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Anton Reiſer.


Ein
pſychologiſcher Roman
.

[figure]


Zweiter Theil.


Berlin,: 1786.
bei Friedrich Maurer.
[][]

Um fernern ſchiefen Urtheile, wie ſchon
einige uͤber dieß Buch gefaͤllt ſind, vorzu¬
beugen, ſehe ich mich genoͤthigt, zu er¬
klaͤren, daß dasjenige, was ich aus Urſa¬
chen, die ich fuͤr leicht zu errathen hielt, ei¬
nen pſychologiſchen Roman genannt
habe, im eigentlichſten Verſtande Biogra¬
phie
, und zwar eine ſo wahre und getreue
Darſtellung eines Menſchenlebens, bis auf
ſeine kleinſten Nuancen, iſt, als es vielleicht
nur irgend eine geben kann. —


Wem nun an einer ſolchen getreuen
Darſtellung etwas gelegen iſt, der wird
ſich an das anfaͤnglich unbedeutende und
unwichtig ſcheinende nicht ſtoßen, ſondern
in Erwaͤgung ziehen, daß dieß kuͤnſtlich
[] verflochtne Gewebe eines Menſchenlebens
aus einer unendlichen Menge von Kleinig¬
keiten beſteht, die alle in dieſer Verflech¬
tung aͤußerſt wichtig reden, ſo unbedeu¬
tend ſie an ſich ſcheinen. —


Wer auf ſein vergangnes Leben auf¬
merkſam wird, der glaubt zuerſt oft nichts
als Zweckloſigkeit, abgerißne Faͤden, Ver¬
wirrung, Nacht und Dunkelheit zu
ſehen; je mehr ſich aber ſein Blick darauf
heftet, deſto mehr verſchwindet die Dun¬
kelheit, die Zweckloſigkeit verliert ſich all¬
maͤlig, die abgerißnen Faͤden knuͤpfen ſich
wieder an, das Untereinandergeworfene und
Verwirrte ordnet ſich — und das mißtoͤ¬
nende loͤſet ſich unvermerkt in Harmonie
und Wohlklang auf. —


[[1]]

Der Umſtand, wodurch Anton Reiſers Schick¬
ſal unvermuthet eine gluͤcklichere Wendung nahm,
war: daß er ſich auf der Straße mit ein Paar Jun¬
gen balgte, die mit ihm aus der Schule kamen,
und ihn unterweges geneckt hatten, welches er nicht
laͤnger leiden wollte; indem er ſich nun mit ih¬
nen bei den Haren herumzaußte, kam auf ein¬
mal der Paſtor M. . . daher gegangen — und wie
groß war nun Reiſers Beſchaͤmung und Verwir¬
rung, da ihn die beiden Jungen ſelbſt zuerſt auf¬
merkſam darauf machten, und ihm, mit einer Art
von Schadenfreude den Zorn vorſtellten, den nun
der Paſtor M. . . auf ihn werfen wuͤrde.


Was ? — ich will einſt ſelbſt ſolch ein ehrwuͤr¬
diger Mann werden, wie daher koͤmmt — wuͤn¬
ſche, daß mir das itzt ſchon ein jeder anſehen ſoll,
damit ſich irgend einer findet, der ſich meiner an¬
nimmt, und mich aus dem Staube hervorzieht,
und muß nun in der Stellung von dieſem Man¬
ne uͤberraſcht werden, bei dem ich konfirmirt wer¬
den ſoll, wo ich Gelegenheit haͤtte, mich in meinem
beſten Lichte zu zeigen. — Dieſer Mann, was
A[2] wird er nun von mir denken, wofuͤr wird er mich
halten?


Dieſe Gedanken giengen Reiſern durch den
Kopf, und beſtuͤrmten ihn auf einmal ſo ſehr mit
Schaam, Verwirrung, und Verachtung ſeiner
ſelbſt, daß er glaubte in die Erde ſinken zu muͤſſen. —
Aber er ermannte ſich, das Selbſtzutrauen arbei¬
tete ſich unter der erſtickenden Schaam wieder her¬
vor, und floͤßte ihm zugleich Muth und Zutrauen
gegen den Paſtor M. . . ein --- er faßte ſchnell ein
Herz, gieng geradesweges auf den Paſtor M. . .
zu, und redete ihn auf oͤffentlicher Straße an, in¬
dem er zu ihm ſagte, er ſey einer von den Knaben,
die bei ihm zur Kinderlehre giengen, und der Pa¬
ſtor M. . . moͤchte doch deswegen keinen Zorn auf
ihn werfen, daß er ſich eben itzt mit den beiden
Jungen dort geſchlagen haͤtte, dies waͤre ſonſt gar
ſeine Art nicht; die Jungen haͤtten ihn nicht zu¬
frieden gelaſſen; und es ſollte nie wieder geſche¬
hen. —


Dem Paſtor M. . . war es ſehr auffallend, ſich
auf der Straße von einem Knaben auf die Weiſe
angeredet zu ſehen, der ſich eben mit ein paar an¬
dern Buben herumgebalgt hatte — nach einer klei¬
[3] nen Pauſe antwortete er: es ſey freilich ſehr un¬
recht und unſchicklich ſich zu balgen, indes haͤtte
das weiter nichts zu ſagen, wenn er es kuͤnftig
unterließe; drauf erkundigte er ſich auch, nach ſeinem
Nahmen und Eltern, fragte ihn, wo er bis jetzt in
die Schule gegangen waͤre, u. ſ. w. und entließ
ihn ſehr guͤtig — wer war aber froher, als Rei¬
ſer, [und] wie leicht war ihm ums Herz, da er ſich
nun wieder aus dieſer gefaͤhrlichen Situation her¬
ausgewickelt glaubte.


Und wie viel froher wuͤrde er noch geweſen
ſeyn, haͤtte er gewußt, daß dieſer ohngefaͤhre Zu¬
fall allen ſeinen aͤngſtlichen Beſorgniſſen ein En¬
de machen, und die erſte Grundlage ſeines kuͤnf¬
tigen Gluͤcks ſeyn wuͤrde. — Denn von dem
Augenblick an hatte der Paſtor M. . . den Gedan¬
ken gefaßt, ſich naͤher nach dieſem jungen Men¬
ſchen zu erkundigen, und ſich ſeiner thaͤtig anzu¬
nehmen, weil er nicht ohne Grund vermuthete,
daß ſobald des jungen Reiſers Betragen gegen
ihn nicht Verſtellung war, es keine gemeine
Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter
vorausſetzte — und daß es nicht Verſtellung war,
dafuͤr ſchien ihm ſeine Miene zu buͤrgen.


[4]

Den Sontag darauf fragte ihn der Paſtor
M... des Nachmittags in der Kinderlehre oͤfter
wie ſonſt; und Reiſer hatte nun ſchon gewiſſer¬
maßen einen ſeiner Wuͤnſche erreicht, in der Kir¬
che, vor dem verſammelten Volke, wenigſtens auf
irgend eine Art oͤffentlich reden zu koͤnnen, indem
er die Katechismusfragen des Paſtors mit lauter
und vernehmlicher Stimme beantwortete, wobei
er ſich denn ſehr von den uͤbrigen unterſchied, in¬
dem er richtig accentuirte, da jene ihre Antwor¬
ten in dem gewoͤhnlichen ſingenden Tone der Schul¬
knaben herbeteten.


Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der
Paſtor M... beiſeite, und entbot ihn auf den an¬
dern Morgen zu ſich — welch eine freudige Unru¬
he bemaͤchtigte ſich nun auf einmal ſeiner Gedan¬
ken, da es ſchien, als ob ſich irgend ein Menſch
einmal naͤher um ihn bekuͤmmern wollte, — denn
damit ſchmeichelte er ſich nun freilich, daß der
Paſtor M... durch ſeine Antworten aufmerkſam
auf ihn geworden ſey; und er nahm ſich nun auch
vor, Zutrauen zu dieſen Manne zu faſſen, und
ihm alle ſeine Wuͤnſche zu entdecken.


[5]

Als er nach einer faſt ſchlafloſen Nacht den
andern Morgen zu dem Paſtor M. . . kam, frag¬
te ihn dieſer zuerſt, was fuͤr einer Lebensart er ſich
zu widmen daͤchte, und bahnte ihm alſo den Weg,
zu dem, was er ſchon ſelbſt vorzubringen im Sinn
hatte. --- Reiſer entdeckte ihm ſein Vorhaben.
Der Paſtor M. . . ſtellte ihm die Schwierigkeiten
vor, ſprach ihm aber doch auch zugleich wieder Muth
ein, und machte den Anfang zur thaͤtigen Ermun¬
terung damit, daß er verſprach, ihn durch ſeinen
einzigen Sohn, der die erſte Klaſſe des Lyceums
in H.. beſuchte, in der lateiniſchen Sprache un¬
terrichten zu laſſen, womit auch noch in derſelben
Woche der Anfang gemacht wurde.


Bei dem allen glaubte Reiſer in den Mienen
und dem Betragen des Paſtor M. . . zu leſen, daß
er noch irgend etwas Wichtiges zuruͤck behielte,
welches er ihm zu ſeiner Zeit ſagen wuͤrde: in die¬
ſer Vermuthung wurde er noch mehr durch die
geheimnißvollen Ausdruͤcke des Garniſonkuͤſters
beſtaͤrkt, deſſen Lehrſtunden er noch beſuchte, und
der ihm immer einen Stuhl ſetzte, wenn er
kam, indes die andern auf Baͤnken ſaßen. ---
Dieſer pflegte denn wohl, wenn die Stunde aus
A 3[6] war, zu ihm zu ſagen: ſeyn Sie ja recht auf Ih¬
rer Hur, und denken Sie, daß man genau auf
Sie acht giebt. — Es ſind große Dinge mit Ih¬
nen im Werke! und dergleichen mehr, wodurch
nun Reiſer freilich anfieng, ſich eine wichtigere
Perſon, als bisher zu glauben, und ſeine kleine
Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt, die
ſich denn oft thoͤricht genug in ſeinem Gange und
und in ſeinen Mienen aͤußerte, indem er manch¬
mal in ſeinen Gedanken mit allem Ernſt und der
Wuͤrde eines Lehrers des Volks auf der Straße
einhertrat, wie er dieß denn ſchon in B. . . gethan
hatte, beſonders wenn er ſchwarze Weſte und
Beinkleider trug. Bei ſeinem Gange hatte er ſich
den Gang eines jungen Geiſtlichen, der damals
Lazarethprediger in H. . . und zugleich Konrektor
am Lyceum war, zum Muſter genommen, weil
dieſer in der Art ſein Kinn zu tragen, etwas hat¬
te, das Reiſern ganz beſonders gefiel.


Nie kann wohl jemand in irgend einem Ge¬
nuß, gluͤcklicher geweſen ſeyn, als es Reiſer da¬
mals in der Erwartung der großen Dinge war,
die mit ihm vorgehen ſollten. — Dieß erhitzte ſei¬
ne Einbiidungskraft bis auf einen hohen Grad.


[7]

Und da nun der Zeitpunkt immer naͤher heran
ruͤckte, wo er zum Abendmahl ſollte gelaſſen wer¬
den, ſo erwachten auch alle die ſchwaͤrmeriſchen
Ideen wieder, die er ſich ſchon in B. . . von dieſer
Sache in den Kopf geſetzt hatte, wozu noch die
Lehrſtunden des Garniſonkuͤſters kamen, der den¬
jenigen, die er zum Abendmahl vorbereiten half,
dabei Himmel und Hoͤlle auf eine ſo fuͤrchterliche
Art voſtellte, daß ſeinen Zuhoͤrern oft Schrecken
und Entſetzen ankam, welches aber doch mit einer
angenehmen Empfindung verknuͤpft war, wo¬
mit man das Schreckliche und Fuͤrchterliche
gemeiniglich anzuhoͤren pflegt, und er empfand
dann wieder das Vergnuͤgen, ſeine Zuhoͤrer, ſo er¬
ſchuͤttert zu haben, welches ihm wonnevolle Thraͤ¬
nen auspreßte, die den ganzen Auftritt, wenn er
ſo des Abends in der erleuchteten Schulſtube zwi¬
ſchen ihnen ſtand, noch feierlicher machte.


Auch der Paſtor M. . . hielt woͤchentlich einige
Stunden, worin er diejenigen, die zum Abend¬
mahl gehen ſollten, vorbereitete, aber das, was
er ſagte, kam lange nicht gegen die herzerſchuͤt¬
ternden Anreden ſeines Kuͤſters, ob es Reiſern
gleich zuſammenhaͤngender und beſſer geſagt zu
A 4[8] ſeyn ſchien. --- Nichts war fuͤr Anton ſchmei¬
chelhafter, als da der Paſtor M. . . einmal den
Begrif, daß die Glaͤubigen Kinder Gottes ſind,
durch das Beiſpiel erklaͤrte, wenn er mit irgend
einem aus der Zahl ſeiner jungen Zuhoͤrer genauer
umgienge, ihn beſonders zu ſich kommen ließe, und
ſich mit ihm unterredete, dieſer ihm denn auch naͤ¬
her als die uͤbrigen waͤre, und ſo waͤren die Kinder
Gottes ihm auch naͤher, als die uͤbrigen Menſchen.
Nun glaubte Reiſer unter der Zahl ſeiner Mitſchuͤler
der einzige geweſen zu ſeyn, auf den der Paſtor M. . .
aufmerkſamer, als auf alle uͤbrigen waͤre, --- al¬
lein ſo ſchmeichelhaft auch dieß fuͤr ſeine Eitelkeit
war, ſo erfuͤllte es ihn doch bald nachher wieder
mit einer unbeſchreiblichen Wehmuth, daß nun
alle die uͤbrigen an dieſem Gluͤck was ihm allein
geworden war, nicht Theil nehmen ſollten, und
von dem naͤhern Umgange mit dem Paſtor M. . .
gleichſam auf immer ausgeſchloſſen ſeyn ſollten. ---
Eine Wemuth, die er ſich ſchon in ſeinen fruͤheſten
Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert,
da ihm ſeine Baſe in einem Laden ein Spielzeung
gekauft hatte, daß er in Haͤnden trug, als er aus
dem Hauſe gieng; und vor der Hausthuͤre ſaß ein
[9] Maͤdchen in zerlumpten Kleidern ohngefaͤhr in ſei¬
nem Alter, das voll Verwunderung uͤber das ſchoͤ¬
ne Stuͤck Spielzeug ausrief: Ach, Herr Gott,
wie ſchoͤn! — Reiſer mochte etwa damals ſechs
bis ſieben Jahre alt ſeyn — der Ton, des geduldi¬
gen Entbehrens ohngeachtet der hoͤchſten Bewun¬
derung, womit das zerlumpte Maͤdchen die Worte
ſagte: Ach Herr Gott, wie ſchoͤn! drang ihm
durch die Seele. --- Das arme Maͤdchen mußte
alle dieſe Schoͤnheiten ſo vor ſich vorbeitragen ſe¬
hen, und durfte nicht einmal einen Gedanken
daran haben, irgend ein Stuͤck davon zu beſitzen.
Es war von dem Genuß dieſer koͤſtlichen Dinge
gleichſam auf immer ausgeſchloſſen, und doch ſo
nahe dabei — wie gern waͤre er zuruͤckgegangen,
und haͤtte dem zerlumpten Maͤdchen das koſtbare
Spielzeug geſchenkt, wenn es ſeine Baſe gelitten
haͤtte! --- ſo oft er nachher daran dachte, empfand
er eine bittere Reue, daß er es dem Maͤdchen nicht
gleich auf der Stelle gegeben hatte. Eine ſolche
Art von mitleidsvoller Wehmuth war es auch, die
Reiſer empfand, da er ſich ausſchließungsweiſe
mit den Vorzuͤgen in der Gunſt des Paſtor M. . .
beehrt glaubte, wodurch ſeine Mitſchuͤler, ohne,
A 5[10] daß ſie es verdient hatten, ſo weit unter ihn her¬
abgeſetzt wurden.


Grade dieſe Empfindung iſt nachher wieder
in ſeiner Seele erwacht, ſo oft er in der erſten
von Virgils Eklogen an die Worte kam; nec in¬
video
u. ſ. w. Indem er ſich in die Stelle des
gluͤcklichen Hirten verſetzte, der ruhig im Schat¬
ten ſeines Baums ſitzen kann, indes der andere
ſein Haus und Feld mit dem Ruͤcken anſehen muß,
war ihm bei dem nec invideo des letztern immer
gerade ſo zu Muthe, als da das zerlumpte Maͤd¬
chen ſagte: „Ach Herr Gott, wie ſchoͤn iſt das!“


Ich habe hier nothwendig in Reiſers Leben et¬
was nachhohlen und etwas vorweggreifen muͤſſen,
wenn ich zuſammen ſtellen wollte, was nach meiner
Abſicht, zuſammen gehoͤrt. Ich werde dieß noch
oͤfter thun; und wer meine Abſicht eingeſehen hat,
bei dem darf ich wohl nicht erſt dieſer anſcheinen¬
den Abſpruͤnge wegen um Entſchuldigung bitten.


Man ſieht leicht, daß Anton Reiſers Eitel¬
keit, durch die Umſtaͤnde, welche ſich jetzt verei¬
nigten, um ihm ſeine eigne Perſon wichtig zu ma¬
chen, mehr als zu viel Nahrung erhielt. Es be¬
durfte wieder einer kleinen Demuͤthigung fuͤr ihn,
[11] und die blieb nicht aus. Er ſchmeichelte ſich nicht
ohne Grund, unter allen, die bei dem Paſtor M. . .
konfirmirt wurden, der erſte zu ſeyn. Er ſaß
auch oben an, und war gewiß, daß ihm keiner
dieſen Platz ſtreitig machen wuͤrde. Als auf ein¬
mal ein junger wohlgekleideter Menſch, in ſeinen
Alter, und von feiner Erziehung die Lehrſtunden
des Paſtor M. . . mit beſuchte, der ihn durch ſein
feines aͤußeres Betragen ſowohl, als durch die
vorzuͤgliche Achtung, womit ihn der Paſtor M. . .
begegnete, ganz in Dunkel ſetzte, und dem auch
ſogleich uͤber ihm der erſte Platz angewieſen ward.


Reiſers ſuͤßer Traum, der erſte unter ſeinen
Mitſchuͤlern zu ſeyn, war nun ploͤtzlich verſchwun¬
den. Er fuͤhlte ſich erniedrigt, herabgeſetzt, mit
den uͤbrigen allen in eine Klaſſe geworfen. ---
Er erkundigte ſich bei dem Bedienten des Paſtor
M. . . nach ſeinem fuͤrchterlichen Nebenbuhler, und
erfuhr, daß er eines Amtmanns Sohn, und bei
dem Paſtor M. . . in Penſion ſey, auch mit den
uͤbrigen zugleich konfirmirt werden wuͤrde. Der
ſchwaͤrzeſte Neid nahm auf eine Zeitlang in An¬
tons Seele Platz; der blaue Rock mit dem ſammt¬
nen Kragen, den der Amtmannsſohn trug; ſein
[12] feines Betragen, ſeine huͤbſche Friſur, ſchlug ihn
nieder und machte ihn mißvergnuͤgt mit ſich ſelbſt;
aber doch ſchaͤrfte ſich bald wieder das Gefuͤhl bei
ihm, daß dieß unrecht ſey, und er wurde nun
noch mißvergnuͤgter uͤber ſein Mißvergnuͤgen.


Ach, er haͤtte nicht noͤthig gehabt, den armen
Knaben zu beneiden, deſſen Gluͤcksſonne bald
ausgeſchienen hatte. Binnen vierzehn Tagen kam
die Nachricht, daß ſein Vater wegen Untreue ſei¬
nes Dienſtes entſetzt ſey. Fuͤr den jungen Men¬
ſchen konnte alſo auch die Penſion nicht laͤnger be¬
zahlt werden, der Paſtor M. . . ſchickte ihn ſeinen
Anverwandten wieder, und Reiſer behielt ſeinen
erſten Platz. Er konnte ſeine Freude wegen der
Folgen, die dieſer Vorfall fuͤr ihn hatte, nicht un¬
terdruͤcken, und doch machte er ſich ſelber Vor¬
wuͤrfe wegen ſeiner Freude — er ſuchte ſich zum
Mitleid zu zwingen, weil er es fuͤr recht hielt —
und die Freude zu unterdruͤcken, weil er ſie fuͤr
unrecht hielt; ſie hatte aber demohngeachtet die
Oberhand, und er half ſich denn am Ende damit,
daß er doch nicht wieder das Schickſal koͤnne, wel¬
ches nun den jungen Menſchen einmal habe un¬
gluͤcklich machen wollen. Hier iſt die Frage: wenn
[13] das Schickſal des jungen Menſchen ſich ploͤtzlich
wiedergeaͤndert haͤtte, wuͤrde ihn Reiſer aus erſter
Bewegung freiwillig mit laͤchelnder theilnehmen¬
der Miene wieder haben uͤber ſich ſtehen laſſen, oder
haͤtte er ſich erſt mit einer Art von Anſtrengung in
dieſe Empfindung verſetzen muͤſſen, weil er ſie fuͤr
recht und edel gehalten haͤtte. --- Der Zuſammen¬
hang ſeiner Geſchichte mag in der Folge dieſe Frage
entſcheiden!


Alle Abend hatte nun Reiſer eine lateiniſche
Stunde bei dem Sohn des Paſtor M. . ., und
kam wirklich ſo weit, daß er binnen vier Wo¬
chen ziemlich den Kornelius Nepos exponiren lern¬
te. Welche Wonne war ihm das, wenn denn et¬
wa der Garniſonkuͤſter dazu kam, und fragte, was
die beiden Herren Studenten machten — und
als der Paſtor M. . . damals gerade ſeine aͤlteſte
Tochter an einen jungen Prediger verheirathete, der
eines Sonntags Nachmittags fuͤr ihn die Kinder¬
lehre hielt, und dieſer auf Reiſern, immer aufmerkſa¬
mer zu werden ſchien, je oͤfter er ihn antworten
hoͤrte: welch ein entzuͤckender Augenblick fuͤr Rei¬
ſern, da derſelbe nun nach geendigtem Gottesdienſt
zum Paſtor M. . . kam, und der Schwiegerſohn
[14] des Paſtors, ihn nun mit der groͤßten Achtung an¬
redete, und ſagte, es ſey ihm gleich in der Kirche,
da Reiſer ihm zuerſt geantwortet, aufgefallen, ob
das wohl der junge Menſch ſeyn moͤchte, von dem
ihm ſein Schwiegervater ſo viel Gutes geſagt, und
es freue ihn, daß er ſich nicht geirrt habe.


In ſeinem Leben hatte Anton keine ſolche Em¬
pfindung gehabt, als ihm dieſe achtungsvolle Be¬
gegnung verurſachte. — Da er nun die Sprache
der feinen Lebensart nicht gelernt hatte, und ſich
doch auch nicht gemein ausdruͤcken wollte, ſo be¬
diente er ſich bei ſolchen Gelegenheiten der Buͤcher¬
ſprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel,
und dem Katechismus zuſammengeſetzt war, wel¬
ches ſeinen Antworten oft einen ſonderbaren An¬
ſtrich von Originalitaͤt gab, indem er z. B. bei
ſolchen Gelegenheiten zu ſagen pflegte, er habe
den Trieb zum Studieren, der ihn unaufhaltſam
mit ſich fortgeriſſen, nicht uͤberwaͤltigen koͤnnen,
und wolle ſich nun der Wohlthaten, die man ihm
erzeige auf alle Weiſe wuͤrdig zu machen, und in
aller Gottſeligkeit und Ehrbarkeit ſein Leben bis
an ſein Ende zu fuͤhren ſuchen.


[15]

Indes hatte der Conſiſtorialrath G. . . . an
an den ſich Reiſer ſchon vorher gewandt hatte, fuͤr
ihn ausgemacht, daß er die ſogenannte Neuſtaͤd¬
ter Schule unentgeldlich beſuchen koͤnnte. --- Al¬
lein der Paſtor M. . . ſagte, daß duͤrfe nun nicht
geſchehen; er ſolle, bis er konfirmirt wuͤrde noch von
ſeinem Sohne unterrichtet werden, damit er als¬
dann ſogleich die hoͤhere Schule auf der Altſtadt be¬
ſuchen koͤnne, wo der Direktor ſich ſeiner annehmen
wolle; und wegen der Eiferſucht, die zwiſchen den
beiden Schulen zu herrſchen pflegte, wuͤrde er beſſer
thun, wenn er jene nicht zuerſt beſuchte. --- Dieß
mußte Reiſer dem Konſiſtorialrath G. . . ſelber ſa¬
gen, um den freien Unterricht, welchen er ihm
verſchaft hatte, abzulehnen, woruͤber denn der¬
ſelbe ſehr empfindlich wurde, und Reiſern erſt
hart anredete, ihn aber doch zuletzt wieder mit der
Aufmunterung entließ, daß er ſich auf andre Wei¬
ſe dennoch ſeiner annehmen wolle.


So ſchien nun an Reiſers Schickſale, um den
ſich vorher niemand bekuͤmmert hatte, auf einmal
alles Theil zu nehmen. --- Er hoͤrte von Eifer¬
ſucht
der Schulen ſeinetwegen ſprechen. --- Der
Konſiſtorialrath G. . . und der Paſtor M. . . ſchie¬
[16] nen ſich gleichſam um ihn zu ſtreiten, wer ſich am
meiſten ſeiner annehmen wollte. Der Paſtor
M. . . bediente ſich des Ausdrucks, er ſolle nur dem
Konſiſtorialrath G. . . ſagen, es waͤren ſeinetwegen
ſchon Anſtalten getroffen worden, und wuͤrden
noch Anſtalten getroffen werden, daß er zu der
hoͤhern Schule auf der Altſtadt hinlaͤnglich vor¬
bereitet wuͤrde, ohne vorher die niedere Schule
auf der Neuſtadt zu beſuchen. — Alſo Anſtalten
ſollten nun ſeinetwegen getroffen werden, wegen
eines Knaben, den ſeine eignen Eltern nicht ein¬
mal ihrer Aufmerkſamkeit werth gehalten hatten.


Mit welchen glaͤnzenden Traͤumen und Aus¬
ſichten in die Zukunft, dieß Reiſers Phantaſie er¬
fuͤllt habe, darf ich wohl nicht erſt ſagen. Ins¬
beſondre, da nun noch immer die geheimnißvollen
Winke bei dem Garniſonkuͤſter und die Zuruͤck¬
haltung des Paſtor M. . . fortdauerte, womit er
Reiſern etwas wichtiges zu verſchweigen ſchien. —


Endlich kam es denn heraus, daß der Prinz
. . . auf Empfehlung des Paſtor M. . . ſich
des jungen Reiſers annehmen, und ihm mo¬
nathlich . . . Rthlr. zu ſeinem Unterhalt ausſe¬
tzen wolle. — Alſo war nun Reiſer auf einmal
allen[17] allen ſeinen Beſorgniſſen wegen der Zukunft ent¬
riſſen, das ſuͤße Traumbild eines ſehnlich gewuͤnſch¬
ten, aber nie gehoften Gluͤckes, war ehe er es ſich
verſehn, wirklich geworden, und er konnte nun
ſeinen angenehmſten Phantaſien nachhaͤngen, ohne
zu fuͤrchten, daß er durch Mangel und Armuth
darinn geſtoͤrt werden wuͤrde. ---


Sein Herz ergoß ſich wirklich in Dank gegen
die Vorſehung. — Kein Abend gieng hin, wo er
nicht den Prinzen und den Paſtor M. . . in ſein
Abendgebet mit eingeſchloſſen haͤtte --- und oft
vergoß er im Stillen Thraͤnen der Freude und des
Danks, wenn er dieſe gluͤckliche Wendung ſeines
Schickſals uͤberdachte.


Reiſers Vater hatte nun auch nichts weiter
gegen ſein Studieren einzuwenden, ſobald er hoͤr¬
te, daß es ihm nichts koſten ſollte. Und da uͤber¬
dem nun die Zeit heran kam, wo er ſeine kleine
Bedienung, an einem Ort ſechs Meilen von H. . .
antreten mußte, und ihm ſein Sohn alſo auf keine
Weiſe mehr zur Laſt fallen konnte. --- Allein nun
war die Frage, bei wem Reiſer nach der Abreiſe
ſeiner Eltern wohnen und eſſen ſollte. Der Pa¬
ſtor M. . . ſchien nicht geneigt zu ſeyn, ihn ganz zu
B[18] ſich ins Haus zu nehmen. Es mußte alſo drauf
gedacht werden, ihn irgendwo bei ordentlichen
Leuten unterzubringen. Und ein Hauboiſt Nah¬
mens F. . . vom Regiment des Prinzen . . . erbot
ſich von freien Stuͤcken dazu, Reiſern unentgeld¬
lich bei ſich wohnen zu laſſen. Ein Schuſter, bei
dem ſeine Eltern einmal im Hauſe gewohnt hat¬
ten, noch ein Hauboiſt, ein Hofmuſikus, ein
Garkoch, und ein Seidenſticker, erboten ſich je¬
der, ihm woͤchentlich einen Freitiſch zu geben.


Dieß verringerte Reiſers Freude in etwas wie¬
der, welcher glaubte, daß das, was der Prinz
fuͤr ihn hergab, zu ſeinem Unterhalt zureichen
wuͤrde, ohne daß er an fremden Tiſchen ſein Brodt
eſſen duͤrfte. Auch verringerte dieß ſeine Freude
nicht ohne Urſach, denn es ſetzte ihn in der Folge
oft in eine hoͤchſt peinliche und aͤngſtliche Lage, ſo
daß er oft im eigentlichen Verſtande ſein Brodt
mit Thraͤnen eſſen mußte. --- Denn alles beeifer¬
te ſich zwar, auf die Weiſe ihm Wohlthaten zu er¬
zeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht
[erworben] zu haben, uͤber ſeine Auffuͤhrung zu wa¬
chen, und ihm in Anſehung ſeines Betragens
Rath zu ertheilen, der dann immer ganz blind¬
[19] lings ſollte angenommen werden, wenn er ſeine
Wohlthaͤter nicht erzuͤrnen wollte. Nun war
Reiſer gerade von ſo viel Leuten, von ganz ver¬
ſchiedener Denkungsart, abhaͤngig, als ihm Frei¬
tiſche gaben, wo jeder drohte, ſeine Hand von
ihm abzuziehen, ſobald er ſeinem Rath nicht folg¬
te, der oft dem Rath eines andern Wohlthaͤters
geradezu widerſprach. Dem einen trug er ſein
Haar zu gut, dem andern zu ſchlecht friſirt, dem
einen gieng er zu ſchlecht, dem andern, fuͤr ei¬
nen Knaben der von Wohlthaten leben muͤſſe,
noch zu geputzt einher, --- und dergleichen unzaͤh¬
lige Demuͤthigungen und Herabwuͤrdigungen gab
es mehr, denen Reiſer durch den Genuß der Frei¬
tiſche ausgeſetzt war, und denen gewiß ein jeder jun¬
ger Menſch mehr oder weniger ausgeſetzt iſt, der
das Ungluͤck hat, auf Schulen durch Freitiſche
ſeinen Unterhalt zu ſuchen, und die Woche hin¬
durch von einen zum andern herumeſſen zu muͤſſen.


Dieß alles ahndete Reiſern dunkel, als die
Freitiſche insgeſammt fuͤr ihn angenommen, und
keine Wohlthat verſchmaͤht wurde, die ihm nur
irgend jemand erweiſen wollte. --- An dem guten
Willen aber pflegt es nie zu fehlen, wenn Leute
B 2[20] einem jungen Menſchen zum Studieren befoͤrder¬
lich ſeyn zu koͤnnen glauben — dieß erweckt einen
ganz beſondern Eifer — jeder denkt ſich dunkel,
wenn dieſer Mann einmal auf der Kanzel ſteht,
dann wird das auch mein Werk mit ſeyn. —
Es entſtand ein ordentlicher Wetteifer um Rei¬
ſern, und jeder auch der aͤrmſte wollte nun auf
einmal zum Wohlthaͤter an ihm werden, wie
denn ein armer Schuſter ſich erbot, ihm alle Son¬
tagabend einmal zu eſſen zu geben — dieß alles wur¬
de mit Freuden fuͤr ihn angenommen, und von
ſeine Eltern mit dem Haubolſten und deſſen Frau
uͤberrechneten, wie gluͤcklich er nun ſey, daß er alle
Tage in der Woche zu eſſen habe, und wie man
nun von den Gelde, was der Prinz hergebe, fuͤr
ihn ſparen koͤnne.


Ach, die glaͤnzenden Ausſichten, die ſich Rei¬
ſer von dem Gluͤck, das auf ihn wartete, gemacht
hatte, verdunkelten ſich nachher ſehr wieder. In¬
des dauerte doch der erſte angenehme Taumel,
in welchen ihn die thaͤtige Vorſorge und die Theil¬
nehmung ſo vieler Menſchen an ſeinem Schickſale
verſetzt hatte, noch eine Weile fort. —


[21]

Das große Feld der Wiſſenſchaften lag vor
ihm — ſein kuͤnftiger Fleiß, die nuͤtzlichſte An¬
wendung jeder Stunde bei ſeinem kuͤnftigen Stu¬
dieren war den ganzen Tag uͤber ſein einziger Ge¬
danke, und die Wonne die er darin finden, und
die erſtaunlichen Fortſchritte, die er nun thun,
und ſich Ruhm und Beifall dadurch erwerben
wuͤrde: mit dieſen ſuͤßen Vorſtellungen ſtand er
auf, und gieng damit zu Bette — aber er wu߬
te nicht, daß ihm das Druͤckende und Erniedri¬
gende ſeiner aͤußern Lage dieß Vergnuͤgen ſo ſehr
verbittern wuͤrde. Anſtaͤndig genaͤhrt und geklei¬
det zu ſeyn, gehoͤrt ſchlechterdings dazu, [wenn]
ein junger Menſch zum Fleiß im Studieren Muth
behalten ſoll. Beides war bei Reiſern der Fall
nicht. Man wollte fuͤr ihn ſparen, und ließ ihn
waͤhrend der Zeit wirklich darben.


Seine Eltern reißten nun auch weg, und er
zog mit ſeinen wenigen Habſeeligkeiten bei dem
Haubolſten F. . . ein, deſſen Frau insbeſondre
ſich ſchon von ſeiner Kindheit an, ſeiner mit an¬
genommen hatte. — Es herrſchte bei dieſen Leu¬
ten, die keine Kinder hatten, die groͤßte Ordnung
in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche viel¬
B 3[22] leicht nur irgendwo ſtatt finden kann. Da war
nichts, keine Buͤrſte und keine Scheere, was
nicht ſeit Jahren ſeinen beſtimmten angewieſenen
Platz gehabt haͤtte. Da war kein Morgen, der
anbrach, wo nicht um acht Uhr Kaffee getrun¬
ken, und um neun Uhr der Morgenſeegen geleſen
worden waͤre, welches allemal knieend geſchahe,
indes die Frau F. . . aus dem Benjamin Schmolke
vorlaß, wobei denn Reiſer auch mit knieen mußte.
Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art
indem jeder vor ſeinem Stuhle kniete, auch der
Abendſeegen aus dem Schmolke geleſen, und dann
zu Bette gegangen. Dies war die unverbruͤchli¬
che Ordnung, welche von dieſen Leuten ſchon ſeit
beinahe zwanzig Jahren, wo ſie auch beſtaͤndig
auf derſelben Stube gewohnt hatten, war beob¬
achtet worden. Und ſie waren gewiß dabei ſehr
gluͤcklich, aber ſie durften auch ſchlechterdings
durch nichts darin geſtoͤrt werden, wenn nicht zu¬
gleich ihre innre Zufriedenheit, die groͤſtentheils
auf dieſe unverbruͤchliche Ordnung gebaut war,
mit darunter leiden ſollte. Dieß hatten ſie nicht
recht erwogen, da ſie ſich entſchloſſen, ihre Stu¬
bengeſellſchaft mit jemanden zu vermehren, der
[23] ſich unmoͤglich auf einmal in ihre ſeit zwanzig
Jahren etablirte Ordnung, die ihnen ſchon zur
andern Natur geworden war, gaͤnzlich fuͤgen
konnte.


Es konnte alſo nicht fehlen, daß es ihnen bald
zu gereuen anfieng, daß ſie ſich ſelbſt eine Laſt
aufgebuͤrdet hatten, die ihnen ſchwerer wurde,
als ſie glaubten. Weil ſie nur eine Stube und
eine Kammer hatten, ſo mußte Reiſer in der
Wohnſtube ſchlafen, welches ihnen nun alle Mor¬
gen, ſo oft ſie herein traten, einen unvermuthe¬
ten Anblick von Unordnung machte, deſſen ſie nicht
gewohnt waren, und der ſie wirklich in ihrer Zu¬
friedenheit ſtoͤrte. — Anton merkte dieß bald,
und der Gedanke, laͤſtig zu ſeyn, war ihm ſo aͤng¬
ſtigend und peinlich, daß er ſich oft kaum zu hu¬
ſten getrauete, wenn er an den Blicken ſeiner
Wohlthaͤter ſahe, daß er ihnen im Grunde [zur]
Laſt war. — Denn er mußte doch ſeine wenigen
Sachen nun irgendwo hinlegen, und wo er ſie hin¬
legte, da ſtoͤrten ſie gewiſſermaßen die Ordnung,
weil jeder Fleck hier nun ſchon einmal beſtimmt
war. — Und doch war es ihm nun unmoͤglich,
ſich aus dieſer peinlichen Lage wieder herauszu¬
B 4[24] wickeln. — Dieß alles zuſammengenommen ver¬
ſetzte ihn oft Stundenlang in eine unbeſchreibli¬
che Wehmuth, die er ſich damals ſelber nicht zu
erklaͤren wußte, und ſie anfaͤnglich bloß der Un¬
gewohnheit ſeines neuen Aufenthaltes zuſchrieb.


Allein es war nichts als der demuͤthigende
Gedanke des Laͤſtigſeyns, der ihn ſo danieder
druckte. Hatte er gleich bei ſeinen Eltern, und
bei dem Hutmacher L. . . auch nicht viel Freude
gehabt, ſo hatte er doch ein gewiſſes Recht da
zu ſeyn. Bei jenen, weil es ſeine Eltern waren,
und bei dieſem, weil er arbeitete. — Hier aber
war der Stuhl worauf er ſaß eine Wohlthat. —
Moͤchten dieß doch alle diejenigen erwaͤgen, wel¬
che irgend jemanden Wohlthaten erzeigen wollen,
und ſich vorher recht pruͤfen, ob ſie ſich auch ſo
dabei nehmen werden, daß ihre gutgemeinte Ent¬
ſchließung dem Beduͤrftigen nie zur Quaal gereiche.


Das Jahr, welches Reiſer in dieſer Lage zu¬
brachte, war, obgleich jeder ihn gluͤcklich prieß,
in einzelnen Stunden und Augenblicken, eines
der qualvollſten ſeines Lebens.


Reiſer haͤtte ſich vielleicht ſeinen Zuſtand an¬
genehmer machen koͤnnen, haͤtte er des nur ge¬
[25] habt, was man bei manchen jungen Leuten ein
inſinuantes Weſen nennt. Allein zu einem ſol¬
chen inſinuanten Weſen gehoͤrt ein gewiſſes Selbſt¬
zutrauen, das ihm von Kindheit auf war benom¬
men worden; um ſich gefaͤllig zu machen, muß
man vorher den Gedanken haben, daß man auch
gefallen koͤnne. — Reiſers Selbſtzutrauen mu߬
te erſt durch zuvorkommende Guͤte geweckt wer¬
den, ehe er es wagte, ſich beliebt zu machen. —
Und wo er nur einen Schein von Unzufrieden¬
heit andrer mit ihm bemerkte, da war er ſehr
geneigt, an der Moͤglichkeit zu verzweifeln, je¬
mals ein Gegenſtand ihrer Liebe oder ihrer Ach¬
tung zu werden. Darum gehoͤrte gewiß ein groſ¬
ſer Grad von Anſtrengung bei ihm dazu, ſich ſel¬
ber Perſonen als einen Gegenſtand ihrer Auf¬
merkſamkeit vorzuſtellen, von denen er noch nicht
wußte, wie ſie ſeine Zudringlichkeit aufnehmen
wuͤrden.


Seine Baaſe prophezeite ihm ſehr oft, wie
ihm der Mangel jenes inſinuanten Weſens an
ſeinem Fortkommen in der Welt ſchaden wuͤrde.
Sie lehrte ihn, wie er mit der Frau F. . . ſpre¬
chen, und ihr ſagen ſolle: „liebe Frau F. . ., ſeyn
B 5[26] Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und
Mutter bin, ich will Sie auch ſo lieb haben, wie
eine Mutter“. — Allein wenn Reiſer derglei¬
chen ſagen wollte, ſo war, als ob ihm die Worte
im Munde erſtarben; es wuͤrde hoͤchſt ungeſchickt
herausgekommen ſeyn, wenn er ſo etwas haͤtte
ſagen wollen. — Dergleichen zaͤrtliche Ausdruͤcke
waren nie durch zuvorkommendes, guͤtiges Be¬
tragen irgend eines Menſchen gegen ihn, aus
ſeinem Munde hervorgelockt worden; ſeine Zunge
hatte keine Geſchmeidigkeit dazu. — Er konnte
den Rath ſeiner Baſe unmoͤglich befolgen. Wenn
ſein Herz voll war, ſo ſuchte er ſchon Ausdruͤcke,
wo er ſie auch fand. Aber die Sprache der
feinen Lebensart hatte er freilich nie reden geler¬
net. — Was man inſinuantes Weſen nennt,
waͤre auch bei ihm die kriechendſte Schmeichelei
geweſen.


Indes war nun die Zeit herangekommen, wo
Reiſer konfirmirt werden, und in der Kirche oͤf¬
fentlich ſein Glaubensbekenntniß ablegen ſollte,
— eine große Nahrung fuͤr ſeine Eitelkeit — er
dachte ſich die verſammelten Menſchen, ſich als
den erſten, unter ſeinen Mitſchuͤlern, der alle
[27] Aufmerkſamkeit bei ſeinen Antworten vorzuͤglich
auf ſich ziehen wuͤrde, durch Stimme, Bewe¬
gung und Miene. — Der Tag erſchien, und
Reiſer erwachte wie ein roͤmiſcher Feldherr er¬
wacht ſeyn mag, dem an dem Tage ein Tri¬
umph bevorſtand. — Er wurde bei ſeinem Vet¬
ter den Peruckenmacher hoch friſirt, und trug
einen blaͤulichen Rock und ſchwarze Unterkleider,
eine Tracht, die der geiſtlichen gewiſſermaaßen
ſich ſchon am meiſten naͤherte.


Aber ſo wie der Triumph des groͤßten Feld¬
herrn zuweilen durch unerwartete Demuͤthigun¬
gen verbittert wurde, daß er ihn nur halb genieſ¬
ſen konnte; ſo gieng es auch Reiſern an dieſem
Tage ſeines Ruhms und ſeines Glanzes. — Sei¬
ne Freitiſche nahmen mit dieſem Tage ihren An¬
fang — er hatte den erſten des Mittags bei dem
Garniſonkuͤſter, und den andern des Abends bei
dem armen Schuſter — und obgleich der Garni¬
ſonkuͤſter ein Mann war, der das großmuthigſte
Herz beſaß, und Reiſern ſeinen Lebenslauf er¬
zaͤhlte, wie er auch erſt als ein armer Schuͤler
ins Chor gegangen ſey, aber ſchon in ſeinem ſieb¬
zehnten Jahre den blauen Mantel mit dem ſchwar¬
[28] zen vertauſcht habe — ſo war doch die Frau deſ¬
ſelben der Neid und die Mißgunſt ſelber, und je¬
der ihrer Blicke vergiftete Reiſern den Biſſen,
den er in den Mund ſteckte. Sie lies es ſich
zwar am erſten Tage nicht ſo ſehr, wie nachher,
aber doch ſtark genug merken, daß Reiſer nie¬
dergeſchlagenen Herzens, ohne ſelbſt recht zu wiſ¬
ſen, woruͤber, zur Kirche gieng, und die Freude,
die er ſich an dieſem ſehnlich gewuͤnſchten Tage
verſprochen hatte, nur halb empfand. — Er
ſollte nun hingehn, um ſein Glaubensbekenntniß
auf gewiſſe Weiſe zn beſchwoͤren. —


Dieß dachte er ſich, und ihm fiel dabei ein,
daß ſein Vater vor einiger Zeit zu Hauſe erzaͤhlt
hatte, wie er wegen ſeines Dienſtes vereidet wor¬
den war, daß er nichts weniger, als gleich¬
guͤltig
dabei geweſen ſey — und Reiſer ſchien
ſich, da er zur Kirche gieng, gegen den Eid, den
er ablegen ſollte, gleichguͤltig zu ſeyn. — Aus
dem Unterricht, den er in der Religion bekom¬
men, hatte er ſehr hohe Begriffe vom Eide, und
hielt dieſe Gleichguͤltigkeit an ſich fuͤr hoͤchſt ſtraf¬
bar. Er zwang ſich alſo nicht gleichguͤltig, ſon¬
dern geruͤhrt und ernſthaft zu ſeyn, bei dieſem
[29] wichtigen Schritte, und war mit ſich ſelber un¬
zufrieden, daß er nicht noch weit geruͤhrter war;
aber die Blicke der Frau des Garniſonkuͤſters wa¬
ren es, welche alle ſanfte und angenehme Empfin¬
dungen aus ſeinem Herzen weggeſcheucht hatten.


Er konnte ſich doch nicht recht freuen, weil
niemand war, der an ſeiner Freude recht nahen
Antheil nahm, weil er dachte, daß er auch ſelbſt
an dieſem Tage an fremden Tiſchen eſſen mußte.
Da er indes in die Kirche kam, und nun vor den
Altar trat, und oben an in der Reihe ſtand, ſo
erwaͤrmete das alles zwar wieder ſeine Phantaſie
— aber es war doch lange das nicht, was er ſich
verſprochen hatte. — Und gerade das wichtig¬
ſte und feierlichſte, die Ablegung des Glaubens¬
bekenntniſſes, welches einer im Nahmen der uͤbri¬
gen thun mußte, kam nicht an ihn, und er hatte
ſich doch ſchon viele Tage vorher auf Miene, Be¬
wegung, und Ton geuͤbt, womit er es ablegen
wollte.


Er dachte, der Paſtor M... wuͤrde ihn etwa
den Nachmittag zu ſich kommen laſſen, aber er
ließ ihn nicht zu ſich kommen — und waͤhrend,
daß ſeine Mitſchuͤler nun zu Hauſe giengen, und
[30] der zaͤrtlichen Bewillkommung ihrer Eltern ent¬
gegen ſahn, gieng Reiſer einſam und verlaſſen
auf der Straße umher, wo ihn der Direktor des
Lyceums begegnete, der ihn anredete, und fragte,
ob er nicht Reiſerus hieße? — und als Reiſer
mit Ja antwortete, ihm freundlich die Hand
druckte; und ſagte, er habe ſchon durch den Pa¬
ſtor M... viel Gutes von ihm gehoͤrt, und wuͤr¬
de bald naͤher mit ihm bekannt werden.


Welche unerwartete Aufmunterung fuͤr ihn,
daß dieſer Mann, den er ſchon oft mit tiefer Ehr¬
furcht betrachtet hatte, ihn auf der Straße an¬
zureden wuͤrdigte, und ihn Reiſerus nannte.


Der Direktor B. . . war wirklich ein Mann,
welcher einem jeden der ihn ſahe, Ehrfurcht und
Liebe einzufloͤßen im Stande war. Er kleidete
ſich zierlich, und doch anſtaͤndig, trug ſich edel,
war wohlgebildet, hatte die heiterſte Miene, wor¬
inn ihm ſo oft er wollte, der ſtrengſte Ernſt zu
Gebote ſtand. Er war ein Schulmann, gerade
wie er ſeyn ſollte, um von dieſem Stande die
Verachtung der feinen Welt, womit die gewoͤhn¬
liche Pedanterie deſſelben belegt iſt, abzuwaͤlzen.


[31]

Wie es nun kam, daß er Reiſern Reiſerus
nannte, mag der Himmel wiſſen, gnug er nann¬
te ihn ſo, und es ſchmeichelte Reiſern nicht we¬
nig, auf die Weiſe ſeinen Nahmen zum erſten¬
mal in us umgetauft zu ſehen. — Da er mit die¬
ſer Endigung der Nahmen immer die Idee von
Wuͤrde und einer erſtaunenswuͤrdigen Gelehr¬
ſamkeit verknuͤpft hatte, und ſich nun ſchon im
Geiſte den gelehrten und beruͤhmten Neiſerus
nennen hoͤrte.


Dieſe Benennung, womit er ſo zufaͤlliger
Weiſe von dem Direktor B. . . beehrt wurde, iſt
ihm nachher auch oft wieder eingefallen, und
manchmal mit ein Sporn zum Fleiße geweſen;
denn mit dem us an ſeinem Nahmen erwachte auf
einmal die ganze Reihe von Vorſtellungen, einmal
ein beruͤhmter Gelehrter zu werden, wie Eraſmus
Roterodamus, und andere, deren Lebensbeſchrei¬
bungen er zum Theil geleſen, und ihre Bildniſſe
in Kupfer geſtochen geſehen hatte.


Am Abend gieng er nun zu dem armen Schu¬
ſter, und wurde wenigſtens mit freundlichern Bli¬
cken, als von der Frau des Garniſonkuͤſters, em¬
pfangen. Der Schuſter Heidorn, ſo hieß ſein
[32] Wohlthaͤter, hatte die Schriften des Taulerus
und andre dergleichen geleſen, und redete daher
eine Art von Buͤcherſprache, wobei er manchmal
einen gewiſſen predigenden Ton annahm. Ge¬
meiniglich citirte er einen gewiſſen Periander,
wenn er etwas behauptete, als: der Menſch muß
ſich nur Gott hingeben, ſagt Periander — und
ſo ſagte alles, was der Schuſter Heidorn ſagte,
auch dieſer Periander, der im Grunde nichts als
eine allegoriſche Perſon war, die in Bunians
Chriſtenreiſe oder ſonſt irgendwo vorkommt.
Aber Reiſern klang der Nahme Periander ſo
ſuͤß in ſeinen Ohren. — Er dachte ſich dabei et¬
was Erhabenes, Geheimnißvolles, und hoͤrte den
Schuſter Heidorn immer gern von Periandern
ſprechen.


Der gute Heidorn hatte ihn aber etwas zu
ſpaͤt aufgehalten, und als er zu Hauſe kam, hat¬
ten ſein Wirth und ſeine Wirthin ihren Abend¬
ſegen geleſen, und nicht unmittelbar darauf zu
Bette gehen koͤnnen, welches ſeit Jahren nicht
geſchehen ſeyn mochte. Dieß war denn Urſach,
daß Reiſer ziemlich kalt und finſter empfangen
wurde, und ſich von dieſem Tage, dem er ſo lange
voll[33] voll ſehnlicher Erwartung entgegen geſehen hatte,
mit traurigem Herzen [niederlegen] mußte.


Dieſe Woche mußte er nun zum erſtenmale
herumeſſen, und machte am Montage bei dem
Garkoch den Anfang, wo er ſein [Eſſen] unter den
uͤbrigen Leuten, die bezahlten, bekam, und man
ſich weiter nicht um ihn bekuͤmmerte. — Dieß
war, was er wuͤnſchte, und er gieng immer mit
leichterem Herze hieher.


Den Dienſtag Mittag gieng er zu dem Schu¬
ſter S., wo ſeine Eltern im Hauſe gewohnt hat¬
ten, und wurde auf das liebreichſte und freund¬
lichſte empfangen. Die guten Leute hatten ihn,
als ein kleines Kind gekannt, und die alte Mutter
des Schuſter S. . . hatte immer geſagt, aus dem
Jungen wuͤrd noch einmal etwas — und nun freu¬
te ſie ſich, daß ihre Prophezeiung einzutreffen
ſchien. Und wenn es Reiſer je nicht fuͤhlte, daß
er fremdes Brodt aß, ſo war es an dieſem gaſt¬
freundlichen Tiſche, wo er oft nachher ſeines Kum¬
mers vergeſſen hat, und mit heitrer Miene wie¬
der weggieng, wenn er traurig hingegangen war.
Denn mit dem Schuſter S. . . vertiefte er ſich im¬
mer in philoſophiſche Geſpraͤchen, bis die alte
C[34] Mutter ſagte: nun Kinder, ſo hoͤrt doch einmal
auf, und laßt das liebe Eſſen nicht kalt werden!
O, was war der Schuſter S. . . fuͤr ein Mann! von
ihm konnte man mit Wahrheit ſagen, daß er vom
Lehrſtuhle die Koͤpfe der Leute haͤtte bilden ſollen,
denen er Schuh machte. — Er und Reiſer kamen
oft in ihren Geſpraͤchen, ohne alle Anleitung, auf
Dinge, die Reiſer nachher als die tiefſte Weisheit
in den Vorleſungen uͤber die Metaphyſik wieder
hoͤrte, und er hatte oft ſchon Stundenlang mit dem
Schuſter S. . . daruͤber geſprochen. — Denn ſie
waren ganz von ſelbſt auf die Entwickelung der
Begriffe von Raum und Zeit, von ſubjektiviſcher
und objektiviſcher Welt, u. ſ. w. gekommen, ohne
die Schulterminologie zu wiſſen, ſie halfen ſich
denn mit der Sprache des gemeinen Lebens ſo gut
ſie konnten, welches oft ſonderbar genug heraus
kam, — kurz bei den Schuſter S. . . vergaß Rei¬
ſer alles. Unangenehme ſeines Zuſtandes, er fuͤhlte
ſich hier gleichſam in die hoͤhere Geiſterwelt ver¬
ſetzt, und ſein Weſen wieder veredelt, weil er je¬
manden fand, mit dem er ſich verſtehn, und
Gedanken gegen Gedanken wechſeln konnte.
Die Stunden, welche er hier bei den Freunden
[35] ſeiner Kindheit und ſeiner Jugend zubrachte, wa¬
ren gewiß damals die angenehmſten ſeines Lebens.
Hier war es allein, wo er ſich mit voͤlligem Zu¬
trauen gewiſſermaßen, wie zu Hauſe fuͤhlte.


Am Mittwoch aß er denn bei ſeinem Wirth,
wo das wenige, was er genoß, ſo gut es auch
dieſe Leute uͤbrigens mit ihm meinen mochten, ihm
doch faſt jedesmal ſo verbittert wurde, daß er ſich
vor dieſem Tage faſt mehr, wie vor allen andern
fuͤrchtete. Denn an dieſem Mittage pflegte ſeine
Wohlthaͤterinn die Frau F... immer nicht gera¬
dezu, ſondern nur in gewiſſen Anſpielungen, in¬
dem ſie zu ihrem Manne ſprach, Reiſers Betra¬
gen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen ſei¬
ne Wohlthaͤter einzuſchaͤrfen, und etwas von Leu¬
ten mit einfließen laſſen, die ſich angewoͤhnt haͤt¬
ten ſehr viel zu eſſen, und am Ende gar nicht
mehr zu ſaͤttigen geweſen waͤren. — Reiſer hatte
damals, da er in ſeinem vollen Wachsthum war,
wuͤrklich ſehr guten Appetit, allein mit Zittern
ſteckte er jeden Biſſen in den Mund, wenn er
dergleichen Anſpielungen hoͤrte. Bei der Frau
F... geſchahe es nun wirklich nicht ſowohl aus
Geiz oder Neid, daß ſie dergleichen Anſpielungen
C 2[36] machte, ſondern aus dem feinen Gefuͤhl von Ord¬
nung, welches dadurch beleidiget wurde, wenn
jemand, ihrer Meinung nach, zu viel aß. — Sie
pflegte denn auch wohl von Gnadenbruͤnlein und
Gnadenquellen zu reden, die ſich verſtopften,
wenn man nicht mit Maͤßigkeit daraus ſchoͤpfte.


Die Frau des Hofmuſikus, welche ihm am
Donnerſtage zu eſſen gab, war zwar dabei etwas
rauh in ihrem Betragen, quaͤlte ihn aber doch
dadurch lange nicht ſo, als die Frau F. . . mit
aller ihrer Feinheit. — Am Freitage aber hatte
er wieder einen ſehr ſchlimmen Tag, indem er
bei Leuten aß, die es ihn nicht durch Anſpielun¬
gen, ſondern auf eine ziemlich grobe Art fuͤhlen
ließen, daß ſie ſeine Wohlthaͤter waren. Sie
hatten ihn auch noch als Kind gekannt, und nann¬
ten ihn nicht auf eine zaͤrtliche ſondern veraͤchtli¬
che Weiſe bei ſeinem Vornahmen Anton, da er
doch anfieng, ſich unter die erwachſenen Leute
zu zaͤhlen. Kurz dieſe Leute behandelten ihn ſo,
daß er den ganzen Freitag uͤber mißmuͤthig und
und traurig zu ſeyn pflegte, und zu nichts recht
Luſt hatte, ohne oft zu wiſſen woruͤber, es war
aber daruͤber, daß er den Mittag der erniedri¬
[37] genden Begegnung dieſer Leute ausgeſetzt war,
deren Wohlthat er ſich doch nothwendig wieder
gefallen laſſen mußte, wenn es ihm nicht, als
der unverzeihlichſte Stolz ſollte ausgelegt wer¬
den. — Am Sonnabend aß er denn bei ſeinem
Vetter dem Peruquenmacher, wo er eine Kleinig¬
keit bezahlte, und mit frohem Herzen aß, und
den Sontag wider bei dem Garniſonkuͤſter.


Dieß Verzeichniß von Reiſers Freitiſchen, und
den Perſonen, die ſie ihm gaben, iſt gewiß nicht
ſo unwichtig, wie es manchem vielleicht beim er¬
ſten Anblick ſcheinen mag — dergleichen klein¬
ſcheinende Umſtaͤnde ſind es eben, die das Leben
ausmachen, und auf die Gemuͤthsbeſchaffenheit
eines Menſchen den ſtaͤrkſten Einfluß haben. —
Es kam bei Reiſers Fleiß und ſeinen Fortſchritten,
die er an irgend einem Tage thun ſollte, ſehr viel
darauf an, was er fuͤr eine Ausſicht auf den fol¬
genden Tag hatte, ob er gerade bei dem Schu¬
ſter S..., oder bei der Frau F..., oder dem Gar¬
niſonkuͤſter eſſen mußte. Aus dieſer ſeiner taͤglichen
Situation nun wird ſich groͤßtentheils ſein nach¬
heriges Betragen erklaͤren laſſen, welches ſonſt
C 3[38] ſehr oft mit ſeinem Charakter widerſprechend ſchei¬
nen wuͤrde.


Ein großer Vortheil wuͤrde es fuͤr Reiſern ge¬
weſen ſeyn, wenn ihn der Paſtor M. . . woͤchent¬
lich einmal haͤtte bei ſich eſſen laſſen. Aber dieſer
gab ihm ſtatt deſſen einen ſogenannten Geldtiſch
ſo wie auch der Seidenſticker; von dieſen weni¬
gen Groſchen nun mußte Reiſer woͤchentlich ſein
Fruͤhſtuͤck und Abendbrodt beſtreiten. So hatte
die Frau F. . . es angeordnet. Denn was der
Prinz hergab, ſollte alles fuͤr ihn geſpart werden.
Sein Fruͤhſtuͤck beſtand alſo in ein wenig Thee,
und einem Stuͤck Brodt, und ſein Abendeſſen in
ein wenig Brodt und Butter und Salz. Dann
ſagte die Frau F. . . er muͤſſe ſich ans Mittagseſſen
halten, doch aber, gab ſie ihm zu verſtehen, daß
er ſich ja huͤten muͤſſe, ſich zu uͤbereſſen.


So war nun Reiſers Oekonomie eingerichtet,
was ſeinen Unterhalt anbetraf. Aber auch zu
ſeiner Kleidung wurde nicht einmal von dem Gel¬
de, was der Prinz fuͤr ihn hergab, etwas genom¬
men, ſondern ein alter grober rother Soldaten¬
rock fuͤr ihn gekauft, der ihm zurechtgemacht wur¬
de, und womit er nun die oͤffentliche Schule be¬
[39] ſuchen ſollte, in welcher nun auch der alleraͤrmſte
beſſer als er gekleidet war, ein Umſtand, der nicht
wenig dazu beitrug, gleich anfaͤnglich ſeinen Muth
in etwas niederzuſchlagen.


Dazu kam nun noch, daß er das Kommis¬
brodt, welches der Hauboiſt F. . . empfing, hoh¬
len, und unter den Armen durch die Stadt tra¬
gen mußte, welches er zwar, wenn es irgend
moͤglich war, in der Daͤmmerung that, aber es
ſich doch auf keine Weiſe durfte merken laſſen, daß
er ſich dieß zu thun ſchaͤme, wenn es ihm nicht
ebenfalls als ein unverzeihlicher Stolz ſollte aus¬
gelegt werden; denn von dieſem Brodte wurde
ihm ſelbſt woͤchentlich eins fuͤr ein geringes Geld
uͤberlaſſen, wovon er denn ſein Fruͤhſtuͤck und ſei¬
nen Abendtiſch beſtreiten mußte.


Gegen dieß alles durfte er ſich nun nicht im
mindeſten auflehnen, weil der Paſtor M. . . in
die Einſichten der Frau F. . ., was Reiſers Er¬
ziehung und die Einrichtung ſeiner Lebensart an
betraf, ein unbegraͤnztes Zutrauen ſetzte. In
derſelben Woche machte er auch noch ſeinen Be¬
ſuch bei dieſen Leuten, und dankte ihnen, daß ſie
die naͤhere Aufſicht uͤber Reiſern haͤtten uͤberneh¬
E4[40] men wollen, den er nun voͤllig ihrer Sorgfalt
anvertraute. Reiſer ſaß dabei halbtraurig am
Ofen, ob er gleich nicht gerne undankbar fuͤr die
Vorſorge des Paſtor M. . . ſeyn wollte. Aber
er hing nun von dieſem Augenblick an, ganz und
gar von Leuten ab, bei denen er die wenigen Ta¬
ge ſchon in einem ſo peinlichen Zuſtande zugebracht
hatte. Bei aller dieſer anſcheinenden Guͤte, die
ihm erwieſen wurde, konnte er ſich nie recht freuen,
ſondern war immer aͤngſtlich und verlegen, weil
ihm jede auch die kleinſte Unzufriedenheit, die
man ihm merken ließ, doppelt kraͤnkend war ſo¬
bald er bedachte, daß ſelbſt der eigentliche Fleck
ſeines Daſeyns, das Obdach, deſſen er ſich er¬
freute, bloß von der Guͤte ſo ſehr empfindlicher
und leicht zu beleidigender Perſonen abhing, als
F. . . und noch weit mehr ſeine Frau war.


Bei dem allen war ihm nun doch der Gedan¬
ke aufmunternd, daß er in der kuͤnftigen Wo¬
che, die ſogenannte hohe Schule zu beſuchen an¬
fangen ſollte. Das war ſo lange ſein ſehnlichſter
Wunſch geweſen. Wie oft hatte er mit Ehr¬
furcht, das große Schulgebaͤude mit der hohen
ſteinern Treppe vor demſelben, angeſtaunt, wenn
[41] er uͤber den Marktkirchhof gieng. — Stunden¬
lang ſtand er oft, ob er etwa durch die Fenſter
etwas, von dem, was inwendig vorgieng, erbli¬
cken koͤnnte. Nun ſchimmerte von dem großen
Katheder in Prima zufaͤlliger Weiſe ein Theil
durch das Fenſter — wie mahlte ſich ſeine Phan¬
taſie das aus! Wie oft traͤumte ihm des Nachts
von dieſem Katheder, und von langen Reihen von
Baͤnken, wo die gluͤcklichen Schuͤler der Wei߬
heit ſaßen, in deren Geſellſchaft er nun bald ſoll¬
te aufgenommen werden.


So beſtanden von ſeiner Kindheit auf ſeine
eigentlichen Vergnuͤgungen groͤßtentheils in der
Einbildungskraft, und er wurde dadurch einiger¬
maßen fuͤr den Mangel der wirklichen Jugend¬
freuden, die andre in vollem Maße genießen,
ſchadloß gehalten. — Dicht neben der Schule
fuͤhrten zwei lange Gaͤnge nach den nebeneinan¬
der gebauten Prieſterhaͤuſern. Die machten ihm
einen ſo ehrwuͤrdigen Proſpekt, daß das Bild
davon nebſt dem Schulgebaͤude Tag und Nacht
das herrſchende in ſeiner Seele war — und denn
die Benennung, hohe Schule, welche unter
gemeinen Leuten im Gebrauch war, und der Aus¬
C 5[42] druck, hohe Schuͤler, welchen er ebenfalls oft
gehoͤrt hatte, machten, daß ihm ſeine Beſtim¬
mung, dieſe Schule zu beſuchen, immer wichti¬
ger und groͤßer vorkam.


Der Zeitpunkt, wo dieß geſchehen! ſollte,
war nun da, und mit klopfenden Herzen erwar¬
tete er den Augenblick wo ihn der Direktor B. . .
in einen dieſer Hoͤrſaͤle der Weisheit fuͤhren wuͤr¬
de. Er wurde von dem Direktor gepruͤft, und
tuͤchtig befunden, in die zweyte Klaſſe geſetzt zu
werden. Die mit einer natuͤrlichen Wuͤrde ver¬
knuͤpfte Freundlichkeit, womit ihn dieſer Mann
zuerſt mein lieber Reiſer! nannte, ging ihm durch
die Seele, und floͤßte ihm das innigſte Zutrauen
verbunden mit einer unbegraͤnzten Ehrfurcht ge¬
gen den Direktor ein. O was vermag ein Schul¬
mann uͤber die Herzen junger Leute, wenn er ge¬
rade ſo wie der Direktor B. . . den rechten Ton
einer durch Leutſeligkeit gemilderten Wuͤrde in
ſeinem Betragen zu treffen weiß!


Den Sontag nach der Konfirmation, ging
nun Reiſer zuerſt zum Abendmahl, und ſuchte
nun aufs gewiſſenhafteſte die Lehren in Ausuͤbung
zu bringen, welche er ſich daruͤber aufgeſchrieben
[43] und auswendig gelernt hatte, als die vorherge¬
hende Pruͤfung nach dem Buß - und Suͤndenſpie¬
gel, und dann das Hinzutreten zum Altar mit ei¬
nem freudigen Zittern
. — Er ſuchte ſich auf
alle Weiſe in eine ſolche Art von freudigen Zit¬
tern zu verſetzen: es wollte ihm aber nicht gelin¬
gen, und er machte ſich ſelbſt die bitterſten Vor¬
wuͤrfe daruͤber, daß ſein Herz ſo verhaͤrtet war.
Endlich fing er vor Kaͤlte an zu zittern, und dieß
beruhigte ihn einigermaßen.


Allein die himmliſche Empfindung und das
ſelige Gefuͤhl, das ihm nun dieſe Seelenſpeiſe
gewaͤhren ſollte, alles das empfand er nicht —
er ſchrieb aber die Schuld davon bloß ſeinem eige¬
nen verſtockten Herzen zu, und quaͤlte ſich ſelbſt
uͤber den Zuſtand der Gleichguͤltigkeit, worin er
ſich fuͤhlte.


Am meiſten ſchmerzte es ihn, daß er nicht
recht zur Erkenntniß ſeines Suͤndenelendes kom¬
men konnte, welches doch zur Heilsordnung noͤ¬
thig war. Auch hatte er den Tag vorher in einer
auswendig gelernten Beichte im Beichtſtuhl be¬
kennen muͤſſen, daß er leider viel und mannigfal¬
tig geſuͤndigt, mit Gedanken, Worten und Wer¬
[44] ken, mit Unterlaſſung des Guten und Begehung
des Boͤſen.


Die Suͤnden nun, deren er ſich ſchuldig glaub¬
te, waren vorzuͤglich Unterlaſſungsſuͤnden. Er
betete nicht andaͤchtig gnug, liebte Gott nicht eif¬
rig gnug, fuͤhlte nicht Dankbarkeit gnug gegen
ſeine Wohlthaͤter, und empfand [kein] freudiges
Zittern, da er zum Abendmahle gieng. — Diß
alles ging ihm nun nahe, aber er konnte es doch
mit Zwang nicht abhelfen, darum war es ihm
in ſo fern recht lieb, daß ihm fuͤr dieſe Verge¬
hungen von dem Paſtor M. . . die Abſolution er¬
theilet wurde.


Dabei blieb er aber doch immer mit ſich ſel¬
ber unzufrieden: denn zu der Gottſeligkeit und
Froͤmmigkeit rechnete er vorzuͤglich die Aufmerk¬
ſamkeit auf jeden ſeiner Schritte und Tritte, auf
jedes Laͤcheln, [und] auf jede Miene, auf jedes
Wort, das er ſprach, und auf jeden Gedanken,
den er dachte. — Dieſe Aufmerkſamkeit mußte
nun natuͤrlicher Weiſe ſehr oft unterbrochen wer¬
den, und konnte nicht wohl uͤber eine Stunde
in einem fortdauren — ſobald nun Reiſer ſeine
Zerſtreuung [merkte], ward er unzufrieden mit ſich
[45] ſelber, und hielt es am Ende beinahe fuͤr unmoͤg¬
lich, ein ordentlich gottſeliges und frommes Le¬
ben zu fuͤhren.


Die [Frau] F... hielt ihm an dem Tage, da er
zum Abendmahl gieng, eine lange Predigt uͤber
die boͤſen Luͤſte und Begierden, die in dieſem Alter
zu erwachen pflegten, und wogegen er nun kaͤm¬
pfen muͤſſe. Zum Gluͤck verſtand Reiſer nicht,
was ſie eigentlich damit meinte, und wagte es
auch nicht, ſich genauer darnach zu erkundigen,
ſondern nahm ſich nur feſt vor, wenn boͤſe Luͤſte
in ihm erwachen ſollten, ſie moͤchten [auch] ſeyn
von welcher Art ſie wollten, ritterlich dagegen
anzukaͤmpfen.


Er hatte bei ſeinem Religionsunterricht auf
dem Seminarium zwar ſchon von allerlei Suͤn¬
den gehoͤrt, wovon er ſich nie einen rechten Be¬
griff machen konnte, als von Sodomiterei, ſtum¬
me Suͤnden, und dem Laſter der Selbſtbefleckung,
welche alle bei der Erklaͤrung des ſechſten Gebots
genannt wurden, und die er ſich ſogar aufgeſchrie¬
ben hatte. Aber die Nahmen waren auch alles,
was er davon wußte; denn zum Gluͤck hatte der
Inſpektor dieſe Suͤnden mit ſo fuͤrchterlichen
[46] Farben gemahlt, daß ſich Reiſer ſchon vor der
Vorſtellung von dieſen ungeheuren Suͤnden ſelbſt
fuͤrchtete, und mit ſeinen Gedanken in das Dun¬
kel, welches ſie umhuͤllte, nicht tiefer einzudrin¬
gen wagte. — Ueberhaupt waren ſeine Begrif¬
fe von dem Urſprung des Menſchen noch ſehr
dunkel und verworren, ob er gleich nicht mehr
glaubte, daß der Storch die Kinder bringe. —
Seine Gedanken waren gewiß damals rein; denn
ein gewiſſes Gefuͤhl von Scham, daß ihm natuͤr¬
lich zu ſeyn ſchien, war Urſach, daß er we¬
der mit ſeinen Gedanken uͤber dergleichen Gegen¬
ſtaͤnden verweilte, noch ſich mit ſeinen Mitſchuͤ¬
lern und Bekannten daruͤber zu unterreden wag¬
te. Auch kamen ihm ſeine religioͤſen Begriffe
von Suͤnde wohl hiebei zu ſtatten. — Es war
ihm fuͤrchterlich genug, daß es wirklich derglei¬
chen Laſter, die er nur den Nahmen nach kannte,
in der Welt gab, geſchweige denn, daß er nur
einen Gedanken haͤtte haben ſollen, ſie naͤher ken¬
nen zu lernen.


Am Montag morgen introducirte ihn nun
der Direktor B. . . in [die] zweite Klaſſe des Lyce¬
ums, wo der Konrektor und der Kantor unter¬
[47] richteten. — Der Konrektor war zugleich Pre¬
diger, und Reiſer hatte ihn oft predigen hoͤren. —
Er war es eben, deſſen Art ſich in ſeinem Prie¬
ſterornat zu tragen, Reiſern beſonders gefiel, ſo
daß er dieſelbe mit einem gewiſſen Auf- und Nie¬
derbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen ſuch¬
te. Auch war der Paſtor G. . ., ſo hieß er, noch
ein ſehr junger, der Kantor hingegen war ein
alter und etwas hypochondriſcher Mann.


In der zweiten Klaſſe waren ſchon ziemlich
erwachſene junge Leute, und Reiſer bildete ſich
nicht wenig darauf ein, nun ein Sekundaner
zu ſeyn.


Die Lehrſtunden nahmen ihren Anfang: der
Konrektor lehrte die Theologie, die Geſchichte,
den lateiniſchen Stil, und das griechiſche neue
Teſtament. — Der Kantor den Katechismus,
die Geographie, und die lateiniſche Grammatik.
Des Morgens um 7 Uhr fingen die Stunden an,
und dauerten bis 10, und des Nachmittags um 1
Uhr fingen ſie wieder an, und dauerten bis um
4 Uhr. — Hier mußte nun alſo Reiſer nebſt zwan¬
zig bis dreißig andern jungen Leuten, einen groſ¬
ſen Theil ſeines damaligen Lebens zubringen. Es
[48] war alſo gewiß kein unwichtiger Umſtand, wie
dieſe Lehrſtunden eingerichtet waren.


Alle Morgen fruͤh wurde nach der vorgeſchrie¬
benen Ordnung zuerſt ein Kapitel aus der Bibel
geleſen, wie es jedesmal in der Reihe folgte, es
mochte nun ſo lang oder kurz ſeyn, wie es wollte.
Darauf wurde denn nach einer gewiſſen Heilsord¬
nung zweimal die Woche eine Art von Theologie
docirt, worinn z. B. die opera ad extra, und
die opera ad intra vorkamen, die vorzuͤglich ein¬
gepraͤgt wurden. Unter den erſtern wurden nehm¬
lich die Werke verſtanden, woran alle drei Perſo¬
nen in der Gottheit Theil nahmen, als die Schoͤ¬
pfung, Erloͤſung u. ſ. w. ob ſie gleich einer Perſon
vorzuͤglich zugeſchrieben werden; und unter den letz¬
tern wurde das verſtanden, wodurch ſich eine Per¬
ſon von der andern unterſchied, und was ihr nur
ganz allein zukommt, als die Zeugung des Soh¬
nes vom Vater, das Ausgehen des heiligen Gei¬
ſtes vom Vater und Sohn u. ſ. w. Reiſer hatte
dieſe Unterſchiede zwar ſchon auf dem Seminarium
gelernet, aber es freute ihn doch ſehr, daß er ſie
nun auch lateiniſch zu benennen wußte. Die
opera ad extra und die opera ad intra praͤgten
ſich[49] ſich ihm von den theologiſchen Unterricht am tief¬
ſten ein.


Zwei Stunden in der Woche trug der Konrek¬
tor eine Art von Univerſalgeſchichte nach dem
Holberg vor, und der Kantor lehrte die Geogra¬
phie nach dem Huͤbner. Das war der ganze wiſſen¬
ſchaftliche Unterricht. Alle uͤbrige Zeit wurde
auf die Erlernung der lateiniſchen Sprache ver¬
wandt. Dieſe war es denn auch allein, worinn
ſich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte.
Denn die Ordnung der Plaͤtze richtete ſich nur
nach der Geſchicklichkeit im Lateiniſchen.


Der Kantor hatte nun die Methode, daß er
uͤber eine Anzahl von Regeln aus der großen maͤr¬
kiſchen Grammatik woͤchentlich einen kleinen Auf¬
ſatz diktirte, der ins lateiniſche uͤberſetzt werden
mußte, und wo die Ausdruͤcke ſo gewaͤhlt waren,
daß immer gerade die jedesmaligen grammatika¬
liſchen Regeln darauf konnten angewandt werden.
Wer nun auf die Erklaͤrung derſelben am beſten
Acht gegeben hatte, der konnte auch ſein ſoge¬
nanntes Exercitium am beſten machen, und ſich
dadurch zu einem hoͤhern Platze hinaufarbeiten.


[50]

So ſonderbar nun auch die um des Lateini¬
ſchen Willen zuſammen geleſenen deutſchen Aus¬
druͤcke zuweilen klangen, ſo nuͤtzlich war doch im
Grunde dieſe Uebung, und ſolch einen Wetteifer er¬
regte ſie. — Denn binnen einem Jahre kam
Reiſer dadurch ſo weit, daß er ohne einen einzi¬
gen grammatikaliſchen Fehler Latein ſchrieb, und
ſich alſo in dieſer Sprache richtiger, als in der
deutſchen ausdruͤckte. Denn im lateiniſchen wu߬
te er, wo er den Akkuſativ und den Dativ ſetzen
mußte. Im Deutſchen aber hatte er nie daran
gedacht, daß mich z. B. der Akkuſativ und mir
der Dativ ſey, und daß man ſeine Mutterſpra¬
che eben ſo wie das Lateiniſche auch deklini¬
ren und konjugiren muͤſſen. — Indes faßte er
doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe, die er
nachher auf ſeine Mutterſprache anwenden konn¬
te, — Er fing allmaͤlig an, ſich deutliche Be¬
griffe von dem zu machen, was man Subſtanti¬
vum und Verbum nannte, welche er ſonſt noch
oft verwechſelte, wo ſie aneinander grenzten, als
z. B. gehn, und das Gehen. Weil aber der¬
gleichen Irrthuͤmer in der lateiniſchen Ausarbei¬
tung immer einen Fehler zu veranlaſſen pflegten,
[51] ſo wurde er beſtaͤndig aufmerkſamer darauf, und
lernte auch die feinern Unterſchiede zwiſchen den
Redetheilen und ihren Abaͤnderungen unvermerkt
einſehen; ſo daß er ſich nach einiger Zeit zuweilen
ſelbſt verwunderte, wie er vor kurzem noch ſolche
auffallende Fehler habe machen koͤnnen.


Der Kantor pflegte unter jede lateiniſche Aus¬
arbeitung, nachdem er an den Seiten mit rothen
Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte,
ſein vidi (ich habe es durchgeſehen) zu ſetzen. Da
nun Reiſer dieß vidi unter ſeinem erſten Exerci¬
tium ſahe, ſo glaubte er, es ſey diß ein Wort,
das er ſelbſt immer ans Ende der Ausarbeitung
ſchreiben muͤſſe, und deſſen Auslaſſung ihm der
Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe.
Er ſchrieb alſo mit eigner Hand unter ſein zwei¬
tes Exercitium vidi, woruͤber der Kantor und
ſein Sohn, der dabey war, laut auflachten, und
ihm erklaͤrten, was es hieße. — Auf einmal
ſahe nun Reiſer ſeinen Irrthum, und konnte
nicht begreifen, wie er nicht ſelbſt auf die richtige
Erklaͤrung des vidi gefallen ſey, da er doch ſonſt
wohl wußte, was vidi hieß.


[52]

Es war ihm, als ob er mit Beſchaͤmung aus
einer Art von Dummheit erwachte, die ihm an¬
gewandelt hatte. Und er wurde auf einige Au¬
genblicke faſt eben ſo niedergeſchlagen daruͤber,
als da der Inſpektor auf den Seminarium einſt
zu ihm ſagte: dummer Knabe, indem er glaubte,
daß er nicht einmal buchſtabieren koͤnne. Eine
ſolche Art von wirklicher oder anſcheinender Dumm¬
heit bei gewiſſen Vorfaͤllen ruͤhrte zum Theil aus
einem Mangel an Gegenwart des Geiſtes, zum
Theil aus einer gewiſſen Aengſtlichkeit oder auch
Traͤgheit her, wodurch die natuͤrliche Kraft des
Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirk¬
ſamkeit gehindert wurde.


Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbe¬
ſchreibungen der griechiſchen Feldherrn vom Kor¬
nelius Nepos, wovon woͤchentlich ein Kapitel
aus der Lebensbeſchreibung irgend eines Feldherrn
auswendig mußte hergeſagt werden. Dieſe Ge¬
daͤchtnißuͤbungen wurden Reiſern ſehr leicht, weil
er nicht ſowohl die Worte, als die Sachen, ſich
einzupraͤgen ſuchte, welches er allemal des Abends
vor dem Schlafengehen that, und des Morgens,
wenn er aufwachte, die Ideen weit heller und
[53] beſſer geordnet, als den Abend vorher, in ſeinem
Gedaͤchtniß wiederfand, gleichſam, als ob die
Seele waͤhrend dem Schlafen fortgearbeitet, und
das, was ſie einmal angefangen, nun waͤhrend
der gaͤnzlichen Ruhe des Koͤrpers, mit Muße
vollendet haͤtte.


Alles was Reiſer dem Gedaͤchtniß anvertrau¬
te, pflegte er auf die Weiſe auswendig zu lernen.


Er fing nun auch an, ſich mit der Poeſie zu
beſchaͤftigen, welches er ſchon in ſeiner Kindheit
gethan hatte, wo denn ſeine Verſe immer die
ſchoͤne Natur, das Landleben und dergleichen zum
Gegenſtande zu haben pflegten. Denn ſeine einſa¬
men Spatziergaͤnge und der Anblick der gruͤnen Wie¬
ſen, wenn er etwa einmal vor das Thor kam, war
wirklich das einzige, was ihn in ſeiner Lage in ei¬
ne poetiſche Begeiſterung verſetzen konnte.


Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte
er ein paar Strophen, die ſich anfingen:
In den ſchoͤn bebluͤmten Auen
Kann man Gottes Guͤte ſchauen, u. ſ. w.

welche ſein Vater in Muſik ſetzte. Und das Ge¬
dicht, das er jetzt hervorbrachte, war eine Einla¬
dung auf das Land
worinn wenigſtens die
D 3[54] Worte nicht uͤbel gewaͤhlt waren. — Diß kleine
Gedicht gab er dem jungen M. . . durch welchen
es in die Haͤnde des Paſtor M. . . und des Di¬
rektors kam, die ihren Beyfall daruͤber bezeigten,
ſo daß Reiſer beinahe angefangen haͤtte, ſich fuͤr
einen Dichter zu halten. Aber der Kantor be¬
nahm ihm fuͤrs erſte dieſen Irrthum, indem er
ſein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging,
und ihn ſowohl auf die Fehler gegen das Metrum,
als auf den fehlerhaften Ausdruck, und den Man¬
gel des Zuſammenhangs der Gedanken aufmerk¬
ſam machte.


Dieſe ſcharfe Kritik des Kantors war fuͤr Rei¬
ſern eine wahre Wohlthat, die er ihm nie genug
verdanken kann. Der Beifall, den dieß erſte
Produkt ſeiner Muſe ſo unverdienter Weiſe er¬
hielt, haͤtte ihm ſonſt vielleicht auf ſein ganzes
Leben geſchadet.


Demohngeachtet wandelte ihn der furor poe¬
ticus
noch manchmal an, und weil ihn jetzt wirk¬
lich das Vergnuͤgen, dem Studieren obzuliegen,
am meiſten begeiſterte, ſo wagte er ſich an ein
neues Gedicht zum Lobe der Wiſſenſchaften, wel¬
ches ſich komiſch genug anhob:
[55] An euch ihr ſchoͤnen Wiſſenſchaften,
An euch ſoll meine Seele haften, u. ſ. w.
Der Kantor lehrte auch lateiniſche Verſe ma¬
chen, trug die Regeln der Proſedie vor, die er
nachher auf Catonis difticha, beim Skandieren
derſelben anwenden ließ. Reiſer fand hieran ſehr
großes Vergnuͤgen, weil es ihm ſo gelehrt klang,
lateiniſche Verſe ſkandiren zu koͤnnen, und zu
wiſſen, warum die eine Silbe lang, und die
andere kurz ausgeſprochen werden mußte; der
Kantor ſchlug mit den Haͤnden den Takt beim
Skandiren. Das anzuſehen und mitmachen zu
koͤnnen, war ihm denn eine wahre Seelenfreude. —
Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl
durcheinander geworfener lateiniſcher Woͤrter, wel¬
ches Verſe geweſen waren, diktirte, damit ſie
wieder in metriſche Ordnung gebracht werden ſoll¬
ten, welch ein Vergnuͤgen fuͤr Reiſern, da er
nun mit wenigen Fehlern, ein paar ordentliche
Hexameter wieder herausbrachte, und von dem
Kantor einen alten Kurtius zum Praͤmium er¬
hielt.


Hier herrſchte nun gewiß der ſogenannte alte
Schulſchlendrian, und Reiſer kam demohngeach¬
D 4[56] tet in einem Jahre ſo weit, daß er ohne einen gram¬
matikaliſchen Fehler Latein ſchreiben, und einen
lateiniſchen Vers richtig ſkandiren konnte. —
Das ganz einfache Mittel hiezu war — Die oͤfte¬
re Wiederhohlung des Alten mit dem Neu¬
en
, welches doch die Paͤdagogen der neuern Zei¬
ten ja in Erwaͤgung ziehen ſollten. Eine Sache
mag noch ſo ſchoͤn vorgetragen ſeyn, ſobald ſie
nicht oͤfter wiederhohlt wird, haftet ſie ſchlechter¬
dings nicht in dem jugendlichen Gemuͤthe. Die
Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet, wenn
ſie ſagten: daß die Wiederhohlung die Mutter
des Studierens ſey.


Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch
eine Privatſtunde, im deutſchen Deklamiren,
und im deutſchen Stil, worauf ſich Reiſer im¬
mer am meiſten freute, weil er Gelegenheit hat¬
te, ſich durch Ausarbeitungen hervorzuthun,
und ſich zugleich vom Katheder oͤffentlich konnte
hoͤren laſſen, welches einige Aehnlichkeit mit dem
Predigen hatte, das immer der hoͤchſte Gegen¬
ſtand aller ſeiner Wuͤnſche war.


Außer ihm war nun noch einer, Nahmens
J. . ., der an dieſer Uebung im Deklamiren ein
[57] eben ſo großes Vergnuͤgen fand. Dieſer I. . .
iſt nachher einer unſrer erſten Schauſpieler und
beliebteſten dramatiſchen Schriftſteller geworden;
und Reiſers Schickſal hat mit dem ſeinigen bis
auf einen gewiſſen Zeitpunkt viel Aehnliches ge¬
habt. — I. . . und Reiſer zeichneten ſich
immer in der Deklamationsuͤbung am meiſten
aus — I. . . uͤbertraf Reiſern weit an leb¬
haftem Ausdruck der Empfindung — Reiſer
aber empfand tiefer. — I. . . dachte weit
ſchneller, und hatte daher Witz und Gegenwart
des Geiſtes, aber keine Geduld, lange uͤber ei¬
nem Gegenſtande auszuhalten. — Reiſer ſchwang
ſich daher auch in allen uͤbrigen bald uͤber ihn
hinauf — Er verlohr allemal gegen I. . ., ſo¬
bald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam, aber
er gewann immer gegen ihn, ſobald es darauf
ankam, die eigentliche Kraft des Denkens an ir¬
gend einem Gegenſtande zu uͤben — I. . . konn¬
te ſehr lebhaft durch etwas geruͤhrt werden, aber
es machte bei ihm keinen ſo daurenden Eindruck,
Er konnte ſehr leicht, und wie im Fluge etwas
faſſen, aber es entwiſchte ihm gemeiniglich eben
ſo ſchnell wieder. — I. . . war zum Schauſpie¬
D 5[58] ler gebohren. Er hatte ſchon als ein Knabe von
zwoͤlf Jahren, alle ſeine Minen und Bewegun¬
gen in ſeiner Gewalt — und konnte alle Arten
von Laͤcherlichkeiten in der vollkommenſten Nach¬
ahmung darſtellen. Da war kein Prediger
in H... dem er nicht auf das natuͤrlichſte nachge¬
predigt hatte. Dazu wurde denn gemeiniglich
die Zwiſchenzeit, ehe der Konrektor zur Privat¬
ſtunde kam, angewandt. Jedermann fuͤrchtete
ſich daher vor J. . ., weil er jedermann, ſobald
er nur wollte, laͤcherlich zu machen wuſte. —
Reiſer liebte ihn dennoch, und haͤtte ſchon da¬
mals gern naͤhern Umgang mit ihm gehabt,
wenn die Verſchiedenheit der Gluͤcksumſtaͤnde
es nicht verhindert haͤtte. J. . .s Eltern waren
reich und augeſehn, und Reiſer war ein ar¬
mer Knabe, der von Wohlthaten lebte, dem¬
ohngeachtet aber den Gedanken bis in den Tod
haßte, ſich auf irgend eine Weiſe Reichen auf¬
zubringen. — Indeß genoß er von ſeinen rei¬
chern und beſſer gekleideten Mitſchuͤlern weit
mehr Achtung als er erwartet hatte, welches
zum Theil wohl mit daher kommen mochte, weil
man wußte, daß ihn der Prinz ſtudieren ließe,
[59] und ihn daher ſchon in einem etwas hoͤhern Lich¬
te betrachtete, als man ſonſt wuͤrde gethan
haben. — Dieß brachte ihm auch von ſeinen
Lehrern etwas mehr Aufmerkſamkeit und Ach¬
tung zu wege.


Ob nun gleich zum Theil ſchon erwachſene
Leute von ſiebzehn bis achtzehn Jahren in die¬
ſer Klaſſe ſaßen, ſo herrſchten doch darin noch
ſehr erniedrigende Strafen. Der Konrekter ſo¬
wohl als der Kantor theilten Ohrfeigen aus,
und bedienten ſich zu ſchaͤrfern Zuͤchtigungen der
Peitſche, welche beſtaͤndig auf dem Katheder
lag; auch mußten diejenigen welche etwas ver¬
brochen hatten, manchmal zur Strafe am Ka¬
theder knien.


Reiſern war der Gedanke ſchon unertraͤglich,
ſich jemals eine ſolche Strafe von Maͤnnern zuzu¬
ziehen, welche er als ſeine Lehrer im hohen
Grade liebte und ehrte, und nichts eifriger
wuͤnſchte, als ſich wiederum ihre Liebe und Ach¬
tung zu erwerben. Welch eine Wirkung mußte
es alſo auf ihn thun, da er einmal, ehe er ſichs
verſahe, und ganz ohne ſeine [Schuld], das
Schickſal einiger ſeiner Mitſchuͤler, welche we¬
[60] gen eines vorgefallenen Lerms, vom Konrektor
mit der Peitſche beſtraft wurden, theilen mußte.
Gleiche Bruͤder gleiche Kappen, ſagte der Kon¬
rektor, da er an ihn kam, und hoͤrte auf keine
Entſchuldigungen, drohte auch noch dazu, ihn
bei dem Paſtor M. . . zu verklagen. Das Ge¬
fuͤhl ſeiner Unſchuld beſeelte Reiſern mit einem
edlen Trotze, und er drohte wieder, den Konrek¬
tor bei dem Paſtor M. . . zu verklagen, daß er
ihn unſchuldiger weiſe auf eine ſo erniedrigende
Art behandelte.


Reiſer ſagte dieß mit der Stimme der unter¬
druͤckten Unſchuld, und der Konrektor antwor¬
tete ihm kein Wort. Aber von der Zeit an, war
auch alles Gefuͤhl von Achtung und Liebe fuͤr
den Konrektor, wie aus ſeinem Herzen weggebla¬
ſen. Und da der Konrektor nun einmal in ſei¬
nen Strafen weiter keinen Unterſchied machte,
ſo achtetete Reiſer eine Ohrfeige oder einen Peit¬
ſchenſchlag von ihm eben ſo wenig, als ob irgend
ein unvernuͤnftiges Thier an ihn angerannt
waͤre. Und weil er nun ſahe, daß es gleichviel
war, ob er ſich die Achtung dieſes Lehrers zu er¬
werben ſuchte, oder nicht, ſo hieng er auch nun
[61] ſeiner Neigung nach, und war nicht mehr
aus Pflicht, ſondern bloß wenn ihn die Sache
intereſſirte aufmerkſam. Er pflegte denn oft
Stundenlang mit ſeinem Freunde J. . . zu plau¬
dern, mit dem er denn zuweilen geſellſchaft¬
lich am Katheder knien mußte. J. . . fand auch
hierinn Stoff, ſeinen Witz zu uͤben, indem er
das Katheder, worauf ſich der Konrektor mit
den Ellenbogen geſtuͤzt hatte, mit dem Meklen¬
burgiſchen Wapen, und ſich und Reiſern mit
den beiden Schildhaltern verglich. — J. . .s
Schalkhaftigkeit war durch keine Strafen zu
unterdruͤcken, ausgenommen durch eine, wo er
einmal eine ganze Stunde lang mit dem Geſicht
gegen den Ofen gekehrt ſtehen mußte, und alſo
ſeinen Witz nicht ſpielen laſſen, oder gegen je¬
mand irgend eine Pantomine machen konnte. —
Dieſe Strafe preßte ihm zum erſtenmal Thraͤnen
aus, und er legte ſich im Ernſt aufs Bitten, wel¬
ches er ſonſt nie that. — So war die Diſciplin
des Konrektors beſchaffen. — Es hatte einmal
einer aus Verſehen ſeine Nachtmuͤtze ſtatt des
Buchs in die Taſche geſtekt, und er ließ ihn mit
der Nachtmuͤtze auf dem Kopfe eine Stundelang
[62] vor der ganzen Klaſſe knieu, woruͤber denn J. . .
ſeinen tauſend Spaß hatte, und ſeinen Nach¬
barn, die ſich uͤber ſeine Pantomime und ſeine
drollichten Einfaͤlle zuweilen des Lachens nicht
enthalten konnte, manche Ohrfeige zuzog.


Was nun dieſe Diſciplin des Konrektors
auf das Gemuͤth und den Charakter ſeiner Unter¬
gebnen fuͤr eine Wuͤrkung gethan, was fuͤr ein:
ruͤhmliches Andenken er ſich dadurch in den Her¬
zen ſeiner Schuͤler geſtiftet habe, und was fuͤr
einen Kranz er ſich dadurch erworben habe, mag
ſeinem eigenen Gewiſſen anheim geſtellt ſeyn. —
Wenn er ſich denn oft ſo recht als ein Held gezeigt
hatte, ſo pflegte er wohl zu ſagen: ich bin keine
Schlafmuͤze wie andre, und deutete damit, daß
es jedermann merken konnte, auf ſeinen Kolle¬
gen, den Kantor, der ohngeachtet ſeiner hypo¬
chondriſchen Laune, und einiger ihm anklebenden
Pedanterie, ein weit beſſerer Mann war, als
der Konrektor.


Nie hat Reiſer von dieſem [einen] Schlag be¬
kommen, ob derſelbe gleich ſonſt eben nicht karg
mit Ohrfeigen, und ziemlich freigebig mit der
Peitſche war. Aber er ſahe doch ein, daß es
[63] Reiſern im Ernſt darum zu thun war, Strafe
zu vermeiden, und nun ſchlug er doch nicht blind¬
lings zu. Bei ihm lernte auch Reiſer weit mehr,
als bei den Konrektor, weil er aus Pflicht auf¬
merkſam war, wenn ihn gleich die Sache nicht
intereſſirte. — Und da es ihm gelang, ſich
durch die lateiniſchen Ausarbeitungen bis zum
erſten Platze hinauf zu arbeiten! wie aufmun¬
ternd war ihm nun das Lob des Kantors, und
wie eindringend der Zuſpruch deſſelben, daß er
ſich nun auf dieſem Plaze ſolle zu behaupten ſu¬
chen. — Nun ertheilte der Kantor immer dem er¬
ſten in der Klaſſe das Amt eines Cenſors oder
Aufſehers uͤber das Betragen der uͤbrigen, und
da nun Reiſer ſich immer auf ſeinem erſten Pla¬
ze behauptete, ſo gab ihm der Kantor den ehren¬
vollen Titel eines cenſor perpetuus oder im¬
merwaͤhrenden Aufſehers. Er verwaltete diß Amt
mit der groͤßten Gewiſſenhaftigkeit und Unpar¬
theilichkeit, und ſahe es oft mit Wehmuth an,
wie die Buben den guten Kantor, der freilich
auch nicht immer den rechten Weg der Diſci¬
plin einſchlug, aͤrgerten und ihm das Leben ſauer
machten, ſo daß derſelbe oft in der Betruͤbniß ſei¬
[64] nes Herzens ausrief, quem dii odere, paedo¬
gogum fecere, wenn die Goͤtter haßten, den
machten ſie zum Schulmann. — Fuͤr den Kantor
hatte Reiſer alles aufgeopfert, weil er nie unge¬
recht gegen ihn geweſen war, obgleich das Be¬
tragen deſſelben ſonſt auch nicht immer das freund¬
lichſte war. — Wie ruͤhrend war es Reiſern oft,
wenn in der Katechismusſtunde alles um ihn her
lermte und tobte, und der Kantor denn mit
Gewalt aufs Buch ſchlug, und ſagte: ich habe
Gottes Wort an euch! — Nur Schade daß
der gute Mann dergleichen Ausdruͤcke, die zu
rechter Zeit angebracht, ihre Wirkung nicht ver¬
fehlen, zu oft anbrachte, und gewiſſe Gemein¬
plaͤze, als Thorheit ſteckt den Knaben im Her¬
zen, und dergleichen, alle Augenblicke im Munde
fuͤhrte, wodurch man ſich den am Ende ſo ſehr
daran gewoͤhnte, daß niemand mehr darauf ach¬
tete, und eben daher entſtand die ewige Unruhe
in den Lehrſtunden des Kantors. — Der Kon¬
rektor ſprach weniger bei ſeinen Zuͤchtigungen,
darum bewirkten ſie mehr Stille und Ordnung.


Da nun Reiſer auf eine kurze Zeit die Schu¬
le beſucht hatte, ſo kam er auf den Einfall,
[65] ins Chor zu gehen; nicht ſowohl um Geld zu
verdienen, als vielmehr in einen neuen ehren¬
vollen Stand zu treten, wovon er ſich ſchon als
Hutmacherburſche in B. . . immer ſo große Be¬
griffe gemacht hatte. —


Seine Phantaſie hatte hier wieder Spiel¬
raum — Das war ihm alles ſo himmliſch, ſo
feierlich in die Lobgeſaͤnge zur Ehre Gottes
oͤffentlich mit einzuſtimmen — Der Nahme
Chor
toͤnte ihm ſo angenehm. — Das Lob
Gottes in vollen Choͤren zu ſingen, war ein
Ausdruck, der ihm immer im Sinne ſchallte. —
Er konnte die Zeit kaum abwarten! wo er in
dieſe glaͤnzende Verſammlung wuͤrde aufge¬
nommen werden.


Einer ſeiner Mitſchuͤler, der ſchon lange
im Chor geſungen hatte, verſicherte ihm zwar,
er ſey es ſo ſatt und uͤberdruͤßig, daß er lieber
Heute als Morgen davon frei ſein moͤchte —
Reiſer konnte ſich das unmoͤglich einbilden. Er
beſuchte mit großem Eifer die Lehrſtunde, wo der
Kantor Unterricht im Singen ertheilte, und be¬
neidete nun jeden, der eine beſſere Stimme be¬
ſaß, als er.


[66]

Richt weit von H. . . iſt ein Waſſerfall, wo
er auf Anrathen des Kantors oft Stundenlang
hinging, um ſich recht auszuſchreien, und ſeine
Stimme zu uͤben. — Allein es wollte mit dem
Singen nie recht fort. Denn es fehlte ihm zu¬
gleich an dem, was man muſikaliſches Gehoͤr
nennt. Aber das theoretiſche, was der Kantor
bei ſeinem Unterricht mit einfließen ließ, war ihm
deſto willkommner, und er machte dem Kantor
durch ſeine Aufmerkſamkeit viel Vergnuͤgen.


Reiſer empfand nun wirkliche Liebe gegen
den Kantor, und machte allenthalben ſehr viel
Ruͤhmens von ihm, ſo wie dieſer ihn wieder bei
den Leuten lobte. — Da fuͤgte es ſich einmal,
daß Reiſer dem Kantor fuͤr das gute Zeugniß
dankte, das ihm derſelbe bei einem ſeiner Goͤnner
gegeben hatte, und der Kantor erwiederte: Rei¬
ſer habe ihm ja auch ein gutes Zeugniß gegeben:
denn es war ihm wieder zu Ohren gekommen,
wie gut Reiſer allenthalben von ihm ſprach.


Die Freude dieſes Augenblicks haͤtte Reiſer um
vieles in der Welt nicht gegeben, ſo angenehm
war es ihm, daß ſein Lehrer es nun ſelber wu߬
[67] te, wie ſehr er ihn liebte. — Wer ihm das beim
erſten Anblick geſagt haͤtte, dem wuͤrde er es nicht
geglaubt haben, daß der Kantor einmal ſo ſehr
ſein Freund ſein wuͤrde. Denn der Konrektor
war erſtlich ſein Mann; deſſen laͤchelude freund¬
liche Miene, und glatte Stirne nahmen ihn ein,
indes die finſtre Miene des Kantors und ſeine run¬
zelvolle Stirn ihn zuruͤckſcheuchten. Ach, was
fuͤr ein artiger freundlicher Mann iſt der Konrek¬
tor gegen den alten muͤrriſchen Kantor! pflegte
er im Anfang oft zu ſagen: aber bei der genauern
Bekanntſchaft wandte ſich das Blatt gar bald
um.


Reiſer ſuchte ſich auch auf alle Weiſe in der
Achtung des Kantors immer feſter zu ſetzen. Diß
ging ſo weit, daß er auf einem oͤffentlichen Spa¬
tzierplatze, wo der Kantor hinzukommen pflegte,
mit einem aufgeſchlagenen Buche in der Hand auf
und nieder ging, um die Blicke ſeines Lehrers
auf ſich zu ziehen, der ihn nun fuͤr ein Muſter
des Fleiſſes halten ſollte, weil er ſogar beim Spa¬
tziergehen ſtudierte. — Ob nun Reiſer gleich an
dem Buche, das er laß, wirklich Vergnuͤgen fand,
E 2[68] ſo war doch das Vergnuͤgen, von dem Kantor in
dieſer Attituͤde bemerkt zu werden, noch weit groͤſ¬
ſer, und man ſiehet auch aus dieſem Zuge ſeinen
Hang zur Eitelkeit. Es lag ihm mehr an dem
Schein, als an der Sache, obgleich die Sache
ihm auch nicht unwichtig war.


Man hatte eine erſtaunliche Meinung von ſei¬
nem Fleiß, und pflegte ihm immer anzurathen,
daß er ſeiner Geſundheit ſchonen ſollte; dieß war
ihm aͤußerſt ſchmeichelhaft, und er ließ die Leute
bei dieſer Meinung, obgleich ſein Fleiß lange nicht
ſo groß war, wie er haͤtte ſeyn koͤnnen, wenn
das Druͤckende ſeiner Lage, in Anſehung ſeiner
Nahrung und Wohnung ihn nicht oft traͤge und
mißmuͤthig gemacht haͤtte.


Denn die unwuͤrdige Behandlung der er zu¬
weilen ausgeſetzt war, benahm ihm oft einen
großen Theil der Achtung gegen ſich ſelbſt, wel¬
che ſchlechterdings zum Fleiß nothwendig iſt. —
Oft ging er mit traurigem Herzen zur Schule,
wenn er aber denn einmal darin war, ſo vergaß er
ſeines Kummers, und die Schulſtunden waren
im Grunde noch ſeine gluͤcklichſten Stunden.


[69]

Wenn er aber dann wieder zu Hauſe kam,
und ſich manchmal verbluͤmter Weiſe mußte zu
verſtehen geben laſſen, wie uͤberdruͤßig man ſeiner
Gegenwart waͤre — dann ſaß er Stundenlang
und getraute ſich kaum Athem zu hohlen — er
war dann in einem entſetzlichen Zuſtande — und
haͤtte in der Welt nichts arbeiten koͤnnen, denn
ſein Herz war ihm durch dieſe Begegnung zer¬
riſſen. —


So konnten auch die Blicke der Frau des
Garniſonkuͤſters, wenn er dort gegeſſen hatte,
ihn auf einige Tage niederſchlagen, und ihm den
Muth zum Fleiß benehmen.


Sicher waͤre Reiſer gluͤcklicher und zufriede¬
ner und gewiß auch fleißiger geweſen, als er war,
haͤtte man ihn von dem Gelde, das der Prinz
fuͤr ihn hergab, Salz und Brodt fuͤr ſich kaufen
laſſen, als daß man ihn an fremden Tiſchen ſein
Brodt eſſen ließ.


Es war abſcheulich, in was fuͤr eine Lage
er einmal gerieth, da die Frau des Garniſonkuͤ¬
ſters, uͤber Tiſche erſt anfing von den ſchlechten
Zeiten, und von dem harten Winter, und dann
von dem Holzmangel zu reden, und endlich uͤber
E 3[70] die Beſorgniß in Thraͤnen ausbrach, wo man
noch zulezt Brodt herſchaffen ſolle; und da Rei¬
ſer in der Verlegenheit uͤber dieſe Reden unver¬
ſehns ein Stuͤck Brodt an die Erde fallen ließ,
ihn mit den Augen einer Furie anblickte, ohne
doch etwas zu ſagen — Da ſich Reiſer uͤber die¬
ſe unwuͤrdige Begegnung der Thraͤnen nicht ent¬
halten konnte, ſo brach ſie gegen ihn loß,
warf ihm mit duͤrren Worten Unhoͤflichkeit und
ungeſchicktes Betragen vor, und gab zu verſte¬
hen, daß dergleichen Leute, die ihr den Biſſen
im Munde zu Gift machten, an ihrem Tiſche
nicht willkommen waͤre. — Der gute Garniſon¬
kuͤſter der Reiſern innig bedauerte, aber das
Regiment nicht im Hauſe fuͤhrte, erbarmte ſich
ſeiner, und ſagte ihm ſogleich den Tiſch auf —
So beſchaͤmt erniedrigt, und herabgewuͤrdigt
mußte nun Reiſer aus dieſem Hauſe gehen, und
durfte es kaum wagen, ſich zu Hauſe davon etwas
merken zu laſſen, daß er einen Freitiſch verloh¬
ren habe.


Wenn ihm der Garniſonkuͤſter nachher zuwei¬
len auf der Stroſſe begegnete, druͤckte er ihm
einen halben Gulden in die Hand, um ihn fuͤr
[71] die Mißgunſt und den Geiz ſeiner Frau ſchad¬
loß zu halten.


Nun gab es wieder eine Art Leute, welche,
wenn ſie Reiſern eine Mahlzeit zu eſſen gaben,
alle Augenblick zu ſagen pflegten, wie gern es
ihn gegoͤnt ſey, und daß er ſichs nur recht ſollte
ſchmecken laſſen, denn fuͤr eine Mahlzeit werde
es ihm nun doch einmal gerechnet, und derglei¬
chen mehr, welches Reiſern nicht weniger verle¬
gen machte, ſo daß ihm das Eſſen, ſtatt des
Vergnuͤgens was man ſonſt dabei empffndet,
gemeiniglich eine wahre Quaal war — Wie
gluͤcklich fuͤhlte er ſich, da er am erſten Sonn¬
tage, nachdem er den Tiſch bei dem Garniſonkuͤ¬
ſter verlohren, und es zu Hauſe noch nicht hatte
ſagen wollen, ein Dreier Brodt verzehrte, und
dabei einen Spaziergang um den Wall machte.


Es ſchien als ob ſich alles vereiniget habe,
Reiſern in der Demuth zu uͤben; ein Gluͤck daß
er nicht niedertraͤchtig druͤber werde — dann wuͤr¬
de er freilch zufrieden und vergnuͤgter geweſen
ſeyn, aber um alle den edlen Stolz, der den
Menſchen allein uͤber das Thier erhebt, das nur
E 4[72] ſeinen Hunger zu ſtillen ſucht, waͤre es bei ihm ge¬
than geweſen.


Der Stand des geringſten Lehrburſchen eines
Handwerkers iſt ehrenvoller, als der eines jun¬
gen Menſchen, der um ſtudieren zu koͤnnen, von
Wohlthaten lebt, ſobald ihm dieſe Wohlthaten auf
eine herabwuͤrdigende Art erzeigt werden. Fuͤhlt
ſich ein ſolcher junger Menſch gluͤcklich, ſo iſt er
in Gefahr niedertraͤchtig zu werden, und hat er
nicht die Anlage zur Niedertraͤchtigkeit, ſo wird
es ihm wie Reiſern gehen; er wird mißmuͤthig
und menſchenfeindlich geſinnet werden, wie es
Reiſer wirklich wurde, denn er fieng ſchon da¬
mals an, in der Einſamkeit ſein groͤßtes Ver¬
gnuͤgen zu finden.


Einmal ſchickte ihn die Frau F... ſogar mit
einem großen Stuͤck Leinwand in des Prinzen
Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf
vorgezeigt werden ſollte — Alles Straͤuben da¬
gegen wuͤrde nichts geholfen haben — denn der
Paſtor M... hatte einmal der Frau eine unbe¬
ſchraͤnkte Gewalt uͤber Reiſern ertheilet — und
jede Weigerung wuͤrde ihm als ein unverzeihlicher
Stolz ausgelegt worden ſeyn. — Es wuͤrde ihm
[73] nicht ins Schild gemahlt werden, pflegte dann
die Frau F. . . wohl zu ſagen. — Eben ſo wenig
durfte er ſich ſtraͤuben, das Brodt zu hohlen, wel¬
ches der Houboiſt vom Regiment bekam, und ob er
dies gleich immer in der Daͤmmerung that, und die
abgelegenſten Straßen waͤhlte, damit ihn keiner
ſeiner Mitſchuͤler ſehen moͤchte, ſo bemerkte ihn
doch einmal einer derſelben zu ſeinem groͤßten
Schrecken, welcher aber zum Gluͤck ſo gut ge¬
ſinnet war, daß er ihm voͤllige Verſchwiegenheit
verſprach und hielt, ihm aber doch, wenn ſie ſich
in der Klaſſe zuweilen verunwilligten, drohete,
es ruchtbar zu machen.


Endlich wurde ihm denn doch von dem Gelde
des Prinzen ein neues Kleid geſchaft, weil ſein
alter rother Soldatenrock gar nicht mehr halten
wollte; aber gleichſam, als wenn es recht eigent¬
lich auf ſeine Demuͤthigung abgeſehen waͤre,
waͤhlte man ihm graues Bediententuch zum Klei¬
de — wodurch er wiederum gegen ſeine Mitſchuͤ¬
ler faſt eben ſo ſonderbar als mit dem rothen
Soldatenrock abſtach; und das Kleid durfte er
anfaͤnglich doch nur bei feierlichen Gelegenheiten,
E 5[74] wenn etwa in der Schule Examen war, oder
wenn er zum Abendmahl ging, anziehen.


Was ihn aber von allen Demuͤthigungen die
er erlitt am meiſten kraͤnkte, und was er der Frau
F. . . nie hat vergeſſen koͤnnen, war eine unge¬
rechte Beſchuldigung, die ihm bis in die Seele
ſchmerzte, und die er doch durch keine Beweiſe
von ſich ablehnen konnte.


Die Frau F. . ., hatte ein kleines Maͤdchen
von etwa 3 bis 4 Jahren von einer ihrer Anver¬
wandtinnen zu ſich genommen. Dieſem Kinde
dachte ſie zu Weihnachten eine uͤberraſchende Freude
zu machen und hatte zu dem Ende einen Baum mit
Lichtern aufgepuzt, und mit Roſinen und Man¬
deln behangen. Reiſer blieb allein in der Stube,
waͤhrend die Frau F. . . in die Kammer ging, um
das Kind zu hohlen. Nun fuͤgte es ſich, da ſie wie¬
der hereinkam, daß vermuthlich durch die Bewe¬
gung der Thuͤre, der Baum mit allen Lichtern
umfiel, und Reiſer in demſelben Augenblick hin¬
zulief, um ihn aufrecht zu erhalten, da dieß aber
nicht gehen wollte, ſogleich wieder ſeine Hand
davon abzog, welches nun gerade ſo ausſahe, als
ob er ſich die ganze Zeit uͤber mit dem Baum be¬
[75] ſchaͤftigt habe, und nun, da die Frau F... her¬
einkam, erſchrocken ſey, und folglich den Baum
habe fahren laſſen, der nun wirklich umfiel. In
den Gedanken der Frau F. . . war es nun aus¬
gemacht, daß er von den Baum hatte naſchen
wollen, und auf die Weiſe ihr und dem Kinde
eine unſchuldige Freude verdorben habe.


Dieſen entehrenden Verdacht gab ſie Reiſern
mit deutlichen Worten zu verſtehen, und wie
ſollte er ihn von ſich abwaͤlzen. Er hatte kei¬
nen Zeugen. Und der Anſchein war wieder
ihn. — Schon die Moͤglichkeit, daß man
einen ſolchen Verdacht gegen ihn hegen konn¬
te, erniedrigte ihn bei ſich ſelber, er war in
einem ſolchen Zuſtande, wo man gleichſam zu
verſinken, oder in einem Augenblick gaͤnzlich ver¬
nichtet zu ſeyn, wuͤnſcht.


Ein Zuſtand, der eine Art von Seelenlaͤh¬
mung hervorzubringen vermag, welche nicht ſo
leicht wieder gehoben werden kann. — Man
fuͤhlt ſich in einem ſolchen Augenblick gleichſam
wie vernichtet, und gaͤbe ſein Leben darum, ſich
vor aller Welt verbergen zu koͤnnen. — Das
Selbſtzutrauen, welches der moraliſchen Thaͤtig¬
[76] keit ſo noͤthig iſt, als das Athemhohlen der koͤrperli¬
chen Bewegung, erhaͤlt einen ſo gewaltigen Stoß,
daß es ihm ſchwer haͤlt, ſich wieder zu erhohlen.


Wenn Reiſer nachher irgendwo zugegen war,
wo man etwa eine Kleinigkeit ſuchte, von der
man glaubte, daß ſie weggenommen ſey, ſo
konnte er ſich nicht enthalten, roth zu werden,
und in Verwirrung zu gerathen, bloß weil er
ſich die Moͤglichkeit lebhaft dachte, daß man ihn,
ohne es ſich geradezu merken laſſen zu wollen, fuͤr
den Thaͤter halten koͤnnte. — Ein Beweiß, wie
ſehr man ſich irren kann, wenn man oft die Be¬
ſchaͤmung und Verwirrung eines angeklagten,
als ein ſtillſchweigendes Geſtaͤndniß ſeines Ver¬
brechens auslegt. — Durch tauſend unverdiente
Demuͤthigungen kann jemand am Ende ſo weit
gebracht werden, daß er ſich ſelbſt als einen Ge¬
genſtand der allgemeinen Verachtung anſieht,
und es nicht mehr wagt, die Augen vor jeman¬
den aufzuſchlagen — er kann auf die Weiſe in
der groͤßten Unſchuld ſeines Herzens alle die Kenn¬
zeichen eines boͤſen Gewiſſens an ſich bliken laſ¬
ſen, und wehe ihm dann, wenn er einem eingebilde¬
ten Menſchenkenner, wie es ſo viele giebt, in
[77] die Haͤnde faͤllt, der nach dem erſten Eindruck
den ſeine Miene auf ihn macht, ſogleich ſeinen
Charakter beurtheilt —


Unter allen Empfindungen iſt wohl der hoͤch¬
ſte Grad der Beſchaͤmung, worinn jemand ver¬
ſetzt wird, eine der peinigendſten.


Mehr als einmal in ſeinem Leben hat Reiſer
dieß empfunden, mehr als einmal hat er Augen¬
blike gehabt, wo er gleichſam vor ſich ſelber ver¬
nichtet wurde — wenn er z. B. eine Begruͤßung,
ein Lob, eine Einladung, oder dergleichen auf
ſich gedeutet hatte, womit er nicht gemeinet war.
— Die Beſchaͤmung und die Verwirrung worin
ein ſolcher Mißverſtand ihn verſetzen konnte,
war unbeſchreiblich —


Es iſt auch ein ganz beſonderes Gefuͤhl da¬
bei, wenn man aus Misverſtand ſich eine Hoͤf¬
lichkeit zurechnet, die einem andern zugedacht iſt.
Eben der Gedanke, daß man zu ſehr von ſich
eingenommen ſeyn koͤnne, iſt es, der ſo etwas
außerordentlich demuͤthigendes hat. Dazu koͤmmt
das laͤcherliche Licht, in welchem man zu erſchei¬
nen glaubt — Kurz Reiſer hat in ſeinem Leben
nichts Schreklichers empfunden als dieſen Zu¬
[78] ſtand der Beſchaͤmung, worin ihn oft eine Klei¬
nigkeit veſetzen konnte. — Alles andere griff nicht
ſo ſein innerſtes Weſen, ſein eigentliches Selbſt
an, als grade dieß. In Anſehung dieſer Art
des Leidens hat er auch das ſtaͤrkſte Mitleid em¬
pfunden. Um jemanden eine Beſchaͤmung zu er¬
ſparen, wuͤrde er mehr gethan haben, als um je¬
manden aus wuͤrklichem Ungluͤck retten: denn
die Beſchaͤmung daͤuchte ihm das groͤßte Ungluͤck,
was einem wiederfahren kann.


Er war einmal bei einein Kaufmann in H. . .
der gemeiniglich ſtatt der Perſon mit der er
ſprach einen andern anzuſehen pflegte. Dieſer
bat, indem er Reiſern anſahe, einen andern der
mit in der Stube war, zum Eſſen, und da Rei¬
ſer die [Einladung] auf ſich deutete, und ſie hoͤf¬
lich ablehnte, ſo ſagte der Kaufmann mit ſehr
trockner Mine: ich meine, ihn ja nicht! — dieß
ich meine ihn ja nicht! mit der troknen Mine
that eine ſolche Wirkung auf Reiſern, daß er
glaubte in die Erde ſinken zu muͤſſen; dieß ich
meine ihn ja nicht
! verfolgte ihn nachher wo
er ging und ſtund, und machte ſeine Stimme,
gebrochen und zitternd, wenn er mit Vorneh¬
[79] nehmern reden ſollte, ſein Stolz konnte dieß
nie wieder ganz verwinden.


„Wie kann er glauben, daß man ihn zum
„Eſſen bitten ſollte?“ — So legte Reiſer daß
ich meine ihn ja nicht aus, und er kam
ſich in dem Augenblick ſo unbedentend, ſo wegge¬
worfen, ſo nichts vor, daß ihm ſein Geſicht, ſei¬
ne Haͤnde, ſein ganzes Weſen zur Laſt war, und
er nun die duͤmmſte und albernſte Figur machte,
ſo wie er da ſtand, und zugleich dieß alberne und
dumme in ſeinem Betragen lebhafter und ſtaͤrker
als irgend jemand außer ihm empfand. —


Haͤtte Reiſer irgend jemanden gehabt, der an
ſeinem Schickſal wahren Antheil genommen haͤt¬
te, ſo wuͤrden ihm dergleichen Begegnungen viel¬
leicht nicht ſo kraͤnkend geweſen ſeyn. Aber ſo
war ſein Schickſal an die eigentliche Theilneh¬
mung anderer Menſchen nur mit ſo ſchwachen
Faͤden geknuͤpft, daß die anſcheinende Abloͤſung
irgend eines ſolchen Fadens, ihn ploͤzlich das Zer¬
reißen aller uͤbrigen befuͤrchten ließ, und er ſich
dann in einem Zuſtande ſahe, wo er keines Men¬
ſchen Aufmerkſamkeit auf ſich mehr erregte, ſon¬
[80] dern ſich fuͤr ein Weſen hielt, auf das weiter gar
keine Ruͤckſicht genommen wurde. — Die
Scham iſt ein ſo heftiger Affeckt, wie irgend
einer, und es iſt zu verwundern, daß die Folgen
deſſelben nicht zuweilen toͤdlich ſind.


Die Furcht, in einem laͤcherlichen Lichte zu
erſcheinen war bei Reiſern zuweilen ſo entſetz¬
lich, daß er alles, ſelbſt ſein Leben, wuͤrde auf¬
geopfert haben, um dieß zu vermeiden. — Nie¬
mand hat das

Infelix paupertas, quia ridiculos miſe¬
ros facit,


Traurig iſt das Loos der Armuth, weil
ſie die Ungluͤcklichen laͤcherlich macht,


wohl ſtaͤrker empfunden, als er, dem laͤcherlich zu
werden, das groͤßte Ungluͤck auf der Welt duͤnk¬
te. — Es giebt eine Art des Laͤcherlichen, welche
ihm noch am ertraͤglichſten war. — Wenn
nehmlich Leute bloß der Sonderbarkeit wegen
uͤber etwas lachen, daß ſie ſich ſelbſt nicht nach¬
zuthun getrauen, ohne es deswegen in einem ver¬
aͤchtlichen Lichte zu betrachten.


Wenn er z. B. etwa von ſich ſagen hoͤrte der
Reiſer iſt doch ein ſonderbarer Menſch, er geht
[81] des Abends ganz im Finſtern dreimal um den
Wall, und ſpricht mit Niemand, als mit ſich
ſelber, indem er ſich die Lektion des Tages wie¬
derhohlt, u. ſ. w. — ſo war ihm das gar nicht
unangenehm zu hoͤren, es hatte vielmehr etwas
Schmeichelhaftes fuͤr ihn, auf die Weiſe in ei¬
nem gewiſſen ſonderbaren Lichte zu erſcheinen. —
Aber als J... ſeinen Vers —

An euch ihr ſchoͤnen Wiſſenſchaften

An euch ſoll meine Seele haften,

laͤcherlich machte, das war fuͤr ihn ſehr kraͤnkend
und beſchaͤmend, und er haͤtte viel darum gege¬
ben, daß er dieſen Vers nicht gemacht haͤtte.


Nachdem Reiſer ein Vierteljahr lang die
Singeſtunden des Kantors beſucht hatte, erreichte
er nun auch das ſo ſehnlich gewuͤnſchte Gluͤck, ins
Chor zu gehen, wo er die Altſtimme ſang. —


Die Freude uͤber ſeinen neuen Stand eines
Chorſchuͤlers dauerte einige Wochen, ſo lange
es nehmlich gut Wetter blieb. Er fand ein gar
großes Vergnuͤgen an den Arien und Motetten,
die er ſingen hoͤrte, und an den freundſchaftlichen
Unterredungen mit ſeinen Mitſchuͤlern, waͤhrend
F[82] daß ſie von einem Hauſe und einer Straße zur
andern giengen.


Ein ſolches Chor hat viel Aehnliches mit ei¬
ner herumwandernden Truppe Schauſpieler, in
der man auch Freude und Leid, gutes und ſchlech¬
tes Wetter u. ſ. w. auf gewiſſe Weiſe mit einan¬
der theilt, welches immer ein feſteres Aneinander¬
ſchließen zu bewirken pflegt.


Am meiſten hatte ſich Reiſer auf den blauen
Mantel gefreut, der ins kuͤnftige ſeine Zierde
ſeyn wuͤrde — Denn dieſer Mantel naͤherte ſich
doch doch ſchon etwas der prieſterlichen Klei¬
dung. — Aber auch dieſe Hoffnung taͤuſchte ihn
ſehr; denn die Frau F. . . ließ, um fuͤr ihn zu
ſparen, aus ein paar alten blauen Schuͤrzen einen
Mantel fuͤr ihn zuſammennaͤhen, womit er un¬
ter den uͤbrigen Chorſchuͤlern eben keine glaͤnzen¬
de Figur machte.


Nun bemerkte Reiſer gleich am erſten Tage
unter den Chorſchuͤlern einen, der ſich von den
uͤbrigen, ganz beſonders auszeichnete. — Man
ſahe es ihm gleich an, daß er ein Auslaͤnder
war, wenn man es auch nicht an ſeiner Spra¬
che gehoͤrt haͤtte. Denn alle ſeine Minen
[83] und Bewegungen zeigten mehr Lebhaftigkeit
und Gewandtheit, als das aͤußer der ſteifen
und ſchwerfaͤlligen H. . .r — Reiſer konnte
ſich immer nicht ſatt an ihm ſehen; und da er
ihn nun reden hoͤrte, ſo konnte er ſich nicht
enthalten ſeine wohlgeſetzten Ausdruͤcke, in dem
oberſaͤchſiſchen Dialekt zu bewundern; alles was
die H...r ſagten, kam ihm dagegen plump und
abgeſchmackt vor. — Nun war der Praͤfektus
im Chore ein alter verſoffener Kerl, mit dem
ſich dieſer Auslaͤnder immer am [meiſten] herum¬
zankte, und ihm gemeiniglich ſehr treffende und
beißende Antworten zu geben pflegte, wenn der
Praͤfektus ſich eine Art von Oberherſchaft uͤber
ihn anmaßen wollte. Und als dieſer unter an¬
dern einmal zu ihm ſagte, er ſey ſchon zu lange
Praͤfektus, als daß er ſich von ſo einem Gelb¬
ſchnabel duͤrfe Anzuͤglichkeiten ſagen laſſen, ſo
antwortete der Auslaͤnder, es bringe ihm freilich
eben nicht viel Ehre, daß er ſo ein alter Knabe,
und noch immer Praͤfektus ſey — Dieſe Ueberle¬
genheit des Witzes, womit der Auslaͤnder den Praͤ¬
fektus auf einmal niederſchlug, machte Reiſern
noch aufmerkſamer auf ihn, und da er ſich nach
F 2[84] dem Nahmen deſſelben erkundigte, erfuhr er,
daß er Reiſer hieße, und aus Erfurt gebuͤrtig ſey.


Nun war es Reiſern ſehr auffallend daß die¬
ſer junge Menſch, den er ſchon ſo liebgewonnen
hatte, gerade mit ihm einerlei Nahmen fuͤhrte,
ohngeachtet er wegen die Entfernung des Ge¬
burtsortes ſchwerlich mit ihm verwandt ſeyn
konnte. — Er haͤtte gern gleich mit ihm Be¬
kanntſchaft gemacht, aber er wagte es noch nicht,
weil ſein Nahmensgenoſſe ein Primaner, und er
nur ein Sekundaner war. — Auch fuͤrchtete er ſich
vor dem Witze deſſelben, dem er ſich nicht gewach¬
ſen fuͤhlte, wenn er einmal auf ihn ſollte gerich¬
tet werden. Indes fuͤgte ſich ihre Bekanntſchaft
von ſelber, indem Philipp Reiſer auf Anton Rei¬
ſers ſtilles und in ſich gekehrtes Weſen, eben ſo
wie dieſer auf das lebhafte Weſen von jenem,
immer aufmerkſamer wurde, und ſie ſich ohnge¬
achtet dieſer Verſchiedenheit ihrer Charaktere,
bald unter der Menge heraus fanden, und
Freunde wurden.


Dieſer Philipp Reiſer war gewiß ein vortref¬
licher Kopf, der aber auch, durch die Umſtaͤnde,
[85] worin ihn das Schickſal verſetzt hat, unterdruͤckt
worden iſt. — Nebſt einer feinen Empfindung
beſaß er viel Wiz und Laune, wirkliches muſika¬
liſches Talent, und war zugleich ein vorzuͤglicher
mechaniſcher Kopf — aber er war arm, und da¬
bei im hoͤchſten Grade ſtolz— ehe er Wohltha¬
ten angenommen haͤtte, wuͤrde er Hunger gelit¬
ten haben, welches er auch wirklich oͤfters that.
— Hatte er aber Geld, ſo war er freigebig und
gaſtfrei wie ein Koͤnig, — dann ſchmeckte ihm
wohl, was er genoß, wenn er reichlich davon mit¬
theilen konnte — aber er hatte freilich Einnahme
und Ausgabe nicht allzugut berechnen gelernt,
und hatte daher ſehr oft Gelegenheit ſich in der
großen Kunſt des freiwilligen Entbehrens von
dem, was man ſonſt gern haͤtte, zu uͤben. —
Ohne jemals Anweiſung dazu gehabt zu haben,
verfertigte er ſehr gute Klaviere und Forte pia¬
no's, welches ihm zuweilen anſehnliche Einnah¬
me verſchafte, die ihm aber freilich bei ſeiner gar
zu großen Freigebigkeit nicht viel halfen. — Da¬
bei hatte er den Kopf beſtaͤndig voll romanhafter
Ideen, und war immer in irgend ein Frau¬
enzimmer ſterblich verliebt; wenn er auf dieſen
F 3[86] Punkt kam, ſo war es immer, als hoͤrte man
einen Liebhaber aus den Ritterzeiten. — Seine
Treue in der Freundſchaft, ſeine Begierde, den
Nohtleidenden zu helfen, und ſelbſt ſeine Gaſt¬
freiheit, kam auf dieſen Schlag heraus, und
gruͤndete ſich zum Theil auf die romanhaften Be¬
griffe, womit ſeine Phantaſie genaͤhrt war,
obgleich ſein gutes Herz der eigentliche Grund
davon war — denn nur auf dem Boden eines
guten Herzens koͤnnen dergleichen Auswuͤchſe von
romanhaften Tugenden emporkeimen, und Wur¬
zel faſſen. In einer eigennuͤtzigen Seele, und
zuſammengeſchrumpften Herzen wird die haͤufig¬
ſte Romanenlektuͤre nie dergleichen Wirkungen
hervorbringen. —


Man ſiehet nun leicht ein, warum Philipp
und Anton Reiſer ſich auf halbem Wege begegne¬
ten und bei dem naͤhern Umgange fuͤr einander
gemacht zu ſeyn ſchienen. Der erſtere war beinahe
zwanzig Jahr alt, da Reiſer ihn kennen lernte;
die Jahre, die er vor ihm voraus hatte, machten
ihn alſo gewiſſermaßen zu ſeinem Fuͤhrer und Rath¬
geber, nur Schade, daß in dem Hauptpunkte,
was die Ordnung des Lebens betraf, Reiſer
[87] keinen beſſern Fuͤhrer und Rathgeber fand. —
Indes hatte er doch nun den erſten eigentlichen
Freund ſeiner Jugend gefunden, deſſen Umgang
und Geſpraͤche ihm die Stunden, die er im Cho¬
re zubringen mußte, noch einigermaßen ertraͤg¬
lich machten.


Denn nun war das ſchoͤne Wetter vorbei,
und es ſtellten ſich Regen, Schnee und Kaͤlte
ein — demohngeachtet mußte das Chor ſeine ge¬
wiſſen Stunden auf der Straße ſingen. — O
wie zaͤhlte Reiſer jetzt da er vom Froſt erſtarrtt
war, die Minuten, ehe das laͤſtige Singen vor¬
bei war, das ihm ſonſt eine himmliſche Muſik
in ſeinen Ohren duͤnkte.


Den ganzen Mittwoch und Sonnabend¬
nachmittag, und den ganzen Sontag nahm nun
allein das Chorſingen weg — denn alle Son¬
tagmorgen mußten die Chorſchuͤler in der Kirche
ſeyn, um vom Chore herunter das Amen zu ſin¬
gen. — Auch des Sonnabendsnachmittags bei
der Vorbereitung zum Abendmahle, mußten die
juͤngern Chorſchuͤler mit dem Kantor ein Lied ſin¬
gen, und einer von ihnen einen Pſalm, oben von
dem hohen Chore herunter leſen, welches nun
F 4[88] fuͤr Reiſern wieder ein großer Fund war — durch
eine ſolche oͤffentliche und laute Vorleſung eines
Pſalms, hielt er ſich wieder fuͤr alle Beſchwer¬
lichkeiten des Chorſingens belohnt. — Er duͤnkte
ſich nun ſchon wie der Paſtor P. . . in B. . . da¬
zuſtehen, und mit erſchuͤtternder Stimme zu dem
verſammleten Volke zu reden.


Uebrigens aber wurde das Chorſingen fuͤr ihn
bald die unangenehmſte Sache von der Welt. Es
raubte ihm alle Erhohlungsſtunden, die ihm noch
uͤbrig waren, und machte, daß er nun keinem ein¬
zigen ruhigen Tage in der Woche entgegen ſehen
konnte. Wie verſchwanden die goldnen Traͤume, die
er ſich davon gemacht hatte! — und wie gern
haͤtte er ſich nun aus dieſer Sklaverei wieder
loßgekauft, wenn es noch moͤglich geweſen waͤre.
— Aber nun war das Chorgeld einmal zu ſeinen
gewoͤhnlichen Einkuͤnften mit gerechnet, und er
durfte gar nicht einmal daran denken, je wieder
davon loß zu kommen.


Den Gefaͤhrten ſeiner Sklaverei ging es groͤ߬
teutheis nicht beſſer, wie ihm, ſie waren dieſes
Lebens eben ſo uͤberdruͤſſig. — Und das Leben
[89] eines Chorſchuͤlers, der ſich ſein Brodt vor den
Thuͤren erſingen muß, iſt auch wirklich ein ſehr
trauriges Leben. Wenn einer den Muth nicht
ganz dabei verliert, ſo iſt das gewiß ein ſeltner
Fall. — Die meiſten werden am Ende nieder¬
traͤchtig geſinnet, und verlieren, wenn ſie es
einmal geworden ſind, nie ganz die Spur davon.


Einen ſonderbaren Eindruck auf Reiſern machte
das ſogenannte Neujahrſingen, welches drei Tage
nacheinander dauert, und wegen der ſeht ab¬
wechſelnden Scenen, die dabei vorfallen, mit ei¬
nem Zuge auf Abentheuer ſehr viel Aehnliches
hat — Ein Haͤufchen Chorſchuͤler ſteht in
Schnee und Kaͤlte dicht aneinander gedraͤngt auf
der Straße, bis ein Bote der von Zeit zu Zeit
abgeſchickt wird, die Nachricht bringt, daß in
irgend einem Hauſe ſoll geſungen werden. —
Dann geht man in das Haus hinein, und wird
gemeiniglich in die Stube genoͤthigt, wo denn
erſt eine Arie oder Motette, die ſich auf die Zeit
paßt geſungen wird. — Alsdenn pflegt man¬
cher Hauswirth ſo hoͤflich zu ſeyn, und die Chor¬
ſchuͤler mit Wein oder Kaffe, und Kuchen zu
F 5[90] bewirthen. Dieſe Aufnahme in einer warmen
Stube nach dem man oft lange in der Kaͤlte ge¬
ſtanden hatte, und die Erfriſchungen die einem
gereicht wurden, waren eine ſolche Erquickung,
und die Mannichfaltigkeit der Gegenſtaͤnde, in¬
dem man an einem Tage wohl zwanzig und mehr
verſchiedene haͤußliche Einrichtungen und Fami¬
lien in ihren Wohnzimmern verſammlet ſahe,
machte einen ſo angenehmen Eindruck auf die
Seele, daß man dieſe drei Tage uͤber in einer Art
von Entzuͤckung und beſtaͤndigen Erwartung
neuer Scenen ſchwebte, und ſich die Beſchwer¬
den der Witterung gern gefallen ließ. — Das
Singen dauerte bis faſt in die Nacht, und die
Erleuchtung des Abends machte dann die Scene
noch feierlicher — Unter andern wurde auch in
einem Hoſpital fuͤr alte Frauen zum Neujahr geſun¬
gen, wo ſich die Chorſchuͤler mit den alten Muͤt¬
tern in einen Kreis zuſammenſetzen, und mit
gefaltenen Haͤnden ſingen mußten: Bis hieher
hat mich Gott gebracht. u. ſ. w. — Bei dieſem
Neujahrſingen ſchien alles freundſchaftlicher ge¬
geneinander zu ſeyn. Man ſahe nicht ſo ſehr auf
die Rangordnung, die Primaner ſprachen mit den
[91] Sekundanern, und eine ungewoͤhnliche Heiter¬
keit verbreitete ſich uͤber die Gemuͤther.


An dieſem Neujahr uͤberfiel [auch] Reiſern eine
erſtaunliche Wuth Verſe zu machen. — Er
ſchrieb Neujahrwuͤnſche in Verſen an ſeine El¬
tern, ſeinen Bruder, die Frau F. . ., und wer
weiß an wen, und ſprach darin von Silberbaͤ¬
chen, die ſich durch Blumen ſchlaͤngelu, und von
ſanften Zephirs, und goldnen Tagen, daß es
zum bewundern war — ſein Vater hatte vor¬
zuͤgliches Vergnuͤgen an dem Silberbach gefun¬
den; ſeine Mutter aber verwunderte ſich, daß
er ſeinen Vater beſter Vater nenne, da er doch
nur einen Vater habe.


Seine poetiſche Lektion beſtand damals faſt
in nichts, als Leſſings kleinen Schriften, die
ihm Philipp Reiſer geliehen hatte und die er faſt
auswendig wußte, ſo oft hatte er ſie durchgele¬
ſen. Uebrigens ſieht man leicht, daß er, ſeit dem
er ins Chor ging, zu eignen Arbeiten, die von
ihm abhingen, eben nicht viel Zeit uͤbrig behielt.
Demohngeachtet hatte er allerlei große Projekte!
der Stil im Kornelius Nepos war ihm z. E.
nicht erhaben gnug, und er nahm ſich vor, die
[92] Geſchichte der Feldherrn ganz anders einzuklei¬
den; etwa ſo wie der Daniel in der Loͤwengrube
geſchrieben war — dieß ſollte denn auch eine
Art von Heldengedicht werden.


In einer Privatſtunde bei dem Konrektor
wurden des Terenz Komoͤdien geleſen, und ſchon
der Gedanke, daß dieſer Autor unter die ſchweren
gezaͤhlt wird, machte, daß er ihn mit groͤßerm
Eifer, als etwa den Phaͤdrus oder Eutropius
ſtudirte, und jedes Stuͤck, was in der Schule
geleſen wurde, ſogleich zu Hauſe uͤberſetzte. —


Als er nun auf die Weiſe wirklich in ſehr
kurzer Zeit ſtarke Fortſchritte gethan hatte, be¬
ſuchte er den alten tauben Mann wieder, der nun
weit uͤber hundert Jahr alt, und ſchon eine
Zeitlang kindiſch geweſen war, zu aller Verwun¬
derung aber noch ein Jahr vor ſeinem Tode ſei¬
nen voͤlligen Verſtand wieder erhielt. — Reiſer
wußte ſeine Stube am Ende des langen finſtern
Ganges, und ihm wandelte ein kleiner Schauer
an, als er von ferne den ſcharrenden Gang des
alten Mannes hoͤrte, der ihn, da er herein trat,
ſehr freundlich willkommen hieß, und ihn mit
[93] der Hand winkte, daß er ihm etwas aufſchrei¬
ben ſolle.


Mit welchem Entzuͤcken ſchrieb ihm nun Rei¬
ſer auf, daß er jetzt ſtudiere, und ſchon den Te¬
renz, und das grichiſche neue Teſtament uͤberſetze.


Der Greis ließ ſich herab, an Reiſers kin¬
diſcher Freude Theil zu nehmen, und wunderte
ſich daruͤber, daß er bereits den Terenz verſtuͤn¬
de, wozu doch ſchon eine Menge von Woͤrtern
gehoͤre. Am Ende ſchrieb ihm Reiſer um ſeine
Gelehrſamkeit ganz auszukramen, mit griechiſchen
Buchſtaben etwas auf — und der alte Mann er¬
munterte ihn zum fernern Fleiß, und ermahnte ihn,
des Gebets nicht zu vergeſſen, worauf er ſich mit
ihm auf die Knie nieder warf, und gerade ſo, wie
vor fuͤnf Jahren, da Reiſer ihn zum erſtenmale
ſahe, wieder mit ihm betete.


Mit geruͤhrtem Herzen gieng Reiſer zu Hau¬
ſe, und nahm ſich vor, ſich ganz wieder zu Gott
zu wenden, das hieß bei ihm, unaufhoͤrlich an
Gott zu denken — er erinnerte ſich mit Weh¬
muth des Zuſtandes, worin er ſich als ein Knab[e]
befunden hatte, da er mit Gott Unterredung
[94] hielt, und immer voll hoher Erwartung war,
was nun fuͤr große Dinge, in ihm vorgehen wuͤr¬
den. — In dieſen Erinnerungen lag eine un¬
beſchreibliche Suͤßigkeit, denn der Roman, den
die froͤmmelnde Phantaſie der glaͤubigen Seelen
mit dem hoͤchſten Weſen ſpielt, von dem ſie ſich
bald verlaſſen, und bald wieder angenommen
glauben, bald eine Sehnſucht und einen Hunger
nach ihm empfinden, und bald wieder in einem
Zuſtande der Trockenheit, und Lere des Her¬
zens ſind, hat wirklich etwas erhabnes, und
großes, und erhaͤlt die Lebensgeiſter in einer im¬
merwaͤhrenden Thaͤtigkeit, ſo daß auch die Traͤu¬
me des Nachts ſich mit uͤberirdiſchen Dingen be¬
ſchaͤftigen, wie denn Reiſern einſt traͤumte, daß
er in die Geſellſchaft der Seeligen aufgenommen
war, die ſich in cryſtallnen Stroͤmen badeten —
Ein Traum, der oft wieder ſeine Einbildungs¬
kraft entzuͤckt hat.


Reiſer liehe ſich nun von dem alten Tiſcher
die Guionſchen Schriften wieder, und erinnerte
ſich indem er ſie laß, an jene gluͤcklichen Zeiten
zuruͤck, wo er ſeiner Meinung nach auf dem
Wege zur Vollkommenheit begriffen war. —
[95] Wenn er nun manchmal durch ſeine aͤußeren Um¬
ſtaͤnde traurig und mißmuͤthig gemacht war, und
ihm keine Lektuͤre ſchmecken wollte, ſo waren die
Bibel und die Lieder der Madam Guion das
einzige, wozu er wegen des reizenden Dunkels,
das ihm darin herrſchte, ſeine Zuflucht nahm.
Ihm ſchimmerte durch den Schleier des raͤthſel¬
haften Ausdrucks ein unbekanntes Licht entgegen,
das ſeine erſtorbne Phantaſie wieder anfriſchte
— aber mit dem eigentlichen Fromm ſeyn oder
dem beſtaͤndigen Denken an Gott wollte es dem¬
ohngeachtet nicht mehr recht fort. — In den
Verbindungen worin er jetzt war, bekuͤmmerte
man ſich eben nicht mehr um ſeinen Seelenzu¬
ſtand, und er hatte in der Schule und im Chore
viel zu viel Zerſtreuung, als daß er auch nur eine
Woche lang ſeiner Neigung zum ununterbrochnen
In ſich gekehrt ſeyn haͤtte getreu bleiben koͤnnen.
Indes beſuchte er doch den Greis vor ſeinem
Tode noch verſchiedenemale, bis er auch einmal
zu ihm gehen wollte, und erfuhr, daß er todt
und begraben ſey — ſeine letzten Worte waren
geweſen: alles! alles! alles! — dieſe Worte er¬
innerte ſich Reiſer oft mitten im Gebet, oder
[96] auch ſonſt nach einer Pauſe, in einer Art von
Entzuͤckung, von ihm gehoͤrt zu haben — Es ſchien
dann zuweilen, als wollte er mit dieſen Worten
ſeinen zur Ewigkeit reifen Geiſt aushauchen, und
in dem Augenblick ſeine ſterbliche Huͤlle abſtreifen.
— Darum war es Reiſern ſehr auffallend, da
er hoͤrte, daß der alte Mann mit dieſen Worten
geſtorben ſey, und doch war es ihm auch, als
ſey er nicht geſtorben, ſo ſehr ſchien dieſer from¬
me Greis immer ſchon in einer andern Welt zu
leben — Tod und Ewigkeit, waren die letztenmale
das ihn Reiſer ſprach, faſt ſein einziger Gedan¬
ke. — Es war Reiſern diesmal faſt nicht an¬
ders, als ob der alte Mann ausgezogen ſey, da
er ihn habe beſuchen wollen, und dieß war bei
ihm nichts weniger als Gleichguͤltigkeit, ſondern
eine innige Vertraulichkeit mit dem Gedanken an
den Tod dieſes Mannes.


Indes hatte er an dem alten Mann wieder ei¬
nen Freund ſeiner Jugend verlohren, deſſen Theil¬
nehmung an ſeinen Schickſale ihm oft Freude ge¬
macht hatte. Er fuͤhlte ſich in manchen Stunden,
ohne ſelbſt zu wiſſen warum, verlaſſner wie ſonſt.
— Die Frau F. . . wurde der Laſt, welche ihr ſein
[97] Aufenthalt bei ihr machte, ebenfalls immer uͤber¬
druͤſſiger, und ſagte ihm endlich, nachdem ſie
dreivierteljahre lang Geduld gehabt hatte, die
Wohnung auf, mit dem wohlgemeinten Rathe,
daß er ſich nun nach einem andern Logis umſehen
ſolle. — Indes war der Rektor des Lyceums
abgegangen, und der neue Rektor S..., wel¬
cher an deſſen Stelle gewaͤhlt wurde, war ein
guter Freund von dem Paſtor M..., der nun
darauf dachte, Reiſern bei dieſem Mann ins
Haus zu bringen, und ihn im Voraus auf die
großen Vortheile aufmerkſam machte, welche ihm
dadurch erwachſen wuͤrden, wenn er das Gluͤck ha¬
ben ſollte, von dieſem Manne in ſein Haus auf¬
genommen zu werden. — Alſo bei dem Rektor
ſollte nun Reiſer ins Haus ziehen — wie ſehr
ſchmeichelte dieß ſeiner Eitelkeit! denn dachte er
ſich, wenn es ihm gluͤcken ſollte, ſich bei dem
Rektor beliebt zu machen, was fuͤr eine glaͤnzende
Ausſicht ſich ihm dann eroͤfnete, da uͤberdem
nun der Rektor ſein Lehrer wurde, indem er nach
Endigung ſeines erſten Schuljahres gleich nach
Prima verſetzt werden ſollte, worin der Direktor
und der Rektor allein Unterricht gaben.


[98]

Im Grunde war es ihm aͤußerſt angenehm,
daß ihm die Frau F... die Wohnung aufſagte,
weil er es nie haͤtte wagen duͤrfen, nur ein Wort
davon zu erwaͤhnen, daß er von ihr wegziehen
wolle. — Hiezu kam nun noch, daß er die
große Erwartung hatte, ein Hausgenoſſe des
Rektors ſeines kuͤnftigen Lehrers zu werden.
Allein um dieſe Zeit hatte ſich eine neue Grille in
ſeiner Phantaſie zu bilden angefangen, welche
auf ſein ganzes kuͤnftiges Leben einen großen
Einfluß gehabt hat.


Ich habe nehmlich ſchon der Deklamations¬
uͤbungen erwaͤhnt, welche in Sekunda von dem
Konrektor veranſtaltet wurden. Dieß hatte fuͤr
ihn und J... einen ſo außerordentlichen Reiz,
daß alles andre ſich dagegen verdunkelte, und
Reiſer nichts mehr wuͤnſchte, als Gelegenheit
zu haben, mit mehreren ſeiner Mitſchuͤler einmal
eine Komoͤdie aufzufuͤhren, um ſich im Deklamiren
hoͤren zu laſſen — dieß hatte einen ſo unendlichen
Reiz fuͤr ihn, daß er eine Zeitlang Tag und Nacht
mit dieſem Gedanken umgieng, und ſelber den Ent¬
wurf zu einer Komoͤdie machte, wo zwei Freunde
von einander getrennt werden ſollten, und dar¬
[99] uͤber untroͤſtlich waren, u. ſ. w. — Auch fand
er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand
geliehen hatte, ein ruͤhrendes Drama in Ver¬
ſen: der Einſiedler welches er gern mit J. . .
auffuͤhren wollte. — Er wuͤnſchte ſich denn eine
recht affektvolle Rolle, wo er mit dem groͤßten
Pathos reden und ſich in eine Reihe von Em¬
pfindungen verſetzen koͤnnte, die er ſo gern hatte,
und ſie doch in ſeiner wirklichen Welt, wo alles
ſo kahl ſo armſelig zuging, nicht haben konnte.
— Dieſer Wunſch war bei Reiſern ſehr natuͤr¬
lich; er hatte Gefuͤhle fuͤr Freundſchaft, fuͤr
Dankbarkeit, fuͤr Großmuth, und edle Ent¬
ſchloſſenheit, welche alle ungenutzt in ihm ſchlum¬
merten; denn durch ſeine aͤußere Lage ſchrumpfte
ſein Herz zuſammen. — Was Wunder, daß
es ſich in einer idealiſchen Welt wieder zu erwei¬
tern, und ſeinen natuͤrlichen Empfindungen nach¬
zuhaͤngen ſuchte! — In dem Schauſpiel ſchien
er ſich gleichſam wieder zu finden, nachdem er
ſich in ſeiner wirklichen Welt beinahe verlohren
hatte — Darum wurde auch in der Folge ſeine
Freundſchaft mit Philipp Reiſern beinahe eine the¬
athraliſche Freundſchaft, die oft ſo weit ging, daß
G 2[100] einer fuͤr den andern zu ſterben entſchloſſen war.
— Nun wurde ihm die Theatergrille ſo werth,
daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch
aus ſeiner Seele verdraͤngt wurde — denn hier
fand ſeine Phantaſie einen weit groͤßern Spiel¬
raum, weit mehr wirkliches Leben, und Interreſſe,
als in dem ewigen Monolog des Predigers. —
Wenn er die Scenen eines Drama, daß er ent¬
weder geleſen, oder ſich ſelbſt in Gedanken ent¬
worfen hatte, durchging, ſo war er das alles
nacheinander wirklich, was er vorſtellte, er war
bald großmuͤthig, bald dankbar, bald gekraͤnkt
und duldend, bald heftig und jedem Angriff
muthig entgegenkaͤmpfend.


Dabei war ihm nun die Ausſicht auf Prima
aͤußerſt glaͤnzend — denn die Primaner des Ly¬
ceums in H. . . hatten wirklich ſo viele aͤußere in
die Augen fallende Vorzuͤge wie in wenigen Schu¬
len ſtatt finden moͤgen. — Sie hielten alle Neu¬
jahr bei einer großen Menge Zuſchauer einen
oͤffentlichen Aufzug mit Muſik und Fackeln, in¬
dem ſie dem Direktor und dem Rektor ein Vivat
brachten. — Am Abend darauf uͤberreichten ſie
das eine Jahr dem Direktor, und das andere
[101] dem Rektor, ein freiwillig zuſammengebrachtes
Geſchenk, das gemeiniglich uͤber hundert Thaler
betrug, und wobei derjenige der es uͤberreichte
eine kurze lateiniſche Rede hielt — alsdann wur¬
den ſie mit Wein und Kuchen bewirthet, und
durften ſich die Freiheit herausnehmen, ihrem
Lehrer in ſeiner Behauſung ein lauterſchallendes
Vivat zu rufen.


Faſt ein Vierteljahr vorher wurde immer
ſchon von der Anordnung dieſes Zuges geſprochen.


Alle Sommer in den Hundstagen wurde
von den Primanern oͤffentlich Komoͤdie geſpielt,
wo ihnen die Wahl der Stuͤcke, und die Anord¬
nung ebenfalls allein uͤberlaſſen war — Dieß be¬
ſchaͤftigte ſie faſt den ganzen Sommer uͤber. —
Dann fiel im Jenner das Geburtsfeſt der Koͤ¬
nigin, und im May das Gebursfeſt des Koͤnigs
ein, wo allemal mit großer Feierlichkeit ein Re¬
deaktus veranſtaltet wurde, bei dem der Prinz,
die Miniſter, und faſt alle Honoratioren der
Stadt erſchienen. Die Vorbereitung hiezu nahm
nun jedesmal ſehr viel Zeit weg — Dazu ka¬
men jaͤhrlich noch zwei oͤffentliche Pruͤfungen,
die auch allemal mit Ferien begleitet waren —
G 3[102] Hiedurch gieng freilich viel Zeit verlohren —
Indes waren dieß alles doch ſo viele glaͤnzende
Ziele fuͤr einen ehrgeizigen Juͤngling, welche
ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auf¬
friſchten, ſo bald er verloͤſchen wollte.


Etwa einmal einer der Anfuͤhrer bei dem Zuge
der mit Fackeln zu ſeyn, oder die lateiniſche Rede
bei Ueberreichung des Geſchenks zu halten, oder
eine Hauptrolle in einem der aufgefuͤhrten Stuͤcke
zu bekommen, oder gar eine Rede an des Koͤnigs
oder der Koͤnigin Geburtstage zu halten, das
waren die Wuͤnſche und Außichten eines Primaners
des Lyceums in H. . . — Hiezu kam nun noch
der elegante Hoͤ [...]ſaal der erſten Klaſſe, mit dem
zierlichgebauten doppelten Katheder von ſchoͤnge¬
bohnten Nußbaumholz, und vor den Fenſtern
die gruͤnen Vorhaͤnge, welches alles ſich verei¬
nigte, um Reiſers Phantaſie aufs neue mit rei¬
zenden Bilden von ſeinem kuͤnftigen Zuſtande an¬
zufuͤllen, und ſeine Erwartung von dem, was
nun mit ihm vorgehen wuͤrde, bis auf den hoͤch¬
ſten Grad zu ſpannen. Sogleich nach ſeinem
erſten Schuljahre ein Primaner zu werden, das
[103] war ein Gluͤck, welches er ſich kaum haͤtte traͤu¬
men laſſen.


Erfuͤllt von dieſen Hoffnungen und Ausſich¬
ten, reißte er nun in der Ferienwoche vor Oſtern,
mit Fuhrleuten, die denſelben Weg nahmen, zu
ſeinen Eltern, um ihnen ſein Gluͤck zu verkuͤndi¬
gen. — Auf dieſer Reiſe, da der Weg groͤßten¬
theils durch Wald und Heide gieng, nahm ſeine
vorher erwaͤrmte Phantaſie einen außerordent¬
lichen Schwung; er entwarf Heldengedichte,
Trauerſpiele, Romane, und wer weiß was —
zuweilen fiel ihm auch der Gedanke ein, ſein Leben
zu ſchreiben; der Anfang, den er ſich dachte lief
aber immer auf den Schlag der Robinſons hin¬
aus, die er geleſen hatte, daß er nehmlich in
dem und dem Jahre zu H. . . von armen doch
ehrlichen Eltern gebohren ſey, und ſo ſollte es
denn weiter fortgehen.


So oft er nachher zu ſeinen Eltern reißte,
es mochte nun zu Fuß oder zu Wagen ſeyn, war
unterwegens ſeine Einbildungskraft immer am
geſchaͤftigſten — ein ganzer Zeitraum ſeines ver¬
floßnen Lebens ſtand vor ihm da, ſo bald er die
vier Thuͤrme von H. . . aus dem Geſicht verlohr
G 4[104] — der Geſichtskreis ſeiner Seele erweiterte ſich
denn mit dem Geſichtskreis ſeiner Augen — Er
fuͤhlte ſich aus dem umſchraͤnkten Cirkel ſeines
Daſeyns in die große weite Welt verſetzt, wo alle
wunderbaren Ereigniſſe, die er je in Romanen,
geleſen hatte, moͤglich waren — daß etwa von
jenem Huͤgel ploͤtzlich ſein Vater oder ſeine Mut¬
ter wie aus der Ferne ihm entgegen kommen, und
wie er denn freudig auf ſie zueilen wuͤrde — er
glaubte ſchon den Ton der Stimme ſeiner El¬
tern zu hoͤren — und da er nun das erſtemal
dieſe Reiſe that, ſo empfand er wirklich das rein¬
ſte Vergnuͤgen der ſehnlichen Erwartung, bei
ſeinen Eltern zu ſeyn: denn was hatte er ihnen
nicht fuͤr große Dinge zu erzaͤhlen!


Da er nun am folgenden Mittage hinkam,
bewillkommten ihn ſeine Eltern und ſeine bei¬
den Bruͤder mit herzlicher Freude in ihrer laͤnd¬
lichen Wohnung. Sie hatten einen kleinen
Garten hinter dem Hauſe. Und waren ſo weit
recht gut eingerichtet. Aber mit dem Hausfrieden
ſtand es leider, wie er bald ſahe, noch nach wie
vor. Er hoͤrte indes von ſeinem Vater wieder
die Zither ſpielen, und die Lieder der Madam
[105] Guion dazu ſingen. — Sie unterredeten ſich
nun auch uͤber die Lehren der Mad. Guion, und
Reiſer der ſich in ſeinem Kopfe ſchon eine Art
von Mataphiſik gebildet hatte, die nahe an den
Spinozismus grenzte, traf mit ſeinem Vater oft
wunderbar zuſammen, wenn ſie von dem All der
Gottheit und dem Nichts der Kreatur, das die
Madame Guion lehrte, ſprachen. Sie glaubten
ſich einander zu verſtehen, und Reiſer empfand
ein unendliches Vergnuͤgen in dieſen Unterredun¬
gen mit ſeinem Vater, denn es war ihm ſchmei¬
chelhaft, daß ſich ſein Vater, der ihn ſonſt nur
fuͤr einen dummen Jungen zn halten ſchien, nun
ſebſt uͤber dergleichen erhabne Gegenſtaͤnde mit
ihm unterredete. Dann beſuchten ſie den Predi¬
ger und die Honorationen des Orts, wo Reiſer
allenthalben mit ins Geſpraͤch gezogen wurde,
und ſich auch, weil ihm dieſe Behandlung Selbſt¬
zutrauen einfloͤßte, dabei ganz gut nahm. —
Die Nachbaren ſeiner Eltern, und wer ſonſt hin¬
kam, waren alle aufmerkſam auf den Sohn des
* * ſchreibers, den der Prinz in H... ſtudiren
ließe — Die reine ungetruͤbte Freude, die Rei¬
ſer in dieſen wenigen Tagen genoß, verbunden
G 5[106] mit den angenehmſten Hoffnungen, erſetzte ihm
reichlich allen Kummer, und unverdiente Demuͤ¬
thigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬
ten hatte.


So nahe, wie ſeine Mutter, nahm doch
niemand in der Welt an ſeinem Schickſal Theil —
ſo oft er ſich des Abends zu Bette legte, ſprach
ſie das Gott walte uͤber ihn, und ſchlug uͤber
ſeine Stirne das Kreuz dazu, wie ſie ehemals
gethan hatte, damit er ſicher ſchlafen ſollte, und
kein Abend und kein Morgen verging, wo ſie
ihn, auch in ſeiner Abweſenheit nicht mit in ihr
Gebet einſchloß. — Mit Wemuth nahm Rei¬
ſer Abſchied von ſeinen Eltern, und da er die
Thuͤrme von H. . . wieder ſahe, ſo beklemten
traurige Ahndungen ſein Herz.


Den andern Tag nach ſeiner Zuruͤckkunft
wurde er von dem Direktor zu der Klaſſenverſe¬
tzung gepruͤft, und da er aus des Cicero Buche
von den Pflichten etwas aus dem lateiniſchen ins
deutſche uͤberſetzen ſollte, ſo fuͤgte es ſich daß er in
dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, un¬
[gluͤcklicherweiſe] ein Blatt mit ſolcher Ungeſchick¬
[107] lichkeit umſchlug, daß er es beinahe zerriſſen
haͤtte. Durch ſo etwas konnte nun die Empfind¬
lichkeit des Direktors, der in allem ſtets die aͤu¬
ßerſte Delikateſſe ſuchte, gerade am ſtaͤrkſten be¬
leidigt worden. — Reiſer verlohr unendlich bei
ihm durch dieſen Zug von anſcheinenden Mangel
an feiner Empfindung und feiner Lebensart. Der
Direktor verwieß ihm auf eine ſehr bittere Art
ſeine Ungeſchicklichkeit, ſo daß Reiſers Zutrauen
zu dem Direktor, durch die Beſchaͤmung, wor¬
in er durch dieſen bittern Verweiß verſetzt wurde,
ebenfalls einem gewaltigen Stoß erhielt, wovon
es ſich nie wieder erhohlen konnte. Das ſchuͤch¬
terne Weſen, was Reiſer auf dieſe Veranlaſſung
von nun an in der Gegenwart des Direktors be¬
wieß, diente dazu, ihn bei denſelben noch im¬
mer mehr herabzuſetzen. — Kurz, von einem
einzigen zu ſchnell umgeſchlagenen Blatte, in
dem Exemplar des Direktors von Ciceros Buche
von den Pflichten, ſchrieben ſich groͤßtentheils
alle die Leiden her, die Reiſern von nun an in
ſeinen Schuljahren bevorſtanden, und welche ſich
vorzuͤglich auf den Mangel der Achtung des Di¬
rektors gruͤndeten, deſſen Beifall, woran ihm ſo
[108] viel lag, er zuerſt durch das zu ſchnelle Blatt¬
umſchlagen verſcherzt hatte.


Hiezu kam nun noch, daß die Frau F..., ob
er gleich von ihr weg zog, ihm doch ſein neues
Kleid einſchloß, und er mit einem alten Rock,
den er noch von den Hutmacher L... hatte, Pri¬
ma beſuchen mußte, wo er neben ſich faſt lau¬
ter wohlgekleidete junge Leute ſahe. Der Rock
gab ihm ein laͤcherliches Anſehn, weil er ihm zu
kurz geworden war. Dieß fuͤhlte er ſelbſt, und
der Umſtand trug ſehr viel zu der Schuͤchternheit
in ſeinem Weſen bei, das er in Prima mehr wie
jemals aͤußerte. — Auch waren der Kantor
und der Konrektor aͤußerſt auf ihn aufgebracht,
daß er ihnen von ſeiner Verſetzung nach Prima
vorher nichts geſagt, und ohne ihren Rath
dieſen Schirtt gethan haͤtte. Er entſchul¬
digte ſich ſo gut er konnte, damit, daß er es
nicht bedacht haͤtte. Der Kantor verzieh ihm
auch bald, aber der Konrektor hat es ihm nie ver¬
ziehen, ſondern es ihn noch lange nachher ent¬
gelten laſſen. Er machte nehmlich eine ſtarke
Forderung an Reiſern fuͤr die Privatſtunden,
die dieſer bei ihm gehabt hatte, und wovon je¬
[109] dermann glaubte, daß er ſie ihm umſonſt wuͤrde
gegeben habe — dieß Geld ließ er Reiſern ei¬
nige Jahre hindurch von ſeinem Chorgelde abzie¬
hen, wenn es dieſer oft am noͤthigſten brauch¬
te. — Ein Umſtand der ihn ebenfalls ſehr nie¬
derſchlug.


Nun bekam er in dem Hauſe des Rektors
zwar eine Stube und Kammer, aber auch wei¬
ter nichts, denn der Rektor war ſelbſt noch nicht
recht eingerichtet. Reiſer hatte noch eine wollene
Decke von ſeinen Eltern, dazu miethete man
ihm ein Kopfkuͤßen [und] Unterbette, um ja ſo
viel, wie moͤglich zu ſparen; wenn es nun des
Nachts kalt war, ſo mußte er ſeine Kleider zu
Huͤlfe nehmen, um ſich hinlaͤnglich zu bedecken.
Ein altes Klavier, das er hatte, diente ihm
ſtatt eines Tiſches, dazu hatte er eine kleine Bank
aus dem Auditorium des Rektors, uͤber dem Bet¬
te ein kleines Buͤcherbrett an einem Nagel haͤn¬
gend, und in der Kammer hatte er einen alten
Koffer mit ein paar abgetragenen Kleidungsſtuͤ¬
cken ſtehen — das war ſeine ganze haͤußliche
Einrichtung, wobei er ſich aber doch um ein gro¬
ßes gluͤcklicher befand, als in der Stube der Frau
[110] F..., in welcher ſonſt weit mehr Bequemlichkei¬
ten waren.


Wenn er nun allein auf ſeiner Stube war,
ſo befand er ſich ſo weit recht wohl, aber zu dem
Rektor konnte er noch kein Zutrauen faſſen. Wenn
er ihn gleich im Schlafrock und in der Nacht¬
muͤtze ſahe, ſo ſchien doch immer ein Nimbus
von Ernſt und Wuͤrde ſich um ihn her zu ver¬
breiten, der Reiſern in großer Entfernung von
ihm hielt — er mußte ihm ſeine Bibliothek in
Ordnung bringen helfen; wenn er denn zuweilen
ſo dicht bei ihm ſtand, indem er ihm Buͤcher zu¬
reichte, daß er ſeinen Athem hoͤren konnte, ſo fuͤhlte
er oft einige anſchließende Kraft in ſich — aber
in dem folgenden Augenblick war die Schuͤch¬
ternheit und Verlegenheit wieder da — Dem¬
ohngeachtet liebte er den Rektor — und ſein mit
romanhaften Ideen angefuͤllter Kopf ließ ihn
manchmal den Wunſch thun, daß er doch mit
dem Rektor auf irgend eine unbewohnte Inſel
verſetzt werden moͤchte, wo ſie durch das Schick¬
ſal gleich gemacht, auf einen freundſchaftlichen und
vertrauten Fuß umgehen koͤnnten.


[111]

Der Rektor that alles, um Reiſern Muth
und Zutrauen einzufloͤßen; er ließ ihn verſchied¬
nemal mit ſich allein an ſeinem Tiſche ſpeiſen,
und unterredete ſich mit ihn — Reiſer hatte da¬
mals ſchon Schriftſtellerprojekte: er wollte die
alte Acerra Philalogika in einen beſſern Stil
bringen, und der Rektor war ſo guͤtig, ihn zu
ermuntern, daß er immer dergleichen Projekte
fuͤr die Zukunft naͤhren, und ſich mit dergleichen
Ausarbeitungen beſchaͤftigen ſolle.


Wenn nun Reiſer uͤber ſo etwas mit dem
Rektor ſprach, ſo fehlte es ihm immer an den
rechten Ausdruͤcken, deren er ſich bedienen ſollte,
welches ſeine Perioden ſehr unterbrochen machte.
— Denn er ſchwieg lieber, ehe er das unrechte
Wort zu dem Gedanken waͤhlte, den er ausdruͤ¬
cken wollte. — Der Rektor half ihm dann mit
vieler Nachſicht zurecht — Er ließ ihn auch zu¬
weilen des Abends zu ſich auf die Stube kommen,
und ſich von ihm vorleſen. —


Reiſer erdreiſtete ſich denn auch manchmal
Fragen an ihn zu thun: in wie fern z. B. ein
Stuhl ein Individuum zu nennen ſey, da man
ihn doch immer noch wieder theilen koͤnne, wel¬
[112] cher Zweifel ihm bei der Logik, die er vom Di¬
rektor hoͤrte, aufgefallen war — und der Rek¬
tor loͤßte ihm ſehr herablaſſend ſeinen Zweifel auf,
und lobte ihn dabei wegen ſeines Nachdenkens
uͤber dergleichen Gegenſtaͤnde; ja er ſcherzte zu¬
weilen gar mit ihm, und wenn er ihn dem Auf¬
trag gab, irgend ein Buch oder ſonſt etwas zu
hohlen, ſo that er dieß nie in einem befehlenden
Tone, ſondern bittweiſe. — So war nun alles
ſo weit recht gut — aber das Blattumſchlagen
ſchien nun einmal fuͤr Reiſern eine ungluͤckliche
Sache zu ſeyn — er mußte einmal fuͤr den
Rektor geheftete Buͤcher aufſchneiden, und mach¬
te das ſo ungeſchickt, daß er mit dem Feder¬
meſſer tiefe Einſchnitte in die Blaͤtter machte,
wodurch ein paar Buͤcher faſt ganz verdorben
wurden. — Der Rektor wurde daruͤber ſehr
boͤſe, und machte ihm den bittern Vorwurf, als
ob er aus Bosheit die Einſchnitte in die Blaͤt¬
ter gemacht habe, um von der Arbeit frei zu
ſeyn. — Das war nun freilich nicht der Fall —
der Vorwurf ſchmerzte Reiſern und trug viel
dazu bei, ſeinen allmaͤlig wachſenden Muth wie¬
der niederzuſchlagen.


[113]

Indes erhohlte er ſich doch noch einmal wie¬
der, da ihn der Rektor auf einer kleinen Reiſe,
nach einer benachbarten katholiſchen Stadt mit¬
nahm, um die Feier des Frohnleichnamsfeſtes
mit anzuſehen. — Der Rektor, der Konrek¬
tor, der Kantor, und ein paar Kandidaten der
Theologie, fuhren auf einem Wagen mit Extra¬
poſt, wo Reiſer auch ein Plaͤtzchen erhielt —
Nun hoͤrte er, dieſe ehrwuͤrdigen Maͤnner, die
durch das Aneinanderſchließen, welches gemeinig¬
lich bei einer kleinen Reiſegeſellſchaft ſtatt zu finden
pflegt, vertraulich gemacht waren, ſehr lebhaft
mit einander ſcherzen; und dieß that eine ganz
beſondere Wirkung auf Reiſern. — Der Nim¬
bus um ihre Koͤpfe verſchwand allmaͤlig, und er
ſahe an ihnen zum erſtenmale Menſchen, wie an¬
dre Menſchen ſind — Dem nach nie hatte er eine
Geſellſchaft von Schwarzroͤcken zuſammengeſehen,
die ſich ohne Zwang mit einander beſprachen,
und alle das ſteife zermonienmaͤßige Weſen, was
ihnen ſonſt von ihrem Stande anklebt, auf eine
Zeitlang gegen einander ablegten. Nur der gute
Kantor behielt immer ein gewiſſes ſteifes Weſen
bei, und da unterweges eine große Menge Bett¬
H[114] ler, die geiſtliche Lieder abſangen, dem Wagen
entgegen kamen, ſchraubte man den Kantor mit
dieſem Auftritt, indem man ihn wegen dieſer
ſchreckichen Disharmonien, wodurch ſein Gehoͤr
ganz erſchuͤttert wurde, herzlich bedauerte. —
Es war zum erſtenmale, daß Reiſer ſahe, wie
ſich ſolche ehrwuͤrdige Maͤnner auch, eben ſo
wie andre Leute, untereinander ſchrauben koͤnn¬
ten. Und dieſe Erfahrung, die er mach¬
te, war ihm ſehr nuͤtzlich, indem er nun jeden
Prieſter, den er ſonſt noch immer gewiſſermaßen
als eine Art von uͤbermenſchlichem Weſen be¬
trachtete, ſich etwa in den Cirkel einer ſolchen
Reiſegeſellſchaft dachte, und ihn denn in ſeiner
Vorſtellung, von dem Nimbus, der ihn vorher
umgab, mit leichter Muͤhe entbloͤßte.


Allein er fuͤhlte es demohngeachtet wieder
lebhaft, welch ein unbedeutendes Weſen er in
dieſer Geſellſchaft war; und da man alle Merk¬
wuͤrdigkeiten der Kloͤſter, und andre Sachen in
der katholiſchen Stadt beſahe, wozu noch eine
Anzahl zum Theil auch fremder Perſonen ſich
geſellte, ſo fuͤhlte er, wie es ſich immer von
ſelbſt verſtand, daß er bei allem der letzte war,
[115] und daß er dieß noch als eine große Ehre anſehen
mußte, die ihm wiederfuhr — dieſer Gedanke
machte, daß er ſich in der Geſellſchaft verlegen,
albern, und dumm betrug, und dieß verlegene
und alberne Betragen fuͤhlte er auch wieder ſelbſt
weit ſtaͤrker, als es vielleicht irgend jemand au¬
ßer ihm bemerken mochte; darum war er die Zeit
uͤber, in welcher er ſo viel neues zu hoͤren und
zu ſehen bekam, nichts weniger als gluͤcklich,
und wuͤnſchte ſich wieder auf ſein einſames Stuͤb¬
chen, mit der Bank und dem alten Klaviere, und
dem Buͤcherbrett, das uͤber dem Bette am Na¬
gel hing.


Was aber nun vorzuͤglich anfing, ihm ſein
Schickſal zu verbittern, war eine neue unver¬
diente Demuͤthigung, wozu ſeine gegenwaͤrtige
Lage, die er doch wiederum nicht aͤndern konnte,
die Veranlaſſung gab.


Als er nehmlich die erſtenmale Prima be¬
ſuchte, ſo hoͤrte er ſchon zuweilen hinter ſich zi¬
ſcheln: ſieh, das iſt des Rektors Famulus! —
Eine Benennung, mit welcher Reiſer den aller¬
niedrigſten Begriff verband; denn er wußte von
den Verhaͤltniſſen eines Famulus auf der Uni¬
H 2[116] verſitaͤt noch nichts. Ihm bezeichnete Famulus,
wo moͤglich noch weniger, als einen Bedienten,
der ſeinem Herren die Schuh puzt — Dabei
daͤuchte es ihm, als ob er allgemein von ſeinen
Mitſchuͤlern mit einer Art von Verachtung be¬
trachtet wurde. — Dann dachte er ſich in ſeinem
kurzem Rocke, womit er ſich immer ſelbſt in einer
laͤcherlichen Geſtalt erſchien — In Sekunda
war er ohngeachtet ſeiner ſchlechten Kleidung
von ſeinen Mitſchuͤlern noch geachtet worden,
wegen der hohen Meinung, die man davon hat¬
te, daß ihn der Prinz ſtudieren ließ. In Pri¬
ma wußte man dieß zwar auch zum Theil, aber
die Idee, daß er beim Rektor Famulus war,
ſchien ihn in aller Augen herabzuſetzen. — Nun
kam in Prima außerordentlich viel auf den Plaz
an, wo man ſaß: hoͤhere Plaͤtze konnten nur
durch langen fortgeſetzten Fleiß erlangt werden.
Gemeiniglich ruͤckte man alle halbe Jahre nur
eine Bank in die Hoͤhe — Die erſten vier Baͤn¬
ke machten den untern, und die letztern drei den
obern Coͤtus aus — Wer nun bei den halb¬
jaͤhrigen Verſetzungen zuruͤck blieb, fuͤr den war
dieß eine der groͤßten Erniedrigungen.


[117]

Nun hatte Reiſer gleich am dritten Morgen,
waͤhrend daß ein Primaner von dem untern Ka¬
theder ein geſchriebnes Gebet ablaß, da ihm,
ſein Nachbar etwas ſagte, eine laͤchelnde Mie¬
ne gemacht, und da er ſahe, daß er vom Direk¬
tor bemerkt wurde, dieſe Mine ploͤtzlich in eine
ernſthafte zu verwandeln geſucht — Und der
Eindruck, welcher noch von dem Blattumſchla¬
gen in ſeiner Seele zuruͤck geblieben war, mach¬
te, daß dieſe ploͤtzliche Veraͤnderung ſeiner Mie¬
ne, nicht im mindeſten auf eine edle, ſondern
vielmehr hoͤchſt mißtrauiſche, gemeine, und ſkla¬
viſche Furcht verrathende Art geſchahe, woraus
der Direktor mit einem Blick des Zorns und der
Verachtung, den er waͤhrendem Gebet auf Rei¬
ſern warf, ſeine niedrige, gemeine Denkungs¬
art zu ſchließen ſchien. — Ein ſolcher Blick
vom Direktor war ſchon etwas, das allgemeine
Aufmerkſamkeit zu erregen pflegte. — Da nun
aber das Gebet vorbei war, ſo ſagte er Reiſern
ein paar Worte uͤber das Niedertraͤchtige in ſei¬
ner Mine, welche dieſen auf einmal der Ver¬
achtung der ganzen Klaſſe ausſetzten, den die Aus¬
ſpruͤche des Direktors Orakel waren.


[118]

Reiſer getraute ſich von nun an nicht mehr,
ſeine Augen zu dem Direktor aufzuſchlagen, und
mußte ſich in den Stunden deſſelben, wie ein
Weſen betrachten, auf das nicht die mindeſte
Ruͤckſicht genommen ward: denn der Direktor
rief ihn niemals auf. — Ein paar junge Leute
die nach Reiſern in Prima kamen, wurden uͤber
ihn geſetzt, und er mußte verſchiedene Monathe
lang der letzte von allen bleiben. — Der junge
R... ein vorzuͤglicher Kopf, der ſich nachher als
Mahler beruͤhmt gemacht hat, ſaß neben Rei¬
ſern, und ſchien ſich an ihn ſchließen zu wollen;
allein ein Blick des Direktors, womit derſelbe
ihn anſahe, da er einmal mit Reiſern ſprach,
daͤmpfte jeden Funken von Achtung, den er gegen
Reiſern zu haben ſchien, und machte ſein Herz
von ihm abgewandt. — Das Betragen des Di¬
rektors gegen Reiſern war eine Folge von deſſen
ſchuͤchternen und mißtrauiſchen Weſen, daß eine
niedrige Seele zu verrathen ſchien; allein der
Direktor erwog nicht, daß eben dieß ſchuͤchterne
und mißtrauiſche Weſen wieder eine Folge von
ſeinem erſten Betragen gegen Reiſern war.


[119]

Dieſer war nun einmal in der Achtung ſeiner
Mitſchuͤler geſunken, und jeder nahm ſich jetzt
heraus zum Ritter an ihn zu werden, jeder
wollte ſeinen Witz an ihm uͤben, und nahm
er es gleich mit einem auf, ſo waren wieder zwan¬
zig andre, die mit einander wetteiferten, ihn
zum Ziel ihres Spottes zu machen; ſelbſt ſeine
Bravour, wenn er ſich zuweilen mit denen, die
es zu arg machten ſchlug, wudurch jeder andre
ſich vielleicht wieder in Achtung geſetzt haͤtte,
wurde laͤcherlich gemacht — Man ziſchelte ſich
nicht mehr in die Ohren: ſeht da des Rektors
Famulus! ſondern ſobald er des Morgens
hereintrat, hieß es: da koͤmmt der Famulus!
und dieſe Ehrenbenennung ſchallete ihm aus allen
Ecken entgegen. — Es war als ob ſich alles
verſchworen haͤtte, ſich auf ihn zu ſetzen, und
ihn laͤcherlich zu machen. —


Dieſer Zuſtand wurde ihm eine Hoͤlle —
er heulte, tobte, und gerieth in eine Art von
Raſerei daruͤber, und auch dieß wurde laͤcherlich
gemacht. — Zuletzt trat denn zuweilen eine Art
von Dumpfheit der Empfindung an die Stelle
ſeines bis zur Wuth und Raſerei beleidigten Stol¬
H 4[120] zes — er hoͤrte und ſahe nicht mehr, was um
ihn her vorging, und ließ alles mit ſich machen,
was man wollte, ſo daß er in dem Zuſtande ein
wuͤrdiger Gegenſtand des Spottes und der Ver¬
achtung zu ſeyn ſchien.


Was Wunder, wenn er am Ende durch dieſe
fortgeſetzte Behandlung wuͤrklich niedertraͤchtig
geſinnt geworden waͤre — Aber er fuͤhlte noch
immer Kraft geung in ſich, in gewiſſen Stunden,
ſich ganz aus ſeiner wirklichen Welt zu verſe¬
tzen. — Das war es, was ihn aufrecht erhielt
— Wenn ſeine Seele durch tauſend Demuͤthi¬
gungen in ſeiner wirklichen Welt erniedrigt war,
ſo uͤbte er ſich wieder in den edlen Geſinnungen
der Großmuth, Entſchloſſenheit, Uneigennuͤtzig¬
keit und Standhaftigkeit, ſo oft er irgend ei¬
nen Roman, oder heroiſches Drama durchlaß
oder durchdachte. — Oft traͤumte er ſich auf
die Weiſe uͤber allen Kummer der Erde hinaus,
in heitre Scenen hin, wenn er vom Froſt er¬
ſtarrt, im Chore ſang, und verphantaſierte ſo
manche Stunde, wo denn gewiſſe Melodien,
die er hoͤrte und mitſang, ſeinen Traum
oft fortpflanzen halfen. — Nichts klang ihm
[121] z. B. ruͤhrender und erhabener, als wenn der
Praͤfektus anhub zu ſingen:


Hylo ſchoͤne Sonne

Deiner Strahlen Wonne

In den tiefen Flor —

Das Hylo allein ſchon verſetzte ihn in hoͤhere
Regionen, und gab ſeiner Einbildungskraft alle¬
mal einen außerordentlichen Schwung, weil er
es fuͤr irgend einen orientaliſchen Ausdruck hielt,
den er nicht verſtand, und eben deswegen einen
ſo erhabnen Sinn, als er nur wollte hineinle¬
gen konnte: bis er einmal den geſchriebenen
Text unter den Noten ſahe, und fand daß es
hieß


Huͤll' o ſchoͤne Sonne, u. ſ. w.
Dieſe Worte ſang der Praͤfektus nach ſeiner
thuͤringiſchen Mundart immer: Hylo ſchoͤne
Sonne
— Und nun war auf einmal das gan¬
ze Zauberwerk verſchwunden, welches Reiſern,
ſo manchen frohen Augenblick gemacht hatte. —
Eben ſo war es ihm immer ſehr ruͤhrend, wenn
geſungen wurde: Du verdeckeſt ſie in den
Huͤtten
, oder lieg ich nur in deiner Hut, o
ſo ſchlaf ich ſanft und gut


[122]

Er wiegte ſich oft ſo ſehr in die ſuͤßen Empfin¬
dungen von dem Schutz eines hoͤhern Weſens
ein, daß er Regen, und Froſt und Schnee ver¬
gaß, und ſich in der ihn umgebenden Luft, wie
in einen Bette ſanft zu ruhen ſchien.


Allein von außen her ſchien ſich alles zu ver¬
einigen, um ihn zu demuͤthigen, und nieder¬
zubeugen.


Da es Sommer wurde verreißte der Rek¬
tor auf einige Wochen, und er blieb nun waͤh¬
rend der Zeit allein in deſſen Hauſe zuruͤck, wo
er die Zeit zu Hauſe ziemlich vergnuͤgt zubrachte,
indem er ſich aus der Bibliothek des Rektors
einiger Buͤcher zum Leſen bediente, und unter an¬
dern auf Moſes Mendelſohns Schriften, und
die Litteraturbriefe verfiel, woraus er ſich damals
zuerſt Exzerhte machte. —


Insbeſondre zog er ſich alles aus, was das
Theater angieng, denn dieſe Idee war jetzt
ſchon die herſchende in ſeinem Kopfe, und gleich¬
ſam ſchon der Keim zu allen ſeinen kuͤnftigen
Wiederwaͤrtigkeiten.


Durch das Deklamieren in Sekunda war ſie
zuerſt lebhaft in ihm erwacht, und hatte die
[123] Phantaſie des Predigens allmaͤlig aus ſeinem
Kopf verdraͤngt — der Dialog auf dem Thea¬
ter bekam mehr Reitze fuͤr ihn, als der immer¬
waͤhrende Monolog auf der Kanzel — Und
dann konnte er auf dem Theater alles ſeyn, wo¬
zu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit
hatte — und was er doch ſo oft zu ſeyn wuͤnſch¬
te — großmuͤthig, wohlthaͤtig, edel, ſtandhaft,
uͤber alles Demuͤthigende und Erniedrigende er¬
haben — wie ſchmachtete er, dieſe Empfindun¬
gen, die ihm ſo natuͤrlich zu ſeyn ſchienen, [und]
die er doch ſtets entbehren mußte, nun einmal
durch ein kurzes taͤuſchendes Spiel der Phantaſie
in ſich wirklich zu machen —


Das war es ohngefaͤhr, was ihm die Idee
vom Theater ſchon damals ſo reizend machte —
Er fand ſich hier gleichſam mit allen ſeinen Em¬
pfindungen und Geſinnungen wider, welche in
die wirkliche Welt nicht paßten — Das Thea¬
ter deuchte ihm eine natuͤrlichere und angeme߬
nere Welt, als die wirkliche Welt, die ihn umgab.


Nun kamen die Sommerferien heran, und
die Primaner fuͤhrten, wie ſie alle Jahr zu thun
pflegten, oͤffentlich verſchiedene Komoͤdien auf —
[124] Reiſer konnte bei der allgemeinen Verachtung
der er als ein ſogenannter Famulus des Rektors
ausgeſetzt war, ſich nicht die mindeſte Hoffnung
machen, eine Rolle zu erhalten; ja er konnte
nicht eimal von irgend einem der Mitſchuͤler ein
Billet erhalten, um zuzuſehn. Dieß ſchlug ihn
mehr, als alles bisherige nieder — bis er auf
den Einfall kam, mit zwei bis dreien ſeiner Mit¬
ſchuͤler, welche auch keine Rollen hatten, gleich¬
ſam eine Parthie der Mißvergnuͤgten auszuma¬
chen, und auf deren Wohnſtube bei einer kleinen
Anzahl Zuſchauer, eine Komoͤdie beſonders auf¬
zufuͤhren. —


Hiezu wurde denn Philotas gewaͤhlt, wo
Reiſer einem andren, der die Rolle des Philotas
ſchlecht machte, ſie mit Geld abkaufte, und alſo
nun den Philotas ſpielte.


Nun war er in ſeinem Elemente — Er konn¬
te einen ganzen Abend lang, großmuͤthig, ſtand¬
haft, und edel ſeyn, — die Stunden, wo er
ſich zu dieſer Rolle uͤbte, und der Abend, wo er
ſie ſpielte, waren von den ſeligſten ſeines Lebens —
obgleich das Theater nur ein ſchlechtes Zimmer
mit weißen Waͤnden, und das Partere eine
[125] Kammer war, die daran ſtieß, und wo man,
ſtatt der ausgehobenen Thuͤre, eine wollene De¬
cke angebracht hatte, die zum Vorhang dienen
mußte; und obgleich das ganze Auditorium, nur
aus dem Wirth des Hauſes, der ein Toͤpfer war,
nebſt deſſen Frau und ſeinen Geſellen beſtand,
und die ganze Erleuchtung nur mit Pfennig¬
lichtern bewerkſtelligt wurde, die auf kleinen an
die Wand geklebten Stuͤcken von naſſen Leimen
brannten. —


Zum Nachſpiele wurde aus Millers hiſtoriſch¬
moraliſchen Schilderungen der ſterbende So¬
krates
gegeben, worin Reiſer nur einen Freund
des Sokrates, und der eine von ſeinen Mitſchuͤ¬
lern Nahmens G... den ſterbenden Sokrates
ſelbſt machte, welcher denn ordentlich den Gift¬
becher leerte, und zuletzt unter Zuckungen auf
einem Bette, daß in die Stube geſetzt war, ver¬
ſchied. —


Dieß letzte Nachſpiel war es nun, was Rei¬
ſern nachher faſt ſeine ganzen Schuljahre verbit¬
tert hat. —


Die andren Primaner hatten nehmlich erfah¬
ren, daß außer der ihrigen, von denen, welchen ſie
[126] keine Rollen gegeben hatten, nach beſonders eine
Komoͤdie aufgefuͤhrt worden ſey — ſie ſahen dieß
als einen Eingriff in ihre Rechte an, und als ob
es gleichſam aus Trotz und Verachtung geſche¬
hen ſey. —


Sie ſuchten ſich fuͤr dieſe unverzeihliche Be¬
leidigung, wofuͤr ſie es hielten, auf alle Weiſe
zu raͤchen, und von der Zeit an durfte von den
vieren, welche den Philotas und den ſterbenden
Sokrates aufgefuͤhrt hatten, keiner des Abends
ſicher auf der Straße gehen — Dieſe viere wa¬
ren von der Zeit an ein Gegenſtand des Haſſes,
der Verachtung, und des Spottes, welcher Rei¬
ſern gerade am meiſten traf; denn die andern be¬
ſuchten die Schulſtunden ſelten — Gegen Rei¬
ſern hatte man ſchon vorher nichts als Verach¬
tung bezeigt, die außer einer Art von unerklaͤrba¬
rer allgemeiner Antipathie gegen ihn, ihren
Grund vorzuͤglich, in ſeiner erniedrigenden oder
wenigſtens fuͤr erniedrigend gehaltenen Situation,
ſeiner bloͤden Miene, und ſeinem kurzem Rock ha¬
ben mochte; zu dieſer Verachtung geſellte ſich nun
jetzt noch eine allgemeine Erbitterung gegen ihn,
[127] welche den Spott, womit man ihn uͤberhaͤufte,
ſo beißend, wie moͤglich zu machen ſuchte —


Und ob nun gleich nicht er, ſondern G...
die Rolle des ſterbenden Sokrates in dem Nach¬
ſpiel gemacht hatte; ſo hies er doch von nun an
mit einem allgemeinen Spottnahmen der ſter¬
bende Sokrates
, und verlohr dieſen beinahe
nicht eher, bis dieſe ganze Generation nach und
nach die Schule verlaſſen hatte; noch ein Jahr
vorher, ehe er ſelbſt die Schule verließ, war er
eine lange Zeit kraͤnklich geweſen, und gar nicht
aus dem Hauſe gekommen, als er nun wieder
einer Komoͤdie zuſehen wollte, welche die Prima¬
ner damals auffuͤhrten, ließ man ihn zwar her¬
ein, aber man ſahe ihn mit einem veraͤchtlichen,
hoͤniſchen Blick an, und ſagte: da iſt der ſter¬
bende Sokrates; ſo daß Reiſer gleich umkehrte,
und traurig wieder zu Hauſe gieng. —


Sonſt pflegt doch immer bei den Menſchen
eine gewiſſe Gutmuͤthigkeit zu herrſchen, daß ſie
nur denjenigen zum Gegenſtande ihres Spottes
machen, der gewiſſermaßen unempfindlich dage¬
gen iſt; Sehen ſie hingegen, daß einer durch den
Spott wirklich beleidigt und gekraͤnkt wird, ſo
[128] treiben ſie's wenigſtens nicht unaufhoͤrlich, ſon¬
dern das Mitleid gewinnt doch endlich uͤber die
Spottſucht die Oberhand.


Aber das war bei Reiſern der Fall nicht —
ſeine Geſtalt verfiel von Tage zu Tage, er wank¬
te nur noch wie ein Schatten umher; es war
ihm beinahe alles gleichguͤltig; ſein Muth war
gelaͤhmt — wo er konnte, ſuchte er die Einſam¬
keit — aber das alles erwekte auch kein Fuͤnk¬
chen Mittleid gegen ihn — So ſehr waren aller
Gemuͤther mit Haß und Verachtung gegen ihn
erfuͤllt. —


Außer ihm war noch ein gewiſſer T. . . ein
Gegenſtand des Spottes, der zum Theil durch
ſeine ſtotternde Sprache Veranlaſſung dazu
gab. — Dieſer aber ſchuͤttete den Spott ab,
wie das Thier mit der unempfindlichen Haut die
Schlaͤge. — Indem man ſeiner ſpottet, ſo recht¬
fertigte man ſich ſelbſt damit, daß ihn der
Spott nicht kraͤnkte — Bei Reiſern nahm man
darauf keine Ruͤckſicht — dieß erbitterte endlich
ſein Herz, und machte ihn zum offenbaren Men¬
ſchenfeinde.


[129]

Wo ſollte nun wohl bei ihm ein ruͤhmlicher
Wetteifer, Fleiß und Luſt zum eigentlichen Stu¬
diren herkommen? — Er wurde ja ganz aus
der Reihe herausgedraͤngt — er ſtand einſam
und verlaſſen da — und ſuchte nur das, wodurch
er ſich immer noch mehr abſondern, und in ſich
ſelbſt zuruͤckziehen konnte; alles, was er fuͤr ſich
allein auf der Stube arbeitete, laß, und dachte,
machte ihm Vergnuͤgen, aber zu allem was er in
den Schulſtunden mit andern gemeinſchaftlich ar¬
beiten ſollte, war er traͤge und verdroſſen; es
war ihm immer, als ob er gar nicht dazu ge¬
hoͤrte —


Das war nun die ſchoͤne Erfuͤllung ſeiner
Traͤume, von langen Reihen von Baͤnken, auf
denen die Schuͤler der Weisheit ſaßen, unter
deren Zahl er ſich mit Entzuͤcken dachte, und mit
denen er einſt um den Preiß zu wetteifern
hoffte. —


Der Rektor, bei dem er wohnte, kam nun
auch von ſeiner Reiſe wieder zuruͤck, und hatte
ſeine Mutter mitgebracht, [die] ſeine Wirthſchaft
auf das genaueſte einzurichten ſuchte. — Es
wurde Winter, und man dachte nicht daran,
J[130] Reiſers Stube zu heizen — er ſtand erſt die
bitterſte Kaͤlte aus, und glaubte, man wuͤrde
doch endlich auch an ihn denken — bis er hoͤrte,
daß er ſich bei Tage in der Geſindeſtube mit auf¬
halten ſollte. —


Nun fing er an, ſich um ſeine aͤußern Ver¬
haͤltniſſe gar nicht mehr zu bekuͤmmern — Von
ſeinen Lehrern ſowohl als von ſeinen Mitſchuͤ¬
lern verachtet, und hindangeſetzt — und wegen
ſeines immerwaͤhrenden Mißmuths und men¬
ſcheuen Weſens bei niemand beliebt, gab er
ſich gleichſam ſelber in Ruͤckſicht der menſch¬
lichen Geſellſchaft auf
— und ſuchte ſich nun
vollends ganz in ſich zuruͤck zu ziehen.


Er ging zu einem Antiquarius und hohlte ſich
einen Roman, eine Komoͤdie nach der andern,
und fieng nun mit einer Art von Wuth an, zu
leſen — Alles Geld, was er ſich vom Munde
abſparen konnte, wandte er an, um Buͤcher
zum leſen dafuͤr zu leihen; und da nach einiger
Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte, und
ihm ohne jedesmalige baare Bezahlung Buͤcher
zum Leſen liehe, ſo hatte ſich Reiſer, ehe er
es merkte tief in Schulden hineingeleſen, die ſo
[131] klein ſie ſeyn mochten, damals fuͤr ihn uner¬
ſchwinglich waren.


Er ſuchte dieſe Schuld zum Theil durch den
Verkauf ſeiner angeſchaften Schulbuͤcher zu til¬
gen, die ihm der Antiquarius fuͤr ein Spottgeld
abnahm — und ihm dafuͤr aufs neue Buͤcher zum
Leſen lieh, bis er wieder in neue Schulden ge¬
rieth, und denn wieder aͤngſtlich auf ertilgung
derſelben denken mußte.


Das Leſen war ihm nun einmal ſo zum Be¬
duͤrfniß geworden, wie es den Morgenlaͤndern
das Opium ſeyn mag, wodurch ſie ihre Sinne
in eine angenehme Belaͤubung bringen — Wenn
es ihm an einen Buche fehlte, ſo haͤtte er ſeinen
Rock gegen den Kittel einea Bettlers vertauſcht,
um nur eins zu bekommen — Dieſe Begierde
wußte der Antiquarius wohl zu nutzen, der ihm
nach und nach, alle ſeine Buͤcher ablockte, und
ſie oft in ſeiner Gegenwart ſechsmal ſo theuer
wieder verkaufte, als er ſie ihm abgekauft hatte.


Es war unter dieſen Umſtaͤnden keinem zu
verdenken, der Reiſern fuͤr einen luͤderlichen aus
der Art geſchlagnen jungen Menſchen hielt, wel¬
cher ſeine Schulbuͤcher verkaufte, ſtatt ſeine
J 2[132] Kenntniſſe zu vermehren, und den Unterricht ſei¬
ner Lehrer zu nutzen, nichts als Romane und
Komoͤdien laß — und dabei ſein aͤußeres ganz
vernachlaͤſſigte; denn es war ſehr natuͤrlich, daß
Reiſer keine Luſt zu ſeinem Koͤrper hatte, da er
doch niemanden in der Welt gefiel — und dann
wurde auch alle das Geld, was die Waͤſcherinn
und der Schneider haͤtten bekommen ſollen, dem
Buͤcher-Antiquarius hingebracht — denn das
Beduͤrfniß zu Leſen gieng bei ihm Eſſen und
Trinken und Kleidung vor, wie er denn wirklich
eines Abends den Ugolino laß, nachdem er den
ganzen Tag nicht das mindeſte genoſſen hatte,
denn ſeinen Freitiſch hatte er uͤber dem Leſen ver¬
ſaͤumt, und fuͤr das Geld, was zum Abendbrot
beſtimmt war, hatte er ſich den Ugolino gelie¬
hen, und ein Licht gekauft, bei welchem er
in ſeiner kalten Stube, in eine wollene Decke
eingehuͤllt, die halbe Nacht aufſaß, und die
Hungerſcenen recht lebhaft mit empfinden
konnte. —


Indes waren dieſe Stunden noch die gluͤck¬
lichſten, welche er gleichſam aus dem Gewirre
der uͤbrigen herausriß — ſeine Denkkraft war
[133] kommen wie berauſcht — er vergaß ſich und die
Welt —


Er laß auf die Weiſe nach der Reihe die zwoͤlf
oder vierzehn Baͤnde durch, welche damals vom
deutſchen Theater heraus waren — und weil
er Yoriks empfindſame Reiſen mit großem Ver¬
gnuͤgen zwei bis dreimal durchgeleſen hatte, ſo lieh'
er ſich auch von dem Antiquarius die empfindſa¬
men Reiſen durch Deutſchland von S
. . . —


Nun hatte er damals ſchon angefangen, ſich
die Titel der Buͤcher, welche er geleſen hatte,
in einem dazu beſtimmten Buche niederzuſchrie¬
ben, und ſein Urtheil dabei zu ſetzen, das mehr¬
malen ziemlich richtig ausfiel; wie er denn z. B.
bei die empfindſame Reiſen durch Deutſchland
von S. . . das Urtheil ſchrieb: ein Exerzitium
extemporaneum
; weil der Verfaſſer ſelbſt ge¬
ſtand, daß er alle die vrſchiedenen Sachen in die¬
ſem dicken Buche bloß zuſammengeſchrieben ha¬
be, damit man urtheilen ſolle, zu welchem Fach
in der Schriftſtellerei er ſich wohl am beſten ſchi¬
cken wuͤrde — Der Verfaſſer dieſer empfindſa¬
men Reiſen hat nachher dieß Exercitium extempe¬
I 3[134] raneum durch ſeinen Spitzbart hinlaͤnglich wie¬
der gut gemacht. —


Aber nicht leicht hat Reiſern bei irgend einem
Buche die Zeit, welche er auf das Leſen deſſelben
gewandt hatte, mehr gereut, als bei dieſen
empfindſamen Reiſen —


So lernte er nun von ſelbſt allmaͤlig das
Mittelmaͤßige und Schlechte von dem Guten
immer beſſer unterſcheiden. —


Bei allem aber, was er laß, war und blieb
nun die Idee vom Theater immer bei ihm die
herrſchende — in der dramatiſchen Welt lebte
und webte er — da vergoß er oft Thraͤnen, in¬
dem er laß, und ließ ſich wechſelsweiſe bald in
heftige, tobende Leidenſchaft, des Zorns, der
Wuth und der Rache, und bald wieder in die
ſanften Empfindungen des großmuͤthigen Ver¬
zeihens, des obſiegenden Wohlwollens, und des
uͤberſtroͤmenden Mitleids verſetzen. —


Seine ganze aͤußere Lage, und ſeine Verhaͤlt¬
niſſe in der wirklichen Welt waren ihm ſo ver¬
haßt, daß er die Augen davor zuzuſchließen ſuch¬
te — Der Rektor rief ihn im Hauſe bei ſeinem
[135] Nahmen, wie man einen Bedienten ruft; und
einmal mußte er einen ſeiner Mitſchuͤler, der ein
Sohn eines Freundes vom Rektor war, bei dem¬
ſelben zum Eſſen bitten; und waͤhrend, daß
dieſer des Abends bei dem Rektor ſpeißte, mußte
Reiſer Wein holen, und in der Geſindeſtube
ſeyn, die gleich neben der Stube war, wo ge¬
ſpeißt wurde, und wo er hoͤren konnte, wie ſein
Mitſchuͤler ſich mit den Rektor unterhielt, waͤh¬
rend daß er bei der Magd in der Stube ſaß.


Der Rektor gab verſchiedene Privatſtunden
— wenn er nun etwa eine davon nicht halten
konnte, ſo mußte Reiſer bei ſeinen Mitſchuͤlern
mit denen er doch auch an dieſem Unterricht Theil
nahm, herumgehen, und ihnen die Privatſtunde
abſagen, welches den Uebermuth derſelben gegen
ihn noch vermehrte.


Dieſe Zuruͤckſetzung hatte ihren guten Grund
in ſeinem Betragen — er war untheilnehmend
an allem, was außer ihm vorging, und zu
jedem Geſchaͤft, was ihn aus ſeiner Ideenwelt
herauszog, traͤge [und] verdroſſen — Was Wun¬
der, da er an nichts Theil nahm, daß man auch
J 4[136] wieder an ihm nicht Theil nahm, ſondern ihn
verachtete, hindanſetzte und vergaß.


Allein man erwog nicht, daß eben dieß
Betragen, weswegen man ihn zuruͤck ſetz¬
te, ſelbſt eine Folge von vorhergegang¬
ner Zuruͤckſetzung war — Dieſe Zuruͤckſe¬
tzung, welche in einer Reihe von zufaͤlligen
Umſtaͤnden gegruͤndet war, hatte den An¬
fang zu ſeinem Betragen, und nicht ſein
Betragen, wie man glaubte, den Anfang
zur Zuruͤckſetzung gemacht.


Moͤchte dieß alle Lehrer und Paͤdagogen auf¬
merkſamer, und in ihren Urtheilen uͤber die Ent¬
wickelung der Charaktere junger Leute behutſamer
machen, daß ſie die Einwirkung unzaͤhliger zu¬
faͤlliger Umſtaͤnde mit in Anſchlag braͤchten, und
von dieſen erſt die genaueſte Erkundigung einzu¬
ziehen ſuchten, ehe ſie es wagten, durch ihr Ur¬
theil uͤber das Schickſal eines Menſchen zu ent¬
ſcheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmun¬
ternden Blicks bedurfte, um ihn in ploͤtzlich um¬
zuſchaffen, weil nicht die Grundlage ſeines Cha¬
rakters, ſondern eine ſonderbare Verkettung von
[137] Umſtaͤnden an ſeinem ſchlecht in die Augen fallen¬
den Betragen ſchuld war.


Anton Reiſers Schickſal ſchien es nun ein¬
mal zu ſeyn, Wohlthaten zu ſeiner Qual zu em¬
pfangen — Es war Wohlthat, daß er ein
Jahrlang bei der Frau F. . . im Hauſe war,
und in welcher peinlichen und druͤckenden Lage
brachte er dieſes Jahr zu! — Es war Wohl¬
that, daß er bei dem Rektor im Hauſe war, nur
was fuͤr unzaͤhlige Demuͤthigungen und Verach¬
tung von ſeinen Mitſchuͤlern zog ihm dieſer
ihm ſo reizend geſchilderte Aufenthalt zu! —


Den aͤußern Anſchein nach konnte nun auch
von Reiſern niemand als ſchlecht urtheilen —
und der Rektor ſagte ſelbſt zum Paſtor M. . .
es wuͤrde hoͤchſtens einmal ein Dorf¬
ſchulmeiſter aus ihm werden
. — Dieß hielt
der Paſtor M. . . nachher Reiſern wieder vor,
und ſein Muth wuͤrde durch dieß Urtheil des
Rektors uͤber ihn, dem er damals noch nicht viel
Selbſtgefuͤhl entgegen ſetzen konnte, noch mehr
niedergeſchlagen.


Weil nun der Rektor ſicher zu glauben ſchien,
daß aus Reiſern, doch nie etwas wuͤrde, ſo brauch¬
I 5[138] te er ihn indes, wozu er noch zu brauchen war,
nehmlich zu allerlei kleinen Dienſten, die er ihn in
und außer dem Hauſe verrichten ließ — und Rei¬
ſer wurde nun im Grunde voͤllig wie ein Do¬
meſtique betrachtet, ob er gleich ein Primaner
hieß.


Einmal genoß er denn doch noch die Vorrech¬
te eines Primaners, da er von dem Chorgelde,
was er erhielt, ſeinen Theil zum Neujahrgeſchen¬
ke fuͤr den Rektor mit hergab, und auch dem
Aufzuge mit Fackeln beiwohnte, da dem Direk¬
tor und dem Rektor, nach hergebrachter Weiſe
zum Neujahr eine Muſik gebracht, und ein Vi¬
vat gerufen wurde. —


Ob er gleich bei dieſem Zuge der letzte oder
einer der letzten in der Ordnung war, ſo erhob
es doch ſeinen Muth außerordentlich wieder, da
er ſich ohngeachtet der vielen Herabwuͤrdigungen
und Demuͤthigungen, die er erfahren hatte, doch
hier gleichſam wieder in Reihe und Glied mit
den uͤbrigen ſtehen ſahe, einen Degen, nebſt einer
Fackel tragen, und das Vivat mit rufen durfte.


Die Muſik, die Zuſchauer, die Erleuchtung
von den Fackeln, die Anfuͤhrer mit Federhuͤten
[139] und entbloͤßten Degen — das alles beſeelte ihn
wieder mit neuem Mnth, da er ſich in dieſem
glaͤnzenden Anfzuge mit befand —


Und da er am andern Tage mit unter der
Zahl der Primaner ſtand, und dem Recktor mit ei¬
ner lateiniſchen Anrede an ihn, das Neujahrs¬
geſchenk, wozu Reiſer doch auch ſeinen Theil
beigetragen hatte, auf einem ſilbernen Teller uͤber¬
reicht wurde; ſo fuͤhlte er ſich einmal mit einigem
Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt —
Er ſahe ſich doch hier nicht ganz ausgeſchloſſen
und verdraͤngt — Allein wie ſehr verbitterte
ihm der Haß und Uebermuth ſeiner Mitſchuͤler
auch dieſe kleine Aufmunterung wieder! —


Der Rektor bewirthete die Primaner, welche
ihm das Geſchenk gebracht hatten, mit Wein
und Kuchen — Dieſe tranken zu wiederhohlten
malen ſeine Geſundheit, wobei ſie denn am
Ende, da ihnen der Wein in die Koͤpfe ſtieg,
ziemlich laut wurden — Reiſer trank einige
Glaͤſer Wein, ohne ſchlimme Folgen zu beſor¬
gen — allein die gaͤnzliche Ungewohnheit des
Weintrinkens machte, daß ihn ein paar Glaͤſer
[140] ſchon etwas berauſchten; nun legten es ſeine
edeldenckenden Mitſchuͤler darauf an, ihn gaͤnz¬
lich betrunken zu machen, welches ihnen theils
durch Liſt und theils durch Drohungan gelang,
ſo daß Reiſer allerlei verwirtes Zeug redete, und
am Ende zu Bette gebracht werden mußte —


War nun Reiſer vorher ſchon in dem Zu¬
trauen und der Achtung aller derer, die ihn
kannten, geſunken, ſo gab dieſer Vorfall ſeinem
guten Kredit, nun vollends den letzten Stoß —
Vorher war er ſchon ein traͤger, unordentli¬
cher, und unfleißiger; nun war er auch ein un¬
maͤßiger, und ſchlechter Menſch, weil er in dem
Hauſe ſeines Lehrers, der zugleich ſein Wohlthaͤ¬
ter war, durch ſein unanſtaͤndiges Betragen, zu¬
gleich das undankbarſte Herz verrathen hatte.


Alle dieſe Folgen ſahe Reiſer dunkel voraus, da
er am andern Morgen erwachte, und indem er
ſich anzog, machte er ſich ſchon auf Bitte und
Entſchuldigung bei dem Rektor wegen ſeines ge¬
ſtrigen Betragens gefaßt —


Er hatte ſeine Anrede recht gut ausſtudirt,
und verſicherte unter andern, daß er dieſen Fle¬
[141]ken auf alle Weiſe wieder wuͤrde auszutil¬
gen ſuchen
, worauf ihm denn der Rektor eben
nicht ſehr troͤſtlich antworte, daß die nachtheili¬
gen Folgen von dieſem Vorfall, wenn er bekannt
wuͤrde, wohl ſchwerlich zu verhuͤten ſeyn wuͤrden.


Der Rektor hatte darin ſehr Recht — denn
der Vorfall wurde bald bekannt, und es hieß
nun: wie! der junge Menſch lebt von Wohltha¬
ten, ſelbſt der Prinz wendet ſo viel an ihn, und
da er in den Hauſe ſeines Lehrers, ſeines Wohl¬
thaͤters, der ihm Obdach giebt, gaſtfreundlich be¬
wirthet wird, betraͤgt er ſich ſo — wie nieder¬
traͤchtig, wie undankbar!


Ohngeachtet nun Reiſern dieſe Folgen ahnde¬
ten, und er hoͤchſttraurig daruͤber war, empfand
er doch am andern Tage, da er ins Chor kam,
und ſeine Mitſchuͤler uͤber ſein blaſſes und ver¬
wirrtes Anſehn, das er noch von dem geſtrigen
Rauſche hatte, lachten, eine Art von ſonderbarem
Stolz, gleichſam als ob er durch das geſtrige
Betrinken eine gewiſſe Bravour bezeigt haͤtte,
daß er ſogar affektirte, als ob ſein Taumel noch
fortdauerte, um dadurch Aufmerkſamkeit auf
ſich zu erregen —


[142]

Denn die Aufmerkſamkeit der uͤbrigen auf
ihn, die dießmal mehr mit einer gewiſſen Art
von Beifall als mit Spott verknuͤpft war ſchmei¬
te ihm — Auch betrachteten ihn die andern ſo,
wie man einen zu betrachten pflegt, der in denſelben
Fall iſt, worinn man ſelbſt einmal war — denn
der Praͤfektus war faſt immer Betrunken — dieß
geheime Vergnuͤgen, welches Reiſer empfand, da es
ihm zu gelingen ſchien, ſich durch das Schlechte
bemerkt
zu machen, iſt wohl die gefaͤhrlichſte
Klippe der Verfuͤhrung, woran die meiſten jun¬
gen Leute zu ſcheitern pflegen.


Indes wurde dieſer Uebermuth bei Reiſern
ſehr bald wieder gedaͤmpft, da er die nachtheili¬
gen Folgen, welche ihm der Rektor prophezeit
hatte, nun zu bald empfand — allenthalben
empfing man ihn mit kalten und veraͤchtlichen
Blicken — er ließ daher die meiſten Freitiſche
einen nach dem andern freiwillig fahren, und
hungerte lieber, oder aß Salz und Brodt — ehe
er ſich dieſen Blicken ausſetzen wollte — Bei dem
einzigen Schuſter S. . . ging er noch immer mit
Vergnuͤgen hin, denn hier wurde er nach wie
vor mit freundlichen Blicken empfangen, und
[143] man ließ ihn hier nicht fuͤr ſein widriges Schick¬
ſal buͤßea.


Er war damals weit entfernt, daß er ſich
gegen ſich ſelbſt haͤtte entſchuldigen ſollen — viel¬
mehr trauete er dem Urtheil ſo vieler Menſchen
mehr, als ſeinem eigenen Urtheil uͤber ſich ſelbſt, zu
— er klagte ſich oft an, und machte ſich die bit¬
terſten Vorwuͤrfe, uͤber ſeine Verſaͤumniß im
Studiren, uͤber ſein Leſen, und uͤber ſein Schul¬
den machen beim Buͤcherantiquarius — denn
er war damals nicht im Stande, ſich das alles
als eine natuͤrliche Folge, der engſten Verhaͤlt¬
niſſe, worin er ſich befand, zu erklaͤren — In
ſolcher Stimmung der Seele, wo er gegen ſich
ſelbſt aufgebracht, und ſeine Phantaſie noch durch
ein Trauerſpiel, das er eben geleſen hatte, er¬
hitzt war, ſchrieb er einmal einen verzweiflungs¬
vollen Brief an ſeinen Vater, worinn er ſich
als den groͤßten Verbrecher anklagte, und der
mit unzaͤhligen Gedankenſtrichen angefuͤllt war,
ſo daß ſein Vater nicht wußte, was er aus dem
Brief machen ſollte, und fuͤr den Verſtand des
Verfaſſers im Ernſt zu fuͤrchten anfing — der
ganze Brief war im Grunde eine Rolle die Rei¬
[144] ſer ſpielte — Er fand ein Vergnuͤgen daran, ſich
ſelbſt, wie es zuweilen die Helden in den Trau¬
erſpielen machen, mit der ſchwaͤrzten Farben zu
ſchildern, und dann recht Tragiſch gegen ſich
ſelbſt zu wuͤthen.


Da er nun niemand auf der Welt und auch
ſich ſelbſt nicht einmal zum Freunde hatte, was
konnte wohl anders ſein Beſtreben ſeyn, als ſich,
ſo viel und ſo oft wie moͤglich, ſelbſt zu vergeſſen.


Der Buͤcherantiquarius blieb daher ſeine im¬
merwaͤhrende Zuflucht, und ohne dieſen wuͤrde
er ſeinen Zuſtand ſchwerlich ertragen haben, den
er ſich nun in manchen Stunden nicht nur er¬
traͤglich ſondern ſogar angenehm zu machen
wußte, wenn er z. B. bei ſeinem Vetter dem
Peruquenmacher, ein kleines, freilich eben nicht
glaͤnzendes Auditorium, um ſich her verſamm¬
len, und dem mit aller Fuͤlle des Ausdruks
und der Deklamation, die ihm nur moͤglich war,
irgend eines ſeiner Lieblingstrauerſpiele als Emi¬
lia Galotti
, Ugolino, oder ſonſt etwas Thraͤ¬
nenvolles, wie z. B. den Tod Abels von
Gaßner
, vorleſen konnte, wobei er denn ein
[145] unbeſchreibliches Entzuͤcken empfand, wenn er
rund um ſich her jedes Auge in Thraͤnen erblickte,
und darin den Beweiß laß, daß ihm ſein End¬
zweck, durch die Sache, die er vorlaß, zu ruͤh¬
ren, gelungen war. —


Ueberhaupt brachte er die vergnuͤgteſten Stun¬
den ſeines damaligen Lebens entweder fuͤr ſich
allein, oder in dieſem Cirkel, bei ſeinem Vetter,
dem Peruquenmacher zu, wo er gleichſam die
Herrſchaft uͤber die Geiſter fuͤhren, und ſich zum
Mittelpunkte ihrer Aufmerkſamkeit machen konn¬
te — denn hier wurde er gehoͤrt — hier konnte
er vorleſen, deklamiren, erzaͤhlen, und lehren
— und er ließ ſich wirklich mit den Handwerks¬
geſellen, welche dort zuſammen kamen, zu¬
weilen in Diſpuͤte uͤber ſehr wichtige Materien,
als uͤber das Weſen der Seele, die Entſtehung
der Dinge, den Weltgeiſt und dergleichen, ein,
wodurch er die Koͤpfe verwirrte — indem er die
Aufmerkſamkeit dieſer Leute auf Dinge lenkte,
an die ſie in ihrem Leben nicht gedacht hatten —


Mit einem Schneidergeſellen insbeſondre, der
anfing, an ſeinen Gruͤbeleien Gefallen zu finden,
unterhielt er ſich oft Stundenlang — uͤber die
K[146] Moͤglichkeit der Entſtehung einer Welt aus
Nichts — endlich geriethen Sie auf das Emana¬
tionsſyſtem, und auf den Spinoziſmus — Gott
und die Welt war eins —


Wenn dergleichen Materien nicht in die Schul¬
terminologie eingehuͤllt werden, ſo ſind ſie fuͤr
jeden Kopf, und ſogar Kindern verſtaͤndlich —


Bei einem ſolchen Geſpraͤch pflegte Reiſer
aller ſeiner Sorgen und ſeines [Kummers] zu ver¬
geſſen — das, was ihn druͤckte, war denn viel zu
klein fuͤr ihn, um ſeine Aufmerkſamkeit zu be¬
ſchaͤftigen — er fuͤhlte ſich aus dem umringenden
Zuſammenhange der Dinge, worin er ſich auf
Erden befand, auf eine Zeitlang hinaus verſetzt,
und genoß die Vorrechte der Geiſterwelt — wer
ihm dann zuerſt in den Wurf kam, mit dem
ſuchte er ſich in philoſophiſche Geſpraͤche einzu¬
laſſen, und ſeine Denkkraft an ihm zu uͤben —


Indes wandte er doch ſeine Schulſtunden
ohngeachtet der wenigen Aufmunterung, die er
darinn genoß, und der vielen Demuͤthigungen,
die er dann erduldete, nicht ganz unnuͤz an —
er ſchrieb bei dem Direktor neue Geſchichte
[147] Dogmatik und Logik; und bei dem Rektor die
Erdbeſchreibung, und einige Ueberſetzungen latei¬
niſcher Autoren, nach, wodurch er denn doch
immer, neben ſeiner Komoͤdien und Romanlek¬
tuͤre, noch einige wiſſenſchaftliche Kenntniſſe
auffing, und ohne es eigentlich mit Abſicht zu
treiben, auch im Lateiniſchen noch einige Fort¬
ſchritte machte. —


Das war aber alles nur, wie zufaͤllig —
manche Stunde verſaͤumte er dazwiſchen, und
manche Stunde laß er, waͤhrend daß der Livius
oder ein ander lateiniſcher Autor geleſen wurde,
fuͤr ſich heimlich einen Roman, weil er doch ein¬
mal wußte, daß der Direktor ihn nicht mehr
aufzurufen wuͤrdigte. —


Denn wenn er in den Schulſtunden mitten
unter einer Anzahl von ſechs bis ſiebenzig Men¬
ſchen ſaß, von denen faſt kein einziger ſein Freund
war, und denen er faſt insgeſammt ein Gegen¬
ſtand des Spottes und der Verachtung war, ſo
mußte ihm dieß natuͤrlicher Weiſe beſtaͤndig eine
ſehr aͤngſtliche Lage ſeyn, wo er ſich am meiſten
gedrungrn fuͤhlte, ſich in eine andre Welt zu
traͤumen, in der er ſich beſſer befand. —


[148]

Aber auch dieſe Zuflucht mißgoͤnnte man ihm
— und indem er gerade einmal noch ehe die
Stunde anging, in einem Bande vom Theater der
Deutſchen laß, ſo nahm man, waͤhrend daß der
Rektor hereintrat, ihm das Buch weg, und legte
es dem Rektor aufs Katheder hin, dem man nun
auf Befragen, woher das Buch kaͤme? ſagte,
daß Reiſer waͤhrend den Stunden darinn zu leſen
pflegte — Ein Blick voll wegwerfender Verach¬
tung auf Reiſern, war die Antwort des Rektors
auf dieſe Anklage. —


Und dieſer Blick koſtete Reiſern widerum einen
Theil des wenigen Selbſtzutrauens, das ihm noch
uͤbrig geblieben war; denn weit entfernt, ſich
gegen ſich ſelbſt zu entſchuldigen, glaubte er viel¬
mehr dieſe Verachtung wirklich zu verdienen, und
hielt ſich in dem Augenblick eben ſo ſehr fuͤr ein
weggeworfnes veraͤchtliches Weſen, als ihn der
Rektor nur immer dafuͤr halten konnte. —


Er ſank durch dieſen Vorfall noch tiefer als
vorher in der Verachtung des Rektors — ſein
aͤußrer Zuſtand verſchlimmerte ſich daher von
Tage zu Tage; und da er einmal vergeſſen hatte,
einen Auftrag, den ihm ein Fremder an den Rek¬
[149] tor gegeben hatte, auszurichten, ſo bediente ſich
der Rektor zum erſtenmale des harten Ausdrucks
gegen ihn, dieſe Vernachlaͤſſigung eines ihm ge¬
gebnen Auftrags ſey ja eine wahre Dummheit.


Dieſer Ausdruck brachte auf eine lange Zeit
eine Art von wirklicher Seelenlaͤhmung in ihm
hervor — Dieſer Ausdruck, und das dummer
Knabe
, vom Inſpektor auf dem Seminarium,
und das ich meine ihn ja nicht, von dem
Kaufmann S. . . hat er nie vergeſſen koͤnnen —
ſie haben ſich in alle ſeine Gedanken verwebt,
und ihm lange nachher oft alle Gegenwart des
Geiſtes in Augenblicken benommen, wo er ſie am
meiſten bedurfte.


Ein Freund des Rektors, welcher einige Wo¬
chen bei ihm logirte, und fuͤr den Reiſer auch
einige Gaͤnge thun mußte, gab der Magd und
ihm, bei ſeinem Abſchiede ein Trinkgeld — Rei¬
ſer hatte eine ſonderbare Empfindung dabei, da
er das Geld nahm; es war ihm, als ob er einen
Stich erhielte, wo ſich der erſte Schmerz ploͤtzlich
wieder verlor — denn er dachte an den Buͤcher¬
antiquarius, und in dem Augenblick war alles
uͤbrige vergeſſen — fuͤr das Geld konnte er mehr
K 3[150] wie zwanzig Buͤcher leſen — ſein beleidigter Stolz
hatte ſich noch zum letztenmal empoͤrt, und war
nun beſigt — Reiſer nahm von dieſem Augenblick
an keine Ruͤckſicht mehr auf ſich ſelbſt — und
warf ſich in Anſehung ſeiner aͤußern Verhaͤlt¬
niſſe voͤllig weg. —


Seine Kleidung, die immer ſchlechter und
unordentlicher wurde, kuͤmmerte ihn nicht mehr.


In der Schule, im Chore, und wenn er
auf der Straße gieng, dachte er ſich mitten un¬
ter Menſchen, wie allein — denn keiner war,
der ſich um ihn bekuͤmmerte oder an ihm Theil
nahm — Sein eignes aͤußres Schickſal war ihm
daher, ſo veraͤchtlich ſo niedrig, und ſo unbedeu¬
tend geworden, daß er aus ſich ſelbſt nichts
mehr machte
— an dem Schickſal einer Miß
Sara Sampſon, einer Julie und Romeos hin¬
gegen konnte er den lebhafteſten Antheil nehmen;
damit trug er ſich oft den ganzen Tag herum.


Nichts war ihm unausſtehlicher, als, wenn
die Lehrſtunden geendigt waren, ſich beim Her¬
ausgehen unter dem Schwarm ſeiner insgeſammt
beſſer gekleideten, muntern und lebhaftern Mit¬
ſchuͤler, zu befinden, von denen ihn keiner mehr
[151] an ſeiner Seite zu gehen wuͤrdigte — wie oft
wuͤnſchte er ſich in ſolchen Augenblicken endlich von
der Laſt ſeines Koͤrpers befreit, und durch einen
ploͤtzlichen Tod aus dieſem quaͤlenden Zuſammen¬
hange geriſſen zu werden! Wenn er denn etwa
durch ein Gaͤßchen, wo niemand neben ihm ging,
ſich den Blicken ſeiner Mitſchuͤler entziehen konnte,
wie froh eilte er dann in die einſamſten und
abgelegenſten Gegenden der Stadt, um ſeinen
traurenden Gedanken eine Weile ungeſtoͤrt nach¬
zuhaͤngen.


Der groͤßte Dummkopf unter allen, welcher
auch allgemein verachtet war — geſellte ſich zu¬
weilen zu ihm, und Reiſer nahm ſeine Geſell¬
ſchaft mit Freuden an; denn es war doch ein
Menſch, der ſich zu ihm geſellte — wenn er dann
mit dieſem ging — ſo hoͤrte er oft hie und da ei¬
nen ſeiner Mitſchuͤler zu dem andern ſagen: par
nobile Fratrum
! (ein edles Paar Gebruͤder!)
Mit dieſem wirklichen Dummkopf wurde er alſo
zugleich in eine Klaſſe geworfen —


Da nun der Rektor auch geſagt hatte, es
wuͤrde hoͤchſtens ein Dorfſchulmeiſter aus ihm
werden, ſo kam dies alles zuſammen, um Rei¬
K 4[152] ſern ſein Selbſtzutrauen gaͤnzlich zu rauben, ſo daß
er nun faſt alles Zutrauen zu ſeinen eignen Ver¬
ſtandeskraͤften fahren ließ, und oft im Ernſt an¬
fing, ſich ſelbſt fuͤr den Dummkopf zu halten,
wofuͤr er ſo allgemein erkannt wurde — Dieſer
Gedanke artete denn aber auch zugleich in eine
Art von Bitterkeit gegen den Zuſammenhang
der Dinge aus — er verwuͤnſchte in den Augen¬
blicken die Welt und ſich — weil er ſich als ein
hoͤchſt veraͤchtliches Weſen zum Spott der Welt
geſchaffen glaubte. —


Wie weit das Vorurtheil ſeiner Mitſchuͤler
gegen ihn, und ihre Ueberzeugung von ſeiner an¬
gebohrnen Dummheit ging, davon mag folgen¬
des zum Beweiſe dienen: —


Der Rektor hatte ihm erlaubt, die Privat¬
ſtunden welche er in ſeinem Hauſe gab, mit zu beſu¬
chen — Unter andern gab nun der Rektor auch eine
engliſche Stunde — Reiſer hatte das Buch nicht,
worin geleſen wurde, und konnte ſich alſo zu
Hauſe nicht uͤben, er mußte mit einem andern
einſehn; demohngeachtet begriff er in ein paar
Wochen von bloßem Zuhoͤren die meiſten Regeln
der engliſchen Ausſprache; und da ihn der Rek¬
[153] tor zufaͤlliger Weiſe auch einmal mit zum Leſen
aufrief, ſo laß er weit fertiger und beſſer, als
alle uͤbrigen, die das Buch gehabt, und ſich zu
Hauſe geuͤbt hatten. —


Er hoͤrte alſo einmal in der Nebenſtube uͤber
ſich ſprechen, der Reiſer muͤſſe doch ſo dumm
nicht ſeyn, weil er die ſchwere engliſche Aus¬
ſprache ſobald gefaßt haͤtte; um nun dieſe guͤn¬
ſtige Meinung von ihm ja nicht aufkommen zu
laſſen, behauptete ſogleich einer geradezu, Rei¬
ſers Vater ſei ein gebohrner Englaͤnder, und
er erinnre ſich alſo der engliſchen Ausſprache
noch von ſeiner Kindheit her; die uͤbrigen waren
ſehr bereit, dieß zu glauben — und ſo war denn
Reiſer aufs neue zu ſeiner vorigen Niedrigkeit in
den Augen ſeiner Mitſchuͤler herabgeſunken.


Man ſiehet aus dieſem allen, daß die Ach¬
tung, worinn ein junger Menſch bei ſeinen Mit¬
ſchuͤlern ſteht, eine aͤußerſt wichtige Sache bei
ſeiner Bildung und Erziehung iſt, worauf man
bei oͤffentlichen Erziehungsanſtalten bisher noch
zu wenig Aufmerkſamkeit gewandt hat. —


Was Reiſern damals aus ſeinem Zuſtande
retten, und auf einmal zu einem fleißigen und
K 5[154] ordentlichen jungen Menſchen haͤtte umſchaffen
koͤnnen, waͤre eine einzige wohlangewandte Be¬
muͤhung ſeiner Lehrer geweſen, ihn bei ſeinen Mit¬
ſchuͤlern wieder in Achtung zu ſetzen. Und das
haͤtten ſie durch eine etwas naͤhere Pruͤfung ſei¬
ner Faͤhigkeiten, und ein wenig mehr Aufmerk¬
ſamkeit auf ihn ſehr leicht bewirken koͤnnen. —


So verſtrich nun dieſer Winter fuͤr ihn
hoͤchſt traurig — ſeine kleine Oekonomie war
gaͤnzlich zerruͤttet — er hatte ſich in ſeinem ſchlech¬
ten Aufzuge nicht getraut, ſein monathliches
Geld von dem Prinz zu hohlen. — Bei dem Buͤ¬
cherantiquarius, war er fuͤr ſeine Einkuͤnfte tief
in Schulden gerathen — auch hatte er ſeine uͤbri¬
gen nothwendigſten Beduͤrfniſſe an Waͤſche und
Schuhen, von den wenigen Groſchen, die er woͤ¬
chentlich einnahm, und dem Chorgelde, das er
erhielt, nicht beſtreiten koͤnnen, da er uͤberdem
dem Buͤcherantiquarius alles zubrachte.


Unter dieſen Umſtaͤnden reißte er in den
Oſterferien zu ſeinen Eltern, wo er den Degen
anſteckte, mit dem er ſich im Philotas erſtochen
hatte — und nun ſeinen Bruͤdern taͤglich dieſe
Rolle noch einmal vorſpielte — ſich auch von ſei¬
[155] nem verlaßnen Zuſtande, und der Verachtung
worin er bei ſeinen Mitſchuͤlern ſtand, hier nicht
das mindeſte merken ließ, ſondern vielmehr das
Angenehme, und Ehrbringende, was er von ſich
ſagen konnte, auf alle Weiſe herausſuchte —
daß ihm nehmlich der Rektor auf einer Reiſe zur
Geſellſchaft mitgenommen, daß er in einer Pri¬
vatſtunde engliſch bei ihm gelernt habe, daß er bei
dem Aufzug mit Fackeln und Muſik geweſen, und
wie es dabei zugegangen ſey u. ſ. w.


Auch fuͤr ſich ſelbſt ſuchte er ſo viel wie moͤg¬
lich alles Unangenehme und Niederdruͤckende aus
ſeinen Ideen zu verbannen — denn er wollte
hier nun einmal in einem vortheilhaften, ehren¬
vollen Lichte erſcheinen, und ſein Zuſtand ſollte
andern beneidenswerth vorkommen, ſo wenig
beneidenswerth er auch war —


In dieſer angenehmen Selbſttaͤuſchung brach¬
te er hier einige Tage ſehr vergnuͤgt zu — allein
ſo leicht wie ihm dießmal geworden war, da er
aus den Thoren von H. . . gekommen, und er die
vier Thuͤrme der Stadt allmaͤlig aus dem Geſicht
verlohren hatte, ſo ſchwer wurde ihm ums Herz,
[156] da er ſich dieſen Thoren wieder naͤherte, und die
vier Thuͤrme wieder vor ihm da lagen, die ihm
gleichſam die großen Stifte ſchienen, welche den
Fleck ſeiner manichfaltigen Leiden bezeichneten.


Insbeſondre war ihm der hohe, eckigte, und
oben nur mit einer kleinen Spitze verſehene,
Marktthurm, da er ihn jetzt wieder ſahe, ein
fuͤrchterlicher Anblick — dicht neben dieſem war
die Schule — das Spotten, Grinſen und Aus¬
ziſchen ſeiner Mitſchuͤler ſtand mit dieſem Thurm
auf einmal wieder vor ſeiner Seele da — das
große Zieferblatt an dieſem Thurm war er ge¬
wohnt zum Augenmerk zu nehmen, ſo oft er die
Schule beſuchte, um zu ſehen, ob er auch zu
ſpaͤt kaͤme — Dieſer Thurm war ſo wie die
alte Marktkirche, ganz in gothiſcher Bauart,
von rothen Backſteinen aufgebaut, die vor Alter
ſchon ſchwaͤrzlich geworden waren. —


In eben dieſer Gegend war es, wo den Miſ¬
ſethaͤtern ihr Todesurtheil vorgeleſen wurde —
kurz dieſer Marktkirchthurm, brachte alles in
Reiſers Phantaſie zuſammen, was nur faͤhig
war, ihn ploͤtzlich niederzuſchlagen und in eine
tiefe Schwermuth zu verſetzen. —


[157]

Er haͤtte in der That nicht ſchwermuͤthiger
ſeyn koͤnnen, als er es jetzt war, wenn er auch
alles das vorausgewußt haͤtte, was ihm von nun
an in dieſem Orte ſeines Aufenthalts noch begeg¬
nen ſollte — War aber ſchon vor einem Jahre,
da er auch von ſeinen Eltern nach H... wieder
zuruͤckkehrte ſeine Traurigkeit nicht ohne Grund
geweſen, ſo war ſie es dießmal noch viel weniger,
da ihm einer der ſchrecklichſten Zeitpunkte in ſei¬
nem Leben bevorſtand.—


Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vor¬
auszuſetzen, ließ ſich ſeine Schwermuth ſehr na¬
tuͤrlich erklaͤren — wenn man erwaͤgt, daß ſeine
Einbildungskraft jeden engſten Kreis, ſeines
eigentlichen wirklichen Daſeyns, worin er nun
wieder verſetzt werden ſollte, ſchnell durchlief:
die Schule, das Chor, das Haus des Rektors —
in dieſen Kreiſen, wovon ihn immer einer noch
mehr wie der andre einengte und alle ſeine
Strebekraft hemmte, ſollte er ſich von nun an
wieder drehen — — wie gern haͤtte er in die¬
ſem Augenblick ſeinen ganzen Aufenthalt in H...
gegen den dunkelſten Kerker vertauſcht, der ge¬
wiß weit weniger Fuͤrchterliches und Schreckli¬
[158] ches fuͤr ihn gehabt haben wuͤrde, als alle dieſe
aͤngſtliche Lagen.


Indem er nun ſo in ſchwermuͤthige Gedan¬
ken vertieft einherging, und ſchon nahe am Thore
war, ſchoß auf einmal wie ein Blitz, ein Ge¬
danke durch ſeine Seele, der alles aufhellte,
und wodurch ſich ihm alles wieder in einem ſchoͤ¬
nern Lichte mahlte — er erinnerte ſich, daß er
ſchon zu Hauſe bei ſeinen Eltern gehoͤrt hatte,
es waͤre eine Schauſpielergeſellſchaft nach
H. . . gekommen, die den Sommer uͤber
dort ſpielen wuͤrde
. —


Dieß war die damalige Ackermanſche Trup¬
pe, welche faſt alle die jetzt hin und her zerſtreu¬
ten Zierden aller Buͤhnen Deutſchlands, in ſich
vereinigte. —


Mit ſchnellen Schritten eilte nun Reiſer der
Stadt zu, die ihm vorher ſo verhaßt, und nun
ploͤtzlich wider uͤber alles lieb geworden war —
ohne erſt zu Hauſe zu gehen, (es war noch Vor¬
mittag, denn er war die Nacht an einem Orte
unterwegens geblieben, von welchem er nur noch
ein paar Meilen bis nach H. . . zu gehen hatte)
eilte er ſogleich nach dem Schloſſe, wo er wußte,
[159] daß der Komoͤdienzettel mit dem Perſonenver¬
zeichniß angeſchlagen war, und laß, daß man an
demſelben Abend noch Emilia Galotti auffuͤh¬
ren wuͤrde. —


Sein Herz ſchlug ihm vor Freuden, da er
dieß laß; gerade dieß Stuͤck, bei dem er ſchon ſo
manche Thraͤne geweint, und ſo oft bis ins In¬
nerſte der Seele erſchuͤttert worden, und was
bis jetzt nur noch in ſeiner Phantaſie aufgefuͤhrt
war, nun auf dem Schauplatz mit aller moͤgli¬
chen Taͤuſchung wirklich dargeſtellt zu ſehn. —


Er waͤre [den] Abend nicht aus der Komoͤdie
geblieben, haͤtte es auch koſten moͤgen, was es
gewollt haͤtte — da er nun zu Hauſe kam, ſo
wurde die Stube, worin er ſchlief, geweißt, und
etwas darin gebaut, wodurch ſie ganz unbewohn¬
bar gemacht wurde — Dieſer mißtroͤſtende An¬
blick des Orts ſeines eigentlichſten Aufenthalts,
trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn um¬
gebenden Welt hinaus — er ſchmachtete nach der
Stunde, wann das Schauſpiel anheben wuͤrde.


Wohin er kam konnte er ſeine Freude
nicht verbergen; da er bei der Frau F. . . in
[160] die Stube trat, war ſein erſtes Wort die
Komoͤdie, welches ſie ihm lange nachher vor¬
warf — und eben ſo war es, da er zu ſeinem
Vetter dem Peruquenmacher kam, wo er nun
einige Naͤchte auf dem Boden ſchlafen mußte,
waͤhrend das ſeine Stube in dem Hauſe des Rek¬
tors erſt wieder bewohnbar gemacht wurde. —


Folgende Rollenbeſetzung mag ohngefaͤhr
einen Begriff davon geben, was Emilia Galotti,
als das erſte Schauſpiel, das er in dieſer Stim¬
mung der Seele ſahe, fuͤr eine Wirkung auf ihn
muͤſſe gehabt haben.


Die verſtorbne Charlotte Ackermann ſpiel¬
te die Emilia; ihre[ ]Schweſter die Orſina, und
die Reiniken ſpielte die Klaudia; Borchers
den Odoardo; Brockmann den Prinzen; Rei¬
nike
den Apptani, und Dauer den Conti —
Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder ſo auf¬
gefuͤhrt worden ſeyn?


Wie maͤchtig mußte Reiſers Seele hier ein¬
greiffen; da ſie nun die Welt ihrer Phantaſie
gewiſſermaßen wirklich gemacht fand! — Er
dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr,
als das Theater, und ſchien nun fuͤr alle ſeine
[161] Außichten und Hoffnungen im Leben gaͤnzlich
verlohren zu ſeyn. —


Was er nun irgend an Geld auftreiben
konnte, das wurde zur Komoͤdie angewandt, aus
welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben
konnte, wenn er es ſich auch am Munde abdar¬
ben ſollte — Um der Komoͤdie willen aß er oft
den ganzen Tag uͤber nichts, wie etwas Salz
und Brodt, wenn ihm nicht etwa die alte Mut¬
ter des Rektors Eſſen auf ſeine Stube ſchickte,
welches ſie doch zuweilen aus Mitleid that. —


Und weil es nun Sommer war, ſo genoß er
auch der Wonne, auf ſeiner Stube wieder allein
ſeyn zu koͤnnen — welches ihm mehr werth war,
als die koͤſtlichſten Speiſen, die er haͤtte genießen
koͤnnen. —


Die Außicht auf die Komoͤdie am Abend troͤ¬
ſtete ihn, wenn er am Morgen zu einem trauri¬
gen Tage erwachte, wie er denn nie anders er¬
wachte — Denn die Verachtung und der Spott
ſeiner Mitſchuͤler, und das dadurch erregte
Gefuͤhl ſeiner eignen Unwuͤrdigkeit, welches
er allenthalben mit ſich umher trug, dauerte
noch immer fort, und verbitterte ihm ſein Le¬
L[162] ben — Und alles was er that, um ſich hievon
loß zureißen, war im Grunde eine bloße Betaͤu¬
bung ſeines innern Schmerzes, und keine Hei¬
lung deſſelben — ſie erwachte mit jedem Tage
wieder, und waͤhrend daß ſeine Phantaſie ihm
manche Stunde lang ein taͤuſchendes Blendwerk
vormahlte, verwuͤnſchte er doch im Grunde ſein
Daſeyn. —


Die haͤufigen Thraͤnen welche er oft beim
Buche, und im Schauſpeilhauſe vergoß, floſſen
im Grunde eben ſowohl uͤber ſein eignes Schick¬
ſal, als uͤber das Schickſal der Perſon, an de¬
nen er Theil nahm, er fand ſich immer auf eine
naͤhere oder entferntere Weiſe in dem unſchuldig
Unterdruͤckten, in dem Unzufriednen mit ſich und
der Welt, in dem Schwermuthsvollen, und dem
Selbſthaſſer wieder. —


Die druͤckende Hitze im Sommer trieb ihn
oft aus ſeiner Stube in die Kuͤche, oder in den
Hof hinunter, wo er ſich auf einen Holzhaufen
ſetzte, und laß, und oft ſein Geſicht verbergen
mußte, wenn etwa jemand hereintrat, und er
mit rothgeweinten Augen da ſaß. —


[163]

Das war wieder the Joy of Grief, die
Wonne der Thraͤnen, die ihm von Kindheit auf
im vollen Maße zu Theil ward, wenn er auch
alle uͤbrigen Freuden des Lebens entbehren mußte.


Dieß gieng ſo weit, daß er ſelbſt bei komi¬
ſchen Stuͤcken, wenn ſie nur einige ruͤhrende
Scenen enthielten, als z. B. bei der Jagd,
mehr weinte, als lachte — was aber auch ein
ſolches Stuͤck damals fuͤr Wirkung thun mußte,
kann man wieder aus der Rollenbeſetzung ſchlieſ¬
ſen, indem die Charlotte Ackermann Roͤßchen,
ihre Schweſter Hannchen, die Reiniken die
Mutter; Schroͤder den Toͤffel; Reineke den
Vater; und Dauer den Chriſtel ſpielte. —


Wenn irgend aͤußere Umſtaͤnde faͤhig waren,
jemanden einen entſchiednen Geſchmack am Thea¬
ter beizubringen, ſo war es, Reiſers Vorliebe
und ſeine beſondern Verhaͤltniſſe abgerechnet, der
Zufall, welcher dieſe vortrefflichen Schauſpieler
damals in eine Truppe zuſammen brachte.


Man kann nun leicht ſchließen, wie Romeo
und Julie
, die Rache von Young, die Oper
Klariſſa
, Eugenie, welche Stuͤcke auf Reiſern
L 2[164] den ſtaͤrkſten Eindruck machten, gegeben werden
mußten. —


Dieß hatte nun auch ſo ſehr alle ſeine Ge¬
danken eingenommen, daß er alle Morgen den
Komoͤdienzettel gleichſam verſchlang, und alles
auch das der Anfang iſt praͤciſe um halb ſechs
Uhr
, und der Schauplatz iſt auf dem koͤnig¬
lichen Schloßtheater
gewiſſenhaft mitlaß —
Und fuͤr einen vorzuͤglichen Schauſpieler, den er
etwa auf der Straße erblicke, faſt ſo viel Ehr¬
furcht, wie ehemals gegen den Paſtor P. . . in
B. . . empfand. — Alles, was zum Theater
gehoͤrte, war ihm ehrwuͤrdig, und er haͤtte viel
darum gegeben, nur mit dem Lichtputzer Be¬
kanntſchaft zu haben. —


Vor zwei Jahren hatte er ſchon den Herku¬
les auf dem Oeta, den Grafen von Olsbach,
und die Pamela ſpielen ſehen, wo Eckhof, Boͤck,
Guͤnther, Henſel, Brandes nebſt ſeiner
Frau
, und die Seilerin die vorzuͤglichſten Rollen
ſpielten, und ſchon von jener Zeit her, ſchwebten
die ruͤhrendſten Scenen aus dieſen Stuͤcken noch
ſeinem Gedaͤchtniß vor, worunter Guͤnther als
Herkules, Boͤck als Graf von Olsbach, und die
[165]Brandes als Pamela, faſt jeden Tag wechſels¬
weiſe einmal in ſeine Gedanken gekommen wa¬
ren — und mit dieſen Perſonen hatte er denn
auch bis zur Ankunft der Ackermanſchen Trup¬
pen die Stuͤcke, die er laß, in ſeiner Phantaſie groͤ߬
tentheils aufgefuͤhrt. —


Es fuͤgte ſich alſo gerade bei ihm, daß er,
wenn jene mit dieſen zuſammengenommen wur¬
den, nun alle die vorzuͤglichſten Schauſpieler
Deutſchlands zu ſehen bekommen hatte, die jetzt
in ganz Deutſchland zerſtreut ſind. —


Dadurch bildete ſich ein Ideal von der
Schauſpielkunſt in ihm, das nachher nirgends
befriedigt wurde, und ihm doch weder Tag noch
Nacht Ruhe ließ, ſondern ihn unaufhoͤrlich um¬
hertrieb, und ſein Leben unſtaͤt und fluͤchtig
machte. —


Weil er ehemals Boͤck, und jetzt Brock¬
mannen
die Rollen ſpielen ſahe, wobei am
meiſten geweint wurde, ſo waren dieſe auch
ſeine Lieblingsakteurs, mit denen ſich ſeine Ge¬
danken immer am meiſten beſchaͤftigten. —


[166]

Allein bei alle den glaͤnzenden Scenen, die
aus der Theaterwelt beſtaͤndig ſeiner Phantaſie
vorſchwebten, wurden ſeine aͤußern Umſtaͤnde von
Tage zu Tage ſchlechter — Er verlohr immer
mehr in der Achtung der Menſchen, gerieth im¬
mer tiefer in Unordnung — ſeine Kleidung und
Waͤſche wurden immer ſchlechter, ſo daß er am
Ende Scheu trug, ſich vor Menſchen ſehen zu
laſſen — er verſaͤumte daher ſo oft er konnte,
die Schule und das Chor, und hungerte lieber,
als daß er irgend einen ſeiner noch uͤbrigen Frei¬
tiſche beſucht haͤtte, ausgenommen den bei dem
Schuſter S. . ., wo er auch unter dieſen mißli¬
chen Umſtaͤnden noch immer gaſtfreundlich em¬
pfangen, und mit der liebreichſten Art bewirthet
wurde. —


Da nun dem Rektor endlich Reiſers inkorri¬
gible
Unordnung, und insbeſondre das immer¬
waͤhrende ſpaͤte zu Hauſe kommen aus der Ko¬
moͤdie unausſtehlich wurde, ſo ſagte er ihm das
Logis auf. —


Reiſer hoͤrte die Ankuͤndigung des Rektors daß
er zu Johanni ausziehen, und ſich waͤhrend der
Zeit nach einem andern Logis umſehen ſollte, mit
[167] gaͤnzlicher Verhaͤrtung und Stillſchweigen an —
und da er wieder allein war, vergoß er nicht ein¬
mal eine Thraͤne mehr uͤber ſein Schickſal —
denn er war ſich ſelbſt ſo gleichguͤltig geworden,
und hatte ſo wenige Achtung gegen ſich und Mit¬
leid mit ſich ſelber uͤbrig behalten, daß wenn ſeine
Achtung und Empfindung des Mitleids, und alle
die Leidenſchaften, wovon ſein Herz uͤberſtroͤmte,
nicht auf Perſonen aus einer erdichteten Welt
gefallen waͤren, ſie nothwendig ſich alle gegen ihn
ſelbſt kehren, und ſein eignes Weſen haͤtten zer¬
ſtoͤren muͤſſen.


Da ihm der Rektor das Logis aufgeſagt hatte,
ſo zog er daraus die ſichere Folge, daß nun
auch der Paſtor M... ſich nicht weiter um ihn
bekuͤmmern wuͤrde, und ſo war es nun auf ein¬
mal mit allen ſeinen Ausſichten und Hoffnungen
vorbei. —


Die paar Wochen, welche er noch bei dem
Rektor blieb, brachte er nach ſeiner gewoͤhnlichen
Weiſe zu — dann zog er bei einem Buͤrſtenbin¬
der ins Haus; wo nun das Vierteljahr, welches
er von Johanni bis Michaelis zubrachte, das
ſchrecklichſte und fuͤrchterlichſte in ſeinem ganzen
L 4[168] Leben war, und wo er oft am Rande der Ver¬
z[w]eiflung ſtand. —


Da er nun hier eingezogen war, ſo fuͤhlte er
ſich auf einmal aus alle den Verbindungen, die
er vormals ſo aͤngſtlich geſucht hatte, herausge¬
ſetzt, und zwar wie er ſelbſt glaubte, durch ſeine
eigne Schuld herausgeſetzt — Der Prinz, der
Paſtor M. . ., der Rektor, alle die Perſonen
von denen ſein kuͤnftiges Schickſal abhing, waren
nun nichts mehr fuͤr ihn, und damit verſchwan¬
den zugleich alle ſeine Ausſichten. —


Was Wunder, daß ſich durch dieſe Veran¬
laſſung eine neue Phantaſie in ſeiner Seele bil¬
dete, in der er von nun an Troſt ſuchte, und
ſie Tag und Nacht mit ſich umher trug, und wel¬
che ihn von der gaͤnzlichen Verzweiflung rettete.


Er hatte nehmlich damals unter andern die
Operette Klariſſa oder das unbekannte
Dienſtmaͤdchen
geſehen, und nicht leicht haͤtte
in ſeiner Lage irgend ein Stuͤck mehr Intereſſe
fuͤr ihn haben koͤnnen, als dieſes. —


Der vorzuͤglichſte Umſtand, wodurch dieß
große Intereſſe bei ihm bewuͤrkt wurde, war, daß
ein junger Edelmann ſich entſchließt, ein Bauer
[169] zu werden, und auch wirklich ſeinen Entſchluß
ausfuͤhrt — Reiſer nahm auf die Veranlaſ¬
ſung, die ihn dazu brachte, weil er nehmlich
das unbekannte Dienſtmaͤdchen liebte, u. ſ. w.
gar keine Ruͤckſicht ſondern es war ihm eine ſo rei¬
zende Idee, daß ein gebildeter junger Menſch
ſich entſchließt, ein Bauer zu werden, und nun
ein ſo feiner, hoͤflicher, und geſitteter Bauer iſt,
daß er ſich unter allen uͤbrigen auszeichnet. —


In dem Stande, worin ſich Reiſer begeben,
war er nun einmal ganz zuruͤck geſetzt, und es
ſchien ihm unmoͤglich, ſich je wieder darin em¬
por zu arbeiten — Allein fuͤr einen Bauer hatte
doch ſein Geiſt einmal weit mehr Bildung erhal¬
ten, als es ſonſt zu dieſem Stande bedarf —
als Bauer war er uͤber ſeinen Stand erhoben,
als ein junger Menſch, der ſich dem Studiren
widmet, und Ausſichten haben ſoll, fand er ſich
weit unter ſeinen Stand erniedrigt — Die Idee,
ein Bauer zu werden,
wurde alſo nun bei ihm
die herrſchende, und verdraͤngte eine Zeitlang
alles uͤbrige. —


Nun beſuchte damals eines Bauernſohn Na¬
mens M. . . die Schule, dem er im lateiniſchen
L 5[170] zuweilen einigen Unterricht gegeben hatte — die¬
ſem ſagte er ſeinen Entſchluß ein Bauer zu wer¬
den, worauf ihm dann derſelbe eine detaillierte
Schilderung von den eigentlichen Arbeiten eines
Bauerknechtes machte, die Reiſern ſeine ſchoͤnen
Traͤume wohl haͤtten verderben koͤnnen, wenn
ſeine Phantaſie nicht zu ſtark dagegen angewuͤrkt
und nur immer die angenehmen Bilder mit Ge¬
walt neben einander geſtellt haͤtte. —


Sonſt koͤmmt auch ſelbſt in der Operette
Klariſſa ſchon eine Stelle vor, wo ein Bauer den
jungen Edelmann, der ihm ſein Guͤtchen abkau¬
fen will, von ſeinem Vorſatz abraͤth — und am
Ende eine ſehr ausdrucksvolle Arie ſingt, wie der
Landmann gerade im beſten Arbeiten begriffen
iſt, und auf einmal ſteigt ein Gewitter auf

Die Blitze ſchießen

Die Donner rollen

Und der Landmann geht verdrießlich

Verdrießlich zu Hauſe. —


das verdrießlich insbeſondere war durch die
Muſik ſo ausgedruckt, daß die ganze Zauberei
der Phantaſie ſchon durch dieß einzige Wort haͤtte
zerſtoͤrt werden koͤnnen — welches gleichſam
[171] das Gegengift aller Empfindſamkeit und hohen
Schwaͤrmerei iſt, womit das ſchmerzhafte, das
ſchreckliche, das niederbeugende, das in Zorn
ſetzende, aber nur das verdrießlichmachende
nicht wohl beſtehen kann. —


Aber dieß Gegengift half bei Reiſern nicht —
er ging ganze Tage einſam fuͤr ſich umher, und
dachte darauf, wie er es machen wollte, ein Bauer
zu werden, ohne doch in der That einen Schritt
dazu zu thun — vielmehr fing er an, ſich in die¬
ſen ſuͤßen Schwaͤrmereien ſelbſt wieder zu gefal¬
len — wenn er ſich nun als Bauer dachte, ſo
glaubte er ſich doch zu etwas beſſern beſtimmt zu
ſein, und empfand uͤber ſein Schickſal wieder
eine Art von troͤſtendem Mittleid mit ſich ſelber.


So lange ihn nun dieſe Phantaſie noch empor
hielt, war er nur ſchwermuthsvoll und traurig,
aber nicht eigentlich verdrießlich uͤber ſeinen
Zuſtand — Selbſt ſeine Entbehrung der noth¬
wendigſten Beduͤrfniſſe machte ihm noch eine
Art von Vergnuͤgen, indem er nun beinahe glaub¬
te, daß er fuͤr ſein Verſchulden doch zu ſehr buͤſ¬
ſen muͤſſe, und alſo noch die ſuͤße Empfindung
des Mitleids mit ſich ſelber behielt —


[172]

Endlich aber nachdem er zum erſtenmale drei
Tage, ohne zu eſſen zugebracht, und ſich den
ganzen Tag uͤber mit Thee hingehalten hatte,
drang der Hunger mit Ungeſtuͤm auf ihn ein,
und das ganze ſchoͤne Gebaͤude ſeiner Phantaſie
ſtuͤrzte fuͤrchterlich zuſammen — er rannte mit
dem Kopfe gegen die Wand, wuͤthete und tobte,
und war der Verzweiflung nahe, da ſein Freund
Philipp Reiſer, den er ſo lange vernachlaͤßiget
hatte, zu ihm hereintrat, und ſeine Armuth, die
freilich auch nur in einigen Groſchen beſtand mit
ihm theilte. —


Indes war dieß nur ein ſehr geringes Pallia¬
tiv — denn Philipp Reiſer befand ſich damals
in nicht viel beſſern Umſtaͤnden als Anton Reiſer.


Dieſer gerieth nun wirklich in einen fortdau¬
renden fuͤrchterlichen Zuſtand, der der Verzweif¬
lung nahe war. —


So wie ſein Koͤrper immer weniger Nahrung
erhielt, verloſch allmaͤlig ſeine ihn ſonſt noch be¬
lebende Phantaſie, und ſein Mitleid uͤber ſich
ſelbſt verwandelte ſich in Haß und Bitterkeit ge¬
gen ſein eignes Weſen, ehe er nun einen Schritt
[173] zu der Verbeſſerung ſeines Zuſtandes gethan,
oder ſich an irgend einen Menſchen nur mit dem
Schein einer Bitte gewandt haͤtte, unterwarf
er ſich lieber freiwillig mit der beiſpielloſeſten
Hartnaͤckigkeit dem ſchreklichſten Elende. —


Denn mehrere Wochen hindurch aß er wirk¬
lich die Woche eigentlich nur einen einzigen Tag,
wenn er zum Schuſter S. . . ging, und die uͤbri¬
gen Tage faſtete er, und hielt mit nichts als
Thee oder warmen Waſſer, das einzige was er
noch umſonſt erhalten konnte, ſein Leben hin —
Mit einer Art von ſchreklichem Wohlbehagen,
ſahe er ſeinen Koͤrper eben ſo gleichguͤltig wie
ſeine Kleider, von Tage zu Tage abfallen.


Wenn er auf der Straße ging, und die Leute
mit Fingern auf ihn zeigten, und ſeine Mitſchuͤ¬
ler ihn verſpotteten, und hinter ihm her ziſch¬
ten, und Gaſſenbuben ihre Anmerkungen uͤber
ihn machten — ſo bis er die Zaͤhne zuſammen,
und ſtimmte innerlich in das Hohngelaͤchter mit
ein, daß er hinter ſich her erſchallen hoͤrte. —


Wenn er aber dann wieder zum Schuſter S. . .
kam, ſo vergaß er doch alles wieder — Hier
fand er Menſchen, hier wurde auf einige Augen¬
[174] blicke ſein Herz erweicht, mit der Saͤttigung ſei¬
nes Koͤrpers erhielt ſeine Denkkraft und ſeine
Phantaſie wieder einen neuen Schwung, und
mit dem Schuſter S. . kam wieder ein philo¬
ſophiſches Geſpraͤch auf die Bahn, welches oft
Stundenlang dauerte, und wobei Reiſer wieder
an zu athmen fing, und ſein Geiſt wieder Luft
ſchoͤpfte — dann ſprach er oft in der Hitze des
Diſputirens uͤber einen Gegenſtand ſo heiter und
unbefangen, als ob nichts in der Welt ihn nie¬
dergedruͤckt haͤtte — Von ſeinem Zuſtande ließ
er ſich nicht eine Silbe merken. —


Selbſt bei ſeinem Vetter, dem Perukenmacher
beklagte er ſich nie, wenn er zu ihm kam, und
ging weg, ſobald er ſahe, daß gegeſſen werden
ſollte — aber eines Kunſtgriffes bediente er ſich
doch, wodurch es ihm gelang ſich vom Verhun¬
gern zu retten. —


Er bat ſich nehmlich fuͤr einen Hund, den er
bei ſich zu Hauſe zu haben vorgab, von ſeinem
Vetter die harte Kruſte von dem Teich aus,
worin das Haar zu den Peruquen gebacken wur¬
de, und dieſe Kruſte, nebſt dem Freitiſche bei dem
[175] Schuſter S..., und dem warmen Waſſer das
er trank, war es nun, womit er ſich hinhielt.


Wenn nun ſein Koͤrper einige Nahrung er¬
halten hatte, ſo fuͤhlte er ordentlich zuweilen
wieder etwas Muth in ſich — Er hatte noch
einen alten Virgil, den ihm der Buͤcheranti¬
quarius nicht hatte abkaufen wollen; in dieſem
fing er an die Eklogen zu leſen — Aus einer Wo¬
chenſchrift die Abendſtunden die er ſich von Phi¬
lipp Reiſern geliehen hatte, fing er an ein Ge¬
dicht der Gottesleugner, das ihm vorzuͤg¬
lich gefiel, und einige proſaiſche Aufſaͤtze aus¬
wendig zu lernen — Aber mit dem bald wie¬
der fuͤhlbaren Mangel an Nahrung erloſch auch
dieſer aufglimmende Muth wieder, und dann
war die Thaͤtigkeit ſeiner Seele wie gelaͤhmt —
Um ſich vor den Zuſtande des toͤdtlichen Aufhoͤ¬
rens aller Wirkſamkeit zu retten, mußte er zu
kindiſchen Spilen wieder ſeine Zuflucht neh¬
men, in ſo fern dieſelben auf Zerſtoͤrung hinaus
liefen. —


Er machte ſich nehmlich eine große Samm¬
lung von Kirſch- und Pflaumenkernen, ſetzte ſich
damit auf den Boden, und ſtellte ſie in Schlacht¬
[176] ordnung gegen einander — die ſchoͤnſten darunter
zeichnete er durch Buchſtaben und Figuren, die er
mit Dinte darauf mahlte, von den uͤbrigen aus,
und machte ſie zu Heerfuͤhrern — dann nahm er
einen Hammer, und ſtellte mit zugemachten Au¬
gen das blinde Verhaͤngniß vor, indem er den
Hammer bald hie, bald dorthin fallen ließ —
wenn er dann die Augen wieder eroͤfnete, ſo ſah
er mit einem geheimen Wohlgefallen, die ſchrek¬
liche Verwuͤſtung, wie hier ein Held und dort
einer mitten unter dem unruͤhmlichen Haufen ge¬
fallen war, und zerſchmettert da lag — dann
wog er das Schickſal der beiden Heere gegen ein¬
ander ab, und zaͤhlte von beiden die Gebliebenen.
So beſchaͤftigte er ſich oft den halben Tag —
und ſeine ohnmaͤchtige kindiſche Rache am Schick¬
ſal, das ihn zerſtoͤrte, ſchuf ſich auf die Art eine
Welt, die er wieder nach Gefallen zerſtoͤren
konnte — ſo kindiſch und laͤcherlich dieſes Spiel
jedem Zuſchauer wuͤrde geſchienen haben, ſo war
es doch im Grunde das fuͤrchterlichſte Reſultat
der hoͤchſten Verzweiflung die vielleicht nur je
durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterb¬
lichen bewirkt wurde. —


[177]

Man ſieht aber auch hieraus, wie nahe da¬
mals ſein Zuſtand an Raſerei graͤnzte — und
doch war ſeine Gemuͤthslage wieder ertraͤglich,
ſobald er ſich nur erſt wieder fuͤr ſeine Kirſch und
Pflaumenſteine intereſſiren konnte — ehe er aber
auch das konnte; wenn er ſich hinſetzte und mit der
Feder zuͤge aufs Papier mahlte oder mit dem
Meſſer auf dem Tiſch kritzelte
— das waren
die ſchrecklichſten Momente, wo ſein Daſeyn wie
eine unertraͤgliche Laſt auf ihm lag, wo es ihm
nicht Schmerz und Traurigkeit, ſondern Ver¬
druß
verurſachte—wo er es oft mit einem fuͤrchter¬
lichen Schauder, der ihn antrat, von ſich abzu¬
ſchuͤtteln ſuchte. —


Seine Freundſchaft mit Philipp Reiſern
konnte ihm damals nicht zu ſtatten kommen, weil
es jenem nicht viel beſſer ging — und ſo wie zwei
Wandrer, die zuſammen in einer brennenden
Wuͤſte in Gefahr vor Durſt zu verſchmachten ſind,
indem ſie forteilen, eben nicht im Stande ſind viel
zu reden, und ſich wechſelsweiſe Troſt einzuſpre¬
chen, ſo war dieß auch jetzt der Fall zwiſchen An¬
ton Reiſern und Philipp Reiſern.


[178]

Allein eben der G..., welcher einſt den ſter¬
benden Sokrates geſpielt hatte, wovon Reiſer
noch immer den Spottnahmen trug, entſchloß
ſich bei ihm zu ziehen, und war auch gerade in
denſelben Umſtaͤnden, wie Reiſer, nur mit dem
Unterſchiede, daß er durch wirkliche Liederlichkeit
hinein gerathen war — an ihm fand alſo Reiſer
nun einen wuͤrdigen Stubengeſellſchafter.


Es dauerte nicht lange, ſo zog auch der
Bauernſohn Nahmens M... zu dieſen beiden,
der ebenfalls in keinen beſſern Umſtaͤnden war —
Es fand ſich alſo hier eine Stubengeſellſchaft von
drei der aͤrmſten Menſchen zuſammen, die viel¬
leicht nur je zwiſchen vier Waͤnden eingeſchloſſen
waren. —


Mancher Tag ging hin; wo ſie ſich alle drei
mit nichts als gekochtem Waſſer und etwas Brodt
hinhielten — Indes hatten G... und M... doch
noch einige Freitiſche. —


G... war im Grunde ein Menſch von Kopf,
der ſehr gut ſprach, und gegen den Reiſer ſonſt
immer viel Achtung empfunden hatte. —


Einmal bekamen beide auch noch eine An¬
wandlung von Fleiß, und fingen an, Virgils Ek¬
[179] logen zuſammen zu leſen, wobei ſie wirklich das
reinſte Vergnuͤgen genoſſen, nachdem ſie eine Ek¬
loge mit vieler Muͤhe fuͤr ſich ſelbſt herausgebracht
hatten, und nun ein jeder eine Ueberſetzung da¬
von niederſchrieb — allein dieß konnte natuͤrli¬
cher Weiſe unter den Umſtaͤnden nicht lange
dauren — ſobald ein jeder ſeine Lage wieder leb¬
haft empfand, ſo war aller Muth und Luſt zum
Studieren verſchwunden. —


In Anſehung der Kleidung war es mit G...
und M... eben ſo ſchlecht, wie mit Reiſern be¬
ſtellt — ſie machten daher, wenn ſie ausgingen,
zuſammen einen Aufzug, der das wahre Bild der
Liederlichkeit und Unordnung ſchien, ſo daß man
mit Fingern auf ſie wieß, weswegen ſie denn
auch immer auf Abwegen und durch enge Straſ¬
ſen aus der Stadt zu kommen ſuchten, wenn ſie
ſpatzieren gingen.


Dieſe drei Leute fuͤhrten nun auch voͤllig ein
Leben, wie es mit ihren Zuſtande uͤbereinſtimmte
— ſie blieben oft den ganzen Tag im Bette lie¬
gen — oft ſaßen ſie alle drei zuſammen, den
Kopf auf die Hand geſtuͤtzt, und dachten uͤber
ihr Schickſal nach; oft trenten ſie ſich, und
M 2[180] ein jeder ließ fuͤr ſich ſeiner Laune freien Lauf —
Reiſer gieng auf den Boden, und muſterte ſeine
Kirſchkerne — M... ging bei ſein großes Brodt,
daß er ſorgfaͤltig in einem Koffer verſchloſſen hatte
— und G... lag auf dem Bette, und machte
Projekte, die denn nicht die beſten waren, wie
ſich bald nachher zeigte — zwei Buͤcher laß doch
Reiſer damals, weil er kein anders hatte, zu
verſchiedenenmalen durch, indem er auf dem Bo¬
den zwiſchen ſeinen Kirſchkernen ſaß — das waren
die Werke des Philoſophen von Sansſouci, und
Popens Werke nach Duſchens Ueberſetzung, die
er beide von dem Schuſter S... geliehen bekom¬
men hatte.


Dieſe drei Leute gingen nun auch eines Tages
zuſammen in einer ſchoͤnen Gegend von H...
laͤngſt dem Fluß ſpatzieren, in welchem ſich eine
kleine Inſel erhob, die ganz voller Kirſchbaͤume
ſtand. —


Fuͤr unſre drei Abentheurer waren dieſe
Kirſchbaͤume, die alle voll der ſchoͤnſten Kirſchen
ſaßen, ein ſo einladender Anblick, daß ſie ſich
des Wunſches nicht enthalten konnten, auf dieſe
[181] Inſel verſetzt zu ſeyn, um ſich an dieſer herr¬
lichen Frucht nach Gefallen ſaͤttigen zu koͤnnen.


Nun fuͤgte es ſich gerade, daß eine Menge
Floßholz den Fluß hinunter geſchwommen kam;
welches ſich in der Verengung des Fluſſes zwi¬
ſchen dem Ufer und der Inſel zuweilen ſtopfte,
und eine anſcheinende Bruͤcke bis zu der Inſel
bildete.


Unter G. . .s Anfuͤhrung, der in der Ausfuͤh¬
rung ſolcher Projekte ſchon geuͤbt zu ſeyn ſchien,
wurde nun ein Wageſtuͤck unternommen, das
leicht allen dreien das Leben haͤtte koſten koͤn¬
nen — Sie zogen nehmlich da, wo das
Floßholz ſich geſtopft hatte, ein Stuͤck nach dem
andern aus dem Waſſer heraus, und trugen es
alle auf einen Fleck, wo ihnen die Paſſage uͤber
den Fluß zwiſchen dem Ufer und der Inſel am
engſten zu ſeyn ſchien, und nun bauten ſie die
Bruͤcke, woruͤber ſie gehen wollten erſt vor ſich
her, indem ſie ein Stuͤck Holz nach dem andern
vor ſich hin warfen, um feſten Fuß zu faſſen —
natuͤrlicher Weiſe mußtr dieſe Bruͤcke unter ihnen
zu ſinken anfangen, und ſie kamen ſehr tief ins
Waſſer, ehe ſie kaum die Haͤlfte ihres gefaͤhrli¬
M 3[182] chen Weges zuruͤckgelegt hatten — endlich lande¬
ten ſie denn doch, obgleich mit Lebensgefahr auf
der Inſel an —


Und nun bemaͤchtigte ſich aller dreier auf ein¬
mal ein Geiſt des Raubes und der Gier, daß ein
jeder uͤber einen Kirſchbaum herfiel, und ihn mit
einer Art von Wuth pluͤnderte —


Es war, als haͤtte man eine Veſtung mit
Sturm erobert; man wollte fuͤr die uͤberſtande¬
ne Gefahr, die man ſich ſelbſt gemacht
hatte
, Erſatz haben, und dafuͤr belohnt ſeyn.


Da man ſich ſatt gegeſſen hatte, wurden alle
Taſchen, Schnupftuͤcher, Halstuͤcher, Huͤte, und
was nur etwas in ſich faſſen konnte, von Kir¬
ſchen voll geſtopft — und in der Daͤmmerung
wurde der Ruͤckweg uͤber die gefaͤhrliche Bruͤcke,
wovon indes ſchon ein Theil weggeſchwommen
war, wieder angetreten, und ohngeachtet der
Beute womit die Abentheurer belaſtet waren,
mehr durch Zufall als Geſchicklichkeit oder Be¬
hutſamkeit, gluͤcklich geendet. —


Reiſer fand ſich zu dergleichen Expeditionen
gar nicht uͤbel aufgelegt — dies daͤuchte ihm ei¬
gentlich nicht Diebſtahl, ſondern nur gleichſam
[183] eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu ſeyn,
die, wegen des Muths der dabei erfordert wird,
immer noch eine ehrenvolle Sache iſt. —


Und wer weiß zu welchen Wageſtuͤcken von
der Art, er noch unter G. . .s Anfuͤhrung mit
geſchritten waͤre, wenn er laͤnger bei dieſem ge¬
wohnt haͤtte. —


Allein dieſer G. . . gehoͤrte denn doch im
Grunde mehr zu den abgefeimten, als zu den
herzhaften Partheigaͤngern — denn er war nie¬
dertraͤchtig genug, ſelbſt ſeine beiden Stubenge¬
ſellſchafter und Gefaͤhrten, Reiſern und M. . . zu
beſtehlen, indem er ihnen ein paar Buͤcher und
andre Sachen, die ſie noch hatten nahm, und
heimlich verkaufte, wie ſich nachher zeigte. —


Kurz dieſer G. . . mit dem Reiſer ſo nahe zu¬
ſammen wohnte, war im Grunde ein abgefeim¬
ter Spizbube, der, wenn er den ganzen Tag
uͤber auf dem Bette lag, und nachſann, auf
nichts als Buͤbereien dachte, die er ausfuͤhren
wollte — und der demohngeachtet von Tugend
und Moralitaͤt ſprechen konnte, wie ein Buch,
wodurch er Reiſern zuerſt eine ſolche Ehrfurcht
gegen ihn eingefloͤßt hatte.


[184]

Denn von der Tugend hatte er ſich damals ein
ſonderbares Ideal gemacht, welches ſeine Phan¬
taſie ſo ſehr einnahm, daß ihn oft ſchon der Nahme
Tugend bis zu Thraͤnen ruͤhrte. —


Er dachte ſich aber unter dieſem Nahmen et¬
was viel zu Allgemeines, und dachte dieß all¬
gemeine viel zu dunkel, und mit zu weniger An¬
wendung auf beſondre Vorfaͤlle, als daß es ihm
je haͤtte gelingen koͤnnen, auch den aufrichtigſten
Vorſatz tugendhaft zu ſeyn, auszufuͤhren — denn
er dachte immer nicht daran, wo er nun eigent¬
lich anfangen ſollte. —


Einmal kam er an einem ſchoͤnen Abend von
einem einſamen Spaziergange zu Hauſe, und
der Anblick der Natur hatte ſein Herz zu ſanf¬
ten Empfindungen geſchmolzen, daß er viele
Thraͤnen vergoß, und ſich in der Stille gelobte,
von nun an der Tugend ewig getreu zu ſeyn! —
und da er dieſen Vorſatz feſt gefaſt hatte, ſo em¬
pfand er ein ſo himmliſches Vergnuͤgen uͤber die¬
ſen Enſchluß, daß es ihm nun faſt unmoͤglich ſchien
je von dieſem begluͤckenden Vorſatze wieder abzu¬
[185] welchen — Mit dieſen Gedanken ſchlief er ein
— und da er am Morgen erwachte, ſo war es
wieder ſo leer in ſeinem Herzen; die Ausſicht
auf den Tag war ſo truͤbe und oͤde; alle ſeine
aͤußern Verhaͤltniſſe waren ſo unwiederbringlich
zerruͤttet; ein unuͤberwindlicher Lebensuͤberdruß
trat an die Stelle der geſtrigen Empfindung,
womit er einſchlief — er ſuchte ſich vor ſich ſelbſt zu
retten, und machte den Anfang, tugendhaft zu
ſeyn, damit daß er auf den Boden ging, und in
Schlachtordnung geſtellte Kirſchkerne zerſchmet¬
terte. —


Dieß nun zu unterlaſſen, und ſtatt deſſen
etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine
Ekloge zu leſen, waͤre der eigentliche Anfang zur
Ausuͤbung der Tugend geweſen — aber auf die¬
ſen zu geringfuͤgig ſcheinenden Fall hatte er
ſich bei ſeinem heldenmuͤthigen Entſchluſſe nicht
gefaßt gemacht.


Wenn man die Begriffe der Menſchen von der
Tugend pruͤfen wollte, ſo wuͤrden ſie vielleicht bei
den meiſten auf eben ſolche dunkle und verworre¬
ne Vorſtellungen herauslaufen — und man ſieht
[186] wenigſtens hieraus, wie unnuͤtz es iſt, im All¬
gemeinen
, und ohne Anwendung auf ganz be¬
ſondre und oft geringfuͤgig ſcheinende Faͤlle, von
Tugend zu predigen. —


Reiſer wunderte ſich damals oft ſelbſt dar¬
uͤber, wie ſeine ploͤtzliche Anwandlung von Tu¬
gendeifer ſobald verrauchen, und gar keine Spur
zuruͤck laſſen konnte — aber er erwog nicht,
daß Selbſtachtung, welche ſich damals bei ihm
nur noch auf die Achtung anderer Menſchen gruͤn¬
den konnte, die Baſis der Tugend iſt — und daß
ohne dieſe das ſchoͤnſte Gebaͤude ſeiner Phan¬
taſie ſehr bald wieder zuſammenſtuͤrzen mußte.


So oft es ihm waͤhrend dieſes Zuſtandes noch
moͤglich geweſen war, einige Groſchen zuſam¬
menzubringen, ſo oft hatte er ſie auch in die
Komoͤdie getragen — da aber die Schauſpieler¬
geſellſchaft in der Mitte des Sommers wieder
wegzog, ſo war nun eine Wieſe vor dem neuen
Thore nicht nur das Ziel ſeiner Spatziergaͤnge,
ſondern faſt ſein immerwaͤhrender Aufenthalt —
er lagerte ſich hier zuweilen den ganzen Tag auf
[187] einen Fleck im Sonnenſchein hin, oder ging
laͤngſt dem Fluſſe ſpatzieren, und freute ſich vor¬
zuͤglich, wenn er in der heißen Mittagsſtunde
keinen Menſchen um ſich her erblickte. —


Indem er hier ganze Tage lang ſeinen me¬
lancholiſchen Gedanken nachhing, naͤhrte ſich
ſeine Einbildungskraft unvermerkt mit großen
Bildern, welche ſich erſt ein Jahr nachher all¬
maͤlig zu entwickeln anfingen. —


Sein Lebensuͤberdruß aber wurde dabei aufs
aͤußerſte getrieben — oft ſtand er bei dieſen Spa¬
ziergaͤngen am Ufer der Leine, lehnte ſich in die
reißende Fluth hinuͤber, indes die wunderbare
Begier zu athmen mit der Verzweiflung kaͤmpf¬
te, und mit ſchrecklicher Gewalt ſeinen uͤber
haͤngenden Koͤrper wieder zuruͤckbog. —

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Moritz, Karl Philipp. Anton Reiser. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvx.0