unſichtbare Loge.
Mit Churfürſtl. Sächſiſch. Privilegio.
in Karl Matzdorffs Buchhandlung.
Mumien.
[][]Sieben u. zwanzigſter od. XXI. Trinitatis-Sekt.
Guſtavs Brief — Fürſt mit ſeinem Friſierkamm.
Jetzt iſt Guſtav im alten Schloſſe — ſein Schau¬
platz hob ſich bisher taͤglich, von der Erden¬
hoͤle in eine Ritterburg, dann in ein Kadetten-
Philantropin, endlich in ein Fuͤrſtenſchloß. Der
reiche Oefel miethete es, weil es ans neue ſtieß,
wo der Blocksberg der großen Welt von Scheerau
war. Die Reſidentin von Bouſe hatte beide von
ihrem Bruder geerbt, der hier unter ihren Kuͤſſen
und Thraͤnen verſchied. Die Natur hatte ihr alles
gegeben, was das eigne Herz hebet und das frem¬
de gewinnt; aber die Kunſt hatte ihr zuviel gege¬
ben, ihr Stand ihr zuviel genommen — ſie hatte
zu viele Talente, um an einem Hofe andre Tu¬
genden zu behalten als maͤnnliche; ſie vereinigte
Freundſchaft und Koketterie — Empfindung und
Spott — Achtung der Tugend und Philoſophie der
Welt — Sich und unſern Fuͤrſten. Denn dieſer
war ihr erklaͤrter Liebhaber, dem ſie ihr Herz mehr
aus Ehre als aus Neigung ließ. Sie war zu et¬
2. Theil. A[2] was beſſerem gemacht als zu ſchimmern; aber da
ſie zu nichts Gelegenheit hatte als zum Schimmern:
ſo vergaß ſie, daß es jenes beſſere gebe. Aber
wer zu etwas hoͤherem geboren iſt als zur Welt-
oder Hofgluͤckſeligkeit: der fuͤhlt in bittern Stun¬
den ſeine verſaͤumte Beſtimmung. — Es wird
ſich hieher eine neue Urſache ſchicken, die Oefeln
aus Scheerau warf: er ſollte und wollte auf fuͤrſt¬
lichen Befehl fuͤr den Geburtstag der Reſidentin
ein Geburtstagsdrama auf der Drehſcheibe ſeines
Pultes formen. Das Drama ſollte Beziehungen
haben. Auf dem Liebhabertheater zu Oberſcheerau
— wo der Fuͤrſt nicht wie auf dem Kriegstheater
Figurant ſondern erſter Akteur war und wo er ei¬
ne ordentliche Hoftruppe erreichte und erſparte
— ſollte es vom Fuͤrſten, von Oefel und einigen
andern geſpielet werden. Der Fuͤrſt hatte noch Au¬
gen, die Reſidentin anzublicken, noch eine Zun¬
ge, ſie zu lieben, noch Tage, es ihr zu beweiſen,
noch ein Theater, ihr zu huldigen: gleichwohl
haßte er ſie ſchon, weil ſie zu edel fuͤr ihn war;
denn ſeine Theaterrolle ſollte (wie unten gedruckt
werden ſoll) mehr ihm als ihr Dienſte thun. —
Oefel (der Ambaſſadeur und Hoftheaterdichter und
[3] Akteur auf einmal war, weil ein ſchlechter Unter¬
ſchied iſt) malte in ſein Drama Beaten hinein und
wollte ihr durch ihre Kopie ſchmeicheln und hofte,
ſie wuͤrde mit agiren und ihr Portrait zu ihrer Rol¬
le machen. Alles das dacht' er von Guſtav auch;
aber unten werden wir eben ſehen.
Guſtav war im alten Schloſſe — indeß uͤber
ſeine Ohrennerven alle Viſitenraͤder giengen und
alle Beſuchs-Prozeſſionen um ſeine Augen ſchwaͤrm¬
ten, — todten-allein. Er arbeitete ſich in ſeine
kuͤnftige Beſtimmung hinein: mehr als funfzig
Legazionsſekretaire werden denken, er lernte Brie¬
fe und Herzen aufmachen, Weiber und Berichte
deſchiffriren, Amour, Cour und Spitzbuͤbereien
machen — die funfzig Sekretaire irren; ſie wer¬
den ferner denken, er lernte kleinſchreiben, um
das Porto zu ſchwaͤchen, ferner Chiffern und Titel
machen, ferner wiſſen, weſſen Name im oͤffent¬
lichen Inſtrument, das an drei Potenzen koͤmmt,
zuerſt ſtehe — und daß jede Potenz in ihrem In¬
ſtrument zuerſt ſtehe — ſie haben Recht; aber er
that mehr: er lernte in der Einſamkeit die Geſell¬
ſchaft ertragen und lieben. Fern von Menſchen
wachſen Grundſaͤtze; unter ihnen Handlun¬
A 2[4]gen. Einſame Unthaͤtigkeit reift auſſer der Glas¬
glocke des Muſeums zur geſelligen Thaͤtigkeit und
unter den Menſchen wird man nicht beſſer, wenn
man nicht ſchon gut unter ſie koͤmmt.
Seine Geſchaͤfte giengen in ſchoͤne Unterbrechun¬
gen uͤber. Denn vor ſeinem Fenſter drauſſen ſtand
die ſchoͤne und faſt kokette Natur von Paris-Aep¬
feln umhangen und mitten in ihr eine Spatziergaͤn¬
gerin, die die Aepfel alle verdiente. Wer kanns
ſeyn als — Beata? — Gieng ſie in den Park: ſo
wars ihm eben ſo unmoͤglich, ihr nachzuſpatziren
als ihr nicht nachzuſchauen durchs Fenſter und ſei¬
ne Augen ſuchten aus dem Gebuͤſche alle vorbei¬
blinkende Baͤnder heraus. Wandelte ſie ruͤckwaͤrts
mit dem Geſichte gegen ſeine Fenſter: ſo trat er
nicht bloß von dieſen, ſondern auch von der Gar¬
dine ſo weit wie moͤglich zuruͤck, um ungeſehen zu
ſehen. Vielleicht, (aber ſchwerlich,) kehrten ſich
die Rollen um, wenn er nach ihr ſich auf ihre Gaͤn¬
ge wagte, die fuͤr ihn Himmelswege waren. Eine
herabgewehte Roſe, die er einmal in der dunkel¬
ſten Nacht unter ihrem Fenſter aufhob, war eine
Ordensroſe fuͤr ihn, ihr welker Honigkelch war
das Potpourri ſeiner ſchoͤnſten Traͤume und ſeines
[5] Freuden-Flors — ſo legeſt du, hohes Schickſal, fuͤr
den ewigen Menſchen ſeinen Himmel oft unter ein
falbes Roſenblatt, oft auf den Bluͤthenkelch eines
Vergißmeinnichts, oft in ein Stuͤck Land von
305,000 Quadratmeilen. —
Wer zu viel verziehen hat: will ſich nachher
raͤchen. Guſtavs Freundſchaft gegen Amandus war
in eine ſo hohe Flamme aufgeſchlagen, daß ſie
nothwendig Aſche auf ihren Stoff herunterbrennen
mußte — wenn er Beaten nachblickte, blickte er
auf Amandus zuruͤck und tadelte ſich ſo oft, daß
er anfangen mußte, ſich zu rechtfertigen. Was
vom Aſchenberg, worunter ſeine Liebe glimmte,
abgetragen wurde, wurde dem Aſchenberge ſeiner
Freundſchaft zugeſchuͤttet. Gleichwohl wuͤrde er zu je¬
der Stunde alles fuͤr Amandus aufgeopfert haben,
was unſern Guſtav ſelber aufgeopfert haͤtte — o
ihr ſeid die Seelen, die nicht bloß die Kraft ha¬
ben, aufzuopfern — ſondern auch die Begierde,
ja die Manie dazu. Das Leben, das Guſtav jetzt
von Fruͤhling und Garten und Wuͤnſchen der Liebe
umgeben genoß, ſoll er ſelber malen in ſeinem
Briefe an mich. Dieſen Brief werden freilich die
verwerfen, die vor dem Natur-Schauſpiel als kal¬
[6] te Zuſchauer, als entfernte Logen-Paͤchter ſtehen;
aber es giebt beſſere und ſeltnere Menſchen, die
ſich fuͤr hineingeriſſene Spieler und jede Grasſpitze fuͤr
beſeelt anſehen, jedes Kaͤferchen fuͤr ewig und das
unbaͤndige Ganze fuͤr ein unendliches ſchlagendes
Aderſyſtem, in welchem jedes [Weſen] als ein ſau¬
gendes und tropfendes Aeſtchen zwiſchen, kleinern
und groͤßern pulſirt und deſſen volles Herz Gott
iſt. — —
Guſtavs Brief.
Heute ſtieg ich zum zweitenmale aus meiner
Hoͤle in die unendliche Welt — alle meine Adern
fluten noch vom heutigen Nachmittage, mein Blut
moͤchte ſich mit den Erden um die Sonnen drehen
und mein Herz mit den Sonnen um das funkelnde
Ziel, das neben dem Schoͤpfer ſteht . . .
Die Nachtluft, die mein Licht umkruͤmmt,
kuͤhlet mich vergeblich ab, wenn ich nicht die bren¬
nende Bruſt vor dem Auge des Freundes aufdecke
und ihm alles ſage. Ich nahm Nachmittags mein
Reißzeug, womit ich bisher ſtatt der Landſchaf¬
ten die Feſtungen, die ſie verwuͤſten, ſchaffen muͤſ¬
ſen und gieng ins ſtille Land hinaus. Der Erdball
[7] glitt ſo leiſe wie der Schwan unter den Blumen¬
inſeln, an die ich mich lagerte, durch den Aether-
Ozean dahin, der freundliche Himmel buͤckte ſich
tiefer zur Erde nieder, es war dem Herzen als
muͤßt' es im ſtillen weiten Blau zerflieſſen, als
muͤßt' es von Fernen ein verhalltes Jauchzen hoͤren
und es ſehnte ſich nach arkadiſchen Laͤndern und
nach einem Freund, vor dem es zergieng: — —
Ich ſetzte mich mit der Reißfeder auf einen kuͤnſtli¬
chen Felſen neben dem See und wollte meine Aus¬
ſicht zeichnen — die einander umarmenden Erlen¬
baͤume, die das Ende des umgekruͤmmten Sees
zuhuͤlleten und belaubten — die bunte Reihe der
Blumeninſeln, um deren jede ſchon ein doppeltes
Blumenſtuͤck ihrer geſchmuͤckten Inſulanerin gema¬
let ſchwamm, naͤmlich das bunte Blumenbild, das
unter dem Waſſer zum Spiegel-Himmel hinunter¬
gieng, und der Schattenriß, der auf dem zittern¬
den Silbergrunde ſchwankte — und die lebendige
Gondel, der Schwan, der zu meinen Fuͤßen ſich
vielleicht in hungriger Hoffnung drehte; — — aber
als die ganze hoch aufgerichtete Natur mir ſaß und
mich mit ihren Strahlen ergriff, die von einer
Sonne zur andern reichen: ſo betete ich an was
[8] ich nachfaͤrben wollte und ſank Gott und der Goͤt¬
tin zu Fuͤßen . . . .
Ich ſtand auf mit gelaͤhmter Hand und uͤber¬
gab mich dem ſteigenden Meere, das mich hob. —
Ich gieng jetzt an alle Ecken der großen Tafel mit
Millionen Gedecken fuͤr koloſſaliſche Gaͤſte und fuͤr
unſichtbare: denn meine Bruſt war noch nicht
voll und ich ließ die Wellen, die hineinſchlugen,
leidend in mir ſteigen. — Ich draͤngte mich in den
tiefſten Schatten der Schattenwelt, in den die in
einen Stern zergangne Sonne entlegner ſchimmer¬
te. — Ich gieng im Fichtenwald vor dem Gezaͤnk
der Kohlmeiſe und dem einſamen Wuͤſtenlaut der
Droſſel voruͤber unter die ſingende Lerche heraus —
Ich gieng im langen Abendthal an dem bewohnten
Bach hinauf und ein entzuͤcktes Weſenchor gieng
mit mir, die hineingetauchte Sonne und die
Muͤcke mit ihrem Schrittſchuh-Fuͤßen liefen neben
mir auf dem Waſſer weiter, die großaͤugige Waſ¬
ſerlibelle floß auf einem Weidenblatte dahin, ich
watete durch gruͤnes aus- und einathmendes Leben,
umflogen, umſungen, umhuͤpfet, umkrochen von
freudigen Kindern kurzer warmer Augenblicke. —
Ich gieng auf den Eremitenberg und meine Bruſt
[9] war noch nicht von dem einſtroͤmenden Großen voll
dem ſie leidend offen ſtand. — — — Aber dort
richtete ſich die liegende Rieſin der Natur vor mir
auf, in den Armen tauſend und tauſend ſaͤugende
Weſen tragend — und als meine Seele vom Ge¬
draͤnge der unzaͤhligen bald in Muͤckengold gefaßter
Seelen, bald in Fluͤgeldecken inkruſtirter, bald mit
Zweifalters-Gefieder uͤberſtaͤubter, bald in Blu¬
menpuppen eingeſchloſſener Seelen angeruͤhret wur¬
de in einer unendlichen unuͤberſehlichen Umarmung
— und als ſich vor mir uͤber die Erde legten Ge¬
buͤrge und Stroͤme und Fluren und Waͤlder und als
ich dachte, alles dieſes fuͤllen Herzen, die die
Freude und die Liebe bewegt und vom großen Men¬
ſchen-Herz mit vier Hoͤlungen bis zum eingeſchrumpf¬
ten Inſektenherz mit Einer und bis zum Wurms-
Schlauch nieder, ſpringt ein fortſchaffender, ewi¬
ger, eine Generation um die andre entzuͤckender
Funke der Liebe . . . .
. . . . Ach dann breitete ich meine Arme hin¬
aus in die flatternde zuckende Luft, die auf der
Erde bruͤtete, und alle meine Gedanken riefen:
o waͤreſt du ſie, in deren weiten wogenden Schoos
der Erdball ruht, o koͤnnteſt du wie ſie, alle
[10] Seelen umſchlieſſen, o reichten deine Arme um al¬
les wie ihre, die da beugen das Fuͤhlhorn des Kaͤ¬
fers und das bebende Gefieder des Lilienſchmetter¬
lings und die zaͤhen Waͤlder, die da ſtreicheln mit
ihrer Hand das Raupenhaar und alle Blumen-Auen
und die Meere der Erde, o koͤnnteſt du wie ſie an
jeder Lippe ruhen, die vor Freude brennt, und
kuͤhlend um jeden gequaͤlten Buſen ſchweben, der
ſeufzen will. — — O hat denn der Menſch
ein ſo ſchmales verſperrtes Herz, daß er vom gan¬
zen Reiche Gottes, das um ihn thront, nichts lie¬
ben, nichts fuͤhlen kann als was ſeine zehn Fin¬
ger faſſen und fuͤhlen? Soll er nicht wuͤnſchen,
daß alle Menſchen und alle Weſen nur Einen Hals,
nur einen Buſen haben, um ſie alle mit einem
einzigen Arm zu umſchlieſſen, um keines zu ver¬
geſſen und in geſaͤttigter Liebe nicht mehr Herzen
zu kennen als zwei, das liebende und das gelieb¬
te? — Heute wurd' ich mit der ganzen Schoͤpfung
verbunden und ich gab allen Weſen mein Herz . . .
Ich kehrte mich nach Oſten gegen das neue
Schloß und gegen Auenthal: hinter dem Auen¬
thaler Wald brauſete durch einen zerbrochnen Re¬
gen-Schwibbogen ein aufgerichteter Ozean — ich
[II] ſtand hier einſam in einer weiten Stille — ich wand¬
te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte
daran, daß ich ſie einmal fuͤr Gott gehalten, und
es fiel heute ſchwer auf mich, daß ich den, ders war,
bisher ſo ſelten gedacht — „o Du, Du!” rief ſo
nahe an ihm mein ganzes Weſen — aber allen Spra¬
chen und allen Herzen und allen Gefuͤhlen entfaͤllt
vor ihm die Zunge und Beten iſt Verſtummen,
nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem [Gedan¬
ken] . . . . Aber der große Geiſt, der die Schwaͤ¬
che des guten Menſchen kennt, hat ihm Mitbruͤ¬
der herabgeſandt, damit der Menſch ſich vor dem
Menſchen oͤfne und vor ihnen das Gebet, in dem
er verſtummte, vollende. — —
O Freund meiner ſchoͤnſten Jahre! der du
Dankbarkeit und Demuth in meinem Innerſten be¬
feſtigt haſt, dieſe hab’ ich gefuͤhlt als ich auf dem
Eremitenberg mich einſam uͤber das geſchaffne Ge¬
wuͤrm erhob und fuͤhlte, was der Menſch fuͤhlt
aber nur er auf der Erde — als ich einſam vor
dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬
gel, an den ſich das Inſekt mit Fuͤhlhoͤrnern ſtoͤſ¬
ſet, mit Menſchenaugen knien konnte, vor dem
Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Rieſe
[12] flammt. . . . . Nein: in Erdfarben und auf der
Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor
mir liegt, iſt bloß das Bild des Ur-Genius;
aber im Menſchen iſt nicht ſein Bild, ſondern er
ſelbſt . . . .
Die Sonne gluͤhte noch halb uͤber dem Erd¬
ball, der ſie zerſchnitt; aber ich ſah ſie durch
mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬
ſtummt, verhuͤllt, verſunken im treibenden, flam¬
menden, reiſſenden, uferloſen Meere um mich. . .
Die Sonne nahm den entzuͤckten Tag mit hin¬
unter; und jetzt ſteht der Aether-Diamant, den
die Nacht ſchwarz einfaſſet, der Mond, uͤber die¬
ſen zugehuͤllten Szenen und ſtrahlet wie andre Dia¬
manten den entlehnten Schimmer aus . . . . O du
ſtille Mitternachts-Sonne! du ſchimmerſt und der
Menſch ruht, deine Strahlen beſaͤnftigen das ir¬
diſche Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬
gen wie ein ſchimmernder Bach den liegenden Men¬
ſchen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬
beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge
und das ſchmerzenloſe Angeſicht . . . . Leben Sie
wohl und die weiſſe Lunens-Scheibe zeig' Ihnen
[13] alle Paradieſe der vergangnen und alle Paradieſe
der zukuͤnftigen Jugend . . . Guſtav.
So weit war er, als Oefels Bedienter mit ei¬
nem Paket an ihn in ſeine Stube trat, das leich¬
ter als die kaͤlteſte Nachtluft und der waͤrmſte Brief
die Bewegungen ſeiner Seele anhielt und abkuͤhlte.
Ein Brief vom Dokter lag mit der Nachricht dar¬
in, daß die Frau von Roͤper ihm in Mauſſenbach
gegenwaͤrtiges Portrait mitgegeben, das ihre
Tochter fuͤr ihr eignes verlornes gehalten, auf deſ¬
ſen Ruͤcken aber der Name Falkenberg ſtehe und
alle uͤbrige Aehnlichkeiten widerlege. So lieb ihm
das Portrait war, ſo aͤrgerlich wars ihm, da es
jetzt ein neuer Beweis ſeiner Vermuthung war,
Mutter und Tochter haſſeten ihn wegen des Korn-
Avertiſſements. Die Spinne des Haſſes, die bei
jedem Menſchen uͤber eine Ecke der Herzkammer ihr
Geſpinnſte haͤngt — nur uͤberſpinnen große Kanker in
manchem alle vier Kammern mit ihren fuͤnf Spinn¬
warzen — lief auf ihren Faͤden hervor, die Aman¬
dus erſchuͤttert hatte und wollte Fang; kurz die kal¬
te Faͤrbershand beruͤhrte ſein Herz und macht' es
ein wenig kaͤlter gegen ſeinen Amandus, deſſen
[14] feines durch das zuruͤckgehende Portrait waͤrmer ge¬
worden war. Die geſtoͤrte Liebe macht den beſten
Menſchen nicht beſſer, bloß die gluͤckliche.
In ſieben Minuten wars vorbei: denn im gei¬
ſtigen Menſchen iſt die naͤmliche herrliche Einrich¬
tung wie im phyſiſchen, daß um eine bittere,
ſcharfe Idee ſo lange andre Ideen wie mildere Saͤf¬
te zuflieſſen bis ſie ihre Schaͤrfe verduͤnnt und er¬
ſaͤuft haben. Das Portrait wurde jetzt die zweite
gefundene Roſe; es war angehaucht mit Leben
und Roſenduft durch die ſchoͤnſten Augen und Lip¬
pen, die auf ihm geweſen waren.
Jezt ſah er ſie einige Zeit nicht im Garten,
aber dafuͤr den Fuͤrſten mit und ohne die Reſiden¬
tin. Gehet aus dem ſtillen Lande in euer rauſchen¬
des! ihr genießet doch die ſchoͤne Natur nur als
eine groͤßere Landſchaft, die in euerem Bilderkabi¬
net oder an der Leinwand euerer Operntheater
haͤngt, oder als eine unermeßliche Tafel- und Ka¬
min-Verzierung, wo euch die Felſen von Bims¬
ſtein und die Baͤume von Moos geformet vorkom¬
men, hoͤchſtens als den groͤſten engliſchen Park,
der neuerer Zeiten in Europa an irgend einem
Hofe anzutreffen iſt. — In allen Seſſionszimmern
[15] war jezt wegen der Kanikularferien Votier-Wind¬
ſtille — im Winter koͤnnte man wegen der Kaͤlte
Froſtferien und eben ſo gut einen Winterſchlaf der
Geſchaͤfte als die Sommer-Sieſte derſelben, in
Gebrauch ſetzen, wie denn auch die bekannten
Thiere beider Extreme wegen zu Hauſe bleiben
muͤſſen — mithin konnte der Miniſter leichter mit
dem Fuͤrſten abkommen und beide waren laͤnger
da. Ohne mich wuͤrde der Leſer nie erfahren, war¬
um das fuͤrſtliche Daſeyn Anlaß war, daß Beata
das ſtille Land gegen ihr ſtilles Zimmer vertauſchte.
So wars: unſer Fuͤrſt iſt zwar ein wenig hart,
ein wenig geizig und weidet ſeine Heerde oͤfter mit
dem Hirtenſtabe als mit der Hirtenfloͤte;
aber er wird eben ſo gern ein Schaͤfer in einem
ſchoͤnern Sinn und geht gern vom Throne, wo
ihn die Landeskinder anbeten, zu jeder Staffel
deſſelben herunter, um ſelber ein ſchoͤnes anzube¬
ten — er kann zwar das Volk, aber keine Schoͤ¬
ne ſeufzen hoͤren; er wendet aͤmſiger eine geſell¬
ſchaftliche Verlegenheit als eine Theuerung ab; er
bleibet lieber den Landſtaͤnden als ſeinem Gegenſpie¬
ler etwas ſchuldig und bauet keine abgebrennte
Stadt, aber eine demolierte Friſur willig wieder
[16] auf. Kurz der Fuͤrſt und der Geſellſchafter ſind in
ſeinen Herzkammern Wandnachbarn, ob gleich
Todtfeinde. Dieſer Geſellſchafter ſubdividirte ſich
wieder in zwei Liebhaber, in den kurzen und in
den langen. Seine lange oder perennirende Liebe
beſteht in einer kalten verachtenden Galanterie und
in dem Vergnuͤgen an der Feinheit, an dem Wi¬
tze und an der Grazie, womit er und der geliebte
Gegenſtand ihre gegenſeitigen Siege zu dekoriren
wiſſen. Seine kurze Liebe beſteht in ſeinem Ver¬
gnuͤgen an jenen Siegen, in ſo fern ſie jene De¬
koration nicht haben. Damit man dieſes unſchuldi¬
ge Paſquil auf Einen nicht fuͤr Satire auf die
meiſten Großen halte, ſo will ich ſo fortfahren:
Lange Liebe hegt' er gegen die Reſidentin, bei
deren Gunſtbezeugungen man nicht ſagen konnte,
das iſt die unſchuldigſte — die erſte — die letzte.
Eine ſolche Immobiliarliebe durchflocht er zu glei¬
cher Zeit mit hundert kurſoriſchen Sekunden-Ehen
oder Liebſchaften und uͤber dem ſchleichenden Mo¬
natszeiger der langen fixen Liebe oder Ehe wirbelte
ſich der fliegende Terzienweiſer der abbrevierten
Ehen unzaͤhligemal um.
Darwider hatte die Reſidentin nichts — ſie
konnte auf die naͤmliche Weiſe durchflechten — dar¬
wider hatt' er nichts.
In dieſen kurzen Ehen thun die Großen viel¬
leicht manches Gute, uͤber das Moraliſten wegſe¬
hen, die lieber ihre Druckboͤgen als die Popula¬
tionstabellen voll haben wollen. Gleich jun¬
gen Autoren laßen junge Große ihre erſten Eben¬
bilder anonym oder unter geborgten Namen er¬
ſcheinen; und ich kann zu Monteſquieu's Bemer¬
kung, daß das Namengeben der Bevoͤlkerung
nuͤtze, weil jeder ſeinen fortzupflanzen trachte,
nichts ſetzen als meine eigne, daß die Namen¬
loſigkeit ihr noch beſſer forthelfe. In der That
geht es hierin den erhabenſten Perſonen, wie den
griechiſchen Kuͤnſtlern, die unter die ſchoͤnſten
Statuen, womit ihre Hand Tempel und We¬
ge ausſchmuͤckte, ihren Vaternamen nicht ſetzen
durften; indeſſen findet der pfiffige Phidias auch
ſeine Nachahmer, der ſtatt des Namens ſein
altes Geſicht an der Statue Minervens ein¬
machte.
Der Fuͤrſt hatte im Sinn, Beaten, die ihm
zu viel Unſchuld und zu wenig Koketterie zu haben
2. Theil. B[18] ſchien, eine kurze Liebe anzubieten. Ihr Wider¬
ſtand machte, daß er auf eine laͤngere dachte.
Unter den Augen der Reſidentin waren vor ihm
alle ihre Sinne geſichert, nur das Ohr nicht —
im Park keiner. Die Reſidentin, die wuſte, daß
ihr Geiſt ſich fuͤr jede Minute in einen neuen Koͤr¬
per umwerfen koͤnne, indeß ihre Nebenbuhlerin
nicht mehr hatte als einen, in dem noch dazu
weiter nichts als Unſchuld und Liebe ſteckte, dieſe
ſah die ganze Affaire mit keinen andern Augen an
als ſatiriſch. So weit wars als der Fuͤrſt in den
Hundstags-Interregnum kam und am andern
Morgen ſtatt des Szepters nichts in der Hand
hatte als den Friſierkam und den Kopf der Reſiden¬
tin. Er hatt' es an ſeinem Hofe Mode gemacht;
jeder Kammerherr bis auf den Hofdentiſten herun¬
ter hatte ſeitdem ſeine preteuſe de tête, um an
ihrem Kopfe ſo viel zu lernen als er am Kopfe
einer ſchoͤnern preteuſe auszuuͤben hatte — Es war
eben ſo nothwendig, daß man friſierte als daß man
friſiert war.
Ich koͤnnt' es in der Note ſagen, daß eine
preteuſe de tête ein Maͤdgen in Paris iſt, das an
einem Tage hundertmal friſieret wird, weils die
[19] Innung davon lernen will — unmoͤglich kanns un¬
ter ihrer Hirnſchale ſo viele Veraͤnderungen und
Verſuche geben als uͤber derſelben — die Koalition
und Einkindſchaft der unaͤhnlichſten Friſuren iſt ſo
groß, Dappieren und Auskaͤmmen kommen hinter¬
einander ſo ſchnell, oder Aufbauen und Umreißen,
daß es nur auf dem Kopfe der Goͤttin der Wahr¬
heit aͤrger zugehen kann, den die Philoſophen fri¬
ſieren und aufſetzen, oder in ganzen Staatskoͤr¬
pern, an denen die Regenten ſich uͤben.
Am naͤmlichen Morgen, wo unſerer die Reſi¬
dentin koeffierte, ſagt' er der traͤumeriſchen Bea¬
ta, am andern Tage kaͤm er mit dem Friſeur
zu ihr. Die Reſidentin ſagte nichts als: „die
Maͤnner koͤnnen alles; aber das Leichte ſelten; ſie
wirren leichter zehn Prozeſſe als zehn Haare ein.“
Beata konnte nicht reden — zu Nachts konnte ſie
nicht ſchlafen. Ihr ganzes Innere entſetzte ſich
vor des Fuͤrſten Froſtgeſicht und ſtechendem Feuer¬
blick, der (ſo wenig ſie es deutlich dachte) die Praͤ¬
liminarſiege im neuen Schloſſe ſo abzukuͤrzen
brannte als waͤr' er im Palais royal. Am andern
Morgen hatte ſich ihr Wunſch, krank zu werden,
beinahe in die Ueberzeugung, es zu ſeyn verwan¬
B 2[20] delt. Sie ſah mit lebensſatter Leerheit zum Fen¬
ſter in das ſtille Land hinaus, in dem bloß die
zwei Kinder des Hofgaͤrtners eine bunte Glaskugel
herumkegelten, als der Kanarienvogel, der auf
den Achſeln des Fuͤrſten wohnte und der ihn wie
eine Muͤcke umflog, von ſeinem Kopf, der durch
ſechs Fenſter von ihr geſchieden war, auf ihrem
geflattert kam. Sie zog den Kopf mit dem Vogel
hinein — aber auch mit dem Inhaber des Thiers,
der ſogleich ohne Bedenken kam und ſagte: „bei
ihnen hat man das Schickſal, zu verlieren — aber
meinem Vogel koͤnnen Sie die Freiheit nicht neh¬
men“ Leuten ſeiner Art entfließet das alles ohne
Akzent; ſie reden mit gleichem Tone vom Stern-
und vom Kutſchen-Himmel und von der Bewegung
beider.
Ohne Umſtaͤnde wollt' er ihr den Pudermantel
umthun; ſie nahm ihn aber aus andern Ruͤck¬
ſichten ſelber um und ſagte, ſie waͤre ſchon fuͤr
den ganzen Tag aufgeſetzt bis aufs Pudern. Al¬
lein ſie mochte ihren Weigerungen immerhin die
ſchoͤnſten Geſtallten umgeben, die ihr ſein Stand
und die von ihrer Mutter anerzogne Hochachtung
gegen ſein Geſchlecht befahlen: am Ende ſah ſie,
[21] ſein Widerlegen ſei nicht viel beſſer als ſein Friſie¬
ren. Als er das letztere that und ſo nahe vor ihr
ſtand, ſah ſie wieder das Gegentheil. Jedes Haar
wurd' an ihr zu einem Fuͤhlfaden und ihr war, als
beruͤhrt' er ihre Wunden Nerven, als gienge mit
ihm eine flammende Hoͤlle um ſie. Auf einmal
quol ihre Bangigkeit, nach den Geſetzen der weib¬
lichen Natur, von der mitlern Stufe zur hoͤchſten
auf — ich moͤchte wiſſen obs von ſeinen eigennuͤtzi¬
gen Stellungen kam, die ihm nichts halfen, oder
von einem Kuſſe, als der Einnahme der Benefiz¬
komedie, die er zu ſeinem Beſten auffuͤhrte, oder
von ihrem Blick auf die Pyramide des Eremiten¬
bergs, der ihre zagende Bruſt mit dem Bilde
und Ebenbild ihres Bruders uͤberfuͤllte — genug
ſie ſprang fieberhaft auf und ſagte: „ſie haͤtte ſo
gewiß verſprochen, der Reſidentin den Hut aufſet¬
zen zu helfen und waͤre noch hier!“ und erwarte¬
te, ihn triebe dieſer demuͤthig-ſtolze Vorwurf fort.
Er war nicht fortzutreiben: Dieſes Mißlingen zer¬
riß ihre zarten Kraͤfte und ſie lehnte ſich wankend
mit dem Arme und friſirten Kopfe an die Tapete.
Er, vielleicht ennuͤiert oder froh, ſie an ſeine
Nachbarſchaft gewoͤhnt zu haben, nahm ſeinen
[22] Vogel und ſie und fuͤhrte ſie ſelber zur Reſidentin;
hier holte er mit ihr das Belachen der Benefizko¬
moͤdie nach und ſo fort.
Indeſſen hatten ſich dennoch die Quaalen des
aͤußern Kopfs in die Migraine des innern aufgeloͤ¬
ſet; ſie blieb von der Tafel und — ſo lang' er das¬
mal da war — auch aus dem Parke.
Welches letztere zu erweiſen nicht ſo wohl als
zu erklaͤren war.
[23]
Acht und zwanzigſter oder Simon Judaͤ Sektor.
Gemählde — Reſidentin.
Vorgeſtern (den 26. Oktober) war dein Namens¬
tag, Amandus! haſt du wohl in deinen Leben ei¬
nen mit freudigen Augen gefeiert? haſt du je am
Ende eines Jahrs geſagt: moͤge das neue eben ſo
ſeyn? — ich will nicht darauf antworten, um
nicht trauriger zu werden. . .
Guſtav ſah nichts mehr im Garten als was er
nicht ſuchte, den Fuͤrſten und dergleichen; er trug
unnoͤthiges d. h. verliebtes Bedenken, ſich bei je¬
mand uͤber Beatens Unſichtbarkeit zu erkundigen —
bei den zwei Gaͤrtners Kindern ausgenommen, die
nichts wuſten als daß Beata wie er noch immer
mit ihnen taͤndle, und ſie beſchenke. Vielleicht
gab ſie ihnen, weil er ihnen gab: denn er gab
ihnen, weil ſie es that. Die einzigen Reliquien
von ihr, ihre Spatzierwege, zogen ihn deſto oͤf¬
ter an ſich. O waͤre doch der Kies weicher oder
das Gras laͤnger geweſen, damit beide ihm den
gewiſſen Abriß einer Spur, daß ſie da geweſen,
[24] aufgehoben haͤtten; ſo wuͤrde dieſes h. Grab ſei¬
ner Unſichtbar[e]n ſeinen Wuͤnſchen noch groͤßere
Fluͤgel, und ſeiner Wehmuth groͤßere Seufzer ge¬
geben haben. Denn ich muß es nur einmal dem
Leſer und mir geſtehen, daß er jezt in jenem
ſchwaͤrmeriſchen, ſehnenden, traͤumenden Zuſtand
war, der vor der erklaͤrten Liebe iſt. Dieſer
Traumflor muß uͤber ihm gelegen haben, da er
einmal ſtatt des Schlangenbachs im Abendthal,
den er zeichnen wollte, die ſchoͤne Statue der Ve¬
nus, die aus dieſen Wellen gezogen ſchien, abge¬
riſſen hatte; und zweitens, da er nicht ſah wer
ihn ſah — die Reſidentin. Er kam ihr vor wie ein
ſchoͤnes Kind das ſechs Fuß hoch gewachſen iſt; er
konnte mit allen ſeinen innern Vorzuͤgen noch nicht
imponieren, weil auf ſeinem Geſicht noch zu viel
Wohlwollen und zu wenig Welt geſchrieben war.
Mit jener ſcherzhaften Koketten-Freimuͤthigkeit,
die die erſtgeborne Tochter der Koketten-Gering¬
ſchaͤtzung des maͤnnlichen Geſchlechtes iſt, ſagte
ſie: „ich geb Ihnen fuͤr die Zeichnung das
Original” und nahm die erſtere und beſah ſie
mit (uͤber etwas anders) denkender Bewunderung.
Oefel dem ers erzaͤhlte, ſchalt ihn, daß er nicht
[25] fein geſagt hatte: „welches Original?“ denn
er hatte zur lebendigen Venus nichts geſagt.
Er wars auch nicht im Stande: denn ſie ſtand
vor ihm mit allen Reizen, die einer Juno bleiben,
wenn man ihr den holden Teint der erſten Unſchuld
nimmt, mit ihrem Pluͤmagen-Nimbuß, den ihr in
Unterſcheerau hundert nachtragen, weil ſie mit we¬
nigen meiner Leſerinnen, die auch mehr Federn auf¬
ſetzen als ſie in ihrem Leben Federn ſchließen wer¬
den, ſo viel herausgebracht haben, daß jede Juno
eine Goͤttin und jede Goͤttin eine Juno ſeyn und
daß man Damenkoͤpfe und Klaviere ſtets, bekielen
muͤſſe.
Sie fragte ihn nach dem Namen ſeines Zei¬
chenmeiſters (des Genius;) ſeinen eignen ſagte ſie
ihm ſelbſt. Sie konnte Achtung ſich erwerben, bei
allen ihren Fehltritten, und ihre Suͤnden und der
Teufel ſchienen ihr nur als Kammermohren nachzu¬
treten: ihr Geſicht und ihr Benehmen trug das in¬
nere Bewuſtſeyn ihrer reſtierenden Tugenden und ih¬
rer Talente. Gleich wohl merkte ſie an der ſcheuen
Ehrfurcht, die Guſtav weniger ihrem Stande und
Werthe als ihrem Geſchlecht erwieß, daß er wenig
Welt haͤtte. Sie verließ alle Umwege und gieng ihn
[26] gerade zu um eine Abzeichnung des ganzen Parks
fuͤr ihren Bruder in Sachſen an. Ich nenne das
Bitte, was ſie eigentlich allemal im ſcherzhaften
Tone einer Kabinetsordre, an Maͤnner komponirte
— und man konnte ihren erotiſchen Ukaſen nichts
entgegen ſetzen als wieder Ukaſen.
Eine Frau trage dir nur einmal ein Geſchaͤft
auf: ſo biſt du mit Leib und Seele ihr; alle deine
ſauern Tritte, alle deine Muͤhwaltungen fuͤr ſie le¬
gen ſich an ihrem Bilde, das du an die Beinwaͤnde
deines Kopfes ausgebreitet, als Reize an. Eine
retten — raͤchen — lehren — ſchuͤtzen iſt faſt nicht
viel beſſer (bloß ein wenig) als ſie ſchon lieben. Gu¬
ſtav hoͤrte nie eine willkommnere Bitte. Den Park
riß er in kurzem ab und er konnte den Vormittag
kaum erwarten, an dem er ihn uͤberreichen durfte.
Wir wiſſen alle, was er in der Reſidentin Zimmer
noch außer der Reſidentin zu erblicken ſuchte — aber
alles was er außer ihr da fand, war die kleine Elevin
(Laura) der abweſenden Beata, am Silbermanni¬
ſchen Klavier:
Die Reſidentin heftete einen langen Blick in die
Zeichnung. „Haben ſie (ſagte ſie) Stuͤcke von unſe¬
rem Hofmahler geſehen? ſie ſollten ſein Schuͤler wer¬
[27] den und er ihrer — er hat noch kein ſchoͤnes Portrait
gemahlt und noch keine ſchlechte Landſchaft — ſie
machen einen ſchoͤnern Fehler und geben dem Bewoh¬
ner, was ſie der Landſchaft nehmen — in ihrer Zeich¬
nung ſind die Statuen ſchoͤner als der Garten — —
behalten ſie ihren Fehler und verſchoͤnern ſie Men¬
ſchen“ und ſah ihn an. Meines geringen artiſtiſchen
Erachtens — denn man ließ noch keines aller meiner
Stuͤcke als Akzeſſiſt in eine Bildergallerie, auch ſuch'
ich mit mehr Ehre ſolche Ausſtellungen lieber oͤffent¬
lich zu rezenſiren als zu bereichern — iſt gerade das
Gegentheil wahr und mein Held macht (gleich ſei¬
nem Biographen) weit beſſere Landſchaften als Por¬
traits. — „Verſuchen ſie's mit einem lebendigen
Original“ — er ſchien verlegen uͤber die Abſicht ih¬
res Raths — „nehmen ſie eines, das ihnen ſo lan¬
ge ſitzt als der Mahler ſelber ſitzt“ — Oefels Eitel¬
keit mit Guſtavs Voreiligkeit haͤtten hier eine dum¬
me Hoͤflichkeit zuſammen bringen koͤnnen — „hier!
das darin mein' ich“ — und ſie wieß auf einen Spie¬
gel; jezt wollt' er doch mit der palingeneſirten Hoͤf¬
lichkeit herausfahren, ihre Geſtallt waͤre uͤber ſeinem
Pinſel: als ſie zum Gluͤck dazu fuͤgte: „mahlen ſie
ſich und zeigen ſie mirs.“ — Ueber eine zufaͤllig ver¬
[28] ſchluckte Sottiſe wird man eben ſo roth wie uͤber ei¬
ne herausgeſtoßene — du ſchoͤner rothgluͤhender
Guſtav!
Daher ſchreib ich hier fuͤr Kinder, die noch
nicht kommunizierten, dieſen Titel aus der Kleider¬
ordnung heraus: Leuten, die euch eine Erklaͤ¬
rung geben wollen, eine in den Mund zu legen,
iſt eben ſo unhoͤflich als mißlich.
„Ich will Ihnen nur zeigen warum“ ſagte ſie
und gieng mit ihrer Hand den halben Weg zu ſei¬
ner und wieder zuruͤck und nahm ihn mit durch ihr
Leſekabinet, durch ihr Buͤcherzimmer in ihr Bil¬
derkabinet. Wenn ſie gieng: konnte man ſelber
kaum gehen; weil man ſtehen wollte, um ihr nach¬
zuſehen. Bilder waren neben ihr noch ſchwerer an¬
zuſchauen. Sie wies ihm im Kabinet eine bunte
Kette Portraits, die die beruͤhmteſten Maler vom
eignen Geſichte und mit eigner Hand gemalet hat¬
ten und die die Reſidentin aus der Gallerie zu Flo¬
renz kopiren laſſen. „Sehen Sie, wenn Sie ein
„beruͤhmter Maler wuͤrden — und das muͤſſen Sie
„werden — ſo haͤtt' ich Ihr Portrait noch nicht in
„meiner Sammlung.“ Auf dem Fenſter lag das
vertikale weibliche Paraſol, ein gruͤner Spatzier¬
[29] faͤcher, den er vor einem geſeſſenen Gericht fuͤr
Beatens ihren eidlich erklaͤret haͤtte — einige Heu¬
waͤgen von Wouvermanns Gras, einige Zentner
von Salvatore Roſa's Felſen und eine Quadrat¬
meile von Everdingens Gruͤnden haͤtt' er hinge¬
geſchenkt fuͤr den bloßen Faͤcher. . . .
Jetzt wird mein Held, der dem Spiegel gegen¬
uͤber ſitzt, um ſich aus ihm herauszuzeichnen, von
drei Zeichenmeiſtern auf einmal beſehen und gema¬
let: vom Biographen oder mir — vom Romancier
oder dem H. v. Oefel, der in ſeinen Roman ein
Kapitel ſetzt, worin er von Guſtavs Liebe gegen
die Bouſe anonymiſch handelt — und vom Maler
und Helden ſelbſt.
Von Oefels Roman-Großſultan erſcheinet in
der Hofbuchhandlung kuͤnftige Meſſe nichts als das
erſte Baͤndchen; und es wird dem minorennen Pu¬
blikum, das unſre meiſten Romane lieſet und macht,
angenehm zu hoͤren ſeyn, daß ich in den Oefel¬
ſchen Großſultan ein wenig geguckt und daß die meiſten
Karaktere darin nicht aus der elenden wirklichen
Welt, die man ja ohnehin alle Wochen um ſich
hat und ſo gut kennt wie ſich ſelbſt, ſondern meiſt
aus der Luft gegriffen ſind, dieſem Zeughaus und
[30] dieſer Baumſchule des denkenden Romanmachers:
denn wenn (nach dem Syſtem der [Diſſeminazion]) die
Keime des wirklichen Menſchen neben dem Saa¬
menſtaub der Blumen in der Luft herumflattern
und aus ihr, als dem Repoſitorium der Nach¬
welt, von den Vaͤtern muͤſſen praͤcipitirt und ein¬
geſchluckt werden: ſo muͤſſen Autores noch viel¬
mehr die Zeichnungen von Menſchen aus der
Luft, wo alle epikuriſche Abblaͤtterungen wirk¬
licher Dinge fliegen, ſich holen und aufs Papier
ſchmieden, damit der Leſer nicht brumme.
Einige Tage war die v. Bouſe nicht zu ſpre¬
chen, als das Original ſeine Kopie zu ihr tragen
wollte. Endlich ſchickte ſie nach beiden. Sein Ge¬
ſicht wurde dem gemalten ſehr unaͤhnlich, als ſein
Blick bei dem Eintritt auf ſeine phyſiognomiſche
Schweſter fiel, die mit der kleinen Bouſe am Kla¬
viere ſang, auf Beaten. Wir arme Teufel (die
wir nicht an Stammbaͤumen ſondern von Stamm¬
gebuͤſch herauswuchſen) werden von vier Waͤnden
ſo nahe an einander geruͤckt, daß wir uns warm
machen; hingegen die veloutirten Waͤnde der Groſ¬
ſen halten ihre Inſaſſen ſo ſehr als Stadtmauern
auseinander und es iſt darin wie in Wirthszim¬
[31] mern, wo unſer Intereſſe nur einige vom ganzen
Haufen abloͤſet. Beata fuhr alſo fort; und er
fieng an: fuͤr ihn wars ſo viel als ſaͤh' er ſie durch
das Fenſter im Garten. Sein Portrait fand die
guͤnſtigſte Rezenſentin. Sie flog damit durch eini¬
ge Zimmer hindurch. Guſtav konnte jetzt ſeine Au¬
gen dahin thun, wo ſeine Ohren laͤngſt waren:
ſein einziger Wunſch war, die Elevin waͤre auſſer¬
ordentlich dumm und ſaͤng alles falſch, bloß damit
die reizende Diſkantiſtin ihr oͤfter vorſaͤnge. Es
war jenes goͤttliche Idolo del mio cuore von Ruſt,
bei dem mir und meinen Bekannten allemal iſt als
wuͤrden wir vom lauen Himmel Italiens eingeſo¬
gen und von den Wellen der Toͤne aufgeloͤſet und
als ein Hauch von der Donna eingeathmet, die
zu Nachts mit uns in Einer Gondel faͤhrt . . . .
Durch ſolche verderbliche Phantaſien bring' ich mich
im Grunde um allen wahren Stoiziſmus und wer¬
de noch vor dem dreiſſigſten Jahre, achtzehn Jahre
alt. —
Um ſo leichter kann ich mir denken, wie es
dem jungen Guſtav war, der Augen und Ohren
ſo nahe an der magnetiſchen Sonne hatte: wahr¬
haftig tauſendmal lieber will ich (ich weiß recht
[32] gut was ich wage) mit der Schoͤnſten im Fuͤrſten¬
thum Scheerau ganz durch letzteres fahren und ſie
nicht nur in ſondern auch (was weit ſchaͤdlicher iſt)
aus dem Wagen heben; — noch mehr: lieber
will ich ihr das Beſte was wir aus dem poetiſchen
und romantiſchen Fache haben, geruͤhrt vorleſen
— ja lieber will ich mich mit ihr aus einem Re¬
doutenſaale in den andern tanzen und ſie wenn wir
ſitzen fragen ob ihr warm iſt — und endlich (ſtaͤr¬
ker kann ichs nicht ausdruͤcken) lieber will ich den
Doktorhut aufthun und ihre matte Hand an den
Aderlaßſtock mit meiner anſchlieſſen, indeß ſie, um
nicht den Blutbogen uͤber dem Schnee-Arm zu erblik¬
ken, mir in Einem fort erblaſſend in das Auge
ſchauet — — lieber, verſprech' ich, will ich (Wun¬
den hol' ich mir freilich mehrere und weitere als
das Aderlaßmaͤnnchen im Kalender) alles das thun
als die Schoͤnſte ſingen hoͤren: dann waͤr' ich leck
und weg; wer wollte mir helfen, wer wollte mei¬
ne Nothſchuͤſſe hoͤren, wenn ſie in der ruhigſten
Stellung, den rechten Schnee-Arm weich uͤber ir¬
gend etwas hinſchneiete, die Knoſpe der Roſen-
Lippen halb von einander ſchloͤſſe, die thauenden
Augen auf ihre — Gedanken ſenkte und darein ver¬
huͤllete[33] huͤllete, wenn der weiche Dunen-Buſen *) wogend
wie ein weiſſes Roſenblatt auf den Athem-Wellen
laͤge und mit ihnen auf und niederfloͤſſe, wenn ih¬
re Seele, ſonſt in den dreifachen Ueberzug der Wor¬
te, des Koͤrpers und der Kleider geſchlagen, ſich
aus allen Huͤllen waͤnde und in die Wellen der Toͤ¬
ne ſtiege und im Meer des Sehnens unterſaͤnke . . . .?
Ich ſpraͤng' nach. — — —
Guſtav war noch im Nachſpringen begriffen,
als die Reſidentin mit zwei Portraits wieder kam.
„Welches iſt aͤhnlicher?“ ſagte ſie zu Beaten und
hielt ihr beide entgegen und heftete ihr Auge ſtatt
auf die drei Geſichter, die zu vergleichen waren,
bloß auf das, welches verglich. Das mitkommen¬
de war nemlich das aͤchte bruͤderliche und verlorne
um das ſie an meine Philippine geſchrieben hatte.
„O mein Bruder!“ ſagte ſie mit zuviel Bewegung
und Akzent; welches zu vergeben iſt, da ſie erſt
vom Klavier herkam: unter dem ſchnellen Ergrei¬
2. Theil. C[34] fen erſchrack ſie ſo lange bis ſie mit einem unge¬
zwungnen Blick uͤber den Ruͤcken des Bildes herun¬
tergeglitſcht war und keinen Namen darauf gefun¬
den hatte. Von ſolchen Erdſtaͤubchen haͤngt das Pochen
des menſchlichen Herzens oft ab: den Zentnerdruck
der ganzen Lebens-Atmoſphaͤre traͤgt und hebt es,
allein unter dem ſchwuͤlen Athem einer geſellſchaft¬
lichen Verlegenheit faͤllt es kraftlos zuſammen.
Wer nicht hat wohin er ſein Haupt hinlege, lei¬
det oft kleinere Pein als der nicht hat wo er ſeine
— Hand hinlege.
„Ich dachte, Ihr Bruder waͤre ein weitlaͤuf¬
tiger Verwandter von Ihnen“ ſagte die Reſidentin
vielleicht boshaft-doppelſinnig, um ſie in die Wahl
irgend eines Sinnes zu verſtricken: allerdings ſtan¬
den der Bouſe alle Worte, Ideen und Glieder ſo
behend zu Gebot, daß die Kraft in Beatens und
Guſtavs Verſtand und Tugend kaum wie in der
Mechanik zureichten, die Geſchwindigkeit zu
erſetzen. Aber Beata erzaͤhlte ſtandhaft, ohne Ent¬
ſchuldigung, ohne Uebergaͤnge alles von dieſen Por¬
traits was die Leſer aus meinem Munde wiſſen.
Guſtav haͤtt' eine ſolche Erzaͤhlung nicht liefern koͤn¬
nen. Die Nachricht, wie es in der Reſidentin
[35] Haͤnde gekommen, vergaß die Reſidentin zu geben,
weil ſie hundert Antworten dazu wußte; Beata
vergaß ſie zu verlangen, weil ſie das eben merkte.
„Fuͤr Ihr Geſicht — ſagte ſie im luſtigſten To¬
ne, in dem ſie ohne Bedenken das Gute von ih¬
ren Reizen ſagte, das andre im ernſthaften davon
ſprachen — „koͤnnt' ich Ihnen keines geben als
mein eignes; daß muß ich aber meinem Bruder in
Sachſen ſamt dem Garten ſchicken — malen koͤn¬
nen ſie es mit zum Park, damit beide Stuͤcke Ei¬
nen Meiſter haͤtten.“ Dem ſcherzhaften Tone iſt
weit ſchwerer etwas abzuſchlagen als dem ernſthaf¬
ten — hoͤchſtens nur wieder im luſtigen; aber zu
dieſem waren in Guſtav alle Saiten abgeriſſen.
Beata hatte die Anſpielung auf den Park nicht ver¬
ſtanden; Bouſe brachte die ganze Landſchaftszeich¬
nung und fragte ſie: was Ihr am meiſten gefiele.
Dieſe war fuͤr das Schattenreich und Abendthal
(warum ließ ſie den Eremitenberg aus?) „aber die
Menſchen im Garten?“ — die arme Inquiſitin hef¬
tete ihren ſtillen Blick feſter aufs Abendthal — „be¬
ſonders die ſchoͤne Venus hier im Abendthal?“ —
ſie mußte endlich reden und ſagte unbefangen: „der
Bildhauer wird ſich nicht uͤber den Zeichner zu be¬
C 2[] ſchweren haben, aber vielleicht der Maler uͤber den
Bildhauer; vielleicht hat auch bloß der Froſt dieſe
Venus ein wenig verdorben.” Die Reſidentin mach¬
te durch ihr Lachen und ihr witziges Anblicken
Guſtavs ein Bonmot daraus, ſie ein wenig roth,
ihn flammendroth, ſie durch letzteres wieder roͤ¬
ther und vollends durch die Antwort: „So wuͤrde
mein Bruder auch denken, wenn er die Venus
ſo bekaͤme: Sie thun mir aber den Gefallen, mei¬
ne Liebe, und ſitzen unſerem H. Maler mit, ſo
koͤmmt in unſern Park eine ſchoͤnere Venus. Es
iſt mein Ernſt. Die zwei naͤchſten Morgen geben
Sie unſern Geſichtern, H. v. F.!” Die Gute
ſchwieg; Guſtav, der ſchon eingewilligt hatte,
mit ſeinem Pinſel Bouſens Antlitz zu verdoppeln,
waͤre bei einem Haare mit der Anmerkung losge¬
brochen, Beaten ihres vermoͤg' er nicht mit ſeinem
nachzudrucken. Zum Gluͤck fiel ihm ein, daß ſie
ſich zur Tafel ankleiden wuͤrde — — (Am Sonn¬
tag uͤber acht Tage muß ich meinen Sektor mit
„Denn” anfangen — —).
[37]
Neun u. zwanzigſter oderXXII. Trinitatis-Sekt.
Die Miniſterin und ihre Ohnmachten — und ſo weiter.
Denn er war in jenem gruͤnen Gewoͤlbe, das
Scheerau's groͤßte Schoͤnheiten umfieng, in Bou¬
ſens Zimmer nur Vormittags: Nachmittags rauſch¬
ten durch daſſelbe die Stroͤme des Vergnuͤgens,
aus den Freudenkelchen von Freuden-Najaden aus¬
geſchuͤttet. Der halbe Hofſtaat fuhr aus Scheerau
her; bekanntlich hat dieſer, indeß das Volk nur
Sabbathe hat, lauter Sabbathsjahre und
die naͤhern Diener des Fuͤrſten ſuchen ſich von den
Dienern des Staates dadurch auszuzeichnen, daß
ſie gar nichts arbeiten: ſo wurden auch ſchon in
den alten Zeiten den Goͤttern nur Thiere die noch
nichts gearbeitet hatten, auf den Altar gelegt.
Ich weiß es recht gut, daß mehr als einer der para¬
lytiſchen großen Welt Arbeit zumuthet, die naͤm¬
lich, ſich und andre in Einem fort zu amuͤſiren;
dieſe iſt aber ſo herkuliſch ſchwer und nuͤtzt alle Kraͤf¬
te ſo ſehr ab, daß es genug iſt, wenn ſie ſaͤmmtlich
nach einer Fete Morgends beim Auseinanderfahren
[38] oder am Tage darauf ſich verſtellen und ſagen, wie
brillant wars, wie delicieux ꝛc. Große Quartanten-
Theologen haben laͤngſt bewieſen, daß Adam vor
dem Falle kein Vergnuͤgen aus dem Eſſen[und]
andern Vergnuͤgungen geſchoͤpfet habe — unſre
Großen ſind vor ihrem Falle eben ſo ſchlimm daran
und verrichten alles das in ihrer Unſchuld, ohne
den geringſten Spas dabei zu haben. Ich wollt'
ich koͤnnte dem Hofſtaat helfen. — —
Ein Menſch, der eine feſtgeſetzte Arbeitsſtun¬
de (und waͤre ſie nur 30 Minuten lang) hat, ſie¬
het ſich fuͤr aͤmſiger an, wie einer, der gerade
heute ſeinem 12ſtuͤndigen Penſum 30 Minuten ab¬
gebrochen. Oefel warf ſich ſelber ſeine uͤbertriebne
Anſpannung vor und ſagte, er wuͤßte ſich nicht
zu entſchuldigen, daß er jeden Morgen Eine Stun¬
de ſchreibe am „Großſultan.” Erſt darnach waren
die ernſthaften Geſchaͤfte des Tages zu Ende: er
ließ ſich nun zum erſtenmale friſieren und ein¬
ſtaͤuben, um als Tagſchmetterling gegen alle
Toilettenſpiegel anzuflattern; auf den Blumen¬
kopf der Défaillante (ſo hieß die Miniſterin noch)
ließ er ſich nieder. Alsdann ließ er ſich zum zwei¬
tenmal friſieren und befluͤgeln, um als beſtaͤub¬
[39] ter Daͤmmerungs- und Nachtſchmetterling
zwiſchen den Spielmarken und Schaugerichten und
ihren Ebenbildern herum zu ſauſen. Ich wuͤrde auf
dieſes Gleichniß nicht gekommen ſeyn, wenn mich
nicht ſein gehoͤrntes und in eine Kapſel konvergi¬
rendes Abendhaar auf die Raupen der Nachtſchmet¬
terlinge gefuͤhret haͤtte, denen auch hinten ein
Horn oder Zopf anſitzt — den Tagraupen ſitzt nichts
an, ſo wie ſein abbreviertes aufgeſtecktes Morgen¬
haar es verlangte, damit ſie dieſem glichen.
Da ich die Miniſterin die Défaillante genannt,
und da man ihr uͤberhaupt die Einfalt zutrauen
konnte, als ob ſie dem Legationsrath treuer waͤre
als er ihr: ſo will ich alles ſagen und fuͤr ſie re¬
den. Die Eitelkeit, die ihn wie eine eingeſchraͤnk¬
te Monarchin beherſchte, regierte wie eine unein¬
geſchraͤnkte uͤber ſie — ſie hatte und machte italie¬
niſche Verſe, Epigrammen und alle ſchoͤne Kuͤnſte
— und es iſt Stadtkundig, daß ſie, weil ſie auf¬
gehoͤrt hatte, zur ſchoͤnen Natur zu gehoͤren,
ſich unter die Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte warf und
ſich aus einem Model durch Schminke in ein Ge¬
maͤlde verdelte, durch Pantomime in eine Ak¬
trice, durc[h] Ohnmachten in eine Statue.
[40]
Das letzte iſt der Kardinalpunkt — ſie ſtarb
taͤglich wie jede wahre Chriſtin; nicht ihrer Keuſch¬
heit wegen, ſondern ſogar vor ihrer Keuſchheit,
ich meine ein Paar Minuten — ſie und ihre Tu¬
gend fielen hinter einander in Ohnmacht. Wenn
ich uͤber ſo etwas nicht weitlaͤuftig bin: ſo bin ich
nicht werth, eine Feder zu ſchneiden und der Hen¬
ker ſoll meine Produkte holen. — Die Tugend alſo
war bei der Miniſterin ſo verdammt ſchlimm daran
wie bei einem Kind die junge Lieblingskatze. Ich
will von Tagszeiten gar nicht reden, ſondern nur
von Wochentagen: ich will ſetzen, an jedem Tage
hatte ein andrer Antichriſt und Erbfeind ihrer Tu¬
gend ſtatt der Viſitenkarte ſeinen Leib geſchickt: ſo
haͤtt' es etwan ſo gehen koͤnnen: am Montag war
ihre Tugend im ſtralenloſen Neumond, fuͤr Herrn
v. A. — am Dienſtag im Vollmond fuͤr H. v. B.,
der ſagte, „zwiſchen ihr und einer Devote iſt kein
Unterſchied als das Alter“ — am Mitwoch in letz¬
tem Viertel fuͤr H. v. C., der ſagt: j'y touche
dejà, an ihr Herz naͤmlich — am Donnerſtag im
erſten Viertel fuͤr H. v. D., der ſagt: „peut-être
que — — und ſo fort mit den uͤbrigen Feinden
der Woche; denn jeder Gegner ſah, wie ſeinen
[41] eignen Regenbogen, ſo an ihr ſeine eigne Tugend.
Ehre und Tugend waren bei ihr keine leeren Woͤr¬
ter ſondern hieſſen (ganz gegen die Kantiſche Schu¬
le) der Zeit-Zwiſchenraum zwiſchen ihrem
Nein und ihrem Ja, oft bloß der Ort-Zwi¬
ſchenraum. Ich ſagte oben, ſie hatte immer
eine Ohnmacht, wenn der Montag ihrer Tugend
war. Es laͤſſet ſich aber erklaͤren: ihr Koͤrper
und ihre Tugend ſind an einem Tag und von ei¬
ner Mutter geboren und wahre Zwillinge, wie die
Gebruͤder Kaſtor und Pollux — nun iſt der erſtere
wie Kaſtor menſchlich und ſterblich, und die andre
wie Pollux goͤttlich und unſterblich — wie nun je¬
ne mythologiſche Bruͤderſchaft es pfiffig machte und
Sterblichkeit und Unſterblichkeit gegen einander hal¬
birten, um mit einander in Geſellſchaft eine Zeit¬
lang todt und eine Zeitlang lebendig zu ſeyn: ſo
macht es ihr Koͤrper und ihre Tugend eben ſo li¬
ſtig, beide ſterben allezeit mit einander, um nach¬
her mit einander wieder zu leben. — Das artiſti¬
ſche Sterben ſolcher Damen laͤſſet ſich noch von ei¬
ner andern Seite anſchauen: eine ſolche Frau kann
uͤber die Staͤrke und die Proben ihrer Tugend eine
Freude haben, die bis zur Ohnmacht gehen kann;
[42] ferner uͤber die Leiden und Niederlagen derſelben
eine Betruͤbniß die auch bis zur Ohnmacht rei¬
chen kann: nun denke man ſich, ob eine Frau
beim vereinigten Anfall von zwei Gemuͤthsbewegun¬
gen, wovon jede allein ſchon toͤdten kann, noch
aufrecht zu verbleiben vermoͤge? — Bekanntlich
ſtirbt die Ehre der Damen von Welt ſo wenig wie
der Koͤnig von Frankreich und es iſt das eine be¬
kannte Fiktion; wenigſtens iſt dieſer Ehre der Tod
wie den Frommen, ein Schlaf, der uͤber 12 Stun¬
den nicht dauert. Ich kenne an unſerem Hofe eine
Art Ehre oder Tugend, die gleich einem Polypen
an nichts ſtirbt, ſie kann wie die alten Goͤtter
verwundet aber nicht umgebracht werden — gleich
Hornſchroͤtern zappelt ſie an der Nadel und ohne
alle Nahrung fort — Naturforſcher von Stand
thun oft einer ſolchen Tugend wie Fontana den In¬
fuſionsthierchen, tauſend Martern an, an denen
buͤrgerliche weibliche Tugenden ſogleich verſcheiden:
nichts! kein Gedanke von Sterben. — — Es iſt
eine wohlthaͤtige Anordnung der Natur, daß ge¬
rade in den hoͤhern Damen die Tugend eine ſolche
Achilles- Lebens- oder Reproduktionskraft hat, da¬
mit ſie erſtlich leichter die komplicirten Frakturen
[43] und Amputationen und uͤberhaupt das uͤble Wetter
jenes Standes ausdauere — zweitens damit jene
Damen (im Vertrauen auf die Unſterblichkeit und
lange Lebenslinie ihrer Tugend) ihren Freuden, de¬
ren phyſiſche Graͤnzen ohnehin ſo enge ſind, we¬
nigſtens keine moraliſchen zu ſetzen brauchen.
Ich komme wieder zu den tugendhaften Ohn¬
machten oder erotiſchen Sterben der Miniſterin zu¬
ruͤck; ich will mich aber nicht dabei aufhalten, daß
ich etwann ſagte, wie die alte Philoſophie die
Kunſt ſterben zu lernen ſei, ſo ſei es auch die
franzoͤſiſche Hof-Philoſophie aber angenehmer —
oder daß ich witziger Weiſe ſagte qui (quae) ſcit
mori, cogi nequit — oder daß ich Senekas Aus¬
ſpruch uͤber Kato auf die Miniſterin zoͤge: majori
animo repetitur mors quam initur: ſondern ich er¬
zaͤhle bloß, warum ſie uͤberall in Oberſcheerau die
[défaillante] heißet — bloß darum, weil ein gewiſ¬
ſer Herr auf die Frage, wie ſie einen wichtigen
Prozeß trotz dem verſaͤumten Praͤkluſionstermin
doch gewonnen haͤtte, doppelſinnig replizierte: en
défaillante. . . .
Ich komme zuruͤck. Aber ich waͤre ein gluͤckli¬
cher Mann, wenn die Zeit ſich niederſetzte und
[44] mich heran ließe[,] ſo aber ſetz' ich ihr, in einer
Entfernung von mehrerern Monaten, nach, die
Avantuͤren-Fracht wird taͤglich ſchwerer, ich muß
Papier zu einer doppelten Geſchichte — zu der jezt
geſchriebnen und zu der jezt vorfallenden — haben,
ich aͤnſtige mich ab und am Ende werd' ich doch
nur — geleſen! — Iſt mir zu helfen?
Amandus lag damals auf dem haͤrteſten Bette
von der Welt — die Dornen- und Stein-Matra¬
tzen der alten Moͤnche fuͤhlen ſich dagegen wie Ei¬
derdunen an — auf dem Krankenbette; ſein oͤdes Au¬
ge lag oft auf der Stubenthuͤre, ob ſie kein Gu¬
ſtav oͤfne, ob nicht der Tod in der Geſtallt einer
Freude, einer Ausſoͤhnung eintrete und die Blu¬
me ſeines Lebens mit einem Liebes-Druck gelinde
niederlege — aber Guſtav lag ſeiner Seits auf ei¬
nem Zauberbette, an das ihn Vulkan mit unſicht¬
baren Kettgen heftete; kaum regen konnt' er ſich
unter ſeinem Drathgeflecht.
Am Morgen, wo er ſich vorbereitete, der Re¬
ſidentin das Portrait und die Viſite zu machen,
zuͤndete Oefel um ihn eine Menge Raketen des
Witzes an und geſtand ihm mit der Zufriedenheit,
mit der ein Belletriſt ſtets die Armuth an geiſtli¬
[45] chen Guͤtern und die ſchwerere an geiſtigen, an
Verſtand ꝛc. ertraͤgt, ſo viel gerade zu, er habe
an Guſtav die Neigung zur — Reſidentin vielleicht
eher entdeckt als die zwei Intereſſenten ſelbſt. Je¬
de Guſtaviſche Verneinung war ein neues Blatt in
ſeinen Lorbeerkranz. „Ich will aufrichtiger ſeyn,
ſagt' er; ich will mein eigner Verraͤther werden,
weil ich keinen fremden habe.“ Im Zimmer wo
ſie einen Altar haben, ſteht einer fuͤr mich; es
iſt ein Pantheon; *) ſie knien mehr vor einem Gott
als einer Goͤttin — ich finde da meine Venus
(Beata.) Ihr mangelt zu einer medizeiſchen nichts
als die — Stellung; ich weiß aber nicht, wel¬
che Hand ich ihr dann in dieſer Stellung kuͤſſen
wuͤrde . . . „Vor Guſtavs reiner Seele flog zum
Gluͤck dieſer Klumpe von boue de Paris vorbei, in
die an Hoͤfen ſogar gute Menſchen ohne Bedenken
treten; ſelbſt Schriftſtellern aus dieſer Zone haͤngt
dieſer Schmutz noch an.
Ihm gefiel an Beaten (und an jedem Maͤdgen)
nichts als das, daß er wie er dachte ihr gefiel;
[46] er haͤtte die fuͤnf hundert Millionen Weiber auf
der Erde alle geliebt, wenn er ihnen allen gefiele;
er wuͤrde keine einzige lieben, wenn er keiner ein¬
zigen gefiele. Er erzaͤhlte jezt dem Guſtav, durch
welches Fenſter er im Winterhaus von Beatens
Herzen ihre Liebe zu ihm habe bluͤhen ſehen. Auſ¬
ſer einem gewiſſen Tropf, den ich in Leipzig ge¬
kannt, und außer einer Katze, die neun Leben
hat, hatte kein Menſch mehrere Leben als er —
er buͤſte eines ein: ſogleich hatt' er wieder ein fri¬
ſches, ich meine er hatte mehr Ohnmachten als
ein andrer Einfaͤlle. Einen ſolchen Vexier-Selbſt¬
mord konnt' er begehen wenn er wollte und wenn
er ihn in ſeinen Dramen ſo noͤthig hatte als ein
ruͤhrender Theaterdichter: am haͤufigſten aber tha¬
ten er und der Tropf in Leipzig ſich dieſen Tod in
effigie an, wenn ſie unter einem Buͤndel Frauen¬
zimmer das heraus zu viſitiren hatten, das in ſie
am verliebteſten war. Denn ſie unterſchieden, ſag¬
ten die zwei Tropfen, ſich ſaͤmmtlich von einander
nicht im Daſeyn ſondern im Grade der Liebe gegen
beide Ohnmaͤchtige. Der groͤſte Schrecken, uͤber den
pantomimiſchen Schlagfluß iſt, ſagte das ohnmaͤchti¬
ge Paar, das Notariatsſiegel der groͤſten Liebe. Da
[47] alſo Oeſel vor drei Wochen Beaten ſeinen Obſerva¬
tions-Tod vormachte: ſo zitterte unter allen Schaul-
Fichuͤs, die da waren, kein ſo zartes und mitleidiges
Herz als ihres, das weder fremden Betrug noch eigne
Haͤrte kannte. Gleichguͤltig legte ſich Oefel in den
optiſchen Tod; verliebt ſtand er wieder auf und er
haͤtte mit ſeiner ſcheinbaren Ohnmacht beinahe eine
wahre gewirkt. „Ich konnte ſie nur ſeitdem nicht
daruͤber ſprechen.“ ſagt' er; Guſtav kaͤmpfte mit
einem großen Seufzer nicht uͤber Oefels gefuͤlloſe
Eitelkeit ſondern uͤber ſich ſelbſt und uͤber Oefels
Gluͤck. „O Beata, in dieſer Bruſt — redete ſie
ſein Innerſtes an — haͤtteſt du ein verſchwiegne¬
res und aufrichtigeres Herz gefunden als das iſt,
das du ihm vorzieheſt — es wuͤrde ſein Gluͤck ver¬
borgen haben, wie jezt ſeine Seufzer — es waͤre
dir ewig treu geblieben — ach es wird dir doch
treu bleiben!“ — dennoch empfand er daß Eckel¬
hafte in Oefels Eitelkeit nicht ganz, weil ein
Freund ſich unſerem Ich ſo ſehr inokulirt und da¬
mit verwaͤchſet, daß wir ſeine Eitelkeit ſo leicht
wie unſre eigne und aus gleichen Gruͤnden uͤber¬
ſehen.
[48]
Da es meinem Guſtav im Buche wie im Leben
gehen kann: ſo haͤtt' ich folgende Anmerkung noch
eher machen ſollen: niemand war leichter zu ver¬
kennen als er — alle Strahlen ſeiner Seele brach
die Wolkenhuͤlle milder Demuth, ja ſeitdem Oefel
ihm Stolz auf dem Geſichte vorgeworfen, ſucht'
er gerade ſo demuͤthig auszuſehen als er war —
ſein Aeußeres war ſtill, einfach, voll Liebe, oh¬
ne Praͤtenſionen: aber auch ohne durchbrechenden
Witz und Humor — Phantaſie und Verſtand arbei¬
teten in ihm wie in einem einſamen Tempel, Al¬
tarblaͤtter mit großen Maſſen und ließen mithin
nicht wie andre, Doſenſtuͤcke und Medaillons von
der Zunge purzeln — er war was Deſkartes von
der Erde glaubt, eine inkruſtirte Sonne, aber
unter den phoſphoreſzierenden Lichtern des Hofes
ein dunkler Erdkoͤrper — er war das aͤußere Ge¬
gentheil von Ottomar, der mit ſeiner Sonne ſei¬
ne Kruſte durchgebrannt hatte und nun vor den
Leuten ſtand blitzend, kniſternd, gluͤhend, anrei¬
ßend, einaͤſchernd und ausbruͤtend — Guſtavs See¬
le war ein gemaͤßigtes Land ohne Stuͤrme, voll
Sonnenſchein ohne Sonnenhitze, ganz mit Gruͤn
und Knoſpen uͤberzogen, ein magiſches Italien im
Herbſt[49] Herbſt; Ottomars ſeine aber war ein Polarland,
das ſengende lange Tage, lange Eis-Naͤchte, Or¬
kane, Eis-Berge und Tempiſche Thaͤler-Fuͤlle
durchſtrichen. — —
Der Guſtaviſchen Beſcheidenheit kam alſo nichts
natuͤrlicher vor als daß Beata einen, der ſeinen
Geiſt und Koͤrper ſo gut zu zeigen wuſte, uͤber
ihn ſtellte, der beides nicht konnte und der dazu
einmal ihren Vater halb todt geaͤrgert hatte. Sein
Blut gieng mithin langſam traurig, da er zur
Reſidentin ſchlich. Es war ihm, als koͤnnt' er
heute ſie als ſeine Freundin anſehen — das that
er wirklich halb, als ſie ihm noch dazu eine eben
ſo trauriges Air und Geſicht entgegen trug, dem
aͤhnlich, in dem eine Frau eine Woche nach dem
Verluſt ihres Geliebten mit leeren Augen und er¬
kalteten Wangen am meiſten ruͤhrt. Es waͤr' ſag¬
te ſie, der Sterbetag ihres juͤngſten Bruders, den
ſie und der ſie am meiſten geliebt. Sie ließ ſich in
Trauerkleidung mahlen. Nichts wirkt ſtaͤrker als
der Luſtige, der einmal in die Semitonien des
Kummers faͤllt. Guſtav hatte uͤberhaupt zu viel
Zuneigung fuͤr Menſchen, in deren Ohren das
Trauergelaͤute irgend eines Verluſtes wiedertoͤnte
2. Theil. D[50] ein Ungluͤcklicher war ihm ein Tugendhafter. Die
Reſidentin ſagte ihm, ſie hoffe, er werde den
heutigen Kummer aus ihrem wirklichen Geſichte
wegmahlen und ihn bloß ins gemahlte bannen —
ſie habe deswegen dieſe Zerſtreuung auf heute ver¬
legt — morgen ſei ihr gewiß beſſer — ſie ſpielte
nachlaͤßig mit der bloßen rechten Hand einige Taͤn¬
ze, aber nur ein Paar Takte und mit vergeblichem
Kampf gegen ihren Truͤbſinn — er ſollte ihr et¬
was erzaͤhlen eh' er anfienge, damit er nicht einem
Geſicht, das ſie nur ein Paar Tage im Jahr truͤ¬
ge, ein ewiges Leben in ſeinen Farben gaͤbe. Aber
er hatte noch am Hofe weder Stof noch Manier
zu erzaͤhlen gewonnen — endlich fiel ſie auf ſeine
unterirrdiſche Erziehung: bloß ihrem heutigen
Geſichte war er ſo etwas in dem Wolkenbruch von
Herzensergießung, den er ſeit Amandus Groll ent¬
behret hatte, zu erzaͤhlen faͤhig. Da er fertig
war: ſagte ſie: „mahlen ſie nur; ſie haͤtten mir
etwas anders erzaͤhlen ſollen.“
Sie nahm ihre kleine Laura auf den Schooß —
dem Fuͤrſten, der ein paſſionirter Thiermahler iſt,
muſte ſie ſtatt mit der Kleinen, mit einem Sei¬
denpudel ſitzen — welche Gruppe faͤllt aber jezt
[51] ſein Auge, ſein Herz und ſeine Zeichenfeder an,
um dieſe drei Dinge zu verruͤcken! ſie zittern we¬
nigſtens alle, indem die Mutter die Haͤndgen der
Laura in eine mahleriſche und kindliche Umſchlin¬
gung legt — indem ſie ſchweigend, traurend, mit
den Lippenwellen gegen den Kummer des Auges
ſtreitend, ihm denkend in das ſeine blickt und mit
der naͤchſten Hand das Haar der Kleinen ſpielend
kruͤmmt — — Wahrhaftig zehnmal dacht' er:
wenn ein Engel einen Koͤrper umthun wollte: der
menſchliche waͤre nicht zu ſchlecht dazu und er koͤnn¬
te in dieſer Reiſe-Uniform in jeder Sonne er¬
ſcheinen!
Seine Zeichnung wurde ſo treffend, daß der
Reſidentin vielleicht ein Paar Unaͤhnlichkeiten lieber
geweſen waͤren — ſie haͤtten groͤßere Aehnlichkeit
ihres zweiten Bildes in ihm angeſagt. Sie kam
jezt durch ſanfte, nicht — wie ſonſt humoriſſtiſch
ſpringende Uebergaͤnge von ſeinem Mahler-
Lohn und von den Nachtheilen ſeiner Erziehung
auf die Vorbereitungen zu ſeiner Legationsrolle —
ſie deckte ihm, aber mit langſamer vertraulicher
Hand, ſeinen Mangel an Welt auf — ſie bot ihm
ihren Zutritt zu ſich an und lud ihn zum Souper
D 2[52] auf Morgen ein — „aber Vormittags, ſetzte ſie
laͤchelnd hinzu, kommen ſie nicht ſchon: Beata
will durchaus nicht gemahlet ſeyn.“
— — Der Leſer hat im ganzen Buche noch
nicht drei Worte reden oder ſchreiben duͤrfen: jezt
will ich ihn ans Sprachgitter oder ins parloir laſ¬
ſen und ſeine Fragen nachſchreiben. „Was hat denn
— fragt er — die Reſidentin vor? will ſie aus
Guſtav ein gezaͤhntes Kamrad ſchnitzen, das ſie in
irgend eine unbekannte Maſchine ſetzet? — oder
bauet ſie den Jaͤgerſchirm und zwirnt die Prahl¬
netze, um ihn zu faͤllen und zu fangen? — wird
ſie wie jede Kokette dem aͤhnlich der ihr nicht aͤhn¬
lich werden will, wie nach Platner der Menſch
das was er empfindet, ſo ſehr wird, daß er ſich
mit der Blume buͤckt und mit den Felſen hebt?“
— — Der Leſer bemerke, daß der Leſer ſelber
hier Witz hat und gehe weiter! — —
„Oder, (geht er alſo weiter) geht die Reſi¬
dentin nicht ſo weit, ſondern will ſie aus Edel¬
muth, woruͤber man oft die optiſchen Kunſtſtuͤcke ih¬
rer Koketterie verzeiht, den ſchoͤnſten uneigennuͤtzig¬
ſten Juͤngling aus den ſchoͤnſten uneigennuͤtzig¬
ſten Gruͤnden aufſuchen und ausbilden? — oder koͤn¬
nens nicht auch alles bloße Zufaͤlle ſeyn — und
[53] nichts leuchtet mir ſo ein — an die ſie, Renne¬
rin durch Luſthaine, die flatternde Schlinge eines
halben Planes fliehend befeſtigt, ohne in ihrem Le¬
ben am andern Tag nach dem ſtrangulirten Fang der
Dohnenſchnait im mindeſten zu ſehen? — oder irr'
ich gaͤnzlich, lieber Autor, und iſt vielleicht von al¬
len dieſen Moͤglichkeiten keine wahr?“ — oder, lie¬
ber Leſer, ſind ſie alle auf einmal wahr und du erraͤ¬
theſt darum eine Launenhafte nicht, weil du ihr we¬
niger Widerſpruͤche als Reize zutraueſt? — die Leſer
beſtaͤrken mich in meiner Bemerkung, daß Perſonen,
die niemals die Gelegenheit haben konnten, der groſ¬
ſen Welt taͤgliche Klavierſtunden zu geben, (wie z.
B. leider die ſonſt treflichen Leſer,) zwar alle moͤg¬
liche Faͤlle irgend eines Karakters vorzurechnen
aber nicht den wirklichen auszuheben vermoͤgend
ſind. — Uebrigens verlaſſe ſich der Leſer auf mich,
(der ich ſchwerlich ohne Grund Vorzuͤge verkleinern
wuͤrde, die mir ſelber anſitzen,) uͤbrigens hat er die
Armuth an gewiſſen konventionellen Grazien, an
gewiſſen leichten modiſchen und giftigen Reizen, die
ein Hof nie verſagt, weit weniger zu bedauern als
andre Hoͤflinge — der Autor wuͤnſchte nicht darun¬
ter zu gehoͤren — ihren Reichthum an dergleichen
[54] Gift-Species wirklich zu beklagen haben: denn auf
dieſe Art blieb er ein ehrlicher und geſunder Mann,
der H. Leſer; aber wer ihn kennt, wuͤrde der Buͤr¬
ge geweſen ſeyn, daß er, falls alle Baͤnder und Zuͤ¬
gel der großen Welt an ihm gezuckt und gezogen
haͤtten, außer ſeiner Ehrlichkeit auch ſeine Unaͤhnlich¬
keit mit den Leuten von Ton behalten haͤtte, die
die Mißhandlung des ſchoͤnſten Geſchlechts mit ver¬
lohrner Stimme und verlohrnen Waden buͤßen,
wie (nach den aͤlteſten Theologen) die Weiber-Ver¬
ſucherin, die Schlange, die vorher reden und ge¬
hen konnte, durch die aktive Verfuͤhrung Spra¬
che und Beine verſcherzte? . . .
[55]
Dreyßigſter oder XXIII. Trinitatis Sektor.
Souper und Viehglocken.
Heut' arbeit' ich im Hemd wie ein Hammerſchmidt,
ſo abſcheulich lang und ſchwer iſt der dreißigſte Sek¬
tor. — Da Guſtav von Oefel erfuhr, daß ein klei¬
nes ſouper bei der Reſidentin ſo viel heiße wie bei
uns das groͤſte: ſo theilte er in ſeinem Kopf, eh' ers
zieren half, Perſonen und Rollen aus, und ſich die
laͤngſte: — den einzigen Fehler begieng er allemal,
daß wenn er endlich aufs Theater kam und agieren
ſollte, er nicht agierte. Eh er in eine große Geſell¬
ſchaft gieng, wuſt' er Wort fuͤr Wort, was er ſagen
wollte; gieng er wieder heraus, ſo wuſt' er (in der
Kuliſſe) auch, was er haͤtte ſagen ſollen — aber ge¬
ſagt hatt' er darin weiter nichts. Es kam nicht von
Menſchenfurcht; denn es war ihm faſt leichter, et¬
was Kuͤhnes als etwas Witziges zu ſagen: ſondern
davon kams, daß er das Gegentheil einer Frau war.
Eine Frau lebt mehr außer als in ſich, ihre fuͤhlen¬
de Schneckenſeele legt ſich faſt außen um ihre bunte
Koͤrper-Konchylie an, ſie zieht ihre Fuͤhlfaͤden und
[56] Fuͤhlhoͤrner nie in ſich zuruͤck, ſondern betaſtet damit
jedes Luͤftgen und kruͤmmt ſie um jedes Blaͤttgen —
mit drei Worten: das Gefuͤhl, das H. Stahl der
Seele von der ganzen Beſchaffenheit ihres Koͤrpers
zuſchreibt, iſt bei ihr ſo lebendig, daß ſie in Ei¬
nem fort fuͤhlt, wie ſie ſitzt und ſteht, wie das
leichteſte Band aufliegt, welchen Zirkelbogen die ge¬
kruͤmmte Hutfeder beſchreibt — mit zwei Worten:
ihre Seele fuͤhlt nicht nur den Tonus aller em¬
pfindlichen Theile des Koͤrpers ſondern auch der un¬
empfindlichen, der Haare und der Kleider — mit Ei¬
nem Worte: ihre innere Welt iſt nur ein Welttheil
ein Abdruck der aͤußern.
Bei Guſtav aber nicht: ſeine innere Welt ſteht
weit abgeriſſen neben der aͤußern, er kann von keiner
in die andre, die aͤußere iſt nur der Trabant nnd Ne¬
benplanet der innern. Seiner Seele — in den Ge¬
hirn-Weltglobus, den der Hut bedeckt, eingeſperret
verbauen die bunten eignen Gewaͤchſe, auf denen ſie
ſich wiegt und vergiſſet, die Ausſicht auf die Gegen¬
ſtaͤnde jenſeits ihres Koͤrpers, die nur duͤnne Schat¬
ten auf ihre Gedanken-Auen werfen: ſie ſieht
alſo die aͤußere Welt nur dann, wenn ſie ſich ih¬
rer erinnert; dann iſt dieſe in die innere verſetzt
[57] und verwandelt. Kurz Guſtav beobachtet nur das
was er denkt, nicht was er empfindet. Daher
weiß er niemals ſeine Ideen und Worte mit den
vorbeiſchießenden Ideen und Worten andrer Leute
zu amalgamieren. Der Hofmann ſchraubt auf und
zu, und die Kaſkaden ſeines Witzes ſpringen und
ſchimmern — Guſtav hingegen wirft erſt den Ei¬
mer in den Ziehbrunnen und will darin den Trunk
mit der Zeit heraus druͤcken. — Eine feinere Ur¬
ſache geb ich unten an.
Oefel ruͤhmte ihm am Morgen dieſes wichti¬
gen Souper ſo viel von Beaten vor, er wuͤrde
heute ihr coeur ſo ſehr im Gleichgewichte mit dem
eſprit der Reſidentin ſehen“ — daß er alles Sehen
verwuͤnſchte, und einen zweiten Grund bekam,
ſein ſchweres Herz ins ſtille Land zu tragen. Sein
erſter war, er ſchickte ſich allemal zu einer großen
Geſellſchaft dadurch an, daß er vorher in die groͤ¬
ſte gieng — unter den großen blauen Himmel.
Hier unter koloſſaliſchen Sternen, an der Bruſt
der Unendlichkeit, lernt man ſich erheben uͤber
metallene Sterne neben das Knopfloch genaͤht; von
der Betrachtung der Erde bringt man Gedanken
mit, durch die man die Erdſtaͤubgen, die man
[58] Menſchen nennt, kaum wirbeln ſieht — und die
kouleurten Gold-Inſekten, womit das Gewaͤchsreich
muſiviſch beſteckt iſt, machen einen gleichguͤltiger
gegen die Hof-Inſekten, womit man einen Thron
[fourniert]. — Gegenwaͤrtiger Verfaſſer ſtattete alle¬
mal dem großen Erd- und Himmelzirkel eine Viſi¬
te vor und eine nach der Viſite ab, die er ei¬
nem kleinern Cercle machte, damit der große die
Eindruͤcke des kleinen verhuͤtete und verloͤſchte.
Ich werde roth, wenn ich mir denke, wie
unbehuͤlflich ſich mein Guſtav durch zwei Vorzim¬
mer in einen Salon mag haben fuͤhren laſſen, wo
wenigſtens ſchon an ſieben Spieltiſchen Streiter ſa¬
ßen. Feinheit der Denkungsart iſt Anlage, Fein¬
heit des Ausdrucks iſt eine Frucht, wozu nicht
gerade Hofgaͤrtner noͤthig ſind; aber Feinheit des
aͤußern Anſtands iſt nirgends zu holen als da, wo
ſie alles gilt — in der großen Welt voll Mikro¬
koſmen. Sollt' ich von letzterer Feinheit mehr
aufzuweiſen haben als man gewoͤhnlich bei meinem
Advozier-Stand ſucht; ſo bin ich nie ſo eitel, ſie
aus etwas anderem abzuleiten als aus meinem Le¬
ben am Scheerauer Hof. — Die Reſidentin (Bea¬
ta ohnehin nicht) ſpielte ſelten, und mit Recht:
[59] eine Frau, die mit ihrem Geſichte andre Herzen
gewinnen kann als lakirte auf der Karte und die
den Maͤnnern einen andern Kopf [nehmen] kann als
den auf Metalle gedruͤckten, thut uͤbel, wenn ſie
ſich mit dem Kleinern begnuͤgt, ſie muͤſte denn mit
den ſchoͤnſten Fingern tailliren und koupiren koͤn¬
nen, die ich noch in weiblichen Handſchuhen und
Ringen geſehen. Vor dem funfzigſten Jahre ſollte
keine ſpielen und nach ihm nur die, die der Mann
und die Tochter verſpielen ſollte. — Hingegen der
poetiſche Gladiator, H. v. Oefel diente unter der
Armee, die in jeder Winternacht 12000 Mann
ſtark iſt in den vordern deutſchen Reichskreiſen —
naͤmlich mit und gegen L'Homber-Spieler. Die
Reſidentin war eine brillante Sonne, der immer
Beata als Abendſtern nachzog. Sanfter holder
Heſperus am Himmel! du wirfſt deine Strahlen-
Silberflitter auf unſre Erden-Laub und ſchließeſt
leiſe unſer Herz fuͤr Reize auf, die ſo ſanft wie
deine ſind! Alle Sommerabende, die mein Auge
in Traͤumen und Erinnerungen auf deinen uͤber
mich erhoͤhten Unſchulds-Auen verlebte, belohn'
ich dir, verſilberter groͤſter Thautropfen in der
blauen Aether-Glockenblume des Himmels, indem
[60] ich dich zu einem Bilde der ſchoͤnen Beata mache!
— o koͤnnt' ich doch ihre Heiligengeſtalt aus mei¬
nem Herzen heben und hieher auf meine Blaͤtter
legen, damit es der Leſer ſaͤhe, nicht begriffe,
wie von der Junoniſchen Bouſe, aus der alle weib¬
liche Reize brechen, ſelbſt erhabne Uneigennuͤtzig¬
keit, bloß nur Unſchuld und weibliche beſcheidne
Zuruͤckgezogenheit nicht, wie von ihr alle
dieſe hoͤlzerne Strahlen abfallen, wenn ſich neben
ihr mehr verhuͤllt als zeigt Beata, die uͤber die
heftigſten weiblichen Wuͤnſche den innern Sieg er¬
haͤlt und doch weder Sieg noch Kampf verraͤth —
die, ohne Bouſens Trauer-Huͤlfe und Trauer-
Pantomime, ein erweichtes Herz dir giebt und
deinen Blick monarchiſch beherrſchet — und mit
der du im Mondſchein gehen kannſt, ohne ſie
oder die magiſche Scene um dich minder zu ge¬
nießen. — Guſtav fuͤhlte noch mehr als ich; und
ich fuͤhle in meinen biographiſchen Stunden wieder
mehr als ſonſt in meinen muſikaliſchen.
Apropos! wenn ſie eſſen: werd' ich auch die
uͤbrigen Gaͤſte abfaͤrben. Unter dem geſellſchaftli¬
chen Tumult, der ſo wohl ſeine Sinnen als Ideen
betaͤubte, fiel freilich nur Beatens halbes Son¬
[61] nenbild in ſeine Seele. Aber nachher — Vorher
lagen naͤmlich beide mit der Reſidentin unter dem
Fenſterbogen, die ironiſch Guſtaven vor Beaten ent¬
ſchuldigte, daß er heute nicht mit dem Pinſel ge¬
kommen — eine Menge zufaͤlliger Zwiſchenredner zu
geſchweigen. Die Reſidentin wurde ihnen entriſſen;
die nahe und einſame Stellung noͤthigte beide zum
Sprechen und Beaten zum Bleiben. Guſtav, der
ſchon vor der Aſſemblee im Kopfe hatte was er ſa¬
gen wollte, ſagte nichts. Aber Beata endigte das
vorige Geſpraͤch uͤber das Portraitiren und ſagte:
„wenn Sie mich nicht ſchon entſchuldigt haben, ſo
kann ich mich nicht entſchuldigen.“ Ein andrer von
mehr tournure haͤtte geradezu Nein geſagt und ſo im
Scherze, der keine Verlegenheit zuließ, die Faͤden
der Vogelſpinne um das arme Kolibri herumgewun¬
den. — Guſtav hatte zu ſtarke Gefuͤhle, um hier
zu ſcherzen. An einer Menge ſchwerer Materien,
wovon euch alle Handhaben abbrechen, haͤlt bloß die
des Scherzes und ihr koͤnnt ſie damit regieren: be¬
ſonders wenn ihr mit Maͤdchen unter Fenſterboͤgen
ſprecht.
Guſtav ſuchte laͤngſt Gelegenheit, Beaten andre
Theile ſeiner Seele zu zeigen als damals in der Korn¬
[62] Affaire zum Vorſchein kamen; jetzt haͤtt' er die Ge¬
legenheit, aber keine Mittel gehabt, wenn nicht der
Park mit dem Abend-Ornat ſich vor das Fenſter ge¬
lagert haͤtte. Naturſchoͤnheit war die einzige Sache,
woruͤber er mit andern Schoͤnheiten gluͤcklich ſpre¬
chen konnte. Seinen Eintritt aus der Erde herauf
ins hohe Weltgebaͤude, beſchrieb er. Auf jedes
Wort, daß ſie oder er ſagte, war eine Seele gepraͤgt,
die ſie einander zugetrauet hatten. Ploͤtzlich ſchwieg
er mit weiten glaͤnzenden Augen — ihm war als gieng
in ſeiner Seele ein Zauber-Mond auf und ſchiene
uͤber ein weites daͤmmerndes Land und ein Engel ſei¬
ner Kindheit ſtaͤnd' im Bluͤtenlande und naͤhm' ihn
in ſeine Arme und druͤckt' ihn ſo an ſich, daß Guſtavs
Herz an ihm zerfloͤſſe . . . . und worauf ruhte dieſes
pſychologiſche Landſchaftsſtuͤck? — Worauf das be¬
ruͤhmte Straßburger Uhrwerk ruht — auf einem
Thierhals: dieſes liegt naͤmlich auf einem Pegaſus-
Nacken; ſeines trugen die Haͤlſe des zufaͤllig vor dem
Schloſſe heimgehenden Weideviehs, an denen ſolche
Glocken hiengen, die denen der Heerde Reginens
aͤhnlich klangen und die mithin die ganze Jugendſce¬
ne mit ihren Toͤnen wieder in ſeine Seele ſetzten . . . .
In einer ſolchen Stimmung haͤtt' er in einer Natio¬
[63] nalverſammlung geredet; auch machte der Tu¬
mult, der beide einfaßte, ſie einſamer und vertrauli¬
cher: kurz er erzaͤhlte ihr mit Feuer und hiſtoriſchen
Ellypſen ſeine Schaͤferei mit Einem Lamm auf dem
Berg. — Dieſes Schwaͤrmen ſteckte Beaten (wie alle
Weiber) ſo ſehr an, daß ſie anfieng — zu ſchwei¬
gen.
Die Noth zwang ſie, jetzt einen aͤuſſern Gegen¬
ſtand (wie ein Schwerdt im fuͤrſtlichen Bett als Se¬
kante) zwiſchen ihre zuſammenflieſſenden Seelen zu
bringen — ſie ſahen auf die zwei Gaͤrtners-Kinder
unten hinunter und das ſo begierig, daß ſie nichts
ſahen. Der Junge ſagte: „mich hat das Fraͤulein
„(Beata) ſo lieb“ und ſtreckte beide Arme aus ein¬
ander — das Maͤdchen ſagte: „mich hat der Herr
„(Guſtav) ſo groß lieb wie das Schloß“ — „und
mich, replicirte er, ſo groß wie den Garten“ —
„und mich, excipirte das Maͤdchen, ſo groß wie die
„ganze Welt.“ Daruͤber konnten die Fluͤgel des Jun¬
gen nicht hinaus und haͤtten ſeine Schwanzfedern
uͤber den Katheder-Horſt hinausgeſtochen. Jedes
zaͤhlte dem andern die Liebespfaͤnder, die es von den
oben uͤber gegenſeitiges Lob erfreueten Zuhoͤrern er¬
halten hatte, und ſagte bei jedem Stuͤck; „haſt
du das g'kriegt?“ —
[64]
Mit jenem haſtigen Sprung der Kinder zu ei¬
nem neuen Spiel ſagte das Maͤdchen: „jetzt mußt
„du der Herr (Guſtav) ſeyn; und ich will das
„Fraulein (Beata) ſeyn. Jetzt will ich dich lieb¬
„haben, nachher mußt du mich,“ ſie ſtrich ihm
ſanft die Backen und dann die Augenbraunen und
endlich die Arme und manipulirte den Herrn. „Jetzt
mich!“ ſagte ſie mit ſchnell herunterhaͤngenden Ar¬
men. Der Junge warf ſeine Arme ſo eng um ih¬
ren Hals, daß die zwei Ellbogen ſich durchſchnit¬
ten und ſchuͤrzten und als uͤberfluͤſſige Bandſchlei¬
fen uͤber den Liebesknoten hinausragten; er kuͤ߬
te ſie derb. Ploͤtzlich fand ihre kritiſche Feile ei¬
nen verdammten Anachroniſmus an dieſem hiſto¬
riſchen Schauſpiele und ſie ſagte fragend: „Ja,
„der Herr und das Fraͤulein haben ſich ja nicht
lieb?“ —
Das war zuviel fuͤr die Frontloge oben, die
zugleich das Auditorium und das Original der
kleinen Akteurs war, und die Kopie derſelben zu
werden in Gefahr gerieth. Guſtav hielt das Au¬
genlied gewaltſam offen, damit es das Waſſer wor¬
in ſein Auge ſtand, zu keiner ſichtbaren auf die
Wange fallenden Thraͤne vereinigte — und die ge¬
ruͤhrte[65] ruͤhrte Beata ließ, ohne oder mit Abſicht, ihre
Roſe abgeknickt zu Boden zittern: er buͤckte ſich nach
ihr lange und ließ ſeine Thraͤne verborgen wegſin¬
ken; aber da er ihr die Roſe gab und beide furcht¬
ſam die geſenkten Augen auf der Blume verſteckten
und hefteten und da ſie ein herſpringender Tropf
unterbrach: ſo ſtanden ploͤtzlich ihre aufgeſchlagnen
Augen einander wie der aufgehende Vollmond der
untergehenden Sonne gegenuͤber und ſanken in ein¬
ander und in einem Augenblick unausſprechlicher
Zaͤrtlichkeit ſahen ihre Seelen, daß ſie einander —
ſuchten.
Der ſpringende Tropf war Oefel, der Beatens
Arm haben wollte, ſie in den Speiſeſaal zu fuͤh¬
ren. Jetzt, Leſer, trag' ich dir ſtatt lebendiger Ro¬
ſen (wie unſer Seelen-Paar iſt) lauter in Butter
geſottene Roſen auf. Sechs oder ſieben und zwan¬
zig Kouverts, glaub' ich, waren. Ich will hier
ſtatt eines Kuͤchenzettels einen Paſſagierzettel der
Gaͤſte verfertigen. Erſtlich waren am Tiſche und
im Schloſſe zwei keuſche Menſchen — Beata und
Guſtav; welches ein Beweis iſt, daß ſchoͤne See¬
len in allen Orten wachſen, ſogar an den hoͤch¬
ſten: ſo ließ der vorige Kaiſer jaͤhrlich einige Nach¬
2. Theil. E[66]tigallen in den Augarten werfen, damit man da
was hoͤrte.
Nro. 2 war der Fuͤrſt, der in ſeinem kurzen
Leben mehr Weiber geſehen als der Ochs Apis,
deſſen Leben doch ſo lang war wie das aͤgyptiſche
Alphabet. Er war an dieſer Tafel, was er auf
ſeinen Reiſen an mancher table d'hôte nicht zu ſeyn
vermochte, der Bruder Redner und der Haupt¬
wind unter 63 andern Nebenwinden. Seine Kro¬
ne hatten ſaͤmtliche Damen auf.
Nro. 3 war ſein appanagirter Bruder, den
der gekroͤnte haßte, nicht weil er zuviel Volksliebe
hatte und verdiente, ſondern weil er einmal todt¬
krank war und nicht ſtarb, ſondern von der Ap¬
panage fortlebte. Das Gerippe dieſes Bruders wuͤr¬
de den Fuͤrſten, wie ein jedes Gerippe Aegypter
und Griechen, zu einem freudigern Genuß des
Gaſtmahls uͤberredet haben.
Nro. 4 war ein Michaelisritter aus Spaa (H.
v. D.), deſſen Ordensſtern in Scheerau noch Stra¬
len abſchickte, nachdem er in Paris laͤngſt vernich¬
tet war. So ſagt Jeruſalem und Euler, daß ein
Fixſtern am Himmel noch wegen ſeiner Entfer¬
nung ſein Schimmern fortſetzen kann, ob er gleich
laͤngſt eingeaͤſchert worden.
[67]
Nro. 5 war Kaglioſtro, der unter ſo vielen
pointirenden Koͤpfen das Schickſal der Aerzte
und Geſpenſter und Advokaten hatte, daß ſeine oͤf¬
fentlichen Spoͤtter zugleich ſeine geheimen Juͤn¬
ger und Klienten ſind.
Nro. 6 war mein Gerichtsherr v. Roͤper, der weil
er mit dem Fuͤrſten etwas zu ſprechen hatte dage¬
blieben war. Er war der einzige im ganzen E߬
konvent, der zweierlei that: erſtlich daß er alle
Weinſortiments des Bouſiſchen Wein-Inventa¬
riums ſich reichen ließ, um von allen Weinguͤtern
der Reſidentin denjenigen deutlichen, oder doch
klaren Begriff in ſeinem Magen zu bringen, wor¬
auf die aͤltern Logiken ſo ſehr dringen — zwei¬
tens legt' er einen ſo großen Werth auf das fri¬
kaſſirte, marinirte ꝛc. Souper als wenn ers gaͤbe
und nicht bekaͤme und wurde immer hoͤflicher und
gebuͤckter, je ſatter und voller er wurde, gleich
einer Wurſt, die ſich kruͤmmt, wenn man ſie
fuͤllet.
Nro. 7. 8. 9 waren zwei grobe Regierungsraͤ¬
the ** und ein grober Kammerpraͤſident *, wovon
die zwei erſtern den ganzen Hof verachteten, weil
er keine andern Pandekten im Kopfe hatte als
E 2[68]litterariſche, und der dritte, weil er ſich es
ausmalte, wie viel Penſionen und Gagen der gan¬
ze Hof ohne die Kammer, d. h. ohne ihn wohl
haͤtte, und ſaͤmtliche drei, weil ſie glaubten, ſie
hielten den Thron, ob ſie gleich nichts haͤtten tra¬
gen koͤnnen als in Salomons Tempel das — eher¬
ne Meer.
Nro. 10 war die Reſidentin, die ſich nach dem
Tone eines jeden ſtimmte und doch durch ihren eig¬
nen ſich von allen Weibern unterſchied — gleich dem
Koͤnig Mithridates redete ſie die Sprachen aller
ihrer Unterthanen.
Nro. 11, 12 war eine durchreiſende Aebtiſſin
und eine verwittibte Fuͤrſtin von **, die ihrem
Stande gemaͤß einſylbig und hautain waren.
Nro. 13 war die Défaillante, deren groͤßte Reize
und Anziehungskraft in den kleinen Fuͤßen angebracht
waren, wie in den zwei Fuͤßen eines armirten
Magneten. Der Kopf, ihr zweiter Pol, ſtieß ab,
was der untere zog.
Nro. 00000 gehen mich nichts an; es waren
alte in den Schminkſalpeter eingepoͤckelte Damen-
Geſichter, denen aus dem Schiffbruch ihres unter¬
geſunknen Lebens nichts geblieben war als ein har¬
[69] tes Brett, auf dem ſie noch ſitzen und herumfah¬
ren, naͤmlich der Spieltiſch.
Nro. 00000 gehen mich auch nichts an; es wa¬
ren eine Garbe Hofdamen, verſchnittene Spalier¬
gewaͤchſe an den Tapeten, oder vielmehr Einfaſ¬
ſungsgewaͤchſe um fruchtbare Beete — ſie hatten
Witz, Schoͤnheit, Geſchmack und Betragen und
wenn man zur Fluͤgelthuͤr hinaus war, hatte mans
ſchon wieder vergeſſen.
Nro. 0000 war eine Kompagnie Hofleute, mit
rothen und blauen Ordensbaͤndern durchſchnitten,
welche an ihnen wie die rothe und blaue Farbe des
Spiritus in Therometern ſtehen, damit man ihr
Steigen beſſer ſehen koͤnne — die gleich dem Sil¬
ber glaͤnzten und alles was ſie beruͤhrten ſchwarz
machten — die keinen hoͤhern und breitern Himmel
ſich denken konnten als den Thronhimmel und kei¬
nen groͤßern Tag im Jahr als einen Kourtag —
die in ihrem Leben weder Vaͤter waren noch Kinder
noch Ehegatten noch Bruͤder ſondern bloß Hofleu¬
te — die Verſtand hatten ohne Grundſaͤtze, Kennt¬
niſſe ohne Glauben daran, Leidenſchaften ohne Kraͤf¬
te, ſatyriſches Gefuͤhl der Thorheiten ohne Haß
derſelben, Gefaͤlligkeit ohne Liebe und Freimuͤthig¬
[70] keit zum Spaß — deren Aechtheit man wie die des
Smaragds daran pruͤft, daß ſie wie er kalt
bleiben, wenn man ſie mit dem Munde erwaͤrmen
will — und die, die Wahrheit zu ſagen, der Sa¬
tan ſchildern mag und nicht ich . . . .
Oefel war zwiſchen Beata und die Ohnmaͤchti¬
ge eingemauert; Guſtav wars ihnen gegenuͤber
zwiſchen zwei kleine witzige Daͤmchen: aber er ver¬
gaß die Nachbarſchaft ſeiner Arme uͤber die ſeiner
Augen. Aus Oefels Gliedern ſchoſſen Witzfunken,
als wenn ihn die Seide, die ihn umlag, elektri¬
ſiren haͤlfe. Die Ohnmaͤchtige war ihrer Lehnherr¬
ſchaft uͤber ihn ſo gewiß, daß ſie es fuͤr keinen
Lehnsfehler anſah, wenn ihr Lehnmann Beaten,
ſeiner Teller-Nachbarin, die ſchoͤnſten Dinge ſag¬
te; „er wird ſich (dachte ſie) aͤrgern genug, daß
er aus Hoͤflichkeit nicht anders kann.“ Dem H. v.
Oefel war am Ende nie um etwas anders zu thun
als um den Herrn von Oefel; er lobte, nicht um
ſeine Achtung ſondern um ſeinen Witz und Ge¬
ſchmack auszukramen; er unterdruͤckte weder Schmei¬
cheleien noch Satyren, wenn ſie gut und unge¬
gruͤndet waren; er tadelte die Weiber, weil er
beweiſen wollte, er erriethe ſie und weil er das
[71] fuͤr ſchwer hielt; und ich halte ihn fuͤr einen
Narren.
Drei Bergbohrer ſetzte er gewoͤhnlich an einem
Maͤdchenherzen an, um eine Luͤcke darein zu brin¬
gen, in die er das Schießpulver legte, womit er
die vererzte Liebesader aus dem Maͤdchen hervor¬
ſprengen wollte. Seine erſte Miniergrube, die er
heute wie allemal im weiblichen Herzen lud, war
bei Beaten, daß er mit ihr lange von ihrem An¬
zug [ſprach] — es iſt ihnen, behauptete er, einerlei
ob man von ihren Gliedern oder ihren Kleidern re¬
det; aber ich behaupte, die Haͤßliche traͤgt ihren
Anzug fuͤr ihre Frucht, die Kokette fuͤr die bloſ¬
ſe Gartenleiter oder der Obſtbrecher und die
Gute fuͤr das Laub der Frucht. Beata trug ihn
wie Eva als Laubwerk.
Zweitens ſtellte er um Beaten die Wand- und
Garnwaͤnde der Metaphern, um ſie darin zu jagen
— er behauptete, wie die Maͤdchen das ſingen
was ſie nie ſagen wuͤrden (gleich denen die zu
ſtammeln aufhoͤren wenn ſie zu ſingen anfangen)
ſo laſſen ſie in Bildern und Allegorien alle die Ge¬
ſtaͤndniſſe ihres Innern aus ſich winden, die man
ihnen mit eigentlichen Worten nie abfoͤchte, ob es
[72] gleich einerlei waͤre — ich hingegen behaupte,
dieſe taugen nichts und die, die ſo viel taugen als
Beata, koͤnnen nicht mit Worten gefangen wer¬
den, weil ihre Gedanken nie ſchlimmer ſind als ihre
Worte. Freilich aus einem Zimmer (oder Herzen)
wo es innen brennt und raucht, lodert die Flam¬
me aus der erſten Oefnung heraus, die du auf¬
machſt.
Seine dritte Behauptung und Liſt war, Maͤnner
fuͤhlten den Werth des Einfachen und das Erhab¬
ne der Aufrichtigkeit und der geraden Verſicherung
„ich habe dich lieb,“ aber Maͤdchen wollten tour¬
nure und Feinheit und Umſchweife in dieſe Verſi¬
cherung, die tuͤrkiſche Briefſtellerei durch gewachſe¬
ne Blumen waͤr' ihnen lieber als die mit poetiſchen‚
eine thaͤtige Schmeichelei lieber als eine woͤrtliche —
ich aber behaupte daß er Recht hat. Daher ließ
er z. B. ſeine Repetiruhr vor der Ohnmaͤchtigen
allemal die Stunde ihres letzten Rendevous repeti¬
ren und er gefiel ihr unendlich; daher ſah er ei¬
ne allemal wenns zu machen und zu merken war,
ſchielend hinter dem Ruͤcken im Spiegel an —
daher ſteckt' er gegen Beaten voll Teufeleien, die
ich faſt alle nennen ſollte. Zwei nenn' ich auch.
[73] Er erinnerte ſich erſtlich, daß er ſich zu vergeſſen
und auf ihre Hand die ſeinige im Feuer des Redens
zu legen habe; darauf ſtellt' er ſich als beſaͤnn' er
ſich, als naͤhm' er ſeiner Hand ein Loth ums an¬
dre in der Abſicht, ſie unvermerkt wegzuheben'
ſobald ſie mehr nicht woͤge als ein Fingerglied —
„ſo handelt (ſagt' er zu ſich) feinere Delikateſſe
immer; und ich werd' es ſehen was ſie verfaͤngt.”
Seine zweite Teufelei war, daß er in der Spie¬
gelplatte, woran er ſaß, ihr Geſicht (ſeinem ei¬
genen gab ſtatt des Preiſes nur das Akzeſſit) an¬
ſchielte und bewunderte, da er doch das Original
naͤher hatte. Eine Schaͤferin von Porzellan trieb
Schaͤfchen uͤber den Spiegel: „ich habe noch keine
ſchoͤnere Schaͤferin unter Glas geſehen,” ſagt' er
doppelſinnig; „aber ich ein ſchoͤneres Schaaf,”
ſagte die Défaillante und meinte ihn.
Dieſe Spiegelplatte kam mit ihrer Schaͤferin,
die uͤber ein umbluͤmtes Ufer in das glaͤſerne Waſ¬
ſer ſah, und mit ihrem Lamm und Schaͤfer [faſt]
der Guſtaviſchen Szene nahe. Beatens Auge ver¬
lor ſich unwillkuͤhrlich zwiſchen dieſe Blumen und
nahm ihr Ohr mit ſich, in daß der Legationsrath
vergeblich mit ſeinem kriegsliſtigen Witze einzubre¬
[74] chen trachtete. Guſtavs Augen ſuchten und mieden
nur — Augen, nicht Szenen; aus dem geſell¬
ſchaftlichen Gewuͤhl, unter dem ſeine innern Fluͤ¬
gel erlagen, konnt' er nur durch einen Springſtab
von auſſen in die Hoͤhe. Denn die ausgenommen,
die ihm aͤhnlich war, ritzten und baitzten die an¬
dern alle, die es nicht waren, ſein Inneres ſo
ſehr mit ihren Tiſchreden, daß er nie in groͤßerer
Beklemmung war als heute: ich will das fliegende
Tiſchgeſpraͤch, das die Tugend betraf, in Gedan¬
kenſtrichen abgemarket herſetzen, weil zwanzig [Koͤp¬
fe] daran ſprachen, wie am Bauern-Tiſchgebet
die ganze Familie antiphonirend betet.
„Man hat keine Tugend, ſondern nur Tugen¬
den. — Die Weiber haben ſie, die Maͤnner be¬
kriegen ſie — Tugend iſt nichts als eine unge¬
woͤhnliche Hoͤflichkeit — Tugend iſt un peu
de pavillon joint à beaucoup de culaſſe*); mais le
moyen de n'être que l'un ou que l'autre? — Sie
iſt wie die Schoͤnheit, uͤberall anders; die Koͤpfe
ſind hier ſpitz, dort breit; ſo iſts mit den Herzen,
[75] die darunter ſind — Schoͤnheit und Tugend zanken
und lieben ſich wie ein Paar Schweſtern und doch
geben ſie einander ihren Putz (bezog ſich) — Man
denkt nie ſo gern an die Tugend als wenn man
die Roſenmaͤdchen in Salency ſieht. — Sie wird
auch an andern Orten gekroͤnt (bezog ſich wie¬
der) u. ſ. w.
Kurz jeder Ton und Blick erwieß nicht, ſon¬
dern praͤſumiert' es ſchon, daß Tugend nichts waͤ¬
re — als der Oekonomus des Magens, die Kon¬
viktoriſtin der Sinne, die Officiantin und Tochter
des Koͤrpers. Der Liebe giengs wie der Tugend.
„Die Julie des Jean Jaques (ſagte einer) iſt wie
tauſend Julien oder wie Jean Jaques ſelber; ſie be¬
ginnt mit Schwaͤrmen, endigt mit Beten — aber
das Fallen iſt zwiſchen beiden.“
Niemand als wer einmal in Guſtavs Lage
war, wer einmal das verheerende Beſtuͤrmen ſei¬
ner tiefſten Ueberzeugung von der Moͤglichkeit und
Goͤttlichkeit der Tugend, in einem Kreiſe witziger
und entſcheidender Leute von Stande erlitt; wen
unter ſolchen Erſchuͤtterungen, deren jede ein Riß
in die Seele iſt, ſein eignes Unvermoͤgen kraͤnkte,
[76] ſolche Tugend- und Heiligen-Stuͤrmer zu beſchaͤ¬
nem, geſchweige zu bekehren; wen unter dieſen
Herodes-Beſchimpfungen ſeiner Heilandin
nicht einmal der Stolz aufrichtete, der zwar gern
mit uns auf unſerm beſondern Zimmer iſſet, aber
an der table d'hôte aus unſerem Innern eilt — —
bloß alſo wer in ſolchen Lagen keuchte, kann ſich
Guſtavs Alpdruͤcken in der ſeinen denken.
Selbſt Beatens Angeſicht, daß die Parthei
der Tugend und der Liebe nahm, konnt' ihn nicht
gegen jene perſiflierenden Froſtgeſichter decken, aus
denen wie aus Gletſcher Spalten bei wechſelnder
Witterung, ſchneidende Winde blieſen und die das
Herz zerphiloſophierten und das Gefuͤhl des
eignen Werths zerriſſen: in Guſtavs Alter machen
die Guſtave zwei grundfalſche Syllogiſmen — ſie
ſuchen erſtlich unter jeder tugendhaften Zunge ein
tugendhaftes Herz, zweitens aber auch unter je¬
der ſchlimmen ein ſchlimmes.
Guſtav wuͤrde wenig darnach gefragt haben,
daß er nicht viel antworten, geſchweige fragen
konnte, waͤren ihm nicht zwei Ohren gegenuͤber
geſeſſen, die etwas beſſers werth waren als was
[77] ſie zu hoͤren bekamen. Er glitſchte allemal neben
der rechten Taſte hinaus und grif Konſonanzen, wo
Diſſonanzen in der Partitur geſchrieben ſtanden
und umgekehrt. Bald erſtaunte er uͤber die fremde
freimuͤthige Lizenz, bald erſtaunten ſeine Nach¬
barn uͤber ſeine; und Witz waͤr' ihm leichter ge¬
weſen als einen Ton zu treffen, die ihm bald zu
kuͤhn bald zu feig vorkam. — Das wars aber nicht
eigentlich: ſondern ſein wichtiger Fehler, der wie
ein Fußblock ſeine Fuͤße hielt war,
daß er logiſch richtig dachte. —
Den Fehler haben viele; und ich ſelber mu¬
ſte mich viele Vormittage uͤben und mit der Seele
volltigieren, eh' ich einigermaſſen unzuſammen¬
haͤngend und huͤpfend denken konnte nur wie ein
halber Narr. Ich haͤtt' es am Ende doch zu Nichts
gebracht, wenn ich mich nicht zu Weibern in die
Schule und auf die Schulbank geſetzet haͤtte: Die¬
ſe denken weniger logiſch und wer bei ihnen den
guten Ton nicht erlernt, aus dem iſt nichts zu
machen — als ein deutſcher Metaphyſiker. Ant¬
worten ſie wohl jemals Ja oder Nein, ſtatt deſ¬
ſen was nicht zur Sache gehoͤret? druͤcken ſie ſich
uͤber das Wichtigſte bedachtſam und mit prozeſſua¬
[78] liſchen Weitlaͤuftigkeiten aus oder uͤber das Frivol¬
ſte frivol? hoͤren und uͤben ſie Perſiflieren ungern
oder legen ſie — Balkoͤniginnen und Gouvernann¬
ten der bureaux d'eſprit freilich ausgenommen —
wohl je den geringſten Akzent, Accent und Werth
auf ihre Tiſch- Toilette- Spiegel- und andre Re¬
den? oder legen ſie einen auf Wahrheiten? Zum
Gluͤck nimmt dieſe Feinheit des Tons, die das Fa¬
kultaͤtsſiegel und der Handwerksgruß der Weiber
iſt, mit der Feinheit der Stoffe zu, die eine um¬
hat. Ein Paar kleine deutſche Staͤdte, etwa Un¬
terſcheerau u. a. muͤſſen ſich mir nicht entge¬
gen werfen, wo freilich die daſigen Weiber, die
ſich lieber Damen nennen hoͤren, mit nichts Laute
von ſich geben als mit dem artikulierten Faͤcher
und Schleprock, den Inſekten gleich, deren Stim¬
me nicht aus dem Munde, ſondern aus dem ſchwir¬
rende Flugwerk, Bauchtrommelfell ꝛc. hervor¬
ſauſet.
Viele muthen mir zu, dieſe Aehnlichkeit des
weiblichen und des Hoftons gar hinaus zu bewei¬
ſen: ich habe ja die Feder in der Hand und brau¬
che bloß einzutunken. Ein Sopraniſt im guten
Ton (ich werde des Wohlklangs wegen „Hof- und
[79] guter Ton” abwechſelnd brauchen) wird ſtets den
Blitz der Wahrheit durch [Pointen]ſo zuzuleiten
und zu entkraͤften wiſſen wie den elektriſchen
durch Spitzen. Der wirkliche Sopraniſt ſchneidet
aus dem ewigen Zirkel der Wahrheit bunte Seg¬
mente und Bogen aus, die aufs nichts haͤngen
und ruhen, wie die kouleurten herausgeſchnittenen
Fragmente des Regenbogens. Er iſts von dem
man fodert, daß er wie Spiegelqueckſilber alles,
was vor ihm voruͤberrennt, fremde Karaktere und
eigne Meinungen kolorierend abſchatte und alles
aͤußere zeige und alles innere berge. Wird es fuͤr
einen Weltmann genug ſeyn — es reiche immer
fuͤr einen Gelehrten zu — wenn er ein Feld iſt,
das ſatyriſche Dornen umſtecken und muͤſſen ſie
nicht vielmehr ſtatt des Raines alle Furchen erfuͤl¬
len und mehr die Frucht als der Zaun des Ackers
ſeyn? und wer anders als er und die Schwefelle¬
ber — die ſich aber nur auf Metalle einſchraͤnkt —
muß alle Heilige und alle Teufel ſchwarz zu praͤ¬
zipitiren wiſſen? — allein Leute, die ſo hohe Fo¬
derungen zu machen wagen, bedenken nicht im¬
mer, daß nur ein Latitudinarier und Indifferen¬
tiſt aller Wahrheiten ſie befriedigen koͤnne, d. h.
[80] ein Mann, der gaͤnzlich ſich uͤber den Katheder-
Inſulaner erhebt, welcher vielleicht Jahre lang
die naͤmlichen Meinungen und Hoſen behaͤlt.
Nichts verengert den Tanzplatz des Witzes ſo ſehr
als wenn eigne Meinungen und Wahrheitsliebe
darin als feſte dicke Saͤulen ſtehen. — —
Dieſes ſind eben die Mittel, wodurch Welt¬
leute ſo wohl andre als ſich ſelber im feinſten laͤ¬
cherlichen Lichte darzuſtellen wiſſen. Der Hofmann
kann allerdings den deutſchen Komoͤdienſtellern vor¬
werfen, daß ſie das attiſche Salz und das hohe
Komiſche, das er ſtets an ſeiner Perſon zu haben
weiß, unter ihren Schwielen-Haͤnden meiſtens ver¬
fliegen laſſen. Er, der Hofmann, macht ſich ſtets
auf eine feine, nie niedrige Weiſe laͤcherlich und
wuͤrzet mit einem hohen Komiſchen, das ſeinen
hohen Stande anpaßt, ſeine Perſon leicht; aber
er kann fragen, „ſtudieren mich die deutſchen Tro¬
pfen, oder ſalzet Terenz, den ſie ſtudieren, ſei¬
ne Karaktere ſo delikat wie ich meinen eigenen. . . .
Ich denke, durch meine Verirrungen hab' ich
den Umſtand in meiner Geſchichte zureichend moti¬
viert, daß Guſtav am Ende, weil er niederlag
unter[81] unter ſo ſchnell witzigen Damen und unter dem
zu beſcheidnen Gefuͤhle fremder Talente und et¬
wann weil von ihm die Reſidentin durch ihre
Geſellſchaft und Beata durch ihren H. Vater
abgezogen wurde — ſich gar fortmachte. Aber
draußen richtete ſich unter dem kuͤhlenden Nacht¬
thau die haͤngende Blume erfriſcht wieder auf; im
ſtillen Lande gieng er vor dem viereckigen Schim¬
mer‚ den die Wandleuchter ins Graß herunter¬
warfen‚ ohne Sehnen voruͤber und drehte ſich
rund herum‚ um alle Waͤnde des weiten ſchwarz¬
gemahlten Ballhauſes‚ wo das Schickſal den Son¬
nen-Ball in große und den Erdball in kleine Kreiſe
wirft‚ ins Auge zu nehmen. Als er hier den
großen Schattenriß des Tages‚ die Nacht‚ wie
den einer weggegangnen Freundin‚ kuͤhlend und
troͤſtend an ſeinem Buſen hatte! ſo dachte er‚ aber
ſicher ohne Stolz: „o zu dir‚ große Natur‚ will
ich allzeit kommen‚ wenn ich mich unter den Men¬
ſchen betruͤbe; du biſt meine aͤlteſte Freundin und
meine treueſte und du ſollſt mich troͤſten‚ bis ich
aus deinen Armen vor deine Fuͤße falle und keinen
Troſt mehr brauche.“. . . .
2. Theil F[82]
„Koͤnnen ſie mich nicht berichten wo hier der
junge H. v. Falkenberg logiert” redete ein Nacht¬
bote ihn an. Er uͤberbrachte ihm einen Brief, den
er eilig im Fixſternlicht der fernen Wandleuchter
durchlief. Aber ſie ſchienen heute lauter traurige
Szenen erhellen zu ſollen: Amandus hatte ihm
darin auf dem Deckbette ſeines Krankenlagers ſo
geſchrieben:
[83]
Ein und dreißigſter od. XXIIII. Trinitatis Sekt.
Das Krankenlager — die Mondfinſterniß — die Pyramide.
Wenn du wieder mein Freund geworden biſt: ſo
gehe zu deinem, der bald ſterben wird. Soͤhne
dich aus mit mir eh' ich in das ewig ſtille Land
ziehe, wie wir das letztemal thaten, eh wir in
das irdiſche ſtille Land hinausgiengen. Ach unaus¬
ſprechlich Geliebter! ich habe dich zwar oft belei¬
digt, aber allezeit geliebt! o komm, laße nicht
den kurzen Athem meiner brechenden Bruſt, der
auf dieſer Erde aus lauter unerfuͤllten Seufzern
beſtand, mit dem letzten vergeblichen Seufzer nach
dir verſiegen. Du ſaheſt mich das erſtemal, als
meine Augen blind waren; ſehe mich zum letzten¬
male, wenn ſie es wieder werden!“ —
Dieſes Blatt riß ihn in dieſer Stunde, wo
ihm die Liebe eines Menſchen ſo wohl that, aus
dem Schloſſe fort, aber die Stellen des Herzens,
an denen es ihn anfaſte, bluteten. Ein ſolcher
Gang durch die Nacht beugt die Seele nieder und
ſeinen Freund ſah er auf dieſem kurzen Wege mehr
F2[84] als zehnmal ſterben. Bei jedem Vogel, den ſie
aus dem Bette jagten, dacht' er, wie wirſt du
im finſtern dein Aeſtgen wieder finden — bei jedem
zerfließenden Licht, das weit von ihm durch die
Nacht wandelte, dacht' er, welchen Seufzern,
welchen ſauern Schritten wird es jezt den langwei¬
ligen Steig beleuchten und es war ihm als ſaͤh' er
das menſchliche Leben gehen. Es macht' ihn nicht
froͤhlicher, als er einige Sonnenwaͤgen, von ei¬
nem Sonnenhof aus Fackeln umlegt, die unnuͤtzen
Gaͤſte des Souper, das ſie wie er jezt verließen, ſo
fliegend heimrollen ſah als fuͤhren ſie einem ſter¬
benden Freunde entgegen. Endlich wickelte ſich die
ſchlummernde Stadt aus den Schatten heraus; das
Pharuslicht des Thuͤrmers und einige weit ausein¬
ander geſaͤete Lichter, die wahrſcheinlich die lange
lange Nacht eines Kranken truͤbe und ungeputzt
abmaßen, fielen auf den Trauer-Grund ſeines
Innern:
Leiſe pochten ſie am Krankenhauſe, leiſe wur¬
de aufgemacht, leiſe ſtieg er hinauf: bloß die Uhr
laͤrmte, wie ein Trauergelaͤute ins ſtumme Trau¬
erhaus, mit ihren zwoͤlf Schlaͤgen, die er da ſo
oft gehoͤrt. — Ach im Bett litt eine Geſtallt, der
[85] man alles verzeihen will und die man noch ein we¬
nig zu lieben und zu erfreuen eilt, eh' ſie ſich
nicht mehr regt. Nicht das ſchmutzige eingedorte
Krankengeſicht, nicht die von Fiebern weggebaizte
Lebensfarbe, nicht die Runzeln der Lippe warens
an Amandus (oder ſinds an andern Kranken,)
was Guſtavs Herz und Hofnungen zerſchnitt, ſon¬
dern das ſchwer gedrehte, aufflackernde, wilde
und doch ausgebrannte verglaſete Krankenauge,
in das alle Leiden ſeiner vorigen Naͤchte und die
Naͤhe der letzten ſo leſerlich geſchrieben waren.
Er ſtreckte ihm ſeine Todtenhand weit her¬
aus entgegen, als ob es moͤglich waͤre daß jemand
anders als er ſich noch an die fremde ſchwarze
Todtenhand erinnerte, die er ihm neulich gereicht.
Fuͤr Amandus war die Wiedervereinigung ſuͤßer als
fuͤr Guſtav, der hinter ihr die lange Trennung
warten ſah.
Der Morgen und die Freude hielten den Vor¬
hang ſeines Lebens ein wenig im Niederfallen auf.
Guſtav trat als Krankenwaͤrter an die Stelle der
Krankenwaͤrterin, erſtlich weil dieſe alles ſo gut
und mit ſo vielen Umſtaͤnden und Randnoten zu
machen wuſte, daß ſie noch in ſeine letzten Minu¬
[86] ten Galle ſchuͤttete, zweitens weil es ja in der
Stunde, wo die ganze Natur in Geſellſchaft des
Todes mit harten Griffen dem Menſchen allen Putz
und alle Kleidungsſtuͤcke abzieht, die ſie ihm gelie¬
hen, fuͤr die ohnmaͤchtigen Freunde, die dieſe un¬
erbittliche Hand nicht halten koͤnnen, noch der ein¬
zige Troſt iſt, unter dem Entkleiden, Erfrieren
und Einſchlafen des Bekannten durch Laͤcheln,
durch unbedingte Gefaͤlligkeit gegen alle ſeine Lau¬
nen, durch Erfuͤllung ſeines Eigenſinns ſtille zu
ſeyn. — Auf ſolche Charitativ-Subſidien gegen
arme Sterbende ſchauet man nach vielen Jahren
mit mehr Zufriedenheit zuruͤck als auf die gegen
alle Geſunde auf einmal — und doch ſind beide
nur um ein Paar Stunden verſchieden; denn du
ſteig'ſt nicht oft in deinem Bette aus und ein, ſo
bleibſt du drinnen liegen. . . .
Lieber Tod! ich denke jezt an mich: wenn du
einmal in meine Stube tritſt: ſo erweiſe mir den
Gefallen und ſchieß' mich an meinem Secretaire
oder Schreibtiſch Knall und Fall todt; werfe mich
lieber Todt, nicht hinter die Vorhaͤnge aufs Kran¬
kenbette und ſuche mit deinem Trennmeſſer lang¬
ſam jede Ader, um ſie vom Leben loßzutrennen,
[87] ſo daß ich dir ganze lange Naͤchte ins anatomie¬
rende Geſicht ſehen muß oder daß unter deinem
langen Seidenzupfen meines Seelenkleides alles
herlaͤuft und geſund zuſieht, der Rittmeiſter, der
Peſtilenziarius und meine gute Schweſter — reitet
dich aber der Henker, daß du keine Vernunft an¬
nimmſt: ſo lieber Tod — da keine Hoͤlle ewig
dauert — ſcheer' ich mich auch nichts darum, um
die letzte Scheererei, nach tauſend Scheerereien.
Der Doktor Fenk hatt' in ſeinem Geſicht nicht
die Aengſtlichkeit vor einem kommenden Verluſt
ſondern das Trauern uͤber einen Dageweſenen; er
hielt ſeinen Sohn fuͤr ein zerſchlagenes Porzellan-
Gefaͤß, deſſen Scherben man noch in der alten
Zuſammenſetzung auf den Putzſchrank ſtellt und das
von deſſen kleinſter Erſchuͤtterung auseinander faͤllt.
Er verbot ihm daher nichts mehr. Er nahm ſogar
einige maͤnnliche Patienten an, „weil er zu Hau¬
ſe einen haͤtte und ſich den Gedanken an ihn weg¬
kurieren wollte.” Der Kranke ſelber hoͤrte ſchon
den Abendwind ſeines Lebens wehen. Vor einigen
Wochen glaubte er zwar noch, im Fruͤhlinge
koͤnnt' er den Scheerauer Geſundbrunnen in Lilien¬
bad trinken und dann wuͤrd' es ſchon anders mit
[88] ihm werden. (Armer Kranker! es iſt eher anders
mit dir geworden.) Allein ein gewiſſes Fieberbild,
das er nicht entdeckte, ſprach ihm ſein krankes
Leben ab; und ſein Aberglaube an dieſen Traum
war ſo feſt, daß er ſeitdem ſeine Blumenſtoͤcke
nicht mehr begoß, ſeine Voͤgel weggab und alle
Wuͤnſche ausloͤſchte, bloß den nach Guſtav nicht.
Es war am andern Tage gerade Markttag.
Dieſes Getoͤſe hatte fuͤr ſeine der Todesſtille geweih¬
ten Ohren zu viel Leben und Guſtav muſte ſich an
ſein Bette ſetzen, damit er unter dem Sprechen
und Hoͤren nicht auf den Markt hinunter horchte.
Guſtav erſchrack als er endlich lebhaft fragte: „ob
er Beaten noch liebe.” Er wich dem Ja aus; aber
Amandus rafte das wenige Leben, das noch in
ſeinen Nerven waͤrmte, zuſammen und ſagte, aber
in langen Pauſen zwiſchen jedem Satze: „o nimm
ihr dein Herz nicht — wenn du ſie kennteſt wie
ich — ich war oft bei ihrem Vater — ich ſah wie
ſie mit ſtummer Geduld ſeine Hitze trug — wie
ſie die Fehler ihrer Mutter auf ſich nahm — voll
Guͤte, voll Sanftmuth, voll Demuth, voll Ver¬
ſtand — ſo iſt ſie — ach ohne ihr Bild waͤr' in
meinem Leben wenig Freude geweſen — gieb mir
[89] die Hand, daß du ſie mehr liebeſt wie mich.“ Er
nahm ſie ſelber; aber Guſtaven ſchmerzte es.
Ploͤtzlich draͤngte ſich in ſeine eingeſunknen Wan¬
gen-Adern vielleicht die letzte Schaamroͤthe, die oft
wie Morgenroͤthe vor einer guten That voreiit: er
verlangte ſeinen Vater her. An dieſen that er mit
ſo viel Feuer, mit ſo viel Sehnſucht in Aug' und Lip¬
pe die Bitte, — — Beaten herzuholen, die ja ei¬
nem Sterbenden nicht die letzte Bitte verſagen koͤn¬
ne, daß es ſein Vater auch nicht konnte: ſondern er
verſprach (trotz dem Gefuͤhle der Unſchicklichkeit) zu
ihrer Mutter zu fahren und durch dieſe jene herzu¬
bereden und beide zu bringen. — Fenk wuſte, daß
in ſeiner ganzen Krankheit kein Abſchlagen etwas
verfieng — daß er wenn er ihn am letzten vergebli¬
chen Wunſche geſtorben ſaͤhe, den Gedanken nicht
tragen koͤnne, dem Leichnam die Todesminuten, die
er noch ausſchluͤrfte, verbittert zu haben — und daß
Mutter und Tochter zu gut waͤren, um nicht gegen
ſeinen Sohn zu handeln wie er: kurz er fuhr.
Als der Vater hinaus war: ſah der Kranke un¬
ſern und ſeinen Freund mit einem ſolchem Strom
von laͤchelnd verſprechender Liebe an, daß Guſtav von
der treuen guten Seele, deren Scheiden, ſo nahe
[90] war, den laͤngſten Abſchied dieſes Lebens nehmen
wollte — meine Lippen, dacht' er, ſollen nur noch
einmal gedruͤckt auf ſeinen liegen und meine Bruſt
auf ſeiner — nur noch einmal will ich den warmen
Leichnam umſchließen, da noch eine Seele darin
mein Umfaſſen fuͤhlt — nur noch einmal will ich
ſeinem wegziehenden Geiſte, da ich ihn noch errei¬
che, nachrufen, wie ich ihn geliebt habe und lie¬
ben werde . . . . Unter dieſen Wuͤnſchen heiligte
das ſchoͤnſte Weihwaſſer des Menſchen ſein Auge.
Aber er unterließ alles, weil er beſorgte, unter
dieſer heftigen Szene ließen die geriſſenen Bande
des Koͤrpers die bewegte Seele loß und an ſeinem
Munde ſtuͤrbe der Schwache . . . .
Dieſe Zaͤrtlichkeit, die ſich ſelbſt aufopfert und
nicht aus der Nonnenzelle des Herzens tritt, ge¬
faͤllt mir mehr als ein belletriſtiſcher und theatra¬
liſcher Final-Orkan, wo man empfindet, um es
zu weiſen, um eine Thraͤnen- und Dinten-Fiſtel
zu haben wie andre, um von ſeinen Empfindun¬
gen, wie vom Schnupftuch womit man ſie trock¬
net, einen Zipfel aus der Taſche herauszuhenken.
Der Doktor, von dem man in Mauſſenbach
noch kein betruͤbtes Geſicht geſehen, gewann ſchon
[91] durch ſeine uͤberflorte Heiterkeit ſeine traurige Bit¬
te. Mein Gerichtsherr, der ſein angebornes Mit¬
leid allezeit gewaltſam daͤmmte, weil es gleich ei¬
nem Papagai ſein Geld wegtrug, uͤberließ ſich dem
wohlthaͤtigen Thraͤnenſtrom hier deſto williger, weil
er ihn nichts davonfuͤhrte als — auf eine Stunde
Frau und Tochter. Der ſchlimmere Menſch hat ei¬
ne groͤßere Freude uͤber eine ſich abgerungene gute
That als der beſſere. Roͤper ſchrieb ſelber an die
Tochter ſeinen Befehl, mit zufahren, und brach¬
te die beſten Gruͤnde dafuͤr aus der natuͤrlichen und
theologiſchen Moral kurz bei. Aber der beſte Grund,
den der Doktor Beaten ins neue Schloß mitbrach¬
te, war ihre Mutter: ohne ſie haͤtte ſie ihre
ſcheuen, politiſchen, und weiblichen Beſorgniſſe
ſchwerlich uͤberwaͤltigt.
Sie kamen unter Gebeten im erhabenen Ster¬
bezimmer an, dieſer Sakriſtei eines unbekannten
Tempels, der nicht auf dieſer Erde ſteht: ich fah¬
re fort, obgleich hier die Szene meinem Herzen
und meiner Sprache zu groß wird . . . . Als der
Kranke die Geliebte ſeines ſterbenden Herzens ſah:
ſo ſchimmerten ſeine untergegangnen Jugendtage
mit ihren goldnen Hofnungen tief unter dem Ho¬
[92] rizont herauf wie das Abendroth der Juniusſonne
gegen Mitternacht, er druͤckte dem ſchoͤnen Leben
noch einmal die Hand, vom Hauch der letzten Freu¬
de glimmten noch einmal ſeine blaſſen Wangen an
und der Engel der Freude ließ ihn am Seile der
Liebe langſam ins Grab hinab. — Ein Sterbender
ſieht die Menſchen und ihr Thun ſchon in einer tie¬
fen Entfernung verkleinert; ihm ſind unſre kleinen
Hoͤflichkeitsregeln wenig mehr — alles iſt ihm ja
nichts mehr. Er bat, ihn mit Guſtav und Beata
allein zu laſſen; ſeine Seele hielt den ſich nieder¬
beugenden Koͤrper; mit einer abgebrochnen aber
geneſenen Stimme redete er das bebende Maͤdchen
an: „Beata, ich werde ſterben, vielleicht heute
„Nacht — in meinen ſchoͤnern Tagen hab' ich dich
„geliebt, du haſt es nicht gewußt — ich gehe mit
„meiner Liebe in die Ewigkeit — o Gute, gieb mir
„deine Hand (ſie thats) und weine nicht, ſondern
„ſpreche, ich habe dich ſo lange nicht geſehen und
„nicht gehoͤrt — aber weinet nur: euere Thraͤnen
„machen mich nicht mehr weich, in meine heiſſen
„Augen kommen ſo lang ich liege keine — o wei¬
„net ſehr bei mir: wenn man traͤumt man wein'
„auf einen Todten, ſo bedeutet es Gewinn. — —
[93] „Ja, ihr zwei ſchoͤnen Seelen, ihr findet niemand
„der euch gleichen, der euere Liebe verdienen kann,
„ihr ſeyd allein — o Beata, auch Guſtav liebet
„dich und ſagt es nicht — wenn du dein ſchoͤnes
„Herz noch haſt, ſo gieb es ihm, auf der ganzen
„Erde verdient nur er's, gieb es ihm — du ma¬
„cheſt ihn und mich gluͤcklich, aber gieb mir kein
„Zeichen wenn du ihn nicht lieben kannſt”. . . .
. . . . Jetzt ergriff er noch die Hand Guſtavs, deſ¬
ſen Gefuͤhle gegen einanderwehende Stuͤrme waren,
und ſagte mit aufgerichteten Augen der begluͤcken¬
den Tugend: „Du unendliches guͤtiges Weſen! das
„mich zu ſich nimmt, ſchenke dieſen zwei Herzen
„alle ſchoͤne Tage, die mir vielleicht hier beſchie¬
„den waren — ja nimm ſie aus meinem kuͤnftigen
„Leben, wenn ich etwan in dieſem keine zu erwar¬
„ten hatte”. . . . . Hier zog der fallende Koͤrper
die fliegende Seele zuruͤck; ein Tropfen in ſeinem
Auge verkuͤndigte die ſchwere Erinnerung an ſeine
zertruͤmmerten Tage; drei Herzen bewegten ſich
heftig; drei Zungen erſtarrten; dieſe Minute war
zu [erhaben] fuͤr den Gedanken der Liebe — bloß
die Gefuͤhle der Freundſchaft und der andern
Welt waren groß genug fuͤr die große Minute. . .
[94]
Ich bin jetzt nicht im Stande, von den Fol¬
gen der letztern und von jemand anders zu reden
als vom Sterbenden. Seine zuruͤckgeſpannten Ner¬
ven bebten in einem entkraͤftenden Schlummer fort.
Die erſchoͤpfte, betaͤubte Beata gieng mit ihrer
Mutter ab. Guſtav ſah nichts mehr, kaum jene.
Der Vater hatte keinen Troſt und keinen Troͤſter.
Der Fieberſchlummer waͤhrte fort bis nach
Mitternacht. Eine totale Mondfinſterniß hob den
Himmel und zog das erſchrockne Auge des Men¬
ſchen empor. Guſtav ſah bewegt und melancholiſch
zu dem koloſſaliſchen Erdſchatten hinauf, der am
Monde wie an einem Silhouettenbrette lag. Er
verließ die Erde, ſie wurd' ihm ſelber ein Schat¬
ten: „ach! dacht' er, in dieſer hohen fliegenden
Schatten-Pyramide werden jetzt tauſend rothe Au¬
gen, wunde Haͤnde und troſtloſe Herzen ſtehen
und werden eingraben, damit der Todte noch fin¬
ſtrer liege als der Lebendige. — Aber ruͤckt denn
nicht dieſer Schatten-Polyphem (mit dem Einem
Mondsauge) taͤglich um dieſe Erde herum und wir
bemerken ihn nur dann, wenn er ſich auf unſerem
Mond anlegt . . . . Und ſo denken wir, der Tod
komme nicht eher auf die Erde, als bis er un¬
[95] ſern Garten abmaͤhet . . . . und doch iſt nicht ein
Jahrhundert ſondern jede Sekunde ſeine Senſe.“
. . . . Auf dieſe Art betruͤbte und troͤſtete er ſich
unter dem beflorten Mond — Amandus wachte
aͤngſtlich auf; beide waren allein; der Mond ruh¬
te mit ſeinem Schimmer gewoͤhnlich auf ſeinem
kranken Auge; „wer hat denn den Mond zerſchnit¬
ten“ (ſagt' er gequaͤlt) „er iſt todt bis auf ein
Schnitzchen.“ Auf einmal war die Stubendecke
und die entgegengeſetzten Haͤuſer flammend roth,
weil die Leichenfackeln mit einem Edelmann, der
auf ſeinen Erbbegraͤbniß gefahren wurde, durch
die ſtumme Gaſſe zogen. „Es brennt, es brennt,“
rief der Sterbende und ſuchte herauszueilen. Gu¬
ſtav wollt' ihm verbergen, wie aͤhnlich ihm der ſei,
der unten zum letztenmale uͤber die Gaſſe gieng;
aber Amandus, aͤngſtlich als wenn ihn der Tod er¬
druͤckte, wankte uͤber das halbe Zimmer in Gu¬
ſtavs Armen . . . . . . eh' er die Leiche ſah, legt' ihn
ein Nervenſchlag todt in dieſe Arme . . . .
Guſtav trug ſo kalt wie der Todte den Einge¬
ſchlafnen aufs verlaſſene Lager — ohne Thraͤne, oh¬
ne Laut, ohne Gedanke ſetzte er ſich ins verhuͤllte
Monds- und ins herflimmernde Leichenlicht — der
[96] ſtarre Freund ohne Bewegung lag ihm gegenuͤber
— Amandus war eher als die Mondkugel aus dem
Erdſchatten geflogen — Guſtav ſah nicht auf
den Todten ſondern auf den Mond (in der dichte¬
ſten Trauerſtunde ſieht man vom Gegenſtande weg
auf den kleinſten hin): „ſtreife nur hin, Schatten
der Kugel aus Staub, du liegſt noch uͤber mir . . .
aber ihn erreicht deine Spitze nicht . . ., alle Son¬
nen liegen nackt vor ihm . . . . o Eitelkeit, o Dunſt,
o Schatten, wo ich noch bin“ . . . . Ploͤtzlich ſchlug
die Floͤtenuhr Ein Uhr und ſpielte ein Morgen¬
lied des ewigen Morgens, ſo aufrichtend, ſo her¬
uͤbertoͤnend aus Auen uͤber dem Mond, ſo ſchmer¬
zenſtillend, daß die Thraͤnen, unter denen ſein
Herz ertrank, den Schmerzensdamm umbrachen
und ſanftern, weniger toͤdtlichen Empfindungen
ein Bette lieſſen . . . . Es war ihm als laͤge ſein
Koͤrper auch ausgeleert neben dem kalten und ſeine
Seele floͤge auf der breiten durch alle Sonne gehenden
Lichtſtraße der vorausgeeilten nach . . . . er ſah ſie
vorausziehen . . . . er ſah durch den Dunſt der Paar
Jahre, die zwiſchen ihr und ihr ſelber lagen, deut¬
lich hindurch . . . .
Und[97]
Und mit einer ſolchen Seele im Geſichte trat
er aus dem Todtenzimmer in das des Vaters und
ſagte mit irdiſcher Wehmuth im Auge und himmli¬
ſcher Heiterkeit im Angeſicht: „unſer Freund hat
unter der Mondfinſterniß ausgekaͤmpft und iſt dort.“
— Ach ſein Leben in ſeinem wurmſtichigen Koͤr¬
per war ja eine wahre totale Mondfinſterniß; ſein
Austritt aus dem Leben war der Austritt aus dem
Erdſchatten und ſein Verweilen im Schatten nur
kurz.
Guſtav war durch kein Zureden im Trauerhau¬
ſe zu erhalten. Wenn dem Herzen der Koͤrper zu
enge iſt: ſo iſts ihm auch die Stube. Er gieng
(auch noch aus einem andern Grunde) nach Ma¬
rienhof. Unter dem blauen Gewoͤlbe, an dem kry¬
ſtalliſirte Sonnentropfen haͤngen, und unter dem
kaͤmpfenden Monde, der wie er von ſeiner Be¬
ſchattung roth gluͤhte, begegneten ihm Ge¬
danken, die uͤber die menſchlichen Farben erha¬
ben ſind ſo wie uͤber die Erde. Wer in ſolchen
Stunden nicht die Kahlheit dieſes Lebens und das
Beduͤrfniß eines zweiten ſo lebendig fuͤhlt, daß das
Beduͤrfniß feſte Hofnung wird: mit dem ſtreite man
nie uͤber dieſe großen Punkte.
2. Theil. G[98]
Ich konnte vorhin unter dem Getuͤmmel des
Sterbetages die zweite Urſache nicht angeben, die
ihn nach Marienhof forttrieb: der Verſtorbene
hatt' ihn gebeten, es zu machen daß er ſein Win¬
terlager fuͤr ſeine Gebeine auf dem Eremitenberg
bekaͤme, den er ſo oft beſtiegen hatte und deſſen
Szenen uns bekannt ſind. Guſtav hoft' es von der
Reſidentin auszuwirken, da ſie ohnehin ſelten und
nur gewiſſe Parthien des ſtillen Landes betrat. Oe¬
fel ſagte aber — am Morgen; wo er ihn bei ſei¬
ner Bitte zu Rath zog, — gerade umgekehrt, wenn
ihr um den Park und deſſen bauliche Wuͤrden zu
thun waͤre: ſo muͤßte ſie da etwas mit Luſt be¬
graben laſſen, weil es den beſten engliſchen Gaͤr¬
ten an Todten und wahren Mauſoleen, ſo ſehr
fehlte, daß ſie bloß nachgemachte Vexier-Mauſo¬
leen haͤtten. Oefel erbot ſich einige Verzierungen
in einem Geſchmack daß ſie der Hof goutirte, fuͤr
das Grabmal zu entwerfen. Guſtav war bloß heu¬
te zu weich, ihn heute zum erſtenmale zu verach¬
ten. Wie ganz anders hoͤrte die Reſidentin ſeiner
Bitte und gedraͤngten Stimme zu, ob er gleich
kein Zeichen ſeines Schmerzes zu geben arbeitete!
Wie theilnehmend — mit einer Mine als legte ſie
[99] leiſe eine Roſe in des Todtenhand, — ſchenkte ſie
dem letztern das Stuͤckchen Erde zum Ankerplatz!
Wie ſchoͤn begleiteten ihre vollen Augen dieſes Ge¬
ſchenk an den Todten mit dem Geſchenk aus ih¬
rem weichen Herzen! Und als der fremde Kummer
ſeinem eignen den Sieg wiedergab: mit welchem
ſchoͤnen Troſt — nie iſt die weibliche Stimme ſchoͤ¬
ner als im Troͤſten — beſtritt ſie ihn! — Er fuͤhl¬
te hier den Unterſchied zwiſchen Freundſchaft und
Liebe lebendig; und er gab ihr die erſtere ganz.
Er war froh den Gegenſtand der letztern nicht da
zu finden, weil er die Verlegenheit der erſten Blik¬
ke ſcheuete: Beata lag krank.
Er ſperrte ſich ein; er machte ſeine Bruſt je¬
nem Schmerze auf, der nicht wohlthaͤtige bluten¬
de Wunden in ſie ſchneidet, ſondern ihr dumpfe
Schlaͤge giebt, jenem naͤmlich, der in dem Zwi¬
ſchenraum zwiſchen dem Todes- und Begraͤbnißtage
bei uns iſt. Der letztere war am Sonntage, wo
ich meinen Sektor betruͤbt bloß mit Ottomars Brie¬
fe ausfuͤllte und wo ich ſo traurig ſchloß. Ich that's
gerade in der Stunde, wo der Entſchlafne aus dem
kleinen Sterbebette ins große Bette aller Menſchen
getragen wurde, wie die Mutter die auf Baͤnken
G 2[100] entſchlummerten Kinder in die groͤßere Ruheſtaͤtte
legt. Sonntags floh Guſtav aus dem Schloſſe, wo
die laͤrmenden Staatswaͤgen und Bedienten gleich¬
ſam uͤber ſein Herz giengen, mit eingehuͤllten Sin¬
nen hinaus. Es fuͤhlte heute zum erſtenmale, daß
er auf der Erde nicht einheimiſch ſei, das Sonnen¬
licht ſchien ihm das in unſere Nacht gewebte Daͤm¬
mer-Licht eines groͤßern Monds zu ſeyn. Ob er
gleich jetzt ſeinem weggeruͤckten Freunde ſich auf
dieſer Erde weder naͤhern noch entziehen konnte:
ſo ſagte ſein Schmerz doch, wenn er auch nicht
den Leichnam, nicht den Sarg, ſondern nur das
Grabes-Beet umfaßte, das auf dieſen Saamen
einer ſchoͤnern Erde druͤckte, ſo wuͤrd' ihm wohl
ſeyn; und er ſtellte ſich daher auf einen entfern¬
ten Huͤgel, um zu ſehen ob noch Leute auf dem
Eremitenberge waͤren.
Sein Auge begegnete gerade dem groͤßten Jam¬
mer, den es an dieſem Abend fuͤr ihn hienieden
gab: der durch den Abend hindurch blinkende weiſ¬
ſe Sarg wurde herausgehoben — eine entzweifal¬
lende Roſe, eine durchloͤcherte Puppe, ein ſich aus¬
ſpannender Schmetterling, der jene als Wuͤrm¬
chen zernagt hatte, waren auf die Sargpuppe ge¬
[101] malet und kamen mit ihren zwei Originalen unter
die Erde — der kinderloſe Vater ſtuͤtzte ſich mit
Hand und Kopf an die Pyramide und hoͤrte hinter
ſeinen verhuͤllten Augen jede Erdſcholle wie den
Flug eines niederbohrenden Pfeiles — der kalte
Nachtwind kam vom Todtenberg zu Guſtav heruͤber
— Zugvoͤgel eilten wie ſchwarze Punkte uͤber ſein
Haupt davon und der Inſtinkt, nicht die Geo¬
graphie fuͤhrte ſie durch kalte Wolken und
Naͤchte zu einer waͤrmern Sonne — der Mond
arbeitete ſich aus einem Blutmeere von Duͤnſten
ohne Stralen herauf — endlich verlieſſen die Leben¬
digen den Berg und den Todten — bloß Guſtav
blieb auf dem andern Huͤgel bei ihm, die Nacht
ruhte ſchwer hingeſtreckt um beide. . . . Genug!
Schenkt mir dieſe Todtengraͤberſzene! Ihr wiſ¬
ſet nicht, welche herbſtliche Erinnerungen dabei
mein Blut ſo leichen-langſam machen wie meine
Feder: ach in dieſe Geſchichte ſchreib' ich ohnehin
ein Blatt, ein Trauerblatt, deſſen breiter ſchwarzer
Rand kaum den Zuͤgen und Klagen mit Thraͤnen
eine weiſſe enge Stelle laͤſſet — ich ſchenk' euch
dieſe Szene auch: denn ich weiß auch nicht, Leſer
mit dem ſchoͤnern Herzen, wen ihr ſchon verloren
[102] habt, ich weiß nicht, welche liebe dahingegangne
Geſtalt, deren Grab ſchon ſo eingeſunken iſt als ſie
ſelbſt, ich gleich einem Traume wieder auf ihrer
Grabplatte in die Hoͤhe richte und eueren thraͤnen¬
den Augen von neuem zeige und an wieviel Todte
ein einziges Grab erinnere!
Verſchwundner Amandus! in dem großen brei¬
ten Heer, daß das Leben dem feindlichen Tod von
Jahrhundert zu Jahrhundert entgegenſchickt, gien¬
geſt du wenige Schritte mit, er verwundete dich
oft und bald; deine Kriegskameraden legten Erde
auf deine großen Wunden und auf dein Angeſicht
— ſie kaͤmpfen fort, ſie werden dich von Jahr zu
Jahr unter ihrem Kriege mehr vergeſſen — in ihre
Augen werden Thraͤnen kommen, aber um dich kei¬
ne mehr, ſondern um Todte, die erſt begraben
worden — und wenn deine Lilien-Mumie ſich aus¬
einander gebroͤckelt hat: ſo denkt man nicht mehr
an dich, bloß der Traum lieſet noch deine in den
Erdball gemengte Paſtel-Geſtalt zuſammen und
ſchmuͤcket mit ihr im graugewordnen Kopfe deines
Guſtavs ſeine hinter dem Leben ruhenden Jugend-
Auen, die wie der Venusſtern am Himmel des Le¬
bens-Morgens der Morgenſtern und am Himmel
[103] des Lebens-Abends der Abendſtern ſind und flim¬
mern und zittern und die Sonne erſetzen . . . . Ich
mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum Leichnam
ſagen, Amandus! liege ſanft: du lagſt in ihr nicht
ſanft; o noch jetzt dauert mich dein unſterbliches
Ich, daß es mehr in ſeinem knappen Nerven- als
im weiten Weltgebaͤude leben mußte, daß es den
edeln Blick nicht zu Sonnenkugeln aufheben ſon¬
dern auf ſeine quaͤlenden Blutkuͤgelchen einkruͤm¬
men und fuͤr die große Harmonie des Makrokoſmus
ſeltner Wallungen fuͤhlen als fuͤr die Diſharmonie
ſeines Mikrokoſmus! — Die Kette der Nothwen¬
digkeit ſchnitt tief in dich ein, nicht bloß ihr Zug,
auch ihr Druck fuͤhrte dich Narben zu . . . . So
jaͤmmerlich iſt der Lebendige: wie koͤnnen von ihm
die Todten ein Andenken verlangen, da er ſchon
indem er daruͤber redet ermattet . . . .
Als nun Guſtav zu Hauſe war: ſetzte er einen
Brief an den Doktor auf. Der ringende Kummer,
worin dieſer ſich an die Pyramide gelehnt und ge¬
halten hatte, bewegte ihn unausſprechlich: Guſtav
fiel ihm an dieſe zerſplitterte wunde Bruſt und mehr¬
te ihre Schmerzen durch ſeinen Liebesdruck, indem
er ihn im Briefe bat, ihn zum Sohne anzuneh¬
men und ſein vaͤterlicher Freund zu werden.
[104]
Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬
ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬
roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬
dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬
vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß
er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen
ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich,
daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬
guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb
gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt.
— Die Antwort des Doktors lautet ſo:
„Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬
ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und
vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen
und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir
alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin
immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬
rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in
den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe
um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen —
wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬
pen ſehe, unter denen ein ganzer Sommer ſteckt,
und in mir innen das ewige Abblaͤttern und Umbeu¬
[105] gen, das kein Erdenfruͤhling heilt — wenn ich mich
dann doch an meine eigne Jugend erinnere, an mei¬
ne Spatzier-Gallopaden um Scheerau, an die in Pa¬
via und an die, die mit mir giengen — wenn ich mich
dann natuͤrlicher Weiſe nach denen umſehe, die mir
vom gefallnen Tempel meiner Jugend noch als hohe
Ruinen ſtehen geblieben — und wenn mich dann,
weil ich mich um[d][r]ehe, um zu ſchauen, ob keiner aus
Waͤldern, uͤber Wieſen, von Bergen an einem ſo
ſchoͤnen Tage zu mir gegangen koͤmmt, der Gedanke
wie Herzklopfen anfaͤllt, daß nach allen vier Welt-
Ecken, wohin ich mich gedrehet, Gottesaͤcker und Kirchen
liegen, in denen die, die mich jetzt troͤſten und beglei¬
ten ſollen, unter der undurchſichtigen Erdrinde und
ihrem Blumenwerk mit geraden Armen verſteckt und
gefangen liegen, und daß bloß ich allein auſſen ge¬
blieben und den Herbſt in meiner Bruſt hier im
Fruͤhling herumtrage: So werd' ich gar nicht ins ſtil¬
le Land gehen, ſondern einſam nach Hauſe gehen und
mich einſchlieſſen und meinen Kopf auf den Arm mit
den Augen legen und wuͤnſchen, daß mir das Herz
breche, ſo gut wie meinen Bekannten; ich werde ſa¬
gen, ich wollt' es waͤre vorbei: Dann, geliebter
Sohn, geliebter Freund, (der du als der juͤngſte mei¬
[106] ner Freunde mich ſchon uͤberleben wirſt) wird deine
Geſtalt vor meine ſatten muͤden Augen treten, dann
werde ich ſie auswiſchen und mich an alles erinnern
und deine Hand wird mich doch ins ſtille Land hin¬
ausfuͤhren, ich werde den Fruͤhling der Erde ſo lange
genieſſen als ich ihn beſehen kann und ich werde dir
mit druͤckender Hand ins Geſicht ſagen: „es thut mir
jetzt recht wohl, daß ich dich vor vielen Jahren zum
Sohne angenommen . . . .
Morgen will ich kommen, um meinen Freund
zu einer Reiſe auf die naͤchſten Tage mitzunehmen,
damit wir den vergangnen aus dem Wege gehen.“ —
Am andern Morgen geſchahs.
[107]
Zwei und dreißigſter oder 16. November-Sekt.
Hektik — Leichenrede in der Kirche des ſtillen Landes —
Ottomar
Es waͤre mir vielleicht auch beſſer, ich ſuchte bei¬
den weniger mit der Feder nachzukommen als zu
Fuß. Die Leſewelt kann jezt an meinen Sachen
koſten und naſchen, indeß ich der Oſtermeſſe ent¬
gegen huſte, weil ich mir an jenen Sachen und
am Schreibtiſch“ woran ich mich niederkruͤmme,
eine huͤbſche vollſtaͤndige Hektik in die zwei Lun¬
genfluͤgel geſchrieben. Das ſaͤmmtliche Publikum
ſagt nicht hab Dank zu mir, daß ich mich um mei¬
nen [geſunden] Athem und um meine ſedes gedacht
und empfunden: es iſt jezt alles an mir zu und
es kann wegen der doppelten Sperrordnung
nach entgegenſetzten Richtungen nichts durch mich
paſſiren. Ich wandele daher hinter den Pflug¬
ſchaaren aller Auenthaler, um den Broden der
Furchen wie die beſten brittiſchen Hektiker thun *)
[108] — einzuziehen als Mittel gegen meine Luftſperre
und andere Sperre. Gleichwohl wuͤrde mich das
einfaͤltige Publikum, in deſſen Dienſt ich mich ſo
elend gemacht, auslachen, wenn es mich den
Pflug-Ochſen wie eine Kraͤhe nachſchreiten ſaͤhe.
Iſt das Rechtſchaffenheit? — muß ich nicht ohnehin
alle Nacht zwiſchen den Armen von zwei Pudeln ſchla¬
fen die ich mit meiner Lungenſucht anſtecken will
wie ein Ehemann von Stande? bin ich aber dann,
wenn ich die zwei Beiſchlaͤferinnen durch communi¬
catio idiomatum mit meinem Uebel dotiert habe,
des Malums ſelber loß, oder ſagt nicht vielmehr
H. Nadan de la Richebaudiere, neue Hunde muͤſt'
ich kaufen und infizieren, weil eine halbe Hunds¬
menagerie zum Auslader eines einzigen Menſchen
noͤthig iſt? So kann ich mein Honorar bloß in
Hunden verthun; ich will den Schaden ſogar ver¬
ſchmerzen, den meine Rechtſchaffenheit dabei lei¬
det, weil ich mich gegen die armen attrahieren¬
den Hunde, deren Lungenfluͤgel ich laͤhmen und
*)[109] beſchneiden will, ſo freundlich wie Große gegen
die Opfer ihrer Rettung ſtellen muß.
Inzwiſchen iſt doch das noch das verdruͤßlichſte
Skandal, daß ich gegenwaͤrtig im — Viehſtall
ſchreibe. Der ſoll auch (nach neuern ſchwediſchen
Buͤchern) eine Apotheke und ein Seehaven gegen
kurzen Athem ſeyn. Meiner wollte ſich indeß noch
nicht verlaͤngern, ob ich gleich ſchon drei Trinita¬
tis hier ſitze und drei lange Sektores (wie das Je¬
ſuskind,) am Geburtsorte viel duͤmmerer Weſen
in die Welt ſetze. Man muß ſelber an einem ſol¬
chen Orte der Hektik wegen im juriſtiſchen oder
aͤſthetiſchen Fache (weil ich beides Bellettriſt und
Rechtskonſulent bin) gearbeitet haben, um aus Er¬
fahrung zu wiſſen: daß da oft die ertraͤglichſten
Einfaͤlle viel ſtaͤrkere Stimmen als die der litte¬
rariſchen und juriſtiſchen Richter gegen ſich haben
und dadurch zum Henker gehen.
Waͤhrend Fenk und Guſtav mehr Traurigkeit
als Geld verreiſeten, ob ſie gleich nicht ſo lange
ausblieben wie alle meine inrotulierten Akten: ſo
gieng auch Oefel weiter, naͤmlich in ſeinem ro¬
mantiſchen Großſultan und tockierte mit dem groͤ¬
ſten Vergnuͤgen den Kummer ſeines Freundes hin¬
[110] ein. Oefel dankte Gott fuͤr jedes Ungluͤck, das in
einen Vers gieng und er wuͤnſchte zum Flor der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften, Peſt, Hungersnoth und
andre graͤßliche Scenen waͤren oͤfter in der Natur,
damit der Dichter nach dieſen Modellen arbeiten
und groͤßere Illuſion daraus erzielen koͤnnte, wie
ſchon den Mahlern, die gekoͤpfte Leute oder aufge¬
ſprengte Schiffe mahlen wollten, mit den Origi¬
nalen dazu beigeſprungen wurde. So mußt' er oft
aus Mangel an Modellen ſelber ſeines ſeyn, und
war einmal einen ganzen Tag genoͤthigt, tugend¬
hafte Regungen zu haben, weil dergleichen in ſei¬
nem Werk zu ſchildern waren — ja oft mußt' er ei¬
nes einzigen Kapitles wegen mehrere male ins V—
gehen, welches ihn verdroß.
Es geht andern Leuten auch ſo: der Gegen¬
ſtand der Wiſſenſchaft iſt kein Gegenſtand der Em¬
pfindung mehr. Die Injurien, bei denen der
Mann von Ehre fluthet und kocht, ſind dem Ju¬
riſten ein Blatt, eine Gloſſe, eine Illuſtration
aus dem Titel von den Injurien. Der Hoſpital-
Arzt repetirt am Bette des Febrikanten, uͤber den
die Fieberflammen zuſammen ſchlagen, ruhig die
wenigen Abſchnitte aus ſeiner Klinick, die herpaſ¬
[111] ſen. Der Officier, der auf dem Schlachtfeld —
dem Fleiſchhacker-Stock der Menſchheit — uͤber die
zerbrochnen Menſchen wegſchreitet, denkt bloß an
die Evolutionen und Viertels-Schwenkungen ſeiner
Kadettenſchule, die noͤthig waren, ganze Genera¬
tionen in phyſiognomiſche Fragmente auszuſchnei¬
den. Der Bataillenmahler, der hinter ihm geht,
denkt und ſieht zwar auf die zerlegten Menſchen
und auf jede daliegende Wunde; aber er will al¬
les fuͤr die Duͤſſeldorfer Gallerie nachkopieren, und
das reine Menſchen-Gefuͤhl dieſes Jammers weckt
er erſt durch ſein Schlachtſtuͤck bei andern und wohl
auch bei — ſich. — So zieht jede Erkenntniß ei¬
ne Stein-Kruſte uͤber unſer Herz, die philoſophi¬
ſche nicht allein. —
Beata opferte faſt ihre Augen dem Antheil
auf, den ſie an niemand anderem (wie ſie dachte)
nahm als an dem Hingeſchiednen. Ihre ſchmerzen¬
den Augen waren oft nach dem Eremitenberg ge¬
richtet, abends beſuchte ſie ihn ſelbſt und brachte
dem Schlafenden das Letzte was die Freundſchaft
dann noch zu geben hat, im Uebermaaß. So drin¬
gen alſo die Griffe des Ungluͤcks in weiche Herzen
am tiefſten; ſo ſind, die Thraͤnen, die der Menſch
[112] vergießet, deſto groͤßer und ſchneller, je weniger
ihm die Erde geben kann und je hoͤher er von ihr
ſteht, wie die Wolke, die hoͤher als andre von
der Erde ſich entfernt, die groͤſten Tropfen wirft.
Nichts richtete ſie auf als die Verdoplung des Al¬
moſens, das ſie gewiſſen Armen woͤchentlich oder
nach jeder Freude gab; und der einſame Umgang
mit der Reſidentin, mit ihrer Laura und den zwei
Gaͤrtners Kindern.
Die zwei Reiſenden waren beſſer daran. Da
der Doktor die Aerzte des Landes ex officio viſi¬
tierte, welche Arzneien machten, nebſt den Apo¬
thekern, die Repreſſalien brauchten und Recepte
machten: ſo aͤrgerte er ſich zum Gluͤck ſo oft, daß
er keine rechte Stunde hatte, ſich zu betruͤben;
alſo bloß die Landphyſici, die immer auf dem Lan¬
de waren (es muͤſten denn gerade Epidemien graſ¬
ſiret haben,) und die Hebammen, die die Wie¬
dergeburt junger Nichtchriſten noch beſſer beſorgen
als deren Geburt, und die Pharao haͤtte haben
ſollen, brachten den bekuͤmmerten Peſtilenziarins
wieder auf die Beine. Zorn iſt ein ſo herrliches
Abfuͤhrungsmittel der Betruͤbnis, daß Gerichts¬
perſonen, die bei Wittwen und Waiſen verſiegeln
und[113] und inventieren, dieſe nicht genug aͤrgern koͤnnen;
daher legier' ich kuͤnftig meinen Erben, die mein
Tod zu ſehr kraͤnkt, nichts teſtamentariſch als das
Mittel dagegen, Erboßung uͤber den Seeligen.
Beide kehrten endlich unter entgegengeſetzten
Herzklopfen wieder zuruͤck und ihr Weg fuͤhrte ſie
vor Ruheſtatt, dem Ritterſitze Ottomars und neben
dem verwaiſeten Tempel des Parks vorbei. Der
Tempel war aber erleuchtet; es war weit in die
Nacht; um den Tempel hieng ein ſummender Bie¬
nenſchwarm von Jagdkleidern, in denen der halbe
Hof ſteckte. Beide draͤngten ſich alſo durch immer
groͤßere Herren und Pferde hindurch, giengen wie
Kometen vor einem Stern nach dem andern vorbei
und in die Kirche hinein: drinnen waren ein oder
zwei unerwartete Dinge — der Fuͤrſt und ein Tod¬
ter; denn das hinten am Altar fechtende Ding war
kein unerwartetes, ſondern der Paſtor. Guſtav und
Fenk hatten ſich in den Beichtſtuhl geſtopft. Guſtav
konnte ſein Auge kaum vom Fuͤrſten reißen, der mit
jenem edeln gleichguͤltigen Geſicht, das Leuten von
Ton oder aus großen Staͤdten und Leichenbittern
ſelten mangelt, uͤber den Todten wegſtreifte — der
Fuͤrſt hatte jenes Herz der Großen, das ein Petre¬
2. Theil. H[114] fakt im guten Sinne und unter ihren feſten Thei¬
len der erſte iſt und das recht ſchoͤn verraͤth, daß ſie
ſich an die Unſterblichkeit der Seele halten und daß
ſie, wenn ſie einen von den Ihrigen begraben laſſen,
nicht zu Hauſe ſind.
Auf einmal legte ſich der Doktor auf das Pult
des Beichtſtuhls nieder und bedeckte das Geſicht; er
ſtand wieder auf und ſah mit einem Auge, daß er
nicht abtrocknen konnte, nach dem aufgedeckten
Leichnam hin und ſuchte vergeblich zu ſehen. Gu¬
ſtav ſchauete auch hin und die Geſtalt war ihm be¬
kannt, aber kein Name, um den er vergeblich den
ſprachloſen Doktor fragte — endlich nennte der Pa¬
ſtor den Namen. Ich brauch' es nicht erſt in Dop¬
pel-Fraktur zu ſagen, daß der Todte, auf dem
jezt ſo viele harte Augen und ein Paar troſtloſe ruh¬
ten, ſo ausſah wie der Schauſpieler Reinecke, deſ¬
ſen edle Bildung jezt auch der ſchwere Grabſtein aus¬
einander druͤckt — ich hab' es nicht noͤthig, dem Pa¬
ſtor den Namen Ottomar nachzuſprechen. Der
arme Doktor ſchien ſeit einiger Zeit beſtimmt zu
ſeyn, daß der Schmerz ſeine Nerven zu einem Ner¬
ven-Praͤparat herausloͤſete und ſich daran uͤb¬
te. Sonderbar wars, das Guſtav nicht am ge¬
[115] ſtorbenen, ſondern bloß am traurenden Freunde
Antheil nahm.
Der gute Medizinalrath knuͤlte das Geſang¬
buch, das unter ſeiner Hand lag, gewaltſam zu¬
ſammen; er hoͤrte nicht das Abreiten des Fuͤrſten,
der nur drei Minuten da geweſen, um ſich den
Todtenſchein zu holen, aber jedes Wort des Pa¬
ſtors hoͤrt' er, um von der neueſten Krankheits¬
geſchichte ſeines Freundes etwas zu erfahren: al¬
lein er vernahm nichts als ſeine Todesart (hitzi¬
ges Fieber.) Endlich war alles vorbei und er gieng
ſtumm und zwiſchen die Trauerkerzen hineinſtar¬
rend, auf die Bahre zu, ſchob ohne Blick und
Laut was ihn hindern konnte weg mit der linken
Hand und zuckte hin nach des Schlaͤfers ſeiner mit
der rechten. Als er endlich die Hand, die Alpen
und Jahre von ſeiner abgeriſſen hatten, jezt da¬
mit umſchloſſen hatte, ohne doch dem naͤher zu
ſeyn, nach dem er ſich ſo lange geſehnet hatte,
und ohne die Freude des Wiederfindens: ſo war
ſein Schmerz noch dicht, dunkel und warf ſich
ſchwer uͤber ſeine ganze Seele her, ohne eine Ge¬
ſtallt zu haben. — Aber als er in jener Hand
zwei Warzen wieder fand, die er ſonſt bei ihrem
H 2[116] Druck ſo oft gefuͤhlet hatte: ſo nahm der Schmerz
die Schleiergeſtallt der Vergangenheit an, Mai¬
land gieng mit den Bluͤthen ſeiner Weinberge und
mit den Gipfeln ſeiner Kaſtanien und mit den ſchoͤ¬
nen Tagen unter beiden voruͤber und ſah traurig
die zwei Menſchen an, die nichts mehr hatten —
hier waͤr er mit den zwei gießenden Augen auf
die zwei ewig trocknen gefallen, wenn nicht der
Leichenmarſchall geſagt haͤtte, „das thut man nicht
gern, es iſt nicht gut.“ Bloß eine Locke gab ihm
das Grab vom ganzen geraubten Freunde zuruͤck,
eine Locke die fuͤr das Auge ſo wenig und fuͤr den
fuͤhlende Finger ſo viel iſt. Er ſchlichtete die Hand,
die den letzten Brief ſo traurig geſchloſſen ſanft
wieder uͤber die unberuͤhrte und verließ ſeinen Ot¬
tomar auf lange.
Er hatte nicht bemerkt, daß des Verſtorbnen
Spitzhund und zwei tonſurierte fremde Men¬
ſchen, da waren, wovon der eine 6 Finger hat¬
te. — Außer der Kirche auf dem Wege, deſſen
eine Richtung nach dem Ottomar'ſchen Schloß und
deſſen andre um den Eremitenberg lief, ſahen ſie
einander mit einer ſtummen troſtloſen Frage an —
ſie antworteten einander durch den Abſchied — —
[117] Der Doktor kehrte um und ſetzte ſeine Reiſe fort —
Guſtav gieng in den Park und dachte unten am
Fuße des Eremitenberges dem Schickſale — nicht
ſeines Freundes und ſeinem eignen ſondern dem —
aller Menſchen nach. . . .
Und wenn ſchreib' ich das? heute am 16. No¬
vember, wo der Namenstag des eingeſargten Ot¬
tomars iſt. —
[118]
Drei und dreißigſter oder XXV. Trinitatis Sekt.
Große Aloe-Blüthen der Liebe: oder das Grab
— der Traum — die Orgel nebſt meinem Schlagfluß, Pelz¬
ſtiefel und Eis-Liripipium
In Guſtav ruͤckten die hoͤchſten Lichter aus des
Freundes Bild langſam in das der Geliebten uͤber.
Jezt trat erſt ihr Geſicht, das am Todtenbette
ein ewiges Feuer in ihn geworfen hatte, aus dem
Zypreſſen-Schatten vor. Die einſame Pyramide
ſtand erhaben als Wach-Engel neben dem Begrab¬
nen. Er trug ſich hinauf, mit Schmerzen, aber
mit ſanftern: er hatte doch jezt den unbeſchreiblich
ſuͤßen Troſt, den Menſchen in der Erde nie ge¬
kraͤnkt, und ihm oft verziehen zu haben; er
wuͤnſchte, Amandus haͤtte ſeine Verzeihung noch
oͤfter veranlaſſet; ſogar das deckte ſeinen wunden
Buſen mit warmem Troſte zu, daß er jezt ihn ſo
liebe, ſo betrauere, ungeſehen, unbelohnet.
Oben trat er noch in einige Leidens-Dornen,
woruͤber man laut aufſchreiet: aber bald flogen
ſeine Augen ſehnend auf der Licht-Bruͤcke, die
von einer Lampe aus Beatens Zimmer uͤber den
[119] Garten zum Berg heruͤber lief, gleich andern Pha¬
laͤnen ihren hellen Fenſtern nach. Er ſah nichts als
bald das Licht bald einen Kopf, der es verbauete;
aber dieſen Kopf ſchmuͤckte er im ſeinigen ſchoͤner aus
als irgend eine Frau den ihrigen. Er legte und
lehnte ſich, halb kniend und halb ſtehend, mit dem
Blick gegen den langen Lichtſtrom zugewandt, an das
Poſtement der Pyramide an — Muͤdigkeit und ſchlaf¬
loſe Naͤchte hatten ſeine Thraͤnen-Druͤſen mit jenen
druͤckenden und doch reizenden Thraͤnen gefuͤllet, die
oft ohne Anlaß und ſo bitter und ſo ſuͤß kurz vor
Krankheiten oder nach Ermattungen ausſtroͤmen —
dieſe naͤmlichen zwei Urſachen breiteten zwiſchen ihm
und die aͤußere Welt gleichſam einen dunkeln Nebel¬
tag oder Heerauch; ſeine innere Welt hingegen wur¬
de aus einer Federzeichnung ohne ſeine An¬
ſtrengung ein gleißendes Oelgemaͤhlde, dann ein
muſiviſches, endlich eines in erhobner Ar¬
beit — Welten und Scenen bewegten ſich vor
ihm auf und ab — endlich ſchloß der Traum die
ganze naͤchtliche Außenwelt mit ſeinen Angenliedern
zu und machte hinter ihnen eine neu geſchafne para¬
dieſiſche auf; gleich einem Todten lag ſein ſchlum¬
mernder Koͤrper neben einem Grabmal und ſein Geiſt
[120] in einer uͤber den ganzen Abgrund hinuͤberreichende
Himmels-Au. Ich werde den Traum und ſein En¬
de ſo gleich erzaͤhlen, wenn ich dem Leſer die Per¬
ſon gezeigt habe, die den Traum zugleich verlaͤnger¬
te und endigte.
Naͤmlich Beata — kam. Sie konnte weder ſei¬
nen Wiederkunft noch ſeine letzte Station wiſſen.
Die Naͤhe des Ottomarſchen Leichenbegaͤngniſſes,
die Entfernung Guſtavs, deſſen Bild ſeit dem letzten
Auftritt tief in und gleichſam durch ihr Herz ge¬
preſſet war, und die Entfernung des Sommers, der
ſein buntes bluͤhendes Gemaͤhlde taͤglich um einige
Zoll wieder zuſammenrollte, alles das hatte ſich in
Beatens Bruſt zu einem druͤckenden Seufzer geſam¬
melt, den das laute Jagdſchloß mit ſeiner Athmoſ¬
phaͤre einklemmte und mit dem ſie in eine reinere
groͤßere gieng, um ihn an einem Grabe auszuhau¬
chen und aus ihr den Stof zu neuen einzuathmen. —
Schwaͤrmeriſches Herz! du treibeſt mit deinen fieber¬
haften Schlaͤgen freilich dein Blut zu reißend um
und ſpuͤhleſt mit deinen Guͤſſen Ufer, Blumen und
Leben fort; aber dein Fehler iſt doch ſchoͤner, als
wenn du mit phlegmatiſchem Getriebe aus dem ſte¬
hendem Waſſer des Blutes bloßen Fett-Schlamm an¬
legteſt!
[121]
Die Nachtwandlerin fuhr zuſammen, da ſie
den ſchoͤnen Schlaͤfer ſah: ſie hatte im ganzen Gar¬
ten, den ſie in dieſen ſtillen Minuten durchſtrichen
hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag
auf einem Knie ſanft zuſammen geſunken; ſein blaſ¬
ſes Geſicht wurde von einem ſchoͤnen Traum, vom
aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬
ſtrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er ſich vielleicht nur
ſchlafend ſtelle; ſie zitterte alſo um einen halben
Schritt naͤher, um erſtlich gewiß zu ſeyn wers waͤre
und um zweitens mit vollem Auge auf der Geſtallt
zu ruhen, vor der ſie bisher nur voruͤberſtreichen
durfte. Unter dem Anſchauen wuſte ſie nicht recht,
wenn ſie es eigentlich endigen ſollte. Endlich wandte
ſie ihrem Paradieſe dem Ruͤcken, nachdem ſie noch
einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem
traͤgen Ruͤckwaͤrtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken)
ein, „er wird doch nicht gar tod ſeyn.“ Sie kehrte
alſo wieder um und behorchte ſeine wachſenden
Athemzuͤge. Neben ihm lagen zwei ſpitze Steingen
ſo groß wie mein Dintenfaß; ſie buͤckte ſich zwei¬
mal neben ihm nieder (ſie wollt' es nicht auf ein¬
mal oder auch mit dem Fuße thun) um ſie wegzu¬
nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . .
[122]
Wahrhaftig ein Alphabet oder 23 Bogen ſolt'
ich mit dieſer Scene voll zu machen haben; zum
Gluͤck geht ſie erſt recht an wenn er erwacht und
der Leſer iſt heute der gluͤcklichſte Mann . . .
Sie war jezt ſchon wie ein Veteran vertrau¬
ter mit der Gefahr und war ſo gewiß, er wuͤrde
nicht erwachen, daß ſie es aufhoͤrte zu befuͤrchten
und anfieng zu wuͤnſchen. Denn es fiel ihr ein,
„die Nachtluft koͤnnt ihm ſchaͤdlich ſeyn“ — es fiel
ihr ferner ein, wie die zwei Freunde ſo erhaben
neben einander ruhten; und ihr blaues Auge be¬
freiete ſich von einem Thautropfen, von welchem
ich nicht weiß, gieng er fuͤr das außer der Erde
pochende oder fuͤr das in ihr ſtillſtehende Herz her¬
ab. Jezt machte ſie ernſthafte Anſtallten abzuge¬
hen, um uͤberhaupt in der Entfernung ihn durch
ein Geraͤuſch zu wecken und um ihren Ruͤhrungen
ohne Furcht ſeines Erwachens nachzuhaͤngen. Sie
wollte bloß noch bei ihm vorbeigehen (den 4½
Schritte ſtand ſie ab,) weil ſie auf der andern
Seite des Berges hinunter muſte (ſie haͤtte denn
umkehren wollen.) Sein Laͤcheln verkuͤndigte im¬
mer groͤßere Entzuͤckungen und ſie war freilich be¬
gierig, wie es noch auf ſeinem Geſichte ablaufen
[123] wuͤrde, aber ſie muſte den laͤchelnden Traͤumer
verlaſſen. Da ſie alſo zwei zoͤgernde Schritte ſich
ihm genaͤhert hatte, um ſich mehrere von ihm zu
entfernen: ſo verklaͤrte der Wiederſchein eines in¬
nern Elyſiums ploͤtzlich ſein Geſicht, er richtete
ſich ſchnell mit geſchloſſenen Augen auf und indem
er die Hand der erſtarrenden Beata erhaſchte, in¬
dem ferner die Orgel der einſamen Kirche von Ru¬
heſtatt, wo Ottomar heute begraben worden,
mitten in der Nacht ſo erhaben zu gehen anfieng
als wenn der Tod ſie ſpielte: ſo ſagte er ſchlaf¬
trunken zu ihr: „o nimm mich ganz, gluͤckliche
Seele, nun hab' ich dich, geliebte Beata, auch
ich bin todt.“
Der Traum, der mit dieſen Worten ausgieng,
war der geweſen: er ſank in eine unabſehliche Aue
nieder, die uͤber ſchoͤne an einander geſtellte Erden
hinuͤberlief — ein Regenbogen von Sonnen, die wie
zu einer Perlenſchnur an einander gereihet waren,
faßte dies Eden ein und drehte ſich darum — dieſe
Sonnen-Kolonne war untergehend dem Horizonte zu
geſunken und auf dem Rande der großen runden Flur
ſtand ein Brillanten Guͤrtel von tauſend rothen Son¬
nen und der liebende Himmel hatte tauſend ſanfte
[124] Augen aufgethan — Haine und Alleen von koloſſali¬
ſchen Blumen, die ſo hoch wie Baͤume waren, durch¬
zogen im tranſparenten Zickzack die Au und die
hochſtaͤmmige Roſe bewarf ſie mit einem goldrothen
Schatten, die Hyacinthe mit einem blauen und
die zuſammenrinnenden Schatten von allen bereiften
ſie mit Silberfarbe — ein magiſcher Abendſchim¬
mer wallete zwiſchen den Schattenufern und durch
die Blumenſtaͤmme uͤber die Flur wie ein freudiges
Erroͤthen und Guſtav fuͤhlte, das ſei der Abend
der Ewigkeit und die Wonne der Ewigkeit — be¬
gluͤckte Seelen tauchten ſich, weit von ihm und
naͤher den weggleitenden Sonnen, in die zuſam¬
mengehenden Abendſtralen und ein gedaͤmpftes
Jauchzen ſtand verhallend wie eine Abendglocke,
uͤber dem himmliſchen Arkadien — bloß Guſtav lag
verlaſſen im Silberſchatten der Blumen und ſehnte
ſich unendlich, aber keine jauchzende Seele kam
heruͤber — endlich dufteten in der Luft zwei Leiber
in eine duͤnne Abendwolke aus einander und das
fallende Gewoͤlk entbloͤßte die zwei Seelen von Bea¬
ta und Amandus — dieſer wollte jene in Guſtavs
Arme fuͤhren, aber er konnte nicht in den Sil¬
berſchatten hinein — Guſtav wollte ihr in die ih¬
[125] rigen entgegenfallen, aber er konnte nicht aus dem
Silberſchatten heraus — „ach du biſt nur noch
„nicht geſtorben, rief die Seele, aber wenn die
„letzte Sonne hinunter iſt: ſo wird dein Silber¬
ſchatten uͤber alles flieſſen und deine Erde von dir
flattern und du wirſt an deine Freundin ſinken“ —
eine Sonne um die andre zergieng — Beata brei¬
tete ihre Arme hernieder — die letzte Sonne ver¬
ſank — ein Orgelton, der Welten und ihre Saͤr¬
ge zerzittern konnte, klang wie ein fliegender Him¬
mel heruͤber und loͤſete durch ſein weites [Beben] die
Faſer-Huͤlle von ihm ab und uͤber den ausgebreite¬
ten Silberſchatten wehte ein Entzuͤcken und hob
ihn empor und er nahm“ — — die wahre Hand
von Beata und ſagte, indem er wachte und
traͤumte und nicht ſah, die Worte zu ihr: „o
„nimm mich ganz, gluͤckliche Seele, nun hab' ich
„dich, geliebte Beata, auch ich bin todt.“ Ih¬
re Hand hielt er ſo feſt wie der Gute die Tugend.
Ihr verſuchtes Loswinden zog ihn endlich aus ſei¬
ner Au' und Traͤumerei: ſeine gluͤcklichen Augen
giengen auf und vertauſchten die Himmel; vor ih¬
nen ſtand erhaben der weiſſe vom Monde uͤberſchwem¬
te Grund und die Aue des Parks und die tauſend
[126] zu Sternen verkleinerten Sonnen und die geliebte
Seele, die er vor dem Untergange aller Sonnen
nicht erreichen konnte. — Guſtav mußte denken,
der Traum ſei aus ſeinem Schlafe ins Leben uͤber¬
gezogen und er habe nicht geſchlafen; ſein Geiſt
konnte die großen ſteilen Ideen vor ihm nicht be¬
wegen und nicht vereinigen. „In welcher Welt
ſind wir?“ ſagt' er, aber in einem erhabnen
Tone, der beinahe die Frage beantwortete. Sei¬
ne Hand war mit ihrer ziehenden feſt verwachſen.
„Sie ſind noch im Traume“ ſagte ſie ſanft und
bebend. Dieſes Sie und die Stimme ſtieß auf
einmal ſeinen Traum in den Hintergrund aus der
Gegenwart zuruͤck; aber der Traum hatte ihm
die Geſtalt, die an ſeiner Hand kaͤmpfte, lieber
und vertrauter gemacht und die getraͤumte Unter¬
redung wirkte in ihm wie eine wahre und ſein Geiſt
war noch eine erhaben-fortbebende Saite, in die
ein Engel ſeine Entzuͤckung geriſſen — und da jetzt
druͤben im oͤden Tempel die Orgel durch neues Er¬
toͤnen die Szene uͤber den irdiſchen Boden erhob,
wo beide Seelen noch waren; da Beatens Stellung
ſchwankte, ihre Lippe zitterte, ihr Auge brach:
— ſo war ihm wieder als wuͤrde der Traum wahr,
[127] als zoͤgen die großen Toͤne ihn und ſie aus der Er¬
de weg ins Land der Umarmung hinauf, ſein We¬
ſen kam an alle ſeine Graͤnzen, „Beata,“ ſagt'
er, zu der ſchoͤnen an bekaͤmfenden Empfindungen
dahin ſterbenden Geſtalt, „Beata, wir ſterben jetzt
„— und wenn wir todt ſind, ſo ſag' ich dir meine
„Liebe und umarme dich — der Todte neben uns
„iſt mir im Traum erſchienen und hat mir wieder
„deine Hand gegeben. . . .“ Sie ſuchte auf das
Grab deſſelben aufzuſinken — aber er hielt den fal¬
lenden Engel in ſeinen Armen auf — er ließ ihr
entſchlummertes Haupt unter ſeines fallen und un¬
ter ihrem ſtockenden Herzen gluͤhten die Schlaͤge
des ſeinigen — es war eine erhabne Minute als er
die Arme um eine ſchlummernde Seligkeit, einſam
anſah die auf der Erde ſchlafende Nacht, einſam
anhoͤrte die allein redende Orgel, einſam wachte
im Kreiſe des Schlafs . . . .
Die erhabne Minute vergieng, die ſeligſte fieng
an: Beata erhob ihr Haupt und zeigte Guſtav
und dem Himmel auf dem zuruͤckgebognen Ange¬
ſicht das irre uͤberweinte Auge, die erſchoͤpfte See¬
le, die verklaͤrten Zuͤge und alles was die Liebe
und die Tugend und die Schoͤnheit in Einen Him¬
[128] mel dieſer Erde draͤngen kann. — — Und jetzt kam
der uͤberirdiſche durch tauſend Himmel auf die Erde
fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick,
wo das menſchliche Herz ſich zur hoͤchſten Liebe er¬
hebt und fuͤr zwei Seelen und zwei Welten ſchlaͤgt, —
er vereinigte auf ewig die Lippen, auf denen alle Er¬
denworte erloſchen, die Herzen, die mit der ſchwe¬
ren Wonne kaͤmpften, die verwandten Seelen, die
wie zwei hohe Flammen in einander ſchlugen . . . .
— Begehrt kein Landſchaftsſtuͤck der bluͤhen¬
den Welten von mir uͤber die ſie in jenem Augen¬
blicke hinzogen, den kaum die Empfindung, ge¬
ſchweige die Sprache faſſet. Ich koͤnnte eben ſo
gut eine Silhouette von der Sonne geben. — Nach
dem Augenblicke ſuchte Beata, deren Koͤrper ſchon
unter einer großen Thraͤne wie ein Bluͤmchen un¬
ter einem Gewittertropfen umſank, ſich aufs Grab
zu ſetzen; ſie bog ihn ſanft mit der einen Hand
von ſich, indem ſie ihm die andre ließ. Hier
ſchloß er ſeine weite Seele auf und ſagte ihr alles,
ſeine Geſchichte und ſeinen Traum und ſeine Kaͤm¬
pfe. Nie war ein Menſch aufrichtiger in der Stun¬
de ſeines Gluͤcks als er; nie war die Liebe bloͤder
nach der Minute der Umarmung als hier. Bei
Bea¬[129] Beaten ſchwamm wie allemal das Freudenoͤhl duͤnn
auf dem Thraͤnenwaſſer: ein vor ihr ſtehendes Lei¬
den ſah ſie mit trocknen feſten Blicken an, aber
kein erinnertes und keine vor ihr ſtehende Freude.
Sie hat jetzt kaum den Muth zu reden, kaum den
Muth, ſich zu erinnern, kaum den Muth, ent¬
zuͤckt zu ſeyn. Zu ihm hob ſie das ſcheue Auge nur
hinauf, wenn der Mond, der uͤber eine durch¬
brochne Treppe von Wolken ſtieg, hinter einem
weiſſen Woͤlkchen verſchattet ſtand. Aber als eine
dickere Wolke den Mond-Torſo begrub: ſo endig¬
ten ſie den ſchoͤnſten Tag ihres Lebens und unter
ihrer Trennung fuͤhlten ſie, daß es fuͤr ſie keine
andre gebe. —
Im einſamen Zimmer konnte Beata nicht den¬
ken, nicht empfinden, nicht ſich erinnern: ſie er¬
fuhr was Freudenthraͤnen ſind; ſie ließ ſie ſtroͤmen
und als ſie ſie endlich ſtillen wollte, konnte ſie
nicht und als der Schlaf kam, ihre Augen zu ver¬
ſchließen, lagen ſie ſchon unter himmliſchen Tro¬
pfen bedeckt. — —
Ihr unſchuldigen Seelen zu euch kann ich beſ¬
ſer wie zu Verſtorbnen ſagen: ſchlaft ſanft! Ge¬
meiniglich gefallen uns, naͤmlich mir und dem Le¬
2. Theil. I[130] ſer, die Bravour- und Force-Rollen der Roma¬
nen-Liebhaber ſchlecht, weil entweder die eine Per¬
ſon nicht wuͤrdig iſt, ſolche Dythiramben der
Freude zu genieſſen, oder die andere, ſie zu ver¬
anlaſſen; hier aber haben wir beide gegen nichts
etwas . . . . Wollte nur der Himmel, euer lah¬
me Biograph koͤnnte ſeine Feder zu einem Blan¬
chards-Fluͤgel machen und euch damit aus der Ka¬
tzen- und Loͤwengrube des Hofes in irgend eine
Pappelinſel tragen, ſie ſei im Suͤd- oder Mittel¬
meer: — Da ichs nicht kann, ſo denk' ich mirs
doch; und ſo oft ich nach Auenthal oder Schee¬
rau gehe, ſo zeichn' ich mirs aus, wie viel ich
ſchenkte, wenn ihr in jenem Roſenthal, daß ich
in Waſſer gefaſſet haͤtte, ohne den deutſchen Win¬
ter, unter ewigen Bluͤten, ohne die fatalen Ge¬
ſichter der moraliſchen Fabrikanten, ohne ein ge¬
faͤhrlicheres Murmeln als das der Baͤche, ohne fe¬
ſtere Verſtrickungen als die in verwachſenen Blu¬
men und ohne den Einfluß anderer Sterne als der
friedlichen am Himmel, in ſchuldloſer Wonne und
Ruhe Athem holen duͤrftet — nicht immerfort,
ſondern nur die Paar Blumenmonate eurer erſten
Liebe.
[131]
Das iſt aber verteufelt ſchwer und ich bin der
Mann gar nicht dazu. — — Ich will meinen
Sektor, weil ich noch nicht ſchlaͤfrig bin, heute
noch ein wenig aus einander ziehen. Ich bin
vom Viehſtall wieder herauf und von der Hektik
gluͤcklich geneſen: aber der Schlagfluß ſetzet mir
ſeitdem mit Symptomen zu und will mich erſchmeiſ¬
ſen wie einen Maulwurf, indem ich wie letzterer
den Huͤgel oder babyloniſchen Thurm meines
gelehrten Ruhms aufwerfe. Zum Gluͤck geb' ich
mich gerade jetzt mit Hallers großer und kleiner
Phyſiologie ab und mit Nikolai's materia medica
und mit allem Mediziniſchen was ich geborgt be¬
komme, und kann alſo mit meinen mediziniſchen
Kenntniſſen auf den Schlagfluß ein tuͤchtiges Kar¬
taͤtſchenfeuer geben. Das Feuer mach' ich an
meinen Fuͤßen, indem ich das lange Bein in einen
großen Pelzſtiefel wie eine Vorhoͤlle ſetze, und das
zuſammengegangne in ein Pelz-Schnuͤrſtiefelchen:
ich habe die aͤlteſten Monddoktores und Peſtilenzia¬
rien auf meiner Seite, wenn ich mir einbilde,
daß ich durch dieſe Stiefel — und ein breites Senf¬
pflaſter, womit ich wie mehrere Gelehrte meine
Fuͤße beſohle — die materia peccans gleich einem
J 2[132] Demokraten aus den obern Theile in die niedern
heruntertreiben koͤnne. Gleichwohl geh' ich weiter,
wenn's gefriert. Ich ſchabe und kerbe mir naͤmlich
eine hohe Eis-Muͤtze *) aus und denke unter der
gefrornen Schlafmuͤtze: alsdann wirds kein Wun¬
der ſeyn, wenn die Apoplexie und ihre Halbſchwe¬
ſter, die Hemiplexie — durch mich angefallen von
oben und unten, am einen Pol durch den heiſſen
Fuß-Sockus, am andern durch den Eis-Knauf
oder die gefrorne Martyrerkrone — hingeht wo ſie
herkam und mich der Erde ſchenkt, deren einer Pol
gleichfalls unten Sommer hat, wenn der andre
oben Winter hat . . . . Der Leſer werfe aber ein¬
mal von guten Buͤchern ein philantropiniſches Au¬
ge auf uns deren Verfaſſer: wir Verfaſſer ſtren¬
gen uns an und verfertigen Fibeln, Mordpredig¬
ten, periodiſche Blaͤtter oder Reinigungen, Aus¬
ſchnitte und andere aufklaͤrende Henker; aber
unſern Madenſack zerzauſen und ſchaben wir ja dar¬
uͤber entſetzlich ab — und doch meints kein Teufel
ehrlich mit uns. So ſteh ich und die ganze ſchrei¬
bende Innung aufrecht da und verſchieſſen gern
[133] lange Stralen uͤber die ganze Halbkugel (denn mehr
iſt auf einmal von Welt- und andern Kugeln nicht
zu beleuchten und dem ganzen Amerika fehlen un¬
ſre Kiele) indeß wir doch den erſten Chriſten glei¬
chen, die das Licht womit ſie, in Pech und Lein¬
wand eingeklemmt, als lebendige Pechfackeln uͤber
Nero's Gaͤrten ſchienen, zugleich mit ihrem Fett'
und Leben von ſich gaben . . . .
„Und hier — ſagen Romanen-Manufakturiſten
— erfolgte eine Szene, die der Leſer ſich denken
ich aber nicht beſchreiben kann.“ Das koͤmmt mir
viel zu dumm vor. Ich kanns auch nicht beſchrei¬
ben, beſchreib' es aber doch. Haben denn die an¬
dern Autoren nicht ſo viel Rechtſchaffenheit, daß
ſie bei einer Szene, nach der die Leſer ſchon im
voraus geblaͤttert haben, z. B. bei einem Todes¬
fall auf den alle, Eltern und Kinder lauern wie
auf einen Lehnfall oder Haͤngtag, nicht vom Seſ¬
ſel aufſpringen und ſagen: das macht ſelbſt? Es
iſt ſo als wenn die Schikanedriſche Truppe vor den
verzerrendſten Auftritten des Lears an die Theater-
Kuͤſte gienge und das Publikum erſuchte, es moͤch¬
te ſich Lears Geſicht denken, ſie koͤnntens nicht
nachbringen. — Wahrhaftig was der Leſer denken
[134] kann, das kann ja der Autor — beim vollen Puls
aller ſeiner Kraͤfte — ſich noch leichter denken
und es mithin ſchildern; auch wird des Leſers
Phantaſie, in deren Speichen einmal die vorherge¬
henden Szenen eingegriffen und die ſie in Bewe¬
gung geſetzt haben, leicht in die ſtaͤrkſte durch jede
Beſchreibung der letzten Szene hineinzureiſſen ſeyn
— auſſer durch die jaͤmmerliche nicht, daß es nicht
zu beſchreiben ſei.
Von mir hingegen ſei man verſichert, ich ma¬
che mich an alles. Ich redete es daher ſchon auf
der Oſtermeſſe mit meinem Verleger ab, er ſollte
ſich um einige Pfund Gedankenſtriche, um ein
Pfund Frage – und Ausrufungszeichen mehr um¬
thun, damit die heftigſten Szenen zu ſetzen waͤ¬
ren, weil ich dabei um meinen apoplektiſchen Kopf
mich ſo viel wie nichts bekuͤmmern wuͤrde.
[135]
Vier und dreiſſigſter oder I. Advents-Sektor.
Ottomar — Kirche — Orgel.
Am andern Morgen war ein Laͤrm im Schloſſe
uͤber eine Sache, die der Doktor Fenk um eine Wo¬
che ſpaͤter durch einen Brief von — Ottomar er¬
fuhr.
— Nie hab' ich einen Sektor oder Sonntag ſo
traurig angefangen als heute: mein vergehender
Koͤrper und der folgende Brief an Fenk haͤngen wie
ein Hutflor an mir. Ich wollt', ich verſtaͤnde den
Brief nicht — ach es waͤre dann eine unvergeßliche
Novemberſtunde nie in mein Leben getreten, die,
nachdem ſo viele andre Stunden bei mir voruͤber¬
gegangen, bei mir ſtehen bleibt und mich immer¬
fort anſieht. — Dunkle Stunde! du ſtreckeſt dei¬
nen Schatten uͤber ganze Jahre aus, du ſtelleſt
dich ſo vor mich, daß ich den phoſphoreſzirenden
Nimbus der Erde hinter dir nicht flimmern und
rauchen ſehen kann, die 80 menſchlichen Jahre ſe¬
hen in deinem Schatten wie der Ruck des Sekun¬
denweiſers aus — ach nimm mir nicht ſo viel! . . .
[136] Ottomar hatte dieſelbe Stunde nach ſeinem Be¬
graͤbniß und beſchreibt ſie dem Doktor ſo:
„Ich bin ſeitdem lebendig begraben worden.
„Ich habe mit dem Tode geredet und er hat mich
verſichert, es gebe weiter nichts als ihn — da ich
aus meinem Sarg heraus war, ſo hat er die gan¬
ze Erde dafuͤr hineingelegt und mein Bisgen Freu¬
de oben darauf. . . . Ach guter Fenk! wie bin
ich veraͤndert! komm nur bald zuruͤck; ſeitdem
ſtehen vor mir alle Stunden wie leere Graͤber
hin, die mich oder meine Freunde auffangen! Ich
hab' es wohl gehoͤrt, wer meine Hand noch ein¬
mal am Sarge gedruͤckt. . . . komm recht bald
Theurer!
Weiſt du nicht mehr, wie ich mich von jeher
vor dem lebendigen Begraͤbniß gefuͤrchtet? mitten
im Einſchlafen fuhr ich oft auf, weil mir einfiel,
ich koͤnnte ohnmaͤchtig und ſo beerdigt werden und
meine aufwollenden Arme triebe der Sargdeckel
nieder. Auf Reiſen drohte ich uͤberall, wo ich
kraͤnklich wurde, ich wollte ſie ihnen, wenn ſie
mich innerhalb 8 Tagen beiſetzten, als Revenant
erſchrecken. Dieſe Furcht war mein Gluͤck: ſonſt
haͤtte mich mein Sarg getoͤdtet.
[137]
Vor Wochen kam meine alte Krankheit wieder
zu mir, das hitzige Fieber. Ich eilte mit ihr nach
meinem Ruheſtatt und mein erſtes Wort zu
meinem Hausverwalter — da ich dich nicht haben
konnte — war, mich ſogleich als ich ohne Leben
waͤre, zu beerdigen, weil die Gewoͤlbluft leichter
erweckt aber nichts zuzuſperren, weder Sarg noch
Erbgruft — die einſame Kirche am Park ſteht oh¬
nehin offen. Auch ſagt' ich ihm, meinen Spitz¬
hund, der nicht von mir bleibt, uͤberall mitzu¬
laſſen. Noch zu Nachts nahm das Fieber zu; aber
beim Blutlaſſen bricht meine Zuruͤckerinnerung ab.
Ich weiß bloß noch, daß ich das Blut mit einigem
Schauder um meinem Arm ſich kruͤmmen ſah; und
daß ich dachte: „das iſt das Menſchenblut, das
uns heilig iſt, das das Kartenhaus und das Spar¬
werk unſers Ichs auskuͤttet und in welchem die
unſichtbaren Raͤder unſers Lebens und unſerer
Triebe gehen.“ Dieſes Blut ſpruͤtzte nachher an
alle Phantaſien meiner Fiebernaͤchte: das einge¬
tauchte Univerſum ſtieg blutroth daraus herauf und
alle Menſchen ſchienen mir an einem langen Ufer ei¬
nen Strom zuſammen zu bluten, der uͤber die Erde hin¬
aus in eine trinkende Tiefe hinab ſprang — Gedanken,
[138] haͤßliche Gedanken ruͤckten vor mir grinzend vor¬
uͤber, die kein Geſunder kennt, keiner nachſchaft,
keiner ertraͤgt, und die bloß liegende Krankenſee¬
len anbellen. Waͤre kein Schoͤpfer: ſo muͤſt' ich
vor den verborgnen Angſt-Saiten erzittern, die
im Menſchen aufgezogen ſind und an denen ein
feindſeliges Weſen reiſſen koͤnnte. Aber nein! du
allguͤtiges Weſen! du haͤltſt deine Hand uͤber un¬
ſre Anlage zur Quaal und legeſt das Erden-Herz,
woruͤber dieſe Saiten aufgewunden ſind, ausein¬
ander, wenn ſie zu heftig beben! . . .
Der Kampf meiner Natur wurde endlich zu
einem ohnmaͤchtigen Schlummer, aus dem ſo vie¬
le bloß erwachen, um unter der Erde zu ſterben.
Darin trug man mich in die iſolierte Kirche! der
Fuͤrſt und mein Spitz waren mit dabei; aber bloß
der erſtere gieng wieder. Ich lag vielleicht die hal¬
be Nacht, bis das Leben durch mich zuckte. Mein
erſter Gedanke riß [der] Seele immer auseinander.
Von ungefaͤhr trat der Hund auf mein Geſicht:
ploͤtzlich ſenkte ſich eine Beklemmung, wie wenn
eine Rieſenhand meine Bruſt boͤge, tief auf mich
herein und ein Sargdeckel ſchien mir wie ein auf¬
gehobnes Rad uͤber mir zu ſtehen . . . Schon die
[139] Beſchreibung ſchmerzt mich, weil die Moͤglichkeit
der Wiederholung mich aͤngſtigt. . . Ich ſtieg aus
der ſechseckigen Brutzelle des zweiten Lebens; der
Tod ſtreckte ſich vor mir weit hin mit ſeinen tau¬
ſend Gliedern, den Koͤpfen und Knochen. Ich
ſchien mir unten im chaotiſchen Abgrund zu ſtehen
und oben weit uͤber mir zog die Erde mit ihren
Lebendigen. Mich eckelte Leben und Tod. Auf das
was neben mir lag, ſo gar auf meine Mutter
ſah ich ſtarr und kalt wie das Auge des Todes,
wenn er ein Leben zerblickt. Ein rundes Eiſengit¬
ter in der Kirchenmauer ſchnitt aus dem ganzen
Himmel nichts heraus als die ſchimmernde zerbroch¬
ne Scheibe des Mondes, der als ein himmliſches
Sarglicht auf den Sarg, der die Erde heißet, her¬
unter hieng. Die oͤde Kirche, dieſer vorige Markt
des redenden Gewimmels, ſtand ausgeſtorben und
unterminiert von Todten da — die langen Kirchen¬
fenſter legten ſich, vom Mond abgeſchattet, uͤber
die Gitterſtuͤhle hinuͤber — an der Sakriſtei richte¬
te ſich das ſchwarze Todten-Kreuz auf, dieſes
Ordenskreuz des Todes — die Degen und Spo¬
ren der Ritter erinnerten an die zerbroͤckelten Glie¬
der, die ſie und ſich nicht mehr bewegten und der
[140] Todtenkranz des Saͤuglings mit falſchen Blumen
hatte den armen Saͤugling hieher begleitet, dem
der Tod die Hand abgebrochen‚ eh' ſie wahre hal¬
ten konnte — ſteinerne Moͤnche und Ritter mach¬
ten das laͤngſt verſtummte Gebet an der Mauer
mit verwitternden Haͤnden nach — nichts lebendi¬
ges redete in der Kirche als der eiſerne Gang des
Perpendikels der Thurmuhr und mir war als hoͤrt'
ich wie die Zeit mit ſchweren Fuͤßen uͤber die Welt
ſchritt und Graͤber austrat als Fußſtapfen. . .
Ich ſetzte mich auf eine Altarſtufe‚ um mich
lag das Mondlicht mit truͤbenden eilenden Wolken¬
ſchatten; mein Geiſt ſtand hoch: ich redete das
ich an‚ das ich noch war: „was biſt du? was
ſitzt hier und erinnert ſich und hat Quaal: — du‚
ich‚ etwas — wo iſt denn das hin‚ das gefaͤrbte
Gewoͤlk‚ das ſeit dreißig Jahren an dieſem Ich
voruͤber zog und das ich Kindheit‚ Jugend‚ Le¬
ben hieß? — mein Ich zog durch dieſen bemahl¬
ten Nebel hindurch — ich kont' ihn aber nicht
erfaſſen — weit von mir ſchien er etwas feſtes, an
mir verſikernde Dufttropfen oder ſogenannte Au¬
genblicke — Leben heißet alſo von einem Augen¬
blick, (dieſem Dunſtkuͤgelchen der Zeit,) in den
[141] andern tropfen. . . . Wenn ich nun waͤre todt ge¬
blieben: ſo waͤr' alſo das, was ich jezt bin, der
Zweck geweſen, weswegen ich fuͤr dieſe lichtervolle
Erde und ſie fuͤr mich gebauet war? — Das waͤ¬
re das Ende der Scenen? — und uͤber dem Ende
hinaus? — Freude vielleicht dort — hier iſt,
keine, weil eine vergangne keine iſt und un¬
ſre Augenblicke verduͤnnen jede gegenwaͤrti¬
ge in tauſend vergangne — Tugend iſt eher
hier: ſie iſt uͤber die Zeit — Unter mir ſchlaͤft
alles; aber ich werd’ es auch thun, und wenn
ich mir noch dreißig Jahre weiß mache, ich lebe,
dann legen ſie mich wieder hieher — die heutige
Nacht koͤmmt' wieder — ich bleibe aber in meinem
Sarg: und dann? . . . wenn ich nun drei Au¬
genblicke haͤtte, einen zur Geburt, einen zum
Leben einen zum Sterben: zu was haͤtt' ich ſie
denn, wuͤrd' ich ſagen? — alles aber, was zwi¬
ſchen der Zukunft und Vergangenheit ſteht, iſt ein
Augenblick — wir haben nur drei.“ . . Groſ¬
ſes Urweſen — fieng ich an und wollte beten — —
du haſt die Ewigkeit, . – . aber unter dem Ge¬
danken an den, der nichts als Gegenwart iſt, er¬
haͤlt ſich kein menſchlicher Geiſt aufrecht, ſondern
[142] beugt ſich an ſeine Erde wieder. — „O ihr abge¬
ſchiedenen Lieben, dacht' ich, ihr waͤret mir nicht
zu groß, erſcheinet mir, hebt das Gefuͤhl der
Nichtigkeit von meinem Herzen ab und zeigt mir
die ewige Bruſt, die ich lieben, die mich waͤrmen
kann.“ Von ungefehr ſah ich meinen armen Hund,
der mich anſchauete; und dieſer ruͤhrte mich mit
ſeinem noch kuͤrzern, noch dumpfern Leben ſo,
daß ich bis zu Thraͤnen weich wurde und mich nach
etwas ſehnte, womit ich ſie vermehrte und ſtillte.
Das war die Orgel uͤber mir. Ich gieng zu
ihr wie zu einer loͤſchenden Quelle hinauf. Und
als ich mit ihren großen Toͤnen die naͤchtliche Kir¬
che und die tauben Todten erſchuͤtterte und als
der alte Staub um mich flog, der auf ihren ſtum¬
men Lippen bisher gelegen war: ſo giengen alle
vergaͤngliche Menſchen, die ich geliebt hatte, nebſt
ihren vergaͤnglichen Scenen voruͤber, du kameſt
und Mailand und das ſtille Land, ich erzaͤhlte ih¬
nen mit Orgeltoͤnen was zu einer bloßen Erzaͤhlung
geworden war, ich liebte ſie alle im Fluge des Le¬
bens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen
ſterben und in ihre Hand meine Seele druͤcken —
aber nur Holztaſten waren unter meiner druͤckenden
[143] Hand — ich ſchlug immer wenigere Toͤne an, die
um mich wie ein ziehender Strudel giengen — end¬
lich legt' ich das Koralbuch auf einen tiefen Ton
und zog die Baͤlge in einem fort, um nicht den ſtum¬
men Zwiſchenraum zwiſchen den Toͤnen auszuſtehen
— ein ſummender Ton ſtroͤmte fort, wie wenn er
hinter den Fluͤgeln der Zeit hergienge, er trug alle
meine Erinnerungen und Hofnungen und in ſeinen
Wellen ſchwamm mein ſchlagendes Herz. . . Von
jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.
Ich verließ meine Auferſtehungsſtaͤtte und ſah
nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo
nichts auferſtand und wo das Leben feſter ſchlief, die
Pyramide ſtand im Mondſchimmer getaucht und mit
mir gieng ein langer Wolkenſchatten. Blaͤtter und
Baͤume kruͤmmte der Herbſt; uͤber die ſtachlichten
Wieſenſtoppeln wiegte ſich die Blume nicht mehr,
die im Maule des Viehs vergieng; die Schnecke ſarg¬
te ſich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und
als am Morgen ſich die Erde mit vollgebluteten flek¬
kigen Wolken gegen die matte Sonne drehte:
ſo fuͤhlt' ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht
mehr hatte, ſondern daß ich ſie auf immer in der
Gruft gelaſſen, und die Menſchen, die ich wieder
[144] fand, ſchienen mir Leichname, die der Todt hergelie¬
hen und die das Leben aufrichtet und ſchiebt, um
mit dieſen Figuren zu agieren in Europa, Aſia, Afri¬
ka und Amerika. . . .
So denk' ich noch: ich werde auch Zeitlebens den
Trauer-Eindruck von dieſer Gewißheit herumtragen,
daß ich ſterben muß. Denn daß weiß ich erſt ſeit 8
Tagen; ob ich mir gleich vorher recht viel auf meine
Empfindſamkeit an Sterbebetten, an Theatern und
Leichenkanzeln einbildete. Das Kind begreift keinen
Todt, jede Minute ſeines ſpielenden Daſeyns ſtellet
ſich mit ihrem Flimmern vor ſein kleines Grab — —
Geſchaͤfts- und Freuden-Menſchen begreifen ihn
eben ſo wenig und es iſt entſetzlich, mit welcher Kaͤl¬
te tauſend Menſchen ſagen koͤnnen, das Leben iſt
kurz. Es iſt entſetzlich, daß man dem betaͤubten
Haufen, deſſen Reden artikuliertes Schnarchen iſt,
das dicke Augenlied nicht aufziehen kann, wenn man
von ihm verlangt, ſehe doch durch deine Paar Le¬
bensjahre hindurch bis ans Bett, worin du erliegſt —
ſehe dich mit der haͤngenden plumpen Todten-Hand,
mit dem bergigen Kranken-Geſicht, mit dem weißen
Marmor-Auge, hoͤre in deine jezige Stunde die zan¬
kenden Phantaſien der letzten Nacht heruͤber — dieſe
große[145] große Nacht; die immer auf dich zuſchreitet und
die jede Stunde eine Stunde zuruͤcklegt und dich
Ephemere, du magſt dich nun im Stral der Abend¬
ſonne oder in dem der Abend-Daͤmmerung herum¬
ſchwingen, gewiß nieder ſchlaͤgt. Aber die zwei
Ewigkeiten thuͤrmen ſich auf beiden Seiten unſrer
Erde in die Hoͤhe und wir kriechen und graben in
unſerem tiefen Holweg fort, dumm, blind, taub,
kaͤuend, zappelnd, ohne einen groͤßern Gang zu
ſehen als den wir mit Kaͤferkoͤpfen in unſern Koth
ackern.
Aber ſeitdem iſts auch mit meinen Planen ein
Ende: man kann hienieden nichts vollenden. Das
Leben iſt mir ſo wenig, daß es faſt das Kleinſte iſt,
was ich fuͤr ein Vaterland hingeben kann: ich
treffe und ſteige bloß mit einem groͤßern oder klei¬
nern Gefolge von Jahren in den Gottesacker ein.
Mit der Freude iſts aber auch vorbei; meine ſtar¬
re Hand, die einmal den Todt wie einen Zitter¬
aal beruͤhrt hat, reibet den bunten Schmetterlings¬
ſtaub zu leicht von ihren vier Fluͤgeln und ich laße
ſie bloß um mich flattern ohne ſie zu greifen.
Bloß Ungluͤck und Arbeit ſind undurchſichtig
genug, daß ſie die Zukunft verbauen; und ihr
2. Theil. K[146] ſollt mir willkommen in meinem Hauſe ſeyn‚ zu¬
mal wenn ihr aus einem andern ausziehet‚ wo
der Miethsherr die Freude lieber hineinhat. — O
euch‚ ihr armen bleichen aus Erdfarben gemach¬
ten Bilder‚ ihr Menſchen‚ lieb' und duld' ich
nun doppelt: denn wer anders als die Liebe zieht
uns durch das Gefuͤhl der Unvergaͤnglichkeit wieder
aus der Todesaſche heraus? Wer ſollt' euch euere
zwei Decembertage, die ihr 80 Jahre nennt, noch
kaͤlter und kuͤrzer machen? ach wir ſind nur zit¬
ternde Schatten! und doch will ein Schatten den
andern zerreißen? —
Jezt begreif' ich warum ein Menſch, ein Koͤ¬
nig in ſeinen alten Tagen ins Kloſter geht: was
will er an einem Hofe oder auf einer Boͤrſe ma¬
chen, wenn die Sinnenwelt vor ihm zuruͤck weicht
und alles ausſieht wie ein ausgeſpannter großer
Flor, indeß bloß die hoͤhere zweite Welt mit ih¬
ren Strahlen in dieſes Schwarz herein haͤngt? ſo
leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Ber¬
gen beſieht, ſein Blau ab und wird ſchwarz, weil
jenes nicht ſeine, ſondern unſrer Athmoſphaͤre Far¬
be iſt: aber die Sonne iſt dann wie ein brennen¬
des Siegel des Lebens in dieſe Nacht gedruͤckt und
flammt fort. . . .
[147]
Ich ſchauete gerade zum Sternenhimmel auf;
aber er erhellet meine Seele nicht mehr wie ſonſt:
ſeine Sonnen und Erden verwittern ja eben ſo wie
die, worein ich zerfalle. Ob eine Minute den Ma¬
den-Zahn, oder ein Jahrtauſend den Haifiſch-
Zahn, an eine Welt ſetze: das iſt einerlei, zer¬
malmt wird ſie doch. Nicht bloß dieſe Erde iſt ei¬
tel, ſondern alles, das neben ihr durch den Him¬
mel flieht und das ſich nur in der Groͤße von ihr
trennt: Und du holde Sonne ſelbſt, die du wie
eine Mutter wenn das Kind gute Nacht nimmt,
uns ſo zaͤrtlich anſieheſt, wenn uns die Erde weg¬
traͤgt und den Vorhang der Nacht um unſre Bet¬
ten zieht, auch du faͤlleſt einmal in deine Nacht
und in dein Bette und brauchſt eine Sonne, um
Strahlen zu haben! —
Es iſt alſo ſonderbar, daß man gar die ſieben
Planeten und ihre Tochterlaͤnder zu ſieben Blu¬
menkuͤbeln macht, in die uns der Tod ſteckt, wie
etwann der Amerikaner nach dem Tode nach Euro¬
pa zu fahren hoft. Die Europaͤer wuͤrden ſeinen
Wahn erwiedern und Amerika fuͤr die Walhalla
der Abgeſchiednen halten, wenn nur unſre zweite
Halbkugel ſtatt 1,000 Meilen, etwann 60,000 wie
K 2[148] die bekannte des Mondes entfernt von uns hienge.
O mein Geiſt begehrt etwas anders als eine aufge¬
waͤrmte neu aufgelegte Erde, eine andre Saͤtti¬
gung als auf irgend einem Koth- oder Feuer-Klum¬
pen des Himmels waͤchſet, ein laͤngeres Leben als
ein zerbroͤckelnder Planet traͤgt; aber ich begreife
nichts davon . . .
Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem
du die eine Locke genommen: ſo lange ich lebe, ſoll
die Seite an der du den Lockenraub begangen,
zum Andenken, was ich war und werde, ohne
Zierde bleiben ꝛc. Ottomar.“
Dichtende Genies ſind in der Jugend die Re¬
negaten und Verfolger des Geſchmacks, ſpaͤter
aber die eifrigſten Proſelyten und Apoſtel deſſelben
und den verzerrenden, mikroſkopiſchen und makroſ¬
kopiſchen Holſpiegel ſchleift das Alter zu einem eb¬
nen ab, der die Natur bloß verdoppelt, indem
er ſie mahlt. So werden die handelnden und
empfindenden Genies aus Feinden der Grund¬
ſaͤtze und aus Stuͤrmern der Tugend groͤßere Freun¬
de von beiden als fehlerloſere Menſchen niemals
werden. Ottomar wird einmal die uͤbertreffen, die
[149] ihn jezt tadeln koͤnnen. Uebrigens werd' ich ihn
im Verfolge dieſer Poly Biographie nicht ſchelmiſch
behandeln ſondern ehrlich, ob ers gleich nicht hoft:
denn vor ſeiner Reiſe, wo ich einigemal in den
heißen Fokus ſeiner Fehler gerieth, zerfielen wir
ein wenig mit einander — ſeitdem glaubt er, ich
haß' ihn von Herzen; allein ich glaube, ich lieb
ihn von Herzen, hab' aber wie hundert andre ei¬
ne beſondre Freude an meiner verheimlichten lei¬
denden Liebe.
[150]
Fuͤnf und dreißigſter oder Andreas Sektor.
Tage der Liebe — Oefels Liebe — Ottomars Schloß und die
Wachsfiguren.
Ich tunke heute ſchon wieder in mein biographi¬
ſches Dintenfaß, weil ich nunmehr mit meinem
Gebaͤude bald an die Gegenwart ſtoße — am H.
Weihnachtsfeſte hoff' ich nach zu ſeyn — ferner
weil heute Andreastag iſt und weil mein Hausherr
unter dem Geſchrei ſeiner Kinder einen Birken¬
baum in die Stube und in einen alten Topf ein¬
geſtellt hat, damit er zu Weihnachten die ſilber¬
nen Fruͤchte trage, die man ihm anbindet. Ueber
ſo etwas vergeſſ' ich Gerichtstage und Termine.
Guſtav wachte am Morgen nach der Liebeser¬
klaͤrung, nicht aus ſeinem Schlafe — denn darein
konnte nach dieſem Koͤnigsſchuß im [Menſchenle¬
ben] nur ein menſchlicher Dachs oder Daͤchſin fal¬
len — ſondern aus ſeinem brauſenden Freuden-
Ohrenklingen auf. Entzuͤckungen zogen im
Ringeltanz um ſein inneres Auge und ſein Bewuſt¬
ſeyn langte kaum zu ſeinem Genießen zu, welcher
[151] Morgen! In einem ſolchen Brautſchmuck trat die
Erde nie vor ihn. Es gefiel ihm alles, ſogar Oe¬
fel, ſogar das Oefelſche Prahlen mit Beatens Lie¬
be. Das Schickſal hatte heute — den Verluſt [ſei¬
ner] Liebe ausgenommen — keine giftige Spitze, kei¬
nen eiternden Splitter, den er nicht gleichguͤltig
in ſeine von der ganzen Seeligkeit bewohnten und
geſpannten Bruſt gelaſſen haͤtte. So erſetzt oft die
hoͤchſte Waͤrme die hoͤchſte Kaͤlte oder Apathie; und
unter der Taͤucherglocke einer heftigen Idee — ſei
es eine fixe oder eine leidenſchaftliche oder eine wiſ¬
ſenſchaftliche — ſtecken wir beſchirmt vor dem gan¬
zen aͤußern Ozean.
Beaten giengs eben ſo. Dieſe ſanfte fortvi¬
brierende Freude war ein zweites Herz, das ihre
Adern fuͤllte, ihre Nerven beſeelte und ihre Wan¬
gen uͤbermahlte. Denn die Liebe ſteht — indeß
andre Leidenſchaften nur wie Erdſtoͤße, wie Blitze
an uns fahren — wie ein ſtiller durchſichtiger Nach¬
ſommertag mit ihrem ganzen Himmel in der See¬
le unverruͤckt. Sie giebt uns einen Vorſchmack von
der Seeligkeit des Dichters, deſſen Bruſt ein ewig
bluͤhendes, toͤnendes, ſchimmerndes Paradies um¬
faͤngt und der hineinſteigen kann, indeß ſein aͤuſ¬
[152] ſerer Koͤrper das Eden und ſich uͤber polniſchen
Koth, hollaͤndiſchen Sumpf und ſiberiſche Step¬
pen traͤgt. —
O ihr Wolluͤſtlinge in Reſidenzſtaͤdten! wo
reicht euch die Gegenwart nur Eine ſolche Mi¬
nute, als hier die Vergangenheit meinem Paa¬
re ganze Tage vorſetzt? euch, deren harte Her¬
zen vom hoͤchſten Feuer der Liebe, wie der De¬
mant vom Brennſpiegel, nur verfluͤchtigt aber
nicht geſchmolzen werden!
Aber wie Abendroth am Himmel ſo herumflieſ¬
ſet, daß es die Wolken des Morgenroths beſaͤumt:
ſo war auf Beatens Wangen neben dem Roth der
Freude auch das der Schaamhaftigkeit — wiewohl
nicht laͤnger als bis ſeine Geſtallt wie ein Engel
[durch] ihren Himmel flog. — Beide ſehnten ſich,
einander zu ſehen; beide fuͤrchteten ſich, von der
Reſidentin geſehen zu werden: die Entdeckung und
noch mehr die Beurtheilung ihrer Empfindungen
haͤtten ſie gern gemieden. Es giebt einen gewiſſen
ſtechenden Blick der weiche Empfindungen (wie der
Sonnenblick das Alpen-Thierchen, Sure) zerſetzt
und umbringt: die ſchoͤnſte Liebe ſchlaͤgt ihre Blu¬
menblaͤtter zuſammen vor dem Gegenſtande ſelbſt
wie ſollte ſie den ſengenden Hofblick ausdauern?
[153]
Mit Einſicht ergreift hier der Biograph dieſe
Gelegenheit, die Ehen der Großen zu loben: denn
ich kann ſie mit den unſchuldigen Blumen verglei¬
chen. Wie Florens bunte Kinder bedecken Große
ihre Liebe mit nichts — wie ſie gatten ſie ſich, oh¬
ne ſich zu kennen oder zu lieben — wie Blumen
ſorgen ſie fuͤr ihre Kinder nicht, — ſondern bruͤten
ihre Nachkommen mit der Theilnahme aus womit's
ein Bruͤtofen in Aegypten thut. Ihre Liebe iſt ſo¬
gar eine dem Fenſter angefrorne Blume, die in
der Waͤrme zerrinnt. Unter allen chymiſchen und
phyſiologiſchen Vereinigungen hat alſo bloß eine
unter Großen das Gute, daß da die Perſonen,
die mit einander aufbrauſen und Ringe wechſeln,
eine entſetzliche Kaͤlte verbreiten: ſo findet man
die naͤmliche Merkwuͤrdigkeit und Kaͤlte bloß bei der
Vereinigung des mineraliſchen Laugenſalzes und
der Salpeterſaͤure und H. de Morveau ſagt aus
Einfalt, es fall' auf. — —
Da ſie ſich ſo ſehr ſehnte, ihren und meinen
Helden zu ſehen: ſo — gieng ſie, um ihren
Wunſch zu verfehlen, einige Tage nach Mauſ¬
ſenbach zu ihrer Mutter. Ich will ihr Schirmvogt
ſeyn und fuͤr ſie reden. Sie thats, weil ſie ihm
[154] niemals anders aufſtoßen wollte als von ungefaͤhr;
bei der Reſidentin aber waͤrs allemal mit Abſicht
geweſen. Sie thats, weil ſie ſich gern ſelber kraͤnk¬
te und wie Sokrates den Becher der Freude erſt
weggoß, eh' ſie ihn anſetzte. Sie thats, weswe¬
gen es ſelten eine thaͤte — um ihrer Mutter um
den Hals zu fallen und ihr alles zu ſagen. Endlich
that ſie es auch; um zu Hauſe das Portrait Gu¬
ſtavs, das der Alte verauktionirt hatte, aufzu¬
ſuchen.
Ich erfuhrs ſchon am Tage ihrer Ruͤckreiſe, da ich
in Mauſſenbach als eine ganze adliche Rota an¬
langte, um eine arme Wirthin weniger zu beſtra¬
fen als zu befragen, weil ſie — wie man in der
Pariſer Oper fuͤr wichtige Rollen die Akteurs dop¬
pelt und dreifach in Bereitſchaft haͤlt — die erheb¬
liche Rolle ihres Ehemannes mit zwoͤlf Leuten aus
der Gegend mit Einſicht beſetzt hatte, damit fort¬
geſpielet wuͤrde ſo oft er ſelber nicht da waͤre. Und
hier wars wo ich abnehmen konnte wie wenig mein
H. Gerichtsprinzipal zum Ehebruch geneigt ſei ſon¬
dern vielmehr zur Tugend: er war ordentlich froh,
daß das ganze Floͤz von eingepfarrten Ehebrechern
gerade vor ſeinem Ufer vorbei kam und daß er das
[155] Werkzeug wurde, womit die Gerechtigkeit dieſe ge¬
heime Geſellſchaft heimſuchte und auswixte.
Daher ſuchte er in der Wirthin wie in Joͤchers Ge¬
lehrtenlexikon mit Luſt nach den Namen wichtiger
Autoren und ſie war ſeinem tugendhaften
Ohr ein Homer, der die verwundeten Helden
ſaͤmtlich beim Namen abſingt: daher ſchenkte er
ihr aus Mitleiden, weil ſie gar nichts hatte, ſei¬
ne Geldſtrafe ganz; aber die ehebrechende Union
und Truppe wurde unter die Stampfmuͤhle und in
die Kelter gebracht, oder ihr Saugwerke und Pum¬
penſtiefel angelegt. —
Alſo in Mauſſenbach beim Preſſen des ehebrechenden
Perſonale erzaͤhlte mir die Gerichtsprinzipalin, was
ihr die Tochter erzaͤhlet — um mich zu bitten, daß
ich als voriger Mentor des Liebhabers das Paar
auseinander lenken ſollte, weil's ihr Mann nicht
litte. Ich konnte ihr nicht ſagen, daß ich uͤber
der Biographie vom Paare und ihrer eignen waͤre
und daß die Liebe das Heftpflaſter und die Suture
ſei, die die ganze Biographie und das Paar ver¬
leimte und ohne die mein ganzes Buch in Stuͤcken
zerfiele, daß ich alſo die Jenaiſchen Rezenſenten
beleidigen wuͤrde, wenn ich ihm ſeine Liebe neh¬
[156] men wollte. — Aber ſo viel konnt' ich ihr ſagen,
es waͤr' unmoͤglich, die Liebe eines ſolchen Paars
ſei feuerfeſt. Ich kam ihr mit meinem Gefuͤhl ein
wenig einfaͤltig vor: denn ſie dachte an ihre eigne
Erfahrung. Ich fuͤgte verſchlagner Weiſe hinzu:
„das Falkenbergiſche Haus hebe ſich ſeit einigen
Jahren und thue huͤbſche Kapitalien aus.“ Sie
antwortete mir bloß darauf: „zum Gluͤck erfahr'
es ihr Mann nie (denn eine Menge Geheimniſſe
ſagte ſie allen Menſchen, aber nicht ihrem Man¬
ne); denn der habe ihrer Beata ſchon eine ganz
andre Partie zugedacht.“ Mehr konnt' ich nicht
erforſchen.
— Aber eine huͤbſche Suppe wird da fuͤr den
Helden nicht bloß ſondern auch fuͤr den Biogra¬
phen eingebrockt: denn letzterer hat am Ende doch
das meiſte wegen der Schilderung heftiger Auftrit¬
te auszubaden und muß an einem ſolchen Sturm-
Sektor eine ganze Woche verhuſten. Ich wills dem
Leſer nur aufrichtig vorausgeſtehen: ein ſolcher
Schwaden und Sturmwind iſt ſchon am vorigen
Freitag uͤber das neue Schloß geſauſet und am
Sonnabend durch Auenthal und meine Stube ge¬
fahren, wo Guſtav zerſtoͤhret zu mir kam und bei
[157] mir Nachricht einzog, ob die Rittmeiſterin von
Falkenberg, die mit ihre Mitteltinten-Katze mei¬
nen erſten Sektor einnimmt und die bekanntlich
Guſtavs Mutter iſt, ob die — ſie wirklich ſei . . . .
Inzwiſchen wird doch muthig fortgeſchritten: denn
ich weiß auch, daß wenn ich meine biographiſche
Arche oder Eskurial ausgebauet und endlich auf
dem Dache mit der Baurede ſitze, ich etwas in
die Buͤcherſchraͤnke geliefert habe, dergleichen die
Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vor¬
uͤbergehende Rezenſenten reizen muß, zu ſagen:
„Tag und Nacht, Sommer und Winter, auch
an Werkeltagen ſollte ein ſolcher Mann ſchreiben:
wer kann aber wiſſen obs keine Dame iſt.“
Jetzt faͤllet alſo auf allen naͤchſten Blaͤttern der
Barometer von einem Grade zum andern, eh' der
gedrohte Sturmwind emporfaͤhrt. Wie Guſtav die
abweſende Beata liebte, erraͤth nur der, der ge¬
fuͤhlt hat, daß die Liebe nie zaͤrtlicher, nie unei¬
gennuͤtziger iſt als waͤhrend der Abweſenheit des Ge¬
genſtandes. Taͤglich gieng er zum Grabe wie zum
heiligen Grabe, an den Geburtsort ſeines Gluͤcks
mit einem wolluͤſtigen Leben aller Fibern; taͤglich
that ers um eine halbe Stunde ſpaͤter, weil
[158] der Mond, das einzige ofne Auge bei ſeiner See¬
len-Vermaͤhlung, taͤglich um eine halbe ſpaͤter
kam. Der Mond war und wird ewig die Sonne
der Liebenden ſein, dieſer ſanfte Dekorationsmaler
ihrer Szenen: er ſchwellet ihre Empfindungen wie
die Meere an und hebt auch in ihren Augen
eine Fluth. — Hr. v. Oefel warf den Blick des
Beobachters auf ihn und ſagte: „die Reſidentin
hat aus Ihnen gemacht, was ich aus dem Fr. v.
Roͤper.“ Hier rechnete er meinen Helden die ganze
Pathognomik der Liebe vor, das Trauern, Schwei¬
gen, zerſtreuet ſeyn, das er an Beaten wahrge¬
nommen und woraus er folgerte, ihr Herz ſei nicht
mehr leer — er ſitze drinnen, merk' er. Mit Oe¬
feln mochte eine umgehen wie ſie wollte, ſo ſchloß
er doch, ſie lieb' ihn ſterblich — gab ſie ſich ſcher¬
zend, erlaubend, zutraulich mit ihn ab, ſo ſagte er
ohnehin „es es iſt nichts gewiſſer, aber ſie ſollte
mehr an ſich halten“ bediente ſie ſich des andern
Extrems, wuͤrdigte ſie ihn keines Blicks, keines
Befehls, hoͤchſtens ihres Spottes und verſagte ſie
ihm ſogar Kleinigkeiten: ſo ſchwor er: „unter
100 Mann woll' er den herausziehen, den eine
liebe: es ſei der, den ſie allein nicht anſehe“ —
[159] ſchlug eine die Mittelſtraße der Gleichguͤltigkeit ein:
ſo bemerkt' er: „die Weiber wuͤßten ſich ſo gut zu
verſtellen, daß ſie nur der Satan oder die Liebe
errathen koͤnnte.“ Es war ihm unmoͤglich, ſo vie¬
le Weiber, die in die Rotunda ſeines Herzens
wollten, darin unterzubringen: daher ſteckt' er
den Ueberſchuß ſo zu ſagen in den Herzbeutel,
worin das Herz auch haͤngt, wie in einen Ver¬
ſchlag hinein — mit andern Worten, er verlegte
den Schauplatz der Liebe vom Herzen aufs Papier
und erfand eine dem Brief- und Papier-Adel aͤhn¬
liche Brief- und Papier-Liebe. Ich habe vie¬
le ſolche chiromantiſche Temperamentsblaͤtter von
ihm in Haͤnden [gehabt], wo er wie Schmetterlinge
bloß auf — poetiſchen Blumen Liebe treibt — gan¬
ze Rotuln von ſolcheln Madrigalen und anakreonti¬
ſchen Gedichten an Damen, die die Madrigale,
nicht die Damen ſo wohl die Suͤßigkeit als die
Kaͤlte der Geleen haben. So iſt der Hr. v. Oefel
und faſt die ganze belletriſtiſche Kompagnie.
Da man nur vor Leuten, vor denen man
nicht roth wird, ſich ſelber lobt, vor gemeinen,
vor Bedienten, Weib und Kindern; und da ers
gegen Guſtav im Punkte der Liebe that: ſo war ſeine
[160] Eitelkeit einer lauteren Rache werth als Guſtav an
ihm nahm: dieſer malte ſich bloß im Stillen vor,
wie gluͤcklich er ſei, daß er, indeß andre ſich
taͤuſchten oder ſich beſtrebten, das Herz einer [Ge¬
liebten] zu haben, zu ſich zuverſichtlich ſagen koͤn¬
ne: „ſie hat dirs geſchenkt.“ Aber dieſe auſſerge¬
richtliche Schenkung dem Nebenbuhler und Both¬
ſchafter zu notifiziren, oder uͤberhaupt jemanden,
das verbot ihm nicht bloß ſeine Lage, ſondern auch
ſein Karakter; nicht einmal mir eroͤfnete er ſie
eher als bis er [mir] ganz andre Dinge zu eroͤfnen
und zu verbergen hatte. — Ich weiß recht gut,
daß dieſe Diſkretion ein Fehler iſt; dem neuere
Romane nicht ungeſchickt entgegen arbeiten; hat
darin ein Romanheld oder Romanſchreiber ein Herz
bei einer Romanheldin erſtanden (und das giebt ſie
ſogleich her als ſaͤß' es vorn wie ein Kropf daran):
ſo zwingt der Held oder Schreiber (die meiſtens ſy¬
nonimiſch ſind) die Heldin das Herz heraus und
hinein zu thun wie der Stockfiſch ſeinen Magen —
ja der Held reiſſet ſelber das Herz aus der verhuͤl¬
lenden Bruſt und weiſet den eroberten Globus uͤber
zwanzig Perſonen, — wie der Operateur ein ge¬
ſchnittenes Gewaͤchs — handhabt den Ball wie eine
Lo¬[161] Lorenzodoſe — fuͤhrt ihn ab wie einen Stockknopf
und verſteckt das fremde Herz ſo wenig wie das eig¬
ne. Ich geſteh es, daß die Zuͤge ſolcher Goͤttin¬
nen aus keinen ſchlechtern Modellen zuſammenge¬
tragen ſeyn koͤnnen als die waren, wornach die
griechiſchen Kuͤnſtler ihre Goͤttinnen oder die roͤmi¬
ſchen Maler ihre Madonnen zuſammen ſchufen,
und man muͤßte wenig Weltkenntniß haben, wenn
man nicht ſaͤhe, daß die Fuͤrſtinnen, Herzogin¬
nen ꝛc. in unſern Romanen ſicher nicht ſo gut ge¬
troffen waͤren, wenn nicht dem Autor an ihrer
ſtatt Stuben- und noch ſchlimmere Maͤdchen geſeſ¬
ſen haͤtten; und ſo, indem ſich der Verfaſſer zum
Herzog und ſein Maͤdchen zur Fuͤrſtin machte, war
der Roman fertig und ſeine Liebe verewigt, wie
die der Spinnen, die man gleichfals im Bernſtein
gepaaret und verewigt antrift. Ich ſage das al¬
les, nicht um meinen Guſtav zu rechtfertigen ſon¬
dern nur zu entſchuldigen: denn dieſe Romanſchrei¬
ber ſollten nur bedenken, daß die angenehme Sit¬
tenrohheit, deren Mangel ich an ihm vergeblich zu
bedecken ſuche, auch bei ihnen fehlen wuͤrde, wenn
ſie ſo wie er mehr durch Erziehung, Umgang, zu
2. Theil. L[162] feines Ehrgefuͤhl und Lekture (z. B. Richardſons)
waͤren verdorben worden.
Ich ſchaͤme mich, daß Guſtav eine ſolche Igno¬
ranz in der Liebe hatte, daß er in einigen der beſten
Romanen nachſehen wollte, ob er jetzt einen Lie¬
besbrief zu ſchreiben haͤtte — daß ihre Abweſenheit
ihn in Sorgen wegen ihrer Geſinnung und in Ver¬
legenheit uͤber ſein Betragen ſetzte. Denn die Staͤr¬
ke der Gefuͤhle macht ſo gut die Zunge arm und
ſchwer als der Mangel derſelben. Zum Gluͤck huͤpf¬
te ihm oft die kleine Laura — nicht im Park, (denn
nichts macht mehr Dinten- und Kaffeekleckſe auf eine
ſchoͤne Haut als die ſchoͤne Natur) ſondern unter vier
Mauern — entgegen und die Schuͤlerin erſetzte die
Lehrerin.
Die groͤßte Diverſion machte ſeinen Grillen der
Koͤrper, von dem in den Vorzimmern ſchon ſo viel
Redens war und der jetzt ſelber hinein gieng —
Ottomar. Sein erſtes Wort zur Reſidentin war,
„ſie ſollte ihm verzeihen, daß er nicht eher in ihrem
Vorzimmer erſchienen waͤre — er waͤre beerdigt wor¬
den und haͤtte nicht eher gekonnt. Aber er waͤre der
erſte, der nach dem Tode ſo bald ins Elyſium (hier
ſah er ſchmeichelhaft an den Landſchaftsſtuͤcken der
[163] Tapeten herum) und zu den Goͤttern kaͤme.” Das
war bloß ſatyriſche Bosheit. Bekanntlich iſts ſchon
ein bewaͤhrter Paragraph in der Aeſthetik aller Ele¬
gants, daß ſie — und iſt mein Bruder in Lyon an¬
ders — den Schmeicheleien, die ſie den Weibern ſa¬
gen muͤſſen, den Ton und die Miene der Aufrichtig¬
keit voͤllig zu benehmen haben, womit die antiken
Stutzer ſonſt ihre Fleuretten verſahen. In dieſe ſa¬
tyriſchen Schmeicheleien kleidete er ſeinen Unmuth
uͤber Weiber und Hoͤfe. Die Weiber brachten ihn
auf, weil ſie — wie er wußte — in der Liebe nichts
ſuchten als die Liebe, indeß der Mann damit noch
hoͤhere, religioͤſe, ehrgeizige Empfindungen zu ver¬
ſchmelzen weiß — weil ihre Regungen nur Eilboten
und jede weibliche Hitze nur eine fliegende waͤre und
weil ſie wenn Chriſtus ſelber vor ihnen dozierte, mit¬
ten aus den groͤßten Ruͤhrungen auf ſeine Weſte und
ſeine Struͤmpfe gucken wuͤrden. Die Hoͤfe erzuͤrnten
ihn durch ihre Gefuͤhlloſigkeit, durch ſeinen Bruder,
durch den Volksdruck, deſſen Anblick ihn mit unuͤber¬
windlichen Schmerzen erfuͤllte. Daher war ſeine
Reiſebeſchreibung anderer Laͤnder eine Satyre ſeines
eignen und wie die franzoͤſiſchen Schriftſteller unter
den Sultanen und Bonzen des Orients einige Zeit
L 2[164] die des Okzidents abmalten und abſtraften: ſo war
in ſeinen Erzaͤhlungen der Suͤden der Lehntraͤger und
Paſquino des Nordens. Die ſanfte Menſchen-Dul¬
dung, die er ſich in ſeinem letzten Briefe vorgeſetzt,
hielt er nicht laͤnger als bis er ihn geſtipt und geſie¬
gelt hatte — oder ſo lang' er ſpatziren gieng — oder
waͤhrend der ſanften Nerven-Herabſchraubung nach
einem Weinrauſch. Auch war ihm wenig daran ge¬
legen, von denen geachtet zu werden, die er ſelber
nicht achtete: mitten unter großen philoſophiſchen,
republikaniſchen Ideen oder Idealen wurden ihm die
Kleinigkeiten der Gegenwart unſichtbar und veraͤcht¬
lich, jetzt zumal wo die kuͤnftige Welt oder die kuͤnf¬
tigen Welten die duͤnne verfinſterte, auf der er nach
jenen hinſah, wie man durch den geſchwaͤrzten Tu¬
bus keinen Gegenſtand erblickt als die Sonne. So
brachte er z. B. fuͤnf groteſke Minuten bei der Reſi¬
dentin damit zu, daß er — da den eigentlichen Koͤr¬
per der Seele nur Gehirn und Ruͤckenmark und Ner¬
ven ausmachen — den vernuͤnftigſten Hofdamen und
den ſchoͤnſten Hofherrn die Haut abſchund in Gedan¬
ken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das we¬
nige Fleiſch und Gedaͤrm was ſie umlag wegdachte,
bis nichts mehr auf der Ottomane ſaß als ein Mark¬
[165] Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben d'ran.
Darauf ließ er dieſe umgekehrten Kloͤppel oder auf¬
gerichteten Schwaͤnze gegen einander anlaufen und
agiren und Fleuretten ſagen, und lachte innerlich
uͤber die geſcheuteſten Leute von Geburt, die er
ſelber ſkalpiert und abgeſchuppet hatte. Das nen¬
nen viele das philoſophiſche Paſquil.
Aus dem neuen Schloß eilt' er ins alte zu Gu¬
ſtav, der ihn zu fliehen ſchien. Aber auf welche
Art er mit Guſtav ſchon laͤngſt bekannt geworden,
wie er ihm den erſten Brief geben koͤnnen, warum
er wie Guſtav (noch jetzt) ſich an einen unbekann¬
ten Ort regelmaͤßig verfuͤgte, warum er von ihm
geflohen wurde, und was ſie mit einander im al¬
ten Schloſſe fuͤr ein dreiſtuͤndiges Geſpraͤch gehalten,
das ſich mit der waͤrmſten Liebe in beiden Herzen
ſchloß — daruͤber deckt ſich noch ein langer Schleier,
den meine Muthmaßungen nicht aufheben koͤnnen;
denn ich habe allerdings verſchiedene, aber ſie klin¬
gen ſo auſſerordentlich, daß ichs nicht wage, ſie
dem Publikum eher vorzulegen als bis ich ſie beſſer
rechtfertigen kann. Jede Ader, jeder Gedanke und
Herz und Auge wurden in Guſtav weiter und ver¬
groͤßerten ſich fuͤr eine neue Welt, da er mit dem
[166] genialiſchen Menſchen ſprach: o was ſind die Stun¬
den der homogenſten Lektuͤre, ſelbſt die Stunden
der einſamen Emporhebung gegen eine Stunde,
wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und
durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Idea¬
le verdoppelt und deine Gedanken verkoͤrpert? —
Guſtav nahm ſich vor, ſich aus dem Schloſſe
zu Ottomar zu entfernen, um es zu vergeſſen,
wer noch weiter drinnen fehle. Es war ein ſtum¬
mer ausgewoͤlkter Abend, ein Schatte nicht des
ſchon weit weggezognen Sommers ſondern des Nach¬
ſommers als Guſtav aufbrach, nachdem er vergeb¬
lich auf die Ruͤckkehr und Geſellſchaft des — Dok¬
tors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die
keine gefiederte Toͤne, keine klopfende Herzen mehr
flogen, zeigte ſich nichts Lebendiges als die ewige
Sonne, die kein Erdenherbſt bleicht und faͤllet und
die ewig offen unſern Erdball immerfort anſieht,
indeß unter ihr tauſend Augen ſich oͤfnen und tau¬
ſend ſich ſchlieſſen. An einem ſolchen Abend ſpringt
der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tra¬
gen. Guſtav kam ſtill im Dorfe an; am Eingange
des Gartens, der das Ottomarſche Schloß halb
umlief, ſtand ein Knabe, der die erhabene Melo¬
[167] die eines erhabenen Lieds *) auf einer Drehorgel
dem Gehoͤr eines Kanarienvogels vordrehte, der ſie
ſingen lernen ſollte. „Ich krieg' ſchon viel, wenn
er's pfeifen kann,“ ſagte der winzige Organiſt. An ei¬
nen Baum gelehnt ſtand Ottomar der weiten Abend¬
roͤthe und dieſen Abendtoͤnen gegenuͤber; die Son¬
ne auſſer ihm gieng, hinter einer bleifarbenen groſ¬
ſen Wolke in ihm, unter. Guſtav mußte, eh' er
ihn erreichte, vor einer dichten Niſche und einem
alten Gaͤrtner darin vorbei, an dem ihn zweierlei
wunderte, daß er ihm erſtlich mit keinem Worte
fuͤr ſeinem Gutenabend dankte und zweitens daß ſo
ein alter vernuͤnftiger Mann ein Kindergaͤrtchen
auf dem Schoße hatte und beſah. Durch die Laube
nahm er an einer Sonnenuhr eine Erhoͤhung
wie ein Kindergrab und einen Regenbogen von
Blumen wahr, der es umbluͤhte und uͤberlaubte:
aus der Erhoͤhung lagen die Kleider eines Kindes ſo
geordnet als waͤr' etwas drinnen und haͤtte ſie an.
Ottomar empfieng ihn mit einer Sanftheit, die
[168] man nur in heftigen Karakteren in ſo unwiderſteh¬
lichem Grade findet, und ſagte mit erhaben-leiſer
Stimme: „er feiere den Todestag aller Jahrszei¬
ten und heute waͤre des Nachſommers ſeiner.“ Sie
kamen, indem ſie ins Schloß giengen, vor dem
Gaͤrtner vorbei und er nahm den Hut nicht ab —
ferner vor dem leeren Kleid auf dem Grab und es
lag noch unter den Blumen und vor dem Klavieri¬
ſten, der noch das Lied ſpielte: Juͤngling, den
Bach der Zeit ꝛc. Da wir das Feierliche nur in
Buͤchern, ſelten im Leben finden: ſo wirkt es im
letztern nachher deſto ſtaͤrker.
Man muß noch merken, daß in Ottomar der
Ausdruck der ſtaͤrkſten Gefuͤhle durch eine gewiſſe
Sanftheit, womit ſein Weltumgang und ſein Al¬
ter ſie brach, unwiderſtehlich in den ſtillen Stru¬
del zog. Er oͤfnete — Kinder waren die Lakaien —
ein Zimmer des dritten Stockwerks. Die [Hauptſa¬
che] waren nicht darin die Gemaͤlde mit ſchwarzen
Gruͤnden und weiſſen Saͤrgen, oder die Worte uͤber
den Saͤrgen: „darin iſt mein Vater, darin meine
Mutter, darin meine Fruͤhlinge,“ — auch der
ſehr große gemalte Sarg nicht, woruͤber ſtand:
„darin liegen ſechs Jahrtauſende mit allen ihren
[169] Menſchen.“ — Sondern das Wichtigſte war das
Ungemalte, wovor ſich Guſtav tief buͤckte; eine
ſchoͤne Frau, die ſich zu einem unſern Guſtav faſt
aͤhnlichen Kinde herabneigte, weil es ihr etwas lei¬
ſe ſagen wollte; ferner buͤckt' er ſich vor einem al¬
ten Offizier in Uniform, der eine zerriſſene Land¬
karte, und vor einem ſchoͤnen jungen Italiener der
ein fliegendes Stammbuch hielt. Das Kind hatte
einen Vergißmeinnicht-Strauß auf der Bruſt, die
Frau und die zwei Maͤnner hatten einen ſchwarzen
Strauß. Aber was noch mehr ihn uͤberraſchte, war
der Doktor Fenk am Fenſter, mit einer Roſe an
der Bruſt. — —
Guſtav eilte ihm zu; aber Ottomar hielt ihn:
„es iſt alles von Wachs,“ ſagt' er nicht mit einem
kalten gegen das Schickſal erbitterten Ton, ſon¬
dern mit einem ergebenen. „Alles was mir in mei¬
nem Leben Liebe und Freude gab, ſteht und bleibt
in dieſem Zimmer — wer geſtorben iſt, dem gab
ich ſchwarze Blumen — bei meinem verlornen Kin¬
de weiß ichs noch nicht, und ſeine Kleider liegen
drauſſen im Garten . . . . O wem Gott Ruhe in
den Buſen ſchickt, daß ſie das nackte Herz umwik¬
kele und ſeine Zuckungen beſaͤnftige, dem iſt ſo
[170] wohl wie denen die er betrauert — er thut ſanft
und feſt ſein Auge auf, wenn ihm das Schickſal
holde Geſtalten zuſchickt, und wenn ſie wieder ge¬
hen und graͤßliche heranfahren, ſo ſchließt ers ru¬
hig wieder zu.“ — —
O Ottomar! das kannſt du nicht, bevor dei¬
ne wogenden Kraͤfte am Alter ſich gebrochen ha¬
ben! mach' immer dein Herz drei Tage lang fuͤr
die Ruhe weit; am vierten zieht es der Krampf
der Freude oder des Schmerzens zuſammen und
druͤckt ſie todt!
Manche Menſchen koͤnnen ohne Schauder keine
Wachsfiguren ſehen: Guſtav gehoͤrte darunter;
er nahm Ottomars Hand, um ſich ans Le¬
ben zu klammern gegen ſo viel Spiele und Nach¬
aͤffungen des Todes . . . Ploͤtzlich laͤrmt etwas durch
das ſtille Schloß . . . die Treppen herauf ins Zim¬
mer hinein . . . an Ottomars Hals hinan . . . .
Fenk wars, der ihn nach der Auferſtehung von
Todten zum erſtenmale umfieng und dem jezt un¬
ter der engen Umarmung keine Entfernung von
dem, zwiſchen welchem und ihm ſich Laͤnder und
Jahre und Todt gelegt hatten, klein genug zu
ſeyn vermochte. Guſtav; noch an der Hand Ot¬
[171] tomars, wurde in den Bund der Liebe mit hin¬
eingeſchlungen, und waͤre der Todt ſelber vorbei¬
gegangen, er haͤtte ſeine kalte Eichel nicht durch
drei eng, ſprachloß und warm verknuͤpfte Herzen
gedraͤngt. — „Rede Ottomar, ſagte der Doktor,
das letztere mal warſt du ſtumm.“ — — Otto¬
mars Ruhe war nun zergangen: „auch die (die
Wachsfiguren) reden ewig nimmer (ſagt' er mit
zergedruͤckter Stimme) — ſie ſind nicht einmal bei
uns — wir ſelber ſind nicht beiſammen — Fleiſch-
und Bein-Gitter ſtehen zwiſchen den Menſchen-
Seelen und doch kann der Menſch waͤhnen, es
gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Git¬
ter zuſammen ſtoßen und hinter ihnen die eine See¬
le die andre nur denkt?“
Alle wurden ſtill — die Abendglocke ſprach uͤber
das ſchweigende Dorf hinuͤber und toͤnte klagend
auf und nieder — Ottomar hatte wieder ſeine er¬
ſchreckliche Vernichtungs-Minute wie er ſie nennt
— er trat zur waͤchſernen Frau und nahm das
ſchwarze Todes-Bouquet und ſteckt' es uͤber ſein
Herz — er beſah ſich und ſeine zwei Freunde und
ſagte kalt und eintoͤnig: „ſo nach leben wir drei
— das iſt das ſogenannte Exiſtieren, was wir jezt
[172] thun — wie ſtill iſts hier, uͤberall, um die gan¬
ze Erde — eine recht ſtumme Nacht ſteht um die
Erde herum und oben bei den Fixſternen wills nicht
einmal lichter werde,“ — — Zum Gluͤck trabte
und waldhornierte der Fuͤrſt und ſeine Jagd-Ge¬
noſſenſchaft durch das Dorf und verſcheuchte die
Nacht aus drei Menſchen: ſo ſehr haͤngen wir
vom Gehoͤr ab, ſo ſehr giebt die aͤußere Welt un¬
ſrer innern Lichter und Farben. — —
Ich habe von allem, was ſie nachher in an¬
dern Zimmern thaten, keine Merkwuͤrdigkeit,
und von allem, was ſie darin ſahen, nur dreie
einzuruͤcken — die, daß Ottomar faſt lauter Kin¬
der zu Bedienten, lauter ganz junges Vieh und
lauter Blumen um ſich hatte: denn heftige Karak¬
tere haͤngen ſich gern ans Sanfte. —
Wuz kommt gerade und ſagt, er haͤtte noch
an keinem Andreastage ſo viel geſchrieben.
[173]
Sechs und dreißigſter oderII. Advents-Sektor.
Kegelſchnitte aus vornehmen Körpern — Geburtstags-Drama
— Rendezvous (oder, wie Kampe ſich ausdrückt, Stell'
dich ein) im Spiegel.
Auf dem Steindamm nach dem neuen Schloſſe
fuͤrchtete Beata ſich, in dieſem ihren Guſtav zu fin¬
den; im Schloſſe ſelber wuͤnſchte ſie das Gegentheil,
ſo bald ſie hoͤrte, er ſei in Ruheſtatt. Ihre Mutter
hatte ihr, indem ſie mit ihr die Regimenter der Ro¬
ben, Maͤntel ꝛc. theils reduzierte theils uͤberkomplet
machte, ſo viel bewieſen, Beata werde von ihrer
eignen Empfindung getaͤuſcht und das Paradies
ihrer unſchuldigſten Liebe ſei nach ihrer muͤtterli¬
chen Empfindung blut ſchlecht und wirklich ein pon¬
tiniſcher Sumpf — die Bluͤthenbaͤume darin ſeien
Giftbaͤume — der Blumenflor beſtehe theils aus gif¬
tigen Kupfer- theils aus falſchen Porzellan-Blumen
— auf den Grasbaͤnken darin ſaͤße man ſich Schnupfen
an und das ſanfte Wiegen des magiſchen Bodens ſei
eine Erd-Erſchuͤtterung. Dieſe Eidesverwarnung
nach dem Eide der Liebe gieng noch an; aber daß
[174] ſie noch Beatens Jugend einwandte — die gewoͤhn¬
lichſte, einfaͤltigſte, unwirkſamſte und am meiſten
aufbringende Einwendung gegen eine lebendige Em¬
pfindung — das begann den kleinen Eindruck ihrer
Wochenpredigt ſchwaͤchen, den die Nutzanwendung
gar wegloͤſchte: daß ihr Vater ihr ſchon den Gegen¬
ſtand ihrer Liebe halb und halb gewaͤhlt. . . Meine
Gerichtsprinzipalin war recht geſcheut; aber, mei¬
nem Gerichtsprinzipal zu Liebe, auch oft recht ein¬
faͤltig.
Beata brachte alſo dem Guſtav ein durch dieſes
Mazerieren aͤußerſt weiches und zaͤrtliches Herz uͤber
den Steindamm mit — und er kam auch mit einem
ſolchen wunden an, um das kein Blaͤttgen eines
Kallus mehr hieng: Ottomars ſalomoniſche Predig¬
ten uͤber und gegen das Leben hatten (wie die muͤt¬
terlichen) ſeine Puls- und Blutadern mit einer un¬
endlichen Sehnſucht gefuͤllet, die armen zerfallenden
Menſchen zu lieben und mit ſeinen zwei Armen, eh
ſie auf die Erde fielen, das ſchoͤnſte Herz an ſich zu
ziehen und zu preſſen, eh' es unter die Erdſchollen
niederſaͤnke. Die Liebe heftet ihre Schmarotzerpflan¬
zen-Wurzeln an alle andre Empfindungen.
[175]
Es war Zeit, das ſie kamen, des H. von Oefels
wegen. Denn am Hofe vermißte man ſie, wie uͤber¬
haupt jeden, gar wenig. Ein ruſſiſcher Fuͤrſt von
* * * — ein Mulatte und Deponens von Hofmann
und Vieh, deſſen ſichtbare Extremen ſich in die un¬
ſichtbaren Extremen von Kultur und Wildheit endig¬
ten — war ſamt einem Rudel von Franzoſen und
Italienern da geweſen, die ſaͤmmtlich wie ihr Alt¬
meiſter die fuͤr die große Welt alltaͤgliche Sonderbar¬
keit hatten, daß ſie — nicht ganz waren — fuͤr
einen Weltmann iſt heut zu Tage nichts ſchwerer als
aus ſeinem Koͤrper nicht das zu machen, was ich jezt
aus meiner Biographie mache — einen Sektor oder
Ausſchnitt. In der That ſah dieſe fragmentariſche
Diviſion wie eine Kompagnie Kruͤpel aus, die zu ei¬
nem Wunderthaͤter reiſet. Der meiſten Glieder, die
wir bei der Auferſtehung nicht wieder kriegen, z. B.
Haare, Magen, Fleiſch, H. und noch andre *) —
[176] daher freilich der große Konnor leicht verfechten
kann, ein auferſtandner Chriſt falle nicht groͤßer aus
wie eine Stechfliege — ſolcher Glieder hatte ſich die
amputirte Junto ſchon vor der Auferſtehung entla¬
den oder doch viel davon weg gethan.
Ich hab' oft daruͤber nachgedacht, warum thuns
die Großen und machen ſich zu Kleinen im phyſiſchen
Sinn; aber ich war zu dumm, andre Gruͤnde zu er¬
rathen als folgende: der Sitz des Zorns (wofuͤr nach
Winkelmann die Griechen die menſchliche Naſe hiel¬
ten) kann nicht bald genug ausgerottet werden, weil
weder ein Hofmann noch ein Chriſt Zorn beweiſen
ſoll. — Zweitens: die kleinen Koͤrper bekommen ſo
viel Witz wie bucklichte: aus den dicken Faͤſſern un¬
ſerer Vorfahren zieht man geſchickt den Spiritus
auf kleine Koͤrper-Bouteillen und ſolche Einſchnitte
und optiſche Verkuͤrzungen und Kuren des Leibes
machen unfaͤhig, etwas anders zu werden als witzig
oder hoͤchſtens ſtupid: ſo kann eine Floͤte, in die
Riſſe kamen, keine andre Toͤne von ſich geben als
ſeine und hohe. Witz wird aber bekanntlich in
der großen Welt wenn nicht mehr, doch eben ſo viel
geſchaͤtzt wie Unmoralitat. — Drittens: wie die al¬
ten Patriarchen darum ein langes Leben bekamen,
um[177] um die Erde zu bevoͤlkern, ſo haben ſich viele Kos¬
mopoliten in der naͤmlichen Abſicht ein kurzes
vorgenommen und gern das Leben von andern
Menſchen mit einem Kurzius-Sturz in den toͤdtli¬
chen Schlund erkauft. Es iſt aber noch die Frage,
obs wahr iſt. — Die vierte Urſache kenn' ich aus
geheimen myſtiſchen Geſellſchaften, wo eben jene
Menſchen-Segmente ſie kennen lernten. Heutiges
Tages muß jede Seele von — Stand desorgani¬
ſirt und entkoͤrpert werden. Hier hat man
nun nicht mehr als zwei ganz verſchiedne Opera¬
tionen. Die kuͤrzeſte und ſchlechteſte meines Er¬
achtens iſt die, daß ſich der Menſch — aufhenkt
und daß ſo die Seele den Koͤrper von ſich wie eine
Warze abbindet. Ich wuͤrde keinen Großen des¬
halb tadeln wenn ich nicht wuͤſte, daß er die weit
beſſere und ſanftere Operation vor ſich habe, wo¬
durch er ſeinen Leib gleichſam als die Form wor¬
ein die geiſtige Statue gegoſſen iſt, bloß gliedweiſe
abloͤſen kann. Ich will hier nicht in den Fehler
der Kuͤrze ſondern lieber in den entgegengeſetzten
fallen. Alſo: der Koͤrper iſt nach Philoſophen, die
auch eine Seele haben, bloß ein Werkzeug, ihre
oder unſre auszubilden und ſie an die Entbehrung
2. Theil. M[173] dieſes Werkzeugs zu gewoͤhnen. Die Seele muß
alle Faͤden, die ſie an den Klumpen ſchnuͤren,
nach und nach zerfreſſen und abbeißen. Er iſt ihr
das, was den Kindern, die ſchwimmen lernen,
der korkene Kuͤras *) iſt: taͤglich muß ſie dieſen
Kuͤras zu verkleinern ſuchen, um endlich ohne ihn
zu ſchwimmen. Der philoſophiſche Mann von Welt
und das Mitglied geheimer desorganiſieren¬
der Unionen ſchaft alſo von dieſem Schwimm-Pan¬
zer anfangs nur das Fleiſch an Beinen und Bak¬
kenknochen bei Seite. Das iſt noch wenig. Dar¬
auf brennt er durch Gluͤhfeuer Gehirn, Ner¬
ven und anders Zeug weg, weil ſie das Kuͤchen¬
feuer aushielten. Die Haare oder das menſchliche
Rauchwerk bringt jeder ohne Muͤhe weg. Der
wichtichſte Schritt bei dieſer Kuͤras-Sektion iſt
der, daß man ohne das Barbiermeſſer des Origi¬
nes ſo viel bewerkſtellige — nur ſanfter — wie er.
Iſt das vorbei: ſo hat man zu jener voͤlligen Er¬
toͤdtung nicht mehr weit, wo der ganze Kuͤras
[179] rein herunter iſt und wo die Seele im Meere des
Seins endlich ſchwimmen gelernt hat, ohne von
ihrem Schwimmkleid nur ſo viel als man zum
Bruchieren einer Bouteille bedarf, noch um ſich
zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenig¬
ſtens traͤgt man in geheimen Geſellſchaften von
Ton die menſchliche Entkoͤrperung vor.
Dieſe zerbrochne Geſellſchaft deckte unſern und
jeden Hof ſo ſchoͤn wie zerbrochne Porzellan-Ge¬
faͤße hollaͤndiſche Beete; zweitens hatte ſie die
hoͤflichſte Art von der Welt, grob zu ſeyn. Waͤre
unter dieſen Leuten ein gewiſſes je ne ſais quoi
nicht der Unterſchied zwiſchen Laune und Grobheit,
zwiſchen Feinheit und Beleidigung: ſo fehlte er.
Ich ſagte oben, es war Zeit daß unſer Paar
ankam, des H. v. Oefels wegen. Denn das Ge¬
burtsfeſt der Reſidentin ruͤckte heran, gleichwohl
hatte noch kein Menſch eine Seite von ſeiner Rol¬
le memoriert. Die Leſer haben noch eben ſo wenig
vom Geburtstags-Drama im Kopfe als die Spie¬
ler; Daher ſoll ihnen hier ein duͤnner Abſud die¬
ſer Oefelſchen Pflanze vorgeſetzt werden.
M 1[180]
Dekokt aus dem Geburtstags-Drama.
„In einem franzoͤſiſchen Dorfe waren zwei
Schweſtern ſo gut, daß jede verdiente, das Ro¬
ſenmaͤdchen zu werden, und ſo uneigennuͤtzig,
daß jede wollte, die andre wuͤrd' es. Ma¬
rie hieß die eine und Jeanne die andre. Am Tage
vor der Austheilung der Preismedaille von Roſen
ſtritten ſie ſich daruͤber, wer ſie — ausſchlagen
ſollte: denn ſie wuſten von recht guter Hand,
daß blos auf eine von ihnen die Roſenkro¬
ne fallen wuͤrde. Jeanne — von der Miniſterin
geſpielt — wiſchte durch den ſchoͤnen Einfall unter
der Laubkrone hinweg, daß ſie ihren Liebhaber
Perrin — Oefel ſtellte den vor — oͤfter und oͤf¬
fentlicher um ſich hatte als eine Roſen-Kompeten¬
tin ſoll. Marie (die Rolle von Beata) konnte alſo
die Kroͤnung nicht von ſich wie es ſchien abwen¬
den; indeſſen bat ſie ihren Bruder Henri (Guſtav
wars,) der ſie beſonders liebte und der ſeit ſeiner
Kindheit aus ihrem Hauſe durch ſeine Reiſen weg¬
geweſen, dieſen bat ſie um Sieg in dieſem unei¬
gennuͤtzigen Wettſtreite. Er ſuchte ſie zum entge¬
gengeſetzten Siege zu bereden; endlich aber, da
[181] er die Unerbittlichkeit ihrer ſchweſterlichen Liebe ſo
gewiß ſah, verſprach er, fuͤr eine rechte Beloh¬
nung ihr die ihrige zu erſpahren. „Aber du muſt
noch groͤßere Liebe fuͤr mich haben“ ſagt' er
— „die ſchweſterliche“ ſagte ſie — „eine noch ſtaͤr¬
kere“ ſagte er — „die freundſchaftlichſte“ ſagte ſie
— „eine noch viel ſtaͤrkere“ ſagt' er — „weiter
giebts keine groͤßere“ ſagte ſie — „o doch! ich bin
ja dein Bruder nicht“ ſagt' er und fiel mit liebe¬
trunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein
Papier, das ſie aus ihrem bisherigen Irrthum
zog und ſie dafuͤr in eine kleine Freuden-Ohnmacht
ſtuͤrzte. Sie erſchienen alle vier vor dem Guts¬
herrn und Kranz-Kollator (der Fuͤrſt ſpielte dieſe
Rolle ſogar auf dem — Theater) und jede kam ſei¬
ner Wahl durch eine Bitte und Lobrede fuͤr ihre
Schweſter und durch feine Invektiven auf ſich ſel¬
ber zuvor. Der kokettirende Wicht Perrin quaͤſtio¬
nierte: ſollte die Liebe andre Roſen brauchen als
ihre eigne? — Marie gab eine fliegende Schilde¬
rung von den Vorzuͤgen, denen eine ſolche Be¬
kroͤnung gebuͤhre und die zum Theil feine Zuͤge aus
Bouſens Bilde waren. Der Gutsherr ſagte: dieſe
ſchweſterliche Unpartheilichkeit, die ſo ſehr zu be¬
[182] wundern ſei wie die Verdienſte, die ſie zu beloh¬
nen ſuche, verdienen zwei Roſenkronen, eine um
belohnt zu werden, und eine um ſelber zu beloh¬
nen; (niemand, fiel der ſcheinbar den Damen und
wirklich dem Fuͤrſten ſchmeichelnde Oefel ein, theilt
Kronen ſchoͤner aus als wer ſie ſelber traͤgt;) und
ſie wuͤrden ſich von ihm in nichts als in der Un¬
partheilichkeit und Schoͤnheit unterſcheiden,
wenn ſie an ſeiner ſtatt vielleicht wie er waͤhlten,
wem der Roſenkranz — eh der Schmetterling von
ihm floͤge — einer von Brillanten war mit einer
Zitternadel in die groͤſte Roſe geſteckt — aufzuſetzen
ſei. . . . „Unſerer Roſen-Koͤnigin!“ riefen die
Schweſtern und brachten den Kranz der Reſiden¬
tin hin.“
So weit das Drama. Oefel war nichts lieber
und gluͤcklicher als die ſchmeichelnde Folie des an¬
dern. Uebrigens ſah ſein Stuͤck wie eine Idylle
von Fontenelle aus. Die Phantaſie, die den von
der Kultur duͤnn geſchlifnen Leuten gefallen will,
muß ſchimmern, aber nicht brennen, muß das
Herz kitzeln, aber nicht bewegen; die Aeſte einer
ſolchen Phantaſie werden nicht von ſchweren ge¬
draͤngten Fruͤchten ſondern von Schneelaſt
[183] nieder gebogen. An ſolchen Hof-Poeten und an
Ohrwuͤrmern ſind die Fluͤgel gleichſam unſicht¬
bar und winzig, aber beide finden leichter die We¬
ge zum Ohr. An engliſchen Gedichten iſt nichts;
hingegen die meiſten franzoͤſiſchen riechen nicht nach
der Studier- und Spaarlampe, ſondern eher nach
parfuͤmierten Strumpfbaͤndern, Handſchuhen u. ſ.
w. und je weniger ſie haben was den Menſchen
intereſſiert, deſto mehr haben ſie was den Welt¬
mann reizt, weil ſie nicht mehr die Natur und
Himmel und Hoͤlle ſondern ein Paar Viſitenzim¬
mer abmahlen und ſo nicht ungeſchickt in immer
engere Windungen des Schneckenhauſes ſich zuruͤck¬
draͤngen.
Oefel war zugleich Theater-Dichter, Akteur
und Rollen-Schreiber. Er zog aus dem Drama
die Rolle Beatens heraus, die er mit den feinſten
Anſpielungen auf ihr gegenſeitiges Liebesverſtaͤnd¬
niß (dacht' er,) oder auf ihr einſeitiges (denk' ich)
in die Welt geſetzet hatte. Die zaͤrtlichſten Winke
hatt' er in den Stellen wo er mit Beata zuſam¬
men ſpielte, hinein verſteckt. Er zog deswegen
unter manche feine Liebeserklaͤrung und Empfin¬
dung bei dem Abſchreiben eine exegetiſche Linie und
[184]bezifferte verſtaͤndig ſeinen Generalbaß:
„uͤber tauſendmal wird die Schalkhafte das uͤberle¬
ſen“ ſagt' er zu ſich.
Darauf uͤberreichte er ihr bald nach ihrer An¬
kunft ihre Rolle mit weit mehr ſcheuer Ehrfurcht
als er ſelber wuſte, zum Ungluͤck fuͤr unſern guten
dramatiſierenden Haaſen fiel Beata in zwei Fehler
auf einmal aus einer Urſache. Die Urſache war
bloß, der Amor hatte in ihrem Herzen ſein Labora¬
torium aufgerichtet und hatte ſeine chimiſchen Oe¬
fen und alles hineingeſetzt: daraus muſte ihr er¬
ſter Fehler entſtehen, daß ſie ſchoͤner ausſah als
ſonſt ohne dieſe Waͤrme (denn jede Empfindung
und jede innere Streitigkeit nahm auf ihrem Ge¬
ſicht die Geſtallt eines Reizes an;) von der Liebe
kam auch ihr zweiter Verſtoß, daß ſie ſich gegen
Oefel heute weit zutraulicher und freimuͤthiger be¬
trug als ſonſt: denn ein liebendes Maͤdgen hat
von allen uͤbrigen Gegenſtaͤnden (d. h. von ſeinen
eignen Empfindungen fuͤr ſie) nichts mehr zu be¬
fahren. H. v. Oefel aber addierte auf ſeiner Re¬
chenhaut ein ganz andres Facit heraus; er nahm
alles fuͤr Freude, daß er nun wieder — zu haben
ſei. Er gieng folglich mit einem Herzen fort, daß
[185] der Amor ſo mit lilliputiſchen Pfeilen voll geſchoſ¬
ſen hatte wie ein Naͤhkuͤſſen mit Nadeln.
Er ſagte noch in jenem Tage, „iſt das Herz
einer Frau einmal ſo weit, ſo braucht man nichts
zu thun als daß man ſie thun laͤſſet.“ Das war
ihm herzlich lieb: denn es erſparte ihm die —
Bedenklichkeit, ſie zu verfuͤhren. So oft er Love¬
lacens oder des Chevaliers. *) Briefe las: ſo
wuͤnſchte er, ſein einfaͤltiges Gewiſſen ließ' ihm zu,
ein ganz unſchuldiges widerſtrebendes Maͤdgen nach
einem feinen Plane zu verfuͤhren. Aber ſein Ge¬
wiſſen nahm keine Vernunft an und er muſte ſein
ganzes Kaper-Vergnuͤgen auf die Verfuͤhrung ſol¬
cher unſchuldigen Perſonen, die er in ſeinem Ko¬
pfe oder in ſeinem Roman agieren ließ, einſchraͤn¬
ken: ſo ſehr herrſchet im ſchwachen Menſchen die
Empfindung uͤber die Entſchließungen der Vernunft,
ſogar in philoſophiſchen Damen. Mithin blieben
der Weiberkenntniß Oefels ſtatt der Fangeiſen fuͤr
die Unſchuld nur die fuͤr die Schuld zu legen uͤbrig
und das einzige wo er noch mit Ruhm arbeiten
konnte war das, der Verfuͤhrer von Verfuͤhrerin¬
nen zu ſeyn.
[186]
Man erlaube mir, eine ſcharfſinnige Bemer¬
kung zu machen. Der Unterſchied zwiſchen Love¬
lace und dem Chevalier iſt der moraliſche Un¬
terſchied zwiſchen den Nationen und Jahrzehenden
von beiden. Der Chevalier iſt mit einer ſolchen
philoſophiſchen Kaͤlte ein Teufel, daß er bloß un¬
ter die Klopſtockiſchen Teufel gehoͤrt, die nie zu
bekehren ſind. Lovelace hingegen iſt ein ganz an¬
derer Mann, bloß ein eitler Alzibiades, der durch
einen Staats- oder Ehe-Poſten halb zu beſſern waͤ¬
re. Sogar dann wo ſeine Unerbittlichkeit gegen
die bittende, kaͤmpfende, weinende, knieende
Unſchuld ihn mehr den Modellen aus der Hoͤlle zu
naͤhern ſcheint: mildert er ſeine gleiſſende Schwaͤr¬
ze durch einen Kunſtgrif, der ſeinem Gewiſſen ei¬
nige und dem Genie des Dichters die groͤſte Ehre
macht und welcher der iſt, — daß er, um ſeine
Unerbittlichkeit zu beſchoͤnigen, den wirklichen Ge¬
genſtand des Mitleidens, die knieende ꝛc. Klariſſe,
fuͤr ein theatraliſches, maleriſches Kunſtwerk an¬
ſieht und um nicht geruͤhrt zu werden, nur die
Schoͤnheit, nicht die Bitterkeit ihrer Thraͤnen,
nur die mahleriſche, nicht die jammernde Stellung
bemerken will. Auf dieſem Wege kann man ſich
[187] gegen alles verhaͤrten; Daher ſchoͤne Geiſter, Mah¬
ler und ihre Kenner bloß oft darum fuͤr das wirk¬
liche Ungluͤck keine oder zu viele Thraͤnen haben,
weil ſie es fuͤr artiſtiſches halten.
Ich muß aber ſchneller zum Geburtstage der
Reſidentin eilen, deſſen Folgen Guſtav vielleicht
im laͤngſten Leben nicht vergeſſen wird.
Er brachte mit dem groͤßten Vergnuͤgen ſeine
Rolle im Drama, wovon noch viel wird geſpro¬
chen werden, ſeinem Gedaͤchtniß bei und wuͤnſchte
nichts als er koͤnnte ſie noch nicht auswendig —
Beata macht' es auch mit der ihrigen ſo: der
Grund war, ihre Rollen waren auf dem Theater
an einander gerichtet, mithin waren's jetzt ihre
Gedanken auch; und fuͤr die ſcheue Beata war's
beſonders ſuͤß, daß ſie zarte Gedanken der Liebe
fuͤr ihn, die ſie kaum zu haben und nicht zu aͤuſ¬
ſern wagte, mit gutem Gewiſſen memoriren konn¬
te. Um nicht immer an ihn zu denken, zerſtreue¬
te ſie ſich oft durch das Geſchaͤft des Auswendigler¬
nens der beſagten Rolle. Gute Seele! ſuche dich
immer zu taͤuſchen; es iſt beſſer es zu wollen als
gar nichts darnach zu fragen! — Ihr Adoptiv-
Bruder konnte bisher durchaus kein Mittel finden,
[188] ihr zu begegnen; die Reſidentin hatte ihn und [die¬
ſes] Mittel uͤber den ruſſiſchen Sektor und Torſo
vergeſſen; er ſelber hatte nicht Zudringlichkeit ge¬
nug, noch weniger den Anſtand, der ſie ſchoͤn und
pikant macht — bis ihm Hr. v. Oefel mit einer fei¬
nen Miene ſagte, die Reſidentin woll' ihm einige
Gemaͤlde, die der Knaͤſe dagelaſſen, zu ſehen ge¬
ben. „Ich wollt' ohnehin ſchon lange das Kopiren
im Kabinet anfangen,“ ſagt' er und taͤuſchte we¬
niger jenen als ſich. Ueber ſeine erroͤthende Ver¬
wirrung ſagte Oefel zu ſich; „ich weiß alles, mein
lieber Menſch!“
Endlich fuͤhrte ein ſchoͤner Vormittag die zwei
Seelen, die ſich leichter als ihre Koͤrper fanden,
bei der Reſidentin zuſammen. Das Tageslicht, die
bisherige Trennung, die neue Lage und die Liebe
machten an beiden alle Reize neu, alle Zuͤge ſchoͤ¬
ner und ihren Genuß groͤßer als ihre Erwartungen
— aber ſchauet euch weder zu viel noch zu wenig an,
man blickt auf euer Anblicken! Oder thuts: einer
Bouſe verbirgſt du es doch nicht, Guſtav, daß dein
Auge, das der Scharfſinn nicht zuſammenzieht ſon¬
dern die Liebe aufſchlieſſet, immer bloß in dem be¬
nachbarten Gegenſtaͤnden ſich aufhaͤlt, um ein Streif¬
[189] licht vou ihr wegzufangen — es hilft auch dir nichts
Beata, daß du es mehr wie ſonſt vermeideſt, ihm
nahe zu ſtehen und ihn zu veranlaſſen, daß ſeine
Stimme und ſeine Wangen ſeine Verraͤther werden!
Es half dir wie du ſelber ſaheſt nichts, daß
du der Wiederholung des idolo del mio cuo¬
re bei ſeiner Ankunft auszuweichen ſuchteſt: denn
bat ihn nicht die Reſidentin, deiner Stimme auf
dem Klaviere mit den Fingern nachzuflieſſen und ſei¬
nen innern Freuden-Sturm durch den Schimmer
des Auges und durch den Druck der Taſten und durch
die Suͤnden gegen den Takt zu offenbaren? — Die¬
jenigen meiner Leſer, die die Reſidentin friſiert oder
bedient oder geſprochen oder gar geliebt haben, koͤn¬
nen mir es gegen andre Leſer bezeugen, daß ſie unter
anderen Kaminverzierungen ihres Toilettenzimmers
— weil die Großen nichts als Zierrathen eſſen, be¬
wohnen, anziehen, beſitzen und beſchlafen ꝛc. moͤgen
— auch Schweizerſzenen waren und unter dieſen ei¬
ne tragantene Kopie des Eremitenberges: auf die¬
ſen Freuden-Olymp ſtiegen vor den Augen Guſtavs
der Beata ihre nicht mehr, ſo oft ſie auch vorher
ihn beſchienen hatten — endlich befeuchteten ſich auch
beider Augen, wenn Amandus Name beide durch¬
[190] toͤnte, mit einer ſuͤßern lebhaftern Ruͤhrung als
die uͤber einen Dahingegangnen iſt. — — Kurz ſie
wuͤrden ſich wie alle Liebende weniger verrathen ha¬
ben, wenn ſie ſich weniger verborgen haͤtten. Die
Reſidentin ſchien heute was ſie allemal ſchien: ſie
hatte eine ſtille, denkende, nicht leidenſchaft¬
liche Verſtellung in ihrer Gewalt und auf ihrem
Geſicht ſah man nicht die falſchen Minen die auf¬
richtigen erſt verjagen. — Das ſchoͤnſte Gemaͤlde
aus dem Nachlaſſe des Ruſſen war nicht zu Hauſe
ſondern unter dem Kopierpapier des Fuͤrſten. —
So ſtumm und doch ſo nahe muß er ihr gegen¬
uͤber bleiben; nur mit drei Worten, nur mit ei¬
nem Druck der ziehenden Hand wenn er ſeine von
Empfindungen elektriſirte Seele zu entladen wuͤßte!
— Warum wollen alle unſere Empfindungen aus
unſerem Herzen in ein fremdes hinuͤber? — Und
warum hat das Diktionaire des Schmerzens ſo vie¬
le Alphabete und das der Entzuͤckung und der Lie¬
be ſo wenige Blaͤtter? — Bloß eine Thraͤne, eine
druͤckende Hand und eine Singſtimme gab der Welt-
Genius der Liebe und der Entzuͤckung und ſagte: „re¬
det damit!“ — Aber hatte Guſtavs Liebe eine
Zunge, als er (bei einem Abwenden der Reſiden¬
[191] tin auf 7 Sekunden) im Spiegel, dem er am Kla¬
vier gegenuͤber ſaß, mit ſeinen duͤrſtenden Augen
das darin flatternde Bild ſeiner theuren Saͤngerin
kuͤßte — und als das Bild ihn anſah — und als
das bloͤde Bild vor dem Feuerſtrom ſeines Auges
das Augenlied niederſchlug — und als er ſich ploͤtz¬
lich nach dem nahen Original des wegblickenden
Farben-Schattens umdrehte und ſitzend in das ge¬
ſenkte Auge der ſtehenden Freundin mit ſeiner Lie¬
be eindrang und als er in einem Augenblick, den
alle Sprachen nicht malen, ſich nicht einmal in
Eine, nicht einmal in Einen Laut ergieſſen durf¬
te? — Denn es giebt Augenblicke wo der tief aus
der fremden Seele emporgehobne Schatz wieder zu¬
ruͤck ſinkt und im Innerſten verſchwindet wenn man
redet — ja wo das zarte, bewegliche, ſchwimmen¬
de, brennende Gemaͤlde der ganzen Seele ſich kaum
in oder unter dem tranſparenten Auge wie das
zerſtiebende Paſtelgebilde unter dem Glaſe be¬
ſchuͤtzt . . . .
Deswegen wars meiner Einſicht nach recht wol
gethan, daß er zu Hauſe ſofort einen Liebesbrief
verfaßte. Durch einen ſolchen Aſſekuranzbrief des
Herzens verbriefte der Biograph von jeher ſeine Liebe
[192] im eigentlichen Sinne. Aber als ihn Guſtav fertig
hatte, wußt' er nicht wie er zu inſinuiren ſei,
auf welcher Penny-Poſt. Er trug ihn ſo lange
herum bis er ihn nicht mehr gefiel — dann ſchrieb
er einen neuen beſſern und trug ihn wieder ſo lan¬
ge bei ſich bis er den beſten ſchrieb, den ich im
naͤchſten Sektor hereinſchreiben will. Bei dieſer Ge¬
legenheit kuͤndige ich dem Publikum auf Oſtern mei¬
nen „expediten und allzeitfertigen Liebesbrief-Stel¬
ler,” den alle Eltern ihren Kindern beſcheeren
ſollten.
Apropos! Der Pelz-Kourierſtiefel und der Be¬
ſchlag mit Senf und die Eis-Krone haben gluͤcklich
mein Blut in die Fuͤße gefuͤllet und dem Kopfe
nicht mehr davon gelaſſen als er haben muß, um
fuͤr ein deutſches Publikum anmuthige Ab- oder
Ausſchnitte aufzuſetzen.
Sie¬[193]
Sieben u. dreißigſter oder h. Weihnachts-Sekt.
Liebesbrief — Comédie — Souper — bal paré — zwei gefähr¬
liche Mitternachtsſzenen — Nutzanwendung.
Ich habe in dieſer froͤhlichen Zeit keinen recht, froͤh¬
lichen Sinn: vielleicht weil mein auseinander wol¬
lender Koͤrper ſo wenig wie eine Laͤngen- und See¬
uhr richtig geht — vielleicht liegt mir auch der In¬
halt dieſes Sektors im Kopfe — vielleicht geht auch,
beim Anblick der allgemeinen Kinderfreude, das
Blut zwiſchen dem Wintergruͤn und Herbſtflor jener
Erinnerung ſo traurig fort, wie es ſonſt war, wie
die Freuden des Menſchen dahinrollen, wie ſie ih¬
re Entfernung von uns durch einen aus fernen
Ufern heruͤberblinkenden Widerſchein bezeichnen und
wie unſre laͤngſten Tage uns ſelten ſo viel geben
als dem Kind der kuͤrzeſte oder die Chriſtnacht im
Genieſſen oder Hoffen giebt. — —
Von Guſtavs herzlichem Brief haͤtt” ich vor 14
Tagen nicht ſo leichtſinnig reden ſollen als ich that.
Er war ſo:
2. Theil. N[194]
„Eh' ich dieſes ſchrieb, giengen Sie unaus¬
ſprechlich Theuere, mit Lauren den Park hinauf,
um die ermattende Sonne, die zwiſchen zwei groſ¬
ſen Wollen herabſchien, noch ein wenig zu genieſ¬
ſen; zu Ihren Seiten flogen Wolkenſchatten da¬
hin, aber mit Ihnen gieng der Sonnenſchein. Ich
dankte dem Laube, daß es zu Ihren Fuͤßen lag
und mir Sie nicht verdecken konnte; aber ich haͤt¬
te alle dornichte Blaͤtter von der Stechpalme pfluͤk¬
ken wollen, hinter denen Sie verſchwanden und
von mir giengen. „O koͤnnt' ich ihr — dacht' ich
„— den herbſtlichen Weg mit jungen Blumen und
„Schmetterlingen beſtreuen, koͤnnt' ich ſie mit Bluͤ¬
„then und Nachtigallen umzingeln und vor ihr die
„Berge und die Waͤlder mit dem Fruͤhling uͤberdek¬
„ken: ach! wenn ſie dann vor Freude bebte und
„mich anſehen und mir danken muͤßte . . .“ Aber
dieſe Bluͤthen, dieſe Nachtigallen, dieſen Fruͤh¬
ling haben Sie mir gegeben, Sie haben uͤber mein
Leben einen ewigen Mai geſandt und aus einem
Menſchen-Auge Freudenthraͤnen gepreſſet — allein
was vermag ich zu geben? — Ach Beata, was
hab' ich Ihnen zu geben fuͤr dieſes ganze Elyſium,
womit Sie das ſchwarze Erdreich meines Lebens
[195] durchwinden und uͤberbluͤmen, und fuͤr Ihr gan¬
zes, ganzes Herz? — — Meines — — das hat¬
ten Sie ja ſchon ohnedas und weiter hab' ich nichts;
fuͤr alle ſchoͤne Stunden, fuͤr alle Ihre Reize fuͤr
alle Ihre Liebe, fuͤr alles was Sie geben, hab'
ich nichts als nur dieſes treue, gluͤckliche, warme
Herz . . . .
Ja, ich habe nur dieſes; aber wenn der goͤtt¬
liche Funke der hoͤchſten Liebe im Menſchen-Herzen
gluͤhen kann, ſo ruht er in meinem und brennt
fuͤr die, die ich nur lieben aber nicht belohnen
kann. — Du hoͤherer Funke wirſt in meinem Her¬
zen fuͤr ſie fortglimmen, wenn es Thraͤnen uͤber¬
ſchwemmen, oder Ungluͤck zuſammendruͤckt, oder
der Tod einaͤſchert . . . . Beata! auf der Erde
kann kein Menſch dem andern ſagen, wie er ihn
liebe: die Freundſchaft und die Liebe gehen mit
verſchloſſenen Lippen uͤber dieſe Kugel und der in¬
nere Menſch hat keine Zunge — ach wenn der
Menſch drauſſen im ewigen Tempel, der ſich bis
an die Unendlichkeit hinaufwoͤlbt, mitten im Krei¬
ſe von ſingenden Choͤren, heiligen Staͤtten, op¬
fernden Altaͤren, vor einem betaͤubt niederfallen
und beten will: o ſo ſinkt er ja ſo gut wie ſeine
N 2[196] Thraͤne zu Boden und redet nicht! — Aber
die gute Seele weiß wer ſie liebt und ſchweigt, ſie
uͤberſieht das ſtille Auge nicht, das ſie begleitet,
ſie vergiſſet das Herz nicht, das ſtaͤrker klopft und
doch nicht reden kann und den Seufzer nicht, der
ſich verbergen will. — Aber, Beata, doch! — wenn
einmal dieſes Auge und dieſes Herz ihr Schweigen
geendigt, wenn ſie in der ſeligſten Stunde mit al¬
len Kraͤften der liebenden Natur zur geliebten See¬
le haben ſagen duͤrfen „ich liebe dich:“ ſo iſts hart
und ſchwer, wieder ſtumm zu werden, es thut ſo
wehe, das emporgehobne flammende draͤngende
Herz wieder in eine enge kalte Bruſt zuruͤckzudruͤk¬
ken — dann will im Innerſten die ſtille Freude in
ſtillen Kummer zerrinnen und ſchimmert traurig in
dieſen, wie der Mond in den Regenbogen, den
die Nacht aufrichtet . . . . Beata! ich kann keine
Bitten haben und keine wagen; ich kann mir das
Eden malen, das mir Beatens Blicke und Worte
geben koͤnnen, aber ich darf es nicht begehren;
ich muß ans Ufer des Silberſchattens, der uns ſchon
im Traum und jetzt wie ein breiter Strom im Le¬
ben ſcheidet, mich mit allen meinen Wuͤnſchen hef¬
ten: aber, Theuere, wenn ichs nicht zuweilen
[197] hoͤre, wem das koſtbarſte Herz ſich geſchenket hat,
wie ſoll ich den Muth behalten, es zu glauben?
— Wenn ich dieſes holde Herz unter ſo viel guten
und erhoͤhten Menſchen erblicke und dann zu mir
ſagen muß, ach ihr alle verdient es nicht:
ſo ſinkt ein freudiges Staunen auf mich, daß es
meiner Seele ſich gegeben und ich glaub' es kaum.
Geliebte! tauſend waren Deiner wuͤrdiger; aber
keiner waͤre durch Dich gluͤcklicher geworden als ich
es bin!“
Das Schwerſte war jetzt den Brief unter an¬
dern Fluͤgeln als denen einer Brieftaube — Venus
hieng, wie ich von guter Hand weiß, einen Poſt¬
zug Brieftauben ihrer Gondel vor — an Ort und
Stelle zu ſchaffen. Zu ſo etwas ſah er keine Moͤg¬
lichkeit, weil er unter allen Moͤglichkeiten ſolche
am ſchwerſten ſieht. — Meine Schweſter ſieht ſol¬
che am leichteſten.
— Es gab ſich alles in der Komoͤdienprobe.
Ordentliche Komoͤdien werden naͤmlich nicht wie
ihre Schweſtern, die politiſchen, aufgefuͤhrt ohne
probiert zu ſeyn. Ich will gern zwiſchen der Ko¬
moͤdienprobe und der Komoͤdie einen ſo ſchmalen
[198] papiernen Zwiſchenraum als moͤglich laſſen; aber
der Leſer muß ſeines Orts auch behend zublaͤttern
und nicht die Haͤnde in den Schooß legen, ſondern
das Buch. Die Probe war im alten Schloſſe —
Oefel machte ſeine Sache gut genug — Beata noch
beſſer — und Guſtav am aller — ſchlechteſten. Denn
die Geſichter des Fuͤrſten und der Ohnmaͤch¬
tigen ſetzten wie Salpeterſaͤure und Salz ſein Herz
faſt zu einem Eiskegel um: vor manchen Menſchen
iſt man ſchlaff und unfaͤhig, enthuſiaſtiſche Geſin¬
nungen zu haben. — Sonderbar! die ſeinigen,
aber nicht Beatens ihre wurden von dieſer durchs
Theater ſtreichenden Nordluft erkaͤltet. Es iſt aber
gar nicht ſonderbar: denn die Liebe wirft den
Juͤngling aus ſeinem Ich heraus unter andre Ichs,
das Maͤdchen aber aus fremden in das ihrige hin¬
ein. Kaum oder wenig nahm Beata die Approchen
des regierenden Akteurs oder agirenden Regenten
wahr, — Oefel aber ſahs und dachte ſeinem Siege
uͤber den hohen Nebenbuhler nach, — welcher ſich
ihr in einer nicht ſehr großen Spirallinie naͤher dreh¬
te, wie er an Hofdamen gewohnt war, die nur
in der Jugend ihre Tugend à la minutta weggeben,
im Alter hingegen einen groͤßern Handel damit i[n]
[199]groſſo treiben. Ich ſagte eben etwas von einer Spi¬
rallinie, weil ich einen Einfall im Kopfe hatte,
der ſo heiſſet: daß Weiber von Welt und die Son¬
ne, die Planeten unter dem Schein, ſie in einem
Kreiſe um ihre Stralen herum zu lenken, in der
That in einer feinen Spirallinie zu ihrer bren¬
nenden Oberflaͤche heranreiſſen.
Mitten im Probe-Drama, gerade als Guſtav
oder Henri der Marie das leere Papier als ein Di¬
plom hinreichte, das ihre Verwandſchaft fuͤr null
erklaͤrte, fiel ihm das als Henri ein was einem an¬
dern laͤngſt als Guſtav eingefallen waͤre, daß auf
dem leeren Papier etwas koͤnnte geſchrieben ſtehen
und zwar das beſte Etwas, ſein Liebesbrief, den
wir ſchon laͤngſt geleſen haben. Kurz er nahm ſich
vor, ſeinen Brief in der Geſtalt jenes Diploms ihr
im Drama zuzuſtecken, wenns nicht anders zu ma¬
chen waͤre. Sogar das Romantiſche ſeine theatra¬
liſche Rolle in ſeine wirkliche hinein zu ziehen und
ſo vielen Zuſchauern eine andre Illuſion zu machen
als eine poetiſche, hielt ihn nicht ab ſondern trieb
ihn an. Ich will es nur geſtehen, lieber Guſtav —
und fiele mein Geſtaͤndniß ſelber in deine Haͤnde, —
auf deine himmliſche Beſcheidenheit war der Honig¬
[200] thau des Beifalls, den du an einem ſolchen Orte
nicht einmal fuͤr Schmeichelei ſondern bloß fuͤr eine
Facon zu reden berechtigt wareſt anzuſehen, zer¬
ſtoͤrend gefallen! Unter allen Dingen iſt menſchliche
Beſcheidenheit am leichteſten todtgeraͤuchert oder
todtgeſchwefelt und manches Lob iſt ſo ſchaͤdlich wie
eine Verlaͤumdung; im Narrenhauſe ſehen wir,
daß der Menſch andern aufs Wort glaubt, er ſei
naͤrriſch *), und in Pallaͤſten ſehen wir, daß er
ihnen aufs Wort glaubt, er ſei weiſe. — Ueber¬
haupt war Guſtav — denn ein Mann iſt oft an ei¬
nem Abend beſtimmt, nicht nur lauter ſchlechte
Spiele hinter einander zu machen, ſondern auch
oft lauter unbedachtſame Streiche — am Komoͤdien¬
abend faſt zum letztern auserſehen.
. . . . Endlich iſt [Bouſens] Geburtsfeſt da . . . .
Armer Guſtav! — Noch heute tragen deine Au¬
gen die Spuren davon!
[201]
Das Feſt zerſpaͤllt ſich in drei Gaͤnge — Comé¬
die — Souper — und bal paré. Im Grunde iſt
noch ein vierter Gang: ein Verbrechen.
Am Tage des Drama leerte ſich das neue
Schloß in das fuͤrſtliche zu Oberſcheerau aus. Gu¬
ſtav dachte unterwegs (im Wagen Oefels) an ſei¬
nen Brief, den er uͤbergeben wollte; und an den
guten Doktor Fenk ein wenig; aber die abgekuͤrz¬
ten Tage gaben ihm zu Beſuchen keine Muße. Sein
Fehler war, daß die Gegenwart vor ihm allemal
wie ein Waſſerfall alle ferne Laute uͤberrauſchte —
er waͤre vielleicht nicht einmal zu mir gekommen,
wenn mich mein beſchwerter juriſtiſcher Arbeitstiſch
in die Stadt gelaſſen haͤtte.
Er ſah ſeine Marie — zehnmal hunderttauſend
neue Reitze . . . . ich will aber uͤber mich herrſchen:
ſo viel iſt pſychologiſch wahr, daß ein bekanntes
Maͤdchen uns an einem fremden Orte auch fremd,
aber nur deſto ſchoͤner wird. Dieſes hatte ſie mit
der ſtralenden Reſidentin gemein, aber ein gewiſ¬
ſer Hauch von beſcheidner Furchtſamkeit verſchoͤner¬
te Beaten mit ſeinem Schleier allein. Warum war
Guſtav dieſesmal von ihr verſchieden? Darum: die
maͤnnliche Bloͤdigkeit liegt bloß in der Erziehung
[202] und in Verhaͤltniſſen; die weibliche tief in der
Natur — der Mann hat innerlichen Muth und
bloß oft aͤuſſerliche Unbehuͤlflichkeit; die Frau hat
dieſe nicht und iſt dennoch ſcheu — jener druͤckt ſei¬
ne Ehrfurcht durch Hinzutreten, dieſe durch Zu¬
ruͤckweichen aus.
Die Ohnmaͤchtige heute ausgenommen! Ihr
Winken und Blinken, ihr Liſpeln und Zappeln,
ihr Witzeln und Kuͤtzeln, ihr Fuͤrchten und Wa¬
gen, ihr Kokettiren und Perſifliren — wie ſoll das
der einbeinige Jean Paul biographiſch kopiren in ge¬
meiner ſchlechter Proſe? — Gleichwohl iſt gar
an nichts anders zu denken und er muß. Wenn
die bunten Koͤpfe der Weiber im großen Garten
der Natur die kouleurten blauen, rothen Glas¬
kugeln auf lackirten Stativen vorzuſtellen haͤtten
(welches unter hundert Maͤnnern nicht einer
glaubt): ſo wuͤrd' ich in meiner Schilderung ſo
fortfahren: der Miniſterin ihrer war nicht uͤbel,
ſondern bunt. Dieſer Kopf war ein kurzer prag¬
matiſcher Auszug aus zehn andern Koͤpfen, die
naͤmlich Haar, Zaͤhne, Federn dazu zuſammen¬
ſchoſſen.
[203]
Sie war eine Antike von großer Schoͤnheit, die
aber nach den Verwuͤſtungen der Jahre und Men¬
ſchen nicht mehr unbeſchaͤdigt zu haben war: ſie
muſte alſo durch geſchickte Bildhauer mit neuen
Gliedern — z. B. Buſen, Zaͤhnen — ergaͤnzet
werden.
Auf den Wangen war die Legierung mit
Roth, die tiefere Nachbarſchaft wurde mit
Weis*) legiert.
Diejenigen Zaͤhne, die den Menſchen in die
Reihe der graßfreſſenden Thiere ſetzen, die Schnei¬
dezaͤhne, waren um ſo mehr ſo weis wie Elfenbein,
weil ſie ſelber welches waren und waren aus dem
Munde eines graßfreſſenden Thieres — ich mag
nun darunter einen Elephanten oder einen gemei¬
nen Mann verſtehen, der die Zaͤhne, die er als
Ableger einem edlern Stamm einimpfet, ſelten in
etwas anders als Vegetabilien ſetzet: ſo iſt doch
ſo viel gewiß daß kein andrer Nachſatz dieſes Perio¬
dens herpaſſet als der; ſie hatte noch einmal ſo
viel Zaͤhne als andre Chriſtinnen, und zwei Gold¬
faͤden dazu, weil der Dentiſt die einen allemal im
[204] Hauſe und unter der Buͤrſte hatte, waͤhrend die
andern die Dental-Buchſtaben ausſprachen.
Da man nach den neueſten Lehrbuͤchern die
Trigonometrie und die Buſen bloß in ebene und
ſphaͤriſche eintheilen kann: und da ſie ganz die
ſcheinbare Wahl vor ſich hatte: ſo zog ihr me߬
kuͤnſtlicher Geiſt diejenigen Groͤßen, die dem Wei¬
ſen die meiſte Anſtrengung und das meiſte Vergnuͤ¬
gen geben, vor — die ſphaͤriſchen.
Der Anzug ſelber ſuchte, von den Schuhro¬
ſetten bis zu den Hutroſetten, ſeinen Werth in
der Form weit weniger als in der Materie, und
konnte mithin mit dem Auge weniger als auf Ju¬
velier-Wagen geſchaͤtzet werden, nach
Schoͤnheitslinien als nach Karaths — es blieb alſo
zwiſchen ihr und ihrer geſetzgebenden Puppe immer
ein Unterſchied: uͤbrigens muſte ſie ſich nach dieſer
ſo gut wie jede andre tragen. Ich will nur ein
Wort zu ſeiner Zeit uͤber die Puppen ſagen.
Das Wort uͤber die Puppen.
Dieſe Hoͤlzer haben bekanntlich die geſetzgeben¬
de Macht uͤber den ſchoͤnern Theil der weiblichen
[205] Welt in Haͤnden; denn ſie ſind die Legaten und
Vicekoͤniginnen, welche aus Paris von der im Putz
regierenden Linie abgeſchickt werden, damit ſie die
weiblichen deutſchen Kreiſe regieren — und dieſe
hoͤlzernen Plenipotentiare ſenden wieder ihre Koͤpfe
(Haubenkoͤpfe) als miſſi regii weiter herunter, da¬
mit dieſe die gemeinern Honoratiorinnen beherr¬
ſchen. Koͤnnen dieſe regierenden Haͤupter von Holz
nicht ſelber kommen: ſo ſchicken ſie — wie lebende
Fuͤrſten im geheimen Rathe ihre Stelle durch ihr
Portrait verſehen laſſen — ihre Geſetze und ih¬
re Bildniſſe in Schmaußens corpus aller Reichs¬
abſchiede der Mode, welches corpus wir alle unter
dem Namen Modejournal in Haͤnden haben.
Bei ſolchen Umſtaͤnden — da ein Holz dem andern
in die Haͤnde arbeitet, aber uneigennuͤtziger als
ganze Kollegien, da ferner jaͤhrlich neue wie die
Prokonſuls gewaͤhlet werden — wunder’ ich mich
nicht, daß es mit dem Regimentsweſen an den
Toiletten gut beſtellet iſt, daß das ganze weibliche
gemeine Weſen, das Maͤnner nicht beherrſchen
koͤnnen, von den in Basgeigenfutteralen geſchick¬
ten Wahlregentinnen, die in dieſer Ariſtokratie
von Petersburg bis nach Liſſabon ſtehen und lenken,
[206] vortreflich in Ordnung und unter Geſetzen erhalten
wird. — —
Ich bin der Mann nicht, dem man es erſt zu
ſagen braucht, daß die Puppen auch die hoͤlzerne
uͤberkleideten Statuen ſind, die man verdienten
Frauen (in Ruͤckſicht des Anzugs) ſetzet — ich bin
vielmehr uͤberzeugt, daß dieſe oͤffentlichen Denk¬
maͤler, die man dem ankleidenden Verdienſte er¬
richtet, ſchon recht viele zur Nacheiferung ange¬
friſchet haben und hoffentlich noch mehrere anfri¬
ſchen werden, da ein großer Mann ſelten ſo viel
Gutes wirkt als ſeine Statue; aber ein Haupt¬
punkt ohne den alles hinkt, iſt offenbar der, daß
ſie zu — ſehen ſeyn muͤſſen. Ohne den geb ich
keinen Deut fuͤr alles. Was Sokrates an der Phi¬
loſophie that, moͤcht' ich an den beſten Puppen
thun und ſie vom Himmel der Großen auf die Er¬
de des Poͤbels ziehen. Ich meine, daß, wenn man
die Marienbilder oder auch ſelber Apoſtel und
Heilige, die man in katholiſchen Kirchen bisher
ohne den geringſten Nutzen und Geſchmack aus und
anzog, vernuͤnftiger und zweckmaͤßiger ankleidete,
naͤmlich ſo wie die franzoͤſiſchen Puppen — wenn
die Kirche ſich allemal jedes Monat des Modejour¬
[207] nals kommen ließe und nach deſſen kouleurten
Vorbildern die Marien und Apoſtel (als Herrn)
umkleidete und um die Altaͤre ſtellte: ſo wuͤrden
dieſe Leute mit mehr Luſt nachgeahmet und
verehret werden und man wuͤſte doch weswegen
man in die Kirche gienge und was ſie gerade in
Paris oder Verſailles anhaben, — man wuͤrde die
Moden zu rechter Zeit erfahren und ſelbſt der Poͤ¬
bel wuͤrde etwas Vernuͤnftigeres umthun, die Apo¬
ſtel wuͤrden die Fluͤgelmaͤnner des Anzugs und die
Marie die wahre Himmels-Koͤnigin der Weiber
werden. So muͤſſen kirchliche Vorurtheile zu
Staats-Vortheilen genuͤtzet werden; ſo wendete
der Dominikaner-Moͤnch Rocco in Neapel (nach
Muͤnter) die Narrheit, am Altar der Maria
auf der Straße Lampen zu brennen, zur Vermeh¬
rung dieſer Gaſſen-Altaͤre und zur — Straßen-Er¬
leuchtung an.
Ende des Worts uͤber die Puppen.
Ich bin dem Leſer noch die Urſache ſchuldig
aus der die Miniſterin ſich zur Jeannen-Rolle
draͤngte — es war weil ihre Rolle ihr einen kuͤr¬
zern Rock erlaubte, — oder mit andern Worten,
[208] weil ſie alsdann ihre lilliputiſchen Grazien-Fuͤße
leichter ſpielen laſſen konnte. An ihrer Schoͤnheit
waren ſie das einzige Unſterbliche, wie am Achil¬
les das einzige Sterbliche; in der That haͤtten ſie,
wie des Dammhirſchgen ſeine, zu Tabacksſtopfern
getaugt.
Wie viel beſſer nahm ſich Oefel aus! der iſt
ein Narr gerade zu, aber in gehoͤrigem Maße.
Die Reſidentin uͤberholte ſie in jeder Biegung des
Arms, den ein Mahler, und in jeder Hebung
des Fußes, den eine Goͤttin zu bewegen ſchien: ſo¬
gar im Auflegen des Roths, woran die Bouſe ih¬
re Wangen bei einer Fuͤrſtin angewoͤhnen muſte,
weil dieſe von allen ihren Hofdamen dieſe fluͤchtige
Karnation zu fodern pflegte — ihr Roth beſtreifte
ſie wie der Wiederſchein eines rothen Sonnen¬
ſchirms nur mit einer leiſen Mitteltinte. . . . . In
Ruͤckſicht der Schoͤnheit unterſchied ſich der ihrige
von der miniſterialiſchen wie die Tugend von der
Heuchelei. . .
Das Drama wurde von den fuͤnf Akteurs nicht
im Opernhaus, ſondern in einem Saale des Schloſ¬
ſes, der die Kroͤnung der Reſidentin beguͤnſtigte,
in die Welt geboren. Ich war nicht dabei; aber
man[209] man hinterbrachte mir alles: die gute Marie hat¬
te zu viele Empfindung, um ſie zu zeigen; ſie
fuͤhlte, daß ſie die Wiederholung ihres Schickſals
dramatiſiere und ſie beſaß zu viele von den guten
Grundzuͤgen des weiblichen Karakters, um ſie vor
ſo vielen Augen zu entbloͤßen. Ihre beſte Rolle
ſpielte ſie alſo innerlich. Henri ſpielte außer der
innerlichen auch die aͤußerliche gut, aus der naͤm¬
lichen Urſache. Außer der Muſik iſolierte und hob
ihn gerade die Menge, die ihn umſaß, aus der
Menge; und das Feierliche gab ſeinen innern Wel¬
len die Staͤrke und Hoͤhe, um die aͤußern zu uͤber¬
waͤltigen. Der Brief, den er uͤberreichen wollte,
verwirrte ſeine Rolle mit ſeiner Geſchichte, die ich
ſchreibe; und das falſche Lob, das die Miniſterin
ſeiner neulichen Proberolle aus eben der unuͤber¬
zeugten Affektation gegeben hatte, woraus ſie die
ihrige uͤberſpannte, half ihm wahres erndten. —
Der bloͤdeſte Menſch iſt wenn viel Phantaſie unter
ſeinen Thaten glimmt, der Herzhafteſte wenn ſie
emporlodert. —
Es waͤre laͤcherlich, wenn mein Lob von der
Waͤrme ſeines Spiels bis zur Feinheit deſſelben
gienge; aber die Zuſchauer vergaben ihm gern,
2. Theil. D[210] weil die Armuth an letzterer *) ſich mit dem Reich¬
thum an erſterer verband, um ſie in die Illuſion
zu ziehen, er ſei von — Lande und blos Henri. —
Dieſes Feuer gehoͤrte dazu, um ihr an der
Stelle, wo er ihr die Bruͤderſchaft aufkuͤndigt,
den wahren Liebesbrief zu geben — ſie faltete ihn
zufolge ihrer Rolle auf — unendlich ſchoͤn hatt' er
die ſein ganzes Leben umſchlingende Worte geſagt:
„o doch, ich bin ja dein Bruder nicht“ — ſie blick¬
te auf ſeinen Namen darin — ſie errieth es ſchon
halb aus der Art der Uebergabe (denn ſicher man¬
quierte noch kein Maͤdgen einer maͤnnlichen Liſt,
die ſie zu vollenden hatte) — aber es war ihr un¬
moͤglich, in eine verſtellte Ohnmacht zu fallen —
denn eine wahre befiel ſie — die Ohnmacht uͤber¬
ſchritt die Rolle ein wenig — Guſtav hielt alles
fuͤr Spaß, die Miniſterin auch und beneidete ihr
die Gabe der Taͤuſchung — Henri weckte ſie blos
mit Mitteln, die ihm ſein Rollen-Papier vor¬
ſchrieb, wieder auf und ſie ſpielte in einer Ver¬
wirrung, die der Kampf aller Empfindungen, der
[211] Liebe, der Beſtuͤrzung und der Anſtrengung ge¬
bar, und in einer andern als theatraliſchen Ver¬
ſchoͤnerung bis zu Ende Henri's Geliebte, um nicht
Guſtavs ſeine zu ſpielen. Nach dem Spiele mußte
ſie allen uͤbrigen Parthien des heutigen Abends
entſagen und in einem Zimmer, das ihr der Fuͤrſt
ſo wie der Doktor mit vielem empreſſement auf¬
drang, Ruhe fuͤr ihre oſzillierenden Nerven und
im Briefe Unruhe fuͤr ihren ſchlagenden Buſen ſu¬
chen. Ich hebe Theure, den Vorhang immer hoͤ¬
her auf, der damals noch das verhuͤlte, was jezt
deinen Nerven und deiner Bruſt die Ruhe nimmt!
Guſtav ſah nichts; an der Tafel, woran er
ſie vermiſte, hatt' er nicht den Muth ſeine frem¬
den Nachbarinnen um ſie zu fragen. Andre Din¬
ge fragt' er kuͤhner heute; nicht bloß der heutige
Beifall war eine Eiſen- und Stahlkur fuͤr ſeinen
Muth geweſen, ſondern auch der Wein, den er
nicht trank ſondern aß an den naͤrriſchen Olla Po¬
trida's der Großen. Dieſes gegeſſene Getraͤnk feuer¬
te ihn an, die Bonmots wirklich zu offenbaren,
die er ſich ſonſt nur innerlich ſagte. Und hier be¬
zeug' ich oͤffentlich, daß es mich noch bis auf dieſe
Minute kraͤnkt, daß ich ſonſt bei meinem Eintritt
O 2[212] in die große Welt ein aͤhnlicher Narr war und
Dinge dachte, die ich haͤtte ſagen ſollen — beſon¬
ders bereu ich das, daß ich zu einer Tranchée-Ma¬
jorin, die ihr kleines Maͤdgen an der Hand und
eine Roſe, aus deren Mitte eine kleine geſproſſet
war am Buſen hatte, nicht ho geſagt habe:
Vous voila und daß ich nicht auf die Roſe gewieſen,
ob ich gleich das ganze Bonmot ſchon fertig gegoſ¬
ſen im Kopfe liegen hatte. Ich fuͤhrte nachher die
Saillie lange im Kopfe herum und paßte auf, brenn¬
te ſie aber zuletzt noch auf eine recht dumme Wei¬
ſe loß.
Da eine Winterlandſchaft mit einem kuͤnſtli¬
chen Reife, der in der Waͤrme des Zimmers zer¬
floß und einen belaubten Fruͤhling aufdeckte, un¬
ter den Schaugerichten, den optiſchen Prunk-Ge¬
richten der Großen, mit ſtand: ſo hatte Guſtav
einen huͤbſchen Einfall daruͤber, den man mir
nicht mehr ſagen konnte. Gleichwohl ob er gleich
[unter] dem ſchoͤnſten Deckenſtuͤcke und auf dem nied¬
lichſten Stuhle aß: ſo nahm er doch, als ein blo¬
ßer Hof-Incipient, an allem Antheil was er ſag¬
te und an jedem, mit dem er ſprach; dir war
noch, du Seeliger, keine Wahrheit und kein
[213] Menſch gleichguͤltig. Aber er ſteht dir noch bevor,
jener herbe Uebergang von Haß und Liebe zur
Gleichguͤltigkeit, den alle auszuſtehen haben, die
mit vielen Menſchen oder Saͤtzen fuͤr die ſie kalt
bleiben muͤſſen, ſich abgeben!
Die Reſidentin zog ſeine ſcheuen Talente heu¬
te mehr als ſonſt ans Licht und beſchoͤnigte den
Antheil, den ſie an ihm nahm, mit ſeinen thea¬
traliſchen Verdienſten um ſie. — Endlich fieng das
dritte Schauſpiel an, worin mehrere als in den
zwei andern glaͤnzen konnten; denn es wurde nur
mit den Fuͤßen agiert — der Ball kam. Tanzen
iſt der weiblichen Welt das, was das Spielen der
Großen iſt — eine ſchoͤne Vakanzzeit der Zungen,
die oft unbeholfen oft gefaͤhrlich ſind. Fuͤr einen
Kopf wie den Guſtaviſchen, der ſo viele Beſtuͤr¬
mungen ſeiner Sinne heute zum erſtenmale erfuhr
war ein Tanzſaal eine Baumanns-Hoͤhle, ein
neues Jeruſalem. — In der That ein Tanzſaal
iſt etwas; ſehet in den wo Guſtav ſpringt: jedes
Saiten- und Blaßinſtrument wird zum Hebebaum,
der die Herzen aus dem kargen mißtrauiſchen All¬
tagsleben aufhebt — — die Taͤnze mengen die
Menſchen wie Karten in- und auseinander und
[214] die toͤnende Athmoſphaͤre um ſie faſſet die trunkne
Maſſe in Eines ein — ſo viele Menſchen und zu
einem ſo freudigen Zwecke verknuͤpft, durch daͤm¬
mernde umringende Beleuchtung geblendet, durch
ihre klopfenden Herzen begeiſtert, muͤſſen den Freu¬
denbecher wenigſtens kredenzen, den Guſtav aus¬
trank: denn ihn, dem jede Dame eine Dogareſ¬
ſa *) iſt, begeiſterte ihre Beruͤhrung und der Tu¬
mult von außen weckte ſeinen ganzen innern ſo
auf, daß die Muſik, wie zuruͤckprallend, ihren
aͤußern Geburtsort verließ und bloß in ſeinem In¬
nern unter und neben ſeinen Gedanken zu ent¬
ſpringen und heraus zu toͤnen ſchien. . . . Wahr¬
haftig wenn man ſeine Ideen um einen lodernden
Kronleuchter herumtraͤgt, ſo werfen ſie ein ganz
anderes Licht zuruͤck als wenn man damit vor einer
oͤkonomiſchen Lampe hockt — in phantaſiereichen
Menſchen liegen wie in heißen Laͤndern oder auf
hohen Bergen, alle Extreme enger an einander:
bei ihm wollte alle Augenblick die Entzuͤckung zur
Wehmuth werden und die Freude zur Liebe und
alle die Empfindungen, die ihm die Taͤnzerinnen ein¬
[215] floͤſten, wollt' er ſeiner Einzigen bringen, die ein¬
ſam war. Gleichwohl war ihm als wuͤrde ſie durch
dieſe alle nicht ſo wohl als durch die Reſidentin er¬
ſetzt. Sogar durch das Drama, das mit ihr ſich
ſchloß und in dem er fuͤr ihre Kroͤnung geſpielet
hatte, wurde ſie ihm lieber; ja ihr heutiger Ge¬
burtstag ſelber war einer ihrer Reize in ſeinen Au¬
gen. Anders oder vernuͤnftiger empfindet der
Menſch nie. Kurz die Reſidentin gewann bei al¬
lem, weſſen ihn heute das Wegſeyn ſeiner Beata
beraubte. Er hatte heute zum erſtenmale mehr
von der Reſidentin, die er außerordentlich achtete,
angefaſſet als einen Handſchuh — mehr, naͤmlich
ihre Arm- und Ruͤckenſchienen, mit andern Wor¬
ten ihr Kleid daruͤber: an Arm und Ruͤcken, aber
nicht an Haͤnden, iſt Bekleidung ſo viel wie keine.
Guſtav! philoſophiere und ſchlafe lieber. . .
Aus iſt der bal paré — aber der Teufel geht
erſt an. Oefels Wagen fuhr hinter dem Bouſi¬
ſchen; am letztern entzuͤndet ſich eine verſaͤumte
Radaxe unter der unnuͤtzen Eiligkeit — — freilich
wars Zufall, aber gewiſſe Menſchen kennen keinen
ſchlimmen und ihre Abſichten legen ſich um jeden
an — Oefel muſt' ihr ſeinen anbieten; die gute
[216] Beata war in ihrem Krankenzimmer mit einer kleinen
weiblichen Dienerſchaft gelaſſen; er nahm ein Pferd
von ihrem Wagen; ihr ließ er (ich weiß nicht, ob
aus Galanterie gegen ihr Geſchlecht oder aus
Scharfſinn und Freundſchaft fuͤr ſeines und fuͤr ſei¬
nen Roman) meinen und ihren Helden. Ich wollt'
es vor einem akademiſchen Senat ausfuͤhren, daß
es fuͤr einen der erſt ein Engel werden will, nichts
fatalers giebt als mit einer, die er ſchon fuͤr ei¬
nen haͤlt, Nachts aus einem Tanzſalon nach
Hauſe zu fahren — dennoch wurde meinem Hel¬
den kein Haar gekruͤmmt und er kruͤmmte auch
keines.
Aber verliebter wurd' er ohne zu wiſſen in wen.
Beata hatte keine eben ſo gefaͤhrliche Mitternacht
oder Nachmitternacht; aber ich will erſt ſeine abfertigen.
Er kam mit der Reſidentin in ihrem — Zimmer an.
Er konnte und wollte von ſeinen heutigen Scenen gar
nicht loß. Dieſes Zimmer ſtellte ihm alle die ver¬
gangnen dar und in den Saiten des Klaviers ver¬
barg ſich eine ferne geliebte Stimme und hinter der
Folie des Spiegels eine ferne geliebte Geſtalt.
Sehnſucht reihete ſich wie eine dunkle Blume un¬
ter das bunte Freuden-Bouquet: die Reſidentin
[217] gewann auch bei dieſer dunkeln Blume. Sie war
keine von den Koketten, die die Sinne fruͤher zu
bewegen ſuchen als das Herz, ſie fiel erſt in dieſes
mit dem ganzen Heer ihrer Reize ein und fuͤhrte
nachher aus dieſem, gleichſam in Feindes Land,
den Krieg gegen jene. Sie ſelber war nicht an¬
ders zu erobern als ſie bekriegte. Wenn die Wei¬
ber der hoͤhern Klaſſe wie die Epigrammen in ſol¬
che, die Witz, und in andre, die Empfindung
haben einzutheilen ſind: ſo glich ſie mehr dem
griechiſchen als dem galliſchen Epigramm, wiewohl
die griechiſche Aehnlichkeit taͤglich kleiner wurde.
Die Maienluft ihres fruͤhern Lebens hatte einmal
eine weiße Bluͤthe edler Liebe an ihr Herz geweht,
wie oft ein Bluͤthenblatt zwiſchen die gebaizten
Federn oder Brillanten-Blumen des Damenhuts
herunter zittert — aber ihr Stand formte bald ih¬
ren Buſen zu einem Pot-Pourri um, auf dem ge¬
mahlte Blumen der Liebe und in dem ein faulen¬
der Bluͤthen-Schober iſt. Alle ihre Verirrungen
blieben jedoch in den engern und ſchoͤnern Graͤn¬
zen, an denen eine unſichtbare Hand eines un¬
ausloͤſchlichen Gefuͤhles ſie anhielt; die Mini¬
ſterin hatte dieſes Gefuͤhl nie gehabt und ihre Her¬
[218] zens-Schreibtafel wurde immer ſchmutziger, je
mehr ſie hinein ſchrieb und heraus wiſchte. Dieſe
konnte durchaus keinen edeln Menſchen hinterge¬
hen; jene konnt' es.
Jetzt nach dieſer Digreſſion kann der Leſer nicht
mehr irre werden, wenn ihr Betragen gegen Gu¬
ſtav weder aufrichtig noch verſtellt ſondern beides
iſt. Sie zeigte ihm das Nachtſtuͤck, das der ruſſi¬
ſche Fuͤrſt dagelaſſen und daß ſie der richtigern Be¬
leuchtung wegen in ihrem Kabinette aufgehan¬
gen hatte. Es ſtellte bloß eine Nacht, einen auf¬
gehenden Mond, eine Indianerin, die ihm auf
einem Berge entgegenbetet, und einen Juͤngling
vor, der auch Gebet und Arme an den Mond, die
Augen aber auf die geliebte Beterin an ſeiner Sei¬
te richtete: im Hintergrund beleuchtete noch ein
Johanniswuͤrmchen eine mondloſe Stelle. Sie blie¬
ben im Kabinet, die Reſidentin verlor ſich in die
gemalte Nacht, Guſtav ſprach daruͤber: endlich
erwachte ſie ſchnell aus ihrem Schauen und Schwei¬
gen mit den ſchlaftrunknen Worten: „meine Ge¬
burtstage machen mich allemal betruͤbt.“ Sie zeich¬
nete ihm zum Beweiſe faſt alle dunklern Parthien
ihrer Lebensgeſchichte vor; das Trauer-Gemaͤlde
[219] nahm ſeine Farben von ihrem Auge und ihrer Lip¬
pe, und ſeine Seele von ihrem Ton und ſie en¬
digte damit: „hier leidet jeder allein.“ Er er¬
griff im ſympathetiſchen Enthuſiaſmus ihre Hand
und wiederlegte ſie vielleicht durch einen leiſen
Druck.
Sie ließ ihm die Hand mit der unachtſamſten
Miene; ſchien aber bald eine Laute neben ihnen,
die ſie ergriff, zum Vorwand zu nehmen, um die
ſchoͤne Hand zuruͤck zu fuͤhren. „Ich war nie un¬
gluͤcklich, fuhr ſie bewegt fort, ſo lange mein
Bruder noch lebte.“ Sie nahm nun das Bild deſ¬
ſelben, das ſie auf ihrem ſchweſterlichen Buſen
trug, nach einer leichten aber nothwendigen Ent¬
huͤllung hervor und theilte es karg ſeinen Augen
mit, und freigebig den ihrigen. Ob Guſtav bei
der Enthuͤllug ſo verſchiedner Geheimniſſe bloß auf
das gemalte Bruſtbild hingeſehen — das beur¬
theilt mein Konrektor und ſein Fuchspelzrock am
vernuͤnftigſten, welcher glaubt, es gebe keine ſchoͤ¬
nere Ruͤnde als der Perioden ihre, und keine
neuern Eva's Aepfel als die im Alten Bunde.
Mein Pelz-Konrektor hat gut doziren; aber Gu¬
ſtav, der der trauernden Reſidentin gegenuͤberſitzt,
[220] die ſonſt bloß die Form, nie die Farbe jener um¬
laubten verbotnen Frucht errathen ließ, hat ſchwer
lernen.
Die wenigſten waͤren, wie ich und der Kon¬
rektor, im Stande geweſen, ihr das Bild eigen¬
haͤndig wieder einzuhaͤngen.
„Dieſes Kabinett, ſagte ſie, lieb' ich, wenn
ich traurig bin. Hier uͤberraſchte mich mein Al¬
ban, (Name des Bruders) da er aus London
kam — hier ſchrieb er ſeine Briefe — hier wollt'
er ſterben, aber der Arzt ließ ihn nicht aus ſeinem
Zimmer.” Sie ließ unbewußt einen in die Luft ver¬
ſinkenden Akkord aus ihrer Laute ſchluͤpfen. Sie blickte
Guſtav traͤumeriſch an, ihr Auge umzog ſich mit
immer feuchteren Schimmer: „Ihre Schweſter iſt
noch gluͤcklich!” ſagte ſie mit einem Trauerton,
der allmaͤchtig iſt, wenn man ihn das erſtemal
von ſchoͤnen und ſonſt lachenden Lippen hoͤrt. „Ach
ich wollte, (ſagte er mit ſympathetiſchem Kum¬
mer) ich haͤtte eine Schweſter” — ſie ſah ihn mit
einer kleinen forſchenden Verwunderung an und
ſagte: „auf dem Theater machten Sie heute gera¬
de die umgekehrte Rolle gegen die naͤmliche Perſon.”
Dort naͤmlich gaͤb' er ſich faͤlſchlich fuͤr einen Bru¬
[221] der der Beata, hier faͤlſchlich fuͤr keinen aus, oder
vielmehr, hier kuͤndige er ihr ſeine Liebe auf. Sein
fragendes Erſtaunen hieng an ihrem Munde und
ſchwebte aͤngſtlich zwiſchen ſeiner Zunge und ſeinem
Ohre. Sie fuhr gleichguͤltig fort: „Freilich ſagt
man, daß leibliche Bruͤder und Schweſtern ſich ſel¬
ten lieben; aber ich bin die erſte Ausnahme; Sie
werden die zweite ſein.“ Sein Erſtaunen wurde
Erſtarren . . . .
Es wuͤrde dem Publikum auch ſo gehen, wenn
ich nicht einen Abſatz machte und es belehrte, daß
die Reſidentin gar wohl die Luͤge geglaubt haben
kann, (im Grunde muß), die ſie ihm ſagte —
Leute ihres Standes, denen das Furioſo der Luſt¬
barkeiten-Konzerts immer in die Ohren reiſſet, hoͤ¬
ren unebenbuͤrtige Neuigkeiten nur mit tau¬
ben oder gar halben — ſie kann mithin noch leich¬
ter als der Leſer (und wer ſteht mir fuͤr den?)
den verlornen Sohn der Roͤperin und des Falken¬
bergs mit dem gegenwaͤrtigen der Rittmeiſterin und
des Falkenbergs vermenget haben — ihr bisheriges
Betragen iſt ſo wenig wider meine Vermuthung
als das bisherige des angeblichen Geſchwiſterpaars
gegen ihre war: gleichwohl kann ich mich verrech¬
nen.
[222]
Dieſes Verrechnen wird aber durch ihr weite¬
res Betragen ganz unwahrſcheinlich. Seine Verle¬
genheit gebar ihre, ſie bedauerte ihre Voreiligkeit,
ein Geſchwiſterpaar fuͤr gluͤcklich und liebend geprie¬
ſen zu haben, das ſich meide und ungern von ſei¬
nen Verhaͤltniſſen ſpreche; ſie verbarg mit ihren
Mienen ihre Abſicht nicht, das Geſpraͤch abzulen¬
ken, ſondern zeigte ſie mit Fleiß; aber zu ihrem
Kummer, keinen Bruder zu haben, geſellete ſich
der Kummer, daß Guſtav zwar eine Schweſter ha¬
be aber nicht liebe und ſie druͤckte ihre Sympathie,
mit dem aͤhnlichen Ungluͤck, auf ihrer Laute im¬
mer ſchoͤner und leiſer aus. Guſtavs getaͤuſchte
Seele, auf der noch das heutige Feſt mit ſeinem
Glanze ſtand, uͤberzogen die heftigſten und unaͤhn¬
lichſten Wogen — Mißtrauen kam nie in ſein Herz,
ob er gleich in ſeinem Kopfe genug davon zu ha¬
ben meinte — jetzt hatt' er die Wahl zwiſchen dem
Throne und dem Grabe ſeiner heutigen Freude.
Denn ſtarke Seelen kennen zwiſchen Himmel
und Hoͤlle nichts — kein Fegefeuer keinen lim¬
bus infantum.
Die Reſidentin entſchied ſein Schwanken. Sie
nahm ſein Mienen-Chaos (— oder ſchiens, weil
[223] ich nicht das Herz habe, der Schoͤppenſtuhl und die
letzte Inſtanz ſo vieler tauſend Leſer zu ſeyn —)
fuͤr die doppelte Verlegenheit und Betruͤbniß uͤber
die Kaͤlte, womit ſeine (angebliche) Schweſter ihn
behandle, und uͤber ſeine Familiengeſchichte — ſie
hatte bisher in ſeinen Augen ein Sehnen gefunden,
das ſchoͤnere Reize ſuchte als die uͤbrigen Hof-Au¬
gen — ſie hatte den Morgen, wo er Amandus
Grab erbat, und die Augen voll Liebe, die er vor
ihr trocknete, in ihrem gefuͤhlvollen Herzen aufbe¬
wahrt — folglich goß ſie den zaͤrtlichſten Blick auf
ſeinen heiſſen — zog die zaͤrtlichſte Stimme ihrer ſym¬
pathetiſchen Bruſt aus ihren Lauten-Saiten — woll¬
te zuhuͤllen ihr pochendes Herz — und konnte nicht
einmal ſein Schlagen verſtecken — und fiel, als er
die Bewegung des heftigſten Affektes machte, ver¬
loren, hingeriſſen, mit zitterndem Auge, mit
uͤberwaͤltigtem Herzen, mit irrender Seele und mit
dem einzigen großen langſamen tief heraufgeſeufze¬
ten Laute: „Bruder!!” an — ihn.
Er an ſie!. . . Sie fuͤhlte das erſtemal in ih¬
rem Hofleben eine ſolche Umarmung; er das er¬
ſtemal eine empfangne: denn an Beatens rei¬
nem Herzen hatt' er ihre Arme nie gefuͤhlt. O Bou¬
[224] ſe! haͤtteſt du ihr doch geglichen und waͤreſt eine
Schweſter geblieben! Aber — du gabeſt mehr
als du bekameſt und reizeteſt zum Nehmen —
du riſſeſt ihn und dich in einen verfinſternſten Em¬
pfindungs-Orkan — an deinem Buſen verlor er
dein Geſicht — dein Herz — ſein eignes — und
als alle Sinne mit ihren erſten Kraͤften ſtuͤrmten,
alles, alles . . . . .
Schutzgeiſt meines Guſtavs! Du kannſt ihn
nicht mehr retten; aber heil' ihn, wenn er ver¬
loren iſt, wenn er verloren hat, alles, ſeine Tu¬
gend und ſeine Beata! Ziehe wie ich den trauri¬
gen Vorhang um ſeinen Fall und ſage ſogar zur
Seele, die ſo gut iſt wie ſeine: „ſei beſſer!“
Wir wollen zur Seele gehen, zu der ers ſagt,
zu Beatens ihrer. Sie huͤtete ein Zimmer des fuͤrſt¬
lichen Schloſſes und alle Luſtparthien, alle Plats
und alle Touren erſetzte ihr ein einziger Brief. Im
ganzen Pallaſt war heute die kraͤnklichſte Seele die
gluͤcklichſte: denn ein Brief, den ſie einſam leſen,
kuͤſſen, ohne innere und aͤuſſere Stuͤrme [ausgenieſ¬
ſen] konnte, war ihrem zarten Auge lieber als die
Gegenwart des Gegenſtandes, deſſen Gluͤhfeuer erſt
durch eine Entfernung zur wehenden Waͤrme fiel:
ſeine[225] ſeine Gegenwart uͤberhaͤufte ſie mit Genuß zu ſehr
und ſie umarmte da jeden Augenblick den Genius
ihrer Tugend, wenn ſie glaubte, bloß ihren Freund
zu umfaſſen. — In dieſer Fruͤhlings-Entzuͤckung,
als ſie in der einen Hand den Brief und in der an¬
dern den Genius der Tugend hatte, ſtoͤrte ſie der
Scheerauiſche — Fuͤrſt. So ſchiebt ſich auf den
Bauch eine Kroͤte in ein Blumenbeet.
Einer Frau wird ihr Betragen in ſolchem Fall
nur dann ſchwer, wenn ſie noch unentſchloſſen zwi¬
ſchen Gleichguͤltigkeit und Liebe ſchwankt; oder
auch wenn ſie trotz aller Kaͤlte aus Eitelkeit doch ge¬
rade ſo viel bewilligen moͤchte, daß die Tugend nichts
verloͤre und die Liebe nichts gewoͤnne — hingegen im
Fall der vollendeten tugendhaften Entſchloſſenheit kann
ſie ſich frei der innern Tugend uͤberlaſſen, die fuͤr
ſie kaͤmpfet und ſie braucht kaum uͤber [Zunge] und
Mienen zu wachen, weil dieſe ſchon verdaͤchtig
ſind wenn ſie eine Wache begehren. — Die Art
wie Beata den Brief einſteckte, war der einzige
kleine Halbton in dieſer vollen Harmonie einer kaͤm¬
pfenden Tugend. Der Scheerauiſche Thron-Inſaß
entſchuldigte ſeine Erſcheinung mit ſeiner Sorgfalt
fuͤr ihre Geſundheit. Er ſetzte ſein folgendes Ge¬
2. Theil. P[226] ſpraͤch aus der franzoͤſiſchen Sprache — der beſten,
wenn man mit Weibern und mit Witzigen ſprechen
will — und aus jenen Wendungen zuſammen, mit
denen man alles ſagen kann was man will ohne
ſich und den andern zu geniren, die alles nur halb
und von dieſer Haͤlfte wieder ein Viertel im Scher¬
ze und alles mehr verbindlich als ſchmeichelnd und
mehr kuͤhn als aufrichtig vortragen.
„So hab' ich Sie — ſagt' er mit einer ver¬
bindlichen Verwunderung — heute den ganzen
Abend in meinem Kopfe abgemalt geſehen: meine
Phantaſie hat Ihnen nichts genommen, auſſer die
Gegenwart. — — — Wenn das Schickſal mit ſich
reden lieſſe: ſo haͤtt' ich auf dem ganzen Ball mit
ihm gezankt, daß es gerade der Perſon, die uns
heute ſo viel Vergnuͤgen gab, das ihrige nahm.“
„O — ſagte ſie — das gute Schickſal gab mir
heute mehr Vergnuͤgen als ich geben konnte.“ Ob¬
gleich der Fuͤrſt unter die Perſonen gehoͤrt, mit
denen man uͤber nichts ſprechen mag: ſo ſagte ſie
dieſes doch mit Empfindung, die aber nichts als
ein Dank ans Schickſal fuͤr die vorherige frohe Le¬
ſe-Stunde war.
[227]
„Sie ſind, (ſagt' er mit einer feinen Miene, die
einen andern Sinn in Beatens Rede legen ſollte) ein
wenig Egoiſtin. — Das iſt Ihr Talent nicht —
Ihres muß ſeyn, nicht allein zu ſeyn. Sie ver¬
bargen bisher Ihr Geſicht wie Ihr Herz; glauben
Sie daß an meinem Hofe niemand werth iſt, bei¬
de zu bewundern und zu ſehen?“ — Fuͤr Beata,
die glaubte ſie haͤtte nicht noͤthig beſcheiden zu ſeyn
ſondern demuͤthig, war ein ſolches Lob ſo groß,
daß ſie gar nicht daran dachte, es zu widerlegen.
Sein Blick ſah nach einer Antwort; aber ſie gab
ihm uͤberhaupt ſo ſelten als moͤglich eine, weil je¬
der Schritt die alte Schlinge mit in die neue traͤgt.
Er hatte ihre Hand anfangs mit der Miene ge¬
ſucht, womit man ſie einem Kranken nimmt: ſie
hatte ſie ihm gleichguͤltig gelaſſen; aber wie einen
todten Handſchuh hatte ſie ihre in ſeine gebettet
— alle ſeine Gefuͤhlſpitzen konnten nicht das gering¬
ſte Regſame an ihr aushorchen; ſie zog ſie weder
langſam noch hurtig bei der naͤchſten Erweiterung
aus der roſtigen Scheide heraus.
Der Tanz, der Tag, die Nacht, die Stille
gaben ſeinen Worten heute mehr Feuer als ſonſt
darinnen lag. „Die Looſe — ſagt' er und ſpielte
P 2[228] piquiert mit einer Muͤnze der Weſtentaſche, um
die geflohene Hand zu erſetzen — ſind ungluͤcklich
gefallen. Die Perſonen die das Talent haben, Em¬
pfindungen einzufloͤßen, haben zum Ungluͤck auch
das, ſelber keine zu fuͤhlen. Er heftete ſeinen
Blick ploͤtzlich auf ihre Hemdnadel, an der eine
Perle und das Wort l'amitié glaͤnzte; er ſah wie¬
der auf ſeine Bologneſiſche Muͤnze, auf der wie
auf allen Bologneſiſchen das Wort libertas (Frei¬
heit) ſtand. „Sie gehen mit der Freundſchaft wie
Bologna mit der Freiheit um — beide tragen das
als Legende was ſie nicht haben.” — Die edleren
Menſchen koͤnnen die Worte „Freundſchaft, Em¬
pfindung, Tugend” auch von den unedelſten
nicht hoͤren, ohne bei dieſen Worten das Große
zu denken wozu ihr Herz faͤhig iſt. Beata bedeckte
einen Seufzer mit ihrer ſteigenden Bruſt, der es
nur gar zu deutlich ſagen wollte, was Empfin¬
dung und Freundſchaft ihr fuͤr Freuden und fuͤr
Schmerzen geben, aber den Fuͤrſten gieng er nichts
an.
Sein haſchender Blick, den er nicht ſeinem
Geſchlecht ſondern ſeinem Stande verdankte,
erwiſchte den Seufzer, den er nicht hoͤrte. Er
[229] machte auf einmal wider die Natur der Appellation
und der Natur einen dialogiſchen Sprung: „Ver¬
ſtehen Sie mich nicht?“ ſagt' er mit einem Tone
voll hoffender Ehrerbietung. Sie ſagte kaͤlter als
der Seufzer verſprach, ſie koͤnne heute mit ihrem
kranken Kopfe nichts thun als ihn auf den — Arm
ſtuͤtzen und bloß der mache ihr es ſchwer, die Ehr¬
furch einer Unterthanin und die Verſchiedenheit ih¬
rer Meinungen von den ſeinigen mit gleicher Staͤr¬
ke auszudruͤcken. — Gleich Raubthieren haſchte er,
wenn Schleichen zu nichts fuͤhrte, durch Spruͤnge.
„O! doch (ſagt' er und machte Henri's Liebeser¬
klaͤrung zur ſeinigen) Marie! ich bin ja Ihr Bru¬
der nicht.“ Eine Frau gewinnt, wenn ſie zu lan¬
ge gewiſſe Erklaͤrungen nicht verſtehen will, nichts
als — die deutlichſten. Er lag noch dazu in
Henri's Attituͤde vor ihr. „Erlaſſen Sie mir, ant¬
wortete ſie mit feſter Wuͤrde, die Wahl, es fuͤr
Scherz oder fuͤr Ernſt zu halten — auſſer dem Thea¬
ter bin ich unfaͤhiger, den Roſen-Preis zu verdie¬
nen oder zu vernachlaͤſſigen; aber Sie ſinds, die
Sie ihn uͤberall bloß geben muͤſſen“ — Wem aber?
(ſagt' er, und man ſieht durchaus, daß gegen
ſolche Leute keine Gruͤnde helfen) — „ich vergeſſe
[230] uͤber die Schoͤnen alle Haͤßlichen und uͤber die
Schoͤnſte alle Schoͤnen — ich gebe Ihnen den
Preis der Tugend, geben Sie mir den der Em¬
pfindung — oder darf ich mir ihn geben?“ und ha¬
ſtig zuckten ſeine Lippen nach ihren Wangen, auf
denen bisher mehr Thraͤnen als Kuͤſſe waren; allein
ſie wich ihm mit einem kalten Erſtaunen, das er
an allen Weibern waͤrmer gefunden hatte, weder
um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reich¬
te bei ihm in einem Tone, in dem man zugleich
die Ehrfurcht einer Unterthanin, die Ruhe einer
Tugendhaften und die Kaͤlte einer Unerbittlichen
fand, kurz in einem Tone als haͤtte ihre Bitte mit
dem Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf
dieſe Art reichte ſie ihre unterthaͤnige Supplik ein,
er moͤchte allergnaͤdigſt ſich, da ihr der Doktor ge¬
ſagt haͤtte, ſie koͤnne heute nichts ſchlimmers thun
als wachen, ſich — wie ich mich ausgedruͤckt ha¬
ben wuͤrde — zum Henker ſcheren. Eh' er ſo weit
gieng: badinirte er noch einige Minuten, kam
daruͤber beinahe wieder in den alten Ton, legte
ſeine Inhaͤſiv-Pro-Reproteſtationen ein und zog ab.
Nichts als die Ruhe, die ſie aus den Haͤnden
der Tugend und der — Liebe und des Guſtavi¬
[231] ſchen Briefes hatte, gab ihr das Gluͤck, daß dieſer
Jack ſich an dieſem Engel eine Huͤfte ausrenkte —
Unruhe hat ſogar das Schlimme noch, daß ſie ſchoͤ¬
ner macht.
In euerem ganzen Leben, Guſtav und Beata,
ſchluget ihr eure Augen nie mit ſo verſchiednem Ge¬
fuͤhl vor einem Morgen auf als an dem, wo ſich
Beata nichts und Guſtav alles vorzuwerfen hatte.
Ueber den ganzen verſunkenen Fruͤhling ſeines Le¬
bens ſchlichtete ſich ein langer Winter; er hatte
auſſer ſich keine Freude, in ſich keinen Troſt und
vor ſich ſtatt der Hofnung Reue.
Er riß ſich mit ſo vieler Schonung als ſeine
Verzweiflung zuließ, von den Gegenſtaͤnden ſeines
Jammers los und jagte ſein ſprudelndes Blut nach
Auenthal zu Wuz — in meine Stube. Ich ſah an
nichts mehr daß er noch Gefuͤhl und Leben hatte
als am Gewitterregen ſeiner Augen — er fieng ver¬
geblich an: unter Blut, Ideen und Thraͤnen gien¬
gen ſeine Worte unter — endlich wandte er ſich,
hochaufgluͤhend, von mir gegen das Fenſter und
erzaͤhlte mir, auf Einen Ort blickend, ſeinen Fall
den er von ſich ſelbſt herunter that. — Darauf um
ſich an ſich ſelbſt durch ſeine Beſchaͤmung zu raͤchen, ließ
[232] er ſich anſehen, hielt es aber nicht langer aus als
bis er zum Namen Beata kam: hier; wo er mich
zum erſtenmale vor den gewichnen Blumengarten ſei¬
ner erſten Liebe fuͤhrte, mußt' er ſich das Geſicht zu¬
huͤllen und ſagte: o ich war gar zu gluͤcklich und bin
gar zu ungluͤcklich.
Ueber den Punkt mit ſeiner Mutter konnt' ich
ihn mit drei Worten befriedigen. Ich ſuchte ihm den
wichtigſten Kredit wieder zu geben — den, den man
bei ſich ſelber finden muß: wer ſich keine moraliſche
Staͤrke zutrauet, buͤßet ſie am Ende wirklich ein.
Sein Fall kam bloß von ſeiner neuen Lage; an ei¬
ner Verſuchung iſt nichts ſo gefaͤhrlich als ihre Neu¬
heit; die Menſchen und die Pendul-Uhren ge¬
hen durchaus bloß in einerlei Temperatur am
richtigſten. — Uebrigens bitt' ich die Romanenſchrei¬
ber, die es noch leichter finden als es das Gefuͤhl und
die Erfahrung findet, daß zwei ganz reine ſeelen¬
volle Seelen ihre Liebe in einen Fall verwandeln,
nicht meinen Helden zum Beweis zu nehmen: denn
hier fehlte die zweite reine Seele; hingegen die
Vereinigung aller Farben der zwei ſchoͤnen See¬
len (Guſtavs und Beatens) wird ewig nur [die]
weiſſe der Unſchuld geben.
[233]
Sein Entſchluß war jezt der, von Beaten ſich
auf immer in einem Briefe abzureißen — — das
Schloß mit allen Gegenſtaͤnden, die ihn an ſeine
ſchoͤnen Tage oder an ſeinen ungluͤcklichen erinner¬
ten, zu verlaſſen — den Winter bei ſeinen Eltern
die ihn allemal in der Stadt zubrachten, zu ver¬
leben oder zu verſeufzen und dann im Sommer mit
Oefel die Karten zum Spiel des Lebens von neuem
zu miſchen, um zu ſehen, was es noch, wenn
die Seelenruhe verloren iſt, zu gewinnen oder ein¬
zubuͤßen gaͤbe. . . Schoͤner Ungluͤcklicher! warum
legt gerade jetzt deine gegenwaͤrtige Geſchichte, da
ich mit ihr meine geſchriebne zuſammen fuͤhren
koͤnnte, Floͤre um? warum fallen gerade deine
kurzen truͤben Tage in die kurzen truͤben des Ka¬
lenders hinein? o in dieſem Trauer-Winter wird
mich keine Himmelsleiter des Enthuſiaſmus mehr
in die Hoͤhe richten, um die Bluͤthen-Landſchaft
deines Lebens zu uͤberſchauen und abzuzeichnen
und ich werde wenig von dir ſchreiben, um dich
oͤfter in meine Arme zu nehmen!
Und ihr entſetzlichen Seelen, die ihr einen
Fehltritt, an dem Guſtav ſterben will, unter eu¬
re Vorzuͤge und eure Freuden rechnet, die ihr
[234] die Unſchuld nicht wie er, ſelber verliert ſondern
fremde mordet, darf ich ihn durch euere Nachbar¬
ſchaft auf dem Papier beſudeln? — was werdet
ihr noch aus unſerem Jahrhundert machen? — Ihr
gekroͤnte, geſtirnte, turnierfaͤhige, infulierte Haͤm¬
linge! davon iſt die Rede nicht und ich hab' es nie
getadelt, daß ihr aus euren Staͤnden die ſoge¬
nannte Tugend (d. h. den Schein davon,) die ein
ſo ſproͤder Zuſatz in euren weiblichen Metallen iſt,
mit ſo viel Glasfeuer als ihr zuſammen bringen
koͤnnt heraus brennt und praͤzipitiert — denn in
euren Staͤnden hat Verfuͤhrung gar keinen Na¬
men mehr, keine Bedeutung, keine ſchlimme Fol¬
gen und ihr ſchadet da wenig oder nicht — aber
in unſere mitlere Staͤnde, auf unſere Laͤmmer
ſchießet ihr Greif- und Laͤmmergeier nicht herab:
bei uns ſeid ihr noch eine Epidemie (ich falle wie
ihr in eine Vermiſchung der Metaphern,) die mehr
wegreißet, weil ſie neuer iſt. Raubet und toͤdtet
da lieber alles andre als eine weibliche Tugend! —
nur in einem Jahrhundert wie unſers, wo man
alle ſchoͤne Gefuͤhle ſtaͤrkt, bloß das der Ehre
nicht, kann man die weibliche, die bloß in Keuſch¬
heit beſteht, mit Fuͤßen treten und wie der Wilde
[235] einen Baum auf immer umhauen, um ihm ſeine
erſten und letzten Fruͤchte zu nehmen. Der Raub
einer weiblichen Ehre iſt ſo viel als der Raub einer
maͤnnlichen, d. h. du zerſchlaͤgſt das Wappen eines
hoͤhern Adels, zerknickſt den Degen, nimmſt die
Sporen ab, zerreißeſt den Adelsbrief und Stamm¬
baum; das, was der Henker am Manne thut,
vollſtreckeſt du an einem armen Geſchoͤpfe das die¬
ſen Henker liebt und bloß ſeine unverhaͤltnismaͤßige
Phantaſie nicht baͤndigen kann. Abſcheulich! — und
ſolcher Opfer, die die maͤnnlichen Haͤnde mit einem
ewigen Halſeiſen an die Unehre befeſtigt haben,
ſtehen in den Gaſſen Wiens zwei tauſend, in den
Gaſſen von Paris dreißig tauſend, in den Gaſſen
von London funfzig tauſend. — — Entſetzlich! To¬
des-Engel der Rache! zaͤhle die Thraͤnen nicht, die
unſer Geſchlecht aus dem weiblichen Auge ausdruͤckt
und brennend aufs ſchwache weibliche Herz wirft,
meſſe die Seufzer und die Quaalen nicht, unter
denen die Freuden-Maͤdgen verſcheiden und an
denen den eiſernen Freuden-Mann nichts dauert
als daß er ſich an ein andres Bett, das kein Ster¬
bebette iſt begeben muß!
[236]
Sanftes, treues, aber ſchwaches Geſchlecht!
warum ſind alle Kraͤfte deiner Seele ſo glaͤnzend
und groß, daß deine Vernunft zu bleich und klein
dagegen iſt? Warum beweget ſich in deinem Her¬
zen eine angeborne Achtung fuͤr ein Geſchlecht, das
die deinige nicht ſchont? je mehr ihr eure Seelen
ſchmuͤcket, je mehr Grazien ihr aus euren Glie¬
dern machet, je mehr Liebe in eurem Herzen wal¬
let und durch eure Augen bricht, je mehr ihr
euch zu Engel umzaubert: deſto mehr ſuchen wir
dieſe Engeln aus ihrem Himmel zu werfen, und
gerade im Jahrhundert euerer Verſchoͤnerung ver¬
einigen ſich alle, Schriftſteller, Kuͤnſtler und Gro¬
ße zu einem Wald von Giftbaͤumen, unter denen
ihr ſterben ſollt, und wir ſchaͤtzen einander nach
den meiſten Brunnen- und Kelchvergiftungen fuͤr
eure Lippen!
[237]
Acht und dreiſſigſter oder Neujahrs Sektor.
Nachtmuſik — Abſchiedsbrief — mein Zanken und Krankſeyn.
Ich hatte auf heute vor Spaß zu machen, meine
Biographie einen gedruckten Neujahrswunſch an
den Leſer zu nennen und ſtatt der Wuͤnſche ſcherz¬
hafte Neuzahrs-Fluͤche zu thun und dergleichen
mehr. Aber ich kann nicht und werd' es uͤberhaupt
bald gar nicht mehr koͤnnen. Welches plumpe aus¬
gebrannte Herz muͤſſen die Menſchen haben, die
im Angeſichte des erſten Tages, der ſie unter 364
andre gebuͤckte, ernſte, klagende und zerrinnende
hinein fuͤhret, die tobende ſchreiende Freude der
Thiere dem weichen ſtillen und aus Weinen graͤn¬
zenden Vergnuͤgen des Menſchen vorzuziehen im
Stande ſind! Ihr muͤſſet nicht wiſſen, was die
Woͤrter erſter und letzter ſagen, wenn ihr nicht
daruͤber, ſie moͤgen einem Tage oder einem Buche
oder [Jahre] gegeben werden, tiefern Athem
zieht; ihr muͤſſet noch weniger wiſſen, was der Menſch
vor dem Thiere voraus hat, wenn in euch der Zwi¬
ſchenraum zwiſchen Freude und Sehnſucht ſo groß
[238] iſt und wenn nicht beide in euch Eine Thraͤne ver¬
einigt! — Du Himmel und Erde, eure jezige
Geſtallt iſt ein Bild (wie eine Mutter) einer ſol¬
chen Vereinigung: die in unſer frierendes Au¬
ge troͤſtend hinein blickende Lichtwelt, die Sonne
verwandelt den blauen Aether um ſich in eine blaue
Nacht, die ſich uͤber dem blitzenden Grund der
beſchneiten Erde noch tiefer ſchattiert und der
Menſch ſieht ſehnend an ſeinem Himmel eine her¬
uͤber gezogne Nacht und Eine Licht-Ritze, die tie¬
fe Oefnung und Straße gegen hellere Welten
hin. . . .
Die vergangne Nacht fuͤhrt noch meine Feder.
Es iſt naͤmlich in Auenthal wie an vielen Orten Sit¬
te, daß in der letzten feierlichen Nacht des Jahrs
auf dem Thurm aus Waldhoͤrnern u. a. gleichſam
ein Nachhal der verklungnen Tage oder eine Leichen¬
muſik des umgeſunknen Jahrs ertoͤnt. Als ich mei¬
men guten Wuz nebſt einigen Gehuͤlfen in der un¬
tern Stube einiges Geraͤuſch und einige Probe-Toͤ¬
ne machen hoͤrte, ſtand ich auf und gieng mit
meiner aufgewachten Schweſter ans enge Fenſter.
In der ſtillen Nacht hoͤrte man ihren Hinauftritt
auf den Thurm. Ueber unſer Fenſter lag jener
[239] Balken, unter dem man in prophetiſchen Naͤch¬
ten hinaus horchen muß, um die Wolkengeſtalten
der Zukunft zu ſehen und zu hoͤren. Und wahrhaf¬
tig ich ſah im eigentlichen Sinn was der Aberglau¬
be ſehen will — ich ſah wie er, Saͤrge auf Daͤ¬
chern und Leichengefolge an der einen Thuͤre und
Hochzeitgaͤſte und Brautkranz an der andern, und
das Menſchen-Jahr zog durch das Dorf und hielt
an ſeiner rechten Mutterbruſt die kleinen Freuden,
die mit dem Menſchen ſpielen, und an ſeiner lin¬
ken die Schmerzen, die auch ihn anbellen; es
wollte beide naͤhren, aber ſie fielen ſterbend ab
und ſo oft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte
ſo oft ſchlug einer von den zwei Kloͤppeln zum Zei¬
chen an die Thurmglocken an. . . . Ich ſah nach
dem weißen Wald hinuͤber, hinter dem die Woh¬
nungen meiner Freunde liegen: o junges Jahr,
ſagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg
ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und
nimm die zuruͤckgebliebnen zaͤhen Schmerzen des
alten mit, die nicht ſterben wollen! Geh' in alle
vier Weltſtraßen und vertheile die Saͤuglinge dei¬
ner rechten Bruſt und mir laße nur einen — die
Geſundheit! — —
Die[240]
Die Toͤne des Thurms verſtroͤmten in die wei¬
te mondloſe Nacht hin, die ein großer mit Ster¬
nen-Bluͤthen uͤberſaͤeter Wipfel war. Biſt du
gluͤcklich oder ungluͤcklich, Wuz, daß du auf dei¬
nem Thurm der weißen Mauer und einem weißen
Stein des Auenthaler Gottesackers entgegen ſteheſt
und doch nicht daran denkeſt, wen Mauer und
Stein verſchließen, denſelben, der ſonſt an dei¬
nem Platze in dieſer Stille auch wie du das neue
Jahr ſalutierte, deinen Vater, der wieder eben
ſo ruhig wie du uͤber die verweſenden Ohren des
ſeinigen hinuͤber bließ? . . . Ruhiger biſt du frei¬
lich, der du am neuen Jahre an kein anderes
Abnehmen als an das der Naͤchte denkſt; aber lie¬
ber iſt mir meine Philippine, die hier neben mir
ihr Leben von neuem uͤberlebt und gewiß ernſthaf¬
ter als das erſtemal, in deren Bruſt das Herz
nicht bloß Frauenzimmer-Arbeit thut ſondern auch
zuweilen zum Gefuͤhl anſchwillt, wie wenig der
Menſch iſt, wie viel er wird und wie ſehr die Erde
eine Kirchhofs-Mauer und der Menſch der verpuf¬
fende Salpeter iſt, der an dieſer Mauer anſchieſ¬
ſet! gute weinende Schweſter, in dieſer Minute
fraͤgt dein Bruder nichts darnach, daß du morgen
— nicht[241] — nicht viel darnach frageſt; in dieſer Minute
verzeihet er dirs und deinem ganzen Geſchlechte,
daß eure Herzen ſo oft Edelſteinen gleichen, in
denen die ſchoͤnſten Farben und eine — Muͤcke, ein
Moos neben einander wohnen: denn was kann der
Menſch, der dieſes verwitternde Leben und ſeine
verwitternde Menſchen beſieht und beſeufzet, mit¬
ten in dieſem Gefuͤhle beſſers thun als ſie recht
herzlich lieben, recht dulden, recht . . . Laſſ'
dich umarmen, Philippine, und wenn ich einmal
dir nicht verzeihen will, ſo erinnere mich an dieſe
Umarmung! . . . .
Meine Biographie ſollte jezt weiter ruͤcken;
aber ich kann meinen Kopf und meine Hand un¬
moͤglich dazu leihen, wenn ich nicht auf der Stel¬
le mich aus der gelehrten Welt in die zweite ſchrei¬
ben will. Es iſt beſſer, wenn ich bloß den Setzer
dieſer Hiſtorie mache und den ſchmerzhaften Brief
abſchreibe, den Guſtav ſeiner verſcherzten Freun¬
din ſchickte.
„Treue tugendhafte Seele! die jezige dunkle
Minute, die nur ich verdienet habe aber nicht du,
quaͤle dich nicht lange und verziehe ſich bald! o
2. Theil. O[242] zum Gluͤck kannſt du doch nicht mein Auge, nicht
meinen von Schmerzen zitternden Mund und mein
zertruͤmmertes Herz erblicken, womit ich jezt al¬
len meinen ſchoͤnen Tagen ein Ende mache — wenn
du mich jezt ſchreiben ſaͤheſt: ſo wuͤrde die weichſte
Seele, die noch auf der Erde getroͤſtet hat, ſich
zwiſchen mich und meinen ſchlagenden Kummer
ſtellen und mich bedecken wollen: ſie wuͤrde mich
heilend anblicken und fragen, was mich quaͤle . . .
Ach gutes treues Herz! frage mich es nicht: ich
muͤſte antworten, meine Quaal, meine unſterbli¬
che Folter, meine Vipern-Wunde heißet verlorne
Unſchuld . . . . Dann wuͤrde ſich deine ewige
Unſchuld erſchrocken wegwenden und mich nicht troͤ¬
ſten: ich wuͤrde einſam liegen bleiben und der
Schmerz ſtaͤnde aufrecht mit der Geißel bei
mir, ach ich wuͤrde nicht einmal das Haupt auf¬
heben, um allen guten Stunden die ſich in deiner
Geſtalt von mir wegbegeben, verlaſſen nachzuſe¬
hen. — Ach es iſt ſchon ſo und du biſt ja ſchon
gegangen! Amandus! trennt dich der Himmel
ganz von mir und kannſt du, der du mir die Li¬
lien-Hand Beatens gegeben, nicht meine befleckte
ſehen, die nicht mehr fuͤr die reinſte gehoͤrt? —
[243] ach wenn du lebteſt: ſo haͤtt' ich ja dich auch ver¬
loren. . . . O daß es doch Stunden hienieden geben
kann, die den vollen Freudenbecher des ganzen Le¬
bens tragen und die mit einem Fall ihn zerſplittern
und die Labung aller, aller Jahre verſchuͤtten duͤrfen!
Beata! nun gehen wir auseinander, du ver¬
dienſt ein treueres Herz als meines war, ich verdien¬
te deines nicht — ich habe nichts mehr was du lie¬
ben koͤnnteſt — mein Bild in deinem Herzen muß zer¬
riſſen werden — deines ſteht ewig in meinem feſt,
aber es ſieht mich nimmer mit dem Auge der Liebe
ſondern mit einem zugeſunknen an, das uͤber den
Ort weint wo es ſteht. . . . Ach Beata, ich kann
meinen Brief kaum endigen; ſo bald ſeine letzte Zei¬
le ſteht, ſo ſind wir aus einander geriſſen, und hoͤ¬
ren uns nie mehr und kennen uns nimmer — — O
Gott! wie wenig hilft die Reue und das Beweinen!
Niemand ſtellet das heiße Herz des Menſchen her,
wenn nichts in ihm mehr iſt als der harte große Kum¬
mer, den es wie ein Vulkan ein Felſenſtuͤck empor
und heraus zu werfen ſucht und der immer wieder
in den lodernden Krater zuruͤck ſtuͤrzt; nichts heilt
uns, nichts giebt dem entblaͤtterten Menſchen das ge¬
fallne Laub wieder, Ottomar behaͤlt Recht, daß das
O 2[244] Leben des Menſchen wie ein Vollmond, uͤber lauter
Naͤchte ziehe. . .
Ach es muß doch ſeyn! leb nur wohl, Freundin!
Guſtav war der Stunde, die du jezt haben wirſt,
nicht werth. Dein heiliges Herz, dem er Wunden
gegeben, verbinde ein Engel und im Bande der
Freundſchaft trage du es ſtill! meinen letzten freu¬
digen Brief, wo ich mich nicht mit meinem uͤber¬
ſchwenglichen Gluͤck begnuͤgte, leg' in dieſen troſtlo¬
ſen, in dem ich nichts mehr habe, und verbrenne ſie
mit einander! kein Voreiliger ſage dir kuͤnftig nach
vielen Jahren, daß ich noch lebe, daß ich den langen
Schmerz, mit dem ich mein verſunknes Gluͤck abbuͤße,
wie Dornen in meine verlaßene Bruſt gedruͤckt und
daß in meinem truͤben Lebenstage die Nacht fruͤher
komme, die zwiſchen zwei Welten liegt! wenn einmal
dein [Bruder] mit einem ſchoͤnerem Herzen an deines
ſinkt: ſo ſag' es ihm nicht, ſo ſag' es dir ſelbſt nicht,
wer ihm aͤhnlich ſah — und wenn einmal dein Thraͤ¬
nen-Auge auf die weiße Pyramide faͤllt: ſo wend'
es ab und vergiß, daß ich dort ſo gluͤcklich war — ach!
aber ich vergeß' es nicht, ich wende das Auge nicht
ab und koͤnnte der Menſch ſterben an der Erinne¬
rung, ich gienge zu Amandus Grabe und ſtuͤrbe —
[245] Beata, Beata, an keiner Menſchenbruſt wirſt du
ſtaͤrkere Liebe finden als meine war, wiewohl ſtaͤrke¬
re Tugend leicht — aber wenn du einmal dieſe Tu¬
gend gefunden haſt, ſo erinnere dich meiner nicht, mei¬
nes Falles nicht, bereue unſre kurze Liebe nicht und
thue dem, der einmal unter dem Sternnen-Himmel
an deiner edlen Seele lag, nicht unrecht. . . . . O
du meine, meine Beata! in der jezigen Minute
gehoͤreſt du ja noch mir zu, weil du mich noch
nicht kenneſt; in der jezigen Minute darf noch
mein Geiſt, mit der Hand auf ſeinen Wunden
und Flecken, vor deinen treten und um ihn fallen
und mit erſtickten Seufzern zu dir ſagen: liebe
mich! . . . Nach dieſer Minute nicht mehr — —
nach dieſer Minute bin ich allein und ohne Liebe
und ohne Troſt — das lange Leben liegt weit und
leer vor mir hin und du biſt nicht darin — — —
aber dieſes Menſchen-Leben und ſeine Fehltritte
werden voruͤbergehen‚ der Tod wird mir ſeine Hand
geben und mich wegfuͤhren — die Tage jenſeits der
Erde werden mich heiligen fuͤr die Tugend und
dich — — — dann komm‚ Beata‚ dann wird
dir‚ wenn dich ein Engel durch dein irdiſches
Abendroth in die zweite Welt getragen‚ dann wird
[246] dir ein hienieden gebrochnes, dort geheiligtes Herz
zuerſt entgegengehen und an dich ſinken und doch
nicht an ſeiner Wonne ſterben und ich werde wie¬
der ſagen: „nimm mich wieder geliebte Seele,
auch ich bin ſeelig“ — alle irdiſchen Wunden wer¬
den verſchwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird
uns umfaſſen und verbinden! . . ach wir muͤſſen
uns ja erſt trennen und dieſes Leben waͤhret noch
— — lebe laͤnger als ich, weine weniger als ich
und — vergiß mich doch nicht gaͤnzlich — ach haſt
du mich denn ſehr geliebt, du Theure, du Ver¬
ſcherzte? . . [.]
Guſtav F.
Abends unter dem Zuſiegeln des Briefs fuhr
Beata zum Schloß-Thor hinein. Als er ihre Licht¬
geſtalt, die bald mit ſo vielen Thraͤnen ſollte be¬
deckt werden, heraus ſteigen ſah: prallte er zu¬
ruͤck, ſchrieb die Aufſchrift, gieng zu Bette und
zog die Vorhaͤnge zu, um recht ſanft — zu wei¬
nen. Dem Romanen-Steinmetz Oefel eilte er
vorzuͤglich aus dem Wege, weil ſeine Minen und
Laute nichts als unedle Triumphe ſeines weißagen¬
den Blickes waren; und ſogar Guſtavs Niederge¬
[247] ſchlagenheit rechnete er noch unedler zu ſeinen
Triumphen . . .
Im Grunde wollt' ich, der Henker holte alle
Welttheile und ſich dazu: denn mich hat er halb.
Wenige wiſſen, daß er mich dieſe Biographie nicht
zu Ende fuͤhren laͤſſet. Ich bin uͤberzeugt, daß ich
nicht am Schlage (wie ich mir neulich unter meinem
gefrornen Kopfzeug einbildete) noch an der Lungen¬
ſucht (welches eine wahre Grille war) ſterben kann;
aber buͤrgt mir dieſes dafuͤr, daß ich nicht an einem
Herzpolypen ſcheitern werde, wofuͤr alle menſch¬
liche Wahrſcheinlichkeit iſt? — Zum Gluͤck bin ich
nicht ſo hartnaͤckig wie Muſaͤus in Weimar, der
das Daſeyn des ſeinigen, den er ſo gut wie ich den
meinigen, mit kaltem Kaffee groß geaͤtzet, nicht eher
glaubte als bis der Polype ſein ſchoͤnes Herz ſtrangu¬
liert und ihm alle Geburtstage und alle Wuͤnſche fuͤr
die ſeiner Gattin geraubet hatte. Ich ſage, ich mer¬
ke beſſer auf Vorboten von Herzpolypen: ich verber¬
ge mir es nicht, was hinter dem intermittirenden
Pulſe ſteckt, naͤmlich eben ein wirklicher Herzpolype,
der Zuͤndpfropf des Todes. Die fatale litterariſche
Behme, der Rezenſenten-Bund, ſchleicht mit Strik¬
ken um uns gutwillige Narren herum, die wir ſchrei¬
[248] ben und gleich Schmetterlingen an der Umarmung
der Muſen ſterben — aber keine Kreuzer-Piece,
nicht eine Zeile ſolten wir edieren fuͤr ſolche gewiſſen¬
loſe Stoßvoͤgel: wer dankt mirs, daß ich Scenen
ausmahle, die den Dekorationsmahler beinahe um¬
bringen und biographiſche Seiten ſchreibe, die auf
mich nicht viel beſſer wirken als vergiftete Briefe?
Wer weiß es — nach Scheerau komm' ich jezt ſelten
— als meine Schweſter, daß ich in dieſem biographi¬
ſchen Luſtſchloß, das mein Mauſolaͤum werden wird,
oft Zimmer und Waͤnde uͤbermale, die mir Puls und
Athem dergeſtallt benehmen, daß man mich einmal
todt neben meiner Mahlerei liegen finden muß? Muß
ich nicht, wenn ich ſo in die Athmoſphaͤre des Todes
gerathe, aufſpringen, durch die Stube zirkulieren
und mitten in den zaͤrtlichſten oder erhabenſten Stel¬
len abſchnappen und die Stiefeln an meinem Beine
wixen oder den Hut und Hoſen auskehren, damit es
mir nur den Athem nicht verſetzt, und doch wieder
mich daran machen und ſo auf eine verdammte Art
zwiſchen Empfindſamkeit und Stiefelwixen wechſeln?
— Ihr verdammten Kunſtrichter alzumal!”
Dazu geſellen ſich noch tauſend Plakereien, die
mich ſeit einiger Zeit viel oͤfter zwicken, weil ſie
[249] etwan merken, daß der Polype mir bald den Gar¬
aus ſpielen und ſie mich nicht lange mehr haben
werden. Meinen Mauſſenbacher Hummer, der mich
immer zwiſchen ſeine gerichtsherrlichen Scheeren
nimmt und der glaubt, ein armer Gerichtshalter
muͤſſe an nichts anders ſterben als an Arbeiten ex
officio, dieſen aͤgyptiſchen Frohnvogt will ich uͤberhuͤp¬
fen; auch meine Schweſter und Wuzen unter mir,
die beide wider alles Maas luſtig ſind und mich faſt
todt ſingen. Aber was mich druͤckt, iſt der Druck
der Unterthanen, das metallene Druckwerk, das
man unſern Fuͤrſten nennt.
Ich haͤtte mich beinahe neulich in einer Excep¬
tionsſchrift in einen ehrenvollen Veſtungsarreſt hin¬
eingeſchrieben; aber hier kann ich meine Orangen
ohne Karzer-Gefahr an den gekroͤnten Kopf wer¬
fen. Pfui! biſt du darum Fuͤrſt, um eine Waſ¬
ſerhoſe zu ſeyn, die alles woruͤber ſie ruͤckt, in
ihren Krater hinaufſchlingt? Und wenn du uns
einmal beſtehlen willſt, thu' es mit keinen andern
Haͤnden als mit deinen eignen, fahre terminirend
vor allen Haͤuſern durch das Land und erhebe ſelber
die ordentlichen Steuern in deinen Wagen: aber
ſo wie bisher, langen unſre Abgaben, nach dem
[250] Tranſitozoll, den ſie den Haͤnden aller deiner Kaſ¬
ſenbedienten geben muͤſſen, ſo mager wie weitge¬
reiſete Heringe oben in deiner Chatoulle an, daß
du im Grunde von beſchwerlichen Summen nicht
mehr bekoͤmmſt als bequeme Logarithmen. Die
Fuͤrſten haben wie die oſtindiſchen Krebſe Eine Rie¬
ſen-Scheere zum Nehmen, und Eine Zwerch-Schee¬
re, den Fang an den Mund zu bringen.
Und ſo iſt die ganze Hauptſtadt, wo jeder ſich
fuͤr regierendes Mitglied anſieht und doch jeder dar¬
uͤber ſchreiet, daß der andre ſich ins Regieren mengt
und daß die Kinder unter den Hermelin wie unter
den vaͤterlichen Schlafrock kriechen und vereinigt den
Vater nachmachen — wo die Pallaͤſte der Großen
aus Hoͤllenſteinen gemauert ſind, die wie [ausſaͤtzi¬
ge] Haͤuſer kleinere zernagen — wo der Miniſter
den Fuͤrſten auf ſeiner unempfindlichen Hand wie
der Falkonier den Falken auf der beſchuhten traͤgt
— wo man die Laſter des Volks fuͤr die Renten ih¬
rer Obern anſieht und alles moraliſche Aas wie die
Bienen ihr phyſiſches bloß mit Wachs umklebt, an¬
ſtatt es aus dem Bienenkorb zu tragen, d. h. wo die
Polizei die Moral erſetzen will — wo wie an einem
jedem Hofe eine moraliſche Figur ſo unausſteh¬
[251] lich und ſo ſteif gefunden wird als in der Malerei
eine geometriſche — wo der Teufel voͤllig los
und der heilige Geiſt in der Wuͤſte iſt und wo man
Leuten, die in Auenthal oder ſonſt krumme Sonden
in den Haͤnden halten und damit die fremden Koͤr¬
per und Splitter aus den Wunden des Staates he¬
ben wollen, ins Geſicht ſagt: ſie waͤren nicht recht
geſcheut . . . .
Ich wollt' es waͤr' wahr: ſo waͤr' ich wenigſtens
recht geſund. Nach einem ſolchen Klumpen von Ichs,
woraus ein Staatskoͤrper wie aus Monaden beſteht,
iſt das meinige zu winzig, um vorgenommen und be¬
ſehen zu werden. Sonſt koͤnnt' ich jetzt zu den Be¬
ſorgniſſen um den Staat die um mich ſelber erzaͤhlen
— Und doch will ich dem Leſer meine Qualen oder
ſieben Worte am Kreuze ſagen, wiewohl er ſelber
mich an das Kreuz, unter welchem er mich bedauern
will, hat ſchlagen helfen. Im Grunde fragt kein
Teufel viel nach meinem Siechthum. Ich ſitze hier
und ſtelle mir aus unvergoltener Liebe zum Leſer den
ganzen Tag vor, daß Feuer kann geſchrien werden,
das gleich einem [Autodafee] alle meine biographiſchen
Papiere in Aſche legt und vielleicht auch den Verfaſ¬
ſer — ich ſtelle mir ferner vor und martere mich, daß
[252] dieſes Buch auf dem Poſtwagen oder in der Drucke¬
rei ſo verdorben werden kann, daß das Publikum
um das ganze Werk ſo gut wie gebracht iſt — daß
es auch nach dem Druck in ein Hetzhaus und eine
Marterkammer gerathen kann, wo ein kritiſcher
Brodherr und Kunſtrichter-Ordensgeneral ſeine Re¬
zenſenten mit ihren langen Zaͤhnen ſitzen hat, die
meiner zarten Beata und ihrem Amanten Fleiſch und
Kleider abreiſſen und deren Stube jener Stube voll
Spinnen gleicht, die ein gewiſſer Pariſer hielt und
die bei ſeinem Eintritt allemal auf ſeine ausgezognen
blutigen Taubenfedern zum Saugen von der Dek¬
ke niederfuhren und aus deren Fabrikaten er mit
Muͤhe jaͤhrlich einen ſeidnen Strumpf erzielte . . . .
Alle dieſe Martern thu' ich mir ſelber an, bloß des
Leſers wegen, der am meiſten verloͤre wenn er mich
nicht zu leſen bekaͤme; aber es iſt dieſem harten Men¬
ſchen einerlei was die ausſtehen, die ihn ergoͤtzen. —
Hab' ich endlich meine Hand von dieſen Naͤgeln des
Kreuzes losgemacht: ſo ekelt mich das Leben ſelber an
als ein ſo elendes langweiliges Ding von Monochord
daß jedem Angſt werden muß, ders ausrechnet, wie
oft er noch Athem holen und die Bruſt auf- und
nieder heben muß bis ſie erſtarret, oder wie oft er
[253] ſich bis zu ſeinem Tode noch auf den Stiefelknecht
oder vor den Raſierſpiegel werde heben muͤſſen —
— Ich betrachte oft die groͤßte Armſeligkeit im
ganzen Leben, welche die waͤre, wenn einer alle
in daſſelbe zerſtreuet umhergeſaͤete Raſuren, Friſu¬
ren, Ankleidungen, ſedes hinter einander abthun
muͤßte. — Der dunkelſte Nachtgedanke, der ſich
uͤber meine etwa noch gruͤnenden Proſpekte lagert,
iſt der, daß der Tod in dieſem naͤchtlichen Le¬
ben, wo das Daſeyn und die Freunde wie weit
abgetheilte Lichter im finſtern Bergwerk gehen,
mir meine theure Geliebten aus den ohnmaͤchtigen
Haͤnden ziehe und auf immer in verſchuͤttete Saͤrge,
einſperre, zu denen kein Sterblicher, ſondern bloß
die groͤßte und unſichtbarſte Hand, den Schluͤſſel,
hat. . . . Haſt du mir denn nicht ſchon ſo viel
weggeriſſen? Wuͤrd' ich von Kummer oder von Ei¬
telkeit des Lebens reden, wenn der bunte Jugend-
Kreis noch nicht zerſtuͤckt, wenn das Farbenband
der Freundſchaft, das die Erde und ihren Schmelz
noch an den Menſchen heftet, noch nicht von ein¬
ander geſaͤgt waͤre bis auf ein oder zwei Faͤden? —
O du, den ich jetzt aus einer weiten Entfernung
weinen hoͤre, du biſt nicht ungluͤcklich, an deſſen
[254] Bruſt ein geliebtes Herz erkaltet iſt, ſondern
du biſts, der iſts, der an das Verweſende
denkt, wenn er ſich uͤber die Liebe des lebendigen
Freundes freuen will, und der in der ſeligſten Um¬
armung ſich fragt: „wie lange werden wir einan¬
der noch fuͤhlen?“ . . . .
[255]
Neun u. dreißigſter od. 1ter Epiphaniaͤ-Sekt.
Erſt jetzt iſts toll: die Krankheit hat mir zugleich
die juriſtiſche und die biographiſche Feder aus der
Hand gezogen und ich kann trotz allen Oſtermeſſen
und Fatalien in nichts eintunken . . . . .
Vierzigſter oder 2ter Epiphaniaͤ-Sektor.
Mich wird wie es ſcheint bloß der ſchwarze Staar
befallen: denn Funken und Flocken und Spinnwe¬
ben tanzen ſtundenlang um meine Augen; und da¬
mit — ſagen Plempius und Ritter Zimmermann
— meldet ſich ſtets der beſagte Staar an . . .
Ein u. vierzigſter oder 3ter Epiphaniaͤ-Sektor.
Ich beſitze ein Paar Fieber auf einmal, die bei
andern gluͤcklichern Menſchen ſonſt einander nicht
[256] leiden koͤnnen. — Das dreitaͤgige Fieber — das
Quartanfieber — und noch ein Herbſt- oder Fruͤh¬
lingsfieber im Allgemeinen. — Indeſſen will ich,
ſo lang ich noch nicht eingeſargt bin, dem Publi¬
kum alle Sonntage ſchreiben und es etwan zu
zwei oder drei Zeilen treiben. Auch der Styl ſo¬
gar wird jaͤmmerlich; hier wollen ſich die zwei
Verba reimen . . . .
Zwei u. vierzigſter oder 4ter Epiphaniaͤ-Sektor.
O ihr ſchoͤnen biographiſchen Sonntage! ich er¬
lebe keinen wieder. Zu den Uebeln, die ich ſchon
bekannt gemacht habe, ſtoͤßet noch eine lebendige
Eidexe, die ſich in meinem Magen aufhaͤlt und de¬
ren Laich ich im vorigen Sommer aus einem un¬
gluͤcklichen Durſt muß eingeſchluckt haben . . . .
[257]
Drei u. vierzigſter od. 5ter u. 6ter Epiph.Sekt.
Man ſagt auch, daß Kirſchkerne im Magen aus¬
gekeimet ſind und Erbſen in Ohren. O guter Him¬
mel! was wird endlich meine Krankheit ſeyn, de¬
ren unſichtbare Tatze meine Nerven ergreift, er¬
druͤckt, ausdehnt, entzweiſchlitzt . . . .
Vier u. vierzigſter oder Septuageſimaͤ-Sektor.
Wenns eine Krankheit giebt, die aus allen Krank¬
heiten, aus allen Kapiteln der Pathologie auf ein¬
mal kompilirt iſt: ſo hat ſie niemand als ich. Apo¬
plexie — Hektik — Magenkrampf oder eine Eidexe
— dreierlei Fieber — Herzpolypus — aufgehender
Kirſchſaamen: — — das ſind die wenigen ſicht¬
baren Beſtandtheile und Ingredienzien, die ich
bisher an meinem Uebel auskundſchaften koͤnnen:
eine vernuͤnftige tiefere Sektion meines armen Lei¬
bes wird auch gar die unſichtbaren, wenn ihn
beide Beſtandtheile erlegt haben, noch dazu geſel¬
len . . . .
2. Theil. R[258]
Fuͤnf u. vierzigſter oder Sexageſimaͤ-Sektor.
Eine bedenkliche Pleureſie — wenn man anders
der ganzen Semiotik und den harten Pulsſchlaͤgen
und Bruſtſtichen glauben kann — umarmt und haͤlt
mich ſeit vorgeſtern und iſt willens, mein gemi߬
handeltes Leben und dieſe Biographie zu ſchlieſſen
— es muͤßte denn durch eine gluͤckliche Kur der Tod
in ein Empyema gemildert werden — oder in eine
Phthiſis — oder Vomica — oder in einen Scirrhus
oder auch in einen Ulcus. — — Nach dieſer Hei¬
lung braucht man bloß meine Bruſt anzubohren,
um aus ihr, aus der einmal ein Buch voll Men¬
ſchenliebe kam, das Leben und die Krankheitsma¬
terie mit einander herauszuziehen . . . .
[259]
Sechs u. vierzigſter oder Eſto Mihi-Sektor.
Ihr guten Leſer! die ihr mit eurem vergebenden
Auge vom Schachbrett das erſten Sektors bis zum
Sterbelager des letzten mir nachgezogen ſeid! meine
Bahn und unſre Bekanntſchaft haben ein Ende —
das Leben moͤg' euch niemals druͤcken — euer Ge¬
ſchaͤftsblick moͤge nie uͤber das kleine Feld das groſ¬
ſe vergeſſen, uͤber das erſte Leben das zweite, uͤber
die Menſchen euch — euer Leben moͤgen Traͤume
bekraͤnzen und euer Sterben moͤgen keine erſchrek¬
ken . . . . Meine Schweſter ſoll alles beſchlieſſen. . . .
Lebt froh und entſchlaft froh! . . . .
N 2[260]
Sieben und vierzigſter oder Invokavit-Sektor.
Mein guter und gemarterter Bruder will haben,
daß ich dieſes Buch ausmache. Ach ſeine Schweſter
wuͤrd' es ja vor Schmerzen nicht vermoͤgen, wenns
ſo waͤre. Ich hoff' aber zum Himmel, daß mein
Bruder nicht ſo kraͤnklich iſt als er meint. — Nach
dem Eſſen denkt ers wohl. — Und ich muß ihn,
wenn wir beide Friede haben ſollen, darin beſtaͤr¬
ken und ihn fuͤr eben ſo krank ausgeben wie er ſel¬
ber. Geſtern mußt' ihm der Schulmeiſter an die
Bruſt klopfen, damit er hoͤrte, ob ſie hallete,
weil ein gewiſſer Avenbruͤgger in Wien geſchrie¬
ben hatte, dieſes Hallen zeige eine gute Lunge an.
Zum Ungluͤck hallete ſie wenig: und er giebt ſich
deswegen auf; ich will aber ohne ſein Wiſſen an
den H. Doktor Fenk ſchreiben, damit er ſeine
Qualen ſtille. — — Ich ſoll noch berichten, daß
der junge Herr v. Falkenberg krank in Oberſchae¬
rau bei ſeinen Eltern iſt und daß meine Freundin
Beata auch kraͤnklich bei den ihrigen iſt . . . . Es iſt
fuͤr uns alle ein finſtrer Winter: der Fruͤhling heile
jedes Herz und gebe mir und den Leſern dieſes Buchs
meinen lieben Bruder wieder!
[261]
Acht und vierzigſter oder Mai-Sektor.
Der hämmernde Vetter — Kur — Bade-Karavane.
— — Er iſt wieder zu haben, der Bruder und
Biograph! Frei und froh tret' ich wieder vor; der
Winter und meine Narrheit ſind voruͤber und lau¬
ter Freude wohnt in jeder Sekunde, auf jedem
Oktavblatt, in jedem Dintentropfen.
Es gieng ſo. Eine jede eingebildete Krankheit
ſetzt eine wahre voraus; aber eingebildete Krank¬
heitsurſachen giebts. Mein Wechſel zwiſchen Ge¬
ſund- und Siechſeyn, zwiſchen Froh- und Traurig-,
zwiſchen Weich- und Hartſeyn war mit ſeiner
Schnelligkeit und ſeinen Kontraſten aufs Hoͤchſte
gekommen; ich konnte vor Mangel an Athem kein
Protokoll mehr diktiren und die Szenen dieſer Bio¬
graphie durft' ich mir nicht einmal mehr den¬
ken: als ich an einem rothgluͤhenden Winterabend
durch den rothgeſchminkten Schnee drauſſen herum¬
ſchritt und in dieſem Schnee das Wort heureuſe¬
ment antraf.
Ich werde an dieſes Wort der Schnee-Wachs¬
tafel immer denken: es war mit einem Bambus¬
[262] rohr lapidariſch ſchoͤn hineingezeichnet. „Fenk!“
rief ich mechaniſch. „Weit kannſt du nicht weg
ſeyn,“ dacht' ich: denn da jeder Europaͤer (ſogar
auf ſeinen Plantagen) den Schnitt ſeiner Feder, an
einem eignen Worte pruͤfet und da der Doktor
ſchon ganze Bogen mit dem Probierlaut heureuſe-
ment als erſten Abdrucke ſeiner Feder vollgemacht;
ſo wußt' ich gleich wie es war.
— Und bei mir ſaß er; und lachte (ſicher mehr
uͤber die Krankheitshiſtorie von meiner Schweſter
als uͤber meine Invaliden-Geſtalt) mich ſo lange
aus, daß ich, da ich nicht wußte, ſollt' ich la¬
chen oder zuͤrnen, am beſten eines um das andre
that. — Aber bald kam er in meinen Fall und mußte
auch eines um das das andre thun — bei einer Hiſto¬
rie, die uns, naͤmlich der ganzen hypochondriſchen Jun¬
to, zur Schande gereicht und die ich doch erzaͤhle.
Es war naͤmlich ein naher Vetter von mir,
Fedderlein genannt, auch in der Stube, der bei¬
des ein Scheerauer Schuſter und Thuͤrmer iſt: er
ſorgt fuͤr die Stiefel und fuͤr die Sicherheit der
Stadt und hat mit Leder und Chronologie (wegen
dem Laͤuten) zu thun. Mein naher Vetter war
kohlſchwarz und betruͤbt, nicht uͤber meine Krank¬
[263] heit ſondern uͤber die ſeiner Frau, weil ſie daran
verſtorben war. Dieſen Krankheits- und Todten¬
fall wollt' er mir und dem Doktor auch hinterbrin¬
gen, um den letztern zu belehren und den erſtern zu
ruͤhren. Es waͤre auch gegangen, haͤtt' er nicht
zum Ungluͤck ein Trennmeſſer meiner Philippine er¬
wiſcht und damit waͤhrend ſeiner eignen Aufmerkſam¬
keit auf die Todespoſt ſehr auf den Tiſch gehaͤmmert.
Ich ſetzte mirs ſogleich vor, es nicht zu leiden. Mei¬
ne Hand kroch daher — meine Augen hielten ſeine feſt
— dem gedachten Hammer naͤher, um ihn zu hindern.
Aber des Vetters ſeine wich ihr hoͤflich aus und,
klopfte fort. Ich haͤtte mich gern geruͤhrt; er kam den
letzten Stunden meiner ſel. Baſe immer naͤher — aber
ich konnte meine Ohren vom Meſſer-Hammerwerk
nicht wegbringen. Zum Gluͤck ſah ich den kleinen
Wuz dort ſtehen und lieh eiligſt dem Klopfer das
ungluͤckliche Trennmeſſer ab und ſchnitt dem Kinde
damit ein Paar halbe — Faſtnachtsbrezeln vor in
der Angſt.
Jetzt ſtand ich gerettet da und hatte ſelber das
Meſſer. Aber er begann jetzt auf der Klaviatur des Ti¬
ſches mit den entwaffneten Fingern zu ſpielen und
verſah, in der Novelle, ſeine Frau mit dem h.
[264] Abendmahl. Ich wollte mich und meine Ohren
uͤberwinden; aber da mich theils der innere Krieg,
theils meine horchende Aufmerkſamkeit auf ſeine
trommelnden Finger, die ich nur mit der groͤßten
Muͤhe vernehmen konnte, gaͤnzlich von meiner gu¬
ten Baſe wegzogen, die gewiß eine Frau und
Thuͤrmerin war wie wenige: ſo hatt' ichs ſatt und
fieng nach ſeiner orgelnden Quaal-Hand, legte ſie
in Arreſt und brach aus: „o mein lieber H. Vet¬
ter Fedderlein!“ Er muthmaßte, ich waͤre geruͤhrt;
und wurd' es ſelber immer mehr, vergaß ſich und
ſchnipſete mit den linken noch arreſtfreien Fingern
an den Tiſch.
Ich wollte mir wie ein Stoiker auf dieſer neuen
Ungluͤcks-Station von innen heraus, helfen und
ſtellte mir waͤhrend des aͤuſſern Schnipſens hinter
mir, meine gute Baſe [und] ihr Todtenlager vor:
„und ſo (ſagt' ich beredt zu mir ſelber) liegſt du
arme Abgebluͤhte denn drunten und biſt ſteif und
unbeweglich und ſo zu ſagen todt! —“ Er ſchnip¬
ſete jetzt ganz toll. — Ich konnte mir nicht helfen,
ſondern ich zog auch die linke Hand des Hiſtorikers
gefaͤnglich ein und druͤckte ſie halb aus Ruͤhrung.
„Sie koͤnnen beide denken, (ſagt' er) wie mir erſt
[265] war, als fiele der Thurm auf mich, da ſie einer
wie einen Sack auf den Ruͤcken faſſen mußte und
ſie die dreizehn Treppen ſo herunter trug.“ — Ich
war auſſer mir, erſtlich daruͤber und zweitens weil
ich in meiner Hand die Anſtrengung der ſeinigen
zu neuem Schnipſen verſpuͤrte: uͤberwaͤltigt ſagt
ich: „ums Himmels Willen, mein theurer Hr.
Vetter, um der guten Seeligen Willen, wenn er
ſeinen eignen Vetter lieb hat . . . .“
„Ich will ſchon aufhoͤren, ſagt'er, wenn Sie's
ſo angreift.” —
„Nein, ſagt' ich, ſchnipſ' er er mir nur nicht
ſo! — Aber ſo eine Baſe bekommen wir beide
ſchwerlich ſo bald wieder!“ Denn ich beſann mich
nicht mehr.
Und doch beſteht das Leben wie ein Miniatur¬
gemaͤlde aus ſolchen Punkten, aus ſolchen Augen¬
blicken. Der Stoiziſmus haͤlt oft die Keule der
Stunde, aber nicht den Muͤckenſtachel der Sekun¬
de ab.
Mein Doktor nahm mich ernſthaft (unter dem
unbefangnen Fragen meines Vetters: „wie wollte
mein H. Vetter?“) aus der Stube hinaus und
ſagte: „du biſt, lieber Jean Paul, mein wahrer
[266] Freund, ein Regierungsadvokat, eine Mauſſenba¬
cher Audienza, ein Schriftſteller im biographiſchen
Fache — aber ein Narr biſt du doch, ich meine
ein Hypochondriſt.”
Abends that er mir beides dar. O an jenem
Abend zogeſt du mich aus dem Rachen und aus den
Giftzaͤhnen der Hypochondrie heraus, die ihren
beiſſenden Saft auf alle Minuten ſpruͤtzen! Dei¬
ne ganze Apotheke lag auf deiner Zunge! Deine
Recepte waren Satyren und deine Kur Beleh¬
rung!
Setz' in deine Biographie — fieng er an und
ſteckte ſeine Haͤnde in ſeinen Muf, — daß es bei
dir keine Nachahmung des H. Thuͤmmels und ſei¬
nes Doktors und ihres mediziniſchen Kollegiums iſt,
das halb aus dem Patienten halb aus dem Arzte
beſtand — daß ich dich auch ausfilze; denn ich will
es in der That thun. — Sag mir, wo haſt du
bisher deine Vernunft, ja nur deine Einbildungs¬
kraft gehabt, daß du des Henkers lebendig wa¬
reſt? Antworte mir nicht, daß die Gelehrten hier
zu verſchiedner Meinung waͤren — daß Willis
die Einbildungskraft in die Hirnſchwiele verlegte —
Poſidonius hingegen in die Vorderkammer, wie
[267] auch Aetius — und Glaſer ins eifoͤrmige Zen¬
trum. Die Sach' iſt nur eine lebhafte Redensart;
weil du mich aber damit irre machſt: ſo will dich
anders angreifen. Sag mir — oder ſagen ſie mir,
liebe Philippine, wie konnten ſie zulaſſen, daß
der Patient bisher ſo viel erhabne, ruͤhrende und
poetiſche Empfindungen hatte und niederſchrieb fuͤr
andre Menſchen? Haͤtten ſie ihm nicht das Din¬
tenfaß oder den Kaffeetopf umwerfen koͤnnen oder
den ganzen Schreibtiſch? die Anſtrengung der em¬
pfindenden Phantaſie iſt unter allen geiſtigen die
entnervendſte; ein Algebraiſt uͤberlebt allemal einen
Tragoͤdienſteller.“
„Und auch, ſagt' ich, einen Phyſiologen:
Hallers verdammte und doch vortrefliche Phyſiolo¬
gie haͤtte mich beinahe niedergearbeitet, die acht
Baͤnde hier.“ — —
„Eben darum — fuhr er fort — dieſe anato¬
miſche Oktapla ſpannt die Phantaſie, die ſonſt
nur uͤber fließende poetiſche Auen zu ſchweben pfleg¬
te, auf ſcharf abgeſchnittene und noch dazu
kleine Gegenſtaͤnde an; daher.“ . . .
„Zum Gluͤck — unterbrach ich ihn — richtete
ich mich und meine Phantaſie ziemlich durch brau¬
[268] nes Bier *) wieder auf, das ich (wenn ich Athem
holen wollte) ſo lange nehmen muſte als ich uͤber
dem Herrn v. Haller ſaß. In dieſem Vehikel und
in dieſer Verduͤnnung bracht' ich dieſe Arznei des
Geiſtes, die Phyſiologie, leichter hinein. Ich kann
alſo, wenn ich nicht der groͤſte Trinker werden
will, unmoͤglich der groͤſte Phyſiolog werden.“
„Es iſt gut — ſagt' er ungeduldig und zog
aus ſeinem Muf den Schwanz heraus — aber ſo
wird nichts. Ich und du ſtehen hier in lauter Ex¬
travagations-Reden, ſtatt in vernuͤnftige Para¬
graphen: die Rezenſenten deiner Biographie muͤſ¬
ſen glauben, ich waͤre wenig ſyſtematiſch.
„Ich will jezt reden wie ein Buch oder wie ei¬
ne Doktordiſputation; ich ſollte ohnehin eine fuͤr
einen Doktoranden mit der D. Manie ſchreiben
und wollte darin entweder den nervus iſchiaticus
[269] oder den nervus ſympatheticus durchgehen; ich wills
bleiben laſſen und hier und in der Diſputation von
ſchwachen Nerven uͤberhaupt reden.“
„Jeder Arzt muß eine Favorit-Krankheit ha¬
ben, die er oͤfters ſieht als eine andre — meine
iſt Nervenſchwaͤche. Reizbare, ſchwache, uͤber¬
ſpannte Nerven, hyſteriſche Umſtaͤnde und deine
Hypochondrie — ſind viele Taufnamen meiner ein¬
zigen Lieblingskrankheit.“
„Man kann ſie ſo zeitig wie den Erbadel be¬
kommen — der Erbadel ſelber, faſt die hoͤhern
Weiber und hoͤchſten Kinder haben ſie aus dieſer
erſten Hand — dann kann ſie durch alle Doktor-
Huͤthe gleich den ewigen Hoͤllenſtrafen nicht wegge¬
nommen ſondern nur gelindert werden.“
„Du aber haſt ſie dir wie den Kaufadel durch
Verdienſte erworben.“ — —
„Sie iſt vielmehr ſelber ein Verdienſt — ſagt'
ich — und ein Hypochondriſt iſt der Milchbruder ei¬
nes Gelehrten, wenn er nicht gar einer iſt; ſo
wie die Blattern, die den Affen ſo gut wie uns
befallen, auf ſeine Verwandſchaft mit dem Men¬
ſchen das Siegel druͤcken.“ —
[270]
„Aber dein Verdienſt — fuhr er fort — iſt viel
leichter zu kurieren. Wenn man dir dreierlei, naͤm¬
lich deine pathologiſchen Fieberbilder — deine
Arzeneiglaͤſer — und deine Buͤcher nimmt:
ſo wird die Krankheit mit drein gegeben. Ich ver¬
geſſe immerfort, daß ich wie eine Diſputation reden
will. Alſo die Fieberbilder! — die jaͤmmerlichſte
Semiotik iſt ſicherlich nicht die ſineſiſche, ſondern die
hypochondriſche. Deine Krankheit und eine ſtoiſche
Tugend gleichen ſich darin, daß wer eine hat, alle
hat. Du ſtandeſt als eine tragende Pfaͤnderſta¬
tue da, der die Pathologie alle ihre Inſignien und
Schilde aufpackte und umſteckte — jaͤmmerlich ſchrit¬
teſt du herum unter deinem mediziniſchen Gewehrtra¬
gen und deiner ſemiotiſchen Landfracht von Herzpo¬
lypus, mazerierten Lungenfluͤgel, Magen-Inſaſſen
u.ſ.w.“
„Ah! jezt iſts — verſetzt' ich — wieder herun¬
ter und ich habe bloß einen Waſſerſchatz im Kopfe,
der mir einen angenehmen Schlagfluß verſpricht.“
„Grillen haſt du im Kopfe: es iſt aber ſo. Im
Hypochondriſten ſind zwar alle Nerven ſchwach, aber
die am ſchwaͤchſten, die er am meiſten gemißbraucht
hat. Da man ſich dieſe Schwaͤche meiſtens erſitzt,
[271] erſtudiert und erſchreibt und mithin gerade dem Un¬
terleib, der doch der Moloch dieſer Geiſteskinder ſeyn
ſoll, alle die Bewegung nimmt, die man den Fin¬
gern giebt: ſo vermengt man den ſiechen Unterleib
mit ſiechen Nerven und hoft, Kaͤmpfs Viszeral-
Spruͤtze ſei zugleich eine Doppelflinte gegen jenen
und gegen dieſe. Glaub' es aber nicht; es kann ein
hypochondriſches Bruſtſtuͤck auf einem ruͤſtigen Mo¬
biliar-Unterleib ſitzen. Nicht deine Lungenfluͤgel
ſind zerknickt, wenn ſie zuweilen erſchlaffen, ſon¬
dern deine Lungennerven ſind entſeelt, von denen
ſie gehoben werden oder auch deine Zwergfells-
Nerven; — ſpannen ſich deine Magennerven ab,
ſo haſt du ſo viel Schwindel und Eckel als laͤge
wirklich diaͤtetiſcher Bodenſatz im Magen oder ir¬
gend eine Adern-Fluth im Kopfe. Sogar der
ſchwache Magen iſt nicht immer im Gefolge ſchwa¬
cher Nerven. — Dein Herbſt-Kolorit, deine
fleiſchloſe Knochen-Verſteinerung, dein aufhoͤren¬
der Puls, ſo gar deine Ohnmachten haben — nichts
zu ſagen, mein lieber Paul!
„Ei! den Henker! ſagte der Patient!“
„Denn, ſagte der Doktor, da alles durch
Nerven, wovon oft Gelehrte nicht einmal die De¬
[272] finition wiſſen, ausgefuͤhret wird! ſo muͤſſen die
periodiſchen und wandernden aber fluͤchtigen Kraͤm¬
pfe und Ermattungen der Nerven nach und nach
die ganze Semiotik durchlaufen, aber nicht die
ganze Pathologie. Jezt tritt mein zweiter Para¬
graph in der umgoldeten Diſputation hervor.“ —
„Wo war denn der erſte?“
„Schon da! daher wirft der zweite alle Arz¬
neiglaͤſer auf die Gaſſe, blaͤſet alle Pulver in die
Luft, legt mit Banſtrahlen alle verdammte Ma[¬]
gen-Arzeneien in Aſche, gießet [ſogar] warme und
oft kalte Badewannen aus und ſchiebt Kaͤmpfs Kly¬
ſtiermaſchienen weit unters Krankenbett und tobt
ſehr, . . . Denn die Nerven werden ſo wenig in
einer Woche (es ſei die beſte Eiſenkur da) geſtaͤrkt
als in einer Woche (es ſei die groͤſte Ausſchweifung
da) entmannt; ihre Staͤrke kehret mit ſo langſa¬
men Schritten zuruͤck als ſie ſich entfernte. Die
Arzneien muͤſſen ſich alſo in Speiſen — und da das
ſchadet — mithin die Speiſen in Arzneien verwan¬
deln.“
„Ich eſſe vom Wenigſten.“
„Das iſt die unangenehmſte — Unmaͤßigkeit
und der Magen treibt da nach ſeinen Kraͤften eine
Art[273] Art Skepticismus oder Fohiſmus oder doch Apathie.
Kehre lieber die litterariſche Regel um und eſſe
vielerlei, aber nicht viel (multum non multa.)
Die Diaͤtetik hat in Eſſen, Trinken, Schlafen ꝛc.
nichts uͤber die Art, aber alles uͤber den Grad
zu befehlen. Hoͤchſtens hat jeder ſeinen eignen Re¬
genbogen, ſeinen eignen Glauben, ſeinen eignen
Magen und ſeine eigne — Diaͤtetik. Und doch iſt
das alles nicht mein dritter Doktoranden-Para¬
graph, ſondern erſt das: bloß Bewegung des
Koͤrpers iſt erſter Unterarzt gegen Hypochondrie;
— und — da ich ſchon Hypochondrie und Bewe¬
gung vereinigt im beweglichen tiers état geſehen —
bloß Mangel aller Bewegung der Seele iſt der er¬
ſte Leibarzt gegen den ganzen Teufel. Leidenſchaf¬
ten ſind ſo ungeſund wie []ihr Feind, das Den¬
ken, oder ihr Freund, das Dichten; bloß ihre
ſaͤmmtliche Koalition iſt noch giftiger.“
„Unter den Leidenſchaften — fuhr er fort —
loͤſet Kummer wie Thauwetter alle Kraͤfte auf —
ſo wie Vergnuͤgen unter allen Nerven-Aphrodiſiaka
das ſtaͤrkſte iſt. — Jezt will ich alle deine medizi¬
niſchen Schnitzer und Waldfrevel auf Einen Hau¬
2. Theil. S[274] fen bringen, damit du nur hoͤreſt was du
biſt.“ . .
„Ich hoͤre nicht darauf.“
„Du haſt aber doch wie alle Hypochondriſten
und alle lecke Weiber fatal gehandelt und bald den
Magen bald die Lunge, d. h. bald das Kamrad
bald das Hebrad bald das Zifferblattsrad gießend
eingeſchmiert, indeß der treibende Gewicht-Stein
abgeriſſen oder abgelaufen auf der Erde lag. Du
ſaugteſt dich wie die einbeinige Muſchel an deinen
Studierfelſen an. Und — das war im Grunde
das einzige Schlimme — druͤckteſt dich mit der bren¬
nenden und matten Bruſt einer Bruthenne, auf
deine biographiſchen Eier und Sektores und wollteſt
nachkommen. Wo blieb dein Gewiſſen, deine
Schweſter, dein gelehrter Ruhm, dein Magen? . .
„Wedele nicht ſo, Fenk, mit dem Muf-
Schwanz und werf' ihn ins Bett;“
„Meine Doktor-Diſputation und deine Krank¬
heit ſind auch aus, wenn deine Thaͤtigkeit ſich wie
in einem Staat von oben herab vermindert: den
Kopf unthaͤtig, das Herz in heitern Schlaͤgen, die
Fuͤße im Laufe und dann komm der Maͤrz nur her¬
aus!“ . . . .
[275]
Ich thats einige Monate hinter einander;
um den armen Leib wieder in integrum zu reſtitui¬
ren — und als ich mich ſo des gelben Ratzenpulvers
und Mehlsthaues fuͤr die Nerven, naͤmlich des Kaf¬
fees und des Witzes enthielt und ſtatt beider zu brau¬
nem Bier und zu meinem Wuze grif: ſo wurde
einmal ploͤtzlich die Stube hell, Auenthal und der
Himmel flammend, die Menſchen legten ihre Fehler
ab, alle Flaͤchen gruͤnten, alle Kehlen ſchlugen, alle
Herzen laͤchelten, ich nieſete vor Licht und Wonne
und dachte: entweder eine Goͤttin iſt gekommen oder
der Fruͤhling — — es war gar beides und die Goͤt¬
tin iſt die Geſundheit.
Und blos auf deinem Altar will ich meine biogra¬
phiſchen Blaͤtter weiter ſchreiben! — der Peſtilenziar
thuts nicht anders; ſeine Schluͤſſe und Rezepte ſind
die: „ich wuͤrde — ſagt' er — in meiner Biographie
gleich der heißen Zone den ganzen Winter mit allen
ſeinen Faktis uͤberſpringen, da er ohnehin nur wie
in jener Zone im Regnen (der Augen) beſteht. Ich
wuͤrde wenn ich an deiner Stelle ſaͤße, ſagen, der
Doktor Fenk wills nicht haben, nicht leiden, nicht le¬
ſen, ſondern ich ſoll ſtatt in einer Entfernung von
365 Stunden der [vorausſchreitenden] ſaͤenden Ge¬
S 2[276] ſchichte keuchend mit der Feder nachzueggen, lieber
hart hinter der Gegenwart halten und ſie ans Sil¬
houettenbrett andruͤcken und ſo gleich abreißen. Ich
wuͤrde (fuhr Fenk fort) dem Leſer rathen, bloß den
D. Fenk anzupacken, der allein ſchuld waͤre, daß ich vom
ganzen Winter nur folgenden ſchlechten Extrakt gaͤbe:
Der gute Guſtav verſchmerzte den Winter in
Hoppedizels Hauſe bei ſeinen Eltern; mattete ſei¬
nen Kopf ab, um ſein Herz abzumatten und ein
anderes zu vergeſſen; bereuete ſeinen Fehler, aber
auch ſeinen voreiligen Abſchiedsbrief; ſetzte ſei¬
ne Wunden dem philoſophiſchen Nordwind des Pro¬
feſſors aus, der auf einem zarten Inſtrument wie
Guſtav iſt, wie auf einem Pedal mit den Fuͤßen or¬
gelt; und zehrte durch Einſperren, Denken und
Sehnen ſeine Lebensbluͤthen ab, die kaum der Fruͤh¬
ling wieder nachtreiben oder mahlen kann,
Beata wuͤrde zu Hauſe — denn ihr weibliches
Auge fand wahrſcheinlich die Parze ihrer Freuden
leicht heraus, von der ſie ſich unter dem ihr verdank¬
ten Vorwand der Kraͤnklichkeit ohne Muͤhe geſchieden
hatte — noch mehr ſich entblaͤttert und umgebogen
haben, waͤre mein romantiſcher Kollege Oefel nicht
geweſen: der aͤrgerte ſie hinlaͤnglich und miſchte ih¬
[277] rem Kummer die Erfriſchungen des Zornes bei, in¬
dem er immer kam und im ſchoͤnſten gebrochnen
eingeſchleierten Auge der verlohrnen Liebe ſeine auf¬
ſuchte und herausforderte. Jezt trinkt ſie, auf
Fenks Treiben, den Brunnen in Lilienbad und
lebt allein mit einem Kammermaͤdgen — — der
Mai hebe die geſenkte Blumen-Knoſpe deines Gei¬
ſtes empor, den dein Flockenleib, wie Blumen
neu gefallner Schnee, umlegt und druͤckt und aus
deſſen aufgeriſſenen Blumen-Blaͤttern die Schnee-
Rinde erſt unter der Fruͤhlingsſonne des entfern¬
ten zweiten Himmels rinnen wird! —
Ottomar hat den Winter verzankt und ver¬
ſtritten; hat viele Korreſpondenz; advoziert wie
ich, aber gegen jeden giftigen Stammbaum und
Hundsſtern auf dem Rock, am meiſten gegen
den Fuͤrſtenhut ſeines Bruders, der damit Unter¬
thanen wie Schmetterlinge erwirft und faͤngt. Er
glaubt, ein Advokat ſei der einzige Volkstribun
gegen die Regierung, nur ſei das bisherige Leſen
der Advokaten ſchlimmer geweſen als ſelbſt das
Buchſtabieren, das der ſeel. Heinecke fuͤr ſchlim¬
mer ausſchrie als Erbſuͤnde und Peſt. Ich moͤchte
ihn faſt fuͤr den Verfaſſer einer Satire uͤber den
[278] Fuͤrſten halten, die im Winter vor den Thron
kam und die der Pathenbrief eines Raͤubers mit
der Bitte war, der Fuͤrſt moͤchte dem kleinen
Diebs-Dauphin ſeinen Namen geben wie einem
Miniſter und ſich ſeiner annehmen wenn die Eltern
gehenkt waͤren. Am meiſten fielen nur einige paſ¬
quillantiſche Zuͤge auf, die eine feinere Hand ver¬
rathen: z. B. der Staat ſei eine Menſchenpyra¬
mide, wie ſie oft die Seiltaͤnzer formieren und die
Spitze derſelben ſchließe ſich mit einem Knaben —
das Volk ſei zaͤhe und biegſam wie das Gras, wer¬
de vom Fußtritt nicht zerknickt, wachſe wieder
nach, es moͤge abgebiſſen oder abgeſchnitten wer¬
den und die ſchoͤnſte Hoͤhe deſſelben fuͤr ein monar¬
chiſches Auge ſei die glattgeſchorne des Park-Gra¬
ſes — Diebe und Raͤuber wuͤrden fuͤr Separatiſten
und Diſſenters im Staate gehalten und lebten un¬
ter einem noch aͤrgern Druck als die Juden, ohne
alle buͤrgerliche Ehre, von Aemtern ausgeſchloſſen,
in Hoͤlen wie die erſten Chriſten und eben ſolchen
Verfolgungen ausgeſetzt; gleichwohl fahre man
ſolchen Staatsbuͤrgern, die den Luxus und Geld –
Umtrieb und Konſumtion und Handel ſtaͤrker be¬
foͤrderten als irgend ein Geſandter, bloß darum
[279] ſo hart mit; weil dieſe Religionsſekte beſondere
Meinungen uͤber das ſiebente Gebot hegten, die
im Grunde nur im Ausdruck ſich von denen ande¬
rer Sekten unterſchieden ꝛc. —
Der Verfaſſer kann aber auch ein wirkliches
Mitglied dieſer geheimen Geſellſchaft ſeyn, die
uͤberhaupt weit humoriſtiſcher und unſchaͤdlicher
ſtiehlt als jede andre. Neulich hielten ſie den
Poſtwagen an und nahmen ihm nichts als ein
Grafen-Diplom, das jemand zugefahren wurde,
der nicht die Emballage deſſelben verdiente — fer¬
ner ſie foderten einmal wie ein hoͤherer Gerichts¬
ſtand dem Beiwagen gewiſſe wichtige Akten ab,
uͤber die ich hier nichts ſagen darf — und vor 14
Tagen hielten ihre Kaper-Schiffe vor den Schraͤn¬
ken der Theater- und der Redouten-Garderobe
und warfen ihre Zuggarne uͤber die darin haͤngen¬
den Charakter aus; es waren nachher keine Klei¬
der zum Agieren und Maſkieren da als baͤueriſche.
— Ich halte ſie fuͤr dieſelben, die wie der Leſer
weiß, vorlaͤngſt den leidtragenden Kanzeln und Al¬
taͤren die ſchwarzen Fluͤgeldecken abgeloͤſet haben.
So waͤre alſo der biographiſche Winter abge¬
than und weggeſchmolzen. — „Haſt du ſo viel ge¬
[280] ſchrieben — ſagte Fenk — ſo reiſe nach Lilien¬
bad und brauche den Brunnen und den Brunnen-
Doktor welches ich bin, und den Brunnen-Gaſt,
welches Guſtav iſt: denn dieſer heilet ohne das
Lilien-Waſſer und ohne die Lilien-Gegend dort
nicht aus; ich muß ihn hinbereden, es mag dort
ſchon ſeyn wer will. Freue dich, wir gehen einem
Paradies entgegen und du [biſt] der erſte Autor im
Paradieſe, nicht Adam.”
„Das ſchoͤnſte Beet — ſagt' ich — iſt in die¬
ſem Eden das, daß mein Werk kein Roman iſt:
die Kunſtrichter ließen ſonſt fuͤnf ſolche Perſonen
auf einmal wie uns nimmermehr ins Bad, ſie
wuͤrden vorſchuͤtzen, es waͤre nicht wahrſcheinlich,
daß wir kaͤmen und uns in einem ſolchen Himmel
zuſammen faͤnden. Aber ſo hab' ich das wahre
Gluͤck, daß ich bloß eine Biographie ſetze und daß
ich und die andern ſaͤmmtlich wirklich exiſtieren,
auch außer meinem Kopfe.” . . .
— — Jezt kann der Leſer den Geburtstag
dieſes Sektors hoͤren — — er iſt gerade einen
Tag juͤnger als unſer Gluͤck — kurz morgen reiſen
wir, ich und Philippine, und heute ſchreib' ich
ihn. Guſtav wird bloß durch einen Strom von freund¬
[281] ſchaftlichen und mediziniſchen Vorſtellungen mit fort¬
gefuͤhret und morgen von uns fortgezogen. — Die
Fortuna hat dieſesmal keine Vapeurs und keine ein¬
ſeitigen Kopfſchmerzen; alles gluͤckt uns; eingepackt
iſt alles — meine Dilatationsgeſuche ſind geſchrieben
— aus Maußenbach darf mich niemand ſtoͤhren —
der Himmel iſt himmliſch blau und ich brauche nicht
meinen Augen, ſondern dem Cyanometer*) des
H. v. Sauſſure zu glauben — ich ſehe wie der Fruͤhling
und ſeine gaukelnden Schmetterlinge aus und bluͤhe
— kurz: meinem Gluͤck fehlte nichts als daß gar der
heutige Sektor gluͤcklich geſchrieben war, den ichs bis
heute hinausſpielte, um die ganze Vergangenheit
hinter mir zu haben und morgen nichts beſchreiben
zu muͤſſen als morgen. . . .
Und da der jezt auch fertig iſt: ſo — blauer Mai,
— breite deine Liebes-Arme aus, ſchlage deine him¬
melblauen Augen auf, decke dein Jungfrauen-Ange¬
geſicht auf und betrete die Erde, damit alle Weſen
wonnetrunken an deine Wangen, in deine Arme, zu
deinen Fuͤßen fallen und der Biograph auch wo liege!
[282]
Neun und vierzigſter oder 1ter Freuden-Sektor.
Der Nebel — Lilienbad.
Nimm uns in dein Blumen-Eden auf, eingehuͤll¬
tes Lilienbad, mich, Guſtav und meine Schweſter,
gieb unſern Traͤumen einen irdiſchen Boden, damit
ſie vor uns ſpielen und ſei ſo daͤmmernd ſchoͤn wie
eine Vergangenheit!
Heute zogen wir ein und unſer Vorreiter war
ein ſpielender Schmetterling, den wir vor uns von
einer Blumen-Stazion auf die andre trieben. —
Und der Weg meiner Feder ſoll auch uͤber nichts
anders gehen.
Der heutige Morgen hatte die ganze Auentha¬
ler Gegend unter ein Nebel-Meer geſetzt. Der ganze
Wolkenhimmel ruhte auf unſern tiefen Blumen aus.
Wir brachen auf und giengen in dieſen flieſſenden
Himmel hinein, in den uns ſonſt nur die Alpen
heben. An dieſem Dunſt-Globus oben zeichnete ſich
die Sonne wie eine erblaſſende Nebenſonne hinein:
endlich verlief ſich der weiſſe Ozean in lange Stroͤ¬
me — auf den Waͤldern lagen hangende Berge,
[283] jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uͤber uns
gieng der blaue Himmelszirkel immer weiter aus¬
einander, bis endlich die Erde dem Himmel ſeinen
zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groſ¬
ſe ewige Angeſicht ſchauete — das zuſammengeleg¬
te Weißzeug des Himmels (wie meine Schweſter
ſagte) flatterte noch an den Baͤumen, und die Ne¬
belflocken verhiengen noch Bluͤten und wogten als
Blonden um Blumen — endlich war die Landſchaft
mit den glimmenden Goldkoͤrnern des Thaues be¬
ſprengt und die Fluren waren wie mit vergroͤßer¬
ten Schmetterlingsfluͤgeln uͤberlegt. Eine gereinig¬
te hebende Maienluft kuͤhlte mit Eis den Trank
der Lunge, die Sonne ſah froͤhlich auf unſern fun¬
kelnden Fruͤhling nieder und ſchaute und glaͤnzte in
alle Thaukuͤgelchen wie Gott in alle Seelen . . . .
o wenn ich heute an dieſem Morgen, wo uns alles
zu umfaſſen ſchien und wo wir alles zu umfaſſen
ſuchten, mir nicht antworten konnte, da ich mich
fragte, „war je deine Tugend ſo rein wie dein
Vergnuͤgen und fuͤr welche Stunden will dich dieſe
belohnen:“ ſo kann ich jetzt noch weniger antwor¬
ten, da ich ſehe, daß der Menſch ſeine Freuden,
aber nicht ſeine Verdienſte durch die Erinnerung er¬
[284] neuern kann und daß unſre Gehirn-Fibern die Sai¬
ten einer Aeolsharfe ſind‚ die unter dem Anwe¬
hen einer laͤngſt vergangnen Stunde zu ſpielen be¬
ginnen. Der große Weltgeiſt konnte nicht die gan¬
ze ſproͤde Chaos-Maſſe zu Blumen fuͤr uns umge¬
ſtalten; aber unſerem Geiſt gab er die Macht‚ aus
dem zweiten aber biegſamern Chaos‚ aus dem Ge¬
hirn-Globus nichts als Roſen-Gefilde und Sonnen-
Geſtalten und Freuden zu machen. Gluͤcklicherer
Rouſſeau als du ſelber wußteſt! Dein jetziger er¬
kaͤmpfter Himmel wird ſich von dem‚ den du hier
in deiner Phantaſie anlegteſt, in nichts als darin
unterſcheiden‚ daß du ihn nicht allein bewohneſt . . .
Aber das macht eben den unendlichen Unter¬
ſchied; und wo haͤtt' ich ihn ſuͤßer fuͤhlen koͤnnen
als an der Seite meiner Schweſter, deren Mienen
der Wiederſchein unſers Himmels, deren Seufzer
das Echo unſerer verſchwiſterten Harmonie geweſen.
Sei nur immer ſo, theure Geliebte, die du vom
Kranken ſo viel litteſt als ich von der Krankheit!
Ich weiß ohnehin nicht, was ich oͤfter von dir zu¬
ruͤcknehme, meinen Tadel oder mein Lob!
Wir langten unter ſprachloſen Gedanken in Un¬
terſcheerau an und fanden unſern bleichen Reiſege¬
[285] noſſen ſchon bereit, meinen Guſtav. Er ſchwieg
viel und ſeine Worte lagen unter dem Druck ſeiner
Gedanken: der aͤuſſere Sonnenſchein erblich zu in¬
nerem Mondſchein und kein Menſch iſt froͤhlich,
wenn er das Beſte ſucht oder zu finden hoft, was
hienieden zu verlieren iſt. — Geſundheit und Liebe.
Da in ſolchen Faͤllen die Saiten der Seele ſich nur
unter den leichteſten Fingern nicht verſtimmen, d. h.
unter den weiblichen: ſo ließ ich meine ruhen und
weibliche ſpielen, die meiner Schweſter.
Als wir endlich manchen Strom von Wohlge¬
ruch durchſchnitten hatten — denn man geht oft
drauſſen vor parfuͤmirten Luͤftchen vorbei, von de¬
nen man nicht weiß woher ſie wehen; — als alle
Freuden-Duͤnſte des heutigen Tages im Auge zum
Abendthau zuſammenfloſſen und mit der Sonne ſan¬
ken; als der Theil des Himmels, den die Son¬
ne uͤberflammte, weiß zu gluͤhen anfieng eh' er
roth zu gluͤhen began, indeß der oͤſtliche Theil
im dunkeln Blau nun der Nacht entgegen kam;
als wir jedem Vogel und Schmetterling und Wan¬
derer, der nach Lilienbad ſeine Richtung nahm,
mit den Augen nachgezogen waren: — ſo [ſchloß]
uns endlich das ſchoͤne Thal, in das wir ſo viele
[286] Hofnungen als Saamen kuͤnftiger Freuden mit¬
brachten, ſeinen Buſen auf. — Unſer Eingang
war am oͤſtlichen Ende, am weſtlichen ſah uns die
zur Erde herabgegangene Sonne an und zerfloß
gleichſam aus Entzuͤcken uͤber ihren angewandten
Tag in eine Abendroͤthe, die durch das ganze Thal
ſchwamm und bis an die Laub-Gipfel ſtieg. — Nie
ſah' ich ſo eine: ſie lag wie herab getropfet, in
dem Gebuͤſch, auf dem Graſe und Laube und mal¬
te Himmel und Erde zu Einem Roſen-Kelch. Ein¬
zelne, zuweilen gepaarte Huͤtten huͤllten ſich mit
Baͤumen zu, lebendige Jalouſie-Fenſter aus Zwei¬
gen preßten ſich an die Ausſichten der Zimmer und
bedeckten den Gluͤcklichen, der heraus nach dieſen
Szenen der Wonne ſah, mit Schatten, Duͤften,
Bluͤten und Fruͤchten. Die Sonne war hinabge¬
ruͤckt, das Thal legte wie eine verwittibte Fuͤrſtin
einen Schleier von weiſſen Duͤften an und ſchwieg
mit tauſend Kehlen — alles war ſtill — ſtill ka¬
men wir an — ſtill wars um Beatens Huͤtte, an
deren Fenſter ein Blumentopf mit einem einzigen
Vergißmeinnicht noch vom Begießen troͤpfelte —
ſtill waͤhlten wir unſere gepaarte Huͤtten und un¬
ſre Herzen zergiengen uns vor ruhiger Wonne uͤber
[287] dieſen heiligen Abend unſrer kuͤnftigen Feſttage,
uͤber dieſe ſchoͤne Erde und ihren ſchoͤnen Himmel,
die beide zuweilen wie eine Mutter ſich nicht regen,
damit das an ſie geſunkne Kind nicht aus ſeinem
Schlummer wanke. —
O ſollten einmal unſre Tage in Lilienbad auf
Dornen ſterben, ſollt' ich, ſtatt der Freuden-Sekto¬
res einen Jammer-Sektor ſchreiben muͤſſen: —
wenn's einmal iſt: ſo ſieht es der Leſer daran vor¬
aus, daß ich das Wort-Freude- vom Sektor weg¬
laſſe und ſtatt der Ueberſchrift nur Kreuze mache.
Es iſt aber unmoͤglich; ich kann meinen Bogen ru¬
hig beſchlieſſen. — Beata haucht noch ein leiſes
Abendlied in ihr mit Saiten uͤberzognes Echo; wenn
beide ausgetoͤnet, ſo wird der Schlaf das Sinnen¬
licht der Menſchen in Lilienbad ausloͤſchen und das
Nachtſtuͤck des Traums in den daͤmmernden See¬
len ausbreiten . . . .
[288]
Funfzigſter oder 2ter Freuden-Sektor.
Der Brunnen — die Klagen der Liebe.
Ich bin im erſten Himmel eingeſchlafen und im
dritten aufgewacht. Man ſollte an keinen Orten
aufwachen als an fremden — in keinen Zimmern als
denen, in die die Morgenſonne ihre erſten Flam¬
men wirft — vor keinen Fenſtern als denen, wo
das Schattengruͤn wie ein Namenszug im himm¬
liſchen Feuerwerk brennt und wo der Vogel zwiſchen
den durchhuͤpften Blaͤttern ſchreiet . . . .
Ich wollte mein kuͤnftiger Rezenſent lebte mit
mir auf der Stube zu Lilienbad; er wuͤrde nicht
(wie er thut) uͤber meine Freuden-Sektores den
aͤſthetiſchen Stab brechen ſondern Eichenzweig, um
den Vater derſelben zu bekraͤnzen. . . .
Dieſer Vater iſt jetzt ein Damenſchneider, aber
bloß in folgendem Sinn: in der Mitte von Lilien¬
bad ſteht das mediziniſche Baſſin, aus dem man
die aus der Erde quellende Apotheke ſchoͤpft; von
dieſem Baſſin entfernen ſich in regelloſer Symme¬
trie die artiſtiſchen Bauerhuͤtten die die Badgaͤſte
bewoh¬[289] bewohnen; jede dieſer kleinen Huͤtten putzt ſich
ſcherzhaft mit dem heraushaͤngenden Malzeichen oder
der Signatur irgend eines Handwerks. Mein
Haͤuschen haͤlt eine Scheere als eine techniſche In¬
ſignie heraus, um kund zu thun, wer drinnen
wohne (welches ich thue), treibe das Damenſchnei¬
der-Handwerk. Meine Schweſter iſt (nach dem Ex¬
ponenten eines hoͤlzernen Strumpfs zu urtheilen)
ein Strumpfwirker; neben ihr ſchwankt ein hoͤlzer¬
ner Stiefel oder ein hoͤlzernes Bein (wer kanns
wiſſen?) und ſaget uns ſo gut wie ein Handwerks¬
grus den darin ſeßhaften Schuſter an, welches nie¬
mand als mein Guſtav iſt.
Auf Beatens Huͤtte, die wie jetzige Damen
einen Hut oder ein Dach von Stroh aufhat, liegt
eine lange Leiter hinauf und kuͤndigt die ſchoͤne
Baͤuerin darin an und iſt die Himmelsleiter, un¬
ter der man wenigſtens Einen Engel ſieht.
Es iſt auch auswaͤrts bekannt, daß unſer Fuͤr¬
ſtenthum ſo gut ſeinen Geſundbrunnen hat und ha¬
ben muß als irgend eines auf der Fuͤrſtenbank —
(denn jedes muß eine ſolche pharmazevtiſche Quelle
wie einen Flakon bei ſich fuͤhren, um gegen kame¬
raliſtiſche Ohnmacht daran zu riechen) — ferner
2. Theil. T[290] kann es bekannt ſeyn, daß ſonſt viele Gaͤſte hier¬
her kamen und jetzt keine Katze — und daß daran
nicht der Brunnen ſondern die Kammer ſchuld iſt,
die zuviel hineinbauete und zuviel heraus haben
will und die ſo theuer anfieng als der Seltersbrun¬
nen endigte — daß mithin unſer Brunnen ſo wohl¬
feil endigen will als jener anfieng — und daß un¬
ſer Lilienbad bei allen mediziniſchen Kraͤften doch
die wichtigere nicht hat, einen wenigſtens nur ſo
krank zu machen als eine Kammerjungfer iſt — —
ich ſagte, das waͤr' alles bekannt genug und ich hatt'
es alſo gar nicht zu ſagen gebraucht.
Freilich iſts nicht das Verdienſt der andern Ge¬
ſundbrunnen wenn ſie angenehme Krankheitsbrun¬
nen ſind, um die ſich die ganze große und reiche
Welt als Prieſter ſtellet — haͤtten wir nur hier in
Lilienbad auch ſolche weibliche Engel wie in andern
Baͤdern, die den Teich von Bethesda erſchuͤttern
und ihm eine mediziniſche Kraft mittheilen, die der
des bibliſchen Teiches entgegengeſetzt iſt: haͤt¬
ten wir Spieler, die zum Sitzen, Brunnenaͤrzte,
die zum Brunnenſaufen (nicht Brunnentrinken)
zwingen: ſo wuͤrde unſere Quelle ſo gut wie jede
andre Deutſche faͤhig ſeyn, die Zechgaͤſte in Stand
[291] zu ſetzen, daß ſie jedes Jahr — wieder kaͤmen.
Aber ſo wird unſere Brunneninſpektion ewig ſehen
muͤſſen wie die kranke Phalanx der großen Welt
vor uns vorbei rollt und um andre Brunnen ſich
draͤngt, wie die wilden Thiere um einen in Afrika;
und wenn Plinius *) aus dieſen Thierkonventen das
Sprichwort in der Note erklaͤrt: ſo wollt' ich auch
aͤhnliche Neuigkeiten aus den Brunnenkongreſſen er¬
klaͤren.
Die Kammer iſt am Ende am meiſten zu be¬
dauern, daß in unſerem Joſaphats-Thale bloß
Natur, Seeligkeit, Maͤßigkeit und Auferſtehung
wohnet.
Heute tranken wir alle am Waſſer-Baquet das
uͤber Eiſen abgezogne Waſſer unter dem Laͤrm der
Voͤgel und Blaͤtter und ſchlangen das daraus ſchim¬
mernde Sonnenbild und zugleich ihr Feuer mit hin¬
ein. Der Kummer-Winter hat um die Augenlie¬
der der Beata und um ihren Mund die unausſprech¬
T 2[292] lich-holden Buchſtaben ihres verblichnen Schmerzes
gezogen: ihr großes Auge iſt ein ſonnenheller Him¬
mel, dem glaͤnzende Tropfen entfallen. Da ein
Maͤdchen die Pfauenſpiegel ihrer Reize leichter an
einem andern Maͤdchen als an einer Mannsperſon
entfalten kann: ſo gewann ſie ſehr durch das Spiel
mit meiner Schweſter. Guſtav — fehlte: er trank
ſeinen Brunnen nach und verirrte ſich in die Reize
der Gegend, um eigentlich den groͤßern Reizen ih¬
rer Bewohnerin zu entkommen. Das Gluͤck ausge¬
nommen, ſie zu ſehen, kannt' er kein groͤßeres
als das, ſie nicht zu ſehen. Sie ſpricht nicht von
ihm, er nicht von ihr: ſeine herauswollende Ge¬
danken an ſie werden nicht zu Worten ſondern zu
Erroͤthungen. Wollte der Himmel, ich faßte ſtatt
einer Biographie einen Roman ab: ſo fuͤhrt' ich
euch, ſchoͤne Seelen, einander naͤher und kon¬
ſtruirte unſern freundſchaftlichen Zirkel aus ſeinen
Segmenten wieder; dann bekaͤmen wir hier einen
ſolchen Himmel, daß wenn der Tod vorbei gienge
und uns ſuchte, dieſer ehrliche Mann nicht wuͤßte,
ob wir ſchon drinnen ſaͤßen oder von ihm erſt hin¬
ein zu ſchaffen waͤren . . . .
[293]
Ich habe verſtaͤndig und delikat zugleich gehan¬
delt, daß ich einen gewiſſen Aufſatz, den Beata
im Winter machte und zu dem ich auf eine eben
ſo ehrliche als feine Weiſe kam, vor Guſtav ſo
gut brachte wie vor meine Leſer jetzt. Er iſt an
das Bild ihres wahren Bruders gerichtet und be¬
ſteht in Fragen. Der Schmerz liegt auf den weib¬
lichen Herzen, die geduldig unter ihm ſich druͤcken
laſſen, mit groͤßerer Laſt als auf den maͤnnlichen
auf, die ſich durch Schlagen und Pochen unter
ihm wegarbeiten; wie den unbeweglichen Tan¬
nengipfel aller Schnee belaſtet, indeß auf den tie¬
fern Zweigen, die ſich immer regen, keiner bleibt.
An das Bild meines Bruders.
„Warum blickſt du mich ſo laͤchelnd an, du
theures Bild? Warum bleibt dein Farben-Auge
ewig trocken, da meines ſo voll Thraͤnen vor dir
ſteht? O wie wollt' ich dich lieben, waͤreſt du
traurig gemalt!
Ach Bruder! ſehneſt du dich nach keiner Schwe¬
ſter, ſaget dirs dein Herz gar nicht, daß es in der
oͤden Erde noch ein zweites giebt, das dich ſo un¬
ausſprechlich liebt? — Ach haͤtt' ich dich nur Ein¬
[294] mal in meine Augen, in meine Arme gefaſſet — —
wir koͤnnten uns nie vergeſſen! Aber ſo . . . . wenn
du auch verlaſſen biſt wie deine Schweſter, wenn
du auch wie ſie, unter einem Regen - Himmel und
durch eine leere Erde geheſt und keinen Freund in
den Stunden des Kummers findeſt — ach, du
haſt alsdann nicht einmal ein verſchwiſtertes Bild,
vor dem dein Herz ausblutet! — O Bruder, wenn du
gut und ungluͤcklich biſt: ſo komm' zu deiner Schwe¬
ſter und nimm ihr ganzes Herz — es iſt zerriſſen,
aber nicht zertheilt und blutet nur! O es wuͤrde dich
ſo ſehr lieben! Warum ſehneſt du dich nach keiner
Schweſter? O du Ungeſehener, wenn dich die Fremden
auch verlaſſen, auch taͤuſchen, auch vergeſſen, warum
ſehneſt du dich nach keiner treuen Schweſter? —
Wenn kann ich dirs ſagen, wie oft ich dein ſtummes
Bild an mich gepreſſet, wie oft ich es ſtundenlang ange¬
blicket und mir Thraͤnen in ſeine gemalten Augen ge¬
dacht habe bis ich ſelber daruͤber in ſtroͤmende ausge¬
brochen bin? — Verweile nicht ſo lange, bis deine
Schweſter mit dem ermuͤdeten Herzen unter der Lei¬
chendecke ausruhet und mit allen ihren vergeblichen
Sehnen, mit ihren vergeblichen Thraͤnen, mit ih¬
rer vergeblichen Liebe in kalte vergeſſene Erde zer¬
[295] faͤllt! Verweile auch nicht ſo lange, bis unſere Ju¬
gend-Auen abgemaͤhet und eingeſchneiet ſind, bis
das Herz ſteifer und der Jahre und Leiden zu viele
geworden ſind. — — — Es wird auf einmal mei¬
nem Innern ſo wehe, ſo bitter . . . . Biſt du viel¬
leicht ſchon geſtorben, Theurer? — Ach das betaͤubt
mein Herz — wende dein Auge, wenn du ſelig biſt,
von der verwaiſeten Schweſter und erblick' ihre
Schmerzen nicht — ach ich frage mich ſchwer im
blutenden Innern: was hab' ich noch das mich
liebt? und ich antworte nicht“. . . .
Die Leſer haben den Muth, daraus mehr zu
Guſtavs Vortheil zu errathen als er ſelber. Ihm
als Helden dieſen Buchs muß dieſes Blatt willkom¬
men ſeyn; aber ich als ſein bloßer Hiſtoriograph
hab' nichts davon als ein Paar ſchwere Szenen mehr,
die ich jedoch aus wahrer Liebe gegen den Leſer gern
verfertige — Billionen wollt' ich deren ihm zu Ge¬
fallen komponiren. Nur thut es meiner ganzen
Biographie ſchaden, daß die Perſonen, die ich hier
in Aktion ſetze, zugleich mich in Aktion ſetzen und
daß der Geſchicht- oder Protokollſchreiber ſelber
unter die Helden und Partheien gehoͤrt. Ich
[296] waͤre vielleicht auch unpartheiiſcher, wenn ich dieſe
Geſchichte ein Paar Jahrzehende oder Jahrhunder¬
te nach ihrer Geburt aufſetzte, wie die, die
kuͤnftig aus mir ſchoͤpfen werden, thun muͤſſen.
Die Maler befehlen dem Portraitmaler dreimal ſo
weit vom Originale abzuſitzen als es groß iſt — und
da Fuͤrſten ſo groß ſind und da ſie folglich nur von
Autoren gezeichnet werden koͤnnen, die in einer
dieſer Groͤße gleichen Entfernung des Orts oder der
Zeit von ihnen wegſitzen: ſo waͤre zu wuͤnſchen, ich
ſtaͤnde nicht neben unſern Fuͤrſten, damit ich ihn
nicht ſo vortheilhaft abmalte als ich thue. . .
[297]
Ein u. funfzigſter oder 3ter Freuden-Sektor.
Sonntagsmorgen — ofne Tafel — Gewitter — Liebe.
Welch ein Sonntag! — Heut iſt Montag. Ich
weiß kein Mittel, mich der ich (wie wir alle durch
unſer Iſoliren) ein Freuden-Elektrophor gewor¬
den, auszuladen als durch Schreiben, ich muͤßte
denn tanzen. Guſtav hoͤr' ich heruͤber: der hat
zum Auslader einen Fluͤgel und ſpielt ihn. Der
Fluͤgel wird mir dieſen Sektor ſehr erleichtern und
mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich
hab' mir oft gewuͤnſcht, nur ſo reich zu werden,
daß ich mir (wie die Grachen thaten) einen eignen
Kerl halten koͤnnte, der ſo lange muſicirte als ich
ſchriebe. — Himmel! welche opera omnia ſproͤſſen
heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnuͤgen,
daß da bisher ſo viele poetiſche Flickwerke (z. B.
die Medea) der Anlaß zu muſikaliſchen Meiſterwer¬
ken waren, ſich der Fall umkehrte und daß mu¬
ſikaliſche Nieten poetiſche Treffer gaͤben. —
Vor Tags machten wir uns geſtern aus dem
Bette, ich und mein muſikaliſcher Soufleur. „Wir
[298] muͤſſen, ſagt' ich zu ihm, vier volle Stunden
drauſſen herumjagen, eh' wir in die Kirche gehen“
— naͤmlich nach Ruheſtat, wo der vortrefliche
Hr. Buͤrger aus Großenhayn *) als Gaſtprediger
auftreten ſollte. Alles geſchah. Bis dieſe Stunde
weiß ich nicht, zieh' ich eine laue Sommernacht
oder einen kalten Sommermorgen vor: in jener
rinnt das zerſchmolzene Herz in Sehnen aus einan¬
der; dieſer haͤrtet das gluͤhende zur Freude zuſam¬
men und ſtaͤhlet ſein Schlagen. Unſere vier Stun¬
den zu palingeneſiren — muͤßte man aus hundert
Luſt- und Jagdſchloͤſſern die Minuten dazu zuſam¬
mentragen und es hinkte doch. Die Morgendaͤm¬
merung iſt fuͤr den Tag, was der Fruͤhling fuͤr den
Sommer iſt, wie die Abenddaͤmmerung fuͤr die
Nacht, was der Herbſt fuͤr den Winter. Wir ſa¬
hen und hoͤrten und rochen und fuͤhlten wie all¬
maͤhlig ein Stuͤckchen vom Tag nach dem andern
aufwachte — wie der Morgen uͤber Fluren und
Gaͤrten gieng und ſie wie vornehme Morgenzimmer
mit Bluͤten und Blumen raͤucherte — — wie er ſo
zu ſagen alle Fenſter oͤfnete, damit ein kuͤhlender
[299] Luftzug den ganzen Schauplatz durchſtriche — wie
jede Kehle die andre weckte und ſie in die Luͤfte und
Hoͤhen zog, um mit trunkner Bruſt der ſteigenden
vertieften Sonne entgegen zu fliegen und entgegen
zu ſingen — wie der bewegliche Himmel tauſend Far¬
ben rieb und verſchmolz und den Faltenwurf ſeiner
Wolken verſuchte und kolorirte . . . . . So weit war
der Morgen, als wir noch im thauenden Thale gien¬
gen. Aber als wir aus ſeiner oͤſtlichen Pforte hin¬
austraten in eine unabſehliche mit wachſenden Guir¬
landen und regem Laubwerk muſiviſch ausgelegte
Aue, deren ſanfte Wellenlinie in Tiefen fiel und auf
Hoͤhen floß, um ihre Reize und Blumen auf und nieder
zu bewegen; als wir davor ſtanden: ſo erhob ſich
der Sturm der Wonne und des lebenden Tages und
der Oſtwind gieng neben ihm und die große Sonne
ſtand und ſchlug wie ein Herz am Himmel und trieb
alle Stroͤme und Tropfen des Lebens um ſich her¬
um. — —
Guſtav ſpielt jezt ſanfter, und ſeine Toͤne hal¬
ten meinen noch immer leicht in hypochondriſche
Heftigkeit uͤbergehenden Athem auf. —
Als jezt die Muͤhle der Schoͤpfung mit allen
Raͤdern und Stroͤmen rauſchte und ſtuͤrmte: woll¬
[300] ten wir in ſuͤßer Betaͤubung kaum gehen, es war
uns uͤberall wohl; wir waren Lichtſtrahlen, die
jedes Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen
mit der Biene und Ameiſe und verfolgten jeden
Wohlgeruch bis zu ſeiner Muͤndung und giengen
um jeden Baum; jedes Geſchoͤpf war ein Pol,
der unſere Nadel zu Deklinationen und Inklinatio¬
nen lenkte. Wir ſtanden in einem Kreis von Doͤr¬
fern, deren Wege alle mit froͤhligen Kirchgaͤn¬
gern zuruͤckkamen und deren Glocken alle die gei¬
ſtige Meſſe einlaͤuteten. Endlich giengen wir auch
der walfarthenden Andacht nach und zur Kirchthuͤr
der kuͤhlen Ruheſtaͤtter Kirche hinein.
Wenn ein Maitre de plaiſirs einem Fuͤrſten ei¬
ne Operndekoration vorſchluͤge, die aus einer auf¬
ziehenden Sonne, tauſend Leipziger Lerchen, zwan¬
zig lautenden Glocken, ganzen Fluren und Floren
von ſeidnen Blumen beſtaͤnde: ſo wuͤrde der Fuͤrſt
ſagen, es koſtete zu viel — aber der Freuden-Di¬
rekteur ſollte verſetzen, einen Spatziergang koſtets
— oder eine Krone, ſag' ich, weil zu einem ſol¬
chen Genuß nicht der Fuͤrſt ſondern der Menſch zu¬
langt.
[301]
In der Kirche ließ ich mich auf dem Orgel¬
ſtuhl nieder, um die plumpe Orgel zu kartaͤtſchen
zum Erſtaunen der meiſten Seelen. Als Guſtav in
in eine adeliche Loge trat: ſaß in der gegenuͤber¬
ſtehenden — Beata; denn eine Predigt war ihr ſo
lieb als einer andern ein Tanz. Guſtav buͤckte ſich
mit niederfallenden Augen und aufſtroͤmender Roͤ¬
the vor ihr und war tief geruͤhrt uͤber die blaſſe
gekraͤnkte Geſtallt, die ſonſt vor ihm gegluͤhet hat¬
te — ſie wars gleichfalls von der ſeinigen, auf
der ſie alle traurige Erinnerungen las, die in ih¬
re oder ſeine Seele geſchrieben waren. Ihre vier
Augen zogen ſich vom Gegenſtand der Liebe zu dem
der Aufmerkſamkeit zuruͤck, auf H. Buͤrger aus
Großenhayn. Er fieng an; ich hatte als zeitiger
Organiſt vor, gar nicht auf ihn acht zu geben —
ein Kantor macht ſich aus einer Predigt ſo wenig
wie ein Mann von Ton: — allein H. Buͤrger
predigte mir mit den erſten Worten das Choral¬
buch aus der Hand, indem ich leſen wollte. Er
trug die Vergebung der menſchlichen Fehler vor —
wie hart die Menſchen auf der einen, und wie
zerbrechlich ſie auf der andern Seite waͤren; wie
ſehr jeder Fehler ſich ohnehin am Menſchen blutig
[302] raͤche und wie ein Nervenwurm den durchfreſſe, den
er bewohne und wie wenig alſo ein anderer das
Richteramt der Unverſoͤhnlichkeit zu verwalten ha¬
be; wie wenig es Verdienſt habe, Unvorſichtig¬
keiten, kleine oder zu entſchuldigende Fehler zu
vergeben, und wie ſehr alles Verdienſt in Ueberſe¬
hung ſolcher Fehler, die uns mit Recht erbitter¬
ten, ankaͤme ꝛc. Da er endlich auf das Gluͤck der
Menſchenliebe zeigte ꝛc. - ſo ruhte das brennende
und ſtroͤmende Auge Guſtavs unbewuſt auf Bea¬
tens Antlitz aus; und als endlich ihre Augen ſich,
dem Pfarrer zugekehrt, mit der wahren Kummer-
und Freuden-Solution anfuͤllten und als ſie unter
dem Abtrocknen ſie auf Guſtav wandte: ſo oͤfneten
ſie ſich einander ihre Augen und ihr Innerſtes, die
zwei entkoͤrperten Seelen ſchaueten groß in einan¬
der hinein und ein voruͤberfliegender Augenblick
des zaͤrtlichſten Enthuſiaſmus zauberte ſie an den
Augen zuſammen. . . . Aber ploͤtzlich ſuchten ſie
wieder den alten Ort und Beata blieb mit ihren
an der Kanzel.
Ich kanns nicht behaupten, ob er, H. Buͤrger,
dieſe nuͤtzliche Predigt ſchon unter ſeine gedruckten
gethan oder nicht; gleichwohl ſoll mich dieſes Lob
[303] nicht hindern zu geſtehen, daß ſeinen an ſich gu¬
ten Predigten eigentliche Kraft einzuſchlaͤfern viel¬
leicht fehle, ein Fehler, den man ſo wohl beim
Leſen als beim Hoͤren wahrnimmt. Hier will ich
zum Beſten andrer Geiſtlichen einige Extraſeiten
uͤber die falſche Bauart der Kirchen einſchichten.
Extraſeiten uͤber die falſche Bauart der
Kirchen.
Ich hab' es ſchon dem Konſiſtorium und der
Bauinſpektion vorgetragen; aber es verfaͤngt
nichts. Wir und ſie wiſſen es alle, daß jede Kir¬
che, eine Kathedral-Kirche ſo gut als ein Filial
fuͤr den Kopf oder das Gehirn der Dioͤzes zu ſor¬
gen habe, d. h. fuͤr den Schlaf derſelben, weil
nach Brinkmann jenes nichts ſo ſtaͤrkt als die¬
ſer. Es waͤre laͤcherlich, wenn ich mich herſetzen
und erſt lange ausfuͤhren wollte, daß dieſer des¬
organiſierende Schlaf auf eine wohlfeilere Art, und
fuͤr weniger Pfennige und Opium als bei den Tuͤr¬
ken zu erregen ſteht: denn unſer Opium wird wie
Queckſilber aͤußerlich eingerieben und hauptſaͤchlich
an den Ohren applizirt. Nun iſt niemand ſo gut
[304] wie mir bekannt was man in der ganzen Sache
noch gethan. Wie man in Konſtantinopel (nach de
Tott) beſondere Buden und Sitze fuͤr die Opi¬
umseſſer, aber nur neben den Moſcheen hat:
ſo ſind ſie bei uns drinnen und heißen Kirchen¬
ſtuͤhle. — Ferner brennen ordentliche Nachtlich¬
ter auf dem Altar. Die Fenſterſcheiben haben in
katholiſchen Tempeln Glaßgemaͤlde, die ſo gut wie
Fenſtervorhaͤnge Schatten geben. Zuweilen ſind die
Pfeiler ſo geordnet oder vervielfaͤltigt, daß ſie zur
kirchlichen Dunkelheit mit helfen, die der Zweck
des Schlafens ſo ſehr begehrt. Da die Schlafzim¬
mer in Frankreich lauter matte glanzloſe Farben
haben: ſo iſt in dem großen kanoniſchen Schlaf¬
zimmer wenigſtens in ſo fern fuͤr den Schlaf ge¬
ſorgt worden, daß doch die Theile der Kir¬
che, auf die das Auge ſich am meiſten richtet, Al¬
tar, Pfarrer, Kantor und Kanzel ſchwarz ange¬
ſtrichen ſind. Man ſieht, ich unterdruͤcke keinen
Vorzug und es iſt nicht Tadelſucht, wenn ich ta¬
dele. —
Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einen
wahren Dormitorium. Ich ſtand (ich koͤnnt' auch
ſagen, ich lag) in Italien und auch in Paris in meh¬
rerern[305] rerern Theaterlogen, die vernuͤnftig eingerichtet und
meubliert waren: man konnte darinnen (weil alles
dazu da war) ſchlafen, ſpielen, piſſen, eſſen, fer¬
ner . . . . — Man hatte ſeine Freundinnen mit.
Das haben nun die Großen gewohnt: wie will man
ihnen anſinnen, ſie ſollen in die Kirche fahren und
darin ſchlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freunde
als den Schlaf verſchaft? — Beim tiers état, beim
Bauer und Buͤrger, ſelber beim Buͤrgermeiſter-Kol¬
legium, das ſich die ganze Woche matt votiert, iſts
kein Wunder ſondern freilich leicht dahin zu bringen,
daß ſie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor
entſchlafen: ich laͤugn' es nicht; aber der Libertin,
der Schlaͤfer auf Eiderdunen wird euch (und predig¬
te ein Konſiſterialrath) auf keinem bloßen Seſſel
ſchlafen; er geht daher lieber in keine Kirche. Fuͤr
ſolche Leute von Ton muͤſſen daher ordentliche Kir¬
chenbetten in den Logen aufgeſchlagen werden, da¬
mit es geht — ſo wie Spieltiſche, Eßtiſche, Otto¬
manen, Freundinnen u. dergl. in einer Hofkir¬
che ſo unentbehrliche Dinge ſind, daß ſie beſſer an je¬
dem andern Orte mangeln koͤnnten als da.
Man kann es alſo, ohne mich und die Wahrheit
zu beleidigen, kein Schmeicheln nennen, wenn ich
2. Theil. U[306] verfechte, daß bloß die dumme Kirchen-Architektur
und der Mangel alles Haus- und Kirchengeraͤths,
aller Betten ꝛc. daran ſchuld ſind, nicht aber die gut
und philoſophiſch oder myſtiſch ausgearbeiteten Pre¬
digten geſchickter Hof-Univerſitaͤts-Kaſernen- und
Veſper-Prediger, wenn die Leute von Stand weit
weniger drinnen ſchlafen koͤnnen als man ſich ver¬
ſpricht.
Ende der Extraſeiten.
Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakri¬
ſtei zuſammen. Ich gehe uͤber Kleinigkeiten hinweg
und komme ſogleich dazu, daß wir ſaͤmmtlich abzo¬
gen und daß Guſtav unſerer ſchoͤnen Dauphine den
Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln
unter der feſtlichen Sonne und unter den Bluͤthen
der Gebuͤſche hinweg. Der Putz, die getaͤfelte
Stirn, die wie Fidelbogen-Haare hinuͤber geſpann¬
ten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhaͤute uͤberein¬
ander liegenden Roͤcke des weiblichen tiers état mal¬
ten ſamt deſſen anlachenden Angeſicht uns den Sonn¬
tag heller vor als alle halbe und ganze Paruͤren der
Staͤdterinnen koͤnnen: auch find' ich am Sonntage
viel ſchoͤnere Geſichter als an den 6 Werkeltagen, die
alles im Schmutz vermummen.
[307]
Das Geſpraͤch muſte gleichguͤltig bleiben — ich
denke, ſelbſt beim Vergißmeinnicht. Beata ſah
naͤmlich eines im Graſe liegen und eilte hinzu und
— da wars von Seide: „o ein falſches“ ſagte ſie.
„Nur ein geſtorbnes, ſagte Guſtav, aber ein dau¬
erhaftes.“ Unter Perſonen von einer gewiſſen Fein¬
heit wird leicht alles zur Anſpielung! Wohlwollen
iſt ihnen daher unentbehrlich, damit ſie an keine
andern Anſpielungen als an gutmuͤthige glauben.
— Ich labte mich unter dem ganzen Wege am
meiſten daran, daß ich der Hintergrund und der
Ruͤckenwind war, der hinten nach gieng: denn
waͤr' ich vorausgezogen, ſo haͤtt' ich den ſchoͤnſten
Gang nicht geſehen, in dem ſich noch die ſchoͤnſte
weibliche Seele durch ihren Koͤrper zeichnete — —
Beatens ihren. Nichts iſt karakteriſtiſcher als der
weibliche Gang, zumal wenn er beſchleunigt wer¬
den ſoll.
Im Thal fanden wir außer dem Schatten und
Mittage noch etwas ſchoͤners, den Doktor Fenk.
Er hatte ein kleines Speiſe-Concert ſpirituel unter
den Baͤumen angeordnet, wo wir alle wie Fuͤr¬
ſten und Schauſpieler ofne Tafel, aber vor lauter
ſatten und muſikaliſchen Zuſchauern, vor den Voͤ¬
U 2[308] geln, hielten. Wir hatten nichts darwider, daß
zuweilen eine Bluͤthe in die Sauciére, oder in das
Eßiggeſtell ein Blaͤttgen flatterte, oder das ein
Luͤftgen das Zuckergeſtoͤber aus der Zuckerdoſe ſeit¬
waͤrts wegbließ: dafuͤr lag der groͤſte plat de me¬
nage, die Natur, um unſern freudigen Tiſch
herum und wir waren ſelber ein Theil des Schau¬
gerichts. Fenk ſagte und ſpielte mit einem herab¬
gezognen Aſte: „unſer Tiſch haͤtte wenigſtens den
Vorzug vor den Tiſchen in der großen Welt, daß
die Gaͤſte an unſerem einander kennten: die Groſ¬
ſen aber z. B. in Scheerau oder Italien ſpeiſeten
mehr Menſchen als ſie kennen lernten; wie im
Fette des Thieres, das von den Juden ſo ſehr
verabſcheuet und nachgeahmet wuͤrde, Maͤuſſe leb¬
ten ohne daß das Thier es merkte.“
Ein Arzt ſei noch ſo delikat im Ausdruck: er
iſts doch nur fuͤr Aerzte.
Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pe¬
ſtilenziar, alle Kannen — Kaffee- — Schokolade-
Theekannen — Kruͤge ꝛc. haͤtten eine Phyſiogno¬
mie, die man viel zu wenig ſtudiere; und wenn
Melanchthon der Miſſionair und Kabinetſprediger
der Toͤpfe geweſen, ſo fehle noch ein Lavater der¬
[309] ſelben. Er habe einmal in Holland eine Kaffee¬
kanne gekannt, deren Naſe ſo matt, deren
Profil ſo ſchaal und hollaͤndiſch geweſen waͤre, daß
er zum Schifsarzt, der mit getrunken, geſagt,
in dieſer Kanne ſaͤße eine eben ſo ſchlechte Seele
oder alle Phyſiognomik ſei Wind — da er ein¬
geſchenkt hatte, ſo war das Geſoͤf nicht zum trin¬
ken. Er ſagte, in ſeinem Hauſe werde kein
Milchtopf gekauft, den er nicht vorher wie Pytha¬
goras ſeine Schuͤler in phyſiognomiſchen Augen¬
ſchein nehme.
„Wem haben wirs zuzuſchreiben, fuhr er in
humoriſtiſchen Enthuſiaſmus fort, daß um unſere
Geſichter und Taillen nicht ſo viele Schoͤnheitsli¬
nien als um die grichiſchen beſchrieben ſind — als
bloß den verdammten Thee- und Kaffeetoͤpfen, die
oft kaum menſchliche Bildung haben und die doch
unſere Weiber die ganze Woche anſehen und da¬
durch kopieren in ihren Kindern? — die Griechin¬
nen hingegen wurden von lauter ſchoͤnen Statuͤen
bewacht, ja die Sparterinnen hatten die Bild¬
niſſe ſchoͤner Juͤnglinge ſogar in ihren Schlaf¬
zimmern aufgehangen.“ — —
[310]
Ich muß aber zur Rechtfertigung von vielen
hundert Damen ſagen, daß ſie dafuͤr ja das naͤm¬
liche mit den Originalen thun und daß damit
auch ſchon was zu machen iſt. —
Da ich in [dieſem] Familien-Schauſpiel fuͤr keine
Goͤttin Achtung habe als fuͤr die der Wahrheit: ſo
kann ich ſie auch meiner Schweſter nicht aufopfern,
ob gleich ihr Geſchlecht und ihre Jugend ſie noch
unter die Goͤttinnen ſtellen. Es aͤrgert mich, daß
ſie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernaͤhrt.
Es aͤrgert mich, daß es ſie nicht aͤrgern wird ſich
hier gedruckt und getadelt zu leſen weil ihr
mehr am Gewinnſt der Eitelkeit durch den Druck
als am Verluſt des Stolzes durch den Tadel gele¬
gen iſt.
Stolz iſt in unſerem Kriegsliſtigen Jahrhun¬
dert der treueſte Schutzheilige und Lehns-Vormund
der weiblichen Tugend. Niemand wird zwar von
mir fodern, die Damen von meiner Bekanntſchaft
oͤffentlich zu nennen, die gewiß wie Mailand 40
mal (nach Keißler) waͤren belagert und 20 mal
erobert worden, waͤren ſie nicht brav ſtolz gewe¬
ſen, ja waͤre nicht eine davon an Einem Abende
voll Tanz zwei und ein halb mal ſtolz geweſen;
aber nennen koͤnnt' ich ſie, wollt' ich ſonſt.
[311]
Du lehreſt mich, liebe Philippine, daß die edel¬
ſten Gefuͤhle nicht immer die Koketterie ausſchließen
und daß ich außer dem Geſchaͤfte, dich zu lieben, kein
beſſeres haben kann als das dich zu ſchelten — und
deinen Medizinalrath auch, der gegen dich ſeiner ſor¬
genloſen Laune zu weit nachhaͤngt: zum Gluͤck iſt ſie
noch im Alter, wo Maͤdgen allemal den lieben, den
ſie am laͤngſten geſprochen und wo ihr Herz wie ein
Magnet das alte Eiſen fallen laͤſſet, wenn man ein
neues daran bringt.
Beata und Guſtav beruͤhrten einander die wun¬
den Stellen wie zwei Schneeflocken; ſogar in der
[Stimme] und der Bewegung ſchilderte ſich zaͤrtliches,
ſchonendes, ehrliebendes, aufopferndes Anſichhalten.
O wenn die Weigerungen der Koketterie ſchon ſo viel
geben: wie viel muͤſſen erſt die gegenwaͤrtigen der
Tugend geben!
Der Nachmittag war auf den Fluͤgeln der
Schmetterlinge, die neben uns ihre tiefern Blu¬
men ſuchten, davon geeilet; die Entrevuͤen nahmen
wie die Augen an Intereſſe zu und wir ſchlenterten
(oder ſchreibt mans mit einem weichen D) auf der
Allee-Terraſſe hin, die den Berg wie ein Guͤrtel
umwindet und auf der das Auge uͤber die Einzaͤunun¬
[312] gen des Thales in die Fluren hinuͤbergehen kann.
Gegen Weſten ruͤckte ein Gewitter mit ſeinem Don¬
ner-Tritt uͤber den Himmel und hieng ſein Bahrtuch
von ſchwarzem Gewoͤlk uͤber die Sonne. Die Gegend
ſah wie das Leben eines großen, aber nicht gluͤckli¬
chen Menſchen aus, der eine Berg gluͤhte vom
Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte ſich
unter der niederfallenden Nacht einer Wolke — —
druͤben in der Abendgegend brauſte im Himmel ſtatt
des Vogelgeſangs das himmliſche Pedal, der
Donner, und in Kolonnaden von weißen Waſſerſaͤu¬
len riß ſich der waͤrmende Regen vom Himmel loß
und fuͤllte ſeine Blumenkelche und Gipfel wieder, aus
denen er geſtiegen war — es war einem ſo feierlich
als wuͤrde ein Thron fuͤr Gott errichtet und alles
wartete, daß er darauf nieder ſtiege.
Guſtav und Beata giengen, in den Himmel ver¬
ſunken, auf der Terraſſe voraus, der Doktor, meine
Schweſter und ich in einer kleinen Ferne hinter ih¬
nen. Endlich platzten auf dem Laube der Allee ein¬
zelne Regentropfen, die aus dem Saume der breiten
Wetterwolke uͤber uns flogen und fielen; — ſo beſtreift
ein donnerndes niederblitzendes Ungluͤck der Nachbar¬
ſchaft die entlegnen Laͤnder nur mit einigen Thraͤ¬
[313] nen, die aus dem Auge des Mitleids entwiſchen. —
Wir ſtellten uns alle unter die naͤchſten Baͤume. Gu¬
ſtav und Beata ſtanden ſeit vielen Monaten zum er¬
ſtenmale wieder einſam neben einander, ohne Oh¬
renzeugen, obwohl neben Augenzeugen. Sie wa¬
ren gegen Abend gekehrt und ſchwiegen. Es giebt
Lagen, wo der Menſch ſich zu groß fuͤhlt, ein Ge¬
ſpraͤch heran zu lenken, oder fein zu ſeyn, oder An¬
ſpielungen zu machen. Beide verſtummten fort, bis
Guſtav in der heißeſten Sonnenwende ſeiner Empfin¬
dungen ſich von der uͤberſchwemmten Abendgegend
umkehrte zu Beatens Augen hin — ihre hoben ſich
langſam und unverhuͤllt zu ſeinen auf und der Mund
unter ihnen blieb erhaben ruhig und ihre Seele war
bei niemand als bei Gott und der Tugend.
Die Wolke war verronnen und verzogen. Der
Doktor hatte heim zu eilen. Niemand konnte aus
ſeinem genießenden Schweigen heraus. So ſtumm
waren wir alle die Terraſſe hinunter gekommen, —
und jedes war auch ſchon von ſeinem belaubten
Parapluͤen hinweg — als auf einmal die tiefe Son¬
ne die ſchwarze Wolkendecke durchbrannte und ent¬
zwei riß und den Leichenſchleier des Gewitters weit
zuruͤck ſchlug und uns uͤberſtrahlte und die glim¬
[314] menden Geſtraͤuche und jeden feurigen Buſch. . . .
Alle Voͤgel ſchrien, alle Menſchen verſtummten —
die Erde wurde eine Sonne — der Himmel zitterte
weinend uͤber der Erde vor Freude und umarmte
ſie mit heißen unermeßlichen Lichtſtrahlen. — —
Die Gegend brannte im himmliſchen Feuerre¬
regen um uns; aber unſere Augen ſahen ſie nicht
und hiengen blind an der großen Sonne. Im
Drang, das Herz von Blut und Freude loß zu
machen, verſank Guſtavs Hand in Beatens ihre —
er wuſte nicht was er nahm — ſie wuſte nicht was
ſie gab und ihre gegenwaͤrtigen Gefuͤhle erhoben
ſich weit uͤber geringfuͤgige Verſagungen. — End¬
lich legte ſich die umdonnerte Sonne wie ein Wei¬
ſer ruhig unter die kuͤhle Erde, ihr Abendroth ruh¬
te gluͤhend unter dem blitzenden Wetter, ſie ſchien
wie eine Seele, zu Gott gegangen zu ſeyn und
ein Donnerſchlag fiel in den Himmel nach ihrem
Tode. . . .
Es daͤmmerte, . . . die Natur war ein ſtum¬
mes Gebet. . . . Der Menſch ſtand erhabener wie
eine Sonne darin; denn ſein Herz faßte die Spra¬
che Gottes . . . . aber wenn in das Herz dieſe
[315] Sprache koͤmmt und es zu groß wird fuͤr ſeine
Bruſt und ſeine Welt: ſo hauchet der große Ge¬
nius, den es denkt und liebt, die ſtillende Liebe
zu den Menſchen in den ſtuͤrmenden Buſen und
der Unendliche laͤßet ſich von uns ſanft an den End¬
lichen lieben. . . .
Guſtav empfand die Hand, die in ſeiner pul¬
ſierte und nun zog — er hielt ſie leiſer und ſah
in das ſchoͤnſte Auge zuruͤck — ſeines bat Beaten
unendlich ruͤhrend um Vergebung der vergangnen
Tage und ſchien zu ſagen: „o! nimm in dieſer
ſeeligen Stunde auch meinen letzten Kummer
weg” — und als er leiſe mit einem Tone, der ſo
viel wie eine gute That war, fragte „Beata?”
und als er nicht weiter ſprechen konnte und als
ſie das erroͤthende Angeſicht zur Erde wandte und
aufhoͤrte, ihre Hand aus ſeiner zu ziehen und
tief geruͤhrt wieder aufſah und ihm die Thraͤne
zeigte, die zu ihm ſagte „ich will dir vergeben:”
ſo wurden aus zwei Seelen die noch groͤßer waren
als die Natur um ſie, zwei Engel und ſie fuͤhl¬
ten den Himmel der Engel — ſie ſtanden und
ſchwiegen in unendliche Dankbarkeit und Entzuͤk¬
[316] kung verloren — er nahm endlich, zitternd vor
hochachtender Freude, ihren bebenden Arm und
erreichte uns.
Den Sabbath ſchloſſen ſtille Gedanken, ſtille
Entzuͤckungen, ſtille Erinnerungen und ein ſtiller
Regen aus allen entladenen Gewittern.
[817]
Vierter Freuden-Sektor.
Der Traum vom Himmel — Brief Hoppedizels.
Seitdem ich neben meinem biographiſchen Hand¬
werk noch das eines Damenſchneiders betreibe:
waͤchſt ein ganz neues Leben in mir auf. Gleich¬
wohl muß man dem kuͤnftigen Schroͤkh, der in ſein
Bilderkabinet beruͤhmter Maͤnner mich auch als ei¬
nen hineinhaͤngen will, den Rath geben, daß er
ſich maͤßige und aus meiner Schneiderei nicht alles
deducire, ſondern etwas aus meiner Phantaſie.
Die letztere hat ſich im vorigen Winter und Herbſt
durchs Malen ſo vieler Naturſzenen ſo geſtaͤrkt, daß
der gegenwaͤrtige Fruͤhling an mir ganz andre Au¬
gen und Ohren findet als die andern alle. Das
haͤtten wir alle, ich und Leſer eher bedenken ſol¬
len; wenn der Reiz gewiſſer Laſter durch die taͤg¬
lich wachſenden Anſtrengungen der Phantaſie un¬
bezwinglich wird: warum geben wir ihrem hinreiſ¬
ſenden Pinſel nicht wuͤrdige Gegenſtaͤnde? Warum
richten wir ſie nicht im Winter ab, den Fruͤhling
aufzufaſſen oder vielmehr auszuſchaffen? Denn man
[318] genieſſet an der Natur nicht was man ſieht (ſonſt
genoͤße der Foͤrſter und das Genie drauſſen einerlei)
ſondern was man ans Geſehene andichtet und das
Gefuͤhl fuͤr die Natur iſt im Grunde die Phantaſie
fuͤr dieſelbe.
In keinem Kopfe aber kryſtalliſiren ſich holdere
Traum- und Phantaſiegeſtalten als im Guſtaviſchen.
Seine Geſundheit und ſein Gluͤck ſind zuruͤckgekom¬
men: das zeigen ſeine Naͤchte an, worin die Traͤu¬
me wie Violen wieder ihre Fruͤhlingskelche ausein¬
ander thun. Ein ſolcher Edenduft wallet um fol¬
genden Traum:
„Er ſtarb (kam ihm vor) und ſollte den Zwi¬
ſchenraum bis zu ſeiner neuen Verkoͤrperung in lau¬
ter Traͤumen verſpielen. Er verſank in ein ſchla¬
gendes Bluͤten-Meer, das der zuſammengefloſſene
Sternen-Himmel war: auf der Unendlichkeit bluͤh¬
ten alle Sterne weiß und nachbarliche Bluͤtenblaͤt¬
ter ſchlugen an einander. Warum berauſchte aber
dieſes von der Erde bis an den Himmel wachſende
Blumenfeld mit dem rauchenden Geiſte von tauſend
Kelchen alle Seelen, die daruͤber flogen und in be¬
taͤubender Wonne niederfielen, warum miſchte ein
[319] gaukelnder Wind unter einem Schneegeſtoͤber von
Funken und bunten Feuerflocken, Seelen mit See¬
len und Blumen zuſammen, warum woͤlkte die
verſtorbnen Menſchen ein ſo ſuͤßer und ſo ſpielender
Todtentraum ein? — O darum: die nagenden
Wunden des Lebens ſollte der Balſamhauch dieſes
unermeßlichen Fruͤhlings verſchlieſſen und der von
den Stoͤßen der vorigen Erde noch blutende Menſch
ſollte unter den Blumen zuheilen fuͤr den kuͤnftigen
Himmel, wo die groͤßere Tugend und Kenntniß
eine geneſene Seele begehrt. — Denn ach! die
Seele leidet ja hier gar zu viel! — Wenn auf je¬
nem Schneegefilde eine Seele die andre umfaßte:
ſo ſchmolzen ſie aus Liebe in Einen gluͤhenden Thau¬
tropfen ein; er zitterte dann an einer Blume her¬
ab und ſie hauchte ihn wieder entzweigetheilt als
heiligen Weihrauch empor. — Hoch uͤber dem Bluͤ¬
tenfeld ſtand Gottes Paradies, aus dem das Echo
ſeiner himmliſchen Toͤne in Geſtalt eines Bachs in
die Ebene hernieder wallete: ſein Wohllaut durch¬
kreuzte in allen Kruͤmmungen das Unter-Paradies
und die trunknen Seelen ſtuͤrzten ſich aus Wonne
von den Ufer-Blumen in den Floͤtenſtrom; im
Nachhall des Paradieſes erſtarben ihnen alle Sinne
[320] und die zu endliche Seele gieng, in eine helle Freu¬
den-Thraͤne aufgeloͤſet, auf der laufenden Welle
weiter. — Dieſes Blumengefilde ſtieg unaufhalt¬
ſam empor, dem erhoͤheten Paradieſe entgegen
und die durcheilte Himmelsluft ſchwang ſich von
oben herab und ihr Niederwehen faltete alle Blu¬
men auseinander und bog ſie nicht. — Aber oft
gieng Gott in der dunkelſten Hoͤhe weit uͤber der
wehenden Aue hinweg; wenn der Unendliche dann
oben ſeine Unendlichkeit in zwei Wolken verhuͤllte,
in eine blitzende oder die ewige Wahrheit, und in
eine warm auf alles niedertraͤufelnde und weinen¬
de oder die ewige Liebe: alsdann ſtand gehalten
die ſteigende Au, der ſinkende Aether, der nach¬
hallende Bach, das rege Blumenblatt; alsdann
gab Gott das Zeichen, daß er voruͤbergehe, und
eine unermeßliche Liebe zwang alle Seelen, in die¬
ſer hohen Stille ſich zu umarmen und keine ſank
an eine ſondern alle an alle — ein Wonne-Schlum¬
mer fiel wie ein Thau auf die Umarmung; aber
wenn ſie wieder aus einander erwachten, ſo gien¬
gen aus dem ganzen Blumenfelde Blitze, ſo rauch¬
ten alle Bluͤten, ſo ſanken alle Blaͤtter unter den
Tropfen der warmen Wolke, ſo klangen alle Kruͤm¬
mun¬[321] mungen des toͤnenden Baches zuſammen, es wet¬
terleuchtete das ganze Paradies uͤber ihnen und
nichts verſtummte als die liebenden Seelen, die
zu ſeelig waren . . . .“
Er erwachte in eine naͤhere Welt, die ein ſchoͤ¬
nes Gegenſpiel ſeiner getraͤumten war: die Sonne
war in einem einzigen gluͤhenden Stral verwandelt
und dieſer Stral knickte auch an der Erde ab, die
Wolke der Daͤmmerung zog herum, Blumen und
Voͤgel hingen ihre ſchlafenden Haͤupter in den Thau
hin und bloß der Abendwind kramte noch in den
Blaͤttern herum und blieb die ganze Nacht auf. . . .
So ſchleichen unſere gruͤnen Stunden durch un¬
ſer unbeſuchtes Thal, ſie gleiten mit einem unge¬
hoͤrten Schmetterlings-Fittich durch unſere Atmo¬
ſphaͤre, nicht mit der ſchnurrenden Kaͤfer-Fluͤgel¬
decke — die Freude legt ſich leiſe wie ein Abend¬
thau an und praſſelt nicht wie ein Gewitterguß her¬
unter. Unſere gluͤckliche Badzeit wird uns zum
Muth, zu Geſchaͤften, zum Erdulden auf lange,
auf immer erfriſchen — das gruͤne Lilienbad wird
in unſere Phantaſie eine gruͤne Raſenſtelle bleiben,
auf der, wenn einmal die Jahre alle elyſiſche Fel¬
der, die ganze Gegend unſerer Freude tief uͤber¬
2. Theil. X[322] ſchneiet haben, unter ihrem warmen Hauche aller
Schnee zergeht und die uns immer angruͤnet, da¬
mit wir auf ihr wie Maler auf gruͤnem Tuche,
unſere alten Augen erquicken . . . . Ich wuͤnſch'
euch, meine Leſer, fuͤr euer Alter recht viele ſol¬
che offen bleibende Stellen und jedem Kranken ſein
Lilienbad.
That' ichs nicht dem deutſchen Publikum zu
Gefallen: ſo wuͤrd' ich ſchwerlich vor Freude zur
Beſchreibung derſelben gelangen. Und doch werd'
ich keinen neuen Freuden-Sektor anfangen vor dem
Geburtstage Beatens, der wird auf der kleinen Mo¬
lucke Teidor begangen, dahin ſind wir vom Dok¬
tor eingeladen, der hat ſein Landhaus auf dieſer
Inſel, das Wetter wird auch ſchoͤn verbleiben —
— ich kann ſo viel ohne großes prophetiſches Ta¬
lent leicht vorausſehen, daß der Geburtstags- oder
Teidors-Sektor alles Schoͤne, was je in der Ale¬
xandriniſchen Bibliothek verbrannt oder in Raths¬
bibliotheken vermodert oder in andern konſerviret
worden, nicht ſowohl vereinigen als voͤllig uͤberbie¬
ten werde.
Im naͤmlichen Brief, der uns nach der Moluk¬
kiſchen Inſel lockt, ſchreibt mir der Doktor eine
[323] Neuigkeit, die inſofern hier einen Platz verdient,
weil einer da iſt und ich den Sektor gern voll ha¬
ben moͤchte, indem ich bloß abſchriebe.
„Der Profeſſor Hoppedizel, der auſſer dem
Philoſophiren und Pruͤgeln nichts ſo liebt als Spas¬
machen, will ſo bald der Mond wieder ſpaͤter auf¬
geht, den machen, daß er ein Spitzbube iſt. Ich
traf ihn vor einigen Tagen an, daß er ſich einen
langen Bart zurecht ſott, ferner Brecheiſen ver¬
ſteckte und Maſken waͤhlte. Ich fragte ihn, auf
welcher Redoute er ſtehlen wolle? Er ſagte, in der
Mauſſenbachſchen — kurz er will deinen Gerichts¬
prinzipal, dadurch daß er mit einer kleinen Bande
einbricht und ſtatt Beute Spaß macht, in einen
theatraliſchen Kunſt[-]Schrecken jagen. Zu wuͤnſchen
waͤre, dieſer artiſtiſche und ſatyriſche Raͤuberhaupt¬
mann wuͤrde fuͤr einen wahren genommen, und
mit ſeinen Brech-Apparat auf Arreſtanten-
Wagen gebracht und oͤffentlich hereingefahren —
nicht etwan, damit der gute Hoppedizel dabei ver¬
ſehret wuͤrde — ſondern nur damit dieſer korſariſche
Stoiker auf die Folter kaͤme und dadurch drei Men¬
ſchen auf einmal ins Licht ſetzte, erſtlich ſich, in¬
dem er weniger das Verbrechen als ſeine ſtoiſchen
X 2[324] Grundſaͤtze bekennte — zweitens den Peſtilenziar
oder mich, indem ich bei der Tortur (wie wir bei
allen Schmerzen thun) die Ruͤckſichten auf ſeine Ge¬
ſundheit vorſchriebe — drittens den Juſtiziar oder
Dich, der du zeigen koͤnnteſt, daß du deine akade¬
miſchen Kriminalhefte ſchon noch im Koffer haͤtteſt.“
Ich glaube, es wird dem Leſer auch ſo gehen
wie mir, daß uns auf dem Blumengeſtade unter
den Wollauten der Natur, dieſes Seetreffen des
großen Weltmeers und dieſes Schieſſen deſſelben ei¬
ne ſchreiende Diſſonanz zu machen ſcheint.
[325]
Drei u. funfzigſter od. der groͤßte Freuden-Sekt.
oder der Geburtstags- od. Teidors-Sektor.
Der Morgen — der Abend — die Nacht —
Heute iſt Beatens Feſt und wird immer ſchoͤ¬
ner — mein Schreibepult iſt neun Millionen Qua¬
dratmeilen breit, naͤmlich die Erde — die Sonne
iſt meine Epiktets-Lampe und ſtatt der Handbib¬
liothek rauſchen die Blaͤtter des ganzen Naturbuchs
vor mir. . . . . Aber von vornen an! Uebrigens lieg'
ich jetzt auf der Inſel Teidor.
Die Tage vor ſchlechtem Wetter ſind auch me¬
teorologiſch die ſchoͤnſten. Da wir heute als die
friedlichſte Quadrupelalliance, die es giebt, durch
unſer ſingendes Thal, eh' noch die Morgenſtralen
hereingeſtiegen waren, hinaus giengen, um noch
vor neun Uhr recht gemaͤchlich auf der kleinen Mo¬
lucke Teidor anzukommen: ſo ſtreckte ſich ein gan¬
zer kryſtallener quellenheller Tag auf den weiten
Fluren vor uns hin — wir waren bisher an ſchoͤne
gewoͤhnt, aber an den ſchoͤnſten nicht. — Die Erd¬
kugel ſchien eine helle aus Duͤnſten und Luͤften her¬
[326] ausgehobene Mondkugel zu ſeyn — die Berg- und
Waldſpitzen ſtanden nackt im tiefem Blau, ſo zu
ſagen ungepudert von Nebeln — alle Proſpekte wa¬
ren uns naͤher geruͤckt und der Dunſt vom Glaſe,
wodurch wir ſahen, abgewiſcht — die Luft war
nicht ſchwuͤl, aber ſie ruhte auf den Gewuͤrz-Flu¬
ren unbeweglich aus und das Blatt nickte, aber
nicht der Zweig und die haͤngende Blume wankte
ein wenig, aber bloß unter zwei kaͤmpfenden
Schmetterlingen . . . . Es war der Ruhetag der
Elemente, die Sieſte der Natur: ein ſolcher Tag,
wo ſchon der Morgen die Natur eines ſchwaͤrmeri¬
ſchen Abends hat und wo ſchon er uns an unſere
Hoffnungen, an unſre Vergangenheit und an un¬
ſer Sehnen erinnert, koͤmmt nicht oft, koͤmmt
fuͤr nicht viele, darf fuͤr die wenigen, in deren
ſchwellendes Herz er leuchtet, nicht oft kommen,
weil er die armen Menſchen, die ihm ihre Herzen
wie Blumenblaͤtter aufthun, zu ſehr erfreuet, ſie
vom kameraliſtiſchen Feudalboden, wo man mehr
Blumen maͤhen als beriechen muß, zu weit ins
magiſche Arkadien verſchlaͤgt. — Aber ihr Finan¬
ciers und Oekonomen und Paͤchter, wenn faſt alle
Jahrszeiten der Haut und dem Magen dienen:
[327] warum ſoll nicht Ein Tag — zumal fuͤr Brunnen¬
gaͤſte — bloß dem zu weichen Herzen zugehoͤren?
Wenn man euch Haͤrte vergiebt: warum wollt ihr
keine Weichheit vergeben? — O ihr beleidgt oh¬
nehin genug, ihr gefuͤhlloſen Seelen: die ſchoͤnere
feinere iſt euch bloß unbedeutend und laͤcherlich;
aber ihr ſeid ihr quaͤlend und verwundet ſie. —
Sonderbar iſts, daß man andern zuweilen die Vor¬
zuͤglichkeit der Talente, aber nie die Vorzuͤglichkeit
der Empfindungen zugeſteht und daß man ſei¬
ner eignen Vernunft, aber nicht ſeinem eignen
Geſchmack Irthuͤmer zutraut.
Ein durchſichtiges Dockengelaͤnder von Wald¬
baͤumen ſtand bloß noch zwiſchen uns und dem in¬
diſchen Ozean, worin Teidor gruͤnte — als uns
der Steig durch das hohe Gras, das uͤber ihn her¬
einſchlug, an einer Einoͤde oder einem iſolirten
Hauſe voruͤbertrug, das zu entzuͤckend in dieſem
Blumen-Ozean lag, als daß man haͤtte vorbeige¬
hen oder reiten koͤnnen. Wir lagerten uns auf ei¬
ner abgemaͤhten Raſenſtelle, zur rechten Sei¬
te des Hauſes, zur linken eines runden Gaͤrtchens,
das ſich mitten in die Wieſe verſteckte. Im armen
Gaͤrtchen waren und naͤhrten ſich (wie in einem
[328] toleranten Staate) auf dem naͤmlichen Beete Boh¬
nen und Erbſen und Sallat und Kohlruͤben; und
doch hatte im Zwerggarten ein Kind noch ſein In¬
fuſions-Gaͤrtchen. Im blendenden und rothen Vo¬
gelhaͤuschen hatte eine flinke Frau gerade ihre wohl¬
riechende Feldbaͤckerei und zwei Kinderhemdchen hien¬
gen am Garten und zwei ſtanden an der Hausthuͤr
in welchen letztern zwei braune Kinder ſpielten und
uns obſervirten — ihnen that am heutigen Mor¬
gen nichts wohl als ihren entbloͤßten Fuͤſſen die Sonne,
O Natur! o Seligkeit! Du ſucheſt wie die Wohl¬
thaͤtigkeit gern die Armuth und das Verborgne
auf!
Das Kluͤgſte, was ich heute geſagt habe und
vermuthlich ſagen werde, iſt gewiß die Gras-Rede
am Morgen neben dem Haͤuschen. Als ich ſo den
ſtehenden Himmel, die Wind- und Blaͤtterſtille be¬
trachtete, in der der vertikale Fluͤgel des Papillons
und das Haͤrchen der Raupe unverbogen blieb: ſo
ſagt' ich: „wir und dieſes Raͤupchen ſtehen unter
und in drei allmaͤchtigen Meeren, unter dem Luft¬
meer, unter dem Waſſermeer und unter dem elek¬
triſchen Meere: gleichwohl ſind die brauſenden Wo¬
gen dieſer Ozeane, dieſe Meilen-Wellen, die ein
[329] Land zerreiſſen koͤnnen, ſo geglaͤttet, ſo bezaͤhmet,
daß der heutige Sabbaths-Tag herauskoͤmmt, wo
den breiten Fluͤgel des Schmetterlings kein Luͤft¬
chen ergreift oder um ein gefiedertes Staͤubgen be¬
rupft und wo das Kind ſo ruhig zwiſchen den Ele¬
menten Leviathans taͤndelt und laͤchelt. — Wenn
das kein unendlicher Genius bezwungen hat, wenn
wir dieſem Genius keine Zuſammenordnung unſers
kuͤnftigen Schickſals und unſerer kuͤnftigen Welt zu¬
trauen.“ . . . .
O unendlicher Genius der Erde! an deinen Bu¬
ſen wollen wir unſre kindlichen Augen ſchmiegen,
wenn ſich der Sturm von der Kette losreiſſet — —
an dein allmaͤchtiges heiſſes Herz wollen wir zuruͤck¬
ſinken, wenn uns der eiſerne Tod einſchlaͤfert! in¬
dem es vorbeigeht! —
So giengen wir unſchuldig-zufrieden, ohne
Haſtigkeit und Heftigkeit den Wellen zu, die an
Fenks Landhaus ſpuͤlten. Sonderbar iſts, es giebt
Tage, wo wir freywillig unſer ſtilles fort-vibriren¬
des Vergnuͤgen von den aͤuſſern Gegenſtaͤnden uns
ſpediren laſſen (wodurch wir ungewoͤhnlich gegen
aͤchten Stoiziſmus verſtoßen) — noch ſonderbarer
iſts, daß manche Tage dieſes wirklich thun. — —
[330] Ich meine das: ein gewiſſes ſtilles wellen-glattes
Zufriedenſeyn — nicht verdient durch Tugend,
nicht erkaͤmpft durch Nachdenken — wird uns zu¬
weilen von dem Tage, von der Stunde gereicht,
wo alle die jaͤmmerlichen Kleinigkeiten und Fran¬
zen, woraus unſer eben ſo kleinliches als kleines
Leben zuſammengenaͤht iſt, mit unſern Pulſen ak¬
kordiren, und unſerem Blute nicht entgegen flieſ¬
ſen — z. B. wo (wie heute geſchah) der Himmel
unbewoͤlkt, der Wind im Schlaf, der Faͤhrmann,
der nach Teidor bringt, bei der Hand, der
Herr des Landhauſes, D. Fenk, ſchon vor einer
Stunde gegenwaͤrtig, das Waſſer eben, das Boot
trocken, der Anlandungs-Hafen tief und alles
recht iſt . . . Wahrhaftig wir ſind alle auf einen
ſo naͤrriſchen Fuß geſetzt, daß es zu den Men¬
ſchenfreuden, woruͤber der Zerbſter Konſiſto¬
rialrath Sintenis zwei Baͤndchen abgefaſſet, mit
gerechnet werden kann — in Deutſchland, aber
in Italien und Pohlen weit weniger, — zuwei¬
len einen oder den andern Floh zu greifen . . . . .
Will man alſo einen ſolchen paradieſiſchen Tag er¬
leben: ſo muß nicht einmal eine Kleinigkeit, uͤber die
man in ſtoiſch-energiſchen Stunden wegſchreitet,
[331] im Wege liegen; ſo wie ſich uͤber die Sonne,
wenn ein Brennſpiegel ſie herunter holen will,
nicht das duͤnnſte Woͤlkchen ſchieben darf . . . Ich
bin jetzt im Enthuſiaſmus und verſichere, ich kann
mir unmoͤglich etwas naͤrriſcheres denken als unſer
Leben, unſere Erde, uns Menſchen und unſre Be¬
merkung dieſer Narrheit . . . .
Der indiſche Ozean war ein laͤrmender Markt¬
platz wie ein ſineſiſcher Strom, uͤberall bewegte
ſich auf ihm Freude, Leben und Glanz, von ſei¬
ner Oberflaͤche bis zu ſeinem Grunde, wo die zwei¬
te Halbkugel des Himmels mit ihrer Sonne zitter¬
te. Im Landhauſe waren die Waͤnde weiß, weil
fuͤr einen (ſagte Fenk) der aus der in lauter
Feuer und Lichtern ſtehenden Natur in eine en¬
ge Klauſe tritt, kein Kolorit dieſer Klauſe hell ge¬
nug ſeyn koͤnne, um einen traurigen beſchraͤnkten
Eindruck abzuwenden.
Alsdann ruhten wir aus, indem wir von ei¬
ner beſchatteten Grasbank der Inſel zur andern
giengen, von Birkenblaͤttern und indiſchen Wel¬
len angefaͤchelt — dann muſizierten — dann di¬
nierten wir, erſtlich am Tiſche eines Wirthes, der
auf eine luſtige Art fein und delikat zu ſeyn weiß,
[332] zweitens vor den in alle Weltgegenden aufgeſchloſ¬
ſenen Fenſtern, die uns noch mehr in alle Stru¬
del der freudigen Natur hinein drehten als waͤren
wir draußen geweſen, und drittens jeder von uns
mit einer Hand, die die weiche Beere des Ver¬
gnuͤgens abzunehmen weiß ohne ſie entzwei zu druͤ¬
cken. — Ottomar koͤmmt abends — die zwei Maͤd¬
gen haben ſich unter Blumen und der gluͤckliche
Guſtav unter Schatten verlohren — der Biograph
liegt hier wie der Juriſt Bartolus auf dem heben¬
den Graſe und ſchildert alles — Fenk ordnet auf
abend an. — Erſt abends tritt der Vollmond un¬
ſerer heutigen Freude ein; und ich danke dem Him¬
mel, daß ich jezt mit meiner biographiſchen Feder
nachgekommen bin und niemals mehr weiß als ich
berichte: anſtatt daß ich bisher mehr wuſte und mir
den biographiſchen Genuß der freudigſten Scenen
durch die Kenntniß der traurigen Zukunft verſalzte.
Jezt aber koͤnnt' in der naͤchſten Viertelſtunde uns
alle der Ozean erſaͤufen: in der jezigen laͤchelten
wir in ihn hinein.
Da ich jezt ſo ruhig bin und nicht ſpatzieren
gehen mag: ſo will ich uͤber das Spatzierengehen,
das ſo oft in meinem Werke vorkoͤmmt, nicht oh¬
[333] ne Scharfſinn reden. Ein Mann von Verſtand
und Logik wuͤrde meines Beduͤnkens alle Spatzierer
wie die Oſtindier, in vier Kaſten zerwerfen.
In der I. Kaſte laufen die jaͤmmerlichſten, die es
aus Eitelkeit und Mode thun und entweder ihr Ge¬
fuͤhl oder ihre Kleidung oder ihren Gang zeigen
wollen.
In der II. Kaſte rennen die Gelehrten und Fet¬
ten, um ſich eine Motion zu machen und weniger
um zu genießen als um verdauen was ſie ſchon ge¬
noſſen haben: in dieſes paſſive unſchuldige Fach ſind
auch die zu werfen, die es thun ohne Urſache und
ohne Genuß oder als Begleiter oder aus einem thie¬
riſchen Wohlbehagen am ſchoͤnen Wetter.
Die III. Kaſte nehmen die wenigen ein, in deren
Kopfe die Augen des Landſchaftsmahlers ſtehen, in
deren Herz die großen Umriſſe des Welt-Als drin¬
gen, und die der unermeßlichen Schoͤnheitslinie
nachblicken, welche mit Epheufaſern um alle Weſen
flieſſet — und welche die Sonne und den Blutstro¬
pfen und die Erbſe ruͤndet und alle Blaͤtter und
Fruͤchte zu Zirkeln ausſchneidet. — O wie wenig
ſolcher Augen ruhen auf den Gebirgen und auf der
ſinkenden Sonne und auf der ſinkenden Blume!
Eine IV. beſſere Kaſte, daͤchte man, koͤnnt' es nach
der dritten gar nicht geben: aber es giebt Menſchen,
die nicht bloß ein artiſtiſches, ſondern ein heiliges
Auge auf die Schoͤpfung fallen laſſen — die in dieſe
bluͤhende Welt die zweite verpflanzen und unter die
Geſchoͤpfe den Schoͤpfer — die unter dem Rauſchen
und Brauſen des tauſendzweigigen dicht eingelaub¬
ten Lebensbaums niederknien und mit dem darin
wehenden Genius reden wollen, da ſie ſelber nur
geregte Blaͤtter daran ſind — die den tiefen Tempel
der Natur nicht als eine Villa voll Gemaͤhlde und
Statuen ſondern als eine h. Staͤtte der Andacht
brauchen — kurz die nicht bloß mit dem Auge, ſon¬
dern auch mit dem Herzen ſpatzieren gehen. . . .
Ich weiß kein groͤſſeres Lob als daß ich von ſol¬
chen Menſchen leicht auf unſer liebendes Paar hin¬
uͤbergleiten kann — die Liebe deſſelben iſt ein ſolcher
Spatziergang, das Leben der hohen Menſchen iſt
auch ein ſolcher. — Ich will nur noch, eh ich mich
vom erdruͤckten Gras aufrichte, ſo viel bemerken,
daß Guſtavs Liebe ganz in die Realdefinition einpaſſet,
die von ihr an einer ſchwaͤrmeriſchen Sommermitter¬
nacht zu machen iſt — die edelſte Liebe (kann man
definieren) iſt bloß die zarteſte, tiefſte, feſteſte Ach¬
[335] tung, die ſich weniger durch Thun als durch Unter¬
laſſen offenbaret, die ſich wechſelſeitig erraͤth, die
auf beide Seelen (bis zum Erſtaunen) die naͤmlichen
Saiten zieht, die die edelſten Empfindungen mit ei¬
nem neuen Feuer hoͤher tragt, die immer aufopfern,
nie bekommen will, die der Liebe gegen das ganze
Geſchlecht nichts nimmt ſondern alles giebt durch
das Individuum, dieſe Liebe iſt eine Achtung, in der
der Druck der Haͤnde und der Lippen ſehr entbehrliche
Beſtandtheile ſind und gute Handlungen ſehr weſent¬
liche, kurz eine Achtung die vom groͤſſern Theile der
Menſchen ausgehoͤhnet und vom kleinſten tief geeh¬
ret werden muß — — Eine ſolche herzerhoͤhende Ach¬
tung war Guſtavs Liebe, die gute Augenzeugen
nicht nur vertrug ſondern auch intereſſierte und
waͤrmte, weil ſie ohne jenes unſchuldig-ſinnliche
Getaͤndel mit Lippen und Haͤnden war, woran der
Zuſchauer gerade ſo viel Antheil wie am Rollenmaͤßi¬
gen theatraliſchen Viktualien der Schauſpieler neh¬
men kann. — Ein Zeichen der tugendhaften Ach¬
tung oder Liebe iſt das, wenn der Zuſchauer deſto
mehr Intereſſe daran findet, je groͤſſer ſie iſt. Guſ¬
tavs Liebe hatte — ſeit ſeinem Petrus Falle und noch
mehr ſeit der Vergebung dieſes Falls (denn viele
[336] Fehler fuͤhlt man erſt am tiefſten, wenn ſie verziehen
ſind — ) einen ſolchen Zuſatz von Zartheit, von Zu¬
ruͤckhaltung, von Bewuſtſeyn des fremden Werths
gewonnen, daß er ſich mehrere Herzen erſtritt als
das weichſte, und andre Augen beherrſchte als die
ſchoͤnſten an Beaten, vor denen ſeine Blicke, wie
Schneeflocken unter der nackten Sonne im Blauen,
rein, ſchimmernd, zitternd und zerrinnend nieder¬
fielen. — —
— Jezt koͤmmt alles, Ottomar und die andern.
— — — — — — — —
— — — — — — — —
Meine Uhr ſchlaͤgt jezt zwei Uhr nach Mitter¬
nacht und noch iſt Beatens und des Paradieſes Ge¬
burtstag nicht beſchloſſen: denn ich ſetze mich jezt
her, ihn zu beſchreiben; wenn ich anders auf dem
Stuhl bleibe und nicht wieder in das blaue Gewoͤl¬
be, das uͤber ſo viele heutige Freuden ſeine Sternen-
Stralen warf, hinaus irre.
Gegen abend flog Ottomar uͤber das Waſſer her¬
uͤber. Er ſieht immer aus wie ein Mann, der an
etwas Weites denkt, der jezt nur ausruhet, der die
hereinhaͤngende Blume der Freude abbricht, weil ihn
ſeine fliehende Gondel vor ihr voruͤberreiſſet, nicht
weil[337] weil er daran denkt. Er hat noch ſeine erhaben¬
leiſe Sprache und ſein Auge, das den Tod geſehen.
Immer noch iſt er ein Zahuri, *) der durch alles
Blumengeniſte und alle Graspartien der Erde durch¬
ſchauet und zu den unbeweglichen Todten hinunter¬
ſieht, die unter ihr liegen. So ſanft und ſtuͤrmiſch, ſo
humoriſtiſch und melancholiſch, ſo verbindlich und unbe¬
fangen undfrei! er behauptete, die meiſten Laſter kaͤmen
von der Flucht vor Laſtern — aus Furcht, ſchlimm zu
handeln, thaͤten wir nichts und haͤtten zu nichts
großem mehr Muth — wir haͤtten alle ſo viel Men¬
ſchenliebe, daß wir keine Ehre mehr haͤtten — aus
Menſchen-Schonung und Liebe haͤtten wir keine
Aufrichtigkeit, keine Gerechtigkeit, wir ſtuͤrzten kei¬
nen Betruͤger, keinen Tyrannen ꝛc.,
Ihn wunderte Beata, die nicht den gewoͤhn¬
lich erzwungenen ſondern ſteigenden Antheil an unſern
Reden nahm: denn er glaubt, mit einer Frau
koͤnne man von Himmel und Hoͤlle, von Gott und
Vaterland ſprechen: ſo denke ſie doch unter dem
ganzen Hoͤren an nichts als an ihre Geſtalt, ihr
2. Theil. Y[338] Stehen, ihren Anzug. „Ich nehme ſagte Fenk,
erſtlich alles aus, und zweitens auch die Phyſio¬
gnomik: auf dieſe horchen alle, weil ſie alle ſie
ſogleich gebrauchen koͤnnen.“
Der magiſche Abend trieb immer mehr Schat¬
ten vor ſich voraus; er nahm endlich alle Weſen
auf ſeinen wiegenden Schooß und legte ſie an ſich,
um ſie ruhig, ſanft und ſtille zu machen. Wir
fuͤnf Inſulaner wurdens auch. Wir giengen ſaͤmmt¬
lich hinaus auf eine kleine kuͤnſtliche Anhoͤhe, um die
Sonne bis zur Treppe hinunter zu begleiten eh ſie
uͤber Ozeane nach Amerika hinabſchift. Ploͤtzlich er¬
toͤnten druͤben in einer andern Inſel fuͤnf Alphoͤrner
und giengen ihre einfachen Toͤne ziehend auf und ab.
Die Lage wirkt mehr auf die Muſik als die Muſik
auf die Lage. In unſerer Lage — wo man mit
dem Ohr ſchon an der Alpenquelle, mit dem Auge
auf der am Abend uͤbergoldeten Gletſcherſpitze iſt
und ſich um die Sennenhuͤtte Arkadien und Tempe
und Jugend-Auen denkt, und wo wir dieſe Phan¬
taſien vor der untergehenden Sonne und nach dem
ſchoͤnſten Tage fliegen ließen — da folgt das Herz
einem Alphorn mit groͤßern Schlaͤgen als einem
Konzertſaale voll geputzter Zuhoͤrer. — O das En¬
[339] treebillet zur Freude iſt ein gutes, und dann ein
ruhiges Herz! — Die dunkeln wolkigen durch¬
ſchimmerten Begriffe, die der verſtorbne Baron
Wolf von allen Empfindungen verlangt, muͤſſen
langſam uͤber die Seele ziehen oder gaͤnzlich ſte¬
hen, wenn ſie ſich vergnuͤgen ſoll; ſo wie Wol¬
ken, die langſam gehen, ſchoͤnes Wetter, und
fliegende ſchlimmes bedeuten. „Es giebt, ſagte
Beata, tugendhafte Tage, wo man alles vergiebt
und alles uͤber ſich kann, wo die Freude gleichſam
im Herzen kniet und betet, daß ſie laͤnger da blei¬
be und wo alles in uns ausgeheitert und beleuch¬
tet iſt — wenn man dann vor Vergnuͤgen daruͤber
weint: ſo wird dieſes ſo groß, daß alles wieder
vorbei iſt.“
„Ich ſagte Ottomar, werfe mich lieber in die
ſchaukelnden Arme des Sturms. Wir genießen
nur blinkende, gluͤhende Augenblicke! dieſe Kohle
muß heftig herumgeſchleudert werden damit der
brennende Kreis der Entzuͤckung erſcheine.“
„Und doch, ſagt' er, bin ich heute ſo froh vor
dir unterſinkende Sonne! . . . Je froher ich in ei¬
ner Stunde in einer Woche war, deſto mehr
ſtuͤrmte dann die folgende — wie Blumen iſt der
Y 2[340] Menſch, je heftiger das Gewitter werden wird,
deſto mehr Wolgeruͤche verhauchen ſie vorher.”
„Sie muͤſſen uns nicht mehr einladen, H. D.”
ſagte laͤchelnd Beata, aber ihr Auge ſchwamm
doch in etwas mehr als in Freude.
Unter dem Rothauflegen des Himmels trat die
Sonne auf ihre letzte Stufe, von farbigen Wol¬
ken umlagert. Die Alphoͤrner! und ſie verſchwan¬
den im naͤmlichen Nu. Eine Wolke um die andere
erblaßte und die hoͤchſte hieng noch durchgluͤhet
herab. Beata und meine Schweſter ſcherzten weib¬
lich daruͤber, was dieſe illuminierten Nebel wol
ſeyn koͤnnten — die eine machte daraus Weih¬
nachtsſchaͤfgen mit roſenrothen Baͤndern, eine ro¬
the Himmelsſchaͤrpe — die andre feurige Augen
oder Wangen unter einem Schleier — rothe und
weiße Nebel-Roſen — einem rothen Sonnen-Hut
u. ſ. w. . . . .
Punſch, denk' ich, wurde dann fuͤr die Her¬
ren gebracht, von denen einer ihn in ſolcher Maͤſ¬
ſigkeit zu ſich nahm, daß er noch um 2½ Uhr [ſei¬
nen] Sektor ſetzen kann. Wir giengen dann unter
dem kuͤhlenden rauſchen Baum des Himmels, deſ¬
ſen Bluͤthen Sonnen und deſſen Fruͤchte Welten
[341] find, hin und her. Das Vergnuͤgen fuͤhrte uns
bald auseinander bald zu einander und jeder war
gleich ſehr faͤhig, ohne und durch Geſellſchaft zu
genießen. Beata und Guſtav vergaßen aus Scho¬
nung uͤber die fremde Liebe und Freude ihre beſon¬
dere und waren unter lauter Freunden ſich auch
nur Freunde. O predigt doch bloß die Traurigkeit,
die das Herz ſo dick wie das Blut macht, aber
nicht die Freude aus der Welt, die in ihrem Tau¬
meltanz die Arme nicht bloß nach einem Moiti¬
ſten ſondern auch nach einem wankenden Elenden
ausſtreckt und aus dem Jammer-Auge, das ihr
zuſieht, voruͤberfliehend die Thraͤne nimmt! — Heu¬
te wollten wir einander alles verzeihen, ob wir
gleich nichts zu verzeihen fanden. Es war nichts
zu vergeben da, ſag' ich: denn als ein Stern
um den andern aus der ſchattirten Tiefe heraus¬
quoll und als ich und Ottomar vor einer ſchlagen¬
den Nachtigal umgekehret waren, um durch die
Entfernung den gedaͤmpften Lautenzug ihrer Kla¬
gen anzuhoͤren und als wir einſam, von lauter
Toͤnen und Geſtalten der Liebe umgeben, nebenein¬
ander ſtanden und als ich mich nicht mehr halten
konnte, ſondern unter dem großen jezigen und kuͤnf¬
[342] tigen Himmel mein Herz dem zeigte, deſſen ſei¬
nes ich laͤngſt geſehen und geliebt: ſo war das
kein Verzeihen und Verſoͤhnen, was! . . . davon
Uebermorgen! . . .
In veraͤnderlichen Gruppen — bald die [zwei]
Maͤdgen allein, bald mit einem dritten, bald wir
alle — betraten wir die in Graß umgekleideten Blu¬
men und giengen zwiſchen zwei nebenbuhleriſchen
Nachtigallen, wovon die eine unſre Inſel, die
andre die naͤchſte Inſel beſang und begeiſterte —
in dieſem muſikaliſchen Potpourri hatten die Blu¬
menblaͤtter die wohlriechenden Potpourri zugedeckt,
aber alle Birkenblaͤtter hatten die ihrigen aufge¬
than und wir theilten uns mit Abſicht auseinander
um nicht aus unſerem zauberiſchen Otaheiti abſchif¬
fen zu koͤnnen. —
Endlich geriethen wir zufaͤllig unter einer Sil¬
berpappel zuſammen, deren beſchneiete Blaͤtter
durch den Glanz im Abend uns um ſie verſammelt
hatten. „Wir haben hohe Zeit zum Fortgehen“
ſagte Beata — aber als wirs wollten oder wollen
muſten: ſo gieng der Mond auf: hinter einem
gegitterten Faͤcher von Baͤumen ſchlug er ſo be¬
ſcheiden als er ſtill uͤber die blinde Nacht wegflieſ¬
[343] ſet, ſeine Wolken-Augenlieder auf, und ſein Auge
ſtroͤmte und er ſah uns an wie die Aufrichtigkeit
und die Aufrichtigkeit ſah auch ihn an. „Wollen
wir nur — ſagte Ottomar, in deſſen heißer
Freundſchafts-Hand man gern jede weibliche ent¬
rieth — bleiben, bis es auf dem Waſſer lichter wird
und der Mond in die Thaͤler herein leuchten kann
— wer weiß, wenn wirs wieder ſo haben?“ End¬
lich fuͤgt er hinzu: „ich und Guſtav verreiſen ohne¬
hin morgen fruͤh und das Wetter haͤlt nicht mehr
lange.“ Es iſt das ſiebenwoͤchentliche unbekannte
Verreiſen, von dem ich alle Muthmaßungen, die
es bisher ſo wichtig und raͤthſelhaft vorſtellten, gern
hier zuruͤcknehme.
Wir blieben wieder; das Geſpraͤch [wurde] ein¬
ſylbiger, der Gedanke vielſylbiger und das Herz
zu voll, wie uns der abnehmende Mond an der
Aufgangsſchwelle auch vol vorkam. Wenn einmal
eine Geſellſchaft die Hand vom Thuͤrdruͤcker, wor¬
an ſie ſie ſchon hatte, wieder wegthut: ſo erregt
dieſer Aufſchub die Erwartung groͤßerer Vergnuͤ¬
gungen und dieſe Erwartung erregt Verlegenheit —
wir aber wurden bloß um einander ſtiller, verbar¬
gen unſere Seufzer uͤber die Falkenfluͤgel froͤhlicher
[344] Stunden und vielleicht brachte manches wegge¬
wandte Auge dem Monde das Opfer, das ihm der
traurigſte und der freudigſte Menſch ſo ſchwer ver¬
ſagen koͤnnen. . . .
Gerade jezt draͤngte ich mich wieder hinaus in
ſeine Strahlen und komme wieder an meinen
Schreibtiſch und danke dem Schleier der Nacht, der
um das Univerſum doppelt herumreicht, daß er
auch uͤber den groͤſten Schmerzen und Freuden der
Menſchen ſich faltet. . . . Wir waren alſo auf
unſerer Inſel ſo ſchwermuͤthig ſtumm wie an einer
Pforte der froͤhligen Ewigkeit: der Laͤnder-breite
Fruͤhling zog mit ſeiner Herrlichkeit — mit ſeinem
geſunknen lauen Monde — mit ſeinem ſchillernden
Venusſtern — mit ſeiner erhabnen Mitternachts¬
roͤthe — mit ſeinen himmliſchen Nachtigallen vor
fuͤnf Menſchen voruͤber; er warf und haͤufte in
dieſe fuͤnf Uebergluͤckliche ſeine Knoſpen und ſeine
Bluͤthen und ſeine daͤmmernden Proſpekte und Hof¬
nungen und ſeine tauſend Himmel und nahm ih¬
nen nichts dafuͤr weg als ihre Sprache. O Fruͤh¬
ling o Erde Gottes! o unumſpannter Himmel!
ach! regte ſich heute doch in allen Menſchen auf dir
das Herz in freudigen Schlaͤgen, damit wir alle
[345] neben einander unter den Sternen niederfielen und
den heißen Athem in Eine Jubel-Stimme ergoͤſſen
und alle Freuden in Gebete, und das hohe Herz
nach dem hohen Himmelsblau richteten und in der
Entzuͤckung nicht Kummer- ſondern Wonne-Seuf¬
zer abſchickten, deren Weg ſo lang zum Himmel
wie unſerer zum Sarge iſt? . . . Du bitterer Ge¬
danke! oft unter lauter Ungluͤcklichen der Froͤhli¬
che zu ſeyn — du ſuͤßerer, unter lauter Gluͤckli¬
chen der Betruͤbte zu ſeyn!
Endlich floſſen vom Silberblick des ſteigenden
Mondes die truͤbenden Schlacken hinweg; er ſtand
wie eine unausſprechliche Entzuͤckung hoͤher in der
Nacht des Himmels, aus deſſen Hintergrund in
den Vorgrund gemalt. Die Froͤſche durchſchlugen
wie eine Muͤhle die Nacht und ihr forttoͤnender
vielſtimmiger Laͤrm hatte die Wirkung des forttoͤ¬
nenden Schweigens. — O welcher Menſch, den
der Tod zu einem uͤber die Erde fliegenden Engel
gemacht haͤtte, waͤre nicht auf ſie niedergefallen
und haͤtte unter irdiſchem Laub und auf der irdi¬
ſchen vom Monde uͤberſilberten Erde (wie von der
Sonne uͤbergoldeten) nicht an ſeinen verlaſſenen
Himmel gedacht und an ſeine alten Menſchen-Auen,
[346] ſeine alten Fruͤhlinge hienieden und an ſeine vori¬
gen Hofnungen unter den Bluͤten? —
Ihr Rezenſenten! vergebt mir nur heute und
laſſet mich fortfahren!
Endlich ſtiegen wir in die Gondel wie in einen
Charons Rachen ein, wir raͤumten entzuͤckt und
unwillig das buſchige Ufer und den aus dem Waſſer
an feine Blaͤtter aufgeſtralten Wiederſchein — das
groͤßte Vergnuͤgen, der groͤßte Dank treiben nicht
horizontale ſondern ſenkrechte, ins Herz
greifende verſteckte Wurzeln — wir konnten alſo
zu Fenk nicht viel ſagen, der von der Freudenſtaͤt¬
te heute Nacht nicht weggeht. — Du Freund! der
mir theurer als allen andern iſt, vielleicht wenn
alles ſtiller und der Mond hoͤher und reiner und
die Nacht ewiger iſt, gegen Morgen hin, wirſt
du zu weinen anfangen uͤber beides was die Erde
dir gegeben, was ſie dir genommen hat. — Ge¬
liebter! wenn du es jetzt in dieſer Minute thuſt:
ſo thu' ichs jetzt ja auch! — . . .
Mit unſerem erſten Tritt ins Boot durchdran¬
gen (wahrſcheinlich auf Fenks Anordnung) die Alp¬
hoͤrner wieder die Nacht; jeder Ton klang in ihr
wie eine Vergangenheit, jeder Ackord wie ein
[347] Seufzer nach einem Fruͤhling der andern Welt; der
Nacht-Nebel ſpielte und rauchte uͤber Waͤldern und
Gebirgen und zog ſich wie die Graͤnze des Men¬
ſchen, wie Morgenwolken der kuͤnftigen Welt um
unſere Fruͤhlingserde. Die Alphoͤrner verhallten wie
die Stimme der erſten Liebe an unſeren Ohren und
wurden lauter in unſern Phantaſien; das Ruder
und Boot ſchnitt das Waſſer in eine glimmende
Milchſtraße entzwei; jede Welle war ein zitternder
Stern; das wankende Waſſer ſpiegelte die Libra¬
zion des Mondes nach, den wir lieber vertauſend¬
faͤltigt als verdoppelt haͤtten und deſſen ſanftes Li¬
lienantlitz unter der Welle noch blaſſer und holder
bluͤhte. — Umzingelt von vier Himmeln — denn
oben im Blauen, auf der Erde, im Waſſer und
in uns — ſchifften wir durch ſchwimmende Bluͤten
hin. Beata ſaß am einen Ende des Bootes ent¬
gegengerichtet dem andern, dem Monde und dem
Freund ihrer zarten Seele — ihr Blick glitt leicht zwi¬
ſchen dem Monde und ihm herab und hinauf — er dach¬
te an ſeine morgendliche Reiſe und an ſeine laͤnge¬
re Legations-Reiſe und bat uns alle um ſchrift¬
liche Denkmaͤler, damit er immer gut bliebe wie
jetzt unter uns und erinnerte Beata an ihr Ver¬
[348] ſprechen, ihm auch eines zu geben — ſie hatt' es ſchon ge¬
ſchrieben und gab es ihm heute beim Abſchied —
Der frohe Tag, der frohe Abend, die himmliſche
Nacht fuͤllte ihre Augen mit tauſend Seelen und
mit zwei Thraͤnen, die ſtehen blieben — ſie deckte
und trocknete das eine Auge mit dem weiſſen Tu¬
che und ſah Guſtav mit dem zweiten rein und ſtroͤ¬
mend an wie ein Spiegelbild . . . . Du gute See¬
le dachteſt, du verbaͤrgeſt auch das zweite Auge! —
Endlich — o du ewiges unaufhoͤrliches Endlich!
— brach auch unſere ſilberne Wellen-Fahrt an ih¬
rem Ufer: ach das gegenuͤberliegende lag oͤde und
uͤberſchattet dort. Ottomar riß ſich im wehmuͤthig¬
ſten Enthuſiaſmus los und unter dem Verklingen
der Schweizer-Toͤne ſagte mein erneuerter Freund:
„es iſt wieder voruͤber — alle Toͤne verhallen — al¬
le Wellen verſinken — die ſchoͤnſten Stunden ſchla¬
gen aus und das Leben verrinnt — es giebt doch
gar nichts, du weiter Himmel uͤber uns, was uns
fuͤllet oder begluͤckt! — Lebt wohl! ich werde von
euch Abſchied nehmen auf meinem ganzen Weg hin¬
durch.“
Die Alpen-Echo's klangen in die weite Nacht
zuruͤck und fielen zu einem toͤnenden Hauche, der
[349] nicht der Erinnerung aus der Jugend ſondern aus
der tiefen Kindheit glich. Wir ſchwankten, aus¬
gefuͤllt vom Genuß, durch thauende Geſtraͤuche
und umgebuͤckte ſchlaf- und thautrunkne Fluren,
aus denen wir entſchlummerte Blumen riſſen, um
Morgen ihre zugefaltete Schlafgeſtalt zu ſehen.
Wir dachten an die ſonnenloſen Pfade des heutigen
Morgens; wir giengen ohne Laut vor dem pigmaͤi¬
ſchen Gaͤrtchen und Haͤuschen voruͤber und die Kin¬
der und die brodbackende Frau wurden von den To¬
desarmen des Schlummers gedruͤckt und umflochten.
Die Zeit hatte den Mond wie einen Siſyphusſtein
auf den Gipfel des Himmels gewaͤlzet und ließ ihn
wieder ſinken. In Oſten giengen Sterne auf, in
Weſten giengen Sterne unter, mitten im Him¬
mel zerſprangen kleine von der Erde abgeſandte
Sterne — aber die Ewigkeit ſtand ſtumm und groß
neben Gott ſelbſt und alles vergieng vor ihr und
alles entſtand vor ihm. Das Feld des Lebens und
der Unendlichkeit hieng nahe und tief uͤber uns wie
Ein Blitz herein und alles Große, alles Ueberir¬
diſche, alle Verſtorbne und alle Engel hoben un¬
ſern Geiſt in ihren blauen Kreis und ſanken ihm
entgegen . . . .
[350]
Wir traten endlich, ich an der Hand meiner
Schweſter, Guſtav an Beatens Hand, ſtiller,
voller, heiliger in unſer kleines Lilienbad als wirs
am Morgen verlaſſen hatten. Guſtav gieng zuerſt
von mir und ſagte, in fuͤnf Tagen ſehen wir uns
wieder. Beaten fuͤhrt' er ihrer Huͤtte zu, die in
Lunens Silberflammen loderte. Die weiſſe Spitze
der Pyramide auf dem Eremitenberge ſchimmerte
tief entfernt uͤber den langen gruͤnenden Weg zum
Thal und durch die Nacht heruͤber — neben dieſer
Pyramide hatten ſich die zwei Gluͤcklichen ihre Her¬
zen zuerſt gegeben, neben ihr ruhte ein Freund
von ſeinem Leben aus und ihre weiſſe Spitze zeigte
den Ort, wo ſein Fruͤhling ſchoͤner iſt. — Sie hoͤr¬
ten die Blaͤtter der Terraſſe liſpeln, und den Le¬
bensbaum, wo ſie nach dem Untergang der Sonne
ſich zum zweitenmal ihre Seelen gegeben hatten. . .
O ihr zwei Ueberſeligen und Schuldloſen! jetzt
ſchoͤpft ein guter Seraph fuͤr euch eine Silber-Mi¬
nute aus dem Freuden-Meere, das in einer ſchoͤ¬
nern Erde liegt — auf dieſem eilenden Tropfen
blinkt die ganze Perſpektive des Edens, worin der
Engel iſt; die Minute wird jetzt zu euch herunter
rinnen, aber ach ſo ſchnell wird ſie voruͤber ge¬
hen! —
[351]
Beata gab Guſtav, als Wink zum Abſchied,
das begehrte Blatt — er druͤckte die Hand, aus der
es kam, an ſeinen ſtillen Mund — er konnte weder
Dank noch Lebewohl ſagen — er nahm ihre zweite
Hand und alles rief und wiederholte in ihm „ſie iſt ja
wieder dein und bleibt es ewig“ und er mußte wei¬
nen uͤber ſeine Seligkeit. — Beata ſah ihm in ſein
uͤberſtroͤmendes Herz und ihres floß in eine Thraͤne
uͤber und ſie wußt' es noch nicht — aber als die
Thraͤne des heiligſten Auges auf die Rofenwange
glitt und an dieſem Roſenblatte mit erzitterndem
Schimmer hieng — als ſeine feſſelnde und ihre ge¬
feſſelte Haͤnde ſie nicht trocknen konnten — als er
mit ſeinem flammenden Angeſicht, mit ſeiner uͤber¬
ſeligen zerſpringenden Bruſt die Zaͤhre nehmen woll¬
te und ſich nach dem Schoͤnſten auf der Erde wie
eine Entzuͤckung nach der Tugend neigte und mit
ſeinem Geſicht das ihrige beruͤhrte: dann fuͤhrte
der Engel, der die Erde liebt, die zwei froͤmm¬
ſten Lippen zu einem unausloͤſchlichen Kuſſe zuſam¬
men — dann verſanken alle Baͤume, vergiengen
alle Sonnen, verflogen alle Himmel und Himmel
und Erde hielt Guſtav in einem einzigen Herz an
ſeiner Bruſt — dann giengeſt du, Seraph, in
[352] in die ſchlagenden Herzen und gabeſt ihnen die
Flammen der uͤberirdiſchen Liebe — und du hoͤrteſt
fliehen von Guſtavs heiſſen Lippen die gehauchten
Laute: „o du Theure! Unverdiente! und ſo Gu¬
te! ſo Gute!”
Es ſei genug — die hohe Minute iſt voruͤber
gefloſſen — der Erdentag ſchickt ſein Morgenroth
ſchon an den Himmel — mein Herz komme zur
Ruhe, und jedes andre auch!
Vier[353]
Vier u. funfzigſter od. 6ter Freuden-Sektor.
Tag nach dieſer Nacht — Beatens Blatt — Merkwürdigkeit.
Ich bitte die Kritik um Verzeihung, wenn ich
heute Nacht zuviele Metaphern und zuviel Feuer
und Laͤrm gemacht: ein Freuden-Sektor (ſo wie
die Kritik daruͤber) muß ſich das gefallen laſſen,
ſobald einmal der Verfaſſer ſich eine aͤhnliche Ueber¬
fracht von Zitronenſaͤure, Theebluͤte, Zuckerrohr
und Rack gefallen laͤſſet, wie ich that.
Ich legte mich heute Nacht gar nicht nieder:
die Voͤgel fiengen ſchon wieder zu ſingen an, und
als der Traum kaum das vergangne Schauſpiel ei¬
nige 40mal wieder vor den zugeſunknen Augen auf¬
gefuͤhret hatte, macht' ich ſie wieder auf, weil
die Sonne mich umflammte.
Eine durchwachte und durchfreuete Nacht laͤſſet
einen Morgen zuruͤck, wo man in einer ſuͤßen Ab¬
ſpannung weniger empfindet als phantaſiret, wo
die naͤchtlichen Toͤne und Taͤnze unſere innere Oh¬
ren immerfort anklingen, wo die Perſonen, mit
denen wir ſie verbrachten, in einem ſchoͤnen Daͤm¬
z. Theil Z[354] merlichte, das unſre Herzen zieht, vor unſern in¬
nern [Augen] ſchweben. In der That man liebt nie
eine Frau mehr als nach einer ſolchen Nacht Mor¬
gens eh' man gefruͤhſtuͤckt.
Ich dachte heute tauſendmal an meinen Gu¬
ſtav der vor Tags ſeine fuͤnftaͤgige Reiſe angetre¬
ten, und an meinen feſten Ottomar, der mit ihm
geht. Moͤchtet ihr an keine Dornen kommen als
ſolche die unter die Roſe geſteckt ſind, unter keine
Wolke treten als die, die euch den ganzen blauen
Himmel laͤſſet und bloß die Glut-Scheibe nimmt,
und moͤchte euren Freuden keine fehlen als die,
daß ihr ſie uns noch nicht erzaͤhlen koͤnnet!
Alles Sonnenlicht umzauberte und uͤberwallte
mir bloß wie erhoͤhtes Mondenlicht alle Schatten¬
gaͤnge von Lilienbad; die vorige Nacht ſchien mir
in den heutigen Tag heruͤber zu langen und ich
kann nicht ſagen, wie mir der Mond, der noch
mit ſeinen abgewiſchten Schimmer wie eine Schnee¬
flocke tief gegen Abend hergieng, ſo willkommen
und lieb wurde. O blaſſer Freund der Noth und
der Nacht! ich denke ſchon noch an dein elyſiſches
Schimmern, an deine abgekuͤhlten Stralen, womit
du uns an Baͤchen und in Alleen begleiteſt und wo¬
mit du die traurige Nacht in einen von weiten ge¬
[355] ſehenen Tag umkleideſt! Magiſcher Proſpektmaler
der kuͤnftigen Welt, fuͤr die wir brennen und wei¬
nen, wie ein Geſtorbner ſich verſchoͤnet, ſo ma¬
leſt du jene auf unſre irdiſche, wenn ſie mit allen
ihren Blumen und Menſchen ſchlaͤft oder ſchweigend
dir zuſieht! —
Ich gaͤbe heute die vornehmſte Viſite darum,
wenn ich eine bei den Klubiſten des geſtrigen Ta¬
ges machen koͤnnte; es iſt aber nicht zu thun: ſo¬
gar Beata hat heute eine von ihrer Mutter und
mein Auge konnte noch nichts von ihr habhaft wer¬
den als die fuͤnf weiſſen Finger, womit ſie einen
Blumentopf an ihrem Fenſter aus dem Schatten
eines Zweigs wegdrehte. O wenn unſer altes Le¬
ben und unſre Wandelgaͤnge wieder anheben und
alles wieder beyſammenlebt: was ſoll da die Ge¬
lehrten-Republik nicht zu leſen bekommen!
Heute reich' ich ihr nichts mehr als Beatens
Geleitsbrief an Guſtav, weil ich ihn zu mun¬
diren brauche. Ich ſchluͤpfe dann wieder ins Freie,
beſchiffe nach der Seekarte meines Kopfes den geſtri¬
gen Weg noch einmal und indem ich die verzettel¬
ten botaniſchen Blumen, die geſtern unſre vollen
Haͤnde fallen lieſſen, als Nachflor aufleſe, find'
Z 2[356] ich die hoͤhern auch. — Man wird einige Stellen
im folgenden Aufſatze Beaten verzeihen, wenn ich
vorausſage, daß ſie — vielleicht durch ihr Herz ſo
gut wie durch ihren Vater uͤberliſtet, der nur ein
aͤuſſerlicher Renegat des Katholiciſmus war — von
den Engeln und ihrer Anbetung mehr glaubte als
Nikolai und die Schmalkaldiſchen (Waaren-)
Artikel einer Lutheranerin verſtatten koͤnnen. Denn
das ſchwache und ſo oft huͤlfloſe Weib, das nicht
weit uͤber dieſe Erde zu ſteigen wagt, legt in der
Stunde der Noth ſo gern ihre Bitten und ihre
Seufzer vor einer Marie, vor einer Seligen; vor
einem Engel nieder; aber der feſtere Mann wird
nachſichtig einen Wahn nicht ruͤgen, der ſie ſo
troͤſten kann. —
Wuͤnſche fuͤr meinen Freund.
Es iſt kein Wahn, daß Engel um den bedroh¬
ten Menſchen [mitten] in ihren Freuden wachen,
wie die Mutter unter ihren Freuden und Geſchaͤf¬
ten ihre Kinder huͤtet. Ach! ihr unbekannten Un¬
ſterblichen! ſchlieſſet euch ein einziger Himmel ein? —
Dauert euch nie der wehrloſe Erdenſohn? — Soll¬
tet ihr groͤſſere Thraͤnen abzutrocknen haben als un¬
[357] ſre? — ach wenn der Schoͤpfer ſeine Liebe ſo in
euch wie in uns gelegt hat, ſo ſinkt ihr gewiß auf
dieſe Erde und troͤſtet das umſtuͤrmte Herz unter
dem Monde, fliegt um die gedruͤckte Seele, deckt
eure Hand auf die verſiegende Wunde und denkt
an die armen Menſchen!
Und wenn hienieden ein Geiſt geht, der euch
einmal gleichen wird, koͤnnt ihr euren Bruder ver¬
geſſen? — Engel der Freude! ſei mit meinem und
[deinem]Freunde, wenn die Sonne koͤmmt und
laſſ' ihn ſchoͤne fromme Morgen angruͤnen! Sei
mit Ihm, wenn ſie hoͤher geht und wenn ihn die
Arbeit druͤckt — o nimm den entfernten Seufzer ei¬
ner Freundin und kuͤhle damit Seinen! Sei mit
ihm wenn die Sonne weicht und richte ſein Auge
auf den im weiſſen Trauergewand aufſteigenden
Mond und auf den weiten Himmel, worin der
Mond und du gehen! —
Engel der Thraͤnen und der Geduld! Du, der
du oͤfter um den Menſchen biſt! ach vergeſſe mein
Herz und mein Auge und laſſ' ſie bluten; — ſie
thun es doch gern — aber ſtille wie der Tod, das
Herz und das Auge meines Freundes und zeig' ih¬
nen auf der Erde nichts als den Himmel jenſeits
[358] der Erde, — Ach Engel der Thraͤnen und der Ge¬
duld! Du kennſt das Auge und das Herz, das
ſich fuͤr ihn ergieſſet, du wirſt ſeine Seele vor ſie
bringen, wie man Blumen in den Sommerregen
ſtellet! Aber thu' es nicht, wenn es ihn zu trau¬
rig macht! O Engel der Geduld! ich liebe dich,
ich kenne dich! ich werde in deinen Armen ſterben!
Engel der Freundſchaft! — vielleicht biſt
du der vorige Engel? . . . . ach! . . . . Dein bimm¬
liſcher Fluͤgel huͤlle ſein Herz ein und waͤrm' es
ſchoͤner als die Menſchen koͤnnen — ach, du wuͤr¬
deſt auf einer andern Erde und ich auf dieſer wei¬
nen, wenn an einem kalten Herzen ſein heiſſes,
wie am gefrierenden Eiſen die warme Hand, an¬
klebte und blutig abriſſe? . . . . o bedeck' ihn; aber
wenn du es nicht kannſt, ſo ſag' mir ſeinen Jam¬
mer nicht!
O ihr immer Gluͤcklichen in andern Welten!
euch ſtirbt nichts, ihr verliert nichts und habt al¬
les! — was ihr liebt, druͤckt ihr an eine ewige
Bruſt, was ihr habt, haltet ihr in ewigen Haͤn¬
den. — Koͤnnt ihrs denn fuͤhlen in euren glaͤn¬
zenden Hoͤhen droben, in eurem ewigen Seelen¬
kunde, daß die Menſchen hienieden getrennt wer¬
[359] den, daß wir einander nur aus Saͤrgen, eh' ſie
unterſinken, die Haͤnde reichen, ach daß der Tod
nicht das einzige, nicht das ſchmerzhafteſte iſt, was
Menſchen ſcheidet — eh' er uns aus einander nimmt,
ſo draͤngt ſich noch manche kaͤltere Hand herein
und ſpaltet Seele von Seele — — ach dann flieſ¬
ſet ja auch das Auge und das Herz faͤllt klagend
zu, eben ſo gut als haͤtte der Tod zertrennt, wie
in der voͤlligen Sonnenfinſterniß ſo gut wie
in der laͤngern Nacht der Thau ſinkt, die Nach¬
tigall klagt, die Blume zuquillt!
— Alles Gute, alles Schoͤne, alles was den
Menſchen begluͤckt und erhebt, ſei mit meinem
Freunde; und alle meine Wuͤnſche vereinigt mein
ſtilles Gebet.“
Ich thue ſie alle mit, nicht bloß fuͤr Guſtav,
ſondern fuͤr jeden den ich kenne und fuͤr die andern
auch.
Ob es gleich ſchon eilf Uhr zu Nachts iſt: ſo
muß ich dem Leſer doch etwas Melancholiſch-Schoͤ¬
nes melden, das eben jetzt voruͤberzog. Ein ſingen¬
des Weſen ſchwebte durch unſer Thal, aber von Blaͤt¬
[360] tern und Daͤmmerung verdeckt, weil der Mond
noch nicht auf war. Es ſang ſchoͤner als ich noch
hoͤrte:
— — Niemand, nirgends, nie.
— — Die Thraͤne, die faͤllt.
— — Der Engel, der leuchtet.
— — Es ſchweigt.
— — Es leidet.
— — Es hoft.
— — Ich und Du!
Offenbar fehlet jeder Zeile die Haͤlfte, und
jeder Antwort die Frage. Es fiel mir ſchon einige¬
male ein, daß der Genius, der unſern Freund er¬
zog, ihm beim Abſchied Fragen und Diſſonanzen
dagelaſſen, deren Antworten und Aufloͤſungen er
mitgenommen: ich denk', ich hab' es dem Leſer
auch geſagt. Ich wollt', Guſtav waͤre da. Aber
ich habe nicht den Muth, mir die Freude auszu¬
denken, daß auch der Genius ſich in unſre Freuden-
Guirlande zu Lilienbad eindraͤnge! — Ich hoͤre noch
immer die gezognen Floͤtentoͤne aus dieſem unbe¬
kannten Buſen hinter den Bluͤten klagen; aber ſie
machen mich traurig. Hier liegen die ewigſchlafen¬
den Blumen, die ich heute auf dem Steige unſrer
[361] letzten Nacht zuſammentrug, neben aufgefalteten
wachenden, die ich erſt ausriß — ſie machen mich
auch traurig. — Es giebt fuͤr mich und meine Le¬
ſer nichts noͤthigeres als jetzt einen neuen Freuden-
Sektor anzuheben, damit wir unſer altes Leben
fortſetzen . . . .
O Lilienbad! du biſt nur einmal in der Welt;
und wenn du noch einmal vorhanden biſt, ſo heiſſeſt
du V—zka.
[362]
Letzter Sektor.
Wir ungluͤcklichen Brunnengaͤſte! es iſt vorbei
mit den Freuden in Lilienbad. — Die obige Ue¬
berſchrift konnte noch mein Bruder machen, eh'
er nach Maußenbach forteilte! denn Guſtav liegt
da im Gefaͤngnis. Es iſt alles unbegreiflich.
Meine Freundin Beata unterliegt den Nachrichten,
die wir haben und die im folgenden Briefe vom H.
Doktor Fenk heute ankamen. Es iſt ſchmerzhaft
fuͤr eine Schweſter, daß ſie allzeit bloß in Trauer¬
faͤllen die Feder fuͤr den Bruder nehmen muß.
Wahrſcheinlich wird die folgende Hiobspoſt dieſes
ganze Buch ſo wie unſere bisherigen ſchoͤnen Tage
beſchließen.
Ich will dich, mein theuerer Freund, nicht
wie ein Weib ſchonen ſondern dir auf einmal den
ganzen außerordentlichen Schlag erzaͤhlen, der un¬
ſere gluͤcklichen Stunden getroffen hat und am mei¬
ſten die unſerer beiden Freunde.
[363]
Drei Tage nach unſerer ſchoͤnen Nacht — er¬
innerſt du dich noch an eine gewiſſe Bemerkung
von Ottomar? — will der Profeſſor Hoppedizel
ſeinen unbeſonnenen Spas ausfuͤhren, im Mauſ¬
ſenbachſchen Schloſſe einzubrechen. Der pfiffige Jaͤ¬
ger Robiſch war gerade nicht zu Hauſe: ſondern
mit deinem Vorfahrer, dem Regierungsrath Kolb,
auf einer Streiferei nach Diebsgeſindel, bei der
ſie aus Luſt mitzogen. Bemerke, eine Menge
Umſtaͤnde und Perſonen verknuͤpfen ſich hier, die
ſchwerlich der Zufall zuſammen geleitet hat.
Der Profeſſor koͤmmt mit 6 Kameraden und
hat eine Leiter mit, um ſie an dem ſeit Jahren
zerbrochnen Fenſter das nach Auenthal hinuͤberſieht
anzulegen. Aber als er unter das Fenſter tritt:
ſteht ſchon eine daran. Er nimmts fuͤr den beſten
Zufall und ſie ſteigen ſaͤmmtlich, beinahe hinter
einander hinauf. Oben langt eine Hand eine ſil¬
berne Degenkuppel heraus und will ſie geben —
der Profeſſor ergreift beide und ſpringt uͤber das
Fenſter hinein. Drinnen war was er ſchien, ein
Dieb, welcher Handlanger auf der Leiter erwartete.
Der diebiſche Realiſt faͤllt den Nominaliſten mit
wuͤthender Verzweiflung an — die Gallerie auf der
[364] Leiter ſtuͤrzet gar nach und vermehrt das fechtende
Gewimmel. Die Stoͤße auf dem Fußboden laͤrmen
den horchenden Roͤper weniger aus ſeinem Schlafe
als Bette auf — er ſein ganzes Haus und dieſes
ſeinen Gerichtsdiener — es kurz zu ſagen in weni¬
gen Minuten hatt' er mit der Wuth, womit der
Geizige ſeine Guͤter rettet und haͤlt, die ſpashaf¬
ten Diebe und den ernſthaften zu Gefangnen ge¬
macht, der wahre Dieb mochte noch ſo ſehr um
ſich ſchlagen und der Profeſſor noch ſo ſehr [diſpu¬
tieren]. Jezt ſitzt alles feſt und wartet auf dich.
— Ach! haͤltſt du es aus wenn ich dir alles
ſage? die Streifer Kolb und Robiſch finden um
Mauſſenbach die Bundgenoſſen des ertapten Diebs
— dringen in den Wald — gehen einer Hoͤle zu
als wuͤſten ſie daß ſie zu etwas fuͤhre — finden ei¬
ne unterirdiſche Menſchenwelt — o! daß gerade du
zu deinem Ungluͤck da getroffen werden muſteſt, du
Unſchuldiger und Ungluͤcklicher! nun ſchlaͤgt dein
ſanftes Herz auch an der Kerkerwand! — ſoll ich
dir deinen Freund Guſtav nennen? — — Eile,
eile, damit es ſich anders wende!
Sieh! nicht bloß auf deine, auch auf meine
Bruſt hat dieſer Tag ſich heftig geworfen. Haͤltſt
[365] du es aus, wenn ich noch mehr ſage? — daß es
nur ein Zufall iſt, daß Ottomar noch lebt. — —
Ich brachte ihm die Nachricht unſeres Ungluͤcks.
Mit einem ſchrecklichen Straͤuben ſeiner Natur, in
der jede Fieber mit einem andern Schauer kaͤmpf¬
te, hoͤrt' er mir zu und fragte mich ob keiner mit
ſechs Fingern gefangen genommen worden: „ich
habe in jener Waldhoͤle (ſagt' er) einen ſchweren
Eid gethan, unſere unterirdiſche Verbindung nie¬
mand zu offenbaren, ausgenommen eine Stunde
vor meinem Tode: Fenk, ich will dir jezt die
ganze Verbindung offenbaren.“ — Mein Straͤu¬
ben und Flehen half nichts: er offenbarte mir al¬
les, „Guſtav muß gerechtfertigt werden ſagt' er“
— aber dieſe Geſchichte iſt nirgends ſicher, kaum
im getreueſten Buſen, geſchweige auf dieſem Pa¬
pier. Ottomar wurde von ſeiner ſogenannten Ver¬
nichtungs-Minute angefallen. Ich ließ ſeine Hand
nicht aus meiner, damit er uͤber ſeine Stunde
hinauslebte und ſeinen Eid braͤche. — Es giebt
nichts hoͤheres als einen Menſchen, der das Leben
verachtet; und in dieſer Hoheit ſtand mein Freund
vor mir, der in ſeiner Hoͤle mehr gewagt und beſ¬
ſer gelebt hatte als alle Scheerauer — Ich ſah es
[366] ihm an, daß er ſterben wollte. Es war Nacht.
Wir waren in der Stube, wo die waͤchſernen Mu¬
mien mit ſchwarzen Straͤußern ſtehen, die den
Menſchen erinnern wie wenig er war, wie wenig
er iſt. „Beuge, ſagt er (denn ich kettete mich an
ihn) deinen Kopf weg, daß ich in den Sirius ſe¬
he — daß ich in den unendlichen Himmel hinaus¬
ſehe und einen Troſt habe — daß ich mich hinweg¬
ſetze uͤber eine Erde mehr oder weniger — o mache
mir, Freund, das Sterben nicht ſo ſauer — und
zuͤrne und traure nicht — o ſchau, wie der ganze
Himmel von einer Unendlichkeit zur andern ſchim¬
mert und lebt und nichts droben tod iſt — die
Menſchen aller dieſer Wachs-Leichname wohnen
drinnen in jenem Blauen — o ihr abgeſchiednen,
heute zieh ich auch zu euch, in welche Sonne auch
mein menſchlicher Lichtfunke ſpringen moͤge, wenn
der Koͤrper von ihm nieder ſchmilzt: ich find' euch
wieder.“ —
Das Ausſchlagen jeder Viertelſtunde hatte bis¬
her mein Herz durchſtochen; aber die letzte Vier¬
telſtunde toͤnte mich wie eine Leichenglocke an; ich
bewachte aͤngſtlich ſeine Haͤnde und Schritte; er
fiel um mich: Nein! nein! ſagt' ich, hier iſt
[367] kein Abſchied — ich haſſe dich bis ins Grab hinein,
wenn du etwas im Sinne haſt — umarme mich
nicht.“ — Er hatt' es ſchon gethan; ſein ganzes
Weſen war ein ſchlagendes Herz; er wollte in der
Empfindung der Freundſchaft vergehen; er preßte
ſeine Bruſt an meine, und ſeine Seele an meine: “ich
umarme dich (ſagt, er) auf der Erde — in welche
Welt auch der Tod mich werfe: ich vergeſſe deiner
nicht; ich werde dort nach der Erde ſehen und
meine Arme ausbreiten nach dem irdiſchen Freunde
und nichts ſoll meine Arme fuͤllen als die getreue,
die belaſtete Bruſt derer, die mit mir hier gelit¬
ten[,] die mit mir hier die Erde getragen haben. . . .
Sieh! du weinſt und wollteſt mich doch nicht um¬
armen! o Geliebter! — an dir fuͤhl' ich die Ei¬
telkeit der Erde nicht — — du wirſt ja auch ſter¬
ben! . . . Großes Weſen uͤber der Erde.“ . . . —
Hier riß er ſich von mir und ſtuͤrzte auf ſeine Knie
und betete. „Zerſtoͤr' mich nicht, beſtraf' mich
nicht! — ich gehe weg von dieſer Erde, du weiſt
wo der Menſch ankoͤmmt, du weiſt, was das Er¬
denleben und das Erdenthun iſt — aber o Gott,
der Menſch hat ein zweites Herz, eine zweite Seele,
ſeinen Freund! gieb mir den Freund wieder mit mei¬
[368] nem Leben — wenn einmal alle Menſchenherzen
ſtocken und alles Menſcheublut in Graͤbern verfault:
o guͤtiges, liebendes Weſen! hauch' dann uͤber die
Menſchen und zeige der Ewigkeit ihre Liebe!” Ein
Aufſprung — ein Flug an mich — eine umarmende
Zerdruͤckung — ein Schlag an die Wand — ein
Schuß aus ihr. —
Er lebt aber noch.
Fenk.
Leben[369]
Leben des vergnuͤgten Schulmeiſterleins Ma¬
ria Wuz in Auenthal.
Eine Art Idylle.
Wie war dein Leben und Sterben ſo ſanft und
meerſtille, du vergnuͤgtes Schulmeiſterlein Wuz!
der ſtille laue Himmel eines Nachſommers gieng
nicht mit Gewoͤlk, ſondern mit Duft um dein Le¬
ben herum: deine Epochen waren das Schwanken
und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, de¬
ren Blaͤtter auf ſtehende Blumen aus einander
flattern — und ſchon außer dem Grabe ſchliefeſt
du ſanft!
Jezt aber, meine Freunde, muͤſſen vor allen
Dingen die Stuͤhle um den Ofen, der Schenktiſch
mit dem Trinkwaſſer an unſre Knie geruͤckt und
die Vorhaͤnge zugezogen und die Schlafmuͤtzen auf¬
geſetzt werden und an die grand monde uͤber der
Gaſſe druͤben und palais royal muß keiner von
uns denken, bloß weil ich die ruhige Geſchichte des
vergnuͤgten Schulmeiſterleins erzaͤhle — und du,
mein lieber Chriſtian, der du eine einathmende
2. Theil. A a[370] Bruſt fuͤr die einzigen dephlogiſtiſierten und ſtaͤr¬
kenden Freuden des Lebens, fuͤr die haͤuslichen
haſt, ſetze dich auf den Arm des Stuhls, aus
dem ich heraus erzaͤhle und lehne dich zuweilen ein
wenig an mich! du machſt mich gar nicht irre.
Seit der Schwedenzeit waren die Wuze Schul¬
meiſter in Auenthal und ich glaube nicht, daß Ei¬
ner vom Pfarrer oder von ſeiner Gemeinde verklagt
wurde. Allemal acht oder neun Jahre nach der
Hochzeit verſahen Wuz und Sohn das Amt mit
Verſtand — unſer Maria Wuz dozierte unter ſei¬
nem Vater ſchon in der Woche das Abc, in der
er das Buchſtabieren erlernte, das nichts taugt.
Der Karakter unſers Wuz hatte wie der Unterricht
anderer Schulleute etwas Spielendes und Kindi¬
ſches, aber nicht im Kummer ſondern in der
Freude.
Schon in der Kindheit war er ein wenig kin¬
diſch. Denn es giebt zweierlei Kinderſpiele, kin¬
diſche und ernſthafte — die ernſthaften ſind Nach¬
ahmungen der Erwachſenen, das Kaufmanns-Sol¬
datens-Handwerkers-Spielen — die kindiſchen ſind
Nachaͤffungen der Thiere. Wuz war beim Spielen
nie etwas anders als ein Haaſe, eine Turteltaube
[371] oder das Junge derſelben, ein Baͤr, ein Pferd
oder gar der Wagen daran. Glaubt mir! ein Se¬
raph findet auch in unſern Kollegien und Hoͤr¬
ſaͤlen keine Geſchaͤfte ſondern nur Spiele und, wenn
ers hoch treibt, jene zweierlei Spiele.
Indeß hatt' er auch wie alle Philoſophen ſeine
ernſthafteſten Geſchaͤfte und Stunden. Setzte er
nicht ſchon laͤngſt — ehe die brandenburgiſchen er¬
wachſenen Geiſtlichen nur fuͤnf Faͤden von buntem
Ueberzug umthaten — ſich dadurch uͤber große
Vorurtheile weg, daß er eine blaue Schuͤrze die
ſeltner der geiſtliche Ornat als der in ein Amt tra¬
gende D. Fauſts Mantel guter Kandidaten iſt, Vor¬
mittags uͤber ſich warf und in dieſem kouleurten
Meßgewand der Magd ſeines Vaters die vielen
Suͤnden vorhielt, die ſie um Himmel und Hoͤlle
bringen konnten? — ja er grif ſeinen eignen Va¬
ter an, aber Nachmittags: denn wenn er dieſem
Kobers Kabinetsprediger vorlas, wars ſeine in¬
nige Freude, dann und wann zwei, drei Worte
oder gar Zeilen aus eignen Ideen einzuſchalten und
dieſe Interpolation mit weg zu leſen, als ſpraͤche
H. Kober ſelbſt mit ſeinem Vater. Ich denke, ich
werfe durch dieſe Perſonalie vieles Licht auf ihn
A a 2[372] und einen Spaß, den er ſpaͤter auf der Kanzel
trieb, da er auch Nachmittags den Kirchgaͤngern
die Poſtille an Pfarrers Statt vorlas, aber mit
ſo viel hineingeſpielten eignen Verlagsartikeln und
Fabrikaten, daß er dem Teufel Schaden that und
deſſen Diener ruͤhrte. „Juſtel ſagt' er nachher
um 4 Uhr zu ſeiner Frau, was weiſt du unten
in deinem Stuhl, wie praͤchtig es einem oben iſt,
zumal unter dem Kanzelliede.“
Wir koͤnnen's leicht bei ſeinen aͤltern Jahren
erfragen, wie er in ſeinen Flegeljahren war. Im
December von jenen ließ er allemal das Licht eine
Stunde ſpaͤter bringen, weil er in dieſer Stunde
ſeine Kindheit — jeden Tag nahm er einen andern
Tag — rekapitulierte. Indem der Wind ſeine
Fenſter mit Schnee-Vorhaͤngen verfinſterte und in¬
dem ihn aus den Ofen-Fugen das Feuer anblinkte:
ſo druͤckte er die Augen zu und ließ auf die gefror¬
nen Wieſen den laͤngſt vermoderten Fruͤhling nie¬
derthauen; da bauete er ſich mit der Schweſter
in den Heuſchober ein und fuhr auf dem architek¬
toriſch gewoͤlbten Heu-Gebuͤrge des Wagens heim
und rieth droben mit geſchloſſenen Augen wo ſie
wohl nun fahren. In der Abendkuͤhle unter dem
[373] Schwalben-Scharmuzieren uͤber ſich ſchoß er, froh
uͤber die untere Entkleidung und das Deshabillée der
Beine, als ſchreiende Schwalbe herum und mauer¬
te ſich fuͤr ſein Junges — ein hoͤlzerner Weihnachts¬
hahn mit angepichten Federn wars — eine Koth-
Rotunda mit einem Schnabel von Holz und trug
hernach Bettſtroh und Bettfedern zu Neſt. Fuͤr ei¬
ne andere palingeneſierende Abendſtunde wurde ein
praͤchtiger Trinitatis (ich wolt' es gaͤbe 365 Trinita¬
tis) aufgehoben, wo er am Morgen im toͤnenden
Lenz um ihn und in ihm, mit laͤutendem Schluͤſſel-
Bund und durchs Dorf in den Garten ſtolzierte, ſich im
Thau abkuͤhlte und das gluͤhende Geſicht durch die
tropfende Johannisbeer-Staude draͤngte, ſich mit
dem hochſtaͤmmigen Graſe maaß und mit zwei ſchwa¬
chen Fingern die Roſen fuͤr den H. Senior und ſein
Kanzelpult abdrehte. An eben dieſem Trinitatis —
das war die zweite Schuͤſſel an dem naͤmlichen De¬
zember-Abend — quetſchete er, mit dem Sonnen¬
ſchein auf dem Ruͤcken, den Orgeltaſten den Choral
„Gott in der Hoͤh' ſei Ehr“ ein oder ab (mehr kann
er noch nicht) und ſtreckte die kurzen Beine mit ver¬
geblichen Approchen zur Parterre-Taſtatur hinunter
und der Vater riß fuͤr ihn die richtigen Regiſter her¬
[374] aus. — Er wuͤrde die ungleichartigſten Dinge zu¬
ſammenſchuͤtten, wenn er ſich in den gedachten zwei
Abendſtunden erinnerte, was er im Kindheits-De¬
cember vornahm; aber er war ſo klug, daß er ſich
erſt in einer dritten darauf beſann, wie er ſonſt
abends ſich aufs Zuketten der Fenſterlaͤden freuete,
weil er nun ganz geſichert vor allem in der lichten
Stube huckte, ob er ſich gleich vor der aͤußern Per¬
ſpektive des die Stube abſpiegelnden Fenſters in Acht
nahm; wie er und ſeine Geſchwiſter die abendliche
Kocherei der Mutter ausſpionierten, unterſtuͤtzten
und unterbrachen, und wie ſie mit zugedruͤckten Au¬
gen und zwiſchen den Bruſtwehr-Schenkeln des Va¬
ters auf das Blenden des kommenden Lichts ſich ſpitz¬
ten und wie ſie, in dem aus dem unabſehlichen Ge¬
woͤlbe des Univerſums herausgeſchnittenen oder hin¬
eingebauten Kloſet ihrer Stube ſo beſchirmet waren,
ſo ſatt, ſo wol. . . . Und alle Jahre, ſo oft er dieſe
Retourfuhre ſeiner Kindheit und des Wolfsmonats
darin, veranſtaltete, vergaß und erſtaunt' er — ſo¬
bald das Licht angezuͤndet wurde — daß in der Stu¬
be, die er ſich wie ein Loretto-Haͤusgen aus dem
Kindheits-Kanaan heruͤber holte, er ja gerade jezt
ſaͤße. — So beſchreibt er wenigſtens ſelber dieſe Er¬
[375] innerungs-hohen-Opern in ſeinen Rouſſeaui¬
ſchen Spatziergaͤngen, die ich da vor mich lege,
um nicht zu luͤgen . . . .
Allein ich ſchnuͤre mir den Fuß mit lauter Wur¬
zelngeflecht und Dickigt ein, wenn ichs nicht dadurch
wegreiße, daß ich einen gewiſſen aͤußerſt wichtigen
Umſtand aus ſeinem maͤnnlichen Alter herausſchnei¬
de und ſogleich jezt aufſetze; nachher aber ſoll ordent¬
lich a priori angefangen und mit dem Schulmeiſter¬
lein langſam in den drei aufſteigenden Zeichen
der Alters[-]Stufen hinauf und auf der andern Seite
in den drei niederſteigenden wieder hinabge¬
gangen werden — bis Wuz am Fuß der tiefſten Stu¬
fe vor uns ins Grab faͤllt.
Ich wolte, ich haͤtte dieſes Gleichniß nicht ge¬
nommen. So oft ich in Lavaters Fragmenten oder
in Comenii orbis pictus oder an einer Wand das
Blut- und Trauergeruͤſte der ſieben [Lebens-Satio¬
nen] beſah — ſo oft ich zuſchauete, wie das ge¬
malte Geſchoͤpf, ſich verlaͤngernd und ausſtreckend,
die Ameiſen-Pyramide aufklettert, drei Minuten
droben ſich umblickt und einkriechend auf der an¬
dern Seite niederfaͤhrt und abgekuͤrzt umkugelt auf
die um dieſe Schaͤdelſtaͤtte liegende Vorwelt — und
[376] ſo oft ich vor das athmende Roſengeſicht voll
Fruͤhlinge und voll Durſt, einen Himmel auszu¬
trinken, trete und bedenke, daß nicht Jahrtau¬
ſende ſondern Jahrzehende dieſes Geſicht in das zu¬
ſammen geronnene zerknuͤllte Geſicht voll uͤberlebter
Hofnungen ausgedorret haben . . . . aber indem
ich uͤber andre mich betruͤbe, heben und ſenken mich
die Stufen ſelber und wir wollen einander nicht ſo
traurig machen!
Der wichtige Umſtand, bei dem uns wie man
behauptet ſo viel daran gelegen iſt, ihn voraus zu
hoͤren, iſt naͤmlich der, daß Wuz eine ganze Bi¬
bliothek — wie haͤtte der Mann ſich eine kaufen
koͤnnen — ſich eigenhaͤndig ſchrieb. Sein Schreib¬
zeug war ſeine Taſchendruckerei; jedes neue Me߬
produckt, deſſen Titel das Meiſterlein anſichtig
wurde, war nun ſo gut als geſchrieben oder ge¬
kauft: denn es ſetzte ſich ſo gleich hin und machte
das Produkt und ſchenkt' es ſeiner anſehnlichen
Buͤcherſammlung, die wie die heidniſchen aus lau¬
ter Manuſkripten beſtand. Z. B. Kaum waren die
phpſiognomiſchen Fragmente von Lavater da: ſo
ließ Wuz dieſem fruchtbarem Kopfe dadurch wenig
voraus, daß er ſein Konzeptpapier in Quarto brach
[377] und drei Wochen lang nicht vom Seſſel weggieng,
ſondern an ſeinem eignen Kopfe ſo lange zog bis
er den phyſiognomiſchen Foͤtus heraus hatte — (er
bettete den Foͤtus aufs Buͤcherbrett hin —) und
bis er ſich den Schweizer nachgeſchrieben hatte.
Dieſe Wuziſche Fragmente uͤbertitelte er die Lava¬
terſchen und merkte an; „er haͤtte nichts gegen
die gedruckten; aber ſeine Hand waͤre hoffentlich
eben ſo leſerlich, wenn nicht beſſer als irgend ein
Mittel Fraktur Druck.“ Er war kein verdammter
Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft
das Meiſte daraus abdruckt: ſondern er nahm gar
keines zur Hand. Daraus ſind zwei Thatſachen
vortreflich zu erklaͤren: erſtlich die, daß es manch¬
mal mit ihm haperte und daß er z. B. im ganzen
Federſchen Traktat uͤber Raum und Zeit von nichts
handelte als vom Schifs-Raum und der Zeit die
man Menſes nennt. Die zweite Thatſache iſt ſeine
Glaubensſache: da er einige Jahre ſein' Repoſito¬
rium auf dieſe Art voll geſchrieben und durch ſtu¬
dieret hatte: ſo nahm er die Meinung an, ſeine
Schreibbuͤcher waͤren eigentlich die kanoniſchen Ur¬
kunden; und die gedruckten waͤren bloße Nachſti¬
che feiner geſchriebnen; nur das, klagt' er, koͤnn'
[378] er — und boͤten die Leute ihm Balleien dafuͤr an
— nicht herauskriegen, wienach und warum der
Buchfuͤhrer das Gedruckte allzeit ſo ſehr interpolie¬
re und umſetze, daß man wahrhaftig ſchwoͤren ſoll¬
te, das Gedruckte und das Geſchriebne haͤtten dop¬
pelte Verfaſſer, wuͤſte man's nicht ſonſt.
Es war einfaͤltig wenn etwa ihm zum Poſ¬
ſen ein Autor ſein Werk gruͤndlich ſchrieb, naͤm¬
lich in Queerfolio — oder witzig, naͤmlich in Se¬
dez: denn ſein Mitmeiſter Wuz ſprang den Au¬
genblick herbei und legte ſeinen Bogen in die Que¬
re hin oder krempte ihn in Sedezimo ein.
Nur Ein Buch ließ er in ſein Haus, den Me߬
katalog; denn die beſten Inventarienſtuͤcke deſſelben
mußte der Senior am Rande mit einer ſchwarzen
Hand beſtempeln, damit er ſie hurtig genug ſchrei¬
ben konnte, um das Oſtermeß-Heu in die Pauſe
des Repoſitoriums hinein zu maͤhen, eh' das Mi¬
chaelis-Grummet herausſchoß. Ich moͤchte ſeine
Meiſterſtuͤcke nicht ſchreiben. Den groͤßten Schaden
hatte der Mann davon — Obſtruktion zu halben
Wochen und Strangurie auf der andern Seite —
wenn der Senior ([ſein] Friedrich Nikola:) zuviel
Gutes, das er zu ſchreiben hatte, anſtrich und
[379] ſeine Hand durch die gemalte anſpornte; und ſein
Sohn klagte oft, daß in manchen Jahren ſein Va¬
ter vor litterariſcher Geburtsarbeit kaum nieſen
konnte, weil er auf einmal Sturms Betrachtun¬
gen die verbeſſerte Auflage, Schillers Raͤuber und
Kants Kritik der reinen Vernunft, der Welt zu
ſchenken hatte. Das geſchah bei Tage; Abends
mußte der gute Mann nach dem Abendeſſen noch
gar um den Suͤdpol rudern und konnte auf ſeiner
Kookiſchen Reiſe kaum drei geſcheute Worte zum
Sohne nach Deutſchland heraufreden. Denn da un¬
ſer Encyklopaͤdiſt nie das innere Afrika oder nur
einen ſpaniſchen Mauleſel-Stall betreten oder die
Einwohner von beiden geſprochen hatte: ſo hatt'
er deſto mehr Zeit und Faͤhigkeit, von beiden und
allen Laͤndern reichhaltige Reiſebeſchreibungen zu lie¬
fern — ich meine eine ſolche, worauf der Stati¬
ſtiker, der Menſchheits-Geſchichtſchreiber und ich
ſelber fußen koͤnnen — erſtlich deswegen, weil auch
andre Reiſejournaliſten ihre Beſchreibungen, ohne
die Reiſe machen — zweitens auch weil Reiſebe¬
ſchreibungen uͤberhaupt unmoͤglich auf eine andre
Art zu machen ſind, angeſehen noch kein Reiſebe¬
ſchreiber wirklich vor oder in dem Lande ſtand, das
[380] er ſilhouettirte: denn ſo viel hat auch der Duͤmm¬
ſte noch aus Leibnitzens vorherbeſtimmten Harmonie
im Kopfe, daß die Seele, z. B. die Seelen eines
Forſters, Brydone, Bjoͤrnſtaͤhls — insgeſammt
ſeßhaft auf dem Iſolierſchemmel der verſteinerten
Zirbeldruͤſe — ja nichts anders von Suͤdindien oder
Europa beſchreiben koͤnnen als was jede ſich davon
ſelber erdenkt und was ſie, beim gaͤnzlichen Man¬
gel aͤuſſerer Eindruͤcke, aus ihren fuͤnf Kanker-
Spinnwarzen vorſpinnt und abzwirnt. Wuz
zerrete ſein Reiſejournal auch aus niemand anders
als aus ſich.
Er ſchreibt uͤber alles und wenn die gelehrte
Welt ſich daruͤber wundert, daß er fuͤnf Wochen
nach dem Abdruck der Wertheriſchen Leiden, einen
alten Flederwiſch nahm und ſich eine harte Spuhle
auszog und damit ſtehendes Fußes ſie ſchrieb, die
Leiden, — ganz Deutſchland ahmte nachher ſeine
Leiden nach: — ſo wundert ſich niemand weniger
uͤber die gelehrte Welt als ich: denn wie kann ſie
Rouſſeau's Bekenntniſſe geſehen und geleſen haben,
die Wuz ſchrieb und die Dato noch unter ſeinen
Papieren liegen? In dieſen ſpricht aber J. J.
Rouſſeau oder Wuz (das iſt einerlei) ſo von ſich,
[381] allein mit andern Worten: „Er wuͤrde wahrhaftig
nicht ſo dumm ſeyn, daß er Federn naͤhme und
die beſten Werke machte, wenn er nichts brauchte
als bloß den Beutel aufzubinden und ſie zu erhan¬
deln. Allein er habe nichts darin als zwei ſchwar¬
ze Hemdknoͤpfe und einen kothigen Kreuzer. Woll'
er mithin etwas Geſcheutes leſen z. B. aus der
praktiſchen Arzneikunde und aus der Kranken-Uni¬
verſalhiſtorie: ſo muͤſſ' er ſich an ſeinen triefenden
Fenſterſtock ſetzen und den Bettel erſinnen. An wen
woll' er ſich wenden, um den Hintergrund des Frei¬
maͤurer-Geheimniſſes auszuhorchen, an welches
Dionyſius Ohr mein' er als an ſeine zwei eigne?
Auf dieſe, an ſeinen eignen Kopf angeoͤhrten hoͤr'
er ſehr und indem er die Freimaͤurer-Reden, die
er ſchreibe, genau durchleſe und zu verſtehen trach¬
te: ſo merk' er zuletzt allerhand Wunderdinge und
komme weit und rieche im Ganzen genommen Lun¬
ten. Da er von Chemie und Alchemie ſo viel wiſſe
wie Adam nach dem Fall, als er alles vergeſſen
hatte: ſo ſei ihm ein rechter Gefallen geſchehen,
daß er ſich den annulus Platonis geſchmiedet, die¬
ſen ſilbernen Ring um den Blei-Saturn, dieſen
Gyges-Ring, der ſo vielerlei unſichtbar mache,
[382] Gehirne und Metalle; denn aus dieſem Buche
duͤrft' er, ſollt' ers nur einmal ordentlich begrei¬
fen, frappant wiſſen, wo Barthel Moſt hole.“ —
Jetzt wollen wir wieder in ſeine Kindheit zuruͤck.
Im zehnten Jahre verpuppte er ſich in einen
Mulattenfarbigen Alumnus und obern Quintaner
der Stadt Scheerau. Sein Examinater muß mein
Zeuge ſeyn, daß es keine weiſſe Schminke iſt, die ich
meinem Helden anſtreiche, wenn ichs zu berichten
wage, daß er nur noch ein Blatt bis zur vierten
Deklination zuruͤck zu legen hatte und daß er die
ganze Geſchlechts-Exception thorax caudex pulex¬
que vor der Quinta wie ein Wecker abrollte —
bloß die Regel wußt' er nicht. Unter allen Ni¬
ſchen des Alumneums war nur eine ſo geſcheuert
und geordnet wie die Prunkkuͤche einer Nuͤrnberge¬
rin; das war ſeine: denn zufriedene Menſchen
ſind die ordentlichſten. Er kaufte ſich aus ſeinem
Beutel fuͤr zwei Kreuzer Naͤgel und beſchlug ſeine
Zelle damit, um fuͤr alle Effekten beſondere Naͤgel
zu haben — er ſchlichtete ſeine Schreibbuͤcher ſo
lange bis ihre Ruͤcken ſo bleirecht auf einander la¬
gen wie eine preuſſiſche Fronte und er gieng beim
Mondenſchein aus dem Bette und viſirte ſo lange
[383] um ſeine Schuhe herum bis ſie parallel neben ein¬
ander ſtanden. — War alles metriſch: ſo rieb er
die Haͤnde, riß die Achſeln uͤber die Ohren hin¬
auf, ſprang empor, ſchuͤttelte ſich faſt den Kopf
herab und lachte ungemein.
Eh' ich von ihm weiter beweiſe, daß er im
Alumneum gluͤcklich war: will ich beweiſen, daß
das kein Spaß war, ſondern eine herkuliſche Ar¬
beit. Hundert aͤgyptiſche Plagen haͤlt man fuͤr kei¬
ne, bloß weil ſie uns nur in der Jugend heimſu¬
chen, wo moraliſche Wunden und komplizirte Frak¬
turen ſo hurtig zuheilen wie phyſiſche — gruͤnen¬
des Holz bricht nicht ſo leicht wie duͤrres entzwei.
Alle Einrichtungen legen's dar, daß ein Alum¬
neum ſeiner aͤlteſten Beſtimmung nach ein prote¬
ſtantiſches Knaben-Kloſter ſein ſoll; aber da¬
bei ſollte man es laſſen, man ſollte ein ſolches
Praͤſervations - Zuchthaus in kein Luſtſchloß, ein
ſolches Miſanthropin in kein Philanthropin ver¬
wandeln wollen. Muͤſſen nicht die gluͤcklichen In¬
haftaten einer ſolchen Fuͤrſtenſchule die drei Klo¬
ſtergeluͤbde ablegen? Erſtlich das des Gehorſams,
da der Schuͤler-Guardian und Novizenmeiſter ſei¬
nen ſchwarzen Novizen das Spornrad der haͤufigſten,
[384] widrigſten Befehle und Mortifikationen in die Sei¬
te ſticht. Zweitens das der Armuth und der Ent¬
haltſamkeit, da ſie nicht Kruditaͤten und uͤbrige
Brocken ſondern Hunger von einem Tage zum an¬
dern aufheben und uͤbertragen; und Karminati
vermoͤchte ganze Invalidenhaͤuſer mit dem Super¬
numeraͤr-Magenſaft der Konvictorien und Alumneen
auszuheilen. Das Geluͤbde der Keuſchheit thut
ſich nachher von ſelbſt, ſobald ein Menſch den gan¬
zen Tag zu laufen und zu faſten hat und keine Be¬
wegungen entbehrt als die periſtaltiſchen. Zu wich¬
tigen Aemtern muß der Staatsbuͤrger erſt gehaͤn¬
ſelt werden. Verdient denn aber bloß der katholi¬
ſche Novize zum Moͤnch gepruͤgelt, oder ein elen¬
der Ladenjunge in Bremen zum Kaufmannsdiener
geraͤuchert, oder ein ſittenloſer Suͤdamerikaner zum
Kaziken durch beides und durch mehrere in meinen
Excerpten ſtehende Qualen appretirt und ſublimirt
zu werden? Iſt ein lutheriſcher Pfarrer nicht eben
ſo wichtig und ſind ſeiner kuͤnftigen Beſtimmung
nicht eben ſo gut ſolche uͤbende Martern noͤthig?
Zum Gluͤck hat er ſie; vielleicht mauerte die Vor¬
welt die Schulpforten, deren Konklaviſten insge¬
ſammt wahre Knechte der Knechte ſind, bloß ſeinetwe¬
gen[385] gen auf: denn andern Fakultaͤten iſt mit dieſer
Kreuzigung und Radbrechung des Fleiſches und Gei¬
ſtes zu wenig gedient. — Daher iſt auch das ſo
oft getadelte Chor-Gaſſen- und Leichenſingen der
Alumnen ein recht gutes Mittel, proteſtantiſche
Kloſterleute aus ihnen zu ziehen — und ſelbſt ihr
ſchwarzer Ueberzug und die kanoniſche Mohren-En¬
veloppe des Mantels iſt etwas aͤhnliches von der
Moͤnchskutte, daher ſchieſſen in Leipzig um die Tho¬
masſchuͤler, weil einmal die Geiſtlichen die Peruͤk¬
ken-Wammen anhaͤngen muͤſſen, wenigſtens die
Herzblaͤtter eines aufkapfenden Peruͤckchens herum,
das wie ein Pultdach oder wie halbe Fluͤgeldecken
ſich auf dem Kopfe umſieht. In den alten Kloͤſtern
war die Gelehrſamkeit Strafe; nur Inkulpaten
mußten da lateiniſche Pſalmen auswendig lernen
oder Autores kopiren — in guten armen Schulen
wird dieſes Strafen nicht vernachlaͤſſigt und ſparſamer
Unterricht wird da ſtets als ein unſchuldiges Mit¬
tel angeordnet, den armen Schuͤler damit zu zuͤch¬
tigen und zu mortiſiciren . . . .
Bloß dem Schulmeiſterlein hatte dieſe Kreuz¬
ſchule wenig an; den ganzen Tag freuete er ſich
auf oder uͤber etwas. „Vor dem Aufſtehen, ſagt'
2. Theil. B b[386] er, freu' ich mich auf das Fruͤhſtuͤck, den ganzen
Vormittag aufs Mittagseſſen, zur Veſperzeit aufs
Veſperbrod und Abends aufs Nachtbrod — und ſo
hat der Alumnus Wuz ſich ſtets auf was zu ſpi¬
tzen.“ Trank er tief: ſo ſagt' er: „das hat mei¬
nem Wuz geſchmeckt“ und ſtrich ſich den Magen.
Nieſete er: ſo ſagte er: „helf dir Gott, Wuz!“
— Im fieberfroſtigen Novemberwetter letzte er ſich
auf der Gaſſe mit der Vormalung des warmen
Ofens und mit der naͤrriſchen Freude, daß []eine
Hand um die andre unter ſeinem Mantel wie zu
Hauſe ſteckte. War der Tag gar zu toll und win¬
dig — es giebt fuͤr uns Wichte ſolche Hatztage, wo
die ganze Erde ein Hatzhaus iſt und wo die Plagen
wie ſpaßhaft gehende Waſſerkuͤnſte uns bei jedem
Schritte anſpruͤtzen und einfeuchten — ſo war das
Meiſterlein ſo pfiffig, daß es ſich unter das Wet¬
ter hinſetzte und ſich nichts darum ſchor; es war
nicht Reſignation, die das unvermeidliche Ue¬
bel aufnimmt, nicht Apathie, die das ungefuͤhl¬
te traͤgt, nicht Philoſophie, die das verduͤnn¬
te verdauet, oder Religion, die das belohnte
verwindet: ſondern der Gedanke ans warme Bett
wars. „Abends, dacht' er, lieg' ich auf alle Faͤlle,
[387] ſie moͤgen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen
wie ſie wollen, unter meiner warmen Zudeck und
druͤcke die Naſe ruhig ans Kopfkiſſen, acht Stunden
lang. — Und kroch er endlich in der letzten Stunde
eines ſolchen Paſſionstages unter ſein Oberbett: ſo
ſchuͤttelte er ſich darin, krempte ſich mit den Knien
bis an den Nabel zuſammen und ſagte zu ſich:
„Siehſt du, Wuz, es iſt doch vorbei.“
Ein andrer Paragraph aus der Wuziſchen Kunſt
ſtets froͤhlich zu ſeyn, war ſein zweiter Pfiff, ſtets
froͤhlich aufzuwachen — und um das zu koͤnnen,
bedient' er ſich eines dritten und hob immer vom
Tage vorher etwas Angenehmes fuͤr den Morgen
auf, entweder gebackne Kloͤſe oder eben ſo viel
aͤuſſerſt gefaͤhrliche Blaͤtter aus dem Robinſon, der
ihm lieber war als Homer — oder auch junge Voͤ¬
gel oder junge Pflanzen, an denen er am Morgen
nachzuſehen hatte wie Nachts Federn und Blaͤtter
gewachſen.
Den dritten und vielleicht durchdachteſten Pa¬
ragraphen ſeiner Kunſt froͤhlich zu ſeyn, arbeitete
er erſt aus, da er Sekundaner ward:
er wurde verliebt. —
B b 2[388]
Eine ſolche Ausarbeitung waͤre meine Sache. . .
Aber da ich hier zum erſtenmale in meinem Leben
mich mit meiner Reiskohle an das Blumenſtuͤck ge¬
malter Liebe mache: ſo muß auf der Stelle abge¬
brochen werden, damit fortgeriſſen werde Morgen
um 6 Uhr mit weniger niedergebranntem Feuer. —
Wenn Venedig, Rom und Wien und die gan¬
ze Luſtſtaͤdte-Bank zuſammenthaͤten und mich
mit einem ſolchen Karnaval beſchenken wollten, das
dem beikaͤme, welches mitten in der ſchwarzen
Kantors-Stube war, wo wir Kinder von 8 Uhr
bis 11 forttanzten (ſo lange waͤhrte unſre Faſchings¬
zeit, in der wir den Appetit zur Faſtnachts-Hirſe
verſprangen): ſo machten ſich jene Reſidenzſtaͤdte
zwar an etwas Unmoͤgliches und Laͤcherliches — aber
doch an nichts ſo Unmoͤgliches, als wenn ſie dem
Alumnus Wuz den Faſtnachtsmorgen mit ſeinen
Karnevalsluſtbarkeiten wiedergeben wollten, da er
als unterer Sekundaner auf Beſuch, in der Tanz-
und Schulſtube ſeines Vaters am Morgen gegen 10
Uhr ordentlich verliebt wurde. Eine ſolche Faſchings¬
luſtbarkeit — trautes Schulmeiſterlein, wo denkſt du
hin? — Aber er dachte an nichts hin als zur Juſtina,
die ich ſelten oder niemals wie die Auenthaler Ju¬
[389] ſtel nennen werde. Da der Alumnus unter dem
Tanzen (wenige Gymnaſiaſten haͤtten mitgetanzt,
aber Wuz war nie ſtolz und immer eitel) den Au¬
genblick weghatte, was — ihn nicht einmal einge¬
rechnet — an der Juſtel waͤre, daß ſie ein huͤbſches
gelenkiges Ding und ſchon im Briefſchreiben und in
der Regel Detri in Bruͤchen und die Pathin der
Frau Seniorin und in einem Alter von 15 Jahren
und nur als eine Gaſt-Taͤnzerin mit in der Stube
waͤre: ſo that der Gaſt-Taͤnzer ſeines Orts was
in ſolchen Faͤllen zu thun iſt, er wurde wie geſagt
verliebt — ſchon beim erſten Schleifer flogs wie Fie¬
berhitze an ihn — unter dem Rangiren zum zwei¬
ten, wo er ſtillſtehend die Inlage ſeiner rechten
Hand bedachte und befuͤhlte, ſtiegs unverhaͤltni߬
maͤßig — er tanzte ſich augenſcheinlich in die Liebe
und in ihre Garne hinein — als ſie noch dazu die
rothen Haubenbaͤnder auseinanderfallen und ſie
ungemein nachlaͤßig um den nackten Hals zuruͤck¬
flatterrn ließ: ſo vernahm er die Basgeige nicht
mehr — und als ſie endlich gar mit einem rothen
Schnupftuch ſich Kuͤhlung vorwedelte und es hinter
und vor ihm ſtiegen ließ: ſo war ihm nimmer zu
helfen, und haͤtten die vier großen und die 12
[390] kleinen Propheten zum Fenſter hineingepredigt.
Denn einem Schnupftuch in einer weiblichen Hand
erlag er ſtets auf der Stelle ohne weitere Gegenwehr
wie der Loͤwe dem gedrehten Wagenrade und der Ele¬
phant der Maus. Dorfkoketten machen ſich aus dem
Schnupftuch die naͤmliche Feldſchlange und Kriegs¬
maſchine, die ſich die Stadtkoketten aus dem Faͤcher
machen; aber die Wellen eines Tuchs ſind gefaͤlliger
als das knackende Truthahns Radſchlagen der bunten
Streitkolbe des Faͤchers.
Auf alle Faͤlle kann unſer [Wuz] ſich damit ent¬
ſchuldigen, daß ſeines Wiſſens die Oerter oͤffentlicher
Freude das Herz fuͤr alle Empfindungen, die viel Platz
beduͤrfen, fuͤr Aufopferung, fuͤr Muth und auch fuͤr
Liebe weiter machen; — freilich in den engen Amts-
und Arbeitsſtuben, auf Rathhaͤuſern, in geheimen
Kabinetten liegen unſre Herzen wie auf eben ſo vie¬
len Welkboden, Darrofen und runzeln ein.
Wuz trug ſeinen mit dem Gas der Liebe aufge¬
fuͤllten und emporgetriebnen Herzballon freudig [ins]
Alumneum zuruͤck, ohne jemand eine Sylbe zu mel¬
den, am wenigſten der Schnupftuch-Fahnenjunke¬
rin — nicht aus Scheu ſondern weil er nie mehr be¬
gehrte als die Gegenwart, er war nur froh, daß er
ſelbſt verliebt war und dachte an weiter nichts . . .
[391]
Warum ließ der Himmel gerade in die Jugend
das Luſtrum der Liebe fallen? Vielleicht weil man
gerade da in Alumneen, Schreibſtuben und andern
Gifthuͤtten keucht: da ſteigt die Liebe wie aufbluͤ¬
hendes Geſtraͤuch an den Fenſtern jener Marter¬
kammern empor und zeigt in ſchwankenden Schat¬
ten den großen Fruͤhling von auſſen. Denn Er und
ich, mein H. Praͤfektus und auch Sie, verdiente
Schuldiener des Alumneums, wir wollen mit ein¬
ander wetten, Sie ſollen uͤber den vergnuͤgten
Wuz ein Haͤrenhemd ziehen (im Grund hat er ei¬
nes an) — Sie ſollen ihn Ixions Rad und Syſi¬
phus Stein der Weiſen und den Laufwagen Ihres
Kindes bewegen laſſen — Sie ſollen ihn halb todt
hungern oder pruͤgeln laſſen — Sie ſollen einer ſo
elenden Wette wegen (welches ich Ihnen nicht zu¬
getrauet haͤtte) gegen ihn ganz des Teufels ſeyn:
Wuz bleibt doch Wuz und prakticirt ſich immer ſein
Biſchen verliebter Freude ins Herz, vollends in
den Hundstagen! —
Seine Kanikularferien ſind aber vielleicht nir¬
gends deutlicher beſchrieben als in ſeinen „Wer¬
thers Freuden,“ die ſeine Biographen faſt nur
abzuſchreiben brauchen. — Er gieng da Sonntags
[392] nach der Abendkirche [heim] nach Auenthal und hat¬
te mit den Leuten in allen Gaſſen Mitleiden, daß
ſie da bleiben mußten. Drauſſen dehnte ſich ſeine
Bruſt mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus
und halbtrunken im Konzertſaal aller Voͤgel horcht
er wolluͤſtig bald auf die gefiederten Sopraniſten
bald auf ſeine Phantaſien. Um nur ſeine uͤber die
Ufer ſchlagende Lebenskraͤfte abzuleiten, gallopirte
er oft eine halbe Viertelſtunde lang. Da er im¬
mer kurz vor und nach [Sonnen-Untergang] ein ge¬
wiſſes wolluͤſtiges trunknes Sehnen empfunden hat¬
te — die Nacht aber macht wie ein laͤngerer Tod
den Menſchen erhaben und nimmt [ihm] die Erde: —
ſo zauderte er mit ſeiner Landung in Auenthal ſo
lang bis die [zerflieſſende] Sonne durch die letzten
Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfaͤden die ſie ge¬
rade uͤber die Aehren zog, ſein blaues Roͤckchen
ſtickte und bis ſein Schatten an den Berg uͤber
den Fluß wie ein Rieſe wandelte. Dann ſchwank¬
te er, unter dem wie aus der Vergangenheit her¬
uͤberklingenden Abendlaͤuten ins Dorf hinein und
war allen Menſchen gut, ſelbſt dem Praͤfektus.
Gieng er denn um ſeines Vaters Haus und ſah
am obern Kapfenſter den Widerſchein des Monds
[393] und durch ein Parterre-Fenſter ſeine Juſtina, die
da alle Sonntage einen ordentlichen Brief ſetzen
lernte . . . . o wenn er dann in dieſer paradieſiſchen
Viertelſtunde ſeines Lebens auf funfzig Schritte die
Stube und die Briefe und das Dorf von ſich haͤtte
wegſprengen und um ſich und um die Briefſtellerin
bloß ein einſames daͤmmerndes Tempe-Thal haͤtte
ziehen koͤnnen — wenn er in dieſem Thale mit ſei¬
ner trunknen Seele, die unter Weges um alle
Weſen ihre Arme ſchlug, auch an das ſchoͤnſte We¬
ſen haͤtte fallen duͤrfen und er und ſie und Himmel
und Erde zuruͤckgeſunken und zerfloſſen waͤren vor
einem flammenden Augenblicke und Fokus menſch¬
licher Entzuͤckung . . . .
Indeſſen that ers wenigſtens Nachts um eilf
Uhr; und vorher giengs auch nicht ſchlecht. Er
erzaͤhlte dem Vater, aber im Grunde Juſtinen ſeinen
Studienplan und ſeinen politiſchen Einfluß; er ſetz¬
te ſich dem Tadel, womit ſein Vater ihre Briefe
korrigirte, mit demjenigen Gewicht entgegen, das
ein ſolcher Kunſtrichter hat und er war, da er ge¬
rade warm aus der Stadt kam, mehr als einmal
mit Witz bei der Hand — kurz unter dem Einſchla¬
fen hoͤrte er in ſeiner tanzenden taumelnden Phan¬
taſie nichts als Sphaͤren-Muſik.
[394]
— Freilich du, mein Wuz, kannſt Werthers
Freuden aufſetzen, da allemal deine aͤuſſere und
deine innere Welt ſich wie zwei Muſchelſchaalen an
einander loͤthen und dich als ihr Schaalthier einfaſſen;
aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am
Ofen ſitzen, iſt die Auſſenwelt ſelten der Ripiniſt
unſrer innern froͤhlichen Stimmung — hoͤchſtens
dann wenn an uns der ganze Stimmſtock umgefal¬
len und wir knarren und brummen oder in einer
andern Metapher wenn wir eine verſtopfte Naſe
haben: ſo ſetzt ſich ein ganzes mit Blumen uͤber¬
woͤlbtes Eden vor uns hin und wir moͤgen nicht
hineinriechen.
Mit jedem Beſuche machte das Schulmeiſter¬
lein ſeiner Johanna-Thereſe-Charlotte-Mariana-
Klariſſa-Heloiſe-Juſtel auch ein Geſchenk mit ei¬
nem Pfefferkuchen und einem Potentaten; ich will
uͤber beide ganz befriedigend ſeyn.
Die Potentaten hatt' er in ſeinem eignen Ver¬
lage; aber wenn die Reichshofraths-Kanzlei ihre
Fuͤrſten und Grafen aus ein wenig Dinte, Perga¬
ment und Wachs macht: ſo verfertigte er ſeine
Potentaten viel koſtbarer, aus Ruß, Fett und
hundert Farben. Im Alumneum wurde naͤmlich
[395] mit den Rahmen einer Menge Potentaten einge¬
heizet, die er ſaͤmmtlich mit gedachten Materia¬
lien ſo zu kopieren und zu repraͤſentieren wuſte als
waͤr' er ihr Geſandter. Er uͤberſchmierte ein
Quartblatt mit einem Endgen Licht und nachher
mit Ofenruß — dieſes legte er mit der ſchwarzen
Seite auf ein andres mit weißen Seiten — oben
auf beide Blaͤtter that er irgend ein fuͤrſtliches
Portrait — dann nahm er eine abgebrochne Gabel
und fuhr mit ihrer druͤckenden Spitze auf dem Ge¬
ſichte und Leibe des regierenden Herrn herum — —
dieſer Druck verdoppelte den Potentaten, der ſich
vom ſchwarzen Blatt aufs weiße uͤberfaͤrbte. So
nahm er von allem was unter einer europaͤiſchen
Krone ſaß, recht kluge Kopien; allein ich habe
niemals verhehlet, daß ſeine Okulier-Gabel die
ruſſiſche Kaiſerin (die vorige) und eine Menge
Kronprinzen dermaßen aufkratzte und durchſchnitt,
daß ſie zu Nichts mehr zu brauchen waren als da¬
zu den Weg ihrer Rahmen zu gehen. Gleichwol
war das rußige Quartblatt nur die Bruttafel und
Aez-Wiege glorwuͤrdiger Regenten, oder auch der
Streich, oder Leichteich derſelben — ihr Streck¬
teich aber, oder die Appreturmaſchiene der Po¬
[396] tentaten war ſein Farbkaͤſtgen, damit illuminierte
er ganze regierende Linien und alle Muſcheln klei¬
deten einen einzigen Großfuͤrſten an und die Kron¬
prinzeſſinnen zogen aus der naͤmlichen Farbemuſchel
Wangenroͤthe, Schaamroͤthe und Schminke. — —
Mit dieſen regierenden Schoͤnen beſchenkte er die
die ihn regierte und die nicht wuſte was ſie mit
dem hiſtoriſchen Bilderſaale machen ſollte.
Aber mit dem Pfefferkuchen wuſte ſie es in dem
Grade, daß ſie ihn aß. Ich halt' es fuͤr ſchwer
einer Geliebten einen Pfefferkuchen zu ſchenken, weil
man ihn oft kurz vor der Schenkung ſelber ver¬
zehrt. Hatte nicht Wuz die drei Kreuzer fuͤr den
erſten ſchon bezahlt? Hatt' er nicht das braune
Rektangulum ſchon in der Taſche? war er nicht
damit ſchon bis auf eine Stunde vor Auenthal und
vor dem Adjudikationstermin gereiſet? ja wurde
die ſuͤße Votiv-Tafel nicht alle Viertelſtunde
aus der Taſche gehoben, um zu ſehen, ob ſie
noch viereckig waͤre? das war eben das Ungluͤck:
denn bei dieſem Beweiß durch Augenſchein, den er
fuͤhrte, brach er immer wenige und unbedeutende
Mandeln aus dem Kuchen — dieſes that er oͤfters
— darauf machte er ſich (ſtatt an die Quadratur
[397] des Zirkels) an das Problem, den quadrierten Zir¬
kel wieder rein herzuſtellen und bis ſauber die vier
rechten Winkel ab und machte ein Acht-Eck, ein
Sechzehn-Eck, denn ein Zirkel iſt ein unendliches
Viel-Eck — darauf war nach dieſen mathemati¬
ſchen Elaborationen das Viel-Eck vor keinem Maͤd¬
gen mehr zu produzieren — darauf that Wuz ei¬
nen Sprung und ſagte: „ach! ich freſſ' ihn ſel¬
ber“ und heraus war der Seufzer und hinein die
geometriſche Figur. — Es werden wenige ſchotti¬
ſche Meiſter, akademiſche Senate und Magiſtran¬
den leben, denen nicht ein wahrer Gefallen geſchaͤ¬
he wenn man ihnen zu hoͤren gaͤbe durch welchen
Maſchienengott ſich Wuz aus der Sache zog — —
durch einen zweiten Pfefferkuchen that ers, den
er allemal als einen Wand- und Taſchen-Nachbar
des erſten mit einſteckte. Indem er den einen aß,
landete der andre ohne Laͤſionen an, weil er all¬
zeit eine Doublette kaufte damit ſie als Brandmau¬
er und Kronwache den andern beſchuͤtzte. Das aber
ſah er in der Folge ſelber ein, daß er — um nicht
einen Torſo oder Atom nach Auenthal zu tranſpor¬
tieren — die Krontruppen oder Pfefferkuchen von
Woche zu Woche vermehren muͤſſe.
[398]
Er waͤre Primaner geworden, waͤre nicht ſein
Vater aus unſerem Planeten in einen andern oder
in einen Trabanten geruͤckt. Daher dacht' er die
Melioration ſeines Vaters nachzumachen und woll¬
te von der Sekundanerbank auf den Lehrſtuhl rut¬
ſchen. Der Kirchenpatron, H. von Ebern draͤngte
ſich zwiſchen beide Geruͤſte und hielt ſeinen ausge¬
dienten Koch an der Hand, um ihn in ein Amt
einzuſetzen, dem er gewachſen war, weil es in
dieſem eben ſo gut wie in ſeinem vorigen, Span¬
ferkel *) todt zu peitſchen und zu appretieren aber
nicht zu eſſen gab. Ich hab es ſchon in der Revi¬
ſion des Schulweſens in einer Note erinnert und
H. Gedikens Beifall davon getragen, daß in je¬
dem Bauerjungen ein unausgewachſener Schulmei¬
ſter ſtecke, der von einem Paar Kirchenjahren
groß zu paraphraſieren ſei — daß nicht bloß das
alte Rom Welt-Konſuls, ſondern heutige
Doͤrfer Schul-Konſuls vom Pfluge und aus der
Furche ziehen koͤnnten — daß man eben ſo gut von
Leuten ſeines Standes hier unterrichtet als in
[399] England gerichtet werden koͤnne und daß gerade
der, dem jeder das meiſte Scibile verdanke, ihm
am aͤhnlichſten ſei, naͤmlich jeder ſelbſt — daß
wenn eine ganze Stadt (Norcia an den appennini¬
ſchen Gebirg,) nur von vier ungelehrten Magi¬
ſtratsgliedern (li quatri illiterati) ſich beherrſchen
laſſen will, doch eine Dorfjugend von einem einzi¬
gen ungelehrten Mann werde zu regieren und zu
pruͤgeln ſeyn — und daß man nur bedenken moͤch¬
te was ich oben im Texte ſagte. Da hier die No¬
te ſelber der Text iſt; ſo will ich nur ſagen, daß
ich ſagte, eine Dorfſchule ſey hinlaͤnglich beſetzt.
Es iſt da 1) der Gymnaſiarch oder Paſtor, der von
Winter zu Winter den Prieſterrock umhaͤngt und
das Paͤdagogium beſucht und erſchreckt — 2) ſteht
in der Stube das Rektorat, Konrektorat und Sub¬
rektorat, das der Schulhalter allein ausmacht —
3) als Lehrer der untern Klaſſen ſind darin ange¬
ſtellt die Schulmeiſterin, der oder keinem Men¬
ſchen die Kallypaͤdie der Toͤchterſchule anvertauet
werden kann, ihr Sohn als Terzius und Luͤmmel
zugleich, dem ſeine Eleven allerhand legieren und
ſpendieren muͤſſen, damit er ſie nicht aufſagen laͤſ¬
ſet, und der wenn der Regent nicht zu Hauſe iſt,
[400] oft das Reichsvikariat des ganzen proteſtantiſchen
Schulkreiſes auf den Achſeln hat — 4) endlich ein
ganzes Raupenneſt Kallaboratores, naͤmlich Schul¬
jungen ſelber, weil da wie im halliſchen Waiſen¬
hauſe die Schuͤler der obern Klaſſe ſchon zu Lehrern
der untern groß gewachſen ſind. — Da man bis¬
her aus ſo vielen Studierſtuben heraus nach Real¬
ſchulen ſchrie: ſo hoͤrtens Gemeinden und
Schulhalter und thaten das Ihrige gern. Die
Gemeinden laſen fuͤr ihre Lehrſtuͤhle lauter ſol¬
che paͤdagogiſche Steiße aus, die ſchon auf Schnei¬
ders-Schuſters-Schemeln ſeßhaft waren und von
denen alſo etwas zu erwarten war — und aller¬
dings ſetzen ſolche Maͤnner, indem ſie vor dem auf¬
merkſamen Inſtitute Roͤcke, Fiſchreuſen und alles
machen, die Nominalſchule leicht in eine Real¬
ſchule um, wo man Fabrikate kennen lernt. Der
Schulmeiſter treibts noch weiter und ſinnt Tag
und Nacht auf Real-Schulhalten; es giebt weni¬
ge Arbeiten eines erwachſenen Hausvaters oder ſei¬
nes Geſindes, in denen er ſeine Dorf-Stoa nicht
beſchaͤftigt und uͤbt und den ganzen Morgen ſieht
man das expedierende Seminarium hinaus und
hinein jagen, Holz ſpalten und Waſſer tra¬
gen[401] gen u. ſ. w. ſo daß er außer der Realſchule faſt
gar keine andre haͤlt und ſich ſein bisgen Brod
ſauer im Schweiße ſeines — Lyzeums verdient. . .
Man braucht mir nicht zu ſagen, daß es auch
ſchlechte und verſaͤumte Landſchulen gebe; genug
wenn nur die groͤßere Zahl alle die Vorzuͤge wirk¬
lich aufweiſet, die ich ihr jezt zugeſchrieben.
Ich mag meine Fixſtern-Aberration mit kei¬
nem Wort entſchuldigen, das eine neue waͤre.
Herr v. Ebern haͤtte ſeinen Koch zum Schulmeiſter
inveſtieret, wenn ein geſchickter Nachfahrer des
Kochs waͤre zu haben geweſen? er wars aber nicht:
und da der Gutsherr dachte, es waͤre vielleicht
gar eine Neuerung, wenn er die Kuͤche und die
Schule durch Ein Subjekt verſehen ließe — es war
aber vielmehr die Trennung und Verdoplung der
Schul- und Herrendiener eine viel groͤßere und aͤl¬
tere: denn im neunten Saͤkulum muſte ſo gar der
Pfarrer der Patronatskirche zugleich dem Kirchen¬
ſchifs-Patron als Bedienter aufwarten und ſat¬
teln ꝛc. *) und beide Aemter wurden erſt nachher
wie mehrere von einander abgeriſſen — ſo behielt
2. Theil. C c[402] er den Koch und vozierte den Alumnus, der bis¬
her ſo geſcheut geweſen, daß er verliebt geblieben.
Ich ſteuere mich ganz auf die ruͤhmliche Teſti¬
monien, die ich in Haͤnden habe und die Wuz vom
Superintendenten auswirkte, weil ſein Examen
vielleicht eines der rigoroͤſeſten und gluͤcklichſten war
die ich neueren Zeiten noch gehoͤret. Muſte nicht
Wuz das griechiſche Vater unſer vorbeten, indeß
das Examinations-Kollegium ſeine ſammtnen Ho¬
ſen mit einer Glaßbuͤrſte auskaͤmmte? — und her¬
nach das lateiniſche Symbolum Athanaſie? konnt'
er nicht die Buͤcher der Biebel richtig und Mann
fuͤr Mann vorzaͤhlen, ohne uͤber die gemalten Blu¬
men und Taſſen auf dem Kaffeebrette ſeines Exa¬
minators zu ſtolpern? muſt' er nicht einen Bettel¬
jungen, der bloß auf einen Pfennig aufſah, her¬
umkatecheſieren, ob gleich der Junge gar nicht wie
ſein Unter-Examinator beſtand ſondern wie ein
wahres Stuͤckgen Vieh? muſt' er nicht ſeine Fin¬
gerſpitzen in fuͤnf Toͤpfe warmes Waſſer tunken
und den Topf ausſuchen, deſſen Waſſer warm
und kalt genug fuͤr den Kopf eines Taͤuflings war?
und muſt' er nicht zuletzt drei Gulden und 36 Kreu¬
zer erlegen?
[403]
Am 13ten May gieng er als Alumnus aus dem
Alumneum heraus und als oͤffentlicher Lehrer in ſein
Haus hinein und aus der zerſprengten ſchwarzen
Alumnus-Puppe brach ein bunter Schmetterling
von Kantor ins Freie hinaus.
Am 9ten Julius ſtand er vor dem Auenthaler
Altar und wurde kopuliert mit der Juſtel.
Aber der eliſaͤiſche Zwiſchenraum zwiſchen dem
13ten Mai und dem 9ten Juͤlius! — fuͤr keinen
Sterblichen faͤllt ein ſolches goldnes Alter von 8
Wochen wieder vom Himmel, bloß fuͤr das Mei¬
ſterlein funkelte der ganze niedergethauete Himmel
auf geſtirnten Auen der Erde — du wiegteſt im
Aether dich und ſaheſt durch die transparente
Erde dich rund mit Himmel und Sonnen umzogen
und hatteſt keine Schwere mehr; aber uns Alum¬
nen der Natur fallen nie acht ſolche Wochen zu,
nicht eine, kaum Ein ganzer Tag, wo der Him¬
mel uͤber und in uns ſein reines Blau mit nichts
kolorirt als mit Abend- und Morgenroth — wo
wir uͤber das Leben wegfliegen und alles uns hebt
wie ein freudiger Traum — wo der unbaͤndige ſtuͤr¬
zende Strom der Dinge uns nicht auf ſeinen Kata¬
vakten und Strudeln zerſtoͤßet und ſchuͤttelt und
C c 2[404] raͤdert, ſondern auf blinkenden Wellen uns wiegt
und unter hineingebognen Blumen voruͤbertraͤgt —
ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬
ter den verlebten ſuchen und von dem wir am En¬
de jedes andern klagen, ſeit ihm war keiner wie¬
der ſo.
Es wird uns allen wolthun, wenn ich dieſe
acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate
weitlaͤuftig beſchreibe. Sie beſtanden aus lauter
aͤhnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter
den Haͤuſern herauf. Die ganze Nacht ſtand die
ruͤckende Abendroͤthe unten am Himmel, an wel¬
chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬
ſe gluͤhend abgebluͤhet hatte. Um 1 Uhr ſchlugen
ſchon die Lerchen und die Natur ſpielte und phan¬
taſierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬
monika. In ſeine Traͤume toͤnten die aͤußern Me¬
lodien hinein und in ihnen flog er uͤber Bluͤthen-
Baͤume, denen die wahren vor ſeinem ofnen Fen¬
ſter ihren Blumen-Athem liehen. Der tagende
Traum ruͤckte ihn ſanft wie die liſpelnde Mutter
das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen uͤber und
er trat mit ſaͤugender Bruſt in den Laͤrm der Na¬
tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem
[405] erſchuf und wo beide ſich zu einem brauſenden Wol¬
luſt Ozean in einander ergoſſen. Aus dieſer Mor¬
gen-Fluth des Lebens und Freuens kehrte er in
ſein ſchwarzes Stuͤbgen zuruͤck und ſuchte die Kraͤf¬
te in kleinern Freuden wieder. Er war da uͤber
alles froh, uͤber jedes beſchienene und unbeſchienene
Fenſter, uͤber die ausgefegte Stube, uͤber das Fruͤhſtuͤck,
das mit ſeinen Amts-Revenuͤen beſtritten wurde, uͤber
7 Uhr weil er nicht in die Sekunda muſte, uͤber
ſeine Mutter die alle Morgen froh war daß er
Schulmeiſter war und ſie nicht aus dem vertrauten
Hauſe muſte.
Unter dem Kaffee ſchnitt er ſich außer den
Semmeln die Federn zur Meſſiade, die er damals
die drei letzten Geſaͤnge ausgenommen, gar ausſang.
Seine groͤſte Sorgfalt verwandte er darauf, daß
er die epiſchen Federn falſch ſchnitt entweder wie
Pfaͤhle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten
Extraſpalt, der hinaus nieſete: denn da alles in
Hexametern und zwar in ſolchen, die nicht zu ver¬
ſtehen waren, verfaſſet ſeyn ſollte: ſo mußte der
Dichter, da ers durch keine Bemuͤhung zur gering¬
ſten Unverſtaͤndlichkeit bringen konnte — er faſſete
allemal den Augenblick jede Zeile und jeden pes —
[406] aus Noth zum Einfall greifen, daß er die Hexa¬
meter ganz unleſerlich ſchrieb was auch gut
war. Durch dieſe poetiſche Freiheit bog er dem
Verſtehen ungezwungen vor.
Um eilf Uhr deckte er fuͤr ſeine Voͤgel, [und]
dann fuͤr ſich und ſeine Mutter, den Tiſch mit
vier Schubladen, in dem mehr war als auf ihm.
Er ſchnitt das Brod, und ſeiner Mutter die weiße
Rinde vor, ob er gleich die ſchwarze nicht gern aß.
O meine Freunde, warum kann man denn im
hotel de Baviére und auf dem Roͤmer nicht ſo ver¬
gnuͤgt ſpeiſen als am Wuziſchen Ladentiſch? —
Sogleich nach dem Eſſen machte er nicht Hexame¬
ter, ſondern Kochloͤffel und meine Schweſter hat
ſelber ein Dutzend von ihm. Waͤhrend ſeine Mut¬
ter das wuſch was er ſchnitzte: ließen beide ihre
Seelen nicht ohne Koſt; ſie erzaͤhlte ihm die Per¬
ſonalien von ſich und ſeinem Vater vor, von deren
Kenntniß ihn ſeine akademiſche Laufbahn zu ent¬
fernt gehalten — und er ſchlug den Operations¬
plan und Bauriß ſeiner kuͤnftigen Haushaltung be¬
ſcheiden vor ihr auf, weil er ſich an dem Gedan¬
ken ein Hausvater zu ſeyn, gar nicht ſatt kaͤuen
konnte. „Ich richte mir — ſagte er — mein Haus¬
[407] halten ganz vernuͤnftig ein — ich ſtell' mir ein
Saugſchweingen ein auf die heiligen Feiertage, es
fallen ſo viel Kartoffeln- und Ruͤben-Schaalen ab,
daß man's mit [fett] bringt, man weiß kaum wie
— und auf den Winter muß mir der Schwiegerva¬
ter ein Fuͤderchen Buͤſchel (Reisholz) einfahren und
die Stubenthuͤr muß total gefuͤttert und gepolſtert
werden — denn, Mutter! unſereins hat ſeine paͤ¬
dagogiſchen Arbeiten im Winter und es haͤlt da
keine Kaͤlte aus.“ — Am 29ſten Mai war noch
dazu nach dieſen Geſpraͤchen eine Kindtaufe — es
war ſeine erſte — ſie war ſeine erſte Revenuͤe und
ein großes Sportularium hatte er ſich ſchon auf
dem Alumneum dazu geheftet — er beſah und zaͤhl¬
te die Paar Groſchen zwanzig mal als waͤren ſie
andere — am Taufſtein ſtand er in ganzer Paruͤre
und die Zuſchauer ſtanden auf der Empor und in
der herrſchaftlichen Loge im Alltags-Schmutz —
„es iſt mein ſaurer Schweiß“ ſagt' er eine halbe
Stunde nach dem Aktus und trank vom Gelde zur unge¬
woͤhnlichen Stunde ein Noͤßel Bier. — Ich er¬
warte von ſeinem kuͤnftigen [Biographen] ein Paar
pragmatiſche Fingerzeige‚ warum Wuz blos ein
Einnahme- und kein Ausgabe-Buch ſich naͤhte und
[408] warum er in jenem oben Thaler, Groſchen, Pfen¬
nige ſetzte, ob er gleich nie die erſtere Muͤnzſorte
unter ſeinen Schul-Gefaͤllen hatte.
Nach dem Aktus und nach der Verdauung ließ
er ſich den Tiſch hinaus unter den Weichſelbaum
tragen und ſetzte ſich nieder und boſſierte noch ei¬
nige unleſerliche Hexameter in ſeiner Meſſiade. So¬
gar waͤhrend er ſeinen Schinkenknochen als ſein
Souper abnagte und abfeilte, befeilt' er noch ei¬
nen und den andern epiſchen Fuß und ich weiß recht
gut, daß des Fettes wegen mancher Geſang ein
wenig geblet ausſiehet. Sobald er dem Sonnen¬
ſchein nicht mehr auf der Straße ſondern an den
Haͤuſern liegen ſah! ſo gab er der Mutter die noͤ¬
thigen Gelder zum Haushalten und lief ins Freie,
um ſich es ruhig auszumalen, wie ers kuͤnftig ha¬
ben wuͤrde im Herbſt, im Winter, an den drei
heil. Feſten, unter den Schulkindern und unter
ſeinen eignen. —
Und doch ſind das bloß Wochentage; der Sonn¬
tag aber brennt in einer Glorie, die kaum auf
ein Altarblatt geht. — Ueberhaupt ſteht in keinen
Seelen dieſes Jahrhunderts ein ſo großer Begrif
von einem Sonntage, als in denen, die die mei¬
[409] ſten Schulmeiſter haben: mich wunderts gar nicht,
wenn ſie an einem ſolchen Courtage nicht vermoͤgen,
beſcheiden zu verbleiben. Selbſt unſer Wuz konnte
ſichs nicht verſtecken! was es ſagen will, unter tau¬
ſend Menſchen allein zu orgeln — ein wahres Erb-
Amt zu verſehen und den geiſtlichen Kroͤnungsman¬
tel dem Senior uͤber zu [henken] und ſeyn Valet de fan¬
taiſie und Kammermohr zu ſeyn — uͤber ein ganzes
von der Sonne illuminiertes Chor Territorialherr¬
ſchaft zu exerzieren, als amtierender Chor-Maire auf
ſeinem Orgel-Fuͤrſtenſtuhl die Poeſie einer Parochie
noch beſſer zu beherrſchen als der Pfarrer die Proſe
derſelben kommandiert — und nach der Predigt uͤber
das Gelaͤnder hinab voͤllige fuͤrſtl. Befehle ſans façon
mit lauter Stimme weniger zu geben als abzuleſen.
. . . . Wahrhaftig, man ſollte denken, hier oder
nirgends thaͤt' es Noth, daß ich meinem Wuz zurie¬
fe; „bedenke, was du vor wenig Monaten wareſt!
Ueberleg', daß nicht alle Menſchen Kantores werden
koͤnnen und mach' dir die vortheilhafte Ungleichheit
der Staͤnde zu Nutze, ohne ſie zu mißbrauchen und
ohne darum mich und meine Zuhoͤrer am Ofen zu
verachten.“ — — Aber nein! auf meine Ehre, das
gutartige Meiſterlein denkt ohnehin nicht daran: die
[410] Bauern haͤtten nur ſo geſcheut ſeyn ſollen, daß ſie
dir ſchnackiſchem, laͤchelndem, trippelnden, Haͤnde¬
reibendem Dinge ins gallenloſe uͤberzuckerte Herz
hineingeſehen haͤtten; was haͤtten ſie da ertapt?
Freude in deinen zwei Herzens-Kammern, Freude
in deinen zwei Herzens-Ohren. Du numerierteſt
bloß, gutes Ding! das ich je laͤnger je lieber gewin¬
ne, deine kuͤnftigen Schulbuben und Schulmaͤdgen
in den Kirchſtuͤhlen zuſammen und ſetzteſt ſie ſaͤmmt¬
lich in deine Schulſtube und um deine winzige Naſe
herum und nahmeſt dir vor, mit der letzten taͤglich
Vormittags und Nachmittags einmal zu nieſen und
vorher zu ſchnupfen, bloß damit dein ganzes Inſti¬
tut wie beſeſſen auffuͤhre und zuriefe: Helf Gott,
Herr Kantner! die Bauern haͤtten ferner in deinem
Herzen die Freude angetroffen, die du hatteſt, ein
Setzer von Folioziffern zu ſeyn die ſo lang ſind wie
die am Zifferblatt der Thurmuhr, in dem du jeden
Sonntag an der ſchwarzen Liedertafel in oͤffentlichen
Druck gabſt, auf welcher Pagina das naͤchſte Lied zu
ſuchen ſei — wir Autores treten mit ſchlechterem
Zeuge im Drucke auf; — ferner die Freude, deinem
Schwiegervater und deiner Braut im Singen vorzu¬
reiten; und endlich deine Hofnung, den Bodenſatz
[411] des Kommunionweins einſam auszuſaufen, der fatal
ſchmeckte. Ein hoͤheres Weſen muß dir ſo herzlich
gut geweſen ſeyn wie das referierende, da es gerade
in deinen achtwoͤchentlichen Eden-Luſtrum deinen
gnaͤdigen Kirchenpatron kommunizieren hieß: denn
der hatte doch ſo viel Einſicht, daß er an die Stelle
des Kommunionweins, der Chriſti Trank am Kreuz
nicht ungluͤcklich nach bildete, Chriſti Thraͤnen
aus ſeinem Keller ſetzte; aber welche Himmel dann
nach dem Trank des Bodenſatzes in alle deine Glie¬
der zogen . . . . Warlich jedesmal will ich wieder
in [Exklamationen] verfallen — aber warum macht
mir und nielleicht Euch dieſes ſchulmeiſterlich ver¬
gnuͤgte Herz ſo viel Freude? — ach es muß daran lie¬
gen, daß wir ſelber ſie nie ſo voll bekommen, weil
der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und
unſern Athem druͤckt und weil wir die ſchwarze-Got¬
tesacker-Erde unter den Raſen- und Blumenſtuͤcken
ſchon geſehen haben, auf denen das Meiſterlein ſein
Leben verhuͤpft! —
Der gedachte Kommunionwein mouſſirte noch
Abends in ſeinen Adern; und dieſe letzte Tagszeit
ſeines Sabbaths hab' ich noch abzuſchildern. Bloß
am Sonntag durft' er mit ſeiner Juſtine ſpatzieren
[412] gehen; vorher nahm er das Abendeſſen beim Schwie¬
gervater ein, aber mit ſchlechtem Nutzen: ſchon un¬
ter dem Tiſchgebet wurde ſein Hundshunger matt
und unter den Allotriis darauf gar unſichtbar. [Wenn]
ichs leſen koͤnnte: ſo koͤnnt' ich das ganze Konterfei
dieſes Abends aus ſeiner Meſſiade haben, in die er
ihn ganz wie er war, im ſechſten Geſang hineinge¬
flochten, wie alle große Skribenten ihren Lebenslauf,
ihre Weiber, Kinder, Aecker, Vieh in ihre opera
omnia ſtricken. Er dachte, in der gedruckten Meſſia¬
de ſtaͤnde der Abend auch. In ſeiner wird es epiſch
ausgefuͤhret ſeyn, daß die Bauern auf den Rainen
wateten und den Schuß der Halme maßen und ihn
uͤber das Waſſer heruͤber als ihren neuen wohlverord¬
neten Kantor gruͤßten — daß die Kinder auf Blaͤt¬
tern ſchalmeiten und in Batzen-Floͤten ſtieſſen und
daß alle Buͤſche und Blumen- und Bluͤtenkelche voll¬
ſtimmig beſetzte Orcheſter waren, aus denen allen et¬
was herausſang oder ſumſete oder ſchnurrte — und
daß alles zuletzt ſo feierlich wurde als haͤtte die Erde
ſelber einen Sonntag, indem die Hoͤhen und Waͤlder
um dieſen Zauberkreis rauchten und indem die Son¬
ne gen Mitternacht durch einen illuminirten Tri¬
umphbogen hinunter, und der Mond gen Mittag
[413] durch einen blaſſen Triumphbogen heraufzog. O
du Vater des Lichts! mit wieviel Farben und Stra¬
len und Leuchtkugeln faſſeſt du deine bleiche Erde
ein! — Die Sonne kroch jetzt ein zu einem einzi¬
gen rothen Strale, der mit dem Wiederſchein der
Abendroͤthe auf dem Geſichte ſeiner Braut zuſam¬
men kam; und dieſe, nur mit ſtummen Gefuͤhlen
bekannt, ſagte, daß ſie in ihrer Kindheit ſich oft
geſehnet haͤtte, auf den rothen Bergen der Abend¬
roͤthe zu ſtehen und von ihnen mit der Sonne in
die ſchoͤnen rothgemalten Laͤnder hinunter zu ſtei¬
gen, die hinter der Abendroͤthe laͤgen. Unter dem
Gebetlaͤuten ſeiner Mutter legt’ er ſeinen Hut auf
die Knie und ſah ohne die Haͤnde zu falten, an
die rothe Stelle am Himmel, wo die Sonne zu¬
letzt geſtanden, und hinunter in den ziehenden
Strom, der tiefe Schatten trug; und es war ihm
als laͤutete die Abendglocke die Welt und noch ein¬
mal ſeinen Vater zur Ruhe — zum erſten- und letz[¬]
tenmale in ſeinem Leben ſtieg ſein Herz uͤber die
irdiſche Szene hinaus — und es rief, ſchien ihm,
etwas aus den Abendtoͤnen herunter, er wuͤrd jetzt
vor Vergnuͤgen ſterben . . . . Heftig und verzuͤckt
umſchlang er ſeine Braut und ſagte: „wie lieb
[414] hab' ich dich, wie ewig lieb.“ Vom Fluſſe klang
es herab wie Floͤtengetoͤn und Menſchengeſang und
zog naͤher: auſſer ſich druͤckt' er ſich an ſie an und
wollte vereinigt vergehen und glaubte, die Him¬
melstoͤne hauchten ihre beiden Seelen aus der Er¬
de weg und dufteten ſie wie Thaufunken auf den
Auen Edens nieder. Es ſang:
Es war aus der Stadt eine Gondel mit eini¬
gen Floͤten und ſingenden Juͤnglingen. Er und ſie
giengen am Ufer mit der ziehenden Gondel und hiel¬
ten ihre Haͤnde gefaßt und Juſtine ſuchte leiſe nach¬
zuſingen und der Himmel und die Entzuͤckung gien¬
gen neben ihnen. Als die Gondel um eine Erdzun¬
ge voll Baͤume herumſchifte: hielt Juſtine ihn ſanft
an, damit ſie nicht nachkaͤmen und da das Fahr¬
zeug darhinter verſchwunden war, fiel ſie ihm mit
dem erſten erroͤthenden Kuſſe um den Hals . . . .
O unvergeßlicher erſter Junius! ſchreibt er. — Sie
begleiteten und belauſchten von weitem die ſchiffen¬
den Toͤne; und Traͤume ſpielten um beide bis ſie
[415] ſagte: es iſt ſpaͤt und die Abendroͤthe hat ſich ſchon
weit herumgezogen und es iſt alles im Dorfe ſtill.
Sie giengen nach Hauſe; er oͤfnete die Fenſter ſei¬
ner mondhellen Stube und ſchlich mit einem leiſen
Gutenacht bei ſeiner Mutter voruͤber, die ſchon
ſchlief. —
Jeden Morgen ſchien ihn der Gedanke wie Ta¬
geslicht an, daß er dem Hochzeittage, dem 8ten
Jun., ſich um eine Nacht naͤher geſchlafen; und
am Tage lief die Freude mit ihm herum, daß er
durch die paradieſiſchen Tage, die ſich zwiſchen ihn
und ſein Hochzeitbett geſtellet, noch nicht durchwaͤ¬
re. So hielt er wie der metaphyſiſche Eſel den
Kopf zwiſchen beiden Heubuͤndeln, zwiſchen der Ge¬
genwart und Zukunft; aber er war kein Eſel oder
Scholaſtiker ſondern graſete und rupfte an beiden
Buͤndeln auf einmal . . . . Wahrhaftig die Men¬
ſchen ſollten niemals Eſel ſeyn, weder indifferen¬
tiſtiſche noch hoͤlzerne noch bileamiſche und ich habe
meine Gruͤnde dazu . . . . Ich breche hier ab, weil
ich noch uͤberlegen will, ob ich ſeinen Hochzeittag
abzeichne oder nicht. Data hab' ich uͤbrigens dazu
ganze Groͤße. — —
[416]
Aber wahrhaftig ich bin weder ſeinem Ehren¬
tage beigewohnet noch einem eignen; ich will ihn
alſo beſtens beſchreiben und mir — ich haͤtte ſonſt
gar nichts — eine Luſtparthie zuſammen machen.
Ich weiß uͤberhaupt keinen ſchicklichern Ort oder
Bogen als dieſen dazu, daß die Leſer bedenken,
was ich ausſtehe: die magiſchen Schweizergegenden,
in denen ich mich lagere — die Apollo's und Ve¬
nusgeſtalten, denen ſich mein Auge anſaugt —
das erhabne Vaterland, fuͤr das ich das Leben hin¬
gebe, das es vorher geadelt hat — das Brautbett,
in das ich einſteige, alles das iſt von fremden oder
eignen Fingern bloß — gemalt mit Dinte oder
Druckerſchwaͤrze; und wenn nur du, du Himmli¬
ſche, der ich treu bleibe, die mir treu bleibt, mit
der ich in arkadiſchen Julius-Naͤchten ſpatzieren ge¬
he, mit der ich vor der untergehenden Sonne und
vor dem aufſteigenden Monde ſtehe und um deren
willen ich alle deine Schweſtern liebt, wenn nur
du — waͤreſt; aber du biſt ein Altarblatt und
ich finde dich nicht.
Dem Nil, dem Herkules und andern Goͤttern
brachte man zwar auch wie mir nur nachboſſirte
Maͤdchen dar; aber vorher bekamen ſie doch reelle.
Wir[417]
Wir muͤſſen ſchon am Sonnabend ins Schul-
und Hochzeithaus gucken, um die Praͤmiſſen dieſes
Ruͤſttags zum Hochzeittag ein wenig vorher wegzu¬
haben: am Sonntag haben wir keine Zeit dazu;
ſo gieng auch die Schoͤpfung der Welt (nach den
aͤltern Theologen) darum in 6 Tagwerken und nicht
in Einer Minute vor, damit die Engel das Na¬
turbuch, wenn es allmaͤhlig aufgeblaͤttert wuͤrde,
leichter zu uͤberſehen haͤtten. Am Sonnabend rennt
der Braͤutigam auffallend in zwei corporibus piis
aus und ein, im Pfarr- und Schulhaus, um vier
Seſſel aus jenem in dieſes zu ſchaffen. Er borgte
dieſe Geſtelle dem Senior ab, um den Kommoda¬
tor ſelbſt darauf zu weiſen als ſeinen Hierarchen,
und die Seniorin als Fr. Pathin der Braut, und
den Subpraͤfektus aus dem Alumneum und die
Braut ſelbſt. Ich weiß ſo gut als andre, in wie
weit dieſer miethende Luxus des Braͤutigams nicht
in Schutz zu nehmen iſt: allerdings papillotirten
die gigantiſchen Miethſtuͤhle (Menſchen und Seſſel
ſchrumpfen jetzt ein) ihre falſchen Rindshaar-Tou¬
ren an Lehne und Sitz, mit blauem Tuch, Milch¬
ſtraßen von gelben Naͤgeln ſprangen auf gelben
Schnuͤren als Blitze herum und es bleibt gewiß, daß
2. Theil. D d[418] man ſo weich auf den Raͤndern dieſer Stuͤhle auf¬
ſaß als truͤge man einen Doppelſteiß — wie geſagt,
dieſen Steiß-Luxus des Glaͤubigers und Schuldners
hab' ich niemals zum Muſter angeprieſen; aber auf
der andern Seite muß doch jeder, der in den „[Schulz]
von Paris“ hineingeſehen, bekennen, daß die
Verſchwendung im Palais royal und an allen Hoͤfen
offenbar eben ſo groß iſt. Wie werd' ich vollends
ſolche Methodiſten von der ſtrengen Obſervanz auf
die Seite des Großvater- oder Sorgeſtuhls Wuzens
bringen, der mit vier hoͤlzernen Loͤwentatzen die Er¬
de ergreift, welche mit vier Queerhoͤlzern — den
Siz-Konſolen munterer Finken und Gimpel — geſpon¬
ſelt ſind; und deſſen Haar-Chignon ſich mit einer
gebluͤmten ledernen Schwarte ſich mehr als zu praͤch¬
tig beſohlet und welcher zwei hoͤlzerne behaarte Ar¬
me, die das Alter wie menſchliche, duͤrrer gemacht,
nach einem Inſaß ausſtreckt? . . . . Dieſes Fragzei¬
chen kann manchen, weil er den langen Perioden
vergeſſen, frappiren.
Das zinnene Tafel-Service, das der Paͤda¬
gog noch von ſeinem Fuͤrſtbiſchof holte, kann das
Publikum beim Auktionsproklamator, wenns anders
verſteigert wird, beſſer kennen lernen als bei mir:
[419] ſo viel wiſſen die Hochzeitgaͤſte, die Saladière, die
Saucière, die Aſſiette zu Kaͤſe und die Senfdoſe
war ein Einziger Teller, der aber vor jeder Rolle
einmal abgeſcheuert wurde.
Ein ganzer Nil und Alpheus ſchoß uͤber jedes
Stubenbret, wovon gute Gartenerde wegzuſpuͤlen
war, an jede Bettpfoſte und an den Fenſterſtock
hinan und ließ den gewoͤhnlichen Bodenſatz der Fluth
zuruͤck — Sand. Die Geſetze des Romans wuͤr¬
den verlangen, daß das Schulmeiſterlein ſich anzoͤ¬
ge und ſich auf eine Wieſe unter ein wogendes Zu¬
deck von Gras und Blumen ſtreckte und da durch
einen Traum der Liebe nach dem andern hindurch
ſaͤnk' und braͤche — allein er rupfte Huͤhner und
Enten ab, ſpaltete Kaffee und Bratenholz und
die Braten ſelbſt, kredenzte am Sonnabend den
Sonntag und dekretirte und vollzog in der blauen
Schuͤrze ſeiner Schwiegermutter funfzig Kuͤchen-Re¬
glements und ſprang, den Kopf mit Papillotten
gehoͤrnt und das Haar wie einen Eichhoͤrnchen¬
ſchwanz emporgebunden, hinten und vornen und
uͤberall herum: „denn ich mache nicht alle Sonn¬
tage Hochzeit“ ſagt' er.
D d 2[420]
Nichts iſt widriger als hundert Vorlaͤufer und
Vorreiter zu einer winzigen Luſt zu ſehen und zu hoͤ¬
ren; nichts iſt aber ſuͤßer als ſelber mit vorzurei¬
ten und vorzulaufen: die Geſchaͤftigkeit, die wir
nicht bloß ſehen ſondern theilen, macht nachher
das Vergnuͤgen zu einer von uns ſelbſt geſaͤeten,
beſprengten [und] ausgezognen Frucht; und oben¬
drein befaͤllt uns das Herzgeſpann des Paſſens
nicht.
Aber, lieber Himmel, ich brauchte einen gan¬
zen Sonnabend um dieſen nur zu rapportiren:
denn ich that nur einen vorbeifliegenden Blick in
die Wuziſche Kuͤche — was da zappelt! was da
raucht! — Warum iſt ſich Mord und Hochzeit ſo
nahe, wie die zwei Gebote die davon reden? War¬
um iſt nicht bloß eine fuͤrſtliche Vermaͤhlung oft fuͤr
Menſchen, warum iſt auch eine buͤrgerliche fuͤr Ge¬
fluͤgel eine Pariſiſche Bluthochzeit?
Niemand brachte aber im Hochzeithaus dieſe
zwei Freudentage mißvergnuͤgter und fataler zu als
zwei Stechfinken und drei Gimpel: dieſe inhaftirte
der reinliche und vogelfreundliche Braͤutigam ſaͤmt¬
lich — vermittelſt eines Treibjagens mit Schuͤrzen
und geworfnen Nachtmuͤtzen — und noͤthigte ſie,
[421] aus ihrem Tanz-Salon in ein Paar Drath-Kar¬
thauſen zu fahren und an der Wand in Manſar¬
den ſpringend herabzuhaͤngen.
Wuz berichtet ſo wohl in ſeiner „Wuziſchen Ur¬
geſchichte“ als „in ſeinem Leſebuch fuͤr Kinder mitt¬
lern Alters,“ daß Abends um 7 Uhr, da der
Schneider dem Hymen neue Hoſen und Gillet und
Rock anprobirte, ſchon alles blank und metriſch
und neugeboren war, ihn ſelber ausgenommen.
Eine unbeſchreibliche Ruhe ſitzt auf jedem Stuhl
und Tiſch, eines neugeſtellten brillantirten Zim¬
mers! In einem chaotiſchen denkt man, man muͤſ¬
ſe noch dieſen Morgen ausziehen aus dem aufgekuͤn¬
digten Logement.
Ueber ſeine Nacht (ſo wie uͤber die folgende)
fliegen ich und die Sonne hinuͤber und wir begeg¬
nen ihm, wenn er am Sonntage, geroͤthet und
elektriſirt vom Gedanken des heutigen Himmels,
die Treppe herab laͤuft in die anlachende Hochzeit¬
ſtube hinein, die wir alle geſtern mit ſo vieler Muͤ¬
he und Dinte aufgeſchmuͤckt haben vermittelſt Schoͤn¬
heitswaſſer — mouchoir de Venus und Schmink¬
lappen (Waſchlappen) — Puderkaſten (Topf mit
Sand) und anderem Toiletten-Schif und Geſchirr.
[422] Er war Nachts ſiebenmal aufgewacht, um ſich ſie¬
benmal auf den Tag zu freuen; und zwei Stun¬
den fruͤher aufgeſtanden, um beide Minute fuͤr
Minute aufzueſſen. Es iſt mir als gieng' ich mit
dem Schulmeiſter zur Thuͤr hinein, vor dem die
Minuten des Tages hinſtehn wie Honigzellen — er
ſchoͤpfet eine um die andre aus und jede Minute
traͤgt einen weitern Honigkelch. Fuͤr eine Penſion auf
Lebenslang iſt dennoch der Kantor nicht vermoͤgend,
ſich auf der ganzen Erde ein Haus zu denken, in
dem jetzt nicht Sonntag, Sonnenſchein und Freu¬
de iſt; nein! — Das zweite was er unten nach
der Thuͤre aufthat, war ein Oberfenſter, um ei¬
nen auf- und niederwallenden Schmetterling — einen
ſchwimmenden Silberflitter, eine Blumen-Folie
und Amors Ebenbild — aus Hymens Stube
fortzulaſſen. Dann fuͤtterte er ſeine Vogel-Kapel¬
le in den Bauern zum Voraus auf den laͤrmenden
Tag, und fidelte auf der vaterlichen Geige die
Schleifer zum Fenſter hinaus, an denen er ſich
aus der Faſtnacht an die Hochzeitnacht herangetanzt.
Es ſchlaͤgt erſt fuͤnf Uhr, mein Trauter, wir ha¬
ben uns nicht zu uͤbereilen! Wir wollen die zwei
Ellen lange Halsbinde (die du dir auch wie die Braut
[423] antanzeſt, indem die Mutter das andre Ende haͤlt)
und das Zopfband glatt umhaben noch zwei voͤllige
Stunden vor dem Laͤuten. Gern gaͤb' ich den Gro߬
vaterſtuhl und Ofen, deren Aſſeſſor ich bin, gratis
hin, wenn ich mich und meine Zuhoͤrerſchaft jetzt zu
tranſparenten Sylphiden zu verduͤnnen wuͤßte; da¬
mit unſere ganze Bruͤderſchaft dem zappelnden Braͤu¬
tigam ohne Stoͤhrung ſeiner ſtillen Freude in den
Garten nachfloͤge, wo er fuͤr ein weibliches Herz,
das weder ein diamantnes noch ein welſches iſt, auch
keine Blumen, die es ſind, abſchneidet ſondern le¬
bende — wo er die blitzenden Kaͤfer und Thautropfen
aus den Blumenblaͤttern ſchuͤttelt [und] gern auf den
Bienenruͤſſel wartet, den zum letztenmale der muͤtter¬
liche Blumenbuſen ſaͤuget — wo er an ſeine Knaben-
Sonntagsmorgen denkt und an den zu engen Schritt
uͤber die Beete und an das kalte Kanzelpult, dem
der Senior ſein Bouquet gab. Gehe nach Haus,
Sohn deines Antezeſſors, und ſchaue am achten Ju¬
nius dich nicht gegen Abend um, wo der ſtumme ſechs
Fuß dicke Gottesacker uͤber manchen Freunden liegt,
ſondern gegen Morgen wo du die Sonne, die Pfarr¬
thuͤre und deine hineinſchluͤpfende Juſtine ſehen kannſt,
die die Frau Pathin nett ausfriſiren und einſchnuͤren
[424] will. Ich merk' es leicht, daß meine Zuhoͤrer wieder
in Sylphiden verfluͤchtigt werden wollen, um die
Braut zu umflattern; aber ſie ſiehts nicht gern.
Endlich lag der himmelblaue Rock — die Livrée¬
farbe der Muͤller und Schulmeiſter — mit geſchwaͤrz¬
ten Knopfloͤchern und die plaͤttende Hand ſeiner Mut¬
ter, die alle Bruͤche hob, am Leibe des Schulmeiſter¬
leins und es darf nur Hut und Geſangbuch nehmen.
Und jetzt — ich weiß gewiß auch, was Pracht iſt,
fuͤrſtliche bei fuͤrſtlichen Vermaͤhlungen, das Kanoni¬
ren, Illuminiren, Exerciren und Friſiren dabei;
aber nur mit der Wuziſchen Vermaͤhlung muß man
dergleichen nie zuſammenſtellen: ſehet doch dem
Mann hintennach, der den Sonnen- und Himmels¬
weg zu ſeiner Braut jetzt geht und auf den andern Weg
druͤben nach dem Alumneum ſchauet und denkt „wer
haͤtt' 's vor vier Jahren gedacht;” ich ſage, ſehet
ihm nach: thut es nicht auch die Auenthaler Pfarr¬
magd, ob ſie gleich Waſſer traͤgt, und henkt einen
ſolchen praͤchtigen vollen Anzug bis auf jede Franze
in ihrem Gehirn- und Kleiderkammern auf? Hat er
nicht eine gepuderte Naſen- und Schuhſpitze? Sind
nicht die rothen Thorfluͤgel ſeines Schwiegervaters
aufgedreht und ſchreitet er nicht durch dieſe ein, in¬
[425] deß die von der Haarkraͤuslerin abgefertigte Verlobte
durch das Hofthuͤrchen ſchleicht? Und ſtoßen ſie
nicht ſo meublirt und uͤberpudert auf einander,
daß ſie das Herz nicht haben, ſich guten Morgen
zu bieten? Denn haben beide in ihrem Leben et¬
was praͤchtigers und vornehmeres geſehen als ſich
einander heute? Iſt in dieſer verzeihlichen Verle¬
genheit nicht der lange Spahn ein Gluͤck, den der
kleine Bruder zugeſchnitzt und den er der Schweſter
hinreckt, damit ſie darum wie um einen Wein¬
pfahl die Blumen-Staude und Geruchs-Quaſte fuͤr
des Kantors Knopfloch winde und guͤrte? Werden
neidſuͤchtige Damen meine Freunde bleiben, wenn
ich meinen Pinſel eintunke und ihnen damit vorko¬
lorire die Paruͤre der Braut, das zitternde Gold
ſtatt der Zitternadel im Haar, die drei goldnen
Medaillons auf der Bruſt mit den Miniatuͤrpor¬
traits der deutſchen Kaiſer *), und tiefer die in
Knoͤpfe zergoſſenen Silberbarren?. . . . ich koͤnnt'
aber den Pinſel faſt jemand an den Kopf werfen,
wenn mir beifaͤllt, mein Wuz und ſeine gute
[426] Braut werden mir, wenns abgedruckt iſt, von den
Koketten und anderem Teufelszeuge gar ausgelacht:
glaubt ihr denn aber, ihr ſtaͤdtiſchen di¬
ſtillierten und taͤttowirten Seelenverkaͤuferinnen,
die ihr alles an Mannsperſonen meſſet und liebt,
ihr Herz ausgenommen, daß ich oder meine mei¬
ſten Herren Leſer dabei gleichguͤltig bleiben koͤnnten
oder daß wir nicht alle eure geſpannten Wangen,
eure zuckenden Lippen, eure mit Witz und Begier¬
de ſengenden Augen und eure jedem Zufall gefuͤgi¬
gen Taillen, und ſelber deine, Reſidentin von [Bou¬
ſe], mit Spaß hingaͤben fuͤr eine einzige Szene, wo
die Liebe ihre Stralen in dem Morgenroth des Schaͤ¬
mens bricht, wo die unſchuldige Seele ſich vor jedem
Aug' entkleidet, ihr eignes ausgenommen und wo
hundert innere Kaͤmpfe das durchſichtige Angeſicht
beſeelen, und kurz worin mein Brautpaar ſelbſt agir¬
te, da der alte luſtige Kauz von Schwiegervater bei¬
der gekraͤuſelten und weißbluͤhenden Koͤpfe habhaft
wurde und ſie geſcheut zu einem Kuß zuſammenlenk¬
te? Dein freudiges Erroͤthen, lieber Wuz! — und
dein verſchaͤmtes, liebe Juſtine! —
Wer wird uͤberhaupt dieſen und dergleichen Sa¬
chen kurz vor ſeinen Sponſalien ſchaͤrfer nachdenken
[427] und nachher delikater agiren als gegenwaͤrtiger Bio¬
graph ſelbſt?
Der Laͤrm der Kinder und Buͤttner auf der
Gaſſe und der Rezenſenten in Leipzig hindern den
Biographen, alles ausfuͤhrlich herzuſetzen, die
praͤchtigen Eckenbeſchlaͤge und dreifachen Manſchet¬
ten, womit der Braͤutigam jede Zeile des Chorals
verſah — den hoͤlzernen Engelsſittich, woran er ſei¬
nen Kurhut zum Chor hinaus hieng — den Namen
Juſtine an den Pedalpfeifen — ſeinen Spas und
ſeine Luſt, da ſie einander vor der Kirchenagende
(der goldnen Bulle und die Reichsgrundgeſetze des
Eheregiments) die rechten Haͤnde gaben und da er
mit ſeinem Ringfinger ihre hole Hand gleichſam
hinter einem Bettſchirm neckte — und den Eintritt
in die Hochzeitſtube, wo vielleicht die groͤßten und
vornehmſten Leute und Gerichte der Erde einander be¬
gegneten, ein Pfarrer, eine Pfarrerin, ein Sub¬
praͤfektus und eine Braut. Es wird aber Beifall
finden, daß ich meine Beine auseinander ſetze und
damit uͤber die ganze Hochzeittafel und Hochzeit¬
trift und uͤber den Nachmittag wegſchreite, um zu
hoͤren was ſie Abends angeben — einen und den
andern Tanz giebt der Subpraͤfektus an. Es iſt
[428] im Grunde ſchon alles auſſer ſich — ein Tobacks-
Heerrauch und ein Suppendampfbad woget um drei
Lichter und ſcheidet einen vom andern durch Nebel¬
baͤnke — der Violenzelliſt und der Violiniſt ſtrei¬
chen fremdes Gedaͤrm weniger als ſie eignes fuͤllen
— auf der Fenſterbruͤſtung guckt das ganze Auen¬
thal als Gallerie zappelnd herein und die Dorfju¬
gend tanzt drauſſen dreiſſig Schritte von dem
Orcheſter entfernt, im Ganzen recht huͤbſch —
die alte Dorf-La Bonne ſchreiet ihre wichtig¬
ſten Perſonalien der Seniorin vor und dieſe nie¬
ſet und huſtet die ihrigen los, jede will ihre hi¬
ſtoriſche Nothdurft fruͤher verrichten und ſieht
ungern die andre auf dem Stuhle ſeßhaft — der
Senior ſieht wie ein Schoosjuͤnger des Schoosjuͤn¬
gers Johannes aus, welchem die Maler mit einem
Becher in der Hand abmalen und lacht lauter als
er predigt — der Praͤfektus ſchießet als Elegant
herum und iſt von niemand zu erreichen — mein
Maria plaͤtſchert und faͤhrt unter in allen vier Fluͤſ¬
ſen des Paradieſes; und des Freuden-Meers Wo¬
gen heben und ſchaukeln ihn allmaͤchtig — bloß die
eine Brautfuͤhrerin (mit einer zu zarten Haut und
Seele fuͤr ihren ſchwielenvollen Stand) hoͤrt die
[429] Freuden-Trommel wie von einem Echo gedaͤmpft
und wie bei einer Koͤnigsleiche mit Flor bezogen
und die ſtille Entzuͤckung ſpannt in Geſtalt eines
Seufzers die einſame Bruſt — mein Schulmeiſter
(er darf zweimal im Kuͤchenſtuͤck herumſtehen) tritt
mit ſeiner Trauungshaͤlfte unter die Hausthuͤr, de¬
ren deſſus de porte ein Schwalben-Globus iſt, und
ſchauet auf zu dem ſchweigenden glimmenden Him¬
mel uͤber ihm und denkt, jede große Sonne gucke
herunter wie ein Auenthaler und zu ſeinem Fen¬
ſter hinein. . . . . Schiffe froͤhlich uͤber deinen ver¬
duͤnſtenden Tropfen Zeit, du kannſt es; aber wir
koͤnnens nicht alle, die eine Brautfuͤhrerin, kanns
auch nicht — ach waͤr' ich wie du an einem Hoch¬
zeitmorgen dem aͤngſtlichen den Blumen abgefang¬
nen Schmetterling begegnet, wie du der Biene im
Bluͤthenkelch, wie du der um ſieben Uhr abgelauf¬
nen Thurmuhr, wie du dem ſtummen Himmel
oben und dem lauten unten: ſo haͤtt' ich ja dar¬
an denken muͤſſen, daß nicht auf dieſer ſtuͤrmen¬
den Kugel, wo die Winde ſich in unſre kleinen
Blumen wuͤhlen, die Ruheſtaͤtte zu ſuchen ſei, auf
der uns ihre Duͤfte ruhig umfließen, oder ein Au¬
ge ohne Staub, ein Auge ohne Regentropfen,
[430] die jene Stuͤrme an uns werfen — und waͤre die
blitzende Goͤttin der Freude ſo nahe an meinem
Buſen geſtanden: ſo haͤtt' ich doch auf jene Aſchen¬
haͤufgen hinuͤber geſehen, zu denen ſie mit ihrer
Umarmung, gebuͤrtig aus der Sonne und nicht
aus unſern Eiszonen, ſchon die armen Menſchen
verkalkte — und o wenn mich ſchon die vorige Be¬
ſchreibung eines großen Vergnuͤgens ſo traurig zu¬
ruͤck ließ: ſo muͤſt' ich, wenn erſt du, aus unge¬
meſſenen Hoͤhen in die tiefe Erde hereinreichende
Hand! mir eines, wie eine Blume auf einer Son¬
ne gewachſen, hernieder braͤchteſt, auf dieſe Va¬
terhand die Tropfen der Freude fallen laſſen und
mich mit dem zu ſchwachen Auge von den Men¬
ſchen wegwenden . . . . .
Jezt da ich dieſes ſage, iſt Wuzens Hochzeit
laͤngſt vorbei, ſeine Juſtine iſt alt und er ſelber
auf dem Gottesacker; der Strom der Zeit hat ihn
und alle dieſe ſchimmernden Tage unter vier-fuͤnf¬
fache Schichten Bodenſatz gedruͤckt und begraben —
auch an uns ſteigt dieſer beerdigende Niederſchlag
immer hoͤher auf, in drei Minuten erreicht er das
Herz und uͤberſchlichtet mich und euch.
[43#]
In dieſer Stimmung ſinne mir keiner an, die
vielen Freuden des Schulmeiſters aus ſeinem Freu¬
den-Manuale mitzutheilen, beſonders ſeine Weih¬
nachts- Kirchweih- und Schulfreuden — es kann
vielleicht noch geſchehen in einem Poſthumus von
Poſtſkript, das ich nachliefere, aber heute nicht!
heute iſts beſſer, wir ſehen den vergnuͤgten Wuz
zum letztenmal lebendig und tod und gehen dann
weg.
Ich haͤtte uͤberhaupt — ob ich gleich dreißig¬
mal vor ſeiner Hausthuͤr voruͤber gegangen war —
wenig vom ganzen Manne gewuſt, wenn nicht am
12ten Mai vorigen Jahrs die alte Juſtine unter
ihr geſtanden waͤre und mich angeſchrien haͤtte:
„ob ich keine Buͤcher machte“ — „Warum nicht,
ſagt' ich, dem deutſchen Publiko ſchenk' ich deren
immer.“ — „Wenn ich nur eine Stunde zu ihrem
Alten herein moͤchte, mit dems ſo ſchlecht aus¬
ſaͤhe.“
Der Schlag hatte dem Alten, vielleicht weil
er eine Flechte Thalers groß am Nacken hinein ge¬
heilet, oder vor Alter, die linke Seite gelaͤhmt.
Er ſaß im Bette an einer Lehne von Polſtern und
Unter-Robben und hatte ein ganzes Waarenlager
[432] das ich ſogleich ſpezificieren werde, auf dem Deck¬
bette vor ſich. Ein Kranker thut wie ein Reiſen¬
der — und was iſt er anders — ſogleich mit jedem
bekannt: ſo nahe mit dem Fuße und Auge an
erhabnern Welten macht man in dieſer raͤudigen
keine Umſtaͤnde mehr Er klagte, es haͤtte ſich ſei¬
ne Alte ſchon ſeit drei Tagen nach einem Buͤcher¬
ſchreiber umſchauen muͤſſen, haͤtt' aber keinen er¬
tapt außer jezt; „er muͤſſ' aber einen haben, der
ſeine Bibliothek uͤbernaͤhme, ordnete und inven¬
tierte und der an ſeine Biographie, die in der
ganzen Bibliothek waͤre, ſeine letzten Stunden,
falls er ſie jezt haͤtte, zur Kompletirung gar hin
anſtieße: denn ſeine Alte waͤre keine Gelehrtin und
ſeinen Sohn haͤtt' er auf drei — Wochen auf die
Univerſitaͤt Heidelberg gelaſſen.“
Seine Runzeln-Ausſaat gab ſeinem runden
kleinen Geſichtgen aͤußerſt froͤhliche Lichter; jede
Runzel ſchien ein laͤchelnder Mund: aber es gefiel
mir und meiner Semiotik nicht, daß ſeine Augen
ſo blitzten, ſeine Augenbraunen und Mund-Ecken
ſo zuckten und ſeine Lippen ſo zitterten.
Ich will mein Verſprechen der Spezifikation
halten: auf dem Deckbette lag eine gruͤntaftne
Kin¬[433] Kinderhaube, wovon das eine Band abgeriſſen
war, eine mit abgegrifnen Goldflittergen uͤberpich¬
te Kinderpeitſche, einen Fingerring von Zinn, ei¬
ne Schachtel mit Zwerg-Buͤchelgen in 128 Format,
eine Wand-Uhr, ein beſchmutztes Schreibbuch und
ein Finkenkloben Fingerslang. Es waren die Ru¬
dera und Spaͤtlinge ſeiner verſpielten Kindheit: die
Kunſtkammer dieſer ſeiner griechiſchen Alter¬
thuͤmer war von jeher unter der Treppe geweſen
— denn in einem Haus, das der Blumenkuͤbel
und Treibkaſten eines einzigen Stammbaums iſt,
bleiben die Sachen Saͤkula lang in ihrer Stelle
ungeruͤckt — und da es von ſeiner Kindheit an ein
Reichsgrundgeſetz bei ihm war, alle ſeine Spiel¬
waaren in chronologiſcher Ordnung aufzuheben,
und da kein Menſch das ganze Jahr unter die
Treppe guckte als er: ſo konnt' er noch am Ruͤſt¬
tage vor ſeinem Todestage dieſe Urnenkruͤge eines
ſchon geſtorbenen Lebens um ſich ſtellen und ſich zu¬
ruͤckfreuen, da er ſich nicht mehr vorausfreuen
konnte. Du konnteſt freilich, kleiner Maria, in
keinen Antikentempel zu Sansſouci eintreten
und darin vor dem Weltgeiſt der ſchoͤnen Na¬
tur der Kunſt niederfallen; aber du konnteſt
2. Theil. E e[434] doch in deine Kindheits-Antiken-Stiftshuͤtte
unter der finſtern Treppe gucken und die Strahlen
der auferſtehenden Kindheit ſpielten wie des gemal¬
ten Jeſuskindes ſeine im Stall, an den duͤſtern
Winkeln! o wenn groͤßere Seelen als du, aus der
ganzen Orangerie der Natur ſo viel ſuͤße Saͤfte
und Duͤfte ſoͤgen als du aus dem zackigen gruͤnen
Blatte, an das dich das Schickſal gehangen: ſo
wuͤrden nicht Blaͤtter ſondern Gaͤrten genoſſen und
die beſſern und doch gluͤcklichern Seelen wunderten
ſich nicht mehr, daß es vergnuͤgte Meiſterlein
geben kann.
Wuz ſagte und bog den Kopf gegen das Repo¬
ſitorium hin, „wenn ich mich an meinen ernſthaf¬
ten Werken matt geleſen und korrigiert; ſo ſchau
ich ſtundenlang dieſe Schnurpfeifereien an und das
wird hoffentlich einem Buͤcherſchreiber keine Schan¬
de ſeyn.“
Ich wuͤſt' aber nicht, womit der Welt mehr
gedient iſt als wenn ich ihr den raͤſonnierenden Ka¬
talog dieſer Kunſtſtuͤcke und Schnurpfeifereien zu¬
wende, den mir der Patient zuwandte. Den zin¬
nenen Ring hatt' ihm die vierjaͤhrige Mamſell des
vorigen Paſtors, da ſie miteinander von einem
[435] Spielkameraden ehrlich und ordentlich kopuliert
wurden, als Ehepfand angeſteckt — das elende
Zinn loͤthete ihn feſter an ſie als edlere Metalle
edlere Leute und ihre Ehe brachten ſie auf vier und
funfzig Minuten: oft wenn er nachher als ge¬
ſchwaͤrzter Alumnus ſie mit nickenden Federn-Stan¬
darten am duͤnnen Arme eines geſprenkelten Ele¬
gant ſpatzieren gehen ſah, dacht er an den Ring
und an die alte Zeit. Ueberhaupt hab' ich bisher
mir unnuͤtze Muͤhe gegeben es zu verſtecken daß er
in alles ſich verliebte was wie eine Frau ausſah;
alle Froͤhliche ſeiner Art thun daſſelbe: vielleicht
koͤnnen ſie es, weil ihre Liebe ſich zwiſchen den
beiden Extremen von Liebe aufhaͤlt und beiden ab¬
borgt, ſo wie der Buſen der Uebergang, das
Band und der Kreole der platoniſchen und der epi¬
kuriſchen Reize iſt. — Da er ſeinem Vater die
Thurmuhr aufziehen half wie vor Zeiten die Kron¬
prinzen mit den Vaͤtern in die Seſſionen giengen:
ſo konnte ſo eine kleine Sache ihm einen Wink ge¬
ben, ein lakiertes Kaͤſtgen zu durchloͤchern und ei¬
ne Wanduhr daraus zu ſchnitzen, die niemals
gieng; inzwiſchen hatte ſie doch wie mehrere
Staatskoͤrper ihre langen Gewichte und ihre einge¬
E e 2[436] zackten Raͤder, die man dem Geſtelle nuͤrnbergi¬
ſcher Pferde abgehoben und ſo zu etwas beſſerem
verbraucht hatte. — Die gruͤne Kinderhaube mit
Spitzen geraͤndert, das einzige Ueberbleibſel ſeines
vorigen vierjaͤhrigen Kopfes, war ſeine Buͤſte und
ſein Gipsabdruck vom kleinen Wuz, der jezt zu ei¬
nem großen ausgefahren war: Altags-Kleider ſtel¬
len das Bild eines todten Menſchen weit inniger
dar als ſein Portrait — daher beſah Wuz das
Gruͤn mit ſehnſuͤchtiger Wolluſt und es war ihm als
ſchimmere aus dem Eis des Alters eine gruͤne Ra¬
ſenſtelle der laͤngſt uͤberſchneieten Kindheit vor;
„nur meinen Unterrock von Flanel ſollt' ich gar ha¬
ben, der mir allemal unter den Achſeln umgebun¬
den wurde.” — Mir iſt ſo wohl das erſte Schreib¬
buch des Koͤnigs von Preußen als das des Schul¬
meiſters Wuz bekannt und da ich beide in Haͤnden
gehabt: ſo kann ich urtheilen, daß der Koͤnig als
Mann und das Meiſterlein als Kind ſchlechter ge¬
ſchrieben: „Mutter, ſagt' er zu ſeiner Frau, be¬
tracht' doch wie dein Mann hier (im Schreibbuch)
und wie er dort (in ſeinem kallygraphiſchen Mei¬
ſterſtuͤck von einem Lehnbrief, den er an die Wand
genagelt) geſchrieben: ich freſſ' mich aber noch vor
[437] Liebe, Mutter!“ Er prahlte vor niemand als vor
ſeiner Frau; und ich ſchaͤtze den Vortheil ſo hoch
als er werth iſt, den die Ehe hat, daß der Ehe¬
mann durch ſie noch ein zweites Ich bekoͤmmt, vor
dem er ſich ohne Bedenken recht herzlich loben
kann. Wahrhaftig das deutſche Publikum ſollte ein
zweites Ich von uns Autoren abgeben! — Die
Schachtel war ein Buͤcherſchrank der lilliputiſchen
Traktaͤtgen in Fingerkalender-Format, die er in
ſeiner Kindheit dadurch edierte, daß er einen Vers
aus der Bibel abſchrieb, es heftete und bloß ſag¬
te: „abermals einen recht huͤbſchen Kober*) ge¬
macht!“ andre Autores thun das auch, aber erſt
wenn ſie herangewachſen ſind. Als er mir ſeine
jugendliche Autorſchaft referierte: bemerkt' er:
„als ein Kind iſt man ein wahrer Narr; es ſtach
aber doch ſchon damals der Autortrieb heraus, nur
freilich noch in einer unreifen und laͤcherlichen Ge¬
ſtalt” und belaͤchelte zufrieden die jezige. — Und
ſo giengs mit dem Finkenkloben auch: war nicht
der fingerslange Finkenkloben, den er mit Vier
[438] beſtrich und auf dem er die Fliegen an den Bei¬
nen fieng, der Vorlaͤufer des armslangen Finken¬
kloben, hinter dem er im Spaͤtherbſt ſeine ſchoͤn¬
ſten Stunden zubrachte wie auf ihm die Finken ih¬
re haͤßlichſten? das Vogelſtellen will durchaus ein
in ſich ſelbſt vergnuͤgtes ſtilles Ding von Seele
haben.
Es iſt leicht begreiflich, daß ſeine groͤſte Kran¬
kenlabung ein alter Kalender war und die abſcheu¬
lichen 12 Monatskupfer deſſelben. In jedem Mo¬
nat des Jahrs machte er ſich, ohne vor einem
Gallerieinſpektor den Hut abzunehmen oder an ein
Bilderkabinet zu klopfen, mehr maleriſche und ar¬
tiſtiſche Luſt als andre Deutſche, die abnehmen und
anklopfen. Er durchwanderte naͤmlich die 11 Mo¬
nats-Vignetten — die des Monats, worin er wan¬
derte, ließ er weg — und phantaſierte in die
Holzſchnitt-Szenen alles hinein was er und ſie
brauchten. Es muſte ihn freilich in geſunden und
kranken Tagen letzen, wenn er im Jenner-Win¬
terſtuͤck auf dem abgeruften ſchwarzen Baum her¬
umſtieg und ſich (mit der Phantaſie) unter den an
der Erde aufdruͤckenden Wolkenhimmel ſtellte, der
uͤber den Winterſchlaf der Wieſen und Felder wie
[439] ein Betthimmel ſich heruͤberkruͤmmte — der ganze
Junius zog ſich mit ſeinen langen Tagen und lan¬
gen Graͤſern um ihn herum, wenn er ſeine Ein¬
bildung den Junius-Landſchafts Holzſchnitt aus¬
bruͤten ließ auf dem kleine Kreuzgen, die nichts
als Voͤgel ſeyn ſollten, durch das graue Druckpa¬
pier flogen und auf dem der Holzſchneider das fet¬
te Laubwerk zu Blaͤtterſkeletten mazerierte. Allein
wer Phantaſie hat, macht ſich aus jedem Fetzen
eine wunderthaͤtige Reliquie, aus jedem Eſelskinn¬
backen eine Quelle; die fuͤnf Sinne reichen ihr nur
die Kartons, nur die Grundſtriche des Vergnuͤ¬
gens oder Mißvergnuͤgens.
Den Mai uͤberblaͤtterte der Patient, weil der
ohnehin um das Haus draußen ſtand. Die Kirſch¬
bluͤthen, womit der Wonnemond ſein gruͤnes Haar
beſteckt, die Maibluͤmgen, die als Vorſteckroſen
uͤber ſeinem Buſen duften, beroch er nicht — der
Geruch war weg, — aber er beſah ſie und hatte
einige in einer Schuͤſſel neben ſeinem Krankenbette.
Ich habe meine Abſicht klug erreicht, mich und
meine Zuhoͤrer fuͤnf oder ſechs Seiten von der tran¬
rigen Minute wegzufuͤhren, in der vor unſer al¬
ler Augen der Tod vor das Bett unſers kranken
[440] Freundes tritt und langſam mit eiskalten Haͤn¬
den in ſeine warme Bruſt hinein dringt und
das vergnuͤgt ſchlagende Herz erſchreckt, faͤngt und
auf immer anhaͤlt. Aber endlich koͤmmt die Mi¬
nute und ihr Begleiter doch.
Ich blieb den ganzen Tag und ſagte abends,
ich koͤnnte zu Nachts wachen. Sein lebhaftes Ge¬
hirn und ſein zuckendes Geſicht hatten mich feſt
uͤberzeugt, in der Nacht wuͤrde der Schlag ſich
wiederholen; es geſchah aber nicht; welches mir
und dem Schulmeiſterlein ein weſentlicher Gefallen
war. Denn es hatte mir geſagt — auch in ſei¬
nem letzten Traktaͤtgen ſtehts — nichts waͤre ſchoͤ¬
ner und leichter als an einem heitern Tage zu ſter¬
ben, die Seele ſaͤhe durch die geſchloſſenen Augen
die hohe Sonne noch und ſie ſtiege aus dem ver¬
trockneten Leib in das weite blaue Lichtmeer drauſ¬
ſen; hingegen in einer finſtern bruͤllenden Nacht
aus dem warmen Leibe zu muͤſſen, den langen
Fall ins Grab ſo einſam zu thun, wenn die gan¬
ze Natur ſelber da ſaͤße und die Augen ſterbend zu¬
haͤtte — das waͤre ein zu harter Tod.
Um 11½ Uhr Nachts kamen Wuzens zwei be¬
ſten Jugendfreunde noch einmal vor ſein
[441] Bette, der Schlaf und der Traum, um von ihm
gleichſam Abſchied zu nehmen. Oder bleibt ihr laͤn¬
ger und ſeid, ihr zwei Menſchenfreunde es vielleicht,
die ihr den ermordeten Menſchen aus den blutigen
Haͤnden des Todes holet und auf eueren wiegenden
Armen durch die kalten unterirdiſchen Hoͤlungen
muͤtterlich traget ins helle Land hin, wo ihn eine
neue Morgenſonne und neue Morgenblumen in wa¬
ches Leben hauchen? —
Ich war allein in der Stube — ich hoͤrte nichts
als den Athemzug des Kranken und den Schlag mei¬
ner Uhr, die ſein kurzes Leben weg maß — der gel¬
be Vollmond hieng tief und groß in Suͤden und be¬
reifte mit ſeinem Todtenlichte die Maibluͤmgen des
Mannes und die ſtockende Wanduhr und die gruͤne
Haube des Kindes — der leiſe Kirſchbaum vor dem
Fenſter malte auf dem Grund von Mondslicht aus
Schatten einen bebenden Baumſchlag in die Stube
— am ſtillen Himmel wurde zuweilen eine fackelnde
Sternſchnuppe niedergeworfen und ſie vergieng wie
ein Menſch — es fiel mir bei, die naͤmliche Stube,
die jezt der ſchwarz ausgeſchlagne Vorſaal des Gra¬
bes war, wurde morgen vor 43 Jahren am 13. Mai
vom Kranken bezogen — und an dieſem Tage gien¬
[442] gen ſeine elyſaͤiſchen Achtwochen an — ich ſah daß
der, dem damals dieſer Kirſchbaum Wohlgeruch
und Traͤume gab, dort im druͤckenden Traume ge¬
ruchloß liege und vielleicht noch heute aus dieſer Stu¬
be ausziehe und daß alles, alles voruͤber ſei und nie¬
mals wieder komme . . . . und in dieſer Minute
fieng Wuz mit dem ungelaͤhmten Arme nach etwas
als wollt' er einen entfallenden Himmel erfaſſen —
— und in dieſer zitternden Minute kniſterte der Mo¬
natszeiger meiner Uhr und fuhr, weils 12 Uhr war,
vom 12ten Mai zum 13ten uͤber. . . . Der Tod
ſchien mir meine Uhr zu ſtellen, ich hoͤrte ihn den
Menſchen und ſeine Freuden kaͤuen, und die Welt
und die Zeit ſchien in einem Strom von Moder ſich
in den Abgrund hinab zu broͤckeln! . . .
Ich denke an dieſe bebende Minute bei jedem
mitternaͤchtlichen Ueberſpringen meines Monatszei¬
gers; aber ſie trete nie mehr unter die kurze Reihe
meiner uͤbrigen Minuten.
Der Sterbende — er wird kaum dieſen Namen
lange mehr haben — ſchlug zwei lodernde Augen auf
und ſah mich lange an, um mich zu kennen. Ihm
hatte getraͤumt, er ſchwankte als ein Kind ſich auf
einem Lilienbeete, das unter ihm aufgewallet — die¬
[443] ſes waͤre zu einer emporgehobnen Roſen-Wolke zu¬
ſammen gefloſſen, die mit ihm durch goldne Morgen¬
roͤthen und uͤber rauchende Blumenfelder weggezogen
waͤre — die Sonne haͤtte mit einem weißen Maͤd¬
gen-Angeſicht ihn angelaͤchelt und angeleuchtet und
waͤre endlich in Geſtalt eines von Strahlen umflog
nen Maͤdgens ſeiner Wolke zugeſunken und er haͤtte
ſich geaͤngſtigt, daß er den linken gelaͤhmten Arm
nicht um und an ſie bringen koͤnnen — — daruͤber
wurd' er wach aus ſeinem letzten oder vielmehr vor¬
letzten Traum: denn auf den langen Traum des Le¬
bens ſind die kleinen bunten Traͤume der Nacht wie
Phantaſieblumen geſtickt und gezeichnet.
Der Lebens-Strom nach ſeinem Kopfe wurde
immer ſchneller und breiter: er glaubte immer wie¬
der, verjuͤngt zu ſeyn; den Mond hielt er fuͤr die be¬
woͤlkte Sonne; es kam ihm vor, er ſei ein fliegender
Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotter¬
blumen-Kette aufgehangen, im unendlichen Bogen
auf- und niederwogend, von der vierjaͤhrigen Ring¬
geberin uͤber Abgruͤnde zur Sonne aufgeſchaukelt. . .
Gegen vier Uhr morgens konnte er uns nicht mehr
ſehen, ob gleich die Morgenroͤthe ſchon in der Stube
war — die Augen blickten verſteinert vor ſich hin
[444] — eine Geſichtszuckung kam auf die andre — den
Mund zog eine Entzuͤckung immer laͤchelnder aus ein¬
ander — Fruͤhlings-Phantaſien, die weder dieſes
Leben erfahren noch jenes haben wird, ſpielten mit
der ſinkenden Seele — endlich ſtuͤrzt der Todesengel
den blaßen Leichenſchleier auf ſein Angeſicht und hob
hinter ihm die bluͤhende Seele mit ihren tiefſten
Wurzeln aus dem koͤrperlichen Treibkaſten voll orga¬
niſirter Erde. . . . . Das Sterben iſt erhaben;
hinter ſchwarzen Vorhaͤngen thut der einſame Tod
das ſtille Wunder und arbeitet fuͤr die andre Welt
und die Sterblichen ſtehen da mit naſſen, aber
ſtumpfen Augen neben der uͤberirdiſchen Szene . . .
„Du guter Vater, ſagte ſeine Wittwe, wenn
dirs jemand vor 43 Jahren haͤtte ſagen ſollen, daß
man dich am 13. Mai, wo deine Achtwochen an¬
giengen, hinaustragen wuͤrde“ — „Seine Acht¬
wochen, ſagt' ich, gehen wieder an und waͤhren
laͤnger.“
Da ich um 11 Uhr fortgieng: war mir die
Erde gleichſam heilig und Todte ſchienen mir neben
mir zu gehen; ich ſah auf zum Himmel als koͤnnt'
ich im endloſen Aether nur in Einer Richtung den
Geſtorbnen ſuchen; und da ich oben auf dem Ber¬
[445] ge, wo man nach Auenthal hinein ſchauet, mich
noch einmal nach dem Leidenstheater umſah und da
ich unter den rauchenden Haͤuſern bloß das Trau¬
erhaus unbewoͤlket da ſtehen und den Todtengraͤ¬
ber oben auf dem Gottesacker das Grab aushauen
ſah, und da ich das Leichenlaͤuten ſeinetwegen hoͤr¬
te und daran dachte, wie die Wittwe im ſtum¬
men Kirchthurm mit rinnenden Augen das Seil
unten reiße: ſo fuͤhlt' ich unſer aller Nichts und
ſchwur, ein ſo unbedeutendes Leben zu verachten,
zu verdienen und zu genießen. —
Wohl dir, lieber Wuz, daß ich — wenn ich
nach Auenthal gehe und dein verraſetes Grab aus¬
ſuche und mich daruͤber kuͤmmere, daß die in dein
Grab beerdigte Puppe des Nachtſchmetterlings mit
Fluͤgeln daraus kriecht, daß dein Grab ein Luſtla¬
ger bohrender Regenwuͤrmer, ruͤckender Schnecken,
wirbelnder Ameiſen und nagender Raͤupgen iſt, in¬
deß du tief unter allen dieſen mit unverruͤcktem
Haupte auf deinen Hobelſpaͤhnen liegſt und indeß
keine liebkoſende Sonne durch deine Bretter und
deine mit Leinwand zugeleimten Augen bricht —
wohl dir, daß ich dann ſagen kann: „da er noch
[446] das Leben hatte, genoß ers froͤhlicher wie wir
alle.”
Es iſt genug, meine Freunde — es iſt 12 Uhr,
der Monatszeiger ſprang auf einen neuen Tag und
erinnerte uns an den doppelten Schlaf, an den
Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen
Nacht. . . .
[447]
Auslaͤuten oder Sieben letzte Worte an die Le¬
ſer der Biographie und der Idylle.
Am 21. Junius oder längſten Tage.
Heute wird alſo meine kleine Rolle, wenigſtens
fuͤr den erſten Auftritt, aus; ſobald ich die ſie¬
ben Worte gar geſchrieben habe: ſo gehen ich und
die Leſer aus einander. Aber ich trete trauriger
weg als ſie. Ein Menſch, der den Weg zu einem
weiten Ziel vollendet hat, wendet ſich an dieſem
um und ſieht mit einem Seufzer und unbefriedigt
und voll neuer Wuͤnſche uͤber die zuruͤcklaufende
Straße hin, die ſeine ſchmalen Stunden wegmaß
und die er wie eine Medea mit Gliedern ſeines Le¬
bens uͤberſtreuete. Eh' es heute Nacht wurde,
hab' ich alle die Papierſpaͤhne, die von dieſem Bu¬
che fielen, eingeſargt, aber nicht, wie andre Au¬
tores, eingeaͤſchert — ich habe zugleich alle Briefe
der Freunde, die mir keine neue mehr ſchreiben
koͤnnen, als Akten der in der Erden-Inſtanz
geſchloſſenen Prozeſſe inrotulirt und hingelegt. —
So etwas ſollte der Menſch ſtets deponiren und alle
[448] Freudenblumen aufkleben, trotz ihrer Vertrocknung,
in einem Herbario: nicht einmal ſeine alten Fracks,
Pikeſchen und Bratenroͤcke (die uͤbrigen Kleidungs¬
ſtuͤcke karakteriſiren wenig) ſollte er verſchenken oder
verſteigern, ſondern hinhenken ſollt' er ſie als Huͤl¬
ſen ſeiner ausgekernten Stunden, als Puppenge¬
haͤuſe der ausgeflognen Freuden, als Gewandfall
oder todte Hand, die der Erinnerung heimfaͤllt von
den geſtorbenen Jahren . . . .
— — Sobald ich heute am Tage, der ſo lang
war als dieſes Buch, mit dieſer Leichenbeſtattung
fertig war: ſo gieng ich in die Nacht heraus, die
ſo kurz iſt wie die des Lebens . . . und hier ſteh' ich
unter dem Himmel und fuͤhl' es wieder wie alle¬
mal, daß jede uͤberſtiegne Treppe hienieden ſich
zur Staffel einer hoͤhern verkuͤrzt und daß jeder er¬
[kletterte] Thron zum Fußſchemmel eines neuen ein¬
ſchrumpft. — Die Menſchen bewohnen und bewe¬
gen das große Tretrad des Schickſals und glauben
darin, ſie ſteigen, wenn ſie gehen. . . . War¬
um will ich ſchon wieder ein neues Buch ſchreiben
und in dieſem die Ruhe erwarten, die ich im al¬
ten nicht fand? — — Ein buſchigter Felſen, der
ſich uͤber einen Steinbruch buͤckt, haͤlt mich hier
mit[449] mit meiner Schreibtafel, in der ich dieſes Buch
zu Ende fuͤhren will, in der Nacht des Junius
empor, den die Maler wie den Tod mit einer
Senſe malen. — — Es iſt uͤber 11 Uhr; auf dem
erloſchnen blauen Himmels-Ozean uͤber mir glimmt
nur hier und da ein zitterndes Puͤnktchen — der
Arkturus wirft aus Weſten ſeine kleinen Blitze auf
ſeine Erden und auf meine, der große Baͤr blinkt
aus Norden, und die Andromeda aus Oſten —
der breite Mond liegt unter der Erde neben dem
Mittage der neuen Welt — aber die eingeſunkne
Abendroͤthe (dieſer bunte Sonnen-Schatte) beugt
den Tagsſchimmer der neuen Welt gemildert in die
alte herein und wirft ihn uͤber zehn uͤberlaubte
Doͤrfer um mich und uͤber den ſchwarzen allein fort
redenden Strom, dieſe lange Waſſeruhr der Zeit,
die damit ein Jahrtauſend ums andre miſſet. — —
So jaͤmmerlich iſt der enge Menſch; wenn er
ein Buch hinaus hat: ſo blickt er zu allen entleg¬
nen Sonnen auf, ob ſie ihm nicht zuſehen — be¬
ſcheidner waͤre es, er daͤchte, er werde bloß von
Europa und deſſen indiſchen Beſitzungen bemerkt.
— — Ich wuͤnſche nicht, daß mich hier ein Che¬
rub, ein Seraph oder nur ein Berggeiſt mit
2. Theil. F f[450] meiner Schreibtafel und meinen Narrheiten gewahr
werde. Mich ſehe lieber ein Menſch ſtehen und
ſchreiben: der wird mild ſeyn und von ſeinem eig¬
nen Herzen lernen, die Schwaͤchen eines fremden
tragen; der gebrechliche Menſch wird es fuͤhlen und
vergeben, daß jeder das Neſt, worin er ſitzt und
quiekt und welches das einzige iſt, woruͤber er mit
Schnabel und H. hinausſticht, fuͤr den Fokus des
Univerſums haͤlt, fuͤr eine Frontloge und Rotun¬
da, die ſaͤmtlichen Neſter aber auf den andern Baͤumen
fuͤr die Wirthſchaftsgebaͤude ſeines Fokalneſtes: . . .
O ihr guten Menſchen! warum iſt es moͤglich, daß
wir uns unter einander auch nur eine halbe Stun¬
de kraͤnken? — Ach in dieſer gefaͤhrlichen Dezem¬
ber-Nacht dieſes Lebens, mitten in dieſem Chaos unbe¬
kannter Weſen, die die Hoͤhe oder Tiefe von uns ent¬
fernt, in dieſer verhuͤlleten Welt, in dieſen beben¬
den Abenden, die ſich um unſer zerſtaͤubendes Erd¬
chen legen, wie iſt es da moͤglich, daß der ver¬
laſſene Menſch nicht die einzige warme Bruſt um¬
ſchlinge, in der ein Herz liegt wie ſeines und zu
der er ſagen kann: „mein Bruder, du biſt wie
ich und leideſt wie ich und wir koͤnnen uns lieben.“
— Unbegreiflicher Menſch! du ſammelſt lieber Dol¬
[451] che auf und treibeſt ſie, mitten in deiner Mitter¬
nacht, in die aͤhnliche Bruſt, womit der gute Him¬
mel deine waͤrmen und beſchirmen wollte! . . . Ach
ich ſchaue uͤber die beſchatteten Blumengruͤnde hin
und ſage mir, daß hier ſechstauſend Jahre mit ih¬
ren ſchoͤnen hohen Menſchen voruͤber gezogen ſind,
die keiner von uns an ſeinen Buſen druͤcken konnte
— daß noch viele Jahrtauſende uͤber dieſe Staͤtte
gehen und daruͤber himmliſche, vielleicht betruͤbte
Menſchen fuͤhren werden, die uns nie begegnen,
ſondern hoͤchſtens unſern Urnen und die wir ſo gern
lieben wuͤrden — und daß bloß ein Paar arme
Jahrzehende uns einige fliehende Geſtalten vorfuͤh¬
ren, die ihr Auge auf uns wenden und in denen
das verſchwiſterte Herz fuͤr uns iſt, nach dem wir
uns ſehnen. — Umfaſſet dieſe eilenden Geſtalten;
aber bloß aus euren Thraͤnen werdet ihr wiſſen,
daß ihr ſeid geliebet worden . . . .
— Und eben dieſes, daß die Hand eines Men¬
ſchen uͤber ſo wenige Jahre hinausreicht und daß
ſie ſo wenige gute Haͤnde faſſen kann, das muß
ihn entſchuldigen, wenn er ein Buch macht: ſeine
Stimme reicht weiter als ſeine Hand, ſein enger
Kreis der Liebe zerflieſſet in weitere Zirkel und
F f 2[452] wenn er ſelber nicht mehr iſt, ſo wehen ſeine nach¬
toͤnende Gedanken in den papiernen Laube noch fort
und ſpielen wie andre zerſtiebende Traͤume, durch
ihr Gefluͤſter und ihren Schatten von manchem fer¬
nen Herzen eine ſchwere Stunde hinweg. — Die¬
ſes iſt auch mein Wunſch, aber nicht meine Hoff¬
nung: wenn es aber eine ſchoͤne weiche Seele giebt,
die ſo voll ihres Innern, ihrer Erinnerung und
ihrer Phantaſien iſt, daß ſie ſogar bei meinen
ſchwachen uͤberſchwillt — wenn ſie ſich und ein vol¬
les Auge, das ſie nicht bezwingen kann, mit die¬
ſer Geſchichte verbirgt, weil ſie darin ihre eigne
— ihre verſchwundnen Freunde — ihre voruͤberge¬
zognen Tage — und ihre verſiegten Thraͤnen wie¬
der findet: o dann, geliebte Seele, hab' ich an
dich darin gedacht ob ich dich gleich nicht kannte
und ich bin dein Freund wiewol nicht dein Bekann¬
ter geweſen. Noch beſſere Menſchen werden dir
beides ſeyn, wenn du den Schlimmern verbirgſt,
was du jenen zeigſt, wenn das Goͤttliche in dir,
gleich Gott, in einer hohen Unſichtbarkeit bleibet,
und wenn du ſogar deine Thraͤnen verſchleierſt —
weil harte Haͤnde ſich ausſtrecken, die gern ſie mit
dem Auge zerdruͤcken, wie man nach dem Regen
[453] alle gruͤnen Spitzen des engliſchen Gartens nieder¬
ſchleift, damit ſie nicht weiter keimen . . . .
— Der helle Stern oder Thautropfe in der Aeh¬
re der Jungfrau faͤllt jetzt unter den Horizont —
Ich ſtehe noch hier auf meiner blumigten Erde und
denke: noch traͤgſt du auf deinen Blumen, alte
gute Erde, deine Menſchenkinder an die Sonne
wie die Mutter den Saͤugling ans Licht — noch biſt du
ganz von deinen Kindern umſchlungen, behangen,
bedeckt und, indeß Gefluͤgel auf deinen Schultern
flattert, Thiermaſſen um deine Fuͤße ſchreiten, ge¬
fluͤgelte Gold-Punkte um deine Locken ſchweben,
fuͤhreſt du das aufgerichtete hohe Menſchengeſchlecht
an deiner Hand durch den Himmel, zeigeſt uns al¬
len deine Morgenroͤthen, deine Blumen und das
ganze lichtervolle Haus des unendlichen Vaters und
erzaͤhleſt deinen Kindern von ihm, die ihn noch
nicht geſehen haben. — — Aber gute Mutter Er¬
de, es wird ein Jahrtauſend aufgehen, wo alle
deine Kinder dir werden geſtorben ſeyn, wo der
feurige Sonnen-Strudel dich in zu nahe verzehren¬
de Kreiſe an ſich wird gewirbelt haben: dann wirſt
du verwaiſet, mit Stummen im Schoos, mit To¬
desaſche beſtreuet, oͤde und ſtumm um deine Son¬
[454] ne ziehen, es wird das Morgenroth kommen, es
wird der Abendſtern ſchimmern, aber die Menſchen
alle werden tief ſchlafen auf deinen vier Welt-Ar¬
men und nichts mehr ſehen . . . . Alle — werden
es? — Ach dann lege eine hoͤhere troͤſtende Hand
unſerem Mitbruder, der zuletzt entſchlaͤft, den
letzten Schleier ohne Zoͤgern uͤber das einſame
Auge . . . .
. . . . Das Abendroth ſchimmert ſchon in Nor¬
den — auch in meiner Seele iſt die Sonne hinun¬
ter und am Rande zucket rothes Licht und mein
Ich wird finſter — die Welt vor mir liegt in einem
feſten Schlafe und hoͤrt und redet nicht — es ſe¬
tzet ſich in mir zuſammen eine bleiche Welt aus
Todtengebeinen — die alten Stunden ſtaͤuben ſich
ab — es brauſet wie wenn an den Graͤnzen der Erde ei¬
ne Vernichtung anfienge und ich heruͤberhoͤrte das Zer¬
brechen einer Sonne — der Strom ſtockt und alles
iſt ſtille — ein ſchwarzer Regenbogen kruͤmmt ſich
aus Gewittern zuſammen uͤber dieſe huͤlfloſe Er¬
de. — —
— — Siehe! es tritt eine Geſtalt unter den
ſchwarzen Bogen, es ſchreitet uͤber die Junius¬
blumen ungehoͤrt ein unermeßliches Skelet und geht
[455] zu meinem Berge heran — es verſchlingt Sonnen,
erquetſcht Erden, tritt einen Mond aus und ragt
hoch hinein in das Nichts — das hohe weiſſe Ge¬
bein durchſchneidet die Nacht, haͤlt zwei Men¬
ſchen an den Haͤnden, blickt mich an und ſagt:
„ich bin der Tod — ich habe an jeder Hand einen
„Freund von dir, aber ſie ſind unkenntlich.“
Mein Mund lag auf die Erde geſtuͤrzt, mein
Herz ſchwamm im Gift des Todes — aber ich hoͤrt'
ihn noch ſterbend reden.
„Ich toͤdte dich jetzt auch, du haſt meinen Na¬
„men oft genennt und ich habe dich gehoͤrt — ich
„habe ſchon eine Ewigkeit zerbroͤckelt und greife in
„alle Welten hinein und erdruͤcke; ich ſteige aus
„den Sonnen in euren dumpfen, finſtern Winkel
„nieder, wo der Menſchen-Salpeter anſchießet
„und ſtreich' ihn ab. . . . Lebſt du noch Sterbli¬
„cher?“. . . .
Da zergieng mein verblutetes Herz in eine
Thraͤne uͤber die Qualen des Menſchen — ich rich¬
tete mich gebrochen auf und ſchauete nicht auf dies
Skelet und auf das was es fuͤhrte — ich blickte auf
zu dem Sirius und rief mit der letzten Angſt: ver¬
huͤllter Vater, laͤſſeſt du mich vernichten? ſind
[456]dieſe auch vernichtet? endigt das gequaͤlte Leben
in eine Zerſchmetterung? ach konnten die Herzen,
die zertruͤmmert werden, dich nur ſo kurz lie¬
ben?“
Siehe! da entfiel droben dem nachtblauen
Himmel ein heller Tropfen ſo groß wie eine Thraͤ¬
ne und ſank wachſend neben einer Welt nach der
andern vorbei — als er groß, und mit tauſend
Farbenblitzen durch den ſchwarzen Bogen drang:
ſo gruͤnte und bluͤhte dieſer wie ein Regenbogen
und unter ihm waren keine Geſtalten mehr — und
als der Tropfen groß-glimmend wie eine Sonne
auf fuͤnf Blumen lag: ſo uͤberfloß ein irrendes Feuer
die gruͤne Flaͤche und erhellete einen ſchwarzen Flor,
der ungeſehen die Erde umfaſſet hatte — der Flor zog
ſich ſchwellend auf zu einem unendlichen Zelte und
riß von der Welt ab und fiel zu einem Leichen¬
ſchleier zuſammen und blieb in einem Grabe — da
war die Erde ein tagender Himmel, aus den Ster¬
nen ſtaͤubte ein warmer Regen von lichten Puͤnktgen
nieder, am Horizont ſtanden weiſſe Saͤulen auf¬
gepflanzt — von Weſten her walleten kleine Wolken
heruͤber, perlen-hell, gruͤnlich-ſpielend, roth-gluͤ¬
hend und auf jeder Wolke ſchlief ein Juͤngling und
[457] ſein Athem-Zephyr ſpielte mit dem rinnenden Duf¬
te wie mit weichen Bluͤthen und wiegte ſeine Wol¬
ke — die Wogen eines lauen Abendwindes ſpuͤhlten
an die Wolken an und fuͤhrten ſie — und als eine
Welle in meinen Athem floß, ſo wollt' in ihr mei¬
ne Seele dahin gegeben in ewige Ruhe auseinan¬
der rinnen — weit gegen Weſten erſchuͤtterte eine
dunkle Kugel ſich unter einem Gewitterguß und
Sturm — von Oſten her war auf meinen Boden ein
Zodiakallicht wie ein Schatten hingeworfen. . . .
Ich wandte mich nach Oſten und ein ruhig¬
großer, in Tugend ſeliger, wie ein Mond aufge¬
hender Engel laͤchelte mich an und fragte: „kennſt
du mich? — Ich bin der Engel des Friedens und
der Ruhe und in deinem Sterben wirſt du mich
wieder ſehen. Ich liebe und troͤſte euch Menſchen
und bin bei eurem großen Kummer — wenn er
zu groß wird, wenn ihr euch auf dem harten Le¬
ben wundgelegen: ſo nehm' ich die Seele mit ih¬
ren Wunden an mein Herz und trage ſie aus eu¬
rer Kugel, die dort in Weſten kaͤmpft, und lege
ſie ſchlummernd auf die weiche Wolke des Todes
nieder.“
[458]
Ach! ich kenne einige ſchlafende Geſtalten auf
dieſen Wolken! . . .
„Alle dieſe Wolken ziehen mit ihren Schlaͤfern
nach Morgen — und ſobald der große gute Gott
aufgeht in der Geſtalt der Sonne: ſo wachen ſie
alle auf und leben und jauchzen ewig.“
O ſiehe! die Wolken gen Oſten gluͤhen hoͤher
und draͤngen ſich in Ein Glut-Meer zuſammen —
die ſteigende Sonne nahet ſich — alle Schlummern¬
den laͤchelen lebendiger aus dem ſeeligen Traum
dem Wachen entgegen —
O ihr ewig geliebten kenntlichen Geſtalten!
wenn ich in eure großen himmelstrunknen Augen
wieder werde ſchauen koͤnnen . . . –
Ein Sonnenblitz ſchlug empor — Gott ruhte
flammend vor der zweiten Welt — alle geſchloſſene
Augen fuhren auf. — —
Ach! auch meine: bloß die Erdenſonne gieng
auf — ich klebte noch auf der ſtreitenden Abend-
Kugel — die kuͤrzeſte Nacht war uͤber meinen
Schlummer voruͤbergeeilet als waͤre ſie die letzte
des Lebens geweſen.
Es ſei! aber heute richtet ſich mein Geiſt auf
mit ſeinen irdiſchen Kraͤften — ich erhebe meine
[459] Augen in die unendliche Welt uͤber dieſem Leben —
mein an ein reineres Vaterland geknuͤpftes Erden¬
herz ſchlaͤgt gegen deinen Sternenhimmel empor,
Unendlicher, gegen das Sternenbild deiner
graͤnzenloſen Geſtalt, und ich werde groß und ewig
durch deine Stimme in meinem edelſten Innern:
du wirſt nie vergehen. — —
Und ſo wer mit mir ſich einer Stunde erin¬
nert, wo ihm der Engel des Friedens erſchien und
ihm theuere Seelen aus der irdiſchen Umarmung
zog, ach wer ſich einer erinnert, wo er zu viel
verlohr — der bezwinge das Sehnen und ſehe mit
mir feſt zu den Wolken auf und ſage: ruhet im¬
merhin auf eurem Gewoͤlke aus, ihr entruͤckten
Geliebten! Ihr zaͤhlt die Jahrhundere nicht, die
zwiſchen eurem Abend und eurem Morgen ver¬
fließen, kein Stein liegt mehr auf eurem bedeckten
Herzen als der Leichenſtein und dieſer druͤcket nicht,
und euer Ruhen ſtoͤhret nicht einmal ein Gedan¬
ke an uns. . . .
Tief im Menſchen ruht etwas unbezwingliches,
das der Schmerz nur betaͤubt, nicht beſiegt — dar¬
um dauert er ein Leben aus, wo der beſte nur Laub
traͤgt, darum wacht er faſt die Naͤchte dieſer weſtli¬
[460] chen Kugel hinaus, wo geliebte Menſchen uͤber die
liebende Bruſt in ein weit entlegenes Leben wegzie¬
hen und dem jezigen bloß das Nachtoͤnen der Erin¬
nerung hinterlaſſen, wie durch Islandes ſchwarze
Naͤchte Schwaͤne als Zugvoͤgel mit den Toͤnen von
Violinen fliegen — — du aber, den die zwei ſchlafenden
Geſtalten geliebt und in dem ſie mir ihren und mei¬
nen Freund zuruͤck gelaſſen, du mein mit ewiger
Hochachtung geliebter Chriſtian, bleibe hienieden
bei mir!
Appendix A
Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.
Appendix B Zweiter Theil.
Seite Zeile.
9 7 von unten l. entzuͤndender ſt. entzuͤckter
18 11 l. ſatiriſchen ſt. ſatiriſch
30 2 l. Diſſeminazion ſt. Diſſemation
44 1 von unten l. leiblichen ſt. geiſtlichen
58 5 l. fourniert ſt. founiert
79 2 l. Pointen ſt. Pomten
90 10 l. ſein ſt. ein
125 11 l. Beben ſt. Leben
130 8 von unten l. ſt.Fabrikanten
136 4 von unten ſtreiche ihnen weg
138 6 von unten l. der ſt. die
179 4 l. Bouchieren ſt. Bruchieren
232 2 von unten l. die ſt. das.
237 4 von unten iſt Jahre ausgelaſſen
239 11 l auf ſt. auch
251 3 von unten l. Autodafee ſt. Autorofen
273 8 von unten ſtreiche (der) weg
275 letzte Zeile l. vorausſchreitenden ſt. voraus¬
geſchrittenen
285 2 von unten l. ſchloß ſt. ſchoß
292 8 l. nach ſt. noch
349 5 von unten l. tief ſt. lief
375 7 von unten l. Stationen ſt. Nationen
378 8 von unten l. Panſe ſt. Pauſe
386 10 ſtreich (er) weg
407 4 l. fet ſt. Fett
417 4 l. haben ſt. heben
453 12 l. ſchweifen ſt. ſchweben
459 letzte Zeile l. feſt ſt. faſt
460 9 l. Otto ſt. o
unbiegſamer und dem ähnlich, was von ihr umſchloſſen
wird. — Sonderbar iſts, daß die Eltern ihre Töchter
Dinge mit allem Gefühle ſingen laſſen, die ſie ihnen
nicht erlaubten vorzuleſen.
Mars und die Venus.
verſteckte Kieſel oder Bergkryſtall culasse, und der darauf
blühende Demant pavillon.
tik brauche, hab' ich von drei Nationen — das Nachſpa¬
das Stärken durch eine Hunds-Schlafgenoſſenſchaft räth
ein Franzos (de la Richebaudière) — das Athmen der Luft
in Viehſtätten wird ſchwediſchen Hektikern vorgeſchrieben.
wenn Kopfſchmerzen, Schwindel, Tollheit darin ſind.
Wellengrab des Lebens, hier verſank ꝛc.“ Der An¬
fang heiſſet eigentlich: Traurig ein Wandrer ſaß am Bach,
ſah den fliehenden Wellen nach. Volkslieder.
T. VIII. p. 116 r. —) ſtehen wir ohne Haare, Magen,
Milchgefäße ꝛc. auf. Nach Origenes ſtehen wir auch ohne
Fingernägel und ohne das, was er in dieſem Leben ver¬
lohren auf. Nach Connor. med. mystic. art. 13. kommen
wir mit nicht mehr Materie aus dem Grabe als wir bei
der Geburt oder Zeugung umhatten.
vor, der über dem Waſſer aufrecht erhält und den man,
ſo wie die Fertigkeit oben zu ſchweben, wachſe, beſchnei¬
den könne.
chen, er ſei es; Krebillon jun. machten ſeine Freunde
glücklich weiß, er habe keinen Witz mehr; andern Schrift¬
ſtellern machen ihre Freunde das Gegentheil mit eben ſo
vielem Glücke weiß.
die mit Silber heißt die mit Weiß.
wiſſe beſſere, von der nicht allemal jene, aber wohl alle¬
mal gebildete Güte des Herzens und Kopfes begleitet wird.
nen Spaß verſtehen: ſo merk' ich für dieſe Klaſſe hier un¬
ten an, daß die Sache oben wirklich ſo iſt und daß ich
(als gleich unmäßiger Waſſer- und Kaffeetrinker) kein an¬
dres nervenſtärkendes Mittel gegen intermittierenden Puls
und Athem und andre Schwächen, die mir alle innere
Anſtrengung verbitterten, von ſolcher Wirkung fand als
— braunes Bier.
meſſen.
wilde Thiere um ſich; und dieſe Zuſammentreffungen ga¬
ben — wie die in Retouden — zu noch ſonderbarerern,
und zum Sprichwort „Afrika bringt immer etwas Neues„
oder zu Mißgeburten Gelegenheit.
dem Geſchmack eines jeden ſeyn, der meinen hat.
hindurch bis zu ihren Schätzen hinab, zu ihren Todten,
zu ihren Metallen ꝛc.
thenſtreichen tödtet.
Dukaten am Halſe.
lich oft ein närriſcher) als in zwanzig jezigen ausgelaug¬
ten Predigt-Skarteken.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die unsichtbare Loge. Die unsichtbare Loge. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn03.0