oder
uͤber religioͤſe Macht und
Judenthum,
Staat und Religion — buͤrgerliche und
geiſtliche Verfaſſung — weltliches und kirchli-
ches Anſehen — dieſe Stuͤtzen des geſellſchaft-
lichen Lebens ſo gegen einander zu ſtellen, daß
ſie ſich die Wage halten, daß ſie nicht vielmehr
Laſten des geſellſchaftlichen Lebens werden, und
den Grund deſſelben ſtaͤrker druͤcken, als was
ſie tragen helfen — dieſes iſt in der Politik
eine der ſchwerſten Aufgaben, die man ſeit
Jahrhunderten ſchon aufzuloͤſen bemuͤhet iſt,
und hie und da vielleicht gluͤcklicher praktiſch
beygelegt, als theoretiſch aufgeloͤſet hat. Man
hat fuͤr gut befunden, dieſe verſchiedene Ver-
haͤltniſſe des geſelligen Menſchen in moraliſche
Weſen abzuſondern, und jedem derſelben [ei]n
eignes Gebiet, beſondere Rechte, Pflichten[,]
A 2Gewalt
[4] Gewalt und Eigenthum zuzuſchreiben. Aber der
Bezirk dieſer verſchiedenen Gebiete, und die
Graͤnzen, die ſie trennen, ſind noch bis itzt nicht
genau beſtimmt. Man ſiehet bald die Kirche das
Markmal weit in das Gebiet des Staats hin-
uͤbertragen, bald den Staat ſich Eingriffe er-
lauben, die den angenommenen Begriffen zufolge,
eben ſo gewaltſam ſcheinen. Und unermeßlich
ſind die Uebel, die aus der Mißhelligkeit dieſer
moraliſchen Weſen bisher entſtanden ſind, und
noch zu entſtehen drohen. Liegen ſie gegen ein-
ander zu Felde, ſo iſt das menſchliche Geſchlecht
das Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen ſie
ſich, ſo iſt es gethan, um das edelſte Kleinod der
menſchlichen Gluͤckſeligkeit; denn ſie vertragen
ſich ſelten anders, als um ein drittes moraliſches
Weſen, die Freyheit des Gewiſſens, die von
ihrer Uneinigkeit einigen Vortheil zu ziehen weiß,
aus ihrem Reiche zu verbannen.
Der Deſpotismus hat den Vorzug, daß er
buͤndig iſt. So laͤſtig ſeine Forderungen auch
dem geſunden Menſchenverſtande ſind, ſo ſind
ſie doch unter ſich zuſammenhaͤngend und ſyſte-
matiſch. Er hat auf jede Frage ſeine beſtimmte
Antwort. Ihr duͤrft euch weiter um die Graͤnzen
nicht
[5] nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt
nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch-
katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung.
Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und
gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle
ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens,
woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude
iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben
herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene
fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die
Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts
mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in
Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet
ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem
roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier
die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der
deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt[.]
So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte-
matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo
drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis
am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben
kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung,
die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen
in den erſten Zeiten der Reformation, und die
auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbeſ-
A 3ſerer
[6] ſerer ſelbſt, ſo oft ſie in dem Fall waren, in Ab-
ſicht auf Gerechtſame, das wie weit? feſt zu ſe-
tzen. Nicht nur praktiſch war es ſchwer, den
großen, ſeiner Feſſel entbundenen Haufen inner-
halb geziemender Schranken zu halten; ſondern
auch in der Theorie ſelbſt findet man die Schrif-
ten jener Zeiten voller unbeſtimmten und ſchwan-
kenden Begriffe, ſo oft von Feſtſetzung der kirch-
lichen Gewalt die Rede iſt. Der Deſpotismus
der roͤmiſchen Kirche war aufgehoben, aber —
welche andre Form ſoll an ihrer Stelle einge-
fuͤhrt werden? — Noch itzt in unſern aufgeklaͤr-
tern Zeiten haben die Lehrbuͤcher des Kir-
chenrechts von dieſer Unbeſtimmtheit nicht be-
freyet werden koͤnnen. Allen Anſpruch auf Ver-
faſſung will oder kann die Geiſtlichkeit nicht auf-
geben, und gleichwohl weis niemand recht, wor-
in ſolche beſtehe? Man will Streitigkeiten in
der Lehre entſcheiden, ohne einen oberſten Rich-
ter zu erkennen. Man beruft ſich noch immer
auf eine unabhaͤngige Kirche, ohne zu wiſſen,
wo ſie anzutreffen ſey. Man macht Anſpruch
auf Macht und Recht, und kann doch nicht
angeben, wer ſie handhaben ſoll?
Tho-
[7]
Thomas Hobbes lebte zu einer Zeit, da der
Fanatismus, mit einem unordentlichen Gefuͤhle
von Freyheit verbunden, keine Schranken mehr
kannte, und im Begriffe war, wie ihm auch am
Ende gelang, die koͤnigliche Gewalt unter den
Fuß zu bringen, und die ganze Landesverfaſſung
um zu ſtuͤrzen. Der buͤrgerlichen Unruhen uͤber-
druͤßig, und von Natur zum ſtillen, ſpekulati-
ven Leben geneigt, ſetzte er die hoͤchſte Gluͤckſee-
ligkeit in Ruhe und Sicherheit, ſie mochte kom-
men, woher ſie wollte; und dieſe fand er nir-
gend, als in der Einheit und Unzertrennlichkeit
der hoͤchſten Gewalt im Staate. Der oͤffentli-
chen Wohlfarth, glaubte er alſo, ſey am beſten
gerathen, wenn alles, ſogar unſer Urtheil uͤber
Recht und Unrecht, der hoͤchſten Gewalt der buͤr-
gerlichen Obrigkeit unterworfen wuͤrde[.] Um
dieſes deſto fuͤglicher thun zu koͤnnen, ſetzte er
zum voraus, der Menſch habe von Natur die
Befugniß zu allem, wozu er von ihr das Ver-
moͤgen erhalten hat. Stand der Natur ſey
Stand des allgemeinen Aufruhrs, des Krieges
aller wider alle, in welchem jeder mag, was er
kann; alles Recht iſt, wozu man Macht hat.
Dieſer ungluͤckſelige Zuſtand habe ſo lange ge-
A 4dauert,
[8] dauert, bis die Menſchen uͤbereingekommen,
ihrem Elende ein Ende zu machen, auf Recht
und Macht, in ſo weit es die oͤffentliche Sicher-
heit betrift, Verzicht zu thun, ſolche einer feſt-
geſetzten Obrigkeit in die Haͤnde zu liefern, und
nunmehr ſey dasjenige Recht, was dieſe Obrig-
keit befielt.
Fuͤr buͤrgerliche Freyheit hatte er entweder
keinen Sinn, oder wollte er ſie lieber vernichtet,
als ſo gemißbraucht ſehen. Um ſich aber die Frey-
heit zu denken aus zu ſparen, davon er ſelbſt
mehr als irgend jemand Gebrauch machte, [nahm]
er ſeine Zuflucht zu einer feinen Wendung. Alles
Recht gruͤndet ſich, nach ſeinem Syſtem, auf
Macht, und alle Verbindlichkeit auf Furcht;
da nun Gott der Obrigkeit an Macht unendlich
uͤberlegen iſt; ſo ſey auch das Recht Gottes un-
endlich uͤber das Recht der Obrigkeit erhaben,
und die Furcht vor Gott verbinde uns zu Pflich-
ten, die keiner Furcht vor der Obrigkeit weichen
duͤrfen. Jedoch ſey dieſes nur von der innern
Religion zu verſtehen, um die allein es dem
Weltweiſen zu thun war. Den aͤuſſern Gottes-
dienſt unterwarf er voͤllig dem Befehle der buͤr-
gerlichen Obrigkeit, und jede Neuerung in kirch-
lichen
[9] lichen Sachen, ohne derſelben Autoritaͤt, ſey
nicht nur Hochverrath, ſondern auch Laͤſterung.
Die Colliſionen, die zwiſchen dem innern und aͤuſ-
ſern Gottesdienſte entſtehen muͤſſen, ſucht er durch
die feinſten Unterſcheidungen zu heben, und ob-
gleich noch ſo manche Luͤcken zuruͤckbleiben, die
die Schwaͤche der Vereinigung ſichtbar machen;
ſo iſt doch der Scharfſinn zu bewundern, mit
welchem er ſein Syſtem hat buͤndig zu machen
geſucht.
Im Grunde liegt in allen Behauptungen
des Hobbes viel Wahrheit, und die ungereim-
ten Folgen, zu welchen ſie fuͤhren, fließen blos
aus der Uebertreibung, mit welcher er ſie, aus
Liebe zur Paradoxie, oder den Beduͤrfniſſen
ſeiner Zeiten gemaͤß, vorgetragen hat. Zum
Theil waren auch die Begriffe des Naturrechts
zu ſeiner Zeit noch nicht aufgeklaͤrt genug, und
Hobbes hat das Verdienſt um die Moralphiloſo-
phie, das Spinoza um die Metaphyſik hat.
Sein ſcharfſinniger Irrthum hat Unterſuchung
veranlaſſet. Man hat die Ideen von Recht und
Pflicht, Macht und Verbindlichkeit beſſer ent-
wickelt; man hat phyſiſches Vermoͤgen von ſittli-
chem Vermoͤgen, Gewalt von Befugniß richtiger
A 5unter-
[10] unterſcheiden gelernt, und dieſe Unterſcheidungen
ſo innigſt mit der Sprache verbunden, daß nun-
mehr die Widerlegung des hobbeſiſchen Syſtems
ſchon in dem geſunden Menſchverſtande, und
ſo zu ſagen, in der Sprache zu liegen ſcheinet.
Dieſes iſt die Eigenſchaft aller ſittlichen Wahr-
heiten. Sobald ſie ins Licht geſetzt ſind, ver-
einigen ſie ſich ſo ſehr mit der Sprache des Um-
gangs und verbinden ſich mit den alltaͤglichen
Begriffen der Menſchen, daß ſie dem gemeinen
Menſchenverſtande einleuchten, und nunmehr
wundern wir uns, wie man vormals auf einem
ſo ebnen Wege habe ſtraucheln koͤnnen. Wir
bedenken aber den Aufwand nicht, den es ge-
koſtet, dieſen Steig durch die Wildniß ſo
zu ebnen.
Hobbes ſelbſt mußte die unſtatthaften Fol-
gen auf mehr als eine Weiſe empfinden, zu
welchen ſeine uͤbertriebenen Saͤtze unmittelbar
fuͤhren. Sind die Menſchen von Natur an
keine Pflicht gebunden, ſo liegt ihnen auch nicht
einmal die Pflicht ob, ihre Vertraͤge zu halten.
Findet im Stande der Natur keine andre Ver-
bindlichkeit Statt, als die ſich auf Furcht und
Ohnmacht gruͤndet; ſo dauert die Guͤltigkeit der
Ver-
[11] Vertraͤge auch nur ſo lange, als ſie von Furcht
und Ohnmacht unterſtuͤtzt wird; ſo haben die
Menſchen durch Vertraͤge keinen Schritt naͤher
zu ihrer Sicherheit gethan, und befinden ſich
noch immer in ihrem primitiven Zuſtande des
allgemeinen Krieges. Sollten aber Vertraͤge
guͤltig ſeyn; ſo muß der Menſch von Natur,
ohne Vertrag und Verabredung, an und fuͤr
ſich ſelbſt nicht befugt ſeyn, wider ein Paktum
zu handeln, das er gutwillig eingegangen; das
heißt, es muß ihm nicht erlaubt ſeyn, wenn er
auch kann: er muß das ſittliche Vermoͤgen nicht
haben, wenn er auch das phyſiſche dazu haͤtte.
Macht und Recht ſind alſo verſchiedene Dinge,
und waren auch im Stande der Natur hetero-
gene Begriffe. —— Ferner, der hoͤchſten Ge-
walt im Staate ſchreibt Hobbes ſtrenge Geſetze
vor, nichts zu befehlen, das der Wohlfarth
ihrer Unterthanen zuwider ſey. Wenn ſie auch
keinem Menſchen Rechenſchaft zu geben ſchuldig
ſeyen; ſo haben ſie dieſe doch vor dem allerhoͤch-
ſten Richter abzulegen; wenn ſie auch nach ſeinen
Grundſaͤtzen keine Furcht vor irgend einer menſch-
lichen Macht binde; ſo binde ſie doch die Furcht
vor der Allmacht, die ihren Willen hieruͤber hin-
laͤng-
[12] laͤnglich zu erkennen gegeben. Hobbes iſt hier-
uͤber ſehr ausfuͤhrlich, und hat im Grunde weit
weniger Nachſicht fuͤr die Goͤtter der Erde, als
man ſeinem Syſtem zutrauen ſollte. Allein eben
dieſe Furcht vor der Allmacht, welche die Koͤ-
nige und Fuͤrſten an gewiſſe Pflichten gegen ihre
Unterthanen binden ſoll, kann doch auch im
Stande der Natur fuͤr jeden einzelnen Menſchen
eine Quelle der Obliegenheiten werden, und ſo
haͤtten wir abermals ein ſolennes Recht der Na-
tur, das Hobbes doch nicht zugeben will. —
Auf ſolche Weiſe kann ſich in unſern Tagen jeder
Schuͤler des Naturrechts einen Triumph uͤber
Thomas Hobbes erwerben, den er im Grunde
doch ihm zu verdanken hat.
Locke, der in denſelben verwirrungsvollen
Zeitlaͤuften lebte, ſuchte die Gewiſſen[sf]reiheit
auf eine andre Weiſe zu ſchirmen. In ſeinen
Briefen uͤber die Toleranz legt er die Definition
zum Grunde: Ein Staat ſey eine Geſellſchaft
von Menſchen, die ſich vereinigen, um ihre
zeitliche Wohlfahrt gemeinſchaftlich zu be-
foͤrdern. Hieraus folgt alsdann ganz natuͤrlich,
daß der Staat ſich um die Geſinnungen der
Buͤrger, ihre ewige Gluͤckſeligkeit betreffend,
gar
[13] gar nicht zu bekuͤmmern, ſondern jeden zu dul-
den habe, der ſich buͤrgerlich gut auffuͤhrt, das
heißt ſeinen Mitbuͤrgern, in Abſicht ihrer zeit-
lichen Gluͤckſeligkeit, nicht hinderlich iſt. Der
Staat, als Staat, hat auf keine Verſchiedenheit
der Religionen zu ſehen; denn Religion hat an
und fuͤr ſich auf das Zeitliche keinen nothwen-
digen Einfluß, und ſtehet blos durch die Will-
kuͤhr der Menſchen mit demſelben in Verbindung.
Sehr wohl! Ließe ſich der Zwiſt durch eine
Worterklaͤrung entſcheiden; ſo wuͤßte ich keine
bequemere, und wenn ſich die unruhigen Koͤpfe
ſeiner Zeit hiemit haͤtten die Intoleranz ausreden
laſſen; ſo wuͤrde der gute Locke nicht noͤthig ge-
habt haben, ſo oft ins Elend zu wandern. Allein
was hindert uns, fragen jene, daß wir nicht
auch unſere ewige Wohlfarth gemeinſchaftlich zu
befoͤrdern ſuchen ſollten? und in der That, was
fuͤr Grund haben wir, die Abſicht der Geſellſchaft
blos auf das Zeitliche einzuſchraͤnken? Wenn
die Menſchen ihre ewige Seligkeit durch oͤffent-
liche Vorkehrungen befoͤrdern koͤnnen; ſo iſt es
ja ihre natuͤrliche Pflicht es zu thun, ihre ver-
nunftmaͤßige Schuldigkeit, daß ſie ſich auch in
dieſer Abſicht zuſammenthun, und in geſellſchaft-
liche
[14] liche Verbindung treten. Iſt aber dieſes, und
der Staat, als Staat, will ſich blos mit dem
Zeitlichen abgeben; ſo entſtehet die Frage: wem
ſollen wir die Sorge fuͤr das Ewige antrauen?
— Der Kirche? Nun ſind wir auf einmal wie-
der da, wo wir ausgegangen waren. Staat
und Kirche. — Sorge fuͤr das Zeitliche und
Sorge fuͤr das Ewige — buͤrgerliche und kirchli-
che Autoritaͤt. Jene verhaͤlt ſich zu dieſer, wie
die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit
des Ewigen. Der Staat iſt alſo der Religion
untergeordnet; muß weichen, wenn eine Colliſion
entſtehet. Nun widerſtehe, wer da kann, dem
Cardinal Bellarmin, mit dem fuͤrchterlichen Ge-
folge ſeiner Argumente, daß das Oberhaupt der
Kirche, zum Behuf des Ewigen, uͤber alles Zeit-
liche zu befehlen, und alſo wenigſtens indirecte *)
ein Hoheitsrecht habe, uͤber alle Guͤter und Ge-
muͤther der Welt; daß alle weltliche Reiche in-
directe
[15] directe unter der Botmaͤßigkeit des geiſtlichen
Einzelherren ſtuͤnden, und von ihm Befehle an-
nehmen muͤßten, wenn ſie ihre Regierungsform
veraͤndern, ihre Koͤnige abſetzen, und andere an ih-
rer Stelle einſetzen muͤßten; weil ſehr oft das ewi-
ge Heil des Staats auf keine andere Weiſe erhal-
ten werden koͤnne — und wie die Maximen ſeines
Ordens alle heißen, die Bellarmin in ſeinem Wer-
ke de Romano Pontifice mit ſo vielem Scharfſin-
ne feſtſetzet. Alles, was man den Trugſchluͤſſen
des Cardinals in ſehr weitlaͤuftigen Werken ent-
gegengeſetzt hat, ſcheint nicht zum Ziel zu treffen,
ſobald der Staat die Sorge fuͤr die Ewigkeit
ganz aus den Haͤnden giebt.
Von einer andern Seite iſt es im genauſten
Verſtande weder der Wahrheit gemaͤß, noch dem
Beſten der Menſchen zutraͤglich, daß man das
Zeitliche von dem Ewigen ſo ſcharf abſchneide.
Dem Menſchen wird im Grunde nie eine Ewig-
keit zu Theile werden: Sein Ewiges iſt blos ein
unaufhoͤrliches Zeitliche. Sein Zeitliches nimmt
nie ein Ende, iſt alſo ein weſentlicher Theil ſeiner
Fortdauer, und mit derſelben aus einem Stuͤcke.
Man verwirret die Begriffe, wenn man ſeine
zeitliche Wohlfarth der ewigen Gluͤckſelig-
keit
[16] keit entgegen ſetzet. Und dieſe Verwirrung der
Begriffe bleibt nicht ohne praktiſche Folgen. Sie
verruͤckt den Wirkungskreis der menſchlichen Faͤ-
higkeiten, und ſpannet ſeine Kraͤfte uͤber das
Ziel hinaus, das ihm von der Vorſehung mit ſo
vieler Weisheit geſetzt worden. „Auf dem
„dunkeln Pfade, man erlaube, daß ich meine
„eigenen Worte *) hier anfuͤhre, auf dem dun-
„keln Pfade, den der Menſch hier zu wandeln
„hat, iſt ihm gerade ſo viel Licht beſchieden,
„als zu den naͤchſten Schritten, die er zu
„thun hat, noͤthig iſt. Ein mehreres wuͤrde
„ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht nur
„verwirren.„ Es iſt noͤthig, daß der Menſch
unaufhoͤrlich erinnert werde, mit dieſem Leben
ſey nicht alles aus fuͤr ihn; es ſtehe ihm eine
endloſe Zukunft bevor, zu welcher ſein Leben hie-
nieden eine Vorbereitung ſey, ſo wie in der gan-
zen Schoͤpfung jedes Gegenwaͤrtige eine Vorbe-
reitung aufs Kuͤnftige iſt. Dieſes Leben, ſagen
die Rabbinen, iſt ein Vorgemach, in welchem
man ſich ſo anſchicken muß, wie man im innern
Zim-
[17] Zimmer erſcheinen will. Aber nun huͤtet euch
auch, dieſes Leben mit der Zukunft weiter in
Gegenſatz zu bringen, und die Menſchen auf die
Gedanken zu fuͤhren: ihre wahre Wohlfahrt in
dieſem Leben ſey nicht einerley mit ihrer ewigen
Gluͤckſeligkeit in der Zukunft; ein anderes waͤre
es fuͤr ihr zeitliches, ein anderes fuͤr ihr ewiges
Wohl ſorgen, und es ſey moͤglich, eines zu
erhalten, und das andre zu vernachlaͤßigen.
Dem Bloͤdſichtigen, der auf ſchmalem Steige
wandeln ſoll, werden durch desgleichen Vorſpie-
gelungen Standpunkt und Geſichtskreis verruͤckt,
und er iſt in Gefahr ſchwindlicht zu werden, und
auf ebenem Wege zu ſtolpern. So mancher ge-
traut ſich nicht, die gegenwaͤrtigen Wohlthaten
der Vorſehung zu genießen, aus Beſorgniß eben
ſo viel von denſelben dort zu verlieren, und
mancher iſt ein ſchlechter Buͤrger auf Erden ge-
worden, in Hoffnung dadurch ein deſto beſſerer
im Himmel zu werden.
Ich habe mir die Begriffe von Staat und
Religion, von ihren Graͤnzen und wechſelweiſem
Einfluß auf einander, ſowohl, als auf die Gluͤck-
ſeligkeit des buͤrgerlichen Lebens, durch folgende
Betrachtungen deutlich zu machen geſucht. So
Erſter Abſchnitt. Bbald
[18] bald der Menſch zur Erkenntnis koͤmmt, daß er,
auſſerhalb der Geſellſchaft, ſo wenig die Pflich-
ten gegen ſich ſelbſt und gegen den Urheber ſei-
nes Daſeyns, als die Pflichten gegen ſeinen
Naͤchſten erfuͤllen, und alſo ohne Gefuͤhl ſeines
Elends nicht laͤnger in ſeinem einſamen Zuſtan-
de bleiben kann; ſo iſt er verbunden, denſelben
zu verlaſſen, mit ſeines gleichen in Geſellſchaft
zu treten, um durch gegenſeitige Huͤlfe ihre Be-
duͤrfniſſe zu befriedigen, und durch gemeinſame
Vorkehrungen, ihr gemeinſames Beſte zu be-
foͤrdern. Ihr gemeinſames Beſte aber begreift
das Gegenwaͤrtige ſowohl als das Zukuͤnftige,
das Geiſtliche ſowohl als das Irdiſche, in
ſich. Eins iſt von dem andern unzertrenn-
lich. Ohne Erfuͤllung unſerer Obliegenheiten
iſt fuͤr uns weder hie noch da; weder auf Er-
den, noch im Himmel, ein Gluͤck zu erwar-
ten. Nun gehoͤret zur wahren Erfuͤllung un-
ſerer Pflichten, zweyerlei: Handlung und
Geſinnung. Durch die Handlung geſchieht
das, was die Pflicht erfordert, und die Ge-
ſinnung macht, daß es aus der wahren Quelle
komme, d. i. aus aͤchten Bewegungsgruͤnden
geſchehe.
[19]
Alſo Handlungen und Geſinnungen gehoͤren
zur Vollkommenheit des Menſchen, und die Ge-
ſellſchaft hat, ſo viel als moͤglich, durch gemein-
ſchaftliche Bemuͤhungen fuͤr beides zu ſorgen;
d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemein-
ſchaftlichen Beſten zu lenken, und Geſinnungen
zu veranlaſſen, die zu dieſen Handlungen fuͤh-
ren. Jenes iſt die Regierung, dieſes die Erzie-
hung des geſelligen Menſchen. Zu beiden wird
der Menſch durch Gruͤnde geleitet, und zwar
zu den Handlungen durch Bewegungsgruͤnde,
und zu den Geſinnungen durch Wahrheits-
gruͤnde. Die Geſellſchaft hat alſo beide durch
oͤffentliche Anſtalten ſo einzurichten, daß ſie zum
allgemeinen Beſten uͤbereinſtimmen.
Die Gruͤnde, welche den Menſchen zu ver-
nuͤnftigen Handlungen und Geſinnungen leiten,
beruhen zum Theil auf Verhaͤltniſſen der Men-
ſchen gegen einander, zum Theil auf Verhaͤlt-
niſſen der Menſchen gegen ihren Urheber und
Erhalter. Jene gehoͤren fuͤr den Staat, dieſe
fuͤr die Religion. In ſo weit die Handlungen
und Geſinnungen der Menſchen, durch Gruͤnde,
die aus ihren Verhaͤltniſſen gegen einander flieſ-
ſen, gemeinnuͤtzig gemacht werden koͤnnen,
B 2ſind
[20] ſind ſie ein Gegenſtand der buͤrgerlichen Verfaſ-
ſung; in ſo weit aber die Verhaͤltniſſe der Men-
ſchen gegen Gott, als Quelle derſelben ange-
nommen werden, gehoͤren ſie fuͤr die Kirche,
Synagoge oder Moſchee. Man lieſt in ſo man-
chen Lehrbuͤchern des ſogenannten Kirchenrechts
ernſthafte Unterſuchungen: ob auch Juden, Ketzer
und Irrglaͤubige eine Kirche haben koͤnnen. Nach
den unermeßlichen Vorrechten, die die ſoge-
nannte Kirche ſich anzumaßen pflegt, iſt die
Frage ſo ungereimt nicht, als ſie einem unbefan-
genen Leſer ſcheinen muß. Mir koͤmmt es aber,
wie leicht zu erachten, auf dieſen Unterſchied der
Benennung nicht an. Oeffentliche Anſtalten zur
Bildung des Menſchen, die ſich auf Verhaͤltniſſe
des Menſchen zu Gott beziehen, nenne ich Kir-
che; — zum Menſchen, Staat. Unter Bildung
des Menſchen verſtehe ich die Bemuͤhung, bei-
des, Geſinnungen und Handlungen ſo einzurich-
ten, daß ſie zur Gluͤckſeligkeit uͤbereinſtimmen;
die Menſchen erziehen und regieren.
Heil dem Staate, dem es gelinget, das
Volk durch die Erziehung ſelbſt zu regieren; das
heißt, ihm ſolche Sitten und Geſinnungen ein-
zufloͤßen, die von ſelbſt zu gemeinnuͤtzigen Hand-
lungen
[21] lungen fuͤhren, und nicht immer durch den Sporn
der Geſetze angetrieben zu werden brauchen. —
Der Menſch im geſellſchaftlichen Leben muß auf
manches von ſeinen Rechten zum allgemeinen
Beſten Verzicht thun; oder wie man es nennen
kann, ſehr oft ſeinen eigenen Nutzen dem Wohl-
wollen aufopfern. Nun iſt er gluͤcklich, wenn
dieſe Aufopferung eigenes Triebes geſchiehet,
und er jedes Mal wahrnimmt, daß ſie blos zum
Behuf des Wohlwollens von ihm geſchehen ſey.
Wohlwollen macht im Grunde gluͤcklicher, als
Eigennutz; aber wir muͤſſen uns ſelbſt und die
Aeuſſerung unſerer Kraͤfte dabey empfinden. Nicht
wie einige Sophiſten es auslegen, weil alles
am Menſchen Eigenliebe iſt; ſondern weil Wohl-
wollen kein Wohlwollen mehr iſt, weder Werth
noch Verdienſt mit ſich fuͤhret, wenn es nicht
aus freyem Triebe des Wohlwollenden fließet.
Hierdurch kann man vielleicht auf die be-
kannte Frage: Welche Regierungsform iſt die
beſte? eine befriedigende Antwort geben. Eine
Frage auf welche bisher ſich widerſprechende
Antworten, mit gleichem Scheine der Wahr-
heit, gegeben worden ſind. Im Grunde iſt ſie
zu unbeſtimmt, faſt ſo wie jene mediciniſche Frage
B 3von
[22] von gleicher Art: Welche Speiſe iſt die geſun-
deſte? Jede Complexion, jedes Clima, jedes
Alter, Geſchlecht, Lebensart u. ſ. w. erfordert
eine andere Antwort. Eben ſo verhaͤlt es ſich
mit unſerm politiſchphiloſophiſchen Problem.
Fuͤr jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf
welcher es ſtehet, iſt eine andere Regierungsform
die beſte. Manche despotiſch regierte Nationen
wuͤrden hoͤchſt elend ſeyn, wenn man ſie ſich ſelbſt
uͤberließe; ſo elend als manche freygeſinnten
Republikaner, wenn man ſie einem Einzelherrn
unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird,
ſo wie ſich Cultur, Lebensart und Geſinnung
abaͤndert, auch mit der Regierungsform aͤndern,
und in einer Folge von Jahrhunderten den gan-
zen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie
bis zum Despotismus, durch alle Schattirun-
gen und Vermiſchungen durchwandern, und doch
immer die Form gewaͤhlt haben, die in ſolchen
Umſtaͤnden fuͤr ſie die Beſte war.
Unter allen Umſtaͤnden und Bedingungen aber
halte ich es fuͤr einen untruͤglichen Maaßſtab
von der Guͤte der Regierungsform, je mehr in
derſelben durch Sitten und Geſinnungen ge-
wuͤrkt, und alſo durch die Erziehungen ſelbſt re-
giert
[23] giert wird. Mit andern Worten, je mehr dem
Buͤrger Anlaß gegeben wird, anſchauend zu er-
kennen, daß er auf einige ſeiner Rechte nur zum
allgemeinen Beſten Verzicht zu thun, von ſeinem
Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens
aufzuopfern hat, und alſo von der einen Seite
durch Aeuſſerung des Wohlwollens eben ſo viel
gewinnet, als er durch die Aufopferung verliert.
Ja, daß er durch die Aufopferung ſelbſt noch
an innerer Gluͤckſeligkeit wuchere; indem dieſe
das Verdienſt und die Wuͤrde der wohlthaͤtigen
Handlung und alſo die wahre Vollkommenheit
des Wohlwollenden vermehret. Es iſt z. B.
nicht rathſam, daß der Staat alle Pflichten
der Menſchenliebe, bis auf die Almoſenpflege,
uͤbernehme, und in oͤffentliche Anſtalten verwan-
dele. Der Menſch fuͤhlt ſeinen Werth, wenn er
Mildthaͤtigkeit ausuͤbt; wenn er anſchauend
wahrnimmt, wie er durch ſeine Gabe die Noth
ſeines Nebenmenſchen erleichtert; wenn er giebt,
weil er will. Giebt er aber, weil er muß;
ſo fuͤhlt er nur ſeine Feſſeln.
Eine Hauptbemuͤhung des Staats muß es
alſo ſeyn, die Menſchen durch Sitten und Ge-
ſinnungen zu regieren. Nun giebt es kein Mit-
B 4tel,
[24] tel, die Geſinnungen, und vermittelſt derſelben, die
Sitten der Menſchen zu verbeſſern, als Ueberzeu-
gung. Geſetze veraͤndern keine Geſinnung, will-
kuͤrliche Strafen und Belohnung erzeugen keine
Grundſaͤtze, veredeln keine Sitten. Furcht und
Hoffnung ſind keine Kriterien der Wahrheit. Er-
kenntniß, Vernunftgruͤnde, Ueberzeugung, dieſe
allein bringen Grundſaͤtze hervor, die, durch An-
ſehen und Beyſpiel, in Sitten uͤbergehen koͤnnen.
Und hier iſt es, wo die Religion dem Staat zu
Huͤlfe kommen, und die Kirche eine Stuͤtze der
buͤrgerlichen Gluͤckſeligkeit werden ſoll. Ihr
koͤmmt es zu, das Volk auf die nachdruͤcklichſte
Weiſe von der Wahrheit edler Grundſaͤtze und
Geſinnungen zu uͤberfuͤhren; ihnen zu zeigen,
daß die Pflichten gegen Menſchen auch Pflichten
gegen Gott ſeyen, die zu uͤbertreten, ſchon an
und fuͤr ſich hoͤchſtes Elend ſey; daß dem Staate
dienen ein wahrer Gottesdienſt, Recht und Ge-
rechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohlthun
ſein allerheiligſter Wille ſey, und daß wahre Er-
kenntniß des Schoͤpfers keinen Menſchenhaß in
der Seele zuruͤcklaſſen koͤnne. Dieſes zu lehren,
iſt Amt und Pflicht und Beruf der Religion;
dieſes zu predigen Amt und Pflicht und Beruf
ihrer
[25] ihrer Diener. Wie hat es den Menſchen beykome
men koͤnnen, jene das Gegentheil lehren, dieſe
das Gegentheil predigen zu laſſen?
Wenn aber der Charakter der Nation, der
Grad der Cultur, auf welchen ſie geſtiegen, die
mit dem Wohlſtande der Nation gewachſene
Volksmenge, vervielfaͤltigte Verhaͤltniſſe und
Verbindungen, uͤberhand genommene Ueppig-
keit und andere Urſachen es unmoͤglich machen,
die Nation blos durch Geſinnungen zu regieren;
ſo nimmt der Staat ſeine Zuflucht zu oͤffentlichen
Anſtalten, Zwangsgeſetzen, Beſtrafungen des
Verbrechens und Belohnung des Verdienſtes.
Wenn der Buͤrger nicht aus innerm Gefuͤhl ſei-
ner Schuldigkeit das Vaterland vertheidigen
will; ſo werde er durch Belohnung gelockt, oder
durch Gewalt gezwungen. Haben die Menſchen
keinen Sinn mehr fuͤr den innern Werth der
Gerechtigkeit, erkennen ſie nicht mehr, daß Red-
lichkeit in Handel und Wandel wahre Gluͤckſe-
ligkeit ſey; ſo werde die Ungerechtigkeit gezuͤch-
tiget, der Betrug beſtraft. Freylich erhaͤlt der
Staat auf dieſe Weiſe den Endzweck der Geſell-
ſchaft nur zur Haͤlfte. Aeußere Bewegungs-
gruͤnde machen den, auf welchen ſie auch wir-
B 5ken
[26] ken, nicht gluͤcklich. Wer aus Liebe zur Recht-
ſchaffenheit den Betrug meidet, iſt gluͤcklicher,
als der nur die willkuͤhrlichen Strafen fuͤrchtet,
die der Staat mit dem Betruge verbunden.
Allein ſeinem Nebenmenſchen kann es gleichviel
gelten, aus welchen Bewegurſachen das Unrecht
unterbleibt, durch welche Mittel ihm ſein Recht
und Eigenthum geſichert wird. Das Vaterland
iſt vertheidiget; die Buͤrger moͤgen aus Liebe,
oder aus Furcht vor poſitiver Strafe, fuͤr daſſel-
be fechten; obgleich die Vertheidiger ſelbſt in
jenem Falle gluͤcklich, in dieſem aber ungluͤcklich
ſind. Wenn innere Gluͤckſeligkeit der Geſell-
ſchaft nicht voͤllig zu erhalten ſtehet; ſo werde
wenigſtens aͤuſſere Ruhe und Sicherheit allen-
falls erzwungen.
Der Staat alſo begnuͤgt ſich allenfalls mit
todten Handlungen, mit Werken ohne Geiſt, mit
Uebereinſtimmung im Thun, ohne Uebereinſtim-
mung in Gedanken. Auch wer nicht an Geſetze
glaubt, muß nach dem Geſetze thun, ſobald es
Sanction erhalten hat. Er kann dem einzelnen
Buͤrger das Recht laſſen, uͤber die Geſetze zu
urtheilen; aber nicht nach ſeinem Urtheile zu
handeln; denn hierauf hat er als Mitglied der
Geſell-
[27] Geſellſchaft Verzicht thun muͤſſen, weil ohne
dieſe Verzicht eine buͤrgerliche Geſellſchaft ein
Unding iſt. — Nicht alſo die Religion! Dieſe
kennet keine Handlung ohne Geſinnung, kein
Werk ohne Geiſt, keine Uebereinſtimmung im
Thun, ohne Uebereinſtimmung im Sinne. Re-
ligioͤſe Handlungen, ohne religioͤſe Gedanken, iſt
leeres Puppenſpiel, kein Gottesdienſt. Dieſe
muͤſſen alſo an und fuͤr ſich ſelbſt aus dem
Geiſte kommen, und koͤnnen weder durch Be-
lohnung erkauft, noch durch Strafen erzwun-
gen werden. Aber auch von buͤrgerlichen Hand-
lungen ziehet die Religion ihre Hand ab, in ſo
weit ſie nicht durch Geſinnung, ſondern durch
Macht hervorgebracht werden. Der Staat hat
ſich auch keine Huͤlfe mehr von der Religion zu
verſprechen, ſobald er blos durch Belohnung
und Beſtrafung wuͤrken kann; denn in ſo weit
dieſes geſchiehet, kommen die Pflichten gegen
Gott weiter in keine Betrachtung, ſind die Ver-
haͤltniſſe zwiſchen dem Menſchen und ſeinem
Schoͤpfer ohne Wirkung. Aller Beyſtand, den
die Religion dem Staate leiſten kann, iſt Be-
lehren und Troͤſten; durch ihre goͤttlichen Leh-
ren dem Buͤrger gemeinnuͤtzige Geſinnungen bey-
brin-
[28] bringen, und durch ihre uͤberirrdiſche Troſtgruͤn-
de den Elenden aufrichten, der als ein Opfer fuͤr
das gemeine Beſte zum Tode verurtheilt worden.
Hier zeigt ſich alſo ſchon ein weſentlicher Un-
terſchied zwiſchen Staat und Religion. Der
Staat gebietet und zwinget; die Religion belehrt
und uͤberredet; der Staat ertheilt Geſetze, die
Religion Gebote. Der Staat hat phyſiſche Ge-
walt und bedient ſich derſelben, wo es noͤthig
iſt; die Macht der Religion iſt Liebe und Wohl-
thun. Jener giebt den Ungehorſamen auf, und
ſtoͤßt ihn aus; dieſe nimmt ihn in ihren Schoos,
und ſucht ihn noch in dem letzten Augenblicke
ſeines gegenwaͤrtigen Lebens, nicht ganz ohne
Nutzen, zu belehren, oder doch wenigſtens zu
troͤſten. Mit einem Worte: die buͤrgerliche Ge-
ſellſchaft kann, als moraliſche Perſon, Zwangs-
rechte haben, und hat dieſe auch durch den ge-
ſellſchaftlichen Vertrag wuͤrklich erhalten. Die
religioͤſe Geſellſchaft macht keinen Anſpruch auf
Zwangsrecht und kann durch alle Vertraͤge
in der Welt kein Zwangsrecht erhalten. Der
Staat beſitzet vollkommene, die Kirche blos
unvollkommene Rechte. Um dieſes gehoͤrig
ins
[29] ins Licht zu ſetzen, erlaube man mir zu den
erſten Begriffen hinaufzuſteigen, und den
Urſprung der Zwangsrechte und Guͤltig-
keit der Vertraͤge unter den Menſchen
etwas genauer zu unterſuchen. Ich bin in Ge-
fahr, fuͤr manche Leſer zu ſpekulativ zu werden.
Allein hat doch jeder die Freyheit das zu uͤber-
ſchlagen, was nicht nach ſeinem Geſchmacke iſt.
Den Freunden des Naturrechts duͤrfte es nicht
unangenehm ſeyn, zu ſehen, wie ich mir die
erſten Grundſaͤtze deſſelben zu eroͤrtern geſucht
habe. —
Die Befugniß (das ſittliche Vermoͤgen)
ſich eines Dinges als Mittels zu ſeiner
Gluͤckſeligkeit zu bedienen, heißt ein Recht.
Das Vermoͤgen aber heißt ſittlich, wenn es
mit den Geſetzen der Weisheit und Guͤte
beſtehen kann, und die Dinge, die als Mit-
tel zur Gluͤckſeligkeit dienen koͤnnen, wer-
den Guͤter genannt. Der Menſch hat alſo
ein Recht auf gewiſſe Guͤter oder Mittel
zur Gluͤckſeligkeit, in ſo weit ſolches den
Geſetzen der Weisheit und Guͤte nicht
widerſpricht.
[30]
Was nach den Geſetzen der Weisheit und
der Guͤte geſchehn muß, oder deſſen Gegen-
theil den Geſetzen der Weisheit oder der
Guͤte widerſprechen wuͤrde: heißt ſittlich
nothwendig. Die ſittliche Nothwendigkeit
(Schuldigkeit) etwas zu thun, oder zu un-
terlaſſen, iſt eine Pflicht.
Die Geſetze der Weisheit und Guͤte koͤn-
nen ſich nicht einander widerſprechen. Wenn
ich alſo ein Recht habe etwas zu thun; ſo
kann mein Nebenmenſch kein Recht haben,
mich daran zu verhindern; ſonſt waͤre eben
dieſelbe Handlung zu einerley Zeit ſittlich
moͤglich und ſittlich unmoͤglich. Einem jeden
Rechte entſpricht alſo eine Pflicht; dem
Rechte zu thun entſpricht die Pflicht zu lei-
den; dem Rechte zu fordern, die Pflicht
zu leiſten, u. ſ. w. *)
[31]
Weisheit mit Guͤte verbunden heißt Ge-
rechtigkeit. — Das Geſetz der Gerechtig-
keit, auf welches ein Recht ſich gruͤndet,
iſt entweder von der Beſchaffenheit, daß alle
Bedingungen, unter welchen das Praͤdi-
kat dem Subjekte zukommt, dem Rechtha-
benden gegeben ſind, oder nicht. In dem
erſten Falle iſt es ein vollkommenes, in
dem andern ein [unvollkommenes] Recht.
Bey dem unvollkommenen Rechte naͤmlich
haͤngt ein Theil der Bedingungen, unter
welchen das Recht zukoͤmmt, von dem
Wiſſen und Gewiſſen des Pflichttraͤgers ab.
Dieſer
*)
[32] Dieſer iſt alſo auch in dem erſten Falle voll-
kommen, in dem andern aber nur un-
vollkommen zu der Pflicht verbunden, die
jenem Rechte entſpricht. — Es giebt voll-
kommene und unvollkommene, ſowohl
Pflichten, als Rechte. Jene heißen
Zwangsrechte und Zwangspflichten; dieſe
hingegen Anſpruͤche (Bitten) und Gewiſ-
ſenspflichten. Jene ſind aͤuſſerlich, dieſe
aber nur innerlich. Zwangsrechte duͤrfen
mit Gewalt erpreßt; Bitten aber verwei-
gert werden. Unterlaſſung der Zwangs-
pflichten iſt Beleidigung, Ungerechtigkeit;
der Gewiſſenspflichten aber blos Unbil-
ligkeit.
Die Guͤter, auf welche der Menſch ein
ausſchlieſſendes Recht hat, ſind 1) ſeine
eigenen Faͤhigkeiten; 2) was er durch die-
ſelben hervorbringet, oder deßen Fortkom-
men er befoͤrdert, was er anbauet, hegt,
ſchuͤtzt u. ſ. w. (Produkte ſeines Fleißes);
3) Guͤter der Natur, die er mit den Pro-
dukten ſeines Fleißes ſo verbunden, daß
ſie von denſelben ohne Zerſtoͤrung nicht
mehr getrennt werden koͤnnen, die er ſich
alſo
[33] alſo zu eigen gemacht. Hierin beſtehet alſo
ſein natuͤrliches Eigentum, und dieſe Guͤ-
ter ſind auch im Stande der Natur, bevor
noch irgend ein Vertrag unter den Menſchen
Statt gefunden, von der urſpruͤnglichen
Gemeinſchaft der Guͤter ausgeſchloſſen
worden. Die Menſchen beſitzen naͤmlich ur-
ſpruͤnglich nur diejenigen Guͤter gemein-
ſchaftlich, die von der Natur, ohne eines
Menſchen Fleis und Befoͤrderung, hervorge-
bracht werden. — Nicht alles Eigen-
tum iſt blos conventionell.
Der Menſch kann ohne Wohlthun nicht
gluͤcklich ſeyn; Nicht ohne leidendes, aber
eben ſo wenig ohne thaͤtiges Wohlthun. Er
kann nicht anders, als durch gegenſeitigen
Beyſtand, durch Wechſel von Dienſt und
Gegendienſt, durch thaͤtige und leidende
Verbindung mit ſeinem Nebenmenſchen,
vollkommen werden.
Wenn alſo der Menſch Guͤter beſitzet, oder
Mittel zur Gluͤckſeligkeit in ſeinem Vermoͤ-
gen hat, die er entbehren kan, d. i. die nicht
nothwendig zu ſeinem Daſeyn erforderlich
ſind, und zu ſeinem Beſſerſeyn dienen; ſo
Erſter Abſchnitt. Ciſt
[34] iſt er verpflichtet, ſolche zum Theil zum Be-
ſten ſeines Nebenmenſchen, zum Wohlwol-
len anzuwenden; denn Beſſerſeyn iſt von
Wohlwollen unzertrennlich.
Er hat aber auch aus aͤhnlichen Urſachen
ein Recht auf ſeines Nebenmenſchen Wohl-
wollen. Er kan erwarten, und Anſpruch
darauf machen, daß ihm andere mit ihren
entbehrlichen Guͤtern beyſtehen, und zu ſei-
ner Vollkommenheit befoͤrderlich ſeyn wer-
den. Man erinnere ſich nur immer, was
wir unter dem Worte Guͤter verſtehen. Alles
innere und aͤuſſere Vermoͤgen des Menſchen,
in ſo weit es ihm, oder andern, ein Mittel
zur Gluͤckſeligkeit werden kann. Was alſo
der Menſch im Stande der Natur an Fleiß,
Vermoͤgen und Kraͤften beſitzet; alles, was
er Sein nennen kan, iſt Theils zum Selbſt-
gebrauch (eigenen Nutzen), Theils zum
Wohlwollen gewidmet.
Wie aber das Vermoͤgen der Menſchen
eingeſchraͤnkt, und alſo erſchoͤpflich iſt; ſo
kann daſſelbe Vermoͤgen oder Gut zuweilen
nicht mir und meinem Nebenmenſchen zu-
gleich dienen. So kan ich auch daſſelbe
Vermoͤ-
[35] Vermoͤgen oder Gut nicht gegen alle meine
Nebenmenſchen, nicht zu allen Zeiten, auch
nicht unter allen Umſtaͤnden zum Beſten an-
wenden; und da ich ſchuldig bin von mei-
nen Kraͤften den beſtmoͤglichſten Gebrauch
zu machen; ſo koͤmmt es auf die Auswahl
und naͤhere Beſtimmung an, wie viel von
dem Meinigen ich zum Wohlwollen beſtim-
men ſoll? Gegen wen? zu welcher Zeit,
und unter welchen Umſtaͤnden?
Wer ſoll dieſes entſcheiden? wer die Col-
liſionsfaͤlle ſchlichten? — Nicht mein Naͤch-
ſter; denn ihm ſind nicht alle Gruͤnde gege-
ben, aus welchen der Streit der Pflichten
entſchieden werden muß. Zu dem wuͤrde
jeder andere eben das Recht haben, und
wenn von meinen Nebenmenſchen jeder zu
ſeinem Vortheil entſcheiden ſollte, wie wahr-
ſcheinlicher Weiſe geſchehen duͤrfte, ſo waͤre
die Verlegenheit nicht gehoben.
Mir, und mir allein, koͤmmt alſo im
Stande der Natur das Entſcheidungsrecht
zu, ob und wieviel, wenn, wem, und un-
ter welchen Bedingungen ich zum Wohlthun
verhunden bin? und ich kann im Stande der
C 2Natur
[36] Natur durch keine Zwangsmittel, zu kei-
nerley Zeit, zum Wohlthun angehalten
werden. Meine Pflicht wohlzuthun, iſt
blos Gewiſſenspflicht, davon ich aͤuſſerlich
niemanden Rechenſchaft zu geben habe; ſo
wie mein Recht auf anderer Wohlthun,
blos ein Recht zu bitten iſt, das abge-
wieſen werden kann. — Im Stande der
Natur ſind alle poſitive Pflichten der
Menſchen gegen einander blos unvollkom-
mene Pflichten; ſo wie ihre poſitive
Rechte auf einander blos unvollkommene
Rechte, keine Pflichten, die erpreßt wer-
den koͤnnen, keine Rechte, die Zwang er-
lauben. — Blos die Unterlaſſungspflichten
und Rechte ſind im Stande der Natur
vollkommen. Ich bin vollkommen ver-
pflichtet, niemanden zu ſchaden, und voll-
kommen berechtiget, zu verhindern, daß
niemand mir ſchade. Schaden aber heißt,
wie bekannt, wider das vollkommene
Recht eines andern handeln.
Man koͤnnte zwar glauben, die Pflicht
zur Entſchaͤdigung ſey eine poſitive Pflicht,
zu der der Menſch auch im Stande der
Natur
[37] Natur verbunden iſt. Wenn ich meinem
Naͤchſten Schaden zugefuͤgt habe, ſo bin
ich, ohne allen Vertrag, blos nach den
Geſetzen der natuͤrlichen Gerechtigkeit, auch
aͤuſſerlich verpflichtet, ihm ſolchen zu erſe-
tzen, und kann von ihm mit Gewalt dazu
angehalten werden.
Allein die Entſchaͤdigung iſt zwar eine po-
ſitive Handlung; die Verbindlichkeit aber
zu derſelben flieſſet im Grunde aus der Un-
terlaſſungspflicht; beleidige nicht denn
der Schaden, den ich meinem Naͤchſten zu-
gefuͤgt habe, iſt, ſo lange er ſeiner Wir-
kung nach nicht aufgehoben wird, als eine
fortgeſetzte Veleidigung anzuſehen. Ich
handele alſo eigentlich wider eine negative
Pflicht, ſo lange ich die Entſchaͤdigung un-
terlaſſe; denn ich fahre fort zu beleidigen.
Die Entſchaͤdigungspflicht macht alſo keine
Ausnahme von der Regel, daß der Menſch
im Stande der Natur unabhaͤngig, d. i.
niemanden poſitive verpflichtet ſey. Nie-
mand hat ein Zwangsrecht mir vorzuſchrei-
ben, wie viel ich von meinen Kraͤften zum
Beſten anderer anwenden, und wem ich die
C 3Wohl-
[38] Wohlthat davon angedeien laſſen ſoll.
Auf mein Gutduͤnken allein muß es ankom-
men, nach welcher Regel ich die Colliſions-
faͤlle entſcheiden will.
Auch das natuͤrliche Verhaͤltniß zwiſchen
Eltern und Kindern iſt dieſem allgemeinen
Naturgeſetz nicht zuwider. Es iſt leicht zu
erachten, daß nur diejenigen Perſonen im
Stande der Natur unabhaͤngig ſind, denen
man eine vernunftmaͤßige Entſcheidung der
Colliſionsfaͤlle zutrauen kann. Bevor alſo
die Kinder zu den Jahren gelangen, in wel-
chen man ihnen den Gebrauch der Ver-
nunft zutrauen kann, haben ſie keinen An-
ſpruch auf Unabhaͤngigkeit, muͤſſen ſie von
andern entſcheiden laſſen, wie und zu wel-
chen Abſichten ſie ihre Kraͤfte und Faͤhigkei-
ten anwenden ſollen. Die Eltern ſind ihrer
Seits auch verbunden, ihre Kinder in der
Runſt die Colliſionsfaͤlle vernuͤnftig zu
entſcheiden, nach und nach zu uͤben, und ſo
wie ihre Vernunft zunimmt, ihnen auch all-
maͤhlig den freien, unabhaͤngigen Gebrauch
ihrer Kraͤfte zu uͤberlaſſen.
[39]
Nun ſind die Eltern zwar auch im Stan-
de der Natur gegen ihre Kinder zu gewiſſen
Dingen aͤuſſerlich verpflichtet, und koͤnte
man glauben, daß dieſes eine poſitive Pflicht
ſey, die ohne allen Vertrag, nach den ewi-
gen Geſetzen der Weisheit und Guͤte er-
zwungen werden koͤnnte. Allein mich duͤnkt,
das Zwangsrecht zur Erziehung der Kin-
der komme im Stande der Natur blos
den Eltern ſelbſt, einem gegen den an-
dern, keinem dritten aber zu, der ſich
etwa der Kinder annehmen und die Er-
ziehung von den Eltern erpreſſen wollte.
Niemand iſt im Stande der Natur be-
ſugt, die Eltern zur Erziehung ihrer Kin-
der mit Gewalt anzuhalten. Daß aber die
Eltern ſelbſt gegen einander dieſes Zwangs-
recht haben, fließet aus der Verabre-
dung, die ſie, obſchon nicht in Worten,
doch durch die Handlung ſelbſt, getroffen
zu haben, vorausgeſetzt wird.
Wer ein zur Gluͤckſeligkeit faͤhiges We-
ſen hervorbringen hilft, iſt nach dem Geſetze
der Natur verbunden, die Gluͤckſeligkeit
deſſelben zu befoͤrdern, ſo lange es ſelbſt noch
C 4in
[40] in dem Stande nicht iſt, fuͤr ſein Fort-
kommen zu ſorgen. Dieſes iſt die natuͤr-
liche Pflicht der Erziehung, die zwar an
und fuͤr ſich blos eine Gewiſſenspflicht iſt,
durch die Handlung ſelbſt aber haben die
Eltern ſich verſtanden, einander hierin
beyzuſtehen, d. i. dieſer ihrer Gewiſſens-
pflicht gemeinſchaftlich Genuͤge zu leiſten.
Mit einem Worte: die Eltern ſind durch
die Beywohnung ſelbſt in den Stand der
Ehe getreten, haben einen ſtillſchweigen-
den Vertrag gemacht, das zur Gluͤckſe-
ligkeit beſtimmte Weſen, das ſie gemein-
ſchaftlich hervorbringen, auch gemein-
ſchaftlich der Gluͤckſeligkeit faͤhig zu ma-
chen, d.i. zu erziehen.
Aus dieſem Grundſatze fließen alle Pflich-
ten und Rechte des Eheſtandes ganz natuͤr-
lich, und es iſt nicht noͤthig, wie die Rechts-
lehrer zu thun pflegen, ein doppeltes Prin-
cipium anzunehmen, um alle Pflichten der
Ehe und des Hausſtandes aus demſelben
herzuleiten. Die Pflicht zur Erziehung folgt
aus der Verabredung, Kinder zu erzengen,
und die Schuldigkeit in einen gemeinſchaft-
lichen
[41] lichen Hausſtand zu treten, aus der ge-
meinſchaftlichen Pflicht zur Erziehung. Die
Ehe iſt alſo im Grunde nichts anders,
als eine Verabredung zwiſchen Perſonen
verſchiedenen Geſchlechts, gemeinſchaftlich
Kinder zur Welt zu bringen; und hierauf
beruhet das ganze Syſtem ihrer gegenſei-
tigen Pflichten und Rechte *). Daß aber
C 5die
[42] die Menſchen durch Verabredung den Stand
der Natur verlaſſen, und in den Stand der
Geſell-
*)
[43] Geſellſchaft treten, wird in der Folge ge-
zeigt werden. Mithin iſt auch die Erzie-
hungs-
*)
[44] hungspflicht der Eltern, ob ſie ſchon in ge-
wiſſer Betrachtung eine Zwangspflicht zu
nen-
*)
[45] nennen iſt, keine Ausnahme von dem an-
gefuͤhrten Naturgeſetz, daß der Menſch im
Stande der Natur unabhaͤngig ſey, und ihm
allein das Recht zukomme, die Colliſions-
faͤlle zwiſchen Selbſtgebrauch und Wohl-
wollen zu entſcheiden.
In dieſem Rechte beſtehet die natuͤrliche
Freiheit des Menſchen, die einen großen
Theil ſeiner Gluͤckſeligkeit ausmacht. Die
Unabhaͤngigkeit gehoͤrt alſo zu ſeinen eigen-
tuͤmlichen Guͤtern, deren er ſich, als Mit-
tel
*)
[46] tel zu ſeiner Gluͤckſeligkeit zu bedienen be-
fugt iſt, und wer ihn in dem Gebrauch der-
ſelben ſtoͤhret, der beleidiget ihn, und be-
gehet eine aͤuſſerliche Ungerechtigkeit. Der
Menſch im Stande der Natur iſt Herr uͤber
das Seinige, uͤber den freien Gebrauch ſei-
ner Kraͤfte und Faͤhigkeiten, uͤber den freien
Gebrauch alles deſſen, ſo er durch dieſelben
hervorgebracht, (d. i. der Fruͤchte ſeines
Fleißes) oder mit den Fruͤchten ſeines Flei-
ßes auf eine unzertrennliche Weiſe verbun-
den hat, und es haͤnget von ihm ab, wie
viel,
*)
[47] viel, wenn und zum Beſten weſſen von ſei-
nen Nebenmenſchen er einiges von dieſen
Guͤtern, das ihm entbehrlich iſt, ablaſſen
will. Alle ſeine Nebenmenſchen haben blos
auf ſeinen Ueberfluß ein unvollkommenes
Recht, ein Recht zu bitten, und er, der
unumſchraͤnkte Herr traͤgt die Gewiſſens-
pflicht, einen Theil ſeiner Guͤter dem Wohl-
wollen zu widmen; ja bisweilen iſt er ver-
bunden, ſeinen Eigengebrauch ſo gar dem
Wohlwollen aufzuopfern; in ſo weit die
Ausuͤbung des Wohlwollens gluͤcklicher
macht, als Eigennutz. Nur muß dieſe
Aufopferung eigenes Willens und aus
freiem Triebe geſchehen. Alles dieſes ſchei-
net keinen Zweifel mehr zu leiden. Allein
ich thue einen Schritt weiter.
Sobald dieſer Unabhaͤngige einmal ein
Urtheil gefaͤllt hat; ſo muß es guͤltig ſeyn.
Habe ich im Stande der Natur den Fall
entſchieden, wem, wenn und wie viel ich
von dem Meinigen uͤberlaſſen will; habe
ich dieſen meinen freien Entſchluß hinlaͤng-
lich zu erkennen gegeben, und mein Naͤch-
ſter, dem zum Beſten der Ausſpruch ge-
ſchehen,
[48] ſchehen, hat das Gut in Empfang genom-
men; ſo muß die Handlung Kraft und Wuͤr-
kung haben, wenn mein Entſcheidungs-
recht etwas bedeuten ſoll. Wenn mein
Ausſpruch unkraͤftig iſt, und die Sachen ſo
laͤßt, wie ſie geweſen ſind; wenn er nicht
in Anſehung des Rechts diejenige Veraͤn-
derung hervorbringet, die ich beſchloſſen;
ſo enthaͤlt mein vermeintes Recht den Aus-
ſpruch zu thun, einen offenbaren Wider-
ſpruch. Meine Entſcheidung muß alſo wir-
ken, muß den Zuſtand des Rechts veraͤn-
dern. Das Gut, wovon die Rede iſt, muß
aufhoͤren das Meine zu ſeyn, und nunmehr
wirklich meines Naͤchſten geworden ſeyn.
Das vorhin unvollkommen geweſene Recht
meines Naͤchſten muß durch dieſe Hand-
lung ein vollkommenes Recht geworden;
ſo wie mein vollkommen geweſenes Recht
in ein unvollkommenes uͤbergegangen ſeyn;
ſonſt waͤre meine Entſcheidung null. Nach
vollzogener Handlung alſo kann ich das
abgetretene Gut, ohne Ungerechtigkeit,
mir nicht mehr anmaßen; und wenn
ich es thue, ſo beleidige ich; ſo han-
dele
[49] dele ich wider das vollkommene Recht
meines Naͤchſten.
Dieſes gilt ſowohl von koͤrperlichen be-
weglichen Guͤtern, die von Hand in Hand
gegeben und angenommen werden koͤnnen,
als von unbeweglichen, oder auch geiſti-
gen Guͤtern, davon die Rechte blos durch
hinlaͤngliche Willenserklaͤrung abgetreten
und angenommen werden koͤnnen. Im
Grunde koͤmmt alles blos auf dieſe Wil-
lenserklaͤrung an, und die wirkliche Ein-
handigung beweglicher Guͤter ſelbſt kann
nur guͤltig ſeyn, in ſo weit ſie fuͤr ein Zei-
chen der hinlaͤnglichen Willenserklaͤrung
genommen wird. Die bloße Einhaͤndigung
an und fuͤr ſich betrachtet, giebt und nimmt
kein Recht, ſo oft dieſe Abſicht nicht damit
verbunden iſt. Was ich meinem Naͤchſten
in die Hand gebe, habe ich ihm deswegen
noch nicht eingehaͤndiget, und was ich
von ihm in die Hand nehme, habe ich da-
mit noch nicht rechtskraͤftig angenommen,
wenn ich nicht zu erkennen gegeben, daß
die Handlung in dieſer Abſicht geſchehen
ſey. Iſt aber die Tradition ſelbſt blos als
Erſter Abſchnitt. DZei-
[50] Zeichen guͤltig; ſo koͤnnen bey ſolchen Guͤ-
tern, wo die wirkliche Aushaͤndigung nicht
Statt findet, andere bedeutende Zeichen
dafuͤr genommen werden. Man kann alſo
ſein Recht auf unbewegliche oder auch un-
koͤrperliche Guͤter durch hinlaͤnglich ver-
ſtaͤndliche Zeichen andern abtreten und
uͤberlaſſen.
Auf dieſe Weiſe kann das Eigentum von
Perſon zu Perſon wandern. Was ich durch
meinen Fleiß zu dem Meinigen gemacht,
wird durch Abtreten das Gut eines An-
dern, das ich ihm nicht wieder nehmen
kann, ohne eine Ungerechtigkeit zu be-
gehen.
Und nun noch einen Schritt naͤher, ſo
ſtehet die Guͤltigkeit der Vertraͤge auf ſiche-
ren Fuͤßen. — Das Recht, die Colli-
ſionsfaͤlle zu entſcheiden, ſelbſt iſt, wie oben
gezeigt worden, ein unkoͤrperliches Gut
des unabhaͤngigen Menſchen; in ſo weit es
ein Mittel zu ſeiner Gluͤckſeligkeit werden
kann. Jeder Menſch hat im Stande der
Natur auf den Genuß dieſes Mittels zur
Gluͤckſeligkeit ein vollkommenes, und ſein
Neben-
[51] Nebenmenſch ein unvollkommenes Recht.
Da aber der Genuß dieſes Rechts wenig-
ſtens in vielen Faͤllen zur Erhaltung nicht
unumgaͤnglich nothwendig iſt; ſo iſt es ein
entbehrliches Gut, das, vermoͤge des Er-
wieſenen, abgetreten, und vermittelſt einer
hinlaͤnglichen Willenserklaͤrung, einem An-
dern uͤberlaſſen werden kann. Eine Hand-
lung, wodurch dieſes geſchiehet, heißt ein
Verſprechen, und wenn von der andern
Seite die Annahme hinzukoͤmmt, d.i. die
Einwilligung in dieſes Uebertragen der
Rechte hinlaͤnglich zu erkennen gegeben
wird; ſo entſtehet ein Vertrag. Demnach
iſt ein Vertrag nichts anders, als von der
einen Seite die Ueberlaſſung, und von der
andern Seite, die Annahme des Rechts,
in Abſicht auf gewiſſe, dem Verſprecher
entbehrliche Guͤter, die Colliſionsfaͤlle zu
entſcheiden.
Ein ſolcher Vertrag muß vermoͤge des
vorhin Erwieſenen, gehalten werden. Das
Entſcheidungsrecht, welches vorhin einen
Theil meiner Guͤter ausmachte, d. i. das
Meine war, iſt durch dieſe Abtretung das
D 2Gut
[52] Gut meines Naͤchſten, das Seine gewor-
den, und ich kann es ihm, ohne Beleidi-
gung nicht wieder entziehen. Den An-
ſpruch, den er auf den Gebrauch dieſer
meiner Unabhaͤngigkeit, in ſo weit ſie nicht
zu meiner Erhaltung nothwendig iſt, ſo wie
jeder andere machen konnte, iſt durch dieſe
Handlung in ein vollkommnes Recht uͤber-
gegangen, das er ſich mit Gewalt zu er-
zwingen befugt iſt. Dieſer Erfolg iſt un-
ſtreitig; ſobald mein Entſcheidungsrecht
Kraft und Wirkung haben ſoll — *)
[53]
Ich verlaſſe meine ſpekulativen Betrachtun-
gen, und komme in mein voriges Geleis zuruͤck;
muß aber vorher die Bedingungen feſtſetzen, un-
ter welchen nach obigen Grundſaͤtzen ein Ver-
trag guͤltig ſey, und gehalten werden muͤſſe.
1) Cajus beſitzet ein Gut (irgend ein Mittel
zur Gluͤckſeligkeit: den Gebrauch ſeiner na-
tuͤrlichen Faͤhigkeiten ſelbſt, oder das Recht
auf die Fruͤchte ſeines Fleißes, und die
damit verbundenen Guͤter der Natur, oder
was ſonſt auf eine gerechte Weiſe ihm zu
eigen geworden; es ſey ſolches ein koͤrper-
liches oder unkoͤrperliches Ding, als naͤm-
lich Gerechtſame, Freyheiten u. d. g.)
[54]
2) Dieſes Gut aber gehoͤrt nicht unumgaͤng-
lich zu ſeinem Daſeyn, und kann alſo zum
Beſten des Wohlwollens, d.i. zum Nutzen
anderer angewendet werden.
3) Sempronius hat auf dieſes Gut ein
unvollkommenes Recht. Er kann, ſo wie
jeder andere Menſch verlangen, aber nicht
zwingen, daß dieſes Gut itzt zu ſeinem
Beſten angewendet werde. Das Recht zu
entſcheiden gehoͤrt dem Cajus, iſt das
Seine, und darf ihm mit Gewalt nicht
entzogen werden.
4) Nunmehr bedienet ſich Cajus ſeines voll-
kommenen Rechts, entſcheidet zum Vor-
theil des Sempronius, und giebt ſeine
Entſcheidung durch hinlaͤngliche Zeichen zu
erkennen; d.i. Cajus verſpricht.
5) Sempronius nimmt an, und giebt ſeine
Einwilligung gleichfalls auf eine bedeuten-
de Weiſe zu verſtehen.
So iſt der Ausſpruch des Cajus wirk-
ſam und von Kraft; d.i. jenes Gut, das
ein Eigentum des Cajus, das Seine ge-
weſen, iſt durch dieſe Handlung zum Gute
des Sempronius geworden. Das voll-
kom-
[55] kommene Recht des Cajus iſt in ein unvoll-
kommenes uͤbergegangen; ſo wie das un-
vollkommene Recht des Sempronius in
ein vollkommenes Zwangsrecht verwan-
delt worden iſt.
Cajus muß ſein rechtkraͤftiges Verſpre-
chen halten, und Sempronius kann ihn,
im Verweigerungsfalle, mit Gewalt dazu
zwingen.
Durch Verabredungen dieſer Art verlaͤßt
der Menſch den Stand der Natur und tritt in
den Stand der geſellſchaftlichen Verbindung;
und ſeine eigene Natur treibet ihn an, Verbin-
dungen mancherley Art einzugehen, um ſeine
ſchwankenden Rechte und Pflichten in etwas
Beſtimmtes zu verwandeln. Nur der Wilde
klebt, wie das Vieh, an dem Genuſſe des
gegenwaͤrtigen Augenblickes. Der geſittete
Menſch lebt auch fuͤr die Zukunft, und will
auch fuͤr den naͤchſten Augenblick worauf Rech-
nung machen koͤnnen. Schon der Vermeh-
rungstrieb, wenn er nicht blos viehiſcher In-
ſtinkt ſeyn ſoll, zwinget die Menſchen, wie wir
oben geſehen, zu einem geſellſchaftlichen Ver-
D 4trage,
[56] trage, davon man ſogar bey vielen Thieren et-
was Analogiſches findet.
Laßt uns von dieſer Theorie der Rechte,
Pflichten und Vertraͤge die Anwendung auf
den Unterſchied zwiſchen Staat und Kirche
machen, davon wir ausgegangen ſind. Beide,
Staat und Kirche, haben ſowohl Handlungen,
als Geſinnungen zu ihrem Gegenſtande: jene in
ſo weit ſie ſich auf Verhaͤltniſſe zwiſchen Menſch
und Natur; dieſe in ſo weit ſie ſich auf Ver-
haͤltniſſe zwiſchen Natur und Gott gruͤnden.
Die Menſchen beduͤrfen einander, hoffen und
verſprechen, erwarten und leiſten einer dem an-
dern Dienſt und Gegendienſt. Die Vermi-
ſchung von Ueberfluß und Mangel, Kraft und
Beduͤrfniß, Eigenſucht und Wohlwollen, die ih-
nen die Natur gegeben, treibet ſie an, in ge-
ſellſchaftliche Verbindung zu treten, um ihren
Faͤhigkeiten und Beduͤrfniſſen weitern Spiel-
raum zu verſchaffen, Jedes Individuum iſt
verbunden, einen Theil ſeiner Faͤhigkeiten und
der dadurch erworbenen Rechte, zum Beſten
der verbundenen Geſellſchaft anzuwenden; aber
welchen? wenn? und zu welchem Entzwecke?
— An und fuͤr ſich ſollte dieſes nur der beſtim-
men,
[57] men, der leiſten ſoll. Man kann aber auch
fuͤr gut finden, auf dieſes Recht der Unab-
haͤngigkeit durch einen geſellſchaftlichen Ver-
trag Verzicht zu thun, und durch Poſitivge-
ſetze dieſe unvollkommene Pflichten in vollkom-
mene verwandeln; d. i. man kann die naͤhere
Beſtimmungen verabreden und feſtſetzen, wie
viel jedes Mitglied, von ſeinen Rechten zum
Nutzen der Geſellſchaft zu verwenden, ſoll ge-
zwungen werden koͤnnen. Der Staat, oder
die den Staat vorſtellen, werden als eine
moraliſche Perſon betrachtet, die uͤber dieſe
Rechte zu ſchalten hat. Der Staat hat alſo
Rechte und Gerechtſame auf Guͤter und Hand-
lungen der Menſchen. Er kann nach dem Ge-
ſetze geben und nehmen, vorſchreiben und ver-
bieten, und weil es ihm auch um Handlung
als Handlung zu thun iſt, beſtrafen und be-
lohnen. Der Pflicht gegen meinen Naͤchſten
geſchiehet aͤußerlich Genuͤge, wenn ich ihm
leiſte, was ich ſoll; meine [Handlung] mag er-
zwungen oder freywillig ſeyn. Kann nun der
Staat nicht durch innere Triebfedern wirken,
und dadurch fuͤr mich mit ſorgen; ſo wirkt er
D 5wenig-
[58] wenigſtens durch aͤuſſere, und verhilft meinem
Naͤchſten zu dem Seinigen.
Nicht alſo die Kirche! Sie beruhet auf dem
Verhaͤltniſſe zwiſchen Gott und Menſchen. Gott
iſt kein Weſen, das unſers Wohlwollens bedarf,
unſern Beyſtand fordert, auf irgend eines von
unſeren Rechten zu ſeinem Gebrauch Anſpruch
macht, oder deſſen Rechte mit den Unſerigen je
in Streit und Verwirrung gerathen koͤnnen.
Auf dieſe irrigen Begriffe hat die in mancher
Betrachtung unbequeme Eintheilung der Pflich-
ten in Pflichten gegen Gott und Pflichten gegen
die Menſchen, fuͤhren muͤſſen. Man hat die
Parallele zu weit gezogen. Gegen Gott — ge-
gen Menſchen — dachte man. So wie wir aus
Pflicht gegen unſern Naͤchſten etwas von dem
Unſrigen aufopfern und hingeben, ſo auch aus
Pflicht gegen Gott. Die Menſchen fodern
Dienſt; ſo auch Gott. Die Pflicht gegen mich
ſelbſt kann mit der Pflicht gegen meinen Naͤch-
ſten in Streit und Gegenſtoß gerathen; eben
alſo die Pflicht gegen mich ſelbſt, mit der Pflicht
gegen Gott. — Niemand wird ſich ausdruͤck-
lich dazu verſtehen, wenn ihm dieſe ungereim-
ten Saͤtze in trocknen Worten vorgehalten wer-
den,
[59] den, nnd gleichwohl hat jedermann mehr oder
weniger davon gleichſam eingeſogen, und ſeine
innern Saͤfte damit angeſteckt. Aus dieſer
Quelle floſſen alle ungerechte Anmaßungen, die
ſich ſogenannte Diener der Religion, unter dem
Namen der Kirche, von je her erlaubt. Alle
Gewaltthaͤtigkeit und Verfolgung, die ſie aus-
geuͤbt, aller Zwiſt und Zwieſpalt, Meuterey
und Aufruhr, die ſie angezettelt haben, und alle
Uebel, die von jeher unter dem Scheine der
Religion, von ihren grimmigſten Feinden, von
Heucheley und Menſchenfeindſchaft, ausgeuͤbt
worden, ſind einzig und allein Fruͤchte dieſer
armſeligen Sophiſterey; eines vorgeſpiegelten
Conflickts zwiſchen Gott und Menſchen, Rech-
ten der Gottheit und Rechten des Menſchen.
Im Grunde machen in dem Syſtem der
menſchlichen Pflichten, die gegen Gott keine be-
ſondere Abtheilung; ſondern alle Pflichten des
Menſchen ſind Obliegenheiten gegen Gott. Ei-
nige derſelben gehen uns ſelbſt, andere unſere
Nebenmenſchen an. Wir ſollen, aus Liebe zu
Gott, uns ſelbſt vernuͤnftig lieben, ſeine Ge-
ſchoͤpfe lieben; ſo wie wir aus vernuͤnftiger Liebe
zu
[60] zu uns ſelbſt verbunden ſind, unſere Nebenmen-
ſchen zu lieben.
Das Syſtem unſerer Pflichten hat ein dop-
peltes Principium; das Verhaͤltniß zwiſchen
Menſchen und Natur, und das Verhaͤltniß zwi-
ſchen Geſchoͤpf und Schoͤpfer. Jenes iſt Mo-
ralphiloſophie, dieſes Religion, und demjeni-
gen, der von der Wahrheit uͤberfuͤhrt iſt, daß
die Naturverhaͤltniſſe nichts anders ſind, als
Aeuſſerungen des goͤttlichen Willens, dem fallen
auch dieſe beiden Principien in einander, dem
iſt Sittenlehre der Vernunft heilig, wie Reli-
gion. Auch heiſcht die Religion, oder das Ver-
haͤltniß zwiſchen Gott und Menſchen keine andere
Pflichten; ſondern giebt jenen Pflichten und Ob-
liegenheiten nur erhabnere Sanction. Gott
bedarf unſeres Beyſtandes nicht; verlanget kei-
nen Dienſt von uns*), keine Aufopferung un-
ſerer
[61] ſerer Rechte zu ſeinem Beſten, keine Verzicht
auf unſere Unabhaͤngigkeit zu ſeinem Vortheil.
Seine Rechte koͤnnen mit den Unſerigen nie in
Streit und Irrung kommen. Er will nur unſer
Beſtes, eines jeden Einzelnen Beſtes, und die-
ſes muß ja mit ſich ſelbſt beſtehen, kann ſich ja
ſelbſt nicht widerſprechen. —
Alle dieſe Gemeinoͤrter ſind ſo trivial, daß
der geſunde Menſchenverſtand ſich wundert, wie
man je hat anderer Meinung ſeyn koͤnnen; und
gleichwohl haben die Menſchen von jeher wider
dieſe einleuchtenden Grundſaͤtze gehandelt; und
wohl ihnen! wenn ſie im Jahre 2240 aufhoͤren
werden, dawider zu handeln.
Die naͤchſte Folge aus dieſen Maximen iſt,
wie mich duͤnkt, offenbar, daß die Kirche kein
Recht habe auf Gut und Eigentum, keinen
Anſpruch auf Beytrag und Verzicht; daß ihre
Gerechtſame mit den Unſerigen niemals in Ir-
rung gerathen, daß alſo zwiſchen Kirche und
Buͤr-
*)
[62] Buͤrger nie Colliſionsfaͤlle vorkommen koͤnnen.
Iſt aber dieſes, ſo findet auch zwiſchen Kirche
und Buͤrger kein Vertrag ſtatt; denn alle Ver-
traͤge ſetzen Colliſionsfaͤlle voraus, die zu ent-
ſcheiden ſind. Wo keine unvollkommene Rechte
Statt haben, entſtehen keine Colliſionen der An-
ſpruͤche, und wo nicht Anſpruͤche gegen Anſpruͤ-
che entſchieden werden ſollen, da iſt Vertrag ein
Unding.
Alle menſchliche Vertraͤge haben alſo der Kir-
che kein Recht auf Gut und Eigentum beyle-
gen koͤnnen, da ſie ihrem Weſen nach auf keins
derſelben Anſpruch machen, oder ein unvollkom-
menes Recht haben kann. Ihr kann alſo nie-
mals ein Zwangsrecht zukommen, und den Mit-
gliedern kann keine Zwangspflicht gegen dieſelbe
aufgelegt werden Alle Rechte der Kirche ſind,
Vermahnen, Belehren, Staͤrken und Troͤſten,
und die Pflichten der Buͤrger gegen die Kirche
ſind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz.*)
So
[63] So hat auch die Kirche kein Recht Handlungen
zu belohnen oder zu beſtrafen. Die buͤrgerlichen
Handlungen gehoͤren dem Staat, und die eigent-
lichen religioͤſen Handlungen leiden, ihrer Na-
tur nach, weder Zwang noch Beſtechung. Sie
flieſſen entweder aus freiem Antriebe der Seele,
oder ſind ein leeres Spiel, und dem wahren
Geiſte der Religion zuwider.
Wenn aber die Kirche kein Eigentum hat,
wer beſoldet die Lehrer der Religion? Wer loh-
net die Prediger der Gottesfurcht? — Religion
und Sold — Lehren der Tugend und Bezah-
lung — Predigten der Gottesfurcht und Lohn.
Die Begriffe ſcheinen ſich einander zu fliehen.
Was verſpricht ſich der Lehrer der Weisheit und
Tugend fuͤr Wirkung, ſo bald er bezahlt wird,
und den Meiſtbietenden feil iſt? Was der Pre-
diger der Gottesfurcht fuͤr Eindruck, wenn er
nach Lohne ausgehet? — Siehe, ich lehre
euch Geſetze und Rechte, ſo wie mich der Ewige
mein Gott u. ſ. w. (V. B. M. C 4, 5.). So
wie mich mein Gott; erklaͤren die Rabbinen,
wie er mich, ohne Entgeld; ſo ich euch, und
ſo auch ihr die Eurigen. Bezahlen, Lohnen,
iſt fuͤr dieſe erhabene Beſchaͤftigung ſo unnatuͤr-
lich
[64] lich mit der Lebensart, welche dieſe Beſchaͤfti-
gung erfordert, ſo unvereinbar, daß die min-
deſte Anhaͤnglichkeit an Gewinnen und Erwerben
dieſen Stand zu erniedrigen ſcheinet. Das Ver-
langen nach Reichtum, das man jedem andern
Stande gern zu Gute haͤlt, ſcheinet uns bey die-
ſem Geiz und Habſucht, oder artet bey Maͤn-
nern, die ſich dieſem edlen Geſchaͤfte widmen,
wirklich gar bald in Geiz und Habſucht aus,
weil es ihrem Berufe ſo [widernatuͤrlich] iſt.
Hoͤchſtens kann ihnen Entſchaͤdigung fuͤr Zeit-
verſaͤumniß eingeraͤumt werden, und dieſe aus-
zumitteln und zu ertheilen, iſt ein Geſchaͤft des
Staats, nicht der Kirche. Was hat die Kirche
mit Dingen zu ſchaffen, die feil ſind, bedungen
und bezahlt werden? Die Zeit macht einen Theil
von unſerm Vermoͤgen aus, und wer ſie zum
gemeinen Beſten anwendet, darf hoffen, aus
dem gemeinen Schatze dafuͤr entſchaͤdiget zu
werden. Die Kirche lohnet nicht, die Religion
kauft nichts, bezahlet nichts, giebt keinen Sold.
Dieſes ſind, meinem Beduͤnken nach, die
Graͤnzen zwiſchen Staat und Kirche, in ſo weit
ſie auf die Handlungen der Menſchen Einfluß
haben.
[65] haben. In Abſicht auf Geſinnungen treten ſie
ſchon etwas naͤher zuſammen; denn hier hat der
Staat keine andere Wirkungsmittel, als die
Kirche. Beide muͤſſen unterrichten, belehren,
aufmuntern, veranlaſſen; aber weder belohnen,
noch beſtrafen; weder zwingen noch beſtechen;
denn auch der Staat hat durch keinen Vertrag
das mindeſte Zwangsrecht uͤber Geſinnungen
erlangen koͤnnen. Ueberhaupt kennen die Geſin-
nungen der Menſchen kein Wohlwollen, leiden
keinen Zwang. Ich kann auf keine meiner Ge-
ſinnungen, als Geſinnung betrachtet, aus Liebe
zu meinem Naͤchſten Verzicht thun; kann ihm
keinen Antheil an meiner Urtheilskraft aus Wohl-
wollen uͤberlaſſen und abtreten, und eben ſo we-
nig ein Recht auf ſeine Geſinnungen mir anma-
ßen, oder auf irgend eine Weiſe erwerben. Das
Recht auf unſere eigene Geſinnungen iſt unver-
aͤuſſerlich, kann nicht von Perſon zu Perſon
wandern; denn es giebt und nimmt keinen An-
ſpruch auf Vermoͤgen, Gut und Freyheit. Da-
her das mindeſte Vorrecht, das ihr euern Re-
ligions- und Geſinnungsverwandten oͤffentlich
einraͤumet, eine indirekte Beſtechung; die min-
deſte Freyheit, die ihr den Diſſidenten entziehet,
Erſter Abſchnitt. Eeine
[66] eine indirekte Beſtrafung zu nennen iſt, und im
Grunde dieſelbe Wirkung hat, als eine direkte
Belohnung des Einſtimmens, und Beſtrafung
des Widerſpruchs. Es iſt armſeliges Blend-
werk, wenn in einigen Lehrbuͤchern des Kirchen-
rechts ſo ſehr auf den Unterſchied zwiſchen Be-
lohnung und Vorrecht; Beſtrafung und Ein-
ſchraͤnkung gedrungen wird. Den Sprachfor-
ſchern kann dieſe Bemerkung nuͤtzlich ſeyn; allein
dem Elenden, der die Rechte der Menſchheit
entbehren muß, weil er nicht ſagen kann: ich
glaube, wo er nicht glaubet; nicht mit dem
Munde Muſelmann, und im Herzen Chriſt
ſeyn will, dem bringet dieſe Diſtinktion nur
leidigen Troſt. Und welches ſind die Graͤnzen
der Vorrechte auf der einen, und der Einſchraͤn-
kung auf der andern Seite? Mit einer maͤßi-
gen Gabe von Dialektik erweitert man dieſe Be-
griffe, und dehnet ſie ſo lange aus, bis ſie auf
der einen Seite buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit, auf der
andern Unterdruͤckung, Verbannung und Elend
werden *)
[67]
Furcht und Hoffnung wirken auf den Be-
gehrungstrieb der Menſchen; Vernunftgruͤnde
auf ſein Erkenntnißvermoͤgen. Ihr ergreifet
die unrechten Mittel, wenn ihr die Menſchen
durch Furcht und Hoffnung zur Annahme oder
zur Verwerfung gewiſſer Lehrſaͤtze fuͤhren wollt.
Ja, wenn auch dieſes gradezu eure Abſicht
nicht iſt; ſo hindert ihr ſelbſt doch eure beſ-
ſern Abſichten, wenn ihr Furcht und Hoffnung
nicht ſo weit zu entfernen ſucht, als nur immer
moͤglich iſt. Ihr beſtechet und verfuͤhret euer
eigenes Herz, oder euer Herz hat euch ver-
fuͤhrt, wenn ihr glaubet, Pruͤfung der Wahr-
heit koͤnne beſtehen, Freyheit der Unterſuchung
bleibe ungekraͤnkt, wenn hier Stand und Wuͤr-
den, dort Verachtung und Duͤrftigkeit die Un-
E 2ter-
*)
[68] terſuchenden erwarten. Vorſtellung des Guten
und Boͤſen ſind Werkzeug fuͤr den Willen; der
Wahrheit und Unwahrheit fuͤr den Verſtand
Wer auf den Verſtand wirken will, lege jenes
Werkzeug zuvoͤrderſt aus der Hand; ſonſt iſt er
in Gefahr, wider ſeinen eigenen Vorſatz, auszu-
glaͤtten, wo er durchſchneiden; zu befeſtigen, wo
er einreiſſen ſoll.
Was wird alſo der Kirche fuͤr eine Regie-
rungsform anzurathen ſeyn? — keine! — Wer
ſoll entſcheiden, wenn in Religionsſachen Strei-
tigkeiten entſtehen? — Wem Gott die Faͤhig-
keit gegeben, zu uͤberzeugen. Was ſoll Regie-
rungsform, wo nichts zu regieren iſt; Obrig-
keit, wo niemand Unterthan ſeyn darf; Richter-
amt, wo keine Rechte und Anſpruͤche zu ent-
ſcheiden vorkommen? Weder Staat noch Kirche
ſind in Religionsſachen befugte Richter; denn
die Glieder der Geſellſchaft haben ihnen durch
keinen Vertrag dieſes Recht einraͤumen koͤnnen.
Der Staat hat zwar von Ferne darauf zu ſe-
hen, daß keine Lehren ausgebreitet werden, mit
denen der oͤffentliche Wohlſtand nicht beſtehen
kann; die wie Atheiſterey und Epikurismus den
Grund untergraben, auf welchem die Gluͤckſelig-
keit
[69] keit des geſellſchaftlichen Lebens beruhet. Plu-
tarch und Bayle moͤgen immer unterſuchen: ob
ein Staat bey der Atheiſterey nicht beſſer beſte-
hen koͤnne, als beym Aberglauben? moͤgen im-
mer die Plagen berechnen, und vergleichen, die
dem menſchlichen Geſchlechte aus dieſen verſchie-
denen Quellen des Elends bisher entſtanden
ſind, und noch zu entſtehen drohen. Im Grun-
de heißt dieſes nichts anders, als unterſuchen:
ob ein ſchleichendes oder ein hitziges Fieber toͤd-
licher ſey? Seinen Freunden wird man gleich-
wohl keines von beiden anwuͤnſchen. So wird
eine jede buͤrgerliche Geſellſchaft wohl thun,
[wenn] ſie keines von beiden, weder Fanatismus,
noch Atheiſterey Wurzel ſchlagen und ſich aus-
breiten laͤßt. Der Staatskoͤrper ſiecht und iſt
elend, er mag vom Krebsſchaden aufgerieben,
oder von Fieberhitze verzehrt werden.
Aber nur von Ferne her muß der Staat
hierauf Ruͤckſicht nehmen, und ſelbſt die Lehren
nur mit weiſer Maͤßigung beguͤnſtigen, auf wel-
chen ſeine wahre Gluͤckſeligkeit beruhet, ohne
ſich unmittelbar in irgend eine Streitigkeit zu
miſchen, und durch Autoritaͤt entſcheiden zu wol-
E 3len:
[70] len: denn er handelt offenbar wider ſeinen eige-
nen Endzweck, wenn er geradezu Unterſuchung
verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch
Vernunftgruͤnde entſcheiden laͤßt. Auch hat er
ſich nicht um alle Grundſaͤtze zu bekuͤmmern,
die eine herrſchende oder beherrſchte Dogmatik
annimmt oder verwirft. Die Rede iſt nur von
jenen Hauptgrundſaͤtzen, in welchen alle Reli-
gionen uͤbereinkommen, und ohne welche die
Gluͤckſeligkeit ein Traum, und die Tugend ſelbſt
keine Tugend mehr iſt. Ohne Gott und Vorſe-
hung und kuͤnftiges Leben iſt Menſchenliebe eine
angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig
mehr als eine Geckerey, die wir uns einander
einzuſchwatzen ſuchen, damit der Thor ſich placke,
und der Kluge ſich guͤtlich thun und auf jenes
Unkoſten ſich luſtig machen koͤnne.
Kaum wird es noͤthig ſeyn, noch die Frage
zu beruͤhren: ob es erlaubt ſey, die Lehrer und
Prieſter auf gewiſſe Glaubenslehren zu beeidi-
gen? Auf welche ſollte dieſes geſchehen? Jene
Grundartikel aller Religionen, davon vorhin
geſprochen worden, koͤnnen durch keine Eid-
ſchwuͤre bekraͤftiget worden. Ihr muͤſſet dem
Schwoͤrenden auf ſein Wort glauben, daß er ſie
annimmt;
[71] annimmt; oder ſein Eid iſt ein leerer Schall;
Worte, die er in die Luft ſtoͤßt, ohne daß ſie
ihn mehr Ueberwindung koſten, als eine bloße
Verſicherung; denn alles Zutrauen zu Eidſchwuͤ-
ren, und das ganze Anſehen derſelben beruhet
ja blos auf dieſen Grundlehren der Sittlich-
keit. Sind es aber beſondere Artikel dieſer
oder jener Religion, die ich beſchwoͤren oder ab-
ſchwoͤren ſoll; ſind es Grundſaͤtze, ohne welche
Tugend und Wohlſtand unter den Menſchen be-
ſtehen koͤnnen, und wenn ſie auch nach der
Meinung des Staats, oder der Perſonen, die
den Staat vorſtellen, zu meinem ewigen Heile
noch ſo nothwendig ſind; ſo frage ich: was hat
der Staat fuͤr Recht in das Innerſte der Men-
ſchen ſo zu wuͤhlen, und ſie zu Geſtaͤndniſſen
zu zwingen, die der Geſellſchaft weder Troſt
noch Frommen bringen? Eingeraͤumt hat ihm
dieſes nicht werden koͤnnen; denn hier fehlen
alle Bedingniſſe des Vertrags, die im vorher-
gehenden ausgefuͤhrt worden. Es betrift keines
von meinen entbehrlichen Guͤtern, das ich mei-
nem Naͤchſten uͤberlaſſen ſoll; es betrift keinen
Gegenſtand des Wohlwollens; und Colliſions-
ſaͤlle koͤnnen dabei zur Entſcheidung nicht vor-
E 4kom-
[72] kommen. Wie kann ſich aber der Staat ein
[B]efugniß anmaßen, die durch keinen Ver-
trag eingeraͤumt, durch keine Willenserklaͤ-
rung von Perſon zu Perſon wandern und uͤber-
tragen werden kann? Laſſet uns indeſſen zum
Ueberfluſſe unterſuchen: ob uͤberall Beeidigung
uͤber Glauben und Nichtglauben ein reeller Be-
griff ſey? ob die Meinungen der Menſchen uͤber-
haupt, ihr Beyſtimmen und Nichtbeyſtimmen
in Abſicht auf Vernunftſaͤtze, ein Gegenſtand
ſind, uͤber welche ſie beeidiget werden koͤnnen?
Eidſchwuͤre erzeugen keine neuen Pflichten.
Die feyerlichſte Anrufung Gottes zum Zeugen
der Wahrheit giebt und nimmt kein Recht, das
nicht ohne dieſelbe ſchon da geweſen; legt dem
Anrufenden auch keine Verbindlichkeit auf, die
ihm nicht auch ohne dieſelbe obliegt. Sie die-
nen blos, das Gewiſſen der Menſchen, wenn
es etwa eingeſchlaͤfert ſeyn ſollte, aufzuwecken;
und auf das aufmerkſam zu machen, was der
Wille des Weltrichters ſchon ſo von ihm for-
dert. Die Eidſchwuͤre ſind alſo eigentlich weder
fuͤr den gewiſſenhaften Mann, noch fuͤr den ent-
ſchloſſenen Taugenichts. Jener muß ohnehin
wiſſen,
[73] wiſſen, muß ohne Eid und Fluch von der Wahr-
heit innigſt durchdrungen ſeyn, daß Gott Zeu-
ge ſey, nicht nur aller Worte und Ausſagen,
ſondern aller Gedanken und geheimſien Re-
gungen des Menſchen, und daß er die Uebertre-
tung ſeines allerheiligſten Willens nicht un-
geahndet laſſe; — und der entſchloſſene, ge-
wiſſenloſe Boͤſewicht?
Alſo blos fuͤr den gemeinen Mittelſchlag von
Menſchen, oder im Grunde fuͤr jeden von
uns, in ſo weit wir alle, ſo viel unſerer
ſind, in ſo manchen Faͤllen zu dieſer Klaſſe
zu zaͤhlen ſind; fuͤr die ſchwachen, unſchluͤſſi-
gen und ſchwankenden Menſchen, die Grund-
ſaͤtze haben, und ſie nicht immer befolgen; die
traͤge und laͤſſig ſind zum Guten, das ſie erken-
nen und einſehen; die ihrer Laune nachgeben,
einer Schwachheit zu gefallen, aufſchieben, be-
manteln, Entſchuldigung ſuchen, und mehren-
theils zu finden glauben. Sie wollen, und
haben die Feſtigkeit nicht, ihrem Willen treu
zu bleiben. Dieſen muß der Wille geſtaͤhlt,
E 5das
[74] das Gewiſſen rege gemacht werden. Der itzt
vor Gericht laͤugnet, beſitzet vielleicht fremdes
Gut, ohne die entſchloſſene Bosheit, unge-
recht ſeyn zu wollen. Er kann ſolches ver-
zehrt, oder haben von Haͤnden kommen laſ-
ſen, und will voritzt durch das Ablaͤugnen
nur Zeit gewinnen; und ſo wird vielleicht
der gute Geiſt, der fuͤr die Gerechtigkeit in
ihm kaͤmpft, von Tag zu Tag abgewieſen,
bis er ermuͤdet, und unterliegt. Man muß
ihm alſo zu Huͤlfe eilen, und erſtlich den Fall,
der Aufſchub leidet, in eine Handlung ver-
wandeln, die itzt geſchiehet, wo der Augen-
blick entſcheidend iſt, und alle Entſchuldigung
wegfaͤllt; ſodann aber auch alle Feyerlichkeit
aufbieten, alle die Kraft und den Nachdruck
zuſammennehmen, mit welchen die Erinnerung
an Gott, den allgerechten Raͤcher und Vergel-
ter, auf das Gemuͤth wirken kann.
Dieſes iſt die Beſtimmung des Eides,
und hieraus, duͤnkt mich, ſey offenbar, daß
man die Menſchen nur uͤber Dinge beſchwoͤren
muͤſſe, die in die aͤuſſeren Sinne fallen; davon
ſie mit der Ueberzeugung, welche die Evidenz
der
[75] der aͤuſſern Sinne mit ſich fuͤhret, die Wahr-
heit behaupten und ausſagen koͤnnen: ich habe
gehoͤrt, geſehen, geſprochen, empfangen, ge-
geben, oder nicht gehoͤrt u. ſ. w. Man brin-
get aber ihr Gewiſſen auf eine grauſame Fol-
ter, wenn man ſie uͤber Dinge befragt, die
blos fuͤr den innern Sinn gehoͤren. Glaubſt
du? Biſt du uͤberfuͤhrt? uͤberredet? duͤnkt es
dir? Iſt irgend in einem Winkel deines Gei-
ſtes oder deines Herzens noch einiger Zweifel
zuruͤck; ſo zeige an, oder Gott wird den Miß-
brauch ſeines Namens raͤchen. — Um des
Himmels willen, ſchonet der zarten, gewiſſen-
haften Unſchuld! Und wenn ſie einen Satz
aus dem erſten Buche des Euklides zu be-
haupten haͤtte; ſo muͤßte ſie in dieſem Augen-
blicke zagen, und unausſprechliche Marter
leiden.
Die Wahrnehmungen des innern Sinnes
ſind an und fuͤr ſich ſelbſt ſelten ſo handgreif-
lich, daß der Geiſt ſie mit Sicherheit feſte hal-
ten, und ſo oft es verlangt wird, von ſich ge-
ben koͤnne. Sie entſchluͤpfen ihm zuweilen, in-
dem er ſie zu faſſen glaubt. Wovon ich itzt
ver-
[76] verſichert zu ſeyn glaube, daruͤber ſchleichet
oder ſtielt ſich in dem naͤchſten Augenblicke ein
kleiner Zweifel ein, und lauret in einer Falte
meiner Seele, ohne daß ich ihn gewahr wor-
den. Viele Behauptungen, uͤber die ich heute
zum Maͤrtyrer werden moͤchte, koͤnnen mir mor-
gen vielleicht problematiſch vorkommen. Soll
ich dieſe innern Wahrnehmungen gar durch
Worte und Zeichen von mir geben, oder auf
Worte und Zeichen ſchwoͤren, die andere Men-
ſchen mir vorlegen; ſo iſt die Unſicherheit noch
weit groͤßer. Ich und mein Naͤchſter, wir
koͤnnen unmoͤglich mit eben denſelben Worten
eben dieſelben innern Empfindungen verbin-
den; denn wir koͤnnen dieſe nicht anders ge-
gen einanderhalten, mit einander vergleichen und
berichtigen, als wiederum durch Worte. Wir
koͤnnen die Worte nicht durch Sachen erlaͤu-
tern; ſondern muͤſſen wiederum zu Zeichen
und Worten unſere Zuflucht nehmen, und am
Ende zu Metaphern, weil wir, durch Huͤlfe
dieſes Kunſtgriffs, die Begriffe des innern
Sinnes auf aͤuſſere ſinnliche Wahrnehmungen
gleichſam zuruͤckfuͤhren. Was fuͤr Verwirrung
und Undeutlichkeit muß aber nicht auf ſolche
Weiſe
[77] Weiſe in der Bedeutung der Worte zuruͤck-
bleiben, und wie ſehr muͤſſen die Ideen ver-
ſchieden ſeyn, die verſchiedene Menſchen, in
verſchiedenen Zeiten und Jahrhunderten, mit
denſelben aͤuſſerlichen Zeichen und Worten ver-
binden?
Wer du auch ſeyeſt, lieber Leſer! ſo be-
ſchuldige mich hier nicht der Zweifelſucht,
oder der boͤſen Liſt, dich zum Skepticiſten ma-
chen zu wollen. Ich bin vielleicht einer von
denjenigen, die am weiteſten von dieſer Krank-
heit der Seele entfernt ſind, und ſie an allen
ihren Nebenmenſchen kuriren zu koͤnnen, am
ſehnlichſten wuͤnſchen. Aber eben deswegen,
weil ich dieſe Kur ſo oft an mir ſelbſt verrich-
tet, und an andern verſucht habe, bin ich ge-
wahr worden, wie ſchwer ſie ſey, und wie wenig
man den Erfolg in Haͤnden habe. Mit mei-
nem beſten Freunde, mit dem ich noch ſo ein-
hellig zu denken glaubte, konnte ich mich ſehr
oft uͤber Wahrheiten der Philoſophie und Reli-
gion nicht vereinigen. Nach langem Streit und
Wortwechſel ergab ſich zuweilen, daß wir mit
denſelben Worten, jeder andere Begriffe ver-
bun-
[87[78]] bunden hatten. Nicht ſelten dachten wir einer-
ley, und druͤckten uns nur verſchiedentlich aus;
aber eben ſo oft glaubten wir uͤberein zu ſtim-
men, und waren in Gedanken noch weit von
einander entfernt. Gleichwohl waren wir bey-
derſeits im Denken nicht ungeuͤbt, gewohnt,
mit abgeſonderten Begriffen umzugehen, und
beiden ſchien es um die Wahrheit in Ernſt,
mehr um ſie, als ums Rechthaben zu thun
zu ſeyn. Demohngeachtet mußten ſich unſere
Begriffe lange Zeit an einander reiben, bevor
ſie in einander ſich wollten fuͤgen laſſen; bevor
wir mit einiger Zuverlaͤſſigkeit ſagen konnten!
hierin kommen wir uͤberein! O! wer dieſe Er-
fahrung in ſeinem Leben gehabt hat, und noch
intolerant ſeyn, noch ſeinen Naͤchſten haſſen kann,
weil dieſer in Religionsſachen nicht denkt, oder
ſich nicht ſo ausdruͤckt wie er, den moͤchte ich nie
zum Freunde haben; denn er hat alle Menſch-
heit ausgezogen.
Und ihr, Mitmenſchen! ihr nehmet einen Mann,
mit dem ihr euch vielleicht niemals uͤber der-
gleichen Dinge beſprochen habet, ihr leget ihm die
ſubtilſten Saͤtze der Metaphyſik und Religion,
wie
[79] wie ſie vor Jahrhunderten in Worte eingeklei-
det worden ſind, in ſogenannten Symbolen
vor; ihr laſſet ihm bey jenem allerheiligſten Na-
men betheuern, daß er bei dieſen Worten eben
ſo denket, wie ihr, und beide eben ſo, wie
jener, der ſie vor Jahrhunderten niederge-
ſchrieben hat; betheuern, daß er dieſe Saͤtze
von ganzem Herzen annehme, und an keinem
derſelben Zweifel hege; mit dieſer beſchwornen
Uebereinſtimmung verbindet ihr Amt und Wuͤr-
den, Macht und Einfluß, deren Reizung gar
wohl faͤhig iſt, ſo manchen Widerſpruch zu he-
ben, ſo manchen Zweifel zu unterdruͤcken, und
wenn ſich denn am Ende hervorthut, daß es ſo
nicht iſt mit des Mannes Ueberzeugung, wie
er vorgegeben; ſo beſchuldiget ihr ihn des
graͤßlichſten aller Verbrechen, ihr klaget ihn
des Meineides an, und laſſet erfolgen, was
auf dieſe Unthat erfolgen ſoll. Iſt hier die
Schuld nicht, am gelindeſten davon zu urthei-
len, auf beiden Seiten gleich?
„Ja! ſprechen die billigſten unter euch:
„wir beeidigen nicht auf den Glauben. Wir
„laſſen dem Gewiſſen ſeine Freyheit, und be-
ſchwoͤ-
[80] „ſchwoͤren den Mitbuͤrger nur, den wir mit ei-
„nem Amte bekleiden, daß er dieſes Amt, wel-
„ches ihm, unter der Bedingung der Ueberein-
„ſtimmung anvertrauet wird, nicht ohne Ueber-
„einſtimmung annehme. Dieſes iſt ein Ver-
„trag, den wir mit ihm eingehen. Finden ſich
„nachher Zweifel, die dieſe Uebereinſtimmung
„aufheben; ſo ſtehet es ja bey ihm, ſeinem
„Gewiſſen treu zu ſeyn, und das Amt nieder-
„zu legen. Welche Gewiſſensfreyheit, welche
„Rechte der Menſchheit erlauben, wider einen
„Vertrag zu handeln?“
Nun wohl! ich will dieſem Schein von
Gerechtigkeit nicht alle die Gruͤnde entgegen
ſetzen, die nach oben ausgefuͤhrten augenſchein-
lichen Grundſaͤtzen, entgegen geſetzt werden koͤn-
nen. Wozu unnoͤthige Wiederholungen? aber
um der Menſchlichkeit willen! bedenket den Er-
folg, den dieſe Einrichtung bisher unter den
geſitteſten Menſchenkindern gehabt hat. Zaͤhlet
die Maͤnner alle, die eure Lehrſtuͤhle und eure
Kanzeln beſteigen, und ſo manchen Satz, den
ſie bey der Uebernehmung ihres Amts beſchwo-
ren, in Zweifel ziehen; die Biſchoͤffe alle, die
im
[81] im Oberhauſe ſitzen; die wahrhaftig großen
Maͤnner alle, die in England Amt und Wuͤr-
den bekleiden, und jene 39 Artikel, die ſie be-
ſchworen, nicht mehr ſo unbedingt annehmen,
als ſie ihnen vorgelegt worden; Zaͤhlet ſie, und
ſaget alsdenn noch, man koͤnne meiner unter-
druͤckten Nation keine buͤrgerliche Freyheit ein-
raͤumen, weil ſo viele unter ihnen die Eide ge-
ring achteten! — Ach! Gott bewahre mein
Herz vor menſchenfeindlichen Gedanken! Sit
koͤnnten bey dieſer traurigen Betrachtung gar
leicht uͤber Hand nehmen.
Nein! aus Achtung fuͤr die Menſchheit,
bin ich vielmehr uͤberredet, alle dieſe Maͤnner
erkennen das nicht fuͤr Meineid, was man ih-
nen unter dieſem Namen Schuld giebt. Die
geſunde Vernunft ſagt ihnen vielleicht, daß nie-
mand, weder Staat noch Kirche, ein Recht ge-
habt, ſie uͤber Glaubensſachen zu beeidigen;
weder Staat noch Kirche ein Recht gehabt, mit
dem Glauben und Schwoͤren auf gewiſſe Saͤtze,
Amt, Ehre und Wuͤrden zu verbinden, oder den
Glauben an gewiſſe Saͤtze zur Bedingung zu
machen, unter welchen dieſe verliehen werden.
Erſter Abſchnitt. FEine
[82] Eine ſolche Bedingung, glauben ſie vielleicht,
ſey an und fuͤr ſich null, weil ſie niemanden
zum Beſten gereicht; weil keines Menſchen Recht
und Eigentum darunter leidet, wenn ſie gebro-
chen wird. *) Wenn alſo; wie ſie nicht in Ab-
rede ſeyn koͤnnen, Voͤſes gethan worden; ſo
ſey es damals geſchehen, als ihnen die verſpro-
chenen Vortheile einen ſo unzulaͤſſigen Eid abge-
lockt haben. Dieſem Uebel ſey aber nunmehr
nicht abzuhelfen; am wenigſten durch das Nie-
derlegen ihres auf dieſe Weiſe erlangten Amts
abzuhelfen. Damals habe man, um erlaubte
irdiſche Vortheile zu erhalten, freilich auf eine
vor Gott unverantwortliche Weiſe, ſich ſeines
allerheiligſten Namens bedient; allem dieſes
Ge-
[83] Geſchehene wird dadurch nicht ungeſchehen,
wenn ſie itzt auf die Fruͤchte Verzicht thun, die
ſie davon genießen; ja die Unordnung, das
Aergerniß und andere boͤſe Folgen, die das
Aufgeben ihres Amts, verbunden mit einem
oͤffentlichen Bekenntniß ihrer Abweichung, nach
ſich ziehen duͤrfte, koͤnnte das Uebel nur ver-
mehren. Es ſey alſo allen ihren Mitmenſchen,
ſowohl als ihnen ſelbſt und den Ihrigen beſſer
gerathen, wenn ſie es dabey bewenden laſſen,
und fortfahren, den Staaten und der Kirche die
Dienſte zu leiſten, zu welchen ihnen die Vorſe-
hung Trieb und Faͤhigkeit verliehen; Hierin
liege ihr Beruf zur oͤffentlichen Bedienung,
nicht in ihrer Geſinnung in Abſicht auf ewige
Wahrheiten und Vernunfrſaͤtze, die im Grun-
de nur ſie ſelbſt und keinen ihrer Nebenmen-
ſchen angehet. — Wenn gleich mancher zu
gewiſſenhaft iſt, ſein Gluͤck ſolchen uͤberfeinen
Entſchuldigungsgruͤnden zu verdanken zu haben;
ſo ſind doch auch diejenigen nicht voͤllig zu ver-
dammen, die ſchwach genug ſind, ihnen nach-
zugeben; wenigſtens iſt es nicht Meineid, ſon-
dern menſchliche Schwachheit, die ich Maͤnnern
F 2von
[84] von ihrem Werthe moͤchte zu Schulden kom-
men laſſen.
Zum Beſchluſſe dieſes Abſchnitts will ich
das Reſultat wiederholen, auf das mich meine
Betrachtungen gefuͤhrt haben.
Staat und Kirche haben zur Abſicht, die
menſchliche Gluͤckſeligkeit in dieſem und jenem
Leben, durch oͤffentliche Vorkehrungen, zu be-
foͤrdern.
Beide wirken auf Geſinnung und Hand-
lung der Menſchen, auf Grundſaͤtze und An-
wendung: der Staat, vermittelſt ſolcher
Gruͤnde, die auf Verhaͤltniſſen zwiſchen Menſch
und Menſch, oder Menſch und Natur, und die
Kirche, die Religion des Staats, vermittelſt
ſolcher Gruͤnde, die auf Verhaͤltniſſen zwiſchen
Menſch und Gott beruhen. Der Staat be-
handelt den Menſchen als unſterblichen Sohn
der Erde; die Religion als Ebenbild ſeines
Schoͤpfers.
Grundſaͤtze ſind frey. Geſinnungen leiden
ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Be-
ſtechung. Sie gehoͤren fuͤr das Erkenntnißver-
moͤgen des Menſchen, und muͤſſen nach dem
Richt-
[85] Richtmaß von Wahrheit und Unwahrheit ent-
ſchieden werden. Gutes und Boͤſes wirkt auf
ſein Billigungs- und Mißbilligungsvermoͤgen.
Furcht und Hoffnung lenken ſeine Triebe.
Belohnung und Strafe richten ſeinen Willen
ſpornen ſeine Thatkraft, ermuntern, locken,
ſchrecken ab.
Aber wenn Grundſaͤtze gluͤckſelig machen
ſollen; ſo muͤſſen ſie weder eingeſchrenckt, noch
eingeſchmeichelt, ſo muß blos das Urtheil der
Verſtandeskraͤfte fuͤr guͤltig angenommen wer-
den. Ideen vom Guten und Boͤſen mit ein-
miſchen, heißt die Sachen von einem unbe-
fugten Richter entſcheiden laſſen.
Weder Kirche noch Staat haben alſo ein
Recht die Grundſaͤtze und Geſinnungen der
Menſchen irgend einem Zwange zu unterwer-
fen. Weder Kirche noch Staat ſind berechti-
get, mit Grundſaͤtzen und Geſinnungen Vorzuͤ-
ge, Rechte und Anſpruͤche auf Perſonen und
Dinge zu verbinden, und den Einfluß, den
die Wahrheitskraft auf das Erkenntnißvermoͤ-
F 3gen
[86] gen hat, durch fremde Einmiſchung zu
ſchwaͤchen.
Selbſt der geſellſchaftliche Vertrag hat
weder dem Staate noch der Kirche ein ſolches
Recht einraͤumen koͤnnen. Denn ein Vertrag
uͤber Dinge, die ihrer Natur nach unveraͤuſ-
ſerlich ſind, iſt an und fuͤr ſich unguͤltig,
hebt ſich von ſelbſt auf.
Auch die heiligſten Eidſchwuͤre koͤnnen hier
die Natur der Sachen nicht veraͤndern. Eid-
ſchwuͤre erzeugen keine neuen Pflichten, ſind
blos feyerliche Bekraͤftigungen desjenigen, wo-
zu wir ohnehin, von Natur oder durch Ver-
trag, verpflichtet ſind. Ohne Pflicht iſt der
Eidſchwur eine leere Anrufung Gottes, die
laͤſterlich ſeyn kann, aber an und fuͤr ſich zu
nichts verbindet.
Zu dem koͤnnen die Menſchen nur dasje-
nige beeidigen, was die Evidenz der aͤuſſern
Sinne hat, was ſie geſehen, gehoͤrt, betaſtet
haben. Wahrnehmungen des innern Sinnes
ſind keine Gegenſtaͤnde der Eidesbekraͤftigung.
[87]
Alles Beſchwoͤren und Abſchwoͤren in Ab-
ſicht auf Grundſaͤtze und Lehrmeinungen ſind
dieſemnach unzulaͤſſig, und wenn ſie geleiſtet
worden, ſo verbinden ſie zu nichts, als zur
Reue: uͤber den ſtraͤflich begangenen Leichtſinn.
Wenn ich itzt eine Meinung beſchwoͤre; ſo bin
ich Augenblicks darauf nichts deſto weniger
frey, ſie zu verwerfen. Die Unthat eines ver-
geblichen Eides iſt begangen, wenn ich ſie auch
beybehalte; und Meineid iſt nicht geſchehen,
wenn ich ſie verwerfe.
Man vergeſſe nicht, daß nach meinen
Grundſaͤtzen der Staat nicht befugt ſey, mit
gewiſſen beſtimmten Lehrmeinungen, Beſol-
dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden.
Was das Lehramt betrift; ſo iſt es ſeine
Pflicht, Lehrer zu beſtellen, die Faͤhigkeit ha-
ben, Weisheit und Tugend zu lehren, und
ſolche nuͤtzliche Wahrheiten zu verbreiten, auf
denen die Gluͤckſeligkeit der menſchlichen Geſell-
ſchaft unmittelbar beruhet. Alle naͤhere Be-
ſtimmungen muͤſſen ihrem beſten Wiſſen und Ge-
wiſſen uͤberlaſſen werden, wo nicht unendliche
F 4Ver-
[88] Verwirrungen und Colliſionen der Pflichten
entſtehen ſollen, die am Ende den Tugend-
haften ſelbſt oft zur Heucheley oder Gewiſſen-
loſigkeit fuͤhren. Jede Vergehung wider die
Vorſchrift der Vernunft bleibet nicht un-
gerochen.
Wie aber? Wenn das Uebel nun einmal
geſchehen iſt; der Staat beſtellt und beſoldet
einen Lehrer auf gewiſſe beſtimmte Lehrmei-
nungen. Der Mann findet nachher dieſe
Lehrmeinungen ohne Grund; was hat er zu
thun? Wie ſich zu verhalten, um den Fuß
aus der Schlinge herauszuwinden, in welche
ihn ein irriges Gewiſſen verwickelt hat?
Drey verſchiedene Wege ſtehen hier vor
ihm offen. Er verſchließt die Wahrheit in ſei-
nem Herzen, und faͤhret fort, wider ſein beſ-
ſeres Wiſſen, die Unwahrheit zu lehren; oder
er legt ſein Amt nieder, ohne die Urſachen
anzugeben, warum dieſes geſchehe; oder end-
lich giebt er der Wahrheit ein lautes Zeugniß,
und laͤßt es auf den Staat ankommen, was
mit ſeinem Amte und mit der ihm ausgeſetz-
ten
[89] ten Beſoldung werden, oder was er ſonſt fuͤr
ſeine unuͤberwindliche Wahrheitsliebe leiden ſoll.
Mich duͤnkt, keiner von dieſen Wegen ſey
unter allen Umſtaͤnden ſchlechterdings zu ver-
werfen. Ich kann mir eine Verfaſſung denken
in welcher es vor dem Richterſtuhle des allge-
rechten Richters zu entſchuldigen iſt, wenn
man fortfaͤhrt, ſeinem ſonſt heilſamen Vor-
trage gemeinnuͤtziger Wahrheiten, eine Unwahr-
heit mit einzumiſchen, die der Staat, vielleicht
aus irrigem Gewiſſen geheiliget hat. Wenig-
ſtens wuͤrde ich mich huͤten, einen uͤbrigens
rechtſchaffenen Lehrer dieſerhalb der Heucheley,
oder des Jeſuitismus zu beſchuldigen, wenn
mir nicht die Umſtaͤnde und die Verfaſſung
des Mannes ſehr genau bekannt ſind; ſo ge-
nau, als vielleicht die Verfaſſung eines Men-
ſchen niemals ſeinem Naͤchſten bekannt ſeyn
kann. Wer ſich ruͤhmt, nie in ſolchen Din-
gen anders geſprochen, als gedacht zu haben,
hat entweder uͤberall nie gedacht, oder fin-
det vielleicht fuͤr gut, in dieſem Augenblicke
ſelbſt, mit einer Unwahrheit zu pralen, der ſein
Herz widerſpricht.
[90]
Alſo in Abſicht auf Geſinnungen und
Grundſaͤtze kommen Religion und Staat uͤber-
ein, muͤſſen beide allen Schein des Zwanges
und der Beſtechung vermeiden, und ſich auf
Lehren, Vermahnen, Bereden und Zurechtwei-
ſen einſchraͤnken. Nicht alſo in Abſicht auf
Handlung. Die Verhaͤltniſſe von Menſch zu
Menſchen erfordern Handlung, als Handlung;
die Verhaͤltniſſe zwiſchen Gott und Menſchen,
blos in ſo weit ſie zu Geſinnungen fuͤhren.
Eine gemeinnuͤtzige Handlung hoͤrt nicht auf,
gemeinnuͤtzig zu ſeyn, wenn ſie auch erzwun-
gen wird; eine religioͤſe Handlung hingegen
iſt nur in dem Maße religioͤs, in welcher ſie
aus freyer Willkuͤhr und in gehoͤriger Abſicht
geſchiehet.
Daher kann der Staat zu gemeinnuͤtzigen
Handlungen zwingen; belohnen, beſtrafen;
Amt und Ehren, Schande und Verweiſung
austheilen, um die Menſchen zu Handlungen
zu bewegen, deren innere Guͤte nicht kraͤftig
genug auf ihre Gemuͤther wirken will. Daher
hat dem Staate, durch den geſellſchaftlichen
Ver-
[91] Vertrag, auch das vollkommenſte Recht und
das Vermoͤgen, dieſes zu thun, eingeraͤumt
werden koͤnnen und muͤſſen. Daher iſt der
Staat eine moraliſche Perſon, die ihre eigene
Guͤter und Gerechtſame hat, und damit nach
Gutſinden ſchalten kann.
Fern von allem dieſen iſt die goͤttliche Re-
ligion. Sie verhaͤlt ſich gegen Handlung nicht
anders, als gegen Geſinnung; weil ſie Hand-
lung blos als Zeichen der Geſinnung befielt.
Sie iſt eine moraliſche Perſon; aber ihre
Rechte kennen keinen Zwang; Sie treibet nicht
mit eiſernem Staabe; ſondern leitet am Seile
der Liebe. Sie zuͤckt kein Rachſchwerdt, ſpen-
det kein zeitliches Gut aus; maßet ſich auf
kein irdiſches Gut ein Recht, auf kein Ge-
muͤth aͤuſſerliche Gewalt an. Ihre Waffen
ſind Gruͤnde und Ueberfuͤhrung; ihre Macht
die goͤttliche Kraft der Wahrheit; die Strafen,
die ſie androhet ſind, ſo wie die Belohnungen,
Wirkungen der Liebe; heilſam und wohlthaͤ-
tig fuͤr die Perſon ſelbſt, die ſie leidet. An
dieſen Merkmalen erkenne ich dich, Tochter
der
[92] der Gottheit! Religion! die du in Wahrheit
allein die ſeligmachende biſt, auf der Erde, ſo
wie im Himmel.
Bann und Verweiſungsrecht, das ſich
der Staat zuweilen erlauben darf, ſind dem
Geiſte der Religion ſchnurſtracks zuwider. Ver-
bannen, ausſchließen, den Bruder abweiſen,
der an meiner Erbauung Theil nehmen, und
ſein Herz in wohlthaͤtiger Mittheilung, mit
dem Meinigen zugleich zu Gott erheben will! —
Wenn ſich die Religion keine willkuͤhrliche Stra-
fen erlaubt, am wenigſten dieſe Seelenquaal,
die ach! nur dem empfindlich iſt, der wirklich
Religion hat. Gehet die Ungluͤcklichen alle
durch, die von je her durch Bann und Ver-
dammniß haben gebeſſert werden ſollen; Leſer!
welcher aͤuſſerlichen Kirche, Synagoge oder
Moſchee du auch anhaͤngeſt! unterſuche, ob du
nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wah-
re Religion antreffen wirſt, als in dem ungleich
groͤßern Haufen ihrer Verbanner? — Nun
hat die Verbannung entweder buͤrgerliche Fol-
gen, oder ſie hat keine. Ziehet ſie buͤrgerliches
Elend
[93] Elend nach ſich; ſo faͤllt ſie nur dem Edelmuͤthi-
gen zur Laſt, der dieſes Opfer der goͤttlichen
Wahrheit ſchuldig zu ſeyn glaubt. Wer keine
Religion hat, iſt ein Wahnwitziger, wenn er
ſich einer vermeinten Wahrheit zu gefallen, der
mindeſten Gefahr ausſetzet. Soll ſie aber, wie
man ſich bereden will, blos geiſtige Folgen ha-
ben; ſo druͤcken ſie abermals nur denjenigen,
der fuͤr dieſe Art von Empfindniß noch Gefuͤhl
hat. Der Irreligioſe lacht ihrer und bleibt
verſtockt.
Und wo iſt die Moͤglichkeit ſie von allen
buͤrgerlichen Folgen zu trennen? Kirchenzucht
einfuͤhren, habe ich an einem andern Orte, wie
mich duͤnkt, mit Recht geſagt, Kirchenzucht ein-
fuͤhren, und die buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit unge-
kraͤnkt erhalten, gleichet dem Beſcheide des aller-
hoͤchſten Richters an den Anklaͤger: Er ſey in
deiner Hand, doch ſchone ſeines Lebens!
Zerbrich das Faß, wie die Ausleger hinzuſetzen;
doch laß den Wein nicht auslaufen! Welche
kirchliche Ausſchließung, welcher Bann iſt ohne
alle buͤrgerliche Folgen, ohne allen Einfluß auf
die buͤrgerliche Achtung wenigſtens, auf den gu-
ten
[94] ten Leumund des Ausgeſtoßenen und auf das Zu-
trauen bey ſeinen Mitbuͤrgern, ohne welches
doch niemand ſeines Berufs warten, und ſeinen
Mitmenſchen nuͤtzlich, das iſt, buͤrgerlich gluͤck-
ſelig ſeyn kann?
Man beruft ſich immer noch auf das Na-
turgeſetz. Jede Geſellſchaft, ſpricht man, hat
das Recht auszuſchließen: Warum nicht auch
die religioſe?
Allein ich erwiedere: grade hier macht die
religioſe Geſellſchaft eine Ausnahme; vermoͤge
eines hoͤhern Geſetzes kann keine Geſellſchaft ein
Recht ausuͤben, das der erſten Abſicht der Geſell-
ſchaft ſelbſt ſchnurſtracks entgegengeſetzt iſt. Ei-
nen Diſſidenten ausſchließen, ſagt ein wuͤrdiger
Geiſtlicher aus dieſer Stadt, einen Diſſidenten
aus der Kirche verweiſen, heißt einem Kranken
die Apotheke verbieten. In der That, die we-
ſentlichſte Abſicht religioſer Geſellſchaften iſt ge-
meinſchaftliche Erbauung. Man will durch
die Zauberkraft der Sympathie, die Wahrheit
aus dem Geiſte in das Herz uͤbertragen, die
zuweilen todte Vernunfterkenntniß durch Theil-
nehmung zu hohen Empfindniſſen beleben. Wenn
das
[95] das Herz allzuſehr an ſinnlichen Luͤſten klebt,
um der Vernunft Gehoͤr zu geben; wenn es auf
dem Punkte iſt, die Vernunft ſelbſt mir ins
Garn zu locken; ſo werde es hier vom Schauer
der Gottſeligkeit ergriffen, vom Feuer der An-
dacht entflammt, und lerne Freuden hoͤherer Art
kennen, die auch hienieden ſchon den ſinnlichen
Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den
Kranken vor der Thuͤr abweiſen, der dieſe Ar-
zeney am meiſten bedarf; deſtomehr bedarf, je
weniger er dieſes Beduͤrfniß empfindet, und in
ſeinem Irrſinne, ſich geſund zu ſeyn einbildet?
Muß nicht vielmehr eure erſte Bemuͤhung ſeyn,
ihm dieſe Empfindung wieder zu geben, und
den gleichſam vom kaltem Brande bedroheten
Theil ſeiner Seele ins Leben zuruͤck zu rufen?
Statt deſſen verweigert ihr ihm alle Huͤlfe, und
laſſet den Ohnmaͤchtigen den moraliſchen Tod
dahin ſterben, dem ihr ihn vielleicht wuͤrdet
entriſſen haben.
Weit edler und dem Zwecke ſeiner Schule
gemaͤßer, handelte jener Weltweiſe zu Athen.
Ein Epikurer kam von ſeinem Gelage, die Sinne
von
[96] von naͤchtlicher Wolluſt benebelt, und das Haupt
von Roſen umwunden. Er trat in den Hoͤrſal
der Stoiker, um ſich in der Fruͤhſtunde noch
das letzte Vergnuͤgen entnervter Wolluͤſilinge
zu verſchaffen, das Vergnuͤgen zu ſpotten. Der
Weltweiſe laͤßt ihn ungehindert, verdoppelt
das Feuer ſeiner Beredſamkeit wider die Ver-
fuͤhrung der Wolluſt, und ſchildert die Selig-
keit der Tugend mit unwiderſtehlicher Gewalt.
Der Schuͤler Epikurs hoͤrt, wird aufmerkſam,
ſchlaͤgt die Augen nieder, reißt die Kraͤnze
von ſeinem Haupte, und wird ſelbſt ein An-
haͤnger der Stoa.
Ende des erſten Abſchnitts.
[[1]]
Zweiter Abſchnitt.
A
[[2]][[3]]
Das Weſentliche dieſer Behauptung, das ei-
nem ſonſt allgemein herrſchenden Grundſatze ſo
ſchnurſtracks entgegenſtehet, habe ich bereits bey
einer andern Gelegenheit auszufuͤhren geſucht.
Herrn Dohm vortrefliche Schrift Ueber die
buͤrgerliche Verbeſſerung der Juden veran-
laßte die Unterſuchung: in wie weit einer
aufgenommenen Kolonie eigene Geſetzver-
weſung in kirchlichen und buͤrgerlichen Sa-
chen uͤberhaupt, und insbeſondre ein Bann-
und Ausſchließungsrecht nachzulaſſen ſey:
— Geſetzliche Macht der Kirche — Bannrecht —
Wenn die Kolonie dieſe haben ſoll; ſo muß ſie
von dem Staate, oder von der Mutterkirche
damit gleichſam belehnt werden. Jemand, der
dieſes Recht, vermoͤge des geſellſchaftlichen Ver-
A 2trages,
[4] trages, beſitzet, muß ihr einen Theil davon, in
ſo weit es ſich ſelbſt angehet, abgetreten, und
uͤberlaſſen haben. Wie aber? Wenn niemand
ein ſolches Recht beſitzen kann? Wenn weder
dem Staate, noch der Mutterkirche ſelbſt irgend
ein Zwangsrecht in Religionsſachen zukaͤme?
Wenn nach den Grundſaͤtzen der geſunden Ver-
nunft, deren Goͤttlichkeit wir alle anerkennen
muͤſſen, weder Staat noch Kirche befugt waͤre,
ſich in Glaubensſachen ein anderes Recht anzu-
maßen, als das Recht zu belehren; eine andere
Macht, als die Macht der Ueberfuͤhrung, eine
andere Zucht, als die Zucht durch Vernunft und
Grundſaͤtze? Kann dieſes erweislich, und dem
geſunden Menſchenverſtande einleuchtend ge-
macht werden; ſo iſt kein ausdruͤcklicher Ver-
trag, noch vielweniger Herkommen und Verjaͤh-
rung maͤchtig genug, ein Recht geltend zu ma-
chen, das ihm entgegengeſetzt iſt; ſo iſt aller
kirchliche Zwang widerrechtlich, alle aͤußere
Macht in Religionsſachen gewaltſame Anmaſ-
ſung, und wenn dieſes iſt; ſo darf, ſo kann die
Mutterkirche kein Recht verleihen, das ihr ſelber
nicht zukoͤmmt, keine Macht vergeben, die ſie
ſich
[5] ſich mit Unrecht angemaßt hat. Es kann ſeyn,
daß der Mißbrauch, durch irgend ein allgemeines
Vorurtheil, ſo um ſich gegriffen, ſo ſehr in den
Gemuͤthern der Menſchen Wurzel gefaßt hat,
daß es nicht thunlich, oder nicht rathſam waͤre,
ihn mit einem Male, ohne weiſe Vorbereitung
abzuſchaffen; aber in dieſem Falle iſt es doch
wenigſtens unſere Schuldigkeit, ihm von ferne
her entgegen zu arbeiten, und vorerſt ſeiner fer-
nern Ausbreitung einen Damm entgegen zu ſe-
tzen. Koͤnnen wir ein Uebel nicht voͤllig ausrot-
ten; ſo muͤſſen wir ihm wenigſtens die Wurzel
abſtechen.
Dieſes war das Reſultat meiner Betrachtun-
gen, und ich wagte es, meine Gedanken dem
Publikum *) zur Beurtheilung vorzulegen; wie-
wohl ich meine Gruͤnde damals nicht ſo ausfuͤhr-
lich angeben konnte, als hier in dem vorigen
Abſchnitte geſchehen.
Ich habe das Gluͤck, in einem Staate zu le-
ben, in welchem dieſe meine Begriffe weder neu,
noch ſonderlich auffallend ſind. Der weiſe Re-
A 3gent,
[6] gent, von dem er beherrſcht wird, hat es; ſeit
Anfang ſeiner Regierung, beſtaͤndig ſein Au-
genmerk ſeyn laſſen, die Menſchheit in Glau-
bensſachen, in ihr volles Recht einzuſetzen. Er
iſt der Erſte unter den Regenten unſers Jahr-
hunderts, der die weiſe Maxime, in ihrem gan-
zen Umfange, niemals aus den Augen gelaſſen:
die Menſchen ſind fuͤr einander geſchaffen:
belehre deinen Naͤchſten, oder ertrage ihn! *)
Mit
[7] Mit weiſer Maͤßigung hat er zwar die Vorrechte
der aͤußern Religion geſchont, in deren Beſitz er
A 4ſie
*)
[8] ſie gefunden. Noch gehoͤren vielleicht Jahrhun-
derte von Cultur und Vorbereitung dazu, bevor
die
*)
[9] die Menſchen begreifen werden, daß Vorrechte
um der Religion willen weder rechtlich, noch im
Grunde nuͤtzlich ſeyen, und daß es alſo eine
wahre Wohlthat ſeyn wuͤrde, allen buͤrgerlichen
Unterſchied um der Religion willtn ſchlechter-
dings aufzuheben. Indeſſen hat ſich die Ration
unter der Regierung dieſes Weiſen ſo ſehr an
Duldung und Vertragſamkeit in Glaubensſachen
gewoͤhnt, daß Zwang, Bann und Ausſchlieſſungs-
recht wenigſtens aufgehoͤrt haben, populaͤre Be-
griffe zu ſeyn.
A 5Was
[10]
Was aber einem jeden Rechtſchaffenen wah-
re Freude ins Herz bringen muß, iſt der Ernſt
und Eifer, mit welchem einige wuͤrdige Glieder
der hieſigen Geiſtlichkeit ſelbſt dieſe Grundſaͤtze
der Vernunft, oder vielmehr der wahren Gottes-
furcht, unter dem Volke auszubreiten ſuchen.
Ja einige derſelben haben kein Bedenken getra-
gen, meinen Gruͤnden wider das allgemein an-
gebetete Idol des Kirchenrechts uͤberhaupt bey-
zutreten, und dem Reſultate derſelben oͤffentlich
Beyfall zu geben. Welche hohe Begriffe muͤſſen
dieſe Maͤnner von ihrer Beſtimmung haben, da
ſie ſo willig ſind, alle Nebenabſicht davon zu ent-
fernen; welch edles Zutrauen zu der Kraft der
Wahrheit, da ſie ſich getrauen, ſie, ohne alle
Stuͤtzen, auf ihrem eigenen Poſtemente ſicher
zu ſtellen! Wenn wir uͤbrigens in den Grund-
ſaͤtzen auch noch ſo verſchieden waͤren; ſo koͤnnte
ich nicht umhin, ihnen, wegen dieſer erhabenen
Geſinnungen, meine ganze Bewunderung und
Ehrerbietung zu bezeugen.
Manche andere Leſer und Buͤcherrichter ha-
ben ſich gar ſonderbar dabey genommen. Meine
Gruͤnde haben ſie zwar nicht beſtritten; ſondern
viel-
[11] vielmehr gelten laſſen. Niemand hat es ver-
ſucht, zwiſchen Lehrmeinung und Recht den min-
deſten Zuſammenhang zu zeigen. Niemand hat
einen Fehler in der Schlußfolge aufgedeckt, daß
mein Beyſtimmen oder Nichtbeyſtimmen in ge-
wiſſe ewige Wahrheiten mir kein Recht uͤber
Dinge, keine Befugniß ertheilen, uͤber Guͤter
und Gemuͤther nach eigenem Belieben zu ſchal-
ten. Und gleichwohl haben ſie bey dem unmit-
telbaren Reſultate derſelben, wie bey einer un-
erwarteten Erſcheinung, geſtutzt. Wie? So
giebt es uͤberall kein Kirchenrecht? So beruhet
alles, was ſo viele Schriftſteller, was wir ſelbſt
vielleicht uͤber das Kirchenrecht geſchrieben, ge-
leſen, gehoͤrt und diſputirt haben, auf grundlo-
ſem Boden? — Dieſes ſchien ihnen zu weit zu
gehen, und gleichwol muß in der Schlußfolge
ein verborgener Fehler liegen, wenn das Reſul-
tat nicht nothwendig wahr ſeyn ſoll.
In den Goͤttingiſchen Anzeigen fuͤhrt der
Recenſent meine Behauptung an, daß es kein
Recht auf Perſonen und Dinge gebe, welches
mit Lehrmeinungen zuſammenhaͤnge, und daß
alle Vertraͤge und Abkommniſſe der Menſchen kein
ſolches
[12] ſolches Recht moͤglich machen koͤnnen, und ſetzet
hinzu: „dieſes alles iſt neu und hart. Die er-
„ſten Grundſaͤtze werden weggeleugnet, und al-
„ler Streit hat ein Ende.“
Ja wohl, gehet es um die erſten Grundſaͤtze,
die nicht anerkannt werden wollen. — Soll aber
deswegen aller Streit ein Ende haben? Sollen
denn Grundſaͤtze niemals in Zweifel gezogen wer-
den? So koͤnnen Maͤnner aus der pythagori-
ſchen Schule in Ewigkeit ſtreiten, woher ihr Leh-
rer zur guͤldenen Huͤfte gekommen, wenn es nie-
mand wagen darf, zu unterſuchen: ob auch Py-
thagoras uͤberall eine guͤldene Huͤfte habe?
Jedes Spiel hat ſeine Geſetze, jeder Wett-
kamf ſeine Regeln, nach welchen der Kampf-
richter urtheilt. Willſt du den Einſatz, oder
den Kampfpreis davon tragen; ſo unterwirf dich
den Grundſaͤtzen. Wer aber uͤber die Theorie
der Spiele nachdenken will, kann allerdings die
Grundbegriffe ſelbſt in Augenſchein nehmen. So
auch vor Gericht. Jener Criminalrichter, der
einen Moͤrder zu richten hatte, brachte ihn zum
Geſtaͤndniſſe ſeines Verbrechens. Allein der
Ruchloſe behauptete, er wiſſe keinen Grund,
warum
[13] warum [e]s nicht eben ſo gut erlaubt ſey, einen
Menſchen zu ermorden, als ein Thier, um ſei-
nes Vortheils willen, umzubringen. Dieſem
Unmenſchen konnte der Richter mit Recht ant-
worten: „du leugneſt die Grundſaͤtze, Burſche!
„mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirſt
„wenigſtens einſehen, daß es auch uns erlaubt
„ſey, um unſeres Vortheils willen, die Erde
„von einem ſolchen Ungeheuer zu befreyen.“ So
aber durfte ihm der Prieſter ſchon nicht antworten,
der ihn zum Tode vorbereiten ſollte. Dieſer war
verbunden ſich mit ihm uͤber die Grundſaͤtze ſelbſt
einzulaſſen, und ihm, wenn ſein Zweifel ihm ein
Ernſt war, ſolchen zu benehmen. Nicht anders
verhaͤlt es ſich in Kuͤnſten und Wiſſenſchaften.
Jede derſelben ſetzet gewiſſe Grundbegriffe vor-
aus, von denen ſie weiter keine Rechenſchaft
giebt. Deswegen aber iſt in dem ganzen Inbe-
griff der menſchlichen Erkenntniſſe kein Punkt
uͤber allen Anſpruch hinweg zu ſetzen, kein Titel,
der nicht zur Unterſuchung gezogen werden darf.
Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieſes
Gerichtshofes; ſo muß ich vor einen andern ver-
wieſen werden. Irgendwo muß ich gehoͤrt, und
zu rechte gewieſen werden.
Der
[14]
Der Fall, den der Rec. zum Beyſpiel anfuͤh-
ret, um mich zu widerlegen, triſt vollends nicht
zum Ziele. Er ſpricht: „Wir wollen ſie (die ge-
„leugneten Grundſaͤtze,) indeſſen auf einen be-
„ſtimmten Fall anwenden. Die Judenſchaft in
„Berlin beſtellt eine Perſon, die nach den Ge-
„ſetzen ihrer Religion die Kinder maͤnnlichen
„Geſchlechts beſchneiden ſoll; dieſe Perſon er-
„haͤlt durch ein Factum gewiſſe Rechte auf ſo viel
„Einkuͤnfte, auf dieſen beſtimmten Rang in der
„Gemeine etc. Nach einiger Zeit kommen ihr
„Bedenklichkeiten uͤber die Lehrmeinung oder das
„Geſetz von der Beſchneidung bey; ſie weigert
„ſich den Vertrag zu erfuͤllen. Bleiben ihr denn
„nun auch die Rechte, die ſie durch den Vertrag
„erhielt? So uͤberall.“ —
Und wie uͤberall? Ich will die Moͤglichkeit
des Falls zugeben, der ſich hoffentlich nie zutra-
gen wird *). Was ſoll dieſe mir ſo nahe gelegte
In-
[15] ſtanz beweiſen? Doch wohl nicht, daß nach der
Vernunft Rechte auf Perſonen und Guͤter mit
Lehrmeinungen zuſammenhaͤngen, und auf der-
ſelben beruhen? oder daß poſitive Geſetze und
Vertraͤge ein ſolches Recht moͤglich machen koͤn-
nen? Auf dieſe beiden Punkte koͤmmt es, nach
dem eigentlichen Anfuͤhren des Recenſ. haupt-
ſaͤchlich an, und beide finden in dem erdichteten
Falle nicht Statt, denn der Beſchneider wuͤrde
ja die Einkuͤnfte und den Rang nicht fuͤr den
Beyfall zu genießen haben, den er der Lehrmei-
nung giebt; ſondern fuͤr die Operation, die er
an der Stelle der Hausvaͤter verrichtet. Ver-
hindert ihn nun ſein Gewiſſen, dieſe Muͤhwal-
tung
*)
[16] tung ferner zu uͤbernehmen; ſo wird er aller-
dings auf die Belohnung Verzicht thun muͤſſen,
die er dafuͤr ſich ausbedungen. Was hat dieſes
aber mit den Vorrechten gemein, die man einer
Perſon einraͤumt, weil ſie dieſer oder jener Lehre
beyſtimmet, dieſe oder jene ewige Wahrheit an-
nimmt, oder verwirft? — Alles, womit die er-
dichtete Inſtanz einige Aehnlichkeit haben koͤnn-
te, waͤre etwa der Fall, da der Staat Lehrer
beſtellt und beſoldet, die gewiſſe Lehren ſo und
nicht anders ausbreiten ſollen: dieſe aber nach-
her ſich im Gewiſſen verbunden erachteten, von
den ihnen vorgeſchriebenen Lehren abzuweichen.
Dieſen Fall, der ſo oft zu lauten und hitzigen
Streitigkeiten Gelegenheit gegeben, habe ich im
vorigen Abſchnitte umſtaͤndlich beruͤhrt, und nach
meinen Grundſaͤtzen zu eroͤrtern geſucht. Auf
das angefuͤhrte Gleichniß aber ſcheinet er mir
eben ſo wenig zu paſſen. Man erinnerte ſich des
Unterſchiedes, den ich gemacht, zwiſchen Hand-
lungen, die als Handlungen verlangt werden,
und ſolchen, die blos als Zeichen der Geſiunun-
gen goͤlten. Eine Vorhaut iſt abgeſchnitten,
der Beſchneider mag von dem Gebrauche ſelbſt
denken
[17] denken und glauben, was er will; ſo wie ein
Schuldherr, dem die Gerichte zu ſeiner Befrie-
digung verholfen, bezahlt iſt, der Schuldner
mag von der Pflicht zu bezahlen, denken, wie er
will. Wie kann aber hiervon die Anwendung
auf den Lehrer der Religionswahrheiten gemacht
werden, deſſen Lehren ſicherlich wenig Frommen
bringen, wenn nicht Geiſt und Herz damit uͤber-
einſtimmen; wenn ſie nicht aus innerer Ueber-
zeugung fließen? — Ich habe bereits an dem
angefuͤhrten Orte zu erkennen gegeben, daß ich
mich nicht getraue, einem auf dieſe Weiſe in die
Enge getriebenen Lehrer vorzuſchreiben, wie er
ſich als rechtſchaffener Mann zu verhalten habe;
oder Vorwuͤrfe zu machen, wenn er ſich anders
verhaͤlt; und daß nach meinem Beduͤnken alles
auf Zeit, Umſtaͤnde und Verfaſſung ankomme, in
welchen er ſich befindet. Wer darf hier uͤber die
Gewiſſenhaftigkeit ſeines Naͤchſten den Stab bre-
chen? Wer ihr zu einer ſo kritiſchen Entſchei-
dung eine Waage aufdringen, die ſie vielleicht
nicht fuͤr die richtige erkennt?
Indeſſen liegt dieſe Unterſuchung nicht ſo
ganz auf meinem Wege, und hat wenig mit den
Zweiter Abſchn. Bbeiden
[18] beiden Fragen gemein, auf welche alles ankoͤmmt,
und die ich hier abermals wiederhole.
1) Giebt es, nach dem Geſetzeder Vernunft,
Rechte auf Perſonen und Dinge, die mit
Lehrmeinungen zuſammenhaͤngen, und durch
das Einſtimmen in dieſelben erworben
werden?
3) Koͤnnen Vertraͤge und Abkommniſſe voll-
kommene Rechte erzeugen, Zwangspflich-
ten hervorbringen, wo nicht, ohne allen Ver-
trag, ſchon unvollkommene Rechte und Ge-
wiſſenspflichten da geweſen ſind?
Einer von dieſen Saͤtzen muß aus dem Natur-
rechte erwieſen werden, wenn ich eines Irrtums
uͤberfuͤhrt werden ſoll. Daß man meine Be-
hauptung neu und hart findet, thut nichts zur
Sache, wenn ihr die Wahrheit nur nicht wider-
ſpricht. Noch iſt mir kein Schriftſteller bekant,
der dieſe Fragen beruͤhrt, und in Anwendung auf
Kirchenmacht und Bannrecht unterſucht haͤtte.
Sie gehen alle von dem Punkte aus, daß es ein
Jus circa ſacra gebe; nur modelt es ein jeder
nach ſeiner Weiſe, und belehnet damit bald eine
unſichtbare, bald dieſe oder jene ſichtbare Per-
ſon.
[19] ſon. Selbſt Hobbes, der hierin ſich am weite-
ſten von den eingefuͤhrten Begriffen zu entfernen
wagt, hat ſich von dieſer Idee nicht voͤllig los-
winden koͤnnen. Er giebt ein ſolches Recht zu,
und ſucht nur die Perſon auf, der man es mit
dem geringſten Schaden zutrauen darf. Alle
glauben, das Meteor ſey ſichtbar, und bemuͤhen
ſich nur, nach verſchiedenen Syſtemen, die Hoͤhe
deſſelben zu beſtimmen. Es waͤre nichts uner-
hoͤrtes, wenn ein Unbefangener, der gerade auf
den Ort hinſchaute, wo es erſcheinen ſoll, mit
weit geringerer Faͤhigkeit, ſich von der Wahrheit
uͤberfuͤhrte: es ſey uͤberall kein ſolches Meteor
zu ſehen.
Ich komme zu einem weit wichtigern Ein-
wurfe der mir gemacht worden, und der haupt-
ſaͤchlich dieſe Schrift veranlaßt hat. Abermals
ohne meine Gruͤnde zu widerlegen, hat man ih-
nen die geheiligte Autoritaͤt der moſaiſchen Re-
ligion, zu welcher ich mich bekenne, entgegenge-
ſetzt. Was ſind die Geſetze Moſes anders, als
ein Syſtem von religioͤſer Regierung, von Macht
und Recht der Religion? „Die Vernunft mag
„es gut heiſſen,“ druͤkt ſich ein ungenannten
B 2Schrift-
[20] Schriftſteller *) hieruͤber aus, „daß alles Kir-
„chenrecht und die Macht eines geiſtlichen Ge-
„richts, wodurch Meinungen erzwungen, oder
„eingeſchraͤnkt werden, eine begrifloſe Sache
„iſt; daß kein Fall zu erdenken, wodurch ſo ein
„Geſetz gegruͤndet ſey, daß die Kunſt nichts ſchaf-
„fen koͤnne, wozu die Natur nicht den Keim her-
„vorgebracht habe — aber ſo vernunftmaͤßig die-
„ſes alles ſeyn mag, was ſie daruͤber ſagen, „
redet er mich an, „ſo geradezu widerſpricht es
„dem Glauben ihrer Vaͤter im engern Verſtan-
„de, und den Grundſaͤtzen der Kirche, welche nicht
„blos von den Kommentariſten angenommen;
„ſondern ſelbſt in den Buͤchern Moſe ausdruͤk-
„lich feſtgeſetzt ſind. Nach der geſunden Ver-
„nunft findet gar kein Gottesdienſt ohne Ueber-
„zeugung ſtatt, und jede erzwungene gottes-
„dienſtliche Handlung hoͤrt das auf zu ſeyn. Be-
„folgung goͤttlicher Gebote aus Furcht vor der
„darauf geſetzten Strafe iſt Sklavendienſt, der
„nach reinen Begriffen nimmermehr Gott ge-
„faͤllig
[21] „faͤllig ſeyn kann. Indeſſen iſt es wahr, daß Mo-
„ſes Zwang und poſitive Strafen — an Nicht-
„beobachtung gottesdienſtlicher Pflichten bindet.
„Sein ſtatuariſches Kirchenrecht befiehlt den
„Sabbathsuͤbertreter, den Laͤſterer des goͤttli-
„chen Namens und andere Abweichende von
„ſeinem Geſetze mit Steinigung und Tode
„zu beſtrafen.“ — — „Das ganze Kirchen-
„ſyſtem Moſe,“ ſpricht er an einer andern
Stelle, „war nicht nur Unterricht und Anwei-
„ſung zu Pflichten, ſondern es war zugleich
„mit dem ſtrengſten Kirchenrechte verbunden.
„Der Arm der Kirche war mit dem Schwerdt
„des Fluchs bewafnet. — Verflucht, heißt
„es, wer nicht haͤlt alle Worte dieſes Geſe-
„tzes, daß er darnach thue u. ſ. w. — Und
„dieſer Fluch war in den Haͤnden der erſten Die-
„ner der Kirche. — Das bewafnete Kirchenrecht
„iſt immer einer der vorzuͤglichſten Grundſteine
„der juͤdiſchen Religion ſelbſt, und ein Haupt-
„artikel in dem Glaubensſyſtem Ihrer Vaͤ-
„ter. In wiefern koͤnnen Sie, mein Theurer
„Herr Mendelsſohn, bey dem Glauben Ihrer
„Vaͤter beharren, und durch Wegraͤumung ſei-
B 3„ner
[22] „ner Grundſteine das ganze Gebaͤude erſchuͤttern,
„wenn Sie das durch Moſen gegebene, auf goͤtt-
„liche Offenbarung ſich berufende Kirchenrecht
„beſtreiten?“
Dieſer Einwurf dringet an das Herz. Ich
muß geſtehen, daß die Begriffe, die hier vom Ju-
dentume gegeben werden, bis auf einige Unbe-
hutſamkeit im Ausdrucke, ſelbſt von vielen mei-
ner Religionsbruͤder dafuͤr angenommen werden.
Waͤre nun dem in Wahrheit alſo, und ich davon
uͤberfuͤhret, ſo wuͤrde ich allerdings meine Saͤtze
mit Beſchaͤmung zuruͤcknehmen, und die Ver-
nunft unter dem Joche des Glaubens — doch
nein! was ſollte ich heucheln? Autoritaͤt kann
demuͤthigen, aber nicht belehren; ſie kann die
Vernunft niederſchlagen, aber nicht feſſeln.
Stuͤnde das Wort Gottes mit meiner Ver-
nunft in einem ſo offenbaren Widerſpruche, ſo
wuͤrde ich der letztern hoͤchſtens Stillſchweigen
gebieten koͤnnen; aber meine nicht widerlegten
Gruͤnde wuͤrden im geheimſten Winkel meines
Herzens nichts deſtoweniger wiederkehren, ſich in
beunruhigende Zweifel verwandeln, und die
Zweifel ſich in kindliche Gebere, in inbruͤnſtiges
Flehen
[23] Flehen um Erleuchtung aufloͤſen. Ich wuͤrde
mit dem Pſalmiſt anrufen:
Hart und kraͤnkend aber iſt es in allen Faͤl-
len, wenn man mit dem ungenannten Forſcher
nach Licht und Wahrheit, und dem ſich nen-
nenden Herrn Moͤrſchel, der die Schrift des
Forſchers mit einer Nachſchrift begleitet hat,
mir die gehaͤſſige Abſicht zuſchreibt, die Reli-
gion, zu welcher ich mich bekenne, umzuſtoßen,
und ihr, wo nicht ausdruͤklich, doch gleichſam
unter der Hand zu entſagen. Dergleichen Con-
ſequenzerey ſollte aus dem Umgange der Gelehr-
ten auf ewig verbannt ſeyn. Nicht jeder, der ſich
zu einer Meinung verſtehet, verſtehet ſich zugleich
zu allen Folgen derſelben, und wenn ſie auch
noch ſo richtig aus derſelben hergeleitet werden.
Aufbuͤrdungen von dieſer Art ſind gehaͤſſig, und
B 4fuͤhren
[24] fuͤhren nur zu Verbitterung und Streitſucht,
dabey die Wahrheit ſelten gewinnet.
Ja, der Forſcher gehet ſo weit, mich folgen-
der Geſtalt anzureden: „Sollte der jetzt von Ih-
„nen gethane gar merkwuͤrdige Schritt wohl
„wirklich ein Schritt zur Erfuͤllung der ehemals
„an Sie ergangenen Lavaterſchen Wuͤnſche ſcyn?
„Unſtreitig haben Sie nach jener Veranlaſſung
„der Sache des Chriſtentums naͤher nachge-
„dacht, und den Werth der in mannigfaltigen
„Geſtalten und Modifikationen vor ihren Augen
„liegenden chriſtlichen Religionsſyſteme mit der
„Unparteylichkeit eines unbeſtechbaren Wahr-
„heitsforſchers genauer gewogen. Vielleicht ſind
„Sie jetzt dem Glauben der Chriſten naͤher getre-
„ten, indem Sie der Knechtſchaft eiſerner Kir-
„chenbande ſich entreiſſen, und das Freyheitsſy-
„ſtem des vernuͤnftigern Gottesdienſtes nun-
„mehr ſelbſt lehren, welches das eigentliche Ge-
„praͤge der chriſtlichen Gottesverehrung aus-
„macht, nach welchem wir dem Zwange und laͤ-
„ſtigen Zeremonien entronnen ſind, und den wah-
„ren Gottesdienſt weder an Samaria noch an
„Jeruſalem binden, ſondern das Weſen der Re-
„ligion
[25] „ligion darin ſetzen, daß nach den Worten un-
„ſers Lehrers die wahrhaftigen Anbeter Gott im
„Geiſt und in der Wahrheit anbeten.“
Feyerlich und pathetiſch genug iſt dieſe An-
ſinnung vorgebracht. — Allein, Lieber! ſoll ich
dieſen Schritt thun, ohne vorher zu uͤberlegen, ob
er mich auch wirklich aus der Verwirrung ziehen
wird, in welcher ich mich Ihrer Meinung nach
befinde? Wenn es wahr iſt, daß die Eckſteine
meines Hauſes austreten, und das Gebaͤude ein-
zuſtuͤrzen drohet, iſt es wohlgethan, wenn ich
meine Habſeligkeit aus dem unterſten Stokwer-
ke in das oberſte rette? Bin ich da ſicherer?
Nun iſt das Chriſtentum, wie ſie wiſſen, auf
dem Judentume gebauet, und muß nothwendig,
wenn dieſes faͤllt, mit ihm uͤber einen Hauffen
ſtuͤrzen. Sie ſagen, meine Schlußfolge unter-
grabe den Grund des Judentums, und bieten mir
die Sicherheit Ihres oberſten Stokwerks an;
muß ich nicht glauben, daß Sie meiner ſpotten?
Sicherlich! Der Chriſt, dem es um Licht und
Wahrheit im Ernſte zu thun iſt, wird beim An-
ſcheine eines Widerſpruchs zwiſchen Wahrheit
und Wahrheit, zwiſchen Schrift und Vernunft,
B 5nicht
[26] nicht den Juden zum Kampfe auffordern, ſott-
dern mit ihm gemeinſchaftlich den Ungrund des
Widerſpruchs zu entdecken ſuchen. Es gehet ih-
rer beiden Sache an. Was ſie unter ſich aus-
zumachen haben, mag auf eine andere Zeit aus-
geſetzt bleiben. Voritzt muͤſſen ſie mit vereinig-
ten Kraͤften die Gefahr abwenden, und entwe-
der den Fehlſchluß der Vernunft entdecken, oder
zeigen, daß es blos ein Scheinwiderſpruch ſey,
der ſie erſchreckt hat.
So koͤnnte ich nun der Schlinge ausweichen,
ohne mich mit dem Forſcher in weitere Unterſu-
chung einzulaſſen. Allein was wuͤrde mir der
Winkelzug helfen? Sein Gefaͤhrte, Herr Moͤr-
ſchel, hat, ohne mich perſoͤnlich zu kennen, mir
allzutief ins Spiel geſehen. „Er hat“ wie er
verſichert, „in der geruͤgten Vorrede blos Merk-
„male entdeckt, um welcher willen er mich eben
„ſo weit entfernt von der Religion, in welcher
„ich geboren worden, als von der, die er von ſei-
„nen Vaͤtern empfing, halten zu koͤnnen glaubt.“
Zum Beweiſe ſeiner Vermuthung fuͤhrt er aus
derſelben, auſſer der Hinweiſung auf S. IV. Z. 21.
(wo ich Heiden, Juden, Mahometaner und An-
haͤnger
[27] haͤnger der natuͤrlichen Religion in einer Zeile
zuſammen nenne, und fuͤr alle Toleranz fordere)
— S. V. Z 8. (in welcher ich abermals von
Duldung der Naturaliſten rede), und endlich S.
XXXVII. Z. 13. (wo ich von ewigen Wahrhei-
ten rede, die die Religion lehren ſoll), folgende
Stelle woͤrtlich an: „Das Andachtshaus der
„Vernunft bedarf keiner verſchloſſenen Thuͤren.
„Sie hat von innen nichts zu verwahren, und
„von auſſen niemanden den Eingang zu verhin-
„dern. Wer einen ruhigen Zuſchauer abgeben,
„oder gar Antheil nehmen will, iſt dem Gottſe-
„ligen in der Stunde ſeiner Erbauung hoͤchſt
„willkommen.“ Man ſiehet, daß, nach Hrn. M.
Meinung, kein Anhaͤnger der Offenbarung ſo
laut um Duldung der Naturaliſten anhalte, ſo
laut von ewigen Wahrheiten ſprechen wuͤrde,
die die Religion lehren ſoll, und daß ein wahrer
Chriſt oder Jude Bedenken tragen muͤſſe, ſein
Bethaus ein Andachtshaus der Vernunft zu
nennen. Was ihn auf dieſe Gedanken gebracht
haben koͤnne, begreife ich nun zwar nicht; in-
deſſen enthalten ſie doch den ganzen Grund zu
ſeiner Vermuthung, und veranlaſſen ihn, wie er
ſich
[28] ſich ausdruͤckt, nicht mich aufzufordern, mich zu
„der Religion zu bekennen, die er bekennt, oder
„ſie zu widerlegen, wofern ich ihr nicht beyzutre-
„ten im Stande bin; ſondern mich im Namen
„aller, denen Wahrheit am Herzen liegt, zu bit-
„ten, mich in Anſehung deſſen, was immer dem
„Menſchen das Wichtigſte ſeyn muß, deutlich und
„beſtimmt zu erklaͤren.“ Er hat zwar, wie er
verſichert, die Abſicht nicht, mich zu bekehren,
moͤchte auch nicht gern Veranlaſſung zu Einwuͤr-
fen gegen die Religion ſeyn, von der er Zufrie-
denheit in dieſem Leben, und unbegraͤnztes Gluͤck
nach derſelben erwartet; aber er moͤchte doch
gern. — Was weis ich, was der liebe Mann al-
les nicht moͤchte, und indeſſen doch moͤchte —
Vorerſt alſo zur Beruhigung dieſes gutherzigen
Briefſchreibers: ich habe die chriſtliche Religion
niemals oͤffentlich beſtritten, und werde mich auch
mit wahren Anhaͤngern derſelben niemalen in
Streit einlaſſen. Und damit man mir nicht aber-
mals Schuld gebe, ich wolle durch dergleichen
Erklaͤrung gleichſam zu verſtehen geben, ich haͤt-
te gar wohl ſiegreiche Waffen in Haͤnden, dieſen
Glauben, wenn ich wollte, zu beſtreiten; die Ju-
den
[29] den beſaͤßen etwa geheime Nachrichten, unbe-
kannt gewordene Aktenſtuͤcke, wodurch die That-
ſachen in einem andern Lichte erſcheinen, als ſie
von Chriſten vorgetragen werden, und derglei-
chen Vorſpiegelungen, die man uns hat zutrauen,
oder andichten wollen; um allen Verdacht von
dieſer Art ein fuͤr allemal zu entfernen, ſo bezeu-
ge ich hiermit vor den Augen des Publikums,
daß ich wenigſtens nichts Neues wider den
Glauben der Chriſten vorzubringen habe; daß
wir, ſo viel ich weis, keine andere Nachrichten
von der Geſchichtsſache wiſſen, keine andere Ak-
tenſtuͤcke aufzuweiſen haben, als die allgemein be-
kannt ſind; daß ich alſo von meiner Seite nichts
vorzubringen habe, das nicht ſchon unzaͤhlige
Male von Juden und Naturaliſten geſagt und
wiederholt, und vor der Gegenpartey beantwor-
tet und wiederholt worden ſey. Mich duͤnkt, es
ſey in ſo vielen Jahrhunderten, und insbeſondere
in unſerm ſchreibſeligen Jahrhunderte, genug in
der Sache replizirt und duplizirt worden. Es
iſt einmal Zeit, da die Parteyen nichts Neues
mehr anzubringen haben, die Akten zu ſchlieſſen.
Wer Augen hat, der ſehe; wer Vernunft hat,
der
[30] der pruͤfe, und lebe nach ſeiner Ueberzeugung.
Was nuͤtzt es, daß die Ruͤſtigen am Wege ſtehen,
und jedem Voruͤbergehenden den Kampf anbie-
ten? Allzuvieles Gerede von einer Sache klaͤret
in derſelben nichts auf, und verdunkelt vielmehr
noch den ſchwachen Schein der Wahrheit. Ihr
duͤrft von welchem Satze ihr wollet, nur oft und
lange dafuͤr und dawider reden und ſchreiben
und ſtreiten, und koͤnnet verſichert ſeyn, daß er
von ſeiner etwanigen Evidenz immer mehr und
mehr verlieren wird. Das allzugroſſe Detail
verhindert das Ueberſchauen des Ganzen. Herr
M. hat alſo nichts zu beſorgen. Durch mich
ſoll er ſicherlich nicht die Veranlaſſung zu Ein-
wuͤrfen gegen eine Religion werden, von der ſo
viele meiner Nebenmenſchen Zufriedenheit in
dieſem Leben und unbegraͤnztes Gluͤck nach dem-
ſelben erwarten.
Ich muß aber auch ſeinem ſpaͤhenden Blik
Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Er hat zum
Theil nicht unrecht geſehen. Es iſt wahr: ich
erkenne keine andere ewige Wahrheiten,
als die der menſchlichen Vernunft nicht nur
begreiflich, ſondern durch menſchliche Kraͤfte
darge-
[31]dargethan und bewaͤhrt werden koͤnnen.
Nur darin taͤuſcht ihn ein unrichtiger Begriff
vom Judentum, wenn er glaubt, ich koͤnne dieſes
nicht behaupten, ohne von der Religion meiner
Vaͤter abzuweichen. Ich halte dieſes vielmehr
fuͤr einen weſentlichen Punkt der juͤdiſchen Reli-
gion, und glaube, daß dieſe Lehre einen charakte-
riſtiſchen Unterſchied zwiſchen ihr und der chriſt-
lichen Religion ausmache. Um es mit einem
Worte zu ſagen: ich glaube, das Judentum
wiſſe von keiner geoffenbarten Religion, in dem
Verſtande, in welchem dieſes von den Chriſten
genommen wird. Die Iſraeliten haben goͤttliche
Geſetzgebung. Geſetze, Gebote, Befehle, Le-
bensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie
ſie ſich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und
[ewigen] Gluͤckſeligkeit zu gelangen; dergleichen
Saͤtze und Vorſchriften ſind ihnen durch Moſen
auf eine wunderbare und uͤbernatuͤrliche Weiſe
geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinungen
keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Ver-
nunftſaͤtze. Dieſe offenbaret der Ewige uns, wie
allen uͤbrigen Menſchen, allezeit durch Natur
und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.
Ich
[32]
Ich beſorge, daß dieſes Auffallen, und man-
chem Leſer abermals neu und hart ſcheinen duͤrf-
te. Man hat auf dieſem Unterſchied immer we-
nig Acht gehabt; man hat uͤbernatuͤrliche Ge-
ſetzgebung fuͤr uͤbernatuͤrliche Religionsof-
fenbarung genommen, und vom Judentume
ſo geſprochen, als ſey es blos eine fruͤhere Offen-
barung religioͤſer Saͤtze und Lehren, die zum Hei-
le des Menſchen nothwendig ſind. Ich werde
mich alſo etwas weitlaͤuftig zu erklaͤren haben,
und um nicht misverſtanden zu werden, zu fruͤ-
hern Begriffen hinaufſteigen muͤſſen, um mit mei-
nem Leſer aus demſelben Standpunkte auszuge-
hen, und gleichen Schritt halten zu koͤnnen.
Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen
Saͤtze, welche der Zeit nicht unterworfen ſind,
und in Ewigkeit dieſelben bleiben. Dieſe ſind ent-
weder nothwendig, an und fuͤr ſich ſelbſt un-
veraͤnderlich, oder zufaͤllig; das heißt, ihre
Beſtaͤndigkeit gruͤndet ſich entweder auf ihr We-
ſen, ſie ſind deswegen ſo und nicht anders wahr,
weil ſie ſo und nicht anders denkbar ſind, oder
auf ihre Wirklichkeit: ſie ſind deswegen allge-
mein wahr, deswegen ſo und nicht anders, weil
ſie
[33] ſie ſo und nicht anders wirklich geworden, weil
ſie, unter allen moͤglichen ihrer Art, ſo und nicht
anders die beſten ſind. Mit andern Worten:
ſowohl die nothwendigen als zufaͤlligen Wahr-
heiten fließen aus einer gemeinſchaftlichen Quelle,
aus der Quelle aller Wahrheit: jene aus dem
Verſtande, dieſe aus dem Willen Gottes.
Die Saͤtze der nothwendigen Wahrheiten ſind
wahr, weil ſie Gott ſo und nicht anders ſich vor-
ſtellet; der zufaͤlligen, weil ſie Gott ſo und
nicht anders gut gefunden, und ſeiner Weis-
heit gemaͤß betrachtet hat. Beyſpiele der erſteren
Gattung ſind die Saͤtze der reinen Mathematik
und der Vernunftkunſt; Beyſpiele der letzteren
die allgemeinen Saͤtze der Phyſik und Geiſterleh-
re, die Geſetze der Natur, nach welchen dieſes
Weltall, Koͤrper und Geiſterwelt regiert wird.
Die erſten ſind auch der Allmacht unveraͤnder-
lich, weil Gott ſelbſt ſeinen unendlichen Ver-
ſtand nicht veraͤnderlich machen kann; die letz-
tern hingegen ſind dem Willen Gottes unter-
worfen, und nur in ſo weit unveraͤnderlich, als
es ſeinem heiligen Willen gefaͤllt, das heißt, in
ſo weit ſie ſeinen Abſichten entſprechen. Seine
Zweiter Abſchn. CAll-
[34] Allmacht konnte andere Geſetze an ihrer Stelle
einfuͤhren, und kann, ſo oft es nuͤtzlich iſt, Aus-
nahmen Statt finden laſſen.
Außer dieſen ewigen Wahrheiten giebt es
noch Zeitliche, Geſchichtswahrheiten; Dinge,
die ſich zu Einer Zeit zugetragen, und vielleicht
niemals wiederkommen; Saͤtze, die durch einen
Zuſammenfluß von Urſachen und Wirkungen in
einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr
geworden, und alſo von dieſem Punkte der Zeit
und des Raumes nur als wahr gedacht werden
koͤnnen. Von dieſer Art ſind alle Wahrheiten
der Geſchichte, in ihrem weiteſten Umfange. Din-
ge der Vorwelt, die ſich einſt zngetragen, und
uns erzaͤhlt werden, die wir aber ſelbſt nie wahr-
nehmen koͤnnen.
So wie dieſe Claſſen der Saͤtze und Wahr-
heiten ihrer Natur nach verſchieden ſind, ſo
ſind ſie es auch in Anſehung ihrer Ueberzeu-
gungsmittel, oder in der Art und Weiſe, wie
die Menſchen ſich und andere davon uͤberfuͤhren.
Die Lehren der erſten Gattung, oder die noth-
wendigen Wahrheiten gruͤnden ſich auf Ver-
nunft, d. i. auf unveraͤnderlichen Zuſammen-
hang,
[35] hang, und weſentliche Verbindung zwiſchen den
Begriffen, vermoͤge welcher ſie ſich einander ent-
weder vorausſetzen, oder ausſchließen. Von
dieſer Art ſind alle mathematiſche und logiſche
Beweiſe. Sie zeigen alle die Moͤglichkeit, oder
Unmoͤglichkeit, gewiſſe Begriffe in Verbindung
zu denken. Wer ſeinen Nebenmenſchen davon
unterrichten will, muß ſie nicht ſeinem Glauben
empfehlen, ſondern ſeiner Vernunft gleichſam
aufdringen; nicht Autoritaͤten anfuͤhren, und
ſich auf die Glaubwuͤrdigkeit der Maͤnner beru-
fen, die eben daſſelbe behauptet haben; ſondern
die Begriffe ſelbſt in ihre Merkmale zerlegen,
und ſeinem Lehrling ſtuͤckweiſe ſo lange vorhal-
ten, bis ſein innerer Sinn ihre Fugen und Ver-
bindungen wahrnimmt. Der Unterricht, den
wir hierin andern geben koͤnnen, beſtehet, wie
Sokrates gar wohl geſagt, blos in einer Art
von Geburtshuͤlfe. Wir koͤnnen nichts in ihren
Geiſt hineinlegen, das er nicht ſchon wirklich
hat; aber wir koͤnnen ihm die Anſtrengung er-
leichtern, die es koſtet, das Verborgene an das
Licht zu bringen; das heißt, das Unbemerkte
bemerkbar und anſchaulich zu machen.
C 2Zu
[36]
Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird,
außer der Vernunft, auch noch Beobachtung
erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze
der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben,
nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde-
rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir
einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen,
das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne
brauchen und hernach durch die Vernunft, aus
mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin-
gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir
zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen
von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens-
zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren,
und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub-
hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach-
tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha-
ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir
trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen,
und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch
immer vorhanden ſind, und die Verſuche und
Beobachtungen von uns oder von andern, die
Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder-
holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn
das
[37] das Reſultat wichtig wird, und einen merklichen
Einfluß auf unſere oder anderer Gluͤckſeligkeit
hat; ſo beruhigen wir uns ſchon weit weniger
bey der Ausſage der glaubhafteſten Zeugen, die
uns die Verſuche und Beobachtungen erzaͤhlen,
ſondern ſuchen Gelegenheit, ſie ſelbſt zu wieder-
holen und uns durch ihre eigene Evidenz von
denſelben zu uͤberfuͤhren. So koͤnnen die Sia-
meſer z. B. allerdings dem Berichte der Euro-
paͤer trauen, daß in ihrer Weltgegend das Waſ-
ſer zu gewiſſen Zeiten hart werde, und ſchwere
Laſten trage. Sie koͤnnen dieſes auf Glauben
annehmen, und allenfalls in ihren Lehrbuͤchern
der Phyſik als ausgemacht vortragen; in der
Vorausſetzung, daß die Beobachtung noch im-
mer wiederholt und bewaͤhrt werden kann.
Wenn es indeſſen zur Lebensgefahr kaͤme, wenn
ſie itzt dieſem hartgewordenen Elemente ſich ſelbſt
oder die Ihrigen anvertrauen ſollten; ſo wuͤrden
ſie ſich bey dem Zeugniſſe ſchon weit weniger be-
ruhigen koͤnnen, ſondern durch mancherley ei-
gene Erfahrungen, Beobachtungen und Verſu-
che von der Wahrheit zu uͤberfuͤhren haben.
Hinge-
[38]
Hingegen die Geſchichtswahrheiten, die
Stellen, die gleichſam im Buche der Natur nur
Einmal vorkommen, muͤſſen durch ſich ſelbſt er-
laͤutert werden, oder bleiben unverſtaͤndlich:
das heißt, ſie koͤnnen nur von denenjenigen ver-
mittelſt der Sinne wahrgenommen werden, die
zu der Zeit und an dem Orte zugegen geweſen,
als ſie ſich in der Natur zugetragen haben. Von
jedem andern muͤſſen ſie auf Autoritaͤt und Zeug-
niß angenommen werden; und zwar die zu einer
andern Zeit leben, muͤſſen ſich ſchlechterdings
auf die Glaubhaftigkeit des Zeugniſſes verlaſſen.
Denn das Bezeugte iſt nicht mehr. Der Ge-
genſtand und deſſen unmittelbare Beobachtung,
an der ſie etwa appelliren wollen, ſind in der
Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne koͤn-
nen ſich von der Wahrheit nicht uͤberfuͤhren.
Das Anſehen des Erzaͤhlers und ſeine Glaub-
haftigkeit machen die einzige Evidenz in hiſtori-
ſchen Dingen. Ohne Zeugniß koͤnnen wir von
keiner Geſchichtswahrheit uͤberfuͤhrt werden.
Ohne Autoritaͤt verſchwindet die Wahrheit der
Geſchichte mit dem Geſchehenen ſelbſt.
So
[39]
So oft es nun den Abſichten Gottes gemaͤß
iſt, daß die Menſchen von irgend einer Wahr-
heit uͤberfuͤhrt ſeyn ſollen; ſo verleihet ihnen ſei-
ne Weisheit auch die ſchicklichſten Mittel, zu derſel-
ben zu gelangen. Iſt es eine nothwendige
Wahrheit, ſo verleihet ſie den dazu erforderli-
chen Grad der Vernunft. Soll ihnen ein Na-
turgeſetz bekannt werden, ſo giebt ſie ihnen den
Geiſt der Beobachtung; und ſoll eine Geſchichts-
wahrheit der Nachwelt aufbehalten werden, ſo
beſtaͤtiget ſie ihre hiſtoriſche Gewißheit, und ſez-
zet die Glaubwuͤrdigkeit der Erzaͤhler uͤber alle
Zweifel hinweg. Blos in Abſicht auf Geſchichts-
wahrheiten, duͤnkt mich, ſey es der allerhoͤch-
ſten Weisheit anſtaͤndig, die Menſchen auf
menſchliche Weiſe, d. i. durch Worte und
Schrift zu unterrichten, und wo es zur Bewaͤh-
rung des Anſehens und der Glaubwuͤrdigkeit er-
forderlich war, auſſerordentliche Dinge und
Wunder in der Natur geſchehen zu laſſen. Jene
ewigen Wahrheiten hingegen, in ſo weit ſie zum
Heile und zur Gluͤckſeligkeit der Menſchen nuͤtz-
lich ſind, lehret Gott auf eine der Gottheit ge-
maͤßere Weiſe: nicht durch Laur und Schrift-
C 4zeichen,
[40] zeichen, die hier und da, dieſem und jenem ver-
ſtaͤndlich ſind, ſondern durch die Schoͤpfung
ſelbſt und ihre innerlichen Verhaͤltniſſe, die allen
Menſchen leſerlich und verſtaͤndlich ſind. Er
beſtaͤtiget ſie auch nicht durch Wunder, die nur
hiſtoriſchen Glauben bewirken; ſondern erwek-
ket den von ihm erſchaffenen Geiſt, und giebt
ihm Gelegenheit jene Verhaͤltniſſe der Dinge zu
beobachten, ſich ſelbſt zu beobachten, und von
den Wahrheiten zu uͤberzeugen, die er hienieden
zu erkennen beſtimmt iſt.
Ich glaube alſo nicht, daß die Kraͤfte der
menſchlichen Vernunft nicht hinreichen, ſie von
den ewigen Wahrheiten zu uͤberfuͤhren, die zur
menſchlichen Gluͤckſeligkeit unentbehrlich ſind,
und daß Gott ihnen ſolche auf eine uͤbernatuͤrli-
che Weiſe habe offenbaren muͤſſen. Die dieſes
behaupten, ſprechen der Allmacht oder der Guͤte
Gottes auf der andern Seite ab, was ſie auf
der einen Seite ſeiner Guͤte zu zulegen glauben.
Er war, nach ihrer Meinung guͤtig genug, den
Menſchen diejenigen Wahrheiten zu offenbaren,
von welchen ihre Gluͤckſeligkeit abhaͤnget; aber
nicht allmaͤchtig, oder nicht guͤtig genug, ihnen
ſelbſt
[41] ſelbſt die Kraͤfte zu verleihen, ſolche zu entdecken.
Zudem macht man durch dieſe Behauptung die
Nothwendigkeit einer uͤbernatuͤrlichen Offenba-
rung allgemeiner, als die Offenbarung ſelbſt.
Wenn denn das menſchliche Geſchlecht ohne Of-
fenbarung verderbt und elend ſeyn muͤßte; wa-
rum hat denn der bey weitem groͤßere Theil deſ-
ſelben von je her ohne wahre Offenbarung
gelebet, oder warum muͤſſen beide Indien war-
ten, bis es den Europaͤern gefaͤllt, ihnen eini-
ge Troͤſter zu zuſenden, die ihnen Bothſchaft
bringen ſollen, ohne welche ſie, dieſer Meinung
nach, weder tugendhaft, noch gluͤckſelig leben
koͤnnen? ihnen Bothſchaft zu bringen, die ſie
ihren Umſtaͤnden, und der Lage ihrer Erkennt-
niß nach, weder recht verſtehen, noch gehoͤrig
brauchen koͤnnen?
Nach den Begriffen des wahren Judentums
ſind alle Bewohner der Erden zur Gluͤckſeligkeit
berufen, und die Mittel derſelben ſo ausgebrei-
tet, als die Menſchheit ſelbſt, ſo milde ausge-
ſpendet, als die Mittel ſich des Hungers und
anderer Naturbeduͤrfniſſe zu erwehren. Hier
der rohen Natur uͤberlaſſen, die ihre Kraft in-
C 5ner-
[42] nerlich empfindet, und ſich derſelben bedienet,
ohne ſich in Wort und Vortrag anders, als hoͤchſt
mangelhaft, und gleichſam ſtammelnd, auslaſ-
ſen zu koͤnnen; dort durch Wiſſenſchaft und
Kunſt unterſtuͤtzt, hellglaͤnzend durch Worte,
Bilder und Gleichniſſe, durch welche die Wahr-
nehmungen des innern Sinnes in deutliche
Zeichenerkenntniß verwandelt und aufgeſtellt wer-
den. So oft es nuͤtzlich war, hat die Vorſehung
unter jeder Nation der Erde weiſe Maͤnner
aufſtehen laſſen, und ihnen die Gabe verliehen,
mit hellerem Auge in ſich ſelbſt, und um ſich her
zu ſchauen, die Werke Gottes zu betrachten,
und ihre Erkenntniſſe andern mitzutheilen Aber
nicht zu allen Zeiten iſt dieſes noͤthig oder nuͤtz-
lich. Sehr oft reichet, wie der Pſalmiſt ſagt,
das Lallen der Kinder und Saͤuglinge hin,
den Feind zu beſchaͤmen. Der einfaͤltig le-
bende Menſch hat ſich die Einwuͤrfe noch nicht
erkuͤnſtelt, die den Sophiſten ſo ſehr verwirren.
Ihm iſt das Wort Natur, der bloſſe Schall,
noch nicht zu einem Weſen geworden, das die
Gottheit verdrengen will. Er weis ſo gar noch
wenig von dem Unterſchiede zwiſchen mittelba-
rer
[43] rer und unmittelbarer Wirkung, und hoͤrt und
ſiehet vielmehr die alles belebende Kraft der
Gottheit uͤberall: in jeder aufgehenden Sonne,
in jedem Regen, der niederfaͤllt, in jeder Blu-
me, die aufbluͤhet, und in jedem Lamme, das
auf der Wieſe weidet und ſich ſeines Daſeyns
freuet. Dieſe Vorſtellungsart hat etwas feh-
lerhaftes; allein ſie fuͤhret unmittelbar zur Er-
kenntniß eines unſichtbaren allmaͤchtigen Weſens,
dem wir alles Gute, das wir genießen, zu ver-
danken haben. Sobald aber ein Epikur oder
Lukrez, ein Helvetius oder Hume das Un-
vollſtaͤndige in dieſer Vorſtellungsart ruͤget, und
(welches der menſchlichen Schwachheit zu gute
zu halten iſt) auf der andern Seite ausſchweif-
fet, und mit dem Worte Natur ein taͤuſchen-
des Spiel treiben will; ſo erweckt die Vorſe-
hung wiederum andere Maͤnner im Volke, die
Vorurtheil von Wahrheit trennen, das Ueber-
triebene von beiden Seiten berichtigen, und
zeigen, daß die Wahrheit Beſtand habe, wenn
auch das Vorurtheil verworfen wird. Im Grun-
de iſt es immer noch derſelbe Stoff; dort mit
allen rohen aber kraftvollen Saͤften, die ihm
die
[44] die Natur giebt; hier mit dem verfeinerten
Wohlgeſchmacke der Kunſt, zur Verdauung
leichter, aber auch nur fuͤr Schwaͤchliche. Das
Thun und Laſſen der Menſchen und die Sittlich-
keit ihres Lebenswandels hat ſich von jener ro-
hen Vorſtellungsart, im Ganzen genommen,
vielleicht eben ſo gute Folgen zu verſprechen, als
von dieſen verfeinerten und gereinigten Be-
griffen. Manches Volk iſt von der Vorſehung
beſtimmt, dieſen Kreislauf der Begriffe durch zu-
wandern; ja zuweilen mehr als Einmal durch
zuwandern; aber vielleicht bleibt das Maaß und
Gewicht ihrer Sittlichkeit in allen dieſen man-
nigfaltigen Epochen, im Ganzen genommen, un-
gefaͤhr daſſelbe.
Ich fuͤr meinen Theil habe keinen Begriff
von der Erziehung des Menſchengeſchlechts, die
ſich mein verewigter Freund Leſſing von, ich
weis nicht, welchem Geſchichtsforſcher der
Menſchheit, hat einbilden laſſen. Man ſtellet
ſich das collektive Ding, das menſchliche Ge-
ſchlecht, wie eine einzige Perſon vor, und glaubt,
die Vorſehung habe ſie hieher gleichſam in die
Schule geſchickt, um aus einem Kinde zum Man-
ne
[45] ne erzogen zu werden. Im Grunde iſt das
menſchliche Geſchlecht faſt in allen Jahrhunder-
ten, wenn die Metapher gelten ſoll, Kind und
Mann und Greis zugleich, nur an verſchiede-
nen Orten und Weltgegenden. Hier in der
Wiege, ſaugt an der Bruſt, oder lebt von Ram
und Milch; dort in maͤnnlicher Ruͤſtung und
verzehrt das Fleiſch der Rinder; und an einem
andern Orte am Stabe und ſchon wieder ohne
Zaͤhne. Der Fortgang iſt fuͤr den einzelnen
Menſchen, dem die Vorſehung beſchieden, einen
Theil ſeiner Ewigkeit hier auf Erden zu zubrin-
gen. Jeder gehet das Leben hindurch ſeinen
eigenen Weg; dieſen fuͤhrt der Weg uͤber Blu-
men und Wieſen, jenen uͤber wuͤſte Ebenen oder
uͤber ſteile Berge und gefahrvolle Kluͤfte. Aber
alle kommen auf der Reiſe weiter, und gehen
ihres Weges zur Gluͤckſeligkeit, zu welcher ſie
beſchieden ſind. Aber daß auch das Ganze, die
Menſchheit hienieden, in der Folge der Zeiten
immer vorwaͤrts ruͤcken, und ſich vervollkomm-
nen ſoll, dieſes ſcheinet mir der Zweck der Vor-
ſehung nicht geweſen zu ſeyn; wenigſtens iſt
dieſes ſo ausgemacht, und zur Rettung der Vor-
ſehung
[46] ſehung Gottes bey weitem ſo nothwendig nicht,
als man ſich vorzuſtellen pflegt.
Daß wir doch immer wider alle Theorie und
Hypotheſen uns ſtraͤuben, und von Thatſachen
reden, nichts als von Thatſachen hoͤren wollen,
und uns gerade da am wenigſten nach Thatſachen
umſehen, wo es am meiſten darauf ankommt.
Ihr wollt errathen, was fuͤr Abſichten die Vor-
ſehung mit der Menſchheit hat? Schmiedet kei-
ne Hypotheſen; ſchauet nur umher auf das,
was wirklich geſchiehet, und, wenn ihr einen Ue-
berblick auf die Geſchichte aller Zeiten werfen
koͤnnet, auf das, was von jeher geſchehen iſt.
Dieſes iſt Thatſache, dieſes muß zur Abſicht ge-
hoͤrt haben, muß in dem Plane der Weisheit
genehmigt, oder wenigſtens mit aufgenommen
worden ſeyn. Die Vorſehung verfehlt ihres
Endzweckes nie. Was wirklich geſchiehet, muß
von jeher ihre Abſicht geweſen ſeyn, oder dazu
gehoͤrt haben. Nun findet ihr, in Abſicht auf
das geſammte Menſchengeſchlecht, keinen be-
ſtaͤndigen Fortſchritt in der Ausbildung, der ſich
der Vollkommenheit immer naͤherte. Vielmehr
ſehen wir das Menſchengeſchlecht im Ganzen
kleine
[47] kleine Schwingungen machen, und es that nie
einige Schritte vorwaͤrts, ohne bald nachher,
mit gedoppelter Geſchwindigkeit, in ſeinen vo-
rigen Stand zuruͤck zu gleiten. Die mehreſten
Nationen der Erde leben viele Jahrhunderte auf
derſelben Stufe von Cultur, in demſelben daͤm-
mernden Lichte, das unſeren verwoͤhnten Augen
viel zu ſchwach ſcheint. Je zuweilen entzuͤndet
ſich ein Punkt in der großen Maſſe, wird zum
glaͤnzenden Geſtirne, und durchwandelt eine
Laufbahn, die ihn nach einer bald kurzen bald
laͤngern Periode zuruͤckfuͤhret, und wiederum
an ſeinen Ort des Stillſtandes, oder nicht weit
davon, abſetzet. Der Menſch gehet weiter;
aber die Menſchheit ſchwankt beſtaͤndig zwiſchen
feſtgeſetzten Schranken, auf und nieder, behaͤlt
aber im Ganzen betrachtet, in allen Perioden
der Zeit ungefaͤhr dieſelbe Stufe der Sittlichkeit,
daſſelbe Maaß von Religion und Irreligion,
von Tugend und Laſter, von Gluͤckſeligkeit und
Elend; daſſelbe Reſultat, wenn Gleiches mit
Gleichem in Berechnung gebracht wird; von
allen dieſen Guͤtern und Uebeln ſo viel, als zum
Durchgange der einzelnen Menſchen erforderlich
war,
[48] war, damit dieſe hienieden erzogen werden, und ſich
der Vollkommenheit ſo viel naͤhern moͤgen, als
einem jeden beſchieden und zugetheilt worden.
Ich komme wieder zu meiner vorigen Be-
merkung. Das Judentum ruͤhmet ſich keiner
ausſchließenden Offenbarung ewiger Wahrhei-
ten, die zur Seligkeit unentbehrlich ſind; kei-
ner geoffenbarten Religion, in dem Verſtande,
in welchem man dieſes Wort zu nehmen ge-
wohnt iſt. Ein anderes iſt geoffenbarte Reli-
gion; ein anderes geoffenbarte Geſetzgebung.
Die Stimme, die ſich an jenem großen Tage,
auf Sinai hoͤren ließ, rief nicht; „ich bin der
„Ewige, dein Gott! das nothwendige, ſelbſt-
„ſtaͤndige Weſen, das allmaͤchtig iſt und allwiſ-
„ſend, das den Menſchen in einem zukuͤnftigen
„Leben vergilt, nach ihrem Thun.“ Dieſes
iſt allgemeine Menſchenreligion, nicht Juden-
tum; und allgemeine Menſchenreligion, ohne
welche die Menſchen weder tugendhaft ſind, noch
gluͤckſelig werden koͤnnen, ſollte hier nicht geof-
fenbart werden. Kennte im Grunde nicht;
denn wen ſollte die Donnerſtimme und der Po-
ſaunenklang von jenen ewigen Heilslehren uͤber-
fuͤhren?
[49] fuͤhren? Sicherlich den gedankenloſen Thier-
menſchen nicht, den ſeine eigene Betrachtung noch
nicht auf das Daſeyn eines unſichtbaren Weſens
gefuͤhrt hat, das dieſes Sichtbare regieret. Die-
ſem wuͤrde die Wunderſtimme keine Begriffe ein-
gegeben, alſo nicht uͤberzeugt haben. Den So-
phiſten noch weniger, dem ſo viele Zweifel und
Gruͤbeleyen vor dem Gehoͤre ſauſen, daß er die
Stimme des geſunden Menſchenverſtandes nicht
mehr wahrnimmt. Dieſer fordert Vernunft-
gruͤnde, keine Wunderdinge. Und wenn der
Religionslehrer alle Todten aus dem Staube
erweckt, die jemals auf demſelben geſtanden ha-
ben, um eine ewige Wahrheit dadurch zube-
ſtaͤtigen; der Zweifler ſpricht: der Lehrer hat
viele Todten erweckt, aber von der ewigen
Wahrheit weiß ich nicht mehr als vorhin. Ich
weiß nunmehr, daß jemand auſſerordentliche
Dinge thun, und hoͤren laſſen kann, aber der-
gleichen Weſen kann es mehrere geben, die ſich
eben itzt zu offenbaren, nicht fuͤr gut finden, und
wie weit iſt alles dieſes noch von der unendlich
erhabenen Idee einer Einzigen, ewigen Gott-
heit, die dieſes ganze Weltall, nach ihrem un-
Zweiter Abſchn. Dum-
[50] umſchraͤnkten Willen regiert, und die geheimſten
Gedanken der Menſchen durchſchauet, um ihre
Handlungen, wo nicht hier, doch in jener Zu-
kunft, nach Verdienſt zu belohnen? — Wer
dieſes nicht wußte, wer von dieſen zur menſchli-
chen Gluͤckſeligkeit unentbehrlichen Wahrheiten
nicht durchdrungen, und ſo vorbereitet zum hei-
ligen Berge hintrat, den konnten die großen
wundervollen Anſtalten betaͤuben, und nieder-
ſchlagen, aber nicht eines beſſern belehren. —
Nein! alles dieſes ward vorausgeſetzt, ward
vielleicht in den Vorbereitungstagen gelehrt, er-
oͤrtert und durch menſchliche Gruͤnde auſſer Zwei-
fel geſetzt, und nun rief die goͤttliche Stimme:
„Ich bin der ewige, dein Gott! der dich
„aus dem Lande Mizraim gefuͤhrt, aus der
„Sklaverey befreiet hat u. ſ. w.“ Eine Ge-
ſchichtswahrheit, auf die ſich die Geſetzgebung
dieſes Volks gruͤnden ſollte, und Geſetze ſollten
hier geoffenbaret werden; Gebote, Verord-
nungen, keine ewige Religionswahrheiten. „Ich
„bin der Ewige, dein Gott, der mit deinen Vaͤ-
„tern Abraham, Iſaak und Jakob einen Bund
„gemacht, und ihnen zugeſchworen hat, aus
„ihrem
[51] „ihrem Samen eine mir eigene Nation zu bilden.
„Der Zeitpunkt iſt endlich gekommen, da dieſe
„Verheiſſung in Erfuͤllung gehen ſoll. Ich ha-
„be euch zu dem Ende aus der Sklaverey der
„Egyptier erloͤſet, mit unerhoͤrten Wundern und
„Zeichen erloͤſet. Ich bin euer Erretter, euer
„Oberhaupt und Koͤnig, mache auch mit euch ei-
„nen Bund, und gebe euch Geſetze, nach wel-
„chen ihr in dem Lande, das ich euch eingeben
„werde, leben und eine gluͤckliche Nation ſeyn
„ſollet.“ Alles dieſes ſind Geſchichtswahrhei-
ten, die ihrer Natur nach, auf hiſtoriſcher Evi-
denz beruhen, durch Autoritaͤt bewaͤhrt werden
muͤſſen, und durch Wunder bekraͤftiget werden
koͤnnen.
Wunder und auſſerordentliche Zeichen ſind nach
dem Judentume, keine Beweismittel fuͤr oder
wider ewige Vernunftwahrheiten. Daher ſind
wir in der Schrift ſelbſt angewieſen, wenn ein
Prophet Dinge lehret, oder anraͤth, die ausge-
machten Wahrheiten zuwider ſind, und wenn
er ſeine Sendung auch durch Wunder bekraͤfti-
get, ihm nicht zu gehorchen; ja den Wunderthaͤ-
ter zum Tode zu verurtheilen, wenn er zur Ab-
D 2goͤt-
[52] goͤtterey verleiten will. Denn Wunder koͤnnen
nur Zeugniſſe bewaͤhren, Autoritaͤten unterſtuͤz-
zen; Glaubhaftigkeit der Zeugen und Ueberliefe-
rer bekraͤftigen; aber alle Zeugniſſe und Auto-
ritaͤten koͤnnen keine ausgemachte Vernunft-
wahrheit umſtoßen, keine zweifelhafte uͤber Zwei-
fel und Bedenklichkeit hinwegſetzen.
Ob nun gleich dieſes goͤttliche Buch, das wir
durch Moſen empfangen haben, eigentlich ein Ge-
ſetzbuch ſeyn, und Verordnungen, Lebensre-
geln und Vorſchriften enthalten ſoll; ſo ſchließt
es gleichwohl, wie bekannt, einen unergruͤnd-
lichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Reli-
gionslehren mit ein, die mit den Geſetzen ſo in-
nigſt verbunden ſind, daß ſie nur Eins ausma-
chen. Alle Geſetze beziehen, oder gruͤnden ſich
auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern
und erwecken zum Nachdenken uͤber dieſelben;
ſo daß unſere Rabbinen mit Recht ſagen: die
Geſetze und Lehren verhalten ſich gegen einan-
der, wie Koͤrper und Seele. Ich werde hier-
von weiter unten ein mehreres zu ſagen Gele-
genheit haben, und begnuͤge mich dieſes hier
blos als eine Thatſache vorauszuſetzen, davon
ſich
[53] ſich ein Jeder uͤberfuͤhren kann, der die Geſetze
Moſes auch nur in irgend einer Ueberſetzung zu
dieſer Abſicht in die Hand nimmt. Die Erfah-
rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die-
ſes goͤttliche Geſetzbuch, einem großen Theil des
menſchlichen Geſchlechts Quelle des Erkenntniſ-
ſes geworden, aus welcher ſie neue Begriffe
ſchoͤpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr
ihr in demſelben forſchet, deſto mehr erſtaunt ihr,
uͤber die Tiefe der Erkenntniſſe, die darinn
verborgen liegen. Die Wahrheit bietet ſich
zwar in demſelben, in der einfachſten Bekleidung,
gleichſam ohne Anſpruch, auf den erſten An-
blick dar. Allein je naͤher ihr hinzudringet, je
reiner, unſchuldiger, liebe- und ſehnſuchtsvoller
der Blick iſt, mit welchem ihr auf ſie hinſchauet,
deſto mehr entfaltet ſie euch von ihrer goͤttlichen
Schoͤnheit, die ſie mit leichtem Flor verhuͤllt,
um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent-
weihet zu werden. Allein alle dieſe vortrefli-
chen Lehrſaͤtze werden dem Erkenntniß dargeſtellt,
der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben
aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorſchrif-
ten und Verordnungen des Moſaiſchen Geſetzes,
D 3lau-
[54] lautet kein Einziges: Du ſollſt glauben! oder
nicht glauben; ſondern alle heiſſen: du ſollſt
thun, oder nicht thun! Dem Glauben wird
nicht befohlen; denn der nimmt keine andere
Befehle an, als die den Weg der Ueberzeugung
zu ihm kommen. Alle Befehle des goͤttlichen
Geſetzes ſind an den Willen, an die Thatkraft
der Menſchen gerichtet. Ja, das Wort in der
Grundſprche, das man durch Glauben zu
uͤberſetzen pflegt, heißt an den mehreſten Stel-
len eigentlich Vertrauen, Zuverſicht, getro-
ſte Verſicherung auf Zuſage und Verheiſſung.
Abraham vertraute dem Ewigen, und es
ward ihm zur Gottſeligkeit gerechnet (1 B.
M. 15, 6.): die Iſraeliten ſahen, und hatten
Zutrauen zu dem Ewigen und zu Moſen,
ſeinem Diener (2 B. M. 14, 31. Wo von
ewigen Vernunftwahrheiten die Rede iſt, heißt
es nicht, glauben, ſondern erkennen und wiſ-
ſen. Damit du erkenneſt, daß der Ewige
wahrer Gott, und auſſer ihm keiner ſey.
(5 B. M. 4, 39.) Erkenne alſo und nimm
dir zu Sinne, daß der Zerr allein Gott ſey,
oben im Zimmel, ſo wie unten auf der Er-
de,
[55]de, und ſonſt niemand (daſelbſt). Vernimm
Iſrael! der ewige, unſer Gott iſt ein Einzi-
ges, ewiges Weſen! (5 B. M. 6, 4.) Nirgend
wird geſagt: glaube Iſrael, ſo wirſt du ge-
ſegnet ſeyn; Zweifle nicht, Iſrael! oder
dieſe und jene Strafe wird dich verfolgen.
Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen
ſind nur fuͤr Handlungen, fuͤr Thun und Laſſen,
die in des Menſchen Willkuͤhr ſtehen, und
durch Begriffe vom Guten und Boͤſen, alſo auch
von Hofnung und Furcht gelenkt werden. Glau-
be und Zweifel, Beyfall und Widerſpruch hin-
gegen, richten ſich nicht nach unſerem Begeh-
rungsvermoͤgen, nicht nach Wunſch und Ver-
langen, nicht nach Fuͤrchten und Hoffen; ſon-
dern nach unſerer Erkenntniß von Warheit und
Unwahrheit.
Daher hat auch das alte Judentum keine
ſymboliſche Buͤcher, keine Glaubensartikel.
Niemand durfte Symbola beſchwoͤhren, nie-
mand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja,
wir haben von dem, was man Glaubenseide
nennet, gar keinen Begriff, und muͤſſen ſie,
nach dem Geiſte des aͤchten Judentums, fuͤr
D 4un-
[56] unſtatthaft halten. Majemonides; kam zuerſt
auf den Gedanken, die Religion ſeiner Vaͤter
auf eine gewiſſe Anzahl von Grundſaͤtzen einzu-
ſchraͤnken; damit die Religion, wie er zu verſte-
hen giebt, ſo wie alle Wiſſenſchaften, ihre Grund-
begriffe habe, aus welchen alles uͤbrige herge-
leitet wird. Aus dieſem blos zufaͤlligen Gedan-
ken ſind die dreyzehn Artikel des juͤdiſchen Ka-
techismus entſtanden, denen wir das Morgen-
lied Jigdal, und einige gute Schriften von
Chisdai, Albo und Abarbanell zu verdanken
haben. Dieſes ſind auch alle Folgen, die ſie
bisher gehabt haben. Zu Glaubensfeſſeln ſind ſie,
Gottlob! noch nicht geſchmiedet worden. Chis-
dai beſtreitet ſie und ſchlaͤgt Abaͤnderungen vor;
Albo ſchraͤnkt ihre Anzahl ein, und will mir von
dreyen Grundartikeln wiſſen, die mit denen,
welche Zerbert von Cherbury in ſpaͤtern Zei-
ten zum Katechismus vorgeſchlagen, ziemlich
uͤbereintreffen, und noch andere, hauptſaͤchlich
Lorja und ſeine Schuͤler, die neueren Rabbali-
ſten, wollen gar keine beſtimmte Anzahl von Fun-
damentallehren gelten laſſen, und ſprechen: in
unſrer Lehre iſt alles fundamental. Indeſſen
ward
[57] ward dieſer Streit gefuͤhrt, wie alle Streitig-
keiten dieſer Art gefuͤhrt werden ſollten: mit
Ernſt und Eifer, aber ohn Haß und Bitterkeit;
und ob ſchon die dreyzehn Artikel des Majemo-
nides von dem groͤßten Theile der Nation ange-
nommen worden ſind; ſo hat doch meines Wiſ-
ſens noch niemand den Albo verketzert, daß er
ſie hat einſchraͤnken und auf weit allgemeinere
Vernunftſaͤtze zuruͤckfuͤhren wollen. Hierin ha-
ben wir den wichtigen Ausſpruch unſerer Weiſen
noch nicht aus der Acht gelaſſen:
„dieſer loͤſet, jener bindet, ſo lehren ſie
„doch beide Worte des lebendigen Got-
„tes.“’
D 5Im
[58]
Im Grunde koͤmmt auch hier alles auf den
Unterſchied zwiſchen Glauben und Wiſſen.
Religionslehren und Religionsgeboten, an. Al-
les menſchliche Wiſſen laͤßt ſich allerdings auf
wenige Fundamentalbegriffe einſchraͤnken, die
zum Grunde gelegt werden. Je weniger, deſto
feſter ſtehet das Gebaͤude. Aber Geſetze leiden
keine Abkuͤrzung. In ihnen iſt alles fundamen-
tal, und in ſo weit koͤnnen wir mit Grunde ſa-
gen: uns ſind alle Worte der Schrift, alle Ge-
bote und Verbote Gottes fundamental. Wollt
ihr gleichwohl die Quinteſſenz daraus haben;
ſo hoͤret, wie jener groͤßere Lehrer der Nation,
Zillel der aͤltere der vor der Zerſtoͤrung des
zweyten Tempels lebte, ſich dabey genommen.
Ein Heide ſprach: Rabbi, lehret mich das ganze
Geſetz, indem ich auf einem Fuße ſtehe! Sa-
mai, an den er dieſe Zumuthung vorher ergehen
ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewieſen; al-
lein der durch ſeine unuͤberwindliche Gelaſſen-
heit und Sanftmuth beruͤhmte Zillel ſprach:
Sohn! liebe deinen Naͤchſten wie dich ſelbſt.
Dieſes iſt der Text des Geſetzes; alles uͤbrige iſt
Kommentar. Nun gehe hin und lerne!
Ich
[59]
Ich habe nunmehr, zum Grundriſſe des
alten, urſpruͤnglichen Judentums, wie ich mir
ſolches vorſtelle, die Außenlinien entworfen.
Lehrbegriffe und Geſetze; Geſinnungen und
Handlungen. Jene waren nicht an Worte und
Schriftzeichen gebunden, die fuͤr alle Menſchen
und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra-
chen, Sitten, Lebensart und Verhaͤltniſſe im-
mer dieſelben bleiben, uns immer dieſelbe ſteife
Formen darbieten ſollen, in welche wir unſere
Begriffe nicht einzwaͤngen koͤnnen, ohne ſie zu
zerſtuͤmmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei-
ſtigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen
Veraͤnderungen der Zeiten und Umſtaͤnde glei-
chen Schritt halten, und nach dem Beduͤrfnis,
nach der Faͤhigkeit und Faſſungskraft des Lehr-
lings abgeaͤndert und gemodelt werden kann.
Die Veranlaſſung zu dieſem vaͤterlichen Unter-
richte fand man in dem geſchriebenen Geſetzbu-
che, und in den Zeremonialhandlungen, die der
Bekenner des Judentums unaufhoͤrlich zu beob-
achten hatte. Es war Anfangs ausdruͤcklich
verboten, uͤber die Geſetze mehr zu ſchreiben,
als Gott der Nation durch Moſen hat verzeich-
nen
[60] nen laſſen. „Was muͤndlich uͤberliefert worden,“
ſagen die Rabbinen, „iſt dir nicht erlaubt, nie-
„derzuſchreiben.“ Mit vielem Widerwillen ent-
ſchloſſen ſich die Haͤupter der Synagoge in den
folgenden Zeiten zu der nothwendig gewordenen
Erlanbnis, uͤber die Geſetze ſchreiben zu duͤrfen.
Sie nannten dieſe Erlaubnis eine Zerſtoͤrung des
Geſetzes, und ſagten mit dem Pſalmiſten: „es
„iſt eine Zeit, da man um des Ewigen willen,
„das Geſetz zerſtoͤren muß.“ So ſollte es aber,
der urſpruͤnglichen Verfaſſung nach, nicht ſeyn.
Das Zeremonialgeſetz ſelbſt iſt eine lebendige,
Geiſt und Herz erweckende Art von Schrift, die
bedeutungsvoll iſt, und ohne Unterlaß zu Be-
trachtungen erweckt, und zum muͤndlichen Un-
terrichte Anlaß und Gelegenheit giebt. Was
der Schuͤler vom Morgen bis Abend that und
thun ſahe, war ein Fingerzeig auf religioſe Leh-
ren und Geſinnungen, trieb ihn an, ſeinem
Lehrer zu folgen, ihn zu beobachten, alle ſeine
Handlungen zu bemerken, den Unterricht zu ho-
len, deſſen er durch ſeine Anlagen faͤhig war,
und ſich durch ſein Btragen wuͤrdig gemacht
hatte. Die Ausbreitung der Schriften und Buͤ-
cher
[61] cher, die durch die Erfindung der Druckerey in
unſern Tagen ins Unendliche vermehrt worden
ſind, hat den Menſchen ganz umgeſchaffen.
Die große Umwaͤlzung des ganzen Syſtems der
menſchlichen Erkenntniſſe und Geſinnungen, die
ſie hervorgebracht, hat von der einen Seite
zwar erſprießliche Folgen fuͤr die Ausbildung der
Menſchheit, dafuͤr wir der wohlthaͤtigen Vorſe-
hung nicht genug danken koͤnnen; indeſſen hat
ſie, wie alles Gute, das dem Menſchen hienie-
den werden kann, ſo manches Uebel nebenher zur
Folge, das zum Theil dem Mißbrauche, zum
Theil auch der nothwendigen Bedingung der
Menſchlichkeit zuzuſchreiben iſt. Wir lehren und
unterrichten einander nur in Schriften; lernen
die Natur und die Menſchen kennen, nur aus
Schriften; arbeiten und erholen, erbauen und
ergoͤtzen uns durch Schreiberey; der Prediger
unterhaͤlt ſich nicht mit ſeiner Gemeine, er lieſt
oder deklamirt ihr eine aufgeſchriebene Abhand-
lung vor. Der Lehrer [auf] dem Catheder lieſt
ſeine geſchriebenen Hefte ab. Alles iſt todter
Buchſtabe; nirgends Geiſt der lebendigen Unter-
haltung. Wir lieben und zuͤrnen in Briefen,
zanken
[62] zanken und vertragen uns in Briefen, unſer
ganzer Umgang iſt Briefwechſel, und wenn wir
zuſammenkommen, ſo kennen wir keine andere
Unterhaltung, als ſpielen oder vorleſen.
Daher iſt es gekommen, daß der Menſch fuͤr
den Menſchen faſt ſeinen Werth verloren hat.
Der Umgang des Weiſen wird nicht geſucht;
denn wir finden ſeine Weisheit in Schriften.
Alles was wir thun, iſt ihn zum Schreiben auf-
zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er
noch nicht genug hat drucken laſſen. Das graue
Alter hat ſeine Ehrwuͤrdigkeit verloren; denn
der unbaͤrtige Juͤngling weis mehr aus Buͤ-
chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver-
ſtanden, oder uͤbelverſtanden, darauf koͤmmt es
nicht an; genug er weis es, traͤgt es auf den
Lippen, und kann es dreiſter an den Mann brin-
gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr
die Begriffe, als die Worte zu Gebote ſtehen.
Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es
hat fuͤr ein ſo erſchreckliches Uebel halten koͤn-
nen, daß der Juͤngling ſich erhebe uͤber den
Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe
den Untergang prophezeihen koͤnnen, weil in ei-
ner
[63] ner oͤffentlichen Verſamlung ſich eine muthwil-
lige Jugend uͤber einen Alten luſtig gemacht
hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes
nicht, wir brauchen nur ſeine Schriften. Mit
einem Worte, wir ſind litterati,Buchſtaben-
menſchen. Vom Buchſtaben haͤngt unſer gan-
zes Weſen ab, und wir koͤnnen kaum begreifen,
wie ein Erdenſohn ſich bilden, und vervollkomm-
nen kann, ohne Buch.
So war es nicht in den grauen Tagen der
Vorwelt. Kann man nun ſchon nicht ſagen,
es war beſſer; ſo war es doch ſicherlich anders.
Man ſchoͤpfte aus andern Quellen, ſammlete
und erhielt in andern Gefaͤßen, und vereinzelte
das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel.
Der Menſch war dem Menſchen nothwendiger;
die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach-
tung inniger mit Handlung verbunden. Der
Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schuͤler
ſeinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, ſeinen
Umgang ſuchen, ihn beobachten, und gleichſam
ausholen, wenn er ſeine Wißbegierde befriedi-
gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die-
ſer Umſtand fuͤr Einfluß auf Religion und Sit-
ten
[64] ten gehabt, muß ich mir abermals eine Ab-
ſchweifung von meinem Wege erlauben, von der
ich aber gar bald wieder einlenken werde. Meine
Materie graͤnzet an ſo mannichfache andere
Materien an, daß ich mich nicht immer auf dem-
ſelben Gange erhalten kann, ohne in Nebenwege
auszuweichen.
Mich duͤnkt, die Veraͤnderung, die in den
verſchiedenen Zeiten der Cultur mit den Schrift-
zeichen vorgegangen, habe von jeher an den Re-
volutionen der menſchlichen Erkenntniſſe uͤber-
haupt, und insbeſondere an den mannigfaltigen
Abaͤnderungen ihrer Meinungen und Begriffe in
Religionsſachen ſehr wichtigen Antheil, und
wenn ſie dieſelben nicht voͤllig allein verurſacht,
doch wenigſtens mit andern Nebenſachen auf
eine merkliche Weiſe mitgewirkt. Kaum hoͤret
der Menſch auf, ſich mit den erſten Eindruͤcken
der aͤuſſern Sinne zu begnuͤgen, und welcher
Menſch kann es lange dabey bewenden laſſen?
Kaum fuͤhlet er den ſeiner Seele eingeſenkten
Sporn, aus dieſen aͤuſſern Eindruͤcken ſich Be-
griffe zu bilden, ſo wird er die Nothwendigkeit
gewahr, ſie an ſinnliche Zeichen zu binden;
nicht
[65] nicht nur, um ſie andern mittheilen, ſondern
um ſie fuͤr ſich ſelbſt feſthalten, und ſo oft es noͤ-
thig iſt, wieder beachten zu koͤnnen Die erſten
Schritte zur Abſonderung allgemeiner Merkmale
wird er zwar ohne Zeichen thun koͤnnen, und
thun muͤſſen; denn noch itzt muͤſſen alle neue
abſtrakte Begriffe ohne Huͤlfe der Zeichen gebil-
det, und ſodann erſt mit einem Namen belegt
werden. Das gemeinſame Merkmal muß zu-
voͤrderſt, durch die Kraft der Aufmerkſamkeit, aus
dem Gewebe, in welchem es verflochten iſt, her-
ausgehoben, und hervorſtechend gemacht wer-
den. Hierzu verhilft von der einen Seite die
objektive Gewalt des Eindruks, den dieſes
Merkmal auf uns zu machen faͤhig iſt; ſo wie
von unſerer Seite, das ſubjektive Intereſſe, das
wir an demſelben haben. Aber dieſes Heraus-
heben und Beachten des gemeinſamen Merk-
mals koſtet der Seele einige Anſtrengung. Nicht
lange, ſo verſchwindet das Licht wieder, das die
Aufmerkſamkeit auf dieſen Punkt des Gegen-
ſtandes geſammelt hatte, und er verlieret ſich
in den Schatten der ganzen Maſſe, mit welcher
er vereinigt iſt. Die Seele iſt nicht im Stande
Zweiter Abſchn. Eviel
[66] viel weiter zu kommen, wenn dieſe Anſtrengung
eine Zeitlang anhalten, und gar zu oft wie-
derholt werden muß. Sie hat angefangen ab-
zuſondern; aber ſie kann nicht denken. Wie iſt
ihr zu rathen? — Die weiſe Vorſebung hat ihr
ein Mittel ſehr nahe gelegt, deſſen ſie ſich zu al-
len Zeiten bedienen kann. Sie heftet das abgezo-
gene Merkmal, entweder durch eine natuͤrliche,
oder willkuͤhrliche Ideenverbindung an ein ſinnli-
ches Zeichen, das, ſo oft ſein Eindruk erneuert
wird, auch zugleich dieſes Merkmal, rein und
unvermiſcht, wieder hervorbringt und beleichtet.
So ſind, wie bekannt, die aus natuͤrlichen und
willkuͤhrlichen Zeichen zuſammengeſetzten Spra-
chen der Menſchen entſtanden, ohne welche ſie
ſich nur wenig vom unvernuͤnftigen Thiere haͤt-
ten unterſcheiden koͤnnen; weil der Menſch, ohne
Huͤlfe der Zeichen, ſich kaum um einen Schritt
vom Sinnlichen entfernen kann.
So wie die erſten Schritte zur vernuͤnftigen
Erkenntnis gethan werden mußten, auf eben
die Weiſe werden die Wiſſenſchaften noch itzt
erweitert und mit Erfindungen bereichert, und
daher iſt zuweilen die Erfindung eines Worts in
den
[67] den Wiſſenſchaften von großer Wichtigkeit. Der
erſte, der das Wort Natur erfunden, ſcheinet
eben keine große Entdekkung gemacht zu haben.
Gleichwohl hatten es ſeine Zeitgenoſſen ihm zu
verdanken, daß ſie den Gaukler, der ſie eine Er-
ſcheinung in der Luft ſehen lies, beſchaͤmen, und
ſagen konnten, ſein Spiel ſey nichts Uebernatuͤr-
liches; ſondern eine Wirkung der Natur. Ge-
ſetzt, ſie wußten noch nichts Deutliches von den
Eigenſchaften gebrochener Strahlen, und wie
durch dieſelben ein Bild in der Luft hervorge-
bracht werden koͤnne, — und wie weit reichet denn
noch itzt unſere Erkenntnis hierin? Kaum um
einen Schritt weiter; denn von der Natur des
Lichts ſelbſt und von ſeinen innern Beſtandthei-
len ſind wir noch wenig unterrichtet; — ſo muß-
ten ſie doch wenigſtens eine einzelne Erſcheinung
auf ein allgemeines Naturgeſetz zuruͤck zubringen,
und waren nicht genoͤthiget, jedem Spiele eine be-
ſondere, freywillige Urſache zuzuſchreiben. So war
es auch mit der neueren Entdeckung daß die Luft
eine Schwere habe. Wiſſen wir ſchon nicht die
Schwere ſelbſt zu erklaͤren, ſo ſind wir doch
wenigſtens im Stande, die Beobachtung, daß
E 2die
[68] die fluͤſſigen Materien in luftleeren Roͤhren in die
Hoͤhe ſteigen, auf das allgemeine Geſetz der
Schwere zu reduziren, das dem erſten An-
ſcheine nach, vielmehr die Fluͤſſigkeit ſinken ma-
chen ſollte. Wir koͤnnen begreiflich machen,
wie durch das allgemeine Sinken, das wir nicht
erklaͤren koͤnnen, in dieſem Falle hat ein Steigen
hervorgebracht werden muͤſſen; und auch dieſes
iſt ein Schritt weiter in der Erkenntnis. Es iſt
alſo nicht jedes Wort in den Wiſſenſchaften ſo-
gleich fuͤr leeren Schall zu erklaͤren, wenn es
nicht aus fruͤhern Elementarbegriffen hergeleitet
werden kann. Genug, wenn es eine allgemeine
Eigenſchaft der Dinge nur in ihrem wahren Um-
fange bezeichnet. Der Ausdruck fuga vacui
wuͤrde nicht zu tadeln geweſen ſeyn; wenn er
nicht allgemeiner geweſen waͤre, als die Beob-
achtung. Man fand, daß es Faͤlle gebe, wo
die Natur nicht ſo gleich das Leere anzufuͤllen
eile; daher die Redensart nicht als leer, ſon-
dern als falſch zu verwerfen geweſen. — So
bleiben die Worter: Cohaͤſion der Koͤrper und
allgemeine Gravitation, in den Wiſſenſchaf-
ten noch immer von großer Wichtigkeit; ob wir
ſie
[69] ſie gleich noch nicht aus fruͤhern Grundbegriffen
abzuleiten wiſſen.
Bevor der Herr von Haller das Geſetz der
Reitzbarkeit entdeckte, wird ſo mancher Beob-
achter die Erſcheinung ſelbſt in der organiſchen
Natur lebendiger Geſchoͤpfe wahrgenommen ha-
ben. Allein ſie verſchwand in dem erſten Augen-
blick wieder, und zeichnete ſich nicht genug von
Rebenerſcheinungen aus, um die Aufmerkſam-
keit des Beobachters feſt zu halten. So oft die
Bemerkung wiederkam, war ſie ihm eine ein-
zelne Wirkung der Natur, die ihn an die Menge
der Faͤlle nicht erinnern konnte, in welchen er
daſſelbe wahrgenommen hatte; ſie verlor ſich
alſo gar bald wieder, ſo wie die vorher gegange-
nen, und ließ weiter kein merkliches Andenken
in der Seele zuruͤck. Nur Hallern gelang es,
dieſen Umſtand aus der Verbindung herauszu-
heben, ſeine Allgemeinheit gewahr zu werden,
ihn mit einem Worte zu bezeichnen, und nun-
mehr hat er unſere Aufmerkſamkeit rege gemacht,
und wir wiſſen jeden beſondern Fall, in welchem
wir etwas aͤhnliches inne werden, auf ein allge-
meines Naturgeſetz hinzuleiten.
E 3Die
[70]
Die Bezeichnung der Begriffe iſt alſo doppelt
nothwendig: einmal fuͤr uns ſelbſt, gleichſam
als ein Gefaͤß, worinnen ſie verwahrt, und zum
Gebrauch bey der Hand bleiben moͤgen, und ſo-
dann um unſere Gedanken anderen mittheilen
zu koͤnnen. Nun haben die Laute, oder die hoͤr-
baren Zeichen, in letzterer Ruͤckſicht einigen Vor-
zug; denn wenn wir unſere Gedanken andern
mittheilen wollen, ſo ſind die Begriffe ſchon in
der Seele gegenwaͤrtig, und wir koͤnnen, nach
Erfordern, die Laute hervorbringen, durch wel-
che ſie bezeichnet und unſern Nebenmenſchen
vernehmlich werden. So aber nicht in Abſicht
auf uns ſelbſt. Wollen wir die abgeſonderten
Begriffe zu einer andern Zeit wieder in der
Seele erwecken und vermittelſt der Zeichen in
Erinnerung bringen koͤnnen; ſo muͤſſen die Zei-
chen ſich von ſelbſt darbiethen, und nicht erſt auf
unſere Willkuͤhr warten, die ſie hervorrufe; in-
dem dieſe ſchon die Ideen vorausſetzt, deren wir
uns erinnern wollen. Dieſen Vortheil verſchaf-
fen die ſichtbaren Zeichen, weil ſie fortdauernd
ſind, und nicht immer wieder hervorgebracht
werden muͤſſen, um Eindruck zu machen.
Die
[71]
Die erſten ſichtbaren Zeichen, deren ſich die
Menſchen zu Bezeichnung ihrer abgeſonderten Be-
griffe bedient haben, werden vermuthlich die Din-
ge ſelbſt geweſen ſeyn. Wie naͤmlich jedes Ding in
der Natur einen eigenen Charakter hat, mit wel-
chem es ſich von allen uͤbrigen Dingen auszeichnet;
ſo wird der ſinnliche Eindruck, den dieſes Ding auf
uns macht, unſere Aufmerkſamkeit hauptſaͤchlich
auf dieſes Unterſcheidungszeichen lenken, die Idee
deſſelben rege machen, und alſo zur Bezeichnung
deſſelben gar fuͤglich dienen koͤnnen. So kann
der Loͤwe ein Zeichen der Tapferkeit, der Hund
ein Zeichen der Treue, der Pfau ein Zeichen der
ſtolzen Schoͤnheit geworden ſeyn, und ſo haben
die erſten Aerzte lebendige Schlangen mit ſich
gefuͤhrt, zum Zeichen, daß ſie das Schaͤdliche un-
ſchaͤdlich zu machen wuͤſten.
Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden
haben, anſtatt der Dinge ſelbſt, ihre Bildniſſe
in Koͤrpern oder auf Flaͤchen zu nehmen; end-
lich der Kuͤrze halber ſich der Umriſſe zu bedie-
nen, ſodann einen Theil des Umriſſes Statt des
Ganzen gelten zu laſſen, und endlich aus hetero-
genen Theilen ein unfoͤrmliches, aber bedeu-
E 4tungs-
[72]tungsvolles Ganze zuſammenzuſetzen; und
dieſe Bezeichnungsart iſt die Hieroglyphik.
Alles dieſes hat, wie man ſiehet, ſich ganz
natuͤrlich ſo entwickeln koͤnnen; aber von der
Hieroglyphik bis zu unſerer alphabetiſchen
Schrift — dieſer Uebergang ſcheinet einen
Sprung, und der Sprung mehr als gemeine
Menſchenkraͤfte zu erfordern.
Daß zwar, wie einige glauben, unſere al-
phabetiſche Schrift blos Zeichen der Laute, und
nicht anders, als vermittelſt der Laute, auf Sa-
chen und Begriffe anzuwenden ſeyn ſollte, iſt
voͤllig ohne Grund. Uns, die wir von den hoͤr-
baren Zeichen lebhaftere Vorſtellungen haben,
bringet allerdings die Schrift auf die vornehm-
lichen Worte zuerſt. Uns alſo gehet der Weg von
Schrift auf Sache, uͤber und durch die Spra-
che; aber deswegen iſt es nicht nothwendig alſo.
Dem Taubgebornen iſt die Schrift unmittelbar
Bezeichnung der Sachen, und wenn er ſein Ge-
hoͤr erlangt, werden ihn in den erſten Zeiten
ſicherlich die Schriftzeichen zuerſt auf die unmit-
telbar mit ihnen verbundenen Dinge, und ſodann
erſt vermittelſt derſelben auf die Laute bringen,
die
[73] die ihnen entſprechen. Die Schwierigkeit, die ich
mir beym Uebergange auf unſere Schrift vor-
ſtelle, iſt eigentlich dieſe, daß man ohne Vorbe-
reitung und Anlaß hat den uͤberdachten Vorſatz
faſſen muͤſſen, durch eine geringe Anzahl von
Elementarzeichen und ihre moͤglichen Verſetzun-
gen eine Menge von Begriffen zu bezeichnen,
die weder zu uͤberſehen, noch dem erſten An-
ſcheine nach, in Claſſen zu bringen, und dadurch
zu umfaſſen ſcheinen mußten.
Indeſſen iſt auch hier der Gang des Verſtan-
des nicht ganz ohne Leitung geweſen. Da man
ſehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede
und Rede in Schrift zu verwandeln, und alſo die
hoͤrbaren Zeichen mit den ſichtbaren zu verglei-
chen; ſo kann man gar bald bemerkt haben, daß
ſowohl in der Redeſprache dieſelben Laute, als
in verſchiedenen hieroglyphiſchen Bildern dieſel-
ben Theile oͤfters wiederkommen, aber immer in
anderer Verbindung, wodurch ſie ihre Bedeu-
tung vervielfaͤltigen. Endlich wird man ge-
wahr worden ſeyn, daß die Laute, die der
Menſch hervorbringen und vernehmlich machen
kann, ſo unendlich an der Zahl nicht ſind, als
E 5die
[74] die Dinge, welche durch ſie bezeichnet werden,
daß man den ganzen Umfang aller vernehmli-
chen Laute gar bald umfaſſen und in Claſſen ab-
theilen koͤnne. Und ſonach kann man dieſe Ein-
theilung, Anfangs unvollſtaͤndig verſucht, mit
der Zeit ergaͤnzt und immer verbeſſert, und jeder
Claſſe ein ihr entſprechendes Schriftzeichen aus
der Hieroglyphik zugeeignet haben. Es bleibt
zwar auch ſo noch eine der herrlichſten Entde-
ckungen des menſchlichen Geiſtes; allein man ſie-
het doch wenigſtens, wie die Menſchen haben
allmaͤhlig, ohne Flug der Erfindungskraft, dar-
auf gefuͤhrt werden koͤnnen, ſich das Unermeß-
liche als meßbar zu denken, gleichſam den ge-
ſtirnten Himmel in Figuren abzutheilen, und ſo
jedem Sterne ſeinem Ort anzuweiſen, ohne die
Anzahl der Sterne zu wiſſen. Ich glaube, bey
den hoͤrbaren Zeichen war die Spur leichter zu
entdecken, der man nur nachgehen durfte, um
die Figuren wahrzunehmen, in welche ſich das un-
ermeßliche Heer der menſchlichen Begriffe brin-
gen ließe; und ſodann war es ſo ſchwer nicht
mehr, die Anwendung davon auf die Schrift zu
machen, und auch dieſe zu ſchichten, und in
Claſſen
[75] Claſſen abzutheilen. Mich duͤnkt daher, ein
Volk von Taubgebornen, wuͤrde mehr Erfin-
dungskraft anzuſtrengen haben, von der Hiero-
glyphik auf die alphabetiſche Schrift zu kommen;
weil ſichs bey den Schriftzeichen nicht ſo leicht
einſehen laͤßt, daß ſie einen faßlichen Umfang
haben, und in Claſſen zu bringen ſeyen.
Ich bediene mich des Worts Claſſen, ſo oft
von den Elementen der lautbaren Sprachen die
Rede iſt; denn noch itzt in unſern lebendigen,
ausgebildeten Sprachen, iſt die Schrift bey wei-
tem ſo mannigfaltig nicht, als die Rede, und wird
daſſelbe Schriftzeichen in verſchiedener Verbin-
dung und Stellung verſchiedentlich geleſen und
ausgeſprochen. Gleichwohl iſt es offenbar, daß wir
durch den haͤufigen Gebrauch der Schrift unſere
Redeſprache eintoͤniger, und nach Anleitung und
Beduͤrfniß der Schrift, elementariſcher gemacht
haben. Daher die Nationen, die der Schrift nicht
kundig ſind, eine weit groͤßere Mannigfaltigkeit
in ihrer Redeſprache haben, und viele Laute in
derſelben ſo unbeſtimmt ſind, daß wir ſie durch
unſere Schriftzeichen nur ſehr unvollkommen an-
zudeuten im Stande ſind. Man wird alſo An-
fangs
[76] fangs die Sachen haben im Ganzen nehmen,
und eine Menge aͤhnlicher Laute, durch ein und
eben daſſelbe Schriftzeichen bezeichnen muͤſſen.
Mit der Zeit aber werden feinere Unterſchiede
wahrgenommen, und zu ihrer Bezeichnung meh-
rere Buchſtaben angenommen worden ſeyn. Daß
aber unſer Alphabet aus einer Art von hierogly-
phiſcher Schrift entlehnt worden, iſt noch itzt an
den mehreſten Zuͤgen, und Namen des hebraͤiſchen
Alphabets *) zu erkennen, und aus dieſen ſind,
wie aus der Geſchichte offenbar iſt, alle uͤbrige
uns bekannte Schriftarten entſtanden. Ein
Phoͤnizier war es, der die Griechen in der Kunſt
zu ſchreiben unterrichtete.
Alle dieſe verſchiedenen Modifikationen der
Schrift und Bezeichnungsarten muͤſſen auch auf
den Fortgang und Verbeſſerung der Begriffe,
Meinungen und Kenntniſſe verſchiedentlich ge-
wirkt haben. Von der einen Seite zu ihrem
Vortheil. Die Beobachtungen, Verſuche und
Betrach-
[77] Betrachtungen in aſtronomiſchen, oͤkonomiſchen,
moraliſchen und religioſen Dingen wurden ver-
vielfaͤltiget, ausgebreitet, erleichtert und den
Nachkommen aufbehalten. Sie ſind die Zellen,
in welche die Bienen ihren Honig ſammlen, und
zum Genuſſe fuͤr ſich und andere aufbewah-
ren. — Allein, wie es in menſchlichen Dingen
allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet,
ſuchet die Thorheit dort ſchon wieder einzureiſ-
ſen, und mehrentheils bedient ſie ſich derſelben
Mittel und Werkzeuge. Mißverſtand von der
einen, und Mißbrauch von der andern Seite
verwandelten das, was Verbeſſerung des menſch-
lichen Zuſtandes ſeyn ſollte, in Verderben und
Verſchlimmerung. Was Einfalt und Unwiſſen-
heit war, ward nunmehr Verfuͤhrung und Irr-
tum. Von der einen Seite Mißverſtand: der
große Haufe war von den Begriffen, die mit
dieſen ſinnlichen Zeichen verbunden ſeyn ſollten,
gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie ſahen
die Zeichen nicht als bloſſe Zeichen an; ſondern
hielten ſie fuͤr die Dinge ſelbſt. So lange man
ſich noch der Dinge ſelbſt, oder ihrer Bildniſſe
und Umriſſe ſtatt der Zeichen bediente, war die-
ſer
[78] ſer Irrtum leicht moͤglich. Die Dinge hatten
auſſer ihrer Bedeutung, auch ihre eigene Rea-
litaͤt. Die Muͤnze war zugleich Waare, die ih-
ren eigenen Gebrauch und Nutzen hat; daher
der Unwiſſende deſto leichter ihren Werth als
Muͤnze, verkennen und unrichtig angeben konnte.
Die hieroglyphiſche Schrift konnte zwar zum
Theil dieſen Irrtum benehmen, oder beguͤn-
ſtigte ihn wenigſtens ſo ſehr nicht, als die Um-
riſſe; denn dieſe waren aus heterogenen und uͤbel
paſſenden Theilen zuſammengeſetzt; unfoͤrmliche
und widerſinnige Geſtalten, die kein eigenes
Daſeyn in der Natur haben, und alſo, wie
man denken ſollte, nicht fuͤr Schrift genommen
werden konnten. Allein dieſes raͤthſelhafte und
fremde in der Zuſammenſetzung ſelbſt gab dem
Aberglauben Stof zu mancherley Erdichtung und
Fabel. Heucheley und muthwilliger Mißbrauch
waren von der andern Seite geſchaͤftig, und ga-
ben ihm Maͤhrchen an die Hand, die er zu erfin-
den, nicht ſinnreich genug war. Wer einmal
Gewicht und Anſehen ſich erworben, moͤchte ſol-
ches, wo nicht vermehren, doch wenigſtens gern
erhalten. Wer einmal auf eine Frage eine be-
friedi-
[79] friedigende Antwort gegeben, moͤchte ſolche gern
niemals ſchuldig bleiben. Da iſt keine Fratze ſo
ungeraͤumt, keine Poſſe ſo poſſenhaft, zu der
man nicht ſeine Zuflucht nimmt, keine Fabel ſo
vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubil-
den ſuchet, um nur auf jedes Warum? alſo-
fort mit einem Darum zur Hand ſeyn zu koͤn-
nen. Unausſprechlich bitter wird das Wort:
ich weis nicht! wenn man ſich erſt als ein
vielwiſſender, oder gar alleswiſſender angekuͤndi-
get hat; insbeſondere, wenn Stand und Amt
und Wuͤrde von uns zu fordern ſcheine, daß
wir wiſſen ſollen. Ach! wie manchem mag das
Herz ſchlagen, wenn er itzt auf dem Punkte iſt,
Gewicht und Anſehen zu verlieren, oder an der
Wahrheit zum Verraͤther zu werden; und wie
wenige beſitzen die Klugheit des Sokrates, ſelbſt
in den Faͤllen, wo man etwas mehr weis, als
ſein Naͤchſter, immer noch die erſte Antwort ſeyn
zu laſſen: ich weis nichts! damit man ſich
ſelbſt Verlegenheit erſpare, und auf den Fall,
da ein ſolches Bekenntniß noͤthig ſeyn wuͤrde, die
Selbſtdemuͤthigung zum voraus leichter gemacht
habe.
Indeſſen
[80]
Indeſſen ſiehet man, wie hieraus hat Thier-
dienſt, und Bilderdienſt, Goͤtzen und Menſchen-
dienſt, Fabeln und Maͤhrchen entſtehen koͤnnen,
und wenn ich dieſes ſchon nicht fuͤr die einzige
Quelle der Mythologie ausgebe; ſo glaube ich
doch, daß es zur Entſtehung und Fortpflanzung
aller dieſer Albernheiten ſehr viel hat beytragen
koͤnnen. Insbeſondere laͤßt ſich hieraus eine
Bemerkung erklaͤren, die Hr. Pr. Meiners ir-
gend wo in ſeinen Schriften gemacht hat. Er
will durchgehends bemerkt haben, daß bey den
urſpruͤnglichen Nationen, ſolchen naͤmlich, die
ſich ſelbſt gebildet, und ihre Kultur keiner an-
dern Nation zu verdanken haben, mehr Thier-
dienſt als Menſchendienſt, im Schwange gewe-
ſen, ja lebloſe Dinge weit eher als Menſchen
goͤttlich verehrt und angebetet worden ſeyn.
Ich ſetze die Richtigkeit der Bemerkung voraus,
und laſſe den philoſophiſchen Geſchichtsforſcher
dafuͤr die Gewaͤhr leiſten. Ich will verſuchen
ſie zu erklaͤren!
Wenn die Menſchen die Dinge ſelbſt, oder
ihre Bildniſſe und Umriſſe Zeichen der Begriffe
ſeyn laſſen; ſo koͤnnen ſie zu Bezeichnung mora-
liſcher
[81] liſcher Eigenſchaften keine Dinge bequemer und
bedeutender finden, als die Thiere. Die Urſa-
chen ſind eben dieſelben, die mein Freund Leſ-
ſing, in ſeiner Abhandlung von der Fabel, an-
giebt, warum Aeſop die Thiere zu ſeinen han-
delnden Weſen in der Apologue gewaͤhlt hat.
Jedes Thier hat ſeinen beſtimmten, auszeich-
nenden Charakter, und kuͤndiget ſich dem erſten
Anblicke gleich von dieſer Seite an, indem die
ganze Bildung deſſelben mehrentheils auf dieſes
eigentuͤmliche Unterſcheidungszeichen hinweiſet.
Dieſes Thier iſt behende, jenes ſcharfſichtig; die-
ſes ſtark, jenes gelaſſen; dieſes treu, und den
Menſchen ergeben, jenes falſch, oder liebt die
Freyheit u. ſ. w. Ja die lebloſen Dinge ſelbſt
haben in ihrem Aeußern mehr Beſtimmtheit, als
der Menſch dem Menſchen. Dieſer ſagt, dem
erſten Anblicke nach, nichts, oder vielmehr al-
les. Er beſitzet dieſe Eigenſchaften alle, ſchließt
keine derſelben wenigſtens voͤllig aus, und das
Mehr oder Weniger davon zeigt er nicht ſogleich
an der Oberflaͤche. Sein unterſcheidender Cha-
rakter faͤllt alſo nicht in die Augen, und er iſt
Zweiter Abſchn. Fzu
[82] zu Bezeichnung moraliſcher Begriffe und Eigen-
ſchaften das unbequemſte Ding in der Natur.
Noch itzt koͤnnen in den bildenden Kuͤnſten
die Perſonen der Goͤtter und Helden nicht beſſer
angedeutet werden, als vermittelſt der thieri-
ſchen oder lebloſen Bilder, die man ihnen zuge-
ſellt. Iſt ſchon eine Minerva von einer Juno
der Bildung nach unterſchieden, ſo zeichnen ſie
ſich gleichwohl durch die thieriſchen Merkmale,
die ihnen zugegeben werden, weit beſſer aus.
Auch der Dichter, wenn er von ſittlichen Eigen-
ſchaften in Metaphern und Allegorien reden will,
nimmt mehrentheils ſeine Zuflucht zu den Thie-
ren. Loͤwe, Tyger, Adler, Stier, Fuchs, Hund,
Baͤr, Wurm, Taube, alles dieſes ſpricht, und
die Bedeutung ſpringet in die Augen. Daher
wird man zuerſt auch die Eigenſchaften des An-
betungswuͤrdigſten durch dergleichen Zeichen ha-
ben anzudeuten und ſinnlich zu machen geſucht.
In der Nothwendigkeit dieſe abgezogenſten Be-
griffe an ſinnliche Dinge zu heften, und an ſol-
che ſinnliche Dinge, die am wenigſten vieldeu-
tig ſind, wird man thieriſche Bilder haben waͤh-
len, oder aus ihnen welche zuſammenſetzen muͤſ-
ſen
[83] ſen. Und wir haben geſehen, wie ein ſo un-
ſchuldiges Ding, eine bloſſe Schriftart, in den
Haͤnden der Menſchen gar bald ausarten, und
in Abgoͤtterey uͤbergehen kann. Natuͤrlich alſo
wird alle urſpruͤngliche Abgoͤtterey mehr Thier-
dienſt, als Menſchendienſt ſeyn. Menſchen
konnten zur Bezeichnung goͤttlicher Eigenſchaf-
ten gar nicht gebraucht werden, und die Vergoͤt-
terung derſelben mußte von einer ganz andern
Seite kommen. Es mußten etwan Helden und
Eroberer, oder Weiſe, Geſetzgeber und Prophe-
ten aus einer gluͤcklichen und fruͤher gebildeten
Weltgegend heruͤber gekommen ſeyn, und ſich
durch außerordentliche Talente ſo hervorgethan,
ſo erhaben gezeigt haben, daß man ſie als Boten
der Gottheit, oder als die Gottheit ſelbſt verehr-
te. Daß dieſes aber weit fuͤglicher bey Natio-
nen eintreffen kann, die ihre Kultur nicht ſich
ſelbſt, ſondern andern zu verdanken haben, laͤßt
ſich leicht begreifen; weil, wie das gemeine
Sprichwort lautet, ein Prophet in ſeiner
Heimat ſelten zu außerordentlichem Anſehen ge-
langet. — Und ſonach waͤre die Bemerkung
des Herrn Meiners, eine Art von Beſtaͤtigung
F 2fuͤr
[84] fuͤr meine Hypotheſe, daß das Beduͤrfniß der
Schriftzeichen die erſte Veranlaſſung zur Abgoͤt-
terey geweſen.
Bey Beurtheilung der Religionsbegriffe ei-
ner ſonſt noch unbekannten Nation muß man
ſich, aus eben der Urſache, huͤten, nicht alles
mit eigenen heimiſchen Augen zu ſehen, um
nicht Goͤtzendienſt zu nennen, was im Grunde
vielleicht nur Schrift iſt. Man ſtelle ſich vor,
ein zweiter Omhya, der von dem Geheimniß der
Schreibekunſt nichts wuͤßte, wuͤrde ploͤtzlich, oh-
ne ſich nach und nach an unſere Ideen zu gewoͤh-
nen, aus ſeinem Welttheile in irgend einen der bil-
derfreyeſten Tempel von Europa — um das Bey-
ſpiel auffallender zu machen — in den Tempel
der Providenz verſetzt. Er faͤnde alles leer von
Bildern und Verzierung; nur dort auf der wei-
ßen Wand einige ſchwarze Zuͤge *) die vielleicht
das ohngefaͤhr dahin geſtrichen, Doch nein!
die ganze Gemeine ſchauet auf dieſe Zuͤge mit
Ehrfurcht, faltet die Haͤnde zu ihnen, richtet
zu
[85] zu ihnen die Anbetung. Nun fuͤhret ihn eben
ſo ſchnell und eben ſo ploͤtzlich nach Othaiti zu-
ruͤck, und laſſet ihn ſeinen neugierigen Landesleu-
ten von den Religionsbegriffen des D. Philan-
tropins Bericht abſtatten. Werden ſie den abge-
ſchmackten Aberglauben ihrer Mitmenſchen nicht
zugleich belachen und bedauern, die ſo tief geſun-
ken ſind, ſchwarzen Zuͤgen auf weiſſem Grunde
goͤttliche Ehre zu erzeigen? — Aehnliche Fehler
moͤgen unſere Reiſenden ſehr oft begehen, wenn
ſie uns von der Religion entfernter Voͤlker Nach-
richt ertheilen. Sie muͤſſen ſich die Gedanken
und Meinungen einer Nation ſehr genau bekannt
machen, bevor ſie mit Zuverlaͤßigkeit ſagen koͤn-
nen, ob die Bilder bey ihr noch den Geiſt der
Schrift haben, oder ſchon in Abgoͤtterey aus-
geartet ſind. Die Eroberer Jeruſalems fanden
bey Pluͤnderung des Tempels die Cherubim auf
der Lade des Bundes, und hielten ſie fuͤr die
Goͤtzenbilder der Juden. Sie ſahen alles mit
barbariſchen Augen, und aus ihrem Geſichts-
punkte. Ein Bild der goͤttlichen Vorſehung
und obwaltenden Gnade nahmen ſie, ihrer
Sitte nach, fuͤr Bild der Gottheit, fuͤr Gott-
F 3heit
[86] heit ſelber, und freueten ſich ihrer Entdeckung.
So lachen die Leſer noch itzt uͤber die indiani-
ſchen Weltweiſen, die dieſes Weltall von Ele-
phanten tragen laſſen; die Elephanten auf eine
große Schildkroͤte ſtellen, dieſe von einem un-
geheuren Baͤren halten, und den Baͤr auf einer
unermeßlichen Schlange ruhen laſſen. Die gu-
ten Leute haben wohl an die Frage nicht gedacht:
worauf ruhet denn die unermeßliche Schlange?
Nun leſet in der Schaſta der Gentoos ſelbſt
die Stelle, in welcher ein Sinnbild dieſer Art
beſchrieben wird, das wahrſcheinlicher Weiſe zu
dieſer Sage Gelegenheit gegeben hat. Ich ent-
lehne ſie aus dem zweiten Theil der Nachrich-
ten von Bengalen und dem Kaiſertum In-
doſtan von J. Z. Hollwell, der ſich in den hei-
ligen Buͤchern der Gentoos hat unterrichten laſ-
ſen, und im Stande war mit den Augen eines
eingebornen Braminen zu ſehen. So lauten die
Worte im achten Abſchnitte:
Modu und Kytu (zwey Ungeheuer, Zwie-
tracht und Aufruhr,) waren uͤberwun-
den, und nun trat der Ewige aus der Un-
ſicht-
[87] ſichtbarkeit hervor, und Glorie umgab ihn
von allen Seiten.
Der Ewige ſprach: du Birma, (Schoͤpfungs-
kraft)! erſchaffe und bilde alle Dinge der
neuen Schoͤpfung, mit dem Geiſte, den
ich dir einhauche. — Und du, Biſtnu, (Er-
haltungskraft)! beſchuͤtze und erhalte die
erſchaffenen Dinge und Formen, nach mei-
ner Vorſchrift. — Und du, Sieb, (Zerſtoͤ-
rung, Umbildung)! verwandele die Din-
ge der neuen Schoͤpfung, und bilde ſie um,
mit der Kraft, die ich dir verleihen werde.
Birma, Biſtnu und Sieb vernahmen die
Worte des Ewigen, buͤckten ſich und bezeigten
Gehorſam.
Alſofort ſchwamm Birma auf die Oberflaͤche
des Johala (Meerestiefe,) und die Kin-
der Modu und Kytu flohen und verſchwan-
den, als er erſchien.
Als durch den Geiſt des Birma die Bewe-
gungen der Tiefen ſich legten, verwandelte
ſich Biſtnu in einen maͤchtigen Baͤr (Zei-
chen der Staͤrke, bey den Gentoos, weil
er in Verhaͤltniß ſeiner Groͤße das ſtaͤrkſte
F 4Thier
[88] Thier iſt), ſtieg hinab in die Tiefen des
Johala, und zog mit ſeinen Hauhern
Murto (die Erde) ans Licht. — Sodann
entſprangen aus ihm freywillig eine maͤch-
tige Schildkroͤte (Zeichen der Beſtaͤndig-
keit bey den Gentoos) und eine maͤchtige
Schlange (derſelben Zeichen der Weisheit)
Und Biſtnu richtete die Erde auf dem Ruͤk-
ken der Schildkroͤte auf, und ſetzte Murto
auf das Haupt der Schlange u. ſ. w.
Alles dieſes findet man bey ihnen auch in
Bildern vrrgeſtellt, und man ſiehet, wie leicht
ſolche Sinnbilder und Bilderſchrift zu Irrtuͤ-
mern verleiten koͤnnen.
Die Geſchichte der Menſchheit hat wirklich,
wie bekannt, einen Zeitraum von vielen Jahr-
hunderten zuruckgelegt, in welchen ein wirkli-
cher Goͤtzendienſt faſt auf dem ganzem Erdboden
zur herrſchenden Religion geworden. Die Bil-
der hatten ihren Werth als Zeichen verloren.
Der Geiſt der Wahrheit, der in ihnen aufbe-
wahrt werden ſollte, war verduftet, und das
ſchale Vehikulum, das zuruͤckblieb, in verderb-
liches Gift verwandelt. Die Begriffe von der
Gott-
[89] Gottheit, die in den Volksreligionen ſich noch
erhielten, waren von Aberglauben ſo entſtellt,
von Heucheley und Pfaffenliſt ſo verderbt, daß
man mit Grunde zweifein konnte: ob nicht Ohn-
goͤtterey der menſchlichen Gluͤckſeligkeit weniger
ſchaͤdlich, ob ſo zu ſagen, die Gottloſigkeit ſelbſt
nicht weniger gottlos ſey, als eine ſolche Reli-
gion. Menſchen, Thiere, Pflanzen, die ſcheuß-
lichſten und veraͤchtlichſten Dinge in der Natur
wurden angebetet und als Gottheiten verehrt;
oder vielmehr als Gottheiten gefuͤrchtet. Denn
von der Gottheit hatten die oͤffentlichen Volks-
religionen der damaligen Zeiten keinen andern
Begriff, als von einem furchtbaren Weſen, das
uns Erdbewohnern an Macht uͤberlegen, leicht
zum Zorne zu reitzen, und ſchwer zu verſoͤhnen
iſt. Zur Schmach des menſchlichen Verſtandes
und Herzens wußte der Aberglaube die unver-
traͤglichſten Begriffe mit einander zu verbinden,
Menſchenopfer und Thierdienſt neben einander
gelten zu laſſen. In dem praͤchtigſten, nach allen
Regeln der Kunſt erbaueten und ausgezierten
Tempeln, ſahe man, wie Plutarch ſich ausdruͤckt,
zur Schande der Vernunft, ſich nach der Gott-
F 3heit
[90] heit um, die hier angebetet wuͤrde, und fand auf
dem Altare eine ſcheußliche Meerkatze; und die-
ſem Unthiere wurden bluͤhende Juͤnglinge und
Maͤdchen geſchlachtet. So tief hatte die Ab-
goͤtterey die menſchliche Natur erniedriget! Man
ſchlachtete Menſchen, wie der Prophet in ei-
ner emphatiſchen Antitheſe ſich ausdruͤckt, man
ſchlachtete Menſchen, um ſie dem angebe-
teten Viehe zu opfern.
Hier und da wagten es zuweilen die Philo-
ſophen, ſich dem allgemeinen Verderbniß zu wi-
derſetzen, und oͤffentlich, oder durch geheime
Anſtalten, die Begriffe zu reinigen und aufzu-
klaͤren. Sie verſuchten es, dem Bildern ihre
alte Bedeutung wieder zu geben, oder auch
neue unterzulegen, und dadurch dem todten
Leichnam gleichſam ſeinen Geiſt wieder einzu-
hauchen. Aber vergeblich! Auf die Religion des
Volks hatten ihre vernuͤnftigen Erklaͤrungen
keinen Einfluß. So gierig der ungebildete Menſch
nach Erklaͤrung zu ſeyn ſcheint, ſo unzufrieden
iſt er, wenn ſie ihm in ihrer wahren Einfalt
gegeben wird. Was ihm verſtaͤndlich iſt, wird
ihm gar bald zum Ueberdruſſe, und veraͤchtlich,
und
[91] und er gehet immer nach neuen, geheimnißvol-
len, unerklaͤrbaren Dingen aus, die er mit
verdoppeltem Wohlgefallen beherziget. Seine
Wißbegier will immer geſpannt, niemals befrie-
diget ſeyn. Der oͤffentliche Vortrag fand alſo
bey den groͤßten Haufen kein Gehoͤr, oder viel-
mehr von Seiten des Aberglaubens und der
Heucheley den hartnaͤckigſten Widerſtand, und
empfing ſeinen gewoͤhnlichen Lohn, Verachtung,
oder Haß und Verfolgung. Die geheimen An-
ſtalten und Vorkehrungen, in welchen die Rechte
der Wahrheit einigermaßen aufrecht erhalten
werden ſollten, gingen zum Theil, ſelbſt den
Weg der Corruption, und wurden zu Pflanz-
ſchulen alles Aberglaubens, aller Laſter und al-
ler Abſcheulichkeiten. — — Eine gewiſſe Schu-
le der Weltweiſen faßte den kuͤhnen Gedanken,
die abgeſonderten Begriffe der Menſchen von al-
lem bildlichen und bildaͤhnlichen zu entfernen,
und an ſolche Schriftzeichen zu binden, die ihrer
Natur nach, fuͤr nichts anders genommen wer-
den koͤnnen, an Zahlen. Da die Zahlen an
und fuͤr ſich ſelbſt nichts vorſtellen, mit keinem
ſinnlichen Eindrucke in natuͤrlicher Verbindung
ſtehen,
[92] ſtehen, ſo ſollte man glauben, ſie waͤren keiner
Mißdeutung faͤhig; man muͤßte ſie fuͤr willkuͤhr-
liche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder
als unverſtaͤndlich dahin geſtellt ſeyn laſſen.
Hier ſollte man meinen, kan der roheſte Ver-
ſtand nicht Zeichen mit Sachen verwechſeln, und
aller Mißbrauch waͤre durch dieſen feinen Kunſt-
begriff verhuͤtet. Wem die Zahlen nicht ver-
ſtaͤndlich ſind, dem ſind ſie leere Figuren. Wen
ſie nicht aufklaͤren, den koͤnnen ſie wenigſtens
nicht verfuͤhren.
So konnte ſich der große Stifter dieſer Schu-
le bereden. Allein gar bald gieng in dieſer
Schule ſelbſt der Unverſtand ſeinen alten Gang.
Unzufrieden mit dem, was man ſo verſtaͤndlich,
ſo begreiflich fand, ſuchte man in den Zahlen
ſelbſt eine geheime Kraft, in den Zeichen aber-
mals eine unerklaͤrbare Realitaͤt, wodurch aber-
mals ihr Werth als Zeichen verloren ging.
Man glaubte, oder machte wenigſtens andere
glauben, daß in dieſen Zahlen alle Geheimniſſe
der Natur und der Gottheit verborgen laͤgen,
ſchrieb ihnen wunderthaͤtige Kraft zu, und woll-
te durch und vermittelſt derſelben nicht nur die
Neu-
[93] Neu- und Wißbegierde der Menſchen, ſondern
ihre ganze Eitelkeit, ihr Streben nach hohen
unerreichbaren Dingen, ihren Vorwitz und ih-
re Habſucht, ihren Geitz und ihren Wahnſinn
befriedigen. Mit einem Worte, die Thorheit
hatte abermals die Anſchlaͤge der Weisheit ver-
eitelt, und das wieder vernichtet, oder gar zu
ihrem Gebrauche verwendet, was dieſe zu
beſſerm Endzwecke angeſchaft hatte.
Und nun bin ich im Stande meine Vermu-
thung von der Beſtimmung des Zeremonialge-
ſetzes im Judentume deutlicher zu machen. —
Die Stammvaͤter unſerer Nation, Abraham,
Iſaak und Jakob, ſind dem Ewigen treu geblie-
ben, und haben lautere, von aller Abgoͤtterey
entfernte Religionsbegriffe bey ihren Familien
und Nachkommen zu erhalten geſucht. Und
nun waren dieſe ihre Nachkommen von der Vor-
ſehung auserſehen, eine prieſterliche Nation
zu ſeyn; das iſt, eine Nation, die durch ihre
Einrichtung und Verfaſſung, durch ihre Geſetze,
Handlungen, Schickſale und Veraͤnderungen
immer auf geſunde unverfaͤlſchte Begriffe von
Gott und ſeinen Eigenſchaften hinweiſe, ſolche
unter
[94] unter Nationen gleichſam durch ihr bloſſes Da-
ſeyn, unaufhoͤrlich lehre, rufe, predige und zu
erhalten ſuche. Sie lebten unter Barbaren
und Goͤtzendienern im aͤußerſten Druck und das
Elend hatte ſie beynahe, gegen die Wahrheit ſo
fuͤhllos gemacht, als ihre Unterdruͤcker der Ue-
bermuth. Gott befreiete ſie aus dieſem ſklavi-
ſchen Zuſtande, durch außerordentliche Wunder-
thaten, ward der Erretter, Anfuͤhrer, Koͤnig,
Geſetzgeber und Geſetzverweſer dieſer von ihm
gebildeten Nation, und legte ihre ganze Ver-
faſſung ſo an, wie es die weiſen Abſichten ſei-
ner Vorſehung erforderten. Schwach und kurz-
ſichtig iſt des Menſchen Auge! Wer kann ſagen,
ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, ha-
be ſeinen Plan ganz uͤberſehen, weis ſeine Ab-
ſichten, Maß und Ziel und Graͤnze zu beſtim-
men? Aber erlaubt iſt dem beſcheidenen Forſcher
zu muthmaſſen, aus dem Erfolge zu ſchließen,
wenn er nur beſtaͤndig eingedenk iſt, das er
nichts als vermuthen kann.
Wir haben geſehen, was fuͤr Schwierigkeit
es hat, die abgeſonderten Begriffe der Religion
unter den Menſchen durch fortdauernde Zeichen
zu
[95] zu erhalten. Bilder und Bilderſchrift fuͤhren
zu Aberglauben und Goͤtzendienſt, und unſere
alphabethiſche Schreiberey macht den Menſchen
zu ſpekulativ. Sie legt die ſymboliſche Er-
kenntniß der Dinge und ihrer Verhaͤltniſſe gar
zu offen auf der Oberflaͤche aus, uͤberhebt uns
der Muͤhe des Eindringens und Forſchens, und
macht zwiſchen Lehr und Leben eine gar zu wei-
te Trennung. Dieſen Maͤngeln abzuhelfen, gab
der Geſetzgeber dieſer Nation das Zeremonial-
geſetz. Mit dem alltaͤglichen Thun und Laſſen
der Menſchen ſollten religioſe und ſittliche Er-
kenntniſſe verbunden ſeyn. Das Geſetz trieb ſie
zwar nicht zum Nachdenken an, ſchrieb ihnen
blos Handlungen, blos Thun und Laſſen vor.
Die große Maxime dieſer Vexfaſſung ſcheinet
geweſen zu ſeyn: Die Menſchen muͤſſen zu
Handlungen getrieben und zum Nachden-
ken nur veranlaſſet werden. Daher jede
dieſer vorgeſchriebenen Handlungen, jeder Ge-
brauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren
gediegenen Sinn hatte, mit der ſpekulativen Er-
kenntniß der Religion und der Sittenlehre in ge-
nauer Verbindung, ſtand, und dem Warheits-
for-
[96] forſcher eine Veranlaſſung war, uͤber jene gehei-
ligten Dinge ſelbſt nachzudenken, oder von wei-
ſen Maͤnnern Unterricht einzuholen. Die zur
Gluͤckſeligkeit der Nation ſowohl als der einzel-
nen Glieder derſelben nuͤtzliche Wahrheiten ſoll-
ten von allem Bildlichen aͤußerſt entfernt ſeyn;
denn dieſes war Hauptzweck, und Grundgeſetz
der Verfaſſung. An Handlungen und Verrich-
tungen ſollten ſie gebunden ſeyn, und dieſe ih-
nen ſtatt der Zeichen dienen, ohne welche ſie ſich
nicht erhalten laſſen. Die Handlungen der
Menſchen ſind voruͤbergehend, haben nichts
Bleibendes, nichts Fortdaurendes, das, ſo wie
die Bilderſchrift, durch Mißbrauch oder Miß-
verſtand zur Abgoͤtterey fuͤhren kann. Sie ha-
ben aber auch den Vorzug vor Buchſtabenzei-
chen, daß ſie den Menſchen nicht iſoliren, nicht
zum einſamen, uͤber Schriften und Buͤcher bruͤ-
tenden Geſchoͤpfe machen. Sie treiben vielmehr
zum Umgange, zur Nachahmung und zum muͤnd-
lichen, lebendigen Unterricht. Daher waren
der geſchriebenen Geſetze nur wenig, und auch
dieſe ohne muͤndlichen Unterricht und Ueberlie-
ferung nicht ganz verſtaͤndlich, und es war ver-
boten,
[97] boten, uͤber dieſelbe mehr zu ſchreiben. Die
ungeſchriebenen Geſetze aber, die muͤndliche Ue-
berlieferung, der lebendige Unterricht von Menſch
zu Menſch, von Mund ins Herz, ſollte erklaͤ-
ren, erweitern, einſchraͤnken, und naͤher beſtim-
men, was in dem geſchriebenen Geſetze, aus
weiſen Abſichten, und mit weiſer Maͤßigung un-
beſtimmt geblieben iſt. In allem, was der
Juͤngling thun ſahe, in allen oͤffentlichen ſowohl
als Privatverhandlungen, an allen Thoren und
an allen Thuͤrpfoſten, wohin er die Augen, oder
die Ohren wendete, fand er Veranlaſſung zum
Forſchen und Nachdenken, Veranlaſſung einem
aͤltern und weiſern Manne auf allen ſeinen
Tritten zu folgen, ſeine kleinſten Handlungen
und Verrichtungen mit kindlicher Sorgfalt zu
beobachten, mit kindlicher Gelehrigkeit nachzuah-
men, nach dem Geiſte und der Abſicht dieſer
Verrichtungen zu forſchen, und den Unterricht
einzuholen, deſſen ſein Meiſter ihn faͤhig und
empfaͤnglich hielt. So war Lehre und Leben,
Weisheit und Thaͤtigkeit, Spekulation und Um-
gang auf das Innigſte verbunden; oder ſo ſollte
es vielmehr der erſten Einrichtung und Abſicht
Zweiter Abſchn. Gdes
[98] des Geſetzgebers nach, ſeyn; aber, unerforſch-
lich ſind die Wege Gottes! auch hier gieng es,
nach einer kurzen Periode, den Weg des Ver-
derbniſſes. Nicht lange, ſo war auch dieſer
glaͤnzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen
kamen wieder nicht weit von der Tiefe zuruͤck,
von welcher ſie ausgegangen waren, wie leider!
ſeit vielen Jahrhunderten am Tage liegt.
Schon in den erſten Tagen der ſo wunder-
vollen Geſetzgebung fiel die Nation in den ſuͤnd-
lichen Wahn der Aegyptier zuruͤck, und verlang-
te ein Thierbild. Ihrem Vorgeben nach, wie
es ſcheinet, nicht eigentlich als eine Gottheit
zum Anbeten; hierinn wuͤrde der Hoheprieſter
und Bruder des Geſetzgebers nicht gewillfahret
haben, und wenn ſein Leben noch ſo ſehr in Ge-
fahr geweſen waͤre. — Sie ſprachen blos von
einem goͤttlichen Weſen, das ſie anfuͤhren und
die Stelle Moſes vertreten ſollte, von dem ſie
glaubten, daß er ſeinen Poſten verlaſſen haͤtte.
Aron vermochte dem Andringen des Volks nicht
laͤnger zu widerſtehen, goß ihnen ein Kalb, und
um ſie bey dem Vorſatze feſtzuhalten, dieſes
Bild nicht, ſondern den Ewigen allein goͤttlich
zu
[99] zu verehren, rief er: morgen ſey dem Ewi-
gen zu Ehren ein Feſt! Aber am Feſttage,
beym Tanz und Schmauſe, ließ der Poͤdel ganz
andere Worte hoͤren: dieſes ſind deine Goͤt-
ter, Iſrael! die dich aus Aegypten gefuͤhrt
haben! Nun war das Fundamentalgeſetz uͤber-
treten, das Band der Nation aufgeloͤſet. Ver-
nuͤnſtige Vorſtellungen fruchten ſelten bey ei-
nem aufgewiegelten Poͤbel, wenn die Unord-
nung erſt eingeriſſen, und man weis zu welchen
harten Maaßregeln der goͤttliche Geſetzgeber
ſich hat entſchließen muͤſſen, das aufruͤhriſche
Geſindel wieder zum Gehorſam zu bringen. Es
verdienet indeſſen angemerkt, und bewundert
zu werden, was die Vorſehung Gottes aus die-
ſem ungluͤcklichen Vorfalle ſelbſt fuͤr Vortheil
zu ziehen, zu welcher erhabenen und ganz ih-
rer wuͤrdigen Abſicht ſie ihn anzuwenden ge-
wußt hat?
Ich habe bereits oben angefuͤhrt, daß das
Heidentum von der Macht der Gottheit noch
ertraͤglichere Begriffe gehabt, als von ihrer
Guͤte. Der gemeine Mann haͤlt Guͤte und
Leichtverſoͤhnlichkeit fuͤr Schwachheit. Er be-
G 2nei-
[100] neidet jeden um dem mindeſten Vorzug an
Macht, Reichtum, Schoͤnheit, Ehre u. ſ. w.,
nur nicht um den Vorzug an Guͤtigkeit. Und
wie kann er auch dieſes, da es doch groͤßten-
theils nur von ihm ſelbſt abhaͤngt, den Grad
von Sanftmuth zu erlangen, den er beneidens-
werth findet? Es gehoͤrt Nachſinnen dazu,
wenn wir begreifen ſollen, daß Haß und Rach-
ſucht, Neid und Grauſamkeit, im Grunde
nichts anders als Schwachheit, lediglich Wir-
kungen der Furcht ſind. Furcht, mit zufaͤlliger,
unſicherer Ueberlegenheit verbunden, iſt die Mut-
ter aller dieſer barbariſchen Geſinnungen. Nur
die Furcht macht grauſam und unverſoͤhnlich.
Wer ſich ſeiner Ueberlegenheit mit Sicherheit
bewußt iſt, findet weit groͤßre Gluͤckſeligkeit in
Nachſicht und Verzeihung.
Hat man erſt dieſes einſehen gelernt, ſo
kann man nicht laͤnger Anſtand nehmen, Liebe
fuͤr einen wenigſtens eben ſo erhabenen Vorzug
zu halten als Macht, und dem allerhoͤchſten We-
ſen, dem man Allmacht zuſchreibt, auch Allguͤ-
tigkeit zuzutrauen; den Gott der Staͤrke auch
fuͤr den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie
weit
[101] weit war das Heidentum von dieſer Verfeine-
rung entfernt! Ihr findet in ihrer ganzen Goͤt-
terlehre, in allen Gedichten und andern Ueber-
bleibſeln der fruͤhern Zeit keine Spur, daß ſie
irgend einer ihrer Gottheiten auch Liebe und
Barmherzigkeit gegen die Menſchenkinder zuge-
ſchrieben haͤtten. „Sowohl das Volk,“ ſagt
Herr Meiners*) von dem weiſeſten Staate
der Griechen, „ſowohl das Volk, als der groͤßte
„Theil ſeiner tapferſten Heerfuͤhrer und weiſe-
„ſten Staatsmaͤnner, hielten die Goͤtter, die ſie
„anbeteten, zwar fuͤr Weſen, die maͤchtiger als
„Menſchen waͤren, die aber mit ihnen einerley
„beduͤrfniſſe, Leidenſchaften, Schwachheiten
„und ſogar Laſter haͤtten. — Alle Goͤtter ſchie-
„nen den Athenienſern, ſo wie den uͤbrigen
„Griechen, ſo boͤsartig, daß ſie ſich einbildeten:
„ein auſſerordentliches oder langedaurendes
„Gluͤck ziehe den Zorn und die Mißgunſt der
„Goͤtter auf ſich, und werde durch ihre Veran-
„ſtaltungen uͤbern Haufen geworfen. Sie dach-
„ten ſich ferner eben dieſe Goͤtter ſo reitzbar,
G 3daß
[102] „daß ſie alle Ungluͤcksfaͤlle fuͤr goͤttliche Strafen
„anſahen, die ihnen nicht um allgemeiner Sit-
„tenverderbniß, oder einzelner großen Verbre-
„chen willen, ſondern wegen unbedeutender,
„meiſtens unwillkuͤhrlicher Nachlaͤſſigkeiten bey
„gewiſſen Gebraͤuchen und Feyerlichkeiten zuge-
„ſchickt wurden.“ Im Homer ſelbſt, in dieſer
ſanften, liebevollen Seele, war der Gedanke
noch nicht aufgebluͤhet, daß die Goͤtter aus Liebe
verzeihen, daß ſie ohne Wohlwollen in ihrem
himmliſchen Wohnſitze nicht ſeelig ſeyn wuͤrden.
Und nun ſehe man, mit welcher Weisheit
der Geſetzgeber der Iſraeln ſich ihrer ſchreckli-
chen Vergehung gegen die Majeſtaͤt bedienet,
um eine ſo wichtige Lehre dem menſchlichen Ge-
ſchlecht bekannt zu machen, und ihm eine Quelle
des Troſtes zu eroͤfnen, aus welcher wir noch
itzt ſchoͤpfen und uns erquicken. — Welch er-
habne und ſchauervolle Vorbereitung! Der Auf-
ruhr war gedaͤmpft, die Suͤnder zur Erkenntniß
ihres ſtraͤflichen Vergehens gebracht, die Na-
tion in Beſtuͤrzung, und der Geſandte Gottes,
Moſes ſelbſt, ließ faſt den Muth ſinken: „Ach
„Herr! ſo lange Dein Unwillen ſich nicht legt,
„laß
[103] „laß uns nicht von dannen ziehen! Wodurch ſollte
„wohl erkannt werden, daß ich und Deine Na-
„tion Wohlgewogenheit in Deinen Augen gefun-
„den? Iſt es nicht, wenn Du mit uns geheſt?
„Nur dadurch werden wir uns, ich und Deine
„Nation, von jeder andern unterſcheiden, wel-
„che auf dem Erdboden iſt.
„Gott. Auch darinn will ich Dir willfah-
„ren; denn Du haſt Gnade gefunden in meinen
„Augen, und ich habe Dich namentlich zu mei-
„nem Liebling auserſehen.“
Moſes. Durch dieſe troſtreichen Worte auf-
gerichtet, wage ich noch eine kuͤhnere Bitte! Ach
„Herr! laß mich Deine Herrlichkeit ſchauen!
„Gott. Ich will meine Allguͤtigkeit vor
„Dir voruͤberziehen laſſen, *) und mit dem
„Namen des Ewigen Dir bekannt machen,
„welchergeſtalt ich gewogen bin, dem ich
„gewogen hin, und mich erbarme, deſſen
G 4ich
[104] „ſen ich mich erbarme. — Meine Erſcheinung
„ſollſt Du von hinten nachſchauen; denn mein
„Antlitz kann nicht geſehen werden.“ — Dar-
auf zog die Erſcheinung vor Moſe voruͤber, und
ließ eine Stimme hoͤren: „Der Herr (iſt,
„war und wird ſeyn), ewiges Weſen, all-
„maͤchtig, allbarmherzig, und allgnaͤdig;
„langmuͤthig, von großer Huld und Treue;
„der ſeine Huld dem tauſendſten Geſchlechte
„noch aufbehaͤlt; der Miſſethat, Suͤnde
„und Abfall verzeihet; aber nichts ohne
„Ahndung hingehen laͤßt! *) — Wer iſt ſo
abgehaͤrtetes Sinnes, daß er dieſes mit trocke-
nen Augen leſ[e]n; wer ſo unmenſchliches Her-
zens, daß er ſeinen Bruder noch haſſen, gegen
ſeinen Bruder unverſoͤnlich bleiben kann?
Zwar ſpricht der Ewige, daß er nichts ohne
Ahndung wolle hingehn laſſen, und es iſt
bekannt, daß dieſe Worte ſchon zu mancherley
Mißverſtand und Mißdeutung Gelegenheit ge-
geben. Wenn ſie aber das vorige nicht voͤllig
wider aufheben ſollen; ſo fuͤhren ſie unmittelbar
auf
[105] auf den großen Gedanken, den unſere Rabbinen
darin gefunden, daß auch dieſes eine Eigen-
ſchaft der goͤttlichen Liebe ſey, dem Men-
ſchen nichts ohne alle Ahndung hingehen
zu laſſen.
Ein verehrungswuͤrdiger Freund, mit dem
ich mich einſt in Religionsſachen unterhielt, legte
mir die Frage vor: ob ich nicht wuͤnſchte,
durch eine unmittelbare Offenbarung die
Verſicherung zu haben, daß ich in der Zu-
kunft nicht elend ſeyn wuͤrde? Wir ſtimme-
ten beide darin uͤberein, daß ich keine ewige Hoͤl-
lenſtrafe zu fuͤrchten haͤtte; denn Gott kann kei-
nes ſeiner Geſchoͤpfe unaufhoͤrlich elend ſeyn
laſſen. So kann auch kein Geſchoͤpf durch ſeine
Handlungen die Strafe verdienen, ewig elend
zu ſeyn. Daß die Strafe fuͤr die Suͤnde der be-
leidigten Majeſtaͤt Gottes angemeſſen, und alſo
unendlich ſeyn muͤſſe, dieſe Hypotheſe hatte mein
Freund, mit vielen großen Maͤnnern ſeiner Kir-
che, laͤngſt aufgegeben, und hieruͤber hatten
wir uns nicht mehr zu ſtreiten. Der nur zur
Haͤlfte richtige Begrif von Pflichten gegen
Gott, hat den eben ſo ſchwankenden Begrif
G 5von
[106] von Beleidigung der Majeſtaͤt Gottes ver-
anlaſſet, und dieſer im buchſtaͤblichen Verſtande
genommen, jene unſtatthafte Meynung von der
Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen zur Welt gebracht,
deren fernerer Mißbrauch nicht viel weniger
Menſchen in dieſen Leben wirklich elend gemacht,
als ſie der Theorie nach, in jener Zukunft un-
gluͤckſelig machet. Mein philoſophiſcher Freund
kam mit mir darin uͤberein, daß Gott den Men-
ſchen erſchaffen, zu ſeiner, d. i. des Menſchen
Gluͤckſeligkeit, und daß er ihm Geſetze gege-
ben, zu ſeiner, d. i. des Menſchen Gluͤckſelig-
keit. Wenn die mindeſte Uebertretung dieſer
Geſetze, nach Verhaͤltniß der Majeſtaͤt des Ge-
ſetzgebers beſtraft werden, und alſo ewiges
Elend zur Folge haben ſoll; ſo hat Gott dieſe
Geſetze dem Menſchen zum Verderben gegeben.
Ohne die Geſetze eines ſo unendlich erhabenen
Weſens, wuͤrde der Menſch nicht haben ewig
elend ſeyn duͤrfen. O wenn die Menſchen, ohne
goͤttliche Geſetze, weniger elend ſeyn koͤnnten,
wer zweifelt daran, daß ſie Gott mit dem Feuer
ſeiner Geſetze verſchont haben wuͤrde, da es ſie
ſo unwiderbringlich verzehren muß? — Dieſes
vor-
[107] vorausgeſetzt, wurde die Frage meines Freun-
des naͤher beſtimmt: ob ich nicht wuͤnſchen
muͤßte, durch eine Offenbarung verſichert
zu ſeyn, daß ich im zukuͤnftigen Leben
auch vom endlichen Elende befreyet ſeyn
werde?
Nein! antwortete ich; dieſes Elend kann
nichts anders, als eine wohlverdiente Zuͤchti-
gung ſeyn, und ich will in der vaͤterlichen Haus-
haltung Gottes die Zuͤchtigung gern leiden, die
ich verdiene. —
„Wie aber? wenn der Allbarmherzige den
„Menſchen auch die wohlverdiente Strafe erlaſ-
„ſen wolle?“
Er wird es ſicherlich thun, ſo bald die Strafe
zur Beſſerung des Menſchen nicht mehr unent-
behrlich ſeyn wird. Hievon uͤberfuͤhrt zu ſeyn,
bedarf ich keiner unmittelbaren Offenbarung.
Wenn ich die Geſetze Gottes uͤbertrete; ſo macht
das moraliſche Uebel mich ungluͤckſelig, und die
Gerechtigkeit Gottes, d. i. ſeine allweiſe Liebe,
ſuchet mich durch phyſiſches Elend zur ſittlichen
Beſſerung zu leiten. So bald dieſes phyſiſche
Elend, die Strafe fuͤr die Suͤnde, zu meiner
Sinnes-
[108] Sinnesaͤnderung nicht mehr unentbehrlich iſt,
bin ich, ohne Offenbarung, ſo gewiß als von
meinem eigenen Daſeyn uͤberfuͤhret, daß mein
Vater mir die Strafe erlaſſen werde. — Und
im Gegenfalle: wenn dieſe Strafe zu meiner
moraliſchen Beſſerung noch nuͤtzlich iſt, wuͤnſche
ich auf keine Weiſe davon befreyet zu werden.
In dem Staate dieſes vaͤterlichen Regenten lei-
det der Uebertreter keine andere Strafe, als die
er ſelbſt zu leiden wuͤnſchen muß, wenn er die
Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren
Lichte ſehen koͤnnte.
„Kann aber, verſetzte mein Freund, kann
„Gott nicht gut finden, den Menſchen andern zum
„Beyſpiele leiden zu laſſen, und iſt die Befrey-
„ung von dieſer exemplariſchen Strafe nicht
„wuͤnſchenswerth?“
„Nein, erwiderte ich: In dem Staate Got-
„tes leidet kein Individuum blos andern zum
„Beſten. Wenn dieſes geſchehen ſoll: ſo muß
dieſe Aufopferung zum Beſten andrer dem Lei-
denden ſelbſt einen hoͤhern ſittlichen Werth ge-
ben; ſo muß es in Abſicht auf den innern Zu-
wachs ſeiner Vollkommenheit, ihm ſelbſt wich-
tig
[109] tig ſeyn, durch ſeine Leiden ſo viel Gutes befer-
dert zu haben. Und wenn dieſes iſt; ſo kann
ich einen ſolchen Zuſtand nicht fuͤrchten; ſo
kann ich keine Offenbarung wuͤnſchen, daß ich
niemals in dieſen Zuſtand des großmuͤthigen,
meine Mitgeſchoͤpfe und mich ſelbſt begluͤckenden
Wohlwollens verſetzt werden ſollte. Was ich
zu fuͤrchten habe, iſt die Suͤnde ſelbſt. Habe
ich die Suͤnde begangen; ſo iſt die goͤttliche
Strafe eine Wohlthat fuͤr mich, eine Wirkung
ſeiner vaͤterlichen Allbarmherzigkeit. So bald
ſie aufhoͤrt Wohlthat fuͤr mich zu ſeyn; ſo bin
ich verſichert, ſie wird mir erlaſſen. Kann ich
wuͤnſchen, daß mein Vater ſeine zuͤchtigende
Hand von mir abwende bevor ſie gewirkt, was
ſie hat wirken ſollen? Wenn ich bitte, daß mir
Gott ein Vergehen ſoll ohne alle Ahndung hin-
gehen laſſen, weis ich wohl ſelbſt was ich bitte?
Ach! ſicherlich, auch dieſes iſt eine Eigenſchaft
der unendlichen Liebe Gottes, daß er kein Ver-
gehen der Menſchen ohne alle Ahndung hingehen
laͤßt! — — Sicherlich
Allmacht
[110]
Allmacht iſt nur Gottes!
Und Dein iſt auch die Liebe, Herr!
Wenn jedem Du nach ſeinem Thun vergoͤlteſt.
(ſ. 62, 12. 13.)
Daß die Lehre von der Barmherzigkeit Got-
tes bey dieſer wichtigen Veranlaſſung zuerſt der
Nation durch Moſen bekannt gemacht worden
ſey, bezeuget der Pſalmiſt ausdruͤcklich, an einem
andern Orte, wo er dieſelben Worte aus der
Schrift Moſes anfuͤhret, von welchen hier die
Rede iſt:
Moſen zeigt er ſeine Wege;
Den Iſraeln ſein Thun.
Allbarmherzig iſt der Herr, allgnädig,
Langmüthig und von groſſer Güte.
Er wird nicht unaufhoͤrlich hadern;
Nicht ewiglich nochtragen ſeinen Groll.
Er handelt nicht mit uns, nach unſren Suͤnden;
Vergilt uns nicht nach unſrer Miſſethat.
So hoch der himmel iſt uͤber der Erde;
Waitet ſeine Liebe uͤber ſeine Verehrer.
So fern der Morgen iſt vom Abend;
Entfernt er von uns unſere Schuld.
Wie
[111] Wie Vaͤter ihrer Kinder ſich erbarmen:
Erbarmt der Herr ſich ſeiner Verehrer.
Denn er kennet unſere Bildung;
Iſt eingedenk, daß wir nur Staub ſind. *) u. ſ. w.
(Pſ. 103.)
Nunmehr kann ich meine Begriffe vom Ju-
dentume der vorigen Zeit kurz zuſammenfaſſen
und in einen Geſichtspunkt vereinigen. Das
Juden-
[112] Judentum beſtand, oder ſollte der Abſicht des
Stifters nach, beſtehen, in
1) Religionslehren und Sätzen, oder ewigen
Wahrheiten von Gott, und ſeiner Regierung
und Vorſehung, ohne welche der Menſch nicht
aufgeklaͤrt und gluͤcklich ſeyn kann. Dieſe ſind
nicht dem Glauben der Nation, unter Androhung
ewiger oder zeitlicher Strafen, aufgedrungen;
ſondern der Natur und Evidenz ewiger Wahr-
heit gemaͤß, zur vernuͤnftigen Erkenntnis em-
pfohlen worden. Sie durften nicht durch un-
mittelbare Offenbarung eingegeben, durch Wort
und Schrift, die nur itzt, nur hier verſtaͤndlich
ſind, bekannt gemacht werden. Das allerhoͤch-
ſte Weſen hat ſie allen vernuͤnftigen Geſchoͤpfen
durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit ei-
ner Schrift in die Seele geſchrieben, die zu al-
len Zeiten und an allen Orten leſerlich und ver-
ſtaͤndlich iſt. Daher ſingt der oͤfters angefuͤhrte
Saͤnger:
Keine
[113]
u. ſ. w.
Ihre Wirkung iſt ſo allgemein, als der wohl-
thaͤtige Einfluß der Sonne, der, indem ſie ihren
Kreislauf durcheilt, Licht und Warme uͤber den
ganzen Erdball verbreitet; wie derſelbe Saͤn-
ger ſich an einem andern Orte noch deutlicher
erklaͤrt:
oder wie der Prophet im Namen des Herrn
ſpricht: Von Aufgang der Sonne bis zum
Niedergange iſt mein Name unter Heiden
beruͤhmt, und an allen Orten wird meinem
Namen geraͤuchert, dargebracht, auch reine
Speiſegabe; denn mein Name iſt beruͤhmt
unter Heiden.
2) Geſchichtswahrheiten, oder Nachrichten von
dem Schikſale der Vorwelt, hauptſachlich von
den Lebensumſtaͤnden der Stammvaͤter der Na-
Zweiter Abſchn. Htion;
[114] tion; von ihrer Erkenntniß des wahren Gottes,
ihrem Wandel vor Gott; von ihren Vergehun-
gen ſelbſt und der vaͤterlichen Zuͤchtigung, die
darauf gefolgt iſt; von dem Bunde, den Gott mit
ihnen errichtet, und von der Verheiſſung, die
er ihnen ſo oft wiederholt: aus ihren Nachkom-
men dereinſt eine ihm geweihete Nation zu ma-
chen. Dieſe hiſtoriſche Nachrichten enthielten
den Grund der Nationalverbindung, und als
Geſchichtswahrheiten koͤnnen ſie, ihrer Natur
nach, nicht anders, als auf Glauben ange-
nommen werden. Autoritaͤt allein giebt ihnen
die erforderliche Evidenz; auch wurden dieſe
Nachrichten der Nation durch Wunder beſtaͤtiget,
und durch eine Autoritaͤt unterſtuͤtzt, die hinrei-
chend war, den Glauben uͤber alle Zweifel und
Bedenklichkeit hinweg zu ſetzen.
3) Geſetze, Vorſchriften, Gebote, Lebensre-
geln, die dieſer Nation eigen ſeyn, und durch
deren Befolgung ſie ſowohl zur Nationalgluͤckſe-
ligkeit, als jedes Glied derſelben zur perſoͤnlichen
Gluͤckſeligkeit gelangen ſollte. Der Geſetzge-
ber war Gott, und zwar Gott, nicht in dem
Verhaͤltniſſe, als Schoͤpfer und Erhalter des
Welt-
[115] Weltalls; ſondern Gott, als Schutzherr und
Bundesfreund ihrer Vorfahren, als Befreyer,
Stifter und Anfuͤhrer, als Koͤnig und Ober-
haupt dieſes Volks; und er gab ſeinen Geſetzen
die feyerlichſte Sanktion, oͤffentlich und auf eine
nie erhoͤrte, wundervolle Weiſe, wodurch ſie der
Nation und allen ihren Nachkommen, als unab-
aͤnderliche Pflicht und Schuldigkeit auferlegt
worden ſind.
Dieſe Geſetze wurden geoffenbaret, d. i.
von Gott durch Worte und Schrift bekannt ge-
macht. Jedoch iſt nur das Weſentlichſte da-
von den Buchſtaben anvertrauet worden; und
auch dieſe niedergeſchriebenen Geſetze ſind, ohne
die ungeſchriebenen, muͤndlich uͤberlieferten und
durch muͤndlichen, lebendigen Unterricht fortzu-
pflanzenden Erlaͤuterungen, Einſchraͤnkungen
und naͤheren Beſtimmungen, groͤſtentheils un-
verſtaͤndlich, oder mußten es mit der Zeit werden;
weil alle Worte und Schriftzeichen kein Men-
ſchenalter hindurch ihren Sinn unveraͤndert be-
halten.
Sowohl die geſchriebenen, als die ungeſchrie-
benen Geſetze haben unmittelbar, als Vorſchrif-
H 2ten
[116]ten der Handlungen und Lebensregeln, die
oͤffentliche und Privatgluͤckſeligkeit zum End-
zwecke. Sie ſind aber auch groͤſtentheils als
eine Schriftart zu betrachten, und haben als
Zeremonialgeſetze, Sinn und Bedeutung.
Sie leiten den forſchenden Verſtand auf goͤttli-
che Wahrheiten; theils auf ewige, theils auf
Geſchichtswahrheiten, auf die ſich die Religion
dieſes Volks gruͤndete. Das Zeremonialgeſetz
war das Band, welches Handlung mit Betrach-
tung, Leben mit Lehre verbinden ſollte. Das
Zeremonialgeſetz ſollte zwiſchen Schule und Leh-
rer, Forſcher und Unterweiſer, perſoͤnlichen Um-
gang, geſellige Verbindung veranlaſſen, zu
Wetteifer und Nachfolge reizen und ermuntern;
und dieſe Beſtimmung hat es in den erſten Zei-
ten wirklich erfuͤllt, bevor die Verfaſſung aus-
artete, und die Thorheit der Menſchen ſich aber-
mals ins Spiel miſchte, durch Mißverſtand und
Mißleitung, das Gute in Boͤſes, das Nuͤtzliche
in Schaͤdliches zu verwandeln.
Staat und Religion war in dieſer urſpruͤng-
lichen Verfaſſung nicht vereiniget, ſondern eins;
nicht verbunden, ſondern eben daſſelbe. Ver-
haͤltniß
[117] haͤltniß des Menſchen gegen die Geſellſchaft und
Verhaͤltniß des Menſchen gegen Gott trafen auf
einen Punkt zuſammen, und konnten nie in Ge-
genſtoß gerathen. Gott, der Schoͤpfer und
Erhalter der Welt, war zugleich der Koͤnig und
Verweſer dieſer Nation, und er iſt ein Einiges
Weſen, das ſo wenig im Politiſchen, als im
Metaphyſiſchen, die mindeſte Trennung, oder
Vielheit zulaͤßt. Auch hat dieſer Regent keine
Beduͤrfniſſe, und heiſchet nichts von der Nation,
als was zu ihren Beſten dienet, die Gluͤckſelig-
keit des Staats befoͤrdert; ſo wie von der an-
dern Seite der Staat nichts fordern konnte, das
den Pflichten gegen Gott zuwider, das nicht
vielmehr von Gott, den Geſetzgeber und Ge-
ſetzverweſer der Nation befohlen ſey. Daher
gewann das Buͤrgerliche bey dieſer Nation ein
heiliges und religioſes Anſehen, und jeder Buͤr-
gerdienſt ward zugleich ein wahrer Gottesdienſt.
Die Gemeine war eine Gemeine Gottes, ihre An-
gelegenheiten waren Gottes, oͤffentliche Steuern
waren Hebe Gottes, und bis auf die gering-
ſte Polizeyanſtalt, war alles gottesdienſtlich.
Die Leviten, die von den oͤffentlichen Einkuͤnf-
H 3ten
[118] ten lebten, hatten ihren Unterhalt von Gott.
Sie ſollten kein Eigentum im Lande haben,
den Gott iſt ihr Eigentum. Wer auſſer-
halb Landes herumtreiben muß, der dienet
fremden Goͤttern. Dieſes kann in verſchiede-
nen Stellen der Schrift nicht im buchſtaͤblichen
Verſtande genommen werden, und bedeutet im
Grund nicht mehr, als er iſt fremden politi-
ſchen Geſetzen unterworfen, die nicht, wie
die vaterlaͤndiſchen, zugleich gottesdienſt-
lich ſind.
Und nun auch die Verbrechen. Jeder Fre-
vel wider das Anſehen Gottes, als des Geſetz-
gebers der Nation, war ein Verbrechen wider
die Majeſtaͤt, und alſo ein Staatsverbrechen.
Wer Gott laͤſterte, war ein Majeſtaͤtsſchaͤnder;
wer den Sabbath freventlich entheiligte, hob,
in ſo weit es an ihm lag, ein Grundgeſetz der
buͤrgerlichen Geſellſchaft auf, denn auf der Ein-
ſetzung dieſes Tages beruhete ein weſentlicher
Theil der Verfaſſung. Der Sabbath ſey ein
ewiger Bund zwiſchen mir und den
Kindern Iſraels, ſpricht der Herr, ein
immerwaͤhren des Zeichen, daß der
Ewige
[119]Ewige in ſechs Tagen, u. ſ. w. Dieſe Ver-
brechen alſo konnten, ja ſie mußten in dieſer
Verfaſſung buͤrgerlich beſtraft werden; nicht
als irrige Meinung, nicht als Unglaube; ſon-
dern als Unthaten, als freventliche Staats-
verbrechen, die darauf abzielen, das Anſehen
des Geſetzgebers aufzuheben, oder zu ſchwaͤchen,
und dadurch den Staat ſelbſt zu untergraben.
Und gleichwohl, mit welcher Gelindigkeit
wurden dieſe Hauptverbrechen ſelbſt beſtraft!
Mit welcher uͤberſchwaͤnglichen Nachſicht gegen
menſchliche Schwachheit! Nach einem unge-
ſchriebenen Geſetze, konnte keine Leib- und Le-
bensſtrafe verhaͤngt werden, wenn der Ver-
brecher nicht von zween unverdaͤchtigen
Zeugen, mit Anfuͤhrung des Geſetzes, und
unter Bedrohung der verordneten Strafe
gewarnt worden; ja bey Leib- und Lebens-
ſtrafen mußte der Verbrecher mit ausdruͤckli-
chen Worten die Strafe anerkannt, uͤber-
nommen, und unmittelbar darauf, in Bey-
ſeyn derſelben Zeugen, das Verbrechen be-
gangen haben. Wie ſelten mußten die Blut-
gerichte bey einer ſolchen Einrichtung ſeyn, und
H 4wie
[120] wie mancherley Gelegenheit hatten die Richter
nicht, der traurigen Nothwendigkeit auszuwei-
chen, uͤber ihr Mitgeſchoͤpf und Mitebenbild
Gottes, den Stab zu brechen! Ein Hingerich-
teter iſt, nach dem Ausdrucke der Schrift, eine
Geringſchaͤtzung Gottes. Wie ſehr mußten
die Richter anſtehen, unterſuchen und auf Ent-
ſchuldigung bedacht ſeyn, bevor ſie ein Halsge-
richts-Urtheil unterzeichneten! Ja, wie die
Rabbinen ſagen, hat jedes Halsgericht, das fuͤr
ſeinen guten Namen beſorgt iſt, darauf zu ſe-
hen, daß in einem Zeitraume von ſiebenzig Jah-
ren, nicht mehr als eine Perſon am Leben ge-
ſtraft werde.
Hieraus erhellet, wie wenig man die moſai-
ſchen Geſetze und die Verfaſſung des Judentums
kennen muß, um zu glauben, daß nach derſelben
Kirchenrecht und Kirchenmacht autoriſirt,
oder Unglaube und Irrglaube mit zeitlichen
Strafen zu belegen ſey. Der Forſcher nach
Licht und Wahrheit, ſowohl als Herr Moͤr-
ſchel, ſind alſo weit von der Wahrheit entfernt,
wenn ſie glauben ich habe durch meine Ver-
nunftgruͤnde wider Kirchenrecht und Kirchen-
macht
[121] macht, das Judentum aufgehoben. Wahrheit
kann nicht mit Wahrheit ſtreiten. Was das
goͤttliche Geſetz gebietet, kann die nicht minder
goͤttliche Vernunft nicht aufheben.
Nicht Unglaube, nicht falſche Lehre und Irr-
tum, ſondern freventliches Vergehen wider die
Majeſtaͤt des Geſetzgebers, freche Unthaten
wider die Grundgeſetze des Staats und der buͤr-
gerlichen Verfaſſung wurden gezuͤchtiget, und
nur alsdann gezuͤchtiget, wenn der Frevel in
ſeiner Ausgelaſſenheit alles Maß uͤberſchritt,
und dem Aufruhr nahe kam; wenn ſich der Ver-
brecher nicht ſcheuete, von zweyen Mitbuͤrgern
ſich das Geſetz vorhalten, die Strafe androhen
zu laſſen, ja die Strafe zu uͤbernehmen und in
ihrem Angeſichte das Verbrechen zu begehen.
hier wird der religioſe Boͤſewicht ein freventli-
cher Majeſtaͤtsſchaͤnder, ein Staatsverbrecher.
Auch haben, wie die Rabbinen ausdruͤcklich ſa-
gen, mit Zerſtoͤrung des Tempels, alle
Leib- und Lebensſtrafen, ja auch Geld-
buſſen, in ſo weit ſie blos national ſind,
aufgehoͤret Rechtens zu ſeyn. Vollkommen
nach meinen Grundſaͤtzen, und ohne dieſelben
H 5uner-
[122] unerklaͤrbar! Die buͤrgerlichen Bande der Na-
tion waren aufgeloͤſet, religioſe Vergehungen
waren keine Staatsverbrechen mehr, und die
Religion, als Religion kennet keine Strafen,
keine andere Buſſe, als die der reuevolle Suͤn-
der ſich freywillig auferlegt. Sie weis von
keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe ge-
linde, wirkt nur auf Geiſt und Herz. Man
verſuche es, dieſe Behauptung der Rabbinen,
ohne meine Grundſaͤtze, vernuͤnftig zu erklaͤren!
„Wozu nun, hoͤre ich manchen Leſer fragen;
„wozu dieſe Weitlaͤuftigkeit, uns etwas ſehr
„bekanntes zu ſagen? Das Judentum war ei-
„ne Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein
„Prieſterſtaat, eine Theokratie, wenn ihr wol-
„let. Wir kennen die Anmaßungen ſchon, die
„ſich eine ſolche Verfaſſung erlaubt.“
Nicht doch! alle dieſe Kunſtnamen werfen
auf die Sache ein falſches Licht, das ich ver-
meiden mußte. Wir wollen immer nur claſſi-
ficiren, in Faͤcher abtheilen. Wenn wir nur
wiſſen, in welches Fach ein Ding einzutragen
ſey; ſo ſind wir zufrieden, ſo unvollſtaͤndig der
Begriff auch uͤbrigens ſeyn mag, den wir da-
von
[123] von haben. Warum ſuchet ihr ein Geſchlechts-
wort, fuͤr ein einzelnes Ding, das kein Ge-
ſchlecht hat, das mit nichts ſchichtet, mit nichts
unter eine Rubrik zu bringen iſt? Dieſe Ver-
faſſung iſt ein einziges Mal da geweſen: nennet
ſie die moſaiſche Verfaſſung, bey ihrem Ein-
zelnamen. Sie iſt verſchwunden, und iſt dem
Allwiſſenden allein bekannt, bey welchem Volke
und in welchem Jahrhunderte ſich etwas Aehn-
liches wieder wird ſehen laſſen,
So wie es, nach dem Plato, einen irdi-
ſchen und auch einen himmliſchen Amor geben
ſoll, ſo giebt es auch, koͤnnte man ſagen, ei-
ne irdiſche und eine himmliſche Politik. Neh-
met einen flatterhaften Abentheurer, einen
Gunſteroberer, wie ihn das Pflaſter jeder
Hauptſtadt darbeut, und unterhaltet ihn von
dem Liede der Lieder Salomons, oder von
der Liebe der erſten Unſchuld im Paradieſe, wie
ſie Milton beſchreibt; Er wird glauben, ihr
ſchwaͤrmet, oder wollt euere Lektion aufſagen,
wie ihr das Herz einer Sproͤden durch platoniſche
Liebkoſungen zu beſtuͤrmen verſtehet. Eben ſo
wenig wird euch ein Politiker nach der Mode
ver-
[124] verſtehen, wenn ihr von der Einfalt und ſittlichen
Großheit jener urſpruͤnglichen Verfaſſung redet.
Wie jener in der Liebe nur die Befriedigung der
gemeinen Luͤſternheit kennet; ſo ſpricht dieſer in
der Staatsklugheit blos von Macht, Geldum-
lauf, Handlung, Gleichgewicht, Volksmenge,
und die Religion iſt ihm ein Mittel, deſſen ſich
der Geſetzgeber bedienet, den unbaͤndigen Men-
ſchen im Zaume zu halten, und der Prieſter, um
ihn auszuſaugen, und ſein Mark zu verzehren.
Dieſen falſchen Geſichtspunkt, aus welchem
wir das wahre Intereſſe der menſchlichen Ge-
ſellſchaft zu betrachten gewohnt ſind, mußte ich
meinem Leſer aus den Augen ruͤcken. Ich habe
ihm dieſerhalb den Gegenſtand bey keinen Na-
men genennet; ſondern ſelbſt mit ſeinen Eigen-
ſchaften und Beſtimmungen darzuſtellen geſucht.
Wenn wir mit geradem Blick auf denſelben hin-
ſchauen, werden wir, wie jener Weltweiſe von
der Sonne ſagte, in der aͤchten Politik eine
Gottheit erblicken, wo gemeine Augen einen
Stein ſehen.
Ich habe geſagt, daß die moſaiſche Verfaſ-
ſung nicht lange in ihrer erſten Lauterkeit be-
ſtanden.
[125] ſtanden. Schon zu den Zeiten des Propheten
Samuel gewann das Gebaͤude einen Riß, der
ſich immer weiter aufthat, bis die Theile voͤllig
zerfielen. Die Nation verlangte einen ſichtba-
ren, fleiſchlichen Koͤnig zum Regenten. Es ſey
nun, daß die Prieſterſchaft, wie von den Soͤh-
nen des Hohenprieſters in der Schrift erzaͤhlt
wird, ſchon angefangen ihr Anſehen bey dem
Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer
benachbarten Hofhaltung die Augen geblen-
det; genug, ſie forderten einen Koͤnig, wie
alle andere Voͤlker haben. Der Prophet,
den dieſes kraͤnkte, ſtellte ihnen vor, was ein
menſchlicher Koͤnig ſey, der ſeine eigne Beduͤrf-
niſſe hat, und ſie nach Wohlgefallen erweitern
kann, und wie ſchwer ein ſchwacher Sterblicher
zu befriedigen ſey, den man das Recht der
Gottheit einraͤumet. Umſonſt, das Volk be-
ſtand auf ſeinen Vorſatz, erhielt ſeinen Wunſch,
und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet
hatte. Nun war die Verfaſſung untergraben;
die Einheit des Intereſſe aufgehoben; Staat
und Religion nicht mehr eben daſſelbe, und Col-
liſion der Pflichten war ſchon nicht mehr unmoͤg-
lich.
[126] lich. Indeſſen mußte ſie noch immer ſelten ſeyn,
ſo lange der Koͤnig ſelbſt nicht nur von der Na-
tion war, ſondern auch den Geſetzen des Vater-
landes gehorchte. Aber nun verfolge man die
Geſchichte, durch mancherley Schickſale und Ver-
aͤnderungen, durch manche gute und boͤſe, got-
tesfuͤrchtige und gottvergeſſene Regierung hin-
durch, bis auf jene traurigen Zeiten herunter, in
welchen der Stifter der chriſtlichen Religion den
vorſichtigen Beſcheid ertheilte: gebet dem Kai-
ſer, was des Kaiſers, und Gotte, was
Gottes iſt. Offenbarer Gegenſatz, Colliſion
der Pflichten! Der Staat ſtund unter fremder
Bothmaͤßigkeit, empfing ſeine Befehle gleichſam
von fremden Goͤttern, und die einheimiſche Re-
ligion mit einem Theile ihres Einfluſſes auf
das buͤrgerliche Leben, hatte ſich noch erhalten.
Hier iſt Forderung gegen Forderung, Anſpruch
gegen Anſpruch. „Wem ſollen wir geben? wem
„gehorchen?“ — So ertraget denn beide La-
ſten, fiel der Beſcheid aus, ſo gut ihr koͤnnet;
dienet zweien Herren in Geduld und Ergeben-
heit: Gebet dem Kaiſer und gebet auch Gotte!
Jedem das Seine, nachdem die Einheit des In-
tereſſe nun zerſtoͤrt iſt!
Und
[127]
Und noch itzt kann dem Hauſe Jakobs kein
weiſerer Rath ertheilt werden, als eben dieſer.
Schicket euch in die Sitten und in die Verfaſ-
ſung des Landes, in welches ihr verſetzt ſeyd;
aber haltet auch ſtandhaft bey der Religion eu-
rer Vaͤter. Traget beider Laſten, ſo gut ihr
koͤnnet! Man erſchweret euch zwar von der ei-
nen Seite die Buͤrde des buͤrgerlichen Lebens,
um der Religion willen, der ihr treu bleibet,
und von der andern Seite macht das Clima und
die Zeiten die Beobachtung eurer Religionsge-
ſetze, in mancher Betrachtung, laͤſtiger, als ſie
ſind. Haltet nichts deſto weniger aus, ſtehet
unerſchuͤttert auf dem Standorte, den euch die
Vorſehung angewieſen, und laſſet alles uͤber
euch ergehen, wie euch euer Geſetzgeber lange
vorher verkuͤndiget hat.
In der That ſehe ich nicht, wie diejenigen,
die in dem Hauſe Jakobs geboren ſind, ſich auf
irgend eine gewiſſenhafte Weiſe, vom Geſetze
entledigen koͤnnen. Es iſt uns erlaubt, uͤber
das Geſetz nachzudenken, ſeinen Geiſt zu erfor-
ſchen, hier und da, wo der Geſetzgeber keinen
Grund angegeben, einen Grund zu vermuthen,
der
[128] der vielleicht an Zeit und Ort und Umſtaͤnde ge-
bunden geweſen, vielleicht mit Zeit und Ort
und Umſtaͤnden veraͤndert werden kann — wenn
es dem allerhoͤchſten Geſetzgeber gefallen wird,
uns ſeinen Willen daruͤber zu erkennen zu geben;
ſo laut, ſo oͤffentlich, ſo uͤber alle Zweifel und
Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als
Er das Geſetz ſelbſt gegeben hat. So lange die-
ſes nicht geſchiehet, ſo lange wir keine ſo au-
thentiſche Befreyung vom Geſetze aufzuweiſen
haben, kann uns unſere Vernuͤnfteley nicht von
dem ſtrengen Gehorſam befreyen, den wir dem
Geſetze ſchuldig ſind, und die Ehrfurcht vor Gott
ziehet eine Graͤnze zwiſchen Spekulation und
Ausuͤbung, die kein Gewiſſenhafter uͤberſchreiten
darf. Darum wiederhole ich meine vorausge-
ſchickte Proteſtation: Schwach und kurzſichtig
iſt des Menſchen Auge! Wer kann ſagen: ich
bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe
das Syſtem ſeiner Abſichten ganz durchſchauet,
und was ihnen Maaß und Ziel und Graͤnze zu
beſtimmen? Ich kann vermuthen, aber nicht
entſcheiden, aber nicht nach meiner Vermuthung
handeln — Darf ich doch in menſchlichen
Dingen
[129] Dingen mich nicht erdreiſten, aus eigener Ver-
muthung und Geſetzdeuteley, ohne Autoritaͤt
des Geſetzgebers oder Geſetzverweſers, dem Ge-
ſetze zuwider zu handeln; um wie viel weniger
in goͤttlichen Dingen? Geſetze, die mit Landei-
gentum und Landeseinrichtung in nothwendiger
Verbindung ſtehen, fuͤhren ihre Befreyung mit
ſich. Ohn Tempel und Prieſtertum und auſſer-
halb Judaͤa, finden weder Opfer noch Reinigungs-
geſetz, noch prieſterliche Abgabe Statt, in ſo
weit ſie vom Landeigentume abhaͤngen. Aber
perſoͤnliche Gebote, Pflichten die dem Sohne
Iſraels, ohne Ruͤckſicht auf Tempeldienſt und
Landeigentum in Palaͤſtina, auferlegt worden
ſind, muͤſſen, ſo viel wir einſehen koͤnnen, ſtrenge
nach den Worten des Geſetzes beobachtet wer-
den, bis es dem Allerhoͤchſten gefallen wird, un-
ſer Gewiſſen zu beruhigen, und die Abſtellung
derſelben laut und oͤffentlich bekannt zu machen.
Hier heißt es offenbar: was Gott gebun-
den hat, kann der Menſch nicht loͤſen. Wenn
auch einer von uns zur chriſtlichen Religion uͤber-
gehet; ſo begreife ich nicht, wie er dadurch ſein
Zweiter Abſchnitt. JGe-
[130] Gewiſſen zu befreyen, und ſich von dem Joche
des Geſetzes zu entledigen glauben kann? Jeſus
von Nazareth hat ſich nie verlauten laſſen, daß
er gekommen ſey, das Haus Jakob von dem
Geſetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit
ausdruͤcklichen Worten das Gegentheil geſagt;
und was noch mehr iſt, hat ſelbſt das Gegen-
theil gethan. Jeſus von Nazareth hat ſelbſt
nicht nur das Geſetz Moſes; ſondern auch die
Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was
in den von ihm aufgezeichneten Reden und
Handlungen dem zuwider zu ſeyn ſcheinet, hat
doch in der That nur dem erſten Anblicke nach,
dieſen Schein. Genau unterſuchet, ſtimmet
alles nicht nur mit der Schrift, ſondern auch
mit der Ueberlieferung voͤllig uͤberein. Wenn
er gekommen iſt, der eingeriſſenen Heucheley
und Scheinheiligkeit zu ſteuern; ſo wird er ſicher-
lich nicht das erſte Beyſpiel zur Scheinheiligkeit
gegeben, und ein Geſetz durch Beyſpiel autori-
ſirt haben, das abgeſtellt und aufgehoben ſeyn
ſollte. Aus ſeinem ganzen Betragen, ſo wie
aus dem Betragen ſeiner Juͤnger in der erſten
Zeit, leuchtet vielmehr der rabbiniſche Grund-
ſatz
[131] ſatz augenſcheinlich hervor: Wer nicht im Ge-
ſetze geboren iſt, darf ſich an das Geſetz nicht
binden; wer aber im Geſetze geboren iſt,
muß nach dem Geſetze leben, und nach dem
Geſetze ſterben. Haben ſeine Nachfolger in
ſpaͤtern Zeiten anders gedacht, und auch die
Juden, die ihre Lehre annahmen, entbinden zu
koͤnnen geglaubt; ſo iſt es ſicherlich ohne ſeine
Autoritaͤt geſchehen.
Und ihr, lieben Bruͤder und Mitmenſchen!
die ihr der Lehre Jeſu folget, ſolltet uns verar-
gen, wenn wir das thun, was der Stifter eu-
rer Religion ſelbſt gethan, und durch ſein Anſe-
hen bewaͤhrt hat? Ihr ſolltet glauben, uns
nicht buͤrgerlich wieder lieben, euch mit uns nicht
buͤrgerlich vereinigen zu koͤnnen, ſo lange wir
uns durch das Zeremonialgeſetz aͤuſſerlich unter-
ſcheiden, nicht mit euch eſſen, nicht von euch
heurathen, das, ſo viel wir einſehen koͤnnen,
der Stifter eurer Religion ſelbſt weder gethan,
noch uns erlaubt haben wuͤrde? — Wenn die-
ſes, wie wir ven chriſtlich geſinnten Maͤnnern
nicht vermuthen koͤnnen, eure wohre Geſin-
J 2nung
[132] nug ſeyn und bleiben ſollte; wenn die buͤr-
gerliche Vereinigung unter keiner andern Be-
dingung zu erhalten, als wenn wir von dem
Geſetze abweichen, das wir fuͤr uns noch fuͤr
verbindlich halten; ſo thut es uns herzlich leid,
was wir zu erklaͤren fuͤr noͤthig erachten: ſo
muͤſſen wir lieber auf buͤrgerliche Vereinigung
Verzicht thun; ſo mag der Menſchenfreund
Dohm vergebens geſchrieben haben, und alles
in dem leidlichen Zuſtande bleiben, in welchem
es itzt iſt, oder in welchen es eure Menſchen-
liebe zu verſetzen, fuͤr gut findet. Es ſtehet
nicht bey uns, hierin nachzugeben; aber es
ſtehet bey uns, wenn wir rechtſchaffen ſind,
euch dennoch bruͤderlich zu lieben, und bruͤder-
lich zu flehen, unſere Laſten, ſo viel ihr koͤn-
net, ertraͤglich zu machen. Betrachtet uns, wo
nicht als Bruͤder und Mitbuͤrger, doch wenigſtens
als Mitmenſchen und Miteinwohner des Landes.
Zeiget uns Wege und gebet uns Mittel an die
Hand, wie wir beſſere Menſchen und beſſere
Miteinwohner werden koͤnnen, und laſſet uns,
ſo viel es Zeit und Umſtaͤnde erlauben, die
Rechte der Menſchheit mit genießen. Von dem
Geſetze
[133] Geſetze koͤnnen wir mit gutem Gewiſſen nicht
weichen, und was nuͤtzet euch Mitbuͤrger
ohne Gewiſſen?
„Wie kann aber auf dieſe Weiſe die Pro-
„phezeyung in Erfuͤllung kommen, daß dereinſt
„nur ein Hirt und eine Heerde ſeyn ſoll?“
Lieben Bruͤder! die ihr es mit den Men-
ſchen wohlmeinet, laſſet euch nicht bethoͤren!
Um dieſes allgegenwaͤrtigen Hirten zu ſeyn,
braucht weder die ganze Heerde auf Einer
Flur zu weiden, noch durch Eine Thuͤr in
des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieſes
iſt weder dem Wunſch des Hirten gemaͤß, noch
dem Gedeien der Heerde zutraͤglich. Ob man
die Begriffe vertauſcht, oder gefliſſentlich zu ver-
wirren ſucht? Man ſtellet euch vor, Glaubens-
vereinigung ſey der naͤchſte Weg zur Bru-
derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi-
gen ſo ſehnlich wuͤnſchet. Wenn wir alle nur
Einen Glauben haben, wollen verſchiedene euch
einbilden; ſo koͤnnen wir uns einander des Glau-
bens, der Verſchiedenheit der Meinungen hal-
ber, nicht mehr haſſen; ſo iſt Religionshaß
J 3und
[134] und Verfolgungsſucht bey der Wurzel gefaßt
und ausgerottet; ſo iſt der Heucheley die Geiſ-
ſel, und dem Fanatismus das Schwerdt aus
der Hand gewunden, und die gluͤcklichen Tage
treten ein, da es heißt; der Wolf wird mit
dem Lamme wohnen, und der Leopard ne-
ben der Ziege u. ſ w. — Sie, die Sanft-
muͤthigen, die dieſes in Vorſchlag bringen, ſind
bereit Hand ans Werk zu legen; ſie wollen
als Unterhaͤndler zuſammentreten und ſich die
menſchenfreundliche Muͤhe geben, einen Glau-
bensvergleich zu Stande zu bringen; um Wahr-
heiten wie um Rechte, wie um feiles Kaufmanns-
gut, zu handeln, wollen fordern, bieten, din-
gen, abdrohen und abbitten, uͤbereilen und
uͤberliſten, bis die Parteyen ſich einander in die
Haͤnde ſchlagen, und der Vertrag zur Gluͤckſe-
ligkeit des menſchlichen Geſchlechts niederge-
ſchrieben werden kann. Viele, die ein ſolches
Vorhaben zwar als chimaͤriſch und unaus-
fuͤhrbar verwerfen, ſprechen doch von der
Glaubenseinigkeit, als von einem ſehr wuͤn-
ſchenswerthen Zuſtande, und bedauern das
menſchliche Geſchlecht mit Leidweſen, daß
dieſer
[135] dieſer Gipfel der Gluͤckſeligkeit, durch menſchliche
Kraͤfte, nicht zu erreichen ſtehe. — Huͤtet
euch, Menſchenfreunde! ſolchen Geſinnungen,
ohne die genaueſte Pruͤfung, Gehoͤr zu geben.
Es koͤnnen Fallſtricke ſeyn, die der ohnmaͤchtig
gewordene Fanatismus der Gewiſſensfreyheit
legen will. Ihr wiſſet, dieſer Feind des Guten
iſt von mancherley Geſtalt und Form; Loͤwen-
wut und Lammesart, Taubeneinfalt und Schlan-
genliſt, keine Eigenſchaft iſt ihm ſo fremd, daß
er ſie nicht entweder beſitze, oder anzunehmen
verſtehe, um ſeine blutduͤrftigen Abſichten zu er-
reichen. Da ihm, durch eure wohlthaͤtigen Be-
muͤhungen die offene Gewalt benommen iſt, ſo
nimmt er vielleicht die Maske der Sanftmuth
an, um euch zu hintergehen, heuchelt Bruder-
liebe, gleißet Menſchenduldung, und ſchmie-
det heimlich die Ketten ſchon, die er der Ver-
nunft anzulegen gedenkt, um ſie unverſehens
wieder in den Pful der Barbarey zu ſtuͤrzen-
aus der ihr ſie zu ziehen angefangen. *)
J 4Man
[136]
Man glaube nicht, daß dieſes eine blos ein-
gebildete Furcht ſey, die etwa Hypochondrie zur
Mutter hat. Im Grunde kann eine Glaubens-
vereinigung, wenn ſie je zu Stande kommen
ſollte, keine andere als die unſeligſten Folgen
fuͤr Vernunft und Gewiſſensfreyheit haben.
Denn geſetzt, man vereinige ſich uͤber die Glau-
bensformel, die man einzufuͤhren und feſtzuſetzen
denkt;
*)
[137] denkt; man bringe Symbolen zu Stande, wi-
der welche keine von den itzt in Europa herr-
ſchenden Religionsparteyen etwas einzuwenden
findet. Was iſt dadurch ausgerichtet? Etwa,
daß ihr alle uͤber Religionswahrheiten eben
daſſelbe denket? — Wer von der Natur des
menſchlichen Geiſtes nur einigen Begriff hat,
kann ſich dieſes nicht beykommen laſſen. Alſo
bloß in den Worten, in der Formel laͤge die
Uebereinſtimmung. Dazu wollen die Glaubens-
vereiniger ſich zuſammenthun; ſie wollen hier
und da von den Begriffen etwas abzwacken,
hier und da die Maſchen der Worte ſo lange
erweitern, ſie ſo unbeſtimmt und weitſchichtig
machen, daß ſich die Begriffe, ihrer innern Ver-
ſchiedenheit ungeachtet, noch zur Noth hinein-
zwaͤngen laſſen. Ein jeder verbaͤnde alsdann im
Grunde mit denſelben Worten eine andere ihm
eigene Meynung, und ihr ruͤhmet euch, den
Glauben der Menſchen vereiniget, die Heerde
unter ihren einigen Hirten gebracht zu haben?
O wenn dieſe allgemeine Gleißnerey uͤberall
einen Endzweck haben ſoll; ſo fuͤrchte ich, man
will den freygewordnen Geiſt der Menſchen nur
vorerſt
[138] vorerſt wieder in Schranken eingeſperrt haben.
Das ſcheue Wild wird ſich alsdann ſchon fan-
gen, und den Kappzaum umwerfen laſſen. Bin-
det den Glauben nur erſt an Symbolen, die
Meinung an Worte, ſo beſcheiden und nachge-
bend ihr immer wollet; ſetzet nur ein fuͤr alle-
mal die Artikel feſt: Webe dem Elenden als-
dann, der einen Tag ſpaͤter koͤmmt, und auch
an dieſen beſcheidenen, gelaͤuterten Worten
etwas auszuſetzen findet! Er iſt ein Friedens-
ſtoͤrer! Zum Scheiderhaufen mit ihm!
Bruͤder! iſt es euch um wahre Gottſelig-
keit zu thun; ſo laſſet uns keine Uebereinſtim-
mung luͤgen, wo Mannigfaltigkeit offenbar
Plan und Endzweck der Vorſehung iſt. Keiner
von uns denkt und empfindet vollkommen ſo,
wie ſein Nebenmenſch; warum wollen wir denn
einander durch truͤgliche Worte hintergehen?
Thun wir dieſes ſchon leider! in unſerm taͤgli-
chem Umgange, in unſern Unterhaltungen, die
von keiner ſonderlichen Bedeutung ſind; warum
denn noch in ſolchen Dingen, die unſer zeitli-
ches und ewiges Wohl, unſere ganze Beſtim-
mung
[139] mung angehen. Warum uns einander in den
wichtigſten Angelegenheiten unſers Lebens durch
Mummerey unkenntlich machen, da Gott einem
jeden nicht umſonſt ſeine eigenen Geſichtszuͤge ein-
gepraͤgt hat? Heißt dieſes nicht, ſo viel an uns
liegt, ſich der Vorſehung widerſetzen, den Zweck
der Schoͤpfung, wenn es moͤglich iſt, vereiteln;
unſerm Beruf; unſerer Beſtimmung in dieſem
und jenem Leben gefliſſentlich zuwider handeln?
— Regenten der Erde! wenn es einem unbe-
deutenden Mitbewohner derſelben vergoͤnnt iſt,
ſeine Stimme bis zu euch zu erheben; trauet
den Raͤthen nicht, die euch mit glatten Worten
zu einem ſo ſchaͤdlichen Beginnen verleiten wol-
len. Sie ſind entweder ſelbſt verblendet, und ſehen
den Feind der Menſchheit nicht, der im Hinter-
halt lauret, oder ſuchen euch zu verblenden.
Es iſt gethan, um unſer edelſtes Kleinod, um
die Freiheit zu denken, wenn ihr ihnen Gehoͤr
gebet! Um eurer und unſerer aller Gluͤckſelig-
keit willen, Glaubensvereinigung iſt nicht To-
leranz; iſt der wahren Duldung grade entge-
gen! Um eurer und unſerer Gluͤckſeligkeit wil-
len, gebet euer vielvermoͤgendes Anſehen nicht
her,
[140] her, irgend eine ewige Wahrheit, ohne welche
die buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit beſtehen kann, in
ein Geſetz; irgend eine dem Staate gleichguͤl-
tige Religionsmeinung in Landesverordnung
zu verwandeln! Haltet auf Thun und Laſſen
der Menſchen; ziehet dieſes vor den Richter-
ſtuhl weiſer Geſetze, und uͤberlaſſet uns das
Denken und Reden, wie es uns unſer aller
Vater, zum unveraͤuſſerlichen Erbgute beſchie-
den, als ein unwandelbares Recht eingegeben
hat. Iſt etwa die Verbindung zwiſchen Recht
und Meinung zu verjaͤhret, und der Zeitpunkt
noch icht gekommen, daß ſie, ohne beſorgli-
chen Schaden, voͤllig aufgehoben werden koͤnne;
ſo ſuchet wenigſtens ihren verderblichen Ein-
fluß, ſo viel an euch iſt, zu mildern, dem zu
grau gewordenen Vorurtheile *) weiſe Schran-
ken zu ſetzen. Bahnet einer gluͤcklichen Nachkom-
menſchaft wenigſtens den Weg zu jener Hoͤhe der
Cultur, zu jener allgemeinen Menſchendul-
dung,
[141] dung, nach welcher die Vernunft noch immer
vergebens ſeufzet! Belohnet und beſtrafet keine
Lehre, locket und beſtechet zu keiner Religions-
meinung! Wer die oͤffentliche Gluͤckſeligkeit
nicht ſtoͤhret, wer gegen die buͤrgerlichen Ge-
ſetze, gegen euch und ſeine Mitbuͤrger recht-
ſchaffen handelt, den laſſet ſprechen, wie er
denkt, Gott anrufen nach ſeiner oder ſeiner
Vaͤter Weiſe, und ſein ewiges Heil ſuchen,
wo er es zu finden glaubet. Laſſet nieman-
den in euern Staaten Herzenskuͤndiger und
Gedankenrichter ſeyn; niemanden ein Recht
ſich anmaßen, das der Allwiſſende ſich allein
vorbehalten hat! Wenn wir dem Kaiſer ge-
ben, was des Kaiſers iſt; ſo gebet ihr ſelbſt
Gotte, was Gottes iſt! Liebet die Wahr-
heit! Liebet den Frieden!
Appendix A Verbeſſerungen:
Im 2ten Abſchn. S. 12. Z. 20. lies Anſpruch ſt. Au-
genſchein
— — S. 15. in der Anmerk. Z. 1. lies der
Vater ſt. dem Vater.
[][][][]
Sixtus V verketzert, weil er ihm blos eine in-
directe Macht uͤber das Zeitliche der Koͤnige und
Fuͤrſten zuſchrieb. Sein Werk ward in das Ver-
zeichnis der Inquiſition geſetzt.
reſpondenz. S. 28.
Man macht den Einwurf: der Kriegsmann habe
in waͤhrendem Kriege die Befugniß, den Feind
umzubringen, ohne daß dieſem die Pflicht ob-
liege, ſolches zu leiden.
Allein der Kriegsmann hat dieſe Befugniß nicht
als Menſch; ſondern als Mitglied, oder Soͤldner
des
des kriegfuͤhrenden Staats. Der Staat naͤm-
lich iſt entweder wirklich beleidiget, oder giebt
vor beleidiget zu ſeyn, und ſeine Befriedigung
nicht anders, als durch die Gewalt, erhalten
zu koͤnnen. Das Gefecht iſt alſo eigentlich nicht
zwiſchen Menſch und Menſch; ſondern zwiſchen
Staat und Staat; und unter den beiden
kriegfuͤhrenden Staaten hat doch offenbar nur
einer das Recht auf ſeiner Seite. Dem Be-
leidiger liegt allerdings die Pflicht ob, den
Beleidigten zu befriedigen, und alles zu lei-
den, ohne welches jener nicht zu ſeinem gekraͤnk-
ten Rechte gelangen kann.
Wenn Subjekte von verſchiedenen Religionen in
ein Ehebuͤndniß treten; ſo wird beym Contrakte
verabredet, nach welchen Grundſaͤtzen der Haus-
ſtand gefuͤhrt, und die Kinder erzogen werden ſol-
len. Wie aber, wenn Mann oder Weib nach voll-
zogner Heurath, Grundſaͤtze aͤndern, und zu einer
andern Religion uͤbergehen? giebt dieſes der an-
dern Partei ein Recht auf die Scheidung zu drin-
gen? In einer kleinen Schrift, †) die zu Wien
geſchrieben ſeyn will, und deren ich in dem zwei-
ten Abſchnitte mit mehrerem zu erwaͤhnen, Gele-
genheit haben werde, wird geſagt, daß der Fall
itzt daſelbſt vorliege. Ein Jude der zur chriſtli-
chen Religion uͤbergegangen, ſoll ausdruͤcklich be-
gehren,
bey Friederich Maurer, 1782.
gehren, ſeine bey der juͤdiſchen Religion gebliebene
Ehefrau zu behalten, und der Proceß ſoll anhaͤngig
gemacht ſeyn. Genannter Verfaſſer entſcheidet
nach dem Syſtem der Freyheit. „Man vermuthet
„mit Recht, ſpricht er, daß die Verſchiedenheit
„der Religion fuͤr keine guͤltige Urſache zur Ehe-
„ſcheidung erkannt werden werde. Nach den
„Grundſaͤtzen des weiſen Joſephs, duͤrfte wohl
„Unterſchied in kirchlichen Meinungen nicht geſell-
„ſchaftlichen Banden entgegen ſtehen duͤrfen.“
Sehr uͤbereilt, wie mich duͤnkt. Ich hoffe,
ein eben ſo gerechter als weiſer Imperator wird
auch die Gegengruͤnde anhoͤren, und nicht zugeben,
daß das Syſtem der Freyheit zur Bedruͤckung und
Gewaltthaͤtigkeit gemißbraucht werde. — Iſt die
Ehe blos ein buͤrgerlicher Contrakt, wie doch zwi-
ſchen Jude und Juͤdinn, ſelbſt nach katholiſchen
Grundſaͤtzen, die Ehe nichts anders ſeyn kann; ſo
muͤſſen die Worte und Bedingen des Contrakts
nach dem Sinne der Contrahenten ausgelegt und
erklaͤrt werden, nicht nach dem Sinne des Geſetz-
gebers oder Richters. Wenn nach den Grundſaͤtzen
der Contrahenten mit Zuverlaͤſſigkeit [behauptet]
werden kann, daß ſie gewiſſe Worte ſo, und nicht
anders
anders verſtanden, und wenn ſie gefragt worden
waͤren, ſo und nicht anders erklaͤrt haben wuͤrden;
ſo muß dieſe moraliſch gewiſſe Erklaͤrung, als eine
ſtillſchweigende, vorausgeſetzte Bedingung des
Contrakts angenommen, vor Gericht eben ſo guͤl-
tig ſeyn, als wenn ſie ausdruͤcklich verabredet wor-
den waͤre. Nun iſt offenbar, daß das Ehepaar bey
Schlieſſung des Contrakts, da ſie beiderfeits, we-
nigſtens aͤuſſerlich, noch der juͤdiſchen Religion zu-
gethan geweſen, keinen andern Sinn gehabt als
den gemeinſchaftlichen Hausſtand nach juͤdiſchen
Lebensregeln zu fuͤhren, und die Kinder nach juͤdi-
ſchen Grundſaͤtzen zu erziehen. Wenigſtens hat
die Partey, der es um die Religion ein Ernſt war,
nichts anders voraus ſetzen koͤnnen, und waͤre da-
mals eine Veraͤnderung von dieſer Art beſorglich
geweſen, und die Bedingung zur Sprache gekom-
men, ſie wuͤrde ſich ſicherlich nicht anders erklaͤrt
haben. Sie wußte und erwartete nichts anders,
als einen Hausſtand nach vaͤterlichen Lebensregeln
anzutreten, und Kinder zu erzeugen, die ſie nach
vaͤterlichen Grundſaͤtzen wuͤrde erziehen koͤnnen.
Wenn dieſer Perſon der Unterſchied wichtig iſt,
wenn es notoriſch iſt, daß ihr der Unterſchied der
Religion
tig ſeyn muͤſſen; ſo muß der Contrakt nach ihren
Begriffen und Geſinnungen erklaͤrt werden. Ge-
ſetzt der ganze Staat habe hierin andre Geſinnun-
gen; ſo hat dieſes keinen Einfluß auf die Deutung
des Vertrages. Der Mann veraͤndert Grundſaͤtze,
und nimmt eine andre Religion an. Soll die Frau
gezwungen werden, in einen Hausſtand zu treten,
dem ihr Gewiſſen zu wider iſt, und ihre Kinder
nach Grundſaͤtzen zu erziehen, die nicht die Ihrigen
ſind; mit einem Worte, Bedingungen des Ehekon-
trakts anzunehmen, und ſich aufdringen zu laſſen,
zu welchen ſie ſich niemals verſtanden hat; ſo ge-
ſchiehet ihr offenbar Unrecht; ſo laͤßt man ſich of-
fenbar durch Vorſpiegelung der Gewiſſensfreyheit
zum widerſinnigſten Gewiſſenszwange verleiten.
Die Bedingungen des Contrakts koͤnnen nun nicht
mehr erfuͤllt werden. Der Mann, der Grundſaͤtze
veraͤndert hat, iſt, wo nicht in dolo, doch wenigſtens
in culpa, daß ſolche nicht mehr in Erfuͤllung ge-
bracht werden koͤnnen. Muß die Frau Gewiſſens-
zwang leiden, weil der Mann Gewiſſensfreiheit
haben will? Wo hat ſie ſich hierzu verſtanden, oder
verſtehen koͤnnen? Iſt nicht auch von ihrer Seite
das Gewiſſen ungebunden, und muß die Partey,
welche
welche die Veraͤnderung verurſacht hat, nicht auch
fuͤr die Folgen dieſer Veraͤnderung ſtehen, den Ge-
gentheil ſchadlos halten, und ſo viel es ſich thun
laͤßt, wieder in den vorigen Stand ſetzen? Mich
duͤnkt nichts ſey einfacher, und die Sache rede fuͤr
ſich ſelber. Niemand kann gezwungen werden,
Bedingungen eines Contrakts anzunehmen, zu
welchen er ſich, ſeinen Grundſaͤtzen nach, nicht hat
verſtehen koͤnnen.
An Erziehung der gemeinſchaftlichen Kinder
haben beide Theile gleiches Recht. Haͤtten wir
unparteyiſche Erziehungsanſtalten; ſo muͤßten in
ſolchen ſtreitigen Faͤllen die Kinder ſo lange un-
parteyiſch erzogen werden, bis ſie zur Vernunft
kom-
kommen, und ſelbſt waͤhlen. So lange aber da-
fuͤr noch nicht geſorgt worden; ſo lange noch un-
ſere Erziehungsanſtalten mit der poſitiven Reli-
gion in Verbindung ſtehen, hat derienige Theil
ein offenbares Vorrecht, der bei den vorigen
Grundſaͤtzen geblieben iſt, und ſolche nicht ver-
aͤndert hat. Auch dieſes folgt ganz natuͤrlich
aus obigen Grundſaͤtzen, und es iſt gewaltſame
Anmaßung und Religionsdruck, wenn irgendws
das Gegentheil geſchiehet. Ein eben ſo gerech-
ter als weiſer Joſeph wird ſicherlich dieſen ge-
waltſamen Misbrauch der Kirchenmacht in ſeinen
Staaten nicht zulaſſen.
der Begriffe bin ich von dem philoſophiſchen
Rechtsgelehrten, meinem ſehr werthen Freun-
de, dem Herrn Aſſiſtenzrath Klein gefuͤhrt
worden, mit dem ich das Vergnuͤgen gehabt,
mich uͤber dieſe Materie zu unterhalten. Mich
duͤnkt, dieſe Theorie der Contrakte ſey einfach
und fruchtbar. Fergouſon in ſeiner Moral-
philoſophie, und ſein vortreflicher Ueberſetzer,
finden die Nothwendigkeit, das Verſprechen
zu halten, in der bey dem Nebenmenſchen
erregten Erwartung und Unſittlichkeit der
Tauſchung. Allein hieraus ſcheint blos eine
Ge-
im Gewiſſen verbunden geweſen, von meinen
Guͤtern zum Beſten meiner Nebenmenſchen
uͤberhaupt hinzugeben, bin ich durch die bey
dieſem Subjekt ins beſondere erregte Erwar-
tung, im Gewiſſen verbunden, ihm zukommen
zu laſſen. Wodurch aber iſt dieſe Gewiſſens-
pflicht in eine Zwangspflicht uͤbergegangen?
Mich duͤnkt, hierzu gehoͤren unumgaͤnglich die
allhier ausgefuͤhrten Grundſaͤtze der Abtretung
uͤberhaupt, und ins beſondere der Entſchei-
dungsrechte in Colliſionsfaͤllen.
ziehung auf Gott eine ganz andere Bedeutung,
als in Beziehung auf Menſchen. Gottesdienſt
iſt nicht Dienſt, den ich Gotte erzeige, Ehre
Gottes nicht Ehre, die ich Gotte anthue.
Man hat, um die Worte zu retten, ihre Be-
deutung geaͤndert. Der gemeine Mann aber
klebt
Bedeutung, und haͤnget noch immer feſt an
ſeinem Sprachgebrauch, woraus in Religions-
ſachen viele Verwirrungen entſtanden ſind.
Dir gefaͤllt nicht Opfer, nicht Geſchenk
Ohren haſt du mir gegraben!
((Pſ. 40, 7.))
Maͤnnern, in einem uͤbrigens ziemlich duldſamen
Staate.
ten fuͤr die Approbation gedoppelte Gebuͤhren
bezahlen, und als ſie von der Obrigkeit des-
wegen zur Rede geſtellt wurden, war die Ent-
ſchuldigung, jene waͤren doch uͤberall im buͤr-
gerlichen Lebendeterioris Conditionis. Das
Sonderbarſte iſt, daß es bis auf den heuti-
gen Tag bey der Erhoͤhung der Gebuͤhren ge-
blieben ſeyn ſoll.
det den Vertrag, wenn eine Moͤglichkeit zu
erdenken, unter welcher ſie in Beſtimmung
der Colliſionsfaͤlle hat Einfluß haben koͤnnen.
Meinungen aber koͤnnen nicht anders, als
durch ein irriges Gewiſſen mit aͤuſſerlichen
Vortheilen in Verbindung gebracht werden,
und ich zweifele, ob ſie je eine rechtskraͤftige
Bedingung machen koͤnnen.
Rettung der Juden.
Worte meines verewigten Freundes, Hrn. Iſe-
lin, in einem ſeiner letzten Aufſaͤtze in den Ephe-
meriden der Menſchheit. Das Andenken die-
ſes wahren Weiſen ſollte jedem ſeiner Zeitgenoſ-
ſen, der Tugend und Wahrheit werthſchaͤtzt, un-
vergeßlich ſeyn. Deſio unbegreiflicher iſt es mir
ſelbſt, wie ich ihn habe uͤbergehen koͤnnen, als ich
die wohlthaͤtigen Maͤnner nannte, die in Deutſch-
land zuerſt die Grundſaͤtze der uneingeſchraͤnkten
Toleranz auszubreiten ſuchten, ihn der ſie in un-
ſerer Sprache ſicherlich fruͤher und lauter, als ir-
gend einer, in ihrem weiteſien Umfange lehrte.
Mit Vergnuͤgen ſchreibe ich hier die Stelle aus
der Anzeige meiner Vorrede K. Manaſſe, in den
Ephemeriden*) ab, wo dieſes erinnert wird,
um einem Manne nach ſeinem Tode Gerechtigkeit
wiederfahren zu laſſen, der in ſeinem Leben ſo all-
gemein gerecht geweſen. „Der Verfaſſer der
„Eyhemeriden der Menſchheit ſtimmet auch mit
„Herrn Mendelsſohn gaͤnzlich in demjenigen
„uͤberein, was er von den geſetzgebenden Rech-
„ten der Obrigkeit uͤber die Meinung der Buͤr-
„ger und von den Verkommniſſen ſagt, welche
„einzelne Menſchen unter einander uͤber ſolche
„Meinungen eingehen koͤnnen. Und dieſe Den-
„kungsart hat er nicht erſt ſeit Herrn Dohm
„und Herrn Leßing angenommen; ſondern er hat
„ſich ſchon vor mehr als dreyßig Jahren dazu be-
„kannt. Auf die gleiche Weiſe hat er auch ſchon
„lange anerkannt, daß dasienige, was man Re-
„ligionsduldung nennet, nicht eine Gnade, ſon-
„dern eine Pflicht der Regierung ſey. Deutlicher
„konnte man ſich nicht ausdruͤcken, als folgen-
„dermaßen *): Wenn alſo eine oder mehrere
„Religionen in ſeinem Staate eingefuͤhrt ſind;
„ſo erlaubt ein weiſer und gerechter Landesherr
„ſich nicht, die Rechte derſelben zu dem Be-
„ſten der ſeinigen anzugreifen. Jede Kirche,
„jede Vereinigung, welche den Gottesdienſt zur
Ab-
und 13.
„Abſicht hat, iſt eine Geſellſchaft, der der Lan-
„desherr Schutz und Gerechtigkeit ſchuldig iſt.
„Ihnen dieſe verſagen, um auch die beſte Re-
„ligion zu beguͤnſtigen, waͤre wider den Geiſt
„der wahren Gottſeligkeit.“
„In Ruͤckſicht auf die buͤrgerlichen Rechte
„ſind alle Religionsgenoſſen einander gleich,
„diejenigen allein ausgenommen, deren Meinun-
„gen den Grundſaͤtzen der menſchlichen und der
„buͤrgerlichen Pflichten zuwider laufen. Eine
„ſolche Religion kann in dem Staate auf keine
„Rechte Anſpruch machen. Diejenigen, welche
„das Ungluͤck haben, ihr zugethan zu ſeyn, koͤn-
„nen nur Duldung erwarten, ſo lange ſie nicht
„durch ungerechte und ſchaͤdliche Handlungen
„die geſellſchaftliche Ordnung ſtoͤhren. Wenn ſie
„dieſes thun, muͤſſen ſie geſtraft werden, nicht
„für ihre Meinungen; ſondern für ihre
„Thaten.“ Was aber im vorhergebenden (Seite
423) von einer falſchen Meinung, in Abſicht auf
die Zwiſchenhaͤnde in der Handlung, geſagt wird,
die ich dem Verf. der Ephemeriden mit Unrecht
zuſchreiben ſoll, verhaͤlt ſich in Wahrheit ganz
anders. Nicht Hr. Iſelin; ſondern ein anderer,
ſonſt einſichtsvoller Schriftſteller, hat in den
Ephe-
Ephemeriden einen Auſſatz einruͤcken laſſen, in
welchem er die Schaͤdlichkeit der Zwiſchenhaͤnde
behauptet, und ward von dem Herausgeber viel-
mehr widerlegt. — Die Erinnerungen, welche
in derſelben Anzeige wider meine Glaubensgenoſ-
ſen gemacht werden, uͤbergehe ich mit Stillſchwei-
gen. Es iſt hier der Ort nicht, ſie zu vertheidigen,
und ich uͤberlaſſe dieſes Geſchaͤft dem Hrn. Dohm,
der es mit weniger Parteylichkeit verrichten kann.
Man vergiebt uͤbrigens einem Baſeler ſehr leicht
ein Vorurtheil wider ein Volk, das er nur aus
dem herumſtreifenden Theile deſſelben, oder aus
den Obſervations d’un Alſacien, zu kennen Gele-
genheit haben kann.
der Beſchneidung, weder Einkuͤnfte, noch einen
deſtimmten Rang in der Gemeine. Wer die Ge-
ſchiklichkeit beſitzet, verrichtet vielmehr dieſes
ver-
Vater, dem eigentlich die Pflicht ſeinen Sohn
zu beſchneiden obliegt, hat mehrentheils unter
verſchiedenen Mitwerdern, die darum anhalten,
zu waͤhlen. Alle Belohnung, die der Beſchnei-
der fuͤr ſeine Verrichtung zu erwarten hat, be-
ſtehet etwa darin, daß er beym Beſchneidungs-
male obenan ſitzet, und nach der Mahlzeit den
Seegen ſpricht. — So ſollten nach meiner
neu und hart ſcheinenden Theorie alle religioͤſe
Aemter beſetzt werden!
Schreiben an Herrn M. Mendelsſohn Berlin
1782.
zum Beweiſe anfuͤhren ſehen, daß die Rab-
binen den Satz des Widerſyruchs nicht glau-
ben. Ich wuͤnſche die Tage zu erleben, da
alle Voͤlker der Erde dieſe Ausnahme von dem
allgemeinen Satze des Widerſpruchs werden
gelten laſſen: der Faſttag des Vierten und
der Faſttag des Zehnten Monats mag in
Wonne und Freudentag verwandelt wer-
den, nur liebet Wahrheit und Frieden.
(Zachar. 8, 19)
ו Hacken, ז Schwerdt, כ Fauſt, Loͤffel, ל Stimu-
lus, ן Fiſch, ס Stuͤtze, Unterlage, ע Auge, פ Mund,
ק Affe, ש Zaͤhne.
gütig, belohnt das Gute.
und Rom. Zweiter Band. S. 77.
lichkeit ſchauen; ich werde meine Guͤte voruͤber-
ziehen laſſen. — Du wirſt ſie hinten nach
erkennen. Von vorne her iſt ſie ſterblichen
Augen nicht ſichtbar.
braͤiſchen Lettern erſchienenen Ueberſetzung.
tigem Inhalte. Leſer, denen daran gelegen iſt,
werden wohl thun, ihn ganz mit Aufmerkſamkeit
durchzuleſen, und mit obiger Betrachtung zu ver-
gleichen. Er ſcheinet mir offenbar durch dieſe merk-
wuͤrdige Stelle in der Schrift veranlaſſet, und
nichts anders zu ſeyn, als ein Ausbruch lebhafter
Ruͤhrung, in welche der Saͤnger durch Betrach-
tung dieſes auſſerordentlichen Vorfalls gerathen
iſt. Er fordert daher im Eingange des Pſalms
ſeine Seele zur feyerlichſten Dankſagung, wegen
der goͤttlichen Verheiſſung ſeiner Gnade und ſo
vaͤterlichen Barmherzigkeit auf: Benedeie, mei-
ne Seele! den Herrn! vergiß nicht aller ſei-
ner Wohlthaten! Er vergiebt Dir alle Dei-
ne Sünden; er heilet Deine Krankheiten
alle; Er erlöſet Deine Leben vom Unter-
gange; er krönet Dich mit Liebe
und Barmherzigkeit, u. ſ. w.
Erfahrung lehrt, ihren Fangtismus. Zwar hat
dieſer
innerer Ohngoͤtterey wuͤthend werden koͤnnen.
Daß aber auch äuſſerer offenbarer Atheismus
fanatiſch werden koͤnne, iſt ſo unleugbar als
ſchwer zu begteifen. So ſehr der Atheiſt, wenn
er buͤndig ſeyn will, alles aus Eigennutz thun
muß, und ſo wenig es dieſem gemaͤß zu ſeyn
ſcheinet, wenn der Atheiſt Partey zu machen,
und das Geheimniß nicht fuͤr ſich zu behalten
ſuchet; ſo hat man ihn doch ſeine Lehren mit
dem hitzigſten Enthuſiasmus predigen, und
wuͤthend werden, ja verfolgen geſehen, wenn
ſeine Predigt nicht Eingang finden wollte.
Und ſchrecklich iſt der Eifer, wenn er einen
erklaͤrten Atheiſten beſeelt; wenn die Unſchuld
einem Wuͤterich in die Haͤnde faͤllt, der alles
fürchtet, nur keinen Gott.
Amerika das alte Lied anſtimmen, und von
einer herrſchenden Religion ſprechen.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmt0.0