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Der
religiöſe Wahnſinn,
erlaͤutert durch Krankengeſchichten.
Ein Beitrag
zur Geſchichte der religiöſen Wirren
der Gegenwart.

Halle,:
C. A. Schwetſchke und Sohn.
1847.
[][[1]]

Einleitung.

Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬
charakter des Menſchen, wendet ſich ſeiner Natur nach einer
uͤberſinnlichen Welt zu, da es mit den zahlloſen Beſchraͤn¬
kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten
Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬
friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬
chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬
gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen
des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung
ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬
den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das
Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬
ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬
nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart,
und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie
ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen
Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬
lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben
nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬
nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der
nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er
allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten
Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen
ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬
lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines
goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬
ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬
luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit
tiefſter Ehrfurcht und feſteſter Ueberzeugung inne zu werden.


Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn.
1[2]

Indeß gelangt der Menſch wegen der beſchraͤnkten Ein¬
richtung ſeines Denkvermoͤgens im religioͤſen Bewußtſein nicht
zu einer unmittelbaren Anſchauung des Unendlichen, und nicht
zu einer deutlichen Erkenntniß deſſelben, welche er mit Huͤlfe
ſtreng wiſſenſchaftlicher Beweiſe Anderen aufdringen koͤnnte;
ſondern jenes Bewußtſein geſtaltet ſich in jedem Einzelnen ganz
nach der geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit deſſelben, daher denn die
individuellen Verſchiedenheiten der Menſchen nirgends deutli¬
cher zu Tage kommen, als in den unzaͤhlig verſchiedenen Denk¬
weiſen, mit denen ſie das Goͤttliche auffaſſen. Die Religions¬
geſchichte, welche einerſeits den unwiderlegbaren Beweis fuͤhrt,
daß die Voͤlker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes
und die Befolgung ſeiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬
genheiten ſtellten, lehrt andrerſeits eben ſo unwiderſprechlich,
daß ſie ihr religioͤſes Bewußtſein in dem Maaße verunſtalte¬
ten, als ſie ſich der urſpruͤnglichen Beſtimmung deſſelben ent¬
fremdeten, ihnen den Weg zur geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬
nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬
nes Bewußtſeins in einer voͤlligen Abgeſchloſſenheit von den uͤbrigen
Intereſſen des Lebens, ſondern da es letztere als das Princip
ihrer fortſchreitenden Veredlung innig durchdringen ſoll, ſo
muß es in ſeiner eigenen Ausbildung um ſo groͤßere Hinder¬
niſſe erfahren, je mehr jene Intereſſen in ſinnlicher, geiſtloſer
Rohheit und in der Zwietracht der Leidenſchaften von ihrer ur¬
ſpruͤnglichen Bedeutung ausgeartet ſind. Eine große Wahr¬
heit liegt daher in den Worten: ſo wie der Menſch, ſo
iſt auch ſein Gott
, woraus ſich wohl mit voller Befug¬
niß die Folgerung ableiten laͤßt, daß nicht zwei Menſchen in
ihren religioͤſen Begriffen durchaus uͤbereinſtimmen, weil letz¬
tere den hoͤchſten und vergeiſtigſten Ausdruck der ganzen Denk¬
weiſe und Geſinnung darſtellen, und daher den zahlloſen Ab¬
weichungen derſelben von einander unterworfen ſind.


Iſt es alſo wahr, daß die Religion den weſentlichen
Beruf des Menſchen, oder das Geſetz offenbart, dem er mit
unverbruͤchlichem Gehorſam nachleben muß, wenn er mit ſich
in Uebereinſtimmung kommen, und dadurch die unendliche
Fuͤlle der ihm verliehenen Kraͤfte zur wirklichen Erſcheinung
und raſtlos fortſchreitenden Entwickelung bringen ſoll; ſo liegt
[3] hierin fuͤr ihn zugleich die ſtaͤrkſte Aufforderung zu einer gruͤnd¬
lichen Erforſchung der Hinderniſſe, welche ſich der Ausbildung
ſeines religioͤſen Bewußtſeins entgegenſtellen, und ihn durch
eine Verunſtaltung deſſelben in das tiefſte Elend ſtuͤrzen. Die
Geſchichte der chriſtlichen Kirche als der großen und allgemei¬
nen Erziehungsanſtalt, in welcher alle Voͤlker fuͤr ihre wahre
Beſtimmung ausgebildet werden ſollen, enthuͤllt vor unſerm
Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichſten Ver¬
irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Froͤmmig¬
keit, welche als unerſchoͤpfliche Quelle der Schwaͤrmerei und
des Fanatismus laͤngſt das Evangelium, die Urkunde des
goͤttlichen Geſetzes, auf der ganzen Erde vertilgt haͤtte, wenn
nicht ſeine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬
leren Gemuͤthern wieder auflebte, um durch ſie ein Zeugniß
von ſich zu geben. Große Geſchichtsforſcher, durchdrungen von
der Nothwendigkeit, die weſentlichen Urſachen aufzudecken, wel¬
che in Religionskriegen, Inquiſitionen, Hexenproceſſen und
zahlloſen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches
Unheil uͤber eine lange Reihe von Jahrhunderten ausſchuͤtte¬
ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens
maͤchtig [entgegen] arbeiten, haben den reichſten Schatz prag¬
matiſcher Erkenntniß zu Tage gefoͤrdert, durch welche das hell¬
ſte Licht auf den Urſprung der Schwaͤrmerei und des Fana¬
tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬
rungen, naͤmlich dem religioͤſen Wahnſinn, widmeten ſie weni¬
ger ihre Aufmerkſamkeit, weil derſelbe allerdings ein ganz ei¬
genthuͤmliches Studium erheiſcht, zu welchem allein das prak¬
tiſche Wirken der pſychiſchen Aerzte in den Irrenheilanſtalten
eine guͤnſtige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es
daher vorzugsweiſe ob, die Erſcheinungen des religioͤſen Wahn¬
ſinnes einer ſorgfaͤltigen Pruͤfung zu unterwerfen, um Rechen¬
ſchaft von ſeinen Urſachen und Entwickelungsgeſetzen zu ge¬
ben, und dadurch den Beweis zu fuͤhren, daß ſeine gruͤndli¬
che Kenntniß tief in die heiligſten Angelegenheiten der Voͤl¬
ker eingreift.


Es duͤrfte mir ſehr ſchwer, wenn nicht unmoͤglich wer¬
den, dieſen Beweis in gedraͤngter Kuͤrze einleuchtend zu ma¬
chen, da ihm die noch weit verbreiteten Vorurtheile uͤber die
1 *[4] Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬
ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle
Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬
ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß
die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬
rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬
ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬
nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns
verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner
Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß
uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der
Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes
uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr
ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind
oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich
hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬
meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht
ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬
ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des
Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar
der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen
Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief
zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen
Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬
ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen
muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff
eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der ſchein¬
baren
Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich,
daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von
hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt
bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im
Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben
nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬
venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das
Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬
nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬
ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬
ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem
[5]Erkranken des Geiſtes beſchwichtigt, zugleich aber auch
jedes Intereſſe zerſtoͤrt, welches tiefere Denker an der Lehre
vom Wahnſinn haͤtten nehmen koͤnnen, da dieſelbe als ein
Labyrinth willkuͤrlicher und ſubjectiver Anſichten durch deren
endloſe Widerſpruͤche jede wiſſenſchaftliche Befriedigung unmoͤg¬
lich machte.


Es wiederholt ſich hier wie uͤberall die Erfahrung, daß
die tief verborgene Wahrheit ſich mit unzaͤhligen Hinderniſſen
umgiebt, um den forſchenden Geiſt zur hoͤchſten Anſtrengung
in Ueberwindung derſelben herauszufordern; denn ſie will aus¬
ſchließlich der Preis eines Muthes ſein, welcher das Leben ſelbſt
in die Schanze ſchlaͤgt, um ſeinen Zweck zu erreichen. Alle
jene grauſigen Nebenvorſtellungen, welche ſich an den Begriff
einer urſpruͤnglichen Geiſteskrankheit knuͤpfen, entſpringen aus
einer ganz irrthuͤmlichen Auffaſſung deſſelben, und zerfallen
alſo mit ſeiner Berichtigung in ſich ſelbſt. Ich kann mich
hier freilich nicht auf eine Kritik jener grundfalſchen Anſicht
einlaſſen, welche in allen Krankheiten nur Zerſtoͤrungsproceſſe,
alſo Vernichtung der Lebensgeſetze, Aufruhr der Natur ſieht,
als ob ſie die Ewige und Unwandelbare je in Zwieſpalt mit
ſich gerathen, ihren vollkommenen Werken den Charakter der
Nichtigkeit einpraͤgen koͤnne. Nur daruͤber darf ich mir einige
Bemerkungen erlauben, daß auch im Wahnſinn das innere
und urſpruͤngliche Geſetz der Seele noch in ſeiner ganzen we¬
ſentlichen Bedeutung waltet, daß nach demſelben ihre ſchoͤpfe¬
riſche Kraft raſtlos thaͤtig iſt, und daß ſie nur von einigen
nothwendigen Bedingungen ihres Wirkens abweicht, und des¬
halb mit ſich ſelbſt in Widerſpruch geraͤth, deſſen Erſcheinung,
weit entfernt einen auf Selbſtzerſtoͤrung hinarbeitenden Geiſt
zu verrathen, vielmehr ſein ſtetiges Streben nach unendlicher
Entwickelung des Bewußtſeins, wenn auch unter mannigfa¬
cher Hemmung und Verkuͤmmerung zu erkennen giebt. Ich
muß mich hier auf einige Andeutungen beſchraͤnken, welche
eine unmittelbare Beziehung zu dem Inhalt dieſer Schrift
haben.


Das Streben nach dem Unendlichen als der Grundcha¬
rakter des Menſchen offenbart ſich unmittelbar in einer nie zu
ſtillenden Sehnſucht, welche ihn nach jeder ſcheinbaren und
[6] zeitweiligen Befriedigung ſeiner Wuͤnſche raſtlos weiter treibt,
und ſelbſt am Grabesrande uͤber die Todesnacht in die Ewig¬
keit ſich hinuͤberſchwingend eben deshalb in ſich die Buͤrgſchaft
der Unſterblichkeit traͤgt. Jenes Streben regt ſich um ſo maͤch¬
tiger, je harmoniſcher der Menſch in allen ſeinen Seelenkraͤf¬
ten durchgebildet, je mehr er in ihnen zur hoͤchſten Energie
und Selbſtaͤndigkeit erſtarkt iſt, daher die ſatte Befriedigung
aller Wuͤnſche als das ſicherſte Kennzeichen eines veroͤdeten,
erſchoͤpften, blaſirten Geiſtes anzuſehen iſt. Alle Wuͤnſche
entſpringen aus beſtimmten Neigungen, welche dem Menſchen
angeboren, ihm den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben, in
deren Ermanglung ſie eben die Sehnſucht erzeugen, deren
ſcharfer Sporn ihn nicht raſten laͤßt, bis er mit verdoppelter
Kraft ihr Ziel erreicht hat. Indem nun ſeinen Wuͤnſchen
zahlloſe Hinderniſſe der Außenwelt entgegentreten, iſt ſein
Leben ein ſteter Kampf mit denſelben, durch welchen er zu
immer hoͤheren Kraftaͤußerungen erſtarken ſoll, in denen wie¬
derum ſeine Neigungen maͤchtiger hervortreten, um das Ziel
ſeiner neu erwachenden Sehnſucht weiter hinaus zu ſtecken, ſo
daß eben in dieſem ſteten Wechſel von errungener Befriedi¬
gung und den aus ihr mit verſtaͤrkter Kraft auftauchenden
Wuͤnſchen der eigentliche Entwickelungsproceß des ins Unend¬
liche fortſchreitenden Seelenlebens enthalten iſt. Dieſer natur¬
gemaͤße Bildungsgang deſſelben ſetzt aber zwei Bedingungen
nothwendig voraus, zunaͤchſt eine moͤglichſt große Ausbreitung
des objectiven Denkens, naͤmlich der erfahrungsmaͤßigen Er¬
kenntniß von dem Verhaͤltniß des Menſchen zur Außenwelt,
widrigenfalls er nicht die Mittel zur Erfuͤllung ſeines Zwecks
richtig auswaͤhlen und ergreifen kann, und zweitens ein we¬
nigſtens relatives Gleichgewicht aller Neigungen, dergeſtalt daß
ſie insgeſammt den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben koͤn¬
nen. Denn herrſcht irgend eine Neigung in einem ſolchen
Grade vor, daß ſie in Leidenſchaft entartend die uͤbrigen zu
unterdruͤcken ſtrebt, um ihr Intereſſe allein im Bewußtſein
geltend zu machen, und ihm daſſelbe als das ausſchließliche
Geſetz aller Beſtrebungen vorzuſchreiben; ſo zwingt ſie dadurch
den Menſchen, ihr das Opfer aller uͤbrigen Neigungen zu
bringen, und dadurch ſeine Wohlfahrt zu Grunde zu richten,
[7] weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen
Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur
die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften,
z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch- und Habſucht, der uͤbermaͤ¬
ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen,
um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth
despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬
druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen.


In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬
ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche
nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten
zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬
muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich
gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬
ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel
von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬
legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo
daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬
der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet,
etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein
er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit
einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem
Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer
richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs
der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch
im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr
Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren
Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬
tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es,
daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬
tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬
her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von
Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬
ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke
im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden,
dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬
ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt
der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.


[8]

So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit
zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch
gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬
brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie
aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt,
daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit
mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬
nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich
freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen
ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird;
aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine
Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen
Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬
los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬
cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬
wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an
die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden
gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung
der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬
haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬
pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen
Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬
tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬
dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die
wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬
ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt,
welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬
taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines
irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬
wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft
ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur
zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß
die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬
gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch
von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz
anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet.
Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬
lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich
[9] hier auch nicht im Entfernteſten die Bedingungen aufzaͤhlen
kann, durch welche die Eigenthuͤmlichkeit ſeiner verſchiedenen
Arten hervorgerufen wird. Eben ſo muß ich es mir auch ver¬
ſagen, die pathologiſchen Bildungsgeſetze naͤher zu eroͤrtern,
nach welchen im Wahnſinn alle Vorſtellungen von den ſinn¬
lichen Anſchauungen bis hinauf zu den Vernunftbegriffen auf
die eigenthuͤmlichſte Weiſe umgeſtaltet werden, woraus ſich das
charakteriſtiſche Gepraͤge des irren Bewußtſeins leicht erklaͤren
laͤßt. Nur einer der auffallendſten Erſcheinungen des Wahn¬
ſinns erlaube ich mir beſonders zu gedenken, naͤmlich der Sin¬
nestaͤuſchungen, durch welche den Geiſteskranken Bilder von
nicht vorhandenen Gegenſtaͤnden, mit derſelben Klarheit, Deut¬
lichkeit, Lebendigkeit und Staͤrke vorgeſpiegelt werden, als
wenn ſich ihrer Anſchauung wirklich gegenwaͤrtige Dinge dar¬
boͤten. Dieſe Sinnestaͤuſchungen, welche Viſionen heißen, wenn
ſie den Sinn des Geſichts betreffen, ſtellen meiſtentheils die
Objecte der herrſchenden Leidenſchaft dar, namentlich ſchweben
dem religioͤſen Schwaͤrmer oft Geſtalten vor Augen, welche er
fuͤr die Perſon Gottes, des Heilandes, des heiligen Geiſtes,
fuͤr Engel und Schaaren ſeeliger Geiſter, umgeben von der
Herrlichkeit des Paradieſes haͤlt, oder er erblickt den Teufel
unter allen jenen fuͤrchterlichen Bildern, welche der Aberglaube
ihm andichtet, die Hoͤlle mit ihren Flammen und den Quaalen
der Verdammten. Faſt noch haͤufiger hoͤrt der fromme Wahn¬
ſinnige Stimmen, welche ihm die Gebote, Strafen, Beloh¬
nungen, Verheißungen Gottes zurufen, oder welche ihm aus
der Hoͤlle als Hohngelaͤchter des Teufels, als Gotteslaͤſterun¬
gen, als die Donnerworte ewiger Verdammniß u. ſ. w. zu
kommen ſcheinen. Ohne die Mannigfaltigkeit dieſer Erſchei¬
nungen aufzuzaͤhlen, begnuͤge ich mich zu ihrer Erklaͤrung die
Bemerkung hinzuzufuͤgen, daß der herrſchende Grundgedanke
von der innen gluͤhenden Leidenſchaft gleichſam nach außen bildlich
projectirt wird, welches wir uns am leichteſten, durch das
Spiel einer Zauberlaterne verſinnlichen koͤnnen, welche aus ih¬
rem Innern ein Bild mit ſolcher Lebendigkeit auf rauchige
Duͤnſte im Zimmer wirft, daß daſſelbe ſich zu einer wirklichen
Koͤrpergeſtalt objectivirt, und dadurch den Unkundigen in Stau¬
nen verſetzt, da er deſſen taͤuſchende Urſache nicht ahnt. Gleich
[10] dem unwiſſenden Zuſchauer jener magiſchen Gaukelei iſt der
Wahnſinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethoͤrenden
Blendwerks der Phantaſie nicht kennt, voͤllig von der Wirk¬
lichkeit der aus ſeinem Innern nach außen reflectirten Trug¬
bilder uͤberzeugt, und er wird durch ſie ganz in dieſelben Ge¬
muͤthsbewegungen verſetzt, wie wenn ſie Erſcheinungen wirkli¬
cher Weſen waͤren.


Iſt alſo der Wahnſinn in ſeiner weiteſten Bedeutung der
Untergang des Bewußtſeins der wirklichen Welt in einer unendli¬
chen Sehnſucht, welche ſich eine neue Welt in Bildern und Be¬
griffen erſchafft, in denen ſie ſich zu befriedigen ſtrebt; ſo er¬
hellt daraus ſchon, daß durch ihn die geſammte Seelenthaͤtig¬
keit ſowohl in Bezug auf die Vorſtellungen als Willensan¬
triebe in die hoͤchſte Spannung verſetzt wird, welche ſomit
den unmittelbaren Gegenſatz zu jener irrthuͤmlichen Anſicht von
einem paſſiven Verhalten der Seele waͤhrend des erſteren aus¬
ſpricht. Oft freilich ſind die Mißverhaͤltniſſe, in welche der
Geiſt durch ſein gaͤnzliches Losreißen von ſeinen bisherigen
durch die Wirklichkeit bedingten Vorſtellungen verſetzt wird, zu
groß, als daß er ſich unter den Truͤmmern der in ſeinem Be¬
wußtſein zuſammengeſtuͤrzten Weltordnung zurecht finden koͤnnte.
Denn brauchte ſein natuͤrlicher Entwickelungsgang ſchon eine
lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anſchauungen,
Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬
zen in ſich zuſammenzuſetzen, deſſen Bewußtſein die Grund¬
lage ſeines fortſchreitenden Denkens und Handelns ausmacht:
woher ſoll er nun in aller Eile, nachdem Alles fuͤr ihn un¬
wahr, widerſinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen iſt, den
Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele
Wahnſinnige an ihrem bisherigen Leben ſo vollſtaͤndig irre
werden, daß ſie nur in faſelnder, ſinnloſer Rede noch ihre
Verlegenheit und Unbeholfenheit ausſprechen koͤnnen, welche
nothwendig, aus einer ſo gaͤnzlichen Verwuͤſtung ihrer Denk¬
weiſe entſpringen muß; ſo arbeiten doch die meiſten ſo unab¬
laͤſſig und angeſtrengt an einer Reorganiſation ihres Bewußt¬
ſeins, natuͤrlich im Sinne der ſie beherrſchenden maaßloſen
Sehnſucht, daß ſie dabei oft eine logiſch dialektiſche Meiſter¬
ſchaft, ein bis zum wahren Dichtertalent geſteigertes Wirken
[11] der Phantaſie beurkunden, und mit Huͤlfe beider ein Zauber¬
reich von Vorſtellungen hervorrufen, deſſen kuͤhnen Verhaͤlt¬
niſſen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklaͤrung man ſeine
Bewunderung nicht verſagen kann. Ja es ereignet ſich zu¬
weilen, daß Perſonen, deren Geiſt in fruͤherer Lebensbeſchraͤn¬
kung es nur bis zu einer duͤrftigen Entwickelung bringen
konnte, im Wahn die Feſſeln derſelben abſchuͤtteln, und in
ſchwunghafte Thaͤtigkeit verſetzt, mit einer Fuͤlle der großar¬
tigſten Vorſtellungen uͤberraſchen.


Gewiß, es eroͤffnet ſich auf dieſem Standpunkte der Be¬
trachtung die Ausſicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der
pſychologiſchen Forſchung, wo unzaͤhlige Probleme von der wich¬
tigſten Bedeutung ſich an einander reihen, und weit entfernt,
daß der Wahnſinn das troſtloſe Bild eines ſich ſelbſt vernich¬
tenden Geiſtes gewaͤhren ſollte, beurkundet er vielmehr das
durch Nichts zu verwuͤſtende ſchoͤpferiſche Vermoͤgen deſſelben,
immer aufs Neue Welten von Vorſtellungen aus ſich zu er¬
zeugen, nachdem die fruͤheren in ſich zerfallen ſind. Erwaͤgt
man nun noch, daß der Urſprung des Wahns aus dem fruͤ¬
heren Leben die innerſten Entwickelungsvorgaͤnge, den weſent¬
lich urſachlichen Zuſammenhang ſeiner auf einander folgenden
Zuſtaͤnde aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬
ſen der in den tiefſten Grund der Seele gelegten Keime, alſo
ihr innerſtes und urſpruͤnglichſtes Leben zur unmittelbaren An¬
ſchauung bringt, aus welcher ſodann auch die Bedingungen
der Heilung klar werden muͤſſen; ſo begreift es ſich leicht, daß
dem Menſchenforſcher gerade im Gebiete der Geiſteskrankheiten
der tiefſte Schacht der Erkenntniß eroͤffnet wird, deſſen Reich¬
thum ſich noch gar nicht ahnen laͤßt.


Wir duͤrfen bei dieſen Betrachtungen nicht laͤnger verweilen,
da ſie nur dazu dienen ſollten, die hochwichtige Bedeutung
des religioͤſen Wahns etwas naͤher zu bezeichnen, um ihm ein
allgemeineres Intereſſe zuzuwenden. Iſt derſelbe naͤmlich im
Sinne des bisher Geſagten nichts Anderes, als die Wirkung
einer ſo grenzenloſen Sehnſucht nach dem Goͤttlichen, daß die¬
ſelbe jede andere Neigung ſich unterordnet, oder geradezu un¬
terdruͤckt, ſo ſtellt er ſich deshalb als eine der großartigſten
und maͤchtigſten Erſcheinungen des Lebens dar. Denn zuvoͤr¬
[12] derſt verkuͤndet er mit furchtbarem Ernſte die ſtrenge Wahrheit,
daß der Menſch auch in ſeinem heiligſten Intereſſe Maaß
halten
ſoll, daß er ungeachtet der Ueberſchwenglichkeit ſeines
Weſens an einen allmaͤhlig fortſchreitenden Entwickelungsgang
gebunden iſt, den er nicht im eigenmaͤchtigen Ungeſtuͤm uͤber¬
ſpringen darf, und daß er ſich daher das gemeſſene Walten
der Natur zum Muſter nehmen muß, welche ihre Welten er¬
zeugende Schoͤpferkraft nie aus den Schranken des Geſetzes
heraustreten laͤßt, und gerade ihre Vollkommenheit in der un¬
bedingteſten Uebereinſtimmung mit ſich ſelbſt offenbart. Frei¬
lich predigen Schwaͤrmerei und Fanatismus ganz dieſelbe Lehre,
und ihr Reich breitet ſich ſo weit uͤber die Erde aus, daß man
die Verirrungen des religioͤſen Bewußtſeins nicht erſt in Ir¬
renhaͤuſern aufzuſuchen braucht. Aber letztere bieten doch den
unſchaͤtzbaren Vortheil dar, daß in ihnen die wiſſenſchaftliche
Forſchung ſich mannigfacher wichtiger Huͤlfsmittel bedienen kann,
welche das oͤffentliche Leben ihr ſchlechthin verweigert. Denn
wer darf ſich in den buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen unterſtehen,
diejenigen zur ſtrengen Rechenſchaft uͤber die geheime Geſchichte
ihrer Gedanken und Gefuͤhle zu ziehen, welche durch auffal¬
lende Oſtentation ihrer Froͤmmigkeit die allgemeine Aufmerk¬
ſamkeit auf ſich ziehen? Wie oft ſchwangt daher das Urtheil
der beſten Beobachter, ob das Gepraͤge des religioͤſen Eifers
aͤcht, oder ob es ein Blendwerk ſei, hinter welchem die Heu¬
chelei ganz andere Motive oft ſo geſchickt verbirgt, daß die
Entlarvung des Betruges entweder voͤllig mißlingt, oder nur
zum Theil bewirkt werden kann. Selbſt wenn uͤber die Lau¬
terkeit der Geſinnung kein Zweifel entſtehen kann, bleibt doch
ihre ganze Erſcheinungsweiſe zuweilen raͤthſelhaft, da ſich in
ihr Gewebe ſo manche fremdartige Faͤden heimlich hineinflech¬
ten, deren Urſprung man nicht kennt. Daher muß der Beobach¬
ter Vieles hinzudenken und interpretiren, und ſeine Auffaſſung
merkwuͤrdiger Charaktere iſt oft in einem ſo hohen Grade ſub¬
jectiv gehalten, daß ſich daraus die zahlloſen Widerſpruͤche un¬
ter den verſchiedenen Geſchichtsforſchern zur Genuͤge erklaͤren.
Die pſychiſchen Aerzte koͤnnen dieſe Klippe wenigſtens großen¬
theils vermeiden, da ihnen die beſte Gelegenheit zu Gebote
ſteht, das fruͤhere und gegenwaͤrtige Leben der Geiſteskranken
[13] ſorgfaͤltig zu erforſchen, und die weſentlichen Thatſachen aus¬
zumitteln, deren organiſche Verbindung den urſpruͤnglichen Ent¬
wickelungsproceß des Wahnſinns zur unmittelbaren Darſtellung
bringt. Sie duͤrfen ſich freilich noch keiner fehlerfreien Me¬
thode der Beobachtung ruͤhmen, welche jede Moͤglichkeit der
ſubjectiven Taͤuſchung ausſchloͤſſe; iſt indeß nur erſt der An¬
fang damit gemacht, und dadurch wenigſtens in einzelnen Faͤl¬
len der Beweis gefuͤhrt worden, daß im Wahnſinn die inner¬
ſte Seelenverfaſſung zur aͤußeren, objectiv erkennbaren Erſchei¬
nung gelangt, ſo wird das dadurch eroberte neue Gebiet der
Wiſſenſchaft ſeine hochwichtige Bedeutung ſchon von ſelbſt gel¬
tend machen.


Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnſinn als hoͤch¬
ſte Entwickelungsſtufe der Leidenſchaften auch dadurch, daß er
ihre weſentliche Beſchaffenheit und ihre pſychologiſchen Verhaͤlt¬
niſſe im allergroͤßten Maaßſtabe zur Anſchauung bringt, und
dadurch ihre Erkenntniß ungemein erleichtert. Dieſer Vortheil
muß unſtreitig ſehr hoch angeſchlagen werden, da die Leiden¬
ſchaften wegen ihres verſteckten, hinterliſtigen Charakters mit
Recht uͤbel beruͤchtigt ſind, und eben deshalb einer gruͤndli¬
chen Forſchung ſich bisher ſo ſehr entzogen haben, daß uͤber
ſie noch die willkuͤrlichſten Anſichten herrſchen, deren Wider¬
ſtreit bisher durch keine aͤcht wiſſenſchaftliche Darſtellung aus¬
geglichen werden konnte. Denn jede Leidenſchaft ſtrebt ihre
uͤberſchwenglichen Zwecke auf Koſten aller uͤbrigen Intereſſen
zu erreichen, und ſie geraͤth dadurch in einen unvermeidlichen
Kampf mit Allen, deren Wohlfahrt ſie feindlich entgegentritt.
Leidenſchaftliche Menſchen bemuͤhen ſich daher, ihren wahren
Charakter ſorgfaͤltig hinter einer erkuͤnſtelten Geſinnung zu ver¬
bergen, um der Gegenwirkung Anderer moͤglichſt auszuweichen,
und ihre ganze zur Schau getragene Denk- und Handlungs¬
weiſe wird dadurch zu einem Luͤgengewebe, in welchem das
Aechte vom Falſchen zu unterſcheiden oft dem ſcharfſinnigſten
Menſchenkenner nicht gelingt. Je groͤßer die hieraus unver¬
meidlich entſpringenden Irrungen ſind, weil ein Jahr¬
hundert, ein Volk, ja jedes Individuum den uͤbrigen mehr
oder weniger zum Raͤthſel wird, um ſo willkommener muß
uns die Gelegenheit ſein, tiefe Blicke in die Geheimniſſe der
[14] Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in
ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬
heit bietet uns der Wahnſinn dar, welcher den Schleier der
wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬
gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬
ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬
cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬
tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich
in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem
maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben
auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That
und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in
ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬
ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬
ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬
ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬
nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine
Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck,
in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬
den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare
kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬
hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit
welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬
tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den
Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬
merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut
dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬
gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten
zu laſſen.


Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen
Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die
richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich
erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬
gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums
angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬
liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der
Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte
und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn
[15] es giebt keinen verderblicheren Widerſpruch in der innerſten
Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen uͤbri¬
gen Angelegenheiten eine groͤßere Ausbildung gewonnen hat, aber
mit ſeinen Glaubensformen auf der Stufe fruͤherer Jahrhun¬
derte ſtehen geblieben iſt, zu deren Zeit dieſelben im voͤllig¬
ſten Einklange mit einer auf die rohen Anfaͤnge beſchraͤnkten
Cultur ſtanden, deren geringe Beduͤrfniſſe in ſchlichteren ſocia¬
len Verhaͤltniſſen auch in einem wenig entwickelten religioͤſen
Bewußtſein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬
ligion zur Wahrheit werden, ſo ſetzt dies nothwendig voraus,
daß ſie als hoͤchſtes Lebensprincip alle menſchlichen Angelegen¬
heiten innig durchdringe, daß ſie in der Wiſſenſchaft, der Kunſt
und den praktiſchen Verhaͤltniſſen, als den nothwendigen Ele¬
menten menſchlichen Strebens und Wirkens die Widerſpruͤche
mit dem goͤttlichen Geſetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt
uͤberwinde. Eine Religion, welche in beharrlich feſtgehaltenen
Formeln abgeſchloſſen, nicht in ſich mehr jenes ſchoͤpferiſche
Vermoͤgen findet, mit welchem ſie ſich, unbeſchadet ihrer goͤtt¬
lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen geſtalten, und in
ungehinderter Entwickelung derſelben das raſtloſe Fortſchreiten
aller menſchlichen Beſtrebungen einholen, ja uͤberfluͤgeln kann,
eine ſolche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen
Welt ſtiften, und ihren maͤchtigen Einfluß auf die hoͤchſte Ver¬
edlung des Lebens um ſo gewiſſer einbuͤßen, je mehr letzteres
durch den rieſenhaften Wetteifer zahlloſer Intereſſen ein Kampf¬
platz titaniſcher Kraͤfte geworden iſt.


Wenn nun ein Volk daruͤber zur Erkenntniß gelangt iſt,
daß es die verſaͤumte Entwickelung ſeines religioͤſen Bewußt¬
ſeins nachholen muͤſſe, um daſſelbe in wahrhafte Uebereinſtim¬
mung mit ſeinen maͤchtigen Fortſchritten in allen uͤbrigen Cul¬
turzweigen zu bringen; ſo beurkundet es dadurch eben ſo ge¬
wiß ſeine voͤllige Reife fuͤr eine veredelte und vervollkommnete
Freiheit ſeines Geſammtlebens, ſeine Erhebung zu einer hoͤ¬
heren Stufe der welthiſtoriſchen Bedeutung, als es durch das
Gegentheil unfehlbar in die geiſtloſe Rohheit grob materieller
Intereſſen verſinkt; und unter ihrer despotiſchen Alleinherrſchaft
immer groͤßeren Abbruch an ſeinen geiſtig ſittlichen Guͤtern er¬
leidet, bis es des wahren Lebensprincips voͤllig beraubt, in
[16] ſich zu Grunde gehen muß. Aber das hiſtoriſche Recht, kraft
deſſen die ausgelebten Glaubensformeln ſich behaupten, ſetzt
der freien Entwickelung des religioͤſen Bewußtſeins ein ſchwer
zu uͤberwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf
entbrennt zwiſchen den Partheien des Stabilismus und des
Fortſchritts, deren jede ihr heiligſtes Intereſſe durch die Geg¬
ner mit Vernichtung bedroht ſieht. Daß in dieſem Kampfe
um die hoͤchſten und theuerſten Guͤter die Leidenſchaften den
aͤußerſten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den
zerſtoͤrendſten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geſchichte
aller Zeiten und Voͤlker, ſondern liegt auch in der Natur der
Sache, da es ſich hierbei um nichts Geringeres handelt, als
um das Geltendmachen der urſpruͤnglichen Grundſaͤtze, in wel¬
chen das Leben nach allen ſeinen Beziehungen gedacht und ge¬
ſtaltet werden ſoll. In dieſem Sinne erlangen daher auch
die religioͤſen Leidenſchaften eine edlere Bedeutung, da nur in
dem Zuſammenſtoß der ſchroffſten Gegenſaͤtze die Gemuͤthskraͤfte
zu ihrer hoͤchſten Energie ſich ſteigern, und ſomit ein wirklich
ſchoͤpferiſches Vermoͤgen gewinnen koͤnnen, um eine neue Ord¬
nung der Dinge hervorzurufen und zu begruͤnden, waͤhrend die
laue, ja indifferente Geſinnung, welche nur mit den Gegen¬
ſaͤtzen ein loſes Spiel treibt, deſſelben bald uͤberdruͤſſig wird,
da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr
alſo die Geiſter auf einander platzen, je heißer der Kampf
zwiſchen den Partheien entbrennt, um ſo mehr legen ſie das
Zeugniß ihres heiligen Ernſtes ab, und wenn es ihnen auch
nicht immer beſchieden iſt, die Fruͤchte davon zu ernten, ſo
hatten ſie doch wenigſtens auf dem nothwendigen Entwicke¬
lungsgange der Menſchheit eine hoͤhere Stufe erreicht, welche den
Weg zu weiteren Fortſchritten bezeichnet.


Indeß wenn auch dieſe welthiſtoriſche Bedeutung der
Glaubensſtreitigkeiten Troſt gewaͤhren kann fuͤr die durch re¬
ligioͤſe Leidenſchaften angerichteten Verwuͤſtungen menſchlicher
Wohlfahrt, ſo muͤſſen doch letztere den entſetzlichſten Schickſa¬
len beigemeſſen werden, von denen unſer Erdenloos betroffen
werden kann. Nur die Ueberzeugung, daß die edelſten Ideen
zuletzt immer ſiegreich aus allen Verheerungen des Fanatismus
hervorgehen, und daß letzterer ein nothwendiges Element im
[17] Bildungsgange des Menſchengeſchlechts war, kann den Muth
einfloͤßen, die Schrecken ſeiner Herrſchaft kaltbluͤtig mit dem
Auge des wiſſenſchaftlichen Forſchers zu betrachten. Endlich
aber hat derſelbe Blut genug vergoſſen, und den freien Ent¬
wickelungstrieb hochherziger Voͤlker, vor allen der Spanier, lange
genug darniedergehalten. Soll unſre Zeit ihren reformatori¬
ſchen Charakter im edelſten Sinne bewaͤhren, nicht ihren ho¬
hen Beruf dadurch herabwuͤrdigen, daß ſie fuͤr die Herrſchaft
engherziger Intereſſen ſtreitet; ſo iſt dazu vor Allem erforder¬
lich, daß ſie den Sieg der Religion erringt, indem ſie Frie¬
den unter den entzweiten Beſtrebungen der Voͤlker ſtiftet, daß
ſie nicht mehr die frommen Leidenſchaften als treuloſe Bun¬
desgenoſſen zu Huͤlfe ruft, um ihre großartigen Zwecke zu er¬
reichen. Wollte man den zelotiſchen Eiferern Glauben beimeſ¬
ſen, ſo waͤre die religioͤſe Wiedergeburt eines in Selbſtſucht
und Materialismus geiſtig erſtorbenen Volks nur von der Fa¬
natiſirung deſſelben zu hoffen, daher denn erſtere ein kuͤnſtlich
organiſirtes Syſtem von Huͤlfsmitteln erſonnen haben, um durch
Stiftung ſchwaͤrmeriſcher Secten, durch Befoͤrderung des My¬
ſticismus in pietiſtiſchen Conventikeln, in der Verbreitung einer
Fluth von vernunftbethoͤrenden Traktaͤtlein, durch Verketzerung
der Glaubens- und Gewiſſensfreiheit im Bunde mit der Wiſ¬
ſenſchaft, ja durch Erregung wirklicher Epidemieen ſchwindel¬
hafter Schwaͤrmerei die tiefſte Finſterniß uͤber alle Geiſter aus¬
zugießen, weil in derſelben nach ihrer Ueberzeugung die Reli¬
gion allein ihr Gedeihen finden kann. Aber gleichwie das Son¬
nenlicht (einige unbedeutende Ausnahmen abgerechnet) ein ab¬
ſolut nothwendiges Lebens-Element aller organiſchen Geſchoͤpfe
iſt, welche dem heilſamen Einfluſſe deſſelben entzogen zu Mi߬
geſtalten entarten; eben ſo muß auch das Licht der Vernunft
als die unerlaͤßliche Bedingung der geiſtigen Entwickelung an¬
geſehen werden, welche derſelben beraubt nur noch Monſtro¬
ſitaͤten des Charakters erzeugen kann. In einem thatkraͤftigen,
geſinnungstuͤchtigen Volke wird der religioͤſe Obſcurantismus
ſeine verderblichen Wirkungen nur in einem beſchraͤnkten Maaße
hervorbringen koͤnnen, daher letztere dann leicht der Beobach¬
tung ſich entziehen. Bemaͤchtigt ſich derſelbe aber ſchwacher
Gemuͤther, denen jede Faͤhigkeit der freien Selbſtbeſtimmung
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 2[18] mangelt, mit welcher ſie ſich einer ihnen gegebenen verderb¬
lichen Richtung eigenmaͤchtig entreißen koͤnnten; dann bringt
er jene gaͤnzliche Verdumpfung des religioͤſen Bewußtſeins her¬
vor, welche eben ſo leicht einerſeits in zerſtoͤrende Leidenſchaf¬
ten umſchlagen, als andrerſeits einen voͤlligen Geiſtestod zur
Folge haben kann. Da die Religion die hoͤchſte Vergeiſtigung
des Menſchen zu ihrem weſentlichſten Zwecke hat, ſo verlieren
ihre Lehren voͤllig ihre urſpruͤngliche Bedeutung, wenn ſie die¬
ſem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch
das Entwickelungsprincip der Seele darzuſtellen, beguͤnſtigen ſie
ein uͤppiges Wuchern ſinnlicher Begierden und ſelbſtſuͤchtiger
Leidenſchaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬
trennliche Begleiter des Obſcurantismus kennen gelehrt hat.
Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeſchichte auf¬
rufen, ſo brauchen wir nur an die Tagesblaͤtter der Gegen¬
wart zu erinnern, welche unzaͤhlige Male die grauſenerregen¬
den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬
nigfachſten Thatſachen geſchildert, und dadurch einen Schatten
auf die heilverkuͤndende religioͤſe Aufregung unſrer Tage ge¬
worfen haben.


Nun ſind auch die pſychiſchen Aerzte weſentlich dabei be¬
theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforſchen, unter de¬
nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn
es genuͤgt dabei keineswegs, einzelne Urſachen derſelben her¬
vorzuheben, z. B. den myſtiſch zelotiſchen Charakter der all¬
zuſehr gehaͤuften Andachtsuͤbungen, die Verſaͤumniß ſtrenger
Pflichterfuͤllung in einem bequem beſchaulichen Leben, die Er¬
ſchlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unertraͤgliche
Gefuͤhl der Blaſirtheit den ſtaͤrkſten Antrieb zu einem ſchwaͤr¬
meriſchen Rauſche froͤmmelnder Einbildungskraft geben kann,
oder andrerſeits das Erlahmen aller Gemuͤthskraͤfte unter dem
fortdauernden Druck ſchwerer Leiden und harter Entbehrungen,
die Verzweiflung eines ſchuldbeladenen, oder die grundloſe Selbſt¬
peinigung eines allzu zarten Gewiſſens, Ueberbildung oder
Rohheit des Geiſtes u. ſ. w. Die Kenntniß dieſer und un¬
zaͤhliger anderer Urſachen der religioͤſen Verirrungen erklaͤrt
noch keinesweges vollſtaͤndig ihren wahren Urſprung, weil die¬
ſer in der Regel ein Zuſammentreffen vielfacher unguͤnſtiger
[19] Bedingungen vorausſetzt, und dabei an eigenthuͤmliche Entwicke¬
lungsgeſetze gebunden iſt, welche bei der ſorgfaͤltigen Erforſchung der
Geiſteskrankheiten am deutlichſten hervortreten. Ja es kommt da¬
bei oft weit weniger auf grell in die Augen ſpringende Thatſa¬
chen, ſondern haͤufig weit mehr auf ein leiſes Zuſammenwir¬
ken von Einfluͤſſen an, welche ihres geringfuͤgigen Anſcheins
wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade ſie durch ihr be¬
harrlich fortgeſetztes Wirken dem Gemuͤth eine durchaus falſche
Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬
ſonnenheit zu einer gaͤnzlichen Verblendung und Selbſtbethoͤ¬
rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben geſtuͤrzt werden
kann. Im geiſtigen Leben iſt Nichts unbedeutend, ſondern das
Groͤßte kann aus dem Kleinſten entſpringen, wenn Gleiches
ſich zu Gleichem geſellt, ſo wie die Lawine aus einem Haͤuf¬
lein Schnee entſteht, welches von einem Felſen herabrollend
immer neue Schneemaſſen an ſich zieht, und dadurch zur un¬
geheuerſten Wucht anwaͤchſt, welche mit zermalmender Gewalt
in die Tiefe ſtuͤrzt.


Mit einem Worte, wir beduͤrfen einer pſychologiſchen Ent¬
wickelungsgeſchichte der religioͤſen Verirrungen, wenn wir eine
richtige Einſicht erlangen ſollen, auf welche allein wirkſame
Weiſe die Quellen derſelben verſtopft werden ſollen. Um aber
die Elemente einer ſolchen Entwickelungsgeſchichte auffinden zu
koͤnnen, muß man ſie in vielen einzelnen Faͤllen ſorgfaͤltig
ſtudirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬
ſchen Zuſammenhange zu bekommen, in welchem die verſchie¬
denen Thatſachen ſich an einander reihen. Denn die weſent¬
liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wiſſenſchaft¬
lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬
zelte Betrachtung zu den verkehrteſten Urtheilen verleitet. Wie
wahr dies ſei, davon kann man ſich leicht aus den voͤllig wi¬
derſprechenden Anſichten uͤberzeugen, welche uͤber ſie herrſchen.
Zwar die Erſcheinungen eines in den ſtaͤrkſten Zuͤgen ausge¬
ſprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als
ſolche erkannt; aber daß jene Zuͤge ihrem weſentlichen Charak¬
ter, ihrem Urſprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus
uͤbereinſtimmen mit den Aeußerungen, in denen ſich eine uͤber¬
triebene Froͤmmigkeit kund giebt, dagegen ſtraͤuben ſich natuͤr¬
2 *[20] lich alle Glaubenseiferer, welche raſtlos und methodiſch auf
eine Ueberſpannung des religioͤſen Bewußtſeins hinarbeiten, und
dadurch nur allzu haͤufig zur Entſtehung des frommen Wahn¬
ſinns Veranlaſſung geben, indem ſie eine geiſtig ſittliche Wie¬
dergeburt des Menſchengeſchlechts allein auf jene Weiſe hervor¬
bringen zu koͤnnen glauben. Da nun der religioͤſe Wahnſinn
im koloſſalen Maaßſtabe alle Mißverhaͤltniſſe eines im falſchen
Glaubenseifer irre geleiteten Gemuͤths, und alle daraus ent¬
ſpringenden verderblichen und zerruͤttenden Folgen zur Anſchauung
bringt; ſo iſt ſeine gruͤndliche Kenntniß gleichſam das Mikro¬
ſkop, mit welchem der pſychologiſche Forſcher ſich das zarte und
innig verflochtene Grundgewebe der frommen Leidenſchaften
deutlich machen kann; ſie haͤlt uns einen rieſenhaften Spiegel
vor Augen, in welchem das lebendigſte und naturwahrſte Bild
alles unſaͤglichen Elends erſcheint, welches die Menſchen im
blinden Glaubenseifer uͤber ſich gebracht haben. Denn in letz¬
terem iſt vorzugsweiſe die furchtbare Gewalt enthalten, welche
dem Menſchen alle Segnungen des Himmels, den aͤchten Glau¬
ben, die Liebe und Hoffnung raubt, ſeine Anſchauung Gottes
in fratzenhafte Wahngebilde verkehrt, ihn mit Verzweiflung,
Raſerei oder aberwitziger Selbſtbethoͤrung erfuͤllt, indem er der
Gnade Gottes verluſtig gegangen zu ſein glaubt, oder mit fa¬
natiſchem Grimme das ganze Menſchengeſchlecht vor das Blut¬
gericht der Inquiſition ſtellen, oder ſelbſt den Thron der Welt¬
regierung einnehmen will, damit auf allen Altaͤren die Andacht
ihm ihre Opfer bringe. Giebt es im ganzen Gebiete des von
zahlloſen Widerſpruͤchen zerriſſenen Lebens eine ſchneidendere
Ironie, eine verderblichere Selbſttaͤuſchung, ein unvermeidliche¬
rer Untergang, wo Alles ſich vereinigt, was dem Menſchen ſein
Daſein, ſein Streben zur abſoluten Luͤge machen kann? Gott allein
weiß es, welche zelotiſche Eiferer ihr Herz von jeder Selbſt¬
ſucht frei erhalten haben, und nur im Antriebe einer uͤberſpann¬
ten Froͤmmigkeit handeln, zum Unterſchiede von jenen, welche
vom Glauben ganz denſelben Gebrauch machen, wie die Chi¬
neſen vom Opium, deſſen Duͤnſte ſie heimlich in ein Zimmer
leiten, um die Bewohner deſſelben zu betaͤuben, und ſie dann
bequem zu berauben. Um letztere uͤber ihr Treiben zur Be¬
ſinnung zu bringen, gaͤbe es meines Erachtens kein wirkſame¬
[21] res Mittel, als ſie zu noͤthigen, in Irrenhaͤuſern die taͤglichen
Augenzeugen all des unausſprechlichen Jammers und Wehes zu
ſein, welches ſie durch myſtiſche Verdumpfung des Geiſtes in
den von ihnen Bethoͤrten hervorgebracht haben. Gewiß wuͤr¬
den ſie dann, wenn irgend noch menſchliches Gefuͤhl in ihnen
ſich regte, reuig an ihre Bruſt ſchlagen, und von ihrer pha¬
riſaͤiſchen Selbſtverblendung zuruͤckkommen.


Nach dieſen Bemerkungen bedarf es wohl keines weite¬
ren Beweiſes der hochwichtigen Bedeutung, welche eine pſycho¬
logiſche Entwickelungsgeſchichte des religioͤſen Wahnſinns fuͤr die
Cultur der Voͤlker hat, da letztere nur unter der Bedingung
fortſchreiten kann, daß ihr innerſtes Lebensprincip, der Glau¬
be, zur vollen Reinheit gelaͤutert werde, dagegen die Ent¬
artung deſſelben in falſchen Begriffen wie ein zerſtoͤrendes Gift,
deſſen Wirkungsweiſe jene Entwickelungsgeſchichte zur objectiven
Erkenntniß bringen ſoll, ſich durch die ganze Organiſation der
Seele verbreitet. Wie weit wir aber noch von dem Beſitz
jener ſo hoͤchſt nothwendigen Wiſſenſchaft entfernt ſind, laͤßt ſich
am deutlichſten aus den Anſichten der meiſten pſychiſchen Aerzte
ermeſſen. Denn ſie behandeln den religioͤſen Wahnſinn als
eine ſo aͤußere und unweſentliche Erſcheinung, daß ſie ſeine
Deutung mit Blutwallungen, Nervenverſtimmungen und an¬
deren grob materiellen Krankheitszuſtaͤnden des Gehirns abfer¬
tigen, in deſſen verſtoͤrter Thaͤtigkeit ſich die herrſchenden Zeit¬
beſtrebungen eben ſo verzerrt reflectiren ſollen, wie ein truͤber,
geborſtener Spiegel ein falſches Bild der Außenwelt zuruͤckwirft.
Iſt denn aber das Bewußtſein des Menſchen nichts Anderes,
als eine katoptriſche Erſcheinung, welche zufaͤllig entſteht, wenn
die einander voͤllig fremden Elemente der Lichtausſtrahlungen
aͤußerer Gegenſtaͤnde und der polirten Oberflaͤche eines Glaſes
oder Metalls gelegentlich zuſammentreffen, ſo daß jener Erſchei¬
nung jede innere Nothwendigkeit ihres eigenmaͤchtigen und ſelbſt¬
ſtaͤndigen Urſprungs fehlt? Oder mit anderen Worten, iſt der
religioͤſe Wahnſinn eine der fruͤheren Gemuͤthsverfaſſung ſo
ſchlechthin von außen aufgedrungene Erſcheinung, von welcher
man in ihr ſelbſt nicht den geringſten Erklaͤrungsgrund findet?
Unſere reformatoriſche Zeit, deren Geiſt wenigſtens in dem tief¬
ſinnigen und gedankenreichen Deutſchland daruͤber zur Erkennt¬
[22] niß gekommen iſt, daß er vor Allem aus dem religioͤſen Be¬
wußtſein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung ſeines
großen Werks ſchoͤpfen muß, erheiſcht daher auch eine tiefere
Erforſchung des frommen Wahnſinns, um alle verborgenen
Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinſternder Ne¬
bel aufſteigt, um in der Nacht des Myſticismus die Voͤlker
von der Bahn zur geiſtig ſittlichen Freiheit abzulenken, indem
er ſie mit dem verderblichen Irrthum bethoͤrt, daß das Feuer¬
zeichen des Fanatismus die flammende Wolke ſei, welche Is¬
rael durch die Wuͤſte fuͤhrte. Da jene Forſchung, wie ſchon
bemerkt, beſonders die Aufgabe der pſychiſchen Aerzte ſein
muß, ſo darf mich das Gefuͤhl unzureichender Kraͤfte nicht
von einem Verſuch dazu abſchrecken, nachdem ich waͤhrend der
langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanſtalt
der taͤgliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden geweſen
bin, welche aus einer falſch verſtandenen Froͤmmigkeit ent¬
ſpringen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt,
welche mit der Eroͤffnung einer neuen Bahn wiſſenſchaftlicher
Unterſuchungen unzertrennlich verbunden ſind, muß auch den
Muth der Selbſtverleugnung beſitzen, um auf die Gefahr eines
Mißlingens ſeiner Bemuͤhungen gefaßt zu ſein. Denn jede
noch zu entdeckende Wahrheit iſt ein tief im Schooße der Erde
geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬
ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wiſſen, ob man jenen
treffen, oder ganz in ſeiner Naͤhe nur auf taubes Geſtein
ſtoßen werde, welches zu Tage gefoͤrdert der angeſtrengten
Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen
Muͤhe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des
religioͤſen Wahnſinns ergeben, deſſen hochwichtige Bedeutung
mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir
daruͤber zu Rathe, in welcher Form ich am ſchicklichſten die
Ergebniſſe deſſelben veroͤffentlichen koͤnnte. Die zweckmaͤßigſte
Weiſe ſchien mir die zu ſein, zuvoͤrderſt eine Reihe von eige¬
nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Pſychologie als Er¬
fahrungswiſſenſchaft vor Allem den weſentlichen Thatbeſtand
ermitteln, und aus ihm auf inductivem Wege die wiſ¬
ſenſchaftlichen Begriffe entwickeln muß. Jener Thatbeſtand
wird aber, ſo weit er den religioͤſen Wahnſinn betrifft, in
[23] der Kirchen- und Weltgeſchichte nur bruchſtuͤcksweiſe gegeben,
da derſelbe wie ein aus Grabesnacht auftauchendes Geſpenſt
in den Reihen thatkraͤftiger Geſtalten, welche uͤberall den Vor¬
dergrund der Geſchichte einnehmen muͤſſen, zur bedeutungsloſen,
kaum bemerkten Erſcheinung wird, von welcher der Hiſtoriker
ſich mit Grauen abwendet. Um ihn ganz kennen zu lernen,
muß man ſich voͤllig in ihn hineinleben, indem man ſich ſo
viel als moͤglich in das verduͤſterte und zerriſſene Bewußtſein
ſeiner Opfer verſetzt, um durch fortgeſetzte Betrachtung ſeiner
Mißverhaͤltniſſe in ihnen die innere Nothwendigkeit ſeiner Ent¬
ſtehung zu erſpaͤhen. Erſt nachdem ſich das geiſtige Auge lange
an die in der irren Seele herrſchende Finſterniß gewoͤhnt hat,
erblickt es in ihr das geheimnißvolle Walten ihrer unverbruͤch¬
lichen Geſetze, welche auch noch den chaotiſchen Traͤumen des
Wahns eine tiefverhuͤllte organiſche Geſtalt verleihen, und ſie
dadurch zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft machen. Iſt auf
dieſe Weiſe der Schluͤſſel zur Deutung des Wahnſinns gefun¬
den, dann werden auch die verſtuͤmmelten Thatſachen verſtaͤnd¬
lich, welche in den hiſtoriſchen Urkunden enthalten ſind, und
man darf alsdann hoffen, aus ihnen eine vollſtaͤndige Theorie
zu entwickeln, deren Licht eine unerwartete Aufklaͤrung in
zahlreiche unaufgeloͤſete Raͤthſel des Lebens werfen wird, welche
als Glaubenszweifel auch die ſtaͤrkſten und friſcheſten Gemuͤther
verſtoͤren muͤſſen.


Indem ich daher zunaͤchſt eine Sammlung von eigenen
Beobachtungen des religioͤſen Wahnſinns der Oeffentlichkeit uͤber¬
gebe, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich mich dabei faſt
ausſchließlich auf eine rein hiſtoriſche Schilderung beſchraͤnkt,
und nur ſelten einige reflectirende Betrachtungen eingeflochten
habe. In der Gruppirung der Thatſachen muß ſchon die An¬
deutung ihres Entwickelungsgeſetzes enthalten ſein, deſſen wiſ¬
ſenſchaftliche Darſtellung eine viel zu umfaſſende Aufgabe iſt,
als daß ſie beilaͤufig in einzelne Krankheitsgeſchichten aufge¬
nommen werden koͤnnte. Den Verſuch einer Theorie des reli¬
gioͤſen Wahnſinns muß ich mir auf eine ſpaͤtere Schrift vor¬
behalten, von welcher die vorliegende nur eine thatſaͤchliche
Einleitung ſein ſoll, und den mannigfachen Einwuͤrfen, welche
dieſem Buche wahrſcheinlich entgegentreten werden, kann ich
[24] jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬
lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Anſichten von
den Geiſteskrankheiten ausfuͤhrlich eroͤrtert habe. Was die Aus¬
wahl der einzelnen Faͤlle aus einer ſehr großen Zahl von Be¬
obachtungen betrifft, ſo kam es mir dabei vorzuͤglich auf ihre
Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu ſchil¬
dern, unter denen der religioͤſe Wahnſinn erſcheint. Daher
habe ich auch mehrere Beiſpiele aufgenommen, wo derſelbe
keinesweges aus einer im fruͤheren Leben vorherrſchenden my¬
ſtiſchen Froͤmmigkeit ſich entwickelte, ſondern gerade im Wider¬
ſpruch mit einer frivolen Geſinnung und zuͤgelloſen Ausſchwei¬
fungen entſtand, ohne daß er deshalb ſeine weſentliche Bedeu¬
tung verleugnete. Gerade hierin ſpricht ſich die tiefe Noth¬
wendigkeit des religioͤſen Bewußtſeyns aus, welches in unzer¬
ſtoͤrbarer Anlage des Gemuͤths gegruͤndet, in allen Zerruͤttun¬
gen deſſelben durch Leidenſchaften immer wieder zur Entwicke¬
lung zu kommen ſtrebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬
faſſung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und
dann nur in Zerrbildern ſeine Heiligkeit erſcheinen laͤßt. Be¬
trachtungen dieſer Art duͤrften ſich vorzugsweiſe dazu eignen,
ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatſache zu werfen,
daß Denker, welche durch die eigenthuͤmliche Richtung ihres
Geiſtes ſich ganz dem religioͤſen Intereſſe entfremdeten, und
alle ihre Begriffe in einem demſelben widerſprechenden Sinne
auspraͤgten, dennoch fruͤher oder ſpaͤter durch eine unwider¬
ſtehliche Noͤthigung zu demſelben ſich hingezogen fuͤhlen. Wenn
z. B. Voltaire, deſſen ganzes Leben dem Bekaͤmpfen des
Chriſtenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬
mentlich auf dem Todtenbette, das Beduͤrfniß nach einer Aus¬
ſoͤhnung mit der katholiſchen Kirche gefuͤhlt haben ſoll; ſo heißt
es jenem unleugbar großen Denker einen ſehr ſchlechten Dienſt
erweiſen, wenn man dieſe Thatſache mit der oberflaͤchlichen
Bemerkung des Widerſpruchs im menſchlichen Gemuͤthe buͤndig
abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerſtreit im
Charakter anders, als Gegenſatz unter ſeinen Elementen, von
denen dasjenige, welches durch die ſyſtematiſchen Beſtrebungen
eines langen Lebens, durch die ſchaͤrfſten Waffen eines bis jetzt
noch unuͤbertroffenen dialektiſchen Witzes, durch den gluͤhend¬
[25] ſten litterariſchen Ehrgeiz nicht niedergekaͤmpft werden konnte,
ſondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande maͤch¬
tig hervortrat, gewiß nicht das ſchwaͤchſte war. Liegt da nicht
die Erklaͤrung naͤher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines
ſelbſtſuͤchtigen Gemuͤths, denen ſeine glaͤnzenden Geiſtesgaben
eine uͤberreichliche Befriedigung verſchafften, doch auch ein tief
empfundenes religioͤſes Beduͤrfniß hegte, dem er aber bei der
Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfaͤulniß der da¬
maligen Zeit ſo wenig eine Befriedigung zu verſchaffen wußte,
daß er ſich daruͤber in der vollſtaͤndigſten Taͤuſchung befand?
War nicht ſein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬
ſche Geiſtlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die
von ihm verkannte chriſtliche Religion identificirte, in tieferer
Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre
Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an
einem andern Orte wiederzufinden ſeine einmal eingeſchlagene
und eifrigſt verfolgte Geiſtesrichtung ihm unmoͤglich machte?
Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm
den giftigen Hohn gegen das Chriſtenthum in ſeine ſatyriſche
Feder floͤßte; derſelbe Mann hat allzuviele Beweiſe von hoch¬
herziger Denkweiſe gegeben, als daß nicht in ſeinem Innern
ein hoͤheres Geſetz gewaltet haͤtte, welches freilich nur in einem
aͤcht religioͤſen Sinne zum deutlichen und vollſtaͤndigen Be¬
wußtſein kommen kann. Verſetzen wir denſelben Voltaire in
ganz entgegengeſetzte Verhaͤltniſſe, wo er fern von der Heu¬
chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und
von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquiſe von
Pompadour herrſchenden moraliſchen Verweſung, einer harmo¬
niſchen Durchbildung ſeiner außerordentlichen Geiſtes- und Ge¬
muͤthsgaben theilhaftig geworden waͤre, welch einen ganz an¬
deren, vielleicht weniger glaͤnzenden, aber dafuͤr weit gediege¬
neren Charakter wuͤrde er ſich dann angeeignet haben.


Auch uͤber den ſcheinbaren Widerſpruch habe ich mich mit
wenigen Worten zu erklaͤren, in welchem mehrere der mitge¬
theilten Beobachtungen mit dem oben ausgeſprochenen Grund¬
ſatze ſtehen, daß der Wahnſinn die Wirkung einer unbefrie¬
digten uͤberſchwenglichen Sehnſucht ſei. In Bezug auf die
Quaalen eines tief verletzten Gewiſſens koͤnnte man es mir
[26] ſchon eher zugeben, daß gerade ſie das hoͤchſte Maaß eines
heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬
nen, welche Erklaͤrung insbeſondere darin ihre Rechtfertigung
findet, daß gewoͤhnlich gutgeartete Menſchen in irrſinniger
Bethoͤrung ſich mit falſchen Selbſtanklagen uͤberhaͤufen, eben
weil ihr zartes Gewiſſen am tiefſten durch Gemuͤthsleiden er¬
ſchuͤttert wird. Aber weniger deutlich duͤrfte es auf den erſten
Anblick ſein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck
einer ungeſtillten maaßloſen Sehnſucht ſein koͤnne. Eine aus¬
fuͤhrliche Erklaͤrung hieruͤber muß ich mir fuͤr die Zukunft ver¬
ſparen, weil ſich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬
zeichnung dafuͤr geben laͤßt, daß der Glaube an den Teufel
ſelbſt ſchon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem goͤttlichen
Geſetz iſt, in ſofern naͤmlich dem unaufgeklaͤrten religioͤſen Be¬
wußtſeyn die Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung als ein
hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muſter der Constitu¬
tio Criminalis Carolina
erſcheint, bei welchem der Teufel
das Amt eines Schergen, Buͤttels oder Folterknechts verſieht.
In ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung iſt die Ehrfurcht vor der
Heiligkeit des goͤttlichen Geſetzes die Sehnſucht nach der nie
vollſtaͤndig zu erreichenden Erfuͤllung deſſelben, weil der Menſch
im tiefſten Selbſtbewußtſein die durch die Majeſtaͤt des Ge¬
wiſſens bekraͤftigte Nothwendigkeit erkennt, das Geſetz Gottes
als urſpruͤngliche Bedingung der geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬
nung, als die ewige Grundlage ſeines freien Strebens nach
dem Unendlichen zu erfuͤllen. In dieſer weſentlichen Bedeu¬
tung kann das goͤttliche Geſetz nur der aufgeklaͤrten Froͤmmig¬
keit erſcheinen, welche demſelben als der Quelle alles Heils
einen liebenden Gehorſam weiht; aber der im Aberglauben
berauſchte Geiſt wird durch den verduͤſternden Schwindel ſeiner
Gedanken dergeſtalt bethoͤrt, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬
bilder der Hoͤlle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich
frohen Glaubens die Schoͤnheit der goͤttlichen Weltordnung im
reinſten Glanze des Himmels ſtrahlt.

[[27]]

1.

R., im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬
manns in Potsdam, wurde ſeit ſeiner fruͤheſten Kindheit durch
ein hartnaͤckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine
bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzuͤndung zur
Folge hatte, dergeſtalt in ſeiner Lebensentwickelung zuruͤckge¬
halten, daß er ſich ſtets ſchwach und elend fuͤhlte, niemals
zum Frohſinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, ſondern
ſtets ernſt und ſchwermuͤthig geſtimmt blieb. Der Vater, ein
Trunkenbold, mißhandelte haͤufig die Kinder, und entzweite
ſich daruͤber mit ſeiner Ehefrau, welche aus ſtetem Aerger und
Kummer in Epilepſie verfiel, deren oft widerkehrende Anfaͤlle
zuletzt ihren Verſtand zerruͤtteten, und nach 16jaͤhrigen Lei¬
den ihrem Leben ein Ziel ſetzten. Durch das langjaͤhrige
Augenuͤbel meiſtentheils vom Schulbeſuche zuruͤckgehalten, konnte
R. ſich nur die nothwendigſten Elementarkenntniſſe aneignen;
einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht
auf ſeinen weichen und empfaͤnglichen Sinn, ſo daß er na¬
mentlich die Unſittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬
diger heimlich verhoͤhnten und nachaͤfften, mit lebhaftem Un¬
willen empfand, und bei den haͤufig wiederkehrenden ſchweren
Leiden ſeiner Mutter in inbruͤnſtigem Gebet Gott um ihre
Beſſerung von denſelben anflehte. Alles dies wirkte zuſam¬
men, ihm eine immer mehr zunehmende Schuͤchternheit und
Aengſtlichkeit einzufloͤßen, wozu unſtreitig ein taͤglich wieder¬
kehrendes, oft bedeutendes Naſenbluten weſentlich beitrug,
welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, haͤufig von hef¬
tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemuͤthsbewegun¬
gen, und zuweilen mit Kopfſchmerzen abwechſelte. Er fuͤhlte
ſich oft ſo ſchwach, daß er auf der Straße hinzufallen fuͤrch¬
tete, wurde bei Todesanzeigen von Zittern und Furcht vor
ſeinem nahen Ende befallen, und in ſtets truͤber und ver¬
[28] zagter Stimmung beim Anblick ſo vieler haͤuslichen Leiden
befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬
rung, ſondern beſtaͤrkte ſich auch in der reſignirenden Vor¬
ſtellung, daß Gott ihn zum Dulden beſtimmt habe. Oft brach
er uͤber ſein Ungluͤck in Thraͤnen aus, ja beim Anblick der
Sonne fragte er ſich bisweilen, ob er werth ſei, daß ſie
ihn beſcheine.


Durch entſchiedene Vorliebe fuͤr das Gewerbe ſeines Va¬
ters ließ er ſich beſtimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬
meiſter in die Lehre zu treten. Er verhehlte ſich zwar die
mit dieſem Geſchaͤft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf
ſeinen furchtſamen Sinn ſchon im Voraus einen tiefen Ein¬
druck machte, aber troͤſtete ſich mit der Zuverſicht, es koͤnne
ihm gegen den goͤttlichen Rathſchluß nichts Schlimmes be¬
gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬
len, wenn er in gefaͤhrlichen Lagen ſich befand, und von ſtar¬
kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, uͤber freiſchwebende
Balken zu gehen, ſondern kroch uͤber ſie hinweg, und ſuchte
ſich uͤberhaupt mit jeder erdenklichen Vorſicht zu ſchuͤtzen.
Als er nach beendigter vierjaͤhriger Lehrzeit bei einem anderen
Meiſter in Dienſt getreten war, erſchuͤtterte deſſen ploͤtzlicher
Tod ihn tief, da die Beſorgniß immerfort in ihm er¬
wachte, daß auch er leicht ein ſchnelles Ende finden koͤnne.
Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche ſich in
ihm gegen dieſe Vorſtellung empoͤrte; ſpaͤter geſellte ſich aber
noch die Beſorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬
eilen koͤnne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verluſtig
gehen muͤſſe.


Im 22. Jahre ſiedelte er ſich nach Berlin uͤber, wo¬
ſelbſt er, durch Fleiß, Tuͤchtigkeit und gute Auffuͤhrung aus¬
gezeichnet, ſtets eine hinreichende Beſchaͤftigung fand, in wel¬
cher er ſich durch mannigfache koͤrperliche Beſchwerden nicht
ſtoͤren ließ. An die Stelle des oben erwaͤhnten Naſenblutens
traten naͤmlich haͤufig wiederkehrende Erſcheinungen eines hef¬
tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Bruſt, ſtarkes
Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor
den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlaͤſſe noch andere
Heilmittel gruͤndlich befreiten. Seine Plagen wurden noch
[29] dadurch verſchlimmert, daß er, durch den ſchlechten Rath ande¬
rer Geſellen verleitet, im wolluͤſtigen Umgange mit feilen Dirnen
eine Befreiung von ſeinen Beſchwerden zu erlangen ſuchte, wor¬
uͤber er die bitterſte Reue empfand, welche ihn zum haͤufigen Ge¬
nuß des heiligen Abendmahls antrieb. Noch muͤſſen wir hier
einer pathologiſchen Erſcheinung gedenken, welche vielleicht als
Wirkung einer durch das Skrofelleiden veranlaßten Reizbarkeit der
Nerven anzuſehen, bereits im 7. Jahre hervortrat, in der Folge
durch den haͤufigen Blutandrang nach dem Kopfe unterhalten
wurde, und mit geringen Unterbrechungen durch ſein ſpaͤteres
Leben fortdauerten. Anfangs hatte er, wenn er in einer finſtern
Kammer zu Bette gegangen war, Viſionen von menſchlichen
Geſtalten, deren Rumpf wohlgeformt, aber deren Geſicht gleich
Larven auf die mannigfachſte Weiſe verzerrt war. Meiſtens wa¬
ren die Naſen ſehr lang, die Augen groß, der Mund weit auf¬
geriſſen: gewoͤhnlich ſah er 4 — 6 ſolcher Geſtalten, welche theils
blieben, theils wechſelten, meiſt ihm unbekannte Perſonen, zu¬
weilen auch bekannte darſtellten, und nach 5 Minuten ſpurlos
verſchwanden. In fruͤherer Zeit waren jene Phantome regungs¬
los, in der Folgezeit bewegten ſie ſich, machten fuͤrchterliche Gri¬
maſſen, indem ſie den Mund weit aufſperrten, die Augen umher¬
rollten. In den ſpaͤteren Jahren hatte er dieſe Viſionen auch bei
Tage, zumal waͤhrend der Sommerhitze, beim Heben ſchwerer La¬
ſten, oder wenn aus Furcht Flimmern vor den Augen, Schwin¬
del und Herzklopfen ſich einſtellten: nur nach den Aderlaͤſſen blieb
er auf einige Zeit von ihnen verſchont. Da dieſe Viſionen ſchon
in ſeinem fruͤheſten Alter auftraten, wo das Kind noch keine Re¬
flexionen anſtellt, ſo machten ſie auch keinen tiefen Eindruck auf
ihn, und nur gelegentlich empfand er eine Anwandlung von
Furcht, wenn entweder die Larven ein ſehr abſchreckendes Anſe¬
hen annahmen, oder wenn das Anhoͤren von Geſpenſtergeſchichten
ihm ein aberglaͤubiges Grauen eingefloͤßt hatte. Indeß durch ihre
haͤufige Wiederkehr wurden ſie ihm dergeſtalt zur Gewohnheit und
dadurch gleichguͤltig, daß er wortkarg und ſchuͤchtern gegen Nie¬
manden ſich daruͤber aͤußerte, und als er bei zunehmender Ver¬
ſtandesreife einer freieren Reflexion faͤhig wurde, ſagte er ſich
ſelbſt, daß Alles nur ein Spuk der Einbildungskraft ſei. Erſt
dann erlangte derſelbe fuͤr ihn eine ſchwere Bedeutung, als dar¬
[30] aus unter zunehmender religioͤſer Bangigkeit Teufelsviſionen her¬
vorgingen. Durch dieſe anhaltende krankhafte Erregung hatte
jedoch ſeine Phantaſie zuletzt eine ſo große Lebendigkeit erlangt,
daß er ſich das Bild abweſender Perſonen, z. B. ſeiner laͤngſt
verſtorbenen Mutter, mit der groͤßten Anſchaulichkeit vor Augen
ſtellen konnte.


Eine Reihe von Jahren verſtrich fuͤr ihn ohne bemerkens¬
werthe Ereigniſſe, und er haͤtte unter guͤnſtigen Verhaͤltniſſen ſei¬
nes Lebens froh werden koͤnnen, wenn nicht ſeine durch aͤngſt¬
liche Gewiſſenhaftigkeit und haͤufig wiederkehrende Todesfurcht
erzeugte truͤbe Gemuͤthsſtimmung immer mehr die Energie ſeines
Charakters untergraben haͤtte. Geringfuͤgige Veranlaſſungen er¬
regten in ihm die peinlichſten Gewiſſensſcrupel, z. B. kleine Aus¬
gaben bei feſtlichen Gelegenheiten, worin er leichtſinnige Ver¬
ſchwendung ſeines Geldes ſah, welches er den Armen oder ſei¬
nem huͤlfsbeduͤrftigen Vater haͤtte geben ſollen. Seine fort¬
dauernden Koͤrperbeſchwerden drangen ihm die Ueberzeugung auf,
daß Gott ſie ihm als Strafe fuͤr ſeine vielen Suͤnden auferlegt
habe. Er war Taufzeuge bei dem Sohne ſeiner Schweſter gewe¬
ſen, und als Jemand es als einen Uebelſtand ruͤgte, daß das
Kind von einem maͤnnlichen Pathen uͤber die Taufe gehalten wor¬
den ſei, da nach einer aberglaͤubigen Meinung ein weibliches In¬
dividuum dieſen Liebesdienſt haͤtte thun muͤſſen, ſtimmte er in
das Gelaͤchter Anderer uͤber dieſe Albernheit ein. Dies bereute
er aber in der Folge tief, als das Kind an Abzehrung geſtorben
war, wovon er ſich die Schuld durch frivoles Entweihen der Taufe
beimaaß. Fortan ſah er nur Suͤndhaftigkeit und Laſter in der
Welt, namentlich glaubte er, daß beim Bauen der Haͤuſer die
aͤrgſten Betruͤgereien veruͤbt wuͤrden, und bald kam es mit ihm ſo
weit, daß er das Hereinbrechen des goͤttlichen Strafgerichts uͤber
das in Suͤnden verſunkene Menſchengeſchlecht fuͤr nahe bevorſte¬
hend hielt. Indeß ſein milder, gutgearteter Sinn bildete einen
zu ſtarken Gegenſatz gegen jede fanatiſche Regung, als daß er in
Haß gegen andere Menſchen haͤtte entbrennen ſollen, welches nur
jenen zelotiſchen Egoiſten zu begegnen pflegt, welche ſich ſelbſt
eine um ſo groͤßere Froͤmmigkeit anmaaßen, je erbarmungsloſer
ſie die Schwaͤchen anderer Menſchen als die verworfenſten Frevel
verdammen. Vielmehr hielt er es nun fuͤr ſeine Pflicht, durch
[31] eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch
die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber
ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß
er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen
des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer
laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten
Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬
gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬
liche Haltung ſich erringen.


Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten
Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein,
doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von
ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬
gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen.
R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬
gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das
heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen
erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei
ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und
er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht
ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr
er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬
druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬
ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬
ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm
gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung
zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬
ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬
zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in
einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬
armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬
gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬
deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam;
dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬
ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬
te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen
Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu
erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen
[32] ſeiner hieſigen Schweſter, welche an einen Fuhrmann verheirathet
und Mutter mehrerer Kinder ſeiner Meinung nach ihre Pflichten
als Hausfrau vernachlaͤſſigte. Nur gelegentlich wagte er es, ihr
hieruͤber Vorwuͤrfe zu machen; deſto ernſtlicher drang er aber in
ſie, daß ſie ſich gleichfalls zu einem froͤmmeren Lebenswandel be¬
kehren, und namentlich mit den Schweſtern ausſoͤhnen ſolle, weil
außerdem der noch immer feſtgehaltene Plan, die ganze Familie
zu vereinigen, nicht in Ausfuͤhrung gebracht werden konnte. Zu
dieſem Zwecke verlangte er, daß die Schweſtern gemeinſchaftlich
mit dem Vater an einem der naͤchſten Sonntage das heilige Abend¬
mahl genießen ſollten, um den geſchloſſenen Frieden zu beſiegeln.
Sie nahm dieſe Ermahnungen mit muͤrriſchem Schweigen auf,
gab ihm inzwiſchen immer neue Gelegenheit zur Unzufriedenheit
durch Vernachlaͤſſigung ſeiner haͤuslichen Beduͤrfniſſe, und ver¬
anlaßte dadurch bei ihm eine ſo anhaltende Gemuͤthsverſtimmung,
daß er ſchon des Nachts nicht mehr ruhig ſchlafen konnte, und
eine ſteigende Bangigkeit, ja Angſt empfand, von welcher er ſich
bei ſeiner paſſiven Gemuͤthsart nicht mehr befreien konnte.


Da er ſeinem beduͤrftigen Vater wiederholte Baarſendun¬
gen zuſchickte, ſo entbloͤßte er ſich oft ſo ſehr von Geld, daß er
kleine Anleihen bei ſeiner Schweſter machen mußte. Dies ge¬
ſchah auch an einem Morgen, wo ihre Weigerung, ihm auch nur
noch 8 Groſchen vorzuſtrecken, ihn mit großem Unwillen gegen ſie
erfuͤllte. Als er ſchon das Zimmer verlaſſen hatte, oͤffnete ſie
die Thuͤre, um ihm das verlangte Geld dennoch zu reichen, machte
ihm aber dabei ein ſo boͤſes Geſicht, daß er ſich daruͤber entſetzte.
Zugleich bemerkte er einen alten, an die Wand gelehnten Beſen,
welcher, nach einem verbreiteten Aberglauben am Morgen in den
Weg gelegt, Ungluͤck bedeuten, ja ſelbſt den Teufel herbeirufen
ſoll. Wie ein Wetterſtrahl traf ihn der Gedanke, daß ſeine
Schweſter der Teufel ſelbſt ſei, welcher ihm das Geld gege¬
ben habe, um ihn zum Boͤſen zu verlocken, und obgleich er waͤh¬
rend der Arbeit ſich noch daruͤber beſann, daß ſie wirklich ſeine
Schweſter ſei, ſo hatte doch die Vorſtellung des Teufels ihn ſo
maͤchtig ergriffen, daß er das empfangene Geld fuͤr eine Gabe
deſſelben hielt. Da ihm zugleich der Unfall begegnete, daß ein
Glasſcherben durch den einen Stiefel ihm bis in den Fuß eindrang,
ſo hielt er die unbedeutende Verletzung deſſelben fuͤr einen neuen
[33] Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall in den Weg trete. Von
raſtloſer Quaal gefoltert, hatte er nach der Ruͤckkehr von der Ar¬
beit nichts Eiligeres zu thun, als die erhaltenen 8 Groſchen in
den zerriſſenen Stiefel zu ſtecken, und letzteren an einem
entfernten Orte ins Waſſer zu werfen. Das Entſetzen uͤber die
Verſuchungen des Teufels machte in ihm die Empfindung rege,
als ob dieſer ihn in Stuͤcke zerreißen wollte, weshalb er im ſchnel¬
len Laufe nach der Wohnung zuruͤckkehrte, um alle Gegenſtaͤnde,
welche ſeiner Meinung nach irgend vom Teufel beruͤhrt ſein konn¬
ten, ſorgfaͤltig abzuwaſchen. Eifriges Flehen zu Gott um Schutz
gegen den Boͤſen und fleißiges Bibelleſen wurden ihm nun zum
Beduͤrfniß, konnten aber nur dazu dienen, ſeiner ſchon in Wahn¬
witz ausgearteten Schwaͤrmerei neue Nahrung zu geben.


Nachdem der zur Ausſoͤhnung ſeiner Familie bei der Abend¬
mahlsfeier von ihm beſtimmte Sonntag verſtrichen war, ohne
ſeine ſehnliche Hoffnung in Erfuͤllung zu bringen, betete er in¬
bruͤnſtig zu Gott, daß er durch ſeine Gnade die Ausſoͤhnung der
Entzweiten bewirken wolle, wobei er eifrig in der Bibel las,
um aus ihr Troſt zu ſchoͤpfen. Vorzuͤglich wurde ſeine Aufmerk¬
ſamkeit gefeſſelt durch das 10. Kapitel der Apoſtelgeſchichte, wo
die von Petrus an dem Hauptmann Cornelius vollzogene Taufe
erzaͤhlt, und zugleich berichtet wird, daß letzterer 4 Tage faſtete
und betete, worauf ein Mann in hellem Kleide mit den Worten
auf ihn zutrat: „Corneli, dein Gebet iſt erhoͤrt, und deiner
Almoſen iſt gedacht vor Gott.” R. glaubte hieraus folgern zu
duͤrfen, daß man durch Faſten Gott zur Erhoͤrung inbruͤnſtiger
Gebete bewegen koͤnne, und ſogleich ſtand ſein Entſchluß feſt,
ſich dieſes Mittels zu bedienen. Er enthielt ſich daher von naͤch¬
ſter Mittwoche an aller Nahrung gaͤnzlich, wollte dies zuerſt nur
bis zum Donnerstage fortſetzen, weil an demſelben eine Wochen¬
communion gehalten wurde, fuͤhrte aber ſeinen Vorſatz, da ſeine
Familie an letzterer nicht Theil nahm, bis zum naͤchſten Montage,
wo ſeine Verſetzung in die Charité erfolgte, beharrlich durch, in
der feſten Ueberzeugung, daß Gott ſein inbruͤnſtiges Flehen er¬
hoͤren werde. Er verſichert, in dieſer ganzen Zeit nicht den ge¬
ringſten Hunger, und erſt am Sonntage einigen Durſt empfun¬
den zu haben, wurde aber zu aller Arbeit unfaͤhig, und beſchaͤf¬
tigte ſich nur mit anhaltendem Bibelleſen bei verſchloſſener Thuͤre,
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 3[34] indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speiſen den hart¬
naͤckigſten Widerſtand entgegenſtellte. Die Naͤchte brachte er meiſt
ſchlaflos zu, und die fruͤher ſchon bemerkten Viſionen geſtalteten
ſich ihm nun zu voͤlligen Teufelsfratzen, ſo daß er aus ſeiner
Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam.


Vorzuͤglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit.
Er pflegte in dieſen Tagen zu ſeiner Erbauung Verſe aus der
Bibel abzuſchreiben, wobei er gewiſſenhaft die Stunde von
12 — 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieſer Zeit ſein Schwa¬
ger zum Eſſen nach Hauſe kam, dabei mit ſeiner Frau haͤufig in
Streit gerieth, und beſonders ihn, den R., zum Genuß von
Speiſen noͤthigen wollte. In ſeiner damaligen Stimmung
konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans ſehen, indem
er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht ſei. Ohne Kennt¬
niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene boͤſe Stunde ſchon
verſtrichen ſei, weshalb er wieder Verſe abzuſchreiben anfing.
Als aber in der Nebenſtube die Uhr Eins ſchlug, uͤberfiel ihn eine
große Angſt, daß der Teufel ihn zur boͤſen Zeit zum Abſchreiben
aus der Bibel verfuͤhrt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe,
daher er voll Entſetzen das Papier in Stuͤcke zerriß, waͤhrend es
ihm vorkam, daß die Fenſterſcheiben von einem lauten Knall er¬
droͤhnten. Als er voll Abſcheu jene Papierſtuͤcke auf das Dach
vor ſeinem Fenſter geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den
Namen Gottes auf dieſelben geſchrieben, und durch das Zerrei¬
ßen gleichſam mit Fuͤßen getreten habe. Deshalb bediente er ſich
einiger zangenartig zuſammengefaßten Holzſtaͤbe, um die beſchrie¬
benen Papierſtuͤcke zuruͤckzuholen, und ſie als geheiligte Zeichen
in die Bibel zu legen. Die unbeſchriebenen Papierſtuͤcke hielt er
dagegen fuͤr ein Eigenthum des Teufels, welcher ſich nicht nur
darauf vor ſeinem Fenſter lagerte, ſondern auch faſt ununterbro¬
chen als ein geſtaltloſer Schein ihn umſchwebte. Da die Holz¬
ſtaͤbe, mit denen er das beſchriebene Papier heraufgeholt hatte,
durch die Beruͤhrung deſſelben geheiligt waren, ſo glaubte er ſie
nicht zur Entfernung des teufliſchen Papiers gebrauchen zu duͤr¬
fen, weshalb er drei Spazierſtoͤcke hervorſuchte, um damit jenen
boͤſen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebſt den Stoͤcken,
einem Raſiermeſſer und einer Waſſerflaſche, welche ſeiner Mei¬
nung nach durch teufliſche Beruͤhrung unheilſtiftend geworden wa¬
[35] ren, band er zuſammen, und warf am Abend dies Buͤndel an
derſelben Stelle weg, wo er ſich des Stiefels entledigt hatte.
Dann ging es an ein fleißiges Abwaſchen der Wohnung, welches
er in den naͤchſten Tagen wiederholte, und da auch dies ihm noch
nicht als Desinfection von dem hoͤlliſchen Miasma genuͤgte, ſo
zog er fortwaͤhrend Kreiſe um ſich, um den Satan von ſich abzu¬
halten. Aber die Furcht vor demſelben erfuͤllte ihn dergeſtalt,
daß er ſchon ganz von ihm verunreinigt zu ſein glaubte, und des¬
halb ſeinen Bruder bat, als ein durch die Abendmahlsfeier Ge¬
heiligter mit den geweihten Holzſtaͤben unter die Betten zu fah¬
ren, um den Teufel aus ſeinem Verſteck unter denſelben zu ver¬
ſcheuchen. Dies muͤſſe demſelben, meinte er, gelingen, da der
fromme Glaube Berge verſetzen koͤnne. Aus bruͤderlicher Liebe
duldete er denſelben auch des Nachts nicht in der gemeinſchaftli¬
chen Schlafkammer, da er von Teufelsviſionen geaͤngſtigt, jenen
wenigſtens von gleicher Noth befreien wollte.


In der Meinung, daß der Boͤſe Schuld an allen Zerwuͤrf¬
niſſen in der Familie ſei, und ſich deshalb unter der Geſtalt einer
zaͤnkiſchen Nachbarin zu ſeiner Schweſter geſchlichen habe, um ſie
gegen ihre Verwandten aufzuhetzen, hielt er es fuͤr ſeine Pflicht,
dagegen anzukaͤmpfen. Zu dieſem Zweck nahm er am Sonntag
fruͤh zuvoͤrderſt wieder das Beſprengen und Abwaſchen der Woh¬
nung zum Vertreiben des Teufels vor, und las hierauf ſeiner
Schweſter die Kapitel aus der Bibel vor, welche er durch das
Einlegen der geheiligten Papierſtreifen als die dazu paſſenden be¬
zeichnet hatte. Um nicht geſtoͤrt zu werden, hatte er die Thuͤre
verriegelt, und da einige inzwiſchen angelangte Vettern eingelaſ¬
ſen zu werden forderten, ſo fuͤhrte dies zu einem heftigen Auf¬
tritt. Jene Vettern hatten naͤmlich mehrmals uͤber ſeinen Wahn¬
ſinn mit verletzendem Hohn geſpottet, und ihn mit Ungeſtuͤm zum
Eſſen aufgefordert, eben dadurch aber in der Ueberzeugung be¬
ſtaͤrkt, daß ſie vom Teufel beſeſſen, ihn zum Boͤſen verfuͤhren
und deshalb gewaltſam eindringen wollten. Als daher die Thuͤre
ſeines Straͤubens ungeachtet geoͤffnet wurde, fluͤchtete er ſich in
ſeine Kammer, wo er ſich wieder fleißig mit Bibelleſen beſchaͤf¬
tigte, und namentlich die Verkuͤndigung Chriſti von der Zerſtoͤ¬
rung Jeruſalems ſich zu Herzen nahm. Denn da er von der
Verderbtheit der Menſchen uͤberzeugt, den baldigen Untergang
3 *[36] der Welt erwartete, ſo machte er ſich darauf gefaßt, daß das
Strafgericht Gottes demnaͤchſt uͤber Berlin hereinbrechen, und
letzteres in Flammen aufgehen werde.


Dieſe Vorſtellung beherrſchte ihn beſonders am Nachmittage,
als er einen Rock verkaufen wollte, um mit dem Erloͤs die Ueber¬
ſiedelung ſeines Vaters nach Berlin zu bewirken. Durchdrun¬
gen von dem Wunſche, ſeine Freunde von dem drohenden Ver¬
derben zu erretten, griff er in ſeine Rocktaſche, und fand darin
ein Stuͤck von den geweihten Staͤben, welches er als ein Amulet
bei ſich trug. Mit dieſem Hoͤlzchen glaubte er das Haus eines
Freundes ſegnen, und dadurch vor der Zerſtoͤrung ſchuͤtzen zu koͤn¬
nen; er nahm es daher in die Hand, ſchritt am Hauſe voruͤber,
und murmelte dabei die Worte: „Im Namen Gottes des Va¬
ters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes, Amen”; dies brachte
ihn ganz einfach auf den Gedanken, auch andere Haͤuſer auf gleiche
Weiſe gegen den Untergang zu ſichern, weshalb er zunaͤchſt einige
Kirchen mit jenem Spruch glaͤubig umwandelte, und hierauf nach
der Charite' ſich begab, welche wegen der vielen Kranken und
Nothleidenden in ihr ſeine Theilnahme erweckte. Hier betete er
ein Vaterunſer, trank von Durſt gequaͤlt aus einem Brunnen,
welchen er gleichfalls ſegnete, weihte hierauf das Invalidenhaus,
um die betagten Krieger in demſelben von dem Feuertode zu ret¬
ten, und vollzog noch eine Menge aͤhnlicher Weihen an mehreren
oͤffentlichen Gebaͤuden und Privatwohnungen, worauf er um 10
Uhr in ſeine Wohnung zuruͤckkehrte.


Am naͤchſten Tage erfolgte ſeine Aufnahme in die Charite',
woſelbſt er zuvoͤrderſt in die Abtheilung fuͤr innere Kranke ge¬
bracht wurde, weil in der Eile keine aͤrztlichen Zeugniſſe, wie ſie
fuͤr die Reception in die Irrenabtheilung geſetzlich erforderlich ſind,
hatten herbeigeſchafft werden koͤnnen. Auch hier weigerte er ſich
hartnaͤckig, Speiſen zu genießen, indem er glaubte, daß der liebe
Gott, welcher die Herzen lenke, ihm andere und beſſere Speiſen
geben werde, in welchem Glauben er ſich noch vollkommen kraͤf¬
tig und immer noch bis oben an voll fuͤhlte. Selbſt ein herbei¬
gerufener Prediger, welcher durch Ermahnungen ihn zu einer
Sinnesaͤnderung zu bewegen ſuchte, richtete Nichts aus, und es
mußte daher die in ſolchen Faͤllen allein uͤbrig bleibende Huͤlſe
in Anwendung kommen, ihm wiederholt eine elaſtiſche Roͤhre
[37] durch den Mund bis in den Schlund einzufuͤhren, und ihm durch
dieſelbe eine hinreichende Menge von kraͤftiger Fleiſchbruͤhe einzu¬
floͤßen, um ihn gegen den Hungertod zu ſchuͤtzen. Es kraͤnkte
ihn tief, daß auf dieſe Weiſe ſein Vorſatz, bis zur Ausſoͤhnung
ſeiner Geſchwiſter zu faſten, vereitelt wurde, ja er glaubte ſelbſt
darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall mit
Gewalt entgegentrat, erblicken zu muͤſſen; indeß theils meinte er,
wie Chriſtus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu muͤſſen,
theils troͤſtete er ſich, daß die erzwungene Uebertretung ſeiner ver¬
meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden koͤnne,
da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der
Vorſtellung von dem nahen Untergange Berlins beſchaͤftigt,
glaubte er in der naͤchſten Nacht Feuerlaͤrm zu hoͤren, welches ihm
die Furcht einfloͤßte, daß auch die Charité bald von den Flammen
werde ergriffen werden, weshalb er inbruͤnſtig zu Gott um Erret¬
tung der Kranken flehte, damit dieſelben nicht unvorbereitet den
Tod der Suͤnder im Feuer ſtuͤrben, und der ewigen Verdammniß
anheimfielen. Uebrigens fand er ſich bald in ſeine neue Lage,
uͤberzeugt, daß dieſelbe eine Schickung von Gott ſei.


Nachdem durch hinreichende Beobachtung ſein Gemuͤthslei¬
den beſtaͤtigt worden war, erfolgte ſeine Verſetzung in die Irren¬
abtheilung, woſelbſt er ganz in ſich gekehrt und hoͤchſt wortkarg
nur ſehr mangelhafte, einſylbige Antworten gab, durch welche
blos das eigentliche Motiv ſeiner immer noch hartnaͤckigen Weige¬
rung, Speiſen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte
natuͤrlich mit dem Einfloͤßen von Fleiſchbruͤhe durch eine elaſtiſche
Roͤhre in den naͤchſten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬
deß die Nachricht gebracht wurde, daß ſeine Familie zum gemein¬
ſamen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬
ſoͤhnung zu Stande gebracht worden ſei, glaubte er ſein Geluͤbde
treu erfuͤllt, dadurch die Erhoͤrung ſeines Gebets von Gott er¬
langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬
tenen Speiſen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬
willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendſten Ge¬
genvorſtellungen nahm ſein Vater, nicht unwahrſcheinlich aus Ei¬
gennutz, ihn zu ſich zuruͤck, und geſtattete ihm, ſchon nach we¬
nigen Tagen wieder in ſeine fruͤheren Verhaͤltniſſe zuruͤckzutreten.
Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die haͤu¬
[38] fige Lectuͤre der Bibel fachte ſeinen Teufelswahn bald wieder an.
Um ſich haͤuslich einzurichten, hatte er bei einem Troͤdler mehre¬
res altes Geraͤth eingekauft, welches er aber, da der Teufel ſeiner
Meinung nach in dieſem Kram ſtecke, gegen neues vertauſchte,
damit der Boͤſe nicht wieder ins Haus gebracht werde, und aber¬
mals Unfrieden ſtifte. Bei ſeinem oben erwaͤhnten Weihen der
Haͤuſer hatte er nur die linke Seite einer Straße ſeiner Meinung
nach von dem Einfluß des Teufels befreit, daher er es ſehr be¬
dauerte, in jener Reihe keine Wohnung finden zu koͤnnen, und
genoͤthigt zu ſein, eine ſolche auf der andern nicht geweihten, dem
Teufel preis gegebenen Seite miethen zu muͤſſen. In dieſen dia¬
boliſchen Vorſtellungen wurde er noch beſtaͤrkt, als er in der neuen
Wohnung eine Menge von Schmutz, faules Stroh, verkehrt ein¬
gehaͤngte Thuͤren und andere Unordnungen antraf, welche ſeiner
Ueberzeugung nach vom Teufel herruͤhrten. Tief bekuͤmmert,
demſelben uͤberall zu begegnen, und gegen ihn nirgends durch die
Gnade Gottes geſchuͤtzt zu ſein, ſchritt er ſogleich zum Exorciſiren
der Wohnung; er ſprengte uͤberall geweihtes Waſſer aus, wel¬
ches er in einem dazu neu angekauften Topfe von einem fruͤher
geſegneten Brunnen holte, verbrannte einen von Rauch geſchwaͤrz¬
ten papiernen Vorhang des Kuͤchenheerdes, welcher vom Boͤſen
herruͤhren ſollte, und ſchuͤttete die Aſche nebſt alten Naͤgeln, denen
er denſelben Urſprung beilegte, in einen Topf, welchen er mit
einem Stein beſchweren und ins Waſſer werfen wollte, damit
der darin gefangene Satan nicht wieder ans Tageslicht komme,
und nicht wie das erſte Mal mit dem weggeworfenen Raſiermeſſer
aus den ihm angelegten Banden ſich befreien koͤnne. Indeß weil
er mit den teufliſchen Sachen auch geweihtes Waſſer in den Topf
geſchuͤttet hatte, uͤberfiel ihn dabei ein ſolches Entſetzen, daß er
ſeinen Entſchluß diesmal nicht ausfuͤhren konnte, und es ihm nur
bei einer andern Gelegenheit gelang, ein mit dem Teufel behaf¬
tetes Geraͤth an einen Stein zu befeſtigen, aus dem Thore zu tra¬
gen und in die Spree zu werfen.


Am ſtaͤrkſten kam aber ſein Teufelswahn bei folgender Ver¬
anlaſſung wieder zum Ausbruch. Er wollte ſeinem Vater zur
Unterſtuͤtzung 3 Thaler zuſenden, und bat ſeine Schweſter, ihm
dieſelben gegen Kaſſenanweiſungen umzuwechſeln, welche er be¬
quem in einen Brief einſchließen koͤnne. Als er letztere erhalten,
[39] mit einem Couvert verſehen hatte, und eben das 5te Siegel auf¬
druͤcken wollte, hoͤrte er einen ſtarken Knall, woruͤber er in
ein heftiges Zittern verfiel, indem er glaubte, daß der Teu¬
fel von neuem uͤber ihn Gewalt bekomme, weil er ſich zum
Siegel eines Petſchaftes bediente, welches er aus einer fruͤ¬
heren Wohnung einmal weggenommen hatte. Eiligſt riß er
das Couvert wieder auf, noͤthigte ſeine Schweſter, die Kaſ¬
ſenanweiſungen bei dem Kaufmann, von welchem ſie dieſel¬
ben geholt hatte, wieder in Courant umzuſetzen. Nun ſtieg
ſeine Noth auf den hoͤchſten Grad, denn der Teufel war mit
den Kaſſenanweiſungen zu dem Kaufmanne gewandert, um
alle ſeine Waaren zu verderben, zugleich war derſelbe aber
auch mit dem Gelde zu R. zuruͤckgekehrt, welcher daſſelbe
nicht an ſeinen huͤlfsbeduͤrftigen Vater ſenden durfte, um ihn
nicht dem zeitlichen und ewigen Untergange preis zu geben.
Mit einem Worte, der herrſchende Teufelsgedanke wurde der
Rahmen, welcher alle ſeine Vorſtellungen umſchloß, und ihn
dadurch in Verzweiflung ſtuͤrzte. In dieſer grenzenloſen Be¬
draͤngniß flehte R. zu Gott um Huͤlfe, und es erklaͤrt ſich
leicht aus ſeiner damaligen Gemuͤthsverfaſſung, daß er wieder
den Vorſatz faßte, ſich aller Nahrung zu enthalten, um Gott
zur Erhoͤrung ſeines Gebets und zur Offenbarung eines ret¬
tenden Gedankens zu bewegen.


Wirklich fuͤhrte er dieſen Entſchluß mit derſelben zaͤhen
Hartnaͤckigkeit aus, welche er das erſte Mal gezeigt hatte,
wie es denn uͤberhaupt charakteriſtiſch iſt, daß paſſive Gemuͤ¬
ther, welche zu keiner reſoluten Handlung faͤhig ſind, eine
negative Standhaftigkeit im Erdulden der hoͤchſten Leiden und
in freiwillig uͤbernommenen Bußuͤbungen entwickeln koͤnnen,
woran die entſchloſſenſte Energie Thatkraͤftiger oft ſcheitern
wuͤrde. Ein auffallendes Beiſpiel davon im Großen bieten
uns die hindoſtaniſchen Schwaͤrmer dar, welche bei aller Feig¬
heit des Nationalcharakters unter Selbſtpeinigungen der grau¬
ſamſten Art eine Reihe von Jahren zubringen. R. faſtete
wiederum eine ganze Woche, ehe ſich ſeine Angehoͤrigen ent¬
ſchloſſen, ihn nach der Charité zuruͤckzubringen, und da er nur
zuweilen ſeinen brennenden Durſt mit etwas Waſſer ſtillte,
ſo mußten nach ſo vielen Stuͤrmen auf Gemuͤth und Koͤrper
[40] diesmal weit ſchlimmere Folgen hieraus hervorgehen, wie fruͤ¬
her. Daher wurden die Teufelsviſionen in den ſchlafloſen
Naͤchten ſchrecklicher und anhaltender, als je, fortwaͤhrend ſah
er ſich von fratzenhaften Koͤpfen mit Hoͤrnern, feurigen, rol¬
lenden Augen, langen Naſen, weit aufgeriſſenen Maͤulern,
aus denen eine blutrothe Zunge weit heraushing, umgeben;
ihre Zahl nahm immer mehr zu, je eifriger er durch Beten
und durch Sprengen mit geweihtem Waſſer ſie zu vertreiben
ſuchte. Zugleich umziſchte und umſauſte es ihn, wie unſicht¬
bare Geſpenſter, niemals aber hoͤrte er deutliche Worte. Von
fuͤrchterlicher Angſt bis zur Erſchoͤpfung gefoltert, warf er ſich
zuweilen aufs Bette, wurde indeß bald wieder aus ſeiner
Betaͤubung durch neue Wahnbilder aufgeſchreckt. Zuletzt konnte
er es im Dunkeln nicht mehr aushalten, indeß auch ein bren¬
nendes Licht brachte ihm keine große Erleichterung. Daß er
nun eifriger als je Andachtsuͤbungen, Sprengen mit Waſſer,
Hinausſcheuchen der Teufel aus allen Ecken vornahm, welche
uͤberall in Schaaren auf ihn einſtuͤrmten, begreift ſich leicht.
Schon fruͤher hatte er mit dem groͤßten Mißfallen bemerkt,
daß Kaufleute Blaͤtter aus der Bibel und aus Andachtsbuͤ¬
chern zum Einpacken von Waaren benutzten, durch welche das
goͤttliche Wort herabgewuͤrdigt werde; noch mehr empoͤrte es
ihn, wenn die Kinder ſeiner Schweſter ſolche Blaͤtter zerriſ¬
ſen und auf die Erde warfen, wo es dann nicht ausbleiben
konnte, daß der Name Gottes mit Fuͤßen getreten wurde.
Vergebens ſuchte er dieſem, in ſeinen Augen gotteslaͤſterlichen
Unfug zu ſteuern, und nur dadurch wußte er ſich zu helfen,
daß er alle ſolche Blaͤtter, auch wenn ſie noch ſo ſehr be¬
ſchmutzt waren, ſorgfaͤltig in einem Spinde aufhob. In letz¬
terem lagen aber auch einige luſtige Lieder, welche er fuͤr
teufliſche erklaͤrte, weshalb er in ſeiner damaligen Aufregung
es fuͤr ſeine Pflicht hielt, eine Sonderung vorzunehmen. Vor¬
naͤmlich machte ihm dabei eine Sammlung von geiſtlichen und
weltlichen Liedern zu ſchaffen, wobei er ſich nicht anders zu
helfen wußte, als daß er die frommen Lieder herausriß, um
die uͤbrigen nebſt den anderen vom Satan inficirten Sachen
aus dem Hauſe zu ſchaffen. Hiermit beſchaͤftigt, waͤhnte er,
einen betaͤubenden Donnerſchlag zu hoͤren, und einen auf das
[41] Haus niederzuckenden Blitzſtrahl zu ſehen. Entſetzt glaubte er,
die Zeit ſei gekommen, wo Berlin in Flammen aufgehen
werde, und er warf ſich auf die Kniee, um das goͤttliche
Erbarmen fuͤr alle Glaͤubige anzuflehen. Bei einer anderen
Gelegenheit riß er ſich in ſeiner Angſt die Kleider vom Leibe,
und als er zugleich ein ſtetes Klopfen hoͤrte, war er uͤber¬
zeugt, daß der Teufel vor dem Hauſe ein Geruͤſt aufrichte,
um ihn durch daſſelbe am Entfliehen zu verhindern und zu
zerreißen. In großer Beſtuͤrzung kleidete er ſich eilig wieder
an, und verlangte ſogar von ſeinem Bruder, daß derſelbe
ſich gemeinſchaftlich mit ihm in dieſelben Kleider ſtecken ſolle.


Nach ſeiner am 12. Juli 1845 erfolgten Wiederauf¬
nahme in die Charité war er in ein tiefes und regungsloſes
Schweigen verſunken, welches jede Unterredung mit ihm un¬
moͤglich machte; er achtete weder auf die ihm vorgelegten Fra¬
gen, noch auf ſeine Umgebungen, ſondern ſtierte in voͤlliger
Geiſtesabweſenheit vor ſich hin. Es war dies der Zuſtand
von gaͤnzlicher Concentration der geſammten Geiſtesthaͤtigkeit
auf Einen Gegenſtand, wie er bei den Anachoreten und ſpaͤ¬
teren Einſiedlern oft genug vorgekommen iſt, welche, ganz in
ihre religioͤſen Contemplationen vertieft, der Außenwelt ſo voͤl¬
lig mit ihrem Bewußtſein entfremdet waren, daß ſie auf
Nichts um ſich her achteten. Zuvoͤrderſt mußte durch das Ein¬
floͤßen von Bouillon mit Huͤlfe einer elaſtiſchen Roͤhre der Ge¬
fahr eines Hungertodes vorgebeugt werden, und es war dieſe
erzwungene Ernaͤhrung 6 Tage hindurch erforderlich, ehe er
ſich zum freiwilligen Genuß der Speiſen bequemte. Theils
glaubte er, man wolle ihn erſticken, weil durch das Einbrin¬
gen der Roͤhre in den Schlund das Athemholen ein wenig
beeintraͤchtigt wurde, in welche Vorſtellung er ſich jedoch
mit Ergebung in den Willen Gottes fuͤgte, nach welchem er
in die Charité zuruͤckgebracht worden ſei; theils ſetzte er aber
auch voraus, der Teufel habe den Aerzten befohlen, ihn durch
Einfloͤßen von Nahrung zum Bruch ſeines Geluͤbdes zu zwin¬
gen, in welchem er ſich durch den Spruch zu beſtaͤrken ſuchte,
daß er Berge verſetzen koͤnne, wenn er den rechten Glauben
habe. — Zugleich war es aber dringend nothwendig, durch
eine heilſame Erſchuͤtterung des Nervenſyſtems mit Huͤlfe der
[42] Douche ihn aus der Welt des Wahns in die Wirklichkeit zu¬
ruͤckzurufen, ihn gleichſam aus ſeinem wachen Traum aufzu¬
wecken. Es geſchah dies auch mit ſo guͤnſtigem Erfolge, daß
er bald die innere Angſt verlor, und ſich uͤber ſeine Lage zu
beſinnen anfing, indem ſich zugleich ein ruhiger Schlaf ein¬
ſtellte. Er bezog dieſe heilſame Veraͤnderung ſelbſt ſo be¬
ſtimmt auf die Douche, daß er in ſpaͤterer Zeit wiederholt
um ihre Anwendung bat, wenn er von Viſionen ſehr belaͤ¬
ſtigt wurde, welches beſonders dann der Fall war, wenn er
reichlich Speiſen genoſſen hatte, deren Menge zu beſchraͤnken
er dann ſelbſt fuͤr nothwendig hielt.


Schon nach 3 Wochen war ſeine Beſſerung ſo weit fort¬
geſchritten, daß er durch freiwilligen Genuß der dargebotenen
Nahrung ſeine durch Faſten, leidenſchaftliche Aufregung und
Schlafloſigkeit erſchoͤpften Kraͤfte voͤllig wiedererlangte, und
ſomit in den Stand geſetzt wurde, mit den uͤbrigen reconva¬
leſcirenden Geiſteskranken an den uͤblichen geiſtigen und koͤr¬
perlichen Beſchaͤftigungen Theil zu nehmen. Die Vorzuͤge ſei¬
nes ſittlichen Charakters bewaͤhrten ſich auch jetzt durch ſein
muſterhaftes Betragen, namentlich durch ſeine Bereitwilligkeit,
ſich daruͤber aufklaͤren zu laſſen, daß das Uebermaaß ſeiner
durch uͤbertriebene Andachtsuͤbungen erhitzten Froͤmmigkeit die
weſentliche Urſache ſeiner Seelenleiden geworden war, deren
verderbliche Folgen auch ihm einleuchteten. Weniger gelang es
mir indeß, ihm begreiflich zu machen, daß er wohl daran
thun werde, ſich mit der Erklaͤrung der Bibel, wie ſie ihm
in den Predigten aufgeklaͤrter Geiſtlichen dargeboten werde,
zu begnuͤgen, und ſich alles Forſchens in derſelben zu ent¬
halten, wobei er leicht wieder auf ſchlimme Abwege gerathen
koͤnne; die Ueberzeugung, daß das Leſen der Bibel heilige
Pflicht eines jeden Chriſten ſei, war bei ihm zu tief gewur¬
zelt, als daß er ſich davon haͤtte losſagen wollen. Auch die
naͤchtlichen Hallucinationen gehoͤrten gewiſſermaaßen zu ſeinem
Naturell, deſſen gaͤnzliche Umwandlung binnen einiger Mo¬
nate nicht zu Stande gebracht werden konnte; indeß verloren
ſie ganz ihren beunruhigenden Charakter, ſo daß er nicht wei¬
ter auf ſie achtete. Nach Ablauf von 8 Monaten forderte ſein
Vater abermals ſeine Entlaſſung, welche geſetzlich nicht ver¬
[43] weigert werden durfte; auch konnte er in ſofern fuͤr geheilt
erklaͤrt werden, als er ſchon ſeit einer Reihe von Monaten
von ſeinem Wahn gaͤnzlich befreit und in eine geiſtige und
koͤrperliche Verfaſſung verſetzt war, welche ihn zum Betriebe
ſeines Handwerks vollſtaͤndig befaͤhigte. Ob aber bei der vor¬
herrſchenden Paſſivitaͤt ſeines Charakters und ſeiner immer
noch zur Schwaͤrmerei ſehr hinneigenden Froͤmmigkeit ſeine
Heilung eine fuͤr das ganze Leben andauernde ſein werde,
muß die Folgezeit lehren.

2.

W., 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in
Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemeſſene Erziehung,
erlernte nach der Einſegnung das Schneiderhandwerk, und trat
hierauf ſeine Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬
lin fuͤhrte, woſelbſt er ſich vor 23 Jahren anſiedelte, zuerſt
als Geſelle arbeitete, ſpaͤter als Meiſter ſich einrichtete, und
nachdem ſeine erſte Frau, welche ihm in mehrjaͤhriger gluͤckli¬
cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, geſtorben war, ſich mit
einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬
falls gluͤcklicher, kinderloſer Ehe lebte. Wir uͤberſpringen alle
dieſe Verhaͤltniſſe, weil ſie zur Entwickelung ſeines ſpaͤteren
religioͤſen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß
er ſtets geſund, heiter und kraͤftig von Gemuͤth war, und
daß er ſeiner ganzen Erſcheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬
gen und redlichen Handwerkern angehoͤrt, welche in der Be¬
ſchraͤnktheit kleinbuͤrgerlicher Verhaͤltniſſe eine hinreichende Be¬
friedigung gemaͤßigter Wuͤnſche finden, um mit jedem An¬
triebe maͤchtiger Leidenſchaft fuͤr immer verſchont zu bleiben,
wenn ihnen dieſelben nicht im Widerſpruch mit ihrem Natu¬
rell eingeimpft werden. Zur religioͤſen Schwaͤrmerei neigte er
ſo wenig hin, daß er nur ſelten am Gottesdienſte Theil nahm,
und ſich auch außerdem nicht vielen Andachtsuͤbungen hingab.


Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬
ſtehenden Secte der Wiedertaͤufer mehrere Miſſionsblaͤtter und
Traktaͤtchen mit, wodurch er ſich beſtimmen ließ, den gottes¬
[44] dienſtlichen Verſammlungen derſelben zuerſt ſeltener, dann
haͤufiger beizuwohnen. Indeß dauerte es doch lange, ehe W.
der neuen Secte ſeine innere Ueberzeugung und ſein ganzes
Herz zuwandte. Schon der allzu ſehr gehaͤufte Gottesdienſt,
welcher an den Sonntagen zweimal und außerdem noch an
mehreren Wochenabenden gehalten wurde, uͤberbot ſeine Faſ¬
ſungsgabe ſo ſehr, daß er an manchen Tagen nicht mehr
wußte, was er gehoͤrt hatte, und er ſeinen Kopf mit einem
von Speiſen uͤberfuͤllten Magen verglich. Noch mehr wurde
ſein Mißfallen erregt durch das zelotiſche Eifern gegen den
als Suͤnde verſchrieenen Beſuch erlaubter Vergnuͤgungsorte,
durch die in der Gemeinde haͤufig ausbrechenden Streitigkei¬
ten uͤber die richtige Auslegung der Bibel, am meiſten aber
durch die oft gehoͤrte Behauptung, daß die anderen Chriſten
nicht ſeelig werden koͤnnten, weil ſie nicht die wahre Taufe
empfangen haͤtten, und deshalb nicht nach dem Evangelium
lebten. W. fuͤhlte ſich dadurch ſo ſehr zuruͤckgeſtoßen, daß er
nur um ſo eifriger den verpoͤnten Beſuch der Kirchen fort¬
ſetzte, und wahrſcheinlich wuͤrde ſein damals noch geſundes Ur¬
theil ihn gegen die hereinbrechende Gefahr des Wahnſinns ge¬
ſchuͤtzt haben, wenn nicht die zu jedem fanatiſchen Sectengeiſte
ſich hinzugeſellende religioͤſe Schwaͤrmerei auch in ſein Ge¬
muͤth ſich heimlich eingeſchlichen und daſſelbe zuletzt beherrſcht
haͤtte. So geſchah es, daß er aller urſpruͤnglichen Abneigung
gegen die Wiedertaͤufer ungeachtet dennoch zuletzt durch einen
unwiderſtehlichen Drang zu ihnen ſich hingezogen fuͤhlte und
ihren Lehren nun ein offenes Ohr lieh, zumal da oft genug
Emiſſaire an ihn abgeſchickt wurden, um ihn zu bearbeiten.
Immer noch machte er dieſen genug zu ſchaffen, denn wie
oft ſie ihm auch begreiflich zu machen ſuchten, daß der Ritus
der Taufe, wie ſie an Chriſtus im Jordan vollzogen worden,
das Vorbild zur Wiederholung dieſes Sacraments an Erwach¬
ſenen werden muͤſſe, welche nur dadurch, ſo wie durch den
rechten Glauben ſeelig werden, außerdem aber der Verdamm¬
niß nicht entgehen koͤnnten; ſo wollte ihm dies doch keines¬
weges einleuchten, da er ſtandhaft ſeine alte Ueberzeugung
vertheidigte, daß ein rechtſchaffener Wandel die Hauptbedin¬
gung zur Seeligkeit, und ohne ihn der Glaube nur Heuchelei ſei.


[45]

Indeß eine ungewohnte ſtarke Erregung des religioͤſen
Gefuͤhls, welches eben dadurch in den Vordergrund des Be¬
wußtſeins tritt, und ſich an allen uͤbrigen Vorſtellungen und
Gefuͤhlen reflectirt, hat meiſtentheils die Wirkung, daß der
Menſch, indem er ſein ganzes Innere und alle Außenverhaͤlt¬
niſſe anhaltend vom religioͤſen Standpunkte uͤberſchaut, Alles
in einer voͤllig veraͤnderten Bedeutung erblickt, und deshalb
leicht einen gaͤnzlichen Umſchwung der Geſinnung und Denk¬
weiſe erfaͤhrt. Indem naͤmlich das religioͤſe Bewußtſein in
praktiſcher Beziehung ſich als Gewiſſen darſtellt, muß auch
ſeine erhoͤhte Lebendigkeit den inneren Richter zu einer weit
groͤßeren Strenge und Schaͤrfe des Urtheils veranlaſſen, ſo
daß eine Menge von Gefuͤhlen und Handlungen, welche fruͤ¬
her fuͤr erlaubt gehalten wurden, jetzt als verdaͤchtig, tadelns¬
werth, ja verdammlich erſcheinen. Der Menſch wird dann
im Handeln zaghaft und unentſchloſſen, weil er uͤberall auf
Gewiſſensſcrupel ſtoͤßt, welche ihm bisher unbekannt geblieben
waren, und zieht ſich daher mehr in ein beſchauliches Leben
zuruͤck, wo er dem unvermeidlichen Widerſtreit im Praktiſchen
ausweichen zu koͤnnen hofft, aber um ſo mehr in allen Ge¬
fuͤhlen zur hoͤchſten Reizbarkeit ſich ſteigert, ſo daß ſein fruͤ¬
heres Leben ihm nur tadelnswerth erſcheint, und ihm bittere
Reue bringt. Hieraus erklaͤrt es ſich, daß W. durch die
Tribulationen ſeiner neuen Glaubensgenoſſen zuletzt in eine
Beaͤngſtigung verſetzt wurde, als ob ſein Gewiſſen ihn mit
ſchweren Anklagen belaſte, und ihm dadurch ein neues Heils¬
mittel zum dringenden Beduͤrfniß mache. Um ſich daruͤber
weiter aufzuklaͤren, las er ſelbſt waͤhrend der Arbeit fleißig
in der Bibel, welches ihm von den Sectenmitgliedern nicht
nur zur Pflicht gemacht, ſondern woruͤber er noch oft von
ihnen controlirt wurde. Von Zweifeln noch immer bewegt,
vergeblich nach Klarheit ringend, gerieth er allmaͤhlig in eine
ſolche Bangigkeit, daß er ſeine Arbeit nicht geregelt betreiben
konnte, und ſelbſt waͤhrend der Naͤchte keine erquickende Ruhe
fand, ſondern durch aͤngſtliche Traͤume von finſteren Larven
und haͤßlichen alten Weibern aus dem Schlafe aufgeſchreckt
wurde. Endlich glaubte er in der Bibel die Beſtaͤtigung da¬
fuͤr zu finden, daß er fuͤr die vielen von ihm begangenen
[46] Suͤnden der Gnade Gottes und der geiſtlichen Wiedergeburt
durch eine erneuerte Taufe in einem beſonders hohen Grade
beduͤrftig ſei, und ſo bewarb er ſich um die Aufnahme in die
Gemeinde der Wiedertaͤufer, als an einem Abende diejenigen
aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle,
14 an der Zahl, mußten Reue uͤber ihre Suͤnden bezeugen,
und es ſollen Viele unter ihnen geweint, geſeufzt, laut auf¬
geſchrieen und ihr Bedauern ausgeſprochen haben, daß ſie ſich
nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten haͤtten.


Am 29. April 1842, fruͤh um 6 Uhr, begab er ſich
mit den uͤbrigen Taͤuflingen an den ¼ Meile von Berlin
entfernten Rummelsburger See, an deſſen Ufer zwei Zelte
zum Auskleiden fuͤr beide Geſchlechter aufgeſchlagen waren.
Jeder mußte ſeine Kleider bis aufs Hemde ablegen, uͤber
welches ein anderes in Form einer Blouſe angelegt und mit
einem Guͤrtel befeſtigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde
ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied geſungen und ein Text
aus dem neuen Teſtamente vorgeleſen, an welchen der Red¬
ner eine Ermahnung knuͤpfte, und in letzterer die aufgehende
Sonne als Symbol der Gnadenſonne Chriſti benutzte, welche
ihrem Geiſte leuchten, und die in der freien Natur als dem
Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen ſolle. Hierauf
wurde jeder Taͤufling in den See gefuͤhrt, woſelbſt der Red¬
ner ihn mit der linken Hand am Guͤrtel ergriff, und mit
ſeiner Rechten den Kopf unter das Waſſer druͤckte, indem
er die Worte ausſprach:„ich „ich taufe dich im Namen Gottes
des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes.” Die
ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬
den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemiſch der wi¬
derſtreitendſten Gefuͤhle ſich ſeiner bemaͤchtigte. Das Schluch¬
zen und Schreien der Weiber, unter denen auch ſeine 15jaͤh¬
rige Tochter war, ſtoͤrte eben ſo ſehr ſeine Andacht, als das
Schaamgefuͤhl, ſich oͤffentlich entkleiden zu muͤſſen, und
dem Gaffen vieler neugierigen Zuſchauer ausgeſetzt zu ſein;
dabei klapperten ihm die Zaͤhne vor Froſt, und erſt als er
in ſeine Wohnung zuruͤckgekehrt am Tiſche niederkniete, um
Gott fuͤr die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fuͤhlte
[47] er ſich gluͤcklich in der Ueberzeugung, durch ſie nunmehr der
Seeligkeit gewiß geworden zu ſein.


Jedoch es ſollte ihm nicht ſo wohl werden, ſich lange
Zeit des vermeintlich gewonnenen Heils erfreuen zu koͤnnen.
Seine uͤbertriebenen Andachtsuͤbungen, zumal ein haͤufiges
Bibelleſen waͤhrend der Arbeit, erhielten ihn in einer uͤberaus
reizbaren Stimmung, welche oft in uͤble Laune uͤberging,
wenn ſeine neuen Glaubensgenoſſen ihn beſuchten, um ihn
uͤber ſeine Fortſchritte in der Froͤmmigkeit auszuforſchen, und
ihn aufforderten, reuig in ſich zu gehen, um jede noch uͤbrig
gebliebene Herzenshaͤrtigkeit aufzuſpuͤren und zu vertilgen.
Daß es dabei nicht ohne Streit, animoſe Anſpielungen und
mannigfache Retorſionen abging, laͤßt ſich leicht denken, da
eine ſittliche Cenſur, wenn ſie von gewoͤhnlichen Menſchen
ausgeuͤbt wird, welche ſich ſelbſt viel zu wenig kennen, als
daß ſie die Moralitaͤt Anderer richtig beurtheilen koͤnnten,
nur allzuleicht gehaͤſſige, egoiſtiſche Nebenabſichten in ſich ſchließt,
und dadurch im hoͤchſten Grade kraͤnken, erbittern, verletzen
muß. Vorzuͤglich kam es aber zum Bruch zwiſchen W. und
ſeinen Glaubensgenoſſen, als er der unter ihnen beſtehenden
Sitte gemaͤß die kranke Ehefrau eines gewiſſen K. beſuchte,
um ihr Troſt einzuſprechen und ihr ſeine Theilnahme zu be¬
zeugen. Dabei knuͤpfte er mit dem K. ein Geſpraͤch uͤber
Bibelſtellen an, und berief ſich unter anderem auf einen
Vers, in welchem Chriſtus von dem durch ihn dem Men¬
ſchengeſchlecht verliehenen Frieden ſpricht. K. verneinte die
Guͤltigkeit dieſes Ausſpruchs mit Hindeutung auf die aus¬
druͤckliche Erklaͤrung Chriſti, daß er das Schwert in die Welt
gebracht habe, und erzuͤrnte dadurch den W. dergeſtalt, daß
dieſer ausrief: „Sie luͤgen”, von jenem aber die richtige Ge¬
genbemerkung hoͤren mußte: „Lieber Bruder, haben Sie denn
den Frieden?” Hoͤchſt aufgebracht entfernte ſich W., und ein¬
gedenk, daß Chriſtus ſeinen Juͤngern rieth, ſie ſollten den
Staub von den Fuͤßen ſchuͤtteln, wenn ſie irgendwo uͤbel auf¬
genommen wuͤrden, that er das Gleiche beim Weggehen, und
fuͤhlte ſich dadurch in ſeinem Innern erleichtert und beruhigt.
Hierauf theilte er den ganzen Vorgang dem Vorſteher der
Gemeinde mit, welcher ihm einen derben Verweis ertheilte,
[48] ihm die Theilnahme an der naͤchſten Abendmahlsfeier verſagte
(alſo eine wahre Ercommunication), und ihn vor der darauf
folgenden Communion aufforderte, ſich zuvor mit dem K. aus¬
zuſoͤhnen. Dazu war indeß W. nicht zu bewegen, welcher
weit entfernt, ſein Benehmen zu bereuen, daſſelbe vielmehr
mit Berufung auf Bibelſtellen zu rechtfertigen ſuchte, und es
durchzuſetzen wußte, daß er, ohne nachgeben zu muͤſſen, an
dem Abendmahl Theil nehmen konnte.


Was iſt uͤberhaupt fuͤr einen mehr heißen als erleuchte¬
ten Kopf leichter, als uͤber die Bibel in einen endloſen und
erbitterten Streit zu gerathen, da ſie das ganze Leben mit
ſeinem unendlichen Reichthum an Gegenſaͤtzen umfaſſend, ſie
oft nur mit orakelartiger Kuͤrze beruͤhren kann, weshalb jene
Gegenſaͤtze, wenn ſie nicht von einem tuͤchtigen Denker in ih¬
rem inneren organiſchen Zuſammenhange ergriffen werden, in
ihrem Widerſpruche ſtehen bleiben, und deshalb die Einſeiti¬
gen zu dem grimmigſten Hader verfeinden. Da W. nicht
aus innerer Noͤthigung eines urſpruͤnglichen Glaubensbeduͤrf¬
niſſes zu den Wiedertaͤufern uͤbergetreten, ſondern nur durch
eine erzwungene Aufregung myſtiſcher Gefuͤhle faſt gewaltſam
zu ihnen hingezogen war; ſo ſchloß ſein Bund mit ihnen
ſchon von vorn herein alle Elemente der Zwietracht in ſich,
welche durch taͤgliche Zaͤnkereien noch mehr genaͤhrt wurden,
und ihn zu einer Streitſucht herausforderten, welche bei den
mannigfachſten Gelegenheiten zum Ausbruch kam. Es war
ihm unſtreitig Ernſt mit ſeinem Glaubenseifer, da ſein ent¬
ſchiedener Charakter Nichts nur zur Haͤlfte ergreift; daher for¬
derte er, daß dem Evangelium im rigoriſtiſchem Sinne nach¬
gelebt werden ſolle; z. B. verlangte er, daß das Brot beim
Abendmahl nicht geſchnitten, ſondern gebrochen werden muͤſſe,
weil Chriſtus es ſo gethan habe; daß die Ceremonie des Fu߬
waſchens eingefuͤhrt werde, da Chriſtus zu Petrus geſagt habe:
„So nun Ich, Euer Herr und Meiſter, Euch die Fuͤße ge¬
waſchen habe, ſo ſollt Ihr auch Euch unter einander die Fuͤße
waſchen.” (Evang. Joh. 13, V. 14.). Natuͤrlich ſetzte dieſe
buchſtaͤbliche Bibelauslegung wieder tuͤchtigen Streit, welcher
faſt gar kein Ende nahm.


[49]

Mehr als alles Uebrige erregte es aber ſein Befremden,
daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und
Epiſteln, ſondern faſt nur aus dem alten Teſtamente und der
Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch
die moſaiſche Lehre von dem ſtarken und eifrigen Gotte, wel¬
cher die Juden fuͤr ihren Goͤtzendienſt zuͤchtigte, und durch die
Vergleichung des ſiebenkoͤpfigen Thiers in der Apokalypſe mit
dem auf 7 Huͤgeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotiſchen
Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬
lein) ſeligmachenden Glauben der Wiedertaͤufer abwichen. Es
fehlte nicht an wiederholten Anſpielungen, daß der Beſuch an¬
derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher
dringend gewarnt wurde. Dadurch beſtaͤrkte W. ſich immer
mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertaͤufer
voͤllig vom Chriſtenthume abgewichen, und zum juͤdiſchen Glau¬
ben uͤbergetreten ſei, und er nahm davon Veranlaſſung, an
den Vorſtand der Gemeinde einen Brief voll der heftigſten Vor¬
wuͤrfe zu richten, und in ihm eine offene Erklaͤrung des Glau¬
bensbekenntniſſes zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, ſo
griff er, auf Ausſpruͤche der Bibel geſtuͤtzt, ſeine neuen Gegner
mit einer ſolchen Erbitterung an, daß ſie ihm wiederholt zu¬
riefen: „Du haſt den Teufel!” Es liegt im Weſen des Arg¬
wohns, gehaͤſſigen Vorausſetzungen eine moͤglichſt große Aus¬
dehnung zu geben, und ſo kam W. bald dahin, die Stiftung
der neuen Secte aus den niedrigſten Motiven des Eigennutzes
abzuleiten, und das Erheben einer woͤchentlichen Abgabe von
durchſchnittlich 5 Silbergroſchen, welche jedes Mitglied zur Be¬
ſtreitung der Koſten des Gottesdienſtes entrichten mußte, fuͤr
eine habſuͤchtige Beſteuerung im Namen der Religion zu
halten.


Kein Wunder daher, daß er ſich allmaͤhlig immer mehr
den Wiedertaͤufern entfremdete, und in die evangeliſche Kirche
zuruͤckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten
ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬
taͤufern gehaltenen Vortraͤge auch in ſeinem Urtheile nicht den
entfernteſten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Beſin¬
nung brachten. Als es ſo weit mit ihm gekommen war, em¬
pfand er bittere Reue uͤber ſeinen Uebertritt zu ihnen, welcher
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 4[50] ihm als Abfall vom wahren Glauben erſcheinen mußte, und
da ſeine Selbſtanklagen noch geſchaͤrft wurden durch bittere
Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Religionswechſel von hieſigen Freunden
und von Verwandten in der Heimath, ſo ließ er ſich weder
durch Liebkoſungen einiger Gemeindemitglieder, welche ſich ihn
gern erhalten wollten, noch durch Anſpielungen in den Ver¬
ſammlungen auf ihn als einen abtruͤnnigen Judas laͤnger irre
machen, ſondern riß ſich entſchieden und auf immer von ihnen
los. Das Bibelleſen war ihm ſchon zum Beduͤrfniß gewor¬
den, und mit ſich in ſeinen religioͤſen Begriffen uneins, hielt
er eine eifrige Fortſetzung deſſelben fuͤr ſeine dringendſte Pflicht,
um durch fortgeſetztes Forſchen in der Schrift zur wahren Got¬
teserkenntniß und zum richtigen Urtheil uͤber ſeine bisherigen,
von ihm verkannten Irrthuͤmer zu gelangen. Zwar vernach¬
laͤſſigte er ſeine Erwerbsthaͤtigkeit noch nicht, aber ſein Sinn
hatte ſich doch ſchon den Weltverhaͤltniſſen zu ſehr entfremdet,
als daß die Reflexion uͤber dieſelben ihn noch gegen den all¬
maͤhlig aufkeimenden Wahn haͤtte ſchuͤtzen koͤnnen. Denn es
fehlte ſeinem Geiſte ſchon durchaus jene Klarheit, welche das
Licht der religioͤſen Wahrheiten haͤtte ungetruͤbt in ſich aufneh¬
men koͤnnen; ſein von Zweifeln und inneren Widerſpruͤchen
zerriſſenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener
Wahrheiten zu uͤbereinſtimmenden praktiſchen Begriffen voͤllig
unfaͤhig geworden.


Das Ebengeſagte ſprach ſich beſonders in einigen ſchrift¬
lichen Aufſaͤtzen aus, welche W. waͤhrend der letzten Monate
vor dem Ausbruche ſeines Wahnſinns verfaßte. Nicht zufrie¬
den, den Inhalt der Bibel durch unablaͤſſiges Leſen derſelben
ſich anzueignen, wollte er ihn auch zu beſtimmten Begriffen
auspraͤgen, und er benutzte deshalb mannigfache aͤußere Ver¬
anlaſſungen, welche ſein religioͤſes Intereſſe erregend, ihn zu
verſchiedenartigen, oft ſehr ausfuͤhrlichen Betrachtungen daruͤber
herausforderten. Insbeſondere machte die Ausſtellung des hei¬
ligen Rocks in Trier einen ſo tiefen Eindruck auf ihn, daß
er als Schriftſteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel
in Zeitungen einruͤcken laſſen, ſondern auch ſelbſtſtaͤndige Schrif¬
ten daruͤber in Druck geben wollte. Eben ſo empoͤrte es ihn
tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majeſtaͤt den
[51] Koͤnig ihm bekannt wurde, weil ſeine ſtreng religioͤſe Denk¬
weiſe die Groͤße des Frevels hinreichend begriff. Er machte
ſeinem Gefuͤhle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn
auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechſel Ge¬
dichte verfertigte, denen meiſtens ſchon aller innere Gedanken¬
zuſammenhang fehlte. Wer wollte die Geſinnung des W. nicht
loben, welcher nach deutlichen Vorſtellungen rang, nachdem
er im unſeeligen Zwieſpalt ſeines religioͤſen Gefuͤhls die Klarheit
und Ordnung ſeiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht
aufrichtig beklagen, daß er daruͤber ſeinen naͤchſten Beruf
gaͤnzlich vergaß, fuͤr die Wohlfahrt ſeiner Familie zu ſorgen?
Denn ſchon war es dahin gekommen, daß er ſeinen Erwerb
vernachlaͤſſigte, um die meiſte Zeit dem Abfaſſen von Aufſaͤtzen
zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte,
viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuſchrei¬
ben. Er lebte in der Taͤuſchung, welche ſo oft der unklaren,
aber leidenſchaftlich aufgeregten Koͤpfe ſich bemaͤchtigt, daß das
Ungewohnte lebhafte Aufſprudeln ſelbſt der verworrenſten Vor¬
ſtellungen ſchon die Befaͤhigung anzeige, uͤber die großen und
allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte
er ſeine Aufſaͤtze, welche er groͤßtentheils von einem ihm ver¬
ſchuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken laſſen.
Vergebens ſtellte ihm ſeine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬
niſſe eines Schriftſtellers abgingen, und daß er fuͤr die Sei¬
nigen, namentlich fuͤr den bald faͤlligen Miethzins ſorgen ſolle.
Anſtatt ihn zur Beſinnung zu bringen, floͤßte ſie ihm einen
heftigen Haß gegen ſich ein, ſo daß er oft es ausſprach, er
Wolle ſie verſtoßen, ungeachtet ſie ihn kuͤmmerlich mit Hand¬
arbeiten ernaͤhren mußte.


In die heftigſte Aufregung wurde aber W. verſetzt, als
etwa 6 Wochen vor ſeiner Aufnahme in die Charité ein Wie¬
dertaͤufer nochmals den Verſuch machte, ihn zur Ruͤckkehr zu
der verlaſſenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem
erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgeſprochen
haben ſoll, daß die Vorſteher jener Secte die Schluͤſſel zum
Himmelreich fuͤhren, worauf W. mit der groͤßten Entruͤſtung
erwiederte, daß Chriſtus allein dieſe Schluͤſſel habe. Dieſer
Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorſtand
4 *[52] der Wiedertaͤufer zu ſchreiben, welcher ihm den Beſcheid er¬
theilte, daß er nunmehr definitiv aus der Secte ausgeſtoßen
ſei. Daß ſein Gemuͤthszuſtand durch die nochmalige Aufregung
aller ihm ſo verderblich gewordenen religioͤſen Controverſen und
nach allem Vorhergegangenen nun gaͤnzlich aus den Fugen wei¬
chen mußte, begreift ſich leicht, daher denn auch der Ungeſtuͤm
ſeiner Aufregung in eine mit jedem Tage zunehmende Verſtan¬
desverwirrung uͤberging. Merkwuͤrdig iſt beſonders ein in dieſer
Zeit von ihm verfaßter Aufſatz mit der Ueberſchrift: „Beant¬
wortung uͤber das Rundſchreiben des Papſtes Gregor XVI. aus
Rom vom 23. Mai 1844.” Derſelbe beginnt mit richtigen,
wenn auch deſultoriſchen Bemerkungen, um bald in die unge¬
reimteſten Wahnvorſtellungen ſich zu verlieren, wie es denn oft
beobachtet wird, daß Geiſteskranke einen Aufſatz ganz verſtaͤn¬
dig anfangen, weil ſie noch in Gemuͤthsruhe ſich befinden, bald
aber beim Schreiben durch die ihnen zuſtroͤmenden Vorſtellun¬
gen in Aufregung und durch ſie in voͤllige Geiſtesverwirrung
gerathen. Als Probe davon moͤgen einige Bruchſtuͤcke aus je¬
nem Aufſatze dienen, welcher mit den Worten anhebt:


„Die Verdammung iſt nicht goͤttlich, denn bei Gott iſt
kein Verdammen mehr. Sein Wort auszubreiten iſt ſogar
Befehl unſres Herrn Jeſu Chriſti: Gehet hin in alle Welt,
und lehret alle Voͤlker, und taufet ſie im Namen Gottes des
Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes, denn ſiehe, Ich
bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende. Und wir
ſind aus der lebendigen Kraft Gottes uͤberzeugt von ſeiner
Wahrheit, welche es verheißen hat, daß er bei uns iſt und in
uns iſt der Geiſt der Wahrheit. — Nun ſind wir zwar noch
nicht vollendet, aber er iſt in uns, der Vater und der Sohn,
weil wir in ſeiner Lehre bleiben. — Die Heiligen rufen wir
nicht an, weil ſie Menſchen geweſen ſind, und wenn wir ih¬
nen im Glauben nachfolgen, ſind wir ſo heilig wie ſie, denn
ſie hat der Geiſt Gottes getrieben, wie uns, und wir ſind
Gottes Kinder gleichwie ſie. Gott aber lehrt uns, alle Ab¬
goͤtterei zu verabſcheuen.”


Bald aber folgt eine Menge von Ungereimtheiten, in
denen man vergebens einen Sinn ſucht: „Du XVI Kreuz
Vater, du ſtellſt deine X auf die Dreieinigkeit, dann bleiben
[53] Dir drei 666, und den einen Menſchen Chriſtus, der 33 Jahre
— 666 hier lebte, kreuzigſt du, und weil du den Dreieini¬
gen kreuzigeſt, der 33 Jahre Menſch war (Offenbarung 13,
V. 18) uͤber einander 3 \atop 3, ſo ſind es


Gott Vater, Sohn und heiliger Geist
10 10 10
Heu Stroh Stoppeln.

Mammala, wollen wir hahm gehen? Laß mich noch die
Schmoͤlbel abbeißen, dann gehen wir hahm. Offenb. 11, V. 4;
11, V. 7. — Ausſchluß Offenb. 11, V. 8. Verachtung von
den anderen 11, V. 9. Ja wir haben ſie gequaͤlet, daß ſie
das Wort rein lehren ſollten, Kap. 11, V. 11. Große Furcht.
Der zehnte Theil der Stadt faͤllt, ſiebzig Tauſend werden er¬
ſchlagen durch Erdbeben; der Grund Ebnezar iſt gelegt bereits
ſchon 15 Jahre von meiner eigenen Hand in Karls Garten,
worauf der Tempel kommt, Schaͤfergaſſe, Exercierhaus kommt
in die beiden Anlagen, in den Mittelpunkt, die Stellung Mi¬
chaels. Die Mauern der Stadt werden eingeriſſen, die Thore
bleiben ſtehen, im Thore die ganze Umgebung, viele Brunnen
mit Bechern, damit die Wanderer trinken koͤnnen. Ich wohne
im Hinterhaͤuschen, Orangenſtraße Nr. 20 mit meiner Fami¬
lie” u. ſ. w.


Wer vermoͤchte die wilde Empoͤrung zu ſchildern, in welcher
W.'s Bewußtſeyn ſehr bald den letzten ſchwachen Zuſammen¬
hang verlor, ſo daß nur einzelne Bruchſtuͤcke ſeiner Aeußerun¬
gen in Wort und That, welche einiges Licht auf ſein Inneres
werfen, ſich mittheilen laſſen. Denn er ſelbſt hat nur eine
hoͤchſt mangelhafte Erinnerung an Einzelnes wie aus einem
wuͤſten, ſchweren Traum zuruͤckbehalten. Insbeſondere erreichte
ſeine Aufregung waͤhrend der ſchlaflos von ihm zugebrachten
Naͤchte den hoͤchſten Grad; er weigerte ſich, zu Bette zu ge¬
hen, forderte Tinte und Feder, um niederzuſchreiben, was der
Herr ihm eingegeben habe, ſtampfte aber dabei oft mit dem
Fuße auf den Boden, und beſchwerte ſich daruͤber, daß der
Teufel ihm hinderlich ſey. Einmal forderte er dabei Milch zu
trinken, verſchuͤttete dieſelbe, und beſtand darauf, daß die
Dielen noch in der Nacht geſcheuert werden mußten. An ei¬
nem Morgen zeichnete er die Eisblumen am Fenſter ab, und
[54] fragte, ob die Menſchen ſo ſchoͤn zeichnen koͤnnten, wie der
liebe Heiland. Mitunter war er in ſeiner verworrenen Bilder¬
jagd verloren, von der Außenwelt ganz abgewandt; dann aber
brauſte er, von irgend einer fanatiſchen Vorſtellung ergriffen,
in der groͤßten Heftigkeit auf. Bei einer ſolchen Gelegenheit
zerſchlug er eine Stahlfeder mit dem Buͤgeleiſen, und rief da¬
bei aus: ſo ſollen alle Menſchen zermalmt werden. Nicht nur
wollte er ſeine Frau aus dem Fenſter (der Kellerwohnung)
treiben, ſondern er ging auch mit einem Meſſer bewaffnet auf
ſeine Kinder los, um ſie, wie Abraham den Iſaak, zu ermor¬
den. Bekanntlich haben Fanatiker oft genug in raſender Ver¬
blendung dem Erzvater nachahmen zu muͤſſen geglaubt, und lei¬
der iſt mehrmals von ihnen die Moͤrderhand an geliebte Kinder
gelegt worden. In dieſem Falle iſt der blutduͤrſtige Entſchluß
wahrſcheinlich nur das Ergebniß einer zufaͤlligen Ideenaſſociation
geweſen, und mit ihr ſpurlos verſchwunden.


Endlich am Abende des 17. Maͤrz 1845, welchen er ohne
zu arbeiten mit Dictiren zugebracht hatte, brach eine bis zur
Wuth geſteigerte Tobſucht bei ihm aus; er zertruͤmmerte das
Hausgeraͤth, zerſchnitt die Betten, und zwiſchenher tanzte, pfiff,
ſang, trommelte er, und rief den aus Furcht entfliehenden
Kindern zu: „raſch, raſch, jedem einen Kuß.” Eine große
Beaͤngſtigung noͤthigte ihn, ſich die Kleider bis aufs Hemde
abzureißen; dafuͤr umguͤrtete er ſich den Unterleib mit einem
Tiſchtuche, und umwickelte die Bruſt mit einem anderen Tuche
ſo feſt, daß ihm der Athem beklommen wurde. Er ſelbſt hat
von dieſer Scene noch die Erinnerung, daß er zuerſt einen
Feuerlaͤrm zu hoͤren glaubte, welcher ihn beaͤngſtigte, worauf
er ſich einbildete, mehrere Polizeibeamte ſtaͤnden vor den ver¬
ſchloſſenen Fenſterlaͤden, um ihn durch die Ritzen derſelben zu
beobachten, welches ein anweſender Hausbewohner ihm durch
Winken andeute. Indem nun die Furcht vor Verfolgung und
Verhaftung, welche als ſymboliſcher Ausdruck der ſinnloſen
Angſt uͤberaus haͤufig den Ausbruch der Seelenkrankheiten be¬
gleitet, unſern W. befiel, riß er gewaltſam das Fenſter auf,
ergriff die Flucht, und rief uͤberlaut: Engelein kommt, Enge¬
lein kommt (um ihn zu beſchuͤtzen). Barfuß, kaum mit ei¬
nem Hemde bekleidet, rannte er durch mehrere mit Eis und
[55] Schnee bedeckte Straßen, welches die Folge hatte, daß
Mehrere Zehen von entzuͤndeten Froſtbeulen befallen wurden,
woran er in den naͤchſten Wochen ſehr zu leiden hatte. Ver¬
gebens bemuͤhte ſich ſeine Frau, ihn einzuholen, und erſt meh¬
reren Soldaten einer nahe belegenen Wache gelang es, ihn feſt¬
zuhalten und nach ſeiner Wohnung zuruͤckzufuͤhren, woſelbſt
man ihn auf Stroh legte, ſeine Fuͤße mit einem Stricke zu¬
ſammenband, um ihn am Davonlaufen zu verhindern. Am
folgenden Tage erfolgte ſeine Verſetzung in die Irrenabtheilung
der Charité.


Eine ins Einzelne gehende Schilderung des weiteren Ver¬
laufs ſeiner Krankheit waͤhrend der naͤchſten Wochen wuͤrde
kein pſychologiſches Intereſſe gewaͤhren, da der ſinnloſe Rede¬
ſchwall der Tobſuͤchtigen gewoͤhnlich alles Zuſammenhanges er¬
mangelt, und daher jede Deutung der ganz zuͤgelloſen Ideen¬
aſſociationen, welche ſich in das zerriſſene Bewußtſeyn mit dem
groͤßten Ungeſtuͤm draͤngen, voͤllig unmoͤglich macht. Zuweilen
war W. in ein ſtilles Hinbruͤten verſunken, und gab nur ab¬
geriſſene Antworten auf vorgelegte Fragen; mehrere Tage und
Naͤchte brachte er aber in der fuͤrchterlichſten Raſerei zu, ſo
daß ſein uͤberlautes Bruͤllen in allen benachbarten Zimmern
wiederhallte, und die Ruhe der andern Kranken auf das Em¬
pfindlichſte ſtoͤrte. Indeß gelang es doch durch die Anwendung
lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen, ſo wie durch
gelinde Abfuͤhrungen, ihn nach wenigen Wochen ſo weit zu
beruhigen, daß er nicht nur des Nachts einen erquickenden
Schlaf fand, ſondern auch am Tage keine auffallende Aufre¬
gung mehr wahrnehmen ließ, vielmehr allgemach an die Ord¬
nung des Hauſes ſich gewoͤhnte. Doch weigerte er ſich nicht
nur hartnaͤckig, an den uͤblichen geiſtigen und koͤrperlichen Be¬
ſchaͤftigungen Theil zu nehmen, ſondern verrieth auch in den
mit ihm gefuͤhrten Geſpraͤchen eine voͤllig verkehrte Auffaſſung
ſeines bisherigen Lebens, und wollte es namentlich nicht ein¬
raͤumen, daß er ſeine Erwerbthaͤtigkeit zu ſeinem und ſeiner
Familie Schaden vernachlaͤſſigt habe.


Da waͤhrend der naͤchſten Monate die in Anwendung
geſetzten Heilverſuche zu keinem guͤnſtigen Ergebniß fuͤhrten,
ſo entſchloß ich mich im Juni, ihm die Brechweinſteinſalbe in
[56] den kahl geſchorenen Scheitel einreiben zu laſſen, weil die da¬
durch erzeugte Hautentzuͤndung und Eiterung eins der kraͤf¬
tigſten Mittel iſt, den in wahnſinnige Traͤume verlorenen Geiſt
zum beſonnenen Bewußtſein der Wirklichkeit zuruͤckzufuͤhren.
Wirklich kehrte er bald darauf zu einiger Beſinnung zuruͤck,
und ließ ſich nun bereitwillig uͤber alle ſeine bisherigen Irr¬
thuͤmer, namentlich uͤber die ihm ſo verderblich gewordene reli¬
gioͤſe Schwaͤrmerei aufklaͤren, wodurch er nur in ſeinem Wi¬
derwillen gegen die Wiedertaͤufer beſtaͤrkt werden konnte. Er
begriff es, daß auch die Froͤmmigkeit in beſtimmte Grenzen
eingeſchloſſen werden muß, daß ſie niemals den werkthaͤtigen
Fleiß und die eifrige Erfuͤllung der Pflichten verbannen darf,
welche der Menſch in ſeiner ganzen Lebensſtellung nach allen
Seiten hin uͤben muß, daß vielmehr gerade die Religion den
ſtaͤrkſten Antrieb geben ſoll, den perſoͤnlichen Beruf gewiſſen¬
haft zu erfuͤllen, und daß daher uͤbertriebene Andachtsuͤbun¬
gen, welche ganz heimlich eine ſinnbethoͤrende Schwaͤrmerei ein¬
impfen, im offenbaren Widerſpruche mit einer aͤchten, weil that¬
kraͤftigen Froͤmmigkeit ſtehen. Sein ganzes Betragen war mit
dieſer wieder gewonnenen richtigen Lebenserkenntniß in voller
Uebereinſtimmung, ſo daß ſein fruͤherer tuͤchtiger Charakter ſich
durch Fleiß, Ordnungsliebe und ſittliche Auffuͤhrung zu erken¬
nen gab. Ein leichter Ruhranfall wurde in kurzer Zeit ohne
ſchlimme Folgen uͤberſtanden, und ſo konnte er, an Seele und
Leib voͤllig wieder geneſen, zu Anfang des Octobers zu den
Seinigen als liebevoller Gatte und Vater zuruͤckkehren.

3.

W., im Jahre 1810 in Berlin geboren, iſt die Tochter
eines Tiſchlermeiſters, welcher mit Nahrungsſorgen kaͤmpfend
ſich einen ſehr ernſten Sinn angeeignet hatte, in fleißigen An¬
dachtsuͤbungen Troſt ſuchte und fand, und daher auch ſorg¬
faͤltig darauf bedacht war, bei ſeiner Tochter fruͤhzeitig eine
gleiche Geſinnung anzuregen und zu erhalten. Er ſchickte ſie
daher ſchon vor dem 6ten Jahre in die Schule, und ließ ſie
haͤufig Kirchenlieder und fromme Spruͤche auswendig lernen,
[57] welche einen ſo tiefen Eindruck auf ſie machten, daß ſie ſich
recht wohl im Herzen fuͤhlte. Ihre fruͤhzeitig verſtorbene Mut¬
ter wurde ihr ſehr ſchlecht durch eine Stiefmutter erſetzt, wel¬
che ſie bei jeder Gelegenheit mit Schimpfworten, ja mit Schlaͤ¬
gen mißhandelte, ja ſelbſt ihren Vater gegen ſie einnahm. In
eine anhaltend truͤbe, ſchwermuͤthige Stimmung verſetzt, ſo daß
ihr die Welt wie eine Wuͤſte vorkam, beſaß ſie doch ſo viele
geiſtige Regſamkeit, daß ſie gute Fortſchritte im Schulunter¬
richte machte, und deshalb eine Freude am Lernen empfand,
welche ein vorherrſchender Zug in ihrem ſpaͤteren Leben geblie¬
ben iſt. Denn aus eigenem Antriebe beſuchte ſie noch lange
nach ihrer Einſegnung eine Sonntagsſchule, ſelbſt ſo viel es
ſich thun ließ in Dienſtverhaͤltniſſen, in welche ſie nach dem
Tode ihres Vaters eintreten mußte, obgleich ſie mit man¬
nigfachen Koͤrperbeſchwerden in Folge der vielen Entbehrungen
und deprimirenden Gemuͤthszuſtaͤnde zu kaͤmpfen hatte, wovon
ſie durch aͤrztliche Huͤlfe nie ganz befreit wurde, weil die Ur¬
ſachen fortdauerten. Sie war mit habitueller Hartleibigkeit
geplagt, ihre Augen entzuͤndeten ſich haͤufig in Folge des vie¬
len Weinens, und die Menſtruation trat nur ſelten, ungenuͤ¬
gend und unter großen Beſchwerden ein, namentlich litt ſie
dann an heftigen Kopfſchmerzen, großer Angſt und Herzklo¬
pfen, und wurde erſt zum Theil davon befreit, als mit dem
23. Jahre die Menſtruation zu voͤlliger Entwickelung kam.


Nur einige Jahre brachte ſie in Dienſtverhaͤltniſſen zu,
weil ihr dieſelben theils durch Anſtrengungen uͤber das Maaß
ihrer ſchwachen Kraͤfte, theils durch Rohheit und Unſittlichkeit
in manchen Familien verleidet wurden, z. B. in einer Schenke,
wo ſie den brutalen Liebkoſungen der Gaͤſte ſich oft durch die
Flucht entziehen mußte. Mit Abſcheu gegen ſolche Auftritte
erfuͤllt, nahm ſie Unterricht bei einem Schneider, um ſich durch
weibliche Handarbeiten eine aͤußere Selbſtſtaͤndigkeit zu errin¬
gen, und ergab ſich bei einem ſehr eingezogenen Leben haͤufig
den inbruͤnſtigſten Andachtsuͤbungen zum Troſte fuͤr viele bittere
Erfahrungen uͤber die Schlechtigkeit der meiſten Menſchen, mit
denen ſie in naͤhere Beruͤhrung kam, wie denn auch ihr Ver¬
ſuch, ein freundſchaftliches Verhaͤltniß mit einigen jungen Maͤd¬
chen zu knuͤpfen, an der Leichtfertigkeit, Luͤſternheit und
[58] Schmaͤhſucht derſelben ſcheiterte. Es kam mit ihr ſchon damals
bei ihren erbaulichen Betrachtungen ſo weit, daß ſie die Naͤhe
des Erloͤſers als eines ſteten Begleiters zu ſpuͤren glaubte, und
daß ſie, in aſcetiſcher Selbſtpruͤfung ſich mit unverdienten
Selbſtanklagen beſchwerend, in dem durch ihre Beklommenheit
veranlaßten Herzklopfen eine Beſtaͤtigung des Liederverſes zu
finden meinte: „Er klopfet fuͤr und fuͤr ſo ſtark an unſres Her¬
zens Thuͤr.” Im erzwungenen Ernſt einer ſchon damals
exaltirten Stimmung empfand ſie ſelbſt fuͤr die unſchuldigen
Jugendfreuden ſo wenig Sympathie mehr, daß ſie in heiteren
geſelligen Kreiſen ihren bangen Gefuͤhlen durch Weinen Luft
machen mußte, und daß ſie die Werbung eines jungen Mannes
um ihre Hand entſchieden zuruͤckwies. Sie beſchaͤftigte ſich
ſo eifrig mit den Aufgaben aus der Sonntagsſchule und mit
weiblichen Arbeiten, daß ihr gar keine Zeit zur Erholung blieb,
und die karge Koſt, mit welcher ſie ſich bei duͤrftigem Erwerbe
begnuͤgen mußte, wirkte dazu mit, daß ſie ſich in koͤrperlicher
Beziehung ſehr unwohl befand.


Nach anhaltender religioͤſer Erregung begierig, ergriff ſie
jede Gelegenheit, dieſelbe in ſich zu wecken und zu unterhalten,
daher ſie nicht nur ſehr haͤufig die Kirche und pietiſtiſche Ver¬
ſammlungen beſuchte, ſondern ſich auch eine Menge frommer
Spruͤche einpraͤgte. Sie glaubte nun erſt zur Erkenntniß der
Wahrheit gelangt, gleichſam aus dem Seelenſchlafe der Welt¬
leute erwacht zu ſein, und es uͤberkam ſie dabei eine ſo große
Freudigkeit, daß ſie oft auf die Worte der Predigten gar nicht
mehr hoͤrte, ſondern bei dem Namen Jeſu jedesmal in ſich
wiederholte: „ich halte dich, ich laſſe dich nicht”. Sie erzaͤhlt
ferner: „ich hatte mich zu jener Zeit ganz entſchieden im Her¬
zen gegen Gott erklaͤrt: nimm mich nur hin, und fuͤhre mich
durch die Welt, wie es dem Heilande und dir gefaͤllt, und ſo
uͤbergebe ich mich dem Herrn, nicht halb, nicht dreiviertel, ſon¬
dern ganz.” Indeß der muͤhſam errungene Friede ihres Her¬
zens wurde bald wieder geſtoͤrt durch die Lectuͤre jener fanatiſch
myſtiſchen Traktaͤtlein, welche ſchon ſo viele Verwirrung und
Finſterniß in die Koͤpfe, ſo viele Gewiſſensangſt oder ſchwaͤr¬
meriſche Exaltation in die Gemuͤther gebracht haben. Nament¬
lich forderte ein ſolches Traktaͤtlein ſie zu jener rigoriſtiſchen
[59] Selbſtpruͤfung auf, welche bei reizbarer Schwaͤche des Charak¬
ters eine tiefe Erſchuͤtterung des moraliſchen Gefuͤhls nur allzu¬
leicht herbeifuͤhrt, und durch erregten Zwieſpalt im Herzen oft
genug die Kraft des Willens bricht. So geſchah es auch bei
der W., welche in großer Beklemmung mehrere Naͤchte ſchlaflos
zubrachte, und auch an den Tagen keine Ruhe fand, daher ſchon
damals (im Fruͤhlinge 1832) die erſten Erſcheinungen des
Wahnſinns, gleichſam ein fernes Wetterleuchten aus dunſtig
ſchwuͤlem Himmel, hervortraten. Denn als die W. an einem
Abende, nachdem ſie am Schluſſe der Arbeit in einem fremden
Hauſe von den Bewohnern deſſelben ſich mit der Aeußerung
verabſchiedete, ſie werde wegen großer Koͤrperſchwaͤche ſchwerlich
wiederkommen, tief bekuͤmmert nach ihrer Wohnung zuruͤckkehrte,
ſchaute ſie auf der Straße zum Himmel auf, und erblickte das
Abendmahl des Herrn, welches er mit ſeinen Juͤngern am Ti¬
ſche ſitzend feierte. Unter dieſem Bilde waren mehrere Linien
gezogen, welche ihrer Meinung nach bedeuteten, daß die Glau¬
bensſtufen der Menſchen nach dem Grade ihrer Froͤmmigkeit ver¬
ſchieden ſeien. Dieſe Viſion war unſtreitig aus dem tief gefuͤhlten
Beduͤrfniſſe einer hoͤheren ſittlichen Laͤuterung entſprungen, wel¬
che mit eigener Kraft vollbringen zu koͤnnen ſie nicht hoffte,
daher ſie von der Nothwendigkeit, der Gnade Gottes durch das
Sacrament theilhaftig zu werden, durchdrungen war, und des¬
halb in jenem Bilde die Verklaͤrung des Abendmahls erblickte,
wie es beim leiblichen Genuſſe auf Erden zugleich mit frommer
Erhebung in den Himmel gefeiert werden muͤſſe. Dennoch
war ihr ſo viel Reflexion geblieben, daß ſie daruͤber erſtaunte,
wie ſie gleichzeitig in einen traͤumenden Zuſtand verſetzt ſein,
und dennoch wach auf der Straße wandeln koͤnne; indeß konnte
eine ſolche objective Dialektik fuͤr ſie, welche mit ganz anderen
Intereſſen beſchaͤftigt war, keine große Bedeutung haben.


Nach ſchlafloſer Nacht beſuchte ſie am unmittelbar darauf
folgenden Himmelfahrtstage die Kirche, wo ſie aber, ganz er¬
fuͤllt vom maͤchtigen Gefuͤhlsdrange, kaum auf die Predigt hoͤrte.
Ihr vorherrſchender Gedanke muß die Nothwendigkeit einer Gna¬
denwirkung Gottes durch die Sacramente und ihre hohe Be¬
duͤrftigkeit derſelben geweſen ſein, denn ploͤtzlich vernahm ſie
in ihrem Herzen einen maͤchtigen Ruf: „du biſt ein Jude,
[60] und mußt getauft werden.” Sie erſchrak daruͤber heftig, weil
ſie nicht wußte, was ſie dabei denken, und wie die Taufe
nochmals an ihr vollzogen werden ſolle; dennoch ſah ſie ſich
unwillkuͤrlich nach dem Taufſtein um. Nach Faſſung ringend,
erinnerte ſie ſich an das Vorbild von Chriſtus, welcher gehor¬
ſam war bis zum Tode am Kreuze. Ganz erfuͤllt von dieſem
Gedanken erblickte ſie auf dem Ruͤckwege nach Hauſe den Hei¬
land, wie er aufgefahren iſt, ſitzend zur Rechten Gottes; aber
ſein Haupt war geneigt, und ſah ſehr leidend aus, wobei ſie
ſich dachte, ohne Heiligung wird Niemand den Herrn ſehen.
Beide Viſionen waren von ſehr kurzer Dauer, ſo daß ſie keine
genauere Aufmerkſamkeit darauf richten konnte; jedoch erinnert
ſie ſich namentlich die beim Abendmahl verſammelten Juͤnger
deutlich unterſchieden zu haben, wobei ihre Phantaſie wahr¬
ſcheinlich das bekannte Bild von Leonardo da Vinci reprodu¬
cirte. Sie hielt die Viſionen fuͤr ein von Gott ihr offenbartes
Geheimniß, welches zur Staͤrkung ihres Glaubens dienen ſolle,
und ſie fuͤhlte ſich deshalb in eine ſo ſeelige Stimmung ver¬
ſetzt, daß ſie dieſelbe gegen keine Guͤter der Welt vertauſcht
haͤtte.


Ihren immer ſtaͤrker hervortretenden Glaubenseifer ſuchte
ſie im Jahre 1836 dadurch zu bethaͤtigen, daß ſie an jedem
Sonntag-Morgen mehrere junge Maͤdchen, oft 12 an der Zahl,
um ſich verſammelte, ſie zuerſt einige Verſe aus dem Geſang¬
buche ſingen ließ, hierauf mit ihnen betete, ein Kapitel aus
der Bibel vorlas, uͤber welches ſie die Kinder katechiſirte, zum
Schluſſe wieder einige Verſe ſingen ließ, worauf ſie jene ver¬
abſchiedete, um ſelbſt in die Kirche zu gehen. Es ſollen da¬
mals mehrere ſolcher Verſammlungen unter dem Namen der
Sonntags-Kindervereine gehalten worden ſein, bis die Behoͤr¬
den aus leicht begreiflichen Gruͤnden dagegen einſchritten. Die
W. empfand indeß ſo vielen Geſchmack am Unterrichte, daß ſie
ſich von dem Vorſteher ihrer Sonntagsſchule ein Empfehlungs¬
ſchreiben an einen Schuldirector verſchaffte, welcher fuͤr kuͤnftige
Lehrerinnen Vortraͤge uͤber Paͤdagogik, Didaktik und Kirchen¬
geſchichte hielt, denen ſie mit großem Eifer beiwohnte, obgleich
dabei wahrſcheinlich ihr Faſſungsvermoͤgen uͤberboten wurde.
Mit angeſtrengtem Fleiße bemuͤhte ſie ſich, das Gehoͤrte ſchrift¬
[61] lich auszuarbeiten, wobei ſie zwar viele Schwierigkeiten zu uͤber¬
winden hatte, aber zugleich eine innige Freudigkeit empfand,
weil ſie fuͤr eine, ihrem lebendigſten Intereſſe ſo ganz entſpre¬
chende Wirkſamkeit ſich auszubilden hoffte, und eben deshalb
ſich ſehr kuͤmmerlich behalf, weil ſie ihre Erwerbsthaͤtigkeit bis
auf die dringendſten Beduͤrfniſſe einſchraͤnkte. Gleichzeitig las
ſie mehrere paͤdagogiſche Schriften, ſuchte mit Schulamts-Can¬
didaten in naͤhere Beruͤhrung zu kommen, und bot mit einem
Worte Alles auf, um ſelbſt Lehrerin zu werden.


Im Jahre 1841 wohnte ſie bei einer Altlutheranerin,
welche ihren Glauben als den allein ſeelig machenden pries,
und dabei hinzufuͤgte, daß Alle, welche nicht denſelben theilten,
verdammt werden wuͤrden. Ein oft zum Beſuch einſprechender
gleichgeſinnter Schuhmachergeſelle ſprach wiederholt im fanati¬
ſchen Eifer das heftigſte Anathema gegen die Wiedertaͤufer aus,
von denen er ſagte, ſie gingen in Engelsgeſtalt umher, aber
hinter ihnen ſei der Teufel. Von beiden mehrmals zum Be¬
ſuch des altlutheriſchen Gottesdienſtes aufgefordert, entſchloß ſie
ſich endlich, einmal an demſelben Theil zu nehmen. Der dabei
gehaltene Vortrag bezog ſich auf einen aͤrgerlichen Auftritt in einer
kleinen Provinzialſtadt, woſelbſt der Poͤbel die Fenſter des Bet¬
ſaals der Altlutheraner eingeworfen hatte, nachdem ihnen vom
Magiſtrate die Austheilung des Abendmahls nach ihrem Ritus
unterſagt worden war. Der Redner hielt uͤber jenes Ereigniß
eine donnernde Predigt, in welcher er den goͤttlichen Zorn auf
die Stoͤrer des altlutheriſchen Cultus herabrief. Die fanati¬
ſchen Exclamationen jenes Mannes empoͤrten die W. in ihrem
Innern, da ſie in ihnen, gleichwie in den liebloſen Urtheilen
des Schuhmachers nur eine hoͤchſt unchriſtliche Geſinnung er¬
blicken konnte, und ſie wies daher entſchieden die Einladung
zu ferneren Beſuchen jener Verſammlung zuruͤck, in welcher
ihr eine ſo gehaͤſſige Geſinnung entgegengetreten war. Ja
ſie fand ſogar in der Verdaͤchtigung der Wiedertaͤufer eine in¬
directe Apologie derſelben, und ſie beſchloß daher, letztere kennen
zu lernen, um ſich ein ſicheres Urtheil hieruͤber zu bilden. Sie
wurde von denſelben mit großer Zuvorkommenheit aufgenom¬
men, in welcher ſie zwar einige Verſtellung wahrzunehmen
glaubte; indeß da die Andachtsuͤbungen derſelben ihrer Sinnes¬
[62] weiſe im Allgemeinen zuſagten, ſo beſchloß ſie, an denſelben
Theil zu nehmen, wobei ſie indeß den Beſuch der evangeli¬
ſchen Kirchen nicht verſaͤumte.


Ihre gelegentliche Erwaͤhnung, daß fruͤher eine innere
Stimme ihr zugerufen habe, ſie ſei eine Juͤdin, und muͤſſe
getauft werden, gab dem Vorſteher der Secte Veranlaſſung,
in einem Vortrage auf die Nothwendigkeit der Wiedertaufe
hinzudeuten, wogegen ſie aber eifrig opponirte, und zugleich
bemerkte, damals wuͤrde ſie ſich wohl dazu entſchloſſen haben,
jetzt aber nicht mehr; und in ihrem Innern ſagte ſie ſich, daß
die Wiedertaͤufer keinen Anſpruch darauf haͤtten, ſich fuͤr froͤm¬
mer, als die anderen Chriſten zu halten. Man vermied es
ſorgfaͤltig, ſie durch Widerſpruch zu erbittern, und als ſie in
ihre Wohnung zuruͤckkehren wollte, geſellte ſich ihr ein Mit¬
glied der Gemeinde als Begleiter zu, welcher ihr unterweges
ſagte, die evangeliſchen Chriſten ſeien in Bezug auf die Taufe
insgeſammt Betruͤger und Betrogene, indem er zugleich aus
der an Chriſtus im Jordan vollzogenen Taufe die Nothwen¬
digkeit ihrer Wiederholung zu beweiſen ſich bemuͤhte. Die W.
erwiederte hierauf zwar: was nutzt dies Alles, wenn Chriſtus
nicht im Herzen wohnt; indeß wurde ihr dabei unheimlich,
und ſie fuͤhlte ſich ſo aufgeregt, daß ſie im Bette ein Kni¬
ſtern und Klappern hoͤrte und die peinliche Stimmung fuͤr
die Folge einer von den Wiedertaͤufern ausgeuͤbten Einwirkung
auf ſie hielt. Doch fuͤhlte ſie noch einen lebhaften Muth des
Widerſtandes, und ungewiß, welchen Vorſatz ſie faſſen ſolle,
und Gott um ſeinen Beiſtand anflehend, wollte ſie ihren Ent¬
ſchluß von einer Fuͤgung des Himmels abhaͤngig machen, in¬
dem ſie ſich vornahm, die Lehrſtunden der Anabaptiſten nur
dann wieder zu beſuchen, wenn ſie nicht durch die Aufforde¬
rung zu irgend einer beſtimmten Arbeit davon zuruͤckgehalten
wuͤrde.


Da ein ſolches Hinderniß nicht eintrat, ſo begab ſie
ſich wieder in die naͤchſte Lehrſtunde, in welcher unſtreitig mit
beſonderer Beziehung auf ſie alle Stellen des Neuen Teſta¬
ments vorgeleſen wurden, in welchen der an mehreren Perſo¬
nen vollzogenen Taufe Erwaͤhnung geſchieht. Sie empfand
dabei ein wahres Grauen, wie wenn ſie ſich am Rande eines
[63] Abgrundes befaͤnde, oder eine ſchwere Nacht ihr bevorſtaͤnde,
ſuchte ſich aber zu faſſen, zumal da ſie vorher Gott angefleht
hatte, ſie vor Streit zu bewahren, weil ſie ihre Geneigtheit
dazu kannte. Nach der Verleſung jener Bibelſtellen erging
die Einladung an die Verſammlung: wer etwas dagegen ein¬
zuwenden habe, moͤge hervortreten. Dadurch fuͤhlte ſie ſich
veranlaßt, ihre erſte Erklaͤrung zu wiederholen: fruͤher waͤre
ſie vielleicht zur Taufe zu bewegen geweſen, jetzt nicht mehr.
Sie mußte hierauf die Bemerkung hoͤren: wenn nur erſt der
eigene Wille gebrochen waͤre, dann wuͤrde es ſchon anders
werden; indeß in ihrem freudigen Glaubenseifer fuͤhlte ſie ſich
dadurch keineswegs eingeſchuͤchtert. Mehrere Anweſende um¬
ringten ſie darauf, und ſprachen liebkoſend zu ihr: „ach, Sie
wollen ja doch den Herrn lieben, entſchließen Sie ſich doch
dazu.” Dieſer Auftritt kam ihr kindiſch und laͤcherlich vor;
und als ihr emphatiſch geſagt worden war: „Nichts koͤnnen,
Nichts wiſſen, Nichts wollen, Nichts thun, als Jeſu folgen
muͤſſen, das heißt in Freuden ruhn”, ſah ſie ſich genoͤthigt
zu der Erklaͤrung: „Und wenn Jemand zwanzigmal getauft
wird, ſo hilft ihm dies Nichts, wenn ſein Herz nicht anders
wird.” Man ſuchte ſie durch allerhand ſophiſtiſche Redewen¬
dungen in Verlegenheit zu ſetzen; namentlich bemerkte einer
der Anweſenden gegen ſie: „Sie wollen es nicht gut haben,
nicht zu dem Herrn gelangen”, worauf ſie ihm erwiederte:
„Sie ſind nicht allwiſſend.” Ferner nahm derſelbe in ſeinen
Anſpruͤchen an ſie einen ſehr pathetiſchen, dominirenden Ton
an, ſo daß ſie nochmals zu der Erklaͤrung ſich genoͤthigt ſah,
ſie laſſe ſich nicht zwingen. Einen tiefen Eindruck machte es
aber auf ſie, als einer der Anweſenden ihre Hand ergriff,
und ſie ſtark an ſeine Bruſt druͤckte; denn es war ihr, als
ob ihr Geiſt im Innerſten getroffen wuͤrde. Indem ſie zur
Thuͤre hinausging, rief man ihr nach, ſie werde keine Ruhe
haben; jedoch ſie empfand eine große Freudigkeit im Gemuͤth.


Aber es ſollte bald anders kommen, da ein ihren fruͤhe¬
ren myſtiſchen Contemplationen nur allzu nahe verwandter Geiſt
der Schwaͤrmerei ſie ſchon im Innerſten ergriffen hatte. Am
naͤchſten Pfingſttage hoͤrte ſie eine evangeliſche Predigt, deren
weſentlicher Inhalt ſo von ihr aufgefaßt wurde, daß eine
[64] wuͤrdige Feier jenes Feſtes begangen werde, wenn Chriſten ſich
verſammelten, um ſich auf ihren allerheiligſten Glauben zu er¬
bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiedertaͤufern ein¬
geladen worden, einem am zweiten Pfingſtabende zu begehen¬
den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große
Bedenklichkeit, weshalb ſie nur darauf erwiedern konnte: ſo
Gott will. Jene Pfingſtpredigt wurde ihr aber um ſo mehr
eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als
auch eine Frau, gegen welche ſie ihre Zweifel geaͤußert hatte,
ihr erwiederte, ſie wuͤrde durch das Ausbleiben eine Suͤnde
begehen. Sie begab ſich daher zur bezeichneten Stunde auf
den Weg, fuͤhlte ſich aber in einem hohen Grade betroffen,
als ihr eine innere Stimme zurief, ſie werde gefangen genom¬
men werden. Schnell entſchloſſen umzukehren, empfand ſie zu
ihrer großen Beſtuͤrzung einen unwiderſtehlichen Zug nach dem
Verſammlungshauſe der Wiedertaͤufer, ſo daß ihr Inneres ein
wahrer Kampfplatz widerſtreitender Antriebe wurde, welche ih¬
rer Meinung nach von auſſen in ſie eingedrungen waren. In
dieſem Spiel contraſtirender Gefuͤhle ſprach ſich unſtreitig das
ohnmaͤchtige Ringen der Beſonnenheit mit den unwiderſtehli¬
chen Impulſen der Schwaͤrmerei aus, woruͤber ſie ſo wenig in
einem deutlichen Bewußtſein ſich aufklaͤren konnte, daß ihr
der ganze Vorgang in dem myſtiſchen Lichte uͤbernatuͤrlicher
Einwirkungen erſchien. Das Liebesmahl ſelbſt wurde durch
Geſang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's
eroͤffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und
Thee, waͤhrend eine freiere Unterhaltung ſich entſpann, bei
welcher man beſonders ihre fruͤheren Erlebniſſe auszuſpaͤhen
ſuchte. Sie war nun ſchon dergeſtalt befangen in ihren neuen
Gefuͤhlsregungen, daß ſie wenigſtens an dieſem Abende eine
große Seeligkeit empfand. In aͤhnlicher Weiſe freudig erregt
war ſie an einem ſpaͤteren Feſte, wo die Kinder der Ana¬
baptiſten der verſammelten Gemeinde vorgeſtellt, und unter
Geſang und Gebet unter Auflegung der Haͤnde geſegnet wur¬
den. Wirklich mochte dieſe Scene einen idylliſch patriarcha¬
liſchen Charakter angenommen haben.


Indeß ſo leicht konnte ihre bisherige Gemuͤthsrichtung,
in welche ſie ſich ſeit vielen Jahren mit Eifer und Anſtren¬
[65] gung hineingelebt hatte, nicht in eine neue verwandelt wer¬
den, um ſo mehr, als ſie ſich durchaus keine Rechenſchaft
daruͤber geben konnte, welche Neuerungen in ihr vorgehen
ſollten. Denn die oft gehoͤrte Behauptung, daß nur der Ri¬
tus der Wiedertaufe zur Seeligkeit fuͤhren koͤnne, ſtand mit
ihrer bisherigen Denkweiſe in einem allzu ſchroffen Wider¬
ſpruch, welcher durch keine Gruͤnde entkraͤftet wurde. Sie
ſetzte noch eine Zeit lang in den Lehrſtunden ihre Polemik ge¬
gen die Wiedertaͤufer fort, legte ihnen Fragen vor, um ſie zu
pruͤfen, worauf ihr keine andere Antwort wurde, als: ſie ſei
in Suͤnden befangen. Jedoch ihre Dialektik hielt beſſern Stand
gegen die aͤußeren Bekehrungsverſuche, als gegen die in ih¬
rem Innern immer ſtaͤrker heranwachſende Macht der Schwaͤr¬
merei, welche ſich ihr unter dem Gefuͤhle der ſchon fruͤher em¬
pfundenen unwiderſtehlichen Anziehungskraft beurkundete. Sie
konnte nicht wegbleiben, wie ſie ſelbſt geſteht, und wurde im¬
mer mit Liebkoſungen uͤberhaͤuft. Schon konnte ſie daher
einem heftigen inneren Kampfe nicht mehr ausweichen, dem
ſie beſonders in den Abendſtunden bis tief in die Nacht aus¬
geſetzt war, ſo daß ſie zwiſchen Zweifeln der mannigfachſten
Art ſchwankend, ob ſie nicht durch die Wiedertaufe eine ſchwere
Schuld auf ſich lade, inbruͤnſtig zu Gott um Erleuchtung flehte
uͤber das, was ſie thun ſolle. Nach ihrer Erklaͤrung war dies
eine ſehr ſchwere Zeit, welche uͤberſtanden zu haben ſie Gott
innig dankt.


Wiederum ging aus ihrer ſchwaͤrmeriſchen Erregung eine
ſeltſame Viſion hervor. Als ſie naͤmlich eines Abends nach
heftigen inneren Kaͤmpfen ſich zur Ruhe begeben hatte, er¬
ſchien ihr das vollſtaͤndige Bild einer Anabaptiſtin, welche be¬
ſonders angelegentlich ſie zum Uebertritt in ihre Secte zu be¬
wegen geſucht hatte. Erſchreckt rief die W. dem Phantom
beſchwoͤrend zu: wir glauben Alle an einen Gott, und ſah
hierauf, wie jenes mit ernſter Miene den Kopf zuruͤckneigte,
und dabei ihr pantomimiſch Stillſchweigen gebot. Je weniger
ſie ſich uͤber die Bedeutung dieſer Viſion Rechenſchaft geben
konnte, um ſo mehr fuͤhlte ſie ſich von einer daͤmoniſchen
Macht beherrſcht, und es kam ihr vor, als ſei ihr von der
neuen Secte es als eine Buͤrde auferlegt worden, daß man
IdeIer uͤber d. rel. Wahnſinn. 5[66] dem Herrn Gehorſam leiſten ſolle. In ihrem ganzen Weſen
empfand ſie ein Ruͤtteln und Schuͤtteln, als ob das bisheri¬
ge kirchliche Weſen ganz aus ihr herausgeriſſen wuͤrde. Durch
alles dies wurde ihr Widerſtreben gegen die Anabaptiſten
mit jedem Tage verringert, und ſie fing ſchon an, den neuen
Taufritus mit Scheingruͤnden vor ſich zu rechtfertigen. Aus
der Kirchengeſchichte war ihr bekannt, daß in den erſten chriſt¬
lichen Gemeinden keine Wiedertaufe vollzogen wurde; daher
ſchien ihr der erſte Ritus ganz gerechtfertigt, und wenn ſie
auch noch nicht ganz und unbedingt zu den Anabaptiſten ſich
zu bekehren entſchloſſen war, ſo glaubte ſie doch von der Wie¬
dertaufe als einem dem Abendmahle nicht unaͤhnlichen Sacra¬
mente Gebrauch machen zu duͤrfen. Endlich wurde ihr Be¬
denken durch die Erwaͤgung beſeitigt, daß die neue Secte als
eine von der Obrigkeit geduldete nicht ganz verwerflich ſein
koͤnne. Zuletzt ſchloß ſie mit ihren Zweifeln ab, indem ſie
ſich ſagte, ſie wolle ſich nicht taufen laſſen, um damit erken¬
nen zu geben, das ſie zum Lichte erwacht, und dadurch heils¬
begierig geworden ſei, ſondern um den von ihr geforderten
ſtrengen Gehorſam zu beweiſen. Als ſie endlich einem Gemein¬
demitgliede ihren Entſchluß mittheilte, erhielt ſie zur Antwort,
nun endlich habe der Herr ihr den Teufel ausgetrieben, und ihre
Geburtsſtunde habe geſchlagen. Dieſe Worte mißfielen ihr ſehr,
aber ſie war ſchon zu ſehr umſtrickt, als daß ſie noch haͤtte
zuruͤcktreten koͤnnen.


Dennoch ruhte der Widerſpruchsgeiſt in ihr nicht, denn
als von ihr gefordert wurde, ſie muͤſſe nun dem Beſuche der
uͤbrigen Kirchen entſagen, nahm ſie ſich beſtimmt das Gegen¬
theil vor. Auch konnte ſie bei Gelegenheit einer Katechiſation,
welche von mehreren Sectenmitgliedern zur Pruͤfung ihres
Glaubens mit ihr unternommen wurde, nicht der Bemerkung
ſich erwehren, daß jene der Selbſterkenntniß in einem hohen
Grade ermangelten. Beſonders ſtraͤubte ſie in ihrem Innern
ſich dagegen, daß die Taufe ſchon in den naͤchſten Tagen an
ihr vollzogen werden ſolle, da ſie gern noch eine zweijaͤhrige
Zeit zur Vorbereitung gewonnen haͤtte; indeß ſie wagte keinen
Widerſpruch einzulegen, vielmehr fuͤhlte ſie ſich ſo ergriffen,
daß ſie ſich der Aeußerung nicht enthalten konnte, ſie betrachte
[67] die Wiedertaufe als ein Werkzeug Gottes, um deſſen vor neun
Jahren an ſie ergangenen Ruf, ſich taufen zu laſſen, in Er¬
fuͤllung zu bringen. Am 26. Juni in den Morgenſtunden
wurde ſie vor einem Thore an das Spreeufer gefuͤhrt, woſelbſt
die Taufe auf aͤhnliche Weiſe wie im vorigen Falle an ihr
vollzogen wurde. Sie befand ſich dabei in einer ekſtatiſchen
Stimmung, welche ſelbſt ein leibliches Wohlbehagen hervor¬
brachte, als ob ſie auf das Schoͤnſte geſalbt in einem weichen
Bette ſich befinde. Eine innere Stimme rief ihr zu, ſie ſei
nun vom boͤſen Gewiſſen befreit; und mit dem weißen Tauf¬
zeuge bekleidet, war es ihr, als ob ſie Chriſtus gleich einem
heiligen Gewande angelegt habe.


Ihre freudig erregte religioͤſe Stimmung machte indeß
bald ganz anderen Gefuͤhlen Platz, da ſie in fortwaͤhrende
Haͤndel mit ihren neuen Glaubensgenoſſen gerieth, von denen
mehrere eine nur allzu unlautere Geſinnung hegten, obgleich
ſie ſich ſelbſt in hochmuͤthiger Selbſtverblendung bei jeder Ge¬
legenheit eine Gemeinde von Heiligen nannten. Schon in
den naͤchſten Tagen richteten zwei Wiedertaͤuferinnen bei einem
Beſuche in ihrer Wohnung im Namen der Gemeinde die For¬
derung an ſie, daß ſie ihr Hausgeraͤth verkaufen, und zu ei¬
ner von ihnen beiden ziehen ſollte, und entgegneten mit uͤbel
verhehlter Heftigkeit auf ihre beſtimmte Weigerung, daß ihr
Herz ſich noch nicht vom Irdiſchen losgeriſſen habe. Offenbar
lag hierbei eine habſuͤchtige Intrigue zum Grunde, da andere
Mitglieder der W. die beſtimmte Verſicherung gaben, daß jene
nicht im Auftrage der Gemeinde gehandelt haͤtten. Da ſie,
einmal aus ihrer Taͤuſchung erwacht, ſehr bald den hoffaͤhrti¬
gen, ſtreitſuͤchtigen, gebieteriſchen Sinn Mehrerer bemerkte, ſo
wurde ſie in ihrem ſittlich durchgebildeten Gemuͤthe bald an
ihren neuen Glaubensgenoſſen irre, welche ſie nicht mehr fuͤr
wahre Chriſten halten konnte. Sie nahm ſich daher vor, im
Stillen zu beobachten, und vermied es beſonders, an den
Klaͤtſchereien Theil zu nehmen, in denen ſich Mehrere gegen¬
ſeitig anſchwaͤrzten, um nicht in boͤſe Haͤndel verwickelt zu
werden. Man ſuchte ſie vergeblich uͤber ihre Hausgenoſſen
auszuforſchen, da ihr ein ſolches Spioniren verhaßt war, und
ſie zog ſich dadurch ein unverkennbares Uebelwollen zu. Mit
5 *[68] dieſen ſteten Kraͤnkungen ihres ſittlichen Gefuͤhls vereinigten
ſich bald eine Menge von Wahrnehmungen, welche eben ſo
ſehr ihren religioͤſen Sinn verletzen mußten. Es mißfiel ihr,
daß vor dem Genuß des Abendmahls die Theilnehmer an
demſelben eine oͤffentliche Buße ablegen mußten, wobei es ihr
nicht entging, daß diejenigen, welche eine große Zerknirſchung
des Herzens zeigten, ſich das groͤßte Anſehen erwarben, daher
ſie hierin nur eine heuchleriſche Gaukelei ſehen konnte. Es
empoͤrte ſie, als die laſterhaften Verirrungen einiger Neuauf¬
genommenen fuͤr die Folgen des Beſuchs evangeliſcher Kirchen
erklaͤrt wurden; ſie wurde zu Spott und Verachtung angeregt,
als ein verſtaͤndiger Mann, welchen man vergebens zum Ein¬
tritt in den Bund aufgefordert hatte, ihr erzaͤhlte, daß meh¬
rere Mitglieder ihren blinden Eifer, ihn eines Beſſeren zu be¬
lehren, durch eine kauderwaͤlſche Saalbaderei uͤber religioͤſe
Gegenſtaͤnde bethaͤtigt hatten. Durch die Kanzelvortraͤge fuͤhlte
ſie ſich ſo wenig erbaut, daß ſie dieſelben in das eine Ohr
hinein, aus dem andern wieder hinausgehen ließ. Oft kam
es auch zu Glaubensſtreitigkeiten, wo ſie mit Haͤrte zur Ruhe
verwieſen wurde, wenn ſie Anſichten aͤußerte, welche mit den
in der Gemeinde angenommenen nicht uͤbereinſtimmten.


Nicht nur wurde durch dies alles ein wahrer Glaubens¬
zwang auf ſie ausgeuͤbt, von welchem ſich zu befreien ſie ſich
zu ſchwach fuͤhlte, ſo daß ſie gar nicht aus einem Widerſtreite
ihrer beſſeren Gefuͤhle herauskam, ſondern ſie mußte auch of¬
fenbare Eingriffe in ihre perſoͤnlichen Rechte erfahren, gegen
welche ſie ſich nur mit Muͤhe vertheidigen konnte. Sie wurde
auf Grund abſichtlicher Verleumdung der Faulheit beſchuldigt,
und man wollte ſie zwingen, bei einer Tapiſſeriearbeiterin in
Dienſt zu treten, wozu ſie ſich auch wirklich auf einige Zeit
bewegen ließ; ſie ſollte uͤber Alles Rechenſchaft ablegen, na¬
mentlich auch uͤber ihr kuͤmmerlich erſpartes Geld, indeß wußte
ſie ſich dieſem Anſinnen zu entziehen. Ein junges Maͤdchen
wollte in den Bund mit der unverkennbaren Abſicht eintre¬
ten, dadurch Gelegenheit zu einer Verheirathung zu finden.
Die W., welche eine ſolche Abſicht mißbilligte, wurde beſchul¬
digt, daß ſie eine Veraͤchterin der Ehe ſei, welche ſie nur
aus der richtigen Wuͤrdigung ihrer unguͤnſtigen Lage vermie¬
[69] den hatte, um nicht mit einer vielleicht zahlreichen Familie in
Noth zu gerathen. Einen beſonders widerwaͤrtigen Eindruck
machte es auf ſie, daß bei dieſer wie bei vielen anderen Ge¬
legenheiten, auf Drohungen und Strafreden bald Liebkoſun¬
gen und Schmeicheleien folgten, und ihr namentlich das Gluͤck
der Ehe in der unverkennbaren Abſicht geprieſen wurde, ſie
fuͤr einen fanatiſchen Seidenwirkergeſellen zu gewinnen, wel¬
cher ihr in einer hoͤchſt laͤcherlichen Geſtalt erſchien. Ungeach¬
tet er ein ganz unwiſſender, roher Menſch war, hatte er es
doch uͤbernommen, mehrere Kinder im Glauben der Wieder¬
taͤufer zu unterweiſen, wobei er ſich ſo ungeſchickt benahm,
daß die Kinder, anſtatt die aufgegebenen Bibelverſe zu lernen,
und ſeine kauderwaͤlſche Erklaͤrung derſelben anzuhoͤren, durch¬
einander laͤrmten und tobten. Die W., welche aufgefordert
wurde, ihm Beiſtand zu leiſten, ſonderte die Maͤdchen von
den Knaben ab, und wußte erſtere zur Aufmerkſamkeit und
zum ſtillen Fleiße zu bewegen. Hieruͤber gab es aber einen
neuen Streit, weil jener Geſelle von ihr verlangte, daß ſie
gemeinſchaftlich mit ihm Unterricht ertheilen ſolle.


Nicht wenig wurde ſie in ihren Anſichten, welche ſie
ſich uͤber ihre Glaubensgenoſſen bilden mußte, durch zwei
Redner beſtaͤrkt, deren einer, ein Hamburger Wiedertaͤufer,
laut ſeine Mißbilligung uͤber die in der hieſigen Gemeinde
herrſchende Zwietracht ausſprach. Um ſo tieferen Eindruck
machte daher auf ſie die Predigt eines hieſigen evangeliſchen
Geiſtlichen uͤber den Frieden der chriſtlichen Geſinnung. Ueber
dieſen Kirchenbeſuch wurde ſie von jenem Hamburger zur Rede
geſtellt, welcher ihr denſelben als eine Verſuͤndigung gegen
ihre Gemeinde vorwarf. Als ſie ſich dagegen mit dem Grunde
vertheidigte, daß das Anhoͤren einer chriſtlichen Predigt un¬
moͤglich eine Suͤnde ſein koͤnne, erwiederte er, ſie habe bei
der Aufnahme in den Bund der Wiedertaͤufer der evangeliſchen
Kirche entſagt. Auf ihre entſchiedene Erklaͤrung, daß ſie dies
nicht gethan, wußte er nur zu erwiedern, Gott habe ſie dort¬
hin (in den Betſaal) geſetzt, damit ſie dieſen Platz einnehmen
ſolle. Ueberhaupt redete er die Gemeinde in wiederholten Vor¬
traͤgen mit wahren Donnerworten an, und hielt die fuͤrchter¬
lichſten Strafgerichte uͤber die Suͤnden der Menſchen. Ohne
[70] ſich dadurch einſchuͤchtern zu laſſen, dachte die W. bei ſich,
mit dem Maaße, womit du miſſeſt, wirſt du wieder gemeſſen
werden; aus einer ſolchen Schule koͤnnen nur Phariſaͤer her¬
vorgehen. Nach einer uͤblichen Sitte wurden die in den Bund
Aufzunehmenden von den aͤlteren Mitgliedern uͤber ihren Glau¬
ben gepruͤft, wobei man nach der Meinung der W. viel zu
leichtfertig verfuhr, beſonders als einmal 14 Perſonen ſich der
Gemeinde anſchließen wollten, welche man nicht durch ſtrenge
Anforderungen zuruͤckſchrecken durfte. Die W. richtete an eine
der Anweſenden die Frage, wodurch ſie ſeelig zu werden hoffe,
und ſah ſich genoͤthigt, deren Behauptung, daß dies allein
durch die Wiedertaufe geſchehen koͤnne, mit der Bemerkung
zu widerſprechen, daß eine aͤußerliche Handlung nicht eine ſol¬
che Kraft beſitzen koͤnne, womit ſie zugleich die Weigerung
ausſprach, durch Aufhebung der Haͤnde ihre Zuſtimmung zu
der Aufnahme jener Perſonen zu geben, weil ſie dieſelben viel
zu wenig kenne, als daß ſie ein Urtheil uͤber dieſelben faͤllen
koͤnne. Durch dieſe freiſinnigen Aeußerungen zog ſie ſich eine
Menge von Schmaͤhungen zu, deren Bitterkeit ſie noͤthigte,
ſich zuruͤckzuziehen.


Unter jenen Neuaufgenommenen fand ſie indeß bald ei¬
nen Gleichgeſinnten, einen Schneider, welcher zwar Anfangs
ſehr erbaut uͤber die Froͤmmigkeit der Wiedertaͤufer ſchien, dem
aber bald die Augen uͤber den wahren Charakter derſelben
aufgingen, nachdem die W. Gelegenheit gefunden hatte, ſich
gegen Verleumdungen bei ihm zu rechtfertigen, welche eine
neidiſche Anabaptiſtin wider ſie ausgeſprengt hatte. Ein zu
ihrem Bunde uͤbergetretener Zuckerſiedergehuͤlfe hatte im blinden
Bekehrungseifer ſeine Mitgeſellen, denen er ihren Unglauben
vorwarf, dergeſtalt gegen die Wiedertaͤufer aufgebracht, daß ſie
am Himmelfahrtsfeſte 1842 ſich in einer unter dem Betſaale
gelegenen Schenke verſammelten, wo ſie, von Branntwein er¬
hitzt, durch den Geſang der Wiedertaͤufer zu einer offenen De¬
monſtration gegen dieſelben herausgefordert wurden. Sie
drangen daher in den Betſaal ein, unterbrachen zuerſt den
begonnenen Vortrag durch ein lautes Murren, hierauf durch
den heftigen Ruf: Halt, Halt! und warfen ſich endlich, als
der Redner ſich nicht ſtoͤren ließ, mit funkelnden Augen und
[71] zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬
zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entſtand ein
fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden
zerbrochen, und ſo war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬
gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe ſich
gegenſeitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬
ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬
pfand ſie kein Verlangen, ſich der Gemeinde ſobald wieder
anzuſchließen, zumal da ſie durch jenen Vorgang ſo tief er¬
ſchuͤttert wurde, daß ſie ſich mehrere Tage ſehr leidend befand.
Durch ihr Ausbleiben zog ſie ſich aber wieder mannigfache
Schmaͤhungen zu, ſie habe die Gemeinde feige verlaſſen, und
ſich kreuzesſcheu gezeigt. Jener Schneider, welcher ſie auf
ihrer Flucht begleitet hatte, warf ſich zu ihrer Vertheidigung
auf, daß ſie als eine Schwache nicht habe Widerſtand leiſten
koͤnnen, fand aber ſo wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬
fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬
nem der naͤchſten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte,
in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falſchheit aus der
Gemeinde aus!” Allgemeine Beſtuͤrzung verbreitete ſich in der
Verſammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf ſie ge¬
worfenen ſtrengen Tadel zuruͤckzuweiſen. Bald aber entſpann
ſich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der
angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren,
alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon
waren, zu erzaͤhlen; ſie laſſen ſich nach dem bisher Mitgetheil¬
ten leicht errathen, da eine unter heuchleriſcher Froͤmmigkeit
verſteckte niedrige Geſinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬
vortritt, wenn ihr der Schleier abgeriſſen wird.


Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen
an ihre Glaubensgenoſſen gefeſſelt war, konnte ſich durch alle
dieſe Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgeſtoßen fuͤhlen. Im¬
mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬
ren wahren Glauben angefeindet, daß man ſie von Gott los¬
geriſſen habe, um ihr ganz falſche Satzungen aufzudringen,
daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiſte willkommen
ſeien, welche ſich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬
ßen; namentlich hatte ſie einen der Angeſehenſten in Verdacht,
[72] worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten,
daß er ſich fuͤr einen wahren Meſſias ausgeben wolle. Sie
aͤußerte daher geradezu gegen ihn, ſie wiſſe nicht, ob ſie ver¬
rathen oder verkauft ſei, da ſie ſich uͤberall von Hinterliſt
umſtrickt ſaͤhe, deshalb bete ſie eifrig zu Gott um Beiſtand
und Erleuchtung uͤber ihr wahres Seelenheil. Ja ſie aͤußerte
ganz beſtimmt, daß ihr durch die Unlauterkeit des anabaptiſti¬
ſchen Gottesdienſtes die Religion zuletzt ganz zuwider gewor¬
den ſei; und wenn man hierbei ihre ganze geiſtige Richtung
von Kindheit an ins Auge faßt, ſo kann es wohl mit keinem
ſtaͤrkeren Ausdrucke bezeichnet werden, daß ſie damals mit ih¬
rem heiligſten Intereſſe ganz zerfallen war. Seit einer Reihe
von Jahren war ſie alſo in Widerſtreit mit ihrer fruͤheren
Denkweiſe und Geſinnung gekommen, und gleichſam in einer
Aufloͤſung ihrer Seelenverfaſſung begriffen, anſtatt in folge¬
rechter Entwickelung derſelben fortzuſchreiten, daher denn ein
ſolcher Zuſtand nicht fortdauern konnte, ſondern auf irgend
eine Weiſe einen gaͤnzlichen Umſchwung erfahren mußte. Sie
fuͤhlte dies auch ſo gut, daß ſie mehrmals auf dem Punkte
ſtand, ſich von den Wiedertaͤufern loszureißen; indeß der alle
ſchwaͤrmeriſchen Secten beherrſchende fanatiſche Geiſt hielt ſie
noch viel zu feſt umſtrickt, als daß ſie zu einem feſten Ent¬
ſchluſſe kommen konnte, und da mehrere Mitglieder daſſelbe
von ſich ausſagten, ſo ſah ſie ſich gefangen in einer fremden
Macht. Beſſer war es ihrem Freunde, dem Schneider, gelungen,
welcher, als er durch den Beſchluß von 14 Stimmen excom¬
municirt worden war, und nicht einmal die Namen ſeiner
Gegner erfahren konnte, hiervon Veranlaſſung nahm, fuͤr im¬
mer aus dem Bunde zu ſcheiden. Indeß diente das fernere
Verbleiben unter den Wiedertaͤufern nur dazu, die W. immer
mehr gegen dieſelben zu empoͤren, indem ſie bei mannigfachen
Gelegenheiten die Beweiſe arger Heuchelei erhielt. Den oͤf¬
fentlichen Suͤndenbekenntniſſen folgte oft ein Ausbruch frivoler
Geſinnung; wirkliche Forderungen des Chriſtenthums, z. B.
daß man dem Schuldigen verzeihen ſolle, wurden geradezu
als unausfuͤhrbar verſpottet; haͤufig wurde das Gewiſſen durch
neue Satzungen beſchwert, z. B. durch Aufforderungen zum
Faſten, zur Theilnahme an willkuͤrlich angeſtellten Feſten.
[73] Als die W. ſich dawider mit den Worten erklaͤrte, ſie muͤſſe
nach ihrem Gewiſſen handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil:
„ach was Gewiſſen, man muß dem Geiſte folgen”, wobei
man nicht undeutlich zu verſtehen gab, die Vorſteher ſeien
die Verwalter der Geheimniſſe Gottes. Insbeſondere wurde
der unausgeſetzte Beſuch der faſt alltaͤglichen Verſammlungen
zur ſtrengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben
konnte, da ſie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um
die ſchwachen Gemuͤther noch mehr zu aͤngſtigen, wurden uͤber
die Abtruͤnnigen, welche man gleichſam dem Satan uͤbergab,
ſchwere Fluͤche und Verwuͤnſchungen ausgeſprochen, wobei der
W., wie ſie ſich ausdruͤckt, oft die Haare zu Berge ſtanden.
Wenn ſie uͤber alles Erlebte ganz irre an ſich geworden war,
und um Belehrung bat, ſo wurden ihr ſo ſchwankende Ant¬
worten ertheilt, daß ſie in immer groͤßere Verwirrung gerieth.


Auch koͤrperlich war ſie ſtets ſehr leidend, wozu außer
den fortwaͤhrenden Gemuͤthsunruhen insbeſondere angeſtrengte
weibliche Arbeiten bei ſitzender Lebensweiſe und der uͤbermaͤßige
Genuß des Kaffee's bei einer ſehr mangelhaften und ungere¬
gelten Ernaͤhrung beitrugen. Vornaͤmlich war ſie von hart¬
naͤckigen Leibesverſtopfungen geplagt, welche gelegentlich mit
Durchfaͤllen wechſelten; zugleich litt ſie noch an anderen Un¬
terleibsbeſchwerden, welche weſentlich dazu beitrugen, ihre Ge¬
muͤthsunruhe und geiſtige Befangenheit zu verſchlimmern. Ei¬
nen ſehr hohen Grad erreichten dieſe laͤſtigen Zufaͤlle im Spaͤt¬
herbſte 1844, wo ſie in einem ungeheizten Zimmer ſehr aͤmſig
mit Naͤhen und anderen Handarbeiten beſchaͤftigt war. Sie
fuͤhlte ſich ſehr matt und angegriffen, raffte ſich zwar immer
wieder auf, und ſuchte ſich ſelbſt durch Spaziergaͤnge zu er¬
muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem
Monate zunahm. Als ſie endlich genoͤthigt war, das Bett zu
huͤten, ließ ſie eine Frau M. bitten, ihr Huͤlfe zu leiſten,
welche ſogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu
reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu verſtehen gab,
daß die W. gleichfalls lebensgefaͤhrlich krank ſei. Bald darauf
traten drei Maͤnner ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬
taͤuſchung der W.), unter denen einer beim Leichenbegaͤngniſſe
ihrer Stiefmutter zugegen geweſen war, an welche ſie dadurch
[74] ſchmerzlich erinnert wurde. Grauen erregende Bilder aus der
Vergangenheit geſellten ſich zu den peinlichen Gefuͤhlen, welche
durch jene Frau erweckt waren, und um ihre Stimmung noch
krankhafter aufzuregen, quaͤlte einer der Anweſenden ſie mit
einem fanatiſchen Bekehrungseifer, als ob ſie, dem Tode nahe,
erſt des wahren Glaubens theilhaftig werden muͤſſe, und hielt
unaufgefordert lange Gebete fuͤr ihr Seelenheil. Als jene
Maͤnner ſie verlaſſen hatten, fiel ſie in eine wahre Erſchoͤ¬
pfung, und ſie war noch am Abende, als ein Wiedertaͤufer ſie
beſuchte, ſo betaͤubt, daß ſie denſelben Anfangs gar nicht
kannte. Auf ſeine Veranſtaltung uͤbernahmen einige Wieder¬
taͤuferinnen abwechſelnd ihre Pflege waͤhrend der naͤchſten Tage,
und erſt als ihre Krankheit ſich in die Laͤnge zog, blieben jene
aus, ſo daß ſie ſich ſehr verlaſſen fuͤhlte. Ihrer Huͤlfsloſigkeit
ſich bewußt, empfand ſie eine große Erbitterung gegen die Wie¬
dertaͤufer, welche die Krankenpflege zu einer Hauptangelegen¬
heit ihres Bundes machten, und dieſelbe auch wirklich in ei¬
nem ziemlich ausgedehnten Maaße ausgeuͤbt zu haben ſcheinen.
Die Entruͤſtung der W. gegen ſie muß daher aus ihrer ſchon
damals beginnenden Geiſtesverwirrung entſchuldigt werden, da
ſie wirklich uͤbertriebene Forderungen an jene richtete.


Inzwiſchen wuchs ihre Krankheit mit jedem Tage, und
dieſelbe ſcheint damals einen fieberhaften Charakter angenom¬
men zu haben, denn ſie litt an ſtarker Hitze, heftigen Kopf¬
ſchmerzen, großer Angſt auf der Bruſt, waͤhrend die hart¬
naͤckige Leibesverſtopfung fortdauerte, und eine ſtete Uebelkeit
und ſtarke Neigung zum Erbrechen ſich hinzugeſellte. Noch
war ihre Beſinnung nicht ganz geſchwunden, und ſie wurde
daher durch die endloſe Geſchwaͤtzigkeit der M., deren Huͤlfe
ſie wieder in Anſpruch nehmen mußte, ſo ſehr geplagt, daß
ſie ſelbſt uͤble Folgen davon befuͤrchtete, und ſie wiederholt
zum Schweigen aufforderte. Jene Frau benutzte ihre Schwaͤ¬
che, ihr mancherlei Kleinigkeiten abzuſchwatzen, ſo daß ſie vor
deren Habſucht in ſteter Furcht war, und den wahrſcheinlich
nicht ungegruͤndeten Verdacht hegte, jene warte nur auf ih¬
ren Tod, um ſich Manches von ihrer Habe anzueignen. Da¬
bei raubte ſie ihr durch Schwatzhaftigkeit immer wieder die
noͤthige Ruhe, peinigte ſie geradezu durch ſcandaloͤſe Erzaͤh¬
[75] lungen, und uͤbergab waͤhrend ihrer Abweſenheit einem Kinde
die Aufſicht, welches durch zu ſtarkes Heizen des eiſernen
Ofens nicht nur die Fieberhitze der W. bis zu einem uner¬
traͤglichen Grade ſteigerte, ſondern ihr auch eine große Furcht
vor Feuersbrunſt einfloͤßte. Bei zunehmender Entkraͤftung
ſtand ſie daher eine große Angſt aus; die Vorſtellung des
nahen Todes, welchen ſie bis dahin nicht erwartet hatte,
trat ihr immer lebendiger vor die Seele, indeß ſuchte ſie ſich
daruͤber mit dem Gedanken zu troͤſten, daß ſie mit dem Le¬
ben nicht viel verliere. Das vorherrſchende Gefuͤhl blieb aber
der Widerwille gegen die Wiedertaͤufer, von denen ſie ſich auf
eine pflichtvergeſſene Weiſe verlaſſen glaubte. Allmaͤhlig fing
ihr die deutliche Beſinnung an zu ſchwinden, und es kam ihr
vor, als ob ſie in einer dunklen Hoͤhle liege, und dabei war
ihr ſo graͤßlich zu Muthe, daß es ſich gar nicht beſchreiben
ließ. Nur zuweilen ſchreckte ſie aus ihrer Betaͤubung auf,
und ſie glaubte dann Zwiegeſpraͤche von mehreren Perſonen
in ihrem Zimmer zu hoͤren, von denen ſie indeß ſo wenig
verſtand, daß ihre Gedankenverwirrung dadurch noch vermehrt
wurde. Dabei wurde ihr Schaamgefuͤhl durch die Anweſen¬
heit eines Mannes verletzt, und ein fortwaͤhrendes Getoͤſe im
Hauſe, wie wenn Thuͤren heftig zugeworfen wuͤrden, ver¬
muthlich eine Sinnestaͤuſchung, erhielt ſie in ſteter Unruhe.
In wiefern es gegruͤndet ſein mag, daß ein Anweſender ſie
fuͤr eine Abtruͤnnige von Gott erklaͤrt und zur Buße aufge¬
fordert habe, muß auf ſich beruhen, wenn es auch viel wahr¬
ſcheinlicher iſt, daß eine ſolche noch dunkel vor ihrer Seele
ſchwebende Scene eine leere Ausgeburt ihrer Phantaſie war,
deren Schreckbilder aus dem finſteren Hintergrunde ihres Be¬
wußtſeins hervortraten. Die Anweſenden erſchienen ihr als
zwei einander feindlich geſinnte Partheien, deren Unverſoͤhn¬
lichkeit ſie im innerſten Herzen beklagte, und damit die Vor¬
ſtellung verband, wenn die Menſchen nicht auf Erden in Frie¬
den zuſammen lebten, ſo koͤnnten ſie noch weniger in der
Ewigkeit mit Gott verſoͤhnt ſein. Ja ſie ſah hierin eine
wahre Verſuchungsgeſchichte, als ob der boͤſe Feind mit ihr
ſein Spiel triebe, und ihre Schwaͤchen mißbrauchen wolle,
und brach zuletzt in die Worte aus: der Teufel muß doch
[76] abziehen, er kann mir Nichts thun, meine Seele gehoͤrt Gott
dem Herrn. In dem aͤrztlichen Zeugniſſe, welches ihre Auf¬
nahme in die Charité bewirkte, wird hieruͤber bemerkt, ſie
habe geaͤußert, daß ſie von Teufeln umſchwaͤrmt und geſchla¬
gen werde, und daß ſie nur durch ihr eifriges Gebet Ruhe
erlangt habe; zugleich ſei ihr der Vorſteher der Wiedertaͤufer
in einem hellen Punkte erſchienen. Bei zunehmender Angſt
uͤber die vermeintlich boͤſen Abſichten der Anweſenden und bei
dem ſehnſuͤchtigen Verlangen nach Befreiung von ihren Lei¬
den, dem niemals Genuͤge geleiſtet wurde, war es ihr zuletzt,
als ob ihr der Odem ausgehe. Erſt als Anſtalten zu ihrem
Transporte nach der Charité getroffen wurden, empfand ſie
Ruhe, als ob der boͤſe Feind von ihr gewichen ſei; aber na¬
tuͤrlich konnte bei der Groͤße ihres Seelen- und Koͤrperleidens
dieſe Erleichterung nicht dauernd ſein.


Bei ihrer am 24. Februar 1845 erfolgten Aufnahme in
die Irrenabtheilung befand ſie ſich wieder in großer Angſt; ſie
erklaͤrte ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, und glaubte Teufel
um ſich zu erblicken, welche ſich ihrer bemaͤchtigen wollten.
Die große Verworrenheit ihres Geiſtes geſtattete kein fortge¬
ſetztes Geſpraͤch mit ihr, und als ſie ſpaͤter zu groͤßerer Ruhe
und Beſinnung zuruͤckgekehrt war, blieb nur eine dunkle Er¬
innerung an jene Wahnvorſtellungen. Noch brachte ſie die
naͤchſte Nacht in aͤußerſter Unruhe zu, ſprach viel von began¬
genen ſchweren Suͤnden, forderte Gebetbuͤcher, und war auch
noch waͤhrend der naͤchſten Tage auf gleiche Weiſe in hohem
Grade befangen und beklommen. Indeß unter der Anwen¬
dung von lauwarmen Baͤdern mit kalten Uebergießungen uͤber
den Kopf und von gelinden Abfuͤhrungen trat bald eine auf¬
fallende Beſſerung ein; ſie ſchlief in den Naͤchten ſehr feſt,
wurde mit jedem Tage ruhiger, und ſchon im Verlaufe des
naͤchſten Monats waren alle koͤrperlichen Beſchwerden gaͤnzlich
gewichen. Als ſie uͤber ihren Zuſtand ſich naͤher erklaͤren
konnte, ſprach ſie es beſtimmt aus, daß ſie noch immer un¬
ter der despotiſchen Macht der Wiedertaͤufer zu ſtehen glaubte,
wobei ſie erwaͤhnte, daß ſie Gott eifrig um Befreiung von der¬
ſelben angefleht habe. Es kamen hierbei die meiſten oben
mitgetheilten Thatſachen zur Sprache, wobei es ſich offenbarte,
[77] daß es ihr gaͤnzlich an Kraft gebrach, ſich jenem myſtiſchen
Einfluͤſſe zu entziehen. Alle myſtiſchen Regungen ſind aber
außerordentlich ſchwer zu unterdruͤcken, da ſie ſich ganz dem
Gebiete der deutlichen Begriffe entziehen, und dennoch eine ſo
große Gewalt uͤber die Seele ausuͤben, weil ſie das Bewußt¬
ſein dergeſtalt in Feſſeln ſchlagen, daß die ſchaͤrfſte Dialektik
mit allen moͤglichen Pflicht- und Erfahrungsbegriffen nicht den
geringſten Eindruck auf den ganz verdumpften Verſtand macht.
Ja die Myſtik paralyſirt geradezu die geſammte Denkkraft in
einem ſolchen Grade, daß letztere kaum mehr bei voͤlligem
Widerſpruche der Vorſtellungen der Nothwendigkeit ihrer Aus¬
gleichung inne wird, und hoͤchſtens in kraftloſen Verſuchen
dazu ihre Ohnmacht erfaͤhrt. Unausgeglichene Widerſpruͤche
haben aber eine truͤbe, innerlich zerſtoͤrende Gaͤhrung des Den¬
kens zur unvermeidlichen Folge, deren letzter Ausgang eine voͤl¬
lige Geiſtesverwirrung, naͤmlich eine gaͤnzliche Aufloͤſung des
logiſchen Zuſammenhangs alles Denkens ſein muß. In die¬
ſen Saͤtzen liegt die vollſtaͤndige Erklaͤrung der unermeßlichen
Macht, welche die fanatiſche Hierarchie bis auf den heutigen
Tag uͤber das Menſchengeſchlecht ausgeuͤbt hat, einer Macht,
welche ſchlechthin unbegreiflich ſein muͤßte, da ſie in abſoluter
Feindſchaft mit allen menſchlichen Gefuͤhlen und Beſtrebungen,
ſo wie mit den ewigen Wahrheiten der reinen Chriſtuslehre,
laͤngſt von dieſen heiligen Intereſſen im Bunde mit der Wiſ¬
ſenſchaft und Vernunft vertilgt worden waͤre, wenn ſie nicht
in dem Dunkel myſtiſcher Gefuͤhle eine faſt unangreifbare Stel¬
lung behauptete, von welcher aus ſie die Gemuͤther der un¬
aufgeklaͤrten Maſſen mit despotiſcher Gewalt beherrſcht.


Das Uebel iſt daher weit ſchlimmer, als es dem Unkun¬
digen ſcheint, welcher ſich durch ſolche Zuſtaͤnde leicht taͤuſchen
laͤßt, wenn ihnen nicht durch grelle Wahnvorſtellungen ein
auffallend verkehrtes Anſehen gegeben wird. Die Schwierig¬
keit des Heilverfahrens trat bei der W. in einem beſonders
hohen Grade hervor, da ſie ſchon ſeit einer Reihe von Jah¬
ren vergebens gegen jene ihr Denken desorganiſirende Macht
einer fanatiſchen Myſtik gerungen hatte, niemals uͤber ihre
Zweifel aufgeklaͤrt wurde, und jeden Vorſatz, aus der Secte
der Wiedertaͤufer auszuſcheiden, ſcheitern ſah. Was half es
[78] ihr, daß ihre fruͤheren tief gegruͤndeten religioͤſen Ueberzeugun¬
gen, ihr ſittliches Gefuͤhl ſich gegen letztere empoͤrten; ſie hatte
in dem ſtets contemplativen Charakter ihres geiſtigen Lebens
zu ſehr alle innere Haltung und Energie verloren, um noch
irgend einen Schritt aus freier Selbſtbeſtimmung thun zu koͤn¬
nen, obgleich ihr Nichts leichter geweſen waͤre, als die ent¬
ſchiedene Ruͤckkehr zur evangeliſchen Kirchengemeinde, wovon
kein religioͤſes, ſittliches, politiſches Geſetz ſie zuruͤckhielt, ja
wovon ſie nicht den geringſten Nachtheil fuͤr ihre ſocialen
Verhaͤltniſſe zu befuͤrchten hatte. Aber ſie war eben in ih¬
rem Innern paralyſirt, und blieb ſich dieſer fuͤrchterlichen Gei¬
ſtesſklaverei um ſo deutlicher bewußt, je mehr ſie fruͤher nach
einer freien und ſelbſtſtaͤndigen Geſtaltung ihres religioͤſen Be¬
wußtſeins gerungen hatte. Ohne Uebertreibung kann man
daher ihren damaligen Seelenzuſtand mit dem der kleinen Voͤ¬
gel vergleichen, welche nach einer bekannten Sage durch den
Blick einer Klapperſchlange dergeſtalt fascinirt werden, daß
ſie betaͤubt das einfache Rettungsmittel der Flucht vergeſſen,
und ihrem Feinde in den Rachen fallen.


Wahrſcheinlich wuͤrden alle Bemuͤhungen, die W. zur
vollen Beſinnung und Geiſtesfreiheit zuruͤckzufuͤhren, ganz
vergeblich geweſen ſein, wenn nicht in ihr eine ſo große
Sehnſucht nach Rettung, welche ſie nicht aus eigenen Mitteln
bewerkſtelligen konnte, ſich erhalten haͤtte, und wenn ſie da¬
her nicht allen zu ihrer Heilung getroffenen Anordnungen ſo
bereitwillig entgegengekommen waͤre. Sie war ein Muſter des
Fleißes, der Ordnungsliebe und des geſitteten Betragens uͤber¬
haupt, und nahm mit dem groͤßten Eifer an dem auf der Ir¬
renabtheilung eingefuͤhrten Unterricht Theil, welcher ſowohl eine
richtige Leitung des ſittlichen und religioͤſen Bewußtſeins der
Kranken, als eine heilſame Bethaͤtigung ihres Verſtandes mit
nuͤtzlichen Kenntniſſen zur Aufgabe hat. Freilich hielt es noch
lange ſehr ſchwer, ſie uͤber ihr Inneres aufzuklaͤren, da ſie
durch eine ſolche Menge von Vorurtheilen und ſchiefen Be¬
griffen irre geleitet, und durch den unmittelbaren Angriff aus
dieſelben ſo leicht in eine ſchwaͤrmeriſche Stimmung verſetzt
wurde, in welcher ſie die einfachſten Lehren falſch verſtand,
daß es eine Reihe von Monaten ſehr zweifelhaft blieb, ob ſie
[79] je wieder zur vollen Geiſtesfreiheit gelangen wuͤrde. Indeß
ſie war dem Einfluſſe der Wiedertaͤufer gaͤnzlich entruͤckt; ſie
empfand eine ſo tiefe Befriedigung bei der wiederholt gegebe¬
nen Verſicherung, daß die vermeintliche Macht derſelben uͤber
ſie lediglich in der Einbildung begruͤndet ſei, eben weil dieſe
Verſicherung ihrem ſehnſuͤchtigen Verlangen entſprach; nach
vieljaͤhrigen Glaubensſtreitigkeiten und Wirren fand ſie endlich
Frieden und Aufklaͤrung, welche mit ihrer fruͤheren Geſinnung
und Denkweiſe uͤbereinſtimmten, ſo daß ihr allmaͤhlig die Schup¬
pen von den Augen fielen, und ſie im Laufe des Sommers
immer mehr mit ſich in Uebereinſtimmung kam. Um indeß die
Gewißheit zu erlangen, daß ſie mit ihrer innerſten Ueberzeu¬
gung in einem berichtigten Denken wieder einen feſten Grund
und Boden gefunden habe, wurde es nothwendig, ihr die
Aufgabe zu ſtellen, daß ſie die Ereigniſſe ihres bisherigen Le¬
bens ausfuͤhrlich ſchilderte, um zu zeigen, in welchem Sinne
ſie dieſelben auffaſſe. Ihre Selbſtbiographie fuͤllte nicht weni¬
ger als 12 eng geſchriebene Bogen, enthielt zwar viel Ueber¬
fluͤſſiges, war aber in einem ſo durchweg richtigen Urtheile
uͤber alle Perſonen und Verhaͤltniſſe, namentlich auch uͤber ſich
ſelbſt gedacht, daß nicht laͤnger an ihrer vollſtaͤndigen Wieder¬
herſtellung gezweifelt werden konnte, zumal da in ihrem Ge¬
muͤthe ſchon ſeit langer Zeit der tiefſte Friede und eine unge¬
truͤbte Heiterkeit waltete, und ſie auch in koͤrperlicher Bezie¬
hung der vollſten Geſundheit ſich erfreute. Daher konnte ſie
am 12. Januar 1846 unbedenklich als geheilt entlaſſen werden.

4.

S., im Jahre 1815 in Berlin geboren, iſt die Toch¬
ter eines Faͤrbers, welcher durch den Verluſt ſeines Vermoͤ¬
gens genoͤthigt wurde, ſich nach einer kleinen Provinzialſtadt
uͤberzuſiedeln, wo er aller Anſtrengungen ungeachtet ſich nicht
aus großer Duͤrftigkeit emporarbeiten konnte, welche bei einer
Schaar von 11 Kindern um ſo druͤckender von Allen empfun¬
den werden mußte. Dennoch herrſchte in der Familie die in¬
nigſte Eintracht als die treue Begleiterin reiner Sitte und red¬
lichen Fleißes. Unſere Kranke zeigte ſchon in fruͤher Kindheit
[80] eine große Schweigſamkeit, fuͤhrte ein von ihren Altersgenoſ¬
ſen zuruͤckgezogenes Leben, weil ihr zarter, empfaͤnglicher Sinn
durch die Vorſtellung des haͤuslichen Elendes zeitig verduͤſtert
wurde, und ſich auf den Ernſt der Lebensbeduͤrfniſſe richtete,
ſo daß ſie bereits im 10. Jahre bei der Fuͤhrung der haͤusli¬
chen Geſchaͤfte und bei der Pflege ihrer Geſchwiſter eine große
Umſicht, Geſchicklichkeit und Thaͤtigkeit entwickelte. Durch die
haͤufigen Andachtsuͤbungen ihrer Aeltern wurde ihr religioͤſes
Gefuͤhl zeitig geweckt, und bei der ſtets herrſchenden Noth bald
in eine ſchwaͤrmeriſche Stimmung verſetzt, welche ſich um ſo
leichter erklaͤrt, je mehr ihr zartes, leicht erregbares Gemuͤth
von einer durch die geringfuͤgigſten Ereigniſſe verletzbaren Reiz¬
barkeit beherrſcht wurde. Der Contraſt ihres von den bitter¬
ſten Leiden und Entbehrungen erfuͤllten Lebens mit der geiſti¬
gen Erhebung durch jene Andachtsuͤbungen ließ ſie letztere ſo
lieb gewinnen, daß ſie ſchon fruͤhzeitig in religioͤſe Betrachtun¬
gen ſich vertiefte, und eine wahre Sehnſucht nach der unmit¬
telbaren Anſchauung Gottes und der Engel empfand, deren
Herrlichkeit ſie mit mannigfachen Bildern der Phantaſie ſich zu
vergegenwaͤrtigen ſtrebte.


Mit jedem Jahre verſchlimmerte ſich die Lage ihrer Aeltern,
ſo daß ſie von hartherzigen Glaͤubigern ausgepluͤndert oft die
druͤckendſte Noth leiden mußten, welche fuͤr ſie um ſo uner¬
traͤglicher war, da ihr ſittlicher Charakter ihnen die ſchlimme
Selbſthuͤlfe der Bettelei abſchnitt. Wie haͤtte das weiche Ge¬
muͤth unſrer Kranken bei taͤglicher Theilnahme an den haͤrte¬
ſten leiden nicht den letzten Reſt von Heiterkeit und Neigung
zur Geſelligkeit einbuͤßen ſollen? Sie wurde immer ſchweigſa¬
mer und menſchenſcheuer, und in dem Maaße, als unter dem
ſteten Druck der haͤrteſten Drangſale ihre ſchwache Kraft er¬
lahmte, verlor ſie allmaͤhlig die Neigung, im Hausweſen thaͤ¬
tig zu ſein, da ſie nur nach Troſt im eifrigen Leſen von An¬
dachtsbuͤchern fand. Ihrer ſchwaͤrmeriſchen Stimmung ent¬
ſprach vornaͤmlich die Erzaͤhlung von Heiligen und von Wun¬
dern, welche Gott an Frommen offenbarte, wodurch ſich ihr
das Reich der himmliſchen Gnade eroͤffnete, welche ſo oft der
groͤßten Noth unmittelbare Huͤlfe gebracht hat. Durch die
Schilderung der Barmherzigkeit Gottes gegen Ungluͤckliche,
[81] womit ihre Aeltern ſich ſo oft troͤſteten, gerieth ſie in ekſta¬
tiſches Entzuͤcken, ihre Augen ſtrahlten, ihre Lippen floſſen von
begeiſterter Rede uͤber, und es iſt bei dem ſchlichten Sinne
ihrer Angehoͤrigen wenigſtens verzeihlich, wenn ſie in ihr einen
wahren Engel zu erblicken glaubten. Wer mag berechnen,
in wiefern ſie dadurch die im weiblichen Herzen nie ganz
ſchlummernde Eitelkeit bei unſrer Kranken weckten, und an¬
ſtatt ihre Schwaͤrmerei durch weiſe Disciplin zu beſchraͤnken,
ihr durch die Vorſtellung einer Bevorzugung bei Gott nur
noch eine ſtaͤrkere Gluth einhauchten, und ſomit den Ausbruch
ihres ſpaͤteren Wahnſinns befoͤrderten? Unter dieſen Bedingun¬
gen konnte der empfangene Religionsunterricht an ihrer Denk¬
weiſe nichts Weſentliches mehr aͤndern, denn der entſchiedene
Sinn eignet ſich von allen aͤußeren Anregungen nur das an,
was ihm zuſagt, um ſich gegen jede anderweitige Betrachtung
hartnaͤckig zu verſchließen.


Obgleich ihre koͤrperliche Entwickelung unter den geſchil¬
derten unguͤnſtigen Bedingungen zuruͤckblieb, ſo litt ſie doch
nicht eben an hervorſtechenden Krankheitszufaͤllen, außer daß
ſie eine Zeit lang vor dem im 18. Jahre erfolgten Eintritt
ihrer Menſtruation mit Anfaͤllen von Nachtwandeln behaftet
war, welche ſich aus der Ueberreizung des Nervenſyſtems durch
anhaltende Schwaͤrmerei bei unthaͤtiger Lebensweiſe um ſo
leichter erklaͤren laſſen, da aͤhnliche Erſcheinungen bei jungen
Maͤdchen, waͤhrend ihrer Pubertaͤtsentwickelung, nicht ſelten
beobachtet werden. Auch verſchwand das Nachtwandeln beim
Beginnen der Menſtruation, obgleich letztere nicht regelmaͤßig
wiederkehrte. Statt deſſen ſtellte ſich jedoch etwas ſpaͤter ein
Leiden ein, welches auf ihr Gemuͤth einen tiefen Eindruck
machte. In Folge wiederholter Erkaͤltung entſtand naͤmlich
ohne andere ſchlimme Zufaͤlle jene eigenthuͤmliche, faſt immer
unheilbare Laͤhmung der Geſichtsnerven (auf der linken Seite),
welche immer eine widrige Entſtellung des Geſichts durch das
Vertrocknen und Einſchrumpfen der Wangenmuskeln zur Folge
hat. Sie wurde in Berlin von einem beruͤhmten Arzte lange
Zeit erfolglos behandelt, und behielt nun bleibend jene ab¬
ſchreckende Verunſtaltung des Geſichts, welches auf der rech¬
ten Seite die Friſche und Fuͤlle einer jugendlichen Wange,
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 6[82] und auf der linken die duͤrren, verzerrten, mißfarbigen Run¬
zeln einer Greiſin darbot. So ſcheiterte daher die letzte Hoff¬
nung, welche wohl in jedem jungfraͤulichen Herzen ſich regt,
daß die unverletzte Wohlgeſtalt einen Geliebten anlocken und
zum dauernden Lebensbunde bewegen werde. Sie empfand
dieſen herben Verluſt ſo ſchmerzlich, daß ſelbſt ihr religioͤſes
Bewußtſein, der einzige Lichtpunkt in ihrem verduͤſterten Leben,
ſich verfinſterte. Nicht nur floh ſie den Umgang mit andern
Menſchen faſt gaͤnzlich, ſondern im truͤben Sinnen gelangte ſie
auch zu der Ueberzeugung, daß Gott dieſe Strafe uͤber ſie ver¬
haͤngt habe, weil ſie die Heilswahrheiten ſich nicht genug zu
Herzen genommen habe, und in ihrem frommen Eifer zu lau
geweſen ſei. Natuͤrlich fand ſie hierin den ſtaͤrkſten Antrieb,
alles Andere uͤber anhaltende Andachtsuͤbungen zu verſaͤumen;
ſie zog ſich nicht nur von allen haͤuslichen Arbeiten gaͤnzlich
zuruͤck, ſondern beſtrebte ſich auch, den darbenden Aeltern aus
der Bibel Troſt zuzuſprechen, als ob es außer inbruͤnſtiger
Froͤmmigkeit kein Mittel gebe, ſich aus dringender Noth zu
erretten, welche allein durch goͤttliche Gnadenwunder beſeitigt
werden koͤnne. Daß die weichherzigen Aeltern ſich in voͤlliger
Rathloſigkeit befanden, wie ſie den irren Sinn der Tochter
zur Beſonnenheit zuruͤckleiten ſollten, begreift ſich leicht; ja als
es einmal mit letzterer ſo weit gekommen war, wuͤrde ſelbſt ein
tuͤchtiger Seelenarzt in einer wohleingerichteten Irrenheilanſtalt
ſchwerlich noch Etwas auszurichten vermocht haben, da laͤngſt
alle Intereſſen, durch deren Bethaͤtigung nur noch das Ueber¬
maaß der Froͤmmigkeit in die richtigen Schranken hatte zuruͤck¬
gedraͤngt werden koͤnnen, im Herzen der Kranken erſtickt waren.


Aber es warteten ihrer noch viel haͤrtere Pruͤfungen, welche
ihr Gemuͤth bis zu einer fruͤher ungekannten Tiefe in die furcht¬
barſte Erſchuͤtterung verſetzen ſollten. Waͤhrend ſie nur noch in
heißeſten Gebeten lebte, um Gott gleichſam Gnade abzuringen,
ertrank einer ihrer Bruͤder. Kurz vor deſſen Beerdigung, de¬
ren Koſten nicht mehr zu erſchwingen waren, confiscirten Ge¬
richtsdiener im Auftrage von Glaͤubigern die letzte Habe der
ungluͤcklichen Aeltern, und nahmen, da ſie kaum, noch Etwas
von Werth vorfanden, einem andern Bruder ſeine beſten Klei¬
der. Letzterer ſetzte ſich dabei zur Wehre, weil er ohne jene
[83] die Leiche ſeines Bruders nicht zum Grabe begleiten konnte,
gab indeß zuletzt mit ſchwerem Herzen nach, und oͤffnete hier¬
auf eine Grube, in welcher der Wintervorrath von Kartoffeln
aufbewahrt wurde. Er fand ſie ſaͤmmtlich verfault, und von
Entſetzen uͤber alles fruͤhere Elend und uͤber bevorſtehende grim¬
mige Noth ergriffen, gerieth er in die heftigſte Wuth, und
warf ſich, nach Hauſe zuruͤckgekehrt, auf unſere Kranke und
ihre Schweſter, um beide zu ermorden. Nur die herbeieilen¬
den Aeltern konnten den Frevel verhindern, jedoch nicht die
Wuth des Raſenden baͤndigen, welcher aus dem Hauſe ent¬
floh, mit einem Beile ſich die Hand abhieb, und in Ketten
gelegt werden mußte, in denen er bald darauf ſtarb. Jeder
Verſuch, mit grellen Farben ein Gemaͤlde der groͤßten See¬
lennoth zu entwerfen, iſt faſt eine leichtſinnige Verhoͤhnung
zu nennen; ſie hat in ihrer Erſcheinung faſt die Majeſtaͤt des
Unermeßlichen, welches keine beſchauende Vorſtellung umfaßt.
Wir koͤnnen daher uͤber den damaligen Seelenzuſtand der S.
nur ſo viel ſagen, daß derſelbe die Verzweiflung unter dem
Schleier der Religion war, naͤmlich jene Todesangſt, welche
ſich noch an den Glauben als den letzten Rettungsanker klam¬
mert, ohne jedoch inmitten der tobenden und verſchlingenden
Brandung des Lebens noch irgend eines klaren Gedankens, ei¬
nes beruhigten und befriedigten Gefuͤhls theilhaftig werden zu
koͤnnen. Solche Zuſtaͤnde ſind die der innerlichſten Zerruͤttung,
deren ſchneidende Widerſpruͤche ſich erſt durch die ſchreiendſten
Diſſonanzen, fuͤr welche die Sprache keine Bezeichnung, die
Phantaſie kein Bild mehr hat, und welche hoͤchſtens noch die
Muſik mit ihren Tonfiguren ausdruͤckt, hindurchkaͤmpfen muͤſ¬
ſen, um uͤberhaupt erſt die Faſſung der Vorſtellungen und Ge¬
fuͤhle zu irgend einer Form nach innerem Geſetz wieder moͤglich
zu machen. Oft genug geht die Organiſation der Seele nach
einer ſolchen Verwuͤſtung fuͤr das ganze kuͤnftige Erdenleben
in voͤlliger Geiſtesverwirrung zu Grunde. Wenn die S. nicht
auf dieſe Weiſe einer gaͤnzlichen Selbſtvergeſſenheit zum Raube
wurde, ſo verdankt ſie dies allein ihrer tief gewurzelten Froͤm¬
migkeit, welche wohl erſchuͤttert, aber nicht mehr vertilgt wer¬
den konnte. In ihr fand ſie zuletzt doch die Kraft, ſich aus
der Betaͤubung und Erſtarrung im heftigſten Schmerze wieder
6 *[84] zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die
Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur
noch weiter geworden war.


Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die
Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt
worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch
nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb
weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬
men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen
nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn
je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft
mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth
ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt
der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬
ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich
des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte,
bis daſſelbe von dem Glan [...]e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬
hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬
ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬
ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬
digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre
Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche
und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte,
bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes.
Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬
ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen
laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬
dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬
taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte
nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬
punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬
wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der
Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit
der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der
Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬
ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe
im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬
ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur
[85] des Hinblicks auf das im innern Sinn erfahrene und in le¬
bendigſter Erinnerung feſtgehaltene Wunderzeichen, um den wan¬
kenden Muth mit friſchem Eifer wieder aufzurichten. Ihr Sinn
wandte ſich daher ſo entſchieden von der Wirklichkeit ab, daß
ſie fuͤr die Noth ihrer Aeltern kein Mitgefuͤhl mehr zeigte, denn
ſie glaubte ſchon einer inneren Seeligkeit theilhaftig geworden
zu ſein, welche ſelbſt die dunkelſten Verhaͤltniſſe des Lebens
mit himmliſchem Lichte uͤberſtrahlte. Aber eben weil ſie inner¬
lich beruhigt nicht mehr einen ſo leidenſchaftlichen Drang nach
fortgeſetzten Andachtsuͤbungen empfand, gab ſie wenigſtens den
Anforderungen der Aeltern, dieſelben zu beſchraͤnken, anſchei¬
nend nach, und nahm ſelbſt einen mechaniſchen Antheil an
haͤuslichen Geſchaͤften, wenn ſie auch alles Intereſſe an denſel¬
ben verloren hatte, und namentlich niemals bewogen werden
konnte, die bisherige Uebertreibung ihrer Froͤmmigkeit als ſolche
anzuerkennen.


Indeß weit entfernt, daß dieſe ſcheinbare Ruͤckkehr zur
Wirklichkeit durch Erweckung natuͤrlicher Neigungen einen wohl¬
thaͤtigen Einfluß auf ſie haͤtte ausuͤben koͤnnen, wurde dadurch
nur ein neuer Widerſtreit in ihr aufgeregt, weil die Ueberzeu¬
gung, daß ſie allein der Froͤmmigkeit ſich weihen muͤſſe, ſchon
viel zu tief in ihr begruͤndet war, als daß dieſelbe mit Nach¬
giebigkeit gegen die Forderungen der Aeltern ſich noch haͤtte ver¬
einbaren laſſen. Sie empfand daher eine lebhafte Unruhe,
welche als Gewiſſenszweifel in ihr den Wahn heraufbeſchworen,
daß ſie den Verlockungen des Satans ausgeſetzt ſei, durch wel¬
chen der Friede ihrer Seele geſtoͤrt wuͤrde. Von neuem ent¬
brannte daher der fromme Eifer, den Verſucher durch inbruͤn¬
ſtige Gebete und durch Geluͤbde eines Gott allein geweihten Le¬
bens von ſich zuruͤckzuſcheuchen, und es begreift ſich leicht, daß
Niemand von ununterbrochenen Andachtsuͤbungen ſie mehr zu¬
ruͤckhalten konnte. Waͤre noch eine Verſchlimmerung ihres
Seelenzuſtandes moͤglich geweſen, ſo wuͤrde er dadurch bewirkt
worden ſein, daß eine froͤmmelnde Verwandte in Berlin,
welche vermuthlich im Kreiſe anderer Betſchweſtern mit einer
ſolchen Heiligen Parade machen wollte, ſie zu ſich ins Haus
nahm, um ſich zugleich ihrer Pflege bei eigener Kraͤnklichkeit
zu bedienen. Daß in einer ſolchen pietiſtiſchen Umgebung nur
[86] noch andaͤchtige Herzensergießungen die Zeit unſrer Kranken
erfuͤllten, begreift ſich leicht. Inzwiſchen war ſie, von ihrer
Verwandtin huͤlflos gelaſſen, in die bitterſte Noth gerathen,
da ſie an Erwerbsthaͤtigkeit nicht im Entfernteſten dachte, ſon¬
dern die Ueberzeugung hegte, daß Gottes Gnade ſie mit Klei¬
dern, Speiſen, Wohnung und anderen Lebensbeduͤrfniſſen zur
Genuͤge verſehen werde. So erregte ſie die Aufmerkſamkeit
der Polizei, und da ſie ſich uͤber ihre Verhaͤltniſſe nicht genuͤ¬
gend ausweiſen konnte, wurde ſie ins Gefaͤngniß gefuͤhrt. Hier
mußte ihr frommer Sinn uͤber die aͤrgerlichen Geſpraͤche des
Geſindels, mit welchem ſie zuſammengeſperrt war, in Entruͤ¬
ſtung gerathen, daher ſie denn im Bekehrungseifer zur Buße
und zum gottſeeligen Wandel dringend ermahnte, ſich aber nur
bitteren Spott und Verhoͤhnung zuzog.


Am 27. Auguſt 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬
rité, woſelbſt ſie zuerſt der Abtheilung fuͤr innere Kranke uͤber¬
wieſen wurde. Sie brachte daſelbſt ihre ganze Zeit mit Beten
und Bibelleſen zu, lag dabei Stunden lang auch bei Nacht
in einer Ecke des Zimmers auf den Knieen, und weigerte ſich
hartnaͤckig, weibliche Arbeiten zu verrichten, indem ſie ſagte,
ſie muͤſſe Gott dienen, denn es ſtehe geſchrieben, betet ohne
Unterlaß, der liebe Gott werde ſchon Arbeiter fuͤr ſie finden.
Allen Einwendungen und Aufforderungen ſetzte ſie ſtets eine
Menge falſch angewandter Bibelſpruͤche entgegen, und gegen
ihre fruͤher zaͤrtlich geliebte Mutter zeigte ſie eine große Kaͤlte.
Sie wurde daher auf die Irrenabtheilung verlegt, woſelbſt ihr
Seelenzuſtand ſich unter den naͤmlichen Erſcheinungen darſtellte.
Unter anderem ſagte ſie noch aus, daß auch Chriſtus das Haupt
von einer Glorie umgeben, einmal waͤhrend ihres inbruͤnſtigen
Gebets zur Thuͤre hereingekommen ſei, ſich gegen ſie verneigt
habe, ohne jedoch ein Wort zu ſprechen, und hierauf verſchwun¬
den ſei, daher es denn ihre Pflicht ſei, ſich ununterbrochenen
Andachtsuͤbungen hinzugeben, um ſich die ihr beſonders wieder¬
fahrene goͤttliche Gnade zu erhalten, durch welche ſie jeder
Sorge fuͤr ihren Lebensunterhalt uͤberhoben ſei, da dieſen ihr
zu verſchaffen anderen Menſchen obliege. Bei einer anderen
Gelegenheit gab ſie Folgendes an: einſt habe ſie in ihrem Bette
gelegen, da ſei ihr der Hals ploͤtzlich ſo zugeſchnuͤrt worden, als
[87] wenn ſie erdroſſelt wuͤrde, welches Gefuͤhl ſo lange fortgedauert
habe, bis ſie „Herr Jeſus” habe rufen koͤnnen. Hierauf habe
ſie ſich erleichtert gefuͤhlt, und es ſei ihr geweſen, als wenn
Etwas vom Bette geſprungen waͤre, wobei es einen ordentlichen
Knall gegeben haͤtte. Ja, fuhr ſie fort, der boͤſe Geiſt geht
herum wie ein bruͤllender Loͤwe, und ſucht Alles zu verſchlin¬
gen. Bei einer anderen Veranlaſſung hatte ſie eine vollſtaͤn¬
dige Viſion des Teufels, welcher nach ihrer Schilderung von
der Groͤße eines Menſchen ſein, ein Horn auf dem Kopfe und
eine Habichtsnaſe haben ſolle, und welcher oft ein beſtaͤndiges
Poltern vor der Thuͤre ihres Zimmers erregt habe. Merkwuͤr¬
dig iſt auch noch ihre ſpaͤtere Aeußerung, ſie hoffte, der Him¬
mel werde ſich endlich durch ihr Gebet bewegen laſſen, ihr ent¬
ſtellendes Kopfleiden zu beſeitigen, gegen welches ſie bisher bei
Menſchen vergeblich Huͤlfe geſucht habe.


Es wuͤrde kein Intereſſe gewaͤhren, das ganz erfolglos in
Anwendung gebrachte Heilverfahren zu ſchildern, welches bis
zu ihrer im Auguſt des naͤchſten Jahres bewirkten Entlaſſung
aus der Anſtalt fortgeſetzt wurde. Seit einer Reihe von Jah¬
ren war durch anhaltende religioͤſe Schwaͤrmerei jedes andere
natuͤrliche Gefuͤhl in ihrem Gemuͤth ſo vollſtaͤndig unterdruͤckt
worden, daß wenigſtens in der angegebenen Zeit kein Umſchwung
ſeiner Thaͤtigkeit bewirkt werden konnte. Da jene Schwaͤrmerei
zugleich in Theophanieen eine vollſtaͤndige Rechtfertigung fuͤr
den in myſtiſchen Gruͤbeleien verdumpften Verſtand der Kran¬
ken fand, ſo wurde hierdurch ein eben ſo weſentlicher Grund
ihrer Unheilbarkeit bezeichnet. Nur in ſofern ließ ſich eine theil¬
weiſe Aenderung ihres Benehmens hervorrufeu, als ſie wenig¬
ſtens von den unausgeſetzten Andachtsuͤbungen abließ, und ſich
zu den uͤblichen weiblichen Beſchaͤftigungen bequemte; auch war
ihr Betragen im hoͤchſten Grade anſtaͤndig, geſittet und fried¬
fertig. Aber ihr Verſtand war zu tief in falſch verſtandenen
und uͤbelverdauten religioͤſen Begriffen verſtrickt, und durch ſie
zu ſehr aller Klarheit, Schaͤrfe und Folgerichtigkeit des Den¬
kens beraubt worden, als daß eine Berichtigung ſeiner Irr¬
thuͤmer haͤtte gelingen koͤnnen. Ihren Geſpraͤchen war daher
auch jene Eintoͤnigkeit der Vorſtellungen eigen, welche wir faſt
immer antreffen, wenn myſtiſche Gemuͤthsſtimmung dem Be¬
[88] wußtſeyn ihre ſtereotypen Formeln eingepraͤgt hat, welche mit
Ausſchließung aller dialektiſchen Verſtandesthaͤtigkeit auf einen
engſten Kreis von Begriffen ſich beſchraͤnken.

5.

M., 28 Jahre alt, die Tochter eines Coloniſten, mußte
nach dem fruͤhzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos
erdulden, von zwei Stiefmuͤttern, deren erſte durch Boͤsartig¬
keit ſogar ihren Vater zur Eheſcheidung noͤthigte, aͤußerſt lieb¬
los, ja grauſam behandelt zu werden. Als Probe dieſer ſchlech¬
ten Erziehung mag es dienen, daß die M. ſchon als kleines
Kind oft gezwungen wurde, auf der Wieſe eines Nachbarn
Gras fuͤr die Kuͤhe zu ſtehlen, und daß ſie unbarmherzig ge¬
zuͤchtigt wurde, wenn ſie entweder nicht Futter genug fuͤr die¬
ſelben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfaͤndet hatte.
Mit den kraͤnkendſten Schimpfworten uͤberſchuͤttet, durfte ſie
ſich kaum ſatt eſſen, und bei ihrem charakterloſen Vater
fand ſie gar keinen Schutz gegen dieſe Unbilden. Dennoch
hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen
mit Altersgenoſſen ſich fuͤr alles haͤusliche Ungemach entſchaͤ¬
digte, und da ſie uͤberdies ſtets einer guten Geſundheit ſich
erfreute, ſo ſchritt ihre koͤrperliche Entwickelung ungehindert
fort, ſo daß ſie zu einer bluͤhenden und kraͤftigen Jungfrau
heranwuchs.


Eine Reihe von Jahren, welche ſie nach erfolgter Ein¬
ſegnung als Dienſtmaͤdchen in mehreren Haushaltungen auf
dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verſtrich fuͤr
ſie unter ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen, da ſie faſt immer eine
harte und kraͤnkende Behandlung, ja ſelbſt bei geringfuͤgigen
Veranlaſſungen zuweilen Schlaͤge erdulden mußte, ſo daß ſie
oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt dieſen Anga¬
ben von ihr eine theilweiſe Uebertreibung zum Grunde, wie
ſie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu ſprechen
ſeyn mag; indeß nach laͤngerer Bekanntſchaft mit ihr muß
man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß ſie eine ſanfte,
friedliebende Gemuͤthsart beſitzt, und daß ſie durch Nichts Roh¬
[89] heit der Sitten oder gar noch ſchlimmere Fehler verraͤth. Un¬
ſtreitig iſt der laͤngere Aufenthalt in einem Irrenhauſe ein ri¬
goroͤſes Examen des Charakters, da die Kranken ihren Leidens¬
genoſſen gegenuͤber in einer Lage ſich befinden, durch welche
die verſteckteſten Seiten ihres Herzens ans Licht kommen. Ih¬
rem Naturell iſt uͤberdies eine heitere Freundlichkeit eigen, und
ſie verſichert, daß ſie nur zuweilen ganz niedergebeugt geweſen
ſei, wo ſie dann Troſt im Leſen der Bibel und einiger An¬
dachtsbuͤcher zu ſchoͤpfen ſuchte, weil ihr der Beſuch der Kir¬
chen ſelten geſtattet wurde. Erſt als ſie vor einigen Jahren
ſich nach Berlin uͤberſiedelte, geſtaltete ſich ihr aͤußeres Leben
guͤnſtiger, da ſie in wechſelnden Dienſtverhaͤltniſſen einer menſch¬
licheren Behandlung ſich zu erfreuen hatte. Zuletzt (im Jahre
1845) war ſie Magd bei einem hieſigen Poſamentier, deſſen
naher Verwandter, ein Oberlehrer in einer hieſigen Schule,
bei ſeinen haͤufigen Beſuchen durch ſein freundliches Beneh¬
men einen tiefen Eindruck auf ſie machte, ungeachtet er nie
in ein laͤngeres Geſpraͤch mit ihr ſich einließ, und noch weni¬
ger ihr eine beſondere Aufmerkſamkeit bewies. Sie bekennt
ſelbſt, daß ſie ſich nicht ſatt an ihn habe ſehen koͤnnen, daß
ſie oft unwillkuͤrlich an ihn habe denken muͤſſen, und daß in
ihr der Wunſch aufgeſtiegen ſei, ſeine Gattin zu werden, wenn
ſie ſich auch ſelbſt geſagt habe, daß er als Gelehrter weit
uͤber ihren Stand ſei.


Kaum ein Vierteljahr hatte die M. Gelegenheit, ihn zu
ſehen, als ſeine Abreiſe nach Tyrol erfolgte, wo er durch den
Sturz von einem Felſen ſein Grab fand. Sie hatte bis da¬
hin ihr Geheimniß ſorgfaͤltig in ihre Bruſt verſchloſſen, konnte
ſich aber des Gedankens nicht erwehren, daß ſie als ſeine
Gattin das hoͤchſte Gluͤck genießen wuͤrde, befreit von aller
Noth, welche ſie bisher im reichlichſten Maaße erfahren zu
haben meinte, daher ſie ſich ſtets einredete, ſie ſei zum Leiden
geboren. In ſtets erregter Stimmung wurde ſie fuͤr aͤußere
Eindruͤcke ganz beſonders empfaͤnglich; daher wurde ſie eines
Tages durch das mehrmalige Stillſtehen einer Wanduhr hef¬
tig erſchreckt, weil ſie aus Aberglauben hierin die Ankuͤn¬
digung eines großen Ungluͤcks fand, und namentlich meinte,
ihr Vater ſei geſtorben. Spaͤter, als ſie die Nachricht von
[90] dem toͤdtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte ſie es
durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬
ſterer genau mit dem Stilleſtehen der Uhr zuſammentreffe. Sie
hatte im alltaͤglichen Geleiſe des haͤuslichen Lebens ſchwerlich
ein deutliches Bewußtſein von der Staͤrke ihrer Leidenſchaft,
welche von der einlaufenden Todesbotſchaft toͤdtlich getroffen,
ſie mit Entſetzen erfuͤllte, wie denn der Menſch uͤberhaupt
ſeine wahre Geſinnung erſt in erſchuͤtternden Kataſtrophen recht
kennen lernt, in deren ſtrenger Probe nur die aͤchten, natur¬
wahren Gefuͤhle, nicht aber die erkuͤnſtelten, aͤußerlich ange¬
woͤhnten Empfindungen beſtehen. Nicht nur zitterte ſie wie
in einem heftigen Fieberſchauer, ſondern ſie ſah auch in einer
urploͤtzlichen Viſion ein offenes Grab, und auf deſſen Grunde
einen Sarg, durch deſſen geborſtenen Deckel der Verſtorbene
ſich aufrichtete. Waͤhrend der naͤchſten Stunden konnte ſie ſich
gar nicht faſſen und ſammeln, und bei dem Wehklagen in
der Familie glaubte ſie unter die Erde ſinken zu muͤſſen. Noch
kaͤmpfte ihre ruͤſtige Natur gegen dieſen Schlag an, und ſie
erlangte wenigſtens ſo viele aͤußere Ruhe wieder, daß ſie ihre
Arbeiten, wenn auch mit großer Anſtrengung und nur unvoll¬
ſtaͤndig verrichten konnte. Aber ſchon trug ſie den Entwicke¬
lungskeim einer Geiſteskrankheit in ſich, denn ſie mußte im¬
merfort an den Verſtorbenen denken, brach dabei haͤufig in
Weinen aus, uͤber deſſen Urſache befragt ſie ſich mit heftigem
Kopfweh entſchuldigte, und gerieth oft in die heftigſte Angſt.
Wie ſtark ſchon damals ihre Selbſttaͤuſchung war, geht beſon¬
ders daraus hervor, daß ſie hartnaͤckig die Ueberzeugung feſt¬
hielt, der Verſtorbene ſei nur ſcheintodt geweſen, und werde
gewiß wiederkehren. Sie gerieth daruͤber ſelbſt mehrmals in
Streit mit einer anderen Magd, welche ſie eine Thoͤrin ſchalt,
und ihr Schweigen gebot, ja ſie ging ſo weit, gegen jene zu
behaupten, der Verſtorbene werde nicht nur wiederkehren, ſon¬
dern auch ſie heirathen, worauf ſie die kraͤnkende Bemerkung
hoͤren mußte: „auf ſie werde er auch gerade gewartet haben.”
Begierig ſuchte ſie die Zeitungen auf, welche jenen Ungluͤcks¬
fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke
in ihrer widerſprechenden Ueberzeugung irre gemacht werden,
wie es denn uͤberhaupt oft genug ſich ereignet, daß Geiſtes¬
[91] kranke behaupten, man habe die Zeitungen umgedruckt, um ſie
zu taͤuſchen. Ja ein von mir behandelter gemuͤthskranker Arzt
behauptete hartnaͤckig, alle ſeine mediziniſchen Buͤcher ſeien von
ſeinen Feinden umgedruckt worden, um ihn voͤllig irre zu
leiten.


Eben weil ſie in hartnaͤckiger Selbſttaͤuſchung die Ueber¬
zeugung feſthielt, der Verſtorbene werde wiederkehren, gelangte
ſie ſchon nach einigen Wochen wieder zu einer theilweiſen Ruhe
und ſelbſt Freudigkeit. Unablaͤſſig mit ihrem Liebeswahn be¬
ſchaͤftigt, nahm ſie denſelben ſogar in ihre naͤchtlichen Traͤume
hinuͤber, aus denen ihre Gefuͤhle neue Nahrung ſchoͤpften. Etwa
3 Wochen nach der erhaltenen Todesnachricht erſchien ihr der
Verſtorbene im Traume ganz verhuͤllt mit einem grauen Man¬
tel, um ſeine Verwandten zu uͤberraſchen, welche ihn aber mit
der Erklaͤrung abwieſen, er ſei es nicht. In einem zweiten
Traume erblickte ſie ihn, mit Stricken gebunden, ſie mit ſtar¬
ren Augen anſchauend, und mit lahmen Schritten umherwan¬
kend, wobei die Anweſenden bemerkten, er werde nicht lange
mehr leben. Im dritten Traume ſah ſie ihn am ganzen Leibe
braun, wie mit Blut unterlaufen; ſie ſprach zu ihm, daß ſie
ihm die Kraͤnze zeigen wolle, welche ſie geholt habe, worauf
er erwiederte, ſie muͤſſe zuvor nach Tyrol zu ihm kommen.
Zugleich kam es ihr vor, als ob er ſie aus der Kuͤche abho¬
len wolle, woruͤber ſie in Ohnmacht fiel, von ihm aber mit
den Worten getroͤſtet wurde: „Geniren Sie ſich nicht, Sie
ſind ja bei mir geweſen, mit mir uͤber die Felſen gegangen.”
Hierbei erwachte ſie, ſah um ſich, glaubte ihn erblicken zu
muͤſſen, und fand namentlich in dieſem Traume die Beſtaͤti¬
gung dafuͤr, daß er nicht geſtorben ſei. Uebrigens hatte ſie
die Kraͤnze, welche ſie ihm im Traume zeigen wollte, wirk¬
lich bei einem Gaͤrtner beſtellt, um ſie ihm bei ſeiner als nahe
geglaubten Ankunft zum Empfang zu reichen. Es waren vier
Kraͤnze, welche aus Vergißmeinnicht, Roſen, Myrthen und
weißen Blumen gewunden uͤber ihre Bedeutung keinen Zweifel
uͤbrig laſſen; ſie hatte fuͤr dieſelben 1½ Thaler bezahlt, und
erhielt ſie eine Woche hindurch friſch im Waſſer, ließ ſie aber
alsdann vertrocknen, als ſie vergeblich auf ſeine Ankunft ge¬
harrt hatte. Zugleich glaubte ſie, von ihrer bereits vor zwanzig
[92] Jahren verſtorbenen Mutter ſei ihre Ausſtattung im Himmel
beſorgt worden, auch habe Gott ihren Lebenswandel geſehen,
und da ſie aus freiem Willen gut geweſen, ſo habe es ihre
Mutter durch eifriges Gebet zu Gott dahin gebracht, daß es
fuͤr ſie und die ganze Welt beſſer werde. Sie waͤhnte, der
Verſtorbene werde durch die Wolken kommen, ſie abzuholen,
und er werde ihr die Siegerkrone und den Ehrenſtab mit den
Worten reichen: „Wohl dir du Kind der Treue, du haſt und
traͤgſt davon mit Ruhm und Dankgeſchreie den Sieg, die Eh¬
renkron. Gott giebt dir ſelbſt die Palme in deine rechte Hand,
und du fingst Freudenpſalme Dem, der dein Leid gewandt.”
Sie war von dieſer bevorſtehenden uͤbernatuͤrlichen Erſcheinung
des Geliebten dergeſtalt uͤberzeugt, daß ſie die Gaͤrtnerin ein¬
lud, nach den Linden zu kommen, wo ſich etwas Großes er¬
eignen werde, und fuͤgte hinzu, wenn es fruͤhe regnet und
hierauf ſtuͤrmt, ſo folgt endlich Sonnenſchein, Gott habe
ſie erſt pruͤfen und dann belohnen wollen.


Da aber der Erwartete immer nicht kam, ſo wurde ſie
von großer Angſt unbefriedigter Sehnſucht uͤberfallen, ſie litt
oft an betaͤubendem, heftigem Kopfſchmerz, konnte nicht mehr
ruhig ſchlafen, ſchreckte oft aus ihren Traͤumen auf, verlor
den Appetit, und ihre Koͤrperkraͤfte wurden nur noch durch
die krampfhafte Spannung der Leidenſchaften aufrecht erhalten.
Auch war es ſchon ſo weit mit ihr gekommen, daß ſie ihre
Arbeiten verſaͤumte, und ihre Herrſchaft ihr den Dienſt auf¬
kuͤndigen mußte. Anfangs fiel es ihr gar nicht ein, ſich um
einen neuen zu bewerben, denn ſie war uͤberzeugt, der Ver¬
ſtorbene werde bald wiederkehren und ſie heirathen. Spaͤter
bemuͤhte ſie ſich doch um einen neuen Dienſt; da aber diejeni¬
gen, bei denen ſie ſich meldete, ſich nicht bei ihrer bisherigen
Herrſchaft nach ihrem Betragen erkundigten, ſo glaubte ſie,
es ſei ſchon allgemein bekannt, daß der Verſtorbene ſie nach
Tyrol abholen werde. Mit jedem Tage ſteigerte ſich ihre lei¬
denſchaftliche Spannung, und hieraus entſprang eine Ideen¬
aſſociation, welche ſich ſo haͤufig bei Schwermuͤthigen entwik¬
kelt, welche im Gefuͤhl ihrer Leiden eine Strafe Gottes fuͤr
ihre Suͤnden erblicken. Die M. hegte daher die Ueberzeugung,
ſie ſei in Suͤnden geboren, muͤſſe in Suͤnden umkommen, weil
[93] ſie ſich immer ſchlecht in der Welt betragen habe, beſonders
weil ſie den Verſtorbenen durch ihre heiße Sehnſucht im Grabe
beunruhigt habe. Sie ſuchte Troſt zu ſchoͤpfen aus dem flei¬
ßigen Leſen der bekannten Erbauungsſchrift, Stunden der An¬
dacht, woſelbſt ſie die Aeußerung gefunden haben will: „Der
erſte Menſch iſt aus Erde geboren, und mußte wieder zur
Erde werden; wir aber ſind in der Zeit nach Chriſtus gebo¬
ren, und werden des ewigen Lebens theilhaftig werden.” Weit
entfernt, dieſen ſymboliſch ausgedruͤckten Satz in ſeiner tieferen
Bedeutung zu ergreifen, entwickelte ſie aus ihm ein Gewebe
von Wahnvorſtellungen, mit denen ſie ſich uͤberredete, ſie ſelbſt
ſei aus dem Geiſte geboren, und Gott habe ſie deshalb zu
der Felſengruft des Verſtorbenen gefuͤhrt, um ihn vom Tode
zu erwecken, und dabei zu ihr geſprochen: hier iſt der Mann,
welcher ſich fuͤr die Welt aufgeopfert hat, auch ſie habe daſ¬
ſelbe gethan, daher ſollten ſie beide einen Ehebund ſchließen,
und mit demſelben der Welt ein Vorbild zu allem Guten ge¬
ben, damit Freude in dieſelbe komme, und alle Voͤlker eine
Heerde unter einem Hirten bildeten. Dieſe Vorſtellung weiter
ausſpinnend ſagte ſie ſich, der Verſtorbene beſitze als Gelehrter
die hoͤchſten Geiſtesgaben, die Menſchen zum wahren Glauben
zu fuͤhren, damit Alle evangeliſch wuͤrden; von ſich ſelbſt
meinte ſie in Erinnerung aller uͤberſtandenen Leiden, ſie ſolle
fuͤr die Welt kaͤmpfen, wie Chriſtus in ſeiner verderbten Zeit
gethan, und ihr als ſeiner Nachfolgerin werde es gelingen, da
ſie wie er unſchuldig gebuͤßt habe, die ganze Welt durch ihr
Vorbild gluͤcklich zu machen. Deshalb habe auch Gott den
Verſtorbenen im Tode zu ſich gerufen, um ihm zu ſagen,
welche Leiden ſie ertragen habe, auf daß er mit ihr die
Welt erloͤſe.


Indeß wie anhaltend ſie auch dieſe Vorſtellungen in ſich
gehegt hatte, ſo wurde ſie doch der Vermeſſenheit derſelben
ſogar noch waͤhrend der Zeit ihres ſchon voͤllig ausgebildeten
Wahns deutlich ſich bewußt. Denn als ſie am Schaufenſter
eines Kunſthaͤndlers ein Bild von dem Leiden Chriſti erblickte,
fiel es ihr ein, daß ſie zwar viel gelitten habe, aber ſich doch
darin nicht mit Chriſtus vergleichen duͤrfe, und deshalb Gott
um Verzeihung fuͤr ihren Hochmuth bitten muͤſſe, in welchem
[94] ſie auch andere Menſchen beleidigt haben moͤge. Sie nahm
es ſich daher feſt vor, einen beſſeren Lebenswandel zu fuͤhren,
ſich von ihren bisherigen aberwitzigen Wuͤnſchen und Hoffnun¬
gen loszureißen, und um ſich in dieſem Vorſatze zu beſtaͤrken,
beſchloß ſie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬
mer aufzuhaͤngen, um durch deſſen Betrachtung ihre Beſinnung
wieder zuruͤckzurufen. Jedoch dieſe letzte Regung ihrer gegen
den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft
wurde bald erſtickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬
intereſſen in die Hoffnung auf den Beſitz des Verſtorbenen
zuſammengefaßt hatte, und da dieſe Hoffnung ihrer Natur
nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode ſeine
Beute wieder abjagen, alſo die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung
von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬
chen mußte, ſo waren hiermit alle Elemente gegeben, aus
denen ſich der Wahn in ihrem Bewußtſein conſtruirte. Mit
anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬
gioͤſen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichſam den
Einſchlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrſinnigen Faſe¬
leien geben, denn nur durch Gott konnte ſie zu ihrem Ge¬
liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnſucht
nach dem letzteren in ihr eine monſtroͤſe Froͤmmigkeit erzeugte,
deren krankhafter Charakter alle Vorſtellungen von Gott zum
grellſten Unſinn verzerrte. Hiermit iſt wiederum nichts In¬
dividuelles, welches nur unſre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬
ben, ſondern wir finden darin das allgemeine Geſetz zahlloſer
Thatſachen, welche darin uͤbereinſtimmen, daß der Menſch,
ſelbſt wenn er das religioͤſe Bewußtſein im fruͤheren Leben
unentwickelt gelaſſen, ja gefliſſentlich in ſich darnieder gehalten
hat, zu den ſtaͤrkſten Regungen deſſelben erwacht, wenn ein
ihn maͤchtig ergreifendes Schickſal ihn letztere zu einem tief ge¬
fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem ſich die abſolute Noth¬
wendigkeit der in ſeinem innerſten Weſen gegruͤndeten Religio¬
ſitaͤt auf das Ueberzeugendſte beurkundet. Freilich kann eine
ſolche, wie ein Deus ex machina hervortretende Froͤmmigkeit,
welche keine die wechſelnden Seelenzuſtaͤnde vermittelnde und
ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von
einem folgerechten Denken zu wuͤrdigen Begriffen geſtaltet wor¬
[95] den war, auch nicht durch die Noth der bedraͤngten Leiden¬
ſchaft wie durch eine Inſpiration oder Divination zu edlen und
reinern Formen ausgepraͤgt werden; ſondern das ploͤtzlich er¬
wachende maaßloſe Gefuͤhl des Unendlichen, welches mit un¬
gekannter Macht die Seele ergreift, reißt ſie eben deshalb zu
wilden, ſtuͤrmiſchen Aufwallungen fort, von denen der Verſtand
dergeſtalt uͤberwaͤltigt wird, daß er daruͤber alle bisherigen rich¬
tigen Begriffe verliert, und von einer ſchwaͤrmenden Phantaſie
ſich die Zuͤgel entreißen laſſen muß. Koͤnnten wir in den
Seelen derer leſen, welche auf langer Irrfahrt in dem Laby¬
rinth der Leidenſchaften das Goͤttliche ganz aus den Augen
verloren hatten, und endlich durch irgendwelche harte Schlaͤge
des Schickſals, ja wohl erſt auf dem Sterbelager aus ihrem
wuͤſten Taumel oder aus ihrer ſophiſtiſchen Selbſttaͤuſchung uͤber
ihre verfehlte Beſtimmung durch den ſtrengen Ruf des inneren
Richters erwachten, gewiß wir wuͤrden oft die furchtbarſten
Zerrbilder des Ewigen erblicken, welches dem lange verblende¬
ten Thoren mit allen Schrecken angethan erſcheinen muß, in
denen das bebende Gemuͤth aller Beſinnung verluſtig geht.
Hiermit ſoll nur im Allgemeinen der Mangel an richtigen re¬
ligioͤſen Begriffen bei einer improviſirten Froͤmmigkeit bezeich¬
net werden, weil die M., in liebender Hoffnung ſchwaͤrmend,
und ihre Erfuͤllung von Gott erflehend, weit von bangem
Entſetzen entfernt war, vielmehr ſich in das Trugbild eines
meſſianiſchen Berufs hineinphantaſirt hatte, durch welchen ſie
nur einer wunderbaren Gnadenwirkung Gottes wuͤrdig zu ſein
waͤhnen konnte.


In dieſem Sinne ſpann ſie das Gewebe ihrer Wahn¬
vorſtellungen weiter aus, und insbeſondere war ihre Phantaſie,
welche am Tage noch durch die Verrichtung haͤuslicher Geſchaͤfte
einigermaaßen im Zaum gehalten wurde, in naͤchtlichen Traͤu¬
men uͤberaus geſchaͤftig, die glaͤnzendſten Bilder zu dichten,
denen ſie in ihrer Verſtandesbethoͤrung die Wahrheit der ob¬
jectiven Wirklichkeit beilegte. So ſah ſie in einem Traume
drei herrliche Gaͤrten voll ſchoͤner Blumen und Baͤume, und
eine unendlich große Wieſe, auf welcher nur einige Schafe
weideten, das Ganze von einer am reinſten Himmel hellſtrahlen¬
den Sonne beleuchtet. Menſchen erblickte ſie darauf nicht, außer
[96] ſich ſelbſt mit zwei Kindern ſpielend und tanzend, und ſie war
nun uͤberzeugt, daß dies das Paradies ſei, in welches nur
wenige Menſchen, welche ſich von dem Verſtorbenen zum rech¬
ten evangeliſchen Glauben wuͤrden bekehren laſſen, gelangen
wuͤrden, denn es ſtehe ja in der Schrift, viele ſeien berufen,
aber wenige auserwaͤhlt. In einem anderen Traume glaubte
ſie den Verſtorbenen an der Hand im Himmel herumzufuͤhren,
bei welcher Gelegenheit ſie die Pforte zu einem von blutrothen
Flammen erfuͤllten unermeßlichen Raum eroͤffnete, welcher ihrer
Meinung nach die Hoͤlle ſein muͤſſe, in welche alle Diejenigen
verſtoßen werden wuͤrden, welche ſich durch ſie und den Ver¬
ſtorbenen nicht bekehren ließen. Was aber am meiſten ihr Er¬
ſtaunen erregte, war der Contraſt ihrer naͤchtlichen Verſetzung
in den Himmel, waͤhrend ſie am Tage auf der Erde geſchaͤf¬
tig ſei. Sie wußte ſich dies nicht anders zu erklaͤren, als daß
ſie mit zwei Seelen geboren ſei, von welcher die eine im Him¬
mel wohne, woſelbſt ſie durch die Gnade Gottes den Verſtor¬
benen wieder zum Leben erweckt habe, waͤhrend die andere
wiederum nur unter dem Beiſtande Gottes noch auf Erden
weilen koͤnne, weil ſie außerdem von den vielen erhaltenen
Schlaͤgen habe ſterben muͤſſen.


Indem ſie nun in allen jenen Traͤumen goͤttliche Offen¬
barungen, welche als ſolche gewiß in Erfuͤllung gehen wuͤrden,
ſehen zu muͤſſen glaubte, beſtaͤrkte ſie ſich immer mehr in der
Vorſtellung ihrer meſſianiſchen Beſtimmung. Denn da ſie ſich
ſagte, man muͤſſe Gott als dem unſichtbaren Geiſte mehr fol¬
gen, als der Welt, und daher den rechten Glauben hegen,
welchen ſo Viele durch die That verleugneten, weil nament¬
lich ſie, die M., ſo oft von ihnen unchriſtlich gemißhandelt
worden ſei; ſo hielt ſie die Welt im hoͤchſten Grade fuͤr ver¬
derbt, und der Beſſerung beduͤrftig. Gott koͤnne dies nun
nicht laͤnger dulden, ſondern es muͤſſe anders werden, daher
habe er durch ſie das Wunder der Wiedererweckung des Todten
vollbracht, damit ſie durch Dulden und fromme Lebensfuͤhrung
ein Muſter fuͤr die Menſchen werde, welche der Verſtorbene
auf ihr Vorbild aufmerkſam machen, und ſomit als zweiter
Luther unter ihnen mit großer Gelahrtheit auftreten ſolle. Aber
wie ſchmeichelnd auch dieſer Wahn ſie umfing, er war die
[97] Ausgeburt einer tiefen Gemuͤthskrankheit, welche ihr inneres
Gefuͤhl zu tief entzweite, als daß ſie noch irgend einer Ruhe
theilhaftig werden konnte. Bei Tag und Nacht von Angſt
gequaͤlt, klagte ſie ihre Noth der andern Magd, wobei ſie un¬
ſtreitig ſchon genug Verkehrtheiten herausbrachte, weil letztere
ihr ſagte, ſie ſei nicht klug. Inzwiſchen las ſie oft in den
„Stunden der Andacht”, und es war gewiß nicht die Schuld
dieſes anerkannt vortrefflichen Werks, daß ſie aus demſelben
keine Aufklaͤrung, ſondern nur neue Nahrung fuͤr ihren Wahn¬
witz ſchoͤpfte.


In der Nacht zum 9. Sept. 1845, als ſie mit mehreren
Weibern bei der Waͤſche beſchaͤftigt war, ſah ſie um Mitter¬
nacht mehrmals die Sonne uͤber einem nahe gelegenen niedri¬
gen Hauſe aufgehen und wieder verſchwinden, und dachte da¬
bei, der Herr laͤßt die Sonne aufgehen uͤber die Guten und
Boͤſen, und laͤßt regnen uͤber die Gerechten und Ungerechten.
Sie ſprach dieſe Viſion aus, und mußte von der andern Magd
den Vorwurf hoͤren, daß ſie mit ihrem Unſinn Andere angſt
und bange mache, es ſolle der Herrſchaft angezeigt werden.
Die M. erwiederte hierauf: „Sie haben mich oft geaͤrgert und
zum Boͤſen verfuͤhren wollen, aber ſpaͤter muͤſſen Sie mir
doch nachfolgen”. Auf die Bemerkung jener: „Sie thun ja,
als wenn Sie in Gottes Allmacht ſtaͤnden”, entgegnete ſie:
„das thue ich nicht, ſondern ich ſpreche nur aus, was recht
und unrecht iſt”. Dabei war ſie hoch erfreut, weil ſie jene
Viſion fuͤr die Ankuͤndigung der nahen Ankunft des Verſtor¬
benen hielt, ſchwieg jedoch daruͤber, weil die anderen Weiber
ihr wiederholt ſagten, ſie wuͤßten nicht, was ſie von ihr den¬
ken ſollten. In ihrer Ekſtaſe daruͤber, daß nun die verheißene
Seeligkeit beginnen werde, glaubte ſie wahrzunehmen, daß die
uͤbrigen Weiber vor Ruͤhrung weinten, worin ſie eine Beſtaͤ¬
tigung ihres Wahns zu finden glaubte. Bald gerieth ſie ſo
außer ſich, daß ſie die Arbeit nicht fortſetzen konnte, und da
ſie deſſenungeachtet zu derſelben angetrieben wurde, ſo brach ſie
in Schreien und Weinen aus, indem ſie von einem ſolchen
Fieberfroſt ergriffen wurde, daß ihr die Zaͤhne klapperten. Zu¬
gleich rief ſie, daß ſie nach den Eisbergen von Tyrol abreiſen
muͤſſe, der Verſtorbene habe jaͤhrlich (in den Ferien) ſo große
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 7[98] Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe
ſie ihm nachfolgen.


Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬
ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬
wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten
und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur
Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬
eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen
des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung
nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬
ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal
bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬
ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten
Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬
heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von
vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht
ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬
nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere
Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht
hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden
war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen
Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein
wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬
haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt
die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬
kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung
der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die
leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht
allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden
habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan
werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend,
entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬
teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts
durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬
wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt.
Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬
gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬
durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo
[99] viel, daß gerade das Edelſte im Menſchen der ſorgfaͤltigſten
Pflege und einer geregelt fortſchreitenden Entwickelung bedarf,
wenn nicht die in ihm waltende Kraft zum Verderben ausſchla¬
gen ſoll, da die Weltgeſchichte es lehrt, daß unſer Geſchlecht
faſt eben ſo viel unter dem irre geleiteten Enthuſiasmus fuͤr
das Gute, Edle und Schoͤne, als unter dem wilden Draͤngen
niedriger Begierden zu leiden gehabt hat. Aber in der kranken
Seele konnte doch Nichts zur Erſcheinung kommen, was nicht
in der geſunden wenigſtens als ſchlummernder Keim vorhanden
geweſen waͤre; und giebt es daher eine Fuͤlle des Schoͤnen,
welches erſt durch den Wahnſinn, wenn er die aͤußere Rinde des
Menſchen ſprengt, der Seele entlockt werden kann, ſo werden
wir mit Staunen inne, welche unermeßliche Aufgaben der aͤch¬
ten Seelenbildung noch vorliegen, an deren Erfuͤllung bisher
noch Niemand gedacht hat. Bei unſrer M. war freilich keine
dieſer Aufgaben zu loͤſen, denn ſie mußte zuruͤckkehren in dienſt¬
liche Verhaͤltniſſe, welche mit jedem idealen Bewußtſein in ei¬
nem allzuſchroffen Widerſtreit ſtehen, als daß derſelbe vom
ſtaͤrkſten Gemuͤth ertragen werden koͤnnte. Fuͤr ſie durfte es
hinfort keine ideale Liebe, kein Denken uͤber Weltverbeſſerung,
keine Theilnahme an den hoͤchſten Aufgaben des Menſchenge¬
ſchlechts geben, wenn nicht alle dieſe Regungen einer hoͤheren
Seelennatur unvermeidlich wieder in Wahnſinn ausarten ſoll¬
ten. Verſchuͤttet mußte daher gefliſſentlich jede Quelle bei
ihr werden, aus welcher ein veredeltes Bewußtſein hervorge¬
hen koͤnnte, da daſſelbe nur wie ein nachtwandelndes Geſpenſt
durch ihr ſpaͤteres Leben gehen wuͤrde.


In die Irrenabtheilung der Charité am 9. September
aufgenommen, wurde ſie im Gefuͤhl der tiefen Gemuͤthserſchuͤt¬
terung vorzugsweiſe von großer Angſt gequaͤlt, welche immer
der unmittelbare Ausdruck einer aus allen Fugen weichenden
und in regelloſe Verwilderung gerathenen Seelenthaͤtigkeit iſt.
Sie ſah, daß einer anderen Kranken zur Ader gelaſſen wurde,
und bildete ſich dabei ein, daß ihr alles Blut abgezapft wer¬
den ſolle, weshalb ſie ſich auf die Kniee warf, und Gott an¬
flehte, ſie eines ſanften Todes ſterben zu laſſen. In den bei¬
den erſten ſchlafloſen Naͤchten empfand ſie noch die groͤßte
Sehnſucht nach dem Verſtorbenen, von welchem ſie aus ihrer
7 *[100] ſchrecklichen Lage errettet zu werden hoffte, weshalb ſie ſich
mehrmals im Bette in der gewiſſen Erwartung aufrichtete, daß
er unverzuͤglich anlangen werde. Dennoch von ſteter Todes¬
angſt gequaͤlt glaubte ſie in dem Geſchrei anderer Kranken die
klagende Stimme des Verſtorbenen zu vernehmen, welcher gleich¬
falls unter grauſamer Behandlung zu leiden habe, daher ſie
in einen Thraͤnenſtrom ausbrach, und erſt ſpaͤt mit der Vor¬
ſtellung ſich beruhigte, er ſolle in der Charité voͤllig geheilt
werden. Eine vorhandene Hartleibigkeit machte den Gebrauch
gelinder Abfuͤhrungen noͤthig, und da ſie außerdem, die Ner¬
venunruhe abgerechnet, an keinen auffallenden Krankheitserſchei¬
nungen litt, ſo wurde alsbald zur Anwendung der Douche
geſchritten. Anfangs glaubte ſie wiederum, ſie ſolle in derſel¬
ben getoͤdtet werden; indeß ſehr ſchnell trat die heilſame Wir¬
kung derſelben bei ihr ein, ſo daß ſie durch eine kraͤftige Re¬
action der Nerven aus dem wilden, leidenſchaftlichen Taumel
zu einiger Beſinnung erweckt und dadurch beruhigt ſchon in
den naͤchſten Naͤchten einen feſten Schlaf fand, wenn auch eine
gewiſſe Bangigkeit noch waͤhrend der erſten 14 Tage fort¬
dauerte. In ihren Wahnvorſtellungen trat freilich Anfangs
keine weſentliche Veraͤnderung ein, ſondern ſie aͤußerte dieſel¬
ben bei den mit ihr angeknuͤpften Geſpraͤche noch unverhohlen;
allmaͤhlig kam ihr aber doch der Gedanke in den Sinn, daß
es unendlich beſſer um ſie beſtellt geweſen ſein wuͤrde, wenn
ſie nicht in den letzten Dienſt getreten waͤre, und in ihm nicht
ein ſo ſchweres Leid erfahren haͤtte. Waͤre ſie nur erſt aus
ihrer jetzigen Lage befreit, ſo wolle ſie ſich bald aus Berlin
entfernen.


Indeß Leidenſchaften ſind nicht auf einen Schlag zu ver¬
tilgen, und obgleich die M. bald zu ſo vieler aͤußeren Beſin¬
nung zuruͤckkehrte, daß ſie von ſelbſt keine wahnwitzigen Vor¬
ſtellungen mehr aͤußerte, ſelbſt ihren bisherigen Zuſtand als
einen krankhaften anerkannte, und uͤberdies in ihrem ganzen
Betragen Beſonnenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertige
Ruhe zeigte, ſo lebte doch in der Tiefe des Herzens das Bild
des Verſtorbenen fort. Nicht nur ſah ſie denſelben noch im
Traume, ſondern ſie glaubte ſelbſt noch nach 2 Monaten,
Gott habe ihr Gebet erhoͤrt, den Verſtorbenen ins Leben zu¬
[101] ruͤckgerufen, wenn ſie auch nicht eher daruͤber Gewißheit erlan¬
gen koͤnne, als bis ſie ihn ſaͤhe. Sie hielt es wenigſtens fuͤr
moͤglich, daß Gott jeden ſehr guten Menſchen, gleichwie Chri¬
ſtus, vom Tode erwecken koͤnne, und verſicherte außerdem nicht
zu wiſſen, warum ſie ſoviel habe leiden muͤſſen. Um dieſen
Ueberreſt ihres Wahns durch eine kraͤftige Maaßregel zu vertil¬
gen, brachte ich daher die Einreibung der Brechweinſteinſalbe
mit ſo entſchieden guͤnſtigem Erfolge bei ihr in Anwendung,
daß auch nicht die geringſte Spur von Unklarheit und Befan¬
genheit des Bewußtſeins mehr bemerkt wurde. Da die be¬
ſchraͤnkten Vermoͤgensumſtaͤnde ihres Vaters eine moͤglichſte Ab¬
kuͤrzung des Heilverfahrens gebieteriſch forderten, ſo wurde ſie
im Februar 1846 nach mehrmonatlicher Dauer einer vollen
Beſonnenheit als geheilt entlaſſen.

6.

An einem Sonntage vor Oſtern 1846 ſtoͤrte der Drechs¬
lergeſelle F., zwanzig und einige Jahre alt, aus Thuͤringen
gebuͤrtig, durch laute Ausrufungen den oͤffentlichen Gottesdienſt
in der hieſigen Domkirche, wodurch ſeine Verhaftung und Ab¬
fuͤhrung in das Polizeigefaͤngniß nothwendig gemacht wurde.
Ich erhielt den amtlichen Auftrag, ſeinen Gemuͤthszuſtand zu
unterſuchen, und von ihm die Beweggruͤnde zu erforſchen, wel¬
che ihn veranlaßt hatten, an hohe Behoͤrden Briefe voll my¬
ſtiſcher Declamationen zu ſchreiben. Folgendes iſt ein Auszug
meines uͤber ihn erſtatteten Berichts.


F., von hagerer Statur und bleichem Geſichte, mit kei¬
nen auffallenden Krankheitsſymptomen behaftet, verraͤth ſchon
in ſeiner ganzen aͤußeren Erſcheinung einen hohen Grad von
Gemuͤthsaufregung durch unruhige Geſtikulationen, durch be¬
wegten Geſichtsausdruck, beſonders aber durch einen haſtigen,
wortreichen Redefluß, in welchem er ſich nur ungern unterbre¬
chen laͤßt. Offenbar beſitzt er nur einen geringen Grad von
geiſtiger Bildung und ſehr mittelmaͤßige Verſtandeskraͤfte, ſo
daß es ihm ſchwer faͤllt, ſeine Vorſtellungen naͤher zu bezeich¬
nen. Vielleicht wuͤrde ihm dies in Bezug auf Gegenſtaͤnde
[102] des alltaͤglichen Lebens beſſer gelingen, aber da ſein Geſpraͤch
ſich ausſchließlich auf religioͤſe Begriffe bezog, ſo gerieth er fort¬
waͤhrend in eine voͤllige Geiſtesverwirrung, welche deſultoriſch
zwiſchen den verſchiedenartigſten Verhaͤltniſſen umherſchweifend,
nur mit Muͤhe einen verknuͤpfenden Faden auffinden ließ.Haͤtte
ich ihn durch oft eingemiſchte Fragen zu beſtimmteren Erklaͤ¬
rungen veranlaſſen wollen, ſo wuͤrde ich ihn in ſeinem unver¬
hohlenen Argwohn nur noch mehr beſtaͤrkt, und ihn dadurch
entweder zum heftigen Streit gereizt, oder zum muͤrriſchen
Schweigen gebracht haben. Auch fielen ſeine Antworten auf
einzelne Fragen, von deren Sinn er ſogleich zu anderen Din¬
gen uͤberſprang, ſo ungenuͤgend aus, daß ich nicht hoffen
durfte, mir durch ſie eine naͤhere Aufklaͤrung zu verſchaffen;
ja vielen ſeiner Aeußerungen konnte nicht einmal ein beſtimm¬
ter Sinn untergelegt werden.


Den Mittelpunkt, um welchen ſich der irre Lauf ſeiner
Vorſtellungen bewegt, bildet unſtreitig ſeine Ueberzeugung, wel¬
che er ſchon wiederholt in ſeinen Briefen an die Koͤnigl. Be¬
hoͤrden ausgeſprochen hat, daß ihm in naͤchtlichen Traͤumen
goͤttliche Offenbarungen zu Theil, und mit ihnen ihm die Pflicht
auferlegt worden, dieſelben oͤffentlich zum Heil der Welt zu
verkuͤndigen. Er hat dieſe Offenbarungstraͤume in einem aus¬
fuͤhrlichen Tagebuche, meiſt unter Angabe des Datums ver¬
zeichnet, woraus er mir Mehreres vorlas. Ein beſonderes Ge¬
wicht legte er auf den einen, in welchem er als Koͤnig aus
dem hieſigen Schloſſe mit einem vierſpaͤnnigen Wagen abgeholt,
und durch die Linden zum Thore hinausgefuͤhrt worden war.
Da er ſich fuͤr einen Propheten, und ziemlich beſtimmt fuͤr
Elias haͤlt, ſo ſieht er in jenem Traume ſeine ſymboliſche
Verherrlichung, in deren Glanze er unter den Menſchen auf¬
treten ſoll. Ueberhaupt ſcheinen alle Phantasmagorieen bei ihm
von einem blendenden Nimbus umgeben zu ſein, indem er
verſichert, daß es ihm oft vorkomme, als ob er in Flammen
liege. Waͤhrend eines anderen Traums befand er ſich bei ge¬
woͤhnlichen Leuten im Dienſte, von welchen er uͤber das Feld
geſchickt wurde, um eine Ziege zu holen. Unterwegs wurde
er auf einen Berg von einem Manne gefuͤhrt, welcher mit
einem Stabe nach dem Himmel zeigte, aus deſſen geoͤffneten
[103] Thoren Armeen drangen, welche in der Luft ſich eine Menge
von Schlachten lieferten, aus denen nur wenige Sieger unter
Triumphmaͤrſchen in den Himmel zuruͤckkehrten. Auf die wun¬
derlichſte Weiſe ſah er hierin den goͤttlichen Befehl, ein
Perpetuum mobile anzufertigen, durch welches er nicht allein
ſein Gluͤck machen ſollte, ſondern welches auch eine myſtiſche
Bedeutung haben werde. Daſſelbe ſolle naͤmlich unter der
Form eines Rades ein Zeugniß von dem Himmel, der Erde
und allen Elementen ablegen, um es deutlich zu machen, wie
der Thau des Himmels Petillio in dem Fluſſe Piſo um die
ganze Erde ſtroͤme, und mit ſich Gold und die Edelſteine Kuri
fuͤhre. Da er uͤberzeugt war, allein unter allen Menſchen ein
ſolches Kunſtwerk anfertigen zu koͤnnen, ſo arbeitete er ſeiner
Ausſage nach drei Wochen an demſelben, verſetzte ſeine Sachen,
um ſein Leben kuͤmmerlich zu erhalten, und befand ſich, nach¬
dem er noch eine ganze Nacht darbend bei ſeinem Werke zu¬
gebracht hatte, am darauf folgenden Morgen von Allem ent¬
bloͤßt in der druͤckendſten Lage. Um ſich zu troͤſten ſchlug er
die Bibel auf, in welcher er die Worte zu finden glaubte, er
ſolle ſagen, was er geſehen, und reden was er gehoͤrt habe,
wodurch er natuͤrlich noch mehr in ſeinem Vorſatze beſtaͤrkt wurde,
die ihm gewordenen Offenbarungen zu verkuͤndigen.


Noch mehr ſcheint ſein ſchwaͤrmeriſcher Eifer durch folgen¬
den Traum entflammt worden zu ſein. Er ſah ſich im Geiſte
nach ſeiner Heimath entruͤckt, wo er als Knabe mit mehreren
Altersgenoſſen in Spielen ſich ergoͤtzte. Ploͤtzlich erſchien ein
großer Leichenzug, in welchem 12 Kronen getragen wurden,
von denen 2 zur Erde fielen. Hierauf folgten 6 Knaben,
welche auf Tafeln 12 neue Kronen trugen, und nach ihnen
mehrere Leidtragende, welche Geld auswechſelten. Als ſodann
ein Mann auf der Straße Feuer ſchrie, erſchien am Himmel
ein Engel, welcher mit einer Sonne umkleidet und von Re¬
genbogenfarben umgeben war, und welcher nach des F. Ueber¬
zeugung kein anderer, als Gott ſelbſt war. Zugleich ſtand vor
ſeinen Augen eine Stadt in hellen Flammen, wodurch die Ein¬
aͤſcherung Berlins als des neuen Jeruſalems angekuͤndigt werde,
wenn daſſelbe die Zeichen beharrlich verleugnete, welche ihm ge¬
geben werden ſollten. Zur Beſtaͤtigung dieſer Prophezeiung
[104] erſchien zuletzt noch Chriſtus auf einem weißen Pferde reitend,
und von einer ſtrahlenden Sonne umgeben. Dieſe naͤchtliche
Viſion, von deren himmliſchem Urſprunge er feſt uͤberzeugt iſt,
wurde ihm deshalb zum goͤttlichen Befehl, das der Stadt Ber¬
lin bevorſtehende Strafgericht prophetiſch anzukuͤndigen, und er
hielt es daher fuͤr ſeine heilige Pflicht, den Koͤnigl. Behoͤrden
davon Anzeige zu machen, um das drohende Verderben moͤg¬
lichſt abzuwenden. Da er ſeinen Zweck nicht erreichen konnte,
und ſich doch im Geiſte unwiderſtehlich getrieben fuͤhlte, ſo
verſuchte er es ſeiner Angabe nach, ſich bei mehreren hieſigen
Geiſtlichen Gehoͤr zu verſchaffen, welche natuͤrlich ſeine Mit¬
theilungen ignorirten. Deshalb nennt er ſie Luͤgner, da ſie
wohl von ihm und ſeiner prophetiſchen Sendung wiſſen muͤ߬
ten, weil davon in den Zeitungen die Rede geweſen ſei. End¬
lich als ihm jede Gelegenheit abgeſchnitten war, ſeiner Her¬
zensbedraͤngniß Luft zu machen, entſchloß er ſich, oͤffentlich in
der Domkirche waͤhrend des Gottesdienſtes ſeinen Weheruf ge¬
gen Berlin zu erheben, weil er auf Befehl Gottes reden
muͤßte. Denn er wurde bei Tag und Nacht durch eine un¬
aufhoͤrliche Quaal dazu angetrieben, weil, wenn er nicht ge¬
hoͤrt werde, die Strafe Gottes nicht ausbleiben koͤnne. Ja er
ſcheint ſogar eine Donnerſtimme, welche in einer Nacht ihm
dreimal zurief, daß Gott im Fleiſche offenbart ſei, auf ſeine
Perſon zu beziehen, und er war feſt davon uͤberzeugt, daß er
Alles im Namen des Herrn thue. Deshalb fuͤgte er auch die
beſtimmte Verſicherung hinzu, daß er unfehlbar nach Berlin
zuruͤckkehren werde, wenn man ihn auch nach ſeiner Heimath
zuruͤckgebracht habe, da es ſich auf Befehl Gottes um die Rettung
des Menſchengeſchlechts handle.


Unſtreitig hat ſeine ununterbrochene ſchwaͤrmeriſche Auf¬
regung in Verbindung mit peinlichen koͤrperlichen Entbehrun¬
gen ihn in einen ſehr qualvollen Zuſtand verſetzt, welchen er
ſich aus der Nichtbefriedigung ſeines prophetiſchen Dranges er¬
klaͤrte. In der letzten Zeit, zu Anfang des Maͤrzes, muß
dieſe Quaal einen beſonders hohen Grad erreicht haben, da
er mehrere Naͤchte von Teufelserſcheinungen gefoltert wurde.
Er wurde ſeiner Ausſage nach dergeſtalt gemartert, daß er
vor Schwaͤche am Tage nicht arbeiten konnte, denn waͤhrend
[105] der Naͤchte lag der Satan, eine lange Geſtalt mit einem
Kalbskopfe, ſo ſchwer auf ihm, daß er kein Glied ruͤhren
konnte. Waͤhrend dieſer Hoͤllenpein vernahm er dreimal den
Ruf: mein Sohn! und vergebens ſchrie er: weiche von
mir
, Satan! Seine Phantaſie war in einem ſolchen Grade
aufgeregt, daß er in einer jener Naͤchte eine Menge Viſionen
von Maͤnnern, Bergen, Waͤldern, Waizenfeldern und Dornen¬
hecken hatte, aus denen eine Stimme dreimal mein Schaͤf¬
lein und dreimal Israel rief. Dieſe Anfechtungen des
Teufels riefen ihm lebhaft die Verſuchung des Heilandes
durch den Boͤſen in die Erinnerung, und da er durch Quaa¬
len und Entbehrungen zum Prophetenthum gefuͤhrt zu ſein
glaubt, ſo iſt er voͤllig uͤberzeugt, daß er als Elias in der
jetzigen Zeit auftreten ſolle.


Ueber den Urſprung ſeines Seelenleidens habe ich mir
keine naͤheren Aufſchluͤſſe verſchaffen koͤnnen, da er auf Fragen
nach ſeinen fruͤheren Lebensverhaͤltniſſen ſich nicht einließ, und
anderweitige Nachrichten uͤber ihn mir nicht zugekommen ſind.
Nur die eine Bemerkung glaube ich hieruͤber machen zu duͤr¬
fen, daß das eifrige Leſen ſogenannter Traktaͤtlein, von denen
er mehrere bei ſich fuͤhrt, weſentlich dazu beigetragen hat, ſei¬
ne ſchwaͤrmende Phantaſie noch mehr zu erhitzen. Insbeſon¬
dere ſcheint eine kleine Schrift, welche im Jahre 1845 unter
dem Titel der Antichriſt in Berlin gedruckt worden iſt,
einen ſtarken Einfluß auf ihn ausgeuͤbt zu haben, denn er
erklaͤrte ausdruͤcklich, daß ſie von ihm zeuge, und berief ſich
zur Beſtaͤtigung deſſen namentlich auf folgende Stelle: „Der
Geiſt der Wahrheit, der da iſt der heilige Geiſt, welcher im
Menſchen wohnt, wird eroͤffnen, was die ſieben Donner ge¬
redet haben, die Johannes verſiegeln mußte.”

7.

F., 54 Jahre alt, iſt die Tochter eines Ackerbuͤrgers
in einer kleinen Provinzialſtadt, welcher wegen ſeiner duͤrfti¬
gen Lage genoͤthigt war, ſich als Fuhrmann zu ernaͤhren. Sie
ſchildert ihn als einen rohen, ja boͤsartigen Trunkenbold, wel¬
cher bei jeder Gelegenheit ſeine Frau und ſeine 6 Toͤchter
[106] mißhandelte, und dadurch letztere zwang, fruͤhzeitig in fremde
Dienſte zu treten. Nur unſre Kranke mußte wegen ihres
zarten Alters noch bei den Aeltern zuruͤckbleiben, und ſie war
daher oft Zeugin von der brutalen Behandlung, welche ihre
Mutter erduldete, wie ſie dann einmal ſo ſchwer verletzt wur¬
de, daß ſie laͤngere Zeit das Bette huͤten mußte. Mit In¬
nigkeit ihrer liebevollen Mutter ergeben, fuͤhrte ſie die ſanfte
Dulderin zuweilen ins Freie und wieder auf das Schmerzens¬
lager zuruͤck, und ſie vergießt noch jetzt heiße Thraͤnen bei der
Schilderung der herzzerreißenden Scenen, welche auf ihr kind¬
liches Gemuͤth den tiefſten Eindruck machen mußten. Nament¬
lich wurde ſie tief durch den Tod derſelben erſchuͤttert, dem
ein ruͤhrender Auftritt vorherging, da die Sterbende alle Kin¬
der an das Bette hatte rufen laſſen, und von ihnen mit den
Worten Abſchied nahm: „Lebt wohl, in einer beſſeren Welt
ſehen wir uns wieder.” Es iſt eine oͤfters vorkommende That¬
ſache, daß das zarte Gemuͤth der Kinder, obgleich urſpruͤng¬
lich nicht zu tieferer Erregung geeignet, doch durch ſchlimme
Ereigniſſe aus ſeinem ſuͤßen Frieden feindſeelig aufgeſtoͤrt, und
dann fuͤr unausloͤſchliche Eindruͤcke empfaͤnglich werden kann,
welche nicht ſelten den Charakter des ſpaͤteren Lebens beſtim¬
men, daß namentlich religioͤſe Gefuͤhle gewaltſam geweckt der
Geſinnung einen Ernſt, ja eine Duͤſterheit verleihen, welche
ſpaͤter niemals verwiſcht wird, ſo daß ſelbſt religioͤſe Sinnes¬
taͤuſchungen, welche im ſpaͤteren Leben nur durch einen hohen
Grad von Schwaͤrmerei hervorgerufen werden, bei Kindern zu¬
weilen vorkommen. Die F., damals erſt 6 Jahre alt, gerieth
durch den Tod der geliebten Mutter religioͤs aufgeregt in ein
ſolches Entſetzen, daß ihr das ganze Leben als ein Schreckbild
erſchien, und ſie deutlich in ihrem Herzen die Stimme Gottes
zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief: „mein Kind, dir
wird es traurig gehen in der Welt.” Sie verſichert, dieſe
prophetiſche Offenbarung nie aus dem Sinne verloren zu ha¬
ben, und an ſie beſonders bei Gelegenheit ihrer Einſegnung
lebhaft erinnert worden zu ſein, da der Prediger in ſeiner
Rede vornaͤmlich darauf hindeutete, daß die um ihn verſam¬
melte Schaar der Confirmanden wie eine Heerde in der Welt
zerſtreut werden, hoffenllich aber in einem beſſeren Leben ſich
[107] wieder vereinigen werde. Sie dachte ſpaͤter bei dieſen Wor¬
ten um ſo lebhafter an den Tod ihrer Mutter, als viele der
Juͤnglinge bald nachher in den Krieg ziehen mußten.


Sie kannte ſeit ihrer zarteſten Kindheit nur Leiden und
Entbehrungen. Zwar giebt ſie ihrer Stiefmutter, welche bald
die Stelle der eigenen vertrat, ein gutes Zeugniß, deſto
ſchlimmer war ſie aber mit dem Vater daran, vor welchem
ſie geradezu die Flucht ergriff, wenn er von ſeiner Reiſe zuruͤck¬
kehrend die Branntweinflaſche auf den Tiſch warf, ſeine Kin¬
der Hunde nannte, und jede Gelegenheit benutzte, ſeine ganz
verſchuͤchterte Tochter um der geringfuͤgigſten Urſachen willen
zu mißhandeln. Insbeſondere iſt ihr ein ſchrecklicher Auftritt
in Erinnerung geblieben, welcher dadurch herbeigefuͤhrt wurde,
daß er ihr befahl, waͤhrend der Nacht ſein Pferd auf einer
Wieſe neben einem Acker zu huͤten, und zu verhindern, daß
daſſelbe nicht von den Garben freſſe, wenn ſie nicht halbtodt
geſchlagen werden wolle. Sie ſtrengte daher alle Kraͤfte an,
um dieſer Drohung zu entgehen, und wurde dennoch unbarm¬
herzig von ihm geſchlagen, als ſie ſeine Frage, ob ſie das
Pferd zur Traͤnke gefuͤhrt habe, mit dem Zuſatz verneinte, daß
ſie alsdann nicht das Pferd habe vom Acker zuruͤcktreiben
koͤnnen. Sie bebte daher bei jedem Anlaß zitternd vor dem
Wuͤthrig zuruͤck, vor welchem ſie ſich ſo viel als moͤglich ver¬
barg, daher ſie auch ſtets in Angſt lebte, und ihrem gepre߬
ten Herzen durch Weinen Luft machte. Vom Schulbeſuch
konnte demnach kaum die Rede ſein; ja ſie mußte theils durch
Bettelei, theils durch den Verkauf von getrockneten Fiſchen
einen kuͤmmerlichen Erwerb ſchaffen, wenn der Vater auf Rei¬
ſen war, und die Seinigen zu Hauſe geradezu darben ließ.
Schon fruͤhzeitig mußte ſie bei einem Baͤckermeiſter als Kin¬
dermagd dienen, ſah ſich jedoch durch Erfrieren der Fuͤße ge¬
noͤthigt, in das aͤlterliche Haus zuruͤckzukehren, um nach er¬
folgter Heilung bei einem Schmied in Dienſt zu treten, wo
ſie neben ſchwerer, faſt ihre Kraͤfte uͤberſteigender Arbeit noch
obenein eine aͤußerſt harte Behandlung erfuhr, indem ihr die
Frau deſſelben oft Schlaͤge auf den Kopf gab. Sie litt da¬
her oft an den heftigſten, faſt betaͤubenden Kopfſchmerzen,
und wenn ſie auch außerdem nicht mit beſonderen Krankheits¬
[108] zufaͤllen behaftet war, ſo erklaͤrte es ſich doch aus dem Ver¬
ein aller dieſer unguͤnſtigen Bedingungen, daß ſie in der koͤr¬
perlichen Entwickelung zuruͤckblieb, und nie zur vollen Kraft
gelangte. Sehr gern haͤtte ſie dieſen Sklavendienſt verlaſſen;
aber ihre Aeltern kuͤmmerten ſich nicht um ſie, andere Perſo¬
nen noch weniger, und ſo mußte ſie 3 Jahre aushalten, bis
eine in Berlin wohnende Schweſter ſie zu ſich nahm.


Aber auch hier fand ſie kaum ein beſſeres Loos, da
letztere ihr gleichfalls haͤufig Schlaͤge auf den Kopf gab, und
ihr uͤberhaupt das Leben ſo verbitterte, daß ſie zu einer Witt¬
we zog, bei welcher ſie zwar keine Mißhandlungen, aber deſto
mehr Hunger zu erleiden hatte. Eben ſo erging es ihr bei
einem Baͤckermeiſter, welcher ſie ſo karg in Speiſen hielt, daß
ſie oft genoͤthigt war, ganz altes und trockenes Brod mit
Waſſer aufzuweichen, um daſſelbe genießen zu koͤnnen. Um
dieſe Zeit zog ſie ſich durch Erkaͤltung ein heftiges rheumati¬
ſches Fieber zu, wobei ſie in allen Gliedern dergeſtalt erſtarrte,
daß ſie ſich kaum regen konnte, eine große Angſt und hefti¬
gen Durſt empfand, indem ſie zugleich durch die Vorſtellung
ihrer ſtets traurigen Lage gepeinigt wurde. Sie flehte daher
in inbruͤnſtigem Gebet Gott um Beiſtand an, deſſen troͤſtende
Stimme ſie in ſich zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief,
er werde ſie nicht verlaſſen, ſondern ihr Huͤlfe bringen. Je¬
nes Fieber brachte in ſofern eine guͤnſtige Wirkung in ihr
hervor, als dadurch zum erſten Male die Menſtruation her¬
vorgerufen wurde. Vielleicht miſcht ſich viel Uebertreibung in
die Schilderung ein, welche die F. von ihren uͤberſtandenen
Leiden entwirft, da das Selbſtbewußtſein der Schwermuͤthigen
ein truͤbes Glas iſt, durch welches ſie ihr vergangenes Leben
in einem falſchen Lichte erblicken. Aber es kommt in pſycho¬
logiſcher Beziehung wirklich weniger auf den objectiven That¬
beſtand, als auf die Auffaſſungsweiſe an, mit welcher der
Menſch ſich ſein Leben aneignet. Waͤhrend der ſtarke Cha¬
rakter ſchwere Schickſale mit ungebeugtem Muth ertraͤgt, und
deshalb ihre Laſt viel weniger empfindet, erliegt dagegen ein
ſchwaches Gemuͤth unter einer weit geringeren Buͤrde. Genug
die Lebensanſchauung der F. verduͤſterte ſich immer mehr, ver¬
bannte aus ihr jede Hoffnung und Gefuͤhlsfriſche, und ließ
[109] ihr die Welt als ein Exil erſcheinen, in welchem ſie nach Er¬
loͤſung ſchmachtete. Sie ſtand ganz allein, lernte die Men¬
ſchen nur von einer haͤßlichen Seite kennen, traf uͤberall auf
rohe, unſittliche Verhaͤltniſſe, unter denen ſie ſo viel zu lei¬
den hatte, und ſchoͤpfte nur Troſt aus dem Beſuch der
Kirche, wo ſie oft ihrer Wehmuth durch einen Thraͤnen¬
ſtrom Luft machte. Denn zur eigentlichen Glaubensfreudigkeit
fehlte ihr die noͤthige Elaſticitaͤt des Gemuͤths, und ſie konnte
es in ihrer religioͤſen Anſchauung nur ſo weit bringen, daß
ſie ein wirkliches Verzagen von ſich fern hielt, und nament¬
lich das Abendmahl mit der innigen Ueberzeugung empfing,
Gott werde ihr ihre Suͤnden verzeihen, und ihr Kraft und
Huͤlfe in aller Noth gewaͤhren. Uebrigens fehlte es ihr zu
anderen Andachtsuͤbungen an Zeit.


Ihre naͤchſte mehrjaͤhrige Dienſtzeit bei einem hieſigen
Ackerbuͤrger, welcher ihr eine in jeder Beziehung gute Behand¬
lung angedeihen ließ, war die einzige ſorgenfreie Zeit ihres
Lebens; ſie lernte hier ihren ehemaligen Ehemann kennen, wel¬
cher Hausknecht von jenem war, und gewann ihn lieb, da er
ſeine ſchlimmen Neigungen zum Trunk und zum Kartenſpiel
ſorgfaͤltig verheimlichte, und ſich ihr von einer moͤglichſt vor¬
theilhaften Seite zeigte. Im 25. Lebensjahre reichte ſie ihm
die Hand, nachdem er ihr vorgeſchwatzt hatte, daß er im Be-
ſitz eines kleinen Vermoͤgens zu ihrer haͤuslichen Einrichtung
ſei; nachdem ſie aber ihre kleinen Erſparniſſe zu dieſem Zwecke
verwandt hatte, erfuhr ſie zu ihrem Schrecken, daß er ſeine
Baarſchaft vergeudet habe. Bald wurde ſie gewahr, daß ſie
einen Nichtswuͤrdigen zum Manne gewaͤhlt hatte, welcher von
ſeiner Arbeit faſt immer berauſcht zuruͤckkehrte, und ihre Er¬
mahnungen zu einem beſſeren Lebenswandel entweder unbeach¬
tet ließ, oder ſie mit Fluͤchen und Schimpfworten erwiederte,
wobei er ſie oft auf die Erde warf, mit Schlaͤgen auf den
Kopf und mit Fußtritten mißhandelte, oder ſie an den Haa¬
ren in der Stube herumzerrte. Einmal hatte er ihr einen
ſo ſchweren Schlag gegeben, daß ſie eine Stunde lang beſin¬
nungslos blieb. Nie konnte ſie mit ihm ein vernuͤnftiges
Wort ſprechen, ſelten bekam ſie von ſeinem Erwerbe, welchen
er in Schenken bei Branntwein und Kartenſpiel bis ſpaͤt in
[110] die Naͤchte verpraßte, ſo viel, um nur die nothwendigſten
Beduͤrfniſſe zu befriedigen, und wie ſehr ſie ſich auch anſtrengte,
durch weibliche Arbeiten bis tief in die Naͤchte hinein, einen
Nothpfennig anzuſchaffen, ſo konnte ſie doch nicht ihren und
der Kinder Hunger ſtillen. Nur ſelten wagte ſie es, die
Kirche zu beſuchen, da ihre Kleider gewoͤhnlich ſo zerlumpt
waren, daß ſie ſich nicht oͤffentlich ſehen laſſen konnte. Nicht
einmal den Troſt des Gebetes goͤnnte ihr der Scheußliche,
denn er ſchlug ſie jedesmal, wenn er ſie bei demſelben an¬
traf, unſtreitig weil er darin eine ſtille Anklage ſeiner Ver¬
worfenheit fand. Sie iſt auch uͤberzeugt, daß er mit luͤder¬
lichen Weibern, mit denen er gemeinſchaftlich in einem Ma¬
gazin arbeitete, einen verbotenen Umgang gepflogen, und daß
er ihnen Geld zugeſteckt habe, waͤhrend ſie ſelbſt mit den
Kindern darben mußte.


Zwanzig Jahre dauerte dies infernaliſche Verhaͤltniß, bis
der Ruchloſe in Folge ſeiner unaufhoͤrlichen Ausſchweifungen
eines elenden Todes in der Charité ſtarb. Wer zaͤhlt die
Thraͤnen und Seufzer, welche er ihr waͤhrend dieſer langen
Marterzeit auspreßte, wer mißt die Summe der bitterſten Noth,
welche ſie erdulden mußte! Denn zu allem geſchilderten Elende
geſellte ſich noch das Ungemach von 10 Wochenbetten, in de¬
nen ſie mit Entbehrungen der ſchlimmſten Art zu kaͤmpfen
hatte, daher denn auch die meiſten Kinder aus Mangel an
hinreichender Ernaͤhrung und Pflege fruͤhzeitig ſtarben, und
nur drei am Leben blieben. Die meiſten Entbindungen gin¬
gen doch noch gluͤcklich genug von Statten; nur nach einer
Fruͤhgeburt in Folge eines Schlages auf den Unterleib litt ſie
18 Wochen lang an einem ſtarken Mutterblutfluß, durch wel¬
chen ſie auf das Aeußerſte entkraͤftet wurde. Huͤlflos ſchmach¬
tete ſie mit zwei kleinen Kindern, denen ſie oft keinen Biſſen
Brodt reichen konnte, wobei ihr das Herz blutete. Ihr Lei¬
den wurde noch durch ein ſchlimmes Geſchwuͤr, wahrſcheinlich
in einer Kieferhoͤhle erſchwert, welches durch eine Zahnluͤcke
aufbrach, und eine Menge von Eiter ergoß. Ehe es ſo weit
kam, hatte ſie an betaͤubenden Kopfſchmerzen gelitten, ſie konnte
Tage lang nicht ſprechen, ſich nur durch Zeichen verſtaͤndlich
machen, fuͤhlte aber nach der Befreiung von dieſer Plage eine
[111] ſolche Erleichterung im Kopfe, daß ſie von Gott in ihrem In¬
nern erleuchtet zu ſein glaubte, und ihm dafuͤr innig dankte.
Waͤhrend einer anderen Schwangerſchaft litt ſie 3 Monate lang
am kalten Fieber, welches endlich von einem Armenarzte ge¬
heilt wurde, nach welchem ſie aber einen ſehr heftigen Anfall
von hyſteriſchen Kraͤmpfen bekam. Waͤhrend 9 Stunden konnte
ſie nicht ſprechen, nur ſeufzen, der Unterleib war krampfhaft
zuſammengezogen, und eine große Beklemmung auf der Bruſt
verſetzte ihr faſt den Athem. Ihr frommer Sinn fand auch
hierin eine heilſame Pruͤfung, welche Gott ihr auferlegt habe,
daher nannte ſie den Krampfanfall eine Reiſe nach dem Oel¬
berge, indem ſie uͤberzeugt war, daß Krankheiten Liebesruthen
ſeien, mit denen, ſo wie mit anderen Leiden Gott ſeine Kin¬
der zuͤchtige, um ſie zu heiligen, wofuͤr ſie ihm dankbar ſein
muͤßten.


Waͤhrend der vielen Monate, welche die F. unter meiner
Aufſicht zubrachte, hat ſich ihr Charakter ſtets im guͤnſtigſten
Lichte gezeigt, da ſie niemals ihre Sanftmuth, Ordnungsliebe
und emſige Thaͤtigkeit verleugnete, und in ihrer ganzen Er¬
ſcheinung das ruͤhrende Bild einer ſtillen, ergebenen Dulderin
darbot, welche durch die Erinnerung an ein unter ſteten Mi߬
handlungen zugebrachtes Leben nie zum bitteren Rachegefuͤhl ge¬
ſtimmt wurde. Ihr Verſtand wird ſich ſchwerlich jemals wieder aus
den Schlingen des Wahnſinns befreien koͤnnen, aber ihr Ge¬
muͤth hat eine ſittliche Laͤuterung gewonnen, welche ihr Hoch¬
achtung und Theilnahme zuwenden muß. Eine ſolche Geſin¬
nung wirft daher ein helles Licht auf ihre Vergangenheit, und
man darf ihr unbedenklich Glauben beimeſſen, daß die niemals
heftig gegen ihren brutalen Ehemann geweſen ſei, und oft
Gott auf den Knieen um ſeine Beſſerung angefleht habe. Ja
ſie ſchloß alle uͤbrigen Menſchen, welche wie Bruͤder und
Schweſtern ſich lieben ſollten, in ihr Gebet ein; und erwaͤgt
man, daß ſie faſt nur unſittlichen Perſonen, von denen ſie ſo
viel erduldet hatte, im Leben begegnet war, daß nie Jemand
ſich ihrer Noth erbarmte, und daß ſie oft Wochen lang im
tiefſten Jammer mit ihren hungernden Kindern ſchmachtete,
deren Elend ihr noch jetzt das Herz zerreißt, ſo legt alles
dies das ſtaͤrkſte Zeugniß dafuͤr ab, daß aͤchte Froͤmmigkeit
[112] ſtets der vorherrſchende Zug ihres Charakters war. Denn
kein anderes Gefuͤhl konnte in ihr rege werden, da jedes In¬
tereſſe, welches den Menſchen ſo eng an die Erde feſſelt, in
ihr durch ſtete Mißhandlung und Noth erſtickt war, und ſie
nur in religioͤſen Herzensergießungen noch eines lebendigen
Bewußtſeins theilhaftig werden konnte. Selbſt die Liebe zu
den Kindern iſt in wehmuͤthige Erinnerung uͤbergegangen, wel¬
che kaum den Wunſch des Wiederſehens bei ihr erzeugt, da ſie
fuͤrchtet, daß ihr dieſelben durch den Tod entriſſen worden
ſind.


Es iſt nicht wohl moͤglich, den eigentlichen Urſprung ih¬
res wirklichen Wahnſinns naͤher zu bezeichnen, und in truͤber
Gaͤhrung ihres Innern moͤgen ſchon lange die auffallendſten
Ungereimtheiten vorhanden geweſen ſein, welche Niemand
beobachtete, weil Niemand ſich um ſie kuͤmmerte. Sie ſelbſt
weiß noch weniger davon anzugeben; doch ſind deutliche Er¬
ſcheinungen wirklicher religioͤſer Geiſtesbethoͤrung wahrſcheinlich
ſchon in fruͤhen Jahren vorgekommen, wenn das Gemuͤth der
F. beſonders tief erſchuͤttert war. Namentlich war dies der
Fall, als ihr ein Traktaͤtlein, das Herzensbuch betitelt, ein¬
gehaͤndigt, und von einer Frau ihr geſagt wurde, daß daſſelbe
die Schilderung des menſchlichen Herzens enthalte. Durch die
Lectuͤre deſſelben wurde ſie mit wahrem Entſetzen erfuͤllt, als
wenn ſie ſchon die Flammen der Hoͤlle empfinde, denn jene
Schrift, gleich ſo vielen aͤhnlichen, welche den Sinn ſchwacher
Gemuͤther verdumpfen, verwirren, aͤngſtigen oder fanatiſiren,
ſtellte das Herz dar als erfuͤllt von Schlangen, Froͤſchen und
anderem Ungeziefer, als Emblemen der Laſter. In ihrer Angſt
glaubte ſie die Stimme Gottes in ſich zu vernehmen, welche
ihr ankuͤndigte, daß Heulen und Zaͤhnklappen auf ihren krank
darnieder liegenden Ehemann kommen wuͤrden, daß Schlangen
ſein Deckbette ſein ſollten, wenn er ſich nicht von ſeinen Aus¬
ſchweifungen bekehre. Sie theilte ihm dieſe angebliche Offen¬
barung mit, verſetzte ihn aber dadurch dergeſtalt in Wuth, daß
ſie nur durch die Flucht ſeinen Mißhandlungen ſich entziehen
konnte. Eben ſo hatte ſie waͤhrend ihrer Ehe, als ſie ihre
Verzweiflung durch inbruͤnſtiges Beten zu beſchwichtigen ſuchte,
eine deutliche Viſion ihrer Mutter, welche weiß gekleidet in
[113] natuͤrlicher Geſtalt zu ihr trat, und ohne zu ſprechen nach
einigen Minuten wieder verſchwand. Die F., welche ein ſehn¬
ſuͤchtiges Verlangen nach ihrer liebevollen Mutter hegte, be¬
trachtete gleichfalls ſchweigend ihre Geſtalt, und empfand eine
große Freude bei der Vorſtellung, daß dieſelbe aus dem Him¬
mel zu ihr herabgeſtiegen ſei, um ihr Troſt zu bringen. Waͤh¬
rend eines Wochenbettes vernahm ſie in ſich die Stimme von
Chriſtus, welcher ſie fragte, wer hat dich erloͤſet? und darauf
hinzuſetzte: „Der ſuͤße Heiland.” Sie flehte ihn an, er
moͤge ihr die Kraft ſchenken, im Gebete die Kniee zu beu¬
gen vor ſeiner Gnadenhand. Da ſie am 3. Tage nachher
ſchon von ſchwerem Krankenlager aufſtehen konnte, ſo ſah ſie
hierin die gnaͤdige Erhoͤrung ihres Gebets.


Bald nach dem Tode ihres Mannes kam aber ihr
Wahnſinn deutlicher zur Erſcheinung. Ein Uhrmacher mußte
naͤmlich als Armenvorſteher ihr woͤchentlich 6 Groſchen einhaͤn¬
digen, und da ſie auch haͤufig in ſeinem Hauſe arbeitete, und
dafuͤr einiges Geld empfing, ſo entſtand ſehr bald eine myſtiſche
Neigung gegen ihn in ihr, welche ſofort eine ſeltſame Geſtalt
annahm. Anfangs mochte ſie ihn fuͤr ihren Wohlthaͤter gehal¬
ten haben, ohne an ſeinen amtlichen Charakter zu denken,
dem ſie ſeine Gaben verdankte. Das Gefuͤhl der Erkenntlich¬
keit gegen einen Mann, welcher, vielleicht der erſte, ihr ein
thaͤtiges Wohlwollen bezeigte, ging aber bald in wirkliche Zu¬
neigung uͤber, welche gewiß nicht die geringſte erotiſche Be¬
deutung bei einer ſchon bejahrten Frau hatte, der die Ehe
nur in der abſchreckendſten Geſtalt erſchienen war. Aber trotz
aller erduldeten Kraͤnkung hatte ſie in ſich die Vorſtellung le¬
bendig erhalten, daß die Menſchen ſich gegenſeitig als Bruͤder
und Schweſtern lieben ſollten, und in dieſem Sinne glaubte
ſie von Gott die Weiſung erhalten zu haben, jenen Uhrma¬
cher von Herzen zu lieben, und ſich an ihn als ihren Ehe¬
mann innig zu ketten, da auch ihm geboten worden ſei, ſie
zu heirathen, und fuͤr ihren Haushalt, ſo wie fuͤr ihre Kin¬
der zu ſorgen. Nicht nur machte ſie gegen ihn von dieſer
Forderung kein Geheimniß, ſondern ſie verlangte auch von ihm,
ſo wie von ihrer Schweſter, daß beide ihr behuͤlflich ſein ſoll¬
ten, ein Erbtheil von ihrer Mutter, welches nach ihrer Mei¬
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 8[114] nung auf einige hundert Thaler ſich belaufen ſollte, zu erlan¬
gen. Mit rauhen Worten abgewieſen, ließ ſie ſich doch nicht
in ihrer Hoffnung irre machen, vertraute feſt auf die Verhei¬
ßung Gottes, daß jener ihr Ehemann werden ſolle, um ſie
fuͤr die vielen, vom erſten Manne erduldeten Leiden ſchadlos
zu halten, und ſie zu den liebenden Bruͤdern und Schweſtern
zuruͤckzufuͤhren. Je mehr Kraͤnkungen ſie hieruͤber erdulden
mußte, um ſo eifriger betete ſie fuͤr ihren Auserwaͤhlten.


Es iſt nicht mehr auszumitteln, welche von beiden nach¬
folgenden Viſionen, in denen ihr religioͤſer Wahn zur hoͤchſten
Entwickelung kam, ihr zuerſt zu Theil wurde. Einſt lag ſie
in ihrer Wohnung mit Fußgeſchwuͤren behaftet im Bette, als
das Gefuͤhl ihrer ſchweren Leiden ſich ihr in einem Schreckbil¬
de von Flammen, in denen ſie die Hoͤlle zu ſehen glaubte,
reflectirte; der ganze Himmel, ſo weit ſie ihn aus dem Fen¬
ſter ſehen konnte, ſtellte eine unermeßliche Feuersbrunſt dar,
in welcher ſie eine wirbelnde Erſcheinung ohne beſtimmte Ge¬
ſtalt, von ihr eine ſchwebende Seele genannt, wahrzunehmen
glaubte. Nicht nur empfand ſie dabei einen brennenden
Schmerz in den Geſchwuͤren, ſondern ſie fuͤhlte auch zugleich
die ewige Hoͤllenpein, durch welche Gott ihr ankuͤndigte, ſie
ſolle die Menſchen zur Buße und Beſſerung auffordern, da¬
mit ſie nicht auf immer in den Feuerpfuhl geriethen. Da
jene Viſion etwa ¼ Stunde dauerte, ſo machte ſie einen ſo
tiefen Eindruck auf die F., daß ſie nicht ſaͤumen zu duͤrfen
glaubte, den ihr vom Himmel gegebenen Auftrag zu erfuͤllen,
wodurch ſie ſich eine neue Verhoͤhnung vom Uhrmacher zuzog,
durch welchen ſie ihre Verkuͤndigung an die uͤbrigen Menſchen
gelangen laſſen wollte. Sie nennt dieſe Erſcheinung ihre
zweite Hoͤllenfahrt, indem ſie ihre durch das Herzensbuch ver¬
anlaßte Angſt als die erſte bezeichnet. Etwa um dieſelbe Zeit
glaubte ſie aber auch eine Himmelfahrt angetreten zu haben,
nachdem ſie im Schooße ihrer Mutter gelegen hatte. Sie ſah
dieſelbe nicht, empfand aber ein ungemein behagliches Gefuͤhl,
als ob ſie in Sammt und Seide gebettet waͤre, und eine in¬
nere Stimme ſagte ihr, wo ſie ſich befaͤnde. Da ſie zugleich
koͤrperlich ſehr leidend war, ſo kam es ihr vor, als ob ſie
geſtorben, und in einem Sarge von Engeln in den Himmel
[115] getragen worden ſei, woſelbſt der Deckel von dem Sarge ge¬
nommen wurde, um ſie auferſtehen zu laſſen. Außer dem
Sarge ſah ſie Nichts, nur eine innere Stimme ſagte ihr an,
in welcher Umgebung ſie ſich befaͤnde, aus welcher ſie wieder
von unſichtbaren Engeln auf die Erde zuruͤckgetragen wurde.


Hiermit war ein beſtimmter Wendepunkt in ihrem Selbſt¬
bewußtſeyn eingetreten, da ſie ihre ſterbliche Natur abgelegt
zu haben, und als auferſtandener Meſſias, als wirklicher Sohn
Gottes auf die Erde wiedergekehrt zu ſein uͤberzeugt war, um
das Reich Gottes zu ſtiften und auszubreiten. Sie nahm kei¬
nen Anſtoß daran, daß ſie als Weib, als Mutter vieler Kin¬
der in die Perſon Chriſti, welcher ſeinerſeits zur oberſten Gott¬
heit geworden, eingetreten ſei, da Gott als Schoͤpfer aller
Dinge ſeinen Sohn aus ſich geboren habe, und ſie als Ge¬
baͤrerin in ſeine Fußtapfen eingetreten ſei. Denn ſie habe der Gna¬
de Gottes die ganze Welt im Gebete uͤberliefert, und ſie als
ihr Eigenthum von ihm zuruͤckempfangen. Durch ihr Leiden
ſei ihr meſſianiſcher Beruf fuͤr alle Menſchen außer Zweifel
geſetzt, ſie ſei daher die Felſenburg, auf welcher das Reich
Gottes gegruͤndet werden ſolle, gleichwie ſie auf Gott als eine
feſte Burg gebaut habe. Denn ſie habe ſich in Demuth er¬
niedrigt, um von Gott erhoͤht zu werden. Fortan handelte
ſie nun im Sinne jener Apotheoſe, welche ihr durch unmittel¬
bare Kundgebung des goͤttlichen Willens in ihrem Inneren
den von ihr zu betretenden Weg vorzeichnete. Zunaͤchſt er¬
waͤhlte ſie wieder den Uhrmacher zu dem Organ ihrer Bot¬
ſchaft an das Menſchengeſchlecht, welcher dieſelbe in einem gro¬
ßen Actenſtuͤck verzeichnen, und der Stadtvogtei uͤbergeben ſolle,
um von hier aus durch die ganze Welt verbreitet zu werden.
Sie erklaͤrte ſich fuͤr die von Gott eingeſetzte Beherrſcherin der
Erde, und als Landesmutter aller auf derſelben wohnenden
Geſchlechter, und um ihrem Machtgebot mehr Nachdruck zu
geben, verlangte ſie, daß ein Courier an den Kaiſer von
Rußland abgeſandt werde, welcher ſie als ſeine Mutter zur
Regentin ſeines Reichs einſetzen, und fuͤr ihre leiblichen Be¬
duͤrfniſſe Sorge tragen ſolle, weil ſie fuͤr ihn geſiegt, und ihn
mit ihrem Blute erkauft habe. Auch ſei derſelbe wirklich,
wie ſie verſichert, unter der Verkleidung eines Officiers vor
8 *[116] ihr erſchienen, um ſich von ihr ſegnen zu laſſen. Anlangend
ihren meſſianiſchen Beruf ſollte ſie vornaͤmlich dafuͤr Sorge
tragen, daß alle Kinder in der rechten Glaubenserkenntniß er¬
zogen, und daß alle aͤrmeren Kinder auf Koſten der Reichen,
jedes mit 300 Thalern, ausgeſtattet werden ſollten. Alle
Menſchen ſollten ferner durch den Genuß des heiligen Abend¬
mahls in den Bund der Bruͤder und Schweſtern aufgenom¬
men werden, ſich als ſolche innig lieben, und dies durch das
geſchwiſterliche Du bekraͤftigen, weil dies der einzige Weg zur
Seeligkeit ſei. Durch ſie ſei mit dem Reiche Gottes der ewige
Friede auf die Erde gebracht worden, und fortan muͤßten alle
Kriege aufhoͤren, alles Unrecht und Unordnung abgeſtellt wer¬
den, wenn nicht ewige Verdammniß als Strafe fuͤr die Ver¬
achtung des durch ſie kundgegebenen Willens Gottes erfolgen
ſolle.


Im Antriebe ihres Wahns verwickelte ſie ſich in eine
Menge verdruͤßlicher Auftritte, wodurch ſie in der Meinung be¬
ſtaͤrkt wurde, daß die Welt ihren meſſianiſchen Beruf nicht
anerkenne, die Gebote Gottes nicht beachte und erfuͤlle, alſo
des ewigen Heils nicht theilhaftig werden wolle. Insbeſondere
gerieth ſie mit dem Uhrmacher in Streit, als ſie ihn mit der
Anrede, lieber Bruder, dutzte, und ihm dieſe Vertraulichkeit
als eine heilige Pflicht begreiflich machen wollte. Da ſie ſich
daſſelbe gegen ſeine Frau herausnahm, und ſie ſogar umar¬
men wollte, um ihr den Schweſterkuß zu geben, ſo mußte ſie
nicht nur harte Worte, daß ſie wahnſinnig ſei, hoͤren, ſon¬
dern ſie ſcheint auch noch auf eine derbere Art abgewieſen
worden zu ſein. Gleiches Loos widerfuhr ihr bei einem Kauf¬
mann, den ſie ebenfalls mit Du anredete, und welcher ſie
nach einem Wortſtreit aus dem Laden warf, welches zu ihrer
großen Kraͤnkung von dem Uhrmacher belobt wurde. Wahr¬
ſcheinlich wurde ſie in der Nachbarſchaft wegen ihrer Schwaͤr¬
merei verſpottet, ſo oft ſie ſich auf der Straße blicken ließ,
und ſie mag wohl oft von den Gaſſenbuben mit Schimpf
vefolgt, ſelbſt in ihrer Wohnung nicht ganz geſchuͤtzt geweſen
ſein. Tief bekuͤmmert klagte ſie Gott ihre Noth, welcher ihr
im Innern den Troſt zuſprach: „Laß ſie ſpotten, laß ſie la¬
chen, ich werde ſie alle zu Schanden machen, ich habe ein
[117] Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele
Leiden aufbuͤrde, ſo ſolle die Strafe nicht ausbleiben. Dann
ſolle ſie auf einer Eiſenbahn in den Himmel abgeholt wer¬
den, weil die Boten Gottes wie die ſchnellſte Poſt im Sturme
daherfuͤhren.”


Vergebens hatte ſie ſich alſo mit der Hoffnung getroͤſtet,
daß durch ſie das Menſchengeſchlecht zu einer neuen Glaubens¬
erkenntniß wiedergeboren werden ſollte, daß auf ihren Befehl
eine Menge von Haͤuſern errichtet werden wuͤrden, um die
Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬
ſchmaͤht, vergebens hatte ſie den Menſchen zugerufen: „Liebe
Bruͤder, freut Euch allzumal, das Himmelreich ſteht Euch of¬
fenbar.” Der erſehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬
tes konnte nicht ausbleiben, nachdem ſowohl der ruſſiſche Kai¬
ſer, als der Uhrmacher taub gegen die durch ſie verkuͤndigte
goͤttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen
uͤber ſie kommen wuͤrden, wenn ſie nicht hoͤren wollten. Da
ſprach der himmliſche Vater zu ihr, ſie ſolle nun nicht mehr
mit Leiden von den Menſchen belaſtet werden, denn ſie habe
ſchon genug gelitten, wobei ihr zugleich verkuͤndigt wurde,
daß im Himmel Gericht uͤber die Suͤnder gehalten werde.
Etwa ein Jahr ſpaͤter, als ſie ſich ſchon in der Charité be¬
fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß uͤber das unbußfer¬
tige Menſchengeſchlecht Gericht gehalten werde, welches ſie ei¬
ligſt den Aerzten ankuͤndigte, damit nicht die letzte Gnaden¬
zeit zur Bekehrung von den Suͤndern unbenutzt gelaſſen
werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß
ſie bei dieſer Vorſtellung nicht von fanatiſchem Eifer bigotter
Schwaͤrmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die
Welt der ewigen Verdammniß, von welcher ſie faſt allein be¬
freit zu ſein uͤberzeugt ſind, uͤberliefern, ſondern daß ſie in
ein wahres Angſtgeſchrei ausbrach, in Thraͤnen zerfloß, und
mehrere Tage hindurch in troſtloſem Jammer uͤber die Mar¬
tern ihrer Bruͤder wehklagte, welche ſie ſeit Jahr und Tag
vergebens mit Ankuͤndigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf
die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Suͤnden
anzuflehen. Haͤnderingend bat ſie den lieben Heiland, den
Suͤndern zu verzeihen, welche nicht wuͤßten, was ſie thaͤten,
[118] und fand nur in der Vorſtellung endlich Beruhigung, daß
Gott auf ihr Flehen die Hoͤllenſtrafe, welche Heulen und Zaͤhn¬
klappen bewirke, abkuͤrzen werde. Dieſer letzten Ankuͤndigung
des Gerichts war eine dritte Hoͤllenfahrt in der Nacht voran¬
gegangen, welche ſie ſchlaflos unter namenloſer Quaal zu¬
brachte, ſo daß ſie ſich dem Tode nahe glaubte, ohne jedoch
von Sinnestaͤuſchungen heimgeſucht zu werden. Erſt nachdem
ſie ein Gebet an den Heiland um Verleihung des Sieges ge¬
richtet hatte, wurde ihr wohler.


Am 28. Mai 1845 in die Charité aufgenommen hat ſie
nicht die geringſte Veraͤnderung in ihrem Zuſtande wahrneh¬
men laſſen. Ihre Verſtandesbethoͤrung grenzte ſchon an Gei¬
ſtesverwirrung, ſo daß ſich nur mit Muͤhe der bisher geſchil¬
derte Zuſammenhang ihrer ſchwaͤrmeriſchen Grillen auffinden
ließ. Ob ſie ſich als zweiter Meſſias, als Landesmutter eine
hoͤhere Sanction beilegte, konnte nicht beſtimmt ermittelt wer¬
den; denn obgleich dies einerſeits aus ihren Worten zu folgen
ſchien, ſo widerſprach dem theils ihre anderweitige Behauptung,
daß alle Menſchen auf gleiche Weiſe Kinder Gottes ſeien,
theils ihre demuͤthig harmloſe Freundlichkeit und Anſpruchsloſig¬
keit, welche den abſoluten Gegenſatz zu dem koloſſalen Hoch¬
muth fanatiſcher Theomanen bildet. Schon fruͤher habe ich
ihren ſittlich vortrefflichen Charakter geſchildert, als deſſen Haupt¬
zug eine liebevolle Sorgfalt fuͤr alle Nothleidenden angeſehen
werden muß. Ueberzeugt, daß alle Krankheiten Liebesruthen
ſind, mit welchen Gott alle Menſchen zu ihrer Beſſerung
zuͤchtige, beklagt ſie es vornaͤmlich ſehr, daß ſo viele Kranke ihr
Loos nicht in dieſem Sinne anſehen, nicht Buße thun, nicht
im haͤufigen Morgengebet ſich heiligen, ſondern mit leichtfer¬
tigem Gemuͤth in ihre fruͤheren Verhaͤltniſſe zuruͤckkehren. Ins¬
beſondere verabſcheut ſie aus tiefſter Seele das Fluchen, wel¬
ches ſie eine Verſuchung des Teufels zum Abfall von Gott,
eine Suͤndfluth nennt, in welche verſenkt die Menſchen ihre
Beſinnung verlieren. Gewoͤhnlich verhaͤlt ſie ſich ruhig und
harmlos, nur bei der erwaͤhnten Gelegenheit gerieth ſie in eine
heftige Angſt, welche nur mit Muͤhe beſchwichtigt werden konnte.

[119]

8.

B., 59 Jahre alt, ein Pfeifenſchlauchmacher, iſt ſeiner
Ausſage zufolge fruͤher niemals ſchwer krank geweſen. Dem
Branntweintrinken ausſchweifend ergeben, wurde er durch einen
Traum ſeiner Frau heftig erſchreckt, welche darin eine Erſchei¬
nung hatte, durch die ihr geboten wurde, ihm das Brannt¬
weintrinken ganz zu verwehren, weil dies ihm den Untergang
bringen wuͤrde. Er ſah hierin eine Eingebung Gottes, und
nahm von da an fleißig Theil an pietiſtiſchen Verſammlungen,
welche ihm die Enthaltſamkeit von ſpirituoͤſen Getraͤnken zur
Pflicht machten. Hierdurch in eine uͤberſpannte Froͤmmigkeit
verſetzt, verſaͤumte er nun beinahe ganz ſeine Arbeit, und theilte
ſeine Zeit zwiſchen dem Beſuch der Betſtunden und dem Leſen
der Bibel und des Geſangbuches. Wenn er ſich auch einmal
mit ſeiner Profeſſion beſchaͤftigte, ſo hatte er doch immer geiſt¬
liche Buͤcher zur Hand, in denen er mehr las, als arbeitete.
Die Klagen ſeiner Familie uͤber Mangel an Lebensunterhalt
erwiederte er mit den Worten, daß Hunger und Elend Schickun¬
gen Gottes ſeien, in die man ſich fuͤgen muͤſſe, Gott werde
ſchon fuͤr ſie ſorgen, wenn er wolle. Er bildete ſich ein, zur
Strafe fuͤr ſein fruͤheres ſuͤndiges Leben von hoͤlliſchen Geiſtern
in ſeinem Inneren beherrſcht und aͤußerlich belagert zu werden.
Mit dieſen Gaͤſten unterhielt er ſich, und waͤhnte, daß ſie ei¬
nen Ausweg aus ſeinem Koͤrper ſuchten, ihn aber nicht finden
koͤnnten. Seit vielen Jahren litt er, unſtreitig in Folge ſei¬
ner Ausſchweifungen, an oft ſehr lange dauernder Leibesver¬
ſtopfung und an Haͤmorrhoiden, welche ihm haͤufig große Be¬
ſchwerden, das Gefuͤhl von Vollſein und Beaͤngſtigung im
Unterleibe verurſachten. Oft war er Willens, ſich mit einem
Meſſer den Bauch aufzuſchneiden, um den Geiſtern einen freien
Ausweg aus dem Koͤrper zu verſchaffen. Bei ſeiner am 25.
November 1840 erfolgten Aufnahme in die Charité beklagte
er ſich ſehr lebhaft uͤber die Anfechtungen des Satans, wel¬
cher ihn mit deutlichen Worten zur Gotteslaͤſterung auffordere,
ihm alle frommen Gedanken waͤhrend des Gottesdienſtes raube,
ſo daß von den angehoͤrten Predigten nicht die geringſte Erin¬
[120] nerung bliebe, auch treibe derſelbe den groͤßten Unfug in ſei¬
nem Leibe, wogegen er kein anderes Huͤlfsmittel habe auffin¬
den koͤnnen, als das Zeichen des heiligen Kreuzes, wozu auch
eine Stimme ihm gerathen habe. Dieſer Kampf mit dem
Teufel ſei allerdings ſehr quaͤlend, indeß Gott habe ihm zum
Schutz gegen denſelben den heiligen Geiſt geſandt, denn er fuͤhle
deutlich ein lebendiges kleines Weſen in ſeinem Leibe ſich be¬
wegen, welches eine Reinigung deſſelben vornehme, weshalb er
viel ſpucken muͤſſe. Uebrigens behauptete er, geſund zu ſein,
und ſah es als eine Schickung Gottes an, daß er ins Irren¬
haus gebracht ſei, da dies zu ſeinem Beſten gereiche, und
worin er ſich willig ergebe, da er noch nicht den rechten
Glauben gehabt habe. Nach der fortgeſetzten Anwendung ge¬
linder Abfuͤhrungen, wodurch ſeine Unterleibsbeſchwerden groͤ߬
tentheils beſeitigt wurden, erlangte er ſcheinbar eine groͤßere
Ruhe, indem er Troſt aus der Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß er
als Arbeiter im Weinberge des Herrn ſeine Suͤnden abarbeiten
koͤnne. Indeß eine weſentliche Veraͤnderung trat nicht ein,
namentlich aͤußerte er bei einer ſpaͤteren Gelegenheit, er habe
in ſich zwei Stimmen, eine gute und eine boͤſe, die eine auf
der rechten, die andere auf ſeiner linken Seite; die boͤſe ſage
immer, fluche Gott, wie er dies von Menſchen, namentlich
von einem Polizeicommiſſaͤr gehoͤrt habe, welcher die Bibel
ein verfluchtes Buch nannte. Die gute Stimme ermunterte
ihn, ſeinem Heilande treu zu bleiben. In ſeinem 35. Jahre
habe er als Vorſteher einer Kaſſe den Kaſſenſchreiber, der dieſe
betrogen, angezeigt; dies ſei eine Verraͤtherei von ihm gewe¬
ſen, da man lieber Unrecht leiden, als Anderen Unrecht zu¬
fuͤgen muͤſſe. Hierbei gerieth er in ein heftiges Weinen und
Schluchzen, und rang die Haͤnde, ſo daß er nur mit Muͤhe
beſchwichtigt werden konnte. Dann aͤußerte er, nachdem der
heilige Geiſt ſeine Reinigung vorgenommen, ſtehe er feſt im
Glauben, und troͤſte ſich mit den Worten Davids: „Ihr habt
einen ſchweren Bußkampf gehabt, und ſeid noch jung wie die
Adler”. Endlich ſprach er „ich bin auf Golgatha geweſen,
d. h. ich habe die Gnadenthraͤnen gehabt, die der Herr ſchickt,
und zwar als ich in die Georgenkirche gegangen bin, denn das
iſt die Gnade und Freudigkeit des heiligen Geiſtes, die man
[121] nur fuͤhlen kann,” Nachdem ſein Wahn, welcher zuletzt in die
Ueberzeugung uͤberging, daß er durch die Gnade Gottes einer
beſondern Erleuchtung theilhaftig geworden ſei, ohne Erfolg
bekaͤmpft worden war, wurde er im Mai 1842 in eine Ver¬
pflegungsanſtalt verſetzt.

9.

M., im Jahre 1796 geboren, wurde unter gluͤcklichen
Verhaͤltniſſen erzogen, und erfreute ſich fruͤher einer ſtets bluͤ¬
henden Geſundheit. Um ſo trauriger geſtaltete ſich aber ſeine
Lage, als er in ſeinem 24. Jahre, noch waͤhrend er die Ve¬
terinaͤrkunde ſtudirte, ſich verheirathete, und dadurch an einer
gruͤndlichen wiſſenſchaftlichen Ausbildung verhindert wurde, ſo
daß er die hoͤheren Pruͤfungen nicht ablegen konnte, ſondern
ſich mit gelegentlichen unbedeutenden Curen einen kaͤrglichen
Erwerb verſchaffen mußte, welcher noch durch Geldſtrafen fuͤr
unbefugte Heilverſuche an Menſchen geſchmaͤlert wurde. Er
hatte daher ſtets mit Nahrungsſorgen und haͤuslichen Wider¬
waͤrtigkeiten zu kaͤmpfen, welche er durch haͤufigen Genuß ſpi¬
rituoͤſer Getraͤnke zu vergeſſen bemuͤht war. Bei ſeinem chole¬
riſchen Temperamente kam es oft zu den Ausbruͤchen des hef¬
tigſten Zorns, auf welche in ruhigeren Stunden ein tiefer Gram
uͤber ſeine zerruͤtteten Verhaͤltniſſe folgte. Unter dem Verein
dieſer Einfluͤſſe entwickelte ſich allmaͤhlig eine anhaltende Auf¬
regung des Gemuͤths und Koͤrpers, welche ihrer weſentlichen
Bedeutung nach als Delirium tremens angeſehen wurde, und
deshalb im Auguſt 1841 Veranlaſſung zu ſeiner Aufnahme in
die Abtheilung der Charité fuͤr innere Kranke gab. Hier
zeigte er ſich Anfangs ziemlich ruhig, war im Stande, die
ihm vorgelegten Fragen zu beantworten, konnte aber nicht
lange einen Gegenſtand feſthalten, weil er ſich fortwaͤhrend mit
der Vorſtellung beſchaͤftigte, daß er der leibhafte Sohn Gottes
und kein Menſch ſei. Sich ſelbſt uͤberlaſſen ſaß er verſunken
im Bruͤten uͤber ſeine goͤttlichen Eigenſchaften, ohne auf ſeine
Umgebungen Acht zu geben, gerieth aber leicht in Heftigkeit,
wenn er in ſeinen Grillen geſtoͤrt wurde. Schon am naͤchſten
Tage brach ein voͤlliger Wuthanfall bei ihm aus, er ſchlug
[122] um ſich, tobte und ſchrie, und mußte durch Coercitivmaaß-
regeln verhindert werden, Schaden anzurichten. Durch Dar¬
reichung von gelinden Abfuͤhrungen wurde dieſe Aufregung ſchnell
beſchwichtigt, ja er ſchien bald zur voͤlligen Beſinnung zuruͤck¬
zukehren, und zuckte bei der Frage nach ſeiner goͤttlichen Ab¬
kunft mit den Achſeln, indem er aͤußerte, daß dies nicht ſo
gemeint geweſen ſei. Da es demnach den Anſchein hatte, als
ob jene Wahnvorſtellung nur die Folge eines ausſchweifenden
Branntweinsgenuſſes geweſen ſei, ſo wurde er ſchon im naͤch¬
ſten Monate wieder aus der Charité entlaſſen.


Indeß der fortgeſetzte Mißbrauch ſpirituoͤſer Getraͤnke weckte
bald wieder die kaum beſeitigte Verſtandesbethoͤrung; er hielt
ſich fuͤr einen Gottesgeſandten, welcher die Leiden des Lebens
tragen muͤſſe, glaubte Apoſtel zu ſein, und ließ das Kopf- und
Barthaar wachſen, um ſich ein ehrwuͤrdiges Anſehen zu geben.
Erneuerte Wuthanfaͤlle machten ſeine abermalige Aufnahme in
die Charité am 19. April 1845 noͤthig, welches nicht ohne einen
Volksauflauf bewirkt werden konnte, da er auf dem Wege dort¬
hin von ſeinem Begleiter ſich losriß, eilig die Kleider abwarf,
um nackend eine Predigt auf der Straße zu halten, ſo daß es
zu einem Handgemenge kam, in welchem er eine Verwundung
an der Hand davontrug. In die Irrenabtheilung gebracht,
mußte er wegen ſeines gewaltthaͤtigen Betragens in den Zwangs¬
ſtuhl geſetzt werden. Sein ſinnloſes Schwatzen, Schreien und
Laͤrmen machte jede Unterredung mit ihm unmoͤglich, und man
konnte nur ſoviel in ſeinem Wortſchwall unterſcheiden, daß er
ſich fuͤr einen Abgeſandten Gottes und fuͤr einen Apoſtel Chriſti
halte. Nach einigen Tagen beruhigte er ſich, und gab nun an,
daß er aus Nahrungsſorgen an großer Angſt litt, welche zuletzt
die Vorſtellung hervorrief, daß Moͤrder im Hinterhalte lauer¬
ten, und in jedem Augenblicke bereit ſeien, hervorzuſpringen
und Hand an ihn zu legen. Dies ſei auch, fuͤgte er hinzu,
die Urſache ſeiner Raſerei geweſen. Ferner behauptete er, Gott
habe ihm mit vernehmlicher Stimme zugerufen, er ſei ſein
Vater, werde ihn beſchuͤtzen, ihm nicht ein Haar auf ſeinem
Haupte kruͤmmen laſſen, und gab zu verſtehen, daß er ſich
deshalb fuͤr einen Gottgeſandten halte. Doch wollte er ſich
nicht naͤher hieruͤber erklaͤren, und begnuͤgte ſich mit der Be¬
[123] merkung, daß er ohne unmittelbaren goͤttlichen Beiſtand, wie
ihm derſelbe in jener Offenbarung verheißen worden, ſeine un¬
zaͤhligen Leiden nicht haben ertragen koͤnnen. Bei jeder nach¬
folgenden Unterredung trat beſonders ſein Beſtreben hervor, ſich
daruͤber zu taͤuſchen, daß er durch Thorheit und Ausſchweifun¬
gen der Urheber ſeines traurigen Looſes geworden ſei, denn nie
wollte er es anerkennen, daß er zur geſetzlichen Ausuͤbung der
Veterinaͤrkunde, und noch weniger zu Curen an Menſchen be¬
fugt geweſen, und deshalb mit Recht in Strafe genommen wor¬
den ſei. Er ſah hierin nur die unbarmherzige Verfolgung ge¬
gen einen Mann, der an dem noͤthigen Erwerbe fuͤr die Sei¬
nigen verhindert worden ſei, und behauptete, daß er Curen an
Menſchen ohne allen Privatvortheil, blos aus chriſtlicher Liebe
unternommen habe, weil ihm mehrere Heilungen auf eine glaͤn¬
zende Weiſe gelungen ſeien. Noch weniger raͤumte er die nach¬
theiligen Wirkungen des Branntweins ein, welches zu begrei¬
fen faſt alle Trunkenbolde ſich hartnaͤckig weigern, da ſie ſich
abſichtlich uͤber die Folgen ihrer Ausſchweifungen taͤuſchen, um
nicht durch das Gewiſſen genoͤthigt zu werden, ſich ihrer zu enthalten.


Er hatte zu lange unter demoraliſirenden Einfluͤſſen ge¬
litten, und war zu tief in Geiſt und Gemuͤth zerruͤttet worden,
als daß ſeine Heilung haͤtte gelingen koͤnnen; vielmehr fand er
Troſt in der Selbſtvergeſſenheit ſeines religioͤſen Wahns, wel¬
cher unveraͤndert fortdauerte, und dadurch einen voͤllig abge¬
ſchloſſenen Charakter angenommen hatte. Er behauptete daher,
daß er den Proceß Gottes gegen den Teufel zu fuͤhren berufen
ſei, denn die Stimme Gottes habe ihn dazu angetrieben, als
er in Betracht des gefaͤhrlichen Unternehmens ſich dagegen ge¬
ſtraͤubt habe, auch ſei ſeine Hand im Niederſchreiben der Ver¬
handlungen Gottes gegen den Teufel unſtreitig von hoͤherem
Willen gelenkt worden, als deſſen Werkzeug er ſich anſehen
muͤſſe. Bei einer Unterredung mit ſeinem zum Juͤnglingsalter
herangereiften Sohne, welcher bittere Klage daruͤber fuͤhrte, daß
ihm jede Gelegenheit fehle, ſich zu einem brauchbaren Manne
auszubilden, aͤußerte M. mit aufgeblaſenem Pathos, der Menſch
muͤſſe ſein Schickſal Gott anheimſtellen, und nicht ein Streben
nach weltlichen Dingen in ſich aufkommen laſſen. Nach eini¬
gen Monaten wurde er in anderweitige Verhaͤltniſſe verſetzt.

[124]

10.

K., 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholiſchen
Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als
Geſelle eine mehrjaͤhrige Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt
nach Berlin fuͤhrte, woſelbſt er ſich mit einer geſchiedenen evan¬
geliſchen Frau verheirathete, und mit ihr in einer ſehr gluͤck¬
lichen Ehe lebte. Dieſer Umſtand gab Veranlaſſung, daß ihm
von einem katholiſchen Geiſtlichen der Genuß des heiligen Abend¬
mahls verweigert wurde, da ſeine Ehe nur als Concubinat an¬
zuſehen ſei; er muͤſſe ſich daher von ſeiner Frau ſcheiden laſſen,
wenn er in die Gemeinde der Rechtglaͤubigen wieder aufgenom¬
men werden wolle. Dieſe Excommunication belaſtete ihn eine
lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewiſſensſcrupeln, da er
ſtets im Kampfe zwiſchen ſeinem religioͤſen Herzensbeduͤrfniß
und der innigen Liebe zu ſeiner braven Frau ſchwankte; indeß
angeſtrengte Arbeiten, bei denen er ſich ſtets der kraͤftigſten
Geſundheit erfreute, erhielten ihn wenigſtens in leidlicher Faſ¬
ſung, ſo daß er ſich oft ſeiner quaͤlenden Sorgen entſchlagen
konnte. Nun faßte er aber in ſeinem bereits vorgeruͤckten Al¬
ter den Entſchluß, das Examen als Zimmermeiſter abzulegen,
um ſich eine ſelbſtſtaͤndige Stellung und dadurch einen reich¬
licheren Erwerb zu verſchaffen, weshalb er mehrere Monate
Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das
Baufach betreffenden Gegenſtaͤnden nahm, um ſich fuͤr die Pruͤ¬
fung vorzubereiten. Er ſoll darin gute Fortſchritte gemacht ha¬
ben, ſo daß er ſich einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen konnte;
indeß der ploͤtzliche Uebergang von den gewohnten koͤrperlichen
Arbeiten zu den ihm fremden geiſtigen Anſtrengungen verſetzte
ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Beſorgniß
erzeugte, daß er im Examen nicht beſtehen werde. Tief be¬
kuͤmmert uͤber das Scheitern ſeiner Hoffnungen gerieth er bald
in eine voͤllige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erſchei¬
nungen begleitet, ſeine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬
rité fuͤr innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte.
Er ſchrie und tobte, klagte ſich unverzeihlicher Suͤnden an, be¬
jammerte das Schickſal ſeiner durch ihn ungluͤcklich gewordenen
[125] Familie, und verlangte einen Beichtvater. Der Anfall dauerte
mehrere Stunden, und wurde nach einigen ruhigen Pauſen
noch heftiger. Er lief tobend in der Stube umher, zertruͤm¬
merte das Geraͤth, zerſchlug das Fenſter, und war bemuͤht,
dem Waͤrter Verletzungen beizubringen, weshalb er ſofort in
die Irrenabtheilung verſetzt wurde. Hier artete ſich ſein Zu¬
ſtand ganz auf dieſelbe Weiſe, indem er mehrere Tage und
Naͤchte hindurch ſeine tobſuͤchtige Angſt durch lautes Jammern
uͤber ſeine ſchwere moraliſche Schuld und durch Wehklagen uͤber
ſeine durch ihn ungluͤcklich gewordene Familie verrieth, und keine
Frage genuͤgend beantwortete. Er betheuerte, Alles zur Er¬
leichterung ſeines Gewiſſens geſtehen zu wollen, und gab beſon¬
ders als Urſache ſeiner Verzweiflung an, daß er vor vielen
Jahren in Wien ein uneheliches Kind gezeugt, und ſpaͤter eine
geſchiedene Frau geheirathet habe. Indem er ſich unter den
ausdrucksvollſten Mienen und Geſticulationen den ungluͤcklichſten,
verworfenſten und ſchuldbelaſteſten Mann nannte, verfluchte er
ſeinen Leichtſinn, ſeine Schwaͤche, ſo wie die Strenge ſeiner
Examinatoren, und gedachte jammernd ſeines fruͤheren, nun
auf immer zerſtoͤrten Gluͤcks.


Nachdem dieſer Zuſtand mehrere Tage faſt unveraͤndert
fortgedauert hatte, entſtand unſtreitig in Folge ſeiner heftigen
Bewegungen an dem linken Arm, an welchem er ſchon vor
ſeiner Aufnahme in die Irrenabtheilung zur Ader gelaſſen wor¬
den war, eine Entzuͤndung, indem ſich zugleich ein Eiterge¬
ſchwuͤr an der Aderlaßwunde bildete. Erweichende Umſchlaͤge
und warme Armbaͤder nebſt der Anwendung kuͤhlender Arz¬
neien beſeitigten bald die Entzuͤndung. Dies zufaͤllig hinzu¬
getretene Koͤrperleiden uͤbte allem Anſchein nach einen wohl¬
thaͤtigen Einfluß auf ſeinen Seelenzuſtand aus; er wurde ru¬
higer, bekam einen beſſern Appetit, regelmaͤßige Leibesoͤffnung,
ſchlief ruhig, und ſeine Beſſerung ſchritt im naͤchſten Monate
ſo auffallend fort, daß er gegen Ende deſſelben zur vollen Be¬
ſinnung zuruͤckgekehrt war. Es wurde nun moͤglich, mit ihm
uͤber ſein bisheriges Leben und uͤber die Veranlaſſung ſeines
Seelenleidens laͤngere Geſpraͤche zu fuͤhren, aus denen erhellte,
daß er ſeine Excommunication zwar immer peinlich empfunden
habe, daß er aber dadurch nicht bewogen worden ſei, ſich von
[126] ſeiner braven, herzlich geliebten Frau, an welche er durch
heilige Pflichten gebunden ſei, zu trennen. So lebte alſo die¬
ſer durchaus tuͤchtige und redlich geſinnte Mann eine lange
Reihe von Jahren hindurch in einem unausgleichbaren Wider¬
ſtreit zwiſchen ſeinem kraͤftigen ſittlichen Gefuͤhl und ſeinem
poſitiven Glauben, woraus ſich die Entſtehung ſeines Seelen¬
leidens leicht erklaͤrt, da daſſelbe nichts Anderes war, als die
hoͤchſte leidenſchaftliche Steigerung jenes in ſeinem Inneren
fortgaͤhrenden Kampfs zu einer Zeit, wo die Klarheit ſeines
Verſtandes durch ungewohnte und uͤbermaͤßige geiſtige Anſtren¬
gungen getruͤbt, und ſein Gemuͤth durch die Furcht vor einem
unguͤnſtigen Ausgange ſeines Examens tief erſchuͤttert war.
Dies gab mir Veranlaſſung, ihm eindringlich vorzuſtellen, daß
er vor Allem auf eine voͤllige Ausgleichung jenes noch immer
fortbeſtehenden Widerſtreits hinarbeiten, daß er um jeden Preis
eine Ausſoͤhnung zwiſchen ſeinem Glauben und ſeiner Pflicht
zu Stande bringen muͤſſe, wenn ſeine wiedergewonnene Ge¬
muͤthsruhe nicht eine voͤllig truͤgeriſche bleiben, und er bei ir¬
gend einer ihn erſchuͤtternden Veranlaſſung nicht von neuem
ein Raub der Verzweiflung werden ſolle. Da ihm dies ein¬
leuchtete, ſo ſuchte er auf meinen Rath einen katholiſchen
Prieſter auf, mit welchem er nach mannigfachen Verhandlun¬
gen den Vergleich ſchloß, daß er nach Ablauf eines halben
Jahres wieder zum Abendmahl hinzugelaſſen werden ſolle, wenn
er ſich bis dahin des ehelichen Umganges mit ſeiner Frau ent¬
halten, und das Verſprechen geben wolle, ſich mit derſelben
nochmals katholisch trauen zu laſſen, wenn ihr noch lebender
geſchiedener Ehemann geſtorben ſei. Da dieſe Bedingungen
leicht zu erfuͤllen waren, ſo rieth ich dem K., der Religion
ſeiner Vaͤter treu zu bleiben, weil ein Glaubenswechſel, zu
welchem er bei fortgeſetzter Excommunication entſchloſſen war,
bei ſeiner aͤngſtlichen und befangenen Gemuͤthsart leicht die
ſchlimmſten Folgen fuͤr ihn haben koͤnne. Auf dringende Ver¬
wendung ſeiner Ehefrau wurde er am 14. Juni beurlaubt,
und da er bei ſpaͤter wiederholten Pruͤfungen ſeines Gemuͤths¬
zuſtandes ſich voͤllig beſonnen zeigte, ſo erfolgte die definitive
Erklaͤrung ſeiner Heilung am 19. September.

[127]

11.

L., 32 Jahre alt, iſt die Tochter eines hieſigen Tafel¬
deckers, deſſen oft nur ſpaͤrlicher Erwerb eine große Einſchraͤn¬
kung des Hausweſens bei einer Familie von 4 Kindern noͤ¬
thig machte. Dennoch herrſchte in letzterer ein heiterer Sinn
und ſittlicher Geiſt, welchen der Vater dadurch ſtets rege er¬
hielt, daß er ſeinen in Dienſt getretenen Toͤchtern jeden Be¬
ſuch oͤffentlicher Vergnuͤgungsorte mit der Drohung unterſagte,
die ſeinem Befehl Ungehorſame ſofort verſtoßen zu wollen.
Dafuͤr ſorgte er durch Spiel auf der Geige, welche zum Tanze
mit Hausfreunden aufforderte, und durch andere unſchuldige
Erheiterungen dafuͤr, daß der Frohſinn unter den Seinigen
einheimiſch blieb, und ſeine mit Ernſt gepaarte herzliche Freund¬
lichkeit erwarb ihm die Liebe derſelben in einem ſo hohen Grade,
daß ſie ſich in ſeiner Naͤhe am gluͤcklichſten fuͤhlten. Insbe¬
ſondere war unſere Kranke ſein Liebling, weil ſie ſich durch
Munterkeit und witzige Einfaͤlle vor ihren Geſchwiſtern aus¬
zeichnete. Sie konnte nur mehrere Jahre hindurch eine Ar¬
menſchule beſuchen, in welcher ſie ſich die nothwendigſten Ele¬
mentarkenntniſſe erwarb, und trat bald nach ihrer im 13. Jahre
erfolgten Einſegnung in Dienſt, welcher ſie nach einigem Wech¬
ſel in das Haus eines Schullehrers fuͤhrte, bei welchem ſie
6 Jahre verblieb. Dieſer Umſtand ſpricht um ſo mehr fuͤr
ihren ſittlichen Charakter, als die Familie, der ſie diente, eine
ſehr wohlgeſinnte war, und ihr eine durchaus freundliche Be¬
handlung zu Theil werden ließ. Da uͤberdies ihre Arbeiten
durchaus nicht das Maaß ihrer Kraͤfte uͤberboten, ſo ſchritt
ſie, ſchon als Kind faſt immer geſund, ungehindert in ihrer
geiſtigen und koͤrperlichen Entwickelung fort, und bewahrte ſich
einen ſehr lebensfrohen Sinn, welcher faſt nie durch ein trau¬
riges Ereigniß getruͤbt wurde. Vom Vater zum fleißigen Be¬
ſuch des oͤffentlichen Gottesdienſtes angehalten, wurde ſie in
letzterem auf eine wohlthaͤtige Weiſe angeregt; denn ihre durch
gute Predigten erweckte Froͤmmigkeit, welche ſie oft bis zu
Freudenthraͤnen ruͤhrte, nahm einen ſehr heitern Charakter an,
ſo daß ſie ſich Gott ſtets unter dem Bilde eines liebenden
Vaters vorſtellte, in deſſen Naͤhe ſie zu weilen, ja mit wel¬
[128] chem ſie innerlich zu ſprechen glaubte. Da ſie zugleich der
hochbejahrten Mutter ihres Dienſtherrn oft Predigten vorleſen
mußte, ſo ſteigerte ſich ihre religioͤſe Erregung oft zu einem
ſolchen Grade, daß ſie niederkniete, um ihr frommes Gefuͤhl
im Gebet zu ergießen. Vielleicht uͤberſchritt ſie dabei gelegent¬
lich das rechte Maaß, denn ſchwerlich wuͤrde bei ihr in ſpaͤ¬
terer Zeit ein ſo furchtbarer religioͤſer Wahnſinn zum Ausbruch
gekommen ſein, wenn nicht ihre Froͤmmigkeit einen etwas ſen¬
timentalen Charakter angenommen haͤtte, aus welchem indeß
damals kein Nachtheil hervorging. Denn daß ſie gelegentlich
von Gewiſſensſcrupeln befallen wurde, wenn ſie ſich einmal
eine kleine Luͤge oder ſonſt eine unbedeutende Pflichtwidrigkeit
hatte zu Schulden kommen laſſen, kann nur als Ausdruck ih¬
res ſittlichen Charakters angeſehen werden, welcher ſie von ſo
vielen jugendlichen Verirrungen ferne hielt. Nur in ſofern
gerieth ſie dabei in eine bedrohliche Exaltation, als ſie in ih¬
rem Gemuͤth beaͤngſtigt, ſogar den Einwirkungen des Teufels
ausgeſetzt zu ſein glaubte, wobei es ihr vorkam, als wenn
derſelbe hinter ihrem Ruͤcken Fluͤche ausſtieße, und ſie gewalt¬
ſam am Beten verhindern wolle, bis ſie ſich mit aller Kraft
zuſammennahm, und durch eifriges Flehen zu Gott, ſo wie
durch den Beſuch der Kirche bald ihre Freudigkeit wieder er¬
langte. So wurde der heitere Spiegel ihres Selbſtbewußtſeins
nur ſelten und voruͤbergehend getruͤbt, und erſt waͤhrend der
letzten Zeit ihres Dienſtes erfuhr ſie eine tiefere Bewegung ih¬
res Gemuͤths durch die hoffnungsloſe Liebe zu einem jungen
Manne, welcher als Hausfreund ſie oft durch ſein Klavierſpiel
entzuͤckte, und auch ſonſt ihr freundlich begegnete, ohne ihr je¬
doch jemals eine beſondere Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Bei
ihrer lebhaften Phantaſie und ihrem leicht erregbaren Gemuͤth
erlangte jene Neigung bald einen hohen Grad von Innigkeit,
und nahm oft das Gepraͤge einer tiefen Schwermuth an; aber
ihr geregelt thaͤtiges Leben hatte ihr hinreichende Beſonnenheit
und Selbſtbeherrſchung verliehen, ſo daß es ihr gelang, den
Seelenfrieden, wenn auch erſt nach manchem Kampfe, wieder
zu gewinnen.


Sie diente hierauf noch eine Reihe von Jahren hindurch
bei mehreren Banquiers, in deren Familien ſie ſich ſtets einer
[129] ſehr guten Behandlung zu erfreuen hatte, da ihr freundliches
und geſittetes Betragen ihr das Wohlwollen Aller erwarb. Es
wurde ihr ſelbſt der nicht ſeltene Beſuch des Theaters geſtattet,
an welchem, zumal an der Oper ſie ein großes Wohlgefallen
empfand; dabei blieb ſie aber den Aeltern ſtets mit inniger
Liebe zugethan, und unterſtuͤtzte ſie in ihrer bedraͤngten Lage
oft mit dem Ueberſchuß ihres Lohns. Sie war ſtets geſund
und kraͤftig, und erkrankte nur einmal in Folge ſtarker Erkaͤl¬
tung mehrere Wochen hindurch an einem heftigen Nervenfieber,
welches lebhaftes Irrereden zum Begleiter hatte, erlangte aber
bald ihre fruͤhere Kraft und Lebensfriſche wieder. Im 27. Jahre
lernte ſie bei einer Freundin einen Tiſchlermeiſter kennen, wel¬
cher ſich um ihre Hand bewarb, und ſie auch erhielt, obgleich
ſie in wehmuͤthiger Erinnerung an ihre erſte Liebe ihm nicht
eine ſo lebhafte Neigung ſchenken konnte. Indeß da er fleißig,
brav, haushaͤlteriſch, und in jeder Beziehung gegen ſie wohl¬
geſinnt war, und ihr gern den gelegentlichen Beſuch des Thea¬
ters goͤnnte; ſo fuͤhrte ſie mit ihm eine gluͤckliche Ehe, deren
Zufriedenheit durch keine Sorgen geſtoͤrt wurde. Dabei ver¬
ſaͤumte ſie den Beſuch der Kirche nicht, in welcher ihre fromme
Ruͤhrung oft in Thraͤnen ſich ergoß. Nach einjaͤhriger Ehe
wurde ſie gluͤcklich von einem geſunden Kinde entbunden, wel¬
ches ſie zaͤrtlich liebte, weshalb ſie in tiefe Traurigkeit verſetzt
wurde, als ihr daſſelbe ein Jahr alt durch Zahnkraͤmpfe ent¬
riſſen wurde. Ihr Schmerz wurde noch vermehrt durch die
Vorſtellung, von welcher ungluͤckliche Muͤtter in gleicher Lage
ſo oft heimgeſucht werden, daß der Tod ihres Kindes eine
Strafe Gottes ſei, und da ſie ſich keiner wichtigen Schuld be¬
wußt war, ſo glaubte ſie darin geſuͤndigt zu haben, daß ſie
ihrem erſten Geliebten nicht treu geblieben ſei. Wer erkennt
hierin nicht den aͤcht charakteriſtiſchen Zug des weiblichen Her¬
zens, dem die erſte Liebe faſt ein unverbruͤchliches Geſetz fuͤr
das ganze Leben auferlegt, ſo daß es, ſelbſt vom Schickſal von
demſelben losgeſprochen, dennoch ihm zu gehorchen durch einen
Unwiderſtehlichen Zug ſich angetrieben fuͤhlt, ohne daß es dem
Verſtande gelingt, die Thorheit einer ſolchen Neigung gegen
das eigenſinnig beharrende Gefuͤhl deutlich zu erkennen. Da
die L. ſelbſt waͤhrend ihres ſchweren Seelenleidens eine aͤhn¬
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 9[130] liche Selbſtanklage ausſprach, ſo erhellt daraus, daß jene Nei¬
gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen geſchlagen hatte, und wer
mag berechnen, wie ein geheimer Widerſtreit in ihrem Innern,
ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur boͤſen
Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemuͤths
zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß ſie wurde durch
haͤusliche Geſchaͤfte zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß
ſie ſich ihrem Kummer haͤtte hingeben koͤnnen.


Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde
ſie zum zweitenmal ſchwanger, und auch diesmal erfreute ſie
ſich ihrer vollen Geſundheit, ſo daß ſie ſelbſt an der beſchwer¬
lichen Arbeit des Polierens der Moͤbel fortgeſetzt Theil neh¬
men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden ſtillte
allmaͤhlig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedraͤngniß
ſie traf, ſo lebte ſie meiſt in heiterer Zufriedenheit, welche nur
dadurch etwas getruͤbt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus
Mangel an eigener Arbeit genoͤthigt wurde, ihrem Ehemanne
bei manchen Geſchaͤften behuͤlflich zu ſein, und dadurch von
ihm abhaͤngig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende
Auguſts 1845 ganz gluͤcklich, und mit innigſter Liebe widmete
ſie ſich der Pflege ihres ganz geſunden Kindes, dem ſie an ihrer
Bruſt eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die erſte Zeit
des Wochenbettes verlief ohne die geringſte Stoͤrung, ſo daß
ſie am 8. Tage ihr Lager verlaſſen, und die haͤuslichen Ge¬
ſchaͤfte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬
winde ausgeſetzte Kuͤche gab Veranlaſſung, daß ſie ſich mehr¬
mals ſtark erkaͤltete, ſo daß ihr die Beine vor Froſt beinahe
erſtarrten. Mit jedem Tage fuͤhlte ſie ſich unwohler, ſie verlor
ihren guten Appetit, klagte uͤber Zerſchlagenheit, Wuͤſtheit
und Verwirrung im Kopfe, Angſt, haͤufiges Froͤſteln, auf
welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch
ihr der Schlaf geraubt wurde. Als ſie in dieſem krankhaft
erregten Zuſtande an einem Tage vor dem Thore ſpazieren
ging, wurde ſie von einem Schwindel befallen, ſo daß ihr alle
Gegenſtaͤnde zu ſchwanken ſchienen, und ſie dadurch in eine
peinliche Spannung verſetzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬
dene Wuͤſtheit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine
krankhafte Erregung ihres Nervenſyſtems hin, und hieraus
[131] muß es wohl erklaͤrt werden, daß ſie von einer Viſion heim¬
geſucht wurde, in welcher ihr Gott wie in Flammengeſtalt,
umgeben von theils noch lebenden, theils ſchon geſtorbenen
Verwandten, Freunden und Fremden erſchien. Dieſe Viſion
dauerte nur kurze Zeit, ſo daß ſie kaum die einzelnen Figuren,
welche in einander zu fließen ſchienen, unterſcheiden konnte.
Noch waͤhrend des Spazierganges wiederholte ſich dieſe Erſchei¬
nung zweimal, bald auf der Erde, bald im Himmel. In ihrer
exaltirten Stimmung wurde ſie dergeſtalt davon ergriffen, daß
ſie die wirkliche Welt aus den Augen verlor, ſchon in den
Himmel erhoben, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig gewor¬
den zu ſein glaubte, und daher ihren Ehemann voll Entzuͤcken
mit dem Ausruf kuͤßte: „wir ſind nun alle gluͤcklich!” Er
ſuchte ſie zu beruhigen, ſie zu uͤberreden, daß ſie von ihrer
Einbildung getaͤuſcht ſei, und bewirkte dadurch wenigſtens ſo
viel, daß ſie nach ihrer Wohnung zuruͤckgekehrt mit Zweifeln
uͤber die Wahrheit oder Nichtigkeit ihrer Viſion kaͤmpfte. Durch
dieſen inneren Widerſtreit wurde ſie geaͤngſtigt, und ihre Un¬
ruhe reflectirte ſich in der Gehoͤrstaͤuſchung, als ob um ſie her
ein verworrenes Geraͤuſch erregt werde, in welchem ihre er¬
hitzte Phantaſie die Naͤhe des Teufels ſie ahnen lies, welcher
von ihr das Opfer ihres Kindes verlange, um ſie ganz von
Gott loszureißen. Ueber dieſe ſchreckliche Forderung entſetzte
ſie ſich dergeſtalt, daß in ihr eine Verſtandesverwirrung ent¬
ſtand, in welcher ihr eine Stimme unaufhoͤrlich zurief, jene
flammende Sonne ſei Gott geweſen, und auf ſein Geheiß ſolle
ſie ihr Kind opfern.


Es kam nun zum Ausbruch eines ſtarken Fiebers, welches
von keinem oͤrtlichen Leiden der Bruſt- und Unterleibsorgane
begleitet geweſen zu ſein ſcheint, deſto ſtaͤrker aber ihren Kopf
angriff, ſo daß ſie bald in ein heftiges Irrereden verfiel. Die
Fieberhitze muß ihr beſonders peinlich geweſen ſein, da ſie noch
in ſpaͤterer Zeit verſicherte, es ſei ihr vorgekommen, als ob ſie¬
dendes Metall in ihren Adern umliefe. In den Morgenſtun¬
den, pflegte ſich ein Nachlaß des Fiebers einzuſtellen, ſo daß
ſie bald bei geringerer Hitze und Unruhe zur Beſinnung zu¬
ruͤckkehrte, dagegen die genannten Zufaͤlle in den ſpaͤteren Ta¬
gesſtunden einen hohen Grad erreichten, und ihr den Schlaf
9 *[132] gaͤnzlich raubten. Ihre Geiſtesſtoͤrung trat alſo Anfangs ganz
unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher
auch den wechſelnden, unbeſtimmten Charakter deſſelben,
indem die verſchiedenartigſten Vorſtellungen, von denen ihr
noch einzelne in der Erinnerung geblieben ſind, in ihrem Kopfe
ſich durchkreuzten. Insbeſondere kam es ihr vor, als ob man¬
nigfaltige Geſtalten vor ihren Augen vorbeirauſchten; dabei hoͤrte
ſie viele Stimmen durch einander, welche ſie bei Namen riefen,
und die durch den Wirbel dieſer Bilder veranlaßte Unruhe
brachte in ihr die Vorſtellung hervor, als ob ſie verfolgt werde.
Zu drei Malen erblickte ſie ein Lichtmeer, in welchem geiſter¬
aͤhnliche Geſtalten als auferſtandene Seelen um einen hellſtrah¬
lenden Mittelpunkt, den ſie fuͤr Gott hielt, herumſchwebten‚
indem ſie Lobgeſaͤnge auf ihn im Chor anſtimmten, und ihre
Seeligkeit prieſen, von welcher auch die L. erfuͤllt war, da ſie
ſchon ins Paradies eingegangen zu ſein, und die Ihrigen zu
erblicken glaubte. Andere Male ſah ſie eine Menge unbeſtimm¬
ter kreiſender Geſtalten, wobei ſie glaubte, daß eine neue Welt
entſtehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefuͤhlen, welche
beſonders eine Folge davon geweſen ſein moͤgen, daß ſie zur
Zeit des nachlaſſenden Fiebers ihrer Beſinnung wieder theil¬
haftig geworden, ſich fuͤr toͤdtlich krank hielt, deshalb mit ihrem
Manne Verabredungen uͤber die nach ihrem Tode vorzuneh¬
menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz daruͤber
empfand, daß ſie ihr geliebtes Kind und ihren huͤlfloſen Va¬
ter zuruͤcklaſſen muͤſſe, wenn auch der Tod ſelbſt ihr keinen
Schreck einfloͤßte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit,
welche ſie ſchon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬
muͤthige Freude einfloͤßte.


Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit
laͤßt ſich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬
lichen Wahnſinn nicht mehr naͤher beſtimmen, denn bei ihrer
am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war
bereits jede Spur von Fieber verſchwunden, und die Erſchei¬
nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬
gen Gemuͤthsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬
ſymptom gewichen, auch die Milchabſonderung und der Lochial¬
fluß hatten gaͤnzlich aufgehoͤrt. Die pathogenetiſche Bezeichnung
[133] der Bedingungen, welche die Entſtehung einer ſelbſtſtaͤndigen
Seelenſtoͤrung aus einem uͤbrigens gluͤcklich abgelaufenen Fie¬
ber veranlaſſen, iſt im Allgemeinen ſehr ſchwierig, und Alles,
was ſich daruͤber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬
ſetzungen ſagen laͤßt, duͤrfte ſich darauf beſchraͤnken, daß unter
den Verhaͤltniſſen des Wochenbettes, welche ſo oft die Entſte¬
hung einer Geiſteskrankheit beguͤnſtigen, die außerordentliche
Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Erſchuͤtterung des Ge¬
muͤths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm ſtark her¬
vortretenden religioͤſen Gefuͤhls veranlaßte, deſſen Erregung
vorzugsweiſe durch die himmliſchen Bilder, und durch die To¬
desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Beſinnung
geſteigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher ſehr
geſchaͤftige und bilderreiche Phantaſie ſetzte daher das mit un¬
geſtuͤmer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefuͤhle be¬
ſchleunigte Spiel zur Bethoͤrung des Geiſtes fort, nachdem das
Fieber ſchon zu ſeinem vollen Ablauf gelangt war. Wie ſee¬
lig ſie ſich aber auch in den Augenblicken der himmliſchen Vi¬
ſionen gefuͤhlt hatte, ſo war doch ihr geiſtig koͤrperlicher Zu¬
ſtand in eine ſo heftige Erſchuͤtterung verſetzt worden, als daß
ſie ſich derſelben nicht durch peinliche Gefuͤhle haͤtte bewußt
werden ſollen, welche die Phantaſie als treues Echo aller An¬
klaͤnge des Gemuͤths in analogen Bildern ſymboliſirte. Sie
glaubte dann, der Teufel verfolge ſie, und wenn ſie ihn auch
damals noch nicht leibhaftig ſah, ſo kam es ihr doch vor, als
ob er hinter ihrem Ruͤcken huſte, und ſie ergreifen wolle, um
ſie gewaltſam von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu
trennen. Aus dieſer Vorſtellung ging eine andere hervor,
welche ſich auf lange Zeit in ihrem Bewußtſein als der eigent¬
liche Ausgangspunkt ihres Wahnſinns fixirte. Sie glaubte
naͤmlich eine ſchwere Suͤnderin zu ſein, der Gott ihr Kind
zur Strafe nehmen wolle, indem daſſelbe ſeinem Zorn zur
Suͤhne fuͤr das ganze Menſchengeſchlecht gebracht werden ſolle.
Von dem heftigſten Entſetzen wurde ſie in ihrem Muttergefuͤhl
getroffen, als ſie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬
nehmen waͤhnte, daß ſie ſelbſt dies Opfer vollziehen muͤſſe,
daher ſie dann wiederholt in raſender Angſt aus dem Bette
ſprang, um das Kind zu ergreifen und ſich mit ihm ins Waſ¬
[134] ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in
ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte ſie ins Bette
zuruͤckgebracht werden, indem ſie ſchrie, Gott habe es ihr be¬
fohlen, ſie muͤſſe gehorchen. Da ſie zugleich mit dem Wahn
behaftet war, daß ihre Angſt durch Gift veranlaßt worden ſei,
welches man ihr in der Arznei reiche, und ſie dieſelbe jedesmal
zuruͤckſchlug; ſo wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬
wendig.


Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich
hinaus, indem ſie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬
bracht werden ſolle, um daſelbſt fuͤr die Suͤnden der Welt von
einem Geiſtlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend
des Sonnenſcheins geſchehen muͤſſe, da nach dem Untergange
der Sonne das Opfer ſeine Kraft verlieren werde. In einer
Nacht ſah ſie noch einmal den Himmel offen, aus welchem
Choͤre von Seeligen, zu denen auch ſie zu gehoͤren glaubte,
zu ihr herabſchwebten. Ein anderes Mal ſah ſie Gott wie¬
der als flammendes Sonnengeſicht, welches der Teufel an der
Naſe faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬
ſchaft der Welt einen Kampf anzufangen, deſſen Ende ſie nicht
ſah, wobei ſie indeß eine große Angſt empfand. Die An¬
wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber
den Kopf nebſt gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in ſo¬
fern eine guͤnſtige Wirkung hervor, als ſie allmaͤhlig, des
Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage
nicht mehr eine ſo heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß
bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorſtellungen
keine weſentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬
ſein ſo gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorſtellung, ihr Kind muͤſſe
beim Schein der Sonne, in welcher ſie die Anweſenheit Got¬
tes wahrzunehmen glaubte, von einem Prieſter als einem Ge¬
weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menſchen
geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen
ſollten, daß ſie auf gar kein anderes Geſpraͤch ſich einließ, ſon¬
dern mit dem Ausdruck tiefer Angſt am Fenſter ſaß, und re¬
gungslos hinausſtierte. Nur darin war ſie mit ſich uneins,
daß ſie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu
einer ſo ſchrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬
[135] halten zu haben glaubte. Fruͤher hatte noch ihr inniges Mut¬
tergefuͤhl ſich in Ausbruͤchen der Verzweiflung dagegen geſtraͤubt;
aber im graͤßlichen Seelenſchmerze verſtummte zuletzt auch jene
maͤchtige Stimme der Natur, ſo daß ſie in dumpfer Betaͤu¬
bung ſich ſagte, es ſolle ſo ſein, ſie muͤſſe es thun, wobei ihr
in dunkler Erinnerung das Bild des den Iſaak opfernden Abra¬
ham vorſchwebte. Ueberhaupt kam ihr die Welt wie veroͤdet
und ausgeſtorben vor, als wenn ſie nach dem Verluſt aller
ihrer Angehoͤrigen allein in derſelben zuruͤckgeblieben ſei, und
ſie konnte noch nach ihrer Heilung nicht Worte finden, die
furchtbaren Quaalen zu ſchildern, in welchen ſie damals zu
Boden gedruͤckt war. Hieraus erklaͤrt ſich auch die Erſtarrung
ihres ganzen Weſens, ſo daß ihre urſpruͤnglich hoͤchſt beweg¬
liche Phantaſie, welche außerdem die herrſchenden Wahnvorſtel¬
lungen gewiß zu einer Menge von Dichtungen verarbeitet ha¬
ben wuͤrde, gleichſam gelaͤhmt war, und ihr geiſtiges Auge
von dem Gedanken des Opfers wie von einem Meduſenantlitz
gefeſſelt wurde.


Erſt zu Ende Octobers trat ein ſcheinbarer Nachlaß ihrer
Angſt ein, indem ſie aͤußerte, daß ein ſolches Opfer nicht Gott
wohlgefaͤllig ſein koͤnne, wenn ſie auch noch gelegentlich Stim¬
men hoͤrte, welche daſſelbe von ihr forderten. Ja es erwachte
ſelbſt eine ſo lebhafte Sehnſucht nach den Ihrigen, daß dieſelbe
ſich in neuen Stimmen reflectirte, welche ihr zuriefen, daß ſie
nach Hauſe zuruͤckkehren ſolle. Indeß dieſe ſcheinbare Beſſe¬
rung war nur von kurzer Dauer, denn am Abend des 8. No¬
vember wurde ſie ploͤtzlich wieder ſehr unruhig, ſprang vom
Stuhl auf, weil ſie vom Teufel verfolgt zu ſein glaubte,
welcher ihr zuerſt als ein ſchwarzer Schatten an der im Zim¬
mer haͤngenden Lampe erſchienen, und hierauf durch das Zim¬
mer uͤber dem ihrigen gelaufen ſei. Sie umklammerte feſt jene
Lampe, indem ſie behauptete, daß nur dann der Teufel keine
Macht uͤber ſie habe, wenn ſie jene feſthalte, und konnte nur
mit Muͤhe von derſelben entfernt werden. Ihre hierdurch ver¬
anlaßte Angſt dauerte lange fort, und hatte den Ausbruch eines
reichlichen Schweißes auf dem Geſicht zur Folge, bis ſie ſich
endlich beruhigte, und ſelbſt anerkannte, daß ihre aufgeregte
Phantaſie ihr einen Streich geſpielt, und unter Anderem auch
[136] vorgeſpiegelt haͤtte, ſie ſei durch den Teufel zur Ehe verleitet
worden. Aber dieſer Schimmer von Beſinnung verſchwand
bald wieder, denn immer von neuem kehrte die Vorſtellung
zuruͤck, der Teufel verfolge ſie, er ſei ihr in Flammen an der
Decke des Zimmers erſchienen, rauſche durch daſſelbe an ihr
voruͤber, und da inzwiſchen auch die ſchon erwachte Sehnſucht
nach den Ihrigen ſich von neuem wieder regte, ſo gerieth ſie
in einen ſehr qualvollen Zuſtand, welcher ihr die naͤchtliche
Ruhe raubte. Endlich entſtand in ihr eine gewiſſe Reaction
gegen die unaufhoͤrlichen Verfolgungen des Satans, ſo daß ſie
denſelben gleichſam zum Kampfe herausforderte, indem ſie mit
ihm zu wuͤrfeln verlangte, um dadurch endlich die Entſcheidung
herbeizufuͤhren, ob Gott oder er die Oberhand bei ihr gewin¬
nen ſolle. Nicht nur hoffte ſie, durch einen gluͤcklichen Wurf
von ihm ſich zu befreien, und ihm dadurch den Tod zu bringen,
ſondern eine Stimme rief ihr auch zu, daß das Schickſal der
ganzen Welt an das ihrige gekettet ſei, und bei dem Verluſt
des Spiels dem Teufel und dem Tode zum Raube werden muͤſſe,
worauf alle Menſchen in ewige Hoͤllenquaalen gerathen wuͤrden.


Ein ſo ſtark ausgepraͤgtes und hartnaͤckiges Seelenleiden
forderte zu energiſchen Maaßregeln auf, nachdem die fruͤher in
Anwendung geſetzten Heilmittel ſich als durchaus unwirkſam
erwieſen hatten. Denn die unertraͤgliche Folter ihres Gemuͤths
mußte bei laͤngerer Dauer nicht blos aͤußerſt nachtheilig in den
Fortgang ihrer koͤrperlichen Functionen eingreifen, welche bis
dahin mit Ausnahme des haͤufig von aͤngſtlichen Traͤumen un¬
terbrochenen Schlafs noch leidlich genug von Statten gegangen
waren, ſondern es war auch eine mit jedem Tage tiefer einreißende
Zerruͤttung der geiſtigen Kraͤfte zu befuͤrchten, durch welche
die Organiſation der Seele in ihren Grundfeſten bedroht
wurde. Freundlicher Zuſpruch, Troſt, das Bemuͤhen, ſie von
ihren grauſigen Vorſtellungen abzulenken, blieben von ihr ganz
unbeachtet, zu einer ihre Aufmerkſamkeit ablenkenden Thaͤtig¬
keit war ſie durchaus nicht zu bewegen. Zum Gluͤck beſitzt die
Pſychiatrie die ſchon mehrmals genannten aͤußerſt kraͤftigen
Mittel, die Douche und Brechweinſteinſalbe, um durch phy¬
ſiſche Erſchuͤtterung des Nervenſyſtems gleichſam mit Gewalt
die verſchloſſenen Pforten der Seele zu ſprengen, und dadurch
[137] ihre Gemeinſchaft mit der Außenwelt wieder herzuſtellen. Was
bliebe auch dem Arzte unter ſo mißlichen Umſtaͤnden zu thun
uͤbrig, wo weder die Philoſophie noch die Apotheke irgend ein
Heilmittel darbietet? Viele Aerzte, namentlich Pinel und ſeine
Schuͤler, rathen, man ſolle ſich unter ſolchen Bedingungen jedes
eingreifenden Verfahrens enthalten, fuͤr die Befriedigung der
koͤrperlichen Beduͤrfniſſe Sorge tragen, und im uͤbrigen gedul¬
dig die Zeit abwarten, wo aus unerforſchlichen Bedingungen
durch die Heilkraft der Natur eine guͤnſtige Wendung herbei¬
gefuͤhrt werde. Wir wollen nicht leugnen, daß die Macht der
Leidenſchaften ſich haͤufig an ihrem eigenen Ungeſtuͤm bricht,
daß die erſchoͤpften geiſtigen und koͤrperlichen Kraͤfte endlich dem
Toben des Gemuͤths Schweigen gebieten, und daß alsdann
unter ſorgfaͤltiger Vermeidung aller Schaͤdlichkeiten die Beſon¬
nenheit von ſelbſt wiederkehren kann. Aber ein ſolcher guͤnſti¬
ger Ausgang iſt ſtets ungewiß, wird nur zu haͤufig durch die
in wiederholten Ausbruͤchen zum hoͤchſten Uebermaaß ſich ſtei¬
gernden Leidenſchaften vereitelt, ſo daß die endlich eintretende
Ruhe nicht die der wiederkehrenden Beſinnung, ſondern das
Grab aller Geiſteskraft im Bloͤdſinn iſt, nachdem die raſtloſen
Stuͤrme der Seele zuletzt die Energie des Nervenſyſtems gaͤnz¬
lich vernichtet hatten. Wir duͤrfen es daher unbedenklich als
einen weſentlichen Fortſchritt der Pſychiatrie anerkennen, daß
durch die Anwendung der oben genannten Mittel, freilich un¬
ter gewiſſen hier nicht zu eroͤrternden Einſchraͤnkungen, ohne
alle Gefahr und ſonstige nachtheilige Folgen ein weſentlicher
Umſchwung der geſammten Seelenthaͤtigkeit, geradezu ein Er¬
wecken des in die Traumnacht des Wahnſinns verſunkenen
Verſtandes eben ſo bewirkt werden kann, wie jede Exaltation
der Geiſtes- und Gemuͤthskraft auch im geſunden Zuſtande
faſt unfehlbar verſchwindet, wenn das Nervenſyſtem einen hef¬
tigen Anſtoß von irgend einer Seite her erhalten hat.


Nachdem bei der L. laͤngere Zeit hindurch die Douche ohne
allen weſentlichen Erfolg in Anwendung geſetzt worden war,
mußte ich mich endlich zum Gebrauch der Brechweinſteinſalbe,
welche auf dem kahl geſchorenen Scheitel eingerieben wurde,
entſchießen, und auch dieſe brachte erſt den guͤnſtigen Erfolg
hervor, nachdem die durch ſie veranlaßte Eiterung und Ent¬
[138] zuͤndung mehrmals von neuem erregt worden war. Es war
ein hartnaͤckiger, faſt verzweifelter Kampf mit einer fuͤrchter¬
lichen Krankheit, welche Anfangs ſo wenig weichen wollte, daß
die Leidende noch immerfort die Anfechtungen des Satans zu
erdulden glaubte, und dadurch ihres Lebens ſo uͤberdruͤſſig
wurde, daß ihre Sehnſucht nach dem Tode eine geſchaͤrfte
Wachſamkeit zur Verhuͤtung einer That der Verzweiflung noͤ¬
thig machte. Endlich im Februar 1846 trat eine voͤllige Ge¬
muͤthsruhe ein, indem die L. verſicherte, von allen Angriffen
des Teufels ſich nunmehr gaͤnzlich frei zu fuͤhlen. Dem fer¬
neren Wirken der Salbe wurde nun Einhalt gethan, um der
ſchwer gepruͤften Dulderin die noͤthige Ruhe zu goͤnnen. Meh¬
rere Wochen verharrte ſie noch in einem dumpfen, hinbruͤten¬
den, faſt an Betaͤubung grenzenden Zuſtande als unvermeid¬
licher Folge der ſchweren Erſchuͤtterung, von welcher ſie zu¬
gleich in der Seele und im Koͤrper betroffen worden war; in¬
deß ihre koͤrperlichen Kraͤfte nahmen mit jedem Tage zu, und
gaben ihr auch in geiſtiger Beziehung mehr Haltung und Reg¬
ſamkeit, ſo daß ſie an den weiblichen Arbeiten und am Unter¬
richte Theil nehmen konnte. Gegen Ende Februars wurde
ihre Geneſung durch die Freude des Wiederſehens ihrer Ange¬
hoͤrigen, namentlich ihres heiß geliebten Kindes, um welches
ſie Unſaͤgliches erduldet, wie durch einen Zauberſchlag vollen¬
det. Gern haͤtte ich ſie zur Sicherſtellung dieſes guͤnſtigen
Erfolges noch einige Monate unter fortgeſetzter Heilpflege er¬
halten; indeß ihr Ehemann forderte ſie mit einer ſolchen Ent¬
ſchiedenheit zuruͤck, daß ſie am 26. Maͤrz zu ihm zuruͤckkehren
mußte.

12.

G., 54 Jahre alt, wurde von ihrem Vater, einem Huͤt-
tenfactor, unehelich erzeugt, und nebſt ihrem Bruder der Mut¬
ter ſchon im fruͤheſten Alter entnommen, ſo daß ſie mit derſel¬
ben nie in ein innigeres Verhaͤltniß trat. Ihr Vater uͤbergab
ſie der Pflege ſeiner Haushaͤlterin, welche eine wohlgeſinnte
Perſon geweſen ſein ſoll, ſo daß beide der muͤtterlichen Sorg¬
falt beraubten Kinder wenigſtens nicht verwahrloſet und ſchlecht
[139] behandet wurden, wie ſie denn auch von Seiten ihres Vaters
einer zaͤrtlichen Liebe ſich zu erfreuen hatten. Die Kindheit
der G. verſtrich daher unter freundlichen Verhaͤltniſſen, zu de¬
ren Gluͤck ihre ungeſtoͤrte Koͤrperentwickelung weſentlich beitrug.
Indeß noch waͤhrend ihres Schulbeſuchs traf ſie das harte
Loos, daß ihr Vater ſeinen Poſten verlor, und aller Subſi¬
ſtenzmittel beraubt, ſich von ihr trennen, und ſie der Sorge
eines Freundes uͤberlaſſen mußte. Tief betruͤbt, ſchon im fruͤ¬
hen Alter, noch bei Lebzeiten ihrer Aeltern, eine Waiſe ge¬
worden zu ſein, fuͤhlte ſie das Druͤckende ihrer Lage um ſo pein¬
licher, als ihr dieſelbe durch Noͤthigung zu laͤſtigen Arbeiten
noch mehr erſchwert wurde. Nach erfolgter Einſegnung kam
ſie im 15. Jahre nach Berlin, wo ſie 4 Jahre lang unter er¬
traͤglichen Verhaͤltniſſen Dienſte bei verſchiedenen Familien nahm,
und ſie wuͤrde ſich wohl gefuͤhlt haben, wenn nicht ihr Vater
wegen Verdacht auf Falſchmuͤnzerei verhaftet worden, und im
Gefaͤngniſſe geſtorben waͤre. Die bittere Erinnerung an ſein
klaͤgliches Ende, die Trauer um ihre Mutter, von welcher ſie
nur ſo viel erfuhr, daß dieſelbe nicht geſtorben ſei, die Tren¬
nung von ihrem Bruder, alles dies truͤbte ihren Sinn, und
ließ einen Hang zur Schwermuth zuruͤck, welcher zwar ihre
koͤrperliche Geſundheit nicht truͤbte, aber im ſpaͤteren Leben
weſentlich zur Entſtehung ihres Wahns beitrug.


Ein Baͤckergeſelle verleitete ſie durch ein Eheverſprechen
zum Concubinat, in welchem ſie auf laͤngere Zeit mit ihm lebte,
ſo daß ſie ihm 2 Kinder gebar. Nachdem er ſie lange mit
eiteln Hoffnungen vertroͤſtet hatte, war ſie endlich genoͤthigt,
ſich von ihm zu trennen; ja ſie mußte den Beiſtand der Ge¬
richte aufrufen, um von ihm fuͤr die Erziehung beider Kinder
eine Summe von 140 Thalern zu erlangen. Hierdurch wurde
ſie in den Stand geſetzt, ſich bei einer Frau einzumiethen,
welche die Pflege der Kinder uͤbernahm, waͤhrend ſie ſelbſt
ihren Unterhalt durch Waſchen und Scheuern ſich erwarb.
Leichtſinnig, wie ſo Viele unter aͤhnlichen Verhaͤltniſſen, ſchlug
ſie ſich dies verſchuldete Mißgeſchick aus dem Sinn, beſaß aber
doch Muttergefuͤhl genug, um ſich in der Naͤhe ihrer Kinder
gluͤcklich zu fuͤhlen, und auf jede andere Erheiterung Verzicht
zu leiſten. Im 30. Jahre heirathete ſie einen Schuhmacher,
[140] mit welchem ſie eine friedliche Ehe fuͤhrte, da er gegen ihre
Kinder liebreich war, und ſie gebar ihm uͤberdies noch 3 Kin¬
der, von denen außer ihrer aͤlteſten unehelichen Tochter nur
noch eins am Leben iſt. Da ſie immer, ſo viel die Umſtaͤnde
es geſtatteten, dem fruͤheren Erwerbe nachging, und hierdurch
ihren Mann unterſtuͤtzte, ſo blieben beide von Sorgen befreit,
und es war daher fuͤr ſie ein ſehr ſchmerzlicher Verluſt, als je¬
ner nach zehnjaͤhriger Ehe an der Cholera ſtarb. An anſtren¬
gende Arbeit gewoͤhnt, erwarb ſie fuͤr ſich und die beiden Kin¬
der den noͤthigen Lebensunterhalt, bis Anfaͤlle von Rheuma¬
tismus, zumal unter den Erſcheinungen von heftigem Kopf¬
ſchmerz und Schwindel in Folge des unaufhoͤrlichen Waſchens
im Herbſte und Winter ſie noͤthigten, von dieſer Beſchaͤftigung,
der auch ihre abnehmenden Kraͤfte nicht mehr gewachſen waren,
abzuſehen, und ſich mit weiblichen Handarbeiten zu ernaͤhren.
Ihre nun ſchon herangewachſene Tochter unterſtuͤtzte ſie dabei,
indeß reichte doch der Ertrag ihres Fleißes nicht mehr zur Be¬
friedigung ihrer Beduͤrfniſſe aus; ſie blieb den Miethzins ſchul¬
dig, wofuͤr ihr das Hausgeraͤth abgepfaͤndet wurde, und mußte
ſich durch Anſchaffen neuer Moͤbel wiederum in Schulden
ſtuͤrzen.


Sie befand ſich daher in einer peinlichen Verlegenheit, als
ſie zur Bezahlung derſelben ungeſtuͤm aufgefordert wurde, und
konnte ſich nicht dazu entſchließen, den Rath zu befolgen, daß
ſie den wohlhabenden Braͤutigam ihrer Tochter um pecuniaͤren
Beiſtand anſprechen ſolle. Der Huͤlfe und des Troſtes beraubt,
kam ſie ſich ſehr einſam und verlaſſen vor, und es fiel ihr nun
beſonders ſchwer auf's Herz, daß ſie weder von ihrer Mutter
noch von ihrem Bruder, welche ſie beide noch am Leben
glaubte, etwas wußte. Zu dieſen bangen Gefuͤhlen geſellte
ſich noch ein wichtiges pathologiſches Moment, naͤmlich das
allmaͤhlige Aufhoͤren der Menſtruation, wodurch ein ſtarker
Andrang des Bluts nach dem Kopfe, und hierdurch Anfaͤlle
von Schwindel und Ohnmacht veranlaßt wurden. Aus dem
Zuſammentreffen dieſer Bedingungen laͤßt es ſich erklaͤren, daß
im Jahre 1844 bei ihr ein Gemuͤthsleiden zum Ausbruch kam,
zu welchem keine anderweitigen Urſachen beigetragen zu haben
ſcheinen. Wenigſtens laͤßt ſich ein Hang zur religioͤſen Schwaͤr¬
[141] merei nicht nachweiſen, da ſie nur ſelten die Kirche beſuchte,
wenig in Erbauungsſchriften las, und ſelbſt eine Abneigung
gegen pietiſtiſche Conventikel, beſonders gegen die in ihnen
uͤbliche fromme Oſtentation in Kniebeugungen beim Namen
des Heilandes u. dgl. empfand. Als ſie an einem Abende in
eine beſonders tiefe Schwermuth bei der Erinnerung an ihre
Verwandten verſunken war, viel geweint, und im inbruͤnſtigen
Gebete Gott angefleht hatte, es ihr anzuzeigen, ob jene noch
lebten, wurde ſie, ſchon im Bette liegend, durch eine glaͤn¬
zende Viſion uͤberraſcht, welche zuerſt als ein ſtarker Lichtſchein
das Zimmer erfuͤllte. Hierauf trat eine alte Dame zur Stu¬
benthuͤr herein, welche bekleidet mit einer Haube, einem
ſchwarzen Tuche und weißen Rocke ſich an eine Commode
ſtellte, in welche ihre ſchwangere Tochter Windeln gelegt hatte.
Jene beſah ſich zuerſt das auf der Commode befindliche Ge¬
ſchirr, oͤffnete dann dieſelbe, und nahm die Windeln heraus,
um ſie naͤher zu beſehen, und ſie auf einen Stuhl zu legen.
Dann erſchienen ploͤtzlich zwei Kinder, von denen ſie eins auf
ein Kiſſen legte, waͤhrend das andere etwa 8 Jahre alt an
eine Tiſchecke ſich lehnte, bekleidet mit einem ſilberbetreßten
Rocke, in der Hand einen ſilbernen Stab haltend, auf wel¬
chem eine ſilberne Krone ſchwebte, die es hoch emporhob. Die
G. rief erſchreckt ihre Kinder, ob ſie Niches ſaͤhen? Die alte
Dame ſetzte ſodann 2 Stuͤhle zuſammen, breitete uͤber beide
ein Laken, und legte jene Kinder darauf, wonach alle Geſtal¬
ten verſchwanden. Inzwiſchen erfuͤllte das ſich immer mehr
verſtaͤrkende Licht bis zum Morgen das Zimmer, und ließ bald
folgende Viſionen wahrnehmen. Am Fußende des Bettes der
G. ſchien ein großer Saal ſich zu eroͤffnen, in welchem ſich 4
Betten befanden, auf welchen je zwei weiße und rothe Decken
lagen; zugleich ſchwebte an der Decke ein Kameel mit auf¬
waͤrtsgekehrten Beinen, ſo daß es eine Art von Bettſtelle bil¬
dete, in welcher mehrere Menſchen lagen. Bald nachher
ſchwebten mehrere Engel von oben herab, von denen der groͤßte
ein Fuͤllhorn trug, und ſie gaben durch ihre Ankunft ein Sig¬
nal, auf welches jene Maͤnner von dem Kameelbette aufſtanden.


Am naͤchſten Abende kam es ihr vor, als ob mit einer
magiſchen Laterne ein Zauberſpiel in ihrem Zimmer getrieben
[142] wuͤrde, da die nun folgenden Geſtalten ihr nicht mehr koͤr¬
perlich plaſtiſch, ſondern nur als Schatten erſchienen. Zuerſt
ſah ſie Maͤnner, wie auf einer Schaubuͤhne mit Couliſſen,
dann gallopirten Schaaren von Reutern wie zum Faſtnacht¬
ſpiel maskirt ins Zimmer, hierauf eine Dame in grauem Man¬
tel gleichſam als Buͤßerin, da ſie unter einem Stuhl nieder¬
kauern mußte, und die uͤber denſelben fortlaufenden Kraͤhen
zaͤhlte, waͤhrend ein Herr gleichfalls in grauem Mantel und
einem koͤniglichen zweizipfeligen Hute, und ein Greis in glei¬
chem Mantel ſich daneben ſtellte. Spaͤter wurde ein Kreis
von Buͤrgern geſchloſſen, in welchem ein Officier hineingallo¬
pirte; darauf oͤffnete ſich ein viereckiges Grab von gruͤnem
Raſen umgeben, aus welchem Maͤnner ſich erhoben, um durch
die Fenſter eines Saals zu ſteigen, in welchem ſie einen lau¬
ten Jubel anſtimmten. Unter ihnen befanden ſich zwei ſchon
geſtorbene alte Jungfern, fruͤhere Beſitzerinnen jenes Saales,
bei deren Anblick die G. ſich fragte, ob ſie im Grabe nicht
Ruhe haͤtten, und daher auf die Erde zuruͤckgekehrt waͤren?


Dies Gaukelſpiel der Phantaſie, von welchem gewiß eine
Menge von Bildern aus ihrem Gedaͤchtniß verſchwunden iſt,
nahm hierauf eine beſtimmtere Bedeutung an, inſofern nun
eine wirkliche religioͤſe Beziehung hervortrat, und ſeitdem blei¬
bend geworden iſt. Als ſie naͤmlich einmal mehrere Pferde
ſah, hielt ſie dieſelben fuͤr verwuͤnſchte Menſchen, von denen ſie
in Zaubermaͤhrchen geleſen hatte, beſonders kamen ihr zwei praͤch¬
tig aufgeſchirrte Roſſe als Grafen und Fuͤrſten vor. Hierbei ent¬
wickelte ſich in ihr die Vorſtellung, daß alle Menſchen zur Strafe
ihrer Suͤnden in Thiere verwandelt werden muͤßten, um der
Buße, welche Chriſtus fuͤr ſie gethan, Genuͤge zu leiſten. Erſt hier¬
auf koͤnne ihre Verwandlung in Engel geſchehen, in welcher ſie
ihre Auferſtehung feierten, und welche die G. wahrzunehmen
glaubte. Sie ſah, wie unfoͤrmliche Schatten in Moos verhuͤllt,
und in einem Teich von Silberwaſſer gelegt wurden, um hier¬
auf zuerſt in graue, und dann in blaue Engel verwandelt zu
werden, welche zwar ſchon eine beſtimmte Geſtalt, aber noch kein
deutliches Geſicht hatten. Die blauen Engel nahmen endlich die
ganz unbekleidete Geſtalt der Fleiſchengel an, welche zur Erde
niederſchwebten, und die von Chriſtus in einem Hauſe eingeſperr¬
[143] ten Apoſtel befreiten. Einmal erſchienen ſchwarze Engel ohne
Geſicht, gleich Mohren, und ſie ſtellten die im Feuer verbrannten
Boͤſen vor, welche ſich rings um die G. an den Waͤnden aufſtel¬
len mußten, wodurch Gott aus Erbarmen fuͤr ihre unſchuldigen
Aeltern ſie als Engel erweiſen wollte. Bei einer anderen Gele¬
genheit lief eine Kette, ſchwarz mit goldenen Punkten, durch die
Waͤnde queer uͤber die Commode fort, waͤhrend Ratten und
Maͤuſe auf derſelben herumſchwaͤrmten, und in die Taſſen hinein¬
ſchauten; es ſollte damit bezeichnet werden, daß die Allmacht
Gottes Alles durchdringe, und die Menſchen, welche von Ael¬
tern bis auf Adam gleich Gott abſtammten, zu Inſecten und
Thieren geworden ſeien.


Dieſe Viſionen, welche Anfangs nur in den Naͤchten ſich
zeigten, dauerten ſpaͤter auch den Tag uͤber fort, und die G. iſt
waͤhrend der letzten beiden Jahre niemals mehr von ihnen ganz
befreit geweſen. Faſt immer waren ſie Darſtellungen von Meta¬
morphoſen der Menſchen in Thiere, und ihrer Auferſtehung zu
einem hoͤheren Daſein in mannigfachen Stufenfolgen von Umbil¬
dungen, bis ſie zur Geſtalt der Fleiſchengel verklaͤrt wurden. Je¬
desmal ſah die G. nur einzelne Abſchnitte der Metempſychoſen,
welche ſich in den mannigfaltigſten Formen wiederholten, und
von mancherlei himmliſchen Erſcheinungen anderer Art begleitet
waren. So gewahrte ſie einſt die im Himmel umherſtehenden
Apoſtel, welche in blauen Roͤcken wie Uniformen gekleidet wa¬
ren, nachdem ſie ihre Maͤntel abgeworfen hatten. Sie ſtiegen
auf die Erde herab, welches ſie jedoch erſt vermochten, als die G.
auf Befehl Gottes Schwenkungen mit dem Arm in der Luft,
gleichſam Beſchwoͤrungsgeſticulationen gemacht hatte. Hier¬
auf eroͤffnete ſich ein Grab, aus welchem Gott als ein klei¬
ner grauer Mann emporſtieg, um ihr anzukuͤndigen, daß die
Arbeit nun beginnen ſolle, worunter jene Umgeſtaltung der
Menſchen zu verſtehen war. Darauf erſchien uͤber einem gro¬
ßen Walde ein Altar, auf welchem ſich Gott rechts, und
Chriſtus links in der Uniform eines Jaͤgerofficiers ſtellte, um¬
ringt von Fleiſchengeln in großen Schaaren, zu deren Linken
graue und blaue Engel ſtanden. Gott ſprach ſo dumpf, daß
die G. es nicht verſtehen konnte; ſie ahnte jedoch, daß er die
Schoͤpfungsworte zu Anfang der Geneſis geſprochen, habe. —


[144]

Analog war folgendes Bild. Auf einer Sandflaͤche war ein
weißes Laken ausgebreitet, welches von mehreren Damen
hinweggezogen wurde, worauf eine Menge von Maͤnnern zum
Vorſchein kamen, welche als Leichen darunter gelegen hatten,
und jetzt auferſtanden. Jene Damen waren ſehr prachtvoll
gekleidet in Gelb und Blau, die vornehmeren trugen ſilberne
Gewaͤnder mit Guirlanden beſetzt, und Kronen auf den Haͤup¬
tern. Die Damen waͤhlten ſich je einen Mann aus. Die
Scene war von Fleiſchengeln umgeben, welche ſich wie im
Reifenſpiel Kraͤnze von Wieſenblumen gegenſeitig reichten, und
das Ganze zeigte eine außerordentliche Pracht. — Ein großer
Teich ſchloß eine Menge verwuͤnſchter Menſchen unter Fiſchge¬
ſtalt ein, welche von Damen in einem Kahne herausgeholt,
und Maͤnnern uͤbergeben wurden, welche in Gruben unter
Mooskraͤnzen verborgen mit den Damen heimliche Geſpraͤche
fuͤhrten. Eine Reminiscenz aus einem Zauberroman, in wel¬
chem eine Seejungfer halb Menſch halb Fiſch allmonatlich
ihren Bach unter voller Menſchengeſtalt verließ, um mit einem
Ritter in braͤutlicher Liebe zu koſen, gab der G. Veranlaſ¬
ſung, daß ſie dergleichen Seejungfern fuͤr verwuͤnſchte Men¬
ſchen hielt, welche wie wir alle ihre Strafen abbuͤßten, aber
nach dem Willen Gottes Menſchen wurden, und zuletzt En¬
gelsgeſtalt annahmen, unter welcher ſie von langen ſeidenen
Floͤren umhuͤllt durch den Himmel ſchwebten. Hierauf ließen
ſich dieſelben auf blauen, rothen und gruͤnen Sammetkiſſen
von herzfoͤrmiger und viereckiger Geſtalt nieder, welche auf
einem Gewaͤſſer unter den Dielen des Zimmers ſchwammen,
bis ſie in wirkliche Fleiſchengel verwandelt wurden: Dieſe
Metamorphoſe zu dem hoͤchſten Grade der Vollkommenheit,
wovon die G. indeß nicht Augenzeuge war, ging ihrer Mei¬
nung nach ſo von Statten, daß Gott ein Kalb ſchlachtete,
in eine Menge von Stuͤcken zertheilte, und dieſe an Ketten
band, mit denen ſie in den Himmel aufgezogen wurden, wo
jedem Engel ein Stuͤck gegeben wurde, um ſich mit demſel¬
ben zu verleiblichen. Aber nicht blos die Menſchen wurden
zu hoͤheren Geſtalten gleichſam auferbaut, um ihre Auferſtehung
zu feiern, ſondern auch Thiere wurden vor ihren Augen durch
einen wahren Schoͤpfungsproceß hervorgerufen, wie ſie dann
[145] unter Anderem ſah, daß der Himmel unter der Geſtalt zweier
Wolken ſich vor ihrem Fenſter auf die Erde herabließ, und
daneben zwei ſchoͤne Pferde gebaut, und mit praͤchtigen Decken
belegt wurden. Viele Viſionen zerfloſſen dergeſtalt in Nebel¬
gebilde, daß ſie dieſelben gar nicht mit Worten bezeichnen
konnte, wie dies namentlich von den Verwandlungen vieler
Thiere, beſonders der Inſecten gilt, welche alle Daͤcher be¬
beckten.


Mehr oder weniger hatten aber alle dieſe Gebilde, welche
luftig und weſenlos als Schatten eines Traumes an ihrem
innern Sinne voruͤbergaukelten, eine religioͤſe Bedeutung.
Neben einem Kirchhofe wohnend ſah ſie auf demſelben eine
wahre Auferſtehungsſcene, deren Anfang die Eroͤffnung eines
Grabes machte, aus welchem Menſchen emporſtiegen, die
theils ſchon voͤllig ausgebildet waren, theils erſt auferbaut
werden mußten, wie ſich dies an ihren ſchlechten Kleidern
erkennen ließ, worauf ſie insgeſammt in Regimentern zuſam¬
mengeſchaart wurden. Ein runder Keſſel nebſt zwei großen
kupfernen Toͤpfen mit vielen Zapfen ſollten einen Altar vor¬
ſtellen. Dann erſchien eine Schaar von Cadetten, welche
Chriſtus als eine Leiche in das Grab legten, und ſich hierauf
unter der Erde um ihn ſtellten, um ihn zu bewachen. Sie
ſah dieſe Erſcheinung dreimal, war aber nicht Zeugin der
Auferſtehung Chriſti am dritten Tage, nach welchem er ſich
ihr zu erkennen gab. Wohl aber nahm ſie wahr, daß zwei
Damen mit halbem Leibe ſich aus dem Grabe aufrichteten,
von denen ihr geſagt wurde, daß eine die Jungfrau Maria,
die andere aber Magdalena, die wahre Mutter Gottes ſei.
Gott als alter, und Chriſtus als junger Mann erſchienen ihr
ſpaͤter ſehr haͤufig, und ſagten ihr, die Menſchen muͤßten, ehe
ſie auferſtehen koͤnnten, zuvor noch vorbereitet werden, und
ſie, die G., ſei zur Mitwirkung dazu berufen und vorbereitet.
Dies geſchah nun auf folgende Weiſe. Wolken aus See¬
waſſer, welche die Leichen verhuͤllten, ſchwebten zur Erde nie¬
der, jedoch nur, wenn die G. durch Schwenkungen der Arme
dazu behuͤlflich war. Unterließ ſie dieſelben, ſo konnten die
Koͤrper nicht aus den Wolken herauskommen, ſondern es er¬
hob ſich ein Jammergeſchrei: „die Welt geht unter!” worauf
Ideler uͤber d. reI. Wahnſinn. 10[146] ſie ſich dann eifrig bemuͤhte, den Verwuͤnſchten Huͤlfe zu lei¬
ſten. Aus den Wolken befreit, wurden die Leichen in einem
Bade von Gold- und Silberwaſſer, Gottesacker genannt, un¬
tergetaucht, und wenn ſie aus dem Bade mit Silberſtoff be¬
kleidet auftauchten, waren ſie fertige Menſchen, von aller Ver¬
wuͤnſchung befreit, worauf der Ruf Gottes erſcholl: „Viele Mil¬
lionen ſind nun fertig!” Die G. wurde durch den ihr uͤbertragenen
Beruf in einem hohen Grade geaͤngſtigt, und wagte doch nicht,
ſich demſelben zu entziehen, um nicht gegen Gott ungehorſam
zu ſein, obgleich ſie ſich durch die dazu erforderliche Anſtren¬
gung, zu welcher ſie jeden Tag mehrmals genoͤthigt war, ſehr
erſchoͤpft fuͤhlte, und ihre Verlegenheit nahm in der Charité
noch zu, da ihre beſchwoͤrenden Geſticulationen von andern
Kranken belacht, und als Wahnſinn verhoͤhnt wurden, welches
nur die Verdammung der gotteslaͤſternden Spoͤtter bewirken
koͤnne. Sie mied daher jede aͤußere Kundgebung ihrer Heils¬
operationen, und verrichtete dieſelben nur in Gedanken, oder
ſie nahm ſie nur dann wirklich vor, wenn ſie ſich allein be¬
fand, weil ſie dann jedesmal die Huͤlfeflehenden von ihrer Noth
befreite.


Unter dem ſteten Einfluſſe dieſer hoͤchſt phantaſtiſchen
Wahnvorſtellungen haben ſich ihre religioͤſen Begriffe in baa¬
ren Unſinn verkehrt. Sie glaubt z. B. daß Gott vor 1500
Jahren aus einem Inſect, und mit ihm eine neue Welt ent¬
ſtanden ſei, und fragt man ſie, woher jenes Inſect gekom¬
men ſei, ſo ſpiegelt ſich in ihren Vorſtellungen das Bild
des alten Chaos ab, deſſen Gewimmel ſie nicht anders, als
einen großen Inſectenſchwarm zu bezeichnen weiß. Die Be¬
griffe von einem ewigen Leben haben bei ihr eine eben ſo
ſeltſame Geſtalt angenommen, denn ihrer Meinung nach hat
daſſelbe ſchon angefangen, und obgleich die Auferſtehung der
Todten unter ihrer Mitwirkung unaufhoͤrlich erfolgt, wobei
eine ſtufenweiſe Verwandlung der Menſchen in verſchiedene
Klaſſen von Engeln Statt findet, und ſelbſt die Verwuͤnſch¬
ten zu einem beſſern Daſein veredelt werden, ſo iſt doch eigent¬
lich hiermit nicht viel gewonnen, da im Grunde Alles beim
Alten bleiben wird. Denn die Menſchen muͤſſen nach wie
vor arbeiten, werden haͤufig erkranken, damit die Aerzte nicht
[147] ihre Kundſchaft verlieren. Nur wenn die Uebel zu arg wer¬
den, hilft Gott unmittelbar durch Wunder; z. B. wenn
Zimmerleute vom Geruͤſt herabfallen, iſt er ſogleich bei der
Hand, um ſie wieder aufzubauen, Verbrecher muͤſſen hinge¬
richtet werden, damit Gott ſie von neuem bereite.


Werfen wir noch einen Blick auf die Entſtehung ihres
Wahnſinns, ſo laͤßt ſich derſelbe ſeinem Urſprunge nach kaum
als ein religioͤſer bezeichnen, da die erſten Viſionen wohl nur
das Erzeugniß eines durch Kummer bewegten Gemuͤths waren,
deſſen Erregung unter dem Einfluß einer krankhaften Gehirn¬
reizung ſich zuerſt unter bedeutungsloſen Viſionen abſpiegelte.
Auch verſichert ſie, in den erſten Tagen jene Erſcheinungen
nicht fuͤr himmliſche gehalten zu haben, ſondern durch ſie in
Erſtaunen verſetzt worden zu ſein, da ſie denſelben keine be¬
ſtimmte Bedeutung beilegen konnte. Aber ſie fuͤhlte ſich bei
der ſteten Wiederkehr und mannigfaltigen Umgeſtaltung jener
Viſionen, wodurch ihre Aufmerkſamkeit ganz abſorbirt wurde,
ihren bisherigen Verhaͤltniſſen voͤllig entruͤckt, und in eine
neue Welt verſetzt, in deren phantaſtiſchen Erſcheinungen
ſich der Verſtand zuletzt nur dadurch orientiren konnte, daß er
in ihnen eine Verwirklichung der Glaubensdogmen ſah, und
dadurch das Gemuͤth in eine anhaltende religioͤſe Erregung
verſetzte. Hierdurch erlangten zugleich die Viſionen ungeachtet
ihrer ſteten Verwandlungen einen bleibenden Charakter, der
wie ein leitender Faden durch das Ganze geht, und ein Ab¬
ſchweifen der Phantaſie auf weſentlich verſchiedenartige Bilder
verhindert.

13.

H., 34 Jahre alt, aus Kopenhagen gebuͤrtig, iſt der
Sohn eines Porzellanhaͤndlers, welcher im Wohlſtande lebte,
und daher ſeinen acht Kindern eine angemeſſene Erziehung
geben konnte. Die fruͤhere Jugend des H. verſtrich daher
unter angenehmen Verhaͤltniſſen, da der Vater, zwar ſtreng in
ſeinen Grundſaͤtzen, doch auch ſeinen Kindern erlaubte Freu¬
den goͤnnte, weshalb erſterer als ein munterer und meiſt auch
geſunder Knabe aufwuchs. Er beſuchte bis zu ſeiner im
10 *[148] 14. Jahre erfolgten Einſegnung eine Stadtſchule, in welcher
er außer den Elementarkenntniſſen auch noch in der deutſchen
Sprache, welche er gelaͤufig ſpricht, und in der Geſchichte und
Geographie Unterricht erhielt, dem er ohne Muͤhe folgen konnte.
Der Vater hielt die Kinder zum fleißigen Beſuch der Kirche
an, nahm mit ihnen gewoͤhnlich noch an jedem Sonntag Abend
Theil an dem Gottesdienſte der dortigen Herrenhuter Ge¬
meinde, und bemuͤhte ſich, ihnen beſonders dadurch die reli¬
gioͤſen Begriffe tief einzupraͤgen, daß er ſie jedesmal uͤber den
Inhalt der gehoͤrten Predigt befragte. Die in dieſem Kreiſe
herrſchende Glaubensrichtung ſcheint eine ſtreng orthodoxe ge¬
weſen zu ſein, da in den Predigten und in den herrenhuti¬
ſchen Andachtsuͤbungen ſehr haͤufig auf den Teufel Bezug ge¬
nommen wurde, welcher wie ein bruͤllender Loͤwe die Menſchen
umſchleiche, daher Jeder gegen ſeine Verfuͤhrung und gegen
den Zorn Gottes gewarnt werden muͤſſe. Indeß war der da¬
durch in dem Gemuͤth des H. hervorgebrachte Eindruck nicht
groß, und truͤbte namentlich nicht ſeinen lebensfrohen Sinn.


Nach erfolgter Einſegnung trat er als Lehrling bei einem
Schneider ein, bei welchem er eine harte Behandlung erfuhr,
ſo daß er fuͤr leichte Vergehungen gezuͤchtigt wurde, und gern
ſeine Lage mit einer anderen vertauſcht haͤtte, wenn ihm da¬
zu von ſeinem Vater die Bewilligung gegeben waͤre. Es iſt
nicht unwahrſcheinlich, daß der Druck, welchen er eine Reihe
von Jahren hindurch erdulden mußte, weſentlich dazu beitrug,
ſeine ſinnlichen Neigungen um ſo ſtaͤrker hervorzurufen, als er
Geſelle geworden war, und dadurch eine hinreichende Unab¬
haͤngigkeit erlangte. Denn er mißbrauchte ſeinem Geſtaͤndniß
nach dieſelbe zu Ausſchweifungen im Branntweintrinken und
in der Wolluſt, war dem Tanzen in einem hohen Grade erge¬
geben, vergeudete meiſt ſeinen reichlichen Erwerb, ſo daß er
nicht ſelten in Geldverlegenheit gerieth, aus welcher er ſich indeß
durch fleißige Arbeit leicht wieder befreien konnte. In ruhi¬
gen Stunden empfand er nicht ſelten eine lebhafte Reue uͤber
ſein leichtfertiges Leben, ohne ſich jedoch dadurch zu einer Beſ¬
ſerung bewegen zu laſſen, daher er ſelbſt durch wiederholte
ſyphilitiſche Anſteckungen, von deren Folgen er von geſchickten
Aerzten bald wieder befreit wurde, nicht gewitzigt wurde. Er
[149] ſcheint ſelbſt am Nervenfieber gelitten zu haben, kann jedoch
daruͤber keine beſtimmte Auskunft geben, da ſeine Geiſtes¬
kraͤfte und namentlich ſein Gedaͤchtniß in Folge der haͤufigen
Ausſchweifungen geſchwaͤcht ſind. Deshalb iſt er auch unver¬
kennbar in ſeiner koͤrperlichen Entwickelung zuruͤckgeblieben. Da
eine ſolche Lebensfuͤhrung ſich nicht zu einer ausfuͤhrlichen Schil¬
derung eignet, ſo bemerke ich nur noch, daß er eine Reihe von
Jahren hindurch eine Wanderſchaft durch mehrere Staͤdte Daͤ¬
nemarks, Norwegens und Schwedens antrat, und zuletzt nach
Kopenhagen zuruͤckkehrte, ohne jemals einen feſten Plan
fuͤr die Zukunft zu faſſen, da ſelbſt mehrere Liebesverhaͤltniſſe
ihn nicht beſtimmen konnten, ſich als Meiſter niederzulaſſen,
und einen Hausſtand zu begruͤnden.


Als Wirkung jener wuͤſten Lebensweiſe, welche er na¬
mentlich auch noch nach ſeiner Ruͤckkehr nach Kopenhagen fort¬
ſetzte, zum Theil wohl auch in Folge des Kummers uͤber den
durch Sorgloſigkeit ſeiner Mutter bewirkten Verfall des Wohl¬
ſtandes ſeiner Aeltern, erlitt er ſchon vor drei Jahren einen
Anfall von Geiſtesſtoͤrung, welche unverkennbar den Charakter
des Saͤuferwahnſinns an ſich trug. Nicht nur hatte er zuvor
ſehr viel Branntwein getrunken, ſondern ſein Irrereden
zeigte auch ganz das Gepraͤge des Delirium potatorum,
welches ſich durch Viſionen von allerlei Thieren auszuzeichnen
pflegt. Es duͤrfte ſchwer zu erklaͤren ſein, warum gedachtes
Delirium ſo haͤufig unter dieſer Form auftritt, daß ich in den
mehreren Hundert Faͤllen von Saͤuferwahnſinn, welche ich zu
beobachten Gelegenheit hatte, immer meine Fragen darauf hin¬
lenkte, und faſt immer eine bejahende Antwort erhielt, wenn
auch haͤufig ſich andere Wahnvorſtellungen einmiſchten. Wirk¬
lich wurde H. damals von vielerlei Thiergeſtalten ſehr geneckt
und geaͤngſtigt, Ratten liefen um ihn her, Schlangen krochen
uͤber ſein Bette, ſo daß er oft in ein lautes Schreien aus¬
brach. In einer Nacht nahm er auch einen Leichenzug wahr,
und glaubte, ſein Vater ſei geſtorben. Zugleich litt er an
großer Bangigkeit, glaubte nicht eſſen zu duͤrfen, und ſtraͤubte
ſich ſo ſehr gegen den Genuß der Speiſen, daß ihm dieſelben
wider ſeinen Willen eingefloͤßt werden mußten. In die Ir¬
renanſtalt zu Roeskilde verſetzt, erlangte er nach einiger Zeit
[150] ſeine Beſinnung wieder, zog ſich aber wiederholte Ruͤckfaͤlle
ſeines Deliriums dadurch zu, daß er die ihm ertheilte Erlaub¬
niß zum Beſuch der Stadt zu neuen Exceſſen im Brannt¬
weintrinken mißbrauchte. Endlich gewann er ſeine Beſinnung
dauernd wieder, ſo daß er nach Jahresfriſt aus der Anſtalt
entlaſſen werden konnte.


Hierauf trat er wiederum ſeine Wanderſchaft an, welche
ihn auch nach Hamburg fuͤhrte. Ungeachtet er von den Aerz¬
ten wiederholt gegen den Genuß des Branntweins gewarnt
worden war, deſſen Nachtheile er hinreichend kennen gelernt
hatte, ſo wurde er doch durch dieſe bittere Erfahrung keines¬
weges gewitzigt, ſondern fing ſeine alte Lebensweiſe wieder
an. Von Hamburg aus, wo er laͤngere Zeit verweilte, ſetzte
er ſeine Wanderung uͤber Mecklenburg und Hannover nach
Berlin im Spaͤtherbſte 1845 fort, und hatte auf dieſem lan¬
gen Wege mit vielem Ungemach zu kaͤmpfen, da er Tage lang
im Regen und auf uͤberſchwemmten Pfaden wandern, und
gaͤnzlich durchnaͤßt, halb erſtarrt ſeine Naͤchte auf kaltem Stroh¬
lager zubringen mußte. Seine Kleider waren zerriſſen, ſein
Geld meiſt verthan, als er in Berlin anlangte, wo er fern
von der Heimath mit großer Sorge fuͤr ſeinen Lebensunter¬
halt kaͤmpfen mußte, und in der ihm unertraͤglichen Furcht
ſchwebte, als Vagabond aus dem Lande verwieſen zu werden.
Zwar gelang es ihm, einen Dienſt als Geſelle zu finden, aber
die Erſchoͤpfung durch die Anſtrengungen der Reiſe, die Nach¬
wirkung durch das uͤble Wetter auf ſeine ausgemergelten Ner¬
ven, und die Aufregung durch peinliche Gefuͤhle wirkten zu¬
ſammen, ihn in eine an Verzweiflung grenzende Stimmung
zu verſetzen, welche durch wiederholten Branntweingenuß in
voͤllige Geiſtesſtoͤrung verwandelt wurde. Schon hatte er meh¬
rere Naͤchte faſt ſchlaflos in großer Unruhe zugebracht, und am
Tage eine große Wuͤſtheit im Kopfe empfunden, als er an
einem Morgen nach dem Fruͤhſtuͤck in einem Branntweinskeller
auf die Straße zuruͤckkehrend ploͤtzlich eine Stimme vernahm,
welche ihm zurief: „Dich ſoll der Teufel holen!” Voll Ent¬
ſetzen ergriff er die Flucht, ſo daß er betaͤubt den Tag uͤber
in den Straßen der ihm unbekannten großen Stadt umher¬
lief, und ſein Schreck erreichte den hoͤchſten Grad, als eine
[151] fuͤrchterliche Teufelsgeſtalt, aus deren Munde und Augen Flam¬
men hervorwirbelten, und deren Stirn mit Hoͤrnern beſetzt
war, ihm erſchien, und die Krallen nach ſeinem Kopfe aus¬
ſtreckte, um ihn an den Haaren zu packen und in die Hoͤlle
zu ſchleppen. H. glaubte von den Flammen erreicht zu wer¬
den, und empfand deshalb einen heftig brennenden Schmerz.
Bald wurde ſeine Quaal ſo unertraͤglich, das er an das Ufer
der Spree eilte, ſich die Kleider vom Leibe riß, und im Be¬
griff ſtand in den Fluß zu ſpringen, als er verhaftet, und in
das Polizeigefaͤngniß gebracht wurde. Von dem Aufenthalte
in demſelben iſt ihm nur ſo viel erinnerlich, daß er faſt un¬
unterbrochen von Teufelserſcheinungen gequaͤlt wurde, woruͤber
er in Jammern und Wehklagen ausbrach, welches Veranlaſ¬
ſung gab, daß ſeine Mitgefangenen, wohl groͤßtentheils ein
roher Haufe, ihn verſpotteten. Dies, ſo wie ihre Menge, welche
ihm in ſeiner verzweifelnden Stimmung als drohend und un¬
heilverkuͤndend vorkommen mußte, weckte in ihm die Vorſtel¬
lung, daß er verfolgt und fuͤr ſeine Suͤnden beſtraft werde.
Beſonders arg ſetzten ihm die Teufel, welche ihn oft in gan¬
zen Schaaren unter derſelben fuͤrchterlichen Geſtalt erſchienen,
des Nachts zu, ſo daß er dann vor Angſt laut ſchrie.


Nach einigen Tagen wurde er in die Irrenabtheilung
verſetzt, woſelbſt ſein Zuſtand ſich im Weſentlichen auf dieſelbe
Weiſe darſtellte. In Folge des Branntweintrinkens und ſei¬
ner ſinnloſen Angſt zeigte er jenen Ausdruck von Stupiditaͤt,
welche das Zeichen eines Stockens der geſammten Geiſtesthaͤ¬
tigkeit iſt, wo entweder eine voͤllige Nacht uͤber das Bewußt¬
ſein ſich ausbreitet, oder nur einzelne Traumbilder vor dem
geiſtigen Auge weilen, an denen der Menſch weder uͤber ſich,
noch uͤber die Welt zur Beſinnung kommen kann. Erwaͤgt
man, daß bei wahnſinnigen Branntweintrinkern die Thaͤtigkeit
des Gehirns und Nervenſyſtems durch die zerſtoͤrend narkotiſche
Wirkung des Alkohols in einer wahren Aufloͤſung begriffen iſt,
welche unfehlbar den Tod nach ſich zieht, wenn nicht dem ein¬
reißenden Verderben Einhalt geſchieht; ſo duͤrfte das Bild
nicht zu kuͤhn ſein, welches ihren Zuſtand mit einem faulen¬
den Sumpfe vergleicht, aus welchem in der Nacht einzelne
Irrlichter aufblitzen, zum Zeichen, daß in ihnen eine Fuͤlle
[152] von Pflanzen- und Thierleben zu Grunde gegangen iſt. So
war es auch mit H. beſchaffen, welcher uͤber ſein fruͤheres Le¬
ben keine Auskunft geben konnte, da er in Angſt, welche ſein
ſcheuer, ſtierer Blick deutlich zu erkennen gab, vor den unab¬
laͤſſigen Teufelserſcheinungen ganz im Geiſte erſtarrt war. Als
er zu einiger Beſinnung zuruͤckkehrte, gab er an, daß die Teu¬
fel unter Hohngelaͤchter, aber ohne ein Wort zu ſprechen, faſt
immer nach ſeinem Kopfe gegriffen haͤtten, und daß ſie nur
zuweilen unter die Betten und hinter ſeinen Ruͤcken geſchluͤpft
waͤren, um ihn im Verborgenen zu quaͤlen.


Der weitere Verlauf ſeines Seelenleidens bietet keine
bemerkenswerthe Ereigniſſe dar, denn unter dem Gebrauch ge¬
eigneter Heilmittel, namentlich der lauwarmen Baͤder mit kal¬
ten Uebergießungen uͤber den Kopf und der gelinden Abfuͤhr¬
mittel, trat bald eine groͤßere Ruhe, zumal des Nachts ein,
und nach einigen Monaten war ſeine Geneſung voͤllig ent¬
ſchieden. Indeß wurde eine Verlaͤngerung ſeines Aufenthaltes
in der Heilanſtalt dadurch nothwendig bedingt, daß er uͤber
die verderblichen Wirkungen des Branntweintrinkens hinreichend
aufgeklaͤrt, und zugleich an Maͤßigkeit gewoͤhnt werden mußte,
um ihn in den gefaßten beſſeren Entſchluͤſſen fuͤr die Zukunft
zu beſtaͤrken; auch hatten ſeine Geiſteskraͤfte in Folge lang¬
jaͤhriger Ausſchweifungen ſo ſehr gelitten, daß ſie der naturge¬
maͤßen Uebung durch den ertheilten Schulunterricht dringend
bedurften. Er zeichnete ſich durch Fleiß, Ordnungsliebe und
friedfertigen Sinn aus, und erklaͤrte ſich bereit, nach ſeiner
Entlaſſung in einen Maͤßigkeitsverein zu treten, als das zu¬
verlaͤſſigſte Mittel, durch fortgeſetzte Theilnahme an deſſen Ver¬
ſammlungen in ſeinen gefaßten Vorſaͤtzen befeſtigt zu werden,
und ſich durch das gegebene gute Beiſpiel zur Nacheiferung be¬
ſtimmen zu laſſen. Hierauf erfolgte ſeine Entlaſſung als ge¬
heilt am 12. Octbr. 1846.

14.

H., im Jahre 1816 geboren, iſt die Tochter eines
Kaufmanns in einer Provinzialſtadt, in deſſen aus acht Kin¬
dern beſtehender Familie ein haͤuslich friedlicher Sinn herrſchte.
[153] Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem
fruͤheren Lebensalter natuͤrliche Munterkeit, ſondern hielt ſich
ſtill und zuruͤckgezogen, ſo daß ſie ſelten zu den froͤhlichen
Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15.
Jahre beſuchte ſie die Toͤchterſchule der Stadt, woſelbſt ſie
außer den Elementarkenntniſſen noch Unterricht in der Ge¬
ſchichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenſtaͤnde ſie
viele ſchriftliche Aufſaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verſtan¬
deskraͤfte nur ſehr mittelmaͤßig waren, ſo koſtete ihr dieſe Ar¬
beit eine große Anſtrengung, welche wie eine große Pein auf
ihr laſtete, und ihren Sinn ſchuͤchtern und verlegen machte.
Nach erfolgter Einſegnung nahm ſie an den Wirthſchaftsge¬
ſchaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬
foͤrmigkeit ihres ſtillen Fleißes wurde faſt niemals durch ge¬
ſellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen ſie ſchon wegen
der Paſſivitaͤt ihres Gemuͤths ſo wenig aufgelegt war, daß ſie
ihrer Verſicherung zufolge niemals tanzte. Da ſie von den
Aeltern liebevoll behandelt wurde, und ſich auch bei raſch fort¬
ſchreitender Entwickelung (ſie war ſchon im 15. Jahre voͤllig
ausgewachſen, und ihre Menſtruation kehrte ſeitdem regel¬
maͤßig und ohne alle Beſchwerden wieder) immer wohl be¬
fand; ſo laͤßt dieſe Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬
gabung mit Geiſt und Gemuͤth zuruͤckſchließen. Nun iſt es
allerdings wahr, daß unzaͤhlige ſolche Individuen ihren Lebens¬
gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer
Apathie gegen tiefere Erſchuͤtterungen geſchuͤtzt bleiben, von denen
reicher begabte Naturen ſo oft getroffen werden; aber andrer¬
ſeits muß eine ſolche Indolenz in ſofern als eine geiſtige Krank¬
heitsanlage angeſehen werden, weil ſie ſchlimmen Ereigniſſen
nicht die Widerſtandskraft eines energiſchen Charakters entge¬
genſetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth
laſten, und daſſelbe gleichſam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬
genheiten dazu ſollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr
machte die Natur ihr Geſetz geltend, nach welchem das Weib
zur Liebe geſchaffen iſt, auf welche Verzicht zu leiſten, ohne
den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr daſſelbe
eine der ſchwerſten Aufgaben iſt. Die unbedeutende Perſoͤn¬
lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen,
[154] und in Ermangelung eines anderen Gegenſtandes richtete ſich
ihre Neigung auf einen Handlungsdiener ihres Vaters, weil
ſie wohl fuͤhlte, daß ſie zu keinen hoͤheren Anſpruͤchen berech¬
tigt ſei. Sie mußte indeß, wie ſo viele ihres Geſchlechts, ihre
Neigung in ſich verſchließen, da ſie von jenem nicht einmal
beachtet und ausgezeichnet wurde, und wenn ihre hoffnungs¬
loſe Liebe ſie auch nicht in eine wirkliche Gemuͤthskrankheit
verſetzte, ſo beduͤrfte ſie doch mehrerer Jahre, um ihre fruͤhere
Ruhe wieder zu gewinnen, welche eigentlich nur eine truͤbe
Reſignation auf ein von ihr nicht zu erlangendes Lebensgluͤck
ſein konnte.


Inzwiſchen waren die Vermoͤgensumſtaͤnde ihres fruͤher
wohlhabenden Vaters, dem es wohl an kaufmaͤnniſcher Be¬
triebſamkeit gefehlt haben mag, ſo weit heruntergekommen,
daß er, ohne gerade Bankrutt gemacht zu haben, genoͤthigt
war, ſein Geſchaͤft aufzugeben und ſich mit ſeiner Familie in
Berlin anzuſiedeln, wo ſeine Toͤchter mit emſigem Fleiße in
Anfertigen weiblicher Arbeiten ſo viel erwarben, daß ſie we¬
nigſtens gegen druͤckende Noth geſchuͤtzt blieben. Dieſe be¬
ſchraͤnkte Lage nebſt den unzertrennlich damit verbundenen
Sorgen fuͤr die Zukunft machte beſonders auf das ſchwache
Gemuͤth unſrer damals 28 Jahre alten Kranken einen tiefen
Eindruck, ſo daß ſie oft weinte und wehklagte, und von ihrer
Mutter getroͤſtet werden mußte. Durch die Miſſionsblaͤtter,
welche ihr Vater ſchon ſeit laͤngerer Zeit gehalten hatte, auf
die Geſellſchaft zur Befoͤrderung des Chriſtenthums unter den
Heiden aufmerkſam gemacht, fing ſie an, den Verſammlungs¬
ſaal derſelben zu beſuchen, wo außer den Andachtsuͤbungen
beſonders die Berichte uͤber die guͤnſtigen und unguͤnſtigen Un¬
ternehmungen der Miſſionaͤre in fremden Laͤndern ihr Gemuͤth
tief bewegten. Es liegt in der Natur der Sache, daß ſolche
Berichte in einem ascetiſchen, ſtreng kirchlichen Geiſte gehalten
ſein muͤſſen, da jeder Miſſionaͤr ſich mit Glaubensmuth, Selbſt¬
verlaͤugnung, namentlich im Verzichtleiſten auf die meiſten
Lebensfreuden, ja mit Todesverachtung ausruͤſten muß, um ſich
ſeinem gefahrvollen Beruf mit Erfolg widmen zu koͤnnen.
Wer wollte es nicht freudig anerkennen, daß auch die Gegen¬
wart noch eine Menge von Glaubenshelden aufzuweiſen hat,
[155] deren hochherzige Geſinnung innige Hochachtung einfloͤßen muß,
wenn auch einzelne Miſſionaͤre als Schwaͤrmer und Fanatiker
in einem ſehr zweideutigen Lichte erſcheinen. Die Spoͤtter
uͤber dieſe Angelegenheit vergeſſen es gaͤnzlich, daß noch nie¬
mals Verſuche zur Entwilderung und geiſtig ſittlichen Cultur
der rohen Volksſtaͤmme auf andere Weiſe als durch die Aus¬
breitung des Chriſtenthums unter ihnen gelungen ſind, wel¬
ches auch dadurch ſeinen goͤttlichen Urſprung deutlich bezeugt,
daß jedes auf dieſe Weiſe fuͤr die Menſchheit gewonnene Volk
erſt eine lange Reihe von Entwickelungsſtufen, wie unſre Vor¬
aͤltern, durchlaufen muß, ehe es von ſeiner urſpruͤnglichen Roh¬
heit zu dem Genuß der geiſtig ſittlichen Freiheit auf der Grund¬
lage eines gelaͤuterten Glaubens gelangen kann. Das Chri¬
ſtenthum kann und ſoll eben wegen ſeiner goͤttlichen Natur
Allen Alles ſein, ſo daß aus ihm Jeder volle Befriedigung
zu ſchoͤpfen vermag, der erleuchtetſte, tiefſinnigſte Philoſoph,
wie der ſchlichteſte Verſtand, deſſen Geſichtskreis nicht uͤber die
Grenze der engſten Verhaͤltniſſe hinausreicht. Wer darf alſo
fordern, daß der Gottesdienſt, welcher ſo unendlich verſchiedenen
Beduͤrfniſſen des Geiſtes und Herzens Befriedigung verſchaffen
ſoll, uͤberall in der naͤmlichen Form und Faſſung gehalten, in
einer beſtimmten Begriffsſphaͤre abgeſchloſſen werde? Goͤnnt
doch den Muͤhſeeligen und Beladenen, welche ſich nicht zu hoͤ¬
herer Weltbetrachtung aufſchwingen koͤnnen, eine ſchlichte, ihren
Beduͤrfniſſen angemeſſene chriſtliche Lehre, welche ihnen Muth
und Troſt einfloͤßt, indem ſie das Leben darſtellt als den Kampf
des glaͤubigen Gemuͤths gegen die Leiden und Verlockungen die¬
ſer Welt, als die Nachfolge des Kreuzes Chriſti. Sie haben
ja hier Noth genug zu erdulden, und wie wollten ſie ſie ertra¬
gen, wenn nicht auf die Trauerbuͤhne ihres verkuͤmmerten Da¬
ſeins ein himmliſcher Lichtſtrahl fiele, welcher ihr Bewußtſein
erleuchtend ſie gegen gaͤnzliches Verdumpfen in Verzweiflung
uͤber endloſes Erdenweh ſchuͤtzte?


Aber freilich laͤßt der Vortrag, in welchen ſolche asceti¬
ſche Lehren eingekleidet werden, haͤufig nur allzuviel zu wuͤn¬
ſchen uͤbrig, da er oft genug nicht aus einem liebevollen Herzen,
ſondern aus einem fanatiſchen Munde kommt, welcher die ſchon
geaͤngſtigten Gemuͤther mit den Strafgerichten Gottes uͤber die
[156] Weltkinder niederſchmettert, und mit Teufelsbildern und Hoͤl¬
lengemaͤlden jede unſchuldige Freude aus dem Leben verſcheucht.
Auch wenn die Kirche nicht durch hierarchiſchen Zelotismus in
ein Zuchthaus verwandelt wird, wo dem zerknirſchten Buͤßenden
die Geißel um die Ohren geſchwungen wird, muß ſie doch ihre
Beſtimmung, ein rettendes Aſyl des Friedens fuͤr den Gram¬
gebeugten zu ſein, ganz verlieren, wenn ſie nur von finſteren
Declamationen uͤber den unausgleichbaren Widerſtreit zwiſchen
dem ewigen und zeitlichen Leben wiederhallt, welcher nur da¬
durch geſchlichtet werden koͤnne, daß man letzteres dem erſteren
zum Opfer bringe. Dergleichen Betrachtungen ſind nur in den
Kloͤſtern als den großen Kirchhoͤfen fuͤr Lebendigbegrabene an
ihrem Orte, um ihnen das fortwaͤhrende Abſterben bis zum
Tode zu erleichtern; wer aber in der Welt lebt, und in ihr
Pflichten zu erfuͤllen hat, muß auch die Kraft dazu beſitzen,
welche ihm unfehlbar geraubt wird durch die Vorſtellung aller
Weltverhaͤltniſſe als ſuͤndlicher, mit denen der Fromme nichts
zu ſchaffen habe.


Es muß voͤllig dahin geſtellt bleiben, in welchem Sinne
jene Vortraͤge gehalten waren, welche auf die H. einen ſo tie¬
fen Eindruck machten; ja man kann es dreiſt vorausſetzen,
daß ſie einen aͤcht chriſtlichen Geiſt athmeten, ohne daß ſie des¬
halb weniger nachtheilig auf ihr ſchon verduͤſtertes Bewußtſein
gewirkt haͤtten. Denn Leiden, Entbehrungen, Hoffnungsloſig¬
keit waren der Gegenſtand ihres truͤben Sinnes, und ſie mußte
daher um ſo empfaͤnglicher werden fuͤr die ſchlimmſte Ausdeu¬
tung jener Miſſionspredigten, welche die Nachfolge des Kreuzes
Chriſti fuͤr die vornehmſte Pflicht erklaͤrten. Ihrer Ausſage
nach gruͤbelte ſie oft uͤber ſolche Betrachtungen, welche nicht
dazu dienen konnten, Licht und Heiterkeit in ihren verfinſter¬
ten Geiſt zu bringen, zumal da ſie in ihrer Anſicht, daß auch
ſie dem Weltlichen entſagen, und das Kreuz Chriſti auf ſich
nehmen muͤſſe, noch mehr beſtaͤrkt wurde durch die Predigten
eines Geiſtlichen, der ſich ſtets durch myſtiſch ascetiſche Lehren
bekannt gemacht hat. In einer ſolchen Predigt glaubte ſie
auch die Ankuͤndigung eines baldigen Unterganges der Welt
und des hereinbrechenden Strafgerichts Gottes uͤber die Suͤnder
vernommen zu haben, und es begreift ſich leicht, daß nun
[157] jener Untergang eine herrſchende Vorſtellung in ihrem Gemuͤthe
wurde. Wer die Contraſte im weiblichen Herzen kennt, wird
nicht daruͤber erſtaunen, daß jener Bußprediger, deſſen Ana¬
themen in ihrer Bruſt ſchauerlich widerhallten, der Gegenſtand
ihrer Zuneigung wurde. Daß ein reines Liebesbild nicht aus
der dumpfen Gaͤhrung ihres Herzens auftauchen konnte, ſon¬
dern daß erotiſche und religioͤſe Regungen bei ihr zu jenen
formloſen Wallungen unverſtandener Gefuͤhle ſich vereinigten,
welche ihr kaum die Unterſcheidung beider von einander ge¬
ſtatteten, und deshalb jede beſonnene Reflexion uͤber ſie un¬
moͤglich machten, begreift ſich leicht.


Nur in ſofern fand eine Uebereinſtimmung unter ihren
Gemuͤthsregungen Statt, als ſie in ihrer Geſammtheit den
Charakter der Schwermuth an ſich trugen, welche nirgends
durch einen Strahl von Hoffnung erhellt wurde. Dieſe finſtere
Stimmung wurde noch truͤbſeeliger, als der Verſuch ihres aͤl¬
teſten Bruders, mit den Truͤmmern des Familienvermoͤgens
einen Victualienhandel anzulegen, nach anfangs guͤnſtigem Er¬
folge zuletzt gaͤnzlich ſcheiterte, und dadurch die Bedraͤngniß
der Familie faſt bis zur wirklichen Noth ſteigerte. Die H.
verſank nun mit jedem Tage tiefer in Troſtloſigkeit, ſo daß
ſie zu jeder Beſchaͤftigung unfaͤhig wurde, die Nacht ſchlaflos
zubrachte, ja ihr Leiden erreichte binnen wenigen Wochen eine
ſolche Hoͤhe, daß ſie am 23. Maͤrz 1842 in die Charité auf¬
genommen werden mußte. Hier verrieth ſie eine bis zur Angſt
geſteigerte Unruhe, welche ſie zu haͤufigem Jammern und Weh¬
klagen antrieb; zugleich war ſie ſo verworren und befangen,
daß ſie uͤber den Grund ihres bangen Gefuͤhls keinen Auf¬
ſchluß geben konnte. Bald klagte ſie ſich als eine ſchwere
Suͤnderin an, welche zeitliche und ewige Strafen zu fuͤrchten
habe, ließ aber jede Frage nach dem Motive ihrer Selbſt¬
anklage unbeantwortet; bald ſchrieb ſie ihre Angſt der Entfer¬
nung von ihren Aeltern zu, oder ſie fuͤrchtete ſich vor Ver¬
giftung, und ſtraͤubte ſich daher mit großer Hartnaͤckigkeit ge¬
gen den Genuß der Speiſen und Arzneien, welche ihr nur
mit Muͤhe eingefloͤßt werden konnten. Noch jetzt iſt ihr erin¬
nerlich, daß damals aus der Erinnerung an den verkuͤndeten
baldigen Untergang der Welt die Vorſtellung von dem nahen
[158] Ende derſelben in ihr auftauchte, und ſie quaͤlte. Unter an¬
derem gab ſie auch an, daß ſie im Herbſte 1840, als gerade
ihre Menſtruation im Fluſſe begriffen war, von einem ſtarken
Regen ganz durchnaͤßt worden ſei, und ſich heftig erkaͤltet habe,
und daß danach Schmerzen in der rechten Seite zuruͤckgeblie¬
ben waͤren, von denen ſie ſtets geplagt und in große Unruhe
verſetzt worden ſei. Die gewoͤhnlichen Unterleibsbeſchwerden
bei der Melancholie abgerechnet, war indeß keine eigenthuͤmliche
Functionsſtoͤrung bei ihr wahrzunehmen. Im Laufe der beiden
naͤchſten Monate trat wenigſtens eine theilweiſe Beſſerung ein,
ſo daß ſie koͤrperlich ganz wohl ſich befand, auch eine groͤßere
Ruhe und Klarheit des Geiſtes wiedergewonnen hatte, nament¬
lich nicht mehr ſo haͤufig daruͤber jammerte, daß ſie gefehlt
habe. Aber eine weſentliche Umgeſtaltung ihres Zuſtandes war
nicht erfolgt, als ſie am 21. Mai auf Verlangen ihres Va¬
ters aus der Anſtalt entlaſſen werden mußte.


Die Ruͤckkehr zu den Ihrigen, nach denen ſie eine große
Sehnſucht empfunden hatte, gewaͤhrte ihr allerdings einigen
Troſt, und da wenigſtens die heftigſten Ausbruͤche ihrer Krank¬
heit beſchwichtigt waren, ſo ſah ſie ſich im Stande, weibliche
Arbeiten zu verrichten, und dem aͤußeren Anſchein nach ſich
beſonnen zu betragen. Aber voͤllig unaufgeklaͤrt geblieben uͤber
den Nachtheil, welchen die ſchwaͤrmeriſche Richtung ihrer Froͤm¬
migkeit auf ſie ausgeuͤbt hatte, folgte ſie bald wieder dem
Zuge derſelben, und ſuchte daher ſowohl den Betſaal der Miſ¬
ſionsgeſellſchaft, als jenen Prediger auf, dem ſie noch immer
mit inniger Neigung zugethan war. Stets bewegte ſie ſich
in dem engen Kreiſe finſterer Gruͤbeleien uͤber die vornehmſte
Pflicht, das Kreuz Chriſti auf ſich zu nehmen, uͤber den bal¬
digen Untergang der Welt und das Strafgericht Gottes gegen
diejenigen, welche derſelben nicht entſagt haͤtten. Wenn viel¬
leicht auch in den gehoͤrten Predigten Worte des Troſtes und
des freudigen Glaubens ausgeſprochen wurden; ſo hatte ſie
doch alle Empfaͤnglichkeit dafuͤr verloren. Nicht damit zufrie¬
den, jenen ascetiſchen Andachtsuͤbungen an den Sonntagen und
an mehreren Wochenabenden beizuwohnen, vertiefte ſie ſich
noch in die Lectuͤre der Bibel und jener ſchon oft genannten
Tractaͤtlein, durch welche ſchon ſo manche ſchwache Intelligenz
[159] irre geleitet worden iſt. Es wurde ſchon oͤfter von Schrift¬
ſtellern bemerkt, daß ſelbſt die vorzuͤglichſten Koͤpfe, Rouſſeau,
Alfieri, Lord Byron, durch eine ſtets truͤbe Stimmung in Un¬
ordnung gebracht worden ſind; daß auch das hellſte Auge des
Geiſtes wie des Leibes im Finſtern Geſpenſter und Zerrbilder
ſieht, und daß beiden Sehorganen das klarſte Licht das noth¬
wendige Element zur vollen Entwickelung ihrer Thaͤtigkeit iſt,
welche außerdem durchaus einen krankhaften Charakter anneh¬
men muß. Wie vielmehr muß daher das Ebengeſagte fuͤr eine
Perſon guͤltig ſein, deren an ſich duͤrftiger Verſtand uͤberdies
durch eine ungeheilt gebliebene Geiſteskrankheit noch mehr ge¬
ſchwaͤcht worden war. Insbeſondere wurde ſie durch die Lectuͤre
von Miſſionsberichten gefeſſelt, in denen nicht ſelten vom Maͤr¬
tyrertode einzelner Miſſionaͤre die Rede war, welcher ihren
ascetiſchen Anſichten eine um ſo reichlichere Nahrung darbieten
mußte. Schwerlich kann man ſich etwas Troſtloſeres denken,
als die winterliche Oede ihres Bewußtſeins waͤhrend der naͤch¬
ſten Jahre, wo aus ihrem Gemuͤth kein friſcher Lebensquell
hervorbrach, kein erfreuliches Ereigniß wenn auch nur voruͤber¬
gehend Klarheit und Waͤrme in ihren gaͤnzlich verdumpften
Sinn brachte. Nur in ſofern zeigte ihr in paſſive Reſignation
verſunkenes Gemuͤth einige Reaction, als ſie erfuͤllt von ihren
finſtern Glaubensanſichten in ihre Aeltern und Geſchwiſter drang,
daß dieſelben eben ſo eifrig wie ſie an den Andachtsuͤbungen
Theil nehmen ſollten, um den Zorn Gottes von ſich abzuwen¬
den, welcher außerdem zeitliches und ewiges Verderben uͤber
ſie bringen wuͤrde. Hieruͤber gerieth ſie oft in Streit mit ihren
Angehoͤrigen, welche ſich vergebens bemuͤhten, ſie uͤber die Ueber¬
treibung ihres frommen Eifers aufzuklaͤren, und ſich uͤber ihre
gehaͤſſigen Anſchuldigungen eines weltlichen Sinnes beklagten,
dem ihrer Meinung nach auch nicht mit den unſchuldigſten
Freuden eine Befriedigung gewaͤhrt werden duͤrfe. So beſtaͤ¬
tigt ſich auch hier die traurige Erfahrung, daß ſelbſt die mil¬
deſte Geſinnung durch rigoriſtiſche Glaubensanſichten zur fana¬
tiſchen Liebloſigkeit verhaͤrtet werden kann, weil dem truͤben
Schwaͤrmer jeder Maaßſtab eines richtigen Urtheils entfaͤllt, und
das fuͤrchterliche Dogma ewiger Hoͤllenſtrafen jede menſchliche
Regung zu Eis erſtarren laͤßt. Daß es bei der H. ſo weit
[160] kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die
Lectuͤre einer Predigtſammlung ſie gebracht, deren Verfaſſer
den Kampf mit dem Teufel zu ſeiner Hauptaufgabe gemacht
hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬
gange der Welt die wichtigſte ſein mußte.


Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines
naturgemaͤßen Wirkens ausſchloß, mußte unaufhaltſam in ſei¬
ner Entwickelung zu den heftigſten Ausbruͤchen des Wahns
fortſchreiten. Zunaͤchſt leitete ſich derſelbe dadurch ein, daß die
H. bei der anhaltenden Verfinſterung ihres religioͤſen Bewußt¬
ſeins und dem ſteten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths
ſelbſt des fruͤheren Troſtes verluſtig ging, den ſie aus der
Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß ſie durch eifrige Froͤmmigkeit den
Zorn Gottes beſaͤnftigt habe. Es war ſchon wiederholt davon
die Rede, daß ein leidenſchaftlich erregtes religioͤſes Gefuͤhl nur
allzuleicht in Gewiſſenspein umſchlaͤgt, welches der H. um ſo
mehr begegnen mußte, da ſie ſchon in ihrer erſten Gemuͤths¬
krankheit ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im
Nov. 1844 ſtill, tiefſinnig, theilnahmlos, aͤußerte, ſie ſolle hin¬
gerichtet werden, weil ſie ſich gegen Gott verſuͤndigt habe. Zu
Anfang des Decembers ſtellten ſich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬
ſucht ein, in denen ſie unbaͤndig ſchrie, auf keine Frage ant¬
wortete, auf keine Weiſe zu beruhigen war, weshalb ſie am
3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte.
Hier erreichte ihre Tobſucht den hoͤchſten Grad, und noͤthigte
ſie zu einem lauten Schreien, ſinnloſem Schwatzen und zu hef¬
tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, ſo daß ſie auf ihre
Umgebungen gar keine Aufmerkſamkeit richten konnte. Sie hielt
ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen
Hoͤllenſtrafe verdammt ſei, aͤußerte aber auch zwiſchendurch ero¬
tiſche Vorſtellungen, in ſofern ſie den oben bezeichneten Pre¬
diger ehelichen zu wollen verſicherte; denn derſelbe ſei ihr himm¬
liſcher Braͤutigam, und werde ſie bald abholen. Oft brach
ſie unter heftigen Geſticulationen und entſtellten Gebaͤrden in
den Angſtruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch
der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, ſo daß ſie hart¬
naͤckig Speiſen und Arzneien verweigerte. Trank ſie Waſſer,
ſo glaubte ſie eine ſchwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬
[161] zwiſchen wehklagte ſie uͤber die Entfernung von ihren Aeltern,
zu denen ſie zuruͤckgebracht zu werden verlangte.


Durch die Anwendung gelinder Abfuͤhrungen und lau¬
warmer Baͤder gelang es allmaͤhlig, ihre heftige Aufregung
zu daͤmpfen, ſo daß ſie ſeit dem 15. December beſſer ſchlief,
nicht mehr einen ſo großen Ungeſtuͤm in ihren Bewegungen
zeigte, und das laute Wehklagen einſtellte. Ihr Geſichtsaus¬
druck verrieth zwar noch einen großen Schmerz, auch glaubte ſie
mit den geringfuͤgigſten Handlungen etwas Boͤſes gethan zu
haben; doch ließ ſich in ihrem ganzen Benehmen jene heilſame
Abſtumpfung des Gefuͤhls wahrnehmen, in welche die unmaͤßige
Spannung der Seele und des Koͤrpers uͤbergehen muß, wenn
ein guͤnſtiger Erfolg eintreten ſoll. Sie war ſtundenlang ganz
in ſich verſunken, ſo daß ſie auf die vorgelegten Fragen kaum
achtete, nur ihren Wunſch aͤußerte, zu ihren Angehoͤrigen zu¬
ruͤckzukehren, bei gelegentlicher Erwaͤhnung des Predigers ſelbſt
laͤchelte. Die Furcht vor Vergiftung ſchwand gaͤnzlich, ſie aß
und trank mit großem Appetite, und befand ſich leidlich wohl.
Indeß ihr Seelenleiden war zu tief begruͤndet, als daß der
erſte Nachlaß deſſelben ſchon zu einer fortſchreitenden Geneſung
haͤtte fuͤhren koͤnnen, und wenn erſteres auch nicht wieder die
aͤußerſte Hoͤhe, wie zu Anfang erreichte, ſo wurde doch die
Kranke ſchon im naͤchſten Monate wieder unruhiger, aͤußerte die
Sehnſucht, zu den Ihrigen zuruͤckzukehren, auf eine ungeſtuͤme
Weiſe, und erblickte in den geringfuͤgigſten Handlungen eine
ſchwere Suͤnde.


Die ſorgfaͤltige Erwaͤgung des ganzen Sachverhaͤltniſſes
mußte die Aufforderung zu einem energiſchen Verfahren geben,
durch deſſen Anwendung man nur noch hoffen konnte, die Feſ¬
ſeln zu ſprengen, in denen ihr Gemuͤth ſchon ſeit Jahren be¬
fangen war. Denn der pſychiſche Arzt muß in ſolchen Faͤllen
der ernſten Lehre eingedenk ſein, daß halbe Maaßregeln nicht
zum Ziel fuͤhren, ja den Zuſtand noch verſchlimmern, weil ein
Angriff auf eine Leidenſchaft, welcher ſie nicht uͤberwindet, ſie
zu einer Reaction herausfordert, durch welche ſie nur noch hart¬
naͤckiger werden muß. Wer dieſe Wahrheit nicht beherzigt,
kann durch ein an ſich ganz richtiges Heilverfahren die pſychi¬
ſche Krankheit leicht methodiſch verſchlimmern, wengiſtens wird
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 11[162] er ihr nicht Einhalt thun, und ihr dadurch Zeit laſſen, immer
tiefere Wurzeln zu ſchlagen, bis dieſe die innerſte Tiefe der
Seele voͤllig durchdrungen und dadurch jede Heilung unmoͤg¬
lich gemacht haben. Das rechte Maaß zu treffen iſt freilich
ſehr ſchwer, da ſich bei den unzaͤhligen individuellen Verſchie¬
denheiten keine allgemeine Regel daruͤber aufſtellen laͤßt, und
der Arzt auf ſeinen durch Erfahrung erworbenen Tact ange¬
wieſen iſt, deſſen Beſtimmungsgruͤnde er ſich oft ſelbſt nicht
klar machen, ja die er faſt nur fuͤhlen kann. Man muß ſich
moͤglichſt in die Empfindungs- und Anſchauungsweiſe der Kran¬
ken hineinzuleben ſuchen, um aus ihrem Bewußtſein heraus
das Nothwendige zu treffen, indem man ſich ungefaͤhr ſagt,
was auf ſie einwirken kann, was nicht. Denn vergegenwaͤr¬
tigt man ſich lebhaft ihre Betaͤubung, Verwirrung, Befan¬
genheit, wie Jeder im eigenen Leben Einiges davon erfahren
hat, um es ſich deutlich zu machen, wie in ſolchen Zuſtaͤnden
die Seele ganz von der Außenwelt abgeſchieden iſt, und uͤber¬
ſchlaͤgt man in einer ungefaͤhren Wahrſcheinlichkeitsrechnung aus
den bekannt gewordenen Bedingungen der Krankheit die Hart¬
naͤckigkeit ihrer Erſcheinungen; ſo erlangt man wenigſtens einen
approximativen Maaßſtab fuͤr die Intenſitaͤt, welche die Heil¬
bedingungen erreichen muͤſſen, wenn durch ſie das verſchloſſene
Innere der Kranken wieder fuͤr die Außenwelt eroͤffnet wer¬
den ſoll.


In dieſem Sinne mußte daher im Februar unbedenklich
zur Anwendung der Brechweinſteinſalbe geſchritten werden, da
ſie unter allen bekannten heilſamen Einfluͤſſen auf Geiſteskranke
ruͤckſichtlich der Intenſitaͤt und Dauer der Wirkung den vor¬
nehmſten Rang behauptet. Auch trat der erwartete guͤnſtige
Erfolg im vollen Maaße ein, denn ſchon zu Ende des Monats
erkannte die H. ihre bisherigen Wahnvorſtellungen als ſolche,
ſie ſah die Unſtatthaftigkeit ihrer ungeſtuͤmen Forderung, ent¬
laſſen zu werden, deutlich ein, und begriff die Nothwendigkeit
ihres laͤngeren Aufenthalts in der Anſtalt zu ihrer voͤlligen Hei¬
lung von einem Seelenleiden, deſſen furchtbarer Charakter ihr
in lebhafter Erinnerung geblieben war. Da ſie auch in koͤr¬
perlicher Beziehung ſich ganz wohl befand, ſo konnte ſie nicht
nur an den uͤblichen weiblichen Arbeiten, ſondern auch an den
[163] Unterrichtsſtunden mit ſo gutem Erfolge Theil nehmen, daß
ihre Wiedergeneſung im Laufe der naͤchſten Monate einen unge¬
ſtoͤrten Fortgang zu nehmen ſchien. Sie betrug ſich ruhig, an¬
ſtaͤndig, war ſehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete
alle Fragen verſtaͤndig, namentlich ſah ſie es deutlich ein, daß
ſie Jahre lang einer verderblichen religioͤſen Schwaͤrmerei ergeben
geweſen ſei.


Aber ihr Seelenleiden haͤtte minder ſchwer geweſen ſein
muͤſſen, wenn das Gleichgewicht ihres Gemuͤths nach voͤlliger
Ueberwindung ihrer myſtiſchen Leidenſchaft ſchon dauernd haͤtte
wiederhergeſtellt ſein ſollen. Der alte finſtere Geiſt war nur
zuruͤckgeſcheucht, nicht vertrieben, und wenn er ſich auch nicht
in ſeiner fruͤheren Geſtalt wieder zeigte, ſo regte er die Kranke
doch ſchon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬
che die Klarheit ihres Bewußtſeins truͤbte. Ob ſie es nicht
wagte, die fruͤheren religioͤſen Wahnvorſtellungen wieder laut
werden zu laſſen, nachdem ſie ſelbſt oft genug ein mißbilli¬
gendes Urtheil uͤber dieſelben ausgeſprochen hatte, oder ob das
Gefuͤhl eines koͤrperlichen Mißbehagens vorzugsweiſe ihre Auf¬
merkſamkeit in Anſpruch nahm, muß dahin geſtellt bleiben;
genug ſie ſprach nur den Wahn aus, daß ihr Koͤrper kleiner
und dicker geworden ſei, woruͤber ſie ſich ſehr aͤngſtigte. Es
erſchien daher angemeſſen, eine kraͤftige Reaction ihres Nerven¬
lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer koͤrper¬
lichen Empfindung die ſeltſame Taͤuſchung zu verbannen, wel¬
che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum
Anfange des Juni, ehe ſie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬
dererlangte, ſo daß ſie nun ſelbſt ihre bisherigen Irrthuͤmer
einſah, und nicht begreifen konnte, wie ſie in dieſelben ver¬
fallen ſei.


Auch diesmal ſollte die Freude uͤber den ſcheinbar guͤn¬
ſtigen Erfolg nicht lange dauern, denn ſchon vom 10. Juni an
erſchien die H. auffallend ſtille und traͤumeriſch, und wenige
Tage ſpaͤter war ſie wieder in den fruͤheren Zuſtand zuruͤckge¬
fallen. Von unſaͤglicher Angſt getrieben lief ſie haͤnderingend
umher behauptete die ſchwerſten Suͤnden und Verbrechen be¬
gangen zu haben, und wurde unablaͤſſig von der Vorſtellung
gequaͤlt, daß ſie hingerichtet werden ſolle. Die nochmalige An¬
11 *[164] wendung der Brechweinſteinſalbe hatte einen nur theilweiſen
Erfolg, da die Kranke nur dem Anſchein nach ruhiger wurde,
ſich ihrer Wahnvorſtellungen zu ſchaͤmen vorgab, und an an¬
dere Dinge zu denken verſprach. Dennoch zeigte ſie in ihrer
ganzen Haltung noch immer eine große Unſicherheit und Be¬
fangenheit, ſo daß man eines abermaligen Ruͤckfalls gewaͤrtig
ſein mußte, wenn ſie auch außerdem fleißig und aufmerkſam
auf alle ihr ertheilten Vorſchriften war. Wirklich ließ eine
Verſchlimmerung ihres Zuſtandes nicht lange auf ſich warten,
denn ſchon um die Mitte des Julius quaͤlte ſie ſich wieder
mit der Vorſtellung, daß ſie hingerichtet werden ſolle, und
daß man ihr das Todesurtheil bald verleſen werde, wofuͤr ſie
beſonders die Beſtaͤtigung in dem unvermeidlichen Geraͤuſch in
dem uͤber dem ihrigen belegenen Krankenzimmer zu finden
glaubte, woſelbſt ein Criminalgericht ſich verſammelt habe. Je¬
des Kommen anderer Menſchen hielt ſie fuͤr die Annaͤherung
der Gerichtsdiener, welche ſie abholen ſollten, und die groͤßte
Furcht hegte ſie vor den Oefen, durch welche im Winter die
Luftheizung bewirkt wird, weil ſie uͤberzeugt war, daß man
ſie in die Flammen derſelben werfen werde, damit ſie nach
dem Tode die Suͤnden aller Menſchen in ewigen Hoͤllenſtrafen
abbuͤße, waͤhrend die ganze Welt untergehe. Im Vorgefuͤhl
des nahen Todes hielt ſie ſich fuͤr durchaus krank, ohne jedoch
angeben zu koͤnnen, worin ihr Koͤrperleiden beſtehe.


Um ermuͤdende Wiederholungen zu vermeiden, bemerke
ich nur noch, daß die S. im Laufe der naͤchſten Monate einen
mehrmaligen Wechſel von ſcheinbarer Ruhe und Beſonnenheit
mit Anfaͤllen von Todesfurcht und Angſt vor den ewigen Hoͤl¬
lenſtrafen erfuhr, ſo daß ſie noch im Laufe des Novembers
von der Anweſenheit eines Criminalgerichts in einem hoͤheren
Stockwerke, durch welches ſie verdammt werden ſolle, uͤber¬
zeugt war. Dann aber wich die Krankheit einem dauernden
Seelenfrieden, in welchem ihr Geiſt mit jeder Woche ſich mehr
aufklaͤrte. Ich benutzte nun ſorgfaͤltig dieſe guͤnſtige Wendung,
mit ihr wiederholte und ausfuͤhrliche Geſpraͤche uͤber ihr fruͤhe¬
res Leben anzuknuͤpfen, und ihr namentlich die Vermeidung
aller pietiſtiſchen Aufregungen als die nothwendige Bedingung
zur Erhaltung ihrer Seelengeſundheit zu bezeichnen, indem ich
[165] ihr den Rath ertheilte, ſich auf den Beſuch des oͤffentlichen
Gottesdienſtes zu beſchraͤnken. Alle dieſe Ermahnungen mach¬
ten auf ſie den erwuͤnſchten Eindruck, und nachdem ſie eine
lange Reihe von Monaten eine volle Gemuͤthsruhe und Gei¬
ſtesklarheit in jeder Beziehung documentirt hatte, wurde ſie
am 1. Juli 1846 als geheilt entlaſſen.

15.

Z.‚ 31 Jahre alt, von ſeinem Vater, einem Buͤrger¬
meiſter, vielleicht zu nachſichtig erzogen, trat mit dem 18 Jahre,
nachdem er ſeine Ausbildung in einer hoͤheren Buͤrgerſchule em¬
pfangen hatte, bei der Artillerie in den Militairdienſt. In
ſeiner Hoffnung, ſich zu dem Range eines Officiers aufzu¬
ſchwingen, bitter getaͤuſcht, da er in den dazu erforderlichen
Pruͤfungen nicht beſtand, grollte er ſeinen Vorgeſetzten, welche
er gewiß ohne Grund einer Zuruͤckſetzung beſchuldigte. Sein
gekraͤnkter Ehrgeiz, welcher ihn uͤber ſeine beſchraͤnkten Faͤhig¬
keiten und Kenntniſſe verblendete, wurde dadurch fuͤr ihn zur
Quelle einer verduͤſterten Lebensanſicht und des Argwohns,
welcher ſeitdem als vorherrſchender Zug in ſeinem Charakter
hervortrat. Mannigfache rheumatiſche Beſchwerden noͤthigten
ihn, nach vierjaͤhriger Dienſtzeit aus dem Militair auszuſchei¬
den, und zu ſeinem Vater zuruͤckzukehren, bei welchem er ſeit¬
dem als Privatſchreiber lebte. Seine Gemuͤthsſtimmung truͤbte
ſich immer mehr, als er von einer luͤderlichen Dirne verklagt,
und vom Gerichte als der Vater eines mit ihr erzeugten Kin¬
des zu den Koſten verurtheilt wurde, welche zu zahlen er ſich
voͤllig außer Stande befand. Er befuͤrchtete in eine Kette von
Ungluͤcksfaͤllen ohne Ausſicht auf eine guͤnſtige Wendung ſeines
Schickſals verflochten zu ſein, zumal da mehrere Bewerbungen
bei Koͤniglichen Behoͤrden um Anſtellung im Civildienſte er¬
folglos blieben, ja es bemaͤchtigte ſich ſeiner eine ſolche Muth¬
loſigkeit, daß er oft gegen ſeine fruͤhere Gewohnheit in Thraͤ¬
nen ausbrach oder auch ſeinem gepreßten Gemuͤth in Aeuße¬
rungen verdrießlicher Laune Luft machte. Der durch einen
ungluͤcklichen Schuß auf der Jagd verurſachte Tod eines Freun¬
[166] des wirkte daher erſchuͤtternd auf ihn, noch mehr aber der
Tod eines jungen ſchoͤnen Maͤdchens, zu welchem er zwar in
keiner naͤheren Beziehung ſtand, da ſie ſchon die Geliebte ei¬
nes Andern war, zu welcher er aber doch eine ſtarke Neigung
empfunden haben muß, da er ſeine Faſſung ganz verlor.


Im Herbſte 1844 trat das Seelenleiden des Z. zuerſt
unter den bei ſo vielen Geiſteskranken vorkommenden Erſchei¬
nungen des Argwohns auf, welcher ſich hinreichend aus dem
Widerſpruch erklaͤrt, worin ſie ſich mit der ganzen Welt ver¬
ſetzt ſehen, und welcher bei ihm eigentlich nur die verſtaͤrkte
Wirkung ſeiner ſchon ſeit lange vorherrſchenden Geſinnung war.
Er behauptete, man gehe damit um, ihn ins Gefaͤngniß zu
werfen, womit ein Feſtungscommandant beauftragt ſei; ſehr
bald ſprang er aber von dieſer Vorſtellung zu der entgegen¬
geſetzten uͤber: er ſei unverletzlich, und keine Gewalt, Dolch,
Gift u. ſ. w. waͤre im Stande, ihm das Leben zu rauben, er
koͤnne trockenen Fußes uͤber Seen und Fluͤſſe gehen, da er ein
auserwaͤhltes Werkzeug Gottes ſei. Dieſe Behauptungen ſind
nur ein Wiederſchein ſeines uͤberſpannten Selbſtgefuͤhls, wel¬
ches ſich gegen die Furcht vor Verfolgung anſtemmte, und wel¬
ches auch bald Veranlaſſung zum Ausbruch einer heftigen Tob¬
ſucht gab, da ihm die durch ſeine Aufregung nothwendig
erheiſchte Beſchraͤnkung und die im falſch verſtandenen Eifer ver¬
ſuchte Bekaͤmpfung ſeiner Aeußerungen unertraͤglich waren. Er
mußte deshalb gebunden in ein ſtaͤdtiſches Krankenhaus gebracht
werden, welches ihn dergeſtalt erbitterte, daß er kurz darauf
die Eiſenſtaͤbe eines Fenſters verbog, und ſich an zerriſſenen
und zuſammengeknuͤpften Bettlaken auf die Erde herabließ,
um zu entfliehen. In ſein Zimmer zuruͤckgefuͤhrt und ſorgfaͤl¬
tiger bewacht, beruhigte er ſich unter der Anwendung von Sturz¬
baͤdern nach einiger Zeit ſo ſehr, daß er auf ſein dringendes
Bitten entlaſſen in das vaͤterliche Haus zuruͤckkehrte. Hier
verhielt er ſich mehrere Wochen ruhig, fuͤhrte keine irren Re¬
den mehr, arbeitete ſogar wieder, und forderte die Fortſetzung
der Sturzbaͤder; indeß die fleißige Lectuͤre der Bibel, in wel¬
cher beſonders die Offenbarung Johannis ihn wegen ihres my¬
ſtiſchen Inhalts anzog, trug unſtreitig dazu bei, ſeine immer
noch aufgeregte Phantaſie im hoͤchſten Grade zu erhitzen, und
[167] ſeiner aͤußerſt leidenſchaftlichen Spannung eine beſtimmte Rich¬
tung zu geben, zu welcher ſeine duͤnkelvolle Selbſtuͤberſchaͤtzung
ihn ſchon von ſelbſt hindraͤngte.


Denn nur allzugeneigt, ſeinem Ich die mannigfachſten
eingebildeten Vorzuͤge beizulegen, mußte er ſich ihrer im reli¬
gioͤſen Elemente dadurch bewußt zu werden ſtreben, daß er
ſich geradezu Attribute der Gottheit beilegte. Er blieb deshalb
nicht dabei ſtehen, daß er jede Beſchaͤftigung und fernere An¬
wendung von Heilmitteln hartnaͤckig zuruͤckwies, weil er ſein
eigener Arzt ſei, und am beſten wiſſe, was ihm fehle, ſon¬
dern er ſprach auch unumwunden aus, er ſei von Gott dazu
berufen, die Welt zu begluͤcken, der Retter und Helfer der
Ungluͤcklichen bei ſo vielen Ungerechtigkeiten auf Erden zu wer¬
den. Seine Phantaſie, von der Disciplin des Verſtandes durch
Leidenſchaften losgeriſſen, an andere Intereſſen gekettet, kannte
maaßlos ausſchweifend keine Grenze ihrer Dichtungen mehr,
weshalb er ſich bald fuͤr einen berufenen Apoſtel, ja fuͤr den
auferſtandenen Chriſtus ſelbſt erklaͤrte. Um ſich in dieſer hoch¬
muͤthigen Meinung von ſich zu beſtaͤrken, ſetzte er die Lectuͤre
der Bibel eifrig fort, und gerieth in die heftigſte Entruͤſtung,
wenn man ihm dieſelbe entzog, oder auch außerdem mit ſei¬
nen hochfliegenden Traͤumen in Widerſpruch gerieth. Sein
Wahn ſchien indeß anfangs mehrmals auf einige Wochen ganz
zuruͤckzutreten, wo er dann nur gleichſam verſtohlen gegen ge¬
naue Bekannte uͤber ſeinen Beruf zum Propheten ſprach. In
fremder Geſellſchaft beobachtete er den gemeſſenſten Anſtand,
ſo daß Niemand ihm ſein Seelenleiden anmerkte. Dieſer taͤu¬
ſchende Anſchein von Beſſerung verbunden mit dem Umſtande,
daß er ſich laͤngere Zeit bei entfernt wohnenden Verwandten
aufhielt, verzoͤgerte ſeine Aufnahme in die Irrenabtheilung,
welche erſt durch neue Ausbruͤche von tobſuͤchtiger Heftigkeit
gebieteriſch gefordert wurde.


Inzwiſchen trat ſeine Liebe zu dem verſtorbenen Maͤd¬
chen, welche er ſchon fruͤher in einem ſo hohen Grade geaͤu¬
ßert hatte, daß er mehrere Naͤchte im heftigſten Schmerze auf
ihrem Grabe zubrachte, jetzt in ihrer ganzen Staͤrke hervor,
und forderte ſeinen Wahn, mit goͤttlicher Macht ausgeſtattet
zu ſein, zu dem Wunder ihrer Wiedererweckung aus dem Tode
[168] heraus. Es kam ihm vor, als ob jene Jungfrau im Grabe
nur ſchlummere, und mit ihm in einer geheimnißvollen, my¬
ſtiſchen Verbindung ſtehe; er wollte ſie daher ausgraben, ins
Leben zuruͤckrufen, ihren Aeltern und der Liebe wiedergeben,
wozu er auch wahrſcheinlich ernſtliche Anſtalten getroffen haben
wuͤrde, wenn man ihn nicht nachdruͤcklich davon zuruͤckgehalten
haͤtte. Spaͤter nahm ſeine erotiſche Neigung eine andere Rich¬
tung, und rief dadurch eine andere Reihe von Wahnvorſtel¬
lungen hervor, von denen hernach die Rede ſein wird. In
jene Zeit fiel auch das erſte Auftreten des Joh. Ronge, und
auch Z. wurde von der maͤchtigen Bewegung jener Tage er¬
griffen, freilich nur im Sinne ſeines ſchon ausgebildeten Wahns,
in ſofern ihm im Geiſte die Palme eines Weltverbeſſerers
vorſchwebte. Er begnuͤgte ſich deshalb nicht damit, Ronge
und die Rationaliſten zu vertheidigen, ſich mit einem Plan zur
Verbeſſerung der Staatsverwaltung zu beſchaͤftigen, auf die
Vervollkommnung der Wiſſenſchaften ſeine Aufmerkſamkeit zu
richten; ſondern immer von neuem tauchten in ihm die Vor¬
ſtellungen auf, daß er als Hoheprieſter, ja als Chriſtus ſelbſt
die Welt regiere, daß die Geiſterwelt ihm Unterthan ſei, daß
Wind und Wetter ihm gehorchten, daß er Todte auferwecken
koͤnne u. dgl. m.


Dem Hause ſeines Vaters gegenuͤber wohnte eine Frau
von O. mit ihrer Schweſter, deren Liebenswuͤrdigkeit einen
tiefen Eindruck auf ihn machte, nachdem er laͤngere Zeit
vergeblich auf die Wiedererweckung ſeiner erſten Geliebten ge¬
harrt hatte. Seiner Verſicherung zufolge fand er Zutritt bei
jenen Damen, hielt um die Schweſter an, wurde aber natuͤr¬
lich auf eine hoͤfliche Weiſe abgewieſen. Tief hierdurch gekraͤnkt
gab er der Ueberzeugung Raum, daß die Frau von O. ſeinen
Wuͤnſchen heimlich entgegentrete, und daß ſie ſich der Huͤlfe
eines in ihren Dienſten ſtehenden boͤſen Geiſtes bediene, um
ihn zu quaͤlen und ins Verderben zu ſtuͤrzen. Obgleich ihm
die 7 Engel der Apokalypſe zugethan und untergeben ſeien, ſo ver¬
moͤchten ſie doch Nichts gegen den Geiſt der Frau von O., weil
ſie Weibern Nichts anhaben koͤnnten, daher er denn ſchutzlos
der Bosheit dieſes Daͤmons preisgegeben ſei. Dieſe aͤußerte
ſich nun vornaͤmlich in dem Bemuͤhen, ihm ſeinen Verſtand‚
[169] den er ſich als ein Puͤnktchen in ſeinem Kopfe dachte, zu neh¬
men, durch welche Vorſtellung er mehrere Male in verzweifelnde
Wuth verſetzt wurde. Aber jener Daͤmon hatte es auch auf
ſein Leben abgeſehen, denn er nahm ihm die Eingeweide aus
der Bruſt, welches er deutlich wahrnehmen konnte, da der Geiſt
Gottes ihm den Sinn dafuͤr gegeben hatte, daher ihm auch
Alles in der Bruſt zerriſſen und von Blut erfuͤllt vorkam. Ja
die Frau von O. ſetzte ihre Angriffe auf ſeine Perſon ſo weit
fort, daß ſie mehrmals durch das Schluͤſſelloch in ſein Zimmer
ſchluͤpfte, nackt vor ihm erſchien, und ihn zu ſinnlichen Be¬
gierden reizte, gegen welche er ſtandhaft angekaͤmpft zu haben
behauptet. Dennoch haͤlt er es fuͤr ein großes, der ganzen Welt
widerfahrenes Ungluͤck, daß er jenen Begierden nicht nachge¬
geben habe. Hoͤchſt bezeichnend fuͤr die maaßloſe Entwickelung
ſeines Wahns iſt auch die Vorſtellung, daß ſeit Anbeginn der
Welt zwei Geſchlechter der Menſchen auf Erden lebten, welche
ſich gegenſeitig bekaͤmpften; das eine ſtammt von Gott ab, und
begreift die Familie des Z. in ſich; das andere Geſchlecht, wel¬
ches von Adam ausgeht, umfaßt alle Adligen, und namentlich
die Familie der Frau von O.


Bei ſeiner am 21. April 1846 erfolgten Aufnahme in die
Charite' gerieth er in die heftigſte Wuth, konnte nur durch die
Bemuͤhungen mehrerer Waͤrter zur Folgſamkeit gebracht werden,
und forderte mit dem groͤßten Ungeſtuͤm ſeine Freiheit. Indeß
legte ſich doch dieſe heftige Aufregung bald, er wurde mitthei¬
lender, und ſprach ohne Ruͤckhalt die oben bezeichneten Wahn¬
vorſtellungen aus. Ueber ſein Benehmen waͤhrend des Som¬
mers und des Herbſtes bis zu ſeiner im November erfolgten
Verſetzung in anderweitige Verhaͤltniſſe laͤßt ſich nur ſo viel im
Allgemeinen ſagen, daß er ſich große Muͤhe gab, ſeine Wahn¬
vorſtellungen zu verhehlen, ja uͤber ſie eine deutliche Beſinnung
zu affectiren, um darauf die wiederholten ungeſtuͤmen Forderun¬
gen ſeiner Entlaſſung zu begruͤnden. Oft wurde er jedoch von
den in ihm tobenden Leidenſchaften dergeſtalt uͤbermannt, daß
er ganz aus der Rolle fiel, ſeinen Wahn mehr oder weniger
deutlich ausſprach, und in allen getroffenen Heilmaaßregeln ſo
wie in ſeiner Detention im Irrenhauſe eine ſchreiende Verletzung
ſeiner Rechte ſah, welche er durch Reclamationen an die hoͤch¬
[170] ſten Behoͤrden raͤchen zu wollen drohte. Wirft man einen un¬
partheiiſchen Blick auf die hochmuͤthige Selbſtverblendung, in
welcher er ſeit einer langen Reihe von Jahren bei gaͤnzlichem
Mangel an Talent und praktiſcher Tuͤchtigkeit gelebt hatte; ſo
wird wohl die Vorausſetzung der Unheilbarkeit ſeines Seelen¬
leidens hinlaͤnglich gerechtfertigt.

16.

E., 26 Jahre alt, in Berlin gebuͤrtig, der Sohn eines
Tafeldeckers, wurde von demſelben aus Armuth bereits im
10. Lebensjahre einem Faͤrbermeiſter zur weiteren Pflege und
Erziehung anvertraut, welche ihm aber nur auf eine hoͤchſt
mangelhafte Weiſe zu Theil wurden, da er die meiſte Zeit un¬
ter koͤrperlichen Arbeiten faſt uͤber das Maaß ſeiner Kraͤfte zu¬
bringen mußte, und uͤberdies von ſeinem rohen Pflegerater,
einem Trunkenbolde, eine ſehr harte Behandlung erfuhr. Er
konnte ſich daher in einem ſehr ſpaͤrlichen Schulbeſuche nur
duͤrftige Elementarkenntniſſe aneignen, und es bedurfte der
vorherrſchenden Weichheit und Milde ſeines Gemuͤths, um ihn
unter ſo unguͤnſtigen Verhaͤltniſſen gegen ſittliche Verwilderung
zu ſchuͤtzen. Seine fruͤh verſtorbene Mutter weckte durch haͤu¬
figes Bibelleſen und andere Andachtsuͤbungen ſchon zeitig ſein
religioͤſes Gefuͤhl, welches bei ihm ſchnell zur lebendigen Ent¬
wickelung kam, ſo daß er in der geſchilderten druͤckenden Lage,
in welcher er 4 Jahre ausharren mußte, allein Troſt und Muth
aus dem Beſuche des Gottesdienſtes ſchoͤpfte, dem er an jedem
Sonntage meiſtentheils zweimal beiwohnte. Die vielen Muͤhen
und Beſchwerden warfen ihn zwar nicht auf das Krankenbette,
hielten ihn jedoch in ſeiner koͤrperlichen Ausbildung zuruͤck, da
ſein Wuchs unter dem natuͤrlichen Maaß zuruͤckgeblieben iſt; auch
wurde dadurch ſein Sinn nicht nur zum ſteten Ernſt geſtimmt,
ſondern er empfand auch ein ſo nothwendiges Beduͤrfniß from¬
mer Erregung, daß er ſie immerfort hervorzurufen ſtrebte, in¬
dem er nicht nur eifrig, ſelbſt in ſchlafloſen Naͤchten betete,
ſondern auch in der Bibel fleißig las, daher er denn das neue
Teſtament faſt auswendig gelernt hatte. Soweit ſeine Erinne-
[171] rung reicht, ſcheint die Entwickelung ſeines religioͤſen Bewußt¬
ſeins ziemlich geregelt von Statten gegangen zu ſein, denn er
verſichert, daß er eben ſo wohl ein inniges Vertrauen gegen
Gott, welcher ihm aus aller Noth helfen werde, als eine tiefe
Ehrfurcht vor der Heiligkeit der goͤttlichen Gebote empfunden
habe, daß er zur Glaubensfreudigkeit geſtimmt geweſen ſei,
und nur gelegentlich Anwandlungen von frommer Schwermuth
erfahren habe. Insbeſondere empfand er dieſen Wechſel der
Gefuͤhle waͤhrend des Religionsunterrichts bei Gelegenheit der
Lehre, daß der Menſch im verblendeten Hochmuth eine ſchwere
Suͤnde auf ſich lade, wenn er durch eigenes Verdienſt ſich den
Weg zum Guten bahnen zu koͤnnen glaube, und nicht alle
Hoffnung auf Seeligkeit in die Gnade Gottes ſetze. Durch
das Auswendiglernen vieler Pſalmen in ſeinen frommen Ge¬
fuͤhlen lief erregt, wurde er durch jene ſtrenge Lehre dergeſtalt
erſchuͤttert, daß er eine Zeitlang an ſeiner Seeligkeit verzwei¬
felte, und vielleicht wuͤrde er ſchon damals dem Wahn zum
Raube geworden ſein, wenn ihn nicht das ſchoͤne Vorrecht der
fruͤhen Jugend, von jener ſchlimmſten Geißel des Lebens befreit zu
bleiben, dagegen geſchuͤtzt, und ihm den Frieden ſeiner Seele
wiedergegeben haͤtte. Indeß wer ermißt die ſpaͤteren Nach¬
wirkungen ſo tiefer Eindruͤcke in das zarte Gemuͤth, welche
gewiß oͤfter, als es bei oberflaͤchlicher Anſchauung ſcheint, in
daſſelbe die Saat kuͤnftiger Leiden und Verirrungen ſtreuen,
um ſie nach laͤngerem Schlummer in ſpaͤteren Jahren zur Ent¬
wickelung und Reife zu bringen.


Schon fruͤhzeitig hatte er die Mangelhaftigkeit des em¬
pfangenen Schulunterrichts ſchmerzlich empfunden, weshalb er
mit Eifer die ihm dargebotene Gelegenheit ergriff, ſich durch
den Jahre lang fortgeſetzten Beſuch einer Sonntagsſchule wei¬
ter auszubilden. Durch leichte Faſſungsgabe unterſtuͤtzt, und
durch fleißige Lectuͤre von Erbauungsſchriften in einer ſteten
Aufregung erhalten, erwarb er ſich eine geiſtige Lebendig¬
keit, welche unter den druͤckenden Verhaͤltniſſen ſeiner Lage
von aller Theilnahme an geſelligen Aufheiterungen ausgeſchloſ¬
ſen um ſo entſchiedener eine myſtiſche contemplative Richtung
einſchlug. Zwar befand er ſich nach ſeiner im 14. Lebensjahre
erfolgten Ruͤckkehr zu ſeinem Vater unter etwas guͤnſtigeren
[172] Umſtaͤnden; indeß ſeine Geſinnung hatte ſchon einen ſo entſchiede¬
nen ascetiſchen Charakter angenommen, daß er wegen ſeiner zur
Schau getragenen Froͤmmigkeit oft genug von Anderen verſpottet
wurde, welche er deshalb fuͤr Weltkinder hielt, mit denen an
oͤffentlichen Vergnuͤgungsorten zuſammenzutreffen ihm als Suͤnde
erſchien. Gerade dieſe Denkweiſe hatte ihn einem Kaufmanne ſehr
empfohlen, welcher eifrigen Andachtsuͤbungen ergeben, in ſeinem
Hauſe pietiſtiſche Conventikel hielt, und in unſerm E. ein ſehr
geeignetes Mitglied derſelben zu finden glaubte. Er nahm ihn daher
in ſein Haus auf, beſchaͤftigte ihn nur mit leichten Arbeiten, und
entließ ihn erſt nach zwei Jahren, worauf er wegen großer Kurz¬
ſichtigkeit fuͤr die meiſten Gewerbe untauglich, bei einem Pfropfen¬
ſchneider in die Lehre trat. Natuͤrlich fand die bei ihm ſchon vor¬
herrſchende Froͤmmigkeit in den bei jenem Kaufmanne woͤchentlich
mehrere Male abgehaltenen Conventikeln eine uͤberreiche Nahrung,
um ſo mehr, als in denſelben eifrig auf die Erweckung einer
ſtreng orthodoxen Glaͤubigkeit hingearbeitet wurde. Die Anwe¬
ſenden, deren Zahl ſich gewoͤhnlich auf 20 — 30 belief, mußten
nicht nur beim Gebete niederknieen, ſondern ſich auch zur fleißi¬
gen Theilnahme an dieſen Andachtsuͤbungen verpflichten, ſo daß
ſie ihr gelegentliches Ausbleiben zu entſchuldigen genoͤthigt wa¬
ren. Daher bezogen ſich auch die Bibelerklaͤrungen vornaͤmlich
auf die Pflicht eines inbruͤnſtigen Gottesdienſtes, um gegen die
Weltſuͤnden moͤglichſt geſchuͤtzt zu werden, und da auch außerdem
in der Familie des Kaufmanns ein ſtrenger Ernſt waltete, wel¬
cher außer den Morgen- und Abendandachten kaum vertrauliche
Mittheilungen der Mitglieder geſtattete, ſo begreift es ſich leicht,
welchen Eindruck alles dies auf das weiche, paſſive Gemuͤth un¬
ſers E. machen mußte.


Hieraus erklaͤrt es beſonders, daß er zur Theilnahme
an den gottesdienſtlichen Verſammlungen der Altlutheraner
eingeladen, durch ſie in eine tiefe Erſchuͤtterung verſetzt wurde.
Der in den Predigten herrſchende fanatiſche Geiſt wirkte auf
ihn um ſo maͤchtiger, als auch einige Mitglieder jener Secte
in Privatgeſpraͤchen ihn zu uͤberzeugen ſuchten, daß die ewige
Seeligkeit durch den Beſuch der evangeliſchen Kirchen verſcherzt
werde, weil dieſe eine wahre Verfolgung gegen den wahren
[173] Glauben ausuͤbten, deſſen Gemeinden in der tiefſten Unter¬
druͤckung ſchmachteten. Namentlich bezeichneten ſie die Agende
als Menſchenwerk, welches an die Stelle des goͤttlichen Wor¬
tes geſetzt werden ſolle; kurz ſie boten Alles auf, den E. zum
Bruch mit ſeinen religioͤſen Grundſaͤtzen zu bringen. Erſt 17
Jahre alt wußte er ſich in ſeiner großen Beſtuͤrzung nicht zu
helfen und zu rathen, und wenn auch eine leiſe Ahnung ihm
ſagte, daß jener Fanatismus mit dem Geiſte des Chriſtenthums
im Widerſpruch ſtehe, ſo konnte er ſich doch der Furcht vor
der ewigen Verdammniß nicht erwehren. In wahrer Herzens¬
noth wandte er ſich an einen Hamburger Wiedertaͤufer, wel¬
cher mit dem Conventikel im Hauſe des Kaufmanns in naͤ¬
here Verbindung getreten war, um die Mitglieder deſſelben fuͤr
ſeine Secte zu gewinnen. Derſelbe ſuchte ihn durch ein lieb¬
reiches und aufmunterndes Benehmen zu gewinnen, tadelte
ſtreng das Verfahren der Altlutheraner, ermahnte ihn, ſich
an die Bibel zu halten, und uͤbergab ihm zugleich einige
Tracraͤtlein, welche die angeblichen Vorzuͤge und Verdienſte der
Anabaptiſten in ein helles Licht ſtellen ſollten. Begierig ver¬
ſchlang E. den Inhalt derſelben, weil die dadurch ſeinem
Geiſte gegebene andere Richtung ihn von ſeiner bisherigen
Angſt befreite, und was den dadurch erlangten religioͤſen An¬
ſichten an Klarheit fehlte, wurde reichlich erſetzt durch den
hinreißenden Zauber, den alle myſtiſchen Schriften auf hinrei¬
chend vorbereitete Gemuͤther ausuͤben. Um ihn daher zum
Uebertritt zu der Secte der Wiedertaͤufer zu bewegen, haͤtte
es kaum der feierlichen Salbung und der imponirenden Wuͤr¬
de bedurft, mit welcher der Hamburger ihn anredete, daß es
ſeine heilige Pflicht ſei, Chriſtus in Allem nachzufolgen, an
welche Ermahnung mit einigen Redewendungen die Behaup¬
tung geknuͤpft wurde, daß in den Worten des Erloͤſers auf
die Weigerung des Johannes, ihn im Jordan zu taufen (laß
alſo ſein, alſo gebuͤhrt es uns, alle Gerechtigkeit zu thun),
die Einſetzung der Wiedertaufe enthalten ſei. Wie ſeltſam
eine ſolche Schlußfolge jedem Unbefangenen erſcheinen mag,
ſo hatte ſie doch fuͤr unſern E. in ſeiner damaligen Gemuͤths¬
ſtimmung volle Beweiskraft, zumal da ihm verſichert wurde,
daß in England und Amerika ſich bereits 4 Millionen zu der
[174] neuen Secte bekannten, welche ſich allmaͤhlich uͤber die ganze
Erde ausbreiten wuͤrde, und daß auch in Berlin eine Schaar
von Glaͤubigen im Begriffe ſtehe, ſich derſelben anzuſchließen.
Deshalb zauderte er in tiefer Bewegung um ſo weniger, ſeine
Bereitwilligkeit dazu auszuſprechen, als es ihm zur dringenden
Pflicht gemacht wurde, dem Rufe des Herrn augenblicklich
Folge zu leiſten. So war er einer der 6 Mitglieder, durch
deren Taufe am Morgen vor dem Pfingſttage 1837 die hie¬
ſige Gemeinde der Wiedertaͤufer geſtiftet wurde. Zwar be¬
fremdete ihn die geringe Zahl derſelben, da er auf eine große
Schaar von Bekehrten, namentlich auf den Beitritt der evan¬
geliſchen Geiſtlichkeit gehofft und ſich gefreut hatte, einer der
erſten im neuen Bunde zu ſein, und dadurch den geiſtlichen
Troſt und Zuſpruch zu erhalten, deſſen er in ſeiner Rathlo¬
ſigkeit ſehr beduͤrftig war. Jedoch ließ er ſich uͤber ſein Be¬
denken ſo leicht beſchwichtigen, daß er im frommen Eifer er¬
gluͤhend, ſeiner ewigen Seeligkeit gewiß geworden, in eine
Gemeinde von Heiligen aufgenommen zu ſein glaubte, und
erſt ſpaͤt daruͤber zur Beſinnung kam, daß ſeine neuen Glau¬
bensgenoſſen gleich ihm ſchwache und ſuͤndige Menſchen ſeien.


Vielleicht laͤßt ſich mit dieſen Zuͤgen am ſtaͤrkſten die
Bethoͤrung ſeines Verſtandes durch religioͤſe Ueberſpanntheit bei
großer Gutmuͤthigkeit bezeichnen, welche bei Anderen nichts Ar¬
ges ſucht und findet, weil ſie ſelbſt davon frei iſt. Bei den
haͤufigen Verſammlungen der Wiedertaͤufer zeichnete er ſich durch
eine ſo heiße Inbrunſt aus, daß er auf den Wunſch der Ge¬
meinde haͤufig aufgerufen wurde, Gebete zu halten, welche er
im Herzensdrange improviſirt zu haben behauptet. Eine ver¬
ſteckte Regung von Eitelkeit, welche ſpaͤter in ſo großen Zuͤgen
hervortrat, wurde nicht nur dadurch, ſondern auch durch die
ausdruͤckliche Verſicherung eines Mitgliedes erweckt, daß er
große Gaben beſitze, welche freilich noch ſehr der Leitung und
Pflege beduͤrften, durch welche er aber dann zu hohen Ehren
in ihrem Bunde und in der Welt gelangen koͤnne. Zu die¬
ſer Aeußerung hatten die fruͤher ſchon erwaͤhnten Glaubens¬
ſtreitigkeiten Veranlaſſung gegeben, durch welche aus der neuen
Gemeinde faſt von Anfang an jede Eintracht verbannt wurde.
Einer dieſer Controverspunkte betraf die goͤttliche Gnadenwahl,
[175] welche von mehreren Mitgliedern heftig beſtritten, von anderen
aber im ſtrengſten Sinne behauptet wurde, als ob Gott ſchon
vor Erſchaffung der Welt das Loos jedes Einzelnen zur See¬
ligkeit oder Verdammniß vorherbeſtimmt habe. Da E. zwiſchen
richtigen Begriffen und aufgedrungenen myſterioͤſen Vorſtellun¬
gen von ſeinem ſchwachen Charakter in der Schwebe erhalten
wurde; ſo half es ihm Nichts, daß er mit geſundem Urtheil
den Hochmuth der Phariſaͤer erkannte, welche ſich im Herzen
fuͤr Auserwaͤhlte hielten, um Andere zu verdammen, denn er
wurde dadurch nicht von ſeinem bangen Zweifel befreit, ob
auch er zu den Auserwaͤhlten gehoͤren moͤge, und fand keinen
nachhaltigen Troſt in der Verſicherung, daß ſeine Seeligkeit
durch die Wiedertaufe gerettet, und daß ſeine Unruhe ein Zei¬
chen der Gnadenwirkung Gottes in ſeinem heilsbegierigen Her¬
zen ſei, welches nur in einem gleichguͤltigen Gemuͤth vermißt
werde. Inzwiſchen wurden die ſtets fortgeſetzten Streitigkeiten
uͤber die Gnadenwahl mit einer ſolchen Erbitterung in harten
Worten gefuͤhrt, daß E. ſich oft dadurch in ſeinem Innern
verletzt und empoͤrt gegen die Engherzigkeit und Verachtung
fuͤhlte, welche ſeine Glaubensgenoſſen gegen Andersdenkende
offenbarten. Ein anderer oft mit Heftigkeit discutirter Con¬
troverspunkt bezog ſich auf die Wiederbringung aller Dinge,
deren Vertheidiger ſich beſonders auf die Schriften von Jung
Stilling beriefen, welcher gelehrt haben ſoll, daß die Frommen
im ewigen Leben alle Erdenguͤter und ſinnliche Luſt wieder¬
faͤnden. Dieſe myſtiſche Behauptung erſchien dem E. im vollen
Widerſpruche mit dem reinen Geiſte des Chriſtenthums, und
da er aus Geſinnung die unaufhoͤrlichen Wortkriege haßte,
welche den Frieden ſeiner Seele durch ein Heer von Glaubens¬
zweifeln ſtoͤrten, deren Loͤſung er bei den Wiedertaͤufern nicht
fand; ſo kehrte er allmaͤhlig in die evangeliſchen Kirchen zuruͤck,
um in ihnen Aufklaͤrung uͤber das wahre Chriſtenthum zu ſu¬
chen, und daraus Troſt fuͤr ſeine große Bedraͤngniß zu ſchoͤ¬
pfen. Hierdurch zog er ſich aber den ſtrengſten Tadel eines
ſeiner Glaubensgenoſſen zu, welcher, indem er ihm das oben er¬
waͤhnte Lob wiederholt ſpendete, und ſeinen fruͤheren Glaubens¬
eifer ruͤhmte, ihm zugleich vorwarf, daß er jung, unerfahren,
und noch ſchwach am Verſtande von der Gemeinde, welche eng
[176] zuſammenhalten und ſich dadurch hervorthun muͤſſe, abzufallen
beabſichtige, und ihr dadurch bei ihren Feinden großen Scha¬
den bringen werde. Da er ſich hierdurch nicht irre machen
ließ, ſo nahm jener Tadel bald einen drohenden Charakter an,
als ob er mit Macht von einem Schritte zuruͤckgehalten wer¬
den ſolle, deſſen Folgen er nicht einſehen koͤnne, weshalb An¬
dere fuͤr ihn denken und handeln muͤßten. Vergebens beklagte
E. ſich daruͤber, daß in dieſer harten Behandlung alle chriſt¬
liche Liebe verleugnet werde; er erhielt zur Antwort, wenn
nur die Seele gerettet werde, ſo moͤge der Leib zu Grunde
gehen, gerade in der eifrigen Fuͤrſorge fuͤr ſeine Seeligkeit of¬
fenbare ſich die fuͤr ihn vaͤterlich ſorgende Liebe. Auch die
Bemerkung half ihm Nichts, daß Andere ihm nicht die See¬
ligkeit verſchaffen koͤnnten; er wurde ein Hochmuͤthiger genannt,
welcher als Abtruͤnniger der Gemeinde vorgeſtellt werden ſolle,
wenn er nicht umkehre.


Zu dieſen waͤhrend ſeines 5jaͤhrigen Verbleibens bei den
Wiedertaͤufern zuletzt bis zum Unertraͤglichen fortgeſetzten Tri¬
bulationen kam nun noch, daß die zum Abfall Geneigten vom
Abendmahl ausgeſchloſſen, der Gemeinde mit hartem Tadel
vorgefuͤhrt, von gewiſſen vertraulichen Sprechſtunden abgewie¬
ſen, und ſie durch dies Alles ſo lange bearbeitet wurden, bis
die Excommunicirten ſich zerknirſchten Herzens zeigten. So
ſollte auch er als ein Ungehorſamer der Gemeinde vorgeſtellt,
und wenn er nicht von ſeinem Widerſpruche abließe, aus der¬
ſelben ausgeſtoßen werden. Dem beugte er aber im Jahre
1842 vor, indem er dem Gemeindevorſtande ſchriftlich ſeinen
Austritt anzeigte, nachdem er ſich in ſeiner Herzensbedraͤngniß
den Rath von 2 evangeliſchen Geiſtlichen erbeten hatte, welche
ihn in ſeinem Entſchluß durch die Mittheilung geeigneter Er¬
bauungsſchriften beſtaͤrkten. Dennoch betruͤbte es ihn, als er
von ſeinen fruͤheren Glaubensgenoſſen bei gelegentlichen Beſu¬
chen kalt empfangen wurde. Bald aber gewann die Vorſtellung bei
ihm das Uebergewicht, daß ihm die Losſagung von der evan¬
geliſchen Kirche zum Vorwurf gereiche, in welcher er mehr Er¬
leuchtung fuͤr ſeinen Geiſt gefunden haben wuͤrde. Da einmal
der Verdacht gegen die Wiedertaͤufer in ihm rege gewor¬
den war, beſchuldigte er ſie auch, daß ſie ihn in ſeinem
[177] Erwerbe zuruͤckgehalten haͤtten, weil ſie ihm oͤfters Geld unter
dem Vorwande abſchwatzten, daß er nicht an Irdiſches ſein
Herz haͤngen ſolle. Seit jener Zeit widmete er ſich zwar ei¬
ner eifrigen Erwerbsthaͤtigkeit, indeß ſein lebhaftes Verlangen
nach hoͤherer Geiſtesbildung trieb ihn an, ſich in den Muße¬
ſtunden fleißig mit Lectuͤre nicht nur von Erbauungsſchriften,
ſondern auch von Werken der verſchiedenſten Art zu beſchaͤfti¬
gen. Zu dieſem Zweck erborgte er ſich hiſtoriſche, criminaliſti¬
ſche Werke, Theaterſtuͤcke, Reiſebeſchreibungen und mehreres
Andere theils aus Leihbibliotheken, theils ſchaffte er ſich fuͤr
ſeine geringen Erſparniſſe Grammatiken, geiſtliche Gedichte,
Paraphraſen der Pſalmen, die Harfentoͤne u. dgl. an. Kaum
bedarf es der Bemerkung, daß eine ſo planloſe Lectuͤre, auf
welche er nicht im Mindeſten vorbereitet war, nur dazu bei¬
trug, ſeinen ohnehin ſchon ſo unklaren Kopf noch mehr zu
verwirren. Er ergab ſich dieſen geiſtigen Beſchaͤftigungen mit
einem ſolchen Eifer, daß er oft bis 2 und 3 Uhr nach Mit¬
ternacht las, und ſich dadurch dergeſtalt entkraͤftete, daß er
am Tage kaum arbeiten konnte. Dennoch ſetzte er dieſe ver¬
kehrte Lebensweiſe ein halbes Jahr fort, wo er ſich dann durch
zunehmende Schwaͤche genoͤthigt ſah, dieſelbe zu beſchraͤnken,
ohne ſie jedoch ganz aufzugeben, da er eine gewiſſe Redſelig¬
keit, mit welcher er ſeine unverdauten Kenntniſſe auskramte,
fuͤr einen Fortſchritt ſeiner Geiſtesbildung hielt.


Die vorherrſchend religioͤs myſtiſche Richtung wurde von
ihm beſonders dadurch befoͤrdert, daß er mehrere Jahre hin¬
durch im Auftrage eines Pietiſten an den Sonntagen Bibeln
und Tractaͤtlein austheilte. Zu dieſem Zwecke ſuchte er arme
Handwerker, welche ihm meiſtens unbekannt waren, in ihren
Haͤuſern auf, und richtete ſalbungsvolle Reden an ſie, um ſie
zu bewegen, den Sonntag mit frommen Betrachtungen
und erbaulicher Lectuͤre zu feiern, und ſich aller Arbeit zu
enthalten. Bei Einigen fand er eine bereitwillige Auf¬
nahme, bei Anderen dagegen Spott und Hohn, wodurch
er in der Meinung von dem Widerſtreben der Weltkin¬
der gegen ſeine Geſinnung beſtaͤrkt wurde, welches er indeß
mit Gelaſſenheit ertrug. Da er ſelbſt jene Tractaͤtlein eifrig
ſtudirte, ſo wurde er durch ihren myſtiſch fanatiſchen Inhalt
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 12[178] in fortwaͤhrende Aufregung und Spannung des Gemuͤths ver¬
ſetzt, durch welche ſein von disparaten Kenntniſſen wimmeln¬
der und ſchwindelnder Kopf noch mehr in Unklarheit und Ver¬
worrenheit gerathen mußte. Die hierdurch in ſeinem Innern
fortdauernd unterhaltene truͤbe und ungeſtuͤme Gaͤhrung der
verſchiedenſten Elemente erzeugte bald ein Heer von Zweifeln,
welche zuletzt eine ſchwermuͤthige, bange Stimmung hervorrie¬
fen. Da er zugleich die Predigten eines Geiſtlichen fleißig be¬
ſuchte, welcher oft von dem Teufel als dem Fuͤrſten der Fin¬
ſterniß redete, ſo wurde er durch eine einfache Gedankenver¬
bindung leicht zu der Ueberzeugung gefuͤhrt, daß der Teufel,
um ihn vom rechten Wege zu verlocken, ihm jene Zweifel, die
in ſeinem Herzen aufſteigenden boͤſen, ſinnlichen Begierden
und ſeine Lauigkeit im Guten eingegeben habe. An ſeinem
redlichen Willen fehlte es wenigſtens nicht, da er ungeachtet
ſeiner Duͤrftigkeit doch laͤngere Zeit hindurch ſeinen Bruder bei
ſich aufnahm, und außerdem noch Armen aus theilnehmendem
Herzen einen Nothpfennig reichte. Endlich fand er doch nach
heftiger und anhaltender Beaͤngſtigung den Frieden des Her¬
zens in der fleißigen Lectuͤre frommer Werke, namentlich in
Barter's Schrift: Die Ruhe des Heiligen, wieder; denn er
ſchoͤpfte vollen Troſt aus der Vorſtellung, daß Chriſtus ſein
Leben fuͤr die Erloͤſung der Welt gegeben, und daß beſonders
Paulus den Glaͤubigen die Gnade Gottes verkuͤndigt habe.
Mit dieſen Gedanken beſchaͤftigte er ſich nicht nur oft waͤhrend
der Arbeit, ſondern auch vornaͤmlich auf einſamen Spazier¬
gaͤngen an den Sonntagen, wo ſeine Betrachtungen am lieb¬
ſten bei der Herrlichkeit des neuen Bundes verweilten, in
welchem ſich Gott durch Chriſtus offenbart habe, wodurch er
ſelbſt von ſeinen Suͤnden befreit worden ſei. Die hierdurch
erregte enthuſiaſtiſche Stimmung erreichte nicht ſelten einen ſo
hohen Grad, daß er mehrere Tage hindurch einer wahren
Seeligkeit theilhaftig geworden zu ſein glaubte, und ſomit in
dem Wahn erhalten wurde, daß der Eintritt des Reiches Got¬
tes auf Erden nahe bevorſtehe. Zu dieſer ſchwaͤrmeriſchen
Hoffnung hatte insbeſondere die Offenbarung Johannis beige¬
tragen, mit welcher er ſich eine Zeit lang vorzugsweiſe be¬
ſchaͤftigte, ſo daß er ſich das Bild des himmliſchen Jeruſalems
[179] tief einpraͤgte. Hiermit brachte er insbeſondere noch das 11.
Kapitel des Jeſaia in Verbindung, welches ihm den Frieden
des erwarteten Gottesreichs in den lebendigſten Zuͤgen vor Au¬
gen ſtellte. Es laͤßt ſich nicht mehr beſtimmen, zu welcher
Zeit er in jener enthuſiaſtiſchen Aufregung wirkliche Viſionen
von Chriſtus hatte, welchen er im weißen Gewande, auf ei¬
ner Wolke unter Heiligenbildern thronend in magiſcher, unbe¬
ſtimmter Zeichnung ſah; denn nur zu Anfang ſeines Aufent¬
halts in der Charité ſprach er ſich hieruͤber aus, und verſi¬
cherte ſpaͤter, daß er ſich nicht mehr deutlich darauf beſinnen,
und ſich nur einer dreimaligen augenblicklichen dunklen Viſion
erinnern koͤnne, in welcher geiſterartige Geſtalten vor ſeinem
Auge geſchwebt haͤtten.


Indeß jedes Uebermaaß frommer Erregung, in welcher
das Gemuͤth ſeine innere Haltung verliert, ſchlaͤgt faſt noth¬
wendig in Gegenſaͤtze um, weil der Menſch nicht zum ſteten
Fluge in ekſtatiſcher Spannung ſeiner Kraͤfte geſchaffen iſt,
und dann leicht eben ſo tief in Traurigkeit verſinkt, als er
vorher den hoͤchſten Aufſchwung genommen hatte. Zwar ſcheint
es bei E. in der letzten Zeit nicht mehr zu Gewiſſensbiſſen
und zur Teufelsfurcht gekommen zu ſein; aber er fuͤhlte den
Widerſpruch ſeiner ſchwaͤrmeriſchen Stimmung zur Außenwelt
lebhaft genug, um hierdurch beunruhigt zu werden. Dieſer
Widerſpruch kam ihm in der Vorſtellung zum Bewußtſein,
daß er wegen ſeiner Froͤmmigkeit, durch deren Oſtentation er
fruͤher ſchon oft genug Anſtoß gegeben hatte, von Spoͤttern
verfolgt werde, indem dieſelben auf der Straße ſich um ihn
verſammelten, Drohungen gegen ihn ausſtießen, die Hunde
auf ihn hetzten, ja ihn ſelbſt koͤrperlich mißhandeln wollten.
Da er wegen großer Kurzſichtigkeit Niemanden deutlich erken¬
nen konnte, ſo kam er auf verſchiedene Vermuthungen; bald
ſollten ſeine Verfolger fruͤhere Bekannte, bald ſollten es Stu¬
denten ſein, welche auf der Straße mit ihm eine dramatiſche
Scene auffuͤhren wollten. Oder es kam ihm vor, als wenn
man ihm wider ſeinen Willen die Gunſt von Maͤdchen auf¬
dringe, welche ſich in ihn verliebt haͤtten. Alles dies beun¬
ruhigte ihn um ſo mehr, da er vergeblich erwartete, daß Je¬
mand ihm naͤher treten, und ihm uͤber den Grund der Ver¬
12*[180] folgung aufklaͤren werde; ſtatt deſſen hoͤrte er nur aus der
Ferne ein undeutliches Reden, in welchem er blos ſeinen Na¬
men unterſcheiden konnte. Mit beſchleunigten Schritten kehrte
er dann in ſeine Wohnung zuruͤck, um ſich den laͤſtigen Nach¬
ſtellungen zu entziehen.


Schon waͤhrend einer Reihe von Monaten vor ſeiner Auf¬
nahme in die Charité bemerkte ſeine Wirthin ein eigenthuͤm¬
lich verſtoͤrtes und zerſtreutes Benehmen an ihm, und bald
aͤußerte er eine Menge von wahnwitzigen Vorſtellungen, wo¬
durch er ihr ſo laͤſtig wurde, daß ſie ihm wiederholt Schwei¬
gen gebot, ohne ihren Zweck zu erreichen. Er behauptet haͤu¬
fig, Thronfolger zu ſein, nach erreichtem 30. Jahre als Koͤnig
gekroͤnt zu werden, ja er gab ſich fuͤr Napoleon, den Kaiſer
von China und endlich fuͤr Gott ſelbſt aus, da er mit ſeinen
Haͤnden Alles geſchaffen habe. Wenn ihm ſeine Wirthin darauf
entgegnete, daß er gleich allen Menſchen ein Suͤnder ſei, ſo
nahm er dies ſehr uͤbel, lief heftig aufgeregt in der Stube
auf und ab, ſetzte ſich auch wohl an einen Tiſch, auf welchem
er mit den Fingern trommelte, als ob er Klavier ſpielte, in¬
dem er dazu geiſtliche Lieder ſang. Die Lectuͤre der Harfen¬
toͤne veranlaßte ihn zu der Aeußerung, er wolle die geiſtliche
Harfe ſpielen, deren Toͤne durch die ganze Welt ſchallen wuͤr¬
den. Eben ſo bemerkte ſein Meiſter, daß er in ſeinem ge¬
wohnten Fleiße nachließ, oft in ein traͤumeriſches Hinbruͤten
verſank, und mit den Fingern auf dem Tiſche mit der Be¬
merkung trommelte, ſo muͤſſe man Klavier ſpielen. Gelegent¬
lich erklaͤrte er, Chriſtus gleich zu ſein, eine neue Secte ſtif¬
ten zu wollen, da das Chriſtenthum nicht recht ausgebildet ſei;
auch ſprach er davon, daß auf dem hieſigen Alexanderplatze
der babyloniſche Thurm erbaut werden ſolle. Zu dieſer Aeu¬
ßerung ſcheint er durch den Anblick der zahlreichen Beſucher
des Koͤnigsſtaͤdtiſchen Theaters, welche nach dem Schluß deſſel¬
ben ihm entgegenſtroͤmten, veranlaßt worden zu ſein, indem
ihm die Vorſtellung einer Voͤlkerwanderung vorſchwebte, wel¬
cher dadurch ein feſter Punkt der Anſiedelung bezeichnet wer¬
den ſolle. Wiederholt beklagte er ſich daruͤber, daß die Wie¬
dertaͤufer ihm die ewige Verdammniß angekuͤndigt haͤtten, und
heftig bewegt durch alle dieſe ſich durchkreuzenden Vorſtellun¬
[181] gen vermochte er zuletzt gar nicht mehr zu arbeiten, und ge¬
rieth, von dem Meiſter zur Thaͤtigkeit aufgefordert, gegen den¬
ſelben in einen ſolchen Ungeſtuͤm, daß er behauptete, deſſen
Wohnung gehoͤre ihm, ſo daß jener ſich genoͤthigt ſah, ihm
bei ſeiner Wiederkehr die Thuͤre zu verſchließen. Auch gegen
ſeine Schweſter behauptete er, Chriſtus zu ſein, und einen
babyloniſchen Thurm bauen zu wollen, ſo daß ſie durch dieſe
und aͤhnliche Faſeleien genoͤthigt wurde, ſeine Aufnahme in die
Charité zu veranlaſſen, in welche er am 30. Juni 1846 ge¬
bracht wurde.


Nach den bisherigen Mittheilungen wird man ſich leicht
ein Bild von ſeinem Zuſtande entwerfen koͤnnen. Vorzugs¬
weiſe ſprach er ſeine religioͤſen Wahnvorſtellungen aus, indem
er ſich wiederholt fuͤr Chriſtus erklaͤrte, und bei anderen Ge¬
legenheiten verſicherte, daß Gott ihm den Thron der Welt uͤber¬
laſſen werde. Auch nannte er ſich einen Nachfolger Napoleon's,
denn auch dieſer ſei Gott geweſen, und habe die Beſtimmung
gehabt, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. In
den erſten Naͤchten ſah er noch Gott und die himmliſchen
Heerſchaaren, aber Alles in magiſchen, unbeſtimmten Zeichnun¬
gen; am Tage ſprach er oft vor ſich hin, meiſt ſinnloſe und
unverſtaͤndliche Worte, oder er fing an zu ſingen, wofuͤr er
als Grund angab, daß er ſeine Stimme uͤben muͤſſe. Dabei
herrſchte eine außerordentliche Verworrenheit in ſeinem Kopfe,
welche es ihm nicht geſtattete, ihn zu beſtimmten Erlaͤuterun¬
gen ſeiner aberwitzigen Aeußerungen zu bewegen; namentlich
war durch ſeine planloſe Lectuͤre der verſchiedenſten Buͤcher ein
wahrer Strudel von Chimaͤren erzeugt worden, indem er fuͤr
Alles einen Beruf zu haben glaubte, und ſich den heterogen¬
ſten Geſchaͤften widmen wollte, um ſich zu vervollkommnen.
Bei dem Singen aͤußerte er gelegentlich, er muͤſſe Operncom¬
poniſt und Taͤnzer werden, weil David vor der Bundeslade
getanzt habe, Militaͤr-Chirurgus, weil in der Bibel oft von
geheilten Wunden die Rede ſei. Das Maurerhandwerk muͤſſe
er erlernen, um dem Fuͤrſten von Sonnenburg ein großes
Triumphthor zu erbauen. Auf dem Theater wollte er wiſſen¬
ſchaftliche Ausbildung ſuchen, durch den Gebrauch der Dreh¬
orgel ſich in der Muſik vervollkommnen, ſelbſt das Gewerbe
[182] eines Schornſteinfegers und andere Handwerke duͤrfe er nicht
verſchmaͤhen, denn auch Gott ſei Menſch geweſen, und habe
Alles durchgemacht, ehe er vollkommen geworden ſei, und da
er, E., ſein Nachfolger werden ſolle, ſo muͤſſe er ihm auch
hierin nachahmen. Im Uebrigen war ſein Betragen ruhig,
friedlich, folgſam, und nur einmal wurde er ungehalten, als
man ihm den langgewachſenen Bart abſchor, durch welchen
er ſich ein wuͤrdevolles Anſehn geben wollte, und dem er eine
gewiſſe Zugkraft zuſchrieb.


Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat
beſonders Ruͤckſicht auf zwei urſachliche Bedingungen zu neh¬
men, durch deren Zuſammentreffen demſelben ſehr wahrſchein¬
lich der Charakter der Unheilbarkeit mitgetheilt worden iſt.
Zuvoͤrderſt iſt E. durch die ſchwaͤrmeriſche Ueberſpannung ſeiner
Froͤmmigkeit ſeit fruͤher Jugend einer naturgemaͤßen Entwicke¬
lung des Geiſtes gaͤnzlich verluſtig gegangen; er lernte es nie,
ſich in die Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe der wirklichen Welt
hineinzudenken, und blieb in ihr ſo ſehr ein Fremdling, daß
er ſeine ganze Beſtimmung durch bodenloſe Gruͤbeleien uͤber
religioͤſe Contemplationen zu erfuͤllen glaubte, woran ſelbſt ſein
mechaniſcher Fleiß in einem Gewerbe ihn nicht verhindern konnte,
welches ſeine Reflexion gar nicht in Anſpruch nahm. Durch
ein hoͤchſt unguͤnſtiges Mißgeſchick wurde er uͤberdies noch meh¬
rere Jahre hindurch in die unſeeligen Glaubensſtreitigkeiten
der Wiedertaͤufer verwickelt, in denen er ſich ſo wenig zurecht¬
zufinden wußte, daß er in dem Kampfe der in ihm aufgereg¬
ten Glaubenszweifel den Frieden ſeines Gemuͤths einbuͤßte, und
nur kuͤmmerlichen Troſt in dem Loßreißen von der ihm ſo ver¬
derblich gewordenen Secte fand. Vielleicht haͤtte er damals
noch zur Beſonnenheit zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, aber ſein
Unſtern wollte, daß er aus uͤbelverſtandener Neigung zur wiſ¬
ſenſchaftlichen Ausbildung, woran wahrſcheinlich verſteckte Ver¬
ſtandeseitelkeit einen bedeutenden Antheil hatte, Jahre lang ei¬
ner planloſen, ja ſinnverwirrenden Lectuͤre ſich ergab, welche
ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Kenntniſſen
erfuͤllte, und dadurch unmittelbar auf eine Zerruͤttung des
Denkens hinarbeitete. Unter den mannigfachen Gebrechen ei¬
nes verbildeten Verſtandes iſt unſtreitig die gaͤnzliche Unter¬
[183] druͤckung des geſunden Urtheils durch einen Wuſt von zer¬
ſtreuten Begriffen eines der ſchlimmſten, weil dadurch dem Gei¬
ſte geradezu die Moͤglichkeit geraubt wird, in irgend eine Ueber¬
einſtimmung mit ſich wieder zu kommen. Gleich einer zer¬
ſetzenden Gaͤhrung wirbeln die abgeriſſenen Vorſtellungen wie
in einem wuͤſten Traume durch einander, verſchwinden wie
dieſer faſt ſpurlos aus dem Bewußtſein, ſo daß eine tief in¬
nerliche Zerſtoͤrung aller weſentlichen Denkoperationen die noth¬
wendige Folge davon ſein muß, welche ſich dann unter den
Erſcheinungen der Verſtandesverwirrung darſtellt.


Ohne bei dieſen Betrachtungen laͤnger zu verweilen, be¬
merke ich nur, daß ſie uns einen genuͤgenden Aufſchluß uͤber
den Seelenzuſtand des E. geben. Er hat zwar noch ſo viele
aͤußere Beſinnung uͤbrig behalten, daß er nicht nur uͤber ſein
fruͤheres Leben ausfuͤhrlich Auskunft ertheilen, ſondern daß er
auch noch an den Unterrichtsſtunden Theil nehmen kann, in
denen der Verſuch gemacht wird, durch Rechenuͤbungen und
andere elementare geiſtige Beſchaͤftigungen ſeinem Verſtande
einige Ordnung und Klarheit zuruͤckzugeben; aber ein bleiben¬
der Vortheil hat ſich dadurch noch nicht erringen laſſen. Denn
ſein Hang zu wahnwitzigen Gruͤbeleien iſt ſo groß, daß er je¬
den Tag neue Grillen ausheckt, uͤber deren Ungereimtheit er
durchaus nicht zur Beſinnung gebracht werden kann. So be¬
ſchaͤftigt er ſich z. B. mit apokalyptiſchen Traͤumereien uͤber
das ewige Leben, welches er auf die abgeſchmackteſte Weiſe
ſchildert, indem er unter anderem behauptet, daß alle Seeli¬
gen der Ordnung und Schoͤnheit wegen eine glaͤnzende Uni¬
form tragen wuͤrden. Ein andermal verſichert er, Koͤnig von
Zion werden zu ſollen, und deshalb den tuͤrkiſchen Kaiſer zur
Abtretung Jeruſalems durch eine Armee zwingen zu muͤſſen,
welche er allmaͤhlig Mann fuͤr Mann anwerben wolle. Auch
ſein Wahn, Nachfolger oder Sohn Napoleon's zu ſein, tauchte
wieder auf; er verkuͤndete, daß derſelbe nach einigen Jahren
unter großem Siegesgepraͤnge in Berlin einziehen werde, deſſen
Straßen erweitert werden muͤßten, um die Schaaren des
Triumphators zu faſſen. Wenn man ihn bei einem Bilde
feſthalten will, geraͤth er bald in eine Verwirrung der Vor¬
ſtellungen, deren Sinnloſigkeit zu einem Abbrechen des Ge¬
[184] ſpraͤchs noͤthigt. So viel als moͤglich miſcht er Bibelſpruͤche
ein, um ſeinen Behauptungen einen groͤßeren Nachdruck zu
geben, und wenn auch der irre Lauf ſeines Geiſtes faſt die
ganze Welt durchſchweift, ſo laͤßt ſich doch die Grundrichtung
ſeines Wahnwitzes auf ein durch ihn zu ſtiftendes Gottesreich
mit allem Glanze der Apokalypſe nicht verkennen.

17.

G., 31 Jahr alt, der Sohn eines Schuhmachers in ei¬
ner maͤrkiſchen Provinzialſtadt, mußte von ſeiner zarteſten
Kindheit Augenzeuge der Brutalitaͤt ſein, welche letzterer, ein
arger Trunkenbold, namentlich gegen ſeine Ehefrau ausuͤbte,
welche er ſehr haͤufig mißhandelte, wodurch er unſtreitig ihren
Tod in Folge von Blutfluͤſſen beſchleunigte. G. wurde durch
dieſe taͤglich wiederkehrenden haͤuslichen Leiden fruͤhzeitig zu
einem tiefen Ernſt geſtimmt, welcher bald den Charakter einer
erregten Froͤmmigkeit annahm. Denn der Schulbeſuch wurde
ihm durch den darin empfangenen Religionsunterricht, in wel¬
chem er ſich erhoben und ermuthigt fuͤhlte, zum Gegenſtande
einer ſo ſtarken Vorliebe, daß er ſich ſelbſt durch Mißhand¬
lungen ſeines Vaters, welcher ihn bei ſeinem Handwerke be¬
ſchaͤftigen wollte, nicht davon zuruͤckhalten ließ. Er ſpricht
ſich beſtimmt dahin aus, daß jene fromme Neigung, welche
ihn gegen die uͤbrigen Lehrgegenſtaͤnde gleichguͤltig machte, al¬
lein in ihm erwacht ſei, weil der rohe Vater gegen alle Re¬
ligioſitaͤt mit cyniſchen Worten ſich erklaͤrte, und ſeine Mutter
es nicht wagen durfte, mit ihm und ſeinen Geſchwiſtern An¬
dachtsuͤbungen anzuſtellen. Deſto mehr Nahrung fuͤr ſeinen
frommen Sinn fand er bei dem Ortsgeiſtlichen, welcher den¬
ſelben waͤhrend des Religionsunterrichts bemerkt hatte, ihn
lieb gewann, und oft zu ſich einlud, um mit ihm uͤber reli¬
gioͤſe Gegenſtaͤnde zu ſprechen. Es ſcheint indeß nicht, daß
er myſtiſche Vorſtellungen ihm eingepflanzt habe, da er zu ihm
nur von der Nothwendigkeit ſprach, dem Vorbilde Chriſti in
Leiden und Drangſalen nachzufolgen, und ſeinen Glauben
nicht nur durch das Wort, ſondern auch durch treue Pflicht¬
erfuͤllung zu bewaͤhren. G. muß auf den Inhalt dieſer Ge¬
[185] ſpraͤche mit großer Empfaͤnglichkeit eingegangen ſein, und da¬
bei eine lebendige Erregtheit des Geiſtes gezeigt haben, ſo daß
der Prediger dadurch bewogen wurde, in ihm den Wunſch,
Theologie zu ſtudiren, zu erwecken, wozu er ihm nicht un¬
wahrſcheinlich behuͤlflich geweſen ſein wuͤrde. Indeß dieſer
Wunſch ſcheiterte vielleicht weniger an der Armuth des Va¬
ters, als an ſeiner Abneigung gegen den geiſtlichen Stand,
uͤber welchen er ſich mit frivolen Worten aͤußerte.


Die Gemuͤthsentwickelung des G. nahm daher fruͤhzeitig
eine ſo entſchieden religioͤſe Richtung, daß er ſtets ernſt ge¬
ſtimmt, fuͤr die kindlichen Spiele allen Sinn verlor, ſich von
ſeinen Altersgenoſſen fern hielt, und von ihnen mit Hohn
und Spott verfolgt wurde. Sie kraͤnkten ihn hierdurch oft
in einem ſolchen Grade, daß er, zur Gegenwehr unfaͤhig, und
ſeinen Schmerz in ſich verſchließend, zuweilen Anfaͤlle von
epileptiſchen Kraͤmpfen erlitt, welche auch in ſpaͤteren Ver¬
haͤltniſſen gelegentlich nach Gemuͤthsbewegungen ſich einſtellten,
indeß waͤhrend der letzten Jahre nicht mehr erſchienen ſind.
Sie waren jedesmal nur von kurzer Dauer, und die nach ih¬
nen zuruͤckbleibende Ermattung verſchwand ſchon nach einigen
Stunden. Er beſuchte fleißig die Kirche, nahm als Chorknabe
eifrig an den liturgiſchen Geſaͤngen Theil, und ſowohl der
Gottesdienſt, als der Religionsunterricht und die Geſpraͤche mit
dem Geiſtlichen durchdrangen ihn mit einer tiefen Freudigkeit,
welche ihn immer begieriger nach frommen Herzensergießungen
machte. Nicht wenig wurde dieſe Gemuͤthserregung dadurch
befoͤrdert, daß er ſeine Heilung von mehreren Krankheiten erſt
nach wiederholten Gebeten fand. Zuerſt erlitt er im 8. Jahre
eine Geſchwulſt unter der Zunge, welche ein halbes Jahr fort¬
dauerte, und zuletzt eine ſolche Groͤße erreichte, daß er den
Mund nicht mehr ſchließen, und nur noch mit Muͤhe etwas
Fluͤſſiges ſchlucken konnte. Die von Aerzten angerathene Ope¬
ration wurde von der Mutter verworfen, welche auf den Rath
eines Nachbarn an drei auf einander folgenden Freitagen die
Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und heiligen Geiſtes
ausſprach, worauf die Geſchwulſt bald verſchwunden ſein ſoll.
Im 14. Jahre zog G. ſich durch mechaniſche Verletzung eine
Augenentzuͤndung zu, welche ihn laͤngere Zeit des Sehvermoͤ¬
[186] gens beraubte, und von einem Arzte vergeblich mit dem Ein¬
blaſen von geſtoßenem Zucker behandelt wurde. Ein benachbarter
Bauer ſoll dadurch die Heilung bewirkt haben, daß er an
drei auf einander folgenden Freitagen jedesmal drei leiſe Ge¬
bete uͤber den Kranken hielt, und ſie mit den lauten Wor¬
ten: im Namen Gottes des Vaters u. ſ. w. ſchloß, worauf er
in die Augen hauchte. G. verſichert, daß die erſten beiden
Male ſeine Mutter ihn habe fuͤhren muͤſſen, und daß er das
letzte Mal ſchon im Stande geweſen ſei, allein den Weg zu
jenem Bauer zu finden. Endlich zog er ſich einige Zeit ſpaͤ¬
ter durch Erkaͤltung eine Waſſerſucht zu, welche gleichfalls erſt
nach laͤngerer Zeit gewichen ſein ſoll, als wiederholte Gebete
an ſeinem Bette gehalten wurden. Wenn wir es auch mit
dieſen Erzaͤhlungen nicht genau nehmen duͤrfen, ſo ſteht doch
die Thatſache unbezweifelt feſt, daß G. in dieſen Heilungen
die unmittelbare Gnadenwirkung des allgegenwaͤrtigen Chriſtus
und ſeiner alldurchdringenden Wunderkraft ſah.


Nach ſeiner Einſegnung mußte er ganz gegen ſeine Nei¬
gung bei dem Vater das Schuhmacherhandwerk erlernen, wo¬
bei er der taͤgliche Augenzeuge der empoͤrenden Auftritte blieb,
welche die Trunkſucht des letzteren herbeifuͤhrte; ja er konnte
ſich beim Anblick ſeiner gemißhandelten Mutter nicht enthal¬
ten, ihn mit harten Worten daruͤber zur Rede zu ſtellen, wo¬
fuͤr er gleichfalls derb gezuͤchtigt wurde. Mehrmals gerieth er,
mit ihm von Jahrmaͤrkten heimkehrend, in eine aͤußerſt uͤble
Lage, weil jener gewoͤhnlich berauſcht am Wege umfiel, ſich
dann nicht nach Hauſe leiten laſſen wollte, ſo daß der un¬
gluͤckliche Sohn oft von Kaͤlte erſtarrte. Am Tage mußte er
Geſchaͤfte außer dem Hauſe, auf dem Felde verrichten, dann
bis ſpaͤt in die Nacht dem Handwerk obliegen, und wenn er
einmal zum Troſte in der Bibel leſen wollte, wurde ihm die¬
ſelbe mit Hohn und Schimpf weggeriſſen. So fand er nur
Beruhigung im Gottesdienſte und in den Beſuchen, welche er
dem ihm ſtets wohlwollenden Geiſtlichen abſtattete, dagegen
ihm der Umgang mit anderen Menſchen meiſt durch deren fri¬
volen oder religioͤs indifferenten Sinn verleidet wurde, zumal
da er oft von ihnen Spottreden hoͤren mußte. Immerfort
mit dem Gedanken beſchaͤftigt, daß man als Nachfolger Chriſti
[187] gleich ihm leiden und ſtreiten muͤſſe, glaubte er oft deſſen
heiliges Walten in ſich zu ſpuͤren; jedoch erklaͤrt er ausdruͤck¬
lich, niemals Viſionen gehabt zu haben.


Nach zuruͤckgelegtem 17. Jahre arbeitete er als Geſelle
mehrere Jahre bei einem hieſigen Schuhmacher, und befand
ſich nun zum erſten Male in einer unabhaͤngigen und ſorglo¬
ſen Lage. Dann zog er nach einem Dorfe, wo er ſeine jetzi¬
ge Frau, eine Wittwe und Mutter mehrerer Kinder, kennen
lernte, und wie er verſichert, mehr aus Mitleid fuͤr ihre be¬
draͤngte Lage als aus inniger Liebe ſchon in ſeinem 20. Jahre
mit ihr ſich verheirathete. Seine Ehe, welche ihm keine Kin¬
der brachte, war gluͤcklich, da er ihren Fleiß, ihre Treue und
Anhaͤnglichkeit lobt. Spaͤter ſiedelte er ſich nach einem ande¬
ren Dorfe uͤber, woſelbſt er aus Mangel an anderer Beſchaͤf¬
tigung als Handlanger bei einem Schleuſenbau arbeiten mußte.
Ungeachtet ſeines ſpaͤrlichen Einkommens konnte er dennoch
Armen einen Nothpfennig reichen, wozu er ſich durch chriſt¬
liche Geſinnung verpflichtet fuͤhlte. Nach ſeiner Geburtsſtadt
zuruͤckgekehrt, war er genoͤthigt, ſich als Arbeiter bei einer Ei¬
ſenbahn zu verdingen, da ihm die Mittel fehlten, ſich als
Schuhmacher eine Werkſtaͤtte einzurichten. Endlich vor 4 Jah¬
ren zog er hierher zuruͤck, und fand bald Beſchaͤftigung in
einer Zuckerſiederei, welche ihm einen fuͤr ſeine geringen Be¬
duͤrfniſſe genuͤgenden Erwerb verſchaffte. Seiner Verſicherung
zufolge hat er waͤhrend dieſer Zeit zwar fleißig den oͤffentli¬
chen Gottesdienſt beſucht, und ſich an den Reden der Geiſtli¬
chen, welche ihren Vortraͤgen Leben und Waͤrme zu verleihen
wußten, innig erbaut, jedoch mit dem Leſen der Bibel ſich
nur ſelten beſchaͤftigt, und die Theilnahme an pietiſtiſchen
Conventikeln geradezu vermieden, weil es ſeiner Beobachtung
nicht entging, daß Viele in denſelben eine eifrige Froͤmmig¬
keit zur Schau tragen, mit welcher ihr Leben in einem ſchrof¬
fen Widerſpruch ſteht. Ihm mißfiel uͤberdies der ſeparatiſti¬
ſche Charakter derſelben, da der Gottesdienſt ein freier und
oͤffentlicher ſein ſoll. Sein Chriſtenthum war durchaus prak¬
tiſcher Art, und indem er ſich die heilbringenden Lehren deſ¬
ſelben tief einpraͤgte, floͤßte es ihm ein inniges Bedauern ein,
daß die Heiden dem Goͤtzendienſte ergeben und deshalb des
[188] goͤttlichen Lichts aus dem Evangelium beraubt ſeien. Aus
ſeinem in fruͤher Jugend gehegten Wunſche, die bibliſche Wahr¬
heit zu verkuͤndigen, entſprang daher in ſpaͤterer Zeit ein ſo
ſehnliches Verlangen, als Miſſionaͤr unter den Heiden das
Evangelium zu predigen, daß er wiederholt den ihm befreun¬
deten Prediger deshalb um Rath befragte. Dieſer rieth ihm
zwar davon ab, da er ſchon zu alt ſei, um die dazu erfor¬
derlichen fremden Sprachen noch mit Erfolg lernen zu koͤnnen,
indeß erregte dies in ihm eben ſo wenig ein Bedenken, als
die Vorſtellung, daß er als Miſſionaͤr ſich wahrſcheinlich von
ſeiner Familie werde trennen muͤſſen, indem er ſich mit dem
Ausſpruch Chriſti ermuthigte: Wer Vater und Mutter, Weib
und Kind, das Leben mehr liebt als mich, der iſt meiner
nicht werth. Deshalb ſchrieb er noch vor wenigen Jahren an
einen hochgeſtellten Mann, um durch deſſen Vermittelung Auf¬
nahme in eine Miſſionsanſtalt zu finden, wobei er ſich des
Ausdrucks bediente, daß ihm vom Geiſte Gottes eingegeben
worden ſei, was Andere ſich erſt erwerben koͤnnten, nachdem
ſie Tauſende von Thalern auf ewandt haͤtten. Da er keine
Antwort erhielt, ſo ſah er hierin einen Fingerzeig, daß Gott
ſeinen Vorſatz verwerfe, daher er denn von demſelben abſtand.
Uebrigens verſichert er nichts weniger als ein Kopfhaͤnger,
vielmehr ſo lebensfroh geweſen zu ſein, daß er mit ſeiner
Familie oͤfters anſtaͤndige Vergnuͤgungsoͤrter beſucht, und noch
lieber in der freien Natur ſich ergangen habe.


Am Weihnachtsfeſte 1845 traf er in der Kirche mit
einem ihm unbekannten Manne H. zuſammen, und ließ ſich
vor Anfang des Gottesdienſtes in ein Geſpraͤch mit ihm ein.
Es muß derſelbe ein fanatiſcher Schwaͤrmer geweſen ſein, da
er dem G. nicht nur verſicherte, daß Gott und Chriſtus ihm
erſchienen ſeien, und ihm befohlen haͤtten, an dem Glaubens¬
werke der Zeit zu arbeiten, ſondern auch an G., welcher
ihm bei einer ſpaͤteren Gelegenheit das Concept des oben er¬
waͤhnten Briefes als Beweis ſeines frommen Strebens zeigte,
die krankende Aeußerung richtete, der Brief ſei nicht aus
goͤttlicher Geſinnung, ſondern aus Eingebung des Teufels her¬
vorgegangen. Denn G. wuͤrde, wenn ihm ſeine Bitte ge¬
waͤhrt worden waͤre, den Menſchen gedankt haben, da doch
[189] Gott allein die Ehre gebuͤhre. Wenn Gott ihn zu ſeinem
Werke berufen wolle, ſo werde er ihm ſein Wort ohne Stu¬
dium eingeben, ja er brauche ſich dann ſo wenig um die
Menſchen zu kuͤmmern, daß ſelbſt der Koͤnig kommen, und
ihn zu ſeinem frommen Berufe auffordern werde. Beide
Maͤnner ſahen ſich oͤfter bei gegenſeitigen Beſuchen, wo H.
ſich den Propheten und Koͤnig Zerubabel nannte, und dem
G. aus einem Buche Mehreres vorlas, welches er als Ein¬
gebungen Gottes niedergeſchrieben zu haben behauptete. Un¬
ſtreitig imponirte der Fremde dem G. in einem hohen Grade,
ſo daß dieſer an ſeiner eigenen Froͤmmigkeit irre wurde, und
von innerer Beaͤngſtigung getrieben die Pauſen waͤhrend der
Arbeit benutzte, um auf den Knieen unter heißen Thraͤnen
inbruͤnſtig zu Gott zu beten, er moͤge ihm alle Fehler, welche
er wiſſentlich oder unwiſſentlich begangen habe, verzeihen,
und ihn dem Heilande aͤhnlich machen. Eine innere Stimme
rief ihm dann zu, es ſei ihm Alles vergeben, er ſolle nur
dem Erloͤſer nachfolgen; worauf er ſich voll Freudigkeit und
mit großem Eifer wieder an die Arbeit begab. Auch muß er
ſich ſchon damals mitunter in einer ſchwaͤrmeriſch aufgeregten
Stimmung befunden haben, denn in der Neujahrsnacht hatte
er einen Traum, wo er mitten im Winter Fruͤchte von einem
Baum pfluͤckte, und auf einen Wagen lud. Die Fruͤchte
wurden immer zahlreicher, ſo daß er damit eine lange Wa¬
genreihe befrachten konnte, welche von einer unabſehbaren
Reihe feierlich in Schwarz gekleideter Menſchen begleitet wurde.
Hieruͤber nachſinnend glaubte er im Wachen, daß ſein Wir¬
ken im Verbreiten des goͤttlichen Worts geſegnet ſein werde,
worin ihn mehrere Andeutungen des Fremden beſtaͤrkten. In¬
deß wurde ihm der Charakter deſſelben immer verdaͤchtiger,
ſo daß er ihn geradezu fuͤr einen Schwaͤrmer hielt, weil der¬
ſelbe vorgab, er habe in Glaubensangelegenheiten bereits 600
Thaler ausgegeben, welche ihm aber zehnfach erſetzt werden
wuͤrden, und dabei die Bemerkung einfließen ließ, man muͤſſe
ſich Geld erwerben, um die Menſchen an ſich zu ziehen. G.
ſah hierin um ſo mehr eine hochmuͤthige, unchriſtliche Geſin¬
nung, als der Fremde ſich geringſchaͤtzig uͤber die aͤrmliche Ein¬
richtung ſeiner Wohnung geaͤußert, und die eigene Behauſung
[190] luxurioͤs ausgeſtattet hatte. G. glaubte, daß durch jenen Mann,
welcher ihn zu ſeinem Mißfallen in ein Miſſionshaus gefuͤhrt
hatte, die Aechtheit ſeines Glaubens gepruͤft werden ſolle, und
da er ſich in ſeinen Zweifeln nicht zurecht zu finden wußte,
bat er einen angeſehenen Geiſtlichen brieflich um Aufklaͤrung
hieruͤber. Dieſer ſoll gleichfalls ein unguͤnſtiges Urtheil uͤber
den Fremden geaͤußert, und den G. ermahnt haben, ſich allein
an den Herrn zu halten. In ſeiner ſchon begonnenen religioͤſen
Aufregung machten dieſe Worte einen tiefen Eindruck auf ihn,
denn es kam ihm vor, als ob er in der Nachfolge Chriſti noch
nicht eifrig genug geweſen ſei; beſonders wurden ſeine Scrupel
lebhafter waͤhrend einer leichten Unpaͤßlichkeit, welche ihm das
Bild des Todes vor Augen ſtellte, und ihm dadurch die Furcht
einfloͤßte, daß er das ewige Leben nicht erwerben werde, wenn
er dem Heilande nicht aͤhnlich genug geworden ſei, ihn nicht
immer im Herzen getragen habe. Schon war es mit ihm ſo
weit gekommen, daß dieſe Vorſtellungen ihn faſt keinen Augen¬
blick mehr bei der uͤbrigens ſehr eifrig betriebenen Arbeit ver¬
ließen, und wenn er ſie auch noch vor ſeinen Mitarbeitern ver¬
hehlte, ſo fuͤhlte er ſich doch gedrungen, ſein Herz gegen ſeine
Frau auszuſchuͤtten.


Aber durch die Geſpraͤche mit dem Fremden wurde noch
eine andere ſchwaͤrmeriſche Vorſtellungsweiſe in G. erregt. In
ihren myſtiſchen Disputationen war die Rede davon geweſen,
daß außer dem Zerubabel, fuͤr welchen jener ſich erklaͤrte, noch
ein Anderer im Auftrage Gottes auf Erden erſcheinen ſolle.
Wenn den Erinnerungen des G. Glauben beizumeſſen iſt, ſo
ſoll jener, wie es die Art dunkelgluͤhender Koͤpfe iſt, ſich ge¬
heimnißvoll geaͤußert haben: jener Zweite iſt und iſt nicht, er
war nicht, und iſt doch, indem er hinzufuͤgte, G. habe nicht
das Recht, ſich fuͤr dieſen Gottgeſandten zu halten, da er
nicht gleich ihm dem Glauben bedeutende Summen geopfert
habe. G., welcher ſich bewußt war, aus ſeinen duͤrftigen Mit¬
teln den Armen beigeſtanden, und uͤberhaupt einen frommen
Lebenswandel gefuͤhrt zu haben, wurde hierdurch zum Wider¬
ſpruch herausgefordert, und durch der unklaren Rede dunklen
Sinn noch mehr irre geleitet, maaßte er ſich im frommen Eifer
an, jene zweite Perſon zu ſein, welche als Elias ins Leben
[191] zuruͤckgekehrt, gemeinſchaftlich mit Zerubabel als Zeuge Gottes
und als Prophet die Wiedererſcheinung Chriſti auf Erden und
das dadurch neu zu ſtiftende Gottesreich vorherverkuͤndigen
ſolle. Denn er habe von Jugend auf die Nachfolge Chriſti zu
ſeinem Hauptaugenmerk gemacht, ſich von ſchwerer Schuld
rein erhalten, und ſei deshalb von Gott zu Hoͤherem auser¬
waͤhlt worden. Dabei gab er deutlich ſein Mißfallen an dem
hochfahrenden und anmaaßlichen Betragen des Fremden zu er¬
kennen, und wiederholte heftige Wortwechſel mit ihm hatten
endlich zur Folge, daß er dem ferneren Umgange mit ihm aus¬
wich. Sein Unſtern wollte aber, daß er unmittelbar darauf
die Bekanntſchaft eines fanatiſchen Katholiken H. machte, von
welchem er laͤngere Zeit hindurch faſt jeden Abend einen Be¬
ſuch empfing, wo er ſich ſodann mit ihm in die Kammer ein¬
ſchloß, und mit ihm myſtiſche Geſpraͤche ſo laut fuͤhrte, daß
ſeine Frau das Meiſte davon hoͤren konnte. Nach ihrer Aus¬
ſage wiederholte H. haͤufig, es werde ſchon im naͤchſten Jahre
ein allgemeiner Religionskrieg ausbrechen, in welchem nur ein
Theil der Menſchen errettet, deren Mehrzahl aber durch die
Kraft Gottes umkommen wuͤrde. Jener Krieg werde bis zum
Jahre 1850 dauern, wo dann von Berlin nur noch ein klei¬
ner Theil uͤbrig bleiben werde, um ſpaͤter voͤllig in Truͤm¬
mer zu verfallen. Denn die Prediger haͤtten ein falſches Chri¬
ſtenthum verbreitet, weil ſie durch die Verkuͤndigung der rei¬
nen Lehre ſich um ihr Amt bringen wuͤrden; ſie ſowohl als die
Herrſcher ſeien Schelme. Von allen vier Weltgegenden wuͤrden
Boten in weißen Kleidern und mit Senſen bewaffnet hier ein¬
treffen, den Krieg anzukuͤndigen, den Gottloſen die Koͤpfe ab¬
zuhauen, und die Frommen zu beſchuͤtzen. G. ſolle als Vor¬
gaͤnger unter dieſen Boten in weißen Kleidern auftreten, denn
er ſei einer der beiden Zeugen in der Apokalypſe, welcher in
der Kirche die Wahrheit verkuͤnden, dafuͤr aber den Maͤrtyrer¬
tod ſterben ſolle, waͤhrend H. als anderer Zeuge zum Darein¬
hauen und Stechen beſtimmt ſei, und ein Alter von 100 Jah¬
ren erreichen werde. Zugleich borgte H. dem G. Geld ab,
welches er ihm doch ſpaͤter wiedererſtattete; er theilte ihm meh¬
rere myſtiſche Schriften mit, in welchen G. fleißig las, verbot
ihm den Genuß des Fleiſches, weil er dadurch zum Thier
[192] wuͤrde, und gebot ihm, des Freitags zu faſten, worin G. ihm
auch bereitwillig folgte. Auch veranlaßte er ihn, ſich ein ge¬
wirktes Bild von Chriſtus zu kaufen, und daſſelbe auf Leder
befeſtigt an einer Schnur auf der Bruſt zu tragen, welches
er auch that, bis ihm das Bild in der Charité abgenommen
wurde. Endlich forderte er ihn auf, den Armen ſo reichlich
Almoſen zu geben, als er irgend koͤnne, daher denn G. meh¬
rere Sachen von Werth wegſchenkte, einige Bilder, welche
ihm als heidniſch bezeichnet wurden, fremden Kindern gab, und
ſich darin durch den Widerſpruch ſeiner Frau nicht irre machen
ließ, indem er ihr erwiederte, das gehe ſie nichts an, ſie werde
ſchon ſehen, wenn die Zeit komme. Durch gehaͤſſige Einfluͤſte¬
rungen des H. entſtand zuletzt eine ſolche Zwietracht zwiſchen
beiden Ehegatten, daß die Frau waͤhrend der letzten Monate
mit ihren Kindern eine andere Zufluchtsſtaͤtte aufſuchte. Un¬
ter anderen hatte er ihr auch geſagt, er werde von jetzt an
alle ſinnliche Gemeinſchaft mit ihr abbrechen, und nur im
Geiſte mit ihr leben, um dem Heilande ganz aͤhnlich zu wer¬
den. Denn nach dem Ausſpruche deſſelben, daß Niemand das
Himmelreich ererben koͤnne, es ſei denn, daß er von neuem
geboren werde, muͤſſe ſich der Menſch aller Fleiſchesluſt erweh¬
ren, durch welche er zum Thier herabgewuͤrdigt werde.


Der fromme Wahn des G. war nun zum vollen Ausbruch
gekommen in der Ueberzeugung, daß er der Prophet Elias ſei.
Bethoͤrt durch die Faſeleien des H. hielt er es fuͤr nothwen¬
dig, fuͤr die Feier des Gottesdienſtes ein weißes Kleid anzu¬
legen, zum Unterſchiede von den ſchwarzen Kleidern, welche
die Weltkinder ſowohl in der Kirche als bei ihren Trinkgela¬
gen und anderen noch ſchlimmeren Vergnuͤgungen tragen, und
dadurch beſudeln; dagegen das beim Gottesdienſte benutzte Ge¬
wand zu keinem anderen Gebrauch dienen ſolle. Er ließ ſich
deshalb von weißem Kattun Rock, Beinkleider und Weſte ver¬
fertigen, ſchaffte ſich einen weißen Hut an, und beſuchte in
dieſem Aufzuge mehrmals die Kirche. Nach ſeiner Verſiche¬
rung zog er zwar in letzterer die Aufmerkſamkeit der Verſamm¬
lung auf ſich, ohne indeß eine Stoͤrung zu veranlaſſen, dage¬
gen er auf der Straße oft von Gaſſenbuben verfolgt wurde,
welche ihn ſpottend ein Geſpenſt nannten. Mit jedem Sonn¬
[193] tage wurde das durch ihn erregte oͤffentliche Aufſehen aͤrger,
ſo daß die Polizei zuletzt einſchritt, und ihn gegen die Mitte
Octobers 1846 ins Gefaͤngniß abfuͤhren ließ. Auch fruͤher ſchon
hatte er ſeine Arbeitsgenoſſen durch die ihn beherrſchende
Schwaͤrmerei zu mannigfachen Verhoͤhnungen veranlaßt. Um
ihn zu kraͤnken, verlangten ſie oft, er ſolle ihnen ſeine Erfah¬
rungen in geiſtlichen Dingen mittheilen, worauf er ihnen ge¬
woͤhnlich erwiederte, man ſolle die Perlen nicht vor die Saͤue
werfen. Hierdurch erbitterte er ſie dermaaßen, daß ſie, als
ſein Aufzug in weißen Kleidern bekannt geworden war, eines
Tages ſich alle Huͤte von weißem Papier aufſetzten, und ihm
neckend zuriefen, er ſolle doch Einem unter ihnen den Hut
herabſchlagen, und wenn er es hier nicht thun wolle, wenig¬
ſtens des Sonntags auf der Straße. Er entgegnete ihnen,
Narren bleiben Narren ſo lange bis ſie nach der Charité ge¬
bracht werden; und indem ſo der Anfang zu einem heftigen
Streit gegeben war, kam es bald zu einer Schlaͤgerei, bei
welcher Alle uͤber ihn herfielen, ihn zur Erde warfen, eine
Treppe hinunterſchleppten, und am Eingange des Hauſes lie¬
gen ließen. Da er mehrere ſtarke Quetſchungen am Kopfe
bekommen hatte, ſo blieb er betaͤubt eine Zeit lang liegen,
raffte ſich jedoch wieder auf, und mußte noch die Kraͤnkung
erfahren, daß ſaͤmmtliche Mitarbeiter gegen den Werkmeiſter
erklaͤrten, ſie wuͤrden ihn nicht laͤnger unter ſich dulden, wes¬
halb er nach Empfang ſeines Lohns entlaſſen wurde. Muͤh¬
ſam ſchleppte er ſich nach Hauſe, woſelbſt er wegen der erlit¬
tenen Verletzungen mehrere Tage das Bette huͤten mußte.
Schon fruͤher hatte eine ſchwarzgekleidete Frau, der ſein wei¬
ßer Anzug und ſein ganzes Betragen aufgefallen war, auf der
Straße mit der Frage ſich an ihn gewandt, weshalb er ſo ein
reines Gewand trage. Da er ihr erwiederte, daß er als Elias
ſich ſo kleiden muͤſſe, entgegnete ſie ihm, auch ſie werde vom
Geiſte getrieben, und lud ihn zum Beſuch bei ſich ein. Erſt
nachdem er ſich ſoweit erholt hatte, daß er das Bette verlaſ¬
ſen konnte, folgte er dieſer Einladung, und erhielt von ihr
die Schrift Krummacher's uͤber den Elias, welche er ſeitdem
beſtaͤndig bei ſich fuͤhrte, und deren eifrige Lectuͤre ihn zu
einem Briefe an ſeine neue Freundin veranlaßte, deſſen In¬
Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn.13[194] halt mehr als alles andere ſeinen damaligen Zuſtand charak¬
teriſirt:


Geehrte Freundin in Chriſto!!! Jeſu!!! meinem ewigen
Koͤnige!!!


Sehr gern, ja von Herzen gern wuͤnſchte ich, daß wir
uns naͤher ausſprechen koͤnnten; allein der Geiſt des lieben
Heilandes ſagt mir, ſolches zu unterlaſſen — ich antwortete
zwar, lieber Heiland laß mich doch, denn meine Freundin
will gerne etwas von den Geheimniſſen wiſſen, welche Du mir
kund gethan. Allein ich darf nicht, mein Heiland ſagt mir,
ſieheſt du das Kreuz nicht? Willſt du Judas ſein? So werde
ich noch einmal gekreuzigt, und du weißt's doch, daß man
mich vor zwei Jahren hier in Jeruſalem gekreuzigt hat. O
mein lieber Juͤnger, ich habe es wohl geſehen, daß du im Geiſte
mit Petro das Schwert zogſt. Ich aber ſprach: ſtecke ein dein
Schwert! Ich werde ſelbſt kommen, wie ich geſprochen im
Buche, daß wenn Du dieſe Zeichen ſieheſt, Ich nahe ſei. Dich
aber will ich voranſenden, ſie einzuladen (meine Schaafe) zu
dem herrlichen großen Abendmahl, welches Ich mit ihnen ab¬
halten werde. Ach! vielen wird dies Mahl nicht ſchmecken
(O Thraͤnen fließet). Ja Geliebte in dem Herrn meinem
ewigen Koͤnige, das Grab iſt leer, mein Koͤnig iſt auferſtan¬
den, deß bin ich Zeuge!!! Warum? achtzehn hundert Jahre
am Kreuze? O komm mein Heiland, bei mir ſollſt Du nicht
mehr am Kreuze hangen, komm auferſtandener Siegesfuͤrſt,
komm an meine Bruſt, moͤge Dich kreuzigen, wer da will, ich
weiß Du lebſt! deß bin ich Zeuge. Amen. Ja meine theure
Freundin, ich kann getroſt ſagen, Tod, wo iſt Dein Stachel,
Hoͤlle wo iſt Dein Sieg. Denn ich kenne keinen Tod. Lebt
Chriſtus in mir, wer will mich toͤdten? O Schwert, meinſt
du mich zu ſchrecken? Du Schwert, meines und meines Hei¬
landes Feind, du ſollſt mich nur verwandeln. Du Feind
dachteſt meinen Koͤnig zu ermorden, aber ſiehe das Grab iſt
leer, mein Koͤnig iſt auferſtanden!!! Glaubſt du's? Du
meine Freundin weißt, Jehova ſpricht: Siehe ich ſende Euch
den Propheten Elias, ehe denn da komme der große und
ſchreckliche Tag des Herrn!!! Du Freundin ſollſt aber wiſſen,
es iſt dieſer Tag laͤnger denn 24 Stunden; auch ſollſt Du
[195] wiſſen, daß Du dieſen Elias ſchon geſehen, ob Du ihn aber
erkannt haſt, das weiß ich nicht. Sela. Freundin hoͤre! die
Harfe ſtimmt an, Auferſtehung zu ſingen. Ach! die erſte Auf¬
erſtehung, wohl denen, die Theil daran haben, an denen hat
der zweite Tod keine Macht. Wohl denen, die da leben 1228
Tage. Ja Haͤrflein, ich ließe dich gern ſingen, du weißt
aber, meine Stunde hat noch nicht geſchlagen. Amen, Amen,
Amen. Jeruſalem den 15, 10, 46. (Am Rande ſind einige
Bibelverſe bemerkt, welche ſich auf die nahe und unerwartete
Wiedererſcheinung des Erloͤſers beziehen). Freundin gieb acht!
Die Sonne ſpiegelt ſich im Waſſer ab. Das Waſſer iſt die
Demuth, denn es ſucht die Gruͤnde (Erniedrigung). Gott
unſer lieber Vater ſpiegelt ſich in Chriſto ab. Darum ſpricht
Er: wer mich ſiehet, der ſiehet den Vater. Wahrlich ich ſage
Dir, wer Vater oder Mutter, Weib oder Kind, wer ſein Le¬
ben dahin giebt fuͤr die armen Schaafe, der ſpiegelt ſich in
Chriſto ab, und er kann ſagen, wer mich ſiehet, der ſiehet
Jeſum Chriſtum. Ein guter Hirte laͤßt ſein Leben fuͤr die
Schaafe; der Miethling verkauft ſie fuͤr Gold und Silber an
den Wolf. O errathe, was ich meine. Gelobt ſei der da
kommt im Namen des Herrn, Hoſianna in der Hoͤh. Friede
ſei mit Dir, Halleluja. Amen.


Ein zweites, um dieſelbe Zeit geſchriebenes Blatt enthaͤlt
unter mehreren Bibelverſen noch folgenden verſtuͤmmelten: Ja
fuͤrwahr, es werden ſich in dieſen Tagen die Kraͤfte des Him¬
mels bewegen, die Sonne wird ihren Schein verlieren, und
der Mond in Blut verwandelt werden, und die Sterne wer¬
den auf die Erde fallen. G. bemerkt dazu: „Darum weil
man die Auserwaͤhlten verfolgt, verhoͤhnt, verſpottet, teufliſch
hoͤhnend verlacht, ja weil man den Auserwaͤhlten der Polizei
uͤbergeben, ihn einzukerkern geſonnen iſt. Wehe dir, wehe
dir Jeruſalem.”


Im Gefaͤngniß las er fleißig in der Schrift uͤber Elias,
wodurch er noch mehr in ſeiner Ueberzeugung beſtaͤrkt wurde,
daß er derſelbe ſei, da er gleichwie Elias von Gott in die
Wuͤſte gefuͤhrt, von einem Raben ernaͤhrt und dann zu gro¬
ßen Dingen berufen, auch ihm nach mannigfachem Drangſal
die Wuͤrde eines Propheten beſtimmt ſei. Zugleich troͤſtete er
13*[196] ſich damit, daß Paulus in Ketten und Banden geſchlagen,
daß ſelbſt Chriſtus gegeißelt worden ſei; daher habe auch er
ſeine Verfolgung nicht als weltliche Strafe fuͤr Miſſethat, ſon¬
dern als Pruͤfung Gottes anzuſehen, damit er im Geiſte ver¬
ſucht und ſeines himmliſchen Auftrags wuͤrdig befunden werde.
Hierbei verdient bemerkt zu werden, daß er ſich von ſeinem
kuͤnftigen Auftreten als Prophet durchaus keine klare Vorſtel¬
lung machte, ſondern ſich fuͤr uͤberzeugt hielt, Gott werde zur
rechten Zeit ihn in ſeinen neuen Beruf einfuͤhren, und ihm
die dazu erforderliche Weihe und Erleuchtung verleihen. We¬
nige Tage nachher in die Charité aufgenommen, ſprach er An¬
fangs ſeine Wahnvorſtellungen unbefangen aus, indeß da ſein
weicher, milder Sinn den getroffenen Heilmaaßregeln durchaus
keinen Widerſtand entgegenſetzte, ſo machten letztere einen hin¬
reichenden Eindruck auf ihn, um ihn aus dem Schwindel ſei¬
ner ſchwaͤrmeriſchen Vorſtellungen und Gefuͤhle bald zu einiger
Beſinnung zuruͤckzufuͤhren. Es gab Tage, wo er das Irr¬
thuͤmliche ſeiner bisherigen Denk- und Handlugsweiſe deut¬
lich einzuſehen ſchien, und wirklich war auch der Wuſt aber¬
witziger Begriffe uͤber ſeine Perſon eigentlich nur von Fana¬
tikern ihm eingeimpft worden, welche ſeinen aͤcht frommen
Sinn vielleicht aus ſelbſtſuͤchtigen Zwecken mißleitet hatten.
Iſt aber ein empfaͤngliches Gemuͤth einmal von Schwaͤrmerei
ergriffen worden, ſo muß es eben ſo einen beſtimmten Krank¬
heitsproceß durchmachen, wie ein geſunder Koͤrper, welcher
von contagioͤſem Gifte angeſteckt erſt dann zur Geſundheit zu¬
ruͤckkehren kann, nachdem er daſſelbe durch kritiſche Beſtrebun¬
gen in heilkraͤftiger Gegenwirkung in ſich neutraliſirt, und
von ſich ausgeſtoßen hat. Dieſer Kampf der innerlich geſun¬
den Lebensverfaſſung mit einem zerſtoͤrenden Krankheitsele¬
mente dringt zu tief in dieſelbe ein, als daß die Geneſung
von ſo heftiger Erſchuͤtterung ohne mannigfache Schwankungen
zu Stande kommen koͤnnte, welche leicht wieder zum Schlim¬
men umſchlagen, und erſt durch raſtloſes Heilbemuͤhen einem
guͤnſtigen Ausgange entgegengefuͤhrt werden. Nach einer ſechs¬
woͤchentlichen Behandlung des G. war noch kein Ergebniß erreicht
worden, welches mit einiger Wahrſcheinlichkeit den guͤnſtigen
oder unguͤnſtigen Ausgang ſeines Seelenleidens vorherſehen ließ.

[197]

18.

Die Darſtellung des nachfolgenden Falles von Wahnſinn
iſt groͤßtentheils aus einer vortrefflich geſchriebenen Selbſtbio¬
graphie entnommen, welche der Geneſene vor ſeinem Abgange
aus der Charité verfaßte. Um jedem nachtheiligen Einfluſſe
vorzubeugen, den die Veroͤffentlichung ſeines Seelenleidens auf
ſein ferneres Schickſal ausuͤben koͤnnte, unterdruͤcke ich gefliſ¬
ſentlich die Bezeichnung ſeiner naͤheren Lebensverhaͤltniſſe,
welche uͤberdies ſo einfach waren, daß ſie nur in entfernter
Beziehung zur Entſtehung ſeines Wahns ſtanden. Von aͤcht
frommen Aeltern wurde er in ſeiner Kindheit mit jener ge¬
wiſſenhaften Sorgfalt erzogen, welche jeden Keim des Guten
in das zarte Gemuͤth zu pflanzen ſich beſtrebt, und doch im
wohlgemeinten Eifer ihren Zweck dadurch zum Theil vereiteln
kann, daß ſie der ſelbſtſtaͤndigen Entwickelung des erwachenden
Geiſtes zu wenig Spielraum gewahrt, indem ſie denſelben in
den Mechanismus pedantiſcher Schulformen einzwaͤngt, damit
nirgends ein eigenmaͤchtiges Denken und Wollen mit der in
ihnen liegenden Gefahr einer Verirrung zum Vorſchein komme.
Er ſelbſt ſchildert dies Verfahren, wodurch ihm faſt jede Ge¬
legenheit zu kindlichen Spielen verkuͤmmert wurde, mit folgen¬
den Worten:


„Ein falſcher Spiritualismus, der ſich bis ins Volksle¬
ben hineingeſchlichen, ſtand noch der geſunden Entwickelung des
leiblichen Lebens hemmend entgegen. Wie die materielle Seite
des jugendlichen Alters unter dem Drucke eines einſeitigen
Spiritualismus ſtand, ſo ward hinwiederum die ſpecielle Natur
des Kindes durch eine abſtract materielle Lehrmethode, der
man eigentlich mit Unrecht den Namen einer Melhode giebt,
an einer freien, aus dem innerſten Kern des individuellen Gei¬
ſtes hervorgehenden Entfaltung gehindert. Die Uebung der
Gedaͤchtnißkraft durch mehr oder weniger mechaniſches Auffaſ¬
ſen und Auswendiglernen von gewiſſen ſogenannten poſitiven
Kenntniſſen und Lehrobjecten, die als fertig hingegeben die
Selbſtthaͤtigkeit des kindlichen Geiſtes wenig oder gar nicht er¬
regten und erweckten, war in jeder Beziehung auf jedem be¬
ſonderen Gebiete der paͤdagogiſchen Wirkſamkeit wie faſt uͤber¬
[198] all, ſo auch in meiner Vaterſtadt durchaus uͤberwiegend. Dieſe
Lehrart erſchlafft die elaſtiſche Spontaneitaͤt des zum Selbſt¬
ſuchen und Selbſtfinden der Wahrheit, ſo wie zu einer lebens¬
friſchen Aneignung der poſitiven Lehrgegenſtaͤnde von Gott be¬
ſtimmten Menſchengeiſtes, deſſen Natur ſchon der weiſe Sokra¬
tes in dieſer Hinſicht tief erkannte, der auch aus dieſer Erkennt¬
niß heraus durch ſeine Zwiegeſpraͤche Veranlaſſer und Stifter
der in neuerer Zeit immer mehr vervollkommneten ſokratiſchen
Lehrmethode geworden iſt. Nicht allein, daß dieſe Art des
Unterrichts dem jugendlichen Geiſte zum wahrhaft feſten Beſitz
des Erlernten leicht und angenehm verhilft, ſie ernaͤhrt, ent¬
wickelt und befruchtet in hohem Maaße die ſittliche Willens¬
kraft des Menſchen, die Energie des ſchoͤpferiſchen Geiſtes.
Geht damit eine geſunde Gymnaſtik des Leibes Hand in Hand,
wie es auch in der Bluͤthezeit des griechiſchen und roͤmiſchen
Volksthums der Fall war; ſo kann es gar nicht fehlen, daß
unter der Vorausſetzung eines wahrhaft chriſtlichen Gemeinde¬
lebens die Jugend zu einer froͤhlichen, geiſtig und leiblich geſun¬
den, charakterfeſten, geſinnungsreifen Maͤnnlichkeit heranwaͤchſt.”


Sein weiches und bildſames Gemuͤth fuͤgte ſich ohne Wi¬
derſtrebender bezeichneten Erziehungsmethode, konnte ſich aber
eben deshalb nicht zur Selbſtſtaͤndigkeit des Charakters ausbilden,
welche jedesmal in Widerſpruch ſteht mit einer mehr oder weniger
mechaniſchen Abrichtung des Geiſtes und Gemuͤths. Unſtreitig
wurde ſeine paſſive Sinnesweiſe noch dadurch vermehrt, daß
ſein ſchwacher, reizbarer Koͤrper nicht in munteren Knaben¬
ſpielen erſtarkte, und in ſeiner Entwickelung einen großen Ab¬
bruch erlitt durch ein im fruͤhen Alter uͤberſtandenes hartnaͤcki¬
ges rheumatiſches Leiden, welches faſt bis zur Laͤhmung der
Glieder ſich ſteigerte. Indeß genas er doch voͤllig, ſo daß er
ein Gymnaſium beziehen konnte, wo er der Aufſicht ſeiner Ael¬
tern entruͤckt zwar in ſeiner wiſſenſchaftlichen Ausbildung gute
Fortſchritte machte, jedoch durch einen Schulgenoſſen zur Selbſt¬
befleckung verleitet den Grund zu ſeinen ſpaͤteren Leiden legte.
Jene Peſt der Jugend iſt zwar ſchon oft genug geſchildert wor¬
den; jedoch ſcheint es mir nothwendig, darauf hinzudeuten,
daß jenem Uebel in den bisherigen paͤdagogiſchen Verhaͤltniſſen
durchaus noch keine gewaͤhrleiſtenden Maaßregeln entgegengeſtellt
[199] worden ſind, woraus ſich die furchtbaren Verheerungen zur
Genuͤge erklaͤren, welche durch daſſelbe noch immerfort unter
der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichſte Mit¬
tel, ſeiner Entſtehung vorzubeugen, und ſeinen Ausbruch mit
Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnaſtik, blieb bisher
faſt gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschloſſen. Ich muß mich
hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬
ſelbſt ich den phyſiologiſchen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube,
daß angemeſſene Muskelanſtrengungen die unerlaßlich nothwen¬
dige Bedingung einer harmoniſchen Durchbildung des Geiſtes und
Koͤrpers ſind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬
ſtarken ſollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum
ein Roſt ſich anſetzen, oder wenigſtens leicht wieder abgeſchlif¬
fen werden kann. Gerade die einſeitige Schulbildung, welche
der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte ſtrei¬
tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in raſtloſen
Geiſtesanſtrengungen jene phyſiſche Ausmergelung, jene reizbare
Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantaſie mit luͤſter¬
nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬
reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt,
denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerſtand lei¬
ſten kann. Nach dem Grundgeſetze der koͤrperlichen Entwicke¬
lung ſoll der in der Jugend ſo uͤberreichlich erzeugte phyſiſche
Nahrungsſtoff zu der raſch fortſchreitenden Entwickelung aller
Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬
wegungen nothwendig ſind, welche den Eingeweiden ſowie den
Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsſtoff an
ſich zu ziehen, in ſich zu verarbeiten. In Ermangelung dieſer
nothwendigen Bedingungen ſtroͤmt der Bildungsſaft um ſo reich¬
licher nach den Genitalien, je mehr ſie durch unnatuͤrliche Luͤſte
in einen krankhaften Reizzuſtand verſetzt ſind, um in ihnen
fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuſchuͤren, deren ver¬
heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬
zureichend im Kampfe gegen die ſinnlichen Begierden oft ſelbſt
die Motive der Religion und Sittlichkeit ſind, davon giebt uns
das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche
die Unterdruͤckung der Wolluſt zu einer Hauptaufgabe ihres
frommen Eifers machten, und ſie dennoch nicht durch die haͤr¬
[200] teſten ascetiſchen Uebungen, durch eine bis zur Schwaͤrmerei
geſteigerte Andacht ganz uͤberwaͤltigen konnten, ſondern oft ge¬
nug durch ſie in Verzweiflung geſtuͤrzt, ja mitunter zum
Selbſtmorde angetrieben wurden. Die weitere Entwickelung
dieſer hochwichtigen Erfahrung fuͤr eine ſpaͤtere Gelegenheit
mir verſparend, deute ich nur auf jene bekannte Bezaube¬
rung des Bewußtſeins durch die Wolluſt hin, welche aus dem¬
ſelben durch ihre heißen Wallungen in einem Augenblicke alle
beſſeren Vorſaͤtze und Gefuͤhle verbannt, um in der nachfol¬
genden Reue, ja Verzweiflung die Kraft des Willens noch
mehr zu laͤhmen. So faͤllt die unerſetzliche Entwickelungszeit
der verfuͤhrten Knaben und Juͤnglinge einem zerſtoͤrenden
Kampfe anheim, in welchem ſie hart die ſchreienden Maͤngel
der Jugenderziehung buͤßen muͤſſen, und waͤhrend viele unter
ihnen geiſtig und leiblich zu Grunde gehen, muß man noch
diejenigen gluͤcklich preiſen, welche ſich einen hinreichenden
Schatz von beſſerer Geſinnung bewahrten, um durch ſie zu
immer erneuten Anſtrengungen in der Unterdruͤckung ihrer
Begierden und in der geiſtigen Fortbildung angetrieben zu
werden.


Unſer Z. gehoͤrte dieſen letzteren an, und wenn ihm
auch ein großer Theil ſeiner Jugendkraft und Lebensfreude
geraubt wurde, ſo gelang es ihm doch, in ſeiner Gymnaſial¬
bildung ſo gute Fortſchritte zu machen, daß er mit dem Zeug¬
niß der Reife ausgeſtattet auf einer Univerſitaͤt das Studium
der Theologie beginnen konnte. Es wuͤrde mich zu weit fuͤh¬
ren, wenn ich die lebendige Schilderung aufnehmen wollte,
welche Z. von ſeiner oft empfundenen Seelennoth entworfen
hat; es genuͤge die Bemerkung, daß er ſich doch allmaͤhlig
zu einer groͤßeren Geiſtesklarheit und Willenskraft emporarbei¬
tete, und deshalb ſeine Begierden beſſer zu zuͤgeln lernte.
Indeß auf der Univerſitaͤt erwartete ihn eine neue harte Pruͤ¬
fung, da in exegetiſchen und philoſophiſchen Vortraͤgen ſein
bisher ſtreng orthodoxer Glaube in ein Meer von Zweifeln ge¬
ſtuͤrzt wurde, welche ihn zuletzt zu einem gemaͤßigten Ratio¬
nalismus fuͤhrten, wozu beſonders der vertraute Umgang mit
hellen und friſchen Koͤpfen unter ſeinen Commilitonen weſent¬
lich beitrug. Die naͤchſten Jahre, welche er als Hauslehrer
[201] in verſchiedenen Familien zubrachte, ſind fuͤr unſer Intereſſe
von keinem beſonderen Belang; die eigentliche Entwickelung
ſeines Seelenleidens wurde erſt dadurch eingeleitet, daß er ein
Jahr lang von ſchweren Bruſtleiden heimgeſucht, mit man¬
cherlei Kummer und Sorgen, namentlich auch uͤber das ge¬
faͤhrliche Erkranken mehrerer Mitglieder ſeiner Familie zu kaͤm¬
pfen hatte. Geiſtige und koͤrperliche Anſtrengungen (letztere
auf einer weiten Reiſe), quaͤlende Unruhe uͤber das Schickſal
der entfernten Verwandten, uͤble haͤusliche Verhaͤltniſſe wirk¬
ten uͤberaus ſchwaͤchend auf ſeinen Koͤrper, ſo daß er oft an
Naſenbluten, Schlafloſigkeit, phantaſtiſchen Traͤumen und Hart¬
leibigkeit litt, und in der Beſorgniß ſchwebte, in ein ſchwere¬
res Nervenfieber zu verfallen. Noch widerſtand er eine Zeit
lang dieſen niederdruͤckenden Einfluͤſſen; nachdem er ſich aber
in ungluͤcklicher Stunde durch wolluͤſtige Wallungen zur Selbſt¬
befleckung hatte verleiten laſſen, und tiefe Reue ihn mehrere
Tage hindurch folterte, wurde er beim Genuß des heiligen
Abendmahls von einer religioͤſen Exaltation ergriffen, in wel¬
cher er eine erhoͤhte Geiſtesklarheit im tieferen Verſtaͤndniß der
Bibel gewonnen zu haben glaubte. Mit der Lectuͤre derſelben
in den naͤchſten Tagen vorzugsweiſe beſchaͤftigt, waͤhnte er ei¬
ner ſegensreichen Ausgießung des heiligen Geiſtes theilhaftig ge¬
worden zu ſein, und erfuͤllt von ſchwaͤrmeriſchem Eifer richtete
er nicht nur ſalbungsreiche Reden an ſeine Hausgenoſſen, um
ſie zu einer ſtrengen Froͤmmigkeit zu bewegen, ſondern glaubte
auch durch Gebete die Wunderheilung eines kranken Kindes bewir¬
ken zu koͤnnen. Nachdem dieſe erregte Stimmung mehrere Tage
gedauert, und ihm den Schlaf geraubt hatte, ſah er in einer
Nacht Viſionen von Farben und mannigfachen Geſtalten, in
deren ergoͤtzlicher Betrachtung durch Geraͤuſch auf der Straße
geſtoͤrt er in letzterem eine Demonſtration des teufliſchen Prin¬
cips gegen ſich vorausſetzte, und ſich dem Schutze Gottes und
der Engel empfahl. In Gruͤbeleien der mannigfachſten Art
verſunken glaubte er am folgenden Tage, nach einem inbruͤn¬
ſtigen Gebete, daß Chriſtus bald wiederkehren und daß jetzt
ſchon die Welt eine veraͤnderte Geſtalt in himmliſcher Schoͤnheit
und Herrlichkeit annehmen werde, weshalb er auf einem Spa¬
zierganze mit ſeinem Stocke auf myſtiſche Weiſe einen Kreis in
[202] der Luft beſchrieb, um alle Weltgegenden dem Herrn zu wei¬
hen, indem er als Zauberer die Welt umgeſtalten zu koͤnnen
glaubte. Es kam ihm oͤfter vor, als ob Chriſtus in ihm wie¬
dererſcheinen werde, bezog dabei namentlich eine Stelle im Je¬
ſaias, wo von der Geſtalt des kommenden Meſſias als einer
haͤßlichen die Rede iſt, auf ſich, und faßte den Entſchluß, uͤber
die ganze Erde predigend, ſegnend und heilend zu wandeln.
Vielfaͤltigen Laͤrm auf dem Felde hielt er wiederum fuͤr teuf¬
liſche Demonſtrationen, waͤhrend eine vorbeiziehende Schaaf¬
heerde in ihm die Hoffnung von neuem erweckte, daß die Zeit
nahe ſei, in welcher Chriſtus ſeine Schaafe zu einer großen Ge¬
meinde unter ſeiner Obhut vereinigen werde, weshalb er knieend
den Herrn anflehte, daß Er auch ihn zu einem Gliede an ſei¬
nem Leibe machen moͤge. Bald aber wich die danach empfun¬
dene ſeelige Ruhe der Vorſtellung, daß er verdammt ſei, und
daß der Teufel ihn in der naͤchſten Nacht holen werde. Ins
Bette gebracht hoͤrte er deutlich aus den Waͤnden ſeines Zim¬
mers ein Froſchgequak und Unkengeſchrei hervordringen.


Indeß auch die dadurch erregte bange Stimmung verlor
ſich bald wieder unter inbruͤnſtigem Gebet, und abermals glaubte
er, daß ſein Leib eine himmliſche Ueberkleidung erhalten und ſein
Geiſt eine hoͤhere Kraft empfangen werde, damit er in Berlin
als dem Centralpunkte der politiſchen und kirchlichen Welt das
leuchtende und waͤrmende Himmelslicht uͤber alle Laͤnder aus¬
ſtroͤmen, und alle Gebrechen und Leiden des ſocialen Lebens
heilen koͤnne. Das Wehen des hoͤheren Geiſtes und den Fluͤ¬
gelſchlag der himmliſchen Taube wollte er durch ein ungemein
ſchnelles Zuſammenſchlagen beider Haͤnde beweiſen, indem er
Gebete in lateiniſcher, franzoͤſiſcher und deutſcher Sprache hielt,
und Kirchenlieder ſang. Seine Stimme kam ihm dabei ſehr
rein und umfangreich vor, und er ſprach dabei zu den fingir¬
ten Engeln: „nun das iſt wahr, ihr gebt vortrefflichen Un¬
terricht im Geſange.” Zugleich vernahm er einen hellen, liebli¬
chen Chorgeſang unter ſanfter Inſtrumentalbegleitung, welcher
von dem monderhellten Himmel zu ihm herabtoͤnte. Auch hatte
er eine innere Anſchauung der Himmelsleiter und des durch
dieſelbe vermittelten Verkehrs eines kecken Erdenknabens mit
einem Engel. Den Satan dachte er ſich außerhalb des Hau¬
[203] ſes an dem Fenſter auf Alles horchend und merkend, und re¬
dete ihn mit laͤchelndem Hohne an; bald aber gerieth er in
Entſetzen bei der Vorſtellung, daß der gute Engel von ihm Ab¬
ſchied nehme. Zweifel uͤber die Gewißheit ſeiner Erloͤſung quaͤlten
ihn, und es entſpann ſich zwiſchen ihm und dem unſichtbar
vor ihm ſtehenden Satan ein Dialog, in welchem letzterer ſei¬
nen Glaubensſaͤtzen Einwuͤrfe entgegenſtellte, wovon folgendes
Bruchſtuͤck eine Probe geben mag. Fr.: „Worauf gruͤndeſt du
deine Seeligkeit, deine Erloͤſung? — Antw.: Auf den ver¬
dienſtlichen Tod des Heilandes” — Fr.: „Woher weißt du,
daß Chriſti Tod rein von Suͤnden und Suͤndenſchuld macht?” —
Antw.: „aus der heiligen Schrift.” — Fr.: „Wer ſagt dir,
daß die Schrift die Quelle der Wahrheit ſei?” — Antw.:
„der in mir wohnende heilige Geiſt.” — Fr.: „Wie weißt
du, daß der Geiſt in dir der heilige Geiſt iſt? Kannſt du
mit deinem unheiligen Geiſte den goͤttlichen Geiſt pruͤfen?
Du nimmſt und ſchoͤpfſt den Geiſt aus der Schrift durch glaͤu¬
bige Annahme ihres Inhalts, und dann willſt du wiederum
mit dieſem Geiſte erkennen, daß die Schrift Erkenntnißquelle
der Wahrheit iſt? Wie unterſcheideſt du dein geiſtiges Be¬
wußtſein vom goͤttlichen Geiſte in dir?” u. ſ. w.


Z. bemerkt hieruͤber ſehr treffend: „meine eigenen fruͤher
gehegten Zweifel und von mir ſelbſt gemachten Einwuͤrfe traten
hier in die ſingirte Perſoͤnlichkeit des Teufels, deſſen Ich mein
eigenes Ich war, reflectirt mir objectiv gegenuͤber.” Vergebens
gegen alle Einwuͤrfe ringend ſank er in unbeſchreiblicher Angſt
auf die Kniee, und eine Bibel als Panier feſthaltend konnte
er nichts mehr hervorbringen, als: „wachet, betet.” Waͤh¬
rend dieſes ununterbrochenen Ausrufs hatte er das Gefuͤhl ei¬
nes ungeheuern Falles, deſſen Dauer ihm gegen 2 Stunden
erſchien. Er glaubte in die Hoͤlle zu ſtuͤrzen, welche er fuͤr ſein
Fegefeuer hielt, daß alle Verdammten durch ſeine Niederfahrt
erloͤſt wuͤrden. Dabei ſetzte er den obigen Ausruf, durch das Kraͤ¬
hen eines Hahns noch mehr angetrieben, ununterbrochen fort,
bis ſeine Stimme heiſer und ſchwach wurde, und endlich unter un¬
ſaͤglicher Angſt der eingebildete Sturz aufhoͤrte. Gleich einem
Schamanen oder Derwiſch drehte er ſich auf der Erde raſch herum,
zuerſt in ſitzender, dann in liegender Stellung, wodurch, wie durch
[204] lautes Rufen er den Satan noͤthigen wollte, zu erſcheinen
und ihn in die Hoͤlle zu fuͤhren. Einen eintretenden Freund
hielt er fuͤr den Repraͤſentanten des Teufels, und warf mit
der Bibel nach ihm. Er meinte noch immer es erzwingen
zu koͤnnen, daß die Hoͤlle ihre Flammen aufſchlagen ließe,
welche einen Weltbrand erzeugen, und durch dieſen Alles rei¬
nigen und lautern ſolle. Satan wollte dies durch Zuruͤckhal¬
ten des Feuers verhindern, deshalb ſuchte Z. ihn zu reizen
durch ein lautes Aufzaͤhlen aller Greuel, Schandthaten und
Niedertraͤchtigkeiten ſeit Adam, wobei Religion, Politik, Wiſ¬
ſenſchaft, Kunſt, Handel, Gewerbe, kurz jeder Zweig menſch¬
lichen Wiſſens und Strebens in Betracht gezogen, und alle
merkwuͤrdigen Ereigniſſe nebſt den dabei betheiligten großen
Maͤnnern genannt wurden.


Den naͤchſten Tag brachte er in einer beruhigten Stim¬
mung zu, indem er viele Gegenſtaͤnde exorciſirte, bis am Abend
wieder eine groͤßere Aufregung eintrat. Indem er die ihm
zur Aufſicht geſetzten Waͤrter fuͤr die Repraͤſentanten der Ar¬
men dieſer Welt hielt, und fuͤr ſie eine innige Theilnahme
empfand, wollte er mit ihnen das heilige Abendmahl mit ei¬
ner Taſſe Kaffee und etwas Brot genießen und das Weih¬
nachtsfeſt feiern, an welchem ſeine Verwandten, die Armen
der Stadt, ja alle lebenden Menſchen und zuletzt auch alle
Todten, Theil nehmen ſollten. Mit heftigem Ungeſtuͤm be¬
gehrte er hierauf den Satan zu bannen, damit derſelbe ihn
in das Todtenreich fuͤhre, und er die Geſtorbenen in die Ober¬
welt zuruͤckbringen koͤnne. Bald nachher ſprang er aus dem
Bette, um in der Kirche eine Weihnachtspredigt zu halten,
in dem Wahne, er habe als Oſterlamm ſein Blut fuͤr die
Welt vergoſſen. Die ihn zuruͤckhaltenden Waͤrter ſah er als
Geſellen des Satans an, welche ihn von ſeinem Segenswerke
abhalten wollten, weshalb er ſich mit ihnen in einen langen
und harten Kampf einließ, bis er endlich von ihnen uͤber¬
waͤltigt und ans Bette gefeſſelt wurde. Eine Menge von
Schreckbildern durchkreuzten nun ſeinen Kopf, bald hielt er
ſeine Waͤrter fuͤr Moͤrder, gedungen von dem Ortsgeiſtlichen,
welcher von ſeiner Predigt einen allgemeinen Aufruhr befuͤrch¬
[205] tete, bald erſchien ihm die dargereichte Arznei als Gift, oder
er erwartete von Hunden gehetzt und erwuͤrgt zu werden.


Nach dieſen ſtuͤrmiſchen Auftritten folgten ruhigere Tage,
an welchen ihn zwar die bisher geſchilderten Wahnvorſtellun¬
gen noch mannigfach beſchaͤftigten, es ihm jedoch geſtatteten,
unter Begleitung im Freien ſpazieren zu gehen, ja er fing
ſchon wieder an, Unterricht zu ertheilen. Indeß nach einigen
Wochen ſteigerte ſich das nur zuruͤckgetretene Gemuͤthsleiden
wieder bis zur heftigſten Tobſucht, welche ihn zu einem ge¬
waltſamen Ringen mit ſeinem Waͤrter antrieb, und von ihm
ſelbſt fuͤr einen Anfall der Hundswuth gehalten wurde, wes¬
halb er ein lautes Hundegebell anhob, wobei ihm reichlicher
Schleim aus dem Munde floß. In einer Nacht wurde er
von einer Menge Viſionen ergoͤtzt, welche ganz die Lebendig¬
keit und Friſche wirklicher Anſchauungen hatten; er ſah ſchoͤne
Gegenden, volkreiche Staͤdte, ferner einen mit 2 Roſſen be¬
ſpannten Wagen, auf welchem eine Heldengeſtalt, eine Gei¬
ßel ſchwingend aus dem Himmel auf die Erde herabſchwebte,
u. dgl. Auch diesmal tobte ſich ſein Aufruhr in wenigen
Tagen aus, und er erlangte ſo viele ſcheinbare Beſinnung,
daß er zu einer Reiſe nach Berlin bewogen werden konnte,
um bei einem hier wohnenden Bruder eine guͤnſtigere Gele¬
genheit zu ſeiner Wiederherſtellung zu finden. Wirklich ſchien
er ſich in einem ſolchen Grade beruhigt zu haben, daß er die
Sehenswuͤrdigkeiten der Reſidenz in Augenſchein nehmen konnte.
Beſonders beſchaͤftigten ihn die Frescogemaͤlde im Koͤnigl. Mu¬
ſeum, welche ihm die Bemerkung aufdrangen, wir lebten in
einer Zeit, worin faſt in allen Zweigen des geiſtigen Lebens
die Gegenſaͤtze bis zur groͤßten Spannung gekommen ſeien,
welche darauf hinwieſen, daß in der naͤchſten Zeit etwas ge¬
ſchehen muͤſſe, die extremen Gegenſaͤtze in eine hoͤhere Einheit
zu bringen. So waren auch die Frescogemaͤlde Belaͤge fuͤr
das erwachte Streben, die antike, heidniſche Kunſt mit der
chriſtlichen zu verſchmelzen. Deshalb war er eifrig bemuͤht,
die griechiſche Mythologie und die religioͤſen Vorſtellungen an¬
derer Voͤlker mit dem chriſtlichen Lehrgebaͤude in Einheit zu
bringen, wobei die Lehren von den Engeln ihm den Dienſt
der Vermittelung leiſten ſollten. Auch beſuchte er einige Vor¬
[206] leſungen, wobei er ſich dachte, daß ſein Erſcheinen auf die
ganze Univerſitaͤt einen reinigenden und erhebenden Einfluß
ausuͤbe, daß aber auch er hinwiederum auf eine myſtiſch ver¬
borgene Weiſe eigenthuͤmliche Geiſtes- und Leibeskraͤfte dabei
gewinne. Er ſah alle Menſchen in einem wechſelſeitigen Pro¬
ceß mit ihm und unter ſich begriffen, woraus eine neue wun¬
derherrliche Schoͤpfung, Sonne, Mond und Sterne mit ein¬
begriffen, hervorgehen werde. Er traͤumte ſich in den Beſitz
einer ſo großen Macht hinein, daß er nur Worte in wuͤthen¬
der oder befehlender Form auszuſprechen brauche, um auf das
Ganze der Welt zu wirken. Beſonders fuͤhlte er ſich durch
das koͤnigliche Schloß angezogen, auf deſſen Hoͤfen er Se¬
genswuͤnſche in lateiniſcher, deutſcher und franzoͤſiſcher Sprache
uͤber das koͤnigliche Haus ausſprach, indem er die Diener deſ¬
ſelben zum Eifer und treuen Gehorſam, zur weiſen und kraͤf¬
tigen Befoͤrderung der Wohlfahrt des Vaterlandes ermahnte.
Jeder Stand, jedes Gewerbe, jede Kunſt und Wiſſenſchaft
ſuchte er durch exorciſirende Formeln zu reinigen, welche er auch
unter Gebeten und Bekreuzigungen und uͤber die Badewanne
ausſprach, deren ſein kranker Bruder ſich bediente, dem er
durch ſeine perſoͤnliche Naͤhe vollſtaͤndige Heilung zu bringen
glaubte. Dabei gerieth er aber mit demſelben oft in heftigen
Streit, indem er deſſen Denk- und Handlungsweiſe berichti¬
gen wollte. Einer dieſer Controverspunkte betraf die Lehre
vom Teufel, welche er fruͤher im orthodoxen Sinne aufgefaßt
hatte. Beim Ausbruch ſeiner Krankheit ging ihm aber die
ewige Unſeeligkeit des Teufels und ſeines Anhanges zu Her¬
zen, er konnte die ewige Hoͤllenpein nicht mit der allbarmher¬
zigen und allmaͤchtigen Liebe in Einklang bringen, und glaubte
daher, daß dieſelbe nur eine gewiſſe Zeit dauern werde.
Hiermit brachte er in Berlin die Vorſtellung in Verbindung,
daß die Exiſtenz des Teufels bei der Entſtehung und Fortbil¬
dung des Chriſtenthums von großer Bedeutung geweſen ſei.
Die Verſuchung durch den Satan habe erſt den Erloͤſer zur
vollkraͤftigen Erkenntniß ſeines Berufs, zur entſchiedenen Fe¬
ſtigkeit ſeines Willens gefuͤhrt. Das dem Chriſtenthume ent¬
gegengetretene Heiden- und Judenthum habe erſt durch ſeine
kraͤftige Oppoſition den Geiſt der Apoſtel und aller Glaubens¬
[207] helden hervorgelockt, durch den Kampf geſtaͤrkt, und durch
Ueberwindung ermuthigt. Auf dualiſtiſchem Standpunkte ſah
Z. daher das Boͤſe in der Welt als nothwendig an, indem
erſt durch das Boͤſe das Gute zur energiſchen Thaͤtigkeit an¬
geſpornt werde. Ja er hielt das Boͤſe fuͤr eine Anordnung
Gottes, und kam zuletzt zu der Vorſtellung, daß der Teufel
der maskirte Gott ſei, und daß die Weltgeſchichte ein gro߬
artiges Maskenſpiel Gottes und ſeiner himmliſchen Heerſchaa¬
ren mit den Menſchen darſtelle. Es werde aber bald eine
Zeit kommen, in der die Masken abfielen. Der lichte, helle
Sonnenglanz Gottes muͤßte dem ſchwachen, bloͤden Auge des
Sterblichen zu uͤbermaͤchtig ſein, ſo daß ſelbſt das Helle ihm
zum Dunkeln und Schrecklichen werden koͤnne. Da die Bi¬
bel ſich mit dieſen Anſichten nicht in Uebereinſtimmung brin¬
gen ließ, ſo meinte Z., daß dieſelbe voll Ironie ſei, die der
Geiſt der Wahrheit, den Schriftſtellern unbewußt, in die
Worte gelegt habe, damit man erſt durch muͤhſames Forſchen,
und durch muthige, keine Autoritaͤt fuͤrchtende Entſchloſſenheit
in den verborgenen, fein angedeuteten Schriftſinn dringen ſolle.
Wie Chriſtus der ins ſuͤndige Fleiſch erniedrigte Gottesſohn
ſei, ſo waͤre auch ſein Wort, und ſonach die Schrift die ins
Fleiſch der Suͤnde und Luͤge verſtellte Wahrheit, die man erſt
hinter dem Vorhange ſuchen muͤſſe. Durch dieſe und aͤhnliche
Gruͤbeleien wurde er im blinden Vertrauen zu ſeinem Geiſte
beſtaͤrkt, daß er glaubte, gar nicht mehr ſuͤndigen zu koͤnnen,
ſondern abſolut frei zu ſein. Die formale Freiheit, in wel¬
cher der Menſch noch zwiſchen 2 entgegengeſetzten Handlungs¬
weiſen waͤhlend ſchwanke, hielt er fuͤr eine Knechtſchaft des
Geiſtes, welcher ohne Ueberlegung und Beſonnenheit mit
Blitzesſchnelle das Gute und Rechte treffen muͤſſe.


Eine in dem von ihm bewohnten Hauſe ausgebrochene
Feuersbrunſt verſetzte ihn in heftigen Schreck; da er aber uͤber¬
all Zeichen zu erkennen glaubte, welche von dem Weltgeiſte
ihm zur Beſtaͤtigung ſeiner Gedanken und als Vorbote eines
nahen Umſchwunges aller ſichtbaren Verhaͤltniſſe gegeben waͤ¬
ren, ſo hielt er auch dies Feuer fuͤr das Vorſpiel des zukuͤnf¬
tigen Weltbrandes. Sein Zimmer und ſein Bette war von
dem Loͤſchen des Feuers ganz durchnaͤßt worden; anfangs hielt
[208] er die Feuchtigkeit fuͤr zutraͤglich, bis ihm in einer Nacht ein
azurblaues Schild mit einem Dreizack als ein Zeichen Neptuns
erſchien, daß nun des Waſſers genug ſei. — Indem ich eine
Reihe von Tagen uͤberſchlage, an denen Z. eine Menge von
excentriſchen Handlungen, jedoch ohne gefaͤhrlichen Charakter
beging, bemerke ich, daß zuletzt ſeine Aufregung wieder bis
zum Ausbruch von Wuth ſich ſteigerte, wobei er die Fenſter¬
ſcheiben zerſchlug, die Anweſenden aus dem Zimmer trieb, in¬
dem er nach ihnen warf, und dadurch ſeine Aufnahme in die
Charité nothwendig machte. Dort angelangt betrachtete er mit¬
leidig die Kranken, denen er zur Huͤlfe gerufen zu ſein glaubte,
daher er denn an einem Bette niederkniete und betete. Hier¬
auf wurde er wieder ungeſtuͤmer bis zur Wildheit, ſang, pfiff,
betete, predigte. In dieſer waͤhrend mehrerer Tage und Naͤchte
fortdauernden Aufregung entwickelte ſich das Bilderſpiel einer
zuͤgelloſen Phantaſie, welche gleichſam alle Kraͤfte der Seele in
ſich zuſammenfaßt, und deshalb ihren Dichtungen die volle Klar¬
heit, Lebendigkeit und Staͤrke ſinnlicher Anſchauungen verleiht,
weil die uͤbrigen Seelenvermoͤgen bei dieſer Gaͤhrung im Be¬
wußtſein nicht zu einem ſtetigen Wirken gelangen koͤnnen.
So erblickte er einen Mohren mit einem Turban auf dem
Kopfe in ſitzender Stellung, ein Kameel an einem Halfter¬
bande haltend. In einem neben ihm liegenden Manne mit
einer weißen Kopfbedeckung glaubte er ſeine Mutter, in einem
anderen juͤngeren ſeinen Bruder zu ſehen. In dem Bade
widerſetzte er ſich mit Heftigkeit, gab ſich fuͤr Jeſus Chriſtus
aus, und hieruͤber zur Rede geſtellt nannte er ſich Judas
Iſcharioth. Dabei erwartete er noch immer eine baldige Um¬
waͤlzung der Dinge, welche dann vor ſich gehen werde, wenn
der Koͤnig ihn beſuche. In einer ſpaͤteren Nacht ſah er ſei¬
nen Bruder nebſt einem ſeiner Schuͤler am Fenſter ſtehend in
eine mondhelle Landſchaft hinausblickend. Vor ihnen ſtand
eine Geſtalt in Form eines Kreuzes, welches ſich langſam
umdrehte, und an welchem einige Menſchen im bunten Co¬
ſtuͤm ihre Kunſtfertigkeit im Turnen zeigten. Ueber gruͤne
Felder hinweg ſah er am Horizont einen maͤßigen Huͤgel, auf
welchem in nebelhaften Umriſſen die Truͤmmer einer Burg
ſtanden. Ein andermal erblickte er einen aus der Wand her¬
[209] vorragenden Holzſtock, auf welchem ſich kleine Marionetten be¬
wegten, ferner in einem halb mit Waſſer angefuͤllten Glas¬
napfe ein ſchoͤnes Kind, welches nach einem andern eben ſo
ſchoͤnen die Hand ausſtreckte. Eine Zeit lang kam ihm ſeine
Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem
Hautreliefs in mannigfach ſcharf ausgepraͤgten Gebilden, na¬
mentlich Menſchengeſtalten dargeſtellt waren. An einem Abende
wollte er ein großes, wunderbares Schattenſpiel an der Wand
produciren, denn er glaubte den Zauberſpiegel Salomos zu
beſitzen, mit deſſen Huͤlfe er alles Denkbare und Undenkbare
ausfuͤhren koͤnne. Ferner ſtieg die Vorſtellung in ihm auf,
daß er der neugeborene Sohn einer Koͤnigin ſei, daß bei ſei¬
ner Geburt ſaͤmmtliche Planeten in eine gerade Linie zur
Sonne getreten, und daß eine alte koͤnigliche Familienuhr wie¬
der in Gang gekommen ſei, deren Bewegung er in der nahen
Wand zu hoͤren waͤhnte. Seine Mitkranken hielt er fuͤr gro߬
artige Weltſchiffer, welche hier nur etwas raſteten. Die Bet¬
ten ſchienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬
len zu beſtehen, von denen bei der gewaltig ſchnellen Bewe¬
gung der eine uͤber den anderen ſprungartig hinwegſchieße.
Auf dieſe Weiſe bereiſeten jene Schiffer die Weltkoͤrper, und
braͤchten Botſchaft von dem einen auf den andern. Das Be¬
wußtſein ſeiner Perſoͤnlichkeit bemuͤhte er ſich durch haͤufige
Nennung ſeines Namens und derjenigen ſeiner Verwandten
mit Anſtrengung feſtzuhalten. Auch die Zeitrechnung der naͤch¬
ſten Vergangenheit ſtrebte er ſich einzupraͤgen, da er glaubte,
daß die uͤbrigen Menſchen die Zeitrechnung verloren haͤtten,
und ſie nur durch ihn wiedererlangen koͤnnten. Die Charité
hielt er laͤngere Zeit fuͤr ein Operntheater, auf welchem er
als Papageno mit wirklichen Federn und Fluͤgeln von den
ſchoͤnſten Farben erſcheinen ſolle, und jedes Geraͤuſch daͤuchte
ihm von den ungeduldig harrenden Zuſchauern auszugehen.


Natuͤrlich waren ſeine Antworten auf vorgelegte Fragen
ein Wiederhall des in ſeinem Kopfe kreiſenden Wirbels von
Vorſtellungen. Er erzaͤhlte z. B., daß ihm im Geiſte die
Himmelsleiter erſchienen ſei, auf welcher ein Engel einen hin¬
aufſteigenden Knaben zuruͤckgehalten habe, damit dieſer nicht
in den Himmel hineinſchauen, und nicht beim Anblick der den
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 14[210] Menſchen verborgenen Geheimniſſe ſchwindlich werde. Da¬
gegen habe der Knabe dem Engel erzaͤhlen ſollen, wie es auf
der Erde zugehe. Er ſelbſt habe das Geſpraͤch zwiſchen bei¬
den deutlich gehoͤrt, und ſei dadurch auf den Gedanken ge¬
kommen, daß dadurch das Schickſal derer bezeichnet werde,
welche uͤber die unerforſchlichen Geheimniſſe des Himmels nach¬
daͤchten, und daruͤber leicht ihren Verſtand verloͤren. Ferner
ſei ihm der Himmel als ein unendlich tiefer, mit Waſſer an¬
gefuͤllter Brunnen erſchienen, welcher nach ſeinem Grunde zu
immer heißer werde, und zuletzt von einer gluͤhenden Maſſe
erfuͤllt ſei, welche die Hoͤlle darſtelle. Er ſei zwei Stunden
lang in dieſe Tiefe hinabgeſtuͤrzt, und habe den Wunſch ge¬
hegt, durch das Hoͤllenfeuer von ſeinen Suͤnden gereinigt zu
werden u. ſ. w.


Unter Anwendung beruhigender Heilmittel, namentlich
der lauwarmen Baͤder mit kalten Uebergießungen, ließ ſeine
Aufregung ſchon in den naͤchſten 2 Wochen dergeſtalt nach,
daß er des Nachts ruhig ſchlief, und am Tage eine groͤßere
Klarheit des Bewußtſeins erlangte. Bald konnte er ſchon
mit großer Genauigkeit und Vollſtaͤndigkeit Auskunft uͤber ſein
fruͤheres Leben geben, ja er war faͤhig, ſich litteraͤriſch zu be¬
ſchaͤftigen, und gelangte ſchon nach etwa einem Monate zu
einer richtigen Erkenntniß ſeines bisherigen Zuſtandes, wes¬
halb er im ernſtlichen Verlangen nach ſeiner gruͤndlichen Hei¬
lung die ihm ertheilten aͤrztlichen Verordnungen mit der puͤnkt¬
lichſten Gewiſſenhaftigkeit befolgte. Seine Zeit theilte ſich in
wiſſenſchaftliche Arbeiten, welche von ſeiner wiederkehrenden
Geiſtesſchaͤrfe den erfreulichſten Beweis lieferten, und in koͤr¬
perliche Beſchaͤftigungen, welche ſeinen geſchwaͤchten Koͤrper
ſtaͤrkten. Doch war ſeine phyſiſche Geſundheit tief erſchuͤttert
worden, weshalb er mitunter an Durchfaͤllen, rheumatiſchen
Beſchwerden und Augenentzuͤndung litt. Indeß wichen dieſe
Uebel einer angemeſſenen Behandlung bald, und brachten des¬
halb keine ernſtliche Unterbrechung des pſychiſchen Heilverfahrens
hervor. Laͤngere Zeit hindurch nahm er auch mit dem beſten
Erfolge an der Leitung des den anderen Geiſteskranken ertheil¬
ten Unterrichts Theil, wozu ſein Talent und ſeine Kenntniſſe
[211] ihn hinreichend befaͤhigten. Nach einer 7monatlichen Behand¬
lung war er geiſtig und koͤrperlich ſo vollſtaͤndig wiedergeneſen
daß ſeine Entlaſſung ohne Bedenken erfolgen konnte.

19.

S., 40 Jahre alt, erhielt von ſeinen im Mittelſtande
lebenden Aeltern eine angemeſſene Erziehung, und beſuchte ein
hieſiges Gymnaſium, welches er indeß vor dem Eintritt in die
oberen Klaſſen verließ, um ſich dem kaufmaͤnniſchen Gewerbe
zu widmen. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend zeigte er einen,
nicht durch kraͤnkliche Reizbarkeit der Nerven bedingten Hang
zur Schwaͤrmerei und zum gruͤbleriſchen Nachſinnen in man¬
chen auffallenden Erſcheinungen; ſo uͤberreichte er z. B. einem
Lehrer einen Aufſatz, welcher allerlei Gedanken uͤber Schul¬
reformen enthielt, und uͤberhaupt wurde bei ihm der kindliche
Frohſinn vermißt, an deſſen Stelle ein geheimnißvolles Inſich¬
gekehrtſein trat. Dieſe naturwidrige Richtung ſeines Geiſtes
verirrte ſich ſogar zu phantaſtiſchen Sinnestaͤuſchungen, wie er
ſich |denn unter anderem einbildete, einmal von einem Geiſte
eine Treppe hinuntergetragen worden zu ſein. Wenn er ſich
auch ſeinem Berufe, in welchem er ein nicht geringes Talent
bewieſen haben ſoll, mit Neigung und Eifer ergab; ſo blieb
doch ſein erwaͤhnter Hang vorherrſchend, und veranlaßte ihn,
in den Mußeſtunden philoſophiſche, politiſche und religioͤſe
Schriften zu leſen, welche, anſtatt ihn in aͤchter Geiſtescultur
zu foͤrdern, ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten
Begriffen erfuͤllten, durch ſie ſein Urtheil irre leiteten, und
ihn außer Stand ſetzten, uͤber ſeine wahre Beſtimmung zum
deutlichen Bewußtſein zu kommen. In einer ſolchen Gedan¬
kenverwirrung giebt ſich der Verſtand leicht den Chimaͤren einer
erhitzten Einbildungskraft gefangen, und laͤßt den Zuͤgel fah¬
ren, mit welchem er den Willen innerhalb der Grenzen der
Wirklichkeit lenken ſoll. Da uͤberdies die Schwaͤrmerei gewoͤhn¬
lich einen geheimen Stolz naͤhrt, worin der Menſch ſich mit
dem Wahn bethoͤrt, die hoͤchſten Staffeln menſchlicher Verhaͤlt¬
niſſe uͤberfliegen zu koͤnnen; ſo wird in der dadurch unterhal¬
14 *[212] tenen fieberhaften Spannung des Gemuͤths oft ein Plan zur
Weltverbeſſerung ausgebruͤtet, zu deſſen Ausfuͤhrung der Phan¬
taſt beſtimmt zu ſein glaubt, weshalb er die Forderung gel¬
tend macht, an die Spitze des ganzen Menſchengeſchlechts als
deſſen Orakel oder Beherrſcher zu treten. Unſer S. wurde um
ſo mehr zu dieſem erhabenen Selbſtgefuͤhle verlockt, da ihm
waͤhrend eines Wachtdienſtes, den er als freiwilliger Jaͤger zu
leiſten hatte, zur Nachtzeit der Himmel ſich aufthat, und die
Hand eines Unſichtbaren eine brennende Fackel zu ihm herab¬
reichte. Deutlicher als durch dieſe Offenbarung konnte ihm
ſein glanzvoller Beruf nicht angekuͤndigt werden. Wie ſich nun
das Bewußtſein deſſelben immer lebendiger bei ihm heraus¬
geſtaltete, moͤchte ſich um ſo weniger im Einzelnen nachweiſen
laſſen, je unfaͤhiger er war, eine praͤciſe Geſchichte ſeiner ge¬
heimen Lucubrationen zu entwerfen. Auch war ſein beſchauli¬
ches Leben noch viel zu ſehr mit irdiſchen Intereſſen vermengt,
denn er gruͤndete einige Jahre ſpaͤter in einer Provinzialſtadt
eine Handlung, welche er in einen bluͤhenden Stand ſetzte;
uͤberdies verheirathete er ſich, trennte ſich aber nach kinderloſer
Ehe wieder von ſeiner Gattin, welche bei ihrem ſchwaͤrmeriſchen
Lebensgefaͤhrten wahrſcheinlich keine Befriedigung gefunden hatte.


Inzwiſchen dauerte die innere Gaͤhrung in ihm fort,
welche, da ſie nicht durch andere und maͤchtigere Intereſſen er¬
ſtickt wurde, zu irgend einem Ausbruche kommen mußte. Meh¬
rere Jahre hindurch fand dieſelbe ihren Ausfluß nur durch die
Feder; er bezeichnet ſelbſt einen fruͤhzeitigen, aber verungluͤck¬
ten ſchriftſtelleriſchen Verſuch, dem im Jahre 1826 ein ande¬
rer unter dem Titel: Staat, Kirche und Philoſophie, folgen
ſollte, aber, wie er ſich ausdruͤckt, durch Mißverſtaͤndniſſe von
Seiten der Cenſurbehoͤrde confiscirt wurde. Ohne ſich hierdurch
irre machen zu laſſen, gab er im Jahre 1830 eine Schrift un¬
ter dem Titel: das Reich Gottes auf Erden, heraus. Schon
die Inhaltsanzeige ergiebt, daß auf 210 Seiten faſt alle Probleme
zur Sprache gebracht werden, mit denen ſich die Denker von
jeher beſchaͤftigt haben. Im erſten Theile iſt naͤmlich von der
Politik, von dem Staate nach ſeinen organiſchen und intel¬
lectuellen Kraͤften und von der Kirche die Rede. Den zwei¬
ten Theil leiten Betrachtungen uͤber Recht und Philoſophie
[213] ein, denen eine Kritik des natuͤrlichen Eigenthumsrechts und
eine Einleitung zum Naturrecht, welches als der Inbegriff aller
Rechte bezeichnet wird, folgen. Hieran reiht ſich ſeine in 175
Theſen entwickelte Naturphiloſophie und ein Kapitel mit der
Ueberſchrift: Stand der Ordnung, der Ruhe und des Friedens,
wohin er das Perſonenrecht, Voͤlkerrecht, Staatsrecht, Kirchen¬
recht, Privatrecht und Familienrecht zaͤhlt. Den Beſchluß ma¬
chen Betrachtungen uͤber den Stand der Unordnung, des Krie¬
ges, der Verbrechen und Strafen. Wenn man ſein deſulto¬
riſches, widerſpruchsvolles, zielloſes Raͤſonnement durchlieſet, ſo
wird man leicht gewahr, daß die Namen einer Menge von Be¬
griffen durch ſeinen Kopf gegangen ſind, und er folglich man¬
nigfache Schriften in Haͤnden gehabt haben muͤſſe; aber einige
ſinnreiche Einfaͤlle abgerechnet, welche wie Blitze aus einem fin¬
ſtern Gewoͤlk hervorbrechen, ſucht man vergebens nach einem
deutlich gedachten Sinne ſeiner Worte. Zum Beiſpiele moͤgen
einige naturphiloſophiſche Theſen dienen: „Abſoluter Raum iſt
eine allgemeine ſubjective Form aller objectiven Formen, oder
die quantitative Form aller Qualitaͤten. Abſolute Zeit iſt eine
allgemeine ſubjective Form aller objectiven Formen, oder die
qualitative Form aller Quantitaͤten. Bewußtſein iſt eine all¬
gemeine ſubjective Form der objectiven Formen; folglich muß
abſoluter Raum = Bewußtſein ſein, und eben ſo muß abſo¬
lute Zeit = Bewußtſein ſein. Zeitraum iſt eine allgemeine
objective Form aller objectiven Formen, folglich auch = Be¬
wußtſein. Ich ſtehe demnaͤchſt nicht laͤnger an, den Inbegriff
der drei Urprincipe: eine heilige Dreieinigkeit zu nennen, oder
Gottheit, und zwar: den abſoluten Raum: Gott den Vater —
die abſolute Zeit: Gott den heiligen Geiſt — und den abſolu¬
ten Zeitraum: Gott den Sohn. Die ſubjectiven Formen aller
objectiven Formen, oder abſolute Zeit, Raum und Bewußtſein
ſind: Formen der ſinnlichen oder empiriſchen Gegenſtaͤnde, oder
Formen der Sinnlichkeit. Das iſt: das Transcendentale iſt
Form der Empirie, und die Formen ſind von objectiver im¬
materieller Realitaͤt oder Idealitaͤt.” Spaͤterhin heißt es: „In
der unorganiſchen Welt iſt ferner der active Naturſtand 1) der
urſpruͤnglich poſitiv elektriſche; der paſſive Naturſtand 2) der
urſpruͤnglich negativ elektriſche; der neutrale Naturſtand 3) der
[214] urſpruͤnglich magnetiſche oder der Inbegriff des poſitiv und
negativ elektriſchen zugleich.”


Wie abgeſchmackt nun auch alles dies ſein mag, ſo ge¬
waͤhrt es doch ein eigenes Intereſſe, wahrzunehmen, wie ein
uͤber Weltverbeſſerungsplanen bruͤtender Schwaͤrmer ſich mit
hohlen und mißverſtandenen metaphyſiſchen Formeln abquaͤlt,
um ſich vor ſeinem eigenen Bewußtſein mit einem Klingklang
von Woͤrtern als ein ſcharfſinniger Dialektiker auszuweiſen,
der die Rechtfertigung ſeiner hochfliegenden Entwuͤrfe wiſſen¬
ſchaftlich zu fuͤhren vermag, und um ſo feſteres Vertrauen in
ſeine Einſicht ſetzen darf, je mehr er mit derſelben das Uni¬
verſum zu umfaſſen glaubt. Der eigentliche Zweck dieſer
Schrift ſpricht ſich noch am deutlichſten aus in der Dedication
derſelben an Seine kaiſerliche Majeſtaͤt den Großſultan und
wirklichen Nachkommen des Propheten der Osmanen, Mah¬
mud II. Warum er gerade auf dieſen ſein Augenmerk ge¬
richtet hat, erhellt theils aus der Zuſchrift ſelbſt, welche cha¬
rakteriſtiſch genug iſt, um hier einen Platz zu finden, theils
wird ſich dies noch mehr in der Folge ergeben. Der Verf.
ſagt hierin: „Es iſt eine glaͤnzende Weisheit, im Gluͤcke nicht
vermeſſen, und eine glorreiche Macht, im Ungluͤcke nicht verzagt zu
ſein. Solche hohe Eigenſchaften der Seele erzeugen die unuͤber¬
windliche Groͤße, um alle Fuͤrſten und Voͤlker, welche durch Vor¬
urtheile und Aberglauben die Feinde der hohen Pforte ſind, be¬
ſiegen zu koͤnnen. Es iſt eine glorwuͤrdige Gerechtigkeit, welche
im guten Glauben fuͤr Wahrheit und Recht ſtreitet, und nach
der Stimme der Vernunft, ohne Anſehen der Perſon, des
Glaubens und Geſchlechts, lohnt und ſtraft und endlich alle
Leidenſchaften zum Schweigen bringt. Es iſt ein Gefuͤhl im
Menſchenfreunde, das ſich ſtolz uͤber alle kleinliche Begierden
erhebt, wenn man verkannt und verfolgt wird. Daſſelbe treibt
uns um ſo mehr zur Langmuth und Großmuth gegen unſere
Feinde an; es offenbart die Groͤße aller ſeltenen Menſchen.
Aber es iſt auch ein Gefuͤhl im Menſchenfreunde, welches ihn
Freude und Genugthuung empfinden laͤßt, ſobald unſere Ge¬
danken und Empfindungen von Anderen errathen, mit erkannt
und mitempfunden werden, und hieruͤber kann ſich kein Wei¬
ſer und Koͤnig hinwegſetzen, da es ein Widerſpruch in der
[215] beſſeren Natur des Menſchen waͤre. Auf den Grund dieſes
wahren, menſchlichen Gefuͤhls wage ich im Namen aller mei¬
ner Landsleute, welche ſich ruͤhmen, nicht ſowohl im Blute,
als in der Liebe fuͤr Wahrheit und Recht mit den Osmanen
verwandt zu ſein, Ew. Hoheit durch die Zueignung dieſer
Schrift unſere außerordentliche Ehrfurcht zu bezeugen, welche
Sich Allerhoͤchſtdieſelben in ſo ſchwierigen Umſtaͤnden des Staats,
des Rechts und der Politik, der Kirche und Philoſophie ſelbſt
im Verhaͤngniſſe erworben, und klar an den Tag gelegt ha¬
ben, was es heißt, ein wuͤrdiger Nachkomme des Propheten
zu ſein. Aus dem Inhalte dieſer Schrift thut ſich mein Glau¬
bensbekenntniß kund, deſſen Idealitaͤt ein politiſches, religioͤ¬
ſes und philoſophiſches in ſich begreift, welches ich mit Ver¬
gnuͤgen zur oͤffentlichen Beurtheilung darlege. Da Chriſtus
den moſaiſchen Glauben erfuͤllte und beſtaͤtigte, aber Moha¬
med, verwandt mit den alten Propheten, Chriſtum und Mo¬
ſen fuͤr wahrhaftige Apoſtel anerkennt, und nur ihre von den
Menſchen verfaͤlſchte Lehre verdammt hat; ſo iſt ſehr einleuch¬
tend, daß Juden, Chriſten und Mohamedaner, wenn ſie wie
ihre Propheten, den einzigen Allmaͤchtigen im Geiſt und in
der Wahrheit anbeten, eben ſo unter einander eines Glaubens
leben und unter einander gleiche Bruͤder ſind, wie Moſes,
Chriſtus und Mohamed ſelbſt die Kinder des einzig wahren
Allmaͤchtigen ſind, und in koͤniglich-goͤttlich-bruͤderlicher
Liebe ewig vereinigt ſein werden. Wer wollte ſich zum Rich¬
ter des Allerhoͤchſten, welcher in ſeinem ewigen Lichte war,
iſt und ſein wird, aufwerfen, welchen von dieſen drei maͤchti¬
gen Fuͤrſten und Erdenſoͤhnen, die das Menſchengeſchlecht als
ein dreiſeitiges Ganzes beſchreiben, er lieber haben wollte?
Obgleich nun Juden, Chriſten und Mohamedaner Eins waͤ¬
ren, wenn ihre Propheten nicht zu verſchiedenen Zeiten gelebt
haͤtten, ſo giebt es doch unter ihnen Menſchen, welche durch
den Fanatismus nur Eiferer ihres Glaubens der Aeußerlichkeit
wegen, in der Wahrheit aber nur Goͤtzendiener ſind. Nach
ihnen ſoll man der Verehrung des einen oder anderen Pro¬
pheten und ihres geſtifteten Glaubens entſagen, wenn man
ſich der Ordnung und des Eingeborenen und Hergebrachten
wegen zu dem Andern bekennt. Solche Leute wiſſen nicht
[216] was Glauben, was Religion, was Apoſtel heißt. Sie thun
gleichſam, als wenn Jeder, der nicht mit ihnen gleichen fa¬
natiſchen Glaubens iſt, ein Goͤtzendiener, ein Ketzer, ein vom
Schoͤpfer der Liebe Verdammter waͤre. Sie predigen Feuer
und Schwert, und mahnen fortwaͤhrend durch Kriege gegen
die goͤttliche Ordnung des Friedens, der Freude und Gerech¬
tigkeit, wovon noch heutiges Tages das gelobte Land durch die
Kreuzzuͤge ein untruͤglicher Zeuge iſt. Das einzige, wahre
Kennzeichen des einzig wahren Glaubens iſt da, wo man dem
Allmaͤchtigen allein die Ehre giebt, ihn allein im Geiſte und in
der Wahrheit anbetet, und gegen die Goͤtzendiener zu Felde
zieht, einen jeden Anderen aber den allein wahren Gott nach
ſeinen eingebornen Sitten, hergebrachten Gebraͤuchen und ehr¬
wuͤrdig gewordenen Gewohnheiten, oder nach eines Jeden ſon¬
ſtigen beſonderen und eigenthuͤmlichen geiſtigen Faͤhigkeiten duld¬
ſam und liebevoll verehren laͤßt. Selbſt um eines guten
Zweckes willen koͤnnte ich niemals Papiſt werden, da ich die
Luͤge desjenigen, welcher als ein Freund der Finſterniß und
als Feind des Lichts, der Wahrheit, des Rechts, der Menſch¬
heit, ihres Friedens und ihrer Gluͤckſeeligkeit ſich die aͤußere
Macht der chriſtlichen Kirche bisher angemaaßt hat, erkenne.
Aber dagegen koͤnnte ich ſehr wohl mit einem eingebornen Glau¬
ben einen anderen, welcher ebensfalls lehrt, Gott in Chriſto
und in der Wahrheit anzubeten, verbinden; und wenn es ehr¬
wuͤrdige Landesgebraͤuche verlangen, ſo koͤnnte ich, um dem
Rechte und der Wahrheit zu dienen, nicht nur den Turban
aufſetzen, ſondern mich auch zum Islam bekennen, da es hier
von Gottes und Rechts wegen angeht, daß ich, mit den auf¬
richtigſten Empfindungen fuͤr Jeſum Chriſtum, Mohamed und
ſeine Lehre mit verehre, und umgekehrt als ein guter Moha¬
medaner auch die vor dem Islam gelebten Apoſtel Gottes ver¬
ehren kann. So wenigſtens dachte mir Mohamed in Bezie¬
hung zu Moſen und Chriſtum, ſo dachte Chriſtus in Bezie¬
hung auf Moſen; ſo dachte endlich Moſes in Beziehung auf
diejenigen Propheten, welche nach ihm kommen ſollten, auch
in Beziehung auf Abraham, Iſaak und Jacob, und ſo wer¬
den die Menſchen alle denken, wenn dermaleinſt im Reiche
Gottes ein Hirt und eine Heerde ſein wird. In meiner Vor¬
[217] ſtellung vom Reiche Gottes betrachte ich in den Haͤnden der
einzigen und ewigen Vorſehung den Mohamedanismus als eine
Schutzmauer des wahren Glaubens, der wahren Religion unter
der Obhut meines Herrn, Heilandes und Koͤnigs aller Koͤnige,
welchen wir Chriſtum nennen, mit welchem Mohamed nach der
Verheißung dienſtbarer Engel Gottes neben dem Herrn aller
Herren, dem Allmaͤchtigen, auf einem Stuhle ſitzt. Dieſe
Schutzmauer iſt von dem Allbarmherzigen hingeſtellt, und dient
in ſeinem Reiche gegen den Andrang des Papismus, oder ge¬
gen den chriſtlichen Goͤtzendienſt, gegen den Andrang des Aber¬
glaubens und Unglaubens, und zur Vermittelung und Annaͤhe¬
rung aller Religionen an einander, welche Gott noch nicht im
Geiſte und in der Wahrheit verehren. Dieſe Schutzmauer
ſucht der Aberwitz der Menſchen vergeblich zu zertruͤmmern.
Nur Gott kann in einem Augenblicke zertruͤmmern, was der
Aberwitz der Menſchen in Jahrhunderten erbaute. Weder der
Mond noch das Kreuz wird brechen. Im Palaſte des Herrn
Herrn glaͤnzen Sonne, Mond und Sterne und haben Raum,
und Himmel und Erde preiſen Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Hallelujah! In der Hoffnung, daß alle Freunde der Wahr¬
heit endlich zu Frieden kommen werden, uͤberreiche ich Ew. Ho¬
heit dieſe meine Empfindungen und Gedanken. Ich werde
immerdar die hohen Eigenſchaften Ew. Hoheit vor Augen ha¬
ben, und wuͤrde es fuͤr die hoͤchſte Ehre halten, Allerhoͤchſtden¬
ſelben mit den hierin abgelegten Vorſtellungen vom Rechte und
der Wahrheit dienen zu koͤnnen.”


In Uebereinſtimmung hiermit ſtehen folgende Worte im
Terte der Schrift: „Der in dicke Finſterniß eingehuͤllte Ver¬
ſtand und die große Gewalt der zuͤgelloſeſten Leidenſchaften
uͤber die Herzen der Menſchen hatten eine Zeit lang einer
gewiſſen Kaſte, einem Staate im Staate (wir meinen den
Stand der Diener der Religion) ein uͤbermenſchliches Anſehen
verliehen, und damit ſo obſcure Vorſtellungen von der Kirche
und ihren Angelegenheiten verbreitet, daß der wahre Glaube,
die Wahrheit oder das Reich Gottes auf Erden lange Zeit
trauriger Weiſe verdraͤngt waren. So aͤhnlich der Fehl des
Interpretirens des Wortes Gottes bei den Juden und Chri¬
ſten war, entfremdete ſich der Moſaismus und Chriſtianismus
[218] immer mehr und mehr, und es blieb zuletzt keine Hoffnung
zu ihrer jemaligen Vereinigung. Das Judenthum und Chri¬
ſtenthum glichen zwei aus einem Mittelpunkte entgegengeſetz¬
ten Richtungen, und wir muͤſſen ſagen, daß das Chriſten¬
thum, oder wie man es zu einer gewiſſen Zeit das Antichri¬
ſtenthum nennen konnte, dem Heidenthum viel aͤhnlicher war,
wie das Judenthum, denn weder das Heidenthum noch Ju¬
denthum wuͤhlten viehiſcher Weiſe, wie das Chriſtenthum, in
ihren eigenen Eingeweiden. O wer weiß, wie weit das Fe¬
gefeuer des Antichriſtenthums allen Glauben verſcheucht und
um ſich gefreſſen haͤtte, wenn nicht der Herr dem hoͤlliſchen
Treiben des boͤſen Princips mittelſt einer neuen Offenbarung
Grenzen geſetzt haͤtte. Aber der Herr hatte noch andere Schaafe
aus einem anderen Stalle, fuͤhrte ſie her, und ſie hoͤrten
ſeine Stimme, damit ein Hirt und eine Heerde werde. Gott
berief ſolche Schaafe durch den Engel Gabriel mittelſt des
Propheten Mohamed, und ſtellte ſie, vielleicht zur Wiederver¬
einigung aller Glaͤubigen, zwiſchen den Aberglauben der Chri¬
ſten und den Unglauben der Juden; kurz geſagt, er ſtiftete
durch Mohamed eine neue Kirche, worin die Menſchen Gott
im Geiſte und in der Wahrheit dienen ſollten.”


Mohamed wird nun wider die Schmaͤhſucht, welche an
ihm Flecken aufſucht, um ſeine Prophetenwuͤrde in Zweifel zu
ziehen, mit der Bemerkung gerechtfertigt: „Kein großer Mann,
der nicht durch große Leidenſchaften groß wird. Mohamed,
der die groͤßten Staatsveraͤnderungen und die ſpaͤteren Jahr¬
hunderte durch uͤbernatuͤrliche Urſachen geſchafft und geformt
hat, deſſen Fruͤchte gut, edel und rein ſind, iſt ein wahr¬
haftiger Prophet des Herrn, und ſeine Religion goͤttlicher
Natur und goͤttlichen Urſprungs. Ganz im Sinne der chriſt¬
lichen Lehre, nach dem Ausſpruche: wer wiſſen will, ob meine
Lehre von Gott ſei, der thue den Willen meines himmli¬
ſchen Vaters, und alsdann wird er erkennen, daß meine
Lehre von Gott ſei — verlangte auch Mohamed von den
Menſchen den Glauben zur Seeligkeit, keinesweges aber den
blinden Koͤder oder einen Aberglauben, welcher mit dem Un¬
glauben gleich gefaͤhrlich iſt. Nun aber, wo der Un- und Aber¬
glaube in lauter Goͤtzendienſt ausgeartet war, zerwarf er die
[219] Heiden, wie eines Toͤpfers Gefaͤß, weil er das Zeugniß als
Prophet, und mit ihm einen Namen und die Macht dazu von
Oben herab erhalten hatte, und ohnedem wuͤrde es ihm ſchwer¬
lich gegluͤckt ſein, eine ganze Welt voll Heiden zu bekehren,
und viele Geſchlechter der wahrhaftigen Anbetung Gottes uͤber
1000 Jahre wuͤrdig zu erhalten. Auch Mohamed verlangte
von den Menſchen, daß ſie mittelſt der wahren Lebensphi¬
loſophie, d. h. mittelſt der durch den Glauben erleuchte
ten Vernunft, den Willen Gottes thun, darin die Wahr¬
heit erkennen, Gott dienen und ſelig werden ſollen, kei¬
nesweges aber [mittelſt] der Speculation, abſtracten Ver¬
nunft oder metaphyſiſchen Traͤumereien, und weit war Mo¬
hamed davon entfernt, ſeine Glaͤubigen mit einem Ceremonien¬
dienſte zu belaſten.” — So faͤhrt der Verf. noch lange fort,
unter Anfuͤhrung evangeliſcher Ausſpruͤche an Mohamed alle
Praͤdicate der Vollkommenheit Chriſti zu preiſen, und die
Uebereinſtimmung ihrer Lehren zu behaupten. Auch den Mo¬
hamedanern werden die erhabenſten Tugenden der Toleranz,
Froͤmmigkeit, Menſchenliebe, Gerechtigkeit nachgeruͤhmt: kurz
der Verf. verſtrickt ſich voͤllig in einem Truggewebe von Schein¬
gruͤnden, um ſeiner Abſicht gemaͤß die innere Einheit der juͤdi¬
ſchen, chriſtlichen und mohamedaniſchen Glaubenslehre heraus¬
zuſtellen, welche Einheit alle Voͤlker zu einem gemeinſamen
Bunde umfaſſen ſoll; denn darauf bezieht ſich ſein Ausruf:
„O Fuͤrſten unſrer Zeit! glaubt ſicherlich, daß Gott zu Euch ſpricht:
Tretet fuͤr meine Rechte in einen Fuͤrſtenrath zuſammen, o laſ¬
ſet es Eure Pflicht ſein, durch einen gemeinſchaftlichen Willen
Mein Reich und die Ordnung der Dinge auf Erden zu erhal¬
ten.” Und um ihnen ihren erhabenen Beruf vor Augen zu
ſtellen, haͤlt der Verf. ihnen ein Muſterbild eines großen Poli¬
tikers vor. „Ein ſolcher betrachtet die Zeit als das Meer, den
Staat als das Schiff, den Krieg als den Sturm, den Koͤnig
als den Steuermann, die Politik aber als jene Geſchicklichkeit,
das Schiff uͤber alle moͤgliche und wirkliche Hinderniſſe fort und
ſicher in den Hafen der Ruhe zu leiten, dem Frieden zuzufuͤh¬
ren, um auf feſtem Boden, das iſt eine ewige und unveraͤn¬
derliche Grundlage, Anker zu werfen, und der iſt Gott. Große
Politiker, in dieſem ausgedehnten Sinne des Worts genommen,
[220] waren: Zoroaſter, Moſes, Confucius, Mohamed, Conſtantin,
Karl der Große, Guſtav Adolph, Heinrich IV., Joſeph II.,
Friedrich der Große, Epaminondas, du Guesclin, Bayard,
Canning. Ein großer Politiker opfert nicht wie Alexander
der Große, Caͤſar und Napoleon die Welt ſeinem Ich, ſon¬
dern Sich der Welt auf.” — Ich uͤbergehe des Verf. com¬
merziellen, ſtaatswiſſenſchaftlichen und finanziellen Projecte,
deren eins z. B. die Tilgung der preußiſchen Staatsſchul¬
den betrifft, welches er dem Finanzminiſterio uͤberreicht haben
will.


So durchkreuzten ſich eine Reihe von Jahren hindurch
unzaͤhlige ſchiefe Begriffe in ſeinem Kopfe, welche alle menſch¬
lichen Angelegenheiten umfaſſend, jede Moͤglichkeit einer Be¬
richtigung durch nuͤchtene Erfahrung ausſchloſſen, und daher
ſeine Beſonnenheit gaͤnzlich vernichten mußten. Seine herr¬
ſchenden Vorſtellungen von einer, alle Voͤlker und Religions¬
partheien vereinigenden Theokratie erzeugten daher in ſeinem
truͤbverworrenen Geiſte den Wahn, daß er den Beruf habe,
letztere auf Erden zu begruͤnden. Es kam nur noch auf die
Mittel zur Ausfuͤhrung ſeines großen Werkes an, und uͤber
ſie war er um ſo weniger verlegen, da ihm der Sultan Mah¬
mud der uͤber allen Vorurtheilen erhabene Herrſcher zu ſein
ſchien, welcher ihm dazu die Hand bieten werde. Folglich
mußte er dieſen fuͤr ſeinen Plan zu gewinnen ſuchen, und
er verſprach ſich davon, wie er mir ſagte, den groͤßten Vor¬
theil, weil in der Tuͤrkei die Bekenner jedes Glaubens bei¬
ſammen leben, deren Vereinigung von Conſtantinopel aus
am leichteſten zu bewerkſtelligen ſein wuͤrde. Ueberdies iſt im
Umfange jenes Reichs Jeruſalem gelegen, welches er ſich zum
Herrſcherſitze erkoren hatte, wahrſcheinlich weil die alte Haupt¬
ſtadt des juͤdiſchen Volks, in welcher auch das Chriſtenthum
gegruͤndet wurde, Jahrhunderte hindurch das Ziel der from¬
men Sehnſucht war, welche in Zion das Reich Gottes auf
Erden ſtiften wollte. An dem Gelingen ſeines Vorhabens
zweifelte er eben ſo wenig, als jemals ein Schwaͤrmer uͤber
die Ausfuͤhrbarkeit ſeiner Entwuͤrfe in Verlegenheit geweſen
iſt; er verkaufte daher ſeine Handlung, und ſchiffte ſich in
Trieſt nach Conſtantinopel ein, welches er wohlbehalten er¬
[221] reichte. Auf meine Frage, wie er ſich einen Weg zum Sul¬
tan habe bahnen wollen, erzaͤhlte er mir, daß er demſelben
einen Finanzplan zu uͤberreichen willens geweſen ſei, welcher
aller Noth und Bedraͤngniß der hohen Pforte ein Ende habe
machen koͤnnen. In Conſtantinopel gelangte nun ſein Wahn
zur voͤlligen Reife; denn aus Pera ſind alle Aufforderungen
an die Herrſcher und Voͤlker Europas datirt, welche er, nach
Deutſchland zuruͤckgekehrt, nebſt mancherlei Betrachtungen uͤber
Freiheit, Religion, Glaube, Liebe, Gottesdienſt, Buße, Beſ¬
ſerung, Gebet, unter dem Titel drucken ließ: Der Menſch
als Buͤrger im Reiche Gottes, ſieben Sendſchreiben von Zion,
nebſt einigen Noten aus einem diplomatiſchen Actenſtuͤcke, das
Reich Gottes betreffend. Von Siegfried Juſtus I., Koͤnig
von Israel und Hoherprieſter von Jeruſalem. Mainz, bei
C. G. Kunze. 1832. — Einige charakteriſtiſche Bruchſtuͤcke
aus dieſer Schrift werden es am beſten bezeichnen, bis zu
welchem Umfange ſein Wahn gediehen war, und wie er dem¬
ſelben eine innere Uebereinſtimmung zu geben ſuchte:


„Denen Kaiſerl. Koͤnigl. Herzogl. Geſandtſchaften der
Hohen Maͤchte Europa's zu Conſtantinopel theilen Wir hier¬
durch mit, daß die unruhigen Begebenheiten und zeitigen
Ereigniſſe in der Welt als Zeichen dem Reiche Gottes ange¬
hoͤren, welches, indem es im Jahre 1830 nach chriſtlicher
Rechnung ſeinen Anfang genommen hat, in voller Freude und
Gerechtigkeit zum Heile aller Koͤnige und Voͤlker einbricht,
damit ſie hinfort in einer reinen, unumwoͤlkten Atmoſphaͤre
den ewigen Frieden genießen. Das Reich Gottes beſteht in
der moraliſchen Vereinigung aller Machthaber, von, durch und
in Gott, Allerhoͤchſtwelcher ſie deshalb um ſeinen Thron be¬
rufen hat, um ſie in ſeiner abſoluten Integritaͤt zu vereini¬
gen. Dieſe Aufforderung Gottes mit den naͤheren Verfuͤgun¬
gen iſt bereits ſchon im vorigen Jahre erlaſſen, und nebſt
Unſrer Legitimation den Koͤnigl. Haͤnden eines frommen und
gerechten Regenten uͤbergeben worden. Der Herr Herr will
bis ans Ende der Welt ſeinen allmaͤchtigen Arm offenbaren,
mit Israel die Voͤlker frei, und mit der Freiheit der Voͤlker
die Macht der Koͤnige vollkommen machen. Der Herr Herr
will wiederum kund thun, daß alles Heil von Oſten und
[222] zwar von den Juden komme, und das iſt die Bedeutung
der hohen Pforte, daß von ihr die buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit
auf Erden ausgehen ſoll. Der Herr will ſelbſt Oberprieſter
ſeiner Heerde ſein, und als Koͤnig aller Koͤnige in der ſicht¬
baren Welt die Regierung annehmen, und das hat Gott zum
Zeugniß zwiſchen Recht und Unrecht der Streitenden geſtellt.
Wer wider Uns iſt, der iſt wider den, der Uns geſandt hat,
und wer wider die goͤttliche Ordnung ſtreitet, iſt wider ſich
ſelbſt. Gott ſelbſt will in der Mitte der Voͤlker und Koͤnige
mit Recht und Gerechtigkeit richten, und ihre gegenſeitigen
Anforderungen zu Aller vollkommenſten Zufriedenſtellung auf
dem Wege des Friedens, wenn ihn die Welt im Glauben
annehmen will, ſchlichten. Das Blut, das demnach noch
vergoſſen wird, ſoll auf die kommen, welche im Unglauben
dazu Veranlaſſung geben, aber die Fuͤlle des himmliſchen Se¬
gens wird denen verheißen, welche im Glauben an Gott treu
und in der Liebe zur Wahrheit ſtark befunden, und dem ein¬
brechenden Frieden auch jetzt ſchon zu erhalten bemuͤht ſein
werden. Indem Wir Sie kraft Unſres Amtes, in der Welt
Frieden zu ſtiften, und kraft des heiligen Geiſtes von dem
Willen des Allvaters in Kenntniß ſetzen, erſuchen Wir Sie
auf den Grund der vorerwaͤhnten Verheißung und unter An¬
drohung der goͤttlichen Strafen nach allen Ihren Kraͤften zur
Erhaltung des Friedens beizutragen. Wir bitten Sie, den
Inhalt dieſes Schreibens auf dem kuͤrzeſten Wege Ihren Ho¬
hen Haͤuſern mitzutheilen, damit Hochdieſelben wegen eines
Termins zur baldigen Verſammlung der Machthaber um den
Thron Gottes, zur heiligen Feier der Legitimitaͤt und Ord¬
nung der Dinge auf Erden, und zum großen Abendmahl des
Herrn mit den anderen Hohen Maͤchten ohne Verſaͤumniß
Abrede treffen koͤnnen. In dieſer Erwartung verharren Wir
und zeichnen Uns ehrfurchtsvoll


Denen Kaiſerl. Koͤnigl. Herzogl. Hohen Geſandtſchaften
der Großen Maͤchte Europa's zu Conſtantinopel
Zion (Pera), den 12. Februar ergebener
im Reiche Gottes II. Siegfried Juſtus I.
legitimer Erbe des Thrones Davids, Apoſtel
des Herrn, Koͤnig von Israel und Hoherprieſter
von Jeruſalem.


[223]

„Wir von Gottes Gnaden, Hoherprieſter von Jeruſalem
und Koͤnig von Israel, Siegfried Juſtus I., thun demnach
allen Erlauchten Fuͤrſten und Voͤlkern, Staaten und Unter¬
thanen, insbeſondere aber auch Unſerem in allen Reichen der
Welt zerſtreuten und verjagten vielgeliebten Volke kund und
zu wiſſen, daß Wir Unſeren Titel mit der Wuͤrde eines
Koͤnigs und Hohenprieſters auf ausdruͤcklichen Befehl Gottes
angenommen, und Uns auf den Thron Unſres Vaters David
geſetzt und den Zepter Juda's angenommen haben, indem das
Wort des heiligen Geiſtes alſo zu Uns lautete, nachdem Uns
ſein allmaͤchtiger Arm, welcher Uns offenbaret worden iſt, bis
hierher geleitet, und Uns ſein goͤttliches Auge erleuchtet hat:


„„Ich habe Dich gerufen und Dich kommen laſſen.
Dein Weg ſoll Dir gelingen und nicht gereuen. Du biſt mein
Knecht, die Staͤmme Jacob's aufzurichten, und die Zerſtreue¬
ten in Israel zuſammenzubringen; aber ich habe dich auch
zum Lichte der Heiden geſetzt. Ich habe dich, als du einmal
beteteſt, mein Knecht ſein zu wollen, wohl erhoͤret, und ſtelle
dich jetzt zum Bunde unter das Volk, damit du das Land,
was von Mir geſegnet iſt, und das zerſtoͤrte Erbe einnehmeſt.
Ich lege Mein Wort in deinen Mund, darum ſprich zu Zion:
Du biſt mein Volk; der Herr kommt, das Erdreich zu rich¬
ten mit Recht und Gerechtigkeit. Er will ſeinem Koͤnige
Macht geben, und erhoͤhen das Horn ſeines Geſalbten. Die
mit dem Herrn hadern, muͤſſen zu Grunde gehen. Ueber
ihnen wird er donnern im Himmel, damit die Lebendigen
erkennen, daß der Herr Gewalt habe uͤber die Menſchenkoͤnig¬
reiche, und giebt ſie, wenn Er will, und erhoͤht die Niedri¬
gen zu denſelbigen. Ich ſtelle Dich zum Zeugniß unter die
Voͤlker. Wer wider Dich iſt, der iſt wider Mich, und aus
ſeinem eigenen Munde will Ich ihn richten, damit mein
Arm bis an's Welt Ende offenbar werde. Von Zion aus
ſoll das Geſetz ausgehen und des Herrn Wort von Jeruſalem,
und das iſt das Wort, daß Mein Wille nicht durch Heer und
Gewalt, ſondern durch Meinen Geiſt geſchehe, welcher verkuͤn¬
digt iſt von Alters her, ſpricht der Herr Zebaoth. Der Herr
will Koͤnig ſein uͤber alle Laͤnder. Nur Einer ſoll Herr ſein,
und ſein Name nur Einer. Ich will Gerechtigkeit anrichten,
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 15[224] und Fuͤrſten ſollen herrſchen, das Recht zu handhaben. Und
der Gerechtigkeit Frucht wird Frieden ſein, und der Gerechtig¬
keit Nutzen ewige Ruhe und Sicherheit. Mein Thron ſoll
zu Jeruſalem ſein und Jeruſalem ſoll heißen: hier iſt der
Herr. Fremde ſollen ſie wieder aufbauen, und die Koͤnige ihr
dienen. Welche Heiden und Koͤnige aber ihr nicht dienen wol¬
len, die ſollen umkommen, und ihr Erbe verwuͤſtet werden.
Ueber alle Berge ſende Boten, zum Frieden einzuladen, Gu¬
tes zu predigen und Heil zu verkuͤndigen. Denn von nun
an heißt mein Haus ein Bethaus allen Voͤlkern. Zu allen
Voͤlkern will ich ein Panier auswerfen. Rufe und bringe
Israel zuſammen, oͤffne die Thore, bereite dem Volke den
Weg, mache Bahn, raͤume die Steine auf und beſſere die
Luͤcken aus. Alsdann will Ich dich ſpeisen mit dem Erbe
deines Vaters Jacob. Ich will ſelbſt eine feurige Mauer um
Jeruſalem ſein. Ich ſelbſt will darin ſein und Mich darin verherr¬
lichen. Alſo mache dich auf und werde Licht. Denn dein Licht
kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht uͤber dir auf. Denn
Finſterniß bedeckt das Erdreich und Dunkel die Voͤlker. Aber
uͤber dir geht der Herr auf; ſeine Herrlichkeit erſcheint uͤber dir.
Die Heiden werden in Deinem Lichte wandeln, und die Koͤ¬
nige im Glanze, welcher uͤber dir aufgeht. Werde denen, welche
zu Zion wohnen, ein Erloͤſer, denen, welche ſich von den Suͤn¬
den in Jacob bekehren, ſpricht der Herr!”” —


„Der Geiſt des Herrn iſt uͤber mir; darum hat mich
der Herr geſalbt. Er hat mich gemacht, die Elenden zu troͤ¬
ſten, die gebrochenen Herzen zu verbinden, und den Gefan¬
genen und Gebundenen eine Erledigung zu predigen. Er
hat mich geſandt, ein gnaͤdiges Jahr des Herrn, und einen
Tag der Rache des Herrn zu verkuͤndigen, zu troͤſten alle
Traurigen. — Kraft meines Amtes im Namen des heiligen
Geiſtes erklaͤre ich hiermit, daß der Schoͤpfer aller Dinge auch
Eigenthuͤmer aller Dinge iſt, und kein Koͤnig und Volk ein
Eigenthumsrecht, ſondern nur ein Beſitz- und Benutzungs¬
recht auf den Grund und Boden und ſeine Fruͤchte hat.
Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hiermit, daß
der Herr aller Herren auch Koͤnig aller Koͤnige iſt und kein
Machthaber und Volk im Reiche des Herrn das Recht hat,
[225] ſich ſelbſt Recht zu ſchaffen. Kraft meines Amtes i. N. d.
h. G. erklaͤre ich hiermit, daß die regierenden Fuͤrſten und
Voͤlker auf Erden in der Geſammtheit vereinigt, die Oberſte
aller Obrigkeiten iſt, um vom Throne des Allerhoͤchſten aus
die Rechte Gottes und die Pflichten aller Voͤlker und Koͤnige
zu vertreten. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. fordere
ich hiermit alle regierenden Machthaber, welche ſich von Got¬
tes Gnaden nennen, auf, ſich zu einem Rathe und Gottes¬
gerichte zu conſtituiren, und alle ſtreitigen Angelegenheiten
zwiſchen Fuͤrſten und Fuͤrſten, zwiſchen Voͤlkern und Fuͤrſten
zu ſchlichten, und durch das Reich Gottes auf Erden das
Reich der Welt zu verdraͤngen. Kraft meines Amtes i. N.
d. h. G. gebe ich Jeruſalem den Namen: Gott iſt hier, und
nenne den Fuͤrſtenrath Thron des Allerhoͤchſten, indem ich
jedem regierenden Fuͤrſten, welcher den Titel: Hoherprieſter
von Jeruſalem annimmt, die Gnade Gottes beſtaͤtige. Kraft
meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hiermit, daß die
Hierarchie auf den Thron des Allerhoͤchſten uͤbertragen iſt.
Alle Bullen, Breven, Edicte und Verordnungen der Paͤpſte,
ſo lange und ſo weit ſie nicht vom Fuͤrſtenrathe beſtaͤtigt
worden ſind, ſind null und nichtig. Den roͤmiſchen Staat
uͤbergebe ich hiermit dem Gottesgerichte zur beliebigen Dispo¬
ſition. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hier¬
mit, daß Gott ſein Wort in den Mund des Fuͤrſtenraths
und ſeine Macht und Herrlichkeit auf Erden in ſeine Haͤnde
legen will. Hiermit fordere ich alle Kaiſer, Koͤnige, Fuͤr¬
ſten, Staaten, Voͤlker und Unterthanen auf, die Heiligkeit
und Unverletzlichkeit des Allerhoͤchſten Stuhles Gottes auf Er¬
den in Demuth anzuerkennen, und hoch zu verehren, widri¬
genfalls ſie umkommen, verbannt, und ihr Land und Ver¬
moͤgen zur Beute ausgetheilt werden ſoll. Kraft meines
Amtes i. N. d. h. G. fordere ich hiermit alle Fuͤrſten, Voͤl¬
ker und Staaten auf, ſo weit ſie noch unter einander An¬
ſpruͤche zu machen haben, dieſe im Wege Rechtens vor dem
Allerhoͤchſten Stuhle Gottes auf Erden anzubringen. Kraft
Unſeres Amtes i. N. d. h. G. publiciren Wir im Reiche
Gottes die Conſtitution Iſraels, welche vom Tage Unſrer
Kroͤnung an in's Leben treten ſoll, indem Wir hiermit er¬
15 *[226] klaͤren, daß alle Unſere Verfuͤgungen, welche bis dahin von
Uns erlaſſen werden, uͤber die Conſtitution hinausreichen, und
volle geſetzliche Kraft haben. Kraft Unſeres Amtes i. N. d.
h. G. erklaͤren Wir hiermit, daß Wir von heute an durch
Gott, den ausſchließlichen Eigenthuͤmer Palaͤſtina's, die aus¬
ſchließlichen Beſitzer des alten Judaͤa's ſind und bleiben wer¬
den. Damit zugleich fordern Wir Jedermann auf, welcher
deshalb noch Anſpruͤche an Uns machen koͤnnte, ſolche vor
dem Throne des Allerhoͤchſten auf Erden anzubringen, und,
wie Gott will, im Wege der Ordnung, des Friedens und
Rechtens die allervollkommenſte Genugthuung zu gewaͤrtigen.
Endlich zeigen Wir hiermit an, daß Wir Unſere Kroͤnung
hinausſetzen, bis die Krone David's, der Zepter Juda's mit
der Macht und Herrlichkeit Unſeres vielgeliebten Volkes ſo
umgeben ſein wird, als es fuͤr einen Koͤnig nothwendig iſt,
die Rechte Gottes und die Pflichten der Menſchen zu vertre¬
ten. Wir adoptiren bei dieſer Gelegenheit den Wuͤrdigſten
aus der großen Familie der Menſchheit und Unſerem vielge¬
liebten Volke zu Unſerem Nachfolger, ſollten Wir im Rathe
des Herrn ohne Leibeserben verſterben. Wir machen das Al¬
lerhoͤchſte Fuͤrſten-Collegium hiermit Unſerem Teſtaments-
Vollſtrecker, und ſollten Wir ohne Teſtament verſterben, er¬
maͤchtigen Wir Allerhoͤchſt daſſelbe, nach Seiner hohen Einſicht
Unſere Stelle zu beſetzen.” —


„An Israel”.


„Israel, berufen, nach wie vor allen Voͤlkern der Erde
zum Vorbilde zu dienen, muß ſich vorzugsweiſe einer Ver¬
faſſung erfreuen, worin es die Mittel findet, jenem großen
Ziele nachleben zu koͤnnen. Ein Volk iſt ſtark, gluͤcklich,
loͤblich und goͤttlich, wenn ſeine Kinder unter einander ſich
lieben. Israel iſt nur Israel, wenn ſeine Kinder Gott und
das Vaterland uͤber Alles lieben. Ohne das gemeinſchaftliche
Band des Glaubens und der Liebe hat das Prieſtervolk Got¬
tes unter allen Sprachen und Geſchlechtern keine Macht, ſich
ſeines hohen Zweckes wuͤrdig zu zeigen. Iſt nun Liebe zu
dieſem heiligen Zwecke das heilige Mittel, ſo ſetzt jedoch die
Vaterlandsliebe ein Vaterland voraus, eine Ordnung der
Dinge, jener haͤuslichen und oͤrtlichen Verhaͤltniſſe, Sitten,
[227] Gebraͤuche und Einrichtungen, deren Regeln und Vorſchriften,
welche, wenn ſie einem beſtimmten Plane zum Grunde liegen,
man eine Verfaſſung oder Conſtitution nennt, und welche
die Kinder des Vaterlandes wie ihre Mutter ſo leicht lieb
gewinnen, und worin ſie ihr Vaterland recht eigentlich erſt
lieb gewinnen lernen. Es iſt der Beruf des Staatsraths
in Israel, dafuͤr Sorge zu tragen, daß das gemeinſchaftliche
Band der Liebe, welches die Kinder Israels immer ſchoͤner
und inniger vereinigen ſoll, rein erhalten werde. Weil aber
der Staatsrath nicht eher in Thaͤtigkeit treten kann, als zu¬
vor das Vaterland bezeichnet iſt, und weil dieſer Abriß Re¬
geln und Vorſchriften vorausſetzt, welche dem kuͤnftigen Leben
des israelitiſchen Volkes zur Grundlage dienen, ſo muß der
Abriß von einem Punkte ausgehen, worin ſich das ganze
Vaterland, alle Israeliten, wie eine Mannigfaltigkeit von
Lichtſtrahlen in einem Brennpunkte vereinigen. Dieſer Ver¬
einigungspunkt ſind Wir, Israels Koͤnig von Gottes Gnaden
und Hoherprieſter von Jeruſalem, Siegfried Juſtus I. Kraft
Unſeres Amtes und des heiligen Geiſtes Zebaoth haben Wir
durch einen, den Hohen Maͤchten mit Unſerem Aufrufe im
Monat October vorigen Jahres zugeſandten und vorgelegten
Conſtitutionsentwurf denjenigen Abriß bezeichnet, welcher von
Uns fuͤr eine Nation bedacht worden iſt, die von der Vorſe¬
hung den hohen Beruf hat, durch ihre wunderbare Geſchichte
und an ihrem Buſen alle Voͤlker und Geſchlechter zu er¬
waͤrmen und zu erleuchten. Was hingegen die beſonderen
Verhaͤltniſſe des israeliſchen Volkes betrifft, ſo ſteht dieſes
bereits durch ſeine religioͤſen Inſtitutionen feſt, und um ſo
weit es noch einer Vereinigung bedarf, liegt dies der freien
Wirkſamkeit Israels und ſeiner Landesdeputirten ob. Als
Rechtsgrundlage aller Geſetze, Verordnungen und Vorſchriften,
welche gegeben werden, dient das goͤttliche Recht, d. i. das
Recht der Natur, welches Wir unter dem Titel „die Rechte
Gottes ſind die Pflichten der Menſchen”, dem Reiche Gottes
oder dem vereinigten Fuͤrſten- und Voͤlkerbunde vorlegen wer¬
den. So lange aber die ſpeciellen Geſetze und Beſtimmun¬
gen vom Staatsrathe nicht geordnet, vereinigt und Unſerer
Beurtheilung vorgelegt werden koͤnnen, dient im Allgemeinen
[228] das roͤmiſche, und in beſonderen Faͤllen das koͤnigl. preußiſche
Landrecht und die preuß. Proceßordnung als Regel zur Beur¬
theilung. Damit Wir Uns aber mit Unſerem vielgeliebten
Volke in eine organiſche Wirkſamkeit ſetzen koͤnnen, ſo ordnen
Wir hiermit an, daß alle und jede Gemeinde ſofort, nachdem
ſie von dieſer Verfuͤgung Kenntniß bekommen hat, ſich aus
ihrer Mitte einen Gemeindevorſteher erwaͤhlt, welcher vorzugs¬
weiſe durch ſeine Eigenſchaften das Vertrauen der Commune
beſitzt. Dieſer Gemeinde-Deputirte ſammelt von den Fami¬
lienvaͤtern die von ihm vorgeſchriebenen Verzeichniſſe, wodurch
Wir zu einer kurzen und deutlichen Ueberſicht von dem Ge¬
ſchlechte, dem Alter, Namen und Stande, den perſoͤnlichen
Eigenſchaften, den Sprachkenntniſſen oder den ſonſtigen Faͤhig¬
keiten der Familienmitglieder gelangen, und welche zugleich
die Bemerkung enthalten koͤnnen, wie und unter welchen Um¬
ſtaͤnden dieſer und jener nach Palaͤſtina heimzukehren, oder
ſeinen jetzigen Wohnſitz beizubehalten gedenkt. Es iſt bei die¬
ſer Gelegenheit einem Jeden unbenommen, Uns ſeine Wuͤnſche,
Hoffnungen, Anrathungen und Segnungen zukommen zu laſ¬
ſen und ſich auf dieſem Wege mit Uns in Bekanntſchaft und
geiſtige Verwandtſchaft zu ſetzen. Dem Gemeinde-Deputirten
ſteht es zu, die Familienverzeichniſſe mit denjenigen ſeiner
Bemerkungen in einer beſonderen Rubrik dafuͤr zu verſehen,
wo er denken kann, daß Wir die Mittheilung gern anneh¬
men werden. Uebrigens machen Wir es dem Deputirten hier¬
mit zur heiligſten Pflicht, dieſe in Rede ſtehenden Verzeichniſſe
ſo in Ehren zu halten, als es der Zweck der Sache mit ſich
bringt. Nach eingeſammelten Verzeichniſſen ſchreiten die Com¬
munal-Deputirten der Provinzen dazu, ſich aus ihrer Mitte
einen Provinzialrath oder Obervorſteher durch das Loos zu
erwaͤhlen, welchem alsdann jene ungebundenen oͤrtlichen Ver¬
zeichniſſe eingehaͤndigt werden, und welcher dieſelben wiederum
mit ſeinen Anmerkungen von den oͤrtlichen Verhaͤltniſſen einer
jeden Commune und ihres Vorſtehers verſieht. Die Provin¬
zialraͤthe werden ſich alsdann bald uͤber den Tag zu vereini¬
gen wiſſen, wo ſie ſich in dem befindlichen Staate in der
Hauptſtadt unter dem Schutze ihrer Obrigkeit verſammeln, um
alles Erforderliche, die Wohlfahrt Israels Betreffende zu ver¬
[229] abreden, und um aus ihrer Mitte durch das Loos einen
Landespraͤſidenten zu erwaͤhlen. Nach der getroffenen Wahl
des Praͤſidenten wird Uns das israelitiſche Landes Collegium,
welches aus den Provinzialraͤthen beſteht, davon unterrichten,
und die Wahl Unſerer Beſtaͤtigung vorlegen. Wir werden
Uns alsdann die Landespraͤſidenten vorſtellen laſſen, aus ih¬
ren Haͤnden die Verzeichniſſe und Gluͤckwuͤnſche Unſeres ge¬
liebten Volkes entnehmen, und Uns mit ihnen uͤber das Wohl
Israels berathen,” u. ſ. w.


Nachdem unſer Weltverbeſſerer durch Veranlaſſung der
Koͤnigl. Preuß. Geſandtſchaft in Conſtantinopel nach Deutſch¬
land zuruͤckgebracht worden, und er ſeinen Angehoͤrigen, welche
den Erwerbloſen bei ſich aufnehmen mußten, durch die ſtets
wiederholten Aeußerungen ſeines Wahns ſehr zur Laſt gefal¬
len war, erfolgte im Winter des Jahres 1834 ſeine Auf¬
nahme in die Charité. Dieſe ſeinen Hochmuth demuͤthigende
Maaßregel beugte ihn tief, und er gab waͤhrend der ganzen Zeit
ſeiner Anweſenheit in der Heilanſtalt durch ſein Benehmen
eine leidende Haltung des Gemuͤths zu erkennen, weshalb er
allen an ihn gerichteten Anforderungen mit der ſtrengſten
Puͤnktlichkeit nachlebte. Eine Zeit lang gab er ſich das An¬
ſehen, als ob er uͤber ſeine Verirrungen zum deutlichen Selbſt¬
bewußtſein gekommen ſei, und deshalb ſeinen hochfliegenden
Planen auf immer entſage; denn er verſicherte, durch den Er¬
folg ſeines Unternehmens zu der Ueberzeugung gelangt zu ſein,
daß er daſſelbe nicht nach goͤttlichem Willen begonnen habe.
Indeß beduͤrfte es nur eines Blicks auf den langjaͤhrigen
Urſprung ſeines Gemuͤthsleidens, um zu erkennen, daß daſ¬
ſelbe mit ſeiner ganzen geiſtigen Entwickelung innig verwebt
war, und daher die Hoffnung auf Heilung faſt unbedingt
ausſchloß. Auch verrieth er ſeine wahre Geſinnung in einigen
unbewachten Augenblicken, wo er, gereizt durch die Bemer¬
kungen eines anderen Kranken, der ſeine Verirrungen richtig
beurtheilte, ſeinen grenzenloſen Hochmuth in den unzweideu¬
tigſten Ausdruͤcken kund gab. Nachdem ihm die Larve der
Verſtellung entfallen, und er auf die Unredlichkeit einer ab¬
ſichtlichen Taͤuſchung aufmerkſam gemacht worden war, ent¬
hielt er ſich auch derſelben in der Folgezeit; doch verſicherte
[230] er, daß er durch oͤffentliche Bekanntmachung der ihm zu Theil
gewordenen Offenbarungen dem ihm von Gott beſtimmten Be¬
rufe Genuͤge geleiſtet habe, und daß er daher von perſoͤnlicher
Mitwirkung zur Erfuͤllung deſſelben entbunden, in untergeord¬
nete Lebensverhaͤltniſſe zuruͤcktreten wolle, wenn man ihm die
Gelegenheit dazu verſchaffe. Auf den Antrag eines Freundes,
der ihm die Mittel zu einem angemeſſenen Erwerbe darzu¬
bieten verſprach, wurde er nach mehreren Monaten aus der
Charité entlaſſen.

Appendix A

Halle,
Gebauer-Schwetſchkeſche Buchdruckerei.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der religiöse Wahnsinn. Der religiöse Wahnsinn. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmt1.0