das
menſchliche Leben
zu verlängern
Süſses Leben! Schöne freundliche Gewohnheit
des Daſeyns und Wirkens! — von dir
ſoll ich ſcheiden?
(Göthe,)
in der akademiſchen Buchhandlung.
[[IV]][[V]]
Vorrede.
Das menſchliche Leben iſt, phyſiſch be-
trachtet, eine eigenthümliche animaliſch-
chemiſche Operation, eine Erſcheinung,
durch die Konkurrenz vereinigter Natur-
kräfte und immer wechſelnder Materien be-
wirkt; — dieſe Operation muſs, ſo wie
jede andere phyſiſche, ihre beſtimmten Ge-
ſetze, Grenzen und Dauer haben, in ſo
fern ſie von dem Maas der verliehenen
Kräfte und Materie, ihrer Verwendung,
und manchen andern äuſſern und innern
[VI] Umſtänden abhängt; — aber ſie kann,
ſo wie jede phyſiſche Operation, befördert
oder gehindert, beſchleunigt oder retardirt
werden, — durch Feſtſetzung richtiger
Grundſätze über ihr Weſen und Bedürfniſſe,
und durch Erfarung laſſen ſich die Bedin-
gungen beſtimmen, unter welchen dieſer
Prozeſs beſchleunigt und verkürzt, oder re-
tardirt und alſo verlängert werden kann;
— es laſſen ſich hierauf Regeln der diäteti-
ſchen und mediziniſchen Behandlung des
Lebens, zur Verlängerung deſſelben, bauen,
und es entſteht hieraus eine eigne Wiſſen-
ſchaft, die Macrobiotic, oder die Kunſt
das Leben zu verlängern, die den Inhalt
des gegenwärtigen Buchs ausmacht.
Man darf dieſe Kunſt nicht mit der
gewöhnlichen Medizin oder mediziniſchen
Diätetik verwechſeln, ſie hat andere Zwe-
cke, andere Mittel, andere Grenzen. Der
Zweck der Medizin iſt Geſundheit, der Ma-
crobiotic hingegen langes Leben; die Mit-
tel der Medizin ſind nur auf den gegenwär-
[VII] tigen Zuſtand und deſſen Veränderung be-
rechnet, die der Macrobiotic aber aufs
Ganze; dort iſt es genug, wenn man im
Stande iſt, die verlohrne Geſundheit wieder
herzuſtellen, aber man fragt dabey nicht,
ob durch die Art, wie man die Geſundheit
wieder herſtellt, das Leben im Ganzen ver-
längert oder verkürzt wird, welches leztre
bey manchen Methoden der Medizin der
Fall iſt; die Medizin muſs jede Krankheit
als ein Uebel anſehen, das nicht bald genug
weggeſchafft werden kann, die Macrobiotic
zeigt, daſs manche Krankheiten Verlänge-
rungsmittel des Lebens werden können; die
Medizin ſucht, durch ſtärkende und andre
Mittel, jeden Menſchen auf den höchſten
Grad ſeiner phyſiſchen Vollkommenheit
und Stärke zu erheben, die Macrobiotic
aber zeigt, daſs es auch hier ein Maxi-
mum giebt, und daſs ein zu weit getrieb-
ner Grad von Stärkung das Mittel werden
kann, das Leben zu beſchleunigen und
folglich zu verkürzen; die practiſche
Medizin iſt alſo, in Beziehung auf die Ma-
[VIII] crobiotic, nur als eine Hülfswiſſenſchaft zu
betrachten, die einen Theil der Lebensfeinde,
die Krankheiten, erkennen, verhüten und
wegſchaffen lehrt, die aber ſelbſt dabey den
höhern Geſetzen der Macrobiotic unterge-
ordnet werden muſs.
Langes Leben war von jeher ein
Hauptwunſch, ein Hauptziel der Menſch-
heit, aber wie verworren, wie widerſpre-
chend waren und ſind noch jezt die Ideen über
ſeine Erhaltung und Verlängerung! Der
ſtrenge Theolog lächelt über ſolche Unter-
nehmungen und fragt: Iſt nicht jedem Ge-
ſchöpf ſein Ziel beſtimmt, und wer vermag
ein Haarbreit ſeiner Länge oder eine Mi-
nute ſeiner Lebensdauer zuzuſetzen? Der
practiſche Arzt ruft uns zu: Was ſucht
ihr nach beſondern Mitteln der Lebensver-
längerung? Braucht meine Kunſt, erhal-
tet Geſundheit, laſst keine Krankheit auf-
kommen, und die, welche ſich etwa einſtel-
len, curiren; dieſs iſt der einzige Weg
zum langen Leben. Der Adept zeigt
[IX] uns ſein Lebenselixir, und verſichert, nur,
wer dieſen verkörperten Lebensgeiſt fleiſig
einnähme, könne hoffen alt zu werden.
Der Philoſoph ſucht das Problem ſo zu lö-
ſen, daſs er den Tod verachten, und das
Leben durch intenſiven Gebrauch verdop-
peln lehrt. — Die zahlloſe Legion von
Empirikern und Quackſalbern hingegen, die
ſich des groſsen Haufens bemeiſtert haben,
erhält ihn in dem Glauben, daſs kein beſſe-
res Mittel, alt zu werden ſey, als zur rech-
ten Zeit Ader zu laſſen, zu ſchröpfen, zu
purgiren u. ſ. f.
Es ſchien mir alſo nüzlich und nöthig,
die Begriffe über dieſen wichtigen Gegen-
ſtand zu berichtigen, und auf gewiſſe feſte
und einfache Grundſätze zurückzuführen,
wodurch dieſe Lehre Zuſammenhang und
ſyſtematiſche Ordnung bekäme, die ſie bis-
her nicht hatte.
Seit 8 Jahren iſt dieſer Gegenſtand die
Lieblingsbeſchäftigung meiner Nebenſtun-
[X] den geweſen, und ich würde mich ſehr
freuen, wenn ſie andern auch nur halb ſo
viel Unterhaltung und Nutzen ſchaffen
ſollte, als ſie mir verſchafft hat. — Ja
ſelbſt in den zeitherigen traurigen und
Menſchenverſchlingenden Zeiten, fand ich
meine beſte Tröſtung und Aufheiterung
darinn, an der Aufſuchung der Mit-
tel zur Verlängerung des Lebens zu ar-
beiten.
Mein Hauptzweck war zwar allerdings
der, die Lehre von der Kunſt der Lebens-
verlängerung ſyſtematiſch zu gründen,
und die Mittel dazu anzugeben, aber un-
vermerkt bekam ſie noch einige Nebenzwecke,
die ich hier anführen muſs, um die Beur-
theilung des Ganzen dadurch zu berichtigen.
Einmal nehmlich ſchien mir dieſs der beſte
Weg zu ſeyn, um mancher diätetiſchen Re-
gel ein höheres Intereſſe und allgemeinere
Gültigkeit zu geben, weil ich immer fand,
daſs es weit weniger Eindruck machte,
wenn man ſagte, dieſe oder jene Sache,
[XI] dieſe oder jene Lebensweiſe iſt geſund oder
ungeſund (denn dieſs iſt relativ, hängt von
der ſtärkern oder ſchwächern Konſtitution
und andern Nebenumſtänden ab, und be-
zieht ſich auf die unmittelbaren Folgen, die
gar oft auſſen bleiben, und den Nichtarzt
unglaubig an dem ganzen Vorgeben ma-
chen); als wenn man den Satz ſo ſtellte:
dieſe Dinge, dieſe Lebensarten, verlän-
gern oder verkürzen das Leben; denn dieſs
hängt weniger von Umſtänden ab, und
kann nicht nach den unmittelbaren Folgen
beurtheilt werden. — Zweytens wurde
dieſe Arbeit unvermerkt ein Archiv, in wel-
chem ich mehrere meiner Lieblingsideen nie-
derlegte, bey welchen ich mich auch wohl
zuweilen mancher kosmopolitiſchen Digreſ-
ſion überlieſs, und mich freuete, dieſe Ideen
an einen ſo ſchönen alles verbindenden Fa-
den, als der Lebensfaden iſt, anreihen zu
können.
Nach dem Standpunct, den ich bey
Betrachtung meines Gegenſtandes nehmen
[XII] muſste, war es natürlich, daſs ich ihn nicht
blos mediziniſch, ſondern auch moraliſch
behandelte. Wer kann vom menſchlichen
Leben ſchreiben, ohne mit der moraliſchen
Welt in Verbindung geſezt zu werden, der
es ſo eigenthümlich zugehört? Im Gegen-
theil habe ich bey dieſer Arbeit es mehr als
je empfunden, daſs ſich der Menſch und
ſein höherer moraliſcher Zweck auch phy-
ſiſch ſchlechterdings nicht trennen laſſen,
und ich darf es vielleicht dieſer Schrift als
ein kleines Verdienſt anrechnen, daſs ſie
nicht allein die Wahrheit und den Werth
der moraliſchen Geſetze in den Augen vieler
dadurch erhöht, daſs ſie ihnen die Unent-
behrlichkeit derſelben auch zur phyſiſchen
Erhaltung und Verlängerung des Lebens
zeigt, ſondern daſs ſie auch mit unwider-
leglichen Gründen darthut, daſs ſchon das
Phyſiſche im Menſchen auf ſeine höhere
moraliſche Beſtimmung berechnet iſt, daſs
dieſes einen weſentlichen Unterſchied der
menſchlichen Natur von der thieriſchen
macht, und daſs ohne moraliſche Kultur
[XIII] der Menſch unaufhörlich mit ſeiner eignen
Natur im Widerſpruch ſteht, ſo wie er
hingegen durch ſie auch phyſiſch erſt der
vollkommenſte Menſch wird. Wäre ich
doch ſo glücklich, auf dieſe Weiſe einen
doppelten Zweck zu erreichen, nicht blos
die Menſchen geſünder und länger lebend,
ſondern auch durch das Beſtreben dazu,
beſſer und ſittlicher zu machen! Wenig-
ſtens kann ich verſichern, daſs man eins
ohne das andere vergebens ſuchen wird,
und daſs phyſiſche und moraliſche Geſund-
heit ſo genau verwandt ſind, wie Leib und
Seele. Sie flieſſen aus gleichen Quellen,
ſchmelzen in eins zuſammen, und geben
vereint erſt das Reſultat der veredel-
ten vnd vollkommensten Men-
schennatvr.
Auch muſs ich erinnern, daſs dies
Buch nicht für Aerzte allein, ſondern fürs
ganze Publikum beſtimmt war, welches mir
freylich die Pflicht auflegte, in manchen
Puncten weitläuftiger und in manchen kür-
[XIV] zer zu ſeyn, als es für den Arzt nöthig ge-
weſen wäre. — Ich hatte vorzüglich junge
Leute dabey zum Zweck, weil ich überzeugt
bin, daſs in dieſer Periode des Lebens vor-
züglich auf Gründung eines langen und
geſunden Lebens gewirkt werden kann, und
daſs es eine unverzeihliche Vernachläſſigung
iſt, daſs man noch immer bey der Bildung
der Jugend dieſe ſo wichtige Belehrung
über ihr phyſiſches Wohl vergiſst. Ich
habe daher die Puncte vorzüglich ins Licht
geſezt, die für dieſe Periode die wichtigſten
ſind, und überhaupt ſo geſchrieben, daſs
man das Buch jungen Leuten ohne Schaden
in die Hände geben kann, und es würde mir
eine unbeſchreibliche Freude ſeyn, wenn
man es ihnen nicht allein zum Leſen em-
pföhle, ſondern es auch in Schulen zur Be-
lehrung über die wichtigſten Gegenſtände
unſers phyſiſchen Wohls benuzte, die, ich
wiederhole es nochmals, auf Schulen gege-
ben werden muſs, denn ſie kommt (wie ich
leider aus gar zu vielen Erfarungen weiſs)
auf Akademien mehrentheils zu ſpät.
[XV]
Die Form der Vorleſungen erhielt es
dadurch, weil ich drey Sommer hindurch
wirklich öffentliche Vorleſungen darüber
hielt, und ich glaubte, um ſo weniger ihm
dieſe Einkleidung nehmen zu müſſen, da
ſie dem Ganzen etwas mehr annäherndes
und eindrückliches, genug, etwas mehr
vom mündlichen Vortrag, zu geben
ſchien.
Man wird mir es hoffentlich vergeben,
daſs ich nicht alle Beyſpiele und Facta mit
Citaten belegt habe; aber ich beſorgte, das
Buch dadurch zu ſehr zu vergröſſern und
zu vertheuern. Doch muſs ich erwähnen,
daſs ich bey den Beyſpielen des menſchli-
chen Alters aus der Geſchichte hauptſäch-
lich Baco Historia vitae et mortis
benuzt habe.
Uebrigens will ich im voraus recht
gern zugeben, daſs manches anders, man-
ches vollſtändiger, manches beſſer ſeyn
könnte. Ich bin zufrieden mit der ſüſſen
[XVI] Ueberzeugung, die mir niemand rauben
wird, daſs das wenigſtens, was ich ge-
ſchrieben habe, Nutzen ſtiften kann, ja
gewiſs Nutzen ſtiften wird.
Jena, im Julius 1796.
Inhalt.
[[XVII]]
Inhalt.
- I.
Theoretiſcher Theil. - I. Schickſale dieſer Wiſſenſchaft.
Bey den Egyptiern und Griechen --- Gerocomic ---
Gymnaſtic --- Hermippus --- Zuſtand derſelben
im Mittelalter --- Theophraſtus Paracelſus ---
Aſtrologiſche Methode --- Talismanns --- Thurn-
eiſſen --- Cornaro und ſeine ſtrenge Diät ---
Transfuſionsmethode --- Baco --- St. Germain ---
Mesmer --- Caglioſtro --- Graham. Seite 3. - II. Unterſuchung der Lebenskraft und der
Lebensdauer überhaupt.
Eigenſchaften und Geſetze der Lebenskraft ---
Begriff des Lebens --- Lebensconſumtion, un-
zertrennliche Folge der Lebensoperation ſelbſt
--- Lebensziel --- Urſachen der Lebensdauer ---
Retardation der Lebensconſumtion --- Möglich-
keit der Lebensverlängerung --- Geſchwind und
langſam leben --- Intenſives und extenſives Le-
ben --- der Schlaf. 41. - III. Lebensdauer der Pflanzen.
Verſchiedenheit derſelben --- Einjährige, zwey-
jährige, vieljährige --- Erfarungen über die Um-
ſtände, die dieſs beſtimmen --- Reſultate daraus
--- Anwendung auf die Hauptprinzipien der Le-
bensverlängerung --- Wichtiger Einfluſs der
Zeugung und Kultur auf die Lebenslänge der
Pflanzen. Seite 86. - IV. Lebensdauer der Thierwelt.
Erfarungen von Pflanzenthieren --- Würmern
--- Inſecten --- Metamorphoſe, ein wichtiges Le-
bensverlängerungsmittel --- Amphibien --- Fiſche
--- Vögel --- Säugthiere --- Reſultate --- Einfluſs
der Mannbarkeit und des Wachsthums auf die
Lebenslänge --- der Vollkommenheit oder Un-
vollkommenheit der Organiſation --- der rapi-
dern oder langſamern Lebensconſumtion --- der
Reſtauration. 110. - V. Lebensdauer der Menſchen.
Erklärung des unglaublich ſcheinenden Alters
der Patriarchen --- das Alter der Welt hat kei-
nen Einfluſs auf das Lebensalter der Menſchen
--- Beyſpiele des Alters bey den Juden --- Grie-
chen --- Römern --- Tabellen des Cenſus unter
Veſpaſian --- Beyſpiele des hohen Alters bey
Kaiſern, Königen und Päbſten --- Friedrich II.
--- Bey Eremiten und Kloſterbrüdern --- Philoſo-
phen und Gelehrten --- Schulmännern --- Dich-
tern und Künſtlern --- das höchſte Alter findet
[XIX] ſich nur unter Landleuten, Jägern, Gärtnern,
Soldaten und Matroſen --- Beyſpiele --- Weni-
ger bey Aerzten --- Kürzeſtes Leben --- Ver-
ſchiedenheit des Alters nach dem Clima. S. 141. - VI. Reſultate aus den Erfarungen. Beſtim-
mung des menſchlichen Lebensziels.
Unabhängigkeit der Mortalität im Ganzen vom
hohen Alter einzelner --- Einfluſs der Lage, des
Clima, der Lufttemperatur und Beſtändigkeit
auf Lebensdauer --- Inſeln und Halbinſeln ---
die Alterreichſten Länder in Europa --- Nutzen
des naturgemäſsen Lebens --- Die zwey ſchreck-
lichſten Extreme der Mortalität in neuern Zei-
ten --- Lebensverlängernde Kraft des Mitteltons
in Allem --- Des Eheſtandes --- Des Geſchlechts
--- Der Thätigkeit --- Der Frugalität --- Der
Kultur --- Des Landlebens --- Auch bey Men-
ſchen mögliche Verjüngung --- Beſtimmung des
menſchlichen Lebensziels --- Abſolute und rela-
tive Dauer deſſelben --- Tabellen über die
leztere. 189. - VII. Genauere Unterſuchung des menſchli-
chen Lebens. ſeiner Hauptmomente, und
des Einfluſſes ſeiner höhern und intel-
lectuellen Vollkommenheit auf die Dauer
deſſelben.
Das menſchliche Leben iſt das vollkommenſte,
intenſivſtärkſte, und auch das längſte aller ähn-
lichen organiſchen Leben --- Weſentlicher Be-
[XX] griff dieſes Lebens --- ſeine Hauptmomente ---
Zugang von auſſen --- Aſſimilation und Anima-
liſation --- Nutrition und Veredlung der organi-
ſchen Materie --- Selbſtkonſumtion der Kräfte
und Organe durchs Leben ſelbſt --- Abſchei-
dung und Zerſetzung der verbrauchten Theile ---
die zum Leben nöthigen Organe --- Geſchichte
des Lebens --- Urſachen der ſo vorzüglich lan-
gen Lebensdauer des Menſchen --- Einfluſs der
höhern Denkkraft und Vernunft darauf --- Wie
kommt es, daſs bey den Menſchen, wo die Fä-
higkeit zum langen Leben am ſtärkſten iſt, den-
noch die Mortalität am gröſsten iſt? Seite 216. - VIII. Specielle Grundlagen und Kennzei-
chen der Lebensdauer einzelner Men-
ſchen.
Hauptpuncte der Anlage zum langen Leben ---
Guter Magen und Verdauungsſyſtem, geſunde
Zähne --- gut organiſirte Bruſt --- nicht zu reiz-
bares Herz --- gute Reſtaurations- und Heilkraft
der Natur --- Gehöriger Grad und Vertheilung
der Lebenskraft, gut Temperament --- harmoni-
ſcher und fehlerfreyer Körperbau --- mittlere
Beſchaffenheit der Textur des Körpers --- kein
vorzüglich ſchwacher Theil --- vollkommne Or-
ganiſation der Zeugungskraft --- das Bild eines
zum langen Leben beſtimmten Menſchen. 257. - IX. Prüfung verſchiedener neuer Methoden
zur Verlängerung des Lebens, und Feſt-
[XXI] ſetzung der einzig möglichen und auf
menſchliches Leben paſſenden Methode.
Verlängerung durch Lebenselixire, Goldtinctu-
ren, Wundereſſenzen etc. --- durch Abhärtung
--- durch Nichtsthun und Pauſen der Lebens-
wirkſamkeit --- durch Vermeidung aller Krank-
heitsurſachen, und der Conſumtion von auſſen
--- durch geſchwindes Leben --- die einzig mög-
liche Methode, menſchliches Leben zu verlän-
gern --- Gehörige Verbindung der vier Haupt-
indicationen --- Vermehrung der Lebenskraft ---
Stärkung der Organe --- Mäſsigung der Lebens-
konſumtion --- Begünſtigung der Reſtauration ---
Modificationen dieſer Methode durch die ver-
ſchiedene Conſtitution --- Temperament --- Le-
bensalter --- Clima. Seite 280.
[XXII]
II.
Practiſcher Theil.
- I. Abſchnitt.
Verkürzungsmittel des Lebens.
1. Die ſchwächliche Erziehung. Seite 337. - 2. Ausſchweifungen in der Liebe --- Verſchwendung
der Zeugungskraft --- Onanie, ſowohl phyſiſche
als moraliſche. 340. - 3. Uebermäſige Anſtrengung der Seelenkräfte. 352.
- 4. Krankheiten --- deren unvernünftige Behandlung
--- gewaltſame Todesarten --- Trieb zum Selbſt-
mord. 363. - 5. Unreine Luft --- das Zuſammenwohnen der Men-
ſchen in groſsen Städten. 374. - 6. Unmäſsigkeit im Eſſen und Trinken --- die raffi-
nirte Kochkunſt --- geiſtige Getränke. 377. - 7. Lebensverkürzende Seelenſtimmungen und Lei-
denſchaften --- üble Laune --- allzugroſse Ge-
ſchäftigkeit. 386. - 8. Furcht vor dem Tode. 393.
- 9. Müſſiggang --- Unthätigkeit --- Lange Weile. S. 401.
- 10. Ueberſpannte Einbildungskraft --- Krankheits-
einbildung --- Empfindeley. 407. - 11. Gifte, ſowohl phyſiſche als contagiöſe. 414.
- 12. Das Alter --- frühzeitige Inoculation deſſelben. 455.
- II. Abſchnitt.
Verlängerungsmittel des Lebens.
1. Gute phyſiſche Herkunft. 462. - 2. Vernünftige phyſiſche Erziehung. 475.
- 3. Thätige und arbeitſame Jugend. 510.
- 4. Enhaltſamkeit von dem Genuſs der phyſiſchen
Liebe in der Jugend und auſſer der Ehe. 513. - 5. Glücklicher Eheſtand. 535.
- 6. Der Schlaf. 545.
- 7. Körperliche Bewegung. 558.
- 8. Genuſs der freyen Luft --- mäſsige Temperatur
der Wärme. 562. - 9. Das Land- und Gartenleben. 565.
- 10. Reiſen. 575.
- 11. Reinlichkeit und Hautkultur. 585.
- 12. Gute Diät und Mäſsigkeit im Eſſen und Trin-
ken --- Erhaltung der Zähne. 599. - 13. Ruhe der Seele --- Zufriedenheit --- Lebensver-
längernde Seelenſtimmungen und Beſchäftigun-
gen. 614. - 14. Wahrheit des Karacters. S. 623.
- 15. Angenehme und mäſsig genoſsne Sinnes- und
Gefühlsreize. 626. - 16. Verhütung und vernünftige Behandlung der
Krankheiten --- gehöriger Gebrauch der Medizin
und des Arztes. 629. - 17. Rettung in ſchnellen Todesgefahren. 668.
- 18. Das Alter und ſeine gehörige Behandlung. 682.
- 19. Kultur der geiſtigen und körperlichen Kräfte. 691.
I.
Theoretiſcher Theil.
A
[[2]][[3]]
Erſte Vorleſung.
Schickſale dieſer Wiſſenſchaft.
Bey den Egyptiern und Griechen — Gerocomic —
Gymnaſtic — Hermippus — Zuſtand derſelben im Mit-
telalter — Theophraſtus Paracelſus — Aſtrologiſche
Methode — Talismanns — Thurneiſſen — Cornaro
und ſeine ſtrenge Diät — Transfuſionsmethode — Baco
— St. Germain — Mesmer — Caglioſtro —
Graham.
Durch die ganze Natur weht und
wirket jene unbegreifliche Kraft, jener
unmittelbare Ausfluſs der Gottheit, den
wir Lebenskraft nennen. Ueberall ſtoſ-
ſen wir auf Erſcheinungen und Wirkun-
gen, die ihre Gegenwart, ob gleich in
unendlich verſchiedenen Modificationen
und Geſtalten unverkenntlich bezeugen,
A 2
[4] und Leben iſt der Zuruf der ganzen uns
umgebenden Natur. Leben iſts, wo-
durch die Pflanze vegetirt, das Thier
fühlt und wirket; — aber im höchſten
Glanz von Vollkommenheit, Fülle und
Ausbildung erſcheint es in dem Men-
ſchen, dem oberſten Glied der ſichtba-
ren Schöpfung. Wir mögen die ganze
Reihe der Weſen durchgehen, nirgends
finden wir eine ſo vollkommne Verbin-
dung faſt aller lebendigen Kräfte der
Natur, nirgends ſo viel Energie des Le-
bens, mit ſolcher Dauer vereinigt, als
hier. Kein Wunder alſo, daſs der voll-
kommenſte Beſitzer dieſes Gutes auch
einen ſo hohen Werth darauf ſezt, und
daſs ſchon der bloſse Gedanke von Le-
ben und Seyn ſo hohen Reiz für uns hat.
Jeder Körper wird uns um ſo intereſſan-
ter, je mehr wir ihm eine Art von Le-
ben und Lebensgefühl zutrauen können.
Nichts vermag ſo ſehr auf uns zu wir-
ken, ſolche Aufopferungen zu veran-
laſſen, und die auſſerordentlichſten Ent-
wicklungen und Anſtrengungen unſrer
[5] verborgenſten Kräfte hervorzubringen,
als der Trieb es zu erhalten und in dem
kritiſchen Augenblick es zu retten. Selbſt
ohne Genuſs und Freuden des Lebens,
ſelbſt für den, der an unheilbaren
Schmerzen leidet, oder im dunkeln Ker-
ker auf immer ſeine Freyheit beweint,
behält der Gedanke zu ſeyn und zu le-
ben noch Reiz, und es gehört ſchlech-
terdings eine nur bey Menſchen mögli-
che Zerrüttung der feinſten Empfin-
dungsorgane, eine gänzliche Verdunke-
lung und Tödtung des innern Sinns da-
zu, um das Leben gleichgültig oder gar
verhaſst zu machen. — So weiſe und
innig wurde Liebe des Lebens, dieſer
eines denkenden Weſens ſo würdige
Trieb, dieſer Grundpfeiler ſowohl der
einzelnen als der öffentlichen Glückſe-
ligkeit, mit unſerer Exiſtenz verwebt!
— Sehr natürlich war es daher, daſs
der Gedanke in dem Menſchen aufſtei-
gen muſte: Sollte es nicht möglich ſeyn,
unſer Daſeyn zu verlängern, und dem
nur gar zu flüchtigen Genuſs dieſes Guts
[6] mehr Ausdehnung zu geben? Und
wirklich beſchäftigte dieſs Problem von
jeher die Menſchheit auf verſchiedene
Weiſe. Es war ein Lieblingsgegenſtand
der ſcharfſinnigſten Köpfe, ein Tum-
melplatz der Schwärmer, und eine
Hauptlockſpeiſe der Charlatans und Be-
trieger, bey denen man von jeher fin-
den wird, daſs es entweder Umgang mit
Geiſtern, oder Goldmacherkunſt oder
Verlängerung des Lebens war, wodurch
ſie das gröſsere Publikum angelten. Es
iſt intereſſant und ein Beytrag zur Ge-
ſchichte des menſchlichen Verſtandes zu
ſehen, auf wie mannichfaltigen, ſich
oft ganz entgegen geſezten Wegen man
dieſs Gut zu erlangen hoffte, und da
ſelbſt in den neueſten Zeiten die Caglio-
ſtros und Mesmers wichtige Beyträge
dazu geliefert haben, ſo glaube ich Ver-
zeihung zu erhalten, wenn ich eine
kurze Ueberſicht der nach und nach
vorgekommenen Lebensverlängerungs-
methoden vorausſchicke, ehe ich zu mei-
nem Hauptgegenſtand übergehe.
[7]
Schon in den früheſten Zeiten, un-
ter Egyptern, Griechen und Römern
war dieſe Idee rege, und ſchon damals
verfiel man in Egypten, der Mutter ſo
mancher abentheuerlichen Ideen, auf
künſtliche und unnatürliche Mittel zu
dieſem Zweck, wozu freylich das durch
Hitze und Ueberſchwemmungen unge-
ſunde Clima Veranlaſſung geben mochte.
Man glaubte die Erhaltung des Lebens
in Brechen und Schwitzen gefunden zu
haben, und es wurde allgemeine Sitte,
alle Monate wenigſtens 2 Brechmittel zu
nehmen, und ſtatt zu ſagen, wie befin-
deſt du dich, fragte man einander: Wie
ſchwitzeſt du? — Ganz anders bildete
ſich dieſer Trieb bey den Griechen, un-
ter dem Einfluſs einer reinen und ſchö-
nen Natur, aus. Man überzeugte ſich
ſehr bald, daſs gerade ein vernünftiger
Genuſs der Natur und die beſtändige
Uebung unſerer Kräfte das ſicherſte Mit-
tel ſey, die Lebenskraft zu ſtärken, und
unſer Leben zu verlängern. Hippocra-
tes und alle damaligen Philoſophen und
[8] Aerzte kennen keine andern Mittel, als
Mäſsigkeit, Genuſs der freyen und rei-
nen Luft, Bäder, und vorzüglich das
tägliche Reiben des Körpers und Lei-
besübung. Auf leztere ſezten ſie ihr
gröſstes Vertrauen. Es wurden eigene
Methoden und Regeln beſtimmt, dem
Körper mannichfaltige, ſtarke und ſchwa-
che, Bewegung zu geben; es entſtand
eine eigene Kunſt der Leibesübung, die
Gymnaſtik, daraus, und der gröſste Phi-
loſoph und Gelehrte vergaſs nie, daſs
Uebung des Leibes und Uebung der
Seele immer in gleichem Verhältniſs
bleiben müſste. Man brachte es wirk-
lich zu einer auſſerordentlichen Voll-
kommenheit, dieſe für uns faſt ver-
ſchwundne Kunſt den verſchiedenen Na-
turen, Situationen und Bedürfniſſen der
Menſchen anzupaſſen, und ſie beſonders
zu dem Mittel zu gebrauchen, die innere
Natur des Menſchen immer in einer ge-
hörigen Thätigkeit zu erhalten, und da-
durch nicht nur Krankheitsurſachen un-
wirkſam zu machen, ſondern auch ſelbſt
[9] ſchon ausgebrochne Krankheiten zu hei-
len. Ein gewiſſer Herodicus gieng ſo
weit, daſs er ſogar ſeine Patienten nö-
thigte ſpazieren zu gehen, ſich reiben
zu laſſen, und, jemehr die Kran[k]heit ab-
mattete, deſto mehr durch Anſtrengung
der Muſkelkräfte dieſe Mattigkeit zu
überwältigen; und er hatte das Glück,
durch ſeine Methode ſo vielen ſchwäch-
lichen Menſchen das Leben viele Jahre
zu verlängern, daſs ihm ſogar Plato den
Vorwurf macht, er habe ſehr ungerecht
gegen dieſe armen Leute gehandelt,
durch ſeine Kunſt ihr immer ſterbendes
Leben bis ins Alter zu verlängern.
Die hellſten und naturgemäſſeſten Ideen
über die Erhaltung und Verlängerung
des Lebens finden wir beym Plutarch,
der durch das glücklichſte Alter die
Wahrheit ſeiner Vorſchriften beſtätigte.
Schon er ſchlieſst ſeinen Unterricht mit
folgenden auch für unſere Zeiten gülti-
gen Regeln: den Ko[p]f kalt und die Füſse
warm zu halten, anſtatt bey jeder Un-
päſslichkeit gleich Arzneyen zu brau-
[10] chen, lieber erſt einen Tag zu faſten,
und über dem Geiſt nie den Leib zu ver-
geſſen.
Eine ſonderbare Methode, das Le-
ben im Alter zu verlängern, die ſich
ebenfalls aus den früheſten Zeiten her-
ſchreibt, war die Gerocomic, die Ge-
wohnheit, einen alten abgelebten Körper
durch die nahe Atmosphäre friſcher auf-
blühender Jugend zu verjüngen und zu
erhalten. Das bekannteſte Beyſpiel da-
von enthält die Geſchichte des König
David, aber man findet in den Schriften
der Aerzte mehrere Spuren, daſs es da-
mals eine ſehr gewöhnliche und beliebte
Hülfe des Alters war. Selbſt in neuern
Zeiten iſt dieſer Rath mit Nutzen befolgt
worden; der groſse Boerhave lieſs einen
alten Amſterdamer Bürgermeiſter zwi-
ſchen zwey jungen Leuten ſchlafen, und
verſichert, der Alte habe dadurch ſicht-
bar an Munterkeit und Kräften zuge-
nommen. Und gewiſs wenn man be-
denkt, was der Lebensdunſt friſch auf-
[11] geſchnittner Thiere auf gelähmte Glie-
der, was das Auflegen lebendiger Thiere
auf ſchmerzhafte Uebel vermag, ſo
ſcheint dieſe Methode nicht verwerflich
zu ſeyn.
Höchſtwahrſcheinlich gründete ſich
auf dieſe Ideen der hohe Werth, den
man bey Römern und Griechen auf
das Anwehen eines reinen geſunden
Athems ſezte. Es gehört hieher ei-
ne alte Inſchrift, die man im vori-
gen Jahrhundert zu Rom fand, und ſo
lautet:
‘Aeſculapio et Sanitati
L. Clodius Hermippus
Qui vixit Annos CXV. Dies V.
Puellarum Anhelitu
Quod etiam poſt mortem ejus
Non parum mirantur Phyſici
Jam poſteri, ſic vitam ducite.’ ()
[12]‘Dem Aesculap und der Geſundheit
geweiht
von L. Clodius Hermippus
der 115 Jahr 5 Tage lebte
durch den Athem junger Mädgen u. ſ. w.’ ()
Dieſe Inſchrift mag nun ächt ſeyn
oder nicht; genug ſie veranlaſste noch zu
Anfang dieſes Jahrhunderts eine Schrift,
worinne ein Doctor Cohauſen ſehr ge-
lehrt beweiſet, dieſer Hermippus ſey ein
Waiſenhausvorſteher oder Mädgenſchul-
meiſter zu Rom geweſen, der beſtändig
in dem Zirkel kleiner Mädgen gelebt,
und eben dadurch ſein Leben ſo weit
verlängert habe. Er giebt daher den
wohlmeynenden Rath, ſich nur alle Mor-
gen und Abende von kleinen unſchuldi-
gen Mädgen anhauchen zu laſſen, und
verſichert zu ſeyn, daſs man dadurch
zur Stärkung und Erhaltung der Lebens-
kräfte unglaublich viel beytragen werde,
indem, ſelbſt nach dem Ausſpruch der
Adepten, in dem Hauche der Unſchuld
[13] die erſte Materie am reinſten enthalten
wäre.
Aber am ergiebigſten an neuen und
abentheuerlichen Ideen über dieſe Mate-
rie war jene tauſendjährige Nacht des
Mittelalters, wo Schwärmerey und Aber-
glauben alle reinen naturgemäſsen Be-
griffe verbannten, wo zuerſt der ſpecu-
lative Müſsiggang der Klöſter die und
jene chemiſche und phyſiſche Erfindung
veranlaſste, aber dieſelben mehr zur
Verwirrung als zur Aufhellung der Be-
griffe, mehr zur Beförderung des Aber-
glaubens als zur Berichtigung der Er-
kenntniſs nuzte. Dieſe Nacht iſts, in
der die monſtröſeſten Geburten des
menſchlichen Geiſtes ausgebrütet, und
jene abentheuerlichen Ideen von Be-
hexung, Sympathie der Körper, Stein
der Weiſen, geheimen Kräften, Chiro-
mantie, Kabala, Univerſalmedizin u. ſ.
w. in die Welt geſezt oder wenigſtens
ausgebildet wurden, die leider noch im-
mer nicht auſser Cours ſind, und nur in
[14] veränderten und moderniſirten Geſtal-
ten, immer noch zur Verführung des
Menſchengeſchlechts dienen. In dieſer
Geiſtesfinſterniſs erzeugte ſich nun auch
der Glaube, daſs die Erhaltung und Ver-
längerung des Lebens, die man zeither
als ein Geſchenk der Natur auch durch
die natürlichſten Mittel geſucht hatte,
durch chemiſche Verwandlungen, durch
Hülfe der erſten Materie, die man in
Deſtillirkolben gefangen zu haben mey-
nete, durch Vermeidung böſer Conſtel-
lationen und ähnlichen Unſinn erhalten
werden könnte. Es ſey mir erlaubt, ei-
nige dieſer an die Menſchheit ergange-
nen Vorſchläge, die, troz ihrer Unge-
reimtheit dennoch Glauben fanden,
nahmhaft zu machen.
Einer der unverſchämteſten Charla-
tans und hochpralenden Lebensverlän-
gerer war Theophraſtus Paracelſus, oder,
wie ſein ganzer, ihn karakteriſirender
Nahme hieſs: Philippus Aureolus Theo-
phraſtus Paracelſus Bombaſtus ab Hohen-
[15] heim. Er war die halbe Welt durchrei-
ſet, hatte aus allen Orten und Enden
Rezepte und Wundermittel zuſammen-
getragen, und beſonders, was damals
noch ſelten war, in den Bergwerken
Kenntniſs und Behandlung der Metalle
ſtudirt. Er fing ſeine Laufbahn damit
an, alles niederzureiſsen, was bisher
gelehrt worden war, alle hohen Schulen
mit der gröſsten Verachtung zu behan-
deln, ſich als den erſten Philoſophen
und Arzt der Welt zu präſentiren, und
heilig zu verſichern, das keine Krank-
heit ſey, die er nicht heilen, kein Leben,
das er nicht verlängern könnte. Zur
Probe ſeiner Inſolenz und des Tons, in
dem die Charlatans des 15ten Jahrhun-
derts ihr Publicum anredeten, will ich
nur den Anfang ſeines Hauptwerks an-
führen: „Ihr müſſet mir nach, ich nicht
„euch, ihr mir nach, Avicenna, Rhaſes,
„Galen, Meſue, mir nach und nicht ich
„euch, ihr von Paris, ihr von Montpel-
„lier, ihr von Schwaben, ihr von Meiſ-
„ſen, ihr von Köln, ihr von Wien, und
[16] „was an der Donau und dem Rheinſtrom
„liegt, ihr Inſeln im Meer, du Italien,
„du Dalmatien, du Athen, du Grieche,
„du Araber, du Iſraelite, mir nach und
„nicht ich euch; Mein iſt die Monar-
„chey!“ Man ſieht, daſs er nicht Un-
recht hatte, wenn er von ſich ſagt:
„Von der Natur bin ich nicht ſubtil ge-
„ſponnen; es iſt auch nicht unſre Lan-
„desart, die wir unter Tannzapfen auf-
„wachſen.“ Aber er hatte die Gabe, ſei-
nen Unſinn in einer ſo dunkeln und my-
ſtiſchen Sprache vorzutragen, daſs man
die tiefſten Geheimniſſe darinne ahnde-
te, und noch hie und da darinnen ſucht,
und daſs es wenigſtens ganz unmöglich
war, ihn zu widerlegen. Durch alles
dieſs und durch die neuen und auffallen-
den Wirkungen einiger chemiſchen Mit-
tel, die er zuerſt in die Medizin ver-
pflanzte, machte er erſtaunliche Senſa-
tion, und ſein Ruf wurde ſo verbreitet,
daſs aus ganz Europa Schüler und Pa-
tienten zu ihm ſtrömten, und daſs ſelbſt
ein Erasmus ſich entſchlieſsen konnte,
ihn
[17] ihn zu conſultiren. Er ſtarb im 50ſten
Jahre, ohneracht er den Stein der Un-
ſterblichkeit beſaſs, und wenn man die-
ſen vegetabiliſchen Schwefel genauer
unterſucht, ſo findet man, daſs er weiter
nichts war, als ein hitziges, dem Hof-
mannſchen Liquor gleiches Mittel.
Aber nicht genug, daſs man die
Chemie und die Geheimniſſe des Geiſter-
reichs aufbot, um unſere Tage zu ver-
längern, ſelbſt die Geſtirne muſsten da-
zu benutzt werden. Es wurde damals
allgemeiner Glaube, daſs der Einfluſs
der Geſtirne (die man ſich doch nicht
ganz müſsig denken konnte) Leben und
Schickſale der Menſchen regierte, daſs
jeder Planet und jede Conſtellation der-
ſelben der ganzen Exiſtenz des darinne
erzeugten Weſens eine gewiſſe Richtung
zum Böſen oder Guten geben könne,
und daſs folglich ein Aſtrolog nur die
Stunde und Minute der Geburt zu wiſ-
ſen brauche, um das Temperament, die
Geiſtesfähigkeiten, die Schickſale, die
B
[18] Krankheiten, die Art des Todes und
auch den Tag deſſelben beſtimmen zu
können. — Dieſs war der Glaube nicht
blos des groſsen Haufens, ſondern der
gröſsten, verſtändigſten und einſichts-
volleſten Perſonen der damaligen Zeit,
und es iſt zum erſtaunen, wie lange und
wie feſt man daran hing, ohneracht es
nicht an Beyſpielen fehlen konnte, wo
die Prophezeyung fehlſchlug. Biſchöffe,
hohe Geiſtliche, berühmte Philoſophen
und Aerzte gaben ſich mit dem Nativi-
tätſtellen ab, man las ſogar auf Univer-
ſitäten Collegia darüber, ſo gut wie über
die Punktirkunſt und Cabala. Zum Be-
weiſe erlaube man mir ein Paar Worte
von dem berühmten Thurneiſen, dem
glänzendſten Phänomen dieſer Art, und
einem wirklich ausgezeichneten Men-
ſchen, zu ſagen. Er lebte im vorigen
Jahrhundert an dem Kurfürſtlichen Hofe
zu Berlin, und war Leibarzt, Chemiſt,
Nativitätſteller, Calendermacher, Buch-
drucker und Buchhändler, alles in einer
Perſon. Seine Reputation in der Aſtro-
[19] logie war ſo groſs, daſs faſt in keinem
angeſehenen Hauſe in Teutſchland, Po-
len, Ungarn, Dänema[r]k, ja ſelbſt in
England ein Kind gebohren wurde, wo
man nicht ſogleich einen Boten mit der
Beſtimmung der Geburtsſtunde an ihn
abſendete. Es kamen oft 8, 10 bis 12
ſolche Geburtsſtunden auf einmal bey
ihm an, und er wurde zulezt ſo über-
häuft, daſs er ſich Gehülfen zu dieſem
Geſchäft halten muſste. Noch befinden
ſich viele Bände ſolcher Anfragen auf
der Bibliothek zu Berlin, in denen ſo-
gar Briefe von der Königin Eliſabeth er-
ſcheinen. Auſſerdem ſchrieb er noch
jährlich einen aſtrologiſchen Calender,
in welchem nicht nur die Natur des Jah-
res überhaupt, ſondern auch die Haupt-
begebenheiten und die Tage derſelben
mit kurzen Worten oder Zeichen ange-
geben waren. Ereylich lieferte er ge-
wöhnlich die Auslegung erſt das Jahr
darnach; doch findet man auch Beyſpie-
le, daſs er ſich durch Geld und gute
Worte bewegen lieſs, dieſelbe im vor-
B 2
[20] aus mitzutheilen. Und bewundern muſs
man, was die Kunſt der unbeſtimmten
prophetiſchen Diction und die Gefällig-
keit des Zufalls thun können; der Calen-
der erhielt ſich über 20 Jahre, hatte
reiſsenden Abgang, und verſchafte nebſt
andern Charlatanerien dem Verfaſſer
ein Vermögen von einigen 100000 Gul-
den.
Aber wie konnte man in einer
Kunſt, die dem Leben der Menſchen ſo
beſtimmte und unvermeidliche Grenzen
ſezte, Mittel zur Verlängerung deſſelben
finden? Dieſs geſchah auf folgende
ſinnreiche Art: Man nahm an, daſs
eben ſo wie jeder Menſch unter dem
Einfluſs eines gewiſſen Geſtirns ſtünde,
eben ſo habe auch jeder andere Körper,
Pflanzen, Thiere, ſogar ganze Länder
und einzelne Häuſer, ein jegliches ſein
eignes Geſtirn, von dem es regiert wür-
de, und beſonders war zwiſchen den
Planeten und Metallen ein genauer Zu-
ſammenhang und Sympathie. Sobald
[21] man alſo wuſste, von welchen Conſtel-
lationen und Geſtirnen das Unglück und
die Krankheiten eines Menſchen her-
rührten, ſo hatte er weiter nichts nöthig,
als ſich lauter ſolcher Speiſen, Getränke
und Wohnungen zu bedienen, die von
den entgegengeſezten Planeten be-
herrſcht wurden. Dieſs gab eine ganz
neue Diätetik, aber freylich von ganz
andrer Art als jene Griechiſche. Kam
nun ein Tag vor, der durch ſeine beſon-
ders unglückliche Conſtellation eine
ſchwere Krankheit u. d. gl. fürchten
lieſs, ſo begab man ſich an einen Ort,
der unter einem freundlichen Geſtirn
ſtand, oder man nahm ſolche Nahrungs-
mittel und Arzneyen zu ſich, die un-
ter der Protection eines guten Geſtirns
den Einfluſs des böſen zu nichte mach-
ten *). — Aus eben dieſem Grunde
[22] hoffte man die Verlängerung des Lebens
durch Talismanns und Amulete, Weil
die Metalle mit den Planeten in genaue-
ſter Verbindung ſtanden, ſo war es ge-
nug, einen Talismann an ſich zu tragen,
der unter gewiſſen Konſtellationen aus
paſſenden Metallen geſchmolzen, gegoſ-
ſen und geprägt war, um ſich die ganze
Kraft und Protection des damit verbun-
denen Planeten eigen zu machen. Man
hatte alſo nicht nur Talismanns, die die
Krankheiten eines Planeten abwendeten,
ſondern auch Talismanns für alle aſtra-
liſche Krankheiten, ja auch ſolche, die
durch eine beſondere Vermiſchung ver-
*)
[23] ſchiedener Metalle und eigene Künſte
bey Schmelzung derſelben die wunder-
bare Kraft erhielten, den ganzen Ein-
fluſs einer unglücklichen Geburtsſtunde
aufzuheben, zu Ehrenſtellen zu beför-
dern, und in Handels- und Heyraths-
geſchäften gute Dienſte zu leiſten. —
War Mars im Zeichen des Scorpions dar-
auf geprägt, und ſie in dieſer Conſtella-
tion gegoſſen, ſo machten ſie ſiegreich
und unverwundbar im Kriege, und die
teutſchen Soldaten waren von dieſer
Idee ſo eingenommen, daſs von einer
Niederlage derſelben in Frankreich ein
franzöſiſcher Schriftſteller erzählt, man
habe bey allen Todten und Gefangenen
Amulete am Halſe hängend gefunden.
Aber die Bilder der Planetgottheiten
durften in dieſer Abſicht durchaus keine
antike Form ſondern eine myſtiſche
abentheuerliche Geſtalt und Tracht ha-
ben. Man hat noch eines gegen die jo-
vialiſchen Krankheiten mit dem Bildniſſe
des Jupiters. Hier ſieht Jupiter völlig
ſo aus, wie ein alter Wittenberger oder
[24] Baſeler Profeſſor. Es iſt ein bärtiger
Mann in einem weiten mit Pelz gefüt-
terten Ueberrok, hält in der einen Hand
ein aufgeſchlagenes Buch, und docirt
mit der rechten. — Ich würde mich
nicht ſo lange bey dieſer Materie aufge-
halten haben, wenn nicht dieſe Grille
voriger Jahrhunderte noch vor wenig
Jahren von Caglioſtro wieder in Gang
gebracht worden wäre, und noch in
dem lezten Viertheil des achtzehenden
Jahrhunderts hie und da Beyfall gefun-
den hätte.
Je ungereimter und verworrener
die damaligen Begriffe waren, deſto
ſchätzbarer muſs uns das Andenken ei-
nes Mannes ſeyn, der ſich glücklich aus
denſelben herauszuwinden und die
Kunſt, ſein Leben zu verlängern, auf
dem Wege der Natur und der Mäſsigkeit
zu finden wuſste. Cornaro der Italiener
wars, der durch die einfachſte und
ſtrengſte Diät, und durch eine beyſpiel-
loſe Beharrlichkeit in derſelben, ſich ein
[25] glückliches und hohes Alter verſchaffte,
das ihm reichliche Belohnung ſeiner Ent-
ſagung, und der Nachwelt ein lehrrei-
ches Beyſpiel gab. Nicht ohne Theil-
nahme und freudiges Mitgefühl kann
man den drey und achtzigjährigen Greiſs
die Geſchichte ſeines Lebens und ſeiner
Erhaltung beſchreiben, und alle die Hei-
terkeit und Zufriedenheit preiſsen hö-
ren, die er ſeiner Lebensart verdankt.
Er hatte bis in ſein 40ſtes Jahr ein
ſchwelgeriſches Leben geführt, war be-
ſtändig krank an Koliken, Glieder-
ſchmerzen und Fieber, und kam durch
lezteres endlich dahin, daſs ihn ſeine
Aerzte verſicherten, er werde nicht viel
über 2 Monate mehr leben, alle Arz-
neyen ſeyen vergebens, und das einzige
Mittel für ihn ſey eine ſparſame Diät.
Er folgte dieſem Rath, bemerkte ſchon
nach einigen Tagen Beſſerung, und nach
Verlauf eines Jahres war er nicht nur
völlig hergeſtellt, ſondern geſünder als
er je in ſeinem Leben geweſen war. Er
beſchloſs alſo, ſich noch mehr einzu-
[26] ſchränken, und ſchlechterdings nicht
mehr zu genieſsen, als was zur Subſi-
ſtenz unentbehrlich wäre, und ſo nahm
er denn 60 ganzer Jahre hindurch täglich
nicht mehr als 24 Loth Speiſe (alles mit
eingeſchloſſen) und 26 Loth Getränk zu
ſich. Dabey vermied er auch ſtarke Er-
hitzungen, Erkältungen und Leiden-
ſchaften, und durch dieſe ſich immer
gleiche gemäſsigte Diät erhielt nicht nur
ſein Körper, ſondern auch die Seele ein
ſo beſtimmtes Gleichgewicht, daſs nichts
ihn erſchüttern konnte. In ſeinem ho-
hen Alter verlohr er einen wichtigen
Prozeſs, worüber ſich zwey ſeiner Brü-
der zu Tode grämten, er blieb gelaſſen
und geſund; er wurde mit dem Wagen
umgeworfen, und von den Pferden ge-
ſchleift, daſs er Arm und Fuſs ausrenkte,
er lieſs ſie wieder einrichten, und ohne
ſonſt etwas zu brauchen war er in kur-
zem wieder hergeſtellt. — Aber am
merkwürdigſten und beweiſend, wie
gefährlich die geringſte Abweichung von
einer langen Gewohnheit werden kann,
[27] war folgendes. Als er 80 Jahr alt war,
drangen ſeine Freunde in ihn, doch
nun, da ſein Alter mehr Unterſtützung
brauchte, ſeiner Nahrung etwas zuzu-
ſetzen. Er ſah zwar wohl ein, daſs mit
der allgemeinen Abnahme der Kräfte
auch die Verdauungskraft abnehmen,
und man im Alter die Nahrung eher ver-
mindern als vermehren müſste. Doch
gab er nach, und erhöhete ſeine Speiſe
auf 28 und ſein Getränk auf 32 Loth.
„Kaum hatte ich,“ ſagt er ſelbſt, „dieſe
„Lebensart 10 Tage fortgeſezt, als ich
„anfing, ſtatt meiner vorigen Munter-
„keit und Fröhlichkeit, kleinmüthig,
„verdroſſen, mir und andern läſtig zu
„werden. Am 12ten Tage überfiel mich
„ein Schmerz in der Seite, der 24 Stun-
„den anhielt, und nun erfolgte ein Fie-
„ber, das 35 Tage in ſolcher Stärke fort-
„dauerte, daſs man an meinem Leben
„zweifelte. Aber durch Gottes Gnade
„und meine vorige Diät erholete ich
„mich wieder, und genieſse nun in mei-
„nem 83ſten Jahre den munterſten Lei-
[28] „bes- und Seelenzuſtand. Ich ſteige von
„der Erden an auf mein Pferd, ich klet-
„tre ſteile Anhöhen hinauf, und habe
„erſt kürzlich ein Luſtſpiel voll von un-
„ſchuldiger Freude und Scherz geſchrie-
„ben. Wenn ich von meinen Privatge-
„ſchäften oder aus dem Senat nach Hauſe
„komme, ſo finde ich 11 Enkel, deren
„Auferziehung, Zeitvertreib und Geſän-
„ge die Freude meines Alters ſind. Oft
„ſinge ich ſelbſt mit ihnen, denn meine
„Stimme iſt jezt klärer und ſtärker, als ſie
„je in meiner Jugend war, und ich weiſs
„nichts von den Beſchwehrden und den
„mürriſchen und ungenieſsbaren Lau-
„nen, die ſo oft das Loos des Alters
„ſind.“ In dieſer glücklichen Stimmung
erreichte er das hundertſte Jahr, aber
ſein Beyſpiel iſt ohne Nachfolge geblie-
ben. *)
[29]
Es war eine Zeit, wo man in Frank-
reich den Werth des Bluts ſo wenig zu
kennen ſchien, daſs man König Ludwig
XIII. in den lezten 10 Monaten ſeines
Lebens 47mal zur Ader lieſs, und ihm
noch überdieſs 215 Purganzen und 210
Lavements gab, und gerade da ſuchte
man durch einen ganz entgegengeſezten
Prozeſs, durch Einfüllung eines friſchen
jungen Bluts in die Adern, das Leben
der Menſchen zu verjüngen, zu verlän-
gern, und incurable Krankheiten zu hei-
len. Man nannte dieſs Transfuſion, und
die Methode war dieſe, daſs man zwey
Blutadern öfnete, und vermittelſt eines
Röhrgens das Blut aus der Pulsader ei-
nes andern lebenden Geſchöpfs in die
eine leitete, während man durch die an-
dre Aderöffnung das alte Blut auslaufen
lieſs. Man hatte in England einige
glückliche Verſuche an Thieren gemacht,
und wirklich einigen alten lahmen und
tauben Geſchöpfen, Schafen, Kälbern
und Pferden, durch die Anfüllung mit
dem Blute eines jungen Thiers, Gehör,
[30] Beweglichkeit und Munterkeit, wenig-
ſtens auf einige Zeit wieder verſchafft;
ja man unternahm es, furchtſame Ge-
ſchöpfe durch das Blut eines wilden
grauſamen Geſchöpfs kühn zu machen.
Hierdurch aufgemuntert, trug man kein
Bedenken, auch Menſchen auf dieſe
Weiſe zu reſtauriren. Dr. Denis und
Riva zu Paris waren wirklich ſo glück-
lich, einen jungen Menſchen, der an ei-
ner unheilbaren Schlafſucht litt (in der
man ihm gleichfalls 20mal zu Ader ge-
laſſen hatte) durch die Anfüllung mit
Lamsblut, und einen Wahnſinnigen
durch die Vertauſchung ſeines Bluts mit
Kalbsblut völlig herzuſtellen. Aber da
man nur die unheilbarſten und elende-
ſten Menſchen dazu nahm, ſo trug ſichs
bald zu, daſs einige unter der Operation
ſtarben, und ſeitdem hat es niemand
wieder gewagt. Doch iſt ſie an Thieren
auch hier in Jena ſehr glücklich ausge-
führt worden; und in der That ſollte ſie
nicht ganz verworfen werden, denn, ob
ſchon das eingelaſſene fremde Blut in
[31] kurzem in das unſrige verwandelt wer-
den muſs, und alſo zur Verjüngung und
Verlängerung des Lebens nicht viel da-
von zu hoffen ſeyn möchte, ſo müſste
doch bey gewiſſen Krankheiten, beſon-
ders der Seele und des Nervenſyſtems,
der plözliche ungewohnte Eindruck ei-
nes neuen Blutes auf die edelſten Lebens-
organe, eine groſse und heilſame Revo-
lution bewirken können.
Selbſt der groſse Baco, deſſen Genie
alles Wiſſen umfaſste, und der dem ſo
lange irre geführten menſchlichen Geiſte
zuerſt die Bahn vorzeichnete, die Wahr-
heit wieder zu finden, ſelbſt dieſer groſse
Mann fand das Problem der Verlänge-
rung des Lebens ſeiner Aufmerkſamkeit
und Unterſuchung würdig. Seine Ideen
ſind kühn und neu. Er denkt ſich das
Leben als eine Flamme, die beſtändig
von der umgebenden Luft conſumirt
wird. Jeder, auch der härteſte Körper
wird am Ende durch dieſe beſtändige
feine Verdunſtung aufgelöſet und deſtru-
[32] irt. Er zieht daraus den Schluſs, daſs
durch Verhütung dieſer Conſumtion und
durch eine von Zeit zu Zeit unternomm-
ne Erneuerung unſrer Säfte das Leben
verlängert werden könne. Zur Verhü-
tung der Conſumtion von auſſen em-
pfiehlt er beſonders kühle Bäder und das
bey den Alten ſo beliebte Einreiben von
Oel und Salben nach dem Bade; zur Ver-
minderung der Conſumtion von innen
Gemüthsruhe, eine kühle Diät und den
Gebrauch des Opiums und der Opiatmit-
tel, wodurch die zu groſse Lebhaftigkeit
der innern Bewegungen gemäſsigt und
das damit verbundene Aufreiben retar-
dirt würde. Um aber bey zunehmenden
Jahren die unvermeidliche Vertrocknung
und Verderbniſs der Säfte zu verbeſſern,
hält er für das beſte, alle 2 bis 3 Jahre
einen Renovationsprozeſs mit ſich vor-
zunehmen, der darinne beſteht, daſs
man durch magere Diät und ausleeren-
de Mittel erſt den Körper von allen al-
ten und verdorbenen Säften befreye,
und dann durch eine ausgeſuchte erfri-
ſchende
[33] ſchende und nahrhafte Diät und ſtärken-
de Bäder die durſtigen Gefäſse wieder
mit belebenden Säften anfülle, und ſich
alſo von Zeit zu Zeit im eigentlichſten
Verſtande erneue und verjünge. — Das
Wahre, was in dieſen Ideen liegt, iſt
nicht zu verkennen, und mit einigen
Modificationen würden ſie immer an-
wendbar ſeyn.
In den neueſten Zeiten hat man lei-
der mehr Progreſſen in den Künſten, das
Leben zu verkürzen, als in der, es zu
verlängern gemacht. Charlatans genug
ſind erſchienen und erſcheinen noch täg-
lich, die durch aſtraliſche Salze, Gold-
tinkturen, Wunder- und Luftſalzeſſen-
zen, himmliſche Betten, und magneti-
ſche Zauberkräfte den Lauf der Natur
zu hemmen verſprechen. Aber man
fand nur zu bald, daſs der berühmte
Thee zum langen Leben des Grafen St.
Germain ein ſehr alltägliches Gemiſch
von Sandelholz, Senesblättern und Fen-
C
[34] chel, das angebetete Lebenselixir Caglio-
ſtros ein ganz gewöhnliches nur ſehr
hitziges Magenelixir, die Wunderkraft
des Magnetismus aus Imagination, Ner-
venreiz und Sinnlichkeit zuſammenge-
ſezt war, und die geprieſenen Luftſalze
und Goldtincturen mehr auf das Leben
ihrer Erfinder, als derer, die ſie einnah-
men, berechnet waren.
Beſonders verdient die Erſcheinung
des Magnetismus in dieſer Sammlung
noch einige Erwähnung. Ein bankerut
gewordener, und verachteter, aber
ſchwärmeriſcher und wahrſcheinlich
nicht ſowohl von unſichtbaren Kräften,
als von unſichtbaren Obern geleiteter
Arzt, Mesmer, fiel endlich auf den Ge-
danken, künſtliche Magnete zu machen,
und dieſe als ſouveraine Mittel gegen eine
Menge Krankheiten, Lähmung, Gicht-
flüſſe, Zahnweh, Kopfweh u. dgl. zu
verkaufen. Da er merkte, daſs dieſs
glückte, ſo ging er weiter, und ver-
[35] ſicherte, daſs er nun gar keine künſtliche
Magnete mehr nöthig hätte, ſondern
daſs er ſelbſt der groſse Magnet ſey, der
die Welt magnetiſiren ſollte. — Seine
eigne Perſon war ſo mit magnetiſcher
Kraft angefüllt, daſs er durch Berührung,
durch Ausſtreckung ſeines Fingers, ja
durch bloſses Anſchauen dieſelbe andern
mittheilen zu können verſicherte. Er
führte wirklich Beyſpiele von Perſonen
an, die durch Berührungen von ihm, ja
durch ſeine bloſsen Blicke verſicherten
Empfindungen bekommen zu haben, als
wenn man ſie mit einem Stock oder mit
einem Eiſen geſchlagen hätte. Dieſe
ſonderbare Kraft nannte er nun animali-
ſchen Magnetismus, und vereinigte un-
ter dieſer ſeltſamen Benennung alles,
was der Menſchheit am meiſten am
Herzen liegt, Weisheit, Leben und
Geſundheit, die er dadurch nach Be-
lieben mittheilen und verbreiten
konnte.
C 2
[36]
Da man das Unweſen nicht länger
in Wien dulden wollte, ſo ging er nach
Paris, und hier nahm es nun erſt ſeinen
rechten Anfang. Er hatte erſtaunlichen
Zulauf; alles wollte von ihm geheilt
ſeyn, alles wollte einen Theil ſeiner
Kraft mitgetheilt haben, um auch Wun-
der wirken zu können. Er errichtete
eigne geheime Geſellſchaften, wo ein
jeder Novize 100 Louisd’or erlegen
muſste, und äuſserte endlich ganz laut,
daſs er der Mann ſey, den die Vorſehung
zum groſsen Erneuerungsgeſchäfte der
ſo ſichtbar hinwelkenden menſchlichen
Natur erwählt habe. Zum Beweiſs will
ich Ihnen nur folgenden Zuruf mit-
theilen, den er durch einen ſeiner
Apoſtel ans Publicum ergehen lieſs.
„Seht eine Entdeckung, die dem
„Menſchengeſchlecht unſchäzbare Vor-
„theile und ihrem Erfinder ewigen
„Ruhm bringen wird! Seht eine allge-
„meine Revolution! Andre Menſchen
„werden die Erde bewohnen; ſie wer-
[37] „den durch keine Schwachheiten in ih-
„rer Laufbahn aufgehalten werden, und
„unſre Uebel nur aus der Erzählung ken-
„nen! Die Mütter werden weniger von
„den Gefahren der Schwangerſchaft und
„den Schmerzen der Geburt leiden, wer-
„den ſtärkre Kinder zur Welt bringen,
„die die Thätigkeit, Energie und Anmuth
„der Urwelt erhalten werden. Thiere
„und Pflanzen, gleich empfänglich für
„die magnetiſche Kraft, werden frey
„von Krankheiten ſeyn; die Heerden
„werden ſich leichter vermehren, die
„Gewächſe in unſern Gärten werden
„mehr Kräfte haben und die Bäume
„ſchönere Früchte geben, der menſch-
„liche Geiſt, im Beſitz dieſes Weſens,
„wird vielleicht der Natur noch wunder-
„barere Wirkungen gebieten. — Wer
„kann wiſſen, wie weit ſich ſein Einfluſs
„erſtrecken wird?“
Man ſollte meynen, einen Traum
aus dem tauſendjährigen Reiche zu hö-
[38] ren. Und dieſe ganzen pompöſen Ver-
ſprechungen und Ausſichten verſchwan-
den plötzlich, als eine Commiſſion, an
deren Spitze Franklin ſtand, das Weſen
des Magnetismus genauer unterſuchte.
— Der Nebel verſchwand, und es iſt
nun von dem ganzen Blendwerk weiter
nichts übrig geblieben, als die animali-
ſche Electricität und die Ueberzeugung,
daſs ſolche durch gewiſſe Arten von
Streichen und Manipuliren des Körpers
in Bewegung geſezt werden kann, aber
gewiſs ohne Beyhülfe von Nerven-
ſchwäche und Schwärmerey nie jene
wunderbare Phänomene hervorbringen
wird, noch weniger im Stande ſeyn
kann, das menſchliche Leben zu verlän-
gern.
Faſt ſchien es, als wolle man
jene Idee ganz den Charlatans über-
laſſen, um ſo mehr, da der aufge-
klärtere Theil ſich für die Unmög-
lichkeit dieſer Erfindung dadurch ent-
[39] ſchädigte, daſs er die Länge des Le-
bens nicht in der Zahl der Tage, ſon-
dern in dem Gebrauch und Genuſs deſ-
ſelben fand.
Da aber dieſs doch unmöglich für
einerley gelten kann, und da ſich in
neuern Zeiten unſre Einſichten in die
Natur des organiſchen Lebens und der
dazu nöthigen Bedingungen ſo ſehr ver-
vollkommnet und berichtigt haben, ſo
iſt es wohl der Mühe werth, dieſe beſ-
ſern Kenntniſſe zur Entwicklung eines
ſo wichtigen Gegenſtandes zu verar-
beiten, und die Methode, das Leben
zu verlängern, ſo auf die Prinzipien
der animaliſchen Phyſik zu gründen,
daſs nicht allein eine beſtimmtere Richt-
ſchnur des Lebens daraus entſtehe, ſon-
dern auch, was kein unwichtiger Ne-
bennutzen ſeyn wird, dieſer Gegen-
ſtand inskünftige den Schwärmern und
Betrügern unbrauchbar gemacht werde,
die bekanntlich ihr Weſen in einem
[40] ſcientifiſchen Gebiet nur ſo lange trei-
ben können, als es noch nicht durch die
Fackel gründlicher Unterſuchung er-
leuchtet iſt.
[41]
Zweyte Vorleſung.
Unterſuchung der Lebenskraft und der
Lebensdauer überhaupt.
Eigenſchaften und Geſetze der Lebenskraft — Begriff
des Lebens — Lebensconſumtion, unzertrennliche Folge
der Lebensoperation ſelbſt — Lebensziel — Urſachen
der Lebensdauer — Retardation der Lebensconſumtion
— Möglichkeit der Lebensverlängerung — Geſchwind
und langſam leben — Intenſives und extenſives Le-
ben — der Schlaf.
Das erſte, worauf es uns bey Verlän-
gerung des Lebens ankommt, muſs
wohl nähere Kenntniſs der Natur des Le-
bens und beſonders der Lebenskraft, der
Grundurſache alles Lebens, ſeyn.
[42]
Sollte es denn gar nicht möglich
ſeyn, die innere Natur jener heiligen
Flamme etwas genauer zu erforſchen,
und daraus das, was ſie nähren, das,
was ſie ſchwächen kann, zu erkennen?
— Ich fühle ganz, was ich bey dieſer
Unterſuchung wage. Es iſt das Aller-
heiligſte der Natur, dem ich mich nä-
here, und nur zu viel ſind der Beyſpie-
le, wo der zu kühne Forſcher geblendet
und beſchämt zurückkehrte, und wo
ſelbſt ihr innigſter Vertrauter, Haller,
ausrufen muſste:
Ins Innre der Natur dringt kein erſchaffner
Geiſt.
Aber dennoch darf dieſs uns nicht ab-
ſchrecken. Die Natur bleibt immer
eine gütige Mutter, ſie liebet und be-
lohnt den, der ſie ſucht, und iſt es uns
gleich nicht allemal möglich, das viel-
leicht zu hoch geſteckte Ziel unſres Stre-
bens zu erreichen, ſo können wir doch
gewiſs ſeyn, auf dem Wege ſchon ſo
[43] viel Neues und Intereſſantes zu finden,
daſs uns gewiſs ſchon der Verſuch, ihr
näher zu kommen, reichlich belohnt
wird. — Nur hüte man ſich, mit zu
raſchen übermüthigen Schritten auf ſie
einzudringen. Unſer Sinn ſey offen,
rein, gelehrig, unſer Gang vorſichtig
und immer aufmerkſam, Täuſchungen
der Phantaſie und der Sinne zu vermei-
den, und unſer Weg ſey der ſichere,
wenn gleich nicht der bequemſte, Weg
der Erfahrung und beſcheidenen Prü-
fung — nicht der Flug kühner Hypo-
theſen, der gewöhnlich zulezt der Welt
nur zeiget, daſs wir wächſerne Flügel
hatten. — Auf dieſem Wege ſind wir
am ſicherſten, das Schickſal jener Philo-
ſophen zu vermeiden, von welchen
Baco ſehr paſſend ſagt: „ſie werden zu
„Nachteulen, die nur im Dunkel ihrer
„Träumereyen ſehen, aber im Licht der
„Erfahrung erblinden, und gerade das
„am wenigſten wahrnehmen können,
„was am hellſten iſt.“ Auf dieſem Wege
und in dieſer Geiſtesſtimmung ſind ſeit
[44] dieſes groſsen Mannes Zeiten die Freun-
de der Natur ihr näher gekommen, als
jemals vorher, ſind Entdeckungen ihrer
tiefſten Geheimniſſe, Benutzungen ihrer
verborgenſten Kräfte gemacht worden,
die unſer Zeitalter in Erſtaunen ſetzen,
und die noch die Nachwelt bewundern
wird. Auf dieſem Wege iſt es möglich
geworden, ſelbſt ohne das innere Weſen
der Dinge zu erkennen, dennoch durch
unermüdetes Forſchen ihre Eigenſchaf-
ten und Kräfte ſo genau abzuwiegen und
zu ergründen, daſs wir ſie wenigſtens
practiſch kennen und benutzen. So iſts
dem menſchlichen Geiſte gelungen, ſelbſt
unbekannte Weſen zu beherrſchen und
nach ſeinem Willen und zu ſeinem Ge-
brauch zu leiten. Die magnetiſche und
electriſche Kraft, ſind beydes Weſen, die
ſogar unſern Sinnen ſich entziehen, und
deren Natur uns vielleicht ewig uner-
forſchlich bleiben wird, und dennoch
haben wir ſie uns ſo dienſtbar gemacht,
daſs die eine uns auf der See den Weg
[45] zeigen, die andere die Nachtlampe am
Bett anzünden muſs.
Vielleicht gelingt es mir, auch in ge-
genwärtiger Unterſuchung ihr näher zu
kommen, und ich glaube, daſs dazu fol-
gende Behandlung die ſchicklichſte ſeyn
wird: erſtens die Begriffe von Leben
und Lebenskraft genauer zu beſtimmen,
und ihre Eigenſchaften feſtzuſetzen, ſo-
dann über die Dauer des Lebens über-
haupt, und in verſchiedenen organiſchen
Körpern insbeſondere, die Natur zu be-
fragen, Beyſpiele zu ſammlen und zu
vergleichen, und aus den Umſtänden
und Lagen, in welchen das Leben eines
Geſchöpfs längere oder kürzere Dauer
hat, Schlüſſe auf die wahrſcheinlichſten
Urſachen des langen oder kurzen Lebens
überhaupt zu ziehen. Nach dieſen Vor-
ausſetzungen wird ſich das Problem, ob
und wie menſchliches Leben zu verlän-
gern ſey, am befriedigendſten und ver-
nünftigſten auflöſen laſſen.
[46]
Was iſt Leben und Lebenskraft? —
Dieſe Fragen gehören unter die vielen
ähnlichen, die uns bey Unterſuchung
der Natur aufſtoſsen. Sie ſcheinen
leicht, betreffen die gewöhnlichſten all-
täglichſten Erſcheinungen, und ſind
dennoch ſo ſchwehr zu beantworten.
Wo der Philoſoph das Wort Kraft
braucht, da kann man ſich immer dar-
auf verlaſſen, daſs er in Verlegenheit iſt,
denn er erklärt eine Sache durch ein
Wort, das ſelbſt noch ein Räthſel iſt; —
denn wer hat noch je mit dem Worte
Kraft einen deutlichen Begriff verbinden
können? Auf dieſe Weiſe ſind eine un-
zählige Menge Kräfte, die Schwehrkraft,
Attractionskraft, electriſche, magneti-
ſche Kraft u. ſ. w. in die Phyſic gekom-
men, die alle im Grunde weiter nichts
bedeuten, als das X in der Algebra, die
unbekannte Gröſse, die wir ſuchen.
Indeſs wir müſſen nun einmal Bezeich-
nungen für Dinge haben, deren Exiſtenz
unleugbar, aber ihr Weſen unbegreiflich
iſt, und man erlaube mir alſo auch hier
[47] ſie zu gebrauchen, ohneracht dadurch
noch nicht einmal entſchieden wird, ob
es eine eigene Materie oder nur eine Ei-
genſchaft der Materie iſt, wovon wir
reden.
Ohnſtreitig gehört die Lebenskraft
unter die allgemeinſten, unbegreiflich-
ſten und gewaltigſten Kräfte der Natur.
Sie erfüllt, ſie bewegt alles, ſie iſt
höchſt wahrſcheinlich der Grundquell,
aus dem alle übrigen Kräfte der phyſi-
ſchen, wenigſtens organiſchen, Welt
flieſsen. Sie iſts, die alles hervorbringt,
erhält, erneuert, durch die die Schö-
pfung nach ſo manchem Tauſende von
Jahren noch jeden Frühling mit eben der
Pracht und Friſchheit hervorgeht, als
das erſte mal, da ſie aus der Hand ihres
Schöpfers kam. Sie iſt unerſchöpflich,
unendlich, — ein wahrer ewiger
Hauch der Gottheit. Sie iſts endlich, die,
verfeinert und durch eine vollkommnere
Organiſation exaltirt, ſogar die Denk-
und Seelenkraft entflammt, und dem
[48] vernünftigen Weſen zugleich mit dem
Leben auch das Gefühl und das Glück
des Lebens giebt. Denn ich habe im-
mer bemerkt, daſs das Gefühl von Werth
und Glück der Exiſtenz ſich ſehr genau
nach dem mehr oder wenigern Reich-
thum an Lebenskraft richtet, und daſs,
ſo wie ein gewiſſer Ueberfluſs derſelben
zu allen Genüſſen und Unternehmungen
aufgelegter und das Leben ſchmackhaft
macht, nichts ſo ſehr, als Mangel daran,
im Stande iſt, jenen Ekel und Ueber-
druſs des Lebens hervorzubringen, der
leider unſere Zeiten ſo merklich aus-
zeichnet.
Durch genauere Beobachtung ihrer
Erſcheinungen in der organiſchen Welt
laſſen ſich folgende Eigenſchaften und
Geſetze derſelben beſtimmen:
1) Die Lebenskraft iſt das feinſte,
durchdringendſte, unſichtbarſte Agens
der Natur, das wir bis jezt kennen. Sie
übertrifft darinne ſogar die Lichtmaterie,
electri-
[49] electriſche und magnetiſche Kraft, mit
denen ſie übrigens am nächſten verwandt
zu ſeyn ſcheint.
2) Ohneracht ſie alles durchdringt,
ſo giebt es doch gewiſſe Modificationen
der Materie, zu denen ſie eine gröſsere
Verwandſchaft zu haben ſcheint, als zu
andern. Sie verbindet ſich daher inni-
ger und in gröſsrer Menge mit ihnen,
und wird ihnen gleichſam eigen. Dieſe
Modification der Materie nennen wir die
organiſche Verbindung und Structur der
Beſtandtheile, und die Körper, die ſie
beſitzen, organiſche Körper, — Pflan-
zen und Thiere. Dieſe organiſche Stru-
ctur ſcheint in einer gewiſſen Lage der
feinſten Theilchen zu beſtehen, und wir
ſtoſsen hier auf eine merkwürdige Aehn-
lichkeit der Lebenskraft mit der magne-
tiſchen Kraft, indem auch dieſe durch
einen Schlag, der in gewiſſer Richtung
auf ein Stück Eiſen geführt wird und die
innere Lage der feinſten Beſtandtheile
ändert, ſogleich erweckt, und durch
D
[50] eine entgegen geſezte Erſchütterung wie-
der aufgehoben werden kann. Daſs we-
nigſtens die organiſche Structur nicht in
dem ſichtbaren faſerichten Gewebe liegt,
ſieht man am Ey, wo davon keine Spur
zu finden und dennoch organiſches Le-
ben gegenwärtig iſt.
3) Sie kann in einem freyen und
gebundenen Zuſtand exiſtiren, und hat
darinne viel Aehnlichkeit mit dem Feu-
erweſen und der electriſchen Kraft. So
wie dieſe in einem Körper wohnen kön-
nen, ohne ſich auf irgend eine Art zu
äuſſern, bis ſie durch einen angemeſſe-
nen Reiz in Wirkſamkeit verſezt werden,
eben ſo kann die Lebenskraft in einem
organiſchen Körper lange in einem ge-
bundenen Zuſtand wohnen, ohne ſich
durch etwas anders, als ſeine Erhaltung
und Verhütung ſeiner Auflöſung, anzu-
deuten. Man hat davon erſtaunliche
Beyſpiele. — Ein Saamenkorn kann
auf dieſe Art Jahre, ein Ey mehrere
Monate lang ein gebundenes Leben be-
[51] halten, es verdunſtet nicht, es verdirbt
nicht, der bloſse Reiz der Wärme kann
das gebundene Leben frey machen, und
entwickeltes reges Leben hervorbringen.
Ja ſelbſt das ſchon entwickelte organi-
ſche Leben kann auf dieſe Art unterbro-
chen und gebunden werden, aber den-
noch in dieſem Zuſtande einige Zeit fort-
dauern und die ihm anvertraute Organi-
ſation erhalten, wovon uns beſonders
die Polypen und Pflanzen-Thiere höchſt-
merkwürdige Beyſpiele liefern.
4) So wie ſie zu verſchiedenen or-
ganiſchen Körpern eine verſchiedene
Verwandſchaft zu haben ſcheint, und
manchen in gröſsrer manchen in gerin-
gerer Menge erfüllt, ſo iſt auch ihre
Bindung mit einigen feſter, mit andern
lockrer. Und merkwürdig iſt es, daſs
gerade da, wo ſie in vorzüglicher Menge
und Vollkommenheit exiſtirt, ſie locke-
rer anzuhängen ſcheint. Der unvoll-
kommne ſchwach lebende Polyp zum
Beyſpiel hält ſie feſter, als ein vollkomm-
D 2
[52] neres Thier aus einer höhern Klaſſe der
Weſen. — Dieſe Bemerkung iſt für
unſere jetzige Unterſuchung von vor-
züglicher Wichtigkeit.
5) Sie giebt jedem Körper, den ſie
erfüllt, einen ganz eigenthümlichen Ka-
racter, ein ganz ſpezifiſches Verhältniſs
zur übrigen Körperwelt. Sie theilt ihm
nehmlich erſtens die Fähigkeit mit, Ein-
drücke als Reize zu percipiren und dar-
auf zu reagiren, und zweytens entzieht
ſie ihn den allgemeinen phyſiſchen und
chemiſchen Geſetzen der todten Natur,
ſo daſs man alſo mit Recht ſagen kann:
durch den Beytritt der Lebenskraft wird
ein Körper aus der mechaniſchen und
chemiſchen Welt in eine neue, die or-
ganiſche oder belebte, verſezt. Hier
finden die allgemeinen phyſiſchen Na-
turgeſetze nur zum Theil und mit gewiſ-
ſen Einſchränkungen ſtatt. Alle Ein-
drücke werden in einem belebten Kör-
per anders modifizirt und reflectirt, als in
einem unbelebten. Daher iſt auch in
[53] einem belebten Körper kein blos mecha-
niſcher oder chemiſcher Prozeſs möglich,
und alles trägt den Karakter des Lebens.
Ein Stoſs, Reiz, Kälte und Hitze wirken
auf ein belebtes Weſen nach ganz eigen-
thümlichen Geſetzen, und jede Wir-
kung, die da entſteht, muſs als eine aus
dem äuſſerlichen Eindruck und der Re-
action der Lebenskraft zuſammengeſezte
angeſehen werden.
Eben hierinn liegt auch der Grund
der Eigenthümlichkeit einzelner Arten,
ja jedes einzelnen Individuums. Wir
ſehen täglich, daſs Pflanzen, die in ei-
nerley Boden neben einander wachſen
und ganz einerley Nahrung genieſsen,
doch in ihrer Geſtalt, Säften und Kräf-
ten himmelweit von einander verſchie-
den ſind. Eben das finden wir im Thier-
reich, und es iſt eigentlich das, wovon
man ſagt: Ein jedes hat ſeine eigne
Natur.
[54]
6. Die Lebenskraft iſt das gröſste
Erhaltungsmittel des Körpers, den ſie
bewohnt. Nicht genug, daſs ſie die gan-
ze Organiſation bindet und zuſammen
hält; ſo widerſteht ſie auch ſehr kräftig
den zerſtörenden Einflüſſen der übrigen
Naturkräfte, in ſo fern ſie auf chemi-
ſchen Geſetzen beruhen, die ſie aufzu-
heben, wenigſtens zu modifiziren ver-
mag. Ich rechne hieher hauptſächlich
die Wirkungen der Fäulniſs, der Ver-
witterung, des Froſts. — Kein leben-
diges Weſen fault; es gehört immer erſt
Schwächung oder Vernichtung der Le-
benskraft dazu, um Fäulniſs möglich zu
machen. Selbſt in ihrem gebundenen
unwirkſamen Zuſtand vermag ſie Fäul-
niſs abzuhalten. Kein Ey, ſo lange
noch Lebenskraft darinne iſt, kein Saa-
menkorn, keine eingeſponnene Raupe,
kein Scheintodter fault, und es iſt ein
wahres Wunderwerk, wie ſie Körper,
die eine ſo ſtarke Neigung zur Fäulniſs
haben, wie eben der menſchliche, 60 —
80 — ja 100 Jahre dafür ſchützen kann. —
[55] Aber auch der zweyten Art von Deſtru-
ction, der Verwitterung, die endlich
alles, ſelbſt die härteſten Körper auflö-
ſet, und zerfallen macht, widerſteht ſie
durch ihre bindende Eigenſchaft. —
Und eben ſo der ſo gefährlichen Entzie-
hung der Feuertheilchen, dem Froſt.
Kein lebender Körper erfriert, das heiſst,
ſo lange ſeine Lebenskraft noch wirkt,
kann ihm der Froſt nichts anhaben.
Mitten in den Eisgebürgen des Süd- und
Nordpols, wo die ganze Natur erſtarrt
zu ſeyn ſcheint, ſieht man lebendige Ge-
ſchöpfe, ſogar Menſchen, die nichts von
dem allgemeinen Froſt leiden. *) Und
dieſs gilt ebenfalls nicht blos von ihrem
[56] wirkſamen, ſondern auch von dem ge-
bundenen Zuſtande. Ein noch Leben
habendes Ey und Saamenkorn erfriert
weit ſpäter, als ein todtes. Der Bär
bringt den ganzen Winter halb erſtarrt
im Schnee, die todſcheinende Schwalbe,
die Puppe des Inſects unter dem Eiſe zu,
und erfrieren nicht. Dann erſt, wenn
der Froſt ſo hoch ſteigt, daſs er die Le-
benskraft ſchwächt oder unterdrückt,
kann er ſie überwältigen, und den nun
lebloſen Körper durchdringen. Dieſs
Phänomen beruht beſonders auf der Ei-
genſchaft der Lebenskraft, Wärme zu
entwickeln, wie wir gleich ſehen wer-
den.
7) Ein gänzlicher Verluſt der Le-
benskraft zieht alſo die Trennung der
organiſchen Verbindung des Körpers
nach ſich, den ſie vorher erfüllte. Seine
Materie gehorcht nun den Geſetzen und
Affinitäten der todten chemiſchen Natur,
der ſie nun angehört, ſie zerſezt und
trennt ſich in ihre Grundſtoffe; es erfolgt
[57] unter den gewöhnlichen Umſtänden die
Fäulniſs, die allein uns überzeugen
kann, daſs die Lebenskraft ganz von ei-
nem organiſchen Körper gewichen iſt.
Aber groſs und erhebend iſt die Bemer-
kung, daſs ſelbſt die, alles Leben zu
vernichten ſcheinende, Fäulniſs, das
Mittel werden muſs, wieder neues Le-
ben zu entwickeln, und daſs ſie eigent-
lich nichts anders iſt, als ein höchſt
wichtiger Prozeſs, die in dieſer Geſtalt
nicht mehr Lebensfähigen Beſtandtheile
aufs ſchnellſte frey und zu neuen orga-
niſchen Verbindungen und Leben ge-
ſchickt zu machen. Kaum iſt ein Kör-
per auf dieſe Art aufgelöſet, ſo fangen
ſogleich ſeine Theilchen an, in tauſend
kleinen Würmchen wieder belebt zu
werden, oder ſie feyern ihre Auferſte-
hung in der Geſtalt des ſchönſten Graſes,
der lieblichſten Blumen, beginnen auf
dieſe Art von neuen den groſsen Lebens-
zirkel organiſcher Weſen, und ſind
durch einige Metamorphoſen vielleicht
ein Jahr darnach wieder Beſtandtheile
[58] eines eben ſo vollkommnen menſchli-
chen Weſens, als das war, mit dem ſie
zu verweſen ſchienen. Ihr ſcheinbarer
Tod war alſo nur der Uebergang zu ei-
nem neuen Leben, und die Lebenskraft
verläſst einen Körper nur, um ſich bald
vollkommener wieder damit verbinden
zu können.
8) Die Lebenskraft kann durch ge-
wiſſe Einwirkungen geſchwächt, ja ganz
aufgehoben, durch andre erweckt, ge-
ſtärkt, genährt werden. Unter die ſie
vernichtenden gehört vorzüglich die Kälte,
der Hauptfeind alles Lebens. Zwar ein
mäſsiger Grad von Kälte kann in ſo fern
ſtärkend ſeyn, indem er die Lebenskraft
concentrirt, und ihre Verſchwendung
hindert, aber es iſt keine poſitive ſon-
dern negative Stärkung, und ein hoher
Grad von Kälte verſcheucht ſie ganz. In
der Kälte kann keine Lebensentwicklung
geſchehen, kein Ey ausgebrütet werden,
kein Saamenkorn keimen.
[59]
Ferner gehören hieher gewiſſe Er-
ſchütterungen, die theils durch Vernich-
tung der Lebenskraft, theils auch durch
eine nachtheilige Veränderung der in-
nern organiſchen Lage der Theilchen zu
wirken ſcheinen. So entzieht ein hefti-
ger electriſcher Schlag, oder der Blitz,
der Pflanzen- und Thierwelt augenblick-
lich die Lebenskraft, ohne daſs man oft
die geringſte Verletzung der Organe ent-
decken kann. So können, beſonders
bey vollkommnern Geſchöpfen, Seelen-
erſchütterungen, heftiges Schrecken
oder Freude, die Lebenskraft augen-
blicklich aufheben.
Endlich giebt es noch gewiſſe phy-
ſiſche Potenzen, die äuſſerſt ſchwächend,
ja vernichtend auf ſie wirken, und die
wir daher gewöhnlich Gifte nennen, z. E.
das faule Contagium, das Kirſchlorbeer-
waſſer, das weſentliche Oel der bittern
Mandeln u. dgl.
[60]
Aber nun exiſtiren auch Weſen von
entgegengeſezter Art, die eine gewiſſe
Freundſchaft und Verwandſchaft zur Le-
benskraft haben, ſie erwecken, ermun-
tern, ja höchſtwahrſcheinlich ihr eine
feine Nahrung geben können. Dieſe
ſind vorzüglich Licht, Wärme und Luft,
oder vielmehr Sauerſtoff, drey Himmels-
gaben, die man mit Recht die Freunde
und Schutzgeiſter alles Lebens nennen
kann.
Oben an ſteht das Licht, ohnſtreitig
der nächſte Freund und Verwandte des
Lebens, und gewiſs in dieſer Rückſicht
von weit weſentlicherer Einwürkung, als
man gewöhnlich glaubt. Ein jedes Ge-
ſchöpf hat ein um ſo vollkommneres Le-
ben, je mehr es den Einfluſs des Lichts
genieſst. Man entziehe einer Pflanze,
einem Thier, das Licht, es wird bey al-
ler Nahrung, bey aller Wartung und
Pflege, erſt die Farbe, dann die Kraft ver-
lieren, im Wachsthum zurückbleiben,
und am Ende verbutten. Selbſt der
[61] Menſch wird durch ein lichtloſes Leben
bleich, ſchlaff und ſtumpf, und verliert
zulezt die ganze Energie des Lebens,
wie ſo manches traurige Beyſpiel lange
im dunkeln Kerker verſchloſsner Perſo-
nen beweiſst. — Ja, ich glaube nicht
zu viel zu ſagen, wenn ich behaupte:
Organiſches Leben iſt nur in der Influenz
des Lichts, und alſo wahrſcheinlich
durch dieſelbe möglich, denn in den
Eingeweyden der Erde, in den tiefſten
Höhlungen, wo ewige Nacht wohnt,
äuſſert ſich nur das, was wir unorgani-
ſches Leben nennen. Hier athmet nichts,
hier empfindet nichts, das einzige, was
man etwa noch antrifft, ſind einige Ar-
ten von Schimmel oder Steinmoos, der
erſte unvollkommenſte Grad von Vege-
tation. — Sogar da zeigt ſich, daſs
dieſe Vegetation meiſtens nur an oder
bey verfaulten Holzwerk entſtehe. Alſo
muſs auch da der Keim organiſchen Le-
bens erſt durch Holz und Waſſer hinun-
ter gebracht, oder Lebenserzeugende
Fäulniſs hervorgebracht werden, wel-
[62] che auſſerdem in dieſen Abgründen nicht
exiſtirt.
Die andere nicht weniger wohlthä-
tige Freundin der Lebenskraft iſt: Wär-
me. Sie allein iſt im Stande, den erſten
Lebenskeim zu entwickeln. Wenn der
Winter die ganze Natur in einen todten-
ähnlichen Zuſtand verſezt hat, ſo braucht
nur die warme Frühlingsluft ſie anzu-
wehen, und alle ſchlafende Kräfte wer-
den wieder rege. Je näher wir den Po-
len kommen, deſto todter wird alles,
und man findet endlich Gegenden, wo
ſchlechterdings keine Pflanze, kein In-
ſect, kein kleineres Thier exiſtiren, ſon-
dern blos groſse Maſſen von Geſchöpfen,
als Wallfiſche, Bären u. dgl., die zum Le-
ben nöthige Wärme conſerviren können.
— Genug, wo Leben iſt, da iſt auch
Wärme in mehr oder mindern Grade,
und es iſt eine höchſtwichtige unzer-
trennliche Verbindung zwiſchen beyden.
Wärme giebt Leben, und Leben entwi-
ckelt auch wiederum Wärme, und es iſt
[63] ſchwehr zu beſtimmen, welches Urſach
und welches Folge iſt.
Von der auſſerordentlichen Kraft
der Wärme, Leben zu nähren und zu
erwecken, verdient folgendes ganz neue
und entſcheidende Beyſpiel angeführt zu
werden: Den zweyten Auguſt 1790
ſtürzte ſich ein Carabinier, Nahmens
Petit zu Strasburg, ganz nackend aus
dem Fenſter des Militairhoſpitals in den
Rhein. Um 5 Uhr Nachmittags bemerkte
man erſt, daſs er fehle, und er mochte
über eine halbe Stunde im Waſſer gele-
gen haben, als man ihn herauszog. Er
war ganz tod. Man that weiter nichts,
als daſs man ihn in ein recht durch-
wärmtes Bett legte, den Kopf hoch, die
Arme an den Leib, und die Beine nahe
neben einander gelegt. Man begnügte
ſich dabey, ihm nur immerfort warme
Tücher, beſonders auf den Magen und
die Beine aufzulegen. Auch wurden in
verſchiedene Gegenden des Bettes heiſse
Steine, mit Tüchern umwickelt, gelegt.
[64] Nach 7 bis 8 Minuten nahm man an den
obern Augenliedern eine kleine Bewe-
gung wahr. Einige Zeit darauf ging die
bis dahin feſt an die obere geſchloſsne
untere Kinnlade auf, es kam Schaum
aus dem Munde, und Petit konnte eini-
ge Löffel Wein verſchlucken. Der Puls
kam wieder, und eine Stunde darauf
konnte er reden. — Offenbar wirkt
die Wärme im Scheintod eben ſo kräftig,
als zur erſten Entwicklung des Lebens,
ſie nährt den kleinſten Funken des noch
übrigen Lebens, facht ihn an, und
bringt ihn nach und nach zur Flamme.
Die dritte wichtigſte Nahrung des
Lebens iſt Luft. Wir finden kein We-
ſen, das ganz ohne Luft leben könnte,
und bey den meiſten folgt auf Entzie-
hung derſelben ſehr bald, oft augen-
blicklich der Tod. Und was ihren Ein-
fluſs am ſichtbarſten macht, iſt, daſs die
Athemholenden Thiere weit reicher an
Lebenskraft ſind und ſie in vollkomm-
nern Grade beſitzen, als die Nichtath-
menden.
[65] menden. Vorzüglich ſcheint die dephlo-
giſtiſirte, oder Feuerluft, derjenige Be-
ſtandtheil unſrer Atmosphäre zu ſeyn,
der zunächſt und am kräftigſten die Le-
benskraft nährt, und man hat in neuern
Zeiten, wo uns unſere wunderthätige
Chemie dieſelbe rein darzuſtellen ge-
lehrt hat, durch das Einathmen derſel-
ben ein allgemeines Gefühl von Stärkung
und Ermunterung bemerkt. Die Grund-
lage dieſer Feuer- oder Lebensluft nen-
nen die Chemiker den Sauerſtoff (Oxy-
gene), und dieſer Beſtandtheil iſt es ei-
gentlich, der das Belebende in der Luft
enthält, und beym Athemholen in das
Blut übergehet. — Auch das Waſſer
gehört in ſo fern zu den Lebensfreunden,
als es auch Sauerſtoff enthält, und we-
nigſtens zu den Lebensbedingungen, als
ohne Flüſsigkeit keine Aeuſserung des
Lebens möglich iſt.
Ich glaube alſo mit Recht behaupten
zu können, daſs Licht, Wärme und
Sauerſtoff, die wahren eigenthümlichen
E
[66] Nahrungs- und Erhaltungsmittel der
Lebenskraft ſind. Gröbere Nahrungs-
mittel (den Antheil von Sauerſtoff und
Feuermaterie abgerechnet, den ſie ent-
halten) ſcheinen mehr zur Erhaltung
der Organe und zur Erſetzung der Con-
ſumtion zu dienen. Sonſt lieſse ſichs
nicht erklären, wie Geſchöpfe ſo lange
ohne eigentliche Nahrung ihr Leben er-
halten konnten. Man ſehe das Hühn-
chen im Ey an. Ohne den geringſten
Zugang von auſſen lebt es, entwickelt
ſich, und wird ein vollkommnes Thier.
Eine Hyazinten oder andere Zwiebel,
kann ohne die geringſte Nahrung, als
den Dunſt von Waſſer, ſich entwickeln,
ihren Stengel und die ſchönſten Blätter
und Blumen treiben. Selbſt bey voll-
kommnern Thieren ſehen wir Erſchei-
nungen, die auſſerdem unerklärbar wä-
ren. Der Engländer Fordyce z. E. ſchloſs
Goldfiſche in Gefäſse, mit Brunnenwaſſer
gefüllt, ein, lies ihnen anfangs alle 24
Stunden, nachher aber nur alle 3 Tage
friſches Waſſer geben, und ſo lebten ſie
[67] ohne alle Nahrung 15 Monate lang, und,
was noch mehr zu bewundern iſt, wa-
ren noch einmal ſo groſs geworden.
Weil man aber glauben konnte, daſs
doch in dem Waſſer eine Menge unſicht-
barer Nahrungstheilchen ſeyn möchten,
ſo deſtillirte er nun daſſelbe, ſezte ihm
wieder Luft zu, und um auch allen Zu-
gang von Inſecten abzuhalten, verſtopfte
er das Gefäſs ſorgfältig. Demohngeach-
tet lebten auch hier die Fiſche lange Zeit
fort, wuchſen ſogar und hatten Excre-
tionen. Wie wäre es möglich, daſs ſelbſt
Menſchen ſo lange hungern und den-
noch ihr Leben erhalten könnten, wenn
die unmittelbare Nahrung der Lebens-
kraft ſelbſt aus den Nahrungsmitteln ge-
zogen werden müſste? Ein franzöſiſcher
Offizier *) verfiel nach vielen erlittenen
Kränkungen in eine Gemüthskrankheit,
in welcher er beſchloſs, ſich auszuhun-
gern, und blieb ſeinem Vorſatz ſo ge-
E 2
[68] treu, daſs er ganzer 46 Tage nicht die
geringſte Speiſe zu ſich nahm. Nur am
fünften Tage foderte er abgezogenes
Waſſer, und da man ihm ein halbes Nö-
ſel Anisbrantwein gab, verzehrte er ſol-
ches in 3 Tagen. Als man ihm aber
vorſtellte, daſs dieſs zu viel ſey, that er
in jedes Glaſs Waſſer, das er trank, nicht
mehr als 3 Tropfen, und kam mit dieſer
Flaſche bis zum 39ſten Tage aus. Nun
hörete er auch auf zu trinken, und nahm
die lezten 8 Tage gar nichts mehr zu
ſich. Vom 36ſten Tage an muſste er lie-
gen, und merkwürdig war es, daſs die-
ſer ſonſt äuſserſt reinliche Mann die
ganze Zeit ſeiner Faſten über, einen ſehr
üblen Geruch von ſich gab (eine Folge
der unterlaſſenen Erneuerung ſeiner
Säfte, und der damit verbundenen Ver-
derbniſs), und daſs ſeine Augen ſchwach
wurden. Alle Vorſtellungen waren um-
ſonſt, und man gab ihn ſchon völlig
verlohren, als plözlich die Stimme der
Natur durch einen Zufall wieder in ihm
erwachte. Er ſah ein Kind mit einem
[69] Stück Butterbrod hereintreten. Dieſer
Anblick erregte mit einem male ſeinen
Appetit dermaſſen, daſs er dringend um
eine Suppe bat. Man reichte ihm von
nun an alle 2 Stunden einige Löffel
Reiſsſchleim, nach und nach ſtärkere
Nahrung, und ſo wurde ſeine Geſund-
heit, obwohl langſam, wieder herge-
ſtellt. — Aber merkwürdig war dieſs,
daſs, ſo lange er faſtete und matt war,
ſein eingebildeter Stand, ſein Wahnſinn
verſchwunden war, und er ſich bey ſei-
nem gewöhnlichen Nahmen nennen
lieſs; ſobald er aber durchs Eſſen ſeine
Kräfte wieder erlangte, kehrte auch das
ganze Gefolge ungereimter Ideen wieder
zurück.
9) Es giebt noch ein Schwächungs-
oder Verminderungsmittel der Lebens-
kraft, was in ihr ſelbſt liegt, nehmlich
der Verluſt durch Aeuſserung der Kraft.
Bey jeder Aeuſserung derſelben geſchieht
eine Entziehung von Kraft, und wenn
[70] dieſe Aeuſserungen zu ſtark oder zu an-
haltend fortgeſezt werden, ſo kann völ-
lige Erſchöpfung die Folge ſeyn. Dieſs
zeigt ſich ſchon bey der gewöhnlichen
Erfahrung, daſs wir durch Anſtrengun-
gen derſelben beym Gehen, Denken u.
ſ. w. müde werden. Noch deutlicher
aber zeigt ſichs bey den neuern Galuoni-
ſchen Verſuchen, wo man nach dem
Tode einen noch lebenden Muskel und
Nerven durch Metallbelegung reizt.
Wiederhohlt man den Reiz oft und ſtark,
ſo wird die Kraft bald, geſchieht es
langſamer, ſo wird ſie ſpäter erſchöpft,
und ſelbſt, wenn ſie erſchöpft ſcheint,
kann man dadurch, daſs man einige Zeit
die Reizungen unterläſst, neue Anſamm-
lung und neue Aeuſserungen derſelben
bewirken. Dadurch entſteht alſo ein
neues Stärkungsmittel, nehmlich die
Ruhe, die unterlaſsne Aeuſserung. Da-
durch kann ſie ſich ſammlen, und wirk-
lich vermehren.
[71]
10) Die nächſten Wirkungen der
Lebenskraft ſind nicht blos, Eindrücke
als Reize zu percipiren und darauf zu-
rück zu wirken, ſondern auch die Be-
ſtandtheile, die dem Körper zugeführt
werden, in die organiſche Natur umzu-
wandeln (d. h. ſie nach organiſchen Ge-
ſetzen zu verbinden) und ihnen auch die
Form und Structur zu geben, die der
Zweck des Organismus erfodert.
11) Die Lebenskraft erfüllt alle
Theile des organiſchen belebten Körpers,
ſo wohl feſte als flüſſige, äuſsert ſich
aber nach Verſchiedenheit der Organe
auf verſchiedene Weiſe, in der Nerven-
faſer durch Senſibilität, in der Muskel-
faſer durch Irritabilität u. ſ[.] f. Dieſs ge-
ſchieht einige Zeit ſichtbar und zuneh-
mend, und wir nennen es Generation,
Wachsthum, — ſo lange, bis der orga-
niſche Körper den ihm beſtimmten Grad
von Vollkommenheit erreicht hat. Aber
dieſe bildende ſchaffende Kraft hört des-
wegen nun nicht auf zu wirken, ſon-
[72] dern das, was vorher Wachsthum war,
wird nun beſtändige Erneurung, und
dieſe immerwährende Reproduction iſt
eins der wichtigſten Erhaltungsmittel
der Geſchöpfe.
Dieſs ſey genug von dem Weſen
dieſer Wunderkraft. Nun wird es uns
leichter ſeyn, über das Verhältniſs die-
ſer Kraft zum Leben ſelbſt, über das,
was eigentlich Leben heiſst, und die
Dauer deſſelben, etwas beſtimmteres zu
ſagen.
Leben eines organiſchen Weſens
heiſst der freye wirkſame Zuſtand jener
Kraft, und die damit unzertrennlich
verbundene Regſamkeit und Wirkſam-
keit der Organe. — Lebenskraft iſt
alſo nur Fähigkeit; Leben ſelbſt Hand-
lung. — Jedes Leben iſt folglich eine
fortdauernde Operation von Kraftäuſse-
rungen und organiſchen Anſtrengun-
gen. Dieſer Prozeſs hat alſo nothwen-
dig eine beſtändige Gonſumtion der
[73] Kraft und der Organe zur unmittelbaren
Folge, und dieſe erfodert wieder eine
beſtändige Erſetzung beyder, wenn das
Leben fortdauern ſoll. Man kann alſo
den Prozeſs des Lebens als einen beſtän-
digen Conſumtionsprozeſs anſehen, und
ſein Weſentliches in einer beſtändigen
Aufzehrung und Wiedererſetzung unſrer
ſelbſt beſtimmen. Man hat ſchon oft das
Leben mit einer Flamme verglichen,
und wirklich iſt es ganz einerley Opera-
tion. Zerſtörende und ſchaffende Kräfte
ſind in unaufhörlicher Thätigkeit in ei-
nem beſtändigen Kampf in uns, und je-
der Augenblick unſrer Exiſtenz iſt ein
ſonderbares Gemiſch von Vernichtung
und neuer Schöpfung. So lange die Le-
benskraft noch ihre erſte Friſchheit und
Energie beſizt, werden die lebenden
ſchaffenden Kräfte die Oberhand behal-
ten, und in dieſem Streite ſogar noch
ein Ueberſchuſs für ſie bleiben; der Kör-
per wird alſo wachſen und ſich vervoll-
kommnen. Nach und nach werden ſie
ins Gleichgewicht kommen, und die
[74] Conſumtion wird mit der Regeneration
in ſo gleichem Verhältniſs ſtehen, daſs
nun der Körper weder zu noch abnimmt.
Endlich aber mit Verminderung der Le-
benskraft und Abnutzung der Organe
wird die Conſumtion die Regeneration
zu übertreffen anfangen, und es wird
Abnahme, Degradation, zulezt gänzliche
Auflöſung die unausbleibliche Folge
ſeyn. — Dieſs iſts, was wir auch
durchgängig finden. Jedes Geſchöpf hat
drey Perioden, Wachsthum, Stilleſtand,
Abnahme.
Die Dauer des Lebens hängt alſo im
Allgemeinen von folgenden Puncten ab:
1) zu allererſt von der Summe der Le-
benskraft, die dem Geſchöpf bey-
wohnt. Natürlich wird ein gröſsrer Vor-
rath von Lebenskraft länger ausdauern
und ſpäter conſumirt werden, als ein
geringer. Nun wiſſen wir aber aus den
vorigen, daſs die Lebenskraft zu man-
chen Körpern mehr zu andern weniger
Verwandſchaft hat, manche in gröſsrer
[75] manche in geringerer Menge erfüllt,
ferner daſs manche äuſſerliche Einwir-
kungen ſchwächend manche nährend
für ſie ſind. — Dieſs giebt alſo ſchon
den erſten und wichtigſten Grund der
Verſchiedenheit der Lebensdauer. —
2) Aber nicht blos die Lebenskraft ſon-
dern auch die Organe werden durchs Le-
ben conſumirt und aufgerieben, folglich
muſs in einem Körper von feſtern Orga-
nen die gänzliche Conſumtion ſpäter er-
folgen, als bey einem zarten leicht auf-
löſslichen Bau. Ferner die Operation
des Lebens ſelbſt bedarf die beſtändige
Wirkſamkeit gewiſſer Organe, die wir
daher Lebensorgane nennen. Sind dieſe
unbrauchbar oder krank, ſo kann das
Leben nicht fortdauern. Alſo eine ge-
wiſſe Feſtigkeit der Organiſation und
gehörige Beſchaffenheit der Lebensorga-
ne giebt den zweyten Grund, worauf
Dauer des Lebens beruht. — 3) Nun
kann aber der Prozeſs der Conſumtion
ſelbſt, entweder langſamer oder ſchnel-
ler vor ſich gehen, und folglich die
[76] Dauer deſſelben, oder des Lebens, bey
übrigens völlig gleichen Kräften und
Organen, länger oder kürzer ſeyn, je
nachdem jene Operation ſchneller oder
langſamer geſchieht, gerade ſo, wie ein
Licht, das man unten und oben zugleich
anbrennt, noch einmal ſo geſchwind
verbrennt, als ein einfach angezündetes,
oder wie ein Licht in dephlogiſtiſirter
Luft gewiſs zehnmal ſchneller verzehrt
ſeyn wird, als ein völlig gleiches in ge-
meiner Luft, weil durch dieſes Medium
der Prozeſs der Conſumtion wohl zehn-
fach beſchleunigt und vermehrt wird.
Dieſs giebt den dritten Grund der ver-
ſchiedenen Lebensdauer. — 4) Und da
endlich die Erſetzung des Verlornen und
die beſtändige Regeneration das Haupt-
mittel iſt, der Conſumtion das Gegenge-
wicht zu halten, ſo wird natürlich der
Körper, der in ſich und auſſer ſich die
beſten Mittel hat, ſich am leichtſten und
vollkommenſten zu regeneriren, auch
von längerer Dauer ſeyn, als ein anderer,
dem dieſs fehlt.
[77]
Genug, die Lebensdauer eines Ge-
ſchöpfs wird ſich verhalten, wie die
Summe der ihm angebornen Lebens-
kräfte, die mehrere oder wenigere Fe-
ſtigkeit ſeiner Organe, die ſchnellere
oder langſamere Conſumtion, und die
vollkommne oder unvollkommne Re-
ſtauration. — Und alle Ideen von Le-
bensverlängerung, ſo wie alle dazu vor-
geſchlagenen oder noch vorzuſchlagen-
den Mittel, laſſen ſich unter dieſe 4
Claſſen bringen, und nach dieſen Grund-
ſätzen beurtheilen.
Hieraus laſſen ſich mehrere lehrrei-
che Folgerungen ziehen, und auſſerdem
dunkele Fragen beantworten, von denen
ich hier nur einige vorläufig anzeigen
will.
Iſt das Ziel des Lebens beſtimmt
oder nicht? Dieſe Frage iſt ſchon oft
ein Zankapfel geweſen, der die Philoſo-
phen und Theologen entzweyte, und
ſchon mehrmals den Werth der armen
[78] Arzneykunſt ins Gedränge brachte.
Nach obigen Begriffen iſt dieſe Frage
leicht zu löſen. In gewiſſem Verſtande
haben beyde Partheyen Recht. Aller-
dings hat jedes Geſchlecht von Geſchö-
pfen, ja jedes einzelne Individuum eben
ſo gewiſs ſein beſtimmtes Lebensziel,
als es ſeine beſtimmte Gröſse und ſeine
eigenthümliche Maſſe von Lebenskraft,
Stärke der Organe und Conſumtions-
oder Regenerationsweiſe hat; denn die
Dauer des Lebens iſt nur eine Folge die-
ſer Conſumtion, die keinen Augenblick
länger währen kann, als Kräfte und Or-
gane zureichen. Auch ſehen wir, daſs
deswegen jede Klaſſe von Weſen ihre be-
ſtimmte Lebensdauer hat, der ſich die
einzelnen Individuen mehr oder weniger
nähern. — Aber dieſe Conſumtion
kann beſchleunigt oder retardirt wer-
den, es können günſtige oder ungünſti-
ge, zerſtörende oder erhaltende Um-
ſtände Einfluſs haben, und daraus folgt
denn, daſs, troz jener natürlichen Be-
[79] ſtimmung, das Ziel dennoch verrückt
werden kann.
Nun läſst ſich auch ſchon im Allge-
meinen die Frage beantworten: Iſt Ver-
längerung des Lebens möglich? Sie iſt
es allerdings, aber nicht durch Zauber-
mittel und Goldtincturen, auch nicht in
ſo fern, daſs man die uns zugetheilte
Summe und Kapacität von Lebenskräf-
ten zu vermehren und die ganze Beſtim-
mung der Natur zu verändern hoffen
könnte, ſondern nur durch gehörige
Rückſicht auf die angegebnen 4 Puncte,
auf denen eigentlich Dauer des Lebens
beruht: Stärkung der Lebenskraft und
der Organe, Retardation der Conſum-
tion, und Beförderung und Erleichte-
rung der Wiedererſetzung oder Regene-
ration. — Je mehr alſo Nahrung,
Kleidung, Lebensart, Clima, ſelbſt
künſtliche Mittel, dieſen Erforderniſſen
ein Gnüge thun, deſto mehr werden ſie
zur Verlängerung des Lebens wirken;
Je mehr ſie dieſen entgegen arbeiten,
[80] deſto mehr werden ſie die Dauer der
Exiſtenz verkürzen.
Vorzüglich verdient hier noch das,
was ich Retardation der Lebensconſumtion
nenne, als in meinen Augen das wich-
tigſte Verlängerungsmittel des Lebens,
einige Betrachtung. Wenn wir uns eine
gewiſſe Summe von Lebenskräften und
Organen, die gleichſam unſern Lebens-
fond ausmachen, denken, und das Le-
ben in der Conſumtion derſelben be-
ſteht, ſo kann durch eine ſtärkere An-
ſtrengung der Organe und die damit ver-
bundene ſchnellere Aufreibung jener
Fond natürlich ſchneller, durch einen
mäſsigern Gebrauch hingegen langſamer
aufgezehrt werden. Derjenige, der in
einem Tage noch einmal ſo viel Lebens-
kraft verzehrt, als ein anderer, wird
auch in halb ſo viel Zeit mit ſeinem Vor-
rath von Lebenskraft fertig ſeyn, und
Organe, die man noch einmal ſo ſtark
braucht, werden auch noch einmal ſo
bald abgenuzt und unbrauchbar ſeyn.
Die
[81] Die Energie des Lebens wird alſo mit
ſeiner Dauer im umgekehrten Verhält-
niſs ſtehen, oder je mehr ein Weſen in-
tenſiv lebt, deſto mehr wird ſein Leben
an Extenſion verlieren. — Der Aus-
druck, geſchwind leben, der jezt ſo wie
die Sache gewöhnlich worden iſt, iſt
alſo vollkommen richtig. Man kann
allerdings den Prozeſs der Lebenscon-
ſumtion, ſie mag nun im Handeln oder
Genieſsen beſtehen, geſchwinder oder
langſamer machen, alſo geſchwind und
langſam leben. Ich werde in der Folge
das eine durch das Wort intenſives Le-
ben, das andre durch extenſives bezeich-
nen. Dieſe Wahrheit beſtätigt ſich
nicht blos bey dem Menſchen, ſondern
durch die ganze Natur. Je weniger in-
tenſiv das Leben eines Weſens iſt, deſto
länger dauert es. Man vermehre durch
Wärme, Düngung, künſtliche Mittel,
das intenſive Leben einer Pflanze, ſie
wird ſchneller vollkommner ſich entwi-
ckeln, aber auch ſehr bald vergehen. —
Selbſt ein Geſchöpf, was von Natur ei-
F
[82] nen groſsen Reichthum von Lebenskraft
beſizt, wird, wenn ſein Leben ſehr in-
tenſiv wirkſam iſt, von kürzerer Dauer
ſeyn, als eins, das an ſich viel ärmer an
Lebenskraft iſt, aber von Natur ein we-
niger intenſives Leben hat. So iſts z. B.
gewiſs, daſs die höhern Claſſen der
Thiere ungleich mehr Reichthum und
Vollkommenheit der Lebenskraft be-
ſitzen, als die Pflanzen, und dennoch
lebt ein Baum wohl hundertmal länger,
als das Lebensvolle Pferd, weil das Le-
ben des Baums intenſiv ſchwächer iſt. —
Auf dieſe Weiſe können ſo gar ſchwä-
chende Umſtände, wenn ſie nur die in-
tenſive Wirkſamkeit des Lebens min-
dern, Mittel zur Verlängerung deſſelben
werden, hingegen Lebensſtärkende und
erweckende Einflüſſe, wenn ſie die in-
nere Regſamkeit zu ſehr vermehren, der
Dauer deſſelben ſchaden, und man ſieht
ſchon hieraus, wie eine ſehr ſtarke Ge-
ſundheit ein Hinderungsmittel der Dau-
er, und eine gewiſſe Art von Schwäch-
lichkeit das beſte Beförderungsmittel des
[83] langen Lebens werden kann; und daſs
die Diät und die Mittel zur Verlänge-
rung des Lebens nicht ganz die nehmli-
chen ſeyn können, die man unter dem
Nahmen ſtärkende verſteht. — Die
Natur ſelbſt giebt uns hierinne die beſte
Anleitung, indem ſie mit der Exiſtenz
jedes vollkommnern Geſchöpfs eine ge-
wiſſe Veranſtaltung verwebt hat, die den
Strom ſeiner Lebensconſumtion aufzu-
halten und dadurch die zu ſchnelle Auf-
reibung zu verhüten vermag. Ich meine
den Schlaf, ein Zuſtand, der ſich bey al-
len Geſchöpfen vollkommner Art findet,
eine äuſſerſt weiſe Veranſtaltung, deren
Hauptbeſtimmung, Regulirung und Re-
tardation der Lebensconſumtion, genug
das iſt, was der Pendel dem Uhrwerk.
— Die Zeit des Schlafs iſt nichts als
eine Pauſe des intenſiven Lebens, ein
ſcheinbarer Verluſt deſſelben, aber eben
in dieſer Pauſe, in dieſer Unterbrechung
ſeiner Wirkſamkeit, liegt das gröſste
Mittel zur Verlängerung deſſelben. Eine
12 — 16ſtündige ununterbrochne Dauer
F 2
[84] des intenſiven Lebens bey Menſchen,
bringt ſchon einen ſo reiſsenden Strom
von Conſumtion hervor, daſs ſich ein
ſchneller Puls, eine Art von allgemeinen
Fieber (das ſo genannte tägliche Abend-
fieber) einſtellt. Jezt kommt der Schlaf
zu Hülfe, verſezt ihn in einen mehr paſ-
ſiven Zuſtand, und nach einer ſolchen
7 bis 8 ſtündigen Pauſe iſt der verzeh-
rende Strom der Lebensconſumtion ſo
gut unterbrochen, das verlohrne ſo
ſchön wieder erſezt, daſs nun Pulsſchlag
und alle Bewegungen wieder langſam
und regelmäſsig geſchehen, und alles
wieder den ruhigen Gang gehet. *) —
Daher vermag nichts ſo ſchnell uns auf-
zureiben und zu zerſtören, als lange
dauernde Schlafloſigkeit. — Selbſt die
Neſtors des Pflanzenreichs, die Bäume,
würden, ohne den jährlichen Winter-
[85] ſchlaf, ihr Leben nicht ſo hoch brin-
gen. *) —
[86]
Dritte Vorleſung.
Lebensdauer der Pflanzen.
Verſchiedenheit derſelben — Einjährige, zweyjährige,
vieljährige — Erfahrungen über die Umſtände, die
dieſs beſtimmen — Reſultata daraus — Anwendung
auf die Hauptprinzipien der Lebensverlängerung —
Wichtiger Einfluſs der Zeugung und Kultur auf
die Lebenslänge der Pflanzen.
Es ſey mir nun erlaubt, zur Beſtätigung
oder Prüfung alles des geſagten, einen
Blick auf alle Claſſen der organiſirten
Welt zu werfen, und die Belege zu mei-
nen Behauptungen aufzuſuchen. Hier-
bey werden wir zugleich Gelegenheit
haben, die wichtigſten Nebenumſtände
[87] kennen zu lernen, die auf Verlängerung
oder Verkürzung des Lebens Einfluſs
haben. — Unendlich mannichfaltig
iſt die Dauer der verſchiedenen organi-
ſchen Weſen! — Von dem Schimmel
an, der nur ein Paar Stunden lebt, bis
zur Zeder, welche ein Jahrtauſend er-
reichen kann, welcher Abſtand, welche
unzählige Zwiſchenſtufen, welche Man-
nichfaltigkeit von Leben! Und dennoch
muſs der Grund dieſer längern oder kür-
zern Dauer in der eigenthümlichen Be-
ſchaffenheit eines jeden Weſens und ſei-
nem Standpunct in der Schöpfung lie-
gen, und durch fleiſiges Forſchen zu
finden ſeyn. Gewiſs ein erhabener und
intereſſanter, aber auch zugleich ein un-
überſehlicher Gegenſtand! Ich werde
mich daher begnügen müſſen, die Haupt-
data heraus zu heben, und in unſern
gegenwärtigen Geſichtspunct zu ſtellen.
Zuerſt ſtellen ſich uns die Pflanzen
dar, dieſe unüberſehbare Welt von Ge-
ſchöpfen, dieſe erſte Stufe der organi-
[88] ſchen Weſen, die ſich durch innere Zu-
eignung ernähren, ein Individuum for-
miren, und ihr Geſchlecht fortpflanzen.
Welche unendliche Verſchiedenheit von
Geſtalt, Organiſation, Gröſse und
Dauer? Nach den neueſten Entdeckun-
gen und Berechnungen wenigſtens
40000 verſchiedene Gattungen und Ar-
ten!
Dennoch laſſen ſie ſich alle, nach
ihrer Lebensdauer, in drey Hauptklaſſen
bringen, einjährige, oder eigentlich
nur halbjährige, die im Frühling entſte-
hen und im Herbſt ſterben, zweyjährige,
die am Ende des zweyten Jahres ſterben,
und endlich perennirende, deren Dauer
länger, von 4 Jahren, bis zu 1000, iſt.
Alle Pflanzen, die von ſaftiger wäſ-
ſerigter Conſtitution ſind, und ſehr feine
zarte Organe haben, haben ein kurzes
Leben, und dauern nur ein, höchſtens
zwey Jahre. Nur die, welche feſtere
Organe und zähere Säfte haben, dauern
[89] länger; aber es gehört ſchlechterdings
Holz dazu, um das höchſte Pflanzenle-
ben zu erreichen.
Selbſt bey denen, welche nur eins
oder zwey Jahre leben, finden wir einen
merklichen Unterſchied. Die, welche
kalter, geruch- und geſchmackloſer Na-
tur ſind, leben unter gleichen Umſtän-
den nicht ſo lange, als die ſtarkriechen-
den, balſamiſchen, und mehr weſentli-
ches Oel und Geiſt enthaltenden. z. B.
Lactuk, Weizen, Korn, Gerſte, und alle
Getraidearten leben nie länger als ein
Jahr; hingegen Thymian, Poley, Iſop,
Meliſſe, Wermuth, Majoran, Salbey
u. ſ. w. können zwey und noch mehr
Jahre fortleben.
Die Geſträuche und kleinern Bäume
können ihr Leben auf 60, einige auch
auf noch einmal ſo viel Jahre bringen.
Der Weinſtock erreicht ein Alter von 60
ja 100 Jahren, und bleibt auch noch im
höchſten Alter fruchtbar. Der Rosma-
[90] rin desgleichen. Aber Acanthus und
Epheu können über 100 Jahr alt werden.
Bey manchen, z. E. den Rubusarten iſt
es ſchwehr das Alter zu beſtimmen,
weil die Zweige in die Erde kriechen,
und immer neue Bäumchen bilden, ſo
daſs es ſchwehr iſt, die neuen von den
alten zu unterſcheiden, und ſie gleich-
ſam ihre Exiſtenz dadurch perennirend
machen.
Das höchſte Alter erreichen die
gröſsten, ſtärkſten und feſteſten Bäume,
die Eiche, Linde, Buche, Kaſtanie,
Ulme, Ahorn, Platane, die Zeder, der
Oelbaum, die Palme, der Maulbeer-
baum, der Baobab. *) — Man kann
[91] mit Gewiſsheit behaupten, daſs einige
Zedern des Libanons, der berühmte Ka-
ſtanienbaum di centi cavalli in Sicilien,
und mehrere heilige Eichen, unter de-
nen ſchon die Alten Teutſchen ihre An-
dacht hatten, ihr Alter auf 1000 und
mehrere Jahre gebracht haben. Sie ſind
die ehrwürdigſten, die einzigen noch
lebenden, Zeugen der Vorwelt, und
erfüllen uns mit heiligen Schauer, wenn
der Wind ihr Silberhaar durchrauſcht,
das ſchon einſt den Druiden und dem
Teutſchen Wilden in der Bärenhaut zum
Schatten diente.
Alle ſchnell wachſende Bäume, als
Fichten, Birken, Maronniers u. ſ. w.
haben immer ein weniger feſtes und
dauerhaftes Holz und kürzere Lebens-
dauer. — Das feſteſte Holz und das
längſte Leben hat die, unter allen am
langſamſten wachſende, Eiche.
Kleinere Vegetabilien haben im
Durchſchnitt ein kürzeres Leben, als
[92] die groſsen hohen und ausgebreite-
ten.
Diejenigen Bäume, die das dauer-
hafteſte und härteſte Holz haben, ſind
nicht immer die, die auch am längſten
leben. Z. B. der Buchsbaum, die Zy-
preſſe, der Wachholder, Nuſsbaum
und Birnbaum, leben nicht ſo lange, als
die Linde, die doch ein weicheres Holz
hat.
Im Durchſchnitt ſind diejenigen,
welche ſehr ſchmackhafte, zarte und
elaborirte Früchte tragen, von kürzerer
Lebensdauer, als die, welche gar keine
oder ungenieſsbare tragen; und auch
unter jenen werden die, welche Nüſſe
und Eicheln tragen, älter, als die,
welche Beeren und Steinobſt hervor-
bringen.
Selbſt dieſe kürzer lebenden, der
Apfel- Birn- Apricoſen- Pfirſich-
Kirſchbaum u. ſ. w. können unter ſehr
[93] günſtigen Umſtänden ihr Leben bis auf
60 Jahre bringen, beſonders wenn ſie
zuweilen von dem Mooſe, das auf ihnen
wächſt, gereinigt werden.
Im Allgemeinen kann man anneh-
men, daſs diejenigen Bäume, welche
ihr Laub und Früchte langſam erhalten
und auch langſam verlieren, älter wer-
den, als die, bey denen beydes ſehr
ſchnell geſchieht. — Ferner die culti-
virten haben im Durchſchnitt ein kürze-
res Leben, als die wilden, und die, wel-
che ſaure und herbe Früchte tragen, ein
längeres Leben, als die ſüſsen.
Sehr merkwürdig iſts, daſs, wenn
man die Erde um die Bäume alle Jahre
umgräbt, dieſs ſie zwar lebhafter und
fruchtbarer macht, aber die Länge ihres
Lebens verkürzt. Geſchieht es hin-
gegen nur alle 5 oder 10 Jahre, ſo leben
ſie länger. — Eben ſo das öſtere Be-
gieſsen und Düngen befördert die
[94] Fruchtbarkeit, ſchadet aber der Lebens-
dauer.
Endlich kann man auch durch das
öftre Beſchneiden der Zweige und Au-
gen ſehr viel zum längern Leben eines
Gewächſes beytragen, ſo daſs ſogar klei-
nere, kurz lebende, Pflanzen, als La-
vendel, Yſop u. dgl., wenn ſie alle Jahre
beſchnitten werden, ihr Leben auf 40
Jahre bringen können.
Auch iſt bemerkt worden, daſs,
wenn man bey alten Bäumen, die lange
unbewegt und unverändert geſtanden
haben, die Erde rund um die Wurzeln
herum aufgräbt und lockrer macht, ſie
friſcheres und lebendigeres Laub bekom-
men, und ſich gleichſam verjüngen.
Wenn wir dieſe Erfahrungsſätze
mit Aufmerkſamkeit betrachten, ſo iſt
es wirklich auffallend, wie ſehr ſie die
oben angenommnen Grundſätze von Le-
[95] ben und Lebensdauer beſtätigen, und
ganz mit jenen Ideen zuſammentreffen.
Unſer erſter Grundſatz war: Je gröſser
die Summe von Lebenskraft und die Fe-
ſtigkeit der Organe, deſto länger iſt die
Dauer des Lebens, und nun finden wir
in der Natur, daſs gerade die gröſsten,
vollkommenſten und ausgebildeſten
(bey denen wir alſo den gröſsten Reich-
thum von Lebenskraft annehmen müſ-
ſen) und die, welche die feſteſten und
dauerhafteſten Organe beſitzen, auch
das längſte Leben haben, z. B. die Eiche,
die Zeder.
Offenbar ſcheint hier das Volumen
der Körpermaſſe mit zur Verlängerung
des Lebens beyzutragen, und zwar aus
dreyerley Gründen:
- 1) Die Gröſse zeigt ſchon einen grö-
ſern Vorrath von Lebenskraft oder
bildender Kraft.
[96]
- 2) Die Gröſse giebt mehr Lebensca-
pacität, mehr Oberfläche, mehr Zu-
gang von auſsen. - 3) Je mehr Maſſe ein Körper hat, deſto
mehr Zeit gehört dazu, ehe die
äuſſern und innern Conſumtions-
und Deſtructionskräfte ihn aufrei-
ben können.
Aber wir finden, daſs ein Gewächs
ſehr feſte und dauerhafte Organe haben
kann, und dennoch nicht ſo lange lebt,
als eins mit weniger feſten Organen, z.
E. die Linde lebt weit länger, als der
Buchsbaum und die Zypreſſe.
Dieſs führt uns nun auf ein, für
das organiſche Leben und unſre künfti-
ge Unterſuchung ſehr wichtiges, Geſetz,
nehmlich, daſs in der organiſchen Welt
nur ein gewiſſer Grad von Feſtigkeit die
Lebensdauer befördert, ein zu hoher
Grad von Tenacität aber ſie verkürzt. —
Im allgemeinen und bey unorganiſchen
[97] Weſen iſts zwar richtig, daſs, je feſter
ein Körper, deſto mehr Dauer hat er;
aber bey organiſchen Weſen, wo die
Dauer der Exiſtenz in reger Wirkſamkeit
der Organe und Circulation der Säfte
beſteht, hat dieſs ſeine Grenzen, und
ein zu hoher Grad von Feſtigkeit der Or-
gane und Zähigkeit der Säfte, macht ſie
früher unbeweglich, ungangbar, er-
zeugt Stockungen, und führt das Alter
und alſo auch den Tod ſchneller herbey.
Aber nicht blos die Summe der
Kraft und die Organe ſind es, wovon
Lebenskraft abhängt. Wir haben geſe-
hen, daſs vorzüglich viel auf die ſchnel-
lere oder langſamere Conſumtion, und
auf die vollkommnere oder unvoll-
kommnere Reſtauration ankommt. Be-
ſtätigt ſich dieſs nun auch in der Pflan-
zenwelt?
Vollkommen! Auch hier finden
wir dieſs allgemeine Geſetz. Je mehr
ein Gewächs intenſives Leben hat, je
G
[98] ſtärker und ſchneller ſeine innre Con-
ſumtion iſt, deſto ſchneller vergeht es,
deſto kürzer iſt ſeine Dauer. — Fer-
ner, je mehr Fähigkeit in ſich oder
auſſer ſich ein Gewächs hat, ſich zu re-
generiren, deſto länger iſt ſeine Dauer.
Zuerſt das Geſetz der Conſumtion!
Im Ganzen hat die Pflanzenwelt ein
äuſſerſt ſchwaches intenſives Leben. Er-
nährung, Wachsthum, Zeugung, ſind
die einzigen Geſchäfte, die ihr intenſi-
ves Leben ausmachen. Keine willkühr-
liche Ortsveränderung, keine regel-
mäſsige Circulation, keine Muskel- noch
Nervenbewegung. — Ohnſtreitig iſt
der höchſte Grad ihrer innern Conſum-
tion, das höchſte Ziel ihres intenſiven
Lebens, das Geſchäft der Generation.
Aber wie ſchnell iſt ſie auch von Auflö-
ſung und Zernichtung begleitet! —
Die Natur ſcheint hier gleichſam den
gröſsten Aufwand ihrer ſchöpferiſchen
Kräfte zu machen, und das Non plus
[99] ultra der äuſſerſten Verfeinerung und
Vollendung darzuſtellen.
Welche Zartheit und Feinheit des
Blüthenbaues, welche Pracht und wel-
cher Glanz von Farben überraſcht uns
da oft bey dem unanſehnlichſten Ge-
wächs, dem wir eine ſolche Entwick-
lung nie zugetraut hätten? Es iſt gleich-
ſam das Feyerkleid, womit die Pflanze
ihr höchſtes Feſt feyert, aber womit ſie
auch oft ihren ganzen Vorrath von Le-
benskraft, entweder auf immer, oder
doch auf eine lange Zeit erſchöpft.
Alle Gewächſe ohne Ausnahme, ver-
lieren ſogleich nach dieſer Cataſtrophe
die Lebhaftigkeit ihrer Vegetation, fan-
gen an ſtill zu ſtehen, abzunehmen, und
ſie iſt der Anfang ihres Abſterbens.
Bey allen einjährigen Gewächſen folgt
das völlige Abſterben nach, bey den
gröſsern und den Bäumen wenigſtens
ein temporeller Tod, ein halbjähriger
Stillſtand, bis ſie vermöge ihrer groſsen
G 2
[100] Regenerationskraft wieder in Stand ge-
ſezt ſind, neue Blätter und Blüthen zu
treiben.
Aus eben dem Grunde erklärt ſichs,
warum alle Gewächſe, die früh zum
Zeugungsgeſchäft gelangen, auch am
ſchnellſten wegſterben; und es iſt das
beſtändigſte Geſetz für die Lebensdauer
in der Pflanzenwelt: Je früher und ei-
liger die Pflanze zur Blüthe kommt,
deſto kürzer dauert ihr Leben, je ſpäter,
deſto länger. Alle die, welche gleich im
erſten Jahre blühen, ſterben auch im er-
ſten, die erſt im 2ten Jahre Blüthen trei-
ben, ſterben auch im 2ten. Nur die
Bäume und Holzgewächſe, welche erſt
im 6ten, 9ten oder 12ten Jahre zu gene-
riren anfangen, werden alt, und ſelbſt
unter ihnen werden die Gattungen am
älteſten, die am ſpäteſten zur Genera-
tion gelangen. — Eine äuſſerſt wich-
tige Bemerkung, die theils unſre Ideen
von Conſumtion vollkommen beſtätigt,
theils uns ſchon einen lehrreichen
[101] Wink für unſre künftige Unterſuchung
giebt.
Nun läſst ſich auch die wichtige
Frage beantworten: Welchen Einfluſs
hat Kultur auf das längere oder kürzere
Leben der Pflanzen?
Kultur und Kunſt verkürzt im Gan-
zen das Leben, und es iſt als Grundſatz
anzunehmen, daſs im Durchſchnitt alle
wilde, ſich ſelbſt überlaſsne Pflanzen
länger leben, als die kultivirten. Aber
nicht jede Art von Kultur verkürzt,
denn wir können z. B. eine Pflanze, die
im Freyen nur 1 oder 2 Jahre lang dau-
ern würde, durch ſorgfältige Wartung
und Pflege weit länger erhalten. —
Und dieſs iſt nun ein ſehr merkwürdiger
Beweis, daſs auch in der Pflanzenwelt,
durch eine gewiſſe Behandlung, Verlän-
gerung des Lebens möglich iſt. — Aber
die Frage iſt nur, worinn liegt der Un-
terſchied der Lebensverlängernden und
Lebensverkürzenden Kultur? Es kann
[102] uns dieſs für die folgende Unterſuchung
wichtig ſeyn. Sie läſst ſich wieder auf
unſre erſten Grundſätze zurückbringen.
Je mehr die Kultur das intenſive Leben
und die innre Conſumtion verſtärkt,
und zugleich die Organiſation ſelbſt zär-
ter macht, deſto mehr iſt ſie der Lebens-
dauer nachtheilig. Dieſs ſehen wir bey
allen Treibhauspflanzen, die durch be-
ſtändige Wärme, Düngung und andere
Künſte zu einer anhaltenden innern
Wirkſamkeit angetrieben werden, daſs
ſie frühere, öftre und ausgearbeitetere
Früchte tragen, als in ihrer Natur liegt.
Der nehmliche Fall iſt, wenn, auch
ohne treibende äuſſere Einwirkungen,
blos durch gewiſſe Operation und Kün-
ſte, der innern Organiſation der Ge-
wächſe ein weit höherer Grad von Voll-
kommenheit und Zartheit mitgetheilt
wird, als in ihrer Natur lag, z. B. durch
Oculiren, Pfropfen, die Künſte bey den
gefüllten Blumen. — Auch dieſe Kul-
tur verkürzt die Dauer.
[103]
Hingegen kann die Kultur das
gröſste Verlängerungsmittel des Lebens
werden, wenn ſie das intenſive Leben
eines Gewächſes nicht verſtärkt, oder
wohl gar die gewöhnliche Conſumtion
etwas hindert und mäſsigt, ferner, wenn
ſie die von Natur zu groſse Zähigkeit
und Härte der Organe (Materie) bis auf
den Grad mindert, daſs ſie länger gang-
bar und beweglich bleiben, — wenn ſie
die deſtruirenden Einflüſſe abhält und
ihnen beſſere Regenerationsmittel an die
Hand giebt. — So kann durch Hülfe
der Kultur ein Weſen ein höheres Le-
bensziel erreichen, als es nach ſeiner
natürlichen Lage und Beſtimmung erhal-
ten haben würde.
Wir können alſo die Lebensverlän-
gerung durch Kultur bey Pflanzen auf
folgende Weiſe bewirken:
- 1) Indem wir durch öfteres Abſchnei-
den der Zweige die zu ſchnelle
Conſumtion verhüten; wir nehmen
[104] ihnen dadurch einen Theil der Or-
gane, wodurch ſie ihre Lebenskraft
zu ſchnell erſchöpfen würden, und
concentriren dadurch gleichſam die
Kraft nach innen. - 2) Indem wir eben dadurch die Blüte
und den Aufwand von Generations-
kräften verhindern und wenigſtens
verſpäten. Wir wiſſen, daſs dieſs
der höchſte Grad von innrer Le-
bensconſumtion bey den Pflanzen
iſt, und wir tragen alſo hier auf
doppelte Art zur Verlängerung des
Lebens bey, einmal, indem wir
die Verſchwendung dieſer Kräfte
verhüten, und indem wir ſie nöthi-
gen zurückzuwirken, und als Er-
haltungsmittel zu dienen. - 3) Indem wir die deſtruirenden Ein-
flüſſe des Froſts, des Nahrungsman-
gels, der ungleichen Witterung
entfernen, und ſie alſo durch die
Kunſt in einem gleichförmigen ge-
[105] mäſigten Mittelzuſtande erhalten.
Geſezt daſs wir auch hierdurch
das intenſive Leben etwas vermeh-
ren, ſo liegt doch auch hierinn
wieder eine deſto reichere Quelle
zur Reſtauration.
Der vierte Hauptgrund endlich,
worauf die Dauer eines jeden Weſens
und alſo auch eines Gewächſes beruht,
iſt die gröſsre oder geringere Fähigkeit
ſich zu reſtauriren und von neuen zu er-
zeugen.
Hier theilt ſich nun die Pflanzen-
welt in zwey groſse Klaſſen: Die eine
beſizt dieſe Fähigkeit gar nicht, und
dieſe ſinds, die nur ein Jahr leben, (die
einjährigen Gewächſe), und gleich nach
vollbrachtem Generationsgeſchäft ſter-
ben.
Die andre Klaſſe hingegen, die die
groſse Fähigkeit beſizt, ſich alle Jahre
zu regeniren, ſich neue Blätter, Zweige
[106] und Blüten zu ſchaffen, dieſe kann das
erſtaunliche Alter von 1000 und mehr
Jahren erreichen. — Ein ſolches Ge-
wächs iſt endlich ſelbſt als ein organiſir-
ter Boden anzuſehen, aus welchem jähr-
lich unzählige, dieſem Boden aber völ-
lig analoge, Pflanzen hervorſproſſen. —
Und groſs und göttlich zeigt ſich auch
in dieſer Einrichtung die Weisheit der
Natur.
Wenn wir bedenken, daſs, wie uns
die Erfahrung lehrt, ein Zeitraum von
8 bis 10 Jahren dazu gehört, um den
Grad von Vollendung in der Organi-
ſation, und von Verfeinerung in den
Säften eines Baums hervorzubringen,
der zum Blühen und Fruchttragen er-
forderlich iſt, und nun ginge es wie
bey andern Gewächſen, und der Baum
ſtürbe nun gleich nach vollbrachter
Generation ab. Wie unbelohnend
würde dann die Kultur dieſer Gewächſe
ſeyn, wie unverhältniſsmäſsig wäre der
Aufwand von Vorbereitung und Zeit zu
[107] dem Reſultat? Wie ſelten würden Obſt
und Früchte ſeyn!
Aber um dieſs zu verhüten, iſt nun
dieſe weiſe Einrichtung von der Natur
getroffen, daſs die erſte Pflanze nach
und nach eine ſolche Konſiſtenz und Fe-
ſtigkeit erlangt, daſs der Stamm zulezt
die Stelle des Bodens vertritt, aus wel-
chem nun alle Jahre unter der Geſtalt
von Augen oder Knospen unzählige neue
Pflanzen hervorkeimen.
Hierdurch wird ein zwiefacher
Nutzen erhalten. Einmal, weil dieſe
Pflanzen aus einem ſchon organiſirten
Boden entſpringen, ſo erhalten ſie ſchon
aſſimilirte und elaborirte Säfte, und
können dieſelben alſo ſogleich zur Blüte
und Frucht verarbeiten, welches mit
Säften, die ſie unmittelbar aus der Erde
erhielten, unmöglich wäre.
Zweytens können dieſe feinern
Pflanzen, die wir im Grunde als eben ſo
[108] viel einjährige anſehen müſſen, nach
geendigter Fructification wieder abſter-
ben, und dennoch das Gewächs ſelbſt,
der Stamm, perenniren. — Die Na-
tur bleibt alſo auch hier ihrem Grund-
geſetz treu, daſs das Zeugungsgeſchäft
die Lebenskraft der einzelnen Indi-
viduen erſchöpft, und dennoch peren-
nirt das Ganze.
Genug, die Reſultate aller dieſer
Erfahrungen ſind:
Das hohe Alter eines Gewächſes
gründet ſich auf folgende Puncte:
- 1) Es muſs langſam wachſen.
- 2) Es muſs langſam und ſpät ſich fort-
pflanzen. - 3) Es muſs einen gewiſſen Grad von
Feſtigkeit und Dauer der Organe,
genug Holz, haben, und die Säfte
dürfen nicht zu wäſsricht ſeyn.
[109]
- 4) Es muſs groſs ſeyn, und eine be-
trächtliche Ausdehnung haben. - 5) Es muſs ſich in die Luft erheben.
Das Gegentheil von allem dieſen ver-
kürzt das Leben.
[110]
Vierte Vorleſung.
Lebensdauer der Thierwelt.
Erfahrungen von Pflanzenthieren — Würmern — In-
ſecten — Metamorphoſe, ein wichtiges Lebensverlänge-
rungsmittel — Amphibien — Fiſche — Vögel — Säug-
thiere — Reſultate — Einfluſs der Mannbarkeit und
des Wachsthums [auf] die Lebenslänge — der Vollkom-
menheit oder Unvollkommenheit der Organiſation —
der rapidern oder langſamern Lebensconſumtion —
der Reſtauration.
Das Thierreich iſt die zweyte
Hauptklaſſe, der vollkommnere Theil
der organiſchen Welt, unendlich reich
an Weſen, Mannichfaltigkeit und
[111] verſchiedenen Graden der Vollkom-
menheit und Dauer. — Von der
Ephemera, dieſem kleinen vergäng-
lichen Inſect, das etwa einen Tag lebt,
und das in der 20ſten Stunde ſeines Le-
bens als ein erfahrner Greiſs unter ſeiner
zahlreichen Nachkommenſchaft ſteht,
bis zum 200jährigen Elefanten giebt es
unzählige Zwiſchenſtufen von Lebens-
fähigkeit und Dauer, und ich werde
bey dieſem unermeſslichen Reichthum
zufrieden ſeyn, nur einzelne Data zu
ſammlen, die unſre Hauptfrage: Wor-
auf beruht Länge des Lebens? erläutern
können.
Um mit der unvollkommenſten,
ſehr nahe an die Pflanzen gränzenden,
Klaſſe, den Würmern, anzufangen, ſo
ſind zwar dieſelben, wegen ihrer zarten
weichen Beſchaffenheit, auſſerordentlich
leicht zu zerſtören und zu verletzen,
aber ſie haben, wie die Pflanzen, den
beſten Schutz, in ihrer auſſerordentli-
chen Reproductionskraft, wodurch ſie
[112] ganze Theile wieder erſetzen, ja ſelbſt
getheilt in 2 — 3 Stücke[,] fortleben kön-
nen, und ihre Dauer iſt folglich ſchwehr
zu beſtimmen.
In dieſer Klaſſe exiſtiren die Ge-
ſchöpfe, die faſt unzerſtörbar ſcheinen,
und mit denen Fontana und Götze ſo
viele merkwürdige Verſuche angeſtellt
haben. Erſtrer lieſs Räderthiere und
Fadenwürmer in glühend heiſser Sonne
vertrocknen, im Backofen ausdorren,
und nach Verlauf von halben Jahren
konnte er durch etwas laues Waſſer den-
noch das ausgetrocknete Geſchöpf wie-
der beleben.
Dieſe Erfahrungen beſtätigen unſern
Satz, daſs, je unvollkommner die Orga-
niſation, deſto zäher das Leben iſt. Es
iſt der Fall wie mit den Pflanzenſaamen,
und man könnte ſagen, daſs dieſe erſten
Puncte der thieriſchen Schöpfung gewiſ-
ſermaſſen nur erſt die Keime, die Saamen
für
[113] für die vollkommnere thieriſche Welt
ſind.
Bey den Inſecten, die ſchon mehr
Thier ſind, und eine ausgebildetere Or-
ganiſation haben, kann zwar die Repro-
ductionskraft keine ſolche Wunder thun.
Aber hier hat die Natur eine andre weiſe
Einrichtung getroffen, die offenbar ihre
Exiſtenz verlängert: die Metamorphoſe.
— Das Inſect exiſtirt vielleicht 2, 3,
4 Jahre lang als Larve, als Wurm: dann
verpuppt es ſich, und exiſtirt nun wie-
der in dieſem Todenähnlichen Zuſtand
geraume Zeit, und am Ende deſſelben
erſcheint es erſt als vollendetes Geſchöpf.
Nun erſt hat es Augen, nun erſt den ge-
fiederten ätheriſchen, oft ſo prächtigen
Körper, und was das Gepräge ſeiner
Vollendung am meiſten zeigt, nun erſt
iſt es zur Zeugung geſchickt. Aber die-
ſer Zuſtand, den man die Zeit ſeiner
Blüte nennen könnte, iſt der kürzeſte,
es ſtirbt nun bald, denn es hat ſeine Be-
ſtimmung erreicht.
H
[114]
Ich kann hier die Bemerkung nicht
übergehen, wie ſehr dieſe Erſcheinun-
gen mit unſern zum Grunde gelegten
Ideen von der Urſach der Lebensdauer
übereinſtimmen. — In der erſten Exi-
ſtenz, als Wurm, wie unvollkommen
iſt da das Leben, wie gering ſeine Be-
wegung, die Generation noch gar nicht
möglich; blos zum Eſſen und Verdauen
ſcheint das ganze Geſchöpf da zu ſeyn —
wie denn auch manche Raupen eine ſo
ungeheure Kapacität haben, daſs ſie in
24 Stunden 3mal mehr verzehren, als
ihr ganzes Gewicht beträgt. — Alſo
eine äuſserſt geringe Selbſtaufreibung,
und eine ungeheure Reſtauration! Kein
Wunder alſo, daſs ſie in dieſem Zuſtand,
troz ihrer Kleinheit und Unvollkommen-
heit, ſo lange leben können. Eben ſo
der Zwiſchenzuſtand als Puppe, wo das
Geſchöpf ganz ohne Nahrung lebt, aber
auch weder von innen noch von auſſen
conſumirt wird. — Aber nun die lezte
Periode ſeiner Exiſtenz, der völlig aus-
gebildete Zuſtand, als geflügeltes ätheri-
[115] ſches Weſen. Hier ſcheint die ganze
Exiſtenz faſt in unaufhörlicher Bewe-
gung und Fortpflanzung zu beſtehen,
alſo in unaufhörlicher Selbſtconſumtion,
und an Nahrung und Reſtauration iſt
faſt gar nicht zu denken, denn viele
Schmetterlinge bringen in dieſem Zu-
ſtand gar keinen Mund mit auf die Welt.
Bey einer ſolchen Verfeinerung der Or-
ganiſation, bey einer ſolchen Dispro-
portion zwiſchen Einnahme und Aus-
gabe iſt keine Dauer möglich, und die
Erfahrung beſtätigt es, daſs das Inſect
ſehr bald ſtirbt. Hier ſtellt uns
alſo das nehmliche Geſchöpf den Zu-
ſtand des vollkommenſten und unvoll-
kommenſten Lebens und die damit ver-
bundene längere oder kürzere Dauer
ſehr anſchaulich dar.
Die Amphibien, dieſe kalten Zwit-
tergeſchöpfe, können ihr Leben auſſer-
ordentlich hoch bringen; ein Vorzug,
den ſie vorzüglich der Zähigkeit ihres
Lebens, d. h. der ſehr innigen und
H 2
[116] ſchwehr zu trennend n Verbindung der
Lebenskraft mit der Materie und ihrem
ſchwachen intenſiven Leben verdanken.
Wie zäh ihr Leben iſt, davon hat
man erſtaunliche Beweiſe. Man hat
Schildkröten geraume Zeit ohne Kopf
leben, und Fröſche, mit aus der Bruſt
geriſſenen Herzen, noch herum hüpfen
geſehen, und wie wir oben geſehen ha-
ben, konnte eine Schildkröte 6 Wochen
lang ganz ohne Nahrung leben; welches
zugleich zur Gnüge zeigt, wie gering
ihr intenſives Leben und alſo das Be-
dürfniſs der Reſtauration iſt. Ja es
iſt erwieſen, daſs man Kröten leben-
dig in Steinen, ja in Marmorblöcken
eingeſchloſſen, angetroffen hat. *) Sie
[117] mögen nun als Eyer oder als ſchon ge-
bildete Weſen darinne eingeſchloſſen
worden ſeyn, ſo iſt eins ſo erſtaunens-
würdig wie das andere. Denn was für
eine Reihe von Jahren gehörte dazu,
ehe ſich dieſer Marmor generiren,
und ehe er ſeine Feſtigkeit erreichen
konnte!
Eben ſo groſs iſt der Einfluſs der
Regenerationskraft auf die Verlängerung
ihres Lebens. Eine Menge Gefahren
und Todesurſachen werden dadurch
unſchädlich gemacht, und ganze verlor-
ne Theile wieder erſezt. Hierhin
gehört auch das Geſchäft des Häutens,
das wir bey den meiſten Geſchöpfen die-
*)
[118] ſer Klaſſe finden. Schlangen, Fröſche,
Eidechſen u. a. werfen alle Jahre ihre
ganze Haut ab, und es ſcheint dieſe Art
von Verjüngung ſehr weſentlich zu ih-
rer Erhaltung und Verlängerung zu ge-
hören. Etwas ähnliches finden wir
durch die ganze Thierwelt: Die Vögel
wechſeln die Federn, auch Schnäbel, (das
ſogenannte Mauſern), die Inſecten ver-
larven ſich, die meiſten vierfüſsigen
Thiere wechſeln die Haare und Klauen.
Das höchſte Alter erreichen, ſo
weit jezt unſre Beobachtungen gehen,
die Schildkröten und Krokodille.
Die Schildkröte, ein äuſſerſt träges,
in allen ſeinen Bewegungen langſames
und phlegmatiſches Thier, und beſon-
ders ſo langſam wachſend, daſs man auf
20 Jahre kaum eine Zunahme von weni-
gen Zollen rechnen kann, lebt 100 und
mehrere Jahre.
[119]
Der Krokodill, ein groſses ſtarkes
lebensvolles Thier, in ein hartes Panzer-
hemde eingeſchloſſen, unglaublich viel
freſſend und mit einer auſſerordentli-
chen Verdauungskraft begabt, lebt eben-
falls ſehr lange, und nach der Be-
hauptung mehrerer Reiſenden iſt er das
einzige Thier, das ſo lange wächſt, als
es lebt.
Erſtaunlich iſts, was man unter
den kaltblütigen Waſſerbewohnern,
den Fiſchen, für Greiſse findet. Viel-
leicht erreichen ſie im Verhältniſs
ihrer Gröſse das höchſte Alter unter
allen Geſchöpfen. Man weiſs aus der
alten Römiſchen Geſchichte, daſs es in
den kaiſerlichen Fiſchteichen mehrmals
Muränen gab, welche das 60ſte Jahr er-
reichten, und die am Ende ſo bekannt
mit den Menſchen und ſo umgänglich
wurden, daſs Craſſus Orator unam ex illis
defleuerit.
[120]
Der Hecht, ein trocknes äuſſerſt ge-
fräſsiges Thier, und der Karpfen kön-
nen, nach glaubwürdigen Zeugniſſen,
ihr Leben auf anderthalb hundert
Jahre bringen. Der Lachs wächſt
ſchnell, und ſtirbt bald; Hingegen
die langſamer wachſende Barſch lebt
länger.
Es ſcheint mir hierbey einiger Be-
merkung werth, daſs in dem Fiſchreich
der natürliche Tod viel ſeltner vor-
kommt, als in den andern Naturreichen.
Hier herrſcht weit allgemeiner das Ge-
ſetz des unaufhörlichen Uebergangs des
einen in das andre, nach dem Recht des
Stärkern. Eins verſchlingt das andre,
der Stärkere den Schwächern, und man
kann behaupten, daſs im Waſſer weni-
ger Tod exiſtirt, indem das Sterbende
unmittelbar wieder in die Subſtanz eines
Lebenden übergeht, und folglich der
Zwiſchenzuſtand von Tod ſeltner exiſtirt,
als auf der Erde. Die Verweſung ge-
ſchieht in dem Magen des Stärkern. —
[121] Dieſe Einrichtung zeugt aber von hoher
göttlicher Weisheit. Man denke ſich,
daſs die unzähligen Millionen Waſſer-
bewoher, die täglich ſterben, nur einen
Tag unbegraben (oder, welches hier
eben das heiſst, nicht verzehrt) da lä-
gen; ſie würden ſogleich faulen, und
die fürchterlichſte peſtilenzialiſche Aus-
dünſtung verbreiten. Im Waſſer, hier,
wo jenes groſse Verbeſſerungsmittel der
animaliſchen Fäulniſs, die Vegetation,
in weit geringern Maaſe exiſtirt, hier
muſste jede Veranlaſſung zur Fäulniſs
verhütet werden, und deswegen beſtän-
diges Leben da herrſchen.
Unter den Vögeln giebt es ebenfalls
viele ſehr lange lebende Arten. Hierzu
tragen ohnſtreitig folgende Umſtände
viel bey:
- 1) Sie ſind auſſerordentlich gut be-
deckt, denn es kann keine voll-
kommnere, und die Wärme mehr
[122] zuſammenhaltende Bedeckung ge-
ben, als die Federn. - 2) Sie haben alle Jahre eine Art von
Reproduction und Verjüngung, die
wir das Mauſern nennen. Der Vo-
gel ſcheint dabey etwas krank zu
werden, wirft endlich die alten Fe-
dern ab, und bekömmt neue. Viele
werfen auch ihre Schnäbel ab, und
erhalten neue, ein wichtiger Theil
der Verjüngung, weil ſie dadurch
in den Stand geſezt werden, ſich
beſſer zu nähren. - 3) Die Vögel genieſsen unter allen
Thieren die meiſte und reinſte
Luft. - 4) Sie bewegen ſich viel. Aber ihre
Bewegung iſt die geſundeſte von
allen, ſie iſt aus der activen und
paſſiven zuſammengeſezt, d. h. ſie
werden getragen, und haben blos
[123] die Anſtrengung der Fortbewegung.
Sie gleicht dem Reiten, welches
daher ebenfalls den Vorzug vor al-
len andern Bewegungen hat. - 5) Durch eine eigne Einrichtung wird
bey ihnen mit dem Urin eine groſse
Menge Erde weggeſchaft, und alſo
eine der Haupturſachen gehoben,
die bey andern Thieren Trocken-
heit, frühes Alter und Tod herbey
führt.
Der Steinadler, ein ſtarkes groſses
feſtfaſerigtes Thier, erreicht ein äuſſerſt
hohes Alter. Man hat Beyſpiele, daſs
manche in Menagerien über 100 Jahre
gelebt haben.
Eben ſo die Geyer und Falken, beydes
Fleiſchfreſſende Thiere. — Herr Selwand
in London erhielt vor wenig Jahren einen
Falken von dem Vorgebürge der guten
Hofnung, den man mit einem goldnen
Halsbande gefangen hatte, worauf in
[124] Engliſcher Sprache ſtand: Sr. Majeſtät,
K. Jacob von England. An. 1610. Es wa-
ren alſo ſeit ſeiner Gefangenſchaft 182
Jahr verfloſſen. Wie alt war er wohl,
als er entfloh? Er war von der gröſsten
Art dieſer Vögel, und beſaſs noch eine
nicht geringe Munterkeit und Stärke,
doch bemerkte man, daſs ſeine Augen
etwas dunkel und blind, und die Hals-
federn weiſs worden waren.
Der Rabe, ein fleiſchfreſſender Vo-
gel, von harten ſchwarzen Fleiſch, kann
ebenfalls ſein Leben auf 100 Jahre brin-
gen; ſo auch der Schwan, ein ſehr gut
befiedertes, von Fiſchen lebendes, und
das flieſsende Waſſer liebendes Thier.
Vorzüglich zeichnet ſich der Papa-
gey aus. Man hat Beyſpiele gehabt, daſs
er noch als Gefangener des Menſchen
60 Jahre gelebt hat, und wie alt war er
vielleicht ſchon, als er gefangen wurde?
Es iſt ein Thier, das faſt alle Arten von
Speiſe verzehrt und verdaut, den Schna-
[125] bel wechſelt, und dunkles feſtes Fleiſch
hat.
Der Pfau lebt bis zum 20ſten Jahre.
— Hingegen der Hahn, ein hitziges,
ſtreitſüchtiges und geiles Thier, weit
kürzer. Von noch kürzerm Leben iſt
der Sperling, der Libertin unter den Vö-
geln. Die kleinen Vögel leben im Gan-
zen auch kürzer. Die Amſel und der
Stiegliz noch am längſten, bis zum
20ſten Jahr.
Wenden wir uns nun zu den voll-
kommenſten, dem Menſchen am näch-
ſten kommenden, vierfüſsigen Säugthie-
ren, ſo finden wir hier ebenfalls
eine auffallende Verſchiedenheit des Al-
ters.
Am höchſten unter allen bringt es
wohl der Elefant, der auch durch ſeine
Gröſse, langſames Wachsthum (er
wächſt bis ins 30ſte Jahr), äuſſerſt feſte
[126] Haut und Zähne, den gröſsten Anſpruch
darauf hat. Man rechnet, daſs er 200
Jahr alt werden kann.
Das Alter des Löwen iſt nicht genau
zu beſtimmen, doch ſcheint er es ziem-
lich hoch zu bringen, weil man zuwei-
len welche ohne Zahn gefunden hat.
Nun folgt der Bär, der groſse Schlä-
fer und nicht weniger phlegmatiſch im
Wachen, und dennoch von keiner lan-
gen Lebensdauer. — Ein ſchlimmer
Troſt für diejenigen, die im Nichtsthun
das Arcanum zum langen Leben gefun-
den zu haben glauben.
Das Kameel hingegen, ein mageres,
trocknes, thätiges, äuſſerſt dauerhaftes
Thier, wird alt. Gewöhnlich erreicht
es 50, oft auch 100 Jahre.
Das Pferd bringt es doch nicht hö-
her, als etwa 40 Jahre; ein zwar groſses
und kraftvolles Thier, das aber wenig
[127] mit Haaren bedeckt, empfindlicher und
von ſcharfen zur Fäulniſs geneigten
Säften iſt. Doch kann es einen Theil
ſeines kürzern Lebens der Plage des
Menſchen zu danken haben, denn wir
haben noch keine Erfahrungen, wie alt
es in der Wildniſs werden kann. In
eben dem Verhältniſs ſteht der Eſel. Das
Maulthier, das Product von beyden, hat
mehr Dauer, und wird älter.
Was man vom hohen Alter der
Hirſche geſagt hat, iſt Fabel. Sie
werden etwa 30 Jahr und etwas dar-
über alt.
Der Stier, ſo groſs und ſtark er iſt,
lebt dennoch nur kurze Zeit, 15, höch-
ſtens 20 Jahre.
Der gröſste Theil der kleinern
Thiere, Schaafe, Ziegen, Füchſe,
Haaſen, leben höchſtens 7 bis 10
Jahre, die Hunde und Schweine ausge-
[128] nommen, die es auf 15 bis 20 Jahre
bringen.
Aus dieſer Mannichfaltigkeit von
Erfarung laſſen ſich nun folgende Re-
ſultate ziehen:
Die thieriſche Welt hat im Ganzen
weit mehr innere und äuſſere Bewegung,
ein weit zuſammengeſezteres und voll-
kommneres intenſives Leben, und alſo
gewiſs mehr Selbſtconſumtion als die
Vegetabiliſche. — Ferner ſind die Or-
gane dieſes Reichs weit zarter, ausgebil-
det und mannichfaltiger. Folglich müſs-
ten eigentlich Thiere ein kürzeres Leben
haben, als Pflanzen. Dafür aber haben
ſie mehr Reichthum und Energie der Le-
benskraft, mehr Berührungspuncte mit
der ganzen ſie umgebenden Natur, folg-
lich mehr Zugang und Erſatz von auſſen.
— Es muſs alſo in dieſer Klaſſe zwar
ſchweh-
[129] ſchwehrer ſeyn, ein ſehr ausgezeichnet
hohes Alter zu erreichen, aber auch
ein zu kurzes Leben wird ſelten ſeyn.
Und das iſts auch, was wir in der Er-
fahrung finden. — Ein mittleres Alter,
von 5 — 40 Jahren, iſt das gewöhn-
lichſte.
Je ſchneller ein Thier entſteht, je
ſchneller es zur Vollkommenheit reift,
deſto ſchneller vergeht auch ſein Leben.
Dieſs ſcheint eines der allgemeinſten
Naturgeſetze zu ſeyn, das ſich durch
alle Klaſſen hindurch beſtätigt. — Nur
muſs man die Entwicklung nicht blos
von dem Wachsthum verſtehen, und
darnach berechnen. Denn es giebt
Thiere, die, ſo lange ſie leben, zu
wachſen ſcheinen, und bey denen
das Wachsthum einen Theil der
Ernährung ausmacht, ſondern es
kommt vorzüglich auf folgende zwey
Puncte an:
I
[130]
- 1) Auf die Zeit der erſten Entwick-
lung im Ey, entweder in oder auſſer
dem Körper. - 2) Auf den Zeitpunct der Mannbar-
keit, den man als das höchſte Ziel
der phyſiſchen Ausbildung und als
den Beweiſs anſehen kann, daſs
das Geſchöpf nun den höchſten
Grad der Vollendung erreicht
hat, deſſen es im Phyſiſchen fähig
war.
Die Regel muſs alſo ſo beſtimmt
werden: Je kürzere Zeit ein Geſchöpf
zur Ausbildung im Mutterleibe oder Ey
braucht, deſto ſchneller vergeht es. Der
Elefant, der bis zum 3ten Jahre trägt,
lebt auch am längſten, Hirſche, Stiere,
Hunde u. ſ. w., deren Tragezeit nur von
3 bis 6 Monate iſt, erreichen ein weit
kürzeres Ziel. — Quod cito fit, cito
perit.
[131]
Vorzüglich aber das Geſetz: Je frü-
her ein Geſchöpf ſeine Mannbarkeit er-
reicht, je früher es ſich propagirt, deſto
hürzer dauert ſeine Exiſtenz. Dieſs Ge-
ſetz, das wir ſchon im Pflanzenreiche
ſo vollkommen beſtätigt finden, herrſcht
auch im Thierreich ohne Ausnahme.
Das gröſste Beyſpiel davon geben uns
die Inſecten. Ihre erſte Periode bis zur
Mannbarkeit, d. h. ihr Larvenleben
kann ſehr lange, ja mehrere Jahre, dau-
ern; ſobald ſie aber ihre groſse Verwand-
lung gemacht, d. h. ihre Mannbarkeit
erreicht haben, ſo iſts auch um ihr Le-
ben geſchehen. Und bey den vierfüſsi-
gen Thieren iſt dieſs ſo gewiſs, daſs ſich
ſogar die Lebenslänge eines Geſchöpfs
ziemlich richtig darnach beſtimmen
läſst, wenn man die Epoque der Mann-
barkeit als den fünften Theil der ganzen
Lebensdauer annimmt.
Pferde, Eſel, Stiere ſind im 3ten oder
4ten Jahre mannbar, und leben 15 — 20
I 2
[132] Jahre. Schaafe im 2ten Jahre, und leben
8 — 10 Jahre.
Alle gehörnten Thiere leben im
Durchſchnitt kürzer, als die ungehörn-
ten.
Die Thiere mit dunklern ſchwär-
zern Fleiſch ſind im Ganzen länger le-
bend, als die mit weiſsem Fleiſch.
Eben ſo ſind die ſtillen furchtſamen
Thiere von kürzrer Lebensdauer, als
die vom entgegen geſezten Tempera-
ment.
Vorzüglich ſcheint eine gewiſſe Be-
deckung des Körpers einen groſsen Ein-
fluſs auf die Lebensdauer zu haben. —
So leben die Vögel, die gewiſs die dauer-
hafteſte und beſte Bedeckung haben,
vorzüglich lange, ſo auch der Elefant,
der Rhinoceroſs, der Crocodill, die die
feſteſte Haut haben.
[133]
Auch hat die Art der Bewegung ih-
ren Einfluſs. Das Laufen ſcheint der
Lebenslänge am wenigſten, hingegen
das Schwimmen und Fliegen, genug, die
aus der activen und paſſiven zuſammen-
geſezte Bewegung am meiſten vortheil-
haft zu ſeyn.
Auch beſtätigt ſich der Grundſatz:
Je weniger intenſiv das Leben eines Ge-
ſchöpfs, und je geringer ſeine innre und
äuſsre Conſumtion, d. h. nach dem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauch, je unvoll-
kommner das Leben eines Geſchöpfs iſt,
deſto dauerhafter iſt es. — Hingegen:
je zarter, feiner und zuſammengeſezter
die Organiſation und je vollkommner
das Leben, deſto vergänglicher iſt es.
Dieſs zeigen uns am deutlichſten
folgende Erfahrungen:
- 1) Die Zoophyten, oder Pflanzenthie-
re, deren ganze Organiſation im
[134] Magen, Mund und Ausgang beſteht,
haben ein äuſſerſt zähes und unzer-
ſtörbares Leben. - 2) Alle kaltblütigen Thiere haben im
Durchſchnitt ein längeres und zähe-
res Leben, als die warmblütigen,
oder, welches eben das iſt, die
nicht athemholenden haben hierinn
einen Vorzug für den athemholen-
den Thieren. Und warum? Das
Athemholen iſt die Quelle der in-
nern Wärme, und Wärme beſchleu-
nigt Conſumtion. Das Geſchäft
der Reſpiration iſt alſo überhaupt
eine zwar beträchtliche Vermeh-
rung der Vollkommenheit eines Ge-
ſchöpfs, aber auch ſeiner Conſum-
tion. Ein athmendes Geſchöpf hat
gleichſam doppelte Circulation, die
allgemeine und die kleinere, durch
die Lunge, ferner doppelte Ober-
fläche, die mit der Luft in be-
ſtändige Berührung kommen, die
[135] Haut und die Oberfläche der
Lungen, und endlich auch eine
weit ſtärkere Reizung, und folg-
lich eine weit ſtärkere Selbſtcon-
ſumtion ſowohl von innen als
auſſen. - 3) Die im Waſſer lebenden Geſchöpfe
leben im Ganzen länger, als die in
der Luft lebenden; und zwar aus
eben dem Grunde, weil das Ge-
ſchöpf im Waſſer wenig ausdunſtet,
und weil das Waſſer bey weitem
nicht ſo ſehr conſumirt, als die
Luft. - 4) Den allerſtärkſten Beweis endlich,
was die Verminderung der äuſſern
Conſumtion für eine erſtaunliche
Wirkung auf Verlängerung des Le-
bens hat, geben die Beyſpiele, wo
dieſelbe gänzlich unmöglich ge-
macht wurde, die Beyſpiele von
Kröten, die in feſten Geſtein einge-
[136] ſchloſſen waren, und die hier, blos
durch Unterbrechung der Conſum-
tion von auſſen, um ſo vieles län-
ger ihr Leben conſervirt hatten.
Hier konnte gar nichts verdunſten,
nichts aufgelöſet werden, denn das
wenige von Luft, was etwa zugleich
mit eingeſchloſſen wurde, muſste
ſehr bald ſo ſaturirt werden, daſs
nichts mehr aufgenommen werden
konnte. Eben deswegen konnte
das Geſchöpf auch ſo lange ohne
alle Nahrung exiſtiren, denn das
Bedürfniſs der Nahrung entſteht
erſt aus dem Verluſt, den wir durch
die Verdunſtung und Conſumtion
erleiden. Hier, wo alles zuſam-
men bleibt, brauchts keinen Er-
ſatz. — Dadurch konnte alſo die
Lebenskraft und die Organiſation
vielleicht 100mal länger, als im
natürlichen Zuſtande erhalten wer-
den.
[137]
Auch das lezte Prinzip der Lebensver-
längerung, der vollkommneren Reſtaura-
tion, findet in dieſem Naturreich ſeine
vollkommne Beſtätigung:
Der höchſte Grad von Reſtaura-
tion iſt die Reproduction ganz neuer Or-
gane.
Wir finden dieſe Kraft in einem be-
wundernswürdigen Grade in der Klaſſe
der Pflanzenthiere, der Würmer und
Amphibien, genug derjenigen Geſchö-
pfe, welche kaltes Blut und keine oder
nur knorpelichte Knochen haben. Und
bey allen dieſen Geſchöpfen exiſtirt eine
ausgezeichnete Lebensdauer.
Etwas ähnliches iſt das Abwerfen
der Schuppen bey den Fiſchen, der
Häute bey Schlangen, Krokodillen, Frö-
ſchen u. ſ. w., der Federn und Schnäbel
bey den Vögeln, und wir bemerken im-
mer, je vollkommner dieſe Renovation
[138] geſchieht, deſto länger iſt Verhältniſs-
mäſsig das Leben:
Ein vorzüglich wichtiger Gegen-
ſtand aber, in Abſicht auf Reſtauration,
iſt die Ernährung. Hier äuſſert ſich
der weſentlichſte Unterſchied der Pflan-
zen- und Thierwelt. Statt daſs alle
Pflanzen ohne Unterſchied ihre Nahrung
von auſſen an ſich ziehen, iſt hingegen
bey allen Thieren das unveränderliche
Geſetz, daſs die Nahrung zuerſt in eine
eigne dazu beſtimmte Höhle oder
Schlauch (gewöhnlich Magen genannt)
kommen muſs, ehe ſie in die Maſſe der
Säfte aufgenommen, und ein Theil des
Thieres werden kann; und der un-
ſichtbare Polyp hat ſo gut, wie der
Elefant, dieſen auszeichnenden, Ka-
racter des Thiers, ein Maul und einen
Magen.
Dieſs iſts, was die Hauptbaſis der
Thierwelt, den karacteriſtiſchen Unter-
[139] ſchied des Thiers von der Pflanze aus-
macht, und worauf ſich eben der Vor-
zug der Individualität, des innern voll-
kommnern, entwickeltern Lebens, ur-
ſprünglich gründet. Daher kann in
Thieren die aufgenommene Materie ei-
nen weit höhern Grad von Vollendung
erhalten, als in Pflanzen; die Wurzeln
ſind gleichſam inwendig (die Milchge-
fäſse), und erhalten den Nahrungsſaft
ſchon durch den Darmkanal aſſimilirt
und verfeinert. — Daher brauchen
Thiere mehr Abſonderungen und Excre-
tiones, Pflanzen weniger. — Daher
geht bey Thieren der Trieb des Nah-
rungsſaftes und aller Bewegungen von
innen nach auſſen, bey den Pflanzen
von auſſen nach innen. — Daher
ſtirbt das Thier von auſſen nach innen
ab, die Pflanze umgekehrt, und man
ſieht Bäume, wo Mark und alles Innere
völlig fehlen, und nur noch die Rinde
exiſtirt, und welche dennoch fortleben.
— Daher können Thiere weit mannich-
[140] faltigere Nahrung aufnehmen, und ſich
weit vollkommner reſtauriren, und da-
durch der ſtärkern Selbſtconſumtion das
Gleichgewicht halten.
[141]
Fünfte Vorleſung.
Lebensdauer der Menſchen.
Erklärung des unglaublich ſcheinenden Alters der Patri-
archen — Das Alter der Welt hat keinen Einfluſs auf
das Lebensalter der Menſchen — Beyſpiele des Alters
bey den Juden — Griechen — Römern — Tabellen
des Cenſus unter Veſpaſian — Beyſpiele des hohen
Alters bey Kaiſern, Königen und Pübſten — Frie-
drich II. — bey Eremiten und Kloſterbrüdern — Philo-
ſophen und Gelehrten — Schulmännern — Dichtern und
Künſilern — das höchſte Alter findet ſich nur unter
Landleuten, Jägern, Gürtnern, Soldaten und Matro-
ſen — Beyſpiele — Weniger bey Aerzten — Kürzeſtes
Leben — Verſchiedenheit des Alters
nach dem Clima.
Aber nun laſſen Sie uns zu der Haupt-
quelle unſrer Erfahrung, zu der Ge-
ſchichte des Menſchen, übergehen,
[142] und hier Beyſpiele ſammlen, die für
unſre Unterſuchung fruchtbar ſeyn kön-
nen.
Ich werde Ihnen die merkwürdig-
ſten Beyſpiele des höchſten Menſchenal-
ters vorlegen, und wir werden daraus
ſehen, in welchem Clima, unter wel-
chen Glücksumſtänden, in welchem
Stand, mit welchen Geiſtes- und Körper-
anlagen der Menſch das höchſte Alter er-
reicht habe. — Eine angenehme Ue-
berſicht, die uns einen eignen Theil der
Weltgeſchichte, die Geſchichte des
menſchlichen Alters, und die venerable
Gallerie der Neſtors aller Zeiten und
Völker, bekannt machen wird. — Ich
werde hie und da eine kurze Karacteri-
ſtik beyfügen, um zugleich einen Wink
zu geben, in wie fern Karacter und Tem-
perament auf die Länge des Lebens Ein-
fluſs hatte.
Gewöhnlich glaubt man, daſs in
der Jugend der Welt auch ihre Bewoh-
[143] ner ein jugendlicheres und vollkommne-
res Leben, eine Rieſengröſse, unglaub-
liche Kräfte, und eine erſtaunliche Le-
bensdauer gehabt haben. Lange trug
man ſich mit einer Menge derglei-
chen Geſchichten, und mancher ſchö-
ne Traum verdankt ihnen ſeine Ent-
ſtehung. — So trug man kein Be-
denken, in allem Ernſt, dem Urvater
Adam eine Länge von 900 Ellen und ein
Alter von faſt 1000 Jahren beyzulegen.
Aber die ſcharfe und gründliche Kritik
neuer Phyſiker hat die hie und da ge-
fundenen vermeynten Rieſenknochen
in Elefanten und Rhinocerosknochen
verwandelt, und hellſehende Theologen
haben gezeigt, daſs die Chronologie je-
ner Zeiten nicht die jetzige ſey. Man
hat mit der höchſten Wahrſcheinlichkeit
erwieſen (inſonderheit Hensler), daſs die
Jahre der Alten bis auf Abraham nur 3
Monate, nachhero 8 Monate, und erſt
nach Joſeph 12 Monate enthielten. Eine
Behauptung, die dadurch noch mehr
Beſtätigung erhält, daſs noch jezt Völ-
[144] ker im Orient exiſtiren, welche das Jahr
zu 3 Monat rechnen; ferner, daſs es
ganz unerklärbar ſeyn würde, warum
das Lebensalter der Menſchen gleich
nach der Sündfluth um die Hälfte ver-
kürzt wurde. Eben ſo unbegreiflich
müſste es ſeyn, warum die Patriarchen
immer erſt im 60ſten, 70ſten ja 100ten
Jahre heyrathen, welches ſich aber ſo-
gleich hebt, wenn wir dieſs Alter nach
dieſem Maasſtabe berechnen, denn da
wird das 20ſte oder 30ſte Jahr daraus,
alſo eben der Zeitpunct, in dem wir
auch jezt noch heyrathen. — Ueber-
haupt bekommt nun alles, nach dieſer
Berichtigung, eine andere Geſtalt. Die
1600 Jahre vor der Sündfluth werden zu
414 Jahr, und das 900jährige Alter des
Methuſalems (das höchſte, was angege-
ben wird) ſinkt auf 200 Jahr herab, ein
Alter, das gar nicht unter die Unmög-
lichkeiten gehört, und dem noch in
neuern Zeiten Menſchen nahe gekom-
men ſind.
Auch
[145]
Auch in der Profangeſchichte er-
zählt man in jener Zeit viel von Heroen
und Arcadiſchen Königen, die ein Alter
von vielen 100 Jahren erreicht haben
ſollen, welches ſich aber auf eben dieſe
Art auflöſen läſst.
Schon mit Abraham, (alſo mit dem
Zeitpunkt einer etwas conſtatirtern Ge-
ſchichte), fängt ſich ein Lebensalter an,
welches gar nichts auſſerordentliches
mehr hat, und auch noch jezt erreicht
werden kann, beſonders wenn man die
Frugalität, das freye, luftgewohnte und
nomadiſche Leben jener Patriarchen an-
nehmen wollte.
Die Jüdiſche Geſchichte giebt uns
folgende Facta: Abraham, ein Mann
von groſser und entſchloſsner Seele, und
dem alles glücklich ging, erreichte ein
Alter von 175 Jahren, ſein Sohn Iſaac,
ein Ruhe liebender, keuſcher und ſtiller
Mann, 180; Jacob, ebenfalls ein Freund
des Friedens, aber ſchlauer, nur 147;
K
[146] der Kriegsmann Ismael 137; die einzige
Frau der alten Welt, von deren Lebens-
dauer wir etwas erfahren, Sarah, 127
Jahre; Joſeph, reich an Klugheit und
Politik, in der Jugend bedrängt, im Al-
ter hochgeehrt, lebte 110 Jahr.
Moſes, ein Mann von auſſerordent-
lichen Geiſt und Kraft, reich an Thaten
aber ſchwach an Worten, brachte ſein
Sorgen- und Strapazenvolles Leben,
bis auf 120 Jahre. Aber ſchon er klagt,
„unſer Leben währt 70 Jahr, wenns
„hoch kommt, 80;“ und wir ſe-
hen hieraus, daſs ſchon vor 3000
Jahren es in dieſem Stück gerade ſo war,
wie jezt.
Der kriegeriſche und immer thätige
Joſua, ward 110 Jahr alt. — Eli, der
Hoheprieſter, ein fetter, phlegmatiſcher
und gelaſſener Mann, lebte einige 90,
aber Eliſa, ſtreng gegen ſich und gegen
andre, und ein Verächter aller Bequem-
lichkeiten und Reichthümer, lebte weit
[147] über 100 Jahre. — In den lezten Zei-
ten des Jüdiſchen Staats zeichnete ſich
der Prophet Simeon, voll Hofnung und
Vertrauen auf Gott, durch ein 90jähriges
Alter aus.
So ſehr übrigens bey den Egyptiern
alles voll Fabeln iſt, ſo hat doch das Al-
ter ihrer Könige, welches von den älte-
ſten Zeiten her gemeldet wird, gar
nichts beſonders. Die höchſte Regie-
rungsdauer iſt etwas über 50 Jahr.
Von dem hohen Alter der Seres,
oder der heutigen Chineſer, hatte man,
nach dem Lucian zu urtheilen, ſehr hohe
Begriffe. Sie heiſſen ausdrücklich ma-
crobii, und zwar ſchreibt Lucian ihr
langes Leben ihrem häufigen Waſſertrin-
ken zu. — War es vielleicht auch
ſchon der Thee, den ſie damals tran-
ken?
Bey den Griechen finden wir meh-
rere Beyſpiele von hohen Alter. — Der
K 2
[148] weiſe Solon, ein Mann von groſser Seele,
tiefen Nachdenken und feurigen Patrio-
tismus, doch nicht gleichgültig gegen
die Annehmlichkeiten des Lebens, brach-
te ſein Alter auf 80 Jahr. Epimenides
von Creta ſoll 157 Jahr alt geworden
ſeyn. Der luſtige, ſchwärmende Ana-
creon lebte 80 Jahr, eben ſo lange Sopho-
cles und Pindar. Gorgias und Leon-
tium, ein groſser Redner, und ein viel
gereiſter und im Umgang und Unter-
richt der Jugend lebender Mann, brach-
te ſein Alter auf 108 Jahr, Protagoras
von Abdera, ebenfalls ein Redner und
Reiſender, auf 90; Iſocrates, ein Mann
von groſser Mäſsigkeit und Beſcheiden-
heit, auf 98 Jahr. Democrit, ein
Freund und Forſcher der Natur, und
dabey von guter Laune und heitern
Sinn, ward 109 Jahr, der ſchmuzige
und frugale Diogenes, 90. Zeno, der
Stifter der ſtoiſchen Secte und ein Mei-
ſter in der Kunſt der Selbſtverleugnung,
erreichte beynahe 100 Jahr, und Plato,
eines der göttlichſten Genies, die je ge-
[149] lebt haben, und ein Freund der Ruhe
und ſtillen Betrachtung, 81 Jahr. —
Pythagoras, deſſen Lehre vorzüglich
gute Diät, Mäſsigung der Leidenſchaf-
ten und Gymnaſtik empfahl, wurde
auch ſehr alt. Er pflegte das menſchli-
che Leben in vier gleiche Theile zu thei-
len. Vom 1ſten zum 20ſten Jahre ſey
man ein Kind (anfangender Menſch),
von 20 bis zu 40 ein junger Menſch, von
40 bis zu 60 erſt ein Menſch, von 60 bis
80 ein alter oder abnehmender Menſch,
und nach dieſer Zeit rechne er niemand
mehr unter die Lebendigen, er möge
auch ſo lange leben, als er wolle.
Unter den Römern verdienen fol-
gende bemerkt zu werden.
M. Valerius Corvinus, wurde über
100 Jahr alt, ein Mann von groſsem
Muth und Tapferkeit, vieler Populari-
tät und beſtändigem Glück. Orbi-
lius, der berühmte Orbilius, erſt Soldat,
[150] dann Pädagog, aber immer noch mit mi-
litäriſcher Strenge, erreichte in dieſer
Lebensart ein Alter von 100 Jahren. —
Wie hoch der Mädgenſchulmeiſter Her-
mippus ſein Alter brachte, haben wir
ſchon geſehen. — Fabius, durch ſein
Zaudern bekannt, zeigte durch ſein 90
jähriges Alter, daſs man auch dem
Tode damit etwas abgewinnen könne.
Und Cato, der Mann von eiſernem
Körper und Seele, ein Freund des Land-
lebens und ein Feind der Aerzte, wurde
über 90 Jahre alt.
Auch von Römiſchen Frauen haben
wir merkwürdige Beyſpiele eines langen
Lebens. Terentia, des Cicero Frau, troz
ihres vielen Unglücks, Kummers und
des Podagra, was ſie plagte, ward 103
Jahre alt. Und Auguſtus Gemahlin, Li-
via, eine herſchſüchtige, leidenſchaft-
liche und dabey glückliche Frau, 90
Jahr.
[151]
Beſonders merkwürdig iſts, daſs
man mehrere Beyſpiele von ſehr alt ge-
wordnen Römiſchen Actricen hat, ein
Vorzug, den ſie leider jezt verlohren ha-
ben, und der zu beweiſen ſcheint, daſs
jezt mehr Lebensconſumtion mit ihrem
Stande verknüpft iſt, als ehemals. —
Eine gewiſſe Luceja, die ſehr jung zum
Theater kam, war 100 Jahr Actrice, und
erſchien noch im 112ten Jahre auf dem
Theater. Und Galeria copiala, eine
Actrie und Tänzerin zugleich, wurde 90
Jahre nach ihrem erſten Auftritt auf dem
Theater, wieder aufgeführt, um als ein
Wunder den Pompejus zu complimen-
tiren. Und dennoch wars noch nicht
zum leztenmale. Zur Feyer des Auguſts
erſchien ſie noch einmal auf dem
Theater.
Einen äuſſerſt ſchäzbaren Beytrag
von der Lebensdauer, zu den Zeiten des
Kaiſer Veſpaſian liefert uns Plinius, aus
den Regiſtern des Cenſus, einer völlig
ſichern und glaubwürdigen Quelle. Hier
[152] zeigt ſich nun, daſs in dem Theile Ita-
liens, der zwiſchen den Appeninen und
dem Po liegt, in dem Jahr dieſer Zählung
(dem 76ſten unſrer Zeitrechnung) 124
Menſchen lebten, welche 100 und mehr
Jahre alt waren, nehmlich 54 von 100
Jahren, 57 von 110, 2 von 125, 4 von
130, ebenfalls 4 von 135 bis 137, 3 von
140. Auſſer dieſen fanden ſich noch be-
ſonders in Parma 5 Menſchen, deren
drey 120, und zwey 130 Jahre alt waren;
in Piacenza eine von 130 Jahren; zu
Fauentia eine Frau von 132 Jahren.
In einer einzigen Stadt bey Piacenza,
(Vellejacium) lebten 10, von denen ſechs
110, und vier 120 Jahre erreicht hatten.
Auch des berühmten Ulpians Mor-
talitätstabellen treffen auf eine auffallen-
de Art mit den unſrigen, und zwar von
groſsen Städten überein. Man kann
nach ihnen das alte Rom und London, in
Abſicht auf die Lebensprobabilität völlig
parallel ſtellen.
[153]
Man ſieht alſo zur Gnüge, daſs
die Dauer des menſchlichen Lebens zu
den Zeiten Moſes, der Griechen, der
Römer, und jezt immer dieſelbe war,
und daſs das Alter der Erde keinen Ein-
fluſs auf das Alter ihrer Bewohner hat,
den Unterſchied etwa ausgenommen,
den die verſchiedene Kultur ihrer Ober-
fläche und die daher rührende Verſchie-
denheit des Clima hervorbringen kann.
So iſts z. B. gewiſs, daſs jezt in Ita-
lien nach Verhältniſs nicht ſo viele und
auch nicht ſo ſehr alte Leute angetroffen
werden, als zu Veſpaſians Zeiten; aber
die Urſache iſt, daſs damals wegen meh-
rern Waldungen das Clima noch kälter
war, und die Menſchen feſter machte. *)
Auch iſts nicht unwahrſcheinlich, daſs
die eigenthümliche Wärme der Erde
ſelbſt wandern, und ſich zuweilen in ei-
[154] nem Erdſtrich mehr anhäufen, in dem
andern aber vermindern kann.
Das Reſultat der Unterſuchung
bleibt immer: Der Menſch kann noch
jezt eben das Alter erreichen, als ehe-
dem. Der Unterſchied liegt nur darinn,
daſs es ſonſt mehrere, und jezt weniger
erreichen.
Laſſen Sie uns nun das Lebensalter
nach den verſchiedenen Ständen und
Lagen der Menſchen durchgehen, und
dabey beſonders auf die neuern Zeiten
Rückſicht nehmen.
Und zwar erſtens Kaiſer und Köni-
ge, genug, die Groſsen dieſer Welt.
Hat ihnen die Natur, die ihnen am voll-
kommenſten alle Vorzüge und Freuden
des Lebens ſchenkte, nicht auch ihre
ſchönſte Gabe, ein längeres Leben ver-
liehen? Leider nicht. Weder die ältere
noch neuere Geſchichte ſagt uns, daſs
dieſe Prärogative ihnen beſonders eigen
[155] geweſen wäre. Wir finden in der alten
Geſchichte nur wenige Könige, die das
80ſte Jahr erreicht haben. Und vollends
die neuere. In der ganzen Reihe der
Römiſch-teutſchen Kaiſer, von Auguſt
an gerechnet, bis auf unſre Zeiten, wel-
che zuſammen über 200 betragen, fin-
den wir, die zwey erſten, den Auguſt
und Tiberius ausgenommen, nur vier,
welche das 80ſte Jahr erreichten, den
Gordian, Valerian, Anaſtaſius und Juſti-
nian.
Auguſt wurde 76 Jahre alt, ein Mann
von ruhigem und gemäſsigten Geiſt,
aber ſchnell und lebhaft im Handeln,
mäſsig in den Genüſſen der Tafel, aber
deſto empfänglicher für die Freuden der
Künſte und Wiſſenſchaften. Er aſs nur
die einfachſten Speiſen, und, wenn er
nicht hungerte, gar nicht, trank nie
über ein Pfund Wein, hielt aber ſehr
darauf, daſs Freude und gute Geſell-
ſchaft die Mahlzeit würzten. Uebrigens
war er von heiterm Sinn und ſehr glück-
[156] lich, und, was den Punct des Lebens
betraf, ſo geſinnt, daſs er noch kurz
vor ſeinem Tode zu ſeinen Freunden ſa-
gen konnte: Plaudite, Amici. „Applau-
„dirt, meine Freunde, die Komödie iſt
„zu Ende.“ Eine Geiſtesſtimmung, die
der Erhaltung des Lebens äuſſerſt vor-
theilhaft iſt. Im 30ſten Jahre überſtand
er eine ſchwehre und ſo gefährliche
Krankheit, daſs man ihn für verlohren
hielt. Es war eine Art von Nerven-
krankheit, die durch das warme Verhal-
ten und die warmen Bäder, die ihm ſei-
ne gewöhnlichen Aerzte riethen, nur
noch verſchlimmert werden muſste. An-
tonius Muſa kam alſo auf den Einfall,
ihn gerade auf die entgegengeſezte Art
zu behandeln. Er muſste ſich ganz kalt
verhalten und ganz kalt baden, und in
kurzem war er wieder hergeſtellt. Dieſe
Krankheit ſowohl, als die dadurch be-
wirkte nüzliche Veränderung ſeiner Le-
bensart, trugen wahrſcheinlich viel zur
Verlängerung ſeines Lebens bey.
[157]
Und nebenbey lehrt uns dieſe Ge-
ſchichte, daſs man ſehr Unrecht hat, die
Methode des kalten Badens die Engliſche
zu nennen, da ſie ſchon ſo alt iſt.
Der Kaiſer Tiberius lebte noch zwey
Jahr länger, er war von heftiger Ge-
müthsart, aber vir lentis maxillis, wie
ihn Auguſt nennte, ein Freund der Wol-
luſt, aber bey dem allen diätetiſch, und
ſelbſt in dem Genuſs nicht ohne Auf-
merkſamkeit auf ſeine Geſundheit, ſo
daſs er zu ſagen pflegte, er hielte den
für einen Narren, der nach dem 30ſten
Jahre noch einen Arzt um ſeine Diät be-
fragte, weil ein jeder alsdenn ſchon mit
einiger Aufmerkſamkeit das, was ihm
nützlich und ſchädlich wäre, erkannt
haben müſste.
Der berühmte Eroberer Aurengzeb
erreichte zwar ein 100jähriges Alter,
aber er iſt nicht ſowohl als König, ſon-
dern vielmehr als Nomade zu betrach-
ten.
[158]
Eben ſo ſelten iſt das hohe Alter in
den Königs- und Fürſtenhäuſern der
neuern Zeit. Nur die Könige von Frank-
reich, aus dem Bourbonſchen Hauſe,
machen eine Ausnahme, wo gleich drey
auf einander folgende ein Alter von 70
Jahren erreichten.
Auch dürfen wir hier, als eines der
wichtigſten neuern Beyſpiele, des groſsen
Königs, Friedrich II. nicht vergeſſen. Er
war in allem groſs, ſelbſt in ſeinem Phy-
ſiſchen. — Er erreichte nicht nur ein,
unter den Königen ſchon ſehr ſeltnes,
Alter von 76 Jahren, ſondern, was noch
mehr ſagen will, er erreichte es nach
dem Mühe-Sorgen- und Strapazenvoll-
ſten Leben, das vielleicht je ein Menſch
durchlebte, von dem er 20 Jahr im wirk-
lichen Kriege zubrachte, und dabey alle
Strapazen eines gemeinen Soldaten er-
trug, nur mit dem Unterſchied, daſs er
zugleich als Feldherr für alle dachte, und
die Nacht, wenn jener Ruhe fand, noch
[159] mit tiefen Nachdenken und neuen Pla-
nen zubrachte.
Die geiſtliche Hoheit war in dieſem
Betracht nicht glücklicher. Von 300
Päbſten, die man rechnen kann, haben
nicht mehr als 5 ein Alter von 80 Jahren
erreicht oder überſchritten, ohneracht
hier der Vortheil eintritt, daſs ſie erſt
ſpät zu dieſer Würde gelangen, und
alſo mehr Wahrſcheinlichkeit eines ho-
hen Alters haben.
Aber eine Menge von auſſerordent-
lichen Beyſpielen findet man unter den
Eremiten und Kloſtergeiſtlichen, die bey
der ſtrengſten Diät, Selbſtverleugnung
und Abſtraction, gleichſam entbunden
von allen menſchlichen Leidenſchaften
und dem Umgange, der ſie rege machen
kann, ein contemplatives Leben, doch
mit körperlicher Bewegung und Luft-
genuſs verbunden, führten. So wurde
der Apoſtel Johannes 93 Jahre, der Ere-
mit Paullus, bey einer faſt unglaublich
[160] ſtrengen Diät und in einer Höhle, 113,
und der heilige Antonius 105 Jahre alt;
Athanaſius, Hieronymus überſchritten
ebenfalls das 80ſte Jahr. — In neuern
Zeiten, wo die Abſtraction des Geiſtes,
die Selbſtverleugnung und frugale Diät
einige Abänderungen erlitten haben,
ſind dieſe Beyſpiele ſeltner worden.
Eben ſo ſehr haben ſich tiefdenken-
de Philoſophen von jeher durch hohes
Alter ausgezeichnet, beſonders wenn
ihre Philoſophie ſich mit der Natur be-
ſchäftigte und ihnen das göttliche Ver-
gnügen, neue wichtige Wahrheiten zu
entdecken, gewährte. Der reinſte Ge-
nuſs, eine wohlthätige Exaltation unſrer
ſelbſt, und eine Art von Reſtauration,
die unter die vorzüglichen Lebensver-
längerungsmittel eines vollkommnen
Geſchöpfs zu gehören ſcheint! — Die
Aelteſten finden wir unter den Stoikern
und Pythagoraeern, bey denen Bezäh-
mung der Leidenſchaften und der Sinn-
lichkeit,
[161] lichkeit, und eine ſtrenge Diät, unter
die weſentlichſten Eigenſchaften eines
Philoſophen gehörten. — Wir haben
ſchon oben die Beyſpiele eines Plato und
Iſocrabes betrachtet. — Appollonius von
Tyana, ein ſchöner, vollkommner, in
allen geiſtigen und körperlichen Eigen-
ſchaften auſſerordentlicher Mann, der
bey den Chriſten für einen Zauberer,
bey den Römern und Griechen für einen
Götterboten galt, in ſeiner Diät ein
Nachfolger des Pythagoras, und ein
groſser Freund des Reiſens, ward über
100 Jahr alt. Xenophilus, ebenfalls
ein Pythagoraeer, 106 Jahr. Der Phi-
loſoph Daemonax, ebenfalls 100 Jahr;
er war ein Mann von äuſſerſt ſtrengen
Sitten, und von einer ungewöhnlichen
ſtoiſchen Apathie. Man fragte ihn vor
ſeinem Tode: Wie er begraben ſeyn
wollte? Macht euch darum keine Sorge,
antwortete er, die Leiche wird ſchon
der Geſtank begraben. Aber, willſt du
denn, warfen ihm ſeine Freunde ein,
Hunden und Vögeln zur Speiſe dienen?
L
[162]
Warum nicht? erwiederte er, ich
habe, ſo lange ich lebte, den Menſchen
nach allen Kräften zu nützen geſucht,
warum ſollte ich nach meinem Tode
nicht auch den Thieren etwas geben?
Selbſt in neuern Zeiten haben die
Philoſophen dieſen Vorzug ſich erhalten.
Und die gröſsten und tiefſten Denker
ſcheinen darinne eine Frucht mehr ihrer
geiſtigen Freuden zu genieſsen. Kepler
und Baco erreichten ein hohes Alter;
Newton, der ſo ganz alle ſeine Freuden
und Genüſſe in höhern Sphären fand,
daſs man verſichert, er habe ſeine Jung-
frauſchaft mit ins Grab genommen, kam
bis auf 90 Jahre. Euler, ein Mann von
unbegreiflicher Thätigkeit, deſſen tief-
gedachte Schriften ſich über 300 belau-
fen, näherte ſich ebenfalls dieſem Alter,
und noch jezt zeigt der gröſste lebende
Philoſoph, Kant, daſs die Philoſophie
nicht nur das Leben lange erhalten, ſon-
dern auch noch im höchſten Alter die
treueſte Gefährdin und eine uner-
[163] ſchöpfliche Quelle der Glückſeeligkeit für
ſich und andere bleiben kann.
Beſonders zeichnen ſich die Acade-
miciens in dieſer Rückſicht aus. Ich
brauche nur an den ehrwürdigen Fonte-
nelle, der 100 Jahr weniger eins alt wur-
de, und an den Neſtor Formey, zu erin-
nern, die Beyde Secretaires perpetuels,
erſtrer der Franzöſiſchen, leztrer der
Berliner Academie, waren.
Eben ſo finden wir unter den Schul-
männern viele Beyſpiele eines langen
Lebens, ſo daſs man beynahe glauben
ſollte, der beſtändige Umgang mit der
Jugend könne etwas zu unſrer eignen
Verjüngung und Erhaltung beytragen.
Einen ganz vorzüglichen Rang in
der Geſchichte des langen Lebens, be-
haupten aber die Dichter und Künſtler,
genug, die Glücklichen, deren haupt-
ſächliches Geſchäft im Spielen der Phan-
L 2
[164] taſie und ſelbſtgeſchaffnen Welten be-
ſteht, und deren ganzes Leben im ei-
gentlichſten Verſtande ein ſchöner
Traum iſt. Wir haben ſchon oben
geſehen, wie hoch Anacreon, So-
phocles, Pindar, ihr Leben brach-
ten. Young, Voltaire, Bodmer, Hal-
ler, Metaſtaſio, Gleim, Utz, Oeſer
haben alle ein hohes Alter erreicht,
und ich erlaube mir hier die Hofnung,
die zugleich gewiſs der Wunſch eines
jeden von uns iſt, zu äuſſern, daſs die
Zierde der Teutſchen Dichter, Wieland,
die neueſte Beſtätigung dieſes Grund-
ſatzes geben möge.
Aber die auſſerordentlichſten Bey-
ſpiele von langen Leben finden wir nur
unter den Menſchenklaſſen, die unter
körperlicher Arbeit, und in freyer Luft,
ein einfaches naturgemäſses Leben füh-
ren, unter Landleuten, Gärtnern, Jä-
gern, Soldaten und Matroſen. Nur in
dieſen Ständen erreicht der Menſch noch
[165] jezt ein Alter von 140, ja 150 Jahren.
Ich kann mir das Vergnügen nicht ver-
ſagen, Ihnen die merkwürdigſten dieſer
Beyſpiele etwas umſtändlich zu erzehlen,
denn in ſolchen Fällen hat oft auch der
kleinſte Umſtand Intereſſe und Bedeu-
tung.
Im Jahr 1670 ſtarb H. Jenkins in
Yorkſhire. Er war ſchon im Jahr 1513
bey der Schlacht zu Flowdenfield gewe-
ſen, und damals 12 Jahr alt. Man
konnte aus den Regiſtern der Kanzleyen
und andrer Gerichtshöfe erſehen, daſs
er 140 Jahre lang vor Gericht erſchienen
war, und Eyde abgelegt hatte. Gegen
die Wahrheit der Sache iſt alſo nichts
einzuwenden. Er war bey ſeinem Tode
169 Jahr alt. Seine lezte Beſchäfti-
gung war Fiſcherey, und er konnte
noch, als er ſchon weit über 100 Jahre
alt war, in ſtarken Strömen ſchwim-
men.
[166]
Ihm kommt Th. Parre am nächſten,
ebenfalls ein Engländer aus Shropſhire.
Er war ein armer Bauersmann, und
muſste ſich mit ſeiner täglichen Arbeit
ernähren. Als er 120 Jahre alt war, ver-
heyrathete er ſich wieder mit einer
Wittwe, mit der er noch 12 Jahre lebte,
und ſo, daſs ſie verſicherte, ihm nie ſein
Alter angemerkt zu haben. Bis in ſein
130ſtes Jahr verrichtete er noch alle Ar-
beit im Hauſe, und pflegte ſogar noch
zu dreſchen. Einige Jahr vor ſeinem
Tode erſt fingen die Augen und das Ge-
dächtniſs an ſchwach zu werden, das
Gehör und ſein Verſtand aber blieben bis
zu Ende gut. In ſeinem 152ſten Jahre
hörete man von ihm in London, der Kö-
nig wurde ſehr begierig dieſe Seltenheit
zu ſehen, und er muſste ſich auf den
Weg machen. Und dieſs brachte ihn
höchſtwahrſcheinlich um ſein Leben,
das er auſſerdem noch länger würde fort-
geſezt haben. Er wurde nehmlich da ſo
königlich tractirt, und auf einmal in ein
ſo ganz entgegengeſeztes Leben verſezt,
[167] daſs er bald darauf 1635 in London ſtarb.
Er war 152 Jahr und 9 Monate alt wor-
den, und hatte 9 Könige von England
erlebt. — Das allermerkwürdigſte war
nun dieſs, daſs man bey der Section,
welche Harvey verrichtete, alle ſeine
Eingeweyde in dem geſundeſten Zuſtan-
de antraf; nicht der geringſte Fehler war
zu entdecken. Sogar die Rippen waren
noch nicht einmal verknochert, was
man ſonſt bey allen alten Leuten findet.
In ſeinem Körper lag alſo noch nicht die
mindeſte Urſache des Todes, und er war
blos an ſchnell erzeugter Ueberfüllung
geſtorben, weil man ihm zu viel zu gute
gethan hatte.
Ein Beweis, daſs in manchen Fa-
milien eine ſolche altinachende Anlage,
ein beſonders gutes Stamen vitae ſeyn
könne, giebt eben dieſer Parre. Erſt
vor wenig Jahren ſtarb ſeine Uren-
kelin zu Corke in einem Alter von 103
Jahren.
[168]
Faſt von eben der Art iſt folgendes
ganz neueres Beyſpiel. *) Ein Däne,
Nahmens Draakenberg, geboren 1626,
diente bis in ſein 91ſtes Jahr als Matroſe
auf der Königl. Flotte, und brachte 15
Jahre ſeines Lebens in der Türkiſchen
Sklaverey, und alſo im gröſsten Elende,
zu. Als er 111 Jahr alt war, und ſich
nun zur Ruhe geſezt hatte, fiels ihm
ein, doch nun zu heyrathen, und er
nahm eine 60jährige Frau; dieſe aber
überlebte er lange, und nun in ſeinem
130ſten Jahre verliebte er ſich noch in
ein junges Bauermädgen, die aber, wie
man wohl denken kann, ſeinen Antrag
ausſchlug. Er verſuchte ſein Heil nun
noch bey mehrern; da er aber nirgends
glücklicher war, ſo beſchloſs er endlich
ledig zu bleiben, und lebte ſo noch 16
Jahre. Erſt im Jahre 1772 ſtarb er im
146ſten Jahre ſeines Alters. Er war ein
Mann von ziemlich heftigen Tempera-
[169] ment, und zeigte oft ſeine Stärke noch
in den lezten Jahren ſeines Lebens.
Im Jahr 1757 ſtarb zu Cornwallis I.
Effingham im 144ſten Jahr ſeines Alters.
Er war unter Jacob I. Regierung von
ſehr armen Eltern geboren, und von
Kindheit auf zur Arbeit gewöhnt, diente
lange als Soldat und Korporal, und als
ſolcher auch in der Schlacht bey Höch-
ſtädt. Zulezt kehrte er zurück in ſeinen
Geburtsort, und lebte als Tagelöhner
bis an ſein Ende. Zu bemerken iſt,
daſs er in der Jugend niemals hitzige
und ſtarke Getränke getrunken, immer
ſehr mäſsig gelebt, und nur ſelten
Fleiſch gegeſſen hat. Er wuſste bis zu
ſeinem 100ſten Jahre faſt nicht, was
Krankheit war, und machte noch 8 Tage
vor ſeinem Ende eine Reiſe von drey
Meilen.
Die allerneueſten und nicht weni-
ger merkwürdigen Beyſpiele ſind fol-
gende:
[170]
Im Jahr 1792 ſtarb im Holſteinſchen
ein gewiſſer Stender, ein arbeitſamer
Bauersmann, im 103ten Jahre. Seine
Nahrung war beynahe nichts anders als
Grütze und Buttermilch; äuſſerſt ſelten
aſs er Fleiſch, und immer nur ſehr ſtark
geſalzen. Er hatte faſt niemals Durſt,
und trank daher ſehr ſelten. Tabak
rauchte er gern. Erſt im Alter fing er an
Thee und zuweilen Koffee zu trinken.
Die Zähne verlor er bald. Krank war
er nie. Aergern konnte er ſich gar nicht,
d. h. es war bey ihm phyſiſch unmöglich
daſs die Galle überging. Er vermied
auch alle Gelegenheit zu Zank und Streit.
Dafür aber hatte er ein deſto gröſsres
Vertrauen auf die Vorſehung, und
wuſste ſich dadurch in allen Uebeln und
Unglücksfällen zu tröſten und aufzurich-
ten. Seine liebſte Unterhaltung war im-
mer: Gottes Güte. *) —
Eins der aller ſonderbarſten Bey-
ſpiele, wie unter dem abwechſelnd-
[171] ſten Spiele des Glücks, der anhal-
tenſten Todesgefahr und den nach-
theiligſten Einflüſſen, ſich dennoch
das Leben eines Menſchen unglaub-
lich lange erhalten kann, iſt folgendes:
Im Jahr 1792 ſtarb in Preuſsen ein
alter Soldat, Nahmens Mittelſtedt, in
einem Alter von 112 Jahren. Dieſer
Mann war 1681 im Jun. zu Fiſſahn in
Preuſsen geboren, und wurde als Be-
dienter von ſeiner Herrſchaft, die in ei-
nem Abend ihre ganze Equipage und 6
Bediente dazu verſpielte, ebenfalls mit
verſpielt. Er ging hierauf in Kriegs-
dienſte, und diente 67 Jahre als Soldat,
machte alle Feldzüge unter König Frie-
drich I. Friedrich Wilhelm I. und Frie-
drich II. beſonders den ganzen 7jährigen
Krieg mit, wohnte 17 Hauptbataillen
bey, *) wo er unzähligemal dem Tode
[172] trozte und viel Bleſſuren erhielt. Im
7jährigen Kriege wurde ihm das Pferd
unter dem Leibe erſchoſſen und er ge-
rieth in Ruſſiſche Gefangenſchaft. —
Nach allen dieſen ausgeſtandenen Müh-
ſeligkeiten heyrathete er, und nachdem
ihm zwey Weiber geſtorben waren,
heyrathete er im Jahr 1790, alſo im
110ten Jahre ſeines Alters, die dritte
Frau. Er war noch im Stande, bis kurz
vor ſeinem Tode, alle Monate 2 Stun-
den Wegs zu gehen um ſich ſeine kleine
Penſion zu holen.
In eben dem Jahre ſtarb zu Neus im
Erzſtift Kölln, ein Greiſs von 112 Jahren;
(H. Kauper) er war ein Mann von ſtar-
ken Körper, war gewohnt täglich einen
kleinen Spaziergang zu machen, konnte
bis an ſeinen Tod ohne Brille leſen, und
behielt auch den Gebrauch ſeiner Ver-
nunft bis ans Ende.
[173]
In England ſtarb vor kurzem Helena
Gray im 105ten Jahre ihres Alters. Sie
war klein von Perſon, ſehr munter, auf-
geräumt und launigt, und bekam wenig
Jahre vor ihrem Tode neue Zähne.
Noch im vorigen Jahre lebte in der
Grafſchaft Fife, Thomas Garrik in ſeinem
108ten Jahre, noch ſehr munter und
war noch immer, ſo wie in vorigen Zei-
ten, wegen ſeines Strauſsenmagens be-
rühmt. Seit 20 Jahren lag er nie krank
zu Bett.
Noch vor kurzen lebte zu Tacony
bey Philadelphia, (meldet ein Engliſches
Blatt vom vorigen Jahre) ein Schuſter,
Nahmens R. Glan, in ſeinem 114ten
Jahre. Er iſt ein geborner Schotte, hat
noch König Wilhelm III. geſehen, hat
den vollen Gebrauch ſeines Geſichts und
Gedächtniſſes, iſst und trinkt behaglich,
verdaut herrlich, arbeitet die ganze
Woche, und wallfahrtet Sonntags nach
Philadelphia in die Kirche. — Seine
[174] dritte Frau lebt noch, iſt 30 Jahr
alt, und iſt mit ſeiner Amtsführung zu-
frieden.
Ein gewiſſer Baron, Baravicino de
Capellis, ſtarb 1770 zu Meran in Tyrol,
in einem Alter von 104 Jahren. Er hatte
vier Frauen gehabt; im 14ten Jahre die
erſte, und im 84ſten die vierte geheyra-
thet. Aus der lezten Ehe wurden ihm
7 Kinder gebohren, und als er ſtarb,
war ſeine Frau mit dem 8ten ſchwanger.
Er verlor die Munterkeit ſeines Leibes
und ſeiner Seele nicht eher, als in den
lezten Monaten ſeines Lebens. Nie
brauchte er eine Brille, und machte
noch oft, in ſeinem hohen Alter, einen
Weg von 2 Stunden zu Fuſs. Seine
gewöhnliche Koſt waren Eyer; nie aſs
er gekochtes Fleiſch, nur dann und
wann etwas gebratenes, aber immer nur
wenig. Thee trank er häufig mit Roſſo-
lis und Zuckerkand.
[175]
Ant. Senish, ein Ackermann im
Dorfe Puy in Limoges, ſtarb im Jahr
1770 im 111ten Jahre ſeines Alters. Er
arbeitete noch 14 Tage vor ſeinem Ende,
hatte noch ſeine Haare und Zähne, und
ſein Geſicht hatte nicht abgenommen.
Seine gewöhnliche Koſt waren Kaſtanien
und Türkiſch Korn. Nie hatte er Ader
gelaſſen, und nie etwas zum Abführen
genommen.
Ich kann mich unmöglich enthalten,
hier eine der intereſſanteſten Geſchich-
ten des hohen Alters einzuſchalten, die
uns in Schubarts Engliſchen Blättern (2.
Band. 2. Stück) mitgetheilt wird:
„Die Jugend einer gewiſſen Stadt in
Kent lacht immer, wenn man den alten
Nobs nennt. Ihre Väter ſchon pflegten
ihnen von dieſem Wundermann zu er-
zählen, deſſen ganze Lebensart ſo regel-
mäſsig war, wie der Schattenweifer ei-
ner Sonnenuhr. Von einer Zeit zur an-
dern lieſs ſich zu gewiſſen Stunden die
[176] ehrwürdige Geſtalt ſehen. Man ſah ihn
mitten in den Hundstägen am jähen Hü-
gelhange arbeiten, mitten im Winter
den Eisbehangenen Berg hinan klettern;
läſſig zugeknöpft im herbſten Froſte,
und trotzend dem ehernen Nordſturm;
im Herbſte bis an die Hüften entblöſst —
Hut, Atzel und Stock in einer Hand, in-
deſs die andere unbedeckt gegen die
dumpfe neblichte Luft anruderte.“
„Sein gewöhnlicher Spaziergang
ging nach dem Gipfel eines Hügels, den
er ſtets in einer beſtimmten Zeit erreich-
te, und Nobs rühmte ſich, er habe nicht
weniger als 40,000 mal die Schritte ge-
zählt, ſo er zu dieſer Wallfahrt brauchte.
Zu Highgate trank er dann bedächtlich
ſeine einzige Bouteille, ſah eine Stunde
lang hinab ins dampfige Thal, und trug
ſich hernach ganz ruhig wieder nach
Hauſe. Jede kleinſte Krümmung des
Weges war ihm bekannt, und er wuſste,
ohne niederzuſehen, wo er den Fuſs
aufheben müſſe, um über einen Stein
hin-
[177] hinwegzuſchreiten. Den Weg fand er
mit verbundenen Augen, und wär’ er
auch ganz blind geweſen, ſo hätte man
ihn eben ſo wenig fünf Schritte über das
Thor der Herberge hinausführen kön-
nen, als der arbeitende Hund, der das
Waſſer aus dem Brunnen zieht, weiter
gepeitſchet werden kann, wenn der Ei-
mer den Rand erreicht hat.“
„Jedermann auf dem Wege kannte
den alten Nobs, und Nobs kannte jeder-
männiglich; er grüſste freundlich nach
allen Seiten hin: aber ſelbſt die älteſte
Bekanntſchaft hätt es nicht über ihn ver-
mocht, irgendwo einzuſprechen, und
Erfriſchung zu ſich zu nehmen; nie er-
laubte er ſich früher zu trinken, als bis
er ſeinen Krugvoll durch das beſtimmte
Tagwerk verdient hatte.“
„Alle Bewohner am Wege kannten
den wunderbaren Alten, und unter ih-
nen war keiner, der ihn nicht liebte.
Der Harmloſe iſt derjenige Karacter, mit
M
[178] welchem ſich alle Menſchen am liebſten
vertragen; und eben das war er im
höchſten Grade. Er hatte ſeine Eigen-
heiten, aber ſie beluſtigten, und die
ganze Gegend ſchien einen gemein-
ſchaftlichen Verluſt erlitten zu haben,
als ihn der Tod hinwegraffte.“
„Für jedes Haus, für jede Hütte am
Wege hatte er ſeinen eignen Gruſs, der
jedesmal der Perſon angepaſst war.
Keine ſeiner Redensarten beleidigte,
denn man nahm ſie ſo, wie er ſie mein-
te, als hieſs es: „Nobs geht fürbaſs.“
„Aufgeſchürzt!“ war ſein Wort,
wenn er am Milchlager vorbeyging;
worauf die rothbackigten Mädchen er-
wiederten: „Guten Spaziergang, Mei-
ſter!“ Ging er am Schneider vorüber,
ſo ſagte er mit gutherzigem Kopfnicken:
„Puz s’ Licht!“ und die Antwort war:
„Wart alter Schalk.“ Am Pappelhof
ſchlug er auf die Hundshütte, und we-
delnd begegneten ihm die argloſen Thie-
[179] re. Am Pfarrhauſe nahm er die Mütze
ab, und ſang je und je ein andächtiges
„Amen!“ Es war blos ein einfältiges
zweyſilbiges Wort, aber es drückte die
ganze Verehrung des guten Mannes für
die Religion aus.“
„Kaum daſs ihn der Regen von ſei-
nem Wanderzug abhalten konnte; ſelbſt
alsdann ſpazierte er in Gedanken nach
Highgate. Er machte nemlich aus ſei-
nen zwey Stuben nur eine, und trat zur
geſezten Zeit ſeine Wallfahrt an. Da er
wuſste, wie viel Schritte dazu erforder-
lich wären, ſo ging er durch beyde Zim-
mer auf und nieder, bis die Zahl voll,
und ſo weit das Tagwerk vollbracht war.
Aber wie ſtand es, wird man fragen,
mit den verſchiedenen Stationen? —
Die wurden nicht übergangen. Hatte
er ſo viel Schritte gezählt, als zum
Milchlager erforderlich waren, ſo rief
er: „Aufgeſehürzt!“ Waren der Schrit-
te zum Schneider genug, ſo rief er ſein
Top! eben ſo regelmäſsig, als ſtreckte
M 2
[180] der querbeinige Bruder ſein Käſegeſicht
zur Antwort heraus; am Pappelhof
ſchlug er ſtatt der Hundshütte auf den
Tiſch; und wenn er ſein Amen geſagt
hatte, ſo ſchüttelte er ſich eben ſo freu-
dig, als befände er ſich am Ziel ſeiner
Wanderſchaft. Auf dieſer Zimmerreiſe
ſah er in der Einbildung jeden Winkel,
der ihm auf der würklichen vorkam:
auf der Brücke umduftete ihn das friſche
Heu; er hob ſeine Füſse höher, wenn
er im Geiſt an den Hügel gekommen
war; im Hintergrunde des Zimmers
wurden zween Stühle neben einander
gepflanzt, über die er hinüberkletterte,
wenn ihm ein Zaun vorkam. Er lüftete
ſich, wenn er an ſeiner Herberge ange-
langt war; er öffnete ſeine Flaſche; von
einem ſeiner Fenſter aus mahlte ſich ſei-
ne Phantaſie die ganze Ausſicht des Hü-
gels: und wenn er dann eine Stunde
ausgeruht und ſich erfriſcht hatte, ſo
trat er eben ſo bedächtig den Rückzug
an; überſtieg wieder jeden Zaun, und
[181] zollte von Station zu Station ſeine
Grüſse.“
„Ihr, die ihr dieſen wunderlichen
Alten belacht, laſst denkenden Ernſt auf
eure Stirne treten, und ahmt ihm nach!
Durch dieſe täglichen Uebungen brachte
er ſein Leben auf 96 Jahre. Er war ein
Vater dem Betrübten, ein Tröſter dem
Leidenden, dem Dürftigen ein Stab —
der beſte gutmütigſte Menſch der ganzen
Gegend. Stets froh in ſich ſelber, ſuchte
er auch über Andere Frohſinn zu ver-
breiten, und achtete kein Opfer zu groſs.
Den Unglücklichen widmete er die Ga-
ben, welche Andere an loſe Vergnügun-
gen verſchwenden, und bekam ihr ſeg-
nendes Lächeln und ihr Gebet zum Loh-
ne. Mag der Sturm ſeine Aſche ver-
ſtreuen, das Andenken an ſein Herz
wird ewig unter dieſen Menſchen le-
ben.“
„Die, ſo ihn blos ſahen, liebten den
Mann wegen ſeiner Eigenheiten; die ſei-
[182] nes Beyſtandes bedurften, verehrten ihn
wegen ſeiner Tugend und Milde. Im
ganzen Laufe eines ſo langen Lebens
konnte niemand aufſtehen und ſagen:
Nobs habe ihn auch nur in Gedanken be-
leidigt. Bey einem ſehr mittelmäſsigen
Einkommen behauptete er 60 Jahre hin-
durch den Namen des Mildthätigen,
und lieſs bey ſeinem Hinſcheiden ſeiner
Familie nur wenig zurück. Aber er
vermachte ihr dabey ein unſchäzbares
Erbe — jene Segnungen, welche der
lohnende Himmel für die Kinder der
Barmherzigen aufbewahrt.“
Dieſs ſind die Beyſpiele des höch-
ſten Alters in neuern Zeiten, die mir be-
kannt worden ſind. — Leute von 100
Jahren rechne ich hierunter gar nicht,
denn die kommen häufiger vor. Noch
vor einigen Jahren ſtarb in Bürgel, nicht
weit von hier, ein Zimmermann in ſei-
nem 104ten Jahre. Er hatte noch täglich
gearbeitet. Seine liebſte Beſchäftigung
war zulezt, Garn zu ſpinnen. Einſt ſaſs
[183] er hinter ſeinem Spinnrade. Mit einem-
male bemerkte ſeine Tochter, daſs er
nicht mehr ſpann. Sie ſah alſo nach
ihm, und — er war geſtorben.
Billig ſollten nun die Aerzte hier
auch eine vorzügliche Stelle behaupten,
welche die Mittel zum Leben und zur
Geſundheit ſo reichlich an andere aus-
ſpenden. Aber leider iſt dieſs nicht
der Fall. — Bey ihnen heiſts am mei-
ſten: Aliis inſerviendo conſumuntur: aliis
medendo moriuntur.
Wenigſtens bey den practiſchen
Aerzten iſt die Sterblichkeit ſehr groſs,
vielleicht gröſser, als bey irgend einem
andern Metier. Sie können gerade am
wenigſten die Geſundheits- und Vor-
ſichtsregeln beobachten, die ſie andern
geben, und dann exiſtiren wenige Be-
ſchäftigungen, wo Leibes- und Seelen-
conſumtion zugleich ſo groſs wäre, wie
in dieſer. Kopf und Füſse müſſen im-
mer gemeinſchaftlich arbeiten. — Doch
[184] gilt dieſe gröſsere Sterblichkeit mehr
von den erſten 10 Jahren der Praxis.
Ein Arzt, der dieſe glücklich überſtanden
hat, erlangt eine gewiſſe Feſtigkeit, eine
gewiſſe Unempfindlichkeit gegen die
Strapazen und Krankheitsurſachen,
durch die Gewohnheit werden ſelbſt die
üblen Ausdünſtungen und anſteckenden
Krankheitsgifte weniger nachtheilig, er
bekommt mehr Gleichmuth bey den täg-
lichen herzbrechenden Jammerſcenen,
und ſelbſt gegen die mannichfaltigen
Ungerechtigkeiten, und moraliſchen
Mishandlungen, die dieſes Metier be-
gleiten, und ſo kann alſo ein Arzt, der
ſeine Probezeit glücklich ausgehalten
hat, ein alter Mann werden.
Unſer Ahnherr, Hippocrates, geht
uns da mit gutem Beyſpiele vor. Er
ward 104 Jahr alt. Sein Leben beſtand in
Beobachtung der Natur, im Reiſen und
Krankenbeſuchen; er lebte mehr in klei-
nen Orten und auf dem Lande, als in
groſsen Städten. — Galen, Crato, Fo-
[185] reſtus, Plater, Hofmann, Haller, van
Swieten, Boerhave erreichten alle ein be-
trächtliches Alter.
In Anſehung der Kürze des Lebens
zeichnen ſich beſonders Berg- und Hüt-
tenarbeiter, alſo die Menſchen, die un-
ter der Erde oder in beſtändigen giftigen
Ausdünſtungen leben, aus. Es giebt
Gruben, die viel Arſenic und Cobald
enthalten, wo die Arbeiter nicht über 30
Jahre alt werden.
Und nun noch einen Blick auf den
Unterſchied des Alters nach dem Clima,
oder vielmehr der Landesart.
Oben an ſteht Schweden, Norwegen,
Dänemark und England. Dieſe Länder
haben unſtreitig die älteſten Menſchen
in neuern Zeiten hervorgebracht.
Die Beyſpiele von 130, 40, 50jäh-
rigen Menſchen gehören dieſen Län-
dern zu.
[186]
So ſehr die nördlichere Lage dem
hohen Alter vortheilhaft iſt, ſo iſt doch
ein gar zu hoher Grad von Kälte der Le-
benslänge ebenfalls nachtheilig. — In
Island und den nördlichſten Theilen
von Aſien (Sibirien), erreicht man höch-
ſtens ein Alter von 60 -- 70 Jahren.
Auſſer England und Schottland hat
auch Ireland den Ruhm eines hohen Al-
ters. In einem einzigen mittelmäſsigen
Ort (Dunsford) in Irrland, zählete man
80 Perſonen über 80. — Und Baco ſagt:
ich glaube, es exiſtirt im ganzen Lande
kein Dörfgen, wo nicht ein Menſch von
80 Jahren anzutreffen wäre.
In Frankreich iſt das höchſte Alter
nicht ſo häufig, doch ſtarb im Jahr 1757,
noch ein Mann von 121 Jahren.
Eben ſo in Italien; doch hat man
von den nördlichen Provinzen, der
Lombardey, Beyſpiele von hohem Alter.
[187]
Auch in Spanien giebts Beyſpiele
von Menſchen, die bis zum 110ten Jahr
gelebt haben, — doch ſelten.
Das ſchöne und geſunde Griechen-
land hat noch immer den Ruhm des ho-
hen Alters, den es ſonſt hatte. Tourne-
fort traf noch zu Athen einen alten Con-
ſul von 118 Jahren an. Beſonders zeich-
net ſich die Inſel Naxos aus.
Selbſt in Egypten und Indien finden
ſich Beyſpiele von ſehr langen Leben,
beſonders unter der Secte der Bramanen,
Anachoreten und Einſiedler, die die
Schwelgerey und Faulheit der andern
Einwohner dieſer Länder nicht lieben.
Aethiopien ſtand ehedem in dem
Ruf eines ſehr langen Lebens; aber Bruce
erzählt uns das Gegentheil.
Vorzüglich ſind einige Gegenden
von Ungarn durch ihr hohes Alter be-
rühmt
[188]
Teutſchland hat zwar viele Alte,
aber wenig Beyſpiele von auſſerordent-
lichen hohen Alter.
Selbſt in Holland kann man alt wer-
den, aber es geſchieht nicht häufig, und
das Alter erhebt ſich ſelten bis zum
100ten Jahr.
[189]
Sechste Vorleſung.
Reſultate aus den Erfarungen. Be-
ſtimmung des menſchlichen Lebens-
ziels.
Unabhängigkeit der Mortalität im Ganzen vom hohen
Alter einzelner — Einfluſs der Lage, des Clima, der
Lufttemperatur und Beſtändigkeit auf Lebensdauer —
Inſeln und Halbinſeln — die Alterreichſten Länder in
Europa — Nutzen des naturgemäſsen Lebens — Die
zwey ſchrecklichſten Extreme der Mortalität in neuern
Zeiten — Lebensverlängernde Kraft des Mitteltons in
Allem — des Eheſtandes — des Geſchlechts —
der Thätigkeit — der Frugalität — der Kultur —
des Landlebens — Auch bey Menſchen mögliche Ver-
jüngung — Beſtimmung des menſchlichen Lebensziels —
Abſolute und relatife Dauer deſſelben — Tabellen
über die leztere.
Um nicht durch zu überhäufte Bey-
ſpiele zu ermüden, breche ich hier ab,
[190] und werde die übrigen in der Folge
bey ſchicklichen Gelegenheiten anfüh-
ren.
Für jezt erlaube man mir, nun die
wichtigſten allgemeinen Reſultate und
Schluſsfolgen aus dieſen Erfahrungen zu
ziehen.
I. Das Alter der Welt hat bisher
noch keinen merklichen Einfluſs auf das
Alter der Menſchen gehabt. Man kann
noch immer eben ſo alt werden, als zu
Abrahams und noch frühern Zeiten. Al-
lerdings giebt es Perioden, wo in dem
nehmlichen Lande die Menſchen einmal
länger, das andremal kürzer lebten, aber
dieſs rührt offenbar nicht von der Welt,
ſondern von den Menſchen ſelbſt her.
Waren dieſe noch wild, einfach, arbeit-
ſam, Kinder der Luft und der Natur,
Hirten, Jäger und Ackersleute, ſo war
auch ein hohes Alter bey ihnen gewöhn-
lich. Wurden ſie aber nach und nach
der Natur untreu, überverfeinert und
[191] luxuriös, ſo wurde auch die Lebens-
dauer kürzer. — Aber das nehmliche
Volk, durch eine Revolution wieder in
einen rohern naturgemäſsern Zuſtand
verſezt, kann ſich auch wieder zu dem
natürlichern Ziel des Lebens erheben. —
Folglich ſind dieſs nur Perioden, welche
kommen und gehen; das Menſchenge-
ſchlecht im Ganzen leidet darunter
nicht, und behält ſein ihm angewieſe-
nes Lebensziel.
II. Der Menſch kann, wie wir ge-
ſehen haben, unter faſt allen Himmels-
ſtrichen, in der heiſsen und kalten Zone,
ein hohes Alter erreichen. Der Unter-
ſchied ſcheint nur darinne zu liegen,
daſs dieſs in manchen häufiger, in man-
chen ſeltner geſchieht, und daſs, wenn
man auch ein hohes, doch nicht überall
das höchſte Alter erreichen kann.
III. Selbſt in den Gegenden, wo
die Mortalität im Ganzen ſehr groſs iſt,
können einzelne Menſchen ein höheres
[192] Alter erreichen, als in den Gegenden,
wo die allgemeine Mortalität geringer
iſt. Wir wollen z. B. die wärmern Ge-
genden des Orients nehmen. Hier iſt
die Mortalität im Ganzen äuſſerſt gering,
daher auch die auſſerordentliche Popu-
lation, beſonders das kindliche Alter
leidet hier weit weniger, wegen der be-
ſtändigen gleichförmigen und reinen
Temperatur der Luft. Und dennoch
giebts hier verhältniſsmäſsig weit weni-
ger ſehr alte Menſchen, als in den nörd-
lichern Gegenden, wo die Mortalität im
Ganzen gröſser iſt.
IV. Hochliegende Orte haben im
Ganzen mehr und höhere Alte, als tief-
liegende. Doch iſt auch hier ein gewiſ-
ſes Maas, und man kann die Regel nicht
ſo beſtimmen: Je höher, je beſſer. —
Der äuſſerſte Grad von Höhe, die Höhe
der Gletſcher, iſt wieder dem Alter nach-
theilig, und die Schweiz, ohnſtreitig
das höchſte Land in Europa, hat weni-
ger Alte aufzuweiſen, als die Gebirge
von
[193] von Schottland. — Die Urſache iſt
zweyfach: Einmal, eine zu hohe Luft
iſt zu trocken, ätheriſch und rein, con-
ſumirt alſo ſchneller, und zweytens die
Lufttemperatur iſt zu ungleich, Wärme
und Kälte wechſeln zu ſchnell ab, und
nichts iſt der Lebensdauer nachtheiliger,
als zu ſchneller Wechſel.
V. In kältern Himmelsſtrichen
wird der Menſch im Ganzen älter, als
in heiſsen und zwar aus doppeltem Grun-
de: Einmal, weil im heiſsen Clima die
Lebensconſumtion ſtärker iſt, und dann
weil das kalte Clima das Clima der
Mäſsigkeit iſt, und auch dadurch der
Selbſtconſumtion Einhalt thut. — Aber
auch dieſs gilt nur bis zu einem gewiſſen
Grad. Die höchſte Kälte von Grönland,
Nova Zembla u. ſ. w. verkürzt wieder
das Leben.
VI. Ganz vorzüglich zuträglich zur
Verlängerung des Lebens iſt, Gleichför-
migkeit der Luft, beſonders in Abſicht
N
[194] auf Wärme und Kälte, Schwehre und
Leichtigkeit. Daher die Länder, wo
ſchnelle und ſtarke Abwechſelungen im
Barometer- und Thermometerſtand ge-
wöhnlich ſind, der Lebensdauer nie vor-
theilhaft ſind. — Es kann ſolch ein
Land übrigens geſund ſeyn, es können
viel Menſchen alt werden, aber ein ho-
hes Alter erreichen ſie nicht, denn jene
ſchnelle Abwechſelungen ſind eben ſo
viele innere Revolutionen, und dieſe
conſumiren erſtaunlich, ſowohl Kräfte
als Organe. In dieſer Abſicht zeich-
net ſich beſonders Teutſchland aus, deſ-
ſen Lage es zu einem beſtändigen Ge-
miſch von warmen und kalten Clima,
vom Süden und Norden macht, wo man
oft in einem Tage zugleich Froſt und
auch die gröſste Hitze erlebt, und wo
der März ſehr heiſs und der May be-
ſchneyt ſeyn kann. Dieſs Zwitterclima
Teutſchlands iſt gewiſs die Haupturſa-
che, daſs, troz ſeiner übrigens geſunden
Lage, zwar im Ganzen die Menſchen
ein ziemliches Alter erreichen, aber die
[195] Beyſpiele von ſehr hohen Alter weit ſelt-
ner ſind, als in andern, faſt unter glei-
cher Breite belegenen, benachbarten
Ländern.
VII. Ein zu hoher Grad von Tro-
ckenheit, ſo wie zu groſse Feuchtigkeit,
iſt der Lebensdauer nachtheilig. Daher
iſt eine, mit einer feinen Feuchtigkeit ge-
miſchte, Luft, die beſte, um ein hohes
Alter zu erlangen, und zwar aus folgen-
den Urſachen: Eine feuchte Luft iſt
ſchon zum Theil ſaturirt, und alſo we-
niger durſtig, ſie entzieht alſo dem Kör-
per weniger, d. h. ſie conſumirt ihn we-
niger. Ferner, in feuchter Luft iſt im-
mer mehr Gleichförmigkeit der Tempe-
ratur, weniger ſchnelle Revolution von
Hitze und Kälte möglich. Und endlich
erhält eine etwas feuchte Atmosphäre die
Organe länger geſchmeidig und jugend-
lich, da hingegen die zu trockne weit
ſchneller Trockenheit der Faſer und den
Karacter des Alters herbeyführt.
N 2
[196]
Den auffallendſten Beweis hiervon
geben uns die Inſeln. Wir finden, daſs
von jeher und noch jezt die Inſeln und
Halbinſeln die Wiegen des Alters waren.
Immer werden die Menſchen auf den
Inſeln älter als auf dem dabey unter glei-
cher Breite liegenden feſten Lande. —
So leben die Menſchen auf den Inſeln
des Archipelagus länger, als in dem gleich
dabey liegenden Aſien; auf der Inſel
Cypern länger, als in Syrien, auf Formoſa
und Japan länger, als in China, in Eng-
land und Dänemark länger, als in Teutſch-
land.
Doch hat Seewaſſer dieſe Wirkung
weit mehr, als ſüſses Waſſer; daher auch
Seeleute ſo alt werden können. Stillſte-
hende ſüſse Waſſer hingegen ſchaden
wieder durch ihre mephitiſche Ausdün-
ſtungen.
VIII. Sehr viel ſcheint auch auf
den Boden, ſelbſt auf die Erdart, genug
auf den ganzen Genius loci anzukommen,
und hier ſcheint ein kalchichter Boden
[197] am wenigſten geſchickt zu ſeyn, das Al-
ter zu befördern.
IX. Nach allen Erfahrungen ſind
England, Dänemark, Schweden und
Norwegen, diejenigen Länder, wo der
Menſch das höchſte Alter erreicht, und
wir finden bey genauer Unterſuchung,
daſs hier eben alle die bisher beſtimm-
ten Eigenſchaften zuſammen treffen.
Hingegen Abyſſinien, einige Gegenden
von Weſtindien, Surinam ſind die Län-
der, wo der Menſch am kürzeſten lebt.
X. Je mehr der Menſch der Natur
und ihren Geſetzen treu bleibt, deſto
länger lebt er, je weiter er ſich davon
entfernt, deſto kürzer. Dieſs iſt eins
der allgemeinſten Geſetze. — Daher
in denſelben Gegenden, ſo lange die Be-
wohner das frugale Hirten- und Jäger-
leben führten, wurden ſie alt; ſobald
ſie civiliſirter wurden und dadurch in
Luxus, Ueppigkeit und Faulheit verfie-
len, ſank auch ihre Lebensdauer herab;
[198] daher ſind es nicht die Reichen
und Vornehmen, nicht die, die Gold-
und Wundertincturen einnehmen, wel-
che ſehr alt werden; ſondern Bauern,
Ackersleute, Matroſen, ſolche Men-
ſchen, denen es vielleicht in ihrem gan-
zen Leben nicht eingefallen iſt, wie
mans machen müſſe, um alt zu werden,
ſind die, bey denen man die erſtaunlich-
ſten Beyſpiele antrifft.
XI. Den äuſſerſten ſchrecklichſten
Grad menſchlicher Sterblichkeit treffen
wir in zwey Erfindungen der neuern
Zeit an, unter den Negerſclaven in
Weſtindien, und in den Findelhäuſern.
— Von den Negerſclaven ſtirbt jährlich
der 5te oder 6te, alſo ungefähr ſo viel, als
wenn beſtändig die fürchterlichſte Peſt
unter ihnen wüthete. Und von 7000
Findelkindern, welche gewöhnlich alle
Jahre in das Findelhaus zu Paris gé-
bracht werden, ſind nach Verlauf von
10 Jahren noch 180 übrig, und 6820 ſind
geſtorben, alſo von 40 entrinnt nur ei-
[199] ner dieſem offnen Grab. — Iſt es nicht
höchſtmerkwürdig und ein neuer Be-
weis unſers vorigen Satzes, daſs gerade
da die Sterblichkeit am ſchrecklichſten
iſt, wo der Menſch ſich am weiteſten
von der Natur entfernt, wo die heilig-
ſten Geſetze der Natur zu Boden getre-
ten, und ihre erſten feſteſten Bande zer-
riſſen werden? Da, wo der Menſch
ſich im eigentlichſten Verſtande unters
Vieh erniedrigt, hier das Kind von der
Bruſt der Mutter reiſst, und es Mieth-
lingen hülflos überläſst, dort den Bru-
der vom Bruder, von ſeiner Heimath,
von ſeinem vaterländiſchen Boden
trennt, ihn auf einen fremden ungeſun-
den Boden verpflanzt, und ihn da ohne
Hofnung, ohne Troſt, ohne Freude,
mit der beſtändigen Sehnſucht nach den
Hinterlaſſenen im Herzen, unter den
härteſten Arbeiten zu Tode peinigt. —
Ich kenne keine Seuche, keine Landpla-
ge, keine Lage der Menſchheit, weder
in der alten noch neuern Zeit, wo die
Sterblichkeit den Grad erreicht hätte,
[200] den wir in den Findelhäuſern antreffen.
Es gehörte eine Ueberverfeinerung dazu,
die nur den neueſten Zeiten aufgehoben
war. Es gehörten jene elende politiſche
Rechenkünſtler dazu, welche darthun
konnten, der Staat ſey die beſte Mutter,
und es ſey zur Plusmacherey weiter
nichts nöthig, als die Kinder für ein Ei-
genthum des Staats zu erklären, ſie in
Depot zu nehmen, und einen öffentli-
chen Schlund anzulegen, der ſie ver-
ſchlinge. — Man ſieht nun zu ſpät die
ſchauderhaften Folgen dieſer unnatürli-
chen Mutterſchaft, dieſer Geringſchät-
zung der erſten Grundpfeiler der
menſchlichen Geſellſchaft, Ehe und elter-
licher Pflicht. — So ſchrecklich rächt
die Natur die Uebertretung ihrer heilig-
ſten Gebote!
XII. Das Reſultat aller Erfarung
und ein Hauptgrund der Macrobiotic iſt:
Omnia mediocria ad vitam prolongandam
ſunt utilia. Der Mittelton in allen Stü-
cken, die aurea mediocritas, die Horaz ſo
[201] ſchön beſang, von der Hume ſagt, daſs
ſie das Beſte auf dieſer Erde ſey, iſt auch
zur Verlängerung des Lebens am con-
venabelſten. In einer gewiſſen Mit-
telmäſsigkeit des Standes, des Clima,
der Geſundheit, des Temperaments, der
Leibesconſtitution, der Geſchäfte, der
Geiſteskraft, der Diät u. ſ. w. liegt das
gröſste Geheimniſs, um alt zu werden.
Alle Extreme, ſo wohl das zu viel als
das zu wenig, ſo wohl das zu hoch als
das zu tief hindern die Verlängerung des
Lebens.
XIII. Bemerkenswerth iſt auch fol-
gender Umſtand: Alle ſehr alte Leute
waren verheyrathet, und zwar mehr als
einmal, und gewöhnlich noch im hohen
Alter. Kein einziges Beyſpiel exi-
ſtirt, daſs ein lediger Menſch ein ſehr
hohes Alter erreicht hätte. Dieſe Regel
gilt eben ſo wohl vom weiblichen als
männlichen Geſchlechte. Hieraus ſcheint
zu erhellen: Ein gewiſſer Reichthum an
Generationskräften iſt zum langen Leben
[202] ſehr vortheilhaft. Es iſt ein Beytrag
zur Summe der Lebenskraft, und die
Kraft, andre zu procreiren, ſcheint mit
der Kraft, ſich ſelbſt zu regeneriren und
zu reſtauriren, im genaueſten Verhältniſs
zu ſtehen. — Aber es gehört Ordnung
und Mäſsigkeit in der Verwendung der-
ſelben dazu, alſo der Eheſtand, das ein-
zige Mittel, dieſe zu erhalten.
Das gröſste Beyſpiel giebt ein Fran-
zos, Namens de Longue ville. Dieſer
lebte 110 Jahr, und hatte 10 Weiber ge-
habt, die lezte noch im 99ſten Jahre,
welche ihm noch in ſeinem 101ſten Jahre
einen Sohn gebahr.
XIV. Es werden mehr Weiber als
Männer alt, aber das höchſte Ziel des
menſchlichen Alters erreichen doch nur
Männer. — Das Gleichgewicht und
die Nachgiebigkeit des weiblichen Kör-
pers ſcheint ihm für eine gewiſſe Zeit
mehr Dauer und weniger Nachtheil von
den zerſtörenden Einflüſſen zu geben.
[203] Aber um ein ſehr hohes Alter zu errei-
chen, gehört ſchlechterdings Manns-
kraft dazu. Daher werden mehr Weiber
alt, aber weniger ſehr alt.
XV. In der erſten Hälfte des Lebens
iſt thätiges, ſelbſt ſtrapazantes Leben, in
der lezten Hälfte aber eine ruhigere und
gleichförmige Lebensart zum Alter zu-
träglich. Kein einziges Beyſpiel findet
ſich, daſs ein Müſſiggänger ein ausge-
zeichnet hohes Alter erreicht hätte.
XVI. Eine reiche und nahrhafte
Diät, Uebermaas von Fleiſchkoſt, ver-
längert nicht das Leben. Die Beyſpiele
des höchſten Alters ſind von ſolchen
Menſchen, welche von Jugend auf mehr
Pflanzenkoſt genoſſen, ja oft ihr ganzes
Leben hindurch kein Fleiſch gekoſtet
hatten.
XVII. Ein gewiſſer Grad von Kul-
tur iſt dem Menſchen auch phyſiſch
nöthig und befördert die Länge des
[204] Lebens. Der rohe Wilde lebt nicht ſo
lange.
XVIII. Das Leben auf dem Lande
und in kleinen Städten iſt dem langen
Leben günſtig, in groſsen Städten un-
günſtig. In groſsen Städten ſtirbt ge-
wöhnlich jährlich der 25ſte bis 30ſte, auf
dem Lande der 40ſte, 50ſte. Beſonders
wird die Sterblichkeit in der Kindheit
durchs Stadtleben äuſſerſt vermehrt, ſo
daſs da gewöhnlich die Hälfte aller Ge-
bornen ſchon vor dem dritten Jahre
ſtirbt, da hingegen auf dem Lande die
Hälfte erſt bis zum 20ſten oder 30ſten
Jahre aufgerieben iſt. Der geringſte
Grad der menſchlichen Mortalität, iſt
einer von 60 des Jahrs, und dieſer findet
ſich nur hie und da im Landleben. *)
[205]
XIX. Bey manchen Menſchen
ſcheint wahrlich eine Art von Verjün-
gung möglich zu ſeyn. Bey vielen Bey-
ſpielen des höchſten Alters bemerkte
man, daſs im 60ſten, 70ſten Jahre, wo
andre Menſchen zu leben aufhören,
neue Zähne und neue Haare hervorka-
men, und nun gleichſam eine neue Pe-
riode des Lebens anfing, welche noch
20 und 30 Jahre dauern konnte. Eine
Art von Reproduction ſeiner ſelbſt, wie
wir ſie ſonſt nur bey unvollkommnern
Geſchöpfen wahrnehmen.
Von der Art iſt das merkwürdigſte
mir bekannte Beyſpiel, ein Greiſs, der
zu Rechingen (Oberamt Bamberg) in der
Pfalz lebte, und 1791 im 120ſten Jahre
ſtarb. Dieſem wuchſen im Jahr 1787,
nachdem er lange ſchon keine Zähne
mehr gehabt hatte, auf einmal 8 neue
Zähne. Nach 6 Monaten fielen ſie
aus, der Abgang wurde aber durch neue
Stockzähne oben und unten wieder er-
ſezt, und ſo arbeitete die Natur 4 Jahre
[206] lang unermüdet, und noch bis 4 Wo-
chen vor ſeinem Ende fort. Wenn er
ſich der neuen Zähne einige Zeit recht
bequem zum Zermalmen der Speiſen be-
dient hatte, ſo nahmen ſie, bald eher
bald ſpäter, wieder Abſchied, und ſo-
gleich ſchoben ſich in dieſe oder in an-
dre Lücken neue Zähne nach. Alle
dieſe Zähne bekam und verlohr er ohne
Schmerzen; ihre Zahl belief ſich zuſam-
men wenigſtens auf ein halbes Hundert.
Die bisher aufgeſtellten Erfarungen
können uns nun auch Aufſchluſs über
die wichtige Frage geben: Welches iſt
das eigentliche Lebensziel des Men-
ſchen? Man ſollte glauben, man müſste
doch hierüber nun einige Gewiſsheit ha-
ben. Aber es iſt unglaublich, welche
Verſchiedenheit der Meynungen dar-
über unter den Phyſikern herrſcht; Ei-
nige geben dem Menſchen ein ſehr ho-
hes, andre ein ſehr geringes Lebensziel.
Einige glaubten, man brauche hierzu
nur zu unterſuchen, wie hoch es die
[207] wilden Menſchen brächten; denn in die-
ſem Naturſtande müſſe ſich wohl das na-
türliche Lebensziel am ſicherſten ausmit-
teln laſſen. Aber dieſs iſt falſch. Wir
müſſen bedenken, daſs dieſer Stand der
Natur auch meiſtens der Stand des
Elends iſt, wo der Mangel an Geſellig-
keit und Kultur den Menſchen nöthigt,
ſich weit über ſeine Kräfte zu ſtrapazi-
ren und zu conſumiren, wo er über-
dieſs, vermöge ſeiner Lage, weit mehr
deſtruirende Einflüſſe und weit weniger
Reſtauration genieſst. Nicht aus der
Klaſſe der Thiermenſchen müſſen wir
unſre Beyſpiele nehmen (denn da theilt
er ſeine Eigenſchaften mit dem Thier)
ſondern aus der Klaſſe, wo durch Ent-
wicklung und Kultur der Menſch ein
vernünftiges wirklich menſchliches We-
ſen worden iſt, dann erſt hat er auch im
Phyſiſchen ſeine Beſtimmung und ſeine
Vorzüge erreicht, und durch Vernunft
auch auſſer ſich die Reſtaurationsmittel
und glücklichern Lagen bewirkt, die
ihm möglich ſind; nun erſt können wir
[208] ihn als Menſch betrachten, und Bey-
ſpiele aus ſeinem Zuſtand nehmen.
So könnte man auch wohl glauben,
der Tod am Marasmus d. h. am Alter,
ſey das wahre Lebensziel des Menſchen.
Aber dieſe Rechnung wird dadurch in
unſern Zeiten gewaltig trüglich, weil,
wie Lichtenberg ſagt, die Menſchen die
Kunſt erfunden haben, ſich auch das Al-
ter vor der Zeit inoculiren zu laſſen,
und man jezt ſehr alte Leute von 30 bis
kann 40 Jahren ſehen, bey denen alle
Symptomen des höchſten Alters vorhan-
den ſind, als Steifigkeit und Trockenheit,
Schwäche, graue Haare, verknöcherte
Rippen, die man ſonſt nur in einem Alter
von 30 bis 90 Jahren findet. Aber dieſs
iſt ein erkünſteltes relatives Alter, und
dieſer Maasſtab kann alſo nicht zu einer
Berechnung genuzt werden, die das Le-
bensziel des Menſchengeſchlechts über-
haupt zum Gegenſtand hat.
Man
[209]
Man iſt ſogar auf die ſeltſamſten
Hypotheſen gefallen, um dieſe Frage
aufzulöſen. Die alten Egyptier glaub-
ten zum Beyſpiel, das Herz nehme 50
Jahre lang alle Jahre um 2 Drachmen an
Gewicht zu, und nun wieder 50 Jahre
lang in eben dem Verhältniſs ab. Nach
dieſer Rechnung war nun im 100ten
Jahre gar nichts mehr vom Herzen übrig,
und alſo war das 100te Jahr das Lebens-
ziel des Menſchen.
Ich glaube daher, um dieſe Frage
befriedigend zu beantworten, muſs man
durchaus folgenden weſentlichen Unter-
ſchied machen.
- 1. Wie lange kann der Menſch über-
haupt (als Geſchlecht betrachtet)
ausdauern, was iſt die abſolute Le-
bensdauer des menſchlichen Ge-
ſchlechts? — Wir wiſſen, jede
Thierklaſſe hat ihre abſolute Le-
bensdauer; alſo auch der Menſch.
O
[210]
- 2. Wie lange kann der Menſch im
einzelnen, das Individuum, leben,
oder was iſt die relative Lebens-
dauer der Menſchen?
Was die erſte Frage betrifft, die
Unterſuchung der abſoluten Lebensdau-
er des menſchlichen Geſchlechts, ſo
hindert uns nichts, das Ziel derſelben
auf die äuſſerſten Grenzen der nach der
Erfarung möglichen Lebensdauer zu
ſetzen. Es iſt hierzu genug, zu wiſ-
ſen, was der menſchlichen Natur mög-
lich iſt, und wir können einen ſolchen
Menſchen, der das höchſte Ziel menſch-
licher Exiſtenz erreicht hat, als ein Ideal
der vollkommenſten Menſchennatur, als
ein Muſter deſſen, weſſen die menſchli-
che Natur unter günſtigen Umſtänden
fähig iſt, betrachten. Nun zeigt
uns aber die Erfarung unwiderſprech-
lich, der Menſch könne noch jezt ein
Alter von 150 bis 160 Jahren erreichen,
und, was das wichtigſte iſt, das Beyſpiel
von Th. Parre, den man im 152ſten
[211] Jahre ſecirte, beweiſt, daſs noch in die-
ſem Alter der Zuſtand aller Eingeweyde
ſo vollkommen und fehlerfrey ſeyn
konnte, daſs er gewiſs noch länger hätte
leben können, wenn ihm nicht die un-
gewohnte Lebensart eine tödliche Voll-
blütigkeit zugezogen hätte. — Folglich
kann man mit der höchſten Wahrſchein-
lichkeit behaupten: Die menſchliche
Organiſation und Lebenskraft ſind im
Stande eine Dauer und Wirkſamkeit
von 200 Jahren auszuhalten. Die Fähig-
keit, ſo lange zu exiſtiren, liegt in der
menſchlichen Natur, abſolute genom-
men.
Dieſe Behauptung bekommt nun
dadurch noch ein groſses Gewicht, daſs
wir das Verhältniſs zwiſchen der Zeit des
Wachsthums und der Lebensdauer da-
mit übereinſtimmend finden. Man
kann annehmen, daſs ein Thier achtmal
länger lebt, als es wächſt. Nun braucht
der Menſch im natürlichen, nicht durch
O 2
[212] Kunſt beſchleunigten Zuſtand, 25 volle
Jahre, um ſein vollkommnes Wachsthum
und Ausbildung zu erreichen, und auch
dieſs Verhältniſs giebt ihm ein abſolutes
Alter von 200 Jahren.
Man werfe nicht ein: Das hohe
Alter iſt der unnatürliche Zuſtand, oder
die Ausnahme von der Regel; und das
kürzere Leben iſt eigentlich der natürli-
che Zuſtand. — Wir werden hernach
ſehen, daſs faſt alle vor dem 100ten
Jahre erfolgenden Todesarten, künſtlich
d. h. durch Krankheiten oder Zufälle
hervorgebracht ſind. Und es iſt gewiſs,
daſs bey weitem der gröſste Theil des
Menſchengeſchlechts eines unnatürli-
chen Todes ſtirbt, etwa von 10000
erreicht nur einer das Ziel von 100
Jahren.
Nun aber die relative Lebensdauer
des Menſchen! Dieſe iſt freylich ſehr
variabel, ſo verſchieden, als jedes Indi-
[213] viduum ſelbſt. Sie richtet ſich nach der
beſſern oder ſchlechtern Maſſe, aus der
es formirt wurde, nach der Lebensart,
langſamern oder ſchnellern Conſumtion,
und nach allen den tauſendfachen Um-
ſtänden, die von innen und auſſen auf
ſeine Lebensdauer influiren können.
Man glaube ja nicht, daſs noch jezt je-
der Menſch einen Lebensfond von 150
oder 200 Jahren auf die Welt bringt.
Leider iſt es das Schickſal unſrer Gene-
ration, daſs oft ſchon die Sünden der
Väter dem Embryo ein weit kürzeres
Stamen vitae mittheilen. Nehmen
wir nun noch das unzählige Heer von
Krankheiten und andern Zufällen, die
jezt heimlich und öffentlich an unſerm
Leben nagen, ſo ſieht man wohl, daſs
es jezt ſchwehrer als jemals iſt, jenes
Ziel zu erreichen, deſſen die menſchli-
che Natur wirklich fähig iſt. — Aber
dennoch müſſen wir jenes Ziel immer
zum Grunde legen, und wir werden
hernach ſehen, wie viel in unſrer Ge-
[214] walt ſtehet, Hinderniſſe aus dem Wege
zu räumen, die uns jezt davon abhal-
ten.
Als eine Probe des relativen Lebens
des jetzigen Menſchengeſchlechts mag
folgende auf Erfarungen gegründete Ta-
belle dienen:
Von 100 Menſchen, die geboren
werden
- ſterben 50 vor dem 10ten Jahre.
- — 20 zwiſchen 10 und 20.
- — 10 — — 20 und 30.
- — 6 — — 30 und 40.
- — 5 — — 40 und 50.
- — 3 — — 50 und 60.
Alſo nur 6 kommen über 60 Jahre.
Haller, der die meiſten Beyſpiele
des menſchlichen Alters geſammlet hat,
fand folgendes Verhältniſs der relativen
Lebensdauer:
[215]
- Beyſpiele von 100--110 Jahren, über 1000.
- — — 110--120 — 60.
- — — 120--130 — 29.
- — — 130--140 — 15.
- — — 140--150 — 6.
- — — — 169 — 1.
[216]
Siebente Vorleſung.
Genauere Unterſuchung des menſchlichen
Lebens, ſeiner Hauptmomente, und des
Einfluſſes ſeiner höhern und intellectuel-
len Vollkommenheit auf die Dauer
deſſelben.
Das menſchliche Leben iſt das vollkommenſte, intenſiv-
ſtärkſte, und auch das längſte aller ähnlichen organi-
ſchen Leben — Weſentlicher Begriff dieſes Lebens —
ſeine Hauptmomente — Zugang von auſſen — Aſſi-
milation und Animaliſation — Nutrition und Vered-
lung der organiſchen Materie — Selbſtkonſumtion der
Kräfte und Organe durchs Leben ſelbſt — Abſchei-
dung und Zerſetzung der verbrauchten Theile — die
zum Leben nöthigen Organe — Geſchichte des Lebens
— Urſachen der ſo vorzüglich langen Lebensdauer des
Menſchen — Einfluſs der höhern Denkkraft und Ver-
nunft darauf — Wie kommt es, daſs bey den Men-
ſchen, wo die Fähigkeit zum langen Leben am ſtärkſten
iſt, dennoch die Mortalität am gröſsten iſt?
Wir kommen nun zu unſerm Haupt-
zweck, die bisherigen Prämiſſen auf
[217] die Verlängerung des menſchlichen Le-
bens anzuwenden. Aber ehe wir dieſs
zu thun im Stande ſind, müſſen
wir durchaus erſt folgende Fragen un-
terſuchen: Worin beſteht eigentlich
menſchliches Leben? Auf welchen Orga-
nen, Kräften und Verrichtungen beruht
dieſe wichtige Operation und ihre Dau-
er? Worin unterſcheidet es ſich we-
ſentlich von dem Leben anderer Geſchö-
pfe und Weſen?
Der Menſch iſt unſtreitig das oberſte
Glied, die Krone der ſichtbaren Schö-
pfung, das ausgebildetſte, lezte, vollen-
detſte Product ihrer wirkenden Kraft,
der höchſte Grad von Darſtellung derſel-
ben, den unſre Augen zu ſehen, unſre
Sinne zu faſſen vermögen. — Mit ihm
ſchlieſst ſich unſer ſublunariſcher Ge-
ſichtskreis; er iſt der äuſſerſte Punct,
mit welchem und in welchem die Sin-
nenwelt an einer höheren geiſtigen Welt
[218] angrenzt. Die menſchliche Organiſa-
tion iſt gleichſam ein Zauberband, durch
welches zwey Welten von ganz verſchie-
dener Natur mit einander verknüpft und
verwebt ſind; — ein ewig unbegreifli-
ches Wunder, durch welches der Menſch
Bewohner zweyer Welten zugleich,
der intellectuellen und der ſinnlichen,
wird.
Mit Recht kann man den Menſchen
als den Inbegriff der ganzen Natur anſe-
hen, als ein Meiſterſtück von Zuſam-
menſetzung, in welchem alle in der übri-
gen Natur zerſtreut wirkenden Kräfte,
alle Arten von Organen und Lebensfor-
men zu einem Ganzen vereint ſind, ver-
eint wirken, und auf dieſe Art den Men-
ſchen im eigentlichſten Sinn zu der
kleinen Welt (dem Abdruck und In-
begriff der gröſsern) machen, wie
ihn die ältern Philoſophen ſo oft
nannten.
[219]
Sein Leben iſt das entwickeltſte;
ſeine Organiſation die zarteſte und aus-
gebildetſte; ſeine Säfte und Beſtandtheile
die veredeltſten und organiſirteſten; ſein
intenſives Leben, ſeine Selbſtkonſum-
tion eben deswegen die ſtärkſte. Er hat
folglich mehr Berührungspuncte mit der
ihn umgebenden Natur, mehr Bedürf-
niſſe; aber auch eben deswegen eine rei-
chere und vollkommnere Reſtauration,
als irgend ein anderes Geſchöpf. Die
todten, mechaniſchen und chemiſchen
Kräfte der Natur, die organiſchen oder
lebendigen Kräfte, und jener Funke der
göttlichen Kraft, die Denkkraft, ſind
hier auf die wundervolleſte Art mit ein-
ander vereinigt und verſchmolzen, um
das groſse göttliche Phänomen, was
wir menſchliches Leben nennen, darzu-
ſtellen.
Und nun einen Blick in das Weſen
und den Mechanismus dieſer Operation,
ſo viel uns davon erkennbar iſt!
[220]
Menſchliches Leben, von ſeiner
phyſiſchen Seite betrachtet, iſt nichts
anders, als ein unaufhörlich fortgeſez-
tes Aufhören und Werden, ein beſtän-
diger Wechſel von Deſtruction und Re-
ſtauration, ein fortgeſezter Kampf che-
miſcher zerlegender Kräfte und der alles
bindenden und neuſchaffenden Lebens-
kraft. Unaufhörlich werden neue Be-
ſtandtheile aus der ganzen uns umge-
benden Natur aufgefaſst, aus dem tod-
ten Zuſtand zum Leben hervorgerufen,
aus der chemiſchen in die organiſche be-
lebte Welt verſezt, und aus dieſen un-
gleichartigen Theilen durch die ſchöpfe-
riſche Lebenskraft ein neues gleichförmi-
ges Product erzeugt, dem in allen Puncten
der Karacter des Lebens eingeprägt iſt.
Aber eben ſo unaufhörlich verlaſſen die
gebrauchten, abgenuzten und verdorbe-
nen Beſtandtheile dieſe Verbindung wie-
der, gehorchen den mechaniſchen und
chemiſchen Kräften, die mit den leben-
den in beſtändigem Kampf ſtehen, tre-
ten ſo wieder aus der organiſchen in die
[221] chemiſche Welt über, und werden wie-
der ein Eigenthum der allgemeinen un-
belebten Natur, aus der ſie auf eine
kurze Zeit ausgetreten waren. Dies un-
unterbrochene Geſchäft iſt das Werk der
immer wirkſamen Lebenskraft in uns,
folglich mit einer unaufhörlichen Kraft-
äuſſerung verbunden; und dies iſt ein
neuer wichtiger Beſtandtheil der Lebens-
operation. So iſt das Leben ein beſtän-
diges Nehmen, Aneignen und Wieder-
geben, ein immerwährendes Gemiſch
von Tod und neuer Schöpfung.
Das, was wir alſo im gewöhnlichen
Sinne Leben eines Geſchöpfs (als Darſtel-
lung betrachtet) nennen, iſt nichts wei-
ter als eine bloſse Erſcheinung, die
durchaus nichts eignes und ſelbſtſtändi-
ges hat, als die wirkende geiſtige Kraft,
die ihr zum Grunde liegt, und die alles
bindet und ordnet. Alles übrige iſt ein
bloſses Phänomen, ein groſses fortdau-
erndes Schauſpiel, wo das Dargeſtellte
keinen Augenblick daſſelbe bleibt, ſon-
[222] dern unaufhörlich wechſelt; — wo der
ganze Gehalt, die Form, die Dauer der
Darſtellung vorzüglich von den dazu
benuzten und beſtändig wechſelnden
Stoffen und der Art ihrer Benutzung ab-
hängt, und das ganze Phänomen keinen
Augenblick länger dauern kann, als das
beſtändige Zuſtrömen von auſſen dauert,
das dem Prozeſs Nahrung giebt; — alſo
die allergröſste Analogie mit der Flam-
me, nur daſs dieſe ein bloſs chemiſcher,
das Leben aber ein chemiſch-animali-
ſcher Prozeſs, eine chemiſch-animaliſche
Flamme iſt.
Das menſchliche Leben beruht alſo,
ſeiner Natur nach, auf folgenden Haupt-
momenten.
I. Zugang der Lebensnahrung von auſſen,
und Aufnahme derſelben.
Hierzu gehört alſo nicht bloſs das,
was wir gewöhnlich Nahrung nennen,
Speiſe und Trank, ſondern noch viel-
[223] mehr das beſtändige Zuſtrömen der fei-
nern und geiſtigern Lebensnahrung aus
der Luft, welche vorzüglich zur Unter-
haltung der Lebenskraft zu gehören
ſcheint; da jene gröbern Nahrungsmit-
tel mehr zur Erhaltung und Wiederer-
zeugung der Materien des Körpers und
ſeiner Organe dienen. — Ferner nicht
bloſs das, was durch Mund und Magen
eingeht; denn auch unſre Lunge und
Haut nimmt eine Menge Lebensnahrung
in ſich auf, und iſt für die geiſtigere
Erhaltung noch weit wichtiger als der
Magen.
II. Aneignung, Aſſimilation und Animali-
ſation — Uebertritt aus der chemiſchen
in die organiſche Welt, durch Einfluſs
der Lebenskraft.
Alles, was in uns eingeht, muſs erſt
den Karacter des Lebens erhalten, wenn
es unſer heiſsen ſoll. Alle Beſtandtheile,
ja ſelbſt die feinſten Agentien der Natur,
die in uns einſtrömen, müſſen animali-
[224] ſirt werden, d. h. durch den Zutritt der
Lebenskraft ſo modificirt und auf eine
ganz neue Art gebunden werden, daſs
ſie nicht ganz mehr nach den Geſetzen
der todten und chemiſchen Natur, ſon-
dern nach den ganz eigenthümlichen
Geſetzen des organiſchen Lebens wirken
und ſich gegen andere verhalten, kurz
als Beſtandtheile des lebenden Körpers
nie einfach, ſondern immer als zuſam-
mengeſezt (aus ihrer eigentlichen Natur
und den Geſetzen der Lebenskraft) ge-
dacht werden können. Genug, alles
was in uns iſt, ſelbſt chemiſche und me-
chaniſche Kräfte, ſind animaliſirt. So
z. E. die Electricität, der Wärmeſtoff;
ſie ſind, ſobald ſie Beſtandtheile des le-
benden Körpers werden, komponirter
Natur (animaliſirte Electricität, anima-
liſirter Wärmeſtoff) und nicht mehr
bloſs nach den Geſetzen und Verhältniſ-
ſen, die ſie in der allgemeinen Natur
hatten, zu beurtheilen, ſondern nach
den ſpecifiſchen organiſchen Geſetzen
beſtimmt und wirkend. Eben ſo das
oxigene
[225]oxigene und die andern neuentdeckten
chemiſchen Stoffe. Man hüte ſich ja, ſie
ſich ſo in der lebenden Verbindung un-
ſers Körpers zu denken, wie wir ſie im
Luftapparat wahrnehmen; auch ſie wir-
ken nach andern und ſpecifiſchen Ge-
ſetzen. Ich glaube dieſe Bemerkung
kann man jezt nicht genug empfehlen,
und ſie allein kann uns bey der übrigen
äuſſerſt empfehlungswerthen Anwen-
dung der chemiſchen Grundſätze auf
das organiſche Leben richtig leiten. Al-
lerdings haben wir auch jene chemiſche
Agenzien und Kräfte in uns, und ihre
Kenntniſs iſt uns unentbehrlich; aber
ihre Wirkungsart in uns iſt anders mo-
dificirt, denn ſie befinden ſich in einer
ganz andern Welt.
Dieſe wichtige Operation der Aſſi-
milation und Animaliſation iſt das Ge-
ſchäft zuerſt des abſorbirenden und Drü-
ſenſyſtems, (in ſeinem weitſten Umfange
— nicht bloſs Milchgefäſse, ſondern
auch die einſaugenden Gefäſse der Haut
P
[226] und der Lunge) das man gleichſam den
Vorhof nennen kann, durch welchen
alles gehen muſs, was uns eigen werden
ſoll; und dann des Cirkulationsſyſtems,
durch deſſen Bearbeitung den Beſtand-
theilen die organiſche Vollendung mit-
getheilt wird.
III. Nutrition — Figirung der nun ani-
maliſirten Beſtandtheile — Weitere
Veredlung derſelben.
Die völlig animaliſirten Beſtand-
theile werden nun verkörpert und in
Organe verwandelt, (das Geſchäft der
plaſtiſchen Kraft). — Durch die Be-
arbeitung noch feinerer und vollkomme-
nerer Abſonderungswerkzeuge werden
die organiſchen Beſtandtheile zum höch-
ſten Grad ihrer Veredlung und Vervoll-
kommung gebracht; durch das Gehirn
zum nervenbelebenden Flüſſigen, durch
die Generationsorgane zum Zeugungs-
ſtoff, — beydes Verbindungen der ver-
[227] feinertſten organiſchen Materie mit ei-
nem reichen Antheil Lebenskraft.
IV. Selbſtkonſumtion der Organe und
Kräfte durch Lebensäuſſerung.
Das wirkende Leben ſelbſt iſt eine
unaufhörliche Kraftäuſſerung und Hand-
lung, folglich mit unaufhörlichem Kraft-
aufwand und beſtändiger Konſumtion
der Organe verbunden. Alles, wodurch
ſich die Kraft als handelnd und thätig
zeigt, iſt Kraftäuſſerung; denn es ge-
ſchieht keine, auch nicht die kleinſte
Lebensäuſſerung, ohne Reiz und Re-
action der Kraft. Dieſs iſt Geſetz der
organiſchen Natur. Alſo ſowohl die
ohne unſer Wiſſen und Willen geſche-
henden innern Bewegungen der Cirku-
lation, Chylifikation, Aſſimilation und
Sekretion, als auch die freywilligen und
Seelenwirkungen, ſind beſtändiger Kraft-
aufwand, und konſumiren unaufhalt-
ſam Kräfte und Organe.
P 2
[228]
Dieſer Lebenstheil iſt beſonders
wichtig für die Dauer und Beſchaffen-
heit des Lebens. Je ſtärker die Le-
bensäuſſerung, deſto ſchneller die Auf-
reibung, deſto kürzer die Dauer. Aber
iſt ſie zu ſchwach, dann iſt die Folge ein
zu ſeltner Wechſel der Beſtandtheile,
folglich eine unvollkommene Reſtaura-
tion, und eine ſchlechte Qualität des
Körpers.
V. Abſcheidung und neue Zerſetzung der
Beſtandtheile. — Austritt derſelben
aus der organiſchen Welt in die chemi-
ſche, und Wiedervereinigung mit der
allgemeinen unbelebten Natur.
Die verbrauchten, in dieſer Verbin-
dung nicht mehr haltbaren Beſtandtheile
treten nun wieder aus ihr heraus. Sie
verlieren den Einfluſs der Lebenskraft,
und fangen an ſich wieder nach den bloſs
chemiſchen Naturgeſetzen zu zerſetzen,
zu trennen und zu binden. Daher tra-
gen alle unſre Abſonderungen die deut-
[229] lichſten Spuren der Fäulniſs an ſich, —
eines bloſs chemiſchen Prozeſſes, der,
als ſolcher, nie in dem wirklich beleb-
ten Zuſtand möglich iſt. Das Ge-
ſchäft, ſie aus dem Körper zu entfernen,
haben die Secretions- und Excretions-
organe, die daſſelbe mit ununterbroche-
ner Thätigkeit betreiben, der Darmka-
nal, die Nieren, vorzüglich aber die
ganze Oberfläche der Haut und die Lun-
gen. Dieſe Verrichtungen ſind wahre
chemiſch-animaliſche Operationen; die
Wegſchaffung ſelbſt geſchieht durch die
Lebenskräfte, aber die Producte ſind
ganz chemiſch.
Dieſe Hauptmomente bilden das Le-
ben im Ganzen, und auch in jedem Au-
genblick; denn ſie ſind beſtändig ver-
bunden, beſtändig gegenwärtig, und
unzertrennlich von der Operation des
Lebens.
Die Organe, die zum Leben gehö-
ren, ſind ſchon zum Theil dabey er-
[230] wähnt worden. Man kann ſie in gegen-
wärtiger Rückſicht am füglichſten in
drey groſse Klaſſen theilen: die empfan-
genden und zubereitenden, die ausgeben-
den, und die, welche dieſe gegenſeitigen
Bewegungen, ſo wie die ganze innre Oeko-
nomie, in Gleichgewicht und Ordnung er-
halten. Viele tauſende von gröſsern und
kleinern Organen ſind unaufhörlich be-
ſchäftigt, die durch die innere Konſum-
tion abgeriebnen und verdorbnen Theil-
chen abzuſondern und auszuſtoſsen.
Auſſer den eigentlich ſogenannten Aus-
leerungswegen iſt die ganze Oberfläche
der Haut und der Lungen mit Millionen
ſolcher Abſonderungsorgane bedeckt, und
in unaufhörlicher Thätigkeit. — Eben
ſo häufig und mannichfaltig ſind die
Wege der zweyten Klaſſe, der Reſtaura-
tion. Nicht genug, daſs der Abgang
der gröbern Theile durch Hülfe der Ver-
dauungswerkzeuge aus den Nahrungs-
mitteln erſezt wird, ſo iſt auch das Re-
ſpirationsorgan, die Lunge, unaufhör-
lich beſchäftigt, aus der Luft geiſtige
[231] Nahrung, Lebenswärme und Lebens-
kraft, einzuziehen. — Das Herz und
der davon abhängende Umlauf des Bluts
dient dazu, dieſe Bewegungen zu regu-
liren, die aufgenommene Wärme und
Nahrung in alle Puncte zu verbreiten,
und die abgenuzten Theilchen nach ih-
ren Abſonderungswegen hinzutreiben.
— Zu dem allem kommt nun noch der
wichtige Einfluſs der Seelenkraft und
ihrer Organe, die den Menſchen unter
allen Geſchöpfen am vollkommenſten
erfüllt, und zwar einerſeits die Selbſt-
konſumtion, das intenſive Leben, ver-
mehrt, aber zugleich für den Menſchen
ein äuſſerſt wichtiges Reſtaurationsmit-
tel wird, das unvollkommnern Weſen
fehlt.
Von der auſſerordentlichen Selbſt-
konſumtion des menſchlichen Körpers
kann man ſich einen Begriff machen,
wenn man bedenkt, daſs der Herzſchlag
und die damit verbundne Fortbewegung
des Bluts, alle Tage 100,000 mal ge-
[232] ſchieht, d. h. daſs ſich das Herz und alle
Pulsadern täglich 100,000 mal mit einer
ganz auſſerordentlichen Kraft zuſam-
menziehen, die eine Laſt von 50 — 60
Pfund Blut in beſtändiger Fortbewegung
zu erhalten vermag. (Welche Uhr,
welche Maſchine von dem härteſten Ei-
ſen würde nicht durch einen ſolchen Ge-
brauch in kurzem abgenuzt ſeyn?) —
Rechnen wir hierzu noch die faſt eben
ſo unaufhörlichen Muskularbewegungen
unſers Körpers, die um ſo mehr aufrei-
ben müſſen, da dieſe Theile mehr aus
weichen und gallertartigen Partikeln be-
ſtehen, ſo wird man ſich ungefähr einen
Begriff machen können, mit welchem
Verluſt von Subſtanz zum Beyſpiel ein
Fuſsweg von 10 Meilen oder ein Kou-
rierritt von 80 Meilen verbunden ſeyn
mag. — Und nicht bloſs weiche und
flüſſige, ſondern auch die feſteſten Thei-
le werden nach und nach durch den Ge-
brauch abgenuzt. Wir ſehen dieſs am
deutlichſten bey den Zähnen, welche
offenbar durch langen Gebrauch abge-
[233] rieben, hingegen beym Nichtgebrauch
(in Ermangelung der Antagoniſten) oft
ausnehmend lang werden. — Es iſt
erwieſen, daſs wir uns auf dieſe Art ſehr
bald aufgezehrt haben würden, wenn
kein Erſatz da wäre, und es iſt ſehr
wahrſcheinlich berechnet, daſs wir alle
3 Monate nicht mehr dieſelben ſind,
und aus ganz neuen Partikeln beſte-
hen.
Aber eben ſo auſſerordentlich und
wunderbar iſt der beſtändige Erſatz des
Verlohrnen. Man kann dieſs ſchon
daraus abnehmen, daſs, troz des beſtän-
digen Verluſtes, dennoch unſre Maſſe
dieſelbe bleibt. — Am allerſchnellſten
regeneriren ſich die flüſſigen Theile wie-
der, und die Erfarung hat gelehrt, daſs
oft der ſtärkſte Blutverluſt in 14 Tagen
wieder erſezt war. Die feſten Theile
reproduciren ſich durch eben die Kräfte
und Mechanismen, wie bey der erſten
Entſtehung; das gallertartige nährende
Prinzip wird durch die Cirkulation nach
[234] allen Theilen hingeleitet, und organi-
ſirt ſich überall nach den plaſtiſchen Ge-
ſetzen des Theils. Selbſt die allerfeſte-
ſten, die Knochen, werden regenerirt,
wie man durch die Verſuche mit der Fär-
berröthe beweiſen kann, bey deren Ge-
nuſs in kurzem ganz rothe Knochen ent-
ſtehen. Eben ſo erzeugen ſich ganze
verlohren gegangene Knochen von
neuem wieder, und mit Bewunderung
findet man im Elfenbein (dem härtſten
animaliſchen Körper) zuweilen Bleyku-
geln, die einſt hineingeſchoſſen wurden,
in allen Puncten mit feſter Elfenbeinſub-
ſtanz umgeben.
Der gewöhnliche Gang, oder die
Geſchichte des menſchlichen Lebens, iſt
kurz folgende:
Das Herz, (der Grundquell aller Le-
bensbewegung und Lebensverbreitung,
und die Grundkraft ſowohl der abſon-
dernden als der wiederherſtellenden
Operationen) wird im Verhältniſs des
[235] zunehmenden Alters immer kleiner, ſo
daſs es zulezt achtmal weniger Raum
zum Ganzen einnimmt, als im Anfange
des Lebens; zugleich wird ſeine Sub-
ſtanz immer dichter und härter, und in
eben dem Verhältniſs wird ſeine Reiz-
barkeit geringer. Folglich nehmen die
wirkenden Kräfte von Jahr zu Jahr mehr
ab, die wiederſtehenden hingegen im-
mer mehr zu. Das nehmliche geſchieht
auch im ganzen Syſtem der Gefäſse und
aller Bewegungsorgane. Alle Gefäſse
werden nach und nach immer härter,
enger, zuſammengeſchrumpfter, un-
brauchbarer; Arterien werden knöchern,
eine Menge der feinſten Gefäſse ver-
wachſen ganz.
Die Folgen davon ſind unausbleib-
lich:
- 1. Durch dieſes Verwachſen und Ver-
ſchrumpfen werden auch die wich-
tigſten und feinſten Reſtaurations-
organe des Lebens, die Wege des
[236] Zugangs und der Aſſimilation von
auſſen (Lunge, Haut, abſorbirende
und Milchgefäſse) ungangbarer,
folglich der Zutritt nährender und
belebender Beſtandtheile von auſſen
immer ſchwächer. Die Nahrung
kann weder ſo mehr aufgenommen,
noch ſo gut bereitet und vertheilt
werden, als zuvor. - 2. Durch dieſe zunehmende Härte
und Trockenheit der Faſern verlie-
ren ſie immer mehr von ihren be-
wegenden und empfindenden Kräf-
ten. Irritabilität und Senſibilität
nehmen immer in demſelben Ver-
hältniſs ab, als jene zunimmt, und
ſo räumen die wirkenden und ſelbſt-
thätigen Kräfte in uns den zerſtören-
den, mechaniſchen und chemiſchen
immer mehr Feld ein. - 3. Durch dieſe Abnahme der Bewe-
gungskraft, durch dieſe Verwach-
ſung unzähliger Gefäſsgen leiden
[237] nun hauptſächlich die Abſonderun-
gen, die unentbehrlichſten Hülfs-
mittel unſrer beſtändigen Reini-
gung und der Fortſchaffung des
verdorbenen. Das wichtigſte Or-
gan derſelben, die Haut, wird mit
den Jahren immer feſter, undurch-
dringlicher und unbrauchbarer.
Eben ſo die Nieren, die Ausdün-
ſtungsgefäſse des Darmkanals und
der Lungen. Die Säfte müſſen
daher im Alter immer unreiner,
ſchärfer, zäher und erdigter wer-
den. Die Erde, der gröſste Anta-
goniſt aller Lebensbewegung, be-
kommt dadurch in unſerm Körper
immer mehr und mehr das Ueber-
gewicht, und wir nähern uns da-
durch ſchon bey lebendigem Leibe
unmerklich unſrer endlichen Be-
ſtimmung: Werde wieder zur Er-
de, von der du genommen biſt!
Auf dieſe Weiſe führt unſer Leben
ſelbſt das Aufhören deſſelben, den na-
[238] türlichen Tod herbey, und folgendes iſt
der Gang deſſelben:
Zuerſt nehmen die dem Willen un-
terworfnen Kräfte, nachher auch die
unwillkührlichen und eigentlichen Le-
bensbewegungen ab. Das Herz kann
nicht mehr das Blut in die entfernteſten
Theile treiben. Puls und Wärme flie-
hen von den Händen und Füſsen; doch
wird das Blut noch von dem Her-
zen und den gröſsern Gefäſsen in Be-
wegung erhalten, und ſo hält ſich das
Lebensflämmchen, wiewohl ſchwach,
noch einige Zeit. Zulezt kann das Herz
das Blut nicht einmal mehr durch
die Lungen preſſen, und nun wen-
det die Natur noch alle Kraft an, um
die Reſpiration zu verſtärken, und
dadurch dem Blut noch einigen Durch-
gang zu verſchaffen. Endlich ſind
auch dieſe Kräfte erſchöpft. Die linke
Herzkammer erhält folglich kein Blut
mehr, wird nicht mehr gereizt, und
ruht; während die rechte noch eini-
[239] ges Blut aus den ſchon halb abgeſtor-
benen Theilen zugeſchickt bekommt.
Aber nun erkalten auch dieſe Theile
völlig, die Säfte gerinnen, das Herz er-
hält gar kein Blut mehr, es hört alle Be-
wegung auf, und der Tod iſt vollkom-
men.
Ehe ich weiter gehe, muſs ich noch
einige auffallende und räthſelhafte Um-
ſtände berühren, die ſich jedem bey der
Unterſuchung der Lebensdauer des Men-
ſchen aufdringen, und einer beſondern
Aufmerkſamkeit werth ſind.
Das erſte Räthſel iſt: Wie iſt es
möglich, daſs der Menſch, deſſen Organi-
ſation die zarteſte und komplicirteſte, deſ-
ſen Selbſtkonſumtion die rapideſte iſt, und
deſſen Lebensdauer alſo die allerkürzeſte
ſeyn ſollte, dennoch alle Klaſſen der voll-
kommnern Thiere, die mit ihm gleiche
[240] Gröſse, gleiche Organiſation, gleichen
Standpunct in der Schöpfung haben, ſo
auffallend an Lebensdauer übertrifft?
Bekanntlich ſind die unvollkomm-
nern Organiſationen die, welche die
meiſte Dauer, wenigſtens Tenacität des
Lebens haben. Der Menſch, als das al-
lervollkommenſte Geſchöpf, müſste folg-
lich in dieſer Rückſicht weit unter ihnen
ſtehen. Ferner erhellt aus den vorigen
Unterſuchungen, daſs die Lebensdauer
eines Thieres um ſo precärer und kürzer
iſt, je mehr Bedürfniſſe des Lebens es
hat. Der Menſch hat deren unſtreitig
am meiſten, — ein neuer Grund einer
kürzern Dauer! — Ferner iſt vorher ge-
zeigt worden, daſs bey den Thieren der
höchſte Grad der Selbſtkonſumtion der
Act der Zeugung iſt, und ihre Lebens-
dauer ganz ſichtbarlich abkürzt. Auch
hierin hat der Menſch eine ausgezeich-
nete Vollkommenheit, und bey ihm
kommt noch eine neue Art der Zeugung,
die
[241] die geiſtige oder das Denkgeſchäft hin-
zu, und ſeine Dauer müſste alſo da-
durch noch mehr leiden.
Es fragt ſich alſo: wodurch hat der
Menſch auch in Abſicht der Dauer ſeines
Lebens einen ſolchen Vorzug?
Ich glaube den Grund in folgenden
gefunden zu haben.
- I. Das ganze Zellgewebe des Menſchen,
oder die Grundfaſer, iſt von weit
zärterer und weicherer Textur, als
bey den Thieren derſelben Klaſſen.
Selbſt die ſogenannte Nervenhaut
eines Darms iſt bey einem Hunde
viel härter, und läſst ſich nicht ſo
aufblaſen, wie beym Menſchen.
Auch die Adern, die Knochen, ſelbſt
das Gehirn, ſind bey Thieren weit
feſter, und haben mehr Erde. —
Nun habe ich aber oben gezeigt,
daſs ein gar zu groſser Grad von
Härte und Sprödigkeit der Organe
Q
[242] der Lebensdauer hinderlich iſt, weil
ſie dadurch früher ihre Nachgiebig-
keit und Brauchbarkeit verlieren,
und weil die Trockenheit und Stei-
figkeit, welche das Alter und zulezt
den völligen Stillſtand bewirken,
dadurch beſchleunigt werden. Folg-
lich muſs ſchon aus dieſem Grunde
der Menſch ein ſpäteres Alter und
ein längeres Lebensziel haben. - II. Der Menſch wächſt langſamer, wird
ſpäter mannbar, alle ſeine Entwick-
lungen haben längere Perioden; —
und ich habe ſchon gezeigt, daſs
die Dauer eines Geſchöpfs deſto län-
ger iſt, je langſamer ſeine Entwick-
lungen geſchehen. - III. Der Schlaf, (das gröſste Retarda-
tions- und Erhaltungsmittel des Le-
bens) iſt dem Menſchen am regel-
mäſsigſten und beſtändigſten eigen.
[243]
- IV. Einen Hauptunterſchied macht die
vollkommene Seelenorganiſation*)
Q 2
[244]und Denkfähigheit des Menſchen —
die Vernunft!
Dieſe höhere und göttliche Kraft,
die dem Menſchen allein beywohnt, hat
den auffallendſten Einfluſs, nicht allein
auf ſeine Karacteriſtik im Ganzen, ſon-
dern auch auf ſeine Lebensvollkommen-
heit und Dauer, und zwar auf folgende
Art.
- 1. Ganz natürlich muſs die Summe
der wirkenden lebendigen Kräfte in
uns durch dieſen Beytritt der rein-
ſten und göttlichſten vermehrt wer-
den. - 2. Durch ſeine äuſſerſt veredelte und
verfeinerte Gehirnorganiſation be-
kommt der Menſch ein ganz neues
ihm allein eigenthümliches Reſtau-
rationsorgan, oder vielmehr ſeine
ganze Lebenskapacität wird da-
durch vermehrt. Der Beweis iſt
folgender:
[245]Je mehr ein Körper Organe zur
Aufnahme, Entwicklung und Ver-
arbeitung mannigfaltiger Einflüſſe
und Kräfte hat, deſto reicher und
vollkommner iſt ſeine Exiſtenz.
Hierin liegt der Hauptbegriff von
Lebenskapacität. Nur das exiſtirt
für uns, wofür wir Sinne oder Or-
gane haben, es aufzunehmen und
zu benutzen; und je mehr wir alſo
derſelben haben, deſto mehr leben
wir. Das Thier, das keine Lungen
hat, kann in der reinſten Lebens-
luft leben, und es wird dennoch
keine Wärme, kein Lebensprincip
daraus erhalten, bloſs weil es kein
Organ dafür hat. Der Verſchnitte-
ne genieſst eben die Nahrungsmit-
tel, lebt unter eben den Einflüſſen,
hat das nehmliche Blut, wie der
Unverſchnittene, deſſen ungeach-
tet fehlt ihm ſowohl die Kraft als
Materie der Generation, ſowohl die
phyſiſche als moraliſche Mannskraft,
weil er keine Organe zu ihrer
[246] Entwicklung hat. — Genug, wir
können eine Menge Kräfte um uns,
ja ſelbſt ſchlafende Keime derſelben
in uns haben, die aber, ohne ein
angemeſsnes Entwicklungsorgan,
ganz für uns verlohren ſind. — Von
dieſem Geſichtspunct aus müſſen
wir auch die menſchliche Gehirnor-
ganiſation betrachten. Sie iſt un-
ſtreitig der höchſte Grad von Ver-
feinerung der organiſchen Materie.
Es iſt durch alle Beobachtungen er-
wieſen, daſs der Menſch unter allen
Thieren das zarteſte, und, im Ver-
hältniſs zu den Nerven, auch das
gröſste Gehirn habe. In dieſem Or-
gane werden (wie in dem Alembik
des Ganzen) die feinſten und geiſtig-
ſten Theile der durch Nahrung und
Reſpiration uns zugeführten Kräfte
geſammlet, ſublimirt und zum
höchſten Grad veredelt, und von
da aus durch die Nerven dem gan-
zen Körper in allen ſeinen Puncten
[247] mitgetheilt. — Es wird wirklich
eine neue Lebensquelle. - 3. Durch dieſe höchſtvollkommene
Seelenkraft tritt der Menſch in Ver-
bindung mit einer ganz neuen, für
die ganze übrige Schöpfung verbor-
genen Welt — der geiſtigen. Sie
giebt ihm ganz neue Bei ührungs-
puncte, ganz neue Einflüſſe, ein
neues Element. Könnte man in
dieſer Rückſicht nicht den Men-
ſchen ein Amphibion von einer hö-
heren Art (man verzeihe den Aus-
druck) nennen, — denn er iſt ein
Weſen, das in zwey Welten, der
materiellen und der geiſtigen, zu-
gleich lebt — und das auf ihn an-
wenden, was ich vorhin aus der Er-
farung von den Thieramphibien ge-
zeigt habe, daſs die Exiſtenz in
zwey Welten zugleich das Leben
verlängert? — Welch ein uner-
meſsliches Meer von Geiſtesnahrung
und Geiſteseinflüſſen eröfnet uns
[248] nicht dieſe höhere und vollkomm-
nere Organiſation? Eine ganz neue
und dem Menſchen allein eigne
Klaſſe von Nahrungs- und Erwe-
ckungsmitteln der Lebenskraft ſtellt
ſich uns hier dar, die der feinern
ſinnlichen und höhern moraliſchen
Gefühle und Berührungen. Ich
will hier nur an die Genüſſe und
Stärkungen erinnern, die in der
Muſik, der bildenden Kunſt, den
Reizen der Dichtung und Phantaſie
liegen; an das Wonnegefühl, das
uns die Erforſchung der Wahrheit
oder eine neue Entdeckung im Rei-
che derſelben gewährt; an die rei-
che Quelle der Kraft, die in dem
Gedanken der Zukunft liegt, und
in dem Vermögen, ſie zu vergegen-
wärtigen und durch Hoffnung zu
leben, wenn uns die Gegenwart
verläſst. Welche Stärkung, wel-
che unerſchütterliche Feſtigkeit
kann uns nicht der einzige Gedanke
und Glaube an Unſterblichkeit ge-
[249] ben! — Genug, der Lebensumfang
des Menſchen erhält hierdurch eine
erſtaunliche Ausdehnung; er zieht
nun wirklich ſeine Lebensſubſiſtenz
aus zwey Welten zugleich, aus der
körperlichen und geiſtigen, aus der
gegenwärtigen und zukünftigen; —
ſeine Lebensdauer muſs nothwen-
dig dadurch gewinnen. - 4. Endlich trägt die vollkommnere
Seelenkraft auch in ſo fern zur Er-
haltung und Verlängerung des Le-
bens bey, daſs der Menſch dadurch
der Vernunft theilhaftig wird, wel-
che alles in ihm regulirt, das bloſs
thieriſche in ihm, den Inſtinkt, die
wüthende Leidenſchaft, und die
damit verbundene ſchnelle Konſum-
tion, mäſsigt, und ihn auf dieſe
Art in jenem Mittelzuſtand zu er-
halten vermag, der, wie oben ge-
zeigt worden, zum langen Leben ſo
nothwendig iſt.
[250]
Kurz, der Menſch hat offenbar
mehr geiſtigen Antheil, als ihm bloſs
für dieſe Welt nöthig wäre, und dieſes
Uebermaſs von geiſtiger Kraft hält und
trägt gleichſam das Körperliche mit.
Nur der körperliche Antheil führt die
Aufreibung und den Tod mit ſich. *)
Ich kann hier die Bemerkung nicht
unterdrücken, wie ſichtbar auch hierin
der moraliſche Zweck, die höhere Be-
ſtimmung des Menſchen mit ſeiner phy-
ſiſchen Exiſtenz verwebt iſt, und wie
alſo das, was ihn eigentlich zum Men-
ſchen macht, Vernunft und höheres
Denkvermögen, nicht bloſs ſeine mora-
liſche, ſondern auch ſeine phyſiſche
Vollkommenheit erhält; folglich eine
gehörige Kultur ſeiner geiſtigen Kräfte,
beſonders die moraliſche, ihn unleug-
bar nicht bloſs moraliſch ſondern auch
phyſiſch vollkommener macht, und ſei-
[251] ne Lebenskapacität und Dauer (wie wir
in der Folge ausführlicher ſehen wer-
den) vermehrt. — Der bloſse Thier-
menſch ſinkt auch in Abſicht der Lebens-
dauer zu den Thieren, mit denen er an
Gröſse und Feſtigkeit in Parallel ſteht, ja
ſelbſt noch unter ſie (wie ich gleich zei-
gen werde) herab; da hingegen oft der
ſchwächlichſte Menſch vorzüglich durch
dieſe geiſtige Subſiſtenz ſein Leben viel
weiter hinausſchieben kann, als das
ſtärkſte Thier.
Aus eben dieſen Prinzipien läſst ſich
nun auch das zweyte Räthſel auflöſen,
nehmlich: Wie kommt es, daſs eben in
dem Menſchengeſchlecht, deſſen Lebens-
dauer die des Thiers ſo weit übertrifft,
und, wie uns Beyſpiele gezeigt haben, zu
einer auſſerordentlichen Höhe gelangen
kann, dennoch ſo wenige ihr wahres Ziel
erreichen, und die meiſten vor der Zeit
ſterben? oder mit andern Worten, daſs
da, wo die gröſste Dauer möglich iſt,
dennoch die Sterblichkeit am gröſsten iſt?
[252]
Eben die gröſsre Weichheit und
Zartheit der Organe, die den Menſchen
einer langen Dauer fähig macht, expo-
nirt ihn auch mehrern Gefahren, leich-
tern Unterbrechungen, Stockungen und
Verletzungen.
Ferner die mehrern Berührungs-
puncte, die er mit der ihn umgebenden
Welt hat, machen ihn auch empfängli-
cher für eine Menge nachtheiliger Ein-
flüſſe, die eine gröbere Organiſation
nicht fühlt; ſeine vielfachern Bedürf-
niſſe vervielfältigen die Gefahren durch
Entziehung ihrer Befriedigung.
Selbſt das geiſtige Leben hat ſeine
ganz eignen Gifte und Gefahren. Was
weiſs das Thier von fehlgeſchlagner Hof-
nung, unbefriedigtem Ehrgeiz, ver-
ſchmähter Liebe, von Kummer, Reue,
Verzweiflung? Und wie lebensverzeh-
rend und tödtend ſind für den Menſchen
dieſe Seelengifte?
[253]
Endlich liegt noch ein Hauptgrund
darin, daſs der Menſch, ungeachtet er
zum vernünftigen Weſen organiſirt iſt,
dennoch Freyheit hat, ſeine Vernunft zu
gebrauchen oder nicht. — Das Thier
hat ſtatt der Vernunft Inſtinkt, und zu-
gleich weit mehr Gefühlloſigkeit und
Härte für ſchädliche Eindrücke. Der
Inſtinkt lehrt es, das zu genieſsen, was
ihm gut iſt, das zu vermeiden, was ihm
ſchadet; er ſagt ihm, wenn es genug
hat, wenn es Ruhe bedarf, wenn es
krank iſt. Der Inſtinkt ſichert es vor
Uebermaſs und Ausſchweifungen, ohne
Diätregeln. — Bey dem Menſchen hin-
gegen iſt alles, auch das Phyſiſche, auf
Vernunft berechnet; er hat weder In-
ſtinkt, jene Miſsgriffe zu vermeiden,
noch Feſtigkeit genug, ſie zu ertragen.
Alles dieſs ſollte die Vernunft bey ihm
erſetzen. Fehlt ihm alſo dieſe, oder
verſäumt er ihre Stimme zu hören, ſo
verliert er ſeinen einzigen Wegweiſer,
ſein gröſstes Erhaltungsmittel, und ſinkt
auch phyſiſch nicht allein zum Thier,
[254] ſondern ſelbſt unter das Thier herab;
weil dieſs von Natur ſchon für die Ver-
nunft in Betreff ſeiner Lebenserhaltung
entſchädigt iſt. — Der Menſch hingegen
ohne Vernunft iſt allen ſchädlichen Ein-
flüſſen Preis gegeben, und das aller ver-
gänglichſte und korruptibelſte Geſchöpf
unter der Sonne. Der natürliche Man-
gel der Vernunft iſt für die Dauer und
Erhaltung des Lebens weit weniger
nachtheilig, als der unterlaſsne Gebrauch
derſelben da, wo ſie von Natur iſt.
Aber wie Haller ſo wahr ſagt:
Hierin liegt der Hauptgrund, warum
der Menſch bey aller Anlage zur höch-
ſten Dauer des Lebens dennoch die
gröſste Mortalität hat.
[255]
Man wende nicht ein, dieſe Be-
hauptung werde dadurch widerlegt, daſs
doch viele Wahnſinnige ihr Leben hoch
bringen. — Hier kommt es nehmlich
zuerſt auf die Art des Wahnſinnes an.
Iſt es Wuth und Raſerey, ſo kürzt dieſs
allerdings das Leben gar ſehr ab, weil
ſie den höchſten Grad von Kraftäuſſerung
und Lebenskonſumtion mit ſich führt.
Eben ſo der höchſte Grad von Melanko-
lie und Seelenangſt, weil er die edelſten
Organe lähmt, und die Kräfte verzehrt.
Aber in dem Mittelzuſtande, wo die Ver-
nunft nicht ganz fehlt, ſondern nur eine
unrichtige Idee, eine falſche aber oft
höchſt behagliche Vorſtellungsart ſich
eingeſchlichen hat, da kann der phyſi-
ſche Nutzen der Vernunft immer blei-
ben, wenn auch der moraliſche viel ver-
liert. Ja ein ſolcher Menſch iſt oft wie
ein angenehm Träumender anzuſehen,
auf den eine Menge Bedürfniſſe, Sorgen,
Unannehmlichkeiten und lebenverkür-
zende Eindrücke (ſelbſt phyſiſche Krank-
keitsurſachen, wie die Erfahrung lehrt)
[256] gar nicht wirken; der in ſeiner ſelbſtge-
ſchaffnen Welt glücklich dahin lebt, und
alſo weit weniger Deſtruction und Le-
benskonſumtion hat. — Dazu kommt
nun noch endlich, daſs, wenn auch der
Blödſinnige ſelbſt nicht Vernunft hat,
dennoch die Menſchen, die ihn umge-
ben und warten, für ihn denken und
ihm ihre Vernunft gleichſam leihen.
Er wird alſo doch durch Vernunft erhal-
ten, es mag nun ſeine eigne oder eine
fremde ſeyn.
Achte
[257]
Achte Vorleſung.
Specielle Grundlagen und Kennzeichen
der Lebensdauer einzelner
Menſchen.
Hauptpuncte der Anlage zum langen Leben — Guter
Magen und Verdauungsſyſtem, geſunde Zähne — gut
organiſirte Bruſt — nicht zu reizbares Herz — gute
Reſtaurations- und Heilkraft der Natur — Gehöriger
Grad und Vertheilung der Lebenskraft, gut Tempera-
ment — harmoniſcher und fehlerfreyer Körperbau —
mittlere Beſchaffenheit der Textur des Körpers — kein
vorzüglich ſchwacher Theil — vollkommne Organiſa-
tion der Zeugungskraft — das Bild eines zum langen
Leben beſtimmten Menſchen.
Nach dieſen allgemeinen Begriffen
kann ich nun zu der Beſtimmung der
R
[258] ſpeciellen und individuellen Grundlage
des langen Lebens übergehen, die in
dem Menſchen ſelbſt liegen muſs. Ich
will die Haupteigenſchaften und Anlagen
angeben, die nach obigen Grundſätzen
und der Erfahrung ein Menſch durchaus
haben muſs, der auf ein langes Le-
ben Rechnung machen will. Dieſe
Schilderung kann zugleich ſtatt ei-
ner kurzen Semiotik des langen Lebens
dienen.
Die Eigenſchaften, die man die
Fundamenta des langen Lebens im
Menſchen nennen kann, ſind fol-
gende:
I. Vor allen Dingen muſs der Ma-
gen und das ganze Verdauungsſyſtem
gut beſchaffen ſeyn. — Es iſt un-
glaublich, von welcher Wichtigkeit
dieſer Groſsmächtigſte aller Herrſcher
im animaliſchen Reiche in dieſer Hin-
ſicht iſt, und man kann mit vollem
Recht behaupten, ohne einen guten Ma-
[259] gen iſt es unmöglich ein hohes Alter zu
erlangen.
In zweyerley Rückſicht iſt der Ma-
gen der Grundſtein des langen Lebens:
Einmal indem er das erſte und wich-
tigſte Reſtaurationsorgan unſrer Natur
iſt, die Pforte, wodurch alles, was
unſer werden ſoll, eingehen muſs, die
erſte Inſtanz, von deren guten oder
ſchlechten Zuſtand nicht nur die Quan-
tität ſondern auch die Qualität unſers
Erſatzes abhängt. — Zweytens, in-
dem durch die Beſchaffenheit des Ma-
gens ſelbſt die Einwirkung der Lei-
denſchaften, der Krankheitsurſachen
und andrer zerſtörenden Einflüſſe auf
unſern Körper modificirt wird. —
Er hat einen guten Magen, ſagt man
im Sprichwort, wenn man jemand
karacteriſiren will, auf den weder
Aerger, noch Kummer, noch Kränkun-
gen ſchädlich wirken, und gewiſs es
liegt viel Wahres darinne. — Alle die-
ſe Leidenſchaften müſſen vorzüglich
R 2
[260] den Magen aſſiciren, von ihm gleich-
ſam empfunden und angenommen
werden, wenn ſie in unſer Phyſiſches
übergehen und ſchaden ſollen. Ein
guter robuſter Magen nimmt gar keine
Notiz davon. Hingegen ein ſchwa-
cher empfindſamer Magen wird alle
Augenblicke durch ſo etwas in ſeiner
Verrichtung geſtört, und folglich das
ſo wichtige Reſtaurationsgeſchäft un-
aufhörlich unterbrochen, und ſchlecht
betrieben. — Eben ſo iſt es mit den
meiſten phyſiſchen Krankheitseinflüſ-
ſen; die meiſten machen ihren er-
ſten Eindruck auf den Magen; da-
her Zufälle der Verdauung immer die
erſten Symptome der Krankheiten ſind.
Er iſt auch hier die erſte Inſtanz,
durch welche ſie in unſern Körper wir-
ken, und nun die ganze Oeconomie
ſtören. Ueberdieſs iſt er ein Haupt-
organ, von welchem das Gleichge-
wicht der Nervenbewegungen, und
beſonders der Antrieb nach der Peri-
pherie abhängt. Iſt er alſo kräftig
[261] und wirkſam, ſo können ſich Krank-
heitsreize gar nicht ſo leicht fixiren,
ſie werden entfernt und durch die
Haut verflüchtigt, ehe ſie noch wirk-
liche Stöhrung des Ganzen bewir-
ken, d. h. die Krankheit hervorbrin-
gen konnten.
Einen guten Magen erkennt man
aus zweyerley. Nicht blos aus dem
treflichen Appetit, denn dieſer kann
auch Folge irgend eines Reizes ſeyn,
ſondern vorzüglich aus der leich-
tern und vollkommnern Verdauung.
Wer ſeinen Magen je gefühlt hat,
der hat ſchon keinen recht guten
Magen. Man muſs gar nicht füh-
len, daſs man gegeſſen hat, nach Ti-
ſche nicht ſchläfrig, verdroſſen oder
unbehaglich werden, früh morgens
keinen Schleim im Halſe haben, und
gehörige und gut verdaute Ausleerun-
gen.
[262]
Die Erfahrung lehrt uns auch,
daſs alle die, welche ein hohes Alter
erreichten, ſehr guten Appetit hatten,
und ſelbſt noch im höchſten Alter be-
hielten.
Zur guten Verdauung ſind nun
gute Zähne ein ſehr nothwendiges
Stück, und man kann ſie daher als
ſehr weſentliche Eigenſchaften zum
langen Leben anſehen, und zwar auf
zweyerley Art. Einmal ſind gute
und feſte Zähne immer ein Haupt-
kennzeichen eines geſunden feſten
Körpers und guter Säfte. Wer die
Zähne ſehr frühzeitig verliert, der hat
ſchon mit einem Theil ſeines Körpers ge-
wiſſermaſsen auf die andre Welt pränu-
merirt. — Zweytens ſind die Zähne
ein Hauptmittel zur vollkommnen Ver-
dauung, und folglich zur Reſtauration.
II. Gut organiſirte Bruſt und Re-
ſpirationswerkzeuge. Man erkennt ſie
an einer breiten gewölbten Bruſt, der
[263] Fähigkeit, den Athem lange zu hal-
ten, ſtarker Stimme und ſeltnen
Huſten. Das Athemholen iſt eine
der unaufhörlichſten und nothwen-
digſten Lebensverrichtungen; das Or-
gan der unentbehrlichſten geiſtigern
Reſtauration, und zugleich das Mit-
tel, wodurch das Blut unaufhörlich
von einer Menge verdorbener Theil-
chen befreyt werden ſoll. Bey
wem alſo dieſe Organe gut beſtellt
ſind, der beſizt eine groſse Aſſecu-
renz auf ein hohes Alter, und zwar
auch darinne, weil dadurch den de-
ſtruirenden Urſachen und dem Tode
eine Hauptpforte genommen wird,
durch welche ſie ſich einſchleichen
können. Denn die Bruſt gehört unter
die vorzüglichſten atria mortis (Angriffs-
puncte des Todes).
III. Ein nicht zu reizbares Herz.
Wir haben oben geſehen, daſs eine
Haupturſache unſrer innern Conſum-
[264] tion oder Selbſtaufreibung in dem be-
ſtändigen Blutumlauf liegt. Der, wel-
cher in einer Minute 100 Pulsſchläge
hat, muſs ſich alſo ungleich ſchneller
aufreiben, als der, welcher deren nur
50 hat. Die Menſchen folglich, wel-
che beſtändig einen etwas gereizten
Puls haben, bey denen jede kleine
Gemüthsbewegung, jeder Tropfen
Wein, ſogleich die Bewegung des
Herzens vermehrt, ſind ſchlechte Kan-
didaten zum langen Leben, denn ihr
ganzes Leben iſt ein beſtändiges Fie-
ber, und es wird dadurch auf doppel-
te Art der Verlängerung des Lebens
entgegen gearbeitet, theils durch die
damit verknüpfte ſchnellere Aufreibung,
theils weil die Reſtauration durch
nichts ſo ſehr gehindert wird, als
durch einen beſtändig beſchleunigten
Blutumlauf. Es iſt durchaus eine ge-
wiſſe Ruhe nothwendig, wenn ſich
die nährenden Theilchen anlegen, und
in unſre Subſtanz verwandeln ſollen.
[265] Daher werden ſolche Leute auch nie
fett.
Alſo ein langſamer gleichförmiger
Puls iſt ein Hauptmittel und Zeichen
des langen Lebens.
IV. Gehöriger Grad und Verthei-
lung der Lebenskraft; gutes Tempera-
ment. Ruhe, Ordnung und Harmonie in
allen innern Verrichtungen und Be-
wegungen iſt ein Hauptſtück zur Er-
haltung und Verlängerung des Lebens,
dieſes beruht aber vorzüglich auf ei-
nem gehörigen Zuſtand der allgemei-
nen Reizbarkeit und Empfindlichkeit
des Körpers, und zwar muſs dieſelbe
überhaupt weder zu groſs, noch zu
ſchwach, dabey aber gleichförmig
vertheilt ſeyn, kein Theil verhältniſs-
mäſsig zu viel oder zu wenig haben.
— Ein gewiſſer Grad von Unempfind-
lichkeit, eine kleine Beymiſchung von
Phlegma, iſt alſo ein äuſſerſt wichti-
[266] ges Stück zur Verlängerung des Le-
bens. Sie vermindert zu gleicher Zeit
die Selbſtaufreibung, und verſtattet
eine weit vollkommnere Reſtauration,
und wirkt alſo am vollſtändigſten auf
Lebensverlängerung. Hieher gehört
der Nutzen eines guten Temperaments,
welches in ſo fern eine Hauptgrundlage
des langen Lebens werden kann. Das
beſte iſt in dieſer Abſicht das ſangui-
niſche, mit etwas Phlegma tempe-
rirt. Dieſs giebt heitern frohen Sinn,
gemäſsigte Leidenſchaften, guten Muth,
genug die ſchönſte Seelenanlage zur
Longävität. Schon die Urſache dieſer
Seelenſtimmung pflegt gewöhnlich
Reichthum an Lebenskraft zu ſeyn.
Und da nun auch Kant bewieſen hat,
daſs eine ſolche Miſchung von Tempe-
rament das geſchickteſte ſey, um mo-
raliſche Vollkommenheit zu erlangen,
ſo glaube ich, man könne daſſelbe wohl
unter die gröſsten Gaben des Himmels
rechnen.
[267]
V. Gute Reſtaurations- und Heil-
kraft der Natur, wodurch aller
Verluſt, den wir beſtändig erleiden,
nicht allein erſezt, ſondern auch gut
erſezt wird. Sie beruht nach dem
obigen auf einer guten Verdauung
und auf einem ruhigen gleichförmi-
gen Blutumlauf. Auſſer dieſem gehört
aber noch dazu: die vollkommne und
rege Wirkſamkeit der einſaugenden Ge-
fäſse, (des lymphatiſchen Syſtems), und
eine gute Beſchaffenheit und regel-
mäſsige Wirkung der Abſonderungsor-
gane. Jenes bewirkt, daſs die nähren-
den Subſtanzen leicht in uns übergehen,
und an den Ort ihrer Beſtimmung ge-
langen können, dieſes, daſs ſie voll-
kommen von allen fremden und ſchäd-
lichen Beymiſchungen befreyt werden,
und völlig rein in uns kommen. Und
dieſs macht eigentlich den Begriff der
vollkommenſten Reſtauration aus.
[268]
Es iſt unglaublich, was dieſes
Talent für ein groſses Erhaltungsmit-
tel des Lebens iſt. Bey einem Men-
ſchen, der dieſes hat, kann wirklich
die Conſumtion auſſerordentlich ſtark
ſeyn, und er verliert dennoch nichts
dadurch, weil er ſich äuſſerſt ſchnell
wieder erſezt. Daher haben wir Bey-
ſpiele von Menſchen, die ſelbſt unter
Debauchen und Strapazen ſehr alt
wurden. So konnte z. B. ein Herzog
von Richelieu, ein Ludwig XV. alt wer-
den.
Eben ſo muſs auch eine gute Heil-
kraft der Natur damit verbunden
ſeyn; d. h. das Vermögen der Natur,
ſich bey Unordnungen und Stöhrun-
gen leicht zu helfen, Krankheitsur-
ſachen abzuhalten und zu heilen, Ver-
letzungen wieder herzuſtellen. Es lie-
gen erſtaunliche Kräfte der Art in
unſrer Natur, wie uns die Beyſpiele
der Naturmenſchen zeigen, welche
[269] faſt gar keine Krankheiten haben, und
bey denen die fürchterlichſten Wunden
ganz von ſelbſt heilen.
VI. Ein gleichförmiger und fehler-
freyer Bau des ganzen Körpers. Ohne
Gleichförmigkeit der Structur wird
nie Gleichförmigkeit der Kräfte und
Bewegungen möglich ſeyn, ohne wel-
che es doch unmöglich iſt alt zu
werden. Ueberdieſs geben ſolche
Fehler der Structur leicht zu örtli-
chen Krankheiten Gelegenheit, wel-
che zum Tode führen können. Da-
her wird man auch nicht finden, daſs
ein Verwachſener ein ſehr hohes Alter
erreicht.
VII. Kein Theil, kein Eingewey-
de darf einen vorzüglichen Grad von
Schwäche haben. Sonſt kann die-
ſer Theil am leichteſten zur Aufnah-
me einer Krankheitsurſache dienen, der
erſte Keim einer Stöhrung und Sto-
[270] ckung, und gleichſam das Atrium mortis
werden. Es kann bey übrigens ſehr
guter und vollkommner Organiſation,
dieſs der heimliche Feind werden,
von welchem hernach die Deſtruction
aufs Ganze ausgeht.
VIII. Die Textur der Organiſa-
tion muſs von mittlerer Beſchaffenheit,
zwar feſt und dauerhaft, aber nicht
zu trocken oder zu rigide ſeyn.
Wir haben geſehen, daſs durch alle
Klaſſen organiſcher Weſen ein zu ho-
her Grad von Trockenheit und Härte
der Lebensdauer hinderlich iſt. Bey
dem Menſchen muſs ſie es am allermei-
ſten ſeyn, weil ſeine Organiſation,
ſeiner Beſtimmung gemäſs, die zarte-
ſte iſt, und alſo durch ein Uebermaas
erdigter Theile am leichteſten unbrauch-
bar gemacht werden kann. Sie ſcha-
det alſo auf doppelte Art, theils indem
ſie das Alter, den Hauptfeind des Le-
bens, weit früher herbeyführt, theils
[271] indem dadurch die feinſten Organe der
Reſtauration weit eher unbrauchbar
gemacht werden. Die Härte unſrer
Organiſation, die zum langen Leben
dienen ſoll, muſs nicht ſowohl in
mechaniſcher Zähigkeit, als vielmehr
in Härte des Gefühls beſtehen, nicht
ſowohl eine Eigenſchaft der gröbern
Textur, als vielmehr der Kräfte ſeyn.
Der Antheil von Erde muſs gerade ſo
groſs ſeyn, um hinlängliche Spannkraft
und Ton zu geben, aber weder zu
groſs, daſs Unbeweglichkeit, noch zu
klein, daſs eine zu leichte Beweglich-
keit davon entſtünde; denn beydes ſcha-
det der Lebensdauer.
IX. Ein vorzüglicher Grund zum
langen Leben liegt endlich, nach
meiner Ueberzeugung, in einer voll-
kommnen Organiſation der Zeugungs-
kraft.
Ich glaube, man hat ſehr Unrecht,
dieſelbe blos als ein Conſumtionsmittel
[272] und die Producte als bloſse Exeretionen
anzuſehen, ſondern ich bin überzeugt,
daſs dieſe Organe eins unſrer gröſsten
Erhaltungs- und Regenerationsmittel
ſind, und meine Gründe ſind folgende:
1. Die Organe der Zeugung haben
die Kraft, die feinſten und geiſtigſten
Beſtandtheile aus den Nahrungsmitteln
abzuſondern, zugleich aber ſind ſie ſo
organiſirt, daſs dieſe veredelten und
vervollkommneten Säfte wieder zurück-
gehen und ins Blut aufgenommen wer-
den können. — Sie gehören alſo, eben
ſo wie das Gehirn, unter die wichtigſten
Organe zur Vervollkommung und Ver-
edlung unſrer organiſchen Materie und
Kraft und alſo unſres Selbſt. Die rohen
Nahrungstheile würden uns wenig hel-
fen, wenn wir nicht Organe hätten, die
das feinſte davon herausziehen, verar-
beiten und uns in dieſer Geſtalt wieder
geben und zueignen könnten. Nicht
die Menge der Nahrung, ſondern die
Menge
[273] Menge und Vollkommenheit der Organe
zu deren Bearbeitung und Benutzung
iſt es, was unſre Lebenskapacität und
Fülle vermehrt, und unter dieſen Orga-
nen behauptet gewiſs das der Genera-
tion einen vorzüglichen Rang.
2. Was Leben geben kann, muſs
auch Leben erhalten. In den Zeugungs-
ſäften iſt die Lebenskraft ſo concentrirt,
daſs der kleinſte Theil davon ein künfti-
ges Weſen zum Leben hervorrufen
kann. Läſst ſich wohl ein gröſsrer Bal-
ſam zur Reſtauration und Erhaltung
unſrer eignen Lebenskraft denken?
3. Die Erfarung lehrt zur Gnüge,
daſs nicht eher der Körper ſeine voll-
kommne Feſtigkeit und Conſiſtenz er-
hält, bis dieſe Organe ihre Vollkommen-
heit erlangt haben, und im Stande ſind,
dieſe neue Art von Säften zu erzeugen,
und dadurch die neue Kraft zu entwi-
ckeln. — Der deutlichſte Beweis, daſs
ſie nicht blos für andere, ſondern zu-
S
[274] nächſt und zuerſt für uns ſelbſt beſtimmt
ſind, und einen ſo auſſerordentlichen
Einfluſs auf unſer ganzes Syſtem ha-
ben, daſs ſie gleichſam alles mit einem
neuen noch nie gefühlten Karacter im-
prägniren. — Mit dieſer Entwicklung
der Mannbarkeit, bekommt der Menſch
einen neuen Trieb zum Wachsthum, der
oft unglaublich ſchnell iſt; ſeine Geſtalt
bekommt Beſtimmtheit und Karacter;
ſeine Muskeln und Knochen Feſtigkeit,
ſeine Stimme wird tief und voll; eine
neue Generation des Barthaars geht her-
vor; ſein Karacter wird feſter und ent-
ſchloſsner, genug, der Menſch wird
nun erſt an Leib und Seel ein Mann.
Bey manchen Thieren wachſen ſo-
gar um dieſe Zeit ganz neue Theile. z. E.
Hörner, Geweihe, welche bey denen
nie entſtehen, die man verſchnitten hat.
Man ſieht hieraus, wie ſtark der An-
trieb, der Zufluſs der durch dieſe Or-
gane hervorgebrachten neuen Kräfte und
Säfte ſeyn muſs.
[275]
4. Alle dieſe wichtigen Vervoll-
kommnungen und Vorzüge fehlen dem,
dem die Zeugungsorgane geraubt wur-
den; ein deutlicher Beweis, daſs ſie alle
erſt die Wirkung derſelben und ihrer
Abſonderungen ſind.
5. Kein Verluſt andrer Säfte und
Kräfte ſchwächt die Lebenskraft ſo
ſchnell und ſo auffallend, als die Ver-
ſchwendung der Zeugungskräfte. Nichts
giebt ſo ſehr das Gefühl und den Reiz des
Lebens, als groſser Vorrath dieſer Säfte,
und nichts erregt ſo leicht Ekel und Ue-
berdruſs im Leben, als Erſchöpfung
daran.
6. Mir iſt kein Beyſpiel bekannt,
daſs ein Verſchnittner ein ausgezeichnet
hohes Alter erreicht hätte. Sie bleiben
immer nur Halbmenſchen.
7. Alle die, welche die höchſte
Stufe des menſchlichen Lebens erreicht
haben, waren reich an Zeugungskraft,
S 2
[276] und ſie blieb ihnen ſogar bis in die lez-
ten Jahre getreu. Sie heyratheten ins-
geſammt noch im 100ten, 112ten und
noch ſpätern Jahren, und zwar, wie
ihre Weiber bezeugten, nicht pro
forma.
8. Aber (was ich beſonders zu be-
merken bitte) ſie waren mit dieſen Kräf-
ten nicht verſchwenderiſch, ſondern
haushälteriſch und ordentlich umgegan-
gen. Sie hatten ſie in der Jugend ge-
ſchont, und alle waren verheyrathet, ge-
wiſs das ſicherſte und einzige Mittel zur
Ordnung in dieſem Punct.
Laſſen Sie mich nun, nach allem
dieſen, das Bild eines zum langen Le-
ben beſtimmten Menſchen zeichnen. Er
hat eine proportionirte und gehörige
Statur, ohne jedoch zu lang zu ſeyn.
Eher iſt er von einer mittelmäſsigen
Gröſse und etwas unterſezt. Seine Ge-
ſichtsfarbe iſt nicht zu roth; wenigſtens
zeigt die gar zu groſse Röthe in der Ju-
[277] gend ſelten langes Leben an. Seine
Haare nähern ſich mehr dem Blonden,
als dem Schwarzen, die Haut iſt feſt
aber nicht rauh (den Einfluſs der glück-
lichen Geburtsſtunde werden wir her-
nach betrachten). Er hat keinen zu
groſsen Kopf, groſse Adern an den Ex-
tremitäten, mehr gewölbte als flügelför-
mig hervorſtehende Schultern, keinen
zu langen Hals, keinen hervorſtehenden
Bauch, und groſse aber nicht tief ge-
furchte Hände, einen mehr breiten als
langen Fuſs, faſt runde Waden. Dabey
eine breite gewölbte Bruſt, ſtarke Stim-
me, und das Vermögen, den Athem
lange ohne Beſchwehrde an ſich zu hal-
ten. Ueberhaupt völlige Harmonie in
allen Theilen. Seine Sinne ſind gut,
aber nicht zu fein, der Puls langſam
und gleichförmig.
Sein Magen iſt vortreflich, der Ap-
petit gut, die Verdauung leicht. Die
Freuden der Tafel ſind ihm wichtig,
[278] ſtimmen ſein Gemüth zur Heiterkeit,
ſeine Seele genieſst mit. Er iſst nicht
blos um zu eſſen, ſondern es iſt ihm
eine feſtliche Stunde für jeden Tag, eine
Art von Wolluſt, die den weſentlichen
Vorzug für andern hat, daſs ſie ihn nicht
ärmer, ſondern reicher macht. Er iſst
langſam, und hat nicht zu viel Durſt.
Groſser Durſt iſt immer ein Zeichen
ſchneller Selbſtkonſumtion.
Er iſt überhaupt heiter, geſprächig,
theilnehmend, offen für Freude, Liebe
und Hoffnung, aber verſchloſſen für die
Gefühle des Haſſes, Zorns und Neids.
Seine Leidenſchaften werden nie heftig
und verzehrend. Kommt es je einmal
zu wirklichen Aerger und Zorn, ſo iſt
es mehr eine nüzliche Erwärmung, ein
künſtliches und wohlthätiges Fieber,
ohne Ergieſsung der Galle. Er liebt
dabey Beſchäftigung, beſonders ſtille
Meditationen, angenehme Speculatio-
nen — iſt Optimiſt, ein Freund der
[279] Natur, der häuslichen Glückſeligkeit,
entfernt von Ehr- und Geldgeiz und al-
len Sorgen für den andern Tag.
[280]
Neunte Vorleſung.
Prüfung verſchiedener neuer Methoden
zur Verlängerung des Lebens, und Feſt-
ſetzung der einzig möglichen und auf
menſchlich Leben paſſenden
Methode.
Verlängerung durch Lebenselixire, Goldtineturen,
Wundereſſenzen etc. — durch Abhärtung — durch
Nichtsthun und Pauſen der Lebenswirkſamkeit — durch
Vermeidung aller Krankheitsurſachen, und der Conſum-
tion von auſſen — durch geſchwindes Leben — die ein-
zig mögliche Methode menſchliches Leben zu verlän-
gern — gehörige Verbindung der vier Hauptindicationen
— Vermehrung der Lebenskraft — Stärkung der Or-
gane — Mäſsigung der Lebenskonſumtion — Begünſti-
gung der Reſtauration — Modificationen dieſer Metho-
de durch die verſchiedene Conſtitution — Tempera-
ment — Lebensalter — Clima.
Es exiſtiren mehrere Methoden und
Vorſchläge zur Verlängerung des Le-
[281] bens. Die ältern ſuperſtitioſen, aſtrolo-
giſchen und phantaſtiſchen, haben wir
ſchon oben durchgegangen und gewür-
digt. Aber es giebt noch einige neuere,
die ſchon auf richtigere Grundſätze von
Leben und Lebensdauer gebaut zu ſeyn
ſcheinen, und die noch einige Unterſu-
chung verdienen, ehe wir zur Feſt-
ſetzung der einzig möglichen über-
gehen.
Ich glaube hinlänglich erwieſen zu
haben, daſs Verlängerung des Lebens
auf viererley Art möglich iſt.
- 1. Durch Vermehrung der Lebenskraft
ſelbſt. - 2. Durch Abhärtung der Organe.
- 3. Durch Retardation der Lebenskon-
ſumtion. - 4. Durch Erleichtrung und Vervollkom-
mung der Reſtauration.
[282]
Auf jede dieſer Ideen hat man nun
Plane und Methoden gebaut, die zum
Theil ſehr ſcheinbar ſind, und viel Glück
gemacht haben, die aber gröſstentheils
darinne fehlen, daſs ſie nur auf eins ſe-
hen, und die andern Rückſichten dar-
über vernachläſſigen.
Laſſen Sie uns einige der vorzüg-
lichſten durchgehen, und prüfen.
Auf die erſte Idee: die Vermehrung
der Quantität von Lebenskraft baueten
vorzüglich, und bauen noch immer alle
die Verfertiger und Nehmer von Gold-
tincturen, aſtraliſchen Salzen, Lapis
Philoſophorum und Lebenselixiren.
Selbſt Electricität und thieriſcher Magne-
tismus gehören zum Theil in dieſe
Klaſſe. Alle Adepten, Roſenkreuzer und
Conſorten, und eine Menge ſonſt ganz
vernünftige Leute, ſind völlig davon
überzeugt, daſs ihre erſte Materie eben
ſo wohl die Metalle in Gold verwandeln,
als dem Lebensflämmchen beſtändig
[283] neues Oel zuzugieſsen vermöge. Man
braucht deshalb nur täglich etwas von
ſolchen Tincturen zu nehmen, ſo wird
der Abgang von Lebenskraft immer wie-
der erſezt; und ſo ein Menſch kann
nach dieſer Theorie nie einen Mangel
oder gar gänzlichen Verluſt derſelben
erleiden. — Darauf gründet ſich die Ge-
ſchichte von dem berüchtigten Gualdus,
der 300 Jahre durch dieſe Hülfe gelebt
haben ſoll, und der, wie einige feſtig-
lich glauben, noch jezt lebt, u. ſ. w.
Aber alle Verehrer ſolcher Hülfen
täuſchen ſich auf eine traurige Art. Der
Gebrauch dieſer Mittel, welche alle
äuſſerſt hitzig und reizend ſind, ver-
mehrt natürlich das Lebensgefühl, und
nun halten ſie Vermehrung des Lebens-
gefühls für reelle Vermehrung der Le-
benskraft, und begreifen nicht, daſs
eben die beſtändige Vermehrung des Le-
bensgefühls durch Reizung das ſicher-
ſte Mittel iſt, daſs Leben abzukürzen,
und zwar auf folgende Art:
[284]
1. Dieſe zum Theil ſpirituöſen Mit-
tel wirken als ſtarke Reize, vermeh-
ren die innere Bewegung, das intenſive
Leben, und folglich die Selbſtkonſum-
tion, und reiben ſchneller auf. Dieſs
gilt aber nicht blos von den gröbern
ſondern auch von den feinern Mitteln
dieſer Art. Selbſt Electricität, Magne-
tismus, ſogar das Einathmen der dephlo-
giſtiſirten Luft, wovon man doch gewiſs
glauben könnte, es müſste die ſanfteſte
Manier ſeyn Lebenskraft beyzubringen,
vermehren die Selbſtkonſumtion aus-
nehmend. Man hat dieſs am beſten bey
Schwindſüchtigen wahrnehmen können,
die man dieſe Luft athmen lieſs. Ihr
Lebensgefühl wurde zwar dadurch aus-
nehmend erhöhet, aber ſie ſtarben
ſchneller.
2. Dieſe Mittel excitiren, indem ſie
das Lebensgefühl erhöhen, auch die
Sinnlichkeit, machen zu allen Kraftäu-
ſerungen, Genüſſen und Wohllüſten
aufgelegter (ein Punct, der ſie wohl
[285] manchen beſonders empfehlen mag),
und auch dadurch vermehren ſie die
Selbſtkonſumtion.
3. Sie ziehen zuſammen und trock-
nen aus, folglich machen ſie die feinſten
Organe weit früher unbrauchbar, und
führen das, was ſie eben verhüten
ſollten, das Alter, weit ſchneller her-
bey.
Und geſezt wir brauchten eine ſol-
che Exaltation unſers Lebensgefühls, ſo
bedarfs ja dazu weder Deſtillirkolben
noch Schmelztiegel. Hierzu hat uns die
Natur ſelbſt das ſchönſte Deſtillat berei-
tet, das jene alle übertrifft: den Wein.
Iſt etwas in der Welt, wovon man ſagen
kann, daſs es die prima materia, den
Erdgeiſt in verkörperter Geſtalt enthält,
ſo iſts gewiſs dieſes herrliche Product,
und dennoch ſehen wir, daſs ſein zu
häufiger Gebrauch ebenfalls ſchnellere
Conſumtion und ſchnelleres Alter be-
[286] wirkt, und das Leben offenbar ver-
kürzt.
Aber es iſt wirklich thöricht, die
Lebenskraft in concentrirter Geſtalt in
den Körper ſchaffen zu wollen, und
nun zu glauben, man habe etwas groſses
gethan. Fehlt es uns an Gelegenheit da-
zu? — Es iſt ja alles um und neben uns
damit erfüllt. Jede Nahrung, die wir
zu uns nehmen, jeder Mundvoll Luft,
den wir einathmen, iſt voll davon. Die
Hauptſache liegt darinne, unſre Organe
in dem Stand zu erhalten, ſie einzuzie-
hen, aufzunehmen und ſich eigen zu
machen. Man fülle einem lebloſen Kör-
per noch ſo viele Lebenstropfen ein; er
wird deshalb doch nicht wieder anfan-
gen zu leben, weil er keine Organe
mehr hat, ſich dieſelbe eigen zu machen.
Nicht der Mangel an Lebenszugang,
ſondern der an Lebensrezeptivität iſts,
was den Menſchen am Ende untüchtig
macht, länger zu leben. Für jene ſorgt
[287] die Natur ſelbſt, und alle Lebenstropfen
ſind in dieſer Rückſicht unnöthig.
Auf die zweyte Grundidee: Stär-
kung der Organe, hat man ebenfalls ein
ſehr beliebtes Syſtem gebaut, das Syſtem
der Abhärtung. Man glaubte, je mehr
man die Organe abhärtete, deſto länger
müſsten ſie natürlich der Conſumtion
und Deſtruction widerſtehen.
Aber wir haben ſchon oben geſehen,
was für ein groſser Unterſchied unter
der mechaniſchen und unter der leben-
digen Dauer eines Dings iſt, und daſs
nur ein gewiſſer Grad der Feſtigkeit der-
ſelben zuträglich, ein zu groſser aber
ſehr nachtheilig iſt. Der weſentliche
Karacter des Lebens beſteht in ungehin-
derter und freyer Wirkſamkeit aller Or-
gane und Bewegung der Säfte, und was
kann dieſer und folglich der Dauer des
Lebens nachtheiliger ſeyn, als zu groſse
Härte und Rigidität der Organe? —
Der Fiſch hat gewiſs das weichſte wäſſe-
[288] richteſte Fleiſch, und dennoch übertrifft
er an Lebensdauer ſehr viele weit feſtere
und härtere Thiere.
Die beliebte Methode der Abhär-
tung alſo, welche darinn beſteht, daſs
man durch beſtändiges Baden in kaltem
Waſſer, durch einen faſt unbedeckten
Körper in der ſtrengſten Luft, durch
die ſtrapazanteſten Bewegungen, ſich
feſt und unverwüſtlich zu machen ſucht,
bewirkt nichts weiter, als daſs unſre Or-
gane rigider, zäher und trockner, und
alſo früher unbrauchbar werden, und
daſs wir folglich, anſtatt unſer Leben
zu verlängern, ein früheres Alter und
eine frühere Deſtruction dadurch her-
beyrufen.
Es liegt unſtreitig etwas Wahres
bey dieſer Methode zum Grunde. Nur
hat man darinn gefehlt, daſs man fal-
ſche Begriffe damit verband, und ſie zu
weit trieb. Nicht ſowohl Abhärtung
der Faſern, ſondern Abhärtung des Ge-
fühls
[289] fühls iſts, was zur Verlängerung des Le-
bens beytragen kann. Wenn man alſo
die abhärtende Methode nur bis zu dem
Grade braucht, daſs ſie zwar die Faſer
feſt, aber nicht hart und ſteif macht,
daſs ſie die zu groſse Reizbarkeit, eine
Haupturſache der zu ſchnellen Aufrei-
bung, abſtumpft und aufhebt, und da-
durch zugleich den Körper weniger em-
pfänglich für zerſtöhrende Wirkungen
von auſſen macht; alsdenn kann ſie
allerdings zur Verlängerung des Lebens
behülflich ſeyn.
Vorzüglich aber hat die dritte Idee:
Retardation der Lebensconſumtion, einen
groſsen Reiz, und iſt beſonders von de-
nen, die von Natur ſchon einen groſsen
Hang zum Phlegma und zur Gemäch-
lichkeit haben, mit Freuden angenom-
men, aber ſehr unrichtig angewendet
worden. Das Aufreiben des Körpers
durch Arbeit und Anſtrengung war ih-
nen an ſich ſchon unangenehm, ſie
freuen ſich alſo, es nun nicht blos be-
T
[290] ſchwerlich, ſondern auch ſchädlich zu
finden, und im Nichtsthun das groſse Ge-
heimniſs des langen Lebens zu haben,
das alle Arcana Caglioſtros und St. Ger-
mains aufwöge.
Ja, andere ſind noch weiter gegan-
gen, und insbeſondere Maupertuis hat
den Gedanken geäuſſert, ob es nicht
möglich wäre, durch eine völlige Unter-
brechung der Lebenswirkſamkeit, durch
einen künſtlichen Scheintod, die Selbſt-
conſumtion völlig zu verhindern, und
das Leben durch ſolche Pauſen vielleicht
Jahrhunderte lang zu verlängern. Er
ſtüzt ſeinen Vorſchlag auf das Leben des
Hühnchens im Ey, des Inſects in der
Puppe, das durch Hülfe der Kälte und
andrer Mittel, wodurch man das Thier
länger in dieſem Todtenſchlaf erhält,
wirklich verlängert werden kann. —
Auf dieſe Art brauchte es zur Verlänge-
rung des Lebens weiter nichts, als die
Kunſt, jemand halb zu tödten. — Selbſt
dem groſsen Franklin gefiel dieſe Idee.
[291] Er bekam Maderawein aus America ge-
ſchickt, der in Virginien auf Bouteillen
gezogen worden war, und fand darin
einige todte Fliegen. Er legte ſie in die
heiſse Juliusſonne, und es dauerte kaum
drey Stunden, ſo erhielten dieſe Schein-
todten ihr Leben wieder, was eine ſo
lange Zeit unterbrochen geweſen war.
Sie bekamen erſt einige krampfhafte
Zuckungen, dann richteten ſie ſich auf
die Beine, wiſchten ſich die Augen mit
den Vorderfüſsen, puzten die Flügel mit
den Hinterfüſsen, und fingen bald dar-
auf an zu fliegen. Dieſer ſcharfſinnige
Philoſoph wirft hierbey die Frage auf:
Wenn durch eine ſolche gänzliche Un-
terbrechung aller in- und äuſſerlichen
Conſumtion ein ſolcher Stillſtand des
Lebens und dabey doch Erhaltung des
Lebensprinzips möglich iſt; ſollte nicht
ein ähnlicher Prozeſs mit dem Menſchen
vorzunehmen ſeyn? Und wenn dieſs
wäre, ſezt er als ächter Patriot hinzu, ſo
könnte ich mir keine gröſsre Freude den-
ken, als mich auf dieſe Art, nebſt eini-
T 2
[292] gen guten Freunden, in Maderawein
erſäufen zu laſſen, und nun nach 50
oder mehr Jahren durch die wohlthäti-
gen Sonnenſtrahlen meines Vaterlandes
wieder ins Leben gerufen zu werden,
um nun zu ſehen, was für Früchte die
Saat getragen, welche Veränderungen
die Zeit vorgenommen hätte.
Aber dieſe Vorſchläge fallen in ihr
Nichts zurück, ſobald wir auf das wahre
Weſen und den Zweck des menſchlichen
Lebens ſehen. — Was heiſst denn Le-
ben des Menſchen? Wahrlich nicht
blos Eſſen, Trinken und Schlafen. Sonſt
käme es ſo ziemlich mit dem Leben des
Schweins überein, dem Cicero keinen
andern Namen zu geben wuſste, als ein
Verhütungsmittel der Fäulniſs. Das
Leben des Menſchen hat eine höhere Be-
ſtimmung: er ſoll wirken, handeln, ge-
nieſsen, er ſoll nicht blos da ſeyn, ſon-
dern ſein Leben ſoll die in ihm liegen-
den göttlichen Keime entwickeln, ſie
vervollkommnen, ſein und andrer Glück
[293] bauen. Er ſoll nicht blos eine Lücke in
der Schöpfung ausfüllen, nein, er ſoll
der Herr, der Beherrſcher, der Beglü-
cker der Schöpfung ſeyn. Kann man
alſo wohl von einem Menſchen ſagen:
er lebt; wenn er ſein Leben durch
Schlaf, lange Weile oder gar einen
ſcheinbaren Tod verlängert? — Aber
was noch mehr iſt, wir finden auch hier
wieder einen neuen Beweis, wie unzer-
trennlich der moraliſche Zweck des
Menſchen mit ſeiner phyſiſchen Beſtim-
mung und Einrichtung verwebt iſt, und
wie die Beförderung des einen immer
auch die des andern nach ſich zieht. —
Ein ſolches unmenſchliches Leben (wie
mans mit Recht nennen kann), würde
geradezu, nicht Verlängerung ſondern
Verkürzung des menſchlichen Lebens
herbeyführen, und zwar auf doppelte
Art:
1. Die menſchliche Maſchine iſt aus
ſo zarten und feinen Organen zuſam-
mengeſezt, daſs ſie äuſſerſt leicht durch
[294] Unthätigkeit und Stilleſtand unbrauch-
bar werden können. Nur Uebung und
Thätigkeit iſts, was ſie brauchbar und
dauerhaft erhält. Ruhe und Nichtge-
brauch iſt ihr tödlichſtes Gift.
2. Wir haben geſehen, daſs nicht
blos Verminderung der Conſumtion,
ſondern auch gehörige Beförderung der
Reſtauration, zur Erhaltung und Verlän-
gerung des Lebens nöthig iſt. Dazu ge-
hört aber zweyerley: einmal, voll-
kommne Aſſimilation des Nüzlichen,
und zweytens, Abſonderung des Schäd-
lichen. Das leztere kann nie Statt haben,
ohne hinlängliche Thätigkeit und Bewe-
gung. Was wird alſo die Folge einer
ſolchen Lebensverlängerung durch Ruhe
und Unthätigkeit ſeyn? Der Menſch
conſumirt ſich wenig oder nicht, und
dennoch reſtaurirt er ſich. Es muſs alſo
endlich eine ſehr nachtheilige Ueberfül-
lung entſtehen, weil er immer einnimmt,
und nicht verhältniſsmäſsig ausgiebt.
Und dann, was das Schlimmſte iſt, es
[295] muſs endlich eine groſse Corruption mit
ihren Folgen, Schärfen, Krankheiten etc.
überhand nehmen; denn die Abſonde-
rung des Schädlichen fehlt. Ganz natür-
lich muſs nun ein ſolcher Körper früher
deſtruirt werden, wie auch die Erfarung
lehrt.
3. Was endlich die Lebensverlänge-
rung durch wirkliche Unterbrechung
der Lebenswirkſamkeit, durch einen
temporehen Scheintod betrifft; ſo beruft
man ſich zwar dabey auf die Beyſpiele
von Inſecten, Kröten und andern Thie-
ren, die, wie wir oben geſehen haben,
vielleicht 100 und mehr Jahre, alſo weit
über ihre natürliche Exiſtenz durch ei-
nen ſolchen Todtenſchlaf erhalten wor-
den ſind.
Allein man bedenkt bey allen ſol-
chen Vorſchlägen nicht, daſs alle jene
Verſuche mit ſehr unvollkommnen Thie-
ren gemacht wurden, bey welchen von
ihrem natürlichen halben Leben bis zum
[296] wirklichen Stilleſtand, der Sprung weit
geringer iſt, als beym Menſchen, der den
höchſten Grad von Lebensvollkommen-
heit beſizt, und beſonders überſieht man
den wichtigen Unterſchied, den hier das
Reſpirationsgeſchäfte macht. Alle dieſe
Thiere haben das Bedürfniſs des Athem-
holens von Natur ſchon weniger, ſie
haben von Natur wenig Wärme zum Le-
ben nöthig. Hingegen der Menſch
braucht beſtändigen Zugang von Wärme
und geiſtigen Kräften, genug von dem
pabulum vitae, das in der Luft liegt,
wenn ſein Leben fortdauern ſoll. Eine
ſolche gänzliche Unterbrechung des
Athemholens würde ſchon durch den
völligen Verluſt der innern Wärme töd-
lich werden. Selbſt der vollkommnere
Seelenreiz iſt ſo mit der Organiſation
des Menſchen verwebt, daſs ſein Ein-
fluſs nicht ſo lange ganz aufhören kann,
ohne Abſterbung und Deſtruction der
dazu nöthigen feinern Organe nach ſich
zu ziehen.
[297]
Andere haben die Verlängerung ih-
res Lebens auf dem Wege geſucht, daſs
ſie alle Krankheitsurſachen zu fliehen,
oder gleich zu heben ſuchten. Alſo Er-
kältung, Erhitzung, Speiſe, Getränke,
u. ſ. w. Aber dieſe Methode hat das
übele, daſs wir doch nicht im Stande
ſind, alle abzuhalten, und daſs wir dann
deſto empfindlicher gegen die werden,
die uns treffen. — Auch könnte die Ver-
hinderung der Conſumtion von auſſen
dahin gezogen werden. Wir finden
nehmlich, daſs man in heiſſen Ländern,
wo die warme Luft die Haut beſtändig
offen, und die Verdunſtung unſrer Be-
ſtandtheile weit anhaltender macht, ſich
damit hilft, daſs man die Haut beſtändig
mit Oel und Salben reibt, und dadurch
den wäſſerichten flüchtigen Theilen
wirklich die Wege der Verdunſtung ver-
ſtopft. Man empfindet davon ein wah-
res Gefühl der Stärkung, und es ſcheint
in einem ſolchen Clima nothwendig zu
ſeyn, um die zu ſchnelle Conſumtion,
durch die äuſſerſt ſtarke Verdunſtung, zu
[298] hindern. Aber auch blos auf ein ſolches
Clima wäre dieſs anwendbar. In un-
ſerm Clima, wo die Luft ſelbſt gröſsten-
theils die Dienſte eines ſolchen Haut-
verſtopfenden Mittels vertritt, haben
wir mehr dafür zu ſorgen, die Ausdün-
ſtung zu befördern, als ſie noch mehr zu
verhindern.
Noch muſs ich ein Wort von einem
ganz neuen Experiment, das Leben zu
verlängern, ſagen, das blos in Vermehrung
des intenſiven Lebens beſteht. Man be-
ſtimmt nehmlich dabey die Länge des
Lebens nicht nach der Zahl der Tage,
ſondern nach der Summe des Gebrauchs
oder Genuſſes, und glaubt, daſs, wenn
man in einer beſtimmten Zeit noch ein-
mal ſo viel gethan oder genoſſen hätte,
man auch noch einmal ſo lange gelebt
habe, als ein andrer in der doppelten
Zeit. So ſehr ich dieſe Methode an ſich
reſpectire, wenn ſie in edler Wirkſam-
keit beſteht, und die Folge eines regen
Thatenreichen Geiſtes iſt, ſo ſehr ich
[299] überzeugt bin, daſs bey der Ungewiſs-
heit unſers Lebens dieſe Idee ungemein
viel einladendes hat; ſo muſs ich doch
bekennen, daſs man dadurch ſeinen
Zweck gewiſs nicht erreicht, und daſs
ich die Rechnung für falſch halte. —
Da dieſe Meynung ſo viel Anhänger ge-
funden hat, ſo wird mirs wohl erlaubt
ſeyn, ſie etwas genauer zu analyſiren,
und meine Gründe dagegen auseinander
zu ſetzen.
Zu allen Operationen der Natur ge-
hört nicht allein Energie, die intenſive
Kraft, ſondern auch Extenſion, Zeit.
Man gebe einer Frucht noch einmal ſo
viel Wärme und Nahrung, als ſie im na-
türlichen Zuſtand hat; ſie wird zwar in
noch einmal ſo kurzer Zeit eine ſchein-
bare Reifung erhalten, aber gewiſs nie
den Grad von Vollendung und Ausarbei-
tung, den die Frucht im natürlichen
Zuſtand, bey halb ſo viel intenſiver
Wirkſamkeit und noch einmal ſo viel
Zeit erlangt hätte.
[300]
Eben ſo das menſchliche Leben.
Wir müſſen es als ein zuſammenhängen-
des Ganzes mehrerer Wirkungen, als ei-
nen groſsen Reifungsprozeſs anſehen,
deſſen Zweck möglichſte Entwicklung
und Vollendung der menſchlichen Natur
an ſich und völlige Ausfüllung ſeines
Standpuncts im Ganzen iſt. Nun iſt
aber Reifung und Vollendung nur das
Product von Zeit und Erfarung, und es
iſt alſo unmöglich, daſs ein Menſch, der
nur 30 Jahr gelebt hat, geſezt er habe
auch in der Zeit doppelt ſo viel gearbei-
tet und gethan, eben die Reifung und
Vollendung erhalten könne, als ein Zeit-
raum von 60 Jahren giebt. — Ferner,
vielleicht war er beſtimmt, 2 bis 3 Ge-
nerationen hindurch ſein Leben nüzlich
zu ſeyn; ſein zu groſser Eifer rafft ihn
ſchon in der erſten weg. Er erfüllt alſo,
weder in Abſicht auf ſich ſelbſt, noch
auf andere, die Beſtimmung und den
Zweck ſeines Lebens vollkommen, un-
terbricht den Lauf ſeiner Tage, und
bleibt immer ein feiner Selbſtmörder.
[301]
Noch ſchlimmer aber ſiehts mit de-
nen aus, die ihre Lebensverlängerung
in Concentrirung der Genüſſe ſuchen.
Sie kommen weit früher dahin, ſich auf-
zureiben, und was das ſchlimmſte iſt,
ſie werden oft dadurch geſtraft, daſs ſie
nun ein blos extenſives Leben ohne alle
Intenſion führen müſſen, d. h. ſie müſ-
ſen ſich ſelbſt, ſich und andern zur Laſt,
überleben, oder vielmehr ſie exiſtiren
länger, als ſie leben.
Die wahre Kunſt, menſchliches Le-
ben zu verlängern, beſteht alſo darinn,
daſs man obige vier Grundſätze (oder,
nach der Sprache der Aerzte, Indicatio-
nen) gehörig verbinde und anwende, ſo
aber, daſs keinem auf Koſten des andern
ein Genüge geſchehe, und daſs man nie
vergeſſe, daſs vom menſchlichen Leben
die Rede iſt, welches nicht blos im Exi-
ſtiren, ſondern auch im Handeln und
Genieſsen und Erfüllung ſeiner Beſtim-
mung beſtehen muſs, wenn es den
[302] Nahmen: menſchliches Leben, verdie-
nen ſoll.
Hier eine kurze Ueberſicht der gan-
zen Methode:
Zuerſt muſs die Summe oder der
Fonds der Lebenskraft ſelbſt gehörig gege-
ben und genährt werden, aber doch nie
bis zu dem Grade, daſs eine zu heftige
Kraftäuſſerung daraus entſtünde, ſon-
dern nur ſo viel, als nöthig iſt, um die
innern und äuſſern Lebensgeſchäfte mit
Leichtigkeit, gehöriger Stärke und
Dauer zu verrichten, und um den Be-
ſtandtheilen und Säften den Grad von
organiſchem Character mitzutheilen, der
ihnen zu ihrer Beſtimmung und zu
Verhütung chemiſcher Verderbniſſe nö-
thig iſt.
Dieſs geſchieht am ſicherſten:
1. Durch geſunde und kräftige Ge-
neration.
[303]
2. Durch reine und geſunde Le-
bensnahrung, oder Zugang von auſſen;
alſo reine atmosphäriſche Luft, und
reine, friſche, gut verdauliche Nah-
rungsmittel und Getränke.
3. Durch einen geſunden und
brauchbaren Zuſtand der Organe, durch
welchen der Lebenszugang von auſſen
uns eigen gemacht werden muſs, wenn
er uns zu Gute kommen ſoll. Dieſe we-
ſentlichen Lebensorgane ſind: Lunge,
Magen, Haut, auf deren Geſunderhal-
tung die Lebensnahrung zunächſt be-
ruht.
4. Durch gleichförmige Verbrei-
tung der Kraft im ganzen Körper; denn
ohne dieſe iſt der Kraftvorrath unnütz,
ja ſogar ſchädlich. Jeder Theil, jedes
Eingeweyde, jeder Punct unſers Kör-
pers, muſs den Antheil von Lebenskraft
erhalten, der ihm zur gehörigen Voll-
ziehung ſeiner Geſchäfte nöthig iſt. Be-
kommt einer zu wenig, ſo entſteht
[304] Schwäche deſſelben; bekommt er zu
viel, ſo ſind die Folgen zu heftigen Be-
wegungen, Reizungen, Congeſtionen
deſſelben, und immer iſt dann wenigſtens
jene Harmonie aufgehoben, die der
Grundpfeiler des geſunden Lebens iſt. —
Dieſe gleichförmige Vertheilung der
Kraft wird bewirkt, vorzüglich durch
gleichförmige Uebung und Gebrauch je-
des Theils, jedes Organs unſers Körpers,
durch körperliche Bewegung, ſchickli-
che gymnaſtiſche Uebungen, laue Bäder
und Reiben des Körpers.
Zweytens muſs den Organen, oder
der Materie des Körpers ein gehöriger
Grad von Feſtigkeit und Abhärtung gege-
ben werden, aber nicht bis zum Grade
der wirklichen Steifigkeit und Härte, die
dem Leben mehr nachtheilig als beför-
derlich ſeyn würde.
Dieſe Abhärtung, von der hier die
Rede iſt, iſt zweyfach: Vermehrte Bin-
dung und Cohäſion der Beſtandtheile,
und
[305] und alſo phyſiſche Feſtigkeit der Faſer,
und dann Abhärtung des Gefühls gegen
nachtheilige und krankmachende Ein-
drücke.
Die gehörige Feſtigkeit und Cohä-
ſionskraft der Faſer (daſſelbe, was die
Aerzte Ton, Spannkraft nennen) wirkt
auf folgende Art zur Verlängerung des
Lebens:
Einmal, indem dadurch die Bin-
dung unſrer Beſtandtheile vermehrt
wird, können ſie durch den Lebenspro-
zeſs ſelbſt nicht ſo ſchnell aufgerieben,
zerſezt und getrennt werden, folglich
geſchieht der Wechſel der Beſtandtheile
nicht ſo rapide, ihr Erſatz braucht nicht
ſo oft zu erfolgen, und das ganze inten-
ſive Leben iſt langſamer, welches immer
ein Gewinn für die Extenſion und Dauer
deſſelben iſt. — Zur beſſern Erläuterung
will ich nur an das Leben des Kindes
und des Mannes erinnern. Bey jenem
iſt die phyſiſche Cohäſionskraft, die Fe-
U
[306] ſtigkeit der Faſer, weit geringer, die
Bindung der Beſtandtheile alſo ſchwä-
cher und lockrer, es reibt ſich daher
weit ſchneller auf, der Wechſel ſeiner
Beſtandtheile iſt weit rapider, es muſs
weit öfter und weit mehr eſſen, weit
öfter und mehr ſchlafen, um das Ver-
lohrne zu erſetzen, der ganze Blutum-
lauf geſchieht weit geſchwinder, genug,
das intenſive Leben, die Selbſtconſum-
tion iſt ſtärker, als bey dem Manne, der
feſtere Faſern hat.
Ferner, indem dadurch die wahre
Stärke der Organe erſt bewirkt wird.
Lebenskraft allein giebt noch keine
Stärke. Es muſs erſt ein gehöriger Grad
der einfachen Cohäſionskraft ſich mit
der Lebenskraft verbinden, wenn das
entſtehen ſoll, was wir Stärke des Or-
gans und ſo auch des Ganzen nennen. —
Auch dieſs erhellet am deutlichſten aus
dem Vergleich des Kindes mit dem Man-
ne. Das Kind iſt weit reicher an Le-
benskraft, Reizfähigkeit, Bildungstrieb,
[307] Reproductionskraft, als der Mann, und
dennoch hat dieſer lebensreiche Körper
weniger Stärke, als der des Mannes, blos
weil die Cohäſion der Faſern beym Kinde
noch ſchwach und locker iſt.
Endlich, indem die zu groſse, kränk-
liche oder unregelmäſsige Reizbarkeit,
Empfindlichkeit und ganze Erregbarkeit
der Faſer, durch eine gehörige Beymi-
ſchung der Cohäſionskraft, regulirt, ge-
mäſsigt und in gehörigen Schranken und
Richtungen erhalten wird; wodurch
alſo die zu ſtarke Reizung und Kraftcon-
ſumtion beym Leben ſelbſt gemindert,
folglich die Extenſion und Dauer des
Lebens vermehrt, auch zugleich der Vor-
theil erreicht wird, daſs äuſſere und
nachtheilige Reize weniger ſchnell und
heftig wirken.
Auch ſcheint durch eine ſtärkere
Cohäſion ſelbſt die Capacität der Materie
für Lebenskraft erhöht, wenigſtens eine
U 2
[308] feſtere Bindung der Lebenskraft mit der
Materie bewirkt zu werden.
Die Mittel, wodurch dieſe ver-
mehrte Feſtigkeit und Cohäſion der Fa-
ſer bewirkt wird, ſind:
1. Uebung und Gebrauch der Mus-
kelkraft und Faſer, ſowohl der willkühr-
lichen, durch freywillige Muskularbe-
wegung, als auch der unwillkührlichen,
z. E. der des Magens und Darmkanals,
durch angemeſsne Reize z. E. etwas feſte
und harte Speiſen, der Blutgefäſse,
durch etwas ſtimulirende Nahrungsmit-
tel. Bey jeder Bewegung einer Faſer
geſchieht Zuſammenziehung derſelben,
d. h. die Beſtandtheile nähern ſich einan-
der, und geſchieht dieſs öfter, ſo wird
dadurch ihre Cohäſion oder Ton ſelbſt
vermehrt. Nur muſs man ſich gar ſehr
hüten, den Reiz nicht zu ſtark werden
zu laſſen, weil er ſonſt die Conſumtion
zu ſehr vermehren und dadurch ſchaden
würde.
[309]
2. Der Genuſs gelatinöſer, binden-
der, eiſenhaltiger Nahrungsmittel, wel-
che dieſe Kraft vermehren, und die Ver-
meidung zu vieler wäſsrigter Subſtanzen,
die ſie mindern.
3. Mäſsige Beförderung der Aus-
dünſtung, durch Reiben, Bewegung
u. d. gl.
4. Kühle Temperatur der Luft und
des ganzen Verhaltens. Ein Haupt-
punct! Ohnerachtet Kälte kein poſitives
Stärkungsmittel der Lebenskraft iſt, ſo
vermehrt und ſtärkt ſie doch die todte
Cohäſions- oder Spannkraft, und ver-
meidet ſelbſt die zu ſtarke Aeuſſerung
und Erſchöpfung der lebendigen Kraft,
und kann auf ſolche Weiſe ein groſses
negatives Stärkungsmittel der Lebens-
kraft ſelbſt werden. Wärme hingegen
ſchwächt, theils durch Erſchlaffung der
Cohäſion, theils durch Erſchöpfung der
Lebenskraft.
[310]
Doch wiederhole ich bey allen die-
ſen Mitteln, Kälte, feſter ſubſtantieller
Nahrung, Bewegung u. ſ. w. daſs man
ſie nie zu weit treiben darf, damit nicht
ſtatt der gehörigen Feſtigkeit eine zu
groſse Steifigkeit und Rigidität der Faſer
entſtehe.
Die Abhärtung des Gefühls gegen
Krankheitsurſachen wird am beſten da-
durch bewirkt, wenn man ſich an man-
cherley ſolche Eindrücke und ſchnelle
Abwechſelungen gewöhnt.
Das dritte iſt: Man vermindere oder
mäſsige die Lebensconſumtion, damit keine
zu ſchnelle Aufreibung der Kräfte und Or-
gane erfolge.
Die ganze Lebensoperation (wie
ſchon oben gezeigt worden) iſt Hand-
lung, Aeuſſerung der Lebenskraft, und
folglich unvermeidlich mit Conſumtion
und Erſchöpfung dieſer Kraft verbun-
den. Dieſs iſt nicht blos der Fall bey
[311] den willkührlichen, ſondern auch un-
willkührlichen Verrichtungen, nicht
blos bey den äuſſern, ſondern auch bey
den innern Lebensgeſchäften, denn ſie
werden auch durch beſtändigen Reiz
und Reaction unterhalten. Beyde alſo
dürfen nicht übermäſsig angeſtrengt
werden, wenn wir unſre Conſumtion
verzögern wollen.
Ich rechne dahin vorzüglich folgen-
de Reizungen und Kraftäuſſerungen:
1. Anſtrengung des Herzens- und
Blutſyſtems und zu anhaltende Beſchleu-
nigung der Circulation, z. E. durch zu
reizende hitzige Nahrungsmittel, Affe-
cten, fieberhafte Krankheiten. Starke
Wein- und Brantweintrinker, leiden-
ſchaftliche Menſchen, haben beſtändig
einen gereizten ſchnellen Puls, und er-
halten ſich in einem beſtändigen künſt-
lichen Fieber, wodurch ſie ſich eben ſo
gut abzehren und aufreiben, als wenn
es ein wirkliches Fieber wäre.
[312]
2. Zu ſtarke oder anhaltende An-
ſtrengung der Denkkraft (was darunter
zu verſtehen ſey, wird in der Folge
deutlicher werden,) wodurch nicht al-
lein Lebenskraft erſchöpft, ſondern ſie
auch zugleich dem Magen und Verdau-
ungsſyſtem entzogen, folglich auch zu-
gleich das wichtigſte Reſtaurationsmittel
verdorben wird.
3. Zu häufige und zu ſtarke Rei-
zung und Befriedigung des Geſchlechts-
triebs. Es wirkt faſt eben ſo und gleich-
verderblich auf Beſchleunigung der Le-
bensconſumtion, als die Anſtrengungen
der Denkkraft.
4. Zu heftige und anhaltend fortge-
ſezte Muskularbewegung. Doch gehört
dazu ſchon äuſſerſter Exceſs, wenn ſie
ſchaden ſoll.
5. Alle ſtarke, oder anhaltend dau-
ernde Excretionen, z. E. Schweiſse,
Diarrhöen, Katharrhe, Huſten, Blut-
[313] flüſſe u. d. gl. Sie erſchöpfen nicht
nur die Kraft, ſondern auch die Materie,
und deterioriren dieſelbe.
6. Alle zu heftig oder zu anhaltend
auf uns wirkende Reize, wodurch im-
mer auch Kraft erſchöpft wird. Je reiz-
voller das Leben, deſto ſchneller ver-
ſtrömt es. Dahin gehören zu ſtarke
oder zu anhaltende Reizungen der Sin-
neswerkzeuge und Gefühlsorgane, Af-
fecten, Uebermaas in Wein, Brant-
wein, Gewürzen, haut-gout. Selbſt
öftre Ueberladungen des Magens gehö-
ren hieher, um ſo mehr, da ſie gewöhn-
lich auch noch die Nothwendigkeit er-
regen, Abführungs- oder Brechmittel
zu nehmen, welches auch als Schwä-
chung nachtheilig iſt.
7. Krankheiten mit ſehr vermehr-
ter Reizung, beſonders fieberhafte.
8. Wärme, wenn ſie zu ſtark und
zu anhaltend auf uns wirkt; daher zu
[314] warmes Verhalten von Jugend auf eins
der gröſsten Beſchleunigungsmittel der
Conſumtion und Verkürzungsmittel des
Lebens iſt.
9. Endlich gehört ſelbſt ein zu ho-
her Grad von Reizfähigkeit (Irritabilität
und Senſibilität) der Faſer unter dieſe
Rubrik. Je gröſser dieſe iſt, deſto leich-
ter kann jeder, auch der kleinſte, Reiz,
eine heftige Reizung, Kraftäuſſerung
und folglich Krafterſchöpfung erregen.
Ein Menſch, der dieſe fehlerhafte Ei-
genſchaft hat, empfindet eine Menge
Eindrücke, die auf gewöhnliche Men-
ſchen gar keine Wirkung haben, und
wird von allen, auch den gewöhnlich-
ſten, Lebensreizen, doppelt afficirt; ſein
Leben iſt alſo intenſiv unendlich ſtärker,
aber die Lebensconſumtion muſs auch
doppelt ſo ſchnell geſchehen. Alles
folglich, was die Reizfähigkeit ſowohl
moraliſch als phyſiſch zu ſehr erhöhen
kann, gehört zu den Beſchleunigungs-
mitteln der Conſumtion.
[315]
Viertens, die Reſtauration der ver-
lohrnen Kräfte und Materien muſs leicht
und gut geſchehen.
Dazu gehört:
1. Geſundheit, Gangbarkeit und
Thätigkeit der Organe, durch welche die
neuen reſtaurirenden Theile in uns ein-
gehen ſollen; ſie iſt zum Theil unauf-
hörlich und permanent, wie durch die
Lungen, zum Theil periodiſch, wie
durch den Magen. Es gehören hieher,
die Lungen, die Haut, und der Magen
und Darmkanal. Dieſe Organe müſſen
durchaus geſund, gangbar und thätig
ſeyn, wenn eine gute Reſtauration ge-
ſchehen ſoll, und ſind daher für Ver-
längerung des Lebens höchſt wichtig.
2. Geſundheit, Thätigkeit und
Gangbarkeit der unzähligen Gefäſse,
durch welche die in uns aufgenommenen
Beſtandtheile uns aſſimilirt, verähnlicht,
vervollkommnet und veredlet werden
[316] müſſen. Dieſs iſt zuerſt und vorzüglich
das Geſchäft des abſorbirenden (lympha-
tiſchen) Syſtems, und ſeiner unzähligen
Drüſen, und denn auch des Blut- oder
Circulationsſyſtems, wo die organiſche
Veredlung vollendet wird. Ich halte
daher das abſorbirende Syſtem für eins
der Hauptorgane der Reſtauration. —
Hierauf muſs vorzüglich in der Kindheit
geſehen werden, denn die erſte Nah-
rung in der zarteſten Kindheit, die Be-
handlung in dem erſten Jahre des Le-
bens, beſtimmen am meiſten den Zuſtand
dieſes Syſtems, und gar häufig wird die-
ſer gleich im Anfange durch unkräftige,
verdorbene, kleiſterige Nahrung und
Unreinlichkeit verdorben, und dadurch
eine der weſentlichſten Grundlagen des
kürzern Lebens gelegt.
3. Geſunder Zuſtand der Nahrungs-
mittel und Materien, aus denen wir uns
reſtauriren. Speiſen und Getränke müſ-
ſen rein (frey von verdorbenen Theilen),
mit gehörigem Nahrungsprinzip verſe-
[317] hen, gehörig reizend, (denn auch ihr
Reiz iſt zur gehörigen Verdauung und
ganzen Lebensoperation nöthig), aber
auch mit einem gehörigen Antheil von
Waſſer oder Flüſſigen verbunden ſeyn.
Dieſs leztre iſt beſonders ein wichtiger
und oft überſehener Umſtand. Waſſer,
wenn es auch nicht ſelbſt Nahrung iſt,
(obgleich auch dieſs durch das Beyſpiel
von Fiſchen, Würmern u. ſ. w., die man
lange Zeit durch bloſses Waſſer nährte,
ſehr wahrſcheinlich wird), iſt wenig-
ſtens zum Geſchäft der Reſtauration und
Ernährung unentbehrlich, einmal, weil
es das Vehikel für die eigentliche Nah-
rungsſtoffe ſeyn muſs, wenn ſie aus dem
Darmkanal in alle Puncte des Körpers
gehörig vertheilt werden ſollen, und
dann, weil eben dieſes Vehikel auch zur
gehörigen Abſonderung und Ausleerung
des Verdorbenen, folglich zur Reini-
gung des Körpers, ganz unentbehr-
lich iſt.
[318]
4. Geſunder und ſchicklicher Zu-
ſtand der Luft, in der und von der wir
leben. Die Luft iſt unſer eigentliches
Element, und auf doppelte Art ein
höchſtwichtiges Reſtaurationsmittel des
Lebens: erſtens, indem ſie uns unauf-
hörlich zwey der geiſtigſten und unent-
behrlichſten Lebensbeſtandtheile (Sauer-
ſtoff und Wärmeſtoff) mittheilt, und
dann, indem ſie das wichtigſte Vehikel iſt,
uns die verdorbenen Beſtandtheile zu
entziehen und in ſich aufzunehmen.
Sie iſt das vorzüglichſte Medium für die-
ſen beſtändigen Umtauſch der feinern
Beſtandtheile. Der bey weitem beträcht-
lichſte und wichtigſte Theil unſrer Ab-
ſonderungen und Ausleerungen iſt gas-
förmig d. h. die Materie muſs in Dunſt
verwandelt werden, um ausgeſtoſſen zu
werden. Dahin gehören alle Abſonde-
rungen unſrer äuſſern Oberfläche, der
Haut und der Lungen. Dieſe Verdün-
ſtung hängt nun nicht blos von der Kraft
und Gangbarkeit der aushauchenden Ge-
fäſse, ſondern auch von der Beſchaffen-
[319] heit der Luft ab, die ſie aufnimmt. Je
mehr dieſe ſchon mit Beſtandtheilen
überladen iſt, deſto weniger kann ſie
neue Stoffe aufnehmen, (daher hemmt
feuchte Luft die Ausdünſtung). Hier-
aus ergiebt ſich folgende Beſtimmung:
Die Luft, in der wir leben, muſs einen
hinlänglichen Antheil Sauerſtoffgas (Le-
bensluft) enthalten, doch nicht zu viel,
weil ſie ſonſt zu ſtark reizen und die Le-
bensconſumtion beſchleunigen würde,
und ſie muſs ſo wenig wie möglich
fremde Beſtandtheile in ſich aufgelöſet
enthalten, alſo nicht feucht, nicht durch
erdigte, vegetabiliſche oder animaliſche
Stoffe verunreinigt ſeyn; *) ihre Tem-
peratur darf nicht zu warm und nicht
[320] zu kalt ſeyn, (denn erſteres erſchöpft die
Kraft und erſchlafft, leztres macht die
Faſer zu ſteif und rigide), und ſie muſs
weder in der Temperatur, noch in der
Miſchung, noch in dem Druck, zu
ſchnellen Abwechſelungen unterworfen
ſeyn, denn es iſt eins der durch Erfa-
rung am meiſten beſtätigten Geſetze,
daſs Gleichförmigkeit der Luft und des
Clima die Länge des Lebens ungemein
begünſtigt.
5. Freye Wege und wirkſame Orga-
ne für die Abſonderungen und Auslee-
rungen der verdorbenen Beſtandtheile.
Unſer Leben beſteht im beſtändigen
Wechſel der Beſtandtheile. Werden die
abgenuzten und unbrauchbaren nicht
immer abgeſondert und ausgeſtoſsen, ſo
iſt es unmöglich, daſs wir die neuen
und friſchen in der gehörigen Menge
uns
*)
[321] uns zueignen, und, was noch übler iſt,
der neue Erſatz verliert durch die Bey-
miſchung der zurückgehaltenen und
verdorbenen ſeine Reinheit, und erhält
ſelbſt wieder den Character der Verdor-
benheit. (Daher die ſogenannte Schärfe,
Verſchleimung, Unreinigkeit, Verderb-
niſs der Säfte, oder vielmehr der ganzen
Materie). Die Reſtauration wird alſo
durch ſchlechte Abſonderungen auf dop-
pelte Art gehindert, theils in der Quan-
tität, theils in der Qualität. Die Or-
gane, auf denen dieſe Abſonderung und
Reinigung des Körpers hauptſächlich
beruht, ſind: die Haut, das wichtigſte
(denn man hat berechnet, daſs zwey
Drittheil der abgenuzten Beſtandtheile
durch die unmerkliche Hautausdünſtung
verfliegen), die Nieren, der Darmkanal,
die Lungen.
6. Angenehme und mäſsig genoſsne
Sinnesreize. Es gehört, wie oben ge-
zeigt, zu den Vorzügen der menſchli-
chen Organiſation und ſeiner höhern
X
[322] auch phyſiſchen Vollkommenheit, daſs
er für geiſtigere Eindrücke und deren
Veredlung empfänglich iſt, und daſs
dieſe einen ungleich gröſsern Einfluſs
auf den phyſiſchen Lebenszuſtand ha-
ben, als bey den Thieren. Es eröfnet
ſich ihm dadurch eine neue Reſtaura-
tionsquelle, die dem Thiere fehlt, die
Genüſſe und Reize angenehmer und
nicht zu weit getriebner Sinnlichkeit.
7. Angenehme Seelenſtimmung, fro-
he und mäſsige Affecten, neue, unter-
haltende, groſse Ideen, ihre Schöpfung,
Darſtellung und ihr Umtauſch. Auch die-
ſe höhern, dem Menſchen ausſchlieſslich
eignen, Freuden, gehören zur obigen
Rubrik der Lebensverlängerungsmittel.
Hofnung, Liebe, Freude, ſind daher
ſo beglückende Affecten, und kein ge-
wiſſeres und allgemeineres Erhaltungs-
mittel des Lebens und der Geſundheit
giebt es wohl, als Heiterkeit, Frohſinn
des Gemüths. Dieſe Seelenſtimmung
erhält die Lebenskraft in gehöriger
[323] gleichförmiger Regbarkeit, befördert
Digeſtion und Circulation, und vorzüg-
lich das Geſchäft der unmerklichen Haut-
ausdünſtung wird durch nichts ſo
ſchön unterhalten. Glücklich ſind da-
her die Menſchen auch phyſiſch, denen
der Himmel das Talent einer immer zu-
friedenen und heitern Seele verliehen
hat, oder die ſich durch Geiſteskultur
und moraliſche Bildung dieſelbe ver-
ſchafft haben! Sie haben den ſchönſten
und reinſten Lebensbalſam in ſich
ſelbſt!
Dieſe vorgetragenen Sätze enthalten
den allgemeinen Plan und die Grundre-
geln einer jeden vernünftigen Lebens-
verlängerung. Doch gilt auch hiervon,
was von jeder diätetiſchen und medizi-
niſchen Regel gilt, daſs ſie bey der An-
wendung ſelbſt Rückſicht auf den ſpe-
ciellen Fall verlangen, und dadurch ihre
genauere Beſtimmung und Modification
erhalten müſſen.
X 2
[324]
Vorzüglich ſinds folgende Umſtän-
de, die bey der Anwendung in Betracht
zu ziehen ſind.
Die verſchiedne Conſtitution des Sub-
jects in Abſicht auf die einfachen Be-
ſtandtheile und Faſern. Je trockner,
feſter und rigider von Natur der körper-
liche Zuſtand iſt, deſto weniger brau-
chen die Mittel der zweyten Indication
(einer ſchicklichen Abhärtung) angewen-
det zu werden; je mehr von Natur
Schlaffheit das Eigenthum der Faſer iſt,
deſto mehr.
Ferner, das verſchiedene angebor-
ne Temperament (worunter ich immer
den verſchiedenen Grad der Reizfähig-
keit und ihr Verhältniſs zur Seelenkraft
verſtehe). Je mehr das Subject zum
phlegmatiſchen Temperament gehört, de-
ſto mehr, deſto ſtärkere Reize ſind an-
wendbar. Ein Grad von Reizung, der
bey einem ſanguiniſchen Aufreibung und
Erſchöpfung bewirken würde, iſt hier
[325] wohlthätig, nothwendig zum gehörigen
Grade der Lebensoperation, ein Mittel
der Reſtauration. Eben ſo das melan-
choliſche Temperament: es verlangt auch
mehr Reiz, aber angenehmern, abwech-
ſelndern und nicht zu heftigen. Je mehr
aber das ſanguiniſche Temperament
herrſcht, deſto vorſichtiger und mäſsi-
ger müſſen alle, ſowohl phyſiſche als
moraliſche, Reize angewendet werden,
und noch mehr erfodert das choleriſche
Temperament hierinne Aufmerkſamkeit,
wo oft ſchon der kleinſte Reiz die hef-
tigſte Kraftanſtrengung und Erſchöpfung
hervorbringen kann.
Ferner die Perioden des Lebens. Das
Kind, der junge Menſch hat ungleich
mehr Lebenskraft, Reizfähigkeit, locke-
rere Bindung, ſchnellern Wechſel der
Beſtandtheile. Hier muſs weit weniger
Reiz gegeben werden, weil ſchon ein
geringer Reiz ſtarke Reaction erregt;
hier iſt verhältniſsmäſsig mehr auf Re-
ſtauration und Abhärtung zu ſehen. Im
Alter hingegen iſt alles, was Reiz heiſst,
[326] im ſtärkern Grade anwendbar. Hier iſt
das Reſtauration, was in der Kindheit
Conſumtion geweſen ſeyn würde.
Milch iſt Wein für Kinder; Wein iſt
Milch für Alte. Auch erfodert das Alter,
wegen der damit verbundenen gröſsern
Rigidität, nicht Vermehrung derſelben,
durch die zweyte Indication, ſondern
eher Verminderung durch erweichen-
de, anfeuchtende Dinge: Fleiſchbrü-
hen, kräftige Suppen, laue Bäder.
Endlich macht auch das Clima eini-
gen Unterſchied. Je ſüdlicher es iſt,
deſto gröſser iſt die Reizfähigkeit, deſto
ſtärker die beſtändige Reizung, deſto
rapider der Lebensſtrom, und deſto
kürzer die Dauer. Hier iſt folglich gar
ſehr darauf zu ſehen, daſs durch zu ſtar-
ke Reize dieſe Krafterſchöpfung nicht
noch mehr beſchleunigt werde. Im
nördlichen Clima hingegen, wo die küh-
lere Temperatur an ſich ſchon die Kraft
mehr concentrirt und zuſammenhält, iſt
dieſs weniger zu fürchten.
[[327]]
II.
Practiſcher Theil.
[[328]][[329]]
Ich komme nun zu dem wichtigſten
Theil der Abhandlung, der practiſchen
Kunſt, das Leben zu verlängern. Nun
erſt kann ich Ihnen mit Grund und mit
Ueberzeugung diejenigen Mittel bekannt
machen, wodurch allein, aber auch ge-
wiſs, Verlängerung des Lebens möglich
iſt. — Sind ſie gleich nicht ſo ſpeciös,
prahleriſch und geheimniſsvoll, als die
gewöhnlich ſo genannten, ſo haben ſie
doch den Vorzug, daſs ſie überall
und ohne Koſten zu haben ſind, ja zum
Theil ſchon in uns ſelbſt liegen, daſs ſie
mit Vernunft und Erfarung vollkom-
men übereinſtimmen, und nicht blos
Länge, ſondern auch Brauchbarkeit des
[330] Lebens erhalten. Genug, ſie verdienen,
nach meiner Meynung, den Nahmen
Univerſalmittel mehr, als alle jene Char-
latanerieen.
Wir ſind beſtändig von Freunden
und Feinden des Lebens umgeben. Wer
es mit den Freunden des Lebens hält,
wird alt; wer hingegen die Feinde vor-
zieht, verkürzt ſein Leben. Nun wäre
zwar wohl von jedem vernünftigen
Menſchen zu erwarten, daſs er die er-
ſtern vorziehen und die leztern von ſich
ſelbſt ſchon vermeiden würde, aber das
ſchlimmſte iſt, daſs dieſe Lebensfeinde
nicht alle öffentlich und bekannt ſind,
ſondern zum Theil ganz ins Geheim und
unmerklich ihr Weſen treiben, daſs ei-
nige derſelben ſogar die Maske der be-
ſten Lebensfreunde vornehmen und
ſchwehr zu erkennen ſind, ja daſs meh-
rere ſogar in uns ſelbſt liegen.
Das Hauptſächliche der Kunſt, lange
zu leben, wird alſo vor allen Dingen
[331] darinne beſtehen, daſs wir Freunde und
Feinde in dieſer Abſicht gehörig unter-
ſcheiden und leztere vermeiden lernen;
oder mit andern Worten, die Kunſt der
Lebensverlängerung zerfällt in 2 Theile:
- 1. Vermeidung der Feinde und Ver-
kürzungsmittel des Lebens. - 2. Kenntniſs und Gebrauch der Ver-
längerungsmittel.
[332]
I. Abſchnitt.
Verkürzungsmittel des
Lebens.
Nach den obenbeſtimmten und einzi-
gen Prinzipien, worauf Lebensdauer
beruht, wird es uns nicht ſchwer ſeyn,
hier im Allgemeinen zu beſtimmen, auf
wie vielerley Art das Leben verkürzt
werden kann.
[333]
Alles das muſs es nehmlich verkür-
zen, was
- 1. Entweder die Summe der Lebens-
kraft an ſich vermindert. - 2. Oder was den Organen des Le-
bens ihre Dauer und Brauchbarkeit
nimmt. - 3. Oder was die Lebensconſumtion
unſrer ſelbſt beſchleunigt. - 4. Oder was die Reſtauration hindert.
Alle Lebensverkürzenden Mittel laſ-
ſen ſich unter dieſe vier Klaſſen bringen,
und wir haben nun auch einen Maasſtab,
ihren mehr oder weniger nachtheiligen
Einfluſs zu beurtheilen und zu ſchätzen.
Je mehr nehmlich von dieſen vier Ei-
genſchaften ſich in einer Sache vereini-
gen, deſto gefährlicher und feindſeliger
iſt ſie für unſre Lebensdauer, je weni-
ger, deſto weniger iſt ſie gefährlich. —
[334] Ja, es giebt gemiſchte Weſen, welche
gleichſam zwey Seiten, eine freund-
ſchaftliche und eine feindliche, haben,
die z. B. eine von den genannten Eigen-
ſchaften beſitzen, aber zugleich über-
wiegend gute und wohlthätige. Dieſe
könnten eine eigne Claſſe formieren. —
Aber, wir wollen ſie hier, nach ihrer
überwiegenden Qualität, entweder zu
den freundſchaftlichen oder den feind-
ſeligen Weſen rechnen.
Noch ein wichtiger Unterſchied
exiſtirt unter den Lebensverkürzungs-
mitteln. Einige wirken langſam, ſuc-
ceſſive, oft ſehr unvermerkt. Andere
hingegen gewaltſam und ſchnell, und
man könnte ſie eher Unterbrechungsmittel
des Lebens nennen. Dahin gehören ge-
wiſſe Krankheiten, und die eigentlich
ſo genannten gewaltſamen Todesarten.
Gewöhnlich fürchtet man die leztern
weit mehr, weil ſie mehr in die Augen
fallend und ſchreckhafter wirken; aber
ich verſichere, daſs ſie im Grunde weit
[335] weniger gefährlich ſind, als jene ſchlei-
chenden Feinde, denn ſie ſind ſo offen-
bar, daſs man ſich weit eher vor ihnen
in Acht nehmen kann, als vor den lez-
tern, welche ihr deſtruirendes Geſchäft
im Verborgenen treiben, und uns alle
Tage etwas von unſerm Leben ſtehlen,
wovon wir gar nichts merken, aber deſ-
ſen Summe ſich am Ende ſchrecklich
hoch belaufen kann.
Auch muſs ich hier im voraus die
traurige Bemerkung machen, daſs ſich
leider unſre Lebensfeinde in neuern Zei-
ten fürchterlich vermehrt haben, und
daſs der Grad von Luxus, Cultur, Ver-
feinerung und Unnatur, worinne wir
jezt leben, der unſer intenſives Leben ſo
beträchtlich exaltirt, auch die Dauer
dellelben in eben dem Verhältniſs ver-
kürzt. — Wir werden bey genauer Un-
terſuchung finden, daſs man es gleich-
ſam darauf angelegt und raſſinirt zu
haben ſcheint, ſich gegenſeitig, heim-
lich und unvermerkt, und oft auf die
[336] artigſte Weiſe von der Welt, das Leben
zu nehmen. — Es gehört eben deswe-
gen jezt ungleich mehr Vorſicht und
Aufmerkſamkeit dazu, ſich dafür in Si-
cherheit zu ſtellen.
I. Die
[337]
I.
Die ſchwächliche Erziehung.
Kein gewiſſeres Mittel giebts, den Le-
bensfaden eines Geſchöpfs gleich vom
Anfang an recht kurz und vergänglich
anzulegen, als wenn man ihm in den
erſten Lebensjahren, die noch als eine
fortdauernde Generation und Entwick-
lung anzuſehen ſind, eine recht warme,
zärtliche und weichliche Erziehung
giebt, d. h. es vor jedem rauhen Lüft-
chen bewahrt, es wenigſtens ein Jahr
lang in Federn und Wärmflaſchen be-
gräbt, und einem Küchlein gleich, in ei-
nem wahren Brütezuſtand erhält, auch
Y
[338] dabey nichts verſäumt, es übermäſsig
mit Nahrungsmitteln auszuſtopfen und
durch Kaffee, Chocolade, Wein, Ge-
würze und ähnliche Dinge, die für ein
Kind nichts anders als Gift ſind, über-
mäſsig zu reizen, ſeine ganze Lebens-
thätigkeit zu ſtark zu reizen. Dadurch
wird nun die innere Conſumtion gleich
von Anfang an ſo beſchleunigt, das in-
tenſive Leben ſo frühzeitig exaltirt, die
Organe ſo ſchwach, zart und empfind-
lich gemacht, daſs man mit voller Ge-
wiſsheit behaupten kann: durch eine
zweyjährige Behandlung von dieſer Art
kann eine angeborne Lebensfähigkeit
von 60 Jahren, recht gut auf die Hälfte,
ja, wie die Erfarung leider zur Gnüge
zeigt, auf noch viel weniger herunter
gebracht werden, die übeln Zufälle und
Krankheiten nicht gerechnet, die noch
auſſerdem dadurch hervorgebracht wer-
den. Durch nichts wird die zu frühe
Entwicklung unſrer Organe und Kräfte
ſo ſehr beſchleunigt, als durch eine ſol-
che Treibhauserziehung, und wir haben
[339] oben geſehen, welches genaue Verhält-
niſs zwiſchen der ſchnellern oder lang-
ſamern Entwicklung und der längern
oder kürzern Dauer des ganzen Lebens
exiſtirt. Schnelle Reifung zieht immer
auch ſchnelle Deſtruction nach ſich. *)
Gewiſs hierinn liegt ein Hauptgrund der
ſo entſezlichen Sterblichkeit der Kinder.
Aber die Menſchen fallen nie auf die
ihnen am nächſten liegenden Urſachen,
und nehmen lieber die allerungereimte-
ſten an, um ſich nur dabey zu beruhigen
und nichts zu thun zu haben.
Y 2
[340]
II.
Ausſchweifungen in der Liebe — Ver-
ſchwendung der Zeugungskraft — Ona-
nie, ſowohl phyſiſche als
moraliſche.
Von allen Lebensverkürzungsmitteln
kenne ich keins, was ſo zerſtöhrend
wirkte, und ſo vollkommen alle Eigen-
ſchaften der Lebensverkürzung in ſich
vereinigte, als dieſes. Kein andres be-
greift ſo vollkommen alle vier Requiſi-
ten der Lebensverkürzung, die wir oben
feſtgeſezt haben, in ſich als dieſes, und
man kann dieſe traurige Ausſchweifung,
als den concentrirteſten Prozeſs der Le-
[341] bensverkürzung betrachten. — Ich will
dieſs ſogleich beweiſen:
Die erſte Verkürzungsart war: Ver-
minderung der Lebenskraft ſelbſt. Was
kann aber wohl mehr die Summe der
Lebenskraft in uns vermindern, als die
Verſchwendung desjenigen Saftes, der
dieſelbe in der concentrirteſten Geſtalt
enthält, der den erſten Lebensfunken
für ein neues Geſchöpf, und den gröſs-
ten Balſam für unſer eignes Blut in ſich
faſst?
Die zweyte Art von Verkürzung be-
ſteht in Verminderung der nöthigen Fe-
ſtigkeit und Elaſticität der Faſern und
Organe. Es iſt bekannt, daſs nichts ſo
ſehr ſie ſchlaff, mürbe und vergänglich
machen kann, als eben dieſe Ausſchwei-
fung.
Das dritte, die ſchnellere Conſum-
tion des Lebens, kann wohl durch nichts
ſo ſehr befördert werden, als durch eine
[342] Handlung, welche, wie wir aus den
Beyſpielen der ganzen Natur ſehen, der
höchſte Grad von Lebensactivität, von
intenſivem Leben iſt, und welche, wie
oben gezeigt worden, bey manchen Ge-
ſchöpfen ſogleich der Beſchluſs ihres
ganzen Lebens iſt.
Und endlich die gehörige Reſtaura-
tion wird eben dadurch auſſerordentlich
gehindert, weil theils dadurch die nö-
thige Ruhe, und das Gleichgewicht, das
zur Wiedererſetzung des Verlohrnen ge-
hört, gehindert, und den Organen die
dazu nöthige Kraft geraubt wird; beſon-
ders aber, weil dieſe Debauchen eine
ganz eigenthümliche ſchwächende Wir-
kung auf den Magen und die Lungen
haben, und alſo eben die Hauptquellen
unſrer Reſtauration dadurch ganz ſpezi-
fiſch austrocknen.
Hierzu kommt nun noch die Gefahr,
eins der ſchrecklichſten Gifte, das vene-
riſche, bey dieſer Gelegenheit einzuſau-
[343] gen, wovor niemand ſicher iſt, der auſ-
ſer der Ehe Umgang mit dem weiblichen
Geſchlecht hat. — Eine Vergiftung, die
uns nicht nur das Leben verkürzen, ſon-
dern es auch peinlich, unglücklich und
verabſcheuungswerth machen kann, wo-
von ich hernach bey den Giften mehr
ſagen werde.
Endlich müſſen wir noch viele Ne-
bennachtheile bedenken, die mit dieſen
Ausſchweifungen verbunden ſind, und
unter welche vorzüglich die Schwächung
der Denkkraft gehört. Es ſcheint, daſs
dieſe beyden Organe, die Seelenorgane
(Gehirn) und Zeugungsorgane, ſo wie
die beyden Verrichtungen, des Denkens
und der Zeugung (das eine iſt geiſtige,
das andre phyſiſche Schöpfung) ſehr ge-
nau mit einander verbunden ſind, und
beyde den veredeltſten und ſublimirte-
ſten Theil der Lebenskraft verbrauchen.
Wir finden daher, daſs beyde mit einan-
der alterniren, und einander gegenſeitig
ableiten. Je mehr wir die Denkkraft an-
[344] ſtrengen, deſto weniger lebt unſre Zeu-
gungskraft; je mehr wir die Zeugungs-
kräfte reizen und ihre Säfte verſchwen-
den, deſto mehr verliert die Seele an
Denkkraft, Energie, Scharfſinn, Ge-
dächtniſs. Nichts in der Welt kann ſo
ſehr und ſo unwiderbringlich die ſchön-
ſten Geiſtesgaben abſtümpfen, als dieſe
Ausſchweifung.
Man kann hier vielleicht fragen:
was heiſst zu viel in dem Genuſs der
phyſiſchen Liebe? Ich antworte, wenn
man ſie zu frühzeitig (ehe man noch
ſelbſt völlig ausgebildet iſt, beym weib-
lichen vor dem 18ten, beym männli-
chen vor dem 20ſten Jahre) genieſst,
wenn man dieſen Genuſs zu oft und zu
ſtark wiederhohlet (welches man daraus
erkennen kann, wenn nachher Müdig-
keit, Verdroſſenheit, ſchlechter Appe-
tit, erfolgt), wenn man durch öftern
Wechſel der Gegenſtände, oder gar
durch künſtliche Reize von Gewürzen,
hitzigen Getränken u. d. gl. immer neue
[345] Reizung erregt und die Kräfte über-
ſpannt, wenn man nach ſtarken Ermü-
dungen des Körpers, oder in der Ver-
dauung dieſe Kraftanſtrengung macht,
und um alles mit einem Worte zu um-
faſſen, wenn man die phyſiſche Liebe
auſſer der Ehe genieſst, denn nur durch
eheliche Verbindung (die den Reiz des
Wechſels ausſchlieſst und den phyſi-
ſchen Trieb höhern moraliſchen Zwe-
cken unterwirft) kann dieſer Trieb auch
phyſiſch geheiligt, d. h. unſchädlich und
heilſam gemacht werden.
Alles oben geſagte gilt von der Ona-
nie in einem ganz vorzüglichen Grade,
Denn hier vermehrt das Erzwungene,
das Unnatürliche des Laſters, die An-
ſtrengung und die damit verbundene
Schwächung ganz auſſerordentlich, und
es iſt dieſs ein neuer Beleg zu dem oben
angeführten Grundſatz, daſs die Natur
nichts fürchterlicher rächt, als das, wo
man ſich an ihr ſelbſt verſündigt. —
Wenn es Todſünden giebt, ſo ſind es
[346] zuverläſſig die Sünden gegen die Natur.
— Es iſt wirklich höchſt merkwürdig,
daſs eine Ausſchweifung, die ſich an und
für ſich ganz gleich ſcheint, in ihren
Folgen dennoch ſo verſchieden iſt, je
nachdem ſie auf eine natürliche oder un-
natürliche Art verrichtet wird, und da
ich ſelbſt vernünftige Menſchen kenne,
die ſich von dieſem Unterſchied nicht
recht überzeugen können, ſo iſt es hier
wohl ein ſchicklicher Ort, den Unter-
ſchied etwas auseinander zu ſetzen,
warum Onanie, bey beyden Geſchlech-
tern, ſo unendlich mehr ſchadet, als der
naturgemäſse Beyſchlaf. Schrecklich iſt
das Gepräge, was die Natur einem ſol-
chen Sünder aufdrückt! Er iſt eine ver-
welkte Roſe, ein in der Blüthe verdorr-
ter Baum, eine wandelnde Leiche. Al-
les Feuer und Leben wird durch dieſes
ſtumme Laſter getödtet, und es bleibt
nichts als Kraftloſigkeit, Unthätigkeit,
Todtenbläſſe, Verwelken des Körpers
und Niedergeſchlagenheit der Seele zu-
rück. Das Auge verliert ſeinen Glanz
[347] und ſeine Stärke, der Augapfel fällt ein,
die Geſichtszüge fallen in das Länglichte,
das ſchöne jugendliche Anſehen ver-
ſchwindet, eine blaſsgelbe bleyartige
Farbe bedeckt das Geſicht. Der ganze
Körper wird krankhaft, empfindlich,
die Muskelkräfte verlieren ſich, der
Schlaf bringt keine Erholung, jede Be-
wegung wird ſauer, die Füſse wollen
den Körper nicht mehr tragen, die Hän-
de zittern, es entſtehen Schmerzen in
allen Gliedern, die Sinnwerkzeuge ver-
lieren ihre Kraft, alle Munterkeit ver-
geht. Sie reden wenig, und gleichſam
nur gezwungen; alle vorige Lebhaftig-
keit des Geiſtes iſt erſtickt. Knaben, die
Genie und Witz hatten, werden mittel-
mäſsige oder gar Dummköpfe; die Seele
verliert den Geſchmack an allen guten
und erhabnen Gedanken; die Einbil-
dungskraft iſt gänzlich verdorben. Je-
der Anblick eines weiblichen Gegenſtan-
des erregt in ihnen Begierden, Angſt,
Reue, Beſchämung und Verzweiflung
[348] an der Heilung des Uebels macht den
peinlichen Zuſtand vollkommen. Das
ganze Leben eines ſolchen Menſchen iſt
eine Reihe von geheimen Vorwürfen,
peinigenden Gefühlen innerer ſelbſtver-
ſchuldeter Schwäche, Unentſchloſſen-
heit, Lebensüberdruſs, und es iſt kein
Wunder, wenn endlich Anwandlungen
zum Selbſtmord entſtehen, zu denen kein
Menſch mehr aufgelegt iſt, als der Ona-
niſt. Das ſchreckliche Gefühl des le-
bendigen Todes macht endlich den völ-
ligen Tod wünſchenswerth. Die Ver-
ſchwendung deſſen, was Leben giebt,
erregt am meiſten den Ekel und Ueber-
druſs des Lebens, und die eigne Art von
Selbſtmord, par depît, die unſern Zei-
ten eigen iſt. Ueberdieſs iſt die Ver-
dauungskraft dahin, Flatulenz und Ma-
genkrämpfe plagen unaufhörlich, das
Blut wird verdorben, die Bruſt ver-
ſchleimt, es entſtehen Ausſchläge und
Geſchwühre in der Haut, Vertrocknung
und Abzehrung des ganzen Körpers,
[349] Epilepſie, Lungenſucht, ſchleichend
Fieber, Ohnmachten und ein früher
Tod.
Es giebt noch eine Art Onanie, die
ich die moraliſche Onanie nennen möch-
te, welche ohne alle körperliche Un-
keuſchheit möglich iſt, aber dennoch
entſezlich erſchöpft. Ich verſtehe dar-
unter die Anfüllung und Erhitzung der
Phantaſie mit lauter ſchlüpfrigen und
wollüſtigen Bildern, und eine zur Ge-
wohnheit gewordene fehlerhafte Rich-
tung derſelben. Es kann dieſs Uebel
zulezt wahre Gemüthskrankheit werden,
die Phantaſie wird völlig verdorben
und beherrſcht nun die ganze Seele,
nichts intereſſirt einen ſolchen Men-
ſchen, als was auf jene Gegenſtände
Bezug hat, der geringſte Eindruck aber,
dieſer Art, ſezt ihn ſogleich in allge-
meine Spannung und Erhitzung, ſeine
ganze Exiſtenz wird ein fortdauerndes
Reizfieber, was um ſo mehr ſchwächt,
[350] je mehr es immer Reizung ohne Befrie-
digung iſt. — Man findet dieſen Zu-
ſtand vorzüglich bey Wollüſtlingen, die
ſich endlich zwar zur körperlichen
Keuſchheit bekehren, aber ſich durch
dieſe geiſtige Wolluſt zu entſchädigen
ſuchen, ohne zu bedenken, daſs ſie
in ihren Folgen nicht viel weniger
ſchädlich iſt — ferner im religiöſen
Coelibat, wo dieſe Geiſtesonanie ſogar
den Mantel der brünſtigen Andacht an-
nehmen und ſich hinter heilige Entzü-
ckungen verſtecken kann, und endlich
auch bey ledigen Perſonen des andern
Geſchlechts, die durch Romanen und
ähnliche Unterhaltungen ihrer Phan-
taſie jene Richtung und Verderbniſs ge-
geben haben, die ſich bey ihnen oft un-
ter den modiſchen Namen Empfindſam-
keit verſteckt, und bey aller äuſſern
Strenge und Zucht, oft im Innern ge-
waltig ausſchweifen.
[351]
Dieſs ſey genug von den traurigen
Folgen dieſer Debauchen, die ſie nicht
allein auf Verkürzung, ſondern auch
auf Verbitterung des Lebens haben.
[352]
III.
Uebermäſsige Anſtrengung der Seelen-
kräfte.
Aber nicht blos die körperlichen De-
bauchen, ſondern auch die geiſtigen
haben dieſe Folgen, und es iſt merk-
würdig, daſs übertriebne Anſtrengung
der Seelenkräfte und alſo Verſchwen-
dung der dazu nöthigen Lebenskraft,
faſt eben ſolche Wirkungen auf die Ge-
ſundheit und Lebensdauer hat, als die
Verſchwendung der Generationskräfte:
Verluſt der Verdauungskraft, Mismuth,
Niedergeſchlagenheit, Nervenſchwäche,
Abzehrung, frühzeitiger Tod.
Doch
[353]
Doch kommts auch hierbey gar
ſehr auf die Verſchiedenheit der Natur
und der Anlage an, und natürlich muſs
der, der von Natur eine kräftigere und
wirkſamere Seelenorganiſation hat, we-
niger von dieſer Anſtrengung leiden, als
der, wo dieſe fehlt. — Daher werden
ſolche am meiſten davon angegriffen,
die bey mittelmäſsigen Geiſtesanlagen
es mit Gewalt erzwingen wollen; daher
ſchwächt diejenige Geiſtesanſtrengung
am meiſten, die wir uns wider Willen,
und ohne Luſt an der Sache zu haben,
geben. Es iſt erzwungene Spannung.
Es fragt ſich nun aber: was heiſst Ex-
ceſs in den Geiſtesanſtrengungen? Dieſs
iſt eben ſo wenig im allgemeinen zu be-
ſtimmen, als das zu viel im Eſſen und
Trinken, weil alles von dem verſchied-
nen Maas und Anlage der Denkkraft ab-
hängt, und dieſe eben ſo verſchieden
iſt, als die Verdauungskraft. So kann
etwas für dieſen Anſtrengung werden,
Z
[354] was es für einen andern, mit mehr Seelen-
kraft begabten, gar nicht iſt. Auch ma-
chen die Umſtände, unter welchen die-
ſes Geſchäft verrichtet wird, einen we-
ſentlichen Unterſchied. Hier alſo noch
einige nähere Beſtimmungen, was man
unter Exceſs oder Debauche im Denk-
geſchäft zu verſtehen habe.
1. Wenn man die Uebung des Kör-
pers zu ſehr dabey vernachläſſigt. Jede
ungleiche Uebung unſrer Kräfte ſchadet,
und ſo gewiſs es iſt, daſs man ſich un-
endlich mehr ſchwächt, wenn man blos
denkend, mit Vernachläſſigung körper-
lichen Bewegung, lebt, eben ſo gewiſs
iſt es, daſs derjenige viel mehr und mit
weniger Nachtheil für ſeine Geſundheit
geiſtig arbeiten kann, der immer zwi-
ſchen durch dem Körper eine angemeſsne
Uebung giebt.
2. Wenn man zu anhaltend über
den nehmlichen Gegenſtand nachdenkt.
[355] Es gilt hier das nehmliche Geſetz, was
bey der Muskelbewegung Statt findet.
Wenn man den Arm immer in derſelben
Richtung bewegt, ſo iſt man in einer
Viertelſtunde müder, als wenn man
zwey Stunden lang verſchiedene Arten
von Bewegung damit gemacht hätte.
Eben ſo mit den Geiſtesgeſchäften. Es
erſchöpft nichts mehr als das beſtändige
Einerley in dem Gegenſtand und der
Richtung der Denkkraft, und Boerhaave
erzählt von ſich ſelbſt, daſs er, nachdem
er einige Tage und Nächte immer über
den nehmlichen Gegenſtand nachgedacht
hatte, plötzlich in einen ſolchen Zuſtand
von Ermattung und Abſpannung verfal-
len wäre, daſs er eine geraume Zeit in
einem gefühlloſen und todtenähnlichen
Zuſtand gelegen habe. Ein ſchicklicher
Wechſel der Gegenſtände iſt daher die
erſte Regel, um ohne Schaden der Ge-
ſundheit zu ſtudiren, ja, um ſelbſt in der
Maſse mehr zu arbeiten. Ich kenne
groſse und tiefe Denker, Mathemati-
Z 2
[356] ker und Philoſophen, die in einem ho-
hen Alter noch munter und vergnügt le-
ben; aber ich weiſs auch, daſs dieſelben
von jeher ſich dieſen Wechſel zum Geſetz
gemacht haben, und ihre Zeit immer
zwiſchen jenen abſtracten Arbeiten und
zwiſchen der Lectüre angenehmer Dich-
ter, Reiſebeſchreibungen, hiſtoriſcher
und naturgeſchichtlicher Werke theil-
ten. Auch iſt es ſelbſt in dieſem Be-
tracht ſo gut, wenn man immer das
practiſche mit dem ſpeculativen Leben
verbindet.
3. Wenn man gar zu abſtracte und
ſchwehre Gegenſtände bearbeitet, z. E.
Probleme der höhern Mathematik und
Metaphyſik. Das Object macht einen
gewaltigen Unterſchied. Je abſtracter es
iſt, je mehr es den Menſchen nöthigt,
ſich ganz von der Sinneswelt loszuzie-
hen, und ſein Geiſtiges, abgeſondert
vom Körper, gleichſam rein zu iſoliren,
(gewiſs einer der unnatürlichſten Zu-
[357] ſtände, die es geben kann), deſto ſchwä-
chender und anſtrengender iſt es. Eine
halbe Stunde ſolcher Abſtraction er-
ſchöpft mehr, als ein ganzer Tag Ueber-
ſetzungsarbeit. Aber auch hier iſt viel
relatives. Mancher iſt dazu geboren,
er hat die Kraft und die beſondere Gei-
ſtesſtimmung, die dieſe Arbeiten erfor-
dern, da hingegen manchem beydes
fehlt, und er es dennoch erzwingen
will. Es ſcheint mir ſehr ſonderbar,
daſs man bey Hebung einer körperlichen
Laſt immer erſt ſeine Kräfte unterſucht,
ob ſie nicht für dieſelben zu ſchwehr iſt,
und hingegen bey geiſtigen Laſten nicht
auch die Geiſteskräfte zu Rathe zieht,
ob ſie ihnen gewachſen ſind. Wie man-
chen habe ich dadurch unglücklich und
kränklich werden ſehen, daſs er die Tie-
fen der Philoſophie ergründen zu müſſen
glaubte, ohne einen philoſophiſchen
Kopf zu haben! Muſs denn jeder
Menſch ein Philoſoph von Profeſſion
ſeyn, wie es jezt Mode zu werden
[358] ſcheint? Mir ſcheint es vielmehr, daſs
dazu eine beſondere Anlage der Organi-
ſation nöthig iſt, und nur dieſen
Auserwählten mag es überlaſſen blei-
ben, die Grundtiefen der Philoſo-
phie auszuſpüren und zu entwickeln;
wir andern wollen uns damit begnü-
gen, philoſophiſch zu handeln und zu
leben.
4. Auch halte ichs für Exceſs, wenn
man immer producirend, und nicht
auch mit unter concipirend arbeitet.
Man kann alle Geiſtesarbeit in zwey
Klaſſen theilen, die ſchaffende, die
aus ſich ſelbſt herausſpinnt und neue
Ideen erzeugt, und die empfangende
oder paſſive, die blos fremde Ideen auf-
nimmt und genieſst, z. E. das Leſen oder
Anhören andrer. Erſtere iſt ungleich an-
ſtrengender und erſchöpfender, und
man ſollte ſie daher immer mit der an-
dern abwechſeln laſſen.
[359]
5. Wenn man zu frühzeitig in der
Kindheit den Geiſt anzuſtrengen anfängt.
Hier iſt ſchon eine kleine Anſtrengung
höchſt ſchädlich. Vor dem ſiebenten
Jahre iſt alle Kopfarbeit ein unnatürli-
cher Zuſtand, und von eben den üblen
Folgen fürs Körperliche, als die Onanie.
6. Wenn man invita Minerva ſtudirt,
d. h. über Gegenſtände, die man ungern,
und nicht con amore treibt. Je mehr
Luſt bey der Geiſtesarbeit iſt, deſto we-
niger ſchadet die Anſtrengung. Daher
iſt bey der Wahl des Studiums ſo viel
Vorſicht nöthig, ob es uns auch recht
und paſſend iſt, und wehe dem, wo
dieſs nicht der Fall iſt.
7. Wenn man die Seelenanſtren-
gung durch künſtliche Reize erweckt
oder verſtärkt und verlängert. Man be-
dient ſich am gewöhnlichſten des Weins,
des Kaffees oder des Tabaks dazu, und
obgleich dieſe künſtlichen Denkhülfen
[360] überhaupt nicht zu billigen ſind, weil
ſie immer doppelte Erſchöpfung bewir-
ken; ſo muſs man doch leider geſtehen,
daſs ſie in jetzigen Zeiten, wo die Gei-
ſtesarbeit nicht von Laune, ſondern von
Zeit und Stunden abhängt, nicht ganz
zu entbehren ſind, und dann möchte
eine Taſſe Kaffee, oder eine Pfeife oder
Priſe Tabak noch am erträglichſten ſeyn.
Aber man hüte ſich ja vor dem Mis-
brauch, weil ſie dann den Schaden
der Geiſtesanſtrengung unglaublich er-
höhen.
8. Wenn man in der Verdauungs-
zeit den Kopf anſtrengt. Hier ſchadet
man doppelt: man ſchwächt ſich mehr,
denn es gehört da mehr Anſtrengung
zum Denken, und man hindert zu-
gleich das wichtige Geſchäfte der Ver-
dauung.
9. Wenn man die Zeit des Schlafs
damit ausfüllt. Eine der Lebensnach-
[361] theiligſten Gewohnheiten, wovon beym
Schlafe ausführlicher.
10. Wenn man das Studiren mit
nachtheiligen äuſſeren Umſtänden ver-
bindet; und da ſind zwey die vorzüg-
lichſten, die oft mehr Antheil an den
üblen Folgen des Nachdenkens haben,
als das Denken ſelbſt, das zuſammen
gekrümmte Sitzen und die eingeſchloſsne
Stubenluft. Man gewöhne ſich daher
liegend, oder ſtehend, oder gehend,
oder auch auf einem hölzernen Bock
reitend, ferner nicht immer in Stuben,
ſondern auch im Freyen zu ſtudiren,
und man wird weit weniger von den
ſogenannten Gelehrtenkrankheiten lei-
den. Wahrlich, die alten Philoſophen
dachten wohl eben ſo viel, als die
neuern Gelehrten, und litten dennoch
nicht an Hypochondrien, Hämorrhoiden
u. dgl. Die einzige Urſache lag darinn,
weil ſie mehr ambulierend oder liegend,
und in freyer Luft meditirten, weil ſie
[362] nicht Kaffee und Tabak dazu brauch-
ten, und weil ſie die Uebung und
Kultur des Körpers nicht dabey ver-
gaſsen.
[363]
IV.
Krankheiten — deren unvernünftige
Behandlung — gewaltſame Todesarten
— Trieb zum Selbſtmord.
Fürchterlich iſt dieſes Heer heimlicher
und öffentlicher Lebensfeinde in neuern
Zeiten angewachſen. Wenn man ſich
denkt, wie wenig ein Naturmenſch auf
den Südſeeinſeln von Krankheiten weiſs,
und dagegen nun ein europäiſches pa-
thologiſches Compendium hält, wo ſie
Regimenter und Compagnien weiſe auf-
marſchiren, und ihre Zahl ſich auf viele
Tauſende beläuft, ſo erſchrickt man da-
[364] vor, was durch Luxus, Sittenverderb-
niſs, unnatürliche Lebensart und Aus-
ſchweifungen möglich worden iſt. Vie-
le, ja wirklich die meiſten dieſer Krank-
heiten, ſind unſre eigne Schuld, und
immer werden noch neue durch unſre
eigne Schuld erzeugt. Andere ſind in
die Welt gekommen, man weiſs nicht
wie, und waren ebenfalls der alten Welt
ganz unbekannt. Dieſs ſind gerade die
tödlichſten und hartnäckigſten, Blat-
tern, Maſern, die Luſtſeuche. Und
auch dieſe ſind in ſo fern unſere Schuld,
daſs wir ſie ohne alle Gegenanſtalten
fortwirken und würgen laſſen, da es
doch erwieſen iſt, daſs wir durch eini-
gen Gebrauch unſrer Vernunft und der
hierüber geſammleten Erfarungskennt-
niſſe ſie recht gut wieder von unſern
Grenzen entfernen könnten, ſo wie ſie
uns zugeführt worden ſind.
Die meiſten Krankheiten wirken
entweder als gewaltſame Todesarten,
als Unterbrechungsmittel der Lebens-
[365] operation, (wie z. E. Schlag- und Stick-
fluſs) oder als langſame Verkürzungs-
mittel, indem ſie entweder ganz unheil-
bar ſind, oder, wenn ſie auch geheilt
werden, dennoch einen ſolchen Verluſt
von Lebenskraft, oder eine ſolche
Schwächung und Deſtruction edler Or-
gane hinterlaſſen, daſs der auf dieſe
Weiſe angegriffne Körper nicht mehr
das Ziel erreichen kann, was ihm eigent-
lich beſtimmt war.
Folgende kurze Ueberſicht, die aus
einer Menge Mortalitätstabellen zuſam-
mengezogen iſt, wird es Ihnen am deut-
lichſten machen, wie ungeheuer der
Verluſt iſt, den die Menſchheit jezt
durch Krankheiten leidet.
Geſezt, es werden jezt 1000 Men-
ſchen geboren, ſo ſterben davon 24
gleich in der Geburt ſelbſt; das Geſchaft
des Zahnens nimmt ihrer 50 mit; Con-
vulſionen und andre Kinderkrankheiten
in den erſten 2 Jahren, 277; die Blat-
[366] tern, die bekanntlich zum allerwenig-
ſten den 10ten Menſchen tödten, reiben
ihrer 80 bis 90 auf, die Maſern 10.
Sind es Weibsperſonen, ſo ſterben da-
von 8 im Kindbett. Schwindſucht, Aus-
zehrung und Bruſtkrankheiten (in Eng-
land wenigſtens) tödten 190. Andere
hitzige Fieber 150. Schlagflüſſe 12, die
Waſſerſucht 41. Alſo kann man von
1000 Menſchen nur 78 annehmen, wel-
che am Alter, oder vielmehr im Alter,
ſterben, denn auch da wird der gröſsere
Theil noch durch zufällige Urſachen
weggerafft. Genug, es ergiebt ſich hier-
aus, daſs immer 9/10 vor der Zeit und
durch Zufall umkommen.
Hier muſs ich noch einer neuen
ſchrecklichen und auf unmittelbare De-
ſtruction des Lebens abzweckenden
Krankheit gedenken: des Triebs zum
Selbſtmord. Dieſer unnatürliche, ehe-
dem blos durch traurige Nothwendigkeit
und heroiſchen Entſchluſs mögliche Zu-
ſtand, iſt jezt eine Krankheit geworden,
[367] die in der Blüthe der Jahre, unter den
glücklichſten Umſtänden, blos aus Ekel
und Ueberdruſs des Lebens, den entſez-
lichen und unwiderſtehlichen Trieb her-
vorbringen kann, ſich ſelbſt zu vernich-
ten. *) Es giebt jezt wirklich Menſchen,
bey denen jede Quelle von Lebensgefühl
und Lebensglück ſo vertrocknet, jeder
Keim von Thätigkeit und Genuſs ſo ab-
geſtorben iſt, daſs ſie nichts ſo abge-
ſchmackt, ekel und fade finden, als das
Leben, daſs ſie gar keinen Berührungs-
punct mehr mit der ſie umgebenden
Welt haben, und daſs ihnen endlich das
Leben zu einer ſo drückenden Laſt wird,
daſs ſie dem Wunſche gar nicht widerſte-
hen können, ſich deſſen zu entledigen.
Und dieſe Menſchen ſind faſt immer die-
jenigen, welche durch zu frühzeitige
Ausſchweifung, durch eine zu frühzei-
tige Verſchwendung jener balſamiſchen
[368] Lebensſäfte, die unſer eignes Leben
würzen ſollen, ſich erſchöpft und lebens-
arm gemacht haben. Iſt es nicht natür-
lich, daſs ein ſolcher Unglücklicher den
Tod ohne Bewuſstſeyn dem mit Be-
wuſstſeyn (und das iſt ſein Leben) vor-
zieht?
Aber der Schaden dieſer an ſich
ſelbſt ſchon jezt viel häufigern und ge-
fährlichern Feinde wird dadurch un-
endlich vermehrt, daſs man ſie zum
Theil ganz widerſinnig behandelt, und
überhaupt die Medizin zu ſehr miſs-
braucht.
Zur widerſinnigen Behandlung
rechne ich folgendes: Wenn man, troz
aller Beweiſe ihres Schadens, dennoch
die Urſache der Krankheit immer fort-
wirken läſst, z. E. man bemerkt ſichtbar,
daſs das Weintrinken, oder eine zu
leichte Kleidung, oder das Nachtwa-
chen uns die Krankheiten erzeugt, und
dennoch ſezt man es fort. Ferner: Wenn
man
[369] man die Krankheit ganz verkennt, und
gar nicht für Krankheit gelten laſſen will,
wodurch oft eine unbedeutende Krank-
heit in eine ſehr gefährliche verwandelt
wird. Und hier kann ich nicht umhin,
eine Vernachläſſigung insbeſondere zu
erwähnen, die gewiſs unzählichen Men-
ſchen das Leben koſtet: die Vernachläſſi-
gung der Katarrhe oder des Huſtens.
Man hält ſie gewöhnlich für nothwen-
dige und zum Theil nützliche Uebel, und
man hat Recht, wenn der Katarrh
mäſsig iſt und nicht zu lange dauert.
Aber man vergeſſe doch nie, daſs jeder
Katarrh eine Krankheit iſt, und gar
leicht in Lungenentzündung, oder, was
noch häufiger geſchieht, in Lungenſucht
und Auszehrung übergehen kann; und
ich ſage nicht zu viel, wenn ich be-
haupte, daſs die Hälfte aller Lungen-
ſuchten aus ſolchen vernachläſſigten Ka-
tarrhen entſteht. Dieſs geſchieht,
wenn er zu lange dauert, oder wenn er
widerſinnig behandelt wird, und ich
A a
[370] gründe hierauf folgende zwey Regeln, die
bey jedem Bruſtkatarrh heilig beobach-
tet werden ſollten: Man ſehe keinem Ka-
tarrhalhuſten länger als 14 Tage gedul-
tig zu; dauert er länger, ſo muſs er als
Krankheit betrachtet und durch einen
Arzt behandelt werden. Zweytens, man
vermeide bey jedem Katarrh heftige
Erhitzung, Erkältung und den Genuſs
des Weins und andrer hitzigen Getränke
und Speiſen.
Auch iſt es eine nur gar zu gewöhn-
liche widerſinnige Behandlung der
Krankheiten, daſs man gar oft, theils
aus Unwiſſenheit und Vorurtheil, theils
aus misverſtandener Zärtlichkeit, gera-
de das Gegentheil von dem thut, was
man eigentlich thun ſollte. Dahin ge-
hört, daſs man den Kranken zum Eſſen
nöthigt, wenn er keinen Appetit hat,
daſs man bey fieberhaften Krankheiten
Bier, Wein, Kaffee, Fleiſchbrühen und
andre hitzige und nährende Dinge ge-
[371] nieſsen läſst, wodurch das gelindeſte
Fieber in ein hitziges verwandelt wer-
den kann, daſs man, ſobald ein Kranker
Fieber und den damit verbundenen
Froſt klagt, ihn in Betten vergräbt, Fen-
ſter und Thüren verſchlieſst, und die
Luft des Zimmers möglichſt erhizt,
auch daſs man nicht für gehörige Rein-
lichkeit in der Krankenſtube ſorgt, die
Luft nicht erneuert, die Abſonderungen
und Ausleerungen des Kranken nicht
genug entfernt. Dieſe unvernünftige
diätetiſche Behandlung tödtet weit mehr
Menſchen, als die Krankheit ſelbſt, und
hauptſächlich iſt ſie die Urſache, war-
um auf dem Lande ſo mancher geſunde
und ſtarke Menſch ein Raub des Todes
wird, warum da die Krankheiten ſo
leicht eine bösartige Beſchaffenheit an-
nehmen, warum z. E. die Blattern da
im Winter meiſt bösartiger ſind, als im
Sommer, weil man da die Fenſter und
Thüren verſchlieſst, und durch Einhei-
zen eine fürchterliche Glut im Zimmer
A a 2
[372] erhält, welches im Sommer unter-
bleibt.
Und endlich rechne ich dahin,
wenn man keinen Arzt oder ihn nicht
recht braucht, die Medizin unrichtig
anwendet, zu Pfuſchern ſeine Zuflucht
nimmt, geheime Mittel und Univerſal-
arzneyen gebraucht, u. d. gl. mehr, wo-
von ich bey dem vernünftigen Gebrauch
der Medizin mehr ſagen werde.
Auch die gewaltſamen Todesarten
raffen eine Menge Menſchen weg, und
leider haben auch hierinn die neuen
Zeiten groſse Progreſſen gemacht. Nicht
nur der gröſsre Unternehmungsgeiſt,
die häufigern Seereiſen, der ausgebrei-
tetere Handel vervielfältigt ſolche Fälle,
ſondern man hat auch leider Erfindun-
gen gemacht, um den Endzweck der
Verkürzung auf eine unglaublich
ſchnelle und raffinirte Art zu erreichen.
Ich will hier nur an die Erfindung des
[373]Schieſspulvers, und mehrerer neuen
Gifte, der Aqua toffana, der Succeſſions-
pulver u. ſ. w. erinnern. Die Kunſt zu
tödten iſt ja eine eigne höhere Wiſſen-
ſchaft geworden.
[374]
V.
Unreine Luft — das Zuſammenwohnen
der Menſchen in groſsen Städten.
Eines der gröſsten Verkürzungsmittel
des menſchlichen Lebens iſt: das Zu-
ſammenwohnen der Menſchen in groſsen
Städten. Fürchterlich iſt das Ueberge-
wicht, das die Mortalität derſelben in
den Todtenliſten hat. In Wien, Berlin,
Paris, London und Amſterdam, ſtirbt
der 20ſte bis 23ſte Menſch, während daſs
rund herum, auf dem Lande, nur der
30ſte oder 40ſte ſtirbt. Rouſſeau hat
vollkommen recht, wenn er ſagt: der
Menſch iſt unter allen Thieren am we-
[375] nigſten dazu gemacht, in groſsen Hau-
fen zuſammen zu leben. Sein Athem iſt
tödlich für ſeine Mitgeſchöpfe, und
dieſs gilt eben ſowohl im eigentlichen
als im figürlichen Sinn. Die Feuchtig-
keit, oder, wie mans gewöhnlich nennt,
die Dickheit der Luft iſts nicht allein,
was ſie ſo ſchädlich macht, ſondern die
Animaliſation, die ſie durch ſo viele auf
einander gehäufte Menſchen bekommt.
Man kann höchſtens viermal die nehm-
liche Luft einathmen, ſo wird ſie durch
den Menſchen ſelbſt aus dem ſchönſten
Erhaltungsmittel des Lebens in das töd-
lichſte Gift verwandelt. Nun denke
man ſich die Luft an einem ſo ungeheu-
ren Orte; hier iſt es phyſiſch unmöglich,
daſs einer, der in der Mitte wohnt, ei-
nen Athemzug von Luft thun ſollte, die
nicht ſchon kurz vorher in der Lunge
eines andern verweilt hätte. Dieſs giebt
eine allgemeine ſchleichende Vergiftung,
die nothwendig die Lebensdauer im
Ganzen verkürzen muſs. — Wer es alſo
kann, meide den Aufenthalt in groſsen
[376] Städten; ſie ſind offne Gräber der Menſch-
heit, und zwar nicht allein im phyſi-
ſchen, ſondern auch im moraliſchen
Sinn. Selbſt in mittlern Städten, wo
vielleicht die Straſſen etwas enge ſind,
ſuche man immer lieber eine Wohnung
an der Auſſenſeite der Stadt, und wenig-
ſtens iſt es Pflicht, alle Tage eine halbe
oder ganze Stunde lang, die Stadt-
atmosphäre ganz zu verlaſſen, in der
einzigen Abſicht, um einmal reine Luft
zu trinken. — Mehr davon in dem Ka-
pitel von Vergiftungen.
[377]
VI.
Unmäſsigkeit im Eſſen und Trinken —
die raffinirte Kochkunſt — die geiſtigen
Getränke.
Das erſte, was in Abſicht der Diät le-
bensverkürzend wirken kann, iſt: Un-
mäſsigkeit. Das zu viel Eſſen und Trin-
ken ſchadet auf dreyfache Art dem Le-
ben. Es ſtrengt die Verdauungskräfte
unmäſsig an, und ſchwächt ſie dadurch.
Es hindert die Verdauung, weil bey ei-
ner ſolchen Menge nicht alles gehörig
verarbeitet werden kann, und es erzeu-
gen ſich Kruditäten im Darmkanal und
ſchlechte Säfte. Es vermehrt auch un-
[378] verhältniſsmäſsig die Blutmenge, und
beſchleunigt dadurch Circulation und
Leben; und überdieſs entſteht dadurch
ſo oft Indigeſtion und das Bedürfniſs
ausleerende Mittel zu nehmen, welches
abermals ſchwächt.
Zu viel eſſen heiſst, wenn man ſo
lange iſst, bis man nicht mehr kann, und
die nachfolgenden Zeichen ſind, wenn
man Schwehre und Vollheit des Ma-
gens, Gähnen, Aufſtoſsen, Schläfrigkeit,
Dumpfheit des Kopfs verſpürt. Die alte
Regel bleibt alſo immer noch wahr:
Man höre auf zu eſſen, wenn man noch
etwas eſſen könnte.
Die zu raſſinirte Kochkunſt gehört
ebenfalls hieher. — Leider muſs ich
dieſe Freundin unſers Gaumens hier als
die gröſste Feindin unſers Lebens, als
eine der verderblichſten Erfindungen zu
Abkürzung deſſelben, anklagen, und
zwar auf folgende Art:
[379]
1. Bekanntlich beſteht der Haupt-
kunſtgriff derſelben darinn, alles pi-
quant und reizend zu machen. Alle
Nahrungsmittel beſtehen alſo, nach die-
ſer Zurichtung, zur Hälfte aus reizenden
erhitzenden Subſtanzen, und anſtatt alſo
durchs Eſſen das, was der natürliche
Zweck iſt, Ernährung und Wiedererſe-
tzung, zu erreichen, vermehrt man viel
mehr durch den Reiz die innre Conſum-
tion und thut wirklich gerade das Ge-
gentheil. Nach einer ſolchen Mahlzeit
hat man immer ein künſtliches Fieber,
und bey ſolchen Menſchen heiſst es mit
Recht: conſumendo conſumimur.
2. Das ſchlimmſte iſt, daſs man
durch dieſe Kochkunſt verleitet wird,
immer zu viel zu eſſen. Sie weiſs ſich
den Gaumen ſo zum Freunde zu machen,
daſs alle Gegenvorſtellungen des Magens
umſonſt ſind; und, weil der Gaumen im-
mer auf eine neue angenehme Art ge-
kitzelt wird, ſo bekommt der Magen wohl
drey und viermal mehr zu thun, als er
[380] eigentlich beſtreiten kann. Denn es iſt
ein ſehr gewöhnlicher Fehler, daſs man
den Gaumenappetit nicht vom Magen-
appetit unterſcheidet, und das für Ma-
genappetit hält, was eigentlich nur Gau-
menkitzel iſt, und eben dieſe Verwech-
ſelung wird durch nichts mehr begün-
ſtigt, als durch dieſe raſſinirte Kochkunſt.
Der Menſch verliert dadurch am Ende
eine der gröſsten Schutzwehren ſeiner.
Geſundheit, die Eigenſchaft zu wiſſen,
wenn er genug hat.
3. Eine Hauptmaxime dieſer Kunſt
beſteht endlich darinne, durch die über-
häufteſten und unnatürlichſten Zuſam-
menſetzungen ganz neue Schöpfungen
und neue Reize hervorzubringen. Und
daraus entſteht, daſs Dinge, wel-
che, jedes für ſich, äuſſerſt unſchuldig
und unſchädlich wären, nun durch die
Verbindung ganz neue und nachtheilige
Eigenſchaften bekommen. Sauer und
ſüſs z. B. ſchadet, jedes einzeln genom-
men, nichts; hingegen zugleich genoſ-
[381] ſen kann es ſchädlich werden. Eyer,
Milch, Butter, Mehl, ſind, jedes für
ſich genoſſen, ſehr verdauliche Subſtan-
zen; aber man ſetze ſie zuſammen, und
mache einen recht fetten und feſten
Pfannkuchen daraus, und man wird ein
ſehr ſchwehr verdauliches Product er-
kalten. Man kann es als Grundſatz an-
nehmen: je zuſammengeſezter eine
Speiſe iſt, deſto ſchwehrer iſt ſie zu ver-
dauen, und was noch ſchlimmer iſt, de-
ſto ſchlechter werden die Säfte, die dar-
aus bereitet werden.
4. Noch ein Haupttriumpf der neu-
ern Kochkunſt iſt die Kunſt, Nahrungs-
ſaft in der concentrirteſten Geſtalt in den
Körper zu bringen. Da hat man Con-
ſommés, Jus, Coulus. Man hats dahin
gebracht, durch Auspreſſen und Einko-
chen, die Kraft von mehrern Pfunden
Rindfleiſch, Kapaunen und Markskno-
chen in den kleinen Raum von einer
Gelée oder Suppe zu concentriren. Da
glaubt man nun etwas groſses gethan zu
[382] haben, wenn man auf dieſe Weiſe,
ohne den Zähnen die Mühe des Kauens
und dem Magen die Mühe des Arbeitens
gemacht zu haben, eine ſolche Eſſenz
von Nahrungsſaft gleich auf einmal ins
Blut ſchickt. Das heiſst, ſtellt man ſich
vor, ſich im Gallop reſtauriren, und es
iſt das Lieblingsſyſtem derer, die ſich
im Gallop conſumiren. Aber man
täuſcht ſich gewaltig, denn
Einmal: Man kann die Einrichtun-
gen der Natur nie ohne Schaden über-
ſpringen. Nicht ohne Urſache iſt die
Einrichtung getroffen, daſs der Magen
nur eine gewiſſe Menge faſſen kann; ein
mehreres würde fürs Ganze zu viel ſeyn.
Jeder Körper kann nur eine verhältniſs-
mäſsige Menge Nahrung faſſen, und
dieſe Kapacität des Ganzen ſteht immer
mit der Kapazität des Magens im Ver-
hältniſs. — Hierbey täuſcht man nun die
Natur; man umgeht, wenn ich ſagen
darf, die erſte Inſtanz, und führt, durch
eine Art von Schleichhandel, drey-vier-
[383] mal mehr Nahrung in den Körper, als
er zu faſſen im Stande iſt. Die Folge
davon iſt, daſs eine beſtändige Ueber-
füllung aller Gefäſse entſteht, und dieſe
ſtört immer das Gleichgewicht und alſo
Geſundheit und Leben.
Ferner: Nicht ohne Urſache hat die
Natur die Einrichtung gemacht, daſs die
Speiſen in etwas gröberer Geſtalt genoſ-
ſen werden müſſen. Der Nutzen dieſer
Einrichtung iſt, daſs ſie erſt beym Kauen
im Munde macerirt und mit Speichel
vermiſcht, ferner daſs ſie länger im Ma-
gen aufgehalten werden, da durch ih-
ren Reiz den Magen zu mehrerer Re-
action ermuntern, folglich weit beſſer
aſſimilirt und in unſre Natur umgewan-
delt werden. Und hierauf beruht ei-
gentlich wahre Reſtauration; denn eine
Speiſe kann nur alsdenn erſt in unſer
Weſen übergehen und uns wirklich
nüzlich werden, wenn ſie zuvor durch
die Kräfte des Magens unſrer Natur ho-
[384] mogener und ähnlich gemacht wor-
den iſt.
Indem man alſo dieſe erſte Inſtanz
übergeht, ſchafft man Säfte in den Kör-
per, die, weil ſie nicht hinlänglich aſſi-
milirt ſind, auch nicht eine gute Reſtau-
ration bewirken können, ſondern viel-
mehr als fremde Theile als Reize wirken,
und mehr zur Conſumtion als zur Re-
ſtauration dienen.
Ich glaube daher, es iſt ſehr ein-
leuchtend, daſs eine Kunſt, welche die
wahre Reſtauration hindert, uns mit un-
verdauten rohen Säften anfüllt, und die
innre Conſumtion vermehrt, nicht als
eine Freundin unſers Lebens anzuſehen
iſt, ſondern unter den weſentlichſten
Feinden deſſelben einen Platz verdient.
Man ſollte glauben, ſie ſey erfunden,
um aus den herrlichſten Gaben Gottes
ein ſchleichendes Gift zu bereiten.
Endlich
[385]
Endlich gehören unter dieſe Klaſſe
von Verkürzungsmitteln vorzüglich noch
die Zubereitungen ſpirituöſer Getränke,
die alle, ſie mögen Namen haben wie ſie
wollen, Lebensverkürzend ſind. Es iſt
flüſſiges Feuer, was hier der Menſch
trinkt; ſie beſchleunigen die Lebenscon-
ſumtion auf eine fürchterliche Art, und
machen das Leben im eigentlichſten
Sinn zu einem Verbrennungsprozeſs. Es
ſey genug zu bemerken, daſs bey wilden
Nationen der Zeitpunct der Einführung
des Branntweins immer das Datum ihrer
kürzern Lebensdauer war.
B b
[386]
VII.
Lebensverkürzende Seelenſtimmungen und
Leidenſchaften — üble Laune — all-
zugroſse Geſchäftigkeit.
Einen vorzüglichen Rang unter den
Verkürzungsmitteln des Lebens behau-
pten gewiſſe Seelenſtimmungen und Ge-
wohnheiten, die feindlich auf das Leben
wirken, Traurigkeit, Kummer, Ver-
druſs, Furcht, Angſt, Kleinmuth,
hauptſächlich Neid und Miſsgunſt.
Sie alle erſchöpfen die feinſten Le-
benskräfte, ſtöhren beſonders die Ver-
dauung und Aſſimilation, ſchwächen die
[387] Kraft des Herzens und hindern auf dieſe
Art das wichtige Geſchäft der Reſtaura-
tion. Die erſten, die traurigen Affecten,
wirken indeſs doch nur negativ zur Ver-
kürzung. Hingegen dieſe, Neid und
Miſsgunſt, haben zugleich poſitive Tod-
bringende Eigenſchaften. Nicht blos
entziehen ſie dem Körper ſeine Lebens-
kräfte, ſondern indem ſie unaufhörlich
die Galle ſchärfen, bereiten ſie beſtän-
dig ein ſchleichendes Gift, und vermeh-
ren durch den allgemeinen Gallenreiz
die Selbſtaufreibung entſezlich, daher
das Emblem vollkommen paſst: der
Neid friſst ſich ſelbſt auf.
Hieher gehört auch jene ſehr böſe
Seelenkrankheit, die unter dem Namen
der üblen Laune bekannt iſt. Nichts ver-
mag ſo ſehr die Blüthe des Lebens zu
verwelken, jedem Genuſs und jeder
Freude den Eingang zu verſperren, und
den ſchönen Lebensſtrom in einen ſte-
henden Sumpf zu verwandeln, als dieſe
böſe Gewohnheit. Ich rathe jedem,
B b 2
[388] dem ſein Leben lieb iſt, ſie als ein
tödliches Gift zu fliehen, und nie auf-
kommen zu laſſen.
Auch die Furcht verdient hier einen
vorzüglichen Platz. Sie gehört ebenfalls
unter die böſen Gewohnheiten der Seele,
denn man kann ſie ſich nach Belieben an-
und abgewöhnen.
Ein Engländer (Walter), der die
Reiſe mit Anſon um die Welt gemacht
hatte, ſprach einſt mit dem jungen Ber-
kenhout, und da dieſer das Wort Furcht
erwähnte, ſo fiel Walter mit Heftigkeit
ein: Fi, fi donc, c’eſt une paſſion indigne,
et au deſſous de la dignite de l’homme. Und
gewiſs, ſie iſt eine der allerunanſtändig-
ſten Leidenſchaften, die den Menſchen
eben ſo ſehr erniedrigt und degradirt,
als ihn das Entgegengeſezte, der Muth,
exaltiren und über die menſchliche Na-
tur erheben kann. Furcht raubt Kraft,
Ueberlegung, Verſtand, Entſchl[o]ſſen-
heit, genug, alle Vorzüge des menſch-
[389] lichen Geiſtes, und es ſollte einer der
erſten Grundſätze der Erziehung ſeyn,
dem Menſchen die Furcht abzugewöh-
nen. Und leider thut man gewöhnlich
gerade das Gegentheil! Wir wollen nur
zwey der gewöhnlichſten Arten von
Furcht nehmen; die Furcht vor Gewit-
tern und die vor Geſpenſtern. Nun wer
dieſe beyden hat, der mag nur auf die
Ruhe des Lebens Verzicht thun. Die
Zeit der Nacht, welche ſo weiſe durch
Dunkelheit zur ſüſsen Ruhezeit geſtem-
pelt wurde, iſt für ihn das Signal der
peinlichſten Unruhe. Wenn andre ru-
higen Schlaf genieſsen, horcht er mit
Zittern und Zagen auf jeden Laut,
ſchwizt unaufhörlich Angſtſchweiſs, und
iſt früh müder, als er ſich niederge-
legt hat.
Die erfreuliche Zeit des Sommers
iſt für ihn eine Periode der Angſt und
des Schreckens, und jeder ſchöne Tag
führt bey ihm zugleich die Idee von
[390] Gewitter und alſo bange Erwartung
mit ſich.
Man kann leicht abnehmen, wel-
chen nachtheiligen Einfluſs ſolche be-
ſtändige Angſt auf die Dauer des Lebens
haben muſs. Furcht iſt ein beſtändiger
Krampf; ſie ſchnürt alle kleine Gefäſse
zuſammen, die ganze Haut wird kalt,
blaſs, und die Ausdünſtung völlig ge-
hemmt. Alles Blut ſammlet ſich in den
innern gröſsern Gefäſsen, der Pulsſchlag
ſtockt, das Herz wird überfüllt und
kann ſich nicht frey bewegen. Alſo das
wichtige Geſchäft der Circulation wird
geſtöhrt. Die Verdauung wird eben ſo
ſehr unterbrochen, es entſtehen krampf-
hafte Durchfälle. Alle Muskelkraft wird
gelähmt, er will laufen und kann nicht,
allgemeines Zittern entſteht, der Athem
iſt kurz und beklommen. Genug, alle
Wirkungen, die ein tödliches ſchlei-
chendes Gift haben kann, und alſo eben
die Folge für Verkürzung des Lebens.
[391]
Es iſt mir unmöglich, hier eine Ei-
genſchaft unſrer Zeiten zu übergehen,
die uns gewiſs einen ſchönen Theil un-
ſrer Lebenstage raubt, nehmlich jene
unglückliche Vielgeſchäftigkeit (Poby-
pragmoſyne), die ſich jezt eines groſsen
Theils des menſchlichen Geſchlechts be-
mächtigt hat, jenes unaufhörliche innre
Treiben und Streben nach neuen Unter-
nehmungen, Arbeiten, Planen. Der
Genius Seculi bringt es mit ſich, daſs
Selbſtdenken, Thätigkeit, Speculatio-
nen, Reformationen, den Menſchen
weit natürlicher ſind, als ſonſt, und alle
ihnen beywohnenden Kräfte ſich weit
lebhafter regen; der Luxus kommt dazu,
der durch ſeine immer vervielfältigten
Bedürfniſſe, immer neue Anſtrengungen
der Kräfte, immer neue Unternehmun-
gen nöthig macht. Daraus entſteht nun
jene unaufhörliche Regſamkeit, die
endlich alle Empfänglichkeit für innere
Ruhe und Seelenfrieden zerſtöhrt, den
Menſchen nie zu dem Grade von
[392] Nachlaſs und Abſpannung kommen
läſst, der zu ſeiner Erholung unum-
gänglich nöthig iſt, und ſeine Selbſt-
conſumtion auf eine ſchreckliche Art be-
ſchleunigt.
[393]
VIII.
Furcht vor dem Tode.
Keine Furcht macht unglücklicher, als
die Furcht vor dem Tode. Sie fürchtet
etwas, was ganz unvermeidlich iſt, und
wovor wir keinen Augenblick ſicher ſeyn
können; ſie genieſst jede Freude mit
Angſt und Zittern; ſie verbietet ſich al-
les, weil alles ein Vehikel des Todes
werden kann, und ſo über dieſer ewigen
Beſorgniſs, das Leben zu verlieren, ver-
liert ſie es wirklich. Keiner, der den
Tod fürchtete, hat ein hohes Alter er-
reicht.
[394]
Liebe das Leben und fürchte den Tod
nicht, das iſt das Geſez und die Prophe-
ten, die einzige wahre Seelenſtimmung,
um glücklich und alt zu werden. Denn
auch auf das Glück des Lebens mag der
nur Verzicht thun, der den Tod fürch-
tet. Kein Genuſs iſt bey ihm rein, im-
mer miſcht ſich jene Todesidee mit ein,
er iſt beſtändig wie einer, der verfolgt
wird, der Feind ſizt ihm immer auf den
Ferſen. Und dennoch giebt es ſo un-
zählige Menſchen, die dieſe Gemüths-
krankheit nicht los werden können.
Für dieſe will ich hier einige Regeln an-
geben, die, wenn ſie auch gleich keine
metaphyſiſche Tiefe haben ſollten, ich
doch als recht gute Hausmittel gegen die
Todesfurcht empfehlen kann, die ich
aus Erfarung als ſehr wirkſam kenne:
1. Man mache ſich mit dem Gedan-
ken an den Tod recht bekannt. Nur der
iſt in meinen Augen glücklich, der die-
ſem unentfliehbaren Feinde ſo oft recht
nahe und beherzt in die Augen geſehen
[395] hat, daſs er ihm durch lange Gewohn-
heit endlich gleichgültig wird. Wie
ſehr täuſchen ſich die, die in der Entfer-
nung des Gedankens an den Tod dieſs
Mittel gegen die Todesfurcht zu finden
glauben! Ehe ſie ſichs verſehen, mitten
in der lachendſten Freude wird der Ge-
danke ſie überraſchen, und ſie deſto
fürchterlicher erſchüttern, je mehr er
ihnen fremd iſt. Genug, ich kann nur
den für glücklich erklären, der es dahin
gebracht hat, mitten im Freudengenuſs
ſich den Tod zu denken, ohne dadurch
geſtöhrt zu werden, und man glaube
mir es auf meine Erfarung, daſs man
durch öftere Bekanntmachung mit dieſer
Idee und durch Milderung ihre Vorſtel-
lungsart darinn zulezt zu einer auſſeror-
dentlichen Gleichgültigkeit bringen
kann. Man ſehe doch die Soldaten, die
Matroſen, die Bergleute an. Wo findet
man glücklichere und luſtigere, für jede
Freude empfänglichere Menſchen? Und
warum? Weil ſie durch die beſtändige
Nähe des Todes ihn verachten gelernt
[396] haben. Wer den Tod nicht mehr fürch-
tet, der allein iſt frey, es iſt nichts mehr,
was ihn feſſeln, ängſtigen oder unglück-
lich machen könnte. Seine Seele füllt
ſich mit hohem unerſchütterlichen Mu-
the, der ſelbſt die Lebenskraft ſtärkt,
und dadurch ſelbſt ein poſitives Mittel
wird, ihn zu entfernen.
Noch hat dieſe Gewohnheit einen
nicht unwichtigen Nebennutzen. Sie
iſt auch ein vortrefliches Hausmittel tu-
gendhaft und rechtſchaffen zu bleiben.
Bey jedem zweifelhaften Fall, bey jeder
Frage, ob etwas recht oder unrecht ſey,
denke man ſich nur gleich an die lezte
Stunde des Lebens hin, und frage ſich:
würdeſt du da ſo oder ſo handeln, wür-
deſt du da wünſchen, ſo oder ſo gehan-
delt zu haben? Eine Freude, ein Le-
bensgenuſs, wobey man ruhig an den
Tod denken kann, iſt gewiſs unſchuldig.
Iſt man gegen jemand aufgebracht oder
misgünſtig, oder bekommt man Luſt ſich
wegen einer angethanen Beleidigung zu
[397] rächen, — nur an jene Stunde gedacht,
und an das Verhältniſs, was dort entſte-
hen wird, und ich ſtehe dafür, daſs jene
misgünſtigen oder menſchenfeindlichen
Ideen ſogleich verſchwinden werden.
Die Urſache iſt, weil durch dieſe Ver-
ſetzung des Schauplatzes alle jenen klein-
lichen und ſelbſtſüchtigen Rückſichten
aufgehoben werden, die uns ſo gewöhn-
lich beſtimmen; alles bekommt mit ei-
nemmale ſeinen wahren Geſichtspunct,
ſein wahres Verhältniſs, die Täuſchung
ſchwindet, das Weſentliche bleibt.
2. Mancher fürchtet weit weniger
den Tod als die Operation des Sterbens.
Da macht man ſich die allerſonderbar-
ſten Begriffe von der lezten Todesnoth,
der gewaltſamen Trennung der Seele
von ihrem Körper u. dgl. mehr. Aber
dieſs alles iſt völlig ungegründet. Ge-
wiſs hat noch kein Menſch das Sterben
ſelbſt empfunden, und eben ſo bewuſst-
los, wie wir ins Leben treten, eben ſo
treten wir wieder heraus. Anfang und
[398] Ende flieſsen hier wieder zuſammen.
Meine Beweiſe ſind folgende: Zuerſt
kann der Menſch keine Empfindung
vom Sterben haben, denn Sterben heiſst
nichts anders als die Lebenskraft verlie-
ren, und dieſe iſts eben, wodurch die
Seele ihren Körper empfindet; in dem-
ſelben Verhältniſs alſo, als ſich die Le-
benskraft verliert, verliert ſich auch die
Empfindungskraft und das Bewuſstſeyn;
und wir können das Leben nicht verlie-
ren, ohne zugleich oder noch eher (denn
es gehören dazu zartere Organe) auch
das Gefühl des Lebens zu verlieren.
Und dann lehrt es auch die Erfarung.
Alle die, welche den erſten Grad des
Todes erlitten und wieder zum Leben
zurückgerufen wurden, verſichern ein-
ſtimmig, daſs ſie nichts vom Sterben ge-
fühlt haben, ſondern in Ohnmacht, in
Bewuſstloſigkeit verſunken ſind. —
Man laſſe ſich nicht durch die Zuckun-
gen, das Röcheln, die ſcheinbare Todes-
angſt irre machen, die man bey man-
chen Sterbenden ſieht. Dieſe Zufälle ſind
[399] nur ängſtlich für den Zuſchauer, nicht
für den Sterbenden, der davon nichts
empfindet. Es wäre eben ſo, als wenn
man aus den fürchterlichen Zuckungen
eines Epileptiſchen auf ſeine inneren
Gefühle ſchlieſsen wollte. Er weiſs
nichts von allem dem, was uns ſo viel
Angſt machte.
3. Man denke ſich das Leben immer
als das, was es iſt, als einen Mittelzu-
ſtand, (der noch nicht ſelbſt Zweck, ſon-
dern nur Mittel zum Zweck iſt, wie die
tauſendfachen Unvollkommenheiten deſ-
ſelben hinlänglich beweiſen,) als eine
Periode der Entwicklung und Vorberei-
tung, als ein Fragment unſrer Exiſtenz,
durch das wir blos zu andern Perioden
übergehen und reifen ſollen. Kann uns
denn der Gedanke wohl ſchrecklich
ſeyn, dieſen Uebergang wirklich zu ma-
chen, aus dieſem Mittelzuſtand, aus
dieſer räthſelhaften, zweifelsvollen, nie
ganz befriedigenden Exiſtenz, zu einer
andern heraus zu treten? Ganz ruhig
[400] und furchtlos können wir uns dann wie-
der dem höhern Weſen überlaſſen, was
uns eben ſo, ohne unſer Zuthun, auf
dieſen Schauplatz ſezte, und von ihm die
fernere Leitung unſers Schickſals er-
warten.
4. Auch wird der Gedanke an die
Vorausgegangenen die Todesfurcht ſehr
mildern, an den Cirkel der Lieben, die
unſerm Herzen nahe waren und es noch
immer ſind, und die uns gleichſam aus
jenem dunkeln Lande freundlich zu-
winken.
IX.
[401]
IX.
Müſſiggang — Unthätigkeit — Lange
Weile.
Aber auch das entgegengeſezte, der
Nichtgebrauch unſrer Kräfte, kann Le-
bensverkürzend werden, weil dadurch
gar leicht Unbrauchbarkeit der Organe,
Stockung, mangelnde Reinigung der
Säfte, und ſchlechte Reſtauration ent-
ſteht. Es iſt die erſte und unwandelbar-
ſte Beſtimmung des Menſchen, im
Schweiſs ſeines Angeſichts ſein Brod zu
eſſen. Und auch phyſiſch beſtätigt die
Erfarung dieſen Satz vollkommen: Wer
C c
[402] iſst ohne zu arbeiten, dem bekommt es
nicht. Wenn nicht immer ein gehöri-
ges Verhältniſs zwiſchen der Reſtaura-
tion und Selbſtaufreibung bleibt, ſo iſt
es unmöglich, daſs Geſundheit und lan-
ges Leben beſtehen kann. Werfen wir
einen Blick auf die Erfarung, ſo finden
wir, daſs kein einziger Müſſiggänger ein
hohes Alter erreicht hat, ſondern die
ausgezeichneten Alten durchaus Men-
ſchen von einer auſſerſt thätigen Lebens-
art geweſen waren.
Aber nicht blos der körperliche,
ſondern auch der Seelenmüſſiggang ſcha-
det, und ich komme hier auf ein Le-
bensverkürzungsmittel, was man hier
wol nicht erwarten ſollte, weil es dem
Schein nach uns die Zeit ſo grauſam lang
macht, die lange Weile. — Laſſen Sie
uns die phyſiſchen Wirkungen derſelben
etwas genauer durchgehen, und Sie
werden ſehen, daſs dieſer unbehagliche
Seelenzuſtand keineswegs gleichgültig,
ſondern von ſehr wichtigen Folgen für
[403] unſer Körperliches iſt. Was bemerken
wir an einem Menſchen, der lange
Weile hat? Er fängt an zu gähnen; dieſs
verräth ſchon einen gehinderten Durch-
gang des Bluts durch die Lungen. Folg-
lich leidet die Kraft des Herzens und der
Gefäſse, und iſt zu träg. — Dauert das
Uebel länger, ſo entſtehen zulezt wol
Congeſtionen und Stockungen des Bluts.
Die Verdauungswerkzeuge werden eben-
falls zur Schwäche und zur Trägheit
umgeſtimmt, es entſteht Mattigkeit,
Schwehrmuth, Blähungen, hypochon-
driſche Stimmung. Genug, alle Fun-
ctionen werden dadurch geſchwächt,
und in Unordnung gebracht, und ich
glaube alſo mit Recht behaupten zu kön-
nen, daſs ein Zuſtand, der die wichtig-
ſten Geſchäfte des Körpers ſtöhrt, die
edelſten Kräfte ſchwächt, Lebensverkür-
zend iſt.
Sowol in phyſiſcher als morali-
ſcher Rückſicht iſt lange Weile ein ſehr
C c 2
[404] gefährlicher Zuſtand. Weikard*) erzählt
das Beyſpiel eines Kindes, welches von
ſehr armen Eltern erzeugt war, die ihr
Brod mit Tagelohn verdienen muſsten.
Das Schickſal dieſes Kindes alſo, von
ſeiner Geburt an, war lange Weile. An-
fangs lieſsen es die Eltern allein in ſeiner
Wiege liegen, wo es ſeine Zeit damit zu-
brachte, ſeine Hände und Füſse anzuſe-
hen. Da es gröſser wurde, wurde es
jederzeit in einen Hühnerſtall einge-
ſperrt, wo es nur durch ein Loch ein
wenig herausſehen konnte. Was war
die Folge? Das Kind blieb bis in ſein
erwachſenes Alter dumm und blöde, hatte
keinen Verſtand, und konnte kaum
ſprechen.
Ja, ihre Wirkungen ſind noch ärger.
Bey einem melancholiſchen Tempera-
[405] ment kann Längeweile allein endlich
zum Selbſtmorde führen. Ein trockner
Schriftſteller hatte ein ſehr weitläufiges
Werk vom Selbſtmord geſchrieben. Er
begegnete einſt einem andern Engländer,
der alle Zeichen des gröſsten Tiefſinns
an ſich trug. Wo wollen Sie hin, mein
Freund? ſagte der Autor. — Nach der
Themſe, um mich zu erſäufen. — O,
ſo bitte ich Sie, erwiderte der Autor,
gehen Sie nur noch dieſsmal wieder
nach Hauſe und leſen Sie erſt mein Werk
über den Selbſtmord. — Gott ſoll mich
bewahren, antwortete jener, eben das
Durchleſen dieſes verwünſcht langwei-
ligen Buchs hat mir einen ſo entſezli-
chen Verdruſs erweckt, daſs ich nun feſt
entſchloſſen bin, mich zu erſäufen.
Aber, was in aller Welt iſt das Mittel
gegen die lange Weile, höre ich fragen;
ſie begleitet uns auf den Ball, ins Schau-
ſpielhaus, an den Theetiſch, auf die
Promenade, genug, nirgends mehr
kann man ſich vor ihr retten? — Sehr
[406] wahr, alles dieſs hilft nichts. Es giebt
nur ein einziges, aber freylich nicht be-
liebtes, Mittel dagegen, und das iſt:
Beſtimmte Berufsarbeit.
[407]
X.
Ueberſpannte Einbildungskraft — Krank-
heitseinbildung — Empfin-
deley.
Die Phantaſie ward uns zur Würze des
Lebens gegeben, aber, ſo wenig die
phyſiſche Würze tägliche Nahrung wer-
den darf, eben ſo wenig darf das geiſtige
Leben dieſe Seelenwürze misbrauchen.
Zwar exaltirt man dadurch ſein Lebens-
gefühl, aber man beſchleunigt auch das
[408] intenſive Leben und die Lebensaufrei-
bung, und hindert die Reſtauration, wie
das ſchon die Magerkeit ſolcher Leute
von feuriger Imagination beweiſt. Ue-
berdieſs disponirt man dadurch den
Körper zu plözlichen und gewaltſamen
Revolutionen, die Lebensgefährlich
werden können, weil bey überſpannter
Imagination ein kleiner Funken die ge-
waltigſte Exploſion bewirken kann. —
Wer alſo lange zu leben wünſcht, der
laſſe dieſe Seelenkraft nie zu ſehr die
Oberherrſchaft gewinnen, und nie ei-
nen fortdauernd exaltirten Zuſtand be-
wirken; ſondern er benutze ſie dazu,
wozu ſie uns gegeben ward, den ſchönen
Augenblicken des Lebens einen noch
höhern Glanz zu geben, die ſchaalen
und unſchmackhaften zu würzen und
die traurigen zu erheitern.
Beſonders kann ſie dem Leben ſehr
nachtheilig werden, wenn ſie gewiſſe
Richtungen nimmt, die durch ihre Ne-
[409] benwirkungen doppelt ſchaden, und da
ſcheinen mir zwey vorzüglich gefähr-
lich: die Krankheitseinbildung und die
Empfindeley.
Die erſtere Imaginationskrankheit
iſt hauptſächlich ein Eigenthum der Hy-
pochondriſten, kann aber auch bey
Nichtärzten dadurch erzeugt werden,
wenn ſie zuviel mediziniſche Schriften
leſen, die ſie denn, nicht wie der Arzt,
auf die Kunſt, ſondern auf ihre eigne
Perſon anwenden, und aus Mangel hin-
reichender Kenntniſſe ſehr leicht irrig
deuten (ein neuer Grund, ſich vor dieſer
Lectüre zu hüten). Ich habe erſtaunli-
che Beyſpiele davon geſehen; nicht al-
lein Leute, die ſich bey völlig geraden
Naſen feſtiglich einbildeten, ſchiefe Na-
ſen zu haben, die ſich bey einem ſehr
ſchmächtigen Bauch nicht von der Idee
abbringen lieſsen, die Waſſerſucht im
höchſten Grade zu haben u. dgl., ſondern
ich habe eine Dame geſehen, die man
[410] nur mit einiger Aufmerkſamkeit nach
einem örtlichen Zufall zu fragen brauch-
te, um ihn auch ſogleich zu erregen;
ich fragte nach Kopfweh, und es ent-
ſtand, nach Krämpfen in dem Arm,
nach Schluchſen, und die Krämpfe
und der Schluchſen waren auf der
Stelle da.
Tulpius erzählt das Beyſpiel eines
Menſchen, der durch das Leſen vieler
mediziniſchen und chirurgiſchen Bücher
wahnſinnig wurde.
Monro ſah einen Menſchen, der un-
ter Boerhaave Medizin ſtudirte, und Hy-
pochondriſt dabey war. So oft er einer
Vorleſung des Boerhaave beygewohnt
hatte, bildete er ſich allemal ein, auch
die Krankheit zu haben, die vorgetra-
gen worden war. Auf dieſe Art war er
der beſtändige lebendige Commentar der
Krankheitslehre, und er hatte kaum
die Hälfte dieſes angreifenden medizini-
[411] ſchen Curſus durchgemacht, als er im
äuſſerſten Grade elend und abgezehrt
war, und dieſs Studium ganz aufgeben
muſste. — Ja man hat ſogar ein Bey-
ſpiel, daſs ſich einer einbildete, wirk-
lich geſtorben zu ſeyn, und faſt darüber
verhungert wäre, wenn ihn nicht ein
Freund, der ſich auch tod ſtellte, über-
redet hätte, daſs es auch in der andern
Welt Sitte wäre, ſich täglich ſatt zu
eſſen.
Der Schaden dieſer Krankheitsein-
bildungen liegt nicht allein darinn, daſs
dadurch ewige Furcht und Angſt unter-
halten und manche Krankheit wirklich
dadurch erzeugt wird, weil man ſich
einbildet, ſie zu haben, ſondern auch,
daſs nun das unnütze und widerſinnigſte
Mediziniren gar kein Ende nimmt, wel-
ches den Körper oft ſchneller aufreibt,
als die Krankheit ſelbſt, wenn ſie da
wäre.
[412]
Nicht weniger ſchädlich iſt die
zweyte Krankheit der Einbildungskraft,
die Empfindeley, die romanhafte Denk-
art, die traurige Schwärmerey. Es iſt
ganz einerley, ob man die traurigen Be-
gebenheiten ſelbſt erlebt, oder durch
Romanen und Empfindeley ſich ſo leb-
haft macht, daſs man eben das nieder-
ſchlagende Gefühl davon hat. Ja es iſt
in ſo fern noch nachtheiliger, weil es
dort ein natürlicher Zuſtand, hier aber
ein erkünſtelter und alſo deſto angrei-
fenderer Affect iſt. Wir haben geſehen,
wie äuſserſt ſchädlich Traurigkeit für
alle Lebenskraft und Bewegung iſt.
Man kann alſo leicht denken, wie de-
ſtruirend eine ſolche Seelenſtimmung
ſeyn muſs, die beſtändigen Trübſinn
zum Gefährten des Lebens macht, die
ſogar die reinſten Freuden mit Thrä-
nen und herzbrechenden Empfindun-
gen genieſst. Welche Tödtung al-
ler Energie, alles frohen Muths! Ge-
wiſs, ein Paar Jahre in einem ſol-
[413] chen Herzenszwange zugebracht, kön-
nen das Leben um ein anſehnliches ver-
kürzen.
[414]
XI.
Gifte
ſowohl phyſiſche als contagiöſe.
Wir verſtehen darunter alle die Sub-
ſtanzen, die ſchor in geringer Menge
ſehr nachtheilige oder zerſtörende Wir-
kungen in dem menſchlichen Körper
hervorbringen können. Es giebt deren
ſehr viele in der Natur, und von man-
nichtfaltiger Art; einige wirken heftig,
andere ſchleichend, einige ſchnell, andere
langſam, einige von auſſen, andere von
innen, einige ſichtbar, andere unſichtbar,
und es iſt nicht zu leugnen, daſs ſie un-
ter die allgemeinſten und gefährlichſten
Feinde des Lebens gehören.
[415]
Ich halte es daher für ſehr noth-
wenig und für einen weſentlichen Theil
der allgemeinen Bildung und Kultur des
Menſchen, daſs ein jeder dieſe Gifte er-
kennen und vermeiden lerne, weil man
ſonſt durch bloſse Unwiſſenheit und Un-
achtſamkeit unzählichen Vergiftungen
ausgeſezt iſt. Das Thier hat Inſtinkt,
um die Gifte zu erkennen und zu fliehen,
der Menſch Vernunft und Erfarung;
aber noch wird dieſe bey weitem nicht
allgemein genug über dieſen Gegenſtand
benuzt. Dieſs iſt hier mein Zweck, ſol-
che allgemeine Kenntniſſe und Begriffe
mitzutheilen, die jeder Menſch zur Ver-
meidung dieſer Lebensfeinde zu wiſſen
nöthig hat.
Es iſt ein ſehr nachtheiliges Vorur-
theil, daſs man nur das gewöhnlich für
Gift hält, was durch den Mund in uns
aufgenommen wird. Durch alle,
ſowohl äuſſerliche als innerliche Flächen
und Theile unſers Körpers können wir
vergiftet werden; in ſo fern ſie alle Ner-
[416] ven und einſaugende Gefäſse haben;
alſo durch Mund und Magen, durch
den Maſtdarm, durch die ganze Ober-
fläche der Haut, die Naſenhöhle, die
Ohren, die Geſchlechtstheile, die Lun-
ge (durch Hülfe der Luft). Der Unter-
ſchied liegt blos darinne, daſs die Wir-
kung in manchen Theilen langſamer, in
manchen ſchneller erfolgt, auch daſs
manche Gifte vorzüglich auf dieſen, an-
dre auf jenen Theil wirken.
Ich theile alle Gifte in zwey Klaſſen,
die phyſiſchen und die contagiöſen, wel-
che leztern ſich dadurch unterſcheiden,
daſs ſie ſich immer in einem lebenden
Körper erzeugen, und die Kraft beſitzen,
in einem andern das nämliche Gift her-
vorzubringen.
Unter den phyſiſchen iſt die Kennt-
niſs folgender vorzüglich nöthig:
Das Arſenik, Operment, unter dem
Namen Rattengift am meiſten bekannt,
das
[417] das heftigſte unter allen Giften. Es
tödtet in den kleinſten Doſen (5-6 Gran
ſind hinreichend) unter den grauſamſten
Schmerzen, und ſehr ſchnell. Unzählig
ſind die Fälle, wo ſich Menſchen da-
durch den grauſamſten Tod gaben, und
zwar weit mehr aus Unwiſſenheit und
Leichtſinn, als aus Abſicht. Ich glaube
daher, es wäre weit beſſer, dieſes
ſchreckliche Gift ganz aus der menſchli-
chen Geſellſchaft zu verbannen, insbe-
ſondere da es von ſo wenig Nutzen iſt,
der ſich im Publikum faſt lediglich auf
Tödtung der Mäuſe und Ratten ein-
ſchränkt. Wenigſtens ſollte es ſchlech-
terdings bey keinem Materialiſten und
Würzkrämer, in keinem Laden, wo
Zucker, Kaffee und andere Conſumtibi-
lien vorräthig ſind, verkauft werden.
Bis dahin halte ichs wenigſtens für
Pflicht, auf einige Arten aufmerkſam
zu machen, wodurch Arſenikvergiftung
ſehr leicht möglich wird, und ſchon oft
geſchehen iſt, und dafür zu warnen. Eine
der häufigſten iſt die Abſicht, Mäuſe und
D d
[418] andre Thiere damit zu tödten. Wenn
man bedenkt, wie viele Menſchen ſchon
durch ſolches Gift ums Leben gekom-
men ſind, das man Mäuſen beſtimmt
hatte, ſo ſollte man doch am Ende dieſe
Gewohnheit ganz unterlaſſen. Man
glaube nicht, daſs groſse Vorſicht dabey
allen Schaden unmöglich mache. Die
gröſste Vorſicht iſt dieſs nicht ganz zu
verhüten im Stande. So weiſs ich ein
Beyſpiel, wo eine im Keller ſtehende
friſche Milch durch Mäuſe vergiftet
wurde, die vorher Rattengift genoſſen,
und hierauf von dieſer Milch geſoffen
hatten. Weit beſſer iſts, ſich zu dieſem
Behuf der Krähenaugen (Nux Vomica)
zu bedienen, die dem Menſchen weit
weniger ſchädlich und den Thieren äuſ-
ſerſt giftig ſind. Eine andre weniger be-
merkte Vergiftungsart mit Arſenik iſt
die durch arſenikaliſche Mahlerfarben.
Mahler von Profeſſion wiſſen ſich dage-
gen ſchon mehr zu ſchützen; aber Dilet-
tanten und Kinder ſollten beym Ge-
brauch ſolcher Farben ſehr vorſichtig
[419] ſeyn, und am wenigſten die üble Ge-
wohnheit annehmen, die Pinſel durch
den Mund zu ziehen. Eben ſo gefähr-
lich ſind Spielſachen, mit arſenikaliſchen
Farben bemahlt, welches durchaus nicht
geſtattet werden ſollte. Noch rathe ich
endlich, ſich für einer Arſenikvergiftung
zu hüten, welche Quackſalber und her-
umziehende Charlatans ausüben. Sie
verkaufen häufig Tropfen wider das
kalte Fieber, die nichts anders als Arſe-
nik enthalten, und die zwar das Fieber
oft auf der Stelle heilen, aber hinter-
drein Auszehrung und tödliche Folgen
erregen. Man hüte ſich ums Himmels
willen für ſolchen Arcanen.
Ein nicht weniger furchtbares Gift
iſt das Bley. Es iſt in ſo fern vielleicht
noch furchtbarer, als Arſenik, weil es
langſamer und ſchleichender wirkt, ſich
nicht ſogleich durch heftige Wirkungen
zu erkennen giebt, und weil man da-
durch ſchon völlig vergiftet ſeyn kann,
ehe man es noch weiſs, daſs man ver-
D d 2
[420] giftet iſt. Hier alſo beſonders ſind ge-
wiſſe Vergiftungsarten möglich, die ein
groſser Theil des Publikums gar nicht
bemerkt, und auf die ich hier aufmerk-
ſam machen muſs. Die erſte iſt, wenn
man täglich etwas Bley mit Speiſen und
Getränken zu ſich nimmt, ſo können
zulezt, oft erſt nach Jahren, die fürch-
terlichen Zufälle einer unheilbaren Bley-
vergiftung ausbrechen. Dieſs geſchieht,
wenn man die Speiſen in zinnernen,
viel Bley enthaltenden Geſchirren, oder
auch in ſolchen, die ſehr ſchlecht gla-
ſurt ſind, kochen läſst, oder wenn man
mit Bley verfälſchten Wein trinkt (wel-
ches durch die Hahnemannſche Wein-
probe am beſten zu entdecken iſt). —
Eine andre Art von ſehr gewöhnlicher
Bleyvergiftung iſt das Schminken mit
Bleykalchen, bleyiſchen Waſchwaſſern
u. dgl. Alle Schminken ſind ſchädlich,
aber am meiſten die weiſſen, weil ſie
faſt alle Bleykalch enthalten und die
Bleytheilchen durch die Haut eben ſo
gut wie durch den Magen in uns kom-
[421] men können. Endlich iſt auch die Bley-
vergiftung von friſch mit Bleyweiſs oder
Oelfirniſs gemahlten Zimmern nicht zu
vergeſſen. Wer dieſe zu bald bewohnt,
der kann das Gift vorzüglich ſeiner Lun-
ge mittheilen und engbrüſtig auch
hectiſch werden. Ueberhaupt ſind die
Zeichen und Wirkungen der Bleyvergiſ-
tung dieſe: Kolikſchmerzen, Trocken-
heit und hartnäckige Verſtopfung des
Stuhlgangs, Lähmung der Arme, auch
wohl der Füſse, endlich gänzliche Ver-
trocknung des Körpers und der Tod
durch Abzehrung.
Hieher gehören ferner die Queckſil-
ber-Spieſsglas- und Kupferzubereitungen,
welche alle als ſchädliche Gifte zu be-
trachten ſind, und wobey beſonders für
dem Kochen in kupfernen Geſchirren zu
warnen iſt. Selbſt die meiſten Mittel-
ſalze, wenn ſie in zu ſtarker Menge auf
einmal und nicht hinlänglich in Waſſer
aufgelöſet genommen werden, können
als Gifte wirken. Es ſind mir einige
[422] Beyſpiele vorgekommen, wo zwey, drey
Loth Salpeter oder Alaun, den man ſtatt
Glauberſalz auf einmal nahm, alle Zu-
fälle einer heftigen Vergiftung erregten,
die nur mit Mühe gedämpft werden
konnten.
Das Pflanzenreich enthält eine Men-
ge Gifte, die theils betäubend tödten
(als Opium, Belladonna), theils durch
Schärfe, Entzündung und Brand (als
Mezereum, Euphorbium). Sehr häufig
wird auch hier durch Unwiſſenheit ge-
fehlt. Unzählig ſind die Beyſpiele, wo
man ſtatt Körbel Cicuta zum Sallat, ſtatt
Paſtinakwurzeln Bilſenkrautwurzeln
zum Gemüſse, ſtatt eſsbarer Schwämme
giftige, oder die Beeren von der Toll-
kirſche, vom Seidelbaſt u. dgl. genoſs,
und ſich dadurch den Tod zuzog. Es
ſollte alſo durchaus in den Schulen ei-
nem jeden Menſchen der nöthige Unter-
richt über die in ſeiner Gegend wach-
ſenden Giftpflanzen mitgetheilt werden,
und, da mir hier der Raum verbietet,
[423] ſie einzeln durchzugehen, ſo will ich
hier ein Buch empfehlen, woraus man
dieſe Kenntniſs am beſten und vollkom-
menſten erhält. *)
Die in Teutſchland gefährlichſten
Giftpflanzen, deren Kenntniſs und Ver-
meidung am nöthigſten iſt, ſind: Toll-
kirſche (Belladonna), Schierling (Cicuta),
Bilſenkraut (Hyoſcyamus), Eiſenhüt-
lein (Aconitum), der rothe Fingerhut
(Digitalis), Nachtſchatten (Solanum),
Wolfskirſche (Eſula), das Tollkorn (Lo-
lium temulentum), Kellerholz (Daphne),
mehrere Arten Ranunculus, der giftige
Lattich (Lactuca viroſa), der Kirſchlor-
beer (Lauroceraſus). Auch die bittern
Mandeln gehören hieher, welche nach
den neueſten Erfarungen ein äuſſerſt
tödliches Gift enthalten, das dem Gift
des Kirſchlorbeers nichts nachgiebt.
[424]
Selbſt die Luft kann vergiftet ſeyn,
in der wir leben, und ſo können wir
entweder ſchnell oder ſchleichend ge-
tödet werden. Ich rechne dahin vor al-
len das Gift, was wir ſelbſt der Luft
durchs Leben und Athemholen mitthei-
len. Lebende Geſchöpfe zehren in ei-
ner gewiſſen Quantität Luft den reinen
Stoff oder die Lebensluft auf, und thei-
len ihr dafür unreine und nicht zum
Athmen taugliche Stoffe mit. Iſt eine
groſse Menge Menſchen in einen kleinen
Raum eingeſchloſſen, ſo kann es bald
tödlich werden *) Iſt der Raum gröſser,
und die Menge kleiner, ſo iſt es zwar
nicht tödlich, aber dennoch ſchädlich.
Man vermeide daher Oerter, wo ſolche
unverhältniſsmäſsige Menſchenmaſſen
zuſammengepreſst ſind, vorzüglich wenn
ſie nicht genug Höhe oder Luftzugang
[425] von auſſen haben. Am häufigſten iſt
dieſs in Schauſpielhäuſern der Fall. Eins
der ſicherſten Kennzeichen dieſer Luft-
vergiftung iſt: wenn die Lichter nicht
hell mehr brennen wollen, oder wohl
gar hie und da von ſelbſt ausgehen. In
eben dem Verhältniſs wird ſie auch zum
Leben untauglich, denn Feuer und Le-
ben brauchen einerley Theile aus der
Luft zu ihrer Erhaltung. Wer ſein
Wohn- oder Schlafzimmer beſtändig feſt
verſchloſſen hält, der übt eine ähnliche
langſame Vergiftung an ſich aus. Auf
ähnliche Art kann die Luft vergiftet wer-
den, wenn eine groſse Menge Lichter
zugleich in einem eingeſchloſsnen Zim-
mer brennen. Eben ſo, wenn man glü-
hende Kohlen in eine eingeſchloſsne
Kammer ſezt, und dabey einſchläft, wo-
durch ſchon öfter der Tod erfolgte.
Auch, wenn man des Nachts ſehr viele
Pflanzen und Gewächſe in einem einge-
ſchloſsnen Zimmer bey ſich hat, ſo er-
leidet die Luft eine ähnliche Art von Ver-
giftung, da hingegen dieſelben Pflanzen
[426] bey Tage und im Sonnenſchein die Luft
geſünder machen. Nicht weniger iſt
die Ausdünſtung faulichter Subſtanzen
das zu thun fähig. Sogar die ſtark rie-
chenden Ausdünſtungen der Blumen
können der Luft in einem eingeſchloſs-
nen Zimmer ſchädliche, ja tödliche Ei-
genſchaften mittheilen, daher es nie zu
rathen iſt, ſtark riechende Blumen, Oran-
gen, Narciſſen, Roſen u. ſ. w. in die
Schlafkammer zu ſtellen.
Aber weit wichtiger und furchtba-
rer noch ſcheint mir die Klaſſe der con-
ragiöſen Gifte, zu der ich nun komme,
und ich erbitte mir hierbey die gröſste
Aufmerkſamkeit. Von jenen phyſiſchen
Giften bekommt man wohl noch allen-
falls Unterricht, man hat Bücher dar-
über, man kennt und flieht ſie. Ganz
anders mit den contagiöſen, man hat ih-
nen gleichſam, als unvermeidlichen und
nothwendigen Uebeln, das Bürgerrecht
geſtattet, man kennt ſie gar nicht als
Gifte, ſondern nur von Seiten der Krank-
[427] heiten, die ſie erregen, man vergiftet
und wird vergiftet, und treibt dieſen
fürchterlichen Tauſchhandel täglich und
ſtündlich, ohne daſs ein Menſch dabey
weiſs oder denkt, was er thut. Die
phyſiſchen Gifte ſind, wie ſichs gehört,
dem Polizeygeſetze unterworfen, der
Staat ſorgt für ihre Verwahrung und
Einſchränkung, und man betrachtet und
behandelt den, der ſie einem andern wiſ-
ſentlich beybringt, als einen Verbrecher;
um die contagiöſen hingegen bekümmert
ſich keine Polizey, kein Geſetz, ſie wü-
then ungeſtöhrt unter uns fort, der
Mann vergiftet die Frau, der Sohn den
Vater, und kein Menſch fragt darnach.
— Die phyſiſchen Gifte endlich ſchaden
doch nur dem Individuum, das ſie ſich
beybringt, hingegen die contagiöſen be-
ſitzen die beſondere Kraft, ſich in jedem
lebenden Weſen zu reproduzieren und
ins Unendliche zu erzeugen, ſie ſchaden
alſo nicht blos dem Vergifteten, ſon-
dern machen ihn nun wieder zu einer
neuen Giftquelle, wodurch ganze Orte
[428] und Gegenden vergiftet werden kön-
nen.
Ich könnte hier die traurigſten Bey-
ſpiele anführen, von Menſchen, die blos
durch Unwiſſenheit auf ſolche Weiſe
vergiftet wurden, von andern, die an-
dere, oft ihre nächſten Freunde, vergif-
teten, blos weil ſie dieſe Arten der Gifte
und ihrer Mittheilung nicht kannten.
Ich halte dieſe Kenntniſs für ſo nothwen-
dig und für noch ſo ſehr im Publicum
mangelnd, daſs ich mit Vergnügen dieſe
Gelegenheit ergreife, etwas unterrich-
tendes darüber zu ſagen.
Contagiöſe Gifte heiſsen diejenigen,
die ſich nie anders als in einem leben-
den thieriſchen Körper erzeugen und
die Kraft beſitzen, wenn ſie einem an-
dern mitgetheilt werden, ſich in dem-
ſelben zu reproduziren, und die nehm-
liche Verderbniſs und Krankheit hervor-
zubringen, die der erſte hatte. Jede
Thierklaſſe hat ihre eignen, die auf an-
[429] dere nicht wirken. So hat das Men-
ſchengeſchlecht die ſeinigen, welche
den Thieren nichts anhaben, z. E. das
veneriſche Gift, das Pockengift etc., die
Thiere hingegen die ihrigen, die nicht
auf den Menſchen wirken, z. E. das
Hornviehſeuchengift, das Rozgift bey
Pferden. Nur eins iſt mir bekannt, was
Thieren und Menſchen eigen iſt, das
Wuthgift. Man nennt ſie auch Anſte-
ckungsgifte, Contagien, Miasmen.
Ein ſehr merkwürdiger Unterſchied
unter ihnen iſt der, daſs ſich manche nie
wieder von neuen, ohne äuſſere Anſte-
ckung, erzeugen, wie z. E. das veneri-
ſche Gift, das Blattergift, das Maſern-
gift, das Peſtgift, das Ausſatzgift, an-
dere hingegen können immer noch von
neuen, ohne Anſteckung, blos durch
gewiſſe im thieriſchen Körper entſtehen-
de Veränderungen und Verderbniſſe her-
vorgebracht werden, z. B. das Kräzgift,
das Fäulniſsgift, das Schwindſuchtsgift
u. ſ. w. Man hat daher ſchon oft ge-
[430] fragt: wie wohl die Gifte der erſtern
Klaſſe entſtanden ſeyn mögen? und es
iſt ſchwehr dieſe Frage zu beantworten;
indeſs erlaubt uns die Analogie der lez-
tern Klaſſe anzunehmen, daſs ſie auch
zuerſt im menſchlichen Körper erzeugt
worden ſind, aber durch eine ſo ſeltne
Konkurrenz innrer und äuſsrer Umſtän-
de, daſs Jahrtauſende dazu gehören, ehe
ſo etwas wieder möglich iſt. Es folgt
aber auch hieraus, daſs dieſe Gifte, da
ſie immer, um fortzudauern, in einem
lebenden Körper reproduzirt werden
müſſen, auch wieder aufhören können,
ſobald ihnen durch Zufall oder durch
abſichtliche Anſtalten dieſe Gelegenheit
benommen wird, ſich wieder zu erzeu-
gen (ein tröſtlicher Gedanke, auf dem
die Ausrottung oder wenigſtens Verwei-
ſung derſelben aus manchen Gegenden
beruht, und von deſſen Wahrheit uns
einige ſolche Gifte überzeugen, welche
ſonſt ſehr gewöhnlich unter uns waren,
aber jezt durch weiſe Anſtalten unter
den cultivirten Nationen ausgerottet
[431] ſind, z. E. das Peſtgift, das Ausſatzgift).
Aber eben ſo gegründet iſt auch die Fol-
ge, daſs durch eine neue Konkurrenz
ungewöhnlicher Umſtände und Verderb-
niſſe im thieriſchen Körper, auch noch
ganz neue Gifte der Art hervorgebracht
werden können, von denen die Welt
bisher nichts wuſste.
Es gehört aber zur Wirkung aller
dieſer Giftarten nicht blos (wie bey an-
dern) die Mittheilung oder Anſteckung
von auſſen, ſondern auch eine gewiſſe
Diſpoſition oder Empfänglichkeit des
Körpers, ſie aufzunehmen. Daher das
merkwürdige Phänomen, daſs manche
Menſchen ſehr leicht, manche ſehr
ſchwehr, manche gar nicht vergiftet
werden können, ja daſs manche dieſer
Gifte nur einmal auf uns wirken kön-
nen, weil durch eine Vergiftung die
ganze fernere Empfänglichkeit dafür
auf immer aufgehoben wird, wie wir
ſolches bey dem Blattern- und Maſern-
gift wahrnehmen.
[432]
Die Mittheilung ſelbſt kann zwar
ſcheinbar auf ſehr mannigfaltige Art ge-
ſchehen, aber immer reduzirt ſie ſich
auf den einfachen Grundſatz: Es gehört
durchaus unmittelbare Berührung des
Gifts ſelbſt dazu, wenn es ſich mittheilen
ſoll. Nur muſs man dieſs recht verſte-
hen. Dieſe unmittelbare Berührung des
Gifts kann ſowohl an dem Körper des
Kranken, als auch an einem andern Kör-
per geſchehen, mit dem ſich das Gift
verbunden oder an dem es ſich ange-
hängt hat, z. E. abgeſonderte Theile des
Kranken, Ausleerungsſäfte, Kleidung,
Meubles u. dgl. Nur äuſſerſt wenige
Gifte dieſer Art haben die Eigenſchaft,
ſich auch in der Luft aufzulöſen, z. E.
das Blattergift, Maſerngift, Faulfieber-
gift, aber dieſe Luftauflöſung bleibt nur
in der Nähe des Kranken giftig, oder,
mit andern Worten, nur die nahe At-
mosphäre des Kranken iſt anſteckend.
Wird ſie aber durch mehr zudringende
Luft vermiſcht und verdünnt, ſo geht es
ihr wie jeder Giftauflöſung, (z. E. Subli-
mat)
[433] mat) ſie hört am Ende auf giftig zu wir-
ken, d. h. in die Entfernung kann das
Gift durch Luft nicht fortgetragen
werden.
Meine Abſicht iſt hier vorzüglich,
das nichtmediziniſche Publikum in den
Stand zu ſetzen, dieſe Gifte zu vermei-
den, oder doch (was gewiſs jedem gut-
denkenden nicht gleichgültig ſeyn kann)
ſie, wenn man vergiftet iſt, wenigſtens
nicht andern mitzutheilen. Ich werde
daher zuerſt einige allgemeine Regeln
angeben, wie man ſich vor Anſteckung
überhaupt ſichern kann, und denn die,
bey uns am häufigſten vorkommenden.
Gifte der Art einzeln durchgehen, und
ihre Erkenntniſs und Verhütung be-
ſtimmen.
Die beſten Mittel, wodurch ſich der
Menſch überhaupt für Anſteckungen
von jeder Art ſchützen kann, beſtehen
in folgenden Regeln:
E e
[434]
1. Man beobachte die gröſste Rein-
lichkeit, denn durch die äuſſere Ober-
fläche werden uns die meiſten Gifte die-
ſer Art mitgetheilt, und es iſt erwieſen,
daſs ſchon wirklich mitgetheilte Gifte
durch Reinigungen wieder entfernt wer-
den konnten, ehe ſie noch uns wirklich
eigen wurden. Ich rechne dahin, das
öftre Waſchen, Baden, Ausſpülen des
Mundes, Kämmen, den öftern Wechſel
der Wäſche, Kleider, Betten.
2. Man ſorge für reine Luft im Zim-
mer, für öftern Genuſs der freyen Luft,
und mache ſich fleiſsig körperliche Be-
wegung. Dadurch erhält man die Aus-
dünſtung und die Lebenskraft der Haut,
und je thätiger dieſe iſt, deſto weniger
hat man von äuſsrer Anſteckung zu
fürchten.
3. Man erhalte guten Muth und
Heiterkeit der Seele. Dieſe Gemüths-
ſtimmung erhält am beſten die gegen-
wirkende Kraft des Körpers, freye Aus-
[435] dünſtung und den Trieb der Säfte nach
auſſen, wodurch gar ſehr die Aufnahme
der Contagien gehindert wird. Dieſe
Regel iſt beſonders bey herrſchenden
Faulfiebergiften zu empfehlen, daher
dann auch ein gut Glas Wein ſo nüz-
lich iſt.
4. Man vermeide alle nähere Berüh-
rung mit Menſchen, die man nicht,
auch von Seiten ihres Phyſiſchen, ganz
genau kennt; vorzüglich die Berührung
mit Theilen, die gar keine oder eine
äuſſerſt feine Oberhaut haben, z. E. ver-
wundete Stellen, Lippen, Bruſtwarzen,
Zeugungstheile, als wodurch die Ein-
ſaugung am ſchnellſten geſchehen kann.
Aber auch die Berührung ſolcher Sub-
ſtanzen gehört hieher, die noch Theile
oder Ausleerungen von Menſchen ſeit
kurzen erhalten haben können, z. E.
der eben von andern gebrauchten
Trinkgläſer, Hemden, Unterkleider,
Handſchuhe, Tabakspfeifen, Secreto
u. dergl.
E e 2
[436]
5. Wenn anſteckende Krankheiten
an einem Orte herrſchen, ſo empfehle
ich ſehr die Regel, nie nüchtern auszu-
gehen, weil man nüchtern am leichte-
ſten von auſſen einſaugt, ſondern immer
erſt etwas zu genieſſen, auch, wenn
man es gewohnt iſt, vorher eine Pfeife
Tabak zu rauchen.
Nun zur Betrachtung der bey uns
vorkommenden einzelnen Anſteckungs-
gifte.
1. Das veneriſche Gift.
Traurig iſt das Loos der neuern Zei-
ten, in denen dieſes Gift erſt bekannt
und verbreitet worden iſt, und traurig
das Gefühl, was den Menſchenfreund
bey Betrachtung deſſelben und ſeiner
Fortſchritte befällt! Was ſind alle, auch
die tödlichſten Gifte, in Abſicht auf die
Menſchheit im Ganzen, gegen das
veneriſche? Dieſs allein vergiftet die
Quellen des Lebens ſelbſt, verbittert
den ſüſseſten Genuſs der Liebe, töd-
[437] tet und verdirbt die Menſchenſaat
ſchon im Werden und wirkt alſo
ſelbſt auf die künftige Generation,
ſchleicht ſich ſelbſt in die Zirkel ſtiller
häuslicher Glückſeligkeit ein, trennt
Kinder von Eltern, Gatten von Gatten,
und löſet die heiligſten Bande der
Menſchheit. Dazu kommt noch, daſs
es zu den ſchleichenden Giften gehört,
und ſich gar nicht immer gleich
durch heftige und Aufmerkſamkeit erre-
gende Zufälle verräth. Man kann ſchon
völlig vergiftet ſeyn, ohne es ſelbſt zu
wiſſen, woher die üble Folge entſteht,
daſs man es gewöhnlich erſt recht allge-
mein und tief einwurzeln läſst, ehe man
die nöthigen Mittel dagegen anwendet,
und auch wohl noch andere vergiftet,
ohne es zu wollen oder zu wiſſen. Eben
deswegen kann man auch oft nicht ein-
mal ganz gewiſs ſeyn, ob man völlig
hergeſtellt iſt oder nicht, und muſs oft
ſein ganzes Leben in dieſer tödlichen
Ungewiſsheit zubringen. Und iſt es
denn zu ſeiner ganzen Höhe gelangt,
[438] welche abſcheuliche Zerſtöhrungen rich-
tet es im menſchlichen Körper an! Die
ſcheuslichſten Geſchwühre bedecken den
ganzen Körper, die Knochen werden
zernagt, ganze Theile ſterben ab, Naſen-
und Gaumenknochen gehen verloren,
und mit ihnen Wohlgeſtalt und Sprache;
die peinlichſten Schmerzen im innern
Mark der Knochen foltern den Unglück-
lichen, beſonders des Nachts, und ver-
wandeln die Zeit der Ruhe in die quaal-
vollſte Tortur.
Genug, das veneriſche Gift vereint
alles, was nur ein Gift peinliches, ekel-
haftes, langwieriges und fürchterliches
haben kann, und mit dieſem Gifte trei-
ben wir Scherz, belegen es mit dem ar-
tigen gefälligen Namen der Galanterie-
krankheiten, tändeln damit, wie mit
Huſten und Schnupfen, und verſäumen
ſogar, ſowohl im Ganzen als im Einzel-
nen, die ſchicklichen Hülfsmittel zur
rechten Zeit dagegen anzuwenden?
Niemand denkt daran, den unaufhörli-
[439] chen Fortſchritten dieſer ſchleichenden
Peſt Einhalt zu thun, und mein Herz
blutet mir, wenn ich ſehe, wie das ſonſt
ſo blühende und robuſte Landvolk, der
eigentliche Kern für die Erhaltung einer
kräftigen Menſchheit, auch in unſern
Gegenden, wo es bisher noch den Na-
men dieſes Giftes nicht kannte, ſchon
anfängt, durch die Mittheilung der
Städte davon angegriffen zu werden;
wenn ich Städte ſehe, wo es noch vor
20 Jahren eine Seltenheit war, und jezt
ſchon allgemein geworden iſt, und an-
dere, von denen es erwieſen iſt, daſs
zwey Drittheil der Einwohner veneriſch
ſind; — wenn ich in die Zukunft blicke,
und bey fernerer ungeſtöhrten Fortwir-
kung des Gifts es unvermeidlich finde,
daſs nicht zulezt alles, auch die ehrbar-
ſten Familien (durch Kindermägde, Am-
men etc.), davon angeſteckt werden, —
wenn ich die traurigſten Beyſpiele vor
mir ſehe (wie ich deren noch ganz kürz-
lich erlebt habe), wie die ſittlichſten,
ehrbarſten und ordentlichſten Menſchen,
[440] ohne Ausſchweifung und ohne es zu
wiſſen, davon angeſteckt, und ſelbſt die
Hütten der Unſchuld, ohne Verſchulden,
davon heimgeſucht werden können!
Es iſt die höchſte Zeit, dieſem um
ſich greifenden Verderben Einhalt zu
thun, und ich ſehe dazu kein ander Mit-
tel, als Sorgfalt für mehrere Sittlichkeit
(beſonders der höhern Stände), eine
gute Geſundheitspolizey und allgemei-
nere Aufklärung des Volks über die
Natur des Gifts, ſeine Gefahren und be-
ſonders ſeine Erkenntniſs- und Verhü-
tungsmittel. Das erſtere müſſen wir
weiſen Obrigkeiten überlaſſen (denen
dieſer Gegenſtand gewiſs nicht länger
mehr gleichgültig ſeyn wird); das lez-
tere will ich durch gegenwärtigen Un-
terricht zu bewirken ſuchen.
Zuerſt die Erkenntniſsmittel der
Vergiftung:
1. Wenn man kürzlich eine andere
Perſon, oder eine Sache, die animaliſche
[441] Theile enthalten kann, genau berührt
hat, und zwar mit zarten, wenig oder
keine Oberhaut habenden Theilen.
2. Wenn man nun längere oder
kürzere Zeit darnach (gewöhnlich bin-
nen 4 Wochen), an dieſem Orte eines
oder mehrere von folgenden Uebeln be-
merkt: Kleine Geſchwühre, die aber
ſpeckigt ausſehen und nicht heilen wol-
len, oder Warzen und kleine Fleiſch-
auswüchſe, oder Entzündung, oder ein
Ausfluſs von Schleim (wenn es ein
Schleim abſondernder Theil iſt), auch
Anſchwellungen, Schmerzen und Ver-
härtungen der Drüſen in der Nähe. —
Wenn ſolche Erſcheinungen vorkom-
men, dann iſt man ſchon vergiftet, ob-
wohl nur erſt örtlich, aber es iſt ſehr
nöthig, daſs man ſich ſogleich einem
geſchickten Arzte (keinem Charlatan oder
Barbierer), anvertraue, damit es ge-
dämpft werde, ehe es noch in die ganze
Saftmaſſe übergehe und allgemeine Ver-
giftung werde.
[442]
3. Wenn nun aber auch an entfern-
ten Theilen die Drüſen anſchwellen,
Ausſchläge von verſchiedner Geſtalt,
oder Geſchwühre, oder Fleiſchwarzen
entſtehen, insbeſondere, wenn der Gau-
men und Zapfen weh zu thun, oder die
Augen ſich zu entzünden, oder an der
Stirn immer rothe, grindigte, ſchwind-
artige Flecken aufzufahren anfangen,
dann erkennt man, daſs der ganze Körper
ſchon von dem Gifte durchdrungen iſt,
oder die allgemeine Anſteckung.
Die Regeln zur Verhütung der ve-
neriſchen Vergiftung reduziren ſich auf
folgende:
1. Man vermeide den vertrauten
Umgang mit einer Weibsperſon, von
deren guten Geſundheitszuſtand man
nicht die genaueſte Ueberzeugung hat.
Und da es nun einen Zuſtand der vene-
riſchen Krankheit geben kann, der
äuſſerlich durch gar nichts zu erkennen
iſt, ſo folgt, daſs man nie ſicher ſeyn
[443] kann, und daſs das einzige Präſervativ
bleibt, den auſſerehelichen Umgang mit
dem andern Geſchlecht ganz zu ver-
meiden.
2. Man küſſe niemand auf die Lip-
pen, von deſſen phyſiſchen Zuſtand man
keine genaue Kenntniſs hat. Es iſt da-
her ſehr unvorſichtig, das Küſſen, wie
es ſo häufig geſchieht, zu einer allge-
meinen Höflichkeitsbezeugung zu ma-
chen, und ſchrecklich iſt mirs, wenn
ich ſehe, wie artige Kinder auf den
Straſsen von jedem Vorübergehenden
geherzt werden. Dieſs ſollte man durch-
aus nicht geſtatten.
3. Man ſchlafe bey niemanden, den
man nicht genau kennt.
4. Man ziehe kein Hemd, kein Un-
terkleid an, bediene ſich keines Betts,
das kurz vorher eine andre Perſon ge-
braucht hat, die man nicht genau kennt.
Daher muſs man in Gaſthöfen entweder
[444] unter ſeinen Augen die Betten weiſs
überziehen laſſen, oder ſich ganz ange-
zogen nur oben darauf legen.
5. Man nehme nichts in den Mund,
was kurz vorher ein andrer im Munde
hatte, z. E. Tabakspfeifen, Blaſeinſtru-
mente; auch Trinkgeſchirre, Löffel u. ſ.
w. gehören dazu. *)
6. Man vermeide auf Abtritten ſorg-
fältig die Berührung der Gegend mit den
Zeugungstheilen, wo vielleicht kurz zu-
vor ein andrer vergifteter ſaſs. Eben
ſo viel Vorſicht iſt bey dem Gebrauch
publiker Klyſtierröhren, und andrer In-
ſtrumente nöthig.
7. Sehr wichtig und groſser Auf-
merkſamkeit werth iſt die Mittheilung
[445] durch die Brüſte. Eine veneriſche Amme
kann das Kind, und eben ſo ein veneri-
ſches Kind die Amme vergiften. Wie
ſorgfältig ſollte alſo jede Amme, vorzüg-
lich in groſsen Städten, erſt unterſucht
werden. Stoll fand einſt von vierzig,
die ſich zu einem Ammendienſt angebo-
ten hatten, nur eine unverdächtig und
ſicher. — Aber auch die Weiber, die
man zum Ausſaugen der Milch an man-
chen Orten braucht, ſind nicht gleich-
gültig. Sind ſie veneriſch, ſo können
ſie dieſs Gift der, welche ſie ausſaugen,
mittheilen, und man hat Beyſpiele, daſs
eine ſolche Perſon eine Menge recht-
ſchaffne Mütter infizirt hat.
8. Bey allen Geſchäften des Accou-
chements iſt groſse Vorſicht nöthig,
nicht allein für den Accoucheur, der,
wenn er eine kleine Wunde an den Hän-
den hat, ſehr leicht von einer veneri-
ſchen Gebährerin angeſteckt werden
kann, ſondern auch für die Gebährende,
denn auch ſie kann bey dieſem Geſchäft
[446] infizirt werden, wenn die Hebamme
veneriſche Geſchwühre an den Hän-
den hat.
2. Das Blattern- und Maſerngift.
Beyde Gifte zeichnen ſich dadurch
aus, daſs ſie allemal eine fieberhafte
Krankheit und einen Hautausſchlag, jene
von eiternden Puſteln und dieſe von
kleinen rothen Flecken, erregen, und
nur einmal in dem nehmlichen Subject
als Gift wirken können.
Man kann dieſe Gifte ſehr gut ver-
meiden, wenn man die Berührung des
Gifts vermeidet, alſo entweder die Be-
rührung des Kranken und ſeiner abge-
ſonderten Theile, oder ſolcher Dinge,
die er angerührt hatte, oder ſeiner na-
hen Atmosphäre. Denn, daſs das Blat-
tergift in die Entfernung durch Luft
fortgetragen werden und anſtecken kön-
ne, ſind längſt widerlegte Fabeln. — Es
iſt folglich unwiderleglich gewiſs, daſs
beyde Krankheiten nicht den Menſchen
[447] nothwendig ſind, daſs man ſie vermei-
den, und, wenn dieſs allgemein ge-
ſchieht, völlig ausrotten kann, (was
auch ſchon einzelne Länder ausgeführt
haben). Da aber zu dieſer allgemeinen
Wohlthat, ſo lange man noch nicht all-
gemein davon überzeugt iſt und ſelbſt
Aerzte noch hie und da dagegen ſind,
noch keine Hofnung iſt, ſo bleibt uns
nichts anders übrig, als das Gift, was
wir nun leider, unter den jetzigen Um-
ſtänden, als ein nothwendiges Uebel be-
trachten müſſen, möglichſt milde und
unſchädlich zu machen, und dazu giebt
es, nach allen Erfarungen, kein anderes
Mittel, als die künſtliche Mittheilung,
die Inoculation.
3. Das Kräzgift.
Ich verſtehe darunter den Stoff, der
ſich von einem Kräzigen auf den Geſun-
den fortpflanzen und ihm die Kräze mit-
theilen kann; ob er belebt oder unbe-
lebt ſey, iſt hier nicht der Ort zu ent-
ſcheiden, thut auch nichts zur Sache.
[448]
Dieſes Gift theilt ſich nur durch un-
mittelbare und zwar genaue Berührung,
nie durch die Atmosphäre, mit. Man
kann es alſo ſehr leicht vermeiden,
wenn man die Berührung kräziger Per-
ſonen, oder ſolcher Dinge, die ſie an
ſich getragen haben, vermeidet. Haupt-
ſächlich aber kann die gröſste Reinlich-
keit in Kleidung und Luft, und öfteres
Waſchen und Baden dieſe Krankheit
verhüten, daher man ſie bey reinlichen
Menſchen und vornehmern Ständen
weit ſeltner findet. Iſt man aber genö-
thigt, mit ſolchen Patienten zu leben,
und alſo nicht ganz ſicher die Berüh-
rung zu vermeiden, ſo empfehle ich
öfteres Waſchen der Hände und des
Geſichts mit Waſſer, worinnen in 2
Pfund 2 Loth Kochſalz und ½ Loth Sal-
peter aufgelöſet worden, als ein ſehr
kräftiges Präſervativmittel.
4. Das Faulſiebergift.
Es kann ſich bey jedem Faulfieber,
wenn es heftig wird, erzeugen, und ſich
dann
[449] dann nicht blos durchs Berühren, ſon-
dern auch durch die nahe Atmosphäre
des Kranken mittheilen. Man vermeide
daher die Annäherung ſolcher Kranken,
wenn man kann. Iſt das aber nicht
möglich, ſo beobachte man folgendes.
Man verſchlucke den Speichel nicht, ſo
lange man bey dem Kranken iſt, man
ſtelle ſich nicht ſo, daſs man den Athem
deſſelben auffängt, man berühre ihn
nicht, man gehe nicht in Pelzen oder
dicken wollnen Kleidern zu ihm (weil
darinn das Anſteckungsgift am meiſten
haftet), man wechſele die Kleidung,
waſche, ſpüle ſich den Mund aus, ſo-
bald man von dem Kranken kommt,
auch iſt es ſehr zuträglich, ſo lange man
da iſt, immer einen Schwamm mit Wein-
eſſig vor Mund und Naſe zu halten, oder
Tabak zu rauchen.
Dieſes Gift wird aber meiſtentheils
erſt durch Unwiſſenheit und Vorurtheil
der Menſchen erzeugt, und man kann
aus jedem einfachen Fieber ein Faulfie-
F f
[450] ber machen, wovon ich hier zur War-
nung noch etwas ſagen muſs. Am ge-
wöhnlichſten und gewiſſeſten geſchieht
dieſs, wenn man recht viele Kranke zu-
ſammenlegt (daher in Lazarethen, Ge-
fängniſſen und Schiffen werden die un-
bedeutendſten Fieber leicht Faulfieber),
wenn man die Luft im Krankenzimmer
nicht erneuert, wenn man den Kranken
recht in Federbetten einſcharrt und das
Zimmer recht heizt, wenn man ihn
gleich vom Anfang an Kraftbrühen,
Wein, Branntwein, Fleiſch zu genieſ-
ſen giebt, wenn man den Kranken nicht
umkleidet und reinlich hält, und wenn
man die innern Reinigungsmittel oder
die baldige Hülfe eines vernünftigen
Arztes verſäumt. Durch alles dieſs
kann ein jedes Fieber zu einem Faulfie-
ber gemacht werden, oder, welches
eben das iſt, das Fäulniſsgift in einer
Krankenſtube erzeugt werden, womit
alsdenn oft ganze Städte vergiftet wer-
den.
[451]
5. Das Wuthgift.
Dieſs erzeugt ſich bey Menſchen
und Thieren, welche die Wuth oder
Waſſerſcheue haben. Es iſt vorzüglich
dem Speichel beygemiſcht, und kann
nie durch die Luft, nicht einmal durch
bloſse Berührung mitgetheilt werden,
ſondern es gehört immer dazu, daſs es
entweder in eine Wunde (z. E. beym
Biſs) oder auf Theile mit ſehr zarter Epi-
dermis (z. E. Lippen, Genitalien) ge-
bracht werde. Man kann es daher durch
Vermeidung dieſer Applicationen ſehr
gut vermeiden. Vorzüglich aber ſind
drey Regeln dabey zu empfehlen. Man
halte keine unnützen Hunde, denn, je
mehr deren exiſtiren, deſto häufiger
kann dieſes Gift erzeugt werden. Man
gebe ihnen immer genug zu trinken,
laſſe ſie den Geſchlechtstrieb befriedigen,
und nicht zu ſchnell aus Hitze in Kälte
oder umgekehrt ſich begeben. Man be-
obachte und ſeparire jeden Hund wohl,
der mit einemmale anfängt nicht zu ſau-
fen, ein ganz ungewöhnliches Betragen
F f 2
[452] anzunehmen, ſeinen Herrn nicht zu
kennen, heiſer zu bellen, und man gehe
jedem, der verdächtig ausſieht, aus dem
Wege. *)
Die Wirkung dieſes furchtbaren
Gifts iſt, daſs man nach längerer oder
kürzerer Zeit auch die Wuth und Waſ-
ſerſcheu bekommt, und daran unter den
ſchrecklichſten Convulſionen ſtirbt. Es
iſt daher ein groſses Glück, daſs man
durch häufige Erfarungen die Entde-
ckung gemacht hat, daſs dieſes Gift,
wenn es auch ſchon durch einen Biſs
mitgetheilt iſt, dennoch lange in der
Stelle der Mittheilung liegen bleiben
kann, ehe es eingeſaugt und ſo dem
ganzen Körper mitgetheilt wird. Man
kann ſich alſo ſelbſt nach der Vergiftung
davon befreyen, und die Waſſerſcheu
[453] zuverläſſig verhüten, wenn man nur
folgende Mittel braucht: die Wunde
muſs gleich mit Salzwaſſer ausgewa-
ſchen, ſodann geſchröpft, und das Ein-
ſchneiden und Ausſaugen ſo oft wieder-
holt werden, bis gar kein Blut mehr
herauskommt. Hierauf wird ſie mit
dem glühenden Eiſen oder Schieſspulver
ausgebrennt, und dann 7 bis 8 Wochen
in ſtarker Eiterung erhalten. Innerlich
wird die Belladonna, als das bewährte-
ſte Mittel, genommen, wozu aber der
Rath eines Arztes nöthig iſt.
6. Einige, mehr zufällige Gifte.
Es giebt noch einige Anſteckungs-
gifte, die nicht allemal, ſondern nur
unter gewiſſen Umſtänden, bey man-
chen Krankheiten entſtehen. Dieſe
Krankheiten ſind: der Scorbut, der
Krebs, das Scharlachfieber, der Kopf-
grind, die Ruhr, die Lungenſucht, die
Gicht, der fieberhafte Frieſel. Dieſe
Krankheiten ſind keineswegs immer an-
ſteckend, aber ſie können es werden
[454] wenn ſie einen hohen Grad von Bösar-
tigkeit erreichen, oder ein faulichter Zu-
ſtand ſich damit verbindet. Und denn
iſt alſo immer Vorſicht zu empfehlen,
und wenigſtens der genaue Umgang mit
ſolchen Kranken d. h. Zuſammenwohnen,
Zuſammenſchlafen, das Tragen ihrer
Kleider u. dgl. zu vermeiden.
[455]
XII.
Das Alter — Frühzeitige Inoculation
deſſelben.
Das unvermeidlichſte aller Lebensver-
kürzungsmittel! Jener ſchleichende
Dieb, wie es Shakespear nennt, jene un-
vermeidliche Folge des Lebens ſelbſt.
Denn durch den Lebensprozeſs ſelbſt
müſſen nach und nach unſre Faſern
trockner und unbrauchbarer, die Säfte
ſchärfer und weniger, die Gefäſse ver-
ſchrumpft, und die Organe unbrauch-
barer werden, und die Erde endlich
überhand nehmen, welche unſer ſicher-
ſtes Deſtructionsmittel iſt.
Alſo ganz verhütet kann es nicht
werden. Die Frage iſt nur: Steht es
nicht in unſrer Gewalt, es früher oder
[456] ſpäter herbey zu rufen? Und dieſs iſt
denn leider nur zu gewiſs. Die neue-
ſten Zeiten liefern uns erſtaunliche Bey-
ſpiele von der Möglichkeit, das Alter
frühzeitig zu bewirken, und überhaupt
die Perioden des Lebens weit ſchneller
auf einander folgen zu laſſen. Wir ſe-
hen jezt (in groſsen Städten beſonders)
Menſchen, welche im 8ten Jahre mann-
bar ſind, im 16ten ohngefähr den höch-
ſten Punct ihrer möglichſten Vollkom-
menheit erreicht haben, im 20ſten ſchon
mit allen den Schwächlichkeiten käm-
pfen, die ein Beweiſs ſind, daſs es wie-
der Bergein geht, und im 30ſten das
vollkommne Bild eines abgelebten Grei-
ſes darſtellen, Runzeln, Trockenheit
und Steifigkeit der Gelenke, Krümmung
des Rückgrads, Mangel an Sehkraft und
Gedächtniſs, graue Haare und zitternde
Stimme. Ich habe wirklich einen ſol-
chen künſtlichen Alten, der noch nicht
40 Jahre alt war, ſecirt, und nicht nur
die Haare ganz grau, ſondern auch die
Rippenknorpel, die ſonſt nur im höch-
[457] ſten Alter knöchern werden, ganz ver-
knöchert gefunden.
Man kann alſo wirklich die Be-
ſchleunigung der Entwicklungsperioden
und des Alters, die im heiſsen Clima na-
türlich geſchieht, auch in unſerm Clima
durch die Kunſt nachmachen.
Hier alſo ein Paar Worte von der
Kunſt ſich das Alter in der Jugend zu
inoculiren. Es kommt alles blos darauf
an, die Lebenskräfte und Säfte recht
bald los zu werden, und den Faſern
bald möglichſt den Grad von Härte,
Steifigkeit und Unbiegſamkeit zu ver-
ſchaffen, der das Alter karacteriſirt.
Die zuverläſſigſten Mittel, dieſs
aufs vollkommenſte zu erreichen, ſind
folgende. Es iſt oft ſehr gut, ſolche Vor-
ſchriften zu wiſſen, um das Gegentheil
deſto eher thun zu können. Und ſo
enthalten ſie zugleich das Rezept zu
[458] einer recht lange daurenden Jugend.
Man braucht ſich nur in allen Stücken
ganz entgegengeſezt zu betragen.
Alſo
1. Man ſuche die Mannbarkeit
durch alle phyſiſche und moraliſche
Künſteleyen bald möglichſt zu entwi-
ckeln, und verſchwende die Zeugungs-
kräfte ſo profus als möglich.
2. Man fange recht frühzeitig an,
ſich die ſtärkſten Strapazen zuzumuthen.
Forçirte Courierritte von mehrern Ta-
gen, anhaltendes Tanzen, durchwachte
Nächte und Abkürzung aller Ruhe wer-
den dazu die beſten Dienſte thun. Man
erreicht dadurch eine doppelte Abſicht,
einmal die Lebenskräfte recht ſchnell zu
erſchöpfen, und dann die Faſern recht
bald hart und ſpröde zu machen.
3. Man trinke recht fleiſig Wein
und Liqueurs. Eins der Hauptmittel
[459] um den Körper auszutrocknen und zu-
ſammen zu runzeln.
4. Alle Arten von heftigen Leiden-
ſchaften werden eben die Wirkung
thun, und die Kraft der hitzigen Ge-
tränke verſtärken.
5. Hauptſächlich ſind Kummer, Sor-
gen und Furcht auſſerordentlich ge-
ſchickt, den Karacter des Alters recht
bald herbey zu führen. Man hat Bey-
ſpiele, daſs Menſchen in einer Nacht,
welche ſie unter dem höchſten Grad von
Furcht und Seelenangſt zugebracht hat-
ten, graue Haare bekommen hatten. —
Nun ſollte man freylich glauben, es
gehörten auch wirkliche Veranlaſſungen
dazu, ſolche Affecten rege zu machen;
aber es giebt Menſchen, welche die
Kunſt meiſterhaft verſtehen, wenn ih-
nen das Schickſal keinen Kummer macht,
ſich ſelbſt welchen zu machen, alles in
einem dunkeln Licht zu ſehen, jedem
[460] Menſchen etwas Uebels zuzutrauen, und
in jeder unbedeutenden Begebenheit
reichen Stoff zu Sorgen und Aengſtlich-
keit zu finden.
6. Und zulezt gehört hieher das zu
weit getriebene oder wenigſtens falſch
verſtandene Syſtem der Abhärtung
durch Kälte, häufige kalte und lange
fortgeſezte Bäder in Eiswaſſer u. ſ. w.
Es kann nichts geſchickter ſeyn, den
Karacter des Alters zu bewirken, als
eben dieſs.
Aber nicht genug, daſs man jezt
ſchon in einer Zeit zum Alter gelangt,
wo unſre Vorfahren noch Jünglinge wa-
ren, man iſt leider noch weiter gekom-
men. Man hat ſogar die Kunſt erfun-
den, die Kinder ſchon als Greiſse auf
die Welt kommen zu laſſen. Ich habe
einigemal ſolche Erſcheinungen geſe-
hen; runzelicht, mit den markirteſten
Geſichtszügen des Alters treten ſie auf
[461] den Schauplatz dieſer Welt, und nach
ein Paar Wochen, die ſie unter Wim-
mern und Elend zugebracht haben, be-
ſchlieſsen ſie ihr Greiſsenleben, oder
vielmehr ſie fingen es mit dem Beſchluſs
an. Ich ziehe den Vorhang über dieſe
ſchrecklichen Producte der ausſchwei-
fenden Lebensart der Eltern, die mir
gerade ſo vorkommen, als die Sünden
der Eltern perſonifizirt.
[462]
II. Abſchnitt.
Verlängerungsmittel des
Lebens.
I.
Gute phyſiſche Herkunft.
Wenn wir auf die Grundlagen zurück-
blicken, auf denen langes Leben beruht,
und auf die Eigenſchaften, welche dazu
gehören, ſo ſehen wir leicht ein, daſs es
dabey vorzüglich darauf ankommen
muſs, aus welcher Maſſe wir formirt
wurden, welcher Antheil von Lebens-
kraft uns gleich bey der Entſtehung zu
Theil wurde, und ob da der Grund zu
[463] einer dauerhaften oder ſchwächlichen
Conſtitution, zu einem geſunden oder
kranken Bau der Lebensorgane gelegt
wurde. Alles dieſes hängt ab von dem
Geſundheitszuſtand unſrer Eltern, und
von dem wichtigen Punct der erſten
Gründung unſrer Exiſtenz, und in die-
ſem Sinne von guter Geburt zu ſeyn, iſt
etwas, was man jedem Menſchen wün-
ſchen ſollte. Es gehört gewöhnlich zu
den unerkannten aber gröſsten Wohl-
thaten und iſt ein Lebensverlängerungs-
mittel, was zwar nicht in unſrer Gewalt
ſteht uns zu geben, was wir aber im
Stande und verpflichtet ſind, andern
mitzutheilen.
Es kommt hierbey auf drey Puncte
an; auf den Geſundheitszuſtand der El-
tern, den Augenblick der Zeugung, und
den Zeitraum der Schwangerſchaft.
1. Der Geſundheitszuſtand, der Le-
bensfond der Eltern. — Wie wichtig
dieſer iſt, ſieht man ſchon daraus, daſs
es ganze Familien gegeben hat, in denen
das Altwerden ein Familienprivilegium
[464] war, z. B. die Familie des oben erwähn-
ten Parrs, in welcher nicht nur der aus-
gezeichnete, ſondern auch ſein Vater
und ſeine Kinder ein ungewöhnliches
Alter erreichten. In dem hohen Alter
der Eltern liegt ein wichtiger Grund es
auch zu erreichen. Schon dieſs ſollte
ein kräftiges Motiv ſeyn, für jeden, der
einſt Kinder zeugen will, ſeine Lebens-
kräfte möglichſt zu ſchonen und zu eon-
ſerviren. Wir ſind ja der Abdruck unſ-
rer Eltern, nicht blos in Abſicht auf die
allgemeine Form und Textur, ſondern
auch in Rückſicht beſondrer Schwächen
und Fehler einzelner Eingeweyde.
Selbſt Anlagen zu Krankheiten, die ihren
Grund in der Bildung und Conſtitution
haben, können dadurch mitgetheilt wer-
den, z. B. Gicht, Steinbeſchwehrden,
Schwindſucht, Hämorrhoiden. Insbe-
ſondre hat mich häufige Erfarung über-
zeugt, daſs groſse Schwächung der Zeu-
gungskräfte durch veneriſche Debau-
chen (vielleicht ſelbſt ein modifizirtes
veneriſches Gift) den Kindern eine ei-
gen-
[465] genthümliche Schwäche des Drüſen- und
lymphatiſchen Syſtems mittheilt, welche
dann in die ſogenannten Skrofeln aus-
artet, und Veranlaſſung giebt, daſs dieſe
Krankheit oft ſchon in den erſten Mona-
ten des Lebens, ja ſelbſt bey der Geburt
ſchon erſcheint. — Auch iſt ein zu jun-
ges oder zu hohes Lebensalter der Eltern,
der Lebenslänge und Stärke der Kinder
nachtheilig.
2. Der Augenblick der Zeugung. —
Viel wichtiger, als man gewöhnlich
glaubt, und für das ganze Leben eines
Geſchöpfs entſcheidend. Sowohl auf
das Moraliſche des künftigen Menſchen,
(worüber ich auf Freund Triſtrams
Wanduhrgeſchichte verweiſe) als auch
auf das Phyſiſche, hat dieſer Augenblick
gewiſs den gröſsten Einfluſs. Hier wird
der erſte Keim des künftigen Weſens ge-
weckt, die erſte belebende Kraft ihm
mitgetheilt. Wie ſehr muſs hier die
Vollkommenheit oder Unvollkommen-
heit des Products durch die mehrere
G g
[466] oder wenigere Kraft, den vollkommnen
oder unvollkommnen, geſunden oder
kränklichen Zuſtand der wirkenden Ur-
ſachen beſtimmt werden? Wäre es nicht
zu wünſchen, daſs Eltern dieſer Bemer-
kung einige Aufmerkſamkeit widmeten,
und nie vergäſsen, daſs dieſer Augen-
blick von der höchſten Wichtigkeit, und
der Moment einer Schöpfung ſey, und
daſs nicht ohne Urſache die Natur die
höchſte Exaltation unſers ganzen Weſens
damit verbunden habe? So ſchwehr
es iſt, hierüber Erfarungsſätze zu ſamm-
len, ſo ſind mir doch einige ganz un-
leugbare Beyſpiele bekannt, wo Kinder,
die in dem Zeitpunct der Trunkenheit
erzeugt wurden, Zeitlebens ſtupid und
blödſinnig blieben. Was nun das Ex-
trem im hohen Grade bewirken kann,
das können die Mittelſtufen im gerin-
gern thun, und warum ſollte man nun
nicht annehmen können, daſs ein We-
ſen, in dem Zeitpunct übler Laune, oder
einer körperlichen Indiſpoſition oder
[467] ſonſt einer Nervenverſtimmung erzeugt,
Zeitlebens einige kleine Flecken davon
an ſich tragen kann? Daher der ge-
wöhnlich ſo auffallende Vorzug der Kin-
der der Liebe für den Kindern der Pflicht.
Ich ſollte daher glauben, es ſey ſehr
wichtig, auch im Eheſtand dieſem Mo-
ment immer nur einen ſolchen Zeitpunct
zu widmen, wo das Gefühl geſammleter
Kräfte, feuriger Liebe und eines frohen
ſorgenfreyen Gemüths von beyden Sei-
ten dazu aufruft (ein neuer Grund ge-
gen den zu häufigen oder erzwungenen
oder mechaniſch-pflichtmäſigen Genuſs
der ehelichen Liebe).
3. Der Zeitraum der Schwanger-
ſchaft. — Ohneracht der Vater ohn-
ſtreitig die erſte Quelle iſt, aus welcher
das künftige Weſen den erſten Lebens-
hauch, die erſte Erweckung bekommt,
ſo iſt doch nicht zu leugnen, daſs die
fernere Entwicklung, die Maſſe und der
mehr materielle Antheil, blos von der
Mutter herrührt. Dieſs iſt der Acker,
G g 2
[468] aus welchem das Saamenkorn ſeine Säfte
zieht, und die künftige Konſtitution,
der eigentliche Gehalt des Geſchöpfs,
muſs hauptſächlich den Karacter des We-
ſens erhalten, von dem es ſo lange einen
Beſtandtheil ausmachte, aus deſſen
Fleiſch und Blut es wirklich zuſammen-
geſezt iſt. Ferner nicht blos die Konſti-
tution der Mutter, ſondern auch alle
andre vortheilhafte oder nachtheilige
Einwirkungen während des Zeitraums
der Schwangerſchaft, müſſen von groſsem
Einfluſs auf die ganze Bildung und das
Leben des neuen Geſchöpfs ſeyn. Dieſs
iſts nun auch, was die Erfarung lehrt.
Der Geſundheitszuſtand des Menſchen,
die mehrere oder wenigere Feſtigkeit der
Konſtitution, richtet ſich hauptſächlich
nach dem Zuſtand der Mutter, weit
mehr, als nach dem des Vaters. Von ei-
nem ſchwächlichen Vater kann immer
noch ein ziemlich robuſtes Kind erzeugt
werden, wenn nur die Mutter einen
recht geſunden und kräftigen Körper
[469] hat. Der Stoff des Vaters wird in ihr
gleichſam veredelt. Hingegen der ſtärk-
ſte Mann wird von einer kränklichen
Lebensarmen Frau nie kräftige und ge-
ſunde Kinder erhalten.
Was nun ferner die Beſchützung
des werdenden Geſchöpfs für allen Ge-
fahren und nachtheiligen Einwirkungen
betrifft, ſo finden wir hier abermals ei-
nen Beweiſs der göttlichſten Weisheit
bey der hier getroffnen Einrichtung.
Ohneracht der innigſten Verbindung
zwiſchen Mutter und Frucht, ohneracht
dieſe wirklich faſt ein Jahr lang ein Theil
derſelben iſt, und alle Nahrung und
Säfte mit ihr theilt, ſo iſt ſie dennoch
nicht nur für mechaniſchen Verletzun-
gen durch ihre Lage und ihr Schwim-
men im Waſſer geſichert, ſondern auch
für moraliſchen und Nerveneindrücken
dadurch, daſs keine unmittelbare Ner-
venverbindung zwiſchen Mutter und
Kind iſt. Man hat ſogar häufige Bey-
ſpiele, daſs die Mutter ſtarb und das
[470] Kind blieb am Leben. — Selbſt eine ge-
wiſſe Immunität von Krankheiten hat die
weiſe Natur mit dieſem Zuſtand verbun-
den, und es iſt ein Erfarungsſatz, daſs
eine ſchwangere Frau weit weniger von
anſteckenden und andern Krankheitsur-
ſachen leidet, und daſs eine Frau nie
gröſsre Wahrſcheinlichkeit zu leben hat,
als ſo lange ſie ſchwanger iſt.
Das Gefühl von der Wichtigkeit
dieſes Zeitpuncts war nun auch von je-
her den Menſchen ſo eingeprägt, daſs
bey allen alten Völkern eine Schwangere
als eine heilige und unverlezliche Per-
ſon betrachtet, und jede Mishandlung
und Verletzung derſelben als doppelt
ſtrafbar angeſehen wurde. — Leider hat
unſer Zeitalter, ſowohl in phyſiſcher als
politiſcher Hinſicht hier einen Unter-
ſchied gemacht. Die nervenſchwache,
empfindliche und zärtliche Konſtitution
der jetzigen Frauen, hat dieſen Aufent-
halt der Frucht im Mutterleibe weit un-
ſichrer und gefährlicher gemacht. Der
[471] Mutterleib iſt nicht mehr eine ſolche
Freyſtätte, eine ungeſtöhrte Werkſtatt
der Natur. Durch die unnatürliche
Empfindlichkeit, die jezt einen groſsen
Theil des weiblichen Geſchlechts eigen
iſt, ſind auch dieſe Theile weit em-
pfänglicher für tauſend nachtheilige
Einwirkungen, für eine Menge Mitlei-
denſchaften worden, und die Frucht
leidet bey allen Leidenſchaften, bey
jedem Schrecken, bey Krankheitsurſa-
chen und ſelbſt bey den unbedeutend-
ſten Veranlaſſungen mit. Daher iſt es
unmöglich, daſs ein Kind in einer ſol-
chen Werkſtätte, wo ſeine Bildung und
Entwicklung jeden Augenblick geſtöhrt
und unterbrochen wird, je den Grad
von Vollkommenheit und Feſtigkeit er-
halten ſollte, zu dem es beſtimmt war.
Und eben ſo wenig denkt man jezt in
bürgerlicher und politiſcher Rückſicht
an die Wichtigkeit dieſes Zuſtandes.
Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer
Schwangern, wer nimmt Rückſicht bey
[472] ihrer Behandlung darauf, daſs man das
Leben, wenigſtens die phyſiſche und
moraliſche Bildung eines künftigen
Menſchen dadurch in Gefahr ſezt. Ja
leider, wie wenig Schwangere ſelbſt
haben die Achtung für dieſen Zuſtand,
die er verdient? Wie wenige vermögen,
ſich Vergnügen, Diätfehler zu verſagen,
die ſchaden könnten?
Ich glaube daher mit Recht auf die-
ſe Bemerkungen folgende Regeln grün-
den zu können:
1. Solche äuſſerſt nervenſchwache
und ſenſible Perſonen ſollten gar nicht
heyrathen; wo nicht aus Mitleiden ge-
gen ſich ſelbſt und gegen die Leiden, de-
nen ſie dadurch entgegen gehen, doch
wenigſtens aus Mitleiden gegen die un-
glückliche Generation, der ſie das Leben
geben werden. Ferner, man ſollte bey
der Erziehung der Töchter hauptſächlich
darauf ſehen, dieſe unglückliche Em-
pfindlichkeit zu vermeiden, da oft lei-
der aus Rückſicht gegen den Teint, die
[473] Decenz und eine Menge andre Etiquet-
tenverhältniſſe, gerade das Gegentheil
geſchieht. Und endlich, es iſt die
Pflicht jedes Mannes, bey der Wahl ſei-
ner Gattin hauptſächlich darauf zu ſe-
hen, daſs ihr Nervenſyſtem nicht zu
reizbar ſey. Denn offenbar fällt der
Hauptzweck des Eheſtands, die Erzeu-
gung geſunder und feſter Kinder, da-
durch ganz weg.
2. Die Weiber ſollten mehr Reſpect
für dieſem Zeitpunct haben, und da
eine gute phyſiſche und moraliſche Diät
halten. Denn ſie haben dadurch den
Grad von Vollkommenheit und Unvoll-
kommenheit, die guten und böſen An-
lagen der Seele und des Körpers ihres
Kindes in ihrer Gewalt.
3. Aber auch andre Menſchen ſoll-
ten eine Schwangere immer aus dieſem
Geſichtspunct betrachten, und ihr, als
der Werkſtätte eines ſich bildenden
Menſchen, alle mögliche Schonung,
Aufmerkſamkeit und Vorſorge erzei-
[474] gen. — Beſonders ſollte ſich jeder Ehe-
mann dieſe Regel empfohlen ſeyn laſ-
ſen, und immer bedenken, daſs er da-
durch für das Leben und die Geſund-
heit ſeiner Generation ſorgt, und da-
durch erſt den vollkommnen Namen,
Vater, verdient.
[475]
II.
Vernünftige phyſiſche Erziehung.
Hauptſächlich die phyſiſche Behand-
lung in den erſten zwey Jahren des Le-
bens iſt ein äuſſerſt weſentliches Stück
zur Verlängerung des Lebens. Man
ſollte dieſen Zeitraum eigentlich noch
als eine fortgeſezte Generation anſehen.
Nur der erſte Theil der Ausbildung und
Entwicklung geſchieht im Mutterleibe,
der zweyte, nicht weniger wichtige,
auſſer demſelben in den erſten zwey Jah-
ren des Lebens. Das Kind kommt ja als
ein nur halb entwickeltes Weſen zur
Welt. Nun folgen erſt die wichtigſten
und feinſten Ausbildungen der Nerven-
und Seelenorgane, die Entwicklungen
der Reſpirationswerkzeuge, der Musku-
[476] larbewegung, der Zähne, der Knochen,
der Sprachorgane und aller übrigen
Theile, ſowohl in Abſicht der Form als
Structur. Man kann alſo leicht abneh-
men, von welchem erſtaunlichen Ein-
fluſs auf die Vollkommenheit und Dauer
des ganzen Lebens es ſeyn müſſe, unter
welchen Umſtänden dieſer fortgeſezte
Bildungs- und Entwicklungsprozeſs ge-
ſchieht, ob hindernde, ſtöhrende und
ſchwächende, oder beſchleunigende Ein-
flüſſe darauf wirken. Zuverläſſig kann
hier ſchon der Grund zu einer langſa-
mern oder geſchwindern Conſumtion,
zu einem mehr oder weniger Gefahren
ausgeſezten Körper gelegt werden.
Alle Regeln und Beſtimmungen bey
der phyſiſchen Behandlung dieſer Perio-
de laſſen ſich auf folgende Grundſätze
reduziren.
1. Alle Organe, vorzüglich die, auf
denen Geſundheit und Dauer des phyſi-
ſchen ſowohl als geiſtigen Lebens zu-
nächſt beruht, müſſen gehörig organi-
ſirt, geübt, und zu dem möglichſten
[477] Grad von Vollkommenheit gebracht
werden. Dahin rechne ich den Magen,
die Lunge, die Haut, das Herz und Ge-
fäſsſyſtem, auch die Sinneswerkzeüge.
Eine geſunde Lunge gründet man am
beſten durch reine freye Luft, und in
der Folge durch Sprechen, Singen, Lau-
fen. Ein geſunder Magen durch geſun-
de, gut verdauliche, nahrhafte, aber
nicht zu ſtarke, reizende oder gewürzte
Koſt. Eine geſunde Haut durch Rein-
lichkeit, Waſchen, Baden, reine Luft,
weder zu warme noch zu kalte Tempe-
ratur, und in der Folge Bewegung, die
Kraft des Herzens und der Gefäſse durch
alle die obigen Mittel, beſonders ge-
ſunde Nahrung, und in der Folge kör-
perliche Bewegung.
2. Die ſucceſſive Entwicklung der
phyſiſchen und geiſtigen Kräfte muſs ge-
hörig unterſtüzt, und weder gehindert
noch zu ſehr befördert werden. Immer
muſs auf gleichförmige Vertheilung der
lebendigen Kräfte geſehen werden, denn
Harmonie und Ebenmaas der Bewegun-
[478] gen, iſt die Grundlage der Geſundheit
und des Lebens. Hierzu dient im An-
fange das Baden und die freye Luft, in
der Folge körperliche Bewegung.
3. Das Krankheitsgefühl d. h. die
Empfänglichkeit für Krankheitsurſachen
muſs abgehärtet und abgeſtumpft wer-
den, alſo das Gefühl für Kälte, Hitze
und in der Folge für kleine Unordnun-
gen und Strapazen. Dadurch erlangt
man zweyerley Vortheil, die Lebens-
conſumtion wird, durch die gemäſsigte
Empfindlichkeit gemindert, und die
Stöhrung derſelben durch Krankheiten
wird verhütet.
4. Alle Urſachen und Keime zu
Krankheiten im Körper ſelbſt müſſen
entfernt und vermieden werden, z. B.
Schleimanhäufungen, Verſtopfungen des
Gekröſses, Erzeugung von Schärfen.
Fehler, die durch äuſſerlichen Druck
und Verletzungen, zu feſte Binden, Un-
reinlichkeit etc. entſtehen könnten.
[479]
5. Die Lebenskraft an ſich muſs im-
mer gehörig genährt und geſtärkt wer-
den, (dazu das gröſste Mittel, friſche
reine Luft,) und beſonders muſs die
Heilkraft der Natur gleich von Anfang
an unterſtüzt werden, weil ſie das gröſs-
te Mittel iſt, was in uns ſelbſt gelegt
wurde, um Krankheitsurſachen unwirk-
ſam zu machen. Dieſs geſchieht haupt-
ſächlich dadurch, daſs man den Körper
nicht gleich von Anfang an zu ſehr an
künſtliche Hülfen gewöhnt, weil man
ſonſt die Natur ſo verwöhnt, daſs ſie ſich
immer auf fremde Hülfe verläſst, und
am Ende ganz die Kraft verliert, ſich
ſelbſt zu helfen.
6. Die ganze Operation des Lebens
und der Lebensconſumtion muſs von
Anfang an nicht in zu groſse Thätigkeit
geſezt, ſondern in einem Mittelton er-
halten werden, wodurch fürs ganze
Leben der Ton zum langſam und
alſo lange leben angegeben werden
kann.
[480]
Zur Erfüllung dieſer Ideen dienen
folgende einfache Mittel, welche nach
meiner Einſicht das Hauptſächliche der
phyſiſchen Erziehung ausmachen.
Wir müſſen hierbey zwey Perioden
unterſcheiden.
- Die erſte Periode, bis zu Ende des
zweyten Jahrs. Hier ſind folgen-
des die Hauptpuncte:
I. Die Nahrung muſs gut aber dem
zarten Alter angemeſſen ſeyn; alſo leicht
verdaulich, mehr flüſſig als feſt, friſch
und geſund, nahrhaft, aber nicht zu
ſtark, reizend oder erhitzend.
Die Natur giebt uns hierinn die
beſte Anleitung ſelbſt, indem ſie Milch
für den anfangenden Menſchen be-
ſtimmte. Milch hat alle die angegebnen
Eigenſchaften im vollkommenſten Gra-
de, ſie iſt voller Nahrungsſtoff, aber
milde, ohne Reiz und Erhitzung näh-
rend, ſie hält das Mittel zwiſchen Thier-
und Pflanzennahrung, verbindet alſo
die Vortheile der leztern (weniger zu rei-
zen, als Fleiſch), mit den Vortheilen
der
[481] der Fleiſchnahrung (durch die Bearbei-
tung eines lebenden thieriſchen Körpers
uns ſchon verähnlicht zu ſeyn und leich-
ter den Karacter unſrer Natur aufzuneh-
men), ſie iſt mit einem Worte ganz auf
die Beſchaffenheit des kindlichen Kör-
pers berechnet.
Der kindliche Körper lebt nehmlich
weit ſchneller, als der erwachſene
Menſch, und wechſelt die Beſtandtheile
öftrer, überdieſs braucht er die Nah-
rung nicht blos zur Erhaltung ſondern
auch zum beſtändigen Wachsthum, wel-
ches im ganzen Leben nicht ſo ſchnell
geſchieht, als in dem erſten Jahre, er be-
darf folglich viel und concentrirte Nah-
rung; aber er hat ſchwache Verdauungs-
kräfte und vermag noch nicht feſte oder
ſeiner Natur nach heterogene (z. E. ve-
getabiliſche) Nahrung zu verarbeiten
und in ſeine Natur zu verwandeln; ſei-
ne Nahrung muſs daher flüſſig und ſchon
animaliſirt, d. h. durch ein anderes le-
bendes thieriſches Geſchöpf ihm vorge-
arbeitet und ſeiner Natur genähert ſeyn;
H h
[482] er hat aber auch einen ſehr hohen Grad
von Reizbarkeit und Empfindlichkeit, ſo
daſs ein kleiner Reiz, den ein Erwach-
ſener kaum empfindet, hier ſchon ein
künſtliches Fieber oder gar Krämpfe und
Zuckungen hervorbringen kann, die
Nahrung des Kindes muſs alſo milde
ſeyn und in dem gehörigen Verhältniſs
zur Reizbarkeit ſtehen.
Ich halte es daher für eins der erſten
Geſetze der Natur, und ein Hauptbe-
gründungsmittel eines langen und ge-
ſunden Lebens: das Kind trinke das erſte
Jahr hindurch ſeiner Mutter, oder einer
geſunden Amme Milch.
Man iſt in neuern Zeiten in manche
Abweichungen von dieſem wichtigen
Naturgeſez gefallen, die gewiſs höchſt
nachtheilige Einflüſſe auf die Dauer und
Geſundheit des Lebens haben, und die
ich deshalb hier rügen muſs.
Man hat Kinder durch bloſse vege-
tabiliſche Schleime, Haferſchleim u. dgl.
nähren und aufziehen wollen. Dieſs
mag zuweilen, bey beſondern Fällen,
[483] zwiſchen durch nüzlich ſeyn, aber zur
alleinigen Nahrung iſt es gewiſs ſchäd-
lich, denn es nährt nicht genug, und,
was das ſchlimmſte iſt, es animaliſirt
ſich nicht genug und behält noch einen
Theil des ſauren vegetabiliſchen Kara-
cters auch im Körper des Kindes; da-
her entſtehen durch ſolche Nahrung
ſchwächliche, magere, unaufhörlich
mit Säure, Blähungen, Schleim geplagte
Kinder, verſtopfte Drüſen, Skrofel-
krankheit.
Noch ſchlimmer iſt die Gewohnheit,
Kinder durch Mehlbrey zu nähren, denn
dieſe Nahrung hat auſſer dem Nachthei-
le der blos vegetabiliſchen Koſt (der Ver-
ſäurung) auch noch die Folge, die zarten
Milchgefäſse und Gekröſsdrüſsen zu ver-
ſtopfen, und den gewiſſen Grund zu
Skrofeln, Darrſucht oder Lungenſucht
zu legen.
Andere wählen nun, um dieſen zu
entgehen, auch zum Theil aus Anglo-
manie, Fleiſchnahrung für die Kin-
der, geben ihnen auch wohl Wein,
H h 2
[484] Bier u. dgl. Und dieſes Vorurtheil ver-
dient beſonders gerügt zu werden, weil
es immer mehr Anhänger gewinnt, mit
der jezt beliebten excitirenden Methode
zuſammentrifft, und das Nachtheilige
ſelbſt von Aerzten nicht immer gehörig
eingeſehen wird. Denn, ſagt man, das
Fleiſch ſtärkt, und dieſs iſt gerade, was
ein Kind braucht. Aber meine Gründe
dagegen ſind folgende: Es muſs immer
ein gewiſſes Verhältniſs ſeyn zwiſchen
dem Nährenden und dem zu nährenden,
zwiſchen dem Reiz und der Reizfähig-
keit. Je gröſser die Reizfähigkeit iſt,
deſto ſtärker kann auch ein kleiner Reiz
wirken, je ſchwächer jene, deſto ſchwä-
cher iſt die Wirkung des Reizes. Nun
verhält ſich aber dieſe Reizfähigkeit im
menſchlichen Leben in immer abneh-
mender Proportion. In der erſten Pe-
riode des Lebens iſt ſie am ſtärkſten,
denn von Jahr zu Jahr ſchwächer, bis ſie
im Alter gar erlöſcht. Man kann folg-
lich ſagen, daſs Milch in Abſicht ihrer
reizenden und ſtärkenden Kraft in eben
[485] dem Verhältniſs zum Kinde ſteht, als
Fleiſch zu dem Erwachſenen, und Wein
zu dem alten abgelebten Menſchen.
Giebt man aber einem Kinde frühzeitig
Fleiſchnahrung, ſo giebt man ihm einen
Reiz, der dem Reiz des Weins bey Er-
wachſenen gleich iſt, der ihm viel zu
ſtark, und von der Natur auch gar nicht
beſtimmt iſt. Die Folgen ſind: man
erregt und unterhält bey dem Kinde ein
künſtliches Fieber, beſchleunigt Circu-
lation des Bluts, vermehrte Wärme, und
bewirkt einen beſtändig zu heſtigen ent-
zündlichen Zufällen geneigten Zuſtand.
Ein ſolches Kind ſieht zwar blühend und
wohlgenährt aus, aber die geringſte
Veranlaſſung kann ein heftiges Aufwal-
len des Bluts erregen, und kommts nun
vollends zur Zahnarbeit oder Blattern
und andern Fiebern, wo der Trieb des
Bluts ſo ſchon heftig zum Kopfe ſteigt,
ſo kann man feſt darauf rechnen, daſs
Entzündungsfieber, Zuckungen, Schlag-
flüſſe entſtehen. Die meiſten Menſchen
glauben, man könne nur an Schwäche
[486] ſterben, aber man kann auch an zu viel
Stärke und Reizung ſterben, und dazu
kann ein unvernünftiger Gebrauch rei-
zender Mittel führen. Ferner, durch
ſolche ſtarke Nahrung der Kinder be-
ſchleunigt man von Anfang an ihre Le-
bensoperation und Conſumtion, man
ſezt alle Syſteme und Organe in eine viel
zu ſtarke Thätigkeit, man giebt gleich
von Anfang den Ton zu einem regern
aber auch geſchwindern Leben an, und
in der Meynung recht zu ſtärken, legt
man wirklich den Grund zu einem kür-
zern Leben. Ueberdieſs muſs man nicht
vergeſſen, daſs eine ſolche frühzeitige
Fleiſchnahrung die Entwicklungsge-
ſchäfte des Zahnens und in der Folge
auch der Mannbarkeit viel zu ſehr be-
ſchleunigt (ein Hauptverkürzungsmittel
des Lebens), und ſelbſt auf den Karacter
einen üblen Einfluſs hat. Alle fleiſch-
freſſende Menſchen und Thiere ſind hef-
tiger, grauſamer, leidenſchaftlicher, da
hingegen die vegetabiliſche Koſt immer
mehr zur Sanftmuth und Humanität
[487] führt. Ich habe dieſs in der Erfarung
gar oft beſtätigt gefunden. Kinder die
zu früh und zu viel Fleiſchkoſt beka-
men, wurden immer kräftige, aber lei-
denſchaftliche, heftige, brutale Men-
ſchen, und ich zweifle, daſs eine ſolche
Anlage ſowohl dieſe Menſchen als die
Welt beglückt. Es giebt allerdings
Fälle, wo Fleiſchkoſt auch ſchon früh-
zeitig nüzlich ſeyn kann, nehmlich bey
ſchon ſchwachen, ohne Muttermilch er-
zognen, an Säure leidenden Subjecten,
aber denn iſt ſie Arzney, und muſs vom
Arzt erſt beſtimmt und verordnet wer-
den. Was ich vom Fleiſch geſagt habe,
gilt auch noch mehr vom Wein, Koffee,
Chokolade, Gewürze u. dgl. Und es
bleibt daher eine ſehr wichtige Regel der
phyſiſchen Kinderzucht: Das Kind ſoll
im erſten halben Jahre gar kein Fleiſch,
keine Fleiſchbrühe, kein Bier, keinen
Koffee genieſſen, ſondern blos Mutter-
milch. Erſt im zweyten halben Jahre
kann leichte Bouillonſuppe verſtattet
werden; aber wirkliches Fleiſch in
[488] Subſtanz nur erſt, wenn die Zähne
durch ſind, alſo zu Ende des zweyten
Jahres.
Wenn nun aber unüberwindliche
Hinderniſſe des Selbſtſtillens eintreten
(welche in unſern Zeiten leider nicht
ſelten ſind, wie z. B. Kränklichkeit,
ſchwindſüchtige Anlage, Nervenſchwä-
che der Mutter, wobey das Kind mehr
Verluſt als Gewinn für ſeine Lebens-
dauer haben würde), und wenn auch
keine geſunde Amme zu haben iſt, dann
tritt die traurige Nothwendigkeit ein,
das Kind künſtlich aufzuziehen, und ob
gleich dieſe Methode immer für die Ge-
ſundheit und Lebensdauer etwas nach-
theiliges hat, ſo kann man ſie doch um
vieles unſchädlicher machen, wenn
man folgendes beobachtet: Man laſſe er-
ſtens, doch wenigſtens wo möglich, das
Kind die erſten 14 Tage bis 4 Wochen,
an ſeiner Mutter Bruſt trinken. Man
glaubt nicht, wie viel Werth dieſs in der
erſten Periode hat. Dann gebe man zum
Erſatz der Muttermilch am beſten Zie-
[489] gen- oder Eſelinnenmilch, aber immer
unmittelbar nach dem Ausmelken und
noch warm von Lebenswärme. Noch
ſchöner wäre es, die Milch von dem
Kinde unmittelbar aus dem Thiere ſau-
gen zu laſſen. Iſt auch dieſs nicht mög-
lich, ſo gebe man eine Miſchung von
der Hälfte Kuhmilch und Waſſer, immer
lauwarm, und wenigſtens einmal täglich
friſche Milch. Eine wichtige Bemer-
kung iſt hierbey, daſs man nicht die
Milch wärmen oder warm ſtellen muſs
(denn ſie nimmt ſonſt gleich einen ſäuer-
lichen Karacter an), ſondern das Waſſer,
das man jedesmal beym Gebrauch erſt
dazu miſcht. Bey dieſer künſtlichen
Ernährung iſt es nun nöthig, ſchon frü-
her Suppen von klein geriebnen Zwie-
bak, Gries, klar geſtoſsnen Sago oder
Saleb, mit halb Milch und Waſſer ge-
kocht, zu geben, auch leichte nicht fette
Bouillon, Eyerwaſſer (ein Eydotter in
ein Nöſel Waſſer zerrührt und mit etwas
Zucker vermiſcht). Auch ſind Kartof-
feln in den erſten zwey Jahren ſchädlich.
[490] So wenig ich ſie überhaupt für ungeſund
halte, ſo ſind ſie doch zuverläſſig für ei-
nen ſo zarten Magen noch zu ſchwehr
zu verdauen, denn ſie enthalten einen
ſehr zähen Schleim.
II. Man laſſe das Kind, von der
dritten Woche an (im Sommer eher, im
Winter ſpäter), täglich freye Luft ge-
nieſſen, und ſetze dieſs ununterbrochen,
ohne ſich durch Witterung abhalten zu
laſſen, fort.
Kinder und Pflanzen ſind ſich dar-
inne vollkommen gleich. Man gebe ih-
nen die reichlichſte Nahrung, Wärme
u. ſ. f. aber man entziehe ihnen Luft und
Licht und ſie werden welk und bleich
werden, zurückbleiben, und zulezt
ganz abſterben. Der Genuſs reiner,
freyer Luft und der darinn befindlichen
belebenden Beſtandtheile, iſt eine eben
ſo nothwendige ja noch unentbehrli-
chere Nahrung zu Erhaltung des Lebens,
als Eſſen und Trinken. Ich weiſs Kin-
der, die bloſs deswegen die Schwäch-
lichkeit und die blaſſe Farbe ihr ganzes
[491] Leben hindurch nicht los wurden, weil
ſie in den erſten Jahren als Stubenpflan-
zen waren erzogen worden, da hinge-
gen dieſer tägliche Genuſs derſelben,
das tägliche Luftbad, das einzige Mittel
iſt, blühende Farbe, Kraft und Energie
dem werdenden Weſen auf ſein ganzes
Leben mitzutheilen. Auch iſt der Vor-
theil ſehr wichtig, daſs man dadurch
einen wichtigen Theil der pathologi-
ſchen Abhärtung bewirkt, und in der
Folge Veränderungen der Kälte und
Wärme, der Witterung u. dgl. recht gut
ertragen lernt.
Am nüzlichſten iſts, wenn das
Kind die freye Luft in einem mit
Gras und Bäumen bewachſenen und von
den Wohnungen etwas entfernten Orte
genieſst. Der Luftgenuſs in den Straſsen
einer Stadt iſt weit weniger heilſam.
III. Man waſche täglich den ganzen
Körper des Kindes mit friſch geſchöpften
kalten Waſſer. Dieſe Regel iſt unent-
behrlich zur Reinigung und Belebung
der Haut, zur Stärkung des ganzen Ner-
[492] venſyſtems und zur Gründung eines ge-
ſunden und langen Lebens. Das Wa-
ſchen wird von der Geburt an täglich
vorgenommen, nur in den erſten Wo-
chen mit lauem Waſſer, aber dann mit
kaltem, und zwar, welches ein ſehr we-
ſentlicher Umſtand iſt, mit friſch aus
der Quelle oder dem Brunnen geſchöpf-
ten Waſſer. Denn auch das gemeine
Waſſer hat geiſtige Beſtandtheile (fixe
Luft), die verloren gehen, wenn es eine
Zeitlang offen ſteht, und die ihm doch
vorzügliche ſtärkende Kraft mittheilen.
Doch muſs dieſes Waſchen geſchwind
geſchehen und hinterdrein der Körper
gleich abgerieben werden. Denn das
langſame Benetzen erkaltet, aber das
ſchnelle Abreiben erwärmt. Auch darf
es nicht gleich geſchehen, wenn das
Kind aus dem Bett kommt, und über-
haupt nicht, wenn es ausdünſtet.
IV. Man bade das Kind alle Wochen
ein- oder zweymal in lauem Waſſer (die
Temperatur friſch gemolkener Milch,
24 — 26 Grad Reaum. Therm.).
[493]
Dieſes herrliche Mittel vereinigt
eine ſolche Menge auſſerordentlicher
Krafte, und iſt zugleich dem kindlichen
Alter ſo angemeſſen, daſs ich es ein wah-
res Arcanum zur phyſiſchen Vervoll-
kommnung und Ausbildung des werden-
den Menſchen nennen möchte. Reini-
gung und Belebung der Haut, freye
aber doch nicht beſchleunigte Entwick-
lung der Kräfte und Organe, gleichför-
mige Circulation, harmoniſche Zuſam-
menwirkung des Ganzen (die Grundlage
der Geſundheit), Stärkung des Nerven-
ſyſtems, Mäſsigung der zu groſsen Reiz-
fähigkeit der Faſer und der zu ſchnellen
Lebensconſumtion, Reinigkeit der Säfte,
dieſs ſind ſeine Wirkungen, und ich
kann mit Ueberzeugung behaupten, daſs
ich kein Hülfsmittel der phyſiſchen Er-
ziehung kenne, was ſo vollkommen alle
Erforderniſſe zu Gründung eines langen
und geſunden Lebens in ſich vereinigte,
als dieſes. Das Bad muſs nicht ganz aus
gekochtem Waſſer beſtehen, ſondern
aus friſch von der Quelle geſchöpften,
[494] zu dem man noch ſo viel warmes, als
zur lauen Temperatur nöthig iſt, hinzu-
gieſst. Im Sommer iſt das Waſſer am
ſchönſten, was durch die Sonnenſtralen
erwärmt iſt. Die Dauer des Bads in
dieſer Periode des Lebens iſt ¼ Stunde,
in der Folge länger. Nie muſs es in den
erſten Stunden nach dem Eſſen geſche-
hen.
V. Man vermeide ja ein gar zu war-
mes Verhalten; alſo warme Stube, war-
me Federbetten, zu warme Kleidung
u. ſ. w. Ein zu warmes Verhalten ver-
mehrt ausnehmend die Reizfähigkeit
und alſo die ſchnellere Lebensconſum-
tion, ſchwächt und erſchlafft die Faſer, be-
ſchleunigt die Entwicklungen, ſchwächt
und lähmt die Haut, diſponirt zu be-
ſtändigen Schweiſsen und macht da-
durch ewigen Erkältungen ausgeſezt.
Insbeſondere halte ichs für ſehr wichtig,
*)
[495] die Kinder von Anfang an zu gewöhnen,
auf Matrazen von Pferdehaaren, Spreu
oder Moos zu ſchlafen. Sie nehmen nie
eine zu groſse Wärme an, haben mehr
Elaſtizität und verhüten eine zu groſse
Weichlichkeit, nöthigen auch das Kind
(weil ſie nicht nachgeben) gerade ausge-
ſtreckt zu liegen, wodurch ſie das Ver-
wachſen verhüten, und ſichern für
dem zu frühzeitigen Erwachen des Ge-
ſchlechtstriebs.
VI. Die Kleidung ſey weit, nir-
gends drückend, von keinem zu war-
men und die Ausdünſtung zurückhalten-
den Material, (z. E. Pelz), ſondern von
einem, was man oft erneuern oder wa-
ſchen kann, am beſten baumwollne, im
ſtrengen Winter leichte wollne Zeuge.
Man entferne alle feſten Binden, ſteife
Schnürleiber, enge Schuhe u. dgl., ſie
können den Grund zu Krankheiten le-
gen, die in der Folge das Leben verkür-
zen. Der Kopf muſs von der vierten
bis achten Woche an (dieſs beſtimmt
[496] die Jahreszeit) unbedeckt getragen wer-
den.
VII. Man beobachte die äuſſerſte
Reinlickeit, d. h. man wechſele täglich
das Hemde, wöchentlich die Kleidung,
monatlich die Betten, entferne üble
Ausdünſtungen (vorzüglich nicht viel
Menſchen in der Kinderſtube, kein
Trocknen der Wäſche, keine alte Wä-
ſche). Reinlichkeit iſt das halbe Leben
für Kinder; je reinlicher ſie gehalten
werden, deſto beſſer gedeihen und blü-
hen ſie. Durch bloſſe Reinlichkeit, bey
ſehr mäſsiger Nahrung, können ſie in
kurzer Zeit ſtark, friſch und munter ge-
macht werden, da ſie hingegen ohne
Reinlichkeit, bey der reichlichſten Nah-
rung elend und ſchwächlich werden.
Dieſs iſt die unerkannte Urſache, war-
um manches Kind verdirbt und ver-
welkt, man weiſs nicht woher. Unge-
bildete Leute glauben dann oft, es müſſe
behext ſeyn, oder die Miteſſer haben.
Aber die Unreinlichkeit allein iſt der
feindſelige Dämon, der es beſizt, und
der
[497] der es auch ſicher am Ende verzehren
wird.
- Die zweyte Periode, vom Ende des
zweyten bis zum zwölften, vier-
zehnden Jahre. Hier empfehle
ich folgendes:
I. Man beobachte die Geſetze der
Reinlichkeit, des kalten Waſchens, des
Badens, der leichten Bekleidung, des
Lebens in freyer Luft, eben ſo fort, wie
geſagt worden.
II. Die Diät ſey nicht zu ausgeſucht,
gekünſtelt oder zu ſtrenge. Man thut am
beſten, die Kinder in dieſer Periode eine
gehörige Miſchung von Fleiſch und Vege-
tabilien genieſsen zu laſſen, und ſie an al-
les zu gewöhnen, nur nicht zu viel und
nicht zu oft. Man ſey verſichert, wenn
man die übrigen Puncte der phyſiſchen
Erziehung, körperliche Bewegung, Rein-
lichkeit u. ſ. w. nur recht in Ausübung
bringt; ſo braucht es gar keine delicate
oder ſtrenge Diät, um geſunde Kinder
zu haben. Man ſehe doch nur die Bau-
ornkinder an, die bey einer eben nicht
I i
[498] mediziniſchen Diät geſund und ſtark
ſind. Aber freylich darf man es nicht
machen, wie man es mit ſo vielen Din-
gen gemacht hat; etwa blos Bauernkoſt
geben, und dabey weiche Federbetten,
Stubenſitzen, Müſſiggang beybehalten
(ſo wie man auch wohl das kalte Baden
gebraucht hat, aber übrigens die war-
men Stuben, warmen Federbetten u. ſ.
w. ſorgfältig beybehalten hat). Ich kann
nicht genug wiederholen, was ich ſchon
irgendwo einmal geſagt habe: Ein
Hauptſtück guter Erziehung iſt, einerley
Ton zu beobachten, und keine kontra-
ſtirende Behandlungsweiſen zu vereini-
gen. Sehr gut iſt es, wenn man ihnen
viermal, zu beſtimmten Zeiten, zu eſſen
reicht, und dieſe Ordnung beſtimmt be-
obachtet. Das einzige, was Kinder nicht
bekommen dürfen, ſind Gewürze, Kaf-
fee, Chokolade, Haut gout, Hefen-
Fett- und Z [...]ckergebacknes, grobe Mehl-
ſpeiſen, Käſe. Zum Getränk iſt nichts
beſſer, als reines friſches Waſſer. Nur
an ſolchen Orten, wo die Natur reines
[499] Quellwaſſer verſagt hat, laſſe ichs gelten,
Kinder an Bier zu gewöhnen.
III. Körperliche Muskularbewegung
tritt nun als ein Hauptſtück der phyſi-
ſchen Erziehung ein. Man laſſe das
Kind den gröſsten Theil des Tages in
körperlichen Bewegungen, in gymna-
ſtiſchen Spielen aller Art zubringen, und
zwar in freyer Luft, wo ſie am nüzlich-
ſten ſind. Dieſs ſtärkt unglaublich,
giebt dem Körper eigne Thätigkeit,
gleichförmige Vertheilung der Kräfte
und Säfte, und verhütet am ſicherſten
die Fehler des Wuchſes und der Ausbil-
dung.
IV. Man ſtrenge die Seelenkräfte
nicht zu frühzeitig zum Lernen an. Es
iſt ein groſses Vorurtheil, daſs man da-
mit nicht bald genug anfangen könne.
Allerdings kann man zu bald anfangen,
wenn man den Zeitpunct wählt, wo
noch die Natur mit Ausbildung der kör-
perlichen Kräfte und Organe beſchäftigt
iſt, und alle Kraft dazu nöthig hat, und
dieſs iſt bis zum ſiebenten Jahre. Nö-
I i 2
[500] thigt man da ſchon Kinder zum Stuben-
ſitzen und Lernen, ſo entzieht man ih-
rem Körper den edelſten Theil der Kräf-
te, der nun zum Denkgeſchäft conſu-
mirt wird, und es entſteht unausbleib-
lich Zurückbleiben im Wachsthum, un-
vollkommne Ausbildung der Glieder,
Schwäche der Muskulartheile, ſchlechte
Verdauung, ſchlechte Säfte, Skrofeln,
ein Uebergewicht des Nervenſyſtems in
der ganzen Maſchine, welches Zeitle-
bens durch Nervenübel, Hypochondrie
u. dgl. läſtig wird. Doch kommt hier-
bey auch viel auf die Verſchiedenheit
des Subjects und ſeine gröſsere oder ge-
ringere Geiſteslebhaftigkeit an, aber ich
bitte ſehr, gerade das Gegentheil von
dem zu thun, was man gewöhnlich thut.
Iſt das Kind ſehr frühzeitig zum Denken
und Lernen aufgelegt, ſo ſollte man, an-
ſtatt ein ſolches, wie gewöhnlich, deſto
mehr anzuſtrengen, es vielmehr ſpäter
zum Lernen anhalten, denn jene früh-
zeitige Reife iſt mehrentheils ſchon
Krankheit, wenigſtens ein unnatürlicher
[501] Zuſtand, der mehr gehindert als beför-
dert werden muſs (es müſste denn ſeyn,
daſs man lieber ein Monſtrum eruditionis
als einen geſunden lange lebenden Men-
ſchen daraus erziehen wollte). Ein Kind
hingegen, was mehr Körper als Geiſt iſt,
und wo leztrer zu langſam ſich zu ent-
wickeln ſcheint, kann ſchon etwas eher
und ſtärker zum Denken aufgemuntert
und darinne geübt werden.
Noch muſs ich hierbey erinnern,
daſs gar viele Nachtheile des frühzeiti-
gen Studierens, nicht ſowohl von der
Geiſtesanſtrengung, als vielmehr von
dem Stubenſitzen, von der eingeſchloſs-
nen verdorbnen Schulluft herrühren,
worinne man die Kinder dieſs Geſchäft
treiben läſst. Wenigſtens wird dadurch
die Schwächung verdoppelt. Ich bin
völlig überzeugt, daſs es weit weniger
ſchaden würde, wenn man die Kinder
ihre Denkühungen, bey guter Jahreszeit,
im Freyen halten lieſse, und hier hat
man zugleich das Buch der Natur bey
der Hand, welches gewiſs, vorausgeſezt
[502] daſs der Lehrer darinn zu leſen ver-
ſteht, den Kindern zum erſten Unter-
richt weit angemeſsner und unterhal-
tender iſt, als alle gedruckte und ge-
ſchriebne Bücher.
In dieſe Periode gehört nun auch
noch ein für die phyſiſche Erziehung
äuſſerſt wichtiger Punct: die Verhütung
der Onanie, oder beſſer: die Verhütung
des zu frühzeitigen Erwachens des Ge-
ſchlechtstriebs. Und da dieſes Uebel un-
ter die gewiſſeſten und fürchterlichſten
Verkürzungs- und Verkümmerungsmit-
tel des Lebens gehört (wie oben gezeigt
worden), ſo iſt es meine Pflicht, hier
etwas ausführlicher von den Mitteln da-
gegen zu reden. Ich bin ſehr feſt
überzeugt, daſs dieſs Uebel äuſſerſt häu-
fig und eins der wichtigſten Anliegen
der Menſchheit iſt, aber auch, daſs, wo
es einmal eingeriſſen und zur Gewohn-
heit worden, es ſehr ſchwehr zu heben
iſt; daſs man alſo ja nicht träumen darf,
in einzelnen Specificis und Kurarten die
Hülfe dagegen zu finden, die gewöhn-
[503] lich zu ſpät kommen, ſondern, daſs
die Hauptſache darauf ankommt,
die Onanie zu verhüten, und daſs dieſe
Kunſt, und folglich daſs ganze Geheim-
niſs darinn beſteht: die zu frühzeitige
Entwicklung und Reizung des Geſchlechts-
triebs zu verhindern. Dieſs iſt eigentlich
die Krankheit, an welcher gegenwärtig
die Menſchheit laborirt, und wovon
die Onanie nur erſt eine Folge iſt.
Dieſe Krankheit kann ſchon im ſieben-
ten, achten Jahre da ſeyn, wenn gleich
die Onanie ſelbſt noch fehlt. Aber ſie zu
verhüten iſt es freylich nöthig, ſchon
von der erſten Kindheit an ſeine Maas-
regeln dagegen zu nehmen, und nicht
einzelne Puncte, ſondern das Ganze der
Erziehung darauf hin zu richten.
Nach meiner Einſicht und Erfarung
ſind folgendes (wenn ſie vollkommen
angewendet werden) zuverläſſige Mittel
gegen dieſe Peſt der Jugend.
1. Man gebe vom Anfange an keine
zu reizende, ſtarke, nahrhafte Diät.
Freylich denkt mancher nicht, wenn er
[504] ſeinem Kinde recht bald Fleiſch, Wein,
Kaffee u. dgl. giebt, daſs er es dadurch
zum Kandidaten der Onanie macht.
Aber ſo iſt es. Dieſe zu frühzeitige Rei-
zungen beſchleunigen (wie ich ſchon
oben gezeigt habe) dieſe Entwicklungen.
Insbeſondere iſt es ſchädlich, Abends
Fleiſch, harte Eyer, Gewürze oder blä-
hende Dinge, z. E. Kartoffeln, welche
gar ſehr dahin wirken, genieſsen zu laſ-
ſen, desgleichen zu nahe vor Schlafen-
gehen.
2. Das ſchon erwähnte tägliche
kalte Waſchen, der Genuſs der freyen
Luft, die leichte Bekleidung beſonders
der Geſchlechtstheile. Warme enge
Hoſen waren ſchon oft das Treibhaus
dieſer zu frühzeitigen Entwicklung, und
ſehr gut iſts daher, in den erſten Jahren
einen unten offnen Rock und gar keine
Hoſen tragen zu laſſen.
3. Man laſſe nie auf Federn, ſon-
dern nur auf Matratzen ſchlafen, Abends,
nach einer tüchtigen Bewegung, alſo
recht müde, zu Bett’ gehen und früh,
[505] ſo wie die Kinder munter werden, ſie
aufſtehen. Dieſer Zeitpunct des Faul-
lenzens früh im Bette, zwiſchen Schla-
fen und Wachen, beſonders unter einer
warmen Federdecke, iſt eine der häufig-
ſten Verführungen zur Onanie, und
darf durchaus nicht geſtattet werden.
4. Man gebe täglich hinlängli-
che Muskularbewegung, ſo daſs der
natürliche Kraftvorrath durch die Be-
wegungsmuskeln verarbeitet und ab-
geleitet werde. Denn wenn freylich
ein ſolches armes Kind den ganzen
Tag ſizt, und in einem körperlich-
paſſiven Zuſtande erhalten wird, iſt es
da wohl ein Wunder, wenn die Kräfte,
die ſich doch äuſſern wollen und müſſen,
jene unnatürliche Richtung nehmen?
Man laſſe ein Kind, einen jungen Men-
ſchen, durch Laufen, Springen u. dgl.
täglich ſeine Kräfte bis zur Ermüdung
im Freyen ausarbeiten, und ich ſtehe
dafür, daſs ihm keine Onanie einfallen
wird. Sie iſt das Eigenthum der ſitzen-
den Erziehung, der Penſionsanſtalten,
[506] und Schulklöſter, wo die Bewegung zu
halben Stunden zugemeſſen wird.
5. Man ſtrenge die Denk- und Em-
pfindungskraft nicht zu früh, nicht zu
ſehr an. Je mehr man dieſe Organe ver-
feinert und vervollkommt, deſto em-
pfänglicher wird auch der Körper für
Onanie.
6. Insbeſondere verhüte man alle
Reden, Schriften und Gelegenheiten,
die dieſe Ideen in Bewegung ſetzen,
oder nur auf dieſe Theile aufmerkſam
machen können. Ableitung davon auf
alle mögliche Weiſe iſt nöthig, aber
nicht die von einigen empfohlne Metho-
de, ſie durch die Erklärung ihres Nu-
tzens und Gebrauchs dem Kinde erſt
recht intereſſant und wichtig zu machen.
Gewiſs, je mehr man die Aufmerkſam-
keit dahin leitet, deſto eher kann man
auch einen Reiz daſelbſt erwecken (denn
innere Aufmerkſamkeit auf einen Punct
[innere Berührung] iſt eben ſo gut Reiz
als äuſſere Berührung); und ich halte es
daher mit den Alten, einem Kinde vor
[507] dem vierzehnden Jahre nichts vom Zeu-
gungsgeſchäft zu ſagen. Wofür die Na-
tur noch kein Organ hat, davon ſoll ſie
auch noch keinen Begriff haben, ſonſt
kann der Begriff das Organ hervorrufen,
ehe es Zeit iſt.
Auch entferne man ja Komödien,
Romane, Gedichte, die dergleichen Ge-
fühle erregen. Nichts, was die Phanta-
ſie erhizt und dahin leitet, ſollte vor-
kommen. So iſt z. B. das Leſen man-
cher alten Dichter, oder das Studium
der Mythologie ſchon manchem ſehr
nachtheilig geweſen. Auch in dieſem
Sinn wäre es weit beſſer, den Anfang
mit dem Studium der Natur, der Kräu-
terkunde, Thierkunde, Oekonomie u.
ſ. w. zu machen. Dieſe Gegenſtände
erregen keine unnatürlichen Triebe der
Art, ſondern erhalten den reinen Natur-
ſinn, der vielmehr das beſte Gegengift
derſelben iſt.
7. Man ſey äuſſerſt aufmerkſam auf
Kindermägde, Domeſtiken, Geſellſchaf-
ter, daſs dieſe nicht den erſten Keim zu
[508] dieſer Ausſchweifung legen, welches
ſolche Perſonen oft in aller Unwiſſenheit
thun. Mir ſind einige Fälle bekannt,
wo die Kinder blos dadurch Onaniſten
wurden, weil die Kindermagd, wenn
ſie ſchrieen und nicht einſchlafen woll-
ten, kein beſſeres Mittel wuſste ſie zu be-
ſänftigen, als an den Geſchlechtstheilen
zu ſpielen. Daher auch das Zuſammen-
ſchlafen mehrerer nie zu geſtatten iſt.
8. Wenn aber demohngeachtet je-
ner unglückliche Trieb erwacht, ſo un-
terſuche man vor allen Dingen, ob es
nicht vielmehr Krankheit als Unart iſt,
worauf die meiſten Erzieher zu wenig
ſehen. Vorzüglich können alle Krank-
heiten, die ungewöhnliche Reize im Un-
terleibe erregen, wenn ſie mit etwas Em-
pfindlichkeit der Nerven zuſammentref-
fen, dazu Gelegenheit geben, wie ich
aus Erfarung weiſs. Dahin gehören
Wurmreiz, Skrofeln oder Gekröſsdrü-
ſenverhärtungen, auch Vollblütigkeit des
Unterleibes (ſie mag nun Folge einer zu
reizenden erhitzenden Diät oder des
[509] Sitzens ſeyn). Man muſs daher, bey
jedem Verdacht der Art, immer erſt die
körperliche Urſache entfernen, durch
ſtärkende Mittel die widernatürliche
Empfindlichkeit der Nerven heben, und
man wird, ohne andere Hülfe, auch den
Trieb zur Onanie, oder die zu frühzei-
tige Reizbarkeit der Geſchlechtstheile,
gehoben haben.
[510]
III.
Thätige und arbeitſame Jugend.
Wir finden, daſs alle die, welche ein
ſehr hohes Alter erreichten, ſolche Men-
ſchen waren, die in der Jugend Mühe,
Arbeit, Strapazen ausgeſtanden hatten.
Es waren Matroſen, Soldaten, Tage-
löhner. Ich will nur an den 112 jähri-
gen Mittelſtädt erinnern, der ſchon im
15ten Jahr Bedienter und im 18ten
Jahre Soldat war, und alle Preuſsiſche
Kriege ſeit Stiftung der Monarchie mit-
machte.
Eine ſolche Jugend wird die Grund-
lage zu einem langen und feſten Leben
[511] auf eine doppelte Art; theils, indem ſie
dem Körper jenen Grad von Feſtigkeit
und Abhärtung giebt, der zur Dauer
nothwendig iſt; theils, indem ſie dasje-
nige möglich macht, was hauptſächlich
zum Glück und zur Länge des Lebens
gehört, das Fortſchreiten zum Beſſern
und Angenehmern. Der, der in der
Jugend alle Bequemlichkeiten und Ge-
nüſſe im Ueberfluſs hatte, hat auch
nichts mehr zu hoffen, das groſse
Mittel zur Erweckung und Conſervation
der Lebenskraft, Hofnung und Ausſicht
ins Beſsre, fehlt ihm. Muſs er nun
vollends mit zunehmenden Jahren Dürf-
tigkeit und Beſchwehrden empfinden,
dann wird er doppelt niedergedrückt,
und nothwendig ſeine Lebensdauer
verkürzt. Aber in dem Uebergang von
Beſchwehrlichkeiten zum Beſſern liegt
ein beſtändiger Quell von neuer Freude,
neuer Kraft und neuen Leben.
So wie der Uebergang mit zuneh-
menden, Jahren aus einem rauhen
[512] ſchlechten Clima in ein milderes ſehr
viel zur Verlängerung des Lebens bey-
trägt, eben ſo auch der Uebergang aus
einem Mühevollen Leben in ein beque-
meres und angenehmeres.
IV.
[513]
IV.
Enthaltſamkeit von dem Genuſs der phy-
ſiſchen Liebe in der Jugend und
auſſer der Ehe.
K k
Bürger.
Es war eine Zeit, wo der Teutſche
Jüngling nicht eher an den Umgang mit
dem andern Geſchlecht dachte, als im
24 — 25ſten Jahre und man wuſste nichts
von ſchädlichen Folgen dieſer Enthalt-
ſamkeit, nichts von den Verhaltungs-
krankheiten und ſo manchem andern
Uebel, was man ſich jezt träumt; ſon-
[515] dern man wuchs, ward ſtark und es
wurden Männer, die durch ihre Gröſse
ſelbſt die Römer in Verwunderung
ſezten.
Jezt hört man um die Zeit auf, wo
jene anfingen, man glaubt nicht bald ge-
nug ſich der Keuſchheitsbürde entledi-
gen zu können, man hat die lächerlich-
ſten Einbildungen von dem Schaden,
den die Enthaltſamkeit verurſachen
könnte, und alſo fängt der Knabe an,
noch lange vorher, ehe ſein eigner Kör-
per vollendet iſt, die zur Belebung an-
drer beſtimmten Kräfte zu verſchwen-
den. Die Folgen liegen am Tage. Dieſe
Menſchen bleiben unvollendete halbfer-
tige Weſen, und um die Zeit, wo unſre
Vorfahren erſt anfingen dieſe Kräfte zu
brauchen, ſind ſie gewöhnlich ſchon
damit zu Ende, fühlen nichts als Ekel
und Ueberdruſs an dem Genuſſe, und
einer der wichtigſten Reize zur Würzung
des Lebens iſt für ſie auf immer ver-
lohren.
K k 2
[516]
Es iſt unglaublich, wie weit Vorur-
theile in dieſem Puncte gehen können,
beſonders wenn ſie unſern Neigungen
ſchmeicheln. Ich habe wirklich einen
Menſchen gekannt, der in allem Ernſte
glaubte, es exiſtire kein ſchädlicheres
Gift für den menſchlichen Körper als die
Zeugungsſäfte, und die Folge war, daſs
er nichts angelegentlicheres zu thun
hatte, als ſich immer, ſo ſchnell wie
möglich davon zu entledigen. Durch
dieſe Bemühungen brachte ers denn
dahin, daſs er im 20ſten Jahre ein Greis
war, und im 25ſten alt und lebensſatt
ſtarb.
Man iſt jezt ſo ganz in den Ge-
ſchmack der Ritterzeiten gekommen,
daſs ſogar alle Romane dieſe Form an-
nehmen müſſen, wenn ſie gefallen ſol-
len, und man kann nicht aufhören, die
Denk- und Handlungsweiſe, das Edle,
Groſse und Entſchloſsne dieſer Teut-
ſchen Männer zu bewundern. Und das
mit Recht. Es ſcheint je mehr wir füh-
len, wie weit wir davon abgekommen
[517] ſind, deſto mehr zieht uns jene Darſtel-
lung an, deſto mehr erregt ſie den
Wunſch, ihnen wieder ähnlich zu wer-
den. Aber wie gut wäre es, wenn wir
nicht blos an die Sache, ſondern viel-
mehr an die Mittel dazu dächten! Das,
wodurch jene den Muth, die Leibes-
und Seelenkraft, den feſten, treuen und
entſchloſsnen Karacter, genug, alles das
erhielten, was ſie zu wahren Männern im
ganzen Sinne des Worts macht, war
vorzüglich ihre ſtrenge Enthaltſamkeit
und Schonung ihrer phyſiſchen Manns-
kraft. Die Jugend dieſer Männer war
groſsen Unternehmungen und Thaten,
nicht Wohllüſten und Genüſſen geweiht,
der phyſiſche Geſchlechtstrieb wurde
nicht zum thieriſchen Genuſs erniedrigt,
ſondern in eine moraliſche Anreizung zu
groſsen und kühnen Unternehmungen
veredelt. Ein jeder trug im Herzen das
Bild ſeiner Geliebten, ſie mochte nun
wirklich oder idealiſch ſeyn, und dieſe
romantiſche Liebe, dieſe unverbrüch-
liche Treue, war das Schild ſeiner Ent-
[518] haltſamkeit und Tugend, befeſtigte ſeine
Körperkraft und gab ſeiner Seele Muth
und ausharrende Dauer, durch die be-
ſtändige Ausſicht auf den ihm in der
Ferne zuwinkenden Minneſold, der nur
erſt durch groſse Thaten errungen wer-
den konnte. So romanhaft die Sache
ſcheinen mag, ſo finde ich doch bey
genauer Unterſuchung groſse Weisheit
in dieſer Benutzung des phyſiſchen
Triebs, eines der ſtärkſten Motive der
menſchlichen Natur. Wie ganz anders
iſt es damit bey uns geworden? Dieſer
Trieb, der durch kluge Leitung der
Keim der erhabenſten Tugend, des
gröſsten Heroismus werden kann, iſt
zur tändelnden Empfindeley oder zum
blos thieriſchen Genuſs herabgeſunken,
den man noch vor der Zeit bis zum Ekel
befriedigt; der Affect der Liebe, der
dort für Ausſchweifungen ſicherte, iſt
bey uns die Quelle der allerzügelloſeſten
worden; die Tugend der Enthaltſam-
keit, gewiſs die gröſste Grundlage mo-
raliſcher Feſtigkeit und Mannheit des
[519] Karacters, iſt lächerlich geworden, und
als eine altmodiſche Pedanterey ver-
ſchrieen, und das, was die lezte füſſeſte
Belohnung überſtandener Arbeiten, Müh-
ſeeligkeiten und Gefahren ſeyn ſollte, iſt
eine Blume worden, die jeder Knabe
am Wege pflückt. Warum legte die
Natur dieſes Sehnen zur Vereinigung,
dieſen allmächtigen unwiderſtehlichen
Trieb der Liebe in unſre Bruſt? Wahr-
lich nicht, um Romanen zu ſpielen und
in dichteriſchen Exſtaſen herumzu-
ſchwärmen, ſondern um dadurch ein
feſtes unzertrennliches Band zweyer
Herzen zu knüpfen, den Grund einer
glücklichen Generation zu legen, und
durch dieſs Zauberband unſre Exiſtenz
mit der erſten und heiligſten aller Pflich-
ten zu verbinden. — Wie gut wäre es,
wenn wir hierinne der alten Sitte uns
wieder näherten, und die Früchte nicht
eher brechen wollten, als bis wir gesäet
hätten!
Man hört jezt ſehr viel von Kraft
und Kraftmenſchen ſprechen. Ich glaube
[520] nichts davon, ſo lange ich nicht ſehe,
daſs ſie Kraft genug haben, Leidenſchaf-
ten zu bekämpfen und enthaltſam zu
ſeyn; denn dieſs iſt der Triumpf, aber
auch das einzige Zeichen der wahren
Geiſteskraft, und dieſs die Schule, in
der ſich der Jüngling üben und zum ſtar-
ken Mann bilden ſollte.
Durchgehends finden wir in der al-
ten Welt, daſs alle diejenigen, von de-
nen man etwas auſſerordentliches und
ausgezeichnetes erwartete, ſich der phy-
ſiſchen Liebe enthalten muſsten. So
ſehr war man überzeugt, daſs Venus die
ganze Mannskraft nehme, und daſs Men-
ſchen, dieſen Ausſchweifungen ergeben,
nie etwas groſses und auſſerordentliches
leiſten würden.
Ich gründe hierauf eine der wich-
tigſten Lebensregeln: Ein jeder, dem
Dauer und Blüthe ſeines Lebens am Her-
zen liegt, vermeide den auſſerehelichen Um-
gang mit dem andern Geſchlecht, und ver-
[521] ſpare dieſen Genuſs bis zur Ehe. Meine
Gründe ſind folgende:
1. Der auſſereheliche Umgang führt,
wegen des immer wechſelnden, immer
neuen Reizes, weit leichter zur Un-
mäſsigkeit im Genuſs, die hingegen der
eheliche verhütet.
2. Er verleitet uns zum zu frühzeiti-
gen Genuſs der phyſiſchen Liebe, alſo ei-
nem der gröſsten Verkürzungsmittel des
Lebens, da hingegen der eheliche Genuſs
nur erſt dann möglich iſt, wenn wir
phyſiſch und moraliſch gehörig vorbe-
reitet ſind.
3. Der auſſereheliche Umgang ſezt
uns unausbleiblich der Gefahr einer ve-
neriſchen Vergiftung aus, denn alle Vor-
ſicht, alle Präſervative ſind, wie ich in
der Folge zeige, vergebens.
4. Wir verlieren dadurch die Nei-
gung, auch wohl die Kraft zur ordent-
lichen ehelichen Verbindung, und folg-
lich zu einem ſehr weſentlichen Erhal-
tungsmittel des Lebens.
[522]
Aber, wird mancher fragen, wie iſt
es möglich, bey einem geſunden und
wohl genährten Körper, bey unſrer
Denk- und Lebensweiſe, Enthaltſamkeit
bis zum vier oder fünf und zwanzigſten
Jahre, genug, bis zur Zeit der Ehe, zu
beobachten? *) — Daſs es möglich iſt,
[523] weiſs ich aus Erfarung, und könnte hier
mehrere brave Männer anführen, die
ihren jungfräulichen Bräuten auch ihre
männliche Jungfrauſchaft zur Mitgabe
brachten. Aber es gehört dazu ein fe-
ſter Vorſatz, feſter Karacter und eine
gewiſſe Richtung und Stimmung der
Denk- und Lebensweiſe, die freylich
*)
[524] nicht die gewöhnliche iſt. Man erlaube
mir hier, zum Beſten meiner jüngern
Mitbürger, einige der bewährteſten
Mittel zur Enthaltſamkeit und zur Ver-
meidung der unehelichen Liebe aufzu-
führen, deren Kraft, Keuſchheit durch
die gefährlichſten Jugendzeiten hindurch
zu erhalten, ich aus Erfarung kenne:
1. Man lebe mäſsig und vermeide
den Genuſs nahrhafter viel Blut machen-
der oder reizender Dinge; z. E. viel
Fleiſchkoſt, Eyer, Chokolade, Wein,
Gewürze.
2. Man mache ſich täglich ſtarke
körperliche Bewegung, bis zur Ermü-
dung, damit die Kräfte und Säfte ver-
arbeitet, und die Reize von den Ge-
ſchlechtstheilen abgeleitet werden. Ge-
nug, in den zwey Worten: Faſte und
Arbeite, liegt ein groſser Talismann ge-
gen die Anfechtungen dieſes Dämons.
3. Man beſchäftige den Geiſt, und
zwar mit mehr ernſthaften abſtracten
Gegenſtänden, die ihn von der Sinnlich-
keit ableiten.
[525]
4. Man vermeide alles, was die
Phantaſie erhitzen, und ihr die Rich-
tung auf Wolluſt geben könnte, z. E.
ſchlüpfriche Unterhaltungen, das Leſen
Liebevoller und wollüſtiger Gedichte
und Romane (wie wir denn leider ſo
viele haben, die blos gemacht zu ſeyn
ſcheinen, die Phantaſie junger Leute zu
erhitzen, und deren Verfaſſer blos auf
den äſthetiſchen auch wohl numerären
Werth zu ſehen ſcheinen, ohne den un-
erſezlichen Schaden zu berechnen, den
ſie der Moralität und der Unſchuld da-
durch zufügen), auch den Umgang mit
verführeriſchen Weibsperſonen, manche
Arten von Tänzen u. dgl.
5. Man denke ſich immer die Gefah-
ren und Folgen der Ausſchweifung recht
lebhaft. Erſt die moraliſchen. Wel-
cher Menſch von nur einigem Gefühl
und Gewiſſen wird es über ſich erhal-
ten können, der Verführer der erſten
Unſchuld oder der ehelichen Treue zu
ſeyn? Wird ihn nicht Zeitlebens der
peinigende Vorwurf foltern, im erſten
[526] Falle die Blume im Aufblühen gebro-
chen, und ein noch unſchuldiges Ge-
ſchöpf auf ihr ganzes Leben phyſiſch
und moraliſch unglücklich gemacht zu
haben, deſſen nun folgende Vergehun-
gen, Liederlichkeit und Verworfenheit
ganz auf ihn, als den erſten Urheber,
reſultiren; oder im zweyten Falle die
eheliche und häusliche Glückſeeligkeit
einer ganzen Familie geſtöhrt und ver-
giftet zu haben, ein Verbrechen, das
nach ſeinem moraliſchen Gewicht ab-
ſcheulicher iſt, als Raub und Mordbren-
nerey? Denn was iſt bürgerliches Ei-
genthum gegen das Herzenseigenthum
der Ehe, was iſt Raub der Güter gegen
den Raub der Tugend, der moraliſchen
Glückſeeligkeit? Es bleibt alſo nichts
übrig, als ſich mit feilen und der Wol-
luſt geweiheten Dirnen abzugeben; aber
welche Erniedrigung des Karacters, wel-
cher Verluſt des wahren Ehrgefühls iſt
damit verbunden? Auch iſts erwieſen,
daſs nichts ſo ſehr den Sinn für hohe
und edle Gefühle abſtumpft, Kraft und
[527] Feſtigkeit des Geiſtes nimmt, und das
ganze Weſen erſchlafft, als dieſe Aus-
ſchweifungen der Wolluſt. — Betrach-
ten wir nun die phyſiſchen Folgen des
auſſerehelichen Genuſſes, ſo ſind die
nicht weniger traurig, denn hier iſt
man niemals für veneriſcher Anſteckung
ſicher. Kein Stand, kein Alter, keine
ſcheinbare Geſundheit ſchüzt uns dafür.
Nur gar zu leichtſinnig geht man jezt
gewöhnlich über dieſen Punct weg, ſeit-
dem die gröſsre Allgemeinheit des Uebels
und der Einfluſs unwiſſender Aerzte
dieſe Vergiftung ſo gleichgültig gemacht
haben, als Huſten und Schnupfen.
Aber wir wollen es einmal in ſeiner
wahren Geſtalt betrachten, was es heiſst,
veneriſch vergiftet zu ſeyn, und ich
glaube, jeder vernünftige und wohlden-
kende Menſch wird es mir zugeben, daſs
es unter die gröſsten Unglücksfälle ge-
hört, die einen Menſchen betreffen kön-
nen. Denn erſtens ſind die Wirkungen
dieſes Giftes in dem Körper immer ſehr
ſchwächend und angreifend, oft auch
[528] fürchterlich zerſtöhrend, ſo daſs tödli-
che Folgen entſtehen, oder auch Gau-
men und Naſenbeine verloren gehen,
und ein ſolcher Menſch auf immer ſeine
Schmach zur Schau trägt. Ferner, die
ganze Medizin hat kein völlig entſchei-
dendes Zeichen, ob die veneriſche
Krankheit völlig gehoben und das vene-
riſche Gift gänzlich in einem Körper ge-
dämpft ſey, oder nicht. Hierinn ſtim-
men die gröſsten Aerzte überein. Das
Gift kann ſich wirklich einige Zeitlang
ſo verſtecken und modifiziren, daſs man
glaubt völlig geheilt zu ſeyn, ohne daſs
es iſt. Daraus entſtehen nun zweyerley
üble Folgen, einmal, daſs man gar
leicht etwas veneriſches im Körper be-
hält, welches denn unter verſchiedenen
Geſtalten bis ins Alter hin beläſtigt, und
einen ſiechen Körper bewirkt, oder daſs
man, welches faſt eben ſo ſchlimm iſt,
ſich immer einbildet noch veneriſch zu
ſeyn, jeden kleinen Zufall davon herlei-
tet, und mit dieſer fürchterlichen Unge-
wiſsheit ſein Leben hinquält. Ich habe
von
[529] von dieſer leztern Art die traurigſten
Beyſpiele geſehen. Es braucht nur noch
etwas Hypochondrie hinzuzukommen,
ſo wird dieſer Gedanke ein ſchrecklicher
Plagegeiſt, der Ruhe, Zufriedenheit,
gute Entſchlüſſe auf immer von uns
wegſcheucht. Ueberdieſs liegt ſelbſt in
der Kur dieſer Krankheit etwas ſehr ab-
ſchreckendes. Das einzige Gegengift
des veneriſchen Giftes iſt Queckſilber,
alſo ein Gift von einer andern Art, und
eine recht durchdringende Queckſilber-
kur (ſo wie ſie bey einem hohen Grade
der Krankheit nöthig iſt) iſt nichts an-
ders als eine künſtliche Queckſilbervergif-
tung, um dadurch die veneriſche Vergif-
tung aufzuheben. Aber gar oft bleiben
nun ſtatt der veneriſchen Uebel die Fol-
gen des Queckſilbergifts. Die Haare
fallen aus, die Zähne verderben, die
Nerven bleiben ſchwach, die Lunge
wird angegriffen u. dergl. mehr. Aber
noch eine Folge, die gewiſs für einen
fühlenden Menſchen das gröſste Gewicht
hat, iſt die, daſs ein jeder, der ſich ve-
L l
[530] neriſch anſtecken läſst, dieſes Gift nicht
blos für ſich aufnimmt, ſondern es in
ſich auch wieder reproducirt, und alſo
auch für andre, ja für die Menſchheit
eine Giftquelle wird. Er giebt ſeinen
Körper zum Reſervoir, zum Treibhaus
dieſes ſcheuslichen Gifts her, und wird
dadurch ein Erhalter deſſelben für die
ganze Welt, denn es iſt erwieſen, daſs
ſich dieſes Gift nur im Menſchen von
neuen erzeugt, und daſs es ſogleich aus-
gerottet ſeyn würde, wenn ſich keine
Menſchen mehr dazu hergäben, um es
zu reproduziren.
6. Noch ein Motiv, deſſen Kraft,
wie ich weiſs, bey gutgearteten Men-
ſchen ſehr groſs iſt: Man denke an ſeine
künftige Geliebte und Gattin, und an
die Pflichten, die man ihr ſchuldig iſt.
Kennt man ſie ſchon, deſto beſſer. Aber
auch ohne ſie zu kennen, kann der Ge-
danke an die, der wir einſt unſre Hand
geben wollen, von der wir Treue, Tu-
gend und feſte Anhänglichkeit erwarten,
ein groſser Beweggrund zur eignen Ent-
[531] haltſamkeit und Reinheit ſeyn. Wir
müſſen, wenn wir einſt ganz glücklich
ſeyn wollen, für ſie, ſey ſie auch nur
noch Ideal, ſchon im voraus Achtung
empfinden, ihr Treue und Liebe gelo-
ben und halten, und uns ihrer würdig
machen. Wie kann der eine tugend-
hafte und rechtſchaffne Gattin verlan-
gen, der ſich vorher in allen Wollüſten
herumgewälzt und dadurch entehrt hat?
Wie kann er einſt mit reinem und wah-
rem Herzen lieben, wie kann er Treue
geloben und halten, wenn er ſich nicht
vom Anfang an an dieſe reinen und er-
habenen Empfindungen gewöhnt, ſon-
dern ſie zur thieriſchen Wolluſt ernie-
drigt hat?
7. Noch kann ich eine Regel nicht
übergehen, die von groſser Wichtigkeit
iſt: Man vermeide die erſte Ausſchwei-
fung der Art. Keine Ausſchweifung
zieht ſo gewiſs die folgenden nach ſich,
als dieſe. Wer noch nie bis zu dem höch-
ſten Grad der Vertraulichkeit mit dem
andern Geſchlecht kam, der hat ſchon
L l 2
[532] darinn einen groſsen Schild der Tugend.
Schamhaftigkeit, Schüchternheit, ein
gewiſſes innres Gefühl von Unrechtthun,
genug, alle die zarten Empfindungen,
die den Begriff der Jungfräulichkeit aus-
machen, werden ihn immer noch, auch
bey ſehr groſser Verführung, zurück-
ſchrecken. Aber eine einzige Uebertre-
tung vernichtet ſie alle unwiderbring-
lich. Dazu kommt noch, daſs der erſte
Genuſs oft erſt das Bedürfniſs dazu er-
regt, und den erſten Keim jenes noch
ſchlafenden Triebs erweckt, ſo wie jeder
Sinn erſt durch Kultur zum vollkomm-
nen Sinn wird. Es iſt in dieſem Betracht
nicht blos die phyſiſche ſondern auch
die moraliſche Jungfrauſchaft etwas ſehr
Reelles, und ein heiliges Gut, das beyde
Geſchlechter ſorgfältig bewahren ſollten.
Aber eben ſo gewiſs iſt es, daſs ein ein-
ziger Fall hinreicht, um uns dieſelbe,
nicht blos phyſiſch ſondern auch mora-
liſch zu rauben, und wer einmal gefal-
len iſt, der wird zuverläſſig öftrer
fallen.
[533]
Genug, um auf unſern Hauptſatz
zurück zu kommen:
- Multa tulit, fecitque puer, ſudanit et alſit
Abſtinuit venere et vino.
In dieſen Worten liegt wirklich das
Weſentliche der Kunſt, ſich in der Jugend
Kraft und Lebensdauer zu verſchaffen.
Arbeit, Anſtrengung und Vermeidung
der phyſiſchen Liebe und des Weins
ſind die Hauptſtücke.
Ich brauche nur an das vorherge-
ſagte zu erinnern. — Glücklich alſo der,
der die Kunſt beſizt, dieſe Kräfte zu ſcho-
nen. Er beſizt darinne nicht nur das
Geheimniſs, ſeinem eignen Leben mehr
Länge und Energie zu geben, ſondern
auch, wenn nun der rechte Zeitpunct
kommt, Leben andern Geſchöpfen mit-
zutheilen, das Glück ehelicher Liebe
ganz zu genieſſen, und ſeine geſpaarte
Kraft und Geſundheit in glücklichen
Kindern verdoppelt zu ſehen; da hinge-
gen der Entnervte, auſſer der Verkürzung
[534] ſeines eignen Lebens, auch noch die
bittre Kränkung erlebt, in ſeinen elen-
den Kindern ſeine eigne Schmach immer
reproduzirt zu finden. Solch ein über-
ſchwenglicher Lohn wartet deſſen, der
Kraft genug hat, ein Paar Jahre enthalt-
ſam zu ſeyn. Ich kenne wenig Tugen-
den, die ſchon hier auf Erden ſo reich-
lich und ausgezeichnet belohnt würden.
Ueberdieſs hat ſie noch den Vorzug,
daſs ſie, indem ſie zu einem glücklichen
Eheſtand geſchickt macht, zu einem
neuen Erhaltungsmittel des Lebens ver-
hilft.
[535]
V.
Glücklicher Eheſtand.
Es iſt eins der ſchädlichſten und fal-
ſcheſten Vorurtheile, daſs die Ehe eine
blos politiſche und conventionelle Er-
findung ſey. Sie iſt vielmehr eine der
weſentlichſten Beſtimmungen des Men-
ſchen, ſowohl fürs Einzelne, als fürs
Ganze, und ein unentbehrlicher Theil
der Erziehung des Menſchengeſchlechts.
Ich verſtehe unter Ehe eine feſte, heilige
Verbindung zweyer Perſonen von ver-
ſchiedenem Geſchlecht zur gegenſeitigen
Unterſtützung, zur Kindererzeugung
und Erziehung. Und in dieſer innigen,
auf ſo wichtige Zwecke gegründeten
Verbindung liegt, nach meiner Mey-
nung, der Hauptgrund häuslicher und
[536] öffentlicher Glückſeligkeit. Denn ein-
mal iſt ſie unentbehrlich zur morali-
ſchen Vervollkommnung des Menſchen;
durch dieſe innige Verkettung ſeines
Weſens mit einem andern, ſeines In-
tereſſes mit einem andern wird der
Egoismus, der gefährlichſte Feind aller
Tugend, am beſten überwunden, der
Menſch immer mehr zur Humanität,
und zum Mitgefühl für andere geführt,
und ſeiner wahren moraliſchen Vered-
lung genähert. Sein Weib, ſeine Kin-
der knüpfen ihn an die übrige Menſch-
heit und an das Wohl des Ganzen mit
unauflöslichen Banden, ſein Herz wird
durch die ſüſſen Gefühle ehelicher und
kindlicher Zärtlichkeit immer genährt
und erwärmt, und für jener alles tödten-
den Kälte geſchüzt, die ſich ſo leicht ei-
nes iſolirt lebenden Menſchen bemäch-
tigt, und eben dieſe ſüſsen Vaterſorgen
legen ihm Pflichten auf, die ſeinen Ver-
ſtand an Ordnung, Arbeit und vernünf-
tige Lebensweiſe gewöhnen. Der Ge-
ſchlechtstrieb wird dadurch veredelt,
[537] und aus einem thieriſchen Inſtinet in
eins der edelſten moraliſchen Motive
umgeſchaffen, die heftigen Leidenſchaf-
ten, böſen Launen, üble Gewohnheiten
werden dadurch am beſten getilgt.
Hieraus entſpringt nun aber ein äuſſerſt
beglückender Einfluſs aufs Ganze und
auf das öffentliche Wohl, ſo daſs ich mit
völliger Ueberzeugung behaupte: Glück-
liche Ehen ſind die wichtigſten Grundfeſten
des Staats und der öffentlichen Ruhe und
Glückſeligkeit. Ein Unvereheligter bleibt
immer mehr Egoiſt, unabhängig, unſtät,
von ſelbſtſüchtigen Launen und Leiden-
ſchaften beherrſcht, weniger für Menſch-
heit, für Vaterland und Staat als für ſich
ſelbſt intereſſirt; das falſche Gefühl der
Freyheit hat ſich ſeiner bemächtigt,
denn eben dieſs hielt ihn vom Heyra-
then ab, und wird durch den eheloſen
Stand noch genährt. Was kann wohl
mehr zu Neuerungen, Volksbewegun-
gen, Revolutionen disponiren, als die
Zunahme der eheloſen Staatsbürger?
Wie ganz anders iſt dieſs mit dem Ver-
[538] heyratheten? Die in der Ehe nothwen-
dige Abhängigkeit von der andern Hälfte
gewöhnt unaufhörlich auch an die Ab-
hängigkeit vom Geſez, die Sorgen für
Frau und Kind binden an Arbeitſamkeit
und Ordnung im Leben, durch ſeine
Kinder iſt der Mann an den Staat feſt
geknüpft, das Wohl, das Intereſſe des
Staats wird dadurch ſein eignes, oder,
wie es Baco ausdrückt, wer verheyrathet
iſt und Kinder hat, der hat dem Staate
Geiſseln gegeben, er iſt obligat, nur er
iſt wahrer Staatsbürger, wahrer Patriot.
Aber was noch mehr iſt, nicht blos das
Glück der gegenwärtigen ſondern auch
der zukünftigen Generation wird da-
durch gegründet, denn nur die eheliche
Verbindung erzieht dem Staate gute,
ſittliche, an Ordnung und Bürgerpflicht
von Jugend an gewöhnte Bürger. Man
glaube doch ja nicht, daſs der Staat dieſe
Bildung, dieſe Erziehung erſetzen kann,
die die weiſe Natur mit dem Vater- und
Mutterherzen verknüpft hat! Ach der
Staat iſt eine ſchlechte Mutter! Ich habe
[539] ſchon oben gezeigt, was die unſeelige
Operation, das Propagationsgeſchäft
ſporadiſch (nach der bey Hunden und
andern Vieh beliebten Weiſe) zu treiben,
und dann die Kinder auf öffentliche Ko-
ſten in Findelhäuſern zu erziehen, für
traurige Folgen aufs Phyſiſche hat,
und eben ſo iſt es mit dem Sittlichen,
Es iſt eine ausgemachte Wahrheit, je
mehr ein Staat uneheliche Kinder hat,
deſto mehr hat er Keime der Korruption,
deſto mehr Saat zu künftigen Unruhen
und Revolutionen. Und doch kann es
Regenten geben, die, durch falſche Fi-
nanzvorſpiegelungen verführt, glauben
können, die eheliche Verbindung könne
dem Staate ſchädlich werden, der ehe-
loſe Stand mache treue Diener, gute
Bürger und dergleichen mehr. O ihr
Groſsen dieſer Welt, wollt ihr die Ruhe
eurer Staaten ſichern, wollt ihr wahres
Glück im Einzelnen und im Ganzen ver-
breiten, ſo befördert, ehrt und unter-
ſtüzt die Ehen; betrachtet jede Ehe als
eine Pflanzſchule guter Staatsbürger,
[540] jede gute häuslich glückliche Familie
als ein Unterpfand der öffentlichen Ruhe
und eurer Thronen!
Man verzeihe dieſe Digreſſion mei-
nem Herzen, das keine Gelegenheit vor-
bey laſſen kann, das Göttliche und
Wohlthätige einer Einrichtung zu zei-
gen, die offenbar in der ſittlichen und
phyſiſchen Natur des Menſchen gegrün-
det iſt, und die noch von ſo vielen jezt
verkannt und falſch beurtheilt wird.
Ich kehre jezt zu meinem Hauptzweck
zurück, den wohlthätigen Einfluſs des
Eheſtands auf das phyſiſche Wohl des
Menſchen zu zeigen. Mit Recht ver-
dient er unter den Verlängerungsmitteln
des Lebens einen Plaz. — Meine Grün-
de ſind folgende:
1. Der Eheſtand iſt das einzige Mit-
tel, um dem Geſchlechtstrieb Ordnung
und Beſtimmung zu geben. Er ſchüzt
eben ſo ſehr für ſchwächender Ver-
ſchwendung, als für unnatürlicher und
kältender Zurückhaltung. So ſehr ich
der Enthaltſamkeit in der Jugend das
[541] Wort geredet habe, und überzeugt bin,
daſs ſie unentbehrlich zum glücklichen
und langen Leben iſt, ſo bin ich doch
eben ſo ſehr überzeugt, daſs männliche
Jahre kommen, wo es eben ſo nachthei-
lig wäre, jenen natürlichen Trieb ge-
waltſam zu unterdrücken, als ihn da zu
befriedigen, wo es noch nicht Zeit iſt. —
Es bleibt doch zum Theil, wenigſtens in
Abſicht auf die gröbern Theile, eine
Excretion, und, was das wichtigſte iſt,
durch völlig unterlaſsnen Gebrauch die-
ſer Organe veranlaſſen wir natürlich,
daſs immer weniger Generationsſäfte da
abgeſondert und präparirt, folglich auch
immer weniger ins Blut reſorbirt wer-
den, und wir erleiden am Ende dadurch
ſelbſt einen Verluſt. Und ſchon das all-
gemeine Geſez der Harmonie erfodert es.
Keine Kraft in uns darf ganz unent-
wickelt bleiben; jede muſs angemeſſen
geübt werden. — Coitus modicus excitat,
nimius debilitat.
2. Er mäſsigt und regulirt den Ge-
nuſs. Eben das, was den Wollüſtling
[542] vom Eheſtand abſchreckt, das Einerley,
iſt ſehr heilſam und nothwendig; denn
es verhütet die durch ewige Abwechſe-
lung der Gegenſtände immer erneuerte
und deſto ſchwächendere Reizung. Es
verhält ſich wie die einfache Nahrung
zur componirten und ſchwelgeriſchen;
nur jene giebt Mäſsigkeit und langes
Leben.
3. Die Erfarung ſagt uns: Alle, die
ein ausgezeichnet hohes Alter erreichten,
waren verheyrathet.
4. Der Eheſtand gewährt die rein-
ſte, gleichförmigſte, am wenigſten auf-
reibende Freude, die häusliche. Sie iſt
zuverläſſig diejenige, die der phyſiſchen
und moraliſchen Geſundheit am ange-
meſſenſten iſt, und das Gemüth am ge-
wiſſeſten in jenem glücklichen Mittelton
erhalten kann, der zur Verlängerung
des Lebens der vortheilhafteſte iſt. Er
temperirt ſowohl die überſpannten und
ſchwärmeriſchen Hofnungen und Plane,
als die eben ſo übertriebnen Beſorgniſſe.
Alles wird durch die Mittheilung eines
[543] zweyten Weſens, durch die innige Ver-
bindung unſrer Exiſtenz mit einer an-
dern gemildert und gemäſsigt. Dazu
nun die zarte Wartung und Pflege, die
kein andres Verhältniſs in der Welt für
die Dauer ſo verſichern kann, als das ehe-
liche Band, der Himmel auf Erden, der
in dem Beſitz geſunder und wohlerzoge-
ner Kinder liegt, die wirkliche Verjün-
gung, die ihr Umgang uns gewährt, wo-
von der 80jährige Cornaro uns ein ſo
rührendes Bild gemacht hat, und man
wird nicht mehr daran zweifeln.
Wir gehen faſt durch eben die Ver-
änderungen aus der Welt, als wir hinein-
kommen; die beyden Extremen des Le-
bens berühren ſich wieder. Als Kinder
fangen wir an, als Kinder hören wir auf.
Wir kehren zulezt in den nehmlichen
ſchwachen und hülfloſen Zuſtand zurück,
wie im Anfange. Man muſs uns heben,
tragen, Nahrung verſchaffen und rei-
chen. Wir bedürfen nun ſelbſt wieder
Eltern, und — welche weiſe Einrich-
tung? — wir finden ſie wieder in un-
[544] ſern Kindern, die ſich nun freuen, einen
Theil der Wohlthaten erwiedern zu kön-
nen, die wir ihnen erzeigten. Die Kin-
der treten nun gleichſam in die Stelle
der Eltern, ſo wie unſre Schwäche uns
in den Stand der Kinder verſezt. — Der
Hageſtolz hingegen macht ſich dieſer
weiſen Einrichtung ſelbſt verluſtig. Wie
ein ausgeſtorbner Stamm ſteht er einſam
und verlaſſen da, und ſucht vergebens
durch gedungene Hülfe ſich die Stütze
und Sorgfalt zu verſchaffen, die nur das
Werk des Naturtriebs und Naturbands
ſeyn kann.
‘Wirke ſo viel du willſt, du wirſt doch ewig
allein ſtehen.
Bis an das All die Natur dich, die Gewaltige,
knüpft.’
(Schiller.)
VI.
[545]
VI.
Der Schlaf.
Ich habe gezeigt, daſs der Schlaf eine
der weiſeſten Veranſtaltungen der Natur
iſt, den beſtändigen reiſsenden Strom
der Lebensconſumtion zu beſtimmten
Zeiten aufzuhalten und zu mäſsigen.
Er giebt gleichſam die Stationen für
unſre phyſiſche und moraliſche Exiſtenz,
und wir erhalten dadurch die Glückſe-
ligkeit, alle Tage von neuem gebohren
zu werden, und jeden Morgen durch
einen Zuſtand von Nichtſeyn in ein
neues erfriſchtes Leben überzugehen.
Ohne dieſen beſtändigen Wechſel, ohne
dieſe beſtändige Erneuerung, wie ekel
und unſchmackhaft würde uns nicht
bald das Leben, und wie abgetragen un-
M m
[546] ſer geiſtiges und phyſiſches Gefühl ſeyn!
Mit Recht ſagt daher der gröſste Philo-
ſoph unſrer Zeiten: Nehmt dem Menſchen
Hofnung und Schlaf, und er iſt das un-
glücklichſte Geſchöpf auf Erden.
Wie unweiſe handelt alſo derjenige,
der dadurch, daſs er ſich den Schlaf
übermäſsig abbricht, ſeine Exiſtenz zu
verlängern glaubt! Er wird ſeinen
Zweck weder in- noch extenſiv erreichen.
Zwar mehr Stunden wird er mit ofnen
Augen zubringen, aber nie wird er das
Leben im eigentlichen Sinn des Worts,
nie jene Friſchheit und Energie des Gei-
ſtes genieſsen, die die unausbleibliche
Folge jedes geſunden und hinreichenden
Schlafs iſt, und die allem, was wir trei-
ben und thun, ein ähnliches Gepräge
aufdrückt.
Aber nicht blos fürs intenſive Leben,
ſondern auch fürs extenſive, für die
Dauer und Erhaltung deſſelben iſt gehö-
riger Schlaf ein hauptſächliches Mittel.
Nichts beſchleunigt unſre Conſumtion
ſo ſehr, nichts reibt ſo vor der Zeit auf
[547] und macht alt, als Mangel deſſelben.
Die phyſiſchen Wirkungen des Schlafs
ſind: Retardation aller Lebensbewegun-
gen, Sammlung der Kraft und Wieder-
erſetzung des den Tag über verlohren
gegangnen, (hier geſchieht hauptſäch-
lich die Reſtauration und Ernährung)
und Abſonderung des unnützen und
ſchädlichen. Es iſt gleichſam die tägli-
che Criſis, wo alle Secretionen am
ruhigſten und vollkommenſten geſche-
hen.
Fortgeſeztes Wachen verbindet alſo
alle Lebensdeſtruirenden Eigenſchaften,
unaufhörliche Verſchwendung der Le-
benskraft, Abreibung der Organe, Be-
ſchleunigung der Conſumtion und Ver-
hinderung der Reſtauration.
Aber man glaube nicht, daſs deswe-
gen ein zu lange fortgeſezter Schlaf das
beſte Erhaltungsmittel des Lebens ſey.
Zu langes Schlafen häuft zu viel über-
flüſſige und ſchädliche Säfte an, macht
die Organe zu ſchlaff und unbrauchbar,
M m 2
[548] und kann auf dieſe Art ebenfalls das Le-
ben verkürzen.
Genug, niemand ſollte unter 6 und
niemand über 8 Stunden ſchlafen. Dieſs
kann als eine allgemeine Regel gelten.
Um ferner geſund und ruhig zu
ſchlafen, und die ganze Abſicht des
Schlafs zu erreichen, empfehle ich fol-
gende Puncte:
1. Der Ort des Schlafens muſs ſtill
und dunkel ſeyn. Je weniger äuſsre
ſinnliche Reize auf uns wirken, deſto
vollkommner kann die Seele ruhen. —
Man ſieht hieraus, wie zweckwidrig
die Gewohnheit iſt, ein Nachtlicht zu
brennen.
2. Man muſs immer bedenken, daſs
das Schlafzimmer der Ort iſt, in dem
man den gröſsten Theil ſeines Lebens
zubringt; wenigſtens bleibt man gewiſs
an keinem Ort in einer Situation ſo lan-
ge. Aeuſserſt wichtig iſt es daher, an
dieſem Orte eine geſunde und reine Luft
zu erhalten. Das Schlafzimmer muſs
alſo geräumig und hoch, am Tage nicht
[549] bewohnt, auch nicht geheizt ſeyn, und
die Fenſter beſtändig offen erhalten wer-
den auſſer des Nachts.
3. Man eſſe Abends nur wenig, und
nur kalte Speiſen, und immer einige
Stunden vor Schlafen. Ein Hauptmit-
tel, um ruhig zu ſchlafen, und froh zu
erwachen.
4. Man liege ohne allen Zwang und
Druck faſt ganz horizontal im Bett, nur
den Kopf ausgenommen, der etwas er-
höht ſeyn muſs. Nichts iſt ſchädlicher,
als halb ſitzend im Bett zu liegen, der
Körper macht da immer einen Winkel,
die Circulation im Unterleibe wird er-
ſchwehrt, auch das Rückgrad immer
fort gedrückt, daher ein Hauptzweck
des Schlafs, freyer und ungehinderter
Blutumlauf, dadurch verfehlt, ja in der
Kindheit und Jugend Verwachſung und
Buckel oft durch dieſe Gewohnheit er-
zeugt wird.
5. Alle Sorgen und Tageslaſten müſ-
ſen mit den Kleidern abgelegt werden;
keine darf mit zu Bette gehen. Man
[550] kann hierinn durch Gewohnheit er-
ſtaunlich viel über ſich erhalten.
Ich kenne keine üblere Gewohnheit
als die, im Bett zu ſtudiren und
mit dem Buche einzuſchlafen. Man
ſezt dadurch die Seele in Thätigkeit, ge-
rade in dem Zeitpunct, wo alles darauf
ankommt, ſie völlig ruhen zu laſſen, und
es iſt natürlich, daſs nun dieſe aufge-
weckten Ideen die ganze Nacht hindurch
im Kopfe herumſpuken, und immer
fortbearbeitet werden. Es iſt nicht ge-
nug, phyſiſch zu ſchlafen, auch der gei-
ſtige Menſch muſs ſchlafen. Ein ſolcher
Schlaf iſt eben ſo unzureichend, als der
entgegengeſezte Fall, wenn blos unſer
Geiſtiges aber nicht unſer Körperliches
ſchläft; z. E. das Schlafen in einem er-
ſchütternden Wagen, auf Reiſen.
6. Hierbey muſs ich noch eines be-
ſondern Umſtandes erwähnen. Es glaubt
nehmlich mancher, es ſey völlig einer-
ley, wenn man dieſe 7 Stunden ſchliefe,
ob des Tags oder des Nachts. Man über-
läſst ſich alſo Abends ſo lange wie mög-
[551] lich ſeiner Luſt zum Studiren oder zum
Vergnügen, und glaubt es völlig beyzu-
bringen, wenn man die Stunden in den
Vormittag hinein ſchläft, die man der
Mitternacht nahm. Aber ich muſs je-
den, dem ſeine Geſundheit lieb iſt, bit-
ten, ſich für dieſem verführeriſchen Irr-
thum zu hüten. Es iſt zuverläſſig nicht
einerley, 7 Stunden am Tage oder 7
Stunden des Nachts zu ſchlafen, und 2
Stunden Abends vor Mitternacht durch-
ſchlafen, ſind für den Körper mehr
werth, als 4 Stunden am Tage. Meine
Gründe ſind folgende:
Die 24ſtündige Periode, welche
durch die regelmäſsige Umdrehung un-
ſers Erdkörpers auch allen ſeinen Be-
wohnern mitgetheilt wird, zeichnet ſich
beſonders in der phyſiſchen Oeconomie
des Menſchen aus. In allen Krankhei-
ten äuſſert ſich dieſe regelmäſsige Perio-
de, und alle andre ſo wunderbar pünct-
lichen Termine in unſrer phyſiſchen Ge-
ſchichte, werden im Grunde durch dieſe
einzelne 24ſtündige Periode beſtimmt.
[552] Sie iſt gleichſam die Einheit unſrer natür-
lichen Chronologie. — Nun bemerken
wir, je mehr ſich dieſe Periode mit dem
Schluſs des Tages ihrem Ende nähert,
deſto mehr beſchleunigt ſich der Puls-
ſchlag, und es entſteht ein wirklich fie-
berhafter Zuſtand, das ſogenannte Abend-
fieber, welches jeder Menſch hat. Höchſt-
wahrſcheinlich trägt der Zutritt des
neuen Chylus ins Blut etwas dazu bey.
Doch iſts nicht die einzige Urſache,
denn wir findens auch bey Kranken, die
nichts genieſsen. Mehr noch hat ſicher
die Abweſenheit der Sonne, und die da-
mit verbundene Revolution in der At-
mosphäre Antheil. Eben dieſes kleine
Fieber iſt die Urſache, warum Nerven-
ſchwache Menſchen ſich Abends ge-
ſchickter zur Arbeit fühlen, als am Tage.
Sie müſſen erſt einen künſtlichen Reiz
haben, um thätig zu werden, das Abend-
fieber erſezt hier die Stelle des Weins.
Aber man ſieht leicht, daſs dieſs ſchon
ein unnatürlicher Zuſtand iſt. Die Folge
deſſelben iſt, wie bey jedem einfachen
[553] Fieber, Müdigkeit, Schlaf und Criſis
durch die Ausdünſtung, welche im
Schlafe geſchieht. Man kann daher mit
Recht ſagen: Jeder Menſch hat alle
Nacht ſeine critiſche Ausdünſtung, bey
manchen mehr, bey manchen weniger
merklich, wodurch das, was den Tag
über unnützes oder ſchädliches einge-
ſchluckt oder in uns erzeugt wurde, ab-
geſchieden und entfernt wird. Dieſe
tägliche Criſis iſt jedem Menſchen
nöthig und zu ſeiner Erhaltung äuſſerſt
unentbehrlich; der rechte Zeitpunct der-
ſelben iſt der, wo das Fieber ſeinen
höchſten Grad erreicht hat, das iſt, der
Zeitpunct, wo die Sonne gerade in Ze-
nith unter uns ſteht, alſo die Mitter-
nacht. Was thut nun der, der dieſer
Stimme der Natur, die in dieſem Zeit-
punct zur Ruhe ruft, nicht gehorcht,
der vielmehr dieſes Fieber, welches das
Mittel zur Abſonderung und Reinigung
unſrer Säfte werden ſollte, zu vermehr-
ter Thätigkeit und Anſtrengung benuzt?
[554] Er ſtöhrt die ganze wichtige Criſe, ver-
ſäumt den critiſchen Zeitpunct, und,
geſezt er legt ſich nun auch gegen Mor-
gen nieder, ſo kann er doch nun
ſchlech erdings nicht die ganze wohlthä-
tige Wirkung des Schlafs in dieſer Ab-
ſicht erhalten, denn der critiſche Zeit-
punct iſt vorbey. Er wird nie eine voll-
kommne Criſe, ſondern immer nur un-
vollkommene haben, und Aerzte wiſſen,
was dieſes ſagen will. Sein Körper wird
alſo nie vollkommen gereinigt. — Wie
deutlich zeigen uns dieſs die Kränklich-
keiten, die rhevmatiſchen Beſchwehr-
den, die geſchwollnen Füſse, die un-
ausbleiblich Folgen ſolcher Lucubra-
tionen ſind!
Ferner, die Augen werden bey die-
ſer Gewohnheit weit ſtärker angegrif-
fen, denn man arbeitet da den gan-
zen Sommer bey Lichte, welches der,
der den Morgen benuzt, gar nicht nö-
thig hat.
[555]
Und endlich verlieren die, welche
die Nacht zur Arbeit und den Morgen
zum Schlaf anwenden, gerade die ſchön-
ſte und ſchicklichſte Zeit zur Arbeit. —
Nach jedem Schlafe ſind wir, im eigent-
lichſten Verſtande des Worts, verjüngt,
wir ſind früh allemal gröſser, als
Abends, wir haben früh weit mehr
Weichheit, Biegſamkeit, Kräfte und
Säfte, genug, mehr den Karacter der
Jugend, ſo wie hingegen Abends mehr
Trockenheit, Sprödigkeit, Erſchöpfung,
alſo der Karacter des Alters herrſcht.
Man kann daher jeden Tag als einen
kleinen Abriſs des menſchlichen Lebens
anſehen, der Morgen die Jugend, der
Mittag das männliche Alter, der Abend
das Alter. Wer wollte nun nicht lieber
die Jugend des Tags zu ſeiner Arbeit
benutzen, anſtatt erſt Abends, im Zeit-
punct des Alters und der Erſchö-
pfung, ſeine Arbeiten anzufangen? —
Früh ſieht die ganze Natur am reizend-
ſten und friſcheſten aus, auch der
[556] menſchliche Geiſt iſt früh in ſeiner
gröſsten Reinheit, Energie und Friſch-
heit; noch iſt er nicht, wie des Abends,
durch die mancherley Eindrücke des
Tags, durch Geſchäfte und Verdrieſs-
lichkeiten getrübt und ſich unähn-
lich gemacht, noch iſt er es mehr
ſelbſt, originell, und in ſeiner ur-
ſprünglichen Kraft. Dieſs iſt der Zeit-
punct neuer Geiſtesſchöpfungen, reiner
Begriffe Anſchauungen und groſser Ge-
danken. Nie genieſst der Menſch das
Gefühl ſeines eignen Daſeyns ſo rein
und vollkommen, als an einem ſchönen
Morgen; wer dieſen Zeitpunct ver-
ſäumt, der verſäumt die Jugend ſeines
Lebens!
Alle, die ein hohes Alter erreichten,
liebten das Frühaufſtehen, und J. Wes-
ley, der Stifter einer eignen methodi-
ſtiſchen Secte, ein origineller und merk-
würdiger Mann, war ſo ſehr von der
Nothwendigkeit dieſer Gewohnheit
überzeugt, daſs ers zu einem Religions-
[557] punct machte früh aufzuſtehen, und
wurde dabey 88 Jahr alt. Sein Motto,
was ich hier als eine ächte Lebensmaxi-
me empfehlen will, war: Early to bed,
and early ariſe Makes the man healthy
wealthy and wiſe. (Früh zu Bett und früh
wieder auf, macht den Menſchen ge-
ſund, weiſe und reich.)
[558]
VII.
Körperliche Bewegung.
Wenn ich das Phyſiſche des Menſchen
betrachte, ſagt der groſse Friedrich, ſo
kommt es mir vor, als hätte uns die Na-
tur mehr zu Poſtillions, als zu ſitzenden
Gelehrten geſchaffen. Und gewiſs, ohn-
eracht der Ausdruck etwas ſtark iſt, ſo
hat er doch viel Wahres. Der Menſch
iſt und bleibt ein Mittelgeſchöpf, das
immer zwiſchen Thier und Engel
ſchwankt, und ſo ſehr er ſeiner höhern
Beſtimmung untreu werden würde,
wenn er blos Thier bliebe, eben ſo ſehr
verſündigt er ſich an ſeiner jetzigen,
wenn er blos Geiſt ſeyn, blos denken
und empfinden will. Er muſs durchaus
die thieriſchen und geiſtigen Kräfte in
[559] gleichem Grade üben, wenn er ſeine Be-
ſtimmung vollkommen erreichen will,
und beſonders iſt dieſs in Abſicht der
Dauer ſeines Lebens von der äuſſerſten
Wichtigkeit. Harmonie der Bewegun-
gen iſt die Hauptgrundlage, worauf Ge-
ſundheit, gleichförmige Reſtauration
und Dauer des Körpers beruht, und
dieſe kann ſchlechterdings nicht ſtatt fin-
den, wenn wir blos denken und ſitzen.
Der Trieb zur körperlichen Bewegung
iſt dem Menſchen eben ſo natürlich, wie
der Trieb zum Eſſen und Trinken. Man
ſehe ein Kind an: Stille ſitzen iſt ihm
die gröſste Pein. Und gewiſs die Gabe,
Tage lang zu ſitzen und nicht mehr den
geringſten Trieb zur Bewegung zu füh-
len, iſt ſchon ein wahrhaft unnatürli-
cher und kranker Zuſtand. Die Erfa-
rung lehrt, daſs diejenigen Menſchen
am älteſten wurden, welche anhaltende
und ſtarke Bewegung und zwar in
freyer Luft hatten.
Ich halte es daher für eine unum-
gänglich nöthige Bedingung zum langen
[560] Leben; ſich täglich wenigſtens eine
Stunde Bewegung im Freyen zu machen.
Die geſundeſte Zeit iſt vor dem Eſſen,
oder 3 — 4 Stunden nachher.
Eben in dieſer Abſicht ſind mit un-
ter angeſtellte kleine Reiſen und Excur-
ſionen, Reiten, mäſsiges Tanzen und
andre gymnaſtiſche Uebungen ſo ſehr
nüzlich, *) und es wäre ſehr zu wün-
ſchen, daſs wir hierinn den Alten mehr
nachahmten, welche dieſe ſo wichtigen
Hülfen der Geſundheit kunſtmäſig be-
handelten, und ſich durch keine äuſſern
Verhältniſſe abhalten lieſſen, ſie zu be-
nutzen. Am nüzlichſten ſind ſie, wenn
nicht blos der Leib, ſondern auch die
Seele zugleich mit bewegt und erweckt
wird. Daher muſs auch eine Prome-
nade,
[561] nade, welche ihrer Abſicht ganz ent-
ſprechen ſoll, nicht allein, wo möglich
in einer unterhaltenden ſchönen Gegend
und nach einem gewiſſen Ziel, angeſtellt
werden.
N n
[562]
VIII.
Genuſs der freyen Luft — mäſsige Tem-
peratur der Wärme.
Man muſs ſich durchaus den Genuſs
einer reinen freyen Luft als eine eben ſo
nothwendige Nahrung unſeres Weſens
denken, wie Eſſen und Trinken. Reine
Luft iſt eben ſo gewiſs das gröſste
Erhaltungs- und Stärkungsmittel un-
ſers Lebens, als eingeſchloſsne ver-
dorbne Luft das feinſte und tödlichſte
Gift iſt.
Hieraus flieſsen folgende practiſche
Lebensregeln:
1. Man laſſe keinen Tag hingehen,
ohne auſſerhalb der Stadt freye reine
Luft genoſſen zu haben. Man ſehe das
Spazierengehen ja nicht blos als Bewe-
gung an, ſondern vorzüglich als den Ge-
nuſs der reinſten Lebensnahrung, wel-
[563] cher beſonders Menſchen, die in Zim-
mern zu wohnen pflegen, ganz unent-
behrlich iſt. Auſſer dieſem Nutzen wird
man auch noch den haben, daſs man
ſich durch dieſen täglichen Luftgenuſs
beſtändig in Bekanntſchaft und Familia-
rität mit der freyen Luft erhält. Und
dadurch ſichert man ſich für einem der
gröſsten Uebel der jetzigen Menſchheit,
der zu groſsen Empfindlichkeit gegen alle
Eindrücke und Veränderungen der Witte-
rung. Es iſt eine der ergiebigſten Quel-
len von Krankheiten, und dafür iſt kein
anderes Mittel, als ſich durch täglichen
Umgang mit der freyen Luft vertraut zu
erhalten.
Und endlich wird man durch dieſe
Gewohnheit unendlichen Vortheil für
die Augen erhalten, denn es iſt gewiſs,
daſs eine Haupturſache unſrer Augen-
ſchwäche und Kurzſichtigkeit die vier
Wände ſind, in denen wir von Kindheit
auf wohnen und leben, und wodurch
endlich das Auge ganz die Kraft verliert,
den Focus entfernter Gegenſtände gehö-
N n 2
[564] rig zu formiren. Der beſte Beweiſs iſt,
daſs dieſe Augenſchwäche nur in Städ-
ten, und nicht auf dem Lande gefunden
wird.
2. Man ſuche immer wo möglich
hoch zu wohnen. Wer ſeine Geſundheit
lieb hat, ſollte, in Städten wenigſtens,
nicht par terre wohnen. Man öfne
fleiſig die Fenſter. Windöfen oder Ka-
mine ſind die beſten Reinigungsmittel
der Stubenatmosphäre. Man ſchlafe
nicht da, wo man den ganzen Tag
wohnt, und die Fenſter der Schlaf-
kammer müſſen den ganzen Tag offen
ſtehen.
Noch muſs ich eine für die Le-
bensverlängerung wichtige Erinnerung
beyfügen, die Luft, in der man lebt,
immer in einer nur mäſsigen Tem-
peratur der Wärme zu erhalten. Es
iſt weit beſſer, in einer zu kühlen,
als zu heiſſen Luft zu leben, denn
Hitze beſchleunigt den Lebensſtrom
auſſerordentlich, wie dieſs ſchon das
kürzere Leben der Bewohner heiſſer
[565] Gegenden beweiſst, und viele Men-
ſchen erkünſteln ſich ein ſolches Clima
durch ihre heiſſen Stuben. Die Tem-
peratur der Luft im Zimmer ſollte nie
über 15 Grad Reaum. ſteigen.
[566]
IX.
Das Land- und Gartenleben.
Glücklich iſt der, dem das Loos fiel,
der mütterlichen Erde nahe und treu zu
bleiben, und in dem unmittelbaren Um-
gang mit der Natur ſeine Freude, ſeine
Arbeit und ſeine Beſtimmung zu finden!
Er iſt an der wahren Quelle der ewigen
Jugend, Geſundheit und Glückſeeligkeit,
Leib und Seele bleiben in der ſchönſten
Harmonie und in dem beſten Wohlſeyn;
Einfachheit, Frohſinn, Unſchuld, Zu-
friedenheit begleiten ihn durchs Leben,
und er erreicht das höchſte Ziel des Le-
bens, deſſen es in dieſer Organiſation
fähig iſt. Ich kann mich nicht enthal-
[567] ten, das, was Herder ſo ſchön davon
ſagt, hier einzuſchalten.
In der That, wenn man das Ideal
eines zur Geſundheit und Longävität
führenden Lebens nach theoretiſchen
Grundſätzen entwerfen wollte, man
würde auf das nehmliche zurückkom-
men, was uns das Bild des Landlebens
darſtellt. Nirgends vereinigen ſich alle
Erforderniſſe ſo vollkommen als hier,
nirgends wirkt alles um und in dem
Menſchen auf den Zweck, Erhaltung
der Geſundheit und des Lebens, hin, als
hier. Der Genuſs einer reinen geſun-
[570] den Luft, einfacher und frugaler Koſt,
tägliche ſtarke Bewegung im Freyen,
eine beſtimmte Ordnung in allen Le-
bensgeſchäften, der ſchöne Blick in die
reine Natur, und die Stimmung von
innrer Ruhe, Heiterkeit und Frohſinn,
die ſich dadurch über unſern Geiſt ver-
breitet, — welche Quellen von Lebens-
reſtauration! Dazu kommt noch, daſs
das Landleben ganz vorzüglich dem Ge-
müthe denjenigen Ton zu geben vermag,
welcher dem Leidenſchaftlichen, Ueber-
ſpannten und Excentriſchen entgegen
iſt, um ſo mehr, da es uns auch dem
Gewühl, den Frictionen und Korruptio-
nen der Städte entzieht, die jenen Lei-
denſchaften Nahrung geben könnten. Es
erhält folglich von innen und von auſſen
Gemüthsruhe und Gleichmuth, der ſo
ſehr Lebenserhaltend iſt; es giebt zwar
Freuden, Hofnungen, Genüſſe in Menge,
aber alle ohne Heftigkeit, ohne Leiden-
ſchaft, temperirt durch den ſanften Ton
der Natur. — Kein Wunder folglich,
daſs uns die Erfarung die Beyſpiele des
[571] höchſten Alters nur in dieſer Lebens-
weiſe finden läſst.
Es iſt traurig, daſs dieſe Lebensart,
die urſprünglichſte und natürlichſte des
Menſchen, jezt von ſo vielen gering ge-
ſchäzt wird, ſo daſs ſelbſt der glückliche
Landmann es kaum erwarten kann, bis
ſein Sohn ein ſtudirter Taugenichts iſt,
und das Misverhältniſs zwiſchen Städter
und Landmann immer gröſser zu wer-
den ſcheint. Gewiſs, es ſtünde beſſer
um die Glückſeeligkeit der einzelnen In-
dividuen und des Ganzen, wenn ſich
ein groſser Theil der jezt gangbaren Fe-
dermeſſer und Papierſcheeren in Sicheln
und Pflugſchaare, und der jezt mit
ſchreibender Handarbeit beſchäftigten
Finger in pflügende und ackernde Hände
verwandelte. Es iſt ja das erſte bey ſo
vielen auch nur Handarbeit, aber die
leztre iſt nüzlicher. Und wenn ich
nicht ſehr irre, ſo werden wir endlich,
auch durch politiſche Verhältniſſe genö-
thigt, wieder dahin zurückkommen.
Der Menſch wird ſich der Mutter Natur
[572] und Erde wieder mehr nähern müſſen,
von der er ſich in allem Sinn zu ſehr
entfernt hat.
Freylich können wir nicht alle
Landleute von Profeſſion ſeyn. Aber,
wie ſchön wäre es, wenn auch Gelehrte,
Geſchäftsmänner, Kopfarbeiter, ihre
Exiſtenz in beyderley Arten von Beſchäf-
tigung theilten, wenn ſie den Alten dar-
inne nachahmten, die, troz ihrer philo-
ſophiſchen oder Staatsgeſchäfte, es nicht
unter ihrer Würde hielten, zwiſchen
durch ſich ganz dem Landleben zu wid-
men, und im eigentlichſten Verſtande
zu ruſtiziren. Gewiſs, alle die ſo trau-
rigen Folgen des ſitzenden Lebens und
der Kopfanſtrengung würden wegfallen,
wenn ein ſolcher Mann täglich einige
Stunden, oder alle Jahre einige Monate
den Spaten und die Hacke zur Hand
nähme, und ſein Feld oder ſeinen Gar-
ten bearbeitete (denn freylich nicht die
gewöhnliche Art auf dem Lande zu le-
ben, die meiſtentheils nichts weiter
heiſst, als Bücher und Sorgen mit hin-
[573] aus zu nehmen, und, anſtatt im Zim-
mer, nun im Freyen zu leſen, zu den-
ken und zu ſchreiben, — kann jenen
Zweck erfüllen). Solche Ruſticationen
würden das Gleichgewicht zwiſchen
Geiſt und Körper wieder herſtellen, was
der Schreibtiſch ſo oft aufhebt, ſie
würden durch Verbindung der drey
groſsen Panazeen, körperlicher Bewe-
gung, freyer Luft und Gemüthsaufhei-
terung, alle Jahre eine Verjüngung und
Reſtauration bewirken, die der Lebens-
dauer und dem Lebensglück von un-
glaublichen Nutzen ſeyn würde. Ja, ich
glaube nicht zu viel zu ſagen, wenn ich
von dieſer Gewohnheit auſſer dem phy-
ſiſchen Nutzen auch manchen geiſtigen
und moraliſchen verſpreche. Der Hirn-
geſpinnſte und Hypotheſen der Studir-
ſtuben würden zuverläſſig weniger wer-
den, man würde nicht mehr ſo häufig
die ganze Welt blos in ſeiner Perſon
oder in ſeinen vier Wänden zu haben
glauben und ſie auf dieſem Fuſse behan-
deln, und der ganze Geiſt würde mehr
[574] Wahrheit, Geſundheit, Wärme und
Naturſinn bekommen, Eigenſchaften,
die die Griechiſchen und Römiſchen
Philoſophen ſo ſehr auszeichnen, und
die ſie, nach meiner Meynung, gröſs-
tentheils dieſer Gewohnheit und dem
fortdauernden Umgang mit der Natur zu
danken haben. Aber deswegen ſollte man
die gröſste Sorge tragen, den Sinn für
die Natur in ſich nicht vergehen zu
laſſen. Er verliert ſich ſo leicht durch
anhaltendes Leben in abſtracto, durch
angreifende Geſchäfte, durch den Dunſt
der Studirſtuben, und hat man ihn ein-
mal verloren, ſo hat die ſchönſte Na-
tur keine Wirkung auf uns, man kann
in der lieblichſten Gegend unter dem
ſchönſten Himmel — lebendig tod blei-
ben. Dieſs verhütet man am beſten,
wenn man ſich nie zu ſehr und nie zu
lange von der Natur entfernt, ſich, ſo
oft es ſeyn kann, der künſtlichen und
abſtracten Welt entzieht, und alle Sinne
den wohlthätigen Einflüſſen der Natur
öfnet, wenn man von Jugend auf Freude
[575] und Geſchmack an dem Studium der
Naturwiſſenſchaft zu erlangen ſucht
(ſchon bey der Erziehung ſollte darauf
Rückſicht genommen werden), und ſei-
ne Phantaſie durch die ſchönen Nach-
ahmungen der Mahlerey und durch
die Herzerhebenden Darſtellungen der
Dichter der Natur, eines Zachariae,
Thompſon, Gesner, Matthiſon u. ſ. w.
dafür erwärmt.
[576]
X.
Reiſen.
Ich kann unmöglich unterlaſſen, dieſem
herrlichen Genuſs des Lebens eine eigne
Stelle zu widmen, und ihn auch zur
Verlängerung deſſelben zu empfehlen.
Die fortgeſezte Bewegung, die Verän-
derung der Gegenſtände, die damit ver-
bundene Aufheiterung des Gemüths, der
Genuſs einer freyen immer veränderten
Luft, wirken zauberiſch auf den Men-
ſchen, und vermögen unglaublich viel
zu Erneuerung und Verjüngung des Le-
bens. Es iſt wahr, die Lebensconſum-
tion kann dabey etwas vermehrt werden,
aber dieſs wird reichlich durch die ver-
mehrte Reſtauration erſezt, die theils in
Abſicht des Körperlichen durch die er-
mun-
[577] munterte und geſtärkte Verdauung,
theils geiſtig durch den Wechſel ange-
nehmer Eindrücke und die Vergeſſenheit
ſeiner ſelbſt bewirkt wird. Denen vor-
züglich, welche ihr Beruf zum Sitzen
nöthigt, die anhaltend mit abſtracten
Gegenſtänden oder drückenden Berufs-
arbeiten beſchäftigt ſind; deren Gemüth
in Gefühlloſigkeit, Trübſinn oder hypo-
chondriſche Verſtimmung verſunken iſt,
oder denen, was wohl das ſchlimmſte
von allen iſt, keine häusliche Glückſee-
ligkeit zu Theil wurde, — dieſen em-
pfehle ich dieſes groſse Hülfsmittel.
Aber gar viele benutzen es nicht ſo,
daſs es dieſe heilſamen Wirkungen hat,
und es wird hier nicht undienlich ſeyn,
einige der wichtigſten Regeln mitzu-
theilen, wie man reiſen muſs, um es
für Geſundheit und Leben heilſam zu
machen.
1. Am geſundeſten und zweckmäſig-
ſten ſind die Reiſen zu Fuſs und noch
beſſer zu Pferde. Nur wenn man
O o
[578] ſchwächlich iſt, oder zu ſtarke Touren
macht, iſt das Fahren rathſam.
2. Beym Fahren iſt es ſehr heilſam,
im Wagen immer die Lage zu verändern,
bald zu ſitzen, bald zu liegen u. ſ. f., da-
durch verhütet man am beſten die Nach-
theile des anhaltenden Fahrens, die am
meiſten daher entſtehen, wenn die Er-
ſchütterung immer einerley Richtung
nimmt.
3. Die Natur verträgt keine ſchnel-
len Sprünge. Es iſt deshalb niemand,
der anhaltendes ſitzendes Leben ge-
wohnt war, anzurathen, ſich davon
ſchnell auf eine raſche ſtark erſchüttern-
de Reiſe zu begeben. Es würde unge-
fähr daſſelbe ſeyn, als wenn jemand, der
Waſſer zu trinken gewohnt iſt, plözlich
anfangen wollte, Wein zu trinken. —
Man mache daher den Uebergang lang-
ſam, und fange mit mäſsigen Bewegun-
gen an.
4. Ueberhaupt dürfen Reiſen, die
Verlängerung des Lebens und der Ge-
ſundheit zum Zweck haben, nie Stra-
[579] paze werden, welches aber nur nach der
Verſchiedenheit der Naturen und Kon-
ſtitutionen beſtimmt werden kann. Drey
bis vier Meilen des Tags, und alle drey
vier Tage einen oder einige Raſttage,
möchten etwa der allgemeinſte Maasſtab
ſeyn. Vorzüglich vermeide man das
Reiſen bey Nacht, das durch Stöhrung
der nöthigen Erholung, durch Unter-
drückung der Ausdünſtung, und durch
ungeſunde Luft immer ſehr nachtheilig
iſt. Man kann ſich am Tage doppelt
ſo viel zumuthen, wenn man nur die
Nachtruhe reſpectirt.
5. Man glaube ja nicht, daſs man
auf Reiſen deſto unmäſsiger ſeyn könne.
Zwar in der Wahl der Speiſen und Ge-
tränke braucht man nicht ängſtlich zu
ſeyn, und es iſt am beſten, in jedem
Lande die da gewöhnliche Diät zu füh-
ren. Aber nie überlade man ſich. Denn
während der Bewegung iſt die Kraft des
Körpers zu ſehr getheilt, als daſs man
dem Magen zu viel bieten dürfte, und
die Bewegung ſelbſt wird dadurch müh-
O o 2
[580] ſamer. Insbeſondere darf man in hitzi-
gen Speiſen und Getränken (was doch
auf Reiſen ſo gewöhnlich iſt) nicht zu
viel thun. Denn das Reiſen an ſich
wirkt ſchon als Reiz, und wir brauchen
daher eigentlich weniger reizende Spei-
ſen und Getränke, als im ruhigen Zu-
ſtande. Sonſt entſtehen gar leicht Ue-
berreizungen, Erhitzungen, Blutkonge-
ſtionen u. dgl. Am beſten iſt es, auf
Reiſen lieber oft aber wenig auf einmal
zu genieſsen, mehr zu trinken als zu
eſſen, und Nahrungsmittel zu wählen,
die leicht verdaulich, und dennoch ſtark
nährend, nicht erhitzend, und nicht
leicht zu verfälſchen ſind. Daher es auf
dem Lande und in ſchlechten Wirths-
häuſern am ſicherſten iſt, Milch, Eyer,
gut ausgebacknes Brod, friſch gekochtes
oder gebratenes Fleiſch und Obſt zu ge-
nieſsen. Am meiſten warne ich für den
Weinen, die man in ſolchen Häuſern
bekommt. Beſſer iſt Waſſer, zu deſſen
Verbeſſerung man Citrone, oder Citro-
nenzucker (Paſtilles au Citron) oder ei-
[581] nen guten Liquor bey ſich führen kann,
wovon man etwas zum Waſſer miſcht.
Iſt es faulichtriechend, ſo dient das Koh-
lenpulver. *)
6. Man vermeide die übermäſsige
Anſtrengung und Verſchwendung der
Kräfte. Es iſt zwar im allgemeinen eben
ſo ſchwehr das rechte Maas der Bewe-
gung anzugeben, als das rechte Maas im
[582] Eſſen und Trinken. Aber die Natur hat
uns da einen ſehr guten Wegweiſer ge-
geben, das Gefühl der Ermüdung, wel-
ches hier eben ſo bedeutend iſt, als das
Gefühl der Sättigung beym Eſſen und
Trinken. Müdigkeit iſt nichts anders,
als der Zuruf der Natur, daſs unſer Vor-
rath von Kräften erſchöpft iſt, und, wer
müde iſt, der ſoll ruhen. Aber freylich
kann auch hier die Natur verwöhnt wer-
den, und wir fühlen endlich eben ſo
wenig das Müdeſeyn, als der beſtändige
Schlemmer das Sattſeyn, beſonders
wenn man durch reizende und erhitzen-
de Speiſen und Getränke die Nerven
ſpannt. Doch giebt es dann andre An-
zeigen, die uns ſagen, daſs wir das
Maas überſchritten haben, und auf dieſe
bitte ich genau zu merken. Wenn man
anfängt mismuthig und verdroſſen zu
werden, wenn man ſchläfrig iſt und oft
gähnt, und dennoch der Schlaf, auch
bey einiger Ruhe, nicht kommen will,
wenn der Appetit ſich verliert, wenn
bey der geringſten Bewegung ein Klo-
[583] pfen der Adern, Erhitzung, auch wohl
Zittern entſteht, wenn der Mund trocken
oder gar bitter wird, — dann iſt es
hohe Zeit, Ruhe und Erholung zu ſu-
chen, wenn man eine Krankheit vermei-
den will, die denn ſchon im Entſte-
hen iſt.
7. Auf Reiſen kann die unmerkliche
Ausdünſtung leicht geſtöhrt werden,
und Erkältung iſt eine Hauptquelle der
Krankheiten, die da vorkommen. Es iſt
daher rathſam allen ſchnellen Uebergang
aus Hitze und Kälte, und umgekehrt,
zu meiden, und, wer eine ſchon em-
pfindliche Haut hat, thut am beſten, auf
Reiſen ein Hemde von dünnen Flanell
zu tragen.
8. Reinlichkeit iſt auf Reiſen dop-
pelt nöthig, und daher das öftre Waſchen
des ganzen Körpers mit friſchen Waſſer
ſehr zu empfehlen, welches auch zur
Verminderung der Müdigkeit viel bey-
trägt.
9. Im Winter oder im feuchten kal-
ten Clima wird man ſich immer eher
[584] ſtarke Bewegung zumuthen können, als
im Sommer oder in heiſſen Ländern, wo
uns ſchon der Schweiſs die Hälfte der
Kraft entzieht. So auch früh morgens
mehr als des Nachmittags.
10. Perſonen, die ſehr vollblütig
oder zu Bluthuſten und andern Blutflüſ-
ſen geneigt ſind, müſſen erſt ihren Arzt
befragen, ehe ſie ſich auf eine Reiſe be-
geben.
[585]
XI.
Reinlichkeit und Hautkultur.
Beydes halte ich für Hauptmittel zur
Verlängerung des Lebens.
Die Reinlichkeit entfernt alles, was
unſere Natur als unnüz oder verdorben
von ſich abgeſondert hat, ſo wie alles
der Art, was von auſſen unſrer Oberflä-
che mitgetheilt werden könnte.
Die Hautkultur iſt ein weſentlicher
Theil davon, und beſteht in einer ſol-
chen Behandlung der Haut von Jugend
auf, wodurch dieſelbe lebendig, thätig
und gangbar erhalten wird.
Wir müſſen nehmlich unſre Haut
nicht blos als einen gleichgültigen Man-
tel gegen Regen und Sonnenſchein be-
trachten; ſondern als eins der wichtig-
[586] ſten Organe unſers Körpers, ohne deſſen
unaufhörliche Thätigkeit und Gangbar-
keit weder Geſundheit noch langes Le-
ben beſtehen kann, und deſſen Vernach-
läſſigung in neuern Zeiten eine uner-
kannte Quelle unzähliger Kränklichkei-
ten und Lebensabkürzungen worden iſt.
Könnte ich doch nachfolgendes recht
eindrücklich ſagen, um mehr Achtung
für dieſes Organ und deſſen beſſere Be-
handlung zu erregen!
Die Haut iſt das gröſste Reinigungs-
mittel unſers Körpers. Unaufhörlich,
jeden Augenblick, verdünſtet dadurch,
durch Millionen kleiner Gefäſse, auf
eine unbemerkbare Weiſe eine Menge
verdorbner, abgenuzter und verbrauch-
ter Theile. Dieſe Abſonderung iſt mit
unſerm Leben und Blutumlauf unzer-
trennlich verbunden, und durch ſie
wird unſerm Körper bey weitem der
gröſste Theil alles Verdorbenen entzo-
gen. Iſt ſie alſo ſchlaff, verſtopft oder
unthätig, ſo wird Verdorbenheit und
Schärfe unſrer Säfte unausbleibliche
[587] Folge ſeyn. Insbeſondere entſtehen die
übelſten Hautkrankheiten daher.
Die Haut iſt ferner der Sitz des all-
gemeinſten Sinns, des Gefühls, desjeni-
gen Sinns, der uns vorzüglich mit der
uns umgebenden Natur, insbeſondere
der Atmosphäre, in Verbindung ſezt,
von deſſen Zuſtand alſo gröſstentheils
das Gefühl unſrer eignen Exiſtenz und
unſers Verhältniſſes zu dem, was um
uns iſt, beſtimmt wird. Die gröſsere
oder geringere Empfänglichkeit für
Krankheiten hängt daher gar ſehr von
der Haut ab, und weſſen Haut zu ge-
ſchwächt oder erſchlafft iſt, der hat ge-
wöhnlich eine zu feine und unnatürli-
che Empfindlichkeit derſelben, wodurch
es denn kommt, daſs er jede kleine Ver-
änderung der Witterung, jedes Zuglüft-
gen auf eine höchſt unangenehme Weiſe
in ſeinem Innern bemerkt, und zulezt
ein wahres Barometer wird. Man
nennt dieſs die rhevmatiſche Conſtitu-
tion, die hauptſächlich in der mangeln-
den Hautſtärke ihren Grund hat. Auch
[588] entſteht daher die Neigung zum Schwi-
tzen, die ebenfalls ein ganz unnatürli-
cher Zuſtand iſt, und uns beſtändigen
Erkältungen und Kränklichkeiten aus-
ſezt.
Ueberdieſs iſt ſie ein Hauptmittel,
um das Gleichgewicht in den Kräften
und Bewegungen unſers Körpers in Ord-
nung zu halten. Je thätiger und offner
die Haut iſt, deſto ſicherer iſt der Menſch
für Anhäufungen und Krankheiten in
den Lungen, Darmkanal und ganzen Un-
terleib, deſto weniger Neigung zu den
gaſtriſchen (gallichten und ſchleimich-
ten) Fiebern, zur Hypochondrie, Gicht,
Lungenſucht, Katharrhen und Hämor-
rhoiden. Eine Haupturſache, daſs dieſe
Krankheiten jezt bey uns ſo eingeriſſen
ſind, liegt darinne, daſs wir unſre Haut
nicht mehr durch Bäder und andre Mit-
tel reinigen und ſtärken.
Die Haut iſt ferner eins der wich-
tigſten Reſtaurationsmittel unſers Kör-
pers, wodurch uns aus der Luft eine
Menge feiner und geiſtiger Beſtandtheile
[589] zugeführt werden ſollen. Ohne geſunde
Haut iſt daher keine völlige Reſtaura-
tion, ein Hauptprinzip des langen Le-
bens, möglich. Unreinlichkeit deterio-
rirt den Menſchen phyſiſch und mora-
liſch.
Auch iſt nicht zu vergeſſen, daſs die
Haut das Hauptorgan der Criſen, d. h.
der Naturhülfe in Krankheiten, iſt, und
daſs ein Menſch mit einer offnen und
gehörig belebten Haut weit ſichrer ſeyn
kann, bey vorkommenden Krankheiten
leichter und vollkommner geheilt zu
werden, ja ſich oft, ohne Arzney, ſelbſt
durch zu helfen.
Daſs ein ſolches Organ ein Grund-
pfeiler der Geſundheit und des Lebens
ſey, wird nun wohl niemand leugnen,
und es iſt daher in der That unbegreif-
lich, wie man in den neuern Zeiten,
und gerade bey den vernünftigern und
aufgeklärtern Völkern, daſſelbe und ſei-
ne gehörige Kultur ſo ganz hat vernach-
läſſigen können. Ja, anſtatt das minde-
ſte dafür zu thun, finden wir vielmehr,
[590] daſs man von Kindheit auf alles gleich-
ſam darauf anlegt, die Haut zu verſto-
pfen, zu erſchlaffen und zu lähmen.
Bey weiten die mehreſten Menſchen em-
pfinden auſſer dem Bade der heiligen
Taufe in ihrem ganzen Leben die Wohl-
that des Badens nicht wieder, die Haut
wird durch den täglichen Schweiſs und
Schmuz immer mehr verſtopft, durch
warme Bekleidungen, Pelzwerk, Feder-
betten u. ſ. w. erſchlafft und geſchwächt,
durch eingeſchloſsne Luft und ſitzendes
Leben gelähmt, und ich glaube ohne alle
Uebertreibung behaupten zu können,
daſs bey den meiſten Menſchen unſrer
Gegenden die Haut zur Hälfte verſtopft
und unthätig ſey.
Man erlaube mir, hier auf eine In-
conſequenz aufmerkſam zu machen, die
nur das vor ſich hat, daſs ſie nicht
die einzige der Art im menſchlichen Le-
ben iſt. Bey Pferden und andern Thie-
ren iſt der gemeinſte Mann überzeugt,
daſs gehörige Hautkultur ganz unent-
behrlich zu ihrem Wohlſeyn und Leben
[591] ſey. Der Knecht verſäumt Schlaf und
alles, um ſein Pferd gehörig ſtriegeln,
ſchwemmen und reinigen zu können.
Wird das Thier mager und ſchwach, ſo
iſt es der erſte Gedanke, ob man viel-
leicht in der Hautbeſorgung etwas ver-
ſäumt und vernachläſſigt habe. Bey ſei-
nem Kinde aber und bey ſich ſelbſt, fällt
ihm dieſer einfache Gedanke nie ein.
Wird dieſs ſchwach und elend, zehrt es
ſich ab, bekommt es die ſogenannten
Miteſſer (alles Folge der Unreinlichkeit),
ſo denkt er eher an Behexung und an-
dern Unſinn, als an die wahre Urſache,
unterlaſsne Hautreinigung. So ver-
nünftig, ſo aufgeklärt ſind wir bey
Thieren; warum nun nicht auch bey
Menſchen?
Die Regeln, die ich zur Erhaltung
der Reinigkeit und eines geſunden le-
bendigen Zuſtandes der Haut zu geben
habe, ſind ſehr leicht und einfach, und
können, insbeſondere wenn ſie von Ju-
gend auf befolgt werden, als groſse Ver-
[592] längerungsmittel des Lebens betrachtet
werden:
1. Man entferne ſorgfältig alles,
was unſer Körper als ſchädlich und ver-
dorben von ſich abgeſondert hat. Dieſs
geſchieht, wenn man öfters (wers haben
kann täglich) die Wäſche wechſelt, die
Betten, wenigſtens die Ueberzüge oft
umändert, und ſich daher lieber der Ma-
trazen bedient, die weniger Unreinig-
keit annehmen, und die Luft des Wohn-
zimmers hauptſächlich des Schlafzim-
mers immer erneuert.
2. Man waſche ſich täglich mit fri-
ſchem Waſſer den ganzen Körper, und
reibe zugleich die Haut ſtark, wodurch
ſie auſſerordentlich viel Leben und Gang-
barkeit erhält.
3. Man bade Jahr aus Jahr ein alle
Wochen wenigſtens einmal in lauen
Waſſer, wozu ſehr nüzlich noch eine
Abkochung von 5 — 6 Loth Seife ge-
miſcht werden kann. Wollte Gott, daſs
die Badehäuſer an allen Orten wieder in
Gang geſezt würden, damit auch der
unbe-
[593] unbegüterte Theil des Volks dieſe Wohl-
that genieſsen könnte, ſo wie er ſie in
den vorigen Jahrhunderten überall ge-
noſs, und dadurch geſund und ſtark
wurde! *)
P p
[594]
Ich kann hier nicht umhin, des See-
bads zu erwähnen, das durch ſeine rei-
zende und eindringende Kraft unter den
Mitteln zur Hautkultur oben an ſteht,
und gewiſs eins der erſten Bedürfniſſe
der jetzigen Generation erfüllt, die Haut
zu öfnen, und das ganze Organ und da-
durch das ganze Nervenſyſtem neu zu
beleben. Es hat dieſes Bad zwey groſse
Vorzüge, einmal daſs es (ohngeachtet
ſeiner groſsen Heilkräfte in Krankheiten)
dennoch als das naturgemäſseſte Hülfs-
mittel, auch blos zur Erhaltung und Be-
feſtigung der Geſundheit, von Geſunden
benuzt werden kann, was bey einer
Menge andern Bädern nicht der Fall iſt,
die einem Geſunden ſchaden. Es iſt da-
*)
[595] mit wie mit der Leibesbewegung, ſie
kann unheilbare Krankheiten kuriren,
und dennoch kann ſie auch der Geſünde-
ſte zu Erhaltung ſeiner Geſundheit brau-
chen. Der andre Vorzug aber iſt der
ganz unbeſchreibliche groſse und herr-
liche Anblick der See, der damit ver-
bunden iſt, und der auf einen nicht
daran gewöhnten eine Wirkung thut,
welche eine gänzliche Umſtimmung und
wohlthätige Exaltation des Nervenſy-
ſtems und Gemüths hervorbringen kann.
Ich bin überzeugt, daſs die phyſiſchen
Wirkungen des Mittels durch dieſen
Seeleneindruck auſſerordentlich unter-
ſtüzt werden müſſen, und daſs z. B. eine
hypochondriſche oder an Nerven lei-
dende Perſon ſchon das Wohnen an der
See und die damit verbundnen herrli-
chen Schauſpiele des Auf- und Unterge-
hens der Sonne, des Sturms u. ſ. w. halb
kuriren können. Ich würde in gleicher
Abſicht einen Kontinentsbewohner die
Reiſe ins Seebad, und einem Küſtenbe-
P p 2
[596] wohner die Reiſe in die Alpen rathen;
denn beydes ſind, dünkt mich, die
gröſsten Standpuncte der Natur. Dank
daher dem erhabenen und Menſchen be-
glückenden Fürſten, der in Dobrahn bey
Roſtock Teuſchland das erſte Seebad
ſchenkte, und dem würdigen Arzt
Vogel, der daſſelbe ſo trefflich und
zweckmäſsig einrichtete, und durch
ſeine Gegenwart die Heilſamkeit deſſel-
ben erhöht.
4. Man trage Kleidungen, die die
Haut nicht ſchwächen, und die ausdün-
ſtenden Materien leicht durchgehen laſ-
ſen. Ich kenne nichts verderblicheres in
dieſem Sinne, als das Tragen der Pelze.
Es ſchwächt durch die übergroſse Wärme
ausnehmend die Haut, befördert nicht
Ausdünſtung, ſondern Schweiſs, und
läſst doch die verdunſtenden Theile, we-
gen des Leders, nicht hindurch gehen.
Die Folge iſt, daſs ſich ein beſtändiges
Dunſtbad zwiſchen der Haut und dem
Pelze erzeugt, und daſs ein groſser
[597] Theil der unreinen Materien uns wieder
zurückgegeben und wieder eingeſogen
wird. Weit beſſer iſt das Engliſche
Pelzzeug, welches die Vortheile des Pel-
zes und doch nicht (weil es kein Leder
hat) die Nachtheile der Unreinlichkeit
und der eingeſchloſsnen Hitze hat.
Aber alle dieſe zu warmen wollnen
Bedeckungen auf bloſser Haut, ſind
nur bey ſehr groſser Kälte, oder bey
ſchon ſchwächlichen und zu Rheuma-
tismen geneigten Naturen zu empfeh-
len. In der Kindheit und Jugend und
bey übrigens geſunden Körper iſt es
am beſten, unmittelbar auf der Haut
eine Bekleidung von Leinwand oder
Baumwolle zu tragen, und darüber im
Sommer ein eben ſolches, im Winter
ein wollnes, Ueberkleid.
5. Man mache ſich fleiſsig körper-
liche Bewegung, denn dieſs iſt das gröſs-
te Beförderungsmittel der unmerklichen
Ausdünſtung.
[598]
6. Man vermeide ſolche Speiſen,
die die Ausdünſtung hemmen, und
nicht gut perſpiriren. Dahin gehö-
ren alles Fett, Schweinefleiſch, Gänſe-
fleiſch, grobe unausgebackne Mehlſpei-
ſen, Käſe.
[599]
XII.
Gute Diät und Mäſsigkeit im Eſſen und
Trinken — Erhaltung der Zähne.
Der Begriff der guten Diät iſt etwas re-
latif; wir ſehen, daſs gerade die Men-
ſchen die älteſten wurden, die gewiſs
keine ausgeſuchte ängſtliche Diät hiel-
ten, aber die ſparſam lebten, und es iſt
eben ein Vorzug der menſchlichen Na-
tur, daſs ſie alle, auch die heterogen-
ſten, Nahrungsmittel verarbeiten und
ſich verähnlichen kann, nicht, wie die
thieriſche, auf eine gewiſſe Klaſſe ein-
geſchränkt iſt. Es iſt ausgemacht, daſs
ein Menſch, der natürlich, mehr im
Freyen und in Bewegung lebt, ſehr we-
nig Diätregeln braucht. Unſre künſtli-
che Diät wird erſt durch unſer künſtli-
ches Leben nothwendig.
[600]
So viel iſt gewiſs, daſs es nicht ſo
wohl auf die Qualität aber gar ſehr auf
die Quantität der Nahrungsmittel an-
kommt, wenn wir auf Verlängerung des
Lebens ſehen, und Cornaros Beyſpiel
giebt uns davon einen erſtaunlichen Be-
weiſs, wie weit ein ſonſt ſchwächlicher
Menſch dadurch ſeine Exiſtenz verlän-
gern kann.
Man kann mit Wahrheit behaupten,
daſs der gröſste Theil der Menſchen viel
mehr iſst, als er nöthig hat, und ſchon
in der Kindheit wird uns durch das ge-
waltſame Hinunterſtopfen und Ueber-
füttern der natürliche Sinn genommen,
zu wiſſen, wenn wir ſatt ſind.
Ich werde alſo hier nur ſolche all-
gemeine Regeln in Abſicht aufs Eſſen
und Trinken geben, die allgemein gül-
tig ſind, und von denen ich überzeugt
bin, daſs ſie weſentlichen Einfluſs auf
Verlängerung des Lebens haben.
1. Nicht das, was wir eſſen, ſon-
dern das, was wir verdauen, kommt
uns zu gute und gereicht uns zur Nah-
[601] rung. — Folglich, wer alt werden will,
der eſſe langſam, denn ſchon im Munde
müſſen die Speiſen den erſten Grad von
Verarbeitung und Verähnlichung erlei-
den. Dieſs geſchieht durch das gehörige
Zerkauen und die Vermiſchung mit
Speichel, welches beydes ich als ein
Hauptſtück des ganzen Reſtaurationsge-
ſchäfts betrachte, und daher einen
groſsen Werth zur Verlängerung des Le-
bens darauf lege, um ſo mehr, da nach
meinen Unterſuchungen, alle ſehr alt
gewordene die Gewohnheit an ſich hat-
ten, langſam zu eſſen.
2. Es kommt hierbey alſo ſehr viel
auf gute Zähne an, daher ich die Erhal-
tung der Zähne mit Recht unter die Le-
bensverlängernden Mittel zähle. Hier
einige Regeln, die gewiſs, wenn ſie
von Anfang an gebraucht werden, die
Zähne bis ins hohe Alter feſt und unver-
dorben erhalten können:
Man verbinde immer einen gehöri-
gen Genuſs der Vegetabilien oder des
Brodes mit dem Fleiſche, denn das
[602] Fleiſch bleibt weit leichter zwiſchen den
Zähnen hängen, fault und greift die
Zähne an. Man wird daher durchgän-
gig finden, daſs die Klaſſen von Men-
ſchen, die wenig oder gar kein Fleiſch
genieſsen, Bauern, Landbewohner, im-
mer die beſten Zähne haben, ohneracht
ſie ſie faſt nie putzen. Aber es kann
kein beſsres Zahnpulver geben, als das
Kauen eines Stücks ſchwarzen trocknen
Brodes. Es iſt daher für die Zähne eine
ſehr heilſame Gewohnheit, nach jeder
Mahlzeit ein Brodrindgen langſam zu
verkauen.
Man vermeide jeden plözlichen Ue-
bergang der Zähne aus einer heiſſen in
eine kalte Temperatur und umgekehrt.
Denn der Ueberzug jedes Zahns iſt Glas-
oder Emailartig, und kann bey jedem
ſolchen ſchnellen Wechſel leicht einen
Sprung bekommen, in den ſich die ver-
dorbnen Theile hineinſetzen, und ſo
den erſten Grund zur Corruption des
Innern legen. Es iſt daher am beſten,
nie zu heiſſe oder zu kalte Dinge in den
[603] Mund zu nehmen, am allerwenigſten
während des Genuſſes von etwas heiſſen,
z. E. der warmen Suppe, kalt zu trinken.
Man kaue keinen Zucker, und ver-
meide auch Zuckergebacknes, was mit
viel zähen leimichten Theilen ver-
miſcht iſt.
Sobald man den erſten angefreſsnen
Zahn bemerkt, ſo laſſe man ihn gleich
heraus nehmen, denn ſonſt ſteckt dieſer
die übrigen an.
Man ſpüle alle Morgen, insbeſon-
dere aber nach jeder Mahlzeit die Zähne
mit Waſſer aus, denn dadurch werden
die Ueberreſte der Speiſen weggenom-
men, die ſo gewöhnlich zwiſchen den
Zähnen ſitzen bleiben und den Grund zu
ihrem Verderben legen.
Man wird bey gehöriger Beobach-
tung dieſer Regeln ſelten ein Zahnpul-
ver nöthig haben, Sollten aber die
Zähne (wie dieſs in der Natur manches
Menſchen liegt), geneigt ſeyn, immer
mehr Schmuz (den ſogenannten Wein-
ſtein) anzuſetzen, ſo empfehle ich fol-
[604] gendes ganz unſchuldige Mittel: 1 Loth
roth Sandelholz, ein halbes Loth China,
werden äuſſerſt fein gepülvert und durch
ein Haarſieb geſtäubt, ſodann 6 Tro-
pfen Nelken- und eben ſo viel Berga-
mottöhl zugemiſcht, und damit die Zäh-
ne des Morgens abgerieben. Iſt das
Zahnfleiſch ſchwammicht, blutend, ſcor-
butiſch, ſo ſezt man noch ein halbes
Quent Alaun hinzu.
3. Man hüte ſich ja, bey Tiſch nicht
zu ſtudiren, zu leſen oder den Kopf an-
zuſtrengen. Dieſer Zeitpunct muſs
ſchlechterdings dem Magen heilig ſeyn.
Es iſt die Zeit ſeines Regiments, und die
Seele darf nur in ſo fern mit ins Spiel
kommen, als nöthig iſt, ihn zu unter-
ſtützen. So iſt z. B. das Lachen eins der
gröſsten Verdauungsmittel, das ich ken-
ne, und die Gewohnheit unſrer Vorfah-
ren, daſſelbe durch Leberreime und Lu-
ſtigmacher bey Tiſche zu erregen, war
auf ſehr richtige mediziniſche Grund-
ſätze gebaut. — Genug, man ſuche
frohe und muntere Geſellſchaft bey
[605] Tiſch zu haben. Was in Freuden und
Scherz genoſſen wird, das giebt gewiſs
auch gutes und leichtes Blut.
4. Man mache ſich nie unmittelbar
nach der Mahlzeit ſehr ſtarke Bewegung,
denn dieſes ſtöhrt die Verdauung und
Aſſimilation der Nahrungsmittel ganz
erſtaunlich. Am beſten Stehen oder
langſames Herumgehen. Die beſte Zeit
zur Bewegung iſt vor Tiſch, oder drey
Stunden nach dem Eſſen.
5. Man eſſe nie ſo viel, daſs man
den Magen fühlt. Am beſten man höre
auf, ehe man noch überſättigt iſt. Und
immer muſs die Quantität der Nahrung
mit der körperlichen Arbeit in Verhält-
niſs ſtehen; je weniger Arbeit, deſto
weniger Nahrung.
6. Man halte ſich bey der Wahl der
Speifen immer mehr an die Vegetabilien.
Fleiſchſpeiſen haben immer mehr Nei-
gung zur Fäulniſs, die Vegetabilien hin-
gegen zur Säure und zur Verbeſſerung
der Fäulniſs, die unſer beſtändiger näch-
ſter Feind iſt. Ferner animaliſche Spei-
[606] ſen haben immer mehr reizendes und
erhitzendes, hingegen Vegetabilien ge-
ben ein kühles mildes Blut, vermindern
die innern Bewegungen, die Leibes-
und Seelenreizbarkeit, und retardiren
alſo wirklich die Lebensconſumtion.
Und endlich geben animaliſche Speiſen
viel mehr Blut und Nahrung, und erfo-
dern alſo, wenn ſie gut bekommen ſol-
len, weit mehr Arbeit und körperliche
Bewegung; auſſerdem wird man voll-
blütig. Sie ſind alſo in dieſer Rückſicht
gar keine Nahrung für Gelehrte und
Leute, die viel ſitzen, denn ſolche Men-
ſchen brauchen keine ſo ſtarke Reſtaura-
tion, wenig Erſatz von Subſtanz, ſon-
dern nur von den feinern Nahrungsſäf-
ten, die zu den Geiſtesbeſchäftigungen
dienen. Am meiſten vermeide man
Fleiſch im Sommer und wenn Faulfieber
graſſiren. — Auch finden wir, daſs
nicht die Fleiſcheſſer, ſondern die, die
von Vegetabilien (Gemüſse, Obſt, Kör-
ner und Milch) lebten, das höchſte Al-
ter erreichten. — Baco erzählt von ei-
[607] nem 120jährigen Manne, der zeitlebens
nichts anders als Milch genoſſen hatte.
Die Bramanen eſſen, vermöge ihrer Re-
ligion, nie etwas anders als Vegetabilien
und erreichen meiſt ein 100jähriges Al-
ter. J. Wesley fing in der Mitte ſeines
Lebens an, gar kein Fleiſch, ſondern
blos Vegetabilien zu genieſſen, und ward
88 Jahr alt.
7. Man eſſe Abends nie viel, wenig
oder gar kein Fleiſch, am beſten kalt,
und einige Stunden vor Schlafengehen.
8. Man verſäume nicht das nöthige
Trinken. Es geſchieht häufig, daſs man
durch Unachtſamkeit auf die Erinnerun-
gen der Natur zulezt das Trinken ganz
verlernt, und nun gar nicht mehr von
der Natur erinnert wird, welches eine
Haupturſache der Trockenheit, Verſto-
pfung des Unterleibes, und einer Menge
von Krankheiten iſt, die man ſo häufig
bey Gelehrten und ſitzenden Frauenzim-
mern findet. Aber man merke: Nicht
unter dem Eſſen iſt die beſte Zeit zum
Trinken, denn dadurch wird der Ma-
[608] genſaft zu ſehr verdünnt und die Kraft
des Magens geſchwächt, ſondern nach
Tiſche etwa eine Stunde nachher.
Das beſte Getränk iſt Waſſer, dieſes
gewöhnlich ſo verachtete, ja von man-
chen für ſchädlich gehaltene Getränk. —
Ich trage kein Bedenken, es für ein
groſses Mittel zur Verlängerung des Le-
bens zu erklären. Man höre, was der
verehrungswürdige Greis, der Hr. Ge-
neral-Chirurgus Theden ſagt, *) der
ſein nun mehr als 80jähriges Leben,
hauptſächlich dem täglichen Genuſs von
7 — 8 Quart (20 — 24 Pfund) friſchen
Waſſer zuſchreibt, den er nun ſeit mehr
als 40 Jahren macht. Er war zwiſchen
dem 30ſten und 40ſten Jahre der ärgſte
Hypochondriſt, bisweilen bis zur tief-
ſten Melancholie, litt an Herzklopfen,
Unverdaulichkeiten, und glaubte, nicht
noch ein halbes Jahr leben zu können.
Aber von der Zeit an, daſs er dieſe
Waſſer-
[609] Waſſerdiät anfing, verloren ſich alle die
Zufälle, und er iſt in der ſpätern Hälfte
ſeines Lebens weit geſunder, als in der
frühen, und völlig frey von Hypochon-
drie. — Aber die Hauptſache iſt, es
muſs friſch (d. h. aus Quellen, nicht aus
offnen Brunnen, friſch geſchöpft und
gehörig verſtopft) ſeyn, denn jedes Brun-
nenwaſſer hat ſo gut, wie die minerali-
ſchen, ſeinen Brunnengeiſt (fixe Luft)
wodurch es eben verdaulich und ſtär-
kend wird. — Reines und friſches
Waſſer hat folgende weſentliche Vorzü-
ge, die uns gewiſs Reſpect dafür ein-
flöſsen können:
Das Element des Waſſers iſt das
gröſste, ja einzige Verdünnungsmittel in
der Natur. — Es iſt durch ſeine Kälte
und fixe Luft ein fürtreffliches Stärkungs-
und Belebungsmittel für den Magen und
die Nerven. — Es iſt ein herrliches Galle-
und Fäulniſstilgendes Mittel, wegen
der vielen fixen Luft und der ſalzigten
Beſtandtheile, die es enthält. — Es be-
Q q
[610] fördert die Verdauung und alle Abſon-
derungen des Körpers. Ohne Waſſer exi-
ſtirt keine Excretion. — Da nach den
neuern Erfarungen Sauerſtoff ein Be-
ſtandtheil des Waſſers iſt, ſo trinken wir
wirklich neuen Lebensreiz, indem wir
Waſſer trinken.
Auch kann ich hier unmöglich unter-
laſſen, wieder einmal etwas zum Be-
ſten der Suppen (der flüſſigen Nahrung)
zu ſagen, nachdem es ſeit einiger Zeit
Mode worden iſt, ihnen nichts als Böſes
nachzuſagen.
Ein mäſiger Genuſs von Suppen
ſchadet zuverläſſig nicht; es iſt ſonder-
bar, ſich davon ſo groſse Erſchlaffung des
Magens zu träumen. Wird denn nicht
alles Getränk, wenn wirs auch kalt zu
uns nehmen, in wenig Minuten warme
Suppe im Magen, und befindet ſich
denn der Magen nicht den ganzen Tag
in der natürlichen Temperatur einer
warmen Suppe? Nur hüte man ſich,
ſie heiſs oder in zu groſser Menge auf
[611] einmal, oder zu wäſſerigt zu genieſſen.
Aber ſie hat auch groſse Vortheile: Sie
erſezt das Getränk, beſonders bey Ge-
lehrten, Frauenzimmern und allen de-
nen, welche auſſer Tiſch wenig oder gar
nicht trinken, und die, wenn ſie nun
auch das Suppeneſſen unterlaſſen, viel
zu wenig Feuchtigkeit ins Blut bekom-
men; wobey noch das zu bemerken iſt,
daſs das Flüſſige, in Suppengeſtalt ge-
noſſen, ſich weit beſſer und ſchneller
unſern Säften beymiſcht, als wenn es
kalt und roh getrunken wird. Eben
deswegen iſt nun auch Suppe ein groſses
Verhütungsmittel der Trockenheit und
Rigidität des Körpers, und daher für
trockne Naturen und im Alter die beſte
Art der Nahrung. Je älter der Menſch
wird, deſto mehr muſs er von Suppe
leben. Ja ſelbſt die Dienſte eines Arz-
neymittels vertritt ſie. Nach Erkältun-
gen, bey nervigten oder Magenkopf-
weh, bey Koliken und manchen Arten
von Magenkrämpfen, iſt warme Suppe
Q q 2
[612] das beſte Mittel. Auch wird es zum Be-
weiſs des Nutzens und wenigſtens der
Unſchädlichkeit der Suppen dienen,
wenn ich ſage, daſs unſre Vorfahren,
die gewiſs ſtarker waren, als wir, und
die Bauern, die es noch ſind, viel Suppe
genieſſen, und daſs alle alte Leute, die
ich kennen gelernt habe, groſse Freunde
der Suppe waren.
Der Wein erfreut des Menſchen
Herz, aber er iſt keineswegs eine Noth-
wendigkeit zum langen Leben; denn
diejenigen ſind am älteſten geworden,
die ihn nicht tranken. Ja er kann, als
ein reizendes, die Lebensconſumtion
beſchleunigendes, Mittel, das Leben
ſehr verkürzen, wenn er zu häufig und
in zu groſser Menge getrunken wird.
Wenn er daher nicht ſchaden und ein
Freund des Lebens werden ſoll, ſo muſs
man ihn nicht täglich, und nie im Ue-
bermaas trinken, je jünger man iſt,
deſto weniger, je älter, deſto mehr.
Am beſten, wenn man den Wein als
[613] Würze des Lebens betrachtet und be-
nutz, und ihn nur auf die Tage der
Freude und Erholung, auf die Bele-
bung eines freundſchaftlichen Zirkels
verſpart.
[614]
XIII.
Ruhe der Seele — Zufriedenheit — Le-
bensverlängernde Seelenſtimmungen
und Beſchäftigungen.
Seelenruhe, Heiterkeit und Zufrieden-
heit ſind die Grundlage alles Glücks, aller
Geſundheit und des langen Lebens! Frey-
lich wird man ſagen: dieſs ſind keine Mit-
tel, welche wir uns ſelbſt geben können,
ſie hängen von äuſſern Umſtänden ab. —
Aber mir ſcheint dieſs gar nicht ſo; denn
ſonſt müſsten ja die Groſsen und Rei-
chen die zufriedenſten und glücklichſten
und die Armen die unglücklichſten ſeyn,
wovon doch die Erfahrung das Gegentheil
zeigt, und es exiſtirt zuverläſſig weit
mehr Zufriedenheit in der Dürftig-
[615] keit, als in der reichen und begüterten
Klaſſe.
Es giebt alſo Quellen der Zufrieden-
heit und Glückſeeligkeit, die in uns
ſelbſt liegen, und die wir ſorgfältig auf-
ſuchen und benutzen müſſen. Man er-
laube mir, einige ſolcher Hülfsmittel
hier anzugeben, die mir eine ganz ein-
fache Lebensphiloſophie empfohlen hat,
und die ich blos als Diätregeln, als den
guten Rath eines Arztes zur Verlänge-
rung des Lebens anzunehmen bitte.
1. Vor allen Dingen bekämpfe man
ſeine Leidenſchaften. Ein Menſch, der
durch Leidenſchaften immer hin und
her getrieben wird, befindet ſich immer
in einem Extrem, in einem exaltirten
Zuſtand, und kann nie zu der ruhigen
Stimmung gelangen, die zur Erhaltung
des Lebens ſo nöthig iſt. Er vermehrt
dadurch ſeine innre Lebensconſumtion
fürchterlich, und er wird bald aufgerie-
ben ſeyn.
2. Man gewöhne ſich, dieſs Leben,
nicht als Zweck ſondern als Mittel zu
[616] immer höherer Vervollkommnung, und
unſere Exiſtenz und Schickſale immer,
als einer höhern Macht und gröſsern
Zwecken untergeordnet zu betrachten,
und man halte dieſen Geſichtspunct (den
die Alten Vertrauen auf die Vorſehung
nannten) in allen Zufällen und Lagen
unerſchütterlich feſt. Man wird da-
durch immer den beſten Schlüſſel haben,
ſich aus dem Labyrinth des Lebens her-
auszufinden, und die gröſste Schuzwehr
gegen alle Angriffe auf unſre Seelen-
ruhe.
3. Man lebe, aber im rechten Sinne,
immer nur für den Tag, d. h. man be-
nutze jeden Tag ſo, als wenn er der ein-
zige wäre, ohne ſich um den morgen-
den Tag zu bekümmern. Unglückliche
Menſchen, die ihr immer nur an das
Folgende, Mögliche denkt, und über
den Planen und Projecten des Künftigen
die Gegenwart verliert! Die Gegenwart
iſt ja die Mutter der Zukunft, und wer
jeden Tag, jede Stunde ganz und voll-
kommen, ſeiner Beſtimmung gemäſs,
[617] benuzt, der kann ſich jeden Abend mit
dem unausſprechlich beruhigenden Ge-
fühl niederlegen, daſs er nicht allein die-
ſen Tag wirklich gelebt und ſeinen
Standpunct ausgefüllt, ſondern auch
ſicher die beſte Zukunft gegründet
habe.
4. Man ſuche ſich über alles ſo rich-
tige Begriffe als möglich zu verſchaffen,
und man wird finden, daſs die meiſten
Uebel in der Welt nur durch Misver-
ſtand, falſches Intereſſe oder Ueberei-
lung entſtehen, und daſs es nicht ſowohl
darauf ankommt, was uns geſchieht,
ſondern wie wirs nehmen. Wer dieſen
Glücksfond in ſich hat, der iſt von äuſ-
ſern Umſtänden unabhängig. Wie ſchön
ſagt hiervon Weishaupt: „Es bleibt alſo
immer wahr, daſs die Weisheit allein
die Quelle des Vergnügens, die Thor-
heit die Quelle des Misvergnügens iſt.
Es bleibt wahr, daſs auſſer der gänzli-
chen Ergebung in den Willen der Vor-
ſicht, auſſer der Ueberzeugung, daſs
alles zu unſerm Beſten geordnet ſey,
[618] auſſer der Zufriedenheit mit der Welt
und der Stelle, die man darinne hat,
Alles Thorheit ſey, welche zum Misver-
gnügen führt.“ *)
5. Man ſtärke und befeſtige ſich im-
mer mehr im Glauben und Vertrauen
auf die Menſchheit, und in allen den
ſchönen daraus ſproſſenden Tugenden,
Wohlwollen, Menſchenliebe, Freund-
ſchaft, Humanität. Man halte jeden
Menſchen für gut, bis man durch un-
widerſprechliche Beweiſe vom Gegen-
theil überzeugt iſt, und auch dann müſ-
ſen wir ihn nur als einen irrenden be-
trachten, der mehr unſer Mitleid, als
unſern Haſs verdient. Er würde eben-
falls gut ſeyn, wenn ihn nicht Misver-
ſtand, Mangel an Erkenntniſs oder fal-
ſches Intereſſe verführte. Wehe dem
Menſchen, deſſen Lebensphiloſophie
darinne beſteht, niemand zu trauen!
Sein Leben iſt ein ewiger Of- und De-
fenſivkrieg, und um ſeine Zufriedenheit
[619] und Heiterkeit iſt es geſchehen. Je mehr
man allen um ſich herum wohl will, je
mehr man andere glücklich macht, deſto
glücklicher wird man ſelbſt.
6. Zur Zufriedenheit und See-
lenruhe iſt ein unentbehrliches Erfor-
derniſs: Hofnung. Wer hoffen kann,
der verlängert ſeine Exiſtenz nicht blos
idealiſch ſondern wirklich phyſiſch,
durch die Ruhe und Gleichmüthigkeit,
welche ſie gewährt. — Aber nicht blos
Hofnung innerhalb der engen Grenzen
unſrer jetzigen Exiſtenz, ſondern Hof-
nung übers Grab hinaus! — Nach mei-
ner Ueberzeugung iſt der Glaube an Un-
ſterblichkeit das einzige, was uns dieſs
Leben werth und die Beſchwehrden deſ-
ſelben erträglich und leicht machen
kann. — Hofnung und Glaube, ihr groſ-
ſen göttlichen Tugenden! Wer vermag
ohne euch ein Leben zu durch wandeln,
das voll von Trug und Täuſchung iſt,
deſſen Anfang ſowohl als Ende dicke
Finſterniſs umhüllt, und wo die Gegen-
wart ſelbſt nur ein Augenblick iſt, der
[620] kaum der Zukunft entrann, als ihn auch
ſchon die Vergangenheit verſchlingt.
Ihr ſeyd die einzigen Stützen des Wan-
kenden, die gröſste Erquickung des
müden Wanderers; wer euch auch nicht
als höhere Tugenden verehrt, der muſs
euch doch als unentbehrliche Bedürfniſſe
dieſes Erdenlebens umfaſſen, und aus
Liebe zu ſich ſelbſt in euch ſtark
zu werden ſuchen, wenn ers nicht
aus Liebe zum Unſichtbaren thut. —
In dieſer Abſicht kann man ſagen,
daſs ſelbſt die Religion ein Mittel
zur Verlängerung des Lebens werden
kann. Je mehr ſie Bekämpfung der Lei-
denſchaften, Selbſtverleugnung und
innre Seelenruhe geben und jene ſtär-
kenden Wahrheiten lebendig machen
kann, deſto mehr iſt ſie Lebensverlän-
gernd.
Auch Freude iſt eine der gröſsten
Lebenspanaceen. Man glaube doch
nicht, daſs immer ganz ausgeſuchte Ge-
legenheiten und Glückszufälle dazu nö-
thig wären, ſie zu erwecken; durch die
[621] [...]ben geſchilderte Seelenſtimmung macht
man ſich dafür empfänglich, und dem
wird es an Gelegenheit ſich zu freuen
nie fehlen, der jenen Sinn hat; das Le-
ben ſelbſt iſt ihm Freude. Doch ver-
ſäume man nicht, jede Gelegenheit zur
Freude aufzuſuchen und zu benutzen,
die rein und nicht zu heftig iſt. Keine
geſündere und Lebensverlängernde Freu-
de giebt es wohl, als die, die wir im
häuslichen Glück, im Umgang froher
und guter Menſchen, und im Genuſs
der ſchönen Natur finden. Ein Tag auf
dem Lande, in heiterer Luft, in einem
heitern Freundeszirkel zugebracht, iſt
zuverläſſig ein poſitiveres Lebensverlän-
gerungsmittel, als alle Lebenselixire in
der Welt. — Hier darf auch der körper-
liche Ausbruch der Freude, das Lachen,
nicht unerwähnt bleiben. Es iſt die ge-
ſündeſte aller Leibesbewegungen (denn
es erſchüttert Seele und Körper zugleich),
befördert Verdauung, Blutumlauf, Aus-
dünſtung, und ermuntert die Lebens-
kraft in allen Organen.
[622]
Aber auch höhere Geiſtesbeſchäfti-
gungen und Unterhaltungen verdienen
hier ihren Platz, vorausgeſezt, daſs man
die Vorſichtsregeln dabey beobachtet,
die ich oben bey der Warnung für ihrem
Misbrauch gegeben habe. Es ſind dieſs
höhere Genüſſe und Freuden, dem Men-
ſchen allein eigen, und eine ſeiner
würdige Quelle der Lebensreſtauration.
Ich rechne vorzüglich dahin angenehme
und den Geiſt füllende Lectüre, das Stu-
dium intereſſanter Wiſſenſchaften, die
Betrachtung und Erforſchung der Natur
und ihrer Geheimniſſe, die Entdeckung
neuer Wahrheiten durch Ideencombina-
tion, geiſtreiche Geſpräche u. dgl.
[623]
XIV.
Wahrheit des Karacters.
Wir wiſſen, wie äuſſerſt nachtheilig
für die Länge des Lebens jenes Metier
iſt, welches dem Menſchen zum Beruf
macht, täglich einige Stunden in einem
ſich nicht ähnlichen, angenommnen Zu-
ſtand zu exiſtiren — das Metier der
Schauſpieler.
Wie muſs es nun wohl denen
Menſchen gehen, die dieſes Metier
beſtändig treiben, die beſtändig die
oder jene angenommne Rolle auf dem
groſsen Theater der Welt ſpielen, die
nie das ſind, was ſie ſcheinen? Genug,
die Menſchen, welche nicht wahr ſind,
immer in der Verſtellung, im Zwang,
[624] in der Lüge leben. Man findet ſie vor-
züglich unter den raffinirten und über-
cultivirten Menſchenarten. Ich kenne
keinen unnatürlichern Zuſtand.
Schlimm genug iſts ſchon, ein Kleid
tragen zu müſſen, was nicht für uns ge-
macht iſt, was an allen Orten preſst und
drückt, und uns jede Bewegung er-
ſchwehrt, aber was iſt dieſs gegen das
Tragen eines fremden Karacters, gegen
einen ſolchen moraliſchen Zwang, wo
Worte, Betragen, Aeuſſerungen und
Handlungen in beſtändigem Wider-
ſpruch mit unſerm innern Gefühle und
Willen ſtehen, wo wir unſre ſtärkſten
natürlichſten Triebe unterdrücken und
fremde heucheln, und wo wir jeden
Nerven, jede Faſer beſtändig in Span-
nung erhalten müſſen, um die Lüge,
denn das iſt hier unſre ganze Exiſtenz,
vollſtändig zu machen. — Ein ſolcher
unwahrer Zuſtand iſt nichts anders, als
ein beſtändiger krampfigter Zuſtand,
und die Folge zeigt es. Eine anhaltende
innre Unruhe, Aengſtlichkeit, unor-
dent-
[625] dentliche Circulation und Verdauung,
ewige Widerſprüche auch im Phyſiſchen,
ſo gut wie im Moraliſchen, ſind die un-
ausbleiblichen Wirkungen. Und am
Ende kommen dieſe unglücklichen Men-
ſchen dahin, daſs ſie dieſen unnatürli-
chen Zuſtand nicht einmal wieder able-
gen können, ſondern daſs er ihnen zur
andern Natur wird. Sie verlieren ſich
endlich ſelbſt, und können ſich nicht
wieder finden. — Genug, dieſer un-
wahre Zuſtand unterhält zulezt ein be-
ſtändiges ſchleichendes Nervenfieber —
innerlicher Reiz und äuſsrer Krampf
ſind die beyden Beſtandtheile deſſelben
— und ſo führt er zur Deſtruction und
zum Grabe, dem einzigen Orte, wo
dieſe Unglücklichen hoffen können die
Maske los zu werden.
R r
[626]
XV.
Angenehme und mäſig genoſsne Sinnes-
und Gefühlsreize.
Sie wirken auf doppelte Art zur Verlän-
gerung des Lebens; Einmal, indem ſie
unmittelbar auf die Lebenskraft influi-
ren, ſie erwecken, erhöhen, verſtärken,
und dann indem ſie die Wirkſamkeit der
ganzen Maſchine vermehren, und ſo die
wichtigſten Organe der Reſtauration, die
Verdauungs- Circulations- und Abſon-
derungswerkzeuge in regere Thätigkeit
ſetzen. Es iſt daher eine gewiſſe Kultur
und Verfeinerung unſrer Sinnlichkeit
heilſam und nöthig, weil ſie uns für
dieſe Genüſſe empfänglicher macht, nur
darf ſie nicht zu weit getrieben werden,
weil ſonſt kränkliche Empfindlichkeit
daraus entſtehet. Auch muſs bey der
[627] Sinnesreizung ſelbſt ſehr darauf geſehen
werden, daſs ſie ein gewiſſes Maas nicht
überſteige, denn die nehmlichen Ge-
nüſſe, die, im mäſigen Grade angewen-
det, reſtauriren, können, ſtärker ge-
braucht, auch conſumiren und erſchö-
pfen.
Alle angenehme Reize, die durch
Geſicht, Gehör, Geruch, Geſchmack
und Gefühl auf uns wirken können, ge-
hören hieher, und alſo die Freuden der
Muſik, Mahlerey, und andrer bilden-
den Künſte, auch der Dichtkunſt und
der Phantaſie, indem ſie dieſe Genüſſe
erhöhen und wieder erneuern kann.
Vor allen aber ſcheint mir in gegenwär-
tiger Rückſicht die Muſik den Vorzug
zu verdienen, denn durch keinen Sin-
neseindruck kann ſo ſchnell und ſo un-
mittelbar auf Stimmung, Ermunterung
und Regulirung der Lebensoperation ge-
wirkt werden, als dadurch. Unwillkühr-
lich nimmt unſer ganzes Weſen den Ton
und Tact an, den die Muſik angiebt, der
Puls wird lebhafter oder ruhiger, die
R r 2
[628] Leidenſchaft geweckt, oder beſänftigt, je
nachdem es dieſe Seelenſprache haben
will, die ohne Worte, blos durch die
Macht des Tons und der Harmonie, un-
mittelbar auf unſer Innerſtes ſelbſt wirkt,
und dadurch oft unwiderſtehlicher hin-
reiſst, als alle Beredſamkeit. Es wäre zu
wünſchen, daſs man einen ſolchen
zweckmäſigen, den Umſtänden ange-
meſsnen Gebrauch der Muſik mehr ſtu-
dirte und in Ausübung brächte.
[629]
XVI.
Verhütung und vernünftige Behandlung
der Krankheiten — gehöriger Gebrauch
der Medizin und des Arztes.
Krankheiten gehören, wie oben ge-
zeigt worden, gröſstentheils zu den Le-
bensverkürzenden Urſachen und können
ſelbſt den Lebensfaden plötzlich abreiſ-
ſen. Die Medizin beſchäftigt ſich mit
Verhütung und Heilung derſelben, und
in ſo fern iſt allerdings die Medizin als
ein Hülfsmittel zur Verlängerung des
Lebens zu betrachten und zu benutzen.
Aber nur gar zu gewöhnlich wird
hier gefehlt. Bald glaubt man, dieſe
wohlthätige Kunſt nicht genug benutzen
zu können, und medizinirt zu viel, bald
ſcheut man ſie zu ſehr, als etwas unna-
[630] türliches, und medizinirt zu wenig, bald
hat man irrige Begriffe von Arzt und
Arzney und benuzt beyde auf die un-
rechte Weiſe. Dazu ſind nun in neuern
Zeiten eine Menge Populairſchriften ge-
kommen, welche einen Haufen unver-
dauter mediziniſcher Begriffe und Noti-
zen im Publikum verbreitet, und da-
durch noch mehr Misbrauch der Medi-
zin und groſsen Schaden für die allge-
meine Geſundheit verurſacht haben.
Wir können nicht alle Aerzte ſeyn.
Die Arzneykunde iſt eine ſo weitläuftige
und ſchwehre Wiſſenſchaft, daſs ſie
durchaus ein tiefes und anhaltendes Stu-
dium, ja eine ganz eigne Ausbildung der
Sinne und der höhern Seelenkräfte erfo-
dert. Einzelne Kurregeln und Mittel
wiſſen, heiſst noch nicht Arzt ſeyn, wie
ſich mancher einbildet. Dieſe Kurre-
geln und Mittel ſind ja nur die Reſultate
der Medizin, und nur der, der die Ver-
bindung dieſer Mittel mit den Urſachen
der Krankheit, die ganze Reihe von
Schlüſſen und Gründen überſieht, wor-
[631] aus endlich ganz zulezt die Idee dieſes
Mittels entſteht, genug, nur der, der
dieſe Mittel ſelbſt erfinden kann, ver-
dient den Namen eines Arztes. Hier-
aus erhellt, daſs die Medizin ſelbſt nie
ein Eigenthum des gröſsern Publikums
werden kann.
Blos der Theil der Arzneywiſſen-
ſchaft, der die Kenntniſs des menſchli-
chen Körpers, in ſo fern ſie jedem Men-
ſchen zu wiſſen nüzlich iſt, und die Art
und Weiſe, Krankheiten zu verhüten und
Geſundheit, ſowohl im einzelnen als im
Ganzen zu erhalten, lehrt, kann und ſoll
ein Theil des allgemeinen Unterrichts
und der allgemeinen Aufklärung werden.
Aber nie der Theil, welcher ſich mit
Heilung wirklich ausgebrochner Krank-
heiten und Anwendung der Mittel be-
ſchäftigt. Es erhellt dieſs ſchon aus dem
einfachſten Begriff von Krankheit und
Hülfe. Was heiſst denn, ein Arzney-
mittel anwenden und dadurch Krankheit
heilen? Nichts anders, als durch einen
ungewohnten Eindruck eine ungewöhn-
[632] liche Veränderung im menſchlichen Kör-
per hervorbringen, wodurch ein ande-
rer unnatürlicher Zuſtand, den wir
Krankheit nennen, aufgehoben wird.
Alſo Krankheit und Wirkung der Mittel,
beydes ſind unnatürliche Zuſtände, und
die Anwendung eines Arzneymittels iſt
nichts anders, als die Erregung einer
künſtlichen Krankheit, um die natürli-
che zu heben. Dieſs ſieht man, wenn
ein Geſunder Arzney nimmt, er wird al-
lemal dadurch mehr oder weniger krank
gemacht. Die Anwendung eines Arz-
neymittels iſt alſo an und für ſich alle-
mal ſchädlich, und kann blos dadurch
entſchuldigt und heilſam gemacht wer-
den, wenn dadurch ein im Körper exiſti-
render krankhafter Zuſtand gehoben
wird. Dieſes Recht, ſich oder andere
durch Kunſt krank zu machen, darf alſo
durchaus niemand anders haben, als
wer das Verhältniſs der Krankheit zum
Mittel recht genau kennt, folglich der
Arzt. Auſſerdem wird die Folge ſeyn,
entweder daſs vielleicht das Mittel ganz
[633] unnöthig war, und man folglich jemand
erſt krank macht, der es noch nicht war,
oder daſs das Mittel nicht auf die Krank-
heit paſst, und folglich der arme Patient
nun an zwey Krankheiten leidet, da er
vorher nur eine hatte, oder daſs das
Mittel wohl gar den krankhaften Zu-
ſtand ſelbſt, der ſchon da iſt, befördert
und erhöhet. Es iſt unendlich beſſer, in
Krankheiten gar keine Arzney nehmen,
als ſolche, die nicht paſſend iſt.
Da nun alſo ein Laye nie die Medi-
zin wirklich ausüben darf, ſo entſteht
die wichtige Frage: Wie kann und muſs
Medizin benuzt werden, wenn wir ſie
als Verlängerungsmittel des Lebens brau-
chen wollen? Ich werde mich bemühen,
hierüber einige allgemeine Regeln und
Beſtimmungen anzugeben.
Vorerſt aber erlaube man mir, nur
ein Paar Worte über einen Theil dieſer
Unterſuchung zu ſagen, der zwar mehr
den Arzt intereſſirt, aber dennoch zu
wichtig iſt, um hier übergangen zu
werden, nehmlich: Wie verhält ſich
[634] überhaupt die practiſche Medizin zur Ver-
längerung des Lebens? Kann man ſie
unbedingt ein Verlängerungsmittel des
Lebens nennen? Allerdings, in ſo fern
ſie Krankheiten heilt, die uns tödten
könnten. Aber nicht immer in andrer
Rückſicht, und ich will einige Bemer-
kungen zur Beherzigung meiner Herrn
Amtsbrüder beyfügen, die uns aufmerk-
ſam machen können, daſs Herſtellung
der Geſundheit und Verlängerung des
Lebens nicht immer eins ſind und daſs
es nicht blos darauf ankommt, eine
Krankheit zu heilen, ſondern auch gar
ſehr, wie ſie geheilt wird. Einmal iſt
es aus dem obigen gewiſs, daſs die Arz-
neymittel durch eine künſtliche Krank-
heit wirken. Jede Krankheit iſt mit
Reizung, mit Kraftverluſt verbunden.
Iſt nun das Arzneymittel angreifender,
als die Krankheit, ſo hat man den Kran-
ken zwar geſund gemacht, aber man
hat ihn durch den Prozeſs des Geſund-
machens mehr geſchwächt, und alſo ſei-
ner Lebenslänge mehr entzogen, als die
[635] Krankheit für ſich gethan haben würde.
Dieſs iſt der Fall, wenn man bey den
geringſten Vorfällen gleich die heftigſten
und heroiſchſten Mittel anwendet. —
Zweytens, man kann eine Krankheit
durch verſchiedene Methoden und Wege
kuriren. Der Unterſchied liegt entwe-
der darinn, daſs man die Kriſe bald auf
dieſen bald auf jenen Theil leitet, oder
daſs die Krankheit bey der einen Metho-
de ſchneller, bey der andern langſamer
vergeht. Dieſe verſchiedenen Kurarten
können zwar alle zur Geſundheit führen,
aber in Abſicht auf Verlängerung des Le-
bens von ſehr verſchiedenen Werth
ſeyn. Je mehr nehmlich eine Kur der
Krankheit Zeit verſtattet fort zu dauern,
und Kräfte oder Organe zu ſchwächen,
oder je mehr eine Kur Lebensnöthige
Organe angreift, oder die Krankheit da-
hin leitet, folglich die Lebensreſtaura-
tion in der Folge hindert (z. E. wenn das
ſo wichtige Verdauungsſyſtem zum Sitz
der Krankheit gemacht, und durch an-
greifende Mittel geſchwächt wird), oder
[636] endlich je mehr die Kur ohne Noth die
Lebenskraft im Ganzen verſchwendet,
z. E. durch zu verſchwenderiſche Ader-
läſſe, zu anhaltende Entziehung der
Nahrung etc. — deſto mehr wird ſie
den Grund zum langen Leben ſchwä-
chen, wenn ſie auch gleich die gegen-
wärtige Krankheit hebt. — Drittens
darf man ja nie vergeſſen, daſs die
Krankheit ſelbſt nüzlich und nöthig ſeyn
konnte zur Verlängerung des Lebens.
Es giebt ſehr viele Krankheiten, welche
nichts anders ſind, als ein Beſtreben der
Natur, das aufgehobne Gleichgewicht
wieder herzuſtellen, oder fehlerhafte
Materien auszuleeren, oder Stockungen
zu zertheilen. Wenn da nun der Arzt
(auf gut Brawniſch) weiter nichts thut,
als blos die gegenwärtige Krankheits-
äuſſerung dämpfen, ohne Rückſicht auf
dieſe entferntern Urſachen und Folgen;
ſo thut er weiter nichts, als er nimmt
die thätige Gegenwirkung der Natur-
kraft weg, wodurch ſie die wahre
Krankheit zu heben ſuchte, er dämpft
[637] von auſſen das Feuer, läſst es aber von
innen deſto heftiger fortbrennen, er
nährt den Keim, die materielle Urſache
des Uebels, der vielleicht durch dieſe
völlig ausgeführte Bearbeitung der Na-
turkräfte gehoben worden wäre, und
macht ihn feſter und unheilbarer. Die
Beyſpiele ſind nur gar zu häufig, daſs
Kranke, die ſich nun von ihrem Fieber,
ihrer Ruhr u. ſ. w. völlig geheilt glaub-
ten, hinter drein hectiſch wurden, oder
in Hypochondrie, Nervenübel u. dgl.
verfielen. Niemand wird leugnen, daſs
eine ſolche Kur, wenn ſie auch für jezt
den Kranken geſund zu machen ſcheint,
dennoch das Leben ſelbſt ſehr verkürzen
muſs.
Ich gehe nun zur Beantwortung
deſſen über, was blos für den Nichtarzt
gehört: Was kann man thun, um Krank-
heiten zu verhüten, und wie ſoll man die
ſchon ausgebrochnen behandeln, wie insbe-
ſondre Arzt und Arzneykunſt benutzen,
um möglichſt für Erhaltung und Verlän-
gerung des Lebens dabey zu ſorgen?
[638]
Zuerſt von der Verhütung der
Krankheiten.
Da zur Entſtehung jeder Krankheit
zweyerley gehört: die Urſache, die ſie
erregt, und dann die Fähigkeit des Kör-
pers, durch dieſe Urſache affizirt zu wer-
den, ſo giebt es nur zwey Wege, auf
denen wir Krankheiten verhüten kön-
nen; entweder jene Urſachen zu entfer-
nen, oder dem Körper dieſe Empfäng-
lichkeit zu benehmen. Hierauf beruht
die ganze mediziniſche Diätetic und alle
Präſervativmethoden. Der erſtere Weg.
der ſonſt der gewöhnliche war, iſt der
unſicherſte, denn ſo lange wir uns nicht
aus dem bürgerlichen Leben und ſeinen
Verhältniſſen herausſetzen können, iſt
es unmöglich, alle Krankheitsurſachen
zu vermeiden, und je mehr man ſich
ihnen entzieht, deſto mehr wirken ſie,
wenn ſie uns einmal treffen, auf uns,
(z. E. Erkältung ſchadet niemanden ſo
ſehr, als dem, der ſich gewöhnlich recht
warm hält). Weit beſſer alſo der zweyte
Weg: Man ſuche zwar die Krankheits-
[639] urſachen, die ſich vermeiden laſſen, zu
vermeiden, aber an die andern ſuche
man ſich vielmehr zu gewöhnen, und
ſeinen Körper dagegen unempfindlich zu
machen.
Die vorzüglichſten Krankheitsurſa-
chen, die man ſo viel als möglich ver-
meiden muſs, ſind: Unmäſsigkeit im
Eſſen und Trinken, übermäſsiger Genuſs
der phyſiſchen Liebe, groſse Erhitzung
und Erkältung oder ſchneller Uebergang
von einem ins andre, Leidenſchaften,
heftige Anſtrengung des Geiſtes, zu viel
oder zu wenig Schlaf, gehemmte Aus-
leerungen, Gifte.
Dabey aber ſuche man den Körper
gegen dieſe Urſachen weniger empfind-
lich zu machen, oder ihn pathologiſch
abzuhärten, wozu ich folgendes em-
pfehle: Zuerſt der tägliche Genuſs der
freyen Luft. Bey guten und böſen Ta-
gen, bey Regen, Wind oder Schnee,
muſs dieſe vortrefliche Gewohnheit fort-
geſezt werden, alle Tage, ohne Ausnah-
me, einige Stunden in der freyen Luft
[640] herum zu gehen oder zu reiten. Es trägt
unglaublich viel zur Abhärtung und lan-
gen Leben bey, und, wenn es täglich
geſchieht, ſo ſchadet kein Sturm, kein
Schneegeſtöber mehr; daher es beſon-
ders denen, die der Gicht und Rheuma-
tismen unterworfen ſind, zu empfehlen
iſt. — Ferner, das tägliche Waſchen
über den ganzen Leib mit kaltem Waſſer.
— Ein nicht zu warmes Verhalten. —
Ein thätiger Zuſtand des Körpers. Man
laſſe nie einen zu paſſiven Zuſtand ein-
reiſſen, ſondern erhalte ſich durch Mus-
kelbewegung, Reiben, gymnaſtiſche
Uebung immer in einer gewiſſen Gegen-
wirkung. Je mehr der Körper paſſiv
wird, deſto empfänglicher iſt er für
Krankheit. — Endlich eine gewiſſe Frey-
heit und Zwangloſigkeit in der Lebens-
art, das heiſst, man binde ſich nicht zu
ängſtlich an gewiſſe Gewohnheiten und
Geſetze, ſondern laſſe einen mäſsigen
Spielraum. Wer ſich zu ängſtlich an
eine gewiſſe Ordnung und Lebensnorm
bindet, ſey ſie auch noch ſo gut, der
macht
[641] macht ſich ſchon dadurch Krankheits-
empfänglich, denn er braucht nur ein-
mal davon abzuweichen, was ſeine an-
dere Natur worden iſt, ſo kann er krank
werden. Auch kann ſelbſt eine kleine
Unordnung, durch die kleine Revolu-
tion, die ſie im Körper erregt, viel Nu-
tzen zur Reinigung, Eröfnung, Zerthei-
lung haben. Und ſelbſt ſchädliche Din-
ge verlieren ja viel von ihrer Schädlich-
keit, wenn man ſich daran gewöhnt.
Folglich zuweilen weniger ſchlafen als
gewöhnlich, zuweilen ein Gläschen
Wein mehr trinken, etwas mehr oder
unverdaulichere Dinge genieſſen, ſich
einer kleinen Erkältung oder Erhitzung,
z. B. durch Tanzen, Reiten u. dgl. aus-
ſetzen, ſich mit unter einmal recht tüch-
tig, bis zur Ermüdung, bewegen, auch
wohl zuweilen einen Tag faſten, alles
dieſs ſind Dinge, die zur Abhärtung des
Körpers beytragen, und der Geſundheit
gleichſam mehr Weite geben, indem ſie
ſie einer zu ſklaviſchen Abhängigkeit
von der einförmigen Gewohnheit entzie-
S s
[642] hen, die wir doch nicht allemal ſo genau
zu beobachten im Stande ſind.
Ein Hauptpunct der Krankheitsver-
hütung beſteht darinn, daſs ein jeder
die Krankheitsanlage, die ihm beſonders
eigen iſt, wohl zu erkennen ſuche, um
ſie entweder auszulöſchen, oder ihr we-
nigſtens die Gelegenheiten zu entziehen,
wodurch ſie in Krankheit übergehen
könnte. Und hierauf gründet ſich die
individuelle Diätetik; jeder Menſch hat
in ſo fern ſeine beſondern Diätregeln zu
beobachten, in ſo fern jeder ſeine beſon-
dern Anlagen zu der oder jener Krank-
heit hat. Dieſe ſpezielle Unterſuchung
und Beſtimmung iſt freylich mehr Sache
des Arztes, und ich wollte daher den
allgemeinen guten Rath geben, es ſolle
ein jeder ſich von einem vernünftigen
Arzte darüber prüfen und beſtimmen
laſſen, welchen Krankheiten er am mei-
ſten ausgeſezt, und welche Diät ihm am
paſſendſten ſey. Hierinne waren die Al-
ten vernünftiger, als wir. Sie benutzen
die Medizin und die Aerzte weit mehr
[643] zur Beſtimmung ihrer diätetiſchen Le-
bensart, und ſelbſt ihre aſtrologiſchen,
chiromantiſchen und ähnliche Forſchun-
gen bezogen ſich im Grunde hauptſäch-
lich darauf, den moraliſchen und phy-
ſiſchen Karacter eines Menſchen zu be-
ſtimmen, und ihm dem gemäſs eine paſ-
ſende Einrichtung ſeiner Lebensart und
Diät vorzuſchreiben. Gewiſs! Es thä-
ten viele beſſer, ihren Arzt dazu zu ge-
brauchen, als alle 8 Tage zu ihm zu lau-
fen und ſich ein Brech- oder Purgier-
mittel von ihm verſchreiben zu laſſen.
Aber freylich würde dazu ein vernünfti-
ger, einſichtsvoller und denkender Arzt
erforderlich ſeyn, da hingegen zum Re-
zeptſchreiben jeder Empiriker taugt.
Man hätte aber auch zugleich ein ſiche-
res Mittel, den wahren von dem fal-
ſchen Propheten zu unterſcheiden.
Doch ich muſs auch den Nichtarzt,
ſo viel als es möglich iſt, in Stand ſetzen,
ſein Phyſiſches und ſeine Krankheitsan-
lagen zu beurtheilen; dazu giebt es fol-
gende Mittel.
S s 2
[644]
1. Man unterſuche die erbliche An-
lage. Es giebt gewiſſe Krankheitsanla-
gen, die uns durch die Zeugung mitge-
theilt werden können, z. E. Gicht, Hä-
morrhoiden, Steinbeſchwehrden, Ner-
venſchwäche, Lungenſucht. Waren
dieſe Uebel bey den Eltern eingewurzelt,
und zwar ſchon damals, als ſie uns zeug-
ten, ſo iſt immer auch die Anlage dazu
in uns zu vermuthen. Sie kann jedoch
durch eine paſſende Diät gehindert
werden, nicht zum Ausbruch zu kom-
men.
2. Die erſte Erziehung kann Krank-
heitsanlagen erzeugt haben, hauptſäch-
lich eine zu warme, wodurch die Anlage
zum Schwitzen und eine ſchlaffe Haut
erzeugt wird, die uns allemal zu rhev-
matiſchen Krankheiten disponirt. — Zu
frühzeitiges Anhalten zum Lernen oder
Onanie, giebt Anlage zu Nervenſchwä-
che und Nervenkrankheiten.
3. Gewiſſe Arten vom Bau und
Architectur des Körpers führen ge-
wiſſe Krankheitsanlagen mit ſich. Wer
[645] einen langen ſchmächtigen Körper, ei-
nen langen ſchmalen Hals, platte Bruſt,
flügelförmig ausſtehende Schultern hat,
wer ſchnell in die Höhe geſchoſſen iſt,
der muſs ſich am meiſten für der Lun-
genſucht hüten, hauptſächlich ſo lange
er noch unter 30 Jahren iſt. — Wer ei-
nen kurzen unterſezten Körper, und ei-
nen groſsen dicken Kopf mit kurzen
Hals hat, ſo daſs der Kopf recht zwiſchen
den Schultern zu ſtecken ſcheint, der
hat Anlage zum Schlagfluſs, und muſs
alles meiden, was dazu Gelegenheit ge-
ben kann. — Ueberhaupt haben alle
ſtark verwachſene Leute mehr oder we-
niger Anlage zur Lungenſucht und Bruſt-
krankheiten.
4. Man unterſuche das Tempera-
ment. Iſt es ſanguiniſch oder choleriſch,
ſo hat man mehr Anlage zu entzündli-
chen, iſt es phlegmatiſch oder melan-
choliſch, denn mehr zu langwierigen
oder Nervenkrankheiten.
[646]
5. Auch das Clima, die Wohnung,
worinn man lebt, kann die Krankheits-
anlage enthalten. Sind ſie feucht und
kühl, ſo kann man immer ſicher ſeyn,
daſs dieſs Anlage zu Nerven- und
Schleimfiebern, zu Wechſelfiebern, zu
Gicht und Revmatismen giebt.
6. Vorzüglich aber iſt die Rückſicht
auf den ſchwächern Theil wichtig. Es
hat nehmlich jeder Menſch auch phy-
ſiſch ſeine ſchwache Seite, und alle
Krankheitsurſachen pflegen ſich am lieb-
ſten in dieſem, von Natur ſchwächern,
Theil zu fixiren. Z. B. Wer eine ſchwa-
che Lunge hat, bey dem wird alles da-
hin wirken, und er wird bey jeder Ge-
legenheit Katharrhe und Bruſtzufälle be-
kommen. Iſt der Magen ſchwach, ſo
werden alle Urſachen auf ihn wirken,
und Magenbeſchwehrden, Unverdau-
lichkeiten, auch Unreinigkeiten erre-
gen. Kennt man nun dieſen Theil, ſo
kann man ungemein viel zur Verhütung
von Krankheiten und Lebensverlänge-
[647] rung beytragen, wenn man ihn theils
für Krankheitsurſachen ſchüzt, theils
durch Stärkung jene Empfindlichkeit
raubt. Es kommt daher alles darauf an,
den ſchwächſten Theil ſeines Körpers
kennen zu lernen, und ich will hier ei-
nige Anzeigen geben, die auch dem
Nichtarzt verſtändlich ſind: Man beob-
achte, wo Gemüthserſchütterungen oder
heftige Affecten am meiſten hin wirken,
da iſt auch der ſchwächſte Theil. Erre-
gen ſie gleich Huſten, Stechen der Bruſt,
ſo iſts die Lunge, erregen ſie gleich
Druck im Magen, Ueblichkeit, Erbre-
chen u. dgl. ſo iſts der Magen. Man be-
obachte ferner, wohin die Wirkung an-
derer krankmachender Eindrücke re-
flectirt wird, z. E. die Wirkung einer
Ueberladung, einer Erkältung, einer
Erhitzung, ſtarker Bewegung u. dgl.
Wird da immer die Bruſt angegriffen, ſo
iſt ſie der ſchwächere Theil. Eben ſo
wichtig iſt die Beobachtung, wohin ge-
wöhnlich der ſtärkſte Trieb des Blutes
und der Säfte geht. Welcher Theil am
[648] rötheſten und heiſſeſten zu ſeyn pflegt,
wo ſich am häufigſten Schweiſs zeigt,
auch wenn der übrige Körper nicht
ſchwizt, da wird ſich am leichteſten die
Krankheit figiren. Auch kann man im-
mer ſchlieſſen, daſs der Theil, den man
übermäſsig heftig gebraucht und ange-
ſtrengt hat, der ſchwächere ſeyn werde,
z. E. bey einem tiefdenkenden Gelehr-
ten das Gehirn, bey einem Sänger die
Bruſt, bey einem Schlemmer der Magen
u. ſ. w.
Ich bin es nun noch ſchuldig, auch
die vorzüglichſten und gefährlichſten
Krankheitsanlagen durchzugehen, um
auch dem Nichtarzt ihre Kennzeichen,
und die Diät, welche jede erfodert, be-
kannt zu machen.
Die Anlage zur Schwindſucht, eine
der traurigſten, wird daran erkannt,
wenn man den eben beſchriebnen Bau
der Bruſt und des Körpers hat, ferner,
wenn man noch nicht 30 Jahr alt iſt
(denn nachher entſteht ſie bey weitem
nicht ſo leicht), wenn die Eltern
[649] ſchwindſüchtig waren; wenn man oft
plözliche Heiſerkeit, ohne katharrhali-
ſche Urſache, bekommt, ſo daſs oft
beym Sprechen die Stimme vergeht;
wenn man beym Sprechen, Laufen,
Berg- und Treppenſteigen, ſehr leicht
auſſer Athem kommt; wenn man nicht
recht tief einathmen und die Luft an ſich
halten kann, ohne einen Schmerz in der
Bruſt oder einen Reiz zum Huſten zu
verſpüren; wenn man ſehr rothe, gleich-
ſam mit Farbe bemahlte Wangen hat,
oder oft plözlich eine ſolche hohe Röthe,
zuweilen nur einer Wange, bekommt;
wenn man nach dem Eſſen rothe und
heiſſe Backen und heiſſe Hände be-
kommt; wenn man oft plözlich fliegen-
de Stiche in der Bruſt empfindet; wenn
man früh Morgens kleine Klümpgen,
wie Hirſenkörner oder kleine Graupen,
aushuſtet, welche wie Käſe oder Talg
ausſehen, und beym Zerdrücken einen
üblen Geruch von ſich geben, wenn
man bey jedem Schrecken, Zorn oder
andern Affect Schmerzen in der Bruſt
[650] oder Huſten bekommt; wenn jede Er-
hitzung oder Erkältung, jeder Diätfehler
dergleichen erregt; wenn man häufig
Bruſtkatharrhe bekommt, oder dieſel-
ben, wenn ſie einmal entſtanden ſind,
gar nicht wieder aufhören wollen. Be-
merkt man nun gar noch blutigen Aus-
wurf aus der Lunge, dann iſt die Gefahr
der Lungenſucht ſchon ſehr nahe. —
Wer dieſe Anzeigen verſpürt, der hüte
ſich ja für hitzigen Getränken, Wein,
Branntwein, Liqueurs, für Gewürtzen,
ſtarken Bewegungen, z. E. heftigen Tan-
zen, Laufen u. dgl., Ausſchweifungen
in der Liebe, für dem Sitzen mit zuſam-
men gedrückter Bruſt, oder dem Andrü-
cken der Bruſt wider den Tiſch beym
Arbeiten, auch für zu ſtarken und an-
haltenden Singen oder Sprechen.
Eine andere Anlage iſt die zu Hä-
morrhoiden (güldnen Ader). Man erkennt
ſie daran, wenn ſie die Eltern hatten,
wenn man zuweilen Rückenſchmerzen
tief unten im Kreuze ſpürt oder fliegen-
de Stiche queer durch das Becken oder
[651] zuweilen ein ſchmerzhaftes Zwängen
beym Stuhlgang, wenn man immer an
Hartleibigkeit leidet, wenn man ein
öftres Jucken am After, oder ſtarken
Schweiſs in der Gegend, auch wohl öf-
teres Kopfweh und Vollblütigkeit des
Kopfs empfindet. — Solche Perſonen
haben nöthig, nicht allein alles hitzige
Getränk ſondern auch warme Getränke
zu meiden, beſonders Kaffee, Thee und
Chokolade, mehr von ſaftigen friſchen
Gemüſsen und Obſt, in Verbindung mäſi-
ger Fleiſchnahrung zu leben, Mehlſpei-
ſen, Kuchen, Backwerk, blähende Speiſen
zu meiden, nie anhaltend zu ſitzen, und
ſich täglich Bewegung zu machen, das
zu lange und ſtarke Drängen beym
Stuhlgang zu unterlaſſen, den Unterleib
nicht zu binden oder zu ſchnüren, ſon-
dern ihn vielmehr täglich eine Viertel-
ſtunde lang gelinde zu reiben.
Anlage zur Hypochondrie oder Hy-
ſterie und andern Nervenkrankheiten
merkt man an folgenden: wenn man
von Nervenſchwachen Eltern gezeugt
[652] wurde, wenn man frühzeitig zum Ler-
nen und Sitzen angehalten wurde, wenn
man in der Jugend Onanie getrieben hat,
wenn man viel ſitzend, in der Stube,
einſam gelebt, und viel warme Getränke
genoſſen, auch wohl viel ſchmelzende
und empfindſame Bücher geleſen hat,
wenn man eine ſehr veränderliche Ge-
inüthsſtimmung hat, ſo daſs man plöz-
lich ohne Urſache ſtill und traurig, und
eben ſo plözlich ohne Urſache ausgelaſ-
ſen luſtig werden kann, wenn man öf-
ters mit Magen- und Verdauungsbe-
ſchwehrden, auch Blähungen geplagt
wird, öfters Beängſtigungen, Klopfen
im Unterleibe, Drücken, Spannen und
dergleichen ungewohnte Gefühle daſelbſt
empfindet, wenn man früh und nüch-
tern ſehr müde, verdroſſen und un-
brauchbar iſt, welches ſich ſogleich nach
dem Genuſs einiger ſtärkenden Nah-
rung, oder einer Taſſe Kaffee, oder et-
was Geiſtigen verliert, wenn man groſse
Neigung zur Einſamkeit und zum Nicht-
reden, oder eine Schüchternheit, ein
[653] gewiſſes Mistrauen gegen Menſchen ver-
ſpürt, wenn Zwiebeln, Hülſenfrüchte,
Hefengebacknes, immer groſse Be-
ſchwehrden und Beängſtigungen erre-
gen, wenn die Ausleerungen durch den
Stuhl träge, ſelten, oder ungleich und
trocken ſind. — Ein ſolcher meide ganz
vorzüglich das ſitzende Leben, und
wenn dieſs nicht möglich iſt, ſo muſs
er wenigſtens ſtehend an einem Pulte,
oder noch beſſer (weil man das Stehen
in die Länge nicht aushält) auf einem
hölzernen Bock reitend, arbeiten, und
dabey das Geſetz unverbrüchlich beob-
achten, ſich alle Tage 1, 2 Stunden in
freyer Luft Bewegung zu machen. Auch
das Reiten iſt ſolchen Leuten ſehr heil-
ſam. Man muſs ferner immer menſch-
liche Geſellſchaft beſuchen, insbeſon-
dere einen Freund, auf den man Ver-
trauen hat, ſich zu erhalten ſuchen, und
nie dem Hange zur Einſamkeit zu ſehr
nachgeben. Reiſen, Veränderung der
Gegenſtände, und vor allem der Genuſs
der Landluft, ſind hauptſächliche Prä-
[654] ſervative der Hypochondrie. Es war oft
hinreichend, die ſchon im heftigſten
Grade ausgebrochne Krankheit zu heben,
wenn es der Kranke über ſich erhalten
konnte, ein halbes Jahr auf dem Lande
zuzubringen, und ſich mit lauter länd-
licher und körperlicher Handarbeit zu
beſchäftigen, genug, auch wie ein Land-
mann zu leben, (denn, wenn man den
Luxus der Städte mit aufs Land nimmt,
denn hilft es freylich nicht viel). Ue-
berhaupt wäre jedem, der dieſe Anlage
verſpürt, zu rathen, lieber ein Oeko-
nom, oder auch wohl ein Jäger oder
Soldat zu werden, als ein Gelehrter. —
Sehr nüzlich iſt bey dieſer Anlage das
Reiben des Unterleibs. Es kann täglich
früh noch im Bette eine Viertelſtunde
lang mit der flachen Hand oder einem
wollenen Tuche geſchehen, es befördert
Verdauung und Circulation im Unter-
leibe, zertheilt Stockungen und Blähun-
gen und ſtärkt zugleich. Man wieder-
ſtehe ſorgfältig dem mit dieſer Anlage
immer verbundenen Hange zu medizi-
[655] niren, beſonders immer zu purgiren,
wodurch man die Verdauungsſchwäche
immer noch ſchlimmer macht. Man
vertraue ſich lieber einem einzelnen ver-
nünftigen Arzt an, und laſſe ſich von
dieſem mehr diätetiſche Kur als Arzney-
mittel verſchreiben. Man vermeide
vorzüglich Kuchen, Käſe, Mehlſpeiſen,
Hülſenfrüchte, Fett, ſchwehres Bier.
Auch von der Anlage zum Schlag-
fluſſe muſs ich etwas ſagen, ohneracht
dieſelbe erſt ſpäter einzutreten pflegt.
Man bemerkt ſie an einem kurzen, di-
cken unterſezten Körper, und kurzem
Halſe, ſo daſs der Kopf recht zwiſchen
den Schultern ſteckt, an einem gewöhn-
lich rothen und aufgetriebnen Angeſicht,
öftern Ohrenklingen und Sauſen,
Schwindel, auch Uebligkeiten im nüch-
ternen Zuſtand. Solche Leute müſſen
nie den Magen überladen (denn ſie kön-
nen ſonſt bey Tiſche ſterben), beſonders
Abends nie viel eſſen oder trinken, ſich
nicht gleich nachher zu Bette legen, im
Bett mit dem Kopf nicht tief liegen, und
[656] alle heftige Erhitzungen und Erkältun-
gen, insbeſondere der Füſse, vermei-
den.
Ich komme nun auf Beantwortung
der Frage: Wie ſoll man eine ſchon aus-
gebrochne Krankheit behandeln, und wie
den Arzt und die Arzneykunſt benutzen?
Das wichtigſte läſst ſich in folgende Re-
geln bringen:
1. Man brauche nie Arzneymittel,
ohne hinreichenden Grund dazu zu ha-
ben, denn wer wollte ſich ohne Noth
krank machen? Daher die Gewohnhei-
ten, zu beſtimmten Zeiten zu purgiren,
Ader zu laſſen u. dgl., blos um mögliche
Uebel zu verhüten, äuſſerſt nachtheilig
ſind. Gar oft werden die Uebel dadurch
erſt bewirkt, die man zu vermeiden
ſuchte.
2. Es iſt weit beſſer, Krankheiten
verhüten, als Krankheiten heilen, denn
das leztre iſt immer mit mehr Kraftver-
luſt und folglich Lebensverkürzung ver-
bunden. Man beobachte daher vorzüg-
lich
[657] lich die oben angegebnen Mittel zur Ver-
hütung derſelben.
3. Sobald man aber wirkliche Krank-
heit ſpürt, ſo ſey man aufmerkſam.
Der unbedeutendſte Anfang kann eine
ſehr wichtige Krankheit im Hinterhalt
haben. Vorzüglich gilt dieſs von fieber-
haften Krankeiten. Ihr erſter Anfang
zeichnet ſich dadurch aus: Man fühlt
ungewöhnliche Mattigkeit, die Eſsluſt
fehlt, aber deſto gröſser iſt die Neigung
zum Trinken, der Schlaf iſt unterbro-
chen oder mit vielen Träumen unter-
miſcht, die gewöhnlichen Ausleerungen
bleiben aus, oder ſind widernatürlich
vermehrt, man hat keine Luſt zur Ar-
beit, auch wohl Kopfwehe, und es ſtellt
ſich ein Fröſteln, ſtärker oder ſchwächer
ein, worauf Hitze folgt.
4. Sobald man dieſe Anzeigen be-
merkt, ſo iſt nichts nöthiger, als dem
Feinde, der Krankheit, die Nahrung
zu entziehen, und dem wohlthätigen
natürlichen Inſtinct zu folgen, den jedes
Thier in dieſem Fall zu ſeinem groſsen
T t
[658] Vortheil befolgt. Man eſſe nicht, denn
die Natur zeigt uns durch ihre Abnei-
gung, daſs ſie jezt nicht verdauen kann;
man trinke deſto mehr, aber Waſſer und
verdünnende Getränke. Man halte ſich
ruhig, und am beſten liegend, denn die
Mattigkeit zeigt uns zur Gnüge, daſs
die Natur jezt ihre Kraft zu Bearbeitung
der Krankheit braucht, und man ver-
meide ſowohl Erhitzung, als Erkältung,
folglich ſowohl das Ausgehen in freye
Luft, als auch das Einſchlieſſen in er-
hizte Zimmer. Dieſe einfachen Mittel,
die uns die Natur ſelbſt ſo deutlich vor-
ſchreibt, wenn wir nur ihre Stimme hö-
ren wollen, ſind es, wodurch unzählige
Krankheiten gleich in der Entſtehung
gehoben werden können. Der alte
90jährige Maclin, der Veteran der Lond-
ner Bühne, ſagt von ſich ſelbſt, ſo oft
er ſich während des Laufs ſeines langen
Lebens übel befunden habe, ſey er zu
Bette gegangen, und habe nichts als
Brod und Waſſer zu ſich genommen,
und dieſe Diät habe ihn gemeiniglich
[659] von jeder leichten Unpäſslichkeit be-
freyt. Ich habe einen würdigen 80jäh-
rigen Oberſten gekannt, der ſein ganzes
Leben hindurch, bey jeder Unpäſslich-
keit nichts weiter gethan hatte, als fa-
ſten, Tabakrauchen und obige Regeln
beobachten, und nie Arzney nöthig
hatte.
5. Hat man Gelegenheit, einen Arzt
zu fragen, ſo conſultire man den dar-
über, nicht ſowohl um gleich zu medi-
ziniren, als vielmehr um zu wiſſen, in
welchem Zuſtande man ſey. Fehlt aber
dieſe Gelegenheit, ſo iſt es weit beſſer,
blos auf die angegebne negative Weiſe
die Zunahme der Krankheit zu verhin-
dern, als etwas poſitives zu thun oder
zu brauchen, was vielleicht ſehr ſchaden
kann. Man halte doch ja kein Arzney-
mittel für gleichgültig. Selbſt Purgir-
und Brechmittel können, zur Unzeit
gebraucht, ſehr ſchädlich werden. Will
man ja noch das unſchuldigſte in ſolchen
Fällen wiſſen, ſo iſt es 1 Theelöffel Gre-
mor Tartari, in ein Glas Waſſer gerührt,
T t 2
[660] oder folgendes Kryſtallwaſſer, welches
gewiſs eins der allgemeinſten Mittel in
heberhaften Krankheiten iſt: 1 Loth
Cremor Tartari wird mit 6 Pfund Waſſer
in einem neuen Topfe ſo lange gekocht,
bis das Pulver ganz zergangen, und nun,
nachdem es vom Feuer genommen, eine
Citrone hineingeſchnitten, ſodann, nach
Verſchiedenheit des Geſchmacks, 3 bis 6
Loth Zucker hinzugethan, und auf Bou-
teillen gefüllt. Dieſs dient zum beſtän-
digen Getränk.
6. Gegen den Arzt ſey man völlig
aufrichtig, erzähle ihm auch die Ge-
ſchichte vergangner Zeiten, in ſo fern
ſie auf die Krankheit Bezug haben kann,
und vergeſſe keinen gegenwärtigen Um-
ſtand, vorzüglich in ſchriftlichen Rela-
tionen. Beſonders hüte man ſich (was
ein ſehr gewöhnlicher Fehler iſt) kein
Raiſonnement in die Erzählung zu mi-
ſchen, oder ihr nach einer vorgefaſsten
Meynung die oder jene Stellung zu ge-
ben, ſondern man erzähle nur das, was
[661] ſinnlich bemerkt worden iſt, ſo unbe-
fangen wie möglich.
7. Man wähle nur einen Arzt, zu
dem man Zutrauen hat; keinen, der mit
Arcanen handelt; keinen, der zu ge-
ſchwätzig oder neugierig iſt; keinen,
der über ſeine Kollegen oder andre
Aerzte loszieht, und ihre Handlungen in
ein zweydeutiges Licht zu ſtellen ſucht,
(denn dieſs zeigt immer eingeſchränkte
Kenntniſſe, oder ein bös Gewiſſen, oder
ein böſes Herz); keinen, der blos durch
groſse entſcheidende Mittel zu wirken
liebt, oder, wie man ſagt, auf Leben
und Tod kurirt.
8. Insbeſondere meide man den
Arzt, für den Geldgeiz oder Ehrgeiz das
höchſte Intereſſe bey der Praxis haben.
Der wahre Arzt ſoll kein anderes In-
tereſſe haben, als Geſundheit und Leben
ſeines Kranken, Jedes andere führt ihn
vom wahren Wege ab, und kann für
den Kranken die nachtheiligſten Folgen
haben. Er braucht nur in irgend einen
Colliſionsfall zu gerathen, wobey ſeine
[662] Reputation oder ſein Beutel in Gefahr
kommt, wenn er etwas zur Erhaltung
ſeines Kranken wagt, und er wird zu-
verläſſig lieber den Kranken ſterben laſ-
ſen, als ſeine Reputation verlieren.
Eben ſo gewiſs werden ihn die Kranken
nur in dem Verhältniſs intereſſiren, als
ſie vornehm oder reich ſind.
9. Der beſte Arzt iſt der, der zu-
gleich Freund iſt. Gegen ihn iſt es am
leichteſten vertraulich und offenherzig
zu ſeyn. Er kennt und beobachtet uns
auch in geſunden Tagen, welches zur
richtigen Behandlung in kranken unge-
mein viel beyträgt. Er nimmt endlich
innigen Antheil an unſerm Zuſtand, und
wird mit ungleich höherer Thätigkeit
und Aufopferung an Verbeſſerung deſſel-
ben arbeiten, als der, der blos kalter
Arzt iſt. Man thue alſo alles, ein ſol-
ches zartes auf Freundſchaftsgefühl be-
ruhendes Band zwiſchen ſich und dem
Arzte zu knüpfen und zu erhalten, und
ſtöre es ja nicht durch Mishandlung,
Mistrauen, Härte, Stolz und andre Aeuſ-
[663] ſerungen, die man ſich ſo oft, aber alle-
mal mehr zu ſeinem eignen Schaden, ge-
gen den Arzt erlaubt.
10. Sorgfältig vermeide man den
Arzt, der geheime Mittel verfertigt, und
damit Handel treibt. Denn er iſt ent-
weder ein Ignorant, oder ein Betrüger,
oder Eigennütziger, dem ſein Profit weit
über Leben und Geſundheit andrer geht.
Denn iſt an dem Geheimniſs nichts, ſo
iſt wohl kein Betrüger ſo ſchändlich, als
dieſer, der die Menſchen nicht blos um
Geld, ſondern um Geſundheit und Geld
zugleich betrügt; und iſt das Geheimniſs
wirklich von Werth und Nutzen für die
Menſchheit, ſo iſt es ein Eigenthum der
Wahrheit und der Menſchheit im Gan-
zen, und es iſt eine äuſſerſt immorali-
ſche Handlung, es derſelben zu entzie-
hen; auch verſündigt man ſich zugleich
an den vielen Tauſenden, die das Mittel
deswegen gar nicht, oder nicht ver-
nunftmäſsig, brauchen können, weil es
nicht bekannt, nicht allgemein zu ha-
[664] ben, und von einem vernünftigen Arzt
gar nicht anzuwenden iſt.
11. Ueberhaupt ſehe man nirgends
ſo ſehr auf Moralität, als bey der Wahl
des Arztes. Wo iſt ſie wohl nöthiger, als
hier? Der Menſch, dem man blindlings
ſein Leben anvertraut, der ſchlechter-
dings kein Tribunal zur Beurtheilung
ſeiner Handlungen über ſich hat, als ſein
Gewiſſen, der zur vollkommnen Erfül-
lung ſeines Berufs, alles, Vergnügen,
Ruhe, ja eigne Geſundheit und Leben
aufopfern muſs, — wenn dieſer Menſch
nicht blos nach reinen moraliſchen
Grundſätzen handelt, wenn er eine ſo-
genannte Politik zum Motiv ſeiner Hand-
lungen macht, — dann iſt er einer der
furchtbarſten und gefährlichſten Men-
ſchen, und man ſollte ihn ärger fliehen,
als die Krankheit. Ein Arzt, ohne Mo-
ralität, iſt nicht blos ein Unding, er iſt
ein Ungeheuer!
12. Hat man aber einen geſchickten
und rechtſchaffnen Arzt gefunden, ſo
[665] traue man ihm ganz. Dieſs beruhigt
den Kranken, und erleichtert dem Arzt
ſein Heilgeſchäft unendlich. Manche
glauben, je mehr ſie Aerzte um ſich ver-
ſammlen, deſto ſichrer müſſe ihnen ge-
holfen werden. Aber dieſs iſt ein ge-
waltiger Irrthum. Ich ſpreche hier aus
Erfarung. Ein Arzt iſt beſſer, als zwey,
zwey beſſer als drey, und ſo fort; in
dem Verhältniſs der Menge der Aerzte,
nimmt die Wahrſcheinlichkeit der Wie-
derherſtellung immer mehr ab, und ich
glaube, es giebt einen Punct der ärztli-
chen Ueberladung, wo die Kur phyſiſch
unmöglich iſt. — Kommen ja Fälle vor,
die aber in der That ſelten ſind, wo ein
gar zu verborgenes oder verwickeltes
Uebel das Urtheil mehrerer erfodert,
ſo rufe man mehrere zuſammen, aber
nur ſolche, von denen man weiſs, daſs
ſie harmoniren und billige Menſchen
ſind, aber auch dann benutze man ei-
nen ſolchen Convent nur zur Erkennt-
niſs und Beurtheilung der Krankheit
und Gründung des Kurplans. Die Aus-
[666] führung ſelbſt überlaſſe man immer nur
einem, zu dem man das meiſte Zu-
trauen hat.
13. Man beobachte die Criſen, die
Hülfen und Wege, die unſre Natur am
meiſten liebt, und die ſie etwa ſchon in
vorhergehenden Zufällen benuzt hat;
ob ſie mehr durch Schwitzen, oder durch
Diarrhoe, oder durch Naſenbluten, oder
durch den Urin ſich zu helfen pflegt.
Dieſen Weg muſs man auch bey der ge-
genwärtigen Krankheit vorzüglich zu
befördern ſuchen, und eine ſolche Notiz
iſt für den Arzt ſehr wichtig.
14. Reinlichkeit iſt bey allen Krank-
heiten eine unentbehrliche Bedingung;
denn durch Unreinlichkeit kann jede
Krankheit in eine faulichte und weit ge-
fährlichere verwandelt werden, auch
verſündigt man ſich dadurch an den Sei-
nigen und dem Arzte, die blos dadurch
auch krank werden können. Man
wechſele daher täglich (nur mit Vorſicht)
die Wäſche, erneuere die Luft, ſchaffe
alle Ausleerungen bald möglichſt aus
[667] dem Krankenzimmer, und entferne zu
viel Menſchen, Thiere, Blumen, Ue-
berreſte von Speiſen, alte Kleider u.
ſ. w., genug alles, was ausdünſten
kann.
[668]
XVII.
Rettung in ſchnellen Todtesgefahren.
Es giebt Urſachen, die bey der voll-
kommenſten Geſundheit, bey der beſten
Fähigkeit noch lange fort zu leben,
plözlich die Lebensoperation unterbre-
chen und aufheben können, — die ge-
waltſamen Todesurſachen. Sie vermin-
dern oder unſchädlich machen zu kön-
nen, iſt ein wichtiger Theil der Lebens-
erhaltenden und verlängernden Kunſt,
und ich werde hier noch das nöthige
darüber mittheilen.
Es gehören dahin alle gewaltſame
Todesarten, die alle, entweder durch
mechaniſche Verletzungen, oder durch
organiſche Zerſtöhrungen, bewirkt wer-
[669] den. Sie laſſen ſich alle unter drey
Klaſſen bringen. Entweder ſie machen
die Lebensorgane unbrauchbar zu ihren
Verrichtungen, oder ſie deſtruiren plöz-
lich die Lebenskraft, (z. E. der Blitz, ein
heftiger Gemüthsaffect, die meiſten
Gifte), oder ſie nehmen plözlich die Le-
bensreize weg, ohne deren beſtändige
Einwirkung keine Lebensäuſſerung ge-
ſchehen kann, (z. E. das Blut, die reine
Luft).
Die Hülfe dagegen iſt zweyfach,
wir können ſie verhüten, oder ſie un-
ſchädlich machen, wenn ſie ſchon ge-
wirkt haben.
Zuerſt die Verhütung. Dieſe kann
ſich unmöglich darauf beziehen, die Ur-
ſachen alle von uns abzuhalten, denn ſie
ſind ſo mit unſerm Leben und beſonders
mit manchen Lebensberuf verwebt, daſs
man das Leben ſelbſt verlaſſen müſste,
um ſie zu vermeiden. Aber wir können
unſerm Körper ſelbſt einen hohen Grad
von Immunität dagegen verſchaffen, und
ihm gewiſſe Eigenſchaften geben, wo-
[670] durch er in den Stand geſezt wird, von
jenen Urſachen, wenn ſie auch ihm nahe
kommen, nicht oder nur wenig zu lei-
den. Es giebt alſo eine objective und
ſubjective Kunſt, Todesgefahren zu ver-
hüten, und die leztere iſt es, in der ſich
jeder Menſch eine gewiſſe Vollkommen-
heit zu verſchaffen ſuchen ſollte. Sie
gehört nach meiner Meynung nothwen-
dig zur Bildung und Erziehung des Men-
ſchen. Die Mittel ſind ſehr einfach:
1. Man ſuche ſeinem Körper die
möglichſte Fertigkeit und Geſchicklich-
keit in allen körperlichen Uebungen zu
verſchaffen. Gehörige Kultur der kör-
perlichen Kräfte in Laufen, Klettern,
Voltigiren, Schwimmen, Gehen auf
ſchmalen Flächen u. dgl. ſchüzt ausneh-
mend für den körperlichen Gefahren
dieſer Art, und es würden unendlich
weniger Menſchen ertrinken, ſtürzen
oder andern Schaden leiden, wenn dieſe
Ausbildung gewöhnlicher wäre.
[671]
2. Man bilde ſeinen Verſtand aus,
und berichtige die Erkenntniſs über jene
ſchädlichen Potenzen, durch populäre
Phyſik und Naturwiſſenſchaft. Dahin
gehört die Erkenntniſs der Gifte (S. oben),
der Eigenſchaften des Blitzes und ſeiner
Vermeidung, des Nachtheils und der
Eigenſchaften mephitiſcher Luftarten,
des Froſts u. ſ. w. Ich müſste ein eignes
Buch ſchreiben, wenn ich dieſs gehörig
ausführen wollte, aber ich wünſchte
ſehr, daſs es geſchrieben und in Schu-
len benuzt würde.
3. Man gebe ſeinem Geiſt Furcht-
loſigkeit, Stärke und philoſophiſchen
Gleichmuth, und übe ihn in ſchneller
Faſſung bey unerwarteten Ereigniſſen.
Dieſs wird doppelten Nutzen haben.
Es wird den phyſiſchen Schaden plözli-
cher und erſchütternder Eindrücke ver-
hüten, und uns bey plözlichen Gefah-
ren rettende Entſchlieſſung geben.
4. Man verſchaffe dem Körper einen
gehörigen Grad von pathologiſcher Ab-
härtung, gegen Froſt und Hitze, Wech-
[672] ſel derſelben u. dgl. Wer mit dieſen Ei-
genſchaften ausgerüſtet iſt, der wird in
unzähligen Fällen dem Tode trotzen
können, wo ein andrer unterliegt.
Nun aber die Rettung bey ſchon
wirklich exiſtirender Todesgefahr! Was
iſt zu thun, wenn jemand ertrunken,
erhängt, erſtickt, vom Blitz getroffen,
vergiftet u. ſ. w. iſt? Hier giebt es Mit-
tel, wodurch man ſchon oft den ganz
tod ſcheinenden glücklich gerettet hat,
und dieſs iſt ein Theil der Medizin, den
jeder Menſch verſtehen ſollte, denn
jedem kann ein ſolcher Fall aufſtoſſen,
und alles kommt auf die Geſchwindig-
keit der Hülfe an. Bey einer ſo gefähr-
lichen Lage iſt jeder Augenblick koſtbar;
das einfachſte Mittel, gleich angewendet,
kann mehr ausrichten, als eine halbe
Stunde nachher, die ganze Weisheit ei-
nes Aeskulaps. Jeder Menſch, der zuerſt
hinzu kommt, ſollte es als Pflicht
anſehen, ſogleich Hülfe anzuwenden,
und wohl bedenken, daſs das Leben des
Ver-
[673] Verunglückten von einer Minute früher
oder ſpäter abhangen kann. *)
Es laſſen ſich die gewaltſamen To-
desarten, nach ihrer Behandlung, in
drey Klaſſen theilen.
Die erſte Klaſſe: Erſtickte (erhängte,
ertrunkene, in unreiner Luft umge-
kommene), vom Blitz erſchlagene, in
todengleiche Ohnmacht verſezte, und
ihre Behandlung. Hier ſind folgendes
die erſten und wirkſamſten Hülfen:
1. Man beſchleunige ſo ſchnell wie
möglich das Herausnehmen aus dem
Waſſer, das Abſchneiden vom Strick,
genug die Entfernung der Todesurſa-
che. Dieſs iſt allein ſchon hinreichend,
U u
[674] den Unglücklichen zu retten, wenn es
bald geſchieht, aber darinn wird es am
meiſten verſehen. Rettungsanſtalten hat
man nun endlich wohl an den meiſten
Orten, aber man geht gewöhnlich ſo
langſam dabey zu Werke, daſs man
mehr glauben ſollte, es gehörten dieſe
Anſtalten zur lezten Ehre eines Verun-
glückten, als zu Rettung ſeines Lebens.
Daher bin ich überzeugt, daſs bey Er-
trunkenen beſſere Findanſtalten oft mehr
werth wären, als alle Rettungsanſtal-
ten, *) und wenn man ſieht, wie unge-
ſchickt und unwillig ſich die Menſchen
dabey benehmen, was für abſcheuliche
[675] Vorurtheile noch dabey herrſchen, ſo
wundert es einen nicht mehr, daſs in
Teutſchland ſo wenig Verunglückte ge-
rettet werden, und ich beſchwöre hier
alle Obrigkeiten, dieſem wichtigſten
Theil der Rettungsanſtalt mehr Vollkom-
menheit zu geben, wohin ich auch die
Ausrottung der Vorurtheile, *) der
Streitigkeiten über Jurisdiction, die Be-
lohnungen des Findens, und die Beſtra-
fung jeder muthwilligen Verzögerung
rechne.
2. Man entkleide ſogleich den Ver-
unglückten, und ſuche ſo geſchwind
U u 2
[676] und ſo allgemein wie möglich Wärme
zu erwecken. Wärme iſt der erſte und
allgemeinſte Lebensreiz. Das nehmliche
Mittel, was die Natur benuzt, um alles
Leben zuerſt zu wecken, iſt auch das
gröſste um eine zweyte Wiederbelebung
zu bewirken. Das beſte dazu iſt ein lau-
warmes Bad; fehlt dieſs, dann das Be-
decken mit warmen Sand, Aſche, oder
dicken Decken und Betten, mit warmen
Steinen an verſchiedenen Orten des Kör-
pers applizirt. Ohne dieſs Mittel wer-
den alle andere wenig ausrichten, und
es wäre beſſer, den Scheintodten blos
durchdringend zu erwärmen, als ihn,
wie ſo oft geſchieht, mit Schröpfen,
Bürſten, Klyſtiren u. ſ. w. herum zu zie-
hen, und ihn zugleich vor Kälte erſtar-
ren zu laſſen.
3. Das Einblaſen der Luft in die
Lungen folgt zunächſt in Abſicht der
Wichtigkeit, und kann ſo ſchön mit der
Wärme verbunden werden. Beſſer iſt
es freylich, wenn es mit reiner dephlo-
giſtiſirter Luft, und durch Röhre und
[677] Blaſebalg geſchieht. Aber in der Ge-
ſchwindigkeit und um die koſtbare Zeit
nicht zu verlieren, iſt es genug, wenn
der erſte beſte ſeinen Athem in den
Mund des Unglücklichen bläſt, ſo daſs
er die Naſe deſſelben dabey zuhält, und,
wenn er bemerkt daſs die Rippen davon
ausgedehnt werden, ein wenig inne
hält, und durch einen Gegendruck auf
die Gegend des Zwerchfells, auch durch
das gelinde Anziehen eines um den Leib
gezogenen Handtuches, die Luft wieder
austreibt, dann von neuem einbläſet,
und dieſes künſtliche Athemholen einige
Zeit fortſezt.
4. Man laſſe von Zeit zu Zeit aus
einer gewiſſen Höhe Tropfen von eiskal-
ten Waſſer oder Wein auf die Herzgrube
fallen; dieſs hat zuweilen den erſten
Anſtoſs zur Wiederbewegung des Her-
zens gegeben.
5. Man reibe und bürſte Hände und
Fuſsſohlen, Unterleib, Rücken, man
reize empfindliche Theile des Körpers,
Fuſsſohlen und Handflächen, durch Ste-
[678] chen, Schneiden und Auftröpfeln von
geſchmolzenen Siegellak, Naſe und
Schlund durch eine hineingebrachte Fe-
der, oder durch Vorhalten und auf die
Zunge tröpfeln des flüchtigen Salmiak-
geiſts, die Augen durch vorgehaltenes
Licht, das Gehör (ein am längſten em-
pfindlich bleibender Sinn), durch ſtar-
kes Schreyen, oder den Schall einer
Trompete, Piſtole u. dgl.
6. Man blaſe Luft oder Tabaks-
rauch (wozu zwey auf einander geſezte
hörnerne Tabakspfeifen dienen können)
in den Maſtdarm, oder, wenn ein In-
ſtrument bey der Hand iſt, ſo ſpritze
man eine Abkochung von Tabak, Senf,
auch Waſſer, mit Eſſig und Wein ver-
miſcht, ein.
7. Sobald man einige Lebenszeichen
bemerkt, ſo flöſse man einen Löffel gu-
ten Wein ein, und wenn der Kranke
ſchluckt, ſo widerhole man dieſs öfter.
Im Nothfall dient auch Branntwein, mit
zwey Drittheil Waſſer vermiſcht.
[679]
8. Bey denen vom Blitz getroffnen
iſt auch noch das Erdbad zu empfehlen.
Man legt ſie entweder mit dem offnen
Munde auf ein friſch aufgegrabenes
Fleck Erde, oder man ſcharrt ſie bis an
den Hals in friſch aufgegrabne Erde.
Werden dieſe einfachen Mittel, die
ein jeder Menſch anwenden kann, und
ſeinem in Todesgefahr ſchwebenden
Mitmenſchen anwenden muſs, bald an-
gewendet, ſo werden ſie mehr helfen,
als eine halbe Stunde ſpäter der vollſtän-
digſte Kunſtapparat, und wenigſtens
wird dadurch die Zwiſchenzeit nicht
unbenuzt gelaſſen, und das ſchwache
Lebensfünkgen am völligen Verlöſchen
gehindert.
Zur zweyten Klaſſe der Verunglück-
ten gehören die Erfrornen. Sie verlan-
gen eine ganz andere Behandlungsart.
Durch Wärme würde man ſie tödten.
Hier iſt weiter gar nichts zu thun, als
dieſs: Man ſcharre ſie entweder in
Schnee bis an den Kopf ein, oder ſetze
ſie in ein Bad von dem kälteſten Waſſer
[680] was man haben kann, und das nur eben
nicht gefroren iſt. Hierinn erholt ſich
das Leben von ſelbſt, und ſobald ſich
wieder Lebensäuſſerung zeigt, ſo flöſse
man warmen Thee mit Wein ein, und
bringe den Kranken in ein Bett.
Die dritte Klaſſe: Vergiftete. Hier
beſitzen wir zwey unſchäzbare Mittel,
die auf jedes Gift paſſen, die überall,
ohne alle Apotheke, zu haben ſind, und
die gar keine mediziniſche Kenntniſs
vorausſetzen: Milch und Oel. Durch
dieſe beyden Mittel allein hat man ſogar
die fürchterlichſte aller Vergiftungen,
die Arſenikvergiftung, heilen können.
Sie erfüllen die beyden Hauptzwecke
der Kur, Ausleerung und Umwicklung
oder Entkräftung des Gifts. Man laſſe
alſo in groſser Menge, ſo viel als nur
der Kranke vermag, Milch trinken
(bricht er ſie zum Theil wieder weg,
deſto beſſer), und alle Viertelſtunden
eine halbe Taſſe Oel (es iſt einerley, ob
es Lein- Mandel- Mohn- oder Baum-
öhl iſt) nehmen. Weiſs man gewiſs,
[681] daſs es Arſenik, Sublimat oder ein
anderes Metallſalz war, ſo löſe man
Seife in Waſſer auf, und laſſe dieſe trin-
ken. Dieſs iſt hinreichend, bis der Arzt
kommt, und wird ihn gar oft unnöthig
machen.
[682]
XVIII.
Das Alter und ſeine gehörige
Behandlung.
Das Alter, ohneracht es an ſich die na-
türliche Folge des Lebens und der An-
fang des Todes iſt, kann doch ſelbſt wie-
der ein Mittel werden, unſere Tage zu
verlängern. Es vermehrt zwar nicht die
Kraft zu leben, aber es verzögert ihre
Verſchwendung, und ſo kann man be-
haupten, der Menſch würde in der lez-
ten Periode ſeines Lebens, in dem Zeit-
raum der ſchon verminderten Kraft, ſei-
ne Laufbahn eher beſchlieſſen, wenn er
nicht alt würde.
[683]
Dieſer etwas paradox ſcheinende
Satz wird durch folgende Erläuterungen
ſeine Beſtätigung erhalten. Der Menſch
hat im Alter einen weit geringern Vor-
rath von Lebenskraft, und weniger Fä-
higkeit ſich zu reſtauriren. Lebte er
nun noch mit eben der Thätigkeit und
Lebhaftigkeit fort, als vorher, ſo würde
dieſer Vorrath weit ſchneller erſchöpft
ſeyn, und der Tod bald erfolgen. Nun
vermindert aber der Karacter des Alters
die natürliche Reizbarkeit und Empfind-
lichkeit, dadurch wird die Wirkung der
innern und äuſſern Reize, und folglich
die Kraftäuſſerung und Kraftverſchwen-
dung auch vermindert, und ſo kann er
bey der geringern Conſumtion mit die-
ſem Kraftvorrath weit länger auskom-
men. Die Abnahme der Intenſion des
Lebensprozeſſes mit dem Alter verlän-
gert alſo ſeine Dauer.
Eben dieſe verminderte Reizfähig-
keit vermindert aber auch die Wirkung
ſchädlicher Eindrücke und krankma-
chender Urſachen, z. E. der Gemüths-
[684] affecten, der Erhitzung u. ſ. w., ſie er-
hält eine weit gröſsere Gleichförmigkeit
und Ruhe in der innern Oeconomie,
und ſchüzt auf dieſe Weiſe den Körper
für manchen Krankheiten. Man be-
merkt ſogar, daſs aus eben dieſer Urſa-
che alte Leute weniger leicht von anſte-
ckenden Krankheiten befallen werden,
als junge.
Dazu kommt nun noch ſelbſt die
Gewohnheit zu leben, die unſtreitig in
den lezten Tagen mit zur Erhaltung des
Lebens beyträgt. Eine animaliſche Ope-
ration, die man ſo lange immer in der-
ſelben Ordnung und Succeſſion fortge-
ſezt hat, wird zulezt ſo gewöhnlich, daſs
ſie noch durch Habitus fortdauert, wenn
auch andere Urſachen zu wirken aufhö-
ren. Zum Erſtaunen iſt es oft, wie ſich
die gröſste Altersſchwäche noch immer
einige Zeit erhält, wenn nur alles in ſei-
ner gewohnten Ordnung und Folge
bleibt. Der geiſtige Menſch iſt wirklich
zuweilen ſchon geſtorben, aber der ve-
getative, die Menſchenpflanze, lebt
[685] noch einige Zeit fort, wozu freylich
we[i] [...] weniger gehört. Dieſe Lebensge-
wohnheit verurſacht auch, daſs der
Menſch, je älter er wird, deſto lieber
lebt.
Wird nun vollends das Alter gehö-
rig behandelt und unterſtüzt, ſo kann
es noch mehr zum Verlängerungsmittel
des Lebens benuzt werden, und da dieſs
einige Abweichungen von den allgemei-
nen Geſetzen erfodert, ſo halte ichs für
nothwendig, hier die dazu gehörigen
Regeln mitzutheilen.
Die Hauptideen der Behandlung
müſſen dieſe ſeyn: Man muſs die immer
zunehmende Trockenheit und Steifigkeit
der Faſern (die zulezt den Stilleſtand
verurſacht) vermindern und erweichen.
Man muſs die Reſtauration des Verlohr-
nen, und die Ernährung möglichſt er-
leichtern. Man muſs dem Körper etwas
ſtärkere Reize geben, weil die natürliche
Reizfähigkeit ſo ſehr vermindert iſt;
und man muſs die Abſonderungen der
verdorbenen Theilchen unterſtützen, die
[686] im Alter ſo unvollkommen iſt, und jene
Unreinigkeit der Säfte nach ſich zieht,
welche auch den Tod beſchleunigt.
Hierauf gründen ſich folgende Re-
geln:
1. Im Alter fehlt die natürliche
Wärme. Man ſuche ſie daher von auſſen
möglichſt zu unterhalten und zu ver-
mehren; daher warme Kleidung, warme
Stuben, warme Betten, erwärmende
Nahrung, auch, wenn es thunlich iſt,
der Uebergang in ein wärmeres Clima,
ſehr Lebensverlängernd ſind.
2. Die Nahrung ſey leichtverdau-
lich, mehr flüſſig als feſt, concentrirt
nahrhaft, und dabey ſtärker reizend, als
in den frühern Perioden rathſam war.
Daher ſind warme und gewürzte Kraft-
ſuppen den Alten ſo heilſam, auch
zarte, recht mürbe gebratene Fleiſch-
ſpeiſen, nahrhafte Vegetabilien, ein gu-
tes nahrhaftes Bier, und vor allen ein
öhligter edler Wein, ohne Säure, ohne
erdigte und phlegmatiſche Theile, z. E.
alter Spaniſcher Wein, Tokayer, Cyper,
[687] Kapwein. Ein ſolcher Wein iſt einer der
ſchönſten und paſſendſten Lebensreize
für Alte, er erhizt nicht, ſondern nährt
und ſtärkt ſie, er iſt die Milch der Alten.
3. Laue Bäder ſind äuſſerſt paſſend,
als eins der ſchönſten Mittel, die natür-
liche Wärme zu mehren, die Abſonde-
rungen, beſonders der Haut, zu beför-
dern, und die Trockenheit und Steifig-
keit des Ganzen zu vermindern. Sie
entſprechen alſo faſt allen Bedürfniſſen
dieſer Periode.
4. Man vermeide alle ſtarke Auslee-
rungen, z. E. Aderläſſe (wenn ſie nicht
durch beſondere Umſtände angezeigt
werden), ſtarke Purganzen, Erhitzung
bis zum Schweiſse, den Beyſchlaf u. ſ. w.
Sie erſchöpfen die wenige Kraft, und
vermehren die Trockenheit.
5. Man gewöhne ſich mit zuneh-
mendem Alter immer mehr an eine ge-
wiſſe Ordnung in allen Lebensverrich-
tungen. Das Eſſen und Trinken, der
Schlaf, die Bewegung und Ruhe, die
Ausleerungen, die Beſchäftigungen müſ-
[688] ſen ihre beſtimmte Zeit und Succeſſion
haben und behalten. Eine ſolche me-
chaniſche Ordnung und Gewohnheit des
Lebens vermag ausnehmend zur Ver-
längerung deſſelben in dieſer Periode
beyzutragen.
6. Der Körper muſs zwar auch Be-
wegung haben, aber ja keine angreifen-
de oder erſchöpfende, am beſten eine
mehr paſſive, z. E. das Fahren, und das
öftere Reiben der ganzen Haut, wozu
man ſich mit vielem Nutzen wohlrie-
chender und ſtärkender Salben bedienen
kann, um die Steifigkeit zu mindern,
und die Haut weich zu erhalten. — Vor-
züglich müſſen heftige körperliche Er-
ſchütterungen vermieden werden. Sie
legen gewöhnlich den erſten Grund zum
Tode.
7. Angenehme Stimmungen und
Beſchäftigungen der Seele ſind hier von
ungemeinem Nutzen. Nur keine ſtar-
ken oder erſchütternden Leidenſchaften,
welche im Alter auf der Stelle tödlich
ſeyn können. Am heilſamſten iſt die
Hei-
[689] Heiterkeit und Zufriedenheit des Ge-
müths, welche durch den Genuſs häus-
licher Glückſeligkeit, durch einen fro-
hen Rückblick in ein nicht umſonſt ver-
lebtes Leben, und durch eine heitere
Ausſicht in die Zukunft, auch jenſeits
des Grabes, erzeugt wird. Auch iſt die
Gemüthsſtimmung für Alte ſehr paſſend
und heilſam, die der Umgang mit Kin-
dern und jungen Leuten hervorbringt;
ihre unſchuldigen Spiele, ihre jugend-
lichen Einfälle, haben gleichſam etwas
Verjüngendes. Insbeſondere iſt Hof-
nung und Verlängerung der Ausſichten
ins Leben ein herrliches Hülfsmittel.
Neue Vorſätze, neue Plane und Unter-
nehmungen (die freylich nichts gefähr-
liches oder beunruhigendes haben müſ-
ſen), genug, die Mittel, das Leben in
der Phantaſie weiter hinaus zu ſetzen,
können ſelbſt zur phyſiſchen Verlänge-
rung deſſelben etwas beytragen. Auch
finden wir, daſs die Alten gleichſam
durch einen innern Inſtinkt dazu getrie-
ben werden. Sie fangen an Häuſer zu
X x
[690] bauen, Gärten anzulegen u. dgl., und
ſcheinen in dieſer kleinen Selbſttäu-
ſchung, wodurch ſie ſich das Leben
gleichſam zu aſſecuriren meynen, unge-
mein viel Wohlbehagen zu finden.
[691]
XIX.
Kultur
der geiſtigen und körperlichen Kräfte.
Nur durch Kultur wird der Menſch
vollkommen. Sowohl die geiſtige als
phyſiſche Natur deſſelben muſs einen
gewiſſen Grad von Entwicklung, Verfei-
nerung und Veredlung erhalten, wenn
er die Vorzüge der Menſchennatur ge-
nieſſen ſoll. Ein roher unkultivirter
Menſch iſt noch gar kein Menſch, er iſt
nur ein Menſchenthier, welches zwar
die Anlage hat, Menſch zu werden, aber,
ſo lange dieſe Anlage durch Kultur nicht
entwickelt iſt, weder im Phyſiſchen
noch Moraliſchen ſich über die Klaſſe der
ihm gleich ſtehenden Thiere erhebt.
X x 2
[692] Das ganze Weſentliche des Menſchen iſt
ſeine Vervollkommungsfähigkeit, und
alles iſt in ſeiner Organiſation darauf be-
rechnet, nichts zu ſeyn, und alles zu
werden.
Höchſtmerkwürdig iſt der Einfluſs,
den die Kultur auch auf die Vervollkom-
mung des Phyſiſchen und eben auf Ver-
längerung des Lebens hat. Gewöhnlich
glaubt man, alle Kultur ſchwäche und
verkürze das phyſiſche Leben. Aber dieſs
gilt nur von dem Extrem, der Hyper-
kultur (die den Menſchen zu ſehr verfei-
nert und verzärtelt), dieſe iſt eben ſo
ſchädlich und unnatürlich, als das an-
dere Extrem, die Unkultur (wenn die An-
lagen des Menſchen nicht oder zu wenig
entwickelt werden); beydes verkürzt
das Leben. Sowohl der verzärtelte, zu
ſinnlich oder geiſtig lebende, Menſch,
als auch der rohe Wilde, erreichen bey-
de nicht das Ziel des Lebens, deſſen der
Menſch fähig iſt. Hingegen ein gehöri-
ger und zweckmäſiger Grad von geiſti-
ger und körperlicher Kultur, hauptſäch-
[693] lich die harmoniſche Ausbildung al-
ler Kräfte, iſt, wie ſchon oben
gezeigt worden, durchaus erfoderlich,
wenn der Menſch auch im Phyſiſchen
und in der Lebensdauer die Vorzüge
für dem Thier erhalten ſoll, deren er fä-
hig iſt.
Es iſt wohl der Mühe werth, den
Einfluſs der wahren Kultur auf Verlän-
gerung des Lebens etwas genauer zu
entwickeln, und ſie dadurch von der
falſchen deſto mehr zu unterſcheiden.
Sie wirkt folgendergeſtalt zum langen
Leben:
Sie entwickelt die Organe vollkom-
men, und bewirkt folglich ein reicheres,
genuſsvolleres Leben und eine reichere
Reſtauration. Wie viele Reſtaurations-
mittel hat ein Menſch mit gebildetem
Geiſte, welche dem rohen fehlen!
Sie macht die ganze Textur des Kör-
pers etwas zarter und weicher, und ver-
[694] mindert alſo die zu groſse Härte,
welche der Länge des Lebens hinder-
lich iſt.
Sie ſchüzt uns für zerſtörenden und
Lebensverkürzenden Urſachen, die dem
Wilden viel von ſeinem Leben rauben,
z. E. Froſt, Hitze, Witterungseinflüſſe,
Hunger, giftige und ſchädliche Subſtan-
zen u. dgl.
Sie lehrt uns, Krankheiten und Ge-
brechen heilen, und die Kräfte der Na-
tur zur Verbeſſerung der Geſundheit an-
wenden.
Sie mäſigt und regulirt das’ Leiden-
ſchaftliche, das blos Thieriſche in uns
durch Vernunft und moraliſche Bildung,
lehrt uns Unglück, Beleidigungen u. dgl.
gelaſſen ertragen, und maſigt dadurch
die zu gewaltſame und heftige Lebens-
conſumtion, die uns bald aufreiben
würde.
[695]
Sie bildet geſellſchaftliche und Staa-
tenverbindungen, wodurch gegenſeitige
Hülfe, Polizey, Geſetze, möglich wer-
den, die mittelbar auch auf Erhaltung
des Lebens wirken.
Sie lehrt endlich eine Menge Be-
quemlichkeiten und Erleichterungsmit-
tel des Lebens, die zwar in der Jugend
weniger nöthig ſind, aber deſto mehr
im Alter zu gute kommen. Die durch
Kochkunſt verfeinerte Nahrung, die
durch künſtliche Hülfen erleichterte Be-
wegung, die vollkommnere Erholung
und Ruhe u. ſ. w., ſind alles Vortheile,
wodurch ein kultivirter Menſch ſein Le-
ben im Alter weit länger erhalten kann,
als ein Menſch im rohen Naturzu-
ſtande.
Hieraus erhellt auch ſchon, welcher
Grad und welche Art der Kultur nöthig
iſt, wenn ſie Lebensverlängernd ſeyn
ſoll. Nur die iſt es, die zwar im Phyſi-
ſchen ſowohl, als Geiſtigen, die mög-
[696] lichſte Ausbildung unſrer Kräfte zum
Zweck, aber dabey immer das höhere
moraliſche Geſez zur Regel hat, worauf
im Menſchen alles bezogen werden
muſs, wenn es gut, zweckmäſig und
wahrhaft wohlthätig ſeyn ſoll.
Appendix A
Jena., gedruckt bey Gotthold Ludwig Fiedler.
[][][]
handlung über Verlängerung des Lebens alle
vorſichtige Leute, alle 7 Jahre einen Sterndeu-
ter um Rath zu fragen, um ſich über die etwa
in den folgenden 7 Jahren drohenden Gefahren
tel der heil. 3 Könige, Gold, Weyrauch und
Myrrhen zu reſpectiren und gehörig zu gebrau-
chen. — M. Panſa dedizirte im Jahr 1470
dem Rathe zu Leipzig ein Buch De proroganda
vita; Aureus libellus, worinn er den Herren
ſehr angelegentlich räth, ſich vor allen Dingen
ihre günſtigen und ungünſtigen Aspecten be-
kannt zu machen, und alle 7 Jahre auf der Hut
zu ſeyn, weil dann Saturn, ein böſer ſeindſeli-
ger Planet, herrſchte.
dieſe Diät im ſtrengſten Sinn anfinge, erſt ſei-
nen Arzt zu conſuliren. Denn nicht jedem iſt
es heilſam, die Abſtinenz ſo weit zu treiben.
den Schnee aus gefrornen Erdreich; auch
bleibt die Blume unbeſchädigt, ohneracht vieler
ſtarken Nachtfröſte.
Hunter lieſs Fiſche im Waſſer einfrieren; ſo
lange ſie lebten, blieb das übrigens gefrorne
Waſſer immer um ſie herum flüſsig, und bildete
eine wahre Höhle; erſt in dem Augenblick, da
ſie ſtarben, froren ſie ein.
1769.
ihnen das intenſive Leben, die Lebensconſum-
tion, ſchwach iſt, und weniger Erholung
braucht.
etwas, was ſich mit dem täglichen Schlaf der
Menſchen vollkommen vergleichen läſst. Sie
legen alle Abende ihre Blätter an einander oder
ſenken ſie nieder, die Blüten verſchlieſsen ſich,
und die ganze Aeuſserliche verräth einen Zuſtand
von Ruhe und Eingezogenheit. Man hat dieſs
der Kühlung und Abendfeuchtigkeit zuſchreiben
wollen, aber es geſchieht auch im Gewächs-
hauſe. Andre haben es für eine Folge der Dun-
kelheit gehalten, aber manche ſchlieſsen ſich
im Sommer ſchon Nachmittags 6 Uhr. Ja das
Tragopogon luteum ſchlieſst ſich ſchon früh um
9 Uhr, und dieſe Pflanze lieſse ſich alſo mit den
Nachtthieren und Vögeln der animaliſchen Welt
vergleichen, die bey Nacht nur munter ſind
und bey Tage ſchlafen. — Ja faſt jede Stunde
des Tages hat eine Pflanze, die ſich da ſchlieſst,
und darauf gründet ſich die Pflanzenuhr.
ſcheint einer der älteſten werden zu können.
Er bekommt im Stamme eine Dicke von 25 Fuſs,
und Adanſon fand in der Mitte dieſes Jahrhun-
derts an Bäumen, die erſt 6 Fuſs dick waren,
Namen von Seefahrern aus dem 15ten und 16ten
Jahrhundert eingeſchnitten, und dieſe Ein-
ſchnitte hatten ſich noch nicht ſehr erweitert.
ſolche 7 Ellen tief in einem Steinbruch, mitten
in dem härteſten Geſtein, zu dem man ſich den
Zugang erſt mit vieler Mühe durch Hammer und
Meiſel hatte bahnen müſſen. Sie lebte noch, aber
äuſſerſt ſchwach, ihre Haut war verſchrumpft,
und ſie hie und da mit einer ſteinigten Krnſte
285. — Das wahrſcheinlichſte iſt, daſs die Kröte
noch ſehr klein in eine kleine Spalte des Geſteins
kam, ſich da von der Feuchtigkeit und den auch
hinein kriechenden Inſecten nährte, und — end-
lich wurde durch Tropfſtein dieſe Spalte ausge-
füllt, und die indeſſen groſs gewordene Kröte da-
mit inkruſtirt.
z. E. Plinius von Wintern, wo der Wein in den
Kellern, und die Tiber bis auf den Grund ge-
froren war.
Kaiſerl. Generals Graf Molza Erwähnung,
welcher 1792 im 78ſten Jahr ſtarb. Er hatte vom
18ten Jahre an gedient, 17 Feldzüge und 9 Be-
verwundet worden.
Nicht weit von Jena (welches ſelbſt die geringe
Mortalität von 1 zu 40 hat). liegt in einer ho-
hen ſehr geſunden Gegend der Fleeken Remda,
wo gewöhnlich nur der 60ſte Menſch jährlich
Rirbt.
etwa daſs ich die Seele ſelbſt zu den Theilen oder
Producten, oder Eigenſchaften oder Blüthen des
Körpers rechnete. Keineswegs! Die Seele iſt in
meinen Augen etwas ganz vom Körper verſchie-
denes, ein Weſen aus einer ganz andern, hö-
hern, intellectuellen Welt; aber in dieſer ſub-
lunariſchen Verbindung, und um menſchliche
Seele zu ſeyn, muſs ſie Organe haben, und zwar
nicht bloſs zu den Handlungen, ſondern auch
zu den Empfindungen, ja ſelbſt zu den höhern
Verrichtungen des Denkens und Ideenverbin-
dens. Die erſte Urſach des Denkens iſt alſo gei-
ſtig, aber das Denkgeſchäft ſelbſt (ſo wie es in
dieſer menſchlichen Maſchine getrieben wird)
iſt organiſch. — So allein wird das ſo auffal-
lend mechaniſche in vielen Denkgeſetzen, der
Einfluſs phyſiſcher Urſachen auf Verbeſſerung
und Zerrüttung des Denkgeſchäfts erklärbar, und
man kann das Geſchäft ſelbſt materiell betrachten
und heilen, (ein Fall, den unſer Beruf als
Aerzte oft mit ſich bringt) ohne ein Materialiſt
zu ſeyn, d. h. ohne die erſte Urſache deſſelben,
die Seele, für Materie zu halten, welches mir
wenigſtens abſurd zu ſeyn ſcheint.
Franzos ſo aus: La mort eſt la plus grande
betiſe.
Verdorbenheit der Luft, unreine und ſaturirts
Luft unterſcheiden ſollte, was gewöhnlich nicht
geſchieht. Die Verdorbenheit der Luft kann
entweder in einem zu geringen Antheil Sauer-
ſtoffgas, alſo in der chemiſchen Miſchung liegen,
und dieſe könnte man unreine Luft nennen (im
Gegenſatz der reinen. Lebensluft), oder ſie kann
verdorben ſeyn, und dieſs könnte ſaturirte Luſt
heiſſen.
lung der Natur war König Ludwig II. von Un-
garn. Er ward zu frühzeitig geboren, ſo, daſs
er noch gar keine Haut hatte, im 2ten Jahre
wurde er gekrönt, im 10ten ſuccedirte er, im
14ten hatte er ſchon vollkommnen Bart, im
15ten vermählte er ſich, im 18ten hatte er graue
Haare, und im 20ten blieb er bey Mohack.
gerade noch einmal ſo viel Menſchen, als am
Seitenſtechen.
Mitbrüder überleben wird, und auch hier die
gröſste Empfehlung verdient: Weikards Philo-
ſophiſcher Arzt.
riger Vorfälle, mit illum. Kupf, 2 Bände, 3te
Auflage.
wo in der ſchwarzen Höle von 146 Engländern in
kaum 12 Stunden, blos durch Vergiftung der
Luft, 123 getödet wurden. S. Zimmermann von
der Erſarung.
in den Mund nehmen, beſonders an Orten, wo
das veneriſche Uebel häufig iſt. Noch vor kur-
zem hatte ich üble veneriſche Geſchwühre in
dem Munde zu behandeln, die blos von einer
ſolchen Tabakspfeife entſtanden waren.
ſind: Er läſst Ohren und Schwanz hängen, hat
triefende Augen und läuft gerade vor ſich hin
mit geſenktem Haupte. Man findet eine ſehr
treffende Abbildung in Hahnemanns Freund der
Geſundheit. 2. Stück.
Mittel bey Kindern abgehandelt in meinen Be-
merkungen über die Inoculation und verſchiedene
Kinderkrankheiten. Leipzig, bey Göſchen.
ſten phyſiſche Folgen, die die Enthaltſamkeit
haben müſste. Aber ich kann nicht oft genug
daran erinnern, daſs dieſe Säfte nicht blos zur
Ausleerung ſondern am meiſten zur Wiederein-
faugung ins Blut und zu unſrer eignen Stärkung
beſtimmt ſind. Und hier kann ich nicht unter-
laſſen auf eine Einrichtung aufmerkſam zu ma-
chen, die auch in dieſem Stück unſre moraliſche
Freyheit ſichert und daher ein ausſchlieſsliches
Eigenthum des Menſchen iſt. Ich meyne die
von Zeit zu Zeit erfolgenden natürlichen Entle-
digungen derer Säfte, die theils zur Hervorbrin-
gung, theils zur Ernährung der Frucht beſtimmt
ſind (Pollutiones nocturnae beym männlichen,
Menſtrua beym weiblichen Geſchlechte). Der
Menſch ſollte zwar beſtändig fähig zur Fortpflan-
zung, aber nie dazu thieriſch gezwungen ſeyn,
und dieſs bewirken dieſe nur bey Menſchen exi-
ſtirenden natürlichen Ableitungen, ſie entziehen
den Menſchen der Sklaverey des blos thieriſchen
ſelbſt moraliſchen Geſetzen und Rückſichten un-
terzuordnen, und retten auch in dieſem Verhält-
niſs ſeine moraliſche Freyheit. Der Menſch bey-
derley Geſchlechts iſt dadurch für den phyſiſchen
Schaden, den die Nichtbefriedigung des Ge-
ſchlechtstriebs erregen könnte, geſichert, es
exiſtirt nun keine unwiderſtehliche blos thieri-
ſche Nothwendigkeit deſſelben, und der Menſch
behält auch hier (wenn er ſich nicht ſelbſt ſchon
durch zu groſse Reizung des Triebs dieſes Vor-
zugs verluſtig gemacht hat), ſeinen freyen Wil-
len ihn zu erfüllen oder nicht, je nachdem es
höhere moraliſche Rückſichten erfordern. Ein
neuer groſser Beweiſs, daſs ſchon die phyſiſche
Natur des Menſchen auf ſeine höhere moraliſche
Vollkommenheit berechnet war, und daſs dieſer
Zweck eine ſeiner unzertrennlichſten und we-
ſentlichſten Eigenſchaften iſt!
Ehre machendes Buch nachzuleſen: Guthsmuth
Gymnaſtic, auch deſſen nächſtens herauskom-
mende Spiele zur Uebung und Erholung des Kör-
pers und Geiſtes für die Jugend.
findungen der neuern Zeit, die wir Hrn. Lowiz
in Petersburg verdanken. Alles noch ſo faulrie-
chende und ſchmeckende Waſſer kann man auf
folgende Weiſe in wenig Minuten völlig von ſei-
nem faulichten Geruch und Geſchmack befreyen,
und zu guten Trinkwaſſer machen: Man nimmt
Kohlen, die eben geglüht haben, pülvert ſie ſein,
und miſcht unter ein Nöſel Waſſer etwa einen
Eſslöffel dieſes Pulvers, rührt es um, und läſst
es einige Minuten ſtehen. Hierauf läſst man es
durch Flieſspapier langſam in ein anderes Glaſs
laufen, in welchem es ſich ohne Farbe, Geruch
und Geſchmack, alſo völlig rein und zum Trin-
ken tauglich, ſammlen wird. Man kann auch die
Kohlen, gleich nach dem Glühen gepülvert und
in wohl verſtopfte Gläſer gefüllt, mit auf die
Reiſe nehmen, und lange conſerviren.
aber blos als Rudera jener löblichen Gewohnheit.
Ihre Benutzung iſt durch eine unbegreifliche In-
dolenz der Menſchen ganz abgekommen. Ehe-
mahls gingen alle Sonnabende Baderprozeſſionen
mit klingenden Becken durch die Straſsen, um
ans Baden zu erinnern, und der im Schmuz ar-
beitende Handwerker wuſch nun im Bade jene
Unreinigkeiten von ſich, die er jezt gewöhnlich
Zeitlebens mit ſich trägt. Es ſollte jeder Ort ein
Badehaus oder Floſs im Fluſſe für den Sommer,
und ein andres für den Winter haben. Nur be-
obachte man bey jedem Bade die Regel, nie bey
vollem Magen, alſo nüchtern oder 4 Stunden
nach dem Eſſen, auch nie mit erhiztem Körper
ins Bad zu gehen, im kühlen Fluſswaſſer nie
über eine Viertelſtunde, im lauen Waſſer nie über
drey Viertelſtunden zu bleiben, die Erkältung
beym Herausgehen zu verhüten (welches am be-
ſten dadurch geſchieht, wenn man gleich beym
Herausſteigen einen flanellnen Schlafrock über-
mer Witterung eine mäſsige Bewegung zu ma-
chen, bey kühler und feuchter Witterung aber
eine Stunde lang im warmen Zimmer zu bleiben.
Mehr davon findet man in Meinen gemeinnützi-
gen Aufſätzen, Leipzig bey Göſchen, unter dem
Kapitel: Erinnerung an die Bäder.
Herrn D. Struve zu Görliz, dieſe Rettungsmittel
zur bequemen Ueberſicht in Tabellen zu bringen,
die in jeder Schule, Bauernſchenke und ähnlichen
öffentlichen Orten aufgehängt ſeyn ſollten. Es ſind
bis jezt drey Noth- und Hülfstafeln erſchienen: 1.
für Ertrunkene etc. 2. für Vergiftete, vom tollen
Hund gebiſsne etc. 3. Hebammentafel. Jede ko-
ſtet 1 gl. 40 Stück 1 thlr.
Einrichtungen zum Muſter gedient hat, giebt
uns auch hierinn ein nachahmungswürdiges Bey-
ſpiel, indem daſelbſt dieſer Theil der Hülſe zu
einer auſſerordentlichen Vollkommenheit gebracht
iſt. Ich empfehle, als das vollkommenſte, was
wir in der Art haben, jedem Arzt, jeder Poli-
zey, jedem Menſchenfreund, nachfolgendes Buch:
Günther Geſchichte und jetzige Einrichtung der
Hamburger Rettungsanſtalten, m. Kupfern, Ham-
burg bey Bohn. 1796.
ſchimpflichen und unehrlichen, was das Behand-
len eines ſolchen Verunglückten mit ſich führe,
der teufliſche Aberglauben mancher Fiſcher,
man dürfe vor Sonnenuntergang einen Ertrunke-
nen nicht ausfiſchen, um dem Fiſchfang keinen
Schaden zu thun, oder, es müſſe mancher Fluſs
jährlich ſein Opfer haben, und dergleichen Mey-
nungen mehr, die unter dem gemeinen Haufen
noch immer mehr, als man denkt, herrſchen.
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- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bms8.0