuchte, die
Kraft, das Leben zu ertragen, es trotz ſeiner
Schmerzen zu lieben. Sie gewann es über
ſich, fremdes Glück und Leid zu dem ihren zu
machen und im Wohlwollen gegen die Menſch-
heit Troſt für einen Verluſt zu finden, der ihr
unerſetzlich ſchien.


Als Herr Meier ſie ſo weit beruhigt und
fähig ſah, ſich durch den Wechſel äußerer Ge-
genſtände zerſtreuen zu laſſen, machte er den
Vorſchlag zu einer Reiſe, die im Beginn des
Frühjahrs angetreten wurde. Man ging nach
dem ſüdlichen Frankreich, verlebte einen Winter
in Paris und beſuchte Italien im folgenden
Jahre. Hier war es, wo Jenny den Maler
Erlau wiederfand, deſſen Name aus der Ferne
[155] ruhmvoll erklungen war, und deſſen Meiſter-
werke ſie in Paris zu bewundern Gelegenheit
gehabt.


Das Wiederſehen war ein Moment tiefer
Bewegung für Beide. Erlau, ſeinem Vorſatz
getreu, hatte außer aller Verbindung mit ſei-
nen Freunden gelebt; er wähnte Jenny längſt
mit Reinhard verheirathet und die Entdeckung
des Gegentheils erfüllte ihn mit den freudigſten
Hoffnungen. Von der Stunde an wurde er
Jenny's Führer in der Wunderwelt, die ſich
in Italien vor ihren Augen erſchloß und die
ihren vollen Zauber auf zwei ſo lebhaft füh-
lende Menſchen auszuüben nicht verfehlte. Aber
nicht lange ſollte Jenny dieſe Wonne unge-
trübt genießen. Sie gewahrte mit Schmerz,
daß Erlau's Leidenſchaft für ſie nicht erloſchen
ſei, daß ſie jetzt in dem täglichen Beiſammen-
ſein wieder heftig entbrannte und ſich von
[156] Hoffnungen nährte, die Jenny nicht zu erfül-
len vermochte. Dies veranlaßte Herrn Meier,
auf Jenny's Wunſch, Italien zu verlaſſen und
rief Erlau's Erklärung hervor, daß auch er
entſchloſſen ſei, der Meierſchen Familie zu fol-
gen und bald in ſeine Heimat zurückzukehren.
Je weniger Jenny dieſes erwartet hatte, um
ſo mehr hielt ſie es für Pflicht, alle jungfräu-
liche Schüchternheit zu überwinden und ſich
frei gegen Erlau über ihr gegenwärtiges Ver-
hältniß zu erklären. Sie geſtand ihm, wie
jetzt, kaum geneſen von unſäglichem Leiden,
ihr der Gedanke an eine neue Liebe unmöglich
ſei. Sie beſchwor ihn, um ſeiner und ihrer
Ruhe willen, ihr nicht zu folgen. Sie ſagte
ihm, wie werth er ihr ſei, wie ſie hoffe, ſtatt
ſeiner Liebe einſt ſeine Freundſchaft zu erwer-
ben, und erlangte endlich von ihm das Ver-
ſprechen, daß er nach England gehen und dort
[157] in William's und Clara's Nähe leben wollte,
da er verſicherte, ohne Jenny jetzt in Italien
nicht ausdauern zu können.


So trennten ſie ſich zum zweiten Male und
Jenny kehrte nach einer Abweſenheit von an-
derthalb Jahren in ihre Heimat zurück. Hier
fand ſie in den äußern Verhältniſſen nur we-
nig verändert. Eduard ging ruhig und ernſt
die Bahn, welche er ſich vorgezeichnet hatte.
Berühmt und unermüdlich in ſeinem ärztlichen
Beruf, hatte er zugleich unverwandt das Wohl
und den Fortſchritt ſeines Volkes im Auge,
deſſen freie Entwickelung aber nur dann mög-
lich war, wenn überhaupt eine freie, zeitgemäße
Verfaſſung in ſeinem Vaterlande Raum fand.
Sein eifriges Beſtreben zur Erreichung dieſes
Zieles beizutragen und, der Geſammtheit
nützend, zugleich ſein Volk zu erlöſen, verband
ihn mit vielen Gleichgeſinnten aus allen Stän-
den. Die Beſten des Landes erkannten ſeine
[158] Fähigkeit und die hohe Uneigennützigkeit ſeines
Charakters; denn die Hoffnung, nach erlangter
Emancipation, für ſich ſelbſt Würden und Eh-
renſtellen zu erwerben, hatte ebenſo wenig
Einfluß auf ihn, als die Furcht vor jenen
Verantwortungen, denen ſein kühnes Wort
und ſeine freiſinnigen Schriften ihn bereits
häufig unterworfen hatten. Ihm genügte ſein
Bewußtſein und die achtende Anerkennung ſei-
ner Mitſtrebenden. — Noch immer lebte er in
ſeinem väterlichen Hauſe. Sei es, daß ſeine
Thätigkeit ihn ſo ganz abſorbirte und ihn ſein
Alleinſtehen nicht fühlen ließ, oder daß er kein
Mädchen gefunden hatte, das ſeine Neigung
erregte, er war bis jetzt unverheirathet ge-
blieben.


Den Eltern Clara's, welche ſie ſcheidend
ſeiner Sorgfalt empfohlen, war er ein treuer
und geſchätzter Freund geworden. Ihm, das
wußten ſie jetzt, verdankten ſie das Glück ihrer
[159] Tochter, das in einer vollkommen übereinſtim-
menden Ehe mit William immer ſchöner er-
blühte. In Eduard's Bruſt ſchüttete die Com-
merzienräthin ihren Kummer über das Schickſal
ihres Sohnes aus, der unſtät Deutſchland und
Frankreich durchſtreifte und, von ſeiner Frau
beherrſcht, ein unwürdiges Leben führte. Ferdi-
nand fühlte bereits das Elend und die Schande,
in die er ſich geſtürzt, aber er war zu ſchwach,
die Sklavenketten zu brechen, die ihn entehrten.
Auf den ausdrücklichen Wunſch der Hornſchen
Familie, war Eduard mit ihm in Verbindung
getreten, und da es ihm gelungen, Ferdinand's
Vertrauen zu gewinnen, gab er die Hoffnung
nicht auf, es werde ihm einſt möglich ſein, den
Verlornen ſeiner Familie wiederzugeben.


Mit herzlicher Freude empfingen Eduard
und der treue Joſeph die heimkehrenden Lieben.
Der Anblick jener Räume, in denen ſie ſo
glücklich geweſen und ſo unendlich gelitten hatte,
[160] erweckte in Jenny's Bruſt die wehmüthigſten
Erinnerungen, und ſobald ſie ſich mit Eduard
allein ſah, wagte ſie nach Reinhard zu fragen,
was ſie in ihren Briefen nie gethan. Sie
wußte, daß er ſein Amt angetreten und die
ungetheilte Liebe und Achtung ſeiner Gemeinde
erworben hatte. Das hatte ihr Thereſe mit-
getheilt, deren Mutter bald nach der Abreiſe
der Meierſchen Familie geſtorben war. Seit
aber Thereſe eine Gouvernantenſtelle auf dem
Lande angenommen, hatte Jenny auf einige
Briefe, die ſie ihr ſchrieb und in denen ſie ihr
die freundſchaftlichſten Anerbietungen machte,
keine Antwort erhalten. Um ſo unerwarteter
traf ſie die Nachricht, Thereſe habe durch Ver-
mittelung der Pfarrerin jene Stelle, ganz in
der Nähe von Reinhard's Wohnort, erhal-
ten und ſich vor wenigen Wochen mit ihm
verlobt.


Als Jenny dies erfuhr, zog ein trübes
[161]
Lächeln um ihren Mund, und Eduard drückte
ihr ſchweigend die Hand. Er und Joſeph
ſchienen ſich jetzt Jenny's Zufriedenheit gleich-
ſam zum Zweck ihres Lebens gemacht zu haben;
und in beglückender Eintracht, in friedlicher
Ruhe ſchwanden der Meierſchen Familie einige
Jahre nach ihrer Rückkehr dahin. Treffliche
Männer hatten ſich um Jenny werbend ihr
genaht, die Wünſche von Jenny's Eltern hat-
ten ſie unterſtützt, aber kein Erfolg ihre Be-
mühungen gekrönt. Wagte die beſorgte Liebe
ihrer Mutter, ihr je zuweilen Vorſtellungen des-
halb zu machen, ſo bat Jenny, man möge
Nachſicht mit ihr haben, denn es ſei ihr un-
möglich, die Wünſche zu erfüllen, die man für
ſie hege. „Ich bin ja zufrieden und glücklich,
liebe Mutter!“ ſagte ſie dann; „ich habe Dich,
Vater, Eduard, Joſeph und Alles, was nur
irgend mein Herz begehrt, an Liebe und Scho-
nung. Würde ich das in dem Hauſe eines
[162] Mannes finden, den ich nicht liebte?“ Und
da alle Zumuthungen und Geſpräche dieſer
Art Jenny ſichtlich für längere Zeit verſtimm-
ten, war es Herr Meier ſelbſt, der ſeiner Frau
anrieth, nicht in Jenny zu dringen, ſondern
ruhig eine Zukunft zu erwarten, in der die Er-
innerung an Reinhard ihren Einfluß auf Jenny
verloren haben und die Vorſchläge ihrer Freunde
leichter Gehör bei ihr finden würden.


Aber dieſen Zeitpunkt ſollte Madame Meier
nicht erleben; ein plötzlicher, ſchmerzloſer Tod
entriß ſie ihrer Familie. Wie tief der Verluſt
empfunden wurde, wie er die Engverbundenen
nur noch feſter aneinander ſchloß, wie Jeder die
Lücke auszufüllen ſtrebte, die dadurch in den
Herzen der Andern entſtanden war, bedarf
kaum einer Erwähnung. Nun ſtand Jenny
allein an der Spitze ihres Hauſes, auf ſie war
ihr Vater gewieſen. Dies Bewußtſein erhob
ſie in ihren eigenen Augen und tilgte jeden
[163] andern Wunſch aus ihrem Herzen, als den für
ihren Vater zu leben und ſein Alter zu ver-
ſchönen. Jene religiöſen Zweifel, welche einſt
das Glück ihrer erſten Jugend untergraben,
waren längſt und glücklich beſiegt. Eigenes
Nachdenken und der Beiſtand ihres Vaters hat-
ten ſie zu dem Standpunkt einer Gottesver-
ehrung geführt, zu dem ihre ganze Erziehung
ſie hingeleitet hatte. Geiſtig frei und mit klar-
ſtem Bewußtſein, die zärtlichſte Tochter, der
Troſt aller Leidenden und doch wieder die ele-
gante, geiſtreiche Wirthin ihres gaſtfreien, vä
terlichen Hauſes, ſo erſchien Jenny, nachdem
der Schmerz über den Tod ihrer Mutter ſich
gemildert hatte. So finden wir ſie auch einige
Wochen nach ihrer Vereinigung mit Clara in
Baden wieder. Der Wunſch, ſich zu ſehen,
war bei beiden Freundinnen gleich mächtig ge-
worden, doch hatten Umſtände mancher Art die
Erfüllung deſſelben bis jetzt unmöglich gemacht
[164] und mit inniger Freude trafen ſie nach acht-
jähriger Trennung in Baden-Baden zuſammen.
Dort hatte man ſich rendez-vous gegeben und
wollte ſpäter gemeinſchaftlich in die Heimat
der Damen zurückkehren, um Clara's beide
Kinder den Großeltern vorzuſtellen. Anfäng-
lich ſollte auch Erlau, der ſich ganz in Eng-
land angeſiedelt und dort eine ehrenvolle Stel-
lung erworben hatte, William nach Deutſchland
begleiten. Die unruhige, raſche Lebhaftigkeit
des Jünglings war aber in dem Manne nicht
erloſchen und er hatte den Wunſch, ſein Va-
terland und ſeine Freunde zu ſehen, aufgegeben,
um ſich einer engliſchen Geſandtſchaft nach dem
Orient anzuſchließen, bei der ſein Hang für
das Ungewöhnliche volle Befriedigung zu finden
hoffen durfte.


Die beiden befreundeten Familien hatten
nun, ſobald ſie in Baden angelangt waren, ab-
ſichtlich ihre Wohnung außerhalb der eigent-
[165] lichen Stadt genommen, um allein in dem
Beſitz des gemietheten Hauſes und in der freien,
ländlichen Natur zu ſein. Man wollte ſich
ſelbſt leben und Jenny war gar nicht damit
zufrieden, als William ihr gleich nach ihrer
Ankunft erzählte, wie er in einigen Tagen ei-
nen Freund, den Grafen Walter, erwarte, den
er ihr als einen Genoſſen für die Zeit ihres
Aufenthalts in Baden ankündigte.


Graf Walter gehörte einer der älteſten Fa-
milien Deutſchlands an. Wie die meiſten Jüng-
linge ſeines Standes früh in das Militair ge-
treten, war er mit ſeinem Regiment in die
Vaterſtadt Clara's gekommen und in ihrem
elterlichen Hauſe faſt mit allen Perſonen un-
ſerer Erzählung bekannt, mit Hughes befreun-
det geworden. Später hatte er den Dienſt
verlaſſen, bedeutende Reiſen gemacht und war,
um ſich zur Uebernahme ſeiner Güter in land-
wirthſchaftlicher Beziehung vorzubereiten, auch
[166] nach England gegangen, wo er aufs Neue mit
William und Clara zuſammentraf. Auf ihre
Bitten war er ihr Gaſt geworden, ſo lange er
in England verweilte, und noch jetzt rechnete
er die Zeit, welche er mit ihnen, theils in Lon-
don, theils in dem reizenden Hugheshall verlebt
hatte, zu den anmuthigſten Erinnerungen ſeines
genußreichen Lebens. Nichts konnte ihm alſo
willkommener ſein, als die die zufällige Begegnung
mit jenen Freunden an den Ufern des Rheines;
und unabhängig, wie er es in jeder Beziehung
war, ließ er ſich bereitwillig finden, den Som-
mer mit ihnen in Baden zuzubringen.


Jenny hatte er früher nur flüchtig geſehen,
aber obgleich er ſie nicht näher kannte, erin-
nerte er ſich dunkel, von einer Liebe Jenny's
zu einem jungen Theologen gehört zu haben.
Jetzt hatte er von Clara, auf ſein Anfragen,
einige Details über Jenny und die Löſung je-
nes Verhältniſſes erfahren und war, durch
[167] Clara's und William's Erzählungen, geſpannt
auf die Bekanntſchaft eines Mädchens gewor-
den, von dem beide Gatten mit Intereſſe ſpra-
chen. Trotz der günſtigen Vorurtheile aber,
fand er doch in Jenny bald noch mehr, als er
erwartet hatte; und auch Herr Meier und
Jenny wußten es William Dank, den Grafen
für ihren kleinen Kreis gewonnen zu haben, da
auch ihnen der Umgang des hochgebildeten Man-
nes große Freude gewährte.



Nachdem Walter an jenem Morgen Jenny
den verlangten Bericht abgelegt, bat er um die
Erlaubniß, die Arbeit zu beſehen, mit der ſie
ſich beſchäftigt hatte, als er ankam. Bereit-
willig nahm ſie ihr Skizzenbuch wieder vor und
zeigte ihm eine Gruppe von Bäumen, die ſie
[168] am Tage vorher in der Nähe des kleinen
Waſſerfalls entworfen hatte.


„Ich kann es nicht ausdrücken“, ſagte
Jenny, „wie ich dieſe ſchönen, großen Bäume
liebe. Sie geben mir immer ein Bild unſers
Lebens, das feſt in der Erde gewurzelt, doch
ſehnſüchtig himmelan ſtrebt, und in dem Spiel
der ſonnenbeſchienenen Blätter liegt außerdem
für mich ein hoher Genuß. Die ſchönſten
Träume meiner Kindheit, die roſigſten Mär-
chen gaukeln an mir vorüber und alle Wun-
der der Feenwelt ſcheinen mir möglich, wenn
ich das flüſternde Koſen der Blätter höre.“


„Das iſt eine ächt deutſche Empfindung“,
bemerkte Walter, „die ich vollkommen begreife
und mit Ihnen theile. Ich bin ſo glücklich, in
meinem Park die herrlichſten Eichen zu beſitzen
und weiß meinen Voreltern Dank, die mir jene
Bäume gepflanzt. Auch für mich ſind ſie eine
Quelle immer neuen Genuſſes, wie die ganze
[169] Natur, die uns umgibt. Sie ſchreitet mit uns
fort, ſie lebt mit uns, ſie hat Antwort für
unſere Fragen, und es iſt für mich das Zeichen
eines wahren Dichters, wenn er die Sprache
verſteht, welche die Natur in ſeinen Tagen
zu den Menſchen ſpricht.“


„Glauben Sie denn“, fragte Jenny, „daß
die Einwirkung der Natur auf das Gemüth
des Menſchen nicht zu allen Zeiten dieſelbe
blieb?“


„In ſofern gewiß“, antwortete der Graf,
„als ſie immer die höchſten, heiligſten Empfin-
dungen ſeiner Seele anregt. Aber je nachdem
dieſe Gefühle ſich im Laufe der Zeiten ändern,
wechſelt auch der Eindruck, den ſie auf uns
macht. Der heitre Grieche ſah in den ſchön-
ſten Bäumen ſeines Waldes liebliche Dryaden,
die ihn mit Liebe umfingen. Dem deutſchen
Mittelalter predigten ſie den Ernſt, der auch
in den düſtern Domen gelehrt wurde, ſie ſpra-
II. 8
[170] chen ihm von dem Kreuz, das aus ihrem Holze
gezimmert worden ..“


„Uns uns“ fragte Jenny lebhaft.


„Uns weiſen ſie hinauf in die Region der
Klarheit, uns predigen ſie Freiheit und Licht
mit ihren himmelan ſtrebenden Zweigen“, ſagte
Walter mit ſchöner Erhebung. Dann, als er
ſah, daß Jenny ihm erfreut zuhörte, fuhr er
nach einer Weile fort: „Wie Heine das Meer,
ſo hat Carl Beck die Baumwelt begriffen. Er
verſteht, was jetzt in den Aeſten rauſchet und
aus dem Geliſpel der Zweige tönt, und ich
halte ihn für einen Dichter, weil ihm die Na-
tur nicht jene alten längſt vergeſſenen Ammen-
märchen, ſondern die großen Gedanken unſerer
Tage vertraut. Das ſcheint überhaupt bei ei-
nigen der jüngern Talente der Fall zu ſein.
Es iſt, als wolle ein neues, kräftiges Leben in
der Poeſie ſich entfalten, und ich hoffe, wir
werden nun endlich eine Menge veralteter, ſte-
[171]
reotyp gewordener Bilder los, von denen viele
für die jetzige Zeit noch obenein ganz ungenü-
gend und verkehrt ſind.“


„Verkehrt?“ wiederholte Jenny und fragte
mit ſteigendem Intereſſe: „und welche rechnen
Sie dazu?“


Walter ſann einen Augenblick nach, dann
ſagte er:


„Um gleich eines der gewöhnlichſten zu
nennen: Das Bild des Baumes und des
Schlingkrautes für die Ehe. Sie glauben nicht,
Fräulein! wie müde ich dieſer ewigen Eichen
bin, an die ſich zärtlich Epheu ſchmiegt; der
Ulmen, an denen die Rebe ſich vertrauend em-
porrankt. Leider ſind viele Ehen ſo wie dieſe!
Wie mancher Baum, der in angebornem Na-
turtrieb hoch und kühn emporſtrebt und ſich
von einer kümmerlichen Pflanze umrankt findet,
die weder ihn zurückzuhalten noch ſich aufzu-
ſchwingen und zu gedeihen vermag in einer
8*
[172] Höhe, für die ſie nicht geſchaffen iſt! Aber
ſchlimm genug, daß es ſo iſt, und kein Dichter
dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal
ſchildern will, das von dieſer innigſten Verei-
nigung in uns lebt. Das Gleichniß iſt falſch!“
ſchloß er und ſah verwundert auf Jenny, die
während er geſprochen, den Stift aufgenommen
hatte und mit dem größten Eifer zeichnete.
Nach einigen Minuten reichte ſie dem Grafen,
der über ihre ſcheinbare Zerſtreutheit ein wenig
verletzt und ſchweigend neben ihr ſaß, ihre
Zeichnung hin und fragte: „Und ſo Graf
Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr?“


Sie hatte mit kunſtgeübter Hand eine vor-
treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp-
pige Bäume ſtanden dicht nebeneinander, friſch
und fröhlich emporſtrebend, mit eng verſchlun-
genen Aeſten. Darunter las man die Worte:
„Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum
Aether empor!“


[173]

Walter betrachtete das kleine Bild mit
Freude; ſah dann mit einem Ausdruck hoher
Bewunderung in Jenny's glühendes Geſicht
und ſagte: „So vermag man nur das wieder-
zugeben, was tief empfunden in uns ſelbſt lebt.
Schenken Sie mir dies Blatt, als Zeichen, wie
unſere Geſinnung in dieſer Beziehung überein-
ſtimmt. Ich bitte, laſſen Sie es mir!“


„Nein!“ antwortete Jenny, „wenn Ihnen
die kleine Zeichnung gefällt, wenn ſie Ihnen
richtig ſcheint, werden Sie es natürlich finden,
daß ich ſie meinen ſchönen Vorbildern dedicire;
daß ich ſie Clara gebe, welche eben mit ihrem
Manne und den Kindern über die Brücke
kommt. Auch mein Vater iſt mit Ihnen!
Laſſen Sie uns ihnen entgegengehen.“


Es war ein gar erfreulicher Anblick, die
Familie zu ſehen, als ſie über die Wieſe dahin-
ſchritt. William nun gegen das Ende der
dreißiger Jahre, war ein Bild ſelbſtbewußter,
[174] kräftiger Männlichkeit, wie man es in England
häufig findet. Er und die blühend ſchöne Mut-
ter führten die kleine Lucy in ihrer Mitte, die
ſeit einigen Tagen die erſten Verſuche machte,
auf den eigenen Füßchen fortzukommen und
mit aller Gewalt dem Bruder nachlaufen wollte,
der fröhlich jubelnd voranſprang. Man konnte
kein anmuthigeres Bild ehelichen Glückes finden
und Walter's Augen ſuchten Jenny, die aber
bereits plaudernd am Arme ihres Vaters hing
und nur allein mit ihm beſchäftigt war.


Nachdem man ſich niedergelaſſen und eine
lange Zeit mit den lieblichen Kindern vertändelt
hatte, ſagte William zu Walter: „Ich habe
gewünſcht, daß wir alle beiſammen wären, ehe
ich Ihnen einen Plan enthülle, den ich ſchon
ſeit einigen Tagen in mir ausgebildet habe.
Ich wollte Ihnen vorſchlagen, jetzt, wie einſt
in England, unſer Hausgenoſſe zu werden, um
die flüchtige Zeit unſers Beiſammenſeins recht
[175] zu genießen. Sie finden Raum genug bei uns
und ſollen durchaus nicht genirt ſein. Auch
für Ihre Dienerſchaft, Ihre Equipage iſt hin-
reichend Platz, und wie ſehr es mich erfreuen
würde, Sie wieder einmal als meinen Gaſt zu
ſehen, bedarf keiner Verſicherung.“


Herr Meier vereinte ſeine Bitte mit Wil-
liam's, und ohne lange zu überlegen, nahm
Walter den Vorſchlag unbedingt und mit ſicht-
lichem Vergnügen an. Man machte Entwürfe,
wie man ſich einrichten wolle, um ſo viel als
möglich mit einander zu ſein und doch Jedem
die nöthige Ruhe und Freiheit zu gönnen, ohne
welche auf die Länge keine behagliche Exiſtenz
denkbar iſt; und man trennte ſich erſt, nach-
dem man übereingekommen war, Walter ſolle
noch im Laufe des Tages ſein Hotel verlaſſen,
um ſich gleich heute bei ſeinen Freunden zu
etabliren.


Als er fortgegangen war, bemerkte Jenny:
[176] „Mir hat die Art ſehr gefallen, mit der Walter
William's Erbieten annahm. Ein Anderer hätte
vielleicht Einwendungen gemacht, das Bedenken
geäußert, er könne beſchwerlich ſein und zuletzt
ſich in Dankſagungen erſchöpft, wenn er die
Einladung angenommen hätte. Von dem Al-
len that Walter nichts. Er dachte offenbar
im erſten Augenblick nur daran, ob es ihm
ſelbſt
zuſagend ſei; dann, als er ſich davon
überzeugt, ſagte er, ohne weitere Umſtände:
„Ich komme mit großer Freude, wenn Sie
mich haben wollen!“ und doch lag gerade in
dieſer Einfachheit für mich etwas beſonders An-
genehmes.“


„Das iſt es auch!“ beſtätigte Herr Meier.
„Es ſpricht ſich darin ein feſtes Zutrauen zu
dem Freunde und zu ſich ſelbſt aus; die Ueber-
zeugung, er wiſſe, wie willkommen er ſeinen
künftigen Wirthen ſei, und die Verſicherung,
er ſei ihnen gern verpflichtet. Ueberhaupt
[177] charakteriſirt ſich ein edles Gemüth, ein freier,
durchgebildeter Sinn am meiſten in der Art,
mit welcher man Dienſte empfängt und Gefäl-
ligkeiten annimmt. Sie auf eine ſchickliche
Weiſe zu leiſten, erlernt Mancher.“


„Ach! auch das iſt nicht jedes Menſchen
Sache!“ wandte William ein. „Wie oft er-
drückt man uns mit der Art, in der man ſich
uns dienſtwillig und gefällig zeigt!“


„Eben weil man es nicht iſt!“ erwiderte
Herr Meier. „Weil man ſich das für eine
Tugend, für eine Pflichterfüllung, oder gar
für ein Opfer auslegt, was dem wohlwollenden
Charakter ganz einfach und natürlich erſcheint.
Wer bereit iſt, Andern zu dienen und gefällig
zu ſein, wer empfunden hat, wie viel Freude
darin liegt, der gönnt dieſen Genuß auch den
Uebrigen und nimmt Hülfsleiſtungen und Ge-
fälligkeiten ſo gern und unbefangen an, als er
ſie erzeigt. Er weiß, daß Geben ſeliger ſei als
8**
[178] Nehmen, und daß die Befriedigung des Ge-
währenden gewiß ebenſo groß iſt, als die des
Empfangens. Darum habe ich Vertrauen zu
Perſonen, die mit guter Art „anzunehmen“
verſtehen, ohne innerlichen Vorbehalt, durch ei-
nen Gegendienſt bald möglichſt quitt zu wer-
den oder zu vergelten. Dies Vertrauen hat
mich faſt niemals betrogen und findet in Wal-
ter aufs Neue ſeine Bewährung. Damit aber
auch er ſich nicht getäuſcht finde, wollen wir
doch ſelbſt einmal zuſehen, daß Alles für ihn
bereit ſei, wenn er kommt.“ Mit dieſen Wor-
ten erhob ſich Herr Meier und entfernte ſich
mit William, um die nöthigen Anordnungen
treffen zu laſſen.



[179]

So ſehr Jenny und Clara über dies Wie-
derſehen in Baden erfreut geweſen, ſo lieb ſie
einander waren, ſo konnte es Beiden doch nicht
verborgen bleiben, daß es ihnen eigentlich an
jenen gemeinſamen Berührungspunkten fehle,
welche die Baſis der Freundſchaft machen. Sie
hatten im Ganzen nur wenig Monate zuſam-
men verlebt und eine Reihe von Jahren war
ſeitdem verfloſſen, ſodaß trotz eines fleißigen
Briefwechſels die Damen ſich ziemlich fremd
geworden waren und ſich nicht recht ineinander
zu finden wußten. Wie Clara's ganze Er-
ſcheinung Glück und Zufriedenheit ausdrückte,
wie jeder Zug die Wonne ausſprach, welche ſie
als Gattin und Mutter empfand, ſo zeigte ſich
auch in ihrer geiſtigen Richtung eine gewiſſe
Ruhe, ein abgeſchloſſenes Begnügen. Sie
hatte die höchſten Schätze des Lebens erreicht
und, obgleich ſie für die Außenwelt nicht ab-
geſtorben war, intereſſirte ſie dieſelbe doch ei-
[180] gentlich nur in ſo weit, als ſie William be-
rührte und mit ſeinen Wünſchen und Anſichten
zuſammenhing; denn nach ſchöner Frauen Art
lebte ſie nur in ihrem Manne und in ihren
Kindern. Jenny hingegen wollte, durch Eduard
daran gewöhnt, Theil nehmen an allem Großen
und Wichtigen. Mit weiblicher Schwärmerei
hing ſie an den Planen und Hoffnungen
Eduard's, nicht um ſeinetwillen allein, ſondern
weil ſie auch die ihren geworden waren. Gei-
ſtige und künſtleriſche Beſchäftigungen füllten
die größte Zeit ihres Tages aus und mit ihrer
gewohnten Lebhaftigkeit ſtrebte ſie nach neuen
Kenntniſſen, nach höherer, vielſeitiger Ausbil-
dung der Anlagen, die ſie ungenützt in ſich
fühlte.


Mit ſchmerzlichem Lächeln ſah Clara auf
dieſes Treiben Jenny's hin. Sie glaubte in
ſich die Erfahrung gemacht zu haben, daß bei
Frauen die lebhafte Theilnahme an den Er-
[181]
ſcheinungen der Außenwelt ein Zeichen innern
Unbehagens ſei, ein Surrogat, mit dem ſie ſich
für ein Glück entſchädigen, das ihnen nicht ge-
worden. Jenny hingegen erſchien Clara's Weſen
als eine Reſignation, die ſie bewunderte, ohne
zu glauben, daß ſie ſelbſt im Stande wäre,
Glück oder Zufriedenheit darin zu finden.


Bei ſo verſchiedenen Anſichten ward eine
gegenſeitige Schonung derſelben zur Pflicht,
und da die erſten Verſuche ſich zu verſtändigen,
ohne Erfolg geblieben waren, vermied man jede
Unterhaltung der Art und Jenny war nahe
daran, ihr Beiſammenſein mit Clara etwas
einförmig zu finden, als durch Walter's tägliche
Anweſenheit eine erwünſchte Abwechſelung in
ihr Leben kam.


Bald war dieſer ihr ſteter Begleiter bei den
Promenaden, zu denen die Umgegend Badens
ſo unwiderſtehlich lockt. Vor ihm ließ ſie ſich
ſorglos in ihrer eigenthümlichen Denkweiſe ge-
[182] hen und Walter, der dadurch Jenny's hohen
Werth täglich mehr erkennen und ſchätzen
lernte, äußerte nach einiger Zeit gegen William
und Clara, daß Jenny ihm vor allen Frauen
intereſſant und bedeutend erſcheine.


„Und nicht auch ſchön?“ fragte Clara.


„Sehr ſchön!“ antwortete der Graf“, und
um ſo anziehender, als man ihren Augen an-
zuſehen glaubt, daß ſie ſchon geweint, ihrem
Munde, daß er einſt vor Schmerz gebebt.
Solch feucht verklärten Augen gegenüber fühlt
man den Beruf zu tröſten, zu vergüten, und
ſo ruhig heiter Jenny auch erſcheint, iſt mir
doch immer, als hätte die Zukunft bei ihr noch
Vieles gut zu machen, als müſſe ſie durch
Glück für früheres Leid entſchädigt und belohnt
werden.“


„Das klingt ſehr warm, lieber Graf!“
ſagte William ſcherzend, „und faſt, als ob Sie
nicht abgeneigt wären, die Entſchädigung zu
[183] übernehmen. Hüten Sie ſich vor den feucht
verklärten Augen.“


„Sie thun mir Unrecht“, entgegnete Walter,
„wenn Sie meinen Worten irgend einen an-
dern Sinn unterlegen. Daß ich Jenny Meier
ſo innig bewundre, ohne ſie zu lieben, das
gerade macht mir ihren Umgang ſo anziehend
und erhöht den Reiz, den ihr ſcharf ausge-
prägter Charakter, ihr ſelbſtändiges Weſen für
mich haben.“


In dem Augenblick kam der kleine Richard
herbei und rief: „O kommt doch Tante Jenny
ſehen, kommt doch an das Fenſter!“


Man folgte ihm dorthin und erblickte Jenny,
die eine junge leichenblaſſe Frau niedern Stan-
des unterſtützte, während ſie das Kind der-
ſelben auf dem Arme trug. Walter flog die
Treppe hinab, um ihr beizuſtehen; denn es war
Mittag, die Sonne brannte glühend heiß und
[184] Jenny ſchien erſchöpft von der ungewohnten
Anſtrengung.


„Führen Sie die Frau ins Haus“, ſagte
Jenny, als Walter dazu kam, „aber behutſam.
Das Kind behalte ich.“


Walter erfüllte ihren Wunſch, und nachdem
man für die arme Kranke geſorgt hatte, er-
zählte Jenny, wie ſie dieſelbe ohnmächtig am
Wege gefunden, ſie durch ihre Bemühungen
ins Leben gerufen und mit unſäglicher An-
ſtrengung bis hieher gebracht, da jetzt in der
Mittagsſtunde Niemand die Straße gekommen
ſei, den ſie um Hülfe hätte bitten können.


„Nicht Ein Menſch war zu ſehen“, ſagte
ſie. „Ich blickte nach allen Seiten, ich rief ſo
laut ich konnte und der unerträglichſte Stutzer
wäre mir ein hülfreicher Götterbote geweſen,
wenn er in dem Augenblicke erſchienen wäre.“


„Es iſt beſſer ſo!“ meinte Clara. „Du
[185] haſt die arme Frau glücklich hieher gebracht
und biſt allen Bemerkungen entgangen, die
man darüber leicht gemacht hätte.“


„Zu dieſen bot wol eine ſo einfache Hand-
lung keinen Anlaß“, ſagte Jenny unbefangen.
„Ich konnte doch unmöglich die Frau allein
und hülflos liegen laſſen, bis ich von hier oder
aus der Stadt Beiſtand geholt hätte. Zudem
hätte ich das ſchreiende Kind doch mit mir
nehmen müſſen und endlich weißt Du, liebes
Clärchen, daß mir die Urtheile der Menge
ſehr gleichgültig ſind, wenn ich Das, was ich
thue, vor mir und meinem Vater verantwor-
ten kann.“


In Jenny's Worten, in ihrem ganzen We-
ſen lag in dieſem Moment ſoviel Natürlichkeit
und doch ein ſo edler Stolz, daß Walter ſie
mit Entzücken betrachtete, obgleich auch ihm der
Gedanke unangenehm geweſen, man hätte Jenny
[186] in jener Situation beobachten und ſie falſch
beurtheilen können.


„Wie wir doch nach allen Seiten hin
auf Widerſprüche in den Sitten unſerer ſo-
genannten civiliſirten Welt ſtoßen!“ ſagte Wal-
ter zu Herrn Meier, der indeß dazu gekommen
war. „Wäre eine der Dienerinnen des Hau-
ſes der Unglücklichen begegnet, und hätte ſich
ihrer angenommen, ſo würden wir das ſchön
und lobenswerth gefunden haben; und nun ta-
delt man Fräulein Jenny, daß ſie nicht un-
barmherziger zu ſein vermochte, als Jene, ob-
gleich der Dienſt, den ſie leiſtete, größer war,
denn er mußte ihr beſchwerlicher ſcheinen.“


„Sie billigen alſo die Handlung meiner
Tochter unbedingt?“ fragte Herr Meier.


Walter ſtockte einen Augenblick und meinte
dann: „Wenigſtens hätte ich ſelbſt nicht anders
zu handeln vermocht.“


„Aber Sie würden wünſchen“, ſagte der
[187] alte Herr, „daß Jenny auf keine zweite Probe
der Art geſtellt würde, denn wir wollen einmal
kein Mädchen von der gewohnten Sitte ihres
Standes abweichen ſehen. Dennoch ehre ich
ein Gefühl, das in ſolchen Augenblicken rück-
ſichtslos zu handeln vermag, ohne an das qu'on
dira l'on?
zu denken; und ich bin vielleicht ſelbſt
Schuld daran, wenn Jenny das Urtheil der
Leute nicht zu hoch anſchlägt. In meinen Ver-
hältniſſen war es mir Pflicht, meine Kinder
bis zu einem gewiſſen Grade gleichgültig gegen
die öffentliche Meinung zu machen, die wir ein
für allemal gegen uns hatten und deren Ein-
fluß auf uns und auf Jeden doch viel größer
iſt, als wir glauben wollen.“


Clara, die gleich Anfangs ihre Aeußerung
bereut hatte und es nun doppelt that, da ſie
Herrn Meier zu einer Erklärung bewogen,
welche er ebenſo gern vermied, als Eduard ſie
ſuchte — Clara ſagte: „Verſteht mich nicht falſch!
[188] Ich tadle Jenny nicht. Nur vor der Verderbt-
heit Derjenigen war mir bange, welche ihr ir-
gend ein unlauteres Motiv, ein Schauſtellen
dabei zur Laſt legen könnten. Wir Frauen
ſind ſo ſehr gewöhnt, uns nur innerhalb un-
ſeres ſchützenden Hauſes zu denken, daß wir
erſchrecken, wenn wir uns außerhalb deſſelben
handelnd erblicken.“


„Entſchuldige Dich nicht und mich nicht,
Clärchen!“ ſagte Jenny, die bis dahin ſchwei-
gend einer Unterhaltung zugehört hatte, bei der
ſie ſo nahe betheiligt war.„Du kennſt mei-
nen alten Wahlſpruch: „Thue, was Du ſollſt,
komme, was mag.“ Kann ich dafür, wenn ich
den Muth dazu von früher Jugend an fühlte?“
Mit dieſen Worten entfernte ſie ſich ſchnell,
um nach ihrem Schützling zu ſehen, und ließ
Walter in großer Bewegung zurück. Es war
das erſte Mal, daß er mit einer jüdiſchen Fa-
milie in nähere Berührung kam und Jenny's
[189] Geiſt und Schönheit, des Vaters Weisheit zo-
gen ihn um ſo mehr an, als ſie etwas ihm
Fremdes und Eigenthümliches beſaßen. Er
hatte von jeher gewußt, daß Jenny eine Jüdin
ſei; aber ſo fern hatte er dieſen Verhältniſſen
geſtanden, daß er faſt nie daran gedacht, es
könne ein edles Unglück darin liegen, Jude zu
ſein. Jetzt aus des alten Herrn ſchlichter
Aeußerung tönte ihm, dem Glücklichen, der
Schmerzensſchrei eines ganzen Volkes entgegen
und ſein Mitleid mit demſelben knüpfte, ihm
unbewußt, ein neues Band, das ihn an Jenny
feſſelte. Er widmete ſich ihr bald ausſchließlich
und hatte eine wahre Freude daran, ſie, die er
ſo lebhaft bewunderte, ſelbſt unter der großen
Zahl ſchöner und liebenswürdiger Frauen, die
Baden in ſich vereinte, als eine der ſchönſten
und liebenswürdigſten zu erblicken.


Er wenigſtens wollte durch ſein Verhältniß
zu Jenny und ihrem Vater zeigen, daß er frei
[190] von den Vorurtheilen ſei, durch die, wie er
allmälig von Jenny erfuhr, auch ſie und die
Ihrigen ſo empfindlich gelitten hatten. Er
ſchien eine Ehre darin zu finden, Jenny's un-
ausgeſetzter Begleiter zu ſein, und erklärte
offen, wie er die Geſellſchaft des alten Herrn
Meier und ſeiner Tochter faſt jeder andern
vorzöge.


Dabei ging Walter's Selbſttäuſchung ſo
weit, daß er jenes Gefühl, welches ihn zu han-
deln antrieb, nur für eine Gerechtigkeit, für
eine Genugthuung des freien Glücklichen gegen
den Unterdrückten hielt. Er glaubte, nur ſei-
ner politiſchen Ueberzeugung, ſeiner Achtung
vor Menſchenrechten zu folgen, die ritterliche
Pflicht eines Edelmannes zu erfüllen, indem er
durch ſein Beiſpiel gegen ungerechte Vorurtheile
kämpfte.


Einem Onkel, der durch Bekannte von Wal-
ter's Verhältniß zur Meierſchen Familie unter-
[191]
richtet war und mit einiger Unruhe deſſelben
gegen ihn erwähnte, ſchrieb er in dieſer Zeit
folgenden Brief:


„Sie haben mich gewöhnt, mein theurer
Onkel! die Beſorgniſſe und Vorwürfe zu
verſtehen, die Ihre ſchonende Liebe für mich
zwiſchen die Linien ſchreibt, um mir jede un-
angenehme Empfindung zu erſparen. So
leſe ich hinter dem wohlwollenden Rath, in
die Heimat zurückzukehren und nicht wieder
ſo gar lange von meinen Beſitzungen fern
zu bleiben, die Beſorgniß, ich könnte nicht
allein in dieſe Heimat einziehen, ſondern
eine Gattin mit mir bringen, die Ihnen,
dem ehemaligen Vormund, dem väterlichen
Freunde, nicht willkommen wäre, ſo gern
Sie mich übrigens verheirathet und unſer
altes Geſchlecht fortgepflanzt wüßten.“


„Fürchten Sie nichts! Meine liaison mit
dem Kaufmann Meier und ſeiner Tochter iſt
[192] allerdings eine ſehr innige und, wie ich denke,
dauernd; indeß iſt mir der Gedanke, Fräu-
lein Meier zu heirathen, vollkommen fremd.
Sie wiſſen, und ich glaube das fürchten Sie
gerade, daß kein Vorurtheil irgend einer Art
mich abhalten könnte, ein Mädchen zur
Gräfin Walter zu machen, das ich liebte:
doch ich liebe Jenny Meier nicht, ſo ſehr ich
ſie bewundre und mich ihrer Freundſchaft,
ihres Umganges erfreue. Es iſt wahr, ſie
iſt ſchön und liebenſwürdig in hohem Grade,
aber eine gewiſſe Jugendlichkeit, das weiblich
Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen un-
gern vermißt. Sie weiß mit Sicherheit, daß
ſie gefällt; es iſt ihr lieb, ohne daß ſie An-
ſpruch darauf macht, und ſie würde, wie
mich dünkt, nicht das Geringſte dazu thun,
die Meinung oder Gunſt eines Mannes zu
erwerben. Gefällt ſie, iſt's ihr recht, wenn
nicht, ſo gilt's ihr gleich. Geſtehen Sie,
[193] das iſt eigentlich nicht die Art, die wir lie-
ben. Es liegt etwas Männliches darin, das
intereſſant iſt, den Umgang ſehr erleichtert,
unſer Vertrauen, unſere Freundſchaft erweckt,
aber nicht Liebe.“


„Ich traf mit dieſer Familie Meier zu-
fällig durch die Vermittlung eines gemein-
ſamen Freundes zuſammen und nahm mit
Dank das Erbieten deſſelben an, ſeine und
ihre Wohnung zu theilen. Dies veranlaßte
vermuthlich jenes Gerücht meiner Verlobung
mit einer Jüdin, das Sie erſchreckt hat.
Für diesmal, das ſehen Sie, ſind Sie der
Sorge ledig, mich eine Heirath ſchließen zu
ſehen, die ſo ſtark gegen Ihre ariſtokratiſchen
Anſichten verſtoßen würde. Was die Zukunft
bringt, dafür kann ich nicht einſtehen. Doch
ohne Scherz! Sie wiſſen, wie ich darüber
urtheile, und habe ich je den Beruf gefühlt,
mit allen Waffen kämpfend gegen Vorurtheile
II. 9
[194] aufzutreten, ſo war es nach manchen Mit-
theilungen, die mir Fräulein Meier über ihre
Jugend und die Verhältniſſe ihres Bruders
machte, der auch Ihnen dem Namen nach
bekannt ſein muß. Jene Vorurtheile, das
ſind die Drachen unſerer Tage, die zu ver-
tilgen, Ritterpflicht wäre, weil ſie zerſtörender
wüthen, als jene Ungeheuer es vermocht; und
ſo viel an mir iſt, will ich beweiſen, daß ich
noch ein Ritter bin, wie jener St. Georg,
der den Lindwurm tödtete. Es würde Sie
ſelbſt ergreifen, wenn Sie Jenny mit Stolz
von dem Unglück ſprechen hörten, das ſie mit
Tauſenden theilt und für Alle empfindet;
denn obgleich ſie lange zum Chriſtenthum
übergetreten, iſt ſie von Grund der Seele
Jüdin geblieben. Sie geſteht das frei und
es macht ſie mir um ſo intereſſanter, wie
denn ihr ganzes Weſen mir eine neue Er-
ſcheinung, ein Räthſel iſt, das mich anmuthig
[195] beſchäftigt. In ihr vereinen ſich der Geiſt
und der Muth eines Mannes mit unend-
licher Güte, und es überraſcht mich oft, daß
doch zuletzt, trotz aller männlichen Klarheit,
irgend eine liebenswürdige weibliche Schwäche
oder ein lebhaftes Gefühl den Sieg über den
Verſtand davon tragen.“


„Sie ſehen aus der Weiſe, in der ich ruhig
den Charakter des Fräuleins zergliedere, daß
mein Herz frei iſt. Selbſt der geübteſte Anatom
vermöchte das nicht, wenn das Klopfen des
Herzens ihm die Hand unſicher macht, wie
viel weniger ich. Alſo unbeſorgt, mein Freund!
finden Sie mir in unſern Kreiſen eine liebens-
würdige Gattin und ich will mich nicht länger
ſträuben, mir Ketten anlegen zu laſſen, die
ſehr beglückend ſein können, wie ich an mei-
nem Freunde William und ſeiner ſchönen Frau
bemerke.“



9*
[196]

Tage und Wochen ſchwanden auf die an-
muthigſte Weiſe dahin. Walter überließ ſich
immer mehr dem ſteigenden Intereſſe, das ihn
an Jenny feſſelte und ihm ihren Umgang zu
einem Bedürfniß machte, das er nicht mehr
entbehren konnte, und auch ihr war Walter be-
reits ſeit lange ein werther Freund geworden.
Da entzog die Ankunft einer Freundin, der
Geheimräthin von Meining, Jenny auf [e]inige
Tage der Geſellſchaft ihrer Hausgenoſſen. Frau
von Meining, nur wenige Jahre älter als Jenny,
war an einen bejahrten Mann verheirathe, der
in Berlin als Arzt eine bedeutende Stellung
einnahm. Dort hatte Jenny ſie kennen gelernt
und ein unbedingtes Vertrauen zu ihr gefaßt,
das durch den hohen ſittlichen Werth jener
Dame vollkommen gerechtfertigt wurde. Faſt
jeden Sommer pflegte die Geheimräthin in Ba-
den zu leben, wo ſie eine Beſitzung hatte, wäh-
rend ihr Mann ſeinem fürſtlichen Herrn auf
[197] deſſen Reiſen folgte, und die Ausſicht, Jenny
zu treffen, hatte ſie um ſo mehr beſtimmt, auch
in dieſem Jahre ihren Lieblingsort wieder zu
beſuchen. Leider aber war ſie diesmal unpaß
in Baden angelangt, und eine große Reizbar-
keit der Nerven nöthigte ſie, ſich fürs Erſte der
Geſellſchaft fern zu halten und ſich allein auf
Jenny zu beſchränken, die mit Freude ihre Zeit
zwiſchen der Geheimräthin und den Ihrigen
theilte.


Willig ließ man ſie darin gewähren; nur
Graf Walter konnte ſein Mißvergnügen über
Jenny's häufige Abweſenheit nicht verbergen
und äußerte eines Abends gegen Herrn Meier,
wie er ſich die Abweſenheit einer ſo liebenswür-
digen Tochter nicht gefallen laſſen würde. Clara
lachte darüber und Herr Meier bemerkte: „Sie
werden auch uneigennützig werden, mein Freund,
wenn Sie das Glück kennen werden, das man
in der Zufriedenheit ſeiner Kinder empfindet.
[198] Uebrigens muß man auch der armen Leidenden
die kleine Zerſtreuung gönnen, die Jenny's Ge-
ſellſchaft ihr gewährt.“


„Aber heute bleibt Fräulein Jenny doch
ungewöhnlich lange dort“, ſagte Walter, als
man Anſtalten machte, ſich für den Abend zu
trennen, ohne Jenny's Rückkehr zu erwarten.


„Meine Tochter hat den Wagen erſt nach
elf Uhr beſtellt. Die Geheimräthin leidet an
Schlafloſigkeit und Jenny wollte verſuchen, ob
es ihr nicht gelänge, ſie durch leiſes, gleichmäßi-
ges Vorleſen oder auf irgend eine andere Weiſe
in Schlaf zu wiegen. Ich wünſche der liebens-
würdigen Frau und Euch eine gute Nacht.“


Mit den Worten entfernte ſich Herr Meier;
auch Clara und William zogen ſich zurück und
ließen Walter allein. Es war ihm zu früh,
ſich zur Ruhe zu begeben. Er ging hinab ins
Freie, um noch eine Stunde der Kühlung zu
genießen, denn er fühlte ſich verdrießlich, un-
[199] ruhig und in großer Spannung. Ihm war,
als ſtehe er am Vorabende einer neuen Epoche
ſeines Lebens, als erwarte er etwas, oder als
müſſe ihm heute irgend ein beſonderes Ereigniß
begegnen. Und wenn er ſich fragte, was ihn
ſo bewege, worauf er ſo ſehnſüchtig harre: dann
mußte er ſich bekennen, daß er es ſelbſt nicht
wiſſe. Vergebens verſuchte er dieſen Zuſtand
zu bekämpfen, und um endlich, wie er glaubte,
eine körperliche Erregtheit durch Ermüdung ab-
zuſtumpfen, ging er raſtlos und ſchnell vor-
wärts. So befand er ſich nach kurzer Zeit am
Ausgange der Lichtenthaler Allee, in der Nähe
des Hauſes, in dem Frau von Meining wohnte.
Die Meierſche Equipage hielt noch vor der
Thüre. Die Fenſter der Geheimräthin waren
matt beleuchtet. Zerſtreut blieb Walter eine
Weile ſtehen, ſah zu den Fenſtern empor und
ſchickte ſich dann plötzlich zur Rückkehr an.
Kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte
[200] gemacht, als er ſich auf eine der Bänke warf,
die ſich in der Allee befinden, und in ein tiefes
Hinträumen verſank, aus dem ihn dennoch der
Fußtritt jedes Vorübergehenden emporſchreckte.
Allmälig wurde die Allee einſamer. Die Uhr
des Nonnenkloſters in der Stadt ſchlug zwölf.
Bald darauf hörte er das Rollen von Rädern,
er fuhr auf und blickte nach der Gegend, woher
der Ton zu kommen ſchien. Aber täuſchte er
ſich nicht? Ein weißes Kleid ſchimmerte glän-
zend aus der Dunkelheit empor, er eilte der
Geſtalt entgegen, ſein Herz ſchlug hörbar —
Jenny ſtand vor ihm.


„Sie hier, Graf Walter?“ ſagte ſie über-
raſcht, doch freundlich, und legte ihren Arm in
den des Grafen, der ihn ihr ſchweigend bot.


Wer es nicht empfunden, wie viel Vertrauen
in der Art liegen kann, mit dem eine Frau
ſich auf den Arm eines Mannes lehnt, der wird
nicht begreifen, wie Walter ſich ſo glücklich
[201]
fühlte, als Jenny's Arm jetzt in dem ſeinen
ruhte. Denn es gibt gewiß nichts Gleichgül-
tigeres, als die Sitte, einer fremden Dame den
Arm zu bieten, und doch faſt nichts Süßeres,
als wenn dieſe gleichgültige Sitte unter Per-
ſonen zur traulichen Gewohnheit wird, die es
noch ſelbſt nicht wiſſen, wie nahe ſie ſchon zu
einander gehören.


Was unverſtanden wie eine dunkle Ahnung
in Walter geſchlummert hatte, das fühlte er
plötzlich als unwiderſtehliche Wahrheit. Er hatte
Jenny immer ſchon geliebt und jetzt, da ſie
freundlich und doch ſorglos, als müſſe es ſo
ſein, ſeinen Schutz und ſeine Stütze annahm,
jetzt ging die Sonne der Liebe glorreich in ſei-
nem Bewußtſein auf und er fragte ſie inner-
lichſtſelig: „Warum erſt jetzt?“


Schweigend legten ſie eine Strecke des We-
ges zurück, denn Walter vermochte nicht zu
ſprechen vor innerer Wonne, und Jenny fühlte
9**
[202] ſich ſo geborgen unter dem Schutze dieſes Man-
nes, ſo zufrieden in dem Gedanken an die Er-
leichterung, die ſie ihrer Freundin verſchafft
hatte, daß ſie ſich willig jener weichen Ruhe
überließ, zu der die ſchöne Sommernacht ver-
führeriſch einlud. Allmälig aber wurde ihr
Walter's Schweigen peinlich. Es war, als ob
ſeine Stimmung ſich ihr mittheilte, ſie fühlte
ſich beklommen, geängſtigt, und um nur eine
Veränderung in dieſe Situation zu bringen,
ſagte ſie: „Es war ſo ſchwül in den Zimmern
der Frau von Meining, daß ich dringend die
Nothwendigkeit fühlte, mich abzukühlen und
deshalb mit unſerm alten Diener den Fußweg
einſchlug. Die Nacht iſt wunderſchön.“


„O, unausſprechlich ſchön!“wiederholte Wal-
ter und die frühere Stille trat wieder ein.
Jenny's Unruhe ſtieg dadurch von Minute zu
Minute. Sie bildete ſich endlich ein, um ihre
Unruhe zu motiviren, ihrem Vater ſei irgend ein
[203] Unglück begegnet und man habe ihr Walter
entgegengeſchickt, ſie davon in Kenntniß zu ſetzen.
„Wie ging es meinem Vater, als ſie ihn ver-
ließen?“ fragte ſie bebend.


„Er war wohl und munter, und hatte ſich
zur Ruhe begeben, ehe ich fortging“, antwor-
tete der Graf, und Jenny, als ſie in dieſem
Augenblick ihre Wohnung erreichten, machte
ihren Arm aus dem des Grafen los und
ſank tief aufathmend auf den Sitz vor ihrer
Thüre nieder. Sie hätte weinen mögen, ſo
bewegt war ihr Herz; ſie wollte aufſtehen
und noch in das Zimmer ihres Vaters ge-
hen, um ſich zu überzeugen, daß er wohl ſei,
und war doch ſo erſchöpft von der Beängſti-
gung auf dem Wege, daß ſie kein Glied zu
rühren vermochte. Schweigend ſaß Walter ne-
ben ihr.


Die tiefſte Stille herrſchte ringsum; nur
das Rauſchen der Blätter, das leiſe Rieſeln des
[204] Oelbaches tönte an ihr Ohr. Balſamiſch drang
der Duft des friſch gemähten Graſes von den
Wieſen empor und Jenny's Seele fand Ruhe
und Friede in dieſer feierlichen Stille, der ſie
ſich mit Wonne hingab. Da tauchte plötzlich
ein lichter Schein am nördlichen Horizonte auf,
hell und immer heller, ſodaß der ganze Him-
mel davon durchleuchtet und verklärt ſchien,
während ein Lichtmeer den Urſprung der herr-
lichen Erſcheinung bezeichnete. Einzelne Strah-
len ſchoſſen blitzſchnell gegen den Zenith empor,
im wechſelnden Farbenſpiel und mit ganz überirdi-
ſcher Pracht; dann verſchwammen ſie wieder in
dem Lichtmeer und neue, ebenſo glänzende
Flammenſtreifen tauchten daraus hervor. Es
war das ſchönſte Nordlicht, das man ſeit lange
geſehen hatte und bewundernd hingen Jenny's
Blicke an dem erhabenen Anblick. Ihre Hände
falteten ſich unwillkürlich und mit bebender
Stimme ſagte ſie: „Und ſie ſprechen von Offen-
[205] barung! Als ob es eine göttlichere, unwider-
ſtehlichere geben könnte, als dieſe. Wer ſollte
nicht glauben an Den, der ſo zu uns ſpricht?
Das iſt Gott! Das iſt der Gott, den ich anbete,
und der keines Mittlers, keiner ſinnverwirren-
den Lehren von Kreuz und Blut und Tod be-
darf, um uns fühlen zu laſſen, daß ſein die
Macht und Er die Liebe iſt.“


Thränen der ſeligſten Begeiſterung floſſen
aus Jenny's Augen. Kein Gedanke, als die
anbetende Verehrung, die tiefſte Demuth vor
Gott war in ihrer Seele, als Walter mit einem
Ausruf von Entzücken ſich vor Jenny nieder-
warf und ihre gefalteten Hände an ſeine glü-
henden Lippen preßte. Erſchreckt und unan-
genehm durch dieſe leidenſchaftliche Berührung
in ihrer Andacht geſtört, ſtand Jenny auf und
ſagte mit einem Tone des Vorwurfs: „Ent-
weihen Sie die Stunde nicht. Knien Sie nicht
vor dem Geſchöpf, wenn der Schöpfer ſelbſt
[206] Sie einer ſolchen Offenbarung würdigt.“ Und
ſchritt raſch in das Haus, an deſſen Thüre ihr
Diener ihres Eintritts wartete.


Beſtürzt ſah Walter ihr nach. Sein Herz
hatte voll grenzenloſer Liebe verlangt, ſich in
dieſer feierlichen Stunde der Geliebten für im-
mer zu eigen zu geben, und im Uebermaß des
Gefühls war er vor ſie niedergeſunken. Er be-
tete ſie an, wie ſie den Schöpfer, und kalt und
tadelnd hatte ſie ihn von ſich geſtoßen. Er
warf es ſich vor, wie ein blöder Träumer vor
Jenny geſtanden zu haben, ſtatt wie ein Mann
von ihr die Seligkeit zu fordern, die er be-
gehrte, die ſie allein ihm zu gewähren vermochte.
„Jetzt“, ſagte er ſich, „jetzt könnte ſie mein
ſein. Ich könnte meine brennenden Lippen auf
die ihren drücken, den Schlag ihres Herzens an
dem meinen fühlen, wiſſen, daß ſie mein iſt für
immer — daß ſie mich liebt. ...“


Walter hielt inne. Daß ſie ihn liebte, da-
[207] für hatte er keinen Beweis und doch glaubte
er daran. Eine Liebe wie ſeine konnte nicht
unerwidert bleiben, ſie mußte Gegenliebe finden.
Dieſe Hoffnung gab ihm Muth und voll Ver-
trauen auf einen glücklichen Ausgang wollte er
am nächſten Morgen Jenny ſeine Liebe geſtehen
und von ihrem Vater die Hand ſeiner Tochter
fordern.



Doch nur zu oft vernichtet der Morgen die
Hoffnungen des vorigen Tages. Als Walter
das Zimmer betrat, in dem man ſich zu ver-
ſammeln pflegte, ſah er an den verſtörten Zü-
gen der beiden Damen, daß ihre Ruhe erſchüt-
tert, ein unangenehmes Ereigniß hereingebrochen
ſein müſſe. Clara ſchien geweint zu haben und
ſchüttelte traurig das Haupt, als Herr Meier
tröſtend ſagte: „Sie ſollten froh ſein, mein
[208] Kind, daß dies Verhältniß nun endlich zu einer
Entſcheidung gekommen iſt. An den augenblick-
lichen Schmerz darf man nicht denken, wo eine
lange und ſo Gott will beſſere Zukunft gewon-
nen werden ſoll.“


Um nicht zu ſtören, verließ der Graf das
Zimmer und ging zu William, den er ſchreibend
fand. Von ihm erfuhr er, wie vor einer Stunde
ein Brief Eduard's angekommen ſei, der dieſe
allgemeine Aufregung verurſacht hatte. Er war
an William gerichtet und lautete:


„Mein Freund. Mache Dich gefaßt, eine
Mittheilung zu hören, die, obgleich erwünſcht
in ihren Folgen, doch für den Augenblick ihr
tief Betrübendes hat. Ferdinand iſt bei mir,
aber er iſt krank und ſehr zu beklagen.“


„Vorgeſtern in der Nacht ſchellte man an meiner
Thüre. Man öffnete und kam, mich zu wecken,
weil ein Kranker nach mir begehre. Gleich
darauf trat der Fremde bei mir ein und ich
[209] fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt
ſei? „Ich ſelbſt bin krank zum Sterben und ich
wollte, ich wäre ſchon todt“, antwortete der
Unbekannte. Ich ſah ihn prüfend an. Eine
verfallene Geſtalt, üſirte Züge und wenig, faſt
ergrautes Haar — obgleich der Mann ſo alt
nicht ſchien, um dieſen gänzlichen Verfall zu
rechtfertigen. „Sie kennen mich nicht mehr, oder
wollen Sie mich nicht kennen?“ fragte er höh-
niſch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz
der faſt unglaublichen Veränderung in ſeinem
Aeußern. Es war Ferdinand.“


„Ich nöthigte ihn, ſich niederzuſetzen. Ich
fragte nach ſeiner Frau. „Nennen Sie das
Weib nicht!“ rief er und ſein Geſicht zuckte
krampfhaft. „Mit dem Wenigen, das man
mir als Almoſen hinwarf, vermochte ſie ſich
nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An-
ſprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich
war krank, ein Fieber nahm mir die Beſinnung
[210] und dieſen Zeitpunkt benutzte ſie, mir Alles zu
rauben, was ich noch beſaß, und mich zu ver-
laſſen. Ich hatte ja nichts mehr zu verſchenken,
zu verſchwenden“ So ſchloß er und wieder flog
das convulſiviſche Zittern durch ſeine Züge.“


„Ich ſah, daß ſeine körperliche Erſchöpfung aufs
Höchſte geſtiegen war, und redete ihm zu, die
Nacht bei mir zu bleiben, zu ruhen; wir könn-
ten das Nöthige dann am Morgen überlegen.
Er betrachtete mich mit einem Mißtrauen, das
mich befremdete, da er gerade mich auſgeſucht
hatte, und ſagte: „Wollen Sie erſt von der
Familie Horn Verhaltungsbefehle holen?“ Nun
wußte ich, wie ihm beizukommen war. Es ge-
lang mir, ihn zu beruhigen. Ich ließ eine Mahl-
zeit auftragen, denn er bedurfte dringend einer
Erquickung. Mit gieriger Haſt griff er nach
den Speiſen und brach dann, als er ſich geſät-
tigt hatte, in lautes Weinen aus. „So komme
ich in meine Heimat zurück!“ rief er und fing
[211]
dann an, mir zu erzählen, wie er ſeit geſtern
faſt keine Nahrung zu ſich genommen, den Poſt-
wagen nicht verlaſſen hätte, aus Scheu, hier
in der Nähe ſeiner Vaterſtadt Bekannten zu
begegnen. „Auch hatte ich kaum, wovon eine
Mahlzeit zu bezahlen“, ſagte er. Sie hat mir
Alles genommen, ehe ſie mich verließ. Als ich
zum Bewußtſein erwachte, war ich allein, ein
Bettler. Seit Monden war unſer Credit er-
ſchöpft, Niemand wollte uns mehr borgen. Ich
erfuhr, daß ſie einem Ruſſen gefolgt war, der
ihr lange nachgeſtellt hatte und ihr glänzendere
Ausſichten verſprach, als ſie bei mir erwarten
konnte. Ein Ring, den ich nie abgelegt und
den ich jetzt verkaufte, bot mir die Mittel, ſie
zu verfolgen — doch bald ſah ich die Thor-
heit dieſes Unternehmens ein. Ich mag ſie nicht
wiederſehen. Eine unbezwingliche Sehnſucht
trieb mich hieher. Ich will hier ſterben, wo ich
einſt glücklich war.“


[212]

„Erſchöpft fiel er in den Sopha zurück, und
da ich abſichtlich ſchwieg, ſchlief er bald ein,
obgleich er heftig fieberte. Seitdem hat ſich
unverkennbar ein nervöſes Fieber deklarirt und
die Krankheit iſt im Steigen. Er hat nur we-
nige klare Augenblicke, in ſeinen Phantaſien aber
ſpricht er mit dem tiefſten Haß von ſeiner Mut-
ter, der er ſein Unglück zuzuſchreiben ſcheint.
Wenn nicht beſondere Zufälle dazwiſchen treten,
iſt ſein Zuſtand nicht gefährlich, und ich hoffe,
ihn herzuſtellen. Indeſſen halte ich es für rath-
ſam, den Eltern die Anweſenheit Ferdinand's
zu verbergen, bis er körperlich und geiſtig im
Stande iſt, ein Wiederſehen zu ertragen. Jetzt,
da die Trennung von ſeiner Frau erfolgt iſt,
wird es uns ein Leichtes ſein, ihn allmälig ſei-
nen Eltern und ſeinen frühern bürgerlichen Ver-
hältniſſen wieder zu geben.“


„Beruhige Deine Frau deshalb und ſage ihr,
daß es ihm an der Pflege und Sorgfalt, die
[213] ſein Zuſtand erfordert, nicht fehlen ſoll. Ich
bürge dafür und hoffe, Dir bald tröſtlichere
Nachrichten geben zu können.“


Mit der Entſchloſſenheit, die William's gan-
zes Weſen charakteriſirte, erklärte er gleich nach
Leſung dieſes Briefes ſich bereit, nach Clara's
Vaterſtadt zu reiſen, um nicht Eduard allein
die Sorge für den Unglücklichen aufzubürden,
und unter ſtrömenden Thränen beſchwor ihn
Clara, ſie mit ſich zu nehmen, es ihr zu ver-
gönnen, daß ſie ſelbſt die Pflege des Bruders
übernehmen und ſeine Rückkehr in das väter-
liche Haus einleiten könne. Auch dazu war
William geneigt, nur die Unmöglichkeit, mit
den Kindern eine ſo ſchleunige Reiſe zu machen,
wie ſie hier erforderlich war, ſchien Clara's
Wünſchen ein Hinderniß in den Weg zu legen,
bis Jenny mit ihres Vaters Zuſtimmung ſich
erbot, die Kinder unter ihre Obhut zu nehmen
und mit ſich nach Hauſe zu bringen. So ward
[214] es beſchloſſen, noch an demſelben Nachmittage
abzureiſen, und in trauriger Stimmung ſah
Clara der Stunde entgegen, in der ſie zum
erſten Mal ſich von den Lieblingen ihres Herzens
trennen ſollte, während William und Jenny
ihr Muth zuſprachen und das Nöthige beſorgten.


Natürlich mußten Walter's perſönliche
Wünſche vor dieſen Ereigniſſen in den Hinter-
grund treten. Jenny ſchien des vorigen Abends
vergeſſen zu haben. Sie war eifrig um Clara
bemüht und gönnte ſich nicht eher Ruhe, bis
ſie die Freundin wohlverſorgt auf dem Wege
in die Heimat wußte. Dann ließ ſie die Kin-
der in ihr Zimmer bringen, richtete ſie dort ge-
hörig ein und traf endlich zur Theeſtunde mit
dem Grafen und ihrem Vater zuſammen.


Jetzt erſt fühlte ſie, wie ſich ſeit geſtern ihr
Verhältniß zu Walter geändert hatte. Sie
wußte nun, daß er ſie liebte, und obgleich er
ihr ſehr werth war, war ihr ſeine Liebe nicht
[215] willkommen. Sie konnte den rechten Ton für
die Unterhaltung nicht finden, wurde zerſtreut,
dann verdrießlich, daß ſie ſich ſo wenig zu be-
herrſchen wiſſe, und entfernte ſich unter dem
Vorwande, Frau von Meining ihren Beſuch
zugeſagt zu haben.


Walter, dem Jenny's befangenes Weſen,
ihre Zurückhaltung nicht entgangen war, glaubte
ſie durch ſein leidenſchaftliches Betragen verletzt
und benutzte ihre Abweſenheit dazu, ihrem Va-
ter ſeine Bitte um Jenny's Hand auszuſprechen,
um ſich dann auch gegen ſie zu erklären und
in ſeiner Liebe eine Entſchuldigung für den Un-
geſtüm zu finden, mit dem er ſie geſtern erſchreckt
hatte.


So oft Herr Meier auch in gleicher Lage
geweſen war, ſo ſehr überraſchte ihn Walter's
Antrag. Er fragte, ob der Graf die Liebe ſei-
ner Tochter beſitze?


„Ich glaube mit Zuverſicht, daß mir ihre
[216] Freundſchaft und Achtung gewiß iſt, ich hoffe,
ihre Liebe zu erwerben“, antwortete Walter.


„Und iſt Ihre Familie von dem Schritte
unterrichtet, den Sie thun wollen, lieber Walter?“


„Nein, aber Sie wiſſen, daß ich unabhän-
gig und Herr meiner Handlungen bin.“


„Indem Sie mir dieſe Erklärung geben“,
ſagte Herr Meier, „geſtehen Sie mir zu, daß
Sie die Meinung der Ihrigen gegen ſich haben
würden. Das fürchte ich ſelbſt, und wünſchte,
ich könnte Ihre Werbung ungeſchehen ma-
chen. Ich weiß nicht, ob Jenny Sie liebt, noch
wenigſtens iſt ſie, wie ich hoffe, frei genug, eine
Trennung von Ihnen zu ertragen; darum fol-
gen Sie meinem Rathe, Walter, benutzen Sie
William's Abreiſe, uns gleichfalls zu verlaſſen,
und geben Sie einen Wunſch auf, deſſen Er-
füllung Ihnen und uns Kummer machen könnte.“


„So verweigern Sie mir Jenny's Hand?“
fragte Walter erbleichend und ſetzte mit einem
[217] Ton, dem man den tief gekränkten Stolz an-
hörte, hinzu: „Darauf war ich nicht vorbereitet.“


Ruhig nahm Herr Meier Walter's Hand
und zog ihm zu dem Sitze nieder, von dem er
aufgeſtanden war.


„Verſtehen Sie mich nicht falſch“, ſagte er.
„Ich glaube, Ihnen durch mein Betragen gegen
Sie gezeigt zu haben, daß ich Sie achte, Sie
für einen edlen Menſchen halte. Sie ſelbſt
wiſſen, daß Ihre Stellung in der Welt den
Anſprüchen des ehrgeizigſten Vaters genügen
müßte. Aber Sie würden Jenny zu einem
Range erheben, deſſen die gräflich Walterſche
Familie die Tochter eines Juden nicht würdig
achten könnte. Davor möchte ich Jenny be-
wahren und Sie vor der ſchweren Pflicht, Ihre
Frau gegen die Vorurtheile Ihrer Familie und
Ihrer Standesgenoſſen zu ſchützen.“


„Und glauben Sie, daß mir dazu der Wille
oder die Kraft fehlte?“ fragte Walter. „Glau-
II. 10
[218] ben Sie, daß Jenny's perſönlicher Werth nicht
die Einwendungen beſiegen würde, die mein
Onkel gegen dieſe Verbindung machen könnte?
Er iſt der Einzige, deſſen Meinung mir Werth
hat, deſſen Anſichten ich ſchonen möchte, und
er wird den Schritt billigen, wenn er Jenny
kennt und meine Liebe für ſie. Ich war glück-
lich, ſeit ich denken kann — ich habe Alles,
was das Leben ſchön macht, nur eine Gattin
fehlt mir, mein Glück zu theilen. Da führt
ein günſtiges Geſchick mir Jenny zu. Ich liebe
ſie, ich möchte ihrer Hand mein höchſtes Gut
verdanken, und Sie verweigern es mir, weil Sie
mich von Vorurtheilen nicht frei glauben, die
man in unſrer Zeit kaum noch der Rohheit des
Niedrigſten verzeiht.“


„Wollte Gott, es wäre ſo!“ ſagte Herr
Meier ernſt, „dann ſollte mir kein Gatte will-
kommner für Jenny ſein, als Sie; Keinem
würde ich meine Tochter mit größerer Zuver-
[219] ſicht vertrauen, als Ihnen. Die Erklärung
muß Ihnen für meine volle Achtung bürgen.“
Bei den Worten reichte er Walter ſeine Hand,
der ſie herzlich drückte. „Was aber nun
Ihren Antrag und Ihr Verhältniß zu Jenny
betrifft, darin folgen Sie mir. Es gilt das
Glück meiner Tochter und Ihres, Walter. Trauen
Sie mir, der ich die Welt und die Menſchen
länger kenne, als Sie. Ich betrachte Sie für
frei von jeder Verpflichtung gegen uns. Ueber-
eilen Sie nichts. Laſſen Sie ſich Zeit, die An-
ſicht Ihres Onkels zu hören, prüfen Sie ſelbſt
die Meinung des Kreiſes, dem Sie angehören,
und wenn Sie dann ihren Wunſch noch hegen,
wenn Jenny damit einverſtanden iſt, will ich
von Herzen einen Bund ſegnen, der in Bezug
auf Sie ſchon jetzt meine vollkommenſte Zuſtim-
mung hat. Sind Sie damit zufrieden, Walter?“
fragte er.


„Muß ich nicht?“ antwortete der Graf,
10*
[220] der ſich nur ungern in den Gedanken fand, ſein
Ziel ſo weit hinausgeſchoben zu ſehen, obgleich
er fühlte, daß Herr Meier ſeiner Denkart nach
nicht anders handeln konnte und ihn deshalb
nur um ſo höher ſchätzte. Mit Widerſtreben
verſtand er ſich dazu, ſich gegen Jenny nicht
zu erklären, bis er ſeinen Onkel von ſeiner Ab-
ſicht in Kenntniß geſetzt und deſſen Antwort
erhalten hätte, und verließ den Greis, um dem
Onkel zu ſchreiben. Auch Herr Meier zog ſich
zurück, um Eduard ſeinerſeits von dem Geſche-
henen zu benachrichtigen. Er machte ihn auf
die glänzenden Verhältniſſe, auf den trefflichen
Charakter Walter's aufmerkſam und ſagte:
„Dennoch widerſtrebt meine innere Ueberzeugung
dieſer Verbindung faſt ebenſo ſehr, als der mit
Reinhard, mit dem Unterſchiede, daß jetzt meine
Beſorgniß den Verhältniſſen gilt, während ſie
bei Reinhard den Charakter des Mannes betraf.
Niemand iſt ſo gleichgültig gegen das Urtheil
[221]
der Menſchen, daß Lob oder Tadel ſeiner Um-
gebung ihn kalt ließe, und es könnte für Jen-
ny's Glück eine harte Probe werden, wenn ſie
es erleben müßte, Walter's Entſchluß von ſei-
nen Standesgenoſſen getadelt und ihn dadurch
verletzt zu ſehen. Ihre erſte Verlobung brachte
ſie in geiſtiger Beziehung in einen traurigen
Conflikt, dieſe könnte ſie in ein ſchwer zu über-
windendes Mißverhältniß zu den äußern Um-
ſtänden verſetzen und ſie leicht ebenſo unglücklich
machen, als jene. Wie ich Jenny beurtheile,
fühlt ſie das ſelbſt und hat Scheu vor Walter's
unverkennbarer Neigung, weil ſie ſich nicht den
Muth zutraut, ſeiner Liebe und ſeiner Werbung
zu widerſtehen. Bei Walter's perſönlichen Eigen-
ſchaften und ſeiner Stellung in der Welt würde
es vielleicht jedem Mädchen ſchwer, da keines
von Eitelkeit frei und Walter ganz der Mann
iſt, Liebe und Zutrauen zu erwecken. Doch
bin ich überzeugt, daß dieſe Heirath früher oder
[222] ſpäter zu Stande kommt, und theile Dir dieſe
Nachricht mit als Etwas, das ich nicht gerne
ſehe, aber nicht zu hindern vermag. Deinen
Anſichten dürfte das Verhältniß willkommen
ſein. Gott gebe, daß meine Beſorgniß mich
trüge und Jenny ſo glücklich werde, als ſie es
verdient.“


In ſeiner Anſicht von Jenny's Scheu vor
der Bewerbung Walter's und ihrem Mißtrauen
gegen ſich ſelbſt hatte ihr Vater ſich wirklich
nicht getäuſcht. Jenny war zu ſehr an Huldi-
gungen gewöhnt und nicht mehr jung genug,
um in jeder Annäherung eines Mannes Liebe
zu erblicken. Gerade deshalb hatte ſie ſich in
ihrem Verhältniß zu Walter, in ſeiner Geſell-
ſchaft um ſo behaglicher und freier gefühlt, als
ſie mit Sicherheit glaubte, hier keinen andern
Anſprüchen zu begegnen, als denen, welche man
einem geachteten Freunde willig zugeſteht. Jetzt
war ihr plötzlich die Ueberzeugung des Gegen-
[223] theils geworden und mit ihr das Bewußtſein,
daß ſie durch Walter's Liebe manchem neuen
Kampfe ausgeſetzt werden könnte: ſei es, daß
er ihre Hand verlange, oder aus Rückſicht auf
ſeine weltliche Stellung darauf verzichte. Ver-
ſtimmt gemacht durch dieſe Gedanken, langte
ſie, während Walter die Unterredung mit ihrem
Vater hatte, bei Frau von Meining an, die in
Jenny's beweglichem Geſicht die Spuren einer
innern Unruhe leicht bemerkte. Sie fragte um
die Urſache derſelben, obgleich Jenny anfangs
die Thatſache läugnete, und erſt nach freund-
lichem Bitten und Dringen von Seiten der
Geheimräthin ſagte Jene:


„Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe
eines Mannes zu beſitzen, an die ich nie ge-
dacht, und das iſt mir unangenehm.“


Die Geheimräthin ſah ſie verwundert an,
lächelte dann und meinte: „Das heißt, Du be-
mitleideſt ihn, weil Du dieſe Liebe nicht erwi-
[224] derſt und er Dir nicht gefällt. Das kommt
wohl vor im Leben und ſollte Dir nicht ſo
neu ſein, Dich ſo ſehr zu verſtimmen.“


„Im Gegentheil“, antwortete Jenny, „er
iſt mir lieb und werth, und gerade darum thut
es mir ſo wehe.“


„Jenny“, ſagte die Geheimräthin, plötzlich
ernſthaft geworden, „ich will kein Vertrauen
erzwingen, wenn Du nicht geneigt biſt, es mir
zu gewähren. Nur das Eine ſage mir, mich
zu beruhigen: Iſt der Mann, der Dich liebt,
verheirathet, oder ſonſt in einer Weiſe gebun-
den, die Deine Unruhe erregt? Nur die Eine
Frage beantworte mir.“


„Nein, nein, mein guter, lieber Engel!“ rief
Jenny, über den feierlichen Ernſt ihrer Freundin
lächelnd. „Er iſt frei und unumſchränkter Herr
ſeines Willens; ich zweifle nicht, daß er mir
ſeine Hand anträgt, aber das iſt es, was ich
fürchte und was mein Vater ungern ſehen wird.“


[225]

„So iſt er arm und ſeine Stellung der
Deinen zu ungleich?“ fragte Frau von Meining.


„Kennſt Du meinen Vater und mich ſo
wenig“, entgegnete Jenny im Tone des Vor-
wurfs, „zu glauben, daß dergleichen uns irren
könnte? Nein, im Gegentheile, Walter iſt es,
der mich liebt, und deſſen Liebe ich fürchte.“


„Walter!“ rief die Geheimräthin erfreut und
ſetzte dann hinzu: „Du biſt unwahr gegen Dich
oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un-
willkommen ſein, denn gleichgültig iſt er Dir nicht.“


„Auch habe ich das nicht behauptet,“ ant-
wortete Jenny. „Aber ich habe durch meine
Verlobung mit Reinhard ſo viel gelitten, mich
ſo an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich
jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere,
neuen Stürmen ausgeſetzt zu ſein. Ich habe
in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder
— denn auch Joſeph iſt mir ein Bruder —
in der Kunſt mir eine Welt geſchaffen, in der
10**
[226] ich Freude finde und ſie den Andern bereite.
Nenne es Feigheit oder Egoismus, wie Du willſt,
ich mag aus dieſem ſichern Hafen mich nicht
in das Meer des Lebens wagen. Ich will nicht
heirathen.“


„Und wenn Dein Vater ſtirbt?“


„Dann leben mir die Brüder ....“


„Die wahrſcheinlich Deinen Entſchluß nicht
theilen“, fiel ihr die Geheimräthin ins Wort,
„ſich verheirathen würden, wenn Du Dich ihnen
durch einen vernünftigen Entſchluß entzögeſt
und ſo ihr und Dein Beſtes förderteſt. Wie
viel hundert Mal haſt Du mir über die hohe
Anſicht geſprochen, die Du von der Ehe hegſt!
Wie erhaben haſt Du mir Walter's Idee davon
geſchildert, als Du mir neulich von der Unter-
haltung erzählteſt, die Du über dieſen Gegen-
ſtand mit ihm gehabt. Alſo Gleichniſſe zeich-
nen kannſt Du, aber im Leben ſie durch Dich
zu realiſiren, ſtehſt Du an!“


[227]

Sie war ganz erhitzt durch den Eifer, mit
dem ſie geſprochen hatte, lehnte ſich in ihrem
Fauteuil zurück und ſagte lächelnd, da Jenny
nachdenkend ſchwieg: „Wie ſich doch Alles im
Leben wiederholt. Meine Tante würde eine
Freude haben, könnte ſie ſehen, wie ich jetzt an
Dir die Ermahnungen probire, die ſie mir ge-
macht, ehe ich mich verheirathete. Ich denke
aber, ſie finden bei Dir ein ſo williges Ohr,
als bei mir, und nehmen auch ein ſo glückliches
Ende.“


„Das ſagſt Du, Clementine“, rief Jenny,
„Du, die mir ſelbſt erzählt, welchen Kampf Du
noch nach Deiner Hochzeit zwiſchen Pflicht und
Liebe beſtanden haſt?“


Clementine ſtrich mit der Hand über die
hohe, zarte Stirn und ſagte mit unbeſchreib-
licher Weichheit und Demuth: „Ich halte Dich
nicht für ſchwächer als mich. Was ich ver-
mochte, mußt Du auch vermögen. Du ſollſt
[228] ſie auch kennen lernen, die Wonne, ſeine Nei-
gung dem Glücke eines Andern zu opfern, und
darin ein neues, beſſeres Glück zu finden.“
Dann nach einer Pauſe fuhr ſie fort: „Uebri-
gens, was will ich denn? Von dem Opfer einer
Neigung iſt ja hier die Rede nicht! Du liebſt
keinen Andern; Du biſt frei und Walter iſt
Dir werth. Was drückt und ängſtigt Dich
denn?“


„Der Gedanke, man könne mir ehrgeizige
Motive unterlegen“, ſagte Jenny lebhaft, „wenn
ich Walter's Hand annehme; und — daß ich es
Dir geſtehe — die Möglichkeit, er könne es
einſt bereuen, eine Bürgerliche, eine Jüdin, ge-
heirathet zu haben, wenn mir der Zutritt zu
den Cirkeln des Hofes verſagt bleibt, oder wenn
irgend ein anderes Ereigniß ihn unangenehm
daran erinnert. Ich mag nicht, wie Walter es
in jenem Gleichniß nannte, die kümmerliche
Pflanze ſein, die ſich zu einer Höhe emporrankt,
[229] für die ſie nicht geboren iſt. Liebte ich Walter,
vielleicht wäre ich ſchwach genug, meine Ver-
nunft zu verleugnen; jetzt nimmermehr! Mag
Walter ſich eine Gefährtin wählen, die ihm
gleich iſt an Vorzügen des Ranges und der
Geburt, die mit ihm auf gleicher Höhe erwuchs.
Ich will keinem Menſchen Etwas verdanken,
das er jemals bereuen könnte, mir gegeben zu
haben.“


„Aus der Hand eines geachteten Gatten
entehrt keine Gabe und er bereuet ſie nicht,
wenn er ſie, wie Walter Dir, mit ruhiger
Ueberzeugung gibt“, ſagte Clementine, die wol
fühlte, daß hier der Punkt läge, von dem Jen-
ny's Weigerung gegen Walter's Wünſche aus-
ging. Auch ſie kannte Walter und, erfreut
durch den Gedanken, ihn und Jenny verbunden
zu ſehen, wünſchte ſie womöglich dazu beizu-
tragen. Darum vermied ſie es für diesmal,
[230] Jenny auf dieſer für ſie empfindlichſten Seite
anzugreifen und bemerkte ablenkend: „Und das
iſt doch der einzige Grund, der Dich beſorgt
machen kann!“


„Nein!“ antwortete Jenny, „auch in mir
ſind Gründe dagegen. Mir fehlt die Fähigkeit,
mich in dem Leben eines Andern aufgehen zu
laſſen. Meine Exiſtenz iſt eine feſt beſtimmte,
in ſich abgeſchloſſene. Ich habe mich an eine
gewiſſe Freiheit gewöhnt, die ich nicht mehr
entbehren kann und die ich in der Ehe doch
aufgeben müßte. Vor Allem aber, wie ich
Reinhard liebte, kann ich nicht wieder lieben.
Mir fehlt die Jugendlichkeit, die Friſche des
Herzens, das fühle ich tief. Ich kann ſo nie
wieder lieben!“


„So liebe Walter anders!“ wandte Frau
von Meining ein. „Auch Du biſt ſicher nicht
das erſte Mädchen, das ihn die Liebe kennen
[231]
lehrt. Er iſt ein Mann, der in der Schule
des Lebens und des Hofes ſeine Prüfungen be-
ſtand. Den ruhigen Mann reißt keine Leiden-
ſchaft blindlings hin; was er thut, hat er über-
legt, was er verſpricht, will und wird er hal-
ten. Und was die Friſche des Herzens betrifft,
ſo iſt es mit der Liebe wie mit dem Menſchen
überhaupt. Die Geſchlechter gehen und kom-
men, jedes hat die Erfahrungen des vorigen
für ſich, ſie gleichen ſich faſt alle und doch —
hat jedes neue Geſchlecht ſeine Thorheit und
ſeine Weisheit, ſeine Jugend, ſeine Blüthe,
nach ſeiner Individualität; eine Blüthe, die
rein und ſchön iſt, obgleich ſie erſt auf der
Aſche der geſchiedenen Generation erwuchs.
Darum Muth, mein Herz! Den falſchen Stolz
beſiege und im Uebrigen vertraue der Liebes-
fähigkeit und der Liebebedürftigkeit des Frauen-
herzens.“


[232]

Eine innige Umarmung beendete dieſe Un-
terhaltung, die in Frau von Meining den
Entſchluß hervorgerufen hatte, ſich ſobald als
es ihr möglich ſein würde, der Geſellſchaft an-
zuſchließen, um Jenny und Walter ſchnell an
ein Ziel zu bringen, das ihr für Beide ſo
glückverſprechend ſchien. Dieſe freudige Hoff-
nung that für die Anregung ihrer Nerven
mehr, als irgend eine Arzenei vermochte und
ſchon am nächſten Tage nahm ſie zum erſten
Male Walter's Beſuch an, der faſt täglich in
ihrer Wohnung geweſen war, um ſich nach ih-
rem Ergehen zu erkundigen.



[233]

Zwei Gefühle waren es beſonders, die Jenny
beunruhigten und ſie bewogen, ſich von Walter
zu entfernen. Die Furcht, welche ſie Frau
von Meining geſtand, vor einer Verbindung,
die man gerade in den Kreiſen eine mesalliance
nennen würde, in denen ſie als Walter's Frau
zu leben beſtimmt war, und was ſie nur ſich
ſelbſt bekannte, Scham vor ſich ſelbſt, daß ſie
einer zweiten Neigung fähig ſei, die ſich ent-
ſchieden zu Walter's Gunſten in ihr geltend
machte. Trotz ihres klaren Verſtandes beſaß
Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Her-
zens und hatte mit Treue das Andenken des
Geliebten ihrer Jugend in ſich gepflegt, bis ſich
nach Reinhard's Verheirathung der Gedanke
in ihr ausgebildet, ſie habe nunmehr keinen
Anſpruch an Liebesglück zu machen, ihr Leben
ſei in der Beziehung beendet.


So hatte ſie ſich ſeit Jahren mit der Idee:
„entſagt zu haben“ wie mit einem Wittwen-
[234] ſchleier geſchmückt, den ſie jetzt abzulegen ſich
nicht entſchließen konnte. Sie fühlte ihre wach-
ſende Neigung für den Grafen, aber ſie kämpfte
dagegen, wie gegen ein Unrecht, weil ſie ſich
ſcheute, den Ihrigen zu ſagen: „Ich liebe wie-
der!“ und doch zu wahrhaft war, um eine
Verbindung mit Walter, die ſie trotz aller Be-
denken wünſchte, für eine bloße Convenienz
auszugeben, was außerdem kränkend für ihn
geweſen wäre.


Nach Jahren innern Friedens mit ſich ſelbſt
machte dieſer Zwieſpalt ihrer Seele ihr doppelte
Unruhe und gab ihr einen Anſtrich von Kälte,
die Walter irre an ihr zu machen drohte; da
ohnehin die Sorge für Clara's ihr anvertraute
Kinder und für die kranke Frau, welche ſie am
Wege gefunden, ihr einen Grund gab, den
Grafen weniger zu ſehen, als es früher der
Fall geweſen war. Dadurch trat eine Art von
Spannung zwiſchen Walter und Jenny ein,
[235] von der Beide gleichviel zu leiden ſchienen, bis
es Frau von Meining gelang, Walter's Ver-
trauen zu gewinnen. Sie bat ihn, Geduld zu
haben, Jenny Zeit zu laſſen, bis ſie ſich ſelbſt
klar geworden ſei: „Glauben Sie, lieber Graf!“
ſagte ſie, „je deutlicher in uns Frauen das Be-
wußtſein von der Heiligkeit der Ehe wird, je
langſamer entſchließt man ſich, den Schritt zu
thun. Jenny ſteht jetzt bang und zögernd auf
der Schwelle des Tempels, die ſie vor zehn
Jahren hüpfend und ſorglos überſchritten hätte.
Laſſen Sie ſich dadurch nicht irren! Ich bin
wirklich nicht intrigant und halte es für un-
recht, Leute zu einem Entſchluſſe zu überreden,
zu dem ſie keine Neigung haben oder dem ihre
Eigenthümlichkeit widerſtrebt. Wenn aber, wie
bei Jenny, nur ein mißverſtandenes Gefühl ſie
davon abhält, ihr Glück und das Glück eines
Mannes zu gründen, den ſie lieb hat, wie Sie,
lieber Walter! da muß man aus Freundſchaft
[236] ein Uebriges thun und das Mädchen zwingen,
glücklich zu ſein.“


„Das iſt ein hartes Wort!“ bemerkte
Walter, „und ſelbſt Jenny's Hand möchte ich
weder der Ueberredung, noch dem Zwange ver-
danken.“


„Aber Sie ſind damit zufrieden, wenn
Jenny ſich und Ihnen geſtehen lernt, daß ihre
eigene Neigung ſie zwingt, die Ihre zu wer-
den?“ fragte Frau von Meining freundlich.


„Wenn Sie Jenny davon überzeugen könn-
ten“, erwiderte Walter, „würde ich es Ihnen
ewig danken!“


„Laſſen Sie das, mein Freund!“ wandte
die Geheimräthin ein. „Ich bleibe Ihnen ver-
pflichtet und mein Mann wird es Ihnen Dank
wiſſen, daß Sie mich aus meiner Abſpannung
befreiten, indem Sie mir Gelegenheit gaben,
an Ihnen und meiner Freundin ein gutes Werk
zu üben. In wenig Tagen denke ich Jenny in
[237] ihrer Wohnung ſelbſt aufzuſuchen und rechne
dann auf Ihre Begleitung.“



„Heute iſt ein wahrer Glückstag“, ſagte
Jenny zu Frau von Meining, als dieſelbe an
einem heitern Morgen in Walter's Begleitung
zum erſten Male Jenny beſuchte und mit ihr
unter dem Schatten der Bäume ſaß. „Du
ſcheinſt den letzten Reſt von Schwäche von Dir
geworfen zu haben und auch meine arme Kranke
iſt heute ſo wohl, daß ich es wagen konnte, ſie
gehörig um ihre Verhältniſſe zu fragen.“


„Und was haben Sie erfahren?“ fragte
Walter, den die Frau intereſſirte, weil Jenny
Theil an ihr nahm.


„Eigentlich nicht viel mehr, als Vater
ſchon durch die Behörde wußte. Es iſt eine
[238] von den traurigen Geſchichten, die ſich leider
täglich wiederholen. Sie iſt die Tochter eines
Handwerkers aus Gernsbach und kam gewöhn-
lich während des Sommers nach Baden, um
in einem Hauſe auszuhelfen, in dem man Woh-
nungen vermiethet. Hier hat ſie einen armen
Jägerburſchen kennen gelernt und ihn gegen den
Willen ihres Vaters geheirathet, der ſie einem
wohlhabenden, aber ſehr alten Bürger in Gerns-
bach beſtimmt hatte. Ein unglücklicher Fall auf
der Jagd, in Folge deſſen das Gewehr losging,
raubte ihrem Mann im Herbſt das Leben,
lange ehe ihr Kind geboren wurde. Im Win-
ter gab es kein Verdienſt für ſie und in die
bitterſte Armuth verſunken, aus Mangel er-
krankt, iſt ſie nun ſchwach und elend nach
Gernsbach gegangen, um dort das Mitleid
ihres Vaters anzuflehen. Der aber hat ihr
Kind mit Verwünſchungen von ſich geſtoßen
und ſie hat hieher zurückkommen und Arbeit
[239] ſuchen wollen, als ſie auf dem Wege zuſam-
menbrach, wo ich ſie fand. Sie ſagte mir, daß
ihr Vater kein anderes Kind hätte als ſie, und
wol die Mittel, für ſie zu ſorgen. Aber er
hätte gehofft, mit dem Gelde des reichen
Schwiegerſohnes ſein Gewerbe zu vergrößern
und ſelbſt ein reicher Mann zu werden, und
daß ſie ihn um dieſe Hoffnung betrogen, werde
er ihr nicht vergeſſen und verzeihen.“


„So muß man hier für ſie ſorgen!“ meinte
Frau von Meining.


„Sie ſelbſt verlangt nichts mehr, als die
Mittel, ſich durch einige Pflege Kräfte zu er-
werben, um wieder arbeiten zu können“, ſagte
Jenny. „Wie ſie mir erzählt, hätte ihr Vater
ſie, ohne das Kind, wol zu ſich genommen,
weil er hoffte, jener Bürger würde ſie auch
jetzt noch heirathen, wenn ſie ſich von ihrem
Kinde trenne. Das aber will und ſoll ſie na-
türlich nicht und ſo meint mein Vater, man
[240] müſſe einen der nächſten Tage dazu benutzen,
nach Gernsbach zu fahren und verſuchen, ob
man nicht durch ein Jahrgeld, das man an das
Leben des Kindes knüpft, den Vater vermögen
könne, Tochter und Enkel bei ſich aufzuneh-
men, wo ſie am Ende doch am beſten unter-
gebracht ſind.“


Walter ſtimmte dieſer Anſicht bei und man
verabredete eben einen Tag für dieſe Fahrt, als
ein Herr von etwa 40 Jahren mit einer jun-
gen Frau am Arme ſich dem Platze näherte,
auf dem die Geſellſchaft vor dem Hauſe ſaß.
Ein Diener trug ihnen, trotz des ſchönen Wet-
ters, einen Männerüberrock und einen kleinen
Teppich nach.


„Steinheim!“ rief Jenny, als ſie ihn er-
kannte, und ſtand auf, ihn und ſeine Beglei-
terin zu begrüßen: „Vielmals willkommen!“


„Erneute Huldigung geſtatte mir!“ ſagte
Steinheim, ihr mit ſteifer Galanterie die Hand
[241]
küſſend, „und vergönnen Sie mir zugleich, Ih-
nen meine Frau vorzuſtellen und ſie Ihrer
Freundſchaft zu empfehlen.“


Madame Steinheim war ein ſehr hübſches,
ſiebzehnjähriges, höchſt ſchüchternes Weſen,
das zu ihrem Manne wie zu einer Gottheit
emporſah und ſich nicht der Ehre werth zu füh-
len ſchien, ihm anzugehören. Steinheim hatte
ein bedeutendes embonpoint gewonnen und
pflegte ſein Aeußeres und ſeine Geſundheit noch
mit der alten übertriebenen Vorſicht, worin
ihm die junge Frau, welche dieſe Schwäche
noch nicht zu kennen ſchien, mit ängſtlicher
Sorgfalt beiſtand.


Nachdem Jenny die Angekommenen mit ih-
ren Freunden bekannt gemacht hatte, fragte ſie
Steinheim, was ihn, den abgeſagten Feind alles
Reiſens, zu dem Entſchluß gebracht habe, ſich
dennoch auf den Weg zu machen und eine
II. 11
[242] Häuslichkeit zu verlaſſen, die jetzt erſt wahren
Reiz für ihn haben müſſe.


„Ich bin mir ſelbſt ein Räthſel!“ ant-
wortete er, „und mir ſcheint, daß mit dem
Liebesfrühling, der ſo urplötzlich in meiner
Bruſt erwachte, ein ganz neues, junges Leben
für mich begonnen hat. Ein unbegreiflich
holdes Sehnen trieb mich durch Wald und
Wieſen hinzugehen. Ich wünſchte meiner Frau
zu zeigen, wie ſchön die Welt ſei und konnte
mich der Gefahr, die das Reiſen für meine
Geſundheit hat, jetzt leichter ausſetzen, da
Hannchen — ſo hieß Madame Steinheim —
mit dankenswerther Sorgfalt über mich wacht.
Aber findeſt Du nicht“, ſagte er, ſich unter-
brechend, „daß der Fußboden hier feucht iſt,
liebes Hannchen?“


Hannchen bejahte es und nach einer Ent-
ſchuldigung gegen die Damen, ließ Steinheim
[243] den Teppich unter ſeine Füße breiten und zog
den Ueberrock an, wobei der Diener und ſeine
Frau ihm behülflich waren. Dann fragte er
nach William und Clara, von deren Anweſen-
heit in Baden er durch Eduard gehört hatte,
während ihre Abreiſe ihm fremd war, denn
auch er war ſchon längere Zeit auf der Reiſe
und vom Hauſe entfernt. Er erkundigte ſich,
wem die Kinder gehörten, die ſeitwärts unter
Obhut der Wärterinnen ſichtbar waren. Man
rief Richard herbei, ließ Lucy bringen und auch
das hübſche, nun ſauber gehaltene Kind der
armen Frau, wobei die Verhältniſſe derſelben
nochmals flüchtig beſprochen wurden.


„Da ſieht man“, ſagte Steinheim, „wie
tief das Gefühl für Standesunterſchiede im
Menſchen begründet iſt, das man einen leeren
Wahn ſchilt. Doch dieſer Wahn iſt uns ins
Herz gelegt, wer mag ſich gern davon be-
freien, beſonders, wenn es darauf ankommt,
11*
[244] eine Ehe zu ſchließen, in der vollkommene
Gleichheit der Verhältniſſe die erſte Bedingung
zum Glücke iſt?“


Hätte Steinheim abſichtlich eine Aeußerung
machen wollen, die für alle Anweſende gleich
verletzend wäre, er hätte keine beſſere finden
können. Seine Frau und Frau von Meining
waren Beide wol um zwanzig Jahre jünger
als ihre Männer und welch unangenehmen Ein-
druck Jenny und Walter durch die Behauptung
empfingen, bedarf keiner Erwähnung. Stein-
heim fühlte aber davon nichts, da er die Ver-
hältniſſe der einzelnen Perſonen nicht kannte
und fuhr, immer nur mit ſich beſchäftigt, fort:
„Es hat eine Zeit gegeben, in der ich auch an
ein Verſchmelzen der Stände, wo möglich gar
an eine gleichmäßige Vertheilung der Güter
dachte und, von Eduard's Ueberſpanntheit ange-
ſteckt, nur von Reformen und Weltverbeſſerungen
träumte. Der Traum war kindiſch, aber gött-
[245] lich ſchön; ich geſtehe es, obgleich ich mich freue,
daraus erwacht zu ſein.“


„Und was hat denn Ihre plötzliche Sinnes-
änderung bewirkt, Herr Steinheim?“ fragte
Walter.


„Herr Graf! die Zeit kommt auch heran,
wo wir was Gut's in Ruhe ſchmauſen mö-
gen“, antwortete der Gefragte, ſich ſelbſt Bei-
fall lächelnd. „Dies Reformiren, Politiſiren
und dergleichen ſchickt ſich nur für die Jugend,
die Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen
hat. Zudem der ewige Aerger, in dem ſolch
ein Parteienkampf uns hält, trieb mir die Galle
ins Blut, raubte mir den Schlaf und hätte
mich zuletzt noch um Geſundheit und Leben ge-
bracht, wenn mir nicht endlich die Erkenntniß
gekommen wäre, daß es für mich Zeit ſei, den
Liberalismus Andern zu überlaſſen und fortan
nur mir, der Literatur, die Anſprüche an mich
hat, und meiner Frau zu leben, die wol mit
[246] dieſem Arrangement zufrieden ſein wird. Ge-
ſtehen Sie, Herr Graf! das iſt das Vernünf-
tigſte, was man thun kann. Sie, ein Edel-
mann aus altem Hauſe, werden es begreiflich
finden, daß ich, ein nicht unbemittelter Bürger
und als Haupt einer Familie, mich aus Grund-
ſatz zur äußerſten Rechten halte und entſchieden
gegen Alles eifre, was gegen das Beſtehende
läuft. Der Unterſchied der Stände iſt ein hei-
liger und muß aufrecht erhalten werden, wie
der des Beſitzes und des Glaubens; und nur
wenn das geſchieht, kehrt ſie wieder: Die goldne
Zeit, womit der Dichter uns zu ſchmeicheln
pflegt.“


Steinheim glaubte, als er das Schweigen
der Geſellſchaft, das entzückt aufhorchende Ge-
ſichtchen ſeiner Frau bemerkte, des allgemeinen
Beifalls ſicher zu ſein und warf ſich mit der
Bravour einer Sängerin, die eine große Arie
glücklich beendet hat und nun der Bravo's
[247] harrt, in ſeinen Stuhl zurück. Umſonſt! Nie-
mand rief ihm Beifall zu, die Damen ſprachen
unter einander und nur Walter ſagte kurz:
„Ich theile Ihre Meinung nicht!“ als ob er
es nicht der Mühe werth halte, ſich in irgend
eine Erörterung einzulaſſen. Dann ging er
ſchnell zu andern Dingen über, fragte Stein-
heim nach ſeinen Reiſen und bald war dieſer
auf ein neues Steckenpferd gebracht. Er ſprach
von den Theatern, die er beſucht, und von der
Art, in der ein gewiſſer Schauſpieler, den Alle
kannten, den Nathan dargeſtellt und die er für
die vollendetſte Schöpfung der Schauſpielkunſt
erklärte.


„Der Kunſt“, bemerkte Walter, „inſofern
ſie der Natur entgegenſteht, denn dieſe fehlt
ſeinen Schöpfungen, mehr oder weniger, faſt
immer.“


„Wo fehlts nicht irgendwo auf dieſer Welt?
dem dies, dem das“, recitirte Steinheim, „und
[248] Sie müſſen doch eingeſtehen, daß Leſſing's Na-
than ein Meiſterwerk iſt und daß jener Schau-
ſpieler die Abſicht des Dichters immer vollkom-
men begreift und verſinnlicht.“


„In dieſem Falle beſtimmt nicht!“ ſagte
der Graf. „Mir ſcheint, was die Dichtung
anbetrifft, Nathan der Weiſe überhaupt mehr
eine großartige Allegorie, ein didaktiſches Ge-
dicht, als ein darſtellbares Schauſpiel zu ſein.
In dem Beſtreben, die poſitiven Religions-
unterſchiede als unweſentlich darzuſtellen, ſobald
die innre, wahre Religion vorhanden, hat Leſ-
ſing den einzelnen Repräſentanten der verſchie-
denen Confeſſionen ihren nationalen und durch
den Glauben bedingten Typus genommen, ſo
daß Saladin, der Templer und Nathan, drei
ſo ganz abweichende Charaktere, eine Art von
proteſtantiſcher Familienähnlichkeit bekommen.
Das thut dem Intereſſe Abbruch, welches man
an ihnen nehme, wenn die Gegenſätze ſchärfer
[249] gezeichnet wären. Dazu kommt nun, daß die
Ruhe, mit der der Templer, der ſtrenggläubige
Chriſt, ſich als den Abkömmling eines Muſel-
mannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, et-
was Unwahres hat, wie der ganze Schluß, der
nicht befriedigt — wenigſtens auf der Bühne
nicht. Das Schauſpiel unterhält den Zuſchauer
nicht, ſo herrlich das Gedicht iſt, und wird
durch den Darſteller noch langweiliger.“


„Mir hat es auch kein Vergnügen ge-
währt“, ſagte Madame Steinheim ſchüchtern,
die bis dahin faſt kein Wort geſprochen, ſon-
dern ſich mit den Kindern beſchäftigt hatte.
„Die langen, feierlichen Reden Nathan's fand
ich ſehr ermüdend.“


„Brutus! auch Du?“ rief ihr Mann,
und drohte ihr mit dem Finger, in einer Weiſe,
die er für ſchalkhaft zu halten ſchien.


„Madame Steinheim hat recht!“ bekräf-
11**
[250] tigte Walter. „Gerade da liegt jenes Schau-
ſpielers Fehler in dieſer Rolle. Er iſt nicht
der ſchlichte, klare Mann, der aus eigener An-
ſchauung Gott, die Welt und den Menſchen
begriffen hat; nicht der anſpruchloſe Weiſe, der
ſich ſeiner hohen Weisheit kaum bewußt iſt
und ſie für die natürlichſte Erkenntniß hält —
ſondern ein ſelbſtbewußter Gelehrter, der ſeine
Sentenzen im Cathedertone vorträgt, weil er
ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb ſtellt
er ſich jedesmal in Poſition, ehe er eine ſeiner
moraliſchen Behauptungen ſpricht und der Schein
von Demuth, von Schlichtheit, mit dem er ſich
umgibt, täuſcht uns keinen Augenblick. Leſ-
ſing dachte ſich einen Abraham in heiliger, er-
habener Einfalt und jener ſtellt uns einen Pro-
feſſor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der
wohl fühlt, daß er tauſendmal geſchickter ſei als
ſein Auditorium, ſich aber hütet, es zu zeigen,
[251]
weil er weltklug genug iſt, Niemand beleidigen
zu wollen. Er erſcheint feig und arrogant
zugleich.“


Frau von Meining lächelte und ſtimmte
dem Grafen bei, auch Jenny ſchien ſeine An-
ſicht zu theilen.


„Dergleichen Reden hören ſich gut an, doch
hat es allerlei Bedenkliches damit!“ ſagte
Steinheim. „Vor Allem vergeſſen Sie nicht,
daß Nathan, der Unterdrückte, der verachtete
Jude, zu ſeinem Herrn und Unterdrücke ſpricht.
Das mag die beſcheidene, faſt furchtſame Weiſe
ſeines Auftretens bei aller ſeiner Selbſtſchätzung
entſchuldigen.“


„Im Gegentheil!“ rief Jenny. „Wenn er
es fühlt, daß er ein freier Menſch iſt vor den
Augen des Schöpfers, wenn er die Qual em-
pfindet, unterdrückt, verachtet zu ſein, ſo muß
ihn das nur ſtolzer gegen ſeinen Unterdrücker
machen. Was kann ein Mann wie Nathan
[252] fürchten? — Ketten und Gefängniß? Darüber
erhebt ihn ſein Selbſtgefühl; — den Tod? Er
hat ſein Weib und ſeine Söhne ſterben ſehen
und Gott getraut, er kann den Tod für ſich
nicht fürchten. Feigheit iſt nur die Schwäche
kleiner Seelen; wer ſich wie Nathan frei em-
pfindet, fürchtet Niemand und fühlt ſich, ſelbſt
als verachteter Jude, den Beſten gleich!“


Sei es, daß Jenny durch Steinheim's frü-
here Behauptung über die nothwendige Gleich-
heit in der Ehe verſtimmt worden war, oder
daß der Ausdruck „verachteter Jude“, den er
jetzt gebraucht, ihr in Walter's Anweſenheit
unangenehm geweſen, genug, ſie fühlte einen
Unmuth in ſich, der ihr faſt Thränen erpreſte.
Mit ungewohnter Heftigkeit hatte ſie die letzten
Worte geſprochen und ſtand dann ſchnell auf,
um ihrem Vater entgegenzugehen . Sie fiel
ihm um den Hals und küßte ſeine Hände:
„Du weiſer Mann, Du armer verachteter
[253] Jude!“ ſagte ſie ſo leiſe, daß ſelbſt ihr Vater
die Worte nicht vernahm, der ſich begrüßend
zu Steinheim wandte, nach Nachrichten aus
der Heimat fragte und Alle in die Unterhaltung
verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nach-
denken verſunken. Walter bemerkte es und ver-
ſuchte vergebens, in ihrer Seele zu leſen, als
ein leichter Windſtoß durch die Luft fuhr und
Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten
blickte. Er ſchlug den Kragen ſeines Ueber-
ziehers in die Höhe und rief: „Wie raſ't die
Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlä-
gen trifft ſie meinen Nacken! Weißt Du, Hann-
chen! ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge
und wenn wir dies Baden - Baden nicht bald
verlaſſen, ſtehe ich für Nichts. Indeß, wenn
es Dir hier gefällt ....“


„Um Gottes willen, nein!“ ſagte die kleine
Frau ängſtlich und dann zu den Damen ge-
[254] wandt: „Es iſt ganz wunderprächtig in Baden
und ich hatte gehofft, hier das Badeleben ken-
nen zu lernen, von dem man mir immer er-
zählt; aber mein Mann hat ſo erſtaunlich reiz-
bare Nerven und meinte gleich, die Luft in
dieſem engen Thale würde ihm nicht zuſagen.
Darum wollte ich nur, wir wären ſchon her-
aus und in Ems, wo mein lieber Steinheim
eine Cur zu brauchen denkt.“


Während dieſer Rede war Steinheim auf-
gebrochen, hatte ſich feſt in ſeinen Rock ge-
knöpft, ſeine kleine Frau an den Arm genom-
men und empfahl ſich, Goethe's Worte paro-
dirend, alſo: „Wir aber, die wir hier nur
Fremde ſind und hier nur wenig Augenblicke
weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück,
wenn wir Euch in der Vaterſtadt begrüßen.
Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen,
welch einen Vorzug uns dies Loos gewährt.“


[255]

Bald war das ungleiche Paar den Blicken
entſchwunden. Der Diener mit dem zuſam-
mengerollten Teppich folgte in kleiner Ent-
fernung.



Eine größere Geſellſchaft hatte ſich am
Abend bei Frau von Meining verſammelt.
Es war das erſte Mal, ſeit ſie in Baden lebte,
und ſie hatte es Herrn Meier und Jenny zur
Pflicht gemacht, von der Partie zu ſein, da
ſie dieſelben mit einigen Perſonen bekannt zu
machen wünſchte, die ihnen fremd waren. Die
Geſellſchaft war ziemlich belebt, man hatte ge-
plaudert, muſicirt und die Geheimräthin for-
derte Jenny auf, nun auch etwas zu ſingen.
Bereitwillig ging dieſe aus dem Salon in das
Wohnzimmer, in der Hoffnung, unter den dort
[256] befindlichen Noten mehrſtimmige Sachen zu
finden, weil ſie glaubte, daß dergleichen unter-
haltender ſein würde. Die Etagère, auf der
die Noten lagen, ſtand hinter einer Thüre, de-
ren geöffnete Flügel Jenny verbargen, ſodaß
ſie von einigen Perſonen, die in der Thüre
ſtanden, nicht geſehen werden konnte, obgleich
kein Wort, das jene ſprachen, für Jenny ver-
loren ging.


„Was wird man jetzt ſingen?“ fragte eine
alte Dame, deren Bruſt ein Stiftskreuz zierte,
einen jungen Attaché der ... Geſandtſchaft beim
Bundestage.


„Ich glaube das Fräulein Meier proponirte
mehrſtimmige Piècen!“ antwortete der junge
Mann.


„Sagen Sie mir, lieber Baron! die Meiers
ſcheinen ja Juden zu ſein, wie kommt Frau von
Meining zu denen und namentlich Graf Wal-
ter? Man ſagt, er ſoll der unabläſſige Begleiter
[257] dieſer Familie ſein und man hält ihn für extra-
vagant genug, die Vermuthungen, von denen
ich eben in dieſer Rückſicht hörte, wahr zu
machen“, ſagte die Stiftsdame.


„Wie können Sie nur ſo etwas wieder-
holen, meine Gnädigſte! Graf Walter gefällt
ſich allerdings darin, der Rotüre gegenüber den
Liberalen zu ſpielen, indeß von der Thorheit,
die Sie ihm zutrauen, eine Jüdin zu heirathen,
iſt er ſicher fern. Die Meier iſt hübſch und
pikant. Die Galanterie eines Grafen wird
ihrer Eitelkeit ſchmeicheln und Sie wiſſen, die
Freiheit des ſogenannten Badelebens entſchuldigt
Manches!“ ſchloß lachend der Baron.


Athemlos und wie gelähmt ſtand Jenny da,
den Kopf gegen eine Säule der Etagère ge-
lehnt, als Frau von Meining zu ihr trat, der
ihr langes Ausbleiben aufgefallen war. Er-
ſchreckt fuhr ſie empor, faßte ſich aber gleich
und ſagte anſcheinend ruhig: „Ich finde die
[258] Noten nicht und möchte überhaupt nicht ſin-
gen, wenn Du mich davon freiſprechen woll-
teſt.“ Aber davon wollte Frau von Meining
nichts hören; mit den freundlichſten Bitten nö-
thigte ſie Jenny an dem Flügel Platz zu neh-
men und wenigſtens irgend ein Lied zu ſingen,
um damit der Geſellſchaft ihren Tribut zu
zahlen. Einen Augenblick ſchien Jenny nach-
zudenken, ſie mochte um die Wahl eines Liedes
verlegen ſein, dann war es, als ob ihr plötzlich
ein Gedanke käme, ſie griff mit ſicherer Hand
ein paar Accorde und begann Byron's. „Mäd-
chen von Juda“ zu ſingen, das von Kücken ſo
meiſterhaft komponirt iſt. Ihre ſtarke, metall-
reiche Stimme ſchien von dem Schmerz in ih-
rer Bruſt einen neuen Zauber zu gewinnen, die
tiefſte Trauer klang aus ihren Tönen und als
ſie die zweite Strophe mit den Worten endete:
„O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! wann
wird dir Jehovah ein Rachegott ſein?“ wagte
[259] Niemand zu athmen und Alle ſtanden wie feſt-
gebannt und beherrſcht durch die Gewalt des
Schmerzes, der in dieſen Tönen zu Gott rief
und von ihm Rache erflehte. Dann ging der
Geſang wieder zu wehmütiger Klage über,
Jenny's Stimme wurde weicher, bis ſie noch-
mals mächtig erklang in den Worten: „in
Knechtſchaft des Feindes der Jude verlacht“,
und endlich matt in dem Wunſche erſtarb:
„O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! könnt
ich nur im Tode vereinet dir ſein.“


Die Röthe der Begeiſterung, die während
des Singens Jenny's Wangen gefärbt hatte,
war gegen das Ende des Liedes gewichen. Ru-
hig aber angegriffen ſtand ſie vom Inſtrumente
auf. Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu
hören, in Vieler Augen ſtanden Thränen;
Andre ſahen ſich befremdet an. Sie ſchienen
dunkel zu ahnen, daß ihnen hier, wo ſie flüch-
tige Unterhaltung zu finden gehofft, eine Wahr-
[260] heit entgegengetreten war, vor der ſie erſchracken,
wie vor einem Geſpenſte, das plötzlich am hellen
Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbſt
Walter und Frau von Meining waren über-
raſcht. So hatte der Graf Jenny niemals
ſingen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte
vor ihr hinſinken und ſie beſchwören mögen,
ihm die Urſache des Schmerzes zu vertrauen,
der ſie erſchüttert hatte. Er wollte und mußte
ſie ſprechen, aber ſie vermied ſeine Annäherung
und verließ bald, nachdem ſie geſungen hatte,
die Geſellſchaft. Walter begleitete ſie aus dem
Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in
dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem
Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte,
Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter-
redung geſtatten, an der ſein Glück und ſeine
Hoffnung hänge. „Ihr Glück, Herr Graf“,
antwortete Jenny, „liegt außerhalb meiner
Sphäre und Sie täuſchen ſich, wenn Sie es
[261]
in meiner Nähe ſuchen! Glauben Sie mir das,
und dringen Sie nicht in mich!“ Sie reichte
ihm bewegt die Hand zum Abſchied und ging
am Arme ihres Vaters davon.


Jenny's Geſang und ihre ganze Perſönlichkeit
waren, während dies in einem der Nebenzim-
mer geſchah, im Saale der Gegenſtand der
Unterhaltung geworden. Einige prieſen ihre
Schönheit und Anmuth, andere fanden ihr
Auftreten abſtoßend und ſtolz, zu ernſthaft und
ſelbſtbewußt für ein Frauenzimmer; und ebenſo
große Meinungsverſchiedenheit herrſchte über ih-
ren Geſang.


„Die Stimme iſt vortrefflich“, bemerkte die
Stiftsdame, „aber es zeigt immer von wenig
Erziehung, ſich und ſeine Gefühle ſo preiszu-
geben. Ich will geſtehen, es mag unangenehm
genug ſein, dem jüdiſchen Volke anzugehören,
indeß iſt es doch nicht unſere Schuld, daß Fräu-
[262] lein Meier eine Jüdin iſt und ſich deſſen ſchämt,
und ich begreife nicht, mit welchem Rechte ſie
ſich in der Geſellſchaft in einer Weiſe gehen
läßt, die für meine Nerven zum Beiſpiel
viel zu ſtark iſt. Elle m'a fait mal, je vous
assure!“
“ Viele ſtimmten ihr bei, ſchwiegen
aber, als Frau von Meining ſich dem Kreiſe
näherte, in dem bald leichte Unterhaltung den
Eindruck verwiſchte, den Jenny's Lied auf die
Geſellſchaft hervorgebracht. Nur Frau von
Meining dachte mit ängſtlicher Beſorgniß an
ſie, und ihr entging es nicht, daß auch der
Graf bald nach Jenny's Entfernung das Haus
verlaſſen hatte.



[263]

Der Abend war ſchwül und dunkel, als
Walter aus den glänzend erleuchteten Zimmern
der Geheimräthin in die nächtliche Dämmerung
hinausſchritt. Er hatte im Laufe des Tages
die Antwort ſeines Onkels erhalten, der es ihm
nicht verbarg, wie dieſe Verbindung mit Jenny
entſchieden gegen ſeine Anſichten und ſeine
Wünſche ſei. „Was ich aber nicht hindern
kann“, ſchrieb er, „mag ich auch nicht tadeln.
Du biſt unwiderruflich entſchloſſen und ſo wün-
ſche ich von Herzen, daß Du in der Perſön-
lichkeit Deiner künftigen Gattin, in ihrer Liebe
Erſatz finden mögeſt, für die unerhört großen
Opfer, die Du ihr bringen willſt. Sobald
Deine Verlobung erklärt iſt und Du mit
Deiner Braut in unſere Gegend kommſt, denke
ich Dich zu treffen, um das Mädchen kennen
zu lernen, das Dir würdig ſcheint, den Namen
einer Gräfin Walter zu tragen; eine Ehre, um
die manche hochgeborne Jungfrau ſie beneiden
[264] möchte. Fräulein Meier wagt viel, indem ſie
ſich auf dieſe Höhe ſtellt, und Du wirſt Muth
und Energie brauchen, um ſie dort zu halten.
Aber das gerade zeigt Dich! Nun, ſo ge-
ſchehe, was geſchehen ſoll und man muß ſehen,
wie man der Angelegenheit die beſte Wendung
gibt.“


Durch dieſen Brief von dem Verſprechen
gegen Herrn Meier befreit, Jenny ſeine Liebe
noch zu verſchweigen, hatte er mit freudiger
Bewegung den ganzen Tag eine Gelegenheit
geſucht, ſie allein zu ſprechen. Steinheim's
Beſuch, ihre darauf folgende Verſtimmung hat-
ten es ihm aber unmöglich gemacht, ſich ihr
zu nähern und ihn genöthigt, ſie bei Frau von
Meining um jene Unterredung zu bitten, die
ſie ihm verweigert hatte. Niemand konnte
weniger perſönliche Eitelkeit beſitzen als Walter;
indeß war er ſich der Vorzüge bewußt, welche
ihm ſeine Geburt und ſeine Verhältniſſe vor
[265] vielen Männern geben. Von Jugend auf hatte
man ihm wiederholt, wie er jedes Mädchen
durch ſeine Bewerbung ehre und überall waren
die Frauen ihm in einer Weiſe entgegengekom-
men, die ihm eine Beſtätigung für jene Be-
hauptung geboten. Jetzt liebte er mit aller
Hingebung ſeiner Seele. Jenny's früheres Be-
tragen hatte in ihm die Hoffnung erweckt, daß
ſie ſeine Gefühle theile; er war bereit, ſie ge-
gen die Vorurtheile einer Welt zu ſchützen, de-
ren Anſicht er gegen ſich hatte, und ſie verwei-
gerte ſich ihm, obgleich ſie ſeine Liebe kannte.


Voll quälender Ungewißheit kehrte er endlich
nach ſeiner Wohnung zurück; in Jenny's Zim-
mer brannte Licht und ein Schatten bewegte
ſich an den Vorhängen hin und her. Auch ſie
mußte noch wach ſein. „Das muß anders
werden“, ſagte Walter zu ſich ſelbſt. „Ich
will, ſo theuer ſie mir iſt, weder um ihre Liebe
betteln, wenn ſie mich ihrer unwerth hält, noch
II. 12
[266] ihren Frieden ſtören. Morgen iſt ſie mein,
oder ich ſehe ſie nie wieder!“ Trotz des
männlichen Entſchluſſes ſeufzte er tief auf und
blickte nochmals nach Jenny's Fenſtern. Aber
eine Thräne verdunkelte ſeinen Blick. War es
der Gedanke, Jenny zu verlieren, oder das Ge-
fühl gekränkten Stolzes, das ſie erpreßte?
Walter zerdrückte ſie ſchnell, als ſchämte er ſich
derſelben und ging in das Haus, um auf ſei-
nem Lager, das der Schlummer floh, der Ge-
liebten und des kommenden Tages zu denken.


Auch Jenny konnte keine Ruhe finden. In
der erſten Empörung ihrer Seele hatte ſie,
kaum heimgekehrt, ſich ihrem Vater in die
Arme werfen, ihm das Erlebte mittheilen und
ihn beſchwören wollen, am folgenden Tage
Baden mit ihr zu verlaſſen. Aber der Ge-
danke, wie tief die Ueberzeugung ihren Vater
ſchmerzen würde, daß immer wieder der Fluch
der Vorurtheile auf ſeinen Kindern ruhe, daß
[267] kein Alter und kein Verhältniß ſie davor ſchütze,
nöthigte ſie zum Schweigen und ſcheuchte ſie
in ihr Zimmer zurück, wo ſie ſich einſam der
tiefſten Verzweiflung überließ. Sie konnte
ſich es nicht verhehlen, ſie liebte Walter; nicht
mit der ſtürmiſchen Glut der Leidenſchaft, die
ſie für Reinhard gefühlt, ſondern mit jener ru-
higen Zuverſicht, die an der Bruſt des Gelieb-
ten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoff-
nung, aber eine ſichere Zuflucht in allen Stür-
men des Lebens erwartet. Sie wußte, wie
theuer ſie ihm ſei, ſie konnte ſich in den lieb-
lichſten Farben eine Zukunft an ſeiner Seite
denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu
wiſſen, bereits an dieſe Zukunft geknüpft, das
fühlte ſie an dem Schmerz, den die Idee, ſich
von Walter trennen zu müſſen, in ihr hervor-
rief. Aber dieſe Trennung ſtand jetzt als
Nothwendigkeit vor ihr. Die Aeußerungen
Steinheim's am Morgen und die Unterhaltung,
12*
[268] deren Zuhörerin ſie am Abend geweſen war,
hatten ihr gezeigt, was ſie ohnehin fühlte, daß
ſie Walter, indem ſie ſeine Hand annehme, in
den Kampf verwickle, den ſie als Jüdin gegen
die Meinung der Menge zu beſtehen hatte.


„Ich war ſtark genug“, ſagte ſie, „noch ein
Kind, meiner Liebe zu entſagen, um Frieden
mit mir ſelbſt zu haben, und ſollte nicht Kraft
beſitzen, für Walter ein Gleiches zu thun, für
ihn, der mir ein ſo großes Opfer bringen
will? Nimmermehr! Den Leidenskelch, der mir
vom Schickſal beſtimmt iſt, will ich allein lee-
ren. Ich will Walter wiederſehen, ich will
ihm morgen ſagen, daß ich nie die Seine
werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigſtens
den Troſt erhalten, ſein Leben nicht verbittert
zu haben.


Man hatte verabredet, am nächſten Tage
die Fahrt nach Gernsbach zu machen, um mit
dem Vater Mariens, ſo hieß Jenny's Schütz-
[269] ling, zu unterhandeln und wollte in zwei leich-
ten Wagen fahren, da die Ungleichheit des
Weges einer großen Equipage manche Schwie-
rigkeiten bot. Noch am Abend hatte Herr
Meier Frau von Meining aufgefordert, einen
Platz in ſeinem Coupé anzunehmen und Jenny
wußte alſo, daß ſie mit Walter fahren würde.
Dieſes Arrangement wollte ſie benutzen, ſich
gegen ihn zu rechtfertigen, und ihm begreiflich
zu machen, daß ſie ſcheiden müßten. Auch
Walter hatte ſeine Hoffnungen auf dieſe Fahrt
geſetzt und war unangenehm überraſcht, als am
Morgen, nachdem die Equipage vorgefahren,
der kleine Richard Jenny beſchwor, ihn mit ſich
zu nehmen. Anfangs ſchlug Jenny es ihm ab,
aber der kleine Schmeichler ſchlang ſeine Arme
um ihren Hals und rief weinend: „Jenny! Du
haſt mir's ja geſtern verſprochen und haſt Mama
verſprochen, daß Du mich immer mitnimmſt,
und Du ſagſt, man muß Wort halten. Ich
[270] bitte Dich, Tante! nimm mich mit, ich werde
ganz artig, ganz artig ſein.“ Wollte ſie die
Abſicht, mit Walter allein zu ſein, nicht ver-
rathen, ſo war es nicht möglich, dem Knaben
die Bitte abzuſchlagen, da ſie ihm dieſelbe
wirklich am vorigen Tage gewährt hatte.
Ebenſo wenig konnte ſie daran denken, ihn in
den Wagen ihres Vaters zu placiren, dem die
Unruhe des lebhaften Kindes bei ſolchen Par-
tien ſehr läſtig war. So mußte ſie ſich alſo,
wenn auch nicht gern, dazu entſchließen, Ri-
chard in Walter's Wagen mit ſich zu nehmen,
der, eine ungemein leichte Briczka mit Wal-
ter's muthigen Pferden beſpannt, ſchnell einen
ſo bedeutenden Vorſprung gewann, daß ſie
den Wagen ihres Vaterss bald nicht mehr er-
blickten.


Der Morgen war prächtig und die ſchnelle
Fahrt durch die wunderſchöne Gegend erheiterte
Jenny's Seele. Zu jener Unterredung, zu der
[271]
ſie ſich die Nacht hindurch mit Kraft und
Muth gewaffnet hatte, ließ es die Anweſenheit
Richard's nicht kommen, der bald Deutſch bald
Engliſch ſein Entzücken ausſprach, nach dem
Namen jedes Dorfes fragte, an dem man vor-
über fuhr und im Wagen aufſpringend mit
ſeiner Schmetterlingsſcheere nach den Schmet-
terlingen haſchte, welche fröhlich gaukelnd durch
die Lüfte flogen. Sagte man ihm, ſich ruhig
zu halten, ſo fiel er Jenny um den Hals,
fragte, ob er denn nicht artig ſei, verſprach,
ſich gleich beſſer zu betragen und war einen
Augenblick darauf zu der ausgelaſſenſten Fröh-
lichkeit und Unruhe zurückgekehrt.


„Wie dies fröhliche Kind mit der heitern
Natur harmonirt, die uns umgibt“, ſagte
Walter, der mit Vergnügen den ſchönen, kräf-
tigen Knaben betrachtete. „Wir ſind beſtimmt
Alle erſchaffen, um ſo glücklich zu ſein; und
wird einſt jenſeits eine Rechenſchaft von uns
[272] gefordert, ſo würde uns ſicher jede Stunde, die
wir durch unſere Schuld an Glück verloren,
als eine Sünde ausgelegt werden.“


„Es kommt darauf an“, erwiderte Jenny,
„was Sie unſere Schuld nennen, und ob ...“


„Jenny! wie heißt der Fluß?“ fragte der
Knabe, ſie unterbrechend, als man eben jetzt
eine freie Stelle erreicht hatte und die Murg
ſichtbar ward, an deren hohem Felſenufer der
Weg nach Gernsbach hinführt. Je näher man
dieſem Städtchen kommt, je ſteiler werden die
Abhänge des Weges. Die ganze Gegend hat
einen ernſtern Anſtrich, man kommt in die Hö-
hen des Schwarzwaldes, die tiefer ins Land
hinein bei Vorbach, wo jene bekannten Holz-
ſchwellungen ſtatthaben, einen faſt ſchauerlichen
Charakter gewinnen.


Jetzt fuhr man an dem linken Ufer der
Murg dahin und Jenny konnte ſich eines leich-
ten Schwindels nicht erwehren, wenn ſie von
[273] der Höhe, auf der die Straße gebahnt iſt,
hinab ſah in das dunkle Waſſer des Berg-
ſtromes, das hart an dem Fuße der ſteilen
Felswand hinfließt. Das ununterbrochene
Steigen und Fallen des Weges brachte na-
türlich auch eine große Abwechslung in der
Schnelle des Fahrens hervor, da die Pferde
bald langſam eine Höhe hinaufſtiegen, bald ſie
in Eile hinunterliefen, woran Richard eine un-
ſägliche Freude zu finden ſchien. Endlich hatte
man den höchſten Punkt der Straße erreicht,
von wo ſie ſich zu einer Tiefe ſenkt, welche die
Anlegung von Hemmſchuhen, auch für das
leichteſte Fuhrwerk und ſelbſt bei den ſtärkſten
Pferden nöthig macht. Der Kutſcher ſtieg ab,
um dieſe Vorkehrung zu treffen und Richard
erbat ſich die Erlaubniß, zwiſchen Jenny und
Walter auf den Sitz zu ſteigen, um zuzuſehen,
wie jener die Ketten losmachte, die Räder in
die Gleiſe hob und dann zu den Pferden zu-
12**
[274] rückkehrend, dem Diener die Zügel abnahm und
vorwärts fuhr.


„Laß mich da ſtehen bleiben, Jenny!“ ſagte
der Knabe, „und zuſehen, wie faul die Räder
nun ſind! Ach!“ rief er dann, indem er ſich
mit der Schmetterlingsſcheere in der Hand
hinüberbog, als ob er ſie antreiben wollte: „Ich
werde euch laufen lehren!“


In dem Augenblick hörte man ein leiſes
Klirren und Richard rief fröhlich: „Hei, wie
die Dinger nun fortfliegen!“ Die Kette des
einen Hemmſchuhes war geriſſen, das andere
Rad, durch die plötzliche Bewegung des Wa-
gens aus dem Gleiſe geſprungen und mit fürch-
terlicher Schnelle flog die Briczka der Tiefe
zu, ohne daß die Anſtrengungen des Kutſchers
etwas gegen die Vehemenz vermochten, mit der
der Wagen auf die Pferde eindrang, was ſie
zu verdoppelter Eile antrieb. Ein Sturz der
Pferde, ein Fehltritt nur, und der Wagen, aus
[275] der Richtung gekommen, lag zerſchmettert am
Fuße der Felſen in den Wellen der Murg!
Niemand, außer dem jubelnden Knaben, konnte
ſich es verbergen, wie drohend die Gefahr ſei.


„Das Kind, das Kind!“ ſchrie Jenny,
als ſie das Unheil bemerkte, und zog mit
Walter's Beiſtand den Knaben zu ſich her-
unter, den ſie in Todesangſt an ſich preßte.


Walter ſah unverwandt auf die Pferde hin.
Er hatte ſeinen Arm wie ſchützend um Jenny
gelegt und ſagte: „Keinen Laut! keinen Schrei!
ich beſchwöre Sie!“ Dann zum Kutſcher ge-
wandt: „Muth, Muth! halte die Zügel kurz,
ſieh nicht zur Seite! halte die Pferde nur noch
wenig Augenblicke feſt und wir ſind gerettet!“
Aber ſo ruhig er ſich zu ſcheinen zwang, ſeine
Stimme bebte und Leichenbläſſe bedeckte ſein
Geſicht, als endlich der Wagen in der Tiefe
ſtillſtand und der erſchöpfte Kutſcher den keu-
chenden Pferden Zeit zur Erholung gönnte.


[276]

Walter's erſter Gedanke, ſein erſter Blick
galt Jenny. Sie war leblos, aus einer kleinen
Stirnwunde blutend, zurückgeſunken und ihre
Arme hatten den Knaben losgelaſſen, der ſie
jetzt weinend umfaßt hielt. Bei der Haſt, mit
der Jenny das Kind an ſich gedrückt, hatte der
eiſerne Griff der Schmetterlingsſcheere Jenny's
Stirne mit ſo heftigem Schlage getroffen, daß
er die Haut zerriß, ohne daß Jenny in der
entſetzlichen Aufregung des Momentes die Ver-
wundung oder das herabtröpfelnde Blut be-
merkte. Nur des einen Gedankens, das Kind
zu retten, das man ihr anvertraut hatte, war
ſie ſich bewußt geweſen, und als mit dem
Stilleſtehen der Pferde die furchtbare Angſt
von ihr gewichen, war ſie, von einer in See-
lenleiden durchwachten Nacht ſchon ohnehin an-
gegriffen, ohnmächtig zuſammengebrochen. An
eine augenblickliche Hülfe war hier nicht zu
denken; kein Haus in der Nähe, und wie weit
[277] der zurückgebliebene Wagen noch entfernt ſei,
ließ ſich nicht berechnen. Mit zitternder Hand
legte Walter ein Tuch um Jenny's Stirne,
nahm die ganz Bewußtloſe in ſeine Arme und
befahl dem Kutſcher, ſo ſchnell als möglich
vorwärts zu fahren, um Gernsbach zu erreichen,
damit man das Nöthige für Jenny herbeiſchaffen
könnte.


Wie hatte er gewünſcht, die Geliebte in
ſeine Arme zu ſchließen, ſie an ſeiner Bruſt zu
halten! Jetzt war ſein Sehnen erfüllt und doch
wie anders als er es gehofft! Mit unausſprech-
licher Liebe hingen ſeine Augen an Jenny's
bleichen Zügen, er verſuchte durch Reiben ihre
Hände zu erwärmen und wer ſchildert ſein
Entzücken, als ein leiſer Schimmer von Röthe,
ein ſchwacher Athemzug die Wiederkehr des Le-
bens anzeigten, als Jenny endlich langſam die
großen dunkeln Augen aufſchlug, Richard mit
ſeligem Lächeln anblickte, der ängſtlich ſchwei-
[278] gend vor ihr ſaß, und dann ſtill weinend wieder
an Walter's Bruſt ſank. Seiner ſelbſt nicht
mächtig drückte er ſie an ſein Herz und er-
wärmte mit glühenden Küſſen ihre noch kalten
Lippen.


„Warum weinſt Du noch? Warum küßt
Dich Graf Walter, Jenny?“ fragte der
Knabe, ungeduldig das ihm peinliche Schwei-
gen brechend.


„Weil Jenny meine Braut iſt, weil wir
uns freuen, daß wir dem Tode entgangen
ſind“, antwortete ihm Walter, ſtrahlend vor
Liebe und Wonne, „weil nun ein glückliches,
ſeliges Leben vor uns liegt! Komm, Richard,
komm! Du mußt unſere Freude theilen, denn
auch über Dir, geliebtes Kind! hat die Hand
des Todes geſchwebt; komm, küſſe auch Deine
Jenny, meine ſchöne, ſüße Braut!“


Und Jenny? Bei des Knaben erſter Frage
hatte ſie ſich von Walter's Bruſt emporgerichtet,
[279] beſchämt über das Geſtändniß, welches ſie dem-
ſelben in ihrer Schwäche gemacht, als ſie Ruhe
ſuchend, ſich an ihn, wie an ihren anerkannten
Beſchützer lehnte. Jetzt ſtieg der Gedanke an
die Trennung von dem Grafen wie ein düſterer
Schatten vor ihrem Geiſte auf, ſie wendete ſich
ab von dem Geliebten und barg mit einem
tiefen Seufzer das Geſicht in ihren Händen.
Aber Walter's Stimme, die Freude und Liebe,
die aus ſeinen Worten klang, machte ihr inner-
ſtes Herz erbeben, und als er zärtlich ſagte:
„Du wendeſt Dich fort, Jenny?“ vermochte
ſie nicht zu widerſtehen, reichte ihm beide Hände
hin und ſagte: „Ich habe es gewollt, ich wollte
Dich meiden, weil mir Dein Glück theurer
iſt, als meines! Gott will es anders — wir
leben noch! ſo will ich auch nur in Dir leben,
Walter!“


Jenny's Hand in der ſeinen, Richard auf
ſeinen Knien haltend, ſo langte Walter vor
[280] dem Gaſthauſe in Gernsbach an, wo man ihn
ſchon kannte, da er früher mehrmals auf ſeinen
Streifereien hier eingeſprochen war. Er und
der Diener halfen Jenny aus dem Wagen, die
ſich bereits wohler fühlte und dem Grafen,
der nach einem Arzt verlangte, verſicherte, wie
ſie weder eines Arztes, noch irgend eines Bei-
ſtandes bedürfe. „Nur der Kopf iſt mir ein
wenig ſchwer“, ſagte ſie, während ſie die Binde
von der Stirne nahm, „mir iſt, als hätte ich
zu tief und zu lange geſchlafen — und wirklich
weiß ich kaum, ob ich erwacht bin, oder ob ein
ſchöner Traum mich noch umfängt.“


„Frau Gräfin ſollten doch den Doctor kom-
men laſſen!“ ſagte die geſchäftige Wirthin und
rief damit eine flüchtige Röthe und ein freund-
liches Lächeln auf Jenny's Wangen hervor, das
Walter unendlich glücklich machte. Arm in
Arm harrten ſie der Ankunft ihres Vaters,
der mit Ueberraſchung ſie in dieſer Stellung
[281]
ſah, und, als er den Vorgang erfahren, als
Walter ihn an ſein Verſprechen erinnert und
deſſen Erfüllung verlangt hatte, tief bewegt
ſein Kind ſegnete,das in ſo großer Gefahr ihm
erhalten war und nun einer glücklichen Zukunft
entgegenging.


Herr Meier und Frau von Meining allein
genoſſen der Reize, welche Gernsbach und das
zauberiſch ſchöne Eberſteinſche Schloẞ ſchmücken.
Walter und Jenny ſahen nur ſich, und wäh-
rend jene ſich der köſtlichen Ausſicht erfreuten,
die man aus den Fenſtern jenes Schloſſes über
das ganze Thal genießt, ſaß das Brautpaar
am Fuße des Berges in dem Schatten einer
Laube und Jenny erzählte dem Geliebten, wie
ſie noch geſtern ihn habe beſchwören wollen, ſie
zu verlaſſen, und wie ſchwer ihr der Entſchluẞ
geworden, weil ſie ihn ſo lieb, ſo herzlich lieb
habe. Alle ihre Beſorgniſſe ſprach ſie ihm
[282] offen und frei aus, ſelbſt jenes Geſpräch der
Stiftsdame theilte ſie ihm mit, das ſie ſo tief
verletzt hatte, und fragte:


„Walter! wird es Dich nie ſchmerzen, wenn
Du Aehnliches hören müßteſt?“


„Niemals!“ ſagte Walter entſchieden.
„Glaube mir! Habe ich es je als ein Glück
empfunden, auf der Höhe des Lebens geboren
zu ſein, ſo war es, weil von dieſer Höhe aus,
mir jene Vorurtheile, die den Sinn der Menge
verwirren, ſtets ſo gar klein und thöricht er-
ſchienen; weil dieſer Standpunkt unſer Thun
und Handeln ſichtbar zur Richtſchnur für viele
Andere macht. Ich bin ſtolz darauf, Dich, Du
Geliebte, mit der Grafenkrone zu ſchmücken, zu
zeigen, daß mir Dein Beſitz mehr gilt als alle
Würden der Welt und kein Tadel kann mich
verletzen, da ich weiß, daß nie ein herrlicheres
Weib unſern alten Namen getragen, als Du!“


[283]

„Und Dein Onkel? Deine Angehörigen?
Werden ſie mich willkommen heißen, werden
ſie gleich Dir denken?“ wandte Jenny ein.


„Mein Onkel iſt ein edler Mann und hat
wie ich nicht mit dem Leben zu ringen gehabt;
wir fanden unſern Platz bereitet. Darum wür-
digt er, gleich mir, die Stellung, die das Ver-
dienſt unſerer Voreltern uns erworben; aber
er ehrt auch die Würde Desjenigen, der ſich
ſelbſt erſt ſeine Welt erſchaffen muß. Vergiß
es nicht, daß es das freie, ſtolze England war,
das zuerſt ſeine Sklaven befreite. Je freier ein
edler Menſch ſich ſelbſt empfindet, je weiter wird
ſein Herz, je lebhafter empört er ſich gegen
Feſſeln, die man den Andern anlegt, gegen
Unterdrückung und Unrecht. Mein Onkel bil-
ligte meine Wahl nicht, ich geſtehe das ſelbſt,
weil ſie die alte Sitte unſers Hauſes gegen
ſich hatte; nun ſie unwiderruflich iſt und mein
Glück begründet, wird er Dich lieben, wenn er
[284] Dich ſieht, und gerade in ihm wirſt Du den
treuſten Beiſtand finden, wie ich ihn kenne.“


In ſolchen Geſprächen und in fröhlichen
Entwürfen für die Zukunft flogen die Stunden
vorüber, und Herr Meier mußte Jenny erin-
nern, welche Abſicht ſie eigentlich hierher geführt.



Wie leicht mit Glücklichen zu unterhandeln
ſei, das empfand der Vater der kranken Marie
bald. Was er irgend verlangte, wurde ihm
gern und ſchnell gewährt. Man kam überein,
ihm eine Summe zur Erweiterung ſeines Ge-
werbes anzuvertrauen, während man für Marie
und ihr Kind ein kleines Kapital feſtſetzte, hin-
reichend, ſie unabhängig von ihrem Vater zu
unterhalten, der unter dieſen Verhältniſſen nicht
anſtand, der Tochter und dem Enkel ſein Haus
[285] wieder zu öffnen, in das ſie nach wenig Tagen
wieder einziehen ſollten.


Erſt ſpät am Tage fuhren die Glücklichen
nach Baden zurück, wo eine neue Freude ihrer
harrte in den Briefen, die aus der Heimat an-
gekommen waren. Wie Herr Meier es voraus-
geſehen, hatte Eduard ſich der Verbindung
Jenny's mit Walter gefreut, von deren Wahr-
ſcheinlichkeit ſein Vater ihn benachrichtigt hatte.
Er ſah darin unwiderleglich den Triumph der
Vernunft über jene Vorurtheile, deren Bekäm-
pfung ſein Lebenszweck geworden; und während
dieſe Heirath Jenny's Glück begründete, ge-
wann ſie ihm einen Bundesgenoſſen, der aus
Rückſicht auf ſein eigenes Intereſſe und ſeine
eigene Ehre, künftig die Rechte der Juden ver-
treten mußte, wo ſie irgend angefochten wur-
den. Eduard meldete noch, daß Ferdinand her-
geſtellt und in den Kreis ſeiner Familie zurück-
gekehrt ſei, was auch ein Brief von William
[286] und Clara wiederholte, die Beide in den wärm-
ſten Ausdrücken von dem Danke ſprachen, zu
dem ſie Eduard verpflichtet wären. Sie nann-
ten ihn den Gründer ihres Glückes, eines
Glückes, dem jetzt nur die Anweſenheit ihrer
Kinder fehle, um ein ganz vollkommenes zu
ſein, und Clara bat Jenny und Herrn Meier,
ihre Abreiſe von Baden zu beſchleunigen, falls
es dieſe kein Opfer koſte, weil ſowol ſie als
William ſich lebhaft nach den Kindern ſehnten.


Da nun ohnehin die Zeit, welche Frau von
Meining gewöhnlich in Baden zuzubringen
pflegte, ſich bereits ihrem Ende nahte, ſo ent-
ſchied man ſich, Clara's Bitte nachzukommen
und Baden etwas früher zu verlaſſen, als
man es beabſichtigt hatte. Noch einmal aber
kehrten ſie alle nach Gernsbach zurück, um
Marie im Hauſe ihres Vaters zu beſuchen, um
noch einmal die Stelle wiederzuſehen, an der
dem Brautpaar aus Todesangſt das höchſte
[287] Glück erwachſen. Diesmal war es Frau von
Meining vergönnt, auch Jenny und Walter
bewundernd die Gegend betrachten zu ſehen,
die ihr durch den alljährlich wiederholten Auf-
enthalt in derſelben ſo werth war, und erſt,
nachdem der Graf ihr verſprochen, im nächſten
Jahre mit ſeiner Frau Baden wieder zu be-
ſuchen, ſchied man von der Gegend, in der
Jenny's Schickſal eine ſo freundliche Wendung
genommen hatte.



Ueber der Meierſchen Familie, die wir durch
wechſelnde Erlebniſſe begleitet, ſchien nun ein
günſtiges Geſtirn in ruhiger Klarheit zu leuch-
ten. Vereint mit Frau von Meining und
Walter hatte man Baden verlaſſen; die Er-
ſtere faſt bis in ihre Heimat begleitet und nach-
[288] dem man die Kinder wohlbehalten in Clara's
Arme geführt, hatte Jenny ſelig an Walter's
Seite ihr väterliches Haus betreten. Die in-
nigſte Eintracht verband ihre Familie mit der
Hornſchen. Eduard ſchien in dem Glücke ſeiner
Jenny, in der Freundſchaft William's und
Clara's den fröhlichen Sinn ſeiner früheſten
Jugend wiederzufinden und gab ſich mit gan-
zer Seele dem Vertrauen hin, mit dem Walter
ihm brüderlich entgegenkam. Männer wie
Eduard und der Graf mußten ſich leicht ver-
ſtändigen, da ihre Geſinnungen, wenn auch von
verſchiedenen Punkten ausgehend, ſich am Ziele
in dem Enthuſiasmus begegneten, mit dem ſie
die Idee der Freiheit und des Fortſchrittes um-
fingen.


Selbſt die Ankunft von Walter's Onkel,
deren Jenny bisweilen mit Scheu gedacht hatte,
trug nur dazu bei, ihr Glück zu erhöhen.
Eine gewiſſe vornehme Zurückhaltung, welche
[289] der alte Graf bei der erſten Begegnung mit
Jenny und ihrer Familie beobachtet hatte, war
vor Jenny's Liebenswürdigkeit und der ruhigen
Würde ihrer Angehörigen bald gewichen. Schon
nach wenigen Tagen, in denen Jenny die vollſte
Liebe des alten Grafen gewonnen hatte, ſagte
er, als er ſich Abends mit Walter allein be-
fand: „Da es einmal nicht zu ändern iſt, be-
kenne ich Dir, Du hätteſt ſchlechter wählen
können, als dies Mädchen, die, ihre Geburt
abgerechnet, eine wahre Perle unter den Frauen
iſt. Aber folge mir! heirathe ſie bald. Es
klingt mir doch nicht angenehm, Deinen Na-
men immerfort mit dem dieſes übrigens wackern
Banquier Meier vereinigt zu hören. Iſt Jenny
Deine Frau, ſo hört das natürlich auf und die
Gräfin Walter iſt leichter zu ſouteniren gegen
jede Einwendung als Mademoiſelle Meier.
Sage dem lieben Kinde, daß ich es wohl mit
ihr meine und darum die Beſchleunigung Eurer
II. 13
[290] Ehe wünſche. Ich denke den Vater ſchnell zu
überzeugen, daß es für Euch das Beſte iſt,
wenn Ihr bald als Mann und Frau auf Deine
Güter geht und dort verweilet, bis Alles in
die Reſidenz zurückkehrt, wo ich Euch erwar-
ten will, um Jenny's erſtes Auftreten zu er-
leichtern.“


Obgleich die Wichtigkeit, welche der alte
Graf auf die Ausführung dieſes Planes legte,
Walter übertrieben ſchien, ſtimmte er doch ſo
wohl mit ſeinen eigenen Wünſchen zuſammen,
daẞ er bereitwillig darauf einging und man
erlangte von Herrn Meier das Verſprechen,
Jenny's Hochzeit mit Walter ſchon in den er-
ſten Tagen des Novembers zu feiern. Der
Onkel — wie wir den alten Grafen mit Walter
nennen wollen — der Onkel ſelbſt machte mit
Walter faſt überall den Begleiter und Beſchützer
der glücklichen Jenny, deren Geſellſchaft ihm
das lebhafteſte Vergnügen gewährte. Bis-
[291]
weilen fiel es ihm wol auf, wie er jetzt ganz
außer ſeinem gewohnten Kreiſe, in der Mitte
einer jüdiſchen Familie lebe und ſich ganz be-
haglich dabei fühle, dann aber beruhigte er
ſich mit dem Gedanken, daß es vernünftig ſei,
bonne mine à mauvais jeu zu machen und daß
ſeine Pflicht ihm gebiete, den Schritt, den ſein
Neffe nun doch gethan, gleichſam durch die
Anerkennung zu rechtfertigen und zu heiligen,
die er der künftigen Gräfin Walter ſchon jetzt
bewies. Er hatte erklärt, bis zur Hochzeit
ſeines Neffen in dieſer Stadt bleiben zu wollen,
und unbeſchäftigt, wie er es war, betrieb er
auf das Angelegentlichſte die Beſorgung der
Equipagen, des Silbergeräthes und alles Deſſen,
was ſonſt noch zur vollſtändigen Einrichtung
des künftigen Haushaltes gehörte; oder er be-
ſuchte, da die Jagdzeit begonnen hatte, die
Edelleute ſeiner Bekanntſchaft, die in der Nähe
ihre Beſitzungen hatten.


13*
[292]

So war man in die letzten Tage des Ok-
tobers gekommen, als der Onkel, während ſie
im Meierſchen Hauſe zu Mittag aßen, ſeinen
Neffen aufforderte, ihm zum Dank für die
Mühe, welche ihm die Beſorgung der neuen
Einrichtung verurſachte, auch ſeinerſeits gefällig
zu ſein und ihn zu einem Freunde zu begleiten,
der am nächſten Tage eine Jagdpartie veran-
ſtalten wollte, zu der er auch die beiden Gra-
fen eingeladen hatte. Walter antwortete an-
fangs ausweichend, aber der alte Herr wollte
keine Entſchuldigungen annehmen und ſagte zu
Jenny: „Ich bitte Sie, Töchterchen! legen
Sie ein gutes Wort für einen alten Onkel
ein, der Ihrem Bräutigam einſt die erſte
Flinte in die Hand gab und ſich nun ein-
mal an den Künſten ſeines Schülers erfreuen
möchte.“


Was wollte Walter machen? Er mußte die
Einladung des Greiſes annehmen, deſſen bit-
[293] tender Ton ſonderbar gegen ſeine befehlende
Haltung abſtach, und man ſtand von der Tafel
auf, weil der Graf ſchon in der Dämmerung
auf das Land zu fahren wünſchte, um vor der
Nacht bei ſeinen Freunden einzutreffen.


In lebhafte Diskuſſionen über eine Maß-
regel der Regierung vertieft, ſaßen nach dem
Mittagseſſen die beiden alten Herren ihren
Kaffee trinkend vor der Flamme eines Ka-
mins, während Walter mit ſeiner Braut in
der Brüſtung eines Fenſters ſtand und Eduard
und Joſeph die neueſten Zeitungen durchflogen.


„Ich fahre ungern hinaus!“ ſagte Walter,
„ſo ſehr ich die Jagd liebe, ſo wenig ſagt mir
gerade dieſe Geſellſchaft zu, die mich außerdem
ein paar Tage von Dir trennt.“


„Wie wäre es“, fragte Jenny, „wenn ich
den Onkel bäte, Dich mir und meinem Vater
zu laſſen, da wir ja doch kaum noch eine Woche
bei ihm bleiben?“


[294]

„Nein! laß das, Liebchen!“ antwortete der
Graf, „und am Ende müſſen wir dieſe kleine
Trennung, die uns gerade jetzt ſo unangenehm
iſt, wie ein Opfer betrachten, das wir den
Göttern bringen, damit ſie uns nicht beneiden.
Wir ſind zu glücklich geweſen bis jetzt und nun
dieſe Zukunft vor uns!“


„Sage das nicht, Walter!“ bat Jenny;
„es klingt ſo ſicher und wer iſt des nächſten
Tages nur gewiß?“


„Abergläubiſches Kind!“ ſchalt der Graf,
indem er ſie an ſich zog. „Warum ſollte das
Schickſal, das mich von Jugend auf begün-
ſtigte, mir jetzt ſeine Huld entziehen, da ich ſie
mit Dir zu theilen denke? Sei nicht bange,
Jenny! und vertraue mit mir meinem alten,
wohlbekannten Glück!“


Indeſſen hatte Eduard von der Zeitung
aufgeſehen und blickte mit innigſtem Wohl-
wollen auf das Brautpaar hin: „Schade, daß
[295] die Mutter das nicht ſieht!“ ſagte er leiſe zu
Joſeph, „daß ſie nicht ſieht, welch eine Zukunft
Jenny's harrt, wie froh der Vater in Jenny's
Glück ſich fühlt! Wie würde ſie Theil nehmen
auch an den Hoffnungen, die ich jetzt feſter als
jemals in mir hege; die vielleicht bald zu ſchö-
ner Wahrheit werden!“


„Weißt Du, was noch bis dahin geſchieht?“
entgegnete Joſeph in ſeiner gewohnten Art.
„Den Todten iſt am wohlſten, laß ſie ruhn.“


Unangenehm durch dieſe Worte in ſeiner
heitern Stimmung berührt, ſtand Eduard auf
und trat zu dem alten Grafen, der ſich eben
zum Fortgehen anſchickte und Walter auffor-
derte, jetzt mit ihm zu kommen. Herzlich nahm
dieſer Abſchied von ſeiner Braut; es war die
erſte tagelange Trennung ſeit ihrer Verlobung,
und Jenny begleitete ihn bis in das Vorzim-
mer hinaus.


[296]

„Alſo zwei Tage, Walter!“ ſagte Jenny,
„länger bleibſt Du nicht! — Hören Sie, lie-
ber Onkel! Keine Stunde länger borge ich
Ihnen Walter und Sie ſelbſt bringen mir ihn
wieder!“ — rief ſie den Scheidenden zu.


„Auf mein Wort!“ antwortete der alte
Graf, als er mit Walter davonging.


Es war noch hell am Tage und Walter
bat ſeinen Onkel, da ſie noch Zeit hätten, mit
ihm in den Laden des Juweliers zu treten, bei
dem er den Brautſchmuck für Jenny beſtellt
hatte, der noch einiger Abänderungen bedurfte.
Dort fanden ſie einen Baron Werner, der
früher mit Walter in demſelben Regimente ge-
dient hatte und nun nach jahrelangem Aufent-
halt an verſchiedenen Höfen Europas nach
Deutſchland zurückgekehrt war.


Verwundert, die beiden Grafen Walter hier
zu ſehen, wo ſie weder Angehörige noch Be-
ſitzungen hatten, fragte Werner, während der
[297] alte Graf mit dem Juwelier in ein Nebenzim-
mer ging, wo Jenny's künftiges Silbergeräth
aufgeſtellt war. „Welch ein Zufall führt Sie
in dieſe Stadt, lieber Graf?“


„Ich bin meiner Braut von Baden-Baden
hieher gefolgt, und bleibe bis nach unſerer Hoch-
zeit hier!“


„Sie ſind Bräutigam?“ fragte Werner
weiter — „eine Feldheim? eine Erſtner ver-
muthlich!“


„Nein! keines von Beiden! Meine Braut
iſt Fräulein Jenny Meier, die Tochter des
Bankier Meier.“


„Ah, fidonc! Scherzen Sie nicht, das iſt
nicht möglich! ein Judenmädchen?“ rief der
Baron lachend.


„Was fällt Ihnen daran ſo ſonderbar auf?“
fragte Walter verletzt und ſehr ernſthaft.


„Ich kann's nicht glauben! Ihre Verhält-
niſſe ſind zu gut arrangirt“, antwortete Wer-
13**
[298] ner noch immer lachend, „als daß ſie nöthig
hätten, ein ſolches Mädchen zu heirathen pour
fumer vos terres!


„Die Aeußerung durfte keinen Mann von
Ehre machen, nachdem ich erklärt, daß Fräu-
lein Meier meine Braut ſei!“ ſagte Walter,
heftig auffahrend.


Werner wollte in demſelben Tone antwor-
ten, als der alte Graf mit dem Juwelier in
das Zimmer und, ohne die Veranlaſſung des
Streites zu kennen, zwiſchen ſie trat. „Keine
Scene, meine Herren!“ — ſagte er gebietend,
aber leiſe. „Sie wiſſen, wo Sie ſich finden,
was braucht es weiter?“ — Und indem er den
Goldarbeiter ruhig noch einige Befehle gab,
ſchritt er grüßend am Arme ſeines Neffen
hinaus.


„Was gab es, Walter?“ fragte er, und
dieſer berichtete aufgeregt, was geſchehen ſei.
Der alte Herr ſchüttelte das Haupt: „Das
[299] war es, was ich fürchtete! Dergleichen konnte
nicht ausbleiben!“ ſagte er, wie zu ſich ſelbſt.
Dann zu Walter ſich wendend: „und was
willſt Du thun?“


„Können Sie noch fragen?“ antwortete
dieſer. „Der Unverſchämte ſoll mir Genug-
thuung geben für die Beleidigung. Ich eile,
einen meiner Freunde aufzuſuchen. Ich werde
Sie nicht hinausbegleiten, Onkel!“


„Ruhig, ruhig, Walter!“ ſagte der alte
Graf. „Ich werde ebenſo wenig hinausfahren.
Die Angelegenheit mit Werner iſt mir fatal!
Indeß muß ſie ernſt und raſch beſeitigt werden,
darin ſtimme ich Dir bei. Es iſt das Beſte,
Du weiſeſt jede Vermittelung ab, zeigſt gleich
jetzt, daß Du in der Beziehung keine Scherze
liebſt, und damit man ſieht, wie wir Achtung
vor Deiner Braut hegen, will ich ſelbſt Dei-
nen Secundanten machen. Das Handwerk iſt
mir etwas fremd geworden — indeß ich finde
[300] mich wol noch zurecht und ſehe dann morgen
doch, was mein Unterricht im Schießen für
Früchte bei Dir getragen hat.“


Walter drückte dem väterlichen Freunde die
Hand, der ſeine Unruhe ſcherzend verbergen
wollte und nahm dankbar ſein Erbieten an.


Werner's Herausforderung ließ nicht auf
ſich warten und Walter bat ſeinen Onkel, es
ſo einzurichten, daß ſie ſich am nächſten Mor-
gen ſchon treffen könnten. Er ſelbſt wolle ſeine
Angelegenheiten ordnen und den Abend dann
bei Jenny zubringen. Aber ſein Onkel rieth
ihm davon ab. Er ſtellte ihm vor, daß Jenny
ihn nicht erwarte. „Und“, ſagte er, „das gibt
unnöthig eine Rührung, die ſie beunruhigt
und Dich aufregt. Ihr jungen Herren der
jetzigen Zeit nehmt ſolche Dinge viel zu ſchwer.
In meiner Jugend war das anders! Doch
will ich Dich nicht hindern, Deine Angelegen-
heiten, wie Du es nennſt, zu ordnen. Nur
[301]
zu Jenny gehe nicht! Du ſiehſt ſie ja mor-
gen wieder, ſei es, daß Dir ein kleiner Ader-
laß zugedacht iſt, oder daß Du ſo davon
kommſt, und Du gehſt ruhiger an die Sache,
wenn Du Deine Braut ganz unbeſorgt weißt.“


Dieſe Einwendungen überzeugten Walter
und er fügte ſich ihnen willig.



Jenny ſchlief am Morgen ruhig von an-
muthigen Träumen gewiegt, als man gegen
die Gewohnheit ſie aufzuwecken kam. Ver-
wundert fragte ſie, was man verlange? Da
der Eintritt ihres Vaters und Eduard's ſie ein
unerwartetes Ereigniß ahnen ließen.


„Jenny!“ ſagte ihr Vater, „kleide Dich
ſchnell an, Du ſollſt heute zeigen, daß Du die
Seelenſtärke haſt, die wir Dir zugetraut. Wal-
ter iſt erkrankt und verlangt nach Dir!“


[302]

„Er iſt todt!“ — rief Jenny überwältigt
von dem jähen Schreck.


„Nein, er lebt!“ antwortete Eduard, „aber
er iſt ſchwer verwundet auf der Jagd, und
auf ſeinen Wunſch hat man ihn hierher ge-
bracht!“


Wenig Augenblicke darauf kniete Jenny an
dem Lager des Geliebten. Er kannte ſie noch,
dies bewies der Blick voll Liebe und Trauer,
mit dem er ſie begrüßte, die matte Bewegung,
mit der er ſeine Hand auf ihr Haupt legte,
als ſie neben ihm niederſank. Aber der Jam-
mer auf den Geſichtern der Anweſenden, die
Ruhe und Unthätigkeit, welche in dem Zimmer
herrſchten, ſagten ihr deutlich, daß hier keine
Hoffnung ſei, daß ſie an einem Sterbebette
ſtehe. Walter's müdes Haupt ruhte wieder
an ihrer Bruſt, unverwandt hing ihr Blick
an den Zügen des Geliebten, keine Thräne
kam in ihre Augen, keine Klage entſchlüpfte
[303] ihren Lippen. Ihr ſtummer Schmerz beunru-
higte die Anweſenden, und mit den Worten:
„Jenny! ſo mußte ich mein Wort löſen!“ —
verſuchte der alte Graf, ſo tief er ſelbſt gebeugt
war, die Unglückliche aus ihrer furchtbaren
Ruhe zu reißen. Aber umſonſt! Sie ſah den
Onkel ihres Bräutigams bemitleidend an, reichte
ihm die Hand und verſenkte ihre Seele wieder
in das regungsloſe Anſchauen des Geliebten.
Eine Stunde gräßlicher Stille war ſo ent-
ſchwunden, nur Eduard's Beſtrebungen, dem
Verwundeten einige Erleichterung zu ſchaffen,
unterbrachen die herrſchende Ruhe. Da hörte
man plötzlich einen lauten Athemzug, Walter's
Kopf ſank vorwärts — er hatte geendet. Und
mit einem Schrei des furchtbarſten Schmerzes
fuhr Jenny nach ihrem Herzen und fiel auf die
Leiche ihres Bräutigams nieder.



[304]

Am folgenden Tage verkündete die Zeitung:
„Geſtern fand hier ein Schuß-Duell zwiſchen
dem Grafen W... und dem Baron W...
ſtatt, deſſen Folgen für den Grafen tödtlich
waren. Er ſtand auf dem Punkte, ſich zu
vermählen und der Schmerz über ſeinen Verluſt
hat auch der unglücklichen Braut das Leben ge-
koſtet. Familienverhältniſſe ſollen die Veran-
laſſung zum Streite gegeben haben!“


Weiter unten las man: „Den plötzlich er-
folgten Tod ſeiner einzigen Tochter Jenny mel-
det tief betrübt unter Verbittung des Beileides
ſeinen Freunden und Bekannten. R. Meier.“



Bei Fackelſchein hatte Graf Walter die
Leiche ſeines Neffen aus der Stadt führen laſ-
ſen, um ſie ſelbſt in die Gruft ſeiner Ahnen
[305] nach ihrem Stammſchloſſe zu begleiten. Jetzt
am Morgen ſtanden drei Männer an einem
friſch aufgeworfenen Grabe. Es waren Herr
Meier, Eduard und Joſeph. Sie hatten es
von ihren Freunden als eine Gunſt verlangt,
daß man ihnen allein die Beſtattung des
theuern Lieblings überlaſſe, und Niemand hatte
es gewagt, ihre Trauer zu ſtören. Hell ging
die Sonne an dem heitern Himmel auf, der
freundlichſte Herbſtmorgen beleuchtete Jenny's
Grab. Einſam ſtanden die Ihren auf dem
fremden chriſtlichen Kirchhof, auf dem nun
Jenny fern von ihrer Mutter, fern von jedem
Blutsverwandten ruhte. Starr und ſchweigend
ſah der unglückliche Vater zur Erde nieder, die
ſein Kind bedeckte, als aus Joſeph's Bruſt der
der Ausruf: „Wozu leben wir noch?“ herzzer-
reißend zum Himmel tönte und die erſten Thrä-
nen in die Augen des Vaters lockte.


Da richtete Eduard ſich mächtig empor:
[306] „Wir leben“, ſagte er, mit der Begeiſterung
eines Sehers — „um eine Zeit zu erblicken, in
der keine ſolche Opfer auf dem Altare der Vor-
urtheile bluten! Wir wollen leben, um eine
freie Zukunft, um die Emancipation unſers
Volkes zu ſehen!“


Appendix A

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[[307]]

Appendix B

Druckfehler zum erſten Theil.
Seite 7 Zeile 20 ſtatt wir lies mir
〃 232 〃 4 〃 Vergangenheit l. Zukunft
〃 264 〃 15 〃 lobt's l. lebt's
〃 — 〃 17 nach Minuten fehlt ſpäter
〃 269 〃 13 ſtatt Savon l. Saron
〃 369 〃 4 〃 Band l. Land.

Druckfehler zum zweiten Theil.
Seite 16 Zeile 19 ſtatt Nur l. Nun
〃 201 〃 16 〃 ſie l. ſich.



[[308]][[309]][[310]][[312]][[313]]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Jenny. Jenny. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn2f.0