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Stopfkuchen.

Eine See- und Mordgeſchichte


Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.

[figure]

Berlin: 1891.
Verlag von Otto Janke.

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Stopfkuchen.
[]

Wieder an Bord! —


Es liegt mir daran, gleich in den erſten Zeilen
dieſer Niederſchrift zu beweiſen oder darzu-
thun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen
darf. Nämlich ich habe es in Südafrika zu einem
Vermögen gebracht, und das bringen Leute ohne todte
Sprachen, Litteratur, Kunſt-Geſchichte und Philoſophie
eigentlich am leichteſten und beſten zu Stande. Und
ſo iſt es im Grunde auch das Richtige und Dien-
lichſte zur Ausbreitung der Kultur; denn man kann
doch nicht von jedem deutſchen Profeſſor verlangen,
daß er auch nach Afrika gehe und ſein Wiſſen an
den Mann, das heißt an den Buſchmann bringe;
oder es im Buſche ſitzen laſſe, bloß — um ein Ver-
mögen zu machen.


„Geben wir den Beweis aus der ‚verhängniß-
vollen Gabel‘, Eduard, daß wir immer noch unſere
Litteraturkunde am Bändchen haben!“ Eduard iſt
nämlich mein Taufname, und Mopſus heißt bei
Auguſt von Platen der Schäfer in Arkadien, welcher
auf dem Vorgebürg der guten Hoffnung mit der
W. Raabe. Stopfkuchen. 1
[2] Zeit ein Rittergut zu kaufen wünſcht, und Alles
dieſem Zweck erſpart.“


Wie kam er drauf? fragt Damon, der Schult-
heiß von Arkadien, und dieſelbe Frage an mich zu
ſtellen, iſt die Welt vollauf berechtigt.


Aber vielleicht weiß grade ſie das mir mitzu-
theilen! Wie kommen Menſchen dahin, wo ſie ſich,
ſich beſinnend, zu eigener Verwunderung dann und
wann finden?


Ich an dieſer Stelle kann nur ſo viel ſagen,
daß ich glaube, den Landbriefträger Störzer als
dafür verantwortlich halten zu dürfen. Meinen alten
Freund Störzer. Meinen alten guten Freund von
der Landſtraße der Kinderzeit in der nächſten Um-
gebung meiner Heimathſtadt in Arkadien, alſo — von
allen Landſtraßen und Seewegen der weiteſten Welt.


Nachdem man alſo ſeinen Berechtigungsgrund,
im alten Vaterlande mitzuſprechen, wo gebildete Leute
reden, auf den Tiſch gelegt hat, kann man hoffentlich
weiter gehen. Dieſes thue ich jetzt mit der Zwiſchen-
bemerkung, daß ich abſolut nicht ſagen kann, ob ich
für das heutige Vaterland bloß nur allein ortho-
graphiſch noch recht oder richtig ſchreiben kann. Es
ſind ſelbſt in dieſer Richtung während meiner Ab-
weſenheit zu große kleine Leute am Werke geweſen, und
können unter polizeilicher Beglaubigung das wunder-
volle ironiſche Wort des franzöſiſchen Erbfeindes ge-
brauchen: Nous avons changé tout cela. Das haben
wir am verkehrten Ende aufgenommen, ſagt freilich
leider der deutſche Mann nicht! Der nimmt immer
[3] die Sache ernſt, vorzüglich wo ſein Vortheil, ſein
Ehrgeiz, oder ſeine Eitelkeit mit im Spiel iſt.


Aber es iſt doch hübſch im Vaterlande, und
wenn dem nicht ſo wäre ſo würde ich Dieſes ſicher-
lich nicht der Rückreiſe-Unterhaltung wegen an Bord
des Hagebucher auf den langen Wogen des Atlan-
tiſchen Oceans niederſchreiben. Zum wenigſten werde
ich mir, wenn das Wetter gut bleibt, dreißig nicht
ganz unnütz verträumte Seefahrtstage — von Ham-
burg aus gerechnet — durch die ungewohnte Feder-
arbeit verſchaffen. Wie aber würden ſich meine
Nachbarn am Oranjefluß und im Transvaalſchen
über unſern gemeinſamen Vetter Stopfkuchen wundern
und freuen, wenn ſie das Kajüten-Gekritzel leſen
könnten, ſo ſie es in die Hände kriegten! Zu dem
Letzteren iſt aber ſo wenig eine Ausſicht wie zu dem
Erſteren, und unſer Präſident, mein guter Freund
daheim im Burenlande, hat wirklich auch wenig Zeit
zu ſo was, ſonſt thäte er mir wohl den Gefallen und
ſagte mir ſeine Meinung über mein Manuſkript.


Es war eine ſternenklare Nacht, und wir waren
auf dem Heimwege. Nicht nach dem Kap der guten
Hoffnung ſondern vom „Brummerſumm“. Einer
gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem
1*
[4] halben Dutzend deutſcher Männer hat immer Aſtro-
nomie ein wenig gründlicher getrieben als die Uebrigen
und weiß Auskunft zu geben, Namen zu nennen und
mit ſeinem Stabe zu deuten, wo die Andern vorüber-
gehend in der ſchauerlichen Pracht des Weltalls ver-
loren gehen und kopfſchüttelnd ſagen: Es iſt großartig.


Man kann in vielen Wiſſenſchaften Beſcheid
wiſſen und ſich doch bei paſſender, ſtimmungsvoller
Gelegenheit belehren laſſen müſſen, wo der Sirius
zu finden iſt, wo die Beteigeuze und wo der Arctur
und der Aldebaran. Die den Orion kennen, ſind
den Andern ſchon weit voraus; denn auch was die
Sternbilder anbetrifft, tappen die Meiſten im Dunkeln.
So allein und einfach wie mein ſüdliches Kreuz ſteht
das nicht am Himmel, und wenn nördliche Männer
den großen Bären zu finden wiſſen, iſt das ſchon
viel, doch verfallen auch hierbei nicht üble Kenner
manchmal in den Irrthum, das ſie den Polarſtern
ihm zurechnen und nicht dem kleinen Bären.


Wir ſahen auf dem Heimwege vom Brummer-
ſumm nach den Sternen. So gegen Mitternacht,
wo ſie dann und wann am ſchönſten zu ſehen ſind,
und Einer am wenigſten bei ſeiner Betrachtung ge-
ſtört wird. Zu den Stunden auf einem Feldwege
allein mit den noch übrigen Genoſſen ſeiner Jugend
zu ſein — das iſt etwas! Wovon man reden mag,
ob Politik, Börſengeſchäften, Fabrikangelegenheiten,
Aeſthetik: jeder Mann und berufenſte Mitredner in
allem Dieſen, darf ungehöhnt ſein geſcheiteſtes Wort
abbrechen und aufblinzelnd bemerken: Da liegt auch
[5] was drin! — Nachher darf er natürlich eine Priſe
nehmen, wenn er ſchnupft; ich für meinen Theil rauche
und zünde mir gern beim Anblick des unendlichen
Heeres der himmliſchen Lichter eine friſche Cigarre
an, denn das leuchtet doch auch; und der Menſch auf
Erden iſt darauf angewieſen, gegen Alles und alſo
auch gegen das „Uebermaaß der Sterne“ zu reagiren.


Ja ja, un[d] wenn man auch noch ein Deutſcher
älterer Generation iſt, ſo bleibt man doch am liebſten
bei dem Nächſtliegenden, dem angenehmen Abend,
der guten Geſellſchaft und was ſonſt ſo dazu gehört,
wenn man ſich auch, der Abwechslung wegen, ein-
mal auf „Siriusweiten“ in das Glitzern und Flimmern
überm Kopfe davon entfernt. Und das iſt unſer gutes
Erdenrecht. Es iſt uns, wenigſtens fürs Erſte, wich-
tiger, zu wiſſen, was für Menſchen hier mit uns
leben und mit welchen von ihnen man es zu thun
gekriegt hat, eben kriegt und morgen kriegen wird,
als herauszukriegen, ob der Mond und der Mars
bewohnt ſind und von Wem oder Was. —


Nun mußte mir aber die Weggenoſſenſchaft
grade dieſes Abends näher liegen, als Alles, was
auf dem Mars, dem Monde, dem Sirius und der
Beteigeuze, der Venus und dem Jupiter herumlaufen
konnte. Es waren die Leute, mit denen man ging,
die Einem in der Fremde im Wachen und im Träumen,
vorzüglich im Halbwachen und im Halbtraume plötz-
lich vorübergleiten, oder ſich in den Weg ſtellen!
Die, an welche man lange Jahre nicht gedacht und
an die man dann um ſo intenſiver zu denken hat:


[6]

I, Der und Der! Ob der gute alte Kerl wohl
noch lebt und es ihm nach Verdienſt wohl ergeht?...
Und nun — da — guck den Stänker — den hämiſchen
Schulbankpetzer! wie kommt mir der Burſche in ſeinen
zu kurzen Hoſen und Rockärmeln grade jetzt, hier an
dieſer Straßenecke am Hafen in den Sinn? hier
unter den Palmen und Sykomoren und andern
Mohren und bei der äquatorialen Hitze? Aber es
freut Einen doch, grade bei der Hitze und unter dem
exotiſchen, heidniſchen Niggerpack, daß man in kühlerer
Zeit mal mit dem heimathländiſchen, germaniſchen
Chriſten zu thun gehabt hat und von ihm mit der
Naſe darauf geſtoßen worden iſt, wie treuherzig es
in der Welt und unter den Leuten zugeht!...Herr-
gott, da kommt ja Maier!... Maier! aber wie von
einer Theekiſtenbemalung, mit dem ſeligen Porzellan-
turm von Nanking hinter ſich! wie kommt denn der
liebe alte Junge und Schafskopf zu dem wunder-
vollen Zopf und dem Mandarinenknopf vierter Rang-
klaſſe?... Herr Je, und Stopfkuchen? wie komme
ich denn gerade hier auf Stopfkuchen? auf meinen
dicken Freund Stopfkuchen, den Erſten auf unſerer
Bank in der Tertia von unten auf gerechnet? Ei,
Stopfkuchen!... Stopfkuchen! —


Ich hatte weder in der Stadt noch im Brummer-
ſumm Alle wieder beieinander angetroffen. Den Einen
hatte der Tod, den Andern das Leben daraus weg-
geholt. Und was den Brummerſumm im beſondern
anbetraf, ſo war der Eine zu gut verheirathet und
der Andere zu ſchlecht, als daß ſie noch die gehörige
[7] Stimmung für die abendliche, ja manchmal auch
nächtliche Geſellſchaft und Geſelligkeit dort aus ihrem
Eheleben hätten herausſchlagen können. Einer von
uns hatte auf den Brummerſumm Verzicht geleiſtet
und blieb bei ſeinem Weibe aus ganz beſonderem
Grunde, und ſein Name, oder vielmehr ſein Spitz-
name war:


Stopfkuchen.


Er wird ſehr häufig auf dieſen Blättern das
Wort haben; es war aber auch eine längere Zeit in
der alten Schenke die Rede von ihm geweſen, und
auf dem Heimwege unter dem glitzernden Sternen-
himmel und in der langen Pappelallee auch. Ich
aber war eine geraume Zeit hinter den Andern ge-
gangen, ohne an der Unterhaltung Theil zu nehmen
und hatte nur wiederum alte Erinnerungen lebendig
werden laſſen und hatte nur gedacht:


Stopfkuchen! Und Stopfkuchen auf der rothen
Schanze! Eduard, ſollteſt Du das Dir als den beſten
Biſſen vom Kuchen bis zuletzt aufgehoben haben?
Welch ein Gott hat Dir den wunderlichen Geſellen
und guten Jungen hier bis jetzt aus dem Wege ge-
ſchoben? Alſo Stopfkuchen wirklich auf der rothen
Schanze! Und wenn ſich Afrika und Europa Dir
morgen in den Weg ſtellt: Du ſchiebſt ſie zur
Seite und biſt morgen ſo früh als möglich auf dem
Wege nach der rothen Schanze und zu Deinem dickſten
Freunde Stopfkuchen. Alſo Stopfkuchen wirklich und
wahrhaftig auf der rothen Schanze!


[8]

Ich war, wie geſagt, nach Jahren der Abweſen-
heit einmal wieder ihr Gaſt, der Gaſt der Heimath-
ſtadt, im Kruge zum Brummerſumm geweſen, oder
hatte vielmehr endlich einmal wieder daſelbſt einen
Stuhl eingenommen.


Natürlich könnte man hier Gedanken, Gefühle,
Stimmungen und Anmerkungen aus der Tiefe des
deutſchen Herzens, Buſens und Gemüthes heraus,
noch recht erklecklich weiter und zwar ins Behaglichſte
ausmalen; man thut es aber nicht, ſondern bemerkt
nur das Nothwendige.


Nämlich als Kind ſchon begleitete ich meinen jetzt
[längſt] verſtorbenen Vater dorthin. Er hatte ſeine Pfeife
da ſtehen, doch dann und wann hatte ich ihm auch
eine neue hinauszutragen. Viele Leute werden nun
[ſagen]: Der ſelige alte Herr gab da ſeinem Jungen
ein recht ſauberes Beiſpiel! Und ſie haben Recht,
und wiſſen gar nicht wie ſehr ſie Recht haben. Er
that es auch und gab mir ein nettes Beiſpiel; —
freilich nicht bloß in dieſer Hinſicht.


Ich bin alſo Stammgaſt des Brummerſumms
von Kindesbeinen an geweſen, und habe ſchon um
deſſentwegen mit geheirathet, um gleich dem wackern
alten Vater, Allerlei von dorther an meine eigenen
Jungen drunten im „heißen Afrika“ weiter geben zu
können. Die verwilderten halbſchlächtig deutſch-hol-
ländiſchen Schlingel geben gottlob unter den Buren,
Kaffern und Hottentotten manch ein Kulturmoment
weiter, was aus dem Brummerſumm ſtammt. Sie
ſagen dann gewöhnlich dabei: Mein Vater hat's
[9] geſagt, und der hat's ſchon von ſeinem Vater, unſerm
Großvater in Deutſchland.


Ja, ſo ein richtiger deutſcher Spießbürger in
in ſeiner Kneipe!


Man zieht die Achſeln nur deßhalb über ihn,
weil man ſelbſtverſtändlich ſtets den unrichtigen für
den richtigen nimmt. Wo in aller Welt, als wie ſo im
Brummerſumm läßt ſich denn der Spieß leichter um-
drehen, auf daß man die langweilige, die dumme, die
abgeſchmackte, die boshafte, die neidiſche Welt drauf-
laufen laſſe? Und wo kann man kräftiger nachſtoßen, um
das überleidige Unthier völlig zu Boden zu bringen?


Wie ſich freilich die Frau Spießbürgerin zu dem
Brummerſumm verhält, das ſteht auf einem ganz
andern Blatte. Auf einem ganz beſondern Blatte
aber ſteht, wie ſich meine ſelige Mutter zu ihm ver-
hielt. Erſt in reifern Jahren natürlich habe ich den
Sachverhalt herausgekriegt durch wehmüthig-fröhliche
Rückerinnerung, und da iſt der Geſammteindruck ein
höchſt erfreulicher. Das brave Weib hatte ſich nicht
nur mit dem Brummerſumm abgefunden, ſondern
ſie ermahnte dann und wann meinen Vater: „Du,
es iſt wohl Zeit für Deinen Abendweg!“ Und ſelt-
ſamerweiſe geſchah dieſes am häufigſten dann, wenn
Sorge, Kummer und Verdruß unſer Haus in der
Stadt umkrochen und böſer Lebensdunſt ſich darüber,
und alſo zumeiſt über ihrem theuren Haupte, zu-
ſammengezogen hatte. Es gibt wohl nichts, was
mehr für die Frau und den Brummerſumm ſpricht.


Ich hatte auch an dem Abend, unter deſſen
[10] Sternconſtellationen dieſe Blätter ſich aufthaten, alle
möglichen alten Erinnerungen von Neuem aufgefriſcht.
Sie hatten im Brummerſumm gemeint, ich ſei doch
recht ſchweigſam aus dem Kaffernlande auf Beſuch
nach Hauſe gekommen; und ſie bedachten wie ge-
wöhnlich nicht, daß man den Mund halten und doch
die lebendigſte Unterhaltung mit Einem, mit Meh-
reren, mit Vielen führen kann. Dazu hatte ich wirk-
lich das Meiſte vernommen, was an dieſem Abend
um mich her geſprochen worden war, und ein im
Vorübergehen raſch und leicht hingeſprochenes Ge-
ſprächsthema hatte mich in der That länger und ein-
gehender beſchäftigt und nachdenklicher bei ſich feſt-
gehalten als die Andern um den alten Tiſch herum.


Es gehört nämlich jetzt Einer von uns der
kaiſerlichen Reichspoſt als Beamter an, und der er-
zählte, oder gab vielmehr beiläufig in die Unter-
haltung hinein:


„Es wird vielleicht Einige der Herren intereſſiren,
daß man uns heute angezeigt hat, daß Störzer todt
iſt. Unſer älteſter und weitgelaufenſter Landpoſtbote.
Es ſollte mich wundern, wenn Einer hier unter uns
wäre, dem er nicht über den Weg gelaufen wäre.“


„I, natürlich!“ klang es im Kreiſe. „Der alte
Störzer! Alſo der hat endlich auch ſeinen Pilger-
ſtab in den Winkel geſtellt.“


„Mit allen Ehren. Volle einunddreißig Jahre
iſt er gelaufen, und wir haben uns unter dem erſten
Eindruck der Nachricht dran gemacht und haben es
ihm poſtamtlich nachgerechnet, welchen Weg er in
[11] ſeinem Dienſte treu und redlich, ohne einen einzigen
Urlaubstag zu verlangen, zurückgelegt hat. Wie viele
Male glauben die Herren, daß er hätte rund um die
Erde herum geweſen ſein können?“


„Da bin ich doch neugierig!“ ſagte der ganze
Brummerſumm.


„Fünf Mal. Rund um den Erdball. Sieben-
undzwanzigtauſend und zweiundachtzig Meilen in vier-
undfünfzigtauſendeinhundertvierundſechzig Berufs-Geh-
ſtunden! Und, wie geſagt, keinen Tag hat der Glücks-
pilz in ſeinen einunddreißig Dienſtjahren ausgeſetzt
— ausſetzen müſſen aus Geſundheitsrückſichten. Wie
viele der Herren würden gegen ſeine Beine die ihrigen
mit anhängendem Rheuma, mehr oder minder aus-
geſprochener Iſchias und was ſonſt ſo zu den Bei-
gaben einer ſeßhaften Lebensſtellung gehört, mit Ver-
gnügen ausgetauſcht haben. Ach, und wenn er ſie
hätte vererben können!“


„Das weiß der liebe Gott!“ ſeufzten verſchiedene
der Herren, indem ſie noch einmal hinzufügten: „Alſo
der alte Störzer iſt todt!“ —


„Alſo der alte Störzer iſt todt!“ hatte auch ich
gemurmelt. „Hat ſich zur Ruhe geſetzt, nachdem er
fünf Mal die Weglänge um den Erdball zurückge-
legt hat. Hm, hm, Den hätteſt Du gern auch
noch einmal geſehen und geſprochen vor ſeinem
allerletzten Wege, der nicht mehr zu ſeinen irdiſchen,
amtlichen gehörte!“ — Und ein unbehagliches Ge-
fühl, eine Pflicht und Verpflichtung leichthin ver-
ſäumt zu haben, überkam mich. „Mußte der Mann
[12] es denn diesmal ſo eilig haben? Konnte er es keinen
Augenblick ruhig abwarten, bis Du Dich auch ſeiner
erinnern würdeſt, Eduard, um auch ihm ſeinen ihm
zukommenden Freundſchaftsbeſuch bei dieſem Deinen
Beſuch in der Heimath abzuſtatten?“


„Du mußt Dich doch Seiner vor uns Allen gut
erinnern, Eduard?“ hatte vorhin Einer am Lebens-
tiſch mich gefragt.


„Jawohl, ich erinnere mich Seiner ſehr gut,“
hatte ich geantwortet; und nun ſind die folgenden
Blätter Seinetwegen, Störzers wegen, mit geſchrieben
worden.


„Jawohl, jawohl, wie gut ich mich ſeiner er-
innere!“ wiederholte ich mir, eine halbe Stunde oder
eine Stunde ſpäter, als ich im Wirthshauſe, in meinem
Abſteigequartier in hieſiger Stadt, mit mir und den
Heimathseindrücken des eben abgelaufenen Tages allein
war. Er, Störzer, gehörte freilich zu meinen aller-
beſten Jugendbekannten, und mein Vater war's ge-
weſen, der mich mit ihm bekannt gemacht und auf
ſeinen Umgang hingewieſen hatte indem er mir rieth:


„Sieh einmal, mein Junge, an Dem nimm Dir
ein Beiſpiel. Der macht ſich weder aus dem Wege
noch aus dem Wetter was. Und was Alles trägt
[13] er täglich den Leuten in ſeiner Ledertaſche zu und
macht dabei an dem einem wie an dem andern Tage
das gleiche Geſicht.“


Der letztere Teil dieſer Rede war mir damals
wohl etwas dunkel geblieben; heute weiß ich, daß
mein ſeliger Papa vor dem Worte: Geſicht, wohl die
dazu gehörigen Beiwörter: dumm, gleichgültig, ſtill-
vergnügt, unterſchlagen hatte. Aber welch ein rich-
tiger Junge achtet nicht einen Menſchen, der ihm als
ein Muſter aufgeſtellt wird, weil er ſich weder aus
dem Wetter noch aus dem Wege etwas macht?


„Wo das Kind eigentlich wieder ſtecken mag?“
pflegte in jenen glücklichen Tagen meine arme ſelige
Mutter zu fragen.


Das Kind ſteckte bei Störzern, ſeiner Kunſt,
ſämmtlichen autochthonen und auch einigen exotiſchen
Vögeln nachzupfeifen, flöten, zirpen und ſchnarren,
bei ſeiner „Kriegsbereitſchaft“ Anno Achtzehnhundert-
fünfzig und bei ſeiner — Geographie. Die Sache
war doch ganz klar, ſo dunkel ſie auch einem den
Deckel vom Suppennapf abhebenden und vergeblich
um ſich ſchauenden Muttergemüth ſein mochte. Bei-
läufig, daß wir ebenfalls zur Poſt (damals noch nicht
kaiſerlichen) gehörten und daß mein Vater in ſeinen
letzten Lebensjahren ſogar Herr Poſtrath genannt
wurde, trug wohl auch das Seinige zu dem ange-
nehmen und innigen Verhältniß zwiſchen mir und
Störzer bei. Wir rechneten uns einander, wie man
das ausdrückt, zu einander; und auf meinen Wegen
nicht um, ſondern durch die Welt habe ich niemals
[14] ein ſelten Poſthorn zu Ohr bekommen, ohne dabei
an meinen ſeligen Vater, meine ſelige Mutter und
den Landbriefträger Störzer zu denken. Uebrigens
bekam Störzer auch jedesmal eine Cigarre mit auf
den Weg, wenn er dem Vater und mir draußen vor
der Stadt begegnete. Da war's wohl kein Wunder,
wenn er jedesmal, wo er mich allein traf, zu fragen
pflegte:


„Nu, Eduard, wie iſt es? willſt Du mit? darfſt
Du mit?“ —


Ich hätte ihm doch, wenn nicht zuerſt, ſo doch
unter den Erſten meinen Beſuch machen ſollen. Jetzt
war es wieder einmal zu ſpät für etwas. Auch die
kaiſerliche Reichspoſtverwaltung hatte ihr Recht an
ihm verloren, holte ihn ſich nicht mehr zu neuem
Marſch durch gutes und böſes Wetter vor Tage aus
den Federn, oder beſſer, von ſeinem Strohſack; und
ich — ich ſaß bei meinem Freunde Sichert, dem
Wirth zu den drei Königen, und gedachte Seiner, wie
man Eines gedenkt, zu dem man in ſeiner Kindheit
aufgeſehen hat und mit dem man Wege gegangen
iſt, aller Phantaſien, Wunder und Abenteuer der
Welt voll.


Man hat ſo Stunden, wo Einem alles übrige
Leben und alle ſonſtige Lebendigkeit zu einem fernen
Geſumm wird, und man nur eine einzelne Stimme
ganz in der Nähe und ganz laut und genau ver-
nimmt.


„Damit iſt es nun nichts, Eduard!“ hörte ich
Störzer ganz deutlich ſeufzen. Er hatte mir aber,
[15] das heißt an dem Tage, damals, ein Kuckucksei in
einem Finkenneſte zeigen wollen, und es hatte ſich
gefunden, daß ſchon andere Naturforſcher vor uns
dageweſen waren, und daß der Kuckuck die ganze
naturhiſtoriſche Merkwürdigkeit aus dem Buſch in
dem alten Steinbruche, rechts abſeits der Landſtraße
und des Poſtdienſtweges, geholt hatte.


Und wieder, von einem andern Tage her, höre
ich dieſe Stimme:


„Siehſt Du, Eduard, wenn ich heute Deine
Mutter geweſen wäre, ſo hätte ich Dich an dieſem
Morgen doch vielleicht nicht mit mir gehen laſſen,
und wenn es auch hundertmal die großen Ferien
ſind. Noch hält dies zwar Jeder, der nichts davon
verſteht, für einen recht ſchönen Tag; aber, aber, ich
ſage nichts, wie ich die Gegend hier herum und die
Wetterausſichten kenne. Mir wölkt es ſich trotz allem
gegenwärtigen Sonnenſchein dahinten und von ſo
ganz herum, aber grade aus unſerer Wetterecke hinter
Maiholzen, doch ein bischen zu verdächtig auf. Willſt
Du lieber noch umkehren, Eduard, ſo thuſt Du viel-
leicht Deinen lieben Eltern und Deinem Anzug einen
großen Gefallen. Ich will nichts ſagen, aber es
könnte doch eine Stunde kommen, wo ſie Dich am
liebſten zu Hauſe wüßten.“


Es iſt nicht immer dieſelbe Stimme. Es fällt
noch eine andere ein, und das iſt die meinige, die
ſich aber noch lange nicht „geſetzt“ hat, und ſich erſt
in einigen Jahren „ſetzen“ wird.


„In Südamerika iſt ein großes Erdbeben geweſen,
[16] Störzer. Mein Vater hat es heute früh beim Kaffee
aus der Zeitung vorgeleſen. Das hat viele Ort-
ſchaften übereinandergeſchmiſſen und darunter eine
Stadt ſo groß wie unſere. Donnerwetter, wer da
hätte bei ſein können, Störzer!“


„Ja, Eduard, das ſagten Anno Fünfzig auch
Viele von uns bei der großen Mobilmachung, wenn
alte Leute, die dabei geweſen waren von der Schlacht
bei Leipzig oder der Schlacht bei Waterloo und den
Drangſalen auf den Märſchen erzählten. Nachher
war's uns Allen aber doch recht lieb, daß es diesmal
zu nichts Rechtem kam. Das größte Großmaul von
uns hatte die Geſchichte bloß nur auf dem Exerzir-
platz bald ſatt. Und ſelbſt Karl Drönemann, den
ſie zu einem reitenden Poſtillon bei der Kriegs-
poſt gemacht hatten, meinte: zu Hauſe davon nachher
zu erzählen, wiege es doch nicht auf, es vorher mit
ſeinem eigenen menſchlichen Leben ſelber durchgemacht
zu haben. Das iſt wie mit den Reiſebeſchreibungen.
Nimm da nur unſern Levalljang, wie hübſch ſich das
lieſt, weil er es ſo hübſch zu Hauſe beſchrieben hat. ...
Alſo in Südamerika iſt das große Erdbeben diesmal
geweſen? Ja, ja die Geographie iſt doch die allerhöchſte
Wiſſenſchaft für uns Alle von der Poſt! Wieviele
ſind wohl umgekommen, Eduard?“


„Na, ſo an die Hunderttauſend. Auf das Ge-
nauſte kann man das wohl nicht ausrechnen.“


„Hm, ein paar Tauſend mehr oder weniger!
Einer mehr oder weniger! Ja, Einer mehr oder
weniger — weniger. Eduard, unſer Herrgott muß
[17] es doch wohl verantworten können. Iſt das nicht
auch Deine Meinung?“


„Das weiß ich nicht; aber ihre dortige Brief-
und Packetbeſtellung muß das hölliſch in Unordnung
bringen, ſagt mein Vater, und da kommt doch ſicher-
lich Vieles als unbeſtellbar zurück. Meinſt Du nicht
auch, Störzer?“


„Eines mehr oder weniger in der Welt.“


„Kaufmann Katerfeld, der da einen reichen
Bruder hat, wie meine Mutter ſagte, iſt auch ſchon
heute beim Kaffee beim Vater geweſen und hat danach
angefragt.“


„I, ſieh mal, Eduard! Auch Einer mehr oder
weniger! Ja, dieſen auswärtigen Katerfeld, er heißt mit
Vornamen Sekkel, kenne ich noch ganz gut aus meinen
Jungensjahren. Das muß alſo in Chile geweſen
ſein, Dein Erdbeben; denn dahin iſt der ausgewandert
und hat's zum Millionär gebracht. Und das ſollten
wir Alle thun. Er iſt unverheirathet geblieben, weil
ihn hier eine Gewiſſe nicht gewollt hat. Das kannſt
Du halten wie Du willſt, Eduard, denn das iſt doch
die Nebenſache. Sieh, ſieh, alſo der iſt mit in das
Erdbeben hineingerathen! ja, da hätte ich in Herrn
Samuel Katerfelds Stelle mich auch gleich bei Deinem
Herrn Vater, dem Herrn Poſtmeiſter nach dem Nähern
erkundigt. Aber — das verſtehſt Du noch nicht,
Eduard. Alſo Du willſt auf gut und ſchlecht Wetter
heute Morgen wieder mit. Nun, denn nimm den
Weg unter die Füße und laß uns von dem Levalljang
ſprechen. Das iſt doch unſer Buch! und der Welt-
W. Raabe. Stopfkuchen. 2
[18] und Reiſebeſchreiber treibt Einem die trüben Grillen
aus dem Kopf. Und ſo ein Leben wie der ſollten
wir Alle führen unter den wilden und zahmen Hotten-
totten. Ich habe wieder die halbe Nacht in dem
Buche ſtudirt.“


„Du haſt heute eine ſchwere Taſche.“


„Eine ſchwere Taſche!... Ja, was ſchreiben
die Leute! Allein die rothe Schanze! der Bauer von
der rothen Schanze! Wer mir im Amte von der rothen
Schanze und ihren Poſtſtücken hülfe, Eduard, dem
wollte ich auf den Knieen für die Erlöſung danken.
Es iſt freilich heute bloß nur die Zeitung. Die trägſt
Du mir wohl wieder einmal über den Graben nach
der Schanze hinüber. Nicht wahr, Du thuſt mir den
Gefallen? Ich ſortire mir derweilen die übrigen Briefe
und Gartenlauben und Modenzeitungen an die Herrn
Oekonomen und Paſtöre und Fabrikinſpektoren ein
bischen handgerechter diesſeits des Grabens.“


Was hätte ich damals nicht dem Landpoſtboten
Störzer zu Gefallen gethan?


„Natürlich bringe ich Deine Sachen zu Quakatz,
Fritze, und wenn er auch noch ſehr ſein Sauerampfer-
geſicht mir ſchneidet, und ſeine wilde Katze mir am
liebſten in mein Geſicht ſpringen möchte. Setze Du
Dich dreiſt untern Baum vor dem Graben und ſortire
Deine Geſchichten. Ich ſpringe ſchon hinüber zur
rothen Schanze und nehme ſie mit Sturm, wie Stopf-
kuchen ſie nehmen will. Damit werden wir noch
fertig, ehe Dein Gewitter heraufkommt, Störzer!“


„Je, ſo raſch kommt's hoffentlich nicht, Eduard.“


[19]

Wir ſteigen nun trotz aller ſchlimmen Wetterzeichen
rundum am Horizont, in der Morgenſonne wacker zu.


„Eine ſchwere Taſche!“ höre ich in meinem Ab-
ſteigequartier zu den heiligen drei Königen meinen
harmloſen Jugendbekannten Störzer noch einmal
ſtöhnen oder vielmehr ſeufzen; aber wenn ich auch
noch ſo ſehr ein Herz und eine Seele mit ihm war:
was kümmerte mich die Korreſpondenz der Bauern,
der Gutherrſchaften, der Fabrikleute, die er in der
Taſche über Land trug? Dafür kroch, flog, lief,
ſchwirrte, leuchtete, flimmerte und glänzte doch allzu
viel Wichtigeres ſowohl an der Landſtraße wie an
den Beiwegen. Ja, wenn ſich der Kuckuck, die Gras-
mücke, der Igel, der Haſe und dieſe übrige Geſell-
ſchaft, eingeſchloſſen die Sonne, der Schatten, der
Wind, der Regen, der Blitz und der Donner, auch
auf ſchriftlichen Verkehr untereinander durch Störzers
Vermittelung eingelaſſen haben würden, dann hätte
es vielleicht noch wundervoller ſein können. Aber es
war auch ſo ganz gut, wo der Roggen und der
Weizen, die Kornblume und die Klatſchroſe rund um
ohne Dinte, Feder und Papier auskamen und ſich
ohne fortgeſchrittene Bildung innerhalb ihrer Iſotheren
und Iſothermen, freundſchaftlich und geſchäftlich bei
einander zu halten wußten.


Iſotheren! Iſothermen! Wie dieſe gelehrten
Worten zu den lieben Namen, den Heimathsnamen
von Allem, was „auf dem Felde“ (Sehet die Lilien
u. ſ. w.) wächſt, paßten, ſo paßten ſie auch zu unſerer
übrigen Erdkunde (Geographie) damals. Und doch,
2*
[20] was für wundervolle Geographen, Erdkundige, Erd-
beſchreiber, wir damals waren, Störzer und ich.
Wir wären die rechten Leute damals für den alten
freundlichen und gelehrten Karl Ritter geweſen, wenn
er ſeine Landſchaftsbilder auf die große ſchwarze
Tafel hinter ſeinem Katheder in Berlin malte.


Und wie weit man um dieſe Lebenszeit auf den
paar Stunden Weges von einem Dorf, Paſtorhaus
und Gutshof zum andern in die weite unermeßliche
Welt hinaus kam!


Zu Hauſe, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut,
daß die Welt, oder in dieſem Falle der Erdball, durch-
aus nicht unabmeßlich iſt, ſondern daß dieſer im
Aether ſchwimmende Kloß gar nicht ſo dick iſt, wie
er ſich einbildet. Aber wenn ich wenigſtens bis zu
den Kaffern und Buren und zu einem anſtändigen
Vermögen gekommen bin; wem anders verdanke ich
das, als dem Landbriefträger Friedrich Störzer und
ſeinem Lieblingsbuch Le Vaillants Reiſen in das
Innere von Afrika, aus dem Franzöſiſchen überſetzt
und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forſter?


Wie deutlich ich in den Heiligen Drei Königen die
Stimme höre: „Die Geographie, die Geographie,
Eduard! Und ſo ein Mann wie dieſer Levalljang! Was
wäre und wo bliebe Unſereiner ohne die Geographie
und ſolch ein Muſter von Menſchen und Reiſenden?
Nimm nur mal an, ſo Tag für Tag, Jahr ein Jahr
aus die nämlichen Wege. Jedes Dorf wie Deine
Taſche. In jedem Hauſe von der älteſten Großmutter
bis zum eben ausgekrochenen, jüngſten Wurm, Alles
[21] wie Deine eigenen Leute in Deinem eigenen Hauſe!
Und aus jedem Hauſe der Ruf: da kommt Störzer!
Und in jedwedem Hauſe: Störzer hat die Zeitung ge-
bracht, Störzer bringt 'n Brief! — Könnteſt Du das
auf Lebenszeit und immer auf denſelben Wegen aus-
halten, Eduard, ohne Deine Gedanken und Ein-
bildungskraft und [Phantaſien] und Lektüre, Eduard?
Müßte Dir das nicht auch auf die Länge langweilig
werden ohne die Geographie?“


„Ne, Störzer! Denn wir haben ſie auf dem Gym-
naſium, und da haben ſie mich geſtern erſt ihretwegen
eine Stunde länger in der Schule behalten. By-
thinien, Paphlagonien und Pontus wußte ich; aber
ich ſollte alle alten Staaten von Kleinaſien wiſſen.“


„Das thut mir Deinetwegen ja ſehr leid, Eduard,
aber mir hätteſt Du doch einen Gefallen gethan,
wenn Du ſie beim Nachſitzen noch auswendig gelernt
hätteſt, wenn auch bloß für mich.“


„Für Dich, Fritze? Nun denn: Myſia, Lydia,
Karia, Lycia, Piſidia, Phrygia, Galatia, Lycaonia,
Cilicia, Kappadocia, Armenia minor, das ſind ſie
alle; denn Bythinien, Paphlagonien und Pontus habe
ich Dir ſchon genannt.“


„Donnerwetter, Eduard, das iſt ja grade als
ob Du uns Deutſche in allen unſern Unterabtheilungen
aufzählteſt! Es klingt bloß 'n bischen hübſcher und
ausländiſcher. Nun ſieh mal, was für ein Vergnügen
muß das für Dich ſein, daß Du dieſes Alles ſo an
der Schnur herſagen kannſt und Dir dabei was
denken kannſt, hier auf der Landſtraße mit der ganzen
[22] altbekannten Umgebung rundherum und da — hier
— der rothen Schanze vor der Naſe.“


„Campes Reiſebeſchreibungen ſind mir lieber.
Und Du biſt mir auch lieber, Störzer. Myſien, Lydien,
Karien, bringe Du das da unten in dem dumpfigen
Schulſtall mal in Deinen Kopf und ſehne Dich mal
nicht nach dem Le Vaillant, ſeinem Afrika und ſeinen
Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elephanten. Stopf-
kuchen haben ſie auch mit mir eine Stunde über den
Unſinn dabehalten. Der frägt aber nichts nach Afrika.
Denn ſeine tägliche Sehnſucht iſt dort die rothe Schanze;
na, das weißt Du ja.“


„Das weiß ich freilich, und es iſt närriſch genug
von dem Dicken — Deinem närriſchen Kameraden.
Weißt Du, Eduard, wenn ich mir aus der Weltkunde
ein Faulthier vorſtelle, ſo muß ich mir dabei immer
dieſen Deinen Freund und Schulkameraden mit vor-
ſtellen. Der und die rothe Schanze!“


Die rothe Schanze! Ich hatte doch allmählich
ein wenig in all dieſe Erinnerungen, in dieſen Wechſel
von Stimmen und Geſtalten hineingegähnt und das
Bedürfniß gefühlt, nun auch Störzer ſeiner ewigen
Ruhe zu überlaſſen und ſelber für dieſe Nacht zur
Ruhe zu gehen; als mich dieſer Name doch noch eine
[23] Weile wach und bei meinem Jugendleben lebendigſt
feſt hielt. Die rothe Schanze!


Es überkam mich ein lachendes Behagen über
die rothe Schanze in ihrer Verbindung mit dem Dickſten,
dem Faulſten, dem Gefräßigſten unter uns von damals.


„Im Bette habe ich ſie am feſteſten beim Wickel,
Eduard,“ pflegte Stopfkuchen zu ſagen. „Wenn ich
mal träume, dann träume ich von ihr, und wer dann
Herr auf ihr iſt und keinen Schulrath, Oberlehrer
und Kollaborator über den Graben läßt, das iſt nicht
der Bauer Quakatz, ſondern das bin ich. Ich! ſage
ich Dir, Eduard.“


Und in den Traum nahm auch ich ſie, die rothe
Schanze mit hinein in dieſer Nacht in den Heiligen
drei Königen der Heimathſtadt. In dieſem Traume
ſah ich ihn noch einmal in meinem Leben, ſo traum-
haft aller Wunder voll, wie ich ihn von der Ober-
quarta und [Untertertia] aus geſehen hatte, dieſen
Bauerhof, dieſe rothe Schanze, dieſen alten herrlichen
Kriegs- und Belagerungs-Aufwurf des Prinzen Xaverius
von Sachſen, den Hof des Bauern Andreas Quakatz,
aus welchem der kurſächſiſche Herr Prinz in den
ſechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nicht
nur die Stadt da unten, ſondern auch die hohe
Schule, unſer Gymnaſium, darin, ſo gründlich be-
ſchoſſen hatte, daß ſie beide ſich ihm ſofort übergeben
mußten, obgleich er wahrlich nicht der erſte und
größte Held des ſiebenjährigen Krieges war. Der
ſiebenjährige Krieg war ein paar Jahre länger vor-
über als meine und Stopfkuchens Kindheit; aber die
[24] rothe Schanze war noch immer vorhanden in dieſem
Traume, wie ſie unſer Jugendideal geweſen war.


Da ſtieg ſie auf im wohlerhaltenen Viereck.
Nur durch einen Dammweg über den tiefen Graben
mit der übrigen Welt in Verbindung! Mit Allem,
was ſie der Knabenphantaſie zu einem Entzücken und
Geheimniß gemacht hatte: mit den Kanonen und
Mörſern des Prinzen Xaver und mit der undurch-
dringlichen Dornenhecke, die der böſe Bauer Andreas
Quakatz auf ihrer Höhe um ſich, ſein Tinchen, ſein
Haus, ſeine Ställe und Scheunen und Alles was
ſonſt ſein war, zum Abſchluß gegen die ſchlimme
Welt gezogen hatte!


Ich höre ein dumpfes Rollen und Krachen in
meinen Traum von der rothen Schanze hinein, aber
es iſt nicht der kurſächſiſche Kanonendonner gegen den
König Fritz von Preußen, es iſt das Gewitter, bei
dem Störzer ſagt:


„Es kommt doch noch raſcher über uns, als ich
mir dachte. Da, Eduard, nun thu mir den Gefallen
und laufe zu dem Adreſſaten Quakatz mit ſeinen
Sachen hinüber. Da, ſeine Zeitung, hier ein, zwei,
drei Briefe. Was der Mann eine Schreiberei um ſich
hat! ach, Eduard, und immer ein paar mit den Ge-
richtsſiegeln! Da, das Kind, ſein Tinchen kuckt ſchon
um den Thorpfeiler! gib ſie ihm ab, die Sachen;
ich ſortire hier unter der Hainbuche derweil das
Uebrige, ehe das Unwetter ganz da iſt.“


„Was willſt Du von uns, dummer Junge?“
höre ich nun ein feines Stimmchen, das gar böſe
[25] thut, und zwar inmitten des Gekläffs von einem
halben Dutzend vor Wuth und Gift außer ſich ge-
rathener Haus- und Hof-Köter aller Sorten und
Gattungen. Und ſie laſſen es nicht bei dem Blaffen
und Zähnegefletſch. Sie fahren mir nach der Hoſe
und ſpringen mir gegen die Kehle: man hätte das
vollſte Recht, dabei aus jedem Traume, ſelbſt als
älterer Herr und ſüdafrikaniſcher Buer mit einem
hellen Schrei zu erwachen.


Ich bleibe aber doch darin, auf dem Damm, vor
den beiden Thorpfeilern vom Quakatzenhof auf der
rothen Schanze, und die Kinderſtimme kreiſcht lachend
und höhniſch: „Laßt ihn! Wollt ihr herein! Das
ganze Gerichte! Präſendent, Akzeſſor, Reffrendar!
Kuſch Alle! kuſch Geſchworener Vahldick! kuſch Meier,
kuſch Brauneberg! kuſch das ganze Geſchworenen-
gerichte!“


„Da ſind eure Poſtſachen! eure Schreibſachen
und die Zeitung, Du Giftkatze!“ rufe ich, der roth-
köpfigen Krabbe des Bauern von der rothen Schanze
die Korreſpondenz des Bauern in die aufgehaltene
Schürze werfend, und von dem ungaſtlichen Anweſen
über den Fahrdamm auf das freie Feld und zu der
Hainbuche und zu Störzer zurückweichend.


„Komm, Eduard,“ ſagt Störzer, wir wollen
den Weg zwiſchen die Beine nehmen, daß wir
wenigſtens Maiholzen noch trocken erreichen. Da,
ſieh mal hin, wie es dahinten ſchon gießt. Das iſt
nun ſo 'n ſchöner Sommertag. Na, gottlob, daß
[26] wir wenigſtens die rothe Schanze und Quakatz hinter
uns haben.“


Nun war es ſeltſam, wie ſich in dieſer Nacht
in den Heiligen drei Königen Vergangenheit und
Gegenwart im Bett, Schlaf, Traum und Halbtraum
vermiſchte. Es rauſchte und rollte, wie großer
Platzregen und ſchwerer Donner: ich lag im Bett
in den Heiligen drei Königen als Gatte, Vater,
Grundbeſitzer und großer Schafzüchter am Orange-
fluß, und lief zu gleicher Zeit mit dem Landbrief-
träger Störzer als zwölfjähriger Schuljunge im
ſtrömenden Gewitterſchauer, unter Blitz und Donner
über das freie Feld, um Maiholzen, das gute Dorf
hinter der rothen Schanze zu erreichen — wenn
nicht mit trockenen Kleidern, ſo doch wenigſtens bei
lebendigem Leibe.


Erſt als der Kellner mit dem Raſirwaſſer kam,
erfuhr ich, daß es wirklich gegen Morgen noch ein
heftiges Gewitter gegeben habe, und es war wirklich
nichts dagegen zu ſagen, daß der junge Mann den
höflichen Wunſch äußerte, ich möge „die Sache an-
genehm verſchlafen haben.“


Das wirkliche Gewitter der Nacht hatte ich an-
genehm verſchlafen, oder ſein Getöſe hatte ſich doch
ſo ſehr mit dem Rollen und Rauſchen der Vergangen-
heit vermiſcht, daß ein Unterſcheiden von Traum und
[27] Wahrheit nicht möglich war. Nun aber hatte ich,
ehe der Kellner anklopfte, längere Zeit auf etwas
Anderes horchen müſſen, was ebenfalls in Traum-
beſchreibungen häufig litterariſch vorkommt: die Thurm-
glocken der Heimathſtadt. Ich hatte es Sechs ſchlagen
hören und Halbſieben und Sieben. Und dabei,
gerade bei dieſem angenehmſten wachen Liegen und
Dehnen und Strecken im Bette und dem Glocken-
klang dieſer Stunden, war mir ein Anderes von
Neuem lebendig in der Seele geworden — ſüß und
ſchaurig lebendig! Die Stunde nämlich, in welcher
man in der Schule zu ſein hatte — im Sommer
um Sieben, im Winter um Acht, und, von mir
ganz abgeſehen, Stopfkuchen ſchändlicher Weiſe auch!
Stopfkuchen! er, den „der ganze Quark garnichts
anging, wenigſtens ein Beträchtliches weniger, als
den ganzen übrigen Cötus zuſammen.“


Er fragte wahrhaftig garnichts danach, was „die
Leute“ (er meinte die Herren Lehrer) wußten und
lächerlicherweiſe ihm mitzutheilen wünſchten. Er war
ganz gut ſo wie er war, und — kurz und gut, es
war eine Niederträchtigkeit im Sommer um Sieben
und im Winter um Acht „da ſein“ zu müſſen, um
ſich doch nur mit völliger Verachtung ſtrafen zu
laſſen; da „alles Andere doch nichts half.“


Stopfkuchen! Wahrlich nicht der Kirchenglocken
wegen (obgleich er auch den Verſuch gemacht hatte,
Theologie zu ſtudiren) ſondern einzig und allein der
Thurmuhr halber, ſtieg er mir nun ſo hell wie Störzer
in der Seele empor, mein Freund Stopfkuchen, mein
[28] anderer Kindheits-, Feld-, Wald- und Wieſen-Freund
Stopfkuchen, den ich nur dann ſeinen Schritt etwas
beſchleunigen ſah, wenn ihn der alte Konrektor mit
der Haſelnußgerte im Kreiſe nicht um die Welt,
ſondern um die ſchwarze Schultafel und die un-
gelöſte mathematiſche Aufgabe jagte.


Ja, zu unſerer Zeit kriegte man noch die Prügel,
die Einem gebührten . . . Gott ſei Dank! — „Stopf-
kuchen“ nannten wir ihn auf der Schule. Eigentlich
hieß er Heinrich Schaumann, und war das einzige
Kind ſo dürrer, eingeſchrumpfelter, zaunkönighaft-
nervös-lebendiger Eltern, daß Die in der Stadt nicht
Unrecht zu haben ſchienen, die da behaupteten, er
habe in einem Kuckucksei gelegen, und ſei ſchändlich
doloſer Weiſe dem Herrn Regiſtrator und der Frau
Regiſtratorin Schaumann ins Neſt geſchoben worden.
Wie dem auch ſein mochte: ſie hatten ihn heran-
gefüttert und ihm zu und in den Schnabel getragen,
was ſie vermochten; und es war ihm gediehen.


Und wie ein Zaunkönigspaar ſeine Freude und
ſeinen Stolz an ſeinem dicken Neſtling hat, ſo hatten
auch Vater und Mutter Schaumann ihren Stolz und
ihre Freude an ihrem „Dicken“, und wollten ſelbſt-
verſtändlich auch noch nach einer andern Dimenſion
hin etwas aus ihm machen, nämlich etwas Großes.
Natürlich einen Paſtor, Regierungsrath, Sanitätsrath
oder dergleichen.


„Die Sache könnte mir ſchon paſſen, Eduard,“
ſagte Heinrich damals häufig zu mir. „Wenn nur
nicht die verdammten Vorſtrapazen wären; das
[29] ſchauderhafte Latein, und gar Griechiſch, und nach-
her um Einen verrückt zu machen das Hebräiſche!“
ſeufzte er dazu und rieb ſich nicht ſelten die Schultern
dabei.


„Und die rothe Schanze, Heinrich.“


„Die auch, Eduard, obgleich das nur eine
Dummheit von euch Andern iſt. Na, mir iſt's
übrigens eins, was ihr Eſel von mir ſagt und
denkt! Und dann läßt ſich das auch garnicht in
Einem Athem nennen: das Gymnaſium und Quakatzen
ſeine rothe Schanze. Herr Du mein Gott, wenn mich
Einer zum Bauer auf der rothen Schanze machen
wollte; ich hinge jedes Paſtorhaus in der Welt drum
an den Nagel und ſchlüge Kienbaum mit Vergnügen
dreimal todt.“


„Aber Stopfkuchen?“


„Jawohl, Stopfkuchen! Nennt mich nur ſo;
ich mache mir auch daraus nichts. Wenn ich Kuchen
kriege, ſo ſtopfe ich; darauf könnt ihr euch verlaſſen.
Und nochmals was Quakatzen anbetrifft, ſo mache ich
mir garnichts daraus, was die ganze Welt über ihn
ſpricht. Meinetwegen kann er Kienbaum ſechsmal
todtgeſchlagen haben; darum bleibt er doch der Bauer
auf der rothen Schanze und hat's am beſten in der
ganzen Welt. Und übrigens bewieſen iſt ihm ja von
keinem Gerichte was, und wenn jetzt die ganze Welt
auf ihn hetzt, beweiſt das garnichts gegen ihn. Auf
mich hetzt auch die ganze Welt, und wenn ihr
morgen Blechhammern, euren Herrn Oberlehrer
Doktor Blechhammer, irgendwo am Wege abgegurgelt
[30] fändet, dann könntet ihr dreiſt auch mir die Geſchichte
in die Schuhe ſchieben und behaupten: ich ſei's ge-
weſen und habe mir endlich das Vergnügen gegönnt
und meine Rache ausgeübt. Quakatz auf der rothen
Schanze hat ganz Recht, wenn er am liebſten ſeinen
Wall vom Prinzen Xaver her, auch lieber mit
Kanonen als bloß mit ſeinen Dornbüſchen beſpicken
möchte gegen die ganze Welt, die ganze Menſchheit.
Hu, wenn ich mal von der rothen Schanze aus drunter
pfeffern dürfte — unter die ganze Menſchheit nämlich;
und nachher noch die Hunde loslaſſen! Du weißt
es, Eduard, und kannſt es bezeugen, wie reif ich
diesmal wenigſtens war. Und ſie haben mich doch
wieder ſitzen laſſen und nicht mitgenommen in die
Obertertia! Da komme Du mal nach Hauſe und habe
Freude an Deinen Eltern und ſonſt am Leben. Na,
da ſoll man wohl zum Eremiten werden und ſich
hinter ſeine Kanonen zurückziehen. Da hilft mir
nichts als wie die rothe Schanze und die Idee, daß
ich ihr Herr wäre! Du läufſt mit Störzern, Eduard;
und ich liege vor der rothen Schanze — Jeder nach
ſeinem Geſchmack — und ich denke mich, mit der
ganzen Welt und Schule hinter mir, in ſie hinein,
und wie mir da das Rindvieh Blechhammer kommen
könnte. Hier — ſieh mal her, Eduard! daß mich
Tinchen Quakatz geſtern hier in die Hand gebiſſen
hat, die biſſige Katze, das paßt mir ganz. Da ſoll
wohl Einer nicht beißen, wenn ihm Keiner ſeine
Ruhe laſſen will? Uebrigens hat die Kröte die
Maulſchelle, die ich ihr darauf verſetzt habe, auch
[31] geſpürt; und als der Alte dazu gekommen iſt, hat
er Jedem von uns Recht geben müſſen. Spuckt
euer Gift aus, hat er geſagt. Es iſt beſſer als es
in ſich hineinzufreſſen, hat er geſagt. Und wenn
Einer weiß, wie Recht er da gehabt hat, ſo bin ich
das. Auf der unterſten Bank zu ſitzen und zu all'
Blechhammers Redensarten keinen Muck ſagen zu
dürfen, das iſt zehntauſendmal ſchlimmer, als Kien-
baum nicht todtgeſchlagen zu haben und doch dafür
angeſehen zu werden. Ja, ſieh mich nur ſo drauf
an, Eduard. Du biſt auch ſo Einer von Denen,
die ſich ſtündlich gratuliren, daß ſie nicht der Mörder-
bauer von der rothen Schanze oder Heinrich Schau-
mann ſind.“


„Da verkennſt Du mich aber rieſig, Heinrich.“


„Garnicht, Eduard; ich kenne euch und —
Alle kenne ich euch, in- und auswendig.“


Ich hatte mich raſirt. Nämlich ich raſire mich
ſelber: da drüben oder da hinten im Kaffernlande
könnte man lange auf den Barbier warten, und
wenn er einen Vogel Strauß beſtiege, um mit ſeinem
Handwerkszeug eiligſt von einem Kraal zum andern,
von einem Bauernhof zum andern zu reiten und die
[32] Kundſchaft zu bedienen. Die Sonne ſtand hell am
Himmel und ſchien mir auf den Kaffeetiſch. Ich
durfte meinem Wirthshausbett in den Heiligen drei
Königen das Kompliment machen, daß ich trotz Allem
einen ausgezeichnet guten Schlaf in ihm gethan hatte;
einerlei wie es zehntauſend Andern vor mir darin
ergangen ſein mochte.


Es war ein ſchöner Morgen heraufgekommen
mit Hülfe des Nachtgewitters. So friſch und licht
und leicht in ſeinem Anfang, daß man die Ausſicht
auf einen neuen heißen Tag wohl mit in den Kauf
nehmen konnte.


„Alſo der alte Störzer iſt todt!“ ſeufzte ich be-
haglich-wehmüthig über dem Kaffeetiſch und der neueſten
Zeitung, die mir der Kellner mit den Worten gebracht
hatte: „Unſer Herr ſchickt ſie dem Herrn zuerſt, weil
er meint, ſie intereſſire ihn wohl zuerſt im Hauſe,
da — Sie ſo weit aus der Fremde nach Hauſe
kämen. Es hätte diesmal Zeit damit bis ſie in das
Gaſtzimmer zu den übrigen Herren herunterkäme.“


In dieſem Worte des jungen höflichen Menſchen
kam auch wieder ein Stück Bekanntſchaft aus alter
Zeit zum Vorſchein. Es war ſehr freundlich von
mine host in den Heiligen drei Königen; aber
diesmal verlangte mich nicht gerade allzuſehr danach,
das Neueſte vom Weltgericht, nämlich von der Welt-
geſchichte vor die Naſe zu bekommen. Ich ſchob das
Tagblatt ſehr bald zurück und dachte nochmals:


„Der alte Störzer todt! Schade! Den haſt Du
nun alſo ſchon durch eigene Schuld verſäumt, Eduard.
[33] Alſo nun heute unter allen Umſtänden nach der rothen
Schanze zu — Stopfkuchen! . . . Wie dies Alles
doch ſo wieder aufwacht und auflebt, ohne daß man
für ſeine Perſon weiter etwas dazu thut, als daß
man hinhorcht und hinſieht! Stopfkuchen! Was war
mir vor vierzehn Tagen noch viel übrig geblieben
von Stopfkuchen — meinem alten närriſchen Freunde
Heinrich Schaumann, dem guten, dem lieben, dem
faulen, dem dicken, dem braven Freunde Heinrich
Schaumann, genannt Stopfkuchen?“


Und nun hatte ich ihn plötzlich wieder ganz!
Gerade wie ich den eben geſtorbenen Störzer wieder
ganz hatte. Und es wäre ſehr unrecht von mir ge-
weſen, wenn ich dem Erſteren nicht ſofort einen Be-
ſuch gemacht hätte — jetzt, da es noch Zeit war.
Ich hatte es doch eben wieder an dem Letzeren er-
fahren, wie bald man ſo einen letzten günſtigen
Augenblick verſäumen kann.


Ja freilich, als wir von Schulen liefen hätte er,
Heinrich, zehntauſendmal leben und ſterben können,
ohne daß ich, eigenen Lebens und Sterbens wegen einen
kürzeſten Augenblick Zeit für ihn übrig gehabt hätte.


Wir kamen eben von einander um die Zeit, wo
man am allerwenigſten Zeit für einander hat. Die
heutige Leichtigkeit der Korreſpondenz thut da garnichts
zu; denn — wer ſchreibt heute in der Poſtkarten-
periode noch Briefe?


Ich ſehe die ganze zweite Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts und ein gut Drittel des neunzehnten
den Kopf ſchütteln und denke an meinem Frühſtücks-
W. Raabe. Stopfkuchen. 3
[34] tiſche im Gaſthauſe der Heimathſtadt: „Wenigſtens
einmal hättet ihr auch doch ſchreiben können —
Du und Dein Freund Heinrich.“


Na, Alles in Allem genommen und dazu ehrlich
geſprochen: was man ſo nennt, zärtlich hatten wir
uns auch im perſönlichen Verkehr gegeneinander nicht
gehalten. Aber was man und vorzüglich in jener
Lebensepoche gute Schulkameraden nennt, das waren
wir doch geweſen, Stopfkuchen und ich. Wer von
uns Beiden dem Andern dann und wann die meiſten
Haare ausgerauft, die blaueſten Beulen und dick-
geſchwollenſten Augen beigebracht hatte, das mochte
heute dahin geſtellt bleiben. Es kam jetzt darauf
an, was die Zeit aus dem dicken, guten Jungen
gemacht hatte, ob er ſich ſehr verändert hatte, und
ob er in Folge dieſer Veränderung im Stande war,
jetzt ebenfalls, wie ſeinerzeit der Bauer Quakatz, der
ganzen Welt und alſo auch mir die Pforte der rothen
Schanze vor der Naſe zuzuſchlagen; oder ob er nach
der gewöhnlichen, verlegen-rathloſen Frage: „Mit wem
habe ich die Ehre?“ mir beide Hände entgegenzuſtrecken
und mit halbwegs dem alten Schulton ſagen werde:
„Hurrjeſes, Du biſt's, Eduard? nu, das iſt aber
ſchön, daß Du Dich meiner noch erinnerſt!“


In Anbetracht, daß er „weit draußen im Felde“
wohnte, hielt ich es nicht für nothwendig, die durch
Sitte und Gewohnheit feſtgeſetzten groß- mittel- und
kleinſtädtiſchen Beſuchsſtunden innezuhalten und war
gegen neun Uhr Morgens auf dem Wege zu ihm.


[35]

Ein wirklich feiner Morgen. In der Stadt hatte
die Polizei ſich löblichſt dafür an die Laden gelegt,
daß die Gaſſen ſauber gekehrt worden waren, und
draußen im Freien, im „Felde“ hatte Mutter Natur
dafür geſorgt, daß ſich Alles hübſch gewaſchen hatte.
Ja, ſie hatte es ſelber beſorgt, mit Seife und
Schwamm, mit Donner und Blitz; und wie friſch ge-
waſchenen Kindern hingen Baum, Buſch, Gras und
Blume noch die Thränen ob der Operation an den
Wimpern, und manchem ſah man es auch recht gut
an, wie es ſich mit Strampeln und Zappeln gewehrt
hatte. Aber einerlei, überſtanden war's noch mal,
und hübſch war's doch jetzt ſo. Die Welt glänzte,
und daß ein friſch wohlig Wehen darüber hinfuhr,
machte den Morgen auch nicht verdrießlicher; — drüben
im jungfräulichen Kaffernlande bei den Betſchuanen
und Buren konnte nach einem Nachtgewitter die Land-
ſchaft nicht jugendlicher ausſehen, als wie hier im
alten durch das Bedürfniß ungezählter Jahrtauſende
abgebrauchten, ausgenutzten Europa.


„Und Alles noch ganz ſo, wie zu Deiner Zeit,
Eduard!“ ſeufzte ich mit wehmüthiger Befriedigung.
Dem war aber doch nicht vollſtändig ſo.


Da war zum Beiſpiel, bei näherer Betrachtung
früher rechts vom Wege, der nach der rothen Schanze
führt, ein ungefähr vier bis fünf Ar großer Teich,
oder eigentlich Sumpf; — der war nicht mehr da.


Früher aller geheimnißvoll wimmelnden Wunder
voll hatte man ihn jetzt zu einem Stück mehr oder
weniger fruchtbaren Kartoffellandes gemacht, und ſo
3*
[36] nützlich das auch ſein mochte, ſchöner war's doch früher
geweſen und „erziehlicher“ auch. Der Lurkenteich
hatte das volle Recht dazu, zu verlangen, daß
ich mich mit Verwunderung nach ihm umſehe und
nachher ſchmerzlich ihn vermiſſe. Solch ein guter
Bekannter, ja vertrauter Freund! ſo voll von Kalmus,
Schilfrohr, Kolben, Fröſchen, Schnecken, Waſſerkäfern,
ſo überſchwirrt von Waſſerjungfern, ſo überflattert von
Schmetterlingen, ſo weidenumkränzt, und ſo — wohl-
riechend. Ja, wohlriechend! ja ſüß anheimelnd übel-
duftend, vorzüglich an heißen Sommertagen und wenn
man uns in der nachmittäglichen Naturgeſchichtsſtunde
geſagt hatte:


„Im Lurkenteich findet man Alles, was zur
heutigen Lektion gehört, in ſeltener Vollſtändigkeit.“


„Weiß Gott, ſie hätten ihn laſſen können, wo
er war. Sie hätten ihn laſſen ſollen, wie er war,“
murrte ich auf meinem diesmaligen Wege zur rothen
Schanze. „Auf die paar Säcke voll Feldfrüchte für
ihr Vieh oder ſich ſelber brauchte es ihnen doch nicht
anzukommen!“


Es war ihnen aber doch darauf angekommen
und ſo war heute denn nichts mehr dagegen zu machen,
und ich hatte mich einfach in den Verluſt zu fügen.
Da ich es nicht wußte, was ging es mich an, daß
die „Melioration“ einen langjährigen, durch alle In-
ſtanzen ausgefochtenen Prozeß bedeutete und das
irdiſche Behagen von drei oder vier ſtädtiſchen Ge-
müſegärtnerfamilien gekoſtet hatte?


Da war ein anderer Prozeß, der ſchon von
[37] meinen früheren Jugenderinnerungen her eine ganz
andere Bedeutung hatte: der böſe Fall Quakatz in
Sachen Kienbaum.


Je weiter ich auf dem engen hübſchen Feldwege,
zwiſchen den wogenden, morgenſonnebeglänzten, feucht-
friſchen, der Ernte zureifenden Kornfeldern der rothen
Schanze zu wanderte, deſto deutlicher kam mir die
jetzt ſo völlig verhallte Aufregung von Stadt und Land
meiner Jugendzeit über den Mord an Kienbaum in
das Gedächtniß zurück. Mit immer neuen Einzel-
heiten — eine immer intereſſanter als die andere!


Dreimal hatten ſie den damaligen Herrn der
rothen Schanze, den Bauer Andreas Quakatz gefänglich
eingezogen, weil ſich neue „Indizien“ in Sachen
Kienbaum ergeben hatten. Und dreimal hatten ſie
ihn wieder ungeköpft loslaſſen müſſen, den Bauer
Quakatz, weil dieſe neuen Anzeichen und Vermuthungs-
gründe ſich doch abermals als das auswieſen, was
ſie waren, nämlich mehr oder weniger leichtfertige,
und einige Male auch heimtückiſch und boshaft auf-
gebrachte Verdachtserregungen.


„Ja, Eduard, wer erſchlug den Hahn Gockel?“
fragte Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen,
trübſelig, kopfſchüttelnd und ſich hinter den etwas ſehr
abſtehenden Ohren kratzend, als ich mit ihm zum letzten
Mal nach unſerm Abgang von der Schule auf der
Höhe des Weges ſtand, von wo aus man das Kriegs-
werk des Comte de Lusace, des Prinzen Xaver von
Sachſen zuerſt — auch heute noch — vollſtändig in
ſeiner ganzen Wohlerhaltenheit vor Augen hat. Es
[38] iſt dieſelbe Höhe, auf welcher ich im nächtlichen Halb-
und Ganz-Traum anhielt zum Briefſortiren unter
der alten Hainbuche, gegenüber dem Dammwege, der
— heute auch noch — über den Graben zu dem
Eingangsthore von Quakatzenhof führt.


Die Hainbuche hatte ich nun zu vermiſſen. Auch
ſie war wie der Lurkenteich der Melioration, der Feld-
verbeſſerung zum Opfer gefallen. Sie hatte wahr-
ſcheinlich für das Bedürfniß der hungerigen Gegen-
wart zu viel Schatten über das Ackerland geworfen, oder
zu ſehr ihre Wurzeln im Grund und Boden ausgebreitet.
Doch, gottlob, die rothe Schanze war noch vorhanden,
wie ſie, freilich wahrhaftig damals nicht zur Melioration
der Gegend, im Jahre Siebenzehnhunderteinundſechzig
aus dem Grund und Boden vom alten grimmigen
Maulwurf Krieg aufgeworfen worden war. Und ich
ſtand ihr nun wieder gegenüber und dachte zurück an
uns Zwei: Heinrich Schaumann, genannt Stopf-
kuchen, und mich, und an das, was Stopfkuchen
damals aus dem friſcheſten Miterleben heraus über
den Fall Kienbaum contra Quakatz, oder Quakatz
contra Kienbaum, und was mehr oder weniger damit
zuſammenhing, über Tinchen Quakatz zu bemerken
hatte.


Wie ein angehender Befliſſener der Gottesgelahrt-
heit ſah er nicht aus; denn bei den jungen Herren
pflegt die Wohlbeleibtheit, die er, Stopfkuchen, ſchon
damals aufzuweiſen hatte, erſt ſpäter zu kommen,
wenn ſie auf nahrhafter Pfarre am eigenen Tiſche
nachholen, was ſie am Freitiſche ſeinerzeit verſäumt
[39] haben. Aber er war gut, herzensgut. Er verſuchte
es wenigſtens, ſeinen Eltern zu Liebe, ſich in das
gedeihlichſte Amt der Erde hinein zu hungern. „Was
thut man nicht, einer nicht nur verbohrten, ſondern
auch verweinten Mama und einem wahrhaft wüthend
auf das nächſtliegende beſte Brodſtudium für den
Herrn Sohn erpichten Alten gegenüber? Man will
doch dem Greiſenpaar nicht die ſchönſten Hoffnungen
knicken. Und etwas wünſchen die beiden guten Leute
doch auch dafür zu haben, daß ſie Einen in dieſe
Welt voll abgenagter Knochen, trockner Brodrinden
und höchſt geſunden, klaren, erquickenden und vor Allem
billigen Brunnenwaſſers hineingeſetzt haben, Eduard!“


Eben von mir niedergeſchriebene und von einem
treuen, herzlichen, kindlichen Gemüthe zeugende Eräuße-
rungen ſind ſelbſtverſtändlich auch eine Erinnerung. Er
tröſtete ſich nur von der Sekunda bis zum Abiturienten-
examen recht häufig damit. Aber damals — an jenem
Tage des Abſchiednehmens wenn nicht von der Jugend-
zeit, ſo doch von der Kinderzeit; an jenem Tage, wo
wir Beiden: ich und er, für lange, lange Zeit zum
letzten Male unter Störzers Hainbuche vor der rothen
Schanze ſtanden, ſagte er ganz was Anderes; er ſagte:


„Da iſt ſie! Mitten unter ihrem Kriegsvolk.
Nun höre und ſieh nur die Hunde, wie ſie hier herüber
blaffen und uns die Zähne zeigen! Famoſe Köter!
wenn ich an irgend etwas im Leben meine Freude
habe, ſo ſind ſie es. Nu guck nur, wie gut ſie die
Parole gefaßt haben, und wie ſie es verſtehen, alles
unnöthige Pack vom Tinchen Quakatz und von der
[40] rothen Schanze abzuwehren. Sag ſelber: hätte der
lächerliche Musjeh in franzöſiſchen Dienſten, der Herr
Graf von der Lauſitz, der Herr Prinz Xaver von
Kurſachſen, den Wall da drüben beſſer ſpicken können,
als der Bauer Quakatz?“


„Nu ja, Heinrich; es paßt eins zum andern:
Haus, Hof und Graben — Vater, Tochter und
Wachtmannſchaft.“


„Das thut's. Gottlob! Und nun will ich Dir
noch etwas ſagen, Eduard, wenn Du es mir nicht
übel nehmen willſt. Nämlich jetzt wär's mir doch
lieber, wenn Du Dich auf dem Wege hierher mir
nicht aufgehängt hätteſt. Den Damon und Pythias,
den David und Jonathan, und wie die Muſterfreunde
[ſonſt] noch heißen mögen, hätten wir bei anderer Ge-
legenheit, auf einem andern Spazierpfade in entgegen-
geſetzter Richtung von der Stadt und der rothen
Schanze vor unſerer demnächſtigen Trennung ſpielen
können. Aber da Du ein guter Kerl und wirklich
mein Freund biſt, ſo bleib meinswegen, da ich es nicht
ändern kann. Aber die Liebe thuſt Du mir, und
löſeſt Dich möglichſt in Luft und unverbrüchliches
Schweigen auf, und nachher, drunten in der Stadt,
machſt Du mich in der übrigen Bekanntſchaft nicht
lächerlicher, als es unbedingt nöthig iſt. Die rothe
Schanze hat es mir nun einmal angethan, und das
arme Mädchen darüber unter ſeiner Hundebande kann
auch nichts dafür, wenn es mich gleichfalls zu einem
Narren gemacht hat. Es iſt eben ſo geſchrieben und
[41] ich habe einfach das Schickſal in mich hineinzufreſſen.
Guten Tag, Fräulein Valentine!“


„Guten Tag, Herr Schaumann.“


Sie ſah, wie ſie mit untergeſchlagenen Armen
am Thorpfeiler lehnte, nicht danach aus, als ob es
in Wahrheit ihr Ernſt damit ſei, Jemandem in der
Welt einen guten Tag zu bieten. Man blickte un-
willkürlich danach um, ob nicht eine geladene Büchs-
flinte neben ihr am Eingang der Schanze lehne, oder
ob ſie nicht ein ſcharfes, ſpitzes Meſſer in der rechten
Fauſt unter der linken Achſel verborgen und zum
ſchnellen Gebrauch bereit halte. Auch ſo was wie
von einer wilden Katze hatte ſie an ſich, die im Noth-
fall keiner künſtlichen Waffe bedurfte, ſondern nur
Jedem mit den echtgewachſenen Krallen ins Geſicht
zu fahren brauchte und ſich mit den Zähnen feſtzu-
beißen, um in jedem Kampfe für ſich und um ihres
Vaters Haus, Hof und Herd die Oberhand zu be-
halten.


Nicht groß und nicht klein, nicht mager und
nicht fett, nicht hübſch und nicht häßlich, nicht ſtädtiſch
und nicht dörfiſch, nicht Kind und nicht Jungfrau
ſtand ſie, Valentine Quakatz, des Mordbauern Andreas
Quakatzen einzige Tochter und bewachte ihres blutig
berüchtigten Vaters Anweſen, die rothe Schanze, in
der friedlichen, ſonnebeglänzten, laubgrünen und ähren-
blonden Landſchaft.


Ich rufe nicht mehr: „Da ſind eure Poſtſachen,
eure Schreibſachen, eure Zeitung, Du rothe Giftkatze,“
Störzers Amtsgeſchäfte am Eingangsthor der rothen
[42] Schanze ausrichtend. Sie aber, Fräulein Quakatz,
duckt die Hunde wie damals und faſt mit den nämlichen
wunderlichen Zurufen wie damals. Die Köter be-
ruhigen ſich langſam und widerwillig, und behalten
uns, leiſe fortknurrend, feſt und mißtrauiſch im Auge.


„Der Vater iſt nicht zu Hauſe,“ ſagt Valentine.
„Und die Leute ſind im Felde,“ fügt ſie hinzu.


„Schön!“ ſagt Stopfkuchen. „Da ſind wir
ja wieder einmal unter uns Beiden, Tinchen; denn
Dem da habe ich es eben ſchon klar genug ausein-
andergeſetzt, daß er ſich gegenwärtig vollſtändig als Luft
zu betrachten habe. Natürlich, wenn er nicht mein
beſter Freund wäre, würde ich ihm meine Meinung
in Hinſicht auf ſeine heutige völlige Ueberflüſſigkeit
hier noch deutlicher zum Bewußtſein gebracht haben.
Aber er iſt mein Freund, und alſo auch, natürlich
ſo weit das mir paßt, der Deinige, Tinchen; und
ſo dumm biſt Du nicht, Mädchen, daß Du nicht Be-
ſcheid wüßteſt, daß er über euch, die rothe Schanze,
ſo gut Beſcheid weiß, wie die übrige edle, chriſtliche
Menſchheit auf fünf Meilen im Umkreis. Herrgott,
darum allein könnte man ſchon mit Wonne Theologie
ſtudiren, um einmal ſo recht von der Kanzel aus
unter ſie fahren zu dürfen, die edle Menſchheit nämlich!
Und nun kommt endlich ins Haus. Die letzte Naſe voll
des üblen Geruches der rothen Schanze zum Mitnehmen
in die reinere, die beſſere Luft da draußen, jenſeits
der eben erwähnten fünf Meilen!“


Zum „Sich äußern“ — zum „Worte machen“ —
zum „Reden halten“, kurz zum „Predigen“ war er
[43] immer ſofort da, der dicke Heinrich. Wenn es darauf
angekommen wäre, müßte er unbedingt heute, wenn
nicht cismontaner Pabſt, ſo doch Kardinal oder zum
mindeſten Archiepiscopus; aber wahrhaftig nicht der
jetzige Bauer auf der rothen Schanze ſein.


„Wo iſt denn der alte Mann?“ fragt er für's
Erſte noch.


„Wieder vor'm Gericht in der Stadt,“ ſpricht
grimmig die Tochter und Erbin der rothen Schanze.
„Er hat's ja wieder mit dem Schulzen von Maiholzen
da gehabt und ihm die Fauſt vor's dumme Geſicht
gehalten und ihn in der alten Sache wegen Kienbaum
von Neuem einen Verleumder geheißen. Da iſt er
denn von Neuem verklagt worden.“


Und Stopfkuchen zeigt, daß er ungemein melodiſch
zu flöten verſteht. Er läßt ſeine Gefühle in einer
langgezogenen Kadenz verklingen und nimmt ſie thät-
lich wieder auf, indem er den Arm dem Mädchen
um die Hüften legt, und, zu mir gewandt, ſagt:


„Schöner konnten wir's ja wieder mal nicht
treffen.“


Da aber begibt ſich etwas, was vor Allem dieſen
längſt vergangenen Jugendtag mir wieder in vollſter
Lebendigkeit vor die Seele ſtellt: Valentine Quakatz
gibt ihre Wacht am Eingangsthor der rothen Schanze
auf, — vollſtändig! Der bösverkniffene Mund wird
zu einem weinerlichen verzogen; — das Mädchen
kämpft, kämpft mit ſeinen Thränen, aber ſie ſind
mächtiger als es. Tinchen ſchluchzt, weint laut hinaus
und ſpringt Stopfkuchen nicht mit den Fingernägeln
[44] ins Geſicht, ſondern legt ſich ihm um den Hals,
hängt ihm am Halſe und jammert:


„Heinrich, Du biſt zu ſchlecht!“


„Na, na!“


„Du biſt ſo ſchlecht wie die ganze andere Welt.“


„Na, ſo hetze mir doch Deine Köter an den
Hals, verrücktes Frauenzimmer! Was ſagſt Du dazu,
Eduard? ich ſo ſchlecht wie die ganze übrige Welt?“


Ich ſage garnichts. Ich ſtehe nur wie ein
dummer Junge mit offenem Munde und ſehe wie
der dicke Freund das Mädchen — ein Mädchen, wie
als was ganz Selbſtverſtändliches, ebenfalls im Arme
hält, ihm auf den Rücken klopft, ihm über die Haare
ſtreichelt, ihm das Kinn aufhebt und ihm einen Kuß
gibt. Ich ſehe wie er mühſam hinten an der Rock-
taſche nach ſeinem Taſchentuch angelt, wie es ihm
gelingt, daſſelbe hervorzuholen, und wie er mit dem-
ſelben dem Mädchen — einem Mädchen, einem
fremden, erwachſenen Mädchen die Thränen aus den
Augen wiſcht, und ich ſehe Stopfkuchen mit einem
Male mit ganz anderen Augen an, als mit welchen
ich ihn bis zu dieſer verblüffenden Stunde geſehen
habe. Blutübergoſſen wünſche ich mich bis in die
fernſten Fernen weg und möchte zugleich Den mal
ſehen, dem ich folgte, wenn er mich beim Ellbogen
nähme und ſagte: „Komm Eduard, Du haſt doch
hier garnichts zu ſuchen!“ —


Glücklicherweiſe hat Stopfkuchen aber viel zu
viel mit dem Mädchen zu thun, und widmet mir
nur dann und wann beiläufig eine höfliche Bemerkung.


[45]

„Herze von 'ner Gans, kann ich denn was dafür?
Gehe ich etwa aus freien Stücken? Muß ich nicht?
habe ich nicht die Verpflichtung, wenigſtens einmal
durchs Examen zu fallen, meinen guten Eltern zu
Liebe? Wie gerne ich Dir zu Liebe hierbliebe,
Tinchen, das weißt Du, alſo ſei ein gutes Mädchen
und laß das dumme Gewimmer. Guck nur wie der
Tapps, der Eduard guckt und ſich überlegt, was er
zu Hauſe Alles erzählen kann! Da — haſt Du noch
mal mein Taſchentuch, und nun blamire uns nicht
länger in freier Luft. Glaubſt Du, daß darum der
Herr Graf von der Lauſitz dieſen Wall aufgeworfen
habe, daß Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen,
von ihm herab ſich dem Neſt drunten von ſeiner
weichſten Seite zeige? Bilde Dir das nicht ein.
Bombardiren werde ich noch mal von ihm aus
das Philiſterthum da unten, daß der kurſächſiſche
Staberl-Xaverl ſich heute noch als balſamirtes Leder-
und Knochenbündel in ſeiner Fürſtengruft darüber
freuen ſoll. Komm mit, Eduard, da Du da biſt.
Wir wollen endlich hinein ins Haus; denn nämlich,
Eduard, nicht immer holt man draußen in der freien
Luft am freiſten Athem, welche Erfahrung ich Dir,
mein Junge, zu möglichem Gebrauche gern gratis
überlaſſe. Dumme Witze verbitte ich mir natürlich,
jetzt hier und nachher drunten in der Stadt im Kreiſe
Deiner lieben Verwandten und nähern und weitern
Bekannten. Wir Drei ſind alſo ganz allein auf der
rothen Schanze? Wundervoll! Sag's Deinen Kötern
ſo eindringlich als möglich, was ſie zu thun haben,
[46] Tinchen.“ Fräulein Valentine wendet ſich zu ihrer
vierbeinigen Wachtmannſchaft, das heißt, ſie hebt die
Fauſt gegen ſie und ſchüttelt dieſelbe dann gegen die
lachende, freundliche Sommerlandſchaft jenſeit des
Grabens. Das bedeutet, daß das Vieh noch weniger
als ſonſt Jemandem ungeſtraft den Eintritt in das
Bollwerk des Grafen von der Lauſitz gewähren ſoll.
Und es verſteht das und antwortet mit einem dumpfen
giftigen Gewinſel und Geknurr: wir Drei aber haben
jetzt wahrhaftig wundervoll den Nachmittag allein
auf der rothen Schanze. —


Erfreulich war der Anblick gerade nicht, wenn
man die Hunde und das Thor hinter ſich hatte.
Verwildert und verwahrloſt erſchien Alles umher, jede
Arbeit nur halb und widerwillig und nachläſſig gethan.
Es war keine rechte Ordnung im Garten, im Hofe, im
Hauſe, und in der Scheune wahrſcheinlich auch nicht.
Alles Geräthe lag und ſtand umher wie man es eben
aus der Hand hatte fallen laſſen oder bei Seite ge-
ſtellt hatte. Das Gebüſch und Unkraut wuchs unge-
hindert. Die Jauche konnte ſich keine beſſeren Tage
wünſchen, als wie auf der rothen Schanze, und ſie
ſuchte ſich denn auch ihre Rinnſale, wo es ihr be-
liebte. Die Hühner ſcharrten, wo ſie wollten im
Garten. Enten und Gänſe watſchelten ebenſo, wo
ſie wollten im Hofe und im Hauſe. Dem Stallvieh
ſah man es an, daß der Herr häufig nicht zu Hauſe
war und auch dann nicht ſein Auge, wie es ſein
ſollte, bei ihm hatte. Daß das Kind vom Hauſe
nicht Alles allein beſorgen konnte, und daß das Ge-
[47] ſinde es deshalb ſehr „ſachte angehen ließ“, das war
nur zu augenſcheinlich. Was aber den letzteren Punkt,
das Geſinde, anbetraf, ſo hatte das mit deſſen Nichts-
nützigkeit ſeine beſten Gründe. Der Bauer auf der
rothen Schanze hatte ſich, was Knechte, Mägde und
Jungen anging, eben mit dem zu begnügen, was
Niemand ſonſt mochte — mit dem Abhub und dem
Bodenſatz der Gegend.


Es that für einen rechtlichen Menſchen, für ein
ordentliches Mädchen nicht gut, auf der rothen Schanze
zu dienen und da ehrlich nach der Ordnung zu ſehen.
Hoher Lohn und gute Behandlung kamen dort gar-
nicht in Betracht. Jeder Groſchen, den der Bauer
Quakatz hergab, hatte ja einen Blutgeruch an ſich.
Wer von der rothen Schanze kam und einen anderen
Dienſt ſuchte, der brachte denſelben Geruch in den
Kleidern mit, und man ließ es mit verzogener Naſe
ihm merken und ſchickte ihn um ein Haus weiter. Bis
der Bauer Andreas Quakatz endlich eingeſtand, daß er
Kienbaum todtgeſchlagen habe, oder bis der Hof auf der
rothen Schanze im Ganzen unter den Hammer gebracht,
oder noch beſſer für Maiholzen, im Einzelnen aus-
geſchlachtet worden war, konnte ſich hieran nichts,
garnichts ändern. Und die Erbtochter der rothen Schanze,
Valentine Quakatz, änderte auch nichts, garnichts
daran; ſie hatte nur ihr bitter Teil an der böſen
Vervehmung mitzutragen. Es iſt Stopfkuchen, der
wie die langen Wogen des Weltmeeres mich wieder
auf dem „Hagebucher“ der neuen Heimath zu tragen,
fragt:


[48]

„Was meinſt Du, Eduard? Sieht das hier
nicht niedlich aus?“ —


Knecht und Magd haben, da der Herr wieder
mal in „Beleidigungs- und Ehrenſachen-Kränkungs-
geſchäften“ vom Hauſe iſt, ſich ihre Arbeit nach Gut-
dünken draußen geſucht, liegen vielleicht auch irgend-
wo unter einem Buſch und laſſen unſern Herrgott
den beſten Meiſter ſein. Kein Laut ringsumher als
das Schrillen der Grillen oder das Gekreiſch zankender
Spatzen auf den Dächern und in den Hecken! Auch
Tinchen ſchluchzt nicht mehr zornig aus ſich heraus
oder erbittert-giftig in ſich hinein. Sie iſt uns
voran in die Stube gegangen, ohne ſich danach um-
geſehen zu haben, ob wir ihr auch gefolgt ſind. Wir
ſind ihr, doch ein wenig ſcheu und befangen, gefolgt,
und nun ſitzt ſie am Tiſche, mit dem Rücken an der
Wand und hat beide Arme, die Hände flach ausge-
breitet, auf die altersſchwarze Eichenplatte gelegt, und
Stopfkuchen und ich ſtehen vor ihr und ſehen in
der dunklen niederen Bauernſtube vom Licht da
draußen geblendet, auf ſie hin; — man kann eine
Meile weit jede Fliege ſummen hören. Ja, die Fliegen
der rothen Schanze! ſie haben das Schanzwerk des
Prinzen Xaver von Sachſen auch nicht aufgegeben.
Sie ſind noch vorhanden in der Stube des Bauern
Quakatz, einerlei, ob er Kienbaum todtgeſchlagen
hat oder nicht. Es giebt nichts innerhalb der vier
Wände was ſie nicht beſchmitzt haben; vor Allem
die Bilder an den Wänden: die zehn Gebote, des
Jägers Begräbniß, den unter die Räuber gefallenen
[49] Mann im Evangelio. An des Jägers Begräbniß
haben ſie mit allen übrigen Thieren ſehr Theil ge-
nommen und dem Sarge alle Ehre erwieſen. Eben-
ſo dem Wort: Du ſollſt nicht tödten. Es hängt
übrigens kein neues Bild zu ihrer Begutachtung an
der Wand. An der Schanze des ſiebenjährigen
Krieges iſt ſelbſt die neueſte Weltgeſchichte vorbeige-
zogen, ohne ein Zeichen hinterlaſſen zu haben. Kein
Schlachtenbild aus Neu-Ruppin vom Düppelſturm,
keins von Sechsundſechzig, keins von Siebenzig. Nicht
Kaiſer Wilhelm, Fürſt Bismarck und Graf Moltke!
was ging die Weltgeſchichte den Bauer von der rothen
Schanze an? Er hatte ſeinen Kienbaum; er hatte
viel zu ſchwer an ſeinem eigenen Daſein auf dieſer
Erde zu tragen, um ſich viel um das anderer Leute
kümmern zu können und wenn es die Erſten dieſer
Welt waren! Ihm hatte dieſe Welt, überall in ſeinem
Hauſe, wo er auf eine Wand ſah, Kienbaum daran
gehängt, und er brauchte dazu nicht Malerkunſt und
Glas und Rahmen: er ſah den Mann jederzeit und
ſelbſt bei geſchloſſenen Augen ſo genau und deutlich
vor ſich, wie kein Maler, und wenn es der allerbeſte
geweſen wäre, ihn ihm hätte malen können.


Ich gaffe von dem bunten Bilderbogen der zehn
Gebote verlegen und unruhig auf das uns anſtarrende
Mädchen, da ſagt Heinrich:


„Nun, Tinchen, laß das dumme Zeug und ſtiere
die beiden beſten Lateiner und firmſten Griechen des
diesmaligen Oſter-Abgangs-Schwindels, — grinſe
nicht, Eduard! — aus ihrer guten Meinung von ſich
W. Raabe. Stopfkuchen. 4
[50] ſelber heraus. Ja, armes Wurm, die ſüße Kinder-
zeit liegt nun unwiderruflich hinter uns, der Ernſt
des Lebens — weine nicht, Eduard! — beginnt, und
lebten wir noch in vernünftigeren Zeiten, ſo würde
ich Dir vorſchlagen, Herze: ſteig hinter Deinem Ritter
auf den Gaul, faße mich um die Taille, und halte
Dich feſt. Komm kurz und gut mit mir. Aber es
geht nicht, Eduard. Was können wir dafür, daß
wir wenigſtens das eine Mal nicht von den Eſeln
aufs Pferd kommen? daß wir einfach morgen mit
der Eiſenbahn fortmüſſen? Tinchen, mein Herzens-
tinchen, ſieh mich nicht ſo dumm an; was ich meinen
Herren Eltern aus dem erſten Semeſter mitbringen
werde, weiß ich nicht; aber Dir bringe ich den alten
Stopfkuchen wieder. So wahr jetzt der Himmel blau
über uns iſt, und die Erde grün wird und immer
grüner: ich will nicht umſonſt meine täglichen Prügel
der rothen Schanze wegen gekriegt haben! ich will
nicht umſonſt meine einzigen guten Stunden in
dieſem Jammerthal auf dem Anſtand dem alten
Quakatz und ſeinem kleinen Tinchen gegenüber verlebt
haben! Wenn Sie es verlangen, Fräulein Valen-
tine, ſo hinterlaſſe ich Ihnen das auch ſchriftlich!“


Es fuhr wie ein Schauder durch den ganzen
Körper der Tochter des alten Quakatz; dann aber
ſagte Valentine:


„Ich will nichts Schriftliches. Was von Schrift-
lichem hierher kommt, das nimmt auch mein Vater am
liebſten nur, wenn es ihm auf die Miſtgabel gelegt und
zugereicht wird. Nachher faßt er es an wie eine
[51] glühende Kohle. Und Du, Du — noch beſſer wär's
wenn gar kein Menſch eine Zunge hätte zum Sprechen,
zum Lügen, zum Sticheln — Du auch!“


„Ich auch?“ fragte Stopfkuchen; aber ohne jeden
Ausdruck der Ueberraſchung, des Gekränktſeins oder
gar der Entrüſtung. Indem er ſich halb zu mir
wendete, ſagte er:


„Ein bischen mehr könnteſt Du ſelbſt bei den
heutigen tragiſchen Umſtänden bei Dir ſelber bleiben,
Tinchen; und Du, Eduard, jetzt kannſt Du wirklich
mal für die Lebenspraxis was lernen. Du auch!
Dies Wort iſt großartig, und dann ſieh Dir mal das
Geſicht an, was ſie mir zu der Sottiſe ſchneidet. Das hat
man nun davon, daß man einem Frauenzimmer von
Kindesbeinen an ſeine ſchönſten freien Sommer- und
Winternachmittage und die Ferien ganz gewidmet
hat. Hat die Perſon wohl eine Ahnung davon,
wie viele Prügel etcetera man ihretwegen von Er-
zeugern und Lehrern hingenommen hat ohne einen
Muck zu ſagen? — Du auch! Mädchen, Mädchen,
wenn das Schaf, dieſer Eduard, hier nicht bei uns
ſtände, ich würde Dir und Deinem verrückten Alten
und der rothen Schanze meine Zuneigung noch einmal
in einer Weiſe deutlich machen, die ſich wahrhaftig
nicht gewaſchen haben ſollte.“


Nun läuft wieder ein Zucken über die Schultern
unter dem buntbäuerlichen Bruſttuch. Die Erbtochter
der rothen Schanze ſchielt wie ein nur halb gebändigtes
und zum Beſſern überredetes oder vielmehr ver-
ſchüchtertes Thier zu dem angehenden Kandidaten aller
4*
[52] denkbaren Brodſtudien, Schaumann, auf; ſie will mit
beiden Fäuſten auf den Tiſch ſchlagen, aber es geht
nicht. Sie läßt die Arme ſchlaff am Leibe herunter
ſinken und ſchluchzt:


„Ich habe Keinen gerufen, um ſich um mich zu
bekümmern!“


„Ne,“ ſagt Stopfkuchen. „Ja, da hat ſie Recht,
Eduard! Ich bin ganz von ſelber gekommen und
habe mich ihrer angenommen. Du weißt es ja,
Eduard.“


Ganz ſo genau, wie der Freund zu meinen
ſchien, wußte ich es doch nicht. Nur das wußte ich,
daß es während unſerer ganzen „Jugendzeit“ in dieſer
Hinſicht und nach der [Anſchauung] ſowohl des Hauſes
wie der Schule keinen verrücktern Bengel gegeben
hatte, als Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen.
Wie ich mit dem Landpoſtboten Friedrich Störzer
gelaufen war, ſo hatte er ſich vor der rothen Schanze
feſtgelegt — „wie die Katze vor dem Mauſeloch,“
wie er ſich ſelber ausdrückte. Um mit Einem zu
gehen oder gar zu laufen dazu war der gemüthliche
Knabe viel zu faul; aber ſich durch einen Reisbrei-
wall ins Schlaraffenland hineinzufreſſen, dazu war
er im Stande, und dieſes war bis jetzt die Meinung
der Welt und alſo auch die meinige über ihn ge-
weſen. Das war es einzig und allein, was ich damals
an jenem Abſchiedstage über ſein Verhältniß zu —
dem Mädchen, zu Tinchen — Valentine Quakatz
wußte. Meine Dumme-Jungens-Seele dachte nicht
daran, daß die verſchüchterte, verwilderte, rothhaarige
[53] Krabbe des Bauern Quakatz etwas anderes als eine
ſehr beiläufige Rolle bei ſeiner Verliebtheit in die
rothe Schanze des Prinzen Xaver von Sachſen ſpielen
könne. Ich und die Welt von damals konnten es
doch wahrhaftig nicht wiſſen, daß Stopfkuchen auch
nach ſolcher Richtung hin romantiſcher Gefühle
fähig ſei.


Es war eine Luft in der niedern ſchwarzen
Bauernſtube, die Keinem gefallen konnte. Und der
Bauer Andreas hatte einen deutlichen Gang auf
ihrem ſchwarzen Fußboden ausgetreten, vom Fenſter
bis nach dem Ofen.


„Da geht er, ſo lange ich weiß,“ ſagt ſeine
Tochter, „und ich ſitze hier und höre ihn mit ſich ſelber
ſprechen, die halbe Nacht durch, bis er mich zu Bette
jagt. Du mußt es wiſſen, Heinrich, weshalb Du
zu mir gekommen biſt und Dich an die rothe Schanze
herangemacht haſt; aber Dein Herr Freund, der Herr
Eduard kann nichts davon wiſſen, wie es jetzt mir
hier bei Deinem Abſchiede zu Sinnen ſein muß. Aber
wenn er ſo freundlich ſein will, kann er ſpäter viel-
leicht einmal Zeuge ſein, daß ich Dir nach meinem
Tode die rothe Schanze vermacht habe mit Allem was
dazu gehört; denn mein Vater hat doch keinen Andern,
dem er ſie in ſein Teſtament ſetzen kann, als nur
mich, außer den Hunden draußen am Thorweg.
Wollen Sie ſo gut ſein, Herr Eduard, da Sie heute
mitgekommen ſind, daß Sie es ſpäter einmal vor
dem Gerichte mit bezeugen, daß die rothe Schanze,
wenn mein Vater und ich nichts mehr von der Welt
[54] brauchen, einzig und allein Herrn Schaumann ge-
hört?“


Wie es für den Menſchen, einen körperlich ſo
angelegten Menſchen ſo raſch möglich zu machen ge-
weſen war, weiß ich nicht; aber das Faktum war
vorhanden: er, Stopfkuchen, ſitzt hinter dem alten
Eßtiſch des Quakatzenhofes neben der Erbtochter des-
ſelben und hat ſeinen Arm ihr um die Schulter gelegt
und ruft:


„Jetzt hört es aber auf! Dummheit läßt man
ſich wohl gefallen, aber doch nur bis zu einem ge-
wiſſen Grade, ſagt Kollege Blechhammer da unten,
Eduard. Sieh Dir noch einmal die Quakatzenburg
von inwendig an, alter Junge. Wer weiß, ob Du
ſie ſo in Deinem Leben wieder zu ſehen kriegſt! Hier
mein Ideal — meine Burg, mein Haus! da draußen
die holde Flur, wo wir als Knaben ſpielten. Morgen
alſo die Universitas litterarum und das hohe Meer
des Lebens! Verflucht poetiſch und verlockend für
zwei abgehende Pennäler. Wiſch Dir die Augen,
Du liebſte närriſche Bauergans und thu mir den Ge-
fallen und komm wieder mit ins Freie. So wie
man den erſten Athemzug hier innen thut, hat man
genug davon und ſchnappt nach der Luft da draußen.
Vivant omnes virgines — komm, virgo — kratze
und ſpucke nicht, virago! Ja wehre Dich nur,
Fräulein! Sie ſollen mich nicht umſonſt da unten
Stopfkuchen benamſet haben; ich werde ihnen zeigen,
was dem Herz und dem Magen bekommt.“


Er hatte das Mädchen um den Leib gefaßt, er
[55] hob es hinter dem Bauerneßtiſch hervor, er trug es
weg, trug es aus dem Hauſe und ſetzte es wieder
hin auf den Wall des [Prinzen] Xaver von Sachſen.
Valentine ließ es ſich ruhig gefallen, und ich — ich
folgte verblüfft, betäubt, zweifelnd — kurz, Stopf-
kuchen hätte geſagt: „wie ein Schaf!“ Wenn aber
Stopfkuchen jetzt auch noch Flügel entfaltet hätte und
mit der Erbtochter von der rothen Schanze, mit dem
Kinde von Kienbaums Mörder langſam, aber immer
höher, höher, höher in den blauen Frühlingshimmel
aufgeſtiegen wäre, ſo hätte ich willenlos mir auch
das gefallen laſſen müſſen und hätte höchſtens fragen
dürfen: „Iſt es denn die Möglichkeit?“


Wir ſtanden wieder auf der grüngraſigen Wall-
höhe des alten Kriegskunſtſtücks des Herrn Grafen
von der Lauſitz — wir beiden angehenden Studenten
und Valentine Quakatz: Heinrich und Tinchen Arm
in Arm.


Plötzlich ſtieß der närriſche Menſch, Stopfkuchen,
einen jauchzenden Ruf aus, ſchlug mich auf die
Schulter, daß ich in die Kniee ſchoß und ſagte wie
aus tiefſtem Magen heraus:


„Und es iſt, Eines ins Andere gerechnet, doch
ſo ungemüthlich nicht, daß der Sachſe und der Franzos
Anno Siebenzehnhunderteinundſechzig das Neſt da
unten nicht gänzlich ausgerottet, und alſo auch uns
unmöglich gemacht haben. Wie nett es eigentlich,
ſo im Ganzen, da doch liegt und durch die Güte des
Herrn dem ſiebenjährigen Kriege zum Trotz liegen
geblieben iſt. Ja, Flur, wo wir als Knaben ſpielten —
[56] Eduard! ſieh ſie Dir noch mal an, alter Junge, und
gehe hin und lerne was, auf daß Du ihr einmal
ebenfalls Ehre machſt und ihren guten Ruf bei den
Leuten aufrecht erhältſt. Du aber, Tinchen, kümmere
Dich gar nicht um ſie. Was ich und Du und Dein
Papa von ihr zu halten haben, das wiſſen wir und
von dem — unſerm Standpunkt mach' ich es viel-
leicht doch möglich, Prediger oder Staatsanwalt in
ihr zu werden. Eine ſtandfeſte, haltbar[e] Kanzel
würde freilich zu erſterm Lehr- und Straffach wohl
gehören,“ ſeufzte er, ſeine derbe biedere Rechte erſt
betrachtend und ſie dann zur Fauſt geballt der
Heimathſtadt drunten im Thal ebenfalls wie zu vor-
ſichtiger, genauer Betrachtung hinhaltend.


„Da ſitzen ſie nun auf ihren Bockſtühlen, Dein und
mein Alter, Eduard, und haben keine Ahnung davon,
von welcher Höhe aus Stopfkuchen ſie betrachtet,
oder, nach Eurer Ausdrucksweiſe, auf ſie 'runterkuckt.“


„Goldne Abendſonne, wie biſt Du ſo ſchön!“
ſummte ich, wie um die Rede auf was Anderes zu
bringen; aber Stopfkuchen ließ ſelten von einem
einmal begonnenen Gedankengange leicht ab.


„Natürlich iſt ſie ſchön; — vorzüglich wie wir
hier an des Herrn Prinzen von Sachſen Wallböſchung
der endlich gewonnenen Freiheit wirklich Menſch ſein
zu dürfen, uns erfreuen. Sieh 'mal da flammt ſie
grade in den Fenſtern des Schulkarzers, ſowie in denen
unſeres Provinzialgefangenhauſes. Der reine Märchen-
zauber! Hätteſt Du wirklich nie das Bedürfniß ge-
fühlt, Freund meiner Kindheit, o Du mein Eduard,
[57] Deinen greuligen Alten, ſo wie ich den meinigen,
und vorzüglich um die Zeit der Verſetzung in eine
höhere Klaſſe edelſter deutſcher Menſchenbildung, dort
hinter einem jener Gitter unſchädlich gemacht, in
Sicherheit ſitzend zu wiſſen?“


Und dieſen Menſchen hatten wir nicht nur für
den Dickſten, Faulſten und Gefräßigſten unter uns,
ſondern auch nicht nur für den Dummſten unter
uns, ſondern auch überhaupt für einen Dummkopf
gehalten, o wir Eſel!


Und wer ihn auch jetzt wieder, nicht etwa von
ſeinem Gedankengange abbrachte, ſondern ihn darin
im bedachtſamen, ruhigen Schritt beſtärkte, das war
nicht der feine, wohlgeſittete, mit dem beſten Schul-
Abgangs-Zeugniß verſehene Eduard aus dem Poſt-
hauſe, ſondern das war Tinchen Quakatz von der
rothen Schanze, deren Vater man es leider nur nicht
hatte beweiſen können, daß er Kienbaum todtgeſchlagen
habe, und der darum im Bann, wenn nicht der
Welt, ſo doch ſeiner nächſten Umgebung, was daſſelbe
iſt, ging, und ſein Kind natürlich mit.


Valentine Quakatz hatte auch von der Schanze
des [Prinzen] Xaver, von ihrem vervehmten Wall
aus auf die Stadt und die in der Sonne blitzenden
Fenſter derſelben hinabgeſehen, nun wendete ſie ſich
ab und wiſchte ſich mit der Hand und dem Schürzen-
zipfel die Augen.


„Mir iſt ein Thier hineingekommen, oder der
Glanz beißt mich, daß ſie thränen; und ihr — Du
denkſt wieder, ich heule.“


[58]

Und jetzt ballte ſie die Hand und ſchüttelte ſie
gegen die glitzernden Fenſter des Provinzialgefangen-
hauſes:


„Aber ich heule nicht. Heinrich hat ganz Recht,
es iſt dumm, nur zu weinen. Es beißt mich der
Glanz auch nur in die Augen, weil ich ſo lange und
ſo oft hier habe ſtehen müſſen, wenn er dahinter
ſaß, da unten, hinter den Fenſtern, in ſeinem Ge-
fängniß, mein Vater, mein lieber, liebſter Vater.
Und weil ich Keinen hatte —“


„Und weil ſie Keinen weiter hatte als mich,
Eduard. Und weil ich auch nun wieder gehe, in
Abweſenheit ihres Alten. Na ja, da ſiehſt Du mal
wieder, lieber Eduard, was das Leben iſt, und wie
das Vergnügen denn immer bloß als bloßer Schaum
droben aufſchwimmt. Jetzt bitte ich Dich, ſetze Dich
mal in meine Stelle und ſuche mit euch dummen
Jungen, ſeinen lieben Eltern und was ſonſt dazu
gehört, zum Trotz, aus ſo 'ner verſchüchterten, zur Feld-
katze verwilderten Dorfmieze wieder ein niedliches,
nettes, reinliches, ſchnurrendes, gurrendes, liebes,
liebſtes kleines Mädchen zu machen. Na, nun thu
noch mal die Schürze von den Augen und ſieh mich
mit ihnen an; ſonſt beißt es mich in meinen Augen
auch, und das möchte ich doch hier des klugen, ge-
bildeten Eduards wegen lieber vermeiden. So iſt's
Recht, und nun laß uns die Zähne aufeinanderbeißen.
Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß andere Leute
das Recht zu haben behaupten, etwas Anderes aus
mir, zu machen als was in mir ſteckt. Da haſt Du meine
[59] Hand darauf, Jungfer Quakatz: ich komme wieder
und behalte mir bis dahin alle meine Rechte hier an
dieſer Erdſtelle vor, und den ſeligen Kienbaum ſoll
doch noch der Teufel holen. Sage es Deinem Vater,
wenn er nach Hauſe kommt, daß ich es geſagt habe,
Tinchen. Und Du, feiner Eduard, bitte, ſieh gütigſt
noch mal hinein in die ſchöne Landſchaft und auf
die liebe Vaterſtadt — Schade daß jetzt grade nicht
die Glocken dazu läuten. So iſt's recht, verlegener
Jüngling — — —


Ich ſehe mich wirklich um — verſchüchtert, ver-
ſtört, verlegen. Ich ſehe hinaus in die Landſchaft
und auf die Stadt drunten im Thale — kurz, —
ich ſehe weg, und vernehme im klingenden, ſummen-
den Ohre, hinter meinem Rücken, auf der alten Wall-
höhe des ſiebenjährigen Krieges, raſch hintereinander
folgende Töne, die ich nur mit dem Namen Stopf-
kuchen ganz und gar in Einklang zu bringen weiß.
Dazwiſchen ein unterdrücktes Geſchluchz und Gekicher
und dazu die Worte: „Ach Heinrich, Heinrich!“


— — — — — — — — — — —


Als ich wieder aufſehe, iſt weiter nichts vorge-
fallen, als daß die Jahre hingegangen ſind,
und daß die langen Wogen des großen Meeres
unter dem Schiffe weiter rollen, und es gegenwärtig
gutmüthig, ohne zu arges Rollen, Schütteln und
Schüttern weiter tragen, dem Kap der guten Hoff-
nung zu.


[60]

Zuerſt ſah das Ding noch grade ſo aus, wie
es vor Jahren ausgeſehen hatte. Nur daß es heute
in anderer Beleuchtung, als an jenem Abſchiedstage
vor mir lag; nämlich im friſchen, hellen Tagesſchein,
ſo um zehn Uhr Morgens.


Noch immer derſelbe alte Wall und Graben,
wie er ſich aus dem achtzehnten Jahrhundert in die
zweite Hälfte des neunzehnten wohl erhalten hatte.
Die alten Hecken im Viereck um das jetzige bäuer-
liche Anweſen, die alten Baumwipfel darüber. Nur
das Ziegeldach des Haupthauſes, das man ſonſt über
das Gezweig weg und durch es hindurch noch von
der Feldmark von Maiholzen aus geſehen hatte, er-
blickte man heute nicht mehr. Dieſes brachte mich
denn darauf, daß die Hecken doch wohl gewachſen
und die Baumkronen noch mehr über der Quakatzen-
burg ſich verdichtet haben müßten. Es mußte un-
bedingt im Sommer noch ſchattiger als ſonſt auf der
rothen Schanze geworden ſein, und um dieſes wür-
digen zu können, mußte man eben wie ich die Linie
gekreuzt haben, um noch einmal nach Hauſe zu kommen,
und ſonſt auch überhaupt jetzt dort zu Hauſe ſein,
wo es durchſchnittlich im Jahre recht heiß iſt, und
wo der Scha[t]ten manchmal ganz bedenklich mangelt.


Ich ſah hin, die Hände vor dem Leibe über-
einandergelegt; und ich ſah mir Alles, da ich j[a]
Zeit hatte, und Niemand auf der weiten Flur mich
ſtörte, und die Lerchen in den Lüften nicht ſtörten,
ſehr genau an, ehe ich den Graben des Grafen von
der Lauſitz überſchritt.


[61]

Da fiel mir denn bald noch ein Anderes auf.
Wie es innerhalb der rothen Schanze ausſehen mochte,
außerhalb derſelben, ſo weit ihr Reich ging, erſchien
mir das Ding verwahrloſter denn je.


Sonſt ſah man es doch, trotz aller Vervehmung,
dem Dammweg ſehr an, daß der kriegeriſche Auf-
wurf im fetten Ackerboden dieſer Landſchaft zu der
Umwallung eines friedlichen Bauerhofes geworden
war, daß Menſchen und Vieh darüberhin ein- und
ausgingen, daß Miſt- und Erntewagen darüberhin
fuhren, daß der Menſch, trotzdem daß Kienbaum von
hieraus todtgeſchlagen worden war, auch hier noch
ſeiner Nahrung und ſeinem Behagen nachging.


Dem ſchien jetzt nicht mehr ſo zu ſein. Eine
Römerſtraße, auf der vor, während und nach der
Völkerwanderung Tauſende todtgeſchlagen worden
waren, konnte im laufenden Saekulo nicht mehr
überwachſen und von Grasnarbe überzogen ſein, wie
die alten Radgleiſe und Fußſpuren, die über den
Graben des Prinzen Xaverius von Sachſen auf dem
Dammwege des Bauern zu der rothen Schanze führ-
ten. Es leitete jetzt nur noch ein ganz ſchmaler,
ſchmaler Fußpfad, ohne Radgleiſen, Huf- und Klauen-
ſpuren daneben, durch das hohe Gras. Quendel,
blaue Glockenblumen, Löwenzahn, Thymian und was
ſonſt im Grunde das meiſte Recht hier hatte, brauchte
ſich nicht mehr ſcheu wegzuducken, oder ſich von Huf,
Klaue und Schuhſohle Alles gefallen zu laſſen.


„Nun ſoll es mich doch wundern,“ dachte ich.
„Es iſt doch wirklich, als ob das Gras auch hinter
[62]Ihm wieder aufgeſtanden ſei!“ und damit ſetzte ich
den Fuß auf den Damm und in den engen Pfad,
der zu Stopfkuchen hinüberführte, wie er vordem
zum Bauer Andreas Quakatz hinübergeführt hatte,
und — hielt noch einmal an. Es war noch ein
Drittes jetzt hier am Eingange anders geworden als
ſonſt: wo ſteckten die Hunde?


Ja, wo waren die Hunde der rothen Schanze?
Die Wächter der Quakatzenburg? Wo war die durch
ſtille Winter- und Sommernächte, vorzüglich wenn
in ihnen der Vollmond am Himmel ſtand, weithin
ins Land, ob ihrer guten aber lauten Wacht bekannte
und berüchtigte Wachtmannſchaft?


Wir haben im Kaffernlande auf unſern Gehöften
ihrer auch und haben ſie nöthig; aber nun war es
mir wieder ganz deutlich: ich war nie in der Welt
auf böſere Hunde getroffen, als die der rothen Schanze,
und ich hatte nie ein Gebell böſer Hunde — ſelbſt
wo ich wieder an es zurückdachte, ſo vermißt, als wie
hier am Eingangsthor dieſes deutſchen Bauerhofes.


Die nächſten Schritte gegen die Quakatzenburg
belehrten mich, daß dieſe Wache abgelöſt, aber keines-
wegs aufgegeben worden ſei. Eine andere Mann-
ſchaft hatte ſie bezogen und der Empfang durch die-
ſelbe ſprach wahrlich für friedlichere Zuſtände als die
von vergangenen Zeiten.


Wir kennen Alle die alten hübſchen behaglichen
Bilder, auf welchen am Thor mittelalterlicher Städte
der Stadtſoldat auf der Bank unter dem letzten Edikt
ſeines Senatus populusque, die Brille auf der Naſe,
[63] den Bierkrug zur Rechten, die Feuer-Schloß- und
Stein-loſe Flinte zur Linken, in idylliſcher Ruhe und
Beſchaulichkeit an ſeinem Strumpf ſtrickt. Ich habe
ſelber ſolch ein Bild, Spitzweg gezeichnet, draußen zu
Hauſe, drunten in Afrika, an der Wand über dem
Sopha und Sophatiſch meiner Frau, (es muthet mich
dann und wann um ſo mehr an, weil unter dem
letztern, dem Sophatiſch meiner Frau nämlich, ein
Löwenfell zum Fußteppich dient) und ich fand es
nicht ohne Behagen wieder, hier zu Hauſe am Thor
der rothen Schanze. Nur wurde von dem jetzigen
Wachtinhaber des weiland Prinzen Xaverius von
Sachſen und Kienbaums Mörder, des Bauern Qua-
katz, nicht geſtrickt.


Es wurde geſponnen.


Er ſaß nicht an, ſondern auf dem rechten Thor-
pfeiler, der jetzige Wachtmann der rothen Schanze.
Er ſaß mit Würde da in der Morgenſonne und ſah
ruhig, gelaſſen, zu mir hinüber — und er ſpann
dabei. Sein Spinnen hinderte ihn aber nicht, auch
den Schnurrbart zu ſtreichen, ja, er fuhr ſich mit
der wehrhaften Fauſt ſogar über die Ohren (was
beiläufig in ſeiner Kompagnie bedeutet, daß Beſuch
kommt) und ſtrich ſich die Naſe und nieſte dabei. Ich
war ganz dicht bei ihm, als er einen Satz that, und
langſam, ſtattlich und über die Schulter gleichmüthig
nach mir zurückſehend, mir voranging, hinein in
Quakatzenhof: der „Kapitän Hinze“, der „weiße
Mann“, der wirklich fleckenlos weiße Kater — der
Hauskater der Schanze des Comte de Lusace.


[64]

Er blieb noch einmal ſtehen und ſchlenkerte erſt
die rechte, dann die linke Pfote ab; denn es hing da
immer noch etwelcher Thau am Graſe, wo der
Lindenſchatten noch auf letzterem lag. Er ſah mich
noch einmal an und ging langſam wieder weiter, als
wolle er mir den Weg zeigen; er betrachtete mich
unbedingt nicht als Feind, und ging auch wahrlich
nicht mehr, um die Hunde zu holen und Tinchen
Quakatz mit einem Feldſtein in der Kinderfauſt, und
den Vater Quakatz mit dem erſten beſten Prügel, oder
gar der Miſtgabel, oder der Holzaxt! Es gab wohl
nichts Einladenderes als ihn, den Hauptmann Hinze;
und das wozu der neue Wachtkommandant der rothen
Schanze einlud, winkte ebenfalls nicht ab und rieth
zu ſchleuniger Umkehr und eiligem Rückzug.


Ganz Stopfkuchen!


Stopfkuchen, wie er ſich ſelber wohl tauſendmal
in ſeinen ſchönſten, elegiſchſten Jugendträumen als
Ideal geſehen hatte.


O welch ein Frühſtückstiſch vor dem Binſen-
hüttchen, das heißt dem behaglichen, auch auf Winter-
ſchnee und Regenſturm behaglich zugerichteten deutſchen
Bauerhauſe, — vor dem Hauſe, am deutſchen Sommer-
morgen, zwiſchen hochſtämmigen Roſen, unter Holunder-
büſchen, im Baumſchatten mit der Sonne drüber und
der Frau, der Katze, dem Hunde (jetzt ein ruhiger,
verſtändiger, alter Spitz) den Hühnern, den Gänſen,
Enten, Spatzen und ſo weiter, und ſo weiter,
rundum! Und ſolch ein grauer, der Jahreszeit an-
gemeſſener, jedem Recken und Dehnen gewachſener
[65] Schlaf- oder vielmehr Hausrock! und ſolch eine offene
Weſte und ſolch eine würdige, lange Paſtorenpfeife,
mit dem dazu gehörigen angenehmen Paſtorenknaſter
in blauen Ringeln in der ſtillen Luft!


„Stopfkuchen!“


Es gab nur ein Wort, und dieſes war es, was
ich murmeln konnte, wie ich jetzt ſtand, und, wie der
Marquis von Carabas, dem Kapitän Hinze meine
weitere Einführung in die Behaglichkeit überließ.


„Stopfkuchen!“ murmelte ich, während ich ſtand
und darauf wartete, daß man, juſt aus ſeinem Wohl-
ſein heraus, noch einmal in meinem Leben Notiz von
mir nehme auf der rothen Schanze.


Selbſtverſtändlich war's die Frau, welche die
Störung zuerſt bemerkte, zu dem Fremden haſtig auf-
ſah und ihren Mann anſtieß:


„Aber Heinrich? Ein Herr! Da iſt ja wer!“


Ich habe es nicht gehört, aber ich bin nicht nur
feſt überzeugt, ſondern ich weiß es gewiß, daß ihr
Heinrich nichts weiter als: „Na?!“ geſagt hat, als
er wenig erfreut, die Zeitung ſinken ließ und die
Naſe erſt ſeinem Wachtkapitän zu, ſodann nach ſeinem
Thoreingang hin und zuletzt dem Eindringling in
ſeinen Morgenfrieden entgegen hob.


„Entſchuldige den Störenfried, lieber Alter.
Eduard nannteſt Du, freilich vor langen Jahren,
einen Freund, wenn er auch kein junger Baron war,
ſondern nur aus dem Poſthauſe da unten ſtammte,
Schaumann,“ ſagte ich, wie vollſtändig aus dem
W. Raabe. Stopfkuchen. 5
[66] heißen Afrika in ſeine wonnige Kühle hinein ihm näher
tretend. Die Frau legte das Strickzeug auf den
Kaffeetiſch, der Mann legte beide fleiſchigen Hände
auf beide Lehnen ſeines Gartenarmſtuhls, wand ſich
langſam in die Höhe. in ſeiner gediegenen Breite
nun noch mehr zur Erſcheinung kommend, und —
ſprang vor. Er that einen Sprung! Es war der
Sprung eines überfetten Froſches, aber ein Sprung
war es!


Das Wort nahm ihm jedoch noch einmal die
kleine, zarte Frau vom Munde weg.


„Jeſus, Heinrich,“ rief Valentine Schaumann,
geborene Quakatz, „es iſt wirklich und wahrhaftig
Dein Freund Eduard!“


„Halte doch mal meine Pfeife, Tinchen,“ ſagte
Stopfkuchen, und dann nahm er mich, wenn auch
nicht in ſeine Arme, ſo doch an meinen beiden Ober-
armen, hielt mich ſo eine Weile feſt, aber doch von
ſich, beſah mich ganz genau und fragte:


„Biſt Du es? Biſt Du es wirklich doch noch
einmal? Die Möglichkeit iſt es ja!“ ſetzte er
hinzu.


„Es iſt die Wirklichkeit, alter Heinz, und ich
freue mich, Dich — die rothe Schanze — nein, Dich
und Deine Frau ſo wohl zu ſehen! Du haſt —“


„Dich garnicht verändert. Bleibe mir, an jedem
warmen Tage wenigſtens, mit der verruchten Redens-
art vom Wanſte. Der andere Hohn: Menſch, aber
wie dick biſt Du geworden! kommt ja doch gleich
hinterdrein. In der Beziehung könnt ihr Alle —“


[67]

„Schaumann, ich freue mich ſo ſehr, Dich ſo,
gerade ſo, wieder zu finden!“


„Na, na, im Schatten geht es ja wohl noch an.
Da zerfließt man ſeinem beſtem Jugendfreund nicht
ſofort als ein Schemen in den Armen. Er iſt es
wirklich, Tinchen! er hat wahrhaftig die Freundlichkeit
gehabt, ſich auch Unſerer noch zu erinnern.“


„Stopfkuchen?!“


„Das Wort ſchmeckt wenigſtens noch ein Bischen
nach andern jüngern Tagen und lebendigeren Gefühlen;
aber die Thatſache bleibe deſſenungeachtet beſtehen.
Geehrter, weshalb kommſt Du jetzt erſt auch zu Uns?
Soweit leſen wir die Zeitungen hier oben auf
Quakatzenburg noch, daß wir aus der Gaſthofsliſte
wiſſen, wie lange Du Dich da unten bereits aufge-
halten und natürlich einer Menge Anderer das Ver-
gnügen Dich wiederzuſehen, geſchenkt haſt. Nu denn,
das iſt denn ja ſehr freundlich von Dir.“


Wie Jeder, der mit Recht wegen einer Ver-
ſäumniß am Ohr genommen wird, ſuchte ich nach
einer Ausrede und fand diesmal folgende:


„Das Beſte erſpart ſich der verſtändige Erden-
bewohner ſtets bis zuletzt. Dieſes war, wie ich mich
ungemein deutlich erinnere, auch Dein Grundſatz in
den Tagen unſerer Kindheit und Jugend, lieber
Heinrich.“


„Davon bin ich völlig abgekommen,“ erwiederte
Stopfkuchen. „Seit einigen Jahren ſchon nehme ich
das Beſte zuerſt, lieber Eduard, und verlaſſe mich
nicht mehr darauf, daß man ja Zeit habe und das
5*
[68] Butterbrod ſicher und feſt in beiden Fäuſten halte.
Na, laſſen wir die Komplimente! das Glück iſt Dir
diesmal wenigſtens noch günſtig geweſen: einen fetten
Happen haſt Du Dir an mir aufgehoben! was?“


„Nun, nun, beſter Schaumann —“


„Und Du — wie ſtehſt Du denn ſo dumm da,
Mieze? Quakätzchen? Da der Mann ſich als Menſch,
Bruder und Freund wenigſtens annäherungsweiſe
legitimirt hat nach Menſchenbrauch, ſo biete ihm
wenigſtens ein Stuhl, und noch eine Taſſe Kaffee
an, wenn der noch warm iſt. Setze Dich wenigſtens
einen Augenblick, Eduard, wenn Du Zeit haſt; und
dann — Du, ſieh ſie Dir einmal an! — Das iſt
ſie! Tinchen; Tinchen Quakatz. Na, was meinſt
Du, Eduard? Ueber mich haſt Du Deine Meinung,
Dir unbewußt, durch Blick, Mundaufſperren, Hand-
und Fußmimik bereits geäußert. Jetzt ſage es mir
dreiſt aufrichtig, wie Du ſie konſervirt findeſt?“


Die Handbewegung, der Blick und, was ſonſt
zu dieſer Vorſtellung der Frau Valentine Schaumann
gehörte, nichts iſt davon zu beſchreiben. Auch von
dem Ton nicht, mit dem das Wort „Mieze“ ge-
ſprochen wurde.


Und Quakätzchen?!


Eine geborene Quakatz, die Tochter von Kien-
baums Mörder, Andreas Quakatz, die ſich bei ihrem
Eheherrn zu einer „Mieze“, ja, wie ich nachher merkte,
ſogar zu einem „Müſchen“, mit längſter, zärtlichſter
Dehnung auf dem ü ausgewachſen hatte, und jetzt
mir Platz im Sommermorgen und am Frühſtücks-
[69] tiſch auf der rothen Schanze machte, die muß doch
beſchrieben werden!


Ich hatte ſie als Kind nur hager gekannt; —
„klapperig“ nannte es Stopfkuchen; aber ſie hatte es
nicht ſo wie Stopfkuchen gemacht, ſie hatte nicht ihre
Körperveranlagung im Laufe der Jahre zur höchſten
Potenz ausgebildet. Sie war nicht in dem Grade
dürr geworden, wie er dick geworden war. Sie war
nicht eingehuzzelt unter ſeinem Regimente, in dem
Schatten, dem beträchtlichen Schatten, den er warf.


Sie war ein wohlgebautes, behagliches Perſön-
chen geworden, mit einigem Grau im Haar, wie
man es ſo gegen das vierzigſte Jahr wohl gelten
laſſen muß. Ich ſah ſie mir natürlich zuerſt darauf
an, ob ſie wohl noch die Hunde über den Dammweg
auf „uns Jungens“ und die übrige Welt hetzen könne;
ich ſah ſie mir ſehr genau darauf an, und ich freute
mich. Vollſtändig hatte ſie den wilden, manchmal
halb irren Blick ihrer Kindheit und „Jugendblüthe,“
der aus [ihrer] troſtloſen Vervehmung damals ſtammte,
verloren. Und als ſie lächelnd die erſten Worte auch
an mich gerichtet hatte, wußte ich nach dieſen erſten
Worten, daß ſie ſeit lange nicht mehr das verſchüchterte,
mit böſen Worten, Steinen und Erdklößen beworfene
Bauermädchen vom Quakatzenhof war. Es war
durchaus nicht nöthig, daß mein Freund Schaumann
es für nothwendig zu halten ſchien, meine Aufmerkſam-
keit noch reger zu machen und zwar mit den abge-
ſchmackten Worten:


„Ja, ja, Eduard, Bildung ſteckt an, und ich bin
[70] immer ein ſehr gebildeter Menſch geweſen, wenn
ihr da unten es auch nicht immer Wort haben
wolltet. Und dann, Eduard, ſtudirt man manchmal
auch nicht ganz ohne Nutzen für die oder den Neben-
menſchen — das Kochbuch.“


„Wer es nicht wüßte, daß wir ſeit lange
recht gute, gute Bekannte ſind, der müßte das
hieraus doch ſofort merken,“ ſagte freundlich zierlich
Frau Valentine Schaumann, und weder im Salon
der Madame Recamier, noch dem der Madame
de Staël, noch dem der Frau Varnhagen von Enſe,
die ihrer Zeit Rahel genannt wurde, konnte etwas
Feineres und Beſſeres mit einem beſſern und feinern
Lächeln bemerkt werden.


Ich hatte es damit vollſtändig heraus, daß ich
hier am Ort in der Heimath den Fuß zuerſt auf einen
verzauberten Boden geſetzt habe, auf welchem die
Enttäuſchungen der Heimkehr doch vielleicht noch einem
rechten, echten, wahrhaftigen, wirklichen Heimathsbe-
hagen Raum geben konnten. Nach zehn Minuten
einer Unterhaltung, die ſich nur auf unſer Wieder-
aneinanderherantreten bezog und garnichts Bemerkens-
werthes an ſich hatte, wollte uns die Frau verlaſſen
und ins Haus gehen, dem Gatten verſtändnißvoll zu-
nickend, nachdem Stopfkuchen geſagt hatte:


„Du Mieze, natürlich raſtet der Fremdling heute
im gelobten Lande. In der Abendkühle können wir
ihn dann ja ein bischen auf ſeinem Wege nach der
Stadt und Afrika zurückbegleiten.“


Ich war wohl nicht mit der Abſicht gekommen,
[71] ſo lange zu verweilen; aber ich bin doch wirklich gern
den Tag über auf der rothen Schanze geblieben; nach-
dem ich meinerſeits gerufen hatte:


„O, Frau Valentine, wohin wollen Sie? Bleiben
Sie ſitzen. Man muß aus Südkaffraria und über
die Tropen auf Beſuch nach Hauſe gekommen ſein,
um wirklich zu erproben, wie wohlig es ſich zu Hauſe,
an einem Morgen wie der heutige vor einem ſolchen
Hauſe ſitzen läßt!“


„Nicht wahr?“ ſagte Stopfkuchen. „Da hörſt
Du's mal wieder, Tinchen Quakatz! Uebrigens geh'
Du nur ruhig hin; der fremde Herr erzählt uns nach-
her wohl das Genauere von ſeinem Hausweſen da unten,
dahinten. Das macht man wahrhaftig am beſten und
gemüthlichſten bei Tiſche ab. Laß Du Dich nicht von
ihm jetzt abhalten; geh' Du ruhig an Dein Geſchäft,
Müſchen. Dieſer abenteuernde Afrikaner wird ſeine
richtige Desdemona wohl auch ſchon anderswo ge-
funden haben, und Du kriegſt doch nur die ſchönen
Reſte ſeiner Schnurren und Seelenſtimmungen. Geh
Du ruhig in Deine Küche — doch die Hauptſache.
Auch ihm!“


Und der Gatte warf der Gattin einen ſchmunzelnd
verſtändnißinnigen Blick zu und zog ſich mit der
Handkante vor der Gurgel her, den Geſtus des Hals-
abſchneidens aufs Vollkommenſte zur Darſtellung
bringend.


„Heinz hat wahrhaftig Recht, Herr Eduard.
Die Herren müſſen mich wirklich für einige Augen-
[72] blicke entſchuldigen. Sei nur ruhig, Schaumann,
ich weiß ſchon!“


Sie entſchlüpfte, und ein Weib, das von einem
alten Mörder, von Kienbaums Mörder abſtammte
und ebenfalls mit Mordgedanken umging, konnte
wahrlich dabei nicht lieber und gutmüthiger und be-
haglicher mir zunicken und mir ihre Freude darob
zu erkennen geben, daß ſie mich heute Mittag bei
Tiſch haben werde. Aber es lag auch eine Welt
voll Vertrauen in der Rauchwolke, die ihr der Gatte
aus ſeiner Pfeife nachblies mit den Worten:


„Alte — Achtung! Das Afrika verwöhnt ſeine
Leute. Ein in der Aſche gebratener Elephantenfuß
ſoll keine Kleinigkeit ſein. Tinchen, das wäre doch
endlich ein wahrer, guter Ruf, wenn dieſer fremde
Herr daheim, zu Hauſe, bei ſich, von uns Beiden
mit Vergnügen erzählen — müßte!“


„Welch eine wirklich liebe Frau,“ ſagte ich.


„Nicht wahr?“ fragte Stopfkuchen, und fügte
hinzu: „Was — und wie gut konſervirt?“


Und dann ſaßen wir einige Zeit in Nachdenken
und die Behaglichkeit der Stunde verſunken, und be-
merkten es währenddem erſt allmählich, daß nach und
nach um uns her eine Bewegung entſtand. Es kam
nämlich ein Aufhorchen, ein Umherſehen, ein Schnabel-
zuſammenſtecken in das Federviehvolk um den Früh-
ſtückstiſch der rothen Schanze, — Alles in Folge eines
heftigen Gegackers und Gekreiſches aus dem Hofraum
hinter dem Hauſe. Und nicht ohne Grund, denn von
dorther über das niedrige Gatter um den obbe-
[73] meldeten Hof, war ein einzeln Huhn mit geſträubten
Flügeln und einigen Federn im Schwanze weniger,
gelaufen gekommen und hatte böſe Mär gebracht.


„Was hat denn das Vieh? wer hat denn jetzt
wieder Kienbaum todtgeſchlagen?“ fragte Stopfkuchen,
ſeinen Tauben nachſtarrend, die plötzlich von ihrem
Schlage ſich erhoben und in angſtvollen Kreiſen
über unſern Häuptern und über den grünen Linden-
wipfeln der rothen Schanze, allmählich zu ſilbernen
Pünktchen im Himmelblau werdend, ſich entſetzt um-
ſchwangen.


„Das Zeugs iſt ja wie rein toll!“ ſagte er; ich
aber that natürlich, als ob ich nicht die geringſte
Ahnung davon habe, daß der ganze Aufruhr und
Schrecken der Natur ſich von mir herleite, daß meinet-
wegen Frau Valentine Stopfkuchen auf der rothen
Schanze in der Küche gerufen habe: „Stine, wir haben
heute einen Gaſt, und wenn mich nicht Alles täuſcht,
einen aus fremden Ländern her ſehr verwöhnten.
Was fangen wir an? Mein Mann hat ihn zu Tiſche
gebeten, [und] wir haben für ſo Einen, der von ſo
weit herkommt, eigentlich garnichts Ordentliches im
Hauſe.“


„Na ja, ſo muß es uns immer zur unrechten
Zeit über den Hals kommen,“ hatte dann wahrſchein-
lich Stopfkuchens guter, zweitbeſter Küchengenius ge-
rufen und — ſicherlich hinzugeſetzt: „Na, ganz ſo
ſchlimm iſt es wohl noch nicht mit ihm, dem fremden
Herrn, und uns hier auf der rothen Schanze. Die
[74] Hühner und den Taubenſchlag haben wir ja immer
gottlob noch bei der Hand.“


Ich wußte es auch noch von meiner ſeligen
Mutter her, was die Antwort und der Troſt war:
„Für eine gute Bouillon wollen wir jedenfalls ſorgen,
Stine. Die laſſen ſich auch die Verwöhnteſten gefallen.“


Frau Tinchen Schaumann hat an dem Tage aber
noch aus ihrer eigenen Speiſekammer und was noch
beſſer: aus ihrer eigenen guten Seele „mit einem
Stein vom Herzen“ hinzugeſetzt: „Und dann haben
wir ja auch, Gott ſei Dank, den Schinken in Bur-
gunder liegen. Alſo denn, Stine, raſch in den
Hühnerhof und auf den Taubenſchlag. Der fremde
Herr bleibt bis zum Abend, und es iſt ein alter
Freund von meinem Mann, und es iſt auch mir
eine große Freude, daß er nach ſo langen Jahren
und von ſo weit her hier noch einmal auf der Schanze
zu Beſuch iſt!“


Es möchten vielleicht Manche auf dem Schiffe
gern wiſſen, womit ſich eigentlich der Herr aus der
Burenrepublik ſo eifrig litterariſch beſchäftige? was
er ſchreibe, worüber er jetzt knurre, jetzt ſeufze und
jetzt lache? Es iſt aber Keiner unter der ganzen
Reiſegeſellſchaft, dem ich es vollſtändig klar machen
könnte, wie ſich ein vernünftiger Menſch auf einer
[75] ſolchen Fahrt, ſo mit einem längſt gegeſſenen und
verdauten Schinken, und wenn auch in Burgunder,
ſo eingehend noch einmal beſchäftigen könne. Wir
haben Deutſche, Niederländer, Engländer, Norweger,
Dänen und Schweden, die ganze germaniſche Vettern-
ſchaft, an Bord des Leonhard Hagebucher; aber ſie
würden mich Alle mehr für einen Narren, als einen
mit ein wenig Weltverſchönerungsſinn begabten
Teutonen nehmen, wenn ich heute Abend im Rauchſalon
ihnen einige Seiten aus meinem diesmaligen Logbuch
und Reiſemanuſkript, aus der Kriminalgeſchichte
Stopfkuchen vorleſen würde. Ich laſſe das wohl
bleiben; aber ich bleibe auch bei meinem Manuſkript,
wenn das Wetter und der Wogengang es erlauben.
Ich bin eben oft genug im Leben zu Schiffe geweſen,
um zu wiſſen was das Behaglichere iſt auf einer längern
Fahrt. Es iſt eine große Täuſchung, zu meinen, daß
auf den großen Waſſern alle Augenblicke etwas Merk-
würdiges vorkomme, und daß eine germaniſche Reiſe-
verwandtſchaft immer ungemein humoriſtiſch, gemüth-
voll, feinfühlig und — intereſſant ſei. . . .


Nämlich den friſchen Schinken in Burgunder
und die gute Hühnerſuppe fanden wir auf dem
Mittagstiſch; aber ſoweit ſind wir ja wohl noch nicht.
Wir ſitzen noch hinter Stopfkuchens zweitem Früh-
ſtück unter den alten Linden von der Quakatzenburg auf
der rothen Schanze, Freund Heinrich Schaumann und
ich, und der Eßtiſch drinnen im Hauſe wird eben
erſt in die Mitte der Stube gezogen, um von Frau
Tinchen und einer zweiten Magd derſelben für das
[76] Haupttreffen, die Hauptbefriedigung des täglichen
Nahrungsbedürfniſſes „gedeckt“ zu werden.


„Endlich doch einmal ein Menſch, der ein vor-
geſetztes Ziel erreicht hat, ohne daß es ihn nach dem
Anlangen enttäuſcht hat!“ ſagte und ſeufzte ich, in
die nochmals dargereichte Cigarrenkiſte greifend.


„Ein bischen viel Uebergewicht,“ brummte Stopf-
kuchen. „An heißen Tagen etwas beſchwerlich, lieber
Eduard. Vorzüglich bei den doch immer nothwendigen
Geſchäftsgängen.“


„Ja, haſt Du denn wirklich noch ſolche noth-
wendige Gänge zu machen, lieber Heinrich? Haſt
Du wahrhaftig noch nicht mit Allem was für Unſer-
einen ſo draußen herum liegt und beſorgt werden muß,
abgeſchloſſen? Liegt nicht alles das draußen vor
Deinen wundervollen Wällen des Prinzen Xaver
von Sachſen?“


„Was wohl ſoviel heißen ſoll als: biſt Du nur
dazu da, auf der rothen Schanze nach dem Lebens-
unbehagen des Vaters Quakatz die Behaglichkeit des
Daſeins in Deiner feiſten Perſon zur Darſtellung zu
bringen? Jetzt leihe mir mal gütigſt Deinen Arm,
Eduard. Eine Weile dauert es wohl, ehe wir zu
Tiſch gerufen werden; alſo kann ich Dir, wenn es Dir
gefällig iſt, vorher noch Feſtung, Haus und Hof —
my house and my castle — wie das Alles unter
meiner und Tinchens Herrſchaft geworden iſt, etwas
genauer zeigen. Uf! — langſam! nur nicht zu haſtig.
Weshalb ſollen wir uns nicht Zeit nehmen? Was
könnte ich Hinhocker einem Weltwanderer gleich Dir
[77] Merkwürdiges zu weiſen haben, was ein ſolch raſendes
Drauflosſtürzen erforderte? Nur mit aller Bequem-
lichkeit, Freund! Wandeln wir langſam, langſam,
und zwar zuerſt noch einmal um den Wall des Herrn
Grafen von der Lauſitz, ſegensreichen, wenn auch nicht
glorioſen Angedenkens.“


„Segensreichen Angedenkens? Das ſagte die
Stadt da unten, ſo wie die Umgegend im Jahre
Chriſti Siebenzehnhunderteinundſechzig grade nicht.“


„Aber ich ſage es heute. Was geht mich die
hieſige Gegend und Umgegend an? Die ſchöne Ausſicht
darauf von Quakatzenburg aus natürlich abgerechnet.“


Ich war jetzt ſo geſpannt auf das, was er mir
zu zeigen hatte, daß ich wirklich mit einiger Mühe
meinen Schritt aus den Goldfeldern von Kaffraria
nach ſeinem Schritt von der rothen Schanze mäßigte.
Und zum erſtenmal nun in meinem Leben umging
ich auf dem Walle ſelbſt das Schanzenviereck des
Prinzen Xaver; als Junge und als junger Menſch
hatte ich es mir ja nur von jenſeits des Grabens,
vom Felde, von dem „Glacis“ dann und wann an-
ſehen können. Und die Jahre zählten! Es ging
freilich heute etwas langſam damit; denn der Jugend-
freund hatte in Wahrheit meinen Arm nicht bloß der
Zierde und Zärtlichkeit wegen genommen. Seine
Pfeife nahm er natürlich auch mit, hielt ſie im
Brande und deutete mit ihrer Spitze hierhin und
dorthin, wo er meine, nach ſeiner Meinung durch
allerlei Weltumſegelungen zerſtreute Aufmerkſamkeit,
hinzuwenden wünſchte.


[78]

Wir wandelten oder watſchelten wieder durch
ſeinen Gartenweg, zwiſchen ſeinen Johannis- und
Stachelbeerbüſchen, ſeiner brennenden Liebe, ſeinen
Roſen und Lilien, ſeinem Ritterſporn und Venus-
wagen empor zu der Brüſtung ſeiner Feſtung. Als
Geſchichtsforſcher und als Philoſoph der rothen Schanze
erwies er ſich von Augenblick zu Augenblick größer —
bedeutender. Und dabei hatte er ſich in ſeiner wohl-
gefütterten Einſamkeit und in den Armen ſeiner kleinen,
herzigen Frau zu einem Selbſtredner ſondergleichen
ausgebildet. Er fragte, und er gab gewöhnlich die
Antwort ſelber, was für den Gefragten ſtets ſeine
große Bequemlichkeit hat.


„Woher ſtammen im Grunde des Menſchen
Schickſale, Eduard?“ fragte er zuerſt, und ehe ich
antworten konnte (was hätte ich antworten können?)
meinte er: „Gewöhnlich, wenn nicht immer aus
Einem Punkte. Von meinem Kinderwagen her —
Du weißt, Eduard, ich war ſeit früheſter Jugend
etwas ſchwach auf den Beinen — erinnere ich mich
noch ganz gut jener Sonntagsnachmittagsſpazierfahrt-
ſtunde, wo mein Dämon mich zum erſtenmal hierauf
anwies, in welcher mein Vater ſagte: ‚Hinter der
rothen Schanze, Frau, kommen wir gottlob bald in
den Schatten. Der Bengel da könnte übrigens auch
bald zu Fuße laufen! Meinſt Du nicht?‘ — ‚Er iſt
ſo ſchwach auf den Füßen,‘ ſeufzte meine ſelige Mutter,
und dieſes Wort vergeſſe ich ihr nimmer. Ja, Eduard,
ich bin immer etwas ſchwach, nicht nur von Begriffen,
ſondern auch auf den Füßen geweſen, und das iſt
[79] der beſagte Punkt! Ich habe mich wahrhaftig nicht
weiter in der Welt bringen können, als bis in den
Schatten der rothen Schanze. Ich kann wirklich
nichts dafür. Hier war mein ſchwacher oder, wenn
Du willſt, ſtarker Punkt. Hier faßte mich das
Schickſal. Ich habe mich gewehrt, aber ich habe
mich fügen müſſen, und ich habe mich ſeufzend ge-
fügt. Dich, lieber Eduard, haben Störzer und Mr.
Le Vaillant nach dem heißen Afrika gebracht, und
mich haben meine ſchwachen Verſtandeskräfte und
noch ſchwächeren Füße im kühlen Schatten von
Quakatzenhof feſtgehalten. Eduard, das Schickſal be-
nutzt meiſtens doch unſere ſchwachen Punkte um uns
auf das uns Dienliche aufmerkſam zu machen.“


Dieſer Menſch war ſo frech-undankbar, hier wahr-
haftig einen Seufzer aus der Tiefe ſeines Wanſtes
hervorzuholen. Natürlich nur um mir ſein Behagen
noch beneidenswerther vorzurücken. Ich ging aber
nicht darauf ein. Den Gefallen meinerſeits jetzt
noch tiefer und mit beſſerer Berechtigung zu ſeufzen,
that ich ihm nicht.


„Ruhig, Eduard,“ ſagte ich mir. „Sollſt doch
zu erfahren ſuchen, was er noch weiter mehr weiß
als Du.“


Ich ließ ihn alſo am Worte, ſtill von einer
Ecke des alten jetzt ſo friedlichen Kriegsbollwerkes,
aus dem Schatten heraus, in die ſonnige, weite
Landſchaft mit meiner Heimathſtadt, ihren Dörfern,
Wäldern, nahen Hügeln und fernem Gebirge hinaus-
ſchauend.


[80]

„Ja, da haſt Du den ganzen Kriegsſchauplatz
von Schaumann contra Quakatz vor Dir,“ ſprach
Stopfkuchen. „Sieh Dir die Landſchaft ja noch einmal
an, ehe Du Dich wieder nach Deinem herrlichen
Afrika verziehſt. Es iſt und bleibt doch eine nette
Gegend! was?“


„Freilich, freilich! Man braucht gerade nicht
aus Lybien zu kommen oder wieder dorthin abreiſen
zu müſſen, um das dreiſt behaupten zu können.“


„Und dann was Alles in ihr paſſirt iſt, Eduard,“
ſagte Stopfkuchen, mich leicht mit dem Ellbogen in
die Seite ſtoßend. „Von alten Hiſtorien will ich
garnicht anfangen; aber nimm nur bloß dieſen
himmliſchen ſiebenjährigen Krieg an!“


„Beſter Freund —“


„Für dieſen göttlichen ſiebenjährigen Krieg und
den wundervollen alten Streithahnen, den alten Fritz
habe ich immer meine ſtillſte aber innigſte Zuneigung
gehabt.“


„Liebſter Heinrich —“


„Jawohl, etwas von dieſer herzlichen Neigung
in mir dämmert Dir vielleicht heute auch noch wohl
aus unſchuldigen Kinder- und nichtsnutzigſten Flegel-
jahren auf. Eduard, wäre ich heute nicht Stopf-
kuchen, ſo möchte ich nur Friedrich der Andere in
Preußen — in der ganzen Weltgeſchichte nur Fritz
der Zweite geweſen ſein. Ich weiß nicht wie es mit
Deiner Bibliothek im Kaffernlande beſtellt iſt, aber,
bitte, nenne mir einen Andern aus der Welt
Haupt- und Staatsaktionen, der für Unſereinen etwas
[81] Sympathiſcheres als Der an ſich haben kann! So
dürr — ausgetrocknet, mit ſeinem vom Rheinwein
ſeines Herrn Vaters her angeerbten Podagra etwas
ſchwach auf den Füßen, aber immer in den Stiefeln!
Immer munter bei ſich ſelber im Halloh, Geheul und
Gebrüll der Parzen und der Kanonen. Mit ſeinem
Krückſtock, ſeiner Naſe voll Schnupftaback, ſeiner mit
Siegellack eigenhändigſt reparirten Degenſcheide —
ſcharfklingig, frech und ſpitzig, was man jetzt ſchnoddrig
nennt, gegen die allerhöchſten Damen, Frau Marie
Thereſe, Frau Eliſabeth, Frau Jeanne Antoinette;
was ich freilich meiner allerhöchſten Dame, meines
Tinchens wegen, nicht ganz und gar billigen kann.
Aber dagegen ſein Appetit. Tadellos! Gut in ſeiner
Kindheit, in ſeiner Jugend; aber über alles Lob er-
haben bei zunehmendem Alter. Hätte ich wo ein
Wort zu verlieren, ſo wäre es bei dieſer Betrachtung,
ſo wäre es hier. Der Mann verdaute Alles! Ver-
druß, Provinzen, eigenes und fremdes Pech, und
vor Allem ſeine jeden Tag eigenhändig geſchriebene
Speiſekarte. Eduard, dieſer Menſch wäre auch Herr
der rothen Schanze geworden, wenn er ich geweſen
wäre. Eduard, wenn ein Menſch was dazu gethan
hat, mich zum Herrn, Eigenthümer und Beſitzer von
der rothen Schanze und ſomit auch von Tinchen
Quakatz zu machen, ſo iſt das immer der alte Fritz
von Preußen, ſelbſtverſtändlich immer in Verbindung
mit ſeinem herzigen, mir ſo unendlich werthvollen
Gegner auf dieſer Erdſtelle, dem Prinzen Xaverius
von Sachſen, kurfürſtlicher Hoheit.“


W. Raabe. Stopfkuchen. 6
[82]

Der Menſch, Heinrich Schaumann genannt Stopf-
kuchen redete einen ſolchen Haufen von Gegenſätzen
zuſammen, daß ich garnicht mehr im Stande war,
zu ſeufzen: „Nun, das ſoll mich doch weiter wundern,
worauf dieſes hinauslaufen kann.“


„Setzen wir uns doch lieber,“ meinte Heinrich.
„Ich ſehe es Dir an, daß ich Dir noch ein wenig
konfus erſcheine. Vielleicht kommt das noch beſſer;
aber ich kann es nicht ändern. Dieſe Bank hier
habe ich übrigens nur aufſtellen laſſen, um dann
und wann nicht ſelber meinen hiſtoriſchen Boden
unter den Füßen weg zu verlieren. Wenn ich Dir
aber langweilig werde, höre ich auf der Stelle auf,
Intereſſanteſter aller Afrikaner und Beſter aller alten
Freunde.“


„Ich bitte Dich, Stopf— beſter Freund!“


„Sage dreiſt, Stopfkuchen, Eduard. Ich höre
gern auch heute noch auf das alte liebe Wort; und
von den alten Freunden, die es mir in ſchönern
Jahren ſo ſehr ſcherzhaft aufhingen, muß ich Dir
doch zuerſt reden, um meinem ſeligen Schwieger-
papa von Kienbaums Angedenken allmählich näher
zu kommen. Alſo — dieſes war der Anfang der
Hiſtorie von Heinrich und Valentine, von Kienbaum,
vom Meiſter Andreas Quakatz und von der rothen
Schanze. Du ſitzeſt doch gemüthlich, Eduard?“


„Ich habe ſelten in meinem Leben gemüthlicher
geſeſſen. Aber unterbrich Dich doch nicht immer
ſelbſt, alter, wunderlicher Freund! Mir ſcheint es
jetzt wahrlich, ich ſei nur deshalb einzig und allein
[83] in die alte Heimath auf Beſuch gekommen, um Dich
zu hören.“


„Sehr ſchmeichelhaft! alſo auch deshalb zuerſt
von den alten Freunden! von euch nichtsnutzigen,
boshaftigen, unverſchämten Schlingeln, die ihr, ſo
lange ich euch zu denken vermag, euer Beſtes gethan
habt, mir die Tage meiner Kindheit und Jugend zu
verekeln.“


„Stopfkuchen, ich bitte Dich —“


„Jawohl, Stopfkuchen! Was konnte ich denn
dafür, daß ich ſchwach von Beinen und ſtark von
Magen und Verdauung war? hatte ich mir die
Kraft und Macht meiner periſtaltiſchen Bewegungen
und die Hinfälligkeit meiner Extremitäten und über-
haupt meine Veranlagung zum Idiotenthum aner-
ſchaffen? Hätte ich die Wahl gehabt, ſo wäre ich
ja zehntauſendmal lieber als Qualle in der bittern
Salzfluth, denn als Schaumanns Junge, der dicke,
dumme Heinrich Schaumann, in die Erſcheinung
getreten. Sauber ſeid ihr mit mir umgegangen,
und habt euer ſchändliches Menſchenrecht genommen.
Leugne es nicht, Eduard!“


„Du gibſt keine Ausnahme zu, Heinrich?“


„Keine! Soll ich etwa Dich ausnehmen, Du
mein beſter, liebſter Freund? Bilde Dir das nicht
ein! frage nachher nur Tinchen bei Tiſche, was ſie
darüber denkt. Sie hat Dich ja auch damals mit
den Andern vor ihres Vaters Burgwall gehabt. Haſt
Du nicht mit den Wölfen geheult, ſo haſt Du mit
den Eſeln geyhaet, und jedenfalls biſt auch Du mit
6*
[84] den Andern gelaufen und haſt Stopfkuchen mit ſeiner
unverſtandenen Seele gleich wie mit einem auf die
gute Seite gefallenen Butterbrod auf der Hausthür-
treppe, auf der faulen Bank in der Schule und am
Feldrain vor der rothen Schanze ſitzen laſſen. Jawohl,
haſt Du Dich ſchön nach mir umgeſehen, wenn Du,
nicht etwa etwas Beſſeres, ſondern wenn Du etwas
Vergnüglicheres wußteſt.“


„Heinrich, das kannſt Du doch wirklich nicht
ſagen!“


„Eduard, ſäße ich ſonſt ſo hier? Und dann —
übrigens, mache ich Dir einen Vorwurf daraus?
Habe ich euch — Dich nicht laufen laſſen, und habe
ich nicht etwa mein Butterbrod aus dem Erdenſtaube
aufgehoben und es gefreſſen — mit einem Viertel
Wehmuth und drei Vierteln Hochgenuß in meiner —
Einſamkeit? Habe ich euch — habe ich Dich etwa
nicht ruhig laufen laſſen? Habe ich mich je euch
durch Gewinſel hinter euren leichter beſchwingten
Seelen und bewegungsluſtigern Körpern her, noch
lächerlicher als ich ſchon war, gemacht?“


„Wahrhaftig nicht! Und um der Wahrheit die
Ehre zu geben, ich — wir haben Dich einfach ſitzen
laſſen, wie und wo Du Dich hingeſetzt hatteſt.“


„Seht ihr! Siehſt Du! Und ich hoffe es Dir
im Laufe des Tages doch noch zu beweiſen, daß
auch die einſame Hausthürtreppe, der unterſte Platz
in jeder Schulklaſſe, der thränenreiche Sitz am Wieſen-
rain den Menſchen doch noch zu einem gewiſſen
Weltüberblick und einem Zweck und Ziel im Erden-
[85] daſein gelangen laſſen können. Zum Laufen hilft
eben immer nicht ſchnell ſein, lieber Eduard.“


„Das weiß der liebe Gott!“ ſeufzte ich aus
voller Seele, aus allen Lebenserrungenſchaften und
vom untern Ende Afrikas her.


„Ein Indianer am Pfahl konnte es unter dem
Kriegsgeheul und Hohngebrüll ſeiner Feinde nicht
ſchöner haben als Stopfkuchen in eurem muntern
Kreiſe. Nette Siegestänze eurer Ueberlegenheit habt
ihr um mich armen maulfaulen, feiſten, ſchwitzenden
Tropf aufgeführt. Und ſo helle Köpfe waret ihr
alleſammt! Jawohl habe ich mein Brod mit Thränen
gegeſſen in eurer lieben Kameradſchaft. Was blieb
mir da anders übrig, als mich an meinen Appetit
zu halten und mich auf mich ſelber zu beſchränken
und euch mit meinen herzlichſten Segenswünſchen
die Rückſeite zuzudrehen.“


„Heinrich —“


„Na, na, laß das nur ſein. Es liegt jetzt
hinter uns Beiden, und Tinchen iſt in ihrer Küche
für Dein und mein Wohl heute beſchäftigt, wie es
ſich gehört. Das Herzblatt! laß uns jetzt dem näher
zu kommen ſuchen, und alſo — Vivat der Prinz Xaver
von Sachſen, und nochmals und zum dritten Male
hoch der Comte de Lusace, Prinz Xaverius von
Sachſen!“


[86]

„Er lebe! aber was er mit Deiner — meiner
— unſerer und Deiner Frau Geſchichte zu thun hat,
das bleibt mir augenblicklich noch ein Räthſel, Schau-
mann! Du haſt eben wohlberechtigte Worte zu mir
geſprochen; aber Deinen Grafen von der Lauſitz,
Deinen mir völlig unbekannten Prinzen von Sachſen
brauche ich mir doch nicht ſo ohne Weiteres gefallen
zu laſſen, Heinrich! Jetzt, ehe Deine Frau zum
Eſſen ruft, was hat dieſer ſonderbare Prinz Xaverius
mit ihr, mit Dir, mit mir noch zu thun an dieſem
wundervollen, windſtillen, himmelblauen, blätter-
grünen, ſonnigen Sommermorgen?“


Das Schiff ſtößt heute ein wenig mehr als
geſtern.


„Und wenn Du auch die halbe neue Weltge-
ſchichte mit erlebt und in Afrika ſelber mitgemacht
haſt, Eduard; Das mußt Du doch auch noch wiſſen,
daß in meines Vaters Hausgiebel eine Kanonenkugel
ſtak und heute noch ſteckt, die er — der Xaverl —
damals, im ſiebenjährigen Kriege zu uns in die
Stadt hineingeſchoſſen hat! Sei nur ganz ſtill und
unterbrich mich nicht; wir kommen dem Tinchen an
ihrem Küchenherde auf der rothen Schanze näher und
immer näher. Nämlich ſie war meines Vaters Stolz,
nicht das Tinchen, ſondern die Kanonenkugel. Sie
[87] war ja eine Merkwürdigkeit der Stadt, und mein
erſtes Denken haftet an ihr: „Die iſt von der rothen
Schanze gekommen, Junge,“ ſagte mein Vater, und
nun ſage mir, Eduard, haſt Du da hinten in Prä-
toria oder wie ihr es und euch nennt, etwas Beſſeres
als eine Kugel im Gebälk oder in der Hauswand,
um Deinem Jungen oder Deinen Jungen den Ver-
ſtand für irgend etwas aufzuknöpfen? So ein Wort
ſchlägt ein und haftet im Gehirn und in der Phantaſie
wie die Kugel ſelber in der Mauer. „Sie kommt
noch aus dem Kriege des alten Fritz her, Heinrich,“
ſagte mein Vater. „Paß in der Schule ordentlich
auf, denn da können ſie Dir das Genauere darüber
erzählen!“ — Na, ich habe um alles Andere in der
Schule Prügel gekriegt, nur um den ſiebenjährigen
Krieg nicht; und daran iſt die Geſchützkugel des
Prinzen Xaver an unſerer Hauswand, die Kugel,
die von der rothen Schanze hergekommen war, Schuld
geweſen, und ſie hat mir denn auch ſo im Laufe
der Zeiten zum Tinchen Quakatz und zu der rothen
Schanze verholfen. Nachher bei Tiſche, hoffe ich,
ſollſt Du es mir ganz aufrichtig ſagen müſſen,
daß Du es doch recht behaglich bei uns findeſt.“


„Habe ich denn das nicht ſchon verſchiedene
Male geſagt?“


„Nein. Wenigſtens noch lange nicht nach Würden.
Denn was weißt Du denn eigentlich bis jetzt Ge-
naueſtes von uns? Aber Menſchenkind mußt Du
denn immer unterbrechen? Menſchenkind, begreifſt
Du denn gar nicht, wie viele verhaltene Reden, wie
[88] viel verhaltener Wortſchwall in einem nicht zum Zweck
und auf die Kanzel gekommenen Kandidaten der
Theologie ſtecken können? Da, ſitze ſtill und gucke
in die ſchöne Gegend und auf die Heimathsgefilde und
laß mich mir endlich mal Luft machen! einem Menſchen
gegenüber Luft machen, der nicht da unten in das
alte Neſt hineingehört, ſondern der morgen ſchon
wieder auf dem Wege nach dem unterſten Ende vom
allerunterſten Südafrika iſt, alſo nicht die Geſchichte
vom Stopfkuchen und ſeiner rothen Schanze in ſein
nachbarliches Ehebett und in ſeine Stamm-Kneipe
weiterträgt.“


„Ich ſage gar nichts mehr, bis Du ſelbſt mich
dazu aufforderſt, oder bis Deine liebe Frau es
wünſcht.“


„Schön, lieber Junge! Damit thuſt Du mir
eine wahre Wohlthat an. Alſo kommen wir zuerſt
zu der Schickſalskugel an Rendanten Schaumanns
Hauſe. Allein that ſie es natürlich nicht. Es hatte
ſich im Hauſe auch ein alter Schmöker erhalten.
Meine Mutter hatte ihn jahrelang benutzt, um einem
wackelnden Schrank den mangelnden vierten Fuß unter-
zuſchieben. Der half mir weiter. Nicht der Schrank,
ſondern der Schmöker! Es war ein Lokalprodukt, das
die Geſchichte der Belagerung unſerer ſüßen [Kind-
heitswiege]
durch den Prinzen Xaver von Sachſen,
wenn nicht wahr, ſo doch für ein Kindergemüth um
ein Bedeutendes deutlicher ausmalte. Den Klaſſiker zog
ich unter dem Schranke vor, den las ich lieber als den
Cornelius Nepos, und von dem aus kam ich, Eduard,
[89] ſei ruhig, wir kommen Tinchen immer näher! zu dem
lebendigen alten Schmöker Schwartner. Selbſtverſtänd-
lich erinnerſt Du Dich noch an den alten Schwartner,
den Regiſtrator Schwartner?“


Ich erinnerte mich ſelbſtverſtändlich, aber ſchüttelte
natürlich eben ſo ſelbſtverſtändlich das Haupt.


„Ja ſo: Er ſoll ja nicht dreinreden!“ brummte
der Herr der rothen Schanze und fuhr fort in
ſeiner Seelenerleichterung, ohne daß er durch mich
aufgehalten worden war. „Der alte Schwartner in
ſeinem alten ſchwarzen Hauſe unter den dunkeln
Kaſtanien der Kirche gegenüber. Es ſpukte in ihm,
weißt Du noch, Eduard? In dem Hauſe natürlich;
aber — in dem alten Herrn auch. In dem alten
Herrn haben nach ſeinem Tode oder vielmehr end-
lichen völligen Austrocknen die Doktoren nicht einen
Tropfen Flüſſigkeit mehr gefunden; obgleich er aller
Humore voller ſteckte als die ganze übrige Stadt.
Und beim Abbruch ſeines Familienhauſes, nachdem
man vorher die Kaſtanienbäume niedergeſchlagen hatte,
haben die Arbeiter mehr als einmal am hellen Mittage
die Aexte, Schaufeln und Spitzhacken hingeworfen und
haben ſich unter den Schutz der Hauptkirche gegen-
über geflüchtet, weil plötzlich ein Schrecken über ſie
kam. Ihr Gelehrten ſchiebt das ja wohl auf den
alten Bockfüßler Pan; die ſtädtiſche Arbeiterbummler-
ſchaft aber ſchob's auf den alten Bockfüßler Schwartner.
Na, mit dem letztern Alten habe ich denn ſo ganz
hinter euerem Rücken, ihr lieben hellen Schulkameraden,
Kameradſchaft gemacht, und zwar mit Nutzen in vielen
[90] Dingen, von denen Ihr Feldhaſen nicht die geringſte
Ahnung haben konntet. Sitze nur ruhig, Eduard;
ich führe Dich nicht zu weit ab: wir bleiben einfach
bei der rothen Schanze und kommen meinem Tinchen
immer näher. Uebrigens wird ſie hoffentlich nun
auch bald uns zu Tiſche rufen.“


Ich hätte hier wirklich etwas ſagen können; aber
ich bezwang mich und that es nicht. Stopfkuchen
fuhr, ſeine Pfeife beſſer in Brand ziehend fort:


„Alſo die Kugel an meines Vaters Hauſe hatte
zuerſt auf meine kindliche Phantaſie gewirkt; der alte
Schwartner wirkte zuerſt auf meinen hiſtoriſchen Sinn.
Und den hiſtoriſchen Sinn im Menſchen erklären heut
zu Tage ja viele Gelehrte für das Vorzüglichſte was
es überhaupt im Menſchen gibt. Ich bin nicht dieſer
Anſicht. Ja wenn man ſich immer nur an was An-
genehmes erinnerte! . . . Aber, einerlei, der alte
Schwartner hatte hiſtoriſchen Sinn und erweckte den-
ſelben auch ſoweit es möglich war, in mir. Daß ich
mich mit ihm, immer dem hiſtoriſchen Sinn! einzig
und allein auf die rothe Schanze zu beſchränken wußte,
ſpricht, meines Erachtens zuletzt denn doch dafür, daß
noch Etwas in mir lag, was ſelbſt über den hiſtoriſchen
Sinn hinausging. Wie ich eigentlich zuerſt in ſein
Haus gekommen bin, weiß ich nicht recht. Er hat
mich wahrſcheinlich die Kanonenkugel an unſerm Haus-
giebel oder die rothe Schanze angaffend gefunden, eine
verwandte Seele in mir gewittert und mich mal mit
ſich genommen. Wir kamen jedenfalls bald auf den
kameradſchaftlichſten Fuß. Wer mich brauchte und
[91] in meines Vaters Hauſe nicht vorfand, der hatte
mich nur beim alten Regiſtrator Schwartner zu ſuchen,
da fand er mich ziemlich ſicher. ‚Schulkenntniſſe,
Heinrich,‘ ſagte der alte Schwartner. ‚Erwirb Dir
ja Schulkenntniſſe und vorzüglich Geſchichte. Ohne
Geſchichtskenntniſſe bleibt der Geſcheuteſte ein dummer
Eſel, mit ihr ſteckt er als überlegener Menſch eine
ganze Stadt, ein ganz Gemeinweſen wiſſenſchaftlich
in die Taſche. Brauchſt da bloß mich anzuſehen,
den bloßen Subalternenbeamten, der ihnen allen doch
allein ſagen kann, wie es mit ihnen eigentlich ſteht.‘
Viele allgemeine Geſchichtskenntniß habe ich nun frei-
lich doch nicht aus der Freundſchaft des alten Herrn
gezogen; aber die Geſchichte des ſiebenjährigen Krieges
und der rothen Schanze die weiß ich von ihm, mag
es meinetwegen mit dem Uebrigen beſtellt ſein und
bleiben wie es iſt. Ja, ja, Eduard, ſein, des alten
Schwartners Großonkel oder Urgroßonkel hatte als
damaliger Stadtſyndikus den Prinzen Xaverius
perſönlich geſprochen. Der Prinz hatte ihm ſeine
Doſe geboten, aber ihm ſeinen Beitrag zur Contribution
und Brandſchatzung nach gewonnener Stadt leider
nicht erlaſſen. Er, der Herr Regiſtrator, bewahrte
auch noch viele andere Sachen in ſeinem geſpenſtiſchen
Familienhauſe zum Angedenken an jene unruhige
Zeit auf: ein Sponton in der Ecke hinter ſeinem
Schreibtiſche, Pläne und Kupferſtiche an den Wänden,
Stühle, auf welchen die Urgroßmutter und die Groß-
mutter mit dem preußiſchen Stadtkommandanten geſeſſen
hatten, einen Tiſch, von welchem die Einquartierung
[92] eine Ecke abgeſchlagen hatte, und vor allen Dingen
Rechnungen, Rechnungsbücher, Abrechnungen! Na,
ſie hatten blechen müſſen, das ſage ich Dir, Eduard!
Der liebe Gott beſchirme Deine Urenkel in Afrika
vor derartigen lieben Angedenken; oder gebe ihnen
wenigſtens den behaglichen hiſtoriſchen Sinn des
alten Schwartner, der durchaus keinen Groll darüber
mehr in ſich trug, der nur noch ſein Vergnügen aus
der Sache zog, und dem nichts als ſein Intereſſe an
dem Dinge geblieben war. Er hatte einen ziemlich
großen Plan der Stadt aus dem Ende des vorigen
Jahrhunderts an der Wand neben ſeinem Sopha
hängen, und wenn er nicht draußen im Felde dieſe
närriſche verjährte Belagerung mit mir traktirte, ſo
docirte er ſie mir von dieſem Sopha aus, und ich
mußte auf der Karte mit dem Finger nachfahren,
meiſtens natürlich zwiſchen der Stadt und der rothen
Schanze hin und her. Und nun ſteh' mal auf und
komm mal her, Eduard.“


Und nun, wie als ob ich aus meinem Leben
und aus Afrika nicht das geringſte Neue und für
ihn vielleicht auch Merkwürdige zu erzählen gehabt
hätte, zog er mich an den Rand ſeines Burgwalls
und deutete mir mit dem Finger dieſes ſo grenzenlos
unbedeutende Stück Welthiſtorie, Kanonenlärm, Bürger-
angſt, Weiber- und Kindergekreiſch, Brand und Blut-
vergießen: da und da ſtand Der und Der. Das Corps
combiné
der Royal François et des Saxons war
zwanzigtauſend Mann ſtark. So und ſo viel Franzoſen
und ſo und ſo viel Sachſen. In der Stadt lag eine
[93] Beſatzung von ſieben bis achthundert Mann Invaliden
und Landmiliz unterm alten Platzmajor von Stummel,
ſein Nachkomme lebt noch in der Stadt als quiescirter
Gerichtsaſſeſſor, und man ſieht es ihm wahrhaftig
nicht an, daß er einen Heros zum Ahnherrn gehabt
hat; nach dem Brummerſumm geht er, wie ich höre,
jeden Nachmittag, und auch Du haſt ihn da vielleicht
noch wieder angetroffen, Eduard, und auch um ſeinet-
willen, Deinen Freund Stopfkuchen und deſſen rothe
Schanze bis heute verabſäumt. Es war doch eigentlich
nicht hübſch von Dir.“


Letzteres mochte ſein; aber wenn mir natürlich
jetzt Alles an Stopfkuchen und der rothen Schanze
von Neuem ſehr intereſſant und ſympathiſch war, ſo
war ich doch eigentlich nicht um das was er mir
bis jetzt von ſich und allem Seinigen vorgetragen
hatte, nach ſeiner Feſtung, ſeiner Xavers- Quakatzen-
und — Valentinenburg hinausgegangen. Ich hatte
wenigſtens nach Möglichkeit nachgeholt, was ich un-
freundlicher Weiſe verabſäumt haben mochte an dem
fürchterlichen Langweiler, dem feiſteſten meiner Jugend-
freunde.


Dem mochte nun ſein wie ihm wollte: in einer
Beziehung hatte ich etwas ganz Wunderbares ganz
ſicher noch vor mir — Stopfkuchens Mittageſſen.
Nachdem die Düfte vom Hauſe her immer nahrhafter
und delikater geworden waren, ſchaute Frau Valentine
Schaumann, geborene Quakatz, um den Buſch hinter
unſerer Bank und fragte mit dem liebſten, einladendſten
[94] Lächeln auf dem Geſicht: Ob es den Herren ge-
fällig ſei? —


Es war den Herren gefällig.


Heute, unter der Linie, habe ich zwar die Glocke
des Schiffskochs nicht überhört, aber ich habe ihr
doch auch nicht Folge geleiſtet. Ich bin von Tiſche
fort und bei meinem Manuſkript geblieben. Mit dem
Appetit des Nordländers iſt es zwiſchen den Wende-
kreiſen des Krebſes und des Steinbocks leider nur zu
häufig ſo ſo, und Die ſind ſchon gut dran, die in
jenen ſchönen Gegenden ſich wenigſtens noch mit Be-
hagen oder doch ohne Mißbehagen an frühern Tafel-
genuß und beſſere Verdauung erinnern dürfen.


„Na, Tinchen, da haſt Du denn endlich einmal
wieder einen Andern, der Dir ſeinen Arm bietet,“
ſagte Heinrich, ſeine Pfeife an die Gartenbank lehnend
und ſeinen Schlafrock um ſich zuſammenziehend, was
die einzige Verbeſſerung und Verſchönerung ſeiner
Diner-Toilette blieb, während ſeine Frau im hübſchen
und geſchmackvollen, im tadelloſen, feiertäglichen Haus-
kleide zu uns gekommen war. „Nämlich,“ fügte er
hinzu, Stopfkuchen nämlich: „So habe ich ſie ge-
wöhnt, Eduard, daß ich mich in dieſer Hinſicht all-
mählich auf ſie verlaſſen kann. Sie reicht mir ſtets
unaufgefordert den Arm und ich habe ihn nöthig.
Aber, wie geſagt, Weib, reiche ihn heute ihm. Eines
[95] ſo werthen und ſeltenen Gaſtes wegen verzichte ich
auch mal darauf. Alſo geht nur voran, ihr Beiden,
ich folge langſam in eurer lieben Spur.“


Das that er wirklich, und da es jetzt in Wahrheit
zu Tiſche ging, auch ohne ſich nochmals unterwegs
niederzulaſſen, oder gar in den ſiebenjährigen Krieg,
auf den Prinzen Xaver von Sachſen und die Be-
lagerung unſerer Heimathsſtadt zu fallen. Dicht hinter
uns her erreichte er das Haus, welchem auch ich jetzt,
ſonderbarerweiſe, zuerſt am heutigen Tage in nächſte
Nähe trat. Bis jetzt war es aber zu gemüthlich unter
den Linden vor ihm — dem Hauſe — geweſen. Und
was aus einer blutigen Kriegesſchanze und aus dem
vervehmten, verrufenen Unterſchlupf von Kienbaums
Mörder zu machen geweſen war, das hatte Stopfkuchen
daraus gemacht. Solches konnte ich ihm zugeben
und darauf konnte er unbedingt ſtolz ſein. Er hatte
es verſtanden, hier die böſen Geiſter auszutreiben,
das bemerkte man auf den erſten Blick, wenn man
Quakatzens Heimweſen noch gekannt hatte. Er aber
ſagte, ohne ſich auf der Schwelle etwas zu Gute zu thun:


„Komm denn herein, lieber Junge. Wenn der
Menſch mit ſeinen höheren Zwecken, nach dem Dichter-
wort, in die Höhe wachſen ſoll, ſo ſollte er von rechts-
wegen mit ſeinem zweckloſen guten Gewiſſen ſich un-
angegrinſt in eben dem Verhältniß ruhig in die
Breite ausdehnen dürfen. Aber komme der ſchlechten
Welt mit dieſem beſcheidenen Anſpruch! Na die
Hausthür des alten Quakatz habe ich übrigens meinet-
wegen noch nicht breiter machen laſſen müſſen. Eduard,
[96] es freut mich ungemein, Arm in Arm mit Dir dieſe
Schwelle überſchreiten zu können.“


Damit ſchob er ſeine Frau von mir ab und ſie
vor uns ins Haus. Er watſchelte richtig Arm in Arm
mit mir hinterdrein, nicht ohne vorher noch einen
Augenblick ſtehen geblieben zu ſein und mich auf die
Ueberſchrift ſeiner Thür aufmerkſam gemacht zu haben.
Ich traute meinen Augen nicht; aber es ſtand wahr-
haftig da, in großen weißen Lettern auf ſchwarzem
Grunde angemalt, zu leſen:


Da redete Gott mit Noah und ſprach:
Gehe aus dem Kaſten.


Und als ich den Dicken darob wirklich nicht ganz
ohne Verwunderung anſah, lächelte dieſer behaglichſte
aller Lehnſtuhlmenſchen überlegen und ſprach:


„Weil ihr ein bischen weiter als ich in die
Welt hinein euch die Füße vertreten habt, meint ihr
ſelbſtverſtändlich, daß ich ganz und gar im Kaſten
ſitzen geblieben ſei. Ne, ne, lieber Eduard, es iſt
wirklich mein Lebensmotto: Gehe heraus aus dem
Kaſten!“


Ich würde Einiges zu erwiedern gehabt haben,
aber er ließ mich wahrlich wiederum nicht zum Worte,
ſondern fuhr fort:


„Was ſagſt Du aber ſchon hier draußen zu den
kleinen Verſchönerungen, die ich an Tinchen Quakatzens
Erbſitz vorgenommen habe. Hier auswendig am
Hauſe, meine ich. Nicht wahr, hell und freundlich? —
alles was Pinſel und Farbentopf in dieſer Hinſicht
ins Erheiternde zu thun vermochten!“


[97]

Er hatte gewiß nicht nöthig, mich noch beſonders
aufmerkſam zu machen. Die Verſchönerungen mußten
jedem der die Mördergrube auf der rothen Schanze
ehedem in ihrer ärgſten Verwahrloſung gekannt hatte,
auffallen.


„Sieh mal,“ ſagte Stopfkuchen, „auf den Noah-
kaſten habe ich Dich bereits aufmerkſam gemacht; jetzt
ſchüttele einmal in der Phantaſie eine andere Deiner
Weihnachtsſchachteln aus. Dorf oder Stadt — ſteht
auf dem Deckel derjenigen, die ich meine. Kippe
dreiſt um auf den Tiſch und ſuche mir mein Weih-
nachtsmuſterhaus heraus! Was? Haſt Du's? Schön
himmelblau die Mauern, ſchön zinnoberroth das Dach,
Fenſter und Thür kohlenpechrabenſchwarz, nur der
Schornſtein ſchön weiß. Es gibt auch nette Paläſte,
Häuſer und Hütten in anderen Farben in der
Schachtel, aber ich habe Tinchens wegen ein helles
Himmelblau gewählt. Dem ſieht hoffentlich Niemand
mehr Kienbaums Blut ab, ſondern es ſagt höchſtens
dann und wann Jemand: ‚Dieſer alte Schaumann
auf der rothen Schanze iſt doch ein ganz verrückter
Hahn, und es iſt nur zu hoffen, daß ihn ſeine brave
Frau feſt unter ihrer Kuratel hält‘.“


Die brave Frau auf dem Hausflur wendete ſich
auf dieſes letzte Wort um und ſagte lächelnd:


„Heinrich, ich bitte Dich! vor dieſem Deinem
Freunde brauchſt Du Dich doch nicht ganz ſo närriſch
wie vor den Anderen anzuſtellen.“


„Aber immer doch ein bischen darf ich — was
alter Schatz?“


W. Raabe. Stopfkuchen. 7
[98]

„Was kann ich dagegen machen? ſagen Sie ſelber
aus älteſter Bekanntſchaft mit ihm, Herr Eduard!“
lachte Frau Valentine, und dabei ſtand auch ich an
Stopfkuchens Arm auf ſeinem Hausflur und fiel in
ein neues Erſtaunen.


„Ja aber, was iſt denn Das?“ entrang ſich, um
im gehobenen Ton zu bleiben, das Wort meinen
Lippen.


„Ein Bruchtheil meines geologiſchen Muſeums.
Die Pièce de résistance, die Krone, mein Mammuth,
werde ich Dir nach Tiſche zeigen,“ ſagte Schau-
mann.


Ich ſtand ſtarr.


„Es iſt die Liebhaberei meiner alten Tage,“
fuhr der dicke Freund fort. „Etwas muß der Menſch
doch immer haben, woran er ſich hält, wenn er dem
Gebote des Herrn nachkommt und aus dem Kaſten
geht. Was wunderſt Du Dich? Für alle Ewigkeit
reicht doch ſelbſt der Prinz Xaver von Sachſen nicht
aus, um einem Einſiedler oder vielmehr Zweiſiedler
durch die Stunden, Tage, Wochen und Jahre ein
Liebhabereibedürfniß behaglich zu ſtillen. Aber ſei
nur ruhig, Eduard; dies iſt meine Sache, dieſes ſind
meine Knochen! Du kriegſt die Suppe von ihnen
nicht, Tinchen hält ſich mehr an was Friſcheres mit
mehr Fleiſch darauf. Ich hoffe, Du wirſt ihre Koch-
kunſt, meinem oſteologiſchen Muſeum zum Trotz loben
und draußen im Säkulum gleichfalls beſtätigen, daß
man auf der rothen Schanze nicht bloß an den Knochen
nagt. Uebrigens ſehe ich zu meinem Erſtaunen, daß
[99] Du derartigen Dilettantenwahnſinn bei mir am
wenigſten geſucht haſt.“


„Das muß ich ſagen!“


„Der Zauber des Gegenſatzes, Eduard. Einfach
der Zauber des Gegenſatzes! Werde Du mal ſo fett
wie ich und ſuche Du nicht Deinen Gegenſatz — alſo
hier dieſe Knochen! Dein Hausarzt wird ſicherlich
nichts dagegen einzuwenden haben. Der meinige
hält zum Beiſpiel mein Herum -Kriechen -Keuchen
und -Klettern in den umliegenden Kiesgruben und
Steinbrüchen der Feldmark um die rothe Schanze für
ſehr wohlthätig für meine Konſtitution. Seinen
Redensarten nach ſollte es mir manchmal vorkommen,
als ſei die Sintfluth nur meinetwegen eingetreten;
nämlich blos damit ich mir unter ihren Ruderibus,
ihren ſchönen Reſten die mir ſo nothwendige Bewegung
mache. Und mit ganz ähnlichen Redensarten legt
auch Tinchen, wie ſie ſich ausdrückt, meiner Narrheit
nichts in den Weg. ‚Das kommt davon‘, fügt ſie
höchſtens hinzu, ‚wenn der dicke Bauer der rothen
Schanze ſein ganzes Ackerland der Zuckerfabrik Mai-
holzen als Rübenacker hingibt.‘“


„Menſch!“ rief ich. „Jetzt laß uns endlich zu
Tiſch! Deine Frau wartet und ich habe es unbe-
dingt nöthig, auch mit Deiner Frau über Dich zu
reden!“


„Aber erſt nach Tiſche!“ grinſte Stopfkuchen.
Er „bat“ darum, wie man das in ſolchen Fällen
ſittiger zu bezeichnen pflegt, fügte auch noch hinzu:
„Daß ich mich auf dem Wege zum Eſſen und beim
7*
[100] Eſſen ungern aufhalten und nur ſehr ungern ſtören
laſſe, weißt Du ja wohl noch aus alter lieber Jugend-
erinnerung?“


Ich warf noch einen Blick auf die an den
Wänden der alten „Bauerndehle“ auf Börten und in
offenen Schränken aufgeſtapelten Verſteinerungen aus
der Umgegend der rothen Schanze, und trat noch
einmal in meinem Leben in die Wohnſtube des
Bauern Andreas Quakatz zur linken Seite des Haus-
flurs, und an den Tiſch, den auch Stopfkuchen zu
einem Eßtiſch gemacht hatte, und auf welchem Tinchen
Quakatz vor ſo vielen Jahren in meiner Gegenwart
in Trotz, Grimm, Angſt und Verzweiflung mit den
Armen und mit dem Kopfe lag.


„Wie freue ich mich, Sie wieder hier zu ſehen,
Herr Eduard,“ ſagte Frau Valentine Schaumann.


— — — — — — — — — — —


Ich reichte ihr in Wahrheit bewegt die Hand
über Stopfkuchens in Wahrheit wunderbar gedeckten
Eß- und Lebenstiſch. Aber Stopfkuchen drängte: ich
hatte die Serviette zu entfalten und zu Löffel, Meſſer
und Gabel zu greifen. So konnte er, Heinrich, doch
nicht drängen, daß ich mich nicht auch hier ſchnell
noch umgeſehen hätte. Es hatte ſich auch hier Manches
verändert.


[101]

„Ja, guck nur,“ ſagte er. „Hier kannſt Du es
richtig ſehen, wie ſie mich gegen den Strich zu kämmen
pflegt. Nichts als meinen Koprolithenſchrank habe
ich hier hereinſchmuggeln können. Da ſteht er in
der Ecke und da ſitzt ſie Dir gegenüber und erwartet,
daß Du ihr Deine Komplimente über ihren guten
Geſchmack machſt. Sie hat den Raum von ihren
Jugenderinnerungen gründlich gereinigt haben wollen,
und der Schatz hat das Recht dazu gehabt. Erfreuliches
hing nicht an den Wänden, ſtand nicht umher —
dieſen Eßtiſch ausgenommen — und verkroch ſich noch
weniger in den Winkeln. Wir haben aber den väter-
lichen und urväterlichen Hausrath vom Quakatzenhof
nicht verauktionirt. Wir haben ihn den Flammen
übergeben, theilweiſe auf dem Küchenherde, zum größten
Theil aber da draußen unter den Lindenbäumen. Da
haben wir ein Feuer angezündet, am ſchönen Sommer-
tage im Sonnenſchein zwiſchen zehn und elf Uhr
Morgens. Da haben wir den alten wüſten Wuſt
in die reinen blauen Lüfte geſchickt. O, wie haben
wir alle ſüßen, heimlichen, ſentimentalen Gemüths-
ſtimmungen auf den Kopf geſtellt! Ei ja, wie haben
wir die rothe Schanze durch Feuer von ihrer Krankheit
geheilt! Sieh, Eduard, wie das Kind ſich heute noch
ihrer, wie die Leute umher ſagten: unzurechnungs-
fähigen, grenzenloſen Herzloſigkeit freut — dieſe Mord-
brennerin. Sieht ſie aus, als ob ſie ſich durch das Auf-
wärmen ihrer eigenſten That jetzt noch den Appetit
verderben laſſen würde?“


So ſah ſie wahrlich nicht aus! Frau Valentine
[102] Schaumann lächelte über unſern Suppennapf mich
an und ſagte:


„Merken Sie es wohl, wie gründlich Heinrich
mich erzogen hat? Ich habe auch garnichts dagegen,
wenn er es Ihnen nach Tiſch noch gründlicher er-
zählt, wie er das angefangen hat, und wie er mich
auch heute noch auf der Schulbank ſitzen hat. Das
heißt, Alter, Dein Nachmittagsſchläfchen hältſt Du
erſt wie gewöhnlich, d[e]nn Herr Eduard wird aus
ſeinem heißen Afrika wohl auch ein wenig daran ge-
wöhnt ſein.“


„Wenn Eduard zu ſchlummern wünſcht, ſchlummre
ich gewiß auch ein wenig ihm zu Liebe. Mit den
gewöhnlichen Gewiſſensbiſſen der ärztlichen Rathſchläge
wegen. Und hat Dir Gott 'nen Wanſt beſchert, ſo
halte ihn — und ſo weiter. Na, der Herr beſchere
uns Allen einen ſanften Sophatod.“


„Du gehſt mir heute und von heute an jeden
Tag auf der Stelle nach dem Eſſen mit Deinem
Freunde oder mit mir in den Garten und auf den
Wall!“ rief Frau Valentine. „Heinrich, ich bin im
Stande und blaſe noch einmal ein Feuer unter den
Linden an und verbrenne Dir alle unſere Sophas
unterm Leibe.“


„O Du ſüße, umgekehrte indiſche Wittwe in spe!
grinſte Stopfkuchen, und dann war er eine geraume
Zeit wieder einmal ganz bei der Sache, nämlich nur
bei Tiſche, ganz und gar, einzig und allein, nur bei
Tiſche! Wir ſpeiſten vorzüglich, und eine Viertel-
ſtunde lang ſagte er einmal kein Wort. Der Behag-
[103] lichkeit und der Kühle wegen blieben wir auch mit
dem Kaffee und bei der Cigarre fürs Erſte im Hauſe,
und Tinchen Quakatz ſaß bei uns, und ging ab und
zu, freute ſich ihres Mannes, und, wie es gottlob
ſchien, auch des Jugendfreundes deſſelben, und wir
verzichteten alle Drei auf den Nachmittagsſchlummer
zur „Feier meines Beſuchs.“


Im behaglichſten Moment des Verdauungspro-
zeſſes legte ſich dann Stopfkuchen in ſeinem Seſſel zurück,
ſchlang über dem weitaufgeknöpften Buſen die Hände
ineinander, drehte die Daumen umeinander, ſeufzte
wollüſtig und — fragte:


„Und nun Eduard, machen wir Dir noch den
Eindruck einer Mörderhöhle? Würdeſt Du Dich vor
dem ſeligen Kienbaum und der Mitternacht fürchten
und dankend ablehnen, wenn wir Dir ein Bett im
Hauſe anböten? Sag es ganz offen heraus, wenn
es Dir im Geringſten noch nach Blut und Moder
auf der rothen Schanze riecht.“


Hoffentlich erwartete er, daß ich nun aufſpränge,
mit Händen und Füßen abwehrend, donnernd drei-
mal: Nein! brülle. Aber den Gefallen that ich dem
faſt unheimlich behaglichen feiſten Geſchöpf doch nicht.
Ich ſagte ihm ganz ruhig;


„Auch Deine antediluvianiſchen verſteinerten Ge-
beine draußen riechen mir nach nichts mehr. Selbſt
Deine Koprolithen da im Schrank kann die feinſte
Dame dreiſt als Briefbeſchwerer gebrauchen, wenn
Niemand ſie fragt, und ſie Keinem mittheilt, was das
eigentlich iſt. In die Geſpenſterkammer von Qua-
[104] katzenhof würde ich mit Vergnügen ziehen, wenn meine
Zeitumſtände es erlaubten. Daß Deine liebe Frau
mir im Schlafe den Hals abſchneiden könne, glaube
ich nicht; aber — was Dich ſelber freilich anbetrifft,
ſo möchte ich Dich wirklich jetzt noch am freundlichen
Nachmittage ausfragen, ehe die ſpukhafte Nacht kommt.
Wundervolle Menſchenkinder — unbegreiflicher Menſch
— wie habt ihr — wie haſt Du es angefangen,
den böſen Geiſt und Gaſt der rothen Schanze zu
bändigen?“


„Ich habe Kienbaum völlig todtgeſchlagen,“ ſagte
Stopfkuchen. „Weiter brauchte es ja nichts. Der
Schlingel — will ſagen, der arme Teufel hatte frei-
lich ein zähes Leben; aber — ich — ich habe ihn
untergekriegt. Wenn ein Menſch Kienbaum todtge-
ſchlagen hat, ſo bin ich der Menſch und Mörder.“


„Du? Heinrich, mir —“


„Willſt Du dabei ſein, wenn ich's ihm ins
Genauere auseinanderſetze, Tinchen?“ wendete ſich
Heinrich an ſeine Frau, und ſie meinte lächelnd:


„Du weißt es ja, daß Du mich nicht dabei
nöthig haſt, Alter. Wenn Dein Herr Freund es ge-
ſtattet, ſo horche ich lieber wie bisher von Zeit zu
Zeit ein wenig hin, daß Du mir nicht allzuſehr ins
Phantaſtiſche und Breite fällſt.“


„Ich ins Breite und Phantaſtiſche, Eduard?!“


„Aber ich würde den Herren vorſchlagen, ſich
doch lieber mit dem alten Elend wieder draußen unter
die grünen Bäume zu ſetzen. Sie, Herr Eduard,
[105] hören gewiß lieber draußen im Freien davon. Ich
räume derweilen hier auf und komme nachher —“


„Mit meinem Strickzeug,“ ſchloß Heinrich Schau-
mann den herzigen Rath und Vorſchlag ab.


Er nahm ſeine Cigarrenkiſte unter den Arm,
ich bot ihm wieder den meinen; die Frau trug ein
brennendes Licht in die ſtille Sommerluft hinaus,
und ſo ſaßen wir noch einmal unter den Linden,
und ich wehrte eine letzte Taſſe Kaffee ab, und —
jetzt könnte ich Jeden fragen, ob's nicht merkwürdig
ſei, auf einem Schiffe, auf dem ſogenannten hohen
Meer, auf der Rückreiſe in das ödeſte, langgedehnteſte
wenn auch nahrhafteſte Fremdenleben ſo von dem
ſogenannten heimiſchen, vaterländiſchen Philiſterleben
zu ſchreiben? . . .


„Ja, ja, Eduard,“ ſagte Stopfkuchen, „gehe
heraus aus dem Kaſten! Einige werden in die Welt
hinausgeſchickt, um ein König- oder Kaiſerreich zu
ſtiften, Andere um ein Rittergut am Kap der guten
Hoffnung zu erobern, und wieder Andere blos um ein
kleines Bauernmädchen mit unterdrückten Anlagen
zur Behaglichkeit und einem armen Teufel von ge-
plagtem, halb verrückt gemachtem Papa einzufangen
und es mit Henriette Davidis Kochbuche und mit
[106] Heinrich Schaumanns ebenfalls ſchändlich unterdrückten
Anlagen zur Gemüthlichkeit und Menſchenwürde etwas
bekannter zu machen.“


„Gehe heraus aus dem Kaſten, Heinrich.“


„Ihr Anderen, als ihr noch auf Schulen ginget,
glaubtet vielleicht, eure Ideale zu haben. Ich hatte
das meinige feſt.“


„Das weiß ich zur Genüge; Du haſt es mir
heute ſchon öfter geſagt: die rothe Schanze“


„Nein, durchaus nicht.“


„Nun dann ſoll es mich doch wundern, was
denn!“


„Mich!“ ſprach Stopfkuchen mit unerſchütterlicher
Gelaſſenheit. Dann aber ſah er ſich über die Schulter
nach ſeinem Hauſe um, ob auch Niemand von dort
komme und horche. Er hielt die Hand an den Mund
und flüſterte mir hinter ihr zu:


„Ich kann Dir ſagen, Eduard, ſie iſt ein Pracht-
mädchen und bedurfte zur richtigen Zeit nur eines
verſtändigen Mannes, alſo eines Idealmenſchen, um
das zu werden, was ich aus ihr gemacht habe. Das
ſiehſt Du doch wohl ein, Eduard, obgleich es freilich
die reine Zwickmühle iſt: damit ich ihr Ideal werde,
mußte ich doch unbedingt vorher erſt meines ſein?“


„Aus dem Kaſten, nur immer weiter heraus
aus dem Kaſten!“ murmelte ich. Was hätte ich ſonſt
murmeln ſollen?


„Ihr hattet mich mal wieder allein unter der Hecke
ſitzen laſſen, ihr Anderen, und waret eurem Ver-
gnügen an der Welt ohne mich nachgelaufen. Und
[107] am Morgen in der Schule hatte mich Blechhammer
mal wieder wiſſenſchaftlich zum abſchreckenden Beiſpiel
verwendet als Bradypus. Ich kann ihn heute noch
nicht nur citiren, ſondern lebendig auf die Bühne
bringen, mit ſeinem: ‚Seht ihn euch an, ihr
Anderen, den Schaumann, das Faulthier. Da ſitzt
er wieder auf der faulen Bank, der Schaumann,
wie der Bradypus, das Faulthier. Hat fahle Haare,
wie welkes Laub, vier Backenzähne. Klettert langſam
in eine andere Klaſſe — wollt' ich ſagen: klettert
auf einen Baum, auf dem es bleibt, bis es das letzte
Blatt abgefreſſen hat. Schuberts Lehrbuch der Natur-
geſchichte, Seite dreihundertachtundfünfzig: kriecht auf
einen anderen Baum, aber ſo langſam, daß es ein
Jäger, der es am Morgen an einem Fleck geſehen
hat, auch am Abend noch ganz in der Nähe findet.
Und dem ſoll man klaſſiſche Bildung und Geſchmack
an den Wiſſenſchaften und Verſtändniß für die Alten
beibringen!‘ — Na, Eduard, Du biſt auch mit einer
von meinen Jägern geweſen, wenn auch keiner von
den allerſchlimmſten: wie findeſt Du mich, nachdem
Du mich am Morgen an einem Flecke gefunden haſt
und mich jetzt am Abend noch ganz in der Nähe
deſſelben wiederfindeſt?“


Was ſollte ich anders ſagen, als:


„Du wollteſt von den grünen, den lebendigen
Hecken unſerer Jugend reden, alter Heinrich, alter
lieber Freund! Erzähle weiter. Erzähle, wie Du
erzählſt.“


„Meinetwegen. Ja wohl, ihr habt ſie ja wohl
[108] noch in voller grüner Fülle und möglichſt unbeſchnitten
um eure Felder und Gärten in Afrika? Hier reuten
ſie ſie allmählich überall aus, die Hecken. Da drunten
um das Neſt herum, in welchem wir jung geworden
ſind und grüne Jungen waren, haben ſie ſie glücklich
alle durch ihre Gartenmauern, Eiſengitter und Haus-
mauern erſetzt. Es iſt wirklich als könnten ſie nichts
Grünes mehr ſehen! Selbſt hier draußen fangen
ſie ſchon an ein Ende damit zu machen. Na, laß
ſie, ich habe für mein Theil noch die Wonne genoſſen,
mich drunter zu legen, heute in die Sonne, morgen
lieber in den Schatten. Unter der Hecke hätte ich
überhaupt geboren werden ſollen und nicht in ſo
einer muffigen Stadtkammer nach dem Hofe hinaus.
Ueber die Hecken hätten meine Windeln gehängt werden
ſollen und nicht um den überheizten Ofen herum.
Heinrich von der Hecke oder vom Hagen! nicht wahr,
das wäre etwas für mich, den Eroberer der rothen
Schanze und der dazu gehörigen Tine Quakatz ge-
weſen, lieber Eduard? Herr Heinrich von der Hecke,
wieviel würdiger, edler, bedeutungsvoller das doch
klänge als Kandidat Schaumann, ehelicher Sohn
weiland Oberundunterreviſors Schaumann und deſſen
Ehefrau und ſo weiter mit allen bürgerlichen Ehren-
haftigkeiten. Und noch dazu da ich im Grunde doch
auch es, mein Tinchen, unter ihr, der Hecke, der grünen,
ſonnigen, wonnigen, der ganz und gar lebendigen
Hecke gefunden habe, da ich unter ihr mein Fräulein,
die mir beſtimmte Jungfer, meinen ſcheuen Hecken-
ſpatz für dieſe diesmalige ſauerſüße Zeitlichkeit einge-
[109] fangen habe. ‚Geh' da weg, Junge,‘ ſprach die junge
Dame, mir die Zunge zeigend: ‚Die Hecke gehört
meinem Vater, und da hat Keiner ein Recht daran
als wir.‘ — ‚Bauergans! dumme Trine,‘ ſagte ich,
und damit war die erſte Bekanntſchaft gemacht. Sehr
mit eurem Zuthun, lieber Eduard; denn was ließet
ihr mich ſo allein im Graſe unterm Haſelnußbuſch
in Vater Quakatzens Reich? ‚Ich bin keine Bauern-
gans, und ich bin keine Trine,‘ rief die Krabbe.
‚Ich bin Tine Quakatz. Geh' weg von unſerem
Brinke, Stadtjunge! Das ſind meine Nüſſe, dies
iſt unſere Hecke und unſer Brink; und weil es unſer
Brink und unſere Hecke iſt, ſo werfen ſie auch gleich
mit Dreck. Sie haben's mir wieder in der Nach-
mittagsſchule verabredet und es ſich verſprochen.‘ —
Ob das eine Warnung ſein ſollte, kann ich nicht
ſagen; jedenfalls kam die Benachrichtigung zu ſpät.
Denn im ſelbigen Augenblick ſchon hatte ich die Paſtete
über den Kopf, an die Naſe, in die Augen und theil-
weiſe auch ins weitoffene Auslaßthor der Rede; war
jedoch, trotz meiner weichen Füße, wieder im nächſten
Augenblick über die Hecke und hatte den ländlich-
ſittlichen Attentäter mit ſeiner Fauſt voll friſchaufge-
griffener Ackerkrume am Kragen und zu Boden. Im
allernächſten Augenblick die ganze junge Dorfsbande,
Jungen und Mädchen und Köter über mich her, und
Tinchen mit den Nägeln in den Geſichtern und den
Fäuſten in den Haaren der Geſpielen und Geſpielinnen,
und ſämmtliche Hundewachtmannſchaft von der rothen
Schanze über den Dammweg uns zu Hülfe! Reizend!
[110] ich fühle die Püffe heute noch und greife heute noch
nach hinten und vorn mir am Leibe herum. Dann
mit einem Male der Graben des Prinzen Xaver
und die Wallhecke des Bauern Quakatz zwiſchen uns
und dem Feinde! Herrgott, wie lief mir das Blut
aus der Naſe, und wie wiſchten ſie drüben mit
den Jackenärmeln das ihrige von den Mäulern und
kreiſchten und ſchimpften und warfen mit Steinen
herüber: ‚Kopfab! kopfab! Kienbaum! Kienbaum!
Tine Quakatz, kopfab, kopfab!‘ Herrgott, und
dann der wirkliche Schrecken bis ins Mark, ſo-
wohl bei mir, wie bei der Menſchheits-Entrüſtungs-
Kundgebung von drüben, jenſeit des Grabens. Da ſtand
Er — die drüben riſſen aus wie die Spatzen vor
dem Steinwurf, da ſtand er hinter mir, zum erſten
Mal in meinem Leben dicht neben mir: der Mord-
bauer von der rothen Schanze, der vervehmte Mann
von der rothen Schanze, der Bauer Andres Quakatz,
Kienbaums Mörder! Im Grunde war es doch
eigentlich nur eure Schuld, daß ich ſeine Bekanntſchaft
ſo zuerſt machte und nachher ſie mehr und mehr ſuchte.
Ein Menſch, den ſeine Zeitgenoſſen unter der Hecke
liegen laſſen, der ſucht ſich eben einſam ſein eigenes
Vergnügen und läßt den Andern das ihrige. — Ja,
mein ſeliger Schwiegervater an jenem Tage! mich
ſchien er gar nicht zu ſehen; er ſah nur auch über
die Hecke nach dem kreiſchenden, immer noch mit allem
möglichen Wurfmaterial ſchleudernden Schwarm unſerer
und ſeiner Gegner. Und ſtatt etwas dazu zu be-
merken, wandte er ſich wieder und ging gegen das
[111] Haus zu, Kienbaums Mörder. Er konnte hier nichts
auch für ſein Kind thun und er mußte uns allein
mit der Sache fertig werden laſſen. Doch die einzige Be-
wegung, die er gemacht hatte, hatte freilich ſchon
genügt, das junge Dorfvolk im paniſchen Schrecken
aus dem Felde zu ſcheuchen. ‚Komm, Junge, an den
Brunnen!‘ ſagte Tinchen. ‚Wie ſiehſt Du aus! Deine
Mutter, wenn Du noch eine haſt, ſchlägt Dich todt,
wenn ſie Dich ſo ſieht.‘ Siehſt Du, Eduard, da ſteht
er noch. Es iſt derſelbe alte Ziehbrunnen, und liefert
ein braves Waſſer. Der Schacht geht ziemlich tief
durch das Schanzenwerk des Grafen von der Lauſitz,
bis in den Grund der Erde. In Afrika habt Ihr
kein beſſeres Waſſer meine ich, und wenn Du einen
Trunk daraus wünſcheſt, ſo wende Dich nachher nur
an Tinchen. Sie windet den Eimer heute noch ſo
wie damals auf. Damals aber ſagte ſie: ‚Wenn wir
und unſer Vieh nicht daraus trinken müßten, ſo hätte
ich ſchon längſt ein paar von ihnen drunten liegen!‘
und dabei drohte ſie mit der Fauſt nach dem Dorfe
zu, und alle Köter der rothen Schanze bellten nach
derſelben Richtung hin. Nun wuſch ich mir das Blut
ab, und dann tranken wir Beide aus dem Eimer,
indem wir daneben knieten und die Köpfe neben ein-
ander in ihn hinein verſenkten. Es war auch eine
Art Blutsbruder- oder ſchweſterſchaft, die da auf ſolche
Weiſe gemacht wurde. Als wir uns aber die Mäuler
getrocknet hatten, meinte das Burgfräulein von
Quakatzenburg: ‚Wenn Du Dich fürchteſt, jetzt bei
Hellem allein nach Hauſe zu gehen, ſo kannſt Du
[112] hierbleiben bis es dunkel geworden iſt, Stadtjunge.
Sie lauern Dir ſicher am Dorfe auf; da kenne ich
ſie. Sie prügeln Dich durch, und ſo iſt es Dir viel-
leicht lieber, Du läßt Dich Abends wegen Ausbleiben
von Deinem Vater oder Deiner Mutter durchprügeln.‘
Ihr habt mich nie in der Schaar eurer Helden mit-
gezählt, Eduard. Von euch hellumſchienten Achaiern
hätte ich nimmer das beſte und alſo auch ehrenvollſte
Stück vom Schweinebraten in die Hände gelegt be-
kommen. Wieviel mehr Heroenthum, unter Umſtänden,
in mir als wie in euch ſteckte, davon hattet ihr
natürlich keine Ahnung. Wenn ich mein Rückenſtück
vom Spieß mit gebräuntem Mehl beſtreut haben
wollte, ſo hatte ich es mir hinter eurem Rücken ſelber
anzurenommiren: ‚Ich fürchte mich vor nichts in der
Welt und vor dem Pack aus Maiholzen garnicht.
Derentwegen gehe ich ſchon bei Tage zu jeder Zeit;
aber weil Du dies geſagt haſt bleibe ich doch hier,
jetzt gerade!‘ Der Herr Regiſtrator Schwartner und
der Prinz Xaver von Sachſen hatten in dieſem
Augenblick nichts mit dem gruſelnd-ſüßen Gefühl,
endlich innerhalb der verrufenen, geheimnißvollen
rothen Schanze zu ſtehen, zu thun. ‚Der Vater iſt
wieder im Haus, und wir ſind vor ihm ſicher,‘ ſagte
meine jetzige Frau. ‚Du biſt gut gegen mich ge-
weſen, Stadtjunge, Du brauchſt Dich diesmal alſo
nicht vor mir zu fürchten. Ich werfe Dich nicht in
den Brunnen. Sollen wir zuerſt in den Birnbaum
ſteigen, oder willſt Du lieber erſt meine Kaninchen
ſehen und meine Ziegen? Wir haben auch kleine
[113] Hunde. Von denen läßt der Vater aber diesmal
nur einen bei der Alten liegen; wir haben noch genug
auf dem Wall. Wenn es der Vater mir nicht ver-
boten hätte und ich ſie mit nach draußen, da nach
der Hecke im Felde draußen, nehmen dürfte, und
wenn ich ſie hetzen dürfte; ſo ſollte mir Keiner aus
Maiholzen noch mit geſunden Beinen und heilen
Schürzen, Röcken und Hoſen herumlaufen. Guck nur,
wie ſie auch Dich drauf anſehen, daß ich ſagen ſoll:
Pack an! faß, faß, faß an!‘ Dem war gewiß ſo.
Sie hielten mich alle giftig genug im Auge und um-
knurrten mich böſe. Na, ich bin ihnen allmählich doch
näher gekommen, Eduard. Da, Du da, komm Du
mal her, Prinz! Siehſt Du, das iſt noch einer von
der alten Garde, oder ſtammt wenigſtens noch von
ihr her. Auch er hätte eigentlich ſchon längſt den
neun Gewehrläufen oder der Blauſäure verfallen
müſſen, wenn ich das Herz dazu aufbrächte. Meine
Frau will natürlich auch nichts von ſo einer wohl-
thätigen Gewaltthat hören, und ſelbſt meinem guten
Kater da würde die Sache gewiß leid thun. Nun,
ich hoffe, eines Morgens finden wir ihn mal in einem
Winkel heimgegangen zu ſeinen Vätern und aus dieſer
biſſigen Welt heraus im Hafen als angelangt ver-
zeichnet.“


„Sollte ich ſeine Bekanntſchaft vielleicht ſchon
gemacht haben, als wir vor unſerm Abgang zur Uni-
verſität hier Abſchied von einander nahmen, Heinrich?“


„Kaum möglich. So alt wird kein verſtändiger
Hund. Höchſtens ein vernünftiger Menſch.“


W. Raabe. Stopfkuchen. 8
[114]

„Entſchuldige, daß ich Dich unterbrochen habe.
Erzähle weiter, Stopfkuchen.“


„Nicht wahr, für den Schwiegerſohn von Kien-
baums Mörder erzähle ich hübſch gemüthlich? Ja, ja,
es war im vollſten Sinne des Wortes eine Mord-
wirthſchaft, in welcher ich mich zum einzigen Haus-
und Familienfreunde auswuchs! Die Verſicherung
kann ich Dir geben, Freund, daß nur ſehr ſelten ein
Schwiegervater ſich ſeinen Schwiegerſohn in ſo kurioſer
Weiſe groß und allgemach ans Herz gezogen hat wie
Vater Quakatz mich, ſeinen dicken, braven Heinrich.
Und dann der Heckenſpatz, dem ich im Getümmel des
Kampfes Salz auf den Schwanz geſtreut hatte, oder
vielmehr der Schmetterling, auf den ich mit blutender
Naſe und blauem Buckel die Schülermütze gedeckt
hatte. Ja, ja, ſo einen ſaubern fängt ſich nicht jeder
ein, der auf dieſe Jagd ausgeht! Herrjeh, wie das
Frauenzimmer in jenen Tagen ausſah! ſolch ein
Bündel, wie meine ſelige Mutter geſagt haben würde,
ſolch ein vom Regen gewaſchenes, von der Sonne
getrocknetes, vom Winde zerzauſtes, hülfloſes, mutter-
loſes, ſich ſelber die Kleider flickendes, ſich nach dem
Modejournal der rothen Schanze ſelber zuſammen
koſtümirendes Bündel! und mit dieſem Haut-gout
von Blut, Moder und ungeſühntem Todtſchlag, dieſem
Kienbaums-Geruch an ſich! Weißt Du, was ſie,
Frau Schaumann ſagte, als ſie mir unten im Graſe
von oben aus den Zweigen des Birnbaums ihre
Birnen zuwarf? Sie meinte: ‚Er iſt jetzt im Hauſe,
mein Vater, und wenn er Dich nicht ſieht, iſt es mir
[115] doch lieb und das Beſte. Ich weiß es von Allen im
Dorfe und auch unten in der Stadt, daß er Kienbaum
todtgeſchlagen hat, und ich glaube es nicht. Darauf
laſſe ich mich todtſchlagen von euch Allen, daß er es
nicht gethan hat, aber das weiß ich auch, daß er die
ganze Welt, und Dich auch, Stadtjunge, vergiften
könnte. Das glaube ich feſt! Er ſagt es, daß er
alle unſere Hausmäuſe und unſere Feldmäuſe und die
Hamäuſe auch gern frei laufen und Schaden thun
läßt, weil er euch nicht an den Hals kann.‘ Was
konnte ich darauf anders ſagen als: Tinchen Quakatz,
dann ſieh nur zu, daß er mich in der Naturgeſchichte
als Haus-, Feld- und Hamaus mitzählt; denn morgen
komme ich noch einmal wieder nach der rothen Schanze,
wenn ich nicht nachſitzen muß. ‚Mein Vater hat
auch ſitzen müſſen; aber ſie haben ihn doch immer
wieder frei geben müſſen. Sie können ihm mit aller
Gewalt nichts anhaben. Es kann ihm Keiner be-
weiſen, daß er Kienbaum todtgeſchlagen hat.‘“


In dieſem Augenblick trat Frau Valentine wieder
einmal aus dem Hauſe, kam aber diesmal mit ihrem
Arbeitskörbchen und ſetzte ſich zu uns, indem ſie ihren
Stuhl dicht an den ihres Mannes rückte.


„Nicht ſo nahe auf den Leib, Kind!“ ſeufzte
Stopfkuchen. „Iſt das ein gedeihlicher Sommer
8*
[116] Guter Gott, die Leute draußen auf dem Felde, die
keinen Schatten haben, oder ſich doch nicht in ihn
hineinlegen dürfen. Wir ſind nämlich eben im Schatten
der rothen Schanze angelangt, Eduard und ich, und
ich erzähle ihm grade, wie Du mir zum erſten Mal
den Kopf, das heißt das Maul, die blutende Naſe
gewaſchen haſt, und wie ich ein Held war, und wie
gern unſer ſeliger Papa die Mäuſe hätte laufen
laſſen und die ganze Menſchheit vergiftet hätte.“


„Laſſen Sie ſich nur nicht zu argen Unſinn von
ihm aufreden,“ ſagte Frau Schaumann freundlich,
indem ſie ihre Nadel ruhig einfädelte. „Manchmal
iſt er auch heute noch ganz in der Stille zu Allem
fähig, grade wie als dummer, kleiner Junge. Nun,
Sie kennen ihn ja, Herr Eduard!“


„So wie das Weib kommt, geht die Kritik und
der Zank los!“ ſprach Heinrich, mit ausgebreitetſtem
Bauch und Behagen ſeinem Weibe die Hand auf den
Kopf legend. „Das arme Wurm! wenn es mich mit
meinen Dummheiten nicht gefunden hätte! Nun, wo
waren wir denn ſtehen geblieben, Herr Eduard?“


„Unter dem Birnbaum. Wahrſcheinlich unter
jenem dort.“


Wir ſahen alle drei nach der Richtung hin, und
Frau Valentine nickte nachdrücklich.


„Richtig,“ ſagte ihr Mann. „Sie ſaß drin und
ich ſaß drunter. Sie pflückte und ich fraß. Eduard,
ihr habt meiner körperlichen Anlagen wegen meine
geiſtigen ſtets verkannt. Ihr Schlaumichel, Schnell-
füße, gymnaſiaſtiſche Affenrepublik hattet keine Ahnung
[117] davon, was in einem Bradypus bohren und treiben
kann. Mit der Krabbe, dem Mädchen da, war ich
im Reinen. Die war nunmehr meine Freundin und
meine Schutzbefohlene, und ich ihr Schutzpatron, ihr
Sankt Heinrich von der Hecke; das war ja ſelbſtver-
ſtändlich —“


„Lieber Mann —“


„Liebe Frau, und ebenſo ſelbſtverſtändlich, ich
will lieber ſagen folgerecht, kam jetzt, unterbrich mich
nicht immer, Alte, kam jetzt der Alte dran. Und da
machte ſich die Sache denn natürlich auch. Ihr, Eduard,
hieltet mich für dumm und gefräßig; er hielt mich
wohl auch für gefräßig, jedoch aber auch, meine all-
gemeine Unſchädlichkeit dazu gerechnet, für ein Licht
in einem gewiſſen Theil des Dunkels, das ſein Leben
umgab, ſein armes Leben, Tine!“


Die letzten paar Worte waren ſo geſprochen,
daß ſein Weib doch den Stuhl wieder dicht an ihn
heranrückte. Sie legte auch ihre Hand auf die ſeine,
und er ſchlug den Arm um ſie und ſagte auf ein-
mal: „Tine, meine alte Tine Quakatz.“


Dann wendete er ſich wieder zu mir, und ich
wußte jetzt ſchon, den Wechſel im Ton zurecht zu
legen.


„Nämlich am nächſten Tage nach der Hecken-
ſchlacht fand ich mich natürlich zum zweiten Mal in
Regiſtrator Schwartners Zauberreich, und diesmal
ſaß ich im Baum, einem niedern Apfelbaum — dem
dort. Und diesmal ſtand Tinchen drunter mit auf-
gehaltener Schürze, und wieder ſtand der Alte plötz-
[118] lich da und ſah nun ſtumm zu mir hinauf, und das
Wetterglas ſchien auf Sturm zu weiſen. ‚Vater, er
will nur unſere Befeſtigung verſtudiren,‘ ſagte Tinchen,
vielleicht doch auch etwas zaghaft. ‚Er kommt mit den
Geſchichtsbüchern von der Belagerung her und ſie
haben ſein Haus von hieraus beſchoſſen.‘ — ‚Komm
lieber doch erſt mal da herunter,‘ ſagte Vater Quakatz.
Und wie raſch ſelbſt ein Bradypus, ein Faulthier, von
einem Baum herabſteigen kann, das bewies ich jetzt.
Da ſtand ich vor Kienbaums Mörder, und wenn ich
nicht erwartete, nun gleichfalls todtgeſchlagen zu
werden, ſo war doch auch Tinchen der Meinung: der
alte Herr werde wenigſtens über den Graben ins
freie Feld deuten und mit Nachdruck ſagen: ‚Jetzt
ſcher Dich.‘ — Es kam aber anders, er ſagte nur:
‚Meinetwegen;‘ was ſich doch nur auf mein Ver-
ſtudiren ſeines Anweſens beziehen konnte. Nachher
dachten wir, er werde ſich nun wieder nach ſeiner
Art umdrehen und weg gehen; aber auch das kam
anders. Er blieb und fragte: ‚Du gehſt auf die
Lateinſchule? — ‚J, j, j, ja, Herr Quakatz.‘ —
‚Kannſt Du es leſen? das Lateiniſche meine ich.‘ —
‚J, j, ja,‘ ſtotterte ich und dachte an nichts Böſes.
— ‚Dann theilt Euch die Aepfel, und nachher komm
mal in die Stube. Du ſollſt mir was aus dem
Latein überſetzen.‘ — Da ſaß ich denn freilich feſt
drin. So hatte ich das Wort vom Latein-Leſen
nicht verſtanden. Da rufe ich den gelehrten Afrikaner,
den Eduard, zum Zeugniß auf, wie gründlich ich von
Papa mißverſtanden worden war, Frau! Wer aber
[119] in der Falle ſitzt, der ſitzt drin; und nach einer un-
heimlichen, zögernden, apfelkauenden Viertelſtunde noch
draußen ſaß ich noch mehr drinnen, ſaß ich mit dem
vervehmten Mann von der rothen Schanze in ſeiner
Stube, unſerer heutigen Eßſtube, Eduard, der Stube
da, die Du in ihrer damaligen dumpfigen Unge-
müthlichkeit bei unſerm Jünglingsabſchied kennen ge-
lernt haſt, Eduard. Da mein Zögern dem alten
Herrn zu lange gedauert hatte, war er noch mal in
den Garten gekommen, hatte mich am Oberarm ge-
packt, in ſeine Mörderhöhle geführt und mich am
Tiſche unter dem Groſchenbild von Kain und Abel
auf die Bank gedrückt und zwar mit den Worten:
‚Was ſchlotterſt Du, Junge? ich ſchneide Dir den
Hals nicht ab.‘ — Nachher ging er zu einem Schrank
ich habe ihn heute durch meinen Koprolithenbehälter
erſetzt, nahm ein dickes Buch in Schweinsleder hervor,
legte es vor mich hin auf den Tiſch, nachdem er
eine Weile darin geblättert hatte, ſetzte ſich zu mir,
wie zu einem erwachſenen Mann und Rechtsanwalt,
ſetzte den harten, knochigen Zeigefinger auf eine Stelle
und ſagte: ‚Hier, Lateiner! Mache Du das mir mal
auf Deine Art deutſch klar, ein Wort nach dem
andern. Es iſt das Korpusjuris, das Korpusjuris,
das Korpusjuris, und ich will es mal von Einem
auf deutſch vernehmen, der noch nichts von dem
Korpusjuris, von dem Korpusjuris weiß!‘ Die Stelle
war mit Rothkreide kräftig unterſtrichen und ein Ohr
war ins Blatt eingeſchlagen, und Alles deutete darauf
hin, daß hier öfters ein vor Aufregung zitternder
[120] Daumen und Zeigefinger geſtanden hatten. Ich aber
ſaß vor dem Buch und rieb mir weinerlich mit den
Handknöcheln die Augen: ſo weit waren wir noch
nicht in der Schule, daß wir dem Bauer Andreas
Quakatz das Buch aller juriſtiſchen Bücher hätten aus-
legen können. Und wie in der Schule mich duckend
ſtotterte ich endlich: ‚Herr Quakatz, blos wenn ich die
Worte wiſſen ſollte, müßte ich mein Wörterbuch hier
haben, und das habe ich unten in der Stadt.‘ —
‚Dann hole es und bringe es morgen mit heraus.
Ich bin ein Narr, daß ich ſo mit Dir rede; aber die
Welt hat mich ja ſo gewollt, und Du biſt mir gerade
ſo gut als wie ein Anderer, wenn ich zu Einem über
meine Sache reden will. Es iſt aus, ich will keine
Gelehrten, keine Afkaten, keine Großgewachſenen mehr
bei mir und meiner Sache. Du ſollſt mir klug
genug ſein, daß ich auf Dich hereinreden kann, wie
zu einem Vernunftmenſchen. Die Alten, unſere Vor-
fahren haben es auch ſo gemacht, daß ſie ſich an die
Dummen und Unmündigen gehalten haben. Junge,
Junge, meine Tine ſagt, daß Du heraus gekommen
biſt, um die rothe Schanze zu verſtudiren. Verſtudire
ſie, und kriege es mir heraus, wer Recht hat, die
Welt oder der Bauer auf der rothen Schanze! Du
haſt Dich meiner Krabbe aus Gerechtigkeitsgefühl an-
genommen, ich habe es hinter der Hecke vom Wall
mit angeſehen, nun will ich's mal darauf hin probiren,
ob es wahr iſt, wie es geſchrieben ſteht: in den
Mäulern der Unmündigen will ich der Wahrheit eine
Stätte bereiten. Kriegſt Du es mir heraus, wer
[121] Kienbaum todtgeſchlagen hat, ſo ſchenke ich Dir und
dem Herrn Regiſtrator Schwartner die rothe Schanze
mit allen Hiſtorien vom ſiebenjährigen und dreißig-
jährigen Kriege, und ziehe ab von ihr mit meinem
Kinde und dem weißen Stabe in der Hand. Das
Mädchen erzählt mir, ſie laſſen Dich auch allein ſitzen,
ſo probire es, kriege heraus, wer Kienbaum todtge-
ſchlagen hat, und ich verſchreibe die rothe Schanze Dir
und allen Deinen Rechtsnachfolgern.‘ Ja, ja, Frau
Valentine Schaumann, geborenes Quakätzlein, ſo ging
er mit allen Deinen Rechtsanſprüchen an die Welt
um; aber wenn ein unzurechnungsfähiger, gefräßiger,
weichfüßiger Bradypus im Stande war, Dir zu dem
Deinigen in ihr zu verhelfen, ſo bin ich das geweſen,
Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. Zuerſt
aber winſelte ich den Bauer von der rothen Schanze
noch einmal an. ‚Herr Quakatz, ich weiß doch gar-
nicht ob ich es kann. Ich bin bei der letzten Ver-
ſetzung wieder nicht mit nach der Obertertia gekommen.‘
— ‚Probir's!‘ ſagte der zukünftige Schwiegervater,
und ſein Töchterlein ſtieß mir den Ellbogen in die
Seite, als wolle ſie ſagen: ‚Thu auch mir den Ge-
fallen;‘ und als wir wieder draußen im Garten
ſtanden, flüſterte ſie mir zu: ‚Sei doch nicht ſo dumm,
er weiß ja ſelbſt vor dem ſchlimmen Buch nicht was
er will. Es iſt ja auch nur weil e[r] Keinen, Keinen,
Keinen hat, außer den Afkaten, die er nicht mehr
will, mit dem er reden kann. Und morgen redet er
Dich wohl gar nicht mehr darauf an: es iſt ihm juſt
eben nur in den Sinn gekommen, weil Du ihm als
[122] Gelehrter in den Weg gekommen biſt. Bring Du
Dein dickſtes Buch mit heraus. Er kann Dich ja
jetzt hier auf unſerm Hofe ſehen, und Du kannſt zuſehen
und es probiren, was Du für uns herauskriegſt.‘ —


„Na ja, Frau, Du kannſt es dem Eduard eigent-
lich viel beſſer berichten, wie ich denn ſo von Zeit zu
Zeit herausgekommen bin nach der rothen Schanze,
um endlich ganz da zu bleiben. Daß ich dem Mord-
bauer auf der rothen Schanze nicht das Corpus juris
ins Deutſche übertragen habe, das ſteht feſt. Aber
das ſteht auch feſt, mein Herz, mein Kind, Du altes,
gutes Weib, und Du afrikaniſcher Freund, daß ich
es beiläufig, und faſt ohne mein Zuthun herausgekriegt
habe: wer Kienbaums Mörder geweſen iſt — wer
Kienbaum todtgeſchlagen hat.“


Ohne Sturm oder gar Wirbelſturm ſind wir
bis jetzt glücklich durchgekommen. Aber geſtern Mittag
ging plötzlich über den „Hagebucher“ der Ruf: „Feuer
auf dem Schiff!“ und es blieb nur der Schiffskoch
ruhig; denn der wußte es ja anfangs allein, woher
der Brandgeruch ſtammte. Er wußte allein von dem
alten wollenen Strumpf, welcher ihm unter ſeine
Steinkohlen und auf ſeinen Küchenherd gerathen war.
Der nichtsnutzige Nigger hatte ihn im nordiſchen
Hamburg noch am eigenen Fuße gehabt; aber unterm
[123] Äquator hatte er die ſchönen Reſte davon eben ent-
behrlich gefunden.


Wie als wenn eben vom Hauſe her auch der
Ruf: „Feuer! Feuer auf der rothen Schanze!“ er-
ſchollen wäre, war ich aufgeſprungen und ſtand Frau
Valentine aufrecht am Tiſche und hatte ihr Strick-
zeug weit von ſich geſchleudert.


„Iſt es die Möglichkeit?“ ſtammelte ich. „Frau
Valentine —“


Die Frau ſtand nur bleich und wortlos und
ſtarrte aus weit offenen Augen auf ihren Mann.


„Es iſt die Möglichkeit geweſen,“ ſagte dieſer.
„Es iſt eine altbekannte Sache, auch der Dummſte
kann einen Zweck erreichen, wenn er nur ſeinen
Dickkopf feſt dran und draufſetzt. Ja, Kinder, ich
weiß es heute, wer Kienbaum todtgeſchlagen hat.“


„Aber Deine Frau! So ſieh doch nur Deine
Frau an! Menſch, Menſch, hat denn Deine Frau
ebenfalls bis heute, wie alle andern —“


„Meine Frau erfährt von meinem Wiſſen in
dieſem Augenblick gleichfalls das erſte Wort. Das
kannſt Du ihr doch anſehen, Eduard. Aber ſo ſetze
Dich doch wieder, Tinchen! Liebes Herz, Alte, liebe,
gute Alte, bleib doch ruhig. Erinnere Dich, was wir
ausgemacht haben. Erſt wenn mir die Pfeife über
einer Sache ausgeht, kommt an Dich die Reihe
Jodute! zu rufen, mit den Beinen zu ſtrampeln, die
Arme aufzuwerfen und der Welt mit Thränen oder
Grobheiten aufzuwarten. Kinder, thut mir den Ge-
fallen und ſitzt ſtill!“


[124]

Wie es mit ſeiner Tabakspfeifenverabredung be-
ſchaffen ſein mochte: dem Ausgehen war ſeine Pfeife
eben doch nahe. Aber er brachte ſie durch einiges
Saugen daran richtig wieder zu hellem Brande,
blies eine blaue Wolke in die liebe Sommerluft,
und — ja, kurz, war eben nicht ohne Grund von
uns Stopfkuchen genannt worden! Da ſein Weib
ſich wirklich wieder hinſetzte, blieb mir nichts Anderes
übrig, als dasſelbe zu thun.


„Heinrich!“ murmelte angſtvoll, flehend die Frau.
Ich brummte unwillkürlich: „So gehe doch heraus aus
dem Kaſten, Ungeheuer!“ aber Stopfkuchen ſagte, ſtoß-
weiſe, immer noch an ſeinem Weichſelrohr ſaugend,
„Aber — Kinder — ſo — laßt mich doch — die
Geſchichte von der völligen Eroberung von Quakatzen-
burg in Ruhe erzählen, wenn ihr ſie wiſſen wollt.
Unterbrecht mich doch nicht immer! Dieſe ewige
Aufgeregtheit in der jedesmaligen, eben vorhandenen
Menſchheit, bis ſie ſich hinlegt und todt iſt! Fallt
mir doch nicht bei jedem dritten Worte ins Wort,
wenn wir bis zum Abendeſſen mit der Sache fertig
ſein ſollen.“


Der Menſch ſprach wahrhaftig vom Abendeſſen
wie von der Hauptſache bei der Sache. Es blieb
nichts übrig als ihn faulthierhaft in ſeinen Baum hinauf-
ſteigen zu laſſen; aber ſelbſt für jemand, der auf
allerlei Kreuz- und Querzügen rund um den Erdball
auch das Seinige ruhig erlebt zu haben glaubte,
wurde dieſe Kaltblütigkeit allgemach zu unheimlich.


„Herze, ſchenk mir noch eine Taſſe Kaffee ein
[125] und gib Eduard auch eine. Du regſt Dich doch
nicht auf, Kind? Welch' ein wundervoller Tag hier
in der Kühle mit der heißen Welt da draußen! So
— noch ein Stück Zucker.“


Das arme Weib kam dem Wunſche nach; aber
wie eine Traumwandlerin, wie eine Hypnotiſirte.
Auf den Topf und die Taſſen blickte ſie nicht; —
nur immerfort auf den Mann, und zwar wie auf
einen, von dem man nicht weiß, ob man ihn ferner
liebbehalten, oder ſich vor ihm zu Tode fürchten ſoll.


„Ich bitte Dich, Heinrich —“


„Thue das nicht. Du weißt doch, Kind, daß
Du das nicht nöthig haſt! Kenne ich nicht alle Deine
Wünſche im voraus? Ich ſage Dir, Eduard, nicht
einmal an den Augen brauche ich ſie ihr abzuſehen,
wie andere, gewöhnlichere gute Ehemänner. Du er-
fährſt alles, Tinchen. Es thut ja nun Niemand
mehr Schaden und hilft keinem zu Schadenfreude,
den alten verjährten, muffigen Schrecken mit der
Zange anzufaſſen, ans Licht zu ziehen und in der
Sonne vorſichtig mit der Fußſpitze umzuwenden.
Übrigens ſteht es bei euch: ſoll ich fortfahren, wie
ich angefangen habe, oder wünſcht ihr einen kurzen
Aufſchluß in drei Worten?“


„Fahre fort, Menſchenkind!“ mußte ich nun doch
rufen, und die Frau ſagte, mehr denn je wie im
Banne gehend: „Ich kann nichts dagegen machen; es
wird ja auch wohl das Beſte ſein, wie Du es verſtehſt.“


„Dann bleiben wir noch ein Weilchen in der
Idylle und laſſen Kienbaum Kienbaum ſein, ſo
[126] lange als möglich,“ ſagte Stopfkuchen. „Was ſollen
auch die verſteinerten Geſichter? ziehe ich euch eines?
Ne, dafür hat man ſich eben das ſchlechte Beiſpiel
des Bauern auf der rothen Schanze zur Warnung
dienen laſſen. An ſeinem Elend konnte man wohl
lernen, ruhig, gleichmüthig den Weltlauf an ſich heran-
kommen zu laſſen. Natürlich mit einer Anlage hierzu
muß einer auch in die Welt hineingeſetzt worden ſein:
es braucht nicht jeder die Forſche zu haben, das neue
Deutſche Reich aufzurichten, hinzuſtellen und zu ſagen:
Nun könnt ihr und ſo weiter . . . Jawohl, lieber
Eduard, laß nur jeden auf ſeine Weiſe heraus aus
dem Heerdenkaſten gehen. Da war zum Exempel der
Heinrich Schaumann, den ihr Stopfkuchen nanntet.
Er hat wenigſtens mal ganz und gar nach ſeiner
Natur gelebt, hat gethan und hat gelaſſen was er
thun oder was er laſſen mußte; — iſt es dann am
Ende nachher ſeine Schuld, wenn in irgend einer
Weiſe doch etwas Vernünftiges dabei herauskommt?
Garnicht. Für dieſe Verantwortlichkeit danke ich ganz
und gar. Da ich nicht in einer netten, ſaubern,
durchaus behaglichen Welt leben kann: was kümmert's
mich, ob ich in einer verſtändigen und vernünftigen
lebe? Plato, Ariſtoteles, der ſelige Kant —“


„Menſch, Menſch, Menſch, mach mich nicht ganz
verrückt!“ rief ich, mit beiden Händen nach beiden
Ohren faſſend, und Stopfkuchen ſprach lachend:


„Siehſt Du, Eduard, ſo zahlt der überlegene
Menſch nach Jahren ruhigen Wartens geduldig er-
tragene Verſpottung und Zurückſetzung heim. Darauf,
[127] auf dieſe Genugthuung habe ich hier in der Kühle ge-
wartet, während Du mit Deinem Le Vaillant im
heißen Afrika auf die Elephanten-, Nashorn- und
Giraffenjagd gingeſt oder Dich auf andere unnöthige
Weiſe ab- und ausſchwitzteſt. Alſo bleiben wir noch
ein wenig in der Idylle, ehe wir von Kienbaum
und wie er zu Tode kam, weiter reden. Nachher
magſt Du ja ſelber beurtheilen, ob Du Deine, ſeine
oder meine Geſchichte für die wichtigere hältſt. Sei
nur ruhig, Tinchen, und verlaß Dich auch heute noch
einmal auf Deinen Mann! Du biſt Partei, aber Du
weißt es ja: Dein Mann nimmt immer Deine Partei!“


Wir ließen alſo, da wir mußten, Kienbaum
fürs Erſte noch ungerächt weiter modern und blieben
in der Idylle.


„Ich glaube, ich habe Dich ſchon einige Male
aufgefordert, Eduard, meine Frau Dir anzuſehen;
aber jetzt bitte ich Dich von Neuem: Guck ſie Dir
noch einmal an. Wie ſie da ſo niedlich ſitzt! Kannſt
Du es heute noch für möglich halten, daß ſie einmal
wie eine in eine Wildkatze verzauberte Jungfer, die
auf ihren Erlöſungsritter wartet, dageſeſſen hat?
Mich brauchſt Du wohl ja nicht weiter darauf an-
zuſehen: mein Ritterthum fiel euch, und alſo auch
Dir, von früher Jugend an, umfänglich imponirend
[128] in die Augen, und ihr habt's mich genug entgelten
laſſen. Aber die Narren haben mich doch unterſchätzt.
Sage Du es ihm, Alte, wie viele Schock Leih-
bibliothekspaladine ich eigentlich in mir hatte und ſie
offenbarte, als Du mir zum erſtenmal geſagt hatteſt:
‚Du, mein Vater mag Dich, alſo beſuche uns nur.‘
Nein, ſage es dem guten, lieben Eduard nicht, er
benutzt ſonſt ſofort die Gelegenheit, ſich mir als bloß
verleumdeten Pylades aufzuſpielen und zu behaupten,
er habe mich nie verkannt. Bleiben wir bei Deinem
Alten, Weib. ‚Natürlich komme ich morgen wieder
und nicht bloß eurer Birnen wegen. Dein Alter iſt
ein ganz [famoser] Kerl, und wenn der wen todt-
geſchlagen hat, ſo hat der's dreidoppelt verdient ge-
habt. Mit ſeinem dicken Geſetzbuche und mit meinem
Latein iſt das natürlich nur dummes Zeug; aber
mit der Kugel, die von der rothen Schanze bis an
unſer Haus geflogen iſt, nicht. Und wenn ich dem
alten Schwartner erzähle, daß Dein Vater mich in
die rothe Schanze hineingelaſſen hat, ſo ſchenkt er mir
vier Groſchen und dann paß auf, dann gibt's hier
auch Kuchen und nicht bloß Äpfel und Birnen.
Morgen bin ich wieder da.‘


Da am folgenden Tage weder Vater und Mutter,
noch der Klaſſenlehrer den Riegel vorſchob, war ich
wieder da. Na, Tinchen, und wer durfte gründlicher
Triumph krähen. Der Prinz Xaverius von Sachſen
von der rothen Schanze aus über die Stadt, oder
Schaumanns dicker, dummer Junge von der Stadt
aus über die rothe Schanze?“


[129]

„Du!“ ſagte Frau Valentine, und zu mir ſich
wendend, fügte ſie hinzu: „Es hilft uns nichts; wir
müſſen ihm ſeinen Willen und Weg laſſen.“


Wir ließen ihm ſeinen Willen und Weg, und
er watſchelte auf dem letzteren weiter, mit dem ſichern
Bewußtſein, uns in ſeiner Hand zu haben.


Erſt ſtopfte er ſeine Pfeife von Neuem, dann
ſeufzte er: „Da die Welt von ihm, dem Schanzen-
bauer, nichts mehr wiſſen wollte, weil ſie nicht genug
von ihm herausgekriegt hatte; ſo ſuchte er, nach ſeinem
angeborenen Menſchenrecht, ohne ſie auszukommen,
ſo gut es ging. Eigentlich ging es ſchlecht, denn er
ſteckte zu der Aufgabe weder in meiner Haut noch
in meinem Gemüthe. Er war viel zu dürr und viel
zu lebendig und viel zu geſellig dafür angelegt. Die
Räthſel und die harten Nüſſe kommen nur zu häufig
an die Unrechten. Was hätte es mir Feiſtling ge-
macht, unter dem Verdachte, Kienbaum todtgeſchlagen
zu haben, durch die Welt zu vegetiren? Garnichts!
Oder die Sache würde ſogar einen gewiſſen Glanz
auf mich geworfen haben; denn die Welt würde
ſicherlich geſagt haben: ‚I ſieh mal! eigentlich ſollte
man es dem faulen Strick garnicht zutrauen, und
zu dumm iſt der Bengel im Grunde auch dazu.‘
Aber der Vater Quakatz? was blieb ihm übrig, um
W. Raabe. Stopfkuchen. 9
[130] nicht ganz verrückt zu werden, als ſeinen Sinn und
ſeine Gedanken auf allerlei Dinge zu richten, auf die
vor ihm noch kein Bauer auf der rothen Schanze ge-
kommen war? Daß ich, Heinrich Schaumann, ge-
nannt Stopfkuchen, ihm dabei zu Hülfe kommen
konnte, mochte Zufall ſein, war aber unbedingt
Schickſal. — Da war zuerſt die Geſchichte ſeiner
Burg; und ich ſagte ihm: ‚Herr Quakatz, von hier
aus hat der Prinz von Sachſen eine ganze Menge
Menſchen drunten in der Stadt ums Leben gebracht.‘


‚Ja, Junge, in der Schwedenzeit.‘


‚Nein, Herr Quakatz. So lange iſt's noch gar
nicht her. Im ſiebenjährigen Kriege iſt's geweſen.‘


‚Kannſt Du mir welche mit Namen nennen?‘


‚Nein, aber ich kann den Herrn Regiſtrator
Schwartner nach ihnen fragen und ſie Ihnen bei
ihm aufſchreiben. Er hat ſie alle ſchriftlich.‘


‚Dann bring mir mal das Regiſter mit heraus,
Dicker. Aber ſag' nicht, daß ich es habe haben wollen.
Sie möchten ſich ſonſt wieder was denken.‘


„Und an einem der nächſten Tage ſchon ſteckten
wir ſtatt über dem Corpus juris, die Köpfe über
meiner Abſchrift aus der Sammlung des alten
Schwartner zuſammen, und der Bauer auf der rothen
Schanze ſuchte herauszubringen, welche Leute heute
die Rechtsnachfolger der Todtgeſchlagenen von Sieben-
zehnhunderteinundſechzig waren und möglicherweiſe
die Rechtsnachfolger des Grafen von der Lauſitz
darob verklagen konnten. Was für ein Troſt damals
für den Papa hierin lag, Tinchen, war mir zu jener
[131] Zeit dunkel. Heute glaube ich es zu wiſſen. Von
den Knochen der jüngern Vergangenheit gingen wir
ſodann zu denen der wirklichen Vorwelt über; und
groß und bedeutend für mich war der Tag, lieber
Eduard, an welchem mich der Bauer Quakatz zum
erſtenmal in einen verſchloſſenen Stall führte und
auf einen ſonderbaren Haufen zeigend fragte: ‚Was
iſt das Junge?‘ Ja, was war es? ein ziemlich voll-
ſtändiges Mammuthsgerippe war's und — ‚ich bin beim
Kiesgraben hinterm Hofe drauf geſtoßen,‘ ſagte der
Bauer; ‚es liegt wohl noch mehr da; denn dieſe
Schanze iſt wohl ſo eine Anſchwemmung von der
Sündfluth her. Junge, Junge, von der Sündfluth her!
Du weißt es nicht, wie es dem Bauer auf der rothen
Schanze zu Muthe iſt, wenn er in der Bibel von der
Sündfluth lieſt; aber wenn Du in Deinen Büchern
über das Knochenzeug was haſt, ſo bringe es auch
mit heraus; aber ſage keinem Menſchen davon, welch
einen verſteinerten Drachen Kienbaums Mörder zu
ſeinem Troſte in ſeiner Kiesgrube gefunden hat.‘ —
Ich habe keinem Menſchen damals davon geſagt,
welch intereſſanten Fund Tinchens Vater gemacht hat;
aber wenn heute der Briefträger — nicht mehr Freund
Störzer — nach der rothen Schanze herauskommt, ſo
hat er, außer der Zeitung, gewöhnlich irgend etwas
von irgend einer geologiſchen oder ſonſt in das Fach
ſchlagenden Geſellſchaft für Herrn Schaumann. Die
Vorſtellung, in einer ſpätern Schicht auch mal unter
den merkwürdigen Verſteinerungen gefunden zu werden,
hat für den gemüthlich angelegten, denkenden Menſchen,
9*
[132] ſo viel Anregendes, daß ſie ihn, und noch dazu wenn
er Zeit dafür hat, unbedingt in die Petrefaktenkunde
und die Paläontologie führt. Und Du brauchſt bloß
noch einmal die paar Schritte an die Brüſtung unſerer
Schanze zu thun, Eduard, und Dir die Umgegend
noch einmal in Beziehung hierauf zu betrachten, um
ſie plötzlich auch noch nach einer ganz neuen Richtung
hin, höchſt intereſſant zu finden. Zwiſchen der Trias
und der Kreide nichts als Waſſer, und die erſte
nächſte Inſel, dort der blaue Berg im Süden! Wenn
das Feuchte ſich in der Eocänzeit etwas zurückzog,
in der Miocänzeit es, was man jetzt nennt, trocken
wurde, und wenn es in der Pliocänzeit ſogar dann
und wann hier über der rothen Schanze ſchon ſtaubte:
ſo war das dem Bauer auf derſelben ganz einerlei;
der fragte nur danach, wer in der Welt etwas von
ſeinem Verhältniß zu Kienbaum wußte, oder gewußt
haben konnte. Aber mir, dem heutigen Bauer auf
der rothen Schanze, iſt es im Laufe der Jahre nicht
einerlei geblieben. Der Doktor hatte Tinchen nämlich
geſagt: ‚Bei der Körperbeſchaffenheit ihres Herrn
Gemahls giebt es garnichts Vernünftigeres für ihn
als dieſe Liebhaberei und ſein Herumkriechen in
Steinbrüchen und Kies- und Mergelgruben; — je
mehr er bei ſeinem Knochenſuchen ſchwitzt, deſto beſſer
iſt's für ihn und Sie.‘ Und, lieber Eduard, wenn
je ein Weib eine närriſche Liebhaberei ihres Gatten
befördert hat, ſo iſt es Valentine Quakatz auf dieſen
ärztlichen Ausſpruch hin geweſen. O Eduard, in der
Tertiärzeit ſoll es hier noch ſo heiß geweſen ſein, wie
[133] heute bei Dir zu Hauſe im heißeſten Afrika, und wäre
ich damals hierhergekommen, ſo wollte und könnte ich
ja garnichts dagegen ſagen. Aber ich bitte Dich, erſt
in der Eiszeit — in der Eiszeit — iſt unter den erſten
Säugethieren auch der Menſch hier auf der rothen
Schanze aus Aſien eingewandert — und da ſoll ein
Nachkömmling von ihm heute im Sommer nicht
ſchwitzen, wenn er pietätvoll und wiſſenſchaftlich nach
den erſten Spuren ſeiner Vorfahren hier um den
Aufwurf des Prinzen Xaver von Sachſen herum
nachſucht!“


— — — — — — — — — — —


Keine Möglichkeit, heute weiter zu ſchreiben.
Das Schiff ſtößt allzuſehr. Hohle See. Kapitän
unnahbar. Matroſen ſehr beſchäftigt und vernünf-
tigerweiſe ungemein grob. Niggerſteward beſoffen.
Paſſagiere — „hol der Henker das Heulen! ſie über-
ſchreien das Ungewitter und unſere Verrichtungen!
Heigh, my hearts! cheerly, cheerly, my hearts!
yare, yare!
“ — Siehe den Sturm, ein Zauber-
märchen von William Shakeſpeare, aber ſieh ihn —
wenn es Dir irgend möglich iſt — ja nur von
einem ſichern Sperrſitz oder ſonſt behaglichen Theater-
platz aus mit an.


Zwei Tage und zwei Nächte durch hat das Un-
wetter gedauert. Die „Rieſen ängſteten ſich unter
den Waſſern,“ und „die bei ihnen wohnen“ auch.
[134] Wer wäre da nicht gern herausgegangen aus dem
Kaſten, wenn er's nur gekonnt hätte?! Wahrlich der
Herr hat mir wieder einmal große Wunder auf dem
großen Meere gewieſen, und wie gemüthlich iſt's nun
um ſo mehr jetzt, immer noch mit ſeinen kleinen und
großen Heimaths-Erinnerungen und Erfahrungen auf
Quakatzenburg bei Heinrich Schaumann, genannt Stopf-
kuchen zu Gaſt zu ſein und den dicken Freund zu
ſeiner Frau ſagen zu hören:


„Aber, Kind, was geht Dich und Eduard eigent-
lich Deines Vaters und meine Spezialliebhaberei und
die Petrefaktenkunde überhaupt an? Was geht es euch
an, wie lange der Ocean über der rothen Schanze ge-
ſtanden hat, ehe die Möglichkeit vorhanden war, daß
Kienbaum in ihrer Umgebung todtgeſchlagen werden
konnte? Wieviel ergötzlicher iſt es doch, davon zu
reden, daß der Herr nach der Sintfluth wieder aufgehen
ließ Gras, Buſch und Baum, und daß er Blüthen gleich
Weihnachtslichtern dran ſteckte und allerlei Früchte
daran hing, lieblich dem Auge und angenehm dem
Gaumen! Eduard, wie oft ſoll ich es Dir ſagen,
daß man den edlen Namen Stopfkuchen nicht ohne
die dazu gehörigen Leiſtungen trägt? Welch ein
Leben und Futter in dieſer Hinſicht hier auf der
Schanze! O Tinchen, o Valen — ti — ne, und
ſo mit Dir unterm Buſch, kauend und ſchmatzend,
und der Andern lächerliche, müheſame Papierdrachen
über dem Herbſtfelde im Blau!“


„O Heinrich,“ unterbrach hier noch einmal die
[135] arme Frau, „beſter Heinrich, ich bitte Dich himmel-
hoch, mach Dich nicht ſchlechter —“


„Gefräßiger willſt Du ſagen —“


„Meinetwegen auch! aber bitte, bitte, mach Dich
doch in dieſem ſchrecklichen Augenblick, wo mir alle
Glieder beben von Deinem Worte über Kienbaum,
mach Dich jetzt nicht gräßlicher als Du biſt. Biſt
Du denn allein der Obſtbäume und der Stachel-
beeren wegen zu — mir — uns herausgekommen
aus der Stadt?“


„Ganz gewiß nicht, Schatz. Die Speiſekammer
und die Milchkammer hatten auch ihre Reize. Nimm
nur mal die friſche Butter und das Bauernbrot an!
Und Euren Käſe! Für mich hatte die ganze klaſſiſche
und moderne Welt nur deshalb geſchrieben und
drucken laſſen, um das nöthige Einwickelpapier herzu-
ſtellen. Nämlich, Eduard, ich ſtopfte mir nicht nur
den Hals, ſondern auch die Taſchen voll.“


„Er iſt unverbeſſerlich!“ ſeufzte die Frau, ſich zu
mir wendend. „Ich habe es eigentlich auch ſchon von
unſerer erſten Bekanntſchaft an aufgegeben, ihn zu
beſſern und verſuche es nur manchmal noch bloß des
Anſtandes wegen vor fremden Leuten und liebem Beſuch.
Aber jetzt im Ernſt, o Gott ja, im herzbebenden Ernſt,
ich rede nun wohl ſelber zu Deinem Freunde ein
Wort von unſerm damaligen Verhältniß, wenn —
wenn Du uns nicht doch vorher ſagen willſt —“


„Nein, das will ich nicht. Wann etwas heute
gottlob Zeit hat, ſo iſt es das! Du hängſt und
köpfſt ihn nicht mehr, Schatz. Es iſt zu ſpät. Es
[136] geht heute Keiner mehr Kienbaums Mörder an den
Kragen als der Todtenrichter; und freilich, wer weiß,
ob nicht gerade der uns Drei heute hierher beſtellt hat
zu ſeinen Schöffen und Beiſitzern?“


„Heinrich, meines armen Vaters Tag- und
Nachtgeſpenſt —“


„Laß es noch einen Augenblick, Kind. Sieh in
das wonnige Blau über uns, blicke in Eduards
dürres, aber wohlwollendes, wenngleich auch etwas
verlegen geſpanntes Kafferngeſicht, und bleib noch ein
klein bischen in unſerm Idyll. Erzähle ihm meinet-
wegen auf Deine Weiſe unſere Liebesgeſchichte. Ich
gebe Dir mein Wort darauf: was das andere an-
betrifft, ſo kommt es wahrhaftig nicht darauf an, ob
Du das Genauere ein paar Minuten früher oder
ſpäter erfährſt. Dein Vater, unſer Vater iſt mit
unſerer Hülfe in Frieden beruhigt hinübergegangen,
und Kienbaums Mörder wird die Mitwelt und die
Nachwelt auch nichts mehr anhaben können, als mit
dem ungewaſchenen Maul. Und letzteres auch dann
vielleicht nur, wenn ihr — Du und Eduard —
morgen den Mund darüber nicht würdet halten können.“


Die Frau ſchüttelte noch einmal über das beſſere
Wiſſen und Verſtehen ihres Mannes den Kopf,
dann legte ſie die gefalteten Hände auf den Tiſch
und blieb ebenfalls noch bei ihrem und ſeinem Lebens-
idyll, und es kam freilich, trotz aller Melancholie und
der Aufregung und Spannung der Stunde, herzig
und lieblich heraus, wie ſie — erzählte, ehe Stopf-
kuchen das Geheimniß der rothen Schanze offenbarte.


[137]

„Ich kann es gar nicht ſagen, wie lieb es mir
war, daß der Junge zu uns kam,“ ſagte ſie. „So wie
mich, weiß ich doch Keinen in meiner Bekanntſchaft,
dem es als Kind ſo ergangen wäre, als wie mir.
Armes Volk in der Stadt und auf dem Lande muß
auch wohl das Seinige ausſtehen; aber wir hier auf
der Schanze gehörten ja gar nicht zu dem armen
Volk, und doch — wenn ich unter der Hecke geboren
wäre und meiner Mutter aus der Kiepe in das öffent-
liche Mitleid gefallen wäre, hätte ich es beſſer gehabt
wie als des Bauern von der rothen Schanze einziges
wohlhabendes Kind und ſeine Tochter! Daß ich bei
meinen Erlebniſſen und Erfahrungen im Dorfe, in
der Schule, auf dem Felde, auf der Wieſe nicht
hundertmal mehr als mein ſeliger Vater ein wirklicher
Mörder geworden bin, das iſt nichts weiter als ein
unendliches großes Wunder. Was ich habe ſehen,
hören und fühlen müſſen, ſeit ich mich zuerſt in die
Welt finden mußte, das ſteht in gar kein Buch zu
ſchreiben.“


„Hm,“ murrte Stopfkuchen, „vielleicht lohnte es
ſich gerade gegenwärtig mehr als manches andere.“


„Nein, Heinrich! es war doch zu häßlich.“


„Gerade darum,“ brummte Heinrich Schaumann,
doch ſeine Frau rief jetzt:


„Ich habe Dich reden laſſen, nun laß auch mir
das Wort, da Du mich doch einmal dazu aufgefordert
haſt. Und Herr — Herr —“


„Eduard —“


„Ja denn, wenn unſer lieber Freund, Herr
[138] Eduard, ſo gut ſein will, mit unſern kleinen Erleb-
niſſen hier in der Einſamkeit heute vorlieb zu nehmen.“


„Einſamkeit?!“ grinſte Stopfkuchen. „Na ja, Dem
da wird es in ſeiner afrikaniſchen Wüſte freilich wohl
manchmal zu lebendig um ihn her. Wenn ich mir
wo eine ewige Sabbathſtille hindenke, ſo iſt's grade
die Gegend, die er ſich ausgeſucht hat, unſer lieber
Freund — Herr — Eduard.“


Ich bezwang mich und ſchlug den Dicken mit
ſeinem lächelnden Verſtändniß für mein Daſein und
meine exotiſchen Errungenſchaften nicht hinter die
Ohren, ich nahm die Hand ſeiner Frau und ſagte:
„Laſſen Sie alles, liebe Freundin, liebe Frau Valen-
tine und erzählen Sie mir für meine Einſamkeit von
ſich und dem Vater und der rothen Schanze.“


„Ja von uns dreien alleine weiß ich auch nur
was. Ich bin niemals auf einer Inſel im Meere
geweſen, aber wie ich mir das vorſtelle, ſo waren
wir drei zuſammen wie eine Inſel im Meere.“


„Aber ein ſauberer Brei, dickflüſſig, graugelb, mit
grünen Schimmelflecken qualmte ſtatt der blauen,
karaibiſchen See drumherum und roch nach Pech,
Schwefel und noch viel Schlimmern!“ brummte der
Unverbeſſerliche.


„Können Sie ſich, Herr Eduard, wenn Sie ſich
als ein gehetztes Thier und alleingelaſſenes Kind in
der Welt finden, einen beſſern Aufenthaltsort für
ſich denken, als wie dieſe unſere alte vergeſſene
Kriegesburg?“


„Ganz gewiß nicht, Frau Valentine.“


[139]

„War es nicht ſchlimm, daß ich ſelber als ſo
junges Kind die Hunde habe mit bösartig gegen die
armen Menſchen machen müſſen? Aber war es nicht
gut, nach der Schule in Sicherheit da auf dem Walle
zu ſitzen und das Dorf und die Stadt und die böſen
Blicke und böſen Worte und das Geflüſter und Gucken
auch der Beſten und Vernünftigſten unter ſich zu
haben? O Gott, man ſollte ſich heute noch ſchämen,
weil man ſo oft, eigentlich tagtäglich aus ſeiner letzten
Schanze heraus die Zunge hat ausſtrecken und mit
Steinen werfen und die armen treuen Tiere hat
hetzen müſſen! Heinrich hat's eben erzählt, wie mein
ſeliger Vater auch hinter ihm ſtand und kein Wort
ſagte. Großer Gott, ſo hat er ja immer hinter mir
geſtanden, ſeit ich ins Denken und Nachdenken hinein-
gekommen bin. Es konnte mir ja auch nur ganz
langſam ins Klare wachſen, weshalb er ſo wild auf
die Menſchen war und Keinem gut, als dann und
wann einem Advokaten, der ihm nach dem Munde
geſprochen hatte. Es iſt ſchlimm, es als Kind von
Kindern erfahren zu müſſen, daß man allein ſein
ſoll in der ſchönen Gotteswelt! Und wenn ich auch
tauſendmal ſagte und weinte und ſchrie: ‚Lügner!‘
ſie machten mir doch hinterm Rücken des Schullehrers
immer dieſelben Zeichen, wie als wenn man Einem
einen Strick um den Hals legt oder nach einem
Schlachtochſen mit dem Beile ausholt. Wenn der
Vater mir dann und wann über die Haare fuhr,
wenn wir den Winterabend ohne ein Wort geſeſſen
hatten, ich im Winkel und er im Winkel, und wenn
[140] er ſagte: ‚Ich kann nicht helfen, Du, Wurm, geh'
zu Bett und ſchlafe Du, ich komme und ſehe nach,
ob Du nichts mehr von Dir weißt!‘ ja, dann hatte
ich einen Troſt, der mir das Herz in die Kehle trieb.
Manchmal bin ich wieder in ſpäter Nacht aus dem
Bette gekrochen und bin an die Stubenthür auf
nackten Füßen geſchlichen und habe ihn dann noch
ohne Schlaf ſitzen ſehen. Ach, Herr Eduard, es
haben wohl wenige Leute ſo wenig geſchlafen, wie
mein armer ſeliger Vater! Und dann die Dienſt-
boten, — die Knechte und Mägde: o wie hat es da
an einem Haar gehangen, daß ich wirklich ſchlecht,
wirklich vielleicht zu einer Mörderin oder Todtſchläge-
rin wurde! Sie brachten mir jedes Orgellied und
alles was ſich ſonſt in der Art auf dem Jahrmarkte
kaufen läßt, und ſangen es mir, und pfiffen mir es
und, wenn ſie zu einander davon redeten und bloß
nach mir dabei hinüberſahen, ſo war's noch ſchlimmer.
Auf jede grüne Wieſe, wo andere Kinder Blumen
pflücken und Ringelkränze von Kuhblumenſtielen machen
durften, wurde mir ein Galgen hingebaut; und mitten
unter die Erdbeeren, die Heidelbeeren und Himbeeren
im Wald ein Schaffot. Der Hirte und der Pflug-
knecht im Felde, die Weiber und Mädchen beim
Rübenjäten und Kartoffelroden, hatten alle ihre Ge-
ſchichten für mich und gaben ſie mir mit nach Hauſe,
auf den Wall von meines Vaters Schanze und nachts
mit unter das Deckbett, das ich im heißeſten Sommer
oft über mich zog, auf die Gefahr hin, darunter vor
Herzbeben und Grauen zu erſticken. O wie manche
[141] Nacht habe ich mich in den Kleidern ins Bett ge-
ſteckt, weil es mir, und nicht bloß beim Winterſturm,
ſondern auch im Sommermondſchein davor zu arg
graute, die Schuhe und die Röcke auszuziehen.“


„Du armes Kind,“ murmelte ich unwillkürlich.


„Ja wohl, Du armes Kind, Eduard,“ brummte
Stopfkuchen. „Ich armes Kind habe mich natürlich
in meiner Jugend ſo kläglich anſtellen können, wie's
mir beliebte: das machte auf Niemanden einen be-
merkenswerthen Eindruck. ‚Der Bengel wird von Tag
zu Tag muffiger!‘ das war das Einzige was ich zu
hören kriegte.“


Dabei fingen aber des Dicken Äuglein an ſonder-
bar zu leuchten und er klopfte mich aufs Knie und
fragte:


„War es nicht Zeit, daß ich mich der Sache an-
nahm? war es nicht das Beſte was wir thun konnten,
als unſer Elend zuſammen zu werfen und unſern
Jammer in Einem Topfe ans Feuer zu rücken? Und
iſt nicht das Reſultat erquicklich? Habe ich die hagere
Wildkatze von Quakatzenburg nicht recht hübſch und
rund und nett und fett herausgefüttert und ſie be-
haglich mit dem gewöhnlichen und deshalb um ſo
komfortabelern Weiberſtrickzeug in die behagliche Sopha-
ecke niedergedrückt? Na, Du ſollteſt Mieze jetzt einmal
beim Winterſturm und Sommermondſchein drin ſpin-
nen — ſchnurren und purren hören!“


„Ich habe das Wort, Heinrich!“ meinte lächelnd
die liebe Frau.


„Das haſt Du. Haſt es immer. Und immer
[142] das letzte. Behalt es auch meinetwegen; ich wollte
nichts weiter bemerken, als daß wir heute nicht mehr
des Abends weder das große noch das kleine Male-
fizbuch leſen, Tinchen. Nämlich, Eduard, höchſtens ſtört
ſie mir jetzt mit der Frau Davidis in der Hand das
Nachdenken und paläontologiſche Studium, indem ſie
kommt und mit dem Zünglein um die Lippen neue
Triumphe vorkoſtend, die Frage ſtellt: ‚Du, Alter,
ſollen wir uns mal an dieſes Rezept wagen?‘ Ich,
lieber Eduard, habe ſelbſtverſtändlich auch für dieſen
Verdruß nur die eine Antwort: dem Muthigen gehört
die Welt. Heraus aus dem Kaſten!“


Frau Valentine behandelte vernünftigerweiſe
ihren Feinſchmecker mit ſeinem berühmten Kochbuch als
Luft und fuhr, gegen mich gewendet, in ihrem Recht,
jetzt einmal ſelber zu erzählen, fort. Gottlob, wirklich
wie aus der Sophaecke heraus, wenn auch mit einem
feuchten Leuchten in den Augen und einem verſchluckten
Aufſteigen in der Kehle, gleich einem Kinde, das aus
erlittenem, aber vergangenem Kummer in das Lachen
der Gegenwart übergeht.


„Ja, es war ſchlimm. Und es war die höchſte
Zeit, ſowohl für meinen Vater wie für mich, daß wir
endlich einen Kameraden kriegten — einen, den unſere
Hunde über unſern Graben und Dammweg paſſiren
ließen, ohne daß ſie ihm an die Kehle fuhren und
ihm unſer häuslich Glück und Behagen entgegen
kläfften und heulten. Anfangs konnte ich es doch
nicht wiſſen, daß der Junge aus der Stadt auch für
meinen Vater brauchbar war. Zuerſt war er ja nur
[143] für mich gegen die Dorfkinder eingetreten und hatte
ſich die Naſe blutig ſchlagen laſſen. Da nahm ich
ihn auch nur meinetwegen zwiſchen den Hunden durch
mit auf die Schanze und brachte ihn an den Brunnen,
daß er ſich wenigſtens ein bischen wieder waſchen
konnte. Aber es wieß ſich zum Segen für Vater
und Kind, für die rothe Schanze aus, daß es doch
mehr mit ihm an ſich hatte durch Gottes Güte.
Nicht wahr Heinrich?“


Das letzte Wort war ein Fehler von der Frau.
Damit hatte ſie ihrem dicken Haupt und Herrn voll-
ſtändig wieder das Heft in die Hand gegeben. Glück-
licherweiſe hatte er aber eben etwas zerſtreut den
Wolken ſeiner Pfeife in die Baumwipfel nachgeſehen
und brummte nur: „Haſt immer Recht, Alte! Was
war es denn eigentlich — wo warſt Du ſtehen ge-
blieben? ja ſo! na, Eduard, gewinnſt Du bald die
Überzeugung, daß wir drei, Vater Quakatz, ſein Tinchen
und der faule Schaumann aus der Stadt hier —
hier keinen Vierten zwiſchen uns gebrauchen konnten?“


„Nein, den brauchten wir damals nicht!“ rief
Frau Valentine Schauman, ohne meine Meinung
über die Sache abzuwarten. „Wenn meinem Vater
und mir der liebe Gott nur Einen gab, ſo war
das völlig genug! Aber Dem mußte ebenfalls alles
andere gleichgültig oder zuwider ſein: nur wir und
die rothe Schanze nicht! Der mußte alles mögen, was
der Bauer Quakatz und ſein kleines Mädchen geben
konnten, ohne ſich vor dem Mord- und Schinder-
kuhlengeruch, der dran hing, zu ekeln und zu fürchten.
[144] Und, Herr Eduard, dazu, dazu hatte der Stadtjunge,
der mich vor den Dorfjungen und Mädchen in ſeinen
Schutz genommen hatte, unter der Hecke da drüben
auf der ſtädtiſchen Feldmark gelegen! Und dazu hatte
er auch genug Latein, daß er es meinem Vater in
ſeinem dicken Wörterbuch nachſchlug und überſetzte
für ſeine Schriften und Akten, wo der ſelbſt ſeinem
Advokaten nicht mehr traute. Herr Eduard, bitte,
achten Sie jetzt gar nicht auf meinen Mann! Er
mag nachher, bis er mit Ihnen als angehender
Student hier ſtand und von uns Abſchied nahm, in
ſeinen Schulzeiten noch etwas mehr gelernt haben,
— das kann ich nicht beurtheilen, aber für die rothe
Schanze war er damals genügend mit allen Kennt-
niſſen ausgeſtattet. Er brachte nicht bloß die Hunde
zur Ruhe, er brachte auch meinem ſeligen Vater
ruhigere Stunden.“


„Nu höre ſie, Eduard! Ja, ja, aber ſie hat
Recht: die Klugen haben wahrhaftig lange nicht ſo
viel Behaglichkeit in die Welt gebracht und ſo viele
Glückliche drin gemacht, wie die Einfältigen.“


„Ganz ſicher, Heinrich! Mein ſeliger Vater
meinte das wenigſtens auch. Er drückte ſich nur
etwas anders aus. ‚Tinchen,‘ ſagte er, ‚ich will
nichts dagegen ſagen, daß dieſer dicke, ſtille Junge
ſich an uns herangemacht hat. Wenn Du mit ihm
auskommen kannſt, ſoll es mir Recht ſein. Mich ſtört
er nicht, und man hat doch Einen in der Stube, der
nicht zu den Andern gehört.‘“


„Das war ein großes Wort von Deinem ver-
[145] ſtorbenen Herrn Vater, Frau Valentine Stopfkuchen,“
grinſte Heinrich Schaumann unverbeſſerlich drein.


„Es war nur das Wort von einem Manne,
der ſeinen Kopf und ſein Herz ſeit Jahren, Jahren,
Jahren mit beiden Händen hatte zuſammenhalten
müſſen, auf daß ihm beides nicht in Wuth und Angſt
und Grimm und Schaam zerſpringe. Wenn Einer
damals nicht zu den Andern gehörte, Herr Eduard,
ſo war das mein Mann. Nicht etwa weil er gerade
ſo was Beſonderes an ſich gehabt hätte, ſondern
gerade vielleicht weil er das nicht hatte, und auch an
uns in unſerer Verſcheuchung und Verſchüchterung
nichts Beſonderes fand und mit uns wie mit ganz
gewöhnlichen ſonſtigen Menſchen in Verkehr und
Umgang kam!“ —


Frau Valentine hatte natürlich nicht im ge-
ringſten eine Ahnung davon, welch ein wunderbar
Zeugniß und Lob ſie jetzt meinem Freunde ausſtellte,
und wie ſehr ſie mich zu den ganz Gewöhnlichen, den
ganz Gemeinen, an jedem Wege Wachſenden warf:
zu denen, die nur dreiſt in die Welt hinaus und
nach Afrika laufen mochten, um ihre trivialen Aben-
teurerhiſtorien zu erleben. Mein dickſter Freund
grinſte wieder nur, war ſich aber ſicherlich klar über
alles.


Die Frau fuhr fort:


„Er ſaß mit meinem Vater in der Stube und
er lag mit mir auf unſerm Wall gegen die Menſch-
heit unterm Buſch. Ja, gegen die Menſchheit, Herr
Eduard; denn jetzt warfen ſie mit ihren Steinen auch
W. Raabe. Stopfkuchen. 10
[146] nach ihm über den Graben; aber nicht lange. Ihre
jungen Herren Kollegen und Schulkameraden haben
doch nicht ganz genau gewußt, was mein Mann
damals war —“


„Alte!“ lachte Stopfkuchen.


„Ach ja! ich drücke mich wieder falſch aus[.] Nun
denn: ſie wußten nicht ganz vollkommen, was Du
alles in Dir hatteſt, Heinrich, und was Du alles
thun und ſagen konnteſt, wenn Dir ein Erdkloß, der
eigentlich doch nur für Kienbaums Mörder beſtimmt
war, an Deinen Kopf flog. O Herr Eduard, Ihr da-
maliger Freund konnte ſich damals ſchon in den
erſten großen Sommerferien als den Herrn der rothen
Schanze betrachten. Er hatte ſie, und zwar für mich
mit, einem ſchlimmen Feinde abgewonnen; und nun,
da ich mich nun nicht mehr nachts ſo arg vor Anderen
zu fürchten brauchte, lag ich manchmal ganz wütend und
fragte mich, weshalb ich es eben von ihm litte?! Denn,
Herr Eduard, er behandelte mich eigentlich garnicht
gut bei ſeinem Ritteramt! Dumme Gans war noch
der mildeſte Ehrentitel, den er mir zukommen ließ.
Und wehe mir, wenn ich es merken ließ, daß auch
ich meinen Vorrath von Koſenamen zur Hand hatte
aus meinem Verkehr und Krieg mit den andern
Kindern! Und wenn ich mich durch Thränen wehren
wollte, da war's noch ſchlimmer. Da hieß es höchſtens:
‚Sie hat den beſten Platz in ganz Deutſchland und
ſie mault! Mädchen, ſitze Du mal auf meinem —‘„


„Podex,“ rieth Freund Heinrich.


„Platz in der Schule,“ fuhr Frau Tine fort,
[147] doch lieber einen zarten Ausdruck für das Ding
wählend. „Freilich, es mochte ihm, was den anbe-
traf, manchmal zu Hauſe und in der Schule auch
nicht zum Beſten gehen. Nun, auf der rothen Schanze
ſaß er dann mit ſeinen Sünden ebenſo ſicher als wie
ich. Beim Mordbauern Quakatz that ihm keiner
noch mehr was darum zuleide, ſondern im Gegen-
theil! Er war mir vielleicht auch darum gerade recht
und zu meinem und meines ſeligen Vaters Umgang
paſſend, weil auch er recht häufig was auf dem Ge-
wiſſen hatte und noch mit den Thränenſpuren auf
den Backen zu uns heraus kam und dort von der
Wallbrüſtung auf die ganze Stadt und die ganze
Schule ungeſtört hinunterbrummen und grummeln
und ſchimpfen konnte. Schrecklich faul muß er da-
mals geweſen ſein, Herr Eduard.“


„Meine jetzigen ſüßen Daſeinsbedingungen in
dieſer Hinſicht läßt ſie gelten, Eduard. Aber ich
imponire ihr doch auch ein wenig durch meine Petre-
fakten und die gelehrte Korreſpondenz, die ſich daran
knüpft. Man kann ſchon ſeinem Weibe was unter
die Naſe halten, wenn man Mitglied von einem
halben Dutzend paläontologiſcher Geſellſchaften iſt.
Und Eines blüht ihr noch. Meine Abhandlung über
das Mammuth und ſeine Beziehungen zu der rothen
Schanze, dem Prinzen Xaver von Sachſen und dem
Bauer Andreas Quakatz nebſt angehängtem Exkurs
über das Megatherium wird ihr unbedingt gewidmet.
Wer weiß, ob das Rieſenfaulthier ihr nicht noch den
10*
[148] Kranz der Unſterblichkeit auf die Haube — wollt'
ich ſagen die Locken drückt?“


„Gott ſoll mich bewahren!“ lachte Frau Valentine,
fügte aber hinzu: „O Gott, wohin bringt er mich
und uns durch ſeine Art und Weiſe, Herr Eduard.
Er weiß es, wer Kienbaum todtgeſchlagen hat, und
hier ſitze ich und rede alles dumme Zeug durchein-
ander, bloß weil er's ſo haben will. O mein armer,
armer Vater! Und wenn er, meinen Mann meine
ich, mit dem Ärmel um die Augen Staub und
Feuchtigkeit durcheinander gerieben hatte —“


„Dreck und Thränen willſt Du ſagen, Herze.“


„Jawohl, und mit dem Jackenärmel! Und wenn
er dann zuweilen noch nach dem — Rücken griff und
ſich zwiſchen den Schulterblättern rieb, dann ſagte
mein ſeliger Vater —“


„‚Geh' hin und ſchneid' ihm erſt ein ordentliches
Butterbrot und gib ihm ein ordentlich Stück Wurſt
dazu. Der hat auch das Seinige ausgeſtanden und
weiß in ſeinen jungen Jahren ſchon, was an der
Welt iſt.‘ Nun, das that ich denn auch, und dann
gingen wir zu den Käſen, den Stachelbeeren, den
Birnen, Äpfeln und Pflaumen und was ſonſt ſo die
Jahreszeit zu ſeinem und meinem Troſte gab. Ja,
Herr Eduard, in dieſer Hinſicht war die rothe Schanze
vom ſächſiſchen Prinzen ganz für ihn geſchaffen.
O, was er aber auch durch ſeinen Herrn Schwartner
von ihr alles wußte! O Gott, wie ich ſie noch ſitzen
ſehe, ihn und meinen armen Vater, wie ſie die Ge-
ſchichte vom ſiebenjährigen Kriege traktirten und wie
[149] es ſo Schade ſei, daß die arme Stadt da unten
damals nicht ganz in'n Klump geſchoſſen worden ſei!“


„Das Wort traktiren hat ſie von mir, Eduard,“
ſchmunzelte Stopfkuchen; doch Frau Valentine lächelte
und ſeufzte weiter:


„Ich hielt ihn ſchon damals für den gelehrteſten
und weiſeſten aller Menſchen. Daß ich ihm das
aber damals ſchon auf die Naſe band, konnte doch
keiner von mir verlangen; denn dazu war er doch
noch zu dumm, und ich zu ſehr in der Wildheit und
Wuth gegen alles aufgewachſen. Er brachte mir,
ohne daß ich es ihm merken ließ, von ſo vielen
Dingen ein Verſtändniß und an ſo manchen Sachen
Geſchmack bei —“


„Das Wort Geſchmack hat ſie von mir, Eduard.“


„Und da kam er mit meinem Vater zu der
Überzeugung, daß kein Hahn mehr nach dem hoch-
berühmten Herrn Prinzen von Sachſen und ſeinem
Mordkriege krähe, und daß auch einmal nach dem
Herrn Oberlehrer Blechhammer und uns Andern,
und — und — und Kienbaum auch kein Hahn mehr
krähen, kein Hund mehr bellen und kein Menſch mehr
die Naſe verziehen werde, und daß es bei allem auf
der Erde nur ankomme auf ein gutes Gewiſſen und
Genügſamkeit —“


„Genügſamkeit hat ſie von mir.“


„Natürlich! Alles habe ich von Dir!“ rief Frau
Valentine jetzt wirklich etwas zitterig, aufgeregt,
ärgerlich. „Nun, da iſt es ja noch ein Troſt, daß
Du mir wenigſtens das gute Gewiſſen als mein
[150] eigenſtes Eigenthum läßt! Und wenn ich denn einmal
die Genügſamkeit auch von Dir haben ſoll, ſo hat
doch gewiß wenigſtens etwas davon auch ſchon in
mir gelegen, und Du haſt mir nur —“


„Das Verſtändniß aufgeknöpft. Da hat ſie
Recht, Eduard. Ich ſage Dir, Eduard, Du haſt in
der Hinſicht gar keinen Begriff davon, was und
wieweit Alles in ihr verſtöpſelt lag und darauf
wartete, daß ich komme und den Korkzieher mitbringe.
O Alte, Alte, liebe, beſte, alte Alte: wie hätten wir
zwei auch ſonſt ſo gut zu einander gepaßt. O Tine,
Tine, Du und ich, des Gottes ſchöne Trümmer —
na, haben wir denn nicht von Anfang an zu ein-
ander gehört und halten wir nicht bei einander bis
zum allerletzten? Du vom alleräußerſten Ende von
Afrika, Du, Eduard, was iſt Deine Meinung?“


Vor Jahren hatte ich weggeguckt; diesmal ſah
ich genau hin, wie ſich die Zwei den Arm um die
Schulter legten und ſich aneinanderdrückten und ſich
einen lauten Kuß gaben. Sie zierten ſich diesmal
garnicht mehr vor mir; aber Heinrich hatte freilich
heute auch eine glänzende Glatze und in Valentinens
Haar miſchte ſich hier und da ein vorzeitig ſilbernes
Fädchen; aber hübſch war's doch, und es that der
Sache durchaus keinen Abbruch, daß Stopfkuchen ein
bischen fett war und ſeine kleine, gute, tapfere Frau der
Aphrodite von Melos garnicht glich.


„Ich ſage Ihnen, lieber Herr Eduard,“ ſagte
Valentine, ihre Haube unbefangen wieder zurecht-
rückend, „wenn ich mich jetzt als erwachſene alte
[151] Frau in meinen Zuſtand als Quakatzens Mädchen
von der rothen Schanze zurückdenke, und es mir über-
lege, wie es gekommen iſt und wie es die Vorſehung
angefangen hat, daß ich durch Heinrichs Bekanntſchaft
aus einem verwilderten Thier zur Ruhe und ins
Menſchliche hineinkam, ſo ſoll mir Keiner meinen
Glauben an den lieben Gott aus der Bibel und
dem Geſangbuche ſtreichen: auch ſelbſt der, mein
Alter, nicht mit ſeinen Knochen und Verſteinerungen
und ſeinen Briefen und Druckſachen von ſeinen ge-
lehrten Geſellſchaften. Und wenn er tauſendmal nicht
mehr an ein Wunder glaubt und eine höhere Re-
gierung: zu einem halben Wunder muß er ſich mit
ſeinem wiſſenſchaftlichen Beſſerwiſſen doch bequemen.
Denn daß ſo ein Junge ſo einen ſegensreichen Ein-
fluß auf ſo ein Frauenzimmer ausübt, von meinem
armen ſeligen Vater dabei garnicht zu reden, das iſt
doch nicht bloß ein halbes Wunder, das iſt ein
ganzes, ein doppeltes, ein dreidoppeltes! Sie haben
es wohl geleſen, was er über unſere Hausthür ge-
ſchrieben hat: Gehe heraus aus dem Kaſten. Das
iſt eigentlich dummes Zeug; denn das hat auf uns
hier gar keine Beziehung. Ich habe darüber die
Bücher Moſes nachgeleſen; es betrifft bloß die Arche
Noah und den Vater Noah und möglicherweiſe noch
ſeine Familie und ſeinen Thierbeſtand. Die Redensart
hatte damals mein Heinrich auch noch nicht an ſich.
Vielleicht erinnern Sie ſich noch an ſeinen damaligen
ewigen Troſt, Herr Eduard?“


Leider erinnerte ich mich nicht mehr, und Stopf-
[152] kuchen ſah mich nur erwartend, grinſend an und half
mir nicht ein. Wenn ich ihm in unſern Schultagen
„einhelfen“ ſollte, dann grinſte er nicht; dann ſah er
anders aus als wie heute.


„Na, Eduard?“ Das war das einzige, auf was
er ſich heute einließ.


„‚Friß es aus und friß Dich durch!‘ lautete
ſeine damalige Redensart,“ ſagte Frau Valentine
und ließ es in Ton und Ausdruck zweifelhaft, ob
ſie heute noch völlig ihre Billigung habe. Doch jetzt
ergriff Schaumann genannt Stopfkuchen wieder das
Wort und ſeufzte zwar weich und elegiſch, aber voll
Behagen:


„Und meinetwegen könnt ihr ſie mir auch mal
in Goldſchrift auf meinen Grabſtein ſetzen laſſen.
Natürlich ohne irgendwem die Möglichkeit zu nehmen,
eine noch beſſere zu finden.“


„O Gott,“ ſeufzte ſeine Frau, „damals ſetzte er
gewöhnlich noch hinzu: ‚Es gibt keine andere um
durch's Leben zu kommen, Tinchen!‘“


„Meinſt Du nicht auch, daß alle anderen mehr
oder weniger auf Schwindel beruhen, Eduard? Oder
haſt Du in dieſer Beziehung wirklich einige neue
Erfahrungen vom alten nobeln Onkel Ketſchwayo
mitgebracht? Na, mal 'raus damit: was habt ihr
dem Manne auf ſein Heldengrab geſetzt, nachdem
der brave Kaffer ſein ſtolzes Königsleben aus und
ſich durch Euch Engliſhmen, Dutchmen und Deutſche
Burengeſellſchaft durchgefreſſen hatte? Aber ent-
ſchuldige, Schatz, ich meine Dich, Madame Stopf-
[153] kuchen, wir ſind immer noch bei Deiner Idylle und
nicht der unſeres theuern afrikaniſchen Gaſtfreundes.“


Die Frau Valentine warf mir einen Blick zu,
der wieder nur bedeuten konnte: Wer kann wider
Gott und Groß-Nowgorod? Es war gegen den
Menſchen nicht anzuerzählen. Sie gab es auf, nahm
dafür ihr Strickzeug wieder und überließ ihren Dicken
ſeiner Rednergabe und, wie ſie ſich ausdrückte, ſeinem
doch beſſeren Verſtändniß. Daß ſie wohl hoffte, auf
dieſe Art am Ende doch noch etwas früher zu er-
fahren, wer Kienbaum todtgeſchlagen und das Lebens-
elend ihres Vaters dazu auf dem Gewiſſen gehabt
hatte, trug wohl dazu bei, daß ſie ſich den Anſchein
gab, von jetzt an ruhig weiter zu ſtricken.


„Ich ſagte ihr alſo ganz einfach, wenn mal die
Welt wieder ein wenig mehr als gewöhnlich die Katze
gegen ſie geſpielt hatte, oder, was auch vorkam, ſie
die Katze gegen die Welt zu ſpielen wünſchte und
mit ausgeſpreizten Krallen fauchend gegen ſie anfuhr,
bemerke beiläufig die ſich hier ganz von ſelber
gebende, weich hinfließende Alliteration, Eduard; ich
ſagte ihr alſo: ‚Schatz, friß mich nicht; aber Mädchen
friß es aus und friß Dich durch und, bei Gott, ich
helfe Dir dabei![‘ ]Mit dem herzigen Wort und Rath
nahm ich ſie am Wickel, holte ſie ſo peu à peu aus
ſich heraus und mir allgemach die ganze rothe Schanze,
den Papa Quakatz eingeſchloſſen. Wir fraßen es zu-
ſammen aus und fraßen uns durch, wir armen
Würmer. Für Alles, mit welchem ich meinerſeits da
unten in der Stadt und in eurer Schule nicht aus
[154] mir herauskommen durfte, hatte ich hier oben freieſten
Spielraum. Da entwickelte ſich was ich an Lyriſchem
und Epiſchem in dem hatte, was ihr da unten als
mein gemüthliches Fett zu bezeichnen pflegtet. Was
ich an Dramatiſchem in mir hatte, ließ ich natürlich
ruhig in dem, was Ihr meinen Wanſt benamſetet,
latent bleiben. Das erfordert zu viel Kapriolen,
Fratzen und Phraſen, und es iſt, Gott ſei Dank,
immer noch hie und da Einem geſtattet, ore rotundo,
ſeine Serviette oder, wie man itzo im teutſchen Vater-
lande ſagt, ſein Tellertuch unterm Kinn feſtzuſtecken
und über ſeinen Sesquipedalien die Hände in ein-
ander zu legen und die Daumen um einander zu
drehen. Würde ich hier heute bei dem Tinchen,
dieſem Quakätzchen hier, ſo ſitzen wie ich ſitze, wenn
ich der rothen Schanze damals ebenfalls dramatiſch
gekommen wäre? Gewiß nicht, lieber Eduard. Dieſem
Kriegsaufwurf des Herrn Grafen von der Lauſitz,
dieſem Punktum auf hieſiger Feldmark hinter dem
Wort: Kindlein liebet Euch unter einander! war nur
durch die Lyrik und Epik beizukommen, und Das
habe ich denn auch beſorgt! was, Tinchen Quakatz?
Ich kann es nur immer von Neuem wiederholen,
Eduard: ihr habt mich verkannt; die Schätze in
meinem Buſen lagen euch, offen geſagt, dummen
Jungen viel zu tief. Dazu gehörte eben ein ſchlaues
kleines Mädchen, um die herauf zu angeln. Du per-
ſönlich, Eduard, lieſeſt höchſtens mit Deinem Freunde
Störzer und bereiteteſt Dich durch des alten Le
Vaillants Geſchichte von wilden Eſeln, Giraffen,
[155] Elephanten, Nashörnern, ſauberen Namaquamädchen
und aus der Hiſtorie vom bravſten der braven aller
Hottentotten Swanepöl auf Dein Kaffern-Eldorado
vor. Den biedern Bauern Klaas Baſter wirſt Du
wahrſcheinlich allmählich auch gefunden haben und
ihn in ſentimentalen afrikaniſchen Stimmungen an
den Buſen ſchließen; aber den biedern Heinrich Schau-
mann haſt Du jenerzeit auch nicht gefunden, ſondern
ihn nur mit den Übrigen von uns als Stopfkuchen
unter der Hecke belaſſen. Verzeihe die Abſchweifung:
bei dem Bauer Quakatz und ſeinem verwilderten,
zerzauſten Kätzchen, da erklang die Zauberharfe, da
griffen die Geiſter der rothen Schanze hinein und [ent-
lockten]
ihr die Töne, welche euch europäiſchen ge-
zähmten Eſeln, Affen und Rhinozeroſſen, ſo das
fürſtliche Gymnaſium alle Nachmittage um vier aus
dem Kulturpferch herausließ, auf, wie ihr euch
freundlich ausdrücktet, auf kompletten Blödſinn hin-
zudeuten ſchienen. O Eduard, wenn ich heute, jetzt,
endlich doch einmal zu dem Genuß käme, ein theatra-
liſches Intereſſe an meiner eigenen Perſon zu nehmen!
Aber damit iſt es ſelbſt heute, heute, wo Du wieder
da biſt, nichts! Ich kriege es nicht fertig, und ſo
bleibe ich ohne Arme- und Beine-Schlenkern ſitzen,
wo ich mich hingeſetzt habe: auf der rothen Schanze.
Mach' nur keine Geſichter, Tinchen, ich bleibe bei
der Sache. Du weißt es ja; wie närriſch ich reden
mag, ich bin immer bei Dir. Da ſei nur ganz
ruhig; kein Kind hält ſich ſo krampfhaft feſt am
Rocke ſeiner Mutter, wie ich mich an Deiner Schürze
[156] und — Eduard hat ja heute bei uns gegeſſen und
wird mir alſo einmal in ſeinem Leben beiſtimmen —
vor allem an Deiner Küchenſchürze! Ja, lieber
Eduard, kein Winkel im Hauſe, kein Fleckchen im
Garten, kein Mauerwerk, keine Bank, kein Buſch und
Baum und, wieder vor allem, kein Viehzeug auf der
rothen Schanze, die nicht allgemach ein lieber Schein
und Schimmer überlief aus dem Robinſon, aus dem
Ferdinand Freiligrath, aus den Gebrüdern Grimm,
dem Hans Chriſtian Anderſen und dem alten Muſäus!
Ich war feiſt und faul; aber doch nun gerade, euch
Allen zum Trotz, noch vor meiner Kenntnißnahme
des Weiſen von Frankfurts beſter Table d'hote ein
Poet erſten Ranges: der Begriff war mir garnichts;
ich nahm Alles unter der Hecke weg, mit dem
Sonnenſchein des Daſeins warm auf dem Bauche,
aus der Anſchauung! Es zog Einer den Andern in
ſeine Kreiſe oder vielmehr in ſeinen Kreis: Tinchen
mich, ich Tinchen. Aber an dem Tage, an welchem
auch der Papa Quakatz hinter mir zum erſtenmal
fragte: ‚Wie war die Geſchichte, Junge?‘ da hatte
ich ihn ebenfalls beim Wickel. Erinnerſt Du Dich
noch, Valentine? Es war die Geſchichte von den
beiden unüberwindlichen, kugelrunden Müllern, die
ſein Intereſſe erweckte. Ja, dahin hatte es die Welt
mit ihm und Kienbaums Morde gebracht, daß er
auch ſo Einer hätte ſein, und ſo ſich wappnen mögen.
Ein Wamms mit Kalk und Sand und, zur Ver-
bindung, mit geſchmolzenem Pech gefüttert, hinten
und vorn beblecht mit alten Reibeiſen und Topfdeckeln,
[157] darunter drei bis vier Hemden, darüber neun lodene
Röcke; zur Abwehr und zum Angriff zwei Spieße,
eine Armbruſt, ein Zweihander eine Manneslänge lang
und auf die Wirkung in die Ferne ein Bogen mit
Pfeilköcher!“


„Ja, ja,“ ſeufzte Frau Valentine, „und endlich
eine Wohnung in einer Wüſte hinten an der Welt!
Ach ja, und wenn auch er nicht geſtorben wäre, ſo
lebte auch er heute noch, wie die Märchen endigen.
Der arme, arme, liebe Vater! Und er, er hätte es
ſicherlich nicht ertragen, daß Du uns ſo lange darauf
warten läßt, wer an ſeiner Statt Kienbaum todt-
geſchlagen hat! für wen er, er, der Arme, Arme,
durch ſein ganzes Leben hat unſchuldig büßen
müſſen!“


In dieſem Augenblick wurde die arme [Frau]
abgerufen, und Stopfkuchen benutzte die Gelegenheit,
um mir zuzuflüſtern:


„Hoffentlich bleibt ſie uns jetzt fünf Minuten
vom Halſe. Vom Papa ſpreche ich, jetzt im Ver-
trauen ganz offen geſagt, am liebſten hinter ihrem
Rücken, wenn ich einmal davon ſprechen muß. Und
ſie hat es auch eigentlich nicht gern, wenn ich in
ihrer Gehörweite wirklich mal aufrichtig an meine
innerſte Meinung über ihn anſtreife.“


[158]

Schön Wetter auf See! Wie hätte ich mein
Garn aber auch ſo fortſpinnen dürfen, wie es eben
geſchehen iſt, wenn dem nicht ſo geweſen wäre?
Halcyoniſche Tage haben uns, die letzte Woche durch,
das Geleit über das große Meer gegeben. Infolge
davon angenehme Stimmung auf dem Schiff und
wenig Störung des „ſonderbaren Herrn im Rauch-
zimmer, der von Hamburg an ununterbrochen über
ſeinem Geſchäftskonto brütet und wahrſcheinlich erſt
am jüngſten Tage damit zu Stande kommen wird.“


Die Herrſchaften und die Leute haben aber Recht
mit ihrer Verwunderung, ihrem Lächeln und Kopf-
ſchütteln, Kopfzuſammenſtecken und Flüſtern. Da ſitzt
ein ſonderbarer Herr auf dem guten Schiff Hagebucher,
und ſonderbar von ihm iſt's im hohen Grade, gerade
auf dem hohen Meer den Verſuch zu wiederholen,
das Leben mit einem Fingerhut ausſchöpfen zu
wollen! . . . . . .


Was aber würden die Herren und Damen, die
einigemale ſogar den Verſuch gemacht haben, mir
beim freundſchaftlichen Auf-die-Schulter-Klopfen über
die Schulter auf die „abſonderliche Schreiberei“ zu
ſehen, ſagen, wenn ihnen der Verſuch gelungen wäre?


Wahrſcheinlich nichts weiter als:


„Nun, das hätte er zu Hauſe auch bequemer
haben können.“


Darin würden ſie ſich aber doch auch irren. Ich
hätte das nicht zu Hauſe bequemer haben können,
und deshalb eben ſchrieb ich's auf dem Schiffe mir
auf, um es ſpäterhin, zu Hauſe, im Wirrſal der
[159] Tage für einen möglichen ſtillern Augenblick bequem
zur Hand zu haben. — — —


Seinen Stuhl mir näher rückend, ſagte Stopf-
kuchen, noch einmal einen vorſichtigen Blick nach dem
Hauſe ſendend: „Evasit — ſie trippelte ab. Jawohl,
Eduard, wenn die Welt irgendwo und wann das
Recht hatte, einem ducknackigen, mürriſchen, wider-
wärtigen Patron, kurz einem unangenehmen Menſchen
mit dicker, die Oberlippe einſaugender Unterlippe und
malayiſchen Wülſten hinter den Ohren — einen
Mord als ſein kleinſtes Verbrechen zuzutrauen, ſo
war das bei meinem ſeligen Schwiegervater — Gott
hab ihn ſelig! — der Fall. Im Grunde war er
ein greuliger Kerl, dem keiner Deiner bösartigſten
ſchlimmſten Kaffern das Waſſer reichte. Eine miß-
trauiſche, ſtänkerhafte, auf Kiſten und Kaſten hockende
Bauernſeele vom faulſten Waſſer! Ob er Kienbaum
todtgeſchlagen hat, der alte Quakatz, wirſt Du ja
wohl nachher noch erfahren; aber daß ich ihn nicht
drei oder drei Dutzend Male todtgeſchlagen habe, das
war keine Kleinigkeit, das ſage ich Dir jetzt ſchon.
Es gehörte eben eine Natur, oder wenn Du lieber
willſt, ein Gemüth wie das meinige dazu, um ſo
einem mißglückten Ebenbilde Gottes an den Kern zu
kommen! Nun, weißt Du, Eduard, Apfel, Reis und
Mandelkern frißt der kleine Affe gern; aber auch
Nüſſe mag er, und knackt ſie ihres ſüßen Inhalts
wegen: ſeines ſüßen Inhalts wegen habe ich denn
auch den Bauer Andreas Quakatz auf der rothen
Schanze, mit der rothen Schanze geknackt. Freilich
[160] nicht ohne die harte Nuß eine erkleckliche Weile aus
einer Backentaſche in die andere gewälzt zu haben
und mit allen Backenzähnen und aller Kinnbacken-
kraft dran geweſen zu ſein. Ob er Kienbaums wegen
gehängt zu werden verdient hätte, wollen wir immer
noch auf ſich beruhen laſſen. Aber aus manchem
andern Grunde hätte er ſicherlich verdient, wenn nicht
gehängt, ſo doch geprügelt zu werden. Vor allen
Dingen ſeines Tinchens wegen. Sie läßt ſich immer
abrufen, wenn darauf die Rede kommt. Dieſen
närriſchen Frauenzimmern iſt eben die Pietät auf
keine Weiſe auszutreiben; und, beiläufig, man mag
ſich manchmal darüber ärgern wie man will; man
ſtellt ſich und Andern doch nur ſehr ſelten die Frage,
wozu dieſes gut ſei? Gut — das heißt, großer Gott,
die Welt war ſchlecht gegen das Kind von der rothen
Schanze; aber ſo ſchlimm wie der Papa, der Bauer
auf der rothen Schanze war ſie doch nicht gegen es.
Da hielt ſie ihm noch lange nicht die Stange! Die
Schule war arg und meine Herren Eltern waren
gerade auch nicht von der liebenswürdigſten Sorte;
aber ſo verſchüchterten ſie mich doch nicht, wie der
alte Quakatz ſeine Krabbe zu verſchüchtern verſtand.
Aus der allerunterſten Schublade ſeiner verſtockten
Seele holte er ſein Weſen gegen ſie; und tauſendmal
mochte er meinetwegen Kienbaum todtgeſchlagen haben
und der Menſchheit, ihr jüngſtes Gericht eingeſchloſſen,
es ableugnen: ſo — in ſolcher Weiſe brauchte er
ſeinen Verdacht nicht auf ſein eigen Fleiſch und Blut
abzuladen! Eduard, leugne es nicht: ihr habt mich
[161] dann und wann nicht bloß für einen faulen, ſondern
auch für einen feigen Burſchen taxirt; doch wirklich
mit Unrecht. Ihr armen Haſen, deren ganzes Heldenthum
auf dann und wann eine zerriſſene Hoſe, einen Buckel
voll Schläge, oder ein paar Stunden Karzer hinaus-
lief! Die rothe Schanze hättet ihr mal erobern ſollen!
Das wäre etwas geweſen, was einen neuen Plutarch
auch für euch wünſchenwerth gemacht haben würde.
Und dann der Oberlehrer Blechhammer, wenn der
mal wieder in meinem Kopfe mit der Stange geſtört,
nach der Eule der Minerva geforſcht hatte und von
Neuem zu der Überzeugung gekommen war, daß da
vielleicht eben noch eine Eule, aber freilich nicht die
der Pallas Athene geſeſſen hatte! War der brave
Mann — Gott erfülle alle ſeine Verheißungen an
ihm und rangire ihn unter ſeine beflügeltſten Engel!
— war der alte ciceronianiſche Kochinchinaknarrhahn
einer Würdigung meiner Lebensaufgabe fähig? Wahr-
lich nicht! im höchſten Pathos dieſes aus der Er-
innerung herausgeſprochen. Doch ich ſchweife ab;
— der warme Tag öffnet Einem ſo angenehm alle
Poren des Leibes und der Seele! Wo war ich denn
eigentlich, was die Hauptſache anbetrifft? Ja wohl,
natürlich, immer noch beim Vater Quakatz. Du
großer Gott, wo in aller Welt haben wir, ich und
Tinchen uns vor Dem verkrochen? wie und wo haben
wir hier unter dem Schutze Sancti Xaverii, comitis
Lusatiae
vor ſeiner Unvernunft Unterſchlupf ſuchen
müſſen, nachdem ich ſchon längſt Vernunft zu ihm
W. Raabe. Stopfkuchen. 11
[162] geredet hatte und ſtellenweiſe auch damit durchgedrungen
war?! Im Taubenſchlag, im Schweineſtall, auf dem
Heuboden, im Wandſchrank, hinter und unter dem
Bett. Wo ſuchte er nicht ſein Kind mit dem Prügel und
der Peitſche in der Hand? Ihr Helden führtet der-
weilen eure Indianergeſchichten, euren Fenimore
Cooper draußen im Felde dumm und phantaſielos
genug auf: ich ſchützte Cora und verſteckte Alice im
Leben und in der Wirklichkeit, wenn nicht in der
Felshöhle, ſo doch hinter dem Küchenſchrank und ließ
den verrückten, wüthenden alten Mingo mit geheimſtem
wollüſtigſtem Grauſen ſuchen und hörte ihn ſchnüffeln
und ſein Kriegsgeheul erheben. Wenn dann Tinchen
flüſterte: ‚ich habe ihm die Schnapsflaſche auf den
Küchentiſch geſtellt!‘ ſo weiß ich es heute ganz genau
zu taxiren, wie viel mehr ſie auf Miß Cora als auf
Miß Alice zugeſchnitten war. Damals wußte ich es
noch nicht ſo und hielt mich mehr als mir zukam
für den edlen urwalderfahrenen Lederſtrumpf. Aber
die Hauptſache war natürlich, daß der Alte die Flaſche
fand. So wie wir ſein ‚Hugh‘ vor ihr hörten, waren
wir einmal noch gerettet, und die Welt und die rothe
Schanze gehörten uns wieder allein! Aus Pietät
ſteht ſein Sorgenſtuhl, wie Du bei Tiſche bemerkt
haben wirſt, noch immer hinter dem Ofen, und wenn
ich jetzt darin ſitze und mir überlege, wie ich damals
ſchon den Fall Kienbaum gegen Quakatz frühreif anſah
und ſagamorenhaft dem aus ſeinem Feuerwaſſerduſel
erwachenden armen Kerl ſagte: Herr Quakatz — —
— Du liebſter Himmel, da iſt ſie ſchon wieder!
[163] keinen Augenblick hat man doch Ruhe vor ihr. Na,
Eduard, dann das Weitere vielleicht bei Sonnen-
untergang.“


Da war ſie wieder, und wenn ich ſie wieder
anſah, wie ſie vom Hauſe her näher kam und wieder
zu uns trat und ihrem Mann die Hand auf die
Schulter legte, hätte ich mir dreiſt alles „Weitere“
von ihm ſchenken laſſen dürfen. Die Hauptſache
wußte ich jedenfalls.


Der ſchöne Nachmittag aber war, ohne daß ich
es gemerkt hatte, was freilich ſelbſtverſtändlich war,
ruhig immer mehr gegen den Abend hin vorgeſchritten.
Es war ſelbſt für unſern Dicken allgemach angenehm
kühl unterm Lindenbaum geworden, und er bezeigte
nun Luſt, „ſich ein wenig die Füße zu vertreten.“
Er bot ſeiner Frau den Arm, und bei ſinkender
Sonne umſchritten wir jetzt das Viereck des alten
Kriegswalles auf ſeinem äußerſten Rande: Stopfkuchen
natürlich ohne die lange Pfeife dabei aufzugeben.
„Du bemerkſt, ich habe mir hier wie ein anderer
Gefangener von Chillon einen Pfad ausgetreten; aber
dazu auch einige Bänke hingeſetzt. Seine Ausſicht
in die Weite wünſcht der Genügſamſte in dieſer Be-
ziehung zu haben; behält er ſeine Bequemlichkeit ſich
11*
[164] dabei vor, ſo verdenke ich es ihm nicht, ſondern lobe
ihn. Wie Du gleichfalls bemerkſt, Eduard, bin ich
auch hier immer unter der Hecke geblieben.“


Dem war ſo. Die vier Bänke auf den vier
Ecken der rothen Schanze hatten alle ein ſchattig
Gebüſch hinter ſich, und man konnte ſich wohl auf
ihnen in die Luft der Jugend: unter der Hecke zu
liegen — zurückträumen. Der Pfad war wohl be-
treten aber auch wohlgepflegt: „ich pflege hier auch
im Winter meine Welt und die der Übrigen ins
Auge zu faſſen,“ ſagte Stopfkuchen. — Die Ausſicht
nach Norden und Süden, nach Oſten und Weſten
war ſo ziemlich geblieben wie ſie in unſerer Kinder-
zeit war. Da war in der Tiefe die Stadt, da zur
Seite Dorf Maiholzen, da der Wald, da das freie
Feld und da die fernen blauen Berge liegen geblieben.
Behaglich ſchliefen darunter und darin Heinrich Schau-
manns Floren und Faunen ſämmtlicher wiſſenſchaftlichen
Erdballsperioden, Formationen und Übergangs-
perioden, das Rieſenfaulthier eingeſchloſſen und mit
eingeſchlafen. Darüber der Sommerſpätnachmittags-
ſonnenſchein. Nur eine oder zwei neue Eiſenbahn-
linien durchſchnitten jetzt die Ebene. Und der Zug,
der eben auf der einen die Stadt verlaſſen hatte und
mit langgezogener weißer Lokomotivenwolke der Ferne
zuglitt, erinnerte mich in dieſem Augenblick wieder
daran, wie wenig Halt und Anhalt ich jetzt noch in
der Geburtsſtadt, in den Heimathsgefilden habe.


Statt mir aber mit einem Hinweis auf die
neuen Verkehrsmittel aufzuwarten, zog Heinrich
[165] Schaumann ſonderbarerweiſe ſein Tinchen nur noch
ein bißchen zärtlicher an ſich und ſagte:


„Ja, Alte, nicht wahr, auch der Winter iſt
hübſch hier, es läßt ſich leben auf Quakatzenburg,
und man ſehnt ſich ſo leicht nicht fort? Das kann
man aber im Grunde überall haben, lieber Eduard,
den ich doch wohl auch einen Baron, und noch dazu
einen ſüdafrikaniſchen nennen darf. Man muß nur
von jedem Ort den von Rechts- und Ewigkeitswegen
dran haftenden Spuk auszutreiben verſtehen, und man
ſitzt immer gut. Eine gute Frau iſt freilich nicht von
Überfluß dabei. Sitze Du ſelbſt hier mal mit einer
böſen, Eduard.“


„Ein vernünftiger, wenn auch halb närriſcher
Mann gehört doch aber auch dazu,“ meinte Frau
Valentine zugleich ſeufzend und lächelnd, und Stopf-
kuchen ſprach mit allem Nachdruck:


„Selbſtverſtändlich!“


Wir ſaßen ebenſo ſelbſtverſtändlich bereits wieder.
Auf einer der Bänke, von denen aus man die Stadt
und Dorf Maiholzen vor ſich hatte.


„Ein halbvernünftiger wenn auch ganz und gar
nicht närriſcher Mann und Menſch kann Einem überall
den weichſten Sitz und die ſchönſte Ausſicht und Gegend
verleiden,“ fuhr Heinrich fort. „Ja, ja unſer guter,
ſeliger Vater! Weißt Du wohl noch, Tine, wie der
mich hier mal um den Wall jagte, wie der un-
zurechnungsfähige, alberne wüthende Achill den einzigen
anſtändigen, ordentlichen Charakter in der ganzen
Ilias? Und weißt Du wohl noch, wie damals die
[166] Sache ganz anders ausging als wie vor Troja und
in der Iliade? Damals ſtellte ich dem unberechtigten
Verfolger das Bein und ſo kam er kopfüber kopfunter
hinunter in den Graben des Prinzen Xaver von
Sachſen, und Du, Tinchen, konnteſt wieder aus Deinem
Verſteck im Keller zum Vorſchein kommen und mir
behilflich ſein, den armen Teufel fernerweit zu Bette
und zu beſſerer Beſinnung zu bringen.“


„Der Vater, der arme Vater! O Gott ja, ja!
aber, Heinrich, ſo haben wir ja noch niemals hiervon
vor anderen Leuten geſprochen!“


„Ich glaube, ich habe es Dir ſchon bemerkt,
Schatz, daß wir heute eben auch nicht mit anderen
Leuten, ſondern mit einem von uns zu thun haben.
Dieſer hier zeigte doch ſchon in ſeiner Kindheit Mit-
gefühl, und ging als der letzte, wenn die andern mich
unter der Hecke liegen ließen. Und als Jüngling
— na, Eduard, nicht wahr, Du nimmſt in diskreter
Weiſe theil an der letzten Entwickelung deſſen, was
Dir vor Jahren, als wir nicht mehr unſchuldige
Kinder, ſondern mehr und weniger ſchuldenbehaftete
Jünglinge waren, hier — da drüben jenſeits des
Grabens aus dem Geſichte kam?“


Ich nickte, nicht zu dem Dicken, ſondern zu ſeiner
Frau hinüber, wie man nickt, wenn man innigſtes
Mitgefühl nicht durch Worte kundgeben kann.


Valentine ſagte:


„Als mein Mann, das heißt, damals Heinrich,
auf die Univerſität abgehen wollte, und Sie, Herr
Eduard mitbrachte am letzten Tage, da drüben hin
[167] auf den Feldrain zum Abſchiednehmen, da hatte ſich
ſchon vieles hier verändert, und wo es zum Beſſern
war, da war er, mein Mann — Heinrich wirklich
ſehr betheiligt. Wie er das auf ſeine närriſche Weiſe
Ihnen ja auch bereits ſchon mitgetheilt hat. In dieſer
Hinſicht braucht er freilich vor keinem Menſchen was
zu verſchweigen von uns, der rothen Schanze und
meinem armen ſeligen Vater.“


„Ja, es iſt eine reizende Gegend heute im
Sommergewande, Eduard,“ ſeufzte Stopfkuchen, mit
der Pfeifenſpitze um den Horizont herumdeutend, als
ob er mir da etwas ganz Neues zeige. „Aber ſchön
war doch auch die Winternacht, in der ich hier auf
Quakatzenburg bei der verlorenen Tochter als ver-
lorener Sohn im Ernſt an den Fenſterladen klopfte!
was, Tinchen Quakatz? wie, kleine Mieze?“


„Heinrich, Heinrich, es iſt ja Dein Buſenfreund,
der Dich jetzt ſo ausführlich hierüber ſprechen läßt,
und ſo will ich ihm zu liebe auf Deine ſpaßigen
Dummheiten nicht eingehen, ſondern es auch ihm
ſagen: wenn ich tauſend Jahre alt würde, ſo könnte
ich doch die Nacht nicht vergeſſen. Ja, Herr Eduard,
es iſt ſo wie er ſagt. Und er iſt ein viel klügerer
und gelehrterer Menſch als wie er ſich ſtellt, und
mir gegenüber ſtellt er ſich auch nur ſo an, weil er
weiß, daß wir von Anfang an zu einander gehören
und nicht ohne einander leben können. Glauben
Sie ihm ja nur nicht Alles was er an Dummheiten
vorbringt: er hat es ſelbſt in den ſchlimmſten und
beſten Augenblicken, die der Menſch auf dieſer Erde
[168] erleben muß, zu dick hinter den Ohren[.] Ja, ja, ja,
er kam damals zur rechten Zeit! meinen Vater hatte
zum erſtenmale der Schlag gerührt, und ich war
einundzwanzig Jahre alt geworden und die Herrin
auf der rothen Schanze. O du grundgütige Barm-
herzigkeit, was für eine Herrin! Mit was für einer
Welt auf dem Hofe und rund umher! Seine Witze
konnte Heinrich ja natürlich auch dabei nicht laſſen.
Ich habe es aber in ſeinem Konverſationslexikon
nachgeſchlagen, weshalb er mich mitten in meinen
Thränen Kaiſerliche Majeſtät nannte. Die Frau
Kaiſerin Maria Thereſia meinte er mit mir und
hatte wohl nicht Unrecht.“


„Moriamur pro rege nostro Maria Theresia,“
brummte Stopfkuchen. „Sie will die Schmeichelei
bloß wieder hören in Deiner Gegenwart, Eduard.“


„Der Doktor hatte mich wohl getröſtet, daß es
für diesmal noch nichts auf ſich habe, und der Vater
war auch ſchon wieder aus dem Bett und ging an
meinem Arm und an einem Stocke herum, aber daß
er ſein geſundes Menſchenverſtändniß ganz und völlig
wiedererhalte, das wollte der Doktor mir nicht
verſprechen. Auf Alles mußte ich mich für ihn be-
ſinnen, für Alles was er ſagen wollte, die Worte
finden. Und er wollte immer reden und mir ſo
Vieles ſagen und hatte doch für nichts mehr das
richtige Wort. Und von keinem Menſchen, und wenn
er noch ſo gut wußte, wie er hieß, konnte er den
richtigen Namen finden. Da erfand er auch neue,
o was für ſchlimme für alle ſeine Bekannten!“


[169]

„Höre ſie nur, Eduard!“ rief Stopfkuchen.


„Nein, hören Sie ſie nicht, Herr Eduard, ſondern
laſſen Sie mich ſo ſchnell als möglich hierüber weg-
kommen. Ach ja, und der Knecht hatte mir an dem
ganz beſondern Nachmittage wiedermal die Fauſt
unter die Naſe gehalten und die Magd mir den
Kochlöffel vor die Füße geworfen. Einen von den
Hunden wenigſtens hatte ich ja immer bei mir, um
mich mit ihm im letzten Nothfall zu wehren; aber an
dem Sonntage hatten ſie mir auch gedroht, ſie mir
alle zu vergiften. Ei freilich, wenn ſie dieſes aus-
geführt hätten, ehe Heinrich kam, ſo wäre ich freilich
bis dahin ganz verrathen und verkauft und in ihren
Händen geweſen.“


Es läßt ſich nicht ſchildern, wie ruhig die Frau
alles dieſes jetzt erzählte: man mußte ſie dabei ſehen,
anſehen. Stopfkuchen ſtopfte ſeine Pfeife aus einer
Schweinsblaſe, die er mühſam, ächzend aus ſeiner
Schlafrocktaſche emporwand. Frau Valentine erzählte
weiter:


„Es war Sonntag und in Maiholzen Durchtanz;
Knecht und Magd mir gegen meinen Willen durch-
gegangen und im Dorf und auf dem Tanzboden.
Es war ein wüſter Wintertag geweſen, und am Abend
wurde es noch wüſter, und es kam ein Schnee-
wehen —“


„Eine Mauer um uns baue,

Sang das fromme Mütterlein,“

ſummte Stopfkuchen: aber ſein Weib rief:


„O nein, das that damals das fromme Mütterlein
[170] garnicht. Sie redete nur auf ihren Vater im Lehn-
ſtuhl hinein, denn der war unruhiger als wie je, und
immer verwirrter aus ſeinen eigenen und Anderer
Mordgeſchichten und Jurisprudenzen und Scharf-
richterſachen. Den Namen Kienbaum, ja den konnte
er immer finden und ſagen! an dieſem Abend; immer
hatte er ihn auf der Zunge. Ja wohl, ſingen —
an dem Abend, Heinrich? In jedem Schneeanwehen
gegen die Fenſter und das Haus und die Gräben
der rothen Schanze: Kienbaum! Kienbaum! Kienbaum!
Singen? Nicht mal vor Angſt! Aber todt wäre ich
gerne geweſen, Herr Eduard! und da kam es mir
faſt wie eine Erlöſung: ja, wenn jetzt ſo eine Bande
bei euch einbräche, Deinen armen hülfloſen Vater
und Dich unnützes Geſchöpf todtſchlüge, und Alles
nähme, was ich ihnen gerne gönnte, Alles, Alles,
und über euch das Haus in Brand ſetzte und ſo
dem Jammer, der Verlaſſenheit, dem Schimpf und
der Schande auf einmal ein Ende machte! Singen?
Ja wohl, nach dem Fenſter hinhorchen und zwiſchen
den Sturmſtößen darauf paſſen, ob es nicht endlich,
endlich als eine Gnade von Gott ſo komme! ob ſich
nicht endlich in dieſer Hinſicht draußen was rühre!
Aber es rührte ſich nichts als, wie geſagt, der Wind
und die Fenſterläden, und dann und wann eine Stall-
thür, die der Knecht offen gelaſſen hatte, und die hin
und her ſchlug. Dazu im Haus allerlei Spuktöne
und ein Eulenſchrei vom Scheunengiebel. O, ſo da
zu ſitzen und mit den krampfigen Händen zwiſchen
den Knieen, den Vater von Kienbaum, Galgen und
[171] Rad murmeln zu hören, bis die Hunde alleſammt mit
einemmale anſchlugen, als ob auch noch der ganze
ſiebenjährige Krieg auf der rothen Schanze von Neuem
angehe!“


„Philoſophie der Geſchichte, Eduard!“ brummte
Heinrich. „Auch der alte Fritze hatte keine Ahnung
davon, wie nahe er dem Hubertusburger Frieden
war, als die Kaiſerin Katharine ihm ſeinen guten
Freund Peter abgurgelte und ihre Ruſſen ihm wieder
aus den Händen, unter der Naſe und aus ſeiner
Ordre de bataille wegnahm. Es kam nur der Hu-
bertusburger Frieden für die rothe Schanze, Eduard.“


„Nämlich ſelbſt der Vater, den ſonſt ſo etwas
damals gar nicht mehr aufregte, fuhr aus dem Stuhl
und zitterte und wimmerte leiſe: ‚Jetzt kommen ſie!‘
Und ich, die ich mir alles ſchon längſt für ſolche
Fälle zurechtphantaſiert hatte: was thuſt Du, wenn
es mal mitten in der Nacht ſo kommt? ich griff nach
dem Hackemeſſer, das ich mir immer unter die Kommode
geſchoben hielt und faßte es hiebgerecht und ſagte ſo
gelaſſen wie möglich: ‚Einer wenigſtens geht mit,
wenn es endlich ſo ſein ſoll!‘ Es kam aber gottlob
anders.“


„Selbſtverſtändlich!“ brummte Heinrich.


„Die Hunde, die ſich eben noch die Seele aus
dem Leibe gebellt hatten, gaben mit einemmale keinen
Laut mehr; und ich dachte auch da ſchon wieder an
Gift, ohne zu bedenken, daß das doch recht ſchnell
gewirkt haben müßte. Ich hatte das Ohr am Fenſter-
laden und das Hackmeſſer mit der Schärfe auf der
[172] Fenſterbank zum Schlag bereit; da — da — na,
Herr Eduard, wie fuhr ich zurück!“


Jawohl, wie fuhr auch ich, der Herr Eduard,
der Gaſtfreund der rothen Schanze zurück, als mein
Freund Heinrich trotz ſeines Fettes mit jugendlich-
friſcheſtem Nachdruck anſtimmte:


„Was kommt dort von der Höh?

Was kommt dort von der Höh?

Was kommt dort von der ledern Höh?

Si, ſa, ledern Höh!

Was kommt dort von der Höh?“

„Stopfkuchen?!“


„Ja wohl, Stopfkuchen, Herr Eduard!“ ſagte
Frau Valentine lächelnd. „Sollten Sie es für
möglich halten, Herr Eduard, daß dieſes närriſche
Menſchenkind ſich in dieſer Nacht vor unſern Fenſter-
laden wirklich und wahrhaftig mit dem dummen
Liede bemerklich machte? und natürlich umwinſelt
und umſchmeichelt von allem Hundevolk der rothen
Schanze? Nach dem erſten Blaff Alles ſo ſtill und
ſtumm vor Verwunderung wie ich nach ſeinem erſten
albernen Verſe! aber es dauerte doch eine geraume
Weile, ehe ich mich ſo weit gefaßt hatte auf den
Schrecken, daß ich dem Narren die Hausthür auf-
ſchließen konnte; ich —“


[173]

„Da hörſt Du eben wieder einmal wie ſie, ſeit
wir uns kennen, von ihrem ihr von Gott vor- und
aufgeſetzten Herrn und Haupte redet. Tinchen, nimm
Rath an und blamire euer Geſchlecht hier in Europa
nicht unnöthigerweiſe. Bedenke, der Mann, dieſer
Eduard, kommt als Gatte aus Afrika: da ſind die
Weiber äußerlich wohl etwas ſchwärzer als ihr; aber
inwendig —“


„Natürlich viel weißer. Ich weiß das ja, oder
wenn ich es nicht weiß, ſo geſtehe ich es gern zu;
aber laß mich dafür auch ausreden, beſter Heinrich.
Ich öffnete ihm alſo, Herr Eduard, und er kam her-
ein. Ja, Herr Eduard, und wie von der Vorſehung
geſchickt zur richtigen Stunde; denn gleich nach ihm
kam der Knecht betrunken und wollte mich erſt küſſen
und mir dann die Kehle zuſammendrücken. Und
die Magd, die ein Sonntagstuch von mir trug,
nannte in meiner Gegenwart meinen Vater noch
einmal einen alten Mörder und rieth ihm, ſich doch
ſelber an dem Nagel an der Thür aufzuhängen, da
er dem öffentlichen Galgen entgangen ſei. Sie waren
beide ſehr luſtig und ſpaßhaft und hatten beide keine
Ahnung davon, wer da jetzt hinter dem Schrank
ſtand und ſich die Scene mit anhörte und mit anſah.
Ja, er trat zur rechten Zeit hinter dem Schranke vor
und ſeinerſeits auf die Scene: der Herr und Meiſter
und das Haupt der rothen Schanze, mein —“


„Liebes Dickerchen — Heinrich Stopfkuchen —
in wohlthuendſter Fülle der Erſcheinung, Eduard, und
[174] mit allem Humor und Animus, aber auch mit der
dazu gehörigen Fauſt für die Sache.“


„Ja, ja, und wem nicht die Kehle in dieſer
Nacht zuſammengedrückt wurde, das war die Tochter
von der rothen Schanze! und wer der Magd nicht
das Schuhband aufzubinden hatte, das war ebenfalls
die Tochter von der rothen Schanze.“


„Und wer einfach und ganz gemüthlich auf den
Tiſch ſchlug, die nöthige Ordnung wieder herſtellte
und dem alten Herrn im Lehnſtuhl das Kiſſen zurecht-
rückte und das junge Mädel mit dem blutdürſtigſten
aller Hackmeſſer um die Hüften nahm und ihr den
ihr in dieſer Nacht beſtimmten Kuß aufdrückte, daß der
Schmatz alles Sturmgeheul draußen übertönte, das war
ich! Wenn es Dich langweilt, Eduard, ſag' es ja!
wir Beide von der rothen Schanze können jeden Augen-
blick mit unſern Dummheiten aufhören, und Dich
von Deinen erzählen laſſen. Auf meine Frau brauchſt
Du nicht die geringſte Rückſicht zu nehmen in Deinen
Gefühlen. Ich thue es in den meinigen auch nie.“


„Dieſe Redewendung wird jedenfalls allmählich
langweilig, Schaumann.“


„Schön!“ ſagte Schaumann und behielt jetzt
das Wort wiederum für längere Zeit allein. Ich
legte nur einen Augenblick leiſe wieder meine Hand
auf die der Frau Valentine, was ſoviel hieß als:
„Es iſt wundervoll!“


„Die Geſchichte war ganz einfach,“ ſagte Stopf-
kuchen, und einfach ſo: Draußen, und im wiſſenſchaft-
lichen Brotſtudium, hatte es mir abſolut nicht ge-
[175] paßt. Ich fiel dabei für meine Natur viel zu ſehr
vom Fleiſch. Es mag der Welt unglaublich erſcheinen,
aber es iſt deſſenungeachtet doch lächerlich wahr:
auch die vergnüglichſte Seite des Univerſitätslebens
war nichts für mich. So eine deutſche alma mater
iſt doch die reine Amazone. Sie hält Dir die eine
Bruſt hin und Du ſaugſt oder ſaufſt. Sie dreht
Dir die andere zu und Du empfindeſt Dich in der
That als das bekannte Thier auf dürrer Haide. Jeder
Blick in eure Gerichtsſtuben, auf eure Schulkatheder
und Kirchenkanzeln und in eure Landtage und vor
allem in den deutſchen Reichstag zeigt, was dabei
herauskommt, ſoweit es unſere leitenden gelehrten
Geſellſchaftsklaſſen anbetrifft. Entſchuldige, Tine, ich
bin gleich wieder bei Dir; aber wenn man ſo einem
alten lieben gelehrten Afrikaner gegenüber auf ſein
Studentenleben kommt, geht Einem das Herz auf,
wie die Welt ſagt. Da iſt es denn aber für Dich
gleich ein wahres Glück, Tinchen, daß mich der
Burſche hier ſchon auf Schulen da unten in dem
Neſte im Thal nicht für den Gerichtsſtuhl, das
Katheder, die Kanzel und das Reichstagsmandat,
ſondern für die rothe Schanze hat mit erziehen helfen,
indem auch er mich unter der Hecke hat liegen laſſen,
meiner ſchwachen Füße wegen. Von meinen Fäuſten
hatte er eben meiner angeborenen Gutmüthigkeit wegen,
nicht die genügende Ahnung. Aber es iſt einerlei,
denn es iſt ſo: was ein Menſch bei mäßigen Geiſtes-
gaben, ſchwachen Füßen und einer unmäßigen Anlage
zum Fettwerden aus ſich für die Jungfer Quakatz
[176] und den Prinzen Xaver und die rothe Schanze machen
konnte, das iſt gemacht worden. Was, Tine Schau-
mann? wie, Tine Quakatz? Für Dich, armen, zerzauſten
Spatz ließ mich die Weltentwickelung unter der Hecke
in der Sonne liegen und auf der Studentenbude im
Schatten und Tabacksgewölk. Um Dich, Himmliſche,
nach Deinem vollen Werthe zu erkennen, machte es mir
für ſechs Semeſter einen Platz am Freitiſche der Univer-
sitas litterarum
aus. Faſſe es ganz, Eduard, Stopf-
kuchen am Freitiſche! Das alte Mädchen da neben Dir
ſchiebt ihr Entſetzen in jener ſtürmiſchen Winternacht
auf alles Mögliche, nur nicht auf das Richtige,
nämlich auf den Knochenfinger, mit welchem ich
an ihren Fenſterladen pochte. Laß Du Dir mal,
um Mitternacht in Afrika, von Freund Hein an
den Laden klopfen und erſchrick nicht vor ſeinem
dürren Knöchel! Hat mich nicht das Studiren
meines eigenen Knochengerüſtes im achten Semeſter
auf meine jetzige Liebhaberei gebracht? Hat mir
nicht mein ſogenanntes Brotſtudium die fürchterlichſt
günſtigſte gute Gelegenheit geboten, das vorſintflut-
lichſte Rieſenfaulthier wiſſenſchaftlich einwandsfrei tadel-
los zu rekonſtruiren? Auf dieſe Wiſſenſchaft hin hätte
ich freilich Doktor werden können; aber — ſchweigen
wir davon, die Erinnerung an das Studiren greift
mich heute noch zu ſehr an! . . . Als ich wieder zu
Hauſe ankam, roch es hinter mir ganz verdammt
nach verbrannten Schiffen, und zwar nach meinen
eigenen. Ich wußte es ganz genau, daß ich weder
das Katheder, noch die Kanzel und den Richterſtuhl
[177] je beſteigen werde! Auch zur praktiſchen Ausübung
der Arzneikunſt reichte meine Kenntniß der Oſteologie
doch nicht aus. Meine Mutter war todt. Freunde
hatte ich nicht — auch Du theuerſter meiner Freunde,
warſt in der Ferne, wenn ich nicht irre bereits als
Schiffsarzt ununterbrochen auf dem Wege zwiſchen
Hamburg und New-York und New-York und Ham-
burg. Was mein Vater ſagte? nun ſo juckt es mich
natürlich, das meinige dazu zu bemerken; aber ich
laſſe es doch lieber. Es miſcht ſich da zum biſſigen Nach-
tragen doch etwas wie Gewiſſensbiſſe ein. Er war
recht grob und hatte ſehr das Recht dazu. Als er
mir erklärte, da die Welt nichts mit mir anzufangen
wiſſe, ſo könne ich nicht verlangen, daß er zum zehnten
Male den Verſuch mache, mit mir was zu beginnen,
war mir in der That nichts geblieben, was ich da-
gegen einwenden konnte. ‚Geh zu Deinem Mord-
bauern, dem Quakatz!‘ brauchte er gerade nicht mir
vorzuſchlagen; aber es war kein übler Rath. Ob er
an jenem unbehaglichen Abend, an welchem wir das
Fazit unſeres gegenſeitigen Verhältniſſes in der Welt
und im Leben zogen, der Meinung war, daß ich ihn
auf der Stelle befolgen werde, weiß ich nicht, glaube
ich eigentlich auch nicht. Aber er rief mich auch nicht
zurück, als ich ihm von der Thürſchwelle zumurrte:
‚Moriturus te salutat![‘] Der gute Alte! Er hätte
freilich für ſeine dürren Subalternbeamtengefühle
einen ſtrebenderen, einen weniger gemüthlichen, einen
weniger bequemen, einen weniger feiſten Sprößling
verdient: aber konnte ich dafür, daß ich ſein Sohn
W. Raabe. Stopfkuchen. 12
[178] war und er nicht der meinige? . . . Gottlob, wir
können ja jetzt ohne Gewiſſensbiſſe und Reuegefühle
darüber lächeln — was, Tinchen, alte Sibylle? Wir
ſind doch noch auf den allerbeſten Fuß mit einander
gekommen. Dort, hinter uns, unter den Linden hat
auch er noch manchmal ſich ſeinen Nachmittagskaffee
von meiner Frau einſchenken laſſen. Und er hat ſich
ſogar auch noch für meine und Tinchens Knochen —
unſere Urweltsknochen meine ich — intereſſirt. Er
ſtieg nämlich nach ſeiner Penſionierung mit Vorliebe,
weniger der ſchönen Natur wegen, als um ihrer ſelbſt
willen um die rothe Schanze herum und hat mir mehr
als einmal von ſeinen Spazirwegen einen aufge-
pflügten Kalbsſchädel oder ein Schinkenbein mit-
gebracht und es meiner Sammlung einverleiben
wollen mit der Überzeugung einen Fund für mich
gethan und alte Sünden durch ihn an mir wieder
gutgemacht zu haben. Nun, in jener Nacht, oder
vielmehr an jenem Nachmittag und Abend waren
wir natürlich ſo weit in Güte noch nicht mit einander.
Der alte Herr hatte eben die Überzeugung gewonnen,
daß ich ihm jetzt bis zum längſten auf der Taſche ge-
legen habe, und gab es mir zu verſtehen, wie der
Vater Jobs ſeinem Hieronymus. Laß mich Dich ver-
ſchonen, Eduard, mit Einzelheiten, die ſich in die
Tage und Stunden zwiſchen meiner letzten Heimkehr
ins Vaterhaus und meinem endgültigen Verlaſſen
desſelben drängten. Ich ſtand plötzlich mit ſehr be-
unruhigtem Gewiſſen und mit einem herzlichen Mit-
leid mit dem alten Mann draußen in der Straße
[179] im wehenden Sturm und treibenden Schnee und
konnte dreiſt von Neuem die bittere Frage an das
ewige Dunkel und die gegenwärtige Finſterniß ſtellen:
Wer hatte eigentlich das Recht Dich ſo als geiſtigen und
körperlichen Kretin ſo hier hin zu ſtellen: So! —?“ —
Glücklicherweiſe war im Goldenen Arm Licht, und da
ich doch in der Straße nicht ſtehen bleiben konnte,
ging ich hinüber und fand die Geſellſchaft, die mir
augenblicklich allein gemäß war, und mit ihr die
Löſung der eben aufgeworfenen Frage. Es war
gottlob noch ſo früh am Tage, daß ſelbſt die troſt-
loſeſten Philiſter der Stadt noch nicht zu Bette waren.
Da fand ich und nahm ich meinen Troſt, wo mir
aller Welt Schönheit, Weisheit und Tugend zu
garnichts von Nutzen geweſen ſein würde. Juchhe,
lauter gute alte Bekannte, die ſich zwiſchen Schoppen
und Schoppen immer das Beſte wünſchten, und mir
natürlich auch — an dieſem Abend ſogar in aus-
gibigſter Fülle! Ich kam ihnen gerade zur rechten
Zeit bei ſinkender Unterhaltung und epidemiſcher
Maulfäule wahrhaftig als ein gefundenes Freſſen;
und ich hatte bloß hinzuhorchen, um von ihnen die
Antwort auf jenes große fragende Warum hinzu-
nehmen. Es hätte mir jedermann im Kreiſe gern
auch einen Bleiſtift geliehen, wenn ich den Wunſch
ausgeſprochen haben würde, mir den Schickſalsſpruch
ihres Mundes lieber doch auch noch zu notiren.
Dies war aber durchaus nicht nöthig. Gottlob haben
es mir die Götter, die mir ſo Vieles verſagte ge-
geben, mich betreffende Reden und Redensarten an
12*
[180] mich herankommen zu laſſen, das dazu paſſende Ge-
ſicht dabei zu machen und nöthigenfalls mit den darauf
paſſenden Gegenbemerkungen aufzuwarten. Ihr habt
dieſe Gabe lange nicht genug an mir gewürdigt,
lieber Eduard; ihr waret wohl noch nicht reif genug
dafür. Nun, für ein paar Schoppen reichte es an
jenem hiſtoriſchen Abend auch noch, und bei denen
vernahm ich denn das Meinige, überlegte mir das
Meinige und fand das Richtige. Selbſtverſtändlich
kam ſofort bei meinem Eintritt in das alte wohl-
bekannte Eckzimmer die Rede auf mich. Man war
ſo freundlich, ſich zu freuen, mich noch zu ſehen: je
ſpäter der Abend, deſto ſchöner die Leute! Aber daß
man bereits ziemlich genau wußte, wie es mit mir
daheim im Vaterhauſe ſtehe, war klar und quoll
rundum auf in jedem lautern Wort und leiſen Ge-
flüſter. Wenn ſie auch um alles in der Welt nicht
gern in meiner Haut geſteckt hätten, ſo hätten ſie
doch alleſammt unmenſchlich gern gewußt wie ich mich
bei ſo bewandter Lebenslage in ihr fühle. Mit dem
Humor der Verzweiflung, wie ja wohl das Wort
lautet, ſchenkte ich ihnen denn reinſten Wein ein,
nahm dieſen Herren vom Spieß, dieſe, ihre edle
Väterwaffe ab und ließ ſie kneipengerecht darauf-
laufen. Was hätte ich an dieſem in der That recht
ungemüthlichen Abend vor dem Sturz in den Abgrund
Beſſeres beginnen können, um — deutſches Gemüth zu
zeigen? Daß ich von Univerſitäten endgültig weg-
gegangen ſei, gab ich zu; aber die genauen Umſtände
ſtellte ich nunmehr in das rechte Licht. Daß von
[181] Zwang oder dergleichen die Rede geweſen ſei, lag
ja vollſtändig außer Frage; doch daß ich herzlicher
Bitte und langem wiederholtem, inſtändigem Zureden
endlich, vielleicht allzu gutmüthig Folge gegeben habe,
mußte jetzt doch, und noch dazu bei ſo paſſender Ge-
legenheit und in ſo trautem, teilnehmendem Kreiſe
beſter Bekannter, Schul- und anderer Freunde, klar
geſtellt werden. Eduard, ich hatte Humor an jenem
Abend! Nicht den des Satans, aber den eines armen
Teufels, welchen ein Mißverhältniß zwiſchen körper-
licher und geiſtiger Veranlagung faktiſch unfähig machte,
mit dem was gedeihlich durch den Lebenstag haſtet,
wettzulaufen. Ja, Denen zeigte ich an jenem Abend,
wie man einer öden Welt auf dem Wege zum Ideal
voranlaufen, und welche üble Folgen ein zu gutes
Beiſpiel in dieſer Hinſicht haben könne. Da ſtanden
in meiner Generalbeichte die Wirthe vor den leeren
Bänken, die vollen Fäſſer hinter ſich, da ſaßen die
Mädchen im Kämmerlein und verſchluchzten ihre
jungen Seelen, weil ſich meine ſämmtlichen Mit-
ſtrebenden ein zu gutes Exempel an meinem Streben
genommen hatten. Sämmtliche Studirende ſämmtlicher
Brotwiſſenſchaften ſaßen ſo ſehr über ihren Büchern,
daß verſchiedene Male die Feuerwehr alarmirt werden
mußte, ob des Dampfes der von ihren Köpfen auf-
ſtieg. Da ging es denn nicht anders: die Ärzte —
Sanitäts- und Medizinal-Räthe mußten ſich einmiſchen,
der Verein für öffentliche Geſundheitspflege mußte
einſchreiten. Die erſten gingen ſelber in corpore,
der letztere ſchickte ſeinen Vorſitzenden ſowie zwei Ab-
[182] geordnete, und alle verlangten ſie ein und dasſelbe
vom Profax, nämlich meine ſchleunige Abreiſe; (guck
mal, Eduard, wie das Tinchen hierbei ſo vergnügt
wie die Maus aus der Heede guckt!) gerade als ob
Mutter Eruditia, unſer germaniſches verſchleiertes
Bild zu Sais, einen Menſchen von meinem Gewicht
ſo leicht wie einen Floh aus dem Gewande ſchüttele!
Sie kamen auch zu mir. Sie ſchickten auch mir eine
Deputation, eine Abordnung. Wenn nicht mit der
Aufforderung, ſo doch mit der Bitte: ‚Gehe uns
aus dem Kaſten!‘ Wer hätte ſo herzlichem Anflehen
widerſtehen können; zumal da auch von Hauſe ein
ähnliches Rufen kam. Ich ging ihnen aus dem
Kaſten, und noch am Bahnhof war mancher, der
ſich ſchluchzend mir an den Hals hing: ‚Bruder, laß
uns das wenigſtens von Deinem Wiſſen, wofür Du
zu Hauſe gar keine Verwendung haſt.‘ Natürlich
ſagte ich, mit einem Fuße im Wagen: ‚Gerne!‘ und
ſagte damit keine Unwahrheit. Ich konnte ihnen in
dieſer Hinſicht mit Vergnügen Vieles da laſſen. Ich
war im Goldenen Arm wirklich gut im Zuge, ſpaß-
haft in das Nichts zu ſehen, bis ich plötzlich die
Maulſchelle heiß und brennend ſpürte, den Schlag
auf die ironiſche Naſe, den ich mir ſo wohl verdient
hatte, nicht bloß an meinem armen kümmerlichen
Erzeuger, ſondern auch an dieſen wohlverdienten und
wohlverdienenden braven Philiſtern und guten Leuten
und Staatsbürgern. — Sagte Einer: ‚Es geht alſo aus
allem dieſem einzig und allein hervor, Heinrich, daß
Du Dich allein und einzig die ganzen Jahre durch
[183] auf Deine rothe Schanze, den ſeligen Kienbaum und
Deinen Freund Quakatz einſtudirt haſt.‘ — ‚Was?‘
frage ich. — ‚Nu, was ich ſage, und worin mir die
andern Herren hier am Tiſche beiſtimmen werden:
ſo wie Du jetzt biſt, können ſie gerade jetzt Dich
wirklich vielleicht recht gut da brauchen. Vermißt
haben ſie Dich da oben ja wohl lange genug.‘ —
O, wie der Menſch Recht hatte! nicht wahr, Valen-
tine Quakatz? Das ganze große Wort: Volkes
Stimme, Gottesſtimme! hielt mir in ihm grinſend
das Gehörorgan hin, und ich konnte ihm nicht hinter
den Löffel ſchlagen. — Wie, Valentinchen Quakatz?
Ich konnte dem Manne, der da für Tauſende ſprach,
nur freundſchaftlichſt näherrücken, die Allgemeinunter-
haltung abbrechen und mich noch eine Viertelſtunde
ihm allein widmen, das heißt, ihn, und durch ihn
die Tauſende hinter ihm gemüthlich ausfragen. Nachher
ging ich; aber nie vorher hatte ich mich und nie
nachher habe ich mich ſo feſt auf den Beinen ge-
fühlt wie an jenem Abend als ich nun aus der
überheizten Kneipe, aus dem Bier-, Grog- und
Tabaksdunſt in den wehenden Winterſturm hinaus
trat und die weichen Füße in den fußhohen Schnee
ſetzte. Willſt Du genau erfahren, Eduard, was im
bürgerlichen Leben das Richtige iſt, ſo frage nur beim
nächſten Spießbürger an. Der ſagt es Dir ſchon!
Ich kann es natürlich nicht wiſſen, wie das bei euch
in Afrika iſt, aber hier in Deutſchland ſpricht man
immer dann nachher von Intuition, Führung von
Oben, Zuge des Herzens, Stimme des Schickſals,
[184] Vorſehung und dergleichen. — Gegen den Wind wäre
es mir wohl unmöglich geweſen. Mit dem Winde
ging es, und merkwürdigerweiſe um ſo beſſer, je
weiter ich die Gaſſen der Stadt und ihre Gärten
hinter mir ließ. Er fegte gegen die rothe Schanze,
der Wind, und über die Höhenrücken trieb er den
Schnee vom Pfade und ſchob mich ſchnarchend aber
gutmüthig, als meine auch er: ‚Wo wollteſt Du an
dieſem Abend wohl anders hin als zum Vater Quakatz,
Heinrich?‘ — Auch den Graben des Prinzen Xaver
hatte der gute Dämon zugeweht und den Übergang
klar gemacht; aber dann kam die weiße Mauer am
Thor und an der Hecke, durch den Garten bis an
die Fenſterladen: na, ob Schnee oder Reisbrei: Stimme
des Schickſals, Zug des Herzens, Führung von Oben,
und nicht zu vergeſſen, von Unten der Stammgaſt im
Goldenen Arm, Alles half. Ich war dazu geboren
worden, mich durchzufreſſen ins Schlaraffenland und
in Jungfer Quakatzens weiche, weitgeöffnete Arme.“


„O, aber Heinrich!“ rief erröthend Frau Valen-
tine Schaumann.


„Sammetpfötchen, behalte die Krallen eingezogen!
wir erzählen ja nur Eduard aus Afrika hiervon, und
der ſagt es unter ſeinen Kaffern und ſeiner Frau nicht
weiter.“


[185]

Auf dieſes Wort hin wendete ſich die Frau
Valentine wieder zu mir und ſagte:


„Sie haben ja die Thiere jetzt auch wohl per-
ſönlich kennen gelernt: ſagen Sie doch mal, beſter
Herr Freund aus Afrika, haben Sie es zu Ihrer
Zeit, ich meine Ihrer Jung — jüngern Zeit, wohl
je für möglich gehalten, daß mein Heinrich Löwen-
augen machen könne?“


„Nein!“ erwiderte ich ſofort und kurzweg. Wenn
es einen Helden gab, den die ſchroffe Verneinung
nicht kränken konnte, ſo war das mein Freund
Schaumann.


Er lachte auch nur herzlich; nahm aber doch,
ebenſo raſch und kurzweg, ſeiner Gattin das Wort
wieder vom Munde und ſagte:


„Aber ich habe ſie gemacht, Eduard. Ich habe
ſie um mich herumgeworfen. Löwenaugen! Prinz
Xaver von Sachſen konnte, als er von der rothen
Schanze aus die Kapitulation eures Neſtes drunten
entgegen nahm, keine größern in die Welt hinein-
werfen. ‚Die Augen wurden Teller‘, ſingt ein Dichter
jener Tage, kannte aber natürlich noch nicht die,
mit welchen ich, von unſerm Neſte da unten aus, Beſitz
von der rothen Schanze, Tinchen Quakatz und dem
Vater Quakatz, ſammt Knecht, Magd, Kienbaum —
kurz von der ganzen Mordgeſchichte nahm. Da reichten
Teller lange nicht. Er ſoll auch, eurem Komman-
danten gegenüber, auf den Tiſch geſchlagen haben,
Eduard, dieſer erhabene Siebenjährige“ Kriegs-Heros;
aber ich bezweifle es, daß er nach dem Schlage ſo
[186] mit der brennenden Fauſt an den Mund fuhr und
den ſchmerzlichen Übereifer wegſog wie ich, nachdem
ich das unbotmäßige Vaſallengeſindel der rothen Schanze
geduckt hatte. Nachher machte ich mich ſelbſtverſtänd-
lich näher an dies kleine Mädchen hier und triumphirte
auch da über allerhand Dummheiten und Wider-
ſpenſtigkeiten. Sollteſt Du es für möglich halten,
Eduard, daß ſie mich halb durch ihre Thränen und
halb durch ihr Lachen fragte: ‚Aber ſage mal Hein-
rich, geht denn dieſes ſo? und ſchickt es ſich ſo für
mich und für uns mit dem ganzen Dorf und der
ganzen Stadt mit allen Augen und Brillen auf uns?‘
Im Grunde genommen war dieſes nur eine andere,
das heißt den Umſtänden angemeſſene Wendung für
das ſchämige Wort: ‚Sprechen Sie mit meiner Mutter!‘
Und ich that dem Gänslein den Gefallen, klopfte
diesmal nicht auf den Tiſch, ſondern dem guten Kind
auf die Schulter, ſeufzte ſchmachtend: ‚Sie ſollen mich
nicht umſonſt Stopfkuchen benamſet haben, Fräulein,
und da ſitzt ja der Papa, den können wir um das
Übrige fragen; Den hat die Welt ſicherlich ganz genau
gelehrt, was ſich auf der rothen Schanze ſchickt.‘ An
dieſem Abend wurde es freilich mit ſolcher Frage noch
nichts. Ein vernünftiges Wort war an dieſem Abend
mit Vater Quakatz noch nicht zu ſprechen; die Scene
von vorhin war ihm zu arg auf die Nerven gefallen.
Er ſaß da, ſchlotternd vor Angſt, blödſinnig weiner-
lich jetzt; aber doch immer feſt bei ſeiner Behaup-
tung: ‚Mord und Todtſchlag! Mord und Todtſchlag!
aber ich bin's doch nicht geweſen, Herr Präſidente!‘
[187] Gott ſei Dank, erkannte er mich aber doch zuletzt und
begriff, daß ich für dieſe Nacht eine Schlafſtelle in ſeiner
Burg brauche, und nahm die Hausmütze ab und
murmelte: ‚S'iſt der dicke gelehrte Junge aus der
Stadt! ſ'iſt Heinrich! wenn er ſein Latein bei ſich
hat, kann er dableiben. Gib ihm eine Birne, Tine
und mach ihm ein Bett; aber gib ihm auch die Axt
mit. Mit der ſoll er jedem den Schädel einſchlagen,
der ſagt, daß ich Kienbaum todtgeſchlagen habe.‘ —
Das ſah ſelbſt Tine ein, daß ſie hier nichts weiter
machen konnte, als mich machen zu laſſen. Und es
ging ja denn auch ganz gut. Ich bekam meine
Schlafſtelle zum erſtenmal auf der rothen Schanze,
und am andern Morgen ſchien die Sonne auf den
Schnee, und — ich werde heute noch poetiſch! — wie
auf ein ausgebreitetes Brautkleid aus der Krinolinen-
zeit. An dieſem andern Morgen hatte das Herze na-
türlich auch einen außergewöhnlich guten Kaffee ge-
kocht, und bei demſelben ließ ich das Ingeſinde
vortreten, und der Bauer auf der rothen Schanze ſtellte
mich bei vollſtändig klarem Bewußtſein dem Reich
als Major domus, oder, wie er ſich ausdrückte, als
den neuen Adminiſtrator vor. Das Gericht, das ſich
früher in ſeinem Leben ſo viel um ihn gekümmert
hatte, ſchien ihn in der letzten Zeit gänzlich aus den
Augen verloren zu haben. Es ſchien ſein Intereſſe
an ihm nur als an Kienbaums Mörder genommen
zu haben; und das war jetzt und zwar was alle be-
theiligten Parteien anging, ein Glück und ein Segen;
wenn Du die Freundlichkeit haben willſt, Eduard, nach
[188] dem heutigen Tage zu ſchließen. Emerentia, ich
glaube Sie werden gerufen.“


„Er war noch nicht von Gerichtswegen ent-
mündigt worden, unſer armer, lieber Vater, Herr
Freund!“ ſchluchzte Frau Schaumann. „Heinrich,
Du brauchſt jetzt wirklich nicht mehr mit Litteratur-
Perſonen und Geſchichten zu kommen, um zu ſagen
was Du zu ſagen haſt. Ja, Herr Eduard, es war
ſo! ſie hatten dem Vater nur noch keinen Vormund be-
ſtellt von Gerichtswegen bis Heinrich kam, wenn es
auch manchmal noch ſo nöthig geweſen wäre. Und es
war auch noch nicht ſo nöthig; denn am nächſten
Morgen begriff er ganz gut, um was es ſich für ihn
und für mich handelte, und jetzt kam es erſt heraus,
wie ſehr die Vorſehung ihre Hand im Spiel gehabt
hatte als ſie Heinrich mit dem unglücklichen Bauern
von der rothen Schanze bekannt machte.“


„Der Blindeſte konnte die Sterne ſehen, die
hier geleuchtet hatten. Erſt mit Dreck ſchmeißen und
dann einander in die Arme. Und was die Be-
fähigung, eine Landwirtſchaft zu führen, anbetrifft,
na, Eduard, ſo weißt Du ja auch wohl ein wenig
aus Deinem afrikaniſchen Bauernleben wie ſich das
macht. Dir kam die Geſchicklichkeit aus der [in]nerſten
lebendigen Natur, mir flog ſie unter der Hecke an
und auf Tinchens Birnenbaum und in der Speiſe-
kammer der rothen Schanze. Ich hatte Tinchen Miſt
aufladen ſehen, und — was thut die Liebe nicht? —
ich nahm ihr die Gabel aus der Hand und probirte
die Kunſt ächzend ebenfalls. Der Menſch iſt doch
[189] nicht allein auf Meſſer und Gabel angewieſen in
dieſer Welt, und eine Serviette bekommt er auch nicht
umgebunden bei jedem Lebensgericht ſo ihm auf den
Tiſch geſetzt wird. Braucht ſie auch nicht. Aber das
Kind, das gnädige Fräulein, das Burgfräulein von
Quakatzenburg ſchickte ich doch lieber wieder mit
wiedergewaſchenen Händen in die Küche. Reinlich-
keit iſt doch eine Tugend, Eduard! Man ſchätzt ſie
an der Hottentottin und man nimmt ſie als etwas
Selbſtverſtändliches an ſeiner europäiſchen Geliebten.
O Gott, wie dankbar war mir dies kätzlich reinliche,
gute alte junge Mädchen da, als ich ihr die Möglichkeit
bot, unterzutauchen wie Schundkönigs Tochter und
aufzutauchen wie Prinzeß Schwanhilde. Sag es
ſelber: iſt es nicht ſo, Lichtalfe, o Du Herrin meines
Lebens?“


„Er erzählt das wie er es weder vor Gott und
den Menſchen und ſelber kaum vor ſeinem beſten
Freunde verantworten kann; aber es iſt ſo — es
war ſo!“ rief Frau Valentine zwiſchen Lachen und
Weinen. Und wie ihr ging es mir beinahe auch,
was das Lachen und das Weinen anbetraf. Zu einer
Äußerung darüber aber kam ich nicht; denn natürlich
grinſte Stopfkuchen:


„Was für mich die Hauptſache bei der Geſchichte
war, war das Vergn[ü]gen, das ich mir in den Ge-
fühlen, durch die Gefühle der Gegend und der Um-
gegend bereitete. Nur ſo lange der Schnee hoch lag,
und er thürmte ſich in den Tagen nach meiner An-
kunft auf Quakatzenburg ſehr hoch, hatte ich das
[190] Tinchen, den Papa und das Ingeſinde ganz allein
für mich. Kein Gott hatte ſich je in einer dichtern,
weißen Wolke dem Nachſtarren der Menſchheit ſo
entzogen als wie ich. Die Welt hatte fürs Erſte
Thauwetter abzuwarten, ehe ſie mich wiederbekam.
Nachher aber hatte ſie mich als die merkwürdigſte
Thatſache ſeit dem deutſch-franzöſiſchen Kriege; und
wochenlang war der hiſtoriſche Vorgang in der
Spiegelgallerie zu Verſailles garnichts gegen das
geſchichtliche Faktum: ‚der dicke Schaumann iſt Groß-
knecht auf der rothen Schanze geworden! Wer will,
kann hinausgehen und ihn im Februarſchmadder
Klüten treten ſehen und Quakatzens Hofgeſinde zu-
ſammenreißen hören!‘ — Und ſie gingen hin und
kamen und ſahen ſich fürs Erſte vorſichtig von Weitem
über den Graben des Prinzen Xaver das Phänomen,
das Portentum an. Nach Tinchen hatte beim Miſt-
auf- und abladen natürlich Niemand geguckt; aber
nach mir ſchauten ſie aus, und wenn ich jemals
einen Spaß in der Welt gehabt habe, ſo war's da-
mals, wo ich zum erſtenmal nicht bloß Geſchmack
ſondern auch Geſchick entwickelte.“


„Herr Eduard, er erzählt greulig; aber es iſt
wirklich, wirklich ſo geweſen, wie er's auf ſeine alberne
Weiſe vorbringt!“ rief die Frau hier wieder drein.
„Er iſt unſer erſter und letzter Knecht geworden, als
ob er's von Ewigkeit an geweſen wäre; als ob ihn
nie mein ſeliger Vater hingeſchickt hätte, um ſein la-
teiniſches Wörterbuch zu holen. Es iſt ihm von der
Hand gegangen, als ob er von Jugend auf dabei
[191] geweſen wäre als Ökonom, als Landwirth, als Bauer
auf der rothen Schanze. O guter Gott, wie habe ich
damals geſchluchzt oder meine Thränen verbiſſen, wie
habe ich geweint vor Jammer und Frohlocken! na-
türlich nur vom Küchenfenſter aus, wo er nichts da-
von merken konnte. Es war ja zu unnatürlich!“


„Natürlich war es zu unnatürlich; nämlich daß
Jakob um Rahel ſieben Jahre lang dienete,“ grinſte
Stopfkuchen. „Etwas kürzer machten wir doch die
Sache ab. Ich nahm ſie, und ſie nahm mich be-
deutend früher; und jetzt ganz kurz, o Du mein
Jugendfreund: es war jammerſchade, daß Du nicht
mit bei der Hochzeit warſt; denn da würdeſt Du mich
zum erſtenmal nach Verdienſt gewürdigt haben.
Und wenn Du an dem Tage gerufen hätteſt: ‚O,
dieſer Stopfkuchen!‘ ſo würdeſt Du zum erſtenmal
vollkommen Recht mit dem Worte gehabt haben,
ſowohl was die Braut wie was das Feſtmahl an-
betraf. Die reine Hochzeit des Camacho, nur daß
ich auch die Maid für mich ſelber behielt! Du weißt,
Eduard, daß ich, unter meiner Hecke, allerlei durch-
einander zuſammenlas. Aber Du erfährſt vielleicht
erſt heute, daß es in der ganzen Weltpoeſie nur eine
Schilderung gibt, welche mich ſelber poetiſch ſtimmt,
ſtimmte und ſtimmen wird: die Hochzeit des Camacho!
O welch einen Hunger muß der Sennor Miguel bei
der Ausmalung der Vorbereitungen zu der wunder-
baren ſchmalzreichen, bratenfettglänzenden, zuckerig-
inkruſtirenden Abfütterung gehabt haben! ſeinen ſüd-
ländiſchen, mäßigen, nach Ziegenfellſchläuchen duftenden
[192] Durſt ſelbſtverſtändlich gar nicht mitgerechnet. Unter
der Hecke noch hatte ich mir ſchon als Junge feſt
vorgenommen, nur bei ähnlichen, oder vielmehr nur
bei gleichen Keſſeln, Pfannen, Töpfen [und] Bratenwen-
dern auch einmal ein Mädchen glücklich zu machen!
Jetzt war ich ſo weit und konnte die Gegend einladen,
mir über die Hecke bei dem Vergnügen zuzuſehen.
Tinchens Meinung war das ſo; aber nicht die mei-
nige, und das bräutliche Kind gab nach, wenn auch
ſeufzend: ‚Aber es hat ja Keiner das um uns ver-
dient!‘ — ‚Grade deshalb,‘ ſprach ich, ‚einen Spaß
will doch der Menſch an ſeinem ernſten Hochzeitstage
haben, alſo laß mir dies Vergnügen. Und dann ſollſt
Du mal ſehen: der Scherz lohnt ſich zugleich und hat
Folgen.‘ — ‚Du meinſt, ſie vergeben uns nachher das
Leid, das ſie uns angethan haben, und die rothe
Schanze darf ſich wieder ſehen laſſen unter den
Leuten?‘ — Auf dieſe lächerliche Frage antwortete
ich gar nicht; ſie war zu entſchuldigen, aber zeugte
doch von allzuwenig Menſchenkenntniß. Ich wuſch,
wie Euer Ketſchwayo ſich ausgedrückt haben würde,
Eduard, meine Speere in den Eingeweiden der um-
wohnenden feindlichen Stämme: frei Futter wurde
für den Tag ausgerufen, ſo weit das Gerücht von
Kienbaum und Kienbaums Mörder gereicht hatte,
und ich habe ſie Alle, oder doch beinahe Alle, auf
Quakatzens Hofe gehabt an dem menſchenfreund-
lichſten Tage meines Lebens. Sie haben uns Alle,
bis auf Wenige, welche ich für magenkrank hielt, die
Ehre gegeben: der Fleiſchtopf rief, und Alle, Alle
[193] kamen, und ich ſtand am Thor und empfing ſie,
begrüßte ſie und lud ſie ein, noch näher zu treten:
mit allen Kulturerrungenſchaften der Jahrtauſende im
Buſen. Ich bin feſt überzeugt, ich habe der Welt
nie ſo dick und zwar ſo dick-deutſch-gemüthlich ausge-
ſehen, wie an jenem ſonnigen Sommermorgen. Die
Hunde hatte ich eingeſperrt, doch davon ſpäter!“


„Ich kann dies nicht mehr anhören!“ rief Frau
Valentine. „Ich kann es wirklich nicht, Herr Eduard.
O, und Dein alter, guter Vater, Heinrich?!“


„Jawohl, der kam auch, zum erſtenmal in ſeinem
Leben über den Graben des Prinzen Xaverius, und
zwar in ſeinem Hochzeitsfrack, und bedauerte an dieſem
feſtlichen Tage zum erſtenmal in ſeinem Leben es nicht
mehr, mich in die Welt geſetzt zu haben. Hätte ich
Dich denn genommen, Wurm, wenn ich nicht genau
gewußt hätte, wie niedlich und töchterlich, ſchwieger-
töchterlich Du Dich gegen den braven alten Hämorrhoi-
darier benehmen würdeſt? Wie er ſich mir zu liebe
nachher ſogar auf die Paläontologie geworfen hat,
habe ich Dir ja wohl ſchon erzählt, Eduard? Die
Hauptſache übrigens an jenem Tage, Tinchen, war
nicht mein Vater, ſondern Deiner.“


„O Gott, ja, ja, ja!“


„Wir hatten ihn nämlich ausnehmend wohl
unter uns, Eduard. Auch Doktor Oberwaſſer, Du
kennſt ihn ja als Langdarm, wie ihr ihn zu unſerer
Zeit im Gegenſatz zu mir nanntet, und haſt ihn viel-
leicht im Brummerſumm eben ſo feiſt jetzt als wie mich
wiedergefunden — alſo auch Doktor Oberwaſſer war
W. Raabe. Stopfkuchen. 13
[194] mit herausgekommen und gab uns die Verſicherung:
‚Unter guter Pflege, bei freundlichem Eingehen auf
ſeine Schrullen und bei möglichſter Vermeidung alles
Widerſpruchs kann euch der alte Sünder noch lange
auf dem Halſe liegen.‘ — Nun, wir haben ihn gott-
lob noch eine geraume Zeit bei uns behalten, und
an jenem feſtlichen Tage als leuchtend pſychologiſch
Exempel des Wandels des Menſchen unter Menſchen.
Was war mir Freund Oberwaſſer? Ich rieb mir ver-
ſtohlen die Hände, ob meiner eigenen pſychiatriſchen Be-
handlung des Vaters Quakatz! Der nahm, weiß Gott,
ganz ſelbſtverſtändlich, den Honorationenzuſammenlauf
auf der rothen Schanze, der fröhlich meinetwegen ſtatt-
fand, für eine Ehre und Ehrenerklärung, die ihm ange-
than wurde. Und das brauchte mir Freund Langdarm
wahrlich nicht noch anzuempfehlen, und dem Tinchen
auch nicht, daß wir ihn bei ſeiner Höflichkeit, ſeinen
Komplimenten und ſeiner innerlichen Genugthuung
ließen. Übrigens ſaß er dann doch auch wieder in
ſeinem Ehrenſtuhl wie ein echter Roi des gueux;
denn das hatte ich mir auch nicht nehmen laſſen, ich
hatte ihm auch Die eingeladen, welche ihn niemals
aufgegeben hatten. Ein ausnehmend reichhaltiges
Lumpenkontingent von unter den Hecken und Land-
ſtraßen weg war nicht von dem Wall und Graben
ſeiner kurſächſiſchen und königlich polniſchen Hoheit
zurückgewieſen worden. Die Fahne mit dem Salve
hospes
wehte für Alle, und alle Hunde lagen, wenn
nicht an der Kette, ſo doch im feſt umfriedeten Hof-
raum, für heute und von nun an für immer ihrer
[195] Wacht auf der rothen Schanze entledigt. Wenn aber
wer vor den gefüllteſten Freßnäpfen und umgeben
von Bergen abgenagter Knochen mit Hochzeit feierte,
ſo war ſie es, die alte, treue, gute Wachtmannſchaft
der alten rothen Schanze und meiner jungen Frau!
Ich ſtahl mich gleich nach dem Tuſch oder Trink-
ſpruch aufs Brautpaar, aus dem Kreiſe der Freunde
und Bekannten fort und ging mal zu ihnen hinein
in ihren abgeſchloſſenen Bezirk hinter dem Hühner-
hofe. Sie lächelten mich ſämmtlich an, das heißt,
ſie wedelten ſämmtlich mit den Schwänzen bis auf
den Braven, der es nicht konnte, weil ihm ein Mai-
holzener Halunke den wohlwollenden Appendix dicht
an der Wurzel abgehackt hatte. Der aber rieb zärt-
lich winſelnd ſeine Naſe an meinem Bein und ge-
ſtand mir ſo zu: ‚Na ja, Du weißt es wirklich, was
das Beſte für uns hier auf der rothen Schanze iſt!‘
— ‚Nach meinem Mädchen habt ihr das wohl zuerſt
herausgeſchnüffelt?‘ fragte ich dagegen, dem alten
Veteranen die Hand aufs Haupt legend. Ich meine,
Eduard, wir hatten Beide recht: der Eine mit ſeiner
Bemerkung, der Andere mit ſeiner Frage.“


„Ich ſage garnichts mehr!“ ſagte Frau Valen-
tine Schaumann.


„Und da haſt wieder Du Recht,“ ſeufzte Heinrich,
trotz der Abendkühle ſich immer doch noch mit dem
Taſchentuch über die Stirn fahrend. „Aber wenn
Du doch noch etwas ſagen willſt, ſo komm jetzt damit
heraus und nicht wenn Eduard wieder weg iſt, ſo-
13*
[196] wohl heute Abend wie ſpäter auf ſeinem weitern Wege
nach Afrika. Nun? Sprich aus!“


„Nein!“ ſagte Frau Valentine, mit dem Taſchen-
tuch ſich an die Augen fahrend.


„Schön. Es wird Eduarden aber auch wohl ſo
am liebſten ſein; denn was ſoll dieſer Weltwanderer
und Abenteurer auf ſeiner demnächſtigen Fahrt über
das große Weltmeer eigentlich von uns denken, wenn
das mit unſern Lebensabenteuern und unſerer Er-
zählungsweiſe noch lange auf dieſe Weiſe weitergeht?“


[E]twas Beſonderes iſt auf dem Schiffe nicht vor-
gefallen und ſcheint auch nicht paſſiren zu ſollen.
Wir haben Sankt Helena angelaufen. Aber ich war
ſchon einmal in Longwood und habe mir nicht zum
zweitenmal die Mühe gegeben, die entſetzlichen Treppen
zu ſteigen, um die abgebleichten, zerfetzten Tapeten zu
ſehen, auf welchen das Auge von den Pyramiden,
von Auſterlitz, Jena, Leipzig und Waterloo in
ſeinen letzten Lebensfieber-Tagen und -Nächten das
Muſter gezählt hatte. Ich gehe an Deck, wo der
Kapitän den Kindern auf ſeinem Schiffe, natürlich
aus der erſten Kajüte, den Kindern zu liebe, noch
einmal einen Haifiſch hat fangen laſſen, aus deſſen
Bauche ſich aber gottlob diesmal nichts dem Menſchen
allzu Greuliges entwickelt. Das Vieh hat natur-
[197] geſchichtlich-ausnahmsweiſe keinen Menſchen gefreſſen,
hat kein halb verdautes Matroſenbein, oder keine,
noch auf ein Brett gebundene Kindesleiche in ſich.
Es hat nur gegeſſen, was ihm ſonſt aus der Natur-
geſchichte als zu ſeiner Nahrung gehörig geboten
wurde, und ich gehe bei ruhigſtem Wogengang wieder
hinunter in den Rauchſalon und laſſe Stopfkuchen
weiter erzählen.


Er that's; denn die Unterbrechung an dieſer
Stelle meines Logbuchs kam nicht auf ſeine Kappe.
Er berichtete:


„Am Morgen nach der Hochzeit traf natürlich
nur das ein, was ich ſchon längſt im voraus gewußt
hatte. Ich lag auf der rothen Schanze, wenn auch
nicht an der Kette, [ſo doch] im beſchloſſenen Bezirk.
Und daß der gefüllte Freßnapf dazu gehörte, war
für ſämmtliche Feſtgäſte des vergangenen ſchönen Tages
im mehr oder weniger behaglichen Nach-Verdauungs-
gefühl Glaubensartikel Numero Eins im antheil-
nehmenden Hinblick auf mein ferneres Lebensglück.
Ja, ich hatte es nun, was ich hatte haben wollen.
Ich ſaß mitten drin in meinem Ideal, und ich war
mit meinem Ideal allein auf der rothen Schanze.
Am Lendemain ſtand ich mit meiner jungen Roſigen
auf dem Wall, der unſer junges Glück umſchloß und
ſah auf Dorf und Stadt hinunter und in die ſchöne
Natur hinaus und ließ mich recht unnöthigerweiſe auf
eine Verſtändigung ein. ‚Kind,‘ ſagte ich, ‚daß wir
jetzt ins Weite gehen, geht nicht. Dazu habe ich
mir doch nicht ſo große Mühe um Dich gegeben.
[198] Wir haben annähernd den Papa wieder unter uns
Menſchen. Es war zwar nicht hübſch anzuſehen, wie
die Verbindung ſich wiederherſtellte; aber was hilft
es? es muß doch unſere Sorge ſein, daß ſich der
Zuſammenhang nicht wieder löſe. Alſo — pflegen
wir den Vater weiter, wie ich angefangen habe!
Sollteſt Du ſpäter einmal Berlin, Petersburg, Paris,
London, Rom und dergleichen doch zu ſehen wünſchen,
ſo watſchele ich natürlich mit, oder hinter Dir drein.
Aber Eile hat es damit nicht. Augenblicklich haben
wir noch ganz andere Dinge und Herrlichkeiten vor
der Hand.‘ Das hatten wir in der That. Die rothe
Schanze zu erobern, war verhältnißmäßig recht leicht
gegen die Aufgabe, ſie zu erhalten und ſich in ihr,
und das letztere noch dazu mit Sack und Pack, mit
Weib und Schwiegervater. Tinchen, es iſt mein
beſter Freund, dem ich hiervon jetzt erzähle, und er
kan[n] Alles hören.“


„Mich haſt Du freilich ſchon lange gewöhnt,
Alles von Dir zu hören,“ ſeufzte Frau Valentine
Schaumann.


„Meinſt Du?“ fragte ihr Mann. „Heute Abend
noch hoffe ich Dir das Gegentheil zu beweiſen. Wenn
es irgend möglich iſt, laſſe ich Dir morgen von
Andern zutragen, was ich Dir heute Abend noch
ſagen könnte.“


„O Gott, doch nicht in Sachen Kienbaums?“


„Ich war unbedingt der ſchwerwiegendſte latei-
niſche Bauer, den die Göttin der Geſchichte der Land-
wirthſchaft je auf ihre Wagſchaale gelegt hat, Eduard.
[199] Ich beſtellte den Acker, von dem ich aß, aber ich ſah
auch die dazu gehörigen ſchriftlichen Dokumente und
ſonſtigen Papiere im Schreibſchranke meines armen
närriſchen Schwiegervaters nach. Ich beſtellte auch das
Vermögen, welches er in Schuldverſchreibungen, alſo
nicht bloß in rund um die rothe Schanze liegenden,
nicht nur in paläontologiſcher Hinſicht fruchtreichen
Gründen beſaß. Des Volkes Stimme erklärte mich
darob für den Schlaueſten aber auch Gewiſſensloſeſten
aus ſeiner Mitte. Es hat ſo was, wie Du weißt,
lieber Freund, von Zeit zu Zeit nöthig, um ſich ſelber
vor ſich ſelbſt eine ethiſche Haltung zu geben. Du
lieber Himmel, wie waren ſie mit dem Andres Quakatz,
mit Kienbaums Mörder, trotzdem, daß ſie garnichts
von ihm wiſſen wollten, in Geldangelegenheiten intim
umgegangen! Was Alles hatte ſich vertraulich, Zu-
trauen gegen Zutrauen ſetzend, an ihn gemacht mit
ſchlechten und guten Aktien, mit Pfandſcheinen, H[y]po-
theken, Bürgſchaften und was ſonſt im wechſelnden
Verkehrsleben vorkommt. Bei drei Feuerverſicherungs-
agenten hatte der alte Herr die rothe Schanze ver-
ſichert, weil ſie ihm verſichert hatten, daß ſie feſt
überzeugt ſeien, er habe Kienbaum nicht todtgeſchlagen.
Ich gebe Dir da einen Faden in die Hand, an dem Du
Dich, ſo weit es Dir beliebt, in das dunkle Labyrinth,
in das ich den Tag einzulaſſen hatte, zurücktaſten
magſt. Mir erlaß eine weitere Ausführlichkeit. Kurz
und gut, der Fluch Adams, ſoweit er den Acker, das
Graben, Hacken, Pflügen, die Kartoffel-, Heu- und
Getreideernte angeht, war eine Erholung gegen das
[200] nächtliche Graben, Pflügen und Roden am Schreib-
tiſche. Uh je, Eduard, hätte ich da nicht das Tinchen,
das Kind mit ſeinem Strickzeuge, ſeiner Welterfahrung,
ſeinen, am Abend öfters recht altklugen, aber am
andern Morgen manchmal zum Erſtaunen ſchlauen
Zuflüſterungen bei mir gehabt! und die beiden arbeits-
harten Bauernpfötchen, wenn ſie mir meine zwei weichen
Bildungsmenſchenhände von den fiebernden Schläfen
ſanft herniederzog: ‚O Heinrich, Du thuſt es ja mir
zu liebe, und, ſieh nun mal zu, den fehlenden
Reſt von Kleynkauers Schuld findeſt Du vielleicht
noch auf ſeinen Schwiegerſohn, der den Ausſpann
drunten in der Stadt hat, und auf ſeine zugekaufte
Wieſe hinter ſeinem Hauſe, ins Schuldbuch einge-
tragen!‘ — Eduard, auch Du haſt es im Kaffern-
lande zu einem Vermögen gebracht: bitte, überhebe
Dich nicht Deiner Anſtrengungen dabei! Sieh, da
fängt das Kind zu guterletzt auch noch an zu weinen,
weil ſie es mir überlaſſen muß, Dir zum Schluß
mitzutheilen, daß es uns — ihr und mir — gelungen
iſt, dem Vater ein bißchen von ſeinem Recht [a]n der
Lebensſonne in den Belagerungsaufwurf des Comte de
Lusace,
den Ofenwinkel hinein und auf das wirre
Haupt und über die geſchwollenen Kniee und die
tauben Füße leuchten zu laſſen.“


„Ja, ja, ja, Herr Eduard!“ ſchluchzte die Erb-
tochter der rothen Schanze, Quakatzens Tochter; doch
Heinrich Schaumann ſchien weniger denn je in dieſem
Logbuch des Lebens Sinn zu haben für ſolche Rührung.
Er zog bloß die Augenbrauen etwas tiefer herunter
[201] und murrte (zum erſtenmal in ſeiner Erzählung
machte ſich hier ſo etwas wie ein leiſes Knurren
geltend) und murrte: „Ja, ja, ja! da ſie mich zu
grüßen hatten, ſo grüßten ſie auch ihn wieder, und
der Menſch iſt ſo, Eduard! es machte dem greiſen
Sünder wirklich Spaß, es machte ihm das höchſte
Vergnügen, noch einmal ſeine Zipfelkappe vor der
albernen Welt freundlich zum Gegengruß lupfen zu
dürfen. Er iſt hinübergegangen in der vollen Über-
zeugung, unter der Menſchheit in integrum reſtituirt
wor[de]n zu ſein. Was für eine Ehrenerklärung ihm
drüben, droben, vom aller- allerhöchſten Thron und
Gerichtsſitz zu theil geworden iſt, kann ich leider nicht
ſagen. Und nun — nun, Tinchen, altes, tapferes
Herz, und Du, Eduard, fernſter, das heißt entfernteſt
wohnender Freund meiner Jugend, nun werde auch
ich ihm ſein letztes Recht zu theil werden laſſen. Wer
weiß, ob der höchſte und letzte Richter mich nicht
bloß deshal[b] ſo fett und ſo gelaſſen in die hieſige
Gegend abgeſetzt hat? Was die Gelaſſenheit anbe-
trifft, [ſo]ll er wirklich den Richtigen an mir gefunden
habe[n]. Alſo, wenn Du nichts dagegen haſt, begleite
ich Dich nachher ein Stück Weges auf Deiner Rück-
fahrt nach Afrika.“


„Heinrich?!“ rief die Frau, beide Hände zu-
ſammenſchlagend.


„Frau Valentine Schaumann?!“ mimte der
Gatte ihr den Ton alleräußerſter Verwunderung nach.


„Herr Eduard,“ rief die Frau, „er hat mir Rom,
Neapel, Berlin und Paris und dergleichen nicht ge-
[202] zeigt, und ich hatte auch nie ein Bedürfniß danach;
aber er hat ſelber auch nie ein Bedürfniß danach
gehabt! Er hat ſeit unſerer Verheirathung keine
ſechsmal den Fuß über unſer Beſitzthum und ſeine
Knochenſucherei in der nächſten Nähe hinausgeſetzt.
In die Stadt geht er nur, wenn ihm eine Behörde
dreimal ein Mandat geſchickt hat und zuletzt mit Ge-
fängniß droht! Er macht mich ſchwindlig mit ſo
einem Wort, wie er eben geſprochen hat!“


„So ſind die Weiber!“ ſeufzte Stopfkuchen. „In
Paris, Berlin und Rom hatten wir eben nicht das
Mindeſte zu ſuchen; aber in der Stadt dort unten haben
wir heute Abend ausnahmsweiſe noch ein Geſchäft.
Wir, Frau Valentine Schaumann, geborene Quakatz!
Sollteſt Dich doch auch heute Abend noch einmal
darauf verlaſſen, daß ich weiß, was für unſere Ge-
müthlichkeit das Zweckmäßigſte iſt?“


„O Heinrich, das weiß ich ja!“ rief die Frau,
zitternd den Arm ihres Mannes faſſend und ihm
ängſtlich in die Augen ſehend. „Aber das iſt heute
Abend doch ganz was Anderes als wie ſonſt! Du
erzählſt freilich den ganzen Tag durch nach Deiner
gewöhnlichen Art das Schlimmſte und das Beſte,
das Herzbrechendſte und das Dummſte wie als wenn
man einen alten Strumpf aufriwwelt; aber jetzt
ſollteſt Du damit aufhören und Rückſicht auf mich
nehmen: gerade wenn Du mich auch zu allen übrigen
Frauen auf Erden rechneſt. Es iſt mein Vater, von
dem Du ſo erzählſt! es iſt meine kümmerliche Kinder-
angſt und Jugendnoth, von der Du ſo ſprichſt!
[203] Und — Herr Eduard, er ſtellt ſich ja auch nur des-
halb ſo albern, weil er es wieder nicht an die große
Glocke hängen will, was er eigentlich Gutes an uns
gethan hat! Nun ſieh mir in die Augen, beſter
Heinrich, beſter Mann, und habe noch einmal Mitleid
mit mir! Es iſt des Vaters letzter vollſtändiger
Rechtfertigung wegen, weshalb Du jetzt mit Deinem
Freunde in die Stadt willſt; und — und Du willſt
mich nicht dabei haben! O Mann, Mann, ich ge-
höre aber doch dazu, und Du mußt mich dabei ſein
laſſen. Nicht wahr, Du nimmſt mich mit Dir in
die Stadt?“


„Nehme ich Dich mit in die Stadt?“ murmelte
der jetzige unbeſtrittene Herr auf der rothen Schanze,
trotz aller rührenden Bitten ſeinem Weibe nicht in
die Augen ſchauend, ſondern, nachdenklich und zweifelnd,
nur nach oben ſehend. Erſt nach einer geraumen
Weile ſagte er: „Wie Du willſt, mein Kind. Hm,
hm, wenn Deine Küche — wenn Du nicht meinſt,
daß Du in Deiner Küche — Eduard bleibt doch auch
wohl zum Abendeſſen —“


„Menſch, Menſch,“ rief aber jetzt ich, „Unmenſch,
ich bin ſatt! Jetzt hörſt Du endlich hiermit auf,
und quälſt mir Deine Frau in dieſem Augenblick
nicht länger! Was haſt Du ihr? was haſt Du uns
zu ſagen? Kannſt Du es denn wirklich nicht hier
auf Deiner Verſchanzung, in dieſer Stille, bei dieſem
Abendſchein über unſerer Erde mittheilen?“


„Du wünſcheſt lieber hier im Freien mit dem
[204] Graun zu Nacht zu ſpeiſen und Dich zu ſättigen mit
Entſetzen, Eduard? Hm, hm, hm —“


Und jetzt nahm er zärtlich ſein Weib in ſeine
Arme und küßte es und ſtreichelte ihm die Wangen
und fuhr ihm koſend, beruhigend über das Haar:


„Mein Herz, mein Kind, mein Troſt und Segen,
es iſt ſo ein alberner, alter, abgeſtunkener Unrath, den
ich aufzuwühlen habe, weil es am Ende wohl nicht
anders geht. Wie gern hielte ich den letzten, öden,
faden Geruch, der davon aufſteigen wird, ganz fern
von unſerer Verſchanzung, wie Eduard eben die Sache
mit dem ganz richtigen Namen genannt hat! Das
kann ich nicht; aber — ich kann Dir davon erzählen
in dieſer Nacht, ſo nach Mitternacht, wenn wir Beid[e]
die Nachtmützen übergezogen haben, — ich kann Dir
dann auch beſſer, wenn alles ſtill iſt, über Quakatzen-
burg — oben die Sterne und unten die Gräber,
ſagt der alte Goethe — die dazu gehörigen Bemer-
kungen machen —“


„Ich bleibe zu Hauſe und warte wieder auf Dich,
Heinrich,“ ſagte die Frau. Sie weinte, ſie war in
großer Aufregung, und ihr Dicker war unerträglich
für jeden Andern, in ſeiner Art, ſich zu geben und
Andere dran theilnehmen zu laſſen; aber ſie war nicht
bloß eine gute, ſondern ſie war auch eine glückliche
Frau.


„Siehſt Du, das war wirklich im Grunde meine
Meinung, Tinchen! Da — hier dieſer gute Freund,
dieſer Eduard, reiſt morgen — übermorgen, oder in
drei Wochen ab und zwar zu Schiffe. Er geht, wie
[205] man das im hohen Ton nennt: aufs hohe Meer.
Dort weht gewöhnlich ein friſcher Wind, und der
Mann ſieht auch unterwegs nur lauter andere Ge-
ſichter, nicht wie wir hier immer dieſelbigen. Dem
glücklichen Kerl will ich friſch dieſen Duft der Heimath
von der Lagerſtelle aus mit auf die Reiſe geben,
und dann iſt er gewiſſermaßen auch ſogar dazu be-
rechtigt. Er ſteckt perſönlich viel tiefer mit drin, als
er es ſich jetzt noch vermuthet. Ja, ja, guck nur,
mein Junge! mach' mir nur große Augen! Alſo,
Du willſt wirklich nicht mit uns zu Abend eſſen?
Na, dann unterhalte Du jetzt meine Frau ſo lange,
bis ich die nöthige Toilette gemacht habe.“


Er erhob ſich ſchwerſtöhnend von der Bank auf
dem Walle des Prinzen Xaverius, griff, die erloſchene
Pfeife in der Linken, mit der Rechten zärtlich ſeinem
Weibe unters Kinn und ſagte:


„Ja, bleib Du lieber hier Oben in der guten,
lieben Luft unſerer Schanze, Herz. Es iſt ein zu
angenehmer Abend und zu hübſch ſtill, nur noch mit
den ſpäten Lerchen in der Luft! Dieſem Weltwanderer
wird der Seewind und vielleicht ſo 'n kleiner Schiff-
bruch mit intereſſanter Rettung und dergleichen den
fatalen Geruch von da unten wieder aus der Naſe
fegen. Und dann ſehe ich ihn leider vielleicht in
meinem ganzen Leben, nach ſeiner Abreiſe natürlich,
nicht wieder und habe ihm alſo auch nicht Beruhigung,
Seelenruhe zuzuſprechen und Geſpenſtergeſindel aus
der Phantaſie weg zu kehren. Aber mit Dir — zwiſchen
uns, mein armes Herz, iſt das eben eine andere
[206] Sache. Dich habe ich nun einmal bei gutem und
bei ſchlechtem Wetter, bei Zahn- und Leibweh und
allen übrigen Lebensnöthen und Gebreſten auf dem
Halſe, und zugleich die Pflicht, doch auch mich in
jeglichem Verdruß und Elend, bei jedwedem Geſpenſter-
ſehen aufrecht zu erhalten. Was willſt Du jetzt
perſönlich Dein altes Näschen in den Olimsblutund-
verweſungsquark hinein ſtecken? Siehſt Du, ich bringe
nur Eduard ein Stück Weges auf den Weg und
nachher — nach Mitternacht; — na, wie geſagt,
Eduard, jetzt unterhalte Du meine Frau ein bißchen:
ich bin ſofort wieder bei euch.“


Er wackelte ſchwerfällig dem Hauſe zu, und ſein
Weib und ich ſahen ihm von der Bank aus über die
Schultern nach, ſahen ihn unterwegs noch einmal
anhalten, um ſeinen Kater zu ſtreicheln und ſahen
ihn in der Thür mit der Überſchrift: Gehe heraus
aus dem Kaſten! verſchwinden. Dann erſt griff die
Frau wieder nach ihrem Taſchentuch und rief:


„Was ſagen Sie nun zu ihm? Hier ſitze ich
nun in der lieben Abendſonne ſo ſtill und gut, wie
er ſagt. O ja! und Sie, lieber Herr Freund, ſehen
es mir auch nicht zu ſehr an, wie ſehr dieſe heutige
Nachricht mich innerlich aufregt! Ein Anderer als
wie Sie, der ſelber ſoviel durchgemacht hat, würde
[207] auch ganz gewiß meinen: dies iſt denn doch eigentlich
zu arg! und er hätte ganz gewiß nicht Unrecht. Aber
ſo iſt er nun, — meinen Heinrich meine ich. Er
erfährt das Wichtigſte und Schrecklichſte, was Herz
und Seele bewegen kann und läßt dabei ſeine Pfeife
nicht ausgehen. Sagt keinen Laut bis es ihm paßt!
Und ich — ich, meines armen Vaters Tochter, ich
habe ſo eine unruhvolle, ſchlimme Kinderzeit, mit
Steinwerfen, Fingernägelkratzen gegen Jedermann
durchlebt, daß ich mich gern und willig nun in
meinen jetzigen Jahren in Alles füge und bei ſeinem
Beſſerverſtehen nach nichts frage, ſondern auch meine
Ruhe behalte, obgleich das eigentlich leider Gottes
garnicht in meiner Natur liegt. Ich weiß es ja
wohl, daß wir jetzt, Gott ſei Dank, hier auf der
Schanze ſo ſtill für uns hinleben, daß wir für Alles
Zeit haben. Daß wir für Alles die Zeit abwarten
können, wo wir uns Alles ſagen, am Mittage oder
um Mitternacht: das Schlimmſte und das Beſte. Ich
kenne auch gottlob, jede Fiber in ſeiner Seele und
daß er kein Geheimniß vor mir hat; denn ſonſt
würden wir ja auch nicht ſo leben, wie wir leben:
aber was zu arg iſt, iſt zu arg! und eine Tochter
bleibt doch immer eine Tochter, und eine Frau eine
Frau, ja und, Herr Eduard, und ein Frauenzimmer
ein Frauenzimmer: er kennt Kienbaums Mörder, er
kann ihn vielleicht heute ſchon aufs Schaffot bringen,
und er hat des Bauern Quakatz Tochter von der
rothen Schanze zum Weibe und nimmt die Sache ſo,
als ſtecke er den Kopf aus dem Fenſter und ſage:
[208] ‚Schwül genug war's den Tag über, vielleicht giebt
es doch ein kleines Gewitter!‘ . . . . Ich bitte Sie,
beſter Herr, was ſagen Sie hierzu?“


„Daß ihr Zwei das glücklichſte Ehepaar ſeid,
das ſich je zu einander gefunden und in einander
hinein gelebt hat! Und daß Stopf — mein Freund
Heinrich vollkommen Recht hatte, wenn er unter ſeiner
Hecke liegen blieb und hinter uns anderen jungen
Narren höchſtens dreingrinſte, wenn er uns unſere
Wege laufen ließ, oder wie wir damals meinten,
laufen laſſen mußte.“


„O, Herr Eduard, nennen Sie meinen Mann
dreiſt auch vor meinen Ohren Stopfkuchen! den
Namen verdient er ebenfalls mit vollem Rechte,“
lächelte trotz ihrer Aufregung und durch ihre Thränen
Frau Valentine. „Das heißt,“ fuhr ſie dann aber
doch zärtlich allem Mißverſtändnis vorbeugend fort,
„daß er das Leben und ſein Gutes haſtig und gierig
in ſich hineinſtopfe, kann man wirklich auch nicht
ſagen. O nein, wie er ſich die gehörige Zeit beim
Eſſen nimmt, ſo thut er's auch in allen anderen
Angelegenheiten und Dingen. Wir erfahren's ja eben
gerade zu jetziger Stunde im allerhöchſten Maaße!
Aber es iſt nun einmal ſo, und daß ihn der liebe
Gott ſo zu meinem Beſten erſchaffen hat, davon bin
ich nicht bloß im Großen und Ganzen feſt überzeugt.
Ich hoffe es in meinen ſtillen liebſten Stunden gleich-
falls, daß ich auch meinerſeits ſo von der Vorſehung
wie ich bin für ihn gemacht bin, und daß es wohl
auch ihm recht einſam und elend in der Welt wäre,
[209] wenn er mich nicht darin gefunden hätte! Aber daß
wir hier auf der rothen Schanze Jedermann draußen
als ein wunderliches, wunderliches Geſpann vor-
kommen müſſen, das glaube ich Jedem, der es mir
ſagt, auf ſein Wort, da ich es mir ſelber oft genug
ſelbſt ſage . . . . . Liebſter Himmel, iſt er denn ſchon
mit ſeinem Anzuge fertig? ohne mich dreißig Mal
dazu gerufen zu haben, ſelbſt wenn er bloß auf ſeine
verſteinerten Knochenexpeditionen gehen will? O Gott
ja, ja, auf welche noch ältere und viel ſchlimmere
Todtengräberei will er aber auch jetzt gehen?“


Da war er wieder. Halb Pfarrherr, halb Land-
bebauer, aber ganz der dicke Schaumann! — Er trug
jetzt einen langen, ſchwarzen Laſtingrock, eine aufge-
knöpfte Sommerweſte, ein loſes Halstuch, einen breit-
rändigen braunen Strohhut und war in ſeinen hellen
Sommerhoſen geblieben. Einen derben Gehſtock führte
er auch mit ſich und hatte ihn jedenfalls zu ſeiner
Stütze nöthig. Gegenwärtig aber nahm er ihn unter
den einen Arm und legte den anderen um ſein Weib:


„Küſſe mich, Andromache, und ſieh mir nach
von der Mauer von Ilion; aber ängſtige Dich um
Gotteswillen nicht um mich. Den hellumſchienten
Achaier von da unten, möchte ich ſehen, der es fertig
kriegte, Patroklos Schatten zu Ehren und zur Rache,
den dicken Schaumann um ſeinen Burgwall herum
in Trab oder Galopp zu bringen. Da haſt Du noch
einen Kuß und nun laß mich aus Deinen Armen.
Ich gebe Dir mein Wort darauf, ich komme heil
und möglichſt unverſchwitzt wieder nach Hauſe und
W. Raabe. Stopfkuchen. 14
[210] bringe Dir auch, wenn nichts Hübſches ſo doch recht
Beruhigendes mit. Eduard wird dabei ſein, wie ich
das Blut beſpreche, Kienbaums Manen Genugthuung
verſchaffe, und auch meinerſeits die Erynnien veran-
laſſe, endlich hübſch die Thür hinter ſich zuzumachen
und die rothe Schanze in Ruhe zu laſſen.“ —


Ich hatte nun Abſchied von der lieben Frau
Valentine zu nehmen, und natürlich zu verſprechen,
daß mein erſter Beſuch nicht der letzte geweſen ſein
ſolle. Der Freund ſchritt mir über ſeinen verwachſenen
Dammweg voran, ohne ſich um zu blicken; ich aber
that das noch mehrere Male und ſah des Bauern
Quakatz Tochter auf der Höhe der Kriegsſchanze des
Prinzen Xaver von Sachſen ſtehen. Eine tiefe Rührung,
doch eine behagliche, überkam mich dabei und aus
vollem Herzen ſagte ich:


„Die Gute! Sie hat es wahrhaftig wohl ver-
dient, daß ihr weich gebettet werde. Heinrich, möget
ihr noch lange unter euren grünen Sommerbäumen
und an eurem Winterofen ſitzen und der Welt ihren
Lauf laſſen.“


„Amen! und nachher in Ein Grab gelegt werden
und ein Menſchenalter durch ſpuken gehen und einer
reſpektablen Nachbarſchaft zum Überdruß werden,“
ſagte Stopfkuchen. —


Es begegneten uns bald Leute, die uns erſt
verwundert anſtarrten, und wenn wir ihnen vorbei
waren, ſtehen blieben, uns nachblickten und ſicherlich
murmelten:


„Jeſes, der dicke Schaumann hier draußen?!“


[211]

Dieſes Aufſehen, das wir machten, nahm zu,
je mehr wir uns der Stadt näherten und bürgerliche,
ſtädtiſche Gruppen oder Einzelläufer als Abendſpazier-
gänger uns entgegen kamen.


Einige Male wurden wir nun auch angehalten
und die verwunderte Frage: was ihn denn in die
Stadt treibe? wurde dem Freunde in Worten und
perſönlichſt nahe gelegt.


„Höflichkeitsgeſchäfte! Mein Freund Eduard
fährt nach dem Kap der guten Hoffnung nach Hauſe,
und ich bringe ihn bloß ein bißchen auf den Weg.
Übrigens hat er auch heute Mittag bei mir gegeſſen.“


Mehr als einmal vernahm ich dann das Wort:


„Iſt es die Möglichkeit?“ . . . .


War der Tag ſchön geweſen, ſo war der Abend
wundervoll. Tiefer Friede in der Natur, und die
Stadt ſtill und reinlich! Es war immer ein Ge-
meinweſen geweſen, das auf Reinlichkeit, Ordnung,
grüne Bäume auf den Marktplätzen und in den
breiteren Straßen, auf ſprudelnde Brunnen und was
ſonſt hierzu gehört, viel gehalten hatte. Auch die
Weltgeſchichte, das heißt in dieſem Falle der Prinz
Xaver von Sachſen mit ſeinem Bombardement und
nach ihm mehrere große Brände hatten das Ihrige
gethan, die Stadt dem laufenden Tage hübſch und
wohl erhalten zu überliefern, indem ſie manch altes
Gerümpel aus dem Wege geräumt hatten. Es war,
alles in allem ein Gemeinweſen, in das man gern
Abends vom Felde und aus dem Walde nach Hauſe
kam, und in welchem man dreiſt die Fenſter öffnen
14*
[212] durfte, ohne ſie ſofort wieder ſchließen zu müſſen
mit dem Ächzwort: „Pfui Deibel, ſtinkt das heute
mal wieder!“ —


„Lecker, was?“ meinte Stopfkuchen, als wir die
zierlichen Anlagen, die ſich rund um den Ort zogen,
erreichten. „Es mußte Dich doch recht anheimeln,
Eduard, als Du neulich den Fuß wieder herſetzteſt?
Der verwöhnteſte Kaffer muß hier Bürgermeiſter,
Magiſtrat und Stadtverordnete loben! wie?“


„Ja wohl, ja wohl!“


„Hm, hm, und die Kindermädchen mit den ſüßen
Kleinen auf den Bänken — alle dieſe lieben Abend-
luſtwandler und Wandlerinnen. Alles ſo gemüthlich,
ſo behaglich — ſo — unſchuldig! und nun verſetze
Dich mal in meine Stimmung, wie ich hier neben
Dir wandle, mit der Macht und eigentlich auch der
höchſten Verpflichtung, dieſe Idylle heute abend noch
in den nächſten Band des neuen Pitaval zu bringen!
Jawohl, ja wohl, hier gehe ich neben Dir bis jetzt
bloß als der dicke Schaumann durch den Stadtfrieden
— wenn ſie morgen von ihm aus nach der rothen
Schanze hinüber- und hinaufſehen, werden ſie nur noch
vom geheimnißſchwangern, ſühneträchtigen Schau-
mann reden, und mich den giftgeſchwollenen Bauch
blähen ſehen: Eduard, Du ahnſt es doch nicht ganz,
wie unangenehm mir dieſe Geſchichte mit Kienbaum
iſt, und wie fürchterlich es mir gegen die Natur geht,
daß gerade mir die endliche Abwickelung der Sache
aufgeladen worden iſt! Mir! mir! und noch dazu
wenn ich mir dabei vorſtelle, was für eine Menge
[213] Volks ich im Namen der ſogenannten ewigen Ge-
rechtigkeit in das himmliſchſte Entzücken verſetze! Denke
Dich in meine Nächte, wie ich mir die Leute
ſämmtlich perſönlichſt in der Phantaſie vor die Seele
halte und bei jedem Einzelnen mich frage: ‚Was?
Dem zum Spaße? Dem zum Vergnügen? Dem
zur Genugthuung?‘ — Du lieber Gott, wenn ich
nicht doch auch in dieſer Hinſicht eine gewiſſe Ver-
pflichtung gegen das Herz — ich meine meine Frau
hätte, Eduard! Eine geborene Quakatz bleibt ſie ja
nun einmal; und ſo geht es Einem hier immer noch
in Europa, wenn man in anrüchige Familien hinein-
heirathet.“


Wie die Stadtidylle morgen ſich zu dem Körper-
umfange meines Freundes ſtellen mochte: mir ſchwoll
er heute ſchon von Augenblick zu Augenblick mehr
über jeglichen Rahmen hinaus. Und wie ſeine brave,
gute, nette, niedliche Frau war ich ihm ohne jegliches
Wort und Widerwort verfallen: mußte ihn reden
laſſen, ließ ihn reden, und wartete, jedesmal wenn
er mal aufhörte mit innerlichſter Spannung, daß er
wieder anfange, ſich gehen zu laſſen und zu reden. —


Trotz aller Annehmlichkeit der Heimathſtadt ver-
mieden wir ſie doch fürs erſte: Stopfkuchen führte
mich um den „Wall.“ Weshalb, ſagte er nicht und
ich fragte auch nicht danach. Ich hielt es wirklich
allmählich für das Beſte, mich ruhig in ſeiner Weiſe
von ihm führen zu laſſen.


Dieſer Wall, den einſt der Prinz Xaverius von
der rothen Schanze aus beſchoſſen hatte, war jetzt in
[214] allerliebſte Spaziergänge umgewandelt worden. Theile
des früheren Stadtgrabens waren auch noch vorhanden
zu hübſchen Teichen auseinandergezogen, umkränzt
von Pappeln, Trauerweiden und Luſtgebüſch. Es
liefen vom Kern der Stadt Haupt- und Nebenſtraßen
auf dieſe Luſtwege hinaus, und eine der Nebenſtraßen
führte gleich hinter den Baumreihen und dem Zier-Buſch-
werk auch zu dem Viertel der „kleinen Leute“. Wir
nannten das zu meiner Zeit: „Matthäi am Letzten“,
und es hieß auch wohl noch ſo.


Als wir uns der Gegend näherten, fiel es mir
recht aufs Herz, wie gut bekannt ich vor Zeiten da-
ſelbſt geweſen war, wie gute Freunde ich auch dort
gehabt hatte, und was nun Alles zwiſchen den Kinder-
tagen und dem heutigen Tage für mich lag.


„Herrgott, und auch Störzer!“ fiel mir ein.
„Auch Der! Und Du wollteſt wieder an ihm vor-
beigehen?“ Der Gedanke kam mir wirklich zur rechten
Zeit. Was ich nach der Nachricht von Brummerſumm
her verſäumt hatte, konnte ich ja jetzt noch nachholen
und dem alten, treuen Freunde einen Beſuch abſtatten.
Er war in ſeinem Leben und Berufe fünfmal um
die Erde geweſen, ohne von Hauſe fortgekommen zu
ſein: nun konnte ich, den ſeine Lebensfahrten ſo
weit von Hauſe weggeführt hatten, doch noch einmal
im Vorbeigehen bei ihm eintreten, und ihm vielleicht
überm unteren Ende des Sarges die Hand auf die
müden Füße legen.


Ich nahm den Arm meines [Führers]:


[215]

„Heinrich, ich erinnere mich eben! Es ſind
kaum hundert Schritte weit. Da liegt ſein Haus —“


„Weſſen Haus?“


„Ja wohl, Du haſt Recht mit der Frage. Der
Menſch kommt nie über den Egoismus weg, Alles
nur in ſeinen eigenen Gedankenzuſammenhang hin-
einzuziehen. Eben fällt mir ein, daß der alte, ſelige
Freund, mein alter Landſtraßenfreund Fritz Störzer
dort hinter dem Buſchwerk liegt. Wenn es Dir nicht
ein zu weiter Umweg iſt, Heinrich, ſo laß uns einen
Augenblick abbiegen. Jetzt möchte ich dem alten zur
Ruhe gelangten Wanderer doch noch einen Beſuch
machen. Was Du nachher noch zu ſagen haſt, weiß
ich ja noch nicht; aber ſei Deine Räthſellöſung auch
noch ſo grimmig; ich glaube, ich kann mir ein Stück
beruhigender Antheilnahme jetzt am beſten von dorther
holen.“


„Wenn Du meinſt? Ei wohl, das iſt ſein
Schornſtein hinter den Baumwipfeln. Der brave
Störzer! Nun, Zeit haben wir zu dem, was Du
meine Räthſellöſung nennſt nachher immer noch, und
ein großer Umweg zu dem alten, guten Kerl iſt's
gerade auch nicht. Ich bin ganz zu Deiner Ver-
fügung.“


So bogen wir ab von dem „Wall“, hatten aber
gerade jetzt noch einem Ehepaar, das mit Töchtern
ſeinen Abendſpazirgang um ihn herum machte,
und den dicken Schaumann auch kannte, Rede zu
ſtehen auf die verwunderte Frage: „Herrje, wie kommt
denn das, daß man Sie einmal in der Stadt ſieht?“


[216]

„Es macht ſich eben ſo“, erwiederte Stopfkuchen
gemüthlich. „Ich weiß im Grunde eigentlich auch
ſelber nicht, wie ich zu dem Vergnügen komme.“


Es war ein Glück, daß unſer Weg zur Seite ab in
das am wenigſten reſpektable Viertel der Stadt führte;
die Herrſchaften würden uns ſonſt wohl gern ein
Stück weit drauf begleitet haben: dieſe Begegnung
war doch zu intereſſant! —


Es giebt viele Unmündige in jenem, durchaus
nicht nach dem Muſter größerer Städte unfreund-
lichen, unheimlichen Stadttheile; und ſie befanden ſich
um dieſe liebe Abendſtunde natürlich alle in den
Gäßchen und Sackgäßchen. Vollkommene Rührung
überkam mich nun, wie ich daran dachte, wie lange
und doch wie kurz es her ſei, daß auch ich, unter
den Augen Störzers hier die Rinnſteine abgedämmt
und den Leuten den Weg verſperrt habe. Und noch
immer ſtanden die Mütter mit den Kleinſten auf
dem Arm in den Hausthüren, und noch immer roch
es nach Eierkuchen und Ziegenſtällen, und noch immer
wurde Salat gewaſchen. Der ſymboliſche Begleiter
des Evangeliſten Matthäus iſt ja eigentlich ein recht
ſchöner Engel; aber im Sankt Matthäusviertel da
war und iſt das nicht der Fall. Da iſt es das
Schwein, das Haupt- Segens- und Glücksthier des
„kleinen Mannes“, und man hörte es behaglich
grunzen aus einem näheren oder ferneren Stall. Es
roch auch wohl nach ihm; aber — mir ſollte einer im
Viertel Matthäi am Letzten mit kölniſchem Waſſer und
dergleichen kommen! zumal in einer Zeit, wo auch die
[217] türkiſche Bohne noch blühte — roth! das ſchönſte Roth
der Erde — ein Wunder von Schönheit und Nutzbar-
keit, wenn ſie ſich zwiſchen den Häuſern des kleinen
Mannes über die Zäune hängt oder hinter denſelben
an ihren Stangen ſich aufrankt. Man muß freilich
eben für dies Alles riechen, ſehen und fühlen können,
und wer das nicht kann, der gehe hin und werde
Liebhaber-Photograph. Es iſt aber nicht nöthig, daß
er ſich ſelber photographiren laſſe, ich habe ihn ſchon
in meinem Album in Südafrika, und der dicke Schau-
mann hat ihn auch in dem ſeinigen auf ſeiner Schanze
Quakatzenburg. —


Von der abendlichen Stille draußen im freien
Felde habe ich ſchon geſchrieben; aber die friedlichſte
Landſchaft macht längſt nicht den Eindruck der Ruhe
wie ſo ein Gäßchen am Feierabend bei den „kleinen
Leuten“, wie man ſich heute ausdrückt; oder „an
der Mauer“, nämlich an der Stadtmauer, wie man
im Mittelalter ſagte. Und ich hatte auch einſt hier
hineingehört hinter dem Rücken meiner Eltern und
unter der Protektion meines guten Freundes Fritz
Störzer, und das Herz ging mir auf und zog ſich
wieder zuſammen unter dem Gefühl: wie ſehr das
Alles vergangen ſei, und als was für ein Held und
mit was für einem Sack voll Erfahrungen und Er-
rungenſchaften auf dem Buckel ich nun hier wieder
ankomme!


Wir bogen jetzt um die Ecke, hinein in das
Sackgäßchen, in dem das Haus, das ich noch ſo gut
kannte, lag; und auch da fand ich auch heute wieder
[218] das, was ich in meiner Kinderzeit ſo oft hier mit
ſchauerlichem aber gar nicht unangenehmen Nerven-
und Seelenkitzel mitgenoſſen hatte: ein Hineingucken
auf einen Hausflur, wo ein Sarg ſteht.


Alles wie ſonſt! Nur Alles noch ein wenig
mehr zuſammengeſchrumpft: der kleine Platz enger,
die Häuſer niedriger, die Fenſter zuſammengedrückter,
die Hausthüren ſchmaler.


Und ſie drängten ſich Alle wieder um eine Haus-
thür; die Kinder und die Frauen mit Kindern auf
dem Arme, die alten Frauen und zwei oder drei
alte Männer, dieſe alle mit den Abendpfeifen im
Munde: es ſtand ja wieder einmal ein Sarg auf
einem Hausflur!


Sie drehten alle uns den Rücken zu, und machten
uns verwundert Platz, als wir ihnen über die
Schultern auch mit in die Thür zu ſehen wünſchten.
Sie verwunderten ſich aber noch viel mehr als wir
gar in die Thür traten.


Es ſchien Niemand zu Hauſe zu ſein als der
alte Störzer, und auch der ſchlief; lag ruhig in dem
engen ſchwarzen Gehäuſe, welches da auf drei Stühlen
ſtand, mit den Lichtern, die morgen früh beim ehren-
vollen Begängniß angezündet werden ſollten, auf
einem vierten Stuhle neben ſich. Daß der liebe
Freund, der getreue, müde Wandersmann auch unter
Blumen und Kränzen lag, verſtand ſich von ſelber.
Das koſtete um dieſe Jahreszeit im Matthäusviertel
nichts, und die Nachbarſchaft that gern das Ihrige
hierin, ihre Theilnahme zu bezeigen.


[219]

Es ſtand noch ein Stuhl auf dem Flur, auf
welchem die Hauskatze ſaß und ernſthaft auf die alten
und jungen Geſichter ſah, die in die Hausthür guckten.


„Puh,“ ſeufzte Stopfkuchen, „ich habe doch meine
Energie ein wenig überſchätzt. Schwül und heiß!“
Er hob den Strohhut von der ſchweißglänzenden
Stirn und trocknete ſich den Kopf mit dem Sacktuch.
„Entſchuldige, Eduard,“ ſagte er, hob den Stuhl
an der Lehne, ließ das Thier hinuntergleiten und
ſetzte ſich ſelber: „Einen Augenblick, Eduard, und
ich bin vollſtändig wieder zu Deiner Verfügung.“


Das oder dergleichen ſagte er, während ich ſtand
und augenblicklich wenigſtens nichts zu ſagen, ſondern
nur recht viel mit dem mehr oder weniger dunkelen
Gefühl, das bei ſolchen Gelegenheiten die Oberhand
gewinnt, zu thun hatte.


„Fritze Störzer! Der alte Störzer!“ . . . und
ich that, was ich vorhin mir vorgenommen hatte: ich
legte die Hand auf den Sarg, dahin wo die Füße
ruhten, die, wie die Herren im Brummerſumm aus-
gerechnet hatten, fünfmal um die Welt geweſen waren.
Stopfkuchen fächelte ſich immer noch mit dem Taſchen-
tuch kühlere Luft zu.


Der Menſch aber muß bei ſolchen Gelegenheiten
irgend etwas ſagen.


„Du konnteſt nichts dafür; aber Du biſt eben
unter Deiner Hecke liegen geblieben, Heinrich!“ ſagte
ich. „Ich aber bin mit ihm gegangen, gelaufen,
habe mit ihm ſeinen trefflichen Tröſter, den Le Vaillant
ſtudirt! Und wenn mich ein Menſch von ſeinen
[220] Wegen auf die meinigen hingeſchoben und mich nach
Afrika befördert hat, ſo iſt dieſer hier, mein alter,
guter Freund, mein älteſter Freund Friedrich Störzer
es geweſen. Möge er ſanft ruhen!“


„Amen!“ ſagte mein Freund Heinrich Schau-
mann wieder aufſtehend. „Jawohl! das kann ich
ihm ja wohl auch wünſchen — von unter meiner
Hecke weg! Er gehörte nicht zu den ſchlimmſten
Lebens- und Weggenoſſen. Er war ein halber Idiot,
aber er war ein braver, ein guter Kerl. Na, —
dann ruhe auch meinetwegen ſanft, grauer Sünder,
Du alter Weltwanderer und Wegſchleicher. Nun
laßt endlich aber auch mich aus dem Spiel und
macht die Geſchichte drüben unter euch Dreien aus,
ihr Drei: Kienbaum, Störzer und Quakatz!“


Er hatte eine Fauſt gemacht; aber er legte ſie
ſo leiſe auf das Kopfende des Sarges, wie ich meine
offene Hand auf das Fußende.


„Was?“ fragte ich zuſammenfahrend, und Schau-
mann ſagte:


„Ja.“


Der Kapitän behauptet, daß er ſo einen Menſchen
wie mich (er drückte ſich engliſch aus und ſagte
Gentleman), ſo lange er fahre, noch nicht auf ſeinem
Schiffe gehabt habe. Er war eigens meinetwegen
[221] hinuntergekommen, um mich heraufzuholen und auch
mir die Berge von Angra Pequeña auf unſerer Lee-
ſeite zu zeigen, und ich hatte nur geantwortet:
„Komme gleich,“ und hatte vergeſſen, zu kommen
und hatte den braven Alten nicht einmal davon be-
nachrichtigt, daß ich dieſe Berge bereits kenne. — Ich
wollte nach ſeiner Hand greifen, nicht nach der des
Kapitäns, ſondern nach der Stopfkuchens, als er,
Heinrich, mir warnend zunickte und mit dem Daumen
kurz zur Seite deutete. Da ſah ich, daß wir Beide
jetzt nicht mehr allein neben dem Sarge ſtanden.


Es war eine Frau, auch mit einem Kinde auf
dem Arme und einem andern an der Schürze, aus
der Stube gekommen und ſtand verweinten Geſichtes,
verlegen, verwundert und ſagte:


„Guten Tag die Herren! das iſt doch zu gütig
von Ihnen. Ja, da liegt nun der Vater! ſo ein
guter Mann für uns! Sie kenne ich wohl, auch
durch Ihre liebe Frau, Herr Schaumann; aber der
andere Herr, der uns hier auch die Ehre ſchenkt in
unſerem Kummer, hat er ihn auch gekannt, unſeren
lieben Großvater?“


„Freilich, liebe Frau Störzer. Es iſt ja recht,
Sie haben erſt nachher hier ins Haus geheirathet:
dieſer Herr hat ſeinerzeit den Schwiegerpapa ganz
gut gekannt, wenn auch nicht ſo gut wie ich. Das
iſt wohl Ihr Kleiner da auf dem Arm — der Enkel?
und hier am Rock die Enkelin?“


„Ja, ja, liebe Herren! und wir Drei ſind nun
nur noch allein übrig und wiſſen heute noch nicht in
[222] unſerer Verlaſſenheit, was aus uns werden ſoll, da
der Großvater nicht mehr da iſt. Wer hätte das ſo
ſchnell für möglich halten ſollen? Er war noch ſo
rüſtig zu Fuße! Er hätte gut noch manch liebes
Jahr gehen können in ſeinem Amte! Es war ja
immer eine Verwunderung hier im Viertel über ihn
und ſein Stolz dazu, daß er immer noch auf den
Beinen ſich hielt wie der Jüngſte.“


„Nun, das kann in einem Alter wie das ſeinige
freilich nicht jeder von ſich behaupten, und das iſt
doch auch ein Troſt, liebe Frau; und das Übrige
wird ſich ja auch wohl finden und machen. So eine
rüſtige, junge Frau bloß mit Einem auf dem Arm
und Einem an der Schürze! Man ſchlägt ſich ſchon
durch und im Nothfall helfen auch wohl Andere. Was
hat er denn für einen Tod gehabt, Frau Störzer?“


„Ja, Gott ſei wenigſtens dafür Dank! einen
recht guten! . . . Viel leiden hat er nicht müſſen, ſagt
der Herr Doktor. Und das ſoll man ihm auch wohl
gönnen; denn auf der Seele hat ihm wohl Nichts zu
ſchwer gelegen. Daß aber jetzt gerade Sie ſo gütig
ſind und hier zu uns an ſein letztes Ruhebett treten,
das iſt mir faſt wie eine Schickung, Herr Schau-
mann! Nämlich gerade bei Ihnen, Herr Schaumann,
oder auf Ihrer rothen Schanze iſt er in ſeinen letzten
Tagen und Stunden recht häufig anweſend geweſen.
Er hat immerfort nach der Schanze hinausgewollt:
da hätte er noch eine wichtige Sache und Beſtellung.
Davon hat er immerzu geſprochen und von einer
Beſtellung bei Ihnen, das heißt bei Ihrem ſeligen
[223] Herrn Schwiegervater, dem ſeligen Herrn Quakatz,
dem man — nun Sie wiſſen ja und nehmen's wohl
nicht übel — geredet. Wir mochten ihm zuſprechen,
wie wir wollten; er iſt immer dabei geblieben, daß
er nach der rothen Schanze hinaus müße: er hätte da
noch etwas abzugeben gegen Quittung. Aber dies
waren auch ſeine unruhigſten Einbildungen, und
dabei iſt er zuletzt, ohne daß es Einer gemerkt hat,
ſanft eingeſchlafen.


Heinrich zuckte die Achſeln, ſah mich an und
nach den Kinder-, Weiber- und Alt-Männergeſichtern,
die in der Hausthür auf den Sarg gafften. Er
deutete auch nach dieſen hin und fragte:


„Nun, was iſt Deine Meinung, Eduard? Seinen
Schlaf ſtöre ich nicht dadurch: ſoll ich jetzt die Welt
da von der Gaſſe hereinrufen an ſein Kiſſen? Soll
ich nun ſelber von dieſer Stelle aus ore rotundo
das Geheimnis ihr kundmachen? Oder findet ſich
doch noch ein paſſenderes Organ der Mittheilung?
Oder — vielleicht — wünſcheſt Du ſelber —“


Ich brauchte nicht zu antworten, ſelbſt wenn ich
es gekonnt hätte. Der Mann von der rothen Schanze
nahm meinen Arm, ſagte der Schwiegertochter des
Seligen noch einige tröſtende Worte, die ſich auf den
Gemüſegarten, den Butter- und Eierhandel von
Quakatzenburg bezogen, täſchelte die Enkel auf die
Köpfe und ſo traten wir wieder hinaus in die Welt
vor der Thür, ſchritten durch die Gaffer und brachten
den Abendhimmel nicht zum Einfallen über dem
Sankt Matthäusviertel.


[224]

Ja, ich ſelber! in der nächſten Gaſſe erſt fragte
ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welt-
einſturz erwachend:


„Was nun? Wohin nun? Willſt Du mich in
meinen Gaſthof begleiten, Heinrich?“


„In Deinen Gaſthof? Hm! Wieder in ein
Privatzimmer daſelbſt? Hm, hm! Weißt Du, Eduard,
ich bin ſo lange nicht aus dem Kaſten gekommen,
habe ſeit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe
geſeſſen: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht
bei meinem alten Mädchen zu Hauſe, unter unſern
Bäumen, hinterm Ofen, hinter unſern Wällen, kurz
im Kaſten! Aber jetzt ſpüre ich das Bedürfniß
danach, die Ellbogen ſo auf ſo einen Tiſch am Wege
zu ſtemmen und das Leben durch die große Gaſtſtube
und auf der allgemeinen Landſtraße vorbeipaſſiren zu
ſehen. Komm Alter, wir ſitzen vor Deinem Abſchied
und Deiner Abreiſe noch einmal im Goldenen Arm!“


Ich ſah noch alles nur wie durch einen Schleier:
die Gaſſen, die mit uns gehenden oder uns begegnen-
den Menſchen, vernahm die Stimmen, das Wagen-
geraſſel wie im Traum und fand mich plötzlich
wirklich an einem Fenſtertiſch im Goldenen Arm
ſitzend, indem ich Stopfkuchen puſtend Platz nehmen
ſah und ihn aufathmend ſeufzen hörte:


„So!“
und nach einer Weile:


„Ja, ja, ja, ja, wer erſchlug den Hahn Gockel?“


[225]

Um dieſe Stunde des Tages war in einer ſo
ſoliden Stadt wie die unſerige noch Niemand in der
Schenkſtube des Goldenen Arms vorhanden als das
Schenkmädchen, die Sommerfliegen, die für den Abend
blank geſcheuerten Lindenholztiſche, die Stühle und
Bänke, die auswärtigen Zeitungen vom geſtrigen
Tage, nebſt dem heutigen „Abendblatt“ der ſtädtiſchen
Preſſen. Wir kamen ſo früh, daß die Kellnerin ganz
verwundert aufſchaute, als wir eintraten. Aber es
fand ſich auch hier, daß man den dicken Schaumann
von der rothen Schanze ganz gut perſönlich kannte,
ohne daß er oft den Fuß von ſeinem Wall in die
große Welt hinausſetzte.


Heinrich wurde natürlich von der jungen Dame
mit ſeinem Namen begrüßt und indem ſich dieſelbe
nach unſeren Befehlen erkundigte, fragte ſie höflich
auch nach dem Befinden meines Freundes.


„Kind, erſt etwas Kühles, dann die warme An-
theilnahme. Herz, früher pflegte des dicken Schau-
manns wegen immer friſch angeſtochen zu werden!“


„Und es iſt auch diesmal geſchehen. Grad als
wenn wir Sie erwartet hätten, Herr Schaumann.“


Es kam ein ſäuberlich Getränke. Stopfkuchen
hob den Krug, beäugelte Farbe und Blume, ſog,
ſetzte ab, reichte den Humpen geleert hin, kniff wahr-
haftig die Mamſell in die Backen, als komme er noch
jeden Abend als Stammgaſt. Dazu nannte er ſie
dann ſein „liebes Mäuschen.“ Der Stoff mußte
alſo ganz ſeinen Beifall haben.


W. Raabe. Stopfkuchen. 15
[226]

Es wurden zwiſchen ihm und dem Mädchen noch
einige Scherzreden gewechſelt, bis er mit einem Male
ſich wieder zu mir wendete:


„Nun aber zu unſerm Geſchäft, lieber Eduard.“


Das Fräulein verſtand den Wink, zog ſich in
ihren dunkeln Winkel hinter dem Schanktiſche zu
ihrem Strickſtrumpf zurück und ſah nur von Zeit zu
Zeit um die Schranckecke nach unſern Bedürfniſſen
aus. Wir beiden Andern am offenen Fenſter, mit
dem Ellenbogen nach alter Weiſe auf dem Tiſche und
dem Bierkruge vor uns, hatten hier am Platze
Quakatzenburg, das Viertel Sankt Matthäi am Letzten,
das deutſche Volk und die Welt „ſo im Ganzen“ eine
genügende Zeit für uns allein.


„So macht es ſich ja wirklich ganz behaglich,
und jedenfalls viel beſſer als wie ich es mir in un-
nöthigerweiſe überreizter Phantaſie manchmal zurecht
gerückt habe,“ brummte der Freund. „Du glaubſt
es mir vielleicht nicht, Eduard, aber es iſt doch ſo:
ich habe mir manchmal den Kopf darüber zerbrochen,
zu welcher Tagesſtunde, an welchem Orte, und zu
wem ich am bequemſten und liebſten von, von —
nun von dem Hahn Gockel reden würde. Es macht
ſich Alles, Alles doch gewöhnlich leichter, als man es
ſich unter ſeinen Beängſtigungen einbildet. Dieſe
Stunde gefällt mir ausnehmend, dieſer Ort paßt mir
ganz, und das Kind hinter ſeinem Schenkentiſch, kann
mir auch nur von der allerhöchſten Weltregierung
dahin geſetzt worden ſein.“


„Heinrich?!“


[227]

„Eduard? . . Nun bitte ich Dich aber dringend,
Eduard, daß Du Dich auch fernerhin als bloßen
Chorus in der Tragödie betrachteſt. Fahre Du dreiſt
morgen wieder ab nach Deinem Kaffernlande und
ſinge mir da meinetwegen ſoviele Begleitſtrophen und
Begleitgegenſtrophen zu der Geſchichte wie Du willſt:
ich für mein Theil denke doch nur: da habe ich dem
guten alten Kerl doch noch eine nette Erinnerung an
die alte gemüthliche Heimath mit aufs Schiff gegeben.“


Ich konnte nur durch eine matte Handbewegung
antworten; Stopfkuchen warf noch einen Blick in die
Gaſſe und einen hinter den Schenktiſch und ſagte:


„Von allen Menſchen, ſo auf Erden um dieſe
grauſame und erſchreckliche Hiſtorie herumwandelten,
ſchnüffelten und ſich die Köpfe zerbrachen, hätte von
rechtswegen ich der letzte ſein ſollen, dem das Ver-
gnügen, ſie vor einer gemalten Leinwand und zu
einer Drehorgel kund zu machen, aufgehalſt werden
durfte. Meinſt Du nicht, Eduard?“


„Aber nein — nein! Du, der Mann und Er-
oberer der rothen Schanze! der Schützer und Troſt-
bringer der armen Valentine, der — Rechtsnachfolger,
ja der Rechtsnachfolger des Bauern Quakatz!“


„Ach was! ich meine natürlich dem Charakter
und der körperlichen Veranlagung nach, Menſchen-
kind! Ich hatte doch ſowohl dem einen, wie der
andern nach garnichts damit zu thun. Was hatte
der dicke Schaumann vor und von der rothen Schanze
mit Kienbaums Morde und Kienbaums Mörder zu
ſchaffen, ſoweit es auf die juriſtiſche Löſung der Frage
15*
[228] ankam? Nichts! Garnichts! Nun, das Schickſal hat's
mir ſo beſtimmt, und ich kann denn weiter nichts
dagegen machen, als mir wenigſtens die Form vor-
zubehalten oder auszuwählen. Kommt dieſelbe der
Weltregierung und allerhöchſten Juſtiz nicht dramatiſch
effektvoll genug heraus, ſo iſt das nicht meine Schuld.
Na, wenn mich Meta, da hinter der Anrichte, noch
nicht ganz verſteht, ſo würde mich ein gewiſſer Strat-
forder Poet gewiß ſchon verſtehen und ſich auf der
Stelle vornehmen, auch aus mir mal was Dramatiſches
zu machen.“


„Riefen Sie, Herr Schaumann?“ fragte es über
die ‚Anrichte‘ und um den Gläſerſchrank herum.
„Wünſchen Sie etwas?“


„Nein, Herz. Jetzt noch nicht; aber bald. Bleib
jedenfalls in der Nähe: wir brauchen Dich ganz ge-
wiß noch und ich kann durchaus nicht ohne Dich
fertig werden.“


„Ich bin immer hier und höre mit beiden
Ohren.“


„Schön, biſt ein gutes Mädchen. Alſo, lieber
Eduard, wir, meine Frau und ich, haben Dir vorhin
den Tag über unter unſern Bäumen und hinterm
Wall des Prinzen Xaver Einiges über die letzten
Jahre unſeres alten Herrn, unſeres Vaters Andres,
mitgetheilt und Du wirſt daraus entnommen haben,
daß es unſer Beſtreben geweſen ſein mußte, ſie ihm
ſo behaglich als möglich zu machen. Das iſt uns
gottlob, ſoweit es eben möglich war, gelungen. Zu
dieſer Aufgabe konnte mich die ewige Gerechtigkeit
[229] ſchon eher, ſowohl meiner Körper- wie Geiſtes-
Konſtitution nach, auch mehr nach meinem Geſchmack
nützlich verwerthen. Dagegen hatte ich garnichts ein-
zuwenden. So gut wie mir ſelber konnte ich auch
einem Andern und noch dazu dem Vater meiner Frau
vulgo Schwiegervater, ein Kopfkiſſen unter den Kopf
legen. Das ländliche Geſchäft hob ich uns natürlich
bald ſo viel als möglich vom Nacken. Der Herrgott
hatte es wohlwollend ſo eingerichtet, daß die beſten
Zuckerrüben der ganzen Gegend auf unſerm Grund
und Boden wuchſen. So verpachtete ich den größten
Theil der Äcker vortrefflich an die nächſte Zuckerfabrik;
und führte auf dem Reſte von Tinchens Erbgute
perſönlich den Pflug nur ſoweit zu Felde als das
eben zu dem gewohnten Behagen meines Bauer-
mädchens gehörte. Dein afrikaniſches Koloniſtenauge
wird es Dir gezeigt haben, lieber Eduard, daß es
heute gar ſo übel nicht ausſieht, ſowohl auf der rothen
Schanze, wie um ſie her. Ich mache übrigens gar
kein Hehl daraus, daß der Schwiegervater, der Bauer
Andreas Quakatz, auch abgeſehen von ſeinem Grund-
beſitz, ein vermöglicher Mann war; daß er Geld hatte,
einerlei woher das ſtammte, ob von Kienbaums
Morde oder nicht.“


Es fuhr haſtig ein Weiberkopf aus dem
Winkel vor.


„Ja, es iſt recht, Schatz! komm her und fülle
ein. Dem Herrn da auch noch einen Schoppen,“
ſagte Stopfkuchen. „Er, Eduard, ich meine der alte
Andres, wußte nur nichts mit dem Mammon anzu-
[230] fangen, als ihn höchſtens den Advokaten in ſeiner
Sache in die Taſchen zu ſtecken. Dabei ſteckte ich
einen Pfahl mit einem Strohwiſch und der Inſchrift:
‚Laſſet die Todten ihre Todten begraben. In andern
Geſchäftsangelegenheiten wende man ſich an Heinrich
Schaumann, Rentner. Sprechſtunden nach Verab-
redung.‘ Einen Hinweis auf Euern Scherznamen
‚Stopfkuchen‘ ließ ich aus, denn der verſtand ſich ja
bei Jedermann auf Meilen Weges in der Runde von
ſelber, wo es ſich um mich und gar noch in meiner
jetzigen Verbindung mit der rothen Schanze handelte.
Bleiben wir bei dem richtigen Herrn derſelben. Sie
hatten ihm Knochen genug in den Weg geworfen:
ich gewann ihn für die Paläontologie. Ich nahm
ihn mit auf mein Feld hinaus. Am Stock, auf
Krücken, im Rollſtuhl, nahm ich ihn mit an meine
Steinbrüche, Kies- und Mergelgruben und überzeugte
ſein armes, konfuſes Gehirn vollſtändig, daß dieſe
Knochenſuche ſehr genau mit der Zuckerraffinerie und
alſo auch mit dem Steigen und Fallen unſerer Fabrik-
aktien zuſammenhänge. Hatte ich ihm als dummer
Junge durch mein Latein imponirt, ſo imponirte
ich ihm jetzt durch Paläozoologie und Paläophytologie.
Tinchen, der ich von Frauenrechtswegen, mit meiner
Lieberhaberei lächerlich vorkommen mußte, wußte ſie
in dieſer Hinſicht aber doch zu ſchätzen, ja, weinte
Thränen der Rührung, der dankbarſten Rührung über
ſie. Als wir unſer Olimsfaulthier gefunden hatten, und
ihr Papa, kindiſch-kichernd und behaglich grunzend
ſich die Hände in ſeinem Lehnſtuhle rieb, nannte auch
[231] ſie es ein herziges Geſchöpf und großartig, und räumte
ihre beſte Wäſchekammer aus, um einen würdigen
Aufbewahrungsplatz für das Scheuſal zu ſchaffen. —
Was ſoll ich Dir noch viel davon reden, Eduard?
Wir halfen unſerm Vater ſo gut als möglich über
ſeine letzten Lebensjahre weg, und ließen, nach Ver-
ordnung des Arztes, Kienbaum ſo wenig als möglich
an ihn heran. Wenn ich mich beſcheiden mal rühmen
will, ſo ſage ich: ja, es iſt mein Stolz und darf mein
Stolz ſein, daß ich dieſem langweiligen Spuk ein
Ende gemacht habe, daß ich dieſem Geſpenſt die dürre
Lemurengurgel zudrücken und ihm mit den Knieen den
modrigen Bruſtkaſten einſtoßen durfte, daß der dicke
Schaumann es war, der das Gerippe zu Staub ver-
rieb. Das andere Gerippe, unſern allgemeinen Freund
Hein hielt ich freilich nicht dadurch von der rothen
Schanze ab. Das fraß den Bauer Quakatz wie es
den Prinzen Xaver von Sachſen gefreſſen hat, von
Kienbaum garnicht mehr zu reden. Und wenn ich
meinerſeits zuletzt doch noch einmal einen Wall hätte
gegen es aufwerfen können: wer weiß, ob ich es
gethan hätte? Es war doch eine Erlöſung, als wir
dem alten Herrn das letzte ſchwere Deckbett aus guter
Dammerde auflegten. Er ſelber hat ſich wohl in
ſeinem Leben kein leichteres über den Kopf gezogen,
und er thut jedenfalls heute noch einen guten Schlaf
darunter nach den ungemüthlichen Träumen, die ihm
der ſogenannte helle lichte Tag ſeines Vorhandenſeins
in der Präſenz- und Steuerliſte des Menſchenthums
beſchert hatte. Wir begruben ihn in Maiholzen an
[232] einem wunderſchönen Sommermorgen, ganz in der
Frühe. Das Dorf war natürlich vollſtändig an der
Verſenkung verſammelt; aber wir hatten auch Herr-
ſchaften aus der Stadt dabei. Da war zum Beiſpiel
der Exekutor Kahlert, der in der heiligen Frühe in
Amtsgeſchäften bei uns draußen ſich eingefunden hatte,
da war Schneidermeiſter Buſchs Junge, der unſerm
Paſtor die neue Hoſe herausgebracht hatte, in welcher,
wie ich Dir gleich auseinanderſetzen werde, der geiſt-
liche Hirt meine Rede hielt. Da war Fräulein
Eyweiß, die durch ihre Brunnenkur zu uns hinaus-
geführt worden war und die ihre Karlsbader Brunnen-
flaſche auf einem der nächſten Grabſteine abgeſtellt
hatte, um ſich freier ihrer angenehm-gerührten Theil-
nahme an dem immer intereſſanten Vorgang über-
laſſen zu können. Auch den Landbriefträger Störzer,
der auch in ſeinem Amte ſchon draußen war, ſah ich
in der Verſammlung am Grabe. Meta, Sie ſind
doch noch da? Grauſame Schöne, willſt Du denn
wirklich den dicken Schaumann von der rothen Schanze
verdurſten laſſen?“


„O, Gott, ja, ja! gleich! Oh, wie Sie das Alles
ſo erzählen, Herr Schaumann, da muß man ja zu-
hören!“


„Nicht wahr, Kind? . . Alſo Eduard, da auch
Du noch zuhörſt: wenn es einen Menſchen in der
Welt gibt, außer Dir natürlich, mit dem ich mich
gut ſtehe, ſo iſt dies mein angepfarrter Seelſorger,
der Paſtor von Maiholzen. Wir thun uns einander
garnichts; aber wir halten das behagliche Nebenein-
[233] anderleben in der gemüthlichſten Weiſe aufrecht. In
der letztern Hinſicht thun wir einander ſogar alles
zu Gefallen was wir nur können. Er weiß in allen
menſchlichen Dingen Stopfkuchen zu ſchätzen und ich
ihn. Selbſtverſtändlich war ich am Tage vorher,
das heißt vor dem Begräbniß, bei ihm und beſprach
mit ihm die Sache. Ich traf ihn, oben an ſeiner
Dachrinne hängend. Es hatte einer ſeiner Bienen-
ſtöcke geſchwärmt, und der Weiſel war auf die Idee
gekommen, ſich dort feſtzuſetzen. Ich hielt dem zweit-
dickſten Mann der Gegend die Leiter und korrigirte
ihm nachher in der Laube ein wenig in ſein Manuſkript
hinein. Letzteres iſt aber nur eine kulturelle Redens-
art: der Mann ſpricht aus freier Hand und — gut,
wenn er in der Stimmung iſt. Und zu der Stimmung
des Menſchen kann der Nebenmenſch ein Erkleckliches
beitragen. Ich that dies, und als wir ſpäter an dem
warmen Abend mit einem Wetterleuchten am Horizont
an ſeiner Gartenpforte von einander Abſchied nahmen,
ſagte er: ‚Seien Sie ganz ruhig, Herr Nachbar;
ich bin vollſtändig Ihrer Anſicht.‘ Am andern
Morgen redete er denn auch, möglichſt annähernd
Das, was ich zu ſagen hatte. Ich räuſperte mich —
nein, er räuſperte ſich und ſprach: ‚Nun ſieh mal,
chriſtliche Gemeinde, da liegt er — mauſetodt!‘


„O Gott, Herr Schaumann, das kann der Herr
Paſtor doch nicht geſagt haben!“ klang es hinter dem
Schenktiſche hervor.


„Ich bin dabei geweſen, Kind. — Todt iſt er und
ihr lebt. Er iſt ſo todt wie Kienbaum, den er, nach
[234] der Meinung der Mehrzahl von uns, todtgeſchlagen
haben ſoll. Er ſteht nun vor dem Richter, der das
letzte Wort in dieſer dunkeln Sache ſprechen wird:
ſollten wir jetzt wenigſtens nicht doch ein wenig mehr,
hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben
wir dem ſtillen Mann hier vor uns nicht doch viel-
leicht zu viele Steine des Ärgerniſſes in den Weg
geworfen? Chriſtliche Gemeinde, meine lieben Brüder
und Schweſtern, haben wir nicht doch vielleicht etwas
zu lauthalſig Racha über ihn geſchrien? Wenn er
nun da an den ſchwarzen Deckel pochte, und noch
einmal wenigſtens für einen Augenblick herausver-
langte, um ſein Verdikt von da oben her ſchriftlich
uns zuzureichen, was würden wir da thun? wer
würde die Hand ohne Bangniß nach dem Blatt aus-
ſtrecken? O, liebe Brüder und Schweſtern, beim
Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden
ſind wir wohl ſo ziemlich alle hier im Kreiſe an-
weſend geweſen; aber ich wünſchte auch, es wären
wenigſtens Einige von euch vorgeſtern Abend mit
mir nach der rothen Schanze gegangen, daß ſie ſich das
friedliche Geſicht des eben Entſchlafenen hätten an-
ſehen können. Da hätten wohl Einige, die ſchon in
ſolche Geſichter haben ſehen müſſen, ſicherlich geſagt:
Dieſer muß trotz allem eines ſanften Todes geſtorben
ſein! —


Chriſtliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun
doch nicht todtgeſchlagen hätte?... Hätte er da nicht
vor dem letzten Richter ſein Wort ſprechen dürfen?
Ich glaube, er hat die Erlaubniß erhalten; und wie
[235] ich ihn kennen gelernt habe (er war kein weicher
Mann) hat er geächzt: ‚Herr, Herr, was ich ſonſten
geſündigt haben mag, das haben ſie da unten mich
ſchon reichlich büßen laſſen durch Mißachtung, ſcheele
Blicke, Fingerdeuten, Abrücken im Kruge und Allein-
laſſen bei jeder Haushaltsnoth. Wenn ich nun als
ein vergrellter, in ſeinen Erdengrimm verbiſſener
Mann zu Dir komme, Herr des Himmels und der
Erden, ſo zieh von meiner Strafe im ewigen Leben
meine tagtägliche und allnächtliche Büßung da unten in
der Sterblichkeit ab, grundgütiger Gott. Und ver-
gib ihnen in Maiholzen und der Umgegend auch,
was ſie nach unſerer armen Menſchenweiſe an
mir zuviel gethan haben.‘ — Liebe Brüder und
Schweſtern, wir wiſſen alle bis zu dieſer Stunde
noch nicht, wer eigentlich Kienbaum todtgeſchlagen hat.
Der Bauer Andreas Quakatz von der rothen Schanze
iſt todt und hat Rechenſchaft über ſein Leben abgelegt;
aber vielleicht — chriſtliche Gemeinde, ich ſage viel-
leicht! — vielleicht geht noch ein Anderer im Leben
umher als ein lebendiges Beiſpiel davon, was der
Menſch aushalten kann mit einer Blutthat auf der
Seele und dem täglichen und nächtlichen Bewußtſein,
einen Andern, einen Unſchuldigen dafür aufkommen
zu laſſen! Wenn dieſes der Fall iſt — wenn Kien-
baums Mörder noch lebt; dann — o dann, chriſtliche
Gemeinde, laß uns auch für ihn, ihn — hier, hier
an dieſem Grabe ein ſtilles Gebet ſprechen, wie für
den beruhigten Todten in dieſem Sarge vor unſern
Füßen. Den beiden Hauptleidtragenden, vor allem
[236] der Tochter, ſage ich noch: ‚Der Herr ſprach: Weine
nicht! und er gab ihn ſeiner Mutter.‘ Wer aber von
uns, geliebte Brüder und Schweſtern, noch über das
Grab hinaus, über den Bauer Andreas Quakatz auf
der rothen Schanze, ſeine Nachkommen und ſein Erbe
mit ſeinen ſchlimmen Gedanken anhalten will, der
laſſe wenigſtens ſeine Hand von dieſer Schaufel, auf
welche ich jetzt die meinige lege. Dies Grab will
deſſen Beihülfe zu ſeiner Ausfüllung nicht. Amen.“


„Amen! o Gott, o Gott!“ murmelte es hinter
dem Schenktiſch.


„Es kam nun das, zwiſchen den übrigen litur-
giſchen Formeln nie ſeine Wirkung verfehlende: ‚Von
Erde biſt Du genommen; zu Erde ſollſt Du wieder
werden,‘ und die Schaufeln gingen von Hand zu
Hand mit einer bangen Haſt, mit einem Eifer, wie
ich noch nicht bei ähnlichen Fällen zu bemerken die Ge-
legenheit hatte. Sie warfen alle dem übelberüchtigſten
Menſchen der Gegend die drei Spaten voll Mutter-
boden nach. Alle bis auf Einen! — Es gab das
bekannte dumpfe Gepolter und die dazu gehörigen
Gefühle: letztere diesmal im verſtärkten Maaße. Es
war als wünſchte Jedermann, ſich wenigſtens zuletzt
noch auf dieſe Weiſe mit dem Andres Quakatz im
Guten abzufinden. Sie wünſchten vielleicht doch auch
ein wenig Dorf Maiholzen in der Wertſchätzung der
rothen Schanze zu rehabilitiren. Ich als der jetzt am
nächſten zu dem alten Bollwerk des Prinzen Xaver
von Sachſen Stehende, bekam natürlich zuerſt vom
Todtengräber die Schaufel in die Hand und that die
[237] drei Würfe. Und nun weiß ich wirklich nicht, liebſter
Eduard, wie es kam, daß ich bei dem dritten ſo für
mich hinmurmelte: ‚Für Kienbaums Mörder.‘ Schö-
nen guten Abend Herr Müller!“


Der Gruß galt einem draußen in der Gaſſe
unter dem Fenſter vorbei Wandelnden, und dieſer
hielt verwundert an: „I, Herr Schaumann, auch
mal wieder am alten guten Ort? Nun, das iſt brav.
Na, dann halten Sie mir den Platz feſt; ich denke
in einem halben Stündchen iſt unſer Stammtiſch
wieder ſo ziemlich vollzählig beieinander.“


„Ich reichte den Spaten dem mir jetzt nächſt
Stehenden und ſah in ein ſehr merkwürdiges Geſicht.
Den Spaten hätte ich eben ſo gut ins Leere reichen
können. Er fiel zu Boden und wurde erſt von einem
Nachdrängenden, dem Ortsvorſteher aufgegriffen. Der,
dem ich die Höflichkeit hatte erweiſen wollen, war
unter das Volk, das heißt unter die Weiber und
Kinder zurückgewichen, und hatte ſie, meine Höflich-
keit meine ich, wahrſcheinlich nicht bemerkt. Mich
aber durchfuhr es: ‚Was iſt das? was ſoll das?‘
und dann: ‚Biſt Du verrückt, Stopfkuchen, oder kann
dies wirklich etwas zu bedeuten haben?‘ — Es hatte
Niemand außer mir, auch meine Frau nicht, im
Kreiſe um das Grab des Bauern von der rothen
[238] Schanze bemerkt, daß eben etwas Abſonderliches ge-
ſchehen ſei, daß Einer die drei Schaufeln für den
Todten mit dem Zeichen Kains auf der Stirne ver-
weigert habe.“


„Herr Schaumann!“ klang es hinter dem Schenk-
tiſche, und ich hörte trotz aller eigenen Erregung, das
Mädchen die Hände zuſammenſchlagen.


„Und Du, Du, Heinrich, was thateſt Du?“


„Ich? Ich führte fürs Erſte meine Frau nach
Hauſe. Für dieſe armen Würmer iſt's wirklich nichts,
ſo blind, betäubt, verbieſtert durch ihre Thränen in
ſolche Grube auf den erdkloßüberhäuften Sarg hin-
unter zu gucken und lange dabei ſtehen gelaſſen zu
werden. Ich hatte doch vor allem ihr erſt das zu
ſagen, auf was man einem liebſten Menſchen gegen-
über unter ſolchen Umſtänden an Kirchhofsgemein-
plätzen angewieſen iſt. Maiholzen half mir übrigens
dabei mit beſtem Willen. Sie wollten Alle auf dem
engen Wege zwiſchen den Gräbern uns die Hand
drücken, und Einige kamen auch und redeten: ‚Herr
Schaumann, wenn es Ihnen und der Frau recht iſt,
ſo laſſen wir Alles nun vergeſſen und begraben ſein.
Es iſt ja ganz richtig wie der Herr Paſtor ſagte, zu
ſcharf ſoll Keiner mit dem Andern ins Gericht gehen,
und, Alles in Allem genommen, hatte der Selige
doch auch ſeine guten Seiten, und Mancher hätte ſich
da ein Muſter an nehmen können.‘ Darauf ant-
wortete ich denn höflich, und dann überſchritten Tinchen
und ich, Gott ſei Dank, den Graben des Herrn
Grafen von der Lauſitz und waren alſo wieder in
[239] unſerer Schanze, und die Welt lag draußen, und im
Hauſe war es ſtill, und kühl unter den Bäumen.
Und die Hunde kamen, und in ihren Augen lag ein
gewiſſer Vorwurf, daß ſie nicht mit zum Grabe ge-
nommen worden waren — ſie. Und Miezchen kam
und rieb ſich zärtlich an Frau Valentine Schaumann,
einer geborenen Quakatz. Und Valentine ſank in
der dämmerigen Eßſtube auf einen Stuhl, und
ſchluchzte ſich weiter aus. Die halbe Dämmerung
und die Kühle mußten aber doch auch ihr wohlthun
nach dem hellen, heißen Licht auf dem Friedhofe —“


„Und Du, Du — Du?“


„Ich? Nun was ſollte ich denn anders thun,
als ſie ſich ausweinen laſſen und ſie dabei von Zeit
zu Zeit ſanft auf den Rücken klopfen? Als ſie
dann in die Küche hinausgerufen wurde, ſtopfte ich
mir natürlich eine Pfeife und überlegte.


„Du überlegteſt!“


„Was ſollte ich denn anders thun? Auf was
Anderes iſt denn ein Menſch angewieſen, den man
unter der Hecke hat liegen laſſen? Vor allen Dingen
ruhig Blut, ſagte ich mir. Zeit nehmen, Stopfkuchen!
und die fünf Sinne zuſammen, Dicker! . . . Ja, was
war das nun? Haſt Du wirklich da Etwas geſehen?
Der? . . . Der? Dieſer brave, alte Biedermann und
Dummkopf? Die Sache iſt eigentlich zu dumm und
es wird Einem ſelber immer dummer, je mehr man
darüber nachdenkt. Einfältig und gutmüthig genug
ſieht er freilich aus; aber das hindert nicht bei der-
gleichen. Hm, die Kraniche des Ibykus über dem
[240] Maiholzener Dorfkirchhofe? Großartig wäre es, wenn
jetzt eine Schaufel Erde weniger in die Grube es Dir
zuwege gebracht hätte, in die Welt zu ſchreien: Hier
iſt er! der iſt's! Fort mit ihm zum Prytanen! — —
Hm, hm, aber Der? Zu dumm! das reine Friedhofs-
Morgenſonne-Geſpenſt! weiter nichts, dicker Schau-
mann! . . . Dann aber wieder: Du haſt aber doch
etwas geſehen, und nicht bloß geſehen, ſondern auch
gefühlt. Was ſteckte in der plötzlichen tauben Em-
pfindung im Magen, dem Summen und Glocken-
geläut in den Ohren und dem ſcharfen, klaren, gei-
ſtigen Ruck: Da, da, da! Jetzt, jetzt, jetzt!? . . .
Sollte ſich nicht auch einmal unter Deiner Speckhülle
etwas melden, was — na, Eduard, der Überlegung
war das doch werth: mir ging glücklicherweiſe die
Pfeife dabei aus, und ich hatte ſie wieder anzu-
zünden.“


„Du hatteſt ſie wieder anzuzünden.“


„Es iſt nämlich eine häufige Erfahrung von mir,
daß man bei rathloſem Nachdenken, in ausnehmend
ſeeliſcher Konfuſion nichts Beſſeres thun kann, als die
ausgegangene Pfeife von Neuem anzuſtecken. Die
Zündhölzer habe ich gewöhnlich zur Hand, aber eine
liebe Gewohnheit iſt es mir, trotz ihnen in die Küche
zu gehen, zu meiner Frau, und mir vom Herde einen
brennenden Span zu holen. ‚Ja, gehen Sie nur
zu ihr, Herr,‘ ſagte mir die Magd in der Stuben-
thür. ‚Sie weint doch zu bitter allein in das Feuer!‘
— Und ſo ging ich und ſtellte mich zu dem Tinchen
und ſagte ihr: ‚Nun hör auf, Herz!‘ Sagt ſie: ‚Es
[241] iſt ja auch nur noch zur Erleichterung, Heinrich; und
ich bin ja in Sicherheit und Ruhe hier bei Dir auf
der rothen Schanze; und es iſt jetzt ja alles ſo einerlei,
wer Kienbaum todtgeſchlagen und dem Vater das
Leben verbittert hat. Ach, wenn mir doch nur Keiner
mehr davon ſpräche!‘ — Da war denn die Erleuch-
tung! — Sie hob die Bratpfanne vom praſſelnden,
knackenden, flackernden Feuer, und ich nickte dem
Funkenſprühen und den Rauchwolken in den dunkeln
Rauchfang hinauf nach. Da ſie es wieder ſelber
ſagt, daß Du der rechte Mann für ſie geweſen biſt,
ſo bleibe das ferner. Verdirb ihr die Sicherheit und
Ruhe nicht, laß ihr die guten Tage, und — was
das Andere anbetrifft: na, ſo frage den alten Mann
ſelber! Aber, Stopfkuchen, hat es für unſern Herr-
gott dieſe langen Jahre Zeit gehabt, ſo wird's jetzt
auf ein paar Tage mehr auch nicht ankommen.
Frage bei paſſender Gelegenheit ſo ruhig als möglich
den alten Mann ſelber aus, Stopfkuchen. Mach es
fürs Erſte mal mit ihm alleine ab. Bleib fürs Erſte
mit der Geſchichte mal wieder ganz für Dich unter
der Hecke.“ —


Die Kellnerin ſetzte dem feiſten Folterknecht ein
friſches Glas hin und []zwar mit unſicherer Hand.
Aus weit geöffneten Augen ſtarrte ſie ihn an; aber
aber auch ſie war nicht mehr fähig, ihm darein zu
reden.


„Dein Wohl, Eduard! Einige Tage nach dem
Begräbniß gab ſich denn auch ſchon die erſte Ge-
legenheit. Ich bekomme einen Brief und ſage: Na,
W. Raabe. Stopfkuchen. 16
[242] Störzer, das ſoll mich doch wundern, was für eine
Unruhe Sie da wieder mir ins Haus ſchleppen. Iſt
Antwort darauf? — Der Alte ſieht mich natürlich
ob der Dummheit der Frage verwundert an und
meint: ‚Wie kann ich denn das wiſſen, Herr Schau-
mann? Das Briefgeheimniß iſt uns ja doch garan-
tirt, und ich bin wohl der Letzte, der es bricht.‘ —
Richtig, alter Freund! Jawohl, mit den Geheim-
niſſen anderer Leute ſoll man vorſichtig umgehen.
Nun, wiſſen Sie, es iſt wieder ein heißer Morgen;
laſſen Sie ſich draußen einen kühlen Trunk geben.
Ich möchte wiſſen, ob ich Ihnen, wenn Sie heute
wieder vorbeikommen, eine Antwort auf die Moleſti-
rung mit nach der Stadt zu geben habe. — ‚Ich
danke Ihnen freundlich für die Erfriſchung; aber ich
— ich will doch auch ohne ſie auf Sie draußen auf
der Bank warten. So lange Zeit habe ich hier wohl.‘
— Sind Sie nicht wohl, Störzer? Wo fehlt es denn?
— ‚In allen Gliedern; man wird doch eben mit der
Zeit auch alt, Herr Schaumann.‘ — Da haben Sie
Recht, grauer Lebenskamerad. Na, es kommt Jeder
einmal zur Ruhe, das haben wir ja auch vorigen
Mittwoch mal wieder geſehen. Auch der Bauer
Quakatz, mein Schwiegervater, hat das Warten auf-
gegeben und endgültig das Geſicht nach der Wand ge-
dreht. — Der Alte wendet ſich ohne was zu ſagen
und geht vors Haus. Ich erbreche im Hausgange
den Briefumſchlag und kann mich, Gott ſei Dank,
auch in jetziger Stimmung noch über den Inhalt
erboßen. S'iſt eine Einladung zum nächſten pa-
[243] läontologiſchen Kongreß in Berlin und weiter nichts.
Unſinn! das möchten ſie wohl! Dich da in dem
Neſte mit Deinem Mammuth Arm in Arm! Ja ſchön!
Mir das? Lächerlich! Sind denn die Leute ſo dumm,
oder kennt die Welt Stopfkuchen ſo wenig? Was
Der aufgegraben hat, das behält er und läßt es ſich
keinesfalls durch ſchöne Redensarten und weltlichen
Mammon abſchwindeln. — Ich gehe alſo zu meinem
Alten hinaus und ſage ihm: ‚Es iſt wirklich keine
Antwort nöthig, Störzer. Um das Briefſchreiben ſind
wir noch einmal glücklich herumgekommen.‘ — ‚Kann
mir auch Recht ſein, Herr Schaumann. Was kommt
auch bei dem vielen Geſchreibe heraus? Guten
Morgen alſo, Herr Schaumann!‘ — ‚Leben Sie
wohl, Störzer, und ſchonen Sie Ihre alten Beine.
Denken Sie wirklich immer noch nicht daran, ſich
endlich auch mal zur Ruhe zu ſetzen?‘ — Da zuckt
der Graukopf die Achſeln; aber es zuckt ihm zugleich
etwas durch das dumm-gutmüthige wetterfeſte Geſicht.
‚Es thut es noch nicht, Herr Schaumann. Man iſt
das eben ſo gewohnt geworden, und ſo hat Unſer-
einer eigentlich ſeine Ruhe mehr auf der Landſtraße
als wenn er ſo hinterm Ofen oder auf der Altvater-
bank vor dem Hauſe ſtille ſitzen ſollte. Ja, wenn
man nur des Nachts ſeine Ruhe im Bette hat, ſo
iſt man ſchon zufrieden.‘ — ‚Hm, ja — des Nachts
im Bette! Ja freilich, das ſagte ſchon der weiſe
Salomo oder Sirach, wenn man da liegen und ſchlafen
ſoll, ſo kommen Einem die Gedanken, die man des
Tages bei Regen und Sonnenſchein auf der Land-
16*
[244] ſtraße vertreten hat, und leiden es nicht. Wie oft
bin ich da zu meinem ſeligen Schwiegervater hinge-
treten und habe ihm zugeredet: Na, Vater? ſo laſſen
Sie doch die Knie zwiſchen den Armen weg und
legen Sie ſich nieder; — es iſt Alles in Sicherheit
und Frieden auf und um der rothen Schanze. Ja,
Störzer, alter Freund, Sie hätten ſich doch einen
Trunk von meiner Frau einſchenken laſſen ſollen zur
Auffriſchung. Was haben Sie denn? Tine Quakatz
gibt's gern und ein freundlich Geſicht dazu, vor-
züglich ſo einem langjährigen guten Bekannten, wie
Sie. Wirklich, Störzer, Sie machen ja wieder ein
Geſicht wie, wie — neulich — dort auf dem Mai-
holzener Kirchhofe, als ich Ihnen an unſeres ſeligen
Vaters Grube den Spaten zureichen wollte. Wiſſen
Sie wohl, lieber Störzer, daß Sie mich eben lebhaft
an des Bauern Quakatz Mienen erinnerten, wenn
man ihm wieder mal ſo durch die Blume zu ver-
ſtehen gegeben hatte, daß doch er — er — Kienbaum
todtgeſchlagen habe? Störzer, Sie ſollten doch daran
denken, ſich endlich zur Ruhe zu ſetzen! Sie werden
doch zu alt und knickebeinig für die Laſt, die Ihnen
das Schickſal als Ihr Theil vom Gewicht der Welt
auf den Buckel gelegt hat.‘ — Darauf antwortete,
ſagte er denn — wenn man es antworten, ſagen
nennen konnte — ja, ich möge wohl Recht haben,
er wolle es noch einmal mit ſeinen Kindern bereden.
Und dann ging er — wenn man das Gehen nennen
konnte, und ich ließ ihn laufen und ſah ihm bloß
ſo lange nach vom Wall des Herrn Grafen von der
[245] Lauſitz, bis er auf dem Wege nach Maiholzen um die
Buſchecke bog. Ändern ließ ſich nun für mich nichts
mehr an der Sachlage, ſo gern ich es gemocht hätte;
aber die Beruhigung, endlich mal über Etwas ganz
im Klaren zu ſein, bedeutet oder bringt nicht immer
dem Menſchen Das, was er, erleichtert aufathmend,
eine Beruhigung nennt. Was nun? iſt gewöhnlich
für beſagten armen Teufel und geplagten Erdentropf
an ſeine genauere Kenntnißnahme im gegebenen Fall
geknüpft, und ſo auch bei mir. Was würdeſt Du
in meiner Stelle auf die Frage in dieſem Falle ge-
than haben, Eduard?“


Es kommt wirklich nichts darauf an, was ich
damals geantwortet habe oder antworten konnte. Es
genügt, daß Er, wahrſcheinlich ohne meine Antwort
abzuwarten, fortfuhr: „Was mich anbetrifft, ſo glaubſt
Du ſicherlich, daß ich wieder zuerſt zu meiner Frau
ging, irrſt Dich jedoch. Diesmal ging ich zuerſt
hinten in die Kammer zu meinem Rieſenfaulthier, beſah
mir deſſen ſaubere Reſte noch einmal und ſagte:
‚Alter Geſell was hätte es denn Dir ausgemacht, wenn
Stopfkuchen ein paar Wochen oder ein paar Jahre
Dich ſpäter aufgedeckt hätte?‘ Und nachdem das
gute Thier mir die genügende Antwort gegeben hatte,
ging ich wieder zum Tinchen und beſah auch das mir
[246] wieder einmal genau, von der Friſur bis zu den
Schuhſpitzen; und dabei dachte ich denn ausnahms-
weiſe auch mal ein bißchen an mich. Ich ſtreichelte
dem Herzen die Backen: ſo unſägliche Mühe hatte es
mich gekoſtet, dies behagliche, reinliche, zierliche Rom
aufzuerbauen — und nun ſollte das alles umſonſt
ſein? Und warum? wegen weſſen? wofür und wozu?
Kienbaums wegen? Der ewigen und der menſchlichen
Gerechtigkeit wegen? Ich ſah mir mein Weib an,
ſah mir die Zeitgenoſſenſchaft an und nahm Jeden
aus der letzteren, ſo weit ſie um die rothe Schanze
herum wohnte, vor. Um nachher von der Geſammt-
heit keinen Vorwurf zu verdienen, nahm ich es mit
jedem Einzelnen ernſt; und — ich fand nicht Einen
drunter, dem ich perſönlich verpflichtet geweſen wäre,
ihm ſofort bekannt zu machen, wer in der That
Kienbaum todtgeſchlagen hatte. ‚Aber die ewige Ge-
rechtigkeit?‘ wirſt Du fragen, Eduard. Ja, ſieh mal,
lieber Freund, in deren Belieben hatte es, meiner
Meinung nach, denn doch lange genug gelegen, das
Ihrige zur Sache zu thun. Da ſie es nicht gethan
hatte und den Vater Quakatz allein hatte ſuchen laſſen,
ſo hatte ſie, ſo hatte ſie von ſeinem Schwiegerſohn
garnichts zu verlangen: ich aber durfte ſie dreiſt er-
ſuchen, jetzt meine Frau mit den widerwärtigen Ge-
ſchichten wenigſtens ſo lange als es garnicht anders
ging, in Ruhe und Frieden zu laſſen. Blieb alſo
nur die Frage: Aber Du? Nämlich ich, lieber Eduard,
Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. — Dir
ſitzt doch nun mal der Floh im Ohr, Heinrich! willſt
[247] und kannſt Du ihn wirklich ruhig ſitzen laſſen, ohne
den Kitzel wenigſtens weg zu jucken? Ein Gott
hätte man ſein müſſen, um das zu können, und,
wie ich mich auch ſchätzte, auf dieſen hohen Stand-
punkt, oder bis zu dieſer, wenn Du lieber willſt,
Dickfelligkeit hatte ich mich noch nicht erhoben, und
da ſagte ich mir denn: Na, ſo kratze Dich, da es
juckt und wo es juckt! ſitze erſt mal ſelber zu Gerichte
über den verjährten Sünder: nimm ihn mal unter-
wegs vor, aber allein! Iſt Dir in der Sache ſchon
einmal allein der Präſentirteller unter die Naſe ge-
halten worden, ſo macht ſich das ſicherlich auch zum
andern Male. Laß ſie Dich nicht umſonſt Stopf-
kuchen genannt haben. Friß auch dieſes für Dich
allein herunter. Und am liebſten auch wieder unter
der Hecke, ſo unterm Brombeerbuſch, bei ruhigem
blauem Himmel und heller Sonne, mit den Feld-
grillen als Beiſitzern und dem Angeklagten, dem
Landbriefträger Friedrich Störzer auf dem Chauſſee-
grabenrand Dir gegenüber. . . . Aber, Kind, Meta,
ſo laß Dich doch endlich mal wieder ſehen! Heraus
da aus dem dunkeln Winkel und hier an den Tiſch,
Mädchen!“


Der Folterer klappte mit dem Hammer an die
Daumſchrauben — nein, er klopfte mit dem Deckel
ſeines Kruges, und Meta bleich, aufgeregt, mit
fliegendem Athem wankte hinter ihrem Schenktiſche
hervor.


„O Gott, Gott, Herr Stopf — Herr Schaumann,
[248] lieber Herr Schaumann, ich kann ja nichts dafür,
aber —“


„Gehorcht haſt Du. Nun, weißt Du, dann
mach es Dir bequemer, ſetz Dich her und höre weiter.
Aber erſt noch einen Schoppen und dem Herrn da
— nein, der ſcheint nicht mehr zu wollen; aber er
hat auch nur zugehört und ſeinen genaueſten Freund
reden laſſen. So! jetzt rücke her, Herz, und laß Dir
erzählen. Deine Abend-Stammgäſte kommen ja wohl
bald? Ich höre die Schritte der großen Bruderſchaft
der Erde nahen, und ſiehſt Du, Eduard: beſſer konnte
ſich die Sache garnicht machen: der alte Störzer iſt
todt, hat ſeinen fünfmaligen Marſch um die Erde
vollendet, und zu dem Tinchen kommt morgen Frau
Fama auf ein halbes Stündchen zum Beſuch und
ſetzt ſich zu der Erbtochter der rothen Schanze eine
Weile auf den Grabenrand des Prinzen Xaver von
Sachſen; und ich habe es nachher wirklich behaglicher
mit meinen dazugehörigen Kommentaren. Das
Glas iſt aber ſchlecht eingeſchenkt, Jungfer!“


„O Gott, darauf achten Sie noch? Darauf
können Sie jetzt achten, Herr Schaumann?“ ſchluchzte
das entſetzte, zitternde junge Ding.


„Da, ſetz Dich her, Krabbe, und ſperre jetzt
weiter die Ohren auf, und nachher den Schnabel
meinetwegen ſo weit Du willſt: des Menſchen Maul
thut heute in dieſer Angelegenheit keinen Schaden
mehr. Wenn das Schickſal will, daß Leute zuſammen-
kommen, weiß es das ſchon einzurichten. Ich that
in dieſem Falle garnichts dazu: ich ging meine Wege
[249] und ließ Störzer die ſeinigen gehen: ihm irgendwie
hinter einem Buſch einer meiner Hecken aufzupaſſen
und ihn beim Kragen zu nehmen, lag nicht in meiner
Natur. Meine Wege? Sie führten mich nimmer
weit über meinen Grenzwall hinaus; aber doch von
Zeit zu Zeit wenigſtens ein wenig hinein in die
Feldmark. Biſt Du Mitgründer und Aktieninhaber
einer Zuckerfabrik, ſo ſiehſt Du auch in Afrika dann
und wann nach Deinen und der Andern Rüben, ſo
faul Du auch ſonſt auf Deiner Löwenhaut liegen
und Gier-Maul-Affen feil halten magſt. Auf einem
dieſer beſchwerlichen Gänge kam es denn zu der
Auseinanderſetzung. Du weißt, wo die kaiſerliche
Poſtſtraße von der Stadt her nach Gleimekendorf durch
das Bauerngehölz, den Papenbuſch, führt. Die
Schlupfpfade unſerer Jungenszeit laufen heute noch
kreuz und quer, aber theilweiſe immer auch noch auf
die Landſtraße zu. Der Buſch iſt ein wenig höher
geworden; aber der Graben, der ihn auf beiden Seiten
der Landſtraße von derſelben ſcheidet, iſt ganz derſelbe
geblieben. Man muß ihn überſpringen, oder hindurch-
ſteigen, wenn man auf den Heerweg will. Und
letzteres war meine Abſicht. Ja, ja, nur nicht zappeln,
Mariechen oder Metachen! Ich bin ein wenig breit
— auch in meiner Schöne-Geſchichten-Erzählungsweiſe.
Aber dafür ſind andere Leute deſto kürzer, und ſo
gleicht auch das ſich im Großen und Ganzen immer
wieder aus. Ob die Zweige auf dem lieben Wald-
pfade um mich her ſehr rauſchten und raſchelten, als
ich fürderſchiebend ſie auseinander bog, weiß ich
[250] nicht. Jedenfalls wurde der Mann, der da mit dem
Rücken gegen den Buſch auf dem Grabenrande ſaß,
durch mein und der Erinnyen Näherkommen nicht
ſofort aus ſeiner Beſchaulichkeit aufgeſtört. Ausnahms-
weiſe kamen die Letzteren auch mal wieder als Eu-
meniden. Meinetwegen, wenn ſich Zürnen und
Wohlwollen im gegebenen Falle vereinigen ließen,
war das mir wahrhaftig Recht! — ‚Guten Tag,
Alter! Hier iſt's ja wohl geweſen?‘ und er gab den
Gruß nicht zurück, und die Frage beantwortete er
dadurch, daß er herum und emporfuhr und ſeinen
Wanderſtab mit ſo verzerrtem Geſicht und mit ſolch
einem feſten Griffe faßte, daß ich unwillkürlich auch
den meinigen erhob und rief: ‚Sind Sie verrückt,
Störzer? Soll etwa hier am Ort der gute Freund
Schaumann dran? Na, ich meine, wir laſſen es bei
dem Einen bewenden, und die Welt hat auch wohl
genug gehabt an — Kienbaum!‘ Darauf begab ſich
etwas, was ich mir ſo nicht voraus hingemalt hatte.
Daß das arme Menſchenkind ſeinen Knüttel fallen
ließ und den dicken Stopfkuchen für den Jüngſten-
gerichts-Boten in Perſon nahm und abwehrend beide
zitternde alte Arme ihm entgegenſtreckte, das war in
der Ordnung; aber von Überfluß war's, daß es ſich
ſelbſt fallen ließ und mit einem: ‚Herr! Herr! o
Jeſus, Sie wieder?‘ die Böſchung hinabrutſchte, ſich
in ſeinen Chauſſeegraben legte und zwar auf's Geſicht —
beide Hände drunter, vor den Augen, wie ein Kind,
mit racheanlockend-hochgehobenem Hintertheil. Da
hatte ich die Beſcherung! Ich bin feſt überzeugt,
[251] wenn ich je in meinem Daſein ein Nußknackergeſicht
gemacht habe, ſo iſt's damals geweſen. Was blieb
mir nun anderes übrig, als ebenfalls in den Graben
hinunter zu ächzen und den armen Schächer an der
Schulter zu rütteln und ihm zuzureden: ‚So be-
ruhigen Sie ſich doch nur, Störzer! Es iſt ja die
ganzen langen Jahre für Sie recht gut gegangen; alſo
richten Sie ſich wenigſtens auch jetzt noch mal auf
und zeigen Sie noch einmal Ihr Geſicht. Ich gebe
Ihnen mein heiliges Wort darauf, Alter, daß ich
mit Ihnen ganz verſtändig und ruhig über die Sache
reden werde.‘ Ja rede einmal Einer zu Einem von
euch, lieber Eduard, in einem ſolchen Falle mit Ruhe
vernünftig! Es dauerte eine geraume Weile ehe
auch dieſem betrübten Sünder das bekannte Zucken
über die Schulterblätter lief und er noch durch andere
Zeichen und auch Laute bewies, daß er verſtehe, was
der gute Bruder im Erdendurcheinander auf ihn hinein-
ſpreche. Nachher haben wir denn freilich [eine] ziem-
lich inhaltvolle Vertrauensſtunde auf dem Grabenrande
beieinander ſitzend mit einander zugebracht. Es würde
gewiß ein zu ſtarkes Stück geweſen ſein, wenn der
alte Burſche mit ſeinem beneidenswertheſt dickſten Fell
der ganzen Gegend auch jetzt noch nichts von ſeinem
Geheimniſſe durch die Poren hätte durchſickern laſſen
wollen. Meinſt Du nicht auch, lieber Eduard?“


Ich meinte gar nichts mehr. Ich hörte den
jetzigen Mann von der rothen Schanze, den Erbnehmer
des Mordbauern Quakatz ſo ſprechen im Goldenen Arm,
und ſaß zu gleicher Zeit auch am Grabenrand im
[252] Papenbuſch mit meinem Freund Friedrich Störzer
und hörte Den reden von Afrika und wie ſchön es
da ſein müſſe und wie angenehm es ſich von den
Abenteuern und der Friedfertigkeit dorten leſen laſſe
in dem wunderſchönen Buche vom Herrn Levalljang.


Stopfkuchen legte die Hand auf den Deckel ſeines
Kruges.


„Jetzt noch nicht, liebes Kind. Nachher vielleicht
noch einen letzten mit dem fremden Herrn hier zum
guten Beſchluſſe. Ja, ja, ja, Eduard, was liegt doch
Alles zwiſchen des Lebens Anfang und Ende? Und
wie klar und nett legt ſich ſo Alles auseinander und
nebeneinander, wenn man mal dazu kommt, es ſich
zu überlegen, wie die Sachen denn eigentlich möglich
geweſen ſind. Von Dir, den Dein Freund Störzer
mit ſeinem Monſieur Le Vaillant nach dem Kaffern-
lande beförderte, rede ich nicht; von Störzer ſelber
und dem Bauer Quakatz und ſeinem Tinchen und ſo
ein bißchen beizu von mir iſt die Rede. Und da
ſagte Störzer denn jetzt zu mir: ‚Ja, ich bin's ge-
weſen, und ich habe es die ganzen langen Jahre ge-
tragen, daß ich es geweſen bin, und daß ſie nach
mir vergeblich geſucht haben.‘ — ‚Hm, und weiter
haben Sie ſich nichts dabei gedacht, als ob man Sie
wohl finden werde?‘ — ‚O, du meine Güte!‘ —
‚An meinen armen Schwiegervater haben Sie zum
Exempel nicht gedacht?‘ — ‚O Gotte doch ja, Herre!
aber nur ſo recht eigentlich nicht, liebſter Herre!
Es hat mir zwar wohl recht leid gethan, wie er ſo
um Nichts und wieder Nichts hat verkümmern müſſen
[253] in ſeiner unverdienten Verlaſſenheit; aber ändern
habe ich ja doch nichts dran können! Und er war
dabei ja auch immer ein wohlhabender Menſche und
hatte ſein reichliches Auskommen und hat auch zurück-
gelegt. Das war doch ein Troſt, und ſie konnten
ihm ja auch niemals viel anhaben von Gerichtswegen!
Aber denken Sie nur ja nicht, daß es mir nicht
immer ein Angehen geweſen iſt, der rothen Schanze
von Amtswegen nahe zu kommen. Und wenn es
möglich war, ſchickte ich auch immer einen Andern mit
den Briefſchaften und der Zeitung hinein. O, Herr
Schaumann, Herr Schaumann, von Amtswegen mußte
ich ja auch tagtäglich, tagtäglich, tagtäglich da vorbei,
wo — wo ich die That begangen habe. Von dem
Elend half mir auch Keiner; gerade wie ich dem Andres
auf der rothen Schanze nicht von ſeinem Verdruß
meinetwegen helfen konnte!‘ — ‚Nicht helfen konnte,
Störzer?‘ — Nein, Herr! leider nicht! denn es war
gegen die Natur. Ach, Barmherziger, wenn ich es
nur ausdrücken könnte, wie ganz und gar es gegen
meine Natur war!‘ — ‚Eine ſaubere Natur, Störzer!‘
— ‚Wie oft, Herr, habe ich dasſelbe mir geſagt, hier
wo wir ſitzen, auf den Knieen, wenn ich den Buſch
und die Straße für mich allein hatte!‘ — ‚Hier?‘
— ‚Ja, hier im Papenbuſch auf der Stelle, wo ich's
ihm heimgezahlt habe, was er von Kindesbeinen an
an mir geſündigt hatte. Wenn es über das rechte
Maaß dabei gegangen iſt, ſo habe ich vor dem barm-
herzigen Gott die langen, langen Jahre ſchwer an
der Verſchuldigung und der Bangniß getragen. Es hat
[254] mir zu gar keinem Troſte verholfen, was Kienbaum
für ein Menſch und im Beſondern gegen mich geweſen
iſt. Ich habe es aber auch zuerſt am andern Tage
vernommen, was meine That geweſen iſt! Hätte ich
ihn hier vor mir liegen ſehen, hätte der Bauer von
der rothen Schanze, der Herr Schwiegervater, wohl
nicht meine Schuld auf ſich zu nehmen brauchen: da
hätten ſie mich ganz gewiß bei der Leiche gefunden
und mich gleich mit ſich nehmen können vor den
Richter. Die eine Nacht zwiſchen dem einen Abend
und dem einen Morgen hat es gemacht, daß mich
mein Gewiſſen doch verhältnißmäßig in Ruhe gelaſſen
hat, daß aber dafür mir und dem Herrn Papa die
ſchwere, ſchwere Lebenslaſt aufgelegt worden iſt.‘ —
‚Hm, hm, Störzer, es läßt ſich hören, was Sie da ſagen;
aber ein etwas zu gemüthliches und jedenfalls ſehr be-
quemes Gewiſſen iſt's doch, was Sie in Ihrer Bruſt
tragen. Ihre Poſttaſche da könnte ungefähr dieſelben
Gefühle, wie Sie für den Inhalt der Briefſchaften
in ihr hegen.‘ — ‚Ich verſtehe nicht recht, was Sie meinen,
Herr Schaumann, und wie es in ſo ſchrecklichen
Sachen mit Anderen iſt, weiß ich auch nicht; aber
Eines weiß ich, daß es ja nun heraus iſt, und durch
Ihre gütige Vermittelung die Menſchheit ſich ja nun
wird beruhigen können. Und was den lieben Herr-
gott angeht, ach Gott, ſo muß ich mich in bitterer
Reue damit vertröſten, daß er Kienbaum gekannt
hat, und mich in meinen jungen Jahren auch gekannt
hat und beſſer als ein Anderer Beſcheid weiß, wie
es gekommen iſt.‘ — ‚Ja wohl, aber beſſer Beſcheid
[255] möchte doch auch ich jetzt darum wiſſen.‘ — ‚Was
Sie nachher mit mir machen wollen, das liegt ja
nun ganz bei Ihnen. Um mich ſelbſt iſt es mir
nicht mehr — Kinder und Kindeskinder müſſen aber
zu ſehen, wie ſie ſich mit dem Geruch, den der alte
Großvater ihnen hinterläßt, abfinden. So ein oder
zwei Jahre fehlen wohl noch an der Verjährung.
Ich dachte ich brächte es noch bis dahin! aber das
iſt nun eben wieder mal ganz anders gekommen.
Alſo, wenn auch nur des Herrn Schwiegervaters wegen,
thun Sie was Sie müſſen, Herr Schaumann, und
für Recht halten!‘ —‚Darüber ſpäter. Erzählen
Sie jetzt, wie die Sache war und ſich zugetragen
hat.‘ — ‚Ach, das iſt es ja gerade, daß da garnicht
viel zu erzählen iſt, ſo ſchlimm es auch ausgegangen
iſt. Es iſt nicht einmal über ein Mädchen oder über
Geld und Geldeswerth, wie es ſonſt zwiſchen Anderen
zugeht, zwiſchen uns beiden hergekommen. Es hat
ſich nur bloß gemacht durch den böſen Feind, wie es
ſich hat machen ſollen. Wir ſind nämlich in einem
Alter, Kienbaum und ich, und haben in zwei Wiegen
gelegen, die, ſozuſagen, Wand an Wand ſtanden und
ſind miteinander aufgewachſen und haben Einer den
Anderen ganz genau kennen lernen können. Es war
nicht viel an ihm, Herr Schaumann, und es iſt mir
dieſe lieben langen Jahre durch, manchmal wenigſtens
ein kleiner Troſt geweſen, wenn ich dieſes Wort
über ihn auch aus Anderer Munde habe vernehmen
dürfen.‘ — ‚Ein ſauberer Troſt, unglückſeliges
Menſchenkind!‘ — ‚Jawohl, unglückſeliges Menſchen-
[256] kind! da haben Sie Recht; aber dafür und deſſenun-
geachtet und gerade darum hat man wohl das Recht,
jede Tröſtung auf dem ſchweren Wege mitzunehmen.
Herr, Herr, wie hat mir Der meine Wege ſchwer
gemacht von Kindsbeinen an, von Schulwegen an
bis auf dieſe königliche Landſtraße hier! Er iſt es
geweſen, der mir auf der Schulbank den Schimpf-
namen Storzhammel erfunden und für mein Leben
angehängt hat. Er iſt es geweſen, der mir von der
Schulbank an von allen Menſchen am meiſten den
Unterſchied zwiſchen Armuth und Wohlſtand und
zwiſchen einer langſamen Beſinnlichkeit und einem
hellen Kopf mit Bosheit und großem Maul zu er-
kennen gegeben hat. Herr, Herr, ſein Blut klebt an
mir, und ich will es heute noch durch meines gerne
abwaſchen, wenn das ſo wie jetzt ſo von ſelber ſich
macht, ohne mein Zuthun: aber Herr, Herr, er —
Kienbaum muß auch für das Seinige aufkommen,
was er mir an Angſt vor ihm und Zorn und Wuth
und Verdruß gegen ihn von Kindesbeinen an faſt
tagtäglich aufgelegt hat. Denn der liebe Herrgott
hatte ihn ja auch in ſeinem Beruf nachher auf die
Chauſſee geſetzt als reichen Viehhändler. Herr, wenn
da an jeder Ecke ein früherer alter Raubritter auf
mich und meine Briefſchaften gelauert hätte, hätte es
nicht ſchlimmer ſein können, als ſich ewig ſagen zu
müſſen: ‚Gleich kommt wieder Kienbaum angefahren
und bietet Dir die Tageszeit auf ſeine Weiſe.‘ Herr
Schaumann, Sie ſind hier als ein guter, ſtiller
Menſch bekannt, und ein ſtiller Menſch bin auch ich
[257] mein Lebtag geweſen und für mich hingegangen,
und habe Alles gehen laſſen und auch ihm jahrelang
ſeine Briefe in Gleimekendorf ins Haus getragen
und mir von Amtswegen ſeinen Gift und Hohnſpott
gefallen laſſen, bis mir in der Schreckensſtunde hier,
hier im Papenbuſch ſein und mein Schickſal, und des
Herrn Schwiegervaters kummervolles Schickſal auch,
auf den Hals gefallen iſt. Herr, Herr, und ſo wahr
ich lebe, nur durch mein halbes Zuthun und ganz
durch den ſchrecklichen Zufall! Daß es nur ein Zu-
fall geweſen iſt, das weiß der höchſte Richter und
hat mich auch wohl nur deſſentwegen doch in ein
verhältnißmäßig ruhiges hohes Alter kommen laſſen,
und das iſt denn ſo mein zweiter Lebenstroſt ge-
weſen bei Gewitterſturm und Hagel, Schnee und Hitze
auf der Chauſſee, tagein tagaus mit ſich ſelber alleine
und ſeinen Gedanken. Ja, Herr Schaumann, Jeder
macht ſich das auf ſeine Weiſe zurecht. Nicht wahr,
Sie machen es ſich auch eben auf Ihre Weiſe zurecht,
was nun Ihre Pflicht gegen mich und Ihre liebe
Frau und den alten Quakatz und Kienbaum iſt?‘ —
‚Ich wollte freilich Ihr lieber Herrgott hätte einen
Andern damit betraut, Störzer!‘ — ‚O laſſen
Sie ſich Das nicht anfechten; ich bin bereit, da
es jetzt ſo mit der Offenbarung gekommen iſt. Heute
— morgen — übermorgen! Und es ſoll mir kein
irdiſcher Gerichtsherr beim Verhör eine Lüge nach-
ſagen. Darauf lege ich Ihnen ſchon jetzt einen hei-
ligen Eid ab.‘ — Stopfkuchen mit Storzhammel im
Beichtſtuhl als Beichtvater und Kind, mein guter
W. Raabe. Stopfkuchen. 17
[258] Eduard! — ‚Was ſoll man machen,‘ ſpricht das Letztere,
das Beichtkind, ‚wenn man eigentlich ohne jegliche
Wehr und Waffe gegen jeglichen Schlingel von
Jugend auf geboren iſt? O Gott, Gott, Gott, es
iſt ja gewißlich ein Mord geweſen, den ich an Kien-
baum begangen habe; aber es gehört eben Alles dazu,
im Kleinen und Allerkleinſten, wie im Groben und
Allergröbſten was mir der Mann als Junge und
junger Menſch und Mannsmenſch angethan hat. Und
mir hat Kienbaum ſo ziemlich Alles angethan, was
kein Junge vom andern erträgt! Wenn ſeine Püffe
und Knüffe beim alten Kantor Fuhrhans mir an
der Haut haften geblieben wären, ſo wäre heute
kein weißer Chriſtenflecken mehr an mir, ſondern Alles
blau, grün und gelb. Und wenn die Wuththränen, die
ich hinter ihm drein verſchluckt habe, jetzt ausbrächen,
ſo gäb's drei Eimer voll! Ich habe Ihnen wohl
vorhin geſagt, es ſei über kein Mädchen ſo gekommen,
aber dabei iſt doch eins geweſen. Nämlich beim Mi-
litär. Als wir zwei beim Militär auch vom Herrgott
wie aneinander genagelt waren. Ich wollte nichts
von ihr, aber ich habe ſie ihm, mit ſeinem Kind bei
ſich aus dem Waſſer geholt, in der ganzen Garnitur
Numero zwei, und es wäre beſſer geweſen, ich hätte
ſie drin gelaſſen die zwei armen Geſchöpfe. Um die
Alimente hat er ſich nachher weggeſchworen, und ſo
iſt das Kind unter der Hecke verkommen und ſie im
Zuchthauſe. Aber davon will ich garnichts ſagen;
denn im Grunde ging das mich doch eigentlich
weiter nichts an als im allgemeinen menſchlichen
[259] Gefühl. Aber ſein Wohlſtand! . . . Ich habe auch
vorhin bemerkt, daß es nicht um Geld und Gel-
deswerth zwiſchen uns zum Schlimmſten gekommen
iſt, und das verhält ſich auch ſo. Ich war ihm
nichts ſchuldig und er mir nichts. Doch daß ihn
ſein Geſchäft und Reichthum auf die Landſtraße führen
mußte, das war das Böſe. Daß der Viehhandel das
Richtige für ihn war, wenn auch nicht immer für
ſeine Käufer und Verkäufer, das iſt ſicher; aber wes-
halb konnte ihn der liebe Gott denn nicht auf eine
andere Weiſe zu ſeinem Beſitz kommen laſſen und
mußte mich ihm immer tagtäglich, tagtäglich, tagtäg-
lich mit ſeinem Hohn und Spott und Stolz zuſammen-
bringen? Er hatte den Hof in Gleimekendorf ge-
kauft, mitten in meinem Amtsberufsbezirk, und ſo
mußte er an mir vorbei, aufgepuſtet zu Pferde oder
zu Wagen — an mir zu Fuße. Unſere jungen
Herren auf der Poſt haben es ſich ſchon lange vor-
genommen, ſich es mal auszurechnen, wie oft ich jetzt
zu Fuße um die Welt gelaufen bin. Damals mochte
ich nach meiner Berechnung wohl einmal drum herum
geweſen ſein, aber es genügte, wenn mir tagtäglich
ſo ein Halunke begegnen mußte, der von ſeinem
Wagen, wenn er Sie von hinten treffen kann, Ihnen
auch mit der Peitſche einen Schnipſer giebt und im
Davonjagen Sie hohnneckt: ‚Bäh, bäh, Storzhammel!
lauf Dich zum Teckel, bring mir die Lujedors und hol
Dir Deinen Briefgroſchen; Kienbaum iſt mein Name!‘
Herr Schaumann, damit geht es denn bis einmal
zum Überfließen. Und zum Überfließen iſt es ge-
17*
[260] kommen; und wenn es nicht eine ſo ſchauderhafte
That wäre, wäre garnichts Beſonderes dran. O Du
lieber, barmherziger Himmel, wovon hängt es doch ab,
daß der Menſch ſeine ruhigen Lebensſtunden und Nächte
und ſein reines Gewiſſen behält; oder ſie ſich oder einem
Andern wie Ihrem Herrn Schwiegervater, Herr Schau-
mann, hier ſein ganzes Daſein verderben muß? Gerad
ſo ein ſchöner Abend wie heute war's, bloß ein
bißchen gewitterſchwüler als wie heute. Und ich hatte
einen ſauern Tag gehabt — die Taſche voll und
dazu ein halb Dutzend Geldbriefe, was mir immer
das Beſchwerlichſte geweſen iſt, von wegen der Ver-
antwortlichkeit und genauer Eintragung und nach-
heriger Abrechnung im Bureau. Ich fühle es durch
alle Knochen, wie ich von Kräften bin, und ſchleiche
her und komme hierher in den Papenbuſch, als die
Dämmerung ſich eben ins Gehölz geniſtet hat. ‚Der
ewige Jude biſt Du doch nicht, Störzer,‘ ſage ich
mir. ‚Fünf Minuten wird's ja mal Zeit haben,‘ und
da faßt mich der Teufel, oder der liebe Herrgott
will's, und ich ſetze mich die fünf Minuten hier
auf den Grabenrand: o hätte mir doch der Himmel
lieber fünf Minuten vorher einen durchgehenden, vier-
ſpännigen Heuwagen über den Leib gehen laſſen!
‚Und jetzt fehlte Dir noch Kienbaum bei Deinem jetzigen
Kaputſein,‘ muß ich auch noch ſagen. Und in dem
nämlichen Augenblick muß ich auch ſchon aufhorchen,
denn dort um die Ecke her kommt Räderwerk, und
ich höre ſchon von Weitem wie Einer auf ſeine Gäule
haut und ſchreit; ‚Verfluchte Karnaljen!‘ Da fährt's
[261] mir giftig durch: ‚Na, da haben wir das Vergnügen
ſchon!‘ und ich wußte, daß mir heute wieder mal
garnichts von meinen Moleſten geſchenkt werden ſollte.
Ich mache mich auch auf Alles gefaßt; aber, ich faſſe
diesmal in der Gewitterluft auch nach meinem Stocke
neben mir und ſage mir: ‚Störzer, im Nothfall ſei
mal 'n Mann und wehre Dich gegen den höhniſchen
Grobſack!‘ Aber auch dies kommt anders, wie meiſtens
bei ſolchen Gelegenheiten. Als mich Kienbaum ſitzen
ſieht, zieht er die Zügel an und hält mit ſeinem
leeren Viehwagen. Ich denke: ‚na heute hat er's
gut im Sinne,‘ und ſo iſt's auch geweſen. Er hat
mal ausnahmsweiſe einen noch Schlauern als wie er
gefunden. Wie ſich nachher ausgewieſen hat, Ihren
Herrn Schwiegervater, den Bauer von der rothen
Schanze, Herr Schaumann. Der Ochſenhandel iſt
nachher vor Gericht breit genug getreten worden als
Indizium gegen den Bauer Quakatz von der rothen
Schanze. Daß der Herr Schwiegervater nach dem
Geſchäft am Morgen, am ſpäten Abend auf dem Wege
nach Gleimekendorf geſehen worden iſt, das war
das zweite Indizium, wie Sie wiſſen, Herr Schau-
mann. Es hatten zu Viele in der Stadt, im blauen
Engel vernommen, wie ſie ſich um Mittag einen
Schuft, Halunken und Spitzbuben um den andern
an die Köpfe geworfen haben; aber an wem ſoll's
denn nachher ſo ein Menſch wie Kienbaum, wenn er
die unterſte Hand im Spiel gehabt hat, beſſer aus-
laſſen, als an ſo Einem wie ich? ich bitte Sie! . . .
Ihr Herr Schwiegervater und er haben ſich nicht
[262] mehr im Papenbuſch getroffen, aber auf mich, ſeinen
Storzhammel, trifft Kienbaum daſelbſt — hier —
hier — an dieſem Platze gerade zur richtigen Stunde
für ſeine Gefühle. Er hält ſeinen Wagen an, und
ich bin aufgeſtanden und habe meine Taſche zurecht
gerückt und meinen Stock feſt gefaßt. Ich ſehe ihn in
der Dämmerung ſein Geſicht auf ſeine Weiſe ver-
ziehen, und da ſchreit er mich ſchon an: ‚Richtig,
Storzhammel! Na, ſitzt er wieder und brütet An-
deren die Eier aus? Haſt Dich heute mal wieder
für fünf Groſchen zum Teckelhund gelaufen, Du
Blödbock? Nimmſt es mir doch nicht übel? ſind ja
die beſten Kameraden von der Schulbank und dem
Regiment her! Da, — reich mir die Hand mein
Leben!‘ und damit haut er mit ſeiner Peitſche, was
er nach ſeiner Manier für einen guten Spaß hält,
nach mir hin, daß ſich die Schwippe mir um den
Arm legt und mir einen blutigen Striemen über die
Hand zieht. So arg hatte er's wohl nicht im Sinn
gehabt; aber was nun kam, das mußte eben dadurch
kommen. Ich laſſe den Stock fallen und greife im
Schmerz nach ihm auf dem Erdboden; aber dafür
kommt mir, barmherziger Gott, an ſeiner Statt, der
nächſtliegende Feldſtein in die Hand. Gedacht habe
ich mir nichts bei dem Wurfe und gezielt habe ich
auch nicht; aber getroffen hat er — durch Gottes und
des Satans Willen. Ich ſehe, wie der Mann nach
der Seite ſchwankt und den Zügel ſchüttelt. Die
Pferde ziehen an, der Wagen fährt an mir vorbei
in die nächtliche Dämmerung herein. ‚Nimm's mit
[263] nach Hauſe und leg eine kalte Meſſerklinge drauf,
Du Lump!‘ rufe ich nach. Ob er es noch vernommen
hat, kann ich nicht ſagen. Meine Meinung iſt nach-
her in mancher bangen Nacht und Stunde geweſen,
daß er's nicht gehört haben kann. Es iſt mir
trotz meiner Wuth wohl etwas kurios, daß er mit
ſeinem Kurs nicht auf der Straße nach Gleimeken-
dorf bleibt, ſondern rechts um, dort in den Wald-
und Holzweg nach der rothen Schanze einbiegt, aber
geachtet hab ich in meiner Wuth auch nicht weiter
drauf, ſondern bin nach Hauſe gegangen und habe
bis nach Hauſe an meinem wunden Handgelenk ge-
ſogen wie ein geſchlagenes Kind. Was nachher ſich her-
ausgeſtellt hat, Herr Schaumann, wiſſen Sie ja ſelber
eben ſo gut als ich. Sie wiſſen, wie die Gäule auf dem
Holzwege in den Schlenkerſchritt gefallen ſein müſſen
und auch wohl ſtundenlang ganz ſtille gehalten haben,
bis ſie ſich auf dem Feldwege um Mitternacht nach
Gleimekendorf auf ihren Hof und vor ihren Stall
gefunden haben. Da kommen ſie mit Laternen und
gucken in den Wagen und finden Kienbaum im
Stroh, und die Doktoren haben es herausgekriegt,
daß es ein Schlag oder Wurf an die linke Schläfe
geweſen ſein muß, der das Unglück gemacht hat.
Alles ſteht in den Akten ganz genau, nur ich nicht.
Ich komme nur beiläufig darin vor, als wie Einer,
den Kienbaum auch noch auf der Chauſſee getroffen
und mit dem er ſich unterhalten hat. Ach Gott, Herr
Schaumann, weshalb hat mich der Herrgott ſo ge-
ſchaffen wie er mich geſchaffen hat, wenn er mir dies
[264] Schreckniß dazu ſchaffen wollte? Der Menſchheit und
der Juriſterei iſt es nicht zu verdenken, daß ſie in
dieſer Sache ſich an Quakatz gehalten hat und nicht
an den Landbriefträger Störzer. In ſeiner Natur
und Stellung zu ihm lag's, Kienbaum todtzuſchlagen.
In meiner nicht! Gott ſei Lob und Dank, ſie haben
mich wenigſtens nicht zum Zeugen gegen ihn, Ihren
Herrn Schwiegerpapa, aufgerufen. Da hätte ich mein
ſchweres Herz auf den grünen Tiſch legen können;
aber mich ſo nach angſtvollen Nächten und einſamem
Tagesmarſch von ſelber angeben — — ich habe es
verſucht, aber es iſt nicht gegangen — ich habe es
wollen, aber ich habe es verſchoben — immer weiter
verſchoben, und ſo ſind die Jahre hingegangen, und
dem Bauer auf der rothen Schanze iſt es trotz ſeinem
Verdruß immer beſſer ergangen. Die ſtille Angſt,
die ſtille Angſt durch ein Menſchenalter, Herr Schau-
mann! Mit jedem Briefe habe ich ſie tagtäglich
durch ein Menſchenalter rund um die rothe Schanze
her und auf ihr den Menſchen abgeben müſſen und
habe es doch nicht können — habe mich doch nicht
ſelber angeben können als den Thäter von der That,
als Kienbaums Mörder. Herr, Herr, es iſt zwar
eigentlich zu ſpät, aber ich lege Ihnen kein Hinderniß
in den Weg; — Sie brauchen mich nicht an der
Schulter zu nehmen: ich folge gern und gutwillig,
wenn Sie mich jetzt, heute Abend, in die Stadt
bringen und dem Erſten am Thor ſagen: ‚Der iſt's
geweſen! er hat es eben ganz von ſelber geſtanden!‘“
— — — — — — — — — — —


[265]

„Was iſt denn das? Noch kein Licht hier?“
ſagte der erſte Stammgaſt. „Bald ſollen wir uns
unſere Erleuchtung wohl ſelber mitbringen? Meta,
Sie! wo ſtecken Sie denn?“


„Hier, Herr Staatsanwalt! o Gott, ja, gleich!“ rief
das Mädchen mit zitternder Stimme. Auch das an-
gezündete Streichholz zitterte in ihrer Hand, und es
gelang ihr nur nach wiederholt mißlungenen Ver-
ſuchen, das Separatzimmer der beſten Männer im
Goldenen Arm in ein helleres Licht zu ſetzen.


„Siehe da, die Herren!“ ſagte der Staatsanwalt.
„Was Schaumann, und nun wollen Sie gehen,
da wir eben kommen? Ei was, Stopfkuchen, alter
dicker Freund, und Du, Eduard, jetzt bleibt einmal
ſitzen wie in andern ſchönern Zeiten. Was noch
von der alten Corona in dieſem Jammerthal vorhan-
den iſt, verzeiht es mir nie, wenn ich euch jetzt ruhig
laufen laſſe; den Einen nach ſeiner rothen Schanze, den
Andern nach ſeinem ſchwarzen Afrika. Meta, jedem
der Herren auch noch einen Schoppen! Kinder, das
iſt ja zu famos, das kann ja endlich mal wieder ein
fideler Abend nach der guten alten Art werden. Na,
ihr bleibt? was?“


„Wie gerne, wenn es ginge, und mein Leib-
arzt es mir nicht unterſagt hätte,“ lachte Stopfkuchen.
„Ach, wenn Sie nur eine Ahnung davon hätten,
Schellbaum, wie ſtreng mir der Menſch, der Ober-
waſſer geiſtige Aufregung jeder Art unterſagt hat,
Sie ließen mich wie in anderen ſchöneren Zeiten ruhig
unter meiner Hecke.“


[266]

Wir nahmen unſere Hüte. Das Zimmer hatte
ſich jetzt ſchon mehr gefüllt; aber glücklicherweiſe mit
Stammgäſten, die nichts mehr von Joſeph wußten
und den dicken Schaumann nur von Hörenſagen und
von Ferne kannten. So kamen wir glücklich endlich
hinaus auf den Vorplatz, und dorthin kam die arme
Meta, zitternd vor Aufregung, uns nach.


„O Gott, o Gott, Herr Schaumann; aber ich
habe ja Alles mit angehört! iſt es denn möglich?
Und die Herren da drinnen! darf es denn jetzt Jeder
wiſſen? darf Auch ich jetzt Alles den Herren heute
Abend ſagen?“


„Alles, mein Kind.“


Dem Kapitän wird die Sache immer unheim-
licher. Eben ſagt er:


„Herr, daß das Trinkwaſſer auf dem Schiffe
ausgeht, das paſſirte früher öfter, kann auch heute
noch vorkommen und hat ſeine Unbequemlichkeiten;
aber was ſagen Sie, wenn ich Ihnen thränenden
Herzens ſignaliſiren muß: Sir, wir ſind beim letzten
Droppen Dinte angekommen? Well, da iſt es ja ein
wahres Glück, daß wir von morgen an nach dem
Tafelberg ausgucken können.“


„Das iſt es, old friend!


Und der alte Seebär ſtieg wieder auf Deck kopf-
[267] ſchüttelnd, und vor ſich hinbrummend, daß ſo 'ne
verdammte Schreiberei gottlob doch nur eine Aus-
nahme auf dem Waſſer ſei. Ich bin feſt überzeugt,
in drängender Noth hätte er mich für den Unheils-
vogel auf ſeinem Schiff genommen und ohne große
Gewiſſensbiſſe über Bord in die toſende See be-
fördert, um die übrige Ladung durch das ſühnende
Opfer zu retten. — —


Wir, Stopfkuchen und ich, aberſtanden wieder vor
dem Goldenen Arm unter dem ſtillen, warmen, dunkeln
Sommerabendhimmel, und ich trocknete mir die Stirn
nicht weniger ab wie der erſtaunliche, dicke Freund.
Er hatte die Geſchichte von Kienbaums Morde nicht
bloß mit ſeiner dröhnigen, langweiligen Redegabe
von ſich gegeben; er hatte ſie auch ausgeſchwitzt, ſie
durch die Poren aus ſich herausgelaſſen. Ich aber,
hatte ich darum draußen ſoviel zu Waſſer und zu
Lande erlebt, um in dem ſtillen Heimathwinkel vor
Stopfkuchen und Storzhammel zu ſtehen wie vor etwas
weder von mir noch von irgend einem andern
Menſchen je Erlebten?


Wer von Beiden war mir nun der Unbegreif-
lichſte, der Unheimlichſte geworden? O dieſer Störzer!
O dieſer Schaumann! — Mein alter, älteſter Kinder-
freund und Spielkamerad Kienbaums Mörder! Er
der mich im Grunde doch ganz allein auf die See
und in die Wüſte durch ſeinen Le Vaillant gebracht
hatte, dem ich mein „Rittergut“ am Kap der guten
Hoffnung einzig und allein durch ſeine Unterhaltungen
auf ſeinen Weltwanderungen auf ſeinen Landſtraßen
[268] und Feldwegen zu danken hatte. Es war nicht aus-
zudenken: jedenfalls jetzt — augenblicklich nicht weiter
darüber zu reden.


Stopfkuchen begleitete mich zu meinem Gaſthofe,
und an deſſen Thür that ich wenigſtens noch eine
Frage an ihn.


„Willſt Du nicht noch einen Augenblick mit
heraufkommen?“


„Lieber nicht,“ meinte Heinrich. „Meine Frau
hat ſich ſchon ſeit Jahren nicht mehr um mich ge-
ängſtigt. Um dieſe Tageszeit bin ich immer zu
Hauſe. Nun, es iſt freilich heute mal eine gerechtfertigte
Ausnahme. Was thut man ſo einem lieben, alten,
fremdgewordenen Freunde nicht Alles zu Gefallen, um
ihm das alte Neſt wieder heimelig und vertraulich
zu machen! Wir ſehen Dich doch noch einmal vor
Deiner Abreiſe, Alter? Du mußt Dir doch noch
das Geſicht anſehen, was meine Alte macht, nachdem
ſie auf die mir angemeſſenſte Weiſe durch Andere er-
fahren haben wird, was ich ihr — nach der ſicheren
Meinung der Welt morgen — ſchon längſt ſelber
hätte ſagen ſollen. Gute Nacht denn für diesmal,
Eduard! Habe Dank für Deinen Beſuch: das war
wirklich heute endlich mal wieder ein etwas unge-
wöhnlicherer Tag für die rothe Schanze.“


„Gute Nacht, Heinrich,“ ſagte ich; augenblicklich
nicht im Stande, ihm noch etwas Anderes zu bemerken,
und er ſchien dieſes auch für ganz ſelbſtverſtändlich
zu nehmen, denn er watſchelte ruhig durch die an-
genehme Nacht ſeiner feſten Burg im Leben zu, mich
[269] mit ihm, ſeiner Frau, ſeinem ſeligen Schwiegervater,
mit Störzer und mit Kienbaum nun im „Hotel“
allein laſſend. Wenn ich ihn je in vergangenen
Jahren, wie er ſich ausdrückte, unter ſeiner Hecke
ſeinen Gedanken, Gefühlen, Stimmungen, kurz ſich
ſelber allein als eigenſter Auſträgalinſtanz anbefohlen
hatte, ſo zahlte er mir das heute mit tauſendfachen
Zinſen zurück und ließ mich ihm nachgucken in die
Nacht hinein, wie ſelten einem Menſchen nachgeguckt
worden iſt.


Nun war ich unter meiner Hecke, in meinem
heimathlichen Abſteigequartier allein, und hatte die
Nacht vor mir, um zu überlegen, was ich den Tag
über erlebt hatte. Als aber die Morgenſonne mir
ins Fenſter und auf die Bettdecke ſchien, und ich das
Facit von Wachen und Traum zog, fand ich, daß
ich mich ſonderbarerweiſe eigentlich nur mit Frau
Valentine Schaumann geborener Quakatz, und ver-
hältnißmäßig recht wenig mit Kienbaum, Störzer,
dem Papa Quakatz und mit Stopfkuchen beſchäftigt
hatte.


Die Gute! Die Arme und Gute! . . .


Und konnte man es Stopfkuchen verdenken, daß
er um ſie und ihre rothe Schanze, um deren Behag-
lichkeit willen, endlich auch die irdiſche Gerechtig-
keit als das Gleichgültigere, das weniger in Betracht
Kommende angeſehen hatte? So wahrſcheinlich bald
nach Mitternacht hatte ich mich ganz in des Dicken
Stelle, das heißt ſeine Haut verſetzt, das heißt, war
in dieſelbe hineinverſetzt worden. Ich war zu ſeinem
[270] Leibesumfang angeſchwollen und hatte mich auf die
Höhe ſeiner behaglichen Weltverachtung erhoben und
hatte geſagt: „Dem dürren Afrikaner, dieſem Eduard,
wollen wir nun doch einmal aus dem alten Neſte
heraus imponiren und ihm beweiſen, daß man auch
von der rothen Schanze aus aller Philiſterweltan-
ſchauung den Fuß auf den Kopf ſetzen kann. Dem
wollen wir einmal zeigen, wie Zeit und Ewigkeit ſich
Einem geſtalten können, den man jung allein unter
der Hecke liegen läßt, und der da liegen bleibt, und
um die Seele auszufüllen nach Tinchen Quakatz ſucht,
und um den Leib bei Rundung zu erhalten, die rothe
Schanze erobert, und in Mußeſtunden von letzterer
aus auch den geſtern vergangenen Tag als wie einen
ſeit Jahrtauſenden begrabenen Mammuthsknochen auf-
gräbt.


Da überlegte ich mir in dieſer Nacht, erſt außer-
halb des Wirthshausbettes und dann in demſelben,
den mir eben vergangenen Tag noch einmal von
Stunde zu Stunde, von Wort zu Wort. Und mehr
und mehr kam mir wieder zum vollen Bewußtſein
der alte ganz richtige Satz vom zureichenden Grunde,
wie ihn der alte Wolf hat: Nihil est sine ratione
cur potius sit, quam non sit;
und wie es der
Frankfurter Buddha überſetzt: „Nichts iſt ohne Grund,
warum es ſey.“ — Wie mich der Le Vaillant, über-
ſetzt von Johann Reinhold Forſter, in der Bibliothek
des Landbriefträgers Störzer zu den Buren in Prätoria
gebracht hatte, ſo hatte der Steinwurf aus Störzers
Hand nach Kienbaums Kopfe den Freund zu Tinchen
[271] Quakatz geführt und ihn zum Herrn der rothen Schanze
gemacht. Und ſo, wenn Kienbaum nicht Kienbaum,
wenn Störzer nicht Störzer, wenn Stopfkuchen nicht
Stopfkuchen und Tinchen nicht Tinchen geweſen
wären, ſo wäre auch ich nicht ich geweſen und hätte
gegen Morgen über dieſe Mordgeſchichte in den
ruhigſten Schlaf verſinken und daraus erwachen können
mit den beruhigenden Gedanken an das „afrikaniſche
Rittergut“, und an mein Weib und meine Kinder
daheim:


„Nun, die Sache hat ſich ja noch ganz erträglich
gemacht.“


Fertig war ich freilich noch nicht mit ihr,
der Sache nämlich. Das ſollte ich ſofort von dem
Geſicht des Kellners ableſen, als ich die Zimmerglocke
gezogen hatte, und der Jüngling mich erſt eine ge-
raume Weile angaffte, ehe er meinen Wunſch nach
friſchem und nach warmem Waſſer begriff. Und ſchon
erſchien Freund Sichert, der Wirth ſelber hinter ihm
und ſtarrte mich gleichfalls an und rief:


„Aber, Herr, iſt es denn möglich? Ich bitte
tauſendmal um Entſchuldigung, aber Sie ſind ja der
Erſte aus der Stadt, der's ganz genau von Herrn
Schaumann vernommen hat, wie es eigentlich geweſen
iſt! Und es ſind auch ſchon einige von Ihren ver-
ehrten Herrn Bekannten unten im Speiſeſaal geweſen,
und haben ſich erkundigt, ob Sie noch nicht auf ſeien,
und ob es ſich denn wirklich ſo verhalte mit Kienbaum
und mit Störzer?“


„Nun ja, lieber Sichert. Es wird es ja wohl.“


[272]

„Es iſt doch nicht möglich! Ein Theil der Stadt
iſt ja freilich ſchon geſtern Abend, geſtern Nacht, vom
goldenen Arm aus darüber in die größte Aufregung
gerathen. Leider waren Sie bereits zur Ruhe ge-
gangen als die Überraſchung auch noch zu mir drang,
und ich nahm mir die Freiheit nicht —“


„Mich zu wecken und ſofort um die genaueſte
Auskunft anzugehen. Ich danke Ihnen verbindlichſt
lieber —“


„Aber, mein Gott, Sie verzeihen, beſter, ver-
ehrteſter Herr, Sie ſind doch auch ein Stadtkind und
gehören ſo zu ſagen noch zu uns, und womit man
ſich die langen Jahre ſo ſchwer und intereſſirt
herumgetragen hat — wenn da nun mit einem Male
eine ſo merkwürdige Aufklärung kommt! . . . Und
dieſer alte Störzer! Es hielt ihn ja Keiner für mehr als
für einen guten, unſchädlichen, alten Mann und
Hammel! und heute Morgen begraben ſie ihn, dem
Arme der irdiſchen Gerechtigkeit vollſtändig entzogen!
Und unſer verehrter Herr Schaumann von der rothen
Schanze, der doch ſchon längſt ſo viel zur völligen
Aufklärung hätte thun können! der ſo viel dazu hätte
thun können —“


„Uns noch eine letzte angenehm-unheimliche Auf-
regung zu verſchaffen. Na, na, lieber Sichert, dazu war
er eben zu dick, zu unbeholfen, zu ſchwerfällig, oder
wie Sie es ſonſt nennen wollen. Auch wohl ein
wenig zu gutmüthig und für ſeine Bequemlichkeit be-
ſorgt. Und dann — na, dann war es ja doch auch
eine ſo alte Geſchichte, eine ſo verjährte Sache, die
[273] im Grunde ja Niemand mehr was anging als vielleicht
noch ein wenig ſeine Frau — Herrn Schaumanns
Frau, eine geborene Quakatz. Ja, weshalb ſollten
die Beiden und noch dazu von ihrer jetzigen ganz
ſichern Schanze aus um den alten, guten Störzer
die hohe Juſtiz bemühen, ihr auf die Sprünge helfen,
um ſie eigentlich doch nur dadurch zu beſchämen?
Überlegen Sie das einmal.“


„Ich kann es doch nicht faſſen!“ ſeufzte mein
Herr Wirth und ging, kopfſchüttelnd und durchaus
nicht befriedigt von mir. Ich aber faßte mich an
die Stirn: Du lieber Himmel, wie ſehr hatte
Stopfkuchen Recht! Schon was ich jetzt über mich
nur kommen ſah, genügte vollſtändig, um mich nun-
mehr ganz in ſeine Situation während der Zeit nach
einem plötzlichen Aufmerken an dem ſchönen Sommer-
morgen beim Begräbniß ſeines Schwiegervaters zu
verſetzen. Sofort aber folgte auch die Überlegung:
„Und nun kannſt auch Du mit ausbaden, was der
Dicke hinter aufgezogener Zugbrücke der Welt ſo lange
als möglich ſo ſchnöde als möglich vorenthalten hat!
Und der Feiſtling iſt auch jetzt noch im Stande, ſeine
Schanze um ſich und ſein Weib herum noch mehr
in Vertheidigungszuſtand zu ſetzen, die Bulldoggen,
Fleiſcher- und Schäferhunde, die giftigen Spitze, kurz alle
die biſſigen Wächter ſeines ſeligen Schwiegervaters
wieder aus der Gruft zu beſchwören, und Dir, Eduard
es ganz allein zu überlaſſen, die Sache Störzer-Kien-
baum gegen die Menſchheit auszutragen!“


W. Raabe. Stopfkuchen. 18
[274]

Daß der Menſch trotz ſeiner einladenden Worte
noch einen zweiten Beſuch von mir erwartete, glaubte
ich nicht mehr. Und ich habe es ſchon geſagt: die
rothe Schanze war der letzte Ort der Heimath, dem ich
noch einen Beſuch ſchuldig geweſen war. Geſchäfte
hatte ich nicht mehr zu Hauſe. Alle lieben und alle
ſchlimmen Erinnerungen hatte ich von Neuem geweckt
und konnte ſie aufgefriſcht mit nach Kaffraria nehmen.
Wenn ich durchging vor den Manen Kienbaums, ließ
ich kaum ein Bedauern, ſondern nur höchſtens eine
kurzlebige Verwunderung über den raſchen Aufbruch
hinter mir zurück. Es war niemand von beiden
Geſchlechtern vorhanden, der mir den Rock zerriſſen
haben würde bei dem Verſuche, mich „wenigſtens
noch ein paar Tage“ zurückzuhalten.


Wie wäre es denn, wenn Du den Kopf aus
der Geſchichte zögeſt, Eduard; und Dein Theil daran
ſofort mit auf das Schiff nähmeſt?


Mit dem Wort oder vielmehr Gedanken ſtand
ich bereits nicht mehr auf dem feſten Boden des
Vaterlandes, ich ſtand wieder auf meinen Seebeinen
auf den beweglichen Planken über dem großen Ge-
woge des Oceans, und es blies mir ein ſehr er-
friſchender Meerwind ins Geſicht.


„Ich gehe!“ ſagte ich, und — ich ging wirklich
und wahrhaftig. Stille Vorwürfe ließ ich dabei
außer Acht, und für laute war ich ja immer noch in
Afrika zu finden, und hätte da gern Jedem Rechen-
ſchaft abgelegt, das heißt ihm dies, mein Schiffstage-
buch zu leſen gegeben.


[275]

Übrigens koſtete es doch einige Liſt und Mühe,
bloß die Heiligen drei Könige unverhindert hinter
ſich zu laſſen. Nur durch etwas was einer Beſtechung
recht ähnlich ſah, gelang es mir, meine Rechnung
ſogleich und hinterm Rücken meines Herrn Wirthes
zu erhalten. Es koſtete mich Geld, aber ich fand
einen dienſtwilligen Geiſt, der mich des Hotelwagens
überhob und mir mein Gepäck ganz verſtohlen auf
einem Schubkarren zum Bahnhof beförderte. Ich
verkleidete mich nicht, ich ſchlug mir nicht den Theater-
mantel um die Ohren und zog den Schlapphut über
die Naſe herab; aber ich verzog mich auch nicht auf
dem offenen geradeſten Wege, ſondern entſchlüpfte durch
die Hinterpforte und den Hausgarten der Heiligen
drei Könige. Aus dem Garten brachte mich ein
zweites Pförtchen in einen mir aus der Kinderzeit
wohlbekannten, gottlob noch vorhandenen engen Pfad
zwiſchen andern Gärten, Stallungen und ſonſtigen
Hintergebäuden. Hätte ich Kienbaum todtgeſchlagen
und wären mir die Häſcher auf den Ferſen geweſen,
ich hätte nicht behutſamer verduften können; und ich
pries es jetzt als ein wahres Glück für mich, daß
ſich in der Stadt doch verhältnißmäßig wenig während
meiner letzten Abweſenheit verändert hatte und ich mit
dem alten Haus- und Ortsſinn auch auf den weniger be-
gangenen Wegen auskam.


Es war gegen neun Uhr als ich nicht durch die
Stadt, ſondern um ſie herum hinter den Gärten zum
Bahnhof wanderte. Daß dieſer Weg durch das
Matthäiviertel führte, hatte ich bei meinem Wunſche,
18*
[276] die Hauptſtraßen zu vermeiden, nicht mit in Betracht
gezogen und mich alſo nicht zu ſehr zu verwundern
über das Getümmel, in welches ich trotz aller augen-
blicklichen vorſichtigen Menſchenſcheu gerieth.


Es wäre übertrieben, wenn ich ſagen wollte, daß
die halbe Stadt auf den Beinen war, um dem Be-
gräbniß des Landbriefträgers Störzer mit anzuwohnen:
aber ein gut Theil der Bevölkerung war doch ver-
ſammelt in den Gaſſen und Gäßchen, um ſeine Be-
hauſung her. Und darunter nicht bloß Fräulein
Eyweiß mit ihrer Brunnenkruke, ſondern auch mehrere
Bekannte aus dem Brummerſumm.


Daß man da ſtehe und auf den Zug warte, um
dem Alten mit ein ehrenvolles Geleit zu ſeinem Grabe
zu geben, äußerte Niemand. Aber Jedermann hatte
gewiß das Recht, ſeiner Morgenbequemlichkeit oder
ſeinen Geſchäften ein paar Augenblicke abzuzwacken,
um jetzt, im letzten Augenblick, einen Blick auf die
ſchwarze Truhe zu werfen, die den augenblicklich
merkwürdigſten Menſchen, nicht bloß der Stadt
ſondern auch der Umgegend auf weithin, barg. Sie
wollten Alle den guten, alten, dummen Kerl, dieſen
alten Störzer, der in ſeinen vierundfünfzigtauſendein-
hundertvierundſechzig Amts-Gehſtunden mit ſeinem
ſchweren Gewiſſen fünfmal um die Erde herum ge-
weſen war, und der die ganze Stadt von oben bis
unten ſo lange, lange Jahre hatte reden laſſen, ohne
ein Wort zu ſagen, — ſie wollten ihn, Kienbaums
Mörder — ihn oder wenigſtens ſeinen Sarg doch noch
einmal ſehen!


[277]

Und ſchon bekam ich einen freundſchaftlichen
Schlag auf die Schulter:


„Je, Eduard! Du mußteſt freilich vom Kap
der guten Hoffnung mal nach Hauſe kommen, um
uns hier dieſe Überraſchung mitzubereiten. Wir haben
es geſtern Abend im Arm ſchon ziemlich zu einander
gebracht wie ihr — Du und Schaumann geſtern auf
der rothen Schanze euren Gefühlen Luft gemacht
haben werdet. Das war aber vortrefflich von Dir,
daß Du dem Dicken endlich zu einer mittheilſamen,
redefreudigen Stimmung verholfen haſt. Dieſer Stopf-
kuchen! Ja, ſo iſt er immer geweſen! Ja, ja, Du
mußteſt erſt kommen, daß es ſo kommen konnte!
Ohne Dich, Eduard, hätten wir noch lange darauf
warten können, zu erfahren, wer eigentlich Kienbaum
todtgeſchlagen habe. Und dieſer alte Störzer: man
weiß wirklich nicht, ob die Geſchichte durch ihn un-
heimlicher oder ſo zu ſagen, ganz gemüthlich wird.
Aber wie geſagt, hauptſächlich was ſagſt Du zu
Stopfkuchen? Iſt er nicht göttlich? Iſt er nicht
immer noch ganz der Alte?“


„Ganz der Alte. So leicht verändern wir uns
nicht. Aber Du verzeihſt: geht Deine Uhr richtig?“


Der Freund ſah nach ihr:


„Auf die Minute. In zehn Minuten halb zehn.“


„Dann hab ich keinen Augenblick mehr zu ver-
ſäumen. Der Zug nach Hamburg geht in zwanzig
Minuten ab.“


„Du reiſeſt nach Hamburg?“


„Und ein wenig weiter. Ich reiſe ab nach Afrika.
[278] Es freut mich ſehr, daß ich Dich eben noch getroffen
habe, um auch Dir für diesmal aufs Herzlichſte Lebe-
wohl zu ſagen.“


„Aber Eduard? Eduard, Du ſcherzeſt! wie kommt
denn das ſo raſch, ſo plötzlich?“


Glücklicherweiſe kam in dieſem Augenblick der
kümmerliche, ärmliche Leichenzug um die Ecke und
überhob mich der Antwort. Der ſo wunderlich aller
irdiſchen Sühne entſchlüpfte Todtſchläger ging dem
Freunde doch noch mehr über allen Spaß als wie
meine plötzliche Abreiſe. Das Schauſpiel feſſelte ſo
ſehr ſeine ganze Aufmerkſamkeit, daß ich gleichfalls
entſchlüpfen konnte, nachdem auch ich dem Sarge
meines älteſten Freundes in der Stadt noch einen
letzten kurzen Blick hatte ſchenken können.


Dieſer arme Sarg — jetzt mit einem Gefolge,
das nur aus einer Frau mit einem Kinde auf dem
Arme und einem an der Schürze beſtand! . . .


Sie hatten alle das Geleit verweigert, die ſonſt
wohl dazu gehört haben würden. Auch die kaiſerliche
Poſt hatte es nicht mehr für ſchicklich erachtet, ihre
niedern Bedienſteten dem alten Weltwanderer, dem
guten Beamten aber ſehr verſtohlenen Mordgeſellen
hinterdrein zu ſchicken; und ſie war ganz gewiß dabei
nicht im Unrecht, ſie hatte vollkommen Recht.


„Nun, er hat es ſich und dem unglücklichen
Frauenzimmer ja ſchon geſtern Abend verſprochen,
hier an Kinder und Enkel zu denken,“ ſagte ich, den
Bahnhof erreichend. Es ging gerade ein früher Ver-
gnügungszug ſüdwärts durch, und es wimmelte von
[279] luſtigen Fahrgäſten mit grünen Zweigen an den Hüten,
Liederbüchern in den Taſchen, Futterkobern und Körben
und allem, was ſonſt zu ſolchem beſchwerdenſchwangern
Ausflug aus dem Alltage heraus gehört: ich hätte
in kein richtigeres Getümme[l] für meine Stimmung
hineingerathen können. So war die Welt!


Mit einiger Mühe gelangte ich in den nach dem
Norden abgehenden Zug; aber es war keine unliebe
Mühe, und ein Kind habe ich dabei nicht über den
Haufen gerannt, auch keinem Weibe durch einen über-
eiligen Ellbogenſtoß den Ausruf: „O mein Gott!“
entlockt. Aber mich feſt hinſetzend in gottlob der
Wagenecke ſeufzte ich:


„So, Stopfkuchen!“ . . . und fügte erſt nach
einer Weile hinzu: „Ja, im Grunde läuft es doch
auf ein und dasſelbe hinaus, ob man unter der Hecke
liegen bleibt und das Abenteuer an ſich herankommen
läßt, oder ob man ſich von ſeinem guten Freunde
Fritz Störzer und deſſen altem Le Vaillant und
Johann Reinhold Forſter hinausſchicken läßt, um es
draußen auf den Waſſern und in den Wüſten auf-
zuſuchen!“


Ein ſchriller Pfiff, ein Ziſchen, ein Schnaufen
und Schnauben, ein immer beſchleunigteres Athemholen
und Ächzen und die Heimathſtadt mit allem geiſtigen
und körperlichen eiſernen Beſtand des Menſchen, mit
Lebenden und Todten, mit Vater und Mutter, Onkel
und Tante, mit Freunden, Schulmeiſtern, guten und
böſen Kneipgeſellen, mit Kirche und Markt lag hinter
[280] mir. Und der Brummerſumm, der goldene Arm und
die heiligen drei Könige und — Stopfkuchen auch.


Nein! der Letztere doch nicht. Dafür zog ſich
doch mein ganzer Aufenthalt in der Heimath jetzt zu
ſehr um ſeine dicke Perſon zuſammen ſeit dem
geſtrigen Tage. Sie konnten auch daheim, ohne ſich
unter ihren Hecken weg zu rühren, was erleben und
es in wundervoll erleuchteter, in lichter Seele zum
Austrag bringen. Die Menſchheit hatte immer noch
die Macht, ſich aus dem Fett, der Ruhe, der Stille
heraus dem ſehnigſten, hageren, fahrigen Conquiſta-
dorenthum gegenüber zur Geltung zu bringen. Heinrich
Schaumann, genannt Stopfkuchen, hatte dieſes mir
gegenüber gründlich beſorgt. Ich fuhr wahrlich nicht
ab und vorbei, ohne nach ſeiner Schanze auszuſehen
von meinem Eilzuge.


Anderthalb Eiſenbahnminuten von der Stadt
[hr]te ja die Bahn unter der rothen Schanze hin,
und man hatte, einen Augenblick lang, einen recht
guten Überblick über den Kriegsmaulwurfshaufen
Seiner Hoheit, des Herrn Grafen von der Lauſi[t]z,
Prinz Xaver von Sachſen. Wallböſchung, Baumwuc[h]s
und Hausdach hoben ſich ſcharf und klar ab vom
blauen Sommermorgenhimmel, und mit ſchärfſter,
wunderlich wehmüthiger und vergnüglicher Aufmerkſam-
keit wartete ich auf das Vorbeifliegen und das Ab-
ſchiednehmen im Vorbeifliegen.


Und ich erfaßte alles nach Wunſch genau. Es
waren nur zwei helle Pünktchen, aber ſie waren da
in der ſonnenhellen, grüngoldnen Heimathslandſchaft.
[281] Er ſtand auf ſeinem Wall in ſeinem Sommerſchlaf-
rock und hatte ſein Tinchen bei ſich — eben ſo ſicher
wie ſeine lange Philiſterpfeife. Sicherlich auch hatte ſeine
Frau ihren Arm in den ſeinigen geſchoben, und wenn
ſie nun endlich auch wußte, wer Kienbaum todtge-
ſchlagen habe, ſo wartete ſie doch im vollen Verlaß
auf ihren Heinrich das Anſpülen jener Welt draußen ab,
die geſtern Abend ebenfalls erfahren hatte, wer Kienbaum
totgeſchlagen habe. Sie ge[n]oſſen trotz allem, was
ihnen aus der letzteren Thatſache aufwuchs, den
ſchönen Morgen. Es lagen da jetzt Zwei, die man
vordem hatte abſeits liegen laſſen, unter der Hecke,
und blieben nun ruhig liegen, was auch die Welt,
die Welt da draußen, zu ihrer unbegreiflichen Indolenz
ſagen mochte:


„O dieſer Stopfkuchen!“ —


Hätte er eine Ahnung davon gehabt, daß ſein
„guter Freund Eduard“ da unten an ihm vorbei[fah]re,
ſo würde er ſicherlich ſeine Pfeife in die Luft er[h]oben
und ſeine Hauskappe geſchwenkt haben. Und dann
würde auch Frau Valentine Stopfkuchen, geborene
Quakatz ihr Taſchentuch haben wehen laſſen. Die
aber würde vielleicht dazu geſagt haben:


„Das iſt doch aber eigentlich unbegreiflich von
ihm!“


Was mein dicker Freund Heinrich Schaumann
anderes als: „Hm!“ hätte erwiedern können, kann ich
nicht ſagen.


Vorbei die rothe Schanze! aber doch ein Glück
dieſe Sicherheit, daß ſie ruhig liegen blieb, wo ſie lag
[282] und wie ſie lag; daß ich ſie wie ſie war, im Ge-
dächtniß behalten konnte: als einen ſonnenbeleuchteten
Punkt im ſchönſten Heimathsgrün.


Schon erſuchte mein Wagengegenüber mich
höflichſt, des Zuges wegen doch lieber das Fenſter
auf dieſer Seite zu ſchließen, da der Wind von der
Seite komme und das entgegengeſetzte offen ſtehe.
Da auch die Sonne als Hitzeſpenderin in das be-
treffende Fenſter ſchien, kam ich gern dem Wunſch
der Dame nach. Ich zog die Scheibe herauf und
die blauen Vorhänge zuſammen, und ich kann es
nicht leugnen, daß mir die blaue Dämmerung ganz
wohl that nach dem kurz-ſcharf-angeſtrengten Aus-
ſchauen in den ſcharf-hellen Morgen hinein mit ſeinem
blendenden Gelb und Grün und den beiden winzigen
Figürchen auf dem Walle der rothen Schanze — nach
dem letzten Ausgucken nach dem guten dicken Freunde
und der lieben, guten Freundin Valentine Schaumann
in der Jugendheimath! So etwas von Kohlenſtaub
aus der Lokomotive war mir ſo ſchon ins rechte Auge
geweht.


Aber noch etwas will ich nicht leugnen: nämlich
daß mich das blaue Licht oder die lichtblaue Dämmerung,
in der ich bei der Abfahrt von der Heimath di[e] Augen
ſchloß, um mich erſt wieder an die rechte Beleuchtung
zu gewöhnen, trotz dieſer Gewöhnung dennoch bis
Hamburg, bis auf das Schiff — bis in dieſe Stunde
begleitet hat. Vernünftige Leute werden wohl ſagen:
„Ja, worauf fällt der [Me]nſch nicht, um ſich bei
günſtiger Fahrt und auf faſt zu ruhiger See die
[283] Zeit zu vertreiben? Na, das iſt eben Geſchmacksſache,
nach was für einem Auskunftsmittel man in der
Langenweile greift.“


Ganz etwas Ähnliches ſagte der Kapitän, der
eben herunter kam und meinte:


„Wiſſen Sie wohl, lieber Herr, daß Sie das
einzige Merkwürdige ſind, was ich auf dieſer Fahrt
erlebt habe? Etwas von ſchlechtem Wetter kommt
doch immer vor, aber diesmal nicht das Geringſte;
denn den Squall von neulich rechnen Sie wohl ſelber
nicht. Da oben fangen wir jetzt an, nach dem Tafel-
berg auszugucken, aber, zum Henker, Herr, mir wäre
es doch jetzt die Hauptſache, wenn Sie mich mal
ſehen ließen, was Sie dieſen ganzen Monat hier auf
meinem Schiffe zuſammengeſchrieben haben.“


„Es würde Sie wirklich wenig intereſſiren,
Kapitän. Die reine Privatſache!“ ſagte ich und
klappte das Manuſkript zu.


A [...]n auch auf Deck ſtieg, um mit den
Ander [...]elberg aus dem Meer aufſteigen zu
ſehen, und als wirklich ein blaues Wölkchen am
[H]orizont vom Schiffsvolk für den berühmten Berg
[...]lärt wurde, mußte ich mich doch an die Stirn
[...]en und fragen:


„Eduard, wie iſt [de]nn das? Du biſt wieder
„ — — — —


[284]

Es dauerte noch anderthalb Tage, ehe wir landen
konnten, und während dieſer Zeit wanderte ich noch
recht oft auf der Landſtraße der Heimath mit dem
Landbriefträger Störzer, und hörte Den mit ſonder-
baren Seitenblicken auf die rothe Schanze vom Le
Vaillant und von dem Innern Südafrikas erzählen;
zu aller froh-unruhigen Gewißheit: nun hängt bald
Dein Weib wieder an Deinem Halſe und dazu Deine
doppelläſchgige deutſch-holländiſche Brut Dir an den
Rockſchößen:


„Vader, wat hebt gij uns mitgebracht uit het
Vaderland, aus dem Deutſchland?“


Ende.



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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Raabe, Wilhelm. Stopfkuchen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmq4.0