Verlag von Otto Janke.
1861.
Erſtes Kapitel.
„Es giebt problematiſche Naturen, die keiner
Lage gewachſen ſind, in der ſie ſich befinden, und
und denen keine genug thut. Daraus entſteht
der ungeheure Widerſtreit, der das Leben ohne
Genuß verzehrt.“
Es war an einem warmen Juniabend des Jahres
184., als ein mit zwei ſchwerfälligen Braunen be¬
ſpannter Stuhlwagen mühſam in dem tiefen Sand¬
wege eines Tannenforſtes dahinfuhr.
„Wird dieſer Wald denn nie ein Ende nehmen!“
rief der junge Mann, der allein in dem Hinterſitze des
Fuhrwerks ſaß, und richtete ſich ungeduldig in die Höhe.
Der ſchweigſame Kutſcher vor ihm klatſchte ſtatt
aller Antwort mit der Peitſche. Die ſchwerfälligen
Braunen machten einen verzweifelten Verſuch, in Trab
zu fallen, ſtanden aber alsbald von einem Vorſatze ab,
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 1[2] den ihr Temperament und der tiefe Sand ſo wenig
begünſtigten. Der junge Mann lehnte ſich mit einem
Seufzer wieder in ſeine Ecke zurück, und fing wieder
an, auf die einförmige Muſik des mühſam gleiſenden
Fuhrwerks zu horchen, und ließ wieder die dunklen
Stämme der Tannen an ſich vorübergleiten, auf die
hier und da ein Streifen von dem Licht des Mondes
fiel, der ſo eben über den Forſt heraufſtieg, Er be¬
gann von neuem, ſich den Empfang, der ſeiner auf
dem Schloſſe harrte, und die ſo neue Situation, in
die er treten ſollte, auszumalen; aber die überdies
verſchwommenen Bilder einer unbekannten Zukunft
wurden dunkler und dunkler; die ſchlummermüden
Augen ſchloſſen ſich, und der erſte Ton, den ſein Ohr
wieder vernahm, war der dumpfe Hufſchlag der Pferde
auf einer hölzernen Brücke, die zu einem mächtigen
ſteinernen Thorweg führte. „Endlich,“ rief der junge
Mann, ſich emporrichtend und neugierig um ſich ſchauend,
als der Wagen raſcher hurch eine dunkle Allee rieſiger
Bäume fuhr, auf einem mit Kies beſtreuten offenen
Platze einen halben Bogen machte und jetzt vor dem
Portale des Schloſſes hielt, auf deſſen dunklen Fen¬
ſtern die Mondesſtrahlen glitzerten.
Der ſchweigſame Kutſcher klatſchte zum Zeichen
der Ankunft mit der Peiſche. Die einzige Antwort
[3] war der helle Ton einer Glocke in der Nähe, die
langſam elf Uhr ſchlug. Als der letzte Ton verklungen
war, that ſich die Hausthür auf, ein Diener trat
heraus an den Wagen und hinter ihm wurde die Ge¬
ſtalt eines alten Herrn ſichtbar, deſſen runzliches Ge¬
ſicht von dem Schein der Kerze, die er mit der einen
Hand gegen den Luftzug zu ſchützen ſuchte, hell be¬
leuchtet wurde.
Der junge Mann ſprang raſch aus dem Wagen
auf den alten Herrn zu, der ihm die Rechte entgegen¬
ſtreckte und mit einer Stimme, deren Freundlichkeit das
Zittern des Alters und ein etwas ausländiſcher Accent
nicht verhüllten, ſagte:
„Seien der Herr Doctor beſtens willkommen!“ Der
junge Mann erwiederte herzlich den Druck der darge¬
botenen welken Hand: „Im komme zwar etwas ſpät,
Herr Baron,“ ſagte er, „aber“ —
„Das thut nichts, das thut nichs,“ unterbrach ihn
der alte Herr. Frau von Grenwitz iſt noch auf.
Johann, tragen Sie die Sachen auf das Zimmer des
Herrn Doctor! Wollen Sie hier hereintreten!“
Oswald hatte auf dem mit Steinflieſen ausgelegten
Vorſaal ſeinen Anzug flüchtig geordnet und folgte jetzt
dem Baron in ein hohes, ſchönes Zimmer.
Als er eintrat, erhoben ſich zwei Damen, die an
1*[4] dem Tiſch vor dem Sopha, wie es ſchien mit Leſen,
beſchäftigt geweſen waren.
„Meine Frau,“ ſagte der Baron, Oswald der
älteren von den beiden Damen vorſtellend, einer hohen,
ſchlanken Frau von etwa vierzig Jahren, die dem An¬
kömmling ein paar Schritte entgegengegangen war und
jetzt mit einiger Förmlichkeit ſeine Begrüßung erwie¬
derte, und dann verbeugte er ſich auch vor der jün¬
geren, einer zierlichen kleinen Geſtalt mit einem etwas
ſcharfen, echt franzöfiſchen, von langen engliſchen Locken
eingerahmten Geſicht, da er in dem Umſtande, daß ſie
ihm nicht beſonders vorgeſtellt wurde, keinen zwingen¬
den Grund ſah, dieſe Höflichkeit zu unterlaſſen.
„Sie kommen ſpät, Herr Doctor Stein‚“ ſagte die
Baronin mit einer tiefen, wohllautende Stimme, die
mit dem kalten Licht ihrer großen grauen Augen nicht
ganz harmonirte.
„So früh, gnädige Frau,“ antwortete der junge
Mann heiter, „als es der widrige Wind, der heute
Morgen das Fährboot um mehre Stunden aufhielt,
und der Kutſcher des Herrn Baron, deſſen Geduld zu
bewundern ich unterwegs reichlich Gelegenheit hatte,
erlaubten.“
„Geduld iſt eine ſchöne Tugend,“ ſagte die Ba¬
ronin, nachdem ſie ihren Platz auf dem Sopha wieder
[5] eingenommen, und die Uebrigen ſich auf Stühlen um
den Tiſch gereiht hatten; „eine Tugend, die Sie vor
Allen ſchätzen müſſen, da Sie dieſelbe in Ihrem Be¬
rufe ſo nöthig haben. Ich fürchte, die beiden Knaben
werden Ihnen nur zu oft Veranlaſſung geben, dieſe
Tugend im vollſten Umfange zu üben.“
„Ich verſpreche mir alles Gute von meinen zu¬
künftige Zöglingen, und bin zum voraus überzeugt,
daß die Probe, auf die ſie meine Geduld ſtellen wer¬
den, keine Feuerprobe ſein wird.“
„Ich will es wünſchen,“ ſagte die Baronin, eine
Arbeit, die ſie beim Eintritt des jungen Mannes aus
der Hand gelegt hatte, wieder ergreifend; „indeſſen
werden Sie die Knaben gerade jetzt etwas verwildert
finden, da ſich Ihre Ankunft leider um einige Tage
verzögert hat, und Ihr Vorgänger uns nicht den Ge¬
fallen thun konnte — oder wollte, ſeine Abreiſe ſo
lange aufzuſchieben.“
„Es hieße gering von der guten Natur der Knaben
denken,“ erwiederte Oswald, „und nicht beſonders groß
von dem Erziehertalente des Herrn Bauer, das mir
ſehr gerühmt wurde, wenn ich wirklich fürchtete, ſein
Einfluß auf dieſelbe ſollte ihn nicht einmal eine Woche
überlebt haben.“
„Nun, Herr Bauer hatte ſeine Tugenden und auch
[6] ſeine Schwächen,“ ſagte die Baronin, die Stiche auf
ihrer Arbeit zählend.
„Das iſt ſo Menſchenloos, gnädige Frau,“ erwie¬
derte Oswald.
„Will der Herr Doctor nicht eine Erfriſchung zu
ſich nehmen, liebe Anna-Maria?“ ſagte hier der alte
Herr; Oswald konnte nicht unterſcheiden, ob aus gaſt¬
freundlicher Fürſorge, oder um dem Geſpräch, das, er
wußte ſelbſt nicht wie, einen etwas lebhaften Charakter
angenommen hatte, eine andere Wendung zu geben.
„Ich danke;“ ſagte Oswald trocken.
„Sie haben,“ fuhr die Baronin, ohne dieſe Unter¬
brechung zu beachten, fort, „wenn ich den Profeſſor
Berger, der uns an Sie wies, recht verſtanden habe,
ſich bis jetzt noch nicht mit Unterrichten und Erziehen
beſchäftigt, Herr Doctor?“
„Nein.“
„Sie werden mich außerordentlich verbinden, wenn
Sie mir gelegentlich Ihre Grundſätze in dieſer Be¬
ziehung ausführlicher darlegen wollten. Ich bin zum
voraus überzeugt, daß wir in den Hauptpunkten einerlei
Meinung ſein werden. Auf einige Differenzen in den
Nebenſachen müſſen wir uns wohl Beide gefaßt machen.
Ich werde Ihnen meine etwaigen Wünſche und An¬
ſichten ſtets unverhohlen äußern, und bitte Sie, gegen
[7] mich dieſelbe Rückhaltloſigkeit zu beobachten. Was den
Umfang der Kenntniſſe der Knaben anbelangt, ſo wer¬
den Sie ſich darüber bald ſelbſt ein Urtheil bilden.
Auch Ihrem Urtheil über den Charakter der Kinder
wünſche ich nicht vorzugreifen; nur das glaube ich
Ihnen ſagen zu müſſen, daß Sie in Malte, unſerm
Sohn, einen etwas verzogenen Knaben, und in Bruno
— Sie wiſſen, daß Bruno von Löwen ein entfernter
Verwandter meines Mannes iſt, den wir nach dem
Tode ſeiner Eltern zu uns genommen haben — einen
Knaben finden werden, der eben gar nicht erzogen und
in Folge deſſen auch zum Theil ſehr ungezogen iſt.“
„Liebe Anna-Maria,“ ſagte der
„Ich weiß, was Du ſagen willſt, lieber Grenwitz,“
unterbrach ihn die Baronin, „Bruno iſt nun einmal
Dein erklärter Liebling, und unſere Anſicht über ihn
wird wol noch lange verſchieden bleiben. Uebrigens
magſt Du auch wol Recht haben, wenn Du behaupteſt,
daß ich ihn nicht zu beurtheilen vermag, was übrigens
weniger meine, als des Knaben Schuld iſt, deſſen dü¬
ſteres verſchloſſenes Weſen alle Annäherung von un¬
ſerer, wollte ſagen, von meiner Seite beharrlich zurück
weiſt.“
„Aber, liebe Anna Maria,“ —
„Nun, laß es gut ſein, lieber Grenwitz, wir wollen
[8] Herrn Doctor Stein nicht gleich an dem erſten Abend,
den er unter unſerm Dache iſt, das Schauſpiel der
Uneinigkeit zweier Ehegatten geben. Ueberdies wird
Herr Doctor Stein der Ruhe bedürfen. Mademoiſelle,
wollen Sie die Güte haben, zu klingeln.“
Dieſe letzten Worte wurden in franzöſiſcher Sprache
an die junge Dame gerichtet, welche während dieſer
ganzen Unterredung unbeweglich, ohne auch nur die
Augen nach dem Ankömmling aufzuſchlagen, das Buch,
aus dem ſie vorgeleſen haben mochte, noch immer in
der Hand haltend, an dem Tiſche geſeſſen hatte. Jetzt
erhob ſie ſich und ſchritt nach der Thür, neben der
ſich der Klingelzug befand. Oswald kam ihr mit
einem: „Erlauben Sie, mein Fräulein,“ zuvor. Das
Mädchen ſah ihn aus großen braunen Augen mit einem
halb verwunderten und halb erſchrockenen Blicke an,
der deutlich genug verrieth, wie wenig ſie an dergleichen
Aufmerkſamkeiten gewöhnt war, und ging dann, die
langen Wimpern ſchnell wieder ſenkend, zu ihrem Platz
am Tiſche zurück,
Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, Os¬
wald nach dem für ihn beſtimmten Zimmer zu bringen.
„Ich hoffe, daß Sie vorläufig Alles nach Wunſch
finden werden,“ ſagte die Baronin, als Oswald ſich
mit einer ſtummen Verbeugung verabſchiedete; „wenn
[9] Eines oder das Andere vergeſſen, oder weniger nach
Ihrem Geſchmacke ſein ſollte, ſo haben Sie ja die
Güte, dies auszuſprechen; ich wünſche dringend in un¬
ſerm eignen Intereſſe, daß Sie ſich in unſerm Hauſe
behaglich fühlen.
Oswald verbeugte ſich noch einmal und folgte dem
Diener aus dem Gemache.
Dieſer führte ihn über den Hausflur, an deſſen
Wänden Oswald flüchtig im Schein der Kerze dunkle
Portraits von alterthümlich gekleideten Herren und
Damen in Lebensgröße bemerkte, eine ſteinerne Wen¬
deltreppe hinauf, durch lange Corridors in eine Flucht
von kleinen Zimmern in ein größere? Gemach.
„Dies iſt das Zimmer des Herrn Doctor,“ ſagte
der Mann, die beiden Kerzen, die auf dem mit einem
grünen Teppich bedeckten großen runden Tiſch in der
Mitte des Gemaches ſtanden, anzündend. „Die Thür
dort führt in das Schlafgemach des Herrn Doctor,“
„Und wo ſchlafen die Knaben?“ fragte Oswald.
„Der Herr Doctor gelangen aus Ihrem Schlafge¬
mach in das der Herren Junker. Haben der Herr
Doctor noch ſonſt etwas zu befehlen?“
„Nein, ich danke.“
„Ich wünſche dem Herrn Doctor eine wohlſchlafende
Nacht.“
„Gute Nacht.“
Oswald war allein. Er war, eine Hand auf den
Tiſch geſtützt, nachdenklich ſtehen geblieben, und hörte
mechaniſch zu, wie die Schritte des Dieners allmälig
auf dem Corridor verhallten. Jetzt ergriff er eine der
beiden Kerzen, ging durch ſein Schlafgemach nach der
Thür, von der ihm der Diener geſagt, daß ſie in das
Gemach der Knaben führe, öffnete ſie behutſam und
trat, das Licht mit der Hand ſchirmend, leiſe ein.
Die Betten der Knaben ſtanden dicht nebeneinander.
Vor dem einen Bette lag ein Teppich, vor dem andern
nicht. Ueber dem Bette ohne Teppich hing an der
Wand eine kleine ſilberne, über dem mit dem Teppich
eine noch kleinere goldene Uhr. In dem Bette unter
der goldenen Uhr lag ein Knabe von vielleicht vierzehn
Jahren, mit blondem, ſchlichtem Haar, und einem
ſchmalen, feinen Geſicht, das in dieſem Augenblicke
durch den halb geöffneten Mund etwas Albernes hatte;
in dem Bette unter der ſilbernen Uhr ein Knabe, der
wohl nur ein Jahr älter ſein mochte, als der erſte,
aber mindeſtens um drei Jahre älter ausſah, und
überhaupt mit jenem den ſonderbarſten Contraſt bildete.
Während die Arme jenes ſchlaff auf der Decke lagen,
hatte dieſer die ſeinen über der Bruſt verſchränkt.
Der feſt geſchloſſene Mund, und die in dieſem Augen¬
[11] blick, wo ihn ein Traumbild herausfordern mochte,
leiſe zuſammengezogenen dunklen Brauen, gaben dem
blaſſen Geſicht mit den unregelmäßigen, aber nicht un¬
ſchönen Zügen einen Ausdruck von finſterem Trotz und
Stolz, der einem gefangenen Königsſohn wohl ange¬
ſtanden haben würde.
„Armer Knabe,“ ſagte Oswald bei ſich, als er mit
unendlichem Intereſſe in das räthſelhafte junge Antlitz
ſah, „dir hat der Lenz des Lebens auch ſchon Thränen ge¬
bracht, wenn du überhaupt von einem Lenze ſprechen kannſt.“
Er fühlte ſich ſeltſam ergriffen, er wußte ſelbſt
kaum weshalb; aber er beugte ſich über den Schlum¬
mernden und küßte ihn auf die Stirn. Da regte ſich
der Knabe im Schlaf, die Arme löſten ſich, er ſchlug
die großen, tiefblauen Augen auf, und ſah durch die
Nebel des Traumes zu Oswald empor. Und da zuckte
es wie ein ſonniger Strahl über ſein Geſicht; alles
Düſtre war verſchwunden, und ein warmes, hinreißend
freundliches Lächeln ſpielte in den lebensvollen Zügen.
„Ich habe Dich lieb,“ ſagte der Knabe.
„Und ich Dich,“ antwortete Oswald.
Da wandte ſich Bruno auf die Seite und Oswald
hörte an den tiefen regelmäßigen Athemzügen, daß er
wieder feſt entſchlafen ſei. „Hat er Dich wirklich ge¬
ſehen, oder biſt du ihm nur als Traumbild erſchienen?“
[12] fragte ſich der junge Mann, als er, voll von dem Ein¬
druck dieſer kleinen Scene, in ſein Zimmer zurückſchritt.
Er ſtellte das Licht wieder auf den Tiſch, trat an's
Fenſter, öffnete es und lehnte ſich hinaus.
Der Himmel hatte ſich mit Wolkendunſt bedeckt,
durch den der volle Mond, der ſchon tief am Himmel
ſtand, nur als dunkelrothe Feuerkugel ſchien. Im
Oſten wetterleuchtete es. Die Luft war ſchwül und
drückend. In dem Schloßgarten tief unter dem Fenſter
ſchimmerten die weißen Blüthenbäume. Tiefer finſtrer
Schatten lag auf den Buchen und Eichen, die von dem
hohen Wall, der den Garten umgab, rieſig in den Himmel
wuchſen. Nachtigallen ſchlugen in vollen langgezogenen
Tönen; ein Brunnen plätſcherte leiſe, wie im Schlaf.
Oswald fühlte ſich ſeltſam bewegt. Seine Vergangen¬
heit ging in dämmernden Bildern an ſeinem Geiſte
vorüber, wie die Wolkenſchleier an dem Monde vor¬
über wallten; Ahnungen der Zukunft zuckten dazwiſchen,
wie das Wetterleuchten gegen Aufgang. Da rauſchte
es lauter in den Bäumen, die helle Glocke, die ihn bei
ſeiner Ankunft begrüßt hatte, ſchlug langſam zwölf.
Er fuhr empor. „Du wollteſt dir ja das Träumen
abgewöhnen.“ ſprach er lächelnd zu ſich ſelbſt. „So
ſchlafe denn, da du, ohne zu träumen, nicht mehr
wachen kannſt.“
Zweites Kapitel.
Oswald war jetzt eine Woche auf Schloß Grenwitz,
und die Woche war ihm vergangen wie ein Tag. Es
lag in ſeiner Natur, alles Neue mit Leidenſchaft zu
ergreifen, ſelbſt das Alltägliche, ſo lange es neu war,
und hier hatte er Neues vollauf: eine neue Situation,
neue Umgebung, neue Menſchen. Das Alles verſetzte
ihn, wie es bei ſanguiniſchen Temperamenten ge¬
ſchehen pflegt, auf eine Zeit lang in die heiterſte
Stimmung, in welcher es ihm ein Leichtes war, Dinge
und Menſchen, und Alles und Jedes, womit er in
Berührung kam, ſelbſt die Baronin mit ihren ſtrengen,
kalten Zügen, ſelbſt den ſchweigſamen Kutſcher, gegen
den er gleich am erſten Abend einen Haß gefaßt hatte,
ſelbſt den kriechenden, zuthunlichen Bedienten mit ſeinem
ewigen: Befehlen der Herr Doctor — ganz liebens¬
würdig, zum mindeſten intereſſant zu finden. Von
[14] dieſer heiteren, verſöhnlichen Stimmung geben auch die
Briefe Zeugniß, die er um dieſe Zeit an ſeine Freunde
ſchrieb: „Da wäre ich denn nun,“ heißt es in dem
einen, „auf dieſer neuen Station meines wunderlichen
Lebens angelangt, und wahrlich, ich glaube es hier, bis
Schwager Kronos die Pferde gewechſelt hat und wie¬
der in ſein ewiges Horn ſtößt, trotz meiner ſo oft von
Ihnen geſcholtenen Ungeduld, wohl aushalten zu können.
Ja, wenn ich nicht fürchten müßte, durch voreiligen
Enthuſiasmus Ihren Spott herauszufordern, ſo hätte
ich nicht übel Luſt, dem guten Stern, der mich hierher
geführt, ein Danklied zu ſingen. Ich bin durchaus in
der dazu nöthigen lyriſchen Stimmung. Ich habe in
dieſen Tagen ſchon ſo viel Wald- und Seeluft geathmet,
daß mein armes, vom Staube nichtsnutziger Folianten
betäubtes Gehirn ſchier trunken iſt. Wahrlich, wenn
die Menſchen dieſes paradieſiſchen Aufenthalts nicht
ganz unwürdig ſind, ſo öffnet ſich mir für die nächſten
Jahre eine ſchöne Zukunft.
Verzeihen Sie mir, mein Freund, daß ich zu dem
großen Schritte, der mich hierher geführt, nicht Ihre
ſpecielle Erlaubniß eingeholt habe, wie Sie nach dem
blinden Gehorſam, mit dem ich Ihrer höheren Einſicht
bis jetzt immer gefolgt bin, wohl erwarten konnten.
Ich war einmal entſchloſſen, ihn zu thun. Sie, das
[15] wußte ich, würden mir Ihre Einwilligung verſagen:
ſo wollte ich denn Ihren geharniſchten Gründen ein
eben ſo geharniſchtes fait accompli entgegenſtellen
und Ihrem guten Rath das uralte Vorrecht, zu ſpät
zu kommen, nicht rauben. Ueberdies kam mir die
Sache ſo plötzlich, und ich mußte meinen Entſchluß ſo
ſchnell faſſen, daß ich eben nur Zeit hatte, Ihnen den¬
ſelben mit wenigen Worten anzukündigen; und endlich
iſt es auch eigentlich der Profeſſor Berger, der die
ganze Schuld trägt, wenn überhaupt von Schuld die
Rede ſein kann, und auf deſſen Schultern ich hiermit
feierlich alle Verantwortung wälze.
Wir haben uns, ſeitdem wir uns nun faſt vor
einem Jahre in der Reſidenz trennten, ſehr ſelten und
immer nur ſehr flüchtig geſchrieben. So werde ich
auch wohl des Profeſſors Berger kaum ein paar Mal
Erwähnung gethan haben, und es iſt daher die höchſte
Zeit, daß ich Sie mit dieſem originellen Manne endlich
bekannt mache, der in meiner jüngſten Vergangenheit
eine ſo große Rolle geſpielt hat, und dem ich es einzig
und allein zu verdanken habe, daß ich in der Haupt-
und Staatsaction der Tragi-Komödie — Examen ge¬
nannt — keine kläglichere Rolle ſpielte.
Als ich damals von B. nach Grünwald zog, in
der vagen Hoffnung, ich werde in dieſer ſtillen Muſen¬
[16] ſtadt, in der, wie ich mir hatte ſagen laſſen, das Gras
in idylliſcher Ruhe auf den Straßen wachſe, die
nöthige Sammlung finden, an der es mir in den lite¬
rariſchen Cirkeln, äſthetiſchen Thees und ſingenden
Butterbroden der Reſidenz ſo gänzlich gebrach, erſchien
mir unter den fürchterlichen Männern, die mich ſelig
machen oder verdammen konnten, der Profeſſor Berger
bald als der fürchterlichſte. Ich hörte von den paar
Commilitonen, deren dreimal bedenkliche Bekanntſchaft
zu machen ich nicht umhin konnte, wahrhaft unheim¬
liche Dinge von ſeiner erſtaunlichen Gelehrſamkeit und
allerlei Beunruhigendes über ſein excentriſches Weſen,
ſeine tolle Launenhaftigkeit und ſeinen großen Einfluß
auf die übrigen Mitglieder der Prüfungscommiſſion,
denen er durch ſein Wiſſen, mehr aber noch durch
ſeinen Witz, mit deſſen beißender Lauge er Jeden ohne
Anſehen der Perſon überſchüttete, gründlich imponire.
Leibhaftig hatte ich den Entſetzlichen noch nicht geſehen.
Er hatte einen ſeiner hypochondriſchen Anfälle, in
welchen er ſich, wie man mir ſagte, bei Tage in ſeiner
Stube einſchlöſſe und des Nachts in den Wäldern der
Nachbarſchaft umherſchweife.
Da werde ich eines Tages von einer reichen Fa¬
milie, an die ich empfohlen war, zu Mittag geladen.
Die Geſellſchaft war ſehr zahlreich, ich führte eine der
[17] jungen Damen vom Hauſe zu Tiſche, ein hübſches
blondes Mädchen, deſſen Munterkeit mich während des
Anfangs der Mahlzeit hinreichend feſſelte. Als aber
die gewöhnlichen Themata, die man mit jungen Damen,
die ſeit einem Jahre aus der Schule ſind, abzuhandeln
pflegt, durchgeſprochen waren, wurde ich auf einen
Herrn aufmerkſam, der mir gegenüberſaß. Es war
ein unterſetzter, ſchon ältlicher Mann, mit einer maſſiven,
wie aus Granit gehauenen Stirn, unter der ein paar
kluge Augen hervorblitzten. Die etwas vollen Wangen
verkündeten eine Neigung zum Wohlleben, die ſich denn
auch in dem Eifer, mit welchem der Mann den guten
Gaben der Ceres und des Bacchus zuſprach, deutlich
genug zu erkennen gab. Die Züge um den großen,
breiten Mund waren geradezu räthſelhaft: Sinnlichkeit,
Witz, Schalkheit und Melancholie — Dämonen und
Genien — ſchienen dort zu ſpielen.
Das Geſpräch wurde an dieſem Theile der Tafel
bald ein allgemeines, und ich konnte mich, ohne auf¬
dringlich zu erſcheinen, hineinmiſchen. Man ſprach
über Kunſt, Literatur, Politik. Ueberall ſchien der
merkwürdige Mann zu Hauſe, überall überraſchte er
uns durch die geiſtvollſten Aperçüs, durch blendende
Antitheſen und wunderliche Paradoxen. Ja, er ſchien
ſeine Freude daran zu haben, wenn er ſo ein Tröpf¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 2[18] chen Fegefeuer hineingeſprengt hatte und die hölliſchen
Flämmchen den guten Leuten auf der Naſe kitzelten.
So ſtellte er denn auch gelegentlich die Behauptung
auf, daß Revolutionen der Menſchheit nie etwas ge¬
nützt hätten, nie und nimmer etwas nützen würden.
Sie kennen meine Anſichten über dieſen Punkt, der oft
der Gegenſtand unſerer Geſpräche war. Ich nahm
den Fehdehandſchuh auf; ich wurde warm bei meinem
Lieblingsthema, um ſo wärmer, als der Mann mir
gegenüber mich durch Kreuz- und Querſprünge irrlich¬
tergleich zu verwirren ſuchte. Ich vergaß Alles um
mich her, ich wurde pathetiſch, ſatyriſch — ich fühlte,
daß ich gut ſprach, wenigſtens in meinem Leben nicht
beſſer geſprochen hatte. Der Mann hatte zuletzt das
Gefecht, das, wie ich ſpäter zu meiner Beſchämung er¬
fuhr, das luſtigſte Scheingefecht von der Welt für ihn
war, aufgegeben und hörte mir, den großen Kopf ein
wenig auf die rechte Schulter geneigt und mich unter
den buſchigen Brauen mit ſeinen kleinen klugen Augen
anblinzelnd und dabei ein Glas Hochheimer nach dem
anderen ſchlürfend, behaglich zu. Bald darauf wurde
die Tafel aufgehoben. Als ich meine Dame in das
Theezimmer führe, frage ich ſie: „Und wer war denn
der Herr, mit dem ich mich in ein, für Sie ohne
Zweifel ſehr langweiliges Geſpräch verwickeln ließ?“
„Wie, Sie kennen Profeſſor Berger nicht?“ ant¬
wortet mir die Kleine verwundert.
„Das war Profeſſor Berger?“
„Nun freilich, ſoll ich Sie ihm vorſtellen?“
„Um Himmelswillen nicht,“ rief ich mit wahrhaftem
Entſetzen; „o, ich Kind des Unglücks!“
„Was iſt Ihnen?“ fragte die hübſche Blondine,
„was haben Sie?“
Ich aber hatte ſchon ihren Arm aus dem meinen
gleiten laſſen und ſuchte das entfernteſte Zimmer. Dort
warf ich mich in einer einſamen Ecke auf einen niedrigen
Divan, um über das Unglück, das ich angerichtet hatte,
melancholiſche Betrachtungen anzuſtellen. Ich hatte
mich alſo, während ich mit einem gutmüthigen Pudel
zu ſpielen glaubte, mit einem grimmigen Bären gebalgt!
Dieſer Mann war mir als eben ſo tückiſch geſchildert,
wie er gelehrt und witzig war. Würde er ſich meiner
Sarkasmen und Ausfälle nicht in jener ſchlimmen
Stunde erinnern, wo ich hülflos auf dem Secirtiſch
des Examinationsſaales vor ihm lag. Es war ein
verzweifelter Fall.
Da hebe ich vor einem Geräuſch neben mir den
Kopf, den ich nachdenklich in die Hand geſtützt hatte,
in die Höhe — vor mir ſteht der Profeſſor Berger.
Ich erhebe mich von meinem Sitze.
2*[20]
„Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen ſetze,“ ſagt
der ſeltſame Mann, indem er auf dem Divan Platz
nimmt, und mich an ſeine Seite winkt. „Sie gefallen
mir und ich wünſche Ihre nähere Bekanntſchaft zu
machen. Ich bin der Profeſſor Berger; mit wem
habe ich die Ehre?“
„Mein Name iſt Stein.“
„Sie ſtudiren, oder vielmehr, was haben Sie
ſtudirt?“
„Ich wollte, Herr Profeſſor, ich könnte auf dieſe
Frage einfach „Philologie“ antworten, da dies aber
eine grobe Unwahrheit wäre, ſo kann ich nur ſagen:
ich wünſche, ich hätte Philologie ſtudirt.“
„Wie ſo?“
„Weil mir alsdann die Ehre Ihrer näheren Be¬
kanntſchaft weniger bedenklich erſcheinen möchte.“
Ein Lächeln ſpielte um den Mund des Profeſſors
die Wange hinauf und verlor ſich in dem Winkel des
rechten Auges.
„Sie ſtehen vor dem Examen?“
„Ja, wie Sie kennen ja das Sprichwort, Herr
Profeſſor.“
Das Lächeln zuckte vom Auge wieder herunter zum
Munde.
[21]
„Und da erſchrecken Sie vor mir wie Hamlet vor
ſeines Vaters Geiſt?“
„Wenigſtens erſcheinen Sie mir in ſehr fragwür¬
diger Geſtalt.“
„Nun wohl, da ſehen Sie ſelbſt, daß wir eben des¬
halb näher mit einander bekannt werden müſſen. Wollen
Sie morgen Abend, oder wenn Sie ſonſt Zeit und
Luſt haben, ein Glas Theepunſch mit mir trinken?“
Ich ſagte natürlich nicht nein.
Und dies war der Anfang meiner Bekanntſchaft, ja
ich darf wohl ſagen Freundſchaft mit dieſem außeror¬
dentlichen Manne. Wir ſind von dieſer Zeit an, ſo
lange ich in Grünwald war, täglich zuſammen gekom¬
men, und ich ſchlage die praktiſchen Vortheile, die für
mich aus dem Verkehr mit dem Gelehrten ſich er¬
gaben, lange nicht ſo hoch an, als die tiefen Blicke,
die ich in dem vertraulichen Umgange mit dem Menſchen
in einen der räthſelhafteſten Charaktere thun durfte,
die mir vorgekommen ſind. Es muß, fürchte ich, eine
Wahlverwandtſchaft zwiſchen ſeinem und meinem Weſen
exiſtiren, oder wir hätten uns nicht ſo ſchnell finden,
ſo rückhaltslos gegen einander ausſprechen, ſo auf
Wort und Wink verſtehen können. Ich fürchte, ſage
ich; denn Berger iſt ein ſehr unglücklicher Mann. Die
Lichter ſeines glänzenden Humors ſpielen auf einem
[22] gewitterſchweren Hintergrunde. Er ſteht allein in der
Welt, verkannt von Allen, gefürchtet von den Meiſten,
geliebt von Niemanden. Warum dem ſo iſt, darüber
könnte ich mich ſelbſt Ihnen gegenüber nicht auslaſſen,
denn jede Freundſchaft iſt ein Tempel, zu dem jedem
Dritten der Zutritt verſagt bleiben muß. Aber ich
ſchaudere, ſo oft ich das Dunkel heraufbeſchwöre, das
über ihn hereinbrechen muß, wenn einſt das Alter die
ſtrahlende Fackel ſeines Genius, die jetzt einzig und
allein die ſchauerliche Oede ſeiner Seele erhellt, düſtrer
und düſtrer brennen macht. Vielleicht — wer weiß
es? — mag das auch ein Glück für ihn ſein. Viel¬
leicht mag dann das Wort, das er jetzt oft halb im
grimmen Spotte und halb voll wehmüthen Glaubens
im Munde führt, das alte Wort: „Selig ſind die
Einfältigen,“ an ihm zur Wahrheit werden.
Der vertraute Umgang mit dem gelehrten Manne
hatte mich in den Augen aller Andern in einen Nimbus
gehüllt, in welchem ich, wie die homeriſchen Helden
die Gefahren der Schlacht, die Schreckniſſe des Exa¬
mens ungefährdet durchwandeln konnte. Am Morgen
des entſcheidenden Tages ſagte Berger zu mir: „Wiſſen
Sie, lieber Oswald, daß ich große Luſt habe, Sie
durchfallen zu laſſen?“
„Warum?“
[23]„Weil ich Sie zu verlieren fürchte; doppelt zu ver¬
lieren. Du lieber Himmel, welche Wandlungen können
nicht mit einem Menſchen vorgehen, dem man den
Großvaterſtuhl eines Amtes giebt, und die Schlaf¬
mütze einer Würde aufſetzt! Vielleicht kommen auch
Sie noch dahin, den Horaz für einen großen Dichter
zu halten, und den Cicero für einen eminenten Philo¬
ſophen; vielleicht werden Sie gar in dieſer engbrüſtigen
Zeit aus lieber langer Weile ein gelehrter Profeſſor,
wie ich.“
Das Examen war vorüber; ich hatte, wie Berger
ſagte, die Erlaubniß erhalten, das Stroh dreſchen zu
dürfen. Da kommt er eines Tages mit einem Briefe
in der Hand zu mir und fragt:
„Haben Sie Luſt, in einer adligen Familie Erzieher
zu werden?“
„Das könnte ich eben nicht behaupten.“
„Glaub's wohl; aber die Bedingungen ſind ſo vor¬
theilhaft, daß es ſich mindeſtens der Mühe verlohnt,
die Sache in Ueberlegung zu ziehen. Sie müſſen ſich
auf vier Jahre verbindlich machen.“
„Und das nennen Sie vortheilhafte Bedingungen.
Vier Jahre! nicht vier Wochen!“
„Hören Sie nur! Von den vier Jahren haben
Sie nur zwei in dem Hauſe zuzubringen, die übrige
[24] Zeit reiſen Sie mit Ihrem Zögling. Sie wollen die
Welt ſehen, und Sie müſſen die Welt ſehen, und wäre
es auch nur, um ſich zu überzeugen, daß die Men¬
ſchen überall mit Recht die Hunde ſo lieben. Sie
haben kein Vermögen, zum Vagabunden ſind Sie zu
civiliſirt. Eh bien! hier haben Sie die ſchönſte Ge¬
legenheit, die Ihnen ſo vielleicht nicht zum zweiten
Male im Leben geboten wird.“
„Und wer iſt der Alexander, deſſen Ariſtoteles ich
werden ſoll?“
Ein junger Majoratsherr, wie der macedoniſche
Pferdebändiger. Ich habe die noble Sippſchaft im
vorigen Jahr in Oſtende kennen gelernt. Der Mann,
ein Baron Grenwitz, iſt eine Null, die Frau Baronin
ein X., das ich noch nicht habe herausrechnen können.
Jedenfalls iſt ſie eine geſcheidte Frau. Ich weiß, daß
dies für Sie keine geringe Empfehlung iſt. Sie ſpricht
drei oder vier lebende Sprachen gut, ihre Mutterſprache
nicht ausgenommen. Ich habe ſie ſogar in Verdacht,
daß ſie mit ihrem jetzigen Hauslehrer, einem gewiſſen
Bauer, der hier ſtudirt hat, und ein grundgelehrter
— Jüngling war, in aller Stille Latein und Griechiſch
treibt.“
„Und Sie, der Sie mir ſelber ſagten, daß Sie
ein Buch über den Adel und gegen den Adel geſchrie¬
[25] ben haben, das leider in Deutſchland, für das es be¬
rechnet iſt, nirgends gedruckt werden kann, — Sie
rathen mir, der ich über die Braminenkaſte dieſelben
Pariasideen habe, mich in das Lager unſerer Erbfeinde
zu begeben?“
„Das iſt ja eben der Humor davon,“ lachte Ber¬
ger; „Sie ſollen hingehen wie ein Mohikaner in das
Lager der Irokeſen: und ich freue mich ſchon im voraus
auf die prächtigen Zöpfe, die Sie zurückbringen werden.
Die hängen wir dann als Trophäen in unſerm Wig¬
wam auf, und haben unſere Freude daran.“
„Und wenn man mich ſelbſt dort ſcalpirt, wie dann?“
„Dann bin ich der letzte Mohikaner und rauche
meine Friedenspfeife einſam und melancholiſch auf dem
Grabe meines Unkas.“
Er ſtützte den Kopf in die Hand und ſtarrte düſter
vor ſich nieder. „Ja, ja, ich weiß es,“ murmelte er,
„die große Schlange, wenn ſie es endlich müde iſt, die
Menſchen anzuziſchen, wird in einen Sumpf kriechen
und da einſam verrecken.“
Ich ergriff ſeine Hand. „Das wird nicht geſchehen,
wenigſtens nicht, ſo lange ich lebe.“
Er ſchaute mich wehmüthig an.
„Aber Du wirſt vor mir ſterben,“ ſagte er: „die
große Schlange hat ein zähes Leben, und Du biſt weich.
[26] viel zu weich für dieſe harte Welt. Doch das bei
Seite. Was ſagen Sie zu meinem Vorſchlag?“
„Daß er mir nur halb, und weniger als halb ge¬
fällt.“
„So muß ich denn doch den letzten Trumpf aus¬
ſpielen,“ rief Berger aufſpringend. „So hören Sie
denn, Sie Ungläubiger, daß jenes Haus, in das
ich Sie ſenden will, einen Engel in ſich ſchließt, in
Geſtalt eines wunderlieblichen Mägdeleins. Sie iſt die
Schweſter Ihres Alexander und Gott ſei Dank, vor¬
läufig noch in Hamburg in Penſion. Ich haſſe ſie,
denn ſie hat mir viel Qual bereitet. Alle wahnſinnigen
Träume meiner Jugend lebten in mir auf bei ihrem
Anblick und ängſtigten mich wie ſchöne Geſpenſter.
Zuletzt lief ich davon, ſo oft ich ſie unter ihrem leichten
Strohhute über den glatten Sand des Strandes heran¬
kommen ſah. Ja, ich will es nur geſtehen, ich habe
die Sonette, die ich Ihnen neulich vorlas, die Sie
freundlich genug waren, liebedurchglüht und Gott weiß,
was noch ſonſt, zu finden, und die ich in der ſeligen
Jugendzeit vor dreißig Jahren auf Helgoland gedichtet
zu haben vorgab, im vorigen Jahre in Oſtende, vom
Anblick der ſchönen Teufelin berauſcht, mit meinem
Herzblut geſchrieben. Das ſagen Sie aber Niemanden
wieder.“
„Weshalb nicht? Es würde mir ja doch keine
Menſchenſeele glauben.“
„Da haben Sie freilich Recht; und nun?“
„Nun habe ich noch weniger Luſt, als vorhin. Ich
wünſche nicht, die alberne Geſchichte der Liebſchaft
eines Hauslehrers mit der Tochter des hochadligen
Hauſes, eine Geſchichte, die ich mir ſchon in ſo und
ſo vielen Romanen zum Ekel geleſen habe, an mir
ſelbſt zu wiederholen. Und wenn das Mädchen wirk¬
lich ſo ſchön und liebenswürdig iſt, daß —“
„Daß ſelbſt das dürre Holz friſche Blätter treibt,
was da am grünen geſchehen ſoll?“ unterbrach mich
lachend Berger. „Nun wohl! verlieben Sie ſich!
weshalb nicht! Lieber Freund, das Buch des Lebens
für Leute unſeres Schlages führt denſelben Titel, wie
einer der Romane Balzac’s: Illusions perdues. Jeder
Tag ſchreibt nur ein neues Kapitel hinein, und je
kürzer das Buch, deſto beſſer und intereſſanter iſt es.
Aber da es nun einmal geſchrieben werden muß und
nicht anders geſchrieben werden kann, ſo iſt es auch
im Grunde gleichgültig, ob wir nach Weſten gehen oder
nach Oſten. Wir machen dieſelben Erfahrungen hier
wie dort. Darum ſage ich noch einmal: gehen Sie
nach Grenwitz!“
Was ſollte ich thun. Es erſchien mir als eine
[28] Pflicht, den Wunſch meines Freundes, dem ich ſo viel
verdanke, zu erfüllen. Und dann, hatte Berger nicht
recht, daß es gleichgültig ſei, ob ich nach Oſten gehe
oder nach Weſten? Genug, ich packte meine Sachen,
ſagte meinem Mentor Lebewohl und fuhr hinüber nach
dieſem Eiland.“ — — —
Drittes Kapitel.
Oswald hatte bis jetzt nur in Städten gelebt. Seine
Sitten, ſeine Anſchauungen, ſeine Neigungen waren die
eines Städters. So kam es denn, daß, als er ſich
jetzt plötzlich wie mit einem Zauberſchlage auf das
Land verſetzt ſah, der unſägliche Reiz der erſten leuch¬
tenden Sommertage in einem ſchönen ländlichen Auf¬
enthalte für ihn mehr als für die meiſten Menſchen
etwas unſäglich Anziehendes, ja Hinreißendes und Be¬
rauſchendes hatte. Es war ihm Alles ſo neu und
doch wieder ſo ſeltſam bekannt, wie wenn Jemand in
eine Gegend kommt, die er ſchon lange vorher in ſei¬
nen Träumen geſehen. War dieſer blaue Dom, der
ſich immer tiefer und tiefer wölbte, derſelbe Himmel,
der ſich ſo troſtlos bleiern über dem Häuſermeer der
Reſidenzſtadt ſpannte; waren dieſe funkelnden Lichter
[30] dieſelben öden Sterne, zu denen er, aus dem Theater
oder einer Geſellſchaft kommend, kaum einmal flüchtig
emporgeblickt hatte? Konnte ein Sommermorgen ſo
reich an Glanz und Pracht, ein Sommerabend ſo weich
und wollüſtig ſein? Hatte er denn den Geſang der
Vögel nie vernommen, daß er ſich jetzt an ihren ein¬
fachen Liedern nicht ſatt hören konnte? Hatte er denn
nie Blumen geſehen, daß er jetzt nicht müde wurde,
ihre ſchönen Farben und wunderſamen Geſtalten zu
betrachten? Es war ihm zu Muthe, wie Einem, der
aus ſchwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht.
Die jüngſte Vergangenheit lag wie hinter einem dichten
Schleier, aber weit Entferntes, im Meer der Ver¬
geſſenheit ſeit langen Jahren Verſunkenes tauchte wie
eine glänzende, zauberiſche Spiegelung wieder über den
Horizont der Erinnerung empor. „Ei, da iſt ja auch
Ritterſporn,“ rief er einſt in dieſen erſten Tagen freudig
überraſcht, als er, träumend im Garten auf und ab
wandelnd, dieſe Blume häufig auf den Beeten blühen ſah.
„Nun freilich,“ ſagte Bruno, der bei ihm war,
„haben Sie denn noch nie welchen geſehen?“
„Es iſt lange her,“ murmelte der junge Mann,
ſich niederbeugend und die phantaſtiſche Blume mit
Rührung betrachtend. In ſeines Geiſtes Aug' ſah er
ſich wieder in einem kleinen lauſchigen Garten an der
[31] Stadtmauer herumſpielen und Steinchen, Blumen und
andere Seltenheiten, die er auf ſeinen Entdeckungsreiſen
fand, auf den Schooß einer ſchönen, jungen, blaſſen
Frau ſammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr
kam, das lockige Haupt ſtreichelte und mit jener Ge¬
duld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, ſeine
unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er
ihr auch dieſe Blumen gebracht und die ſchöne Frau
hatte geſagt: das iſt Ritterſporn. Und dann hatte ſie
die Blume lange ſinnend angeſehen, bis ihr von dem
langen Hinſtarren die Thränen in die Augen kamen
und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und ſein
Haupt ſtürmiſch an ihre Bruſt gedrückt, und da mochte
er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, einge¬
ſchlafen ſein, denn in dieſem Augenblicke zerflatterte das
Bild. — Die junge, ſchöne Frau, das wußte er, war
ſeine Mutter; ſie war geſtorben, als er noch nicht
fünf Jahre alt war. Wer hat nicht an ſich ſelbſt
ſchon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem
Gewirre des Lebens, wo eine Erſcheinung die andere
verdrängt, und wir ſtets unter der tyranniſchen Gewalt
des Augenblickes ſtehen, Alles, ſelbſt das Theuerſte,
ſelbſt die Eltern, die uns das Leben gaben, vergeſſen
lernen. So hatte auch Oswald faſt ſchon vergeſſen,
daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine ein¬
[32] fache Blume die Erinnerung an die früh Verſtorbene
mächtig in ihm wach. Die erſte Zeit, die er in der
Einſamkeit des Landlebens verbrachte, verknüpfte ſich
eng mit der erſten Zeit ſeines Lebens, denn er hatte
ſeitdem nicht wieder der Natur ſo unbefangen und ſo
tief in das holde, bezaubernde Antlitz geſchaut. Auch
ſeines Vaters, der nun gerade vor zwei Jahren, ein¬
ſam, wie er gelebt hatte, geſtorben war, gedachte er
jetzt mit jener dankbaren Liebe, die leider immer erſt
dann in voller Blüthe ſteht, wenn diejenigen, denen
ſie gebührt, ſich nicht mehr an ihrem Dufte laben kön¬
nen; ſeines Vaters, der wunderlichen Pygmäengeſtalt,
die der Sohn ſchon als achtzehnjähriger Jüngling um
zwei Köpfe überragte; des menſchenſcheuen Sonderlings,
der in der ganzen Stadt der „alte Candidat“ genannt
wurde, und deſſen ſchwarzen abgeſchabten Frack, in dem
er Sommer und Winter einherging, jedes Kind auf
der Straße kannte; des räthſelhaften Mannes, der den
reichen Schatz ſeines Wiſſens und ſeiner Güte gegen
alle Welt verſchloß, nur nicht gegen den Sohn, an
dem er mit unſäglicher Liebe hing, den er mit der
rührenden Zärtlichkeit einer Mutter hegte und pflegte,
und für den ihm, dem als Geizhals Verſchrieenen,
nichts zu koſtbar geweſen war.
Dieſe lieben und doch auch wieder ſo ſchmerzlichen
[33] Erinnerungen zogen durch Oswalds Seele, während
er in ſeinen Freiſtunden allein, oder mit ſeinen Zög¬
lingen in Garten, Feld und Wald umherſtreifte, ſich
von Tage zu Tage mehr für das Landleben begeiſterte,
und wenn er des Morgens, ehe die Unterrichtsſtunden
begannen, noch ſchnell einmal in den Schloßgarten ge¬
eilt, in die thaufriſchen Kelche der Blumen geſchaut
und ſich am Geſang der Vögel entzückt hatte, ſchlech¬
terdings nicht mehr begreifen konnte, wie es die
Menſchen in den Städten, wie er ſelbſt es nur jemals
in der Stadt habe aushalten können.
Und in der That hätte Schloß Grenwitz und ſeine
Umgebung auch wohl einem durch landſchaftliche Schön¬
heiten verwöhnteren Auge das lebhafteſte Intereſſe ab¬
gewinnen müſſen, obgleich es von den Touriſten, die
alljährlich die Inſel durchſchwärmten, niemals aufge¬
ſucht, höchſtens von Einem oder dem Anderen zufällig
aufgefunden wurde, der ſich denn nicht genug wundern
konnte, wie ein ſo lieblicher und in vieler Hinſicht ſo
merkwürdiger Punkt in ſeinem Reiſehandbuche, in wel¬
chem doch ſonſt jeder nichtsnutzige Gaſthof verzeichnet
ſtand, übergangen ſein konnte, blos weil er eine Meile
von der großen Landſtraße entfernt lag.
Das Schloß trägt noch bis auf den heutigen Tag
die Spuren von dem Reichthum und der Macht des
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 3[34] alten ritterlichen Geſchlechts derer von Grenwitz, das
ſeit undenklichen Zeiten hier begütert geweſen iſt, und
die Burg zu ſeinem Schutz und den benachbarten Ba¬
ronen zum Trutz in der Mitte des vierzehnten Jahr¬
hunderts erbaute. Das untere Stockwerk des einen
Flügels mit ſeinen rieſigen Quaderſteinen ſtammt noch
aus dieſer Zeit, ebenſo wie der gewaltige runde Thurm,
in welchem jetzt das alte und das neue Schloß zuſam¬
menſtoßen. Das neue Schloß wurde gegen das Ende
des ſiebzehnten Jahrhunderts in dem zopfigen Styl
jener Zeit gebaut und nimmt ſich mit ſeinen verſchnör¬
kelten Säulen und wunderlichen Ornamenten neben
dem alten ſchmuckloſen Thurm, mit welchem es jetzt
in einer Front liegt, aus, wie ein zierlicher Herr aus
Louis quatorze Zeit neben einem eiſengeharniſchten
Kämpen aus den Zeiten von Crech und Poitiers.
Ein zwanzig Fuß und darüber hoher Wall, der in
ein noch weit ehrwürdigeres Alter hinaufragt, als ſelbſt
der alte Thurm, umgiebt das Schloß in einem ſo
weiten Kreiſe, daß es ſammt den Nebengebäuden von
dem eingeſchloſſenen Raume nur den kleinſten Theil
einnimmt. Der Wall iſt jetzt längſt ſchon in eine fried¬
liche Promenade umgewandelt, über der hohe Buchen,
Nußbäume und Linden ein dichtes Laubdach bilden.
Der breite Graben, der ihn ſeiner ganzen Ausdehnung
[35] umzieht, iſt jetzt zum Theil verſumpft, mit dichtem
Röhricht angefüllt, und wo das Waſſer ſich noch einen
Raum offen gehalten, mit einem grünen Teppich von
Waſſerpflanzen bedeckt, in welchem halbwilde Enten
luſtig ſchnattern. Offenbar hatte dieſer Wall den
Zweck gehabt, im Fall einer Fehde nicht nur die Hö¬
rigen der fehdeluſtigen Barone mit ihren Weibern und
Kindern, ſondern auch die Heerden und die Vorräthe
zu ſchirmen; auch hatten bis zur Zeit des Neubaues
die Wirthſchaftsgebäude, die jetzt ziemlich entfernt vom
Schloſſe außerhalb des Walles lagen, innerhalb deſſelben
gelegen. Damals hatte der Wall nur einen Durch¬
gang gehabt, ein feſtes, mit einem Thurm verſehenes
Thor, aus dem eine Zugbrücke über den Graben nach
einem Brückenkopfe führte. Jetzt war der Thurm ab¬
getragen, die Brücke konnte nicht mehr aufgezogen
werden und aus dem Brückenkopfe hatte man längſt
Backöfen und andere nützliche Dinge gebaut. Von
dieſem Hauptthor führte eine Allee vielhundertjähriger
prachtvoller Linden auf das Portal des Schloſſes zu.
Rechts von der Allee und vor der Front des Schloſſes
war ein großer Raſenplatz, in deſſen Mitte ein ſteinernes
Becken mit einer Najade als Schutzpatronin ſtand, die,
wahrſcheinlich aus Schmerz, daß ihrem Brunnen ſchon
3*[36] ſeit einem halben Jahrhundert das Waſſer fehlte, den
Kopf verloren hatte.
Der ganze übrige Raum innerhalb des Walles war
mit Gartenanlagen ausgefüllt, die aus der Zeit des
Neubaus herrührten und mit ihren geraden Gängen,
kunſtvoll verſchnittenen Taxushecken, Buchsbaumpyra¬
miden und ihren Sandſteingöttern, die allen Regeln
der Aeſthetik und allen Geſetzen der Anatomie ſo naiv
Hohn ſprechen, den Charakter dieſer Zeit deutlich genug
documentirten. Hier und da freilich war ein Geiſt
der Neuerung in die Anlagen gefahren. Der Buchs
hatte ſeine verkrüppelten Glieder, ſo gut es gehen
wollte, in eine naturgemäße Baumgeſtalt auszurecken
verſucht; die beiden Zeiten eines Heckenganges hatten
gemeinſchaftliche Sache gemacht und ſich zu einem un¬
durchdringlichen Geſtrüpp vereinigt; ein Gärtner, der
für die ſtumme Sprache von Taxuspyramiden kein Ver¬
ſtändniß mehr beſaß, und eine praktiſchere Richtung
verfolgte, hatte, unbekümmert um den äſthetiſchen Ein¬
druck, Aepfel-, Birnen-, Kirſchen- und Pflaumenbäume
gepflanzt, wo er gerade Platz fand, und hier und da
ſeinen Gemüſebeeten den Luxus der Blumenrabatten
geopfert. So war die Schweſter der Najade im Hof
von Himbeer- und Stachelbeerſträuchern faſt über¬
wuchert, aber ſie hatte ſich in ihr Schickſal zu finden
[37] gewußt, ihren Kopf behalten, und plauderte in ſtiller
Nacht geſchwätzig von der guten alten Zeit.
So hatte von dem Rieſenwalle, der aus der grauen
Heidenzeit ſtammte, bis zu den Spargelbeeten, die
geſtern angelegt waren, ſeit einem Jahrtauſend jede
Generation etwas zur Befeſtigung, Verſchönerung oder
Verbeſſerung dieſes Wohnſitzes beigetragen. Vieles
war ſpurlos verſchwunden, Vieles hatte ſich erhalten;
Altes hatte der Zeit geſpottet, Neues war mit der
Zeit alt geworden; aber da ſelbſt das Aelteſte die
Spuren des Lebens, der fortdauernden Nutzbarkeit trug,
ſo war nirgends ein Sprung, ein Riß bemerkbar, und
das Ganze machte den wohlthuenden Eindruck, als ob
es eben nicht anders ſein könnte. Zwar ſeinen primi¬
tiven Charakter hatte Schloß Grenwitz gänzlich einge¬
büßt, und wenn Oswald des Abends, von einem Spa¬
ziergange mit ſeinen Zöglingen zurückkommend, auf
einer Stelle des Walles ſtehen blieb, von der er den
ſchattigen, grasbewachſenen Hof, den blumenreichen
Garten und das Schloß überblicken konnte, um deſſen
graue Mauern das Zwielicht wogte und die ſchnellen
Schwalben zwitſchernd kreiſ'ten, da glaubte er nicht
die alte Stammburg fehdeluſtiger Barone, ſondern das
ſtille Kloſteraſyl beſchaulicher Mönche vor ſich zu ſehen.
Viertes Kapitel.
Und ein ſtilles, klöſterlich ſtilles Leben war es denn
auch — das Leben auf dem Schloſſe Grenwitz. Alle
Unruhe, aller Lärm waren aus dem Bereich verbannt,
den der alte Wall wie eine epheuberankte Kirchhofs¬
mauer umgab. Hier ertönte kein Hundegebell, kein
Pferdewiehern; ſtill glitten die Stunden dahin, wie die
Schatten des Zeigers der Sonnenuhr über dem Por¬
tale; ſtill, wie die Blumen im Garten dufteten und
blühten. Hier ſchien ſelbſt der Wind leiſer in den
Wipfeln zu rauſchen, die Vögel leiſer in den Zweigen
zu ſingen; und was die Bewohner ſelbſt betraf, ſo
konnte die Wanduhr auf dem Vorſaal in ihrem Eichen¬
ſchrank nicht freier von aller Neuerungsſucht ſein und
ihr Tagewerk pünktlicher und ſyſtematiſcher vollbringen.
Die Dienſtboten thaten ihre Obliegenheiten mit der
Regelmäßigkeit von Automaten. Ja in die Möbel
[39] ſelbſt ſchien dieſer ſtrenge Geiſt der Ordnung gefahren,
ſo daß Oswald ſich des Gedankens nicht erwehren
konnte, ſie rückten ſich in aller Stille von ſelber zurecht,
falls einmal eines von ſeiner ihm angewieſenen Stelle
abgekommen ſein ſollte. So wenig nun Oswald in
ſeinem bisherigen Leben an eine ſo peinliche Ordnung
gewöhnt war, und ſo ſehr ſich auch im Grunde ſeine
Natur dagegen ſträubte, ſo leicht wurde es ihm doch
bei der Geſchmeidigkeit ſeines Weſens und bei der ver¬
ſöhnlichen, milden Stimmung, in die ihn der tiefe
Frieden rings umher verſeßte, ſich dieſelbe zu finden.
Er that, was er die Leute um ſich her thun ſah, und
erwiderte die förmlichen Verbeugungen, mit denen man
ſich hier begegnete, mit demſelben Grad von Ernſthaf¬
tigkeit, den er auf einer Maskerade in einer Menuet
zur Schau getragen haben würde.
Er hatte es in den erſten Tagen mit den Lehr¬
ſtunden nicht allzu genau genommen, und ſich deſto
eifriger mit ſeinen beiden Zöglingen draußen umher
getummelt. Sie hatten den Buchwald, der ſich von
Schloß Grenwitz eine halbe Stunde bis hart an das
Meer erſtreckte, nach allen Richtungen durchſtreift,
hatten ein Hünengrab und eine Höhle entdeckt, und
waren oft ſchon von den hohen Kreideufern zum Strand
hinabgeklettert, hatten dort, auf einem der mächtigen
[40] Röllſteine ſtehend, die Fluth heranbrauſen ſehen und
gejubelt, wenn der Donner der Brandung ihre Stimme
übertönte.
Auf dieſen Streifzügen, die Oswald ſcherzend ihre
Vorſtudien zum Homer nannte, hatte er vielfach Ge¬
legenheit, die Naturen ſeiner beiden Zöglinge zu beob¬
achten. Ein größerer Gegenſatz war kaum denkbar.
Bruno war groß für ſeine Jahre, dabei ſchlank und
geſchmeidig und ſchnell wie ein Hirſch. Malte, der
junge Majoratsherr, ſah neben ſeinem ſtolzen Gefähr¬
ten zurückgeblieben und verkümmert aus. Seine Schul¬
tern waren ſchmal, ſeine Bruſt eingeſunken, und ſeine
eckigen und unſchönen Bewegungen ſtachen ſeltſam gegen
die hinreißende wilde Anmuth ab, mit der Bruno ging,
lief und ſprang. Malte ſcheute vor jeder Gefahr, ja
vor jeder Anſtrengung, im Gefühl ſeiner Körperſchwäche
und aus angeborner oder anerzogener Feigheit zurück;
für Bruno war kein Baum zu hoch, kein Felſen zu
ſteil, kein Graben zu breit, ja es ſchien, als ob er ge¬
fliſſentlich die Glut ſeiner Seele durch körperliche Er¬
müdung dämpfen wollte. Oswald flocht eine Krone
aus Buchenlaub und drückte ſie dem Knaben auf die
bläulich-ſchwarzen Locken, um ihn einem jungen Bacchan¬
ten noch ähnlicher zu machen. Aber wie in ſeinem
Heimathlande Schweden aus eiſiger Winternacht ur¬
[41] plötzlich der duftende, lächelnde Frühlingsmorgen her¬
vorblüht, ſo wechſelten Sonnenſchein und Sturm
in ſeinem Gemüthe — übermüthige Luſt und an
Schwermuth grenzende Niedergeſchlagenheit, herzliches,
faſt kindliches Sichhingeben und düſtrer, mehr als
knabenhafter Trotz — ſchnell und unvermittelt, wie
Lichter und Schatten auf den Hängen eines Gebirges
an einem Tage, wo der Wind die Wolken pfeilſchnell
an der Sonne vorüberjagt. So fand Oswald den
Knaben, einen Fremdling im Hauſe ſeiner Verwandten,
von den Einen gehaßt, von den Andern gefürchtet, ein
unergründliches Räthſel für Alle, ſelbſt für den alten
guten Baron, der dem Knaben, oft mehr aus ange¬
borner Großmuth, als aus Ueberzeugung, ſtets das
Wort redete. Aber für Oswald hatte ein Blick in
das traumumflorte dunkle Auge des Knaben genügt,
den verwandten Dämon zu erkennen, und der myſtiſche
Bund, den ſie in jenem Augenblick geſchloſſen, hatte
jede Stunde ihres Zuſammenlebens nur gefeſtigt.
Bruno hatte ihm an dem erſten Tage den düſtern
Trotz entgegengebracht, den er gegen Alle zu zeigen
gewohnt war. Er hatte ihn mit ſcheuem, durchdrin¬
gendem Blick zwei, drei weitere Tage beobachtet, und
dann war vor Oswalds liebevollem, freundlichem Weſen
der Argwohn von ihm gewichen, wie die Nebel vor
[42] den Strahlen der Sonne, ſein dunkles Auge war größer
und glänzender geworden, als ob das unverhoffte
Glück, einen Menſchen zu finden, der ihn liebte und
den er wieder lieben dürfe, ihn blende und verwirre;
und dann war all die ſtürmiſche Zärtlichkeit ſeiner
Seele, die er ſo lange und ſo ſorgſam hatte verſchließen
müſſen, hervorgebrochen, mächtig — unwiderſtehlich,
wie ein Bergſtrom, der die Felſenſchranken geſprengt
hat und jauchzend in das Thal hinunterſtürmt.
„Wiſſen Sie,“ ſagte der Knabe da zu Oswald,
„daß ich ſchon im voraus entſchloſſen war, Sie zu
haſſen?“
„Warum, Bruno? iſt der Haß für Dich ſo ſüß?“
„Ach nein! aber ich glaubte, es ſeien alle Erzieher
wie unſer erſter, und da dachte ich, was dem Einen
recht iſt, iſt dem Andern billig.“
„Und wie war denn Herr Bauer?“
„Nun, er machte ſeinem Namen Ehre,“ ſagte der
Knabe ſpöttiſch.
„Ei, ei, mein ſtolzer Junker, willſt Du mir den
Bauer verachten?“
„Gewiß nicht!“ rief der Knabe eifrig, „mein Vater
war ſelbſt ein Bauer, trotzdem daß er ein Edelmann
war; ich habe ihn oft genug hinter dem Pfluge herge¬
hen ſehen — aber dieſer Mann war roh und plump
[43] wie ein Bauer, und feig dazu. Einmal, nach Tiſche
— ich weiß nicht, was ich wieder verbrochen hatte, —
ſchlug er mich in's Geſicht, weil Tante zugegen war
und er glaubte, er thue ihr einen Gefallen. Ja, er
ſchlug mich“ — und das Auge des Knaben blitzte auf
bei der Erinnerung an dieſe Schmach und die Zornes¬
ader auf ſeiner bleichen Stirn ſchwoll.
„Und da, Bruno?“
„Da nahm ich das Meſſer, das vor mir auf dem
Tiſche lag und ſprang auf ihn ein, und der Elende
lief vor mir, um Hülfe ſchreiend, zur Thür hinaus.
Und als ich das ſah und die bleichen Geſichter um
mich her, mußte ich lachen und ging unbeläſtigt aus
dem Saale. Und ich wäre am liebſten gleich in die
weite Welt gerannt, aber Onkel kam hinter mir her
und verſprach mir, der Menſch ſolle nun und nimmer
wieder Hand an mich legen dürfen. Onkel iſt gut;
Sie glauben nicht, wie gut er iſt; aber er fürchtet ſich
vor der Tante; Alle fürchten ſich vor ihr; aber ich
habe ſie doch lieb, denn ſie hat Muth wie ein Mann
und ich haſſe nur die Feigen. Malte iſt ein Feigling.“
„Malte iſt ſchwach und kränklich, und Du mußt
Nachſicht mit ihm haben; aber, wenn Du die Tante
wirklich lieb haſt, warum biſt Du ſo unfreundlich
gegen ſie?“
„Bin ich unfreundlich?“ Der Knabe ſchwieg. Eine
Wolke zog über ſeine Stirn, ſeine Naſenflügel zuckten
und ſein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬
wolke, als er jetzt, haſtig aufblickend, ſagte:
„Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie ſoll
ich anders ſein? Ich eſſe hier im Hauſe Gnadenbrod,
ſoll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich
will es nicht, und wenn ſie mich aus dem Hauſe jagten.
Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünſcht, man
jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß
ſie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite
Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie
tauſend und tauſend andere Knaben, die nicht ſo ſtark
und ſo muthig ſind, wie ich. Heute noch, als wir
am Strande gingen, und der Dreimaſter am Horizonte
auftauchte und wieder verſchwand, da wünſchte ich ſo
heiß, ſo heiß, ich hätte mitſegeln können, als Schiffs¬
junge, als Matroſe — nur fort, fort von hier, gleich¬
viel wohin.“
Wenn ſo der Knabe die geheimſten Wünſche ſeines
Herzens rückhaltlos ſeinem Freunde und Lehrer offen¬
barte, da geſchah es denn wohl, daß dieſen ein Zweifel
beſchlich, ob er, der ſelbſt den Weg, den er zu gehen
hatte, ſo wenig deutlich ſah, der rechte Mann ſei, den
wilden, leidenſchaftlichen Knaben zu leiten. Aber je
[45] weniger er ſich im Stande fühlte, ausſchweifende
Wünſche, chimäriſche Hoffnungen zu bekämpfen, die er
ſelbſt im Stillen theilte, deſto mehr verſchwand die
Kluft zwiſchen Lehrer und Schüler — deſto brüder¬
licher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein
menſchliches Weſen einen ſo tiefen Eindruck auf Oswald
gemacht, als dieſer wunderſame Knabe. Er liebte ihn,
wie ein Künſtler das Werk, an dem er ſchafft, wie ein
Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft,
was ihm ſelbſt zu erreichen verſagt war, wie eine
Mutter das Kind, für das ſie wachen, ſorgen und
ſchaffen muß. Allnächtlich, wenn er ſich müde geleſen
und gearbeitet, ging er, ehe er ſelbſt ſein Lager ſuchte,
in das Gemach des Knaben — er hätte nicht ſchlafen
können, ohne ſeinen Liebling noch einmal geſehen zu
haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen ver¬
bietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen,
machte ihn den Tag über karg mit Liebkoſungen; aber
jetzt nahm er des Schlafenden Hände, und ſtreichelte
ſie, und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.
„Dich nennen ſie lieblos. Dich, meinen Liebling,
deſſen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe
hungert. Und wenn ſie alle Dich verkennen und haſſen,
ich verſtehe Dich und will Dich lieben.“
Fünftes Kapitel.
Die Wirthſchaftsgebäude und Häuslerwohnungen,
die zu dem Gute gehörten, lagen, wie wir ſahen, außer¬
halb des Walles, den man, um die Verbindung zwiſchen
dem Schloſſe und dem Hofe zu erleichtern, nach dieſer
Seite durchbrochen hatte. Ein hölzernes Gitterthor,
das nicht einmal verſchloſſen, und eine Brücke, die
nicht aufgezogen werden konnte, ſprachen für den fried¬
lichen Sinn der Nachkommen jener kriegeriſchen Barone,
welche das maſſive Thor auf der andern Seite mit
ſeiner in ſchweren Eiſenketten hängenden Zugbrücke er¬
baut hatten. Der Verkehr zwiſchen dem Schloſſe und
dem Hofe beſchränkte ſich ſo ziemlich auf den Aus¬
tauſch oft höchſt energiſcher diplomatiſcher Noten zwiſchen
der Wirthſchafterin und dem Verwalter, die über das
Quantum und die Qualität der Naturalien, welche
dieſer jener zu liefern hatte, ſtets weſentlich verſchiedener
[47] Meinung waren. Das Gut war, wie die übrigen
Beſitzungen der Familie, verpachtet; der Pächter, ein
Herr Bader, wohnte auf einem der Nebengüter, das
er ebenfalls in Pacht hatte, und kam ſelten nach
Grenwitz, deſſen Bewirthſchaftung er ſeinem Inſpector
überließ.
Oswald, für den die Landwirthſchaft eben ſo neu
war, wie das Leben auf dem Lande, lenkte ſeine Schritte
bald häufig nach dem Hofe, um ſich von dem Inſpec¬
tor durch die Ställe und Scheunen führen und ſich
von demſelben etwas in die Myſterien des Ackerbaus
und der Viehzucht einweihen zu laſſen. Der Inſpector,
Namens Wrempe, war ein rieſiger Mann, der ſtets
in gewaltigen Stulpenſtiefeln einherging und dem Aber¬
glauben zu huldigen ſchien, er werde ſeine ungeheure
Körperkraft verlieren, wenn er ſeinen ſtruppigen ſchwarzen
Bart ſchöre, oder dem Regenwaſſer das ausſchließliche
Privilegium, ſein ſonnverbranntes Geſicht zu waſchen,
entzöge. Das breite Platt jener Gegend war ſeine
Mutter- und Vaterſprache, das Hochdeutſche haßte er
und hielt Alle, die es ſprachen, in ſeinem Herzen für
Schelme; ſeine Stimme glich, aus der Ferne gehört,
weſentlich dem Gebrüll eines etwas heiſeren Löwen.
Seine Feinde ſagten ihm nach, daß er eine üble Ge¬
wohnheit habe, ſich von Zeit zu Zeit zu betrinken; da
[48] er dies aber alle Monat höchſtens einmal und dann
immer gleich auf mehrere Tage that, um die übrige
Zeit deſto energiſcher zu ſein, ſo drückten ſeine Freunde
und zumal ſein Brodherr über dieſe kleine Schwäche
freundlich die Augen zu. Oswald unterhielt ſich gern
mit dem Manne, der in ſeiner täppiſchen Gutmüthig¬
keit, ſeinem derben, oftmals freilich auch rohen Weſen,
ſeiner mit Sprichwörtern reichlich untermiſchten Rede
ein nicht ſchlechter Repräſentant der Landleute jener
Gegend war.
So hatte er denn auch eines Nachmittags mit den
Knaben einen Spaziergang nach dem Hofe gemacht.
Sie fanden ihn faſt ausgeſtorben. Die Leute und die
Thiere waren auf dem Felde. In dem Pferdeſtall
ſtanden nur die vier ſchwerfälligen Braunen des Barons,
die vor lieber langer Weile mit den eiſernen Ketten
ihrer Halfter ein melancholiſches Quartett ausführten.
Vor der Thür des Stalles ſaß der ſchweigſame Kutſcher
und ſtarrte in den blauen Himmel, da er, wenn er
ſeine Pferde gefüttert, auf Erden weiter nichts zu thun
hatte. Um ſeine Füße ſtrich ſpinnend ein großer
ſchwarzer Kater, der ihn, als ſein spiritus familiaris,
überall hin begleitete und ſelbſt auf dem Bocke zwiſchen
ſeinen Füßen unter dem Schurzfell ſaß. In dem Kuh¬
ſtall fanden ſie nur eine Kuh, die ihr heute geborenes
[49] Kälbchen durch fleißiges Lecken in eine Verfaſſung zu
bringen ſuchte, wie ſie dem Ehrgeize einer reſpectablen
Kuhmutter, die etwas auf ſich und die Ihrigen hält,
wünſchenswerth ſcheinen mag. Auf dem Dünger vor
dem Stalle ſcharrten die Hühner, unbekümmert um
den Streit zweier junger Hähne, die über einen un¬
glücklichen kleinen Käfer, der auf dem Rücken liegend
in ruhiger Ergebung ſein Schickſal erwartete, in Un¬
frieden gerathen waren. Ein alter Hahn, welcher der
Vater der beiden feindlichen Brüder ſein mochte, war
auf eine Wagendeichſel geflogen und krähte einmal über
das andere, entweder aus Freude über den ritterlichen
Sinn ſeiner Sproſſen, oder um eine Wolke zu ſigna¬
liſiren, die eben über das Scheunendach heraufkam.
Auf dem einen Ende des Daches ſaß eine Störchin
auf ihrem Neſt. Der Storch kam eben herbeigeflogen
und brachte die Beute ſeiner Jagd, eine kleine Schlange,
mit nach Hauſe. Die Störchin klapperte bei dieſem
Anblick vor Vergnügen, der Storch, im Bewußtſein
erfüllter Pflicht, blieb ihr die Antwort nicht ſchuldig.
Von dem kleinen Teiche neben dem Pferdeſtalle hatten
die Enten unter dem Vortritt eines vielerfahrenen
Enterichs einen Reihenmarſch quer über den Hof be¬
gonnen, da ſich ein ziemlich gut verbürgtes Gerücht
F. Spielhagen, Problematiſche I 4[50] unter ihnen verbreitet hatte, es ſei hinter der einen
Scheune ein Sack Korn aufgegangen.
Oswald hatte mit vielem Vergnügen das Still¬
leben eines ländlichen Hofes an einem warmen Som¬
mernachmittag betrachtet; Bruno den ſchweigſamen
Kutſcher über die beiden einzigen Themata, bei denen
man es mit einiger Ausſicht auf Erfolg konnte, über
ſeine Pferde und ſeinen Kater, in eine Unterhaltung
zu verwickeln geſucht; Malte ſich unterdeſſen gelang¬
weilt, da er überhaupt nur ſehr wenigen Dingen Ge¬
ſchmack abgewinnen konnte, und zu dieſen Dingen Enten
und Hühner, wenigſtens ſo lange ſie im Licht der
Sonne wandelten, ſicherlich nicht gehörten. Er drang
deshalb darauf, den Spaziergang fortzuſetzen, und ſo
gingen ſie denn von dem Hofe durch das Dörfchen
jämmerlicher kleiner Kathen, um auf das Feld zu ge¬
langen, In einiger Entfernung vor ihnen auf dem
mit Weiden beſetzten Wege ſchien ein Knecht ſeinen
Wagen im Graben umgeworfen oder feſtgefahren zu
haben. Die Pferde ſtanden quer über den Weg und
er zerrte an ihnen herum und fluchte und ſchimpfte,
wie das Leute ſeines Schlages bei ſolchen Gelegenhei¬
ten zu thun pflegen. Zuletzt ſchien dem Manne die
geringe Geduld, die ihm die Natur verliehen und der
wahrſcheinlich reichlich genoſſene Schnaps noch übrig
[51] gelaſſen hatte, vollends auszugehen. Er faßte das eine
der Vorderpferde in den Zügel und trat und ſtieß es
unbarmherzig mit ſeinen plumpen, in plumpen Stiefeln
ſteckenden Füßen. Oswald wurde auf das Alles eigent¬
lich erſt aufmerkſam, als Bruno mit dem Ausrufe:
der Barbar, der Unmenſch! wie ein Pfeil von ihm
fort auf den Wagen zueilte.
Im Nu hatte er denſelben erreicht und befahl dem
Knecht mit einer mehr vor Zorn, als von der An¬
ſtrengung des eiligen Laufes bebenden Stimme, ſeine
Mißhandlungen einzuſtellen.
„Ich weiß, was ich zu thun habe!“ rief der Kerl,
und trat das Pferd, das ſich vor Angſt immer mehr
in den Strängen verwickelte, von neuem.
„Im Augenblick läßt Du das Thier, oder“ —
„Oho!“ rief der Knecht, „oder was“ —
„Oder ich ſtoße Dir mein Meſſer in den Leib“ —
Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück und
ſtarrte Bruno voller Entſetzen an. Es war nicht
Furcht vor dem Meſſer, das der Knabe in ſeiner er¬
hobenen Rechten hielt — denn der Knecht war ein
großer, ſtarker Mann, der ſeinen Gegner mit einem
Schlage ſeiner ſchweren Fauſt hätte zu Boden ſchmet¬
tern können und er war überdies betrunken — es war
Furcht vor dem Dämon, der aus Bruno's dunkeln
4*[52] Augen blitzte, Furcht vor der gewaltigen Leidenſchaft,
die dem Knaben das Blut aus den Wangen zum
Herzen trieb und ſeine Naſenflügel und die ſeinen Lip¬
pen zucken machte.
„Das Thier iſt immer ſo tückiſch“ — ſtammelte
der Mann, wie zur Entſchuldigung.
Aber Bruno würdigte ihn keiner Antwort. Mit
haſtigen Händen und geſchickt, als ob er im Leben nur
mit Pferden umgegangen wäre, löſte er die Stränge,
in denen ſich das Thier verwickelt hatte, wobei ihm
Oswald, der jetzt herbeigekommen war, eine mehr durch
ihre gute Abſicht löbliche, als durch praktiſchen Erfolg
ausgezeichnete Hülfe leiſtete. Dann ſprang der Knabe
nach dem Graben, ſchöpfte ſeinen mit Wachsleinen über¬
zogenen Strohhut voll Waſſer und wuſch dem Pferde
die Wunden an den mißhandelten Beinen.
In dieſem Augenblicke ſetzte ein Reiter aus den
Weiden an der Seite über den Graben auf den Weg.
Es war der Inſpector Wrempe, der die Scene von
fern geſehen hatte und im Galopp über die Felder
herbeigeritten war.
„Nun komm' ich, ſagte der Dachdecker, und fiel
vom Dach! Was iſt denn das für 'ne Wirthſchaft!
Warum fährſt Du durch den Graben, wenn Du zehn
Schritte davon über die Brücke fahren kannſt. Und
[53] die braune Liſe maltraitirt“ — er ſagte aber: mal¬
traiſirt — „ich will Dir Deine Faulheit eintränken,
Du Himmeltauſendſappermenter!“
Dieſe energiſche Rede halten, vom Pferde ſpringen,
in die Hand ſpeien, um den Griff ſeiner ſchweren Reit¬
peitſche feſter faſſen zu können, und anfangen, damit
den breiten Rücken des Knechts nach allen Regeln zu
bearbeiten, war für den dienſteifrigen Inſpector das
Werk eines Augenblicks.
„Ich laſſe mich nicht ſchlagen, Herr Inſpector,“
remonſtrirte der Menſch.
„Du läßt Dich nicht ſchlagen, Du Lümmel,“ ant¬
wortete der, unverdroſſen weiter arbeitend, „glaub's
wohl, aber Deine Schläge kriegſt Du doch.“
Oswald, dem dieſe Scene peinlich wurde, ſo reich¬
lich der Menſch ſeine Züchtigung verdient hatte, bat
Herrn Wrempe, es nun gut ſein zu laſſen. Der ver¬
ſtattete ſeinem Zorn noch einen letzten kräftigen Hieb,
und ſagte dann, wie zum Schluß einer vernünftigen
Auseinanderſetzung:
„Na, nu komm, Jochen! wir wollen den Wagen
wieder in Schick bringen.“
Dann ſtemmte er ſeine mächtigen Schultern gegen
das Fuhrwerk, hob und ſchob es zurecht, als ob es
ein Kinderwägelchen geweſen wäre. Die Pferde, die
[54] jetzt wieder ruhig geworden waren, zogen an, und der
Knecht konnte jetzt ſeinen Weg fortſetzen.
„Fahr' langſam nach Hauſe und vergiß nicht, was
ich Dir geſagt habe!“ rief ihm der Inſpector nach.
„Aber Sie haben ja nur durch Schläge zu ihm
geſprochen!“ ſagte Oswald lächelnd.
„Ja, verſtehen es die Kerle denn, wenn man ver¬
nünftig mit ihnen ſpricht!“
„Haben Sie denn je den Verſuch gemacht?“
Herr Wrempe ſchien durch dieſe Frage einigermaßen
in Verlegenheit geſetzt. Er ſagte zur Antwort: „Das
hat mich warm gemacht!“
Dann zog er eine Branntweinflaſche, die mindeſtens
ein halbes Quart hielt, aus der Taſche, ſetzte den
Daumen an die Stelle, bis zu welcher er den Inhalt
zu leeren gedachte, trank, hielt die Flaſche abermals
gegen das Licht und that, da er zu finden ſchien, daß
er ſeine Aufgabe nicht vollſtändig gelöſt hatte, noch
einen herzhaften Schluck. Dann beſtieg er ſein Pferd,
das, an dergleichen Scenen gewöhnt, ruhig dageſtanden
hatte, wünſchte freundlich guten Abend, ſetzte wieder
über den Graben und ritt im Galopp davon. —
Bei Bruno wurde Alles zur Leidenſchaft. Die
Glut ſeiner Einbildungskraft verdichtete die Schemen
der Poeſie zu Menſchen von Fleiſch und Blut. Der
[55] Tod Hektor's entlockte ihm Thränen des Mitleids und
des Zornes, und der moraliſche Unwille, der ihn er¬
faßte, wenn er vor ſeinen Augen eine Ungerechtigkeit,
eine Grauſamkeit verüben ſah, war ſo groß, daß er in
ihm ein phyſiſches Unwohlſein zu Wege brachte.
So fand Oswald, als er in der Nacht nach dieſem
Vorfall an Bruno's Bett trat, daß ſein Liebling gegen
ſeine Gewohnheit noch wach war. Das mehr als
ſonſt blaſſe Geſicht des Knaben und der kalte Schweiß
auf ſeiner Stirn machten ihn beſorgt, und der Knabe
geſtand denn auch nach einigem Zögern, daß er, nur
um ſeinen Freund nicht zu ängſtigen, ſein Unwohlſein
verheimlicht habe, und jetzt große Schmerzen leide.
Oswald wollte ſogleich die Leute wecken und nach dem
Doctor ſchicken, aber Bruno bat ihn, davon abzuſtehen,
da dergleichen in dem Schloſſe immer ſogleich zu einer
Haupt- und Staatsaction gemacht werde, und ihn die
Umſtändlichkeit, die man bei ſolchen Gelegenheiten be¬
wieſe, nur beängſtige und noch kränker mache.
„Uebrigens,“ ſagte er, „bin ich an dieſe Anfälle
ſchon gewöhnt und wenn Sie die Güte haben wollen,
nur etwas Thee zu bereiten und mir ein paar Tropfen
von der Eſſenz zu geben, die der Doctor neulich für
mich verſchrieben hat — das Fläſchchen ſteht auf mei¬
nem Pult — ſo ſollen Sie ſehen, geht es bald vorüber.“
Oswald beeilte ſich, das Gewünſchte herbeizuſchaffen.
Er gab dem Knaben von der Medicin, er ließ ihn den
Thee trinken, er rückte ihm das Kopfkiſſen zurecht, er
holte noch eine Decke herbei, er that Alles mit jener
Umſicht und Gewandtheit, mit der feinfühlende Men¬
ſchen, auch wenn ſie nicht daran gewöhnt ſind, mit
Kranken umzugehen, die profeſſionirten Krankenwärter
beſchämen.
„Mit Ihnen als Pfleger iſt es beinahe ein Ver¬
gnügen, krank zu ſein,“ ſagte Bruno, dankbar die Hand
ſeines Freundes drückend.
„Still, ſtill!“ ſagte der, „thue mir nur den Ge¬
fallen und habe keine Schmerzen mehr.“
„Ich will mein Möglichſtes thun,“ ſagte der Knabe
lächelnd.
Wirklich ging Oswalds Wunſch bald in Erfüllung.
Die kalten Tropfen auf der Stirn des Kranken wur¬
den zu warmen, und alsbald umhüllte ihn die gütige
Natur mit tiefem Schlaf, um ſtill und heimlich das
geſtörte Gleichgewicht des Organismus wieder herzu¬
ſtellen. Manchmal nur noch zuckte die feine, ſchmale
Hand, die Oswald in der ſeinen hielt; dann ließ auch
das nach, und der Arzt aus dem Stegreife gratulirte
ſich im Stillen zu dem guten Erfolge ſeiner Kur. Aber
er mußte doch wohl noch einige Beſorgniß vor einem
[57] Rückfalle haben, denn er entzog leiſe ſeine Hand der
des Knaben, holte aus ſeinem Zimmer einen Lehnſtuhl
und ſetzte ſich zu Häupten des Bettes. Die Lampe
hatte er ausgelöſcht, damit die ungewohnte Helle den
Schläfer nicht beläſtige, und ſo ſaß er denn im Dunkeln
und ſah das Mondlicht, das durch eine Spalte des
Vorhanges fiel, langſam an der Wand hingleiten und
horchte auf die regelmäßigen Athemzüge des Knaben,
bis ihn ſelbſt die Müdigkeit überwältigte.
Sechstes Kapitel.
Es war in den Abendſtunden eines der nächſten
Tage, daß in dem Gartenſaale des Schloſſes zwei
Damen ſaßen, von denen die eine die Baronin Gren¬
witz, die andere eine junge Frau, die vor ein paar
Stunden zu Pferde von einem benachbarten Gute auf
Beſuch gekommen war. Die Fenſterthür, die aus dem
Gemache in den Garten und zunächſt auf einen großen,
von hohen Bäumen umgebenen Raſenplatz führte, in
deſſen Mitte eine Flora aus Sandſtein ſchon ſeit an¬
derthalb Jahrhunderten ſteinerne Blumen aus ihrem
Horne ſchüttete, war weit geöffnet. In dem Zimmer,
welches nach Norden lag, war es ſchon dämmerig,
draußen aber lag noch der Abendſchein warm auf dem
Raſen und den prächtigen Buchen und Eichen, und die
Geſtalten der beiden Damen, die an einem Tiſche ſaßen,
den man in die Thür geſchoben hatte, zeichneten ſich
ſcharf auf dem hellen Hintergrunde ab.
[59]
Ein größerer Gegenſatz war nicht leicht denkbar.
Die Baronin von Grenwitz war kaum vierzig Jahre
alt, aber die Strenge ihrer männlich feſten Züge, die
großen, kalten grauen Augen, die ſie ſo forſchend und
ſo lange auf den Sprecher richtete, die Gemeſſenheit
ihrer Bewegungen, ihre hohe, weit über das gewöhn¬
liche Frauenmaaß hinausreichende Geſtalt, vorzüglich
aber ihre eigenthümliche Art ſich zu kleiden, ließen ſie
manchmal faſt um zehn Jahre älter erſcheinen. Sei
es übergroße Einfachheit, ſei es, wie Andere wollten,
eine an Geiz grenzende Sparſamkeit, ſie bevorzugte
Stoffe, die ſich, wie das Hochzeitskleid der würdigen
Pfarrerin von Wakefield, mehr durch Dauerbarkeit, als
durch irgend glänzende Eigenſchaften empfahlen, und
ſie liebte einen Schnitt der Kleidung, von dem man
deshalb nicht behaupten konnte, er ſei nicht mehr mo¬
diſch, weil er es eigentlich niemals geweſen war. Wie
die Erſcheinung der Baronin für den erſten Augenblick
auf Jeden den Eindruck der Würde machte, ſo be¬
merkte auch der aufmerkſame Beobachter in ihrer in
jedem Momente muſterhaften Haltung und vor allem
an dem ſtets ruhigen, gleichmäßigen Ton ihrer etwas
tiefen, wohllautenden Stimme und ihrer immer ge¬
wählten Sprache, die jeden vulgären Ausdruck ſorg¬
[60] fältig vermied, daß ſie ſich dieſes Eindrucks wohl be¬
wußt war und ihn auf jede Weiſe zu erhalten ſuchte.
Ob die Dame, welche ſich bei der Baronin befand,
ſich durch die ſtattliche Erſcheinung derſelben imponiren
ließ, oder es für paſſend hielt, wenigſtens den Anſchein
davon anzunehmen, laſſen wir dahingeſtellt; ſo viel iſt
ſicher, daß ſie ſich in dieſem Momente einer Haltung
befleißigte, die mit dem Ausdruck ihres Geſichts, ja
nicht einmal mit ihrem Anzuge übereinzuſtimmen ſchien.
Sie trägt ein Reitgewand von dunkelgrünem Sammet,
das hinreichend in die Höhe geſteckt iſt, um die Ama¬
zone nicht beim Gehen zu hindern und ihre ſchmalen
Füße, die in eleganten Stiefelchen ſtecken, zu verhüllen.
Das enganſchließende Gewand hebt die ſchönen Formen
des jugendlich-vollen Körpers vortheilhaft hervor, und
der kleine runde Hut, der nebſt Handſchuhen und Reit¬
peitſche auf einem kleinen Tiſche in ihrer Nähe liegt,
muß dieſem wohlgebildeten Kopfe mit den üppigen,
braunen Haaren, die, einfach in der Mitte geſcheitelt,
in reichen Wellen über Stirn und Ohren fallen und
hinten zu einem Kranze aufgebunden ſind, vortrefflich
ſtehen. Sie ſitzt der ſtreng wirthſchaftlichen und mu¬
ſterhaft fleißigen Baronin, die an einem Stück Lein¬
wand, das möglicherweiſe eine Serviette iſt, eifrig
näht, gegenüber und ſcheint mit dem Sticken eines
[61] Namenszuges in einer ſchon geſäumten Serviette be¬
ſchäftigt. Dies nimmt ſich nun freilich bei ihrem An¬
zuge wunderlich genug aus, auch ſcheint dieſe Arbeit der
Amazone nicht eben zuzuſagen, wenigſtens hebt ſie, als
jetzt die Baronin aufſteht, um im Hintergrunde des
Zimmers etwas zu ſuchen, ſchnell den Kopf in die
Höhe und zeigt ein hübſches Geſicht mit kindlich-weichen
Zügen und großen braunen, in feuchtem Schimmer
glänzenden Augen, und dies Geſicht hat jetzt genau
den Ausdruck eines übermüthigen Schulmädchens, deſſen
ſtrenge Lehrerin auf einen Augenblick den Rücken wendet.
„Was ſagten Sie, liebe Anna-Maria,“ fragte die
Amazone, indem ſie ſich, als die Baronin ſich um¬
wandte, wieder über ihre Arbeit beugte.
„Ich fragte Sie, liebe Melitta, ob Sie noch genug
rothes Garn hätten?“
Melitta machte eine Miene, als ob ſie ſagen wollte,
mehr wie zu viel; ſie begnügte ſich indeß zu ſagen:
„ich denke, es wird reichen.“
Die Baronin hatte ſich auf ihren Platz geſetzt und
nahm die für einen Augenblick unterbrochene Conver¬
ſation wieder auf.
„So ſcheint doch wenig Hoffnung auf eine voll¬
kommene Geneſung?“ ſagte ſie.
„Wenig oder keine,“ antwortete Melitta; „beſonders
[62] in der jüngſten Zeit, wo die Anfälle von Tobſucht
gänzlich aufgehört haben. Doctor Birkenhain ſchreibt
mir, daß nur ein Wunder Carlo'n vom Blödſinn retten
könnte; das heißt wohl ſo viel, als: er iſt unrettbar
verloren."
„Es iſt ein hartes Loos, das der Allmächtige über
Sie verhängt hat, meine arme Melitta,“ ſagte die
Baronin.
Melitta zuckte die Achſeln, antwortete aber nicht.
„Es war in dieſen ſelben Räumen,“ fuhr die Ba¬
ronin, die nicht anzunehmen ſchien, daß das angeſchla¬
gene Thema Melitta irgendwie peinlich ſein könnte,
ruhig fort, „daß ich Berkow zum letzten Mal geſehen
habe. Ich geſtehe, daß ich ſchon an jenem Abend,
als er den ſo ärgerlichen Streit mit Ihrem Vetter
Barnewitz anfing — Baron Oldenburg ſuchte vergeb¬
lich, die wirklich fatale Scene abzukürzen — mich eines
leiſen Verdachtes nicht erwehren konnte.“
Melitta von Berkow ſchienen dieſe Proben von
dem vortrefflichen Gedächtniß der Baronin nicht eben
zu entzücken; ſie wurde unruhig und warf, augenſchein¬
lich ohne recht zu wiſſen, was ſie ſagte, die Frage hin:
„Haben Sie nichts von Oldenburg gehört?“
„Der Baron iſt ſeit acht Tagen zurück.“
[63]„O!“ rief Melitta mit einem Ausdruck, der Frau
von Grenwitz von ihrer Arbeit aufſehen machte.
„Was haben Sie, Melitta?“
„Ich bin ſo ungeſchickt,“ ſagte dieſe, und preßte
ein Tröpfchen Blut aus dem Daumen der linken Hand;
„alſo Oldenburg iſt zurück? Was bringt ihn denn
auf einmal wieder her? Hat er ſich in Egypten eben
ſo gelangweilt, wie hier?“
„Die Contracte mit ſeinen Pächtern laufen nächſten
Martini ab, eben ſo wie auf einigen unſerer Güter.
Ich vermuthe, daß ihn dies zur Rückkehr bewogen hat.
Er ſcheint noch menſchenſcheuer geworden zu ſein, als
er es ſchon damals war. Griebenow, unſer Förſter,
iſt ihm im Walde begegnet; bei uns hat er ſich noch
nicht ſehen laſſen.“
„Nun, dieſe Unaufmerkſamkeit des Barons werden
Sie ja leicht verſchmerzen, liebe Anna-Maria; Sie
waren ja nie beſonders gut auf ihn zu ſprechen.“
„Ich wüßte auch nicht, daß Oldenburg mir je
Veranlaſſung gegeben hätte, das zu thun; mir ſo wenig
wie irgend Einem von uns. Ein Mann, welcher der
Religion, ich möchte beinahe ſagen, offen Hohn ſpricht,
der die Würde ſeines Standes, die Intereſſen ſeiner
Standesgenoſſen ſo weit vergißt, auf den Kreistagen,
auf den Landtagen, bei jeder Gelegenheit die Partei
[64] der Neuerer zu ergreifen; der unſere Societät nur auf¬
zuſuchen ſcheint, um ſich über uns luſtig zu machen —
ein ſolcher Mann hat es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn
wir unſer Intereſſe und unſere Theilnahme Anderen
zuwenden, die es beſſer verdienen.“
„Ei, an Intereſſe von Seiten der Anderen hat es,
däucht mir, Oldenburg ſchon damals nicht gefehlt, und
wird es, glaube ich, ihm auch jetzt wieder nicht fehlen.
Ich weiß eigentlich nicht, weshalb ſich alle Welt ſo
viel um einen Mann bekümmert, der ſich an die Welt
im Großen und Kleinen ſo ſehr wenig kehrt.“
„Das iſt wohl ſehr erklärlich, liebe Melitta. Die
Oldenburgs gehören zu unſeren älteſten Familien, es
kann uns nicht gleichgültig ſein, ob der letzte Sproſſe
einer ſolchen Familie ein Plebejer wird, oder nicht.“
„Oldenburg wird nie ein Plebejer werden,“ ſagte
die jüngere Dame mit einiger Wärme.
„Ei, ei, liebe Melitta! Sie nehmen ſich ja des
Barons recht lebhaft an. Wollen Sie auch etwa ſeinen
unmoraliſchen Lebenswandel vertheidigen, ſeine Liebes¬
affairen, mit denen er die chronique scandaleuse
nicht nur unſerer Gegend bereichert hat?“
„Ich habe nie, ſo viel ich weiß, etwas Unmora¬
liſches gethan oder gut geheißen,“ ſagte Frau von
Berkow noch lebhafter wie zuvor. „Und was Herrn
[65] von Oldenburg's Privatleben betrifft, ſo erlaube ich
mir darüber gar kein Urtheil, da es mir vollkommen
fremd iſt. — Uebrigens,“ fuhr ſie nach einer Pauſe
und mit wieder ruhiger Stimme fort, „ſollte es mich
doch wirklich wundern, wenn Oldenburg in der That der
Don Juan wäre, zu dem man ihn durchaus machen
will. Sie werden mir zugeben, liebe Anna-Maria,
daß er weder die Schönheit noch die Gewandtheit be¬
ſitzt, welche die nothwendigen Eigenſchaften der Reprä¬
ſentanten dieſer Rolle ſind.“
„Darüber erlaube nun wieder ich mir kein Urtheil,“
ſagte die Baronin, nicht ohne merkliche Ironie, „das
müßt Ihr jungen Frauen unter Euch abmachen.“
„Junge Frauen,“ rief Melitta lachend. Sie ließ
die Arbeit in den Schooß ſinken und lehnte ſich bequem
in den Stuhl zurück, die Baronin, die unverdroſſen
weiter nähte, mit einem Blick betrachtend, in welchem
ſich ein gut Theil Schalkheit mit einem ganz kleinen
Theil Böswilligkeit miſchte, „junge Frauen! Wiſſen
Sie, liebe Anna-Maria, daß ich noch in dieſem Jahre
dreißig werde? Mein Julius wird im nächſten Monat
zwölf — nur vier Jahre jünger wie Ihre Helene.
Apropos, wie geht es denn dem lieben Kinde? Soll
ſie denn ewig in dem Hamburger Penſionat bleiben?
Wie lange iſt ſie denn nun ſchon da? zwei, nein es
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 5[66] ſind ja ſchon drei Jahre! Und nicht ein einziges Mal
hier geweſen in der ganzen Zeit! Sie werden Ihr
eigenes Kind nicht wieder erkennen, liebe Grenwitz!“
„Das Hamburger Penſionat iſt ſo ausgezeichnet,
wird von Allen ſo gerühmt, daß ich mir ein Gewiſſen
daraus machen würde, das Mädchen nicht ſo lange
wie möglich dort zu laſſen. Uebrigens haben Sie wohl
vergeſſen, liebe Berkow, daß wir mit Helenen im vorigen
Sommer in Oſtende waren, und da Sie ſo große
Sehnſucht nach der jungen Dame zu empfinden ſcheinen,
will ich Ihnen auch in allem Vertrauen mittheilen, daß
Sie dieſelbe noch in dieſem Sommer auf Grenwitz
werden begrüßen können.“
„Noch in dieſem Sommer! ei, ſieh! das hängt doch
wohl nicht etwa mit Oldenburg's Rückkehr zuſammen?
Verzeihen Sie meine Indiscretion! aber ich erinnere
mich, daß Sie vor einigen Jahren, als der Baron
von ſeiner erſten großen Reiſe zurückkehrte, einmal
äußerten, wie Ihnen eine Verbindung mit Oldenburg
wohl conveniren würde.“
„Damals kannte ich den Baron nicht, wie ich ihn
leider ſeitdem kennen gelernt habe. Auch würde das
Grenwitz' Wünſchen nicht entſprechen, der Helenen,
glaube ich, nach einer andern Seite halb und halb
verſprochen hat.“
„Nach einer anderen Seite? doch nicht etwa an
Ihren vortrefflichen Couſin Felix?“
„Wie geſagt, ich weiß nichts Beſtimmtes darüber;
Grenwitz iſt ſo verſchloſſen; aber ich vermuthe es faſt
daraus, daß er Felix beſtimmt hat, auf ein Jahr Urlaub
zu nehmen und dieſes Jahr bei uns zuzubringen. Seine
Geſundheit ſoll ſehr angegriffen ſein.“
„Hoffentlich nicht ſo angegriffen wie ſein Vermögen,“
ſagte Melitta trocken.
„Sein Vermögen? Was wiſſen Sie denn von
Felix Privatverhältniſſen?“
„Ich ſage nur, was alle Welt ſagt. Sie werden
mir zugeben, Liebe, daß, wenn ſchon über Oldenburg
die chronique scandaleuse nicht ſtumm iſt, ſie über
Felix ſehr viel zu ſagen weiß, und an Stoff hat es
ihr der Herr Lieutenant doch wahrlich nicht fehlen
laſſen.“
„Felix iſt noch jung.“
„Nicht jünger als Oldenburg.“
„Fünf Jahre.“
„Das ſieht man ihm wahrlich nicht an; freilich, er
hat etwas ſchnell gelebt, der gute Felix.“
„Man ſollte wahrlich glauben, liebe Melitta, daß
Felix Ihnen näher ſtände, als es der Fall iſt. Auf¬
richtig, ich möchte gern wiſſen, was Sie von dieſer
5*[68] Heirath denken, im Falle Grenwitz das Project nicht
aufgeben ſollte.“
„Nun denn, aufrichtig: ich würde ſie für ein Un¬
glück, für ein um ſo größeres Unglück halten, je ſchöner
und unſchuldiger Helene iſt. Was, um Alles in der
Welt, kann den Baron zu dieſer Heirath beſtimmen?
Denn daß eine Mutter zu ſolch einer Verbindung, die
ihre Tochter namenlos unglücklich machen müßte, Ja
ſagen ſollte, kann ich mir nimmermehr denken.“
Melitta war aufgeſprungen, hatte ihre Reitpeitſche
ergriffen und hieb damit ſauſend durch die Luft, als
wollte ſie ſagen: das verdient der, welcher zu dieſem
Bubenſtück die Hand bietet. In der ſchlanken, hoch
aufgerichteten Frauengeſtalt hätte man kaum dieſelbe
wieder erkannt, die ſich vorhin ſchüchtern über ihre
Arbeit beugte, oder ſich läſſig in die Kiſſen des Stuhles
ſchmiegte. Selbſt die Züge des Geſichtes ſchienen anders
zu werden, ſchärfer, älter; das Feuer in den großen
Augen loderte düſter auf. Offenbar hatte die Er¬
wähnung dieſer Heirath eine Saite in ihr angeſchlagen,
die häßlich durch ihre Seele ſchrillte. Sie fuhr in
demſelben aufgeregten Tone fort:
„Felix iſt ein notoriſcher Wüſtling. Wie kann ein
Wüſtling Liebe fühlen? Und geſetzt, Helenens Schön¬
heit, Unſchuld und Jugend trügen für eine Zeit über
[69] ſeine Blaſirtheit den Sieg davon, ſo kann dies nicht
von Dauer ſein. Ein gründlich Blaſirter wird niemals
wieder ein ganzer Mann; und kann Helene einen ſolchen
halben Mann lieben? und iſt das Leben ohne Liebe
werth, daß man es lebt? und können Sie das Unheil
verantworten, das aus ſo einer liebloſen Ehe wie Un¬
kraut aufſchießt? Ich weiß“ —
Die junge Frau ſchwieg plötzlich und ging mit
ſchnellen Schritten in dem Gemache auf und ab. Dann
nach einer kleinen Pauſe:
„Und welch' äußere Vortheile könnte dieſe Ehe ge¬
währen? Felix hat ſeiner ungemeſſenen Eitelkeit ſein
Vermögen, wie ſeine Geſundheit zum Opfer gebracht.
Seine Güter ſind verſchuldet, über und über; und Aus¬
ſichten hat er, ſo viel ich weiß, auch nicht“ —
„Nur daß er, wenn mein Malte ſtirbt, was Gott
verhüten wolle, das Grenwitz'ſche Majorat erbt,“ ſagte
die Baronin.
„Ja ſo!“ ſagte Melitta gedehnt. Die letzte Be¬
merkung der Baronin hatte der edelmüthigen jungen
Frau die Angelegenheit in einem ganz neuen Lichte
gezeigt; dem unheimlichen Lichte vergleichbar, das aus
der Blendlaterne eines Diebes auf das Schatzkäſtlein
fällt, das er ſtehlen will. Sie hütete ſich indeſſen wohl,
die Baronin, was in ihr vorging, merken zu laſſen,
[70] ſondern fuhr, ſich wieder in ihren Schaukelſtuhl wer¬
fend, in unbefangenem Tone fort:
„Ich hoffe. Malte wird Felix' Gläubigern nicht
den Gefallen thun, vor der Zeit zu ſterben, er wird
ja zuſehends kräftiger, und wenn Sie dem Jungen nur
mehr Freiheit laſſen wollten“ —
„Freiheit!“ ſagte die Baronin; „muß ich das Wort
ſchon wieder hören! Ich laſſe ihm ſo viel Freiheit,
als ich mit einer vernünftigen Erziehung für verträg¬
lich halte. Ich meine, daß, wer wie Malte einſt über
ein bedeutendes Vermögen gebieten wird, nicht zeitig
genug gehorchen, ſich einſchränken, ſich Unnöthiges,
Ueberflüſſiges verſagen lernen kann. Wir haben ja
an unſerem Neffen Felix das lebendigſte Beiſpiel, wo¬
hin die allzugroße Nachſicht führt.“
„Das iſt Alles wahr,“ ſagte Melitta, „aber“ —
„Wir haben uns ja wohl über das Thema der
Erziehung unſerer Kinder ein für alle Mal des Streites
begeben,“ ſagte die Baronin mit dem Lächeln der Ueber¬
legenheit. „Ich weiß, was ich will, und das werde
ich mit Gottes Hülfe durchführen.“
„Apropos, habe ich Ihnen ſchon geſagt, daß ich
meinen Julius in dieſen Tagen nach Grünwald auf's
Gymnaſium ſchicken will?“ warf Melitta hinein.
„Wieder ſo ein Wageſtück!“ antwortete die Baronin.
[71] „Baron Oldenburg hat auch ſo eine öffentliche Er¬
ziehung, wie ſie es nennen, genoſſen, und ich denke,
die Reſultate ſind danach. Freilich hat man mit den
Hauslehrern auch ſeine liebe Noth.“
„Sie haben ja jetzt einen neuen, nicht wahr?“ ſagte
Melitta, die aufgeſtanden war und ſich in die Thür
lehnte; „wie iſt er denn?“
Die Baronin zuckte die Achſeln.
„Aber wie kann man das auch fragen,“ ſagte Me¬
litta lachend. „Er wird ſein, wie alle Andern: ent¬
ſetzlich gelehrt, eckig, pedantiſch, langweilig. Bemper¬
lein, Bauer — das iſt Alles ein Genre. Ich will
einen Hauslehrer auf hundert Schritt erkennen. Ah!
wer iſt der junge Mann, der da mit Bruno über die
Wieſe kommt?“
Die Frage blieb unbeantwortet, da in dieſem Augen¬
blick Mademoiſelle Marguerite in das Zimmer getreten
und die Baronin aufgeſtanden war, ihr einige Auf¬
träge wegen der Abendmahlzeit zu geben. Melitta
wandte ſich um, aber die Baronin hatte mit einem:
Entſchuldigen Sie mich! das Zimmer verlaſſen. Melitta
blieb allein, und mußte ſelbſt die Antwort auf ihre
Frage zu finden ſuchen. Sie zog ſich ein wenig aus
der Thür zurück und muſterte mit ihren ſcharfen Augen
die Erſcheinung des unbekannten jungen Mannes.
Siebentes Kapitel.
Oswald war mit Bruno aus den Bäumen, die den
Raſenplatz umſäumten, dem Schloſſe gegenüber heraus¬
getreten. Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben
Schulter, der wiederum ſeinen Arm um Oswalds
Hüften geſchlungen hatte und lächelnd in das Geſicht
des jungen Mannes aufſchaute, während dieſer ange¬
legentlich zu ihm ſprach. Als ſie ein paar Schritte
auf die Wieſe gemacht hatten, blieben ſie ſtehen. Os¬
wald deutete mit der Hand nach der Richtung, aus
der ſie gekommen waren, und Bruno ſprang in das
Gehölz zurück. Der junge Mann ſtand, die Rückkehr
ſeines Freundes erwartend, und köpfte mit dem Stäb¬
chen, das er in der Hand trug, zum Zeitvertreib einige
Gräſer, die allzu lang emporgeſchoſſen waren. Er
hatte keine Ahnung davon, daß fünfzig Schritte von
ihm ein Paar eben ſo ſchöner, wie ſcharfer Augen
[73] jeden ſeiner Züge muſterte, jede ſeiner Bewegungen
ſorgfältig beobachtete.
„Wenn das der neue Hauslehrer iſt, ſo iſt er ein
Beweis mehr für den alten Satz, daß es zu jeder
Regel Ausnahmen giebt. Der ſieht wahrlich nicht aus,
als ob er zu der Familie der Bemperleins gehörte.
Dieſen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit
aus der Reſidenz gebracht. Sehr nett, in der That,
für einen Hauslehrer faſt zu nett. Sie ſcheinen etwas
eitel zu ſein, mein Herr, und lange Conferenzen mit
Ihrem Schneider zu halten. Aber Sie ſind hübſch
gewachſen, das muß man Ihnen laſſen, und der kleine
Schnurrbart ſteht Ihnen ausnehmend gut. Wollen
Sie nicht gefälligſt einmal den Kopf in die Höhe heben;
ich wünſchte, Ihre Augen zu ſehen. So — sauve
qui peut!“
Melitta trat, als Oswald jetzt zufällig die Augen
aufſchlug, ſchnell zurück, ſo daß ſie hinter der Thür
verborgen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in
einen Spiegel, der ſich in der Nähe befand, und glät¬
tete raſch ihr üppiges Haar. Dann näherte ſie ſich
verſtohlen wieder der Thür.
Bruno kam aus den Bäumen herbeigeſprungen,
und zeigte Oswald ein Büchelchen: „Hier iſt es,“
rief er, „aber Sie bekommen es nicht.“ Oswald
[74] wollte den muthwilligen Knaben haſchen, der ihn immer
mehr herankommen ließ, um ihm dann jedesmal durch
eine blitzſchnelle Wendung, oder einen Satz, deſſen ſich
ein Unkas nicht hätte zu ſchämen brauchen, zu entgehen.
Melitta war, durch das hübſche Schauſpiel ange¬
lockt, aus ihrem Verſteck getreten. Sobald Bruno
ihrer anſichtig wurde, rannte er auf ſie zu, und Os¬
wald, der, über die unerwartete Erſcheinung der Ama¬
zone verwundert, ſtehen geblieben war, ſah, wie der
Knabe ihre Hände ergriff und mit ſtürmiſcher Zärt¬
lichkeit an ſeine Lippen drückte.
„Da biſt Du ja, mein Wilder!" ſagte die Dame
und ſtreichelte die dunkeln Locken des Knaben, „wo
haſt Du denn den ganzen Nachmittag geſteckt?“
„Ich bin ſpazieren geweſen — mit Oswald, wollte
ſagen, mit Herrn Doctor Stein;“ rief Bruno, und
dann zu Oswald ſich wendend, der grüßend näher ge¬
treten war, „dies iſt Frau von Berkow, Oswald, von
der ich Ihnen nur noch heute Morgen erzählte; dies
iſt Herr Stein, Tante Berkow, den ich ſehr, ſehr lieb
habe, und den Sie auch ein wenig lieb haben ſollen.“
„Man darf ſeine Waare nicht zu ſehr anpreiſen,
Bruno,“ ſagte Oswald, ſich lächelnd vor der jungen
Frau verbeugend, „oder der Käufer wird ſtutzig.“
„Nicht, wenn der Verkäufer ſo gut accreditirt iſt,
[75] wie dieſer Wildfang bei mir,“ ſagte Melitta, leicht
erröthend. „Wie lange ſind Sie ſchon auf Grenwitz,
Herr Doctor?“
„Seit vierzehn Tagen etwa, gnädige Frau.“
„Sagte mir die Baronin nicht, daß Sie aus der
Reſidenz kämen?“ log Melitta, die neugierig war, zu
erfahren, ob ſich ihre Vermuthung wegen Oswalds
Anzug beſtätigte.
„Nicht direct, gnädige Frau; ich lebte zuletzt in
Grünwald.“
„In Grünwald? das intereſſirt mich. Da könnten
Sie mir ja gleich die beſte Auskunft geben. Die
Sache iſt nämlich die — aber ich langweile Sie gewiß
mit meinen indiscreten Fragen!“
„Bitte, gnädige Frau; ich würde mich glücklich
ſchätzen, Ihnen irgendwie dienen zu können.“
„Sehr gütig. Die Sache iſt die. Ich will meinen
Sohn — er iſt ungefähr in Bruno's Alter“ —
„Oho, Tante, drei Jahre jüuger!“ rief Bruno,
der ſich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukel¬
bank wiegte.
„Welch' ſcharfes Ohr der Junge hat,“ ſagte Me¬
litta, ihre Stimme ſenkend. „Alſo, ich will meinen Julius
nach Grünwald auf's Gymnaſium ſchicken. Oder viel¬
mehr, ich muß, denn ſein Lehrer, ein Herr Bemper¬
[76] lein, der ſchon ſechs Jahre bei ihm iſt, hat eine Pre¬
digerſtelle bekommen und wird uns in dieſen Tagen
verlaſſen. Nun weiß ich nicht — aber da kommt die
Baronin — ich muß meine tauſend und eine Frage
über tauſend und ein verſchiedene Dinge, die mir ſo voll¬
kommen fremd ſind wie meinem guten Bemperlein,
der längſt verlernt hat, wie es in der Stadt ausſieht,
wenn er es überhaupt jemals wußte, auf eine gelege¬
nere Zeit verſparen. Hier kommt man ja doch nicht
dazu. Wie wär’s, Herr Doctor, wenn Sie mich in
dieſen Tagen mit Ihrem Beſuche beehrten; morgen
Nachmittag etwa?‟
Oswald verbeugte ſich.
„Ich habe den Herrn Doctor gebeten, mir morgen
ſeinen Beſuch zu ſchenken,‟ ſagte Melitta, zur Baronin
gewandt, die in dieſem Augenblick mit Mademoiſelle
Marguerite wieder in's Zimmer trat. „Es iſt wegen
der Grünwalder Angelegenheit. Ihr habt doch nicht
morgen Nachmittag etwas Beſonderes vor, denn ich
möchte nicht, daß der Herr Doctor mir ein allzugroßes
Opfer bringt.‟
„Wir etwas vorhaben?" ſagte die Baronin; „Sie
kennen ja unſer ſtilles Leben, liebe Melitta; im Gegen¬
theil, ich denke, eine kleine Zerſtreuung der Art wird
Herrn Doctor Stein, der die Einförmigkeit eines länd¬
[77] lichen Aufenthalts ſicher ſchon empfunden hat, recht
willkommen ſein. Ich ſelbſt wollte Sie für morgen
ſchon zu einem Beſuche zu beſtimmen ſuchen, Herr
Stein; bei unſerm Paſtor, der ſchon empfindlich ſein
wird, daß Sie ſich ihm noch nicht vorgeſtellt haben.“
„Nun, das läßt ſich ja ganz gut vereinigen,“ ſagte
Melitta; „morgen iſt Sonntag, der Paſtor Jäger
wird entzückt ſein, wenn Sie die nicht allzu große
Schaar ſeiner Zuhörer durch Ihre Perſon vermehren.
Berkow iſt von Faſchwitz durch den Wald nur ein
halbes Stündchen entfernt. Ich würde Sie gleich zu
Mittag einladen, aber ich weiß, daß die Frau Paſtorin
Sie nicht ſobald wieder fortlaſſen wird. Nun, was
ſagen Sie, Herr Doctor?“
„Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten
Dank ausſprechen, daß Sie die Güte haben wollen,
über meine Zeit beſſer zu disponiren, als ich es auf
jeden Fall im Stande wäre,“ antwortete Oswald mit
einer höflichen Verbeugung.
„Das heißt: der Weiſe ſchickt ſich in das Unver¬
meidliche,“ ſagte Melitta lachend. „Und hier kommt
der Baron mit Malte, und wir können zu Tiſche
gehen, wonach ich, offen geſtanden, großes Verlangen
trage.“
Die Tafel war auf dem niedrigen Perron, der nach
[78] dem Garten zu dem Schloſſe in ſeiner ganzen Länge
angebaut war, unter einem Zeltdache gedeckt. Der
Abend war herrlich. Die Sonne war im Untergehen.
Roſige Lichter ſpielten in den Wipfeln der hohen Buchen,
die den ſchattigen Raſenplatz umgaben. Schwalben
ſchoſſen zwitſchernd und zirpend durch die klare Luft.
Ein Pfau kam, durch das wohlbekannte Klappern der
Teller herbeigelockt aus dem Gebüſch eilig über die
Wieſe geſchritten, und ſammelte die Brocken auf, die
der alte Baron ihm über das Steingeländer des Per¬
rons zuwarf.
Die Unterhaltung war heute um Vieles lebhafter,
als es wohl ſonſt der Fall war. Die Baronin konnte,
wenn ſie wollte, eine ſehr angenehme Wirthin machen,
und ſie war, trotz ihrer zur Schau getragenen Abnei¬
gung gegen weltlichen Sinn, durchaus nicht ſo frei
von Eitelkeit, daß es ihr gleichgültig geweſen wäre,
neben Melitta überſehen zu werden. Melitta aber war
in der liebenswürdigſten Laune; ſie ſcherzte und lachte,
neckte und ließ ſich necken, unbefangen, harmlos, wie
ein Kind. Es fiel Oswald, während er ſich dem Zauber
von Melitta's reizender Erſcheinung willig überließ,
nicht ein, zu glauben, ſeine Gegenwart könne etwas
zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen, und doch war
dies in einem hohen Grade der Fall. Es giebt wenige
[79] Frauen, die vollkommen indifferent dagegegen ſind,
welchen Eindruck ſie auf ihre Umgebung hervorbringen,
und Melitta gehörte durchaus nicht zu dieſen wenigen
Frauen, wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreg¬
licher Sinnlichkeit, die ſich durch gefällige und ſchöne
Formen in einer Weiſe beſtechen laſſen, die kälteren
Temperamenten unbegreiflich iſt. Nun war Oswald,
ohne das zu ſein, was man einen ſchönen Mann nennt,
von der Mutter Natur nichts weniger als ſtiefmütter¬
lich ausgeſtattet, und die gute Geſellſchaft, in der er
ſich ſtets bewegt, hatte die natürliche Grazie ſeiner
Manieren noch erhöht. Das Alles überraſchte Me¬
litta um ſo angenehmer, als ſie es bei einem Manne
von einer nach ihren Begriffen ſo untergeordneten
Stellung am wenigſten erwartet hatte. Oswald er¬
ſchien ihr mit jedem Augenblick bedeutender; ſie fing
an, ihre brüske Einladung von vorhin doch recht un¬
paſſend zu finden, und zugleich entzückte ſie der Ge¬
danke, den liebenswürdigen jungen Mann ſo bald bei
ſich zu ſehen. Es ſchmeichelte ihr, wenn, was über
Tiſche mehr als einmal geſchah, Oswalds Blicke den
ihren begegneten, und doch ſenkte ſie jedesmal die
Wimpern vor einem Augenpaar, das bei aller Unbe¬
fangenheit ſo beredt und forſchend blicken konnte.
Nach Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin,
[80] da Melitta erklärte, noch ein Stündchen bleiben zu
können, ein Reifſpiel in Vorſchlag, Bruno ſprang fort,
die Reifen zu holen, die weder verlegt noch außer
Stande waren, ein Umſtand, der gewiß für die muſter¬
hafte Ordnung, die in dem Schloſſe Grenwitz herrſchte,
beredt genug ſpricht; und bald hatte ſich die Geſell¬
ſchaft auf dem Raſen in einem weiten Kreiſe aufge¬
ſtellt und die bunten Reifen flogen luſtig durch die
weiche, warme Abendluft von Einem zum Anderen.
Alle, ſelbſt der alte Baron, legten eine größere oder
geringere Geſchicklichkeit an den Tag, mit Ausnahme
von Malte, der ſeinen Reif in den meiſten Fällen, wo
er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam,
fallen ließ, eine Gelegenheit, die Melitta, ſeine Nach¬
barin, zum großen Aerger Bruno's, der die Spiel¬
regeln eingehalten wiſſen wollte, jedesmal benutzte,
ihren Reif aus der Reihe einem der Mitſpieler blitz¬
ſchnell über den Kopf zu ſchleudern, wobei Oswald
nicht umhin konnte, zu bemerken, daß Melitta ihn
häufiger wie die Uebrigen auf dieſe Weiſe auszeichnete.
Unterdeſſen war der Abend tiefer herabgeſunken;
der alte Baron hatte eine ſchwache Spur von Thau
auf dem Raſen bemerkt; Abendthau aber war nach
ſeiner Meinung reines Gift für Malte, der als kleines
Kind eine Zeit lang viel an der Bräune gelitten hatte,
[81] und er mahnte deshalb dringend, das Spiel einzuſtellen.
Melitta fand, daß es hohe Zeit für ſie ſei, aufzubrechen,
und bat, ihrem Reitknecht Befehl zu geben, die Pferde
zu ſatteln. Bruno war fortgeſprungen, den Auftrag
auszurichten; die Baronin mit Mademoiſelle in das
Zimmer getreten; der Baron beſchäftigt, Malte, der
ſich durchaus erkältet haben ſollte, ein dickes Shawl¬
tuch um den Hals zu wickeln; Oswald und Melitta
waren zum erſten Male ſeit ihrer unterbrochenen Con¬
verſation von vorhin allein geblieben. Melitta hatte
von einem Roſenſtrauch, der zu den Füßen der Flora
wuchs, eine Roſe gepflückt und betrachtete ſinnend die
köſtliche Blume.
„Verzeihen Sie, mein Herr,“ ſagte ſie plötzlich,
leiſe und raſch, aber ohne die Augen aufzuſchlagen,
„daß ich vorhin die Unſchicklichkeit beging, Sie ohne
weiteres um einen Beſuch zu bitten, der Ihnen am
Ende beſchwerlich fällt, aber“ —
„Kein Aber, gnädige Frau; ich wiederhole im Ernſt,
was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit ſagte, daß ich
mich glücklich ſchätzen würde, Ihnen irgendwie dienen
zu können.“
„Sie kommen alſo morgen?“
„Wie Sie befehlen.“
„Nein: wie ich wünſche. — Sehen Sie nur, wie
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 6[82] wundervoll dieſe Roſe iſt! Lieben Sie auch die Roſen
ſo?“
„Ich liebe Alles, was ſchön iſt,“ ſagte Oswald,
nicht auf die Roſe, ſondern auf Melitta blickend.
Sie hob die langen Wimpern und ſchaute dem
jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen.
„Da!“ ſagte ſie plötzlich und hielt ihm die Roſe
entgegen, als ob er ihren Duft einathmen ſollte; er
aber fühlte nur, wie ſich die ſchlanken Finger der Dame
leicht wie ein Hauch auf ſeine Lippen legten.
„Die Pferde ſind da, Tante!“ rief Bruno.
„Ich komme!“ antwortete Melitta und eilte von
Oswald fort.
Die Roſe lag zu ſeinen Füßen; er bückte ſich ſchnell,
hob ſie auf und verbarg ſie an ſeiner Bruſt.
Mademoiſelle Marguerite brachte Melitta Federhut,
Reitpeitſche und Handſchuh.
„Iſt die Baronin im Zimmer?“
„Ja.“
„So will ich gehen, ihr Adieu zu ſagen.“
Der alte Baron, Oswald und die Knaben gingen
durch die Gitterthür des Parks nach dem Schloßhofe, wo
ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte. Oswald
bewunderte die Schönheit der Thiere, beſonders das
[83] mit dem Damenſattel, ein herrliches Vollblut, Melit¬
ta's Lieblingspferd. Bella.
Melitta trat, von der Baronin und Mademoiſelle
gefolgt, aus dem Portale raſch auf ihr Pferd zu. Der
alte Baron hob ſie in den Sattel.
„Adieu, adieu!“ rief ſie herunter.„Allez! Bella!“
und ſo ſprengte ſie aus dem Schloßhof hinein in den
dämmrigen Abend.
Die Anderen waren wieder in's Haus getreten.
Oswald ſtand, die Augen nach dem Thor gerichtet,
durch das Melitta verſchwunden war, in ſich verſunken da.
„Wollen wir nicht hineingehen, Oswald?“ ſagte
Bruno, ſeine Hand ergreifend; „es iſt dunkel geworden.“
„Es iſt dunkel geworden,“ wiederholte der junge
Mann und folgte träumend dem Knaben.
6*
Achtes Kapitel.
Der Baron hatte Oswald angeboten, ihn nach der
Kirche fahren zu laſſen; der junge Mann aber, der
die ſchwerfälligen Braunen noch von dem Abend ſeiner
Ankunft her in böſem Angedenken hielt, es abgelehnt.
Bruno und Malte erwarteten heute die Knaben eines
benachbarten Edelmanns zum Beſuch. Bruno wäre
am liebſten mit Oswald gegangen, da dieſer aber
ſelbſt ihn zu bleiben bat, ſagte er:
„Sie ſind recht froh, daß Sie mich auf ein paar
Stunden los ſind, aber ich weiß, was ich thue. Ich
gehe in den Wald und komme vor Abend nicht wieder
nach Hauſe.“
„Das wirſt Du nicht thun, Bruno!“
„Und weshalb nicht?“ fragte der Knabe trotzig.
„Weil Du mich lieb haſt.“
„Nun denn, ſo will ich Ihnen zu Liebe hier bleiben,
[85] den albernen Hans von Plüggen nicht prügeln und
mich überhaupt ſo muſterhaft benehmen, daß ſelbſt
Tante zufrieden ſein ſoll.“
„Thue das, lieber Junge. Leb' wohl!“
„Leb' wohl, Lieber, Beſter!“ rief der Knabe und
warf ſich ſtürmiſch an die Bruſt ſeines einzigen Freun¬
des, und eilte von ihm fort, in den Garten, dort mit
ſeinem wilden Herzen allein zu ſein.
Oswald ging aus dem Schloßhofe den Weg, von
dem er wußte, daß er nach dem Pfarrdorfe führte.
Die Sonne ſchien hell aus dem blauen Himmel, an
welchem weiße Wolkenballen unbeweglich ſtanden. Es
war nicht heiß, denn der Athem des nahen Meeres
hauchte Kühlung durch die Sommerluft. Lerchen ju¬
belten hoch droben „im blauen Raum verloren.” An
dem Rande des nahen Waldes, von dem eine Ecke,
Oswald zur Rechten, weit in das bebaute Land hinein¬
ſchoß, zog ein Gabelweih ſeine Kreiſe. Auf den Fel¬
dern ſah man keine Arbeiter; die Ackergeräthe lagen
müßig. In einer Koppel, an welcher der Weg vor¬
überführte, lagen in ſatter Ruhe Kühe und Kälber;
ein paar muntre Füllen kamen an den Zaun, und
ſahen neugierig nach dem Wanderer.
Oswald hatte ſchon den Hof des Gutes hinter
ſich. Er kam auf dem mit Weiden an beiden Seiten
[86] beſetzten Wege an der Stelle vorüber, wo der Streit
zwiſchen Bruno und dem Knecht ſtattgefunden hatte.
Unwillkürlich blieb er ſtehen; die ganze Scene wurde
wieder lebendig vor ſeinem Auge; er ſah den ſchönen
Knaben, zürnend und drohend, wie ein jugendlicher
Gott; und den feigen zurücktaumelnden Knecht. Schon
that es ihm leid, daß er ſeinen Liebling zum Zurück¬
bleiben vermocht hatte. Er fühlte ſich ſo leicht, ſo
froh an dieſem ſchönen Morgen, und es war ihm
ſchon zur lieben Gewohnheit geworden, wenn ſeine
Seele ein Feſt feierte, den Knaben zu Gaſt zu haben.
„Du, wie Al Hafi, Wilder, Guter, Edler!“ ſprach er
bei ſich, „was willſt Du in dieſer Welt von weibiſchen
Männern! Fürchten ſie ſich doch jetzt ſchon vor
Dir, da Du ein Knabe biſt, was werden ſie thun,
wenn Du ein Mann geworden! Ein Mann thut uns
noth, ſchreien die Gelehrten aller Arten. Wie wollt
ihr Männer haben, wenn Haus und Schule und Leben
ſich gegenſeitig unterſtützen, die ſtolze Kraft im Keim
zu brechen! Da ſchnitzeln ſie an dem Bogen und
ſchnitzeln immerfort, und wundern ſich, wenn das feine
Ding hernach zerbricht. Pygmäengeſchlecht, das den
Rieſen, den ein glücklicher Zufall an ihren öden Strand
geworfen, mit tauſend und aber tauſend Fäden regungs¬
los an die platte Erde feſſelt!“
Oswald war in dem beſten Zuge, ſich in eine mi¬
ſanthropiſche Stimmung hineinzureden, aber der helle,
leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht.
Ein Bild, das Bild einer ſchönen Frau, das geſtern
Abend, bevor der Schlummer ſeine Augen ſchloß, noch
zuletzt vor ſeiner Seele geſtanden hatte, das als ein
lieber Schatten durch ſeine Träume geglitten war und,
wie der Nachklang einer köſtlichen Muſik, ihn ſchon den
ganzen Morgen umſchwebt hatte, trat wieder vor ſeine
Seele. Aber vergebens ſuchte er es zu bannen. Wer
hätte nicht ſchon die Bemerkung gemacht, daß unſere
Erinnerung die Geſtalten ganz unbedeutender, uns voll¬
kommen gleichgültiger Menſchen oft mit der kleinlichſten
Genauigkeit, ohne daß wir es wollen oder wünſchen,
uns vorführt, und ſich weigert, uns denſelben Dienſt,
der jetzt wirklich ein Liebesdienſt wäre, bei den bedeu¬
tendſten und von uns am meiſten geliebten Menſchen
zu leiſten? Iſt es, daß wir ſo ſelten vermögen, dieſe
mit unbefangenem Auge zu betrachten? iſt es, daß,
wo das Herz zum Herzen ſpricht und die Seelen in
einander fließen, die Geſtalt, wie ein Kleid von dem
Blitz verzehrt wird? daß es des Gleichniſſes, welches
alles Vergängliche iſt, nicht bedarf für den Geiſt, der
das Unvergängliche, die Idee, zu erfaſſen verſteht? —
Während Oswald nur an Melitta dachte, nur an ſie
[88] denken wollte, ſah er die Baronin, Mademoiſelle Mar¬
guerite, dieſe oder jene Dame ſeiner Bekanntſchaft,
aber die Amazone im grünen Reitkleide zerflatterte ihm
immer wie neckiſcher Nebel. „So flattre fort, Du
ſchöner Spuk!“ rief der junge Mann, und ſuchte ſeinen
Gedanken eine andere Richtung zu geben.
Das Terrain war bis dahin wellenförmig geweſen,
jetzt wurde es eben, wie die Fläche des Meeres in der
Windſtille. Eine weite Haide lag vor ihm, jenſeits
derſelben das Kirchdorf, welches das Ziel ſeiner Wan¬
derung war. Andere Gehöfte bekränzten in weiter
Ferne die Fläche. Die Weiden, die bis dahin den
Weg begleitet hatten, wurden ſpärlicher und verſchwan¬
den zuletzt ganz. Hier und da hatte man auf der
Haide die Raſendecke entfernt, um den Torf zu ge¬
winnen, der nun in langen ſchwarzen Reihen zum
Trocknen aufgeſchichtet da lag. In den ſo entſtande¬
nen tiefen Gräben blinkte das Waſſer. Kiebitze und
anderes Sumpfgevögel flatterte hin und wieder. In
der weiten, öden Runde ſah Oswald keinen Menſchen,
außer einer Frau, die ein paar hundert Schritte vor
ihm auf einem Grenzſteine ſaß. Als er näher kam,
fand er, daß es eine alte, ſehr alte Frau, in einem
armſeligen, aber äußerſt reinlichen Anzuge war. Sie
mußte wohl, von dem Wege ermüdet, auf dem Steine
[89] eingenickt ſein; denn ſie richtete den tief geſenkten Kopf
ſchnell in die Höhe, als Oswald in ihre Nähe kam
und betrachtete verwundert den jungen Mann.
„Guten Morgen, Mütterchen!“ ſagte dieſer ſtehen
bleibend; „iſt das Dorf dort gerade vor uns Faſchwitz?“
„Ja!“ ſagte die Frau mit für ihr Alter auffallen¬
der Lebhaftigkeit, „der junge Herr will wohl auch in
die Kirche?“
„Ja, Mütterchen! wann fängt die Predigt an?“
Die Alte warf einen Blick nach der Sonne und
ſagte:
„Ich hab' zu lang geſchlafen; für mich iſt es nun
ſchon zu ſpät; meine alten Beine tragen mich nicht
mehr ſo ſchnell; aber Sie ſind ein junger Menſch,
Sie kommen ſchon noch zur rechten Zeit. Nicht für
ungut, wie iſt Ihr Name, junger Herr?“
„Stein — Oswald Stein.“
„Stein? den Namen muß ich ſchon gehört haben.“
„Wohl möglich, er iſt nicht eben ſehr ſelten.“
„Stein — hm, hm; nicht für ungut, wo ſind Sie
her, Herr Stein?“
Oswald, dem es Vergnügen machte, ſich ſo harm¬
los ausgefragt zu ſehen, und dem die Art der alten
Frau wohl gefiel, ſetzte ſich, da es ihn eben nicht
drängte, in die Kirche zu kommen, der Matrone gegen¬
[90] über, die ihn, die runzligen Hände auf die Knie ge¬
ſtemmt, aus ihren tief geſunkenen, immer aber noch
ausdrucksvollen Augen forſchend anſah, auf den Stamm
einer umgefallenen Weide und ſagte:
„Aus Grenwitz, Mütterchen.“
„Aus Grenwitz? Sieh einmal! Da bin ich auch
her. Mit Verlaub, Sie ſind wohl zum Beſuch auf
dem Schloſſe?“
„Nicht ſo eigentlich; ich bin der Hauslehrer der
Knaben.“
„Das iſt wohl nicht möglich?“
„Warum?“
„Nu, die Herren Candidaten ſehen ſonſt ganz an¬
ders aus.“ Oswald lachte.
„Und Sie kommen den weiten Weg ganz allein,
Mütterchen?“
„Ich hab' keinen Menſchen, der mit mir gehen
könnte. Mein Mann iſt längſt todt, und meine Jun¬
gens ſind todt und meine Dirnens ſind todt — Alles
todt.“
Die alte Frau ſtrich ſich die Falten ihres Rockes
über den Knieen glatt, als wollte ſie ſagen: Alle ein¬
geſcharrt, und die Erde glatt drüber gedeckt, keine
Spur mehr von ihnen.
Oswald jammerte das einſame, hülfloſe Alter der
[91] Frau. Er ſagte, um doch etwas zu ſagen, wovon er
glaubt, daß es der einfältigen Seele tröſtlich ſein könnte:
„Nun, in jenem Leben werden Sie ja alle Ihre
Lieben wiederfinden.“
„In jenem Leben?“ ſagte die Alte und blickte zum
blauen Himmel hinauf, „daran glaube ich nicht.“
„Wie? daran glauben Sie nicht?“ fragte Oswald
verwundert.
Die Alte ſchüttelte den Kopf.
„Sie ſind noch jung, Herr — wie war Ihr Name?
Stein — ja — Sie ſind noch jung, Herr Stein; wenn
Sie erſt ſo viele Menſchen haben ſterben ſehen, wie
ich, glauben Sie auch nicht mehr daran. Wenn ein
Menſch geſtorben iſt, dann iſt er richtig todt — richtig
todt. Und dann, wo ſollten wohl all' die Menſchen
hin bei der Auferſtehung, wie ſie es nennen? In
unſerem Dorfe lebt kein Einziger mehr von Allen, mit
denen ich jung geweſen bin. Und die Anderen, die
nach mir geboren ſind, ſind alt geworden und auch
geſtorben. Und ſo kommen immer Neue und immer
Neue. Nein, auf der ganzen weiten Erde wäre kein
Platz für all' die Menſchen!“
„Aber vielleicht auf anderen Sternen?“ warf Os¬
wald ein.
„Wie ſollen ſie dort hinkommen? Nein, von der
[92] Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen ſie
Alle — Alle“ — und die alte Frau ſtrich die Falten
ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.
„Die Körper wohl, aber die Seelen“ —
„Na, ich weiß nicht,“ ſagte die Matrone, den Kopf
ſchüttelnd, „aber das weiß ich, daß wenn einer geſtor¬
ben iſt, er richtig todt iſt, und wir ſagen: nun hat
die liebe Seele Ruhe. Und etwas Beſſeres als Ruhe
kann ſich auch Keiner nicht wünſchen, er mag ein Edel¬
mann oder ein Bauersmann ſein, jung oder alt.“
„Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten
Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben?“
fragte Oswald.
„Wer ſagt das?“ ſagte die Matrone faſt entrüſtet;
„ich glaube an Gott, wie jeder Chriſtenmenſch; und
rechtſchaffen und fromm muß man ſein, das hat mit
der Auferſtehung nichts zu ſchaffen; und ſeine Pflicht
muß man thun, das verſteht ſich von ſelbſt. Und nun,
junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es
wird ſonſt gar zu ſpät. Ich will nur wieder um¬
kehren. Adjes!“ Damit ſtand ſie auf, ergriff einen
Eichenſtock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte,
ſtreckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die
dieſer nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und
[93] begann den Weg, den ſie gekommen war, langſam,
langſam zurückzuwandern.
„Das iſt eine merkwürdige Frau;“ ſprach der junge
Mann bei ſich, während er raſcher weiter ſchritt; „ich
muß mich näher nach ihr erkundigen. Wer hätte ge¬
glaubt, daß die Sätze der Philoſophen vom neueſten
Schlage, Sätze, die freilich nur uralte Münzen mit
etwas anderem Gepräge ſind, ſelbſt in dieſen Schichten
des Volkes curſiren. Nun, nun, wenn ſelbſt die Ein¬
fältigen und Friedfertigen anfangen, ſich darauf zu be¬
ſinnen, daß ſie Augen zum Sehen und Ohren zum
Hören haben, ſo iſt ja wohl der letzte Tag der Dun¬
kelmänner gekommen.“
Neuntes Kapitel.
Das Dorf Faſchwitz iſt ein Experiment der Re¬
gierung. Das Gut, eins der größten der Gegend,
war wie faſt alle in dieſem Theil des Landes urſprüng¬
lich im Beſitz einer adligen Familie geweſen, und beim
Ausſterben derſelben als erledigtes Lehen an die Krone
zurückgefallen. Dieſe hatte, um ſich einen Stamm
kleinerer Grundbeſitzer oder freier Bauern zu ſchaffen,
an denen es hier faſt ganz gebricht, hier und an an¬
deren Orten förmliche Bauerncolonieen gegründet, in¬
dem ſie große Lehengüter parcellirte und die einzelnen
Parcellen zu Spottpreiſen an Liebhaber verkaufte.
Der Faſchwitzer Gemeinde hatte ſie eine Kirche gebaut,
einen Prediger in den Ort geſchickt; es war nicht
Schuld der Regierung, wenn die Faſchwitzer nicht ge¬
diehen.
Indeſſen ſtand zu wünſchen, daß ſie von den übri¬
gen ihnen gewährten Vortheilen und Vorzügen einen
[95] beſſeren Gebrauch machten, als von der Gelegenheit,
ſich allſonntäglich geiſtige Nahrung zu verſchaffen, denn
Oswald fand, als er ſich durch eine Seitenthür —
die Hauptthür war verſchloſſen — Eingang verſchafft
hatte, daß die „andächtigen Zuhörer“ aus einigen Kin¬
dern, die wohl zum Confirmandenunterricht gingen und
alſo ex officio da waren, einigen alten Frauen, die
der langen Gewohnheit bis an's Ende treu bleiben,
und aus einigen Gutsbeſitzerfamilien der Nachbarſchaft,
die ihren Hörigen ein gutes Beiſpiel geben wollten,
beſtand. Das Innere der Kirche bildete einen mäßig
großen, wohl erhellten, nicht gewölbten Saal, in welchem
Kanzel, Altar und Bänke ſchicklich vertheilt waren —
Alles ſehr neu, ſehr zweckmäßig — und ſehr nüchtern.
Da gab es keine kleinen buntbemalten Fenſterſcheiben,
kein Altarbild, keine pausbäckigen Engel in Bronce
oder Holz, keine Votivtafeln, keine halbverwelkten
Kränze, und wodurch noch ſonſt der Katholik ſeinen
gemüthlichen Beziehungen zu der überirdiſchen Welt,
zu welcher ihm die Kirche eine Vorhalle iſt, einen Aus¬
druck zu verſchaffen ſucht. Das einzig Poetiſche in
der Kirche waren die Schatten der Linden vor den
Fenſtern, die auf der hellen gegenüberſtehenden Wand
hin und her wogten, und die breiten Lichtſtreifen, die
ſchräg durch den Raum fielen und der Phantaſie eine
[96] goldene Brücke bauten, aus dieſer nüchternen Atmo¬
ſphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der drau¬
ßen warm und duftig auf Wieſen, Feldern und Wäl¬
dern lag. Von der Zuhörerſchaft ſchien indeſſen Nie¬
mand dieſes Weges zu bedürfen, oder ihn praktikabel
zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübſchen zehn¬
jährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl
ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und
weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines
dicken Gutsbeſitzers, der neben ihr andächtig nickte, em¬
pfinden mochte, und deswegen von der hageren Gou¬
vernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im
Uebrigen trugen die Geſichter aller Anweſenden ganz
entſchieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken
zu Hauſe gelaſſen haben, und im beſten Falle von
Menſchen, die ſich mit Anſtand langweilen.
Und in der That, es wäre ein Wunder geweſen,
wenn dieſe Gemeinde ſich von dieſer Predigt hätte er¬
bauen laſſen und von dieſem Prediger. Oswald, der
der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbeſitzerfamilie zu
ſitzen gekommen war, erkannte auf den erſten Blick,
den er auf den Prediger richtete, und nach den erſten
Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm,
daß hier zwiſchen Geiſtlichem und Gemeinde ungefähr
ſo viel Sympathie beſtehe, wie zwiſchen einem ſchrift¬
[97] gelehrten Miſſionär und einem Stamme gutmüthiger
wilder Menſchen. Auch ſchien der Prediger ſelbſt, ein
kleiner, ſchmächtiger Mann von etwa vierzig Jahren
mit einem durch trockene Studien ausgetrockneten Ge¬
ſicht, dies recht wohl zu empfinden; denn er war Os¬
walds, in welchem er natürlich ſofort den vielbeſpro¬
chenen neuen Hauslehrer von Grenwitz erkannte, kaum
anſichtig geworden, als er ſeinen Vortrag hauptſächlich
an ihn zu richten begann, als an den Einzigen, der
im Stande ſei, den Werth der gelehrten Perlen zu
würdigen, die ihn hier, vor ungebildetes Rüſſelvieh zu
werfen, ein unverſtändiges Conſiſtorium nöthigte.
„O, meine andächtigen Zuhörer,“ rief er, die be¬
brillten Augen auf Oswald richtend, der ſich, ſo gut
es gehen wollte, hinter dem blonden Lockenkopf ver¬
ſteckte, „o meine andächtigen Zuhörer, ihr ſehet, ein
wie ſchwaches Ding dieſen ungeheuren Fragen gegen¬
über die menſchliche Vernunft iſt. Und dennoch, den¬
noch‚ Vielgeliebte, giebt es irrende Brüder und Schwe¬
ſtern, die noch immer dem Nachtlicht ihrer eitlen Ver¬
nunft vertrauen, nachdem ſchon längſt auch für ſie die
Sonne aufgegangen iſt. O ja! dieſes Stümpfchen ihrer
Unſchlittkerze mag ihnen hell genug erſcheinen in den
Tagen der gedankenloſen Jugend, den Tagen des Feſtes,
der Herrlichkeit und der Freude; aber nicht alſo in
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 7[98] den Tagen des kummervollen und gedankenſchweren
Alters. Darum gebet auf das ſtolze Vertrauen auf
die Vernunft, und haltet feſt an dem Glauben! Gebet
auf die thörichte Zuverſicht auf euren geſunden Men¬
ſchenverſtand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬
tigen Zuhörer, dieſer geſunde Menſchenverſtand iſt ein
kranker, ein ſehr kranker Menſchenverſtand, iſt ein
Teufelsſpuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltſam
in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!“
Oswald wurde durch dieſe Rede, die ſich, mit Ci¬
taten aus der heiligen Schrift reichlich untermiſcht,
noch über eine halbe Stunde fortſpann, auf eine eigen¬
thümliche, aber keineswegs angenehme Weiſe berührt.
Der Gegenſatz zwiſchen der ſtillen, demüthigen Unter¬
werfung unter die großen, ewigen Geſetze der Natur,
die aus den Worten der alten Frau und noch mehr
aus ihrem ernſten, beſcheidenen Weſen geſprochen hatte,
und der anmaßlichen Zuverſicht, mit welcher der Mann
auf der Kanzel über ſo tief verborgene Dinge ſprach,
und jedes geſunde Gefühl und jede natürliche Regung
der Menſchenbruſt als eitel Lug und Trug und Sünde
verdammte, war doch gar zu groß. Die ſchmuckloſe
Weisheit der Matrone war friſch und duftig, wie ein
Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des
Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, ſchwülen
[99] Luft eines Zimmers üppig emporgeſchoſſen in Stiel
und Blätter, aber ohne Saft und Kraft und Blüthen.
Oswald war froh, als endlich der gelehrte Herr, nach¬
dem er noch ein letztes kräftiges Anathema gegen alle
Andersdenkende geſchleudert und ihre Moralität gehörig
verdächtigt hatte, bis zu dem Amen kam.
„Es iſt gewißlich nicht wahr!“ ſagte der junge
Mann bei ſich, als er auf den Fußſpitzen nach der
kleinen Seitenthür ſchlich, durch die er eingetreten war.
Und als draußen der blaue Himmel ſich wieder über
ihm wölbte, und der Duft der Linden ihn umwehte,
da athmete er tief auf, wie Jemand, der aus der
heißen, erſtickenden Atmoſphäre eines Krankenzimmers
in die balſamiſche Luft eines Gartens kommt.
„Ich werde die Bekanntſchaft dieſes Mannes nicht
machen, wenn ich es vermeiden kann,“ monologiſirte
er weiter, während er den kleinen Hügel, auf dem die
Kirche lag, hinunter, an mehren herrſchaftlichen Wagen,
die unterdeſſen vorgefahren waren, vorüber, in's Dorf
hineinging; „was habe ich mit ihm zu ſchaffen! Seine
Gedanken ſind nicht meine Gedanken und ſeine Sprache
iſt nicht meine Sprache! wir würden uns in Ewigkeit
nicht verſtehen. Ich halte nichts von jener ver¬
waſchenen Humanität, die mit Jedermann gut Freund
iſt, und Niemanden zurückweiſt, weil es doch vielleicht
7*[100] ein feſter Punkt iſt, um den ſich möglicherweiſe etwas
kryſtalliſiren könnte; nichts von jener Käferphiloſophie,
die jeden Fremden höflich umſummt, in der Hoffnung,
die verborgene Blüthe zu finden, aus der ſich eine
Nahrung ſaugen ließe. Der kluge Kaufmann ſchifft
der Küſte vorüber, die zu arm zum Tauſchhandel iſt;
und kommen doch die Worte: wer nicht für mich iſt,
der iſt wider mich — aus dem erhabenen Munde, der
die Liebe gepredigt hat.“
Oswald war, Dies und Aehnliches bei ſich überden¬
kend, auf's Gerathewohl, wie es ſeine Gewohnheit war,
wenn ihn etwas lebhaft beſchäftigte, in dem ihm un¬
bekannten Dorfe, wo Häuſer und Scheunen und Ställe,
Mauern und Gärten, dem Fremden unentwirrbar,
durcheinander lagen, umhergewandert, und wollte eben
aus einem ſchmalen Gange an der Seite eines ſtatt¬
lichen Hauſes auf eine breitere Straße einbiegen, als
ihm der Pfarrer, der aus der Kirche kam, gegenüber¬
ſtand. An ein Ausweichen war nicht zu denken, und
Oswalds Verſuch, höflich grüßend vorbeizukommen,
mißlang gänzlich, denn der Pfarrer hatte ihn kaum er¬
blickt, als er ihm im eigentlichſten Sinne den Weg
vertrat, und ihn, als ein geſchworner Anhänger der
Käferphiloſophie, ſofort alſo anredete:
„Ach! ich habe gewiß die Ehre und das Vergnügen
[101] Herrn Doctor Stein vor mir zu ſehen! Wie freund¬
lich von Ihnen, daß Sie mich zu beſuchen kommen.
Aufrichtig, ich habe Sie ſchon ſeit einigen Tagen bei
mir erwartet. Als ich neulich in Grenwitz war, der
gnädigen Baronin meine Aufwartung zu machen, erfuhr
ich leider, daß Sie mit Ihren Zöglingen einen längeren
Spaziergang unternommen hätten, ſonſt würde ich mir
die Freude nicht verſagt haben, Sie auf Ihrem Zim¬
mer aufzuſuchen. Meine Frau wird ſich glücklich ſchätzen,
Sie unter unſerem beſcheidenen Dache zu begrüßen.
Wollen Sie gefälligſt näher treten? Bitte, bitte, keine
Umſtände!“
„Hier iſt kein Entrinnen möglich,“ dachte Oswald,
und der Höflichkeit, dieſem Affen der Humanität, zu
Liebe, ließ er ſich unter dem beſcheidenen Dache, das
nebenbei ein ganz ſtattliches Haus bedeckte, eine Gaſt¬
freundſchaft aufnöthigen, der auszuweichen er noch eine
Minute vorher entſchloſſen geweſen war.
„Guſtava! Guſtave! Guſtchen!“ rief der Pfarrer
auf der Hausflur; öffnete aber, da die Gerufene die
ſichere Poſition hinter dem mit einem Vorhang ver¬
ſehenen Guckfenſterchen der Küchenthür nicht aufgeben
mochte, bevor ſie über den Charakter des Fremden und
den Zweck ſeines Beſuches genauer unterrichtet ſein
würde, ſein Studirzimmer, und bat Oswald einzutre¬
[102] ten, bis er ſich ſeiner Amtstracht entledigt und ſeine
„Guſtava“ von dem werthen Beſuch benachrichtigt hätte.
Das Studirzimmer des geiſtlichen Herrn war ein
großes, zweifenſtriges Gemach, in welchem einige Bücher¬
ſchränke, einige Heiligenbilder an der Wand, ein hartes,
mit ſchwarzem, glänzendem Zeuge überzogenes Sopha,
ein runder, mit Büchern bedeckter Tiſch in der Mitte,
ein Stehpult mit einem Drehſeſſel davor in einem der
Fenſter, und eine mit Tabaksduft reichlich geſchwängerte
Atmoſphäre, das dem Eintretenden zuerſt in die Sinne
Fallende war. Die letztgenannte Eigenthümlichkeit war
ſo ausgeſprochen, daß Oswald einen Fenſterflügel öffnen
mußte, wobei er eine ſtarke Anwandlung verſpürte,
über die niedrige Brüſtung auf die ſonnebeſchienene
Dorfgaſſe zu ſpringen und das Weite zu ſuchen.
Dieſer Fluchtverſuch wurde indeſſen durch die Zu¬
rückkunft des Pfarrers vereitelt. Der geiſtliche Herr
präſentirte ſich jetzt in einem Anzuge aus ſchwarzem,
wie Fett glänzenden Sommerzeuge. Er bat Oswald
einige Augenblicke in ſeiner „Klauſe“ verziehen zu
wollen, da „Guſtava“ noch „in den Küchenräumen
ſchalte.“ Oswald, der alle Hoffnung zu entrinnen
aufgegeben hatte, machte jetzt nicht einmal den Verſuch,
die Einladung des Pfarrers, zum Mittageſſen dazu¬
bleiben, auszuſchlagen.
[103]
„Sie werden freilich nur paternum mensa tenui
salinum finden, Urväter Hausrath auf dürftigem
Tiſche,“ ſagte der Paſtor, der ſeinem Gaſte zeigen
wollte, daß er ſein Latein noch nicht vergeſſen habe;
„aber Sie wiſſen: vivitur parvo bene; auch mit
Wenigem lebt ſich's gut. Darf ich Ihnen, bis die
Mahlzeit angerichtet iſt, eine Cigarre offeriren?“
Oswald dankte, da er kein Raucher ſei.
„O, eine vortreffliche Eigenſchaft das! eine klaſſiſche
Eigenſchaft,“ ſagte der Paſtor, ſeinen eigenen Witz be¬
lächelnd; „die Alten rauchten nicht, und Goethe, den
ein frivoler, aber witziger Schriftſteller „den großen
Heiden“ nennt, war ein abgeſagter Feind der Pfeife
und Cigarre. Sie erlauben, daß ich meiner Gewohn¬
heit, nach der Predigt ein leichtes Cigarrchen zu rauchen,
getreu bleibe?“
„Bitte dringend, Herr Paſtor!“
„Finden Sie nicht — paff, paff! — daß das
Rauchen — paff, paff! — ſo recht eigentlich ein ger¬
maniſches, ja, um mich ſo auszudrücken, ein chriſtlich-
germaniſches Element iſt?“ ſagte der Pfarrer, der
heute auf alle Fälle geiſtreich ſein wollte.
„Sie würden durch dieſe Bemerkung den Spöttern
der Religion eine Waffe in die Hände geben,“ ant¬
wortete Oswald trocken.
[104]
„Wie das, Werthgeſchätzteſter?“
„Beſagte Spötter könnten behaupten, daß, ſich
ſelbſt und Anderen einen romantiſchen blauen Dunſt
vorzumachen, allerdings ein weſentlicher Zug germani¬
ſcher, beſonders chriſtlich-germaniſcher Natur ſei.“
Der Pfarrer ſah Oswald mit einem ſchnellen,
lauernden Blick halb über die Brillengläſer hinweg an,
als hätte er gern auf einmal herausgebracht, wie weit
er ſeinem Gaſte trauen dürfe. Da er es aber für
einen Mann von klaſſiſcher Bildung unſchicklich fand,
auf einen Scherz, auch wenn derſelbe an's Frivole
ſtreifte, nicht einzugehen, ſo antwortete er mit ſauer¬
ſüßem Lächeln: „Nicht übel, nicht übel! Aber was
wäre vor den Spöttern ſicher? Freilich, wir könnten
antworten: ex fumo lucem! ex fumo lucem! Licht
aus dem Rauche! — Aber ſetzen wir uns, lieber
Freund, ſetzen wir uns! Wie befindet ſich denn der
gute, liebe Baron und die gnädige Baronin? Ach!
Sie können ſich glücklich ſchätzen, lieber Freund, in
ſolchem Hauſe leben zu dürfen unter ſo vortrefflichen
Menſchen, die mit dem Geburtsadel den wahren Adel
der Seele verbinden — vor Allem die gnädige Baroneß,
eine fromme und ſehr gebildete Dame, die Alles ex
fundamento kennen lernen will. Sie lieſt jetzt Schleier¬
machers Reden über die Religion —“
„Sollte ſie wohl im Stande ſein, die zu verſtehen?“
bemerkte Oswald.
Der Pfarrer ſah Oswald wieder mit jenem eigen¬
thümlichen Blick über die Brillengläſer an, als müſſe
er ſich den Mann genauer betrachten, der den Muth
hatte, eine Anſicht, welcher er im Stillen vollkommen
beipflichtete, ſo ungenirt laut werden zu laſſen. Er
benügte ſich indeſſen damit, die Mundwinkel herunter
und die Schultern und Augenbrauen in die Höhe zu
ziehen, eine Gebehrdenſprache, die ſich ſein Beſuch nach
Belieben in: „Alles Schwindel, lieber Freund!“ oder:
„die Fähigkeiten dieſer Frau ſind incommenſurabel“
überſetzen konnte.
„Freilich,“ fuhr er fort, „Grünwald werden Sie
vermiſſen; zumal den Umgang eines Mannes von einer
ſo umfaſſenden Gelehrſamkeit, wie der Profeſſor Berger.
Aber geht es mir denn anders? Auch ich kann ſagen:
Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli.
Ich gelte hier für einen Sonderling, weil Niemand
mich verſteht. Unſre Gutsbeſitzer ſind ohne Zweifel
treffliche, würdige, gottesfürchtige und treu-königlich ge¬
ſinnte Männer; aber, im Vertrauen, die Bildung, ich
meine natürlich nur die gelehrte, iſt arg vernachläſſigt.
Ja, wenn die Herren ſich in ihrer Jugend des un¬
[106] ſchätzbaren Glückes einer wahrhaft rationellen Erziehung
zu erfreuen gehabt hätten, wie Junker Malte —“
„Sehr gütig, Herr Paſtor, obgleich von dieſem
Compliment nur ein verzweifelt kleiner Theil auf meine
Rechnung kommen dürfte. Ich wünſche nur, bei Malte
käme die ratio nächſtens mehr zum Durchbruch, denn
bis jetzt iſt er wahrlich eine höchſt irrationale kleine
Größe.“
„Sie ſollten Urſache haben, mit dem jungen Baron
unzufrieden zu ſein?“ ſagte der Paſtor im Tone Je¬
mandes, der etwas ganz Unerhörtes, Unglaubliches
vernommen hat. „Ach, verſtehe, verſtehe! Freilich
der junge Bruno iſt vielleicht in mancher Hinſicht die
begabtere Natur, obgleich er, wie ich in dem Confir¬
mationsunterricht, welchen ich den Junkern zu ertheilen
die Ehre hatte, wohl bemerkte, für die Wahrheiten der
chriſtlichen Religion nicht eben ſehr zugänglich iſt; in¬
deſſen non omnes possunt omnia— omnia,“ wie¬
derholte der Pfarrer, der nicht wußte, wie er fort¬
fahren ſollte. „Ja, was ich ſagen wollte, dafür iſt
aber auch Malte wieder der Erbe eines ſo großen
Vermögens!“
„Um ſo mehr ſcheint es mir wünſchenswerth, daß
er dereinſt ein ganzer Mann wird. Iſt denn übrigens
das Grenwitz’ſche Vermögen wirklich ſo bedeutend?“
„Ei, mein lieber Freund,“ rief der Paſtor im Tone
ſanften Vorwurfs, daß Oswald eine ſo beklagenswerthe
Unwiſſenheit in Betreff ſo hochwichtiger Dinge an den
Tag legen konnte; ob es bedeutend iſt! Da ſind in
dieſer Nachbarſchaft allein fünf, nein — mit Stantow
und Bärwalde, die allerdings nicht zum Majorat ge¬
hören, ſind es ſieben Güter. Und in den andern Theilen
der Inſel — laſſen Sie mich ſehen — liegen noch
ein, zwei, drei Güter. Das iſt ein Kapital von min¬
deſtens anderthalb Millionen. Anderthalb Millionen!“
wiederholte er, als könne ſich ſein Geiſt von einer ſo
erhabenen Vorſtellung nicht gleich wieder losmachen.
„Und das Vermögen iſt ein Majorat?“
„Ei gewiß! Mit Ausnahme, wie geſagt, von zwei
der ſchönſten Güter, welche dem verſtorbenen Baron,
dem Vetter des jetzigen, durch Erbſchaft von der Mutter
Seite zufielen, und in dem Teſtamente auf eine gar
beſondere Weiſe verclauſulirt ſind. Denken Sie ſich
nur, lieber Freund, daß der verſtorbene Baron, der,
ganz unter uns geſagt, eine überaus wüſte, unbändige
Natur war, dieſe Güter dem Sohne einer ſeiner Mai¬
treſſen vermacht hat.“
„Aber Sie rechneten doch vorhin die beiden Güter
mit zu dem Vermögen der Familie,“ ſagte Oswald.
„Nun, unter uns kann man es immerhin,“ ſagte
[108] der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiſerem Ton.
„Denn kein Menſch weiß, wo dieſer Knabe lebt, ja
ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich
ein Knabe oder ein Mädchen iſt.“
„Das iſt ja eine curioſe Geſchichte,“ ſagte Oswald
lachend.
„Eine äußerſt curioſe Geſchichte,“ ſagte der geiſt¬
liche Herr; „eine lächerliche Geſchichte, wenn Sie wollen.
Denken Sie nur: der Baron Harald — ſie haben
alle ſonderbare Namen in der Familie — jener un¬
bändige Mann, der zur Zeit der heiligen Behme hätte
leben müſſen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen
Bürgermädchen — ein Fall, der in ſeinem Leben frei¬
lich oft vorgekommen ſein mag, aber niemals ſolche
üblen Folgen hatte. Er entführt ſie, halb mit Gewalt,
hierher auf ſein Schloß. Nach einem halben Jahre
entflieht ſie bei Nacht und Nebel. Ob ſie ihre Schande
auf dem Grunde eines unſerer tiefen Moore verborgen
hat, ob ſie wirklich nur entflohen iſt, Niemand weiß
es. Der Baron iſt außer ſich, raſend. Er durchſucht
vergebens die ganze Inſel. Um ſeinen Gram und
ſeine Gewiſſensbiſſe zu betäuben, trinkt und ſpielt und
lebt er noch wilder wie gewöhnlich, ſo daß er denn
ein Paar Wochen ſpäter im Delirium ſtirbt. Als man
das Teſtament eröffnet, findet man nun, daß er in
[109] einer Anwandlung von Reue, oder aus Caprice, wie
Sie wollen, dem Kinde jener ſeiner Geliebten, gleich¬
viel ob Knabe oder Mädchen, falls es nur bis zu dem
und dem beſtimmten Datum geboren iſt, die beiden
herrlichen Güter, der Dirne ſelbſt aber den Nießbrauch
des Vermögens auf Lebenszeit vermacht hatte. Wie
finden Sie das?“
„Jedenfalls eignet ſich die Geſchichte mehr zu einer
Tragödie, als zu einer Komödie,“ ſagte Oswald. „Und
hat man nie eine Spur von Mutter und Kind entdeckt?“
„Nie! obgleich teſtamentariſch — es iſt wahrhaftig
ein wahrer Scandal, und ich bedaure die gnädige Ba¬
ronin von ganzem Herzen — alljährlich die Verſchollene
dreimal in ſämmtlichen Blättern der Provinz aufge¬
fordert wird, ihre Anſprüche geltend zu machen.“
„Wie lange ſpielt dieſe Geſchichte nun?“
„So ein zwanzig Jahre und darüber.“
„Da iſt doch wohl kaum denkbar, daß die Arme
noch am Leben iſt.“
„Es denkt auch Niemand mehr daran,“ lachte der
Paſtor, „Grenwitzen's würden auch nicht wenig ver¬
wundert ſein, wenn plötzlich ſo ein junger Landſtreicher
ſich als ergebenſter Neffe vorſtellte und die beiden
Güter und die Zinſen ſeit zwanzig Jahren für ſich
beanſpruchte, um ſo mehr, als die gnädige Baronin,
[110] die von Hauſe aus — ganz unter uns geſagt — keinen
rothen Pfennig Vermögen hat, nach dem Tode des
Barons, da die Grenwitz’ſchen Beſitzungen, Gott ſei
Dank, Majorat ſind, ſammt ihrer Tochter ſo arm ſein
würde, als ſie vor ihrer Vermählung war.“
„Sie ſind ein großer Freund der Majorate?“
„Ei gewiß! Ich halte es für ein Glück, daß ſo
bedeutende Vermögen nicht durch Erbtheilung zerſplit¬
tert werden können, und ſo eine Ariſtokratie reicher
Grundbeſitzer möglich wird, die gleichſam ein Ballaſt
ſein kann für das Staatsſchiff in Zeiten der Gefahr,
die Gott noch lange abwenden möge von unſerm
theuern Vaterlande.“
„Nun,“ ſagte Oswald, „das Ding hat, wie alle
andern, ſeine zwei Seiten.“
„Wer wollte ſich das verhehlen,“ ſagte der ge¬
ſchmeidige Paſtor. „Aber ich für mein Theil habe zu
lange die Ehre und das Glück gehabt, mit reichen, und
in der ſchönſten Bedeutung des Wortes adligen Fa¬
milien zu verkehren, als daß ich nicht gewiſſermaßen
ein Anhänger der Ariſtokratie ſein ſollte; und über¬
dies habe ich neuerdings nur zu trübe Erfahrungen
darüber gemacht, wie ſehr der Beſitz in den Händen
des Plebejers, um mich dieſes hiſtoriſchen Ausdruckes
[111] zu bedienen, Eitelkeit, Hoffahrt und weltlichen Sinn
hervorruft oder begünſtigt.“
„Es thut mir leid, von meinen Freunden ſo etwas
hören zu müſſen,“ ſagte Oswald.
„Von Ihren Freunden?“ fragte der Paſtor ver¬
wundert.
„Von meinen Freunden, allerdings. Denn ich fand
mich ſtets, ohne es zu wollen und manchmal ohne es
zu wiſſen, wo immer in der Geſchichte der große Ge¬
genſatz zwiſchen Ariſtokraten und Plebejern hervortrat,
auf Seite der letzteren. Ich war ein geſchworner An¬
hänger der Grachen und anderer römiſcher Demagogen;
ich ſchlug mich mit den Independenten gegen die Ca¬
valiere, und ich geſtehe, daß ich ſelbſt in den Bauer¬
kriegen viel mehr Sympathie gehabt habe für die armen,
unterdrückten, gehudelten, geknechteten und in Folge
dieſer brutalen Behandlung meinetwegen auch brutalen
Bauern, als für die hochmögenden, reichsfreiherrlichen
und trotz oder vielmehr wegen all' der Freiheit und
Herrlichkeit oft nicht minder brutalen Grafen und
Barone.“
Der Pfarrer hörte dieſe Tirade mit jenem ungläu¬
bigen Lächeln an, mit dem man dem Bramarbaſiren
junger Gelbſchnäbel zuhört, die ſich gern den Anſtrich
von vollendeten Wüſtlingen geben möchten.
[112]
„Sehr gut, ſehr gut!“ ſagte er. „Ja, ja, wir
geiſtreichen Leute gefallen uns in Paradoxen. Das
klebt uns noch von den äſthetiſchen Thee's der Reſi¬
denz an, und da wollen wir hübſch in der Uebung
bleiben, wenn uns zur Zeit auch nur ein armer Land¬
pfarrer hört.“
„Ich verſichere Sie, Herr Paſtor“ —
„Weiß ſchon, weiß ſchon! Aber leben Sie erſt
einmal, wie ich, fünf Jahre lang unter Bauern! Glau¬
ben Sie, daß ich in der ganzen Zeit die Leute habe
bewegen können, eine Glocke für unſer Gotteshaus zu
kaufen, die anzuſchaffen ſie noch dazu verpflichtet ſind?
Aber, wenn es darauf ankommt, einen Schmaus her¬
zurichten und andere weltliche Zwecke in's Werk zu
ſetzen, fehlt es nie an Geld.“
„Nun,“ ſagte Oswald, „der Adel hieſiger Gegend
iſt auch nicht eben wegen ſeiner Nüchternheit und Ehr¬
barkeit berühmt.“
„Der Adel, lieber Freund! das iſt etwas ganz
Anderes. Seine Deviſe iſt und muß ſein: leben und
leben laſſen. Aber, Sie wiſſen, Eines ſchickt ſich nicht
für Alle.“
„Und Manches ſchickt ſich für Keinen,“ fügte Os¬
wald hinzu.
„Ach, hier kommt meine Guſtava,“ rief der Pfarrer,
[113] froh, ein Geſpräch abbrechen zu können, das ihm von
Augenblick zu Augenblick weniger gefiel.
Die Frau Paſtorin, welche ſo eben in das Zimmer
trat, war eine Dame in dem Anfang der vierziger
Jahre, mit ſemmelblonden Haaren, ſehr hellblauen
Augen und einem Geſicht, das in dieſem Augenblick
von dem Küchenfeuer und der Eile, mit welcher ſie
ihre Toilette gemacht hatte, noch von etwas lebhafter
Farbe war, ſonſt aber kränklich, bleich, verwelkt und
altjüngferlich ausſah. Sie trug ein Kleid von gelber
ungefärbter Seide, an deſſen Gürtel eine goldene Uhr
hing, und eine Haube mit gelben Bändern, ſo daß ſie
Alles in Allem auf Oswald den Eindruck eines etwas
verblichenen und nicht mehr ganz geſunden Kanarien¬
vogels machte, deſſen Beſitzer nach Norden wohnt.
Auch ſie konnte kaum Worte (an denen es ihr übri¬
gens nicht gebrach) finden, welche ihre Freude aus¬
drückten, den Freund eines ſo hochmögenden Hauſes
unter ihrem niedrigen Dache (dieſe Phraſe ſchien bei
beiden Gatten ſtereotyp) zu erblicken, um ſo mehr,
als es ihrem armen Jäger (das war der Name des
Paſtors) ganz und gar an einem wiſſenſchaftlichen und
gebildeten Umgange gebrach, ein Mangel, dem durch
Oswalds Ankunft in hieſiger Gegend auf die erfreu¬
lichſte Weiſe (davon ſei ſie überzeugt) abgeholfen wäre.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. 1. 8[114]
„Mein armer Jäger wird mir hier noch zum Hy¬
pochonder werden,“ rief ſie, ihre waſſerblauen Augen
zärtlich auf den Gegenſtand ihrer Beſorgniß richtend;
„ich thue, was in meinen ſchwachen Kräften ſteht, daß
er die Geſellſchaft geiſtreicher und gelehrter Männer
ſo wenig wie möglich vermißt, aber was kann eine
arme, unwiſſende Frau denn in dieſer Hinſicht Großes
thun!“
„Sie werden mich zwingen, Ihnen zu widerſprechen,“
ſagte Oswald, bei welchem der Humor über den Un¬
muth, mit dem ihn bisher die Heuchelei und Glei߬
nerei der würdigen Gatten erfüllt hatte, endlich den
Sieg davon trug. „Ich möchte behaupten, daß Un¬
wiſſenheit und Frau Paſtor Jäger niemals Freundinnen
geweſen ſind, und jetzt ſchon ſeit Jahren auch nicht
einmal die entfernteſte Bekanntſchaft zwiſchen ihnen
exiſtirt.“
„Sie ſind zu gütig, wahrlich zu gütig,“ ſagte die
hocherfreute Paſtorin. „Ich will nicht leugnen, daß
ich mich von jeher bemühte, den Vorwurf der Unfähig¬
keit für die Sphären höherer Bildung, welchen man
uns armen Frauen —“
„Es iſt angerichtet!“ rief das Dienſtmädchen zur
Thür herein.
„Sehen Sie, ſo macht das irdiſche Leben immer
[115] ſeine Rechte geltend, ſo oft wir verſuchen, einen küh¬
neren Flug zu nehmen,“ rief die Bewohnerin der
Sphären höherer Bildung, während ihr Oswald ga¬
lant den Arm bot und der Paſtor das Ende ſeiner
Cigarre ſo legte, daß er es nach Tiſche wiederfinden
konnte.
8 *
Zehntes Kapitel.
Die Unterhaltung an der Mittagstafel, die in einem
kühlen, ſchattigen Zimmer, das auf einen etwas kahlen
und ſehr ſonnigen Garten ſah, angerichtet war, wurde
bald ſehr lebhaft. Oswalds längerer Aufenthalt in
Grünwald erwies ſich als ein unerſchöpfliches Thema.
Die Paſtorin war ſelbſt eine Grünwalderin, eine der
vielen Töchter des dort vor einigen Jahren verſtor¬
benen Superintendenten Gabriel Dunkelmann, der ge¬
rade noch lange genug lebte, ſeinem Schwiegerſohn die
einträgliche Pfarre von Faſchwitz zu verſchaffen und
dann das Zeitliche ſegnete. Oswald machte im Stillen
die Bemerkung, daß die Frau Doctor — denn der
Paſtor hatte ſich dieſe akademiſche Würde durch eine
grundgelehrte Diſſertation über die möglicherweiſe vor¬
handen geweſenen Schriften eines bis auf den Namen
verſchollenen Kirchenvaters erworben — ſchon damals
[117] durch Jugendreiz ſich nicht eben ausgezeichnet haben
könne, und wunderte ſich auch nun nicht länger darüber
daß der Tiſch ſo klein und das Haus ſo ſtill war.
Die Frau Doctor kannte den Profeſſor Berger, ſie
kannte mehre Familien, in denen Oswald eingeführt
war. Das gab denn überreichen Stoff zu dem landes¬
üblichen Familienklatſch, bei welchem einige Damen,
die ihrer Zeit der verblühten Superintendententochter
zu nahe getreten ſein mochten, erfahren konnten, welche
zweiſchneidige Waffe die Zunge einer Landpaſtorin unter
Umſtänden iſt.
Unterdeſſen war der Nachtiſch aufgetragen, und der
Paſtor hatte, nicht ohne einige Feierlichkeit eine zweite
Flaſche entkorkt, die Paſtorin aber den Tiſch verlaſſen,
um anzuordnen, daß der Kaffee heute in der Garten¬
laube ſervirt werde. Der Paſtor hatte ſich eine Ci¬
garre angezündet, einen Knopf an ſeiner ſchwarzen
Weſte aufgemacht, augenſcheinlich nur in der Abſicht,
ſich in der Illuſion, ein ſybaritiſches Mahl eingenom¬
men zu haben, zu beſtärken — denn die Weſte ſaß
ſchon ſchlotterig genug auf ſeinem hagern Leibe. Er
forderte Oswald auf, mit ihm „auf das Wohl der hoch¬
mögenden Familie, in welcher er ſich zu befinden das
Glück habe,“ anzuſtoßen, eine Höflichkeit, die Oswald
[118] mit einem Toaſt auf die „liebenswürdige, ebenſo ge¬
lehrte wie beſcheidene Wirthin“ erwiderte.
„Danke, danke, lieber junger Freund,“ ſagte der
geſchmeichelte Paſtor, Oswalds Hand zu wiederholten
Malen drückend. „Ja, Sie haben Recht, eine gelehrte,
beſcheidene Frau! Haben Sie ihr angemerkt, daß ſie
mit mehr als einer literariſchen Größe im lebhafteſten
Briefwechſel ſteht, ja unter dem Pſeudonym „Primula“
eine der eifrigſten Mitarbeiterinnen der *** Zeitung iſt?“
„Unmöglich!“ rief Oswald.
„Ich verſichere Sie, lieber Freund; und Sie kön¬
nen nicht glauben, welche Freude es mir gewährt,
wenn ich wieder und immer wieder im Briefkaſten
leſe: Faſchwitz und P. B., Primula Beris, Guſtava's
Chiffre: Tauſend Dank für Ihre liebenswürdige Sen¬
dung, oder: Sie haben uns durch Ihr reizendes Ge¬
dicht hoch erfreut, es wird ſchon in der nächſten Num¬
mer zum Abdruck kommen ꝛc.“
„Ich kann es mir denken,“ ſagte Oswald zerſtreut.
„Aber wollen wir nicht der liebenswürdigen Dichterin
in den Garten folgen?“
„Festina lente!“ rief der Pfarrer, dem der Wein
ſchon zu Kopfe ſtieg. „Wir kommen ſo jung nicht
wieder zuſammen. Ein gutes Glas Wein iſt ein ge¬
ſelliges Ding, und Guſtava iſt zu liberal geſinnt, uns
[119] die Freuden des Mahles zu verkürzen. Aller guten
Dinge ſind drei, laſſen Sie uns noch eine Flaſche“ —
„Aber Jäger, der Kaffee wird ja kalt!“ tönte die
ſcharfe Stimme der Primula Beris aus dem Garten
durch das offene Fenſter.
„Wir kommen, wir kommen, Guſtchen!“ rief der
gehorſame Gatte. „Geſegnete Mahlzeit, mein lieber
junger Freund! (bei dieſen Worten umarmte er Os¬
wald) ; mein theurer Freund! (abermalige Umarmung)—“
„Aber wir vergeſſen, daß der Kaffee auf uns war¬
tet,“ rief Oswald, mit Mühe einer dritten Umarmung
entgehend, und den Weg nach dem Garten einſchlagend,
während der Paſtor, ehe er ſeinem Gaſte folgte, noch
ſchnell den letzten Reſt aus der Flaſche in ſein Glas
ſchenkte, und daſſelbe eiligſt (diesmal wahrſcheinlich auf
ſein eigenes Wohl) austrank.
Der Garten gewährte um dieſe Tageszeit gerade
nicht den angenehmſten Aufenthalt. Denn die Anlagen
waren noch ſehr jung; die Bäumchen meiſtens erſt in
Mannshöhe, und in Folge deſſen das Ganze eine
ſchattenloſe, proſaiſche, nüchterne Stätte, die auffallend
an die Theologie des gelehrten Herrn erinnerte, auch
inſofern, als hier wie dort das Nützlichkeitsprincip das
oberſte zu ſein ſchien. Die Gemüſebeete waren ſorg¬
ſam gepflegt, Blumen aber ſah man wenig, nur einige
[120] Sonnenblumen mahnten durch ihre Farbe flüchtig an
die Erſcheinung der Primula Beris und durch ihre
Eigenſchaft, ſich der Sonne zuzuwenden, aus welchem
Theile des Himmels ſie auch ſtrahlen mochte, an die
Lebensphiloſophie ihres ausgezeichneten Gatten.
In der Laube, die glücklicherweiſe, von Jasmin
dicht bedeckt, gegen die Sonne, welche jetzt heiß genug
brannte, einen erträglichen Schutz gewährte, fanden ſie
die Frau Paſtorin. Sie hatte neben ſich auf der Bank
ein Arbeitskörbchen ſtehen, in welchem zwiſchen bunten
Läppchen, Seide u. ſ. w. ein zierliches Büchelchen lag,
deſſen Vorhandenſein Oswald einigermaßen beunruhigte.
„Weh' dir, dachte er, wenn dieſes Buch eine Samm¬
lung von Primula's in der *** Zeitung und ſonſt er¬
ſchienenen Gedichten iſt!“
Er ſuchte den Paſtor bei dem Capitel über die
Gemüſebeete feſtzuhalten; er mußte ſich mit eigenen
Augen überzeugen, wie die vom Paſtor ſelbſt erfundene
Verbeſſerung an den Bienenkörben denn eigentlich be¬
ſchaffen ſei; er ſprach endlich von der Nothwendigkeit,
ſich baldigſt verabſchieden zu müſſen — kurz, er that,
was ein Mann in ſeiner kritiſchen Lage thun kann —
vergebens!
„Wir ſollen Sie fortlaſſen, bei der Hitze!“ rief
Primula und ließ ihre Hand (von Oswald nicht un¬
[121] bemerkt) auf das Arbeitskörbchen gleiten. „Wir ſitzen
hier zwar nicht im Schatten der gewaltigen Fichte und
der weißen Pappel, aber doch im Schatten; und den
wollten Sie vertauſchen mit der Hitze und dem Staub
der Landſtraße? Unmöglich! noch eine Taſſe, werther
Gaſt! Es iſt kein Falerner, wie ihn der glückliche
Römer in der eben citirten Ode trinkt, aber doch ein
Getränk, das einigen Anſpruch auf Claſſicität machen
darf, ſeitdem unſer lieber Boß in ſeiner „Louiſe“ es
ſo verherrlicht hat. Sagen Sie, lieber Gaſtfreund, hat
Ihnen nicht der Aufenthalt unter unſerm niedrigen
Dache manche Reminiscenzen an die liebliche Idylle
erweckt? Haben Sie nicht empfunden, daß in dieſen,
von dem Treiben der Menſchen weit entfernten Stät¬
ten die ſanfte Stimme der Poeſie, die auf dem lauten
Markte des Lebens ungehört verhallt, deutlich zu uns
ſpricht?“
„Jetzt geſchieht das Entſetzliche!“ dachte Oswald.
„Ich bewundere,“ ſagte er, „wie Sie ſo ſinnig
Altes und Neues, Wirklichkeit und Poeſie zu einem
duftigen Kranze zu flechten verſtehen. Mir ſelbſt iſt
leider in jüngſter Zeit die Proſa des Alltagslebens nah
und näher getreten; ja, aufrichtig geſtanden, ich habe
mich, was ich früher für unmöglich hielt, mehr und
mehr mit ihr ausgeſöhnt, obgleich ich ſehr wohl weiß,
[122] daß ich dabei die Empfänglichkeit für die Reize der
Dichtkunſt vollſtändig eingebüßt habe.“
„O, glauben Sie doch das nicht!“ rief Primula.
„Der Quell der Poeſie in uns kann wohl zu Zeiten
weniger voll ſtrömen, aber gänzlich verſiegt er nie.
Sie klagen ſich der Unempfänglichkeit für die Reize
der Dichtkunſt an. Das ſollte mich eigentlich von
meinem Vorhaben (hier legte ſie die Hand offen an
das Büchelchen in ſchwarzem Einband mit Goldſchnitt)
abbringen, Ihnen eine kleine Probe der Gedichte mit¬
zutheilen, die ich, wie Ihnen wohl nicht bekannt ſein
wird, unter dem Pſeudonym „Primula“ in der*** Zeitung
veröffentlicht habe. Aber mein Glaube an die Macht
der Poeſie, vor Allem der latenten Poeſie in Ihrem
Herzen, iſt zu groß, als daß mich Ihre Sebſtverleum¬
dung vom Gegentheil überzeugen könnte. Darf ich
einen Verſuch wagen, die Nichtigkeit meiner Anſicht auf
die Probe zu ſtellen?“
„Wodurch habe ich ſo viel Güte verdient?“ mur¬
melte Oſwald, ſich voll Reſignation in die Ecke ſeiner
Bank zurücklehnend und die Augen bis zu dem Winkel
ſchließend, der glücklicherweiſe den Augen halb ſchlum¬
mernder und verzückter Zuhörer gemeinſam iſt.
„Ich habe mein Büchelchen „Kornblumen“ betitelt,“
ſagte Primula, hold beſchämt in dem Buche blätternd,
[123] „weil die meiſten dieſer Poeſien auf meinen Spazier¬
gängen durch die Kornfelder, auf alle Fälle in einer
ländlichen Umgebung erblüht ſind.“
„Wie ſinnig,“ hauchte Oswald.
„Nach den Regeln der beſten Aeſthetiker, und nach
dem Beiſpiele der Griechen, welche die Tragödie der
Komödie voranſchickten, oder richtiger die Komödie auf
die Tragödie folgen ließen, werde ich mir erlauben,
Ihnen erſt ein ernſtes —“
„Gewiß, gewiß, das wird den Reiz der einzelnen
Gedichte erhöhen,“ ſagte Oswald, dem vor dieſer end¬
loſen Perſpective ſchauderte.
„Willſt Du nicht, liebe Guſtava —“ ſagte der
Paſtor.
„Laß mich meine eigene Wahl treffen, Jäger,“
ſagte die Dichterin in einem ſanften, aber entſchiedenen
Tone, und dann ſich räuspernd:
„Auf einen todten Maulwurf —“
„Auf was?“ rief Oswald, erſchrocken in die Höhe
fahrend.
„Nun ſehen Sie, werther Freund,“ ſagte Primula,
„wie ſchon die Ueberſchrift allein Sie elektriſirt!“
„Freilich, freilich!“ murmelte Oswald, in ſeine
Ecke zurückſinkend.
[124]
„Auf einen todten Maulwurf,“ wiederholte
die Dichterin, „den ich am Wege fand:“
„Das iſt ſchön,“ ſagte Oswald. „Das iſt die
echte Lyrik, wie wir ſie heute leider nur zu ſelten finden.
Nicht die Treibhauslyrik jener Dichter, die mit An¬
[125] klängen an Heine beginnen, in der Mitte einige Le¬
nau'ſche Accorde anſchlagen und mit einer Freiligrath'¬
ſchen Fanfare ſchließen. Welch' ein wahres, inniges
Gefühl erwärmt dieſe Verſe; und dabei dieſe kernige
Kraft der Sprache: Ein dunkler Ehrenmann! das iſt
einfach, aber ſchön; das haben Sie Ihrem Göthe ab¬
gelauſcht.“
„Sie ſind wahrlich zu gütig, lieber Gaſtfreund!“
ſagte Primula hocherfreut. „In der That, Sie be¬
ſchämen mich durch Ihr freigebiges Lob. Aber, ſeien
Sie ehrlich, finden Sie nicht, daß, wenigſtens für den
modernen Geſchmack, das Ganze doch ein wenig zu
ideal gehalten iſt?“
„Vielleicht für unſere Realiſten, die allerdings in
ihren Anforderungen etwas weit gehen, und in ihrem
Beſtreben, Alles recht natürlich zu machen, im Fauſt
nächſtens den Pudel auf die Bühne bringen und durch
Kneifen in den Schwanz zum Bellen und Heulen ver¬
anlaſſen werden. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn
Sie nur wollen, Sie auch dieſen Herren gerecht werden
können.“
„Was halten Sie von dieſem Gedichte?“ fragte
die Dichterin: „An meinen Haushahn.“ Os¬
wald lehnte ſich wieder in ſeine Ecke.
[126]
„Das iſt naiv!“ ſagte Oswald.
„Nicht wahr?“ ſagte Primula.
„Nun was ſagen Sie, lieber Freund?“
„Was ſoll ich ſagen,“ erwiderte Oswald, „als daß
Sie Ihre Abſicht vollkommen erreicht haben. Der
Hörer glaubt ſich auf den Hühnerhof verſetzt. Die
Töne, die Sie hier anſchlagen, ſind wahre Naturtöne,
aus dem Herzen der Dinge heraus. Das Gedicht
iſt ein kleines Meiſterſtück im modern realiſtiſchen Ge¬
ſchmack. Aber jetzt, verehrte Frau, eine Bitte: Wie
ſehr es den Werth der Gedichte auch erhöht, ſie aus
dem wohllautenden Munde der Dichterin zu hören —
[127] ich möchte mir den Eindruck dieſes letzten Gedichtes
nicht gern verwiſchen laſſen. Was auch noch kommen
mag, dies war die Grenze des Erreichbaren.“
„Nur dieſes Eine müſſen Sie mir noch erlauben.
Es bildet mit den beiden andern gleichſam eine Tri¬
logie, ein Summarium deſſen, was ich den Thieren
abgelauſcht. Darf ich beginnen?“
„Bitte!“
Die ſchöne Vorleſerin war zu Ende. Da tönte in
das entzückte Schweigen, in welches Oswald verſunken
ſchien, und Primula jedenfalls verſunken war, das
Rollen eines Wagens, der denn auch alsbald vor dem
Hauſe ſtill hielt.
[128]
„Frau Paſtorin, Frau Paſtorin!“ ſchrie das Dienſt¬
mädchen mit ängſtlichen Tönen in den Garten hinein.
Oswald athmete auf. Hier kam Beſuch, und mit
dem Vorleſen war es auf alle Fälle vorbei. Vielleicht
konnte er auch ſeinem Beſuch bei dieſer Gelegenheit
ein Ende machen.
„Es ſind Plüggens, liebe Guſtava,“ ſagte der Paſtor,
der durch die Gartenhecke den Wagen recognoscirt
hatte. „Die gnädige Frau und zwei Fräulein Töchter.
Willſt Du nicht eilen —“
„Entſchuldigen Sie mich, werther Gaſtfreund,“
ſagte die Dichterin, eiligſt das Buch ſchließend; „aber
Sie wiſſen: ſo oft wir verſuchen, einen kühneren Flug
zu nehmen —“
„Frau Paſtorin, Frau Paſtorin!“ ſchrie es immer
ängſtlicher von der Gartenthür her.
„Ich komme!“ rief die verſtörte Primula, und eilte
den ſonnebeſchienenen Gartenweg entlang dem Hauſe zu.
„Wollen wir nicht ebenfalls —“ ſagte der Paſtor.
„Entſchuldigen Sie mich, wenn ich bitte, mich jetzt
entfernen zu dürfen,“ unterbrach ihn Oswald.
„Aber weshalb, lieber Freund? Frau von Plüggen
iſt eine höchſt vortreffliche Dame und die Töchter,
wenn auch nicht ſchön —
Und wären ſie ſchön wie die Engelein, ich müßte
[129] auf das Vergnügen verzichten, ſie jetzt zu ſehen. Adieu,
adieu! Entſchuldigen Sie mich bei Ihrer Frau Ge¬
mahlin! Nicht wahr, die Pforte dort iſt nicht ver¬
ſchloſſen? Au revoir!“
Und damit eilte Oswald von dem Pfarrer, der
viel zu gut von ſich und ſeiner Primula dachte, als
daß er den eiligen Rückzug des „Gaſtfreundes“ nicht
einzig aus deſſen Scheu, mit der unbekannten hoch¬
adligen Familie zuſammenzutreffen, hätte erklären ſollen,
fort aus dem Garten durch die Pforte auf die Dorf¬
ſtraße, von der Dorfſtraße hinaus auf die Felder;
und gönnte ſich nicht eher Raſt, als bis die Bäume
des Waldes, hinter welchem, wie er wußte, das Gut
Melitta's lag, über ſeinem Haupte ſich wölbten.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 9
Elftes Kapitel.
Der Waldweg, auf dem Oswald jetzt leicht und
fröhlich dahinſchritt, ſchien wenig betreten und noch
weniger befahren. Im Winter mochte es ein ver
zweifelter Weg ſein, deſto ſchöner und poetiſcher war
er nun im Sommer. Hier und da wucherten Gras
und Lattig von einem der ſchlecht gehaltenen Gräben
bis zum andern quer drüber hin; an manchen Stellen
überwölbten ihn die hohen Buchen und Eichen mit
ihren breiten Kronen. Je tiefer Oswald in die grüne
Wildniß drang, deſto heimlicher und ſtiller wurde es
um ihn her — ſo heimlich und ſtill, daß er in dem
Liede, welches er vorhin luſtig angeſtimmt hatte, plötz¬
lich abbrach, als fürchtete er, den Wald im Schlaf zu
ſtören.
Denn in dieſer heißen Nachmittagsſtunde ſchläft
der Wald. Das grüne Blättermeer rauſcht nicht in
[131] ſchwellenden Wogen; ſtill und unbeweglich trinkt es die
Gluth der Sonne. Kaum daß es hier oder dort leiſe,
ganz leiſe in einem der Bäume raſchelt. Das erweckt
dann wohl einen oder den andern der ſchlafenden Nach¬
barn, aber ſie raunen nur dem Störenfried zu, daß
jetzt keine Zeit zum Plaudern ſei, und träumen weiter.
Die Vögel harren, im dichteſten Laube verſteckt, der
Abendkühle. Das Weibchen ſchlummert auf dem Neſt
über den halbflüggen Jungen; das Männchen ſitzt auf
dem Zweige daneben, hat das Köpfchen unter den
Flügel geſteckt und ſchlummert, müde von dem frühen
Aufſtehen, dem jubelnden Geſang den lieben langen
Morgen hindurch und der eifrigen Jagd auf Mücken
und Würmchen. Die wiſſen, daß es jetzt gute Zeit
für ſie iſt, und tanzen luſtig in den rothen Sonnen¬
ſtrahlen, die heimlich durch die Zweige ſchlüpfen, und
kriechen und krabbeln und haſten ſich durch das warme,
weiche Moos. Tiefe Ruhe! da tönt ein ſonderbarer
heiſerer Schrei in kurzen, wie in Aerger ſchnell hinter¬
einander ausgeſtoßenen Tönen. Das iſt der Falk, des
Waldes Förſter. Er iſt ein ſchlimmer Geſell, den ſein
böſes Gewiſſen nicht ſchlafen läßt, und deshalb klingt
auch ſein Ruf ſo grell und ſchrill, wie er jetzt ſtolz
und einſam hoch droben in der blauen Luft über dem
9*[132] ſtillen Blättermeer, ſeinem Revier, die wunderlichen,
myſtiſchen Kreiſe zieht.
Ein blondköpfiger Junge, der am Rande des Wal¬
des ein paar Gänſe hütete, hatte Oswald geſagt, daß
der Weg nach Berkow durch das Holz kaum eine halbe
Stunde und nicht zu verfehlen ſei. Daß er dabei die
ſchweigende Vorausſetzung gemacht hatte, der Wanderer
werde auf dem Wege bleiben und des Weges achten,
war natürlich. Da Oswald aber, wie es ſeine Ge¬
wohnheit war, weder das Eine noch das Andere ge¬
than hatte, alle Augenblicke über den Graben geſprun¬
gen und in den Wald hineingelaufen war, wo das
Unterholz weniger dicht wucherte, und die hohen Hallen
zwiſchen den mächtigen Stämmen gar zu verführeriſch
lockten, und auf Alles geachtet hatte, nur nicht auf den
Weg — ſo mochte er es ſich denn auch nun ſelbſt zu¬
ſchreiben, als er aus dem Dickicht heraus, ſtatt auf
den Weg, den er bisher gegangen war, zu gelangen,
auf einen ſchmalen Waldpfad kam, und, denſelben in
falſcher Richtung weiter gehend, immer tiefer und tiefer
in den Forſt gerieth.
Oswald ſtand ſtill und lauſchte, ob er nicht die
Stimme eines Menſchen‚ das Pochen einer Axt ver¬
nehmen werde, aber er hörte nichts als den Schrei
des Falken und das Klopfen ſeines eigenen Herzens.
[133] Luſtig rief er in den Wald hinein: „Wo geht der
Weg nach Berkow, Falk?“ Falk — hallte das Echo
zurück.
Endlich wurde es lichter zwiſchen den Bäumen.
Schon glaubte er den Saum des Holzes erreicht zu
haben. Statt deſſen trat er auf eine Lichtung heraus,
die faſt ganz von einem kleinen, zum Theil mit hohen
Binſen bedeckten See eingenommen wurde. An dem
Rande entlang ſchreitend, ſcheuchte er ein Sommer-
Entenpaar auf, das aus dem Röhricht hervorbrach und
mit wunderbarer Haſt über den Sumpf fort in den
Wald flog. Dann wieder lautloſe Stille.
„Kommt Zeit kommt Rath,“ ſagte Oswald bei ſich.
„Vorläufig will ich mich aber ein wenig ausruhen,
denn ich finde, daß ich nachgerade müde werde.“
Er hing ſeinen Strohhut an einen Zweig, breitete
ſein Taſchentuch über eine der mit dichtem Moos be¬
wachſenen Wurzeln einer vielhundertjährigem Buche
und ſtreckte ſich behaglich in das Haidekraut.
„Der Platz iſt wie zum Schlafen gemacht,“ ſprach
er bei ſich, träumeriſch den Libellen zuſchauend, die
über dem dunklen Waſſer des Sumpfes bald ſtillſtehend,
bald pfeilſchnell fortſchießend, ihr wunderliches Weſen
trieben. „Wer weiß? Vielleicht iſt dies ein Zauber¬
wald, ſo ein von der Cultur überſehenes Stück Ro¬
[134] mantik, ein kleiner ſtehen gebliebener Reſt von den
großen, großen Wäldern, die in Muſäus' Märchen
rauſchen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte,
der ſeine Töchter verkaufte, wenn er die Wechſel am
Verfalltage nicht einlöſen konnte, — eine Manier, ſeine
Schulden zu bezahlen, die ſelbſt noch heutzutage im
Schwang ſein ſoll. Und wer nun in dieſem Walde
einſchläft, wozu ich große Luſt verſpüre, ſchläft ſo ein
paar hundert Jährchen, ehe er's ſich verſieht, und wenn
er aufwacht, wallt ihm ein ſchneeweißer Bart bis zum
Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erſtaunen,
und er fragt den erſten Bauer, der ihm begegnet, ob
er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne?
„Berkow?“ antwortet der Angeredete höflich. „Habe
nie von einem ſolchen Ort gehört.“ Ich meine das
Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? „Melitta?
aber, guter Herr, das iſt ja nur ein altes Märchen.“
Ein Märchen? „Nun gewiß! meine alte Großmutter
hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. — Vor vielen,
vielen hundert Jahren ſtand in dieſer Gegend ein
großer Wald; und in dem Walde hauſte eine Fee, die
hieß Melitta. Sie hatte ſo wunderſchöne, lichtgraue
Augen, wie ſie ein Menſchenkind gar nicht haben kann,
und eine honigſüße Stimme, und deswegen nannten
die Leute ſie Melitta. Sie war die beſte und ſchönſte
[135] Fee von der Welt, und hatte nur die eine kleine
Schwäche, von Zeit zu Zeit Jemand in ihren Wald
zu locken, damit er ſich unter den hohen Buchen und
Eichen, von denen die eine immer ausſah wie die an¬
dere, verirrte. Darüber hatte ſie dann ihre Freude.
Wenn ſie aber ſo einen armen Schelm verlocken wollte,
ſetzte ſie ſich auf ihr Pferd Bella (denn an dieſer Fee
war Alles ſchön, ſelbſt ihr Pferd), ritt in's Land hin¬
ein und ſuchte unter den jungen Männern, bis ſie den
dümmſten fand. Die hatte ſie am liebſten. Den be¬
zauberte ſie dann mit ihrer Schönheit, ihrem lieben,
holden, neckiſchen Weſen und ihrer honigſüßen Stimme;
und um den Zauber feſt zu machen, ſchenkte ſie ihm
etwas — eine Roſe etwa. Nahm er die nun in ſeiner
Dummheit, ſo mußte er am nächſten Tage in den
Wald, er mochte wollen oder nicht. Da kommt er
denn natürlich bald vom Wege ab und läuft die Kreuz
und Quer herum, bis er ſich endlich am Fuße einer
uralten Buche ſchlafen legt. Und wenn er nun ſo da¬
liegt und ſieht, wie die rothen Sonnenſtrahlen in den
grünen Zweigen Verſteckens ſpielen und die blauen Li¬
bellen Haſchens auf dem ſchwarzen Waſſer, und hört,
wie es in dem Röhricht flüſtert und droben in den
Wipfeln der Bäume rauſcht, und weht und rauſcht —
— — „Melitta, kommſt Du endlich. Steige herab
[136] von Deiner Bella! Du ſiehſt ja, daß ich hier feſt¬
gewachſen bin. O Du Liebe, Holde, Angebetete!
Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und
Du willſt fort, jetzt fort — aber was iſt das? was
will die braune Hexe? Nein, nein — Du biſt nicht
Melitta!“
Oswald ſtützte ſich auf den Ellbogen und ſtarrte
ſchlaftrunken in das braune Geſicht, das ſich über ihn
beugte: „Was willſt Du von mir?“
„Nichts Schlimmes, ſchmucker, junger Herr! Sah
den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob ſchlafend oder
todt; iſt gefährlich, zu ſchlafen im Wald am Sumpfes¬
rand, wenn man's nicht gewohnt iſt von Kindesbeinen.“
Oswald, der ſich wieder vollkommen zurechtgefun¬
den hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm
ſtand, genauer und erkannte dann alsbald in ihr eine
jener Zigeunerinnen, wie ſie hier zu Lande nicht ſelten,
wahrſagend, hauſirend, muſicirend, bettelnd, gelegentlich
auch ſtehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt
zu Jahrmarkt ziehen. Dieſe hier mochte nach dem
Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten
Armen und der ſtraffen Haltung des ſchlanken hohen
Leibes zu ſchließen, zwiſchen fünfundzwanzig und dreißig
Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und
Kummer, vielleicht auch ſchlimme Leidenſchaften, hatten
[137] arge Verwüſtungen in dem einſtmals ſchönen Geſichte
angerichtet, den Zügen eine unangenehme Schärfe gege¬
ben, die Augenhöhlen übermäßig vertieft, ja ſchon hier
und da einzelne graue Streifchen in das üppige, blau¬
ſchwarze Haar geſtreut, das mit ſeinen dicken Flechten
ein beſſerer Schutz für den edelgeformten Kopf war,
als der Lappen rothen Zeuges, den ſie turbanartig
herumgewunden hatte. Ihre Kleidung war ſehr ärm¬
lich und vielfach geflickt, ihre Füße nackt. Oswald
ſah jetzt auch, daß an einem der nächſten Bäume ein
wunderlich geformtes Inſtrument hing und allerlei
Geräth umherlag. Ein mit einem rothen Federbuſch
und einer bunten Decke geſchmückter Eſel ſtrich langſam
durch die Stämme und ließ ſich das harte Waldgras
vortrefflich ſchmecken.
„Sind Sie ganz allein, gute Frau?“ fragte Oswald.
„Nein, mein Bub iſt bei mir, der Cziko; er iſt in
den Wald gangen, Waſſer zu holen; dies taugt nur
für Fröſch' und Kröten.“
„Und wie kommen Sie hierher an dieſen abgelegenen
Ort?“
„Kenne den Platz ſchon ſeit vielen Jahren. Mache
ſtets hier Raſt, wenn ich in dieſe Gegend komme.
Schläft ſich billiger im Walde, als in der Dorfſchenke,
guter Herr.“
[138]
„Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach
Berkow zeigen. Iſt es noch weit von hier?“
„Gar nit weit, der Bub', der Cziko, ſoll Sie führen.“
Das Weib legte die Hände an den Mund und
ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuſchendſte
nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller
Falkenſchrei, und nicht lange darauf kam ein Knabe
herbeigeſprungen, der, wie er den Fremden erblickte,
ſcheu und mißtrauiſch unter den Bäumen ſtehen blieb.
Einige Worte indeſſen, ihm von ſeiner Mutter in einer
Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm
Muth. Er trat, Oswald das Blechgefäß mit Waſſer,
das er in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran
und ſagte: „Willſt Du trinken, Herr?“
Das Gefäß war nicht beſonders reinlich, aber der
es anbot, viel zu ſchön, als daß Oswald es hätte zu¬
rückweiſen können, ſelbſt wenn er weniger durſtig ge¬
weſen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn
Jahre alt, aber auch er ſah älter aus. Der feuchte
Nebelwind, der über die herbſtlichen Felder fegt, und
der Schneeſturm, der durch den Hagedorn ſauſt, hatten
alle Jugendfriſche von des Knaben wunderbar ſchönem
Geſicht gewiſcht und den tiefdunklen Gazellenaugen
einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes
[139] gegeben, daß man nicht ohne Wehmuth hineinſchauen
konnte.
Mit dem doppelt ſcharfen Blick der Bettlerin und
der Mutter ſah das Weib wohl, welch tiefen Eindruck
ihr Kind auf den Fremden machte.
„Ja, er iſt ein braver Bub', der Cziko,“ ſagte ſie,
„flink wie ein Eichhorn und tapfer wie eine wilde Katz,
und das Cymbal ſchlägt er wie Keiner.“
„Iſt das ein Cymbal, was dort am Baume hängt?“
fragte Oswald, einigermaßen erſtaunt, daß dies In¬
ſtrument noch anderswo, als in Lenau'ſchen Gedichten
exiſtire.
„Geh, Cziko, zeig' dem Herrn, was Du kannſt,“
ſagte die Frau.
Der Knabe nahm das Inſtrument herab, legte es
auf einen Baumſtumpf zurecht und die Klöpfel ergrei¬
fend, begann er, erſt langſam, dann ſchneller und immer
ſchneller hämmernd, eine wunderliche Muſik. Sein
Herz ſchien voll von Muſik; ſeine mageren braunen
Wangen rötheten ſich, die dunklen Augen, die er manch¬
mal träumend zu den Wipfeln erbob, leuchteten. Dann
fiel er in ein anderes Tempo und eine andere Melodie,
und nach den erſten Takten begann die Frau, die wäh¬
rend deſſen unter einem Keſſel ein Reiſigfeuer entfacht
hatte, in tiefer, wohllautender Stimme, an dem Keſſel
[140] ſchaffend und ab- und zugehend, eines jener ſlaviſchen
Volkslieder, deren süß-melodiſche Klage uns Wehmuth
in's Herz und Thränen in die Augen lockt. Oswald
ſaß da, den Kopf in die Hand geſtützt und hörte und
ſchaute zu, wie im Traum. Es war, als ob die nie
zuvor gehörten, melancholiſchen Töne ganz neue Ge¬
fühle in ihm wach riefen, ein tiefes Mitleid mit ſeiner,
mit aller Weſen Exiſtenz und doch auch ein Sehnen
und Schmachten nach einem unendlichen, namenloſen
Glück.
Das Lied war zu Ende. Oswald fuhr empor.
Er ſah auf ſeine Uhr. Schon drei Stunden waren
vergangen, ſeitdem er den Wald betreten; er durfte,
wollte er noch heute Melitta ſehen, keinen Augenblick
länger zögern.
„Kann mich der Cziko den Weg nach Berkow führen?“
ſagte er, auf die Frau zutretend und ihr ein paar
Geldſtücke bietend. Die Zigeunerin ſtrich das Geld
aus der flachen Hand, als ob es ihr nur darauf an¬
komme, die Linien derſelben genauer zu ſehen, und
ſie an den Fingerſpitzen feſt haltend, ſchien ſie eifrig
darin zu leſen.
„Nun,“ ſagte Oswald lächelnd, „da ſteht wohl
nicht viel Gutes?“
[141]
„Viel Gutes, viel Schlimmes,“ ſagte die Zigeunerin,
den Kopf ſchüttelnd.
„Das iſt meiſtens ſo im Leben,“ ſagte Oswald;
„und worin beſtände denn das Gute?“
„Viel Gutes, viel Schlimmes,“ wiederholte die
Zigeunerin. „Jede gute Linie von einer ſchlimmen
durchkreuzt; kann das Gute nicht nennen, ohne das
Schlimme.“
„Nun ſo nenne es, wie es kommt,“ ſagte Oswald,
der anfing, ungeduldig zu werden.
„Viel zum Glück, und doch nicht glücklich,“ mur¬
melte die Zigeunerin. „Männern Feind und Frauen
Freund; raſch im Haſſen, raſch im Lieben; buntes
Leben, früher Tod.“
„Nun,“ ſagte Oswald, „das läßt ſich ja noch hören.
Aber wie war das mit den Frauen? das intereſſirt
mich.“
„Viel Gutes, viel Schlimmes,“ wiederholte das
Weib, den Kopf noch tiefer beugend, als ſollte ihr auch
die feinſte Linie nicht entgehen; „viel, ſehr viel Liebe
und doch wenig, ach! ſo wenig Glück!“
„Liebe ich jetzt?“
„Ja.“
„Und wen?“
[142]
„Eine ſehr vornehme, ſehr ſchöne und ſehr reiche
Dame.“
„Hm! und liebt ſie mich auch?“
„Mehr, viel mehr, wie Du ſie!“
„Und wo ſteckt denn da das Schlimme?“
„Viel, viel Schlimmes; denn Du kannſt nicht treu
ſein.“
„Woher weißt Du das?“
Die Wahrſagerin zuckte mit den Achſeln. Hier
ſteht noch eine Dame, und hier noch eine — Du liebſt
ſie alle; das ſollte nicht ſein; bringt Dir kein Glück.“
„Aber mit dem bunten Leben und dem frühen
Tode hat es doch ſeine Richtigkeit? Nun denn, ſo
kann ja auch das Unglück ſo groß nicht ſein. Und
hier haſt Du noch etwas zum Lohn für die gute Kunde.“
„Danke, nehme nur für das Glück, das ich ver¬
künde, nichts für das Unglück.“
„Da wundert es mich freilich nicht, daß Sie ſo
arm ſind, gute Frau! So nehmen Sie's als Boten¬
lohn für den Cziko.“
Die Zigeunerin nahm mit wirklichem oder nur ge¬
machtem Widerſtreben das Geld und rief dem Knaben,
der während dieſer Zeit fortwährend, in ſich verſunken,
auf ſeinem Inſtrumente leiſe phantaſirt hatte, in ihrer
Sprache ein paar Worte zu. Das Kind ſprang auf,
[143] trat vor Oswald und ſagte: „Willſt Du kommen,
Herr?“
„Adieu, liebe Frau!“ ſagte Oswald, nicht ohne
Theilnahme dem Zigeunerweib in die dunklen, glän¬
zenden Augen ſchauend; „wenn Sie nach Grenwitz
kommen, vergeſſen Sie nicht, nach dem Doctor Stein
zu fragen.“
Die Frau kreuzte die Arme über dem vollen Buſen
und neigte ſich tief. Oswald ergriff ſeinen Hut und
folgte dem Cziko, der ſchon hinter den Bäumen faſt
verſchwunden war.
Zwölftes Kapitel.
„Nicht ſo ſchnell, Cziko!“ rief Oswald, den Schooß
ſeines Rockes von den Dornen eines Buſches los
machend; „nimm Rückſicht auf meinen civiliſirten Zu¬
ſtand.“
Der Knabe ging langſamer, hielt ſich aber immer
in ſcheuer Entfernung von dem Fremden. Vergebens
ſuchte ihn Oswald in ein Geſpräch zu verwickeln, wäh¬
rend er mühſam die Büſche auseinander drückte, durch
die der Knabe wie eine wilde Katze ſchlüpfte. So
waren ſie vielleicht eine Viertelſtunde gegangen, als ſie
plötzlich aus dem dichten Wald in ein Gehölz gelang¬
ten, das ſchon zu dem Parke von Berkow gehören
mußte. Reinlich gehaltene Wege, hier und da eine
grüne Bank oder eine verwitterte Hermenſäule. Ueberall
die Spuren ordnender Menſchenhand. Dann traten
ſie auf einen breiteren Fahrweg, der wohl die Fort¬
[145] ſetzung deſſelben Weges ſein mochte, von welchem Os¬
wald abgekommen war, und der mit einem eiſernen
Gitterthor endigte, das unmittelbar auf den Hof des
Gutes führte. Cziko blieb ſtehen, deutete ſtumm auf
das Thor; dann ſich vor Oswald mit verſchränkten
Armen verneigend, ſprang er in die Büſche zurück und
war im nächſten Augenblicke verſchwunden.
„Ein geheimnißvoller Anfang,” ſprach der junge
Mann bei ſich, während er langſam, faſt zögernd auf
das Thor zuſchritt. „Iſt es die Nachwirkung der ſelt¬
ſamen Zigeunerwirthſchaft, oder die Vorahnung deſſen,
was mir hier in dieſem Schloß der Zauberin begegnen
ſoll, aber mir iſt wunderlich zu Muthe. Ich hätte
am Ende doch beſſer gethan, den Wagen, welchen mir
geſtern der alte Baron anbot, nicht auszuſchlagen. Ich
wäre dann vielleicht dem Paſtor und ſeiner Primula
entgangen, und auf jeden Fall käme ich jetzt, in ſtatt¬
licher Würde, von den ſchwerfälligen Braunen gezogen,
angefahren, und nicht zu Fuß in bedeutend derangirter
Toilette wie ein reiſender Handwerksburſch. Ei nun!
Kleider machen wohl Leute, aber keine Männer, und
Melitta, wenn mich nicht Alles trügt, verkehrt mit
Männern lieber, als mit — Leuten.“
Er klinkte das unverſchloſſene Gitterthor auf, und
trat in den Hof. Ein mächtiger Neufundländer Hund,
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 10[146] der im Graſe gelegen hatte, richtete ſich langſam empor,
als er die Thür in den Angeln kreiſchen hörte und
kam Oswald wedelnd entgegen. „Nun, das iſt wenig¬
ſtens ein freundlicher Willkomm!“ ſprach der junge
Mann bei ſich, während er, das prachtvolle Thier
ſtreichelnd, weiter ſchritt. Rechts blickte er über ein
niedriges Stacket in einen blühenden Garten. Mit
dem Stacket in einer Linie war die Front des Herren¬
hauſes, ein zweiſtöckiges, ſchmuckloſes Gebäude, das ſich
indeſſen mit ſeiner altersgrauen Farbe, dem großen
ſteinernen Balkon über der Thür und den zwei gewal¬
tigen Linden davor, recht ſtattlich ausnahm. Die drei
anderen Seiten des geräumigen Hofes waren von den
Wirthſchaftsgebäuden eingenommen. Ein Stacket und
eine Reihe junger Obſtbäume war parallel mit dem
Wohnhauſe quer über den Hof gezogen, als Schranke
zwiſchen dieſem und dem Raſenplatz vor dem Hauſe.
Oswald blickte, an der Front deſſelben hinſchreitend,
durch die offenen Fenſter in ſchöne Zimmer. Es war
Niemand darin. Er blickte durch die ebenfalls offen¬
ſtehende Hausthür auf den mit Steinfließen ausgelegten
Flur. Eine große Wanduhr ſchwatzte in der lautloſen
Stille. Auch auf dem Hofe regte ſich nichts. Der
ganze Platz war wie ausgeſtorben, nur die Spatzen
zwitſcherten und lärmten in den Linden, und die
[147] Schwalben ſchoſſen an der Mauer hin zu ihren Ne¬
ſtern unter dem Dache, die Jungen zu füttern, und
ebenſo eilig wieder davon.
„Es wird Niemand zu Hauſe ſein,“ dachte Oswald.
„Du haſt den langen Weg vergebens gemacht. Oder
kannſt Du mir ſagen, wo Deine Herrin iſt, Neufund¬
länder? Sollen wir einmal im Garten nachſehen?‟
Der Hund, als ob er verſtanden, was man von
ihm wolle, trabte von Oswald fort nach einer Thür,
die rechts neben dem Hauſe in den Garten führte;
und blickte, dort ſtehend, ſich nach dem Fremden um.
„Alſo wirklich im Garten?“
Oswald drückte die Thür auf. Der Hund lief vor
ihm her an Blumenbeeten vorüber in einen ſchmalen
Heckengang bis zu ein paar Stufen, die rechts durch
die Hecke auf eine Art Terraſſe führten. Dort ſah
er ſich noch einmal nach Oswald um. Dann ſprang
er die Stufen hinauf. Oswald folgte.
Zwiſchen hohen blühenden Sträuchern war das
Thier verſchwunden. Indeſſen hatte der junge Mann
kaum einige Schritte gethan, als ſich ſeinen Blicken
ein Bild zeigte, das ihn regungslos an ſeine Stelle
bannte. Er ſah auf einen kleinen offenen Platz, der
auf zwei Seiten von den hohen Hecken, welche die
ganze Terraſſe umſchloſſen, eingerahmt war. In der
10*[148] Mitte ſchoß ein hochſtämmiger, breitäſtiger Tannen¬
baum wie eine Lanze machtvoll in vie Höhe. An dem
Fuße des Baumes auf dem Teppich brauner Nadeln
ſtand ein runder Gartentiſch und ein paar Stühle.
In einem der Stühle, umfloſſen von dem weichen,
träumeriſchen Licht des Sommernachmittags, ſaß Me¬
litta, den Kopf in die eine Hand geſtützt, während die
andere mechaniſch die treue Dogge ſtreichelte, die ſich
dicht an die Herrin drängte. Sie trug ein weißes
Kleid, das in anmuthigen Linien den ſchlanken Leib
umfloß und Buſen und Schultern nur zu verhüllen
ſchien, um die ſchönen Formen deſto reizender zu um¬
ſchreiben. Auf dem Tiſch lagen Handſchuh, ein breit¬
rändiger Strohhut und ein aufgeſchlagenes Buch.
Sie ſaß ſo in ſich verſunken da, daß ſie den leich¬
ten Schritt Oswalds nicht vernahm, bis er vor ihr
ſtand. Da hob ſie ſchnell den Kopf empor und unter¬
drückte nur mit Mühe einen Ruf freudigſter Ueber¬
raſchung, den Mann leibhaftig vor ſich zu ſehen, mit
dem ihre Gedanken ſo eben beſchäftigt geweſen waren.
Für einen Augenblick ſtockte ihr das Blut im Herzen,
und dann mit Macht hervorbrechend, übergoß es die
bleichen Wangen mit hoher Purpurgluth.
„Sieh da!“ ſagte ſie, ſich raſch erhebend, und Os¬
wald die Hand entgegenſtreckend.
[149]
„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ ſagte der junge
Mann, die ſchöne zitternde Hand, die jetzt in der ſeinen
ruhte, ehrfurchtsvoll an die Lippen führend, „wenn ich
unangemeldet —“
„Aber nicht unerwartet Ihr dolce far niente
ſtöre — und ſo weiter, und ſo weiter —“ unterbrach
ihn Melitta. „Kommen Sie, von Ihnen will ich
keine Redensarten hören. Ueberlaſſen Sie das unſern
hohlköpfigen Junkern. Setzen Sie ſich und bedanken
Sie ſich zuvörderſt, daß Sie mich überhaupt noch fin¬
den. Bemperlein und Julius ſind, an Ihrem Kommen
verzweifelnd, vor einer halben Stunde auf Beſuch in
die Nachbarſchaft gefahren. So müſſen Sie denn mit
mir allein vorlieb nehmen. Das iſt Ihre gerechte Strafe.“
„Wenn die Strafe gerecht iſt, ſo iſt ſie auf alle
Fälle ſehr mild,“ antwortete Oswald heiter, „und ich
unterwerfe mich ihr mit der Demuth, die dem reuigen
Sünder ziemt.“
„Sie ſehen auch wahrhaftig wie ein reuiger Sün¬
der aus! Aber im Ernſt, warum kommen Sie ſo
ſpät, und —“
„Und in ſo derangirter Toilette? Im Ernſt, gnä¬
dige Frau, ich konnte nicht früher und nicht anders
erſcheinen. Wenn man, wie ich, den weiten, unbekannten
Weg zu Fuß zurücklegt.“
[150]
„Wie kommen Sie aber auch auf den närriſchen
Einfall?“
„Ich leide ſehr an närriſchen Einfällen, gnädige
Frau.“
„Da theilen Sie mit mir daſſelbe Schickſal. Weiter!“
„Und wenn man ſich unterwegs von einer alten
Frau eine Vorleſung über Unſterblichkeit, von einem
Landpaſtor eine Predigt über daſſelbe Thema und von
deſſen geiſtreicher Gemahlin erzählen laſſen ſoll: was
ſie den Thieren abgelauſcht —“
„Ach Sie Unglücklicher,“ rief Melitta, die Hände
zuſammenſchlagend.
„Wenn man ſich darauf im Walde verirren, am
Rand eines Sumpfes einſchlafen, bei der Gelegenheit
allerlei ſüßes, närriſches Zeug träumen, beim Erwachen
ſich von einer Zigeunerin wahrſagen, ſich von deren
Buben auf den rechten Weg bringen, und bei der An¬
kunft in dieſem verzauberten Schloß Niemanden finden
ſoll, der den Fremden zur Chatelaine führt, als dieſen
liebenswürdigen Hund, der ſo aufmerkſam zuhört, daß
man glauben ſollte, er verſtünde unſre ganze Unter¬
haltung, ſo werden Sie mir zugeben müſſen, daß
man mindeſtens eben ſo viel Zeit braucht, dies Alles
zu thun, als zu erzählen.“
Die Dogge legte vertraulich den ungeheuren Kopf
[151] auf der Herrin Schooß und blinzelte zu ihr empor.
„Biſt mein braver Boncoeur,“ ſagte ſie, den Lieblings¬
hund tätſchelnd, „machſt Deinem Namen Ehre. Siehſt
im Haus und Hof hübſch nach dem Rechten; weißt
wohl, daß es außer Dir und dem Baumann doch Nie¬
mand thut. — Wiſſen Sie, daß mich Ihr Zuſammen¬
treffen mit der braunen Gräfin, ich meine der Zigeu¬
nerin, und der Czika, denn es iſt ein Mädchen, wie
ich Ihnen zum Ruhme Ihres Scharfſinnes nur ſagen
muß, ſehr intereſſirt.“
„Ein Mädchen, der Cziko?“
„Die Czika, ein Mädchen — verlaſſen Sie ſich
darauf; aber wo trafen Sie die Beiden?“
„Eine Viertelſtunde von hier im Walde, bei dem¬
ſelben Zauberſee, an deſſen Rande ich eingeſchlafen war.“
„Alſo doch auf Berkower Gebiet — das freut mich.“
„Sie ſcheinen ſich in der That für die ſchöne Mutter
und die ſchönere Tochter — ich finde jetzt allerdings,
daß das Kind für einen Knaben viel zu ſchön war —
ſehr zu intereſſiren, gnädige Frau. Wie kommt die
Zigeunerin zu dem Namen: „die braune Gräfin?“
„Ach!“ lachte Melitta, „das iſt eine lange Ge¬
ſchichte und ein Beiſpiel von den närriſchen Einfällen,
von denen ich, wie Sie, heimgeſucht werde, und die
freilich bei mir meiſtens an das Gebiet der dummen
[152] Einfälle ſtreifen. Vor ſechs Jahren kam die Iſabel
zum erſten Male in unſere Gegend. Sie war damals
vielleicht zwanzig Jahre — vielleicht, denn genau weiß
ſie es ſelbſt nicht. Ihr Kind, die Ezika, war vier
Jahre alt; das wußte ſie, denn es war wirklich ihr
eigenes Kind und keine geſtohlene Prinzeſſin oder der¬
gleichen.“
„Woher wiſſen Sie das?“
„Aus der frappanten Aehnlichkeit zwiſchen Mutter
und Kind, die Ihnen doch auch aufgefallen ſein muß.
Beide waren damals bildſchön, ſo ſchön, wie ich nie
wieder etwas geſehen habe. Ich glaube kein Menſch
hätte ungerührt bleiben können bei dem Anblick dieſer
ſo jugendlichen Mutter mit ihrem prächtigen Kinde,
das in ſeiner wunderlichen Tracht und ſeinen üppigen
dunklen Locken ſo gut für einen Knaben wie für ein
Mädchen gelten konnte. Ich habe nur auf Murillo's
Sonne-getränkten, Leidenſchaft-durchglühten Bildern
ſpäter etwas Aehnliches geſehen. Ich, die ich die
Schwäche habe, mich auf maleriſche Schönheit ver¬
ſtehen zu wollen, und ſelbſt ein wenig in dieſer herr¬
lichen Kunſt pfuſche, zeichnete und malte damals vom
Morgen bis in den Abend Zigeunerköpfe. Ich vergaß
nämlich zu ſagen, daß ich die Beiden ein paar Tage
lang hier in Berkow feſthielt. Zufällig mußte ich da¬
[153] mals eine große Geſellſchaft geben. Und — jetzt kommt
der dumme Einfall — um unſerer albernen Sippe
einen Poſſen zu ſpielen, denn das war doch der eigent¬
liche Grund, kleide ich die Iſabel in das prächtigſte
Kleid, das ich in meiner Garderobe auffinden kann,
laſſe die Czika von meiner Kammerfrau herausputzen
und präſentire ſie der Geſellſchaft als Iſabella Gräfin
von Kryvan mit ihrem Töchterchen Czika, die ich im
vorigen Jahre in Marienbad kennen gelernt hätte und
die ſo eben aus dem fernen Ungarland mich zu be¬
ſuchen gekommen ſei.“
„Und was ſagte die Geſellſchaft?“
„Sie war entzückt. Ich hatte ihr vorher angekün¬
digt, daß Iſabella von dem ſtreng nationalen ungari¬
ſchen Adel ſei, der ſich das Wort gegeben habe, nie
etwas Anderes, wie die Nationalſprache und außerdem
nur noch Lateiniſch zu ſprechen.“
„Glaubte die Geſellſchaft denn das? und verſuchten
die Herren nicht, eine lateiniſche Converſation zu be¬
ginnen?“
„Unſerer Geſellſchaft kann man Alles aufbinden,
und was unſere Herren betrifft, ſo iſt lateiniſch ihnen
ſpaniſch. Iſabella, das muß man ihr laſſen, füllte
ihren Platz auf dem Sopha mit wahrhaft königlichem
Anſtande aus, und die Griebens, die Trantows, die
[154] Cülows überſchütteten die Standesgenoſſin mit Auf¬
merkſamkeiten und bedauerten einmal über das andere
ihre Unkenntniß der lateiniſchen Sprache, die es ihnen
unmöglich mache, ſich mit der fremden Dame in eine,
jedenfalls höchſt geiſtreiche und intereſſante Converſa¬
tion einzulaſſen. Die kleine Czika wanderte von einem
Schooß auf den andern, und wurde mit Leckerbiſſen
und Küſſen faſt erſtickt. — Kurz, die Comödie ſpielte
zu meiner größten Zufriedenheit bis zu Ende, und in
den nächſten Tagen war die ganze Nachbarſchaft voll
von „der braunen Gräfin,“ wie man die Freundin
Melitta's von Berkow kurzweg zu nennen beliebte.
Nun wie gefällt Ihnen die Geſchichte?“
„Offen geſtanden nur halb, gnädige Frau. Ihrer
vornehmen Geſellſchaft gönne ich die Myſtification von
ganzem Herzen, aber es thut mir weh, wenn ich ſehe,
wie der Arme und Hülfloſe, eben weil er arm und
hülflos iſt, ſich zum Spielding des Reichen und Mäch¬
tigen hergeben muß.“
Melitta ſah Oswald voll in die Augen und ant¬
wortete ohne die mindeſte Spur von Empfindlichkeit:
„Sehen Sie, das iſt hübſch, daß Sie ſo denken;
und noch hübſcher finde ich es, daß Sie es mir ſo
geradezu ſagen. Aber ich habe Ihnen ja von vorn¬
herein zugeſtanden: es war ein dummer Streich, den
[155] ich nachher aufrichtig bereute und deſſen böſe Folgen
ich, ſoweit ich vermochte, wieder gut zu machen mich
bemühte. Denn, hören Sie nur, wie die Sache weiter
verlief. Der braunen Gräfin hatte ich natürlich die
Sachen geſchenkt, die ſie und die Czika bei der Co¬
mödie getragen. Das arme Weib, das mit dem
Plunder nichts anfangen konnte, wollte ſie in der
nächſten Stadt verkaufen. Man glaubte, ſie habe die
Sachen geſtohlen, und verlangte, ſie ſolle ſich über den
ehrlichen Erwerb derſelben ausweiſen. Sie vermochte
es nicht, denn ſie hatte meinen Namen und den Namen
meines Gutes vergeſſen, und überdies konnte kein
Menſch aus ihrem Kauderwelſch klug werden. Die
Herren vom Gericht beſchloſſen deshalb in ihrer Weis¬
heit, die braune Gräfin als Landſtreicherin und Diebin
einzuſperren, bis ſich die Sache auf eine oder die an¬
dere Weiſe aufklären würde. Unglücklicherweiſe war
ich ein paar Tage zuvor in ein benachbartes Bad ge¬
reiſt, und während ich dort die friſche Seeluft in vollen
Zügen einſog, mußte die Aermſte wochenlang in dem
dumpfen Gefängniſſe ſchmachten. Ach! und dieſen
Leuten iſt die Freiheit Alles! Sehen Sie, das werde
ich mir nie vergeben! — Erſt nach meiner Rückkehr
erfuhr ich durch einen Zufall das Unglück, welches ich
angerichtet hatte. Natürlich that ich ſofort die nöthigen
[156] Schritte. Ich fuhr ſelbſt nach B. und öffnete den
Kerker meiner armen braunen Gräfin. Aber, wie fand
ich ſie wieder! Bleich, abgemagert, verhärmt, um ſo
viele Jahre gealtert, als ſie Wochen gefangen geſeſſen
hatte. Die kleine Czika ſah wo möglich noch ſchlimmer
aus. Ich nahm ſie mit hierher nach Berkow; ich
pflegte ſie, ich tröſtete ſie, ich beſchenkte ſie, ich that,
was ich konnte. Aber die Reue kam hier wie überall
zu ſpät. Der kleinen Czika war die Kerkerluft bis
in's Herz gedrungen. Sie verfiel, kaum hier ange¬
kommen, in ein hitziges Fieber, und ich danke Gott
noch heute, daß ſie mit dem Leben davon kam. Was
hätte ich anfangen ſollen, wenn ſie geſtorben wäre!“
Melitta ſchwieg und in ihrem Auge glänzte etwas,
wie eine Thräne. Aber im nächſten Momente lachte
ſie ſchon wieder und ſagte:
„Nun, ſie ſtarb ja nicht, ſondern wurde wieder
munter und friſch wie vorher, und ſpielte ſich mit
meinem Julius hier wieder helle Augen und rothe
Backen. Die Kinder hatten ſich ſehr lieb gewonnen,
und ich hätte die Kleine gar zu gern hier behalten,
ſie mit Julius zuſammen erziehen zu laſſen. Das
Kind zeigte die köſtlichſten Anlagen, beſonders ein über¬
raſchendes Talent für Muſik. Die braune Gräfin
wollte ich zu meiner Kammerfrau machen, oder wozu
[157] ſie wollte. Ich ſtellte ihr frei, ihr Leben nach ihrem
Belieben einzurichten, und bat ſie nur, zu bleiben.
Aber es war die alte Geſchichte von dem Froſch
und dem goldenen Stuhl. Ein paar Wochen hielt ſie
das zahme Leben aus; und eines ſchönen Morgens
war ſie verſchwunden — ſie und die Czika. Später
ſind ſie wiederholt in dieſe Gegend gekommen, aber
hierher zu mir kommen ſie nicht mehr. Die Iſabel
grollt mir entweder noch, oder ſie iſt eiferſüchtig auf
mich und fürchtet, ich werde ihr die Czika ſtehlen.
Und doch muß ſie einſehen, daß ich es gut mit ihr
meine. Die Leute im Dorf haben Befehl, ihr, wenn
ſie vorſpricht, jede Gefälligkeit zu erweiſen, der Förſter
hat den Auftrag, ſie unbeläſtigt im Walde zu laſſen;
und ich verſage mir das Vergnügen, ſie aufzuſuchen,
weil ich fürchte, ſie ganz zu verſcheuchen. Das iſt
meine Geſchichte von der braunen Gräfin. Sind Sie
mir noch bös?“
„Welches Recht hätte ich dazu?“
„Nun, Sie machten vorher ein ſo finſteres Geſicht,
daß ich mich ganz als arme Sünderin fühlte.“
„Sie belieben zu ſcherzen. Was kann Ihnen an
meinem Urtheil gelegen ſein?“
„Mehr, als Ihre jedenfalls halb erkünſtelte Be¬
ſcheidenheit zu glauben vorgiebt. Eine Frau hält ſtets
[158] große Stücke auf eines Mannes Urtheil, weil ſie in¬
ſtinctiv fühlt, daß des Mannes Kopf beſſer, das heißt
nicht ſchneller, aber gründlicher, ſicherer denkt, als ihr
leichtſinniges Frauengehirn. Und vor euch gelehrten
Herren haben wir noch einen ganz beſonderen Reſpect.
Ihr habt Alle um die Augen und um die Mundwinkel
herum ſo etwas Myſtiſches, Unergründliches, ſo etwas
Oswald mußte laut auflachen.
„Ja, lachen Sie nur. Ihnen mag das nicht ſo
erſcheinen; aber wir fürchten uns vor eurem Wiſſen,
auch wenn wir Einen oder den Andern unter euch, der gut¬
müthig genug iſt, ſich dazu herzugeben, zur Zielſcheibe
unſeres Spottes machen. Da iſt mein Bemperlein,
mein guter, treuer Bemperlein. Nun, er iſt wahr¬
haftig kein Genie, und kennt die Welt gerade ſo gut,
wie ich das Griechiſche; und dennoch ziehe ich, wenn
wir uns ſtreiten, jedesmal den Kürzeren. Das iſt doch
ärgerlich. Nehme ich dagegen unſere Landjunker. Es
ſind hübſche, ſehr hübſche Männer darunter, die in
Landwehrlieutenants-Uniform ſich mit ihren blonden
Schnurrbärten, ſonnegebräunten Geſichtern und hellen
blauen Augen prächtig ausnehmen; aber in Civil ſehen
ſie dumm aus. Sie haben das Stupide, Lebloſe von
ſchönen Pferde- und Hundegeſichtern. Der Einzige
[159] von ihnen, der ſtudirt hat, ſieht aus, als wäre er aus
einer anderen Welt.“
„Wer iſt dieſer Phönix?“
„Baron von Oldenburg.“
Ein Schatten fuhr über Melitta's lebensvolles
Antlitz, wie wenn eine Wolke über eine ſonnenhelle
Landſchaft jagt. Sie ſtarrte auf ein paar Augenblicke
vor ſich hin, wie wenn ſie den Faden des Geſprächs
verloren hätte. Dann wie aus einem Traum erwachend:
„Ja, was ich ſagen wollte — und darum will ich,
daß mein Julius ſtudirt. Aber ich ſchwatze und
ſchwatze und frage nicht einmal, ob Sie nicht hungrig
und durſtig und müde ſind, wozu Sie doch nach Ihren
Kreuz- und Querfahrten das vollkommenſte Recht
haben. Kommen Sie, wir wollen hineingehen und
ſehen, ob wir nicht Jemand auftreiben können, der uns
einige Erfriſchungen beſorgt. Mich verlangt ebenfalls
darnach, denn es fällt mir ein, daß ich eigentlich nichts
zu Mittag gegeſſen habe. Sind Sie noch gar nicht
in dem Hauſe geweſen?“
„Doch, wenigſtens auf dem Hausflur. Ich fragte
eine große Wanduhr, ob ich Frau von Berkow meine
Aufwartung machen könne, aber ſie antwortete: Schnick-
Schnack, Schnick-Schnack! Da ging ich wieder fort.“
Melitta hatte ſich erhoben und ihren Strohhut
[160] aufgeſetzt, ohne ſich weiter um die langen Bänder zu
kümmern, von denen das eine über den Buſen, das
andere über den Rücken lief, und ſagte lächelnd, wäh¬
rend Oswald im Aufſtehen das Buch ergriffen und
nach dem Titel geſehen hatte:
„Für Sie ſpricht auch wohl jedes Ding ſeine Sprache ?“
„So ziemlich. Dies Buch zum Beiſpiel ſagt mir:
Frau von Berkow könnte mich auch ungeleſen laſſen,
da es ſo viel beſſere Bücher zu leſen giebt.“
„Ja, du lieber Himmel, wir auf dem Lande leſen,
was uns die Leihbibliothekare und die Buchhändler zu
ſchicken belieben. Aber, was haben Sie gegen dieſe
„Erſtens ärgert es mich, daß ich auf das Buch
ſtoße, wo ich gehe und ſtehe. In Grünwald lag es
auf jedem Tiſch; kaum war ich zwei Tage in Gren¬
witz, verfolgte es mich auch dahin, und nun muß ich
es auch noch gar bei Ihnen finden. Ich habe es
nicht bis über den zweiten Band hinaus bringen kön¬
nen, und Sie ſind zu meinem Erſtaunen ſchon im
vierten. Wie können Sie ſich für dieſen Chourineur,
dieſen Maitre d'école, dieſe Chouette, und wie das
Geſindel ſonſt noch heißt, intereſſiren? Wahrlich, doch
kaum ſo viel, wie für Beſtien in der Menagerie.
Denn dieſe ſind doch wenigſtens Gottes Geſchöpfe,
[161] während jene nur die Ausgeburten der wüſten Phan¬
taſie eines verbrannten Dichtergehirnes ſind."
„Sie mögen Recht haben,“ ſagte Melitta, während
ſie jetzt von der Terraſſe in den Garten hinabſtiegen.
„Es iſt vielleicht ein Unglück, daß ſolche Bücher ge¬
ſchrieben werden, und ein noch größeres Unglück, daß
wir, und beſonders wir Frauen, in unſerer Erziehung
und Bildung ſo verwahrloſt ſind, um an dieſen Büchern
doch eine Art von Geſchmack zu finden. Uebrigens
nehme ich Alles, was Sue von jenem Geſindel erzählt,
auf Treu und Glauben hin, wie die Berichte eines
überſeeiſchen Reiſenden von den Wundern, die er zu
Waſſer und zu Lande erlebte, um ſo mehr, als er die
Sphären der Geſellſchaft, die ich kenne, zum Theil ſehr
wahr, ſehr treu ſchildert.“
„Iſt etwa Rudolphe, Grand Duc Régant de
Gerolstein auch nach dem Leben?“
„Das weiß ich nicht, aber ſo viel weiß ich, daß
Geſchichten, wie die des Marquis d' Harville und ſeiner
Frau ſo oder ähnlich alle Tage im Leben vorkommen.“
Oswald antwortete nicht; es fiel ihm ein, was er
über das Verhältniß Melitta's zu ihrem Gemahl ge¬
hört hatte, wie Herr von Berkow nun ſchon ſeit ſieben
Jahren in unheilbarem Wahnſinn lag. Eine Ahnung
der trauervollen Scenen bis zum Hereinbrechen der
F. Spielhagen, Problematische Naturen. I. 11[162] furchtbaren Kataſtrophe überkam ihn; es that ihm weh,
daß er unverſehens an den Vorhang eines ſo dunkeln
Familiendrama's gerührt hatte. Aber zugleich erfaßte
ihn eine unendliche Theilnahme für die reizende Frau,
die hier in dieſer grünen Wildniß die ſchönſten Jahre
ihres Lebens einſam vertrauern ſollte. Was hilft ihr
Jugend, Schönheit und Reichthum ohne Liebe! und
wird ſie wohl ſo geliebt, wie ſie geliebt zu werden ver¬
dient, wie ſie geliebt zu werden wünſcht, ſie, durch
deren weiche, ſchmachtende Augen man in unergründ¬
liche Tiefen von Zärtlichkeit und Leidenſchaft blickt?“
Mitleid iſt der erſtgeborene Bruder der holden
Schweſter Liebe. — Während Oswald das Schickſal
der ſchönen Frau beklagte, fühlte er, wie ein Quell
ſchmerzlich ſüßer Gefühle warm aus ſeinem Herzen
hervorbrach, und es bald bis zum Zerſpringen füllte.
Und wenn die kalte klaſſiſche Liebe im Wellenſchaum
geboren wird — für die romantiſche moderne Liebe
iſt die weiche, blumenduftgetränkte, warme Luft eines
üppig blühenden Gartens eine günſtigere Atmoſphäre.
— Wollüſtige Schatten erfüllten die lauſchigen Bos¬
kets, träumeriſch lag der Nachmittagsſonnenſchein auf
den grünen Raſenplätzen, in den dichten Kronen der
Bäume jubelten die Vögel, Schmetterlinge wiegten ſich
über den ſonnetrunkenen Blumenwäldern der Beete....
[163]
Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch
das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬
buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke
prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen
zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von
Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬
wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen
Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen
Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur
Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen —
und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz
anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre.
Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte,
war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen,
vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und
was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr
jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch
dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬
dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang
des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit
unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir
freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬
mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der
Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon
für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach
11*[164] für die Frau. Für ſie giebt es nur eine Seligkeit auf
Erden: zu lieben, und nur ein Glück: geliebt zu ſein;
und Melitta's ſeit Jahren nur mit oberflächlichen Nei¬
gungen, mit leeren Coquetterien hingehaltenes Herz
ſchmachtete nach einer wahren tiefen Leidenſchaft; und
Melitta fand die halb ehrfurchtsvollen, halb kühnen,
aber immer aufrichtig bewundernden, zärtlich liebkoſen¬
den Blicke, mit denen der junge Mann an ihr hing
und ſie wie mit einem unſichtbaren Zaubernetz, deſſen
Maſchen ſich dichter und immer dichter woben, um¬
ſpann, viel zu ſüß, als daß ſie dem, der ihr dies ſüße
Glück gewährte, nicht von Herzen hätte dankbar ſein
ſollen.
Sie fühlte ſich unſäglich glücklich, und dennoch
ernſter geſtimmt, als es wohl ſonst ihre Gewohnheit
war. Der Sturm der Leidenſchaft, der in ihrer Seele
langſam heraufzog, warf ſchon ſeine dunkeln Schatten
über ihr ſonnenhelles Gemüth, und ſein erſter Anhauch
zerriß den leichten Schleier, den die Zeit mühſam über
ſo manches heitere Bild vergangener Tage gewebt
hatte. Während Oswald den Bildungsgang, den er
für Julius am geeignetſten hielt, entwarf, dabei auf
ſein eigenes Leben zu ſprechen kam, und die ſchöne
Frau, gleichſam als ein Zeichen ſeiner Liebe und Ver¬
ehrung, ſo manchen Blick in das tiefgeheimſte Leben
[165] ſeiner Seele thun ließ, fühlte ſie ſich mehr wie einmal
auf das ſonderbarſte ergriffen. Manche Gedanken, die
der junge Mann in ſeiner lebhaften Weiſe mit gefäl¬
liger Beredtſamkeit vortrug, hatte ſie, oft faſt in den¬
ſelben Worten, ſchon früher einmal gehört von einem
Manne, der ihr ſehr theuer geweſen war, deſſen dä¬
moniſche Natur ihren regen Geiſt angelockt und gefeſ¬
ſelt, und deſſen rauhe Schroffheit ihren weichen Sinn
abgeſtoßen und beleidigt hatte. Hier fand ſie die
Roſen wieder, an deren üppigen Duft ſie ſich damals
berauſcht, aber ohne die Dornen; hier fand ſie, was
ſie dort ſo ſchmerzlich vermißt hatte: Schönheit der
Formen, Grazie der Bewegung und Anmuth der Rede.
Dreizehntes Kapitel.
Im eifrigen Geſpräch in den Gängen zwiſchen den
Beeten auf und abwandelnd, wurden ſie an ihre Ab¬
ſicht, in das Haus zu gehen, erſt erinnert, als ſie ſich
demſelben zum zweiten Male näherten. Sie traten
durch die offene Thür in einen Saal, deſſen harmoniſche
Verhältniſſe und einfache, geſchmackvolle Decoration
auf Oswald ſofort den angenehmſten Eindruck machten.
Die hohen Kaſtanienbäume, unmitelbar vor den Fen¬
ſtern, hielten den Raum kühl und ſchattig. Das ge¬
dämpfte Licht that dem Auge wohl nach dem verſchwen¬
deriſchen Sonnenſchein draußen im Garten. Bequeme
Seſſel in mancherlei Formen und Größen, amerikaniſche
Rocking-chairs, franzöſiſche Cauſeuſen, ein großer Flügel,
Tiſche mit Büchern und Bildwerken bedeckt, hier und
da in dem weiten Gemache ſchicklich vertheilt, gaben
demſelben bei allem Reichthum etwas ungemein Wohn¬
[167] liches, das auf das liebenswürdigſte mit der ſteifſtelligen
Ordnung, die in dem Innern des Schloſſes Grenwitz
herrſchte, contraſtirte.
„Ich bin doch neugierig, ob Jemand auf mein
Klingeln kommen wird,“ ſagte Melitta, ihren Hut auf
den Tiſch werfend und nach der Klingelſchnur gehend.
„Unmöglich iſt es gar nicht, daß wir uns höchſtſelbſt
in die Speiſekammer werden verfügen müſſen, notabene,
wenn wir den Schlüſſel auftreiben können.“
Sie klingelte und wandte ſich wieder zu Oswald,
der eine der Marmorbüſten, welche die Wände des
Saales ſchmückten, betrachtete.
„Wie finden Sie dieſe Maske?“
„Sehr ſchön; es iſt die Rhodontiniſche Meduſe.“
„Ah! ich ſehe, Sie ſind ein Kenner.“
„Höchſtens ein Liebhaber. Ich habe in der Reſi¬
denz und ſonſt manches geſehen; meiſtens freilich nur
Gypſe. Seit meinen Knabenjahren war es mein ſehn¬
lichſter Wunſch, einmal in das gelobte Land Italien
zu wallfahren, um dem hohen Gott Apollo von Bel¬
vedere perſönlich meine Huldigung darbringen zu können.“
„Nun das iſt doch kein ſo unbeſcheidener Wunſch.“
„Wenn es unbeſcheiden iſt, zu wünſchen, was uns
nicht beſchieden — doch.“
„So wäre es unbeſcheiden, daß wir etwas zu ves¬
[168] pern wünſchen, denn das ſcheint uns auch nicht be¬
ſchieden;“ ſagte Melitta mit komiſch-klagendem Ton.
„Aber wird uns nicht oft gerade etwas beſchieden,
weil wir es lebhaft, heiß, unbeſcheiden wünſchen? Das
Schickſal gewährt uns unſern Wunſch, wie eine Mutter
dem bettelnden Kinde das Stückchen Kuchen, nur um
uns los zu werden.“
„Das Schickſal iſt kein launiſches Weib, ſondern
ein harter felſenherziger Gott, und wenn wir etwas
von ihm haben wollen, müſſen wir es ihm abtrotzen.“
„Das iſt er für euch Männer, und vielleicht iſt es
gut, daß dem ſo iſt — ihr würdet ſonſt zu über¬
müthig. Wir Frauen aber — du lieber Himmel, was
ſollte aus uns werden, wenn wir uns das bischen
Glück ertrotzen ſollten. Wir legen uns lieber auf's
Bitten und Betteln, und wenn wir eben alle Hoffnung
aufgeben wollen und ganz am Glück verzweifeln —
dann, gerade dann — ſehen Sie, da kommt der Bau¬
mann und mit ihm die Ausſicht auf unſer Vesperbrot.“
Die Thür öffnete ſich und die Geſtalt eines langen,
hageren Mannes, deſſen altes, runzliges Geſicht mit
den buſchigen Augenbraunen, eine tiefe Narbe, die über
die kahle Stirn am Auge vorbei bis tief in die Wange
lief, und ein langer eisgrauer Schnurrbart etwas un¬
gemein Martialiſches gaben, erſchien auf der Schwelle.
[169]
„Gnädige Frau?“ ſagte er mit einer Stimme, die
aus einer tiefen Höhle zu kommen ſchien.
„Ach Baumann, es ſind wohl außer Ihm Alle
ausgegangen?“
„Zu Befehl.“
„Das habe ich aber gar nicht befohlen. Wo iſt
Mamſell?“
„Drüben in Faſchwitz.“
„Und der Johann?“
„Bei Förſters.“
„Und die Mädchen?“
„Im Dorf.“
„Beſter Baumann, wir möchten gern etwas Abend¬
brot haben.“
„Zu Befehl.“
„Kann Er uns denn etwas verſchaffen?“
„Schwerlich.“
„Oder wenigſtens den Speiſekammerſchlüſſel auf¬
treiben?“
„Wird ſich kaum bewerkſtelligen laſſen.“
„Lieber guter Baumann, ſeh' Er doch einmal zu,
was ſich thun läßt.“
„Zu Befehl.“
Damit machte die ſeltſame Geſtalt Kehrt und mar¬
ſchirte wieder zur Thür hinaus.
[170]
„Nun was ſagen Sie zu meinem maître d'hôtel?“
„Daß der Mann auf jeden Fall ein Original iſt;
aber weshalb hat er mich ſo unverwandt mit ſeinen
alten klugen Augen angeſehen?“
Melitta lachte.
„Sie müſſen wiſſen, daß der alte Baumann ſchon
Diener bei meinem Vater war, in deſſen Regiment er
die Feldzüge gegen Napoleon mitmachte. Er hat mich,
als ich ein Kind war, auf ſeinen Knieen geſchaukelt,
mich nimmer ſeitdem verlaſſen und wird mich nicht
verlaſſen, bis ich ſterbe oder er ſtirbt. Zweimal hat
er mir das Leben gerettet, und, ohne daß ich es wollte
oder wußte, im Stillen jeden Schmerz mit mir ge¬
theilt, ich möchte ſagen, auch jede Freude. Wenn ich
zu ihm ſpräche: Baumann, Er muß morgen für mich
nach Auſtralien reiſen, ſo würde er ſagen: zu Befehl!
über Nacht ſeine Sachen packen, und vor Sonnenauf¬
gang ſchon unterwegs ſein; und wenn ich ſagte: es iſt
nicht anders, Baumann, Er muß für mich ſterben, ſo
und ſo — er würde ſagen: zu Befehl! und nicht mit
den grauen Wimpern zucken; aber wenn ich zu ihm
ſagte: hören Sie, Baumann, ſtatt: höre Er, Baumann
— ſo würde er das für eine Aufkündigung unſerer
Freundſchaft halten. Jetzt iſt er böſe, daß ich ihm
nicht geſagt habe, wer Sie ſind. Weiß er das, und
[171] weiß er, daß ich Sie gern bei mir ſehe, dann iſt er
zufrieden. Nun paſſen Sie auf, was geſchieht. Er
kommt zurück und ſagt uns, daß er ſchlechterdings
nichts für uns thun könne. Darauf gebe ich ihm die
gewünſchte Auskunft, und mache Miene ſelber zu gehen.
Dann wird Frieden geſchloſſen. Sie müſſen ihn aber
gütig anſehen, wenn ich von Ihnen zu ihm ſpreche.“
„Keine Sorge, gnädige Frau: ich will ſo freundlich
und mild lächeln, wie ein Engel von Guido Reni.“
Abermals öffnete ſich die Thür. Der alte Diener
erſchien; marſchirte in das Gemach, blieb genau auf
demſelben Platze wie das erſte Mal ſtehen und ſagte,
wiederum Oswald fixirend:
„Keine Menſchenmöglichkeit nicht, gnädige Frau.“
„Aber Baumann, das iſt ja jammerſchade. Der
Herr Doctor Stein iſt eigens aus Grenwitz, und noch
dazu zu Fuß herübergekommen, um mit Herrn Bem¬
perlein über Julius zu ſprechen. Und nun ſind die
Beiden fortgefahren, und wir können ihm nicht einen
Biſſen, nicht ein Glas Wein vorſetzen; und ich ſelbſt
habe heute Mittag, wie Er ſelbſt geſehen hat, gar nichts
gegeſſen und komme nun faſt um vor Hunger.“
Oswald mußte ſich ſehr zuſammennehmen, daß ſich
das ihm anbefohlene Lächeln nicht in ein ſchallendes
Gelächter verwandelte, als er ſah, wie die Miene des
[172] alten Mannes bei jedem Worte, das Melitta ſprach,
heller und heller wurde, wie er den vorher auf den
Gaſt fixirten Blick von dieſem zu jener, von jener zu
dieſem wandte, als wollte er ſagen: Na, ſeht ihr,
junges Volk, daß ihr ohne den alten Baumann nicht
fertig werden könnt! und zuletzt ſagte:
„Nun, was den Kellerſchlüſſel betrifft, ſo habe ich
ſelbigen wie immer in meiner Taſche, gnädige Frau.“
„Ja, das iſt ja auch wahr, und wie iſt es mit
dem Speiſekammerſchlüſſel?“
„Eine Menſchenmöglichkeit iſt noch, daß Mamſell
ihn wieder unter den Abſtreicher gelegt hat, trotzdem
ich ſie ſchon oft dieſerhalb verwarnet habe.“
„Will er denn einmal nachſehen, Baumann?“
„Zu Befehl.“
Sobald ſich die Thür hinter dem alten Manne
geſchloſſen hatte, warf ſich Melitta lachend in einen
Schaukelſtuhl.
„Habe ich es nicht geſagt?“ rief ſie, ſich hin- und
herwiegend, luſtig wie ein Kind, das ſeinen Willen
durchgeſetzt hat; „habe ich es nicht geſagt?“
Oswald hatte ſich ihr gegenüber an den großen
runden Tiſch geſetzt, auf dem ein aufgeſchlagenes Album
und allerlei Zeichenmaterialien lagen. Seine Hand
[173] ſpielte mit einer Bleifeder, während er Melitta, in Ge¬
danken verloren, anſchaute.
„Wollen Sie mich zeichnen?“ rief Melitta.
„Ich wollte, ich könnte.“
„Warum nicht, da liegt mein Album.“
„Das hilft mir nichts. Lehren Sie mich erſt die
Kunſt, unmittelbar mit den Augen malen zu können.“
„Sehen Sie, das iſt es gerade, was ich immer
wünſche. Wie oft, wenn mich eine Landſchaft, eine
Geſtalt, ein Geſicht intereſſiren, denke ich: jetzt mußt
du's treffen; und will ich nun auf das Papier bannen,
was mir ſo klar vor den Augen ſteht, wird's eine
Stümperei.“
„Ich bin überzeugt, Ihr Album wird das Gegen¬
theil beweiſen; darf man es beſehen?“
„Nein, man darf es nicht; aber Sie dürfen es.
Im Grunde hat es nur Werth für mich; denn für
mich ſteht nicht nur das darin, was ich gezeichnet habe,
ſondern auch, was ich habe zeichnen wollen. Ueber¬
dies iſt mir mein Album eine Art von Tagebuch.
Dieſes hier werde ich kurz vor meiner italieniſchen
Reiſe angefangen haben.“
„So waren Sie in Italien?“
„Vor zwei Jahren mit meinem Vetter Barnewitz
und ſeiner Frau. Ich wollte, Sie wären auch von
[174] der Parthie geweſen; einmal Ihrethalben, denn Sie
ſind es werth, Italien zu ſehen, und ſodann meinet¬
halben, die ich dann hoffentlich nicht allein, oder in
Begleitung von Wachspuppen durch die herrlichſten
Gegenden und die reichſten Gallerien hätte wandern
müſſen. Damals, wie ſtets, war es das Album, deſſen
geduldigem Papier ich Alles ſagte, was ſonſt Niemand
hören wollte.“
Melitta hatte ſich erhoben und ſich neben Oswald
geſtellt, der aufſtehen wollte, ihr einen Stuhl heran¬
zurücken. Sie aber, ihn daran zu verhindern, legte
die Hand leicht auf ſeinen Arm und ließ ſie dort ein
paar Augenblicke ruhen, — ein paar Augenblicke, und
doch lange genug, daß Oswald's Hand zitterte und
ſeine Stimme bebte, als er jetzt, die erſten Blätter
umwendend, ſagte:
„Dieſe Skizzen ſind noch vor der italieniſchen
Reiſe gezeichnet. Hier iſt der geheimnißvolle Teich,
an deſſen Rand ich heute Nachmittag geſchlafen und
geträumt habe.“
„Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie ge¬
träumt haben.“
„Doch, ich ſagte Ihnen ja: ſüßes, närriſches Zeug.“
„Von einer Dame natürlich?“
„Ja.“
[175]„So wäre es indiscret, mehr wiſſen zu wollen.“
„Ach, wie reizend!“ rief Oswald, als er das nächſte
Blatt umſchlug. „Wie heimlich verſteckt liegt dieſes
Häuschen im Walde! Gleich treuen Rieſenwächtern
umſtehen es die alten Fichten. Wie eine ſchützende
Gottheit breitet die Buche ihr mächtigen Aeſte darüber
hin. Als wollten ſie ſagen: Du biſt unſer! klettern
die Schlingpflanzen daran hinauf und ſchaukeln ſich
vor den niedrigen Fenſter. Und wie träumeriſch
ſchleicht der Bach zwiſchen hohen Binſen und Farren¬
kräutern hier durch die ſaftige Wieſe im Vordergrund!
— das iſt wunderhübſch gedacht,“ ſagte Oswald, von
dem Blatt zu Melitta emporblickend.
„Und weil Sie Alles ſo hübſch nachempfunden haben,
ſo will ich Sie noch heute an Ort und Stelle führen.“
„Wie? ſo iſt dies keine Phantaſie?“
„Bewahre! höchſtens die Enten hier, die ſich vor
dem Habicht in die Binſen ducken. Das Bächlein iſt
der Abfluß Ihres geheimnißvollen Sees im Walde.“
„Alſo nur eine Fortſetzung meines Traumes,“
ſagte Oswald weiter blätternd.
Ein loſes Blatt kam ihm zunächſt in die Hände.
Der Kopf eines Mannes im Profil war in ſchönen,
kühnen Linien darauf gezeichnet. In einer Ecke ſtan¬
den die Buchſtaben A. v. O. und ein Datum.
[176]
„Das Blatt wird verloren gehen,“ ſagte Oswald.
„Mag es!“ antwortete Melitta.
Der Ton, in welchem ſie dieſe beiden Worte ſprach,
war ſo eigenthümlich, ſo ganz ohne die gewöhnliche
Süßigkeit ihrer Stimme, daß Oswald unwillkürlich zu
ihr aufſchaute. Er ſah, daß ihre ſchönen Brauen wie
im Schmerz zuſammengezogen waren, und ihre Lippen
zuckten. Er ſenkte ſogleich ſeinen Blick und wollte das
Blatt umſchlagen. Melitta legte ihre Hand auf ſeinen
Arm und ſagte leiſe:
„Wie finden Sie den Kopf?“
Ein Sturm brauſte durch Oswald's Seele. Er
hätte ſich von dem Seſſel zu Melitta's Füßen werfen
und ausrufen mögen: ich liebe Dich ja, Melitta! Wie
kannſt Du mein Urtheil hören wollen über den Mann,
den Du geliebt haſt, vielleicht noch liebſt. . . Aber er
bezwang ſich und ſagte mit ſcheinbarer Ruhe:
„Es iſt der Kopf eines Mannes, auf den mir
Taſſo's Worte zu paſſen ſcheinen:
Dieſer Mann wird niemals glücklich ſein, weil er nie¬
mals wird glücklich ſein wollen.“
„Und darum,“ ſagte Melitta, „iſt dieſer Mann aus
[177] meinem Leben losgelöſt, wie dies Blatt aus dem Album.
Wenn man die Erinnerung tödten könnte, wie man ein
Blatt vernichten kann, ſo läge es nicht mehr hier. Da
das aber nicht geht, ſo mag es bleiben, wo es iſt.
Weiter!“
Der Sturm in Oswald's Seele war vorüber¬
gebrauſt. Wie lindes Wehen des Frühlings überkam
ihn der Gedanke: Sie könnte und würde dir das nicht
ſagen, wenn ſie dich nicht ihres Vertrauens und ihrer
Freundſchaft für würdig erachtete. Und ein Gefühl
unſäglichen Glücks durchbebte ihn bei dieſem Gedanken.
Es war für ihn jener hochherrliche, feierliche Augen¬
blick, der einmal oder das anderemal jedem Menſchen
in der Nacht ſeines Lebens ſtrahlt — jener Augenblick,
wo die Himmel ſich uns aufthun, und die Engelſchaaren
herniederſteigen, und Friede, Friede, Friede! in unſer
gläubiges Herz ſingen.
In dieſer ſeligen Stimmung durchmuſterte er die
folgenden Blätter, die Melitta auf ihrer italieniſchen
Reiſe gezeichnet hatte: Landſchaften mit heitern, klaren
Linien, Skizzen aus Städten: Paläſte, Straßen, Ruinen,
zwiſchendurch ein keckes Lazaronigeſicht oder ein träu¬
meriſches Mädchenantlitz. Dann folgten Studien nach
der Antike, zum Theil ſehr fleißige Studien, denn
Manches war wieder und wieder gezeichnet, bevor es
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen I. 12[178] dem regen Schönheitsſinn Melitta's genügt hatte.
Beſonders ſchön war der Kopf der Venus von Milo.
Auf einem der nächſten Blätter war die ganze Geſtalt.
Wo haben Sie das gezeichnet?“ fragte Oswald;
doch unmöglich nach einer Copie?“
„Nein, nach dem Original ſelbſt. Ich war damals
in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich
in Paris im Louvre die hohe Geſtalt ſah, da ſagte
ich zu mir: dieſe oder keine iſt deine Heilige. O, Sie
glauben nicht, wie ſchön ſie iſt, wie ſchön und wie gut!
und dieſer Ausdruck himmliſcher Güte, den die Milo¬
niſche Venus nicht nur vor allen andern Venusbildern,
ſondern auch vor ſämmtlichen antiken Köpfen voraus
hat, rührte mich faſt noch mehr wie ihre göttliche
Schönheit. Vor der Miloniſchen Venus habe ich es
zum erſten Male begriffen, wie es möglich ſei, vor
einem Bilde, das Menſchenhand geſchaffen, zn beten,
aufrichtig, inbrünſtig zu beten. Warum ſtützen Sie
den Kopf ſo nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen
Sie dieſen Bleiſtift und ſchreiben Sie mir unter das
Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es
Ihnen angeſehen, daß Sie Verſe machten.“
Oswald nahm den Griffel, den ihm Melitta halb
im Scherz und halb im Ernſt bot, und ſchrieb, wäh¬
[179] rend die ſchöne Frau ihm über die Schulter blickte,
mit zitternder Hand:
Oswald legte den Griffel aus der Hand und ſchaute
zu Melitta empor. Sein Blick begegnete dem ihrigen.
Für ein paar Momente ruhten ihre Augen ineinander,
als ob ſie Einer in des Andern Seele leſen wollten.
Da erſchien in der Thür zum Nebenzimmer, aus
dem man ſchon ſeit einiger Zeit das Klappern von
Tellern gehört hatte, der alte Baumann mit einer
Serviette unter dem Arm und ſagte feierlich, wie der
Comthur im Don Juan:
„Gnädige Frau, es iſt angerichtet.“
12*[180]„Schnell, kommen Sie, ehe unſer Habermus kalt
wird,“ rief Melitta.
„Nur noch die paar Blätter erlauben Sie,“ ſagte
Oswald; „ich ſehe, es iſt gleich zu Ende.“
„Es iſt nichts von Bedeutung mehr darin,“ ſagte
Melitta faſt ungeduldig.
„Ei, das iſt ja der Park von Grenwitz,“ rief Os¬
wald, indem er, vom Seſſel ſich erhebend, das letzte
Blatt aufſchlug. „Der Raſenplatz hinter dem Schloſſe.
Hier die Flora, dort Bruno im vollen Lauf —“
„Und hier ſind Sie!“
„Wo?“
„Dort.“
„Dieſer Nebelſtreif?“ ſagte Oswald, auf eine Stelle
rechts neben der Flora deutend, wo man von einer
Figur, die mit Gummi wieder weggewiſcht war, noch
eben die Umriſſe erkennen konnte.
„Dieſer Nebelſtreif!“ antwortete lachend Melitta.
„Ich wollte Sie erſt in Ihrer wirklichen Geſtalt zeich¬
nen, konnte aber nicht damit zu Stande kommen. Jetzt
ſollen Sie als Erlkönig figuriren, der den Knaben
Bruno haſcht; das heißt Bruno's Leib, denn ſeine
Seele gehört Ihnen ſchon. Wie haben Sie es nur
angefangen, den jungen Leoparden in den paar Tagen
vollſtändig zu zähmen?“
„Durch ein Bischen aufrichtige Liebe. Shakeſpeare
nennt als untrügliches Mittel, die Menſchen zu fangen,
die Schmeichelei; ich finde, daß die Liebe ein noch viel
ſichereres und dabei viel edleres iſt.“
„Und iſt nicht die Liebe die größte Schmeichelei?“
So ſprachen Oswald und Melitta, während ſie in
das Nebenzimmer gingen, ein hohes, ſchönes, mit alter¬
thümlichen Möbeln ausgeſtattetes Gemach, in deſſen
Mitte auf einem runden Tiſchchen allerlei Erfriſchungen
gar einladend ſervirt waren. Hinter dem einen der
beiden reichgeſchnitzten, hochlehnigen Stühle ſtand kerzen¬
gerade, die Serviette unter dem Arm, der alte Bau¬
mann, einer Anerkennung ſeiner ausgezeichneten Ver¬
dienſte und fernerer Befehle gewärtig.
„Nun was bietet uns denn unſer Tiſchlein-decke-dich?“
ſagte Melitta, ſich ſetzend und Oswald mit einer Hand¬
bewegung einladend, ihrem Beiſpiele zu folgen.
„Kalten Braten — Eingemachtes — ganz char¬
mant, Baumann! Mamſell wird ſich ärgern, daß wir
ohne ſie fertig geworden ſind.“
„Mamſell iſt vor einigen Minuten von Faſchwitz
retournirt,“ ſagte Baumann, der an einem Nebentiſche
eine Flaſche entkorkte.
„Ich wette, ſie iſt gar nicht fortgeweſen,“ flüſterte
[182] Melitta lächelnd Oswald zu. „Was haben wir denn
für unſern Gaſt zum Trinken, Baumann?“
„Steineberger Cabinet, zweiundzwanziger,“ ſagte
Baumann, Oswald's Glas mit dem goldigen Weine
füllend.
„Und für mich?“
„Friſches Brunnenwaſſer, etwa mit Himbeerſaft,“
antwortete Baumann kaltblütig, die Flaſche mit dem
Stöpſel darauf vor Oswald hinſtellend.
„Damit bin ich heute ſchlechterdings nicht zufrieden,
Baumann! Wie ſteht es denn mit unſerm Champagner?“
„Reine alle, gnädige Frau.“
„Aber wir haben ja doch neulich erſt eine Kiſte
bekommen?“
„Steht noch nietennagelfeſt im Keller.“
„Ach, das iſt ja jammerſchade,“ klagte Melitta.
„Und ich komme faſt um vor Durſt, und muß nun
gerade heute ein ſolches Verlangen nach Champagner
haben.“
„Nu, nu,“ tröſtete Baumann, „wird ſich ja noch
verwerkſtelligen laſſen.“
Damit ſchritt er zur Thür hinaus.
„Sehen Sie, ſo muß ich mir in meinem eigenen
Hauſe Alles zuſammenbetteln,“ ſagte Melitta, „aber
Sie eſſen ja nicht! Und was für ein Stück Sie ſich
[183] da genommen haben! Das ſchlechteſte auf dem ganzen
Teller. Gott, was ſeid ihr Männer doch für hülfloſe,
unpraktiſche Geſchöpfe! Ich merke ſchon, daß ich für
Sie ſorgen muß.“
Und ſie begann, trotz Oswald's Verſicherung, daß
er gar keinen Hunger habe, ſeinen Teller mit dem
Beſten, was ſie auf dem Tiſch entdecken konnte, zu
füllen.
Es ſchmeckt Ihnen nicht,“ ſagte ſie endlich faſt
traurig, als ſie ſah, daß der junge Mann ſelbſt jetzt
die Speiſen kaum berührte. „Sind ſie krank?“
„Ich befand mich im Leben nicht wohler. Aber
ſind Sie nie in der Stimmung geweſen, wo man
Eſſen und Trinken für das Ueberflüſſigſte von der Welt,
und die himmliſchen Götter ſelbſt, die doch noch des
Nektars und des Ambroſia bedurften, für ſehr arm¬
ſelige Götter hält?“
„O gewiß kenne ich ſolche Stimmungen,“ antwortete
Melitta; „genau ſo war mir zu Muthe, als ich von
meiner Tante zum erſten Mal auf den Ball geführt
wurde. Aber das iſt lange, undenkbar lange her;
ſeitdem hat meine Stimmung, ſo viel ich weiß, mit
meinem Appetit nie wieder etwas zu thun gehabt.“
Trotz dieſer Prahlerei indeſſen blieb auch für Me¬
litta außer ein paar eingemachten Früchten alles auf
[184] der Tafel Schaugericht. Das ſüße Feuer, das ihren
Buſen höher wallen und ihre ſchönen Augen in noch
zärtlicherem Lichte ſtrahlen machte, bedurfte zu ſeiner
Nahrung nicht der Gaben der Ceres. Zum erſten
Male an dieſem Nachmittage gerieth das Geſpräch
in's Stocken. Von dem, was ihre Herzen bis zum
Zerſpringen füllte, wagte Keiner zu ſprechen; und
Alles ſonſt erſchien ſo gleichgültig, ſo nüchtern! Eine
Verlegenheit, die ſie vergebens hinter dem Anſchein
der Unbefangenheit zu verbergen ſich bemühten, über¬
kam ſie. Beide fühlten, wie eine ſtarke, unſichtbare
Hand ihnen die Masken, mit denen wir auf dem Car¬
neval des Lebens unſere wahren Geſichter vor einander
verhüllen, langſam abſtreifte. Wenn wir die Stimme
des Gottes der Liebe hören in dem Garten des Pa¬
radieſes, ſo verſtecken wir uns vor ihm, und wenn er
ſpricht: wo biſt Du? wagen wir nicht zu antworten...
Aus dieſer wunderlichen Lage erlöſte ſie der alte
Baumann, der jetzt das närriſche Kind der Champagne
in ſeiner ſilbernen, mit Eis gefüllten Wiege herbei¬
brachte, und vor Oswald auf den Tiſch ſtellte. Wie
er es in den wenigen Minuten bewerkſtelligen konnte,
aus dem tiefen Keller und der „nietennagelfeſten“ Kiſte
das Gewünſchte herbeizuſchaffen, war eines der Räthſel,
in die ſich der gute alte Mann zu hüllen liebte, und
[185] die er für jedes ſterbliche Auge undurchdringlich hielt.
Mit kunſtgerechter Hand die Flaſche entkorkend, füllte
er den perlenden Wein in die langen zierlichen Kelche,
die er vom Büffet genommen, und ſchaute wohlgefällig
lächelnd zu, wie ſeine Herrin faſt gierig den ſüßen
Trank ſchlürfte und ihm das geleerte Glas hinhaltend
rief: „Encore, Baumann! und ſchenke Er ſich auch
ein Glas ein, und trinke Er es auf das Wohl unſeres
Gaſtes!“
Der alte Diener that, wie ihm geheißen; füllte ſich
am Büffet ein Glas, und dann, auf zwei Schritt an
den Tiſch herantretend, rief er:
„Zuerſt auf Ihr Wohl, gnädige Frau! denn das
geht mir doch über Alles. Und möge der liebe Gott
Ihre Augen allzeit ſo fröhlich blicken laſſen, wie zu
dieſer Stunde! Und ſodann auf Ihr Wohl, junger
Herr! und möge der Himmel Ihren Eingang in dieſes
Haus geſegnen, daß nichts als Frieden und Freude
daraus komme. Und das wünſcht Ihnen der alte
Baumann!“
So ſprach er und leerte langſam das Glas, den
Kopf zurückbiegend, bis ſein Auge auf den pausbackigen
Engelskopf in der Stuckatur der Decke gerade über
ſeinem Scheitel traf; und das geleerte Glas dann
wieder auf das Buffet ſetzend, trat er an's Fenſter,
[186] dem Paar am Tiſch den Rücken zukehrend, wie um
ihre Unterhaltung nicht weiter zu ſtören.
Die Gegenwart des alten Dieners und der bele¬
bende Wein hatten ihre Zungen wieder gelöſt und
ihre Blicke kühner gemacht. Sie ſchwatzten, ſcheinbar
unbefangen, über allerlei gleichgültige Dinge, bis Os¬
wald Melitta an ihr Verſprechen, ihn noch heute nach
dem Häuschen im Walde zu führen erinnerte.
„Habe ich Ihnen das verſprochen?“ ſagte Melitta.
„Nun ſo muß ich es auch wohl thun, obgleich es mir
jetzt beinahe leid iſt, denn Sie glauben nicht an meine
Heilige, und ſind deshalb nicht würdig ihre Kapelle
zu betreten.“
„Ihre Heilige?“
„Die hohe Frau von Milo. Ich muß Ihnen
jetzt auch nur erzählen, wie weit meine Schwärmerei
für die Göttliche ging. Nach meiner Rückkehr ver¬
folgte mich die Erinnerung an das ſchöne Bild im
Louvre ſo, daß ich nicht ruhte, bis ich mir von Paris
mit nicht geringen Koſten eine ausgezeichnete Gyps¬
copie verſchafft hatte. Weil ich aber nicht wagte,
meine Heilige hier im Hauſe aufzuſtellen, brachte ich
ſie nach dem Häuschen im Walde, das ſo eine Wald¬
kapelle wurde, zu der ich jedes Mal, wenn Beſuch in
Berkow iſt, den Schlüſſel verloren habe; und wo ich
[187] oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen
Menſchen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert
haben, und ich, da ich keine Geſellſchaft haben kann,
wie ich ſie wünſche, wenigſtens ganz einſam ſein will.“
„Und da machen Sie dann mit dem Harfner im
Wilhelm Meiſter die traurige Erfahrung, daß „wer
ſich der Einſamkeit ergiebt, bald allein iſt;“ aber Ihnen
hätte ich ſolche hypochondriſche Grillen am wenigſten
zugetraut.“
„Warum nicht mir?“
„Weil Sie ſo gut und ſo heiter blicken — blicken
können.“
„Und wiſſen Sie nicht, daß gerade die heitern
Augen am leichteſten weinen?“
„Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht
weinen ſehen; ich glaube, das könnte mir das Lachen
auf immerdar verleiden.“
Und wieder ruhten ihre Blicke ineinander, und ihre
Seelen küßten ſich.
„Nun denn, ſo kommen Sie!“ ſagte Melitta.
„Es zieht ein Gewitter herauf,“ bemerkte der alte
Baumann vom Fenſter her, ohne ſich umzuwenden.
„Bis es herauf iſt, ſind wir längſt drüben;“ ſagte
Melitta, die ſich ſchon erhoben hatte. „Und wenn Sie
[188] ſich vor einem Gewitter nicht mehr fürchten, wie ich —
oder fürchten Sie ſich vor einem Gewitter?“ —
Oswald lächelte.
„So ſoll uns das wahrlich nicht abhalten. Uebri¬
gens ſehe ich vom Gewitter keine Spur;“ ſagte ſie
ſchon in der Thür des Gartenſaales.
In dieſem Augenblick zog ein blauer Schatten über
den Garten, und eine Schaar Schwalben ſchoß zirpend
und ſchreiend, dicht über die Erde ſtreifend, an der
Thür vorbei.
„Wollen wir doch lieber bleiben?“ ſagte Melitta,
die ſchon den Fuß über die Schwelle geſetzt hatte, zu
Oswald zurückgewandt.
„Ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter,“ ant¬
wortete Oswald, nicht nach dem Himmel, ſondern in
ihre Augen blickend.
„Und im Walde iſt es gerade am ſchönſten im
Sturm und Gewitter!“ rief Melitta. „Adieu, Bau¬
mann! Wenn der Wagen von Grenwitz kommt, ſchicke
Er ihn nach der Förſterei. Der Kutſcher ſoll ſich im
Waldhäuschen melden.“
Baumann ſchaute den Enteilenden nach, bis Melitta's
weißes Kleid zwiſchen den Büſchen verſchwunden war.
Wer ihn ſo auf der Schwelle des Hauſes ſtehen
ſah, den alten, hohen Mann, mit dem weißen Bart
[189] und dem narbenvollen Geſicht, die noch immer ſtarken
Arme über der treuen Bruſt verſchränkt und die klugen,
treuen Augen nachdenklich in die Ferne gerichtet —
der mochte wohl denken, daß ein beſſerer Wächter nicht
könnte gefunden werden. Aber ach! das Haus war
leer; die geliebte Herrin war davon geeilt, hinein in
den gewitterſchwülen Abend mit dem Fremden, dem
Manne, den ſie ſeit geſtern kannte. Und er, der treue
Diener, ſeufzte tief, während er mit geſenktem Haupte
durch den Saal in das Eßzimmer zurückſchritt und
langſam den Tiſch abzuräumen begann. „Die guten
Gottesgaben kaum berührt,“ murmelte er, „das ge¬
fällt mir nicht. Wenn junges Volk keinen Hunger im
Magen hat, hat es Narrenſpoffen im Kopf. Und an
dem Wein haben ſie auch nur genippt. Da ſteht die
Flaſche noch halb voll — und morgen iſt er nicht
mehr zu trinken ... morgen ...“ Der alte Mann
ſetzte ſich an den Tiſch und ſtützte ſein ſorgenvolles,
graues Haupt auf die runzlige Hand. „Aber an
Morgen denkt das junge Volk nicht. Morgen iſt der
junge Herr mit ſeiner weichen Stimme und ſeinen
großen blauen Augen wieder drüben in Grenwitz, und
wer weiß, wo er übermorgen iſt. Aber der alte Bau¬
mann iſt hier — morgen und übermorgen; und wenn
die Gäſte fort ſind, ſieht das Haus ganz anders aus,
[190] und beim Auskehren, da findet es ſich ... Ja, ja,
der alte Baumann ſieht, was die Andern nicht ſehen,
und hört, was die Andern nicht hören. — Ach, Bau¬
mann, ich wollte ich wäre todt! ach, Baumann, warum
hat er mich damals aus dem Feuer getragen! — Jetzt
ſagt ſie: ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter und:
ſchicke er uns [nur] den Wagen nach, Baumann! Hm,
hm! ich hätte es eigentlich nicht zugeben ſollen; ich
hätte ſie bei Seite nehmen ſollen und zu ihr ſagen:
Höre Kind, ſo und ſo! denke an das und das! ...
Aber wenn ich die Kleine ſo glücklich ſehe, ſo fröhlich,
wie damals, als ich ſie zuerſt auf dem Pony reiten
lehrte, ein zwölfjähriges Ding, und ſie ſagte: bitte,
bitte, lieber Baumann, nun laß er uns einmal ordent¬
lich jagen, da konnte ich auch nicht nein ſagen, und
fort ging es, was die Thiere laufen wollten. Gerade
ſo große, ſtrahlende Augen hatte ſie heute Abend wieder,
und gerade ſo roſig und friſch ſah ſie wieder aus.
Das arme, arme Kind! ... Ja ſo, du wollteſt ja
nachſehen, ob oben die Fenſter alle ordentlich ſchließen,
es iſt von wegen des Gewitters."
Vierzehntes Kapitel.
Fröhlich wie Kinder aus der Schule eilten Oswald
und Melitta aus dem Hauſe durch die grünen Laub¬
gänge des Gartens nach der Pforte, die aus dieſem
heraus auf die Wieſen führte. Hinter der allmälig
aufſteigenden Wieſe ragte der Wald. Gleich neben der
Pforte und ein Stück am Garten hin lag ein halb
verſumpfter, hie und da am Rande mit Weiden be¬
ſetzter Teich, da ſich das Waſſer des Waldbaches an
dieſer tiefer gelegenen Stelle abermals ſtaute, um dann
an dem Gutshof vorüber und hernach durch das Dorf
luſtig hinabzuplätſchern. Auch die Wieſe war ſchon
zum Theil verſumpft, mochte auch wohl im Frühjahr
ganz unter Waſſer ſtehen; jetzt dienten große Steine
als rohe Brücken über gar zu naſſe Stellen.
„Der Weg iſt für Stadtherren ein wenig ſehr
ländlich, nicht wahr, Herr Doctor?“ ſagte Melitta,
[192] leicht wie eine Gazelle von Stein zu Stein hüpfend:
„wir Naturkinder freilich ſind an dergleichen gewöhnt.
Ich hätte ſie auch den längern Weg durch den Park
und den Wald führen können; aber ſie müſſen Berkow
auch von ſeiner Schattenſeite kennen lernen.“
„Nun wahrlich, gnädige Frau, wenn dies eine
Schattenſeite von Berkow iſt, ſo verlangt mich nicht
nach den Sonnenſeiten,“ ſagte Oswald lächelnd, in¬
dem er auf einem der Blöcke ſtehen blieb und ſeinen
Hut abnahm, um ſich den Schweiß von der Stirn zu
wiſchen. Denn die Luft war ſchwül, der blaue Schatten
war vorübergezogen, die am Rande des Holzes ſtehende
Sonne ſchoß glühende Strahlen, und ſie waren ſchnell
gegangen.
„Schon müde?“ ſagte Melitta, ebenfalls ſtehen
bleibend und ſich den Hut abnehmend, um ihr reiches,
braunes Haar nach hinten zu ſchütteln; „kommen Sie,
je ſchneller wir laufen, deſto früher kommen wir in
den ſchattigen Wald. Ich zähle eins, zwei, drei —
und wer zuerſt ankommt —“
„Nun?“
„Das wird ſich finden, Eins, zwei, drei — oh!“
Melitta war von dem Stein, auf welchem ſie
ſtand, auf einen andern, niedrigeren geſprungen, und
[193] ſank mit einem Ausruf des Schmerzes in die Knie.
Im Nu war Oswald an ihrer Seite.
„Mein Gott, was iſt Ihnen, gnädige Frau?“
„O, nichts, nichts! Ich habe mir im Springen den
Fuß etwas vertreten, es wird gleich wieder beſſer ſein.“
Sie ſtützte ſich auf Oswalds Arm; blaß und vor
Schmerz die Unterlippe zwiſchen den Zähnen preſſend.
Aber die Farbe kam ihr wieder, als ſie zu Oswald
aufſchaute.
„Sein Sie unbeſorgt,“ ſagte ſie — und ihre
Stimme klang ſüßer wie je — „Ihre Wette haben
Sie doch gewonnen. So! jetzt wird es ſchon wieder
gehen.“
Sie wollte ihren Arm aus Oswalds Arme ziehen;
er aber mochte die ſchöne Beute nicht ſo bald wieder
fahren laſſen.
„Sie können, ohne ſich zu ſtützen, noch nicht gehen,
und misgönnen Sie mir die Freude, Ihnen dieſen ge¬
ringen Dienſt leiſten zu dürfen?“
„Ich fürchte nur, der Weg iſt bei der Sonnengluth
für Sie ſelbſt beſchwerlich genug. Oh!“
Ein falſcher Tritt ließ Melitta abermals zuſammen¬
ſinken.
„Wir werden ſtehen bleiben müſſen,“ ſagte ſie.
„Ich will Sie die paar Schritte bis an den Wald
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen I. 13[194] hinauftragen; Sie können ſich da wenigſtens im Schatten
ausruhen.“
Melitta lächelte. „Ich bin nicht ſo leicht wie eine
Puppe.“
„Und nicht ſo ſchwach wie ein zehnjähriges Mäd¬
chen,“ rief Oswald, umfaßte Melittas ſchlanken Leib
und ſie emporhebend, trug er ſie ſicher, wie die Mutter
ihr Kind, über die letzten Steine hinauf bis an den
Waldrand, wo die breiten Kronen der Buchen Schatten
und Kühlung ſpendeten. Dort ließ er ſie ſanft aus
ſeinen Armen auf das dichte Moos gleiten, indem er
ſelbſt vor ihr ſtehen blieb. Melitta hatte ſich von dem
Augenblicke an, wo der kühne junge Mann ſie empor¬
hob, nicht weiter geſträubt; ſie fühlte alsbald, daß er
ſtark genug ſei, ſie zu tragen; aber ſie hielt es für
thörigt, ihm die Laſt nicht ſo viel wie möglich zu er¬
leichtern, und hatte ſich dicht in ſeine Arme geſchmiegt.
„Wie ſtark Sie ſind!“ ſagte ſie jetzt, bewundernd
zu ihm aufſchauend.
„Oswalds Herz hämmerte und ſeine Bruſt wogte,
mehr vor innerer Erregung, als in Folge der An¬
ſtrengung. Er fühlte noch immer die elaſtiſchen Glieder,
die er in ſeine Arme gepreßt, das weiche Haar, das
ſein Geſicht umſpielt, den ſüßen Athem, der ſeine Stirn
umweht hatte.
[195]
„Unter ſolchen Umſtänden wäre es eine Kunſt, nicht
ſtark zu ſein,“ antwortete er.
„Aber angegriffen hat es Sie doch, geſtehen Sie
es nur. Kommen Sie und ſetzen Sie ſich zu mir;
auf dieſem Moosſopha iſt Platz für mehr als zwei.“
Oswald ließ ſich neben Melitta, die ſich an den
Stamm der Buche lehnte, in das weiche Moos ſinken,
ſtützte den Kopf auf den Arm und ſchaute ſinnend em¬
por in ihr heiteres Antlitz. — Nahte ſich der Traum
am Sumpfesrand der Erfüllung? wird ſich das liebe,
holde Geſicht zu ihm niederbeugen und ihn küſſen, wie
die Traumgeſtalt? Oder iſt dies wieder nur ein Traum?
. . . Es überkam Oswald das wunderliche Gefühl, als
habe er dies Alles ſchon einmal erlebt; als kennte er
dieſen Platz: hier den dunkeln Hochwald, aus dem das
Klopfen eines Spechtes ertönte, — vor ihm die Wieſe,
über deren langes Gras rothe Abendlichter wogten, —
drüben den ſtillen Garten, aus deſſen grünem Revier
Melittas graues Schloß hervorragte — ſeit vielen,
vielen Jahren; — als habe er Melitta ſelbſt in ſeinem
früheren Leben oft geſehen, als Knabe ſchon, wenn er
ſich recht tief in ein ſchönes, lauſchiges Mährchen hin¬
eingeleſen hatte, ſo daß zuletzt die holde Prinzeſſin or¬
dentlich leibhaftig vor ihm ſtand . . . und auch Melitta
mußte Aehnliches empfinden, denn vollkommen unbe¬
13*[196] fangen, als wäre er ihr Bruder oder Gatte, nahm ſie
ihm den Hut vom Haupt und drückte ihm ihr feines,
duftendes Taſchentuch wiederholt auf die perlende Stirn
und die blauen, träumeriſchen Augen.
Oswald ergriff die liebe Hand und preßte ſie an
ſeine Lippen.
„Die Hand muß ich Ihnen freilich laſſen,“ ſagte
er; „aber das Tuch kann ich Ihnen wahrlich nicht
wiedergeben.“
„So behalten Sie es als Andenken an dieſe Stunde.
Aber jetzt wollen wir weiter. Wir haben bis zur
Waldkapelle doch noch eine ziemliche Strecke und der
Himmel ſieht in der That drohend aus.“
Melitta lehnte ſich auf Oswalds Arm, als ſie jetzt
den ſchmalen Pfad einſchlugen, der erſt durch Buchen,
dann zwiſchen einer Schonung jungen Laubholzes auf
der einen und hochſtämmigen Nadelholzes auf der andern
Seite tiefer in den Wald führte. Die Sonne goß über
die niedrigen Büſche fort ihre letzten Strahlen purpurn
über die Wipfel der Tannen; ein Vöglein ſtrömte in
weichen, klagenden Tönen, als wenn es Abſchied nähme
von der Sonne und vom Leben, ſeine ſüßen Abendlieder
aus. — Dann erloſch die Purpurgluth droben, das
Vöglein verſtummte und Schatten nur Stille umfing
die Liebenden. Aber der Schatten wurde düſterer und
[197] drohender, und die Stille wurde ſeltſam unterbrochen
von dem Knarren und Stöhnen der Tannenrieſen, die
ihre ſtarken Glieder reckten und dehnten, als wollten
ſie prüfen, ob ihre Kraft noch ausreiche, dem Gewitter¬
ſturm, der über den Wald heraufzog, zu trotzen. Und
jetzt begann es in den Büſchen unheimlich zu ziſcheln
und zu flüſtern, dürres Laub flog, wie in toller Angſt,
her vor der Windesbraut, die ſauſend in das Blätter¬
meer ſchlug, die Kronen der Buchen wie wahnſinnig
durch einander peitſchte, die hohen Wipfel der Tannen
mächtig bog und den Wald bis in die tiefſten Gründe
aus ſeiner Ruhe ſchreckte. Das fahle Licht eines Blitzes
zuckte auf; ſchon fielen große warme Tropfen durch
die Blätter.
Melitta hatte ſich dicht an Oswald geſchmiegt,
deſſen Herz mit dem Sturm aufjauchzte. Die Geliebte
mit dem einen Arm an ſich drückend, ſtreckte er wie
zum Kampf den andern zum gewitterſchwarzen Himmel
auf. „Nur zu, nur zu!“ murmelte er durch die zu¬
ſammengepreßten Zähne; „ich fürchte Dich nicht! . . .
Wie, gnädige Frau, iſt Ihr Muth ſchon zu Ende? O,
es iſt ſchön im ſtürmenden, donnernden Walde.“
Melitta ſprach kein Wort; die Augen nicht vom
Boden erhebend, eilte ſie weiter, ſchneller und immer
ſchneller, bis der Wald ſich zu einer weiten Lichtung
[198] öffnete; und da lag vor ihnen, in dieſem Augenblick
von dem röthlichen Lichte eines Blitzes hell erleuchtet,
die Waldkapelle. Nur ein paar Schritte noch und ſie
langten unter dem weit vorſpringenden Dache des im
Schweizerſtyl allerliebſt ausgeführten Häuschens an.
Raſch erſtieg Melitta die Stufen, die zu der niedrigen
Veranda hinaufführten; ſie nahm einen kleinen Schlüſſel
aus der Taſche ihres Kleides, drehte das Schloß auf,
aber, anſtatt die Thür zu öffnen, lehnte ſie ſich zitternd
gegen den Pfoſten. Sie war bleich; ihre Kraft ſchien
gänzlich erſchöpft; ſie drückte die Hand auf das po¬
chende Herz. So ſah ſie Oswald, als er den Blick
von der im Regen dampfenden Wieſe — ein Anblick,
der ihn ſtets mit einer eigenthümlichen Luſt erfüllte —
zu ihr wendete.
„Mein Gott, gnädige Frau, was iſt Ihnen? was
haben Sie?“
„O, nichts, nichts!“ ſagte ſie, „beim erſten Ton
ſeiner Stimme ſich aufraffend; „es iſt nur der ſchnelle
Lauf; jetzt iſt es ſchon wieder beſſer; kommen Sie!“
Sie öffnete die Thür und trat ein; Oswald folgte.
Aber er fuhr entſetzt zurück, als er in dem myſtiſchen
Halbdunkel, das in dem Gemache herrſchte, eine hohe
weiße Geſtalt erblickte, die aus der Wand hervorzu¬
ſchweben ſchien.
[199]
„Was iſt das!“ rief er im erſten Schrecken.
„Was?“ ſagte Melitta, welche die Fenſter öffnete,
um die friſche Luft in das heiße, blumendufterfüllte
Gemach ſtrömen zu laſſen.
„Die Venus von Milo!“ rief Oswald, und ein
wollüſtiger Schauder durchrieſelte ihn.
„Meine Heilige! ich ſagte es Ihnen ja. Nun, wie
finden Sie die Kapelle?“
Es war ein nicht ſehr großes, aber verhältni߬
mäßig hohes Gemach; rechts und links je ein Fenſter,
das auf die Veranda führte; der Thür gegenüber ſtand
in einer Niſche auf einem niedrigen Piedeſtale das
Bild der Göttin. Bequeme Gartenſtühle, eine Chaiſe
longue, ein Tiſch, auf dem Bücher, Papiere, Zeichen¬
materialien, eine angefangene Stickerei, Reitpeitſche
und Handſchuhe in maleriſcher Unordnung durcheinander
lagen — waren die einfache, ſchickliche Ausſtattung.
„Sind Sie ſehr naß geworden?“ fragte Melitta,
ihren Hut auf den Tiſch werfend, ohne die Antwort
auf ihre vorige Frage abzuwarten. Und dann:
„Gehen Sie da vom Fenſter fort, Sie werden ſich
erkälten. Kommen Sie hierher, oder nein! ſetzen Sie
ſich auf die Chaiſe longue und erholen Sie ſich!“
Und wieder:
„Wenn ich nur etwas für Sie herbeiſchaffen könnte!
[200] — Aber, es iſt wahr, ich kann ja Thee bereiten. Wo
ſind nur gleich die Sachen? Hier — nein dort in
dem Schrank.“
Das Alles ſagte ſie haſtig, wie gedrängt von einer
in ihr wühlenden Unruhe, mit raſchen, ungleichen
Schritten im Gemache hin und her ſchreitend.
Oswald ergriff ihre Hand.
„Sorgen Sie nur erſt für ſich ſelbſt, liebe, gnä¬
dige Frau; mir ſchadet das bischen Regen wahrlich
nichts. Ihr Kleid iſt feucht und Ihre dünnen Stiefel
ſind auch keine Fußbekleidung für das naſſe Gras der
Wieſe.“
„O, für mich iſt leicht Rath geſchafft. Ich habe
nebenan Alles, was ich brauche.“
„Nebenan?“
„Sagte ich Ihnen nicht, daß ich hier oft ſelbſt die
Nächte zubringe? Die Thür dort führt in meine
Garderobe.“
„So gehen Sie ſogleich hinein und kleiden Sie
ſich um!“
Melitta zog ihre Hand aus der des jungen Man¬
nes, und ging, ohne ein Wort zu erwidern, von ihm
fort, und verſchwand durch eine Thür, die ſich neben
der Statue befand, und die Oswald jetzt zum erſten
Male bemerkte.
[201]
Er warf ſich in einen der Lehnſtühle und ſtützte
den Kopf in die Hand; dann ſprang er wieder auf,
lehnte ſich in's Fenſter und ſtarrte mit düſtern Augen
hinein in den Sturm und Regen; dann ging er mit
haſtigen Schritten in dem Gemache auf und ab; end¬
lich warf er ſich vor dem Piedeſtale der Göttin nieder
und legte ſeine heiße Stirn auf ihre Marmorfüße.
Das Rauſchen eines Gewandes dicht neben ihm
ſchreckte ihn aus ſeinem Fiebertraum.
„Melitta,“ rief er, ihre Hände ergreifend, noch
auf den Knieen, „Melitta!”
Sie ließ ihm ihre Hand, die er mit Küſſen bedeckte,
mit der andern ſtreichelte ſie ſanft ſein Haar.
„Melitta!“ rief er mit Thränen der Wonne im
Auge zu ihr aufſchauend, „Melitta!“
Sie beugte ſich zu ihm nieder und küßte ihn zärt¬
lich auf die Stirn; dann aber eilte ſie von ihm fort,
warf ſich in einen der Lehnſtühle und ſchluchzte, als
ob ihr das Herz brechen wollte.
Oswald fiel vor ihr nieder; er umfaßte ihre Knie;
er drückte ſein glühendes Geſicht in ihren Schooß;
er küßte ihr Gewand, ihre Hände. „Melitta! ſüße,
holde, weine nicht! Wie kannſt Du weinen, daß Du
mich ſo namenlos glücklich machſt! Melitta, liebe,
liebe Melitta! Deine Thränen tödten mich. Nimm
[202] lieber mein Herzblut Tropfen für Tropfen. Mein
Blut, mein Leben, meine Seele ſind ja Dein! Me¬
litta, für dieſen Augenblick will ich Dir ewig danken;
hörſt Du, Melitta, ewig —“
„Um Gotteswillen, ſchwöre nicht!“ rief Melitta,
auffahrend und ihm die Hand auf den Mund legend.
Dann ergriff ſie ſeinen Kopf und küßte ihn leiden¬
ſchaftlich auf Stirn und Augen und Mund.
Und wieder ſprang ſie empor und eilte, wie von
Dämonen verfolgt, in dem Gemache auf und ab. „O,
mein Gott, mein Gott!“ rief ſie, die Hände ringend.
Sie eilte auf die Thür zu, als wollte ſie entfliehen,
aber, ehe ſie dieſelbe erreichte, brach ſie zuſammen.
Oswald fing ſie in ſeinen Armen auf; er trug ſie
nach dem Sopha; er bedeckte ihre kalten Hände, ihre
bebenden Lippen mit glühenden Küſſen; ein Freuden¬
ſchrei entrang ſich ſeiner gepreßten Bruſt, als die
ſtarre Geſtalt ſich endlich wieder zu regen begann.
Sie richtete ſich halb empor und ihre Augen mit
dem Ausdruck unendlicher Liebe auf ihn heftend, ſagte
ſie leiſe — leiſe und feſt, wie ein Kranker, der ſeinen
Arzt fragt, ob Leben oder Tod das Ende ſein wird —
„Oswald, höre mich an! liebſt Du mich jetzt, in
dieſem Augenblicke, ſo, wie Du glaubſt, daß Du ein
Weib auf Erden lieben kannſt?“
„Ja, Melitta!“
„Nun denn, Oswald, ſo liebe ich Dich — jetzt
und immerdar!“ . . . . . . . . . . . .
Das Gewitter war vorübergebrauſt; ſchweigend
ruhte der regenerquickte, duftende Wald; und über dem
Wald erglänzte aus dem purpurnen Abendhimmel der
Venus leuchtender Stern.
Funfzehntes Kapitel.
Wem iſt es nicht ſchon auf der Reiſe begegnet, daß
er in der erſten Morgenfrühe durch die Straßen einer
Stadt fuhr. — Die Sonne vergoldet ſchon die Kirch¬
thurmſpitze, die Luft iſt kühl und erquickend, die Vögel
ſingen in den alten Linden vor den Giebelhäuſern des
Marktes — die Natur wacht und prangt in Morgen¬
ſchöne — und die Menſchen liegen noch alle in den
Banden des Schlafes, drinnen in den ſchwülen, dum¬
pfigen Kammern. Der Reiſende kann es kaum be¬
greifen, daß ſich kein Fenſterladen öffnet, kein lächelndes
Geſicht herausſchaut, ſich mit ihm des wonnigen Morgens
zu freuen . . . So fühlt der Liebende, der ſich eben
der Gegenliebe verſichert, mit leuchtenden Augen um
ſich ſchaut und Blumen und Menſchen an ſein über¬
ſtrömendes Herz drücken möchte. Aber die Blumen
kümmerten ſich nicht um ihn, und die Menſchen haben
[205] dieſelben verſchlafenen oder von Sorgen — den böſen
Träumen — verdüſterten Alltagsgeſichter. Die Sonne
ſeiner Liebe, die ihn zu neuem Leben erweckte, für die
Andern in der ſchwülen, dumpfigen Kammer ihres
liebe- und freudeloſen Daſeins hat ſie kein Licht und
keine Wärme.
Das fühlte Oswald, als er am nächſten Morgen
nach einem kurzen, unruhigen Schlaf, der ſich wie ein
trüber Letheſtrom über die Erinnerungen des vergan¬
genen Tages gewälzt hatte, erwachte. Aber die Seele
empfängt Eindrücke, die fürder kein Schlaf — es wäre
denn der letzte, ewige — wieder verwiſchen kann; und
ſo hatte er denn kaum die Augen aufgeſchlagen, als
das Bild jener herrlichen Frau mit leuchtender Klarheit
vor ſeiner Seele ſtand. Was ſich ereignet hatte bis
zu dem Augenblicke, wo ihm das Venusbild in der
dämmerigen Waldkapelle entgegenſchwebte — er hatte
es vergeſſen; was nachher geſchehen war, als er Me¬
litta, die ihm bis in die Nähe des Wagens durch den
Wald das Geleit gegeben, zum letzten Male in ſeine
Arme gepreßt hatte, — er wußte es nicht mehr. Aber
die Küſſe, die er gegeben und empfangen, brannten
noch auf ſeinen Lippen; aber der ſüße Athem, der ſich
mit dem ſeinen vermiſcht, umkoſte ihn noch; aber die
liebetiefen Augen, die in den ſeinigen geruht, ſie ſtrahlten
[206] ihm noch immer. O, dieſe Augen, dieſe zärtlich-lieb¬
koſenden, leidenſchaftlichblitzenden Augen! wie zwei helle
Sterne, die ſelbſt das Frühroth nicht verlöſchen kann,
ſchimmerten ſie und leuchteten ſie, und verfolgten ihn
allüberall. Er ſah ſie, wenn er die eigenen Augen
ſchloß: er ſah ſie, wenn er aus dem Fenſter, in dem er
lehnte, in den hellen Morgenhimmel ſchaute; er ſah ſie,
wenn er den Blick in die blauen Schatten ſenkte, die
zwiſchen den hohen Bäumen lagen, unten in dem ſtillen,
thaufriſchen Garten. Es war ihm, als ob er ſich todt
weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor
ſeligem Schmerz und ſchmerzlicher Seligkeit, als ob
ſein ganzes Weſen ſich auflöſen, wie ein Ton in der
Harmonie des Alls verklingen müßte . . . Es giebt
Momente, wo uns der Körper wie ein Hohn erſcheint.
Wir möchten fliegen und kleben an dem Boden; wir
möchten das Meer von Empfindungen, das in unſerer
Bruſt wogt, in Worten ausſtrömen, und unſere Zunge
ſtammelt; wir möchten ganz der Andere ſein, und ſind
doch immer nur wir ſelbſt. O, dies iſt eine Qual, der
zu vergleichen, welche der Scheintodte empfinden mag,
wenn ſie ihm den Sarg ſchmücken, und er nicht einen
Finger regen, nicht die Lippen bewegen kann, um ihnen
zu ſagen: ich lebe ja! . . . Oswald ſchlich ſich auf den
Fußſpitzen in die Kammer der Knaben; er wollte we¬
[207] nigſtens ein liebes Antlitz, Brunos Antlitz ſehen. Das
erſte Frühroth drang durch die geſchloſſenen Gardinen: im
Zimmer war es auffallend kühl. Bruno hatte wieder
einmal nach ſeiner Gewohnheit das Fenſter die ganze
Nacht hindurch offen gelaſſen. Oswald ſchloß es, denn
die Morgenluft wehte herein und Brunos Geſicht war
von einem unruhigen Traum erhitzt. — Wieder lag er
da, wie in jener Nacht, als Oswald ihn zum erſten
Mal erblickte — mit über der Bruſt verſchränkten
Armen, düſtern Trotz auf dem dämoniſchſchönen An¬
geſicht. Aber als Oswald ihn heute auf die Stirn
küßte, öffnete er nicht, wie damals, die Augen, ihn voll
Traumesſeligkeit anzulächeln; öffnete er nicht, wie da¬
mals, die Lippen, ihm das rührende Wort zuzuflüſtern:
ich habe Dich lieb! die dunkeln Brauen zogen ſich nur
noch finſterer zuſammen, und ſchmerzlich zuckte es um
den ſtolzen Mund. — Zu jeder andern Zeit würde
Oswald dies für einen Zufall angeſehen haben; aber
jetzt in ſeiner augenblicklichen weichen Stimmung ſchmerzte
es ihn innig. — „Zürnt er dir noch,“ dachte er, „daß
du ihn geſtern zu Hauſe ließeſt? Ahnt er, daß ſeit
geſtern ihm nicht mehr all deine Liebe gehört? Und
doch! liebe ich ihn jetzt nicht nur noch mehr?“ Er
ſtreichelte dem Knaben ſanft das dunkle Haar aus der
finſtern Stirn; er hüllte die leichte Decke feſter um den
[208] ſchlanken Leib und ſchlich wieder aus dem Gemach mit
viel weniger leichtem Herzen, als er es betreten hatte.
Eine bange Ahnung von ſchwerem Leid, das ihm ſelbſt
und Bruno und auch ihr! aus all' der Himmelsluſt
erwachſen werde, durchbebte ihn. Er eilte in den Garten
hinab, um im Freien freier athmen zu können, und
ſchweifte umher in den dunkeln Laubgängen und zwiſchen
den Beeten, und ſchüttelte den Thau von den Zweigen
in ſein heißes Geſicht und ſchaute mit den düſtern
verwachten Augen in die frommen Kinderaugen der
Blumen. — An den Gemüſebeeten fand er den Gärtner
beſchäftigt. Es war doch wenigſtens ein Menſch; Os¬
wald ſehnte ſich darnach, die Stimme eines Menſchen
zu hören. Er redete den Mann an; er erkundigte ſich,
was er nie zuvor gethan, nach ſeinen Verhältniſſen: ob
er verheirathet ſei? ob er Kinder habe? ob er die
Kinder liebe? Der Mann gab ihm die ſchiefen, halben
Antworten, die man gewöhnlich auf derartige Fragen
von Leuten erhält, die, wenn ſie auch nicht weniger tief
empfinden, wie der Gebildete, doch durch ihre Unge¬
wohnheit, ſich ihre Gefühle klar zu machen und in
Worte zu bringen, oft den Anſchein ſtumpfer Gefühl¬
loſigkeit haben. Redſeliger wurde er, als er auf ſeine
Pflanzungen zu ſprechen kam, die bei dem köſtlichen
Wetter, wo herrlichſter Sonnenſchein mit warmen Ge¬
[209] witteregen abwechſelte, gar üppig gediehen. Aber Os¬
wald hörte nur noch mit halbem Ohre hin und ver¬
ließ plötzlich mit einem flüchtigen Gruße den Alten,
der, ſich die Mütze aus der Stirn rückend, ihm ver¬
wundert nachſchaute, mit dem Kopfe ſchüttelte, und
wieder zum Spaten griff. — Oswald ſetzte ſeine raſt¬
loſe Wanderung durch den Garten fort, dann aber
wurde es ihm auch hier zu eng in dem von dem hohen
Walle rings eingeſchloſſenen Raum. Er eilte aus dem
Garten über den Hof in das Feld, aus dem Felde in
den Wald, weiter und weiter, dem Brauſen entgegen,
das zuerſt dumpf, dann lauter und lauter an ſein Ohr
drang.
Da trat er heraus aus den Buchen, deren breite
Kronen ſich über ſeinem Haupte wölbten, auf das hohe
Kreideufer, und weit, unermeßlich weit lag es vor ihm
da das heilige, ewige Meer. Dort in der Ferne
blitzten die weißen Kämme der Wogen auf, die, ſich
unaufhaltſam heranwälzend, tief unter ſeinen Füßen
zwiſchen den gewaltigen Steinen des ſchmalen Stran¬
des mit unaufhörlichem Donner brandeten — Woge
auf Woge, immer neue und immer neue, unzählig,
ſinnverwirrend, wunderbar. Kein Segel war zu ſehen
in der ungeheuren Runde; nur ganz am Horizont zog
eine Rauchſäule von Oſten nach Weſten. Sie kam
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 14[210] aus dem Schlot eines Dampfers, der ſeine einſame
Bahn, wer weiß woher? und wohin? raſtlos verfolgte.
— Ueber der ſchäumenden Brandung unter ihm flat¬
terten weiße Möven und ſtürzten ſich kreiſchend in die
Salzfluth und ſchwangen ſich wieder auf und flatterten
wieder hierhin und dorthin. Hoch oben in der blauen
Luft zog ein Seeadler ſeine majeſtätiſchen Kreiſe, höher
und immer höher, bis er Oswalds Blicken nur noch
als ein ſchwarzer beweglicher Punkt erſchien. — Aber
ſelbſt das erhabene Schauſpiel des Meeres vermochte
heute nicht ſeine Seele auszufüllen. Der Ocean iſt
nicht ſo groß und ſo tief wie das menſchliche Herz,
und wie köſtlich ſie auch Oswald ſonſt dünkte, die
Muſik der Wogen, er hatte vor wenigen Stunden eine
köſtlichere Muſik gehört. Nur den Adler droben be¬
neidete er. „Ein Schlag deiner mächtigen Schwingen,
und du ſchwebſt über Wälder und Felder fort bis zu
Melitta's Haus!“
Er ſprang empor, er eilte zurück in's Schloß,
hinauf auf die Zinne des Thurmes; vielleicht konnte
er von dort Melitta's Wohnung ſehen; und er jauchzte
laut auf vor freudiger Ueberraſchung, als er wirklick,
den ſpähenden Blick nach jener Seite richtend, den
oberſten Giebel ihres Hauſes eben noch über den Rand
des Waldes emporragen ſah. Ein wonnevoller Schauer
[211] durchrieſelte ihn; es war ihm, als hätte er den Saum
ihres Gewandes berührt. — In der Liebe, wie in
der Religion, iſt Alles myſtiſch. Warum erquickt es
den Gläubigen, wenn er beim Gebet das Antlitz nach
Oſten wendet? warum iſt es ein Troſt für den Lie¬
benden, nur mit der Hand nach der Gegend zu deuten,
wo die Geliebte wohnt?
Die Zeit, in der Oswald ſeine Unterrichtsſtunden
zu beginnen pflegte, war herbeigekommen; er ging in
ſein Zimmer; er fand die Knaben nicht, die gegen die
Gewohnheit noch unten beim Frühſtück waren. Sein
eigenes Frühſtück ſtand auf dem Tiſche.
Da klopfte es leiſe an die Thür und herein trat
der alte Baron, mit einem Bündel Papiere in der
Hand. Nach den erſten Begrüßungen und nachdem er
ſich wegen ſeines ungewöhnlichen Beſuches (es war in
der That das erſte Mal) [entſchuldigt] hatte, ſprach er:
„Sie könnten uns (er ſagte niemals: ich, da er
ſich ohne ſeine Gemahlin nicht denken konnte) einen
rechten Gefallen erweiſen, Herr Doctor.“
„Ich vermuthe, Herr Baron, daß es ſich um die
Papiere handelt, die Sie dort in der Hand haben.“
„Ja, ja. Sie wiſſen, daß Grenwitz und Stantow
zu Martini aus der Pacht kommen. Nun möchten wir
gern, daß die Güter neu vermeſſen würden, da die
14*[212] Flurkarten, die vor fünfundzwanzig Jahren angefertigt
wurden, ſehr ſchlecht ſind. Der erſte Brief alſo, den
wir Sie zu ſchreiben bitten würden, wäre an unſern
Feldmeſſer. Er heißt Albert Timm und wohnt in
Grünwald. Sie würden ihn bitten, zu einer vorläu¬
figen Beſprechung ſofort herüberzukommen. Der zweite
Brief iſt an unſern Advocaten, ebenfalls in Grünwald.
Anna-Maria wünſcht eine Reviſion der Pachtcontracte.
Hier iſt eine Abſchrift der jetzigen. Anna-Maria hat
am Rande verzeichnet, was wir in dem neuen Entwurf
aufgenommen wünſchen. Wenn Sie auch dieſes Schrift¬
ſtück mundiren wollten — es iſt freilich etwas viel —“
„Geben Sie nur, Herr Baron. Zu wann wünſchen
Sie die Sachen geſchrieben?“
„Wenn es Ihnen bis Mittag möglich wäre? Wir
haben den Knaben ſchon vorläufig angekündigt, daß ſie
mich auf einer Fahrt nach Stantow begleiten ſollen.
Sie haben doch nichts dagegen?“
„Ich denke, es wird wohl ſo das Beſte ſein.“
„Nun, dann leben Sie wohl, lieber Herr Doctor,
und entſchuldigen Sie, daß wir Sie mit dieſen Sachen
beläſtigen. Aber Sie wiſſen, Anna-Maria —“
„Keine Entſchuldigung, Herr Baron —“
Wer je in einer ähnlichen Stimmung war, wie die,
in welcher ſich Oswald an dieſem Morgen befand,
[213] und wem dann eine möglichſt proſaiſche Arbeit zuge¬
muthet wurde, wird begreifen, daß der junge Mann,
ſobald der Baron das Zimmer verlaſſen hatte, das
ganze Packet verächtlich in eine Ecke ſchleuderte.
Er warf ſich auf das Sopha und ſchloß die Augen,
um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er ſich
ihr geliebtes Bild vorzuſtellen ſuchte, deſto eigenſinniger
ſteckte ſich das runzlige Geſicht des alten Barons da¬
zwiſchen. Das verwandelte ſich dann wieder in das
der braunen Gräfin, dann zog ihm der Paſtor Jäger
eine Fratze, und plötzlich ſtand Bruno im Zimmer,
gehüllt in lange, wallende weiße Gewänder. Oswald
wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er
einen Blick in das Geſicht des Knaben warf, erſtarb
das Lachen auf ſeinen Lippen. Ein Schauer durch¬
rieſelte ihn, ſeine Haare bäumten ſich — die wachs¬
bleiche Farbe, die ſo ſeltſam von den blauſchwarzen
Haaren abſtach, die weiten ſtarren Augen, ein namen¬
loſes Etwas in dem Ausdruck dieſer glanzloſen, ge¬
brochenen und doch ſo wunderbar beredten Augen —
das war nicht Bruno, das war der Tod, der leib¬
haftige Tod in Bruno's vielgeliebter Geſtalt... Mit
einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das
ſchreckliche Bild war verſchwunden, aber es bedurfte
mehrer Minuten, bis der junge Mann ſich überzeugen
[214] konnte, daß es wirklich nur ein Bild geweſen. So
deutlich hatte er mit geſchloſſenen Augen jedes Möbel
im Zimmer, den Sonnenſtrahl, der durch das Fenſter
fiel, die Staubatome, die in dem Strahle tanzten —
Alles, Alles geſehen.
Da hörte er das Knallen einer Peitſche, und das
Knirſchen von Rädern in dem Sande vor dem Portal
des Schloſſes. Der Baron fuhr eben mit den Knaben
fort.
Oswald ging mit haſtigen Schritten in ſeinem Ge¬
mache auf und ab.
„Warum heute, gerade heute das fürchterliche Bild!
Muß Bruno ſterben, und zuvor mir ſterben, damit ich
Melitta lieben kann! Iſt es nicht möglich, einen
Bruder und eine Geliebte zu lieben zu gleicher Zeit
mit gleicher Gluth der Seele? Iſt das Menſchenherz
ſo klein, daß eine Empfindung, um darin wohnen zu
können, die andere verdrängen muß? und iſt die Treu¬
loſigkeit Naturgeſetz?“
Der junge Mann war wieder ruhiger geworden,
aber die ambroſiſche Schönheit des Sommermorgens
war verſchwunden. Die Sonne hatte keinen Glanz
mehr für ihn, der Geſang der Vögel keine Süßigkeit,
der übermüthig ſprudelnde Quell der Luſt in ſeinem
Buſen war verſiegt.
[215]
Du biſt jetzt in der rechten Stimmung für die
trockene Arbeit, ſagte er bitter und holte das Packet
wieder aus der Ecke hervor, in die er es vorhin ge¬
ſchleudert hatte. Er ſetzte ſich an den Tiſch und be¬
gann zu ſchreiben. Zuerſt den Brief an den Geometer
— das ging noch; auch der Brief an den Advocaten
kam, obgleich nicht ohne einige heimliche Verwünſchun¬
gen, glücklich zu Ende; aber die Abſchrift der beiden
Contracte zu fertigen, mußte er ſeine ganze Geduld zu¬
ſammennehmen. Mehr noch als die Langweiligkeit der
Arbeit ſelbſt, ärgerten ihn die von der Hand der Ba¬
ronin eingeſtreuten Bemerkungen, in welcher ſie die in
den Contracten von ihr beliebten Veränderungen in
den Augen des Advocaten, vielleicht auch in ihren eig¬
nen, zu motiviren ſuchte. Die Höhe der Pacht war
in beiden Fällen faſt um das Doppelte geſteigert, was
Oswald um ſo mehr Wunder nahm, als er den In¬
ſpector Wrampe wiederholt hatte ſagen hören: Herr
Pathe, der Pächter der beiden Güter, ein außeror¬
deutlich fleißiger, ſtrebſamer und ökonomiſcher Mann,
ſei ſo geſtellt, daß ihn eine einzige Misernte ruiniren
müßte, In einer Notiz der Baronin hieß es: „Herr
P. iſt ein nachläſſiger Monſieur und ſein ſauberer In¬
ſpector W. iſt nicht beſſer. Je humaner man gegen
dergleichen Menſchen iſt, deſto fauler werden ſie.“ In
[216] einer andern: „Die dem Schloſſe von dem Gute Gren¬
witz zu leiſtenden Naturallieferungen müſſen auf jeden
Fall doublirt werden, denn daß wir doch nur die Hälfte
von dem bekommen, was uns zuſteht, und dieſe Hälfte
unter den langen Fingern unſerer Leute noch mehr zu¬
ſammenſchrumpft, ſteht von vornherein anzunehmen.“
Durchſtrichen, aber nicht ſo, daß man ſie nicht noch
hätte leſen können, waren die folgenden Worte: Sollte
ja etwas übrig bleiben, ſo können wir ja den Reſt alle
Sonnabende in B. (dem nächſten Landſtädtchen) auf
dem Wochenmarkte verkaufen.“ An einer andern Stelle:
„Kann nicht contractlich ausgemacht werden, daß die
Verwalter, Statthalter (Großknechte), Ausgeberinnen
u. ſ. w. der Pächter jedesmal von dem Baron beſtätigt
werden müſſen? Man wüßte dann doch, mit was für
Subjecten man es zu thun hat, und behielte den Griff
feſter in der Hand.“
„Und das Vermögen dieſer Menſchen beträgt Mil¬
lionen!“ rief Oswald und warf die Feder zornig auf
den Tiſch. „Schreibe ein Anderer das Gewäſch! Soll
ich mich zum ergebenſten Werkzeug dieſer egoiſtiſchen,
hochmüthigen, herzloſen Ariſtokratenbrut hergeben?“
Und trüber und trüber wurde es in des jungen
Mannes Seele. Nicht zum erſten Male wurde er
heute daran gemahnt, wie ſchief, wie unhaltbar doch
[217] ſeine ganze Stellung ſei. Und was hatte ihn in dieſe
Stellung getrieben, wenn nicht ſeine Freundſchaft zu
dem Profeſſor Berger, deſſen Rath er gegen ſeine
beſſere Ueberzeugung gefolgt war? Es fiel ihm ein,
daß er den letzten Brief ſeines wunderlichen Freundes
noch nicht beantwortet hatte. So ſetzte er ſich denn
wieder hin und ſchrieb:
„Es giebt kein Unrecht als den Widerſpruch“ —
das iſt, wenn ich mich recht erinnere, eine Ihrer Lieb¬
lingsmaximen, und die Cardinalregel, nach der Sie das
Thun und Laſſen der Menſchen beurtheilen. Nun denn!
So hatten Sie doppelt und dreifach Unrecht, mich in
dieſe Situation hineinzureden und hineinzulachen, denn
ſie iſt, wie ich ſie auch betrachten mag, aus Wider¬
ſprüchen zuſammengeſetzt. Ich ein Erzieher Anderer,
der ich mich ſelbſt noch zu erziehen habe! Ich, der
Ariſtokratenfeind, der Adelshaſſer in dem Schooße einer
ariſtokratiſchen Familie — halb der Freund und halb
der Diener der hochadligen Sippe! Und was mich
noch abſcheulicher dünkt, iſt, daß ich an den Genüſſen
dieſes ariſtokratiſchen Lebens ſo harmlos Antheil nehmen
kann, als hätte mich nie ein Schauer der Ehrfurcht
erfaßt, wenn ich in der Schrift an die Stelle kam:
„Der Menſchen Sohn hat nicht, da er ſein Haupt
hinlege!“ Sind dieſe Worte denn nicht auch für mich
[218] geſchrieben, für mich, dem kein Kiſſen zu wollüſtig,
kein Teppich zu weich, keine Speiſe zu lecker, kein
Wein zu koſtbar dünkt? für mich, der ich, weit entfernt,
mich von dieſem Luxus angeeckelt zu finden, ihn nicht
haſtig und gierig, wie der Sklave ſeine kurzen Augen¬
blicke der Freiheit, ſondern ruhig und bedächtig, durch¬
koſte und genieße, ihn hinnehme, wie etwas, das ſich
eben von ſelbſt verſteht, wie etwas, zu dem man ge¬
boren und erzogen iſt. Soll die gnädige Frau Baronin
Recht haben, die neulich hochmüthig behauptete, von
allen ſogenannten Volksfreunden früher und jetzt habe
nur noch jeder ſeinen perſönlichen Vortheil im Auge
gehabt. Der Eine verkaufe ſeine Grundſätze ein wenig
theurer als der Andere — der Eine laſſe ſich ſeine
Apoſtaſie mit Geld, ein Zweiter mit Ehrenſtellen, ein
Anderer wieder anders bezahlen — das ſei aber auch der
ganze Unterſchied. Damals widerſprach ich natürlich
lebhaft — es war gleich zu Anfang meines hieſigen
Aufenthalts — ich weiß nicht, ob ich heute noch dazu
den Muth hätte. Denn, mein Freund, ich denke an
Marie Antoinette, und denke, wenn eine andere Frau,
ſo ſchön und ſo geiſtreich, wie die unglückliche Königin,
eine Frau mit den Augen und dem Schmelz der Stimme
und dem Liebreiz, wie — nun wie mein Ideal, die
Frau, die ich lieben könnte, lieben müßte — zu mir
[219] ſpräche: Die Abſchwörung Deiner Grundſätze iſt der
Preis meiner Gunſt! — Gott, ſie wird es nicht ſagen,
ſie kann es nicht ſagen, denn ich will glauben, daß in
dem ſchönſten Körper die ſchönſte Seele wohne; aber,
wenn ſie dennoch in den Berurtheilen ihres Standes
ſo befangen wäre — wie dann? O, ich fühle, nein,
ich weiß, daß ich ihren Worten, ihren Thränen nicht
widerſtehen könnte; daß vor der Gluth ihrer Küſſe,
dem Feuer ihrer Blicke die ſtolze Kraft hinſchmelzen
würde wie Wachs: daß, wenn ſie ihre weichen Arme
um mich ſchlänge, ich nicht im Stande wäre, mich los¬
zureißen; daß aus der gepreßten Bruſt kein Wort des
Zornes, kein Wort des Hohnes ſich losringen würde,
nein! nur das eine Wort: ich liebe Dich!
Sie lächeln, o mein Freund, daß mich eine bloße
Hypotheſe, ein bloßes Problema ſo in Aufregung ver¬
ſetzen kann. Sie denken, in der kühlen Luft der Wirk¬
lichkeit gedeihen dergleichen phantaſtiſche Treibhaus¬
pflanzen nicht. Nun wohl, das Ganze iſt mir ein
Problema, und wollte Gott, es bliebe problematiſch!“ ...
Sechszehntes Kapitel.
„Gott zum Gruß, lieber Herr Collega! Viele Em¬
pfehlungen von Frau von Berkow, und hier ſchickt ſie
Ihnen den Bemperlein und den Julius zur gefälligen
Anſicht, aufgeſchnittene Exemplare werden nicht zurück¬
genommen.“
So ſprach lächelnd ein kleiner, blaſſer, ſchwarz¬
haariger, Brille tragender, etwas unmodiſch, aber ſehr
ſauber und nett gekleideter Herr von etwa dreißig
Jahren, der am Nachmittag deſſelben Tages, einen
Knaben an der Hand führend in Oswalds Zimmer trat.
„Seien Sie beſtens willkommen!“ ſprach dieſer, ſich
haſtig aus der Sophaecke erhebend, in welcher er, in
Sinnen und Brüten verſunken, geſeſſen hatte, und
reichte den Eintretenden nicht ohne einige Verwirrung
die Hand. Mit [unendlichem] Intereſſe blieb ſein Blick
auf dem Knaben haften, dem Sohn der Frau, die er
[221] liebte. Julius von Berkow war eine reizende Er¬
ſcheinung. Die Blouſe von dunkelgrünem Sammet,
die er mit einem breiten Riemen um den ſchlanken
Leib gegürtet trug, gab ihm das Anſehen eines
allerliebſten kleinen Pagen. Dunkle Locken wallten in
weichen Ringeln von dem edelgeformten Kopf; ſein Ge¬
ſicht war märchenhaft ſchön und zart, und Oswald
zuckte zuſammen, als er ſeine warme, weiche Hand für
einen Augenblick in der ſeinen hielt, und in die großen
lichtbraunen, träumeriſchen Augen ſchaute. Es war ihm,
als hätte er Melitta's Hand berührt, als hätte er in
Melitta's Augen geſchaut.
„Es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Bem¬
perlein,“ ſagte er, ſeine Verwirrung bemeiſternd, „daß
Sie noch die Zeit gefunden haben, herüber zu kommen.
Aufrichtig, ich habe Sie heut halb und halb erwartet,
um ſo mehr, als Bruno es für eine Unmöglichkeit hielt,
Julius könne abreiſen, ohne vorher von ihm förmlichen
Abſchied genommen zu haben.“
Da ſprang die Thür auf, und herein ſtürzte Bruno,
ein mächtiges Butterbrot in der Hand. „Hurra, Julius,
Zuckerpuppe!“ ſchrie er, „Dein Glück, daß Du gekommen
biſt! Ich wäre Dir ſonſt nach Grünewald nachgelaufen,
Dich auf offener Straße durchzuprügeln. Hier, beiß
ab! Das letzte Butterbrot, das wir für lange Zeit mit
[222] einander theilen! Und nun komm! wir wollen noch ein¬
mal durch den Garten und den Wald laufen. Sie
bleiben doch zu Abend hier, Herr Bemperlein?“
„Non, Monseigneur!“ erwiederte dieſer, der ſich
auf einen Stuhl geſetzt hatte und ſich den Schweiß von
der Stirn trocknete; „unſere Augenblicke ſind gezählt. Sie
würden mich daher verbinden, wenn Sie Ihre Excur¬
ſionen nicht über den Garten ausdehnten und vor allem,
wenn Sie Julius nicht wieder in den Graben würfen,
wie das letzte Mal.“
„Julius, habe ich Dich in den Graben geworfen?“
„Nein, aber herausgezogen, nachdem ich hinein ge¬
fallen war.“
„Nun, ſo komm, mein Zuckerpüppchen!“ rief Bruno,
hob den ſchmächtigen Knaben in ſeinen Armen empor
und trug ihn zur Stube hinaus.
„Iſt das ein Junge!“ ſagte Herr Bemperlein;
„Herr meines Lebens, iſt das ein Junge! Wahrlich,
Herr College, ich bewundere Sie?“
„Weshalb?“
„Weil ich Sie in einen leichten Sommerrock gekleidet
ſehe, und nicht umhüllt mit dreifachem Erz, wie der
erſte Schiffer des Horaz, und wie, meiner Meinung
nach, der Mann gepanzert ſein muß, der es mit ſolch'
[223] einem Seeungeheuer, ſo einem Haifiſch, ſo einem ſtach¬
ligen Rogen — ich meine Bruno — zu thun hat.“
„Um Himmelswillen, Herr Bemperlein, ſagen Sie
mir nicht, wenn wir Freunde werden wollen, daß Sie
Bruno nicht leiden können.“
„Ich ihn nicht leiden können! Ich liebe ihn wie
einen Sturm auf der See, den ich vom Ufer aus be¬
obachten kann, wie ein wildes Pferd, das mit einem
Andern durchgeht, wie ein Gewitter, das eine Meile
vor mir einſchlägt. — Apropos! das war geſtern ein
entſetzliches Gewitter. Wir ſind erſt um elf Uhr nach
Hauſe gekommen. Frau von Berkow ſagte mir, Sie
ſeien vollſtändig eingeregnet geweſen in dem Wald¬
häuschen.“
„Wollen Sie in der That ſchon morgen abreiſen?“
ſagte Oswald, dem Geſpräch eine andere Wendung
zu geben.
„Ob ich will?“ ſagte Herr Bemperlein in weiner¬
lichem Tone; ob ich will? durchaus nicht, Werthge¬
ſchätzter; aber muß! Das iſt es ja eben. Ach, wenn
ich könnte, wie ich wollte, ich ginge im Leben nicht weg
von Berkow; und auch im Tode nicht, denn ich würde
mir als letzte Gunſt erbitten, dort begraben werden zu
dürfen.— Und wie es mit mir werden ſoll, wenn ich
nun doch weggehe, daran, lieber College, mag ich gar
[224] nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, ſieben Jahre
an ein und demſelben Ort, und laſſen Sie dieſen Ort
Berkow ſein, und wachſen Sie feſt an dieſem Orte mit
allen Wurzeln ihres Weſens, daß Sie jeden Spatz,
der über Ihrem Fenſter niſtet, perſönlich kennen, und
mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du
ſtehen; und dann verſuchen Sie ſich loßzureißen — und
Sie werden empfinden, wie weh das thut.“
Der gute Mann griff wieder nach ſeinem Taſchen¬
tuch und fuhr ſich unter dem Vorwande, den Schweiß
von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal
über die naſſen Augen.
„Ich begreife das vollkommen,“ ſagte Oſwald mit
ungeheuchelter Theilnahme.
„Sie können das nicht begreifen, lieber Collega!
Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr ange¬
fangen, mir einen Epheu vor meinem Fenſter zu ziehen,
und mich den ganzen Sommer und Winter darauf ge¬
freut, wie hübſch es in dieſem Herbſt ſich ausnehmen
würde, wenn das Fenſter von unten bis oben berankt
wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und
mein Laubfroſch, uns hinter den breiten Blättern ver¬
ſtecken könnten — denn Sie glauben nicht, wie breite
Blätter ich gezogen habe — ſo groß, wie Weinblätter
— und in dieſem Herbſt wird mein Fenſter mit grünen
[225] Ranken ganz vergittert ſein; aber meine Stube wird
leer ſtehen, nur die Sonnenſtrahlen werden durch die
Blätter ſchimmern und die Regentropfen daran hin¬
unterrinnen, und keine Menſchen und keine Thierſeele
wird ſich darüber freuen.“
„Ich glaube, ich kann Ihnen das nachfühlen,“
ſagte Oswald.
„Unmöglich, lieber Collega, unmöglich!“ ſeufzte der
Andere. Ich ſage Ihnen, ſo ein Fenſter giebt es auf
der weiten Welt nicht mehr. — In der tiefen Niſche
ſteht ein Lehnſtuhl, mit ſchwarzem Leder überzogen, den
mir Frau von Berkow vor zwei Jahren zu meinem
Geburtstage geſchenkt hat; — eine Schlummerwalze,
die Sie mir zu meinem letzten Geburtstag ſelbſt ge¬
häkelt hat, hänkt an der Lehne — na, das läßt ſich
eben nicht beſchreiben. Aber da ſo zu ſitzen an einem
Sommerabend, wenn die Stimmen von Frau von Ber¬
kow und Julius aus dem Garten zu mir herauf tönen
und der Rauch meiner Cigarre in blauen Streifen durch
die Blätter herauszieht —“
Bei dieſen Worten blies Herr Bemperlein zwei
mächtige Rauchwolken aus ſeiner Cigarre durch das
geöffnete Fenſter, an dem er ſaß, und ſchüttelte weh¬
müthig den Kopf, als wollte er ſagen: das bringt hier
.Spielhagen, Naturen I 15[226] nicht die mindeſte Wirkung hervor; das ſollten Sie
einmal hinter meinem Epheu ſehen.
„Ja, ja“ — ſchaltete Oswald ein.
„Nein, lieber Collega, Sie können ſich unmöglich in
meine Stimmung verſetzen. Sie wiſſen nicht, welch ein
liebenswürdiger Knabe Julius iſt. Sieben Jahre bin
ich nun bei ihm, aber wenn er mir in allen dieſen
Jahren auch nur eine böſe Stunde, ja nur Minute ge¬
macht hat, ſo will ich nicht Anaſtaſius Bemperlein
heißen. Und nun die Frau von Berkow — Sie kennen
Sie nicht, lieber Collega —“
Oswald wandte ſich ab, denn er fühlte, wie ihm
das Blut in die Wangen ſchoß —
„Sie haben keine Ahnung, welch ein Engel von
Güte dieſe Frau iſt. Was verdanke ich ihr nicht! Bevor
ich nach Berkow kam, wußte ich von Luft und Sonnen¬
ſchein, und allem Schönen auf der Welt gerade ſo viel,
wie ein Maulwurf — ich war ein richtiger Bär, ein
vollſtändiges Nilpferd, und daß ich jetzt einigermaßen
einem Menſchen ähnlich ſehe, verdanke ich nur ihr. Und
wie hat ſie ſich meiner in jeder andern Beziehung an¬
genommen. Einmal, erinnere ich mich, lag ich viele
Wochen lang am Typhus darnieder. Die erſten Weſen,
die ich deutlich erkannte, als ich aus meinem Torpor
erwachte, waren die gnädige Frau und der alte Bau¬
[227] mann. Es war ein Sommernachmittag, wie heute.
Meine Bettvorhänge waren halb zugezogen, Baumann
und die gnädige Frau ſtanden ein paar Schritt entfernt
am Tiſch. Wenn ich nicht ſelbſt krank werden will, ſo
muß ich heute Nachmittag eine halbe Stunde ſpazieren
reiten, Baumann,“ ſagte Frau von Berkow, „daß er
mir den Bemperlein unterdeſſen nicht ſterben läßt.“
„Zu Befehl,“ ſagte der alte Baumann. „Aber damit
Sie nicht etwa glauben, lieber Herr Collega, daß ich
in dieſer Behandlung von Seiten der gnädigen Frau
eine Bevorzugung erblicke, die meinen ganz beſonderen
Verdienſten zu Theil würde, ſo ſetze ich hinzu, daß ich
Frau von Berkow dieſelbe Huld nur Gnade an viele
Andere, zum Theil ganz gleichgültige Perſonen habe
verſchwenden ſehen, ſo daß ich wahrlich glaube, das
Herz dieſer Frau iſt aus durchaus edlerem Stoffe, als
ſonſt die Menſchenherzen ſind, und daß ſie Gutes thun
und Andere beglücken muß, gerade wie ein Kanarien¬
vogel ſingt und ein Eichhörnchen ſpringt, weil's eben
ſo ihre ſchöne Natur iſt, und ſie nicht anders kann.
Verzeihen Sie, lieber Collega, daß ich mit dieſen
Dingen, die Sie nicht intereſſiren und nicht intereſſiren
können, Ihre Zeit in Anſpruch nehme, aber mein Herz
iſt wirklich zu voll, als daß es nicht überfließen ſollte,
und ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie mich
15*[228] deshalb nicht für einen ſentimentalen Geſellen halten
werden.“
„Ich kann Sie nur verſichern, daß Sie Ihr Ver¬
trauen keinem Unwürdigen ſchenken, Herr Bemperlein,
auch wenn Sie mir nicht erlauben wollen, mit Ihnen
ganz zu ſympathiſiren.“
„Ich Ihnen das nicht erlauben? Es iſt mein innig¬
ſter Wunſch, daß Sie das nicht vermöchten, um ſo
mehr, als ich, offen geſtanden, hauptſächlich in der ganz
egoiſtiſchen Abſicht herübergekommen bin, Sie in einer
für mich hochwichtigen Angelegenheit um Rath zu fragen.“
„Mich?“
„Ja, Sie! Ich will Ihnen auch ganz offen ſagen,
wie Sie dazu kommen, bei mir die Stelle des weiſen
Einſiedlers im Walde, zu dem ſich die vom Zweifel ge¬
plagte Creatur flüchtet, einzunehmen. Sie ſind zu
dieſem verantwortlichen Amte durch eine Stimme er¬
hoben, gegen die für mich kein Appel exiſtirt; ich meine
durch die Stimme der Frau von Berkow. Ich ver¬
ſuchte ihr heute Morgen auseinanderzuſetzen, was ich
Ihnen alsbald mit Ihrer gütigen Erlaubniß mittheilen
will; ſie hörte mich mit himmliſcher Geduld von An¬
fang bis zu Ende an und ſagte dann, ihre Hand für
einen Augenblick auf die meinige legend: „Lieber Bem¬
perlein, ſagte ſie, wollen Sie meinen Rath hören?
[229] „Natürlich, gnädige Frau!“ ſagte ich. „Nun denn,“
ſagte ſie, lieber Bemperlein, gehen Sie hinüber nach
Grenwitz, bringen Sie Herrn Doctor Stein eine Empfeh¬
lung von mir, und erzählen Sie ihm ganz ausführlich,
was Sie mir eben geſagt haben; und was er Ihnen
dann antwortet, das nehmen Sie für meine Antwort.“
Auf Oswalds Lippen ſchwebte ein ſtolzes Lächeln.
Er ſah in dieſer Demuth Melitta's eine ihm darge¬
brachte Huldigung; er fühlte, daß ſie ihrer Liebe keinen
reineren Ausdruck geben konnte, als durch dieſes Geſtänd¬
niß, wie fortan ihre Exiſtenz in der ihres Geliebten aufgehe.
„Wie Sie ſich aus dieſer Verlegenheit ziehen wer¬
den,“ fuhr Herr Bemperlein fort, „iſt Ihre Sache;
die Stelle des Vertrauten iſt Ihnen einmal zugetheilt,
und Sie müſſen dieſelbe herunterſpielen, ſo gut Sie
können. Die Sache iſt nämlich einfach die, oder viel¬
mehr gar nicht einfach, ſondern ſehr complicirter Weiſe,
auf alle Fälle indeſſen iſt die Sache die: Ich bin näm¬
lich — ich habe nämlich — Aber hier kann ich Ihnen
das nicht erzählen, ich muß dazu den Himmel über
mir haben, denn unter dem Himmel ſind mir die Ge¬
danken gekommen, die eine ſolche Revolution in meinem
Innern hervorbrachten. Sie thäten mir alſo einen
Gefallen, Herr Collega, wenn Sie mir nach Berkow
das Geleit geben wollten. Unterwegs lege ich Ihnen
[230] meine Beichte ab. Jetzt will ich gehen, Julius zu
rufen, und mich bei den Herrſchaften zu empfehlen.
Machen Sie ſich unterdeſſen zurecht: aber laſſen Sie
mich um Himmelswillen nicht lange warten. Zehn
Minuten reichen vollkommen zu, und länger halte ich
auch ein tête-á-tête mit Ihrer Baronin gar nicht
aus. Alſo à revoir in zehn Minuten, es ſchadet
nichts, wenn es auch nur neun ſind.“ —
Als Oswald nach unten kam, complimentirte ſich
gerade Herr Bemperlein vor dem alten Baron zur
Thür der Wohnſtube hinaus.
„Keinen Schritt weiter, Herr Baron! Uff! — Nun
laſſen Sie uns machen, daß wir wegkommen, Herr
Collega. Wo iſt mein Julius?“
Auf dem Hofe fanden ſie die Knaben. Bruno ſaß
auf dem Rand des Brunnens der kopfloſen Rajade,
und ſchlichtete Julius, der zwiſchen ſeinen Knieen ſtand,
das lange lockige Haar.
„Wie willſt Du denn ohne den Pony fertig werden,
Julius?“
„Ja, ich will ſehen; vielleicht laſſe ich mir ihn
nachſchicken.“
„Du Glücklicher, ich glaube, Du läßt Dir auch
Deine Mama und Herrn Bemperlein nachſchicken,
wenn’s ohne ſie nicht geht. — Ich wollte, ich könnte
[231] mit Dir nach Grünwald, und ich ſähe dies verdammte
Reſt im Leben nicht wieder.“
„Mama ſagte mir. Du hätteſt Herrn Stein ſo
lieb, iſt das wahr?“
„Ich ihn lieb!“ ſagte Bruno, den Kopf trotzig in
die Höhe werfend; „weshalb ſollte ich ihn lieb haben?
er iſt mir ganz gleichgültig. Er bekümmert ſich viel
um mich! Er! Geſtern iſt er den ganzen Tag ohne
mich umhergelaufen, und heute hatte er mich noch keines
Blickes gewürdigt er iſt mir ganz gleichgültig; hörſt
Du? ſag' das nur Deiner Mama, ganz gleichgültig!“
— Und damit verbarg er ſein Geſicht in Julius Locken
und ſchluchzte.
„Was iſt Dir, Bruno?“
„Mir? nichts! was ſollte mir ſein!“
„Bruno, ich begleite Herrn Bemperlein!“ rief Os¬
wald herüber.
Herr Doctor, ich begleite Julius!“ rief Bruno
zurück.
„Wo iſt Malte?“
„Soll ich Maltes Hüter ſein?“
„Malte iſt auf dem Zimmer des Barons,“ ſagte
Herr Bemperlein; „er iſt von der Fahrt ſehr ange¬
griffen; die Baronin meint, er fiebere etwas, und der
Baron hat ihm auf dem Sopha ein Lager zurecht ge¬
[232] macht, wie einer jungen Katze. Welchen Weg nehmen
wir?“
„Ich denke, wir gehen durch den Wald,“ ſagte
Oſwald.
Sie gingen über die Zugbrücke, die ſeit zwei Jahr¬
hunderten nicht mehr aufgezogen werden konnte, durch
die Lindenallee in den Wald, Herr Bemperlein und
Oſwald voran, Bruno und Julius folgten in einiger
Entfernung. Bruno hatte den Arm um Julius' Nacken
geſchlungen, er hatte heute, oder wollte heute für nichts
Intereſſe haben, als für ſeinen Freund, den er immer ſehr
geliebt und auf deſſen braune Augen er mehr als ein
Gedicht gemacht hatte, und den er jetzt in der Tren¬
nungsſtunde mit ſtürmiſchen Zärtlichkeiten überhäufte.
„Du wirſt fortreiſen, Julius,“ klagte er, „und
wenn Du drei Tage fort biſt, wirſt Du mich vergeſſen
haben.“
„Ich werde Dich nie vergeſſen, Bruno.“
„So? weißt Du das gewiß? Da haſt Du ein
beſſeres Gedächtniß, wie Oſwald, — ich meine Herrn
Doctor Stein. Der hat mir auch geſagt, daß er mich
lieb hätte wie einen Bruder, und ſeit vorgeſtern Abend
weiß er nicht mehr, daß ich auf der Welt bin. Jetzt
erzählt er wahrſcheinlich Herrn Bemperlein, daß er
ihn wie ſeinen Bruder liebt; ſieh nur, wie er ihm
[233] vertraulich den Arm giebt! Nach mir ſieht er ſich
nicht eimal um. O, ich haſſe ihn, ich haſſe Alle, Alle
— nur Dich nicht, Julius!
Während ſo der unglückliche Knabe ſeine Liebe und
ſeinen Kummer in den Buſen ſeines Freundes ſchüttete
und wohl fühlte, daß auch der ihn nicht verſtände,
und daß er allein, ganz allein ſei auf dieſer für ihn
ſo freudeloſen Erde, ſprach Herr Bemperlein alſo zu
Oswald:
Siebenzehntes Kapitel.
„Wie geſagt, lieber Collega, mein Vater war ein
Paſtor, mein Großvater, ja was ſage ich: meine beiden
Großväter waren Paſtoren, denn meine Mutter war
eine Pfarrerſtochter; mein Urgroßvater väterlicher Seits
war wenigſtens ein Küſter, der die Tochter eines Schä¬
fers, alſo auch eines Paſtors, heirathete. Weiter habe
ich meinen Stammbaum nicht verfolgen können — aber
ex ungue leonem! Sie ſehen, daß bis auf mich herab
das eigentliche Geſchäft meiner Vorfahren das Weiden
von Herden, — Menſchen- oder Schaafherden — ge¬
weſen iſt. Auch auf mir ſchien der Geiſt meiner Ahnen
zu ruhen. Thiere auf die Weide bringen, war von
jeher meine Leidenſchaft, und noch jetzt kann ich Stunden
lang an das Gatter einer Koppel gelehnt ſtehen und
den Kälbern und Füllen zuſehen, — es iſt ohne Zweifel
etwas Paradieſiſches in dieſem Zuſtand behaglichen Ge¬
[235] nuſſes, der uns an die Urzeit der Menſchen, mich zum
wenigſten ſehr lebhaft an meine Jugendzeit erinnert.
Denn mein erſter Freund war ein Gänſejunge, ſpäter
war ein kleiner Schweinehirt mein Pylades, und
der vertraute Umgang mit dieſem Eumaeus posthumus
hat mich aus der Lectüre gewiſſer Geſänge der Odyſſee
einen Genuß ſchöpfen laſſen, der Anderen, welche ohne
meine gründliche Vorbildung daran gehen, ganz uner¬
klärlich ſein muß. Als mein Pylades zum Rinder¬
hirten avancirte, verließ ich weinend mein Heimaths¬
dorf, um nach Grünwald auf 's Gymnaſium zu gehen,
wo ich ſogleich in die Tertia eintrat und von Lehrern
und Schülern als ein kleines Ungeheuer angeſtaunt
wurde, von Letzteren in Anbetracht meiner fabelhaften
Toilette, in welcher ein paar Hoſen, die bis zum Knie
hinauf von gutem Rindsleder beſtanden, noch nicht das
merkwürdigſte Stück war, — von Erſteren wegen
meiner nicht weniger fabelhaften Gelehrſamkeit. Ich
wußte den halben Virgil auswendig, las das neue Teſta¬
ment in der Urſprache ſo fließend, wie meine Mit¬
ſchüler Luther's Ueberſetzung — und das Alles mit
dreizehn Jahren! Mir graut jetzt ſelbſt, wenn ich daran
denke. Damals indeſſen kam mir das Alles ſehr
zu ſtatten; denn mein Vater, der eine zahlreiche Fa¬
milie zu ernähren hatte, und ſo arm war, wie die
[236] Mäuſe in ſeiner Kirche, konnte mir außer ſeinem Segen
und ſechs Empfehlungsbriefen an eben ſo viel mitlei¬
dige Familien, die ſich jede zu einem Freitiſch wöchent¬
lich verſtanden, — den ſiebenten Tag, an welchem ich
keinen Freitiſch hatte, ſetzte ich nothgedrungen zum
Faſttage ein für alle Mal ein — ſo gut, wie nichts
mit in die Stadt geben. Ich war alſo gänzlich auf
mich angewieſen; aber ich hatte duraus keine koſtbaren
Gewohnheiten, ſtatt deſſen aber das Talent, von einem
Butterbrode ſatt zu werden, bei einem Thranlämpchen
leſen und mit zugeſpitzten Schwefelhölzern ſchreiben,
meine ſechs Schulſtunden abſitzen und noch eben ſo
viele Privatſtunden geben zu können, ſo daß ich nicht
nur die Miethe für mein Dachſtübchen und Alles un¬
umgänglich Nothwendige pünktlich bezahlte, ſondern
auch ſchon nach zwei Monaten meine ledernen Hoſen
mit einem Paar von ſtädtiſcherem Stoff und Schnitt
vertauſchen durfte. Den Spitznamen „Lederstrumpf“
indeſſen, den meine Mitſchüler mir gegeben hatten,
und den bei dieſer Gelegenheit los werden, meine
ſtille Hoffnung und die eigentliche Veranlaſſung meines
Luxus geweſen war, behielt ich nach wie vor; und das
war meine gerechte Strafe. Daß mir es im Uebrigen
in der Schule gut ging, verdankte ich beſonders einer
nicht ungeſchickten Politik, die ich unausgeſetzt verfolgte.
[237] Ich hatte nämlich bald herausgefunden, daß die Stärkſten
und Größten in der Klaſſe auch zugleich immer die
Dümmſten und Faulſten waren. Ich verfehlte alſo
niemals mit ihnen ein Schutz- und Trutzbündniß ab¬
zuſchließen, das hauptſächlich auf folgende zwei Be¬
dingungen baſirt war: ich mache Dir Deine Arbeiten
und dafür prügelſt Du mich weder ſelbſt, noch giebſt
Du zu, daß mich ein Anderer prügelt; und ich muß
geſtehen, daß dieſer Vertrag ſtets unverbrüchlich ge¬
halten wurde. Als ich ſiebenzehn Jahre alt war, fand
mein Lehrer, daß ich ſchon ſeit einem Jahre zur Uni¬
verſität reif ſei, wenn darunter nämlich verſtanden
wird, daß man mit Schulkenntniſſen allerdings ange¬
füllt iſt, wie ein Ei voll Dotter, im übrigen aber ſo
unwiſſend und hülflos, wie ein Küchlein, das eben aus
der Schale kroch. Daß ich Theologie ſtudirte, ſtand
natürlich für mich ſo feſt, als daß ich einmal ſterben
müßte. Söhne von penſionirten Hauptleuten werden
in's Cadettencorps geſteckt, und Söhne von armen
Landpaſtoren in's theologiſche Seminar geſchickt: das
iſt ſo ſelbſtredend wie irgend ein anderes Stück der
Naturgeſchichte. — Wohl; ich ſtudirte alſo Theologie,
das heißt, ich ging fleißig in's Colleg, und ſchrieb
ganze Wagenladungen voll der abſtruſeſten Gelehrſam¬
keit. Im Uebrigen ſetzte ich ſo ziemlich mein Leben
[238] ſo fort, wie ich es von der Schule gewohnt war,
ſelbſt mein Dachſtübchen hatte ich behalten, und Privat¬
ſtundengeben war mein Erwerbsquell nach wie vor,
um ſo mehr, als jetzt einer meiner jüngeren Brüder
bei mir lebte, dem ich das kleine Stipendium, das ich
von der Universität erhielt — Sie wiſſen, daß in
Grünwald ein Student ohne Stipendium eine rara avis
iſt — überließ; ſo wie die Freitiſche, die ich jetzt ent¬
behren konnte, da die Caravanſerei des Convicts mir
ihre gaſtlichen Thore geöffnet hatte. So verging das
Triennium in etwas monotoner, aber nicht unbehag¬
licher Weiſe. Ein Tag ſah ſo ziemlich aus wie der
andere; nur der Mittwoch hatte für mich eine etwas
düſtere Phyſiognomie, weil es an demſelben Erbſen
mit Schweinefleiſch im Convict gab, ein Gericht, an
das ich mich, trotz meiner liberalen Grundſätze in dieſer
Beziehung, niemals habe gewöhnen können. Ich mußte
jedesmal, wenn die Schüſſel zu mir kam, an die ſchönen
Sommermorgen denken, die ich im Eichwalde zugebracht
hatte, wenn mein Eumaeus pothumus ſeine Heerde
weidete, und ich die Eclogen des Virgil dazu las; und
dann blieb mir der Biſſen im Munde ſtecken. Sie
werden das wahrſcheinlich ſehr ſentimental finden, aber
es hat ja Jeder ſeine Schwächen. — Vom Leben ſah
ich während dieſer Zeit ungefähr ſo viel, wie ein Ka¬
[239] meel in der Menagerie von der Wüſte. Mein Um¬
gang war äußerſt beſchränkt, er richtete ſich weſentlich
nach meinen Mitteln; wie ich denn überhaupt glaube,
daß zwiſchen dieſen Beiden eine Art Wechſelverhältniß
ſtattfindet; wenigſtens bemerkte ich, daß die wohlhaben¬
deren Studenten immer heerdeweiſe angetroffen wurden,
während die ärmeren einzeln durch die Gaſſen ſchlichen!
Ich weiß nicht, ob das ſonſt im Leben auch ſo iſt.
Vor dieſen wohlhabenderen Studenten — denn es
giebt deren ſelbſt in Grünwald, und in meinen Augen
war jeder, der einen ſicheren Wechſel von funfzig Tha¬
lern jährlich hatte, ein Kröſus — empfand ich übrigens
allen möglichen Reſpect. Dieſe ſchnurrbärtigen, geſtie¬
felten Kater erſchienen mir als ſehr abſonderliche Ge¬
ſchöpfe Gottes, und ich konnte nie recht begreifen, wie
eine, doch ſonſt auf die Ruhe ihrer Unterthanen ſo
eiferſüchtige Regierung, ſie in ihrer ganzen unciviliſirten
Freiheit umher laufen laſſen könne. Ich muß geſtehen,
daß ich die drei Jahre hindurch in einer beſtändigen
Furcht vor einer Herausforderung lebte. Nicht als
ob es mir an perſönlichem Muth gebräche! Ich habe
glücklicherweiſe hernach ein paar Mal im Leben Ge¬
legenheit gehabt, mich vom Gegentheil zu überzeugen:
ich fürchtete mir die Schiefheit der Lage, in die ich
mich bei einer ſolchen Eventualität verſetzt ſehen würde.
[240] Den ganzen ſogenannten Comment hielt ich nämlich
von jeher für den abominabelſten Unſinn, verderblich
für die Geſundheit, viel verderblicher aber noch für
die Moral, denn er zwingt die jungen Gemüther ihr
eigenes Denken und Fühlen heroiſch dem Moloch eines
barbariſchen Ehrbegriffs, der lächerlichſten Carricatur
eines Codex der Moral, die je erfunden iſt, zu opfern,
und gewöhnt ſie auf dieſe Weiſe ſyſtematiſch an jenes
blinde, katholiſche Gehorchen, welches mir die eigent¬
liche Sünde gegen den heiligen Geiſt zu ſein ſcheint.
Ich weiß nicht, ob wir hierin einer Anſicht ſind, Herr
College.“
„Vollkommen,“ antwortete Oswald.
„Und nun rechnen Sie zu den Uebelſtänden dieſes
modern-mittelalterlichen Studentenlebens, daß die Jüng¬
linge gerade in der Zeit, wo der Menſch am empfäng¬
lichſten iſt für die Eindrücke der Außenwelt, ſich her¬
metiſch in ihrer leidigen Kneipe abſchließen, anſtatt die
gute Geſellſchaft aufzuſuchen, die ihnen den Schliff
geben könnte, der ihnen wahrlich ſo ſehr fehlt, daß ſie
in den Jahren, wo ſelbſt ſpäter ſehr bornirte Ariſto¬
kraten für Freiheit ſchwärmen, ſich der excluſiveſten
Excluſivität befleißigen, und in dem Glanz ihrer bunten
Kappen und kindiſchen Troddeln noch verächtlicher auf
den Philiſter herabſehen, als der Gardelieutenant auf
[241] den Civiliſten; daß ſie in der Periode, wo ſie anfangen
ſollten, ſich als Mitglieder eines großen Ganzen, als
angehende Bürger zu fühlen, anfangen, einen Staat
im Staate zu errichten: ſo haben Sie wahrlich bei¬
ſammen, was einem mir halbwegs verſtändigen Jüng¬
ling den Geſchmack an ſolchem albernen Studenten¬
treiben gründlich verleiden könnte.“
„Ja,“ ſagte Bemperlein,“ und es iſt ganz auf¬
fallend, wie lange der Rauſch, den ſich die jungen
Leute während ihrer glorreichen Studentenzeit trinken,
anhält. Da iſt hier in der Nähe unſer Landrath —
ein Herr von Sylow, ein Mann von vierzig Jahren
— der ſeit mindeſtens zehn Jahren verheirathet iſt.
Geſtern nun, als ich mit Julius dort meinen Ab¬
ſchiedsbeſuch machte — die Kinder ſind von jeher ſehr
viel zuſammen geweſen — kam der Landrath nach dem
Abendeſſen auf ſeine Univerſitätszeit zu ſprechen, und
gab uns, das heißt ſeinem Hauslehrer und mir, einen
Abriß ſeiner ſtudentiſchen Heldenthaten. Glücklicher¬
weiſe war mein College ſeiner Zeit ein flotter Burſch
in Halle geweſen, und konnte dem Landrath auf ſeine
Fragen über den heutigen Stand des Comments die
nöthige Auskunft geben. Und nun hätten Sie den
edlen Herrn ſich ſollen ereifern hören über die Ver¬
ſunkenheit des heutigen Studentenlebens, über die ge¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 16[242] ringe Zahl der Paukereien, die unwürdig kleine Quan¬
tität Biers, ſo in einem Abend vertilgt würde, und ſo
weiter und ſo weiter. Dabei glänzten ſeine Augen bei
der bloßen Erinnerung an all die verſunkene Herr¬
lichkeit, und er ſprach ſich in eine ſolche Rührung
hinein, daß er ſchließlich den ſentimentalen Wunſch
äußerte, all die rheiniſchen Demokraten, wie er ſie
nennt, die auf dem letzten Provinzial-Landtage wiederum
die alten gottesläſterlichen Petitionen um Preßfreiheit,
Freizügigkeit u. eingebracht hätten, möchten nur einen Hals
haben, damit — er machte eine bezeichnende Hand¬
bewegung — des Geſchreies endlich einmal ein Ende
würde.“
„Natürlich,“ ſagte Oswald, „wenn die Herren jung
ſind, ſingen ſie: „Freiheit, die ich meine,“ das klingt
ſehr poetiſch, wenn man es von fern hört, und ſie
ſelbſt ſingen ſich dabei in eine gelinde Rührung hinein,
in welcher ſie halb und halb glauben, ſie hätten in der
That eine Meinung. Das iſt aber eine reine Hallu¬
cination, oder im Falle ja einmal einer wirklich etwas
meint, ſo iſt es die Freiheit: den Philiſter verhöhnen,
Fenſter einwerfen, die öffentlichen Locale unſicher machen,
und andere Heldenthaten ungeſtraft verrichten zu können;
und dann die ſpätere Freiheit, als ganz gehorſamſter
Endesunterzeichneter in tiefunterthänigſter Demuth zu
[243] erſterben, wenn man es nur bis zum Subalternbeamten,
und die Subalternbeamten und die ganze übrige Menſch¬
heit en canaille behandeln zu können, wenn man es
bis zum Verwaltungschef gebracht hat. Aber wir ſind
von unſerem Thema abgekommen. Die böſe Alter¬
native, entweder gegen ihre perſönliche Ehre, oder
gegen die Standesehre verſtoßen zu müſſen, wurde
Ihnen hoffentlich erſpart?“
„Ja, Dank der Vorſicht, die ich anwandte, vor
den geſtiefelten Katern meine Mauſeexiſtenz möglichſt
geheim zu halten. Als das Triennium vorbei war,
und ich mein erſtes theologiſches Examen beſtanden
hatte, war es mit meiner Beſorgniß ohnedies vorbei,
denn einem ehrſamen Candidaten des Predigeramts
verdenkt es ſchon Niemand, wenn er nichts von Terzen
und Quarten wiſſen will. Ich hätte liebſten
ſogleich auf dem Lande eine Stelle als Hauslehrer
angenommen, aber mein Bruder war eben erſt nach
Prima gekommen, und ich wollte ihn die zwei Jahre,
die er noch auf dem Gymnaſium bleiben mußte, nicht
allein laſſen, da ich ihn in der Kunſt, mit Schwefel¬
hölzern zu ſchreiben und in den übrigen Geheimniſſen
des Lebens eines Dorfpfarrerſohnes in der Stadt nicht
ſo perfect ſah, wie es im Intereſſe der Familie wün¬
ſchenswerth ſchien. Denn dieſer zweite Bruder ſollte
16*[244] an ſeinem jüngeren Bruder die Stelle vertreten, die
ich an ihm vertreten hatte, und dieſer jüngere Bruder
mußte um dieſelbe Zeit auf die Tertia des Gymna¬
ſiums kommen, wenn jener die Univerſität bezog; ebenſo
wie ich anfing zu ſtudiren, als er nach Tertia kam.“
„Aber wie iſt denn das möglich,“ ſagte Oswald
erſtaunt.
„Ja, ſehen Sie, Werthgeſchätzter,“ antwortete Herr
Bemperlein, „wie es möglich iſt, kann ich Ihnen nicht
ſagen, daß es aber der Fall iſt, kann ich beſchwören.
Ich bin der Aelteſte meiner Geſchwiſter, und am zwei¬
undzwanzigſten März geboren; dann kommt eine Schwe¬
ſter, genau zwei Jahre jünger, denn ſie iſt am einund¬
zwanzigſten März geboren, darauf ein Bruder, darauf
wieder eine Schweſter, darauf wieder ein Bruder, und
wieder eine Schweſter. Wie viel ſind das?“
„Ein halbes Dutzend, ſollte ich meinen,“ ſagte
Oswald lächelnd.
„Ganz richtig, ein halbes Dutzend, alle zwei Jahre
auseinander und alle im März geboren, mit Ausnahme
meiner jüngſten Schweſter, die am erſten April zur
Welt kam. Sie iſt aber auch eine kometenhafte Er¬
ſcheinung in unſerem Planetenſyſtem und ſo zu ſagen:
das Wunderkind der Familie. Denken Sie ſich, ſie
iſt erſt achtzehn Jahre und ſchon verlobt.“
„Ich ſehe bei der ohne Zweifel großen Liebens¬
würdigkeit Ihrer Fräulein Schweſter nichts Außeror¬
dentliches darin,“ bemerkte Oswald.
„Nichts Außerordentliches?“ rief Herr Bemperlein!
„nichts Außerordentliches? Ein ſolches Kind? Hei¬
rathen! mit achtzehn Jahren! Ich weiß wirklich nicht
einmal, ob das überhaupt pſychologiſch und phyſiologiſch
zuläſſig iſt; — Sie lachen? Mag ſein: ich habe mich
auf die Weiber nie verſtanden, und wüßte auch nicht,
wie ich zu dieſer Kenntniß gelangt ſein ſollte, der Herr
müßte ſie mir denn, von wegen meiner abſonderlichen
Einfalt, im Traum geſchenkt haben. Alſo ich blieb noch
faſt zwei Jahre in Grünwald, gab Privatſtunden, hielt
Repetitorien mit jungen Studenten, die vor dem Examen
ſtanden, und im Commersbuche beſſer Beſcheid wußten,
als in den Kirchenvätern, und verdiente ſo viel, daß
ich nicht nur ſelbſt ſehr gut leben konnte — den Faſt¬
tag hatte ich aus reiner Gewohnheit beibehalten —
ſondern auch meinen Bruder pflichtſchuldig unterſtützte.
Dieſer Bruder machte mir damals einigermaßen Sorge
— die ſich hernach als unnöthig erwieſen hat, denn
er iſt jetzt in ſeinem vierundzwanzigſten Jahre ſchon
wohlbeſtallter Hülfsprediger, aber er lernte etwas
ſchwer, hatte ſchwache Augen, und war gegen Hunger
und Kälte auf eine mir unbegreifliche Weiſe empfindlich.
[246] Ich ſah deshalb ein, daß es eine Barbarei ſein würde,
ihm die Sorge für meinen jüngſten Bruder, der jetzt
auf die Schule kam, zuzumuthen, zumal dieſer ein ſehr
ſchwächlicher Knabe war — er iſt jetzt ein kräftiger
Burſche von zwanzig Jahren, ein braver, fleißiger
Junge, der nächſtens ſein erſtes theologiſches Examen
machen wird — ja, wollte ich ſagen? richtig: er war
damals ein ſchwächlicher, kränklicher Knabe, und be¬
durfte größerer Pflege. Für Beide aber das Nöthige
herbeizuſchaffen —“
„Und für Sie ſelber,“ ſchaltete Oswald ein.
„Nun, das war das wenigſte; aber ich ſah ein,
daß es ſo nicht länger ging, und da kam mir denn
die Hauslehrerſtelle in Berkow, die mir zu der Zeit
angeboten wurde, gerade recht. Vollkommen freie
Station, ein fabelhafter Gehalt — ich war überglück¬
lich. Jetzt hatte ich beide Arme frei, und konnte end¬
lich wirklich einmal etwas für die Familie thun.“
„Ich dächte, Sie hätten das ſtets nach Kräften,
oder über ihre Kräfte gethan,“ ſagte Oswald.
„Ach, Spaß,“ ſagte der Andere; „die Luft war
groß, aber die Kraft gering, und jetzt war die Unter¬
ſtützung nöthiger, wie je. Meine gute Mutter hatte
ſchon lange gekränkelt, jetzt verfiel auch mein Vater
in eine ſchwere Krankheit, die ſeine eiſerne Natur ſo
[247] untergrub, daß er ſich nie wieder ganz vollſtändig er¬
holte, ſo daß das Schlimmſte zu befürchten ſtand.
Dabei waren meine drei Schweſtern noch unverſorgt.
Welches Glück alſo, daß ich jetzt das prinzliche Ein¬
kommen von Zweihundert Thalern Gold hatte! Ich
gab die eine Hälfte meinen Brüdern, —“
„Und die andere Hälfte meinen Schweſtern,“ ſchal¬
tete Oswald ein.
„Und die andere Hälfte meinen Schweſtern —“
fuhr Bemperlein fort, und rieb ſich vergnügt die
Hände.
„Aber was behielten Sie denn für ſich?“
„Für mich? erwiderte Bemperlein erſtaunt. „Sagte
ich Ihnen nicht, daß ich vollkommen freie Station
hatte? Und nun hören Sie nur! Ich war ein Jahr
auf Berkow geweſen, da läßt mich eines Tages die
gnädige Frau zu ſich rufen, und nachdem wir über
Dies und Jenes geſprochen, ſagte ſie:“
„Sie ſind nun ein Jahr bei uns, lieber Bemper¬
lein, nun ſagen Sie mir einmal aufrichtig, ob es Ihnen
bei uns gefällt.“ „Das bedarf wohl keiner Frage,
gnädige Frau,“ antwortete ich. „Nun, das freut mich,“
ſagte ſie, „aber haben Sie nicht noch irgend einen
ſpeciellen Wunſch?“ „Daß ich nicht wüßte,“ ſagte ich.
„Aber ihr Gehalt iſt doch, offenbar zu gering,“ ſagte
[248] ſie mit dem freundlichſten Lächeln. Ich war ſo er¬
ſtaunt über dieſe Worte, daß ich keine Antwort zu
finden wußte.
„Ich will Ihnen nur geſtehen,“ fuhr ſie mit himm¬
liſcher Güte fort, „das ich die Zeit, die Sie jetzt hier
ſind, nur als Probezeit angeſehen, und Ihren Gehalt
darnach berechnet habe. Es iſt mir niemals eingefallen,
zu glauben, daß ein Mann, dem ich die Erziehung
meines Kindes mit vollkommener Sicherheit anvertrauen
kann, überhaupt mit Geld zu bezahlen ſei; und wenn
ich Sie jetzt bitte, mir zu erlauben, das geringe Ge¬
halt, das Sie bis jetzt bezogen haben, zu verdoppeln,
ſo bemerke ich dabei ausdrücklich, daß ich mich nach
wie vor als ihre Schuldnerin fühle.“
War ich vorher noch nicht erſtaunt geweſen, ſo
war ich es jetzt; oder vielmehr, ich war ſo gerührt —
weniger durch das großmüthige Geſchenk ſelbſt, —
als über die unbeſchreibliche Liebenswürdigkeit, mit dem
es mir von der edlen Frau geboten wurde, daß mir
die Thränen über die Backen liefen. Ich ſtammelte
etwas von unmöglich annehmen können und dergleichen,
da aber wurde ſie ordentlich zornig, daß ich nur ſchnell
einlenkte und ſagte: ich nähme das Geſchenk nicht für
mich, was unverantwortlich wäre, ſondern nur, weil
ich für Andere ſorgen müßte, die für ſich ſelber noch
[249] nicht ſorgen könnten.“ „Machen Sie damit, was Sie
wollen,“ ſagte ſie ſchon in der Thür, „aber bedenken
Sie auch, daß Sie gegen ſich ſelbſt Verpflichtungen
haben.“ Damit war die Sache zu Ende, aber noch
nicht Frau von Berkow's Güte, die grenzenlos iſt.
Doch ich wollte Ihnen eigentlich ganz etwas Anderes
erzählen; nämlich, wie ich dazu kam, den Fehler zu
entdecken, der ſich in die Rechnung meines Lebens ein¬
geſchlichen hat, und welches dieſer Fehler iſt.
Achtzehntes Kapitel.
In dieſem Augenblicke kam ein Reiter, der vor
einigen Minuten aus einem Seitenwege auf den Haupt¬
weg gebogen war, im Galopp an ihnen vorüber. Ein
großer Neufundländer, den Oswald zuerſt für Melitta’s
Dogge hielt, galoppirte in langen Sprüngen neben dem
Pferde her, einem herrlichen rabenſchwarzen Vollblut,
deſſen Bruſt mit weißen Schaumflocken benetzt war.
Der Reiter war, ſoweit man es in der Eile bemerken
konnte, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, lang
und dürr, gegen die Gewohnheit der Gutsbeſitzer hier
zu Lande in langen Beinkleidern ſtatt in Stulpen¬
ſtiefeln; ſeine Haltung zu Pferde durchaus die Haltung
der Herren, welche man lateiniſche Reiter zu nennen
pflegt. Aber es war das wohl mehr Nachläſſigkeit
und die Gewohnheit, ſich gehen zu laſſen, als wirkliche
Ungeſchicklichkeit, denn, als er faſt unmittelbar vor den
[251] ihm Entgegenkommenden war, die er, in Nachdenken
oder Träumereien verloren, jetzt erſt bemerkte, warf er
ſeinen Renner mit einer Kraft und Gewandtheit auf
die Seite, die den tüchtigen Reiter bekundeten. „Ex¬
cusez messieurs!“ rief er, flüchtig an den Hut grei¬
fend und weiter galoppirend.
„Kennen Sie den Herrn?“ ſagte Oswald ſtehen
bleibend und dem Manne nachſchauend, deſſen Züge
ihm fremd und bekannt zu gleicher Zeit erſchienen waren.
„Tiens!“ ſagte Herr Bemperlein, ebenfalls ſtehen
bleibend, „das muß der Baron Oldenburg geweſen ſein.
Ja gewiß iſt's der Baron!“ rief er, als der Reiter
jetzt bei den Knaben, die in der Entfernung von ein
paar hundert Schritten folgten, angekommen, ſtill hielt,
und ihnen vom Pferde herab die Hand reichte. Ich
hätte ihn kaum wieder erkannt mit ſeinem ſchwarzen
Bart und ſeinem gelben Geſicht. Er ſieht ja aus, wie
ein wahrer Kabyle. Seit wann mag er denn wieder
im Lande ſein?“
„Iſt er auf Reiſen geweſen?“ fragte Oswald mit
angenommener Gleichgültigkeit.
„Er iſt ſeit zehn Jahren eigentlich fortwährend auf
Reiſen,“ erwiederte Herr Bemperlein: „vor drei Jahren
trafen ihn Frau von Berkow und Herr von Bernewitz
und deſſen Gemahlin in Rom, und ſie ſind dann mit
[252] ihm durch Süd-Italien gereiſt. In Sicilien haben ſie
ſich getrennt. Die Herrſchaften traten die Rückkehr
an, und der Baron ging weiter nach Aegypten, Nubien,
und Gott weiß wohin ihn ſein unruhiger Geiſt noch
ſonſt getrieben haben mag. Aber wir ſind ſchon wieder
von unſerm Thema abgekommen.“
Herr Bemperlein fing mit der ihm eigenthümlichen
Redſeligkeit abermals zu erzählen an, aber wenn Os¬
wald ſchon vorher nur mit halbem Ohre zugehört
hatte, ſo ſchweiften ſeine Gedanken jetzt noch viel weiter
ab .... Das war alſo der Mann, der einſt in Me¬
litta's Leben eine ſo große Rolle geſpielt hatte! Eine
ſo große Rolle! Eine wie große Rolle? Sie hatte ihn
nie wahrhaft geliebt — vielleicht, — gewiß nie wahr¬
haft geliebt — aber iſt denn wahre Liebe immer der
letzte Preis der höchſten Gunſt einer Frau? Giebt es
nicht ſo dergleichen, wie Begierde ohne Liebe? oder
auch Liebe ohne Begierde, oder der Wunſch, den Ge¬
liebten auf jede Weiſe an ſich zu feſſeln, auch durch die
Luſt und die Erinnerung der Luſt — — Und ſo hätte
Sie doch an der Seite des Mannes, an deſſen Wiege
die Grazien ausgeblieben waren, geruht; wohl ohne
Ruhe, ohne die tiefe Seligkeit zu finden, die ſie hoffte,
— aber doch geruht? O, in dem Gedanken war
Höllenqual . . .
[253]
So raunte und flüſterte ihm der Dämon der Eifer¬
ſucht wilde, ſchlimme Gedanken ins Ohr, die ſein Blut
ſieden machten und ihm kalte Tropfen auf die Stirn
trieben — was Wunder, wenn er ſo Herrn Bem¬
perlein's Erzählung nur wie im Traume hörte. Nur
ſo viel begriff er, daß der wunderliche, brave Mann
erſt jetzt, nachdem die Noth des Lebens für ihn vorbei
war und er in der grünen Einſamkeit von Berkow
frei von aller Sorge aufathmen durfte, zum erſten Mal
über ſeine ſogenannte Wiſſenſchaft, die zu prüfen, ihm
bis dahin die Zeit gefehlt hatte, nachzudenken begann;
daß er jetzt zum erſten Male mit den Heroen der
neueren Literatur, vor allem mit Shakeſpeare, Be¬
kanntſchaft machte, daß er von den Dichtern auf die
Philoſophen kam, und wie ihm vor allem in Spinoza
eine Welt aufging, von der er, der Zögling theolo¬
giſcher Scholaſtik, keine Ahnung hatte; daß er von
Spinoza, ſpäter von Schopenhauer angeregt, ſich auf
das Studium der Natur, auf Botanik, Mineralogie,
Phyſik geworfen, ſich mit Hülfe des alten Baumann
ein kleines Laboratorium eingerichtet und fleißig expe¬
rimentirt habe, und daß auf ſeinen Retorten und Ti¬
geln der Glaube an die alleinſeligmachende Kraft der
Profeſſoren-Religion, den ihm die Lectüre der Philo¬
[254] ſophen noch etwa gelaſſen hatte, vollkommen ver¬
dampft ſei.
„Das ging nun ſo, ſo lang es ging,“ ſagte Herr
Bemperlein, „allein es kam nicht zum Sterben, aber
doch zu dem Augenblick, wo ich mich entſchließen mußte,
ob ich meinen heimlichen Abfall von dem Glauben
meiner Väter offen erklären wollte, oder nicht. Eine
ſehr einträgliche Pfarrſtelle in hieſiger Gegend, von der
ein Onkel der Frau von Berkow, der ältere Herr von
Bernewitz Patron iſt, wurde durch den Tod des In¬
habers erledigt. Herr von Bernewitz glaubte ſeiner
Nichte einen Gefallen zu erweiſen, wenn er mir dieſe
Stelle anbot, ich hatte weiter nichts zu thun, als am
nächſten Sonntag eine Predigt in dem Pfarrdorfe zu
halten, und die Sache war abgemacht. Nun müſſen
Sie wiſſen, daß ich, als mir Herr von Bernewitz die
Sache vorſtellte, im erſten Schrecken, halb aus Ueber¬
raſchung, halb um den guten Mann nicht zu kränken,
und dann auch, weil wir (das heißt Frau von Berkow
und ich) Julius' Ueberſiedlung nach Grünwald be¬
ſchloſſen hatten, und ſo meines Bleibens in Berkow
doch nicht länger ſein konnte: „Ja“ geſagt und mich
wirklich hingeſetzt habe, eine Predigt auszuarbeiten. Ich
hatte mich ſeit ein paar Jahren glücklich um jede Ge¬
legenheit, wo mein theologiſch-declamatoriſches Talent
[255] ſich hätte zeigen können, herumzudrücken gewußt, und
jetzt fühlte ich zu meinem Schrecken, daß ich die Kanzel¬
ſprache, und mehr noch als die Sprache, die Kanzel¬
logik vollſtändig verlernt hatte. Drei Abende hinter
einander ſetzte ich mich zu der Siſyphusarbeit hin;
aber nie kam ich auch nur über: „meine andächtigen
Zuhörer“ hinaus. Die contradictio in adjecto pei¬
nigte mich, ich wußte aus eigener Erfahrung, wie es
mit der Andacht der Zuhörer beſtellt iſt. Andächtig
kommt von Denken! Da, in der dritten Nacht, als ich
mich voller Verzweiflung zu Bette gelegt hatte und
voller Kummer eingeſchlafen war, erwägend, was wohl
mein guter Vater und mein würdiger Großvater, den
ich auch noch gekannt hatte, ſagen würden, wenn ſie
den Unglauben ihres in ſo trefflichen Grundſätzen er¬
zogenen Sohnes und Enkels ſähen, hatte ich folgenden
curioſen Traum, zu deſſen Erklärung ich vorher be¬
merken muß, daß Frau von Berkow mir an jenem
Tage viel von den Muſeen des Louvre erzählt hatte.
„Mir träumte alſo, ich trat in einen gewaltigen
hohen und weiten Saal, an deſſen Wänden Sculp¬
turen und Gemälde ſtanden und hingen. Da ſaß Gott
Vater ſelbſt, ein ſchöner bärtiger alter Mann, und reckte
die Hand aus und ſchuf Himmel und Erde, dann kamen
Adam und Eva, in weißem Marmor: Eva, ziemlich
[256] wohl erhalten — Adam aber hatte den Kopf ver¬
loren; darauf „Kain's Brudermord,“ ein großes Oel¬
gemälde, ebenſo wie ein darauf folgendes: „Adam und
Eva finden die Leiche des ermorderten Abel;“ auf
welchem die Geſtalt des todesblaſſen Jünglings, der
wie eine gebrochene Lilie anzuſchauen war, mich faſt zu
Thränen rührte. So ging es weiter und weiter:
Statue an Statue, Gemälde an Gemälde. Ich war
nicht allein im Saale, im Gegentheil, viele Menſchen
bewegten ſich an den Wänden und durch den Wald
von Statuen hin. Vor einzelnen beſonders hervor¬
ragenden Werken, zum Beiſpiel dem Durchzug der
Kinder Iſrael durch das rothe Meer — einer rieſen¬
großen Freske — ſtanden ganze Gruppen — auch vor
anderen, die ſich weniger durch hiſtoriſche Bedeutung,
als durch das Pikante der dargeſtellten Situation aus¬
zeichneten. So mußte ich mich über das Betragen
einer Schaar junger Mädchen ärgern, die vor einem
Gemälde, darſtellend: „Lot, von ſeinen Töchtern trunken
gemacht,“ die Köpfe zuſammenſteckten und kicherten.
Ueberhaupt erſchien mir das Benehmen der Geſell¬
ſchaft im hohen Grade anſtößig. Die Frauen lachten
und ſchwatzten und kokettirten, die Herren ſchwatzten,
plauderten und lorgnettirten, und einige mit langen
Beinen und langen Zähnen — wahrſcheinlich Eng¬
[257] länder — hatten gar den Hut auf dem Kopf. Faſt
Alle hielten ein Buch in der Hand, in welches die Ge¬
wiſſenhafteren von Zeit zu Zeit hineinſahen, wenn ſie
ſich über eins der Kunſtwerke Auskunft holen wollten.
Dies Buch ſchien mir der Katalog des Muſeums zu
ſein, und da ich einen ſolchen ebenfalls zu haben
wünſchte, weil ich die Reihenfolge der Propheten ver¬
geſſen hatte, und nun nicht wußte, ob der alte bär¬
tige Mann, No. 8, Habakuk, und der Jüngling N. 9,
Zephanga, oder umgekehrt ſei, ſo wandte ich mich an
einen alten Herrn, den ich mit einem Fliegenwedel an
den Statuen beſchäftigt geſehen hatte, und den ich in
Folge deſſen für einen der Cuſtoden hielt. Als ich
näher trat, wandte ſich der Mann um, und ich erſchrak
nicht wenig, als ich meinen eignen Großvater erkannte.
„Was wünſchen Sie, junger Mann? ſagte er in ſtren¬
gem Ton. Ich wiederholte ſchüchtern meine Frage.
„Hier haben Sie einen Katalog,“ ſagte er, von einem
Tiſche, auf welchem eine große Menge jener Bücher
lag, eins nehmend und mir reichend, koſtet fünfzehn
Silbergroſchen.“ — Ich ſchlug das Buch auf; „ich
wünſchte einen Katalog,“ ſagte ich, „Sie haben mir“
— „Ganz richtig,“ ſagte der alte Mann mit melan¬
choliſcher Stimme; „dies iſt der Katalog für das alte
Muſeum; der Eingang in das neue Muſeum, in welchem
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 17[258] die Kunſtwerke von dem Jahre Eins chriſtlicher Zeit¬
rechnung bis zum Jahre 1793, wo die chriſtliche Re¬
ligion abgeſchafft, und die Göttin der Vernunft auf
den Thron geſetzt wurde, aufgeſtellt ſind — iſt dort!“
Er wies auf eine ſchöne breite Treppe, die aus dem
Saale hinaufführte in andere Räume. „Sie werden
gut thun, ſich dort ebenfalls einen Katalog zu kaufen.
Er koſtet zehn Silbergroſchen und Sie haben ſich des¬
halb an Ihren Vater zu wenden, welcher in jenem
Theile des Gebäudes daſſelbe Amt verſieht, welches
ich hier verſehe.“ Und damit wandte mir der alte
Mann den Rücken, und fing wieder an, mit ſeinem
langen Wedel die Statuen und Bilder abzuſtauben.
„Entſchuldigen Sie, lieber Großvater,“ ſagte ich. —
„Ich bin Ihr Großvater nicht,“ antwortete der alte
Mann, ruhig in ſeiner Beſchäftigung fortfahrend.
„Nun, Herr Cuſtos?“ fragte ich. „Ja wohl, Cuſtos,
nichts weiter, nichts weiter;“ murmelte der Greis.
„Wo haben denn, Herr Cuſtos,“ fuhr ich fort, „die
Kunſtwerke, die ſeit jener Zeit entſtanden ſind, ihre
Stelle gefunden?“ „Seit jenem denkwürdigen Jahre,“
ſagte der Alte, „hat nichts Geſcheidtes mehr zu Stande
kommen wollen. Zwar haben ſich noch einige Künſtler¬
ſchulen gebildet, aber es hat Alles kein rechtes Leben,
und ihre Productionen können auf eigentlichen Kunſt¬
[259] werth keinen Anſpruch machen. Den Künſtlern ſelbſt
fehlt der rechte Glaube, und ohne den läßt ſich nun
einmal nichts Ordentliches malen oder meißeln, oder
ſchreiben“ — bei dieſem letzten Worte maß er mich
mit einem ſtrengen Blicke, — „Oder ſchreiben;“ wie¬
derholte ich kleinlaut, an meine ungeſchriebene Probe¬
predigt denkend — „Oder ſchreiben,“ fuhr er fort —
„und dann iſt das Publikum ſelbſt in neueſter Zeit
ſehr gleichgültig geworden, und die Kritik ſitzt den
Künſtlern zu unbarmherzig auf dem Nacken, und das
verdirbt ihnen die naive Unbefangenheit und nacht¬
wandleriſche Sicherheit, ohne welche nun ein für alle
Mal, — aber jetzt muß ich Sie erſuchen, ſich zu ent¬
fernen, die Glocke hat ſchon lange geläutet, Sie ſind
der Allerletzte.“ Er begleitete mich bis zum Ausgange
des Saales, öffnete mir die Thür und lud mich mit
einer ſteifen Verbeugung ein, hinauszuſpazieren. Ich
that es — die Thür fiel donnernd hinter mir zu, und
— ich erwachte.“
„Seit jenem Traum,“ fuhr Herr Bemperlein fort;
„machte ich keinen neuen Verſuch mehr. Ohne Glauben
läßt ſich keine Predigt ſchreiben, ſagte ich zu mir, und
wenn ſich auch noch zur Noth eine ſchreiben läßt, ſo
läßt ſie ſich doch nicht halten, wenigſtens nicht von
einem Manne, der, wie Du, ein Stück Gewiſſen und
17*[260] weder Kind noch Kegel hat, die manchen ehrlichen
Kerl ſchon Dinge haben ſchreiben und ſagen machen,
die er nur ſo und auch kaum ſo vor Gott und der
Welt verantworten kann. Daß ich alſo nicht mehr
Paſtor werden könnte, ſtand bei mir feſt, und ich ſchrieb
alſo heute Morgen an Herrn von Barnewitz, mich für
die mir zugedachte Ehre zu bedanken, von der ich
keinen Gebrauch machen könne, da — ich mich entſchloſſen
hätte, Julius nach Grünwald zu begleiten. Der Ein¬
fall kam mir nämlich, wie ich die Phraſe ſchrieb, und
ich lief ſogleich zu Frau von Berkow, und theilte ihr
meinen Entſchluß mit, worüber ſie ihre ungeheuchelte
Freude zu erkennen gab. — Nun ſagen Sie mir, mein
vortrefflicher Freund, der Sie die Güte gehabt haben,
dieſe lange Geſchichte anzuhören, was würden Sie
thun, wenn Sie in meiner Lage wären? Bedenken
Sie dabei, daß ich bereits achtundzwanzig Jahre alt
bin, aber noch meine ſämmtlichen achtundzwanzig Zähne
habe. — Die Weisheitszähne ſind ausgeblieben, ſei es
aus einer Vergeßlichkeit der Natur, ſei es aus einer
weiſen Vorſicht des Schickſals, das daran dachte, wie
ich ſo manchmal im Leben wenig genug zu beißen
haben würde.“
„Was ich thun würde, wenn ich an Ihrer Stelle
[261] wäre?“ ſagte Oswald; „wenn ich, wie Sie, ein wackrer,
gewiſſenhafter, fleißiger —“
„Bitte, bitte, Herr Collega;“ ſagte Bemperlein
über und über roth werdend.
„Ich ſage, gewiſſenhafter, fleißiger Mann wäre?
Nun die Frage iſt ſehr leicht zu beantworten. Ich
würde thun, was Sie bereits gethan haben; ich würde
dem Paradies naiver Gedankenloſigkeit und harmloſen
Glaubens wohlgemuth den Rücken kehren, nachdem ich
einmal vom Baum der Erkenntniß gekoſtet, und mich,
ſo wenig wie Sie, in den Stall ſperren laſſen, in
welchem die Heuchler, die ſchnöden Hunde im Schafs¬
pelze der Demuth, ſo ohrenzerreißend und markerſchüt¬
ternd winſeln und heulen.“
„Ganz wohl, ganz wohl!“ ſagte Herr Bemperlein,
ſich vergnügt die Hände reibend, „und was würden
Sie dann thun, Werthgeſchätzteſter?“
„Dann,“ ſagte Oswald, „wenn ich Sie wäre,
würde ich mich erinnern, welche Mühſal ich ſchon als
ſchwacher Knabe erduldet, und welchen Fleiß und welche
Ausdauer ich bewieſen habe, blos um mir einen Wuſt
von Kenntniſſen anzueignen, den ich jetzt froh bin,
wieder vergeſſen zu können — deſſen, ſage ich, würde
ich mich erinnern, und dann meinen Ehrgeiz darein
ſetzen, mir nun eine Wiſſenſchaft zu eigen zu machen,
[262] die ich nicht wieder vergeſſen möchte, weil ich ihr
Jünger ſein darf, ohne vorher die freie Vernunft zu
knebeln, und weil dieſe Wiſſenſchaft fruchtbar für mich
und fruchtbar für meine Mitbrüder iſt.“
„Vortrefflich, vortrefflich,“ ſagte Herr Bemperlein,
„weiter, weiter!“
„Ich würde alſo mit einem Wort,“ fuhr Oswald
fort, „mich mit aller Macht auf die Naturwiſſenſchaften
werfen, in denen Sie ſich ja ſchon verſucht haben, und
würde mich, ſobald als möglich, nochmals in Grün¬
wald inſcribiren laſſen, diesmal aber nicht, um Theo¬
logie, ſondern etwa um Medicin zu ſtudiren.“
„Die mediciniſche Facultät in Grünwald iſt aus¬
gezeichnet,“ ſagte Herr Bemperlein.
„Sie iſt anerkanntermaßen eine der beſten in
Deutſchland," fuhr Oswald fort. „Dann würde ich
noch ein paar andere Univerſitäten beſuchen, wenn das
Geld reicht —“
„Geld wie Heu, Geld wie Heu,“ rief Herr Bem¬
perlein, „ſechs Jahre lang ein prinzliches Einkommen
und freie Station, ich bitte Sie, Theuerſter, ich habe
für ein halbes Jahrhundert zu leben.“
„Dann würde ich ein berühmter Arzt —“
„Wiſſen Sie,“ ſagte Bemperlein, ſtehen bleibend
und ſich nach den Knaben umſehend, im Flüſterton:
[263] Ich habe ſchon ein Paar von Julius Kaninchen
heimlich mit Blauſäure vergiftet und hernach ſecirt,
und die Fröſche in dem Sumpfe hinter unſerm Park
haben keine Urſache, meine Freunde zu ſein.“
„Bravo!“ lachte Oswald, „und dann heirathete ich.“
„Wirklich?“ fragte Bemperlein.
„Nun natürlich, und erzeugte ein halbes Dutzend
kleiner Bemperleins, die in der Folge alle große Bem¬
perleins und Alles Leuchten und Fackeln der modernen
Wiſſenſchaft würden.“
„Auch die Mädchen?“ ſagte Bemperlein lachend.
„Die Mädchen heirathen wieder tüchtige wahrheits¬
liebende Männer, und ſo hülfe ich theoretiſch und prak¬
tiſch die Zeit herbeiführen, wo die Freiheit erſcheinen
wird, „die wir meinen.“ “
„Ja, ja,“ rief Herr Bemperlein, „ſo gehts, ſo
gehts. Dank, tauſend Dank, mein trefflicher Freund,
daß Sie die letzten Wolken des Zweifels durch Ihre
muthigen Worte zerſtreut haben. Morgen reiſe ich
mit Julius nach Grünwald.“
„Ich will Ihnen einen Empfehlungsbrief an Pro¬
feſſor Berger mitgeben,“ ſagte Oswald; „er iſt mit
allen naturwiſſenſchaftlichen Größen eng liirt.“
Er riß ein Blatt aus ſeiner Brieftaſche, ſchrieb ein
paar Worte an Berger darauf und übergab es Bemperlein.
[264]
„Dank, beſten Dank!“ ſagte dieſer, das Blatt ein¬
ſteckend. „Die Bekanntſchaft dieſes Mannes kann mir
ſehr nützlich werden.“
„Auf jeden Fall. Sprechen Sie durchaus offen
gegen ihn, ohne allen und jeden Rückhalt, dann dürfen
Sie aber auch verſichert ſein, daß er mit ſeiner Herzens¬
meinung nicht hinter dem Berge halten wird. Viel¬
leicht empfiehlt er Ihnen, ſogleich auf eine größere
Univerſität, etwa nach der Reſidenz zu gehen. Folgen
Sie dann ſeinem Rath.“
„Nous verrons, nous verrons!“ rief Her Bem¬
perlein. „Aber da ſind wir bei unſerm Parkthor an¬
gekommen. Sie treten doch näher!“
„Nein, nein!“ ſagte Oswald haſtig, ich möchte nicht
gern ſo ſpät nach Grenwitz zurückkommen.“
„Nun denn, leben Sie wohl! In ein paar Tagen,
wenn ich Julius in Grünwald inſtallirt, und mich über
mich ſelbſt bei Berger ordentlich informirt habe, bin
ich wieder hier, um definitiv Abſchied zu nehmen. Leben
Sie wohl ſo lange, mein werthgeſchätzter Freund!“
„Adieu, adieu!“ ſagte Oswald, haſtig Bemperlein
und Julius die Hand drückend, und Bruno mit ſich
zurück in den Wald ziehend, als hielte ein Engel mit
dem flammenden Schwerte Wache über dem Parkthore
von Berkow.
Neunzehntes Kapitel.
Der Knabe und er gingen eine Zeit lang ſchwei¬
gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu
ſtolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬
ginnen ſollen, der ihn ganz vergeſſen zu haben ſchien,
und Oswald war mit ſeinen eignen Gedanken vollauf
beſchäftigt . . . Jeder Menſch, mit dem wir in nähere
Beziehung treten, iſt ein Glas, das unſer eigen Bild
ſo oder ſo zurückwirft, und in dem kryſtallhellen Spiegel
von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald
ſein eignes Geſicht erblickt, — aber wie erblickt? von
Leidenſchaft zerriſſen, von Zweifel verdüſtert, ſo daß er
vor ſich ſelbſt erſchrak. „Und dieſer Mann, ſprach er
bei ſich, kommt zu Dir, ſich von Dir Rath zu holen;
der Sehende zu dem Blinden, der Geſunde zu dem
Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung
ſeines Lebens, und er ſetzt ſich hin und rechnet und
[266] rechnet und ruht nicht, bis das Facit ſtimmt, und Alles
wieder ſchier und glatt iſt, und Du taumelſt durch's
Leben, wie ein leichtſinniger Kaufmann, Schuld auf
Schuld häufend, von einer tollen Speculation in die
andere rennend, unbekümmert darum, wie es am Zah¬
lungstage werden ſoll. Jener Mann würde ſich eher
die Hand abhauen, als ſie nach etwas ausſtrecken, das
er nicht verdient hätte im Schweiße ſeines Angeſichts
— Du nimmſt die Gaben der goldigen Aphrodite und
was Dir ſonſt ein günſtiges Geſchick gewährt, hin, wie
Dein gutes Recht und murreſt nur, daß es nicht mehr
iſt. Jetzt biſt Du ſchon nicht mehr zufrieden mit
Melitta's Liebe, für die Du ihr auf den Knieen danken
müßteſt, jetzt verlangſt Du, ſie ſollte Dich geliebt haben,
ehe ſie Dich kannte, ſie ſollte wenigſtens mit ihrer
Liebe auch die Erinnerung an dieſen Mann verloren
haben. „Wenn ich die Erinnernug tödten könnte,“ ſagte
ſie. Nun, was uns gleichgültig iſt, vergißt man gar
leicht, und was man nicht vergißt und nicht vergeſſen
kann — das iſt uns nicht gleichgültig. Alſo haßt ſie
dieſen Mann? Aber der Haß iſt der wilde Bruder der
holden Schweſter Liebe! Vielleicht liebt ſie ihn noch! —
Und woher kam er eben? Von ihr! ohne Zweifel. —
Bruno führt dieſer Seitenweg noch ſonſt wohin, außer
nach Berkow?“
„Nein, und ich finde den Weg wirklich nicht inter¬
eſſant genug, um ihn zweimal an einem Tage zu
gehen. Hier iſt ein anderer, der uns aus dem Walde
herausführt und dann immer am Rande hin bis bei¬
nahe nach Hauſe; wollen wir den nicht einſchlagen?“
„Meinethalben,“ ſagte Oswald, ſogleich wieder in
ſeinen böſen Traum zurückfallend. „Alſo wirklich von
ihr! Doch das iſt ja nicht möglich! Warum nicht mög¬
lich? „„Ein rollend Rad des Weibes Bruſt hat ge¬
drechſelt; die Lilienhöhen decken, was wankt und
wechſelt““ — das kann der Baron ſo gut wie Du
in der Fritjofsſage geleſen haben. Er iſt ja auch ein
Schriftgelehrter und dabei Baron und reich. — Dem
Manne kann es ja gar nicht fehlen; aber Melitta ſoll
mir Rede ſtehen; ſie ſoll mir ſagen, daß ich Urſache
habe, den Mann zu haſſen, wie ich ihn haſſe.“
Bruno war, durch die Breite des Weges von ihm
getrennt, ſchweigend neben Oswald hergegangen. Er
bemerkte wohl deſſen Aufregung; er ſah, wie ſein Ge¬
ſicht ſich immer mehr verdüſterte, wie ſchmerzlich
ſeine Lippen zuckten, wie ſeine Hand ſich krampfig
ballte; er ſah, daß ſein Freund nicht glücklich war.
Mehr bedurfte es bei dem großmüthigen Knaben nicht,
um alle ſeine perſönliche Empfindlichkeit, ſeine eignen
[268] Klagen zu vergeſſen; er kam leiſe an Oswald heran
und ſeine Hand ergreifend, ſagte er:
„Was fehlt Dir, Oswald? Warum ſprichſt Du
nicht? Zürnſt Du mir?“
„Ich Dir!“ mehr antwortete der junge Mann nicht;
aber der Ton, mit dem er dieſe Worte ſprach, und
der Blick, mit dem er ſie begleitete, waren genug, um
Bruno von der Grundloſigkeit ſeines Verdachtes zu
überzeugen, und die ſo lange zurückgeſtaute Fluth ſeiner
Liebe in wildem Ungeſtüm hervorbrechen zu machen.
Er umſchlang Oswald und drückte und herzte ihn unter
Thränen und Schluchzen.
„Bruno, Bruno, was iſt Dir?“ rief Oswald durch
die ſtürmiſche Zärtlichkeit des Knaben erſchreckt.
„Ich glaubte, Du liebteſt mich nicht mehr,“ ſchluchzte
Bruno, „und ſieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht
mehr lieben willſt, dann muß ich ſterben.“
Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen
in ſeinem fieberhaft erregten Zuſtande ſo entſetzlich
deutlich geträumt hatte, trat wieder vor ſeine Seele
und gab dem leidenſchaftlichen Worte des Knaben eine
fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog
er den Weinenden an ſein Herz, und wiederholte ſich
im Stillen das Gelöbniß, dieſem armen, verlaſſenen
Knaben ein Bruder zu ſein. — —
[269]
So ſtanden ſie, ſich eng umſchlungen haltend. . .
Rothe Abendlichter ſpielten in den Wipfeln der Tannen,
— aus dem Walde tönte der ſanfte klagende Geſang
eines Vögleins, — ein ſüßer, feierlicher Augenblick. . .
Da ſchlugen aus geringer Entfernung wüſte, hä߬
liche Töne an ihr Ohr — laute drohende Stimmen
von Männern, die in einem heftigen Wortwechſel be¬
griffen ſchienen — Schelten, Fluchen — dann auf
einen Augenblick tiefe Stille und plötzlich der laute
Ruf: Herr Gott! Hülfe! iſt denn Niemand da!
Hierher!
Oswald und Bruno, die einen Augenblick, athem¬
los gelauſcht hatten, eilten jetzt in vollem Lauf der
Stelle zu, von wo der Hülferuf ertönte. Sie kamen
auf einen Platz, hart am Rande des Waldes, wo Holz
gefällt wurde, und zwiſchen den einzelnen noch ſtehen¬
den Bäumen hier und da Klafter aufgeſchichtet waren.
Neben einem halb beladenen, mit vier Pferden beſpann¬
ten Wagen lag ein Mann auf der Erde, mit Händen
und Füßen um ſich ſchlagend, ein anderer hatte ſich
über ihn gebeugt, ihn mißhandelnd, oder beſchwichtigend
— man konnte es nicht unterſcheiden. Als die Beiden
herankamen, erhob ſich dieſer Letztere — es war der
Inſpector Wrampe — und ſchrie ihnen entgegen:
[270] „Schnell, Herr Doctor, um Gotteswillen! Der Kerl
ſtirbt mir unter den Händen.“
In der That, das Ausſehen des Mannes auf der
Erde war entſetzlich genug. Das Geſicht verzerrt, die
Augen verdreht, daß man nur das Weiße ſah, Schaum
vor dem Munde, die Fäuſte geballt, der Körper in
Krämpfen zuckend — kaum, daß Oswald den rieſigen
Knecht wieder erkannte, der damals durch ſeine Grau¬
ſamkeit gegen ſeine Pferde den Zorn Bruno's heraus¬
gefordert hatte.
Oswald war an der Seite des Menſchen nieder¬
gekniet, er wiſchte ihm den Schaum vom Munde, er
band ihm die ſteife Binde ab, er ſuchte ihm eine beſſere
Lage zu verſchaffen.
„Haben Sie nichts, ihm unter den Kopf zu legen,“
rief er dem Inſpector zu, deſſen rohes, bärtiges Ge¬
ſicht die hülfloſe Angſt, die er empfand, unausſprechlich
albern machte.
„Unter den Kopf? unter den Kopf? hier!“ und
dabei zog er ſeinen Rock aus und ſtopfte ihn als Kiſſen
unter den Kopf des Mannes.
Iſt kein Waſſer in der Nähe?“ rief Oswald weiter.
„Waſſer in der Nähe? Nein — aber in dem Rock
ſteckt eine Flaſche — da — das mag auch wohl helfen
— Herr Jeſus.“ — —
[271]
Oswald wuſch mit dem Branntwein die Stirn des
Kranken, der allmälig etwas ruhiger wurde.
„Wie iſt denn dies gekommen?“ fragte er.
„Ja ich weiß es nicht;“ rief der Inſpector mit
kläglicher Stimme. „Ich komme hierher geritten, weil
der Kerl mir zu lange im Holz trödelt, um ihm ein
bischen den Marſch zu machen. Da ſitzt er bei ſeinem
Wagen hier auf dem Baumſtamm und regt ſich nicht.
Was haſt Du hier zu ſitzen, ſage ich. Warum ſoll
ich hier nicht ſitzen? ſagte er. Biſt Du wieder be¬
ſoffen, Jochen? ſagte ich, denn ich ſah, daß er ganz
wäſſ'rige Augen hatte, und ſeine Schnapsflaſche leer
neben ihm lag. Selber beſoffen, ſagte er. Du biſt
ein ganz infamer Schlingel, ſagte ich. Selber Schlingel,
ſagte er. Na, Herr Doctor, ſo was kann man ſich
doch nicht gefallen laſſen. So ich runter vom Pferde
und meinem Kerl ein paar aufgezählt. Er in der
größten Wuth auf mich los — mit ein Mal fällt er,
wie ein Ochs, auf die Erde — und fängt an — ach,
Herr Jeſus, da geht es wieder los. So was hab'
ich mein Lebtag nicht geſehen.“
Der Knecht bekam wieder einen Krampfanfall;
Oswald ſelbſt befürchtete das Schlimmſte. „Schnell,
ſchnell,“ rief er, „das Holz vom Wagen herunter, wir
[272] müſſen ihn langſam nach Hauſe fahren. Unterdeſſen
reitet einer nach dem Arzt.“
„Ja, ja, ich will nach dem Doctor reiten,“ rief
der Inſpector froh fortzukommen, und ſchon mit einem
Fuß im Bügel.
„Hier geblieben,“ herrſchte ihn Oswald an; „wie
kann ich ohne Sie den Mann fortſchaffen? Schämen
Sie ſich nicht, Herr Wrampe, daß Sie ein ſolcher
Haſenfuß ſind? Nehmen Sie ſich ein Beiſpiel an
Bruno.“
Bruno hatte Oswald nach Kräften unterſtützt, jetzt
ſtand er auf dem Wagen und warf mit vollen Armen
das ſchon aufgeladene Holz herab. „Ich will zu dem
Doctor reiten, Oswald!“ rief er herabſpringend.
„Es wird wohl das Beſte ſein, Bruno,“ ſagte
dieſer. „Du kennſt den Weg und ich kann hier nicht
fort. Schnallen Sie ihm die Bügel kürzer, Herr
Inſpector.“
„Gleich, gleich,“ ſagte dieſer, aber ſchon hatte
Bruno es ſelbſt gethan; mit einem Satze, ohne den
Bügel zu berühren, ſaß er im Sattel und hatte die
Zügel ergriffen. Das feurige Thier, die ungewohnte
leichte Laſt fühlend, bäumte ſich.
„Es wird Sie abwerfen, Junker!“ ſagte der In¬
ſpector.
[273]
„Keine Furcht," rief der Knabe. Ihre Peitſche
her! Hop, allez!“ und damit hieb er das Pferd über
den Hals und ſprengte im Galopp davon. Oswald
ſah nur noch, wie er, an dem Rande des Waldes an¬
gekommen, über den breiten Graben ſetzte auf den
Weg, von dem Weg über den andern Graben auf eine
Wieſe, um, über dieſe weggaloppirend, ſchneller die
Landſtraße zu gewinnen, die nach Faſchwitz und von
dort weiter nach dem Städtchen führte, in welchem
der Doctor wohnte.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I 18
Zwanzigſtes Kapitel.
Unterdeſſen hatten der Inſpector und Oswald,
nicht ohne einige Schwierigkeit — denn Herrn Wrampe's
Rieſenkraft ſchien durch den Schreck vollkommen para¬
lyſirt zu ſein — den Kranken auf den Wagen geladen,
nachdem ſie zuvor von dem Heu der nahen Wieſe und
einigen Kleidungsſtücken eine Art von Lager darauf
bereitet hatten. Oswald ſtieg mit hinauf, um den
Kranken, der ſich jetzt in einem ganz lethargiſchen Zu¬
ſtande befand, nöthigenfalls zu ſtützen, und der In¬
ſpector lenkte die Pferde. Glücklicherweiſe dauerte die
Fahrt nicht lange, da die Häuslerwohnungen auf der
ihnen zugekehrten Seite der Landſtraße von Grenwitz
nach Faſchwitz, den Wirthſchaftsgebäuden gegenüber,
alſo bedeutend näher, als das Schloß ſelbſt lagen.
„Sie wiſſen doch, wo der Mann wohnt?“ fragte
Oswald, als ſie ſich dem Dorfe näherten.
[275]
„Gleich in dem erſten Hauſe,“ antwortete Herr
Wrampe, ſich in dem Sattel umdrehend und mit dem
Peitſchenſtiel auf ein Häuschen zeigend, das eher einem
großen Hundeſtall als einer kleinen Menſchenwohnung
glich.
„Iſt er verheirathet?“
„Geweſen,“ antwortete Herr Wrampe; „er hat
das arme Weib“ — hier unterbrach er ſich, einen
ſcheuen Blick auf das blaſſe Geſicht des Mannes wer¬
fend, als wolle er ſagen, von Todten und Todtkranken
darf man nur das Beſte ſprechen.
„Hat er Kinder?“
„Zwei, da ſind ſie vor der Thür mit Mutter
Clauſen. Mutter Clauſen, he! der Jochen hat das
böſe Weſen gehabt, bringen Sie doch die Kinder in's
Haus, daß ſie ſich nicht erſchrecken.“ So rief der In¬
ſpector, den das Gefühl ſeines Unrechts außerordent¬
lich zartfühlend gemacht hatte, einer alten Frau zu,
die im letzten Abendſonnenſchein vor der Thür der
Hütte ſaß, während zwei kleine Kinder zu ihren Füßen
im Sande ſpielten.
Als die alte Frau aufblickte, erkannte Oswald die¬
ſelbe Alte, mit welcher er auf dem Wege zur Kirche
geſtern Morgen auf dem Moor die ſonderbare Unter¬
redung über Unſterblichkeit gehabt hatte. Die Alte
18 *[276] warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk,
ergriff die Kinder, führte ſie in's Haus und kam wieder
heraus, als der Wagen eben vor der Thür ſtill hielt.
„Iſt er todt?“ fragte ſie, an den Wagen tretend.
„Nein, Mütterchen!“ ſagte Oswald.
„Ah, ſieh, der junge Herr von geſtern! Na, das
gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit
den armen Menſchen.— Tragt ihn nur hier herein,
ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.“
Der Inſpector und Oswald hoben den Mann, der
vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn,
nicht ohne ſich zu bücken, durch die Hausthür über den
kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort
auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett.
Die Alte folgte, hieß den Inſpector, ihr den Mann
entkleiden helfen und ſagte ihm dann:
„So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und
ich wollen ſchon mit dem Jochen fertig werden.“
Der Inſpector ließ ſich dieſe Erlaubniß nicht zwei¬
mal ſagen; mit einigen unverſtändlichen Worten drückte
er ſich aus der Stube, und Oswald ſah nur durch
das Fenſter, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd
beſtieg, einen langen, langen Schluck aus ſeiner Flaſche
that, als ob er nach ſolcher geiſtigen und körperlichen
Anſtrengung einer Erquickung ganz beſonders bedürfe.
[277]
Oswald hatte ſich am niedrigen, offenen Fenſter
auf einen Schemel geſetzt, und ſchaute ſich in dem
Zimmerchen um. Man erkannte auf den erſten Blick,
daß hier in dieſem Häuschen ein guter Geiſt waltete,
der aber ſicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde
dort auf dem Bett ſeine Wohnung aufgeſchlagen hatte.
Das Bett war friſch überzogen, die Zimmerdecke, die
Wände waren ſorgfältig gereinigt, der Fußboden mit
Sand beſtreut. Die Luft im Zimmer war friſch, die
kleinen Fenſterſcheiben ſo klar, wie es ihre grünliche
Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clauſen
hatte am Bett geſeſſen, und wie Oswald aus einigen
wunderlichen Manipulationen ſchloß, irgend eine mag¬
netiſche Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt
in einen erquickenderen Schlaf zu fallen ſchien. Sie
ſtand auf und ſagte: „Ich will die Kinder zu Bett
bringen, Sie bleiben doch ſo lange hier?“
Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte ſie da¬
von, kam nach einer Viertelſtunde wieder und ſetzte ſich
zu dem jungen Mann an das Fenſter. Sie hatte ein
Strickzeug in der Hand und ſtrickte mit einer für ihr
Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinder¬
ſtrümpfchen. So ſaß ſie da, bald nach dem Kranken
horchend, bald die Maſchen an ihrem Strumpfe zäh¬
[278] lend, bald Oswald aus ihren grauen, tiefliegenden
Augen forſchend und freundlich anſehend.
„Ich weiß nicht, was das iſt,“ ſagte ſie plötzlich,
als ein rother Streifen der untergehenden Sonne durch
das Fenſter auf Oswald's Geſicht fiel, „ich muß Sie
ſchon mal geſehen haben.“
„Nun ja,“ ſagte Oswald, „geſtern Morgen auf
der Haide.“
„Nein, nein — nicht geſtern, vor einigen Jahren,
ſo vor vierzig — fünfzig etwa und darüber.“
„Wie alt ſind Sie denn, Mütterchen?“ fragte Os¬
wald, verwundert fünfzig Jahre und darüber als einige
Jahre bezeichnen zu hören.
„Nächſtes Chriſtfeſt werde ich zwei und achtig Jahr,
antwortete die Alte, wieder emſig ſtrickend, als erin¬
nere ſie dieſe Frage, daß ſie keine Zeit mehr zu ver¬
lieren habe.
„Zwei und achtzig Jahre!” rief Oswald erſtaunt;
„und haben Sie während der Zeit hier ſtets im Dorfe
gelebt?“
„Ja, immer hier; hier und auf dem Schloſſe. Dort
bin ich geboren, am heiligen Chriſtabend im Jahre
Eintauſend Siebenhundert Vierundſechzig, an demſelben
Tage und zur ſelbigen Stunde, wie der Vater von
dem verſtorbenen Baron —“
„Wie lange iſt der nun todt?„
„Nun, es iſt jetzt ſo ein vierzig Jahr her, er wäre
jetzt ebenſo alt wie ich, zweiundachtzig Jahr, hm,
hm, zweiundachtzig Jahr — wie der wohl ausſähe, —
auch ſo verſchrumpft? und war ein ſchmucker Burſch
— ei, das war ein ſchmucker Burſch!“
Die Erinnerung an den drittletzten, längſt verſtor¬
benen Baron von Grenwitz, ſchien der Alten eine be¬
ſonders merkwürdige zu ſein; ſie ließ die magern,
braunen Hände mit dem Strickzeug in den Schooß
ſinken, und ſtarrte gedankenvoll vor ſich hin. „Ein
ſchmucker Burſch,“ murmelte ſie noch einmal, und die
verſchrumpften Züge erhellte ein freundliches Lächeln;
dann traten zwei große Thränen aus den geſenkten
Wimpern und rollten langſam über die runzligen
braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände...
Was mochte ſie in dieſem Augenblicke erſchauen, die
alte Frau? Sah ſie ſich wieder, wie ſie vor fünfund¬
ſechzig Jahren war, ein ſchlankes bildhübſches Ding
mit großen grauen, blitzenden Augen und prächtigen
reichen, dunkelblondem Haar, ſo wie ſie damals war,
als ſie ſich des Nachts heruntergeſtohlen hatte, in den
Schloßgarten, um dem Junker ein Stelldichein zu
geben, dem wilden Junker, mit dem ſie zuſammen auf¬
gewachſen war, wie eine Schweſter, und den ſie wie
[280] einen Bruder liebte und wie ihren Herzallerliebſten,
der ihr ſchwur, er wollte ſie zur gnädigen Frau machen,
ſo bald er einmal der Herr ſei in Grenwitz. Damals
war ſie jung geweſen und er war jung geweſen; und
die Sonne hatte in jener alten Zeit ſo warm und
mild geſchienen in ihr junges, morgenfriſches Herz,
und die Lerchen hatten ſo lieblich ihr Triliri geſungen
und der Mondſchein war auf ſo leiſen Füßen im Park
herumgeſchlichen, daß er nicht einmal die Nachtigall
ſtörte, die in dem Gebüſche ſo klagte und ſchluchzte,
als ob ihr das kleine volle Herz brechen wolle vor
Liebesſehnſucht und Liebespein — denn ach! der Junker
war dann fortgereiſt, weit, weit fort — übers Meer,
von ſeinen Eltern nach Schweden geſchickt zu ſeinen
Verwandten, damit die dumme Geſchichte mit der Lieſe
ein Ende nehme; und er ſandte ihr kein Wort, keinen
Gruß ein, zwei, drei Jahre lang, und als er wieder
kam von Schweden — da, heiliger Gott! war er nicht
allein — eine ſchöne junge Frau ſaß bei ihm im
Wagen, und die alten Herrſchaften waren glücklich,
und die Dienerſchaft ſchrie Hurrah — und ſie tanzten
und jubelten. — Aber in dem dichteſten Gebüſch des
Schloßgartens hatte ſich ein Mädchen verſteckt, die
hübſcheſte von allen Dirnen weit und breit, und die
ſchluchzte leiſe, leiſe vor ſich hin, wie Thräne auf
[281] Thräne über ihre Wangen rollte, und von den vielen
Thränen waren ihr die ſchönen Augen tief in den Kopf
geſunken, und die blonden Haare waren grau geworden,
und — da ſaß ſie nun eine alte, ſteinalte Frau —
und noch immer floſſen ihr die Thränen über die runz¬
ligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände.
„Ein ſchmucker Burſch,“ ſagte ſie, „wie ich mein
Lebtage keinen wieder ſo ſchmuck geſehen habe, bis
geſtern Morgen, als Sie plötzlich auf der Haide vor
mir ſtanden. Da kamen Sie mir gleich ſo bekannt
vor, und nun weiß ich auch, warum. Mit Verlaub,
Junker, wie alt ſind Sie jetzt?“
„Dreiundzwanzig Jahr.“
„Dreiundzwanzig Jahre, ja, ja, ich wußte es wohl,
dreiundzwanzig Jahre — Du biſt jung geblieben und
biſt noch immer ſo gut und ſchön.“
Wieder ſah ſie Oswald an, aber nicht mit dem
ſpürenden, ſuchenden Blick, wie vorher, ſondern klar
und freudig, wie eine Ahne blickt, die einen Enkel an
ihrem Lehnſtuhl ſpielen ſieht. Auf einmal ſtand ſie auf,
trat an Oswald heran, und ihm die welken, zitternden
Hände auf's Haupt legend, ſagte ſie langſam und
feierlich mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören,
die aus einer andern Welt herüberzuſchallen ſchien:
„Der Herr ſegne und behüte Dich, Oskar!“ Dann
[282] ſetzte ſie ſich wieder auf ihren niedrigen Schemel und
ſtrickte wieder emſig, emſig, daß die Nadeln klapperten
und dazu nickte ſie mit dem grauen Haupte, und lächelte
ſelig vor ſich hin, als erzählte ihr eine Stimme, die
nur ſie allein hörte, ein altes längſt verſchollenes,
wunderherrliches Mährchen von Jugend und Liebe und
Nachtigallengeſang.
Einundzwanzigſtes Kapitel.
In dem niedrigen Zimmer begann es zu dunkeln;
die Nadeln der Alten klapperten immer haſtiger, die
Schwarzwälder Uhr in der Ecke pickte lauter und
lauter in der tiefen Stille, und Oswald ſaß noch
immer am offenen Fenſter, den Kopf in die Hand ge¬
ſtützt, wie im Traum.
Das Geräuſch eines Wagens, der die Dorfſtraße
hergefahren kam, erweckte ihn. Ein mit zwei Pferden
beſpannter leichter Holſteinerwagen hielt vor der Hütte
ſtill, ein Mann ſtieg raſch hinab und trat alsbald in
die Stube.
„Guten Abend,“ ſagte eine klare, etwas ſcharfe
Stimme. „Herr Doctor Stein? — freue mich, Ihre
Bekanntſchaft zu machen. — Mein Name iſt Braun.
Bruno hat mir ſchon erzählt, daß ich hier einen barm¬
herzigen Samariter finden würde — wo iſt denn unſer
[284] Patient — ach! dort im Bett — wie wär's liebe Alte,
wenn Sie uns etwas Licht verſchafften, unterdeſſen iſt
Herr Doctor Stein ſo gut, und erzählt mir, was er
von dem Falle weiß, nicht wahr?“
Oswald gab, ſo gut er es vermochte, eine Schil¬
derung deſſen, was er geſehen hatte.
„Ich dachte es mir ſchon,“ ſagte Doctor Braun;
es iſt ein Anfall von Epilepſie. Hat Ihr Sohn ſonſt
ſchon an dieſen Zufällen gelitten?“ fragte er die Alte,
die jetzt, ein dünnes Talglicht mit der Hand ſchützend,
ſo daß nur ein ſchwacher Schimmer deſſelben auf ihr
runzliges Geſicht fiel, wieder in das Stübchen trat.
„Es iſt nicht mein Sohn, auch war ſeine Frau
nicht meine Tochter,“ ſagte Mutter Clauſen, das Licht
auf einen Schemel vor das Bett ſetzend; aber ſeine
Kinder ſind meine lieben Enkelchen.“
Der Doctor warf einen forſchenden Blick in das
Antlitz der alten Frau — und dann ſchweifte ſein Auge
fragend zu Oswald hinüber — aber er hielt die Be¬
merkung, die er auf den Lippen hatte, zurück, nahm
das Licht und leuchtete in das Geſicht des Kranken.
Oswald nahm es ihm aus der Hand; „erlauben
Sie, daß ich Ihnen leuchte.“
„Danke,“ ſagte der Doctor, den Kranken unter¬
ſuchend.
[285]
Während deſſen betrachtete Oswald ſich den An¬
kömmling genauer. Es war ein Mann, zwiſchen fünf¬
undzwanzig und dreißig Jahren, ſchlank und etwas
dürr, in einen einfachen, bequemen, aber eleganten
Sommeranzug gekleidet. Der Kopf war außeror¬
dentlich wohlgeformt, und mit ſehr dunklem Haar be¬
deckt, das zu dicht zu ſein ſchien, um ſich locken zu
können und jetzt in einer eigenthümlichen, nicht un¬
ſchönen Weiſe wie ein niedriges Barret um die feſte,
über die Augen etwas vorſpringende Stirn ſtand. Die
Naſe war in keine beſtimmte Kategorie zu bringen,
aber fein und ausdrucksvoll, ebenſo wie der Mund,
deſſen Lippen, wie man es bei antiken Köpfen, beſon¬
ders Hermesköpfen findet, ſcharf und zart zugleich ge¬
formt waren, als ob ſie ſich zu einem hübſchen, geiſt¬
reichen Wort vollends öffnen wollten. Kinn und Wangen
umzog ein dichter glänzender Bart, der mit dem Haupt¬
haar harmonirte, und den männlich-ſchönen Ausdruck
des Geſichts vollendete. Auch bemerkte Oswald, wäh¬
rend der Doctor die Augenlider des Kranken hob, daß
ſeine Hände von einer faſt frauenhaften Zartheit und
Schönheit waren.
„Es iſt, wie ich dachte,“ ſagte Doctor Braun,
ſich emporrichtend, „ein epileptiſcher Anfall. Ich kann
nichts verſchreiben, da die Natur ſich hier ſelber hilft.
[286] Für den Augenblick iſt nur Ruhe nöthig. Morgen
wird der Mann noch etwas ſchwach, ſonſt aber wieder
ganz geſund ſein.“
„So ſind dergleichen Zufälle nicht gefährlich?“
fragte Oswald.
„Sie können letal werden,“ antwortete der Doctor,
„zumal wenn, wie ich ſtark vermuthe, der Kranke ein
Potator iſt. An eine radicale Heilung iſt nicht zu
denken, wenigſtens nicht unter dieſen Verhältniſſen, da
die Kur eine ſehr langwierige iſt.“
„Ich hatte mich ſchon darauf gefaßt gemacht, einen
Theil der Nacht hier bleiben zu müſſen,“ ſagte Os¬
wald, „das iſt denn alſo wohl nicht nöthig?“
„Gott bewahre. Ruhe, wie geſagt, iſt das einzige
Erforderniß. Der Mann iſt Witwer?“ ſagte er, ſich
in der Stube umſehend.
„Die Anne iſt todt,“ ſagte Mutter Clauſen. „Aber
ich will ſchon wachen über den Jochen. Alte Leute,
wie ich, brauchen nicht viel Schlaf; wir werden bald
Zeit vollauf dazu haben. Gehen Sie nur ruhig nach
Hauſe, Junker. Du biſt brav, das hab' ich ja immer
geſagt. Adjies, Herr Doctor, ſchönen Dank für den
Jochen, da er ſich ſelbſt nicht bedanken kann, und ſich
vielleicht auch nicht einmal bedankte, ſelbſt wenn er
könnte. Adjies Junker.“
Damit leuchtete ſie den Beiden zur Thür und zum
Hauſe hinaus.
„Wollen Sie mich nicht noch eine Strecke begleiten?“
ſagte der Doctor, als ſie vor der Thür ſtanden. „Ich
fahre von hier über Berkow, wo ich noch im Dorfe
einen Beſuch machen muß, nach Hauſe, und Sie kön¬
nen ja abſteigen, wo Sie wollen. Der Abend iſt
wahrhaft ambroſiſch, und in Grenwitz kommen Sie
zum Abendbrod doch ſchon zu ſpät, wie ich Ihnen aus
beſter Quelle berichten kann, da ich ſelber dort zu
Abend gegeſſen habe.“
„Sie dort zu Abend gegeſſen?“ ſagte Oswald, ſich
zu dem Doctor in den Wagen ſetzend; „hat Sie denn
Bruno nicht von B. geholt?“
„Der arme Junge hat den Weg vergeblich gemacht:
denn während er ventre à terre dorthin jagte, ſaß
ich ſchon ruhig in Grenwitz.“
„Und was führte Sie denn nach Grenwitz? wenn
man fragen darf.“
Der Doctor lachte. „O tempora, o mores —
da ſieht man es! Der Mentor beſchützt und hütet
anderer Leute Kinder, und weiß nicht, daß ſein lieber
Telemach todtkrank zu Hauſe liegt.“
„Sie belieben zu ſcherzen.“
„Allerdings ſcherze ich; Malte iſt ſo geſund, wie
[288] ein Junge, der morgen die Schule ſchwänzen will,
nur ſein kann. Aber da der Baron und die Baronin
in der Erſchöpfung, welche bei einem ſolchen Zucker¬
püppchen nach einer längeren Promenade ſehr natürlich
iſt, die Anzeichen eines heraufziehenden Typhus zu er¬
kennen glaubten, und keine Stimme im hohen Rathe
ſich dagegen erhob, ſo mußte denn natürlich ſchleunigſt
zu dem Unglücklichen geſchickt werden, der das wenig
beneidenswerthe Vorrecht hat, allen Unſinn, der den
Leuten durch den Kopf geht, ausbaden zu müſſen. Ich
meine, zum Arzt. Und während ich nun nach dem
Abendbrod — welches, wie Sie wiſſen, oder wie die
Baronin ſagt, wenigſtens wiſſen müßten — in Gren¬
witz ſtets pünklich um acht Uhr ſervirt wird, eben in
den Wagen ſteigen wollte, kommt der Prachtjunge,
der Bruno, wie der Georg in Götz von Berlichingen
in voller Carrière auf den Schloßhof geſprengt. —
Sie hätten das Entſetzen des Barons und der Baro¬
nin ſehen ſollen! — Die guten Leute hätten nicht mehr
erſchrecken können, wenn der Raugraf aus der Bürger¬
ſchen Ballade mit Holla und Huſſaſa über den Hof
geritten wäre — und verkündete in athemloſer Haſt,
der Jochen läge auf den Tod und Doctor Stein wäre
bei ihm, und er bäte mich, doch ſo ſchnell wie möglich
zu kommen. — Aber Apropos, wie iſt das? Die
[289] Alte nannte Sie „Junker,“ ich vermuthe daraus, daß
ich in Zukunft Herr von Stein werde ſagen müſſen.“
„Weshalb nicht gar Freiherr!“ lachte Oswald,
dem die Weiſe ſeines neuen Bekannten ſehr gefiel.
„Nein, ich bin eben ſo wenig adlig, als Mutter Clauſen,
die, ich weiß nicht weshalb? möglicherweiſe durch Re¬
miniscenzen ihrer Jugend verleitet, mich durchaus zu
ihrem Junker haben will, eine Königin iſt.“
„Das iſt eine ſonderbare alte Frau,“ ſagte der
Doctor. „Sehen Sie, wie ſchön der Mond ſich dort
über dem Waldrand erhebt, und wie duftig der Nebel
über den Wieſen liegt! — eine ſonderbare Frau. Ich
erinnere mich jetzt, daß ſie mir auch ſonſt ſchon auf¬
gefallen iſt, ſie ſieht aus wie — nun, wie nur gleich?“
„Wie eine alte, alte Frau aus irgend einem Grimm’¬
ſchen Märchen, die ſich gelegentlich in die allerſchönſte
Prinzeß von der Welt verwandelt.“
„Ja, ganz recht — ſie hat ein wunderbares Feuer
in ihren alten Augen. Es iſt einem, als ob das alte
Geſicht nur eine Maske für eine noch immer jugend¬
liche Pſyche ſei.“
„So iſt es auch,“ ſagte Oswald, und er erzählte
dem Doctor die ſonderbare Unterhaltung, die er mit
Mutter Clauſen geſtern Morgen auf der Haide ge¬
habt, und wie ihm die Rede der alten Frau ſo natür¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. I. 19[290] lich und wahr erſchienen ſei, wie der Geſang der Haide¬
lerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach
die Predigt des eitlen Paſtors auf ihn gemacht habe.
„Ja, ja,“ ſagte der Doctor, „Göthe's Wort bleibt
ewig wahr: Es ärgert die Menſchen, daß die Wahr¬
heit ſo einfach iſt. Um den Leuten weiß zu machen,
es ſei ein, Wunder wie, großes Wunder, behängen ſie
dieſelbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und
führen ſie dann in Prozeſſion umher. Solche Men¬
ſchen aber, wie unſere Alte da, leſen nur ein Capitel
in dem großen Buche des Alls, aber ſie leſen es wieder
und immer wieder, ſechszig, ſiebzig Jahre lang, bis ſie
es auswendig wiſſen. Und da das Ganze ja doch aus
einem Geiſte geſchrieben iſt, ſo kommen ſie ſchließlich
weiter, wie die große Heerde der Halb-, Viertel und
Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Haſt das Buch
von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern,
überall etwas heraus ſchnüffeln und am Ende denn
doch ſo klug oder ſo dumm bleiben, wie ſie im Anfang
waren.“
„Ja wohl,“ ſagte Oswald, „ein lebendiger Beweis
für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung iſt zum Beiſpiel
die Baronin von Grenwitz. Was hat dieſe Frau nicht
alles geleſen: deutſch, franzöſiſch, engliſch, ſchwediſch;
Heiliges und Profanes, die beſten und die dümmſten
[291] Bücher. Einmal treffe ich ſie über Rouſſeau's Con¬
feſſions, das andere Mal über einem Romane von
Van der Velde; heute lieſt ſie Schleiermacher's Reden
über Religion und morgen die letzte Schauergeſchichte
von Dumas oder Eugen Sue — ſie urtheilt in ein¬
zelnen Dingen vollkommen richtig; aber ſo wie die
Rede auf die summa arcana, die höchſten Geheim¬
niſſe des menſchlichen Denkens kommt, oder ſo wie ſie
auch nur die Menge einzelner richtiger Beobachtungen
in einem allgemeinen Satze formuliren ſoll, beginnt ſie
zu faſeln und bringt ſo alberne, abgedroſchene, ari¬
ſtokratiſche Gemeinplätze zu Tage, daß einem Hören
und Sehen vergeht.“
„Dieſe Dispoſition der gnädigen Frau kann, deucht
mir, gerade nicht zur Erhöhung der Annehmlichkeit
Ihrer Stellung in Grenwitz beitragen,“ bemerkte der
Doctor.
„Allerdings,“ ſagte Oswald leichthin; „ich ſuche in¬
deſſen dieſen Zuſatz von Wermuth dadurch abzuſchwächen,
daß ich den philoſophiſchen Expectorationen der Dame
ſo viel wie möglich ausweiche, und mich überhaupt in
meinem Verhältniſſe zu der übrigen Familie auf das
Nothwendige beſchränke.“
„Sollten Sie die Grenzen, die Sie ſich dabei im
Intereſſe Ihrer Zeit und Ihrer guten Laune ziehen
19*[292] zu müſſen glaubten, nicht etwas zu eng geſteckt haben?“
ſagte der Doctor, die Aſche ſeiner Cigarre an der
Lehne des Wagens abklopfend.
„Wie das?“ fragte Oswald nicht ohne einige Ver¬
wunderung.
„Sie verzeihen meine Indiscretion,“ ſagte der An¬
dere, ſich noch etwas mehr zu Oswald herüber wen¬
dend, und ihn mit ſeinen hellen, klugen Augen voll
anſehend. „Sie wiſſen, daß wir Aerzte, wir mögen
wollen oder nicht, zu der leidigen Rolle des Vertrau¬
ten in allen Familien, wo wir ein- und ausgehen ver¬
dammt werden. Auf einem oder dem andern Punkte
hängt ſchließlich alles mit der phyſiſchen Natur, die
wir zu controliren haben, zuſammen, und ſo kommt
denn nach und nach auch alles vor unſer Forum, ſelbſt
ſolche Dinge, die vor jedes andere eher zu gehören
ſcheinen, als vor das ärztliche. Und wenn die Sache
ſchließlich in gar keinem Zuammenhange mit der Diä¬
tetik des Leibes und der Seele ſteht, ſo denken die
Leute: haſt du ihm ſo viel geſagt, kannſt du ihm das
auch noch ſagen. So konnte denn auch heute die Ba¬
ronin die Bemerkung nicht unterdrücken, daß Sie (ich
bin hier weder darauf aus, Ihnen Schmeichelhaftes
noch Unangenehmes zu ſagen, ſondern einen Wink zu
geben, den Sie beachten oder unbeachtet laſſen mögen,
[293] wie es Ihnen gut erſcheint), daß alſo Sie, der Sie
die Gabe angenehmer Unterhaltung (ich brauche hier
die Worte der Baronin) in einem ſo hohen Grade
beſäßen, und ſich in den Formen des Umganges mit
ſolcher Leichtigkeit bewegten, es verſchmähten, von dieſen
Gaben den rechten Gebrauch zu machen, was um ſo
mehr zu bedauern wäre, als durch dieſe Zurückhaltung
(ich ſpreche immer noch in den Worten der Baronin)
Malte, der nun einmal ein häuslicher Knabe ſei und
ſich im Schooße der Familie am wohlſten fühle, um
einen Theil der Vortheile käme, die er aus Ihrer
Geſellſchaft, und aus dem intimen Verhältniſſe mit
Ihnen ziehen könnte und ziehen würde.“
„Es iſt doch ſonderbar,“ ſagte Oswald nach einer
kleinen Pauſe, „welch' Noli-me-tangere-Naturen wir
Adamskinder ſind. Das, was Sie mir da ſagen, habe
ich mir ſelbſt ſchon mehr als einmal geſagt; habe mir
geſagt, daß, nachdem ich mich einmal dazu verſtanden
habe, dem Wohle einer Familie meine Zeit und meine
Kraft zu verkaufen, ich mich auch wohl zu andern Con¬
ceſſionen würde verſtehen müſſen — und jetzt, da ich
daſſelbe von Ihnen höre, berührt es mich doch unan¬
genehm . . . Aber ſein Sie verſichert, daß ich wahr¬
lich nicht Ihnen, daß ich einzig und allein mir zürne,
und zwar deshalb zürne, weil mich ein in ſo freund¬
[294] licher Abſicht ertheilter Wink auch nur einen Augen¬
blick ſtutzig machen konnte."
„Ich war gewiß,“ ſagte der Doctor, „daß ich es
mit einem Manne zu thun hatte, der die Spreu vom
Weizen zu ſondern weiß; wäre ich das nicht geweſen,
ſeien Sie überzeugt, ich hätte geſchwiegen.“
Wiederum trat ein Pauſe in dem Geſpräch der
jungen Männer ein; der Doctor bereute vielleicht im
Stillen, daß ihm ſeine Gutmüthigkeit, wie ſchon ſo oft,
das undankbare Geſchäft des ungebetenen Rathgebers
aufgenöthigt hatte; Oswald verfolgte den in ihm an¬
geregten Gedanken und ſchien ganz vergeſſen zu haben,
daß die hohen Stämme der Tannen ſehr ſchnell an
ihm vorüberglitten und die raſchen Pferde des Doctors
den Weg zwiſchen Grenwitz und Berkow faſt ſchon
zurückgelegt hatten. Er fuhr erſchrocken in der Höhe,
als er rechts vom Wege durch die Zweige ein Licht
ſchimmern ſah. Er wußte, es kam aus dem Fenſter
der Förſterwohnung von Berkow. Auf der entgegen¬
geſetzten Seite führte ein ſchmaler Pfad zu der Lich¬
tung im Walde, auf der Melitta's Eremitage ſtand.
An derſelben Stelle des Weges, an der ſie eben jetzt
anlangten, hatte ihn geſtern der Wagen des Barons
erwartet.
„Bitte, laſſen Sie hier halten,“ ſagte er haſtig
[295] zum Doctor. „Ich ſehe zu meinem Schrecken, daß
wir ſchon beinahe bis Berkow gekommen ſind. Es iſt
die höchſte Zeit, daß ich zurückkehre.“
Der Wagen hielt; Oswald ſtieg herab.
„Ich hoffe,“ ſagte er, dem Doctor die Hand reichend,
„daß dies nicht die einzige und nicht die längſte Strecke
geweſen iſt, die wir auf unſerem Lebenswege zuſammen
fahren oder gehen werden.“
„Ich hoffe und wünſche daſſelbe,“ antwortete der
Andere, „es ſcheint mir, als ob wir in unſerem Denken
und Fühlen manches Gemeinſame haben, und einer
wahlverwandten Natur zu begegnen, iſt ein viel zu
koſtbares Glück, als daß man es leichtſinnig verſcherzen
dürfte. Jedenfalls komme ich bald wieder in dieſe
Gegend. Leben Sie wohl indeſſen.“
Der Wagen rollte davon, bald verhallte der Huf¬
ſchlag in der Ferne; das Licht in der Förſterwohnung
erloſch, Oswald war allein mit der Nacht und dem
Schweigen.
Und alsbald trat das Bild Melitta's vor ſeine
Seele und glitt vor ihm her den ſchmalen Waldpfad
entlang, auf dem er jetzt ſo heimlich und leiſe, wie ein
Wilddieb, hinſchritt. Da trat er hinaus auf die Lich¬
tung, und blieb erſchrocken, wie wenn ein Blitz an
ſeiner Seite eingeſchlagen hätte, ſtehen — aus dem
[296] Fenſter der Eremitage ſchimmerte Licht! Melitta, die
er auf dem Schloſſe glaubte, war hier, hier — funf¬
zig Schritte von ihm entfernt — er brauchte nur über
den Wieſenteppich zu gehen und die paar Stufen der
Treppe zu erſteigen — die Thür zu öffnen. — Os¬
wald lehnte an den Stamm der Buche, ſein wild
ſchlagendes Herz ein wenig zu beruhigen. Und wenn
ihn hier jemand ſähe, wenn er Melitta's Ruf leicht¬
ſinnig auf's Spiel ſetzte!... Athemlos horchte er
in die Nacht hinein. . . Nichts vernahm er, als die
wunderlichen, geheimnißvollen Stimmen, die man am
Tage niemals hört, und die mit der Nacht geboren
werden: ein Raunen und Flüſtern oben in den Zweigen,
ein Raſcheln und Kniſtern in dem trockenen Laub am
Boden — das dumpfe Gebell eines Hundes drüben
aus dem Dorfe... Ein Nachtaar kam auf ſeinem
wirren Fluge bis dicht an ſein Geſicht geflattert und
ſchoß dann wieder davon. Sonſt rings umher tiefe
Stille... Da ſchlug ein dumpfer, drohender Laut
an ſein Ohr. Er kam aus der breiten Bruſt von
Melitta's Dogge, die vor dem Eingange der Eremi¬
tage Wache hielt. Der treue Wächter mußte die Nähe
eines Fremden geſpürt haben, denn er erhob ſich,
ſprang die Treppe hinab und umkreiste das Haus,
wie ein Schäferhund ſeine Hürde.
[297]
„Boncoeur,“ rief Oswald leiſe, als das Thier in
ſeine Nähe kam, „ici!“
Das kluge Thier ſtutzte bei dem wohlbekannten Ruf,
den es ſo oft aus ſeiner Herrin Munde vernommen,
und kam, Oswald erkennend, in raſchen Sprüngen auf
ihn zu, und legte ihm als Willkommen die mächtigen
Tatzen auf Bruſt und Schulter.
„So,“ ſagte Oswald, das ſchöne Thier ſtreichelnd;
„ſo, Boncoeur, Du erlaubſt alſo daß ich zu Deiner
Herrin gehe? Komm!“
Den Hund an den zottigen, langen Haaren feſt¬
haltend, ſchritt Oswald über die Wieſe. Auf der
Treppe übertönten die Tatzen Boncoeurs den leichten
Schritt Oswalds; ſo ſchlich er ſich auf der Gallerie,
die ſich um das Häuschen zog, hin, bis er an das
Fenſter kam. Das Fenſter ſtand auf, durch den vene¬
tianiſchen Epheu hindurch, mit dem es dicht berankt
war, ſah Oswald hinein in das Zimmer. Auf dem
Tiſch brannte eine Lampe, deren Glocke mit einem
rothen Schleier bedeckt war, ſo daß der Venus heili¬
ges Bild in dem warmen Licht wie lebend erſchien.
Zu den Füßen des Bildes ſaß Melitta, Oswald halb
das Geſicht zukehrend, an dem Tiſche. Sie hatte
ein Buch vor ſich aufgeſchlagen, aber offenbar las ſie
nicht; die feine Hand, auf die ſie den Kopf ſtützte, in
[298] dem dunklen, reichen Haar begraben, ſchien ſie in tiefe
Träumereien verſunken. Ein unausſprechlich rührender
Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und
halb von unausſprechlicher Seligkeit lag auf ihren
reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es
kaum über ſich, das einzig ſchöne Bild, daß ſich ihm
in dem Rahmen des kleinen Fenſters zeigte, zu zer¬
ſtören. Endlich nannte er leiſe ihren Namen.
Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen
Augen auf das Fenſter heftend, lauſchte ſie einen Mo¬
ment. Aber dann lächelte ſie wehmüthig, als wollte
ſie ſagen: es war nur ein Traum, und ſtützte das
Haupt wieder in die Hand.
„Melitta, ich bin's.“ —
Diesmal hatte ſie es nicht geträumt. Mit einem
Freudenſchrei fuhr ſie empor, nach der Thür, Oswald
entgegen — ſie ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals,
preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf
ſeinen Mund, ſie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt —
ſie ſchaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: „Sieh
Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte:
wenn er Dich liebt, ſo wird, ſo muß er heute kommen,
und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald,
nicht wahr, Du liebſt mich? nicht, wie ich Dich liebe,
aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?“
Sprachlos vor Rührung und Seligkeit umſchlang
Oswald das geliebte Weib.
„Melitta, Du biſt ſo grenzenlos gut und ſchön,
daß wer Dich liebt, Dich grenzenlos lieben muß!“
Vor der Thür der Eremitage, auf einer Stroh¬
decke, den rieſigen Kopf zwiſchen den Vordertatzen liegt
Boncoeur. Die ſchnelle Bewegung ſeiner Ohren, ſo¬
bald ein Geräuſch aus dem Walde herübertönt, zeigt,
daß er gute Wache hält. Er würde den Erſten, der
es wagte, in dies Heiligthum der Liebe zu dringen,
zerreißen.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Problematische Naturen. Problematische Naturen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmv2.0