[]
Nachtwachen.


Penig: 1805
beyF. Dienemann und Comp.
[][[1]]

Erſte Nachtwache.


Die Nachtſtunde ſchlug; ich huͤllte mich in
meine abenteuerliche Vermummung, nahm
die Pike und das Horn zur Hand, ging in die
Finſterniß hinaus und rief die Stunde ab,
nachdem ich mich durch ein Kreuz gegen die
boͤſen Geiſter geſchuͤtzt hatte.


Es war eine von jenen unheimlichen Naͤch-
ten, wo Licht und Finſterniß ſchnell und ſelt-
ſam mit einander abwechſelten. Am Himmel
flogen die Wolken, vom Winde getrieben, wie
wunderliche Rieſenbilder voruͤber, und der
Mond erſchien und verſchwand im raſchen
1
[2] Wechſel. Unten in den Straßen herrſchte
Todtenſtille, nur hoch oben in der Luft hauſte
der Sturm, wie ein unſichtbarer Geiſt.


Es war mir ſchon recht, und ich freute
mich uͤber meinen einſam wiederhallenden Fuß-
tritt, denn ich kam mir unter den vielen Schlaͤ-
fern vor wie der Prinz im Maͤhrchen in der
bezauberten Stadt, wo eine boͤſe Macht jedes
lebende Weſen in Stein verwandelt hatte;
oder wie ein einzig Uebriggebliebener nach ei-
ner allgemeinen Peſt oder Suͤndfluth.


Der letzte Vergleich machte mich ſchaudern,
und ich war froh ein einzelnes mattes Laͤmp-
chen noch hoch oben uͤber der Stadt auf ei-
nem freien Dachkaͤmmerchen brennen zu
ſehen.


Ich wußte wohl, wer da ſo hoch in den
Luͤften regierte; es war ein verungluͤckter Poet,
der nur in der Nacht wachte, weil dann ſeine
[3] Glaͤubiger ſchliefen, und die Muſen allein nicht
zu den letzten gehoͤrten.


Ich konnte mich nicht entbrechen folgende
Standrede an ihn zu halten:


„O du, der du da oben dich herumtreibſt,
„ich verſtehe dich wohl, denn ich war einſt
„deinesgleichen! Aber ich habe dieſe Beſchaͤf-
„tigung aufgegeben gegen ein ehrliches Hand-
„werk, das ſeinen Mann ernaͤhrt, und das
„fuͤr denjenigen, der ſie darin aufzufinden
„weiß, doch keinesweges ganz ohne Poeſie iſt.
„Ich bin dir gleichſam wie ein ſatiriſcher
„Stentor in den Weg geſtellt, und unterbreche
„deine Traͤume von Unſterblichkeit, die du da
„oben in der Luft traͤumſt, hier unten auf
„der Erde regelmaͤßig durch die Erinnerung
„an die Zeit und Vergaͤnglichkeit. Nachtwaͤch-
„ter ſind wir zwar beide; ſchade nur daß dir
„deine Nachtwachen in dieſer kalt proſaiſchen
„Zeit nichts einbringen, indeß die meinigen
[4] „doch immer ein Uebriges abwerfen. Als ich
„noch in der Nacht poeſirte, wie du, mußte
„ich hungern, wie du, und ſang tauben Oh-
„ren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber
„man bezahlt mich dafuͤr. O Freund Poet,
„wer jezt leben will, der darf nicht dichten!
„Iſt dir aber das Singen angebohren, und
„kannſt du es durchaus nicht unterlaſſen, nun
„ſo werde Nachtwaͤchter, wie ich, das iſt noch
„der einzige ſolide Poſten wo es bezahlt wird,
„und man dich nicht dabei verhungern laͤßt.—
„Gute Nacht, Bruder Poet.“


Ich blickte noch einmal hinauf, und ge-
wahrte ſeinen Schatten an der Wand, er war
in einer tragiſchen Stellung begriffen, die eine
Hand in den Haaren, die andre hielt das
Blatt, von dem er wahrſcheinlich ſeine Un-
ſterblichkeit ſich vorrezitirte.


Ich ſtieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit
zu, und ging meiner Wege.—


[5]

Halt! dort wacht ein Kranker — auch in
Traͤumen, wie der Poet, in wahren Fieber-
traͤumen!


Der Mann war ein Freigeiſt von jeher,
und er haͤlt ſich ſtark in ſeiner letzten Stunde,
wie Voltaire. Da ſehe ich ihn durch den Ein-
ſchnitt im Fenſterladen; er ſchaut blaß und ru-
hig in das leere Nichts, wohin er nach einer
Stunde einzugehen gedenkt, um den traum-
loſen Schlaf auf immer zu ſchlafen. Die Ro-
ſen des Lebens ſind von ſeinen Wangen abge-
fallen, aber ſie bluͤhen rund um ihn auf den
Geſichtern dreier holder Knaben. Der juͤngſte
droht ihm kindlich unwiſſend in das blaſſe
ſtarre Antlitz, weil es nicht mehr laͤcheln will,
wie ſonſt. Die andern beiden ſtehen ernſt be-
trachtend, ſie koͤnnen ſich den Tod noch nicht
denken in ihrem friſchen Leben.


Das junge Weib dagegen mit aufgeloͤßtem
Haar und offner ſchoͤner Bruſt, blickt verzwei-
[6] felnd in die ſchwarze Gruft, und wiſcht nur
dann und wann den Schweiß, wie mechaniſch
von der kalten Stirn des Sterbenden.


Neben ihm ſteht, gluͤhend vor Zorn, der
Pfaff mit aufgehobenem Kruzifixe, den Frei-
geiſt zu bekehren. Seine Rede ſchwillt maͤch-
tig an wie ein Strom, und er mahlt das
Jenſeits in kuͤhnen Bildern; aber nicht das
ſchoͤne Morgenroth des neuen Tages und die
aufbluͤhenden Lauben und Engel, ſondern, wie
ein wilder Hoͤllenbreugel, die Flammen und
Abgruͤnde und die ganze ſchaudervolle Unter-
welt des Dante.


Vergebens! der Kranke bleibt ſtumm und
ſtarr, er ſieht mit einer fuͤrchterlichen Ruhe
ein Blatt nach dem andern abfallen, und fuͤhlt
wie ſich die kalte Eisrinde des Todes hoͤher
und hoͤher zum Herzen hinaufzieht.


Der Nachtwind pfiff mir durch die Haare
und ſchuͤttelte die morſchen Fenſterladen, wie
[7] ein unſichtbarer herannahender Todesgeiſt. Ich
ſchauderte, der Kranke blickte ploͤtzlich kraͤftig
um ſich, als geſundete er raſch durch ein Wun-
der und fuͤhlte neues hoͤheres Leben. Dieſes
ſchnelle leuchtende Auflodern der ſchon verloͤ-
ſchenden Flamme, der ſichere Vorbote des na-
hen Todes, wirft zugleich ein glaͤnzendes Licht
in das vor dem Sterbenden aufgeſtellte Nacht-
ſtuͤck, und leuchtet raſch und auf einen Augen-
blick in die dichteriſche Fruͤhlingswelt des
Glaubens und der Poeſie. Sie iſt die dop-
pelte Beleuchtung in der Corregios Nacht, und
verſchmilzt den irdiſchen und himmliſchen
Strahl zu Einem wunderbaren Glanze.


Der Kranke wieß die hoͤhere Hoffnung feſt
und entſchieden zuruͤck, und fuͤhrte dadurch ei-
nen großen Moment herbei. Der Pfaff don-
nerte ihm zornig in die Seele und mahlte
jezt mit Flammenzuͤgen wie ein Verzweifeln-
der, und bannte den ganzen Tartarus herauf
in die letzte Stunde des Sterbenden. Dieſer
laͤchelte nur und ſchuͤttelte den Kopf.


[8]

Ich war in dieſem Augenblicke ſeiner Fort-
dauer gewiß; denn nur das endliche Weſen
kann den Gedanken der Vernichtung nicht den-
ken, waͤhrend der unſterbliche Geiſt nicht vor
ihr zittert, der ſich, ein freies Weſen, ihr
frei opfern kann, wie ſich die Indiſchen Wei-
ber kuͤhn in die Flammen ſtuͤrzen, und der
Vernichtung weihen.


Ein milder Wahnſinn ſchien bei dieſem An-
blicke den Pfaffen zu ergreifen, und getreu
ſeinem Karakter redete er jezt, indem ihm das
Beſchreiben zu ohnmaͤchtig erſchien, in der
Perſon des Teufels ſelbſt, der ihm am naͤch-
ſten lag. Er druͤckte ſich wie ein Meiſter darin
aus aͤcht teufeliſch im kuͤhnſten Style, und
fern von der ſchwachen Manier des modernen
Teufels.


Dem Kranken wurde es zu arg. Er wen-
dete ſich finſter weg, und blickte die drei Fruͤh-
lingsroſen an, die um ſein Bette bluͤheten.
[9] Da loderte die ganze heiße Liebe zum letzten-
male in ſeinem Herzen auf, und uͤber das
blaſſe Antlitz flog ein leichtes Roth, wie eine
Erinnerung. Er ließ ſich die Knaben reichen,
und kuͤßte ſie mit Anſtrengung, dann legte er
das ſchwere Haupt an die hochwallende Bruſt
des Weibes, ſtieß ein leiſes, Ach! aus, das
mehr Wolluſt als Schmerz ſchien, und entſchlief
liebend im Arm der Liebe.


Der Pfaff ſeiner Teufelsrolle getreu, don-
nerte ihm, der Bemerkung gemaͤß, daß das
Gehoͤr bei Verſtorbenen noch eine laͤngere Zeit
reizbar bleibt, in die Ohren, und verſprach
ihm in ſeinem eigenen Namen feſt und buͤn-
dig, daß der Teufel nicht nur ſeine Seele,
ſondern auch ſeinen Leib abfodern wuͤrde.


Somit ſtuͤrzte er fort, und hinaus auf die
Gaſſe. Ich war verwirrt worden, hielt ihn in
der Taͤuſchung wahrhaft fuͤr den Teufel, und
ſezte ihm, als er an mir voruͤberfahren wollte,
[10] die Pike auf die Bruſt. „Geh zum Teufel!“
ſagte er ſchnaubend, da beſann ich mich und
ſagte: „Verzeiht, Hochwuͤrdiger, ich hielt
euch in einer Art Beſeſſenheit fuͤr ihn ſelbſt,
und ſezte euch deshalb die Pike, als ein
„Gott ſei bei uns!“ aufs Herz. Haltet
mir’s diesmal zu Gute!“


Er ſtuͤrzte fort.


Ach! dort im Zimmer war die Szene lieb-
licher worden. Das ſchoͤne Weib hielt den
blaſſen Geliebten ſtill in ihren Armen, wie
einen Schlummernden; in ſchoͤner Unwiſſen-
heit ahnte ſie den Tod noch nicht, und glaubte,
daß ihn der Schlaf zum neuen Leben ſtaͤrken
werde — ein holder Glaube, der im hoͤhern
Sinne ſie nicht taͤuſchte. Die Kinder knieten
ernſt am Bette, und nur der juͤngſte bemuͤ-
hete ſich den Vater zu wecken, waͤhrend die
Mutter, ihm ſchweigend mit den Augen zu-
winkend, die Hand auf ſein umlocktes Haupt
legte.


[11]

Die Szene war zu ſchoͤn; ich wandte mich
weg, um den Augenblick nicht zu ſchauen, in
dem die Taͤuſchung ſchwaͤnde.


Mit gedaͤmpfter Stimme ſang ich einen
Sterbegeſang unter dem Fenſter, um in dem
noch hoͤrenden Ohre den Feuerruf des Moͤnchs
durch leiſe Toͤne zu verdraͤngen. Den Ster-
benden iſt die Muſik verſchwiſtert, ſie iſt der
erſte ſuͤße Laut vom fernen Jenſeits, und die
Muſe des Geſanges iſt die myſtiſche Schwe-
ſter, die zum Himmel zeigt. So entſchlum-
merte Jakob Boͤhme, indem er die ferne Mu-
ſik vernahm, die Niemand, auſſer dem Ster-
benden hoͤrte.


[[12]]

Zweite Nachtwache.


Die Stunde rief mich wieder zu meiner naͤcht-
lichen Handthierung; da lagen die oͤden Stra-
ßen, wie zugedeckt vor mir, und nur dann
und wann flog ein Wetterleuchten luftig und
raſch durch ſie hin, und weit, weit in der
Ferne murmelte es drein wie unverſtaͤndlicher
Zauberſpruch.


Mein Poet hatte das Licht ausgeloͤſcht, weil
der Himmel leuchtete und er dies leztere fuͤr
wohlfeiler und poetiſcher zugleich hielt. Er
ſchauete hoch droben in die Blitze hinein, im
[13] Fenſter liegend, das weiße Nachthemd offen
auf der Bruſt, und das ſchwarze Haar ſtrup-
pig und unordentlich um den Kopf. Ich erin-
nerte mich an aͤhnliche uͤberpoetiſche Stunden,
wo das Innere Sturm iſt, der Mund im
Donner reden, und die Hand ſtatt der Feder
den Blitz ergreifen moͤchte, um damit in feu-
rigen Worten zu ſchreiben. Da fliegt der Geiſt
von Pole zu Pole, glaubt das ganze Univer-
ſum zu uͤberfluͤgeln, und wenn er zulezt zur
Sprache kommt — ſo iſt es kindiſch Wort,
und die Hand zerreißt raſch das Papier.


Ich bannte dieſen poetiſchen Teufel in mir,
der am Ende immer nur ſchadenfroh uͤber
meine Schwaͤche aufzulachen pflegte, gewoͤhn-
lich durch das Beſchwoͤrungsmittel der Muſik.
Jezt pflege ich nur ein paarmal gellend ins
Horn zu ſtoßen, und da geht’s auch voruͤber.


Ueberall kann ich allen denen, die ſich vor
aͤhnlichen poetiſchen Ueberraſchungen wie vor
[14] einem Fieber ſcheuen, den Ton meines Nacht-
waͤchterhorns als ein aͤchtes antipoeticum em-
pfehlen. Das Mittel iſt wohlfeil und von gro-
ßer Wichtigkeit zugleich, da man in jetziger
Zeit mit Plato die Poeſie fuͤr eine Wuth zu
halten pflegt, mit dem einzigen Unterſchiede,
daß jener dieſe Wuth vom Himmel und nicht
aus dem Narrenhauſe herleitete.


Mag dem indeß ſein, wie ihm wolle, ſo
bleibt es doch heut zu Tage mit der Dichterei
uͤberall bedenklich, weil es ſo wenig Verruͤckte
mehr giebt, und ein ſolcher Ueberfluß an Ver-
nuͤnftigen vorhanden iſt, daß ſie aus ihren
eigenen Mitteln alle Faͤcher und ſogar die Poe-
ſie beſetzen koͤnnen. Ein rein Toller, wie ich,
findet unter ſolchen Umſtaͤnden kein Unterkom-
men. Ich gehe deshalb auch nur jezt blos
noch um die Poeſie herum, das heißt, ich bin
ein Humoriſt worden, wozu ich als Nacht-
waͤchter die meiſte Muſe habe. —


Meinen Beruf zum Humoriſten muͤßte ich
hier freilich wohl zuvor erſt darthun, allein
[15] ich laſſe mich nicht darauf ein, weil man es
uͤberhaupt jezt mit dem Berufe ſelbſt ſo genau
nicht nimmt, und ſich dagegen mit dem Rufe
allein begnuͤgt. Giebt es doch auch Dichter
ohne Beruf, durch den bloßen Ruf — und
ſomit ziehe ich mich aus dem Handel.


Eben flammte ein Bliz durch die Luft, da
ſchlichen drei an der Kirchhofsmauer hin wie
Karnevalslarven. Ich rief ſie an, doch war’s
ſchon wieder Nacht rings um, und ich ſah
nichts, als einen gluͤhenden Schweif und ein
paar feurige Augen, und zu dem fernen Don-
ner murmelte eine Stimme in der Naͤhe, wie
zu einer Don Juans Begleitung: „Thu was
deines Amtes iſt, Nachtrabe; aber miſche
dich nicht ins Geiſterwerk!“


Das war mir doch etwas zu arg, und ich
warf meine Pike dahin wo die Stimme her
kam; eben blizte es wieder — da waren die
drei in Luft zerronnen, wie Makbeths Hexen.


[16]

„Erkennt ihr mich nicht fuͤr einen Geiſt
an;“ — rief ich noch zornig hinterdrein, in
der Hoffnung daß ſie’s vernaͤhmen — „und
doch war ich Poet, Baͤnkelſaͤnger, Marionet-
tendirekteur und alles dergleichen Geiſtreiches
nach einander. Ich moͤchte doch Eure Geiſter
gekannt haben im Leben — wenn ihr anders
wirklich bereits daraus ſeid! — ob ſich der
Meinige mit ihnen nicht haͤtte meſſen koͤnnen;
oder habt ihr einen Zuſatz von Geiſt erhalten
nach eurem Tode, wie wir das Beiſpiel bei
manchen großen Maͤnnern erfuhren, die erſt
nach ihrem Tode beruͤhmt wurden, und deren
Schriften durch das lange Liegen an Geiſt ge-
wannen; gleich dem Weine der mit dem zu-
nehmenden Alter geiſtreicher wird.“ —


Jezt war ich der Wohnung des exkommuni-
zirten Freigeiſtes bis auf einige Schritte nahe
gekommen. Aus der offenen Thuͤr legte ſich
ein matter Schein in die Nacht hinein, und
floß oft ſeltſam mit dem Wetterleuchten zu-
[17] ſammen, auch murmelte es vernehmlicher von
den fernen Bergen heruͤber, wie wenn das
Geiſterreich ſich ernſtlich ins Spiel zu miſchen
gedaͤchte.


Auf der Hausflur war der Todte, der
uͤblichen Sitte gemaͤß, offen ausgeſtellt, um
ihn her brannten wenige ungeweihte Kerzen,
weil der Pfaff, teufliſchen Andenkens, die
Weihe verweigert hatte. Der Verſtorbene
laͤchelte in ſeinem feſten Schlafe daruͤber, oder
uͤber ſeinen eignen thoͤrichten Wahn, den das
Jenſeits widerlegt hatte, und ſein Laͤcheln
glaͤnzte wie ein ferner Wiederſchein vom Leben
uͤber die ſtarren vom Tode verfeſtigten Zuͤge.


Durch eine lange, wenig erleuchtete Halle,
ſchaute man in eine ſchwarz behaͤngte Niſche;
dort knieten unbeweglich die drei Knaben und
die blaſſe Mutter vor einem Altare — die
Gruppe der Niobe mit ihren Kindern — in
ſtummes angſtvolles Gebet verſunken, um
2
[18] Leib und Seele des Verſtorbenen dem Teufel,
dem der Pfaff ſie zugeſprochen, zu entreißen.


Der Bruder des Abgeſchiedenen allein, ein
Soldat, hielt im feſten ſichern Glauben an
den Himmel und an ſeinen eigenen Muth, der
es mit dem Teufel ſelbſt aufzunehmen wagte,
Wache an dem Sarge. Sein Blick war ruhig
und erwartend, und er ſchaute abwechſelnd in
das ſtarre Antlitz des Todten und in das Wet-
terleuchten, das oft feindlich durch den matten
Schein der Kerzen zuckte; ſein Saͤbel lag ge-
zogen auf der Leiche, und glich mit ſeinem
wie ein Kreuz geſtalteten Griffe einer geiſt-
lichen und weltlichen Waffe zugleich.


Uebrigens herrſchte Todtenſtille rings um,
und außer dem fernen Murren des Gewitters
und dem Kniſtern der Kerzen vernahm man
nichts.


So bliebs, bis in einzelnen ernſten Schlaͤ-
gen die Klocke Mitternacht ankuͤndigte; — da
fuͤhrte ploͤzlich der Sturmwind hoch oben in
[19] den Luͤften die Gewitterwolke wie ein naͤcht-
liches Schreckbild heruͤber, und bald hatte ſie
ihr Grabtuch am ganzen Himmel ausgebreitet.
Die Kerzen um den Sarg verloͤſchten, der
Donner bruͤllte zuͤrnend, wie eine aufruͤhreri-
ſche Macht herunter und rief die feſten Schlaͤ-
fer auf, und die Wolke ſpie Flamme auf
Flamme aus, wodurch das ſtarre blaſſe Ant-
liz des Todten allein grell und periodiſch be-
leuchtet wurde.


Ich ſah jezt, daß der Saͤbel des Soldaten
durch die Nacht blizte, und dieſer ſich muthig
zum Kampfe ruͤſtete.


Es waͤhrte auch nicht lange — die Luft
warf Blaſen auf, und die drei Makbeths Gei-
ſter waren ploͤtzlich wieder ſichtbar, wie wenn
der Sturmwind ſie beim Scheitel herangewir-
belt haͤtte. Der Blitz beleuchtete verzogene
Teufelslarven und Schlangenhaar, und den
ganzen hoͤlliſchen Apparat.


[20]

Mich faßte in dem Augenblicke der Teufel
bei einem Haare, und als ſie die Gaſſe her-
auffuhren, miſchte ich mich raſch unter ſie.
Sie ſtuzten, wie wenn ſie auf boͤſen Wegen
gingen, uͤber den vierten ungebetenen der zu
ihnen ſtieß. „Nun zum Teufel! Kann der
Teufel auch auf guten Wegen gehen!“ rief ich
wildlachend aus. „Drum laßt euch nicht ir-
ren, daß ich euch auf boͤſen antreffe. Ich bin
eures Gleichen, Bruͤder, ich mache mit euch
Gemeinſchaft!“ —


Das brachte ſie wahrhaftig in Verlegenheit.
Der Eine ſtieß ein „Gott ſei bei uns!“ aus,
und kreuzte ſich, was mich Wunder nahm,
weshalb ich ausrief: „Bruder Teufel fall
nicht ſo hart aus dem Karakter, ich moͤchte
ſonſt beinahe an dir ſelbſt verzweifeln und dich
fuͤr einen Heiligen halten, zum mindeſten fuͤr
einen Geweihten. — Ueberlege ich’s indeß
reiflicher, ſo muß ich dir wohl eher Gluͤck wuͤn-
ſchen, daß du endlich auch das Kreuz verdauet
[21] haſt, und von Haus aus ein eingefleiſchter
Teufel, dich dem Scheine nach zu einem Hei-
ligen ausbildeteſt!“


An der Sprache mochten ſie es endlich weg
haben, daß ich nicht einer ihres Gleichen waͤre,
und ſie fuhren alle drei auf mich ein, und
ſprachen nun gar in einem aͤcht kleriſchen Tone
von Erkommuniziren, u. d. gl. wenn ich ſie
in ihrer Handthierung ſtoͤren wuͤrde.


„Sorgt nicht,“ erwiederte ich, „ich habe
bisher wahrlich an den Teufel nicht geglaubt,
doch ſeit ich euch geſehen, iſt er mir klar wor-
den, und ich bin gewiß, daß ihr zunft-
faͤhig ſeid. Macht eure Sachen ab, denn mit
der Hoͤlle und der Kirche kann’s kein armer
Nachtwaͤchter aufnehmen.“


Dahin fuhren ſie, ins Haus hinein. Ich
folgte bedenklich nach.


Es war ein furchtbares Schauſpiel. Blitz
und Nacht wechſelten Schlag auf Schlag. Jezt
war es hell und man ſah das Handgemenge
der drei um den Sarg und das Blitzen des
[22] Saͤbels in der Hand des eiſenfeſten Kriegs-
mannes, dazwiſchen ſchauete der Todte mit
ſeinem blaſſen ſtarren Geſichte unbeweglich wie
eine Larve. Dann war es wieder tiefe Nacht,
und nur fern, im Hintergrunde der Niſche ein
matter Schimmer und die knieende Mutter mit
den drei Kindern rang im verzweifelnden Ge-
bet.


Es ging alles ſtill und ohne Worte zu; aber
jezt krachte es auf einmal zuſammen, wie
wenn der Teufel die Oberhand erhielte. Die
Blitze wurden ſparſamer und es blieb laͤngere
Zeit Nacht. Nach einem Weilchen indeß fuh-
ren zwei raſch zur Thuͤr heraus, und ich ſah
es durch die Finſterniß bei dem Leuchten ihrer
Augen — ſie trugen wirklich einen Todten mit
ſich fort.


Da ſtand ich, in mich hineinfluchend vor
der Thuͤr; auf der Flur war es ganz finſter,
keine Seele regte ſich, und ich glaubte auch
[23] dem wackeren Kriegsmanne, zum mindeſten,
den Hals gebrochen.


In dieſem Augenblicke flammte ein heftiger
Blitz, mit dem ſich die Gewitterwolke voͤllig
entlud, und blieb, gleichſam wie eine aufge-
pflanzte Fackel, eine zeitlang in der Luft,
ohne zu verloͤſchen. Da ſah ich den Soldaten
wieder ruhig und kalt am Sarge ſtehen, und
die Leiche laͤchelte wie zuvor — aber, o Wun-
der! dicht neben dem laͤchelnden Todtenantlitze
grinſete eine Teufelslarve, und der Rumpf
fehlte zum Ganzen, und ein purpurrother
Blutſtrom faͤrbte das weiße Sterbegewand des
ſchlafenden Freigeiſtes. —


Schaudernd wickelte ich mich in meinen
Mantel, vergaß es, zu blaſen und die Stunde
abzuſingen und floh meiner Huͤtte zu.


[[24]]

Dritte Nachtwache.


Wir Nachtwaͤchter und Poeten kuͤmmern uns
um das Treiben der Menſchen am Tage, in
der That wenig; denn es gehoͤrt zur Zeit zu
den ausgemachten Wahrheiten: Die Menſchen
ſind wenn ſie handeln hoͤchſt alltaͤglich und
man mag ihnen hoͤchſtens wenn ſie traͤumen
einiges Intereſſe abgewinnen.


Aus dieſem Grunde erfuhr ich denn auch
von dem Ausgange jener Begebenheit nur Un-
zuſammenhaͤngendes, das ich eben ſo unzu-
ſammenhaͤngend mittheilen will.


[25]

Ueber den Kopf zerbrach man ſich am mei-
ſten die Koͤpfe, war es doch kein gewoͤhnlicher,
ſondern ein wahrhaftes Teufelshaupt. Die
Juſtiz, der es vorgelegt wurde, wies die
Sache von ſich, indem ſie aͤußerte, daß die
Koͤpfe eben nicht in ihr Fach ſchluͤgen. Es
war in der That ein boͤſer Handel und man
gerieth ſogar in Streit daruͤber, ob man gegen
den Soldat criminaliter verfahren, indem er
einen Todſchlag begangen, oder ihn vielmehr
kanoniſiren muͤſſe, weil der Erſchlagene der
Teufel. Aus dem leztern entſprang wieder
ein neues Uebel; es wurde nemlich in meh-
reren Monaten keine Abſolution mehr begehrt,
weil man den Teufel jezt geradezu laͤugnete
und ſich auf den in Verwahrung genommenen
Kopf berief. Die Pfaffen ſchrien ſich von den
Kanzeln heiſer und behaupteten ohne weiteres,
daß ein Teufel auch ohne Kopf beſtehen koͤnne,
wovon ſie Beweisgruͤnde, aus ihren eigenen
Mitteln, anzufuͤhren, erboͤthig waͤren.


Aus dem Kopfe ſelbſt konnte man in der
[26] That nicht ganz klug werden. Die Phyſiogno-
mie war von Eiſen; doch ein Schloß, das ſich
an der Seite befand, fuͤhrte faſt auf die Ver-
muthung, daß der Teufel noch ein zweites
Geſicht unter dem erſten verborgen haͤtte, wel-
ches er vielleicht nur fuͤr beſondere Feſttage
aufſparte. Das Schlimmſte war, daß zu dem
Schloſſe, und alſo auch zu dieſem zweiten Ge-
ſichte, der Schluͤſſel fehlte. Wer weiß was
ſonſt fuͤr fruchtbare Bemerkungen uͤber Teufels-
phyſiognomien haͤtten gemacht werden koͤnnen,
da hingegen das erſte nur ein bloßes Alltags-
geſicht war, das der Teufel auf jedem Holz-
ſchnitte fuͤhrt.


In dieſer allgemeinen Verwirrung und bei
der Ungewißheit, ob man ein aͤchtes Teufels-
haupt vor ſich habe, wurde beſchloſſen, daß
der Kopf dem Doktor Gall in Wien zugeſandt
wuͤrde, damit er die untruͤglichen ſataniſchen
Protuberanzen an ihm aufſuchen moͤchte; jezt
miſchte ſich ploͤtzlich die Kirche ins Spiel, und
[27] erklaͤrte daß ſie bei ſolchen Entſcheidungen als
die erſte und lezte Inſtanz anzuſehen ſei, ſie
ließ ſich den Schaͤdel ausliefern, und wie es
bald darauf hieß, war er verſchwunden, und
mehrere der geiſtlichen Herren wollten in der
Nachtſtunde den Teufel ſelbſt geſehen haben,
wie er den ihm fehlenden Kopf wieder mit ſich
nahm.


Somit blieb die ganze Sache ſo gut, wie
unaufgeklaͤrt, um ſo mehr, da der einzige, der
allenfalls noch einiges Licht haͤtte geben koͤn-
nen, jener Pfaff nemlich, der das Anathema
uͤber den Freigeiſt ausſprach, an einem Schlag-
fluſſe ploͤtzlich Todes verfahren war. So ſagte
es wenigſtens das Geruͤcht und die Kloſterher-
ren; denn den Leichnam ſelbſt hatte kein Pro-
faner geſehen, weil er, der warmen Jahrszeit
wegen, ſchnell beigeſetzt werden mußte.


Die Geſchichte ging mir waͤhrend meiner
Nachtwache ſehr im Kopfe herum, denn ich
[28] hatte bis jezt nur an einen poetiſchen Teufel
geglaubt, keinesweges aber an den wirklichen.
Was den poetiſchen anbetrifft, ſo iſt es gewiß
ſehr ſchade, daß man ihn jezt ſo aͤußerſt ver-
nachlaͤſſiget, und ſtatt eines abſolut boͤſen
Prinzips, lieber die tugendhaften Boͤſewichter,
in Ifland- und Kotzebueſcher Manier, vorzieht,
in denen der Teufel vermenſchlicht, und der
Menſch verteufelt erſcheint. In einem ſchwan-
kenden Zeitalter ſcheut man alles Abſolute und
Selbſtſtaͤndige; deshalb moͤgen wir denn auch
weder aͤchten Spaß, noch aͤchten Ernſt, weder
aͤchte Tugend noch aͤchte Bosheit mehr leiden.
Der Zeitkarakter iſt zuſammengeflikt und ge-
ſtoppelt wie eine Narrenjakke, und was das
Aergſte dabei iſt — der Narr, der darin ſtekt,
moͤgte ernſthaft ſcheinen. —


Als ich dieſe Betrachtungen anſtellte, hatte
ich mich in eine Niſche vor einen ſteinernen
Criſpinus geſtellt, der eben einen ſolchen
grauen Mantel trug, als ich. Da bewegten
[29] ſich ploͤzlich eine weibliche und eine maͤnnliche
Geſtalt dicht vor mir und lehnten ſich faſt an
mich, weil ſie mich fuͤr den Blind- und Taub-
ſtummen von Stein hielten.


Der Mann ließ es ſich recht angelegen ſein
im rhetoriſchen Bombaſt, und ſprach in einem
Athem von Liebe und Treue; das Frauenbild
dagegen zweifelte glaͤubig, und machte viel
kuͤnſtlichen Haͤnderingens. Jezt berief ſich der
Mann keklich auf mich, und ſchwur er ſtehe
unwandelbar und unbeweglich wie das Stand-
bild. Da wachte der Satyr in mir auf, und
als jener die Hand gleichſam zur Betheuerung
auf meinen Mantel legte, ſchuͤttelte ich mich
boshaft ein wenig, woruͤber beide erſtaunten;
doch der Liebhaber nahms auf die leichte Ach-
ſel, und meinte der Quader unter dem Stand-
bilde habe ſich geſenkt, wodurch es das Gleich-
gewicht in etwas verlohren.


Er verſchwur jezt nacheinander in zehn Ka-
raktern aus den neueſten Dramen und Tragoͤ-
[30] dien ſeine Seele, wenn er jemals treulos; zu-
lezt redete er gar noch in der Manier des
Don Juan, dem er dieſen Abend beigewohnt
hatte, und ſchloß mit den bedeutenden Wor-
ten: „dieſer Stein ſoll als furchtbarer Gaſt
erſcheinen bei unſerm naͤchtlichen Mahle, meine
ich’s nicht redlich.[“]


Ich merkte mir’s und hoͤrte nun noch wie
ſie ihm das Haus beſchrieb, und eine geheime
Feder an der Thuͤr, wodurch er dieſe oͤffnen
koͤnne, zugleich auch die Mitternachtſtunde zum
Gaſtmale feſtſezte.


Ich war eine halbe Stunde fruͤher auf dem
Plaze, fand das Haus, die Thuͤr, nebſt der
geheimen Feder, und ſchlich leiſe mehrere Hin-
tertreppen hinauf bis zu einem Saale, auf
dem es daͤmmerte. Das Licht fiel durch zwei
Glasthuͤren; ich nahete mich der einen, und
erblickte ein Weſen in einem Schlafrocke am
Arbeitstiſche, von dem ich anfangs zweifelhaft
[33] blieb, ob es ein Menſch oder eine mechaniſche
Figur ſey, ſo ſehr war alles Menſchliche an
ihm verwiſcht, und nur bloß der Ausdruck von
Arbeit geblieben. Das Weſen ſchrieb, in Ak-
tenſtoͤße vergraben, wie ein lebendig einge-
ſcharrter Laplaͤnder. Es kam mir vor als
wollte es das Treiben und Hauſen unter der
Erde ſchon im Voraus, uͤber ihr, koſten,
denn alles Leidenſchaftliche und Theilnehmende
war auf der kalten hoͤlzernen Stirne ausge-
loͤſcht, und die Marionette ſaß, leblos auf-
gerichtet, in dem Aktenſarge voll Buͤcherwuͤr-
mer. Jezt wurde der unſichtbare Drath gezo-
gen, da klapperten die Finger, ergriffen die
Feder und unterzeichneten drei Papiere nach
einander; ich blickte ſchaͤrfer hin — es waren
Todesurtheile. Auf dem Tiſche lagen der Ju-
ſtinian und die Halsordnung, gleichſam die per-
ſonifizirte Seele der Marionette.


Tadeln konnte ich’s nicht; aber der kalte
Gerechte kam mir vor wie die mechaniſche
[34] Todesmaſchine, die willenlos niederfaͤllt; ſein
Arbeitstiſch wie die Gerichtsſtaͤte, auf der er
in einer Minute mit drei Federzuͤgen drei
Todesurtheile vollſtreckt hatte. Beim Himmel
haͤtte ich die Wahl zwiſchen beiden, lieber
waͤre ich der lebende Suͤnder, als dieſer todte
Gerechte.


Noch mehr ergriff es mich, als ich ſein
wohlgetroffenes in Wachs boſſirtes Konterfei
ihm unbeweglich gegenuͤber ſitzen ſah, als waͤre
es an einem lebloſen Exemplare nicht genug,
und eine Doublette noͤthig, um die todte Sel-
tenheit von zwei verſchiedenen Seiten zu
zeigen.


Jezt trat die Dame von vorhin ein, und
die Marionette zog die Muͤtze ab, und legte
ſie aͤngſtlich erwartend bei ſich hin. „Noch
nicht ſchlafen gegangen?“ ſagte jene, „was
fuͤhren Sie fuͤr ein wildes Leben! die Phan-
taſie ewig angeſpannt!“ — „Phantaſie?“
[35] fragte er verwundert, „was meinen Sie da-
mit? Ich verſtehe die neuen Terminologien
ſo ſelten, in denen Sie jezt reden.“ —
„Weil Sie ſich fuͤr nichts hoͤheres intereſſiren;
nicht einmal fuͤr das Tragiſche!“ — „Tra-
giſch? Ei allerdings!“ antwortete er ſelbſtge-
faͤllig, „ſehen Sie hier, ich laſſe drei Delin-
quenten hinrichten!“ — „O weh, welche Sen-
timents!“ — „Wie? Ich dachte Ihnen eine
Freude damit zu machen, weil in den Buͤchern
die Sie leſen, ſo viele ums Leben kommen.
Deshalb habe ich auch, um Sie zu uͤberraſchen,
die Hinrichtungen an Ihrem Geburtstage feſt-
geſezt!“ — „Mein Gott! Meine Nerven!“
— „O weh, Sie bekommen den Zufall jezt ſo
haͤufig, daß mir jedesmal bang im Voraus
wird!“ „Ach ja, Sie koͤnnen leider dabei nicht
helfen. Gehen Sie nur, ich bitte, und legen
Sie ſich ſchlafen!“


Das Geſpraͤch war zu Ende, und er ging,
indem er ſich den Schweiß von der Stirn
3
[36] trocknete. Ich beſchloß in dem Augenblicke
teufliſch genug, ihm noch, wo moͤglich, dieſe
Nacht ſeine [Frau] in die hochnothpeinliche Hals-
gerichtsordnung auszuliefern, damit er Macht
uͤber ſie erhielte.


Es waͤhrte nun auch gar nicht lange, als
mein Mars zu ſeiner Venus ſchlich. Mir
fehlte zum Vulkan, da ich von Natur hinkte,
und nicht zum Beſten ausſah, eben wenig
mehr, als das goldne Nez, indeß beſchloß ich,
in Ermangelung deſſen, einige goldene Wahr-
heiten und Sittenſpruͤchlein anzuwenden. An-
faͤnglich ging es ganz leidlich zu; mein Bur-
ſche ſuͤndigte blos an der Poeſie durch eine
zu materielle Tendenz ſeiner Schilderungen;
er malte einen Himmel voll Nymphen und ſich
nekkender Liebesgoͤtter an den Betthimmel un-
ter dem er zu ruhen gedachte, den Weg da-
hin beſtreute er mit Vexirroſen, die er zahl-
reich in zierlichen Redefloskeln von ſich warf,
und die Dornen die ihm dann und wann die
[37] Fuͤße verwunden wollten, umging er durch
leichte frivole Wendungen.


Als der Suͤnder ſich nun aber ſo in ein
poetiſches Element verſezt, und die Moral
voͤllig, dem Geiſte der neueſten Theorien ge-
maͤß, abgewieſen hatte, der gruͤnſeidne Vor-
hang vor der Glasthuͤr herabrollte, und das
Ganze ein Gardinenſtuͤck zu werden begann,
wandte ich raſch mein antipoeticum an, und
ſtieß gellend in das Nachtwaͤchterhorn, worauf
ich mich auf ein leeres Piedeſtal, das fuͤr die
Statue der Gerechtigkeit, die bis jezt noch in
der Arbeit, beſtimmt war, ſchwang, und ſtill
und unbeweglich ſtehen blieb.


Der furchtbare Ton hatte die beiden aus
der Poeſie, und den Ehemann aus dem Schlafe
geſchreckt, und alle drei eilten ploͤzlich zu glei-
cher Zeit aus zwei verſchiedenen Thuͤren.


„Der ſteinerne Gaſt“ rief der Liebhaber
ſchaudernd, indem er mich erblickte; „Ah,
[38] meine Gerechtigkeit!“ der Ehemann, „iſt ſie
endlich fertig geworden; wie unerwartet haſt
du mich dadurch uͤberraſcht, Liebchen!“ —
„Reiner Irrthum,“ ſagte ich, „die Ge-
rechtigkeit liegt noch immer druͤben beim Bild-
hauer, und ich habe mich nur proviſoriſch auf
das Piedeſtal geſtellt, damit es, bei beſonders
wichtigen Gelegenheiten, nicht ganz leer ſey.
Es bleibt zwar immer mit mir nur ein Noth-
behelf, denn die Gerechtigkeit iſt kalt wie
Marmor, und hat kein Herz in der ſteinernen
Bruſt, ich aber bin ein armer Schelm voll
ſentimentaler Weichlichkeit, und gar dann und
wann etwas poetiſch geſtimmt; indeß, bei ge-
woͤhnlichen Faͤllen fuͤr das Haus mag ich im-
mer gut genug ſeyn, und wenn es Noth thut,
einen ſteinernen Gaſt abgeben. Solche Gaͤſte
haben das fuͤr ſich, daß ſie nicht miteſſen und
auch nicht warm werden, wo es Schaden
bringen koͤnnte, dagegen die andern leicht Feuer
fangen, und es dem Hausherrn vor der Stirn
heiß machen, wie mir das Beiſpiel nahe liegt.“


[39]

„Ei, ei, mein Gott, was iſt denn das?“
ſtammelte der Ehemann.


„Daß die Stummen zu reden anfangen,
meinen Sie? das fließt aus der Frivolitaͤt des
Zeitalters. Man ſollte nie den Teufel an die
Wand malen. Unſere jungen Herren von
Welt ſetzen ſich aber daruͤber hinaus, und miß-
brauchen dergleichen bei ſchwachen Seelen, um
ſich von der heroiſchen Seite zu zeigen. Da
habe ich nun meinen Mann beim Worte ge-
nommen, ob ich gleich eigentlich nicht hieher
gehoͤre, ſondern draußen auf dem Markte ſtehe
im grauen Mantel als heiliger Criſpinus von
Stein.“


„Du Gott, was ſoll man davon denken!“
fuhr jener beaͤngſtet fort, „es iſt gar nicht in
der Ordnung, und ein unerhoͤrter Fall!“


„Fuͤr den Rechtsgelehrten gewiß! dieſer
Criſpinus war nemlich ein Schuſter, legte ſich
[40] aber aus beſonderer Froͤmmigkeit und einem
wirklichen Ueberfluſſe von Tugend auf die Die-
berei, und ſtahl das Leder, um den Armen
Schuhe daraus zu machen. Was laͤßt ſich da
entſcheiden, reden Sie ſelbſt! Ich ſehe keinen
andern Ausweg, als ihn zuerſt zu haͤngen, und
nachher zu kanoniſiren. Aus aͤhnlichen Gruͤn-
den muͤßte man z. B. gegen Ehebrecher verfah-
ren, die bloß um den Hausfrieden aufrecht zu
erhalten, gegen die Geſetze verſtoßen; der
animus iſt hier offenbar ein loͤblicher, und
darauf kommts doch hauptſaͤchlich an. Wie
manche Frau wuͤrde nicht ihren Mann zu Tode
quaͤlen, wenn nicht ein ſolcher Hausfreund ſich
einfaͤnde, und aus reiner Moralitaͤt zum
Schurken wuͤrde. Hier ſtehe ich eigentlich an
meinem Thema, und wir koͤnnen nun in
Gottes Namen die hochnothpeinliche Halsge-
richtsordnung aufſchlagen. — Doch ich ſehe
daß die Inquiſiten bereits beide in Ohnmacht
liegen; da muͤſſen wir im Prozeſſe eine Pauſe
machen!“


[41]

„Inquiſiten?“ fragte der Ehemann mecha-
niſch. „Ich ſehe keine, die dort iſt meine
Ehehaͤlfte!“ —


„Schon gut, wir wollen fuͤr’s erſte bei ihr
ſtehen bleiben. Ehehaͤlfte! Ganz recht! das
heißt: das Kreuz oder die Qual in der Ehe —
und wahrhaftig das iſt ſchon eine exemplari-
ſche Ehe, wo dieſes Kreuz nur die Haͤlfte aus-
macht. Seyd Ihr nun, als die zweite Haͤlfte,
der Eheſegen, ſo iſt Eure Ehe wirklich ein
Himmel auf Erden.“


„Der Eheſegen!“ ſagte jener mit einem
tiefen Seufzer.


„Keine ſentimentale Randgloſſe, lieber
Freund, werfen wir hier vielmehr einen Blick
auf den zweiten Inquiſiten, der ebenfalls aus
Schrecken, uͤber den ſteinernen Gaſt, in Ohn-
macht liegt. Wenn wir Perſonen von Rechts-
wegen, Milderungsgruͤnde aus moraliſchen
[42] Prinzipien herleiten duͤrften, ſo moͤgte ich
ſchon ſein Defenſor ſeyn, und wollte wenig-
ſtens die Strafe des Koͤpfens, die die Carolina
uͤber ihn verhaͤngt, von ihm abwenden; zumal
da bei ſolchen Schaͤchern das Koͤpfen doch nur
in effigie angewandt werden kann, weil bei
ihnen, ernſtlich genommen, von einem Kopfe
nie die Rede iſt!“ —


„Die Karolina ſollte auf einmal ſo grau-
ſam geworden ſeyn!“ ſagte jener ganz konfus.
„Vorhin ſchauderte ſie doch noch, als ich vom
Hinrichten ſprach!“ —


„Ich verdenke es Euch nicht“ antwortete
ich, „daß ihr beide Karolinen mit einander
verwechſelt; denn Eure lebende Karolina iſt,
als Ehekreuz und Folter, leicht mit der hoch-
nothpeinlichen zu vertauſchen, die ebenfalls kei-
nen Himmel voll Geigen abhandelt. Ja faſt
moͤchte ich behaupten, eine ſolche eheliche ſey
noch viel aͤrger als die kaiſerliche, indem in
[41] dieſer wenigſtens in keinem einzigen Falle von
lebenslaͤnglicher Folter die Rede iſt.“—


„Aber mein Gott, das kann doch nicht ſo
fort gehen!“ ſagte er auf einmal wie zu ſich
kommend. „Man weiß nicht ſo recht mehr,
ob man wacht oder traͤumt; ja ich haͤtte Luſt
mich zu betaſten und zu zwicken, blos um zu
ſehen, ob ich wachte oder ſchliefe, wenn ich
nicht darauf ſchwoͤren wollte, vorher wirklich
den Nachtwaͤchter gehoͤrt zu haben!“ —


„Ei mein Gott!“ rief ich aus. „Jezt er-
wache ich; Ihr habt mich beim Namen geru-
fen, und es iſt noch mein Gluͤck, daß ich mich
gerade nicht zu hoch befinde, etwa auf einem
Dache, oder in einer dichteriſchen Begeiſterung,
um mir jezt beim Herabfallen den Hals zu
brechen. So aber ſtehe ich gluͤcklicherweiſe nicht
hoͤher, als hier die Gerechtigkeit ſtehen ſoll,
und da bleibe ich noch menſchlich und unter
den Menſchen. Ihr ſtarrt mich an, und
[42] koͤnnt Euch nicht darin finden; doch will ich’s
Euch ſogleich loͤſen. Ich bin Nachtwaͤchter
hier, und zugleich Nachtwandler, wahrſcheinlich
weil ſich beide Funktionen in Einer Perſon
vorſtehen laſſen. Wenn ich nun als Nachtwaͤch-
ter mein Amt verrichte, ſo kommt mir oft die
Luſt an als Nachtwandler mich auf ſcharfe
Spitzen, wie auf Dachſpitzen oder andere kriti-
ſche Stellen in dieſer Art zu begeben; und ſo
bin ich denn auch wahrſcheinlich hier auf das
Piedeſtal der Themis gekommen. Es iſt eine
verzweifelte Laune, die mich noch um den Hals
bringen kann; indeß fuͤgte es ſich doch oft, daß
ich dadurch die guten Einwohner dieſer Stadt
auf eine eigene Weiſe vor Diebſtaͤhlen geſi-
chert habe, eben weil ich in alle Winkel zu
kriechen pflege, und das gerade die unſchaͤd-
lichſten Diebe ſind, die ihr Handwerk nur
draußen herum an den Laͤden mit Brechſtan-
gen exerciren. Dieſer Punkt glaub ich, ent-
ſchuldigt mich; und ſomit gehe es Euch
wohl!“


[43]

Ich entfernte mich, und ließ den Ehemann
und die andern beiden, die nun auch wieder
zu ſich gekommen waren, erſtaunt zuruͤck. Wie
ſie nachher ſich noch mit einander unterhalten
haben, weiß ich nicht.


[[44]]

Vierte Nachtwache.


Zu den Lieblingsoͤrtern, an denen ich mich
waͤhrend meiner Nachtwachen aufzuhalten
pflege, gehoͤrt der Vorſprung in dem alten
gothiſchen Dome. Hier ſitze ich bei dem daͤm-
mernden Scheine der einzigen immer brennen-
den Lampe und komme mir oft ſelbſt wie ein
Nachtgeiſt vor. Der Ort laͤdt zu Betrachtun-
gen ein; heute fuͤhrte es mich auf meine
eigene Geſchichte, und ich blaͤtterte, gleichſam
aus Langerweile, mein Lebensbuch auf, das
verwirrt und toll genug geſchrieben iſt.


[45]

Gleich auf dem erſten Blatte ſieht es be-
denklich aus, und pagina V handelt nicht von
meiner Geburt, ſondern vom Schatzgraben.
Hier ſieht man myſtiſche Zeichen, aus der
Kabbala und auf dem erklaͤrenden Holzſchnitte
einen nicht gewoͤhnlichen Schuhmacher, der
das Schuhmachen aufgeben will, um Gold
machen zu lernen. Eine Zigeunerin ſteht da-
neben, gelb und unkenntlich und das Haar
ſtruppig um die Stirn gezauſet; ſie unter-
richtet ihn im Schatzgraben, giebt ihm eine
Wuͤnſchelruthe und zeigt auch genau den Ort
an, wo er in drei Tagen einen Schatz heben
ſoll. Ich habe heute blos die Laune mich bei
den Holzſchnitten in dem Buche aufzuhalten,
und ſomit gehe ich zum
zweiten Holzſchnitte
uͤber. Hier iſt der Schuhmacher wieder, ohne
die Zigeunerin; ſein Geſicht iſt diesmal dem
Kuͤnſtler ſchon weit ausdrucksvoller gelungen.
[46] Es hat kraͤftige Zuͤge und zeigt an, daß der
Mann nicht blos bei den Fuͤſſen ſtehen geblie-
ben, ſondern ultra crepidam gegangen iſt. Er
iſt ein ſatiriſcher Beitrag zu den Fehlgriffen
des Genies, und macht es einleuchtend, wie
derjenige, der ein guter Hutmacher geworden
waͤre, einen ſchlechten Schuhmacher abgeben
muß, und auch im Gegentheile, wenn man
das Beiſpiel auf den Kopf ſtellt. — Das Lo-
kale iſt ein Kreuzweg, die ſchwarzen Striche
ſollen die Nacht anſchaulich machen und das
Zikzak am Himmel einen Blitz bedeuten. Es
iſt klar, ein anderer ehrlicher Mann von Hand-
werke liefe bei ſolchen Umgebungen davon; un-
ſer Genie aber laͤßt ſich nicht ſtoͤren. Er hat
bereits aus einer Vertiefung eine ſchwere
Truhe gehoben; und iſt auch ſchon daruͤber
aus geweſen, ſein erobertes Schatzkaͤſtlein zu
oͤffnen. Doch, o Himmel, ſein Inhalt iſt
wohl nur allein fuͤr den kurioſen Liebhaber ein
Schatz zu nennen — denn ich ſelbſt befinde
mich leibhaft in dem Kaͤſtlein, und zwar ohne
[47] alle fahrende Habe, und ſchon ein ganz fer-
tiger Weltbuͤrger.


Was mein Schatzgraͤber fuͤr Betrachtungen
uͤber ſeinen Fund angeſtellt hat, davon ſteht
nichts auf dem Holzſchnitte, weil der Kuͤnſt-
ler die Grenzen ſeiner Kunſt nicht im minde-
ſten hat uͤberſchreiten wollen.


Dritter Holzſchnitt.


Hier iſt ein gewiegter Kommentator von
Noͤthen. — Auf einem Buche ſitze ich, aus
einem leſe ich; mein Adoptiv-Vater beſchaͤf-
tigt ſich mit einem Schuhe, ſcheint aber zu-
gleich eigenen Betrachtungen uͤber die Unſterb-
lichkeit Raum zu geben. Das Buch worauf
ich ſitze, enthaͤlt Hans Sachſens Faſtnachtsſpiele,
das woraus ich leſe, iſt Jakob Boͤhmens Mor-
genroͤthe, ſie ſind der Kern aus unſerer Haus-
bibliothek, weil beide Verfaſſer zunftfaͤhige
Schuhmacher und Poeten waren.


[48]

Weiter mag ich nicht im Erklaͤren gehen,
weil in dem Holzſchnitte von meiner eigenen
Originalitaͤt zuviel die Rede iſt. Ich leſe alſo
lieber das hiezugehoͤrige
dritte Kapitel.
fuͤr mich in der Stille. Es iſt von meinem
Schuhmacher, der ſo weit es ging, meinen Le-
benslauf ſelbſt fortgefuͤhrt hat, verfaßt, und
hebt ſo an:


„Wunderlich wird mir gar oft zu Muthe,
wenn ich den Kreuzgang betrachte.“ — Es
war nemlich dem Gebrauche gemaͤß, der Ort
wo ich gefunden, bei meiner Taufe, zu mir
Gevatter geworden. — „Ueber einen gewoͤhn-
lichen Leiſten kann ich ihn nicht ſchlagen, denn
es iſt etwas Ueberſchwengliches in ihm, etwa
wie in dem alten Boͤhme, der auch ſchon fruͤh
uͤber dem Schuhmachen ſich vertiefte und ins
Geheimniß verfiel. So auch er; kommen ihm
[49] doch ganz gewoͤhnliche Dinge hoͤchſt ungewoͤhn-
lich vor; wie z.B. ein Sonnenaufgang, der
ſich doch tagtaͤglich zutraͤgt, und wobei wir an-
dern Menſchenkinder eben nichts Abſonderliches
zu denken pflegen. So auch die Sterne am
Himmel und die Blumen auf der Erde, die
er oft unter einander ſich beſprechen und gar
wunderſamen Verkehr treiben laͤßt. Hat er
mich doch neulich uͤber einen Schuh gar konfus
gemacht, indem er mich anfangs uͤber die Be-
ſtandtheile deſſelben befragte, und als ich ihm
darauf Rede und Antwort gegeben hatte, ploͤz-
lich uͤber jede einzelne Subſtanz Aufklaͤrung
verlangte, immer hoͤher und hoͤher ſich ver-
ſtieg, erſt in die Naturwiſſenſchaften, indem
er das Leder auf den Ochſen zuruͤck fuͤhrte,
dann gar noch weiter bis ich mich zulezt mit
meinem Schuhe hoch oben in der Theologie
befand und er mir grad heraus ſagte daß ich
in meinem Fache ein Stuͤmper ſei, weil ich
ihm darin nicht bis zum lezten Grunde Aus-
kunft geben koͤnnte. Ebenfalls nennt er die
4
[50] Blumen oft eine Schrift, die wir nur nicht
zu leſen verſtaͤnden, desgleichen auch die bun-
ten Geſteine. Er hoft dieſe Sprache noch einſt
zu lernen, und verſpricht dann gar wunderſame
Dinge daraus mitzutheilen. Oft behorcht er
ganz heimlich die Muͤcken oder Fliegen wenn
ſie im Sonnenſchein ſummen, weil er glaubt
ſie unterredeten ſich uͤber wichtige Gegenſtaͤnde,
von denen bis jezt noch kein Menſch etwas
ahnete: Schwazt er den Geſellen und Lehr-
burſchen in der Werkſtatt dergleichen vor und
ſie lachen uͤber ihn, ſo erklaͤrt er ſie ſehr ernſt-
haft fuͤr Blinde und Taube, die weder ſaͤhen
noch hoͤrten, was um ſie her vorginge. Jezt
ſizt er Tag und Nacht bei’m Jakob Boͤhme
und Hans Sachs, welches zween gar abſon-
derliche Schuhmacher waren, aus denen auch
zu ihrer Zeit niemand klug werden konnte. —


Soviel iſt mir ſonnenklar; ein gewoͤhn-
liches Menſchenkind iſt dieſer Kreuzgang nicht,
bin ich doch auch auf keine gewoͤhnliche Weiſe
zu ihm gekommen.


[51]

Nie wird mir der Abend aus dem Sinne
kommen, als ich unmuthig uͤber meinen we-
nigen Verdienſt hier auf dem Dreifuße einge-
ſchlummert war; — daß es gerade ein Drei-
fuß ſein mußte, ſoll, wie man mir ſagt, nicht
ohne Einfluß geweſen ſein — es traͤumte mir
wie ich einen Schaz faͤnde in einer verſchloſſe-
nen Truhe, doch gebot man mir dieſe Truhe
nicht eher zu oͤffnen, bis ich erwacht ſein
wuͤrde. Das war alles ſo deutlich und ſelbſt
verſtaͤndig, indem Traum und Wachen ſich
ganz klar von einander unterſchieden, daß es
mir nie wieder aus dem Kopfe wollte, und
ich zulezt mit einer Zigeunerin Bekanntſchaft
machte, um den Verſuch wirklich anzuſtellen.


Es ging alles in der Ordnung; ich hob die
Truhe die ich im Traume geſehen, beſann
mich zuvor, ob ich wirklich wachte, und oͤff-
nete ſie dann; aber ſtatt des Goldes was ich
erwartete, hatte ich dieſes Wunderkind aus
der Erde gehoben.


[52]

Anfangs war ich wohl etwas betreten daruͤ-
ber, weil ſolch ein lebendiger Schaz zum min-
deſten von einem todten begleitet ſein muß,
wenn ein Uebriges dabei heraus kommen ſoll,
und der Bube war mutternakt, und lachte
noch dazu daruͤber, als ich ihn darauf anſah.
Als ich mich beſonnen hatte, nahm ich indeß
die Sache tiefer und hatte meine eigenen Ge-
danken dabei, weshalb ich meinen Schaz ſorg-
ſam nach Hauſe trug.


So weit mein ehrlicher Schuhmacher, als
ich ploͤzlich durch eine ſonderbare Erſcheinung
unterbrochen wurde. Eine große maͤnnliche
Geſtalt in einen Mantel gehuͤllt, ſchritt durch
das Gewoͤlbe, und blieb auf einem Grabſteine
ſtehen. Ich ſchlich mich leiſe hinter eine Saͤule,
wo ich ihr nahe war, da warf ſie den
Mantel von ſich, und ich erblickte hinter
ſchwarzen tief uͤber die Stirne herabtretenden
Haaren ein finſteres feindliches Antlitz mit ei-
nem ſuͤdlichen blasgrauen Kolorit.


[53]

Ich trete immer vor ein fremdes ungewoͤhn-
liches Menſchenleben mit denſelben Gefuͤhlen
hin, wie vor den Vorhang hinter dem ein
Shakſpearſches Schauſpiel aufgefuͤhrt werden
ſoll; und am liebſten iſt es mir, wenn jenes
ſo wie dieſes ein Trauerſpiel iſt, wie ich denn
auch neben dem aͤchten Ernſt nur tragiſchen
Spaß leiden mag, und ſolche Narren wie im
Koͤnig Lear; eben weil dieſe allein wahrhaft
kek ſind und die Poſſenreißerei en gros trei-
ben und ohne Ruͤckſichten, uͤber das ganze
Menſchenleben. Die kleinen Wizbolde und
gutmuͤthigen Komoͤdienverfaſſer dagegen, die
ſich nur blos in den Familien umhertreiben,
und nicht, wie Ariſtophanes, ſelbſt uͤber die
Goͤtter ſich luſtig zu machen wagen, ſind mir
herzlich zuwider, eben ſo wie jene ſchwachen
geruͤhrten Seelen, die ſtatt ein ganzes Men-
ſchenleben zu zertruͤmmern, um den Menſchen
ſelbſt daruͤber zu erheben, ſich nur mit der
kleinen Quaͤlerei beſchaͤftigen, und neben ih-
rem Gefolterten den Arzt ſtehen haben, der
[54] ihnen genau die Grade der Tortur beſtimmt,
damit der arme Schelm, obgleich geradebrecht,
doch mit dem Leben zulezt noch davon gehen
kann; als ob das Leben das Hoͤchſte waͤre,
und nicht vielmehr der Menſch, der doch wei-
ter geht als das Leben, das grade nur den
erſten Akt und den inferno in der divina co-
media,
durch die, er um ſein Ideal zu ſu-
chen, hinwandelt, ausmacht. —


Mein Mann, der hier nahe vor mir auf
dem Grabſteine kniete, einen blankgeſchliffe-
nen Dolch, den er aus einer ſchoͤn gearbeite-
ten Scheide gezogen, in der Hand, ſchien mir
aͤcht tragiſcher Natur zu ſein, und feſſelte mich
in ſeine Naͤhe.


Feuerlaͤrm hatte ich eben nicht Luſt zu ma-
chen, im Falle er etwas Ernſthaftes unter-
nehmen wuͤrde, eben ſo wenig wollte ich als
Vertrauter in der Kouliſſe ſtehen, um im
fuͤnften Akte bei dem Stichworte zu rechter
[55] Zeit bereit zu ſein, meinem Helden den Arm
zu halten; denn ſein Leben kam mir vor
gleichſam wie die ſchoͤn gearbeitete Scheide in
ſeiner Hand, die in der bunten Huͤlle den
Dolch verbarg, oder wie der Blumenkorb der
Kleopatra, unter deſſen Roſen die giftige
Schlange lauſchte, und wo das Drama des
Lebens ſich einmal ſo zuſammengeſtellt hat,
muß man die tragiſche Kataſtrophe nicht ab-
wenden wollen.


Ich hatte einen Koͤnig Saul, als ich noch
Marionettendirekteur war, dem er aufs Haar
glich; auch in allen ſeinen Manieren — grade
ſolche hoͤlzerne mechaniſche Bewegungen, und
einen ſo ſteinernen antiken Stil, wodurch ſich
Marionettentruppen vor lebenden Schauſpie-
lern auszeichnen, die heut zu Tage auf un-
ſern Theatern nicht einmal auf die rechte Weiſe
zu ſterben verſtehen.


Es war ſchon alles dicht bis zum Nieder-
fallen des Vorhangs beendigt, da blieb dem
Manne ploͤtzlich der ſchon zum Todesſtoße auf-
[56] gehobene Arm erſtarrt, und er kniete wie ein
ſteinernes Denkbild auf dem Grabſteine. Zwi-
ſchen der Dolchſpitze und der Bruſt, die ſie
durchſchneiden ſollte, war kaum noch einer
Spanne weit Raum, und der Tod ſtand ganz
dicht an dem Leben, doch ſchien die Zeit auf-
gehoͤrt zu haben und nicht mehr fortruͤcken zu
wollen und der eine Moment zur Ewigkeit ge-
worden zu ſein, die auf immer alle Veraͤnde-
rung aufgehoben.


Mir wurde es ganz unheimlich, ich ſah er-
ſchrocken hinauf nach dem Zifferblatte der Kir-
chenuhr, auch hier ſtand der Zeiger ſtill und
grade auf der Mitternachtszahl. Ich ſchien
mir gelaͤhmt und rings um war alles unbeweg-
lich und todt; der Mann auf dem Grabe,
der Dohm mit ſeinen ſtarren hohen Saͤulen
und Monumenten und den umher knieenden
ſteinernen Rittern und Heiligen, die unbeweg-
lich auf eine neue hereinbrechende Zeit und
ein Fortſchreiten in derſelben, wodurch ſie
entfeſſelt wuͤrden, zu harren ſchienen.


[57]

Jezt war’s voruͤber, das Raͤderwerk der
Uhr machte ſich Luft, der Zeiger ruͤckte fort,
und der erſte Schlag der Mitternachtsſtunde
hallte langſam durch das oͤde Gewoͤlbe. Da
ſchien, wie durch das Anziehen des Uhrwerks,
der Mann auf dem Grabe wieder Bewegung
zu erhalten, der Dolch rollte raſſelnd auf dem
Steine hin, und zerbrach.


„Verwuͤnſcht ſei die Starrſucht,“ ſagte
er kalt, wie wenn er’s ſchon gewohnt waͤre,
„ſie laͤßt mich nie den Stoß vollfuͤhren! —“
Damit ſtand er, wie, wenn nichts weiter vor-
gefallen waͤre, auf, und wollte ſich wieder
entfernen.


„Du gefaͤllſt mir,“ rief ich, „es iſt doch Haltung
in deinem Leben, und aͤchte tragiſche Ruhe. Ich
liebe die große klaſſiſche Wuͤrde im Menſchen,
die viel Worte haßt, wo viel gethan werden
ſoll; und ein ſolcher salto mortale, wie der,
zu dem du eben bereit warſt, iſt doch nichts
[58] kleines, und gehoͤrt zu den Forçeſtuͤcken, die
man, bis zulezt, aufſpart.“ —


„Kannſt du mir zu dem Sprunge verhel-
fen,“ ſagte er finſter, „ſo iſt’s gut; ſonſt
bemuͤhe dich nicht weiter in Lobſpruͤchen und
Bemerkungen. Ueber die Kunſt zu leben iſt
mehr als zuviel geſchrieben, doch ſuche ich noch
immer einen Traktat, uͤber die Kunſt zu ſter-
ben, vergeblich; und ich kann nicht ſter-
ben!“ —


„O beſaͤßen doch dieſes dein Talent manche
von unſern beliebten Schriftſtellern!“ rief ich
aus, „Ihre Werke koͤnnten dann immerhin
Ephemeren bleiben, waͤren ſie ſelbſt doch un-
ſterblich, und koͤnnten ihre ephemeriſche Schrift-
ſtellerei ewig fortſetzen, und bis zum juͤngſten
Tage beliebt bleiben. Leider aber kommt fuͤr
ſie die Stunde nur zu fruͤh, in der ſie und
ihre Eintagsfliegen mit ihnen ſterben muͤſſen.
— O Freund, koͤnnte ich dich doch in dieſem
[59] Augenblicke zu einem Kozebue erheben, dieſer
Kozebue ginge dann nie unter, und ſelbſt am
Ende aller Dinge laͤgen noch ſeine lezten Werke
in dem Hogarthſchen Schwanzſtuͤcke, und die
Zeit koͤnnte ihre lezte Pfeife die ſie da raucht,
mit einer Szene aus ſeinem lezten Drama
anbrennen, und ſo begeiſtert, in die Ewigkeit
uͤbergehen!“


Der Mann wollte jetzt ſtill abtreten, und
ohne, wie ein ſchlechter Akteur, noch zum
Schluſſe eine gewaltige Tirade zu machen; ich
aber hielt ihn bei der Hand, und ſagte: „Nicht
ſo eilig, Freund, iſt es doch nicht noͤthig, da
du immer Zeit haſt, ſo lange nur uͤberhaupt
von der Zeit ſelbſt die Rede ſein kann; denn
aus deinen Worten zu ſchließen, halte ich dich
fuͤr den ewigen Juden, der, weil er das Un-
ſterbliche laͤſterte, zur Strafe ſchon hier unten
unſterblich geworden iſt, wo alles um ihn her
vergeht. Du ſiehſt finſter, du einziger Menſch,
deſſen Leben der Zeiger der Zeit, der als ein
[60] ſcharfes, nie im Morden innehaltendes
Schwerdt, auf dem Zifferblatte umherfliegt,
nimmer durchſchneiden ſoll, und der nicht eher
vergehen kann, als bis ihr eiſernes Raͤderwerk
ſelbſt zertruͤmmert. Nimm die Sache von der
leichten Seite; denn es iſt doch ſpaßhaft und
der Muͤhe werth, dieſer großen Tragikomoͤdie
der Weltgeſchichte bis zum lezten Akte als Zu-
ſchauer beizuwohnen, und du kannſt dir zulezt
das ganz eigne Vergnuͤgen machen, wenn du
am Ende aller Dinge uͤber der allgemeinen
Suͤndfluth auf dem lezten hervorragenden
Berggipfel als einzig Uebriggebliebener ſtehſt,
das ganze Stuͤck, auf deine eigene Hand, aus-
zupfeifen, und dich dann wild und zornig, ein
zweiter Prometheus, in den Abgrund zu
ſtuͤrzen.“


„Pfeifen will ich,“ ſagte der Mann trozig,
„haͤtte mich nur der Dichter nicht ſelbſt mit
ins Stuͤck verflochten als handelnde Perſon;
das verzeih ich ihm nimmer!“


[61]

„Um ſo beſſer!“ rief ich, „da giebt es
wohl gar noch zu guter lezt eine Revolte im
Stuͤcke ſelbſt, und der erſte Held empoͤrt ſich
gegen ſeinen Verfaſſer. Iſt das doch auch in
der, der großen Weltkomoͤdie nachgeaͤfften
kleinen nicht ſelten, und der Held waͤchſt am
Ende dem Dichter uͤber den Kopf, daß er ihn
nicht mehr bezwingen kann. — O ich haͤtte
wohl Luſt deine Geſchichte anzuhoͤren, du ewig
Reiſender, um daruͤber mich auszuſchuͤtten vor
Lachen; wie ich denn oft bei einer aͤchten ern-
ſten Tragoͤdie brav zu lachen pflege, und im
Gegentheile beim guten Poſſenſpiele dann und
wann weinen muß, indem das wahrhaft Kuͤhne
und Große immer zugleich von den beiden
entgegengeſetzten Seiten aufgefaßt werden
kann!“ —


„Ich verſtehe dich, Spaßvogel,“ ſagte der
Mann! „Bin auch gerade jezt wild genug
um zu lachen, und dir meine Geſchichte zu
erzaͤhlen. Doch, beim Himmel, laß dir keine
[62] ernſte Miene dabei entwiſchen, ſonſt machſt du
mich in dem Augenblicke ſtumm!“ —


„Sorge nicht, Kamerad, ich lache mit,“
antwortete ich, und jener ſezte ſich unter eine
ſteinerne, am Grabe betende Ritterfamilie,
und hub an:


„Es iſt, du [wirſt] mir’s zugeben, verdammt
langweilig, ſeine eigene Geſchichte von Perio-
den zu Perioden, ſo recht gemuͤthlich, aufzu-
rollen; ich bringe ſie deshalb lieber in Hand-
lung, und fuͤhre ſie als ein Marionettenſpiel
mit dem Hanswurſt auf; da wird das Ganze
anſchaulicher und poſſirlicher.


Zuerſt giebt es eine Mozartſche Sympho-
nie von ſchlechten Dorfmuſikanten exekutirt,
das paßt ſo recht zu einem verpfuſchten Leben,
und erhebt das Gemuͤth durch die großen Ge-
danken, indem man zugleich bei dem Gekrazze
des Teufels werden moͤgte. — Dann kommt
[63] der Hanswurſt, und entſchuldigt den Mario-
nettendirektor, weil er es wie unſer Herrgott
gemacht, und die wichtigſten Rollen den talent-
loſeſten Akteuren anvertraut habe; er leitet
grade daraus aber auch wieder das Gute her,
daß das Stuͤck ruͤhrend ausfallen muͤſſe, eben
wie es bei großen tragiſchen Stoffen der Fall
ſei, die durch kleine gewoͤhnliche Dichter bear-
beitet wuͤrden. Ueber das Leben und den
Zeitkarakter macht er die hoͤchſt albernen Be-
merkungen, daß beide jezt mehr ruͤhrend als
komiſch ſeyen, und daß man jezt weniger
uͤber die Menſchen lachen als weinen koͤnne,
weshalb er denn auch ſelbſt ein moraliſcher
und ernſthafter Narr geworden, und immer
nur im edlen Genre ſich zeige, wo er vielen
Applaus bekaͤme.


Darauf treten die hoͤlzernen Puppen ſelbſt
auf; zwei Bruͤder ohne Herzen umarmen ſich,
und der Hanswurſt lacht uͤber das Zuſammen-
klappern der Arme, und uͤber den Kuß, wo-
[64] bei ſie die ſteifen Lippen nicht bewegen koͤnnen.
Der eine hoͤlzerne Bruder bleibt im Mario-
nettenkarakter, und druͤckt ſich unendlich ſteif
aus, macht auch lange trockene Perioden, worin
gar kein Leben hinein kommen will, und die
deshalb Muſter im proſaiſchen Style abgeben.
Die andere Puppe aber moͤchte gern einen le-
bendigen Akteur affektiren, und ſpricht hin und
wieder in ſchlechten Jamben, reimt auch wohl
gar zu Zeiten die Endſylben, und der Hans-
wurſt nikt dabei mit dem Kopfe, und haͤlt
eine Rede uͤber die Waͤrme des Gefuͤhls in
einer Marionette, und uͤber den eleganten
Vortrag bei tragiſchen Gedichten. — Darauf
geben ſich die Bruͤder die hoͤlzernen Haͤnde und
gehen ab. Der Hanswurſt tanzt ein Solo
zur Zugabe, und dann redet im Zwiſchenakte
Mozart wieder durch die Dorfmuſikanten.


Jezt gehts weiter. Zwei neue Puppen
treten auf, eine Kolombine mit einem Pagen,
der den Sonnenſchirm uͤber ſie ausſpannt; die
[65] Kolombine iſt die prima donna der Geſellſchaft,
und ohne Schmeichelei das Meiſterſtuͤck des
Formenſchneiders. Wahrhaft griechiſche Kon-
ture, und alles an ihr ins Ideale hinuͤber-
gearbeitet. Der eine Bruder kommt, derje-
nige, der vorher in Proſa ſprach; er erblickt
ſie, ſchlaͤgt ſich auf die Stelle des Herzens,
redet darauf ploͤzlich in Verſen, reimt alle
Endſylben, oder bringt die Aſſonanz in A und
O an, daß die Kolombine daruͤber erſchrickt,
und mit dem Pagen davon laͤuft. Jener will
ihr nachſtuͤrzen, rennt aber, weil der Mario-
nettendirektor hier ein Verſehen macht, ſehr
hart [gegen] den Hanswurſt, der nun, aus dem
Stegreife, eine ſehr boshafte ſatiriſche Rede
haͤlt, worin er ihm darthut, daß es ſeinem
Schoͤpfer — dem Marionettendirektor nemlich
— nicht gefalle, ihm die Dame zu beſtimmen,
und daß dadurch eben das Stuͤck recht toll und
komiſch werden wuͤrde, indem ein melancholi-
ſcher Narr die poſſirlichſte Perſon in einem
Poſſenſpiele abgaͤbe. — Die andere Puppe
5
[66] ſtoͤßt Fluͤche aus, laͤſtert ſogar in Verzweiflung
auf den Direktor, wobei den Zuſchauern vor
Lachen die Thraͤnen aus den Augen ſtuͤrzen.
Zulezt faßt ſie aber doch noch Hoffnung die
Dame wiederzufinden, und beſchließt wenig-
ſtens das ganze Theater zu durchſuchen. Der
Hanswurſt begleitet ſie.


Im dritten Akte erſcheint die Kolombine
wieder, und thut ſehr ſchoͤn mit der andern
Brudermarionette, ſie ſingen auch ein zaͤrtliches
Duett mit einander, und wechſeln ſodann die
Ringe, worauf ein alter geſchaͤftiger Pantalon
mit Muſikanten ankommt, die viel luſtige
Muſik abſpielen, wobei man nur allein die
Toͤne nicht hoͤrt, was auf die Zuſchauer einen
ſonderbaren Eindruck macht. Zulezt wird bei
der ſtummen Muſik getanzt, und der Panta-
lon macht recht gute Bemerkungen uͤber ſein
muſikaliſches Gehoͤr, vertheidigt auch das Maͤhr-
chen, daß die Toͤne am Nordpole gefroͤren, und
nur im warmen Suͤden wieder aufthaueten
[67] und hoͤrbar wuͤrden. Das Alles iſt ſo ſonder-
bar, daß man ſchlechterdings nicht weiß, ob
man’s ernſthaft oder luſtig nehmen ſoll; einige
geſcheute Leute unter den Zuſchauern halten’s
gar fuͤr toll.


Als jene beiden erſten endlich zu Bette ge-
gangen ſind, kommt der Hanswurſt mit dem
andern Bruder wieder. Dieſer ſpricht, wie er
weite Reiſen von einem Pole zum andern ge-
macht, und doch die Kolombine nicht gefun-
den, weshalb er verzweifeln und ſich ums
Leben bringen wollte. Der Hanswurſt oͤffnet
eine Klappe an der Bruſt der Marionette und
findet wirklich jezt zu ſeinem Erſtaunen ein
Herz darin, woruͤber er beſorgt wird und in
der Angſt mehrere geſcheute Ideen bekommt,
z. B. daß Alles in dem Leben, ſowohl der
Schmerz wie die Freude, nur Erſcheinung ſei,
wobei nur blos das ein boͤſer Punkt, daß die
Erſcheinung ſelbſt nie zur Erſcheinung kaͤme,
weshalb die Marionetten es denn auch nie-
[68] mals ahneten, daß man ſie zum Beſten haͤtte
und blos zum Zeitvertreibe mit ihnen ſpielte,
ſondern ſich vielmehr ſehr ernſthafte und be-
deutende Perſonen duͤnkten. — Er will ihm
darauf das Weſen einer Marionette ſelbſt be-
greiflich machen, konfundirt ſich aber beſtaͤndig
dabei, und ſteht nach einer langen ſehr drol-
ligen Rede wieder am Ende da, wo er anfing.
— Nun lachte er in der Stille haͤmiſch ins Faͤuſt-
chen und geht ab. —


Im vierten Akte treffen die beiden Bruͤder
zuſammen, und indem der mit dem Herzen
redet, werden ploͤtzlich die ſtummen Toͤne aus
dem vorigen Akte hoͤrbar, und begleiten die
Worte, woruͤber der Bruder ohne Herz ganz
konfus wird. Arlequin kommt nun auch dazu
und ſpottet uͤber die Liebe, weil ſie keine he-
roiſche Empfindung ſei, und nicht fuͤr das all-
gemeine Beſte benuzt werden koͤnne. Er for-
dert auch den Direktor auf, ſie fuͤr die Folge
ganz abzuſchaffen, und reine moraliſche Ge-
[69] fuͤhle bei ſeiner Truppe einzufuͤhren. Zulezt
dringt er auf eine Reviſion des Menſchenge-
ſchlechts und auf einige hoͤchſtnoͤthige Weltre-
paraturen; beſteht auch ſehr trotzig darauf zu
wiſſen, weshalb er den Narren eines ihm un-
bekannten Publikums abgeben muͤſſe.


Nun wird eine tragiſche Situation ſehr
ſchlecht ausgefuͤhrt. Die ſchoͤne Kolombine er-
ſcheint nemlich, und als der Bruder ohne
Herz ſie dem andern als ſeine Gemahlin vor-
ſtellt, faͤllt dieſer ohne ein Wort zu ſagen,
hoͤchſt ungeſchickt, mit dem hoͤlzernen Kopfe
auf einen Stein. Jene beiden laufen fort,
um Huͤlfe zu ſenden; der Hanswurſt aber
hebt ihn auf und indem er ihm die blutige
Stirn abwiſcht, bittet er ihn ganz gelaſſen,
daß, weil es keine Dinge an ſich gaͤbe, er ſich
den Stein, ſo wie die ganze Geſchichte lieber
aus dem Kopfe ſchlagen moͤge. Auch lobt er
den Direktor, daß er das griechiſche Fatum abge-
ſchaft und dafuͤr eine moraliſche Theaterord-
[70] nung eingefuͤhrt habe, nach der Alles zulezt
ſich gut aufloͤſen muͤſſe.


Der lezte Akt iſt nun gar zum Todtlachen.
Erſt werden alberne Walzer geſpielt, um die
Gemuͤther zu beſaͤnftigen; dann erſcheint die
Marionette mit dem Herzen, und beweiſet der
Kolombine durch Syllogismen und Sophis-
men, daß der Direktor die Puppen vertauſcht,
und ſie, in einem Irrthume, ſeinem Bruder
zur Gemahlin gegeben, da ſie doch dem komi-
ſchen Ausgange des Stuͤcks gemaͤß, ihm ſelbſt
gehoͤre. Die Kolombine ſcheint ihm zu glau-
ben, will aber doch aus Moralitaͤt und Ach-
tung gegen den Marionettendirektor es nicht
gehabt haben, worauf er in Verzweiflung ge-
raͤth und kurze Anſtalt ſie zu entfuͤhren macht.
Sie ſtoͤßt ihn veraͤchtlich zuruͤck, da gebehrdet
er ſich wie ein Raſender, rennt die hoͤlzerne
Stirn gegen die Wand, und wendet die Aſſo-
nanz in U an. Zulezt ſtuͤrzt er fort, und
ſchleudert nur noch den ſchoͤnen Pagen aus dem
[71] zweiten Akte, der eben ſchlaftrunken, im
Nachtkleide, voruͤbergehen will, in das Zim-
mer, das er hinter ſich zuſchließt.


Nach einer kurzen Pauſe erſcheint er wie-
der mit der Bruder-Marionette, die einen
gezogenen Degen in der Hand haͤlt, und nach
einer kurzen ſteifen Tirade, erſt den Pagen,
dann die Kolombine und endlich ſich ſelbſt nieder-
ſtoͤßt. Der Bruder ſteht ganz ſtier und dumm
unter den drei hoͤlzernen Puppen, die rings
umher auf der Erde liegen; dann greift er,
ohne ein Wort weiter zu ſagen, ebenfalls nach
dem Degen, um auch ſich ſelbſt, zu guter
lezt, hinterherzuſenden; doch in dieſem Au-
genblicke reißt der Drath, den der Direktor
zu ſtarr anzieht, und der Arm kann den Stoß
nicht vollfuͤhren und haͤngt unbeweglich nieder;
zugleich ſpricht es wie eine fremde Stimme
aus dem Munde der Puppe und ruft: „Du
ſollſt ewig leben!“ —


Nun erſcheint der Hanswurſt wieder um ihn
zu beſaͤnftigen und zu troͤſten, fuͤhrt auch un-
[72] ter andern, als er es gar zu arg macht, [aͤr-
gerlich]
an, wie albern es ſei, wenn es ei-
ner Marionette einfiele uͤber ſich ſelbſt zu re-
flektiren, da ſie doch blos der Laune des Di-
rektors gemaͤß, ſich betragen muͤſſe, der ſie
wieder in den Kaſten lege, wenn es ihm ge-
fiele. Dann ſagt er auch manches Gute uͤber
die Freiheit des Willens und uͤber den Wahn-
ſinn in einem Marionettengehirne, den er
ganz realiſtiſch und vernuͤnftig abhandelt; alles
das um der Puppe zu beweiſen, wie toll es
eigentlich von ihr ſei dergleichen Dinge ſehr
hoch zu nehmen, indem alles zulezt doch auf
ein Poſſenſpiel hinausliefe, und der Hanswurſt
im Grunde die einzige vernuͤnftige Rolle in der
ganzen Farçe abgaͤbe, eben weil er die Farçe
nicht hoͤher naͤhme als eine Farçe.“


Hier hielt der Mann einen Augenblick inne,
und ſagte dann in recht luſtig wilder Laune:
„Da haſt du das ganze Faſtnachtsſpiel, worin
ich ſelbſt den Bruder mit dem Herzen darge-
[73] ſtellt habe. Ich finde es uͤbrigens recht wohl
gethan, ſeine Geſchichte ſo in Holz zu ſchniz-
zen und abzuſpielen, man kann dabei recht
boshaft ſein, ohne daß die Moraliſten etwas
dagegen einwenden, und es eine Laͤſterung
heißen duͤrfen. Auch erſcheint alles recht er-
haben unmotivirt, wie es doch in den ur-
ſpruͤnglichen Verhaͤltniſſen wirklich iſt, obgleich
wir albernen Menſchen im Kleinen gern moti-
viren moͤgen, dagegen unſer Director es gar
nicht thut, und keine Rechenſchaft giebt, wes-
halb er ſo manche verpfuſchte Rolle, wie ich
z. B. eine bin, in ſeinem Faſtnachtsſpiele nicht
ausſtreichen will. O ſchon ſeit vielen Men-
ſchenaltern habe ich mich beſtrebt aus dem
Stuͤcke herauszuſpringen, und dem Direktor
zu entwiſchen, aber er laͤßt mich nicht fort, ſo
pfiffig ich es auch anfangen mag. Das Ueber-
druͤßigſte dabei iſt die Langeweile, die ich
immer mehr empfinde; denn du ſollſt wiſſen,
daß ich hier unten ſchon viele Jahrhunderte
als Akteur gedient habe, und eine von den
[74] ſtehenden italieniſchen Masken bin, die gar
nicht vom Theater herunterkommen.“


„Ich hab’s auf alle Weiſe verſucht. An-
fangs gab ich mich bei den Gerichten an, als
großen Boͤſewicht und dreifachen Moͤrder; ſie
unterſuchten’s und thaten endlich den Aus-
ſpruch: ich muͤſſe leben bleiben, indem ſich
aus meiner Defenſion ergaͤbe, wie ich nicht
in beſtimmten und ausdruͤklichen Worten den
Mord beauftragt, und er mir nur hoͤchſtens
als eine geiſtige Handlung zuzurechnen ſei, die
nicht vor ein forum extornum gehoͤre. Ich
verwuͤnſchte meinen Defenſor, und die Folge
war ein leichter Injurienprozeß, womit man
mich laufen ließ.“


„Darauf nahm ich Kriegsdienſte, und ver-
ſaͤumte keine Schlacht; doch zeichnete das
Schickſal meinen Namen auf keine einzige
Kugel, und der Tod umarmte mich auf der
großen Wahlſtaͤtte unter tauſend Sterbenden,
[75] und zerriß ſeinen Lorbeerkranz, um ihn mit
mir zu theilen. Ja ich mußte nun gar in dem
verhaßten Drama eine glaͤnzende Heldenrolle
uͤbernehmen, und verwuͤnſchte knirſchend meine
Unſterblichkeit, die mir auf allen Seiten in
den Weg trat.“


„Tauſendmal ſezte ich den Giftbecher an
die Lippen, und tauſendmal entſtuͤrzte er der
Hand, ehe ich ihn leeren konnte. Zu jeder
Mitternachtsſtunde trete ich, wie die mechani-
ſche Figur an dem Zifferblatte einer Uhr, aus
meiner Verborgenheit hervor, um den To-
desſtoß zu vollfuͤhren, gehe aber jedesmal,
wenn der lezte Schlag verhallt iſt, wie ſie,
zuruͤck, um ſofort ins Unendliche wieder zu
kehren und abzugehen. O wuͤßte ich nur die-
ſes immerfort ſauſende Raͤderwerk der Zeit
ſelbſt aufzufinden, um mich hinein zu ſtuͤrzen
und es auseinander zu reißen, oder mich zer-
ſchmettern zu laſſen. Die Sehnſucht dieſen
Vorſaz auszufuͤhren bringt mich oft zur Ver-
zweiflung; ja ich mache ſelbſt wie im Wahn-
[76] ſinne tauſend Plane es moͤglich zu machen —
dann ſchaue ich aber ploͤzlich tief in mich ſelbſt
hinein, wie in einen unermeßlichen Abgrund,
in dem die Zeit, wie ein unterirdiſcher nie
verſiegender Strom dumpf dahin rauſcht, und
aus der finſteren Tiefe ſchallt das Wort ewig
einſam herauf, und ich ſtuͤrze ſchaudernd vor
mir ſelbſt zuruͤk, und kann mir doch nimmer
entfliehen.“ —


Hier endete der Mann, und in mir ſtieg
die heiße Sehnſucht auf, dem armen Schlaf-
loſen das wohlthaͤtige Opium mit eigener
Hand zu reichen, und ihm den langen ſuͤßen
Schlaf, nach dem ſein heißes uͤberwachtes Auge
vergeblich ſchmachtete, zuzufuͤhren. Doch fuͤrch-
tete ich, daß in dem entſcheidenden Augen-
blicke ſein Wahnſinn von ihm weichen koͤnnte,
und er, ſterbend, das Leben, eben um der
Vergaͤnglichkeit willen, wieder liebgewinnen
moͤgte. O, aus dieſem Widerſpruche iſt ja
der Menſch geſchaffen; er liebt das Leben um
des Todes willen, und er wuͤrde es haſſen,
[77] wenn das, was er fuͤrchtet, vor ihm verſchwun-
den waͤre.


So konnte ich nichts fuͤr ihn thun, und
uͤberließ ihn ſeinem Wahnſinn und ſeinem
Schickſale.


[[78]]

Fuͤnfte Nachtwache.


Die vorige Nachtwache waͤhrte lange, die
Folge war, wie bey Jenem, Schlafloſigkeit, und
ich mußte den hellen proſaiſchen Tag, den ich
ſonſt meiner Gewohnheit gemaͤß, wie die Spa-
nier, zur Nacht mache, durchwachen, und mich
in dem buͤrgerlichen Leben und unter den vie-
len wachen Schlaͤfern langweilen.


Da konnte ich nun nichts beſſers thun, als
mir meine poetiſch tolle Nacht in klare lang-
weilige Proſa uͤberſetzen, und ich brachte
das Leben des Wahnſinnigen recht motivirt
[79] und vernuͤnftig zu Papiere, und ließ es zur
Luſt und Ergoͤzlichkeit der geſcheuten Tagwand-
ler abdrucken. Eigentlich war es aber nur ein
Mittel mich zu ermuͤden, und ich wollte es
in dieſer Nachtwache mir vorleſen, um nicht
zum zweitenmale mit der Proſa und dem Tage
mich einlaſſen zu muͤſſen.


Das geſchieht denn auch nun jezt ganz plan,
wie folget:


Don Juans Vaterland war das heiße
gluͤhende Spanien, in dem Baͤume und Men-
ſchen ſich weit uͤppiger entfalten und das ganze
Leben ein feurigeres Kolorit annimmt. Nur
er allein ſchien wie ein nordiſcher Felſen in
dieſen ewigen Fruͤhling verſezt zu ſein, er
ſtand kalt und unbeweglich da und nur dann
und wann lief ein Erdbeben unter ihm hin,
daß ſie erſchraken, und es ihnen unheimlich in
ſeiner Naͤhe wurde.


Sein Bruder Don Ponce dagegen war
jungfraͤulich mild, und wenn er ſprach, bluͤhe-
ten ſeine Worte in Blumen auf und ſchlangen
[80] ſich um das Leben, durch das er wie durch ei-
nen gruͤn verhuͤllten Zaubergarten hinwandelte.
Alle liebten ihn; Juan haßte ihn nicht, aber
ſein Ausdruck war ihm zuwider, weil er nichts
ruhig und groß zu nehmen wußte, ſondern
alles durch uͤberladene Verzierungen verklei-
nerte, und uͤberall ſeine bunten Schnoͤrkel zu-
vor anpinſeln mußte, um ſich die Dinge ge-
faͤllig zu machen, wie ſchlechte Poeten, die
die uͤppig reiche Natur noch zum zweitenmale
auszuſchmuͤcken verſuchen, ſtatt eine neue
ſelbſtſtaͤndige, durch eigene Kraft zu erſchaf-
fen.


Ohne Theilnahme lebten ſie bei einander, und
wenn ſie ſich umarmten, ſo ſchienen ſie wie zwei
erſtarrte Todte auf dem Bernhard Bruſt gegen
Bruſt gelehnt, ſo kalt war es in den Herzen,
in denen weder Haß noch Liebe herrſchte; nur
Ponce hielt ihre unbeweglich laͤchelnde Maske
vor das Geſicht und verſchwendete viel freund-
liche Worte bei einem reinen angenehmen
[81] Vortrage ohne genialiſche Haͤrten und herzliche
Rohheit. Juan wurde dann nur ſproͤder und
zuruͤckſtoßender und dieſer ſtrenge Norden we-
hete feindlich in den milden Suͤden daß die
erkuͤnſtelten Blumen ſchnell entblaͤtterten.


Das Schickſal ſchien ſich zu erzuͤrnen uͤber
die Gleichguͤltigkeit zweier verwandten Herzen;
und es warf tuͤckiſch Haß und Aufruhr zwiſchen
ſie, damit ſie, die die Liebe verſchmaͤht hat-
ten, als zornige Feinde ſich einander naͤhern
moͤchten. —


Es war zu Sevilla als Juan untheilneh-
mend einem Stiergefechte beiwohnte. Sein
Blick ſchweif;te von dem Amphitheater ab, uͤber
die uͤber einander emporſteigenden Reihen der
Zuſchauer, und haftete weniger bei der leben-
den Menge als den bunten phantaſtiſchen Ver-
zierungen und den geſtickten Teppichen die die
Baluſtraden bedeckten. Endlich wurde er auf
eine einzige noch leere Loge aufmerkſam, und
6
[82] er ſtarrte mechaniſch dahin, wie wenn hier erſt
der Vorhang des wahren Schauſpiels fuͤr ihn
ſich heben wuͤrde. Nach einer langen Pauſe
erſchien eine einzelne ganz in ſchwarze Schleier
gehuͤllte hohe weibliche Geſtalt, und hinter ihr
ein bildſchoͤner Page, der durch den ausge-
ſpannten Sonnenſchirm ſie vor der Hitze ſchuͤzte.
Sie blieb unbeweglich auf der Tribune ſtehen,
und eben ſo unbeweglich ſtand ihr Juan gegen-
uͤber; es war ihm als wenn das Raͤthſel ſei-
nes Lebens hinter dieſen Schleiern verborgen
waͤre, und doch fuͤrchtete er den Augenblick
wenn ſie fallen wuͤrden, wie wenn ein bluti-
ger Bankos Geiſt ſich daraus erheben ſollte.


Endlich war der Moment gekommen, und
wie eine weiße Lilie bluͤhete eine zauberiſche
weibliche Geſtalt aus den Gewaͤndern auf,
ihre Wangen ſchienen ohne Leben und die kaum
gefaͤrbten Lippen waren ſtill geſchloſſen; ſo
glich ſie mehr dem bedeutungsvollen Bilde ei-
nes wunderbaren uͤbermenſchlichen Weſens, als
einem irdiſchen Weibe.


[83]

Juan fuͤhlte zugleich Entſetzen und heiße
wilde Liebe, es verwirrte ſich tief in ihm, und
ein lauter Schrei war die einzige Aeuſſerung
die ſeinem Munde entfuhr. Die Unbekannte
blickte raſch und ſcharf nach ihm hin, warf in
demſelben Augenblicke die Schleier uͤber, und
war verſchwunden.


Juan eilte ihr nach, und fand ſie nicht.
Er durchſtrich Sevilla — vergeblich; Angſt
und Liebe trieben ihn fort und wieder zuruͤck,
doch aber erſchien ihm oft in einzelnen ſchnell
voruͤberfliegenden Sekunden der Augenblick in
dem er ſie finden wuͤrde eben ſo entſezlich als
erwuͤnſcht; er bemuͤhete ſich dieſe Ahnung nur
ein einzigesmal feſtzuhalten um ſie zu begrei-
fen, aber ſie rauſchte jedesmal wie ein naͤcht-
licher Traum ſchnell an ihm voruͤber, und
wenn er ſich beſann war es wieder dunkel und
Alles in ſeinem Gedaͤchtniſſe ausgeloͤſcht. —


Dreimal hatte er ganz Spanien durchkrei-
ſet, ohne das blaſſe Antlitz wieder zu treffen,
das toͤdtlich und liebend zugleich in ſein Leben
[84] zu ſchauen ſchien; endlich trieb ihn ein un-
widerſtehliches Heimweh nach Sevilla zuruͤck;
und der erſte der ihm dort begegnete, war
Ponce.


Beide Bruͤder ſchienen vor einander zu er-
ſchrecken, denn beide waren einander fremd
bis zum Raͤthſel geworden. Juans Haͤrte war
verſchwunden und er ſtand ganz in Flammen
wie ein Vulkan, durch deſſen tauſendjaͤhrige
Schichten das innere Feuer ſich mit einemmale
Luft machte; aber in ſeiner Naͤhe ſchien es
jezt nur um ſo gefaͤhrlicher. Ponces ehmalige
Milde dagegen war zur Sproͤdigkeit geworden,
und er ſtand kalt neben dem gluͤhenden Bru-
der da, aller falſcher Flitter war von ſeinem
Leben abgefallen, und er glich einem Baume
der ſeines vergaͤnglichen Fruͤhlingsſchmuckes be-
raubt, die nackten Aeſte ſtarr und verworren
in die Luͤfte ausſtreckt. — So entzuͤndet der-
ſelbe Blizſtrahl einen Wald daß er tauſend
Naͤchte hindurch den Horizont beleuchtet, in-
[85] deß er fluͤchtig uͤber die Haide hinfaͤhrt und
nur die ſpaͤrlichen Blumen verſengt daß ſie
verdorren und keine Spur zuruͤcklaſſen.


Kalt hoͤflich bat Ponce Don Juan ihn zu
ſeiner Wohnung zu begleiten, damit er ihm
ſeine Gemahlin vorſtellen koͤnne. Juan folgte
mechaniſch. Es war eben die Zeit der Sieſta;
die Bruͤder traten in einen von dichtem Wein-
laube umhuͤllten Pavillon — da ruhete an ei-
nem marmornen Denkſteine eben die blaſſe
Geſtalt ſchlummernd und unbeweglich, neben
dem ſteinernen Genius des Todes, deſſen um-
geſtuͤrzte Fackel ihre Bruſt beruͤhrte. Juan
ſtand ſtarr und eingewurzelt, die finſtere Ah-
nung ſtieg raſch vor ſeinem Geiſte auf und
verſchwand nicht wieder, und wurde furchtbar
deutlich, wie das ſich ploͤzlich aufloͤſende Raͤth-
ſel des Oedipus. Dann verließen ihn die
Sinne, und er ſank bewuſtlos auf den Stein
nieder.


Als er wieder erwachte, fand er ſich allein,
und nur der ſtumme ernſte Juͤngling war bei
[86] ihm zuruͤk geblieben. Sturm und Aufruhr im
Innern, ſtuͤrzte er hinaus ins Freie. —


Und alles war um ihn her verwandelt und
anders worden; die alte Zeit ſchien ſich wie-
derzugebaͤhren, und das graue Schickſal er-
wachte aus ſeinem tiefen Schlafe, und herrſchte
wieder uͤber Erde und Himmel. Eine Furie
verfolgte ihn, wie den Oreſtes, auf jedem
Schritte, und hob oft tuͤckiſch das Schlangen-
haar, und zeigte ihm ihr ſchoͤnes Antliz. —


Ponce mußte auf laͤngere Zeit Sevilla ver-
laſſen, da ſchlich Don Juan aus ſeiner tiefen
Verborgenheit hervor, wie ein lichtſcheuer Ver-
brecher. In ſeiner Seele war alles feſt und
entſchieden, doch floh er ſeinen eigenen Um-
gang, um dem dunkeln Gefuͤhle keine Worte
zu geben, und ſich nicht gegen ſich ſelbſt er-
klaͤren zu muͤſſen. So ſuchte er, gegen ſich
geheimnißvoll, Ponces Landgut auf, und trat
in Donna Ines Zimmer; ſie erkannte ihn
[87] raſch, und die weiße Roſe bluͤhete zum erſten-
male roth und gluͤhend auf, und die Liebe be-
lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die
Abendſonne brannte durch Laub und Bluͤthen,
und Ines ſchob kindlich ſchuldlos den Wan-
genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das ſie an-
ſtrahlte: dann ergriff ſie bebend die Harfe, und
wie Juan ihr Spiel mit der Floͤte begleitete,
hub das verbotene Geſpraͤch ohne Worte an,
und die Toͤne bekannten und erwiederten Liebe.
So bliebs bis Juan kuͤhner wurde, die myſti-
ſche Hieroglyphe verſchmaͤhete, und die ſchoͤne
geheimnißvolle Suͤnde in heller Rede offen-
barte. Da ſchwand die Daͤmmerung vor der
Unſchuldigen, ſie ſchien erſt jezt wie durch ei-
nen feindlichen Fackelglanz alles um ſich her
zu erkennen, und nannte zum erſtenmale
ſchaudernd und erſchrocken den Namen „Bru-
der!“


Die Sonne ging in demſelben Augenblicke
unter, und das eben noch gefaͤrbte Antliz war
ſchnell wieder blaß wie zuvor.


[88]

Juan verſtummte; Ines zog die Klocke,
und eben jener Page, ſchoͤn wie der Liebesgott,
trat in das Zimmer. — Juan entfernte ſich
ohne ein Wort zu reden.


Es war ſchon ganz finſter draußen im
Walde, er ſchritt gedankenlos vor ſich hin,
ploͤzlich ſtand Don Ponce dicht vor ihm, raſch
zog er den Dolch und fuͤhrte wild den Stoß,
— jezt kam er zur Beſinnung; der Dolch
ſtekte tief in dem Stamme eines Baumes,
und nur ſeine Phantaſie hatte den Bruder-
mord begangen.


Ponce kehrte endlich zuruͤck, aber Ines ge-
dachte der Stunde nicht gegen ihn, und ver-
huͤllte Liebe und Vergehen tief in ihre Bruſt.
Juan haßte den Tag, und lebte von jezt an
nur in der Nacht, denn was in ihm vorging
war lichtſcheu und gefaͤhrlich. Sobald es fin-
ſter wurde wandelte er jedesmal von dem
Orte ſeines Aufenthalts hin nach Ponces
[89] Landgute, und blikte nach Ines Fenſtern, doch
wenn der Morgen wieder grauete, entfernte
er ſich wild und grollend. Einmal ſah er Ines
und den Pagen beim Lichtſcheine, und ſeine
Phantaſie ſchuf ein Maͤhrchen, wie Ines ihn,
des Juͤnglings wegen, zuruͤckgeſezt habe, und
nur dieſem die ſuͤßen Stunden der Nacht heim-
lich weihe; da ſchwur er in wilder Eiferſucht
dem ſchoͤnen Knaben den Tod, und beſchloß
die erſte Gelegenheit zur Ausfuͤhrung zu er-
greifen. — Das Licht auf ihrem Zimmer er-
loſch nicht, er waͤhnte den Pagen noch immer
an ihrer Seite, harrte bebend vor Wuth und
Liebe bis zur Mitternachtsſtunde, dann ſchlich
er, ſeiner nicht mehr maͤchtig, ein halb Wahn-
ſinniger, hervor bis zur Thuͤr des Hauſes und
fand ſie nur angelehnt. Mit ungewiſſen wan-
kenden Schritten ging er vor ſich hin, und
kam vor Ines Zimmer — ein raſcher Druck,
und es war geoͤffnet.


Da lag die Blaſſe wieder wie an dem Sar-
kophage, das Nachtgewand war nur leicht um
[90] ſie her gewunden, und in das Saitenſpiel, das
ſie, noch ſchlummernd, an die Bruſt lehnte,
ſchlangen ſich braune Lockenkraͤnze. Juans
Lippen entfuhr unwillkuͤhrlich der Name ſeines
Bruders, da glaubte er ploͤzlich in der Schla-
fenden die Furie zu erblicken, die zwiſchen
ihnen beiden aufgeſtiegen, und die Locken die
das ſchoͤne Antliz umwallten, ſchienen ſich in
Schlangen zu verwandeln. Dann war ſie aber
wieder das Weib ſeiner Liebe, und er ſank,
außer ſich, zu ihren Fuͤßen nieder, und druͤkte
ſeine heißen Lippen in ihre Bruſt. Sie tau-
melte erſchrocken empor, erkannte ihn beim
Scheine des Nachtlichts, ſtieß ihn mit heftiger
Kraft von ſich, und ihr Blik druͤckte Schauder
und Entſezen aus.


Der einzige Blick zerſchmetterte ihn, doch
erhob ſich ſchnell ſein boͤſer Daͤmon, und er
ſtuͤrzte fort, bewußtlos was er thun wollte —
ein blutiger Vorſatz lag dunkel vor ſeiner
Seele.


[91]

Von dem Geraͤuſche erweckt taumelte der
Page ſchlaftrunken aus einem Zimmer im Vor-
ſaale, er ergriff ihn und ſagte raſch: „Deine
Gebietherin verlangt nach dir, ſie will in die
Fruͤhmeſſe!“ Der Page rieb ſich die Augen,
er blikte ihm nach, und ſah noch wie er in
Ines Zimmer verſchwand. Das Schickſal hatte
die Kataſtrophe tuͤckiſch vorbereitet; Don Juan
fand des Bruders Schlafgemach, riß ihn aus
dem erſten Schlummer, und rief ihm die Un-
treue ſeines Weibes zu. Ponce fuhr raſch auf
und wollte Erklaͤrung, aber er zog ihn heftig
mit ſich fort, und druͤkte ihm nur auf dem
Wege ſeinen Dolch in die Hand; dann ſchob er
ihn in das Zimmer.


Es war todtenſtill um Don Juan, er ſtand
furchtbar einſam in der Nacht, und ſuchte zaͤhn-
klappernd in dumpfer Angſt die eben weggege-
bene Waffe. Jezt entſtand ein Geraͤuſch und
die Thuͤr flog wie von ſelbſt aus den Angeln.


Da wurde das ſchrekliche Nachtſtuͤck beleuch-
tet. Der ſchoͤne Knabe lag ſchon im feſten
[92] Todesſchlummer auf dem Boden, und aus
Ines Bruſt floß der purpurrothe Strom, und
haftete auf dem ſchneeweißen Schleier wie
vorgeſtekte Roſen.


Juan ſtand ſtarr wie eine Bildſaͤule; Ines
blikte ihn feſt an, aber die blaſſe Lippe blieb
geſchloſſen und enthuͤllte nichts, dann ſenkte ſich
der tiefe Schlaf ſanft uͤber ihre Augen.


Als ſie ſtarb erwachte erſt Ponce, und er
ſchien jezt zum erſtenmale zu lieben, weil er
die Liebe verlohr, und ein liebendes Herz zu
fuͤhlen, um es zu durchbohren. Er vermaͤhlte
ſich ſtill wieder mit Ines.


Don Juan ſtand ſtumm und wahnſinnig
unter den Todten.


[[93]]

Sechste Nachtwache.


Was gaͤbe ich doch darum, ſo recht zuſam-
menhaͤngend und ſchlechtweg erzaͤhlen zu koͤn-
nen, wie andre ehrliche proteſtantiſche Dichter
und Zeitſchriftſteller die groß und herrlich da-
bei werden, und fuͤr ihre goldenen Ideen gol-
dene Realitaͤten eintauſchen. Mir iſts nun
einmal nicht gegeben, und die kurze ſimple
Mordgeſchichte hat mich Schweiß und Muͤhe
genug gekoſtet, und ſieht doch immer noch
kraus und bunt genug aus.


Ich bin leider in den Jugendjahren und
gleichſam im Keime ſchon verdorben, denn
[94] wie andere gelehrte Knaben und vielverſpre-
chende Juͤnglinge es ſich angelegen ſein laſſen
immer geſcheuter und vernuͤnftiger zu werden,
habe ich im Gegentheile ſtets eine beſondere
Vorliebe fuͤr die Tollheit gehabt, und es zu
einer abſoluten Verworrenheit in mir zu brin-
gen geſucht, eben um, wie unſer Herrgott,
erſt ein gutes und vollſtaͤndiges Chaos zu vol-
lenden, aus welchem ſich nachher gelegentlich,
wenn es mir einfiele, eine leidliche Welt zu-
ſammen ordnen ließe. — Ja es kommt mir zu
Zeiten in uͤberſpannten Augenblicken wohl gar
vor, als ob das Menſchengeſchlecht das Chaos
ſelbſt verpfuſcht habe, und mit dem Ordnen
zu voreilig geweſen ſei, weshalb denn auch
nichts an ſeinen gehoͤrigen Platz zu ſtehen kom-
men koͤnne, und der Schoͤpfer bald moͤglichſt
dazu thun muͤſſe die Welt, wie ein verungluͤck-
tes Syſtem auszuſtreichen und zu vernich-
ten. —


Ach, dieſe fixe Idee iſt mir uͤbel genug
bekommen, und haͤtte mich ſelbſt beinahe ein-
[95] mal um mein Nachtwaͤchteramt gebracht, in-
dem es mir in der lezten Stunde des Saͤku-
lums einfiel mit dem juͤngſten Tage vorzuſpu-
ken und ſtatt der Zeit die Ewigkeit auszuru-
fen, woruͤber viele geiſtliche und weltliche
Herren erſchrocken aus ihren Federn fuhren
und ganz in Verlegenheit kamen, weil ſie ſo
unerwartet nicht darauf vorbereitet waren.


Drollig genug machte ſich die Szene bei
dieſem falſchen juͤngſten Tages Lerm, wobei
ich den einzigen ruhigen Zuſchauer abgab, in-
deß alle Anderen mir als leidenſchaftliche Ak-
teurs dienen mußten. — O man haͤtte ſehen
ſollen was das fuͤr ein Getreibe und Gedraͤnge
wurde unter den armen Menſchenkindern und
wie der Adel aͤngſtlich durch einanderlief, und
ſich doch noch zu rangiren ſuchte vor ſeinem
Herrgott; eine Menge Juſtiz- und andere
Woͤlfe wollten aus ihrer Haut fahren und be-
muͤheten ſich in voller Verzweiflung ſich in
Schaafe zu verwandeln, indem ſie hier den in
[96] feuriger Angſt umherlaufenden Wittwen und
Waiſen große Penſionen ausſezten, dort un-
gerechte Urtheile oͤffentlich kaſſirten und die ge-
raubten Summen wodurch ſie die armen Teu-
fel zu Bettlern gemacht hatten, ſogleich nach
Ausgang des juͤngſten Tages zuruͤck zu zahlen
gelobten. So manche Blutſauger und Vam-
pyre denunciirten ſich ſelbſt als Haͤngens und
Koͤpfens wuͤrdig und drangen darauf, daß noch
in der Eile hier unten ihr Urtheil an ihnen
vollzogen wuͤrde, um die Strafe von hoͤherer
Hand von ſich abzuwenden. Der ſtolzeſte
Mann im Staate ſtand zum erſtenmale demuͤ-
thig und faſt kriechend mit der Krone in der
Hand und komplimentirte mit einem zerlump-
ten Kerl um den Vorrang, weil ihm eine
hereinbrechende allgemeine Gleichheit moͤglich
ſchien.


Aemter wurden niedergelegt, Ordensbaͤnder
und Ehrenzeichen eigenhaͤndig von ihren un-
wuͤrdigen Beſitzern abgeloͤſet; Seelenhirten
[97] verſprachen feierlich kuͤnftighin ihren Heerden
neben den guten Worten noch obendrein ein
gutes Beiſpiel in den Kauf zu geben, wenn
der Herrgott nur dieſesmal es noch beim Ein-
ſehen bewenden ließe.


O was kann ichs beſchreiben wie das Volk
vor mir auf der Buͤhne in und durcheinander
lief und in der Angſt betete und fluchte und
jammerte und heulte; und wie jeglicher Maske
auf dieſem zuſammengeblaſenen großen Balle,
die Larve von dem Antlitze fiel und man in
Bettlerkleidern Koͤnige und umgekehrt, in
Ritterruͤſtungen Schwaͤchlinge und ſo faſt im-
mer das Gegentheil zwiſchen Kleid und Mann
entdeckte.


Es freute mich daß ſie lange vor uͤbergro-
ßer Angſt das Zoͤgern der himmliſchen Krimi-
naljuſtiz gar nicht bemerkten, und die ganze
Stadt Zeit hatte, alle ihre Tugenden und La-
ſter aufzudecken und ſich gleichſam vor mir,
7
[98] ihrem lezten Mitbuͤrger, voͤllig zu entbloͤßen.
Das einzige geniale Stuͤckchen veruͤbte ein ſa-
tiriſcher Bube, der ſchon vorher aus Langer-
weile entſchloſſen war in das neue Saͤkulum
nicht mit hinuͤberzuwandern, und jezt in der
letzten Stunde des alten ſich erſchoß, um den Ver-
ſuch zu machen ob in dieſem Indifferenzmo-
mente zwiſchen Tod und Auferſtehen, das
Sterben noch auf einen Augenblick moͤglich ſei,
damit er nicht mit der ganzen uͤbergroßen Le-
benslangeweile in die Ewigkeit ohne weiteres
hinuͤbermuͤſſe.


Außer mir gab es uͤbrigens nur noch eine
ruhige Perſon, und zwar den Stadtpoeten,
der aus ſeinem Dachfenſter trotzig in das Mi-
chel Angelos Gemaͤlde hinabſchauete, und auf
ſeiner poetiſchen Hoͤhe auch das Weltende poe-
tiſch nehmen zu wollen ſchien.


Ein Aſtronom nahe bei mir merkte endlich
an, daß dieſer große actus solennis ſich doch
[99] etwas zu lange verzoͤgere und daß das feurige
Schwerdt im Norden, ſtatt des Gerichtsſchwer-
tes auch wohl nur als ein bloßer Nordſchein
zu nehmen ſei. In dieſem entſcheidenden Mo-
mente, da ſchon einige von den Schaͤchern die
Koͤpfe wieder empor recken wollten, hielt ichs
fuͤr nuͤzlich, ſie wenigſtens waͤhrend einer kur-
zen erbaulichen Rede noch in ihrer Zerknir-
ſchung feſtzuhalten zu ſuchen, und ich hub fol-
gender Geſtalt an:


„Theuerſte Mitbuͤrger!


Ein Aſtronom kann in dieſem Falle nicht
als ein kompetenter Richter angeſehen werden,
indem ein ſo wichtiges Phaͤnomen, das uͤber
uns am Himmel heraufzuziehen ſcheint, kei-
nesweges wie ein unbedeutender Komet berech-
net werden kann, und nur einmal waͤhrend
der ganzen Weltgeſchichte erſcheint; laßt uns
darum unſere feierliche Stimmung nicht ſo leicht-
ſinnig aufgeben, ſondern vielmehr einige fuͤr
[100] unſern Standpunkt wichtige und zweckmaͤßige
Betrachtungen anſtellen.


Was liegt uns wohl am Weltgerichtstage
naͤher als ein Ruͤckblick auf den unter uns
wankenden Planeten, der nun mit ſeinen Pa-
radieſen und Kerkern mit ſeinen Narrenhaͤu-
ſern und Gelehrten Republiken zuſammenſtuͤr-
zen ſoll; laßt uns deshalb in dieſer lezten
Stunde, da wir die Weltgeſchichte abſchließen
wollen, nur kurz und ſummariſch uͤberſchauen,
was wir, ſeit dieſer Erdball aus dem Chaos
hervorgeſtiegen, auf ihm getrieben und ausge-
fuͤhrt haben. Es iſt ſeit Adam her eine lange
Reihe von Jahren — wenn wir nicht gar die
Zeitrechnung der Chineſer als die guͤltige an-
nehmen wollen — was haben wir aber darin
vollbracht? — Ich behaupte: Gar Nichts!


Staunet mich nicht ſo an; der heutige Tag
iſt eben nicht dazu eingerichtet ſich wichtig zu
machen, und es thut Noth daß wir uns uͤber
[101] Hals und Kopf noch ein wenig mit der Be-
ſcheidenheit zu beſchaͤftigen ſuchen.


Sagt mir, mit was fuͤr einer Mine wollt
ihr bei unſerm Herrgott erſcheinen, ihr meine
Bruͤder, Fuͤrſten, Zinswucherer, Krieger,
Moͤrder, Kapitaliſten, Diebe, Staatsbeam-
ten, Juriſten, Theologen, Philoſophen, Nar-
ren und welches Amtes und Gewerbes ihr ſein
moͤgt; denn es darf heute keiner in dieſer all-
gemeinen Nationalverſammlung ausbleiben, ob
ich gleich merke, daß mehrere von euch ſich
gern auf die Beine machen moͤchten um Reis-
aus zu nehmen.


Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt
ihr vollbracht, das der Muͤhe werth waͤre?
Ihr Philoſophen z. B. habt ihr bis jezt et-
was Wichtigers geſagt, als daß ihr nichts zu
ſagen wuͤßtet? — das eigentliche und am mei-
ſten einleuchtende Reſultat aller bisherigen
Philoſophien! — Ihr Gelehrten, was hat
eure Gelehrſamkeit anders bezwekt als eine
[102] Zerſezung und Verfluͤchtigung des menſchlichen
Geiſtes um zulezt mit Muſe und einfaͤltiger
Wichtigkeit an das uͤbriggebliebene caput mor-
tuum
euch zu halten. — Ihr Theologen, die
ihr ſo gern zur goͤttlichen Hofhaltung gezaͤhlt
werden moͤchtet, und indem ihr mit dem Al-
lerhoͤchſten liebaͤugelt und fuchsſchwaͤnzt, hier
unten eine leidliche Moͤrdergrube veranſtaltet
und die Menſchen ſtatt ſie zu vereinigen in
Sekten auseinander ſchleudert und den ſchoͤ-
nen allgemeinen Bruͤder und Familienſtand
als boshafte Hausfreunde auf immer zerriſſen
habt. — Ihr Juriſten, ihr Halbmenſchen, die
ihr eigentlich mit den Theologen nur eine
Perſon ausmachen ſolltet, ſtatt deſſen euch
aber in einer verwuͤnſchten Stunde von ihnen
trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Gei-
ſter. Ach nur auf dem Rabenſteine reicht ihr
Bruͤderſeelen vor dem armen Suͤnder auf dem
Gerichtsſtuhle euch nur noch die Haͤnde und
der geiſtliche und weltliche Henker erſcheinen
wuͤrdig neben einander! —


[103]

Was ſoll ich gar von euch ſagen, ihr
Staatsmaͤnner, die ihr das Menſchengeſchlecht
auf mechaniſche Prinzipien reduzirtet. Koͤnnt
ihr mit euern Maximen vor einer himmliſchen
Reviſion beſtehen, und wie wollt ihr, da wir
jezt in einen Geiſterſtaat uͤberzugehen im Be-
griffe ſind, jene ausgepluͤnderten Menſchenge-
ſtalten placiren, von denen ihr gleichſam nur
den abgeſtreiften Balg, indem ihr den Geiſt
in ihnen ertoͤdtetet, zu benuzen wußtet. —
O, und was draͤngt ſich mir nicht noch alles
auf uͤber die einzeln ſtehenden Rieſen, die Fuͤr-
ſten und Herrſcher, die mit Menſchen ſtatt
mit Muͤnzen bezahlen, und mit dem Tode
den ſchaͤndlichen Sklavenhandel treiben. —


O es hat mich toll und wild gemacht, und
wie ich die Erdenbrut jezt vor mir herum
kriechend erblicke mit ihren Verdienſten und
Tugenden, ſo moͤgte ich nur auf eine Stunde
bei dieſem allgemeinen Weltgerichte der Teufel
ſein, blos um euch eine noch kraͤftigere Rede
zu halten! —


[104]

Die feierliche Handlung zoͤgert noch immer,
wie ich ſehe, und es wird euch zur Bekehrung
noch Raum gegeben, ſo betet und heult denn,
ihr Heuchler, wie ihr es kurz vor dem
Tode zu machen pflegt, wenn ihr euer ver-
pfuſchtes Leben nicht beſſer anzuwenden wißt,
und unfaͤhig geworden ſeid, laͤnger zu ſuͤn-
digen.


Hinter Euch liegt die ganze Weltgeſchichte
wie ein alberner Roman, in dem es einige
wenige leidliche Karaktere, und eine Unzahl
erbaͤrmlicher giebt. Ach, euer Herrgott hat es
nur in dem einzigen verſehen, daß er ihn nicht
ſelbſt bearbeitete, ſondern es euch uͤberlies
daran zu ſchreiben. Sagt mir, wird er es
jezt wohl der Muͤhe werth halten, das ver-
pfuſchte Ding in eine hoͤhere Sprache zu uͤber-
ſetzen, oder muß er nicht vielmehr, wenn er
es in ſeiner ganzen Seichtigkeit vor ſich liegen
ſieht, es im Ingrim zerreißen, und euch mit
euren ganzen Planen der Vergeſſenheit uͤber-
[105] antworten? Ich ſeh’s nicht anders ein! denn
ihr alle, wie ich euch hier erblicke, koͤnnt ihr
wohl mit Recht auf den Himmel oder die
Hoͤlle Anſpruch machen? Fuͤr jenen ſeid ihr zu
ſchlecht, fuͤr dieſe zu langweilig! —


Die Gerichtsanſtalten ziehen ſich noch in
die Laͤnge, doch rathe ich euch werdet nicht
etwa beruhigter, rafft euch vielmehr zuſam-
men, um, bis es unter uns kracht, noch einige
huͤbſche Fortſchritte in der Zerknirſchung ge-
macht zu haben. Ich will mit den triftigſten
Gruͤnden losbrechen: der Herr verſchonte einſt
Sodom und Gomorra um eines einzigen Gerech-
ten willen, doch koͤnntet ihr frech genug ſein
zu folgern, daß er einiger leidlich Frommen
wegen einen ganzen Erdball voll Heuchler bei
ſich beherbergen werde. Thue jemand unter
euch auch nur einen einzigen vernuͤnf-
tigen Vorſchlag, wohin man euch plazi-
ren ſoll! Schon der ſeelige Kant hat es
euch dargethan, wie Zeit und Raum nur
[106] bloße Formen der ſinnlichen Anſchauung
ſind; nun wißt ihr aber daß beide in der
Geiſterwelt nicht mehr vorkommen; jezt bitte
ich euch, die ihr nur allein in der Sinnlichkeit
lebt und webt, wie wollt ihr Raum finden,
da wo es keinen Raum mehr giebt? — Ja,
was wollt ihr gar beginnen, wenn es mit der
Zeit zu Ende geht? Selbſt auf eure groͤßten
Weiſen und Dichter angewandt, bleibt die Un-
ſterblichkeit zulezt doch auch nur ein uneigent-
licher Ausdruck, was ſoll ſie fuͤr euch arme
Teufel bedeuten, die ihr keine andere Hand-
lung ausgeuͤbt habt, als die, mit Waaren,
und keinen andern Geiſt kennt, als den Wein-
geiſt, durch den eure Poeten ein Analogon von
Begeiſterung in ſich hervorbringen. — Da
gebe nur jemand einen leidlichen Rath; ich
wenigſtens weiß beim Teufel nicht, wo ich
mit euch hin ſoll!“ —


Hier bemerkte ich eine Unruhe in der Ver-
ſammlung vor mir, und hoͤrte auch ganz deut-
[107] lich, wie einige junge Freigeiſter, welche jezt
Synonyma mit Geiſtloſen ſind, keklich be-
haupteten, daß das ganze nur ein falſcher Lerm
geweſen. Der eine aus der Verſammlung
hatte auch bereits wieder ſeine Krone aufge-
ſezt, und der erſte Rathsſtand, der ſich ſelbſt
vorhin denunciirte, aͤußerte erboßt: daß es
ſtrenge Ahnung verdiene mit einer ganzen re-
ſpectiven Stadt Komoͤdie zu ſpielen, und daß
man ſich an mich als den erſten Lermſtifter
halten muͤſſe.


Ich gab jezt klein zu, und bat nur noch,
indem ich mich an den Mann mit der Krone
wandte, um einen Augenblick Gehoͤr; worauf
ich folgendes bemerkte: „Wie ein ſolches Ge-
richtstaganſagen, ſelbſt wenn es blos blinder
Lerm, doch von einigem Nutzen ſein koͤnne,
und es ſogar zu wuͤnſchen waͤre, daß durch
phyſikaliſche Experimente und einige Centner
Beerlappenmehl, um von den Anhoͤhen und
Thuͤrmen damit herabzublitzen, regelmaͤßig,
[108] von Staats wegen, ein ſolcher Vorſpuk gemacht
werden moͤgte, damit der Mann mit der
Krone, der in keinem Falle allwiſſend, dann
und wann dadurch eine allgemeine Staatsrevi-
ſion veranſtalten, und den Staat ſelbſt in puris
naturalibus
mit allen ſeinen Gebrechen erblik-
ken koͤnnte, da er ihm ſonſt nur immer in
Galla und taͤuſchend durch die Staatsſchneider
oder Beſchneider, die Guͤnſtlinge und Raͤthe
ausgeſchmuͤkt, vorgefuͤhrt wuͤrde. Ja, ich truͤge
ſelbſt darauf an, mir als erſtem Erfinder die-
ſes Staatsexperiments ein Patent uͤber meine
Erfindung auszufertigen, bloß um die Neben-
ſporteln die an einem ſolchen pſeudojuͤngſten
Tage vorfielen, als z. B. die Seegenswuͤnſche
der vielen wieder emporgeholfenen armen Teu-
fel, die Fluͤche der geſtuͤrzten Heiligen u. d. g.
in meinen Saͤkel zu ziehen.“


Ja ich wagte zulezt, durch die Todtenſtille
um mich her kuͤhner gemacht, zu bemerken,
„wie ich ſelbſt heute ſchon eine ſolche Reviſion
[109] durch meinen Feuerlaͤrm veranſtaltet haͤtte, und
es nicht uͤbel gerathen ſei gleich jezt an eine
maͤßige Reparatur zu gehen, und das verſcho-
bene Staatsgebaͤude wieder leidlich durch einige
Aemterentſetzungen, Hinrichtungen u. ſ. w.
einzuruͤcken.“


Keiner redete, als ich ausgeſprochen, ein
Wort, und der Mann ſchob die Krone auf dem
Haupte hin und her, als wenn er mit ſich
unſchluͤſſig waͤre; das endliche Reſultat war
indeß, daß meine Erfindung als unanwendbar
verworfen wurde, und ich aus hoͤchſter Gnade
nur als ein Narr angeſehen werden, und fuͤr
dieſesmal noch mit der Amtsentſetzung gegen
mich innegehalten werden ſolle.


Damit indeß ein aͤhnlicher Lerm nicht wie-
der fuͤr die Folge zu beſorgen, ſo wurden durch
eine Kabinetsordre die von Samuel Day er-
fundenen watchmanns noctuaries eingefuͤhrt,
wodurch ich von einem ſingenden und blaſen-
den Nachtwaͤchter auf einen ſtummen reduzirt
[110] wurde *), wobei man zum Grunde anfuͤhrte,
daß ich durch mein Blaſen und Rufen mich
den Nachtdieben verriethe, und es deshalb als
unzweckmaͤßig abgeſchafft werden muͤſſe.


Die Tagdiebe waren ſo mit einemmale mei-
ner Aufſicht entzogen, und ich wandle jezt
ſtumm und traurig durch die oͤden Straßen,
um in jeder Stunde meine Karte in die
Nachtuhr zu ſchieben. O es iſt unglaublich,
was ſeitdem der Schlaf befoͤrdert iſt, und wie
ſo mancher, der bei ſeinen geheimen Suͤnden
nichts als den juͤngſten Tag fuͤrchtete, ſeitdem
meine Gerichtspoſaune zerbrochen iſt, ruhig
und feſt in ſeinen Kiſſen liegt.


[[111]]

Siebente Nachtwache.


Ich bin einmal auf meine Tollheiten gekom-
men; nun iſt aber mein Leben ſelbſt die aͤrgſte
von allen, und ich will dieſe Nacht, da ich
mir doch durch Blaſen und Singen die Zeit
nicht mehr vertreiben darf, in der Rekapitu-
lation deſſelben fortfahren.


Ich bin ſchon oft daran gegangen vor dem
Spiegel meiner Einbildungskraft ſizend, mich
ſelbſt leidlich zu portraitiren, habe aber im-
mer in das verdammte Antliz hineingeſchlagen,
wenn ich zulezt fand, daß es einem Vexir-
[112] gemaͤlde glich, das von drei verſchiedenen
Standpunkten betrachtet, eine Grazie, eine
Meerkaze und en façe den Teufel dazu dar-
ſtellt. Da bin ich denn uͤber mich verwirrt ge-
worden, und habe als den lezten Grund mei-
nes Daſeins hypothetiſch angenommen, daß
eben der Teufel ſelbſt, um dem Himmel einen
Poſſen zu ſpielen, ſich waͤhrend einer dunkeln
Nacht in das Bette einer eben kanoniſirten
Heiligen geſchlichen, und da mich gleichſam als
eine lex cruciata fuͤr unſern Herrgott nieder-
geſchrieben habe, bei der er ſich am Weltge-
richtstage den Kopf zerbrechen ſolle.


Dieſer verdammte Widerſpruch in mir geht
ſo weit, daß z. B. der Papſt ſelbſt beim Be-
ten nicht andaͤchtiger ſein kann, als ich beim
blasphemiren, da ich hingegen wenn ich recht
gute erbauliche Werke durchleſe, mich der bos-
hafteſten Gedanken dabei durchaus nicht erweh-
ren kann. Wenn andere verſtaͤndige und ge-
fuͤhlvolle Leute in die Natur hinauswandern
[113] um ſich dort poetiſche Stifts- und Thabors-
huͤtten zu errichten, ſo trage ich vielmehr dau-
erhafte und auserleſene Baumaterialien zu ei-
nem allgemeinen Narrenhauſe zuſammen, wo-
rinn ich Proſaiſten und Dichter bei einander
einſperren moͤchte. Ein paarmale jagte man
mich aus Kirchen weil ich dort lachte, und
eben ſo oft aus Freudenhaͤuſern, weil ich drin
beten wollte.


Eins iſt nur moͤglich; entweder ſtehen die
Menſchen verkehrt, oder ich. Wenn die Stim-
menmehrheit hier entſcheiden ſoll, ſo bin ich
rein verloren.


Dem ſei wie ihm wolle, und meine Phy-
ſiognomie falle haͤßlich oder ſchoͤn aus, ich will
ein Stuͤndchen treulich daran kopiren. Schmei-
cheln werde ich nicht, denn ich male in der
Nacht, wo ich die gleiſſenden Farben nicht an-
wenden kann und nur auf ſtarke Schatten und
Drucker mich einſchraͤnken muß.


8
[114]

Mir gaben zuerſt einige poetiſche Flugblaͤt-
ter einen leidlichen Namen, die ich aus der
Werkſtaͤtte meines Schuhmachers fliegen ließ; das
erſte enthielt eine Leichenrede die ich nieder-
ſchrieb als dieſem ein Knaͤblein geboren wurde,
und ich erinnere mich nur noch blos an den
Anfang, der ohngefaͤhr ſo lautete:


„Da kleiden ſie ihn ein fuͤr ſeinen erſten
Sarg, bis der zweite fertig worden, an dem
ſeine Thaten und Thorheiten eingegraben ſind;
ſo wie man Fuͤrſtenleichen erſt in einen provi-
ſoriſchen Sarg einzulegen pflegt, bis ſie dann
ſpaͤter den zinnernen in die Gruft hinabtragen,
der wuͤrdig mit Trophaͤen und Inſchriften ver-
ziert iſt, und den Leichnam zum zweitenmale
einſargen. — Traut auch, ich bitte euch, dem
Lebensſcheine und den Roſen auf den Wangen
des Knaben nicht; das iſt die Kunſt der Na-
tur, wodurch ſie, gleich einem geſchikten Arzte,
den einbalſamirten Koͤrper eine laͤngere Zeit
in einer angenehmen Taͤuſchung erhaͤlt; in
[115] ſeinem Innern nagt doch die Verweſung ſchon,
und wolltet ihr es aufdecken, ſo wuͤrdet ihr
eben die Wuͤrmer aus ihren Keimen ſich ent-
wickeln ſehen, die Freude und den Schmerz,
die ſich ſchnell durchnagen daß die Leiche in
Staub zerfaͤllt. Ach nur da er noch nicht ge-
bohren war lebte er, ſo wie das Gluͤk allein
in der Hoffnung beſteht, ſobald es aber wirk-
lich wird, ſich ſelbſt zerſtoͤrt. Jezt ſteht er
nur noch auf dem Paradebette, und die Blu-
men die ihr auf ihn ſtreut ſind Herbſtblumen
fuͤr ſein Sterbekleid. In der Ferne ruͤſten ſich
auch ſchon ringsum die Leichentraͤger, die ſeine
Freuden und ihn ſelbſt hinwegfuͤhren wollen,
und die Erde bereitet ſchon ſeine Gruft fuͤr
ihn, um ihn zu empfangen. Ueberall ſtrecken
nur der Tod und die Verweſung gierig ihre
Arme nach ihm aus, ihn nach und nach zu
verzehren, um zulezt wenn ſeine Schmerzen,
ſeine Wonne, ſeine Erinnerung und ſein
Staub verwehet iſt, vom Morden muͤde auf
ſeiner leeren Gruft auszuruhen. Seine Aſche
[116] hat die Natur dann ſchon laͤngſt wieder zu
neuen Todtenblumen fuͤr neue Sterbende
verbraucht.“ —


Das Uebrige von der Rede habe ich vergeſ-
ſen. Sie meinten das Ganze ſei nicht uͤbel
und nur blos die Ueberſchrift ein Fehler, in-
dem offenbar ſtatt Geburtstage, Sterbetage
ſtehen muͤſſe; ſo wurde es dann auch bei vor-
kommenden Kinderleichen gebraucht. —


Ein debuͤtirender Autor hat mit großen
Schwierigkeiten zu kaͤmpfen, da er ſich erſt
uͤberhaupt durch ſeine Werke bekannt machen
muß; hingegen ein ſchon aufgetretener und
einmal applaudirter, blos durch ſeinen Namen
ſeine Werke beruͤhmt macht; indem die Men-
ſchen es nimmer ſich uͤberreden koͤnnen, daß
große Poeten und große Helden ihre Stunden
haben, in denen ſie ſchlechtere Werke und ſchlech-
tere Handlungen ans Licht foͤrdern als die
ſchlechteſten anderer hoͤchſt alltaͤglicher Erden-
[117] ſoͤhne. Hoͤhe und Tiefe ſind nie ohne einan-
der, auf der Flaͤche dagegen, iſt der Sturz
nicht zu befuͤrchten.


Mich verfolgte indeß das Gluͤck ordentlicher-
weiſe und ich erhielt faſt mehr Reime zuſam-
menzuflicken als Schuhe, ſo daß wir das alte
Hans Sachſiſche Aushaͤngeſchild uͤber unſerer
Werkſtatt wieder herſtellen, und zwei fuͤr den
Staat wichtige Kuͤnſte amalgamiren konnten.
Dazu erhielt ich fuͤr ein Gedicht faſt mehr be-
zahlt als fuͤr einen Schuh, weshalb der alte
Meiſter das loſe Handwerk neben dem Brod-
handwerke ungeneckt einherwandeln und meinen
delphiſchen Dreifuß neben ſeinem gemeinnuͤzi-
gen ſtehen lies.


Als eine vernuͤnftige Anordnung der Vor-
ſehung betrachte ich es uͤbrigens, daß manche
Menſchen in einen engen erbaͤrmlichen Wir-
kungskreis und zwiſchen vier Mauern einge-
ſperrt ſind, wo in der dumpfen Kerkerluft ihr
[118] Licht nur matt und unſchaͤdlich aufflammen
kann, ſo daß man hoͤchſtens dabei erkennt,
daß man ſich in einem Kerker befindet; da es
im Gegentheile in der Freiheit wie ein Vulkan
auflodern wuͤrde, um Alles ringsum in Brand
zu ſtecken. — Bei mir fing es wirklich jezt
ſchon an zu ſpruͤhen und zu funkeln, indeß
konnten nichts weiter als poetiſche Leuchtkugeln
zum Vorſchein kommen, um das Terrain zu
rekognoſciren, aber keine Bomben um zu zer-
ſprengen und zu verheeren. Eine furchtbare
Angſt ergriff mich oft, wie einen Rieſen, den
man als Kind in einen niedrigen Raum ein-
gemauert, und der jezt empor waͤchſt und ſich
ausdehnen und aufrichten will, ohne es im
Stande zu ſein, und ſich nur das Gehirn ein-
druͤcken, oder zur verraͤnkten Misgeſtalt in
einander draͤngen kann.


Menſchen dieſes Schlages, wenn ſie empor
kaͤmen wuͤrden feindſeelig ſich aͤußern, und als
eine Peſt, ein Erdbeben oder Gewitter unter
[119] das Volk fahren, und ein gutes Stuͤck von
dem Planeten aufreiben und zu Pulver ver-
brennen. Doch ſind dieſe Enaksſoͤhne gewoͤhn-
lich gut poſtirt, und es ſind Berge uͤber ſie ge-
worfen wie uͤber die Titanen, worunter ſie
ſich nur grimmig ſchuͤtteln koͤnnen. Hier ver-
kohlt ſich ihr Brennſtoff allmaͤhlig, und nur
ſelten gelingt’s ihnen ſich Luft zu machen, und
ihr Feuer zornig aus dem Vulkane gen Him-
mel zu ſchleudern.


Ich brachte das Volk indeß ſchon durch
mein bloßes Feuerwerkern in Aufruhr, und die
fluͤchtige ſatiriſche Rede eines Eſels uͤber das
Thema: warum es uͤberhaupt Eſel geben
muͤſſe, machte gewaltigen Lerm. Ich hatte
bei Gott wenig Arges dabei gedacht, und das
Ganze bloß aufs Allgemeine bezogen; aber
eine Satire iſt wie ein Probirſtein, und jedes
Metall das daran voruͤberſtreicht laͤßt das Zei-
chen ſeines Werthes oder Unwerthes zuruͤck;
ſo gings auch hier — der *** h[at]te das Blatt
[120] geleſen, und alles genau auf ſich raffend ge-
funden; weshalb man mich ohne weiteres in
den Thurm ſperrte, wo ich Muße hatte immer
wilder zu werden. Dabei gings mir [uͤbrigens]
mit meinem Menſchenhaſſe wie den Fuͤrſten,
die den einzelnen Menſchen wohlthun, und ſie
nur in ganzen Heeren wuͤrgen.


Endlich ließ man mich los, als die fremde
Zahlung aufhoͤrte, denn mein alter Meiſter
war Todes verfahren, und ich ſtand nun mut-
terallein da in der Welt, als waͤre ich aus ei-
nem andern Planeten herabgefallen. Jezt ſah
ich’s recht, wie der Menſch als Menſch nichts
mehr gilt, und kein Eigenthum an der Erde
hat, als was er ſich erkauft oder erkaͤmpft.
O wie ergrimmte ich, daß Bettler, Vagabun-
den und andere arme Teufel, wie ich einer
bin, das Fauſtrecht ſich nehmen ließen, und es
nur den Fuͤrſten zugeſtanden, als zu ihren
Regalen gehoͤrig, die es nun im Großen aus-
uͤben; konnte ich doch wahrlich kein Stuͤkchen
[121] Erde finden, um mich darauf niederzulaſſen, ſo
ſehr hatten ſie jede Handbreit unter ſich zer-
theilt und zerſtuͤckelt, und wollten ſchlechter-
dings von dem Naturrechte, als dem einzigen
allgemeinen und poſitiven nichts wiſſen, ſon-
dern hatten in jedem Winkelchen ihr beſonde-
res Recht und ihren beſondern Glauben; in
Sparta beſangen ſie den Dieb, je kunſtfertiger
er zu ſtehlen verſtand, und nebenan in Athen
hingen ſie ihn auf.


Zu etwas mußte ich indeß greifen um nicht
zu verhungern, hatten ſie doch alles freie Ge-
meingut der Natur bis auf die Voͤgel unterm
Himmel und die Fiſche im Waſſer an ſich ge-
riſſen, und wollten mir kein Fruchtkorn zuge-
ſtehen ohne gute baare Bezahlung. Ich waͤhlte
das erſte beſte Fach, worin ich ſie und ihr
Treiben beſingen konnte, und wurde Rhapſode
wie der blinde Homer, der auch als Baͤnkel-
ſaͤnger umherziehen mußte.


Blut lieben ſie uͤber die Maaßen, und
wenn ſie es auch nicht ſelbſt vergießen, ſo moͤ-
[122] gen ſie es doch fuͤr ihr Leben uͤberall in Bil-
dern, Gedichten und im Leben ſelbſt gern
fließen ſehen; in großen Schlachtſtuͤcken am
liebſten. Ich ſang ihnen daher Mordgeſchich-
ten und hatte mein Auskommen dabei, ja ich
fing an mich zu den nuͤzlichen Mitgliedern im
Staate, als zu den Fechtmeiſtern, Gewehrfa-
brikanten, Pulvermuͤllern, Kriegsminiſtern,
Aerzten u.ſ.w., die alle offenbar dem Tode
in die Hand arbeiten, zu zaͤhlen, und bekam
eine gute Meinung von mir, indem ich meine
Zuhoͤrer und Schuͤler abzuhaͤrten, und ſie an
blutige Auftritte zu gewoͤhnen mich bemuͤhete.


Endlich aber wurden mir doch die kleineren
Mordſtuͤcke zuwider, und ich wagte mich an
groͤßere — an Seelenmorde durch Kirche und
Staat, wofuͤr ich gute Stoffe aus der Ge-
ſchichte waͤhlte; ließ auch hin und wieder kleine
epiſodiſche Ergoͤzlichkeiten von leichteren Mor-
den, als z.B. der Ehre, durch den tuͤckiſchen
guten Ruf, der Liebe, durch kalte herzloſe
[123] Buben, der Treue, durch falſche Freunde, der
Gerechtigkeit, durch Gerichtshoͤfe, der geſun-
den Vernunft, durch Zenſuredikte u.ſ.w. mit
einfließen. Da aber war es vorbei, und es
wurden in kurzen mehr denn funfzig Injurien-
prozeſſe gegen mich anhaͤngig gemacht. Ich
trat auf vor Gericht als mein eigener advo-
catus diaboli;
vor mir ſaßen an der Tafel-
runde ein halb Duzend mit den Gerechtigkeits-
masken vor dem Antlize, worunter ſie ihre
eigene Schalksphyſiognomie und zweite Ho-
garthsgeſichtshaͤlfte verbargen. Sie verſtehen
die Kunſt des Rubens, wodurch er vermittelſt
eines einzigen Zuges ein lachendes Geſicht in
ein weinendes verwandelte, und wenden ſie
bei ſich ſelbſt an, ſobald ſie ſich auf die Ge-
richtsſtuͤhle niederlaſſen, damit man dieſe nicht
fuͤr arme Suͤnderſtuͤhlchen anzuſehen geneigt
ſein moͤchte. — Nach einer ſtrengen Verwar-
nung, die Wahrheit auf die mir vorgelegten
Anklagen zu ſagen, hub ich ſo an:


[124]

„Wohlweiſe! Ich ſtehe hier als beſchul-
digter Injuriant vor Ihnen, und alle corpora
delicti
ſprechen wider mich, worunter ich auch
ſie ſelbſt zu zaͤhlen feſt willens bin, indem
man corpora delicti nicht nur als die Gegen-
ſtaͤnde aus denen man auf ein beſtimmtes Ver-
brechen ſchließen kann, z. B. Brechſtangen,
Diebsleitern u. d. gl. ſondern auch als die
Leiber ſelbſt in denen das Verbrechen wohnt,
anſehen koͤnnte. Nun aber waͤre es nicht uͤbel
gerathen, daß ſie ſelbſt nicht nur als gute
Theoretiker die Verbrechen kennen lernten,
ſondern ſie auch als brave Praktiker auszuuͤben
verſtaͤnden, wie denn ſchon manche Dichter ſich
ernſtlich beklagen, daß ihre Rezenſenten ſelbſt,
nicht einen einzigen Vers zu machen im Stande
waͤren, und doch uͤber Verſe richten wollten;
— und was wuͤrden Sie, Wohlweiſe, zu ent-
gegnen haben, wenn Ihnen, der Analogie ge-
maͤß, ein Dieb, Ehebrecher oder irgend ein
anderer Hundsfott dieſes Gelichters, uͤber den
ſie richten wollten, eine aͤhnliche Nuß aufzu-
[125] knacken gaͤbe und ſie nicht fuͤr kompetente Re-
zenſenten in ihrem Fache anerkennen wollte,
weil ſie in praxi ſelbſt noch gar nichts praͤſtirt.


Die Geſetze ſcheinen auch in der That
hierauf hinzudeuten, und eximiren ſie als Ge-
richtsperſonen in manchen Faͤllen von den Ver-
brechen, wie ſie denn z. B. ungeſtraft erwuͤr-
gen, mit dem Schwerdte um ſich ſchlagen, mit
Keulen niederhauen, verbrennen, ſaͤcken, le-
bendig begraben, viertheilen und foltern duͤr-
fen; — lauter grobe Miſſethaten, die man
keinem andern als nur ihnen hingehen laͤßt.
Ja auch in kleineren Vergehungen, und na-
mentlich in dem Falle, worin ich mich jezt als
Inquiſit hier befinde, ſprechen ſie die Geſetze
frei, ſo erlaubt ihnen die lox 13 § 1. und 2.
de iniuriis
geradezu diejenigen zu injuriiren,
die ſie ſelbſt wegen Injurien in ihrem Ge-
richtsgarn gefangen halten.


Es iſt unglaublich welche Vortheile aus
dieſer Einrichtung fuͤr den Staat fließen koͤnn-
[126] ten; wuͤrden nicht z. B. eine Menge Verbre-
chen mehr zu Tage gefoͤrdert werden koͤnnen,
wenn reſpektive Gerichtsherren in eigner Per-
ſon die Luſthaͤuſer beſuchten, und die Luſt voll-
zoͤgen, um die Inkulpirten ſogleich ohne wei-
teres zu uͤberfuͤhren; wenn ſie ebenfalls als
Diebe ſich unter die Diebe miſchten, blos um
ihre Kameraden haͤngen zu laſſen; oder wenn
ſie ſelbſt den Ehebruch vollzoͤgen, um die et-
wanigen Ehebrecherinnen und ſolche die Luſt
und Liebe zu dieſem Verbrechen haben und als
ſchaͤdliche Mitglieder des Staats zu betrachten
ſind, kennen zu lernen.


Guter Himmel, das Wohlthaͤtige einer ſol-
chen Einrichtung iſt ſo klar, daß ich gar nichts
weiter hinzufuͤgen mag, und bloß dieſes un-
maßgeblichen Vorſchlags halber meine Losſpre-
chung verdient haͤtte.


Ich gehe indeß zu meiner Vertheidigung
ſelbſt uͤber, Wohlweiſe! Mir iſt hier eine in-
[127] iuria oralis
und zwar nach der Unterabtheilung
β eine geſungene Injurie zur Laſt ge-
legt. Ich duͤrfte ſchon hier einen Grund der
Nullitaͤt der Anklage finden, indem Saͤnger
offenbar ſich zu der Kaſte der Dichter zaͤhlen,
und es dieſen leztern, eben weil ſie nach der
neuern Schule keine Tendenz bezwecken, er-
laubt ſein muͤſſe in ihrer Begeiſterung zu in-
juriiren und blasphemiren ſo viel ſie nur woll-
ten. Ja es duͤrfte einem Dichter und Saͤnger
ſchon deshalb dies Verbrechen nicht zugerechnet
werden, weil die Begeiſterung der Trunkenheit
gleichzuſezen iſt, die ohne weiteres, wenn der
Trunkene ſich nicht culpose in dieſen Zuſtand
verſezt hat, welches offenbar bei einem Begei-
ſterten nicht anzunehmen iſt, indem die Be-
geiſterung eine Gabe der Goͤtter, von der
Strafe befreit.— Indeß will ich meine
Vertheidigung noch buͤndiger formiren, und
verweiſe ſie deshalb auf die Schriften unſerer
vorzuͤglichſten neuern Rechtslehrer, in denen
es buͤndig dargethan iſt, daß die Gerechtigkeit
[128] ſchlechterdings nichts mit der Moralitaͤt zu
ſchaffen habe, und daß nur eine die aͤußern
Rechte verlezende Handlung als ein Verbre-
chen V. R. W. imputirt werden koͤnne. Nun
aber habe ich nur moraliſch injuriirt und ver-
wundet, und weiſe deshalb die Klage vor die-
ſem Gerichtshofe als unzulaͤnglich ab, indem
ich als moraliſche Perſon unter dem foro pri-
vilegiato
einer anderen Welt ſtehe.


Ja, da nach Weber uͤber Injurien im
erſten Abſchnitte pag. 29 an denjenigen Perſo-
nen die auf das Recht auf Ehre Verzicht ge-
than haben, keine Injurie begangen werden
kann, ſo darf ich auch der Analogie gemaͤß
folgern daß ich ſie da ſie als Icti und Ge-
richtsperſonen ſchlechthin von der Moralitaͤt
ſich losgeſagt haben, hier an offener Gerichts-
ſtaͤtte mit allen moͤglichen moraliſchen Injurien
uͤberhaͤufen darf; ja, wenn ich ſie kalte ge-
fuͤhlloſe unmoraliſche, obgleich wohlweiſe und
gerechte Herren zu nennen wage, ſo iſt das
[129] vielmehr als eine Apologie als Injurie zu
halten, und ich weiſe ſchlechthin jede von hier
ausgehende gerichtliche Anſpruͤche als unzulaͤng-
lich ab.“ —


Hier hielt ich inne und alle ſechs ſahen ſich
eine Weile an ohne zu dezidiren; ich wartete
ruhig. Haͤtten ſie mir als Strafe das Wip-
pen, das Trillhaus, den ſpaniſchen Mantel,
Schmaͤnnchen, Riemſchneiden oder gar das
Aufreißen des Leibes, welches in Japan
fuͤr ſehr ehrenvoll gehalten wird, zuerkannt,
mich wuͤrde es gefreuet haben, gegen die Bos-
heit die der erſte Rechtsfreund und Vorſizer
veruͤbte, als er den Ausſpruch that, daß mir
ſchlechterdings das Verbrechen nicht zugerechnet
werden koͤnnte, indem ich zu den mente captis
zu zaͤhlen ſein und mein Vergehen als die
Folge eines partiellen Wahnſinns betrachtet
werden muͤſſe, weshalb man mich ohne weite-
res an das Tollhaus abzuliefern habe.


Es iſt zu arg, ich mag heute nicht weiter
rekapituliren, und will mich ſchlafen legen.



[[130]]

Achte Nachtwache.


Die Dichter ſind ein unſchaͤdliches Voͤlkchen,
mit ihren Traͤumen und Entzuͤckungen und dem
Himmel voll griechiſcher Goͤtter, den ſie in ih-
rer Phantaſie mit ſich umhertragen. Boͤsartig
aber werden ſie ſobald ſie ſich erdreiſten ihr
Ideal an die Wirklichkeit zu halten, und nun
in dieſe, mit der ſie gar nichts zu ſchaffen
haben ſollten, zornig hineinſchlagen. Sie wuͤr-
den indeß unſchaͤdlich bleiben, wenn man ih-
nen nur in der Wirklichkeit ihr freies Plaͤzchen
ungeſtoͤrt einraͤumen und ſie nicht durch das
Draͤngen und Treiben in derſelben eben zum
[131] Ruͤckblik in ſie zwingen wollte. Fuͤr den Maas-
ſtab ihres Ideals muß alles zu klein ausfallen,
denn dieſer reicht uͤber die Wolken hinaus und
ſie ſelbſt koͤnnen ſein Ende nicht abſehen, und
muͤſſen ſich nur an die Sterne als proviſoriſche
Grenzpunkte halten, von denen indeß wer
weiß wie viele bis heute unſichtbar ſind und
ihr Licht ſich noch auf der Reiſe zu uns herab
befindet.


Der Stadtpoet auf ſeinem Dachkaͤmmerchen
gehoͤrte auch zu den Idealiſten, die man mit Ge-
walt durch Hunger, Glaͤubiger, Gerichtsfrohne
u. ſ. w. zu Realiſten bekehrt hatte, wie Karl
der Große die Heiden mit dem Schwerdte in
den Fluß trieb, damit ſie dort zu Chriſten
getauft wuͤrden. Ich hatte mit dem Nacht-
raben Bekanntſchaft gemacht und lief wenn ich
meine Karte als einen Zeitſchein in die Nacht-
uhr geſchoben hatte, oft zu ihm hinauf, um
ſeinem Gaͤhren und Brauſen zuzuſchauen,
wenn er dort oben als begeiſterter Apoſtel mit
[132] der Flamme auf dem Haupte gegen die Men-
ſchen zuͤrnte. Sein ganzes Genie konzentrirte
ſich auf die Vollendung einer Tragoͤdie, wo-
rin die großen Geiſter der Menſchheit deren
Koͤrper und bloße aͤußere Huͤlle ſie gleichſam
nur erſcheint, die Liebe, der Haß, die Zeit
und die Ewigkeit als hohe geheimnißvolle Ge-
ſtalten auftraten, durch die ſtatt des Chors
ein tragiſcher Hanswurſt, eine groteske und
furchtbare Maske, hinlief. Der Tragiker
hielt das ſchoͤne Antliz des Lebens mit eiſer-
ner Fauſt unverruͤkt vor ſeinen großen Hohl-
ſpiegel, worinn es ſich in wilde Zuͤge verzerrte
und gleichſam ſeine Abgruͤnde offenbarte in den
Furchen und haͤßlichen Runzeln die in die ſchoͤ-
nen Wangen fielen; ſo zeichnete er’s ab.


Es iſt gut, daß es viele nicht begriffen,
denn in unſerm Lorgnetten Zeitalter ſind die
groͤßeſten Gegenſtaͤnde ſo entruͤkt worden, daß
man ſie hoͤchſtens nur noch in der Ferne un-
deutlich durch die Vergroͤßerungsglaͤſer erkennt;
[133] dagegen die kleinen recht gruͤndlich kultivirt
werden, weil kurzſichtige in der Naͤhe um ſo
ſchaͤrfer ſehen. —


Er hatte das Ganze bereits beendigt, und
hoffte daß die Goͤtter die er dabei angerufen,
ſich ihm diesmal wenigſtens als ein goldener
Regen offenbahren wuͤrden, durch den er ſeine
Glaͤubiger, den Hunger und die Gerichtsdie-
ner von ſich verſcheuchen koͤnnte. Heute war
der Tag an dem das imprimatur des wichtig-
ſten Zenſors, des Verlegers, hatte einlaufen
muͤſſen, und mich trieb die Neugierde zu ihm
hinauf und die Sehnſucht ihn in dem froͤhli-
chen Gelage der Erdengoͤtter zu erblicken. —
Iſt es nicht traurig daß die Menſchen ihre
Freudenſaͤle ſo feſt verſchloſſen halten und durch
Geharniſchte *) bewachen laſſen, vor denen
der Bettler, der ſie nicht beſtechen kann, er-
ſchrocken zuruͤckweicht!


[134]

Ich ſtieg keuchend in den hohen Olymp hin-
auf und oͤffnete den Eingang; aber ſtatt eines
Trauerſpiels, das ich nicht erwartet hatte,
fand ich ihrer zwei, das ruͤkgehende vom Ver-
leger, und den Tragiker ſelbſt der das zweite
aus dem Stegereife zugleich gedichtet und als
Protagoniſt *) aufgefuͤhrt hatte. Da ihn der
tragiſche Dolch gemangelt, ſo hatte er in der
Eile, was bei einem improviſirten Drama
leicht uͤberſehen werden kann, die Schnur die
dem auf der Retourfuhre begriffenen Manu-
ſcripte als Reiſegurt gedient, dazu auserwaͤhlt,
und ſchwebte an ihr als ein gen Himmel fah-
render Heiliger, recht leicht und mit abgewor-
fenem Erdenballaſt uͤber ſeinem Werke.


Es war uͤbrigens in der Stube ganz ſtill
und faſt ſchauerlich; nur ein paar zahme
[135] Maͤuſe, ſpielten als einzige Hausthiere fried-
lich zu meinen Fuͤſſen und pfiffen, entweder
aus guter Laune, oder aus Hunger; fuͤr das
leztere ſchien beinahe eine dritte zu entſchei-
den, die ſehr eifrig an der Unſterblichkeit des
Dichters, ſeinem retourgegangenen opere
posthumo,
nagte.


„Armer Teufel, ſagte ich zu ihm hinauf-
blickend, ich weiß nicht ob ich deine Himmel-
farth komiſch oder ernſthaft nehmen ſoll! Drol-
lig bleibt es allerdings, daß du als eine Mo-
zartſche Stimme in ein ſchlechtes Dorfkonzert
mit eingelegt biſt, und eben ſo natuͤrlich daß
du dich daraus weggeſtohlen; in einem ganzen
Lande von Hinkenden wird eine einzige Aus-
nahme als ein ſeltſames verſchrobenes lusus
naturae
verlacht, eben ſo wuͤrde in einem
Staate von lauter Dieben die Ehrlichkeit allein
mit dem Strange beſtraft werden muͤſſen; es
kommt Alles in der Welt auf die Zuſammen-
[136] ſtellung und Uebereinkunft an, und da nun
deine Landsleute nur an ein abſcheuliches krei-
ſchendes Geſchrei ſtatt des Geſanges gewoͤhnt
ſind, ſo mußten ſie dich eben deines guten
gebildeten Vortrags wegen zu den Nachtwaͤch-
tern zaͤhlen, wie ich denn deshalb auch einer ge-
worden bin. O die Menſchen ſchreiten huͤbſch
vorwaͤrts und ich haͤtte wohl Luſt meinen Kopf
nach einem Jahrtauſende nur auf eine Stunde
lang in dieſe alberne Welt zu ſtecken; ich
wette darauf ich wuͤrde ſehen wie ſie in den
Antikenkabinetten und Muſeen nur noch das
Frazzenhafte abzeichneten und nach einem Ide-
ale der Haͤßlichkeit ſtrebten, nachdem ſie die
Schoͤnheit laͤngſt als eine zweite franzoͤſiſche
Poeſie fuͤr fade erklaͤrt haͤtten. Den mechani-
ſchen Vorleſungen uͤber die Natur wuͤnſchte
ich auch beizuwohnen in denen es gelehrt wird
wie man eine Welt mit geringem Aufwande
von Kraͤften vollſtaͤndig zuſammenſtellen kann,
und die jungen Schuͤler zu Weltſchoͤpfern aus-
gebildet werden, da man ſie jezt nur zu Ichs-
[137] ſchoͤpfern anzieht. Guter Gott was muͤſſen
nach einem Jahrtauſend nicht fuͤr Fortſchritte
in allen Wiſſenſchaften gemacht ſein, da wir
jezt bereits ſo weit ſind; man muß dann,
Naturreparirer, eben ſo haͤufig wie jezt Uhr-
macher haben; Korreſpondenzen mit dem Monde
fuͤhren, von dem wir heutiges Tages ſchon
Steine heraberhalten; Shakſpearſche Stuͤcke
in den unterſten Klaſſen als Exercitien aus-
arbeiten; die Liebe, die Freundſchaft, die
Treue, wie jezt den Hanswurſt, ſchon nicht
mehr auf den Theatern dulden; Tollhaͤuſer
nur noch fuͤr Vernuͤnftige aufbauen; die
Aerzte als ſchaͤdliche Mitglieder des Staates
ausreuten, weil ſie das Mittel gegen den
Tod aufgefunden; und Gewitter und Erdbe-
ben ſo leicht veranſtalten koͤnnen, wie jezt
Feuerwerke. — Armer ſchwebender Teufel,
wie wuͤrde es da mit deiner Unſterblichkeit aus-
ſehen, und du haſt wohlgethan daß du dich
raſch aus dem Staube machteſt.“ —


[138]

Ich wurde aber ploͤzlich in meiner guten
Laune geruͤhrt, ſo wie ein heftig Lachender
zulezt in Thraͤnen ausbricht, als ich in einen
Winkel blikte, wo ſeine Kindheit gleichſam
als die einzige Freude und zugleich als die
einzige zuruͤckgebliebene Moͤbel dem Erblaßten
ſtumm und bedeutend gegenuͤbergeſtellt war;
es war ein altes verwittertes Gemaͤlde, auf
dem die Farben ſchon halb verloͤſcht, ſo wie
dem Aberglauben nach auf den Portraiten Ver-
ſtorbener die Wangenroͤthe verfliegt. Es ſtellte
den Poeten dar, wie er als ein freundlicher
laͤchelnder Knabe an der Bruſt ſeiner Mutter
ſpielte; ach das ſchoͤne Antliz war ſeine erſte
und einzige Liebe und ſie war ihm nur ſterbend
untreu geworden. Hier in dem Bilde lachte
die Kindheit noch um ihn, und er ſtand in
dem Fruͤhlingsgarten voll geſchloſſener Blumen-
knospen, nach deren Dufte er ſich ſehnte und
die ihm nur als Giftblumen aufbrachen und
den Tod gaben. Ich mußte mich ſchaudernd
abwenden als ich die Kopie, den laͤchelnden
[139] umlokten Kindskopf, mit dem jezigen Origi-
nale dem ſchwebenden Hypokratiſchen Geſichte
verglich, das ſchwarz und ſchreklich wie ein
Meduſenhaupt in ſeine Jugend ſchauete. Er
ſchien noch in der lezten Minute den lezten
Blik auf das Gemaͤhlde geworfen zu haben,
denn er hing dagegen gekehrt und die Lampe
brannte dicht davor wie vor einem Altarblatte.
— O die Leidenſchaften ſind die tuͤckiſchen Re-
touſchirer, die den bluͤhenden Rafaelskopf der
Jugend mit den fortſchreitenden Jahren auf-
friſchen und durch immer haͤrtere Zuͤge ent-
ſtellen und verzerren, bis aus dem Engels-
haupt eine Hoͤllenbreugeliche Larve geworden
iſt. —


Der Arbeitstiſch des Dichters, dieſer Al-
tar des Apoll, war ein Stein, denn alles
vorraͤthige Holz, bis auf den abgeloͤſten Rah-
men des Gemaͤldes, war laͤngſt bei ſeinen
naͤchtlichen Opfern zur Flamme verzehrt. Auf
dieſem Steine lagen das ruͤkgekehrte Trauer-
[140] ſpiel, der Menſch uͤberſchrieben, und zu-
gleich der Abſagebrief des Poeten an das Le-
ben; dieſer lautete ſo:


„Abſagebrief an das Leben.


Der Menſch taugt nichts, darum ſtreiche
ich ihn aus. Mein Menſch hat keinen Ver-
leger gefunden weder als persona vera noch
ficta, fuͤr die lezte (meine Tragoͤdie) will
kein Buchhaͤndler die Drukkoſten herſchießen,
und um die erſte, (mich ſelbſt) bekuͤmmert
ſich gar der Teufel nicht, und ſie laſſen mich
verhungern, wie den Ugolino, in dem groͤßten
Hungerthurme, der Welt, von dem ſie vor
meinen Augen den Schluͤſſel auf immer in
das Meer geworfen haben. Ein Gluͤck iſt’s
noch daß mir ſo viel Kraft uͤbrig bleibt, die
Zinne zu erklimmen und mich hinabzuſtuͤrzen.
Ich danke dafuͤr, in dieſem meinem Teſta-
mente, dem Buchhaͤndler, der ob er gleich
meinem Menſchen nicht forthelfen wollte, mir
[141] doch wenigſtens die Schnur in den Thurm
hinabwarf, an der ich in die Hoͤhe kommen
kann.


Ich denke es iſt luſtig droben, und eine
gute freie Ausſicht; beſſer iſt’s in alle Wege,
ſelbſt wenn ich nichts ſehen ſollte, als hier un-
ten, denn ich weiß nichts mehr darum; —
aber der alte Ugolino tappte, vor Hunger blind
geworden, in ſeinem Thurme umher, und war
ſich ſeiner Blindheit bewußt und das Leben
kaͤmpfte noch gewaltig in ihm, daß er nicht
untergehen konnte.


Ach ich habe zwar, wie er, in meinem
Kerker auch noch mit holden Knaben getaͤn-
delt, die ich einſam in der Nacht erzeugte und
die um mich her ſpielten als eine bluͤhende
Jugend und goldene helle Traͤume; in ihnen
die ich hinterlaſſen wollte, ſchloß ich mich warm
an das Leben; — aber ſie haben auch ſie ver-
ſtoßen, und die hungrigen Thiere, die ſie mit
[142] mir einſperrten, haben ſie zernagt, daß ſie
mich nur noch in der Erinnerung umgaukeln.


Mag’s ſein; die Thuͤr iſt feſt hinter mir
zugeworfen, und das leztemal, daß ſie ſie oͤff-
neten, war’s nur um den Sarg meines lezten
Kindes hereinzutragen; — ich hinterlaſſe nun
nichts, und gehe dir trozig entgegen, Gott,
oder Nichts!“ —


Dies war die lezte zuruͤkgebliebene Aſche
von einer Flamme, die in ſich ſelbſt erſticken
mußte. Ich ſammelte ſie, und ſo viele Reli-
quien von dem Menſchen ich den hungrigen
Maͤuſen noch entreiſſen konnte, ſorgfaͤltig, in-
dem ich mich gewaltſamerweiſe zum Erben der
Hinterlaſſenſchaft einſezte.


Bringt mich der Himmel unverhofft einmal
in eine beſſere Lage, ſo gebe ich das Trauer-
ſpiel: der Menſch, ſo zernagt und unvoll-
ſtaͤndig es auch iſt, auf meine Koſten heraus,
[143] und vertheile die Exemplare gratis unter die
Menſchen. Fuͤr jezt will ich nur etwas vom
Prologe des Hanswurſtes mittheilen. Der
Poet entſchuldigt ſich in einer kurzen Vorrede
daruͤber, daß er den Hanswurſt in eine Tra-
goͤdie einzufuͤhren wagte, mit eigenen Worten
folgendermaßen:


„Die alten Griechen hatten einen Chorus
in ihren Trauerſpielen angebracht, der durch
die allgemeinen Betrachtungen die er anſtellte,
den Blick von der einzelnen ſchrecklichen Hand-
lung abwendete und ſo die Gemuͤther beſaͤnf-
tigte. Ich denke es iſt mit dem Beſaͤnftigen
jezt nicht an der Zeit, und man ſoll vielmehr
heftig erzuͤrnen und aufwiegeln, weil ſonſt
nichts mehr anſchlaͤgt, und die Menſchheit im
Ganzen ſo ſchlaff und boshaft geworden iſt,
daß ſie’s ordentlicherweiſe mechaniſch betreibt,
und ihre heimlichen Suͤnden aus bloßer Ab-
ſpannung vollfuͤhrt. Man ſoll ſie heftig reizen,
wie einen aſtheniſchen Kranken, und ich habe
[144] deshalb meinen Hanswurſt angebracht, um ſie
recht wild zu machen; denn wie, nach dem
Sprichworte, Kinder und Narren die Wahrheit
ſagen, ſo befoͤrdern ſie auch das Furchtbare
und Tragiſche, indem jene es unſchuldig hart
vortragen, und dieſe gar daruͤber ſpotten und
Poſſen damit treiben. Neuere Aeſthetiker wer-
den mir Gerechtigkeit wiederfahren laſſen.“ —


Das was ich noch von dem Manuſcripte
mittheilen will, lautete ſo:


„Prolog des Hanswurſtes zu der
Tragoͤdie: der Menſch.


Ich trete als Vorredner des Menſchen
auf. Ein reſpektives zahlreiches Publikum
wird es leichter uͤberſehen, daß ich meiner
Handthierung nach ein Narr bin, wenn ich fuͤr
mich anfuͤhre, daß nach Doktor Darwin*) ei-
gentlich der Affe, der doch ohnſtreitig noch
[145] laͤppiſcher iſt als ein bloßer Narr, der Vor-
redner und Prologiſt des ganzen Menſchenge-
ſchlechts iſt, und daß meine und Ihre Gedan-
ken und Gefuͤhle ſich nur blos mit der Zeit
etwas verfeinert und kultivirt haben, obgleich
ſie ihrem Urſprunge gemaͤß doch immer nur
Gedanken und Gefuͤhle bleiben, wie ſie in dem
Kopfe und Herzen eines Affen entſtehen konn-
ten. Doktor [Darwin], den ich hier als meinen
Stellvertreter und Anwald auffuͤhre, behauptet
naͤmlich, daß der Menſch als Menſch einer
Affenart am mittellaͤndiſchen Meere ſein Da-
ſein verdanke, und daß dieſe blos dadurch daß
ſie ſich ihres Daumenmuskels ſo bedienen
lernte, daß Daumen und Fingerſpitzen ſich be-
ruͤhrten, ſich allmaͤhlig ein verfeinertes Gefuͤhl
verſchaffte, von dieſem in den folgenden Ge-
nerationen zu Begriffen uͤberging und ſich zu-
lezt zu verſtaͤndigen Menſchen einkleidete, wie
wir ſie jezt noch taͤglich in Hof- und anderen
Uniformen einherſchreiten ſehen.


10
[146]

Das Ganze hat ſehr viel fuͤr ſich; finden
wir doch nach Jahrtauſenden noch hin und wie-
der auffallende Annaͤherungen und Verwand-
ſchaften in dieſer Ruͤkſicht, ja ich glaube be-
merkt zu haben, daß manche reſpektive und
geſchaͤzte Perſonen ſich ihres Daumenmuskels
noch jezt nicht gehoͤrig bedienen lernten, wie
z. B. manche Schriftſteller und Leute die die
Feder fuͤhren wollen; ſollte ich darin nicht ir-
ren, ſo ſpricht das ſehr fuͤr [Darwin]. Auf der
andern Seite finden wir auch manche Gefuͤhle
und Geſchicklichkeiten in dem Affen, die uns
offenbar bei dem salto mortale zum Menſchen
entfallen ſind, ſo liebt z. B. eine Affenmutter
noch heutiges Tages ihre Kinder mehr als
manche Fuͤrſtenmutter; das einzige was dies
widerlegen koͤnnte, waͤre noch, wenn man
anfuͤhren wollte daß dieſe ſie, eben aus uͤber-
großer Liebe vernachlaͤßigte um das zu bezwek-
ken, was jene nur etwas ſchneller durch das
Erdruͤcken ihrer Jungen erreicht.


[147]

Genug ich bin mit Doktor [Darwin] einver-
ſtanden, und thue den philanthropiſchen Vor-
ſchlag, daß wir unſere juͤngeren Bruͤder, die
Affen in allen Welttheilen, hoͤher ſchaͤzen ler-
nen, und ſie, die jezt nur unſere Parodiſten
ſind, durch eine gruͤndliche Anweiſung, den
Daumen und die Fingerſpizen zuſammen zu
bringen, ſo daß ſie mindeſtens eine Schreib-
feder fuͤhren koͤnnen, zu uns herauf ziehen
moͤgen. Iſt es doch beſſer mit dem erſten
Doktor [Darwin] die Affen fuͤr unſere Vorfah-
ren anzunehmen, als ſo lange zu zoͤgern bis
ein zweiter gar andere wilde Thiere zu unſern
Adſcendenten macht, welches er vielleicht durch
eben ſo gute Wahrſcheinlichkeitsgruͤnde belegen
koͤnnte, da die meiſten Menſchen, wenn man
ihnen das Untertheil des Geſichts und den
Mund, mit dem ſie die gleiſſenden Worte ver-
ſchwenden, verdekt, in ihren Phyſiognomien
eine auffallende Geſchlechtsaͤhnlichkeit beſonders
mit Raubvoͤgeln, als z. B. Geiern, Falken
u. ſ. w. erhalten, ja da auch der alte Adel
[148] ſeine Stammbaͤume eher zu den Raubthieren,
als Affen hinauffuͤhren kann, welches, auſſer
ihrer Vorliebe zur Raͤuberei im Mittelalter,
auch noch aus ihren Wappen erhellet, in de-
nen ſie meiſtentheils Loͤwen, Tieger, Adler
und andere dergleichen wilde Thiere fuͤhren. —


Das Geſagte mag hinlaͤnglich ſein, um
meine Perſon und Maske vor der jezt aufzu-
fuͤhrenden Tragoͤdie: Der Menſch, zu recht-
fertigen. Ich verſpreche einem reſpektiven
Publikum zum Voraus daß ich ſpashaft ſein
will bis zum Todtlachen, der Dichter mag es
noch ſo ernſthaft und tragiſch anlegen. — Was
ſoll es auch uͤberhaupt mit dem Ernſte, der
Menſch iſt eine ſpashafte Beſtie von Haus aus
und er agirt blos auf einer groͤſſern Buͤhne
als die Akteure der kleinern in dieſe große wie
in Hamlet eingeſchachtelten; mag er’s noch ſo
wichtig nehmen wollen, hinter den Kouliſſen
muß er doch Krone, Zepter und Theaterdolch
ablegen, und als abgetretener Komoͤdiant in
[149] ſein dunkles Kaͤmmerchen ſchleichen, bis es
dem Direktor gefaͤllt eine neue Komoͤdie anzu-
ſagen. Wollte er ſein Ich in puris naturali-
bus
oder auch nur im Nachtkleide und mit der
Schlafmuͤze zeigen, beim Teufel jedermann
wuͤrde vor der Seichtigkeit und Nichtsnuzig-
keit davon laufen; ſo behaͤngt er’s aber mit
bunten Theaterlappen und nimmt die Masken
der Freude und Liebe vor das Geſicht, um
intereſſant zu ſcheinen, und durch das innen
angebrachte Sprachrohr die Stimme zu erhoͤ-
hen; dann ſchaut zulezt das Ich auf die Lap-
pen herab, und bildet ſich ein ſie machten’s
aus, ja es giebt wohl gar andere noch ſchlech-
ter gekleidete Ich’s, die den zuſammengeflikten
Popanz bewundern und lobpreiſen; denn beim
Lichte beſehen iſt doch die zweite Mandan-
dane*)
auch eine nur kuͤnſtlicher zuſammenge-
naͤhte, die eine gorge de Paris vorgeſtekt
hat um ein Herz zu fingiren, und eine taͤu-
[150] ſchender gearbeitete Larve vor den Todtenkopf
haͤlt.


Der Todtenkopf fehlt nie hinter der lieb-
aͤugelnden Larve, und das Leben iſt nur das
Schellenkleid das das Nichts umgehaͤngt hat,
um damit zu klingeln und es zulezt grimmig
zu zerreißen und von ſich zu ſchleudern. Es
iſt Alles Nichts und wuͤrgt ſich ſelbſt auf und
ſchlingt ſich gierig hinunter, und eben dieſes
Selbſtverſchlingen iſt die tuͤckiſche Spiegelfech-
terei als gaͤbe es Etwas, da doch wenn das
Wuͤrgen einmal inne halten wollte eben das
Nichts recht deutlich zur Erſcheinung kaͤme,
daß ſie davor erſchrecken muͤßten; Thoren ver-
ſtehen unter dieſem Innehalten die Ewigkeit,
es iſt aber das eigentliche Nichts und der ab-
ſolute Tod, da das Leben im Gegentheile nur
durch ein fortlaufendes Sterben entſteht.


Wollte man dergleichen ernſthaft nehmen,
ſo moͤgte es leicht zum Tollhauſe fuͤhren, ich
[151] aber nehme es blos als Hanswurſt, und fuͤhre
dadurch den Prolog bis zur Tragoͤdie hin, in
der es der Dichter freilich hoͤher genommen
und ſogar einen Gott und eine Unſterblichkeit
in ſie hineinerfunden hat, um ſeinen Menſchen
bedeutender zu machen. Ich hoffe indeß das
alte Schickſal, unter dem bei den Griechen
ſelbſt die Goͤtter ſtanden, darin abzugeben,
und die handelnden Perſonen recht toll in ein-
ander zu verwirren, daß ſie gar nicht klug aus
ſich werden, und der Menſch ſich zulezt fuͤr
Gott ſelbſt halten, oder zum mindeſten wie
die Idealiſten und die Weltgeſchichte, an einer
ſolchen Maske formen ſoll.


Ich habe mich jezt ſo ziemlich angekuͤndigt,
und kann das Trauerſpiel nun allenfalls ſelbſt
auftreten laſſen mit ſeinen drei Einheiten, der
Zeit
— auf die ich ſtreng halten werde, da-
mit der Menſch ſich gar nicht etwa in die
Ewigkeit verirrt — des Orts — der immer
im Raume bleiben ſoll — und der Hand-
[152] lung
— die ich ſo viel als moͤglich beſchraͤn-
ken werde, damit der Oedipus, der Menſch,
nur bis zur Blindheit, nicht aber in einer
zweiten Handlung zur Verklaͤrung fortſchreite.


Gegen die Maskeneinfuͤhrung habe ich mich
nicht geſperrt, denn je mehr Masken uͤber
einander, um deſto mehr Spaß, ſie eine nach
der andern abzuziehen bis zur vorlezten ſatiri-
ſchen, der hypokratiſchen und der lezten verfe-
ſtigten, die nicht mehr lacht und weint — dem
Schaͤdel ohne Schopf und Zopf, mit dem der
Tragikomiker am Ende ablaͤuft. — Auch ge-
gen die Verſe habe ich nichts einwenden wol-
len, ſie ſind nur eine komiſchere Luͤge, ſo wie
der Kothurn nur eine komiſchere Aufgeblaſen-
heit.


Prologus tritt ab. —“


[[153]]

Neunte Nachtwache.


Es freut mich daß ich in den vielen Dornen
meines Lebens doch wenigſtens Eine bluͤhende
volle Roſe fand; ſie war zwar ſo von den Sta-
cheln umſchlungen, daß ich ſie nur mit blutiger
Hand und entblaͤttert hervorziehen konnte;
doch aber pfluͤkte ich ſie, und ihr ſterbender
Duft that mir wohl. Dieſen einen Wonne-
monat unter den uͤbrigen Winter- und Herbſt-
monden verlebte ich — im Tollhauſe. —


Die Menſchheit organiſirt ſich gerade nach
Art einer Zwiebel, und ſchiebt immer eine
[154] Huͤlſe in die andere bis zur kleinſten, worin
der Menſch ſelbſt denn ganz winzig ſtekt. So
baut ſie in den großen Himmelstempel an
deſſen Kuppel die Welten als wunderheilige
Hieroglyphen ſchweben, kleinere Tempel mit
kleinern Kuppeln und nachgeaͤfften Sternen,
und in dieſe wieder noch kleinere Kapellen und
Tabernakel, bis ſie zulezt das Allerheiligſte
ganz en miniature wie in einen Ring einge-
faßt hat, da es doch ringsum groß und maͤch-
tig um Berge und Waͤlder ſchwebt, und in der
glaͤnzenden Hoſtie, der Sonne, am Himmel
emporgehoben wird, daß die Voͤlker davor nie-
derfallen. In die allgemeine Weltreligion,
die die Natur mit tauſend Schriftzeichen geof-
fenbart hat, ſchachtelt ſie wieder kleinere
Volks- und Stammreligionen fuͤr Juden, Hei-
den, Tuͤrken und Chriſten; ja die leztern ha-
ben auch daran nicht genug, ſondern ſchachteln
ſich noch von neuem ein. — Eben ſo iſt es
mit dem allgemeinen Irrhauſe, aus deſſen
Fenſtern ſo viele Koͤpfe ſchauen, theils mit
[155] partiellem, theils mit totalem Wahnſinne;
[auch] in dieſes ſind noch kleinere Tollhaͤuſer
fuͤr beſondere Narren hineingebaut. In eins
von dieſen kleinern brachten ſie mich jezt aus
dem großen, vermuthlich weil ſie dieſes fuͤr zu
ſtark beſezt hielten. Ich fand es indeß hier
gerade wie dort; ja faſt noch beſſer, weil die
fixe Idee der mit mir eingeſperrten Narren
meiſtens eine angenehme war.


Ich kann meine Mitnarren nicht beſſer
darſtellen, als wenn ich gerade den Augenblick
waͤhle, wo ich ſie dem beſuchenden Arzte vor-
fuͤhren mußte, was dann und wann geſchah,
weil mich der Aufſeher des Inſtituts meiner
unſchaͤdlichen Narrheit halber zum Vize- und
Unteraufſeher ernannt hatte. Ich that es
das leztemal unter folgender Rede:


„Herr Doktor Oehlmann, oder Olea-
rius
— wie Sie denn ihren Namen vor Diſ-
ſertationen und Programmen, durch eine todte
[156] Sprache in die Unſterblichkeit uͤberſetzen —
wir laboriren zwar alle mehr oder minder an
fixen Ideen; nicht nur einzelne Individuen,
ſondern ganze Gemeinheiten und Fakultaͤten,
von denen z. B. viele der lezteren neben dem
Vertriebe der Weisheit auch einem bloßen
Huthhandel obliegen, wodurch ſie ſogar nicht
weiſe Haͤupter, bloß vermoͤge des leichten Auf-
druͤckens eines ſolchen Huthes aus ihrer Fa-
brik in weiſe umzuſetzen glauben; ja ihn oft
ſelbſt auf einen bloßen Rumpf ſchlagen und ſo
ſcheinbar Philoſophen bilden, weil die Geſich-
ter der lezteren vor uͤbergroßem Spekuliren
ſich ohnedies gewoͤhnlich tief unter die Huth-
krempe zu verkriechen pflegen. — Ich habe
der vielen Beiſpiele halber, die ſich hier mei-
nem Gedaͤchtniſſe aufdraͤngen, den Faden des
Perioden verlohren, und reiße ihn lieber ganz
ab, um von neuem anzuheben.“


Oehlmann ſchuͤttelte hier ſeinen Doktorhut,
wie wenn er daran zweifelte, daß man dem
[157] meinigen eine Doublette von dieſem erhandel-
ten Exemplare jemals verabfolgen laſſen
wuͤrde.


„Sie ſchuͤtteln, fuhr ich fort, weil mich
der Himmel blos zu einem Narren kreirt hat,
und nicht ſpaͤterhin der Kaiſer zum Doktor?
doch beſeitigen wir das fuͤr jezt noch und re-
den von meiner Tollheit und den Mitteln ihr
abzuhelfen, lieber zulezt.


Hier No. I. iſt ein Beleg zur Humanitaͤt,
der mehr als alle Schriften daruͤber gilt; ich
kann nie an ihm voruͤbergehen, ohne mich an
die groͤßten Helden der Vorzeit, einen Cur-
tius, Coriolan, Regulus und dergleichen zu
erinnern. Sein Wahnſinn beſteht darin, die
Menſchheit zu hoch und ſich ſelbſt zu niedrig
anzuſchlagen; deshalb behaͤlt er, im Gegen-
ſaze ſchlechter Poeten, alle Fluͤſſigkeiten bei
ſich, weil er befuͤrchtet durch ihre Freilaſſung
eine allgemeine Suͤndfluth herbeizufuͤhren.
[158] Ich ergrimme oft, wenn ich ihn betrachte,
daruͤber, daß ich ſein eingebildetes Vermoͤgen
nicht in der That beſize — wahrlich ich thaͤt’s,
ich naͤhme die Erde als meinen pot de cham-
bre
in die Hand, daß alle Doktoren untergin-
gen, und nur ihre Huͤthe in Menge oben
ſchwaͤmmen. Es iſt ein großer Gedanke — der
arme Teufel faßt ihn nicht, denn ſehn ſie nur
wie er da ſteht und ſich quaͤlt, und den Athem
zuruͤkhaͤlt, blos aus reiner Menſchenliebe, und
wenn wir ihm jezt von dieſer Seite nicht
Luft verſchaffen, ſo iſt er des Todes. Mein
recipe ſind Feuersbruͤnſte, ausgetrocknete Stroͤ-
me mit ſtillſtehenden Muͤhlen und vielen Hun-
grigen und Durſtigen an den Ufern. Eine
Radikalkur, denke ich, ſoll die Hoͤlle des Dante
abgeben, durch die ich ihn jezt alle Tage
fuͤhre, und die er zu verloͤſchen ſich ernſtlich
vorgeſezt hat. — Seines urſpruͤnglichen
Handwerks nach, ſoll er ein Poet geweſen
ſein, der ſeine Fluͤſſigkeiten in keinen Buch-
laden ableiten konnte. —


[159]

No. 2 und 3 ſind philoſophiſche Gegenfuͤßler,
ein Idealiſt und ein Realiſt; jener laborirt
an einer glaͤſernen Bruſt, und dieſer an einem
glaͤſernen Gefaͤße, weshalb er ſein Ich niemals
ſetzt, was jenem eine Kleinigkeit iſt, ob er
gleich dagegen die moraliſche Anſchauung ver-
meidet, und darum die Bruſt ſorgfaͤltig be-
deckt.


No. 4. ſizt hier blos deswegen weil er in
der Bildung um ein halbes Jahrhundert zu
weit vorausgeſchritten iſt; es wandeln noch
einige von der Art frei herum, die man aber,
wie billig, alle auch fuͤr toll haͤlt.


No. 5. hielt zu verſtaͤndige und verſtaͤnd-
liche Reden, deshalb haben ſie ihn hieher ge-
ſchickt.


No. 6. iſt aus der Verruͤktheit, den Scherz
eines Großen als Ernſt zu nehmen, verruͤkt
geworden.


[160]

No. 7. hat ſein Gehirn verſengt, dadurch
daß er ſich zu hoch in die Poeſie verſtieg, und


No. 8 dadurch, daß er bei vernuͤnftigen
Tagen es mit der Ruͤhrung in ſeinen Komoͤ-
dien zu uͤbermaͤßig betrieb, ſeine Vernunft
gaͤnzlich weggeſchwemmt. Jener glaubt jezt als
Flamme zu brennen, ſo wie im Gegentheile
dieſer als Waſſer dahin fließt. Ich habe dann
und wann verſucht die widerſtreitenden Ele-
mente durch einen gegenſeitigen Kampf zu
verzehren, aber das Feuer fiel dann ſo heftig
uͤber das Waſſer her, daß ich


No. 9, der ſich fuͤr den Weltſchoͤpfer haͤlt,
herbeirufen mußte, um ſie wieder von einan-
der zu ſcheiden.


Dieſe letzte Nummer haͤlt oft hoͤchſt wun-
derliche Selbſtgeſpraͤche, und Sie koͤnnen jezt
eben einem zuhoͤren, wenn ſie anders Geduld
dazu haben.


[161]

Monolog des wahnſinnigen Welt-
ſchoͤpfers.


„Es iſt ein wunderlich Ding hier in mei-
ner Hand, und wenn ichs von Sekunde zu
Sekunde — was ſie dort ein Jahrhundert hei-
ßen — durch das Vergroͤßerungsglas betrachte,
ſo hat ſich’s immer toller auf der Kugel ver-
wirrt, und ich weiß nicht ob ich daruͤber
lachen oder mich aͤrgern ſoll — wenn beides
ſich nur uͤberhaupt fuͤr mich ſchickte. Das
Sonnenſtaͤubchen, das daran herumkriecht,
nennt ſich Menſch; als ich es geſchaffen hatte,
ſagte ich zwar der Sonderbarkeit wegen es ſei
gut — uͤbereilt war das freilich, indeß ich
hatte nun einmal meine gute Laune, und al-
les Neue iſt hier oben in der langen Ewigkeit
willkommen, wo es gar keinen Zeitvertreib
giebt. — Mit manchem was ich geſchaffen, bin
ich freilich noch jezt zufrieden, ſo ergoͤzt mich
die bunte Blumenwelt mit den Kindern die
darunter ſpielen, und die fliegenden Blumen,
11
[162] die Schmetterlinge und Inſekten, die ſich als
leichtſinnige Jugend von ihren Muͤttern trenn-
ten und doch zu ihnen zuruͤckkehren um ihre
Milch zu trinken und an der Mutter Bruſt zu
ſchlummern und zu ſterben. *) — Aber dies
winzige Staͤubchen, dem ich einen lebendigen
Athem einbließ und es Menſch nannte, aͤrgert
mich wohl hin und wieder mit ſeinem Fuͤnk-
chen Gottheit, das ich ihm in der Uebereilung
anerſchuf, und woruͤber es verruͤkt wurde.
Ich haͤtte es gleich einſehen ſollen, daß ſo we-
nig Gottheit nur zum Boͤſen fuͤhren muͤſſe,
denn die arme Kreatur weiß nicht mehr, wo-
hin ſie ſich wenden ſoll, und die Ahnung von
Gott, die ſie in ſich herumtraͤgt, macht daß
ſie ſich immer tiefer verwirret, ohne jemals
damit aufs Reine zu kommen. In der einen
Sekunde, die ſie das goldene Zeitalter nannte,
[163] ſchnizte ſie Figuren lieblich anzuſchauen und
baute Haͤuſerchen daruͤber, deren Truͤmmer
man in der andern Sekunde anſtaunte und als
die Wohnung der Goͤtter betrachtete. Dann
betete ſie die Sonne an, die ich ihr zur
Erleuchtung anzuͤndete und die, mit meiner
Studierlampe verglichen, ſich wie das Fuͤnk-
chen zur Flamme verhaͤlt. Zulezt — und das
war das aͤrgſte — duͤnkte ſich das Staͤubchen
ſelbſt Gott und bauete Syſteme auf, worin
es ſich bewunderte. Beim Teufel! Ich haͤtte
die Puppe ungeſchnizt laſſen ſollen! — Was
ſoll ich nur mit ihr anfangen? — Hier oben
ſie in der Ewigkeit mit ihren Poſſen herum-
huͤpfen laſſen? — Das geht bei mir ſelbſt nicht
an; denn da ſie ſich dort unten ſchon mehr
als zuviel langweilt und ſich oft vergeblich be-
muͤht in der kurzen Sekunde ihrer Exiſtenz
die Zeit ſich zu vertreiben, wie muͤßte ſie ſich
bei mir in der Ewigkeit, vor der ich oft ſelbſt
erſchrecke, langweilen! Sie ganz und gar zu
vernichten thut mir auch leid; denn der
[164] Staub traͤumt doch oft gar ſo angenehm von
der Unſterblichkeit, und meint, eben weil
er ſo etwas traͤume, muͤſſe es ihm werden.
— Was ſoll ich beginnen? Wahrlich hier ſteht
mein Verſtand ſelbſt ſtill! Laſſe ich die Krea-
tur ſterben und wieder ſterben, und verwiſche
jedesmal das Fuͤnkchen Erinnerung an ſich
ſelbſt, daß es von neuem auferſtehe und um-
herwandle? Das wird mir auf die Laͤnge auch
langweilig, denn das Poſſenſpiel immer und
immer wiederholt, muß ermuͤden! — Am
beſten ich warte uͤberhaupt mit der Entſchei-
dung bis es mir einfaͤllt einen juͤngſten Tag
feſtzuſetzen und mir ein kluͤgerer Gedanke bei-
kommt. —“


„Was das fuͤr ein verruchter Wahnſinn iſt
— fiel ich ein, als Nro. 9 inne hielt. —
Wenn ein vernuͤnftiger Menſch dergleichen vor-
braͤchte, wuͤrde man es wahrlich konfiszi-
ren.“ —


[165]

Oehlmann ſchuͤttelte den Kopf und machte
einige bedeutende Anmerkungen uͤber Gemuͤths-
krankheiten uͤberhaupt.


Der Weltſchoͤpfer, der bei ſeiner Rede ei-
nen Kinderball in der Hand hielt und jezt mit
ihm an zu ſpielen fing, fuhr nach einer Pauſe
fort.


„Wie die Phyſiker ſich jezt uͤber die ver-
aͤnderte Temperatur wundern, und neue Sy-
ſteme daruͤber aufſtellen werden. Ja dieſe Er-
ſchuͤtterung bringt vielleicht Erdbeben und an-
dere Erſcheinungen zuwege, und es giebt ein
weites Feld fuͤr die Teleologen. O das Son-
nenſtaͤubchen hat eine erſtaunliche Vernunft,
und bringt ſelbſt in das Willkuͤhrlichſte und
Verworrenſte etwas ſyſtematiſches; ja es lobt
und preiſet oft ſeinen Schoͤpfer eben deshalb
weil es davon uͤberraſcht wurde daß er eben
ſo geſcheut als es ſelbſt ſei. — Dann treibt
es ſich durch einander und das Ameiſenvolk
[166] bildet eine große Zuſammenkunft und ſtellt ſich
faſt an, als ob etwas darin abgehandelt
wuͤrde. Lege ich jezt mein Hoͤrrohr an, ſo
vernehme ich wirklich etwas und es ſummen
von Kanzeln und Kathedern ernſthafte Reden
uͤber die weiſe Einrichtung in der Natur,
wenn ich etwa den Ball ſpiele und dadurch ein
paar Duzzend Laͤnder und Staͤdte untergehen
und mehrere von den Ameiſen zerſchmettert
werden, die ſich ohnedas ſeitdem ſie die Kuh-
pocken erfunden haben nur zu viel vermehren.
O ſeit einer Sekunde ſind ſie ſo klug gewor-
den, daß ich mich hier oben nicht ſchneuzen
darf, ohne daß ſie das Phaͤnomen ernſthaft
unterſuchen. — Beim Teufel! da iſt es faſt
aͤrgerlich Gott zu ſein, wenn einen ſolch ein
Volk bekrittelt! — Ich moͤchte den ganzen
Ball zerdruͤcken!“ —


„Sehen Sie nur, Herr Doktor, — fuhr
ich fort als der Weltſchoͤpfer endete — wie
grimmig der Kerl es auf die Welt angelegt
[167] hat; es iſt faſt gefaͤhrlich fuͤr uns andere Nar-
ren, daß wir den Titanen unter uns dulden
muͤſſen, denn er hat eben ſo gut ſein konſe-
quentes Syſtem wie Fichte, und nimmt es
im Grunde mit dem Menſchen noch geringer
als dieſer, der ihn nur von Himmel und Hoͤlle
abtrennt, dafuͤr aber alles Klaſſiſche rings um-
her in das kleine Ich, das jeder winzige
Knabe ausrufen kann, wie in ein Taſchenfor-
mat zuſammendraͤngt. Jeder vermag jezt aus
der unbedeutenden Huͤlſe, wie es ihm beliebt,
ganze Kosmogonien, Theoſophien, Weltge-
ſchichten und dergleichen, ſamt den dazu ge-
hoͤrigen Bilderchen herauszuziehen. Groß und
herrlich iſt das allerdings wenn nur das For-
mat nicht ſo klein waͤre! — Schon Schlegel
hat es ſehr auf die kleinen Bilderchen abge-
ſehen, und ich muß geſtehen daß mir eine
große Iliade in Sedez herausgegeben, nimmer
behagen will — das heißt den ganzen Olymp
in eine Nußſchale packen, und die Goͤtter und
Helden muͤſſen ſich entweder zum verjuͤngten
[168] Maasſtabe bequemen, oder ohne Gnade das
Genik brechen!“ —


„Sie ſehen mich an, Herr Doktor, und
ſchuͤtteln zum zweitenmale den Kopf! Ja, ja
ſie haben es getroffen; das Alles gehoͤrte zu
meiner Tollheit und im vernuͤnftigen Zuſtande
bin ich grade der entgegengeſezten Meinung!“


„Laſſen Sie uns den Weltſchoͤpfer verlaſ-
ſen! —“


Hier Nro. 10 und 11 ſind Belege zur
Seelenwanderung; der erſte bellt als Hund
und diente ehmals am Hofe; der zweite hat
ſich aus einem Staatsbeamten in einen Wolf
verwandelt. Man kommt auf eigene Gedan-
ken bei ihnen.


Nro. 12, 13, 14, 15 und 16 ſind Varia-
zionen uͤber denſelben Gaſſenhauer, die
Liebe.


[169]

Nro. 17 hat ſich uͤber ſeine eigene Naſe
vertieft. Finden ſie das ſonderbar? Ich nicht!
Vertiefen ſich doch oft ganze Fakultaͤten uͤber
einen einzigen Buchſtaben, ob ſie ihn fuͤr ein
α oder ω nehmen ſollen.


Nro. 18 iſt ein Rechenmeiſter, der die
lezte Zahl finden will.


Nro. 19 denkt uͤber einen Diebſtahl nach,
den der Staat an ihm beging; — das darf
er aber nur im Tollhauſe.


Nro. 20 iſt endlich mein eigenes Narren-
kaͤmmerchen. Treten Sie immer herein und
ſchauen Sie ſich um, ſind wir doch vor Gott
alle gleich und laboriren blos an verſchiedenen
fixen Ideen, wo nicht an einem totalen Wahn-
ſinn bloß mit kleinen Nuanzen. — Das dort
iſt ein Sokrates Kopf dem Sie die Weisheit,
ſo wie jenem Skaramuz, die Narrheit an der
Naſe anſehen. Dies Manuſcript enthaͤlt ei-
[170] genhaͤndige Parallelen von mir uͤber beide, und
iſt zu Gunſten des Narren ausgefallen. —
Nicht wahr der Fleck muͤßte kurirt werden?
Es iſt uͤberhaupt die verſtockteſte Seite an mir
daß ich alles Vernuͤnftige abgeſchmackt, ſo wie
vice versa finde — ich kann mich der Grille
gar nicht erwehren!


Oft zwar habe ich es verſucht die Weisheit
mit den Haaren an mich zu reißen, und habe
deshalb privatim mit allen drei Brodfakultaͤ-
ten Umgang gepflogen, um mich demnaͤchſt
oͤffentlich, nach einem kurzen akademiſchen
Muſenbeilager, als eine heilige Dreizahl zum
Beſten der Menſchheit einſegnen zu laſſen,
und mit den drei [uͤbereinandergeſtuͤlpten] Dok-
torhuͤten einherzuſchreiten. O dachte ich bei
mir ſelbſt; koͤnnteſt du dann nicht blos durch
leichten unbemerkbaren Hutwechſel als ein Pro-
teus in praktiſcher und theoretiſcher Hinſicht
umherwandeln! Ueber die kuͤrzeſte Heilungs-
methode der Krankheiten in Diſſertationen
[171] verkehren, und den Kranken ſelbſt auf dem
kuͤrzeſten Wege von ſeinem Uebel entbinden!
Den Sterbenden, nach raſch vertauſchtem Hute,
als Rechtsfreund umarmen und ſein Haus be-
ſtellen, und endlich blos durch uͤbergeworfenen
Mantel als Himmelsfreund ihm den rechten Weg
zum Himmel zeigen. Wie in einer Fabrik
durch verſchiedene Maſchinen, ließe ſich auf
dieſe Weiſe durch verſchiedene Huͤte ein Hoͤch-
ſtes und Leztes erreichen. Und welch ein Ue-
berfluß an Weisheit und Gelde — eine er-
wuͤnſchte Kombination der beiden entgegenge-
ſezteſten Guͤter, eine hoͤchſte Idealiſirung der
Zentaurennatur im Menſchen, wo das wohlge-
ſaͤttigte Thier unten, den hoͤhern Reiter kek
einherſtolziren laͤßt. —


Doch ich fand bei naͤherer Anſicht Alles ei-
tel, und erkannte in aller dieſer geprieſenen
Weisheit zulezt nichts anders als die Decke die
uͤber das Moſesantlitz des Lebens gehaͤngt iſt,
damit es Gott nicht ſchaue.


[172]

Sie ſehen wohin das fuͤhrt, und es iſt eben
meine fixe Idee, daß ich mich ſelbſt fuͤr ver-
nuͤnftiger halte als die in Syſtemen deducirte
Vernunft, und fuͤr weiſer als die docirte
Weisheit.


Ich moͤchte wahrlich mit Ihnen zu einer
mediziniſchen Berathſchlagung mich verbinden,
bloß um zu uͤberlegen, wie dieſer meiner Narr-
heit beizukommen ſei, und welche Mittel man
dagegen anwenden koͤnnte. Die Sache iſt von
Wichtigkeit, denn ſagen Sie, wie kann man
gegen Krankheiten ſich auflehnen wollen, wenn
man ſelbſt, wie Sie wiſſen, mit dem Syſteme
nicht im Reinen iſt, ja wohl gar das fuͤr
Krankheit haͤlt, was hoͤhere Geſundheit iſt,
und umgekehrt.


Ja, wer entſcheidet es zulezt, ob wir Nar-
ren hier in dem Irrhauſe meiſterhafter irren,
oder die Fakultiſten in den Hoͤrſaͤlen? Ob
vielleicht nicht gar Irrthum, Wahrheit; Narr-
heit, Weisheit; Tod, Leben iſt — wie man
vernuͤnftigerweiſe es dermalen gerade im Ge-
[173] gentheile nimmt! — O ich bin inkurabel, das
ſehe ich ſelbſt ein.“


Der Doktor Oehlmann verordnete mir
nach einigem Nachſinnen viele Bewegung und
wenig oder gar kein Denken, weil er meinte,
daß mein Wahnſinn, gerade wie bei andern
eine Indigeſtion durch zu haͤufigen phyſiſchen
Genuß, durch uͤbertriebene intellektuelle
Schwelgerei entſtanden ſei. — Ich ließ ihn
gehen!


Fuͤr meinen Wonnemonat im Tollhauſe
ſpare ich ein anderes Nachtſtuͤck auf.


[[174]]

Zehnte Nachtwache.


Das iſt eine wunderliche Nacht; der Mond-
ſchein in den gothiſchen Bogen des Dohmes
erſcheint und verſchwindet wie Geiſter — an
der Laterne des Thurmes klettert ein Nacht-
wandler herum, mit einem Saͤuglinge im Ar-
me, es iſt der Kloͤkner; ſein Weib ſchaut aus
der Luke, haͤnderingend, aber ſtumm wie das
Grab, daß der ſchlafende Wanderer, der ſicher,
wie der ſorgloſe Menſch, die gefaͤhrlichſten
Stellen [zuruͤcklegt], nicht beim Rufe ſeines Na-
mens erwachend und ſchwindelnd mit dem
Knaben in das tiefe Grab hinunterſtuͤrze. —
[175] Gegenuͤber in der Vorſtadt bricht ein Dieb in
einen Pallaſt; aber es iſt mein Revier nicht,
und ich bin zum Stummſein verdammt; ſo
mag er einbrechen! — Ganz in der Ferne iſt
leiſe kaum vernehmbare Muſik, wie wenn
Muͤcken ſummen, oder Koch zur Nacht auf
der Mundharmonika phantaſirt; und oben am
Horizont auf dem Eisſpiegel der Wieſe drehen
ſich leicht und luftig Schlittſchuhlaͤufer, und
tanzen den Baſeler Todtentanz zu der Trauer-
muſik. —


Alles iſt kalt und ſtarr und rauh, und von
dem Naturtorſo ſind die Glieder abgefallen,
und er ſtreckt nur noch ſeine verſteinerten
Stuͤmpfe ohne die Kraͤnze von Bluͤthen und
Blaͤttern gegen den Himmel. Die Nacht iſt
ſtill und faſt ſchrecklich und der kalte Tod ſteht
in ihr, wie ein unſichtbarer Geiſt, der das
uͤberwundene Leben feſthaͤlt. Dann und wann
ſtuͤrzt ein erfrorner Rabe von dem Kirchen-
dache, und ein Bettler ohne Dach und Fach
[176] kaͤmpft mit dem Schlummer, der ihn ſo ſuͤß
und lockend, in die Arme des Todes legen
will, wie den leichtſinnigen Fiſcher die Nixe
mit Geſang in die Wellen einladet. —


Soll ich den Tod betruͤgen um das Bett-
lerleben? Beim Teufel ich weiß es ja nicht
was beſſer iſt — Sein, oder Nichtſein! — O
die dort mit dem nachgeahmten Suͤden in ih-
ren Schlafkammern, und dem gemahlten Fruͤh-
ling an den Waͤnden, wenn draußen der wirk-
liche erſtarret iſt, werfen die Frage nicht auf,
und ſie bereiten ſich ſelbſt die Natur, wie ein
leckeres Gericht auf ihren Tafeln, zu und ge-
nießen ſie gern nippend und in unterbrochenen
Pauſen, damit ſie im Geſchmack bleiben. Aber
dieſer Vogelfreie ruht der alten Mutter noch
unmittelbar an der Bruſt, die eigenſinnig und
launiſch, wie jede Alte, bald ihre Kinder
erwaͤrmt und bald ſie erdruͤckt. — Doch nein,
du Mutter biſt ewig treu und unveraͤnderlich,
und bieteſt den Kindern Fruͤchte in dem gruͤ-
[177] nen Laube das ſie beſchattet, und Flammen
und die Erinnerung an dich, wenn du ſchlum-
merſt; aber die Bruͤder haben den Joſeph ver-
ſtoßen, und verſchließen tuͤckiſch die Gaben,
die du ihm, wie den andern Kindern reichſt.
— O die Bruͤder ſind es nicht werth, daß Jo-
ſeph unter ihnen wandle! — Er mag ent-
ſchlummern!


Da iſt das Geſicht ſchon ſtarr und kalt, und
der Schlaf hat die Bildſaͤule ſeinem Bruder
in die Arme gelegt; ich will ſie hier aufrich-
ten, daß ſie wie ein Schreckbild, wenn die
Sonne aufgeht, in den Tag ſchaue. — O
moͤrderiſcher Tod, der Bettler hatte noch eine
Erinnerung an das Leben und die Liebe —
die braune Locke ſeines Weibes hier unter den
Lumpen auf der Bruſt; du haͤtteſt ihn nicht
wuͤrgen ſollen, — und doch —


Der Traum der Liebe.


Die Liebe iſt nicht ſchoͤn — es iſt nur der
Traum der Liebe der entzuͤckt. Hoͤre mein Ge-
12
[178] bet, ernſter Juͤngling! Siehſt du an meiner
Bruſt die Geliebte, o ſo brich ſie ſchnell die
Roſe, und wirf den weißen Schleier uͤber das
bluͤhende Geſicht. Die weiße Roſe des Todes
iſt ſchoͤner als ihre Schweſter, denn ſie erin-
nert an das Leben und macht es wuͤnſchens-
werth und theuer. Ueber dem Grabhuͤgel der
Geliebten ſchwebt ihre Geſtalt ewig jugendlich
und bekraͤnzt und nimmer entſtellt die Wirk-
lichkeit ihre Zuͤge, und beruͤhrt ſie nicht daß ſie
erkalte und die Umarmung ſich ende. Ent-
fuͤhre ſie ſchnell die Geliebte, Juͤngling, denn
die Entflohene kehrt wieder in meinen Traͤu-
men und Geſaͤngen, ſie windet den Kranz
meiner Lieder und entſchwebt in meinen Toͤ-
nen zum Himmel. Nur die Lebende ſtirbt,
die Todte bleibt bei mir, und ewig iſt unſre
Liebe und unſre Umarmung! —


Horch! — Tanzmuſik und Todtengeſang —
das ſchuͤttelt luſtig ſeine Schellen! Ruͤſtig,
[179] immer zu; wer den andern uͤbertaͤubt, fuͤhrt
die Braut heim. Schade nur, ich ſehe zwei
Braͤute, eine weiße und eine rothe — zwei
Hochzeiten, zu der einem im untern Stock-
werk heulen die Klageweiber ihre Weiſe; einen
Stock hoͤher pfeifen und geigen die Muſikan-
ten, und die Decke uͤber dem Todtenkaͤmmer-
lein und dem Sarge bebt und droͤhnt vom
Tanze.


Erklaͤrt mir doch den naͤchtlichen Spuk!


Lenore reitet voruͤber — die weiße Braut
hier in der ſtillen Hochzeitkammer, liebte
den Juͤngling der droben walzt; und, das
iſt Lebensweiſe, ſie liebte, er vergaß, ſie
erblaßte, und er entgluͤhte fuͤr eine rothe Roſe,
die er heute heimfuͤhrt, indem man dieſe weg-
traͤgt. —


Das iſt die alte Mutter der weißen Braut,
am Sarge — ſie weint nicht; denn ſie iſt
[180] blind — auch die weiße weint nicht und ſchlum-
mert und traͤumt ſehr ſuͤß. —


Da ſtuͤrmt der Hochzeitszug noch tanzend
die Stiegen herab — und der Juͤngling ſteht
zwiſchen zwei Braͤuten. Er erblaßt doch ein
wenig. Still! Die blinde Mutter erkennt ihn
am Gange. — Sie fuͤhrt ihn zum Brautbette
der ſchlummernden Braut.


„Sie hat ſich fruͤher niedergelegt zur Hoch-
zeitnacht, als du, erweck ſie nicht, ſie ſchlaͤft
ſo ſuͤß, aber deiner hat ſie gedacht bis zum
Schlummer. Das iſt dein Bild auf ihrem
Herzen. — O zieh die Hand nicht ſo erſchrok-
ken zuruͤk von der kalten Bruſt; die Nacht iſt
die laͤngſte wo der Froſt am bitterſten iſt, und
ſie liegt einſam im Brautbett’, ohne den
Braͤutigam!“ —


Sieh! Da hat der Schrecken die rothe
Roſe auch erblaßt und der Juͤngling ſteht zwi-
[181] chen den zwei weißen Braͤuten. — Fort, fort,
das iſt Weltlauf. O wenn ich doch blaſen und
ſingen duͤrfte.


Jezt ſchwebt die Leiche hin durch die Gaſ-
ſen, und der Laternenſchein ſtill hinterdrein
an den Waͤnden, wie wenn der voruͤberwan-
delnde Tod ſich dem ſchlummernden Leben nicht
verrathen wollte. Der gefrorene Boden knirſcht
unter den Fußtritten der Leichentraͤger — das
iſt der heimliche tuͤckiſche Brautgeſang! — Und
ſie bergen ſie in ihr Kaͤmmerlein.


Aber nahe dabei ſingen und brauſen noch
Juͤnglinge, und verſchwenden das Leben, und
die Liebe und die Poeſie in einem kurzen ra-
ſchen Rauſche, der am Morgen verflogen iſt
— wo ihre Thaten, ihre Traͤume, ihre Hoff-
nungen, ihre Wuͤnſche, und alles um ſie her
nuͤchtern geworden und erkaltet iſt. —


Im Nonnenkloſter der heiligen Urſula war
noch ſpaͤt in der Nacht ein unruhiges Treiben.
[182] Die Klocke ſchlug dann und wann leiſe und
dumpf an, wie wenn man traͤumend ſtuͤrmen
hoͤrt, und an den Kirchenfenſtern, deren Bo-
gen uͤber die Mauer herabſchaueten, flog oft
ein ungewoͤhnlicher aber ſchnell wieder verloͤ-
ſchender Lichtglanz auf. Ich ging einſam um
die Mauer herum, die wie ein geweiheter
Zauberkreis die heiligen Jungfrauen umſchließt.
— Ploͤzlich ſtieß ich auf jemand im Mantel —
was ich von ihm erfuhr, gehoͤrt in die fol-
gende Winternacht; was ich that, noch in
dieſe. —


Der Pfoͤrtner an der aͤuſſern Mauer war
ein alter tiefſinniger Menſchenhaſſer, der mir
herzlich zugethan war, als einem Gegenſtande,
den er mit ſeinem Zorne nach Belieben uͤber-
ſchuͤtten konnte. Ich beſuchte ihn oft zur Nacht
um ſeiner Galle Luft zu machen; auch jezt
ging ich zu ihm. Er ſaß in ſeiner Huͤtte bei
einer Lampe, in der Geſellſchaft eines ſchwar-
zen Vogels dem er eine Kappe uͤber den Kopf
[183] gezogen hatte, und mit ihm in Unterredung
war.


„Kennſt du das Weſen — ſprach der Pfoͤrt-
ner — deſſen Antliz tuͤckiſch lacht, wenn die
vorgehaltene Larve Thraͤnen vergießt, das
Gott nennt, wenn es den Teufel denkt, das
im Innern, wie der Apfel am todten Meere,
giftigen Staub enthaͤlt, indeß die Schaale bluͤ-
hend roth zum Genuß einladet, das durch
das kuͤnſtlich gewundene Sprachrohr melodiſche
Toͤne von ſich giebt indem es Aufruhr hinein-
ruft, das wie die Sphynx nur freundlich laͤ-
chelt, um zu zerreiſſen, und wie die Schlange
bloß deshalb ſo innig umarmt, um den toͤdlichen
Stachel in die Bruſt zu druͤcken? — Wer iſt
das Weſen, Schwarzer?


„Menſch!“ kraͤchzte das Thier auf eine
unangenehme Weiſe.


„Der Schwarze ſpricht weiter kein Wort
— ſagte der Pfoͤrtner — aber er beantwortet
[184] deshalb doch jede meiner Fragen auf das tref-
fendſte. — Geh ſchlafen, Schwarzer!“


Der Vogel rief noch dreimal Menſch aus
und ſezte ſich dann, wie wenn er tiefſinnig
nachdaͤchte in eine finſtere Ecke — er ſchlum-
merte aber nur.


„Sie ſpielen Begrabens im Kloſter — fuhr
der Alte fort — willſt du nicht zuſchauen?
Eine keuſche Urſelinerinn iſt heute Mutter
worden; — in der Legende waͤre ’s; freilich
als ein Wunder aufgezeichnet; aber, ſo ſehr
haben ſie Gott in die Karte geſchauet, daß ſie
heutiges Tages an keine Wunder mehr glau-
ben. Die heilige Jungfrau wird dieſe Nacht
lebendig eingeſcharrt. — Ich laſſe dich ein;
ſieh’s zum Zeitvertreibe an!“ —


Er nahm die Schluͤſſel, die Angel pfiffen,
und ich ging uͤber Graͤber durch den Kreuz-
gang. Fackelglanz flog oft raſch uͤber die Mo-
[185] numente, auf denen ſteinerne Jungfrauen be-
tend ſchlummerten, mit kuͤnſtlich abgeformten
Geſichtern, indeß drunten die Originale ſchon
die Masken abgeworfen hatten. —


Ich ſtellte mich hinter einen Pfeiler, drun-
ten war eine offene gemauerte Gruft — ein
einſames Entkleidungskaͤmmerchen fuͤr den ab-
gehenden Menſchen — im Kaͤmmerchen brannte
eine blaſſe Todtenlampe und auf einem her-
vorragenden Steine befand ſich ein Brod, ein
Krug Waſſer, ein Kruzifix und ein Gebetbuch.
In der uͤber die Gruft gebaueten Kirche herrſchte
tiefe Stille unter den Heiligen, die von den
Waͤnden herabſchaueten, nur wenn dann und
wann ein Windſtoß durch das Orgelwerk fuhr,
heulte eine Pfeife unangenehm.


Der Zug ward endlich durch die Saͤulen
ſichtbar — viele ſchweigende Jungfrauen und
in der Mitte die wandelnde Braut des Todes
Der ganze Akt haͤtte fuͤr einen poetiſch weich-
[186] lich geſtimmten Zuſchauer etwas Schauder er-
regendes, eben durch die faſt mechaniſch
ſchrekliche Weiſe auf die er vollzogen wurde,
gehabt, ſo wie denn die tragiſche Muſe, je
weniger Haͤnderingens ſie macht, um ſo mehr
erſchuͤttert. Mein Gemuͤth indeß, (das einem
mit Vorſatz widerſinnig geſtimmten Saiten-
ſpiele gleicht, auf dem daher niemals in einer
reinen Tonart geſpielt werden kann, wenn
nicht anders der Teufel einmal ein Konzert
darauf ankuͤndigt) wurde wenig ergriffen, und
es kam im Grunde nichts weiter als ein toller
Lauf durch die Skala zuwege, der ohngefaͤhr
durch die folgenden Toͤne ging und in einer
Disharmonie ſtehen blieb:


Lauf durch die Skala.


„Das Leben laͤuft an dem Menſchen vor-
uͤber, aber ſo fluͤchtig daß er es vergeblich an-
ruft ihm einen Augenblick Stand zu halten,
um ſich mit ihm zu beſprechen, was es will,
[187] und warum es ihn anſchaut. Da fliehen die
Masken voruͤber, die Empfindungen, eine
verzerrter wie die andere. Freude ſteh mir
Rede — ruft der Menſch — weshalb du mir
zulaͤchelſt! Die Larve laͤchelt und entfli[e]ht.
Schmerz laß dir feſt ins Auge ſchauen, warum
erſcheinſt du mir! Auch er iſt ſchon voruͤber.
— Zorn, warum blickſt du mich an — ich
frage es und du biſt verſchwunden.


Und die Larven drehen ſich im tollen raſchen
Tanze um mich her — um mich der ich Menſch
heiße — und ich taumle mitten im Kreiſe um-
her, ſchwindelnd von dem Anblicke und mich
vergeblich bemuͤhend eine der Masken zu um-
armen und ihr die Larve vom wahren Antlize
wegzureißen; aber ſie tanzen und tanzen nur
— und ich — was ſoll ich denn im Kreiſe?
Wer bin ich denn, wenn die Larven verſchwin-
den ſollten? Gebt mir einen Spiegel ihr Faſt-
nachtsſpieler, daß ich mich ſelbſt einmal er-
blicke — es wird mir uͤberdruͤſſig nur immer
[188] eure wechſelnden Geſichter anzuſchauen. Ihr
ſchuͤttelt — wie? ſteht kein Ich im Spiegel
wenn ich davor trete — bin ich nur der Ge-
danke eines Gedanken, der Traum eines
Traumes — koͤnnt ihr mir nicht zu meinem
Leibe verhelfen, und ſchuͤttelt ihr nur immer Eure
Schellen, wenn ich denke es ſind die meini-
gen? — Hu! Das iſt ja ſchrecklich einſam
hier im Ich, wenn ich euch zuhalte ihr Mas-
ken, und ich mich ſelbſt anſchauen will — al-
lesverhallender Schall ohne den verſchwunde-
nen Ton — nirgends Gegenſtand, und ich
ſehe doch — — das iſt wohl das Nichts das
ich ſehe! — Weg, weg vom Ich — tanzt nur
wieder fort ihr Larven!“


Jezt ſteigt die Nonne in die Gruft hinab.
O endet doch das Spiel daß ich’s erfahre ob’s
eigentlich auf Scherz oder auf Ernſt hinaus-
laͤuft. Folgt doch noch auf dem lezten Wege
der Braut des Todes eine Maske — es iſt
der Wahnſinn. Die Larve laͤchelt heimlich —
[189] ob dahinter das wahre Antliz ſchaudert, oder
verzuͤckt iſt — wer ſagt es mir?


Zwar mauern ſie, der Braut zur Geſell-
ſchaft, eine Schlange ein — den Hunger —
die ſich ihr bald um die Bruſt ſchlingen, und
bis zum Ich fortnagen wird. Wenn dann die
lezte Maske auch verſchwindet, und das Ich
mit ſich allein iſt — wird es ſich wohl die
Zeit vertreiben? —


Nun klopfen die Haͤmmer der Freimaurer
dumpf durch das Gewoͤlbe, und ein Stein
nach dem andern fuͤgt ſich in das Gewoͤlbe der
Gruft. Jezt erblicke ich nur noch durch eine
kleine Luͤcke beim Lampenſchein das heimliche
Laͤcheln der Begrabenen — jezt blos ein wenig
ſich durchſtehlenden Schimmer — — nun iſt
alles verdeckt, und die lebenden Todten ſingen
zur guten Nacht ein ernſtes miserere uͤber dem
Haupte der Begrabenen. —


Den Pfoͤrtner fand ich als ich zuruͤckkehrte,
wie gewoͤhnlich mit ſeiner alten finſtern Maske
[190] beiſammen. — „Haſſeſt du jezt die Men-
ſchen?“ fragte er.


„Ich bin faſt mit mir allein — ſagte ich
— und haſſe oder liebe eben ſo wenig als
moͤglich! Ich verſuche zu denken, daß ich nichts
denke, und da bringe ich’s zulezt wohl ſo weit
auf mich ſelbſt zu kommen!“ —


„Nimm den Wurm mit — fuhr der Alte
fort, und hob die Decke uͤber einem ſchlum-
mernden Kinde — ich mag ihn nicht bei mir
behalten, denn ich habe noch Anfaͤlle von Men-
ſchenliebe, wo ich ihn leicht im Wahnſinn er-
ſticken koͤnnte!“


Ich nahm den Knaben in die Arme, und
das noch traͤumende Leben verſoͤhnte mich wie-
der mit dem erwachten.


„Sie haben mir das Kind uͤbergeben es
fortzuſchaffen — ſprach der Pfoͤrtner — denn
ſie dulden nichts Maͤnnliches unter ſich die
frommen Jungfrauen, auſſer in den Gemaͤhl-
den, fuͤr die Einbildungskraft; die Mutter
des Knaben ſaheſt du eben begraben, ſuch
[191] jezt ſeinen Vater auf, oder ſchleudre den Buͤr-
ger in die Welt, es hat keine Gefahr mit
der Menſchenbrut, ſie geht nicht unter.“


„Ich kenne den Vater!“ antwortete ich,
und ging aus der Huͤtte. Draußen ſtand der
Unbekannte im Mantel und hielt mich feſt.
— „Die Braut iſt begraben — dies iſt dein
Sohn!“ mit dieſen Worten legte ich ihm den
Knaben in die Arme, und er druͤkte ihn
ſtumm ans Herz.


[[192]]

Eilfte Nachtwache.


Folgendes iſt ein Bruchſtuͤck aus der Ge-
ſchichte des Unbekannten im Mantel. Ich
liebe das Selbſt — drum mag er ſelbſt re-
den!


„Was iſt denn die Sonne?“ fragte ich
eines Tages meine Mutter, als ſie den Son-
nenaufgang von einem Berge beſchrieb. „Ar-
mer Knabe, du verſtehſt es nimmer, du biſt
blind geboren!“ antwortete ſie geruͤhrt und
fuhr ſanft mit der Hand uͤber meine Stirn
und meine Augen.


[193]

Ich gluͤhete — die Beſchreibung hatte mich
entzuͤckt; zwiſchen den Menſchen und meiner
Liebe zu ihnen lag eine Scheidewand — wenn
ich die Sonne nur einmal erblicken koͤnnte,
glaubte ich, wuͤrde ſie ſchwinden und ich mich
eines naͤhern Umgangs mit meiner Mutter er-
freuen duͤrfen. —


Meine Phantaſie arbeitete von jezt an hef-
tig, der ſehnſuchtsvolle Geiſt ſtrebte gewalt-
ſam den Koͤrper zu durchbrechen und in das
Licht zu ſchauen. Dort lag das Land meiner
Ahnung, das Italien voll Wunder der Natur
und Kunſt.


Sie ſprachen viel von Nacht und Tag, fuͤr
mich gab es nur eins, einen ewigen Tag,
oder eine ewige Nacht — ſie meinten es ſei
die letztere! —


Ich ſaß in meinem Dunkel, und die wun-
derbare große Welt ging in meinem Geiſte
13
[194] auf, aber die Beleuchtung fehlte, und ich ſtieg
nur an dem Leben herum, wie an einem him-
melhohen Felſen, mit verbundenen Augen; ich
fuͤhlte die ſeidene Wange der Blume, trank
ihren Duft — aber ich traͤumte, die Blume
ſelbſt ſei unendlich ſchoͤner als ihr Duft und
ihre ſeidene Wange.


Ein lebhafter wunderbarer Traum ließ mich
in einer Nacht das Licht erblicken, und es war
es wahrlich; aber als ich erwachte, bemuͤhete
ich mich vergeblich den Traum wieder hervor-
zurufen.


Um dieſe Zeit ſtieg die Muſik wie ein lieb-
licher Genius in meinen dunkeln Kerker, und
ſchlang um ihre Saiten die zarten Blumen-
kraͤnze der Poeſie. Es war heiliger Boden
den ich jetzt betrat — das erſte Italien mei-
ner Sehnſucht.


Der Engel der zwiſchen den beiden Muſen
wandelte und ſie mir zufuͤhrte, war ein Maͤd-
[195] chen, die himmliſche Madonna hatte ihm ih-
ren irdiſchen Namen hinterlaſſen. — Maria
war mit mir von gleichem Alter, und ſie ent-
zuͤckte den blinden Knaben durch ihre Lieder
und Toͤne, und rief die Liebe und die Hoff-
nung aus ihren Traͤumen auf, daß ſie zum
erſtenmale hell um ſich ſchauten, und als die
beiden ſchoͤnſten Veſtalen in das Leben traten.


Marie war eine elternloſe Waiſe, und meine
Mutter hatte, als ſie ſie zu ſich nahm, ein
feierliches Geluͤbde geleiſtet, das Kind dem
Himmel zu weihen, wenn ich jemals das Licht
erblicken wuͤrde. Jezt ſehnte ich mich wieder
nach der Sonne, denn ſie entfuͤhrte mir Ma-
rie und ihre Geſaͤnge.


Bald darauf hoͤrte ich oͤfter von einem
Arzte reden, von deſſen Kunſt man ſich viel
zu meinem Vortheile verſprach. — Ich wankte
zwiſchen entgegengeſetzten Gefuͤhlen — die
Liebe zur Sonne und zu Marie war gleich hef-
[196] tig in meiner Seele. Faſt mit Gewalt mußte
man mich dem Arzte entgegenfuͤhren. —


Er gebot mir Ruhe — und meine Bruſt
hob ſich ſtuͤrmiſcher. Ich ſtand an den Pfor-
ten des Lebens, gleichſam um zum zweiten-
male geboren zu werden. Jetzt empfand ich
einen heftigen Schmerz an meinen Augen;
ich ſchrie auf, denn mein Traum kehrte zu
mir zuruͤk — ich ſah Licht! — Tauſend bliz-
zende Strahlen und Funken — ein raſcher
Blick in den reichſten Schaz des Lebens.


Die vorige Nacht umgab mich dann wieder.
Es war eine Binde um meine Augen gelegt,
und ich durfte nur erſt nach und nach in die
neue Welt eingehen.


Nichts von den Zwiſchenraͤumen — man
zeigte mir nur wenige Gegenſtaͤnde, und kein
lebendiges Weſen, außer dem Arzte, nahte
ſich mir, bis dieſer mich endlich fuͤr ſtark genug
hielt das Groͤßeſte zu ertragen.


[197]

Er fuͤhrte mich in die Nacht hinaus, uͤber
meinem Haupte in der unermeßlichen Ferne
brannten die Sternbilder, und ich ſtand unter
den tauſend Welten wie ein Trunkener, Gott
ahnend, ohne ſeinen Namen auszuſprechen. —
Vor mir ragten die alten Ruinen einer vori-
gen Erde, die Berge, finſter und rauh in die
Nacht empor, ein mattes Wetterleuchten aus
wolkenloſer Luft ſpielte um ihre Haͤupter.
Waͤlder ruhten tief und verhuͤllt zu ihren
Fuͤßen und ſchuͤttelten nur leiſe ihre ſchwarzen
Wipfel. Der Arzt ſtand ernſt und ſtill neben
mir — einige Schritte weiter regte es ſich
wie eine verſchleierte Geſtalt. —


Ich betete! —


Ploͤtzlich veraͤnderte ſich die Szene; uͤber
die Berge ſchienen Geiſter heraufzuziehen, und
die Sterne erblaßten wie vor Schrecken, und
hinter mir deckte ſich ein weiter Spiegel auf —
das Weltmeer. —


Ich bebte, denn ich glaubte Gott nahe
ſich.


[198]

Und auf die Erde druͤckten ſich Nebel und
verhuͤllten ſie ſanft — aber am Himmel zogen
die Geiſter maͤchtiger heran, und wie die
Sterne verloͤſchten, flogen goldene Roſen uͤber
die Berge empor in den blauen Himmel, und
ein zauberiſcher Fruͤhling bluͤhete in der Luft —
immer maͤchtiger und maͤchtiger — jetzt wogte
ein ganzes Meer heruͤber, und Flamme auf
Flamme brannte in die Himmelsfluthen.


Da ſtieg uͤber den Fichtenwald, in tauſend
Strahlen wiederleuchtend, wie eine entzuͤndete
Welt die ewige Sonne empor!


Ich ſchlug beide Haͤnde vor die Augen, und
ſtuͤrzte zu Boden.


Als ich wieder erwachte, da ſchwebte der
Gott der Erde in den Luͤften, und die Braut
hatte alle ihre Schleier zerriſſen, und ent-
huͤllte ihre hoͤchſten Reize dem Auge des
Gottes. —


[199]

Ueberall war Heiligthum — der Fruͤhling
lag wie ein ſuͤßer Traum an den Bergen und
auf den Fluren — die Sterne des Himmels
brannten als Blumen in dem dunkeln Graſe,
aus tauſend Quellen ſtuͤrzte das Lichtmeer
herab in die Schoͤpfung, und die Farben ſtie-
gen darin wie wunderbare Geiſter auf. Ein
All von Liebe und Leben — rothe Fruͤchte und
bluͤhende Kraͤnze in den Baͤumen, und duftende
Gewinde um Huͤgel und Berge — in den
Trauben brennende Diamanten — die Schmet-
terlinge als fliegende gaukelnde Blumen in
den Luͤften — Geſang aus tauſend Kehlen,
ſchmetternd, jubelnd, lobpreiſend — und das
Auge Gottes aus dem unendlichen Weltmeere
zuruͤkſchauend und aus der Perle im Blumen-
kelche.


Ich wagte den Ewigen zu denken!


Ploͤzlich rauſchte es hinter mir — neue
Schleier fielen von dem Leben — ich ſchaute
[200] raſch zuruͤk und ſahe — ach zum erſtenmale!
das weinende Auge der Mutter!


O Nacht, Nacht, kehre zuruͤk! Ich ertrage
all das Licht und die Liebe nicht laͤnger!


[[201]]

Zwölfte Nachtwache.


Es geht nun einmal hoͤchſt unregelmaͤßig in
der Welt zu, deshalb unterbreche ich den Un-
bekannten im Mantel hier mitten in ſeiner
Erzaͤhlung, und es waͤre nicht uͤbel zu wuͤn-
ſchen daß mancher große Dichter und Schrift-
ſteller ſich ſelbſt zur rechten Zeit unterbrechen
moͤchte, ſo auch der Tod in der rechten Stunde
das Leben großer Maͤnner — Beiſpiele liegen
nahe.


Oft erhebt ſich der Menſch wie der Adler
zur Sonne und ſcheinet der Erde entruͤckt,
[202] daß Alle dem Verklaͤrten in ſeinem Glanze
nachſtaunen; — aber der Egoiſt kehrt ploͤzlich
zuruͤk und ſtatt den Sonnenſtrahl wie Prome-
theus geraubt zu haben und zur Erde herab-
zufuͤhren, verbindet er den Umſtehenden die
Augen, weil er glaubt es blende ſie die
Sonne.


Wer kennt den Sonnenadler nicht, der
durch die neuere Geſchichte ſchwebt! —


Was uͤbrigens meinen Unbekannten betrifft,
ſo gebe ich nach romantiſchem Stoffe hungern-
den Autoren mein Wort, daß ſich ein maͤßiges
Honorar mit ſeinem Leben erſchreiben ließe —
ſie moͤgen ihn nur aufſuchen und ſeine Ge-
ſchichte beenden laſſen. —


In dieſer Nacht war groſſer Lerm. Aus
der Hausthuͤr eines beruͤhmten Dichters flog
eine Peruͤcke und hinter drein eilte ihr Beſiz-
zer, ſo daß es zweideutig war, ob er dem
[203] vorausfliehenden Gute nachſeze, oder vielmehr
nachgeſezt werde. Ich hielt ihn dieſer Zwei-
deutigkeit halber feſt, und ließ ihn beichten. —


Mein Freund! — ſagte er — Ich ſeze der
Unſterblichkeit nach, und werde von ihr nach-
geſezt! Er ſelbſt wird es wiſſen, wie ſchwer
es iſt beruͤhmt zu werden, wie noch unendlich
ſchwerer aber zu leben; man klagt in allen
Faͤchern uͤber Ueberhaͤufung, ſo auch in dem
Fache des beruͤhmt und lebendig ſeins, dazu
beſchwert man ſich uͤber ſo manche in beiden
Faͤchern angeſtellte ſchlechte Subjekte, daß man
niemandem mehr auf ſein Wort glauben will.
Mir beſonders hat man große Schwierigkeiten
in den Weg gelegt, und ich habe es durchaus
zu nichts bringen koͤnnen. Sage er ſelbſt,
was ſoll ein Menſch der nicht ſchon im Mut-
terleibe eine Krone auf dem Haupte traͤgt,
oder mindeſtens, wenn er aus dem Eie ge-
krochen, an den Aeſten eines Stammbaums
das Klettern lernen kann, in dieſer Welt an-
[204] fangen, wenn er weiter nichts mitbringt,
als ſein naktes Ich und geſunde Glieder. Ich
kenne nichts einfaͤltigeres in der Zeit worin wir
einmal leben, und wo die Aemter, die Wuͤr-
den, die Ordensbaͤnder und Sterne ſchon fruͤ-
her fertig ſind, als der, der ſie tragen oder
bekleiden ſoll. Moͤchte ein armer Teufel, der
nicht mindeſtens bei ſeiner Geburt gleich in
einen warmen Rock fahren kann, nicht lieber
wuͤnſchen als ein Stumpf aus ſeiner Mutter-
leibe hervorzugehen, angeſtaunt und geſpeiſet
zu werden? Ich denke er verſteht mich Kame-
rad!


Ich hab’s auf alle Weiſe verſucht mich fort-
zubringen, aber immer vergeblich; bis ich
endlich fand ich habe Kants Naſe, Goͤthens
Augen, Leſſings Stirn, Schillers Mund,
und den Hintern mehrerer beruͤhmter Maͤn-
ner; ich machte darauf aufmerkſam und fand
Eingang, ja man fing an mich zu bewundern.
Jetzt trieb ich’s weiter, ich ſchrieb an große
[205] Geiſter um alten abgelegten Troͤdel, und das
Gluͤck wollte mir ſo wohl, daß ich jetzt in
Schuhen einherſchreite in denen einſt Kant ei-
genfuͤßig ging, am Tage Goͤthens Hut auf
Leſſings Peruͤcke ſetze, und zu Abends Schil-
lers Schlafmuͤtze trage, ja ich ging noch wei-
ter, ich lernte weinen wie Kotzebue und nie-
ſen wie Tiek, und er glaubt nicht welchen
Eindruck ich oft dadurch zuwege bringe, die
Kreatur wohnt nun einmal im Leibe, und
hat es mit dieſem lieber zu thun, als mit
dem Geiſte; es iſt keine Spiegelfechterei,
wenn ich ihm erzaͤhle, daß jemand vor dem
ich einſt wie Goͤthe mit verkehrt geſetztem
Hute und in die Rockfalten verborgenen Haͤn-
den einherwandelte, mir die Verſicherung
gab, das amuͤſire ihn mehr, als Goͤthens
neueſte Schriften. — Man zieht mich ſeitdem
an die vornehmſten Tafeln und ich befinde mich
wohl dabei. —


„ Nur heute fuhr ich uͤbel, denn als ich
einen bekannten großen Geiſt, der oͤffentlich
[206] bedeutend auftritt, in ſeinen vier Pfaͤhlen be-
lauſchen wollte, behandelte er mich als einen
Dieb, ohnerachtet das was ich ihm in der
Eile mit den Augen entwandte, nicht eben
ſehr ruͤhmenswerth war.“


Er ſetzte ſich nach dieſen Worten Leſſings
Peruͤcke wieder auf das Haupt und machte
dabei noch folgenden Sarkasmus:


Freund was hat man von dieſer Unſterb-
lichkeit, wenn nach dem Tode die Peruͤcke un-
ſterblicher iſt, als der Mann der ſie trug? —
Vom Leben ſelbſt will ich nicht einmal reden,
denn waͤhrend ſeines Daſeins ſtolzirt nur der
ſterblichſte Schlucker unſterblich einher, waͤh-
rend man nach dem Genius, wo er ſich blik-
ken laͤßt, mit Faͤuſten ausſchlaͤgt — erinnere
er ſich an das Haupt das vor mir in dieſer
Peruͤcke ſteckte! Gute Nacht!“ —


Ich ließ den Narren laufen. —


Auf dem Gottesacker trieb ſich ein junger
Menſch herum im Mondenſchein, ich konnte
ganz nahe an ihn kommen und er bemerkte
[207] mich nicht, weil er beſchaͤftigt war durch hef-
tiges Geſtikuliren und Deklamiren ſich in eine
maͤßige Verzweiflung zu bringen — das Mit-
tel iſt probat, und ich kannte wirklich einen
Fruͤhprediger der durch nichts zu Thraͤnen zu
bewegen war, außer wenn er ſich ſelbſt ſehr
heftig reden hoͤrte; — es gelang ihm allmaͤlig
damit, ja er zog zulezt ein Piſtol und ſezte
es ſich verſchiedene male an die Stirn, bis er
endlich eine ſolche Hoͤhe erreicht hatte, daß er
kuͤhn genug war es abzudruͤcken — es verſagte,
und bei der heftigen Bewegung entfiel ihm ein
falſcher Haarzopf. Da die Sache mir zulezt
doch etwas mißlich vorkam, ſo ſprang ich hin-
zu, und uͤberreichte ihm den Entfallenen un-
ter einer fuͤr die Lage paſſenden Anrede. Er
mochte ’s noch in der erſten Hitze fuͤr einen
Dolch halten und brachte einige ernſthafte wie-
wohl vergebliche Stoͤße damit zu Stande.


Ich ſuchte ihn durch die Bemerkung, daß
tragiſche Situationen durch komiſche Nuancen,
[208] wie z. B. durch einen dem Koͤnig Lear im
Affekte entfallenen Haarbeutel u. d. g. geſtoͤrt
wuͤrden, zu ſich zu bringen, und es gelang
mir in ſo weit, daß er ſich auf den Grabhuͤ-
gel niederſetzte, und ſich dazu verſtand den
falſchen Haarzopf von mir wieder anheften zu
laſſen. Waͤhrend des Geſchaͤftes verſuchte ich
es ihn durch eine Apologie des Lebens zu be-
kehren, die er ruhig anhoͤren mußte, weil
ich ihn bei den Haaren dazu hielt.


Apologie des Lebens.


Bei Gott, das Leben iſt doch ſchoͤn! —
Und was vermag Sie nur, junger Menſch,
daß ſie es leichtfertig wie dieſen Haarzopf von
ſich ſchleudern wollen? — Faſſen Sie das
Band; ich will waͤhrend des Wickelns ſo kurz
als moͤglich ihnen einige Schoͤnheiten zu ent-
wickeln ſuchen. —


Was giebt es auf der Erde das Sie im
Himmel — wenn anders außer dem Lufthim-
[209] mel uͤber uns noch ein zweiter, oder gar meh-
rere exiſtiren ſollten — beſſer erwarten koͤnn-
ten? — Finden Sie nicht hier unten Alles
leidlich eingerichtet? Wiſſenſchaften, Kultur
und Sitten ſind im ſchoͤnſten Flore und wan-
dern recht modern einher; der allgemeine
Staat iſt, wie Holland, mit Kanaͤlen und
Graͤben durchſchnitten, worinn alle menſchliche
Faͤhigkeiten geſchickt abgeleitet und vertheilt
werden, damit nicht zu fuͤrchten ſteht, daß
ſie auf einmal in zu großer Vereinigung das
Ganze uͤberſchwemmen moͤchten. Es giebt
Menſchen, die ſo vortheilhaft placirt ſind,
daß man ſie als recht gute Hammer und Zan-
gen betrachten kann, und die doch deshalb
keinesweges an ihrer Unſterblichkeit Abbruch
leiden; ſehen ſie nur dieſen Koloß der Menſch-
heit an, wie alles ſich an ihm regt und arbeitet
und verkehrt, der erſte klettert uͤber den zweiten
hinauf, und uͤber dieſen wieder ein dritter, wie
die Aequilibriſten, dieſer traͤgt Erfindungen, jener
Syſteme mit ſich in die Hoͤhe, und es kann
14
[210] nicht fehlen, daß dies Menſchengeſchlecht, das
auf ſeinen eigenen Schultern immer hoͤher
kommt, oder ſich, wie Muͤnchhauſen, bei ſei-
nem eigenen Zopf emporzieht, zuletzt ſich bis
in den Himmel verklettert, und es ganz un-
noͤthig wird an einen zweiten zu denken. —
Haͤlt der Zopf nur an dieſem Menſchheitskopfe
und iſt kein falſcher, wie der, an dem ich
wickele, was iſt es denn noch noͤthig auf ei-
nem andern Wege als auf dieſem ſich in eine
hoͤhere Welt zu verſetzen.


Was denken Sie auch dort zu gewinnen,
Freund? Beſſere Geſetze etwa? Fuͤr unſere
hienieden ſpricht das Alter! Beſſere Sitten?
Wir ſind darin ſo empor geſtiegen, daß wir
fast daraus hinausgekommen und uͤber ihnen
ſtehen! Beſſere Verfaſſungen? Haben ſie
nicht, wie auf einer Landkarte die verſchiede-
nen Farben, eine Menge vor ſich liegen?
Gehen Sie nach Frankreich, Freund, wo die
Verfaſſungen mit den Moden wechſeln, da
[211] koͤnnen ſie alle der Reihe nach anpaſſen, aus
einer Monarchie in die Republik, und aus
dieſer wieder in eine Deſpotie fahren; ſie
koͤnnen dort groß und klein, kurz nach einan-
der, und zuletzt wieder ganz gewoͤhnlich ſein,
was doch immer fuͤr die Menſchheit am inter-
eſſanteſten bleibt.


Freund, gegen den Menſchenhaß giebt es
trefliche Mittel; ja ich habe das Exempel ge-
habt, daß ein gutes Gericht mich ſelbſt einſt
vom Selbſtmorde abbrachte, und ich geſaͤttigt
ausrief: „das Leben iſt doch ſchoͤn!“ Wie an-
dere den Kopf oder das Herz, ſo nehme ich
den Magen fuͤr den Sitz des Lebens an; an
allem was je Großes und Vortrefliches in der
Welt geſchah, iſt meiſtentheils der Magen
Schuld. Der Menſch iſt ein verſchlingendes
Geſchoͤpf, und wirft man ihm nur viel vor, ſo
giebt er in den [Verdauungsſtunden] die vor-
treflichſten Sachen von ſich, und verklaͤrt ſich
eſſend und wird unſterblich.


[212]

Welche weiſe Einrichtung des Staats da-
hero, die Buͤrger — wie die Hunde die man
zu Kuͤnſtlern ausbilden will — periodiſch hun-
gern zu laſſen! Fuͤr eine Mahlzeit ſchlagen die
Dichter wie die Nachtigallen, bilden die Philo-
ſophen Syſteme, richten die Richter, heilen die
Aerzte, heulen die Pfaffen, haͤmmern, klo-
pfen, zimmern, ackern die Arbeiter, und der
Staat frißt ſich zur hoͤchſten Kultur hinauf.
Ja haͤtte der Schoͤpfer den Magen vergeſſen,
behaupte ich, ſo laͤge die Welt noch ſo roh da
wie bei der Schoͤpfung, und ſei jezt nicht der
Rede werth.


Was denken Sie nun aber von jenem Le-
ben, in das Sie dieſe innere Seele aller Bil-
dung nicht mit hinuͤber nehmen, und wo ſie
nur geiſtig hineindringen wollen! — Reißen
Sie ſich nicht los, ich ſchlinge jezt erſt die
Schleife, wodurch ich ihr Haar wieder mit dem
Zopfe verbinde! — Freund, der Geiſt ohne
Magen gleicht dem Baͤren, der traͤg an ſeinen
[213] eigenen Pfoten ſaugt. Er iſt nur der Schatz-
meiſter dieſes in ihm haͤngenden Saͤkels, und
ſchneiden Sie ihm dieſen ab, ſo iſt’s um ihn
gethan. Giebt es eine Seelenwanderung,
woran ich nicht zweifle, und fahren die abge-
ſchiedenen Geiſter, wie denn das nicht un-
wahrſcheinlich iſt, eben ſo gut in Blumen und
Fruͤchte u. ſ. w. als in Thiere — wo liegt
denn noch anders dieſer Verbindungskanal der
Geiſter, als in dem ſie verſchlingenden Ma-
gen, durch ihn ſteigen ſie, nachdem das ani-
maliſche wieder abgegangen iſt, verfluͤchtigt
in den Kopf empor, und es liegt ſo am Tage,
daß wir die groͤßten Weiſen, einen Plato,
Hemſterhuis, Kant u. ſ. w. blos durch behagli-
ches Hineineſſen in uns aufnehmen koͤnnen.


Denken Sie hier an Beiſpiele: Goͤthe, der
den Hans Sachs, die Romantiker und Grie-
chen in ſich vereinigt, iſt ein ſo guter Eſſer,
als Dichter, und hat wahrſcheinlich dieſe Gei-
ſter vorweggeſpeiſet; Bonaparte mag den Ju-
[214] lius Caͤſar zu ſich genommen haben, und nur
der Geiſt des Brutus ſcheint dort noch unge-
geſſen ſich irgendwo aufzuhalten. —


Wie iſt es moͤglich, Freund, daß Sie die-
ſem Magen und dieſem Leben entſagen, und
uͤberhaupt aus dieſer kuͤnſtlichen Maſchine, in
der ſie tauſend Raͤder drehn und treiben, her-
aus fliegen wollen? Wie viele Buͤhnen liegen
nicht um ſie her, auf denen ſie als Held agi-
ren koͤnnen! Schlachtfelder, Almanache, Litte-
raturzeitungen, das groͤßere und das kleinere
Theater“ —


„Ich ſtehe am Hoftheater“ — fiel der
junge Menſch ein, indem er eine Dankſagungs-
verbeugung fuͤr den wieder angehefteten fal-
ſchen Zopf machte. — „Das Piſtol iſt uͤbri-
gens ungeladen, und ich ſuchte mich nur hier
am Grabe durch maͤßiges Raſen in den Karak-
ter eines Selbſtmoͤrders zu verſetzen, den ich
morgen darzuſtellen habe. Nuͤchternheit iſt
[215] das Grab der Kunſt! Ich fahre in die Leiden-
ſchaften moͤglichſt hinein, wie in Schlachthand-
ſchuhe, ich ſpiele meine Karaktere mit Gefuͤhl,
und bin wenigſtens, wie die groͤßten Meiſter,
auf einen Tag geizig, wenn ich einen Geizi-
gen, oder toll, wenn ich einen Tollen darge-
ſtellt habe.


Dahin ging er, und ließ mich faſt abgeſchmakt
und laͤcherlich da ſtehn. „O falſche Welt!“ rief
ich grimmig aus — „an der nichts mehr
wahrhaft iſt, ſelbſt bis auf die Haarzoͤpfe dei-
ner Bewohner, du leerer abgeſchmackter Tum-
melplatz von Narren und Masken, iſt es denn
nicht moͤglich auf dir zu einiger Begeiſterung
ſich zu erheben!“


Es war mir, wie wenn ich mich jezt in
der Nacht unter dem zugedeckten Monde, weit
ausdehnte, und auf großen ſchwarzen Schwin-
gen, wie der Teufel uͤber dem Erdball ſchwebte.
Ich ſchuͤttelte mich und lachte, und haͤtte gern
[216] alle die Schlaͤfer unter mir mit eins aufge-
ruͤttelt; und das ganze Geſchlecht im Ne-
gligée angeſchaut, wo es noch keine Schminke,
falſche Zaͤhne und Zoͤpfe und Bruͤſte und Hin-
tere auf- — und an- — und umgelegt, um
den ganzen abgeſchmakten Haufen boshaft aus-
zupfeifen.


[[217]]

Dreizehnte Nachtwache.


Ich ſtieg den Berg hinauf am Ausgange der
Stadt — es war die Tag- und Nachtgleiche
des Fruͤhlings, und draußen lag die alte Fee,
die Erde, und kochte ihre mitternaͤchtlichen Zau-
berkraͤuter, um am Morgen nach abgeworfenem
Silberhaare und ausgeglaͤtteten Runzeln, ſchoͤn
umlockt und bekraͤnzt als eine junge Nymphe
aufzuſtehen, und ihre neugebornen Kinder an
dem ſchwellenden Buſen zu tragen. — Unten
im Thale blies ein Hirte das Alphorn, und
die Toͤne ſprachen ſo lockend von einem fernen
Lande, und von Liebe und Jugend und Hof-
[218] nung; ich dichtete zu ihrer Begleitung fol-
genden
Dithyrambus uͤber den Fruͤhling.


„Du erſcheinſt, und erſchrocken flieht dein
finſterer Bruder, und die Schilde und Panzer,
worin er gewaffnet daſtand, raſſeln durchein-
anderſtuͤrzend und zerbrechen; und ſiehe erroͤ-
thend in Morgengluth tritt die junge Erde
hervor, wie eine bluͤhende Jungfrau; und du
kuͤſſeſt die Geliebte, Juͤngling, und ſchlingſt
ihr den Brautkranz in die Locken. Da ſinkt
der letzte Glaͤtſcher und das erſtarrte Element
wird frei, und fließt ſtill dahin zwiſchen Blu-
men und uͤberwoͤlkt von gruͤnen Gebuͤſchen,
die Berge halten ihre Sennenhuͤtten hoch in
die blaue Luft, und an ihren Abhaͤngen kleben
die gefleckten Heerden. Blumen bluͤhen und
traͤumen Liebe, und die Nachtigall ſingt ſie in
den Geſtraͤuchen. Die Baͤume ſchlingen ihre
Zweige in duftige Kraͤnze, und reichen ſie zum
Himmel empor; der Adler ſteigt betend in
[219] den Sonnenglanz auf, wie zu Gott, und die
Lerche wirbelt ihm nach, jubelnd uͤber der ge-
ſchmuͤckten Erde. Jeder duftende Kelch wird
zu einer Brautkammer, jedes Blatt iſt eine
kleine Welt, und alles ſaugt Leben und Liebe
an dem heißen Herzen der Mutter! — Nur
der Menſch —“


Hier verſtummte ploͤzlich das Alphorn, und
der lezte Ton und das lezte Wort verhallten
langſam und ſterbend.


„Haſt du nur bis zu dieſem Worte ge-
ſchrieben, Mutter Natur? Und in weſſen Hand
uͤberlieferſt du die Feder zur Fortſetzung? —
Kannſt du es nimmer loͤſen, warum alle deine
Geſchoͤpfe traͤumend gluͤcklich ſind, und nur
der Menſch wachend daſteht und fragend —
ohne Antwort zu erhalten? — Wo liegt der
Tempel des Apollo — wo iſt die Stimme, die
einzig antwortende? Ich hoͤre nichts, als Wie-
derhall, Wiederhall meiner eigenen Rede —
bin ich denn allein?


[220]

Allein! ruft die haͤmiſche Stimme. Mut-
ter, Mutter, warum ſchweigſt du? — O du
haͤtteſt das letzte Wort in der Schoͤpfung nicht
ſchreiben ſollen, wenn du dabei abbrechen woll-
teſt. Ich blaͤttere und blaͤttere in dem großen
Buche, und finde nichts, als das eine Wort
uͤber mich, und dahinter den Gedankenſtrich,
wie wenn der Dichter den Karakter, den er
vollfuͤhren wollte, im Sinne behalten, und
nur den Namen haͤtte mit einfließen laſſen.
War der Karakter zu ſchwierig zur Ausfuͤh-
rung, warum ſtrich der Dichter nicht auch den
Namen aus, der jetzt allein daſteht, ſich an-
ſtaunt, und nicht weiß, was er aus ſich ſelbſt
machen ſoll.


„Schlag das Buch zu, Name, bis der
Dichter bei Laune iſt, die leeren Blaͤtter, vor
denen du nur als Titel ſtehſt, vollzuſchrei-
ben!“ — —


An dem Berge, mitten in das Muſeum
der Natur, hatten ſie noch ein kleines fuͤr die
Kunſt gebaut, wohinein jetzt mehrere Kenner
[221] und Dillettanten mit brennenden Fackeln zo-
gen, um bei dem ſich bewegenden Lichtſcheine
die Todten drinnen moͤglichſt lebendig ſich ein-
zubilden. Ich habe auch dann und wann
meine Kunſtlaunen, aus mehr oder minderer
Bosheit, und trete oft gern aus der großen
Kunſtkammer in die kleine, um zu ſehen wie
der Menſch, auch ohne den Haupttheil alles
Lebens, das Leben ſelbſt, einblaſen zu koͤnnen,
doch recht artig etwas bildet und ſchnitzt, wo-
von er nachher meint, es gehe noch uͤber die
Natur.


Ich folgte den Kennern und Dilettanten!


Und vor mir ſtanden die ſteinernen Goͤtter
als Kruͤppel ohne Arme und Beine, ja einige
gar mit fehlenden Haͤuptern; das Schoͤnſte und
Herrlichſte, wozu die Menſchenmaske ſich je
ausgebildet hatte, der ganze Himmel eines
großen geſunkenen Geſchlechts, als Leichnam
und Torſo wieder ausgegraben aus Herkula-
num und dem Bette der Tiber. Ein Inva-
lidenhaus unſterblicher Goͤtter und Helden,
[222] hineingebaut zwiſchen eine erbaͤrmliche Menſch-
heit.


Die alten Kuͤnſtler, die dieſe Goͤttertorſos
gedacht und gebildet hatten, zogen verhuͤllt
vor meinem Geiſte voruͤber. —


Jezt kletterte ein kleiner Dilettant von den
Anweſenden an einer medicaͤiſchen Venus ohne
Arme, muͤhſam hinauf, mit geſpiztem Munde
und faſt thraͤnend, um, wie es ſchien, ihr den
Hintern, als den bekanntlich gelungenſten
Kunſttheil dieſer Goͤttin, zu kuͤſſen. Mich er-
grimmte es, weil ich in dieſer herzloſen Zeit
nichts weniger ausſtehen kann, als die Frazze
der Begeiſterung, wozu ſich manche Geſichter
verziehen koͤnnen, und ich beſtieg erzuͤrnt ein
leeres Piedeſtal, um einige Worte zu ver-
ſchwenden.


Junger Kunſtbruder! — redete ich ihn an.
— Der goͤttliche Hintere liegt Ihnen zu hoch,
und Sie kommen bei ihrer kurzen Geſtalt nicht
hinauf, ohne ſich den Hals zu brechen! Ich
rede aus Menſchenliebe, denn es thut mir
[223] leid, daß Sie ſich unter Lebensgefahr verſtei-
gen wollen. Wir ſind ſeit dem Suͤndenfalle,
vor dem Adam bekanntlich, nach der Verſiche-
rung der Rabbinen, ſeine hundert Ellen maß,
merklich kleiner geworden, und ſchwinden von
Zeit zu Zeit immer mehr, ſo daß man in
unſerm Saͤkulo vor allen ſolchen halsbrechen-
den Verſuchen, wie der vorliegende iſt, ernſt-
lich warnen muß. Was wollen Sie uͤberhaupt
bei der ſteinernen Jungfrau, die in dieſem
Augenblicke zu einer eiſernen fuͤr Sie werden
wuͤrde, wenn ihr nicht die aͤchten Arme zum
Umſchlingen fehlten; denn mit den ergaͤnzten
hat es keine Noth, ſie dienen nicht einmal zu
einer Berlichingensfauſt, und gleichen nur den
angehefteten hoͤlzernen, an den Koͤrpern zer-
ſchoſſener Soldaten. O Freund, was die
Kunſtaͤrzte der neuern Periode auch immer hei-
len und flicken moͤgen, ſie bringen doch die
von der tuͤckiſchen Zeit verſtuͤmmelten Goͤtter,
wie z. B. dieſen daliegenden Torſo, nicht wie-
der auf die Beine, und ſie werden immer
[224] nur als Invaliden und emeriti hier in Ruhe
geſezt verbleiben muͤſſen. Einſt, als ſie noch
aufrecht ſtanden, und Arme und Schenkel und
Haͤupter hatten, lag ein ganzes großes Hel-
dengeſchlecht vor ihnen im Staube; jezt iſt
das umgekehrt, und ſie liegen im Boden,
waͤhrend unſer aufgeklaͤrtes Jahrhundert auf-
recht ſteht, und wir ſelbſt uns bemuͤhen leid-
liche Goͤtter abzugeben.


Kunſtfreund, wohin ſind wir gekommen,
daß wir es wagen, dieſe großen Goͤttergraͤber
aufzuwuͤhlen, und die unſterblichen Todten
ans Licht zu ziehen, da wir doch wiſſen, wie
hart bei den Roͤmern die bloße Verletzung der
Menſchengruͤfte verpoͤnt war. Freilich achten
Aufgeklaͤrte dieſe Verſtorbenen jezt geradezu
fuͤr Goͤtzen, und die Kunſt iſt nur noch eine
heimlich eingeſchlichene heidniſche Sekte, die
an ihnen vergoͤttert und anbetet — aber was
iſt es auch mit ihr, Kunſtfreund? Die Alten
ſangen Hymnen und Aeſchylus und Sophokles
dichteten ihre Choͤre zum Lobe der Goͤtter;
[225] unſere moderne Kunſtreligion betet in Kriti-
ken, und hat die Andacht im Kopfe, wie aͤcht
Religioͤſe im Herzen.


Ach, man ſoll die alten Goͤtter wieder be-
graben! Kuͤſſen Sie den Hintern, junger Mann,
kuͤſſen Sie, und damit gut!


Auf der andern Seite, Freund, wollen Sie
nicht mehr anbeten, ſo ſollen Sie auch nicht
weiter auf Koſten der Natur bewundern; denn
der Menſchwerdung dieſer Goͤtter widerſetze ich
mich ſtandhaft. Sie haben die Wahl; entwe-
der beten, oder begraben! —


Nicht ſo aufgeſchaut, Lieber! Fuͤhren Sie
die Natur, die aͤchte meine ich, wo moͤglich in
Perſon einmal in dieſen Kunſtſaal, und laſſen
Sie ſie reden. Beim Teufel, ſie wird lachen
uͤber die komiſche Menſchenmaske, die ihr ſo
abgeſchmackt wie der Popanz in Horazens
Briefe an die Piſonen erſcheinen muß.


Laſſen Sie ſie ſprechen, ob ſie jemals zu
dieſer Zehe dieſe Naſe, zu dieſem Munde jene
Stirn, zu dieſer Hand jenen Hintern wirklich
15
[226] geſchaffen haben wuͤrde; — ich wette ſie wuͤrde
verdrießlich werden, wenn ſie ihr ſo etwas
einreden wollten! Dieſer Apoll waͤre vielleicht
ein Kruͤppel, haͤtte ſie ihn von der kleinen
Zehe fortgeſetzt, dieſer Antinous ein Therſites
und jener tragiſche gewaltige Laokoon gar eine
Art von Kaliban, wenn nach Naturgeſetzen
alles reformirt werden ſollte. Ja was moͤchte
dann wohl aus dieſer Minerva werden, die
jetzt bis zum hoͤchſten Punkte des Ideals hin-
aufgearbeitet vor Ihnen ſteht, indem naͤmlich
das Haupt an ihr defekt iſt, worin der weiſe
Geiſt thront, der nach Geiſterart ſich unſicht-
bar gemacht hat.


Dieſe Minerva ohne Kopf erregt uͤberhaupt
noch in weit groͤßerem Maaße meine Aufmerk-
ſamkeit, als der Agamemnon mit verhuͤlltem
Haupte, in dem bekannten Gemaͤlde des Ti-
manthes. So wie dieſer naͤmlich den Kuͤnſt-
lern die Regel gegeben hat, den hoͤchſten un-
endlichen Schmerz nur errathen zu laſſen, ſo
ſcheint jene daſſelbe in Hinſicht auf die Ur-
[227] ſchoͤnheit anzudeuten. Unſere modernen rich-
ten ſich auch danach, und ihre Koͤpfe ſind in
doppelter Hinſicht nur als Surrogate von
Koͤpfen anzuſehen, und ſtehen da oben nur
gleichſam wie die Knoͤpfe auf Thuͤrmen, zum
bloßen Schluſſe der Geſtalt. — Die Alten
backten, wie jener Prometheus dort im Win-
kel, ihre Menſchen zwar auch aus Thon, aber
ſie ſchufen den Sonnenfunken mit hinein; —
wir ſpielen mit dem Feuer nicht gern, aus
Furcht vor Gefahr, und laſſen deshalb den
Funken weg; — ja es giebt jetzt ſogar eine
allgemeine Feuerpolizei — eine Zenſur und
Rezenſur — die ſchnell genug jedwede Flamme,
die emporlodern will, erſtickt. So kann denn
der Sonnenfunken bei uns nicht aufkommen.
Weiſe Einrichtung des Staates, der lieber
gute brauchbare Maſchienen, als kuͤhne Geiſter
unter ſeinen Buͤrgern duldet, der den Fuchs
ſelbſt zum Balge herauspeitſcht, um den Balg
zu benutzen, der die Haͤnde und Fuͤße, als
dauerhafte Dreh- und Tretemaſchienen, hoͤher
[228] anſchlaͤgt, als die Koͤpfe ſeiner Landeskinder.
— Der Staat hat, wie der Briareus, nur
einen einzigen Kopf, aber hundert Arme von
Noͤthen — und damit gut!“ —


Ich endete erſchrocken, denn bei dem taͤu-
ſchenden Fackelglanze ſchien ſich der ganze ver-
ſtuͤmmelte Olymp umher ploͤzlich zu beleben;
der zuͤrnende Jupiter wollte ſich aufrichten von
ſeinem Sitze, der ernſte Apoll griff nach dem
Bogen und der klingenden Leier, maͤchtig
baͤumten ſich die Drachen um den kaͤmpfenden
Laokoon und die ſinkenden Soͤhne, Prometheus
formte mit den Stuͤmpfen ſeiner Arme Men-
ſchen, die ſtumme Niobe ſchuͤtzte das juͤngſte
ihrer Kleinen vor den herabſtrahlenden Son-
nenpfeilen, die Muſen ohne Haͤnde, Arme
und Lippen regten ſich durcheinander, wie
wenn ſie ſich bemuͤheten die alten verklunge-
nen Lieder zu ſingen und zu ſpielen — aber
es blieb alles ſtill ringsum, und ſchien nur
noch heftige zuckende Bewegung auf einem
[229] Schlachtfelde; — nur tief im Hintergrunde
ſtand, ohne Beleuchtung, ſtarr und verſteinert
ein Furienchor, und ſchaute finſter und ſchreck-
lich dem Gewuͤhle zu.


[[230]]

Vierzehnte Nachtwache.


Kehre mit mir zuruͤck ins Tollhaus, du
ſtiller Begleiter, der du mich bei meinen
Nachtwachen umgiebſt. —


Du erinnerſt dich noch an meine Narren-
kaͤmmerchen, wenn du anders den Faden mei-
ner Geſchichte — die ſich ſtill und verborgen,
wie ein ſchmaler Strom, durch die Fels- und
Waldſtuͤcke, die ich umher aufhaͤufte, ſchlingt
— nicht verloren haſt. In dieſem Narren-
kaͤmmerchen lag ich, wie in einer Hoͤle der
Sphynx, mit meinem Raͤthſel eingeſchloſſen,
und war faſt auf dem gluͤcklichen Wege, mich
[231] wahrhaft zur Tollheit, als dem einzigen halt-
baren Syſteme, zu bekennen, eben weil ich
taͤglich Gelegenheit hatte die Reſultate dieſer
allgemeinen Schule, mit denen der einzelnen
zu vergleichen.


Ich will etwas ausholen! ſagen die Schrift-
ſteller, wenn ſie vom Eie einer Sache anhe-
ben wollen, ich muß mich auch dazu bequemen,
da ich in dieſer Nacht das einzige Nachtigal-
lenei meiner Liebe auszubruͤten gedenke; denn
um mich her ſchlagen die Nachtigallen in allen
Buͤſchen und Gezweigen, und verbinden ſich,
wie ein Chor, zu einem einzigen Liebesge-
ſange.


Ich ſpielte einſt aus Ingrimm uͤber die
Menſchheit auf einem Hoftheater den Hamlet,
als Gaſtrolle, um Gelegenheit zu haben, mich
gegen das ſchweigend daſitzende Parterre eines
Theils meiner Galle zu entledigen. An die-
ſem Abende trug es ſich zu, daß die Ophelia
aus ihrem Vexirwahnſinne Ernſt machte und
[232] foͤrmlich toll vom Theater ablief. Es gab ge-
waltigen Laͤrm, und wie andere Direktoren ſich
mit dem Einſtudieren der Rollen zu beſchaͤfti-
gen pflegen, ſo bemuͤhete ſich dagegen der an-
weſende ſeine Prima Donna mit aller Anſtren-
gung aus der geſpielten herauszuſtudieren; —
doch vergeblich, die maͤchtige Hand des Shake-
ſpear, dieſes zweiten Schoͤpfers, hatte ſie zu
heftig ergriffen, und lies ſie zum Schrecken
aller Gegenwaͤrtigen nicht wieder los. Fuͤr
mich war es ein intereſſantes Schauſpiel, die-
ſes gewaltige Eingreifen einer Rieſenhand in
ein fremdes Leben, dieſes Umſchaffen der wirk-
lichen Perſon zu einer poetiſchen, die jetzt vor
den Augen aller Vernuͤnftigen, auf Kothurnen
ernſthaft auf- und abging, und abgeriſſene
Geſaͤnge, wie wunderbare Geiſterſpruͤche, hoͤ-
ren ließ. So ſehr man auch mit den buͤndig-
ſten Gruͤnden in ſie drang zur Vernunft zu-
ruͤckzukehren, ſo heftig proteſtirte ſie dagegen,
und es blieb zuletzt kein anderes Mittel uͤbrig,
als ſie ins Tollhaus zu ſchicken.


[233]

Zu meinem nicht geringen Erſtaunen traf
ich hier wieder mit ihr zuſammen. Ihr Kaͤm-
merchen ſtieß dicht an das meinige, und ich
hoͤrte ſie taͤglich den Holzſchuh und Muſchelhut
ihres Geliebten beſingen. Ein Kerl wie ich,
der aus Haß und Grimm zuſammengeſetzt iſt,
und nicht wie andere Menſchenkinder ſeiner
Mutter Leibe, ſondern vielmehr einem ſchwan-
gern Vulkane entbunden zu ſein ſcheint, hat
fuͤr Liebe und dergleichen wenig Sinn; und
doch beſchlich mich hier im Tollhauſe ſo etwas,
es aͤußerte ſich zwar anfangs nicht in den ge-
woͤhnlichen Symptomen, als Vorliebe fuͤr
Mondſchein, poetiſchen Andrangs zum Kopfe
und dergleichen; ſondern vielmehr in dem hef-
tigen Beſtreben zur Errichtung einer Narren-
propaganda und einer ausgebreiteten Kolonie
von Verruͤckten, um ſie zum Schrecken der an-
dern vernuͤnftigen Menſchen ploͤzlich anlanden
zu laſſen.


Dies tolle Gefuͤhl indeß, das ſie Liebe nen-
nen, und das wie ein Flicken von Himmel
[234] auf dieſe duͤrre Steppe der Erde herunterge-
fallen iſt, fing doch am Ende auch bei mir an
es ernſtlicher zu nehmen, und ich machte zu
meinem eigenen Entſetzen mehrere Gedichte in
Verſen, ſchaute auch in den Mond, und ſang
gar zu Zeiten mit, wenn draußen um das Toll-
haus her die Nachtigallen pfiffen. Ich habe
wahrhaft einmal einige Ruͤhrung an einem ſo-
genannten melancholiſchen Abende verſpuͤrt; ja
ich konnte in gewiſſen Stunden aus einem
Loche meiner Kaukaſushoͤle ſchauen, und we-
niger denken als nichts. — Auch Betrachtun-
gen habe ich in dieſem Zeitpunkte meiner
Schreibtafel einverleibt, von welchen ich doch
hier einige fuͤr gefuͤhlvolle Seelen ausheben
will.


An den Mond.


Sanftes Antlitz voll Gutmuͤthigkeit und
Ruͤhrung; denn beides mußt du dir verei-
nen, weil du nicht einmal am Himmel den
Mund aufreißeſt, weder zum Fluchen, noch zum
[235] Gaͤhnen, wenn tauſend Narren und Verliebte
ihre Seufzer und Wuͤnſche zu dir hinaufrich-
ten, und dich zu ihrem Vertrauten erkieſen;
ſo lange du auch ſchon um die Erde herumge-
laufen biſt, als ihr Begleiter und Cicisbeo,
ſo haſt du dich doch beſtaͤndig als ein treuer
Confident gehalten, und man findet kein einzi-
ges Beiſpiel in der Weltgeſchichte bis zu Adam
hin, wo du unwillig geworden waͤreſt, die
Naſe geruͤmpft, oder einige haͤmiſche Mienen
angenommen haͤtteſt, ob du gleich dieſe Seuf-
zer und Klagen ſchon tauſend und abermaltau-
ſend male wiederholen hoͤrteſt. Noch immer
biſt du gleich aufmerkſam, ja man ſieht dich
ſo oft geruͤhrt das Wiſchtuͤchlein einer Wolke
vorhalten, um deine Thraͤnen dahinter zu ver-
bergen. Welchen beſſern Zuhoͤrer koͤnnte ſich
ein ſeine Werke vorleſender Dichter waͤhlen,
als dich, welchen innigern Vertrauten ich, der
ich hier im Tollhauſe mich liebend verzehre.
Wie blaß du biſt, Guter, wie theilnehmend,
und zugleich wie aufmerkſam auf alle, die noch
[236] in dieſem Augenblicke außer mir ſtehen, und
dich aufſchauen! Deine gutmuͤthige Miene
koͤnnte man leicht fuͤr Einfalt halten, beſon-
ders heute, wo dein Antlitz zugenommen
hat und recht rund und genaͤhrt anzuſchauen
iſt; aber du magſt zunehmen, wie du willſt,
ich laſſe mich dadurch in deinem Antheile
nicht taͤuſchen, bleibſt du doch immer der Alte,
und nimmſt auch wieder ab, und verzehrſt
dich — ja verhuͤllſt du nicht gar, wenn dich
die Ruͤhrung uͤberwaͤltigt, dein Geſicht wie der
weinende Agamemnon, daß man nichts von
dir ſieht, als den vor Gram kahlen Hinter-
kopf! — Leb wohl, Trauter, Guter!


An die Liebe.


Weib, was willſt du von mir, daß du dich
an mich haͤngſt? Haſt du mir auch ſchon ins
Geſicht geſchaut? — Du mit deinem Laͤcheln
und deinen holden liebaͤugelnden Mienen, und
ich, mit all dem Grimme und Zorne im Me-
[237] duſenantlitz! — Traute, uͤberleg es, wir geben
ein gar zu ungleiches Paar ab. Laß mich los,
beim Teufel! ich habe nichts mit dir zu ſchaf-
fen! Du laͤchelſt wieder und haͤltſt mich feſt?
Was ſoll die vorgehaltene Goͤttermaske, mit
der du mich anblickſt? Ich reiße ſie dir ab, um
das dahinterſteckende Thier kennen zu lernen;
denn in der That, ich halte dein wahres Ge-
ſicht nicht fuͤr das reizendſte. — Himmel, das
wird immer aͤrger, ich girre und ſchmachte
ganz erbaͤrmlich — willſt du mich voͤllig raſend
machen! Weib, wie kannſt du nur Gefallen
daran finden auf einem ſo kreiſchenden Inſtru-
mente, wie ich bin, ſpielen zu wollen! Die
Kompoſizion iſt fuͤr einen Fluch geſetzt,
und ich muß ein Liebeslied dazu abſingen. O
laß mich fluchen und nicht in ſo ſchrecklichen
Toͤnen ſchmachten! hauche deine Seufzer in
eine Floͤte, aus mir ſchallen ſie wie aus einer
Kriegstrommete, und ich ruͤhre die Lermtrom-
mel, wenn ich girre. — Und nun gar der erſte
Kuß — o das andere ließe ſich noch uͤberſtehen,
[238] wie alles, was ſich blos in der Sprache und
in Toͤnen umhertreibt, und es waͤre mir im-
mer noch erlaubt heimlich etwas anderes dabei
zu denken — aber der erſte Kuß — ich habe
niemals gekuͤßt, aus Abſcheu gegen alle ruͤh-
rende und zaͤrtliche Heuchelei — Unhold,
wuͤßte ich daß du mich dazu verleiten koͤnnteſt,
ich boͤte meine letzte Kraft auf, und ſchuͤttelte
dich von mir!


In ſolchen und dergleichen Fragmenten
habe ich mich abgearbeitet, und mich ordentlich
methodiſch auszuſchreiben geſucht, wie mancher
Dichter, der ſeine Gefuͤhle ſo lange auf dem
Papiere von ſich giebt, bis ſie zuletzt alle ab-
gegangen ſind, und der Kerl ſelbſt ganz aus-
gebrannt und nuͤchtern daſteht.


Es ſchlug indeß alles fehl bei mir, ja die
Symptome wurden immer kritiſcher, und ich
fing gar an in mich vertieft umherzuwandern,
[239] und fuͤhlte mich faſt human und kleinlaut ge-
gen die Welt geſtimmt. Einmal meinte ich
gar, ſie koͤnnte doch wohl die beſte ſein, und
der Menſch ſelbſt waͤre etwas mehr, als das
erſte Thier darauf, ja er habe einigen Werth
und koͤnne vielleicht gar unſterblich ſein.


Als es ſo weit gekommen war, gab ich mich
ſelbſt verloren, und betrieb es jetzt ganz ſo
langweilig und alltaͤglich wie ein anderer Ver-
liebter. Ich entſetzte mich ſchon nicht mehr,
wenn ich verſifizirte, ja ich konnte auf eine
laͤngere Zeit geruͤhrt bleiben, und gewoͤhnte
mich an manche Ausdruͤcke, die ich ſonſt gar
nicht in den Mund genommen haͤtte. Jetzt
ließ ich den erſten Liebesbrief vom Sta-
pel laufen, den ich hier ſammt dem andern
Briefwechſel zur Erbauung anhaͤnge:


Hamlet an Ophelia.


Himmliſcher Abgott meiner Seele, reizer-
fuͤllteſte Ophelia! Dieſer Eingang zwar, mir
[240] dem ich meinen erſten Brief an dich uͤber-
ſchrieb, als wir noch blos auf dem Hoftheater
uns zum Vergnuͤgen der Zuſchauer liebten,
koͤnnte dich vielleicht taͤuſchen, und es dir ein-
reden wollen, als ob ich noch eben ſo wie da-
mals an einem fingirten Wahnſinn und allen
den metaphyſiſchen Spitzfuͤndigkeiten, die ich
von der hohen Schule mitbrachte, laborirte. —
Aber laß dich dadurch nicht taͤuſchen Abgott,
denn ich bin fuͤr dieſesmal wirklich toll — ſo
ſehr liegt alles in uns ſelbſt und iſt außer uns
nichts Reelles, ja wir wiſſen nach der neueſten
Schule nicht, ob wir in der That auf den
Fuͤßen, oder auf dem Kopfe ſtehen, außer daß
wir das erſte durch uns ſelbſt auf Treu und
Glauben angenommen haben. — Es iſt dies
ein ganz verwuͤnſchter Ernſt, Ophelia, und du
ſollſt nicht etwa glauben, daß ich es als Per-
ſiflage von mir gebe. — Ach, wie iſt es alles
jetzt veraͤndert in deinem armen Hamlet —
dieſe ganze Erde, die ihm ſonſt wie ein veroͤ-
deter Garten voll Dornen und Diſteln, wie
[241] ein Sammelplatz voll peſtilenziſcher Ausduͤn-
ſtungen vorkam, hat ſich jezt vor ihm in ein
Eldorado verwandelt, in einen bluͤhenden Gar-
ten der Hesperiden; er war einſt ſo frei und
kerngeſund, als er ſie haßte, und iſt jetzt ein
Sklav und faſt krank, da er ſie liebt. —
Theuerſte — ich wollte daß ich Verhaßteſte
ſagen koͤnnte, es gaͤbe dann doch wenigſtens
nichts, was mich an dieſen dummen Ball
feſſelte, und ich koͤnnte ganz froh und luſtig
mich von ihm hinunterſtuͤrzen in das ewige
Nichts — alſo leider Theuerſte! ich ſage jetzt
nicht mehr wie vormals zu dir: Geh in ein
Nonnenkloſter! denn ich bin toll genug zu glau-
ben, wenn der Menſch liebe, ſo ſei der Narr
etwas, ob er gleich deshalb doch immer nur
dem Tode raſcher entgegen geht, und die-
ſer ihm, bis ſie ſich beide endlich tref-
fen und feſt und ewig umarmen; es ſei
dies nun an dem Steine wo der heilige
Guſtav entſchlummerte, auf dem Geruͤſte
wo die ſchoͤne Maria blutete, oder an
16
[242] irgend einem noch beſſern oder ſchlechtern
Orte.


Ich weiß gewiß, der boͤſe Feind ſchwebt
hohnlachend uͤber der Erde, und hat die Liebe,
als eine bezaubernde Maske, auf ſie herabge-
worfen, um die ſich jezt alle Menſchenkinder
reißen, ſie auf eine Minute lang vorzuhalten.
Sieh, auch ich habe ſie leider gefaßt, und mi-
naudire mit dem Todtenkopfe recht zaͤrtlich
hinter ihr, und habe beim Teufel Luſt das
Menſchenkind mit dir fortzupflanzen. O waͤre
die verwuͤnſchte Larve nicht, es haͤtten dann
die Erdenſoͤhne hienieden gewiß dem juͤngſten
Tage einen Poſſen geſpielt durch ein Geſez
gegen die Bevoͤlkerung, damit unſer Herrgott,
oder wer ſonſt zulezt den Erdball noch einmal
anſchauen will, ihn zu ſeiner Verwunderung
von Menſchen durchaus entvoͤlkert gefunden
haͤtte.


Doch laß mich endlich zu dem Punkte kom-
men, den ich leider, ſo ſehr ich mir auch
[243] Muͤhe gebe, nicht umgehen kann — zu mei-
ner Liebeserklaͤrung!


Zorniger, wilder, menſchenfeindlicher hat
es in mir ſeit meiner Geburt nicht ausgeſe-
hen, als in dieſem Augenblicke, wo ich es dir
aufgebracht hinſchreibe, daß ich dich liebe, dich
anbete, und daß ich nach dem Wunſche dich zu
haſſen und zu verabſcheuen, keinen ſehnlichern
hege, als das Geſtaͤndniß deiner Gegenliebe
zu vernehmen. Bis dahin dein
liebender Hamlet.


Ophelia an Hamlet.


Liebe und Haß ſteht in meiner Rolle, und
zulezt auch Wahnſinn — aber ſage mir was
iſt das alles eigentlich an ſich, daß ich waͤh-
len kann. Giebt es etwas an ſich, oder iſt
alles nur Wort und Hauch und viel Phantaſie.
— Sieh da kann ich mich nimmer herausfin-
[244] den, ob ich ein Traum — ob es nur Spiel,
oder Wahrheit, und ob die Wahrheit wieder
mehr als Spiel — eine Huͤlſe ſitzt uͤber der
andern, und ich bin oft auf dem Punkte den
Verſtand daruͤber zu verlieren.


Hilf mir nur meine Rolle zuruͤckleſen, bis
zu mir ſelbſt. Ob ich denn ſelbſt wohl noch
außer meiner Rolle wandle, oder ob alles nur
Rolle, und ich ſelbſt eine dazu. Die Alten
hatten Goͤtter, und auch einen darunter, den
ſie Traum nannten, es mußte ihm ſonderbar
zu Muthe ſein, wenn es ihm etwa einfiel
ſich fuͤr wirklich halten zu wollen, und er doch
immer nur Traum blieb. Faſt glaube ich der
Menſch iſt auch ſolch ein Gott. Ich moͤchte
gern mich auf einen Augenblick mit mir ſelbſt
unterreden, um zu erfahren, ob ich ſelbſt liebe,
oder nur mein Name Ophelia — und ob die
Liebe ſelbſt etwas iſt, oder nur ein Name. —
Sieh, da ſuche ich mich zu ereilen, aber ich
laufe immer vor mir her und mein Name hin-
[245] terdrein, und nun ſage ich wieder die Rolle
auf — aber die Rolle iſt nicht Ich. Bring
mich nur einmal zu meinem Ich, ſo will ich
es fragen, ob es dich liebt.


Ophelia.


Hamlet an Ophelia.


Gruͤbele dergleichen Dingen nicht ſo tief
nach, Theure, denn ſie ſind ſo verworrener
Natur, daß ſie leicht zum Tollhauſe fuͤhren
koͤnnten! Es iſt Alles Rolle, die Rolle ſelbſt
und der Schauſpieler, der darin ſteckt, und in
ihm wieder ſeine Gedanken und Plane und
Begeiſterungen und Poſſen — alles gehoͤrt dem
Momente an, und entflieht raſch, wie das
Wort, von den Lippen des Komoͤdianten. —
Alles iſt auch nur Theater, mag der Komoͤ-
diant auf der Erde ſelbſt ſpielen, oder zwei
Schritte hoͤher, auf den Brettern, oder zwei
Schritte tiefer, in dem Boden, wo die Wuͤr-
mer das Stichwort des abgegangenen Koͤnigs
[246] aufgreifen; mag Fruͤhling, Winter, Sommer
oder Herbſt die Buͤhne [dekoriren], und der
Theatermeiſter Sonne oder Mond hineinhaͤn-
gen, oder hinter den Kouliſſen donnern und
ſtuͤrmen — alles verfliegt doch wieder und
loͤſcht aus und verwandelt ſich — bis auf den
Fruͤhling in dem Menſchenherzen; und wenn
die Kouliſſen ganz weggezogen ſind, ſteht nur
ein ſeltſames nacktes Gerippe dahinter, ohne
Farbe und Leben, und das Gerippe grinſet die
anderen noch herumlaufenden Komoͤdianten
an.


Willſt du aus der Rolle dich herausleſen,
bis zum Ich? — Sieh dort ſteht das Gerippe
und wirft eine Handvoll Staub in die Luft
und faͤllt jezt ſelbſt zuſammen; — aber hin-
terdrein wird hoͤhniſch gelacht. Das iſt der
Weltgeiſt, oder der Teufel — oder das Nichts
im Wiederhalle!


Sein oder Nichtſein! Wie einfaͤltig war
ich damals, als ich mit dem Finger an der
[247] Naſe dieſe Frage aufwarf, wie noch einfaͤlti-
ger diejenigen, die es mir nachfragten, und
wunder glaubten was hinter dem Ganzen
ſteckte. Ich haͤtte das Sein erſt um das
Sein ſelbſt befragen ſollen, dann ließe ſich
nachher auch uͤber das Nichtſein etwas Ge-
ſcheutes ausmitteln. Ich brachte damals noch
die Unſterblichkeitstheorie von der hohen Schule
mit, und fuͤhrte ſie durch alle Kategorien. Ja,
ich fuͤrchtete wahrlich den Tod der Unſterblich-
keit halber — und beim Himmel mit Recht,
wenn hinter dieſer langweiligen comedie lar-
moyante
noch eine zweite folgen ſollte —
ich denke es hat damit nichts zu ſagen!


Darum, theure Ophelia, ſchlag dir das
alles aus dem Sinne, und laß uns [lieben]
und fortpflanzen und alle die [Poſſen] mittrei-
ben — blos aus Rache, damit nach uns noch
Rollen auftreten muͤſſen, die alle dieſe Lang-
weiligkeiten von neuen ausweiten, bis auf
einen lezten Schauſpieler, der grimmig das
[248] Papier zerreißt und aus der Rolle faͤllt, um
nicht mehr vor einem unſichtbar daſizenden
Parterre ſpielen zu muͤſſen.


Liebe mich kurz und gut, ohne weiteres
Gruͤbeln!


Hamlet.


Ophelia an Hamlet.


Du ſtehſt einmal als Stichwort in meiner
Rolle, und ich kann dich nicht herausreißen,
ſo wenig wie die Blaͤtter aus dem Stuͤcke, wo-
rauf meine Liebe zu dir geſchrieben iſt. So
will ich denn, da ich mich aus der Rolle nicht
zuruͤckleſen kann, in ihr fortleſen bis zum En-
de und zu dem exeunt omnes, hinter dem
dann doch wohl das eigentliche Ich ſtehen wird.
Dann ſage ich dir, ob außer der Rolle noch
etwas exiſtirt und das Ich lebt und dich liebt.


Ophelia.


[249]

Hinter dieſem Briefwechſel trat nun unſer
Wortwechſel ein, und jeder nachfolgende Wech-
ſel, von den Blicken, Kuͤſſen und dergleichen
an, bis zum Selbſtwechſel.


Nach wenigen Monaten war das Stichwort
zu einer neuen Rolle geſchrieben. — Ich war
doch faſt gluͤcklich in der Zeit, und ſpuͤrte in
dem Tollhauſe zuerſt einige Menſchenliebe,
ſo daß ich ernſthaft uͤber Planen bruͤtete mit
den Narren um mich her Plato’s Republick zu
realiſiren. Doch da ſtrich der Traumgott wie-
der alles aus!


Die Ophelia wurde immer blaſſer und ver-
nuͤnftiger, obgleich der Arzt meinte, der Un-
ſinn ſei bei ihr im Steigen; aber es war der
Moment, wo ein großer Sinn in ihn ein-
trat. —


Es ſtuͤrmte wild um das Tollhaus her —
ich lag am Gitter und ſchaute in die Nacht,
außer der am Himmel und auf Erden nichts
weiter zu ſehen war. Es war mir, als ſtaͤnde
ich dicht am Nichts und riefe hinein, aber es
[250] gaͤbe keinen Ton mehr — ich erſchrack, denn
ich glaubte wirklich gerufen zu haben, aber ich
hoͤrte mich nur in mir. Ein Bliz, ohne nach-
folgenden Donnerſchlag, flog pfeilſchnell, aber
ſtill durch die Nacht, und der Tag erſchien und
verſchwand raſch in ihr, wie ein Geiſt. Ne-
ben mir auf der einen Seite raſſelte ein Wahn-
ſinniger ſchrecklich mit ſeinen Ketten, auf der
andern hoͤrte ich Ophelia abgeriſſene Stuͤcke
ihrer Balladen ſingen, doch wurden die Toͤne
oft Seufzer, und zulezt ſchien mir alles eine
große Disharmonie, zu der die raſſelnden Ket-
ten die begleitende Muſik abgaben. Es duͤnkte
mich, als entſchliefe ich. Da ſah ich mich
ſelbſt mit mir allein im Nichts, nur in der
weiten Ferne verglimmte noch die letzte Erde,
wie ein ausloͤſchender Funken — aber es war
nur ein Gedanke von mir, der eben endete.
Ein einziger Ton bebte ſchwer und ernſt durch
die Oede — es war die ausſchlagende Zeit,
und die Ewigkeit trat jetzt ein. Ich hatte jezt
aufgehoͤrt alles andere zu denken, und dachte
[251] nur mich ſelbſt! Kein Gegenſtand war rings-
um aufzufinden, als das große ſchreckliche Ich,
das an ſich ſelbſt zehrte, und im Verſchlingen
ſtets ſich wiedergebar. Ich ſank nicht, denn
es war kein Raum mehr, eben ſo wenig ſchien
ich emporzuſchweben. Die Abwechſelung war
zugleich mit der Zeit verſchwunden, und es
herrſchte eine fuͤrchterliche ewig oͤde Langeweile.
Außer mir, verſuchte ich mich zu vernichten
— aber ich blieb und fuͤhlte mich unſterb-
lich! —


Hier vernichtete ſich der Traum in ſeiner
eigenen Groͤße und ich erwachte tiefaufathmend
— das Licht war erloſchen, ringsum tiefe
Nacht; nur Ophelien hoͤrte ich leiſe ihre Bal-
laden ſingen, wie wenn ſie jemand damit in
den Schlaf wiegte. Ich tappte an den Waͤn-
den aus meiner Kammer, neben mir ſchlichen
draußen durch die Finſterniß noch Wahnſinnige
und ziſchelten leiſe.


Ich oͤffnete Opheliens Thuͤr, ſie lag blaß
auf ihrem Lager, bemuͤht ein todtes eben ge-
[252] borenes Kind an ihrer Bruſt in den Schlaf zu
lullen; neben ihr ſtand ein irres Maͤdchen und
legte den Finger auf den Mund, wie wenn
ſie mir Stille zuwinkte.


Jezt ſchlaͤft es! ſagte Ophelia und blickte
mich laͤchelnd an, und das Laͤcheln war mir,
wie wenn ich in ein aufgeworfenes Grab ſchau-
te. — Gottlob, es giebt einen Tod, und da-
hinter liegt keine Ewigkeit! ſprach ich unwill-
kuͤhrlich.


Sie laͤchelte fort und fluͤſterte nach einer
Pauſe, wie wenn die Sprache ſich allmaͤlig in
Hauche aufloͤſen und leiſe verſchwinden wollte:
Die Rolle geht zu Ende, aber das Ich bleibt,
und ſie begraben nur die Rolle. Gottlob daß
ich aus dem Stuͤcke herauskomme und meinen
angenommenen Namen ablegen kann; hinter
dem Stuͤcke geht das Ich an! — Es iſt nichts!
ſagte ich ſchuͤttelnd. — Sie fuhr kaum hoͤrbar
fort: Dort ſteht es ſchon hinter den Kouliſſen
und wartet auf das Stichwort; wenn nur der
Vorhang erſt ganz nieder iſt! — Ach, ich
[253] liebe dich! das iſt die lezte Rede im Stuͤcke,
und ſie allein will ich aus meiner Rolle zu be-
halten ſuchen — es war die ſchoͤnſte Stelle!
Das Uebrige moͤgen ſie begraben! —


Da fiel der Vorhang und Ophelia trat ab
— niemand klatſchte und es war, als ob kein
Zuſchauer zugegen waͤre. Sie ſchlief ſchon ganz
feſt mit dem Kinde an der Bruſt, und beide
waren nur ſehr blaß und man hoͤrte keine
Athemzuͤge, denn der Tod hatte ihnen ſeine
weiße Maske ſchon aufgelegt. —


Ich ſtand ſtuͤrmiſch aufgereizt neben dem
Lager und in mir machte es ſich zornig Luft,
wie zu einem wilden Gelaͤchter — ich erſchrack,
denn es wurde kein Gelaͤchter, ſondern die
erſte Thraͤne, die ich weinte. Nahe bei mir
heulte noch einer; — doch war es nur der
Sturm, der durch das Tollhaus pfiff.


Als ich aufblickte, ſtanden die Wahnſinni-
gen in einem Halbkreiſe um das Lager her,
alle ſchweigend, aber ſeltſam geſtikulirend und
ſich gebaͤrdend; einige laͤchelnd, andere tief
[254] nachſinnend, noch andere den Kopf ſchuͤttelnd,
oder ſtarr die weiße Schlummernde und das
Kind betrachtend; — auch der Weltſchoͤpfer
war darunter, aber er legte nur bedeutend
den Finger auf den Mund.


Es ward mir faſt bange in dem Kreiſe!


[[255]]

Funfzehnte Nachtwache.


So ſehr es auch die taͤgliche Erfahrung lehrt,
daß man an allen Plaͤtzen Narren duldet, ſo
aufgebracht war man doch daruͤber, daß ich
den Verſuch angeſtellt hatte, ſie fortzupflan-
zen, und mir wurde daruͤber ſogar zur Strafe
mein Narrenkaͤmmerchen aufgeſagt.


Ach es war mir recht traurig, als ich von
meinen Bruͤdern Abſchied nehmen ſollte, um
wieder unter die Vernuͤnftigen zu laufen; und
wie nun die Thuͤr des Tollhauſes hinter mir
in das Schloß raſſelte, ſtand ich ganz einſam
[256] da und ſuchte melancholiſch den Gottesacker
auf, wo ſie die Ophelia hingetragen hatten.
O haͤtte ich nur mindeſtens einen Laertes auf-
finden koͤnnen, um mit ihm an dem Grabe
mich herumzuſchlagen, denn ich hatte aus dem
Tollhauſe einen verſtaͤrkten Haß gegen alle
Vernuͤnftige mitgebracht, die mit ihren plat-
ten nichtsſagenden Phyſiognomien, jezt wieder
um und neben mir wandelten.


Ein Reicher und ein Bettler haben den
Vorzug vor anderen gewoͤhnlichen Menſchenkin-
dern, daß ſie ihrem Hange zum Reiſen vollen
Lauf laſſen duͤrfen. Der Reiche ſchließt ſich die
Herrlichkeiten der Erde mit dem goldenen
Schluͤſſel in ſeiner Hand auf; der Arme hat
ein Freibillet fuͤr die ganze Natur, und er
kann die hoͤchſten und ſchoͤnſten Wohnungen
nach Belieben beziehen; heute den Aetna,
morgen die Fingalsgrotte; in dieſer Woche
den Sommeraufenthalt des Weiſen am Gen-
ferſee, und in der folgenden die koͤſtliche kry-
[257] ſtallene Halle des Rheinfalles, wo ſtatt der
Deckengemaͤlde ihm die Sonne Regenbogen
uͤber das Haupt webt, und die Natur ſeinen
Pallaſt im immerwaͤhrenden Zerſtoͤren wieder
aufbaut.


Zeigt mir einen Koͤnig, der glaͤnzender
wohnen kann, als ein Bettler!


Ich reiſete uͤberdies mit dem Vortheile,
nirgend um meine Zeche gemahnt zu werden,
oder mich fuͤr die Nachtmahlzeit bei jemand
anderm, als bei der alten Mutter ſelbſt be-
danken zu muͤſſen; denn die Erde hatte noch
Wurzeln in ihrem Schooße, die ſie mir nicht
verweigerte, und ſie reichte der durſtigen Lippe
in der dargebotenen Felſenſchaale den friſchen
brauſenden Trank des ſtuͤrzenden Waſſerfalls.
— Ich war recht froh und frei und haßte die
Menſchen nach Belieben, weil ſie ſo klein und
nichtsnutzig durch den großen Sonnentempel
hinſchlichen.


17
[258]

Einſt hatte ich mich eben von meinem La-
ger, einem duftenden blumigten Raſen, auf-
gerichtet, und ſchaute in die Morgenglut, die
wie ein Geiſt aus dem Meere aufſtieg, wobei
ich, um das Nuͤtzliche mit dem Angenehmen
zu verbinden, eine aufgegrabene Wurzel an-
biß. Es gehoͤrt zur menſchlichen Groͤße in der
Naͤhe erhabener Gegenſtaͤnde, Nebengeſchaͤfte
zu betreiben, z.B. der aufgehenden Sonne,
mit der Pfeife im Munde ins Antlitz zu ſchauen,
oder waͤhrend der Kataſtrophe einer Tragoͤdie
Makkaroni zu ſpeiſen und dergleichen; die
Menſchen haben es darin ſehr weit gebracht.


Als ich nun ſo behaglich da lag, wandelte
mich die Laune zu einem Monologe an, den
ich folgendergeſtalt hielt:


„Nichts geht doch uͤber das Lachen, und
ich ſchlage es faſt ſo hoch an, wie andere ge-
bildete Leute das Weinen, obgleich ſich eine
Thraͤne leicht zu Tage foͤrdern laͤßt, blos
[259] durch ſtarkes Hinſchauen auf einen Fleck, oder
durch mechaniſches Leſen Kotzebueſcher Dramen,
ja zuletzt ſchon durch heftig anhaltendes Lachen
allein. Habe ich nicht letzthin einen ziemlich
abgezehrten Mann beim Anblick der aufgehen-
den Sonne haͤufig Thraͤnen vergießen ſehen,
und andere ſtanden nahe dabei und ruͤhmten
es als ein Zeichen eines gefuͤhlvollen Gemuͤ-
thes, und weinten zuletzt uͤber den Weinen-
den. Nur ich trat hinzu, und fragte: Freund,
ruͤhrt der Gegenſtand ſo heftig? — Nicht doch;
ſagte jener, aber der Lichtſtrahl wirkt nach
neuern Beobachtungen, außerdem daß er nie-
ſen und weinen zuwege bringt, auch auf das
Erzeugen; und ich war in Italien! — Ich
verſtand den Mann, der der Sonne zu etwas
Reellerm ins Auge ſchaute, als zum bloßen
Phantaſieren. — Als ich mich lachend umdre-
hete, ſchalten die andern mich weinend in
ſehr harten Ausdruͤcken; ich lachte uͤber dieſen
Kontraſt noch ſtaͤrker, und es fehlte wenig, ſo
haͤtten ſie mich aus Ruͤhrung geſteinigt! —


[260]

Wo giebt es uͤberhaupt ein wirkſameres
Mittel jedem Hohne der Welt und ſelbſt dem
Schickſale Troz zu bieten, als das Lachen?
Vor dieſer ſatiriſchen Maske erſchrickt der ge-
ruͤſtetſte Feind, und ſelbſt das Ungluͤck weicht
erſchrocken von mir, wenn ich es zu verlachen
wage! — Was beim Teufel, iſt auch dieſe
ganze Erde, nebſt ihrem empfindſamen Be-
gleiter dem Monde, anders werth als ſie aus-
zulachen — ja ſie hat allein darum noch eini-
gen Werth weil das Lachen auf ihr zu Hauſe
iſt. Es war alles auf ihr ſo empfindſam und
gut eingerichtet, daß es dem Teufel, der ſie
einſt zum Zeitvertreibe ſich beſchaute, zum
Aerger gereichte; um ſich an dem Werkmeiſter
zu raͤchen, ſchickte er das Gelaͤchter ab, und
es wußte ſich geſchickt und unbemerkt in der
Maske der Freude einzuſchleichen, die Men-
ſchen nahmen’s willig auf, bis es zuletzt die
Larve abzog und als Satire ſie boshaft an-
ſchaute. — Laßt mir nur das Lachen mein le-
belang, und ich halte es hier unten aus!“ —


[261]

Hoho! rief es jetzt dicht an meinem Ohre,
und als ich mich umdrehete, ſchaute mir ein
hoͤlzerner Hanswurſt keck und trotzig ins Antlitz.
„Er iſt mein Patron! ſagte ein großer Kerl,
der ihn mir entgegenhielt, und neben ſich ei-
nen großen Kaſten ſtehen hatte. Er hat Talente
zum Hanswurſt, und ich brauche eben einen,
denn der meinige iſt mir heute verſtorben.
Hat er Luſt, ſo ſchlage er ein; der Poſten
iſt eintraͤglich, und wirft mehr ab, als Wur-
zeln freſſen!“ —


Der hoͤlzerne Spaßmacher ſchaute mich da-
bei vertraulich an, und ich fuͤhlte mich zu ihm
hingezogen, wie zu einem Freunde. „Der
Kerl iſt in Venedig geſchnitzt, — ſagte der
Puppenſpieler wie zur Aufmunterung — und
ich wette, er macht ſeine Sache beſſer, als
irgend ein anderer; ſchaue er nur, er geht
und ſteht, wie auf lebendigen Beinen, legt
die Hand aufs Herz, trinkt und ißt, wenn
ich am Faden ziehe, und kann lachen und wei-
[262] nen, wie ein gewoͤhnlicher Menſch, bloß durch
einen leichten mechaniſchen Druck!“ —


Topp! rief ich, und nahm den Kaſten auf
die Schultern, und die hoͤlzerne Geſellſchaft
klapperte drinnen unter dem Tragen, wie
wenn ſie eine franzoͤſiſche Revoluzion zum Zeit-
vertreibe auffuͤhrte.


Im Wirthshauſe fanden wir das Theater,
und ſchon Leute, die ſichs anſehen wollten; der
Direktor gab mir einen fluͤchtigen theoretiſchen
Unterricht in der tragiſchen ſowohl, wie in
der komiſchen Kunſt, auch eroͤffnete er mir zur
Zerſtreuung eine kleine Seitenthuͤr, wo mein
Vorgaͤnger im Hanswurſt auf der Streu im
Leichentuche lag, und ſeine Rolle ausgeſpielt
hatte; das Geſicht war recht boshaft verzogen,
und jener ſagte: Er iſt im Lachen verſtorben,
wodurch er ſich hinter der Buͤhne einen Stick-
fluß zuzog! —


Ein ſchoͤner Tod’! erwiederte ich, und wir
machten uns nun bereit die hoͤlzerne Truppe
zu dirigiren. Mein Gefaͤhrte hatte große Force
[263] in den Liebhabern und Liebhaberinnen, wovon
er dieſe durch die Fiſtel ſprach. Mein Haupt-
fach dagegen war der Hanswurſt, doch hatte
ich auch nebenzu die Koͤnige zu beſorgen. Als
der Vorhang fiel, umarmte mich der Mann
feurig, und ſagte daß ich meinem Poſten Ehre
mache.


Wie theuer einem indeß das Dirigiren zu
ſtehen kommen kann, das hatten wir Gelegenheit
auch unter Marionetten zu erfahren; die
Sache trug ſich folgendergeſtalt zu:


Wir hatten unſere Buͤhne in einem kleinen
deutſchen Dorfe, nahe an der franzoͤſiſchen
Grenze, aufgeſchlagen. Sie gaben druͤben
grade die große Tragikomoͤdie, in der ein
Koͤnig ungluͤcklich debuͤtirte, und der Hans-
wurſt, als Freiheit und Gleichheit, luſtig
Menſchenkoͤpfe, ſtatt der Schellen, ſchuͤttelte.
— Wir hatten den ungluͤcklichen Einfall den
Holofernes auf das Theater zu bringen, und
[264] erhizten dadurch die zuſchauenden Bauern ſo
heftig, daß ſie die Buͤhne erſtuͤrmten, unter
den Schauſpielerinnen uns die Judith entfuͤhr-
ten, und mit ihr und dem abgeſchlagenen hoͤl-
zernen Haupte des Holofernes geradesweges
vor das Haus des Schulzen zogen, und nicht
weniger als ſeinen Kopf von ihm forderten.
Das in Anſpruch genommene Haupt erblaßte,
als die Rebellen ihm das blutige hoͤlzerne
entgegenhielten, und weil die Sache mir im-
mer bedenklicher ſchien, ſo ſuchte ich ihr raſch
eine andere Wendung zu geben. Ich bemaͤch-
tigte mich des Holoferneskopfes, ſprang auf
einen Stein, und ſuchte in der Angſt folgende
Rede zu Stande zu bringen:


„Lieben Landleute!“


„Schaut dieſes hoͤlzerne blutige Koͤnigs-
haupt an, das ich hier hoch emporhalte. Es
wurde, als es noch auf dem Rumpfe ſaß,
durch dieſen Drath regiert, den Drath regierte
[265] wieder meine Hand, und ſo fort bis ins Ge-
heimnißvolle, wo das Regiment nicht mehr zu
beſtimmen iſt. Dieſes Haupt iſt ein koͤnig-
liches, ich aber, der an dem Drathe zog,
daß es ſo oder ſo nickte, oder ſchuͤttelte, bin
ein ganz gewoͤhnlicher Kerl, und komme im
Staate in gar keine Betrachtung. Wie konn-
tet ihr euch alſo wohl gegen dieſen Holofernes
erzuͤrnen, wenn er nickte, oder ſchuͤttelte wie
ich es wollte? — Ich denke ihr findet meine
Rede vernuͤnftig, Landleute! — Doch aber
ſcheint der Zorn uͤber dieſes hoͤlzerne Haupt,
ſich beſtimmt auf das Haupt eures Schulzen
uͤbertragen zu haben — und das finde ich un-
billig. — Ich will mich bildlich auszudruͤcken
ſuchen: Mein Holofernes ſpielt nicht nach [eu-
rem]
Willen; wohlan, ſo ſchlagt mich, den
gemeinen Kerl, auf die Haͤnde, daß mein
Miniſter, der Drath den ich anziehe, eine
andere Richtung bekommt, und durch dieſe
wieder der Koͤnigskopf anmuthiger und ver-
ſtaͤndiger nicke oder ſchuͤttele. Was hat euch
[266] dieſer arme Kopf gethan, daß ihr ſo mit ihm
umſpringt; er iſt das mechaniſchſte Ding auf
der Welt und es wohnt nicht einmal ein Ge-
danke in ihm. Fordert doch von dieſem Kopfe
keine Freiheit, da er ſelbſt nichts Analoges
davon in ſich enthaͤlt. — Auch iſt es ein miß-
liches Ding um das, was ihr Freiheit ſchel-
tet, iſt es doch nicht das Marionettenſpiel
allein, was ihr heute geſehen habt, wo dem
hoͤlzernen Koͤnige der Kopf ohne weiteren Er-
folg vom Rumpfe geſchlagen wird, ſondern ich
habe dergleichen von noch fehlerhafterer Natur
in meinem Kaſten, wo der Dichter dem Stoffe
nicht gewachſen war, und er nach Art politi-
ſcher Poeten, die Republick an der er dichtete,
zu einer Deſpotie verpfuſchte. Ich kann der-
gleichen vor euch auffuͤhren! — Unrecht bleibt
es auch immer ſolche widernatuͤrliche Strafen
zu exerziren, als z. B. da auf das Koͤpfen zu
beſtehen, wo ſich kein Kopf vorfindet, denn
dieſer hoͤlzerne iſt nur blos fuͤr das Auge da,
und zum Gluͤcke verſtehe ich es, ihn wieder
[267] auf den Rumpf zu ſezen, was nicht in jedem
aͤhnlichen Falle gluͤcken duͤrfte. Und wehe mei-
nen armen Marionetten, wenn es einmal ei-
nem wirklichen Kopfe einfiele, den hoͤlzernen
hier in meiner Hand erſetzen zu wollen, und
jener nun auf ſeine Weiſe nickte und ſchuͤttelte,
und den Drath ganz abriſſe — da koͤnnte eine
Poſſe ſich leicht zu einer ernſten Tragoͤdie re-
volutioniren! — Ich denke, ich habe genug
geſagt, Landleute!“ —


Die Menſchheit iſt im Ganzen, wenn ſie
nicht grade an fixen Ideen leidet, eine ehr-
liche einfaͤltige Haut, und ſie findet ſich leicht
in das Entgegengeſezteſte; ja ich glaube ſie
kann ſich, wenn ſie heute ein leichtes Band,
das ſie feſſelte, zerriſſen hat, morgen mit
eben dem Enthuſiasmus in Ketten werfen laſ-
ſen. Einer der droben zuſchaut, muß mit dem
Volke Mitleid haben. So gaben auch heute
meine Bauern das Revoluzioniren gutmuͤthig
wieder auf, und ließen dagegen ihren Schulzen
[268] hochleben; leider nur verwandelte ſich dieſe
Freude der lebenden Akteurs in bitteres Leid
fuͤr meine hoͤlzernen.


Wir Direktoren erwachten naͤmlich in der
folgenden Nacht von einem anhaltenden Ge-
raͤuſche, das vom Theater her erſchallte; an-
fangs ſchoben wir es auf Rollenneid, oder
eine unter der Truppe ausgebrochene Kabale,
als wir uns aber naͤher zu unterrichten ſuchten,
fanden wir unten den Schulzen, dem ich eben
das Haupt wieder auf dem Rumpfe befeſtigt
hatte, mit dem Holofernes in der Hand, und
von Gerichtsdienern begleitet, die die ganze
Truppe im Namen des Staates zu Gefange-
nen machten, weil man ſie fuͤr politiſch ge-
faͤhrlich erklaͤrte. Alle meine Einreden waren
vergeblich, und ſie zogen vor meinen Augen
mehrere Koͤnige und Herren, als den Salomo,
Herodes, David, Alexander u. f. m. aus
dem Kaſten um ſie fortzuſchleppen. So in-
konſequent verfaͤhrt der Staat gegen ſeine eige-
[269] nen Repraͤſentanten! — Der lezte Mann war
mein Hanswurſt; ich erniedrigte mich fuͤr ihn
faſt zu Bitten — allein man that mir kund,
daß durch ein ſtrenges Zenſuredikt alle Satire
im Staate ohne Ausnahme verboten ſei, und
man ſie ſchon zum voraus in den Koͤpfen kon-
fiscire. Mit Muͤhe erhielt ich es nur auf ei-
nen Augenblick noch mit ihm abſeits zu treten;
ich nahm ihn mit mir hinter eine Kouliſſe,
und hier in der Einſamkeit druͤckte ich unbe-
lauſcht ſeinen hoͤlzernen Mund an den meini-
gen und vergoß die zweite Thraͤne, denn er
war außer Ophelia das einzige Weſen, das
ich in der Welt wahrhaftig geliebt hatte. —


Mein Mitdirektor ging den ganzen darauf
folgenden Tag wie ein Traͤumender umher,
und am Abende fand man ihn, weil er die
angeſagte Tragikomoͤdie nicht ſchuldig bleiben
wollte, auf der Buͤhne an einer Wolke er-
haͤngt.


So traurig endete auch dieſes Unterneh-
men, und ich ſuchte nun endlich mit Ernſt,
[270] von den Muͤhſeligkeiten des Lebens ermuͤdet;
mich unter den Menſchen um einen ſoliden
Poſten zu bewerben. Es geht doch nichts auf
Erden uͤber das Bewußtſein nuͤtzlich zu ſein
und einen feſten Gehalt zu genießen; — der
Menſch iſt nicht Kosmopolit allein, er iſt auch
Staatsbuͤrger! — Das Nachtwaͤchteramt war
eben vakant geworden, und ich glaubte mich
allenfalls tuͤchtig ihm mit Ehre vorzuſtehen.
Die Welt iſt jezt ſehr gebildet und man for-
dert mit Recht große Talente von jedem ein-
zelnen Buͤrger. —


Wohl dem der Konnexionen hat — es ge-
lang mir bei dem Diener des Miniſters Zu-
tritt zu erhalten, er hatte grade ſeine gute
Stunde, und empfahl mich ſeinem Herrn;
ſo wurde ich die Staatsleiter immer hoͤher ge-
hoben und ging aus einer Hand in die andere,
bis zur oberſten Sproſſe, wo ich einen Fußfall
wagte, und man mir gnaͤdig Hoffnung zum
Nachtwaͤchter machte. — Eine naͤhere Pruͤfung
[271] in der ich darthun mußte, ob ich theils einen
gemaͤßigten Vortrag beſaͤße, um den Monar-
chen wenn er ſchliefe nicht aus dem Schlafe zu
wecken, theils aber auch einen angenehmen
und gebildeten, um in ſchlafloſen Naͤchten ſei-
nen muſikaliſchen Sinn nicht zu beleidigen,
fiel nicht ganz ungluͤcklich aus, und ich hatte
die Freude mich, nachdem mir vorher noch
weiteres Studium angelegentlich empfohlen
war, als Nachtwaͤchter angeſtellt zu ſehen.


[[272]]

Sechszehnte Nachtwache.


Ich wuͤnſchte dieſes Ultimatum und Hogarth-
ſche Schwanzſtuͤck meiner Nachtwachen, recht
deutlich vor Jedermanns Augen ausmahlen zu
koͤnnen; leider aber fehlen mir die Farben in
der Nacht dazu, und ich kann nichts als
Schatten und luſtige Nebelbilder vor dem
Glaſe meiner magiſchen Laterne hinfliehen
laſſen.


Wenn ich in der Laune bin Koͤnige und
Bettler in eine recht luſtige bruͤderliche Ge-
ſellſchaft zuſammenzuſtellen, ſo wandle ich auf
[273] dem Kirchhofe uͤber ihre Graͤber hin, und
denke ſie mir, wie ſie da unten im Boden
friedlich neben einander liegen, im Stande
der groͤßten Freiheit und Gleichheit, und nur
in ihrem Schlafe ſatiriſche Traͤume haben, und
haͤmiſch aus den Augenhoͤlen grinſen. Unten
ſind ſie Bruͤder, nur oben aus dem Raſen
ragt hoͤchſtens noch ein mooſigter Stein her-
auf, woran die alten zerſchlagenen Wappen
des Großen haͤngen, indeß auf dem Grabe
des Bettlers nur eine wilde Blume ſproßt,
oder eine Neſſel. —


Ich beſuchte auch in dieſer Nacht meinen
Lieblingsort, dieſes Vorſtadtstheater, wo der
Tod dirigirt, und tolle poetiſche Poſſen als
Nachſpiele hinter den proſaiſchen Dramen auf-
fuͤhrt, die auf dem Hof- und Welttheater
dargeſtellt werden. Es war eine ſchwuͤle druͤk-
kende Luft, und der Mond ſchaute nur heim-
lich zu den Graͤbern herab, und blaue Blize
flogen dann und wann an ihm voruͤber. Ein
18
[274] Poet meinte, die zweite Welt lauſche in die
untenliegende herunter — ich hielt es nur fuͤr
aͤffenden Wiederhall und matten taͤuſchenden
Lichtſchein, der noch eine Weile dem verſunkenen
Leben nachgaukelt; wie der abgeſtorbene faulende
Baum noch eine Zeitlang des Nachts zu glaͤn-
zen ſcheint, bis er ganz in Staub zerfaͤllt. —


Ich war unwillkuͤhrlich an dem Denkmale
eines Alchymiſten ſtehen geblieben; ein alter
kraͤftiger Kopf ſtarrte aus dem Steine hervor,
und unverſtaͤndliche Zeichen aus der Kabbala
waren die Inſchrift.


Der Poet trieb ſich eine Zeitlang unter
den Graͤbern herum, und beſprach ſich ab-
wechſelnd mit auf dem Boden liegenden
Schaͤdeln, um ſich in Feuer zu ſetzen, wie er
ſagte; mir wurde es langweilig, und ich ſchlief
daruͤber am Denkmale ein.


Da hoͤrte ich im Schlafe das Gewitter auf-
ſteigen, und der Poet wollte den Donner in
[275] Muſik ſezen und Worte dazu dichten, aber
die Toͤne ordneten ſich nicht und die Worte
ſchienen zu zerſprengen und in einzelnen un-
verſtaͤndlichen Sylben durcheinander zu fliehen.
Dem Poeten ſtand der Schweiß auf der Stirne,
weil er keinen Verſtand in ſein Naturgedicht
bringen konnte — der Narr hatte das Dichten
bisher nur auf dem Papiere verſucht.


Der Traum verwickelte ſich immer tiefer.
Der Poet hatte ſein Blatt von neuem ergriffen
und verſuchte zu ſchreiben; zur Unterlage
diente ihm ein Schaͤdel — er begann wirklich
und ich ſah den Titel vollendet:


Gedicht uͤber die Unſterblichkeit.


Der Schaͤdel grinſete tuͤckiſch unter dem
Blatte, der Poet hatte kein Arg daraus, und
ſchrieb den Eingang zum Gedichte, worin er
die Phantaſie anrief ihm zu diktiren. Darauf
hub er mit einem grauſenden Gemaͤlde des
[276] Todes an, um zulezt die Unſterblichkeit deſto
glaͤnzender hervorfuͤhren zu koͤnnen, wie den
hellen ſtrahlenden Sonnenaufgang nach der tief-
ſten dunkelſten Nacht. Er war ganz in ſeine
Phantaſieen vertieft und bemerkte es nicht,
daß ſich um ihn her alle Graͤber geoͤffnet hat-
ten, und die Schlaͤfer unten boshaft laͤchelten,
doch ohne ſich zu bewegen. Jezt ſtand er am
Uebergange und fing an die Poſaunen zu bla-
ſen und viele Zuruͤſtungen zum juͤngſten Tage
zu machen. Eben war er im Begriffe alle
Todte zu erwecken, da ſchien es als ob etwas
Unſichtbares ſeine Hand hielte, und er blickte
verwundert auf — und unten in den Schlaf-
kammern lagen ſie noch alle ſtill und laͤchelten,
und niemand wollte erwachen. Schnell ergriff
er die Feder von neuem und rief heftiger und
ſezte eine ſtarke Begleitung von Donner und
Poſaunenſchall zu ſeiner Stimme — umſonſt,
ſie ſchuͤttelten nur alle unmuthig unten und
wandten ſich auf die andere Seite von ihm
weg, um ruhiger zu ſchlafen und ihm die
[277] nackten Hinterkoͤpfe zu zeigen. — „Wie, iſt
denn kein Gott!“ rief er wild aus, und das
Echo gab ihm das Wort „Gott!“ laut und
vernehmlich zuruͤck. Jezt ſtand er ganz ein-
faͤltig da und kaͤuete an der Feder. „Der
Teufel hat das Echo erſchaffen!“ ſagte er zu-
lezt — „Weiß man doch nicht zu unterſchei-
den ob es bloß aͤfft, oder ob wirklich geredet
wird!“ —


Er ſetzte noch einmal raſch an, doch die
Schriftzuͤge kamen nicht zum Vorſcheine; da
ſteckte er abgeſpannt und faſt gleichmuͤthig die
Feder hinter das Ohr und ſagte monoton:
„Die Unſterblichkeit iſt widerſpaͤnſtig, die Ver-
leger zahlen bogenweis und die Honorare ſind
heuer ſehr ſchmal; da wirft dergleichen Schrei-
berei nichts ab, und ich will mich wieder in
die Dramen werfen!“ —


Ich erwachte bei dieſen Worten, und mit
dem Traume war auch der Poet vom Kirchhofe
[278] verſchwunden; aber an meiner Seite ſaß ein
braunes Boͤhmerweib und ſchien aufmerkſam in
meinen Geſichtszuͤgen zu leſen. Ich erſchrack
faſt vor der großen gigantiſchen Geſtalt, und
vor dem dunkeln Antlize, in das ein ſeltſam
barokkes Leben mit eben ſo grellen Zuͤgen nie-
dergeſchrieben ſchien. „Gieb mir die Hand,
Blanker!“ ſagte ſie geheimnißvoll, und ich
reichte ſie ihr unwillkuͤhrlich hin.


Je ſtaͤrker und ſicherer der Menſch ſich ſelbſt
gefaßt haͤlt, um ſo laͤppiſcher erſcheint ihm
alles Geheimnißvolle und Wunderbare, vom
Freimaurerorden an, bis zu den Myſterien
einer zweiten Welt. Ich ſchauderte heute zum
erſtenmale etwas, denn das Weib las aus
meiner Hand mein ganzes voriges Leben, wie
aus einem Buche mir vor, bis hin zu dem
Augenblicke, wo ich als ein Schaz gehoben
wurde (S. die vierte Nachtwache.) Darauf
ſagte ſie: „Sollſt auch deinen Vater ſehen,
Blanker; ſchau dich um, er ſteht hinter dir!“
[279] — Ich wandte mich raſch — und der ernſte
ſteinerne Kopf des Alchymiſten blickte mich
ſtarr an. Sie legte die Hand auf ihn, und
ſagte ſonderbar laͤchelnd: „Der iſt’s! und ich
bin die Mutter!“ —


Das gab eine tolle ruͤhrende Familienſcene
— die braune Zigeunermutter und der ſtei-
nerne Vater, der halb aus der Erde hervorragte,
als wollte er den Sohn halſen und an die kalte
Bruſt druͤcken. Um die Familiengruppe zu
runden umarmte ich beide, und als ich ſo
mitten inne ſaß, erzaͤhlte das Weib im Baͤn-
kelſaͤngervortrage:


„Es war in der Chriſtnacht, als dein Va-
ter den Teufel bannen wollte — er las aus
dem Buche, und ich leuchtete dazu mit drei
beſprochenen Kerzen — unter dem Boden lief
es hin, wie wenn die Erde Wellen ſchluͤge,
und das Licht brannte blau. Wir hielten jezt
an der Stelle, wo dem Himmel entſagt und
[280] der Hoͤlle geſchworen wird, und blickten uns
eine Weile ſchweigend an. Es iſt zur Abwech-
ſelung! ſagte dann dieſer Steinerne und las
die Stelle laut und vernehmlich — zwiſchen
uns lachte es leiſe, wir lachten laut mit, um
nicht albern dazuſtehen. Nun fing es an in
der Nacht um uns her ſein Weſen zu treiben,
und wir merkten, daß wir nicht allein waren.
Ich ſchmiegte mich in dem gezogenen Kreiſe
dicht an deinen Vater, wir beruͤhrten zufaͤllig
das Zeichen des Erdgeiſtes, und wurden warm
beiſammen. Als der Teufel erſchien, erblick-
ten wir ihn nur noch mit halb geoͤffneten Au-
gen — es war grade der Moment in dem du
entſtandeſt! — Jener war recht bei Laune und
erbot ſich Pathenſtelle zu vertreten; er mochte
ein angenehmer Mann in ſeinen beſten Jahren
ſein, und ich erſtaune uͤber die Aehnlichkeit,
die du mit ihm haſt; nur ſiehſt du finſterer
aus, was du dir noch abgewoͤhnen duͤrfteſt.
Als du geboren wurdeſt, hatte ich ſoviel Ge-
wiſſenhaftigkeit dich in chriſtliche Haͤnde zu
[281] uͤbergeben, und ſpielte dich darum jenem
Schazgraͤber zu, der dich erzog. — Das iſt
deine Familiengeſchichte, Blanker!“ —


Welch ein helles Licht nach dieſer Rede in
mir aufging, das koͤnnen ſich nur Pſychologen
vorſtellen; der Schluͤſſel zu meinem Selbſt
war mir gereicht, und ich oͤffnete zum erſten-
male mit Erſtaunen und heimlichem Schauder
die lang verſchloſſene Thuͤr — da ſah es aus
wie in Blaubarts Kammer, und es haͤtte mich
erwuͤrgt, waͤre ich minder furchtlos geweſen.
Es war ein gefaͤhrlicher pſychologiſcher Schluͤſſel!


Ich moͤchte mich ſelbſt, wie ich bin, ge-
ſchickten Pſychologen zur Secirung und Anato-
mirung vorlegen, um zu ſehen ob ſie das aus
mir herausleſen wuͤrden, was ich jezt wirklich
las — dieſer Zweifel ſoll uͤbrigens der Wiſſen-
ſchaft ſelbſt nicht zu nahe treten, die ich wahr-
lich hoch ſchaͤze, weil ſie es ſich nicht verdrie-
ßen laͤßt an einen ſo hypothetiſchen Gegenſtand,
[282] als die Seele iſt, Zeit und Muͤhe zu ver-
ſchwenden.


Ich moͤchte einige von den Betrachtungen,
die ich uͤber mich ſelbſt in dieſem Augenblicke
gemacht hatte, laut geaͤußert haben, denn die
Zigeunerin ſprach wie ein Orakel: „Es iſt
groͤßer die Welt zu haſſen, als ſie zu lieben;
wer liebt begehrt, wer haßt, iſt ſich ſelbſt ge-
nug, und bedarf nichts weiter als ſeinen Haß
in der Bruſt und keinen dritten!“


Die Worte dienten ihr zur Parole, und
ich erkannte durch ſie, daß ſie zu meiner Fa-
milie gehoͤre. — Nach einer Weile ſagte ſie
ganz heimlich: „Ich moͤchte den Alten da un-
ten in ſeinem lezten chemiſchen Prozeſſe, den
er mit ſich ſelbſt anſtellt, wohl noch einmal
ſehen; er liegt ſchon lange im Boden — ob
wohl noch was von ihm uͤbrig iſt? — Wir
wollen’s doch anſchauen!“ — Nach dieſen
Worten ſchlich ſie uͤber Schaͤdel und Todten-
[283] knochen hin nach dem Gebeinhauſe, kehrte mit
Schaufel und Hacke zuruͤck und grub ſich ſtill
und geheimnißvoll in die Erde.


Ich ließ ſie bei der ſonderbaren Arbeit al-
lein, denn druͤben wandelte einer mit vielen
Ausbeugungen und Kruͤmmungen um die Graͤ-
ber hin, wie wenn er ihm im Wege ſtehen-
den Geſtalten auswiche; oft ſchien er zu laͤ-
cheln, oft aber wandte er ſich erſchrocken und
zitternd ab, und floh einige Schritte, bis er
wieder vor einem neuen Gegenſtande zuruͤckzu-
beben ſchien. — Als ich ihm nahe war, faßte
er meine Hand, und ſagte tiefaufathmend:
„Gottlob ein Lebender! Begleite mich nur
bis zu jenem Grabe! — Ich hielts fuͤr Wahn-
ſinn und ſchritt mit ihm fort, um das Ende
zu erwarten, oft draͤngte er mich, wenn ich
einem Grabe zu nahe kam zuruͤck, daß ich die
Luft daruͤber nicht beruͤhren ſollte, zulezt aber
ſchien er mehr Muth zu faſſen, und ruhte
eine Weile zwiſchen drei großen Monumenten
aus; es waren umgeſtuͤrzte Saͤulen, und an
[284] den Tafeln ſtanden die Namen verſtorbener
Fuͤrſten.


„Hier koͤnnen wir etwas verziehen; ſagte
er, denn uͤber den Graͤbern ſteht nichts als
Stein und Denkmal, und drunten im Boden
mag hoͤchſtens noch eine Handvoll Staub, ne-
ben den Kronen und Zeptern zu finden ſein;
ſolche große Herren vergehen ſchnell, weil ſie
im Ueberfluſſe genießen und ſchon im Leben
eine große Maſſe erdigter Theile in ſich auf-
nehmen.“


Ich ſah ihn erſtaunt an, da fuhr er fort:
„Ihr haltet mich wohl gar fuͤr toll; aber
darin irrt Ihr! Ich betrete dieſe Orte nicht
gern, denn ich habe einen wunderbaren Sinn
mit auf die Welt gebracht, und erblicke wider
meinen Willen auf Graͤbern die darunter lie-
genden Todten mehr oder minder deutlich,
nach den Graden ihrer Verweſung*). So lange
[285] der Verſtorbene unten noch unverſehrt iſt, ſo
lange ſteht fuͤr mich ſeine Geſtalt deutlich
uͤber der Gruft, und nur wenn der Koͤrper
ſich mehr und mehr aufloͤſt, verliert ſich auch
das Bild in Schatten und Nebel, und verfliegt
zulezt ganz wenn das Grab leer iſt. — Die
weite Erde iſt zwar ein einziger Gottesacker,
aber die Geſtalten der Verweſeten nehmen
eine freundlichere Geſtalt an und bluͤhen als
ſchoͤne Blumen wieder auf; — hier aber ſte-
hen ſie noch alle deutlich umher und blicken
mich an, daß ich erſchrocken vor ihnen zuruͤck-
weiche. Nichts ſollte mich auch bewegen dieſe
Staͤtte zu betreten, wenn mich nicht eine
Schaͤferſtunde hier erwartete!“ —


„Da haͤtte Euer Liebchen auch einen freund-
lichern Ort fuͤr Euch erwaͤhlen ſollen!“ ſagte
ich unwillig uͤber ſeine unbekannte Schoͤne, als
er eine Weile inne hielt.


„Sie iſt dazu gezwungen!“ antwortete er.
— Denn ſie hat hier ihre Wohnung aufgeſchla-
gen!“


[286]

Jezt begriff ichs und verſtand ihn, als er
auf ein fernes Grab deutete — „Dort unten
ruht ſie — ſie ſtarb in der Bluͤthe, und ich
kann nur hier nach ihrem Brautbette wandeln.
Sie laͤchelt mir ſchon aus der Ferne entgegen,
und ich muß eilen; denn ſeit einiger Zeit wird
die Geſtalt immer luftiger, und nur das Laͤ-
cheln um die Lippen iſt noch ganz deutlich.“ —


„Das iſt doch mindeſtens einmal eine et-
was ungewoͤhnliche Liebſchaft, die ich erlebe,
— ſetzte ich hinzu — uͤbrigens iſt auf der Erde
nichts langweiliger als ein Verliebter!“ —


Wir wandelten jezt weiter fort, und er
entwarf mir im Gehen noch fluͤchtig einige
Skizzen von den Inhabern der Wohnungen an
denen wir vorbei mußten.


„Dort hat ſich ein Hofnarr noch gut ge-
halten, er ſteht vollkommen da, bis auf den
Spott und die Satire in ſeinen Minen. —
[287] Hier harrt ein Poet der Auferſtehung entge-
gen, aber von ihm ſelbſt iſt nur wenig noch
dazu vorhanden, denn ich ſehe bloß leichten
Duft, und muß die Phantaſie anſtrengen, et-
was Geſcheutes hineinzufinden. — Da erblicke
ich eine Mutter mit dem Kinde an der Bruſt,
und beide laͤcheln! — (Es erſchuͤtterte mich,
denn es war grade das Grab der Ophelia!)
— Hier liegen ein Finanzier und ein Politi-
ker beiſammen, aber an beiden iſt ſchon vieles
defekt. — Jenes ſoll das Grab eines beruͤhm-
ten Geizhalſes ſein, er haͤlt noch mit der ſchon
verſchwindenden Hand den Zipfel ſeines Lei-
chentuches feſt!“ —


Jetzt waren wir zur Stelle, und er bat
mich ihn zu verlaſſen; aus der Ferne ſah ich
nur noch wie er die Luft umarmte und heiße
Kuͤſſe ausſtroͤmte — es war eine recht ſelt-
ſame Schaͤferſtunde! — —


Indeß hatte die Wahrſagerin das Grab des
Vaters geſprengt, und der morſche Sarg hob
[288] ſich aus dem Boden; neugierig gleitete das
Mondlicht an den halb verwitterten Schildern
und Verzierungen hinab, und das Kruzifix
auf dem Deckel blinkte hell und weiß. Mir
war doch ungewoͤhnlich zu Muthe, als die alte
graue Vergangenheit noch einmal ſich in der
Gegenwart umſah, und die lezte Wiege des
Vaters, die ihn in den langen Schlummer
wiegte, heraufſtieg. Ich zoͤgerte den Deckel zu
heben, und redete in der Pauſe, um mir ſelbſt
Muth zu machen, einen Wurm an, den ich
ergriff, als er ſich eben bei dem Sarge aus
dem Boden wuͤhlte:


„Außer den Favoriten und Guͤnſtlingen der
Großen und Herren, giebt es nur noch ein
Voͤlkchen, das es ſich recht eigentlich an den
Bruͤſten der Majeſtaͤt wohl ſein laͤßt; und zu
dieſem gehoͤrſt du, Minirer! Der Koͤnig er-
naͤhrt ſich von dem Marke ſeines Landes, und
du dich wieder von dem Koͤnige ſelbſt, um die
verſtorbene Majeſtaͤt, wie Hamlet ſagt, nach
[289] einer Reiſe durch drei oder vier Magen, wie-
der in den Schooß, oder mindeſtens in den
Bauch ihrer getreuen Unterthanen zu fuͤhren.
An dem Gehirne wie vieler Koͤnige und Fuͤr-
ſten haſt du dich gemaͤſtet, du fetter Schma-
rozer, bis du zu dieſem Grade von Wohlbe-
leibtheit gekommen biſt? Den Idealismus wie
vieler Philoſophen haſt du auf dieſen deinen
Realismus zuruͤckgefuͤhrt? Du biſt ein unwi-
derlegbarer Beleg fuͤr die reelle Nuͤzlichkeit der
Ideen, da du dich an der Weisheit ſo man-
cher Koͤpfe wacker gemaͤſtet haſt. — Dir iſt
nichts mehr heilig, weder Schoͤnheit noch Haͤß-
lichkeit, weder Tugend noch Laſter; alles um-
windeſt du Laokoons Schlange, und beurkun-
deſt deine intenſive Erhabenheit an dem gan-
zen Menſchengeſchlechte. Wo iſt jezt das Auge
das ſo bezaubernd laͤchelte, oder ſo drohend
gebot — Du Satiriker ſizeſt allein in der lee-
ren Knochenhoͤle und ſchaueſt frech und boshaft
um dich, und machſt das Haupt zu deiner
Wohnung, und zu etwas noch ſchlechterm, in
19
[290] dem ſonſt die Plane eines Caͤſar und Alexan-
der geboren wurden. Was iſt nun dieſer Pal-
laſt, der eine ganze Welt und einen Himmel
in ſich ſchließt; dieſes Feenſchloß, in dem der
Liebe Wunder bezaubernd gaukeln; dieſer
Mikrokosmus, in dem alles was groß und
herrlich, und alles Schreckliche und Furchtbare
im Keime nebeneinander liegt, der Tempel
gebar und Goͤtter, Inquiſitionen und Teufel;
dieſes Schwanzſtuͤck der Schoͤpfung — das
Menſchenhaupt! — — die Behauſung eines
Wurmes. — O was iſt die Welt, wenn das-
jenige was ſie dachte nichts iſt und alles darin
nur voruͤberfliegende Phantaſie! — Was ſind
die Phantaſieen der Erde, der Fruͤhling und
die Blumen, wenn die Phantaſie in dieſem
kleinen Rund verweht, wenn hier im innern
Pantheon alle Goͤtter von ihren Fußgeſtellen
ſtuͤrzen, und Wuͤrmer und Verweſung einzie-
hen. O ruͤhmt mir nichts von der Selbſtſtaͤn-
digkeit des Geiſtes — hier liegt ſeine zerſchla-
gene Werkſtatt, und die tauſend Faͤden, wo-
[291] mit er das Gewebe der Welt webte, ſind alle
zerriſſen, und die Welt mit ihnen. — —
Auch der Alte hier in ſeiner Kammer wird
ſchon ſeine Theaterkleider abgeworfen haben,
und dieſer boshafte Bube, in meiner Hand,
kommt vielleicht eben von dem Kehraus, dem
er hier in der vaͤterlichen Behauſung beige-
wohnt hat; — doch mag’s ſein — ich will er-
grimmt in das Nichts ſchauen, und Bruͤder-
ſchaft mit ihm machen, damit ich keine menſch-
lichen Reſte mehr verſpuͤre, wenn es auch mich
zulezt ergreift!“ —


Ich war jezt ſtark und wild genug den Dek-
kel zu heben, ob ich gleich fuͤhlte, daß dieſer
Grimm und Zorn, wie Alles uͤbrige, auch
mit zum Nichts gehoͤre. —


Wie ſeltſam — als das ſtille Schlafkaͤm-
merchen ſich aufthat, in dem ich keinen Schlaͤ-
fer mehr erwartete, lag er noch unverſehrt auf
dem Kiſſen, mit blaſſem ernſten Geſichte und
[292] ſchwarzen krauſen Haaren um Schlaͤfe und
Stirn; es war noch die abgeformte Buͤſte vom
Leben, die hier in dem unterirdiſchen Muſeum
des Todes zur Seltenheit aufbewahrt wurde,
und der alte Schwarzkuͤnſtler ſchien dem Nichts
Troz bieten zu wollen.


„So ſah er aus, als er den Teufel
bannte!“ ſagte die Wahrſagerin — „Nur
haben ſie ihm nachher die Haͤnde gefaltet, daß
er hier unten wider Willen beten muß!“ —
— „Und warum betet er denn?“ fragte ich
zornig — da druͤben uͤber uns im Himmelsſee
funkeln und ſchwimmen zwar unzaͤhlige Sterne,
aber wenn es Welten ſind, wie viele kluge
Koͤpfe behaupten, ſo giebt es auch Schaͤdel
auf ihnen und Wuͤrmer, wie hier unten; das
geht ſo fort durch die ganze Unermeßlichkeit,
und der Baſeler Todtentanz wird dadurch nur
um ſo luſtiger und wilder und der Ballſaal
groͤßer. — O wie ſie alle, die auf den Graͤ-
bern umherlaufen, und auf einer tauſendfach
[293] geſchichteten Lava vergangener Geſchlechter —
wie ſie alle nach Liebe wimmern, und nach
einem großen Herzen uͤber den Wolken, woran
ſie mit allen ihren Erden einſt ruhen koͤnnen!
Wimmert nicht laͤnger — dieſe Myriaden von
Welten ſaußen in allen ihren Himmeln nur
durch eine gigantiſche Naturkraft, und dieſe
ſchreckliche Gebaͤrerin, die alles und ſich ſelbſt
mit geboren hat, hat kein Herz in der eigenen
Bruſt, ſondern formt nur kleine zum Zeit-
vertreib, die ſie umher vertheilt — haltet euch
an dieſe, und liebt und girrt ſo lange dieſe
Herzen noch zuſammenhalten! — Ich will
nicht lieben, und recht kalt und ſtarr bleiben,
um wo moͤglich dazu lachen zu koͤnnen, wenn
die Rieſenhand auch mich zerdruͤckt!“ —


„Der alte Schwarzkuͤnſtler ſcheint zu mei-
ner Rede zu lachen! Weißt du es etwa beſſer,
Teufelsbanner — und ſteigt uͤber dieſem zer-
truͤmmerten Pantheon ein neues herrlicheres
auf, das in die Wolken reicht, und in dem
[294] ſich die koloſſalen ringsumher baſizenden Goͤt-
ter wirklich aufrichten koͤnnen, ohne ſich an
der niedern Decke die Koͤpfe zu zerſtoßen — —
wenn es wahr waͤre, ſo moͤchte es zu ruͤhmen
ſein, und es duͤrfte ſchon die Muͤhe verlohnen
zu zu ſchauen, wie mancher unermeßliche Geiſt
auch ſeinen unermeßlichen Spielraum erhielte,
und nicht mehr zu wuͤrgen brauchte und zu
haſſen, um groß zu ſein, ſondern frei in die
Himmel emporſteigen koͤnnte, um dort ſein
ſtrahlendes Gefieder auszubreiten. — Der Ge-
danke koͤnnte mich faſt erhizen! — Nur alle
duͤrften ſie mir nicht erſtehen wollen; alle
nicht! — Was wollten ſo viele Pygmaͤen und
Kruͤppel in dem großen herrlichen Pantheon,
in dem nur die Schoͤnheit thronen ſoll, und
die Goͤtter! O man ſchaͤmt ſich dieſer Geſell-
ſchaft ja oft genug ſchon auf Erden, wie
koͤnnte man den Himmel mit ihnen gemein-
ſchaftlich theilen! — Nur ihr moͤgt euch aus
dem Schlummer erheben, ihr großen koͤnigli-
chen Haͤupter, die ihr mit den Diademen in
[295] der Weltgeſchichte erſcheint, und ihr begei-
ſterten Saͤnger, die ihr von den Koͤniglichen
entzuͤckt redet und ſie verherrlicht! Die andern
moͤgen ruhig ſchlafen und recht ſanft, auch
angenehme Traͤume haben, die goͤnne ich ih-
nen von Herzen!“ —


„Mit dir, alter Alchymiſt, moͤchte ich
den Weg ſchon antreten; nur betteln ſollſt du
mir nicht um den Himmel — nicht betteln —
lieber ertroze ihn, wenn du Kraft haſt. Die
ſtuͤrzenden Titanen ſind mehr werth, als ein
ganzer Erdball voll Heuchler, die ſich ins Pan-
theon durch ein wenig Moral und ſo und ſo
zuſammengehaltene Tugend ſchleichen moͤchten!
Laß uns dem Rieſen der zweiten Welt geruͤ-
ſtet entgegengehen; denn nur wenn wir unſere
Fahne dort aufpflanzen, ſind wir es werth
dort zu wohnen! — Laß das Betteln; ich
reiße dir die Haͤnde mit Gewalt auseinan-
der!“ — —


„Wehe! Was iſt das — biſt auch du nur
eine Maske und betruͤgſt mich? — Ich ſehe
[296] dich nicht mehr Vater — wo biſt du? — Bei
der Beruͤhrung zerfaͤllt alles in Aſche, und
nur auf dem Boden liegt noch eine Handvoll
Staub, und ein paar genaͤhrte Wuͤrmer ſchlei-
chen ſich heimlich weg, wie moraliſche Leichen-
redner, die ſich beim Trauermahle uͤbernom-
men haben. Ich ſtreue dieſe Handvoll vaͤter-
lichen Staub in die Luͤfte und es bleibt —
Nichts!“


„Druͤben auf dem Grabe ſteht noch der
Geiſterſeher und umarmt Nichts!“


„Und der Wiederhall im Gebeinhauſe ruft
zum leztenmale — Nichts!


[[297]]

Appendix A Inhalt.


  • Erſte Nachtwache.
    Der ſterbende Freigeiſt. Seite 1
  • Zweite Nachtwache.
    Die Erſcheinung des Teufels. — 12
  • Dritte Nachtwache.
    Rede des ſteinernen Crispinus uͤber das Kapitel
    de adulteriis.S.24
  • Vierte Nachtwache.
    Holzſchnitte; nebſt dem Leben eines Wahnſinnigen
    als Marionettenſpiel. S. 44
  • Fuͤnfte Nachtwache.
    Die Bruͤder. — 78
  • Sechſte Nachtwache.
    Das Weltgericht. — 93
  • Siebente Nachtwache.
    Selbſtportraitiren. — Leichenrede am Geburtstage
    eines Kindes. — Der Baͤnkelſaͤnger. — Inju-
    rienklage. S. 111
  • Achte Nachtwache.
    Des Dichters Himmelfahrt. — Abſagebrief an das
    Leben. — Prolog des Hanswurſtes zu der Tra-
    goͤdie: der Menſch. S. 130
  • Neunte Nachtwache.
    Das Tollhaus. — Monolog des wahnſinnigen
    Weltſchoͤpfers. — Der vernuͤnftige Narr. S. 153
  • Zehnte Nachtwache.
    Die Winternacht. — Der Traum der Liebe. —
    Die weiße und die rothe Braut. — Das Be-
    graͤbniß der Nonne. — Lauf durch die muſika-
    liſche Tonleiter. S. 174
  • Eilfte Nachtwache.
    Ahnungen eines Blindgebornen. — Das Geluͤbde.
    — Der erſte Sonnenaufgang. S. 192
  • Zwoͤlfte Nachtwache.
    Der Sonnenadler. — Die unſterbliche Peruͤcke. —
    Der falſche Haarzopf. — Apologie des Lebens.
    — Der Komoͤdiant. S. 201
  • Dreizehnte Nachtwache.
    Dithyrambus uͤber den Fruͤhling. — Der Titel
    ohne das Buch. — Das Invalidenhaus der Goͤt-
    ter. — Der Hintere der Venus. — S. 217
  • Vierzehnte Nachtwache.
    Die Liebe zweier Narren. — . S. 230
  • Funfzehnte Nachtwache.
    Das Marionettentheater. S. 255
  • Sechszehnte Nachtwache.
    Das Boͤhmerweib. — Der Geiſterſeher. — Das
    Grab des Vaters. S. 272
Notes
*)
Dieſe Nachtuhren ſind ſo eingerichtet, daß der
Nachtwaͤchter jedesmal in ein bis dahin ver-
ſtektes Loch, das erſt bei der beſtimmten Stunde
hervorruͤkt, einen Zettel ſtekt, zum Belege, daß
er regelmaͤßig umhergegangen iſt. Am Morgen
ſchließt dann ein Polizeyoffizier die Uhr auf,
um zu ſehen, ob in jedem einzelnen Loche der
Zettel ſich vorfindet.
*)
Auf den hollaͤndiſchen Dukaten ſteht ein ge-
harniſchter Mann.
*)
So hieß der eine Akteur der zu Tespis
Zeit mit dem Chore die ganze Tragoͤdie aus-
machte.
*)
S. deſſen Gedicht uͤber die Natur.
*)
Goͤthe’s Triumpf der Empfindſamkeit.
*)
Irgend ein Naturforſcher ſtellt die Hypotheſe
auf, daß die erſten Inſekten nur Staubfaͤden
an Pflanzen waren, die ſich durch ein Ohnge-
faͤhr von ihnen trennten.
*)
Ein Beiſpiel dieſer originellen Geiſterſeherei
findet ſich, wenn ich nicht irre, in Moritz
Magazin der Erfahrungsſeelenkunde.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Nachtwachen. Nachtwachen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmwp.0